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I
iblätter
[liehen f OFSohung
. L'rof. Brler-MiiDsler i. W.,
isea-Köln, Prof. v. HeiBel-München
■emegg-Wien, Prof. Kolde-ErUngen,
ruhe, Prof. Ltunprecht-Leipiig,
.:ur Prof. H. Mmyr-lnnsbrudc,
Wien, Prof. Oaw. Redlich-Wicn,
n, Geh. Archivrat SeUo-OldcDbni^,
väschke-Zerbst, Prof. Weber-Fng,
'.■Jnnabräclt, Archinr Wfitte-Schwerin,
: ü denhorsi- Gru
,ün Tille
Deutsche GescMchtsblätter
Monatsschrift
zur
f öpdepung der landesgesohiohtliGheD f OFSohung
unter Mitmikung von
Prof. Bactamann-Pri«, Prof. Breyalg-Berlin, Prof. Brier-Mänster i. W.,
ftot Pinke-Freibnrg i. B., Archivdirektor Prof. Huiien-Katn, Prof. v. Helgel-MUnchen
Prof. Henner-Wllnborg, Sektionscbef t. Inmma-Stero egg- Wien, Prof. Kolde-Erlangen,
Prof. KoMimut-Berlin, Archivrat Krieger-KarUniliB, Prof. Lamprocht- Leipzig,
ArchiTrst W. LJpport-Dreidcn, Archiv dirattor Prof. U. Mmyr- Innsbruck,
Archivmr Meri-Marhurg, Prof. v. Ottentb»l-Wien, Prof. Ohw. Redlicb-Wicn,
Prof. T. d. Ropp-Marbntg, Prof. A. Scbull«-Bonn, Geb. Archivcat 8 ollo-Old Coburg,
Geb. Architrat StUm-Stattgut, Archivrat WSscUco-Zerbit, Prof. Weber-Prag,
Prof. Wenck-Marbnrg, ArchiTdirektor Winter-OsnabrUck, AichiTar Witte-Schverin,
Piof. T. Zwtedineck-SQdenhont-Gru
herausgegeben von
Dr. Armin Tille
Ootha igo6
Friedrich Andreas Perthes
Akti«(«Hllichillt
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1 *
I n b. a 1 1.
Aufsätze :
Seite
Porst, Hermann (Zürich): Rfgionale oder institutionelU ürkundenbücher f . 6i — 72
Hahn, Friedrich (Königsberg) : Die Zentralkommüsion für wissenschaftliche
Landeskunde von Deutschland i — 8
Heimelt, Hans F. (Lciprig): Geschichtslügen und andere Schlagwörter . . 311 — 318
Hertel, Ludwig (Hildburghanscn) : Der Rennsteig des Thüringer Waldes 27 — 39
Ilwo^ Frans (Graz): Beiträge zur Namenforschung aus Steiermark . . .214 — 219
KOberlin, Alfred (f): Aus Nürnberger Briefbüchern 95 — 99
Overxnann, Allred (Erfiirt): Die Herausgabe von Quellen zur städtischen
Rechts- und Wirtschaftsgeschichte 263 — 274
Pefsler, Willi (Hannover) : Die Hausforschung^ vornehmlich in Norddeutichland 203 — 2 14
Roth, Friedrich (München): Zur neueren reformationsgeschichtlichen Lite-
ratur Süd- und Mitteldeutschlands 155—185
Rubel, Karl (Dortmand): Rennstiege 119 -126
Rflbsam, Joseph (Regensbarg) : Postavisi und Postconti aus den Jahren
IS99 ^^^ ^^24 8 — 19
Tille, Armin (Leipzig) : Nachwort zu dem Aufsätze über Die Herausgabe von
Quellen zur städtischen Rechts- und Wirtschaftsgeschichte von
Alfred Overmann 274 — 288
Werner, Heinrich (Mayen): Geschichtliche Lehr- und Handbücher . . . 126 — 135
Werner, Heinrich (Mayen): Die sog. Reformation des Kaisers Sigmund
und verwandte Reformschriften 231 — 254
Wilke, Georg (Grimma): Wo lag die Heimat der Kimbern und Teutonen? 291 — 310
Wingenroth, Maz (Karlsruhe): Neues aus dem Gebiete der Denkmalpflege . 100 — 109
Zinck, Paul (Leipzig): Zur Geschichte unserer Vornamen 39^53
Mitteilungen :
Archäologische Karte und Fundstatistik von Thüringen (Höfer) . . . 328—332
Archive: WirUchaftsarchive 20—21; Fünfter Archivtag 54—57; Sechster
Archivtag 320 ; Stadtarchiv Ochsenfurt (Hefner) 86—88; Stadt-
archiv Halberstadt (Arndt) 88—94; Urkunden des Herzog-
lichen Haus- und Staatsarchivs zu Zerbst 1401 — 1500 iio — 113;
Anleitung zum Ordnen und Beschreiben von Archiven 136 — 137 ;
Stadtarchiv Wernigerode (v. Wurmb) 185—186; Stadtarchiv
Frankenhausen 225 ; Niederrheinische Archivalien in der National-
bibliothek und dem Nationalarchiv zu Paris 321 — 322.
Archive und Kunstgeschichte 322—323
Seite
Denkmalpflege: Sechster Tag für D. 100—104; Siebenter Tag für D. 320.
Eingegangene Bttcher 26, 60, 116 — 118, 154, 201 — 202, 230, 259—262,
288—290, 337—338.
Familienforachung : 21 — 26; Archivbenutzong zum Zwecke der T. 56 — 57.
Frankfurter Qeschichtsforschung 115 — 116
Qesamtverein der deutschen Oeschichts- und Altertumsvereine: Ver-
sammlung 1905 in Bamberg 72—86; Versammlang 1906 in
Wien, Programm, 318 — 319.
Oetchichtliche Kartenwerke (Th. v. K a r g - Bebenbarg) 332 — 337
HeimatsgeschichtUche Kalender (Tille) i37~i54
Historische Kommissionen: H. K. fUr Sachs'en-Anhalt 58 und 324 — 325 ; H. K.
für Nassau 59; Thüringische H. K. 59—60; Württerabergische K.
fiir Landesgeschichte 186 — 187; K. zor Heraasgabe lothringischer
Geschichtsquellen 225 — 226; K. fUr neuere Geschichte Öster-
reichs 226—227; Badische H^ K. 227 — 228; Gesellschaft fiir
rheinische Geschichtskunde 228 ; Gesellschaft für fränkische
Geschichte 229 — 230; Kgl. Sächsische K. für Geschichte 323;
H. K. für Hessen und Waldeck 323 — 324.
Konferens von Vertretern landesgeschichtUcher Publikationsinstitute 136 u. 255— 259
Nekrologe: für Hermann Markgraf (Schwarzer) 192 — 197; für Moriz Heyne
(Borchling) 197 — 199.
Personalien 192—199
Preisausschreiben 199—201, 325
Rennsteigfrage, Zur (Hertel) 187—192
Versammlungen: Fünfler Archivtag 54 — 57; Tagung des Gesamtvereins 1905
in Bamberg 72 — 86; Neunte Versammlung deutscher Historiker
in Stuttgart iio, 219 — 225; Konferenz von Vertretern landes-
geschichtlicher Publikationsinstitute in Stuttgart 136, 255 — 259;
Tagung des Gesamtvereins 1906 in Wien, Programm, 318 — 319;
Sechster Archivtag, Programm, 320; Siebenter Tag iiir Denk-
malpflege, Programm, 320 — 32 1; Versammlung für Volkskunde
und Volkskunst in Dresden, Programm, 321.
Wandbilder aus vorgeschichtlichen Kulturperioden (Jentsch) .... 113— 115
Wiedertäuferliteratur, Zur (Tumbült) 325 — 328
Zentralstelle fiSr deutsche Personen- und Familiengeschichte .... 21 — 26
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
sur
Förderung der landesgeschichtlichen Forschung
VII. Band Oktober 1905 i. Heft
Die Zentralkomtnission für wissensehaft^
liehe Iiandeskunde von Üeutsehland
Von
Friedrich Hahn (Königsberg'), z. Z. Vorsitzendem der Kommission
Gern erinnere ich mich an die erste, bescheidene, der rauschen-
den Festlichkeiten späterer Tagungen fast noch ganz entbehrende Zu-
sammenkunft der deutschen Geographen, die in der kalten Pfingst-
woche des Jahres 1881 m Berlin stattfand. Viele Keime zu trefflichen
Taten wurden damals gelegt und persönliche Beziehungen angeknüpft, die
vielfach bis heute noch fortwirken. Nicht alles aber, was vorgeschlagen
und angeregt war, konnte in knappen zwei Tagen erledigt werden. Dazu
gehörte ein zuerst wenig beachteter Antrag des Oberlehrers Dr. Richard
Lehmann aus Halle, „eine Kommission einzusetzen, welche sich die
Förderung der wissenschaftlichen Kunde von Deutschland zur Aufjgabe
zu stellen hätte". Und doch war dies der erste Ausgangspunkt der
später so mächtig entwickelten deutschen landeskundlichen Forschung.
In Halle, wo man sich um die Osterzeit 1882 wieder traf, kam man
auf diese Anregung zurück und nicht ohne eine gewisse Begeisterung
folgte man den von Lehmann nun in längerem Vortrag gemachten
Vorschlägen. Der Redner wies darauf hin, wie nach den Freiheits-
kriegen ein grofser Aufschwung der deutschen Geschichtsforschung
eingetreten sei , wie sich aber die Erdkunde nicht in gleichem Mafse
der Erforschung der Heimat zugewendet habe. Jetzt, nach der Wieder-
aufrichtung des Deutschen Reiches sei es die höchste Zeit, diese
nationale Schuld zu sühnen. Lehmann iiigte ausführliche Bemer-
kungen darüber hinzu, wie nach seiner Ansicht die Sache durch-
zuführen und welche Angaben zunächst zu erfüllen seien. Ich meiner-
seits glaubte unter voller Billigung der Lehmannschen Vorschläge
darauf hinweisen zu sollen, dafs zuerst ermittelt werden müsse, was
denn auf dem Gebiete deutscher Landeskunde schon geleistet sei.
Ich mufs offen gestehen, dafs ich, ebenso wie wohl die meisten der
1
— 2 —
damals anwesenden Kollegen glaubte, diese Au%abe werde sich in
einigen Bänden und in relativ kurzer Zeit lösen lassen. Aber wie
anders sollte es kommen! Die Menge der bereits vorhandenen Ar-
beiten, von denen freilich der gröfete Teil in sehr wenig verbreiteten
Zeit- und Vereinsschriften, Schulprogrammen und dgl. fast vergraben
und daher den meisten Fachgenossen gar nicht bekannt geworden
war, erwies sich als riesengrofs; noch heute ist die Sammlung und
Würdigung derselben nicht allenthalben durchgeführt, trotzdem die
erschienenen Bände und Hefte der Landeskundlichen Bibliographien
ein mäfsiges Bücherregal iiillen könnten.
Mit dem Schlufs der Hallischen Tagung war die landeskundliche
Sache auf eine sichere Bahn geleitet. Es sollte nun vor allem die
Sammlung der vorhandenen Literatur beginnen, ein Aufruf sollte die
verschiedenartigsten Vereine zur Mitarbeit auffordern, allenthalben be-
gann eine agitatorische Tätigkeit, in welche neben vielen anderen
namentlich Alfred Kirchhoff, der noch heute einer unserer Vor-
kämpfer ist und hoffentiich noch lange bleiben wird, kräftig und erfolg-
reich eintrat.
Aber was verstehen wir Geographen unter Land und Landeskunde ?
Ein Land ist für den modernen Geographen nicht etwa immer, ja nicht
einmal häufig von politischen Grenzen umschlossen. Wenn unsere
Tageszeitungen Bayern, Braunschweig, Bulgarien, Siam, Haiti vielfach
als „Länder" bezeichnen, sollten sie eigentlich viel richtiger das Wort
„Staaten'' anwenden. Ein Staat kann mit einem Lande zusammen-
fallen, er kann einen Teil eines solchen ausmachen, er kann aber
auch zahlreiche „Länder" im geographischen Sinne umschliefsen. Da
die Grenzen der Staaten im Verlauf der Jahrhunderte häufig gewechselt
haben, sind auch ihre Beziehungen zu den Ländern wechselnde gewesen»
Als „Land" im geographischen Sinne wollen wir einen solchen
gröfseren oder kleineren Erdraum bezeichnen, der sich durch möglichst
zahlreiche, augenfällige Merkmale von anderen Erdräumen unterscheidet.
Diese Merkmale werden vorzugsweise physische sein, also in der Boden-
gestaltung, in der besonderen Form der Gewässer, im Klima liegen,
sie können aber auch in der Art der Besiedelung und Bebauung durch
den Menschen enthalten sein. Diese letzteren Merkmale beruhen dann
freilich zuletzt doch meist wieder auf den physischen. Eine aus-
geprägte Bergbaugegend z. B. wird durch die Bergwerke, die eigen-
artigen mit dem Bergbau zusammenhängenden Siedelungsformen und
Verkehrswege, auch schon durch die überhaupt dichtere Besiedelung
sehr wohl ein besonderes „Land" in unserem Sinne sein können.
— 3 —
Aber alle jene Eigentümlichkeiten lassen sich ja eben auf das Vor-
kommen z. B. der Steinkohle zurückfuhren. Gesetzt, die Steinkohle
würde gar nicht dort abgebaut, es wären keine Kohlenbahnen und
Bergwerksorte entstanden, so würde ihr blofses unbenutztes Vorhanden-
sein im Boden, das sich in den Umrissen der Oberfläche vielleicht
gar nicht verrät, nicht ausreichen, um ein besonderes Land aufzustellen,
Ulis nicht etwa noch andere auffalligere Merkmale vorhanden wären.
Hieraus folgt auch, dafs nicht blofs die Grenzen der Staaten, sondern
auch die unserer geographischen Länder veränderlich sein können.
Dringt z. B. eine Schar von Ansiedlern in einen grofisen mit dichtem
Wald bestandenen Erdraum ein , schlägt den Wald nieder , schafft
frachtbare Felder (Kultursteppe), legt Ortschaften und Strafsen an, so
kann sich hier ein vor dem Eindringen jener Ansiedler durchaus nicht
hervortretendes ,,Land** scharf von seiner Umgebung abheben.
Die Gröise der Länder kann danach äufserst verschieden sein.
In der unabsehbaren sibirischen Tundra werden die Merkmale, welche
die einzelnen Teile auszeichnen, kaum augenfällig genug sein, um eine
Aufstellung verschiedener Länder zu rechtfertigen, dagegen wird das
Saarkohlengebiet, das Reufstal im Kanton Uri, der Fläming sicher als
ein gcogpraphisches Land zu betrachten sein.
Was nun dazu dienen kann, die Merkmale der einzelnen Länder
oder einzelner Teile derselben hervorzuheben, zu beschreiben und,
wenn möglich, in ihrem inneren Zusammenhange zu erklären und zu
beg^ründen, das ist Landeskunde. Selbstverständlich wird man nicht
verlangen, dafs immer ein ganzes, wenn auch kleines „Land** allseitig
oder nach einzelnen Beziehungen betrachtet wird, eine Arbeit z. B.
über den Petersberg bei Halle, über eine Strecke des Rheinlaufes,
über die klimatischen Eigentümlichkeiten des Thüringer Beckens, über
eine charakteristische Bevölkerungsgruppe, z. B. die Siebenbürger
Sachsen, die ihrem „Lande" auch äufserlich ein so bezeichnendes
Aussehen geschaffen haben, oder über die Physiognomie einiger be-
merkenswerter Städte und ihre Ursachen ist auch ein Beitrag zur Landes-
kunde, wie man denn überhaupt, ganz besonders aber in den Anfangs-
stadien landeskundlicher Forschung die Grenzen des Aufzunehmenden
aicht zu eng ziehen darf. Denn besser ist es, es wird einmal etwas
Fcraerstehendes aufgenommen, als ein Kapitel, das auf den ersten
Blick nicht viel zu versprechen scheint, sich aber später doch als be-
deutsam erweist, abgewiesen.
Sehr gut sagt der Wiener Geograph Alb recht Penck in seiner
dem Stuttgarter Geographentag von 1893 vorgelegten landeskund-
1*
— 4 —
liehen Studie, dafs die Schwierigkeit der Auswahl des landeskundlichen
Materials mit dem Umfang desselben wächst. Soll doch auch die
wissenschaftliche Landeskunde nicht blofs eine Landesbeschreibung
sein, sondern vor allem auch eine Erklärung der Landesbeschaffen-
heit. Alles das aber, was zur Kenntnis eines Stückes Landes (oder
eines „Landes" nach unserer eben vorgetragenen Betrachtung) dient,
sagt Penck weiter, gehört auch wirklich zur Geographie, wenn es auch
nicht bei jeder landeskundlichen Darstellung zu verwerten ist. Aus
der ungeheuren Vielseitigkeit der Beziehungen der Erdkunde zu
nahezu allen anderen Wissenschaften, die einen der gröfsten Reize,
aber auch eine der Gefahren geographischer Studien bildet, folgt
gewife, dafs gerade die landeskundliche Arbeit nicht blofs auf Geo-
graphen, sondern auch auf Mitarbeiter aus dem Gebiete der Natur-
wissenschaften, der Geschichte, der Staatswissenschaft rechnen darf und
dafe sie den Vertretern aller dieser Fächer in der Lage ist, ihrerseits
manches zu bieten.
Von vornherein sollte sich das Arbeitsgebiet der deutschen Landes-
kunde auf alle deutschredenden Gebiete sowie auf solche, welche sich
deutscher Wissenschaft gern anschliefeen mögen, erstrecken. So fand
unsere Arbeit bald in Österreich, in der Schweiz, in den Niederlanden
eifrige, zum Teil ganz besonders erwünschte und hervorragende För-
derung. Niemals sind dabei irgendwelche politische Gesichtspunkte
hervorgetreten.
Es würde den Lesern dieser Zeitschrift kaum willkommen sein.
Schritt für Schritt die allmähliche Entwickelung unserer Arbeitstätigkeit
zu verfolgen. Kein Geographentag ging von 1883 bis heute vorüber,
ohne dafs der Bericht der bald eingesetzten, allmählich vergröfserten
und heute aus etwa einem Dutzend Vertretern des Deutschen Reiches
und je einem Österreichs, der Schweiz und der Niederlande bestehen-
den „Zentralkommission für wissenschaftliche Landeskunde"
einen sehr wichtigen Punkt des Programms gebildet hätte. Nicht immer
war allein von raschem siegreichem Fortschritt zu berichten, es fehlte
und fehlt bis heute auch nicht an manchen Schwierigkeiten und Hemm-
nissen, die zumeist in der Bescheidenheit der Mittel, die der Kommission
namentlich anfangs zur Verfügung standen, begründet waren. Doch
erhalten wir schon lange Jahre von der preußischen Regierung eine
sehr dankenswerte Unterstützung.
Vier Aufgaben waren es, welche der Kommission oblagen. Noch
heute müssen sie eifrig gefördert werden. Zuerst die bibliographische
Arbeit, die Verzeichnung des schon vorhandenen Materials an Büchern,
— 5 —
Aufsätzen und Karten. Hier ist eine treue, aufopfernde und oft nicht
eben leichte und kurzweilige Arbeit von einer sehr grofsen Menge
von Vereinen und einzelnen, durchaus nicht nur der Fachgeographie
angehörigen Personen geleistet worden. Mancher hätte wohl gewünscht,
dais einheitlicher vorgegangen worden und das sog. Normalschema über-
all zur Anwendung gekommen wäre. Aber die in mancher Beziehung
verwandten Denkmälertopographien der einzelnen Staaten und Pro-
vinzen sind auch in sehr verschiedener Weise angelegt imd durch-
geführt worden. Es hat auch seine grofsen Vorteile, wenn den ein-
zelnen Mitarbeitern an dem grofisen Werke der landeskundlichen
Bibliographie möglichste Freiheit gelassen wird, die Arbeit so zu be-
treiben, wie es ihnen selbst am angemessensten scheint, bringen sie
doch ohnehin Opfer genug. Der Raum fehlt, die einzelnen Biblio-
graphien hier aufzuzählen: es befinden sich wahrhaft monumentale
Werke von musterhafter Vollständigkeit darunter, nützlich aber und
fordernd sind sie ausnahmslos. Nicht leicht wird nun der Student,
der Kandidat oder Lehrer noch in die Gefahr kommen, vergebliche
Arbeit zu tun, wenn er Fragen zur deutschen Landeskunde bearbeiten
wül, die man, ohne da(s er es ahnte, lange vor ihm schon der Lösung
nahe gefuhrt hatte. Jetzt greift er vor dem Beginne seiner Arbeit
nach dem betreflfenden Bande der Bibliographie und erfährt bald, auf
welche Vorgänger er Rücksicht zu nehmen hat. Bezieht sich seine
Arbeit aber auf ganz Deutschland oder gröfsere Teile, so steht ihm
als eine der schönsten Früchte landeskundlichen Strebens P. E.
Richters, des trefflichen Dresdener Bibliothekars, BibUotheca geo-
graphica Geitnaniae (Leipzig 1896) mit einer fast überwältigenden Fülle
von Nachweisen selbständig erschienener Arbeiten und Karten zur
Verfügung.
Sollte aber das Werk ganz getan werden, so durfte die Inventari-
sierung des Geleisteten nicht stillstehen. Eine zweite Aufgabe erwuchs
hier der Kommission, die der Herausgabe eines ständigen Literatur-
beiichts über alle neuen Erscheinungen auf dem Gebiete deutscher
Landeskunde. Von diesem Bericht über die neuere Literatur zur
deutschen Landes- und Volkshunde liegen bis jetzt zwei Bände, die
Jahre 1896 bis 190 1 umfassend, vor, ein dritter ist eben in Vorbereitung.
Es sind nicht einfache Büchertitel, die hier zusammengestellt werden,
sondern kurze kritische Referate, an denen weit über 100 Mitarbeiter in
allen deutschen Gauen beteiligt sind. Es wäre sehr wünschenswert, wenn
sich diesem wichtigen, heute unter der Leitung des Hallischen Geogra-
phen Ule stehenden und von der opfer mutigen Firma Hirt (Breslau) ver-
— 6 —
legten Unternehmen, welches freilich noch nicht alle Neuerscheinungen
registrieren konnte, nun auch die Gunst des Bücher kaufenden Publi-
kums mehr und mehr zuwenden möchte.
Aber in jener entscheidenden Sitzung des Hallischen Geographen-
tages von 1882 war nicht blofs von der Verzeichnung älterer Arbeiten,
sondern noch mehr von der Schaffung neuer Werke und Abhand-
lungen zur Landeskunde die Rede. Es wurden deshalb seitens der
Kommission frühzeitig mancherlei Pläne zu selbständigen Veröffent-
lichungen oder für eine Art Archiv zur Landeskunde erörtert. Endlich
entschied man sich daiiir, eine Reihe von Handbüchern zur deutschen
Landes- und Volksforschung und eine zwanglose Folge von kleineren
Abhandlungen unter dem Titel Forschungen zur deutschen Landes--
und Volkshunde zu begründen. Zur Belehrung und Führung der
Forscher auf landeskundlichem Gebiet war durch Kirchhoff und seine
Mitarbeiter auch noch eine Anleitung zur deutschen Landes- und
Volksforschung erschienen, ein für landeskundliche Zwecke höchst
brauchbares Seitenstück zu Neümayers und Richtbofens mehr für
Reisende in fremden Erdstrichen bestimmten Arbeiten. Von jenen
beiden Serien ist die zweite, die der Forschungen, die weitaus
wichtigere geworden, wenn auch die Reihe der Handbücher sehr wert-
volle Werke, z. B. des eben verstorbenen Eduard Richter Gletscher
der OstaJpen, in sich schlofs.
Das erste Heft der Forschungen, eine Arbeit des Rostocker Ge-
lehrten Geinitz über den Boden Mecklenburgs, war billig und wenig
umfangreich. Mit der Zeit ist aber der Umfang der Hefte, denen
auch wertvolle Karten beigegeben wurden, immer mehr gewachsen.
Mehr als 80 dieser Monographien, von denen manche richtiger als
Bücher bezeichnet werden könnten, liegen bis heute vor, fast alle
mitteleuropäischen, überhaupt von uns zu berücksichtigenden Land-
schaften sind dabei vertreten. Nehmen wir z. B. den aus sechs Heften
bestehenden 14. Band zur Hand, so finden wir zwei Arbeiten über
allgemeine Verhältnisse Mitteleuropas, eine über Oberösterreich, eine
über die Moselgegend und zwei über den südlichen Teü der Provinz
Hannover. Zuerst führte Richard Lehmann noch eine Zeitlang die
Redaktion, dann trat Alfred Kirchhoff selbst für ihn ein'). Viel
Wohlwollen, auch von Seiten der Regierungen, ist den Forsdiungen ent-
gegengebracht worden, in Frankreich wurden sie als Muster bezeichnet
i) Die sämtlichen Hefte erschienen bei En^elhorn in Stattgart, der sich um die
Ausstattung derselben grofse Verdienste erworben hat.
— 7 —
und die National Geographica! Society in Washington läfst nach ihrem
Vorbild ähnliche Arbeiten zur Landeskunde der Vereinigten Staaten
erscheinen. Möchte doch auch der weitere Leserkreis, und nicht blofs
der geographische, diesen Heften immer gröfsere Beachtung schenken
und das unermeßliche Material, das hier geboten wird, fleifsig be-
nutzen.
Die vierte Aufgabe der Kommission ist die Anregung zu neuen
Forschungen, sei es in Bibliotheken und Archiven, sei es in der
Natur .selbst. Da unsere Mittel nicht'unbegrenzt sind, konnte hier nicht
jeder schöne Plan ausgeführt, nicht jeder Anregung Folge gegeben
werden. Aber doch ist die Erforschung der erdmagnetischen Ver-
hältnisse des Harzgebirges angeregt und im wesentlichen durchgeführt
worden, die Kenntnis der ostpreufsischen und holsteinischen Seen ist
gefördert worden. Besonderes Interesse, auch für weitere Kreise,
dürften einige Unternehmungen der neuesten Zeit haben. Ein Preis-
ausschreiben hat zu einer umfangreichen Untersuchung über die Ver-
änderungen geführt, welche der Lauf des Rheines in historischer Zeit
zwischen Bonn und der holländischen Grenze erfahren hat. Jeder
Freund der Geschichte hat von den mächtigen Regengüssen gehört,
welche zur Zeit der Schlacht an der Katzbach Schlesien überschütteten
und in den Gang der Kriegsereignisse bedeutsam eingriffen. Mit Unter-
stützung der Kommission hat nun ein junger schlesischer Gelehrter,
ein Schüler von Joseph Partsch, die ganze Wetterlage jener Zeit
im östlichen Mitteleuropa mit den Methoden und Hilfsmitteln der mo-
dernen Meteorologie untersucht. Nun können wir den Lauf der ein-
flufsreichen Minima jener Tage verfolgen, die Ausbreitung der in der
Tat ungewöhnlichen Augustr^en überblicken. So ist ein Gesamt-
bild gewonnen worden, das nicht blofs den Geographen, sondern auch
den Historiker fesseln kann. Ein anderer junger Gelehrter durch-
wanderte lange die nordwestdeutschen Gaue, um das Bauernhaus und
seine charakteristischen Formen zu erforschen und insbesondere fest-
zustellen, wie die einzelnen Teile des Bauernhauses von Dorf zu Dorf
vom Volke benannt werden. Seine Arbeit gelangt eben zum Druck.
Fügen wir noch hinzu, dafs die Kommission auch dankbar an-
genommene Beihilfe bei der Namengebung und Namenschreibung auf
einer Anzahl von Generalstabskarten geleistet hat und dafs sie der
Aufzeichnung und sicheren Feststellung deutscher Ortsnamen in den
Grenzgebieten deutscher Sprache eben ihre Aufmerksamkeit zu-
zuwenden beginnt, so sind damit emige weitere Seiten ihrer Tätigkeit
angedeutet.
— 8 —
Blicken wir zurück. Gewifs besteht die landeskundliche Tätigkeit
zum Teil aus Anregungen und Anfängen, nicht alles, was geplant war,
hat ausgeführt werden können. Aber das wirklich Geleistete ist immer-
hin so umfangreich und so vielseitig, dais die Landeskunde nicht un-
bescheiden genannt werden darf, wenn sie sich an die Seite der so
vielfach ähnliche Arbeitsmethoden anwendenden kunsttopographischen
Forschung (Denkmälertopographie) stellt und ebenso die mannigfachen
jetzt hervortretenden Bestrebungen zum Schutze der Naturdenkmäler
unseres deutschen Landes als eine verwandte Erscheinung begrüist.
Alle diese Arbeiten gehen doch schlieüslich darauf hinaus , Deutsch-
land und seine Einzellandschaften den eigenen Landsleuten teils in
streng wissenschaftlicher, teils in volkstümlicherer Darstellung immer
vertrauter zu machen und dafür zu sorgen, dafs das von dem ver-
ewigten Sophus Rüge gern mahnend zitierte Wort Willibald Pirk-
heimers: „Es kann doch einmal nichts Abgeschmackteres geben, als
dafs die Deutschen die g^nze Welt beschreiben und ihr eigenes Vater-
land vergessen" auf die Gegenwart immer weniger zutreffe.
Möchten doch deshalb unsere mannigfachen Arbeiten und Unter-
nehmungen nicht bloüs rüstig fortgeführt werden, sondern sich immer
noch erweitem und vervollkommnen!
Postavisi und Postconti aus den Jahren
1599 bis 1624
Von
Joseph Rübsam (Regensburg)
Unter avi90 im postalischen Sinne des Wortes versteht man das
Begleitschreiben, welches von den einzelnen Postämtern dem die
Ordinaripost*) befördernden reitenden Postillon als Ausweis über
die abgefertigten Schriftstücke mitgegeben wurde. Die aufgegebenen
Briefe wurden, je nach dem Bestimmungsort, bzw. je nach dem Orte,
wo sie behufs anderweitiger Beförderung die PoststraCse verliefsen, zu
i) Die an einem bestimmten Wochen- oder Monatstage eintreffende oder abgehende
Briefpost hiefs „Ordinaripost" oder schlechthin ordinari, Ihr Laaf soUte Tag nnd
Nacht über möglichst beschleunigt werden and durfte nur an den einzelnen Staüonen
durch die Abgabe und Annahme der Brielipakete, durch das Wechseln der Pferde, femer
durch elementare Naturereignisse, wie Überschwemmungen, Schneewehen usw. oder Ver-
legung des Weges durch Räuber aufgehalten werden.
— 9 -
einem oder mehreren versiegelten Paketen (pieghi oder maeei) ver-
einigt, um in wetterfesten Felleisen *) (italienisch valigia, spanisch
balija) geborgen zu werden.
Der die Post abfertigende Beamte hatte Tag und Stunde des
Abgangs der betreffenden Ordinaripost zu verzeichnen, welche bis
tief in das XVII. Jahrhundert hin ausschliefslich durch reitende Postillone
(nicht etwa zu Wagen) befördert wurde. Der Aviso gab über die
Anzahl der Briefpakete, deren Bestimmungsort und das Gewicht der
darin verschlossenen Briefe Aufschlufe, wobei zugleich bemerkt wurde,
ob das Briefjgeld (Porto) bereits entrichtet oder noch zu erheben war.
Das Begleitschreiben bestätigte zugleich den Empfang der von dort
abgelassenen letzten Post unter Angabe des Tages ihres Eintreffens.
Nicht selten enthalten diese geschäftsmäfsigen avisi interessante
oder vertrauliche Mitteilungen. Umsichtige Postmeister schrieben, um
mit der Zeit nicht ins Gedränge zu kommen, die allmählich ganz
foraielhafl gewordenen Teile ihrer avisi mehrere Tage vor dem Ab-
gange der betreffenden Ordinaripost, um dann in letzter Stunde noch
die Anzahl und das Gewicht der Briefschaften und etwaige Mitteilungen
privater Natur hinzuzufügen.
Ein anschauliches Bild dieser für die geschichtliche Entwickelung
des modernen Postwesens nicht unwichtigen Schriftstücke geben die
im folgenden mitgeteilten avisi des Kaiserlichen Postamts zu
Venedig aus den Jahren 1599 und 1609 und der aviso des
Kaiserlichen Postamts in Frankfurt am Main aus dem Jahre
1624.
Der letztgenannte, von dem bekannten kaiserlichen Postmeister
Johann von den Birghden unterzeichnete, an das Postamt zu Ant-
werpen gerichtete aviso ist besonders auch um deswillen interessant,
weil in demselben die formelhaften Teile gedruckt und nur die je-
weilig sich ändernden Mitteilungen geschrieben sind.
Für das Postrechnungswesen bzw. die Abrechnung, wie
dieselbe zwischen den einzelnen gröfseren Postämtern von Vierteljahr
zu Vierteljahr durch die conti gepflogen wurde, bildeten diese
avisi die Grundlage.
Der erste dieser venezianischen avisi lautet:
Molto niostre signor cagino osservatissimo.
Scrissi a vostra sigooria hoggi oUo con Tordioario al solito quäl spero li sarra
^e capitato.
I) Näheres über das Wort „Felleisen" im Historischen Jahrbach. Jahrgang
XXV (1904), S. 549 Anmerkung.
— 10 —
Alli 2 corente mi trouo la grattissüna saa delli 23 passatto con quanto la mi scriue
che a tatto s'ha datto baoa recapito.
Con qaesta mando Tordinario di qaesta settimana et qai a basso la trouerä nottato
il nnmero delli mazzi et oncie de lettere qnale tutt^ raccomaodo a vostra signoria che
Nostro Signore la prosperi et consenii.
Di Venetia li 5 noaembre 1599.
Di V. s. molto Ulastre cugini et servitori
Ferdinande et David de Tassis l).
m. p.
Vanno con qaesta tre mazzi per costi
con oncie 115 de lettere franche et oncie 18
da pagar; nno per Collonia con oncie 55
de lettere franche, sei per Aagusta con
oncie 154 de lettere franche et oncie 239
da pagar.
115
18
133
Die Adresse dieses aviso, welcher auf der ersten Seite eines vier-
mal gefalteten, versiegelt gewesenen Bogens geschrieben ist, lautet:
AI molto lUastre signor Leonardo de Tassis Generale
maestro deUe poste de Saa Maiesta in Fiandra
Brosselles
Auf der vierten Seite des Briefbogens steht:
De Venecia alli 5 de noaembre en BrosseUes alli 15
del detto.
Es geht daraus hervor, dafs diese Ordinaripostsendung von Ve-
nedig nach Brüssel 10 Tage brauchte. Aus dem zweiten Absatz des
obigen Aviso ergibt sich, dafs auch der Weg von Brüssel nach
Venedig von der Ordinaripost in derselben Zeit zurückgelegt wurde.
Die Übersetzung des itaUenischen Textes lautet:
Hochedler, sehr verehrter Herr Vetter!
Ich schrieb an Eaere Herrlichkeit heute am acht Uhr mit der Ordinaripost wie
gewöhnlich. Hoffentlich wird dieselbe gat ankommen.
Am 2. des laufenden Monats erhielt ich Ihr sehr schätzbares Schreiben vom 33.
des vergangenen Monats, mit welchem Sie mir mitteilen, dafs alles gat angekommen ist.
Mit Gegenwärtigem schicke ich die Ordinaripost dieser Woche, and hier unten
i) Die Gebrüder Ferdinand and David von Taxis waren Enkel des David von
Taxis, eines Bruders des kaiserlichen Generaloberstpostmeisters Johann Baptista von Taxis
(t 1541). Ihr Vater Roger von Taxis verwaltete seit 1540 das Kaiserliche Postamt za
Venedig, welches ihm Kaiser Karl V. am 20. Juli 1541 auf Lebenszeit bestätigte. Seine
Nachkommen blieben über 200 Jahre im Besitze dieses einträglichen Postamtes.
— 11 —
verdeo Sie die Zahl der Pakete und das Gewicht der Briefe verzeichnet finden. Ich
empfehle alles Ew. HerrlicbkeiL Unser Herr möge Sie beglücken und erhalten.
Von Venedig, den 5. November 1599.
Ew. hochedeln Herrlichkeit Neffen und Diener
Ferdinand und David von Taxis.
Blit Gegenwärtigem werden drei Pakete nach dort (Brüssel, Niederlande) ab-
gefertigt, mit 115 Unzen frankierter und 18 Unzen unfrankierter Briefe. Ein Paket nach
Köb mit 55 Unzen frankierter Briefe. Sechs Pakete nach Augsburg mit 154 Unzen
frankierter und 239 Unzen unfrankierter Briefe.
Adresse : An den hochedeln Herrn Leonard von Taxis , Generalpostmeister Seiner
Majestät in den Niederlanden zu Brüssel.
Der zweite Aviso hat folgenden Wortlaut:
niustrissimo Signor Cugino Osservatissimo.
Scrissi a V. S. hoggi otto et li mandai Tordioario per costi il tutto spero gli
San ben capitato.
Trouomi poi la sua del ultimo passato con quanto la mi auisa ch'al tutto s'ha datto
bvoD recapito.
Con questa roando a V. S. Tordinario per costi il numero de pieghi et oncie le
trooera a basso notato, il tutto pongo saluo et ne aspetto auiso che N. S. la feliciti et
coDserui. Di Venetia gli 13 di febraro 1609.
Di V. S. Illn«
affettionatissimo Cugino et Scrvitore
Ferdinando de Tassis
m. p.
Vanno 3 pieghi per costi
Lettere franche per Anuersa oncie n8
condennate >) ,, 67
Lettere franche per Collonia „ z5a
Lettere franche per Augusta „ 146
condennate „ 304
Sara un mio piego di semente per V. S.
Raccomando a V. S. una per Carlo van W^essele.
Die Adresse dieses viermal gefalteten, versiegelt gewesenen
Bogens lautet:
All' Ill»o. Sig«. Cugno. Ossmo. H Sig>*. Leonardo
de Tassis libro Bar«, del Sacro Impo. et
Generale deUe poste in Fiandra
Aviso. Brusseles.
Die fettgedruckten Zahlen und Texte sind mit einer schwärzeren
Tinte geschrieben und offenbar erst in dem Momente aufgezeichnet,
als es sich um die Abfertigung dieser Ordinaripost handelte.
Besonders interessant ist der venezianische Aviso vom
i) Diese lettere condennate (auch eondenate geschrieben) sind solche, für welche
die Post das Porto noch zu erheben hatte. Die lettere da pagar oder lettere pagabiie
sind mit ihnen identisch.
— 12 —
6. Februar 1609. Er stimmt in seinem formelhaften Teile wört-
lich mit demjenigen vom 13. Februar übereiD. Nach Antwerpen
werden durch denselben 90 frankierte und 70 unfrankierte Briefsen-
dungen abgefertigt; nach Köln 125 frankierte; nach Augsburg 128
frankierte und 268 unfrankierte.
Die Unterschrift lautete ursprünglich : Ferdinando et David di
Tassi. Davon ist aber nachträglich et David ausgestrichen, der
kurz zuvor gestorben war. Ferdinando de Tassis bemerkt daneben :
H signor David tnio frateUo e passato ä miglior vita. Darunter folgt
noch die Mitteilung: Mando a F. 8. un fagottino de semente de di-
uerse sorte et cd il primo ne mandero cdiretatUe.
Derartige Samensendungen kommen noch öfter vor. Auch
Bücher *) , Rosinen und Schachteln mit Arznei werden auf diesen
Avisos öfters erwähnt. Zuweilen werden auch einzelne Briefe ganz
besonders empfohlen. So in dem Aviso vom 12. Juni 1609, worin
es heüst: Baccomando ä V. S. VindiMa lettera per il Signor Carlo
WesseUe et la prego de far procurar la riposta.
Am 16. März 1601 schickten Ferdinando und David von Tassis
von Venedig an ihren Vetter Lamoral von Tassis zu Brüssel ein
kleines Gemälde des bekannten Malers Hans Rottenhamer ^),
welcher damals in Venedig weilte. Das Bild stellte die Venus und
den Cupido dar, welcher ihr einen Spiegel vorhält, mit einem Satyr
im Hintergrunde. Das Gemälde kostete 20 Skudi und war nach dem
Urteil berühmter venezianischer Maler von wunderbarer Schönheit (di
marauigliosa beleem), — Nach einer eigenhändigen Aufzeichnung des
Lamoral von Tassis, der wohl mehrere Bilder von Hans Rottenhamer
besafs, trugen dieselben die Marken:
HRoUenhamer FI oder HR
Vendia 1598
1581 Venetia.
In dem Aviso d. d. Venedig, den 13. November 1609 beschwert
sich Ferdinando de Tassis über einen gewissen Ludovico Lopes, der
ihm zumute, Pakete von der Gröfee eines halben Felleisens und mehr
als 1000 Unzen schwer mit der Post zu befördern. Auch führt er
Klage über die Postämter zu Köln und Frankfurt (li offUij di CoUonia
1) Am 7. Dezember 161 2 schickte Ferdinando de Tassis aus Venedig an seinen
VeUer, den Freiherm Lamoral von Tassis in Brüssel, ein Paar Augengläser und zwei
Exemplare des von Ottavio Codogno verfafsten Itinerarios. Vgl. Historisches Jahrbach.
Jahrgang 1893. S. 64 ff.
2) Ein Schüler Tintorettos. Geboren za München 1564; gestorben za Aogsbnrg 1623.
— 13 —
et Francofort), welche seit Monaten durch allzu schwerwieg-ende Geld-
sendung^en die armen Postillone (i poveri postiglioni) zur Verzweiflung
brächten. Das Bedenklichste hierbei sei, dafe die Wegelagerer, wenn
sie einmal einen so ergiebigen Fang gemacht, die Ordinaripost in
ständige Gefahr bringen würden. Aus der Datierung der Venetianer
avisi , welche nach Brüssel bestimmt sind, geht hervor, dafe sie sämt-
lich an einem Freitag um 8 Uhr abgefertigt wurden. Der Posttag
für die nach Deutschland und nach den Niederlanden von Venedig
abgehende Ordinaripost war also der Freitag. Wie sich aus den An-
kunftsvermerken der Avisi ergibt, betrug die Beförderungsfrist zwischen
Venedig und Brüssel lo bis ii Tage.
Es folgt nun der Frankfurter Aviso des kaiserlichen Postmeisters
Johann von den Birghden.
lUttstre signore mio osservatissiino >).
Hoggi 3. scrissi hi Vostra Signoria lUastrissima con TOrdinario, conquale mandai
le sollte pieghi & lettere, per diversi, n'aspetto deUa riceauta aviso.
Troro mi poi con la di Vostra Signoria niofitrissima daUi a6. stantet TOrdinario,
alla quäle respondcndo dico, d'haner fatto dar a tntte il douato ricapito, ma Tordinario
fo suaUeggita, et molti plichi et lettere mal conditionate per Aviso.
n^ niedesinio piaccra ä Vostra Signoria Illustrissima segua drllc congiontc che sono
per diversi, auisaado me con la prima il seguito, con bacciargli le mani. Nostro Sig-
nore Iddio quardi Vostra Signoria nustrissima di Malo.
Di Francaforte. 31. di Marxo 1624.
Un pUcho per BmsseUes Affettionatissimo per servirla
Doi per Anversa nel quäle Qiovanni Von den Birghden
Uno per Londres 14 lettere per Toumay m. p.
a per Arras, z per Middelborg
I per Valenxin, 4 per Parigi
I per Rouan» 6 per LUle,
9 firanche 2x3 pagabile.
Auf der Rückseite des dreimal gefalteten, nicht versiegelten halben
Bogens steht:
Anaersa *)
i) Die fettgedruckten Stellen dieses Aviso sind mit Tinte geschrieben, während das
fibrige gedruckt ist.
3) Antwerpen.
— 14 —
Übersetzung :
Hochedler, sehr verehrter Herr!
Heute um 3 Uhr schrieb ich ao Euere Herrlichkeit mit der Ordinaripost, mit
welcher ich die gewöhnlichen Pakete nnd Briefe fiir verschiedene (Postämter) abschickte.
Über deren Empfang erbitte ich mir Nachricht.
Mit Euerer Herrlichkeit Schreiben vom 26. laufenden Monats traf die Ordinaripost
bei mir ein. In Beantwortung desselben erkläre ich, dafs ich alle Briefe an ihre Adresse
habe befördern lassen. Aber die Ordinaripost ist beraubt worden, und viele Pakete
nnd Briefe sind in üblem Znstande gemäfs Bericht.
In gleicher Weise möge Euere Herrlichkeit aus dem Angefügten entnehmen, wohin
die einzelnen Briefschaften gerichtet sind. Bitte um eine Bestätigung des Empfanges
mit erster Gelegenheit. Mit Handkufs. Unser Herr möge Euere Herrlichkeit vom Übel
bewahren.
Von Frankfurt, 31. März 1624.
Ganz ergebenster Diener
Johann von den Birghden m. p.
Ein Paket nach Brüssel. Zwei nach Antwerpen, worin eines nach London.
14 Briefe nach Toumay, 2 nach Arras, i nach Middelborg, i nach Valenzin, 4 nach
Paris, I nach Rouen, 6 nach Lille. 9 portofreie und 113 unfrankierte.
Zur besseren Würdigung dieser Avisi dient eine Abrechnung
(Conto deüe leUere) des Kaiserlichen Postamts zu Venedig mit dem
Generalpostamt in Brüssel, wie sie uns fiir die Monate Januar, Februar
und März des Jahres 1619 über den Briefverkehr auf der Poststrafse
von Venedig nach Antwerpen vorliegt.
1619.
Conto delle lettere mandate per Anuersa.
Adi 4 Genaro mandate per Anuersa oncie 174 L 182. 14
adi II detto mandate per Anuersa „ 148 „ I55« ^
adi 18 „ 164 „ 172. 4
adi 25 „ 180 „ 189. —
Adi primo Febraro „ 139 ., 145. 19
adi 8 detto „ 129 „ 135. 9
adi 15 „ 150 M 157. 10
adi 22 „ 98 „ 102. 18
Adi primo Marzo „ 158 „ 165. 18
adi 8 detto „ 202 „212. 2
«di 15 , 163 „ 171. 3
adi 22 „ 199 „ 208. 19
adi 29 „ 195 ti 204. 15
L2203S 19
— 15 —
Conto dellc lettere maodate per Collonia.
Adi 4 Genaro mandate per Collonia oncie 163 L
adi II dctto
adi 18 ... .
adi 25 . . . .
Adi primo Febraro
adi 8 detto
adi 15 . . . .
adi 22 . . ; .
Adi primo Marzo
adi 8 dctto
adi 15 ... .
adi 22 ... .
I)
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1»
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137
128
162
166
125
H3
146.
123.
115.
149.
124.
112.
138.
144.
126.
121.
118.
14
6
4
16
8
4
10
12
10
14
L1575S18
Conto delle lettere mandate per Augasta.
Adi 4 Genaro mandate per Aogasta oncie 106 L 47. 14
adi II dctto „ iio „ 49. 10
adi 18 „ 126 „ 56. 14
adi 25 „ 140 „ 63. —
Adi primo Febraro , 85 „ 38. $
adi 8 detto „ 88 „ 39. 12
adi 15 „ 106 ,. 47. 14
adi 22 „ 90 1. 40. 10
Adi primo Marzo • „ 120 „ 54. —
adi 8 detto „ 120 ,, 54. —
adi 15 „ 98 „ 44 2
adi 22 „ 79 ,. 35- "
adi 29 . . . „ 84 „ 37. 12
L608 S 4
Conto delle lettere nennte d'Augnsta.
Adi 2 Genaro nennte d'Augusta oncie iio L 49. 10
adi 9 detto „ 100 ,, 45. —
adi 16 ,, 106 „ 47. 14
adi 23 „ 106 „ 47. 14
adi 30 „ 120 „ 54. —
Adi 6 Febraro „ 120 ,, 54. —
adi 13 detto , 112 ,, 50. 8
adi 20 „ 118 „ 53. 2
adi 27 „ 106 „ 47. 14
Adi 6 Marzo ., 112 „ 50. 8
adi 13 „ 113 „ 50. 17
adi 20 „ 95 M 42. 15
adi 27 95 »» 42. 15
L635S17
16 —
Conto delle lettere mandate per Francfort.
Adi 4 Genaro mandate per Francfort oncie
adi II detto ,
adi l8
adi 25
Adi primo Febraro
adi 8 detto
adi 15
adi 22
Adi primo Manco
adi 8 detto
adi 15
adi 22
adi 25
»
t»
>>
>»
7
5
8
8
5
5
7
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12
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106
73
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4.
3.
4.
4.
3.
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4.
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7.
18.
63.
43.
3-
16
16
4
16
4
12
16
L167 S 8
Samma
battuto
resta
2203.19
1575.18
608. 4
635.17
167. 8
L 5291. 6
1601 18
3689. 8
Pagate di piu nel conto delli tre mesi passati:
A conto di questi tre mesi L
Per semenza per il signor Grenerale . .
Per mift prouiggione ,
))
w
88.
10.
262.
10
18
10
L 361. 18
Pagati al signor secretario Cesareo da-
catti 200
„1240. —
L1601 S18
Resto in tutto L 3689. 8 Soldi fanno dacatti i) Venetiani 595 Soldi 8.
In dem vorliegenden Conto delle lettere werden natiirgemäfs nur
solche Briefschaften verrechnet, für die das Porto in Venedig selbst
erhoben wurde, sei es nun, dais diese Briefe bei ihrer Aufgabe in
Venedig frankiert worden waren, oder sei es, dafs sie daselbst un-
frankiert ankamen, wie dies bei den von Augsburg kommenden Brief-
schaften die Regel war. — Über den Briefverkehr in der umgekehrten
Richtung, also für. die Postlinie Antwerpen — Venedig, mit Ausnahme
i) Der Venezianer Dukaten ist hier zu 6^ Lire berechnet
I»
— 17 —
der soeben erwähnten von Augsburg kommenden unfrankierten Briefe,
gibt also die vorliegende Abrechnung keinen Aufechlufs.
Als Einheit für die Berechnung diente die Unze. In Italien und
im deutschen Reiche war die Unze der i6. Teil eines Pfundes zu
32 Lot Eine Unze betrug also 2 Lot oder rund 30 Gramm. Bei
der Berechnung kommen im vorliegenden Falle nur ganze Unzen in
Betracht (nicht etwa auch Bruchteile derselben). Für die Höhe des
Portos war das Gewicht und die Entfernung mafsgebend. Es kostete
eine Unze von Venedig *)
nach Antwerpen 21 Soldi,
nach Köln 18
nach Frankfurt 12
nach Augsburg 9
Der Gesamtbetrag des in Venedig aus dem Briefverkehr mit
Antwerpen, Köln, Frankfurt und Augsburg vereinnahmten Portos be-
tragt für das erste Quartal des Jahres 161 9 5291 Lire 6 Soldi (richtig
5 191 Lire 8 Soldi). Davon gehen die vom Venezianer Postamte ge-
machten Auslagen und die Provision des Kaiserlichen Postamtes da-
selbst mit 1601 Lire 18 Soldi ab, so dafs sich ein Überschufs von
3689 (richtig 3589) Lire 8 Soldi für das Taxissche Generalpostamt in
Brüssel ergibt
Auffallend erscheint es, dafs für die am 29. März abgehende
Ordinaripost keine Briefschaften für Köln verzeichnet sind. Ist diese
Position etwa nur vergessen worden? Bei der Verrechnung der am
21. März abgegangenen Frankfurter Post sind für 50 Unzen nur 3 Lire
berechnet, statt 30 Lire.
Der Abrechnung liegt ein kleiner Zettel bei mit den Worten:
Mando a Vostra Signoria li conü deUe tre mesi
Genaro, Febraro e Marzo, che importa ducatti
Venitiani cinqae cento e Donanta cinque.
Wie aus einem Schreiben des Ferdinando von Tassis an den
kaiserlichen Erbgeneraloberstpostmeister Freiherrn Lamoral von Tassis
i) Zum Vergleiche mögen hier die Taxen angeführt werden, welche nach einer
Postiostroktion ans dem Jahre 1599 vom Königlich Spanischen Postamte in Mailand für
die Unxe erhoben worden. Für Briefe von Rom 12 Soldi, von Neapel 15 Soldi, von
Sitiiien 18 Soldi, von Florenz and Ancona 8 Soldi, von Bologna, Ferrara und Modena
6 Soldi , von Spanien 26 Soldi and 3 dineros (Kapfermtinze) , von den Niederlanden
ebensoviel, von Lyon 30 Soldi, vom kaiserlichen Hof 12 Soldi, von Trient 8 Soldi, von
Venedig, Padnm nnd Verona 9 Soldi, von Bergamo and Genoa 4 Soldi. Historisches
Jihrboch. Jahrgang 1892, S. 57.
2
— 18 —
zu Brüssel, d. d. Venedig, den ii. Januar 1619, ersichtlich ist, betrug
in dem unmittelbar vorausgebenden Quartal, also vom i. Oktober bis
31. Dezember 16 18, der dem Generalpostamte in Brüssel zukommende
Gewinn auf der Postlinie Venedig — ^Antwerpen 750 Venezianer Dukaten.
Dieser verhältnismäfsig grofse Überschuß, welcher schon seit drei bis
vier Jahren regelmäfsig im Quartal erzielt wurde, rührte zu einem
guten Teile von dem Porto her, das von Venezianer Kaufleuten für
allwöchentliche Perlensendungen nach den Niederlanden entrichtet
wurde, obschon die betreffenden Pakete für die halbe Taxe (a metao
porto) befördert wurden. Nach der Berechnung des Ferdinando von
Tassis betrug das Porto hierfür im Quartal mehr als 200 Dukaten.
In demselben Schreiben wird noch bemerkt, daüs man die vom General-
postmeister bestellte Laute (Harfe?) bei erster Gelegenheit zu Schiff
nach Amsterdam oder Dünkirchen abgehen lassen werde. Dies In-
strument war wohl seiner Gröfse halber für eine Beförderung mit der
Post ungeeignet.
Zum Vergleiche möge hier noch der venezianische Conto deUe
lettere über das vierte Quartal des Jahres 161 4, wenigstens in seinen
Hauptpunkten, herangezogen werden.
Die Portoeinnahmen des Postamtes zu Venedig beliefen sich
während dieser Zeit bei 13 wöchentlichen Ordinariposten für die
Briefe nach Antwerpen auf 2221 IJre 16 Soldi,
Köln „ 13 16 n 12
Augsburg „ 663 ,. 6
[., „ Frankfurt „ 49 „ o „]
von Augsburg „ 678 „ 3
Summa 4879 Lire 17 Soldi *).
Für die nach den Niederlanden abgehende Ordinaripost war der
Freitag, für die von dorther kommende der Mittwoch Posttag. Die
erste Ordinaripost wurde am 3. Oktober nach Antwerpen abgefertigt,
die letzte am 26. Dezember, also am zweiten Weihnachtstage, was
dafür spricht, dafs des Feiertags halber der Abgang der Ordinaripost
nicht etwa aufgeschoben wurde. Von den Niederlanden kamen in
diesem Quartal nach Venedig 14 Ordinariposten, die erste am i. OJ^'
tober, die letzte am 31. Dezember.
„ Augsburg „ 663 ,1 6
i) Das Porto (tir die nach Frankfart abgegangenen Briefe im Betrage von 49 ^^^
ist in diese Summe nicht eingerechnet Hier sowohl als im Konto des Jahres 1019
fallt der geringe Briefverkehr zwischen Frankfart and Venedig aof. Wahrscheinlich gioS
die Mehrzahl der Frankfurter Briefschaften von Venedig anfrankiert ab.
»» ^ f.
II
- 19 —
Die der Gesamteinnahme von 4879 Lire 17 Soldi gegenüber-
stehenden Gegenleistungen betrugen:
300 Dukaten ') bezahlt den Herren
Vanuffle und Qemens . . . 1860 Lire,
Ein Guthaben von der vorausgehenden
Quartalrechnung 877 „ 5 Soldi,
150 dappie di Sp<igna geschickt dem
Generaloberstpostmeister . . 2880
Eine Zahlung an das Postamt zu Trient
für eine Extrapost von Flandern 25
Vergütung für das Postamt Venedig 262 ,, 10 „
Summa 5904 Lire 15 Soldi.
Demnach waren dem Ferdinando von Tassis für die Zeit vom
I.Oktober bis 31. Dezember 16 14 1024 Lire 18 Soldi gutzuschreiben,
welche bei der Abrechnung für das nächste Quartal beglichen werden
sollten. Da auch in der Quartalrechnung des Jahres 1619 die gleiche
Summe als Vergütung (proviggione) vorkommt, so ist der Schlufs be-
rechtigt, dafs es sich dabei nicht etwa um eine prozentuale Tantieme,
sondern um eine ständige Besoldung handelte, die für das Jahr 1050 Lire
betrug, wobei die 50 Lire wahrscheinlich für Bureauutensilien ge-
rechnet sind.
Die beiden Conti deUe lettere aus den Jahren 1614 und 1619
sind nach einem gewissen Schema von derselben Hand auf die drei
ersten Seiten eines ganzen sieben Gramm *) schweren Bogens ge-
schrieben, dessen letzte Seite frei bUeb. Die vorli^enden Schrift-
stücke sind als statistische Aufzeichnungen über den internationalen
Briefverkehr aus jenen Zeiten ohne Zweifel von grofser Seltenheit.
i) Der Dukaten ist auch hier nach dem Kurse von 6} Lire oder 6 Lire 4 Soldi
ugescfalagen. Auf die Lire gingen (wie noch heute) 20 Soldi. Vgl. Lnschin von
Ebengreath, Allgemeine Münzkunde und Oeldgesehichie (München 1904), S. 155.
3) Anf eine Briefnnze (30 Gramm) gingen also bequem vier dieser Bogen „ Post-
Papier*'. Ich erwähne dies zum Vergleiche mit unserem modernen Oberseepostpapier.
Alf 30 Gramm gehen hiervon sogar sechs Bogen des gröfsten Formats.
2*
— 20 —
Mitteilungen
ArchlTe. — In dem Aufsatze Neuere Wirtachaftsgesdhichte (Deutsche
Geschichtsblätter 6. Bd., S. 193 — 235) hat der Herausgeber dieser Zeit-
schrift eine Reihe Arbeiten über das wirtschaftiiche Leben besonders des
XIX. Jahrhunderts kritisch beleuchtet und ist auf Grund der Untersuchung
zu der Forderung gelangt, es sei notwendig, die aus der Privatunter^
nehmung hervorgegangenen Urkunden des Wirtschaftslebens
besonders aus dem letzten Jahrhundert nachträglich so gut,
wie es eben geht, zu sammeln, vor allem aber von jetzt an in
der Gegenwart bereits in dieser Richtung tätig zu sein. Eine
Anstalt, in der vor allem das Schreibwerk, welches aus dem Geschäftsbetrieb
der Privatuntemehmungen hervorgegangen ist, die Geschäftsbücher einschliefs-
lich des Briefwechsels, gesammelt wird, bezeichnet der Verfasser ab Wirt-
schaftsarchiv und umschreibt das Wesen und den Zweck eines solchen
im einzelnen. Diese Ausführungen waren ftir die Geschichtsforscher bestimmt
und haben namentlich im Kreise der Archivare auch manchen Widerhall
geftmden, aber nach der praktisch-organisatorischen Seite hin sind doch an
dem aufgerollten Problem viel weitere Kreise interessiert, vor allem die als
Unternehmer im praktischen Leben stehenden Männer, Kaufleute und Fabri-
kanten, nicht minder aber die Vertreter der Wirtschaftswissenschaft und die
Interessenvertretungen des Handeb, der Industrie, Landwirtschaft usw. Diese
Kreise namentlich mufsten mit dem Gedanken vertraut gemacht werden, und
ihnen gegenüber bedurfte die Forderung auch einer eingehenderen wirtschafts-
wissenschaftlichen, teilweise sogar sozialpolitischen Begründung. Deshalb hat
der Verfasser seine Ausführungen erweitert und, ftir aUe BeteiUgten zugäng-
lich, in Buchform') vorgelegt, nicht zum wenigsten, lun die Grundlage
für eine öffentliche Erörterung des Planes zu schaffen.
Der Stoff ist in sieben Kapitel gegliedert, deren Überschriften lauten:
Das Wirtschaftliche in den Darstellungen der neueren deutschen Oeschichte
(S. I — 9), Wirtschaflsgeschichie als Teil der Wirtschaflsunssensehaß (S. 10 — 20),
Die Unternehmung (S. 20 — 36), Die einzelne Unternehmung als Oegertstand
der Wirtschaflsforschung (S. 37 — 66), Die Organisation von Wirtschafts-
archiven und insbesondere von unrtschaftlichen Bezirksarchiven (S. 66 — 87),
Was soll in einem unrischaßlichen Bezirksarchiv gesammelt werden? (S. 87 — 98)
und Der Wert der Wirtschaftsgeschichte für das praktische Leben (S. 99 — 1 10).
Hieraus bereits ist der Gedankengang im wesentlichen ersichtlich und vor
allem der Zusammenhang mit der Geschichtsforschtmg, der diese Zeitschrift
zu dienen berufen ist. Für die ortsgeschichtliche Forschung im beson-
deren sind die Ausführungen von Belang, die sich mit den Geschichts-
vereinen beschäftigen: ihnen wird die Aufgabe gesteUt, sich dauernd und
zielbewufst lun die Entwickelung des wirtschaftlichen Lebens in ihrem Arbeits-
gebiet zu kümmern und alle einschlägigen urkundlichen Zeugnisse — nament-
lich Geschäftsbücher einzelner Firmen — zu sammeln. Die Tätigkeit, die
der Barmer Lokalverem des Bergischen Geschichtsvereins bisher
i) Armin Tille: Wirtaehaftsarchive [«> Sozialwirtschaftlichc Zeitfragen, heraus-
gegeben von Dr. Alexander Tille, Heft 5/6]. Berlin, Verlag von Otto Eisner 1905,
Xin and HO S. M. 1,60.
— 21 —
schon in dieser Richtung entUtet hat, wird S. 83 anerkannt und kann
f&r andere Vereine vorbildlich werden; ebenfalls wird dort aber der Bemü-
hungen gedacht, durch die der Verein für Geschichte der Deutschen
in Böhmen die Geschichte der Industrie des Landes aufzuklären gesucht
hat Auch in dieser Hmsicht wäre Nachahmung des Beispieb durch andere
Vereine recht sehr am Platze.
Femer macht der Verfasser den Anüsuig mit einer Bibliographie der
Torhandenen Firmengeschichten: 60 Titel vermag er namhaft zu machen,
nm denen 48, die er selbst eingesehen hat, in kurzen Bemerkungen
kritisiert werden. Es ist selbstverständlich, dafs nicht entfernt Vollständig-
keit errddit worden ist, aber es liegt doch nun ein Anfang vor, und die
Ausgestaltung kann folgen; jeder Hinweis auf eme übersehene geschicht-
liche Beschreibung einer einzelnen Firma — meist ist es eine Jubiläums-
schrift — wird dem Verfasser willkonmien sein. Aufserdem wird es aber
anch notwendig werden, eine andere Gattung von Büchern mehr zu beachten,
das smd die Memoiren, Briefwechsel und Biographien, die uns
cinzebe hervorragende Männer der Arbeit in ihrer £ntwickelung schildern
und namentlich in ihr Seelenleben, ihr Wollen und Wirken Einblick tun
lassen. Auf derartige Bücher hat der Verfasser nur S. 40 kurz hingewiesen,
aber von einer Aufeählung der ihm bekannten vorläufig abgesehen, um nicht
one allzu lückenhafte Zusanmienstellung zu geben, aber in der Folgezeit
wird auch eine derartige Bibliographie bearbeitet werden müssen. Natur-
gemäis handelt es sich auch hier stets um örtliche Erscheinungen, und
gerade die Geschichtsvereine werden in ihren Büchersammlungen am ehesten
einschlägige Bücher in gröfserer Anzahl besitzen. Mögen sie ihnen künftig
ihre ganz besondere Aufmerksamkeit zuwenden!
Alles in allem bedeutet das Buch über Wirtschaftsarchive eme Mahnung
an aUe geschichtlich interessierten Kreise, die jüngste Vergangenheit und die
unmittelbare Gegenwart mehr als bisher geschichtlich zu betrachten und
das Material, welches nach einigen Jahuehnten als geschichtlich wertvoll
geschätzt wird, von vornherein systematisch zu sammeln. Dafs eine
sokJie Mahnung heute notwendig und nützlich ist, wird jeder zugeben, der
miser tägliches Leben mit dem Auge des künftigen nach Quellen suchenden
Geschichtsforschers beobachtet.
Famlllenforsehnng. — Wiederholt ist bereits in diesen Blättern von
der Stammbaumkunde und Ahnenforschung die Rede gewesen^),
deren Beziehung zur Landes- und Ortsgeschichte und Bedeutung für die
Geschichtsforschung überhaupt, namentlich für die Sozialgeschichte, nicht
veiter erörtert zu werden braucht. Wie grofs aber fUr den Forscher, der
die Ahnen einer Person zu verfolgen sucht, die Schwierigkeiten tatsächlich
smd, das wurde bereits an der zweiten der eben genannten Stellen auseinander
gesetzt, wo zugleich ein Vorschlag zur Kenntnis der Leser gebracht wurde,
ua die genealogische Arbeit gewissermafsen zu organisieren und losgelöst von
anderen Aufgaben als Selbstzweck zu fördern. Ein solches Verfahren ist
beim heutigen Stande der Wissenschaften auch sachlich gerechtfertigt, denn
•
1) VgL 3. Bd. (1903), S. 182— r85 und 4. Bd. (1903), S. 272-274.
— 22 —
so gewifs die Genealogie als hbtorische HilE^wissenschafl au%eblüht ist, so
sehr hat sich doch auch gezeigt, dals sie durchaus nicht nur zur Geschichts-
wissenschaft in Beziehung steht, sondern vor allem zur Gesellschaftswissen-
schaft, und von dieser Seite her sind der Familienforschung Aufgaben gestellt
worden, die wesentlich über das Geschichtliche hinausgehen. Vor allem
handelt es sich da um den sozialpolitisch so wichtigen Nachweis, dafs die
Zugehörigkeit zu einer Gesellschaftsklasse durchaus nicht erblich ist, sondern
dafs ein dauerndes Auf- und Absteigen auf der sozialen Leiter stattfindet,
wenn auch nur 3 bis 4 Generationen ins Auge gefafst werden. Schon um
dieser einen hoch wichtigen Lehre willen verdient die Familienforschung
eine systematische Pflege, die ihr gegenwärtig noch kaum zuteil wird, denn
in der Tat ist es heute in der Regel eine Einzelperson, die ihre eigene
Herkunft möglichst weit zurückzuverfolgen sucht und zu diesem Behufe
genealogische Zusammenhänge aufzudecken unternimmt Wenn bisher für
allgemeine wissenschaftliche Zwecke im grofsen ähnliche Arbeiten kaum ver-
sucht worden sind, so liegt das sicher nicht zum wenigsten an der Schwierig-
keit, mit der die Sammlung genealogischer Daten über Durchschnitts-
menschen verknüpft ist, nicht etwa daran, dafs die Probleme noch nicht
als solche erkannt wären % und deshalb wird auch nur durch Beseitigung
dieser Schwierigkeit auf eine Förderung der Genealogie als Wissen-
schaft gerechnet werden können.
i) Vgl. z. B. die hierher gehörigen AtL^^führungen von Gmelin in seinem Aufsätze
Die Verwertung der Kirchenbücher in dieser Zeitschrift i. Bd. (1900) S. 162 — 163
sowie Kekale vonStradonitz in den unten zu nennenden Mitteilungen der ZetürcU-
stelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte, i. Heft (1905), S. 24—25. —
Als rein wissenschaftliche Untersuchung ohne persönliche Nebenzwecke würde etwa
eine genealogische Arbeit zu betrachten sein, die sich die Aufgabe stellte zu prüfen, welche
Personen bis heute die Nachkommenschaft von Leuten bilden, die etwa im Jahre 1 700 eine
gleichartige Gruppe darsteUten. Dabei wäre etwa zu denken an die Personen, welche
gleichzeitig an irgendeiner Universität immatrikuliert wurden, oder an solche, die gleich*
zeitig einer bestimmten Innung irgendeiner Stadt als Mitglieder angehörten usw. Welcher
sozialgeschichtliche und sozialpolitische Grewinn aus solchen Untersuchungen sich
gewinnen liefse, ist gar nicht abzusehen. Das hiefse die Familien forschung in
den Dienst der Sozialwissenschaft stellen. Gerade die Vertreter der letzteren
haben dies teilweise schon längst erkannt und sich in ihren Arbeiten auf genealogisches
Gebiet begeben. Ottokar Lorenz hat in seinem Lehrbuch der gesamten wissen-
schaflliehen Genealogie (Berlin 1898) die grofsen Zusammenhänge, die von der Familien-
kunde zu den übrigen Wissenschaften hinüberleiten, aufgedeckt, und zwei andre Forscher
sind nachdrücklich von ihrem naturwissenschaftlichen Standpunkte aus für die
Pflege der Familiengeschichte eingetreten: das sind Alfred Ploetz (Berlin), der das
Archiv für Rassen- und Oesellschaftsbiologie herausgibt, und Ludwig Woltmann
(Eisenach), der seit 1902 die Monatsschrift Politisch-anthropologische Revue (Eisenach,
Thüringische Verlagsanstalt) veröffentlicht. Letzterer hat sich auch in seiner Politisehen
Äntfiropologie (das. 1903), S. 74 — 75 über den Wert genealogischer Untersuchung für
die wichtige Frage der Vererbung geäufsert. Es handelt sich hierbei um Äufserungen
einer mächtigen Bewegung, in deren Dienst die Familienforschung treten kann, wenn sie
wissenschaftlich und intensiv betrieben wird. Erfreulich ist es, wenn man in einer An-
zeige des Ahnentafelatlas von Stephan Kekule von Stradonitz (Berlin 1898 bis
1904) in der Wissenschaftliehen Beilage der Leipziger Zeitung 1905 Nr. 48 lesen
kann : „Wer Bevölkerungsstatistik treibt oder ähnlich gerichteten Bestrebungen huldigt,
kommt ja, will er wirklich die auf diesem Felde sich abspielenden Wandlungen scharf
erkennen, ohne ein intensives Studium von Stammbäumen und Ahnentafeln gar nicht aus;
verzichtet er kurzerhand darauf, dahn kann mtm seinen Aufstellungen und Behauptungen
nur den Wert von Phrasen zubilligen, die jeglicher Verbindlichkeit bar sind" (Helmolt).
— 23 —
Die oben erwähnte 1903 geplante Organisation, um für die Allgemein-
heit imd breite Öffentlichkeit möglichst zahlreiche genealogische Tatsachen zu
sammeln, ist Anfang 1904 tatsächlich ins Leben getreten: es ist die Zen-
tralstelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte in Leipzig,
Nemnarkt 29. - Über ihren Zweck und die zugrunde liegende Absicht gibt
der Name bereits genügende Auskunft, aber über ihre Arbeitsweise sind
oäbese Angaben erforderlich, wenn der für die Allgemeinheit aus dieser
Sammeltätigkeit entspringende Nutzen gewürdigt und die öffentliche Aufmerk-
samkeit darauf gelenkt werden soll.
Wie die Verhältnisse in Deutschland liegen, lassen sich wissenschafdiche
Angaben, die neu auftauchen, nur dadurch lösen, dafs die dazu erforder-
lichen Mittel durch Zusammenwirken der Interessenten aufgebracht werden.
C^öfsere Kapitalstiftungen für solche Zwecke sind bei uns noch ganz selten,
tmd öffentliche Mittel lassen sich ebenfalls nicht so leicht dafür flüssig machen.
Als Ideal würde zweifellos eine deutsche Reichsbehörde — etwa mit dem
Namen „Genealogisches Reichsamt" — gelten müssen, dem die
Pflege der Genealogie als Wissenschaft und ihre praktische Nutzbannachung
obläge, aber da gegenwärtig an so etwas kaum gedacht werden kann, so
hat sich ein Verein gebildet, der sich etwas langatmig „Verein zur Be-
gründung und Erhaltung einer Zentralstelle für deutsche Personen- tmd Familien-
geschichte" nennt tmd der ledi^ch den Zweck verfolgt, die Mittel für die
Uoterhaltimg der Zentralstelle zu beschaffen tmd für deren Verwalttmg zu
»)igen. Die Mitgliederzahl des Vereins beträgt gegenwärtig beinahe 300;
der Jahresbeitrag ist auf mindestens 5 M. festgesetzt, aber Beiträge von
10 VL tmd 20 M. werden seitens nicht weniger Mitglieder entrichtet. Atifser-
dem sehen die Satztmgen „Mitglieder auf Lebenszeit" vor, die durch ein-
malige Zahltmg von 100 M. die Mitgliedschaft erwerben. Wohlhabenden
Privadetiten ist atif diese Weise die Möglichkeit gegeben, die Zwecke der
Zentralstelle tatkräftig zu fördern. Besonderen Vorteil würde es bringen,
wenn Staatsbehörden als Mitglieder oder auf sonstige Weise der Zentral-
stelle Geldmittel zuführen tmd sie dadurch in ihrem Wirken unterstützen
würden; vorlätifig ist nur ein derartiges Mitglied, das Königlich Sächsische
Ministeritmi des Innern, zu verzeichnen. Im ganzen sind im Jahre 1 904 an
Mitgliedsbeiträgen 1393 M. eingegangen, aber für 1905 wird sich der Betrag
wesentlich höher belatifen.
An der Spitze des Vereins steht der neungliedrige „Geschäfts-
führende Ausschufs", dem zugleich die Verwaltung der Zentralstelle
obliegt. Fünf seiner Mitglieder (Vorsitzender, Schriftführer, Schatzmeister,
I. und 2. Beisitzer) müssen satzungsgemäfs in Leipzig ansässig sein; von
den übrigen 4 Beisitzern ist es erwünscht, dafs mindestens zwei auswärtige
smd. Gegenwärtig sind dies die bekannten Genealogen Dr. Stephan
Kekule von Stradonitz (Berlin) und Dr. Adolf von den Velden
(Weimar), während den Vorsitz Rechtsanwalt Dr. Hans Breymann (Leipzig,
Neomarkt 29), an den alle Sendungen zu richten sind, führt. Als Ziel steht
den Beteiligten die Einrichtung einer Geschäftsstelle unter Leitung
eines geschulten Genealogen mit wissenschaftlichen Hilfs-
kräften und Schreiberpersonal vor Augen. Dazu reichen allerdings
die Mittel gegenwärtig noch längst nicht, tmd so hat der GeschäfbfÜhrende
— 24 —
Atisschufs, der wöchentlich einmal als Arbeitsausschufs zusammenzu-
treten pflegt, nicht nur die Einrichtung und Leitung der Geschäftsstelle, son-
dern auch die Sammelarbeit und Auskunfterteilung selbst übernehmen müssen.
In einem gemieteten Räume sind die immerhin schon recht stattlichen Samm-
lungen untergebracht, imd als Hilfisarbeiter ist ein Student der Geschichte
dauernd tätig, der mit Eifer und Verständnis arbeitet. Mehr Heis sich bis-
her schlechterdings nicht erreichen, aber es besteht begründete Hoffiitmg,
dafs von 1906 an die Verlegung der Geschäftsstelle unmittelbar neben die
Arbeitsräume des Vorsitzenden und die Anstellung einer ständigen Schreib-
kraft möglich werden wird.
Die sachliche Aufgabe der Zentralstelle besteht darin, in erster Linie
die seit Jahrhunderten geleistete familiengeschichtliche Arbeit und die Ergeb-
nisse der täglich vorgenonmienen neuen Forschungen für die Gesamtheit
nutzbar zu machen. Zu diesem Behufe gilt es die reiche Sammelliteratur
und ebenso die über einzelne Familien vorhandenen Schriften zusammenzu-
bringen und deren Inhalt sowie den der verschiedensten handschriftlichen Quellen
zu einem grofsen alphabetischen Zettelkatalog zu verarbeiten, so dafs —
dies wäre das unerreichbare Ideal — der Familienzusanmienhang j e d e s im
Laufe der letzten drei Jahrhunderte wenigstens lebenden Deutschen auf einem
Zettel verzeichnet stände. Aus diesem Material soll dann gegen geringes
Entgelt jedem Frager Auskunft erteilt werden. Liegt — von einzelnen
AusnahmeftUlen abgesehen — eine derartige Auskunftserteilung heute auch
noch in weitem Felde, da eben erst das Material zusammengebracht werden
mufs, so ist sie hinsichtlich der Literatur, in welcher im einzelnen Falle
zu forschen ist, schon jetzt möglich, und zur Erleichterung solcher Arbeit
wird vor allem an die Veröffentiichung bibliographischer Arbeiten zur Genea-
logie gedacht. Femer sollen später auch eigene genealogische Untersuchungen
angestellt werden, sei es im Auftrage von Interessenten, sei es selbständig
seitens der Zentralstelle. Schliefslich ist das Augenmerk darauf gerichtet,
alles zu sanmieln, was über Familienverbände, Familienstiftungen und dgl. Aus-
kunft gibt, auch Namensforschung und Namenserklärung zu pflegen und dafür
Material anzusammeln. Kurz keine Frage, die mit dem Familienzusanmien-
hange der einzelnen Person in Verbindung steht, soll aufser acht gelassen
werden.
Dem Arbeitsplane liegt folgender einfache Gedanke zugrunde. ^'
freulicherweise finden sich jetzt in allen Kreisen des deutschen Volkes
Personen, die sich mit ihren Vorfahren beschäftigen und grofse Mühe und
Kosten aufwenden, um die für einen Stammbaum oder für eine Ahnentafel
notwendigen Daten zusammenzubringen. Leider ist der Erfolg oft recht genug
tmd zu einem grofsen Teile vom Zufall, von einem günstigen Griff abhängig«
denn eine unendliche Fülle genealogischer Tatsachen ist bereits einwandsfrci
festgestellt, selbst in gedruckten Schriften niedergelegt, aber der einzelne
Forscher ist nicht in der Lage, diese wenigen oder vielleicht die einzige 10
der umfangreichen Literatur enthaltene, für ihn in Betracht kommende Angabc
zu finden. Um dem einzelnen Nachforschenden, mag er aus persönlichem
Interesse nach seinen eigenen Vorfahren suchen oder zu geschichtlichen oder
rechtlichen Zwecken die Ahnen Dritter verfolgen, seine Arbeit zu erleichtem,
und zugleich um für künftige Untersuchungen verschiedenster Art zu allge-
— 26 —
mdnen berölkenuigswissenschafUichen Zwecken genealogisches Tatsachen-
material zu beschaffen, wiU die Zentralstelle gerade den umgekehrten
Weg einschlagen statt desjenigen, den der nach einer bestimmten Einzelheit
Forschende wählen mufs. Sie will alle nur irgend denkbaren Nachrichten
so, wie sie überliefert sind, mit genauer Quellenangabe auf Zettel übertragen,
diese zu einem alphabetischen Zettelkatalog vereinigen und so allmählich eine
grofse Sammlung erforschter genealogischer Tatsachen anlegen. Abgesehen
fon mehreren Nebenregistem , wie z. B. Zettelkatalog der im Druck vor-
liegenden Familiengeschichten, gibt es zwei Hauptregister: a) Grofse Zettel
fax genealogische Zusammenhänge; b) kleine Zettel für einzelne, nur
eine Person betreffende Tatsachen. Diese Formulare sind vorgedruckt
Tiod werden von Vereinsmitgliedern oder den Beamten der Zentralstelle aus-
gefällt. Die grofsen Zettel nennen am Kopf eine Person und unter dem
Strich x) deren Eltern, 2) deren Kinder; jede als Vater oder Mutter oder
als Kind genannte Person tmd ebenso der andere Ehegatte der am Kopf
bezeicimeten Person erhält einen besonderen Zettel. Einige Tausend der-
artige Formulare sind schon ausgefüllt, aber das Material, welches noch der
Bearbeitimg harrt, ist recht grofs. Da bekaimtermafsen schon 3 bis 4
Generationen zurück die Verzweigung der Familien aufserordentlich ausgedehnt
ist, so xntifs schon nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit die emzelne
am Ende des XVJII. Jahrhunderts genaimte Person, soweit sie überhaupt
NachkoQimen gehabt hat, für zahlreiche jetzt lebende Personen als Ahne
m Betracht kommen.
Um die Forschung des einzelnen Genealogen auch schon gegenwärtig
nach Möglichkeit zu fördern, sind an die Vereinsmitglieder Fragebogen
ausgegeben worden. Die Fragen, die der einzelne stellt, werden seitens der
Zentralstelle — voraussichtlich Ende des laufenden Jahres — ohne Nennung
des Fragers veröffentlicht und die etwa daraufhin einlaufenden Nachrichten
werden an die betreffenden Frager weitergegeben. Fragebogen I betrifft eine
einzige bestimmte Person oder Familie, und zwar ist erstens mitzuteilen:
Wa$ %Bt über die Person oder FbmiHe bereits bekannt und auf Orund welcher
Queüen ? und zweitens : Welche u>eitere Binxelheiten darüber u^erden xu vnssen
gewünscht ? Auf Fragebogen II dagegen soll einfach unter Angabe von Ort
und ungefiüirer Zeit eingetragen werden: Für folgende einzelne Familien
sammle ich Nachrichten jeder Art.
Am 21. November 1904 hat der Zentralstellenverein seine erste Jahres-
versammlung gehalten, tmd die zweite steht nahe bevor. Inzwischen ist im
April 1905 das erste Heft der Äfitteikmgen der ZentnüsteUe für deutsche
Bsrsonen- und Familiengeschichte (Leipzig, Breitkopf tmd Härtel, 1905, 46
S. groi8-8^) ausgegeben werden, tmd darin ist alles enthalten, was sich über die
Gründtmg, die Absichten tmd die Wirksamkeit der Zentralstelle bis zum Schlufs
des ersten Vereinsjahres sagen läfst. Jeder, der noch im Jahre 1905
die Mitgliedschaft erwirbt, erhält dieses Heft umsonst ge-
liefert Es sind darin auch zwei Vorträge abgedruckt, die atif der ersten
Jahresversanjnltmg gehalten worden sind tmd die in die wissenschaftliche
Genealogie einzuführen geeignet erscheinen. Adolf von den Velden
fordert m seinen AusfÜhrtmgen über Wert und Pflege der Ahnentafel neben
dem Stammbaum, der alle Nachkommen eines Stammvaters enthalten
— 26 —
soll, die Anlage der Ahnentafel, die von der gegenwärtigen Generation
aus rückwärts schreitet. Da der Stammbaum sich vorwiegend an den Namen
hält, so kommt darin die weibliche Nachkommenschaft in der Regel zu kurz.
Die Ahnentafel dagegen vermeidet diesen Übelstand ganz von selbst, da
für jede Person nach beiden Eltern geforscht werden mufs. Aufserdem
aber sieht der Forscher stets sofort, wo noch Lücken vorhanden sind,
während dies beim Stammbaum erhebliche Schwierigkeiten verursacht. —
Stephan Kekule von Stradonitz verbreitet sich über Wissenschaftliche
Oen^ealogie als Lehrfach und schildert kurz die Aufgabe, die diese neue
Disziplin im akademischen Unterricht zu erfüllen hätte. Handelt es sich
dabei auch um Zukunfbmusik, so verdient doch schon der Hinweis Be-
achtung, dafs tmter den geschichtlichen Hilfswissenschaften heute zwar die
Genealogie gewöhnlich aufgezählt, jedoch tatsächlich im akademischen Unter-
richt so gut wie nie als solche auch wirkUch behandelt wird, während
andrerseits die rechtliche Bedeutung dieser Wissenschaft tmd ebenso die
biologische, medizinische, soziale und statistische noch kaum
empfunden wird. Daraus aber ergibt sich, dafs es heute nicht mehr angeht,
die Genealogie ledigUch als geschichtliche Hilfswissenschaft zu betrachten,
dafs ihr vielmehr Selbständigkeit zugesprochen werden mufs, weil sie
nach allen Seiten hin Beziehungen besitzt, von fast allen Wissenschaften
Anregungen empfängt und diese wiederum zu befruchten geeignet ist
So viel wäre von den Leistungen der Zentralstelle während ihres andert-
halbjährigen Bestehens zu berichten. Es ist gewifs daraus ersichtlich ge-
worden, welche Bedeutung ihrer Tätigkeit auch für die Orts- undLandes-
geschichte zukommt, tmd deshalb sollte sie von den Forschem auf diesem
Gebiete besonders beachtet und unterstützt werden. Das gilt namenüich
auch von den Geschichtsvereinen; die Interessengemeinschaft mit ihnen
hat der Zentralstellenverein seinerseits dadurch bekundet, dafs er sich sofort
nach seiner Gründung dem Gesamtverein der deutschen Geschichts- und
Altertumsvereine angeschlossen hat. Unter seinen Mitgliedern finden sich bis
jetzt auch bereits zwei landschaftliche Geschichtsvereine. Auch solche Vereine
und Personen, die von einer Erwerbung der Mitgliedschaft abstehen zu sollen
glauben, können die Ziele der Zentralstelle recht wohl fördern, indem sie
erstens ihre Mitglieder oder andere Personen, die in genealogischen Dingen
Rat tmd Hilfe suchen, auf die Leipziger Zentralstelle aufinerksam machen,
tmd zweitens indem sie ihr eigenes genealogisches Tatsachenmaterial behufs
Verzetteltmg zur VerfÜgimg stellen.
Möge diese AufTordertmg von greifbarem Erfolg begleitet sein!
A. T.
Eingegangene Bflcher.
Mettig, Konstantin: Über die Wirksamkeit des westfälischen Femgerichts
in Riga [= Sitztmgsberichte der Gesellschaft fUr Geschichte imd Alter-
tumsktmde der Ostseeprovinzen Rufslands aus dem Jahre 1903 (Riga,
W. F. Hacker 1904), S. 14—18].
Müller, Josef: Das sexuelle Leben der christlichen Kulturvölker. Leipzig,
Th. Griebens Verlag (L. Femau), 1904. 238 S. 8®. M. 4,00.
Herautgeber Dr. Amin Ttlle in Leipsif .
Druck und VerUf Ton FHedrich Andreas Perdiee, AkdengeMUechaft, Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
xur
Förderung der landesgeschichtlichen Forschung
VII. Band November 1905 2. Heft
Der H^nnsteig des Thüringer Waldes
Von
Ludwig Hertel (Hildburgbausen)
Obwohl seit dem Jahre 1896 ein eigener Verein besteht, der
<lie Erforschung des Rennsteigs auf seine Fahne geschrieben hat *),
-80 umschwebt den alten Bergzinnenpfad des Thüringer Waldes noch
manch unentschleiertes Geheimnis. Allerdings beginnt der Nimbus, der
{hm noch vor einem Menschenalter eigen war, zu schwinden, seitdem
^ der poesiefeindlichen Wissenschaft gelungen ist, ihn aus seiner
l^zenden Vereinsamung herauszuheben und ihm — durch Um-
fragen in allen Gauen des deutschen Vaterlandes — anderthalbhundert
Namensvettern zuzugesellen, die vordem gröfstenteils nur an Ort und
Stelle bekannt waren *). Immerhin bleibt er auch so noch eine ge-
richtlich - geographische Merkwürdigkeit ersten Ranges für das
Thüringer Land. Dafs der tagelang durch grünen Waldesdämmer
und auf dem First des Gebirges entlang führende Pfad auch dem
Wandersmann ganz eigenartige Reize enthüllt *) , dafs Dichter wie
i) Der „Rennsteigverein" zählt gegenwärtig 300 Mitglieder; sein Organ ist das
Jahrlicb sechsmal erscheinende Mareile (Hildbnrghaosen, Gadow & Sohn).
2) Mitzschke, Namenavettem des Rennsteigs in den Thüringer Monatsblättem, April
iS97ff. — Bühring, Der gegenwärtige Stand der Rennsteigforsehung (nach Mand-
irtgebieten geordnete Obersicht von 121 Rennsteigen) im Korrespondcnzblatt des Ge-
samtvereins der deutschen Geschichts- und Altertnmsvereine , Berlin, März 1898. —
Hertel, Die Rennsteige und Rennwege des deutsehen Sprachgebietes, Hildbarghäoser
"Gymnasialprogr. 1809. Das Ergebnis läfst sich dahin zusammenfassen, dafs im Norden
Deutschlands nur vereinzelte Rennsteige angetroffen werden, während sie in gröfserer
Anzahl und ziemlich gleichmäfsig über Mittel- und Süddeutschland, vorzugsweise die
(^irg*grgcnden, verteilt sind. Im einzelnen finden sich -~ unter Hinzurechnung der
später aufgefundenen «— im thüringisch- obersächsisch -schlesischen Sprachgebiet 22, im
vcstfälisch-niedersächsischen 8, im hessischen 33, im vogtländischen, main- und rhein-
frinkiftchen 35, im schwäbisch-alemannischen 50 und im bayerisch - österreichischen 14
-deranige Wege.
3) Btthring, Der Rennsteig als Reisexiel. Arnstadt 1898.
8
— 28 —
Scheffel und Baumbach sein Lob m allen Tonarten gesungen haben >),
sei nur im Vorübergehen erwähnt. Den Geschichtsforscher interes-
sieren vor allem die Fragen nach Bedeutung, Ursprung und Bestimmung,
Verlauf und Ausdehnung des Weges.
Bei der Natur des langgestreckten Kammgebirges, welches nur
an einzelnen Einsenkungen durch Strafsenzüge gekreuzt werden kann *),
ist von vornherein zu vermuten, dafs das Volk, welches ihn zu seinem
Herrschgebiete zählte, diese Höhe, bzw. deren Pässe, durch Be-
festigungen zu sichern suchte. Mindestens ist diese Vermutung be-
rechtigt für die ersten nachchristlichen Jahrhunderte, wo das südlicher
gelegene Land, das obere Werratal und das Mainland, eine Völker-
strafse für die verschiedensten von Nordost nach Südwest ziehenden
Wanderstämme bildete. Auf solche Befestigungen lädst in erster Linie
die häufige Wiederkehr des Namens „Warte**, dessen Kranz nament-
lich den westlichen Flügel des Rennsteigs umsäumt, mit ziemlicher
Sicherheit schlieisen. Während über die früheren Jahrhunderte die
Urkunden schweigen, sind wir über ein ganzes Verteidigungssystem
aus dem Jahre 1512 aktenmäfsig unterrichtet'). Damals liefe Kurfürst
Friedrich der Weise von Sachsen während einer Fehde mit den
unbotmäfsigen Erfurtern den ganzen Thüringer Wald durch einen vom
Dorfe Hörschel bei Eisenach bis in die G^end von Ilmenau ununter-
brochen fortlaufenden Verhau sperren, um der Stadt Erfurt durch
Schliefsung der Waldstrafsen die Zufuhr abzuschneiden und den Handel,
die Wurzel der Macht und Stärke Erfurts, möglichst lahmzulegen.
Verschiedene Umstände deuten darauf hin, dafe diese fast hermetische
Sperre, eine Art Landwehr, grofeenteUs nach Art der von Cäsar
(B. G. II 17) als Brauch der Nervier beschriebenen Verhaue ausgeführt
war. An den Stellen, wo die Hauptstrafeen von der Landwehr gekreuzt
wurden, verdreifachte man das „Genick** („Geheck**) und legte zu
beiden Seiten der Strafse Gräben an; zudem waren die Pässe durch
Schläge, Fallgatter und eiserne Ketten wohl verwahrt
Eine sehr praktische Bedeutung erlangte der Rennsteig unter der
Regierung Herzog Ernsts des Frommen von Gotha (1640 — 1675),
der anno 1634, nach der Schlacht bei Nördlingen, als schwedischer
1) Bekanntlich versetzt uns auch Gustav FrtjiAg im Anfang seines Ingo auf den Renn-
steig, den Grenzrain zwischen Thüringern und Katten, der „den guten Göttern geweiht ist^.
2) W. Gerbing, Die Pässe des Thüringer Waldes in ihrer Bedeutung für den
innerdeutschen Verhehr und das deutsehe Straßennetz, (Dissertation, HaUe 1904.)
3) Hefs, Der Thüringer Wald in alten Zeiten, (GoUia, Friedrich Andrea»
Perthes A.-G., 1898.)
— 29 —
Kommandeur mit Deckung des Rückzugs beauftragt, an den östlichen
Rennsteigpässen scharfe Scharmützel mit den ihn verfolgenden Kaiser-
lichen zu bestehen hatte und bei dieser Gelegenheit den Wert verteidi-
goDgs&higer Gebirgsübergänge kennen lernte. Unmittelbar nach dem
westfiilischen Friedensschluß ging er ans Werk, den Rennsteig zu
militärischen Zwecken nutzbar zu machen ^). War doch dieser weit-
schanende Fürst um jene Zeit auch in anderer Weise mit Wehrhaft-
machung seines Landes, namentlich im Hinblick auf die von Osten
drohende Türkengefahr, beschäftigt Von solchen Absichten geleitet,
hatte der Herzog dem Forstmeister David Schmidt von Georgenthal
und dem Oberförster Martin Nees zu Unterneubrunn den Auftrag er-
teilt, „den Rennsteig von der Eisenacher Gegend bis ins Reufs-Loben-
steiniscbe zu bereiten'* und über ihre Aufnahmen sorgfältigen Bericht
M erstatten. Gleichzeitig wandte sich der Herzog an sämtliche Terri-
totialherren des östlichen Thüringens mit dem Ersuchen, die zur „Be-
ratung" ausgesandten Beamten bei ihren Erkundungen nach Mög-
lichkeit zu unterstützen. So richtete er an Herrn Heinrich X. den
Jüngeren von Reufs-Lobenstein ein Schreiben, welches wir wegen seiner
Bedeutung für die ganze Frage hier abdrucken:
Demnach die Notdurft sein will, dafs man aaf Mittel und Wege denke, wie
ood welcher Gestalt gegen Cbursachsen, als unsern Creifs-Obristen, und gegen Eger
in Böhmen correspondenz zu halten und ufm Fall Bedürfnisses von einem Ort zum
andern auf den Gehöltzen und Höhen, also dafs man auf kein Dorf zukäme, ver-
deckt zu passieren, gleichermafsen wir einen Weg auf den Wäldern und Höhen von
Hessen anbero überm Thüringer Waldt bis an Euer territorium erkundiget, Als haben
wir Euch hiermit gnädigst ersuchen wollen, dafs Ihr doch durch die Eurigen aUes
Fleifses nachsehen lassen woUtet, ob von Lobenstein an etwa ein Weg, so immer
auf den Gehöltzen fort und auf kein Dorf ginge, allbereit vorhanden, oder im
widrigen, wie ein solcher Weg zu machen wäre, und wo am bequemsten durch die
Saal und also fort, wie gedacht, verdeckt gegen Eger zu kommen sein möchte.
Wie und welchermafsen nun solches befunden oder in Vorschlag kommen, auch
in was für Herrschaften mit solchem Wege Ihr grenzet, wollet Ihr uns hinwider
berichten und von des Weges Beschreibung Abschrift schicken.
Obgleich die aus dem Osten einlaufenden Antwortschreiben meist
«nbcftiedigend lauteten *), gelang es den Beauftragten doch, den Ver-
lauf des Weges von der Werra bis zur Saale festzustellen und zu
I) Btthring und Hertel, Dm- Bennsieig des Thüringer Waldes. Führer Mir
BtrpKmderung nebet geaekiehtUehen ütUereuehungen. (Jena, G. Fischer, 1896.)
S. 128—135.
3) So bescheinigt der Ortsrichter in Münchberg, „ mafsen ihm bemeltes Rennsteiges
Weg, der von Eisfeld ans bis in Böheim gehen solle, ganz im geringsten nichts bewnlst,
vo derselbe dorchgehen mdge, und dahero keine Nachricht erteilen können <<.
3*
— 30 —
vermessen. Die Originalberichte befinden sich unter den Sammelakten
des Herzoglich Gothaischen Staatsministeriums, Dep. IV, Kap. I, Tit. I,
Nr. 35 (Amt Georgenthal) sub 15 mit dem Titel: Rennsteig, die Be-
reU- und Beschreibung desselben, Sie enthalten sämtliche Foretorte,
welche vom Rennsteig berührt werden, nach den Forstverwaltungcn
geordnet. Die Wichtigkeit dieser Aktenstücke erkannte schon der
emestinische Geschichtschreiber M. Christian Juncker (1668 bis
17 14), der in seinem umfangreichen, leider nur handschriftlich vor-
handenen Werke: „Ehre der gefiirsteten Grafschaft Henneberg" (1704)
dem Rennsteig ein eigenes Kapitel widmet und seiner Darstellung
jene Berichte und Vermessungsrisse zugrunde legt *). — In denselben
Ministerialakten, in denen die „Bereitung des Rennsteigs** enthalten
ist, befindet sich auch eine Ungefähre Circumferenss, wie etliche Berge
am Thüringer Walde, im Notfälle sich dahinein eu salv^ieren, bu be-
friedigen, dabei ein Gutachten von D. Schmidt in Georgenthal (von
1657) und ein gleiches von seinem Amtsnachfolger Lorenz Crahmer über
die Verhauung der Pässe (von 1674). So grofse Bedeutung nun auch
die genannten Aktenstücke für die Forschung besitzen, so mufs doch
betont werden, dafs es dem klugen Herzog und seinen Forstbeamten
nicht sowohl darauf ankam, in historischem Interesse die ehemalige
Richtung des Rennsteigs aufzuspüren, als vielmehr einen Gebirgspfad
zu ermitteln, auf dem kleinere Truppenabteilungen rasch und „ver-
deckt** von einem Punkt zum anderen gelangen konnten. Für die
Forstleute war damals „Rennsteig** eben noch gleichbedeutend mit
„reitbarer Wald- oder Gebirgspfad**.
Der Vorgang Herzog Emsts weckte die Teilnahme weiterer Kreise.
Der würdige Freiherr L. v. S e c k e n d o r f f , kurbrandenburgischer
Rat und Kanzler der Universität Halle, wird des Höhenpfades erster
poetischer Herold *) , und die thüringischen Geschichtschreiber des
i) Die Janckersche Beschreibung war früher wenig bekannt. Mit ihrer Veröffent-
lichang (in den Schriften des Vereins fUr roeiningische Geschichte, 1891) hat sich Archiv-
rat Mitsschke ein Verdienst am die Rennsteigforschang erworben.
2) Er schmiedete in einem 1649 geschriebenen Carmen auf den Inselsberg folgende
Alexandriner :
Wie angebahnt and raah man sonsten aach wiU achten
Den Berg, so geht doch hie die wohlberühmte Bahn,
Die man vom Rennen nennt, doch schwerlich rennen kann.
Sie ist wohl wundersam und würdig sa betrachten.
Sie läaft darch eitel Wald und streift aaf soviel MeUen
Aaf lauter Höhen hin ; sie ftihrt aus diesem Land
Auf weit entlegne Ort, so dafs man unbekannt
Und gleichsam anvermerkt kann andre übereilen.
— 31 —
XVm. Jahrhunderts ergehen sich, sämtlich von ihm beeinfluCst oder
angeregt, meist in weitläufigen Auseinandersetzungen über Alter und
Bedeutung des Rennsteigs, ohne doch über Juncker wesentlich hinauszu-
kommen.
Am Ausgang des XVIII. Jahrhunderts schenkte wiederum, durch
die 2^itverhältnisse genötigt, ein thüringischer Fürst dem Höhenpfad
sein tätiges Interesse. Kein geringerer war es als Karl August,
der hochherzige Musenbeschützer, welcher auf die Kunde vom An-
rücken der französischen Revolutionsheere gegen Thüringen (1796)
seine strategischen Talente entdeckte : behufs Sicherung seines Landes,
bzw. der damals gezogenen Demarkationslinie zwischen Süd- und Nord-
deutschland besichtigte er eingehend das Gelände des Thüringer Waldes
auf mehrwöchigen Ausflügen und schenkte hierbei, wie leicht erklärlich,
dem Rennsteig besondere Beachtung. Er bereiste ihn von Judenbach
(Kalte Küche) bis in die Hörscheler Gegend und verfehlte nicht, seine
Beobachtungen gewissenhaft aufzuzeichnen. Man hat sich über Karl
Augusts strategische Begabung nicht selten geringschätzig geäufsert —
Äe vorhandenen Niederschriften {Über den Schiäz der Demarkations-
Imie und den Rennweg, 1796 und Die Defensian Thüringens, 1798) ^)
machen jedoch durchaus nicht den Eindruck dilettantischer Machwerke.
Wären 1806 seine Vorschläge betreflfend Besetzung der Rennsteig-
passe (bei der Kalten Küche und Rodacherbrunn) von der preufsischen
Kriegsleitung ausgeführt worden — wer weifs, ob dem deutschen
Vaterlande nicht die Schmach von Jena erspart geblieben wäre?!
Es war ein tragisches Geschick, dafs Karl August als preufsischer
Heerführer durch sein zögerndes Verhalten kurz vor der Schlacht
bei Jena mittelbar die Niederlage verschuldete *). — Wie dann kurz
nach diesem Ereignis der Rennsteig für versprengte Flüchtlinge und
befreite Gefangene wirklich als verdeckter Kriegspfad im Ernestinischen
Sinne diente, der mehreren Hunderten ein Entkommen nach — Eger
ermöglichte, dafür sind noch chronikalische Zeugnisse vorhanden ^).
Doch wer ihr folgen will, der mag sich wohl versehen.
Er wird den ganzen Weg zu keinem Wirt gefUhrt,
Ob er gleich beiderseits so manches Land berührt,
Dafs, wenn's sein eigen war', er wohl kann mit bestehen.
i) Herausgegeben von Geh. Hofrat P. v. Bojanowski (Weimar, H. Böhlaas
Nacht, 1903). Vgl. Ätareik Hl 7.
2) Ober die Vorpostens! ellnng der Avantgardeodivision unter Prinz Louis Ferdinand
«ihrend der ersten Oktobertage 1806 vgl. H. Pusch^ Mareile IV (1904), S. 44.
3) liareiU IV i.
— 32 —
Auch im Beginn des deutschen Krieges von 1866 sdiien es, als ob
der Rennsteig seine militärische Bedeutung bewähren sollte. Da die
preußische Heeresleitung die Vereinigung der bis zum Werratal, ja
teilweise bis ins Gebirge vorgerückten Bayern mit den bei Langen-
salza hart bedrängten Hannoveranern befürchtete, hatte sie ein ganz
besonderes Augenmerk auf die westlichen Rennsteigpässe gerichtet
und im stillen schon Vorkehrungen getroffen, dieselben sofort zu ver-
hauen und den Übergang zu verzögern. Der Erfolg von Langensalza
durchkreuzte dann das Vorhaben der Bayern und ermöglichte den
Preuisen ein ungehindertes Vordringen über Eisenach nach der Rhön.
Wie ersichtlich, reicht die praktische Bedeutung des Rennsteigs
oder doch seiner Pässe bis in unsere Tage hinein.
Das Verdienst, den Gegenstand in der neueren Literatur zu-
erst im Zusammenhang ') kritisch behandelt zu haben, gebührt dem
Hofrat Alexander Ziegler aus Ruhla. Er, der grofse Reisende,
der Erbauer des Karl-Alexander-Turms, der Förderer und Wohltäter
seiner Vaterstadt (gest. 1887), schrieb 1862 sein Buch Der Rennsteig
des Thüringer Waldes, Eine Bergwanderung mit einer historisdi-'topo'
graphischen Abhandlung über das Älter und die Bestimmung des Weges.
Wie der Titel besagt, dient das Buch, eine Frucht seiner im Jahre
zuvor unternommenen Reise, touristischen und historischen Zwecken
gleicherweise. Leidet es auch an manchem überflüssigen Ballaste,
so hebt es doch richtig die für den thüringischen Rennsteig in Be-
tracht kommenden Urkunden hervor und berichtigt eingehend land-
läufige Irrtümer.
Ihm folgt fünf Jahre später Hofrat G. Brückner aus Meiningen
(gest. 188 1), der bekannte Verfasser der meiningischen Landeskunde,
mit dem noch heute beachtenswerten Aufsätze Der Rennstieg in seiner
historischen BedetUung, oder War das obere Werra- und Mainland
jemals thüringisch? (Neue Beiträge des Hennebergischen Altertums-
forschenden Vereins, 3. Heft, 1867). Auf seinen Schultern steht
A. Rose, Der Rennsteig als Markzeichen des Thüringer Waldes (Aus-
land Nr. 36 und 37, September 1868) und Zur Kenntnis des Renn-
steigs im ThüringerWald (Petermanns Mitteilungen, November 1868). —
Streng wissenschaftlich geht vor Prof. Fritz Regel, früher in Jena,
jetzt in Würzburg, in seinem am 11. Oktober 1885 zu Weimar
gehaltenen Vortrag Zur Rennsteig frage , abgedruckt in der Zeitung
i) Über Erwähnangen aod Nichterwähnungen in neuerer Zeit vgL P. Mitsschke
Mareile II (1901), S. 3—8.
— 33 —
„Deutschland" Nr. 294, vom 26. Oktober 1885. — Nicht die Frucht
gelehrter Quellenstudien, aber anregend und von warmer Empfindung
durchhaucht ist die Schilderung von Hofrat A. Trinius in Walters-
hausen, Der Bennstieg. Eine Wanderung von der Werra bis zur
SaaU (Minden 1890, 2. Aufl. 1900). — Ein unermüdlicher und ge-
wissenhafter Pfadsucher war dann Ad. Rofsner (gest. 1893) aus Bad
Kosen, der im zweiten Teile seines flott geschriebenen Büchleins
Der Rennsteig des Thüringer Waldes jetzt und früher (Naumburg 1892)
auch geschichtliche und etymologische Fragen aufgeworfen und —
freilich in etwas dilettantischer Weise — beantwortet hat. Eine Zu-
sammenfassung des bisher gefundenen Materials, durch eigene For-
schungen ergänzt, bietet das Werk von Bü bring (früher in Arnstadt,
jetzt in Elberfeld) und Hertel, Der Rennsteig des Thüringer Waldes.
Führer zur Bergwanderung nebst geschichtlichen Untersuchungen. Mit
fMur Wegekarte, einem Höhenplan, einer Sprachharte und einer Ab--
iädung von Oberhof (Jena, G. Fischer, 1896). Dazu gehört ein Er-
ganzungsheft (Jena 1898), welches eine Rennsteigwanderung von
Hörschel bis Blankenstein beschreibt. — Endlich enthält das 1897 be-
gründete Organ des Rennsteigvereins, Das Mareile, Aufsätze der
verschiedensten Art über Rennsteigfragen.
Ungeachtet des löblichen Eifers, mit dem gerade im letzten
Jahrzehnt das Thema nach allen Seiten hin erörtert worden ist, ist
hinsichtlich der Kardinalpunkte unter den Rennsteigforschem bis jetzt
keine Einigkeit erzielt worden. Zwar hat sich in bezug auf den Ver-
lauf des Weges — um hiermit zu beginnen — schon seit geraumer
Zeit die Auffassung allgemein eingebürgert, der Rennsteig sei gleichbe-
deutend mit der Kammlinie des Waldes, doch vermag sie sich nicht
auf die Autorität urkundlicher Zeugnisse aus früheren Jahrhunderten *)
zu stützen, sondern geht letztlich auf die militärischen Rücksichten
entsprungene grundlegende Ernestinische Vermessung von 1666 zurück,
die allerdings selbst in ihren beiden Endstücken einen vom heutigen
i) Die früheste nrkandliche Erwähnung des thüringischen Rennsteigs findet sich in
<iein för die mittelalterliche Topographie des Meininger Landes wichtigen Frankensteioer
Verkanfsbrief von 1330. Hier heifst es bei der Beschreibung der an Graf Berthold
V. Henneberg abzutretenden Wildbabn : . . . venaiionia tenninos, qui vulgarUer dietmiur
^ mübam, qui primo ineipiunt in K&baeh . . . uaqm ad moniem qui dicüur %u
^tm KyMlinge (Hohe Kissel) et uUeriua suraum de Rynnestig usque ad moniem qui
^ieünr Brntmeberg (Inselberg) . . . usque ad silvam que dicüur WiginwaU et vieum
fM dicüur Rynnestig uaque ad vertieem montia dicti Nexxelberg . . . (Abgedruckt
«letzt in den Schriften des Vereins lUr sachsen-meiningische Geschichte und Landeskunde«
35- Heft [1899], S. iio).
— 34 —
verschiedenen Kurs einschlug. Kein Wunder, da& auch heute noch
die Ansichten der Forscher über die Erstreckung des Rennsteigs aus-
einandergehen *). Die Streitfrage gestaltet sich aber noch verwickelter
durch die Tatsache, dafs den Namen „Rennsteig" bzw, ,, Rennweg'*
auch mehrere Nebenlinien, die vom First des Waldes ausstrahlen,
tragen : so bei Allzunah , am Gr. Weifeenberg , im Forstort Winter-
kasten und bei Tennebei^.
Die beiden weiteren Fragen, nach Alter und ursprünglicher Be-
stimmung des Rennsteigs, stehen in innerem Zusammenhang. Ihre
Lösung ist jedoch abhängig von einer Vorfrage, nämlich der nach
der Etymologie des Namens.
Bedeutung des Namens. Wiewohl in einer ganzen Reihe
von Urkunden der Rennsteig offenbar als Grenzweg erscheint, so ist
doch diese seine Bedeutung nicht in seinem Namen ausgedrückt,
demnach auch nicht die ursprünglichste. Allerdings war früher die
Annahme herrschend, dafs der Name Rennsteig volksetymologisch.
aus „Rain-steig" entstanden und als „Grenzweg'* *) zu deuten sei.
Diese Auffassung vermag vor dem Tribunal der Sprachwissenschaft nicht
zu bestehen '). Unbestritten ist, dafs alle älteren Urkunden die Form
renniweg (bzw. rennitoech, rinnestig, rynnestig, rinnestich, rynnestigk
u. dgl. Nebenformen) aufweisen, also mit doppeltem n. Ganz ver-
einzelt begegnet auch die Schreibung reinneweg; doch geht auch sie
zweifellos auf renneweg zurück *). Diese ständige Doppelschreibung
des n verbietet entschieden, an den Stamm rain^ zu denken. Eben-
sowenig ist eine volksetymologische Umdeutung anzusetzen. Alle
solche Volksetymologien beruhen nach Andresen auf dem Streben
des Sprachgeistes, Ausdrücke, die fiir das Volk leerer Schall ge-
worden sind, wieder bedeutungsvoll und zweifellos verständlich zu
i) Unserer persönlichen Ansicht nach galt bei Anlegung des Weges der Name
nur von der Gegend des Förthaer Steins (auf der uralten Heerstmfse Vacha — Eise-
nach) bis zar Kalten Küche (an der Stelle, wo die Höhe des Waldes im Osten vod
dem Straisenzug Kronach — Saalfeld geschnitten wird). Weder am südöstlichen noch am
nordwestlichen Flügel haftete der Name Rennsteig oder Überhaupt eine einheitliche Be*
zcichnang. (Vgl. Mitzschke, Ungedrucktea vom Rennsteig^ Mareile III 122.)
2) Nämlich zwischen Thüringen and Franken.
3) Des näheren habe ich dies zu begründen gesucht in der Zeitschrift für thürin-
gische Geschichte XVI (Jena 1893). ^^^ Widerspruch von beachtlicher Seite ist nicht erfolgt.'
4) Die Schreibung ei für etymologisch berechtigtes e findet sich im Mhd. nicht
selten ; sie spricht lediglich für die Annahme, dafs der Laut des e zu i hinneigte. VgL
Weinhold, Mhd, Qramm,, § 48*
— 35 —
machen. Ist nun rain jemals dem deutschen Sprachbewuistsein fremd
geworden? Lebt es nicht vielmehr fort durch alle Jahrhunderte bis
heute, jedem Kinde verständlich ? Ist etwa der Name nunmehr klarer
geworden, nachdem ihn das Volk, wie einige wollen, in „Rennsteig"
umgetauft hat? Sollte nicht vielmehr das Umgekehrte richtig sein?!
In der Tat halte ich „Rain weg", die Form, die der Magister Chr.
Juncker in Umlauf gesetzt zu haben scheint, für eine steife Gelehrten-
etymologie. Die volkstümliche Form des Namens hält noch heute
in ganz Thüringen am echten „Rennsteig" bzw. dem mundartlichen
„Rennstieg" fest — Nachdrücklich mufe auch betont werden, dafe
„Rain" einzig die Ackergrenze, niemals eine Waldscheidung be-
zeichnet; für letztere stehen andere Benennungen zu Gebote. Nein,
allen in Betracht kommenden Lautgesetzen der Sprache genügt die
Eridärung als „Rennsteig".
Wenn nun auch die Ableitung vom Stamm rennen ziemlich all-
gemein anerkannt ist, so spalten sich die Anhänger dieser Ansicht
bei der besonderen Erklärung des Thüringer Rennsteigs wieder in
mehrere Gruppen *). Mit der Aufzählung dieser verschiedenen Sonder-
meinungen treten wir zugleich der Frage nach der ursprünglichen
Bestimmung des eigentümlichen Weges näher. Nach den einen
war der Rennsteig ein Waldweg fiir berittene Jäger oder auch
ein Triftweg für die Rofshirten, die in mittelalterlichen Zeiten
gerade auf den Hochwiesen des Thüringer Waldes die Fohlen und
Stuten zur Weide führten *). — Hiergegen ist nun freilich einzuwenden,
dafe Name und Sache auch in solchen Gegenden wiederkehren, wo
an derartige Hochweiden nicht zu denken ist, z. B. bei dem
die Zwenkauer Hartwaldung durchschneidenden Rennsteige, dem
Rennweg zwischen Merseburg und Leipzig, oder dem Rennsteig in der
Dresdener Heide. Es mufs aber gefordert werden, dafs eine Namens-
erklärung auf sämtliche bekannten Rennsteige anwendbar sei.
Eine zweite, öfter auch mit der Rainwegtheorie in Verbindung
gebrachte Ansicht geht dahin, dafs der Rennsteig ein Weg war, auf
welchem altem Herkommen zufolge der Thüringer Landgraf bei An-
tritt der Regierung sein Gebiet umritt. Indessen fehlen für diesen
Brauch ausdrückliche Zeugnisse, und der Angabe haftet an sich schon
i) Die Rennwege sa TarnierrweckeD, wie sie ras einer grofsen Aosahl voo Städten
Mannt tind, scheiden für unsere DarsteUong ans.
3) Diese Möglichkeit hat namentlich Btthring vertreten. Vgl. sein Kapitel über
^ Rofsextseht tan Remuteig, RennsteigfUhrer S. 144 — 161.
— 36 —
etwas sagenhaft Romantisches an ^). Ganz neuerdings ist indessen eine
Hypothese aufgestellt worden, der in gewissem Betracht jener poetische
Grenzumritt wieder zugrunde liegt. Es geschah dies durch das höchst
beachtenswerte Buch von Karl Rubel (Dortmund), Die Fnmken^
ihr Erdberungs- und Siedelungssystem im deutschen Volkslande (Biele-
feld, Velhagen & Klasing, 1904). Nach ihm sind unter den Renn-
steigen und Rennwegen nichts anderes als Markscheiden, sonst
auch „Laachwege", „Schneidwege**, „Frankenstiege** genannt, zu
verstehen, wie sie zur Merowinger- und Karolingerzeit, bei der fort-
schreitenden AufschUeisung des bis dahin unvermessenen und unauf-
geteilten Landes, der vasta sditudo, von den forestarii durch den Ur-
wald gebrochen und nach ihrer Vollendung vom fränkischen Herzog
beritten wurden, um hierdurch die Anlage des Weges selbst und seine
Breite zu sanktionieren.
Gegen diese Gleichsetzung von Rennsteigen und Grenzwegen,
Markscheiden u. dgl. und die Ableitung des Namens möchte zu-
nächst einzuwenden sein, dafe der Wortstamm rennen schwerlich im
Sinne eines feierlichen, mit öfterem Anhalten verbundenen Umrittes
gebraucht wird; er deutet stets auf eine beschleunigte Bewegung
hin. Zu diesem formalen kommt aber ein sachlicher AnstoCs. Der
Rennsteig fuhrt nämlich durchaus nicht überall über die Gipfel der
Bergkuppen, sondern in der Regel etwas unterhalb derselben und
zwar auf dem Südhang entlang. Wenn damals den fränkischen För-
stern die Weisung gegeben worden wäre, die Marken im Gebirgs-
land zu scheiden, so hätte man ihnen jedenfalls die summitas
montium als Terminus vorgeschrieben, nicht aber eine Linie,
die, wie z. B. beim Beerberg, Gerberstein, Sattelbachskopf, Fichten-
kopf u. a., einige hundert Meter unterhalb der Spitzen verläuft. Es
ist auch nicht abzusehen, weshalb immer nur die Höhenwege, nicht
aber die in der Niederung gezogenen Markscheiden, die doch eben-
falls vom Herzog und seinem Vassus umritten werden mufsten, durch
den Namen „Rennsteig** ausgezeichnet sein sollten.
Wir selbst fassen bei Erklärung des Rennsteignamens das
Verbum rennen in der besonderen, im Mhd. vielfach belegbaren Be-
i) Die Enählang vom Landgrafenamritt auf dem Rennsteig des Thüringer Waldes
findet sich — soweit bis jetzt bekannt — zuerst in Ladwig Storchs Wanderung
durch den Thüringer Wald (Umenaa 1841), S. 13. Wahrscheinlich hat Storch den
bei J. Grimm, Deutsche Mythologie I 298 (1835), allgemein mitgeteilten Brauch des
Umritts eines neuen Herrschers durch sein Land eigenmächtig auf den grofsen Thüringer
Rennsteig lokalisiert Vgl. MareHe III, S. 32, 42.
— 37 —
deutong: „als Berittener dahinsprengen'*. Für uns ist der Rennsteig
ein Rennersteig, d.i. ein Pfad für hin und her sprengende
Reiterboten, ein Kurier- oder Patrouillenweg*). Ist doch
der Rennsteig in seiner ganzen Ausdehnung für Reiter, nicht aber für
Wagen benutzbar *). Daus solche Rennerpfade späterhin nicht bloüs
Ton militärischen Abteilungen, sondern auch von bürgerlichen Eil-
boten, reitenden Postboten oder von Personen, die aus anderen Gründen
ZOT Beschleunigung ihrer Reise genötigt waren (Dieben, Landflüchtigen
usw.), benutzt wurden, liegt auf der Hand. Auch ihre an gewissen
Stellen erfolgende Erweiterung zu FahrstraOsen hat nichts Auffälliges.
Die oben erwähnten weiteren Rennsteige und Rennw^e des Thüringer
Waldes (bei Allzunah usw.) halten wir für Abzweigungen, die mit der
eigentlichen Hauptlinie des durch Warten militärisch gesicherten Renn-
iteiges in planvoller Verbindung standen. Phantastereien sind es
natürlich, wenn die Anlage des Weges auf die Römer, speziell auf
Dnisus, zurückgeführt wird *).
Natürlich erscheinen auch die Keltiker auf dem Plan, wenn es
sidi um Deutung germanischer Ortsnamen handelt. Sie schreiben
licht nur die erstmalige Anlegung des Gebirgspfades den Kelten
ffl — darüber liefee sich wohl reden — , sondern auch die heutige
Benennung. Nach W. Kraufse*) bedeutet im Keltischen rAtn^ rann,
ritm, ramn „Berg" — und wir gelangten mit Hilfe des in der Not
80 viel ausgebeuteten keltischen Lexikons zu der welterschüttemden
Entdednmg, dais unser Rennsteig ein keltisch - germanisches Zwitter-
ding, ein — Bergpfad sei! Die neueste Auslegung des Namens,
wonach er auf hib. rann, rainn „Teil" und stuic „Kamm" zurück-
geht^), können wir noch weniger gutheifsen.
Von anderer Seite ist der Rennnsteig als uralter Handels- und
Verkehrsweg zwischen Hessen und Böhmen, als Teil jener Handels-
«trafee bezeichnet worden, welche von der Donau über Eger, Franken-
wald, Thüringen, Hessen, Paderborn nach der Emsmündung gegangen
i) Dȣi im Altdeatschen in derartigen Zasammensetzangen statt des nomen ageniis
der reine Verbalstamm gesetzt wird, zeigen Beispiele wie retmevenlin „kleine Reiter*
**«l«ng", rUrüsttmge „Reiterrüstung", jagehom „jÄgcrhom", jagehuni „Jägerhund",
•aiiküi „Wärterhaos'' o. a.
2) Unserer Erklärung widerstrebt, soweit wir die Probe machen konnten, die Be-
*ch>fienheit keines einzigen der 150 Rennsteige des deutschen Landes.
3) So A. B. Wilhelm, Die FekUiige des Druaus im nördlichen Deutgehiand
(HsUe 1826).
4) W. Kraufse, Z>M hdtisohs Urbevölkerung Deutsehlands (Leipzig 1904), S.48.
5) U. Simon, Beitrag xur SehmaUcalder Oesekiehte (Schmalkaldea 1905)1 S. 34.
— 38 —
sei ^). Dieser Ansicht fehlt es erstlich an stützenden geschichtlichen
Zeugnissen; auch steht ihr die natürliche Beschaffenheit des Weges
entgegen: wird man im allgemeinen den Weg über die Gebirgshöhe
wegen der relativen Sicherheit vorgezogen haben, so ist doch die
Beschaffenheit an manchen Orten derart, dais — so z. B. an den
Reitsteinen des Inselsbergs — nicht einmal Saumtiere daselbst fort-
kommen können. Soweit es sich zurückverfolgen läfst, ist der Lauf
des Rennsteigs nur fahrbar gewesen von der Hohen Sonne bis zum
Grofsen Finsterberg mit Ausschlufs der Strecke zwischen dem Gerber-
stein und dem Grofsen Jagdberg, weiter östlich von Allzunah über
das Marienhäuslein nach dem Grofsen Dreiherrenstein und sodann
über Neustadt a. R. bis Kahlert und zur Schwalbenhauptswiese,
hierauf von Limbach über Neuhaus, Igelshieb, Forstort Laubeshütte,
Spechtsbrunn und Waldhaus bis zum Bahnübergang bei Steinbach a. W.
und östlich davon bis zur Ziegelhütte, endlich vom Lobensteiner Kulm
über Schlegel bis Blankenstein. Im übrigen war er anscheinend nur
eine Art Birschweg oder „reitbarer Gebirgspfad** *). — Mit Ausnahme
weniger offener Stellen fuhrt er durch Wald, im Ostflügel vorherr-
schend Nadelholz, im Westen vom Hangweg an Laubwald.
Er bildet heutzutage eine Landesgrenze vom Gerberstein bis zum
Grofeen Weifeenberg (Gotha: Meiningen), vom Weifsenberg bis zum
Jagdberg (Gotha : Hessen-Preufeen), eine ehemalige Amts- und heutige
Forstgrenze vom Spiefsberg bis zum Dreiherrenstein am Hang weg,
wiederum Landesgrenze vom genannten Stein bis zum Hessenstein bei
Oberhof (Gotha : Hessen-Preufeen), Landesgrenze von der Suhler Leube
bis zum Mordfleck (Gotha: Henneberg-Preufsen), sodann vom Marien-
häuschen bis zum Kleinen Dreiherrenstein (Weimar: Henneberg-Preufeen),
vom Kleinen bis zum Grofsen Dreiherrenstein an der Schleusequelle
(Schwarzburg: Henneberg-Preufsen), vom Grofsen Dreiherrenstein bis
zum Dreiherrenstein am Saar (Meuaingen-Hildburghausen : Schwarzburg),
von da bis zum Hohen Lach bei Igelshieb (Meiningen: Schwarzburg),
endlich vom Dreiherrenstein am Kieslich bis St. 657 und von Brenners-
grün bis zur Hohen Tanne (Bayern: Meiningen).
In seiner Eigenschaft als Grenzweg ist er durchgehend mit Landes-
i) Schneider, Die alten Heer- und Handelsteege der Oermanen, Römer und
Franken im Deutschen Reich (Kassel 1883, Düsseldorf 1888). •- Freysoldt, Der
Rennsteig in seinem östlichen Teile eine Verkehrsstraße, Vereinsschriften des meining.
Geschichtsvereins 38 (1900).
2) Vgl. L. Gerbing, Die Straßenxüge in WestihOringen in den Mitteüongen der
Geographischen Gesellschaft (Jena 1898).
— 39 —
grenzsteinen besetzt, die von den beteiligten Regierungen, bzw. Land-
ratsamtern stets vollzählig und in gutem Zustande erhalten werden.
Der älteste dieser steinernen, zum Teil kunstvoll mit Wappen ge-
schmückten Schützer der heiligen Landesmark ist ein Zeitgenosse
Luthers: er stammt aus dem Jahre 15 15 (Nr. 656 am Kieslich bei
Lehesten) und trägt die Inschrift:
vö gotts gnade 1515
(Geo)rg bischofe zv bamberg
von gotts gnade friderich
churfürst vfl hfls gbruder
herzöge zv Sachsen 1515.
Die Vorgänger der Grenzsteine waren „Malbäume" („Laachbäume").
Die Breite des Weges ist verschieden; auf den Strecken, wo er
in seiner Waldursprünglichkeit erhalten zu sein scheint, beträgt sie
kaum zwei Meter, — Der Weg ist neuerdings zu Nutz und Frommen
der Rennsteigfahrer durch weifse B gekennzeichnet worden.
%^'V'^*^'^^S>^^^N^^^^<i«^Mi^^^^^
Zur Geschichte unserer Vornamen
Von
Paul Zinck (Leipzig)
In den Deutschen OeschichisbläUem ist die Vornamenfrage schon
zweimal erörtert worden. Pfarrer Gmelin hat in seiner Abhandlung
Die Verwertung der Kirchenbücher (I, 6/7) im allgemeinen auf die
Bedeutung der Vor- oder Taufnamen für die spezielle Kulturge-
sdiichte, die Geschichte der geistigen Entwickelung unseres Volkes
hingewiesen; Caemmerer (V, 10 — 12) hat an der Hand von Ur-
kunden die Amstädter Tauf- und Familiennamen des Mittelalters in
allgemein- und besonders in sprachgeschichtlicher Beziehung einer
eingehenden Betrachtung unterzogen. Bei ihm vor allem, aber auch
bei Gmelin findet man bibliographische Angaben über Arbeiten auf
dem gleichen Gebiete, die jedoch bei weitem nicht Anspruch auf Voll-
ständigkeit machen können und wollen. Eine der jüngsten Vornamen-
studien ist der kurze Aufsatz von Prof. Jordan, Zur Geschichte der
yomamen in den Mühlhäuser Geschichtsblättern (Thüringen),
5- Jahrgang (1904), in dem nach dem Mühlhäuser Urkundenbuche
Vornamen beiderlei Geschlechts mit der Zahl ihres Vorkommens zu-
sammengestellt sind, leider ohne dais die Aufzählung ersichtlich macht,
auf welche Zeit sich diese Namenliste erstreckt.
Obwohl also eine beträchtliche Anzahl Einzelarbeiten auf dem
— 40 —
Gebiete der Vomamenforschung schon vorhanden sind, unternehme
ich es doch, dieselben noch um eine zu vermehren, angeregt
durch die Bemerkung Gmelins, daüs es „immer wieder neuen Reiz ge-
währt, einen bestimmten Bezirk auf die Entwickelung der Vornamen
über ein paar Jahrhunderte hin zu verfolgen und darin die geistige
Stimmung der betreffenden Landschaft während dieser verschiedenen
Perioden niedergelegt, gewissermaßen photographiert zu sehen". Die
Untersuchungen erstrecken sich auf die Zeit von 1574 bis 1870 und
betreffen, worauf besonders hingewiesen sein mag, eine ländliche
Parochie in der Nähe von Leipzig, die Parochie Baalsdorf. Die Er-
gebnisse der Untersuchung über die Taufhamen in dem angegebenen
Zeitabschnitte sind zum Teil schon niedergelegt in dem Aufsatze Aus
den Bcuilsdorfer Kirchenbüchern (Mitteilungen des Vereins für Sächsi-
sche Volkskunde II, 12), der zugleich über andere kirchliche Verhält-
nisse derselben Periode zu orientieren sucht. Die Hauptarbeit, vier
Tabellen, aus denen für jeden einzelnen Namen der Wandel in seinem
Gebrauch über drei Jahrhunderte hinweg zu erkennen ist und zu denen
jene Mitteilungen nur eine orientierende Beigabe bilden sollten, gelangt
durch das Entgegenkommen des Herausgebers der Deutschen Ge-
schichtshlätier jetzt erst zur Veröffentlichung.
Das Kirchdorf Baalsdorf mit ungefähr 300 Seelen, das bis heute
noch seinen fast rein bäuerlichen Charakter bewahrt hat, ist, östlich
von Leipzig liegend, in etwa i\ Stunden vom Zentrum der Stadt aus zu
erreichen. Etwas näher liegen die heute zum Teil von einer Arbeiter-
bevölkerung bewohnten Filialdörfer Zweinaundorf und Molk au.
Bis in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts war aufserdem das
südöstlich von Leipzig gelegene, nach Seelenzahl von jeher gröfsere
Stöttcritz noch eingepfarrt. Zweinaundorf war am Anfang des XVII.
Jahrhunderts eine Zeitlang selbständig ; dann wurde es Tochtergemeinde
von Engelsdorf, bis es bei der Selbständigmachung von Stötteritz
wieder zur Parochie Baalsdorf geschlagen wurde. Stötteritz war in der
ganzen hier in Betracht kommenden Zeit niemals eigentliches Bauern-
dorf; sein Grundbesitz war nur in den Händen einzelner; zwischen
den Bezirken zweier Rittergüter und in denselben wohnten einige
wenige kleine Bauern und sonst nur Häusler. Letztere beschäftigten
sich mit dem längere Zeit bei Stötteritz blühenden Tabakbau und
der damit zusammenhängenden Industrie; Handwerker allerart waren
schon in dem Orte vorhanden ; auch diente er schon zeitig als Wohn-
ort solchen, die in der benachbarten Handelsstadt Beschäftigung fanden,
und war, weil er in der Nähe der nach Süden fuhrenden Handels-
— 41 —
and Heerstrafse lag, auch der zeitweilige Aufenthaltsort für fahrendes
Volk allerart
Den Tabellen liegen die Tauflisten der vier genannten Dörfer zu-
grunde, soweit der Verfasser ihrer habhaft werden konnte. Bis zum
Jahre 1636 standen ihm nur die für Zweinaundorf *) zur Verfügung,
von da an bis 1750 für alle vier Dörfer; von 175 1 an wurden die
Stötteritzer Listen trotz seiner weiteren Zugehörigkeit zu Baalsdorf ge-
trennt gefuhrt und waren deshalb in dem Baalsdorfer Pfarrarchiv nicht
zu finden. Ihr Ausscheiden ist insofern nicht zu bedauern, als wir
es nun blofs noch mit rein ländlichen Gemeinden zu tun haben und
sehen können, wie die Wahl der Taufnamen in solchen erfolgt ist,
wenngleich sich nicht leugnen läfst, dafs auch diese in der Namen-
gebong gewifs durch die nahe immer mehr wachsende Mefsstadt be-
einflofst worden sind, aber doch nicht in dem Mafse wie Stötteritz,
wo sich auch bei der fluktuierenden Bevölkerung oft fremde Einflüsse
geltend machten, wo sich fremdklingende Namen deshalb meist zuerst
einstellten oder überhaupt nur in Gebrauch waren, besonders die nur
ein oder wenige Male vorkommenden.
Bei dieser Verschiedenheit in der Zahl der benutzten Listen würde
ein Vergleich der absoluten Zahlen des Vorkommens der einzelnen
Namen und Namensgruppen nur zu Irrtümern führen. In den Tabellen,
in denen die Zeit von 300 Jahren in zehn Generationen eingeteüt ist,
sind deshalb die Prozentzahlen mit möglichster Genauigkeit auf-
geführt. Über das wirkliche zahlenmäfsige Vorkommen gewisser Namen
werden im Text noch einige erläuternde Angaben folgen. Alle inner-
halb der 300 Jahre vorkommenden Namen, 121 männliche und 85 weib-
liche Namen, sind in vier Gruppen eingeteilt: in alttestamentliche (16
and 5), neutestamentliche (14 und 7}, altkirchliche (32 und 46) und
deutsche (59 und 27). Von diesen Namen wurde in den einzelnen
Generationen in folgender Weise Gebrauch gemacht:
Von den 121 männlichen Vornamen kamen vor
in der I. Generation
20 (31), und zwar 2 (2) alttest, 9 (iS) neatest., 8 (10) altkirchl., i (i) denUche,
in der 2. Generation
13 (21), and zwar 2 (2) „ 4 (?) ,1 3 (6) „ 4 (6) „
ia der 5. Generation
34 (212), and zwar 7(23) „ 9(97) „ "(76) „ 6(16) „
i) Blanckmeister, Die Kirchenbüeker im Kömgreich Sachsen (Beiträge zor
üch». Kirchengeschicbte, 15. Heft, S. 28 — 210) gibt irrtümlich als Anfang der Zweinann-
dorfer Taoflisten das Jahr 1666 an, während dem Verfasser die arg vergilbten Blätter
Mierer Listen Ton 1574 an zur Verfügung standen.
— 42 —
in der 4. Generation
50 (404), und zwar 12(35) alttest., I3 (i66)nentest., I5(i28)altkirchl., 11 (75) deaUche,
in der 5. Generation
58 (949), nnd zwar 13 (62) „ 10(433) „ "(«57) ., «3(197) «
in der 6. Generation
55(1428), nnd zwar II (73) „ 10(657) » 10(274) „ »4(424) „
in der 7. Generation
28 (470), und zwar 7 (16) „ 3(183) „ 5(63) „ 13(208) „
in der 8. Generation
27 (497). «nd zwar 6(10) „ 3(143) „ 3(96) „ 15(248) „
in der 9. Generation
44 (799), and zwar 3 (5) „ 2(114) „ "(109) ^ 28(571) „
in der 10. Generation
49 (840), und zwar 2 (2) „ 3 (24) „ 9 (108) „ 35 (706) „
Der Gebrauch der weiblichen Vornamen gestaltete sich folgender-
mafsen :
in der i. Generation
II (25) Namen, darunter — ( — ) alttest., 3 (10) neutest., 6 (i3)altkirchl., 2 (2) deatsche,
in der 2. Generation
imnf*r / ^ ^ ( 1 t\ Ä /'»a\ / \
«
11
11
11
11
•1
11
Die ersten Zahlen in diesen kleinen Tabellen geben an, wie viel
Namen jeder Gruppe in den einzelnen Generationen angewendet wurden,
die eingeklammerten, wie oft diese wieder gebraucht wurden. Zur
Erläuterung möge folgendes Beispiel dienen: In der zweiten Genera-
tion wurden 4 (6) deutsche männliche Namen gegeben, und zwar
Burkhart und Friedrich je zweimal, Wolfgang und Gottfried je einmal.
Aus den Tabellen, mit deren Hilfe man sich auch die Prozentzahlen
der grofsen Tabellen in absolute umwandeln kann, ist zugleich zu er-
kennen, da(s die schon oft beklagte Namenarmut des Mittelalters
sich bis in die neue Zeit herein erhalten hat. Vor allem zeigt sich
das auch auf dem Gebiete der deutschen Namen, die in der deut-
sehen Urzeit so überreich wucherten, und von denen in der zehnten
II (39) Namen, darunter -
-(-)
11
3(15)
11
8(24)
11
-(-)
in der 3. Generation
19 (207) Namen, danmter
3(18)
11
5(139)
11
II (50)
11
-(-)
in der 4. Generation
26 (426) Namen, darunter
3 («7)
11
5 (239)
»1
16(168)
11
a(2)
in der 5. Generation
34 (925) Namen, darunter
4(*6)
11
5 (468)
11
22 (424)
11
3(7)
in der 6. Generation
36 (1 328) Namen, darunter
4(a6)
11
4(5")
11
19(773)
yy
9(18)
in der 7. Generation
22 (399) Namen, darunter
4(10)
11
4(103)
11
10(281)
11
4(5)
in der 8. Generation
25 (484) Namen, darunter
3(7)
11
4 (50)
»1
» I (392)
11
7(35)
in der 9. Generation
31 (689) Namen, darunter
1(0
11
2(53)
11
16(395)
11
1 3 (240)
in der 10. Generation
60 (706) Namen, darunter
«(«)
11
6 (1 10)
n
31(321)
11
82 (274)
— 4« —
GeneratioB noch 35 mänDÜcfae 706 mal, 22 weibliche 274 mal ver-
treten sind.
Nach der Häofigkett des Vorkommens der einzelnen Namen könnte
man sie in folgende Gruppen teilen: i) solche, die nur ephemere Er-
scheinungen auf dem Gebiete der Namengebung sind, 2) solche, die
Modenamen waren, und 3) solche, die sich fast durch die ganze in
Frage kommende Zeit hindurch behauptet haben. Von den Namen
der ersten Gruppe kommen in 300 Jahren nur einmal vor Adrian,
Alexander, Austinus, Bodo, Balthasar, Clemens, Esaias, Ephraim,
Egmont, Ehrenhard, Ehrenreich, Engelbert, Engelhard, Eucharius,
Eugen, Friedemann, Fürchtegott, Florens, Gebhard, Gerhard, Hart-
mann, Jostus, Ludolf, Matthias, Oswin, Samiel, Urban, Valentin, Wol-
demar — Albertine, Alida, Adele, Aurelie, Alice, Brigitte, Charitas,
Cornelia, Eophrosine, Elwine, Elmire, Florentine, Franziska, Fanny,
Heinrika, Hjrpolita, Judith, Mathilde, Melitta, Ottilie, Salome, Sidonie,
Theodore ; zweimal Bruno , Burkhart , Benedikt , Erdmann , Guido,
Gideon, Jonas, Immanuel, Joachim, Kurt, Leonhard, Reinhold, Seba-
stian — Amanda, Hulda, Laura, Marianne, Thekla, Ursula; dreimal
Angustin, Bartholomäus, Gotthelf, Konrad, Laurentius, Lorenz, Oswald,
Philipp, Reinhard, Rudolf — Alwine, Elise, Livia; viermal Abraham,
Arthur, Jeremias, Leberecht, Melchior, Nikolaus, Siegfried, Thomas,
Traugott — Gertrud, Olga, Rosalie; fünfmal Anton, Felix, Ulrich,
Wolfgang — Lydia, Rebekka; sechsmal Gabriel, Simon — Martha,
Erdmuthe ; siebenmal Joseph, Kaspar, Ludwig, Karoline; achtmal
Alwin — Antonie, Selma. Leider sind darunter recht viele wohl-
klingende deutsche Namen.
Zu Gruppe 2 und 3 gehören Adam, Adolf, Albert, Alfred, An-
dreas, August^), Benjamin, Christian, Christoph, Daniel, David,
Eduard, Elias, Emil, Ernst, Ferdinand, Friedrich, Franz, Georg,
Gottfried, Gottlieb, Gottlob, Gregor, Gustav, Heinrich, Her-
mann, Jakob, Johannes, Julius, Karl, Martin, Mattheus, Max,
Michael, Moritz, Oskar, Otto, Paul, Petrus, Richard, Robert, Samuel,
Sigismund, Theodor, Tobias, Wilhelm — Amalie, Anna, Barbara,
Bertha, Charlotte, Christiane, Christine, Dorothea, Eleonore, Eli-
sabeth, Emilie, Emma, Emestine, Friederike, Helene, Henriette,
Ida, Johanna, Julianne, Justina, Katharina, Klara, Lina, Magdalena,
Maria, Minna, Rahel, Regina, Rosina, Sabina, Sibylle, Sophie,
Susanne, Therese. — Wann die einzelnen dieser Namen besonders stark
I) Die gesperrt gedmckten sind fut dnrchg&igig in Gebrauch gewesen.
4
— 44 —
aufgetreten sind, ist aus den Haupttabellen zu ersehen ; man wird, wenn
man diese Namen in den Tabellen aufsucht, bemerken, dafs die Neigung^
iiir deutsche Namen in den letzten Generationen wesentlich stärker
hervortritt als früher. Noch klarer tritt das zutage, wenn man die
Prozentzahlen der Namengruppen in Betracht zieht. Die männlichen
deutschen Namen sind, wenn man wieder jeden Namen zählt, so oft er
vorkommt, bei der ersten Generation mit 3,2, bei der letzten mit
84 Prozent beteiligt; ein stärkeres Steigen beginnt von der siebenten
Generation an (44 Prozent), also von der Zeit an, wo nur die Tauf-
listen der rein ländlichen Gemeinden zur Verfügung standen. Sollten
die Errungenschaften des grofeen Friedrich, deren sich in Deutsch-
land Freund und Feind freute, belebend auf das Nationalbewußtsein
unserer Landbewohner eingewirkt haben? Preufeische Krieger lagen
ja, wie auch die Kirchenbücher ausweisen, in jenen Jahren in den
Dörfern. Sicher sind die deutschen Freiheitsbewegungen des XDC. Jahr*
hunderts von Einflufs auf die ungeheure, überaus erfreuliche prozen-
tuale Zunahme der deutschen Namen gewesen. Viel geringer ist aber
in dieser Beziehung der Erfolg auf dem Gebiete der weiblichen deut-
schen Vornamen. In der ersten Generation scheint der Name Gertrud
noch beliebt gewesen zu sein; in der zweiten und dritten kommen
keine deutschen Namen vor, noch in der achten Generation sind es
blofs 7 Prozent, bis schliefslich in der neunten und zehnten sich auch
ein erfreuliches Emporschnellen wenigstens bis zu 35 und 39 Prozent
verzeichnen läfet. Auf dem Gebiete der weiblichen Vornamen haben
sich mit gro(ser Zähigkeit, wohl als ein Erbstück des kirchlichen Mittel-
alters, die altkirchlichen Namen gehalten; sie setzen mit 52 Prozent
in der ersten Generation ein, steigen, fallen und steigen wieder bis
zu 81 Prozent in der achten Generation und behaupten sich noch mit
45 Prozent in der zehnten. Die männlichen Namen gleicher Art sind
in der ersten Generation mit reichlich 32 Prozent vertreten, steigen bis
36 Prozent in der dritten Generation und fallen bis 13 in der zehnten.
Es ist wohl klar, dafs wir dieses Beharren des weiblichen Geschlechtes
bei den kirchlichen Namen mit einem tieferen religiösen Gefühlsleben
in Zusammenhang bringen können, das auch dann noch nachwirkte,
als von pietistischen Einflüssen nicht mehr die Rede sein konnte; denn
wir dürfen wohl annehmen, dafs bei der Namengebung der Mädchen
die Frauen ganz besonders ihren Einflufs geltend gemacht haben. Was
sonst noch zum vermehrten Gebrauch dieser altkirchlichen Namen
gefuhrt hat und zwar bei beiden Geschlechtem zu so verschiedenen
Zeiten, ist freilich nicht so einfach zu ergründen. Sicher haben Kirche
- 45 —
und Gdstlichkeit und religiöses Leben überhaupt, für das XVI. und
andi das XVII. Jahrhundert noch die Reformation besonders, neben
altheigebrachter , tiefwurzelnder Sitte groisen Einflufs auf die Namen-
gebung gehabt; das erhellt auch daraus, dafs die männlichen neu-
testamentlichen Namen in der ersten Generation mit ca. 58 Prozent
beteiligt sind und noch in der siebenten Generation auf 39 Prozent
stehen, während die weiblichen Namen derselben Art mit 40 Prozent be-
ginnen, in der dritten Generation eine Höhe von 68 Prozent erreichen und
in der sechsten Generation noch 38,5 Prozent zählen, sowie daraus, dafs
2ach die alttestamentlichen Namen in der dritten Generation die höchsten
Zifiem aufweisen (männliche gegen 11, weibliche gegen 9 Prozent).
Die groüsen Zeitereignisse haben natürlich auf dem Lande immer etwas
später eingewirkt. So könnte man denn schliefslich auch den späteren
häufigeren Gebrauch der deutschen Namen mit auf Rechnung auf-
klärerischer Einflüsse schreiben. Sicher ist aber bei derartigen Kom-
binationen immer etwas Vorsicht geboten. Nur wenn man gröfeere
Gebiete überblickt und sonst Einblick in Sitte und Brauch der be-
treffenden Orte tun kann, wird man zu sicheren Resultaten gelangen
können. Noch mehr Vorsicht scheint am Platze zu sein bei der Be-
urteilung des Neuauflretens einzelner Namen. So war ich versucht,
den Gebrauch des Doppelnamens Johann Georg seit der Wende des
XVII. und XVIII. Jahrhunderts damit in Zusammenhang zu bringen, dafs
Tier Fürsten des Herrscherhauses Wettin diesen Namen getragen hatten.
Beim Lesen des Gmelinschen Aufsatzes muDste ich aber erfahren, daCs
sich diese Namenzusammenstellung auch in Süddeutschland grofser
Beliebtheit erfreut hat, und „Hansgörge'* gibt es wohl auch noch in
anderen Gegenden Deutschlands. Manche Namen wurden durch Zu-
zügler neu eingeführt und bürgerten sich mehr oder weniger ein.
Über Einzelnamen und Namenzusammenstellungen mögen aber doch
Boch einige Bemerkungen hier Platz finden.
Was die Einzelnamen betrifft, so möge zunächst noch gesagt sein,
dafc die Kinder oft nach Vater, bzw. Mutter genannt wurden; doch
sdieint man sich dabei nicht, wie es hier und da der Fall ist, nach
einer besonderen R^el gerichtet zu haben, so vielleicht, dafs das
entgeborene Kind den betreffenden Namen erhielt. Besonders häufig
bekamen allerdings uneheliche Knaben den Namen des Vaters.
Wollten vielleicht die Mütter dadurch ihre Liebhaber, die Räuber
ihrer Ehre, fester an sich ketten und sie zur Ehe bewegen? Ver-
schiedene der biblischen Namen (Petrus, Paulus) finden sich meist
mit fremdsprachlicher Endung in den Tauflisten vor; die Herren
4»
— 46 —
Pfarrer hängten gern ihren Eintragungen ein gelehrtes Mäntclchen um.
Selten lesen wir die gebräuchlichen deutschen Formen Paul und Peter
oder die volkstümlichen Formen Jochen, Michel, Johann oder Hans,
Christophei oder gar Toffel usw. Dafs sie aber mehr üblich waren,
als sich aus den Listen ersehen läfst, kann man daraus erkennen, dais
die Väter und Paten dann und wann auch unter solchen Namen in
den Listen verzeichnet stehen. Unter den weiblichen Namen fand
sich nur eine einzige Koseform (Antoniette) ; sicher sind solche aber
auch mehr in Gebrauch gewesen. Vereinzelt kommen Namen iü
zweierlei Form vor, so Theresia neben Therese, Gertraut neben Ger-
trud, Heinriiette neben Henriette usw. — oder Louis neben Ludwig
(also auch hier Nachäffung des Französischen!), Franziskus neben
Franz u. a. m. Die seltenere Form, die gewöhnlich nur ein oder ein-
zelne Male auftritt und hier und da vielleicht mehr auf Rechnung des
Pfarrers als der Eltern zu schreiben ist (Carolus !), ist in den Tabellen
stets in Klammer gesetzt. Es möge an dieser Stelle gleich mit er-
wähnt sein, dafs einige fremdsprachliche Namen ohne kirchlichen
Charakter mit bei den altkirchlichen, einige französisierte oder
romanisierte, sowie der schwedische Name Gustav mit bei den deut-
schen Namen untergebracht sind. Sie sind durch ein * hervor-
gehoben.
Es bleibt nun schliefslich noch übrig, ein Wort über Namen-
zusammenstellungen zu sagen. Im XVI. und Anfang des XVII.
Jahrhunderts begfnügte man sich mit einem Namen; nur einzelne, be-
sonders die „Spitzen** der Gemeinden — Gutsherr, Pastor, Schul-
meister — gestatteten sich den Luxus eines zweiten; bald wurde das
aber zur Gewohnheit, und im XVIII. Jahrhundert kam vielfach auch
noch ein dritter dazu *). Welcher der zwei bis drei oder gar vier
Namen der Rufname gewesen ist, läfst sich aus den Listen nicht er-
sehen; deshalb sind auch in den Tabellen alle Namen gleichmäfeig
gezählt worden. Es ist vielleicht nicht falsch, anzunehmen, dais im
allgemeinen der jedesmalige letzte der Namen diese Bedeutung hatte,
da an erster Stelle oft ein und derselbe Name stand ; vornehmlich in
der ersten Zeit waren die Zusammenstellungen ganz stereotyp. So
sind z. B. unter den 44 männlichen Doppelnamen von Zweinaundorf
von 163s bis 1727 41, bei denen an erster Stelle der Name Johannes
i) Gmelin (S. 165) hat ähnliche Erfahnuigen gemacht. (XVII. Jahrhundert zwei
Namen, XVIIL Jahrh. drei, XIX. Jahrh. Abnahme der Doppelnamen, dafür stärkeres Auf-
treten der deutschen Namen.)
— 47 —
steht Dieser Name '), der sich, wie die betreffende Tabelle teigt,
durch alle Zeiten hindurch gehalten hat und eine Zeitlang Modename
war, ist nach und nach, wie es scheint, fast ganz in diese Neben-
stellung eines Beinamens gedrängt worden; aber auch da hat er an-
dren mehr und mehr weichen müssen; die Zusammenstellungen
werden immer mannigfaltiger. In der zehnten Generation ist er fast
vollständ^ durch die deutschen Namen verdrängt; als Rufname ist
er schon früher jedenfalls stark zurückgetreten. Unter den weiblichen
Namen haben ein ähnliches Geschick die Namen Maria und Anna ge-
habt Unter den 38 Zweinatmdorfer Doppelnamen von 1656 bis 1726
sind 15 mit Anna, 17 mit Maria, 3 mit Johanna, 3 mit anderen Namen
zusammengestellt. Es herrscht also hier schon eine etwas gröfsere
Mannigfaltigkeit.
Diesen Einzelausführungen lassen wir nun die Tabellen ') selbst
folgen, die vielleicht doch in ihrer Ausführlichkeit noch einzelne
Schlüsse bezüglich des oder jenes Namens zulassen und trots des be-
scheidenen örtlichen Kreises, auf den sie sich beziehen, als Glied in
einer Reihe ähnlicher Untersuchungen für allgemeinere Zwecke nutz-
bar gemacht werden können.
Tabelle I: Alttestamentliche Namen.
I.
«.
3.
4.
5-
6.
7.
8.
9-
10.
Name
Jahr dM
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Vor^
kOBUDCBS
1600
1601
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bb
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7.
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7.
%
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1632
—
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0,63
0,21
0,21
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Abraham . . .
1665
—
—
—
0,25
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—
—
—
*—
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Bcajamin . . .
1679
—
—
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1639
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2,10
I
0,37
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I) Bezflglich dieses Namens sei verwiesen auf den Aufsatz Vomammahtdtm von
Georg Steinkauaen (Zeitschr. fftr den deutschen Unterricht, Bd. Vn [1893], S.^l6ff.),
der sieb ancb über dessen groise Beliebtheit im gansen christlichen Earopa seit xiem
IGltclaller aosspricht and aaf seine bfinfige Yerwendnng tu volkstümlichen Zosamftien-
settangeo (PraklhaBS, Faselhans, Hans im Glück usw.) hinweut.
a) Die Snmmierang der Froseotcahleo einer jeden Generation ergibt nicht i«»ier
die gbUe Zahl 100, sondern meist einen Bruchteil darunter oder darüber. Um die Rflck*
rechnoBg in absolute Zahlen nicht za erschweren, habe ich gemeint, von einer weiteren
Abrandang der Prosentzablen absehen zn müssen. Für das Ganze sind diese geriggen
Mler «nerbdiUch.
— 48 —
1.
«.
3-
4.
5.
6.
7.
8.
9-
10.
Name
Jmhr des
ersten
Vor.
au
1574
bis
1601
bu
163I
bis
1661
bU
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bis
1751
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bis
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1660
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1870
•/,
7o
7o
7.
7o
7a
%
7.
7o
7.
Esaisas . . . .
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0,47
—
—
—
Ephraim
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—
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—
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Elias. .
1717
—
—
—
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1681
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—
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4,75 0,47
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—
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—
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—
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0,25
0,33 0,21
—
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Jonas
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—
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—
—
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—
—
Tabelle U: Neutestamentliche Namen.
I.
9
3-
4.
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7.
8.
9.
10.
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bis
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163I
bis
1660
1661
bis
1690
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bis
1720
1721
bis
1750
1751
bis
1780
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bis
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1811
bis
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A. UaiilielM Vamtn :
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1578
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ö,«5
0,12
Bartholomfiiu . .
1578
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4,75
0,25
—
—
—
—
—
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1636
—
—
0,47
0,25
0,22
0,14
—
—
—
—
Immanael . . .
1718
—
—
—
—
o,ix
0,07
—
—
—
—
Joachim (Jochen) .
1641
—
—
0,94
—
—
—
—
—
—
Johannes (Johann,
Hans). . . .
1579
12,88
14,«
19,74
22,0
33,7
39,7
36,1
28,0
14,0
1,92
Matthias (Mathes)
1599
3,23
—
1,88
1,50
0,63
0,07
—
—
—
—
Matthias. . . .
1684
—
—
—
0,25
—
—
—
—
— —
—
Michael (Michel) .
1578
9,66
4,75
7,52
6,50
4,30
1,3
>,o5
0,2
—
—
Paulos (Paol) . .
1595
6a*
0,94
4,P
2,52
1,1
—
—
—
0,84
Petrus (Peter) . .
1580
6,44
—
6,11
1,36
0,11
0,28
—
—
—
—
Philipp ....
1676
—
—
0,51
0,11
—
—
—
—
—
Simon (Simeon) .
1581
6,44
—
—
0,51
0,11
0,21
—
—
—
—
Thomas ....
1579
3,22
—
0,47
0,25
—
0,07
—
—
—
—
— 49 —
B.
a.
9-
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
Name
Jahr des
erstttn
Vor-
kommei»
ca.
1574
bis
1600
1601
bis
1630
1631
bis
1660
1661
bis
1690
1691
bis
1720
172^
bis
1750
1751
bis
1780
1781
bis
1810
181 1
bu
1840
1841
bu
1870
%
7o
%
%
%
7o
7o
7o
7o
\
B.W«ihU0li6VuMB:
Adds
1578
12
15,6
22,5
17,3
»0,37
7,2
6,50
2,3
0,56
5,7
Elisabeth . . .
1636
—
—
5,4
5i75
11,12
6,5
1,75
0,41
—
0,28
Elise
1852
—
—
—
—
—
—
0,4
« «
1583
24
20,8
37,2
26,2
«4,39
22,6
17,0
7,1
6,8
7,4
Magdalena . . .
1653
—
«,9
5,75
4,38
2,1
0,50
0,62
—
0,28
Martha . . . .
I5«4
4
a,6
0,9
—
0,21
—
—
—
1,26
Salome . . . .
1666
—
—
0,24
—
—
—
—
—
Tabelle lU: Altkirchliche Namen.
B.
9.
3.
4.
5-
6.
7.
8.
9-
xo.
Jahr des
ca.
^%
cfsleu
1574
160I
1631
1661
1691
I72I
1751
1781
181I
I84I
Name
Vorw
Konuaeas
bis
bis
bis
bU
bis
bis T bis
bis
bu
bis
1600
1630
1660
1690
1720
1750
1780
1810
1840
1870
•/.
%
7.
%
7.
7«
7.
%
%
7.
A.HiaBli0h«Vamai :
Adrian . . . .
1664
—
"""
—
0,25
—
—
—
—
—
—
Alezander . . .
1822
—
—
-^
—
—
—
—
—
0,13
—
Anton . . . .
1714
—
—
—
0,11
0,14
—
—
0,25
—
AagQst ....
1701
—
—
—
—
0,77
1,82
1,5
5,0
7,25
3,4
Aognstin. . . .
1688
—
—
—
0,25
0,22
—
—
—
—
—
Aastimu ....
1659
—
—
<M7
—
—
—
—
—
—
Balthasar . . .
1580
3,22
—
—
—
—
—
—
—
—
—
Benedikt . . .
1649
—
—
0,47
0,25
—
—
—
—
—
—
Quisiian . . .
1634
—
—
7,05
13,5
12,1
9,24
6,5
13,4
3,75
0,4
Christoph (Christo-
phe!) ... .
1583
3,22
—
7,99
7,5
9,24
5,53
4,4
0,8
—
—
Clemens. . . .
1580
3,22
—
—
—
—
—
—
—
—
—
Emü
1818
—
—
—
—
—
—
—
—
0,25
2,2
EichariQS . . .
1670
—
—
—
0,25
—
—
—
—
—
—
Engen . . . .
1831
—
—
—
—
—
—
—
—
0,13
—
Felix
1858
—
—
—
—
—
—
—
—
—
0,6
Florens . . . .
183I
—
—
—
—
—
—
—
—
0,13
—
Georg . . . .
1583
6r44
19,0
7,05
4,0
3,74
t,75
0,42
—
—
1,2
Gr^or ....
1579
6r44
—
1,88
»,o
0,33
0,14
—
—
—
—
Jtü« . . . .
1814
—
—
—
—
—
—
—
0,25
1,2
J»tas . . . .
1666
—
—
—
0,25
—
—
—
—
—
—
Kaspar . . . .
1589
3,22
—
0,47
0,25
0,33
0,07
—
—
—
—
unreotms . • .
1581
3,22
—
0,94
—
—
—
—
—
—
—
Lora» . . . .
1684
—
—
—
0,25
0,11
—
—
—
0,13
—
Ütftm . . . .
1629
—
4,75
7,<>5
3,50
1,1
0,35
0,42
—
—
—
— 60 —
I. «*
3-
4»
$>
"T"
7.
s.
9.
10.
Name
Jidir des
ersten
Vor.
konunens
ca.
1574 i4k>i
bis bis
1600 1630
1631
bis
1660
1661
bis
1690
1691
bis
1720
1721
bu
1750
1751
bu
1780
1781
bU
I8I0
i8if
bis
1840
I84I
bU
187a
jy.±%
%
Jlo.
V.
-^•_
7o
V.
%
7.
Max (Maximilian).
1855
—
—
— •
^-
—
—
—
—
—
2,0
M/elchior . . .
1630
—
4,75
0,47
0,25
0,11
—
—
—
—
Morite . .
182I
—
—
—
—
—
—
—
—
0,37
^'
Nikolaof
1653
—
—
0,94
0,25
—
0,07
—
—
—
Sebastian
*
1650
—
—
0,94
—
—
—
—
—
—
—
Theodor . ,
1
1681
—
—
0,25
—
0,07
—
—
0,7$
0,96
Urban . .
1591
3»22
—
—
"
—
—
—
—
—
—
Valentin . .
1
I715
—
—
—
0,11
—
—
—
—
—
B. W«iblioh« Hamen :
Agnes . . . .
1703
—
—
—
—
0,11
—
—
—
I,«
Antonie (Anto-
1
niette)
4749
—
—
—
—
—
0^
—
—
0,14 0,84
Alma. . .
1861
—
—
—
—
—
—
i^i^
—
—
1,12
Amanda . .
1862
—
—
—
—
—
—
—
—
0,28
Aarelie . .
1726
—
—
—
—
—
0,08
—
—
—
Angaste (Aagn-
stine I mal)
1723
...
^
m^m
^.
^^
0,08
._
— ^
3,8
9,1
Barbara . .
159a
12
5.2
3t4
1,44
0,77
0,16
—
—
—
Cnaritas .
1685
—
—
—
0,24
—
—
—
—
—
Christiane
•
1700
—
—
—
—
2,97
5,0
6,50
12,6
7,6
0,9«
Christine
»
1589
4
—
2»4
3,2
3,2
2,4
0,25
0,21
—
0,14
Cornelia .
•
1715
—
—
—
0,11
—
—
—
—
Dorothea
»
1649
—
—
0,5
3,2
5,39
1,8
3,75
3,15
1^6
0,14
Eleonore
»
1692
—
—
—
—
0,66
0,24
0,25
0,84
1,05
0,14
Emilie .
1817
—
—
—
—
—
—
—
—
1,8
7,«4
Enpbrosine
>
I715
—
—
—
—
0,11
—
—
—
—
—
Florentine
>
I716
—
—
—
0,11
—
—
—
—
—
Franziska
1851
—
—
—
—
—
—
—
—
—
0,14
Helene .
*
1693
—
—
—
—
0,11
—
—
—
—
1,26
Hypolita
>
170I
—
—
—
—
0,11
—
—
■—
—
Jobanna .
169I
—
—
—
i,9ü
7,37
'5»4
25
3^9
21,9
3,1
Juliane . .
»
1669
—
—
—
0,24
0,22
0,16
—
0,42
3,2
0,42
Jüiiina .
t
1599
4
^
«,4
0,24
0,33
0,08
—
—
—
—
Katharina .
»
157«
8
49
^i9
5,20
4,4
3,9
I
—
— v>
—
Klara
»
x66i
—
—
—
0,48
0,33
—
—
—
—
2,7
' Laora
»
1837
—
—
—
—
—
—
—
-^
0,14
0,14
Livia. .
ft
1862
—
—
—
—
—
—
—
—
—
0,42
Lydia
»
1858
—
—
—
—
—
—
—
—
—
Oi7
Margarete
»
1579
20
«,6
4,3
2,10
ö,44
0,24
—
—
—
0,7
Mariao(n)a .
►
1599
4
■ —
—
—
—
—
—
0,21
—
—
Mditta .
•
1868
—
-?-
—
—
—
—
—
—
—
0.14
— 61 —
X.
a.
3*
i.
5*
6.
7.
8.
9-
10.
Nam e
Jahr des
entea
Vor-
kommeni
ca.
1574
bis
1600
1601
bis
1630
163I
bi«
1660
1661
bU
1690
169I
bu
1720
172I
bU
1750
1751
bU
1780
I781
bis
1810
1811
bis
1840
1841
bU
1870
7.
7.
%
7.
7.
%
7.
7o
%
%
B. W«ibli«h« Vamtn :
Pauline . . . .
1820
—
—
—
—
—
—
— •
— -
2,24
7,6
Regina . .
1609
—
a,6
1,4
9,3
8,9
iai3
13,5
10,8
2,24
—
Rotioe .
1641
—
1,85
2,85
6.4
9,4
11,75
^3,1
8,3
1,12
Rotalie .
1820
—
—
—
—
—
—
-^
0,28
0,28
Sabine .
1638
—
a,6
6,a
7,8
a,I
h7
4
M5
0,14
—
Sidonie . ,
1752
—
—
—
0,08
—
—
—
—
Sophie . .
1685
—
0,95
h^
«,3
4,25
6,9
2,«4
0,98
SibjUe .
1636
—
0,5
0,24
0,11
0,48
—
—
—
—
Thelda .
1845
—
—
—
•—
—
—
—
0,28
Theodore
184I
—
—
—
—
—
—
—
0,14
Therese (Theresia)
1833
—
—
—
—
—
—
0,56
1,54
Ursula . . . .
1638
—
0,9
—
—
—
—
—
—
Aiihmig ;
Alice
1861
—
— -
—
— .
—
— ..
—
~-
0,14
1852
—
—
—
—
—
—
—
o;i4
Fanny . . . .
1863
—
—
—
—
—
—
—
0,14
Olga. .
»
9 •
1864
—
—
—
' —
—
—
—
0,56
Tabelle IV: Deutsche Namen.
z.
«.
3-
4.
S-
6.
7.
8.
9.
10.
Name
Jahr des
ersten
Vor-
kommens
ca.
1574
bU
1600
160I
bu
1630
1631
bis
1660
1661
bis
1690
1691
bu
1720
I721
bis
1750
1751
bb
1780
I781
bis
1810
I8II
bis
1840
1841
bis
1870
7.
7.
7o
7.
7,
7o
7.
'0
Vo
%
Ar KftBslioha VaflMn :
1
Adolf . . . .
1692
—
_^
—
—
0,22
0,21
0,21
0,2
I,<H t 3,16
Albert (Albracht) .
1710
—
—
—
—
0,11
—
—
—
o,X3
0,84
Alfred . . . .
184I
—
—
—
—
—
—
—
—
—
1,3
Arthor . . . .
1861
—
—
—
—
—
—
—
~.
.-
0,5
Alwin (Albin) . .
1834
—
—
—
—
—
—
—
—
0,25
Ot7
Bernhard . . .
1869
—
—
—
—
—
—
—
—
—
«M
Bodo
1726
—
—
—
—
—
0,07
—
—
—
—
Brano . . . .
1852
—
—
—
—
—
-—
—
—
—
0,24
Bnrkhart (Borch-
hard) ....
1628
_
9,5
^^^
•
Eduard . . . .
1801
—
—
—
—
—
—
—
0,4
2,6
3
SgmoBt . . . .
1831
—
—
—
—
—
—
—
—
O1I3
^_
Ehrenfried . . .
1683
—
—
—
0,2$
—
-^
0,2
0,38
0,12
Ehreahard . . .
1709
—
—
—
—
0,11
—
—
-r-
^■■^
— 52 —
1.
a.
3.
4.
5.
"T-
7.
8.
9-
10.
Name
Jahr des
ersten
Voi-
kommens
ca.
1574
bis
1600
1601
bb
1630
1631
bis
1660
I66I
bis
1690
169I
bu
1720
1721
bis
1750
1751
bis
1780
I781
bU
1810
1811
bU
1840
X841
bis
1870
7.
7a
7.
7.
7.
7a
%
%
%
A.mnnHnhi>g
AiMn:
Ehrenreich .
. . 1783
—
—
—
—-
0,21
—
—
Engelbert .
. . 1821
—
—
—
—
—
Ol' 3
—
Engelhard .
. . 1638
—
0,47
—
—
—
—
—
—
Erdmann
. . 1747
—
—
—
—
—
0,07
—
—
0,12
Ernst. . .
. . 1641
—
—
0,47
—
0,22
0,21
0,2
2,75
6,6
Erwin . .
. . 1870
—
—
—
—
—
—
—
—
0,12
Ferdinand .
. . 1700
—
—
^^^
—
0,11
—
—
0,4
>,5
0,12
•Franz (Fra
nsis-
kos) . .
. . 1706
—
—
—
0,11
—
—
—
0,75
2,76
Friedemann
. . 1735
—
—
—
—
—
0,07
—
—
Friedrich .
. . 1613
9,5
0,94
2,0
3i08
3,36
2,73
8,8
•«,5
20,12
Gebhard. .
. . 1750
—
—
—
—
—
0,07
—
—
Gerhard . .
. . 1695
—
—
—
—
0,11
—
^^^
—
•Guido . .
. . 1861
—
—
—
—
—
—
—
0,24
•GosUt. .
. . 1685
—
—
0,25
—
0,07
•—
1.8
7,68
Hartmann ,
. . 1711
—
—
•^i^
—
0,11
—
—
Heinrich
. . 1640
—
—
1,88
2
1,98
2,03
«,47
1,4
3,0
0,96
Hermann
. . 1823
^^^
—
—
—
—
—
—
—
',0
12,0
Karl (Carok
is) . . 1672
—
—
—
0,50
0,88
2,7
5,04
12,2
14,5
9,4
Konrad . .
. . 1709
—
—
—
—
0,11
0,07
—
—
—
0,12
Kort . . .
. . 1852
—
—
—
—
—
—
0,24
Leberecht .
. . 1710
—
—
—
—
0,11
0,2 X
—
—
—
Leonhard
. . . 1638
—
0,47
0,25
—
—
—
—
—
Ladolf . .
. . 1780
—
—
—•m
—
—
0,21
—
—
—
lÄdwig («L
imal lo.
oais)
Gen. . 1726
^^^
1
_
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^^^
0,2 X
^^^^
^ ^
0,38
0,12
Oskar . .
. . 1816
—
—
—
—
—
—
—
0,38
0,72
Oswald . .
. . 1869
—
—
•—
—
—
—
—
—
—
0,36
Oswin . .
. . 1870
—
—
—
—
—
—
—
—
—
0,12
Otto . . ,
. . . 1706
—
—
—
0,11
—
—
—
0,38
0,96
Reinhard
. . 1719
—
—
— >
—
o,ii
0,14
—
—
—
—
Reinhold
. . . 1844
—
—
—
—
—
—
—
—
0,24
Richard .
. . . [840
—
—
—
—
—
—
—
0,13
1,8
Robert . .
. . . 1821
—
„_
—
—
—
—
—
—
0,38
0,72
Rodolf . .
. . 1747
— .
—
—
—
—
0,14
—
—
—
0,12
Siegfried
. . . 1721
—
—
—
—
0,07
0,21
0,4
—
—
Sigismond (
Siege-
mond). .
, . . 1718
—
—
—
0,22
0,14
0,84
0,2
—
—
Ulrich . .
. . . 1684
—
—
0,75
0,22
—
—
—
—
—
Wilhelm . .
. . . 1681
—
0,50
0,55
0,98
0,42
1,8
9,3
6,5
Woldemar .
. . . 1868
—
"^^
—
—
—
—
—
—
0,X2
Wolfgang
. . . 1581
3,"
4,75
0,25
0,11
0,07
—
—
—
—
53 —
t
X.
s.
3-
4.
5.
6.
7-
8.
9.
10.
Name
Jahr des
ersten
kommens
ca.
1574
bis
1600
I60I
bis
1630
163I
bb
1660
1661
bis
1690
1691
bU
1720
1721
bU
1750
I75I
bis
1780
I781
bU
1810
1811
bis
1840
1841
bu
1870
•/.
V.
7.
7.
7.
%
7.
'U
7.
7.
Aikaif:
PBrchtegott. . .
1829
—
—
—
—
•—
—
—
—
0.13
—
Gottlicb. . . .
1670
—
—
—
i,a5
3,6
3,8
9,9
3,6
3,»
0,36
Gottfried (Gotho-
fred) . . . .
1613
.-^
4,75
3i3
10,8
9,1
",3
«4,5
»3,8
6,1
0^8
Gotthard . . .
1704
—
—
—
—
0,11
—
—
—
—
—
Gottbelf. . . .
1726
—
—
—
—
—
0,07
0^1
—
0,13
—
Gottlob ....
1697
—
—
—
—
0,11
3,6
7,77
5,6
a,6
0,6
Tmgott . . .
174I
—
—
—
—
—
0,07
—
Oi4
0,13
—
B.WiiUkk8V«MtB:
■
Albertine . . .
1868
—
.^
—
— ~
«..
-^
—
—
...
0,14
Adele . . . .
1870
—
— .
—
-—
_
—
—
-i—
0,14
Alida (AUndm?) .
1857
—
—
—
—
—
—
—
0,14
Amalie . . . .
1793
—
—
—
—
—
—
—
<Vf2
a,94
5,74
Ahrioe . . . .
1846
—
—
—
— .
'^>.
-~.
—
—
—
0,4a
Bertba . . . .
1836
—
—
—
—
—
—
—
—
0,14
3,08
Brigitte . . . .
1664
—
—
—
0,24
—
—
—
—
—
—
^Charlotte . . .
1702
—
—
—
—
0,55
0,32
0,25
—
0,28
—
Elwioe . . . .
1837
—
—
—
—
*"""
—.
■~~~
—
0,14
—
Eama . . . .
1841
^—
—
—
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—
—
2,8
Erdumthe ...
1706
—
—
—
—
0,11
0,08
0,25
—
0.28
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Ernestine . . .
1807
—
—
—
—
—
—
—
0,21
0,56
2,52
Friederike . . .
»715
—
—
—
—
0,11
0,16
—
3,7
8,68
4.34
Gertmd (Gertraut)
1581
8
—
—
0,24
0,08
—
—
—
—
Hedwig . . . .
1849
—
—
—
—
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...
—
—
0,98
Heiorika . . .
1737
_
— .
—
-^
0,08
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—
—
—
•Henriette (Hein-
rictte). . . .
1724
—
—
—
—
—
0,24
—
0,21
7,00 3,08
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1856
^—
—
— .
...
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—
0,28
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1857
—
—
—
—
—
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—
—
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KaroIiDe. . .
1746
—
—
—
—
—
0,24
0,50
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0,7
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1S54
—
—
—
—
—
—
—
—
0,98
•Laise
1727
—
—
—
—
—
0,16
0,63
0^2
0,84
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1854
—
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Minna . . . .
1823
—
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_
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0,28' M
Ottilie . . . .
1859
_
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Sdma . . . .
1847
_
—
—
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— .
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.—.
—
i,ia
WObelmine . . .
1742
—
—
—
—
—
0,08
0,25
1,05
10,08
.V4
«^^^i^^^^»»»W»<W\»><MMM^
54 —
Mitteilungen
y^rsamnilangeil. — Der fünfte deutsche Archivtag hat programm-
gemäfs ^) am 25. Sept. zu Bamberg in den Räumen des dortigen neuen Kgl.
Kreisarchivs unter dem Vorsitze des Reichsarchivdirektors Bau mann
(München) stattgefunden; die Teiinehmerliste führte 56 Namen auf, danmter
den des dänischen Reichsarchivars See her (Kopenhagen). Ausführlich
wird über die Verhandlungen im Korrespondenzblatt des Oesamtverems der
deutschen OeschiektS" und Altertumsvereine berichtet werden, imd der dortige
Bericht wird auch im Sonderdruck erscheinen; deshalb soll hier nur auf
die wesentlichsten Punkte kurz hingewiesen werden.
Als Berichterstatter des Ausschusses, der über die Frage des Schutzes
der kleineren Archive beraten hat, sprach an erster Stelle Archiv-
direktor Wolfram (Metz). Ausgehend von dem Tage für Denkmalpflege^
der erst kürzlich in Bamberg stattfand, bezeichnete der Redner die Urkunden
und Akten in den Archiven als Denkmäler für die Landesgeschichte, die
ebenso wie jene aus Erz, Stein und Holz Schutz verdienen. Insbesondere
fehlt dieser Schutz bisher den Archiven, welche nicht unter fiachmänniscber
Verwaltung stehen, in erster Linie den Gemeindearchiven, tmd deswegen
wird es Sache des Archivtages sein, die Landesverwaltungen um Scluitz
dieser Archive anzugehen. Wieviel hier zugrunde gegangen ist und täglich
zugrunde geht, wird an einigen typischen Beispielen gezeigt. Hinsichtlich
dessen, was zu erstreben ist, mufs scharf geschieden werden zwischen den
Ordnungsarbeiten, welche in den Gemebdearchiven nötig sind, und
der Aufsicht, die dauernd über die Archive ausgeübt werden mufs. Bisher
hat man zwei Wege zur Erreichung dieser Ziele beschritten: entweder ist
die entsprechende Arbeit den Historischen Komissionen — so in
Baden — übertragen worden, oder den Staatsarchiven. Hinsichtlich
der Ordnung ist durch die Historischen Kommissionen zweifellos viel zu
erreichen, aber die Garantie dafür, dafs die Archive nunmehr auch gut auf-
bewahrt werden und dafs die einmal geschaffene Ordnung bestehen bleibt,
ist nur vorbanden, wenn eine ständige Aufsicht durch Fachleute
ausgeübt wird, die durch Übertragung des Aufsichts rechts von Seiten der
Regierung auch die nötige Autorität gegenüber den Gen^eindeorganen besitzen.
Zimächst fragt es sich, ob der Staat das Recht der Archivaufisicht hat bzw.
worauf ein solches Recht begründet werden kann. Das ist in den einzelnen
Staaten verschieden, und der Archivtag wird vor aUem vermeiden müssen,
seine Wünsche so zu formulieren, dafs sie mit den verfassungsmäisigen Befug-
nissen der Einzelstaaten in Widerspruch stehen. Aber von einem Grundsatze
wird man überall ausgehen können, nämlich dem, dafs das Gemeindearchiv einen
Teil des Gemeindevermögens darstellt'), und die Regierung wird sich
kaum irgendwo des Rechtes begeben haben, die Verschleuderung des Gemeinde-
Vermögens zu verhindern. In Ebafs-Lothringen besteht das regierungsseitige
1) VgL 6. Bd., S. 325.
2) VgL diese Zeitschrift 5. Bd., S. 30—32.
— 66 —
Ai]£riclitsrecfal üb^ die Gcueindftarchm in voller Kraft, und die Regierung
hst es den staatlichen ArchifVFen übertragen. Aber auch in Preufsen ist es
in der Slädteordnting begründet, wird aber, sowdt die Archive in Frage
kommen, zurzeit nicht aosgeObt Im Au^nchtsrecht begründet ist auch
die Forderung, dafs die Gemeinden ihre Archive ordnen und inventarisieren.
Das kennen selbstverständlich die Staatsarchivare nicht besorgen ; sie können
bierzn nur ihren Rat und ihre Unterstützmig gewähren. An dieser Stelle
aber können die Historischen Kommissionen und ähnfiche Körperschaften
einsetzen und imter Leitung der Staatsarchive den Gemeinden ihre Hilfe
gewähren. Es bleibt überdies auch die Möglichkeit bestehen, dafs die Ge-
meindearchive in dem StaatSMchiv deponiert werden. Dann wird die
Ordnung Sache der Staatsarchive, und die Gemeinden erhalten Inventar-
abschriften sowie das Recht, sich im Bedarfsfälle jederzeit einzelne Stöcke
ikres Archivs portofrei znsenden zu lassen. Die Hauptsache ist bei alledem,
daft den Staatsarchivaren jährlich eine bestiumile Summe für die notwendigen
Reisen überwiesen wird, damit sie das Aufsicbtsrecht auch tatsächlich
auszuüben in die Lage versetzt werden. Wünsche und Forderungen dürfen
indes nicht zu weit gespannt werden; der Archivtag mufs sich auf das
Erreichbare beschränken, und hat er damit Erfolg, dann wird er sich
lähmen kömien, der deutschen Orts- und Landesgeschichte einen wertvollen
Dienst geleistet zu haben. — Nachdem sich zu den angeregten Punkten
Wiegand (Strafsburg), Secher (Kopenhagen), Schenk Freiherr zu
Schweinsberg (Darmstadt) tmd Glasschröder (München) geäufsert
hatten, wurden die von dem Ausschusse vorgeschlagenen Leitsätze mit einer
Ton Wiegand vorgeschlagenen Änderung in Absatz 4 in folgender Fassung
aogenommen :
1. Durch die Erfahrungen der deutschen Archivare ist als offenkundig
festgestellt worden, dafs nicht nur in früheren Zeiten, sondern auch
bis in die Gegenwart geschichtlich wertvolle Urkunden imd Akten durch
ungeeignete Aufbewahrung und sonstige Vernachlässigung in erheblichem
Um&nge zugrunde gegangen, in Privathände gelangt, oder gar ins
Ausland verkauft sind.
2. Die deutschen Archivare halten es zur Vermeidung weiterer Verluste
für eine dringende Aufgabe der deutschen Staatsregierungen, die bisher
ungenügende Archivalienaufsicht in möglichst durchgreifender Weise
durch Gesetz oder Verordnung zweckentsprechend zu regeln.
3. Die staatliche Archivalienaufsicht läfst aber nur dann auf Erfolg hoffen,
wenn sie den Staatsarchiven als den natürlichen Aufsicht»- und Ord-
nungsbehörden auf archivalischem Gebiete übertragen wird.
4. Da eine jede Staatsregierung dabei nur nach Mafsgabe ihrer verfas-
songsmäfisigen Befugnisse vorgehen kann und eine allgemeine Richt-
schnur daher nur in grofsen Zügen sich angeben läfst, müssen sich
cfie deutschen Archivare darauf beschränken, als besonders wünschens-
wert den Erlafs von Instruktionen fUr die Ordnung tmd Instandhaltung
der Gemeinderegistraturen und Archive sowie die stetige Fürsorge flir
Beobachtung und Innehaltung dieser Instruktionen zu bezeichnen.
Hierbei würden gemäfs dem Aufsichtsrecht, das dem Staate zusteht,
in erster Linie die Beamten der Staatsarchive mitzuwirken haben, die
— 56 —
durch regehnäfsige Bewilligungen in den Stand gesetzt werden sollten,
nach Mö^chkeit alle Archive und Registraturen ihres Archirsprengels
zu besichtigen, um deren Aufbewahrung und Ordnung, soweit sie ge*
föhrdet sind, mit allen zu Gebote stehenden gesetzlichen Mitteln herbei-
zuführen und zu fördern.
5. Wo nach Lage der Umstände fUr die Ordnungsarbeiten die Mitwirkung
von archivarisch imgeschulten Personen notwendig erscheint, da ist es
im Interesse der Sache dringend geboten, diese Mitwirkung der Leitung
tmd Beaufsichtigung der Archivbehörde des betreffenden Sprengeis zu
imterstellen.
An zweiter Stelle berichtete der Vorstand des Bamberger Kreisarchivs,
Reichsarchivrat Sebert, über die Geschichte des Archivneubaues sowie
darüber, wie die gegenwärtigen Bestände des Kreisarchivs organisch zusam-
mengewachsen sind. Einen Hauptpunkt seiner Darlegungen bildete die Be-
gründung dafür, dafs bei dem Neubau das Kabinettsystem angewendet worden
ist, während bei der Mehrzahl der neueren Bauten das Magazinsystem herrscht
Ein Rimdgang durch die Räume schlofs sich an, deren vornehme Ausstattung
ebenso Bewunderung erregte wie der für reichlichen Zuwachs bemessene noch
freie Raum.
Nach der Frühstückspause hielt Geh. Archivrat Prümers (Posen)
seinen Vortrag über Papierfeinde aus dem Insektenreiche und
schilderte an der Hand der gekrönten Preisschrift von Houlbert, Insectes
ermemis des Ihres (Paris 1903) die wesentlichsten für die deutschen Archive
gefährlichen Insekten sowie die Mittel zu ihrer Vertilgung.
Als letzter Gegenstand endlich kam die Archivbenutzung zu genea-
logischen Zwecken zur Erörterung. Der erste Berichterstatter, Stadt-
archivar Overmann (Erfurt), kam auf Gnmd seiner Erfahrung imd ange-
stellter Umfragen zu folgenden Leitsätzen : i) Amtliche Aufgabe des Archivs
ist es, der genealogischen Forschung, soweit sie persönlich im Archiv
erfolgt, dieselbe Unterstützung angedeihen zu lassen, die auch allen
übrigen Benutzem des Archivs zugute kommt und die lediglich darin besteht,
das Material herauszusuchen und vorzulegen und alle die Winke zu geben,
die eben nur der Archivar auf Grund seiner Keimtnis der Archivbestände
zu geben imstande ist. 2) Brieflichen Anfragen betrefis Familienforschung
gegenüber mufs dagegen die Aufgabe des Archivs eine weit beschränktere sein.
In diesem Falle kann es unmöglich bei dem heutigen Zustand der Archive als
die Pflicht des Archivars betrachtet werden, umfiangreichere genealogische
Forschungen Privater amtlich zu erledigen. 3) Die Erledigung von familien-
geschichtlichen Anfragen, die eine lunfangreichere Nachforschimg bedingen,
gehört nicht zu den amtlichen Aufgaben der Archive, es sei denn, dafs
es sich bei der Nachforschung lun geschichtlich bedeutende tmd besonders
hervorragende Personen handelt. Im besonderen hielt es der Redner im
Interesse des persönlichen Ansehens der Archivare nicht für zweckmäfsig,
wenn Archivbeamte aufserhalb ihrer Dienststunden gegen Honorar familien-
geschichtliche Nachforschungen anstellen, er wünschte vielmehr, dafs mit
solchen Arbeiten aufserhalb des Archivs stehende geeignete Personen betraut
werden möchten, die der Archivar gegebenen Falles Interessenten benennen
könnte.
— 57 —
Der zweite Berichterstatter, Geh. Archivrat Grotefend (Schwerin), legte
seinen Standpunkt in folgenden, den Teilnehmern gedruckt übermittelten
Leitsätzen dar:
„Die Familienforschung hat einen hohen idealen und sittlichen Wert,
da der Familiensinn als ein festes Bollwerk gegen alle zersetzenden Bestre-
bungen des Sozialismus wie des Übermenschentimis anerkannt werden mufs.
Die Archive können sich daher der Unterstützung der von Familien selbst
beschafiften oder von ihnen veranlagten Familienforschimgen nicht entziehen.
Allerdings sind hierbei folgende Punkte zu berücksichtigen:
1. Unerläisliche Vorbedingtmg dir eine Archivbenutzung zur Familien-
forschung ist, dais ihr die Durchsicht des gedruckten Materials voran-
gegangen ist.
2. Sodann mufs der Antragsteller den Zweck seiner Forschung genau
angeben: ob eine Familiengeschichte, die Aufstellung eines Stamm-
baumes, eber Geschlechtsfolge, einer Ahnentafel oder nur der Nach-
weis der Abstammung von einer bestimmten Persönlichkeit beabsich-
tigt wird.
3. Vor dem B^[inne der Archivbenutzung mufs eine genealogische Über-
sicht des bereits Bekannten dem Archive vorgelegt werden, da nur
hiemach die Forschung zweckentsprechend geleitet werden kann.
4. Die Forschimg hat nicht aufs Geratewohl hin hier oder dort einzu-
setzen, sondern kann nur dann auf Unterstützung durch die Archive
rechnen, wenn sie systematisch von den jetzt lebenden oder den zuletzt
bekannten Familiengliedem nach deren Vorfahren zu gerichtet ist,
ohne eigenen Vermutungen oder Familienüberlieferungen ungebührlichen
^fluls zu gestatten. Insbesondere müssen die Archive die so oft
erstrebten Anknüpfungen an notorisch bereits ausgestorbene Familien,
wenn nicht zwingende Beweise ihrer Möglichkeit erbracht werden, von
vornherein abweisen.
5. Da die Familienforschung ihrem Hauptzwecke nach privaten Interessen
gewidmet ist, so mufs ihre Unterstützung durch die Archive gegenüber
den amtlichen oder den rein wissenschaftlichen Aufgaben der Archive
erforderlichen Falles zurücktreten. Die Archive können sich daher
dieser Unterstützung amtlich nur insoweit widmen, als Arbeitskräfte
und Arbeitszeit es zulassen. Die weitere Förderung der Familien-
forschung durch einzelne Archivbeamte mufs deren persönlicher Bereit-
willigkeit und privater, aufseramtlicher Tätigkeit überlassen bleiben.*'
In der aulserordentlich lebhaften Aussprache, die sich anschlofs, machte
»ch irgendeine Gegenströmung gegen die in den Hauptfragen nicht zu weit
voneinander abweichenden Auffassungen beider Berichterstatter nicht geltend,
vohl aber wurde seitens der Vorsteher der Staatsarchive in Kopenhagen
|U)d Hamburg ausgesprochen, da(s sie den genealogischen Forschem noch
in erheblich höherem Mafse entgegenkämen. Eine endgültige Stellungnahme
<le$ Archivtags zu den angeregten Fragen wurde bis zur nächsten Tagiuig
v^tschoben.
Diese wird voraussichtlich im September 1906 in Wien stattfinden.
Den Ausschuis bilden von jetzt ab : Bailleu (Berlin), Grotefend (Schwerin),
Wiegand (Strafeburg) und Winter (Wien).
— 58 —
EominissiOlieil« — Aus dem Berichte über die 51. ordentliche Ver-
sammlnng der Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt» die
am 3. und 4. Juni 1905 in Aschersleben stattfand, ist folgendes mitzuteilen ^).
Der zweite Halbband des ersten Teiles vom ürkundenbuehe des Klosters
Pforta, bearbeitet von Prof. Böhme, ist erschienen; im Druck befindet
sich imd ist bereits weit fortgeschritten der vierte Band des ürhw^defnbwiues
der Stadt Ooslar, bearbeitet von Landgerichtsdirektor Bode in Braunsckweig,
der die Jahre 1336 bis 1364 umfafst und noch 1905 zur Ausgabe gelangen wird.
Die übrigen Publikationen (Urkundenbuch des Klosters Unser Lieben Frauen in
Halberstadt, Urktmdenbuch der Stadt Halle, Urktmdenbuch des Bistums
Zeitz, Eichsfeldisches Urkundenbuch, Urkundenbuch der Stadt Neuhaldensleben,
Urkundenbuch der Stadt Aschersleben, Quedlinburger Paurgedinge, Erfurter
Varietatum varüoquus, Kirchenvisitationsprotokolle des Kurkreises 1528 bis
1592) sind sämtlich mehr oder weniger gefördert worden und gehen zum
Teil ihrem Abschlufs entgegen. Neu wurde die Herausgabe der Matrikel
der Universität Erfurt, die bis 1635 veröffendicht ist, auch für die 2^it
1635 — 1816 beschlossen und Oberlehrer Stange (Erfurt) mit der Aufgabe
betraut. Als Neujahrsblatt') für 1905 ist die Abhandlung von Liebe
über Die mittelaUerlichen Sieehenhäuser der Provinz Sachsen erschienen.
Von den Denkmälerbeschreibungen, die bis 1903 76 750 M. gekostet
haben, befindet sich das Heft Naumburg-Land im Druck; in Bearbeitung
sind die Kreise Querfurt, Quedlinburg, Stendal und Heiligenstadt, während
vom Kreise Wernigerode eine zweite Auflage hst vollendet ist Eine von
Brinkmann (Zeitz) entworfene Anweisung für die Bearbeiter soll gedruckt
werden; femer wird eine Sammlung der Volkstrachten im Arbeitsge>
biete der Kommission beschlossen. Von der Jahresschrift für die Vor-
geschichte der sächsischrihüringischen Lande befindet sich das vierte Heft in
Arbeit. Bei Zeitz ist eine innerhalb eines Ringwalles gelegene mittelalter-
liche Burg ausgegraben worden. Die von der Historischen Kommission
für Hessen und Waldeck besorgte Veröffendichung des Seegaer Münzfundes
ist durch eine Bebteuer von weiteren 500 M. (zu der bereits bewilligten
gleichen Summe) unterstützt worden. Die archäologische Karte von
Thüringen ist so weit gefördert, dafs ihr Druck voraussichtlich noch im
laufenden Jahre erfolgen kann. Die Bearbeitung der Flurkarten ist rüstig
fortgeschritten und hat u. a. zur Feststellung von 153 neuen Wüstungen auf
150 Mefstischblättem geführt. Auch die Bearbeitung der Grundkarten geht
ihrem Abschlufs entgegen ; lediglich bezüglich der Grenzblätter nach Thüringen
hin (Mühlhausen, Naumburg, Sömmerda, Erfurt) sind die Aussichten schlecht,
da seitens der Thüringischen Kommission oder einer anderen Stelle die
Grundkarten nicht bearbeitet werden. Die Wüstungen der AUmark bearbeitet
Pastor Zahn (Tangermünde); für die Leitung der Arbeiten über Wüstungen
wurde ein besonderer Ausschufs, bestehend aus Prof. Weyhe (Dessau) und
Superintendent Müller (Calbe) eingesetzt.
Der Haushalt der Kommission einschliefslich der Kosten für das Pro-
vinzialmuseum zu Halle hält mit 22 200 M. das Gleichgewicht. Im nächsten
Jahre wird die Versammlung in Z erb st stattfinden.
i) Über die 30. Sitzung 1904 vgL diese Zeitschrift $. Bd., S. 267.
2) Vgl. über Net^rsblätter diese ZeiUchrift 5. Bd., S. 131— 139.
— 69 —
Die Historische Kommission für Nassau^) hat im Juni 1905
den Bericht über ihr letztes Geschäftsjahr veröfifentlicht, dem folgendes zu
entnehmen ist. Wenn auch keine der begonnenen Arbeiten zum Abschlufs
gekmgt ist, so sind doch alle erheblich fortgeschritten; zuerst dürfte die
Herborner Matrikel im Manuskript durch BiUiothekar Zedier vollendet
werden. Neu beschlossen wurde die Herausgabe eines zweiten Bandes
IhssttU'Onmische Korrespondenzen, der, von Oberlehrer Pagenstecher
(Wiesbaden) bearbeitet, die Akten und Urkimden zur Geschichte der Gegen-
reforaiation in der Grafschaft Nassau -Hadamar nebst geschichtlicher Einlei-
tung enthalten soll. Femer wird die Kommission die vom Archivassistenten
Knetsch (Maiburg) besorgte Ausgabe der Mechtelschen Limburg]er
Chronik veröfifentUchen.
Der Jahreseinnahme der Kommission von 2278 M. steht nur eine
Ausgabe von 630 M. gegenüber. Das Vermögen beziffert sich auf 16 100 M.
Stifter werden jetzt 4 gezählt, Gönner 7, Freunde 28, Mitglieder 80. An
der ^>ttze des neungliederigen Vorstandes steht Geh. Archivrat Wagner
(Wiesbaden).
Die Thüringische Historische Kommission, die seit Juni 1902 *)
eine Sitzung nicht abgehalten hat, ist am 9. Juli 1905 zu Stadtilm wiederum
xQsammengetreten und hat eben Bericht über den Fortgang ihrer Arbeiten
itröffentHcht. Die Herausgabe der Stadtrechte von Eisenach und Gotha
ist Staatsminister a. D. Strenge übertragen worden, und mit Unterstützung
von Dr. Ernst Devrient hat er die Arbeit so weit gefördert, dafs der Druck
des Eisenacher Stadtrechts bereits begonnen hat Prof. Mentz, der den
ersten Teil seiner Biographie Johann Friedrichs des Grofs mutigen
bereits veröffentlicht hat (]ensL 1903), hat den zweiten Teil, der von 1532
bis zum Beginn des Schmalkaldischen Krieges reicht, im Manuskript ziemlich
ToUendet. Kabinettssekretär Freiherr von Eglo ff stein (Weimar) behandelt
das Verhältnis Karl Augusts zum Bundestag. Eine Ausgabe der
politischen Korrespondenz Friedrichs des Weisen hat Prof
Virck (Weimar) zu besorgen zugesagt, aber wegen der hohen Kosten wird
dne Vereinigtmg mit der Kgl. Sächsischen Kommission für Geschichte er-
strebt. Ebe Bearbeitimg der Geschichte der Universität Jena imd
dne Ausgabe ihrer Matrikel werden als wünschenswert bezeichnet, aber
dn endgültiger Beschlufs darüber steht noch aus. Bezüglich der ersteren
Au%abe hat die Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte
gmndsätzHch beschlossen, dafs auch die Geschichte der Hochschulen in ihr
Arbdtsbereich gehört, aber hinzugefugt, dafs der jetzige Stand der Finanzen
dne Unterstützung emes derartigen Unternehmens nicht gestatte. Hinsichtlich
der Archivinventarisation wurde mitgeteilt, dafs der Kommission zwar
Berichte n i c h t emgereicht worden sind, dafs aber trotzdem die Arbeit nicht
geruht hat: die Stadtarchive zu Hildburghausen und Eisfeld, sowie
das Festungsarchiv von Heldburg sind inventarisiert worden, ebenso in
1) Vgl. diese ZeiUchrift 6. Bd. S. 139.
a) VgL diese Zeitschrift 3. Bd., S. 313—314.
— 60 —
Gera das Regienmgsarchiv, irnd das Koosistorialardiiv daselbst soll jetzt
an die Reihe kommen. Die Ordnung des Fürstlich Schwarzbuigischen
Archivs zu Rudolstadt hofft Prof. Bangert bis Ostern 1906 zu Ende
zu führen.
Hinsichtlich der Organisation ist zu bemerken, di^ die durch den
Rücktritt des Geh. Archivrats Burkhardt erledigte Stelle eines Hauptr
pflegers in Weimar noch nicht wieder besetzt ist. Ebenso fehlen zurzeit
Hauptpfleger im Kreise Neustadt a. O.» wo Archidiakonus Wünscher
gestorben ist, und in Frankenhausen. Für letzteren Bezirk besteht die
Aussicht, Pfarrer Ei nicke (Immenrode) als Hauptpfleger zu gewinnen, der
sich durch sein Werk Zwanzig Jahre Schwarxbtirgische ReformaUansgesehicfik
1521 — 1541. Erster Teil: 1521—1531 (Nordhausen 1904) bekannt ge-
macht hat.
Eingegangene Bflcher.
Dotzauer, von: Das 2^ughaus der Reichsstadt Nürnberg [==^ Mitteilungen
des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg, 16. Heft (Nürnberg,
J. L. Schräg, 1904), S. 151 — 178].
Lotz, Andreas: Das coburg-gothaische Staatswappen [= Aus den coburg-
gothaischen Landen, Heimatblätter, herausgegeben von R. Ehwald,
2. Heft (Gotha, Friedrich Andreas Perthes, A.-G., 1904), S. 43 — $«]*
Einicke, G. : Zwanzig Jahre Schwarzbiu-gische Reformationsgeschichte
1521 — 1541. ErsterTeil: 1521 — 1531. Mit einer Karte. Nordhaosen,
C. Haacke, 1904. 423 S. 8^.
Feuereisen, Arnold: Die livländische Geschichtsliteratur 1902. Rip^
N. Kymmel, 1904. 99 S. 8^.
F o 1 1 z , M. : U rkundenbuch der Stadt Friedberg. Erster Band : 1216 — 1410
[= Veröfientlichungen der Historischen Kommission für Hessen und
Waldeck]. Marburg, N. G. Elwert, 1904. XVIU und 698 S. 8^.
M. 16,00.
Hampe, Th. : Kunstfreunde im alten Nürnberg und ihre Sammlungen nebst
Beiträgen zur Nürnberger Handelsgeschichte [== Mitteilungen des Vereins
für Geschichte der Stadt Nürnberg (Nürnberg, J. L. Schräg, 1904),
S. 57—124].
Krollmann, C.: Das Defensionswedc im Herzogtum Preufsen. I. Teil:
Die Begründung des Defensionswerks imter dem Markgrafen Georg
Friedrich und dem Kurfürsten Joachim Friedrich. Berlin, Franz
Ebhardt & Co., 1904. 116 S. 8".
Langer, Edmimd: Die Anfänge der Geschichte der Familie Thun [= Sonder-
abdruck aus dem Jahrbuch Adler 1904]. Wien, Karl Gerolds Sohn,
1904. 42 und 8 S., sowie i Tafel. M. 1,50.
Levec, Wl. : Die ersten Türkeneinfalle in Krain und Steiermark [= Mittei-
lungen des Musealvereines für Krain, 16. Jahrg. (1903)9 S. 169 — ^00].
Mettig, Konstantin: Die Exportwaren des russisch-hanseatischen Handels
[^=^ Sitzungsberichte der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde
der Ostseeprovinzen Rufslands aus dem Jahre 1903 (Riga, W. F.
Hacker, 1904), S. 92—98].
Herausgeber Dr. Armin l'üle in Leipsig.
Druck und Verlag Ton Friedrich Andreas Perthes, AkdengeseUschalt, Gotha.
Hierza als Beilage: Prospekt über: Dr. H. Balmer, Die Romfklirt des
Apostels Paulos und die Seefahrtskiinde Im rVmlseken Kalseneitalter«
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
nar
Fürdenmg der landesgescbichtüclien Forschung
VIL Band Dezember 1905 3. Heft
{Regionale oder institutionelle Urkunden^
büeher ?
Von
Hermann Porst (Zürich)
Bei der VeröfTentlichung niederrheinischer wirtschaftsgeschicht-
licher Quellen im Jahre 1902 hat K. Lamprecht den Wunsch aus-
gesprochen, man möge in Zukunft mehr „institutionelle" Urkunden-
bücher herausgeben, d. h. solche, die nur das Material zur Geschichte
einer einzelnen geistlichen oder weltlichen Körperschaft enthalten ^).
Er hatte diesem Gedanken schon früher Ausdruck gegeben ; auf seine
Anregung wurde bei der ersten Konferenz von Vertretern landes-
geschichtlicher Publikationsinstitute im Jahre 1895 die Frage zur Be-
ratung gestellt,
„inwiefern sich die Herausgabe nach heutigen Verwaltungsbezirken
abgegrenzter Urkundenbücher empfiehlt, oder inwiefern vielmehr
Urkundenbücher vorzuziehen seien, die den überlieferten Stoff
eines bestimmten Institutes, eines Klosters, Stiftes, einer städti-
schen Verwaltung usw. wiedergeben *)."
Von den beiden für diese Frage bestimmten Referenten, deren Gut-
achten der nächsten Konferenz im Jahre 1896 eingereicht wurden,
sprach sich Oberlehrer Dobenecker (Jena) für regionale Urkunden-
bücher aus, Professor Pirenne (Gent) dagegen fiir Spezialurkunden-
bücher der einzelnen Städte, Abteien usw. Der Unterschied beider
Systeme besteht in der Auswahl und Ordnung des Stoffes. Ein re-
gionales Urkundenbuch gründet sich in der Regel auf die heutige
Landeseinteilung; sämtliche Urkunden, deren Rechtsobjekt innerhalb
i) Im Geleitworte zu Rheinüehe Urbare y Bd. I: Die Urbare von St, PanUdeon
I ** CSin, herausgegeben Ton B. Hilliger (Pablikatiooen der Gesellschaft ftUr Rheinische
I <^€sdüchtskiinde XX. Bona, Behrendt 190a).
2) Bericht Ober die vierte Versammlung deutscher Historiker (Leipsig, Doncker &
H»nblot, 1897), S. 64.
5
— 62 —
der heutigen Gebietsgrenzen lag, werden ohne Rücksicht auf Herkunft
und inneren Zusammenhang, nur nach dem Datum geordnet, anein-
andergereiht Wollte man nach diesem Systeme z. B. ein Urkunden-
buch des Groüsherzog^ms Baden schaffen, so wären Urkunden von
Heidelberg und Bruchsal zwischen diejenigen von Konstanz einzu-
reihen. Dagegen verlangen Pirenne und Lamprecht, dafs die Urkunden
jeder einzelnen historischen Institution, sei dieselbe ein mittelalter-
alterliches Fürstentum oder eine Stadt, ein Kloster oder Stift, ein
Gericht oder eine Grundherrschaft oder auch eine landsässige Familie»
gesondert herausgegeben werden. Ein solches Urkundenbuch stellt
dann einen Auszug aus dem organisch erwachsenen Archive der In-
stitution dar, entspricht also dem für Ordnung von Archivalien an-
gewandten Provenienzprinzip. Dieses Verhältnis hat Archivdirektor
F. Philipp i richtig erkannt, sich aber dennoch lebhaft gegen
Lamprechts Forderung erklärt und das regionale System, allerdings
mit Beschränkung auf die Zeit vor dem Jahre 1350, verteidig^*).
Philippi spricht hier gewissermafsen pro domo, da er selbst als Editor
solcher territorialen Urkundenbücher hervorgetreten ist. Auch Archiv-
direktor Th. Ilgen hat sich auf der sechsten der oben genannten
Konferenzen im September 1904 prinzipiell gegen Lamprechts Ansicht
geäufsert und nur für bedeutendere geistliche Stiftungen und gröfsere
Städte eigene Urkimdenbücher empfohlen *). Damit ist freilich das
Regionalprinzip faktisch schon preisgegeben; denn die Begriffe „be-
deutender" und „gröfeer" sind so schwankend, dafs sie nicht als
sicherer MaCsstab ftir Einzelfalle dienen können.
Überblickt man nun die Liste der für das heutige Deutschland
(ohne Österreich und die Schweiz) vorhandenen Urkundenwerke '), so
erscheint Lamprechts Verlangen zunächst etwas auffallend. Denn die
Anzahl der institutionellen Publikationen ist tatsächlich gröfser als die-
jenige der regionalen. Auch Sammlungen, die ihrem Titel nach regional
zu sein scheinen, wie die Monutnenta Boica, der Codex diplomcUicu^
Brandenburgensis von A. F. Riedel, der Codex diplomcUicus Stixotiicie
regiae, der Codex diplomcUicus Silesiae, bestehen in Wirklichkeit aus
einer Reihe von Urkundenbüchern der einzelnen Stifter, Klöster und
Städte, gehören also tatsächlich in die Kategorie der institutionellen
Werke. Freilich glaubt Philippi die „ältesten und g^öfsten deutschen
i) „DeaUche Literatnneitang^^ 1902, Nr. 33, Spalte 1449 ff.
2) Bericht über die achte Versammlung deutscher Historiker (Leipzig 1905), S. 50.
3) Bei Dahlmann-Waitz, QueUenhmdt der deutschen Geschickte j 7. Auflage
(Uipiig 1905), S. 43—45-
— 63 —
Untemehmungen'' als 2^ugen fiir das Regionalsystem anführen zu
können; doch welche Werke meint er? Das älteste dieser Art ist wohl
der Codex diplamcUicus Rkeno-MoaeUanus von Günther, den man
fiir die Geschichte des XTV. bis XVI. Jahrhunderts noch immer zu
Rate ziehen muls. Daran schlössen sich das Niederrheinische Urhunden-
Jmeh von Lacomblet und der Codex diplomaiicus Wesifaliae von
Erhard. Gleichzeitig begann man im Königreich Württemberg ein
oadi demselben System angelegtes Wirtembergisehes ürhundenbuch
herauszugeben. Dieses ist in Südideutschland das einzige in seiner
Art geblieben. In Preuüsen dagegen wurde zunächst Erhards Werk
von dem Archivar R. Wilmans unter dem Titel Westfälisches Ur^
hmdenbuch fortgeführt, dann bei den Staatsarchiven Koblenz und Stettin
ein Miüdrheinisches und ein Pommersches ürhundenbuch in AngriiT
genommen, endlich das gleiche Verfahren beim Ostfriesischen und
Omiabfücker Urhundenbuche befolgt ^). An diesen Publikationen wird
man also prüfen können, inwieweit der Anschlufs an die heutige
Landesetnteilung sich bewährt hat.
Wir können dabei an die Ausführungen eines älteren Fachgenossen
anknüpfen. Im Jahre 1873 arbeitete der Archivsekretär Dr. K. Herquet
in Idstein ein Promemoria über die Herausgabe eines Ncissauischen
üfbmdenbuches aus und zeigte, dafs für die Anordnung des StofTes
zwei Wege offen ständen. Der eine sei der, dafs man die Urkunden
des ganzen Archivsprengeis „als eine grolse unterschiedslose Masse'*
in chronologisdier Folge publiziere, wie dies beim Nieder- und Mittel-
fkeimschen Urhundenbuche geschehen sei. Dieser Weg aber sei ebenso
nnhistorisch wie unpraktisch: unhistorisch, weil die heutigen Archiv-
spreogel sich nach den modernen Verwaltungsbezirken richten, sich
aber nicht mit den alten Territorien decken; unpraktisch, weil dabei
v<^er alle in Frage kommenden Urkundenbestände nach den Grund-
sätzen der Neuzeit geordnet und repertorisiert sein müssen. Der
andere W^ bestehe in der Herstellung von Diplomatarien, d. h.
Udundenbüchem der einzelnen Stifter, Klöster und Herrschaften,
entsprechend den Einzelarchiven, in welche die Bestände des
Nassauischen Staatsarchives zerfielen. Auf diesem Wege erhalte man
lauter unter sich oiganisch zusammenhängende Publikationen, die
in verfaältnismäfisig kurzer Zeit bis zum Endtermine durchgeführt,
auch gleichzeitig nebeneinander bearbeitet werden könnten, endlich
1) Die gcüMieii Titel und Ertcheinangsjahre der geaannten Werke aind bei Dahl-
QaoD-Waitx a. a. O. za finden.
6*
— 64 —
keine erhebliche Störung durch den Abgang eines Archivbeamten
erlitten *).
Diesem Programm gemäls hat Herquet dann selbst ein Urkunden-
buch des Klosters Ämstein an der Lahn in Angriff genommen und,
obwohl er von Idstein versetzt wurde, doch bis zur Mitte des XV. Jahr-
hunderts gefuhrt '). Leider durfte er es nicht vollenden, da inzwischen
der Arbeitsplan für das Nassauische Urkundenbuch von massgebender
Seite geändert wurde. Wie man sieht, hat er schon dieselbe For-
derung angestellt, wie neuerdings* Lamprecht; die Diplamaiarien ent-
sprechen dem Plane nach den „institutionellen Urktmdenbüchem*'.
Die Kritik aber, welche Herquet an den beiden rheinischen Publika-
tionen übte, war nur zu sehr berechtigt. Einerseits hat sich die im
Prinzip angenommene Beschränkung auf die Archivsprengel faktisch
nicht durchfuhren lassen ; um des historischen Zusammenhanges willen
mu&te man auch Dokumente aufnehmen, deren Rechtsobjekt aufser-
halb des Archivsprengeis lag. So finden sich z. B. im Miüelrheini'
sehen JJrlcundenbuche auch alle Schriftstücke über die französischen
und niederländischen Besitzungen der Abtei Prüm, obwohl niemand
sie in einem „mittelrheinischen** Geschichtswerke suchen wird. Ander-
seits sind den Herausgebern viele im Besitze von Gemeinden und
Privaten befindliche Urkunden unbekannt geblieben; beide Werke
genügen daher nicht den Anforderungen, welche man in bezug auf
Vollständigkeit des Materials an sie stellen mufis. Endlich wurde
schon mit dem XIII. Jahrhundert die chronologische Ordnung des
gesamten Stoffes immer schwieriger, da die Anzahl der vorhandenen
Dokumente beständig wuchs. Das MiUdrhemische Urkundehbtich
mufste daher mit dem Jahre 1260 abbrechen; in das Niederrheinische
konnte Lacomblet für die spätere Zeit nur eine Auswahl der wich-
tigsten Stücke aufnehmen. Dafs es faktisch unmöglich ist, sämtliche
im Staatsarchive Düsseldorf aufbewahrten Urkunden des XIV. und XV.
Jahrhunderts nach dem von Lacomblet gewählten Verfahren zu ver-
öffentlichen, hat Ilgen auf der oben erwähnten Konferenz dargelegt.
Dieselbe Erscheintmg zeigte sich beim Westfälischen Urkunden-
i) Ich entDchme diese An£[aben der Schrift Herqnets: Dm Armteiner Ur-
kundenbueh in seinem VerhäÜnü xu dem prqfektierten Naasauisehen ürhmdenbuehe.
Als MaDOskript gedruckt 1883 (ohne Ort).
2) K. Herqaet, Urkundenbuch des Klosters Ämstein an der Lahn, i. Liefe-
roDg (1142 — 1446), Wiesbaden, Chr. Limbarth 1883. Herqoet war damab ^taatsarchiTar
in Anrieh, wurde von dort im Jahre 1886 nach Osnabrück versetzt and starb dort im
Märt 1888.
— 66 —
ittdbe. Hier hatte Erhard alle ihm erreichbaren Dokumente bis zum
Jahre 1200 in chronologischer Folge veröffentlicht. Wilmans aber
mniiste schon für das XIII. Jahrhundert den Stoff teilen. Er ging-
dabei von den kirchlichen Verhältnissen aus. Das Gebiet der heut^en
Provinz Westfalen gehörte im Mittelalter zu den Diözesen Köln, Min-
den, Münster, Osnabrück und Paderborn. Wilmans entschloOs sich
nun, zuerst sämtliche Urkunden der Diözese Münster (nicht die des
^geistlichen Territoriums) aus den Jahren 1201 — 1300 in chronologischer
Reihenfolge zum Abdruck zu bringen. Er brauchte dazu ungefähr
20 Jahre. Fast ebensoviel 2^it erforderte das Urhundenbuch der
DwBese Paderborn für dasselbe Jahrhundert; WUmans hinterliefs es
unvollendet, und erst H. Finke führte es zu Ende. Etwas rascher
erschien dann dasjenige der Diözese Minden; zuletzt sind die Ur^
hmdm des kölnischen Westfalens von Ilgen und seinen Nachfolgern
ediert worden. Hiermit scheint das Werk vorläufig abgeschlossen zu
sein; denn die Urkunden der Diözese Osnabrück wurden inzwischen
von anderer Seite bearbeitet.
Diese Teilung des Stoffes nach Diözesen bot allerdings einige
Vorteile g^enüber dem Verfahren Erhards; aber bei der Gröfse
der Diözesen und der beträchtlichen Anzahl von Einzelarchiven, aus
denen die Dokumente zusammenzusuchen sind, nahm die Sichtung
und chronologische Ordnung der Urkundenmasse doch noch zu viel
Zeit in Anspruch. Wilmans trat sein Amt in Münster im Jahre 1853
an; die erste Lieferung seines ürhundenbuches erschien 1859 und hat
jedenfalls mehrjährige Vorarbeiten erfordert. Man kann also sagen,
dab die Herausgabe der Westfälischen Urkunden des XIII. Jahrhunderts
nach dem von Wilmails entworfenen Plane rund 50 Jahre in Anspruch
genommen hat. Die ersten Teile sind heute schon veraltet. Auch
dem Benutzer des Werkes ist wenig damit gedient, wenn er alle Ur-
kunden eines so grofisen Gebietes ohne Unterschied der Herkunft und
ohne Rücksicht auf den inneren Zusammenhang nur nach dem Datum
geordnet findet. Das XIII. Jahrhundert ist die 2^it, in welcher sich
ans den Trümmern der alten Stammesherzogtümer die späteren Ter-
ritorien bUden; die territorialen Gewalten bestimmen die politische
ond soziale Entwickelung. Nun paust die von Wilmans getroffene
Anordnung wohl für die Urkunden der geistlichen, nicht aber für die
der weltlichen Fürstentümer. So konnten z. B. das ehemalige Fürsten-
tum Siegen und die Grafschaften Tecklenburg und Ravensberg im
Westfälischen Urkundenbuche nicht berücksichtigt werden. Wenn da-
gegen die miftelalterliche Diözese über die Grenzen der heutigen
— 66 —
Provinz hinausreichte , wie dies z. B. bei Münster der Fall war, so
bli^b das Urhundenbuch auch als Quelle für die Geschichte der Diözese
unvollständig ^). War es da nicht ein Fehler , den Stoff in dieser
Weise zu teilen? Hätte man nicht besser von vornherein Urkunden-
bücher der einzelnen historischen Territorien in Angriff genommoi ?
Die Antwort auf diese Frage ist bereits damit gegeben, dais, un-
abhängig vom Westfälischen ürhundenbuche, eigene derartige Werke
fiir die Stadt Dortmund und den Kreis Siegen erschienen sind. Das
erstere kommt fUr uns nicht in Betracht, da städtische Urkunden-
bücher auch von Philippi und llgen zu den „institutionellen*' ge-
rechnet werden ; dagegen müssen wir auf das zweite näher eingehen *).
Es bringt alle Dokumente zur Geschichte des Gebietes, das den
heutigen Kreis Siegen bildet, in chronologischer Ordnung vom Jahre
914 — 1350. Da aber dieses Gebiet gröfstenteils schon im Mittelalter
ein geschlossenes Territorium mit einer kleinen Stadt und einem
ebenfalls nicht bedeutenden geistlichen Stifte war, so ist die Anzahl
der Urkunden verhältnismäfsig gering; die chronologische Ordnung
störte den Zusammenhang nur wenig, solange man nicht über die
Mitte des XIV. Jahrhunderts hinausgehen wollte. Ob dieser Zeitpunkt
zum Abschlüsse geeignet war, ist fSreilich eine andere Frage.
In der Vorrede rechtfertigt der Herausgeber, F. PhUippi, diese
Sonderpublikation damit, dafis Siegen weder im Westfälischen noch im
Nassctuischen Urkundenbuche berücksichtigt werde. Von letzterem,
dem Codex diplomaticus Nassoieus, war damals die erste Lieferung
erschienen. Leider hatten die Herausgeber den einst von Herquet
entworfenen Plan abgeändert und statt dessen eine Teilung des Stoffes
nach dem territorialen Gesichtspunkte vorgenommen. Sie trennten
nämlich die Urkunden der altnassauischen Gebiete von denjenigen
der erst in den Jahren 1803 — 18 14 mit dem Herzogtum vereinigten
Landesteile. So enthielt der erste Band die Dokumente derjenigen
Bezirke, welche fSrüher zu Kur -Mainz, Kur-P£alz und Hessen ge-
hört hatten, in chronologischer Ordnung, aber ohne Rücksicht auf
geographischen oder ^historischen Zusammenhang. Bei der gerade
hier besonders hervortretenden territorialen Zersplitterung war dies
kein glückliches Verfahren; man hätte wenigstens die Scheidung
nach Territorien streng durchfuhren sollen. Jener erste Band,
t) Diese Maogel hat F. Philippi hervorgehoben in der Vorrede zum Osnabrücker
Urkundenbuchej Bd. I.
2) Siegener UrkimdetUmch , herausgegeben von F. Philippi, "i, Abteilung bis
1350. Siegen 1887*
— 67 —
dessen letzte Lieferung im Jahre 1887 erschien, ist bisher der einzige
geblieben.
Wie das Westßlische Urhundenbuch für den Süden der Provinz
durch das Siegmer ergänzt werden mufste, so für den Norden durch
das Osnabrücker, Denn die Grafischaflen Tecklenburg und Ravens-
beig gehörten im Mittelalter zur Diözese Osnabrück; anderseits um-
&6t der jetzige Regierungsbezirk Osnabrück auch Teile des ehe-
maligen Fürstentums Münster. Das Archiv der hannoverschen Land-
drostei Osnabrück wurde im Jahre 1869 in ein preufsisches Staats-
archiv umgewandelt, und der Archivar Veltm an fafste schon in den
siebziger Jahren den Plan, ein Urkundenbuch der alten Diözese heraus-
zugeben. Er gewann dafür die Unterstützung des in Osnabrück be-
stehenden Historischen Vereins (jetzt „Verein für Geschichte und
Landeskunde" genannt) und liefe auf dessen Kosten Abschriften aller
erreichbaren älteren Urkunden anfertigen. Die Arbeit schritt jedoch
nur langsam vorwärts, da aufser dem Staatsarchive auch die sehr
reichhaltigen Archive des Domes und anderer Kirchen, sowie der
Stadt durchforscht werden mufsten. Darüber wurde Veltman im Jahre
1886 versetzt. Erst sein zweiter Amtsnachfolger, der schon mehrfach
genannte F. Philippi, brachte die Angelegenheit wieder in Flufs, er-
weiterte den Arbeitsplan, revidierte und ei^änzte das von Veltman
gesammelte Material. Dabei mufiste Philippi einen TeU der vor-
handenen Abschriften kassieren, weü sie seinen Anforderungen nicht
genügten, und selbst neue anfertigen. Endlich konnte er im Jahre
1892 den ersten Band erscheinen lassen; derselbe enthielt die Ur-
kunden von 772 bis 1200. Im Jahre 1896 folgte der zweite, von
1201 bis 1250 reichende Band. Leider waren damit die verfügbaren
Mittel des „Historischen Vereins" erschöpft; die Arbeit mulste zu-
nächst eingestellt werden *). Erst Phüippis Amtsnachfolger M. Bär
bat dann, da die Archiwerwaltung ausserordentliche Zuschüsse be-
willigte, das Werk bis zum Jahre 1 3CX> weiterführen können ; der letzte
Teil ist 1902 erschienen. Wenn man die von Veltman auf die Samm-
hing des Materials verwandte Zeit mit einrechnet, so hat die Arbeit
mehr als zwei Jahrzehnte in Anspruch genommen. Prüft man nun
<ien ersten Band, so findet man, dafis fast alle Dokumente schon an
anderen Stellen gedruckt waren; was dem Bande selbständigen Wert
verieüit, sind die zahlreich eingestreuten Regesten zur Geschichte der
Bischöfe, sowie die Erläuterungen zu den Urkunden. Leider ist Phi-
I) Vorrede z« Bd. II des (MnabfiMer ürkundmhuehea.
— 68 —
lippis Arbeit in einem besonders wichtigen Teile gegenwärtig schoa
überholt. Die Originale der alten kaiserlichen Privilegien beüandea
sich im Besitze des Bischofs und blieben Philippi unzugänglich ; letzterer
mufste daher ihre Texte nach nicht ganz zuverlässigen Abschriften
und älteren Drucken herstellen. Später aber erhielt ein katholischer
Gelehrter, F. Jostes, die Originale selbst zur Veröffentlichung und
liets sie photographisch vervielfältigen '). Für kritische Untersuchungen
mufs man jetzt diese Ausgabe neben dem Osnabrücker Urkunden^
hucke benutzen. Auch der zweite Band des letzteren brachte ver-
hältnismäßig wenig neues Material; etwa vier Fünftel waren bereits
an anderen Orten gedruckt Da Philippi auch sämtliche Urkunden
der Graüschaften Tecklenburg und Bentheim chronologisch zwischen
die Osnabrücker Dokumente eingereiht hat, so steht das undatierte
Tecklenburgcr Lehnrecht hier beim Jahre 1220. Wer aber sucht es
an dieser Stelle? Rechtshistoriker wenigstens werden diesen Abdruck
leicht übersehen, da man bisher das Stück in die Zeit gegen Ende
des XIII. Jahrhunderts setzte >). Die beiden letzten Bände enthalten
mehr bis dahin unbekannte Stücke; dennoch muis ein jüngerer
Historiker klagen, da{s das Werk keine genügende Grundlage fiir
wirtschafte-, verfassungs- und verwaltungsgeschichtliche Studien biete,
weil es einen zu kurzen Zeitraum der Entwicklung umfasse ^). Wäre
es nicht besser gewesen, an Stelle der beiden ersten Bände ein Re-
gestenwerk über das bereits gedruckte Material herzustellen, das
ungednickte aber in Diplomatarien der einzelnen geistlichen und welt-
lichen Herrschaften sukzessive zu veröffentlichen?
Beim Ostfriesischen ürhundenbuche waren weniger Schwierigkeiten
zu überwinden; sämtliche vorhandenen Urkunden bis zum Jahre 1500
konnten in zwei starken Bänden in verhältnismäßig kurzer Zeit (1874
bis 1881) zum Abdrucke gebracht werden. Die chronologische Ord-
nung schadet hier so wenig wie beim Siegen&r Urkundenbuche.
Dagegen scheint die Sammlung und Ordnung des Materials für
das Pommersche Urkundenbuch ähnliche Schwierigkeiten zu bereiten,
wie sie bei den Unternehmungen in Münster und Osnabrück hervor-
getreten sind. Denn der erste Band des Pammerschen Urkunden-
i) Die Kaiser- und Kihiigsurkunden des Osnabrücker Landes y im Lichtdruck
herausgegeben von F. Jostes. Münster i./W. 1899.
2) So W. Altmann und E. Bernheim, ÄusgewähUe Urkunden zur ErlätUe-
rung der Verfasstmgsgeschichte Deutsehlands im Mittelalter , 3. Auflage (Berlin 1904),
S. 178.
3) H. Spangenberg in der Btstorischen Zeitschrifl, Bd. 92, S. 504«
— 69 —
ImAes erschien im Jahre 1868, und jetzt, also nach 36 Jahren, ist
das Werk erst bis zur Mitte des fünften Teiles gediehen. Es enthält
die Urkunden der Jahre 1253 — 1316, da die älteren Stücke bereits
anderweitig veröffentlicht waren. Der langsame Fortgang des Werkes
rührt zum Teil daher, dals die Archive der einzelnen pommerschen
Städte durchsucht werden muistcn '). Man mufs auch hier fragen,
ob nicht eine Trennung des Stoffes nach geistlichen und weltlichen
Herrschaften, wie sie Riedel in seinem Codex diplomaiicus Branden^
iurgensis durchgeführt hat, praktischer gewesen wäre.
Gleiches läfet sich von dem Mecklenburgischen Urhtindenbuche
sagen, das seit dem Jahre 1863 erscheint und jetzt bereits auf 21 Bände
angewachsen ist. Wenn in einem so umfangreichen Werke
das Material rein chronologisch geordnet ist, so ver-
schwinden die für die Geschichte des ganzen Landes
wichtigen Dokumente in der Masse anderer, die nur
lokale Bedeutung besitzen.
Von den süddeutschen Publikationen ist, wie schon erwähnt, nur
das Wirtembergische Urhwndenbuch in dieser Art angelegt. Der erste
Band, die Urkunden vom Beginne des VIII. Jahrhunderts bis 1137
enthaltend, erschien im Jahre 1849. Leider zeigte es sich bald, dafs
man das Material nicht vollständig hatte sammeln können. Jeder
wettere Band mu&te zahlreiche Nachträge zu den vorhergehenden
bringen. Der siebente Band ist im Jahre 1900 erschienen und reicht
inhaltlich bis zum Jahre 1276. Aber schon im Jahre 1893 hat die
Kommission ftlr Landesgeschichte beschlossen, eigene „Territorial-
urinmdenbücher** ftir die neuwürttembergischen Gebiete, zunächst die
Reichsstädte und Klöster, in Angriff zu nehmen ^). Solche sind bereits
für die Städte Elslingen, Rottweil und Heilbronn erschienen.
Die angeführten Tatsachen dürften zur Beurteilung des von
Philippi und Ugen verteidigten Systems wohl genügen. Es zeigt sich,
da& einheitliche, in sich abgeschlossene Werke dieser Art nur für
kleine Gebiete, wie Siegen und Ostfriesland, in absehbarer Zeit her-
zustellen sind. In solchen Fällen, wo der moderne Verwaltungsbezirk
ganz oder größtenteils mit einem historischen Territorium zusammen-
fiUt und dieses Territorium selbst klein war, können die Urkunden
sehr wohl ohne Rücksicht auf Herkunft und Inhalt in chronologischer
Folge abgedruckt werden. Bei gröfseren Bezirken dagegen, die
1) Vgl. den Aufsatz tob G. Winter, Au8 pommerschen Stadtarchiven (Deutsche
GcschichUblätter, Bd. III, S. 349 ff.).
3) Vgl. die Vorrede za Bd. VII des Wirtemhergüehen Urkundenbuchea,
— 70 —
aus Bruchstücken mehrerer historischen Territorien zusammengesetzt
sind, erfordert schon die Sammlung und Ordnung* des Materials so
viel Zeit, dafs der erste Bearbeiter selten mehr als den Anfang des
Werkes veröffentlichen kann. Die Nachfolger aber dürfen seinen
Nachlafjs nicht ohne weiteres verwenden, sondern müssen die Unter-
suchung teilweise von neuem beginnen; immer wird also ein be-
trächtliches Ma(s von Zeit und Arbeit, bisweilen sogar, wie in Osnabrück,
auch Geld vergebens angewendet. Zieht sich dabei die Publikation
durch mehrere Jahrzehnte hin, so sind die ersten TeUe nach Form
und Inhalt veraltet, wenn der Schluls erscheint. Will man diese Übel-
stände vermeiden und einheitliche, den heutigen Anforderungen ent-
sprechende Werke schaffen, will man femer die grofse Menge der Ur-
kunden des XIV. und XV. Jahrhunderts systematisch veröffentlichen, so
wird man nach Herquets, Lamprechts und Pirennes Vorschlag Diploma-
tarien der einzelnen geistlichen und weltlichen Körper-
schaften und Staatsgebilde anlegen müssen. Mit Recht hat
neuerdings der Düsseldorfer Geschichtsverein die Herausgabe von
Urkundenbüchem der einzelnen Klöster seines Gebietes in Angriff
genommen ^). Es wäre zu wünschen, dafs man diesem Beispiele bei
der Fortsetzung des Codex diptamoHcus JVassotCMs und des MiHd-
rheinischen ürhundenbuches folgte. Der Historiker sucht, wie Pirenne
in seinem Referat sagte, in den Quellen die verschiedenen Momente
der sozialen Entwickelung, und nur ein Spezialurkundenbuch kann die
verschiedenen Stadien einer historischen Evolution in ihrer Aufein-
anderfolge dartun. Soll ein solches Werk aber diesen Ansprüchen
genügen, so darf es nicht mit einem willkürlich gewählten Jahre ab-
schlieisen, sondern der Herausgeber mufs wenigstens in der Einleitung
allen für die Geschichte seines Objektes verübenden, auch nicht
urkundlichen Stoff verarbeiten. Femer darf der B^friff „Urkunde"
nicht zu eng gefafst werden; auch Briefe und Aktenstücke, Urbarien ^
und Nekrologien sind wenigstens in Auszügen mitzuteilen. Wohl be-
zeichnet Philippi es als den Zweck der Urkundenbücher , die Er-
kenntnis der geschichtlichen Entwickelung ganzer Landstriche zu er-
schliefsen. Hierzu aber genügen nicht nur Regestenwerke, wie
solche schon zur Ei^iänzung der vorhandenen Urkundenpublikationen
geschaffen werden mufsten *) , sondern besitzen , da sie auch chroni-
i) AU erstes Werk dieser Art ist das Urkundenbueh des Stiftes Kaiaerewerih,
bearbeitet von H. Kelleter (Bonn 1904) erschienen; es bildet den ersten Band der
Urkundenbücher der geistliehen Stiftungen des Niederrheins,
2) Diese Regestenwerke sind bei Dahlmann-Waite a. a. O. anfgeiUbTt.
— 71 —
kaiisches Material bequem einfügen und überhaupt mannigfache Sammel-
arbett leisten können, auch anderweitige gro&e Vorzüge, wie z. B. die
MitidrheiniscJien Begesien von A. Goerz und die Begesten der Kotner
Erdnschofe von R. Knipping. Ilgen will überhaupt für das XIV. und
XV. Jahrhundert nur die wichtigsten Urkunden im Wortlaut, alles übrige
in Regestenform veröffentlichen. Wo ist aber hier die Grenze? Ein Vertrag,
der für die Geschichte einer einzelnen Körperschaft hochwichtig ist, z. B.
Teilung der Klostei^ter zwischen Abt und Konvent, Ordnung der
Ratswahl in einer Stadt, besitzt trotzdem nur geringe Bedeutung für die
Landesgeschichte. Die zahllosen Urkunden aber, welche von Erwerbung
und Veränlserung einzelner Güter handeln, lassen sich historisch nur
verwerten, wenn man sie gruppenweise zusammenfafst. In das Diplo-
matar eines einzelnen Institutes werden solche Gruppen sich leicht
einfügen, ohne die Übersicht zu erschweren. Bei einem territorialen
oder r^onalen Urkundenbuche dagegen wird eine derartige Grup-
penbildung nur durchzuführen sein, wenn man das Prinzip der chrono-
kochen Ordnung aufgibt und tatsächlich eine Reihe einzelner
Diplomatare herstellt. Da ist es doch wohl praktischer, diesen StofT
in den für ein ganzes Territorium oder gröfseres Gebiet angelegten
Werken nur summarisch aufzuführen und statt dessen die das ganze
Land betreffenden Stücke, namentlich Gesetze und Landesverträge,
ausführlich wiederzugeben. Bei einer derartigen Arbeitsteilung darf
man hoffen, das noch ungedruckte urkundliche Material in absehbarer
Zeit der Öffentlichkeit zu übergeben. Freilich kann der Historiker
in dieser Beziehung nur raten; die Entscheidung steht bei denjenigen
Behörden oder Körperschaften, welche die Aufträge erteilen und die
Kosten tragen. Schon Herquet hat in seiner als Manuskript gedruck-
ten Schrift über das Amsteiner TJrhundenbuch darauf hingewiesen, dafs
nUrkundenbücher erfahrungsmäfsig nicht entfernt die Herstellungs-
kosten, von Honorar ganz abgesehen, decken". Wer nun eine solche
Arbeit nicht auf eigenes Risiko, sondern auf Kosten des Staates oder
einer Körperschaft ausführt, mufs sich selbstverständlich den besonderen
Wünschen der Auftraggeber fügen. Nur ist er verpflichtet, seinen
Auftraggebern zu zeigen, auf welchem Wege mit möglichst geringem
Aufwände und in absehbarer Zeit ein Werk von bleibendem Werte
herzustellen ist. Hier gerade, auf dem Gebiete der Urkunden-
forschung, zeigt sich „in der Beschränkung erst der Meister '^ Es
ist besser, eine Reihe kleiner Aufgaben gründlich und
erschöpfend zu lösen, als ein grofs angelegtes Unter-
nehmen nur halb auszuführen und die Vollendung
— 72 —
anderen zu überlassen. Ein solches Experiment wird nur ge-
lingen, wenn ein Stab von geschulten Mitarbeitern dem Leiter zur
Seite steht *).
Mitteilungen
Yersaminlllllgeil. — In den Tagen vom 25. bis 29. September ümd
in Bamberg die diesjährige Jahresversammlung des Gesamtvereins der
deutschen Geschichts- und Altertumsvereine statt '). Die Teilnehmer-
liste zählte 109 auswärtige imd 69 Bamberger Teilnehmer; von den 169 dem
Gesamtverein angehörigen Vereinen waren leider nur 56» also gerade ein
Drittel durch Abgeordnete vertreten. Bei der günstigen Lage des Versamm-
lungsortes ist das zweifellos ein recht wenig erfreuliches Ergebnis! In der
Vertreterversammlung wurde über den günstigen Kassenstand und den er-
freulichen Absatz des Korrespondenxblattes berichtet Statt der beiden aus-
scheidenden und satzimgsgemäis nicht wieder wählbaren Ausschuismitglieder
Wolff (Frankfurt a. M.) und Anthes (Darmstadt) wurden Museumsdirektor
Koehl (Worms) und Archivdirektor Wolfram (Metz) gewählt. Für 1906
wurde als Versammlungsort Wien bestimmt und fUr 1907 Mannheim in
Aussicht genommen ; für später liegen Einladungen nach Worms, Kassel und*
Lindau vor.
Die Versammlungen fanden in den Luitpoldsälen statt; um die Orga-
nisation und Leitung der Veranstaltungen hatten sich Mitglieder des Orts-
ausschusses verdient gemacht , unter deren sachkundiger Führung auch die
geschichtlichen Denkmäler der Stadt und namentlich der Dom eingehend
besichtigt wurden. Aufser einem mit künstlerischen Abbildungen ausgestatteten
Führer durch die Stadt Batnberg von Maximilian Pfeiffer erhielten die
Versammlungsteilnehmer als Festschrift das Buch von Domlu^itular Senger:
Lupoid von Bebenburg (Bamberg 1905, 182 S. S^). Am Nachmittag und Abend
des 27. September veranstaltete die Stadt Bamberg ein Burgfest auf der
„Altenburg*', wobei eine Anzahl lebender Bilder Bh'cke in Bambergs Ver-
gangenheit tun liefs imd ein Landsknechtsexerzieren den Bei&U der Zu-
schauer erregte. Ein Ausflug nach der ehemaligen Zisterzienserabtei Ebrach
füllte den Nachmittag des 28. Septembers; Museumsdirektor v. Bezold
(Nürnberg) würdigte in einem kurzen kunstgeschichtlichen Vortrag die be-
rühmte Klosterkirche, über die wir auch eine eingehende Monographie von
Jäger') besitzen. Der 29. September war einem Besuche Nürnbergs ge-
widmet, imd hier fesselte neben der Besichtigung der Burg, der Sebalduskirche
und des Germanischen Museums besonders die eingehende Betrachtung der
wohlerhaltenen Patrizierhäuser der Familien Hirschvogel, Tucher imd Peller.
i) Anf die österreichischen und schweizerischen Urkundenwerke bin ich hier nicht
eingegangen, weil diese sich eng an historische Territorien anschliefsen.
2) Vgl. über die Tagung in Danzig 1904 6. Bd., S. 43—54.
3) Vgl. 6. Bd., S. 172—173.
— 73 —
In den Hauptversammlungen sprach an erster Stelle Professor
Fester (Erlangen) über Franken und die Kr eis Verfassung. Das
heutige Franken verdankt seine iimere Einheit der Ver^sung des ehemaligen
fränkischen Reichskreises. Weder die gleiche Stammesgenossenschaft noch
die durch den Mainlauf bedingte wirtschaftliche Einheit würden im Zeitalter
der Religionskriege und des politischen Dualismus die politische 2^rsetzung
Frankens angehalten haben, wenn nicht die Kreisverfassung die frän-
kischen Territorien drei Jahrhunderte lang zu gemeinsamer Arbeit vereinigt
hätte. Trotz ihrer Bedeutung für die Reichsgeschichte' seit 1500 sind die Kreis-
Tei&ssungen noch immer ein Stiefkind der historischen Forschung. Für den
fränkischen Kreis, dessen Veriiältnisse die junge Gesellschaft für fränkische
Geschichte ^) zu erforschen begonnen hat, liegt eine erdrückende Fülle ar-
chivaHschen Materiab in Bamberg, Nürnberg und Würzburg, aber fUr diesen
zum wenigsten ist, soweit die Entstehung in Frage kommt, das allgemeine
Problem von dem engeren nicht zu trennen. Auf dem Boden des Genossen-
schafbwesens stehen sowohl die Schutz- und Trutzbündnisse deutscher Terri-
torien wie die von der Reichsgewalt zu ihrer Bekämpfung ins Leben ge-
nifenen Föderationen, und in der geographisch-landschaftlichen Einheit dieser
Föderationen imd in ihrer Ausdehnung auf das ganze Reich ist der Ur-
sprang der Kreisver&ssimg Maximilians zu suchen. Hatte noch 1340 Ludwig
der Bayer einen Teillandfrieden für Franken erlassen, so befindet sich Fran-
ken seit dem allgemeinen Landfrieden von 1383 mit schwankenden Grenzen
in der Genossenschaft sämtlicher deutschen Landschaften. Erst die Kreis-
eintdlung von 1500 und 15 12 durchbricht das geographische Prinzip, weil
ae zunächst nur die Schaffung von Wahlbezirken für das kurzlebige Reichs-
regiment bezweckt. Eine gesimde geradlinige Entwickelung hat nur in wenigen
Kreisen stattgefunden, aber zu denen, wo dies der Fall war, gehört das mit
am meisten zersplitterte Franken. Die erste Sptu- einer von Maximilian an-
geregten Tätigkeit des Kreises findet sich im Jahre 15 17, aber die eigent-
Hche Konstituierung des Kreises vollzieht sich erst zwischen 152 1 und 1555
infolge des Kampfes um die Vorrechte der Kreisstandschaft, imd die wüste
^isode des Markgrafen Albrecht Alkibiades von Brandenburg hat, statt den
Kreis zu zerreiisen, nur einen engeren Zusanmienschlufs der Stände zur Folge
gehabt Mit dem Augsburger Reichstage von 1555 aber beginnt die selb-
ständige Weiterentwickelung der reichsrechtlichen Föderation, die selbst der
30jährige Krieg nicht auf die Dauer zu sprengen vermag. Im Zeitalter
Ludwigs XIV. geht sie wie die gröfseren deutschen Territorien zu dem
System der stehenden Heere über und wird wie diese bündnisfähig. Auch
die scheinbare Verfallzeit des XVIII. Jahrhunderts erscheint, genauer be-
trachtet, in günstigerem Lichte. Lebensgefährlich wird für die Kreisverfassung
erst der Eintritt der preufsischen Grofsmacht in den Kreis durch den An-
Wl von Ansbach-Bayreuth. Von 1792 bis zu seiner Auflösung durch die
Rheinbundakte führt er nur ein Scheinleben; durch letztere wird dann die
territoriale Einheit Frankens zerrissen, bis schliefslich mit dem endgültigen Anfall
WüTzburgs an Bayern seit 18 14 die drei Franken bis auf geringe Einbufsen in
<^ Rahmen des Landfriedens Ludwigs des Bayern wieder vereinigt sind.
I) Vgl 6. Bd., S. 281—286, bes. S. 284, Nr. 9.
— 74 —
Die zweite HauptversammluDg eröffiiete Archivsekretär AI tmann (Bam-
berg) mit dem Vorträge über das Bistum Bamberg als Staat, in dem
er die Entwickeltrog dieses geistlichen Territoriums von seiner Entstehung
bis zu seiner Auflösung in knappen Zügen voHührte und damit den äuiseren
Rahmen schuf für den sich unmittelbar anschliefsenden Vortrag von Professor
Wolfram (Bamberg) über den Fürstbischof Franz Ludwig vob
Erthal (1779 — 1795)» den vorletzten geistlichen Territorialherm. Indem
letzterer Redner wesentlich tiefer in das Material emdrang als es Leitschuh
in seiner Biographie des Bischofs (Bamberg 1894) getan hat, gab er ein
erschöpfendes Bild von den Zuständen in einem geistlichen Staate unter
einem von der Aufklärung stark beeinflufsten Fürsten und namentlich von
den grofsen Fortschritten, die sich innerhalb seiner sechzehnjährigen Regie-
rung auf allen Gebieten der Verwaltung beobachten lassen.
Die einzige Sitzung der vereinigten fünf Abteilungen eröffi&ete
der Vortrag von Stadtarchivar Rubel (Dortmund) über das fränkische
Eroberungs- und Siedelungssystem in Oberfranken und seine
Bedeutung für die älteste Geschichte der Babenberger und
der Babenberger Fehde. Über die älteste Geschichte Bambergs und
der Burg der Popponen — so führte er aus — liegen von Ortskundigen
ausführliche Darstellungen vor, die sich nur dadurch ergänzen lassen, dafs
die allgemein bekaimten Vorgänge in einem grösseren Zusammenhange er-
örtert und klargestellt werden. Das Geschlecht der Popponen tritt zuerst
in der Person Poppos I. hervor, der als Markensetzer bis 839 tätig war.
Auch seine Nachfolger waren Markensetzer imd Herzöge. Poppo II. wurde
zwar 892 seiner Würde entkleidet, erhielt aber 899 von König Arnulf seine
Güter und Amtslehen wieder, erlangte also die erbliche Zuweisung seines
Amtsgutes. Anders ergmg es dem Geschlechte Heinrichs, der prinoeps mäüiae
und marckio war, des älteren Bruders von Poppo II., dessen drei Söhne
Adalbert, Adalhart und Heinrich fortan als Babenberger bezeichnet werden.
In dem Kampfe gegen die vier Konradiner verloren sie Besitz und Leben.
903 fiel Heinrich, Adalhart wurde gefangen und enthauptet, 906 wurde
Adalbert nach anfangs siegreichem Kampfe in dem castrum, der Burg Theres,
eingeschlossen und verlor wegen Untreue Freiheit und Leben. Die Frage
entsteht: Was war damab em castrum wie Babenberg, Theres, Weilburg»
was war ein Herzog, ein prtnceps müiiiae und marckio, wie es der Vater
der drei Babenberger war? Die Frage nach einem castrum ist jetzt besser
als früher zu beantworten, da wir durch Schucbhardts Untersuchungen
genau wissen, wie ein castrum oder casteüum , eine altgermanische Volks-
burg, eine sächsische Volksburg oder eine neueingerichtete fränkische
Befestigung, und eine curtis in Deutschland aussah. Von den fränkischen
Befestigungen sind nämlich mehr als zwei Dutzend curies, befestigte
Höfe, in Norddeutschland aufgedeckt worden. Sie sind aber im ganzen
Eroberungsgebiete der Franken vorhanden gewesen: so gab es bestimmt
einen Königshof 892 in Forchheim, der schon 805 neben Hallstadt existiert
haben mufs. In Süddeutschland erscheinen nunmehr diese fränkischen
Königshöfe auch im Terrain deutlicher, so am Neckar und in der Schweiz;
urkundlich sind vorkarolingische curtes im Mabgebiete in Willanzheim, Dom-
heim, Sondershofen, Bolzheim und Gaukönigshofen durch fiskalische Kirchen der
— 76 —
Franken bekannt Es soUte doch wohl gelingen, nunmehr auiser den bekannten
mch andere der fränkischen eurtes nachzuweisen. Aber Bamberg, Theres,
Weilboig wird wie Hammelburg , Wüizburg, Carleburg als Burg (oastrum)
ansdiücklich Ton einer cwrüs unterschieden. Worin bestand der Unter-
schied? Burg S3 castrum, easteüum, wrha ist im Sprachgebrauch der karo-
i[^;ischen Zeit sowohl die heidnische Volksburg, als auch die neueingerichtete
Mnkische Burg. Von letzteren ist bis jetzt allein das casteUumt Karls d. Gr.
Höhbeck an der Elbe angenommen: es ist ein regelmäßiges Rechteck,
dessen Mauern aus Holz und Lehm bestanden. Urkundlich tritt aber
eagirum und casteüum als eine Befestigung, die für ständige Besatzung, fUr
an praesidhifn müUare, bestimmt war, hervor. Als 868 bei Pttres neben
dner eurtis (heribergum) ein oasbrum errichtet wurde, wurde zugleich für
dassdbe eine dauernde Besatzung bestinmit Diese Besatztmg erhielt sowohl
bestimmte Teile der Befestigung, mit deren Anlage man dem spätrömischen Ver-
führen gemäis einzelne Abteilungen betraute, als auch dauernden Besitz an
Ackerland um "das Kastell zugemessen. Diese Nachricht ist als typisch zu
betrachten ; die karolingische cwrtia war ein wohlbefestigter Wirtschaftshof, '
das easküum dagegen eine für eine dauernde Besatzung (praesidium mUäare}
bestimmte Befestigung. So läist sie sich von den Zeiten Ottos I. her bis in
die karolingische und merowingische Zeit zurückversetzen, so lassen sich auch
die proMidia als fränkische Besatzungen belegen. Die Franken haben wie
die Römer in spätrömischer Zeit die Länder dadurch beherrscht, dafs sie ihre
praendia in römische und neuerrichtete fränkische Befestigungen gelegt haben.
Die Technik der fränkischen Befestigungen ist die spätrömische. In der
Babenberger Fehde treten deutlich als neuerrichtete fränkische KasteUe hervor
Bamberg, Theres und Weilburg. In Bamberg wird der Domplatz die alte
eurtia, die alte Hofhaltung das casteUum sein. Das Recht, solche Befestigungen
ZQ errichten und zu besetzen, kam nur dem Könige und seinen Beamten zu.
Aber sowohl bei Ausgang der merowingischen wie der karolingischen Periode
trat dieselbe Erscheinung hervor: die mit der Errichtung von Burgen und
der Markenziehung betrauten Beamten, meist Herzöge, behandelten das ihnen
übertragene Königsgut, als sei es Eigengut; die meisten, wie Poppo II. und
cBe Ludolfinger, wufsten sogar das ihnen übertragene Königsgut ab Eigen-
tum zu sichern und zu bewahren. Als aber auch die Babenberger die neu-
errichteten Burgen Theres und Bamberg gegenüber den letzten Karolingern
imd gegen die Konradmer als Eigengut zu behaupten suchten, fanden sie
haitnädugen Widerstand. Als Reichsbeamte, nurUn camerae, wurden sie
T(m den Gegnern behandelt ; als Beamte des Königs büfsten sie ihre Untreue
dnrch den Tod. Es ist das gleiche Schicksal, welches die merowingischen
Herzöge ereilte und welches einem karolingischen Herzoge, Thassüo, angedroht
wurde. So interessant auch die Amtsgewalt der Herzöge und prmcipes^
mtitiae als Führer der technischen Truppen und Erbauer der Kastelle ist,,
so ist damit ihre Amtstätigkeit noch nicht erschöpft. Sie waren zugleich
Beaeidmer neuer Marklmien tmd Ausscheider von Königsgut. Es läfst sich
die Tätigkeit der Popponen an den Befestigungen zwar im einzelnen er-
kennen, weniger deutlich jedoch ist die Markenregulierung und Bildung von
Königsgut in Oberfranken. Immerhin lassen sich auch einige Züge ihrer Tätig-
keit als Ausscheider von Königsgut entdecken. Der Vortragende schlols die
— 76 —
Ausführungen mit der Bitte, die curtea und heriberga sowie die castra, die die
Franken errichtet haben, auch in Oberfranken und Bayern klarzustellen
imd dadurch die Arbeit aufisunehmen, die die westdeutschen und nordwest-
deutschen Vereine bereits erfolgreich begonnen hätten. — Hierauf sprach
Professor v. Zwiedineck-Südenhorst (Graz) über Neue Methoden
genealogischer Forschung in Osterreich. Redner bezeichnete die
Familiengeschichte als einen gnmdlegenden Teil der Gesellschafbgeschichte
und betonte, dafs ihr die Forschung iocuner näher treten müsse. Wdche
Probleme in dieser Richtung der Lösung harren, läist sich im einzelnen
heute noch gar nicht übersehen, aber es steht aufser Zweifel, dafs der Er-
kenntnis der menschlichen Entwickdung durch den Nachweis des Anstieges
und des Verfialles der Familien und Geschlechter ganz neue P&de erö&et
werden. Deshalb wird es aber jetzt die Aufgabe der Genealogie, die
sich bisher nur um Geburts- und Sterbetage, Vermählungen, Adels- und
Titelverleihungen zu küounem gewohnt war, das Material zur Herstellung
von Familiengeschichten in dem angedeuteten Sinne herbeizuschaffen und
zugleich eine grofse Menge von Faooilien in gleicher Weise zu behandeln,
nicht mehr immer nur einzelne, die besonders hervorragen oder den Genea-
logen infolge persönlicher Umstände besonders interessieren. Noch schwie-
riger als bei anderen Forschungen ist zurzeit bei genealogischen die Be-
schaffung des Urmaterials, und deshalb verdienen alle Hil&mittel, die diesem
Zwecke dienen, ganz besondere Aufineiksamkeit. Als eine derartige öster-
reichische Veröffentlichung verdient eine ganz eigenartige Arbeit genannt zu
werden, nämlich: Der Adel in den Matriken der Grafschaft Oörx und
Gradisoa, herausg^eben von Ludwig Schiviz v. Schivizhoffen (Görz
1904, Selbstverlag des Verfassers, Druck von Karl Gerolds Sohn in Wioi I,
Barbaragasse Nr. 2, 510 S. 40). Im Jahre 1905 ist dann ein gerade solches
Werk über den Adel in Krain erschienen ^). In dem Umfange wie hier
sind wohl noch niemals die Kirchenbücher ganzer Länder inhaltlich aus-
gebeutet worden, denn der Bearbeiter ist, von den geistlichen Ordinariaten
imterstützt, von Pfarrei zu P&rrei gezogen und hat alle adlige Personen be-
treffenden Einträge, so wie er sie fand, sorgfältig abgeschrieben und im
Druck der Öffentlichkeit vorgelegt. Die Arbeit wurde in Görz-Gradisca
dadurch etwas erleichtert, dafs wenigstens seit 1835 Duplikate der Pfarrmatriken
bei den Ordinariaten ruhen, so dafs also von dieser Zeit an die Durchsicht
an den Sitzen der Ordinariate, in Görz imd Triest, erfolgen konnte. Wie
der Herausgeber angibt, enthält der genannte Band nmd 20000 Kirchen-
büchern entnommene Einzeldaten, imd für Krain dürfte die Zahl ungefähr
dieselbe sein. Aufserordentlich eingehende Register erieichtem die Benutzung
beider Bände und das Auffinden einzelner Daten, geben aber auch negativ
die Gewähr, dafs Personen, die das Register nicht nennt, im Texte tatsäch-
lich nicht erwähnt werden. Die mutige Tat eines einzigen, eines durchaus
nicht mit Glücksgütem gesegneten pensionierten Beamten, hat hier für einen
ziemlich fernen LandesteU etwas geleistet, was zur Nacheiferung gerade-
zu herausfordert. — Einen noch wesentlicheren Schritt nach vorwärts auf
i) Der Adel in den Matriken des Herzogtums Kraint heraasgegeben von Lud-
wig Schiviz V. Schivizhoffen in Görz (Görz 1905, Druck der »Goridka Tiskama«
A. Gabräöek in Görz, Selbstverlag des Verfassers, 504 S. 4*).
— 71 —
der Bahn fiaoniliengeschicbtlicher Forschung stellt eis m seinem ersten
Jahrgänge (1905) vorli^endes Werk dar, welches, in semem Änfseren dnrch-
ans den Go^aischen Genealogischen Taachenibückem nachgebildet, den Titel
tiflgt: Oenealogisekes Thadienbueh der adeligen Häuser Osterrekhe (Wien,
Otto Maais' Söhne, 655 S. i6<^, Preis 10.50 Kronen). Es ist bei der
gro&en Zahl der dem sogenannten niederen Adel angefaörigen FamOieu
sdbstrerständlich, dais unmö^h alle Famitien anf einmal behandelt werden
ktenen und dafs dann, wie es bei den illrstlichen Häusern geschieht, jedes
Jahr eine neue Auflage unter Berücksichtigung der etwaigen Verändertmgen
im Personenstande erscheint. Es handelt sich Ttelmehr darum und ge-
nfigt vollständig, wenn zunächst möglichst jede adlige Familie in ihrer Ent-
Wickelung einmal vorgeführt wird, und dazu ist das neue österreichische
ÜEudienbuch gegründet worden, welches sachlich das reichsdeutsche , öster-
leichische Familien ausschUelsende, Oothais^ Genealogische Thaehenbueh der
oieHgen HHuser (seit 1900) ergänzt Die Kosten der Drucklegung hat vöffig
der lebtungsfiüiige Verlag übernommen, der dalür das Recht besitzt, dem
Tasdienbuch einen beliebigen Annoncenanhang anzufügen. Die Redaktion
des genealogischen Teiles besorgt ein Redaktionskomitee, aoi dessen Spitze
Geheimer Rat Graf von Pettenegg steht, während der Staatsarcbtvar und
zugleich Ahnenprobenexaminator Alfred Ritter Anthony v. Siegenfeld
die hauptsächlichste Redaktionsarbeit leistet Die einzelnen Familien senden
das ti)er sie bekannte Material der Redaktion ein, und zwar erwachsen dem
Einsender dadurch keinerlei Kosten. Die Redaktion unterzieht die Vor-
lagen einer scharfen Prüfung und gestaltet das geschichtliche und genea-
logische Material zu einem möglichst abgerundeten Bilde; zugleich wird der
Versuch gemacht, die in dem beigebrachten Material klaffenden Lücken nadi
Möglichkeit zu füllen. Em besonders breiter Raum ist der Familien-
geschichte gewidmet, und das bedeutet einen grofsen Fortschritt Bei
der Mehrzahl der 172 im vorliegenden Bande beschriebenen Familien ist
es mög^ch gewesen, eine ausführliche Schilderung ihres Ursprungs und
Werdegangs atif Grund archivalischen Quellenmaterials vorauszuschicken^
und dadurch wird die Darstellung ein Stück österreichischer Kulturgeschichte
mid ein Zeugms der aufsteigenden Klassenbewegung. Denn über den Zeit-
ponkt des Adelserwerbs zurückgreifend geht die Schilderung von der vielfach
weit interessanteren Geschichte der Familie im Bürger* und Bauernstände
IBS und zeigt dem Leser die Patrizier der Arbeit auf den vielverzweigten
Oebieten menschlicher Tätigkeit in ihren Mühen imd in ihren Erfolgen.
1>9A sozialgeschichdich Wichtigste hierbei ist die Feststellung, durch welche
Letttungen die einzelnen Personen sich derartig aus der Masse heraushoben,
da^ sie der Adelsveiieihung würdig erschienen. An einzelnen besonders
charakteristischen Erscheinungen schilderte der Redner gerade diesen Vor-
gang. Dais sich eine Menge Beziehungen zu reichsdeutschen Famifien finden,
braucht kaum hervorgehoben zu werden, wie andrerseits merkwürdig viel
ans der Feme eingewanderte Personen zu Stammvätern jetzt blühender Adels-
gescfalechter geworden sind: die Familie v. Fries z. B. stammt aus Augs-
burg und kam dadurch nach Österreich, dads Johann Friefs — ein Enkel
des wfirzburgischen Chronisten Lorenz Friefs — 1599 ^ bischöflich bam-
hergischer Beamter zur Verwaltung der kämtnbchen Besitzungen des Stifts nach
6
— 78 —
Wolfsberg in Unterkämten übersiedelte. Auch dieses neue Taschenbuch des öster-
reichischen Adels verdient die gröüste allgemeine Beachtung und — Benutzungf
Als dritter Redner sprach Armin Tille (Leipzig) über Organi-
sation und Publikationen der deutschen Geschichtsvereine.
Der Vortragende überblickte die Tätigkeit der sämtlichen landes- und orts-
geschichtlichen Vereine, deren er 423 zählt, von denen wiederum etwa 200
periodische Veröffentlichungen erscheinen lassen, imd kam zu dem Ergebnis,
dafs die Zahl der Vereinsorgane entschieden zu grofs ist, dafs vielen Bei-
trägen ein wissenschaftlicher Wert nicht zugesprochen werden kann und dafs
das Ansehen der örtlichen Geschichtsforschung überhaupt durch solche
Arbeiten leidet Unter Wahrung der Selbständigkeit jedes Vereins hinsicht-
lich seiner örtlichen Tätigkeit durch Vorträge usw. schlug der Vortragende
deshalb vor, dafs die benachbarten Vereme, eventuell sogar alle einem Lande
(Provinz) angehörigen, sich zusammentun und gemeinsam ein Organ heraus-
geben möchten, das dann natürlich mehr bieten, eine höhere Auflage er-
zielen (mindestens 1000 Exemplare) und zugleich ganz anders, als es die Zeit-
schriften jetzt vermögen, geschichtlich bildend und erzieherisch wirken könnte.
Abteilung I und II tagten gemeinsam in sehr gut besuchten Versamm-
limgen mit dem Verband west- und süddeutscher Vereine für
römisch-germanische Forschung unter dem Vorsitz von Anthes
(Darmstadt), der auch ftlr das konmiende Jahr mit der Leitung des Verbandes
betraut wurde. Die nächste Versammlung wird zu Ostern 1906 in Basel ab-
gehalten tmd mi tarchäologischen Ausflügen nach Basel-Augst imd Windisch
verbunden werden, da der Gesamtverein in Wien, also auüserhalb des Verbands-
gebietes, tagt. Der Vorsitzende erstattete zunächst den satzimgsgemäfsen B e >
rieht über die archäologischen Untersuchungen, die während des
letzten Jahres im Verbandsgebiet vorgenommen worden sind. Auf allen Gebieten
der einheimischen Altertumskunde sind erhebliche Fortschritte zu verzeichnen ;
besonders ergiebig waren wieder die Untersuchungen von Schliz (Heil-
bronn) imdKoehl (Worms) auf dem schwierigen und viel umstrittenen Ge-
giet der neolithischen Kultur. Femer sei aus dem reichhaltigen und ein-
dehenden Bericht nur noch hervorgehoben, dafs sich in verschiedenen Teilen
bes Verbandsgebietes eine ganze Reihe von neuen Aufschlüssen über die
erste Okkupation der Rheinlande durch die Römer ergeben hat. Der wich-
tigste Fond ist in Mainz gemacht worden: eine reich imd geschmackvoll
skulptierte Juppitersäule, deren Ausschmückung zu dem Besten gehört, was
überhaupt von Skulpturen aus jener Zeit erhalten ist, die stadtrömischen
Kunstwerke nicht ausgeschlossen. Das Denkmal mufs aus hunderten von
Bruchstücken wieder zusammengesetzt werden; von der Hauptfigur, einend
bronzenen Juppiter, sind leider nur ein schwer vergoldeter Fufe, das Blitz-
bündel und geringe Fragmente des Adlers übrig. Wichtig ist, dafs die In-
schrift erhalten ist; sie setzt das Denkmal in die Zeit Neros und beweist,
dafs ein Gallier der Künstler ist. Vielleicht wurde das Ganze schon fertig^
aus Südgallien bezogen, wohin auch der verwendete Stein zu weisen scheint.
Die Vorträge eröffnete Haug (Mannheim) miteiuer Kritik der angeblich
germanischen Einflüsse auf das römische Obergermanien..
Im Gegensatz zu der allgemeinen Ansicht ist er davon überzeugt, dafs diese
Einflüsse gegenüber den keltischen tatsächlich bedeutend zurücktreten und
— 79 —
(kis TOD wirklich nachhaltiger Einwirkung der Germanen erst mit dem ßn-
dringcn der Alamannen um 250 n. Chr. gesprochen werden könne. Eine
weitere Anzahl von Vorträgen und Mitteilungen führte auf das Gebiet der
vorgeschichtlichen Archäologie.
Der Vorsitzende leitete eine Besprechung über den Stand der Ring-
wallforschung in Südwestdeutschland ein, indem er hervorhob,
da6 es aus vielen Gründen nötig sei, überall diesen Untersuchungen näher
xa treten, da allenthalben an der Zerstönmg dieser wichtigen Überreste
ans der Vorzeit gearbeitet werde, ohne dafs es möglich sei, immer Ein-
hak zu tun, wie es kürzlich gerade noch glückte, als die grofsartigen
Anlagen auf dem Altkönig durch die geplante Errichtung eines Gast-
hauses aufs höchste gefährdet waren. Dem Eintreten der benachbarten
Vereine und des hessischen Denkmalpflegers ist es zu danken, dafs diese
Anlagen, die zu den merkwürdigsten in Deutschland gehören, nun hoffent-
lich ein für allemal geschützt sind. Ein sehr erschwerender Umstand ist
das Fehlen einer Bibliognqphie über die Ringwallforschimg; eine solche zu
schaffen, wäre eine geeignete und fruchtbare Aufgabe für den Verband, da
sie von einem einzelnen nicht geleistet werden kann.
Über Grabfelder der Bronze- und Hallstattzeit in der Wetterau berichtete
Helmke (Friedberg), und Müller (Darmstadt) legte einen hervorragenden
foonzefund aus dem nördlichen Odenwald vor, dessen Hauptstücke nieren-
fönnig gestaltete Armringe mit hübscher eingravierter Linienverzierung bilden.
Beide Mitteilimgen gaben Anlafs zu lebhafter Besprechung. Sehr interessant
waren die Ausfühnmgen von Thomas (Frankfurt), der vergleichende Betrach-
tungen über die Berührungspunkte südwestdeutscher RingwäUe mit Bibracte
ond Alesia anstellte. Thomas hat gemeinsam mit Anthes letzthin die berühmten
französischen Anlagen besucht, deren Eigenheiten eingehend geschildert wurden.
Ans ihrem Studium, das von den französischen Gelehrten in sorgsamer Ar-
beit bedeutend gefördert worden ist, ergibt sich reiche Belehrung auch über
onsere Anlagen aus keltischer Zeit. Als Einleitung in die Besichtigung der
Akertumssanmilung des Bamberger Vereins sprach endlich Sartori (Bam-
berg) über die wichtigsten Fundstellen in der Umgegend von Bamberg. Sie
sind reich an Fimden, imd es ist zu hoffen, dafs es Sartori, der jetzt die
Neuordnung der Sammlung übernommen und schon gefördert hat, gelingen
wird, durch sorgfältiges Sammeln der Fimdstücke, durch systematische Gra-
bungen und durch Ordnung der schon vorhandenen Bestände die Sammlung
zu emem wichtigen Anschauungsmittel für die vorgeschichtliche Kultur des
oberen Maingebietes zu machen.
Ein sehr beachtenswertes Thema behandelte Wolfram (Metz), indem er
über kleinasiatische Einflüsse auf Gallien und Germanien sprach. Die
Knkur der Rhein- und Mosellande in den letzten vorchristüchen und den ersten
nachchristlichen Jahrhunderten — so führte er aus — ist bisher fast ausschliefs-
lich anf römisch-italischen Einfluis zurückgeführt worden. Demgegenüber hat man
geiade in den letzten Jahrzehnten wiederholt dar aufaufinerksam gemacht, dafs be-
sonders auf dem Gebiete der Kirnst griechischer Einflufis nicht zu verkennen ist;
so zeigt eine Frauenstatue des Metzer Museums unzweifelhaft Ähnlichkeit mit
pergamenischen Bildwerken. Für den Giganten auf der Mertener Säule (Metzer
Museum) hat Hofl5aiann auf gleiche Abhängigkeit hingewiesen, imd ein Fels-
6*
— 80 —
relief bei Bitsch ist von Michaelis unter HervoHiebung des griechbchen
Charakters der Skulptur neben die Denkmäler von St. Remy gestellt worden.
Aber auch auf dem Gebiete des Münzwesens ist das Moseltal stark vom
griechischen Orient her beeinflufst worden, denn gewisse Münzen der Medio-
matriker tragen, wenn auch staric deformiert, das Bild des Philippus-Staters.
Wie ist dieser griechische Einflufs zu erklären? Ein Import aus Italien ist
ausgeschlossen. Diese Annahme hätte von vornherein unwahrscheinlich sein
müssen, denn die Alpen sind zu drei Viertel des Jahres unwegsam, und für die
wenigen Monate der Übergangsiähigkeit erlaubten die überaus mangelhaften
Wegeverhältnisse durchaus nicht die Einführung einer neuen allumfassenden
Kultur. Der einzige Weg, der für Rhein- imd Moseltal in Betracht kommt,
sind die Strafsen Mosel aufwärts, Saöne abwärts, Rhone abwärts. Die Ver-
breitung der Succellusbilder weist nach den Dari^ungen Michaelis' direkt
dorthin. Die Bitscher Felsskulptur ist ebenso von der Provence aus beein-
flufst worden, und keltische Münzen der Mediomatriker zeigen dasselbe Münz-
bfld wie das Gepräge von Marseille. Vor allem aber beweist den lebhaften
Verkehr nach jenen Gegenden die Tatsache, dafs von den in Metz gefun-
denen römischen Münzen ungleich mehr in Lyon als in Rom geprägt sind.
Dais eine alte Handelsstrafse von Marseille nach Metz vorhanden war, zeigt
die Peutingersche Tafel. Aber auch der Wasserweg ist benutzt worden ; das
ergibt sich klar aus der Überlieferung des Tacitus, dais die Ausführung eines
projektierten Kanals zwischen Mosel und Saöne lediglich an Kompetenz-
konflikten zwischen den Statthaltern der benachbarten Provinzen gescheitert
ist. Ist mm die mit griechischen Gründungen besiedelte Südprovence die
Ursprungsstätte des griechischen Einflusses im Moseltal? Die Stadt Marseille
hat allezeit die Verbindung mit dem Griechentum des alten Heimatlandes,
vor allem Kleinasiens aufrechterhalten. Bis in das späte Mittelalter ist uns
durch die Forschungen Schefier-Boichorsts und Brdhiers der Verkehr von
Syrern tmd Griechen von Marseille über Lyon nach den gallischen und
germanischen Städten erwiesen worden. Insbesondere ist auch das Christen-
tum von Lyon, Metz, Trier und höchstwahrscheinlich auch Köln und Mainz
griechischen Ursprungs, in seinen AnfiUigen durchaus unbeeinflufst von Rom
imd Italien. Auch das Julier-Denkmal von St. Remy erinnert, ebenso wie
die Igler Säule bei Trier an kleinasiatische Mausoleen, ^dlich sind unter den
Münzen, die im Moseltal gefunden werden, zahlreiche Stücke antiochischen
Gepräges. Auf die karolingische 2^it übergehend zeigte sodann der Redner,
wie auch hier noch der griechisch-syrische Einflufs lebendig ist Thegan be-
richtet ausdrücklich, dafs Karl der Grofse Syrer und Griechen an seinen
Hof berufen habe. Und die Forschungen Strzygowskis beweisen zur Evi-
denz, dafs Syrer spezieU in Metz an der Herstellung von Handschriften tätig
gewesen sind. Da nun das Monogranmi Karls des Grofsen durchaus ^eich-
artig ist mit demjenigen eines armenischen Patriarchen und das K im Mono-
gramm (statt des sonst gebräuchlichen C) auf griechischen Einflufs hinweist,
so hielt der Redner die Ansicht, dafs das Monogranmi von kleinasiatiscfaen
Griechen beeinflufst ist, trotz des von Lechner ^) erhobenen Einspruchs auf-
i) Im Neuen Archiv für ältere deutsche Geschtehtsktmde 30. Bd. (1905). Wolfram
hatte bereits seine Meinung über das Monogramm Karb des Grofsen in der Beilage zur
Allgemeinen SSeiiung (Mflnchen) Jahrgang 1905, Nr. 3 nnd 2^ ausgesprochen.
— 81 —
recht Zum Schluis warf Wolfram noch die Frage auf^ ob die merkwürdige
Bildniig des karoÜDgischen Mittelreiches nicht durch die Bedeutung der
greisen Handdsstrafse Ton Marseille bis zur Nordsee, der einzigen südnörd-
lichen Verbindung, die nicht durch ein Gebirge unterbrochen ist, beeinflufst
worden sei.
Mit der Römerseit beschäftigte sich nur der Vortrag von Wolff (Frank-
fiut). In Heddemheim, der unerschöpflichen Fundgrube aus römischer Zeit,
htt man im letzten Jahre ansehnliche Reste von Töpfereien gefunden. Als
besonders wichtig hat sich dabei herausgestellt, dafs auch SigiUataware, jenes
feine und beliebte Tafelgeschirr, hier in Nida angefertigt worden ist. Die
Namenstempel der Töpfer beweisen, dafs die Eneugnisse dieser kleinen,
vielleicht mit Rheinzabem zusanmienhängenden Töpferei hauptsächlich in der
Wetterau, dem Hinterland von Nida, abgesetzt wurden. Gleichzeitig erhielt
man auch wichtige Aufschlüsse über die Technik dieser Industrie. Es
Huxlen sich in unmittelbarer Nähe der Brennöfen mehrere grofte, mühlstein-
ähnliche Steine, die mit Einarbeitungen für die Finger versehen sind, wie
sie nötig waren, um die schwere steinerne Töpferscheibe in Bewegung zu
setzen. Der Redner konnte dazu noch mitteüen, dafs sich dieselbe Technik
bereits auf schwarzfigurigen korinthischen Täfelchen des Berliner Museums
dargestellt findet; gewifs ein schönes Beispiel für eine Jahrtausende alte Kon-
tiBiiität in einem Gewerbe I
Die Versammlungen des west- und süddeutschen Verbandes, der
jetzt an drdfsig Vereine um&lst, erfreuen sich einer jedes Jahr wachsenden
Beteiligung. Es sind nicht nur die Vorträge und Mitteilungen über die im
Vordergrunde stehenden archäologischen Fragen, sondern es ist in gleich
hohem Mafs das Anregende des persönlichen Verkehrs der an den gemein-
samen Arbeiten teilnehmenden Mäimer aus dem ganzen Arbeitsgebiet, das
diese Zusammenkünfte so lohnend macht. Ein regehnäfsiger Gast ist der
Direhor der römisch-germanischen Konmiission des Kaiserlich archäologischen
Instituts, Professor Dragendorff (Frankfurt a. M.), der auch diesmal
nicht fehlte und durch seine Teilnahme an der Tagung wieder zu erkeimen
ga^, dais er die Täti^eit unserer^ Vereine wohl zu schätzen weifs. Als
Gast war ferner anwesend Direktor Boehlau (Kassel) als Abgeordneter des
neugegründeten nordwestdeutschen Verbandes für Altertums-
forschung 0.
I) VgL darüber VL Bd., S. 184—185. Nachdem die wett- nnd sttddeQttchen
Vereioe, die sich mit römisch -germanischer ForschiiDg beschäftigen » nnd ebenso die
>n der nordwestdentschen Altertomsforschong interessierten Kreise einen Verband
SCgraodet md dadurch die Arbeit in gewissen Grenten organisiert haben, soUte es doch
crvogen werdeo, ob sich nicht ftü* Mitte Ideatschland eine ähnliche Vereinigung
^ Kräfte erzielen lieise. Wenn auf irgend einem Gebiete, so ist gewifs auf dem der
vor- und frfihgeschichtlichen Forschung eine Organisation der Arbeit erspriefslich,
«eil hier, wo viellMÜi das Nachgraben notwendig wird, der einsebie Forscher den
Ai%Bben machtlos gegeottberateht Auiser den keramischen Funden, die von jeher das
kteitsie der Sammler erregt haben, kommt es g^enwärtig vor allem darauf an, wie es
tt Nordwestdeotschland, namentlich durch Schuchhardt (Hannover) erfolgreich geschehen
iit, vofgeschidiüiche Befestigungen und Siedelungsstättcn blofszolegen , zu be-
*chreibeB und geschichtlich zu verwerten. Dazu reichen die Kräfte einzelner Personen
iB der Regel nicht aas, und deshalb unterbleiben derartige Untersuchungen und werden
«cUieTtlich bei der fortschreitenden Dorchwttblung des Erdbodens zu gewerblichen u. dgL
— 82 —
In der vereinigten III. und IV. Abteilung wurde nur ein einziger Vor-
trag gehalten, und zwar sprach Archivrat Mummenhoff (Nürnberg) über
Freie Kunst und Handwerk in Nürnberg. Das Wort „Kunst" be-
zeichnet hier dasselbe wie Handwerk, durchaus nicht eine höhere Art der
Betätigung; der Unterschied zwischen „ freier Kunst " und Haudwerk besteht
vielmehr in der Organisation, insofern irgendeine gewerbliche Tätigkeit
zuerst frei betrieben wird, d. h. von jedem geübt werden darf, und erst in
einem . bestimmten Punkte der Entwickelung, wenn eine gewisse Zahl von Per-
sonen dieselbe Beschäftigung als Hauptnahrungszweig betreibt, eine Organi-
sation erhält. Die Gewerbeaufsicht übte in Nürnberg der Rat, und er be-
stimmte auch den Umfang der Befugnisse, die den Handwerken als Selbst-
verwaltungskörpem überwiesen wurden. Von der freien Kunst bis zur ge-
schlossenen Zunfl, d. h. der Handwerksorganisation, die Selbstverwaltang,
Verbietungsrechte imd eine bestimmte Zahl Meister besitzt, führt eine gerade
Entwickelungslinie , deren einzelne Stadien sich an der reichen Gewerbe
geschichte Nürnbergs deutlich erkennen lassen.
Für die fünfle Abteilimg, die für Volkskunde, hatte der Verein für
bayerische Volkskunde eine Ausstellung seines Materials zur Erforschung des
Bauernhauses in Bayern veranstaltet. Ergänzt wurde dieses durch 37 Aqua-
relle aus dem Besitz der Königl. Versicherungskammer in München, und
ab Gegenstück gesellte sich eine Sanunlung vorzüglicher AbbUdungen olden-
burgischer Bauernhäuser hinzu. Femer hatte Architekt Kronfufs (Bamberg)
eine Menge Beispiele ländlicher Architektur aus Franken, die er selbst ge-
sammelt hat, ausgestellt. Nach einem Berichte des Generals Freiherrn
V. Friesen (Dresden) über die Sammlung sächsischer Flurnamen und
den günstigen For^ng der einschlägigen Bestrebungen verbreitete sich Pastor
Heibig (Groitzsch) über die sächsischen Steinkreuze, deren der Vor-
tragende etwa 180 an 117 verschiedenen Standorten kennt. In ihrer über-
wiegenden Zahl betrachtet er sie als Grenzzeichen kirchlicher Hoheitsgebiete
und setzt ihre Entstehung in die Zeit vom XI. bis XJV. Jahrhundert; nur
für die Zittauer Gruppe ninunt er nachreformatorischen Ursprung an. Zu
dieser Ansicht veranlsüst erstens die auffällige Gruppierung, die plan- und
regellose Aufstellung zu ganz verschiedenen Zeiten und Zwecken ausschliefst,
imd der eine gewisse Gleichartigkeit in Material, Form, Gröfse und Zeichen
innerhalb der einzelnen Gruppen entspricht, zweitens das unverkennbare
Zusammenfallen der durch ihre Standorte gegebenen Linien und den urkund-
lich festgelegten Grenzen solcher kirchlicher Hoheitsgebiete, drittens ihr
häufiger Standort auf beherrschenden Höhen, an wichtigen alten Strafsen-
Zwcckea ganz unmöglich. Den in Mitteldeatschland tatsächlich vorhandenen Verhältnissen
entsprechend würden sich neben den Vereinen, die sich mit vorgeschichtlicher Forschung
beschäftigen, zweckmäfsigerweise auch die Vorstände der öffentlichen Museen
als solche an der gemeinsamen Arbeit beteiligen müssen und schliefslich würde auch den
Einzelpersonen eine Teilnahme offen stehen müssen, da gerade in Mitteldeutschland auch
mancher einzelne Forscher auf eigene Faust ans Werk geht und die Vereine mit wenigen
Ausnahmen nicht all zu viel gröfsere Untersuchungen, namentlich Grabungen, unternehmen.
Um die Arbeit des einzelnen zu fördern und in erspriefsliche Bahnen zu lenken, aber
auch um gröfsere Aufgaben mit vereinten Kräflen zu lösen, wäre eine solche Organisation
der vor- und frtlhgeschichtlichen Forschung in Mitteldeutschland recht notwendig und
könnte ungemein fördernd und arbeitsparend wirken.
— 83 —
zägeD, io der Nähe kirchlicher Gebäude und Zubehörangen, ond viertens
der Umstand, dafs das Kreuz und die sonst darauf befindlichen Zeichen in
Torchristlicher und christlicher Zeit bis in die Gegenwart als Grenzzeichen
literarisch bezeugt sind. In Sachsen erscheint die vogtländische Gruppe
als Abgrenzung des Plauener Kirchensprengeb im XII. Jahrhundert und zu-
gleich als die des Dobenagaues^ die Meifsner Gruppe als Grenze zwischen
den Bistümern Naumburg-Zeitz und Merseburg einer- und Meifsen andrer-
seits, die Chutizigruppe als Grenze zwischen Hoheitsgebieten des Merse-
burger Stifb und des Peganer Klosters, zugleich zwischen den Gauen Chutizi
und Scuntira, die Nisanigruppe als Grenze der Meifsener sedes Pirna und
Dippoldiswalde, zugleich des Nisanigaues im Süden und der Grafschaft Dohna,
die Bautzener Gruppe als Grenze zwischen Meißen im engeren Sinne und
iMoüa superior, und endHch die Zittau er Gruppe als Grenze des evan-
gelischen Weichbildes von Zittau gegen die katholische Nachbarschaft des
XVn. Jahrhunderts. — In der anschlieisenden Erörterung wurden gegen die
vorgetragene Anschauung Bedenken insofern laut, als die Grenzsteine tatsäch-
lich nicht an den Grenzen, sondern nur in den Grenzkirchspielen liegen,
em Umstand, der gewils Beachttmg verdient. Femer wurde die Notwendig-
keit betont, alle urkundlichen Nachrichten über Kreuzsteine zu sammeln.
Professor Brenner (Würzburg) berichtete über die Bestrebungen zur
EiSorsdiung des deutschen Bauernhauses und Vorbereitung einer
Hausbaustatistik. Es ist ein Fragebogen bearbeitet worden, der genü-
gende Erläuterungen gibt, so dafs auch der Laie zur Ausftilhmg schreiten
und damit für einen bestinmiten Ort angeben kann, nach welchem Schema
daselbst gebaut wird. Zur Verbreitung solcher Fragebogen haben sich ver-
schiedene Organisationen (Lehrer-, Architekten-, Geschichtsvereine) bereit
erklärt Der Zweck ist die Anbahnung einer genauen geographischen
Statistik der Haus typen, und dem dahin abzielenden Antrage gab der
Redner folgende im Druck vorgelegte Begründung:
„Der grofse Erfolg einer allgemeinen Umfrage, der in dem Sprachatlas
des Deutschen Reiches niedergelegt ist, legt den Wunsch nahe, andere ge^
schicfattiche Erscheinungen in unserem Volksleben auf Karten zu veranschau*
lieben. Die alte Anschauung, dafs die wichtigsten Typen der Volksüber-
fieferongen Ausdruck der Stammesverschiedenheiten seien, dafs ihre Grenzen
durch die Stanmies- und Gaugrenzen gegeben seien, hat gerade durch die
Kurven des Sprachatlasses einen starken Stofs erlitten. Auch die bäuer-
fichen Hans- und HofTormen hat man vielfach als Stammeseigentümlichkeiten
bezddinet, daher Beneimungen wie niedersächsisches, fränkisches, aleman-
nisches Haus. Schon die bisherigen Arbeiten auf diesem Gebiet haben er*
bebüche Zweifel an der Richtigkeit solcher Darstellungen geweckt. Ein
klarer Ebblick in die tatsächlichen Verhältnisse wird aber erst möglich sein,
wenn wir eine um&ssende Erhebung über die geographische Verbreitung der
Haoptformen benutzen können, wenn wir eine Karte der Haustypen besitzen,
die an dem Sprachatlas gemessen werden kann. Durch die Einzelforschtmg
wie in den Monographien von Mielke (Mark), Kofsmann (Schwarzwald), La-
sios (Friesland), Thiersch und Zell (Altbayem), volkskundlichen Werken über
Brannschweig (Andree), Sachsen (Wuttke), Thüringen (Regel), Baden (E. H.
Meyer), Schwaben (Hübler), Odenwald (Volck) u. a., durch die umfessenden»
— 84 —
Vergleichenden Arbeiten von Henning, Meitzen, Mielke und dem Architekten-
verband, Bancttlari, besonders Meringer, in anderer Weise von Heyne und
Stephftny, sind sichere Richtlinien für die Einleitung einer Statistik gegeben.
Ohne die £bzelforschung, die eigendiche Hausforschung, stören oder über-
flüssig machen zu wollen, hat diese Statistik doch ihre besondere Bedeutung,
auch ihre besondere Methode. Sie kann nur die typischen Hauptmerkmale
betonen. Möglichenreise, ja wahrscheinlich wird sie sich selbst zu korri*
gieren haben, von vornherein als Typen betrachtete Formen als unwesendich
ausschalten, neue Typen aufstellen müssm. Da als Hilfearbeiter für die
Eribebung zum gro&en Teil ungeschulte Laien verwendet werden müssen, so
kann die Fragestellung nicht untechnisch genug in der sprachlichen Form
sein. Ja, auch sachlich wird sie vielleicht oit Unwesentliches als Fingerzeig
benutzen müssen. So ist die Bedachung mit Schindeln und Steinen gewiis
an sich keine typische Bauform, imd doch wird sie uns mit Sicherheit aut
den fladien Bau des Daches, den Flachgiebel fiihren. Zu bedenken ist auch,
daii ursprünglich Unwesentliches für eine Landschaft charakteristisch werden
kann, so da& wir daran sofort den Typus ericennen. Aber auch an sich sind
solche landschaftlichen Erscheinungen äuiserlicher Art von Bedeutung, weil
sie uns eine geschlossene Gruppe mit gegenseitiger Beeinflussung kennen
lehren, die sich voraussichtlich nidit auf den einen Punkt beschränkt, son-
dern eine gewisse Kultur- und Geschmacksgemeinschaft, ja auch Überliefe-
rungsgemeinschaft verrät. Gerade was am meisten ins Auge fiUlt, geholt
hierher: die Hirsch- oder Pferdeköpfe an den Firsten, die gabelförmige Ein-
fiahrt bei niedersächsischen Höfen, die Lauben an bayerischen, Schwarzwälder
Häusern, die Einfahrt in den ersten Stock, die omamentale Gestaltung des
Fachwerkes, der Treppenvorbau und das Vordach bei Stallwohnhäusem, die
Wahn- und Halbwalmdächer, die gemauerten ToreinfEdirten, die Gruppierung
der Nebengebäude, zumal der Schwemeställe in Haufenhöfen, und noanches
andere.
Aus äuiseren Gründen scheint es sich zu empfehlen, die Fragebogen
flir einzelne Gebiete besonders zu formulieren. Was tut ein oberfränkischer
Gewährsmann mit den Fragen nach dem niedersächsischen Dielenhaus, sollte
man meinen — aber bei Kronach tritt uns mit einem Male ein Hof ent-
gegen, bei dem Tenne und Ställe senkrecht auf dem Wohnhaus stehen! —
Wahrscheinlich bringt uns ein gemeinsamer Fragebogen gerade überraschende
Neuigkeiten, z. B. über die Verbreitung des Langhauses in bergigen Gegen-
den u. a.
Bei dem flir die Erhebungen entworfenen Fragebogen sind Namen flir
die Typen, Theorien über die Entstehung der Unterarten sowie technische
Benennungen vermieden. NatürUch sind auch nicht alle Ausgestaltungen im
einzelnen berücksichtigt, was eine endlose, verwirrende Mannigfaltigkeit ergäbe.
Die Ausnutzung der Räume des Wohnhauses und der Scheune hat, obwohl
in ihr auch zum Teil feste Überlieferung gegeben ist, wegzubleiben. Nur die
Lage des eigentlichen Wohnzimmers und der Küche, ihre Lage zum Haus-
gang (Flnr, Fletz), die Stellung des Hauptkamins und Herdes, die Lage und
Richtung der Tenne, endlich der Unterbau des Wohnraumes müssen überaU
erfragt werden. Unberücksichtigte Typen müssen leicht einkorrigiert werden
können, flir besondere Bemerkungen mufs Raum sein.
— 86 —
Die Erfiümmgen bei den Umfragen för den Sprachatlas und bei den volks-
kondlichen Umfragen haben gelehrt, dafs nicht alle Antworten brauchbar sind.
Qeichgültig^eit, Oberflächlichkeit, ja Tücke der Antwortgeber mufs man in
Kiof nehmen. Erst jüngst entdeckte ich, dafs ein von einem Bautechniker
gelieferter schöner Plan eines , altbayerischen* Gehöftes eine getreue Kopie
eines westfiüisdien Hofes in dem Werke des Architektenveibandes sei. So
wird man aus einem Bericht keine Folgerungen ziehen dürfen, auch nicht
ans der Angabe, die und jene Form sei an dem oder jenem Orte verein-
samt anzutrefien.
Was die Art der statistischen Erhebung angeht, so stelle ich sie mir
wie fo^ vor. Der Fragebogen mit seinen bestimmten Fragen wird in Tau-
senden von Abzügen verbreitet; zunächst bei den sämtlichen Vereinen des
Verbandes, dann bei den aufserhalb des Verbandes stehenden Veremen mit
entsprechenden Interessen, vor allem aber bei Lehrern auf dem Lande.
Let^eres mttfiste von Emzdvereinen geschehen. Bayern und Sachsen wären
ohne weiteres versorgt. In den übrigen deutschen Ländern müfste erst ein
Zentialpunkt gesucht werden. Wir dürfen hoffen, dafs wir Unterstützung der
BdU^den finden, zunächst der Postverwaltung, die die rückkehrenden Frage-
bogen als Drucksache anerkennen dürfte, dann aber der Kultusministerien
vnd Kreisregierungen, die den Lehrern und Distrikstbehörden Beachtung
der Fragebogen empfehlen müfsten. Empfehlen, nicht befehlen, denn sonst
würde mit Unlust, auch wohl ungenau und flüchtig, gearbeitet werden. Die
Fragebogen müfsten an verschiedene Mittelpunkte befördert und dort verarbeitet
werdeiL Vielleicht ist auch für diese Verarbeitung auf die Unterstützung
der Bdiörden, landwirtschaftlicher Vereine und Schulen, zu hoffen. Da»
letzte Ergebius wäre dann, wie gesagt, eine Karte der Hof- und Hausformen
in grofsem Mafsstab.
Neben dem Fragebogen für die Statistik wird ein weiterer verbreitet
werden können. Der bayerische, einen halben Bogen füllend, ist in Bayern
in mehreren Tausendi^j von Abzügen verbreitet, aber nahezu vergriffen.
Eine neue Auflage könnte nicht schwer für ganz Deutschland brauchbar ge-
macht werden, wenn die niederdeutschen Vereine es wünschten. In seiner
jetagen Gestalt ist er zunächst für Bayern und die Nachbarschaft im Westen
und Norden geeignet Vielleicht wird mir von anderen deutschen Ländern
die nötige Ergänzung aus lokaler Sachkenntnis heraus vermittelt. Dieser
Fragebogen und seine Ergänzungen sollen die eigentliche Hausforschung
weiter fördern. Wie in Bayern, und schon lange vorher in Schleswig -Hol-
stem, werden es insbesondere die Baugewerkschulen mit ländlichen Besuchern
sein, die die Einzelforschung weiterführen. Doch können auch Laien, Lehrer,
Landwirtschaftsschüler und jeder Zeichner und Photograph fördernde Mit-
teSongen und Pläne liefern. Die geschichüiche Forschung wird selbst neue
Fragen stellen, vor aUem aber die Zusammengehörigkeit verschiedener For-
men feststellen und vielleicht zu den Urformen fortschreiten.
Eine besondere Au%abe bUdet die Erforschung der Technik (Dach-
stohl, Gewölbe, Fachwerk) und der künstlerischen Momente im Hausbau und
Hausrat Auch sie mündet inmier wieder in die allgemeine Forschung ein,
erfordert aber ihre eigene Vorbildung und Methode. Ihr dient in erster
lioie das groise Architektenwerk, sie wird mit dem sichersten Erfolg von
— 86 —
Vereinigungen wie dem Münchener Verein für Volkskunst in Angriff genom-
men werden.**
An letzter Stelle sprach Diplomarchitekt Kronfufs (Bamberg) über
Fränkische Volkstümlichkeit einst und jetzt und zeigte, aus-
gehend von den Bestrebungen, volkstümliche Kunst neu zu beleben, durch
Worte und Vorführung einer grofsen Anzahl von Lichtbildern, welche Bar-
barei über unsere Dörfer tatsächlich hereingebrochen ist, imd wie das alte
harmonische DorfbUd unter den Augen der Aufsichtsbehörden zerstört wird.
Der Kunstsinn des Volkes ist ein bedeutsamer Gegenstand der Volkskunde,
und sein Untergang stellt an sich ein wissenschaftliches Problem ersten
Ranges dar. Ob dieser Untergang verlangsamt oder gar aufgehalten werden
kann, ist eine politisch-soziale Frage, die gröfste Aufmerksamkeit verdient.
Im Anschlufs an diesen belehrenden Vortrag wurde folgender Beschlufs gefafst :
„Die V. Abteilung des Gesamtvereins, der Deutschen Ge-»
schichts- und Altertumsvereine bittet die hohen Staatsregie-
rungen zur Erhaltung der Eigenart und Schönheit unserer
deutschen Dörfer und ihrer volkstümlichen Bauweise tun-
lichst gesetzliche Bestimmungen bzw. Abänderungen solcher
erlassen zu wollen, wie sie beispielsweise im Grofsherzogtum
Hessen erlassen worden sind und mit Erfolg gehandhabt
werden.**
Um eine Tätigkeit der fünften Abteilung auch aufserhalb der Tagungen
zu ermöglichen, wurde ein ständiger Ausschufs eingesetzt, dem gegen-
wärtig Prof. Brenner (Würzburg), Freiherr v. Friesen (Dresden), Archiv-
direktor Wolfram (Metz), Prof. Pf äff (Freiburg i. Br.), Oberlehrer Wos-
sidlo (Waren, Mecklenburg) und Direktorialassistent Lau ff er (Frankfurt a. M.)
angehören.
Arehlre« — Der Unterzeichnete hat in den Jahren 1904/05 das
Ochsenfarter Stadtarchiv vollständig geordnet *). Die Stadt liefs mit
einem Kostenaufwande von über 2000 Mk. ein gröfseres Zinuner im Rat-
hause als Stadtarchiv einrichten und die vermodernden Handschriften durch
Buchbindermeister Vierheilig - Würzburg für rund 450 Mk. ausbessern. Das
Archiv zerfällt nunmehr in vier Abteilungen : i. Urkunden; 2. Rechnungen;
3. Handschriften; 4. Verschiedenes.
1) Schon vor mir hatte der 1895 gestorbene Magistratsrat Her big 140 Urkunden
von 1366 an aus den neueren Akten des Stadtmagistrates ausgeschieden und einigermafsen
geordnet in einer Kiste untergebracht. Im Sommer 1903 begannen die Herren Archiv-
sekretäre P. Glück und Dr. A. Mitterwieser-Würzburg die Verreichnung der Ochsen-
furter Archivbestände (ür die Ärehivaltsche Zeitsehrift. Hierbei begnügte sich Herr
Dr. Mitterwieser damit, zu den von Herbig gefundenen Urkunden Regesten anzufertigen.
Eine von mir unternommene gründliche Durchforschung des ganzen Rathauses för-
derte noch eine Menge von Urkunden und Archivalien von 1390 an zutage, die nur zum
geringsten Teil (74 Nummern) von Dr. Mitterwieser seiner Regestenübersicht nachträglich
einverleibt wurden (vgl. Das Stadtarchiv zu Ochsenfnrt von Glück und Dr. Mitterwieser
in der Ärehivalisehen Zeitschrift 1905, S. 9 ff.). Auch in der Rechnungs- und Hand-
Schriftenabteilung gab es für mich noch genug zu tun. Die älteren Rechnungen (in dem
bekannten Schmalfolioformat) habe ich mit Umschlägen und Aufschriften versehen ; viele
Handschriften mnfsten erst foliiert werden. Schliefslich war das Reparieren und Ein-
binden derselben zu überwachen.
I
— 87 —
1. In die Urkundenabteilung wurden auch die Briefe, Akten,
Privatrechnungen u. dgl. aufgenommen, da verhältnismäfsig wenig ältere Akten
Torhandea sind. Auch die älteren Briefe und Akten usw. (bis 1650) wurden
wegen ihres geschichtlichen Wertes nach Urkundenart mit Umschlägen und
Aufschriften versehen imd Regesten dazu angefertigt ^). Alle Dokumente
warden einfach chronologisch geordnet in verschliefsbaren Schränken
(ebenso die Rechnungen, Handschriften usw.) untergebracht. Die erste Ab-
teflang enthält aus der Zeit von 1366 — 1500: 90, 1501 — 1600: 192,
i6oi — 1700: 374, 1701 — 1800: 358 und 1801 — 1846: 135 Dokumente«
Besondere Erwähnung verdienen eine Urkunde von Papst Paul U. (1465),
Sixtus IV. (1478 Druck), Kaiser Friedrich HI. d. d. Graz 1470 4. Dezember
(notariell beglaubigte Abschrift von 147 1, 15. Februar), Würzburger Land-
tBgsakten von 1564 an, Hexenprozefsakten (1641/42), gegen 200 Doku-
mente zur Geschichte des Dreifsigjährigen Krieges, zum Teil mit wertvollen
.\ntographen (bei Glück-Mitterwieser a. a. O. nicht verzeichnet). Verschie-
dene Dokumente sind nicht nur für die Ochsenfurter Lokalgeschichte, son-
dern auch für die Geschichte des Hochstiftes Würzburg von grofsem Werte.
2. Rechnungen. Die älteren Rechnungen zerfallen nach dem Alter
geordnet in folgende Gruppen: Rechnungen der St. Sebastiansbruderschaft
(seit i486), Ungeld- (seit 1496), Brückenmeister- (seit 1498), Bürgermeister-
(seit 1511), Holzhändler- (seit 1524), Baumeister- (seit 1549), Almosen-
pfl^er- (seit 1581), Vormundschafts- (seit 1590), Hübner- (seit 1599),
Gotteshaus- (seit 161 1), Zunftrechnungen (seit 1684), Steuerregister von
1686 an. Einige ältere Steuerregister sind der Handschriften-, bzw. — weil
ungebunden — der Uiicundenabteilung einverleibt.
3. Handschriften besitzt das Stadtarchiv 218 von 1400 an, dar-
unter eine Pergamenthandschrift (XV./XVII. Jh.) mit Urkundenabschriften,
deren Originale bis 1260 zurückreichen. Die meisten Handschriften sind
bei Glück-Mitterwieser (a. a. O. S. 2 ff.) verzeichnet *). Nicht erwähnt sind
die Protokollbücher der Hübner von 1500 an und die Protokollbücher ver-
sdiiedener Zünfte von 1677 an; femer eine Papierhandschrift aus dem
XV. Jahrhundert (21 X 3* cm, 454 Bll.), die theologische Traktate de syni-
hoio, de deeaiogo, de poeniientia, sermones de sanctis (z. B. Nikolaus, Lucia,
Thomas), de fesHsDomini, de tempore (de adventu, de quadragesima, de pascha,
de peniecoste usw.) enthält Da ein Abschnitt mit den Worten begmnt:
TnuMus de arte atuUendi confessiones canceüarii Parisiensis (fol. 259»),
so dürften wir es im wesentlichen mit einer Gersonhandschrift zu tun haben.
Die Handschrift besafs seinerzeit Magister Bartholomäus Fuchs, der um 1483
Prediger in Ochsenfiirt war.
4. Verschiedenes. Die vierte Abteilung enthält verschiedene Blätter
meist litutgisch-theologischer Handschriften (mit Neumen) vom XI. Jahrhundert
an, femer Kalender, Zeitungen, Broschüren usw. In dieser Abteilung be-
i) Za diesem Verfahren vgl. jetzt Mnller, Feith und Fr 11 in, Anleitung xwn
Ordnen und Be$ehreiben von Archiven, dentsch von Dr. Hans Kaiser. Leipzig, Harrasso-
wite 1905, S. 105.
2) Da« Nichtfibereinstimroen der Handschriftennummem mit meiner Zählang erklärt
sich darau, dafs bei der Reparatur verschiedene Handschriften zusammengebunden
wTuden.
— 88 —
finden sich auch die Fragmente der Alezanderdichtung des Ulrich von
Eschenbach (vgl. Zeitschrift für deutsche Philologie 37 [1905]« S. 348 fif.).
FUr Besucher wurde eine ständige Ausstellung im Stadtarchiv» bestehend aus
44 Nummern, eingerichtet und zur guten Erhaltung desselben ein Archiv-
und Altertumsverein gegründet, dem bereits über 100 Mitglieder angehören.
Die Pfarrei besitzt drei Urkunden von 1387, ca. 1400 und 1609, ein
Seel- und Zinsbuch aus dem XV. Jahrhundert, die Matrikeln begiimen mit
dem Jahre 1565, die Akten mit 1596, werden aber erst von rund 1650
an häufiger.
Ochsenfiirt. Joseph Hefner.
Das Schicksal, welches gar viele Stadtarchive im XVIII. und bis zur Mitte
des XIX. Jahrhunderts gehabt haben, hat auch das städtische Archiv xa
Halberstadt geteilt. Werm man bedenkt, dafs diese Stadt zugleich mit
der Gründung des Bistums um 800 ihre Entwickdung begonnen und eine
wichtige Rolle bnerhalb der niedersächsischen Städte gerade als Bischofs-
sitz gespielt hat, so müiste man vermuten, dafs heute eme unendliche Fülle
von städtischen Uricunden vorhanden sei, deren Studium das Interesse
der Geschichtsforscher erregen und allen Geschichtsfreunden eine reiche
Ausbeute darbieten würde. Leider ist jedoch das Archiv der Stadt Halber-
stadt arg geplündert auf die Jetztzeit gekonunen. So manche Urkunde, die
eigentlich in das städtische Archiv gehört, befindet sich jetzt im Staatsarchiv
zu Magdeburg. Originalurkunden, welche sich im XVIII., ja sogar im XIX.
Jahrhundert als im Besitz der Stadt nachweisen lassen, sind heute nicht
mehr Eigentum der Stadt, sondern im Besitz des Germanischen National-
museums zu Nürnberg oder sind spurlos verschwunden. Ganz besonders
ist der Verlust der Kopial-, Ratsgedenk-, Rechnungsbücher usw. zu be-
klagen *). Zu den wenigen uns erhaltenen Schriftdenkmalen, welche aus der
mittelalterlichen Ratsregistratur von Halberstadt erhalten sind, gehören die
Statuten der Stadt (1370 — 1400), welche für ihr inneres I^ben viel&ch eine
willkommene Ergänztmg zu den Uricunden geben ').
Frühere Geschlechter haben in dieser Beziehung arg gefehlt und viel
versäumt; und so ist manches höchst wertvolle Mateiial unzweifelhaft fUr immer
verlorengegangen. Leider haben früher imsere städtischen Behörden der
Erhaltung und Verwahrung des in dem Besitz der Stadt befindlichen urkund-
lichen Materiab nicht die Sorgfalt zugewandt, welche man hätte erwarten
dürfen. Durch Nachlässigkeit ist auch ein kostbares Manuskript des Sachsen-
spiegels abhanden gekommen. Diese Handschrift gehörte nach dem Ur-
teU von Pertz zu den wertvollsten ihrer Art. Ihr Einband bestand aus
Holzdeckeln, die mit rotgefärbtem, ungemustertem Leder überzogen waren,
der Eck- und Mittelbeschlag aus dickem Messing- oder Bronzeblech mit Aus-
schnitten in Blattform. Der Text war auf 234 Folioblätter in Pergament in
zwei Kolumnen geschrieben. Am Schlufs des Textes nannte sich der Ab-
schreiber: per numus Johannis Bodenhorch Atmo D, 1393. Die Schrift war
1) G. Schmidt, Urkmndenbuek der Stadt Halberstadt, Bd. I, S. Vnf.
2) Ebd. I, 572.
— 89 —
aemlich eng» aber gro(s und breit, die Tinte gut schwarz ; die roten Initialen
mit sehr glänzendem Pigment waren durchweg einfach und ungeschickt gemalt ').
Diese wertvolle Handschrift war in den Jahren 1827/28 an den Apd-
Isdonsgerichtssekretär und Fiskal Nietzsche in Dresden zu einer kritisdien
Gesamtausgabe der deutschen Rechtsbücher des Mittelalters, und im Jahre
1843 ^i^ ^^^ Königlichen Geheimen Regierungsrat und Oberbibliothekar
Peitz in Berlin zur Würdigung des alten Sachsenrechts verliehen, desgleichen
in s{>äteren Jahren an Lehrer £lis und Dr. Schatz; 1846 wurde der
Kodei als noch vorhanden der Regierung zu Magdeburg und dem Kultus-
mintsterium zu Berlin gemeldet; Homeyer beschreibt ihn in den Detäachen
Jkckisbüchem des MiUelaUers (1856), 8. 104/105 unter Nr. 299; im Jahre
1S61 wurde er vermifst und trotz mannigfachster Versuche und Bekannt-
mschongen in Zeitungen tmd Zeitschriften nicht wieder au%eftmden.
Das Schicksal des Sachsenspiegels teilte auch ein altes Halberstädter
Stadtrecht aus dem XIV. Jahrhundert auf Pergament geschrieben, welches
bekanntlich eine ziemlich wörtliche Herübemahme des Goslarer Stadtrechts
darstellt *). Das früher im hiesigen r^äuslichen Archiv befindliche £xemplar
bestand aus 168 Blättern von Pergament imd 5 Blättern starken Papiers,
deren Seiten in zwei Kolunmen abgeteilt waren. Es war in ledernen Rücken
und hökeme Decken eingebunden, die mit Messing beschlagen und auf
jeder Decke mit ftlnf messingenen Buckeln versehen waren. Die Anfangs-
buchstaben eines jeden Gesetzes waren teils rot, teils grün, und bei dem
Än&ng eines Hauptkapitels mit einer die ganze Seite einschlieisenden Ver-
zierung versehen'). Niemann in seiner Beschreibung der Stadt Ealberstadt
(1824) S. 15 ftifart es als noch vorhanden an, während Göschen 1840
in den Ooslarischen Statuten, Einl. S. XI, berichtet, dafs nach der ihm von
Regierungsdirektor Delius in Wernigerode , Oberlandesgerichtsrat Hecht und
Kriminaldirektor Schlemm in Halberstadt gewordenen Auskunft das früher
auf dem Rathause befindliche Exemplar in der westMschen Zeit abhanden
und erst später, aber nur in einzelnen Blättern, wieder zutage gekoirunen
sei, von welchen Hecht 25 Blätter und Professor Wiggert in Magdeburg
ein^ Blätter besitzen soUen.
Veriorengegangen sind femer ahe Wachs tafeln ^) in Buchform, deren
man sich vom XII. bis XV. Jahrhundert gern bediente, wenn man etwas
schnell notieren wollte ; sie stammten wahrscheinlich aus dem XIV. Jahrhundert
tmd enthielten ein Verzeichnis einzelner in Halberstädter Gegend belegener
Adter nach ihrer Morgenzahl und ihrer durch Nennung der Nadibam be-
stimmten Lage. Im Jahre 1799 von Lucanus näher beschrieben^), waren
1) BetchrciboDg «u den Akten des Magistrats der Stadt Halberstadt, G. lY, rep. i,
■• C Yn, rep. 8.
2) Vgl. Göschen, Die Ooslarischen Statuten (1840), Eiol. S. XI. - Varges,
y«rfastungsgesehichte der Stallt Halberstadt im Mittelalter, Zeitschrift des Harxvereins
Ar Geschichte and Altertnmskonde 1896, Bd. XXIX, S. 107. 491.
3) Beschreibung von Locanus in den Halberstädter Neuen gemeinniäxigen Blättern
I79<i Bd. n, S. 379 ff., welcher verschiedene Gesetze als Proben anfUhrt.
4) Vgl. Aber diese Gattang mittelalterlicher Geschichtsquellen diese Zeitschrift,
s- Bd. (1901X S. 299—301. In der Liste der dort genannten Städte wäre also Halber-
stadt nachxatragen. Der Domschatz daselbst besitzt eine derartige Wachstafel. Die Redaktion.
5) Neue gemeinnütxige Blätter 1799, Bd. II, S. 250 ff.
— 90 —
sie nach Niemann im Jahre 1824 noch vorhanden, sind aber heute ver-
schwunden, ebenso wie ein Abiaisbrief des Papstes Johannes vom 10.
November 1334, aus Avignon datiert , der wegen seiner Malereien sehr
merkwürdig gewesen sein soll '). Die Randverzierungen bestanden in Bild-
nissen: Jesus in der Mitte zwischen Petrus und Paulus, am linken Rande
als Hauptfigur eine gekrönte Madonna in ganzer Gestalt -mit dem Jesus-
kinde , deren Gewänder sich durch lebhafte Farben und Faltenwurf aus-
zeichneten. Zur Rechten der Maria stand ein Mönch, in der Hand einen
Zettel mit den Worten: Mater Dei, memento mei! und zur Linken eine ge-
krönte Märtyrerin, ein Rad in der Rechten und eine Keule in der Linken,
die heilige Katharina. Unter den Heiligen erblickte man einen Bischof
— Martin — mit dem Hirtenstabe. Den rechten Rand des Blattes füllte
Johannes der Täufer mit dem Lamm. Die angehängten Siegel waren zum
Teil ungemein schön. Diese Urkunde lehrte, wie man sich damals des Ab-
lasses der auferlegten Büfsungen bedient hat, um Kirchenbesuch, Begleitung
der hl. Sakramente zu Kranken, Gebet beim Schall der Abendglocke, Bau
\md Verzierung der Kirchen, Gebet auf dem Gottesacker für die Verstor-
benen und überhaupt Begräbnis auf Gottesäckern zu befördern. Auch soll
diese Ablafserteilung nur unter der Bedingung gelten, dafs der Bischof der
Diözese seine Genehmigung hinzufüge, welche denn auch Bischof Albert I.
von Halberstadt eigenhändig hinzugeschrieben und den Erlais noch um einige
Tage vermehrt hat ').
Diese im vorstehenden näher beschriebenen kostbaren und höchst wert-
vollen Bestandteile des städtischen Archivs müssen leider als gänzlich ver-
loren bezeichnet werden; sie würden heute auf den Forscher sicherlich eine
grofse Anziehtmgskraft ausüben.
Trotz dieser höchst bedauerlichen Nachlässigkeit vergangener Geschlechter
hat sich das Stadtarchiv nicht etwa in gänzlich ungeordnetem Zustande be-
funden; denn auf den noch vorhandenen Urkunden sehen wir besondere
Signaturen von derselben Hand, wenn uns auch die Magistratsakten über
eine Ordnung der Archivalien im XVIU. Jahrhundert kerne Auskunft geben.
Die erste aktenmäfsige ') Nachricht über den Anfang einer Ordnung
des Archivs stammt aus dem Jahre 1822, in welchem Pastor Chr. Nie-
meyer aus Nord-Dedeleben eine Anzahl Urkunden zur Durchsicht erhielt
und ein Verzeichnis über 75 Urkunden anfertigte, von welchen etliche heute
nicht mehr vorhanden sind.
Im Jahre 1841 verlangte die Kgl. Regierung zu Magdeburg auf Ver-
anlassung des Oberpräsidenten zur genauen Kenntnisnahme, was an Archiv
Valien vorhanden sei, die auf die Geschichte tmd Verfassung Bezug haben,
ein genaues Verzeichnis der älteren wichtigen Urkunden imd Akten des
städtischen Archivs, nebst Angabe, ob Spezialgeschichten, Chroniken, Mono-
graphien gedruckt oder im Manuskript existierten, und Einreichung eines
Verzeichnisses an das Magdeburger Provinziälarchiv innerhalb sechs Monaten.
i) Nähere Bescbreibang bei Niemann, Die Stadt Halbersiadt (1824), S. 13 ff.,
nach Nicmcyer, Zeitung für die elegante Welt, 182 1, Nr. 220.
2) Vgl. Schmidt, Urkundenbuch der Stadt Halberstadt I, S. 337, Nr. 440
(Beschreibung der Urkunde durch den Kopisten).
3) Die nachfolgende Darstellung beruht auf dem Aktensttlck des Magistrats zu
Halberstadt C. VII, rep. 5, fol. 1 — 279.
— 91 —
Schon bevor diese AufTorderung erging, hatte der Oberlandesgerichtsrat Hecht
mit der Ordnung der Urkunden begonnen und nach beendigter Arbeit eine
Reinschrift des von ihm angelegten KLatalogs der sämtlichen Urkunden ver-
sprochen. Bevor er aber seine Zusage vollständig erfüllt hatte, starb Hecht;
in seinem Nachlafs fand sich jedoch ein von ihm angefertigtes Urkunden*
repertorium, wodurch der Magistrat instand gesetzt war, das von der Re-
gierang gewünschte Verzeichnis der Urkunden dem Provinzialarchiv zu Magde-
burg zu übersenden. Dieses Repertorium umfisifste folgende Abteilungen:
1. Kaiserliche Urkunden. U. Päpstliche Urkunden und Indulgenzbriefe.
Hl. Urkunden über Bündnisse. IV. Urkunden von Bischöfen und anderen
Personen der Stadt Halberstadt erteilt V. Urkunden über verschiedene
G^enstände. VI. Urkunden den Dreüsigjährigen Krieg betreffend; aufser-
dem Medizinalpolizeisachen , betreffend die Pest in Halberstcdt 1597 bis
1598 und Militaria, i. betr. Kaiserliche Armee vor Halberstadl 1631 bis
1683, und 2. Schwedische Kriegs -Ada bey währender Campierung der
Armee vor Halberstadt 1633 — 1644. Nach diesem von Hecht aufgestellten
Repertorium wurde ein alphabetisches Inhaltsverzeichnis angefertigt, welches
ftber nur die Abteilungen 1 — V lunfjafste, während das in der sog. Klausur
befindliche Repertorium noch folgende Abteilungen enthielt: VI. Grundstücke
der Stadt. VU. Kirchensachen. Vlll. Dreifsigjähriger Krieg. IX. Obligationen.
X. Altertümliche Schriften.
In dem folgenden Jahrzehnt begegnet uns eine neue Verfügung der
staadichen Aufsichtsbehörden betreffs der städtischen Archive. Ein Mini-
sterialerlais vom 17. Februar 1859 brachte die Zirkularerlasse vom 3. März.
1832 und 5. November 1854 in Erinnenmg, betreffend sichere Aufbewah-
niDg der Akten \md Urkunden, welche nicht nur für die Städte wichtig,,
sondern auch für den Geschichtsforscher von Interesse seien. Dieser Erlafs
war veranlafst durch die Beobachtung, dafs wertvolle Urkunden aus städti-
schen Archiven ins Ausland verkauft worden waren. Ferner bemerkt dieser
Erlais, dais die Benutzung der Archive durch Freunde und Förderer der
Geschichtskunde durch den imgeordneten Zustand der Urkimden erschwert
oder gar unmöglich gemacht sei. Der Minister veranlafste daher die Ober-
präsidenten, durch die Regtenmgen den unzulässigen Verkauf von Urkunden
zu verhindern, das Interesse der städtischen Behörden für ihre Archive an-
mr^en imd auf deren Ordnung hinzuwirken, wobei die Provinzialarchive
sicherlich gern zur Hilfe bereit sein würden. Der Oberpräsident forderte
infolgedessen Bericht über die Ausführung dieser ministeriellen Vorschriften,,
und die Regierung verlangte vom Magistrate ein vollständiges Verzeichnis
der Akten und Urkunden, sowie Bericht über folgende Fragen: i. Ob eia
T(^tändig und zweckmäfsig eingerichtetes Repertoritmi vorhanden sei. 2. In
welchem Lokale die fraglichen Akten und Urkunden aufbewahrt würden v
ob dieses Lokal dem Zwecke entspreche \md ob es insbesondere gegen
Feuersgefahr und Beraubung die nötige Sicherheit gewähre. 3. Ob und
welche Einrichtungen getroffen seien, um einerseits den leichten und ord-
nuogsmäisigen Gebrauch des städtischen Archivs sicherzustellen, andrerseits
der Verschleppung imd dem Verlust der darin verwahrten Akten und Ur-
^den vorzubeugen. 4. Ob in dem städtischen Archiv etwa besonders
wichtige Urkunden vorhanden seien, deren Aufbewahrung nach Mafsgabe des
— 92 —
Ministerialerlasses vom 3. März 1832 wegen Mangels der ad 3 gedaditen
£mrichtimgen im Regierangs- oder Provinzialarchiv gewünscht werde.
Auf Grund dieser Anfrage reichte der Magistrat der R^^ierung ein Ver-
zeichnis der geschichtlichen Urkunden (Abteilung I bis lU) ein und beridi-
tete: ein Repertorium sei vorhanden; die Urkunden würden im Deposital-
gewölbe neben der Stadthaupduisse aufbewahit; sie seien abteilungsweise m
Schubkästen eingeordnet und, weil mit Au&chriften versehen, bei einer Be-
nutzung leicht aufzufinden, auch vollkonmien sicher gegen Verschleppung und
Entwendung; es sei daher nicht wünschenswert, die Urkunden dem Re-
^rungs- oder Provinzialarchiv zur Auf bewahrung zu übergeben. Infolgedessen
blieb das Archiv in Halberstadt, wurde auch auf seinen Bestand hin geprüft,
und eine Neuordnung ward in Aussicht genommen.
Diese Neuordnung begann im Jahre 1870, und zwar durch den dama-
ligen technischen Hilfsarbeiter bei dem Konischen Hausarchiv in Berlin,
Dr. Könnecke (jetzigen Geh. Archivrat in Marburg). Nachdem derselbe
186 Uricunden bestimmt, numeriert und mit Umschlägen versehen hatte,
wurde die Weiterordnung im Jahre 1872 dem Köni^^chen Ardiivsekretär
Dr. Geisheim in Magdeburg übertragen, der sich zur Fortführung dieser
Arbeit bereit erklärte. Auf jedem eine Urkunde umschliefsenden Umschlag
wurde eine kurze Inhaltsangabe, Datum, Siegel und eine Bemerkung, ob
Original oder Abschrift, vermerkt. Geisheim ordnete etwa 300 Urkunden
zunächst chronologisch und lieferte später auch eine systematische Übersicht
nach Materien: i. Privilegien, 2. Lehnsbriefe, 3. Bündnisse, 4. Verwaltung
und Verfassung.
Inzwischen war ein Mann nach Halberstadt gekommen, welcher sowohl
die Fähigkeit als Willigkeit besafs, an Ort und Stelle die begonnene Neu-
ordnung des Stadtarchivs weiter- und zu Ende zu führen : Gymnasialdirektor
Gustav Schmidt, ein Geschiditsforscher, dem Halberstadt fiir die Be-
arbeitung seiner Geschichte unendlich viel verdankt Auf seine Anregung
wurde ein Archivschrank angefertigt, und die von ihm näher bestimmten Ur-
kunden wurden diesem einverleibt. Jede einzelne Urkunde wurde in einen
Bogen eingeschlagen, auf demselben der Inhalt und das Datum der Urkunde
bemerkt und jeder Umschlag signiert Die Ordnung war nicht chronologisch,
sondern sachlich um des praktischen Gebrauches der Stadt willen. Von
dem von Schmidt verfafsten Repertorium wurden zwei Abschriften angefertigt.
Dieses Repertorium gestattete leicht, die Urkunden, die etwa verlangt wurden,
au&ufinden.
Das in dieser Weise aufgestellte Repertorium entsprach vollständig einem
späteren Rimdschrdben der Königlichen Regierung vom Jahre 1876, und
cde Aufbewahrung in dem feuersicheren Räume der Staddiauptkasse machte
eine Abgabe des Stadtarchivs an das Staatsarchiv überflüssig.
Nach der von Direktor Schmidt beendigten Neuordnung tun&ät das
Stadtarchiv folgende AbteUungen:
A. Privilegien. B. Besitz der Stadt. C. Lehn und Passivlehn. D. Renten-
kauf. E. Geldsachen und Steuern. F. Müde Stiftungen. 0. Stift U. L. Frauen.
H. Stift St. Bonifacü. L Stift St Pauli. X. Kloster St. Johannis. L. Geist-
liche Sachen. H. Ho^ital St Spiritus. V. Barfüfserldoster. 0. Pauliner-
kloster. P. Burchardikk)stcr. Q. Kloster der Marienknechte. B. Hospital
— 93 —
Sc Elisabeth und St. Sabator. 8, Deutsch Ordeoahof. T. Verschiedeoe kkioe
Stifhingen. U. Auswärtige Klöster (Huyseburg, Marienbecky Michaelstean«
Drübek, Aderslebeo, Marienstuhl bei Egehi, Manenthal, Neuwerk in Goslar).
T. St. Martinikirche. W. Annenverwaltung (Siecbenbof). X. Stadtbuch imd
Statuten. T. Gildesachen. Z. Korrespondenz der Stadt. AA» Hansesachen.
BB. Bündnisse. CC. Kriegssachen. DD. Prozesse und Sühnungen. £E. Ammon-
dorfer Prozefs. PF. Varia. GO. Verpachtungen. HH. Lagerbuch, Register
und Rechnungen.
Diese Neuordntug des im Besitz der Stadt befindlichen Urkunden-
oEoteriab ermöglichte es fortan, dai^ die Urktmden auch auswärts benutzt
Verden konnten. Nicht nur Privatperson^ haben wiederholt imi Auskunft
über einzelne Familien zwecks Familienforschung gebeten, sondern es war
vor allem auch die in den siebziger Jahren an verschiedenen Orten in An-
griff genommene Herausgabe von UikuDdenbücheni , welcher diese systema-
tische Ordnung des Stadtarchivs zustatten kam; ich nenne hiervon beson«
ders die Herausgabe des Quedlinburger, Hansischen, Usenburger und nicht
zum wenigsten die des Halbeistädter Urkundenbuches, welches in keine
besseren Hände als in die des Direktors Schmidt hätte gelegt werden könncai.
Wenn auch für das zuletzt genannte besonders das Königliche Staatsarchiv
ni Magdeburg, das Germanische Nationalmuseum zu Nürnberg und die Ar-
chive benachbarter Städte viel urkundliches Material geliefert haben, so. kam
Schmidt doch in erster Linie zustatten, daüs er in dem hiesigen Stadtarchiv
einen Grundstock von ihm selbst geordneter Urkunden vorfand. Nicht nur
mit der Bearbeitung der Geschichte unserer Stadt, sondern auch besonders
mit der Ordnung des archivalischen Materials, das sich im Besitze Halber-
stadts befindet, wird der Name des nur allzufrüh verstorbenen Halberstädter
Geschichtsforschers Gustav Schmidt für alle Zeiten verbunden bleiben.
Der Bestand der Urkunden, wie er durch diese gründliche Neuordnung
sich ergeben hatte — etwas über 600 Nummern — , ist in den darauffol-
genden Jahren nur unwesentiich vermehrt worden; einige wenige Urkunden
sind von Antiquaren käuflich erworben, andere von Archivsekretär Dr. Ehlers
in Wolfenbüttel geschenkt worden.
In den letzten Jahren aber stellte sich die Notwendigkeit heraus, deii
Bestand des Archivs zu erweitern und zu vergröfsem, und zwar durch die
Überwreisung von geschichtlich wertvollen Akten aus den reponierten Beständen
an das Archiv. Hierfür war aber die erste Vorbedingung, dafs geeignete
Räume zur Verfügung gestellt wurden. Die Gelegenheit hierzu bot sich, als
nach dem Ausbau des früheren Dompropsteigebäudes für städtische Zwecke
das Standesamt aus dem Liebfrauenstift in die Dompropstei verlegt wurde.
Dadurch wurden die feuersicheren Räume frei und sofort zur Aufnahme des
Archivs bestimmt. So siedelte im Frühjahr 1903 der Archivschrank, aus
welchem bisher das ganze Stadtarchiv bestanden hatte, nach seiner neuen
StäUe über, in welcher zwei Räume zur Aufnahme der Urkunden und Akten
vorhanden waren ; das eine heizbare Zimmer — das frühere Eheschliefsungs-
zunmer des Standesbeamten — dient zugleich als Arbeitszimmer für den Stadt-
archivar. Der Unterzeichnete, welcher seit einigen Jahren die Geschäfte eines
städtischen Archivars gern übernommen hatte, besorgte die Verpackung der
Urkunden und ordnete sie, nachdem die Umschläge von dem schwarzen.
— 94 —
fettigen Staube gründlich gereinigt waren, wieder in den Schrank ein. Bei
dieser Übersiedelung üaxd sich in einem Schranke der Stadthauptkasse,
in welchem sonst Formulare aufbewahrt werden, eine gröfsere Menge bisher
ungeordneter Urkunden, welche inhaltlich bestimmt tmd unter die vorhan-
denen Rubriken eingeordnet wurden. Besondere Vermehrung erfuhren hier-
durch die Rubriken : Rentenkäufe, Geldsachen nnd Steuern, geisdiche Sachen,
Auswärtige Klöster, Stadtbuch und Statuten^), Hansesachen, Bündnisse,
Kriegssachen, Prozesse imd Sühnungen. Die Nummern der Urkunden stiegen
hierdurch von 630 auf 770.
Aufserdem wurden dem Archiv überwiesen 72t Aktenstücke (in 78 Ab-
teilungen) aus dem reponierten Aktenbestand der Magistratsregistratur, 189
Aktenstücke aus der Armenregistratur, 237 Bände Register und Rechnungen
der Kämmereikasse von 1655 — 1860, 182 Bände Rechnimgen des Siechen-
hofshospitals von 1742 — 1867, 114 Bände Rechnungen des Salvatorhospi-
tals von 1731 — 1868, 102 Bände Rechnungen des Georgenhospitals von
1741 — 1868, 125 Bände Rechnungen des Heiligengeisthospitals von 17 13
bis 1872, 9 Bände Rechnungen der vereinigten Hospitäler von 187 1 — 1880,
148 Bände Rechnungen der Armenkasse von 1744 — 1880.
Femer überliefs Landrat v. Davier auf Seggerde bei dem Verkauf der
V. Spiegeischen Kurie an die Stadt (zur Einrichtung eines städtischen Mu-
seums) dem Archiv diejenigen Akten, welche sich auf die Kurie, Spiegels-
berge (Rittergut imd Anlagen) und Reitbahn bezogen: 116 Aktenstücke,
welche in einem besonderen Schranke vereinigt sind.
Endlich hatte Buchdruckereibesitzer Julius Meyer die Freundlichkeit, der
Stadt eine grofse Anzahl Akten nebst einigen Urkunden geschenkweise zu
überlassen, welche aus dem Nachlasse eines hiesigen Justizrates stammten
und sich auf Halberstadt tmd Umgegend beziehen ').
Eine gröfisere Anzahl Schriftstücke, namentlich Quittungen u. a., sind
nach bürgerlichen Familien Halberstadts, nach adeligen Familien, sowie nach
Ortschaften aufserhalb Halberstadts alphabetisch geordnet worden. Der Ge-
samtbestand der im städtischen Archiv beündlichen Urkunden und Akten-
stücke ist nach dieser Neuordnung des Jahres 1903 von 630 auf 2979
Nummern gestiegen. In den letzten beiden Jahren sind aufserdem noch
einzelne Urkunden und Schriftstücke käuflich erworben, Aktenstücke aus den
Registraturen nachgeliefert worden; auch werden die geschichtlich wertvollen
Akten der Polizeiregistratur im nächsten Frühjahr dem Archiv überwiesen
werden und ohne Zweifel eine Vermehrung von 150 bis 200 Nummern
herbeiftihren.
So hat in den letzten Jahren das Stadtarchiv zu Halberstadt eine £r-
weitening und Ausgestaltung erfahren, wie sie die Würde und Bedeutung,
und nicht zum wenigsten die geschichtliche Bedeutung der alten Bischofs-
stadt erfordert, und wie sie der wachsenden Gröfse der Stadt als angemessen
bezeichnet werden mufs. Pastor Arndt, Stadtarchivar.
i) Besonders erwähnenswert ist das Protokollbach des Rates, das mit [444
anßingt.
a) Besonders wertvoll sind die Lehnbücher der Familie v. Kropff in Groningen.
Herausgeber Dr. Armin TtUe in Leipsig.
Dittck und Verlag von Friedrich Andreas Pertbee, AkdengetelUchaft, Gotha.
Deutsche Qeschichtsblätter
Monatsscairift
sur
Fordenmg der landesgesdncfatUcben Ferschttng
r
Vn. Band Jaxraar 1906 ' 4. Heft
Aus Nürnberger Briefbüehern ^)
Von
Al£red Köberlin (f)
Es ist bekanot, dafs die Husitische Bewegung schon früli^
zdtig nach Franken übetgrifT tmd dort Aidtänger fand ^). Eines deic
eisten Anzeichen dafür ist wc^I die Taitsacbe, die am 9. Mai 1421 der
Kat von Nümbe^ dem Bischof Albrecht von Bamberg meldet, da& ein
böhmischer Priester zu Gräfenberg gewesen uxid sich 4a in semm
Worten beweist %tnd gehalten het, dairumb man etwas arkwons eriskm
gkuben amireffend su im het. Derselbe Priester sei dann nach I^ürpr
bog gdcommen, habe sich da niehi prieskrlieh nach wel ffehaiten und
wü deswegen gefangengesetzt worden. Zur Aburteilung überUeisen
ihn die Nürnberger dem geistlichen Gericht des Bischofs. Im nän»?
Ecken Jahr (142 1) bittet der Rat von Nürnberg den Bischof Friedrich
im Namen des Katharinenklosters und der Pfründner an der Kapelle
Uaser Franen um Erlafs einer auferlegten Steuer: ihre Untertanen
1) Aot dem Kacblaase des 1902 verstorbeoc» nßd a<id!i in dieser 2dtsclrHl
(^ Bd^ 8. S45 — 346) gewtlrdiKten fHbüdschea GesoUditsfoiickeri Köborlin werden
hm emife Mitieflaxista veröffeatlicht, die du Aogetamerk der For»i3her noch atfkr id|
WffccT «if eine fiberaiu wicbüge GeschichUqneUe lenken soUen, nämlicli die sogenannten
Hfirnberger Briefbflcher. Sie liegen gegenwärtig im Kgl. Kreisarchi? zu Nfirn-
berg (nicht im Stadtarchiv) und beginnen mit dem Jahre 1404; den Inhalt bilden die Kon-
seilte aller Briefe, die der Rat nach answttrtv gesdiickt hat nnd deren Paswng
h dn meisten FStoa den Inhalt der ton answiita eingugnoiKetten ^hrtiben aiifUfU
kftl, wenn Mch letztere sdbst nmr in kleinen, hebte im Ktmberger Stadtarchiv tiewahrte^
Keslai erhaUeo siad^ Gerade jetzt, da die nengegrttndete Gesells-chnft fttr frftnT
hiiche Geachichte (vgl. 6. Bd., S. 381—286) ihre Tätigkeit beginnt,, werden die ge-
Maaten Briefbttcher oft nnd stark benatzt werden, and es würde za erwägen sein,ob nicht
ihre systematische Bearbeitang in Regestenform recht nützlich werden
UmiUl Dee Un*cnakhnete hak sdbat «fieae QMUe wenigstens fttr das XV. «nd einen
Tefl des XVL JahrfaanderU Blatt ftr Blatt daad^^Mehen oad 4ttr aeittea Zwedi *- KOnberg»
fcilil MKrh KorS- nnd OMdenbsiaUaBd -^ MclKt wettvoUea MaTarial gateiden. Tille.
8) Rösel, Unter dem IGnmmekib ^mAtt§ la^lX S- 5^ --^ Palaekf hat in
IMcmHitken BdMigtn wmr Qeaekiekie 4» SkmaHerJariegts wem lehrt 1419
(Piag 1873—74, 3 Bde.) die Nttmbeiger BrieMcher beaiitt erfolgrekk Msgebeiteft*
7
— 96 —
•
seien durch deu Krieg hart g^chädigt worden^ namentlich seien ihnen
aus Böhmen seit Jahren keine Abgaben zugeg^gen. Eine ähnliche
Bitte wiederholt sich in einem Schreiben vom 23. März 1430, gerichtet
an den Dompropst, den Dechanten und das Domkapitel zu Bamberg :
der Rat verwendet sich dafür, dafe die Nürnberger Klöster in der
Stadt und zu Gründlach von der Steuer verschont bleiben sollten,
die zur Aufbringung der Husitenbrandschatzung im Stift Bamberg
damals erhoben wurde '). Welche Not es dem Stift machte, die Steuer
aufzubringen, ergibt sich aus einem weiteren Schreiben des Nürnberger
Rats an den zu Bamberg vom 5. Juli 1430 ; nach diesem Brief war
damals die Summe noch nicht bezahlt. Deshalb lieds Markgraf Friedrich
von Brandenburg durch seine Räte mahnen und bediente sich dazu
wieder der Vermittlung Nürnbergs. Wenn die Zablui^ nicht erfolge,
iso sei fsu lesorgen und das haben wir stist auch manigfaÜidich ver-
sfftnden, daz grosse reicmng und hewegung und dUen disen landen und
teuien grosser schad und unfug davon entsteen und hörnen mag.
Mit den Husiteneinfällen hing der Streit zusammen, der im Jahre
1431 zwischen der Bürgerschaft und dem Domkapitel zu Bamberg cnt*
branntcf, der Immunitätenstreit*). Die Bürger der Stadt, die unter
dem Stadtgericht standen, verlangten in den husitischen Kriegsläuften
die Befestigung der Stadt und forderten, dafs zu diesem Zweck auch
die, welche sich im Umkreis der Burg und der Klosterimmunitäten
niedergelassen hatten, zur Besteuerung herangezogen würden. Eine
kaiserliche Entscheidung vom 23. April 143 r gestand die Besteuerung
der Immunitätenbewohner zu, aber das Domkapitel erhob Einspruch
ds^egen und führte einen seiner Auffassung günstigen Spruch dea
Baseler Konzils herbei. Auch Bischof Anton von Rotenhan, der
I431 zur Regierung kam, teilte und verfocht die Ansicht seiner Dom-
herren. Im Verlauf des Streites kam es sogar zu Gewalttätigkeiten;
das Kloster auf dem Michelsberg wurde von den Bürgern zweimal
gestürmt (5. April 1433 und 25. Juni 1435) und der Bischof geriet
dabei sogar einmal (1435) in Lebensgefahr. Die unmittelbar darauf
folgenden Ereignisse behandelt ein Schreiben des Nürnberger Rats
an den zu Ulm vom 16. Juli 1435 •): Als ir uns verschriben und
1) Nacb LooshorD, OesehiMe dea Bistums Bamberg (Bamberg bSS6) 4« Bd.,.
S« SI6 Terpfliohtete sieh dat Stift ssr Zahlung ron 1200a fl;
2) VgU Stein, &e9ehichU Ikrankene (Schwetnfnrt 18S5) i. Bd., S. 4iof. nnd
Looshorn, a. a. O. S. 232 ff., auch R^&sel, a. a. O. S. I3ff.
3) Ähnlichen Inhalts ist ein Schreiben an die Stadt Heidingsfeld (8. Juli 143$)
a!nd ein weiteres an Aagsbarg (9. Joli I43S)*
— 97 —
gebeUm habt, eur w^ßheit von dem handd und ergangmen dingen
iwisdien unserm kerren, dem hischof eu Bamberg auf ein und der
siat ßu Bamberg auf ander seU zu schreiben, das haben wir wol ver-
nemen und tun eur fürsicktigheU gu wissen, daß der vorgen. unser
herre der hischof und sein capittetkerren ein sammung, leger und
iere für die egen. etat Bamberg gemacht hetten und also eUick tag
ver in gelegen sein und waren. In »u dienst kamen unser kerre
der hisckaf von Wirczburg und etUck grafen von Hennenberg und von
Swarofburg und vil namhafter ritter und kneekt von allerlei gegend,
also das man meint, das sie bei 4000 greisiger pferd und etwievü mer
fussvdleks davor ketten. Nu ist unser gnediger kerre der marggraf
von Brandenburg in sein selbs person und auck unser ratAotsckaft
iaswiscken geritten, und als wir vemomen kaben, so sein söüick spenne
twiseken den cbgenanten partein abgetragen und berichtet auf ein amßtrag
für unsere gnedigen kerren, den marggrafen vorgenant und kersog
Johann von Beyern, soBicher außtrag auck kieswiscken sunnwenden nu
ackierist künflig su ende kamen sal, darauf sick aud^ da das dbgen.
here gancM trennet. Freilich wurden in Wirklichkeit damals die Späne
noch nicht abgetragen, sondern der Streit zog sich trot^ verschiedener
Sühneversuche noch bis zum Jahre 1459 hin, wo der Bischof zur
TDgung der stiftischen Schuldenlast eine allgemeine Besteuerung anir
ordnete und von dieser auch die Immunitätenbewohner nicht ausnahm.
Damit war anerkannt, dafe alle Bürger gleichmäfsig zu den öffentlichen
Lasten herangezogen werden mülsten, und „da sich die Schuldentilgun;g
durch lange Jahre fortzog'', so verschwanden allmählich die angeblichen
Privilegien der Immunitätenbewohner.
Es fragt sich angesichts dieser Dinge : was für ein Interesse hatte
Nürnberg an der Beilegung dieses Immunitätenstreites, um die es
sich laut mehrerer Briefe (v. 22. Okt. 143 1, 3. Febr., 12. Juni und
26. Juni 1435) bemühte? Wohl nicht zuletzt war die Rücksicht auf
diejenigen Nürnberger massgebend , die Leibrenten von der Stadt
Bambexg zu beziehen hatten, bei der schlechten Finanzlage des Ge*
meinwesens aber vergeblich auf Befriedigung ihrer Ansprüche warteten :
om dieser Geschädigten willen mahnte der Nürnberger Rat immer
wieder zum Frieden. Freilich völlig neutral scheint sich Nürnberg
nicht gehalten zu haben, denn in einem Briefe vom. 7. Jannar
1435 verspricht der Rat, er wolle seine Bürger veranlassen, dafa
sie den Herren des Domkapitels keinen neuen Kredit gewährten,
erklärt aber, die bisher bestehenden derartigen finanziellen Bezie-
hungen nicht aufgeben zu woUen: Als vr meldt, das wir mit den
L
— 08 —
un$em hesMIm weUen, sieh der obgen. Herren vom capittd güier^
retU&n und habe nichi mu untermnden, weUen wir gern unsem fleiß
darcMU hm, dag das die unsem hinßr nichi tun, hesunder dieu^U söüiehe
qMMfte 0u?ischen den herren vom eapütel und cur eie. nitht geeinet sein.
Was aber die unsere säUicher guter, rcnten und hob, vor eu in hradd,
wmen hetten und in verschriben weren, meinen und getrauen wir, eur
Weisheit lasse die unsem daran ungehindert und unbekümert. Was die
Parteinahme einzelner Nümbeig'er Bürger für diese für Folgen hatte,
lä&t ein weiterer Brief von 1436 , Juni 28 , erkennen. Uns hai für-
Iraht Hans Buprechi steinmete unser biirger, wie er verd ') in der
widerwertikeit gwischen unserth herren van BanAerg und eur etc. euch
mit andern eu hilf und im dienste euhamen sei und was sieh eu den-
SiSben eeHen und in söUieher widerwertikeit ergangen habe, das sei doch
eittes beriMet worden. Dourüber habe herr Heh. Müntemeister, chorherre
m sand Stephan bei euch, in von derselben ergangen dinge wegen mit
geisdiehem gerichie fS^rgenomen und meine in da nnt umbczutreiben und
#w beswären. Bitten wir eur weißheit mit fleiß demselben dem unsem, der
denn in ewr dienst also gewesen ist, umb unsem willen eur furdrung,
rat und hüf in den dingen günstidichen miteuieilen und eu tun, damit
er sSlUeher riehtigung- emch gemessen müg und der obgen. herr Heinrich
in mit geisÜ. geriehien und sust unbekümert darüber lasse.
Etwa zehn Jahre, nachdem der Immunitätenstreit zur Ruhe ge-
kommen war, rief die Eifersudit der Fürsten auf die wachsende Macht der
SUkite in Franken neue blutige Fehden hervor. Albrecht Achilles
beschwerte sich über Eingriffe der Nümbei^er in seine Hoheitsrechte
und forderte die Auslieferung des reichsfreien Ritters Konrad von
Haideck, der in Nürnberg Zuflucht gefunden hatte. Da die Reichs-
stadt auf diese Vorstellungen des Markgrafen nicht einging, kündigte
dieser dem Rat den Frieden auf (2. Juli 1449). Zu den zahlreichen
fiifstücfaen Bundesgenossen des Brandenburgers zählte Bischof Anton
von Bambeig-. Aus zwei Briefen des Nürnberger Rats an den Rat der
Sladt Bamberg und an den Bischof Anton selbst *) geht hervor, dais
der Bisdiof den Nümbergem einen veindtsbrief zugesandt hat , bevor
noch Markgraf Albrecht diesen offene Fehde angesagt hatte. In zwei
weiteren Briefen an den Dompropst Georg von Schaumberg und das
Domkapitel vom 5. Juli 1449 erklärt der Nürnberger Rat, dals er
Bach dem feindlichen Vorgehen des Bischöfe Anton audi dessen Dom-
herreii fUr Feinde erachte, demgemäfe auch das in Nürnberg lagernde
i) verd »voriges. Jfthr. Vgl SchmeUer» Btj. W. B. L Bd., Manchen L872, Sp. 761.
^ Dieser letztere Brief ist dktüert v. 30. Juni 1449.
— 99 —
Getreide des Domkapitels nicht schonen werde, und kündigt dem
Kapitel Eid- und Lebenßpflicht auf. Er beruil sich insonderheit iu
einem Brief vom 12. Juli 1449 darauf, dafs ohne Einwilligung des
Domkapitals der Bischof da$ Bündnis nicht hätte schlie&en dürfen.
Bambergische Reiter wurden denn auch in der Schlacht von PUlenreut
tai II. März 1450 gefangen genommen, andrerseits geriet eine Nürn-
berger Bürgerin Anna, Peter Zeisners sei. Witib, als sie etliche ire
pfennweri in pfingstfeitictgen gen Bamberg praeht hU in meintmg, die
iari gu verkaufen, in den Verdacht, eine Spionin zu sein; sie wurde
angefallen und gefangengesetzt, der Rat von Nürnberg aber verwandte
sich angelegentlich für ihre Freilassung. Um die nämliche Zeit (Sommer
1450) kam eine EinigTing zustande, zuerst mit dem Markgrafen, später
woW auch mit dem Bistum. Zwar weigerte sich noch am 17. August
der Dompropst Georg von Schaumberg, die Nürnberger aufs neue
mit den domkapitelschen Lehen zu belehnen, obwohl sich zwei Tage
voiher der Rat bereit erklärt hatte, die Feindseligkeiten gegen die
domkapitelschen Untertanen einzustellen und beschlagnahmte Güter
freizugeben. Doch scheint ein an den Bischof selbst gestelltes Er-
sudien (28. August 1450), den Nürnbergem ihre Lelien wieder zu
'Sbertragen, in Bälde Erfolg gehabt zu haben.
Auf die Finanzverhältnisse des Bischofs Anton fallt schlielislich noch
cm schlimmes Licht durdh einen Brief vom 7. Sept. 1450. Bertold
Tucher hatte vom Bischof ein mercMich sunt verschribens und verfallene
leipiings zu fordern und rief zur erfolgung seiner gerechti^U die
IHfe des Papstes an. Der vom päpstlichen Stuhl zum Kommissar
ernannte Abt Jakob von Castell sandte dem Bischof seinen Prozefs
zu und setzte ihm einen Zahlungstermin. Des Juth nu cur gnade solidh
proceß verachtet, die auch Marx von Botenhan eu seinen Händen ge^
namen und jsu der erden geworffen, auch den notarium Stepphan Nord--
hnger, unsem hürger, vahen und eu ungepwrlichen geläbden und eiden
dringen lassen Itah. Verstet eur hochw. wol, was Jobs, ssierlicheit und
wirden dem genemten unserm heü, vater dem bapst und dem römischen
Ski damit erzeugt isit; darumb wir eur gnaden mit dinsÜichem vleiss
hUten, diesdb eur gnad geruch den gen. notar salutier seiner geliJbde
md eide güMich ledig zu sagen, gelegenheit der Sachen darinne angesehen.
Wieweit der Btsdiof dieser Bitte nachgekommen ist, läfist sich
aus den Briefbüchem nicht ersehen. Aber die Klagen über seine
Saumseligkeit im Zahlen auch anderen Nürnberger Gläubigern gegen-
über verstummen bis zu seinem Tode nicht
— 100 —
Heues aU9 dem Gebiete der Denkmalpflege
Von
Max Wingenroth (Karlsruhe)
Der sechste Denkmalpfiegetag ^), der im September 1905 in Bam-
berg* stattfand, hatte die Erhaltung* des Heidelberger Schlosses
auf seine Tagesordnung gesetzt, jenes gefahrliche Thema, das zu be-
rühren man bei früheren Tagen geschickt vermieden hatte. Zweifel-
los konzentrierte sich darauf das Hauptinteresse, zweifellos hat man
in ganz Deutschland mit lebhafter Erwartung diesen Erörterungen ent-
gegengesehen, und so dürfte es wohl richtig sein, diesen Punkt gleich
an die Spitze zu stellen, wobei indes auf die unendlich verwickelte
Frage nicht tiefer eingegangen werden soll. Es sei nur kurz die Lage
vor der Bamberger Versammlung bezeichnet Zwei Parteien standen
sich schroff gegenüber: die eine wünschte die Erhaltung des Ott-
JEieinrichsbaues bzw. seiner Ruine unberührt in ihrem heutigen Zustande,
•selbst auf die Gefahr hin, dafis er in einigen Jahrzehnten allmählich
zusammenfalle ; es erschien das noch immer besser, als die Fälschung
*des geschichtlich gewordenen Bildes durch eine Erneuerung irgend-
welcher Art Auf der anderen Seite hielt man den Zusammenbruch
für in allernächster Zeit bevorstehend, ja, man verwunderte sich eigent-
lich, dafs die Mauern bisher noch nicht zusammengebrochen seien;
nur ein Ausbau könne hier helfen, der geniale Meister dafür aber
sei in Oberbaurat Schäfer vorhanden. Dessen erstes Projekt war
allerdings dtirch den Fund des Wetzlarer Skizzenbuches widerlegt
worden, das zweite daraufhin angefertigte aber bedeute die unüber-
trefTliche künstlerische Lösung der Frage. Zwischen diesen beiden
extremen Parteien standen kleinere Gruppen. Die Techniker stritten
sich über die Standfestigkeit der Mauern herum. Oberbaurat Egger t-
Berlin hatte ein Projekt ausgearbeitet, wonach ohne Zerstörung des
äufseren Anblickes durch Versteifungen im Inneren die Ruine auf un-
bestimmt lange Zeit zu erhalten sei. Auf den zuerst angedeuteten
Standpunkt konnte die verantwortungsvolle badische Regierung sich
begreiflicherweise nicht ohne weiteres stellen, leider aber schien es,
als hätte sie schon zu sehr für den vollständigen Ausbau Partei ge-
i) Sechster Tag für Denkmaipflege unter dem Protektorate Sr. Eöwigl Eokeä
des Prinxen Buppreckt von Bayern, Bamberg, 22. und 23. September 1905. Steno-
graphischer Bericht. Za beziehen durch den Verlag der Zeitschrift Die Denkmalpflege^
Wilhelm Ernst & Sohn, Berlin W. 66.
— 101 —
Bommen. Das schien insbesondere ans einigten Notizen d^ offiziellem
KaHsruker Zeikmg hervorzugehen, in denen das Eggertsche Projekt
noch vor der Prüfung durch eine Sachverständigenkommission gleich«
sam als völlig indiskutabel abgelehnt wurde. Im Publikum glaubte
man dahinter die Parteinahme höherer Kreise zu vermuten, ja man
suchte die treibende Kraft mit Recht oder Unrecht sogar an einer
gewissen Stelle auüserhalb des badischen Landes.
Die Verhandlungen in Bamberg ^) brachten nun zunächst ein
überraschendes Resultat: sie wurden sachlich und ruhig zu Ende ge-
führt, während man nach dem durch die Presse in dieser Frage oft
angeschlagenen Ton und nach den bedauerlichen Vorgängen in Er-
fort *) so ziemlich auf das Auiserste gefaist sein mufste. Eine weitere
Übenaschung war die — und es verdient das festgehalten zu werden — ^
dafa kein einziger der anwesenden Architekten sich voll
und ganz für das Schäfersche Projekt erklärte, so sehr sie
auch ihrer Ehrerbietung vor dem bedeutenden Meister Ausdruck ver-
liehen. Nachdem A. v. Oechelhäuser in glänzender Rede vom
Standpunkte des Historikers aus für die Erhaltung der gegenwärtigen
Rabe eingetreten war und auf die unabsehbaren Folgen, die ein Ausbau
für das ganze Schlois haben müfste, hingewiesen hatte, verteidigte der
berühmte Restaurator des Wormser Domes, Hoff mann (Darmstadt), als
Kotreferent die Schönheit der Schäferschen Entwürfe, unterdrückte aber
iowohl ihnen als auch dem bereits erneuerten Friedrichsbau gegenüber
einige Bedenken nicht und schlug schliefslich die Errichtung
eines einfachen schützenden Satteldaches mit beschei-
denem Ausbau des einzigen unteren Stockwerkes zu Ge-
brauchszwecken vor. Fast alle nachfolgenden Architekten sprachen
8ich dann für die letztere Lösung aus. Alle aber lehnten das
Eggertsche Projekt, dessen Urheber selbst zweimal verteidigend
das Wort ergriff, mit schwerwiegenden Gründen ab. Die schädlichen
Einflüsse der Witterung, insbesondere des Durchfrierens, seien nur durch
Bedachung und eine mäfsige, innere Heizung abzuwenden, sonst werde
die Zerstörung der Sandsteinoberääche immer weiter fortschreiten, und es
gelte doch hier nicht etwa nur die rohe Mauer zu erhalten. Der gewissen-
hafte Berichterstatter wird, wie auch sein Standpunkt sein mag, diese fast
]) Im Sonderabdmck erschienen : Über die BrhaUmig des Hdddberger Scklosm.
Vcrkndhagen «nf dem sechsten Tag Ittr Denkmelpiege in Bamberg am 33. September
190s. Ebenda.
3) Vgl. diese ZeiUchrift 5. Bd., S. 57 (Debatte ttber Wiederherstellnng des
Domes).
— 102 —
¥M aUea iBuetwoeeiiden Xecliwkem wsgesprocbeae MeiBung als höchst
üieacbteasw^Jt bezeicteen müssw. Nicht miader beachtenirarert 9b$x
i^t, daÜ9 keiaer an eine dugeablickliche Eiasturzgefahi:
glaubt^, daff somit dki Zeit 6k eioe genügende Pxüfui^ noch inaoier
vofhaodeA ist Dais eioe splc^ not tut, danuif wies die nicht g^
migend benicksichl%te Mitteüm^ des Dr. Alt hin, der die erstea
Bogen einer Arbeit von Hans Rott (Heidelbeig) voxlegtß ^) ; letzterer
hat eifie Reibe von Archiven durchforscht und schon jetzt bedeutende
Au&chlUsae beigebracht Rott weist auf die Notwendigkeit exakter
Archivarbeit hint auf dem W^e methodischen Suchens in den
deutochen — idi füge hin^ : auch auswärtigen — Archiven werde man
fbdch zu ganz erkle<;ddichen Resultaten gelängen '), Dazu müiste aber
^neifles Erachtens die systenaiatische Durchsuchung der in unseren
Bibliotheken vorhandenen architektonischen Skizzenbücher
treten, die ganz unmöglich durch eine Anfrage bei den einzelnen
Bibliotheken erledigt werden kann. Junge, mit dem Heidelbergs
Schlosse vollständig vertraute Gelehrte, seie^ es architektonisch ge-
bildete Kunsthistoriker oder historisch geschulte Architekten, müfistea
beauftragt werden, das gesamte noch ungesichtete Material an Skizzen-
büchern aus den Jahren etwa 1560 bis 1620 durchzuarbeiten. Die
10- oder 20000 Mark, die das kosten mag, können bei der Kost-
spieligkeit der ganzen Erhaltung gar nicht in Betracht kommen. Die
CKakte, historische Forschung über die Geschichte des
Ott*Heinrichbaue$ und seine ehemalige Gestalt hat erst
begonnen. Sollte doch einmal an einen mehr oder minder weit-
.gd^enden Ausbau gegangen werden, so wird man das mit gutem
Gewissen erst tun können, wenn in der Durchforschung der Archive
und Bibliotheken das Unerläfsjliohe geschehen ist.
Wie berechtigt diese Forderung ist, beweist gerade der Fund des
Wetelarer Skiszenbucbes. Haupt (Hannover) hat seine Auiserung,
-es handle sich um eine Fälschung, dahin erklärt, er halte die Zeichr
nuog für eine apokryrphe^ d. h» für eine nicht an Ort und Stelle ge-
mtcfate, der keine Beweiskraft innewohnet man wird ihm darin za-
stimmen müssen» Er bat dann des weiteren ausgeführt, dais im Falle
i) Unterdes erschienen in den Mitteilungen xur Oeaehiehie dee Hfidelherger .
S§kh$m. H^iMgH^^m vom HeWelberger S^Uofsr^reia. B«nd V; Heft i/a: Ott-
Omhek imd die JiSuns^ Von Hsns Rott. Heidelberg, Bnchbuidlang von KsH
Groos, 1905.
a) Vgl hierm in dieser l^its^rin 4. Bd., S. iS«-aa die Bemerkpngen von
Htnsen über Archive und Kunstgeeckiehte,
— 108 —
einer Restauration ohne absolut sichere Feststellung des ursprünglichen
Znstandes doch nur die letzte historische Gestalt restauriert werden
dürfe, d. h. diejenige mit den noch in ihren Resten an Ort und Stelle
vorhandenen Zwerchgiebeln, wie sie der Ulrich Kraussche Stich teigt
Nach allen Begriffen von Denkmalpflege ist dies der prinzipiell richtige
Standpunkt Auf die weiteren Äußerungen einzugehen, mufs ich mir
hier versagen. Jedenfalls ist der badischen Regierung eine vorzügliche
Unterlage gegeben, auf Grund deren sie einer erneuten vorurteilslosen
Prüfung der Frage näher treten kann*
Aus den sonstigen Verhandlungen sei noch der prinzipiell
sehr wichtige Vortrag des Konservators Hager (München) hervor-
gehoben, der das Recht der modernen Kunst bei Ergänzimg
oder Erneuerung alter Kunstwerke betonte. Bei Hinzufügung neuer
Teile sei es ein bedenkliches Archaisieren, wenn man sich auf Kopien
alter Vorbilder beschränke. Der Vortrag fand — der Zusammen-
setzung der Versammlung gemäüs — Widerspruch imd Beifall. Wenn
ich den Ausführungen auch grundsätzlich zustimmen möchte, so kann
ich mir doch nicht verhehlen, dafs sie zu befolgen in der Praxis oft
schwierig sein dürfte.
Sehr dankenswert war das Eintreten von Meier (Braunschweig)
fiir die Erhaltung alter Strafsennamen.
Die auf dem letzten Denkmalpflegetage beschlossene Aufnahme
alter Bürgerhäuser ist nach dem von Schaumann (Frankfurt)
eiBtatteten Bericht in die Wege geleitet, doch konnte das bis jetzt
gesammelte Material noch nicht vorgelegt werden, da es zu der
Durcharbeitung bisher an Zeit gefehlt hat
Die Debatte über die geschichtliche und künstlerische Bedeutung
des Berliner Opernhauses führte zu einer Resolution, in welcher
seine Erhaltung als im höchsten Grade erwünscht bezeichnet wird.
Sehr verschiedene Meinungen wurden laut über die Verzeich-
noQg von beweglichen Denkmälern in Privatbesitz. Ich
habe mich in dieser Zeitschrift früher ^) darüber ausgesprochen und
kann nuch daher mit dem Hinweis darauf begnügen.
Dagegen sei es mir zum Schlüsse gestattet, noch zwei Bedenken
zur Sprache zu bringen. Konservator Seh mTdt München) teilte der
Versanunlung die sehr interessanten Erfahrungen mit, die in Bayern
mit einem neuen Regenerationsverfahren für Glasgemälde gemacht
worden sind. Leider war der Redner der beschränkten Zeit wegen
I) Vgl 6. Bd., S. 174.
— 104 —
^u auiiserordentlicher Kürze g'enötigt, und es konnte nicht versucht
werden, die Frage eingehender in der Versammlung zu erörtern.
Grerade die Behandlung derartiger Fragen sollte eine Hauptaufgabe
•des Denkmalpflegetages bilden: dem in der Praxis der Denkmalpflege
Stehenden würde damit der gröfste Dienst geleistet. So überwiegen
meines Erachtens etwas zu sehr allgemeine akademische Erörterungen,
in denen doch kaum je eine Einigkeit erzielt wird. Oder es kon-
zentriert sich das Interesse allzu einseitig auf die architektonischen
Denkmäler, denen gegenüber die der Malerei, der Plastik und des
Kimstgewerbes ungerechtfertigterweise zu kurz kommen. Die Ge-
fahr, dais man sich dadurch in Fragen der Museumspraxis verlieren
könnte, Heise sich durch einen stetigen Hinblick auf die Anforderungen
der Denkmalpflege unschwer vermeiden.
Mein zweites Bedenken ist ganz anderer Natur. Es ist in die
Hand des Ausschusses gelegt worden, den Ort der nächsten Tagung
selbständig zu bestimmen, auch wenn ein Einverständnis mit dem Ge-
samtverein der Geschichts- und Altertumsvereine nicht erzielt werden
sollte. Im Jahre 1904 war es aus verschiedenen Erwägungen nicht
möglich, am gleichen Ort und zu gleicher Zeit mit diesem zu tagen.
Ich glaube aber, wenn irgend tunlich, sollte künftig eine Trennung
vermieden werden. Der Zusammenhang mit dem Gesamtverein, aus
dein der Denkmalpflegetag hervorgegangen ist, scheint mir wichtiger,
als die Anwesenheit einzelner, noch so bedeutender Persönlichkeiten.
Durch diesen Zusammenhang ist auch bei einem Nachlassen des In-
teresses von anderer Seite die Lebenskraft des Denkmalpflegetages
gesichert. Weiterhin gehört die Fühlung mit den Altertums-
vereinen zu einer der wichtigsten Forderungen der Denkmalpflege.
Es wird aber nur wenigen Leuten möglich sein, beide Versammlungen,
wenn sie getrennt tagen, zu besuchen. Endlich kann ich die enge
Verbindung mit den berufenen Arbeitern der Geschichtsforschimg
nur ftir höchst vorteilhaft halten. Es könnte dabei ruhig der Denk-
malpflegetag mit einigen Sitzungstagen z. B. des Archivtages oder
des Tages für römisch-germanische Forschung zusammenfallen. Die
Interessen des einzelnen werden dadurch nicht zu sehr in Widerstreit
geraten, während aber nur wenige 8, mit der Reise volle lo Tage
auf die Versammlungen verwenden können, wie es diesmal in Bam-
berg erforderlich war.
Ich habe im vorigen einen Punkt der Tagesordnung übergangen,
den Bericht über das Handbuch der deutschen Kunstdenkmaler^ dessen
— 106 —
ersten Band, bearbeitet von Georg D eh io, namens der Kommission
A. V. Oechelhäuser vorlegen konnte^). Die Leser dieser Zeit-
ichrift wissen, da& der Wunsch nach diesem Handbuch schon auf
dem ersten Denkmalpfiegetag ausgesprochen wurde, daüs die Ver-
handlungen sich lang hinzogen und das Unternehmen Schliefelich
gescheitert schien, da kein staatlicher Zuschufis zu erlangen war, bis
der Kaiser eine namhafte Summe aus dem allerhöchsten Dispositions-
fonds zur Veriiigung stellte. Der vorliegende erste Band enthält
Mitteldeutschland und zwar das Königreich Sachsen, die thüringischen
Fürstentümer, die preu&ischen Regierungsbezirke Merseburg, Erfurt,
Kassel, die bayerischen Regierungsbezirke Oberfranken und Unter-
franken. Man mag über die Zweckmäfsigkeit dieser Einteilung Zweifel
hegen, indes ist es gewifs ganz unmöglich gewesen, eine zu finden,
die alle befriedigt hätte! Die Anordnung ist im ganzen Bande al-
phabetisch, zur Orientierung ist noch ein Ortsverzeichnis, geordnet
nadi Staaten und Verwaltungsbezirken, ein Künstlerverzeichnis und
eine Übersichtskarte beigegeben. Das kleine Format des sehr
billigen Bändchens ermöglicht für Reisen in dem genannten mittel-
deutschen Gebiete dessen bequeme Mitnahme sogar in der Rock-
tasche — ein nicht zu unterschätzender Vorzug; die Handlichkeit er-
leichtert auch den Gebrauch als Nachschlagebuch am Schreibtisch.
Und beiden Zwecken soll es, dem ursprünglichen, ziemlich treu be-
folgten Programm nach *), dienen. Bei der BeurteUung wird man stets
fesüialten müssen, dafs nicht ein Konkurrenzunternehmen zu den
staatlichen Inventarisationen , auch kein Auszug etwa aus den schon
vorhandenen Bänden geplant war, sondern dafis im Gegensatz zu ihnen
dieses Handbuch sich ausdrücklich auf die Kunstdenkmäler beschränkt,
auch hier noch siebtet, in knapper Form alle nötigen Unterlagen an
Daten usw. und kurze Bemerkungen über den künstlerischen Wert
gibt, bei wichtigeren Denkmalen auch über den neuesten Stand der
Forschung unterrichtet Es durfte selbstverständlich nicht mit einer
aosiiihrlichen Bibliographie beschwert werden, enthält aber stets die
nötigen Verweise auf die Inventare und bei den noch nicht inventari-
aciten Orten die bedeutendere Spezialliteratur. Bei dem vorliegenden
Bande handelt es sich zum grofsen Teil um Gegenden, über die noch
kein Inventar vorliegt Jeder halbwegs Sachverständige wird also die
I) G. Dehio, Eandbueh der deutschen Kunstdenhnäler. Band I. Mitteldentsch-
l^sd. Berlin. Verlegt bei Ernst Wasmnth A.-G., 1905. In Leinwand geb. 4 Mk.
s) Siehe den AofsatE von G. ?. Bezold in der Beilage xur Allgemeinen Zeitung
(Minclien), 190a. Nr. 209 (S. 497)-
— 106 —
Schwierigkeit des Unternehmeiis scbätcea köcnen und verstehen, daiis
bei der uBgebeuren Fülle des Stoffes Ungleichheiten nicht zu ver-
meiden waren« mochte der Verfasser auch durch die erfahrensten Fach-
männer der behandelten Gegenden unterstützt werden. ^ Es soll deshalb
auch keine Kritik an der vorzüglichen Arbeit des Verfassers sein, wenn
ich einige prinzipielle Bedenken äuüsere. Es scheint mir, als sei auf
4ie praktischen Bedürfnisse der Benutzer dieses Buches zu wenig
Rücksicht genommen. Wie wird sich der kunstsinnige Laie, für den
ausdrücklich das Buch mitbestimmt ist, ärgern, wenn über Inhalt und
Bedeutung der öffentlichen Sammlungen gar keine Anhaltspunkte ge-
geben werden! Auch der Fachmann wird das vermissen. Nehmen
wir nur z. B. den Ort der letzten Tagung: Bamberg. Wie nützlidi
wäre es einem d^i gewesen, zu erfahren, was ungefähr an Wichtigstem
die städtischen Sammlungen auf dem Michelsberg enthalten, ob man
je nach seinen Spezialinteressen sich den Besuch sparen kami oder
nicht Gewits kann das Handbuch dem Baedeker keine Konkurrenz
machen, aber es mufs ihn doch, was derartige Belehrung anlangt, für
den Freund alter Kunst überflüssig machen. Solche bedeutende
Werke endlich, wie die frühmittelalterlichen Textilien im Domschatz
zu Bamberg oder wie die Uconographisch und künstlerisch gleich in-
teressante Barockkapelle des heiligen Grabes bei der Michaelskirche
mit ihren Totentan^bildem dürften doch nicht gänzlich nüt Stillschweigen
übergangen werden. Die Notwendigkeit der knappsten Fassung sei
anerkannt: hier und da ist wohl etwas zu summarisch verfahren worden.
Das glänzende Barockgebäude der Königl. Regierung in Erfurt ist
mit der Bemerkung „kurmainzische Statthalterei 17 13; erweitert 1733"
abgetan. Auf Grund dieser Bemerkung wird kein Benutzer des Buches
hierin etwas auch nur halbwegs Wichtiges vermuten! Oder als Bei*
spiel für vieles ähnliche: was nützt bei Ebelsbach die Bemerkung:
„Wasserschloüs des Herrn von Rotenhahn'^ ohne auch nur die An-
gabe, ob es ein Bau des Mittelalters oder der Neuzeit ist Da es
sich um ein Handbuch der Kunstdenkmäler handelt, so hat gewiis
die Klasse der Wehrbauten nur „sekundäre Bedeutung". Wenn man
aber an die praktische Benutzung auf Reisen denkt, so müiste wenig*
stens über die Bedeutung der Anlagen ein klein wenig Ausführlicheres
mitgeteilt werden. Auch mufs man sich fragen, ob in den Abkür^
Zungen nicht hier und da doch etwas zu weit gegangen worden ist
Sprenss, = Spätrenaissance ; SU. = Säulen ; frrom. =: frühromanisch ;
n, Ssch, = nördliches Seitenschiff: ich weifs nicht, ob derartiges nicht
den Gebrauch allzusehr erschwert Doch dürfen uns diese Be-
— 107 —
änstandmigeQ nicht an dem Wert des Werkes irrt machen. Manchem
mag es ja dünken, als seien durch diesen Band die Bedenken jener
gferechtfertigft, die seinerzeit die Ausßihrungf ßkr verfrüht erachteten.
Ich i^laube, wenn man einmal das Verlangen nach einem solchen
Handbuch als vorhanden anerkennt — und daran lälst sidi kamn
2weifehi — , dann durfte man seine Herausgfabe nicht w^en vnver-
»eidlicher Mängel hinausschieben. Die Hauptsache war dann, dafe
es überhaupt gemacht wurde, nicht wie es im einzelnen gemacht
wurde. Wie es vorliegt, wird es (Ür den Forscher und Altertums-
freund ein von Stund an unentbehrliches Hilfsmittel sein. Alle diese
Kreise wird es zu tätiger Mitarbeit anregen. Dann wird es sich in
hoffentlich recht bald nötig werdenden Neuauflagen immer voU«
kommener gestalten,
♦
Zwei Ausflüge schlössen sich an den vorjährigen Denkmalpflege^
tag an; der eine führte nach Nürnberg zur Besichtigung der
Restaurationsarbeiten an den dortigen Kirchen S. Sebald
und S.Lorenz. Über die schon weit vorgeschrittene Renovierung
S. Sebalds lag ein gedru<toer Bericht vor *) ; eine vorzüglich instruk«
five Ausstellung in der S. Moritzkapelle erläuterte denselben. Der
Technik war hier, besonders in der Renovierung der Pfefler der Kirche,
eine unendlich schwierige Au%abe gestellt, die — man darf es SBgen —
glinzend gelöst worden ist. Was das Äu&ere betrifft, so wird man
sich nicht verhehlen können, dafs, trotz gegenteiliger Versicherung des
Architekten, diie künstlerische Phantasie hier und da doch recht frei
geschaltet hat Vor allem aber drängte sieb aHen Besuchern eine
Frage auf, die ich wenigstens andeuten möchte. Im Gegensatz zu
laderen Restaurationen, bei denen der Architekt die vermutliche alte
Bemalung auch der wiedeihergestelHen Statuen in ihrer ehemaligen
Frische, oft: auch in ihrer nur vermeinten krassen Buntheit wieder
neu angebracht hat, ist hier sorgfältig eine altertümliche Erscheinung
henrorgezaubert worden. Einesteils sind die Farben nur matt und
gedSbnpft, ^e sie nach jahrhundertelangem Besteben aussehen mögen,
angetragen worden, anderenteils ist der altertümliche Eindruck durch
Abreiben der frisch angetragenen Farben und des Goldes erzielt
Worden. Das tut gewi6 wohl z. B. neben der unangenehm neuen Er-
cheinung des schönen Brunnens, aber man wird sich doch fragen müssen,
I) Otto Scholz, Die Wiederkentelhmg der St. Sebaidkirehe in Nürnberg
7998-^19M. Btnaägeg. wt V«r»m Ar Gndb, 4, Stadt Mrabeti^. Nnmbesg, Joh.
Uo&h. Schn^ 1905.
— 108 —
ob darin nicht eine arge Künstelei liegt und ob man das „Altmachen^
nicht der Zeit überlassen sollte, die es vermutlich rasch genug besorgt
Den stimmungsvollen Abschlufs fand der Denkmalpäegetag in
Rothenburg, wo die Mitglieder durch Soldaten der Tillyzeit emp-
jEangen wurden, und ihnen aus einer Kopie des altberühmten Pokals
der Willkommentrunk gereicht wurde. In diesem Empfang, in der
b^ieisterten Führung durch die Stadt, in den Reden während des
Essens spürte man so recht die warme, treue Liebe, welche diese
Rothenburger beseelt für die Vergangenheit und die Denkmäler ihrer
Heimat Aber der Altertumsfreund wird sich doch wehmütig ein-
gestehen müssen, dafe eine solche Erhaltung eines alten Stadtbildes
eben nur möglich ist, wenn ein Ort dem Verkehr derartig fem liegt,
und dafs der Wunsch, den man fiir Rothenburg aussprechen muls,
nur der etwas sehr paradoxe sein kann : die Stadt möge nicht wachsen
und dem Verkehr nicht näher gerückt werden.
Vor und nach der Versammlung führte der Weg viele ihrer Mit-
glieder nach Strafsburg, wo in den prächtigen Rokokosälen des Erd«
geschosses des Rohanschen Palastes Konservator Wolf f eine Aus-
stellung für Denkmalpflege im Elsafs veranstaltet hatte, die
sich der Sonderausstellung von S. Sebald in Nürnberg o^^änzend an«
schlofiB. Die Ausstellung umfafste drei Gruppen ^). Die erste zeigte
die wissenschaftlichen Hilfsmittel der Denkmalpflege:
Urkunden mit Zeichnungen, alte ElntwurfiBzeichnungen fiir Kirchen und
Schlösser, Aufnahmen» Abbildungen usw. Es war ein g^tes Zeugnis
für die Tätigkeit des Konservators, der bekanntlich ein mustergültiges
Denkmälerarchiv zustande gebracht hat, das ihn sicher mehr befriedigt,
als die Praxis der Denkmalpflege, mit der es im Elsafs wie anderswo
trotz der Bemühungen des Konservators bei den eigentümlichen
Schwierigkeiten, die in der Sache liegen, oft recht trüb aussieht —
An diese Gruppe schlofs sich eine Ausstellung der Wiederherstellungs-
arbeiten an der Hochkönigsburg an, die sehr geschickt arrangiert
war, aber von neuem die praktische Unmöglichkeit einer historisch-
getreuen Rekonstruktion und das starke Walten künstlerischer Phan-
tasie bewies. Sehr unerfreulich war die neben dem geborstenen Orig^al
ausgestellte Kopie eines Treppendecksteins. Die oberflächliche Arbeit
genügte als Beweis für den gänzlichen Mangel an Verständnis der alten
I) Führer durch die AuatteOimg der Denkmafyfleg$ 4m El&aß^ 1905. Stxmü-
bürg i. E., Druck Ton M. Da Mont-Schaaberg, 1905.
— 109 —
Kunst bei dem Verfcrtiger. Ich will nur hoffen, dafe die übrigen Kopien
tmd die Neuschöpfungen nicht den gleichen Händen anvertraut werden.
Die zweite Gruppe enthielt die technischen Hilfsmittel der
Denkmalpflege, vor allem die Ausstellungen der Münsterbau-
hütten in Straüsburg und Colmar. Gipsabgüsse, Kopien zerstörter Steine,
restaurierte Gobelins, gereinigte Tafelbilder, Proben der mittelalterlichen
Bearbeitungsweise des Baumaterials in Stein und Holz, Kupferverdeckun-
gen, Verbleiungen u. a. m. Hier war es erfreulich zu beobachten, wie ge-
wissenhaft die beiden Münsterbauhütten bei ihren Arbeiten vorgehen.
Die dritte Gruppe endlich gab ein Bild der ausgeführten und
io der Ausführung begriffenen Arbeiten der Denkmal-
pflege. Ein Gebiet, das man selbstverständlich ebenso oft zustim-
mend wie ablehnend durchwandelt. ,
So schön diese Ausstellung sich präsentierte, so hoch an Qualität
die Restaorationsarbeiten an S. Sebald in Nürnberg stehen, so inhalt-
reich die Verhandlungen in Bamberg waren, man wird sich doch ge-
stehen müssen, dafs wir in der Praxis der Denkmalpflege
noch täglich die übelsten Erfiahrungen machen, dafs den schönen
Worten nicht immer schöne Taten folgen. Ein ganzer Band liefse
sich anfüllen mit den Sünden oft der berufensten Hüter, hier und da
aacfa mit Fehlem, die einer eigentümlichen, oft wiederkehrenden Ver-
kettung von Umständen entstammen. Jedenfalls mufs noch viel ge-
arbeitet und gekämpft werden, ehe wir hoffen können, dafs das Urteil
der Nachwelt ebenso günstig wie über unsere Reden auch über unsere
praktische Denkmalpflege sein wird ^).
i) Ein kleiner Nachtrag sei bei der Korrektur gestattet und zwar über die auf
Seite I02 im Text and in der Anmerkung i erwähnte Rott'sche Schrift Es war mir ror
AMassvng des Aufsatzes nicht mögUch, sie niher zu studieren. Ich habe das jetzt nach-
S^lt und mufs gestehen, dafs die Schrift auf mich einen geradezu rerblttffenden Eindruck
gemacht hat. Ich habe bisher darauf verzichten müssen, die ungeheure Literatur über
das Heidelberger Schlofs eingehender nachzuprüfen, aber ich nahm in meiner NairetSt
<Is selbstrerständlich an, dafs das urkundliche Material wenigstens der hauptsichlieh in
Betracht kommenden Archire rollständig ausgebeutet sei, denn für die Aufstellung wissen-
KfaafUicher Hfpothesen über die ehemalige Gestalt des Ott-Heinrichsbaues wie für eine durch-
Cmfende Restaurierung wire das doch die einzig richtige Grundlage gewesen t Hätte sich
'■fattig in ganz entfernten Orten, sagen wir etwa in Granada oder Sevilla, etwas gefunden,
>o häftte man daraus keinen Torwurf ableiten können. Dafs es aber möglich war, in den
Karlsruher und Mfinchener Archiven für die Liste der Baumeister und Bildhauer Ott-
B^hmchs noch so wichtige Beiträge zu finden — die von kott daraus gezogenen, vielleicht
sa kflhnen Schlüsse will ich hier nicht erörtern ^, das mufs doch^ gelinde gesagt, recht
^Vntiailicfa berühren und Vküt die ausgesprochene Forderung exakter historischer
Forschung nur allzu berechtigt erscheinen.
W*MnA«il«lfc
— 110 —
Mitteilttiii^en
Tersammlimgeii. — Die IX, Versammlung deutscher Historiker
wird in der kommenden Osterwoche in Stuttgart stattfinden, und zwar wird
ne am 17. April abends beginnen and bis zum 21. April dauern. Vor-
sitsender des Verbandes Deutscker Historiker ist gegenwärtig Gefaeimiat Ptof.
T» Below (Freiburg i. Br.), und in seinen Händen wird die Leitung der
diesjährigen Versammlung liegen. Vorsitzender des Ortsausschusses ist Ober-
studienrat Prof. Egelhaaf (Stuttgart). Die VeröfTentlichung des Programms
wird bald erfolgen ; Interessenten erhalten es auf Wunsch vom Herausgeber
dieser Zeitschrift zugesandt.
Gleichzeitig wird die" Konferenz von Vertretern landesge-
schichtlicher Publikationsinstitute stattfinden.
ArchlTe. — Die Notwendigkeit, den Inhalt der Archive der Wissen-
schaft allgemein zugänglich zu machen, ist längst erkannt^), aber ebenso
Mar ist es in neuerer Zeit geworden, dafs unmöglich zur Drucklegung der
zofiülig vorhandenen laventare geschritten weiden kann, da(s vielmehr dne
besondere Bearbeitung de» Stoffes ssum Zwecke der Veröfientlichui^
vorgenommen werden muis. Wie eine solche^ au erfolgen hat, darüber
lassen sich ganz unmöglich bestimmte Vorschriften aufstellen, aber so viel
ist sicher: wenn nicht ein sogenanntes Übersichtsinventar gegeben
werden soH, welches nur die Gfiederung der gesamten Archivbestände er-
kennen lä6l ohne Einieloachzicfaten an bieten ^), dann müuen die VeröfeH-
lichut^en so gehalten sein, daiä sie wenigstens in gewissem Ma&e sugleich
als Quell en Publikationen betrachtet werden können, nicht nur als Nachweis
gewisser Archivalien.
Diesem Gedanken ist eine beachtenswerte anhaltische Pubblcation ent-
sprungen: Regesten der ürkufiden des HerxogKc^hen Haus- und SUuUsarMcs
«u Zerhst aus den Jahren 1401 — 1500, heiausgegeben von Archivrat Wäschke
(Dessau, Dünohaupt 1 90^ff., bisher 6 Hefte, bis zum Jahre 1 46 2 ; 6 1 5 Nummern,
a8S S. %% Seit 1883 bereits ist der Codex d4pknnaiicus JnhaUmus in fünf
Bänden, die bis 1400 ftlhren, abgeschlossen, aber zu einer Fortsetzung des
Werkes über diese Zeitgrenze hinaus konnte man sich nicht entschlieisen, und
dies ist ein Beleg fUr das Zutreffende der Darlegungen von Forst (oben S. 6$ßX
iEine Bearbeitung aller Anhalt betreffenden Urkunden nach 1400 ohne
JEUicksicht auf ihren gegenwärtigen Aufbewahnujgsort würde so viel Zeit et-
ibrdert haben » dafs noch recht knge auf eine solche Veröffentlichung hätte
gewartet werden müssen, imd so war et zwcifeUos recht zweckmäfsig, zu-
nächst eine Äbschlagsaahlung zu geben und wenigstens die im Haas-
,und Staatsarchiv ') beruhenden, Urkunden in Reg^stenform zu veröffentlichen.
1) Vgl. diese Zeitschrift i. Bd., S. 171 — 175.
2) Solche liegen z. B. für die prenfiischen Staatsarchive in Hannover, Schleswig
Und Kobtent vor, aber auch fth* viele gr5fsere Stadtarchive. Ton letrteren ist cwetfellos
Am «MfUhrlkasto oofll' bette dn Inventar dm Baaekr Stadtaanehtva. VgL diese Zsaidirift
6. Bd., S. 363 — 264.
3) Über dessen Zusammensetzung «pd Orgapimlion vgl. diese Zeitschrift 2. Bd., S. 235.
— 111 —
Die loätegenöt Arbeit ist mcht nur Publikation eines Archivinventars, sondern
a^ekh auch Fortsetsung des Urkundenbuches.
Wie der Titel sagt, soll bis zum Jahre 1500 herabgegangen werden,
aber hoffentlich gilt dies nur für diesen Band, denn eine derartige Ver-
öisi^ichong für das XVL und XVII. Jahrhundert wäre nicht minder er-
wuBscht; sie ist auch nicht allsu mühsam, da die Zahl der Urkunden nach
1550 bedeutend abnimmt Vorwort und die unbedingt notwendigen Register
so dem begonnenen Buide sollen nach Abschluß der Arbeit erscheinen«
Die R^esten sind so ausführlich gehalten, dafs sie in der Mehrzahl der
FItte ein Zurückgreifen auf die Originale unnötig machen werden. EHe
Dttierung ist stets im genauen Wortlaut angegeben, auch ktmse Stttckbe-
sdueibung und Angabe der Lagerstelle im Archiv fehlen nicht Die Regestea
sdbst zeigen jedoch ein von dem sonst üblichen etwas abweichendes
BOd, und dieses ist eben in der Absicht, zugleich eine Quellenveröffent-
fidnmg zu veranstalten, begründet. Die Lösung der Aufgabe muüs als glück-
Kch bezeichnet werden. Jede Nummer enthält nämlich zuerst ein kurzes
Regest der üblichen Art, in dem das Rechtsgeschäft, dem die Urkunde
dient, bezeichnet wird, und zwar in einem übersichtlichen Druck unter Sper*
ning der Namen. Dann aber folgt mit verhältnismäisig wenigen Ausnahmen,
die unbedeutendere Stücke betreffen, in Petitdruck eine genauere Inhah»-
isgabe in der ersten Person, so dafs Zweifel über die Beziehungen
ksom aufkommen können ; Ortsnamen sind durchgängig in der urkundlichen
nad modernen Form angegeben, die Personeimamen wenigstens zum Teil.
Wichtige Stücke sind sehr ausführlich behandelt, so z. B. ein Schiedsspruch,
der die Verhältnisse zwischen den Anfaaltischen Fürsten regelt, 1452 Nr. 453,
dessen Inhaltsangabe 6^ Druckseiten füllt Andere Urkunden dagegen sind
mit wenigen Zeilen abgetan, so dafs z. B. auf S. 131 vier Nummern erle-
digt werden konnten. So gewifs über die Bedeutung jeder Urkunde das
subjektive Urteil des Bearbdters entschieden hat und so zweifellos es ist,
da& mancher andere in dieser Richtung andere Urteile gefälk haben würde,
gaade dieses von jeder schematischen Gleichbehandlung freie Ver&hren ver-
cfieot Anerkennung; denn es ist ganz undenkbar, dafs wir die Urkunden-
sdiätze des XV. und XVI. Jahrhunderts systematisch erschließen, wenn wir
nicht bei der Veröffentlichung ein Kürzungsverfahren einschlagen. Wie
notirendig ein solches ist, das beweifst die Berechnung die Archivdirektor
Ilgen angestellt hat*), aber Wäschke hat hier zugleich einer in Salzburg
in der Erörterung von Rietschel gestellten Forderung entsprochen und in
der Regestentechnik eine Neuerung eingeführt. Nur will mir scheinen,
ak ob man noch einen Schritt weiter gehen und in dem zweiten Teile den
gdLönten Wortlaut der Urkunde in seiner Originalform mit sorgfältiger Be«
Zeichnung der Zahl der wegg^assenen Worte -^ so wird bei den.QueQen-
sosifigcn verfahren, die für das Wihierbiu^ der deuUi^ien Bechtsspracke besorgt
werden, — geben sollte. Bei der Übertragung ins Neuhochdeutsche wird
die Ausdruckffweise der Urkunde selbst wohl oder übel verschleiert, imd
db Veröffentlichung verliert dadurch an Wert. Im vorliegendem Falle
i) Tgl. BeriefU über dk it^Ue Verwmmlung deutscher Büt&rtker xu Salzburg
I^Ö# (Lei^ 1905), S. 49-
8
— 112 —
kommt tatsächlich der Wortlaut der Urkunden etwas zu kurz, wenn auch
mancher einzelne Ausdruck so, wie er sich in der Urkunde findet, abgedruckt
ist. Angenehm und nützlich wäre es jeden&lls gewesen, wenn durch-
gängig die Worte, die das Rechtsgeschäft, um dessen willen die Urku&de
ausgestellt wird, betreffen, im genauen Wortlaut wiedergegeben worden wären.
Dann aber wäre auch zu wünschen gewesen, dafs alle im Wortlaut der
Urkunde abgedruckten Worte und Sätze durch den Druck — etwa durdi
Verwendung der Kursive — als solche gekennzeichnet und dadurch die
zahlreichen Anführungszeichen vermieden worden wären. Wenn man da-
gegen das oben vorgeschlagene Verfahren — gekürzten Abdruck der
Urkunde in ihren entscheidenden Stellen — einschlägt, dann würde eine
solche Mischung in der Druckart überflüssig werden. Doch der Verdienst-
Hchkeit der Veröffentlichung tun diese Einwendungen kaum Eintrag. Wäschke
hat vielmehr einen neuen gangbaren Weg bezeichnet, um Urkunden des aus-
gehenden Mittelalters rasch und in gröfserer Menge zu veröffentlichen imd auf
diese Weise die Drucklegimg eines Archivinventars mit der Herausgabe eines
gekürzten Uikundenbuches zu verbinden. Als äufserlicher Mangel erscheint
es, dafs der Kopf jeder Seite den Titel des Werkes enthsUt; viel zweckmäßiger
wären links das Jahr und rechts die Nummern der auf den betreffenden
Seiten behandelten Urkunden zu stehen kommen. Das hätte die Benutzung
wesentlich erleichtert.
Als bemerkenswerte Einzelheiten seien folgende Tatsachen erwähnt In
Dessau wird 1411 nach Freiberger Münze gerechnet, und zwar gehen
5B Kreuzgroschen auf den rheinischen Gulden (Nr. 75); der Kaland zu
Zerbst wird 14x4 (Nr. 86), der zu Bemburg 145 1 (Nr. 443) genannt;
auf&llend häufig werden wüste Dörfer erwähnt, so Nr. 174 — 175, 261,
338, 584, 614; für die hoch- niederdeutsche Sprachmischung sind
die Ui^unden von 1457 und 1458 (Nr. 515, 534) wichtig; 1456 tritt das
Kloster Nienburg der Bursfelder Kongregation bei (Nr. 487, 499);
die Urkunde von 1459 ^^^^ ^^ Juden zu Stendal sucht in diesem Zu-
sammenhange gewifs nicht so leicht jemand; bemerkenswert sind die noch.
1458 dem Fürsten zustehenden Innungspfennige zu Zerbst (Nr. 531),
aber gerade hier vermifst der Benutzer den Wortlaut der Urkunde ; in Bemburg
wird 1459 (^r* 54^) ^^^ Tuchspende für Arme eingerichtet, aber zugleich mit
dem Tuche soUen die EmpflUiger in bar das Macherlohn erhalten; ver-
kehrsgeschichtlich sind folgende Nachrichten bemerkenswert: Kaiser
Sigmund gestattet 1417 dem Fürsten zu Anhalt als Geleitsabgabe von
jeder Zerbst verlassenden Fuhre Bier 2 böhmische Groschen zu erheben
(Nr. 1x8), Fürst Georg zu Anhalt verpfändet 1436 die Woche 12 Groschen
aus dem Geleit zu Jessenitz (Nr. 195), 1461 sind Zeihst und Köthen so
einträgliche Geleitsstellen, dafs jede mit emer jährlichen Rente von 200
alten Schock belastet werden kxmn (Nr. 592); eine wichtige Zolluikunde,
die man gern vollständig veröffentlicht sähe, liegt von 1456 (Nr. 482) vor;
das Kloster Nienburg kauft 1429 zwei Salzpfannen zu Halle für 176
rheinische Gulden (Nr. 228, 293); fürstlich-städtisches Bündnis gegen einen
Wegelagerer 1429 (Nr. 234, 252); während der Zinsfufs beim Rendcauf
1425 (Nr. 198) noch 10% beträgt, fällt er 1426 (Nr. 217) auf 8,25%,
1430 (Nr. 238) sogar auf 5»3%9 aber 1434 (Nr. 272) ^den sich wieder
— 118 —
10»^ 143» (Nr. 304) 6,6% 1447 (Nr. 408) 8%. 1456 (Nr. 485) 5%
1458 zweimal (Nr. 531, 540) 6%^ 146 1 (Nr. 596) 5 0/0, dagegen scheint
mir das Ergebnis von 4% (1458» Nr. 533) auf einem Irrtum» wenn nicht
•dnem Druckfehler zu beruhen.
Wandbilder aus TorgesdüehtUehen Kaltarperlodon. — Die
uns erhaltenen I^ßederschläge der vorgeschichtlichen Vergangenheit nicht nur
in ihrer Vereinzelung zu veranschaulichen ^)^ sondern sie zugleich nach Zweck
mid Gebranch verständlich und überdies dadurch interessant zu machen«
dafi man sie mit dem Menschen als ihrem Träger und Verwender in Verbindung
bringt« damit hat die prähistorische Forschung begonnen« sobald für einen
Zeitraum die Gesamtheit der Funde nicht mehr so lückenhaft war« dafs der
Phantasie der Hauptanteil an der Arbeit hätte zufallen müssen. Am frühe-
sten fismden sich ausreichende Anhaltspunkte fUr die erste nachchristliche
Periode: Osk. Montelius konnte daher ^) die Gestalt eines nordbchejn
Kriegers der provinzial- römischen Zeit mit genauer Wiedergabe der Aus-
lästmig« und Soph. Müller*) die eines Reiters und eines Fuiskämpfers
der Völkerwanderung zur Darstellung bringen« der letztere überdies *) eine
Skizze der Männertracht aus der älteren Bronzezeit.
Auf Gnmd der Funde in seiner Heimat, namenüich derjenigen in Ober-
hajem« hat es jetzt Professor Dr. Julius Naue unternommen« eine fortlaufende
Reibe von sechs Bildern für die Hauptabschnitte der gesamten Vorgeschichte
za entwerfen« die in lithographischem Farbendrucke nach seinen Aquarell-
kartons veröffentlicht worden sind ^). Der von ihm gewählte Mafsstab (zwei
Drittel natürlicher Gröfse) sichert deutliche Anschauung und wird den rricht
fachwissenschafUich vorgebildeten Betrachter auch kleinere Schmuckstücke
nicht übersehen lassen. Die Beigaben werden so gezeigt« dafs man sie in
der Wirklichkeit« bei Ausgrabungen sowohl wie in den Museen« wiedererkenen
mufs, und es ist auch beabsichtigt« dafs die Findrücke namentlich im Ge-
dächtnis der heranwachsenden Jugend haften sollen. Insofern sind diese
Tafeln zu^eich geeignet« zur Frhaltung der Reste tmserer Vorzeit beizutragen«
und sind besonders auch für die Schule verwendbar.
Um die Aufmerksamkeit nicht von den Gegenständen abzuziehen« denen
das Hauptaugenmerk gilt« werden nicht Gnq)pen von Figuren« sondern
Siozelgesülten vorgeführt und die weit überwiegende Mehrzahl von ihnen in
nihiger Haltung ohne alles zerstreuende Beiwerk und ohne durch Farben-
reichtum das Auge auf das hinzulenken« was« wie die Gewänder der Männer
ond Franen« selbstverständlich vom Künstler frei hinzugefügt werden mufste.
Das erste Bild verg^enwärtigt das graue Altertum« die früheste
Bronzezeit« gleichsam symbolisiert durch die grebe Seherin« die als nach
1) VgL Die in dtn Deutschen Oesehiehisblättem 5. Band (1904), S. 156-163 be-
iprodieoen Wandtmfeln ▼orgeschicbtlicber Funde.
3) O. MoDtelias, Die KuUur Sehwedme, deatsch Ton Appel (1885), S. 105.
3) Soph. Müller« Nordische AUertumshmde noeA Funden und Denkmälern
M» Dänemark und Schleswig. 1898. U« S. 129.
4) Ebd. I, S. 317.
5) Jalias Naae, Wandbilder aus vorgesehiehilichen KuUurperioden. München«
Vcriig Ton Piloty n. Loehle 1905. 6 BL Preis 20 Mark, auf Leinwand gezogen mit
Stibcn 30 Mark.
8*
— 114 —
jbrem Tode dem Stanune noch eininal vor Augen geführt anfgefaftt ist.
Auf dem breiten Ehrensessel» das Haupt an die hohe Rückwand gdehnt,
sätzt sie in ihrem priesterlichem Schmucke, mit der Halskette aus BemstciB-
kugehi, über der Handwurzel je einen der schweren » unvenderten Bronse-
ringe tragend, die der ältesten Periode eigen sind. Der weite Mantel ist
Y(m zwei gekreuzten, schlichten Nadeln mit eingefurchtem Stridionuunent zu*
Sammengehalten. Der Saum des einüubigen Gewandes ist mit sechs, der
Gürtel mit drei dichten Reihen halbkugeliger Bronzekn(^>fe besetzt. In die
Rechte ist ihr der Stab gegeben, auf den der tüllenförmige Halter eines
Rades mit yierspeichigem Kreuz gesteckt ist — ein oft ab Sonnenhild aiif^
gefafster, hier als Abzeichen der weisen Frau verwendeter Gegenstand.
Minder reich ist der Männerschmuck derselben Zeit, den die jugend-
lich kräftige Heldengestalt der zweiten Tafel, gehüllt in ein enges Gewand
tnit übergeworfenem Wolfsfell, trägt. Denn die Aufgabe war hier natuigesül&
und den Grabfunden entsprechend die Wiedergabe der Wafifen: der kurze,
breite, dreieckige Dolch und das schilfblattfönnige Schwert, dazu der Rand-
celt in knieformig gebogenem Holzstiel; hinzutreten von Zieraten die Nadel
mit Anschwellung unterhalb der Knopfscheibe und das spiralig nadi oben ver«
laufende Bronzeband, das über dem Knöchel die faltige Schenkehmihülluaig
zusanmienfafst imd das in ein scheibenförmig gerolltes Endstück anläuft
Ist dieser ältesten Zeit die Leichenbestattung eigen, so erschwert tür
die folgende, die jüngere Bronzeperiode, die Leichenverbrennung, v<m
der auch die Metallbeigaben angegriffen wurden, alle Ermittelungen. Doch
lälst sich deutlich erkennen, dafs der Zierat reicher wird, dafs die einzelnen
Stücke kräftiger, mehr durchgearbeitet, die Nadeln und Armbänder daher
stärker profiliert sind. Strickförmig gedrehte Hals- und quer gerippte Arm-
ringe, im Gewand zwei Nadeln mit Kugelkopf, reicher Bnistschmuck — durch-
brochene Scheiben — und ein breites, spitz ovales Gürtelblech zeigt die
Frauengestalt, die zur alleinigen Vertreterin dieses Zeitraums gemacht i^.
Die Hallstattzeit, etwa mit dem XI. bis X. vorchristiichen Jahr-
hundert begbnend, wird ihrer mehr als ein halbes Jahrtausend umfii^enden
Ausdehnung und ihrer glänzenden, prachtliebenden Entfaltung gemäfs auf zwei
Blättern dargesteUt ^). Dem entwickelten Sinn für Mannigfialtigkeit und Formen-
schönheit des Schmuckes Rechnung tragend, hat der Künsder die Ver-
zierung der Gewänder entworfen, die allerlei Anklänge an die zum Teil &rb%
ausgeführten Muster auf bayerischen und anderen TongefiUsen zeigt Die
Ausrüstung des Mannes büdet das lange kräftige Schwert aus Eisen, aus
dem Metall, das jetzt zum ersten Male erscheint imd weittragenden Kinflnfe
auf die gesamte Kultur gewinnt; dazu der breite, eiserne Dolch mit kleinem
Griff; beibehalten aber ist die Bronzenadel, jetzt mit mehreren kräftigen
Knäufen ausgestattet.
Vielf^tiger ist der Schmuck der Frau (Blatt 5). Der damals aufkom-
menden Mode entspricht die Fibel, die hier zuerst in der Vorgeschichte auf-
tritt, mit anhangenden kleinen Kh^perblechen an Kettchen, ferner das breite
Gürtelblech mit getriebener Bildnerei, namendich verschiedenen Tiergestalten,
i) Besonders reichhaltig ist diese Periode auf der vortrefflidien Tkfd der por-
gmehiekUiehen Denkmäler aus Österreich (Wien, Ed. H(^el) Tertreten, oamentlidi aac^
durch einige farbig verzierte Töpfe.
— 118 —
cmflidi die groisen Wulstringe am Uotermnn. Die Ha&d stützt sich, die
Spindd haltend, anf den grob gearbeiteten Tisch: leicht hätte hier eins der
fir diesen Zeitabschnitt charakteristischen Tongefiifte von geMiger Form
und rescher Ornamentik angebracht werden können.
Ans der Ruhe der bisher besprochenen Gestalten tritt die sechste Figur
henns, ein Bild voll lebendiger Bewegung, gleichsam die Zeit selbst cha-
nkterisierend, der es angehört — die unruhige Periode der Völker-
wanderung. Durch Felix Dahns FeHoUaä angeregt, hat der Künstler den
joDgen BajuwarenfUrsten mit kühn geschwuogeneos, einschneidigem Eisenschwert
md hocherhobenem Rundschild dargestellt Die Gürtelschnalle und der Be<
schlag sind silbertauschierte Arbeit, wie sie in den bayerischen Reihengräbem
ntage kommt Eisern sind die Ringe, die panzerartig den Leib decken.
Die Gesamtheit der Bilder führt eine mehr als zweitausendjährige Kultur-
cotirickeUmg, von der ersten Hälfte des vorletzten Jahrtausends v. Chr.
bb fiber die Mitte des ersten nachchi^lichen Jahrtsuisends, vor Augen.
Möditen die archäologisch ebenso zuverlässigen, wie charakteristisch aus-
gewählten, künstlerisch durchgeführten und von dem Verleger in trefflicher
Wiedergabe dargebotenen Bilder in weiten Kreisen die Verbreitung finden,
die ihnen gebührt! Vielleicht wird es dann später möglich, durch eine
vakkmerte, wohlfeile Ausgabe sie auch denen zuzuführen, die weder Raum
noch Mittel genug haben, luu sich an der vergleichenden Betrachtung der
pA vorliegenden stattlichen Tafeln zu erfreuen und zu belehren.
Jentsch (Guben).
Fnnkflirter Oesehiehtsforschung. — Die Stadtverordnetenver-
wnmthing hat in ihrer Sitzung vom 28. November 1905 eben Antrag des
Imdtagsabgeordneten Funck, den Magistrat um Vorschläge zu ersuchen,
»wie eine systematische, historische Erforschung der Ver-
gangenheit Frankfurts und eine Darstellung seiner Geschichte
durch Hilfe der Stadt gefördert werden kann'S einstimmig an-
gCDommen, und es ist nicht zu bezweifeln, dais sich der Magistrat diesem,
von der Vertretung der Bürgerschaft der Stadtverwaltung angesonnenen
iiä3Üe officium nicht entziehen wird. Die Arbeiten der Historischen Kom-
aiaiooen, die allenthalben in Deutschland zur Herausgabc der Geschichts-
qoellen ihrer Gebiete gegründet worden sind^ haben schon gezeigt imd
sogen immer mehr, dafs nur solche mit gröfseren Mitteln und mit auf
kioere oder längere Zeit angestellten Historikern von Fach arbeitende
Oiganiiationen imstande sind, die systematische ErscfaUefsung der Geschichts-
qneUen rasch und in wissenschafUicli befriedigender Weise durchzuführen.
Die Tätigkeit der lokalen Geschichtsvereine wird dadurch in keiner Weise
Affückgedtängt oder gar ausgeschaltet; im Gegenteil, ihre Aufgaben werden
erleichtert und erweitert Die Historischeu Kommissionen der Provinz Hessen-
I'Itss»! in Marburg und Wiesbaden erstrecken ihre Forschungen nicht auf
das Gebiet der Stadt Frankfurt a. M. Dem dortigen Altertumsverein fehlt
^ aber an Mitteln und &chlich gebildeten Arbeitskräften, um die Erforschung
der geschichtlichen Vergangenheit der Stadt, die Herausgabe der reichen
lad nicht nur für die lokale Geschichte so bedeutenden Schätze des Stadt-
^'chiTs im Grofsbetriebe zu unternehmen. Es ist zu hoffen, dafs infolge
— 116 —
des Antrages Funck auch für Frankfurt a. M. eine solche Historische
Kommission gebildet wird^ der es an Mitteln und an Sto£f nicht fehlen
wird. Das geistige Leben und das wissenschaftliche Interesse in diesem als
Stadt des Geldes verrufenen ahen Zentrum deutscher Kultur wächst von
Tag zu Tagy nicht zuletzt dank der Befmchtung durch die Akademie für
Sozial- und Handelswissenschaften. An dieser ist jetzt ein Lehrstuhl fiir
Geschichte geschaffen worden» den demnächst Prof. Georg Küntzel (bisher
in Bonn und im Nebenamte an der Handelshochschule in Köln tätig) ein-
nehmen wird. Dies wird auch der lokalen Geschichtsforschung neue An-
regung und neue Kräfte zuführen, die in Verbindung mit dem örtlichen
Geschichtsverein, der Administration des Böhmerschen Nachlasses, lud vor
allem mit dem Stadtarchive den besten Erfolg für die von den städtischen
Behörden gewünschten Forschungen versprechen. Diese sollen in erster
Linie einer wissenschaftlich gediegenen Darstellung der Geschichte der Stadt
dienen, eine Aufgabe, an die sich seit hundert Jahren, seit Anton Kirchner,
niemand mehr herangewagt hat.
Et]ig:egangeno Bücher.
Atz 1er, Alois: Quellenstoflfe und Lesestücke für den Geschichtsunterricht
in Lehrerseminaren. L Band: Deutsche Geschichte bis zum Ausgange
des Dreilsigjährigen Krieges. Paderborn, Ferdinand Schöningh, 1903.
304 S. 8®. M. 2,50. U. Band: Deutsche und brandenburgisch-prei;-
fsische Geschichte vom Ausgang des Dreifsigjährigen Krieges bis 1 8 1 5 .
Ebenda 1904. 259 S. 8®. M. 2,30. IIL Band: Neueste Geschichte
seit 1815 bis zur Gegenwart. Ebenda 1905. 286 S. 8^ M. 2,40.
Auskunftsbuch fUr Schrifbteller, herausgegeben von der Redaktion der
„Feder". 2. Auflage. [=» Schrifbtellerbibliothek Nr. i]. Berlin W.,
Elfsholzstrafse 5, Federverlag. 144 S. 8®.
Bock: Göttinger Studentenleben gegen Ende des XVIIl. Jahrhunderts [= Pro-
tokoUe über die Sitzungen des Vereins für die Geschichte Göttingens im
12. Vereinsjahr 1903 — 1904 (Göttingen 1905), S. 46 — 95].
Bulletin de la Socidt^ Neuchateloise de Geographie tome XV.
Neuchatel, Paul Attinger, 1904. 181 S. 8^.
Crohns, Hjalmar: Zwei Förderer des Hexenwahns und ihre Ehrenrettnng
.durch die ultramontane Wissenschaft. Stut^;art, Strecker & Schröder,
1905. 62 S. S^.
Ebstein, Erich: Zur Geschichte der venerischen Krankheiten in Göttingen
[s> Sonderabdruck aus Janus, Ärckwes iniemoHanales pour Vkistaire
de la Midedne et la Qiograpkie fniduxUe. Xe ann^ i905]- ^9 S. 8^.
Fournier, August: Napoleon L, eine Biographie. II. Band: Napoleons
Kampf um die Weltherrschaft. 2* Auflage. Wien, F. Tempsky, und
Leipzig, G. Freytag, 1905. 407 S. 8^
Gutjahr, Emil A.: Zur neuhochdeutschen Schxiitspmäie Eykes von Bepgowe,
des Schöffen beim obersten sächsischen Gerichtshofe und Patriziers in
der Bergstadt zu Halle a. d. Saale, eine sprach- und rechtsgeschicht-
liche Abhandlung als Prodromos [«»> Beigabe zum 4. Jahresbericht
der Städtischen Vierten Realschule zu Leipzig-Lindenauj. Leipzig 1905.
80 S. 4«.
— 117 —
Gronzel, Joseph: Die Reichenberger Tuchindustrie in ihrer Entwickdung
Tom zünftigen Handwerk zur modernen Grofsindustrie [=3 Beiträge zur
Geschichte der deutschen Industrie in Böhmen, herausgegeben vom
Vereine für Geschichte der Deutschen in Böhmen V]. Prag, in Kom-
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Sx^rgenfrey, Theodor: Hennann Haessel, ein deutscher Buchhändler.
Reisebrief^ aus der Mitte des XDL Jahrhunderts nebst einem Lebens-
abrifs. Mit einem Bildnis. Leipzig, H. Haessel, X9O4. 64 S. 8^
Steffen, Wilhelm: Ein altmärkisches Rittergut m 2 Jahrhunderten [■■ Pro-
grakmcf des Kösigl. Pädagogiums zu Putbus, Ostern 1905]. sx S. 4^
Henuugebor Dr. Armin Tille in Leipsig.
Dmck and Verlag von Friedrick Andreas Perthes, Aktiengesellschnft, Goduu
Blner Mitarbeitertchnft von 800 henrorrafendeo PersSnllchkeiteo darf sich der »Taf ". die
modernste illustrierte Tageszeitung des Erdkreises, rühmen. Seine Bedeutung erreichte der «,Yac^ anrch
die konsequente Durchführung des Wahlsptuches ,, Keiner Partei dienstbar — Freies Wort jeder Partei t**
Ausfuhrlicheres beliebe man dem der heutigen Nummer beiliegenden illuatrierten Proapekt cu entnehmen.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
zur
Forderung der landesgeschiclitljchen Forscbung
VIL Band Februar 1906 5. Heft
Hennstiege
Von
Karl Rubel (Dortmund)
Im letzten Novemberhefte der Deutschen OeschicJUsbläUer , oben
S. 27 — 39, erörtert der verdiente Rennstiegforscher Ludwig Hertel
die Frage nach Entstehung und Bedeutung des Rennstieges des
Thüringer Waldes noch einmal unter vollständiger Heranziehung und
Berücksichtigung der gesamten Literatur. Er geht auf die Bedeutung
des Wortes rennen, welches „als Berittener dahersprengen** gedeutet
wird, zurück und erblickt in dem Thüringer Rennstieg seiner Ent-
stehung nach einen „Kurier- und Patrouillenweg**.
In meinem Buche Die Franken^) hatte ich bereits (S. 180 f.)
hervorgehoben, dafs der „Rennstieg** Thüringens, auch der Rennstieg
zwischen Trostadt-Beinerstadt, also der Belriether Rennstieg, von ganz
bestimmten Beamten in einer ganz bestimmten Zeit, letzterer nämlich
um 880, zu ganz bestimmten Zwecken angelegt sein müsse. Es
handelte sich bei der Herstellung des Belriether Rennstiegs um die
Herstellung der Scheidungslinie der beiden neu zu bildenden Marken
von Trostadt und Beinerstadt. Sowohl die Anlage dieser neuen
Marken, wie der Zweck der neuen Markbildung lassen sich im einzelnen
hier urkundlich festlegen. Es bedeutet hier die Ziehung der neuen
Marklinie zugleich eine Aufhebung der alten Ödgrenze und die Zuweisung
der Ländereien zu beiden Seiten an die neugebildeteri Marken von
Trostadt und Beinerstadt, die durch den Belriether „Rennsteig** fortan
geschieden wurden. Mit der Ziehung der Marklinie tritt hier die neue
Mark- und Hufenverfassung um 880 hervor, und es zeigt sich, dafs die
Rechtsverhältnisse der neuen „Bifange** geordnet wurden. Das war aber
nach meiner Auffassung das Resultat einer systematisch vorschreitenden
Regulierung des deutschen Volkslandes durch die fränkischen Be-
amten unter Einziehung bestimmter Teile zum Königsgut und Ein-
0 Die Franken, ihr Eroberungs- und Sieddimgssystem im deiäschen Volks-
i^^ (Bielefeld 1904).
9
— 120 —
richtuDg' neuer befestigter Positionen für die Königsleute. Dais die
fränkischen Beamten in der von mir voigezeichneten Weise wirklich
unter besonderem rechtlichen Schutze vorgegangen sind, namentlich
aber auch, dais sie gro&e Königsländereien =» regna dabei aus-
geschieden haben, und dais solche regna schon in merowingischer
Zeit existiert haben, hat neuerdings A. Heusler in der Deutschen Ver-
fiissungsgeschichte (Leipzig 1905), S. 40 0*. als richtig aus meinen Unter-
suchungen übernommen, während Ulrich Stutz in der Zeitschrift der
Savignystiflung 1905, S. 349 ff. das ganze Verfahren als nicht beweisbar
bestreitet und speziell die Herstellung von regna durch fränkische
Beamte in Abrede stellt, obwohl solche regna namentlich auch an
der südlichen Sachsengrenze deutlich nach meiner Auffassung ebenso
wie in Kärnten, als Königssundem <» regnum bei Wiesbaden sowie
an zahlreichen anderen Stellen nachweisbar sind ^).
In dem Werke Die Franken hatte ich von Einzelfällen aus, die
klar zu erkennen waren, die Anlage des Thüringer Rennstieges, sowie
der Rennstiege bei Fulda erörtert Bei Fulda lieis sich feststellen,
dafs, als Sturm 747 die Mark Fulda in der vasta solihido ausschied,
an der Grenze dieser Mark noch kein Weg irgendwelcher Art vor-
handen war. Ein Teil dieser von Bonifatius neu gebildeten Grenze
wird aber 1011/1021 Reinneweg genannt. Die Umgrenzung des ganzen
Gebietes hatte also hier auch die Schaffung eines langen Rennsti^es
als Grenzweges zur Folge gehabt. Solche Neuumgrenzungen sind
aber nach meiner Beweisführung im ganzen deutschen Eroberung-
gebiete von fränkischen Beamten vorgenommen worden. Die neuen
Grenzlinien wurden nach einem einheitlichen Plane von bestimmten
fränkischen Beamten, welche mit der praefectura, d. h. der Neuein-
teilung des Landes, beauftragt waren, angeordnet und durchgeführt.
Die erste Mafsregel der Markenziehung war hierbei in der Regel die, dafs
lange, grofse, sich weithin erstreckende Marklinien wesentlich auf den
Gebirgskämmen hin geführt und durch den Umritt des obersten
Beamten, des fränkischen Herzogs, als Grenzen sanktioniert wurden.
Die weitere Folge war dann die Führung der Querlinien und die
Bildung der Einzelmarken. Dafs so die einzelnen Marken erst allmählich
i) Ein Haaptargnment für Einrichtung solcher regna war fUr mich die Tatsache,
dais in dem Kapitalare Boreüns I., S. 66 regnum in dem Sondersinne des Wortes genan
so verwandt war, wie in der vita Hladowici, cap. 32, und dais eben dieses hier bezeichnete
regnum, welches Hradrad hatte Air sich einziehen woUen, als fränkisches Königagnt
sich deutlich nachweisen Ifiist (S. 372 ff.). Dafs Stutz gerade diesen Nachweis eines karo-
lingischen regnum als nicht beweiskräftig bezeichnet, war für mich eine gewisse Oberraschmig.
— 121 —
entstanden sind» läfst sich urkundlich belegen. Beispielsweise existierten
in der Schweiz schon 797 die Thur- und Murgmarken als Gesamtmarken,
wahrend uns Querteilungen einzelner Marken an der TöCs, nämlich der
Uzwiler und Flawiler Mark, erst aus dem Jahre 819 *) überliefert sind.
Ebenso müssen im südlichen Westfalen durch Ziehung der Scheide-
linien auf den Höhen den Flüssen parallel erst die Ruhr-, Röhr-, Mohne-,
Wennemermarken geschaffen worden sein {BeUräge zur OeschicJUe Dort-
mtmda 10, 1901, S. 62), ehe diese Marken in Untermarken zerlegt
wurden. Die erste Maisregel bildete meist die Ziehung der groisen
Linien durch den Herzog ; diese Linien waren so breit, dais sie durch
feierlichen Umritt sanktioniert werden konnten. Die UnterabteUungen
wurden oft auch von Unterbeamten, prinefedi, oder in Einzelfallen auch
— 90 819 bei Flawil-Uzwil — durch misst der Grafen vorgenommen.
Die Bildung der Einzelmarken lag oft erheblich später als die Ziehung
der groisen Marklinien. Da der Herzog die gro&en Linien durch
Umritt sanktionierte, nannte man diese Linien an manchen Stellen
orsprünglich „Rennw^e**, also Reitwege, während in Westfalen und
anderweitig auch andere Namen, wie SfuUwege *), auch wohl Hiletoege,
sich erhalten haben. Die Entstehung dieser Wege, sowie die Namen-
gebung mufs an den Stellen verfolgt werden, wo sie urkundlich
zaerst auftreten. Dabei ergibt sich: die Marken wurden etwa seit
7S0 zugleich mit den alten Grolspfarreibezirken durch lange, über
den Kamm der Gebirge gezogene Grenzlinien gebildet. Urkundlich
hebt sich so zuerst im IX, Jahrhundert (vgl. Dronke, Trad. FulcL,
c 15), der Retmkcech als ein die Pfarrei Salchenmünster begren-
zender Höhenweg ab. Er ist Grenzlinie des Kirchspiels, das hier
wie anderweitig *) an friere manne fdt stöfst. Kirchspiel- und Marken-
bfldong ist nach meiner Darlegung identisch % An die urkundlich
älteste Bezeichnung muls man anknüpfen, um den bei Namen-
gebnng malsgebenden B^^ff zu erfassen. Auch der Thüringer Renn-
i) So bat Nengart, OodM dipL I, 203, die Urkunde richtig dauert; falsch datiert
■cWartmann, Ü,'B, HI, S. 680. Die Thor- and Margmarken =a Tbronomareat
Mm^umgcmareOy Wart mann, U.-B. I, 148, Ton 797.
2) SmUweg itt ron 9fkU *=> SchneiÜM abgeleitet ; die bei den Briloner Marken noch
jettt jihrlidi Teraoitalteten Grensbegehangen heüsen noch heate „Snatzttge**.
3) Die FSranken, S. 7 $ ; bei Wflnborg liegt frioro Frankono erbt, also ein Frankensondem .
4) Die Bestätigong dieser Identifiderang findet sich bei Heck, Der Saeheen-
fl*Brt S. 194, Anm. 2 : hier ist Go, Del and altes Kirchspiel als wahrscheinlich identisch
bn»ii,huiL Aber alles bereht a«f Neaeinteilang; so sind anch die 100 woreeap dreier
^>**ncher Goe ron 1133, die Meyer, VerfaemmgegeeehiehU I^ S. 412 nachweist, die
^"^ der neocn frinirischm Goe, deren man eben 100 gebildet hatte.
9*
— 122 —
stieg' erscheint schon früh als Grenzstieg ^). Die Ziehung der langen
Marklmien, also die Markbildung war mir in meiner Untersuchung die
wichtigste Frage; nur die urkundlich ältesten Rennstiege glaubte ich
heranziehen zu dürfen und sie als neu gezogene Marklinien bezeichnen
zu können. Eine Bestätigung dieser Auffassung finde ich auch in dem
neuesten Aufsatze Hertels, der als ortskundiger Forscher S. 38 feststellt:
„Der Rennstieg bildet eine Landesgrenze oder ehemalige Amts- und heu-
tige Forstg^enze" ; er ist also als eine neue Grenzlinie bei den erstmalig^en
genauen Grenzabsetzungen, die nach meiner Auffassung von den fränki-
schen Beamten zur Beseitigung der altgermanischen ödgrenze vorge-
nommen wurden, mit grofser Wahrscheinlichkeit in Anspruch zu nehmen.
Gegen diese Erklärung, die sich auf die Tatsache stützt, dafis
viele Grenzabsetzungen des VI. bis X. Jahrhunderts, die uns aus Ur-
kunden überliefert sind, tatsächlich erweisen, daüs ein Verfahren wie
das oben entwickelte diesen Grenzabsetzungen zugrunde lag, wendet
Ilertel ein: ,,rennen heiüst nicht langsam dahinreiten, sondern als Be-
rittener dahinspr engen** und „ein Weg, der dem Umzug des Herzog«
diente, konnte doch unmöglich als Rennweg bezeichnet werden".
Dieser Einwand ist, glaube ich, sehr einfach durch die Frage zu wider-
legen: Wie hiefs denn im Mittelalter ein Reitweg, der für den gewöhn-
lichen Verkehr berittener Leute bestimmt war, nicht, wie Hertel meint,
als „Rennersteig**, das ist ein Pfad für hin und her sprengende Reiter-
boten, ein „Kurier- oder Patrouillen weg**, sondern als ein gewöhn-
licher, für reitende Leute bestimmter Weg, als Reitweg im heutigren
Sinne des Wortes diente? Befragen wir Grimms Wörterbuch, so
finden wir bei „Reitweg** nicht einen einzigen Beleg aus früherer
Zeit, das Wörterbuch gibt nur die Worterklärung für Reitweg. Meiner
Ansicht nach ist der Name „Reitweg** aber überhaupt modern, und den
mittelalterlichen Namen für einen Reitweg hat uns Hertel durch seine
unermüdliche Tätigkeit in den Sdiriften des RennsteigvereinSf 2. Heft
(1899), selbst erbracht, indem er aus dem gesamten deutschen Sprach-
gebiete 143 Rennwege nachgewiesen hat*). Ich wüfste nicht, welches
andere gemeinsame Merkmal diese 143 Rennwege haben könnten als
das, dafs sie eben Reitwege waren *). Die deutsche Sprache hat Be-
i) Der Rennstieg wird hier 11 44 als „Frankenstieg*' bezeichnet Rubel,
Frtinken, S. 284.
3) Weitere Rennwege sind in den Blääem des Schwäbischen AlbteremSf 1905,
S. 439 genannt.
3) Dafs in späterer Zeit oft nur dieses das charakteristische Merkmal der R^oq.
wege war, zeigen besonders deutlich die von Hertel, Die Rennsteiffe (1899) ang«lll]irt<
Nr. 15. 16. 19. 20. 53. 68. 81. III u. a.
— 123 —
giiffe wie jucw^, drifflalwege, notwege^) geprägt, ein mittelalterlicher
Naoie fiir „Reitweg*' ist mir nirgends bekannt geworden; es wird
eben nur der einmal geprägte Name „Rennweg*' auf alle
Reitwege angewandt. Erst in neuerer Zeit ist der Name Renn-
wog speziell für Reitwege aufgegeben und durch „Reitweg** ersetzt
worden.
Indessen, diese recht einfache Erklärung läfiBt die Frage ofifen:
Wann und wo wurde der Begriff Reitweg im speziellen Sinne des Wortes,
also Renn w^, zuerst ausgeprägt? und weiterhin : An welchen Wegen
haftete zunächst der neugebildete Begriff? Hier glaube ich wiederum
Hertel beistimmen zu können , wenn er für den Thüringer Rennstieg
und analoge alte Rennsti^e zunächst einen Sondersinn feststellt. Die
Verallgemeinerung des Begriffes scheint mir späteren Datums zu sein.
Die Entstehung des Namens und der Sache werden wir eben an den
Stdlen au&usuchen haben, wo uns beides zeitlich zuerst entgegen-
tritt, also bei Reitwegen, die wie bei Salchenmünster im X. Jahr-
kimdert, oder anderweitig im XI. bis XIII. Jahrhundert zuerst mit dem
Namen „Rennstieg*' bezeichnet werden und deren Anlegung uns ur-
kundlich bekannt ist. Es mufs vor dem Allgemeinwerden des Begriffes
einen B^riff „Rennstieg*' gegeben haben; die Namengebung wie die
Sache, d. b. die Ziehung der Rennstiege, bringe ich nur mit den Ein-
richtungen in Verbindung, die ich als zu dem fränkischen Eroberungs-
nnd Siedelungssystem gehörig bezeichnet habe. Viele dieser Einrich-
tungen gehen, wie mir neuerdings immer deutlicher wird, auf römische
Traditionen zurück. Solche römische Tradition ist es, wenn die Haupt-
straliien als Staatsstraüsen , Königsstrafsen mit fränkischen Zollstätten
besetzt, mit fränkischen eurtes und oos^a geschützt wurden, und wenn
der Staat die Hand auf das vastum, das herrenlose Land, also die
groisen Waldungen legte, indem er dieselben durch Neuforestierung
imgrenzen liefs. Die Breite der königlichen, öffentlichen Strafise
i) Die ZaMmmensuUaogeii bei Grimm, BeehUaUertümer, S. 68 ff., 104 ff. ergeben
■■Xendt einen „Reitweg".
t) Da£i auch hier die römitcbe Tradkioa sehr fiel weiter gereicht hat, als man
biiher annahm, leigt meines Eracbtens schon die Tatsache, dafs sich in den PemUnger-
«chca Tafeln ein Bild des römischen Strafsennetaes erhalten hat. Schwerlich dienten
^emtige Reproduktionen nur wissenschaftlichen Zwecken. Schon die fränkischen Missi-
•Btit sachten allerorten die easteüa dirtda, die ferfallenen Römerkastelle an den alten
Kdmentrafsen anf, ehe sie sich wie beispielsweise Gallos so Neagrttndnngen entschlossen.
Die friakisoben Könige übernahmen vollends das spitrömiscbe Prindp der Beherrscfanng
^ KüitintrafiieB dardi feste Positionen. Vgl. meine im Drack befindlichen Aas-
^■ftnmgeo in den Bonner Jahrbüchern,
— 124 —
r^elte der königliche vasaus durch die quergehaltene Lanze *). Auch
die Breite der Rennwege als neu geschaffener Grenzwc^ mnb eben
danach ursprünglich so bemessen gewesen sein, dals der Reiter hier
ungehindert auch bei schneller Gangart des Pferdes passieren konnte,
ohne Gefahr zu laufen, von überragenden Ästen gefährdet zu werden.
Es tritt nun an verschiedenen Stellen deutlich hervor, dafs die fiän«
Irischen Grenzbeamten bei der Grenzziehung typische, neue Namen
gewählt haben *). So möchte ich es als ziemlich sicher bezeichnen,
daüs dieselben Beamten, die die Breite dieser neuen Grenzlinie ent-
sprechend den Vorschriften über die Breite der vüie regiae so be-
messen haben, dafs ein Reiter ungehindert jederzeit auf diesen Linien
passieren konnte, und die rechtliche Qualität dieser Strafsen festiegten,
auch den neuen Begriff und Namen „Rennweg" oder „Rennst!^"
ebenso wie den der Königsstrafse gebUdet haben. Dieses zunächst
bei Grenzziehungen auf lange Entfernungen hin neu geprägte, fränkische
Wort ist in groben Teilen des deutschen Sprachgebietes späterhin
zum Nomen appellativum für „Reitweg" überhaupt geworden, während
vorher den Deutschen der Name wie die Sache eines Reitw^res
schlechthin unbekannt war ').
Entkleidet man also den Namen durch diese Deutung allerdings,
des poetischen Hauches, der über demselben lag, so zeigt sich andrer-
1) Rubel, Beüräge zur Oeaehiehie Dortmunds X (1901), S. 73^. Grimm,
ReekUaUertümer 68 ff. 73. 104. 553 f.
2) Völlig deatlich ist die Neabenenoang Escherode und Benterode durch Eingreifen
der Beamten, da erst die Zamessang der „Bifönge'' darch karoUngische Beamte an Asic
and Bennit (Mtthlbacher, Nr. 467, 477) zur Namensgebung der schon bestehenden Siede-
Imigen gefUhrt hat; anch der „frenkische Wald", Namen wie Aplast and Pirinbach and,
wie ich glaobe, noch zahlreiche andere Namen berahen auf einer Tradition der Namen-
gebang, die sich bei der Markenziehang entwickelt hat Vgl. Die Franken, S. 458.
3) Für den Rennersteig, der sich darch ein Jahrtausend lang als Pfad fiir hin ond
her sprengende Reiterboten erbalten haben soll, versagt alles, was wir über ?orfränkisches
Kriegswesen wissen. Die grofsen germanischen Fliehbargen, wie die Teatoborg, waren
in der Römerzeit die Mittelpunkte, von denen aus die Kriegsoperationen geleitet wurden.
Um solche Fliehbuigen handelt es sich auch in den frinkischen Feldzägen in Deutschland.
Die weitere Entwickelnng des Reiter- und Lehnswesens roUends läfst ebenfalls die Annahme
eines entwickelten Patronillendienstes der Deutschen nicht zu. Eine Trennung ron ffir Reiter
berechneten Stralsen und ?on Strafsen für Fufsgänger in altgermanischer Zeit, wo die FUeh-
buigen existierten, ist in keiner Weise belegt. Sowohl die Römerkri^e, wie die Kriege Karli
des Grofsen im Sachsenlande zeigen immer nur Konzentriemng der Deutschen in grofsen
nunmehr genugsam bekannten Volksbargen, wie die „Sigibarg^ und andere, auch die
„Teutobuig^ und „Bnigscheidnngen^ es waren. Von Reiterabteihmgen und Patrouillefi-
dienst ist hier nichts überliefert.
— 126 —
seits, wie schon jetzt die Rennstiegforschung der allgemeinen Ge-
schichte zugute gekommen ist und weiter zugute kommen kann. Dem
Verfnser dieser Zeilen stehen Karten zur Verfugung, in die alle
Ifaikenteilungen und Servitutbefreiungen eingetragen sind, die von
der Generalkommission in Münster im südlichen Westfalen vorge-
oommen wurden ; auch ältere Teilungen sind erkennbar. Ein gleiches
Bild wird sich für den Thüringer Wald wohl beschaflfen lassen, und
niemand scheint mir zur Herstellung eines solchen Kartenbildes mehr
benifen zu sein, als der rührige „Rennstiegverein" unter seinem be-
währten Vorsitzenden. Stellt es sich durch solches Karten- und
akteomafsiges Material heraus, dab die Scheidung zweier Marken, wie
(fie von Trostadt und Beinerstadt oder von Salchenmünster , durch
den Rennsti^ nicht ein singulärer Fall, sondern bei alten Marken-
gienzen die feste Regel ist, so hätte die Geschichtswissenschaft
dadurch einen weiteren bleibenden Gewinn. Allerdings, die Thu-
dichumschen Grundkarten sind für eine derartige Arbeit viel zu
wenig detailliert Eben dasselbe genaue Nachgehen der alten Renn-
steiglinie, wie sie der „Rennstiegverein'' geleistet hat, ist auch für die
Erforschung der alten Marklinien und Pfarreigrenzen nötig. Nur durch
Forschung im Terrain läfst sich die Tätigkeit der fränkischen forestarii
oft erst wieder klarstellen, aber eben diese Arbeit hat einen eigenen
Reiz; die Entstehung der mittelalterlichen und nachmittelalterlichen
Staatengebilde läfst sich nicht voll erfassen, wenn man nicht alle
diese Dingen bis in das einzelnste verfolgt, und ich habe die
Hoffnung, dafs der „Rennstiegverein" auch seinerseits die gesamten
alten Markengrenzen des an den Rennsteig stofsenden Gebietes fest-
zustellen mit in sein Arbeitsprogramm aufnehmen wird; vielleicht
findet sich hierbei auch noch neues, urkundliches Material zur Ge-
schichte der alten Zentenenmarken und Pfarrsprengel Deutschlands.
Dais diese alten Grenzen mit alten Rennstiegen zusammenfallen, ist
allerdings die Überzeugung, die ich aus der Anwendung der ver-
gleichenden Methode auf diese Dinge gewonnen habe; wo sich die Probe
madien läüst, was allerdings bei der Beschaffenheit des Materials
mv in Einzelfallen wie bei den friesischen Delen oder Goen, oder den
alamannischen Huntari möglich war, hat das Ergebnis meine Auffassung
bestätigt Ceniene, huniari, go, dd, alter Grofspfarreibezirk sind aller-
otten fränkiscl^e Neuschöpfungen: nur der Name, nicht die Sache
wechselt nach den Landschaften, wie der „Rennstieg'' eine ursprüng-
lidi namentlich in Thüringen gebräuchliche Sonderbezeichnung für
die neue auf den Höhen weithin gezogene Marklinie der Franken
— 126 —
ist, welche zu einer Gesamteinteilung des Landes für Verwaltungs-
zwecke und seit den Tagen des Bonifatius auch zur Einteilung in
Pfarrsprengel gezogen wurde.
Gesehiehtliehe Iiehr^ und Hsindbüeher
Von
Heinrich Werner (Mayen)
Die Deutschen GeschichisbläUer suchen, wie ihr Prospekt sagt, „vor
allem ihre Freunde im Kreise der Lehrer höherer Lehranstalten",
weil die Zeitschrift „ihnen die Möglichkeit gibt, sich über die
schwebenden Punkte der Geschichtsforschung zu unterrichten, ihr
Wissen dem Stande der Forschung gemäfs in einzelnen Punkten zu
berichtigen und zugleich zu vertiefen". Das Lehrbuch gehört zum
täglichen Handwerkzeug des Lehrers der Geschichte. Die Hand-
bücher wird er nicht weniger oft zu Rate ziehen, aus denen ihm
gleichsam wie aus einem Reservoir neue Gesichtspunkte und zahl-
reiche Belehrungen über den Stoflf des zu behandelnden Abschnittes
der Geschichte, sowie über seine verschiedenartige Bearbeitung zu-
strömen. Es liegt deshalb im wohlverstandenen Interesse der Zeit-
schrift, einige der wichtigsten geschichtlichen Lehrbücher Revue
passieren zu lassen, um den Lehrer darüber zu orientieren und ihm
die Wahl erieichtem zu helfen. Die Kenntnis der zurzeit bedeutend-
sten Handbücher ist aber für jeden Gebildeten, der sich schnell und
zuverlässig über einen Abschnitt der Geschichte unterrichten will, von
grofsem Vorteil. Wie viele Unrichtigkeiten und veraltete Anschau-
ungen würden aus der Tagesliteratur, aus Reden allerart verschwinden,
wäre eines der modernen Handbücher über die einschlägige Frag;-e
zuvor zu Rate gezogen worden. Um wieviel mehr aber mufs es dem
Lokal forscher empfohlen werden, den kleinen Ausschnitt aus der
Geschichte, den er behandeln will, im Lichte der grofsen Gesamt-
forschung zu sehen und sich dabei des rasch und sicher leitenden
Handbuchs als Führer zu bedienen. Aber auch den Verfassern von
Lehrbüchern der Geschichte selbst ist Fühlung mit den besten Hand-
büchern unbedingt nötig, wenn sie den Stand der Forschung kennen
und nicht auf alten, breitgetretenen Spuren weiter schlendern wollen.
Gründe genug, den genannten Kreisen eine kurze Übersicht über die
hauptsächlichsten Lehr- und Handbücher im folgenden zu gewähren.
Über einen Teil der Lehrbücher, der dem Zweck der Deuisdken
GeschicktshläUer , der Förderung der landesgeschichtlichen Forschung»
— 127 —
am nächsten liegt, hat früher bereits Martin Wehr mann') gebandelt.
Der Verfasser erhebt mit Recht die Forderung, die Heimats- und
Landesgeschichte im Unterricht zu behandeln, vermifst aber dafür
noch branchbare Bücher. Wir werden auf diesen Punkt noch zurück-
kommen. Uns gilt es zunächst hier einige gemeinsame Züge zu-
sammenzustellen, die bei der Betrachtung von Lehr- und Handbüchern
sofort in die Augen stechen.
Die Produktion von Lehr- und Handbüchern ist grofe. Alle
wssen sich zu behaupten, weil jedes besonderen Wünschen Rechntmg
tragen wUl. Namentlich für den Unterricht wird die Wahl eines Lehr-
buches schwer. Neben dieser Massenproduktion an Lehrmitteln
herrscht auf diesem Gebiete auch der Grofsbetrieb. Neue Lehr- und
Handbücher entstehen und alte werden wieder aufgeputzt und gehen
nm der Reklame willen mit erhöhter Auflagezahl unter das Publikum.
Die höheren Anforderungen machen auch hier Teilung der Arbeit
nötig, nachdem der Umfang des Stoffes schon längst SpezialStudium
hervorgerufen hat. Oft sind deshalb einzelne Teile geradezu hervor-
ragend, andere Teile schwächer. Zwar fehlt es dem betreffenden
Buche nicht an gemeinsamem und einheitlichem Arbeitsplan, aber oft
an dem einheitlichen persönlichen Stil. Man erkennt deshalb eine
Ungleichheit, die im ganzen unbefriedigend wirkt.
An der Spitze der einzelnen Handbücher stehen ohne Zweifel
die von Afsmann undGebhardt. Beide sind gleich wissenschaft-
lich gediegen und besonders deshalb zu empfehlen, weil sie durch ihren
literarischen Nachweis zur Orientierung und zum Weiterstudium an-
regen. Ersteres aber ist ein älteres Buch, das nur uiiter diesem alten
Namen geht, letzteres ist eine Neuheit, aber beide unter Mitwirkung
mehrerer Fachgelehrten hergestellt. Vor mir liegt W. Afsmanns
Otsckickfe des Mütelaliers von 375 — 1517, zur Förderung des Quellen-
studiums, für Studierende und Lehrer der Geschichte, sowie zur Selbst-
belchrung fiir Gebildete. 3. neue Auflage, herausgegeben von Prof.
Dr. L. Viereck, 3. Abteilung: Die beiden letzten Jahrhunderte des
Ifittelalters : Deutschland, die Schweiz und Italien von Prof. Dr.
R. Fischer, Prof. Dr. R. Scheppig und Prof. Dr. L. Viereck. Erste
Lieferung. Braunschweig, Vieweg & Sohn 1902, gr. 8^ 635 SS.
12 A. Zweite Lieferung, 1906. S. 637 — 1000. 7 Ulf. Das frühere
Buch ist zu seinen Gunsten vollständig umgestaltet worden. Es will
suhA in der neuen Gestalt „kein fessehides Lesebuch zur Unterhaltung,
i) Über landesgesehiehtliehe Lehr- und Lesebücher fiir den heimatsgeschiehiliehen
UfUerrMt in dieser Zeitschrift, 3. Bd., S. 32$ ff. und a. Bd., S. 265—373.
— 128 —
sondern ein gutes Hilüsmittel zur ernsten Arbeit sein**. Es will auch
nicht Geschichte lehren, sondern zum Studium anr^en und anleiten.
An der Hand der Quellen und der wichtigsten Literatur, die bis auf
die neueste Zeit genau angegeben werden, erhält der Lehrer sowohl
wie der Gebildete ein Gesamtbild geschichtlicher Vorgänge, deren
Kenntnis er jederzeit nachprüfen und erweitem kann. Die Vorzüge
des alten Afsmann, die Art der Behandlung, die Gliederung nach
Staaten und die Hinleitung der Leser durch Sonderdarstellungen auf
die Quellen sind noch erhöht worden durch Übersichtlichkeit und Zu-
verlässigkeit der Angaben, durch Zerlegung größerer Abschnitte in
kleinere und durch Hervorhebung der Stichwörter durch starken Druck.
In der zweiten Lieferung hat der Herausgeber sich noch ein be-
sonderes Verdienst erworben, indem er ein reichhaltiges Literatur-
verzeichnis und zuverlässiges Namen- und Sachregister hinzufügte.
Ein ähnliches Werk, das ebenso wissenschafdich und allseitig
das geschichtliche Leben zusammenfa&t , ist Bruno Gebhardt,
Handbuch der detdschen Geschichte, 2 Bde., 2. Auflage, Union, Deutsche
Verlagsgesellschaft in Stuttgart usw. 1901. Das Buch hat aber auch
seine besonderen Vorzüge : es behandelt nur die deutsche Geschichte
und zwar die mittelalterliche in Band i und die neuzeitliche in Band 2.
Also Kürze lag hier in der Absicht des Herausgebers. Aus dieser
Raumbeschränkung leitete sich die vorliegende Form des Handbuches
ab, die zum bewährten Vorbild das Lehrbuch der KirchengeschichU
von Kurtz hatte. Trotz der Kürze kann man dem Werk doch mög-
lichste Vollständigkeit zusprechen. Der Plan ist folgender: In Para-
graphen wird der Gang der Ereignisse und der Zusammenhang der
Zustände summarisch in groOsem Druck entworfen. Einzelheiten
werden unter fortlaufenden Ziffern in kleinerem Druck, die oft sehr
ausführlich und umfangreich sind, beigegeben. Literatur- und Quellen-
angaben sind nicht den Text begleitend hinzugefugt, sondern stehen
teils dem Grofisgedruckten vor oder folgen dem kleingedruckten Texte
nach. Dadurch geht dem Werke etwas an Wissenschaftlichkeit des
Afsmann ab. Es wendet sich auch mehr an die Gebildeten als an
die Fachgelehrten. Immerhin ist es auch zum vertiefenden Studium
sehr anregend, zumal es auch die rechtliche, wirtschaftliche und
geistige Entwickelung unseres Volkes berücksichtigt. Am gelungensten
ist das Mittelalter behandelt, am schwächsten die Zeit von 1740 — 1815.
Noch weiter entfernt sich von der streng wissenschaftlichen Gestalt
des ACsmann das Lehr^ und Handbuch der Weltgeschichte von Georg
W e b e r , 2 1 . Auflage. Unter Mitwirkuog von Prof. Dr. Richard Friedrich,
— 129 —
Pio£ Dr. Ernst Lehmann, Prof. Fr. Moldenhauer und Prof. Dr. Ernst
Schwabe vollständig' neu bearbeitet von Prof. Dr. Alfred Baldamus,
4 Binde. Leipzig, Engelmann, I. Bd. 1902, 6 Jl. II. Bd. 1905, 8 Jl.
Webers Lehrbuch der Weltgeschichte gehört seit seinem ersten Er-
sdieinen im Jahre 1846 zu den am weitesten verbreiteten und bekannte-
sten Geschichtsbüchern ; durch es ist Weber populär geworden. Bei der
Nevbearbeitung von Baldamus, der selbst Schulmann ist, ist noch der
Titel Handbuch hinzugekommen, weil es sich vorwiegend an die ge-
bildeten Kreise wendet. Auch haben sich die ursprünglichen zwei
Bände um zwei vermehrt und so sind infolge der Fülle des Stoffes
vier Bände entstanden. Der Herausgeber will ja „eine wirkliche Welt-
geschichte dem deutschen Volke geben*'. Es ist deshalb die aulser-
deotsche und außereuropäische Geschichte nicht als Anhängsel be-
handelt, sondern sie hat in besonderen Kapiteln ihren Platz erhalten.
Neben dieser Erweiterung des Lehrbuchs zur Geschichte der Kultur-
menschheit ist aber auch die Betrachtung vertieft worden. In Kapiteln
wie „Überschau und Vorblick, Richtlinien der Entwickelung'' u. a.
sind die Grundzüge der Entwickelung und gro(se Gesichtspunkte
herausgearbeitet, so dafs der Leser in der Fülle des Stoffes sich zu-
reditfinden kann. Die Hinweise auf gleiche oder ähnliche Vorgänge
madien das Buch für den Gebrauch des Geschichtslehrers noch besonders
dienlich, indem sie ihm Konzentrationspunkte bieten. Ein anderer
Voizog des Handbuches ist es aber, dafs das Wirken grofiier Männer
verwoben ist mit den wirtschaftlichen Kräften, den allgemeinen Ideen
Bod geistigen Strömungen. Die äuisere Form der Darstellung ist
lekr abwechslungsvoll und erhöht noch die Brauchbarkeit des Buches.
Jeder Band ist gegliedert in Bücher, Kapitel usw. Für politische Ge-
schichte ist der gröüsere, für Kulturgeschichte der mittlere, und für
minder Wichtiges der kleinste Druck gewählt. Auf die Literatur-
aopben wurde leider verzichtet. Das Handbuch wUl also ähnlich
vie der alte Weber mehr Lesebuch sein. Aber diesen Zweck erfüllt
die neue Gestalt nicht so sehr wie die alte. Wer Geschichte zur
Unterhaltung liest, will diese knappe und zusammengeprefiste Dar-
stellong nicht, sondern eine weitläufigere und umfassendere. Das Lehr-
bocfa ist tatsächlich am ehesten Handbuch geworden, erfüllt aber diesen
Zvedc nicht vollständig durch den gänzlichen Mangel an Quellen-
ludiweisen. Es hat aber auch seinen eigentlichen Beruf als Lesebuch
verfehlt Nichtsdestoweniger ist es eine recht brauchbare Arbeit.
Wir kommen nun zu den wichtigeren Lehrbüchern. Sie gehen
unter mannigfiu:hem Namen aus, wie Lehrbuch, Grundriüs, Hilfsbuch
— 130 —
u. au Diese Unterscheidung der Titel will auf Nuancen der Dar-
stellung Bezug nehmen, die aber hier nicht weiter interessieren. Jeden-
falls ist auf diesem Gebiete solche Mannigfaltigkeit vorhanden, dafs
wohl jedem Geschmack mit einem Lehrbuch entsprochen werden
kann. Keines der vorhandenen Bücher gewinnt eine dominierende
Stellung, weil fortwährend infolge der häufigen Revision der Lehrpläne
neue entstehen. Die Lehrbücher in der Geschichte spiegeln das Bild
der Handbücher von ArbeitsteUung und Spezialisierung oder, kurz
gesagt, vom Groüsbetrieb der Wissenschaft wider. Es wird entweder
von mehreren Gelehrten ein Lehrbuch in seinen verschiedenen Teilen
bearbeitet, oder der Ruhm eines alten Buches soll nicht untergehen,
so dais es neu bearbeitet wird. Aber auch einzelne Männer verfassen
noch ganze Lehrbücher.
Vor allen ist zu nennen: K. Schenk, Lehrbuch der Geachichie für
höhere L^ranstaUen in ÜberemsUmmung mU den neuesten Lehrplänen.
Ausgabe A für Gymnasien, Ausgabe B für Realanstalten, in 9 TeUen.
Teil 6 und 9 bearbeitet von E. Wolf f. Leipzig, B. G. Teubner, 1898 ff.
Das Buch hat sich geschickt die Vorteüe des Handbuchs von
Gebhardt zu eigen gemacht. Sachlich hat es sich, namentlich im
Mittelalter an dessen vortreffliche Darstellung angeschlossen. Im
übrigen hat es übersichtlich den Stoff gruppiert und auf einer breiten
geographischen und kulturellen Unterlage aufgebaut. Ein verschieden-
artiger Druck ist nach dem Vorgange der Handbücher mit Recht
angewandt worden, so ist durch kleinere Typen Raum gewonnen iiir
detaUliertere Behandlung des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens
der Völker. Darin ist ein reiches Wissen aufjgrespeichert , freilich oft
nur für den Eingeweihten erkenntlich. Der Ausdruck ist durchgeheilds
frisch, oft etwas gewagt und fast burschUcos. Die Fülle des Stoffes
wird nach Mommsens Beispiel durch Randbemerkungen übersichtlich
gemacht, wie aber diese „den Text entlasten'* sollen, wie der Mit-
arbeiter Wolff bemerkt, ist mir unverständlich. Eine Neuauflage hat
der Herausgeber nicht mehr erlebt. Aber die Übernahme derselben
durch Julius Koch, von dem bis jetzt (1904) das Altertum erschienen
ist, verbürgt eine gute Elntwickelung dieses trefflichen Lehrbudis, die
namentUch in der Richtung von Einfachheit des Ausdrucks und Etn-
schränkung des Stoffes erfolgen sollte, so z. B. bei dem Kapitel;
Die Rückgewinnung der OsUande, 8. Teil, S. 1 1 1 ff.
Stand das Lehrbuch von Schenk dem Handbuch von Gebhardt nahe,
so ist mit Weber-Baldamus zu vergleichen: Mertens, Hüfsbueh für
den Unterricht in der deutschen Geachidiie. In 3 Teilen. I. Teil 5. und
— 131 —
6. Auflage. II, Teil 7. und III. Teil 8. Autiage. Herdersche Verlagsbuch-
handlung^, Freiborg im Breisgau, 1904. Hier sind ebenfalls die wichtig-
sten Erscheinungen der sozialpolitischen und Kulturgeschichte berück-
sichtigt, aber in der Weise, dafs sie an die Person hervorragender liegen ten
angeknüpft wird, um so das monaiphische Gefühl der Jugend auch
von dieser Seile zu stärken. Auch werden am Ende jedes Zeit-
raums in sich abgeschlossene kulturgeschichtliche Bilder auf Kosten
oatergeordneter Kriegsgeschichte eingelegt. Bezeichnende Über-
schriften, die fett gedruckt sind, sollen „gewissermafsen als Vor- und
Rückblick" den Stoff übersichtlich gliedern, freilich mag die Gruppie-
ning mit Unterabteilungen von or, ß usw. zu weit gehen und oft mehr
verwirren als klären ; der Ausdruck ist klar, oft in plauderndem Tone
gehalten. Überall verrät sich die Hand des Forschers, die unmittel-
bare Stellen aus der Quelle einstreut oder durch Dichterstellen den
Stoff zu beleben weifs. Manchmal mag hierin eher etwas zu weit ge-
gangen sein, ja einiges verdient die Bezeichnung Notizenkram. HäuGg
bricht ein gesunder Patriotismus durch, namentlich in der Form eines
engeren Heimatsgefühls. Das eigenartigste dieses Lehrbuchs ist jedoch,
dafe es überall, wo Gelegenheit dazu ist, den heimats- und landes-
geschichtlichen Sinn zu wecken sucht. Das konnte allerdings
Mertens einigermafeen leicht anbringen, da sein Lehrbuch wohl vor-
legend in der Rheinprovinz eingeführt ist und er so für einen bestimm-
ten Leserkreis schrieb. Alles in allem genommen, liegt hier neben
Schenks Lehrbuch eines der besten dieser Art vor.
Ein anderes Lehrbuch reiht sich unmittelbar an diese an: R. Wust-
mann, Detdsche Geschichte im Grundrifs. I. Teil: Vom Anfang bis
in die Mitte des XVII. Jahrhunderts. Leipzig 1902, Rofsbergsche
Verlagsbuchhandlung, gr. 4^ Seine Darstellung basiert im wesent-
lichen auf Lamprecht; Ausstattung und Anordnung des Werkes ist
einfach, der ganze Stoff ist in 277 Kapiteln auf 220 Seiten bewältigt.
Der schlichte Ton macht es vortrefflich nicht nur zum Lehr-, sondern
anch zum Lesebuch geeignet. Auf Grund seiner Unterlage ist es ein
gutes Buch und eignet sich infolge der Betonung wirtschaftlich-
failtureller Verhältnisse namentlich für reichsstädtische Schulen; wie
CS denn auch in Hamburg eingeführt sein soll. Auch einer anderen
Eigenart Lamprechts trä^t es Rechnung, indem es „landesgeschicht-
Kchc Anmerkungen** von Preufsen und den übrigen Reichsteilen in
Aussicht stellt, deren Erscheinen gewifs sehr zu begrüfsen ist
Auch ein älteres Buch hat eine Neubearbeitung durch zwei
Männer erfahren, es ist J. C. Andrä, Crrundrifs der Geschichte für
— 132 —
höhere Schulen. 24. Auflage, neu bearbeitet und für die Oberstufe
neunklassiger Schulen fortgesetzt von Karl Endemann und Emil
Stutzer, in 5 Teilen. Leipzig, Voigtländer, 1902 ff. Dieses Buch
hat seinö Schicksale: als Weltgeschichte erschien es zuerst, wurde
dann nach dem Tode des Herausgebers verschieden nach den ver-
schiedenen Schulgattungen bearbeitet und liegt endlich in der er-
wähnten Form vor. Es ist darin Antipode zu Schenk, da& die
Darstellung knapp gedrängt ist, ja oft nüchtern wirkt Volle An-
erkennimg verdient die klare Darlegung der inneren Verhältnisse, der
Schilderung des geistigen und wirtschaftlichen Lebens ; ja auch an dem
Hinweis auf Bestrebungen unserer Tage fehlt es nicht Der Gebrauch
von Schlagwörtern mitten aus Zuständen und Vorgängen anderer Zeiten
heraus in der Schule wirkt vorbereitend auf die grofsen Fragen der
Gegenwart. Das Buch erfüllt so in eigentümlicher Weise die lehrplan-
mä&ige Forderung, die Gegenwart aus der Vergangenheit zu erklären.
Auch andere Wege werden betreten. So hat W. Pfeifer in
seinem LArbtich für den Geschichtsunterricht an höheren LehranstaUen
(Verlag von F. Hirt, Breslau 1904) in zwei Teilen die ganze griechisch-
römische und deutsche Geschichte bis zum Jahre 1740 behandelt.
Letztere ist auf 150 Seiten dargestellt. Das läfst erwarten, da(s fiir
eine Seite der Geschichte nicht viel Raum gelassen ist : die politische
Geschichte namentlich des ausgehenden Mittelalters ist sehr be-
schnitten. Die Gruppierung ist klar durch mannigfache Kapitelüber-
schriften, die den Gesamtstoff von allgemeineren zu immer spezielleren
Gesichtspunkten fortschreitend überblicken. Einige Abschnitte kultur-
eller Natur sind in ihrer genetischen Behandlung geradezu mustergültig,
wie z. B. das Kapitel „Hansa**. Den Paragraphen sind kurze Übersichten
vorausgestellt und die wichtigsten Daten hervorgehoben auch durch
den Druck, um der Erzählung ein Ziel zu stecken. Im 4. Teile des
vorliegenden Lehrbuchs ist eine Seite der Kulturgeschichte, die Kunst-
geschichte, besonders gepflegt durch einen Bilderanhang, der 100 Ab-
bildungen enthält und eine farbige Tafel zur Kunst- und Kultur-
geschichte der Griechen und Römer, zusammengestellt und erläutert
von Dr. P. Brandt. Davon unten im Zusammenhang.
Ein mehr im alten Stil gehaltenes Lehrbuch ist: Ferd. Schultz,
Lehrbuch der Geschichte für Mittdkhssen van Chfmnasien und Betär
gjfmnasien und für Bedlschülen. 2. Auflage. Leipzig, Dresden, Berlin,
Ehlermann 1901. Am Rande sind fortlaufende Inhaltsübersichten an-
gebracht. Seinem vorherrschend politischen Standpunkt entspricht
auch die aufdringliche gehässig-liberale Tendenz des Buches.
— 133 —
In ähnlich rückständiger Weise, aber ohne diese Tendenz, be-
handelt H. K. Stein in seinem Lehrbuch der Oeschichie, lo. Auflage,
Paderborn 1904, Ferd. Schöningh, die gesamte Geschichte.
Eine Sonderstellung nehmen zwei Lehrbücher aus einem und
demselben Verlag ein.
Das eine ist Fr. Neubauer, Jje&r&uc&cfer Oeschichie für höhere Lehr-
tauidUen. Der 2. Teil, Lehrbuch der deutschen Geschichte für die mittleren
Klassen, liegt mir vor. Halle a. S., Verlag der Buchhandlung des Waisen-
haqses, 1900. Das andere heilst: Harry Brettschneider, Hilfsbuch
für den Unterricht in der Geschichte auf höheren Lehranstalten. Der 5 . Teil,
Geschichte des Altertums (itir Obersekunda), lieg^ mir vor. 2. Auflage.
Halle a. S. Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses, 1900.
Beide sind sehr gelobt worden, ohne dafs ich die Gründe dafür
finden kann. Das letztere Buch ist klar bis zur Nüchternheit geschrieben.
Die Darstellung ist in beiden glücklich gruppiert und beschränkt sich
nicht auf das Politische, sondern gibt auch dem Kulturellen sein Recht,
obschon Brettschneider vorl etzterem eine unerklärliche Angst in seinem
Vorwort kundgibt. Dem Vorwurf „des Modernen", dem der Verfasser
ebenda begegnen zu müssen glaubt, ist viel eher der einer zu weit-
gehenden Abstraktion entgegenzustellen. Schon auf der ersten Seite
der Einleitung in die alte Geschichte fallen in dieser Hinsicht Aus-
diüdce auf, wie: „Hier führte überall die Natur des Landes frühzeitig
... zur Organisation der Arbeit" und bald darauf: „Die Griechen
tmd Römer, die Träger des geschichtlichen Werdens". Die
äa6ere Ausstattung beider ist einfach, Brettschneider ist allein von
den besprochenen Büchern in Antiqua gedruckt; auch verschmäht
Xenbauer Randnotizen nicht. Brettschneider verfallt aus Furcht vor
der wirtschaftlichen in eine andere Verstiegenheit. Er will in einem
Anhang die Gymnasialjugend über griechische und römische Literatur-
geschichte belehren und handelt dabei über Wolfs Prclegomena ad
Homerum, um zur homerischen Frage Stellung zu nehmen ; auch über
andere Dichter wird etwas fragmentarisch diskutiert. Das verdient
gtwiSa nicht den Vorwurf des „Modernen", vielleicht einen anderen,
der auch im Drucke ausgesprochen ist.
Man läfist es auch in neuester Zeit nicht an Hilfsmitteln fehlen,
die den Geschichtsunterricht teils beleben und vertiefen, teils ver-
anschaulichen sollen, ich meine die Lesebücher und Kunstatlanten.
^ li^ eines dieser HUfsmittel vor: Alois Atzler, Queßenstoffe
mnI Lesestudke für den Geschichtsunterri€ht in Lekrerseminarien. 3 Bände.
Paderborn, Schöningh, 1903fr. Es besteht hier die Absicht, die be-
— 134 —
deuteodsten Ereignisse der Geschichte im Lichte der Quellen und der
Werke der grö&ten neueren Geschichtschreiber zu zeigen. Sie lassen
sich an jedes Lehrbuch der Geschichte ergänzend anschließen. Frei-
lich sieht das Ganze sehr mosaikartig aus, wird es aber zu dem be-
absichtigten Zwecke benutzt, so kann es tieferes Interesse und gröCsere
Liebe zum Geschichtsstudium einflöfsen. Besonders wurden auch
kultur- und wirtschaftliche Stoffe berücksichtigt Zugleich ist die
Sammlung ein Führer durch die historische Literatur, da literarische
und biographische Notizen beigegeben sind.
Das heutige Schlagwort im Unterricht, Anschauung, hat auch
auf dem Gebiete der Geschichte seine Wirkung getan. Man hat ein-
gesehen, dafs zum wenigsten in der Kunst allein durch Anschauung
ein Verständnis erreicht werden kann. Schon das Lehrbuch von
Pfeifer hat zur Illustrierung der Abschnitte über antike Kunst ein
solches Hilfsmittel beigegeben. Aber auch selbständige Arbeiten hier-
über werden schon allgemeiner. Ich habe zur Verfügung: H. Lucken-
bach, Kunst und Geschichte, Mit Unterstützung des Grofsh. Badischen
Ministeriums der Justiz, des Kultus und Unterrichts und des Grofsh.
Badischen Oberschulrats. 2. Teil: Abbildungen zur deutschen Ge-
schichte. München und Berlin, Oldenbourg, 1903. Das Werk bietet
mehr als es verspricht. Es ist ein Bilderatlas der Kulturgeschichte
einschließlich der Kunst. Es beginnt mit Abbildungen von Gegen-
ständen und Ansiedelungen aus der Steinzeit, der Bronze-, Hallstatt-
und La-Tene-Zeit. So werden alle Epochen dann von der römischen
Kaiserzeit bis zum ausgehenden Mittelalter in Bild und kurzem Wort
uns vor Augen geführt, selbst die Wappen- und Münzkunde ist nicht
unberücksichtigt geblieben.
Überall sehen wir auf diesem Gebiete reges Streben, den modernen
Anforderungen der Wissenschaft und Pädagogik gerecht zu werden.
Die Aufgabe ist sehr mannigfach gelöst worden, und mancher Ge-
schmack kommt dabei zu seinem Rechte. Aber dennoch können wir
es uns nicht versagen, einige Wünsche auszusprechen. Die ge-
schichtlichen Handbücher sollen vor allem ihrer Wissenschaftlichkeit
durch entsprechende Literaturnachweise treu bleiben, damit sie ihren
Zweck erfüllen, rasch und zuverlässig über den Stand der Forschung
zu orientieren imd das Material zur Vertiefung in einzelne Fragen zu
liefern. Es ist aber auch ihre Au^^abe, auf die Lücken der Forschung
hinzuweisen und durch geeignete Fragestellung zur Forschung an-
zuregen. Demgegenüber steht eine andere Forderung, dafs die
Handbücher auch wirklich benutzt werden von allen Gebildeten,
— 186 —
besonders aber von Lehrern und Lokalforschem. Alte und immer
wiederkehrende Irrtümer würden so bald verschwinden. Was unsere
Ldirbücher betrifil, so müssen sie die Höhe unserer Handbücher ver-
raten und zu übermitteki suchen, sie müssen modern sein im besten
Sinne des Wortes. Sie müssen unser gesamtes Leben umspannen
nach den herrlichen Worten Schenks: „^ine noch so treffende Schü-
denmg der Ausnahmezustände, der Kriege, eine noch so treffende
Betrachtung der Tätigkeit derer, die auf den Höhen der Menschheit
wandeln, reichen allein nicht aus; die Arbeit auf allen Gebieten, die
Einwirkung der politischen Ereignisse auf alle Volksgenossen, das
Denken und Tun auch des kleinen Mannes sind zu berücksichtigen.*^
Aber die Form ist bei einem Lehrbuche wichtiger als irgendwo.
Das Abgeschmackteste ist eine Zerstückelung der Geschichte in Stich-
wörter ohne Satzbau und Sprachschönheit, wie sie Schultz für die
oberen Klassen angewandt hat. Ein Lehrbuch muis zugleich ein
Lesebuch sein. Erzählung und Schilderung müssen das vorherr-
sdiende Element der Darstellung bUden und den Schüler verleiten, sein
Geschichtsbuch zum Lieblingsbuch der Unterhaltung und Belehrung zu
machen. Nur so, wenn im stillen mitgearbeitet wird, kann der Geschichts-
Tioterricht nachhaltig wirken; der Jüngling wird dann aus Verständnis
f>atriotisch. Da aber der wahre Patriotismus seine beste Kraft zieht aus
<ier Kenntnis der Heimats- und Landeskunde, so müssen unsere Lehr-
bücher auch der Heimats- und Landesgeschichte einen gebührenden
Platz anweisen. Es genügt nicht, dafis der Lehrplan die Einbeziehung
dieses Gebietes fordert, sondern den Lehrern mufs auch Gelegen-
heit gegeben werden, sich selbst sachgemälses Wissen in dieser Hin-
sicht anzueignen. Da aber die Lehrbücher für ganze Länder, oder
wenigstens gröfsere Gebiete bestimmt sind, so müssen für jede Land-
schaft und vielleicht sogar für jeden Kreis besondere heimatsgeschicht-
liche Büchlein bearbeitet werden, die sich an das eingeführte Lehr-
buch der Geschichte anlehnen. Rs gibt bereits recht brauchbare
Vorarbeiten dieser Art, wenn sie auch nicht unmittelbar für den
Unterricht verfafet worden sind: in dieser Zeitschrift') sind früher
<ierartige Schriften für Jauer und Donauwörth besprochen worden.
i) Vgl. 5. Bd., S. 191 — 193. Die kleine SchriA von Koischwitz, Jauer ^ ein
^tgwmr durch die Enmat und ihre Oesehiehie (Jaaer, Oskar HellmanD, 151 S. i6<^)
><t 1905 io zweiter, erireiterter Anflmge erecbienen; Literatimreneichnis und dmraaf be-
-«SncluDende Fofiooten erhöhen die Brrachbarkeit.
10
— 186 —
Mitteilungen
TeFsammlungeil. — Die Konferenz von Vertretern landes-
geschichtlicher Publikationsinstitute, die in der Osterwoche in Stuttgart
in VerbinduDg mit der IX. Versammlung deutscher Historiker statt-
findet, wird in Anlehnung an frühere Verhandltmgen ') über Ver.lag und
Absatz der Publikationen, die Herausgabe von Münzwerken
und über die Anfertigung von Urkundenregesten beraten. Als
neuer Gegenstand ist eine Aussprache über die Quellen zur städti-
schen Wirtschaftsgeschichte in Aussicht genonmien, und möglicher-
weise gelangen noch andere Fragen zur Erörtenmg. — Das endgültige Programm
wird gemeinsam mit dem der Historikerversammlung veröffendicht und kann
auf Wimsch vom Herausgeber dieser Zeitschrift bezogen werden.
Archiye. — Je häufiger es vorkommt, dafs Archive von Gemeinden,
Korporationen und Privaten von Personen geordnet und verwaltet werden, die
sich nicht im Dienste eines gröfseren Archivs für ihre Aufgabe vorgebildet
haben, sondern bei aller Hingabe für ihr Amt archivtechnisch von vomhereio
ungeschult sind, desto notwendiger ist es, dafs solche Personen ein literarisches
Hilfsmittel besitzen, aus dem sie Belehrung für ihre Zwecke schöpfen können.
Ein solches liegt jetzt vor und zwar ist es niederländischen Ursprungs.
In den Niederlanden sind Berufsarchivare nicht nur in verhältnismäfsig recht
grofser Zahl vorhanden, sondern das Archivwesen ist dort überhaupt gut
entwickelt, so dafs ein ganz vorzügliches Organ rein archivalischen Charakters,
das Nederlandseh Archievenblad, dort lebensfähig ist ^). Diesem erfreulichen
Zustande wird es zuzuschreiben sein, dafs die Direktoren der Staatsarchive
in Utrecht, Groningen und Middelburg, Muller, Feith und Fruin, ein
Handbuch für Archivare bearbeiten konnten, welches jüngst auch, für
deutsche Archivare bearbeitet von Hans Kaiser und mit einem Vor-
wort von Wilhelm Wiegand ausgestattet, als: Anieüung zum Ordnen und
Beschreiben van Archiven (Leipzig, Otto Harrassowitz ; Groningen, Erven B.
van der Kamp, 1905, VI imd 136 S. 8<>. M. 7,00) erschienen ist.
Über die Nützlichkeit des Buches, das in keiner Archiv band*
bibliothek fehlen sollte, ist kein Wort zu verlieren; es füllt wirklich eine
bisher oft schmerzlich empfundene Lücke aus und wird am besten geeignet
sein, wie es die Verfasser in ihrem Geleitwort wünschen, zur Vereinheit-
lichung der Archiveinrichtung und Inventarisierung beizutragen. Dafs eine
gewisse Einheitlichkeit (ohne mechanische Gleichmacherei!) für die Benutzer
der Archive eine grofse Erleichterung wäre, imd dafs in vielen Punkten die
Entschließung des Archivars, ob er so oder so verfahren soll, leicht wäre,
wenn er wüfste, wie bewährte Fachgenossen darüber denken, das steht auiser
i) Vgl. 6. Bd , S. 91—93.
2) Schon früher (3. Bd., S. 109— 11 a) wurde diese Zeitschrift eingehend besprocbeo,
und die seitdem erschienenen Jahrgänge — gegenwirtig erscheint der vienehote *-
▼erdienen dieselbe uneingeschränkte Anerkennung, so dafs nur za wünschen wäre, daü
sie sich auch in den deutschen Archiven einbürgern möge.
— 137 —
^retfeL Gerade in letzterer Hinsicht wird kaum jemand in einer praktischen
F^ge die Ankihmg vergeblich nachschlagen.
Das Werk zerßült in sechs Hauptstücke : Entstehmig und Einteilung Ton
Archivdepots, Ordnung der Archivstücke , Beschreiben der Archivstücke,
Aofstellnng des Inventars, weitere Beschreibungsmafsregeln und über den
kcmventionellen Gebrauch emiger Ausdrücke und Zeichen. Es ist aufser-
ordentlich übersichtlich in loo Paragraphen mit fettgedruckten Überschriften
Gogeteüt, und die archivalischen Fachausdrücke sind deutlich erklärt Die
ganze Arbeit, soweit die Archiv einrichtung m Frage kommt, ist eine
Edauterung zu dem Worte „Provenienzprinzip*^ dessen Anwendung
bei der Gliederung eines Archivs heute ziemlich allgemein als richtig an-
erkannt ist ^). Zum wenigsten die in der Praxis der niederländischen Archive
Torkommenden Fälle sind mit einer grofsen Ausführlichkeit besprochen, und
es wird nun die Aufgabe der deutschen Archivare sein, dals sie die in
Deutschland vorkommenden Fälle, die etwa nicht erörtert sein sollten, in
ähnlicher Weise prüfen und zweckentsprechende Regeln aufstellen. Vor
aQem aber wird jeder, der ein ganzes Archiv oder eine gröfsere Abteilung
einzurichten hat, gut tun, nachdem er sich mit der von ihm im besonderen
zu lösenden Aufgabe vertraut gemacht hat, die Anleitung gründlich zu studieren
und sich bei jedem Paragraphen zu fragen, welche Anwendung er unter
seinen besonderen Verhältnissen davon zu machen hat. Möge sich das
Buch unter den deutschen Archivaren recht bald einbürgern und zur weiteren
literarischen Erörterung archivtechnischer Fragen anregen!
lelmatsgeschichtiiche Kalender. — Wenn die wissenschaftlich
betrieben e Orts- und Landesgeschichte ihre volkserzieherische Aufgabe
eiMen und in weiteren Kreisen der Bevölkerung den Siim für die Ver-
^uigenheit der Heimat und für die aus ihr in die Gegenwart hereinragenden
Denkmäler wecken soll, daim ist die Popularisierung der heimats-
geschichtlichen und volkskundlichen Forschungsergebnisse
tmabweisbar notwendig. Nur auf diesem Wege wird sich in dem weiten Kreise
der Gebildeten imd nicht minder bei dem einfachen Manne des Volkes ein
Verständnis für die Vergangenheit seiner Heimat und damit eine wirkliche
liebe zu ihr wachrufen lassen; denn das Wissen von Tatsachen ist nun
eionial die Voraussetzung, weim sich ein Mensch liebevoll in einen Gegen-
ttmd versenken soll. Wenn aber von geschichtlichen Tatsachen die Rede
ist, so werden recht oft mifsverständlich diejenigen von den bekannten grofsen
Wdthändeln als solche aufgefafst, die sich zufällig in der Gegend zugetragen
haben, während die wichtigen im Wesen der Landschaft begründeten Eigen-
tfanlichkeiten auiseracht bleiben *).
Auf letzterem liegt aber der Nachdruck, und auf die Popularisierung
der greifbaren heimatsgeschichtlichen Forschungsergebnisse kommt es an.
Sic sind nicht nur am besten geeignet, im Volksschulunterricht Ver-
1) Vgl diete ZeiUchrift 6. Bd., S. 262.
2) Vgl Albert, OrtsgesehiMe, in dieser ZeiUchrift 3. Bd. (1902), S. 193—208,
Maentüdi S. 194, lowie Armin Tille, Grimmas Stellung in der Deuisehen Oe-
ftMUe (BeitjM mur SUuUgesehidUe) im KorreipoDdenzblatt des Gesamtverein» der
^ciUcbea G«Mliiclits- ii9d Altertnmsvereine, Jahrg. 1904, Sp. 265 — 276.
10*
— 138 —
■«
ständnis für geschichtliche Vorgänge zu erwecken, sondern bei ihnen handelt
es sich auch um Dinge, denen eine weitsichtige Sozialpolitik die aller-
größte Aufmerksamkeit zuwenden sollte. Durch solche verhältnismäfsig ein-
fache und überdies billige Arbeit werden geistige Kräfte entfesselt, die für
Staat und Gesellschaft von unschätzbarem Werte sind. Trotzdem ist merk-
würdigerweise diese Art mittelbarer, aber deswegen doppelt wirksamer sozial-
politischer Tätigkeit bisher durch staatliche Anstalten kaum gefördert worden
oder höchstens nebenbei durch Unternehmungen, die zunächst andere Zwecke
verfolgen. Insofern kommt z. B. die durch die Kunstgewerbemuseen und
Kunstgewerbeschulen ausgeübte, auf die Erzeugnisse des älteren Handwerks
gerichtete Belehrung in Frage, um zur Geschmackbildung und zur praktischen
Verwertung dieses Wissens bei gewerblichen Arbeiten anzuregen. Was aber
darüber hinaus geschehen ist, das haben Vereine — namenüich die Ge-
schichts- und Altertumsvereine, die Vereine für Volkskunde imd
an manchen Orten auch die Gewerbevereine — und einzelne Privat-
personen, die ja bekanntlich auch in der Regel die Arbeit in den Veremen
leisten, in selbstloser Hingabe an ihre Aufgabe getan, ohne dafs ihre Wirk-
samkeit bisher genügend anerkannt worden wäre.
Als derartige auf die Verbreitung heimatsgeschichtlichen Wissens in
weiten Kreisen gerichtete Bestrebungen kommen z. B. die namentlich in
Sachsen in vielen grölseren und kleineren Städten veranstalteten Altertümer-
ausstellungen') in Frage, femer die auch in kleineren Städten, ja sogar
auf Dörfern, in recht stattlicher Zahl auftauchenden ortsgeschichtlichen Museen *)
und nicht zuletzt die Verbreitung kleiner auf das grofse Publikum berechneter
und auch für die Schule geeigneter Schriften '), die über die Tatsachen und
über die rechte Betrachtungsweise der Dbge aufklären. Zu der Literatur
der zuletzt bezeichneten Art gehören neben manchen populären Zeitschriften
— wie es z. B. Niedersachaen (Bremen) Unser Anhaltland (Dessau), Htssm-
land (Kassel), Nassovia (Wiesbaden), Der RoUmd (Berlin), Pfälzische Hemai-
künde (Kaiserslautem) und einige der volkskundlichen Organe sind — auch
die heimatsgeschichtlichen Kalender.
Der Kalender, das alte und einst einzige weltliche Hausbuch des
Bürgers und Bauem, hat eine den veränderten Zeitverhältnissen entsprechende
Auferstehung gefeiert: jetzt, wo die Zeitung täglich die Neuigkeiten aus der
Feme berichtet und für imterhaltenden Lesestoff allerart sorgt, lenkt diese
neue Art von Kalendem den Blick des Volkes auf die Vergangenheit der
engeren Heimat, und auf diese Weise erhält in mancher Landschaft auch
I) Vgl. diese Zeitschrift 4. Bd. (1903), S. 281—187: ÄUeriümer-ÄussteUungeti
im Königreich Sachsen von Karl Berling (Dresden). Za den dort genannten StSdten
sind noch Rofswein und Jobanngeorgenstadt hinzugekommen. Aoiserhalb
Sachsens ist eine ähnliche AnssteUung in Mühlberg veranstaltet worden, und gegenwärtig
steht Liebenwerda im Begriff, das Beispiel nachzuahmen.
a) Vgl. diese Zeitschrift 4. Bd. (1903), S. 132—140 und 5. Bd., S. 16—25 sowie
6. Bd., S. 388 — 289. Wo man überall zu Neugründangen von heimatsgeschichUicbeo
Muaeen fortschreitet, das zeigt jetzt am besten die Mtiseumsehronik, die in jedem Hefte
der vorzüglichen Vierteljahrsschrift Museumskunde, herausgegeben von Karl Koe tschau,
(Berlin, Reimer; der erste Band erschien 1905) veröffentlicht wird.
3) Vgl. z. B. die in dieser Zeitschrift 5. Bd. (1904), S. 189—192 besprocbeoeo
Schriften, besonders die von Störzner: Wie ist in den Gemeinden der Sinn /S^
Oesehiehie der HeinuU xu wecken und xu pflegen? (Leipzig, Arwed Strauch).
— 139 —
das ein£Bu±e Haus ein heimatskundliches Familienbuch. Das ist
der Gedanke, der die verschiedenen Herausgeber, die offenbar gegenseitig
ibre Werke zu einem großen Teile nicht gekannt haben, übereinstimmend
leitet, und demgemäis sind in der Tat nach Form und Inhalt recht ver-
schiedenartige Schriften entstanden. Namentlich in den letzten drei Jahren
(seit 1904) sind recht viele neue heimatskundliche Kalender aufgetaucht,
QDd in geographischer Hinsicht scheinen solche bisher nur im Osten Deutsch-
lands völlig zu fehlen. Was mir nach jahrelanger Umschau an derartigen
Werken bekannt geworden ist, will ich hier aufführen, wenn ich auch kaum
bofien darf, alle vorhandenen zu verzeichnen; es geschieht in der Absicht,
die Herausgeber tmd Verleger zur Fortsetzung anzuspornen, die Freunde
der Heimat, auch die in der Feme lebenden, darauf auftnerksam zu machen
Qod in Gegenden, in denen es an ähnlichen Veröffentlichungen fehlt, zur
Nachahmung anzuregen ^).
Die stark voneinander abweichende Eigenart der einzelnen Kalender
macht es bereits schwer, eine gemeinsame zutreffende Bezeichnung zu finden,
demi während die einen künstlerisch vollendete Abbildungen geschichtlich
bemerkenswerter Bauwerke und Gegenstände bevorzugen und mit mehr oder
weniger ausführlichem Texte begleiten — dies kennzeichnet die Mehrzahl — ,.
sind in anderen die Bilder aus der Vergangenheit mit Schildenmgen aus
der Gegenwart, ja sogar mit belletristischen Beiträgen verbunden. Dies be»
weist, dafs die Absichten der Herausgeber im einzelnen ziemlich weit aus-
emandergehen , wenn auch der Grundgedanke bei allen derselbe ist; ent-
scheidend für den Inhalt ist jeden&lls überall gewesen, auf welche Kreise
im besonderen als Abnehmer gerechnet werden konnte, und ob irgendwelche
besondere Mittel dazu zur Verfügung standen oder ob ein Verleger das ganze
Kisiko tragen mulste. Deshalb ist es auch nicht angängig, hinsichtlich der
Alt der Ausführung mit den Urhebern zu rechten, denn es ist ohne weiteres
lozonehmen, dafs jeder den Weg eingeschlagen hat, von dem er sich den
gTöisten Erfolg versprach. Ein hervorragendes Bildungsmittel imd ein Mittel
nr Förderang des Heimatssinnes sind die Kalender ganz zweifellos sämtlich
«od zwar erstens, weil sie nicht zu dickleibig auftreten tmd dadurch abstofsen,
zweitens weil sie nur kurze, meist durch Bilder belebte Beiträge bringen und
drittens, weil sie jährlich wiederkehren und so allmählich eine ganze Reihe
beimatsgeschichtlicher Texte und Abbildungen verbreiten.
Zuerst sei die Auftnerksamkeit auf zwei zwar geschichtliche, aber nicht
▼orzagsweise für ein bestimmtes Gebiet bearbeitete Kalender gerichtet. Ein
sokber ist: Deutscher Kalender, von E. Doepler, dem Jüngeren, mit Bei-
tiägen von Felix Dahn, filr 1889. BerUn, Verlag von Remhold Kühn, 4^
Dahn widmet den beiden 1888 verstorbenen Kaisera kurze dichterische
Nachrufe und den vier Jahreszeiten je ein Gedicht. Dann folgen die Monats-
tafeln und neben jeder ein Bild, das an eins der deutschen Königsgeschlechter
cnnnert und neben dessen Wappen das Bild einer für den betreffenden Zeit-
num charakteristischen Stadt vorführt. So verkörpert das Bild Kaiis des
fiofecn mit seinem Monogranam, ergänzt durch das (natürlich viel spätere)
0 Im Literarischen Handtpeiaer zunächst für alle Katholiken deutscher Zunge
(UaotUr, Theissing) 1905 Nr. 3, Sp. 97 — 102, hat Alois Warm über 8 koost- and
^lUirbittorische Pracbtkalcnder für 1905 eingebend berichtet.
— 140 —
Stadönld von Aachen, die KaroliDgerzeit. Das dem 2!eitalter der sächsischen
„Kaiser** gewidmete Blatt ziert das Bild Ton Aagsbmg, und in dieser Weise
folgtn die Bilder der Städte Frankfurt a. M., Goslar, Hagenau, Wien, Lim-
burg (Lahn), Konstanz, München, Schwarzburg, Heidelberg und Berlin. Daran
reiht sich das Niederwaiddenkmal an, und zuletzt das von den Wappen der
Bundesstaaten umgebene Wappen des neuen Deutschen Reichs. Dieser Kalender
tillgt, wie ersichtlich, nur ganz allgemein einen geschichtlichen Charakter, ist
aber gewifs geeignet, manchen Laien zur Beschäftigung mit der deutschen
Geschichte anzuregen und zugleich in vaterländischem Geiste auf seine Be-
nutzer einzuwirken. Erschienen sind vom Deutschen Kalender nur die Jahr-
ginge 1886 — 1892.
Viel einfacher ist der Neue Deutsche Kalender und Praktik auf das
gemeine Jahr 1905, herausgegeben vom Verein „Heimat** in Kaufbeuren
(8*^, Preis: 60 guter Pfennige). Diesem ersten Jahrgang ist in ganz gleicher
Ausführung auch ein zweiter (1906, Preis: 100 guter Pfennige) gefolgt; be-
arbeitet smd beide von Maximilian Liebenwein, dem Maler, und Christian
Frank, dem Schreiber. Diessen am Ammersee druckte Jos. C. Huber. Schon
diese Worte zeigen, da& hier den Liebhabern der älteren deutschen Literatur
ein Büchlein geboten wird, das die Schreibart und Druckweise des XVI.
und XVIL Jahrhunderts mit Glück nachahmt. Ein poetischer Neujahrs-
glückwunsch leitet jedes Heftchen ein; der erste ist insofern originell, als
er die Kalenderzeichen hn Text verwendet Der Inhalt beschränkt sich auf
das Kalendarische: die Sonnen- und Mondfinstemisse sind aufgezählt, die
Ksdenderzeichen erklärt, aber der Nachdruck liegt auf dem Tagesverzeichnis
und den dem Namen des Tagesheiligen meist beigefügten Erklärungen. So
heiftt es z. B. unter dem 4. August (1905 und 1906): Dominikus, der
Stifter des Prediger- Ordens; als seine Mutter mit ihm, ging, träumte sie von
einem Hund, der mit der Fackel im Maul die Welt erleuchtete 1221. Unter
dem 30. August (Bernhard von Clairvaux) findet sich 1905 die letztere Er-
zählung (1906 fehlt sie) in etwas anderer Form: Seiner Mutter dünkte im
SdUaf als trage sie unter dem Herzen ein Hündkin, das durch sein Bellen
die Welt aufiveckt 1153. Zum 16. August findet sich 1905 folgender Text:
Bookus, ein Pilger, der die leut pflegte und im Schenkel eine Pestbeule hat;
em besonderer Patron in sterbenden Läufen 1327. — Auch Bemward, ein
Goldschmied und Bischof zu Hildesheim 1022. Aber 1906 ist die erstere
Stelle kürzer gefafst: Rochus, ein Pilger, ein besonderer Patron in sterbenden
Läufen 1327. Es handelt sich abo hier um einen Versuch, den Kalender
selbst und die Tagesheiligen durch Bemerkungen über ihre Person in weiteren
Kreisen wieder zu beleben; im Jahrgange T906 sind eine gröfsere Zahl
Volksgebräuche und die Jahreszeit bezeichnende Sprüchlein eingestreut, z. B.
beim 13. März: Auf Oregori bedankt sich der Bock für sich und die Schaf
u)eil ers Futter jetzt selbst suchen kann. Auch diesem Kalender, der den
3700 Mitgliedem des Vereins „Heimat'* umsonst geliefert wird und dSe
von dem Vereine herausgegebene Zeitschrift Deutsehe Oaue mannigfaltig ergänzt,
kann man nur wünschen, dafs er jährlich wiederkehrt und sich viele neue
Freunde erwirbt. Von Nutzen wird er aber auch den Herausgebern der
wirklich landschaftlichen Kalender sein, zu denen wir jetzt übergehen
wollen.
— 141 —
Der älteste lafidschaMiche km6^ und kuUm-geschicfatliche Kalendier ist
der fib- Prftidcen » der sugleieh iä anderen Landschaften mdirfieicb nack-^
gakmt worden isT, MftmkUx^ Bäder (Verlag von H. Sittrts, WÜrzbntg^
PK» 1 Marit). Sek 1895 ist dieser Ki^eoder regeknäisig wtedo: erschientn,
1906 ist der zwölfte Jahrgang«, tmd der dauernde Bestand kann demhacb
voU ab gesichert gelten. Der Inhalt wird am besten chanrakterisiert, wons
wir <fie zwölf vorliegenden Hefte in SchmalfoHo (33/17 cm) als eine „älu*
sdkne Knnstchronik Frankens*', als einen Ersatz für das fehlende Denk-
Bälerinventar bezeichnen; das Kalendarium d^ betreffenden Jahres fUUt mip
<ie beiden Innenseiten des Umschlags, während aller übrige Raum vorzüglichen»
Abbüdni^en hervorragender Kunstdenkmäler aüerart gewidmet ist, den eia^
beschreibender Text aus der Feder von Theodor Henner begleitet. So
werden die Jahreshefte zu einer Fundgrube heimatsgeschichdicher Belehxmi^
ttber Franken; die Abbildungen aber tragen zur kunstgeschichtlichen Er«
ziehtmg bei, fördern die Wertschätzt:^ geschichtlicher Denkmiler in am*
Augen der Menge und witken so mittelbar für ihre Erhaltung. So stellt
sieb (fieser Kalender auch in den Dienst des Denkmälerschutzes. Vielleicht
kommen gerade unter letzterem Gesichtspunkte die Erzeugnisse der volks«
t^alichen Kunst etwas zu kurz; Bauernhaus und Dorfkirche und nicht minder
bewe^che Kunstgegenstände niederer Art könnten vielleicht noch etwas
aebr bedacht sein. Vorzüglich war jedenfalls der Gedanke, den Umschlag
IM Reproduktionen adter Bucheinbände zu zieren: so wird 1897 der Bin*
bted eines Evangelienkodex des VIII. Jahrhunderts, 1904 derjenige des
Wünburger KiUansevangeliatB und 1906 der einer Pommersfeldener Hand«
Kbrift aus dem XIV. Jahrhundert abgebildet und durch Text erläutert. Wie
feidi der Inhalt der Hefte im ganzen ist und wie sich die Beiträge gegen-
Kic% ergänzen, das zeigt am besten das Gesamtregister über das in dta
Osten zehn Jahrgängen Dargebotene, wekhes im Jahrgang 1904 enthalten
ist: ans 60 verschiedenen Orten sind Gegenstände behandelt, und davonr
nsd 44 nur je einmal vertreten, während natürlich vor allem aus Würzbutg
ose recht grofse Zahl von Gegenständen abgebildet und beschrieben ist
Aus dem Sachverzeichnis ist zu ersehen, dafs der Leser in den 10 Jahr-
gSagen z. B. mit 7 Rathäusern und a8 Grabdenkmälern, 4 Erzgafswedceff
VBd 9 Schmiedearbeiten bekannt gemacht wird. Die la Hefte von je 20
Seiten in vomehmer und technisch vollendeter Ausstattung — die SeiteA-
vonbrnung wechselt jährlich — stellen einen Besitz von grofsem bleibenden
Weite dar, und vor allem auch aufs erhalb Frankens sollte sich der BKdt
te Kunst- und Geschichtsfretmde darauf richten : sie verdienen Anerkennung^
umI Nachahmung. Vor allem die Vielseitigkeit des Inhalts vercMent hervor^»
fi^bobea zu weiden: 1904 bietet l^ Artikel mit 32 Abbikkmgen, 190$:
ij mit 33, 1906: 13 mit 21.
Nidkt zu verwechseln mit den AUfr4nkischen Büdem ist die seit r9>oi
IMdi als Kalender erscheinende Mfränkkcke Chrtmik in Wort und BM,
^^■tagegeben voA Stephan Wehnert (Wür^burg, Promethensverkig) , voBf
fe mir nur der sechste Jahrgang (1906) voriiegt. In einer Form, welche
<fe der AUfränkischm BÜd&r nachzuahmen sucht, werden 17 Aufsätze mit
ti M>bildung)en und einem Umschlagsbild dargeboten. Wenn auch die Ab»
^^iUni^en nicht schlecht zu nennen sind, so erreichen sie doch jene wedelt
— 142 —
an Feinheit noch an Deutlichkeit in den Einzelheiten, worauf doch auf jeden
Fall ein groüies Gewicht zu legen ist. Aber der B^leittext — auch in der
Form nicht immer würdig — entspricht nicht den zu stellenden Anforder-
ungen; er hält sich meist nur an die Äulserlichkeiten der Bangeschichte,
berührt vieles Abliegende, vermittelt aber nicht das, worauf doch das meiste
ankommt, das Verständnis des dargestellten Kunstwerkes selbst. So wichtig
es ist zu wissen, wer einen Bau geschaffen und welchem Zwecke er gedient
hat, die Hauptsache bleibt doch das Denkmal selbst als Ausdruck des
Geistes der Zeit, in der es entstanden ist. Da ein ernster Wettbewerb mit
den Bildern tatsächlich ausgeschlossen ist, so läist sich das Fortbestehen
der Altfränkischen Chronik nur bedauern, denn sie raubt naturgemäfs der
älteren und besseren Reihe einen Teil der Käufer und schafit einen unötigen
Zwiespalt. Wenn ein neues Unternehmen offenkundig besser ist als ein
altes, würde ich niemals bedauern, dafs ein solches das neuere verdrängt;
das trifit aber hier entschieden nicht zu.
In einer völlig anderen Weise haben einige Geistliche im Kreise
Eckartsberga (Provinz Sachsen) ihre Aufgabe aufgefaßt, indem sie seit
1896 einen Kalender für Orisgeschichte und Heimatskunde im Kr^se
Eckartsberga (Verlag von O. Kabisch in Wohlmirstedt) veröffentlichten. An-
fiugs in Oktav-, seit 1900 in Quartformat in einfacher Ausstattung zum
Preise von anfangs 30, dann 35, jetzt 40 Pfennigen erschienen, bietet der
Kalender in den elf vorliegenden Jahrgängen neben dem Kalendarium und
praktischen auch sonst in Volkskalendem üblichen Mitteilungen (Wetterregeln,
Genealogie der deutschen Fürstenhäuser) populäre geschichtliche
Aufsätze. Em besonderes Verdienst ist die Kreischronik des letzten Jahres,
die von Juni zu Juni läuft und die wichtigsten Ereignisse, die dauerndes
Interesse beanspruchen, erzählt; seit 1901 ist auch ein Auszug aus dem
Kreisverwaltungsbericht dargeboten, während im ersten Jahrgange die Kreis-
verwaltung nebst statistischem Ortsverzeichnis enthalten war. Die belletristi-
schen und belehrenden Beiträge müssen hier füglich imberücksichtigt bleibeo,
aber auf die geschichtlichen kann mit um so gröfserer Freude hingewiesen
werden. Wir finden da z. B. folgende Aufsätze : Zur Einführung der Refor-
mation in Eckartsberga (zwei Bilder aus den Jahren 1527 tmd 1539; 1896,
S. 50 — 60), Wie es in Bibra vor 200 Jahren ausgesehen hat (1896, S.
60 — 69), E^icha wahrend des 30 jährigen Krieges (1901, S. 78—84), Einige
Bitder aus der Vergangenheit der Stadt Wiche (1903, S. 43 — 46), Einiges
aus der Geschichte der FamiUe von Werthem (1903, S. 65 — 72), Wie oft
ist Luther durch den jetzigen Kreis Eckctrtsberga gereist (1904, S. 53 — 56),
Die Wüstung Lasan (1905, S. 49 — 51), Der sächsische Bruderkrieg und
was in ihm unsere Heimat vor 450 Jahren erlitten hat (1905, S. 52 — 55),
Zur 100. Wiederkehr des Schlachttages von Äuerstädi (1906, S. 49 — 66),
Etwas aus der allgemeinen Geschichte Kannawurfs (1906, S. 73—77)'
Das smd nur einige der gröfseren volkstümlich gehaltenen und doch viel&ch
unter Benutzung einheimischen Quellenmaterials, namentlich dem der
Pfarrarchive *), zur wirklichen Vermehrung des Wissens beitragenden Aufsätze.
I) Iii mustergültiger Weise hat die Quellen der Pfarrarchive, ramenth'ch ans dem
XVI. bis XVIII. Jahrfanodert, Bruchinttller in seinem Bache Zwischen Sümpfend
Sand (Berlin 1904) «oagebevtet
— 143 —
£me ganz Tonü^che Arbeit ist die von Naumann über die Landunrtsehaft
md der Dreifkigfährige Krieg (1905, S. 59 — 65), die nur einheimisches
Material benutzt. Ebenso dankenswert ist z. B. der Abdruck zweier land-
litHcher Berichte von 1828 und 1842 über die landwirtschaftlichen Ver-
hätnisse im Krebe (1904, S. 57 — 64) oder die Mitteilung der Nachrichten
ober den ersten Anbau der Kartoffel und des Klees im Kreise (1901, S. 91).
Auch manche Kuriosität, wie z. 6. ein Leichenstein mit gereimter In-
schrift fUr ein Pferd, das 181 2 mit in Rufsland gewesen war und 18 13
bis 1815 die Feldzüge mitgemacht hatte, wird (1899, S. 76) berichtet.
Einfiiche Abbildungen im Texte ergänzen die Darstellungen. Angeregt hat
(fie Gründung Superintendent Allihn in Leubingen, der eigentliche Heraus-
geber im Auftrage eines Komitees und gegenwärtig zugleich Verleger ist
Pastor Kabisch in Wohlmirstedt an der Unstrut; einer der eifrigsten Mit-
arbeiter ist Superintendent Naumann in Eckartsberga. In den ersten
9 Jahrgängen sind Nachrichten aus 35 Orten des Kreises enthalten, so dafs
tatsächlich bei Fortsetzung der Arbeit ein reiches Quelleimiaterial zur Heimats-
geschichte nicht nur erschlossen, sondern auch in weiteren Kreisen
bekannt gemacht wird. Deshalb verdient dieser Kalender, der, wie es
scheint, einzig dasteht, Beachtung und Nachahmung. Wo in einem gröfseren
BeziTke ein heimatskundlicher Verein besteht, da würde sich diese Art der
Publikation entschieden mehr empfehlen, als eine dürftige Zeitschrift.
Nach mehrjähriger Unterbrechung ist dann erst 1902 ein neues Kalender*
Qoteraehmen ins Leben getreten, und zwar für Thüringen. Der Thüringer
Kaiender ist seit 1902 alljährlich in ganz gleicher Form und Ausstattung
erschienen, herausgegeben wird er vom Thüringischen Museum in Eisenach
(Knrator: Major a. D. Sieckel) und redigiert von Prof. Georg Vofs
(Preis: I M.). Auch dieser Kalender hat wie der fränkische anderen zum
Vorbild gedient und stellt daher einen Typus dar 4 Das Format (27,5/16 cm)
ist klein-sdunal-folio ; der Inhalt zer^llt in zwei Teile, das Kalendarium imd
den TextteiL In den Monatstafeln sind nur die Geburtstage der gegenwärtigen
Glieder regierender Familien eingetragen, während auf die sehr nahe liegende
Verzeichnung geschichtlicher, für Thüringen wichtiger Tatsachen verzichtet
worden ist. Jeder Monatstafel zur Seite steht die Abbildung eines be«
deutenden Bauwerkes: 1902 waren 12 Schlösser, 1903 Rat- und Bürger-
häuser mit Hausteilen, 1904 vornehmlich Kirchen (Dom zu Erfurt, Lieb-
ftauenkirche zu Arnstadt, Klosterruine Paulinzella, Kirche zu Stadtilm, Schlofs-
kirche zu Altenburg, Kirche zu Untermhaus, Margaretenkirche zu Gotha,
simtHch gezeichnet von Ernst Liebermaim) gewählt. Hier hat also dasselbe
Zid vorgeschwebt wie in Franken : es sind nur andere Mittel gewählt worden,
om es zu erreichen, insofern die Baudenkmäler zugleich als Hintergrund für
Sdmmungsbilder dienen. Der Textteil steht dem fränkischen Kalender näher,
UMlem in kurzen Aufsätzen (1904 sind es 15 mit 24 Abbildungen, 1905:
10 Aufsätze mit 24 Abbildungen) verschiedene. Gegenstände der thüringischen
Kunstgeschichte, aber auch kulturgeschichtliche Einzelheiten besprochen werden.
So wird z. B. über den Bergbau in Ilmenau, die Münzen der ersten Land-
grafcD und vorgeschichtliche Fimde im Koburger Lande im Jahrgange 1902
gebändelt, 1903 finden wir Aufsätze über Bernhard von Weimar, den ehe-
Bialigen Lustgarten in Weimar und die Fruchtbringende Gesellschaft, während
— 144 —
X904 die Beschreibung der Gothaer Prachtbibel Ottheinrichs von der P&k,
Mi Ooethe auf dem Inselsberg und die Bilder aus dem Jenenser Studenten-
leben auf Grund alter Abbildungefn (ohne Text) allgemeine Beachtung ver-
dienen. Auch zu einigen der Monatsbilder wird ein geschichtlicher Auftatz
dargeboten. Auf diese Weise wird es möglich, auch andere ab künsderische
Gegenstände zu behandeln, und der Thüringer Kalender vereinigt dadurch
einen Vorzug des Eckartsbergaer mit dem des fränkischen, denn dafs auf
die Kunstdenkmäler in erster Linie das Augenmerk gerichtet werden mufs,
wird allgemein einleuchten; nur braucht man deswegen von anderen Dingen
nicht völlig abzusehen. In dieser Hinsicht sind die Wappen thüringischer
Geschlechter, die erwähnten Bilder aus dem alten Studentenleben, das Schutz^
haus auf dem Inselsberg (1820) und viele andere Abbildungen lebhaft zu
begrüfsen. Da fünf Jahrgänge erschienen sind, dürfte der Schlufs berechtigt
sein, dafs der Kalender die nötige Zahl Freunde gefunden hat, um sein
Dasein fristen zu können.
Dasselbe scheint man leider von den folgenden Kalendern nicht un-
bedbgt behaupten zu können. Da ist z. B. in den drei Jahren 190a bis
1904 für die Provinz Brandenburg ein Kalender in Grofsquart (31,5/22,5 cm)
erschienen: der Titel war Der Rote Adler, Brandenburger Kalender (Berlb,
Verlag von Martin Oldenbourg), und die Bearbeitung besorgte Robert
Mielke unter Mitwirkung von Ernst Friedel, dem Vorsteher des Mär-
kischen Provinziahnuseums. Während der erste Jahrgang für das Kalendarium
nur die beiden Innenseiten des Umschlags verwendet und den Text ähnlich
dem des fränkischen Kalenders gestaltet, aber den Inhalt auf die Vorgeschichte
(Ein Königsgrab aus der Vorxeü) und Landschaftsbüder (Lenzen und die
Wische, Ein Rmchhaus d. h. schomsteinloses Haus^ ausdehnt, ist man im
zweiten und dritten Jahrgange zu Monatsbildern übergegangen. Und zwar
steht 1903 oben je ein Stadtbild (Frankfurt a. O., Prenzlau, Rathenow,
Küstrin, Landsberg a. d. W. usw.), 1904 je eine frei erfundene Darstellung
aus der märkischen Geschichte (z. B. Albrecht der Bär empfängt koloni-
sierende Niederländer, Anlage des Klosters Zinna), unten aber in beiden
Jahrgängen je das Wappen eines märkischen Adelsgeschlechts mit geschicht-
lichen Bemerkungen. Ist die letztere Einriichtung aufserordentlich zweckmälsig
so kann die Verwendung bildlicher Darstellungen, die reine Erzeugnisse
künstlerischer Phantasie sind, in Anbetracht des Zweckes, der verfolgt wird^
nicht gebilligt werden. Während der Textteil des Jahrganges 1903 gao^
dieselbe Gestalt hat wie der Text des ersten Jahrganges, bietet der dritte
Jahrgang einen gröfseren Aufsatz Aus der Frühzeit mOrkisoher Kunst. So
belehrend er mit seinen 16 Abbüdungen ist, so trifit er doch nicht das
Richtige, ja er verfällt gerade in den Fehler, der in Franken und Thüringen
mit Absicht vermieden worden ist : es wird eine belehrende zusammen&ssende
Abhandlung, und der Leser wünscht doch gerade konkrete Mitteilung von
Einzelheiten, nicht Beispiele. Die Absicht, erzieherische Arbeit so
leisten, liegt der Herausgabe eines solchen Kalenders zugrunde; es soll
kein lehrhafter Ton angeschlagen werden. Es mag sein, dais in Bran-
denburg das rechte Verständnis weiterer Kreise gefehlt hat, aber trotz*'
dem muüs ausgesprochen werden, dafis der Inhalt doch dem BedQrAiif
des geschichtlich interessierten Publikums nicht vöiHg entsprochen bat, üod
— 145 —
raofs der dritte Jahrgang als der am wenigsten gelungene bezeichnet
Der zweite wäre Tortreflflich, wenn nicht die Verwendung ver-
Papiers für Kalendarium und Textteil störend wirkte. Dafs tech-
Grtinde dies veranlafst haben, ist deutlich zu erkennen, aber der
Leser wird trotzdem dadurch abgestofisen. So ist denn Der Bote AMer
1904 zum letzten Male erschienen, wenn auch die Mark Brandenburg da-
dmch nicht TöUig um einen geschichtlichen Kalender gekommen ist, denn
da Berüner Kalender, der 1903 und 1904, bearbeitet von Konservator Prof.
Georg Vofs, im Verlag von Fischer & Franke in Berlin erschien, ist von
1905 an in den Verk^ von Martin Oldenbourg übergegangen, und sein
iDhah ist insofern erweitert worden, ab die Mark Brandenburg in den Jahr-
gäiigeu 1905 und 1906 mit berücksichtigt worden ist Das war eine gute
Lösimg, denn eine Trennung zwischen Berlin und der übrigen Mark War
!m:Iit ^Qcklich ; die Interessenten für beide Kalender werden im wesentliches
Aeselben Personen gewesen sein.
Dais für Berlin erst 1903 ein solches, in semem Äufseren dem
Tkünnger Kalender, mit dem es ja auch den Herausgeber gemeinsaiii hat,
Tdifig gleiches Werkchen entstanden ist, mufs eigentlich verwundern. Die
erschienenen Jahrgänge 1903 tmd 1904, sowie 1905 und 1906 (zugleich
ftr Brandenburg mit) verdienen die allergröfste Anerkennung. Enthielt 19O3
Honatsbilder aus der 2^it'des Grofsen Kurfürsten — z. B. die „ Linden*'
ganz junge Bäumchen — , so versetzen die Bilder des Jahrgangs 1904
Beschauer in die Zeit Friedrichs des Grofsen. 1905 wurden die Bilder
fabig ausgeführt, und dieses Mal wurden 13 Szenen aus der Geschichte
Berlins gewählt, die uns die Entwickelung der Stadt von der Zeit des ersten
Majkgrafen bis zu Friedrich dem Grofsen veranschaulichen. Die Beseitigung
der Konkurrenz ist ganz zweifellos für die Ausstattung des Kalenders recht
▼ofteiibaft gewesen, und so wird er sich nun hoffentlich behaupten. Der
Text ist durchweg lehrreich und anerkennenswerterweise nicht nur kunst-
gescfaichtlieh : wir finden z. B. Mitteilungen über die Berliner Ausrufer vor
foo Jahren und über Berlin als Hansestadt (1903), über Schiller in Berlin,
WbtT die Wachtparade im Lustgarten zur Zeit Friedrichs des Grofsen und über
Medaille auf die Gründung der Kolonie Grofsfriedrichsburg in Afrika
iJem Grofsen Kurfürsten (1904). Wünschenswert wäre es gewifs, wenn
ru jeder Abbildung ein Stück Text geboten würde, und selbst unter den
Monatsbildem liefs sich gewifk leicht etwas Raum schaffen, in dem ganz
fotrz bei Gebäuden z. B. die Zeit der Erbauung, der Name des Baumeisters,
Bestinmmng, der es gedient hat, und ähnliche Mitteilungen eine Stelle
könnten. Das Kalendarium liefse sich leicht noch mit Daten aus
der" Brandenburgischen Geschichte bereichem, dagegen hat die Angabe der
jidischen Festtage rechts vom roten Strich keinen Sinn; will man sie nicht
weglassen, dann können sie höchstens in Klammer hinter dem Tagesnamen
dne Stelle finden.
Flfr Baden hat drei Jahre lang (1903 — 1905) der Veriag Grofs &
Seteoenbarg in Lahr einen geschtchtlicheü Kalender (Preis : i Mark) heraus-
gegeben, aber leider ist er 1906 nicht wieder erschienen. Der Badieche
Mäienier zeigt etwas kldneres Format als der fränkische (17»$/ 16,5 cm),
Bit &h aber im Aulseren ihn zum Muster genommen. InhaMich stehen
— 146 —
die Städte des I^andes im Vordergründe mit 24 Artikeln über 22 ver-
schiedene Orte in allen drei Jahrgängen, während sich 9 Aufsätze mit
einzelnen Personen beschäftigen. Aufserhalb dieses Rahmens &llen nur
1905 die Aufsätze Sage und Volksleben im Schtuarxuxüd — mit Abbildung
einer Köhlerhütte und eines Kohlenmeilers — und LHe Sckwarxwälder Uhr-
macherkunst mit dem Bilde eines Uhrenhändlers von Lenzkirch und einer
Uhrenwerkstätte. Das Kalendarium (ohne geschichtliche Daten) verteilt sich
über das gaiue Heft. Die Abbildimgen sind aufserordentUch fein und deut-
Uch, die begleitenden Texte von Archivrat Albert und Rektor Sütterlin
müssen als für den vorliegenden Zweck mustergültig bezeichnet werden.
Wort und Bild sind nicht nur gleichwertig, sondern ergänzen sich auch in
recht geschickter Weise. Deshalb ist es sehr zu bedauern, dafs die Badeuer
1906 ihren Kalender eingebüist haben, aber sie werden wohl selbst schuld
daran sein: warum haben sie in den Jahren, da sich die Gelegenheit bot,
die Hefte nicht besser gekauft? Vielleicht wäre zu erwägen, ob der badische
Kalender nicht einen Schwarzwaldkalender zum Nachfolger bekommen
könnte!
Über den Kalendern, die 1904 zuerst das Licht der Welt erblickteo,
hat z. T. ein Unstern gewaltet. In zwei Fällen ist der Jahrgang 1904
bis jetzt der einzige geblieben, und zwar gilt dies für die Kalender
für das Saargebiet und das Königreich Sachsen, die sich übrigens
im ganzen beide den Thüringer Kaknder zum Vorbild genommen hatten.
Der Saarkaiender für 1904 wurde vom „Kunst- und Gewerbeverein für das
Saargebief zu Saarbrücken herausgegeben (Kommissionsverlag von Hubert
Hecker, Saarbrücken, Preis: i Mark) imd ist, abgesehen vom Vorwort
und einem auf die Bedeutung der Eisenindustrie hinweisenden Gedicht, Das
Olück aus Eisen von Alexander Tille, rein geschichtlichen und kunstge-
schichdichen Inhalts. Die Monatstafeln sind mit einigen Daten aus der
Geschichte der Heimat versehen, wie es allgemein geschehen sollte: so er-
fJEthren wir zum 11. Januar, dafs 181 4 Blücher in Saarbrücken sein Haupt-
quartier hatte, zum 28. Februar, dafs 1784 infolge von Hochwasser mehrere
Bogen der alten Saarbrücke einstürzten, aber z. B. auch, dafs am 23. Juni
1900 das neue Rathaus in St. Johann eingeweiht worden ist. Die zwölf
Monatsbilder stellen hervorragende Bauwerke des Saargaues in vorzüglich
gelungenen, plastisch wirkenden Abbildungen dar, und zu fUnf dieser Ab-
bildungen wenigstens sind im Textteil kleine unterweisende Abhandlungen
enthalten. Das ist sehr zweckmäfsig und sollte für jedes der Monatsbilder
allgemein üblich werden. Wort und Bild müssen sich ergänzen ; das erhöht
den praktischen Wert beider ungemein. Auf Textabbildungen sind in zwei
Fällen besondere Teile der Monumentalbauten dargestellt. Einige lehrreiche
Aufsätze stehen zu den Monatsbildern nicht in Beziehung; so der über den
1788 von Fürst Ludwig gestifteten Ritterorden der Schien Treue, dessen
Abzeichen abgebildet ist, ebenso ein anderer, der sich mit der Zeit des
eben genannten Fürsten Ludwig (gest. 1794) beschäftigt, imd auf viele Be-
ziehtmgen bekannter Personen — Goethe, Knigge, Iffland — zu Saarbrücken
hinweist, tmd schliefslich eine Beschreibung der in der Sammlung des Histo-
rischen Vereins zu Saarbrücken befindlichen, 1844 ausgegrabenen römischen
Merkurstatuette aus Bronze. Schliefslich finden sich noch fünf Wappen
— 147 —
kmisdier Adelsgeschlechter mit kurzen Bemerkungen über deren Geschichte,
eme recht empfehlenswerte Art, um allgemeiner mit der, für die fernere Ver-
gs^enheit so wichtigen Heraldik imd Adelsgeschichte bekannt zu machen. Der
scbOne Anlauf, den man an der Saar genommen hatte, läfst nur bedauern,
di6 das Unternehmen bis jetzt ohne Fortsetzung geblieben ist, aber es ist
ja nicht ausgeschlossen , dafs sich die Beteiligten noch eines Besseren be-
aonen und 1907 mit einem neuen Kalender hervortreten. Da ein Verein
hier als Unternehmer in Frage kommt, darf man auf so etwas vielleicht so-
gar hofien!
Geradeso vereinsamt steht bisher der Sächsische Kaiender 1904 (Städte-
bider und Schmuck von Walter Tiemann, verlegt bei Carl Ernst Poeschel
in Leipzig). Dieser Kalender stellt fast einen neuen Typus dar, da er aufser
dem Kalendarium, das darauf verzichtet, irgendwelche Tage als sächsische
Gedenktage zu bezeichnen, keinerlei Text enthält. Das ist entschieden
IQ bedauern und dürfte zu einem Teile den Mifserfolg erklären, denn die
nrW Monatsbilder sind ganz vorzüglich. Trefiflich ausgewählt, gleichmäfsig
aBen Teilen Sachsens entnommen — Dresden (2 mal), Leipzig, Zittau, Meifseo,
Freiberg, Bautzen, Chemnitz, Riesa, Plauen, Pirna und Zwickau sind mit
herrorragenden Bauwerken vertreten — und in technisch ganz ungewöhnlich
feiner AusfÜhnmg dargeboten, stehen sie vielleicht von den sämtlichen hier
be^ochenen Abbildungen künstlerisch am höchsten. Deshalb kann man
nur dem beipflichten, was Wurm darüber sagt, wenn er meint, für das
Bngeben des Kalenders sei wohl kein anderer Grund anzuführen, „als dafs
IQ Sachsen für derartige, wirklich künstlerische Veröfifentlichungen kein Sinn
besteht. Wie viel tausend und abertausend Kalender niedriger und niedrigster
^ite mögen wohl im Sachsenlande gekauft worden sein, aber für ein Heft-
dien, welches hervorragende Bilder aus dem eigenen Lande bringt, scheint
man dort kein Verständnis und kein Geld zu haben**. Auch in diesem
FaBe soll die Hoffnung auf eine Erneuerung nicht aufgegeben werden, aber
es sollten — vielleicht unter Wegfall der zu Merkiafeln bestimmten leeren
Bitter — in das Kalendarium sächsische Gedenktage eingetragen und kleine
geschichüiche Erläuteningstexte zu den AbbUdungen, gegebenenfalls mit
kleineren Textillustrationen, beigefügt werden. Auch kleine dichterische Bei-
gaben pflegen das Interesse zu erhöhen.
Unter Verzicht auf Text erscheint seit 1904 auch ein Kalender für
Hessen, aber dieser ist in den folgenden Jahren erfreulicherweise nicht
ausgeblieben, scheint vielmehr Anklang gefimden zu haben. Es ist dies der
&»m9cke Kalender mit Originallithographien nach Studien aus Hessen-Nassau
vod dem Grofsherzogtum Hessen von H. Meyer-Cassel in München
(Verlag von Ernst Huhn in Kassel, Preis: 2,50 Mark). Technisch unter-
scheidet sich dieser Kalender von allen anderen, denn er ist kein Buch-,
wndem ein Wandkalender in Querfoüo (25/42 cm). Jede der 12 Tafeln
trigt in der Mitte eine Lithographie (1905 sogar eine farbige), während sich
ünks und rechts das Kalendarium mit geschichtlichen Daten findet; 1905
ist bst jeder einzelne Tag bedacht. Die BUder sind echte Künstlerwerke,
aber die Auswahl erscheint doch nicht ganz glücklich. Das Landschafts-
bfld herrscht vor; als Baudenkmal erscheint uns 1904 einzig und aUein das
Marborger Sc^ofs, während bei den elf anderen Bildern das entsprechende
— 148 —
Denkmal ziemlich zurücktritt, tind 1905 ist dies bei allen zwölf im übrigen
^timmungsvoUen Bildern der Fall. Die Lithographien sind gewifs fein -aus-
geführt, aber sie eignen sich nicht recht zum fieschauen, da die £mzelheitea
zu wenig klar hervortreten. Ob dies im jüngsten Jahrgange (1906) anders
geworden ist, kann ich nicht entscheiden, da mir kein Exemplar vorli^
aber da die Lithographien, wie verlautet, nur schwarz und weifs ausgeführt
sind, ist es wohl anzunehmen. Dieser Kalender wird voraussichtlich immer
wiederkehren, denn der Jahrgang 1906 ist bereits völlig vergriffen, weshalb
den Herrn Verleger seine Kollegen nicht wenig beneiden werden. Auch
hier wäre für die Zukimft etwas Text, der die Bilder geschichtlich erläuteit,
erwünscht, sei es auf der Rückseite der Blätter, sei es auf einem Beiblatt
oder auf einem Raum, der sich durch Zusammendrängung des Kalendariums
gewinnen liefse.
Während der für ganz Sachsen bestimmte kunstgeschichtliche Kalender
nur ein einziges Mal erschienen ist, hat ein ähnliches für die Stadt Leipzig
bestimmtes Werk, das auch 1904 ziun ersten Male ausgegeben wurde, eine
regelmäfsige Fortsetzung gefunden, und das fernere Erscheinen dürfte ge-
sichert sein: dies ist der Leipxiger Kalender, der mit dem Untertitel Em
iütistriertes Jahrlmch, herausgegeben von Georg Merseburger, 1904 ud<1
1905 im Verlag von Jobannes von Schalscha-Ehrenfeld und 1906 im Verlag
von Georg Merseburger — mit dem Untertitel: Illustriertes Jahrbuch wd
Chronik — erschienen ist. Der Plan dieses Kalenders weicht wesentlich von
dem aller übrigen ab: es handelt sich hier um ein stattliches Buch von
nmd 260 Druckseiten. - Dem Unternehmen liegt der treffliche Gedanke zu-
grunde, jährlich ein Buch zu schafifen, in dem das gegenwärtige Leipzig
in seinem wirtschaftlichen, wissenschaftlichen imd künstlerischen Leben ge-
schildert wird, und damit geschichtliche und kimstgeschichtliche Erinnerungen
an die Vergangenheit zu verbinden. Es wird darin nicht nur ein Über-
blick über die Schauspielsaison des letzten Jahres (1904, S. 173 — 187;
1905, S. 127 — 137; 1906, S. 175 — 190), über das Musikleben (1904,
S. 201 — 220; 1905, S. 153 — 167), seit 1906 auch eine Jahreschronik
(S. 207 — 220) der äufseren Ereignisse veröffentlicht — Dinge, die in Anbetracht
ihrer Bedeutung für eine fernere Z u k u n f t recht dankbar aufgenommen werden
müssen — , sondern auch Gedichte und Erzählungen der heutigen Leipziger
SchriftsteUerwelt aUer Richtungen sind darin enthalten. Und mitten unter
diesen Dingen, die für jeden Einwohner einen gewissen Wert besitzen, stehen
nun allgemein verständlich geschriebene Aufsätze aus dem weiten Gebiete
der Geschichte mit ganz vorzügUchen TextabbUdungen und Kunstbeilagen.
Das Kalendarium, das 19O4 imd 1905 ohne geschichtliche Daten war, ent-
hält 1906 in zwei Reihen „Geschichtsnamen** und „Erklärungen** dazu,
imd zwar ist für jeden Tag ein für Leipzigs Geschichte wesentliches Ereignis
gefunden worden; so heifst es z. B. zum 13. Juni: Salzburger Emigranten und
als Erklärtmg dazu : Ankunft der ersten gastfreundlich aufgenommenen 1732.
Als Monatsbilder finden wir 1904 farbig ausgeführte Gebäude und
Häusergruppen der Stadt in der die Jahreszeit kennzeichnenden Erscheinung;
.1905 sind neben einigen Bauwerken auch Stimmungsbüder (Peieresirafte xmt
Messe, JRennpUUxsxene, Weihnachtsmarkt) berücksichtigt, während 1906 zwölf
Zeitbilder aus der Geschichte Leipzigs, gezeichnet von Hugo L. Braune, also
— 149 —
Kche Phantasieerzetigiiißse, gewählt wurden. Wenn auch ftir einige
fiOder (x. B. für das von Bach, Geliert bei Friedrich dem Grofsen, Goethe
8od Käthchen) geschichtliche Darstellungen verwertet sind, so erweckt doch
bei unserem Reichtum an alten Stichen, die das Bekanntwerden verdienen,
doe solche Schöpfung Bedenken. Der Fehler, der oben beim Boten Adler
beobachtet wurde, ist allerdings glücklich vermieden : der Beschauer braucht
sich ziicht mit dem Bilde zu begnügen, sondern es werden S. 201 — ao6
Tcxterbluteruogen dazu aus der Feder von Wilhelm Bruchmüller geboten,
die auch dem geschichtlich Unkundigen sagen, was die Bilder bedeuten, und
insofern auch geschichtlich erzieherisch wirken. Glücklich ist die Auswahl
der durchweg kurzen geschichtlichen Beiträge zu nennen, die überdies fast
jede Zeit und jedes Gebiet des* Kulturlebens berücksichtigen. Es seien z. B.
fDlgende Aufsätze angeführt: Im Jahrgange 1904 finden wir Aufsätze über
Doktor Faust und Auerbachs Keller, Leipx^ig als Iktrnerstadi (Geschichte
des Turnens in Leipzig), Lediger Parks und Gärten (Geschichte der Leip-
ziger Gartenanlagen seit dem XVII. Jahrhundert) und einen ganz vorzüglichen
Beitrag von Albrecht Kurzwelly: Das Leipziger Bürgerliaus in der ersten
HMfte des XVIII. Jahrhunderts (S. 149 — 167); sieben Abbildungen be-
deutender Häuser und ein Grundrifs sind beigegeben. Während der Direktor *
des Kunstgewerbemuseums über die Bedeutung dieser Anstalt handelt (S. 189
bts 194) und einige bemerkenswerte Gegenstände in Abbildungen beifügt,
unterrichten launige Tagebuchaufzeichnungen eines einstigen Leipziger Stu-
denten über dessen Ferienwanderungen in den Jahren 1 8 10 und 18 11 sowie
über die Zustände auf sächsischen Landstrafsen und in den benachbarten
Städten. Im Jahrgange 1905 sind für den Geschichtsfreund von Bedeutung
Briefe eines Leipziger Studenten aus den Jahren 1819 — 1824 (S. 57 — 76),
Der I.,e^xiger Studentenaufruhr von 1768 (S. 109—118), die Beschreibung
und Würdigung einer Anzahl Bauwerke in den Leipzig umgebenden Dörfern
mit Abbildungen (S. 141 — 151), die Geschichte und Bedeutung des jetzt
abgerissenen „Römischen Hauses** (S. 169 — i74)t die Charakteristik des
älteren Leipziger Mefslebens im Anschlufs an ein humoristisches Genrebild
mit Bezug auf die Ostermesse 1836, das natürlich reproduziert ist (S. 183
bis 195), Diß älteste Beschreibung des Leipziger Fischerstechens unter Wieder-
gabe eines dem Jahre 17 17 entstammenden BUdes dieser Schaustellung
(S. 199 — 204), die Abbildung und Beschreibung des „Fürstenhauses** (S. aio
bis 3x2) und mancher andere Beitrag. Nicht minder glücklich sind die Auf-
sätze des jüngsten Jahrgangs ausgewählt, der die beiden ersten an Reich-
haltigkeit noch übertrifil: in Goethes Leipziger Zeit führt die Schilderung
Ein Besuch im Sübemen Bären im Jahre 1766 (S. 35 — 50), eine Schilde-
raog der älteren Fastnachtsgebräuche gibt der Aufeatz Der Tanz im alten
Lapxig (S. 63 — 74), einen Blick in Leipzigs Musikleben des XVII. Jahr-
hunderts gewährt die kurze Biographie des Thomaskantors Johann Hermann
Schein (S. 129 — 138), mit dem Jahre 1806 beschäftigt sich ein erster Auf-
satz über Die Franxosenzeit in Sachsen und Leipxig (S. 141 — 156), der
weitere Nachfolger erhalten soll und dem vier Abbildungen von dem da-
maligen Leipziger Künstler Geisler beigegeben siad. Auch zwei Briefe des
dänischen Erbprinzen und seiner Gemahlin von 1784 und 1790 haben
mehr als ortsgeschichtUches Interesse (S. 225 — 228); der Nachweis, dafs
— 150 —
ein bisher als Darstellung Katharinas von Bora geltendes Ölgemälde des
Leipziger Museums das Bildnis von Luthers Frau nicht zeigt (S. 229 — 234),
hat ebenfalls allgemeinere Bedeutung, und auch für andere Orte wird die Ge-
schichte des Spruchs Eoctra lApsiam tum est vUa — Et si vüa, non est ita
(S. 241 — 242) belangreich sein. Bei dem auiserordentlich billigen Preise
von 2,50 Mark fUr den gebimdenen, vornehm und mit künstlerischen Ab-
bildungen ausgestatteten Band verdient der Lediger Kalender gröfste Beach-
tung; es ist ein Buch von hoher, dauernd wachsender Bedeutung, welches auch
aufs erhalb Leipzigs nicht unberücksichtigt bleiben darf.
Niedersachsen besitzt seit 1904 einen Kunstkalender: Der Heidjer,
herausgegeben von Hans MUller-Brauel mit Zeichnungen Worpsweder Künsüer,
Verlag von Gebrüder Jänecke, Hannover (Preis : i Mark), der sich pünktlich
in wesentlich gleicher Weise jedes Jahr wieder eingestellt hat Der Kalender ist
dem Thüringischen nachgebildet. Das Kalendarium entbehrt geschichtlicher
Daten. Während der erste Jahrgang als MonatsbUder zwölf hervorragende
niedersächsische Bauwerke (darunter das Huneborstelsche Haus in Braun-
schweig und ein Giebelhaus in der Bierstrafse zu Osnabrück) enthält,
mischen sich 1905 derartige Abbildungen mit landschaftlichen Stinmiungs-
bUdem (Quellen der Luhe, Schatkoben in der Lüneburger Heide, Alte Mühle
in der Heide), und 1 906 sind sogar bei Verwendung weifsen glatten Papiers
und Änderung der Bildtechnik Ölgemälde, Zeichnungen und Radierungen
niedersächsischer Künstler als Vorlagen benutzt, die zwar alle etwas Nieder-
sächsisch-Volkstümliches an sich haben, aber doch das geschichtliche
Element hinter dem künsderischen allzusehr zurücktreten lassen. Dies ist zu
bedauern, denn während der erste Jahrgang dem Künsder und dem Ge-
schichtsfreund etwas bot, jedem Interesse fUr das Werk des anderen anzu-
erziehen geeignet war, kommt die Vergangenheit im Jahrgange 1906 ent-
schieden zu kurz. Dafs ein paar Seiten mit Dichtungen den Inhalt etwas
vielseitiger machen, schadet gewifs nichts, aber man vermifst 1906 Dinge,
wie sie 1904 geboten wurden (z. B. das Bild des Brautpaares von 1840,
Truhe von 1574 im Bremer Gewerbemuseum). Dem Aufsatze über die
Batiemkunst aus der Winser Eibmarsch (1904), selbst dem anziehenden Be-
richt über das erste niedersächsische Volkstrachtenfest (1905) sowie der Be-
schreibung der Lüneburger Hochzeitstruhe von 1545 entspricht im Jahrgange
1906 nichts; die Biographie des Generals Karl von Alten kann dafür nicht
entschädigen. Die kunstgewerblichen Bestrebungen der Worpsweder verdienen
gewifs Beachtung und sie mögen ruhig in em bis zwei Aufsätzen eines solchen
Kalenders berücksichtigt werden, aber das kulturgeschichtliche Element,
welches ja gerade dem Publikum das Verständnis für jene Bestrebungen zu
vermitteln geeignet ist, mufs auch zu seinem Rechte kommen. Daher wün-
schen wir, dafs der Jahrgang 1907 wieder eine Rückkehr zu den 1904
angewandten Grundsätzen l>eweisen möge.
Ganz in der Weise wie Franken besitzen seit 1904 auch Bayern und
Schwaben einen Kunstkalender. Die „Gesellschaft für christliche Kunst"
in München verlegt ihn (Preis: i Mark), Prof. Joseph Schlecht gibt üin
heraus, und der Titel lautet: Kalender bayerischer und schwäbischer KtmsL
Das Format ist etwas gröfser als bei den Altfränkischen Bildern, nämlich
31/22 cm, aber die Art der Veröffentlichung gerade so: der Jahrgang 1904
— 161 —
enüiält i6 Au&ätze mit ax Abbildungen, 1905 aber 16 Aufsätze mit 23 Ab-
hfldnngen; Ton letzteren ist eine bunt ausgeführt: es ist die Reproduktion
eines der alten Glasgemälde im Augsburger Dom. Diente ab Vorwurf für
das farbige Titelbild des ersten Jahrgangs eine feine Goldschmiedearbeit des
XL Jahrhunderts» so kommt 1905 das bayerisch-pfiilzische Wappen, wie es
sich in einem Prachtbande von 1570 findet, zur Darstellung und im Jahr-
gang 1906, der nur 7 Aufsätze mit 20 Abbildungen enthält, ein Bild des
XVU. Jahrhunderts, das die Vermählimg Ottos von Witteisbach darstellt.
Die b^chreibenden Texte bieten durchweg in knappster Fassung viel Be-
lehnmg und sind für jeden Leser verständlich; die Abbildungen zeichnen
sich durch plastische Gestaltung und Deutlichkeit in den kleinsten Einzel-
heiten aus, so dafs z. B. die beiden gotischen Monstranzen aus Freising und
Waidhofen (1904) und ebenso die drei Schmiedearbeiten XV. bis XVIII.
Jahrhunderts, die 1905 den Artikel Altes Eisen illustrieren, auch in den
feinsten Teilen anschaulich wirken. 80 ist wieder ein Weg gezeigt, um die
Schätze der Kunstsammlungen imd die Denkmäler, die hier und dort stehen
and bewundert werden, durch mustergültige Abbüdung und Beschreibung
allgemein bekannt zu machen. Für die Inventarisierung der Kunstdenkmäler
l>edeuten diese ktmstgeschichtlichen Kalender, wie schon mehr&ch ausge-
sprochen ist, eine wesentliche Vorarbeit oder auch Ergänzung, und weil sie
handlich und biüig sind, verdienen sie auch die Beachtung des Privathauses
and der Schule.
Seit 1905 besitzt auch die Schweiz ihren Kunstkalender, der im Verlag
der Sekweixer BauxeUung in Zürich erscheint und von C. H. Baer heraus-
gegeben wird. Vom Sekißeixer Kunstkalender in Schmalfolio (31/19,5 cm),
eben£üls dem bewährten fränkischen Muster nachgebildet, liegen zwei Jahrgänge
vor, von denen aufser dem ÜEtrbigen Umschlag der erste 23 Aufsätze mit 29
Abbildungen, der zweite 25 Auüsätze mit 28 Abbildungen bietet Von den
Übrigen Kalendern unterscheidet sich dieser dadurch, dais die Monatstafeln
sich über das ganze Heft verteilen und dals sich am Schlüsse ein Verzeichnis
der Abbildungen findet. Seitenzahlen hat er gerade wie der bayerisch-schwä-
bische Kalender. Die freundlichen roten Titelköpfe des ersten Jahrgangs haben
1906 wohl aus Ersparnisgründen schwarzen weichen müssen. Auf dem
fitfbigen Umschlag ist 1905 ein Reliquiar aus getriebenem Silber aus der
zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts dargestellt, das sich im Museiun zu
Freiburg befindet, 1906 vom der Bannerträger des Städtchens Arberg, wie
er auf einem Glasgeinälde von 1515 zu sehen ist, während die Rückseite ein
Grabdenkmal von 1502 ziert — alles ganz prächtige Sachen. Die Auswahl
der zur Abbildung gdangten Denkmäler ist vorzüglich, so da& £ast jede Kunst-
periode und fiist jede Art der Kunstbetätigimg durch ein Beispiel vertreten
ist Und erfreulicherweise hat nicht nur die hohe Kunst Berücksichtigung
gefunden, wie in Franken und Bayern-Schwaben, sondern auch das Bauern-
haus: der Speicher von 1634 (1905, S. 13) und die Typen des Unter-
«ikber und Appenzeller Hauses (1906, S. 6 — 7) sind ganz entzückend.
Bemerkenswert ist jedenfalls aber die Tatsache, dafs die Hefte technisch
nicht m der Schweiz, sondern bei Stürtz in Würzburg hergestellt worden
sind. Deshalb braucht über die Reproduktionen, die denen der AUfrän^
Jnmhm Bilder gleichwertig smd, nichts weiter gesagt zu werden.
11
— 152 —
Für einen Teil Sachsens, für Erzgebirge und Vogtland, hat sich 1 905
und 1906 ein Ersatz für den leider ausgebliebenen Sdchsiwhen Kalender
eingestellt; der Kalender für das Erzgebirge und Vogtland, herausgegeben
von Woldemar Müller presden). Hofifentlich ist die Tatsache, dais
schon beim zweiten Jahrgange der erste Verlag (Graser, Annaberg) durch
einen anderen (Arwed Strauch, Leipzig) ersetzt worden ist, kein verhängnis-
volles Anzeichen für die Zukunft, denn der Inhalt der beiden Hefte, deren
Preis mit i Mark gewifs nicht zu hoch bemessen ist, rechtfertigt den Wunsch,
dafs sie recht viele Nachfolger finden mögen. Das Format ist Quart
(24,5/20 cm), der Druck Antiqua, das Kalendarium entbehrt geschichtlicher
Daten, aber 1906 sind neben anderen praktischen Angaben solche über den
Erzgebirgsverein imd seine Zweigvereine sowie den Verein für Sächsische
Volkskunde imd seine Ortsgruppen darin enthalten; das ist gewifs geeignet,
zugleich die Zwecke dieser beiden Vereine zu fördern und dadurch wieder
mittelbar den Kalender. Die Monatsbilder zeigen hervorragende Baudenk-
mäler in vorzüglicher Darstellung, aber auch Naturbilder (Nonncnfelsen 1905 ;
Natzschtmgtal 1906) und lebenswahre Stimmungsbilder aus dem Volksleben
(Bergleute zu Sosa im Kirmesaufzug, hn Ausxugssiübl 190$; Erxgetnrgiedit
Wehersiube 1906). Ganz allerliebst sind die beiden Elsterbrücken, die alte
tmd die moderne Eisenbahnbrücke, 1906. Leider fehlt jeder Text zu den
BUdem, imd ein solcher wäre tatsächlich auch für die besten Kenner des
Landes von Wert Dafür ist der zweite Teil des Kalenders fast ganz der
Belletristik gewidmet, die teilweise im Dialektgewand auftritt, während die
Aufsätze Volkskunst im Erzgebirge und Heimailiche Bautoeise (1905) sowie
Bauet hdmailiehf und Der Weihnachtsberg (1906) mehr theoretisch auf die
Leser einzuwirken suchen. Einige charakteristische städtische und ländliche
Häuser, im ganzen und vielleicht auch noch in Einzelteilen abgebUdet und
künstlerisch im Texte gewürdigt — meine ich — würden dem beabsichtigten
Zwecke besser dienen. Als Beigaben sind auch einige ältere charakteristische
Häuser abgebUdet, aber die bUdliche Darstellung allein sagt zu wenig. Das-
selbe gilt für die alten technischen Anlagen : der ehemalige Treibegöpel vom
Prinz Leopoldschacht bei Freiberg, der Daniebchacht bei Schneeberg (mit
der Tracht des Obersteigers und des Hüttenmanns), das alte Pochwerk hei
Antonsthal und der alte Hammer in Frohnau sind abgebUdet, aber es fehlt
der unbedingt dazu nötige Text, der diese Dinge belebt. Hoffentlich er-
gänzen sich Wort und BUd 1907 in rechter Weise!
Seit 1905 erscheint in Hessen (Darmstadt, Verlag von H. Hofinann,
Preis: 1 Mark) ein Hessischer Kalender, herausgegeben von Prof. Anthes,
der mit dem oben S. 147 besprochenen nicht verwechselt werden darf. Nur
der zweite Jahrgang (1906) liegt mir vor, der sechs OriginaUithographien von
Ernst Liebermann in farbiger Ausführung enthält; es sind dies das Schlois
Lieh, das Rathaus zu Alsfeld, Schlofs zu Erbach, Schlofs zu Friedberg.
Auerbacher Schlofs, Schlofs FUrstenau und der Dom zu Worms. Über
jedes BUd tmterrichtet ein kurzer geschichtlicher Aufsatz. Im Kalendarium
fehlen Hinweise auf geschichtliche Ereignisse. Die einzige Beigabe ent-
hält einen Überblick über die gegenwärtig lebenden Glieder des grofsherzog*
liehen Hauses. Er^rt der Leser hier auch etwas weniger als aus
anderen Kalendern, so sind doch gute Texte mit vorzüglichen Bildern
— IM —
so Teremigtf dafs sie sich wirklich ergänzen. Hoffen wir auf die Fort-
setzung unter Ausstattung des Kalendariums mit Daten aus der hessischen
Geselchte!
In Ausstattung und Format (28/18 cm) dem vorigen ganz gleich ist
1906 zum ersten Male auch ein Kalender fUr Rheinland- Westfalen er-
schienen. Da der Verlag derselbe ist wie beim hessischen Kalender, so ist
anzunehmen, dafs der Erfolg des letzteren im ersten Jahre gut gewesen ist.
Der Bhemischrwestfälische Kalender, den Professor Neeb (Mainz) redigiert,
l»etet sechs farbige Bilder und zwar Originalsteinzeichnungen Liebermanns.
Der Kölner Dom bei Nacht sowie Dom und Rathaus zu Aachen heben sich
allerdings nur in ihren Umrissen vom Hintergrunde ab, aber das Rathaus
sa Minden, das Rathaus zu Münster i. W. und Schlods Burg an der Wupper
sind gut gelungen, und die Ruine Casselbtu-g in der Eifel mit Umgebung
ist zugleich ein Landschaftsbild. Auch hier sind kurze Erläuterungstexte von
▼ezs(±iedenen Ver&ssem beigefügt, aber das Kalendarium entbehrt auch hier
gcs<±ichüicher Daten, für die doch gut Raum vorhanden wäre.
Diese stattliche Reihe heimatsgeschichtlicher und mehr oder weniger
zugleich kunstgeschichtlicher Kalender, die fast aUe erst dem letzten
Jahrzehnt angehören, gibt lebendiges Zeugnis davon, dafs der Sinn für die
geschichtlichen Denkmäler der heimischen Landschaft in den meisten Ge-
bieten deutschen Landes erfreulich wächst Um dieses Wachstum zu fördern,
ist es die Pflicht aller Freunde der Heimatskunde, dafür zu sorgen, dafs die
bestehenden Kalender jährlich wieder erschemen und dafs der Inhalt
immer reicher und hochwertiger werde. So freudig etwaige Neugründungen
fiberall da zu begrüfsen sind, wo ein ähnliches Erziehungsmittel fehlt, so sehr
nmis darauf Bedacht genommen werden, dafs nicht etwa neue Kalender für
cm engeres Gd)iet bereits bestehenden teilweise das Wasser abgraben; denn
ein Verleger kann naturgemäfs nur bei einer hohen Auflage auf seine Kosten
kommen, wenn anders er gute BUder und mancherlei Belehrung bieten wUl.
Hinsichtlich des Inhalts sind schon oben im Vorbeigehen einige
Wünsche zum Ausdruck gebracht worden, die nochmals kurz zusammengefafst
seien. Gute Bflder hervorragender unbew^licher und beweglicher Denkmäler
kOmien wir nicht genug haben; auf sie mufs das Hauptgewicht gelegt werden«
Aber die G^enstände mehr kultur- als kunstgeschichtlichen Wertes dürfen
auch nicht ganz fehlen. Phantasiedarstellungen geschichtlicher Vorgänge
soUten dagegen mögtichst beiseite bleiben. Merkwürdigerweise fehlt fast
dnrdigängig in den besprochenen Heften eine genauere Ai^be über die
Entstehung des Budes, welches dargeboten wird; eine solche isf aber für
vissenschafilichen Gebrauch unerläfislich. Der Benutzer mufs wissen, was als
Vorlage gedient hat. War es ein Gemälde, ein Holzschnitt, oder
Kupferstich und aus welcher Zeit? Liegt eine moderne, eigens zu dem
Zwed^e bewerkstelligte photographische Aufnahme oder die 2^ichnung eines
KüD^ers zugrunde? Dann aber wiU man auch wissen, vermittels welcher
Technik die Reproduktion ausgeführt ist. Das smd Dinge von gröfster
Bedeutung, schon um das Publikum an die Unterscheidung der verschiedenen
Reproduktionsweisen zu gewöhnen. Wo Blätter aus Sammlungen und Museen
11*
— 164 —
als Vorlage gedient haben, da sollte immer die Katalognummer angegeben
sein ; denn das erleichtert den Verkehr zwischen Publikum und SamaüuBgen
wesentlich. In jedem Falle sollte ein Text, der bei knappster Fassung
möglichst viel Tatsächliches bietet, das Bild begleiten. Dem Kaien-
darium sind heimatsgeschichtliche Daten einzuverleiben.
Alles in allem sind in den besprochenen Kalendern drei Typen ver-
treten, die ich den fränkischen, den thüringischen und den Buchtypus
nennen möchte. Der erste, rein kunstgeschichtliche, ist bzw. war ver-
treten in Franken, Baden, Bayern-Schwaben und in der Schweiz, der zweite,
gekennzeichnet durch die Monatsbilder und einen besonderen Textteil,
in Thüringen, Berlin, Saargau, Niedersachsen und Erzgebirge- Vogdand, der
dritte in Eckaitsberga imd Leipzig, während der in Kassel erscheinende
Hessische Wandkalender und der sächsische, die beide auf Text verzichten,
aus dem Rahmen heraus&llen, wenn man nicht darin einen vierten Typus
erkennen will. Im einzelnen sind recht grofse Verschiedenheiten in der Auf-
fassung zu beobachten, aber wer für künftige Kalenderarbeit etwas lexnen
will, der wird aus jedem der besprochenen Heftchen etwas lernen können.
Sollten hier Kalender, die fuglich in diesem Zusammenhange eine Be-
sprechtmg verdient hätten, vergessen sein, so bitte ich mich darauf aufinerk-
sam zu machen und verspreche, das Versäumte später einmal nachzuholen.
Armin Tille.
Eliiff:egangeiie Bficher.
Begiebing, Heinrich: Die Jagd im Leben der salischen Kaiser. Bonn,
P. Hanstein, 1905. 106 S. 8". M. 2,00.
Grupp, Georg: Kulturgeschichte der römischen Kaiserzeit. I. Band. Unter-
gang der heidnischen Kultur. München, Allgemeine Verlags-Gesellschaft
m. b. H., 1903. 583 S. 8^. IL Band: An^ge der chrisdichen
Kultur. Ebenda 1904. 622 S. 8^ M. 18,00.
Kötz, Gustav: Die Verlegung der Stadt Schwetz aus der Weichselniedeiung
auf die Höhen am linken Schwarzwasserufer (1830 — 1885). i. Teil
[= Beilage zum Jahresbericht des Kgl. Progymnasiumä zu Schwetz a. W.,
Ostern 1905]. 15 S. 8^
^Strenge, C. Fr. von: Stadtrechte im Herzogtum Gotha [3= Mitteilungen
der Vereinigung für Gothaische Geschichte und Altertumsforschung,
Jahrg. 1903, S. 1—48].
Sturmhoefel, Konrad: Deutsches Nationalgefiihl und Einheitsstreben im
KIX. Jahrhundert [=»= Hochschulvorträge für jedermann, H^ 56—58].
Le^>zig, Seele & Co., 1904. 99 S. 8"^ M^ 0,^96.
Snseba cht Über den ersten Blitzableiter in Göttingen [«» Protokolle über
die Sitzungen des Vereins für die Geschichte Göttingens, im iz. Vereins-
jähre 1903-^1904 (Göttingen 1905), S. 97— 113].
.T hiemann: Die soziale Fürsorge in Göttmgen einst und jetzt [«=* Proto-
koUe über die Sitzungen des Vereins für die Geschichte Göttmgens tm
i2v Vereinagaht 1903— 1904 (Göttingen 1905), S. 123 — iSj]*
DäB nächste Heft wird ein Doppelheft und erscheint Mitte AprU 1906.
Herausgeber Dr. Armin TlUe in Leipzig.
Druck und VerUg von Friedrich Andreu Pwthet, AktieageteUschnft, Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
zur
Fordernng der landesgeschichtlichen Forschung
VIL Band BAärz/April 1906 6.//. Heft
Zur neueren reformationsgesehiehtliehen
Literatur Süd^ und ISAitteldeutsehlands
Von
Friedrich Roth (München)
Wohl keiner Periode der deutschen Geschichte bringt die Gegen-
wart so reges und allgemeines Interesse entgegen wie dem Reformations-
zeitalter, wobei freilich au&er der rein wissenschaftlichen und sachlichen
Seite noch andere Faktoren wirksam sind, auf die hier nicht näher ein-
zugehen ist. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verbreiterte sich der Strom der
jährlichen literarischen Produktion und schwoll von 2^it zu Zeit zu ge-
waltiger Höhe an gelegentlich reformationsgeschichtlicher Gedächtnis-
tagc, durch die die Katholiken zur Erneuerung ihrer Polemik gereizt,
<& Protestanten zur Gründung konfessioneller Vereine und grofser
literarischer Unternehmungen begeistert wurden. So entstand im An-
sdilufs an das Luther-Jubiläum im Jahre 1883 der Verein für
Reformationsgeschichte, der zunächst die Bestimmung hat,
<icn Gebildeten und den weiten Kreisen des Volkes in abgerundeten
Einzeldarstellungen die gesicherten Ergebnisse der reformationsge-
schichtlichen Forschung zu erschliefsen und damit belehrend und
^mannend zu wirken, aber auch dafür Sorge trägt, dafs diese Schriften,
<tie alle auf quellenmäfsiger Grundlage beruhen, doch des wissen-
^duftlicben Charakters nicht entbehren. Und in der Tat hat sich
^ter den fast neunzig Bändchen, die bisher veröffentlicht wurden, so
^oanches als Erzeugnis von bleibendem Werte erwiesen. Durch die
^^ Melanchthon-Jubiläum angeregte Herausgabe eines Nach-
^es zu den Schriften dieses Reformators wird das Corpus Befor-
«flfonim, in das vorher schon die Werke Calvins aufgenommen
worden waren *) , eine äufserst wertvolle Erweiterung erfahren ; die
1) JoamH$ Calvini opera, quae supenunt, omnia VoL i — 59? ^^* Gnilelmns«
^tam, Ednardns Cnnitz, Ednardas Renss.
12
— 166 —
Werke Zwingiis, deren Drucklegung unter Beihilfe des Zwingli-
Vereins bereits begonnen, werden sich anschließen^).
In Verbindung mit dem Verein für Reformationsgeschichte gibt
seit 1904 Walter Friedensburg das Archiv für Reformations'.
geschickte heraus, das an den Beiträgen eur RefortncUionsgeschichte von
Otto Giemen eine Art Vorläufer hatte*). Es setzt sich die Ver-
öffentlichung von Quellenmaterial und kritischen Untersuchungen über
Quellenschriften usw. zur Aufgabe und bringt eine Übersicht über
die neu erscheinende reformationsgeschichtliche Bücher- und Zeit-
schriftenliter^tur , womit einem schon längst gehegten Wunsche der
Forscher entsprochen wird.
Was die sogenannten Publikationsinstitute und -vereine
zutage gefördert, kommt nicht zum wenigsten der Reformationsge-
schichte zugute; wir erinnern nur an die von der historischen
Kommission bei der kgl. bayer. Akademie der Wissen-
schaften herausgegebenen Reichstagsakten (jüngere Linie), bisher
drei Bände, denen der vierte, bis zum Augsburger Reichstag (1525}
reichend, bald nachfolgen wird, an die vom preufsischen histo-
rischen Institut eöietteu Nuntiaiurberichte aus Deutschland, an den
Briefwechsel Landgraf Philipps des Oroßmiitigen mit Bacer von Lenz,
an das Politische Archiv des Landgrafen Fhüipp des Grroßmütigen von
K ü ch , an das Urkundenbuch eur Reformaiiansgeschichte des Herzogtums
Pret{ßen von Tschackert — alles in den Publikationen aus
preufsischen Staatsarchiven — , endlich an die Politische Korre-
spmdem der Stadt Straßburg.
Damit betreten wir das Gebiet der territorialen Reformations-
geschichte, aus dem wir eine Anzahl neuer und neuester Erscheinungen
herausgreifen wollen.
Der für uns hier in Betracht kommende dritte Band der politischen
Korrespondenz der Stadt Strafsburg *)^ der wie der zweite von Otto
Winckelmann bearbeitet ist, umfaist die Zeit von 1540 bis 1545, also
die Zeit der Vorbereitung des Religionskrieges, für die bereits der
i) Hüldrieh ZwingKs sämtUche Werke, unter Mitwirkung des ZwingUTereins iiv
Zürich heravtgegeben von Emil Egli und Georg Finsler. Bd. i liegt Tor.
2) Otto Giemen , Beiträge swr Beformation^e$eh%cht€ aus Büchern und Bandr
Schriften der Zwickauer Batshibliothek, Berlin 1900, 1902, 1903. 3 Hefte.
3) Urkunden und Akten der Stadt Strti/Sbttrg, herausgegeben mit Unterstätzang
der Landes- and der Sudtrerwaltang : Politische KorrespondenM der Stadt Strqßburg t«i
Zeitalter der BefarmaOon, Dritter Band, 1540— 1545, bearbeitet Ton Otto Winckel-
mann (Stralsbiirg 1898).
— 157 —
obenerwähnte Briefwed^sd Philipps mü Bucer eine Menge neuen
Materials sowohl zur Aufhellung der allgemeinen Verhältnisse als auch
issbesondere zur Beleuchtung der Politik Strafsburgs gebracht hat.
Unter den von Winckelmann mitgeteilten Schriftstücken nehmen ein
besonderes Interesse die durch Klarheit und Sachkenntnis ansgezeich-
oeten Berichte des trefflichen Städtemannes Jakob Sturm in Anspruch,
dem Hermann Baumgarten ein so schönes Denkmal gesetzt hat *).
Sie lassen die Ursachen der inneren Zerrüttung des schmalkaldischen
Bundes, insbesondere die tie^reifenden Mifshell^keiten , die durch
die brannschweigischen Kriege und ihre Folgen zwischen den Bundes-
länptem und den Ständen erwachsen sind, in ihrer ganzen Tragweite
edtennen, trotzdem man überall den Eindruck gewinnt, dafs der „viel
wissende Mann" nicht alles, was ihm bekannt geworden, niederge-
schrieben, wie er wohl auch bei den mündlichen Unterredungen mit
setiien „Herren*' aus guten Gründen manches im Busen behalten
i^>en wird. Zum Teil ganz neu sind die Nachrichten über die Refor-
mationsversnche in Metz, die bis dahin nur in ihren Anfangen durch
eine Arbeit Kleinwächters') bekannt waren. Die letzte Nummer
des Bandes enthält das bis zum 9. Februar 1 546 reichende Tagebuch
Starms über die Verhandlungen des schmalkaldischen Bundes in
Frankfurt, die die „Erstreckung*' desselben herbeiführen sollten. Möge
der vierte und letzte Band des so viel benützten Werkes, der das
Tecfaängnisvolle Kriegsjahr 1546 zum Gegenstande haben wird, nicht
alba lange mehr auf sich warten lassen!
Als Beilage II sind dem dritten Bande Aktenstücke über Jakob
Stmma Stdhmg ssur Bigamie des Landgrafen Philipp beigegeben,
womit ein Thema berührt wird, das von Lenz in verschiedenen
Pwtieo seines grofsen Werkes durch Mitteilung zahlreicher, den
n&ndel" von seinem ersten Stadium an bis zum Ende verfol-
gcader Dokumente, wie bekannt, mit gröister Gründlichkeit behandelt
vocdeot ist. Die unbedingte Verurteilung, die — zum Teil auf dieses
Mstetial hin -^ Luther und Melanchthon^ wegen der Stellung, die sie
^abd einnahmen, nicht nur von katholischen, sondern auch protestan-
äiciien Htstoiikem neuerdings erfahren, hat den amerikanischen Theo-
logen WiBkun Rockwell veranlafst, die Akten dieses Falles einer
oodimaUgen Prüfung zu unterziehen, und so entstand ein ziemlich
1) Bov. BaniDgarteB, Jakob Shmrm (Straftburg 1876).
a) Emil Kleinwichter, Der Metzer Reformatumsveriueh 1542—43) Teü. I
1894, DiMert).
12*
~ 158 —
umfangreiches Buch*), das in seinem ersten Teil die Geschichte der
Doppelehe und ihre unmittelbaren Folgen, im zweiten die Stellung der
Wittenberger Reformatoren zu dieser „Ehe" untersucht. In diesem zweiten
Teil bespricht der Verfasser ausführlich Luthers Verteidigung des Witten-
berger Ratschlags, die auf die Sache sich beziehenden Äufserungen
des Reformators in den Tischreden sowie in Briefen an Melanchthon,
Thann und Feige, die Eisenacher Konferenz, die zwischen dem Land-
grrafen und den Wittenbergern sich bildende Sparmung und deren Lösung.
In einem dritten Teile sucht der Verfasser dann zu zeigen, wie das
Reformationszeitalter überhaupt die Bigamie beurteilte, wobei die An-
schauungen der hessischen Geistlichen, Luthers, Melanchthons, Bucers
dai^elegt und die der römischen Kirche, vor allem des Kardinals Vio
de Gaeta, des gelehrtesten Mannes unter den damaligen römischen
Autoritäten, im Hinblick auf den Scheidungsprozeß Heinrichs VIII. von
England erörtert werden. Insbesondere wird bewiesen, dafs der Kardi-
nal nicht abgeneigt gewesen sei, zur Vermeidung eines gröfeeren
Übels eine Dispensation des Königs von dem Polygamieverbot zu emp-
fehlen. Als Resultat seiner Untersuchung stellt Rockwell, der in den
historischen Teilen seiner Arbeit überall auf die Quellen zurückge-
gangen ist und auch über die zur I^ösung seiner Aufgabe nötigen
theologischen und rechtsgeschichtlichen Kenntnisse verfugt, den Satz
auf, dafs Luthers Stellung zu dem hessischen Handel sich nicht nur
aus seinem Verhältnis zur heiligen Schrift, sondern auch aus der „von
der katholischen Kirche herübergenommenen naturrechtlichen Behand-
lung der Eheverbote und der traditionellen Kasuistik betreffs der
Beichtpraxis** ergebe \md sein „Gutachten** kein „Gutheifsen**, son-
dern ein „Beichtrat** gewesen sei. Rockwell spricht die Überzeugung
aus, dals der Standpunkt, den die römische Kirche bisher in dieser
Sache Luther gegenüber eingenommen, unhaltbar sei, und überhaupt
eine Modifizierung der über ihn gefällten harten Urteile eintreten sollte.
Ob sich diese Hoffnung erfüllen wird? Schon jetzt haben sich Stimmen
des Widerspruchs erhoben ') , die freilich auch erst die Prüfung ihrer
Berechtigung abwarten müssen.
Wir wenden uns zur Pfalz. Da stofisen wir auf das gewisser-
maiisen eine Vorstufe zur reformationsgeschichtlichen Literatur des
i) William Walker Rockwell, lostruktor der Theologie in Andover, Maisa*
chasetts, Die Doppelehe des Landgrafen Philipp van Hessen (Marburg J904, XX S.,
374 S.)
2) S. Archiv für BeformatiansgeacJnchte, U. Bd., S. 311.
— 159 —
Landes bildende groüse Werk Glas sehr Oders, BegesUn i3>er Ur-
bmden smr pfälzischen Kirchengeschickte '), von denen die letzten noch
tief in das Reformationszeitalter hereinragen, ja beträchtlich darüber
hinausgehen. Die Sammlung des weitschichtigen Materials — es
handelt sich um 760 Urkunden aus der Zeit von 1115 bis 1573 — war,
^ die Archive der Pfialz durch Kriegsstürme weit zerstreut worden, ver«-
sdiiedene Landesteile in andere Staaten aufgeteilt sind, und nicht weniger
als fünf Diözesen — Speier, Worms, Mainz , Metz und Straisburg -^
in Betracht kommen, mit aufserordentlichen Schwierigkeiten verbunden.
One ganze Anzahl von Archiven mufste beisteuern ; vor allen natürlich das
in Speier, das Kreisarchiv in Würzburg, wo die für die pfälzische Ge^
schichte so vdchtigen Ingrossaturbücher der Mainzer Erzbischöfe liegen,
das Reichs- und das Geheime Staatsarchiv in München, dann die
Archive der Nachbarländer, ja selbst, wegen einiger Orte, das preufsi*
sehe Staatsarchiv in Koblenz, die reichsländischen Archive in Metz
tmd Straisburg, und — was man nicht erwarten sollte — das schwei*-
lerische Staatsarchiv in Luzem, wohin infolge seltsamer Schicksale an
5000 Urkunden des Domstifles und der Kollegiatstifte zu Worms ver«»
sdilagen worden sind. Die weitaus meisten der von Glasschröder in
trefflichen Regesten gebotenen Urkunden, die eine Fülle des wichtigsten
Materials für alle kirchlichen Lebensverhältnisse der Pfalz enthalten,
waren bisher noch unbekannt und ungedruckt.
Die eben angedeuteten Schwierigkeiten, die mit der Erforschung
der pfilzischen Geschichtsquellen verbunden sind, waren wohl auch
die Ursache, dafis bis vor kurzem eine neue Bearbeitung der pfalzischen
Reformationsgeschichte fehlte. Der den Bann gebrochen, ist der als
gediegener Forscher allen Freunden imd Kennern der reformations^
geschichtlichen Literatur rühmlich bekannte Pfarrer Gustav Bossert,
der erst neuerlich in seiner Beformatiansgeschichte in Creglingen*),
emer württembergischen Stadt an der Tauber, wieder gezeigt hat, wie
trefflich er es versteht, selbst einen an sich trockenen und sehr ein-
ten Stoff zu beleben und durch Hervorkehrung des Typischen
bttditbar zu gestalten.
I) Franz Xsrer GUsschröder, Urkunden zur IfäitiBchm Kirehengetehic^
^ MHUiaUer, in Begesienform vtröffenÜieht. Im Selbstverlag des Verfassers. Mttncbeo
aad Preising, Drack von Paul Datterer & Cie., 1903. XU S.j 403 S. (Grofsoktav.) —
S. bierca die Besprechang Ton Otto Rieder in den Beiirägen gur bayer, Kirchen-
gekhidUe, Bd. X (1904% S. 141.
3) In WürtUmbergiech Franken, Nene Folge Vm, BeiL tu den Wfirttembergbdieo
^»•rteljshrsbeften för Landesgesch , Schwäb.-Hall, 1903, S. i ff.
— 160 —
In seinen Beiträgen jfur hadisch-pfäMschen BrfcrmaiiansgesckieJiie *)
will Bossert keine vollständige Geschichte der Reformation in Badan
«md der Püalz geben, sondern nur zu weiteren Forschungen anregen,
„und ebenso das Bedürfnis der Neuanfassung dieses Gegenstandes wie
den lohnenden Gewinn der Beschäftigung in der Gestalt neuer Er-
gebnisse aufzeigen''; aber er hat über das hinaus selbst Schon nack
vielen Richtungen hin etwas Ganzes geboten. Von den Quellen,
deren er sich bediente, sind die wichtigsten Speierer Akten (jetzt im
Karlsruher Landesarchiv) — nämlich das Protokollbuch des Speierer
Domkapitels von 1521 — 1546 und ein Protokollband des bischöflich
Speierischen Hofrates zu Udenheim — , die einem erfahrenen Forscher
wie Bössert tiefe Einblidce in die durch die Reformation hervorgerufenen
Wandelungen des inneren und äufseren kirchlichen Lebens im hoch-
stiftischen Territorium und in der Diözese gewähren.
Der Stoff ist gegliedert nach der Regiemngszeit der zwischen 1521
und 1546 auf dem Speierer Stuhl sitzenden Bischöfe, nämlich Georgs
(1521 — 1529), eines Bruders des Kurfiisten Ludwig V., und Philipps II.
von Flersheim, zweier in der Veranlagung, in der Auffassui^ der Dinge
und im äufseren Auftreten sehr verschiedener Persönlichkeiten : Geoig,
ein Mann von humanistischer Bildung, mildem Charakter, einer katho-
lischen Reformation , etwa im Sinne des Erasmus , nicht abgeneigt,
von bestem Willen erfüllt, den Schädigungen, die die Autorität der
Kirche durch die vorwärtsdrängende Reformationsbewegung erlitt, ent-
gegenzutreten, aber ohne die hierzu nötige Schärfe und Konsequenz
zn besitzen, und daher auch ohne rechten Erfolg; Philipp, ein über-
leeugter, eifriger Anhänger des alten Kirchentums, energisch, fest ent-
schlossen, vom Alten zu retten, was noch zu retten war, und, wo
möglich^ Verlorenes zurückzugewinnen, ein erbitterter Feind des
A'otestantismus , ein Gesinnungsgenosse des Herzogs Heinrich tob
Braunschweig, des Herzogs Wilhelm von Bayern und des Straisburger
Bischofs Wilhelm. Wohl gelang es ihm, das Luthertum in seinem
Stiftsland niederzuhalten, aber er brachte es nicht dahin, die ganz
verrotteten Zustände des alten Kirchenwesens, von denen uns Bosseit
ein sehr ins einzelne gehendes Bild entwirft, zu heben und die geistige
Erschlaffung, die den hohen und niederen Klerus gefangen hielt, zu
überwinden. Aufserhalb seines Stiftslandes aber vermochte Bischof
Philipp so wenig wie sein Vorgänger die Ausbreitung des Luthertums
I) Zeitschrift für die QeechichU des Oberrheins, Neae Folge, Bd, 17, S. 37 ^^ ^'
•Sfeff^ & 401 ff., S. 58S^; Bd. 18, S. 193 ff., S. ^43 ff.; Bd. 19, S. 19 ff^ S. 69ff.f
S. 571 ff.; Bd. 30, S. 41 ff.
— 161 —
2a bemmeo, die vcAürzten Rechte der Kirche wieder zur Geftung" zu
briD^o, die ihr zustehenden Einkünfte und Privilegien zu wahren; unä
die von verschiedenen Seiten her bedrohte geistliche Jurisdiktion auf-
recht zu erhalten; ja er konnte nicht einmal verhindern, dafs die
Diözese immer neue Teile verlor und ihr sogar ganze Gebiete ent-
fremdet wurden.
Der damals regierende Markgraf Philipp von Baden, der anfangs
der Reformation günstig gesinnt zu sein schien, wandte sich zwar wieder
mehr und mehr zum Alten zurück ^), betonte stets seine unveränderte
Zog-ehörigkeit zur römischen Kirche und wollte alles Heil der Zukunft
einzig vom Konzil erwarten, gestattete sich aber doch aus landesherr-
licher Macht den Erlafs kirchlicher Ordnungen und schob die Juris-
diktion des Bischofs in rücksichtsloser Weise beiseite. Voü seinen
beiden Brüdern Ernst und Bernhard, die ihm im Jahre 1533, der eine
im nördlichen, der andere im südlichen Teile des Landes folgten,
kam der erstere den Forderungen der Reformation in manchen Stücken
bereitwillig entgegen, indem er im Jahre 1538 die Priesterehe und
die Kommunion in beiderlei Gestalt trotz des Widerspruchs desBisdiofe^
einführte, auch ehegerichtliche Befugnisse ausübte und die freie Predig
des Evangeliums zuliefe, so dafs ihn Buzer zu den wenigen deutschen
Reichsfursten rechnete, die einen wahren Frieden mit einer leidlichen
Reformation wünschten. Ernsts älterer Bruder Bernhard trug sich mit
weitgehenden Reformgedanken, zu deren Ansführuhg er nur auf
einen richtigen Zeitpunkt gewartet zu haben scheint, wurde aber öcho^n
nach drei Jahren (1536) durch den Tod abgerufen, worauf infolge
einer für seine unmündigen Söhne eingesetzten katholischen Vormund-
schaft die Reaktion freie Bahn gewann.
Recht merkwürdig ist die Stellung, die Kurfürst Ludwig V. von
der Pfalz zur Reformation einnahm. Er hütete sich wohl, sich jemals
Mm Protestantismus zu bekennen, rühmte sich bei jeder Gelegenheit
seines Gehorsams gegen den Kaiser und die Reichsgeset^e , kurz
wollte als ebenso gut katholisch wie kaiserlich gelten. Das hinderte
An aber nicht, die Gebote und Rechte der alten Kirche sdiwer zu
vcrictien, diese durch ofTene EingrifTe, wie die Beseitigung des Bannds
in weltlichen Dingen, in ihren materiellen Interessen empfindlich zu
schädigen und die Abkehr seiner Untertanen vom alten Glauben
tn begünstigen , indem er dem Bischof die Anwendung der ihnl zu-
stehenden Machtmittel unmöglich machte oder wenigstens sehr cir-
1) S. hierza Fester, Die Rdigionsmandate des Markgrafen Philipp van Baden
b der ZeUschr. für KirehengeschicIUe, Bd. XI, S. 307 ff-
— 162 —
Schwerte. Erst im Jahre 1538 nahm er durch sein Edikt, das für die
Oberpfalz die evangelische Predigt, das Abendmahl sub utraque specie
und die Prozessierung der Geistlichen vor dem weltlichen Gericht ge-
stattete, fiir die „neue Lehre" Partei, was vonseiten der Katholischen
um so schmerzlicher empfunden wurde, je mehr sie sich daran gewöhnt
hatten, das Gesamthaus Witteisbach als eine der festesten Stützen der
alten Kirche zu betrachten; doch ist es für die „zweigesichtige*' Politik
Ludwigs und seines Bruders, des Pfalzgrafen Friedrich, der als der
eigentliche Urheber des Ediktes angesehen wurde, bezeichnend, dafs
sie den üblen Eindruck, den sie bei den „Kaiserischen" hervorgerufen
hatten, nach Kräften wieder zu verwischen suchten, was ihnen auch
wirklich gelungen ist. Brachte es doch der Kurfürst über sich, auch
jetzt noch, nachdem er dem Luthertum in seinen Landen tatsächlich
den Weg geebnet, den Papst mit der Ehrerbietung eines gläubigen
Katholiken als „sanctissimum dominum" zu bezeichnen und sich zu
gebärden, als wäre nichts Wesentliches geschehen. Erst unter dem
Drucke der dem Religionskriege vorausgehenden Ereignisse trat Fried-
rich, der seinem Bruder als Kurfürst gefolgt war, auf Ostern 1545
offen zum Protestantismus über.
Von den vielen wertvollen Einzelheiten der Bossertschen Schrift
interessieren besonders die Kämpfe, die der Speierer Bischof, das
Domkapitel und die altgläubige Geistlichkeit überhaupt um den Zehnten
zu führen hatten. Wir hören, dafs Zehntenverweigerungen bereits im
Jahre 1523 vorkamen, und ein Jahr darauf selbst in der Stadt Speier
einige Bürger mit dem Zehnten zurückhielten, ohne dafs Bürgermeister
und Rat, die vom Kapitel um Hilfe angerufen wurden, sich zu einem
Einschreiten zugunsten desselben herbeiliefsen ; als dann über die
Säumigen der Bann ausgesprochen wurde, entfesselte dies nur ihren
Spott. Später wurde von den Speirern die Zehntpflicbtigkeit inner-
halb der Ringmauern überhaupt bestritten. Der Markgraf Philipp
von Baden ging so weit, die den Stiften und Klöstern inkorporierten
Zehnten mit Beschlag zu belegen, um davon den Pfarrern ein festes
Einkommen zu verschaffen, und als das Kapitel im Jahre 1529 die
von ihm geforderte Türkenhilfe nicht bewUiigen wollte, verbot er
einfach den bischöflichen Amtleuten, den Erlös des Zehnteq ihrem
Herrn abzuliefern. Ganz besondere Schwierigkeiten aber erwuchsen
dem Kapitel von Seite der Reichsstadt Efslingen, wo es seit 12 13 die
Kirche samt dem Zehnten innehatte. Dieser Besitz wurde ihm von
den Efslmgem so entleidet, dafs es den Entschlufis fafste, ihn an die
Stadt zu verkaufen, doch konnte, als man endlich daran war, den
— 163 —
Kauf abzuscblielisen, die päpstliche Einwilligung nicht erlangt werden.
Erst im Jahre 1 547 kam endlich eine Einigung zustande, gemäfis deren
E&lingen den Zehnten auf eine bestimmte Zeit pachtete, nach deren
Ablauf er durch Kauf für immer an die Stadt kommen sollte; da-
durch erlangte Eüslingen nach dem Vorbild Reutlingens, das schon
im Jahre 1533 dem Abt von Königsbronn seine Rechte, den Zehnten
and das Patronat abgekauft hatte, die Ordnung, Leitung und Unter-
haltung der Pfarrkirche und damit vollständig freie Hand zur Refor-
mation. Der Kurfürst Ludwig, der als Schirmer des Bistums berufen
gewesen wäre, dieses vor Bedrückung zu bewahren, war so weit
entfernt, ihm ein wirklicher Helfer zu sein, dafs er es vielmehr selbst
mit einer an Erpressung grenzenden Härte zur Bewilligung neuer
Steuern nötigte und dessen Hilflosigkeit, wo er konnte, zu seinem
Vorteile ausnützte.
Den Schlufs der Bossertschen Arbeit bildet die Darstellung der
tauferischen Bewegung in der Pfalz und im Badischen und des nament-
lich von dem Kurfürsten Ludwig mit Strenge dag^en geführten
Kampfes, der leider sehr viele Blutopfer forderte, wenn die Zahl der-
selben auch nicht so groüs war, wie man nach den täuferischen Mär-
tyrerverzeichnissen annehmen müfete. Auch die Lehre Schwenkfelds,
der in dem Markgrafen Bernhard von Baden einen Gönner besais, hat
ohne Zweifel in den pfalzischen und badischen Landen viele Anhänger
gewonnen, doch lassen sich nähere Angaben hierüber, wenigstens bis
jetzt, nicht machen.
Noch bevor der Schlufs von Bosserts Schrift im Drucke ver-
öffentlicht war, trat Hans Rott mit seinem Buche Friedrich II. von
der ffdU und die ReformcUicn ') hervor, das im wesentlichen — natüi'-
lich mit Aufserachtlassung Badens — als eine Fortsetzung der ersteren
erscheint. Nach einer ausfuhrlichen Darlegung der politischen Um-
stände und Verhältnisse, die den Abfall Friedrichs von der kaiser-
lichen Politik herbeiführten, verbreitet sich der Verfasser über 'die
venchiedenen Erlasse und Mafsnahmen, durch welche die Reformation
^ der Pfalz eingeführt wurde , und weist nach , dafs der den Anfang
derselben bezeichnende Tag nicht, wie man bisher glaubte, der 3. Ja-
Boar 1546, sondern der 18. April des Jahres ist, an welchem, dem
i) In den Heidelberger Äbhhandhmgtn ewr nUtUeren und neueren QeeMchte,
^«■•fegeben von Karl Hampe, Erich Marcks und Dietrich Schäfer, 4. Heft (Heidel-
^ 1904). Beilagen: Die SHfleordnung Friedrichs II. für die PfdU 1546;
^^f^kmordmung Friedrichs II. von der Ff ah 1546; Briefe Buccr» an Ottheinrich vom
9. Det. 1547, ao. De*. 1547 and 33. Jan. 154S.
— 164 —
Palmsonntag, das evangelische Abendmahl zum ersten Male zu Heidel-
berg, im Gotteshaus zum heiligen Geist, öffentlich gefeiert wurde,
unter Beteiligung von etwa zweihundert Personen. Die in den letzten
Tagen des April (1546) verkündigte Landesktrchenordnung , die der
nümbergischen und neuburgischen nachgebildet ist und bisher verschollen
war, wurde von Rott dem in der Karlsruher Bibliothek aufbewahrten
Nachlafe des Historikers F. P. Wundt entnommen und als Beilage
mitgeteilt. An dem ganzen Reformationswerk hatte der in Weinsheim
lebende, für das Evangelium begeisterte Pfalzgraf Ottheinrich, der den
in religiösen Dingen lauen Kurfürsten vorwärts trieb, einen bedeuten-
den, im einzelnen nicht immer bestimmbaren Anteil ; so auch an den
von Friedrich unternommenen Versuchen, die Universität Heidel-
berg zu reformieren, die freilich an dem Widerstand der dem Papsttum
ergebenen beiden höheren Fakultäten scheiterten. Nach dem schmal-
kaldischen Kriege brach über die Kurpfalz eine schlimme Zeit der
Reaktion herein, die Heidelberg wieder „römisch" machte, aber die in den
übrigen Städten und auf dem Lande vorher ausgestreute Saat nicht
ganz zerstören konnte. Die Interimsordnung wurde von den pfalz-
gräfischen Amtleuten und Geistlichen nur lässig gehandhabt, ohne da(s
der Kurfürst, der doch als kaiserlicher Kommissär auf dem Augs-
burger Reichstage alles getan, um derselben Eingang zu verschaffen,
gegen sie aufgetreten wäre. Selbst solche Geistliche, die sich dem
Interim überhaupt nicht unterwarfen und „Urlaub" nahmen, durften
als Privatpersonen ungefährdet auch femer im Lande verbleiben. In
dem „Fürstenkrieg" im Jahre 1552 suchte sich Friedrich, so gut es
ging^ neutral zu halten, schwenkte dann aber insofern zu der anti-
kaiserlichen Partei ab, als er den „Heidelberger Verein" veranlafste,
in welchem sich deutsche Fürsten beider Konfessionen zusammen-
taten, um sich den vom Kaiser geplanten Übergriffen entgegen-
zustemmen. Diese Schwenkung und das Zureden des Herzogs Christoph
von Württemberg, an den sich der Kurfürst in semen letzten Jahren
immer enger anschlofs, hatten zur Folge, dafs er der Reformation wieder
mehr und mehr Raum gönnte, und nach Abschlufs des Religionsfriedens
nahm er eben einen Anlauf, ganze Arbeit zu machen, als ihn der Tod
abrief. Was er gewollt und begonnen, führte Ottheinrich zum Ziele.
Mit der Kurpfalz war die Oberpfalz verbunden, deren Reformations-
geschichte man früher nur aus dem von konfessioneller Abneigung
gegen den Protestantismus erfüllten Buche Wittmanns*) und der
i) Witt mann, OeacMehU der Beformatum in der 0&efii/a2ff {Angabtirg 1847)-
— 166 —
daraus geschöpften Darstellmig Jaossens kannte. Beiden trat Friedrich
Lipper t entgegen, der eine neue, anf reichem Aktienmaterial fun-
dierte Reformatioiffigeschichte dieses Landes, einen „ Antijanssen 'S
schrieb ^), um an die Stelle des arg verzeichneten G^chichtsbildes,
wie es bisher vorlag, ein neues zu setzen, wobei er sich freilich auch seiner-
seits im Eifer für die Sache und in der Entrüstung über die bei Witt-
mann sich findenden Erdichtungen und Entstellungen manchmal über
die Grenzen strenger Objektivität hinausführen lieis.
Das Drängen nach der Reformation ging in der Oberpfalz von dtn
sogenannten Gezirkstädten aus, deren im Jahre 1524 für die nach Speier
anberaumte, dann aber vom Kaiser verbotene Reichsversammlung angefer-
tigten Gutachten, soweit sie von Lippert mitgeteUt werden, einen belehren-
den Anblick in die vom Volke als besonders reformbedürftig emp-
fimdenen Miüsbräuche und Mängel des kirchlichen und religiösen
Lebens gestatten imd den Wunsch erwecken, alle in den verschiedenen
Territorien damals verfafisten Ratschläge gesammelt zu sehen. Um
dnen alten Irrtum zu beseitigen, der auch in diesem Buch (S. 19) wieder
aiftaocltt, sei bemerkt, da(s der angeblich infolge der „ Regensburger
Reformation'' gemalsregelte „ Schlofiseigentümer von Leuchtenberg"
der in der Augsburger Stadtgeschichte wohlbekannte Georg Regfei *),
Besitzer des am Lech liegenden Schlosses Lichtenberg ist, dessen Ver-
gewaltigung durch Herzog Wilhelm von Bayern in der Augsburger
Chronik von Wilhelm Rem ziemlich ausführlich erzählt ist*). Der
auf derselben Seite von Lippert genannte Freysleben in Weiden,
der eine nähere Würdigung verdient hätte , ist identisch mit Johann
Ficysleben, dem Verfasser einer gegen das Salve Regina gerichteten
Schrift, über dessen Persönlichkeit Giemen im dritten Bändchen seiner
oben erwähnten „Beiträge" (S. 34 ff.) verschiedene Notizen zusammen-
stellt hat Bemerkenswert ist der Nachweis, dafs Pfalzgraf Friedrich
^ Statthalter der Oberpfalz schon im Jahre 1525 „bis zu weiterer
j) Friedr. Lippert, Die Befarm(Uian in Kirche, Sitte und Seht^e der Ober-
fftkf 1620—1620, ein Anti Janssen, ans den königlichen Archiven erholt (Rothenburg
^ T, kS97); femer: Reformation und Gegenreformation in der Landgrafschaft
LiiKktmberg in den Beiträgen g. bak/er, Kirchengeschiehte, Bd. VIII (tQoi), S. 131;
^cUieislich : die Egerer Reformatüm. Aas dem k. Kreisarchiv Amberg, im Jahrbuch des
in (hterrei^ ai. Jahrg. (Wien 1900), S. 42 ff.
1) Herwarth von Bittenfeld: Zu¥ Geeehleohtäkunde der Hegel vom Ältie-
in der Zeüechrifi des hist, Vereins für Schwaben und Neubürg, Jahrgang XS91,
s. 93t.
^ Heran^egebeh von Friedr. Roth im 15. Bd. der CkrmUken der deutsehen
Städte (Manchen 1S96), S. 236.
— 166 —
Ordnung und Reformation im heiligen römischen Reich "... anordnete,
dafe „in allen Kirchen und Pfiarren das Neue Testament von Anfang und
dann fiirder von Kapitel zu Kapitel nach dem Buchstaben ohne andere
Einmischung etc. lauter und rein furgelesen und gepredigt" werde, wozu
aber sein vorsichtiger Bruder, der Kurfürst, der alles noch beim alten
lassen wollte, seine Zustimmung nicht gab. Die im Jahre 1538 schon
oben (S. 162) erwähnten, von diesem der Reformation gemachten Zu-
geständnisse wurden sofort dadurch bedeutend eingeschränkt und
stark in ihrem Werte reduziert, dafs als Prädikanten nur „römisch
geweihte und unbeweibte " Geistliche aufgestellt werden sollten, infolge-
dessen z. B. die Amberger den ihnen von Luther zugesandten Pre-
diger Andreas Hügel verloren. Erst nach dem für die Evangelischen
günstigen Abschied des Regensburger Reichstages vom Jahre i;4i
wurden diese und andere Fesseln abgestreift, doch war damit den neu-
gläubigen Prädikanten die Verrichtung von Kasualien, namentlich die
Vornahme der Taufe, noch immer nicht gestattet. Die nächsten
Schritte vorwärts erfolgten dann wie auch in der Rheinpfalz nach dem
Tode des Kurfürsten Ludwig, und Lippert zeigt an dem Beispiele der
Stadt Amberg, wie man sich nun der Kirchen bemächtigte und den
Gottesdienst im evangelischen Sinne umgestaltete, und zwar nach der
Nürnberger Kirchenordnung. Die vollständige, auf Grund der neu-
burgischen Kirchenordnung durchgeführte Reformation im ganzen
Lande ging aber erst unter Ottheinrich vor sich, und von jetzt an
bewegft sich die Reformationsgeschichte der Oberp£edz, natürlidi mit
gewissen durch die Verschiedenheiten der beiderseitigen Verhältnisse
bedingten Abweichungen, in demselben Geleise wie die der Kurpfalz.
Die Vorgänge bei der Aufhebung der Klöster *) und der Verlauf der
ersten Kirchenvisitation im Jahre 1557, auf deren Ergebnissen Witt-
mann und Janssen ihre ungünstigen Urteile über das religiöse und
sittliche Leben der Geistlichkeit und des Volkes aufbauten, werden
ausführlich geschUdert, und es ist ein Verdienst Lipperts, hier zu
einer gerechten BeurteUung der in Rede stehenden Zustände den
richtigen Mafsstab gefunden zu haben. Von den auf dem Gebiete
des Schulwesens *) vorgenommenen Neuerungen und Verbesserungen
i) Betüglich des Klosters Gnadcoberg (Brigittenkloster) s. noch Binder, 6tei
dir baffer. BrigiUmMöiier (Mflnchen» 1898) n. Kamsoninden Verb, des tust Ver.
▼on OberpfaU o. Regensbnrg, Bd. 45.
2) Vgl. HoUweck, GtsekiehU des VoOcsschulweBenB in der Oherpfals {Rtteoi-
borg 1894)» die sieb abtr, soweit die allgemeinen Veriiältnisse in Betracbt koiftmeo, stark
aaf Wittmann and Janssen stützt.
— 167 —
ist die am meisten ins Auge fallende die Gründung des Gymnasiums
in Amberg '), das sich zur Zeit seiner Blüte sehr wohl mit dem Päda-
gogium in Heidelberg und der Gelehrtenschule in Lauingen messen konnte.
In dem zweiten, gröfseren Teil des Buches werden dann — immer
unter Zugrundelegung des einschlägigen Aktenmaterials — zum ersten
Male in zusammenhängender Darstellung die Kämpfe geschildert, die
das Luthertum in der Oberpfalz mit dem Kalvinismus zu bestehen
hatte. Trotzdem das junge evangelische Kirchenwesen durch diese
natürlich auf das empfindlichste geschädigt und beeinträchtigt wurde,
vermochte doch das zäh an seiner Überzeugung festhaltende Volk,
unterstützt durch den nicht minder „hartnäckigen*' Adel, im grofeen
und ganzen seinen lutherischen Glauben zu wahren. Die land-
standischen Freiheiten und städtischen Privilegien aber wurden in
dieser Zeit der Bedrängnis bis ins Herz erschüttert. In der Geschichte
der Stadt Amberg, der grölsten der „Gezirkstädte 'S die, wie aus
Schwaigers schöner Stadtchronik *) zu ersehen ist , um die Mitte des
XVI. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt bürgerlichen Gedeihens gestan-
den, bezeichnet das Jahr 1597 das Ende ihrer Selbständigkeit, zugleich
den Anfang einer unabsehbaren Kette von Demütigungen und Leiden,
die in Bälde die Stadt und das ganze Land heimsuchten.
Was Lippert in seinem Buche, das den weiten Zeitraum von
1520 bis 1620 umfafst, geboten hat, ist eine sehr anerkennenswerte
Leistung, da auf weite Strecken hin die Scholle zum ersten Male
gebrochen werden mulste; doch ist in ihm, wie schon der verhältnis-
mäßig geringe Umfang (234 Seiten) erkennen läfst, der zu bearbeitende
Stoff nach keiner Richtung hin erschöpft, und es wird noch vieler
nacharbeitender Kräfte bedürfen, bis alle Einzelheiten in vollständiger
Klarheit und Sicherheit festgestellt sind und die vielen Persönlich-
keiten, die in dem Buche genannt werden. Fleisch und Blut gewinnen.
Auch wird die einschlägige gedruckte Literatur, die nicht immer so,
wie es nötig gewesen wäre, zu Rate gezogen wurde, noch wesentliche
Erweiterungen und manche Berichtigungen ergeben.
Als Fortsebmng dieses Buches hat Lippert noch eine Geschichte
^ Gegenreformation in der Oberpfahf ') und zu deren Ergänzung die
1) S. Rixoer, Gtmshithte der Shidien^ÄntiiiU eu Amherg (Solzbach 1832). —
D^Dlt, Zwei ehemdlige Lehr- und EreiehungsamtaUen Ambergs, (Programm des
Anbcrger Cymum^nrns 1904).
a) S. hieiKber Emil Roth, Miekad Schwaiger in Bd. 44 der Verhandl, des
^ Fer. ven Oberpf, u. Regensburg.
3) H. Lippert, GesMehU der OegenrefamuUion in Staat, Kirche und Sitte
^ Oberpfah. Nach den Akten der königlichen Archive <Freibarg i. B. 1901).
— lea —
Abhandlung über die Pfarreien und Schulen in der Oberpflah '),
geschrieben, worauf der Amberger Seminarpräfekt Högl das gleiche
Thema in seinem zweibändigen Werke Die Bdcehrung der Oberpfale
durch Mtiximilian L ^) noch einmal behandelte und dabei das Haupt-
gewicht auf die Wiederaufrichtung des Katholizismus legte, während
sich Lippert mehr mit der Ausrottung des Protestantismus beschäftigte.
Auch der schöne Aufsatz von Sperl über das Verhalten des ober-
pßüzischen Adels zur Gegenreformation gehört hierher*).
Einen kleinen Ausschnitt aus der Reformationsgeschtchte der Ober-
pfalz bUdet die des Klosters und Stiftslandes Waldsassen von Georg
Brunn er*). luden der Vorgeschichte gewidmeten Abschnitten zieht
besonders der Über denBauertihrieg im jS^t/ZsIaiufe die Aufmerksamkeit auf
sich, der eine nur wenig bekannte, zuerst von Rusam in helleres Licht
gezogene Episode der Stiftsgescbichte behandelt^). Dieser „ Bauern-
krieg'* entbehrt freilich aller religiösen Motive und ist lediglich sozialen,
politischen und zum Teil persönlichen Verhältnissen entsprungen, hat
aber doch insofern für die Reformationsgeschichte grofse Bedeutung,
als daraus tiefgreifende Verwickelungen des Abtes mit der Kurpfalz
erwuchsen, die der letzteren die Handhabe gaben, im Jahre 1 548 das
Kloster mit Gewalt in Besitz zu nehmen, wodurch es de facto seiner
Reichsunmittelbarkeit beraubt wurde, während sie dem Namen nach
noch bis zur Abdankung des Abtes Heinrich Rudolf von Weze, im
Jahre 1560, fortbestand. Diese Abhängigkeit hatte zur Folge, dafs
Waldsassen als ein Teil der Oberpfalz in die von Ottheinrich durch-
geführte Reformation einbezogen wurde. Von einer „Aufhebung** des
Klosters kann aber nicht gesprochen werden, sondern nur von einer Selbst-
i) Die Pfarreien und Schulen der Oberpfalg (Karpfalz) 1621—1648, Sooder-
mbdruck ans dem 53. Bande der Verhandlangen des historischen Vereins von OberpfaU
und Regensbarg (Regensborg 1901). — S. auch von dem gleichen Verfasser den Auf-
sat£ Büdterverbrennung und BüeherverhreiHtng in der Oberpfalg in den Beitrügen
tor bajrerischcn Kirchengeschichte, Bd. VI (1900), S. 173 ff.
2) Maüi. Högl, DU BeMrung der OberpfälM durch KwrfürBt MwcimiHan L
Nach Archiv-Akten bearbeitet. I. Bd. Gegenreformation, IL Bd. i. und 2. Retefii (im
Jahre 1629 and 1630). Regensbarg, Kommissionsverlag der Verlagsanstalt vorm. G. T.
Manz.
3) Der oberpfälgische Adei und die Oegemefimnatian in der Vierk^fahr'
edkrifi du Vereine Herold in Berlin 1900, Heft 4«
4) Georg Brunner, GeechiehU der Befonnation de$ EJoeUn uttd S^^Mmim
WaUea^een bis Mum Tode dee Kurfürsten Ludwig TL (is^z). Mit 15 Bcib^eo
und einer Karte des Stiftslandes (Erlangen 1901).
5) G. Rusam, Der Bumerrdorieg im SJiß Waldmeeem in depfititr. mhiajensdiai
KirchengeH^Mchte, Bd. IV (189&)» S« 49 ff.
— i6y —
auflösung, da schlieftlich der Abt resignierte, einige Mönche pro-
testantisch wurden, der Rest sich zerstreute. Alles vollzog sich auf
geordnetem Wege ohne jegliche Anwendung von Gewalt, und was
tendenziöse Greschichtschreiber Gegenteiliges zu berichten wuCsten,
er«'ies sich, wie Lippert (S. 446*.) und Brunner beweisen konnten»
als böswillige Erfindung. Auch hier im Stiftslande können die
Wirkungen der Reformation, wenn man die Visitationsprotokolle richtig
deutet und deuten will, im allgemeinen trotz der aus dem Eindringen
des Kalvinismus erwachsenden Schwierigkeiten als befriedigende
bezeichnet werden. Dem aus dem Mittelalter ererbten krassen Aber*
glauben, der in der Oberpfalz noch tiefer wurzelte als in vielen anderen
Gegenden, ging man energisch zu Leibe, doch darf nicht verschwiegen
werden, dafs dabei auch mancher alte schöne Volksbrauch, manche
aus grauen Zeiten herüberdämmemde Tradition vernichtet wurde.
Bemerkenswert ist noch die Tatsache, dafs die in der Reformations-
zeit neu errichteten Pfarreien sich von ihren Mutterpfarreien in vor-
teflhafter Weise unterschieden, weil eben hier gewisse Hemmnisse,
die dort noch nicht gänzlich ausgerottet waren, von Anfang an keinen
Boden hatten.
Was die Reformationsgeschichte der „Jungen Pfalz*' betrifft,
so existiert über diese ein bereits im Jahre 1847 erschienenes Buch
von Brock ^), das natürlich schon längst veraltet ist und durch eine
neue Bearbeitung des Stoffes zu ersetzen wäre. Die Regierung und
Persönlichkeit des Pfalzgrafen Wolfgang von Zweibrücken, in dessen
ßcatz das Neuburger Gebiet nach Ottheinrichs Tode überging, ist
Gegfenstand einer trefflichen Monographie KarlMenzels'), aus der
vir ersehen, dafs sein früher als Ideal eines Fürsten geltendes Charakter-
bild doch auch erhebliche persönliche und politische Schwächen auf-
v^ die unsere Vorstellungen von ihm wesentlich modifizieren. Nach
Wol^^angs Hinscheiden kam von seinem Länderbesitz das Herzogtum
Neuburg an seinen ältesten Sohn Ludwig Philipp, während zwei jüngere
Biüder kleine Gebiete mit Sulzbach und Vohenstraufs ') erhielten.
Unter Ludwig Philipp erlebte die Junge Pfalz ihre glücklichste Zeit
^ {[alt als „protestantisches Musterländchen '', dessen kirchliche
1) Brock, Die evangeHseh-hUheriiche Kkckt der ehemdUgen PfdUtffrafeehafi
^•K^mrg (1847).
2) K. McDKcl, Wcifgang von Zweibrüdcen (ICttodieii 1893).
3) Zor RefonnatioDsgeschichie dietei GebietsteUet s. Lippert, KirehenmeUation
PO» ues im Füntmtum Vokmeivm^ in den B«itr. rar bsy«r. Kircbeogesch., Bd. IV,
S.164.
— 170 —
Zustände uns in anziehender Weise von Sperl in seiner Schrift Pfalz-
graf Philipp Ludwig von Neuburg, sein Sohn Wdfgang Wilhelm und
die Jesuiten M geschildert werden. Der zweite Teil des Büchleins
greift bereits in die Zeit der Gegenreformation hinüber und erzählt mit
grofser Anschaulichkeit die Bekehrung von Philipps Sohn Wolfgang Wil-
helm zum Katholizismus, den Eindruck, den das Bekanntwerden dieser
Tatsache auf den mit jeder Faser seines Denkens und Fühlens dem
Evangelium ergebenen alten Vater hervorbrachte, und dessen Be-
mühungen, seinen Untertanen trotz des Geschehenen ihren Glauben
und ihr Kirchentum zu erhalten. Doch kaum hatte der Herzog die
Augen geschlossen, als der Sohn mit dem Eifer eines echten Kon-
vertiten, zuerst vorsichtig und langsam, dann immer gewalttätiger und
rascher, die katholische „Restauration'^ zur Durchführung brachte, und
zwar nicht nur im neuburgischen Gebiet, sondern, wie Sperl schon in
einer früheren Arbeit nachgewiesen *), auch in den sulzbachischen und
hilpoltsteinischen Teilen, die sich damals im Besitz von Wolfgang^
Wilhelms Brüdern Johann Friedrich und August befanden ; doch gelang
es dem letzteren, dem Freunde Gustav Adolfs, durch seine Stand-
haftigkeit die evangelische Lehre bis über das Jahr 1524 hinaus wenig-
stens so weit zu erhalten, dafs nach dem westfälischen Frieden, der
bekanntlich dieses Jahr bezüglich der Religion als Normaljahr aufstellte,
der Protestantismus in dessen Landesteile wieder aufleben konnte ^].
Während die Reformation in allen Territorien der pfalzischen Linie
der Witteisbacher Ausbreitung fand, wurde sie im Gebiete der bayer-
ischen Linie bekanntlich mit aller Energie unterdrückt, so dafs von einer
Reformationsgeschichte des damaligen Herzogtums Bayern nicht die Rede
sein kann, wohl aber von einer Geschichte der Schicksale der evangelischen
Lehre in und durch Bayern, wie der geistliche Rat Vitus Winter sein
am Schlüsse des ersten Jahrzehnts des vergangenen Jahrhunderts erscbie-
i) Erschienen in den Schriften des Vereins für Beformationsgeschichte Nr. 4^
{Halle 1893). Zar Regierung Wolfgang WiUielms s. auch Jos. Breitenbach,, in Ahten-
stücke swr Geschickte des PfaUsgrafen Wolfgang Wühehn (Neobarg 1896); Frosch-
meier, QtteUenbeüräge zur Geschichte des Pfalzgrafen Wölfgang Wilhelm wn
Neuburg (Neubnrg a./D. 1894). Die psychologisches Interesse erweckende Geschichte
der Erziehung Wolfgang Wilhelms und seiner Brüder s. bei Friedr. Schmidt, GeschidiU
der Erziehung der pfäUtschen WUtehhadier in den Mommenta Germaniae paeda-
gogica (Berlin 1899) S. CVff.
2) Geschichte der Gegenreformation in den pfodz-sulzhachisehen und hilpoU-
steinisehen Landen (Rothenburg 1890).
3) S. anch Th. Lanter, Aue der SÜii der Unterdrückung der ev. BeHgion im
Herzogtum Suitbach in den Beiir. zur hager» Kirchengeeeh, , Bd. m (1897), S. 122-
— 171 —
neaesWeric, das die Kirchen- und Staatsgeschichte von Bayern
Ton dem Ausbruche der Kirchenreformation bis zum Tode
Wilhelms IV. behandelt, in wohlberechneter Abwägung des Inhaltsr
betitelt hat ^). Dieses Geschichtswerk , das von einer toleranten Ge-
stnnnng, wie sie das Zeitalter Montgelas' mit sich brachte, erfüllt und
der protestantischen Königin Karoline gewidmet ist, bildete bisher den
von Späteren verhältnismäßig wenig vermehrten Grundstock unseres
Wissens über die religiöse Seite des Reformaüonszeitalters in Bayern,
bis endlich Sigmund Riezler im vierten Bande seiner Creschickie
Baiems (Gotha 1899) das Überlieferte auf ein dem jetzigen Stande
der Wissenschaft entsprechendes Niveau erhob. Einzelheiten nach-
zugehen lag im allgemeinen nicht in seinem Plane.
Für solche hat Theodor Kolde im Jahre 1894 eine kirchen-
geschichtliche Zeitschrift begründet, die Beiträge 0ur bayerischen Kirchen"
§esckichte, die in den seither verflossenen elf Jahren einen reichen
Eltrag für alle Teile Bayerns und für alle geschichtlichen Perioden
von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart gebracht % hauptsächlich aber
die Reformationsgeschichte bereichert haben. Trefflich bewährte sich
die durch den bayerischen Reichsarchivrat OttoRieder unternommene
Zusammenstellung kirchcngeschichtlicher Abhandlungen und Notizen
in den Zeitschriften der historischen Vereine Bayerns, die sich stück^
weise durch die Hefte der „Beiträge** durchzieht, während von dem
Herau^eber in einer an diese Übersicht sich anschliefsenden „Biblio-
gn^hie*' die neuen, das kirchengeschichtliche Gebiet betreffenden
Bavarica besprochen oder wenigstens registriert werden, so dafs hier
ein vollständiges Repertorium der einschlägigen älteren und neuesten
Literatur geboten wird. Von neuen Schriften und Büchern aus dem
Bereiche der fränkischen Geschichte nennen wir Koldes Abhand^
long D. Joh. Teuschlein und der erste Befwmati<msversuch in Bothen»
kvy o. T. '), Otto Erhardt, Befarmatiansgeschicht^ in Bamberg
wtier Bischof Weigand (1522 — 1526)*) und Paul Tschackert,
1) Ans den UrqueUen bearbeitet, tarnt einem diplomatischen Kodex, a Bände
(Wichen, 1S09— 10). Von demselben erschien anch: Oesch, der baier, Wiedertäufer
mXVL Jahrhundert (München 1809).
2) Im 6. Heft des X. Bandes (1904) erschien ein Inhaltsveneichnis iron Band I — X. —
S. den interessanten Rückblick des Herausgebers ^Zam Beginn des zweiten Jahrzehntes
<ler Beitrige*« im i. Heft des XL Bandes. Vgl. aoch diese Zeitsdirift 2, Bd., S. 35—36.
3) Sonderabdnick ans der Festschrift der Universit&t Erlangen, nr Feier des acht-
netten Gebutstages Sr. Kön. Hoheit des Prinxregenten Lnitpold Ton Bayern erschienen.
£Hsogen and Leipzig 1901.
4) Erlangen 1898.
18
— 172 —
Magistor Joh. S%itd {i $04 — 1575)^)» der für uns als Begründer
des Schweinfurter Ktrdienwesens in Betracht kommt. Die kirch-
lichen und rel^^sen Verhältnisse der sdiwäbischen Reichsstadt Kauf*
beuren sind von Schröder *) in Steicheles Bishim Augsburg nun
so weit klargestellt, dafs der künftige Bearbeiter der Kaufbeurer
Reforms^onsgeschichte auf gut geebnetem Wege gehen kann, doch
wird er noch manches beizubringen haben, worauf Schröder verzichten
konnte.
Überschreiten wir den Lech, die einstige Westgrenze Bayerns,
bei dem Städtchen Friedberg, dessen kriegerische Vergangenheit mit
seinem Namen in so scharfem Widerspruch steht, so stoDsen wir auf
die Reichsstadt Augsburg, die im Reformationszeitalter ihre höchste
Blüte erreichte und in Ansehung des Reichtums und der Untemehmungs-
lust ihrer groüsen Handelsherren, der gewerblichen Betriebsamkeit ihrer
Büiger, der Leistungen ihrer Druckereien und des Ruhmes ihrer
Künstler und Gelehrten eine Art Mittelpunkt im Süden des Reiches
bUdete. Der Reformationsgeschichte der Stadt wurde schon frühzeitig
die ihr zukommende Aufmerksamkeit geschenkt ' — wir erinnern an die
Werke von Stengel, Khamm, Braun auf katholischer, von Gasser,
Brucker,Stetten auf protestantischer Seite — und in neuerer Zeit war
man bemüht, das von ihnen Ererbte zu vermehren und zu vertiefen ; zuerst
Keim in seiner schwäbischen BeformaMonsgeschickte (Tübingen 1855),
dann Uhlhorn in seiner Biographie des ürbanus Bhegius (Elber-
feld 1 861), deren erstes Buch zum gröüseren Teil die Augsbui^^er
Tätigkeit dieses Reformators zum Inhalt hat. Im Jahre 1879/80 stellte
die philosophisdie Fakultät der Universität München die Preisaufgabe,
den Anteil Augsburgs an der evangelischen Bewegung bis eum Jahre
1627 festzustellen, von deren Bearbeitungen zwei, die von Hansen*)
und von Roth *), im Druck herauskamen. Die letztere wurde von ihrem
Verfasser von^Grund aus umgearbeitet und erschien, bis zum Jahre
1530 fortgesetzt, im Jahre 1 901 in zweiter Auflage. Gleichzeitig wurde
Wolfarts Buch Die Augsburger BeformaHon in den Jahren 1533134
x) Magister Johann Satel (1504—1575)1 Reformator ron Göttingen, Schweiofnit
und Nortbeim. (BraoMchweig).
a> Alfred Schröder, Ge$chieht€ der Stadt und katholiachen Pfarrei Ka^-
hewren (Angsblirg 1903. Sonderausgabe ans Steichele-Schröder, Bas Bishm Augs-
bttirg).
3) G. Hansen, Die Änteänahme der Stadt AMgefmrg ön der SeformathtiS'
hewegung bie 1527 (München 18S1).
4) Friedr. Roth, Äugalmrge BeformaHoMgeechiehU 1517^1527 (Miiticheo iSSi)^
— 173 -
(Leipzig 1901) veröffentlicht, welches zuerst übersichtsweise Augsburgs
ReformatioDSgeschichte von deren Anfängen bis 1533 behandelt, dann
anduhrlich den Stand der Dinge um 1533 bespricht und weiterhin
zo den Reformationsversuchen des von unten her vorwärtsgedrängten
Rates übergeht. Die diesen sich entgegenstellenden Hindemisse waren
zahlreich und schwerwiegend: der Widerstand des Bischofs und des
Domkapitels, der Einfluis einer nicht gro&en aber mächtigen katho-
lisch^i Partei, an deren Spitze die Fugger standen, die Zurückhal-
tung der groisen Kaufleute, der Zwiespalt zwischen Luthertum und
Zwinglianismus unter den Predigern, im Rate und in der Bürgerschaft,
die Nachwirkungen der von den Wiedertäufern ausgestreuten refor-
mationsfeindlichen Gesinnung, die Erfolge des eine Zeitlang persön-
Hdi in Augsburg weilenden ,, Schwärmers" Caspar Schwenkfeld, die
Disstdien, in die der gröüsere Teil der Geistlichen mit Luther geriet,
die lähmende Haltung des schwäbischen Bundes, dem die Stadt und
der Bischof angehörte, die strikten Verbote des Kaisers und des
Königs. Aber bald vereinigten sich mehrere günstige Umstände, die
den Augsburgem zu Hilfe kamen. Durch ein Bündnis mit Nürnberg
vnd Ulm sicherten sie sich wenigstens einigermaisen „den Rücken*',
der schwäbische Bund löste sich im Februar 1534 auf, und die einige
Monate später erfolgende Eroberung Württembergs durch den Land-
grafen Philipp von Hessen leistete der evangelischen Sache im ganzen
Oberland mächtigen Vorschub und wirkte auch auf Augsburg ermun-
ternd und belebend. Der Rat nahm jetzt die bereits früher mit dem
Bischof Christoph von Stadion und dem Domkapitel angeknüpften Ver-
handlungen, die auf die Forderung eines Religionsgesprächs hinaus-
Men, wieder auf und berief, als diese erfolglos blieben, am 22. Juli
1534 <^ >» Gemeinde ** — den grofsen Rat — , um über die Entscheidung,
vas nun zu tun, abstimmen zu lassen. Sie fiel so aus, wie zu erwarten
war; man beschlofs die Reform, aber, da man sich noch nicht stark
gemi^ fühlte, nur innerhalb gewisser Grenzen. Die Predigten der
i,P^>isten'* wurden ganz und gar abgetan, die katholischen „Zeremo-
nien*' aber nur in jenen Kirchen, die dem Bischof und den Seinen nicht
■aouttelbar „verwandt" waren, so daüs sie im Dom und au&erdem in
äeben anderen Kirchen noch in Übung blieben. Mit einer Darlegung
der im einzelnen infolge dieser Beschlüsse sich ergebenden kirchlichen
Änderungen und der auf die Aufnahme der Stadt in den schmalkal-
£tchen Bund abzielenden, vorerst vergeblichen Bemühungen des Rates
•chfiebt Wolfart, der den angedeuteten Verlauf der Dinge mit klaren
Stridien zeichnet Roth hat dann im zweiten Bande seiner Augs^
18»
— 174 —
«
hurger RefamuUiansgeschichte '), anknüpfend an den Zeitpunkt, bis zu
dem er im ersten Bande gelangt war, die von Wolfart durchschrittene
Periode von 1530 — 1534 noch einmal behandelt und die Erzählung
der Ereignisse bis zum Eintritt der Stadt in die christliche Einung (153$)
und zu der im Jahre 1 537 vollständig durdigeftihrten Reformation, die
die Auswanderung des katholischen Klerus im Gefolge hatte, fortgeführt
Ein dritter Band, der bereits in AngrifT genommen ist, wird bis zum Jahre
1547 reichen, bis zur Unterwerfung der stolzen Stadt nach dem un-
glücklichen schmalkaldischcn Kriege, die das Ende der eigentlichen
Blütezeit der Stadt bedeutet. Von den gedruckten Quellen, die bei
diesen Arbeiten neben dem in ziemlich reicher Fülle vorhandenen
archivalischen Material benutzt werden konnten, nennen wir die
noch zu berührende Belaüon des Prädikanim Förster sowie die Chro-
niken des Benediktiners Clemens Sender und des Augsinirger Bürgers
Wilhelm Rem im 23. imd 25. Bande der Chroniken der deutschen
Städte, Neuerdings hat sich ihnen noch die Chronik des Äugtintrger
Malers Georg Vteu des Älteren, die den 29. Band dieser Sammlung
bildet, zugesellt.
Die neuen Bearbeitungen der Augsburger Reformationsgeschichte
lassen das eigenartige Klientelverhältnis, in dem Augsburg bei der
Entwickelung seines neuen Kirchentimis zu der Stadt Straisbuig gestan-
den, in seiner ganzen Bedeutung erkennen und zeigen, dais der An-
teil, der Bucer dabei zukommt, weit höher anzuschlagen ist, als früher
angenommen werden konnte. Eine wichtige Rolle spielten dabei auch
die von Lenz in klareres Licht gerückten Persönlichkeiten des Stadt-
arztes Gereon Sailer und des Stadtschreibers und Diditers Georg
Frölich '), dessen Leben und Schriften neuerlich von Radlkofer zum
Gegenstand einer umsichtig angelegten biographischen Abhandlung
gemacht wurden'). Von dem Einflufs, den die städtischen Juristen
durch ihre Gutachten und Bedenken auf die Entschlüsse des Rates
und dadurch auf den Gang der Reformation ausübten , ist zuerst in
i) Äugelnirgs BefomutUonsgescMMe» Zweiter Band, 1531 — 1537 biw. 1540
(München 1904).
3) Haaptsächlich im I. Bande, Beilage II: Die Nthenehe des Ixmdgrafen S. 3270
und in Band HI: Ver?uMdhmgen mUBayem, Beritkt» Chreon Seäers 1541-^47 S. 1696.
VgL mich Rockwells (oben: S. 157 besprochenes) Werk, Register, und die Charakteristik
Saüers im ArMv für ReformaUonsgeachichte, Band I, S. loi ff. — Bextiglich FröUcb
s. tftntf a. a. O. III S. 485 ff.
3) Lehm %md Schraten des Georg JPVdh'cA, StadUchreiben mu AugA¥irg w)f>
1537-48 in der Zeitschrift des hist, Ter. für Schwaben nnd Neuburg, Bd. 27»
(Augsburg 1900) S. 46 ff.
— 175 —
Wolfarts Buch (S. 45 ff.) ausführlich die Rede, und Wilhelm Ha 03
hat in einer Monographie das dort Gesagte noch weiter ausgebaut,
ergänct und begründet ^). Eine besonders ausführliche Besprechung
hat er dem unendlich weitschweifigen, von schwerfiLUiger Gelehrsamkeit
getragenen und stellenweise etwas verworrenen Gutachten Dr. Konrad
Peutingers, des berühmten Humanisten, gewidmet, der den Rat be-
kanntlich von der Durchführung der Reformation abhalten wollte und
ihn auf das Konzilium vertröstete. Betonen diese juristischen Gut-
achten mehr die Frage des obrigkeitUchen Reformationsrechtes,
so legen die gleichzeitig von Bucer und dem Prediger Wol%ang
Musculus gefertigten Bedenken und Streitschriften das Schwergewicht
ihrer Ausführungen auf den Nachweis, dafis dem Rate die heilige
Pflicht obli^e, dem Reich Gottes die Tore zu eröffnen, und es
sind interessante Gedankengänge, durch die sie die Augsburger
„Herren** zu überzeugen suchen, dafs sie in einer solchen Sache das
Widerstreben, selbst das Verbot des Kaisers nicht zu beachten brauchen,
ja nidit beachten dürfen.
Um die Geschichte des Täufertums in Augsburg hat sich aufser
Heberle, Keim, Uhlhorn und Loserth namentlich Keller in
verschiedenen seiner Bücher und Schriften verdient gemacht, wenn
aach manchen der von ihm dabei entwickelten Anschauungen nicht
zsgestimmt werden kann. An einen bereits im Jahre 1874 erschienenen
Ati&atz von Christian Meyer, Zur OeschicJUe der Wiedertäufer m
Obtrsekwaben *) , der sich hauptsächlich mit Hans Hut und dessen
Angsburger Urgichten beschäftigt, knüpfte Roth an mit seinem Beitrag
Zur LAemgeechidUe Eüdhans Langenmantds von Augsburg^), der
markantesten Erscheinung unter den einheimischen „Tau%esinnten**,
vnd mit einer Abhandlung, die den Höhepunkt der wieder-
tänferiscben Bewegung in Augsburg und ihren Nieder-
rang im Jahre 1528^) zum Stoffe hat und die Urgichten von
140 vor dem Stadtgericht verhörten Personen, Augsburgem und
i) wahelm Hadi, OutachUn und Streitschriften über das Iu8 reformandi
^ Bates vor und während der Einführung der offitieUen Kirehenrefarmation in
^ufAurg 1634 — 1537 (Augsburg 1901).
t) Zeitedmifi des hfiet. Verein» für Schwaben und Neuburg, Bd. 1. (Augsboig
'^74)* — Mejer bftt spiter noch einen die Angsbiirger Täufer betreffenden Beitrag geliefert
« 17. Ende der ZeUmhrift /für Kir<henge9chichU (Gotha 1897) S. 2480. Er enthält
cian Bericht aas einer Angsbarger Chronik, die ich als die des Matthäus Langenmantel
'aistellca konnte. Die beste Handschrift derselben liegt im Angsbarger Stadtarchiv.
3) In der ZeUedwift für Schwaben u. Nbg,, Bd. 27. (Angsbarg 1900)^ S. i ff.
4) Ebenda Bd. 28 (Aagsbanr ^901), S. 1 ff.
— 176 —
Fremden, mitteilt. Es ergibt sich daraus, dais der Rat von Angsburgf
nur zwei Tänfer hinrichten liefe, den genannten Hans Hut, der, nadi-
dem er bei einem Fluchtversuch umgekommen, als Leiche vom Henker
verbrannt wurde, und den Schneider Hans Leupold, der (am 25. April
1528) enthauptet wurde; die Hinrichtung des Eitelhans Langenmantel
geschah auf Befehl des schwäbischen Bundes. Die Berichte, die von
mehreren, ja von einer g^oDsen Zahl von Hinrichtungen in Augsbuig
sprechen, sind also gänzlich unbegründet und falsch. Über die
Wiedertäufer Sigmund Salminger und Jakob Dachser, den Heraus-
geber des ersten Augsburger Gesangbuches, beriditet ein Aufsatz Radl-
kbfers in den Beiträgen zur bayerischen Kirchengeschichte *), über
die in Augsburg entfaltete Tätigkeit Schwenkfelds eine Abhandlung
Wolfarts in derselben Zeitschrift •).
„Ein Mann (lir sich'* war Johann Landsberger, über dessen Per-
sönlichkeit die Erlanger Dissertation von Max Martin ') endlich Auf-
klärung gebracht hat Er war ein Augsburger Karmeliter, der schon
im Jahre 1523 an gewissen Lehren und Gebräuchen der katholischen
Kirche irre wurde, sich allmählich dem Zwinglianismus zuwandte,
aber auch täuferische Anschauungen und Neigungen verriet, gegen
die lutherische Abendmahlslehre auftrat und sich schliefelich in die
Schweiz begab. Er wurde bisher — zum letzten Male von Riezler —
verwechselt mit einem anderen Johann Landsberger, Hofkaplan
des Herzogs Ludwig zu St. Jodok in I^ndshut, von dem man annahm,
dais er des Evangeliums und seiner Schriften wegen habe fliehen
müssen.
An neueren, hierher gehörenden Arbeiten zur Schulgeschichtc
Augsburgs, zu der L. Greiff und Julius Hans den Grund gelegt,
liegen vor die einschlägigen Stellen in der Abhandlung AugAusrget
Schulmeister und Augsimrger Schulwesen in vier Jahrhunderten von
Joachimsohn ^), ein Schriftchen Über die schriflstellerieche TiUigkeU
der Augsburger VolksschuUehrer im Jahrhundert der BeferwuUion von
Radlkof er (Augsburg 1903) und ein Artikel desselben über Sb^ Birk,
den ersten Rektor von St. Anna ^) , dessen Tätigkeit als Dramatiker
auch in Holsteins Buch Die Refarmatian im Spiegelbilde der drama-
i) JahrgMng 1900, S. i ff., auch im SepmnUbdnidc enchienen.
2) Caspar SchwenkfM und Bomfadus Wolf ort. Bd. 8 (1902), S. 97 ff. m. S. 145^
3) Johann Landikerger^ die unter diesem Namen gehenden Schriften und ihn
Verfasser (AagsbaT:g).
4) Zeitschfift des histerießken Verein» fikr Sdnoaben und Neubmg, Jahig. 1896.
5) Beilage sur AUg, Zeitung 1896, Nr. 299 und 30a
— 177 —
tiadkm LUeraiur des XVL Jaktimiderts ^) grewünügt ist. Die Geschichte
der öffentlichen Armeäpflei^e, die in Augsburg wie anderwärts dui-eh die
Reformation in neue Geleise gelenkt wurde, hat an Bisle *), die der Angs-
barger Stiftungen an Werher') emen kundigen Bearbeiter gefunden.
Wie die Reformation auch in kleinen, von den belebten Ver-
kehrswegen abseits gel^enen Gebieten den sonst so gleichmä&igen
Wellenschlag des politischen und kirchlichen Lebens in stürmische
Bewegung setzte, zeigt die Reformationsgeschichte der Graüschaft
Ötttngen. Zu den älteren Darstellungen derselben von Karr er und
Mater kam im Jahre 1893 eine wettere von dem öttingen-waller-
steinschen Bibliothekar Gruppe), die aber, abgesehen von anderen
Jißngeln, in bezug auf Objektivität so wenig' befriedigte, dafs eine
neuerliche Durcharbeitung dieses Stoffes, wie sie nns die Sdirift von
Reinbold Herold^) bietet, nicht überflüssig schien.
Das Ländchen war in der Reformationszeit in zwei Hauptltnien
geteilt, in die wallersteinsche und in die öttingensche. Graf Martin,
<ier Wallersteiner, beharrte bei dem alten Glauben, und sein AnteU
Uieb bis zum heutigen Tage katholisch, so dais die Reformations-
gescfaichte sich nur mit dem öttiitgenschen Teile zu befassen hat
Dieser war wieder in zwei Stücke zerrissen, in ein nördliches mit den
Ämtern Alerheim und öttingen, und in ein südliches mit den Ämtern
Harburg tmd Hochhaus. In letzterem regierte (1522 — 1549) Graf Karl
Wot%ang, in ersterem (1522— 1557) Graf Ludwig XV., der Altera.
Beide Grafen zeigten sich frühzeitig als Anhänger der evangelischen
Lehre und führten als unumschränkte Herren ihres Gebietes von 1539
an die Reformation auf Grund der Ansbacher Khrchenordnung durch,
ohne dafs sie dabei irgendwo ernstere Hindemisse zu bewältigen hatten.
Da griff der schmalkaldische Krieg störend in die angebahnte ruhige
1) 8€hnftm des VeremB flkr SeförmaUonsgeßch^ (HaUe r8S6).
i) Max Biile, Di€ öffmOiehe Ammpflege der Beich8$kat Äugtbmrf mU
BirüduicfUigung der einsdiiägigefi VerhäUnisee in fmd&ren EeiehettädUn Süd*
dt$i9Mmd8 (Paderborn 1904).
3) Ant Werner, Die ö/fetUKehen Stiftungen mw, in der Stadt Augebwrg
(A^pbwg 1899).
4) CGrapp, BefarwiatianegeeeMchtedeeBieeee von 1539^1663, mth nnterdem
Tüd: OtHHgedte GeeehidUe der Sefarmationeg&U (Nördliogta ^893).
5) Rdnhold Herold, €k8€hiehU der Sefarwuiiion in der Qrafaidiaft Ottingen
[Sckrifteo det Vereins flir Reformationtgeschicbte , Nr. 75, HaUe 189a]. Erginningeo
bktct Otto Erhard in der Schrift: Anna, Qrü^in wm Ottmgen, geb. Ltmdgräfin
i» Le^eiUenberg. Qm SeUMtrerlag des Verf. Hohtnaltheiin 1900) «od in dem Buch
OmcMiie van HoKenaUheim (Erlangen).
— 178 —
Entwickelung der Dix^e ein. Graf Wol%ang war zwar nicht Mitglied
-der christlichen Einigung, verfiel aber trotzdem der Ungfnade des
Kaisers und mufste zwei Jahre die Heimat meiden, während deren
.sein Neffe Friedrich, der katholisch gebliebene jüngere Sohn Ludwigs
XV., als vom Kaiser eingesetzter Regent das junge evangelische
•Kircbenwesen zu vernichten suchte. Noch schlimmer erging es dem
Grafen Ludwig, der wie sein ältester, gleichnamiger Sohn sich den
Schmalkaldenem angeschlossen und am Kriege teilgenommen hatte;
Vater und Sohn wurden geächtet und ersterer weilte volle fünf Jahre
auOserhalb des Landes. Friedrich , der aach hier die Regentschaft
iftihrte, veriuhr natürlich in dem Landesteile des Vaters gegen das Evan-
gelium nicht schonender als in dem des Oheims, und als das Interim
.eingeführt wurde, gab ihm dies eine willkommene Waffe zu weiteren
Bedrückungen in die Hand. Graf Karl Wolfgang richtete nach der
•Rückkehr seine Kirche so gut wie möglich wieder auf und suchte sie
nach Tunlichkeit vor den Schädigungen des Interims zu bewahren,
;starb dhet schon im Oktober 1549 ohne Hinterlassung von Söhnen,
worauf der katholische Wolfgang, Friedrichs Bruder, Regent wurde
und wie dieser der kirchlichen Reaktion Tür und Tor öffnete. Bessere
.Zeiten traten erst ein, als Ludwig XV. die Regierung seines Landes, das
nun um den von seinen Bruder ererbten Teil vergröfsert war, wieder
übernahm und gemäfs dem Satze „Cujus regio, ejus religio" die
Reformation wieder einführte. Aber erst unter dem tatkräftigen Ludwig
•XVI. (1557 — 1569), der bereits in den letzten Jahren seines Vaters
vdie Zügel des Regiments gefuhrt hatte, erfolgte eine durchgreifende
.Ordnung des während der katholischen Zwischenzeit in arge Ver-
wirrung geratenen Kirchenwesens, die durch eine mit gro&er Umsicht
verfahrende Visitation eingeleitet wurde. — Welche Summe von Er-
bitterung und tödlichem Verwandtenhafis die hier angedeuteten Vor-
gänge hervorgerufen, läist sich nur ahnen ; stand ja hier nicht nur die
katholische Linie des Hauses gegen die protestantische, sondern der Sohn
gegen den Vater, der Bruder gegen den Bruder, der Neffe gegen den
Oheim, und das alles auf dem engen Raum eines Duodezländchens !
Wir wandern jetzt aus dem Süden des Reiches nach Mittel-
deutschland, indem wir, der von dem vielseitigen Wasunger Superin-
tendenten Wilhelm Germann verfafsten Biographie des schon
45rwähnteh Johann Forster *) folgend , die Wege gehen , die diesen
* i) Dr: Johatifi Fbfitter, der Eetmebergiaehe^ Befbrmaior, ein MUarbeiter
'mid mutreHer Dr. MarHn Lulhers. — In urkundlichen Nachrichten oebst Urknddeo
zor Hennebergischen Kirchengeschichte. Mit Forsters Bild, Handschrift vnd Siegd. —
— 179 —
viel umhergewoifenen Mann nordwärts führten. Germanhs Buch ist
eine Festschrift zum 350. Reforraationsjubiläura der Grafschaft Henne-
berp*), wo der in Augsburg geborene, von 1530 — 1535 in Wittenberg
dem engeren Freundeskreise Luthers angehörende Forster die neue
Kirche begründete. Da aber von den Lebensumständen Forsters,
soweit sie vor seiner Berufung ins Hennebergische liegen, noch vieles
im dunkeln war, entschlofs sich Germann, alles über ihn aufzufindende
Material zu sammeln und das Ergebnis seiner Forschung in seine Jubi-
äomsschrift aufzunehmen. Sein Forschungseifer war von überraschen-
dem Erfolg belohnt, und an Stelle der verhältnismäfsig dürftigen und
?iel£acb auch unrichtigen Notizen, mit denen man sich bisher abfinden
ma6te, setzte er eine beinahe vierhundert Seiten umfassende Reihe
von Untersuchungen und Quellenstücken, die den Lebensgang des
Reformators fast Schritt für Schritt verfolgen lassen. Den gröfsten
Raum nimmt darin die von Forster selbst herrührende Relation über
die Kämpfe ein, die er während der Jahre 1535 — 1538 in Augsburg
mit seinen zum Teil zwinglisch gesinnten Amtsgenossen zu bestehen
hatte, eine der wichtigsten Quellen für unsere Kenntnis der damaligen
arg zerfahrenen und verworrenen Zustände in Augsburg, die uns in
packender Unmittelbarkeit — freilich auch mit stark subjektiver Fär-
bung — geschUdert werden.
Nach seinem Weggang von Augsburg wurde Forster Professor
in Tübingen (1539 — 1541)1 dann Propstei Verwalter bei St. Lorenz in
Nürnberg, von wo aus er sich im Auftrage des Rates auf einige
Monate nach Regensburg begab, um dort die Spendung des Sakra-
ments in beiderlei Gestalt nach Nürnberger Ordnung einzufuhren. Von
Nürnberg aus folgte er dann im September 1543 im Einverständnis
niit seinen Nürnberger „Herren" einem Rufe in das Hennebergcr
Land, wo endlich mit dem „Papsttum" gebrochen werden sollte.
Der damals regierende Graf Wilhelm hatte lange Zeit als entschiedener
Papist gegolten, war aber dann allmählich anderen Sinnes geworden
und hatte unter dem Eindruck des Regensburger Reichstagsabschiedes
(1541), der auch Merseburg, Regensburg und den Pfalzgrafen Ott-
Iteinrich zum Anschlüsse an die Reformation ermutigte, gestattet, dais
FttUdirift com 35ojfiir. Heonebergitdien Refonnadonsjabilibiin in den Neuefi Bei-
M^M 9mr Ge$eh, deutBchem AUertwms, herausgegeben Ton dem henneb. altertams-
foncheoden Verein (1894).
1) S. anch Höhn, KuTMe Otsd^ der Kirehtmmformation in der gefünteten
Orefedtaft Hemuberg [Schriften des Vereins für Reformationsgesch. ftlr das deutsche
Vofr. Mr. 2 t, 1894].
— 180 —
im Jahre 1542 mit der Einführung „einer besseren Einrichtung der
Kirche** auf Grund der Augsburger Konfesston b^onnen wurde. Wie
sich der Wandel des Grafen vollzog und inwieweit, ist nicht festzustellen
und kann erst erkannt werden, wenn einmal die Korrespondenz des-
selben vorliegen wird. Übrigens machte der Graf äulserlich die Änderung
des Kirchenwesens nicht mit, sondern blieb katholisch und trat die Re-
gierung am 7. Januar 1543 an seinen Sohn G^org Ernst ^) ab, den seine
Schwiegermutter Elisabeth, die eifrig evangelische Witwe des Herzogs
Erich von Braunschweig-Kalenberg ^), veranlafst haben soll, in seinem
1 543 abgeschlosseneu Ehepakt die Reformation seines Landes in Aussicht
zu stellen. Im Jahre 1544 trat er öffentlich zum Protestantismus über und
führte diese mit Forsters Hilfe durch, wobei es nicht ohne mancherlei
Härten abg^g. Den meisten Widerspruch fand er in den Klöstern,
namentlich von Seite der Franziskaner in Schleusingen, mit denen schliefs-
lich Elisabeth im Namen des Grafen verhandelte, um sie zum Abzüge
zu bewegen. Die von Forster aufgerichtete Kirchenordnung war die
nümbergische , der Gottesdienst wurde nach der im Jahre 1543 ge-
druckten Agende Veit Dietrichs und nach dessen Summanum ge-
staltet, das katholische Zeremonienwesen, soweit es immer anging,
geschont. Die Römhilder Linie der Henneberger mufste sich nun
ebenfalls der Reformation anschliefsen und tat dies im Jahre 1545.
Forsters amtliche Tätigkeit in dem neuen Wirkungskreise fand
schon im Herbste infolge eines Zerwürfnisses mit dem Grafen ein jähes
Ende, worauf er nach etwa anderthalbjähriger» in Schleusingen zu-
gebrachter Wartezeit in Mersebtirg seine letzte Stellung fand. Er
starb dort als Professor und Propst der Schlofskirche am 9. Dezember
1558. Zwei Jahre vorher hatte er noch sein Lebenswerk, ein grofses
hebräisch-lateinisches Lexikon, zum Drucke befördern können.
Ein grofises, auf zwei Bände berechnetes Werk von G. Ein icke:
ZuHmgig Jahre schwarsburgische Bef&rmationageschichte 1521 — 1541%
i) Vgl über ihn O. Rückert, Georg Ernst, der letzte Graf von Hemuberg.
(Jenaer Diss. 1873.)/
3) Biographien von W. Havemann, Elisabeth, Herzogin von Braunsehweig'
Lüneburg, geb. Markgräfin in Brandenburg (Göttingen 1839); A. Knri, EHeabe^
Herzogin von Braunschioeig-Calenberg, geb. Prinzesein von Brandenburg [Schriften
de» Ver. f. Ref.-Gesch. fUr das deutsche Volk. Nr. 14, Halle 1891].
3) G. Einicke, Zwanzig Jahre Sdnwam^mrgische BeforwuzUonßgeeMckte
1521—1641. Erster Teil 1621^1531. Nach urkundlichen QoeUen dargesteUt (Nord-
haaseo 1904), gewidmet den regierenden Fürsten Karl Günther za Schwarzbarg-Sonders-
hansen und Günther zu Schwarzbni^-Radolstadt — Beigegeben : eine Karte Die schwan-
bnrgischen Grafschaften zur Zeit der Reformation and eine StammtafeL
— 181 —
von dem der erste bis 1531 reichende Band vorliegt, fuhrt uns in
das Herz Thüringens, in die östlich an das Hennebeigische grenzen-
den schwarzburgischen Lande. Sie zerfielen damals in drei vonein-
ander unabhängrige , auch räumlich getrennte Gebiete, nämlich in die
Herrschaft Arnstadt (das Oberland), in die Herrschaft Sondershausen-
Frankenhausen (das Unterland) und in die Herrschaft Schwarzburg-
Leutenberg. Die letztere war kaiserliches Lehen, während der am-
städtische Teil in bezug auf Lehensverhältnisse der Hauptsache nach
von Kursachsen, vom Kaiser und vom König von Böhmen, der sonders-
häusische Teil von den Herzögen von Sachsen und von Kurmainz
abhängig waren, was bei der Einftihrung der Reformation von Bedeu-
tung wurde. Fast die Hälfte des Bandes wird von einer in die kleinsten
Bnzelheiten eingehenden Schilderung der kulturellen Verhältnisse des
Schwarzburger Landes am Ausgange des Mittelalters, natürlich unter
besonderer Betonung der kirchlichen und religiösen Zustände, in An-
spruch genommen. Das hiefür massenhaft zur Verfügung stehende
Qaellenmaterial ist mit groüser Mühe zusammengetragen, doch kann
nicht verschwiegen werden, dais es dem Verfasser nicht gelungen ist,
sich zum Herrn desselben zu machen, und dafs daher stellenweise
nur eine Aneinanderreihung von Exzerpten und Tabellen statt einer
wirklichen Geschichtsdarstellung geboten wird.
Vom zweiten TeUe entfallen ungefähr zwei Drittel auf die Geschichte
des Bauernkrieges — seine Veranlassung, seinen Verlauf, seine Nieder-
werfung — , alles auf Grund gewissenhafter Quellenforschung, deren
Ergebiüsse eine wertvoUe Bereicherung der Bauemkriegliteratur bilden.
Sdbstverständlich werden auch dem bekannten Bilde, das durch frühere
Arbeiten von der den Höhepunkt des Dramas bUdenden Katastrophe
bei Frankenhausen festgelegt worden ist, einzelne interessante neue
Züge eingefugt
Im Volke fand die „ neue Lehre '*, die von den Nachbargebieten,
namentUch von Kursachsen aus, hereindrang, frühzeitig Anhänger, ins-
besondere zu Arnstadt, wo schon im Jahre 1522 der bekannte Caspar
Güttel bei einer Durchreise auf Wunsch der Bürgerschaft eine evan-
gelische Predigt hielt Die „Herrschaft" war anders gesinnt. Graf
Günther XXXIX. (von Arnstadt) war ein so ausgesprochener Papist,
daüs er mit seinem einzigen Sohne, dem nachmaligen Heinrich XXXII.,
der sich als lutherisch bekannte, in ein schweres Zerwürbis geriet,
und Günther XL. (der Sondershäuser), hatte sich seinem Lehensherren,
dem erzkatholischen Herzog Georg von Sachsen gegenüber geradezu
verpflichtet, die „lutherische Sekte'' fernzuhalten, ja zu unterdrücken.
— 182 —
Graf Johann Heinrich von Leutenberg* endlich war zwar von Anfauig
an dem Evangelium geneigt, wagte es aber aus Rücksicht auf seine Ver-
wandten, die beiden anderen Grafen, und aus Scheu vor seinem kaiser-
lichen Lehensherren nicht fiir die neue Lehre etwas zu tun und wartete zu.
So beruhte am Ende der zwanziger Jahre alle Hoffnui^ der Evan-
gelischen auf dem Erbgrafen Heinrich (von Arnstadt), von dem man
annehmen durfte, dais er sofort nach seinem Regierungsantritt seine
Gesinnung in die Tat umsetzen würde, was auch geschah.
Das Täufertum breitete sich natürlich auch im Schwarzbui^rischen
aus, wenn auch nicht so massenhaft, wie man nach der zentralen
Lage des Landes erwarten möchte. Von bekannteren Persönlichkeiten
tauchte hier nur eine einzige auf, nämlich der als Verfasser einer
deutschen Grammatik und „heilloser Schwärmer" bekannte Valentin
Ickelshaymer, der im Jahre 1525 stark in den „Fränkischen Aufruhr"
verwickelt gewesen war und sich dann, von Erfurt kommend, in Arn-
stadt als Schulmeister niedergelassen hatte. Im Sondershäuser Teil
trat ein gewisser Alexander als Führer und „Verführer'* auf, den der
im allgemeinen gegen die Täufer ziemlich mild verfahrende Graf
Günther XL. im Jahre 1532 — vielleicht mit noch zwei anderen —
hinrichten liefs.
Vorbei an der nicht weit vom Schwarzbui^er Unterland entfernten
Reichsstadt Mtihlhausen, deren Reformationsgeschichte einen neuen
Darsteller in H. Nebelsieck^) gefunden, gelangen wir in westlicher
Richtung auf das rauhe Eichsfeld, an die Quellen der Leine und der
Unstrut, in die ehedem zum Kurfürstentum Mainz gehörende Gegend,
wo Sachsen, Thüring^en und Franken zusammenstofsen. Ihre Einwohner
sind heute streng katholisch und haben es gänzlich vergessen, dais
ihre Vorfahren einst mit Eifer der evangelischen Lehre angehangen,
wenn sie auch, wie dies ja in der Sache li^, durch keine andere
kirchliche Organisation als die gemeindliche zusammengehalten waren.
Um 1570 hatten manche Orte eine ausschliefslich protestantische Be-
völkerung, die meisten waren überwiegend evangelisch, und wohl keinen
Ort gab es, in dem Protestanten gänzlich gefehlt hätten.
Wie sich das Evangelium bei den Eichsfeldem allmählich aus-
breitete, und wie man sie zum Katholizismus zurückführte, zeigt die
Schrift von Wintzingeroda-Knorr Die Kämpfe und Leiden d^
i) H.litbeUieck, BefarwMtionBgtBf^UehU der Stadt MMha^^ Tkio^
Zeittchrift des Vereint ftr Kirchengeschidile Id der Provinz Sachsen, Bd. I (liagdebiire
1904)1 S. 59 ff., S. so8ff.; Bd. n (1905) S. 48 ff^ S. 159'-
— 18» —
EomfeUdcken auf dem Eichsfelde ^) , die zum gutea Teil Familien-
archiven entnommen ist. Wir ersehen daraus, dais erst der kluge und
energische Kurfürst Daniel (iS74) ernstliche Anstrengungen mir Re-
kitholimerung seiner lutherischen Untertanen machte, aber trotz des
Eifers der von ihm dabei verwendeten Jesuiten und der günstigen
politischen Konstellation verhältnismäOsig wenig genug ausrichtete.
Aber unter seinen Nachfolgern, die das Begonnene mit allen Mitteln
zum Ziel zu fuhren trachteten, erlahmte allmählich die Widerstands-
kraft der verzweifelt um ihren Qauben Kämpfenden, und in den ersten
Jahren des dreüsigjährigen Krieges war das Bekebrungswerk im wesent-
üdien vollendet Die wenigen Gemeinden aber, in denen sich das
Evangelium bis zum Normaljahr 1624 behauptet hatte, blieben trotz
der Quälereien, denen sie auch nach dem westfälischen Frieden noch
angesetzt waren, protestantisch. — Da der Verfasser dieser Schrift
adi nicht damit begnügte, den Verlauf der Begebenheiten im att-
gemeinen zu zeichnen, sondern bemüht war, so viel als möglich, auf
ät Geschicke der einzelnen örtlichkeiten einzugehen, so wurde seine
Arbeit nebenbei auch zu einer reichen Quelle für die Lokal- und
Adelsgeschichte des Kchsfeldes.
Setzen wir unseren Weg, die Weser überschreitend, fort, so gelangen
«voach der Grafschaft Wal deck, über deren Reformationsgeschichte
vir jetzt durch das, aus reichlich fliefisienden Quellen geschöpfte Werk
Viktor Schultzes') auf das beste unterrichtet sind. In der Einlei-
tung zeichnet der Verfasser mit kundiger Hand die politischen, wirt-
schaftlichen und religiösen Verhältnisse des Ländchens am Vorabend
<ier Reformation , die in mancher Hinsicht schon auf eine neue Zeit
iuodeateten; so in dem das spätere Landeskirchentum anbahnenden
Wachsen des Einflusses, den die Herrschaft infolge des Patronats, der
Sdürmvogtei und anderer Rechte auf die äufseren Angelegenheiten
der Kirche und Stifte übte.
Das Grafenbaus war in zwei Linien gespalten, die wildungiscbe
1) L. Wintzingeroda-Knorr, Die Kämpfe uf%d Leiden der Bvangeiisehen
^iem Bitktfdäe wiOiirend dreier JaJurhttnderte. [Schriften des Vereins ftlr Refor-
"*tioisgescliidite Nr. 36 and 42, Halle 1892—93.]
2) Dr. Viktor Schnitze, WtOdeekeche BeforfnaüanageBekidUe mU öfi AJMl-
"(■(i^M. (Leipzig 1903.) Dem regierenden Ffirsten zu Waldeck ond Pyrmont^ Friedrich^
V^^^mtL _ S. daza auch die Waldeckeehen VieitatiantberiehU ron 1556, 1558,
^S^Si 1565 tM Are/m fUr Befarmaiianegeackiehie, Bd. Ü, S. 325 ff. Ein Ton dem
^^<^ Wobad angelegtes Diarinm über das Regensbnrger Gesprich im Jahre 1546
*iH Schohse, wie er S. 147. Anm. i bemerkt, demnSdnt Teröünitlid^en.
— 184 —
und die eisenbergische , deren Häupter bei Beginn der Kefonoatioa
Philipp IV. und Philipp IL waren. Während der erstere schon vom
Reichstage von Worms an „lutherisch" war, konnte Philipp IL sich
nicht mehr in die „neue Lehre*^* hineinfinden und gab demgemäis der
Entwickelung der reformatorischen Ideen in seinem Landesteile keinen
Raum. Ihm folgte im Jahre 1524 sein Sohn Philipp III., der dem
Luthertum gegenüber dieselbe Stellung einnahm wie sein wildungischer
Vetter und gemeinsam mit diesem in der Grafischaft die neue Kirche
begründete, wobei man im wesentlichen nur in Corbach auf vorläufig
nicht zu überwindende Hindernisse stiefs. Die Durchführung der Re-
formation lag in der Hand des Johann Hefenträger (Trygophoros) aus
Fritzlar, eines glaubenseifrigen, verständigen, energischen, dabei aber
doch mafisvoUen Mannes, der als der Reformator der Gra£sdiait zu
bezeichnen ist. Ein neuer Schwung kam in das Reformationswerk,
ab nach dem Tode Philipps III. (1539) sein Sohn Woürad in einem
Teile des Eisenberger Gebietes die Regierung übernahm, eine der
bekanntesten und sympathischsten Persönlichkeiten unter den deutschen
Fürsten und Herren der Reformationszeit. Er betrachtete es als eine
ihm von Gott aufgetragene Mission, die neue Kirche nach besten
Kräften zu festigen, und es gelang ihm, ihr endlich auch in G>rbacb,
dem „letzten Bollwerk des Katholizismus im Lande", Eingang zu ver-
schaffen; natürlich trat er auch dem schmalkaldischen Bunde bei.
Die Rolle, die er bei dem Regensburger Gespräch im Jahre 1546
spielte, ist aus der allgemeinen Reformationsgeschichte und der ein-
schlägigen Spezialliteratur bekannt, seine Erlebnisse zu Augsburg
(1548), wo er dem Kaiser Abbitte leisten mulste, hat er in seinem
von Trofs herausgegebenen Tagebuch selbst erzählt, doch bringt
Schnitze aus der Fülle des ihm zuhanden gekommenen Materials auch
fUr diese Episoden noch manches Neue.
Der eigentlichen Geschichtserzählung folgen dann die Kapitel;
welche von der Organisation der Landeskirche, von den kultischen
Ordnungen, von den Verhältnissen und den bekannteren Persönlich-
keiten der Waldecker Geistlichen, von den kirchlichen und theolo-
gischen Kämpfen, dem Abschlufs der Klosteraufhebung und dem sitt-
lich-religiösen Leben im Lande handeln. In letzterem Kapitel inter-
essieren besonders die Stellen, in denen uns Graf Wolrad als Fa-
mUienvater und Regent geschildert wird, in dem das Fürstenideal der
Reformationszeit seine vollkommenste Verkörperung gefunden hat
Er wird uns hier recht nahe gerückt, und dals er dadurch in der
Wertschätzung des Prüfenden nicht verliert, sondern sogar noch
— 185 —
gewinnt, ist ein beredtes Zeugnis für die unantastbare Gediegenheit
seines Wesens.
Wir stehen für dieses Mal am Ziele unserer Wanderung. Viel-
leicht ist es uns später vergönnt, einen Streifzug zu machen nach
Sdilesien, Sachsen, in die Marken, den Rheinstrom hinab nach Jülich^
Kleve und Berg, an die Küsten der Nord- und Ostsee, nach Pommern
and PreuGsen, wo eine Umschau nach der neuesten reformationsgeschicht-
lichen Literatur zum mindesten ebenso lohnend ist wie in den Gebieten^
die wir eben durchschritten haben.
Mitteilungen
ArekiTe. — Im September 1904 wurde die Neueinrichtung des Stadt-
archivs von V^emigerode a. H. durch den Unterzeichneten begonnen ^)
und Ende März 1906 zimx Abschlufs gebracht.
Es handelte sich bei der Arbeit zunächst um die in einer Bodenkanmier
öcs Rathauses belegenen Archivalien, die teils in Stapeln aufgeschichtet lagen,
teäs aber ein arges Durcheinander von Aktenstücken, Staub, Papier und
(Sassd&erben bildeten. Es galt zunächst die aufbewahrungswerten Stücke
^ den zu kassierenden zu trennen und erstere dann in Fächem materien-
veise einzuordnen. Einige vierzig Zentner wertloser Makulatur wurden dabei
>fimähiidi ausgesondert imd einem Händler zum Einstampfen übergeben.
Die „materienweise Einordnung" der Archivalien erfolgte in
der Att, dafs in drei zu diesem Zweck gebauten Reposttorien Abteilungen
ia alphabetischer Anordnung eingerichtet Verden, deren Inhalt mit den
(Waltitehi der bereits in Repertorien verzeichneten Akten übereinstimmte
Qod mir an einzelnen Stellen eine notwendige Abänderung erfuhr. Die An-
ordoong der Bestände im sogenannten eigentlichen Archiv (im Erd-
gesdio& der neuerbauten Knabenvolksschule) tmd diejenige der Registratur
(im Rathaus) ist im wesentlichen die gleiche, und dieser Umstand erleich-
^ott nicht nur die spätere endgültige Einordnung der Stücke in die bereits
^cpstrierten , sondern wird sich auch in Zukunft bei jeder Überftihrung von
Aktea ans der Registratur in das Archiv nützlich erweisen.
Die geschichüiche und verwaltungsrechtliche Bedeutung der Urkunden
^ Akten in der gedachten Kammer ^ ist nicht gering und das um so
vcB^er, als die ausgesonderten Akten gerade die Lücken des bereits vor-
^denen Archivs in natürlichster Weise ergänzten. Man kann sich über-
^^ dem Eindruck nicht verschUefsen , als habe gerade über den Archi-
nficQ der Stadt Wernigerode ein besonders günstiger Stem gewaltet; denn
Brand und andere Schäden haben sie bisher verschont. So zeigt das Ganze
0 Vgl. diese Zeitschrift 5. Bd., S. 237.
3) E« (knden sich dort z. B. Ratsrechnangen Ton 1522 an, die ProtokoUe des
^^''^BBp<lmgs von 1 540 bis 1638 sowie rekhes Material ans der Zeit des 30 jährigen Krieges.
— 186 —
denn nach Einordnung der neuen Stücke eine bemerkenswerte Reichhaltig-
keit. Selbst solche Akten, die bereits dem Untergang geweiht schienen, wie
4 — 500 Prozesse vorwiegend aus dem XVI. Jahrhundert — sie waren laut
Verzeichnis vom Oktober 1855 zur Kassation bestimmt! — , entgingen dem
ihnen drohenden Verderben.
Um diesen gerade in seiner Gesamtheit so ansehnlichen Besitz un-
geschmälert zu erhalten, dazu bedurfte es vor allem des bedeutsamen und
dankenswerten Entschlusses der Stadtverwaltung, die Bestände ihrer Akten
und Urkunden systematisch durchsehen zu lassen. So allein war zu er-
reichen, dafs auch dem unmerklichen Verfall infolge mangelhafter Aufbe-
wahnmg der Archivalien Einhalt geboten und gerettet wurde, was zu retten war.
Nach Aufarbeitung der erwähnten Bodenkammer wurden dann alle
Akten bis 1850 mit Ausnahme der Journale, Kassenbücher und Belege
dem Archiv der Stadt einverleibt, aus dem vorher alle Akten bis zum
genannten Jahre ausgesondert imd der inzwischen neueingerichteten Re-
gistratur im Rathaus eingegliedert worden waren. Zur Vervollständigung
des Aktenarchivs waren weiterhin auch alle Archivalien von aktenmä£sigem
Charakter dem gleichfalls in derselben Schule untergebrachten Urkunden-
archiv entnommen und den betreffenden Titeln dort angefügt worden.
Zuletzt wurde zur Aufzeichnung des gesamten Bestandes geschritten und
ein jedes Stück mit Stempel und Fachnummer versehen.
Das Ergebnis dieser ganzen Arbeit sind nunmehr folgende ordnungs-
mäfsige Sammelstätten städtischer Archivalien in Wernigerode:
I. das Urkundenarchiv in der Volksschule, enthaltend die Ur-
kunden der Stadt von 1245 ^^>
II. das Aktenarchiv ebendort, bestehend aus ihren Akten bis 1850,
III. die Registratur im Rathaus, umfassend die laufenden Akten von
185 1 an, und
IV. die alte Ratsbodenkammer mit den Geschäfbjoumalen, Kassen-
büchern imd Belegen.
Die Stadt Wernigerode darf gewUs mit einiger Befriedigung auf die
nunmehr dauernd gesicherte und alle Teile umfassende Aufbewahrung ihrer
Archivalien blicken, und was im besonderen die Reichhaltigkeit und Voll-
ständigkeit der Bestände anbetrifft, kann sie es mit Städten auch von größerer
Einwohnerzahl und Bedeutung getrost au&ehmen. Hans v. Wurmb
Kommissionen. — Die V^^ürttembergische Kommission für
Landesgeschichte') hat am 8. Juni 1905 in Stuttgart ihre vierzehnte
Sitzung abgehalten. Im Druck erschienen ist der erste Band des Urhrndm-
Imehes der Skult Heübronn, bearbeitet von Knüpf er (Stuttgi^ Kohlhammer
1904), der zweite Band des Urktmdenbuchea der Eüadi ijßUngenf bear-
beitet von Adolf Diehl (ebenda 1905), Dm Bote Buch der Stadt IJU^
herausgegeben von Carl MoUwo (ebenda 1904) und Binder: Württemr
hergiches Münz- und Medaiüenkumdet neu bearbeitet von Julius Ebner,
Heft 2. Der Druck der von Hermelink bearbeiteten Mairikdn der Um-
vereiiäi Tübingen und des fünften Heftes der GeeekieUUehen Lieder und
i) Vgl diese ZeiUchrift 6. Bd., S. 138.
— 187 —
^rüehe Württembergs von Steiff uad Mehring hat begonnen. Die
aiige£uigenen Arbeiten sind sämtlich mehr oder weniger gefördert worden.
Nea wurde die Vorbereitung eines Bilderatlasses zur wUrttember-
gischen Geschichte, die Bearbeitung des Stuttgarter Urkunden-
bochs in Verbindung mit der Stadt imd die Veröffentlichung eines Ur-
Icundenbuches von Heiligkreuztal, bearbeitet von Huber, be-
schlossen. Die Berichte der Pfleger über die von ihnen aufgenommenen
Archive sollen allmählich in den Mitteilungen der Württembergischen
Kommission für Landesgeschichte veröffentlicht werden. Diese Repertori-
sicning der Archive erfolgt durch 72 in einem besonderen Verzeichnis
namentlich genannte Pfleger unter Leitung von 6 Kreispflegem (Archivrat
Kriufs, Archivdirektor v. Stalin, Prof. Ernst, Prof. Günter, Pfarrer
Bossert, Dekan Schmid), und es wird zugleich mitgeteilt, für welche
Orte — innerhalb der Oberämter alphabetisch geordnet — die Arbeit er-
ledigt ist; es sind mehrere Hundert, und zwar ist neben dem Gemeinde- und
Pfiirrarchiv auch manches Adelsarchiv (das des Grafen Schenk v. Stauffenberg
in Lauüingen, des Freiherm Schenk v. Stauffenberg in Geislingen, das Schlofs-
archiv zu Hom bei Fischbach, das zu Oberherrlingen, das zu Talheim, das
des Freiherm v. Soden in Burleswagen, das des Freiherm v. Seckendorff in
Erkenbrechtshausen, das des Fürsten Öttingen- Wallerstein in Geislingen und
Tiele andere) und mancher sonstige Privatbesitz verzeichnet worden. Hoffent-
lich vollzieht sich die Dmcklegung der Verzeichnisse mm recht bald!
Durch den Tod hat die Kommission die Mitglieder Sixt ^) tmd Vo-
chezer verloren. Neu eingetreten ist als ordentliches Mitglied Prof. v.
Fischer (Tübingen), als aufserordentliche Mitglieder Subregens SproU
(Rottenburg), Archivassessor Wintterlin (Stuttgart) und Archivsekretär
Mehring (Stuttgart). Das Rechnungsjahr 1904 hat mit einem Überschufs
Ton 2473 ^- abgeschlossen, da der Ausgabe von 21076 M. eine Einnahme
TOQ 23549 M. (einschliefslich des von 1903 übernommenen Überschusses von
5745 ^-) gegenüberstand.
Zur Sennsteigfrage. — Bevor ich mich zu der in der Februar-
nommer dieser Zeitschrift von Rubel vorgetragenen Ansicht über die Ent-
stehung der Rennsteige äufsere, sei es mir gestattet, die Leser von einer
gleich6älls in der jüngsten Zeit aufgestellten Hypothese zu unterrichten, die
Ton allen bisherigen Deutungen abweicht. Sie rührt von Oberförster Frey-
soldt in Steinach (S. M.) her und ist veröffentlicht im Mareüe V, i vom
Januar d. J. Die Freysoldtsche Auffassung gründet sich auf eine Stelle in
<ler Forstordnung Maria Theresias vom Jahre 1766 ; hier heifist es tmter S 34 :
„Damit die Renn- und Richtwege künftighin nicht allzu weit-
schichtig erweitert werden; als sollen solche höchstens auf 4 Klafter,
damit die Wägen gegen einander bequemlich ausweichen können, gesetzet,
falls aber ein und anderer Renn- und Richtweg über vier Klafter erweitert
wäre, (soll) solcher mit jungem Maifs *) wiederum angezieglet *), auch der-
I) Vgl. den Nekrolog in dieser Zeitschrift 6. Bd., S. 116— 117.
3) Mttißf Rauhmaiße nennt man in Österreich die Jangwüchse, besonders bei
<len ünbholz im StockscMagbetrieb.
3) angebmot.
U
— 188 —
gestalten die übrigen Anger- und Wiesflecken, auf welchen Holzwachs zu
hoffen, eingerichtet werden."
Und § 22 besagt:
„Ingleichen (soll) auf denen aushackenden Renn- und Richtwegen,
nicht weniger von denen Schufs seh arten das allda stockende Holz
ziun Nutzen des Waldinhabers ausgearbeitet und versilbert werden."
Hier ist offenbar Bennweg ein Gattungsname, dessen Bedeutung von
der eines „Richtweges" nicht sehr verschieden war. Die beträchtliche Breite
von vier Klaftern (= ca. 7 m) ist jedenfalls bemerkenswert; waren doch
räch dem Sachsenspiegel selbst die Königsstrafsen nur 16 Fufs = 5 m
breit. Bichtweg hat, wie Freysoldt im Anschlufs an Mitteilungen österreichi-
scher Forstleute angibt, hier keinesfalls die Bedeutung: „abkürzender Fufs-
pfad", sondern er bezeichnet eine in den Wald gehauene Schneise, mit dem
ausgesprochenen Zweck, die Jagdlinien auszurichten. Die Rennwege
aber waren die breiten, teilweise fahrbaren Aufhiebe im Walde, auf denen
die Jäger standen und von wo aus sie das durch die Hunde aufgejagte und
ihnen zugetriebene Wild niederschössen. Die Schufsscharten wurden seok-
recht zum Rennweg in den Bestand hineingehauen, um schon dort das ai>
der Schützenlinie entlang fliehende Wild zum Schufs zu bekommen, wollte
es den Richtweg nicht — überrennen. Erst die Breite der Rennwege
ermöglichte die Abgabe eines sicheren Schusses (in alter Zeit des Speer-
wnrfes oder Pfeiles), weil das Wild sie frei überrennen mufste. Was
an Wild nicht geschossen wurde, fing sich in den rückwärts aufgestellten
Jagdnetzen. Im Nibelungenlied entspricht dem Rennweg der ahelouf (XVI,
871 Lm: ghis wildes aheloufe), in der Weidmannssprache sonst auch „Frei-
lauf", „Stechplan", „Stechbahn", Schiefsplatz". Rennweg ist also aller-
dings vom „Rennen", nicht vom „Rain" abzuleiten; doch nicht der Reiter,
nicht der Kurier rannte dort, sondern der edle Hirsch wurde gezwungen,
auf ihm zu rennen.
Die ausgeprägte Kammlinie im nordwestlichen Läogsgebirge des Thü-
ringer Waldes begünstigte nach Freysoldt ganz besonders die Ank^e von
Rennwegen zu jagdlichen Zwecken, zumal wenn das ganze Gebirge, Nord-
seite und Südhang, im Besitz eines Volksstammes war. Es ist selbstverständ-
lich nicht daran zu denken, dafs ein Volk eine so „grofszügige Jagdpolitik **^
getrieben habe, lun gleich das ganze Gebirge von Ost nach West mit einem
Rennweg zu überspannen. Vielmehr erfolgte die Ausgestaltung dieses fiirst-
lichen Jagdpfades ganz allmählich und stückweise. Nachdem man den Vor-
teil des zuerst geschafienen Rennweges erkannt hatte, vrurde dieser nach
Bedarf verlängert, an anderer passender Stelle ein neues Stück angelegt,
späterhin die getrennten Stücke untereinander verbunden, bis endlich aus
vielen Rennsteigen ein zusammenhängender Rennweg geworden ist '). —
Dafs der thüringische Rennsteig von den wettinischen Fürsten noch bis zum
Anfang des 18. Jahrhunderts in der angegebenen Weise benutzt wurde, be-
stätigt — nach Freysoldt — die Beschreibung des Bofjagens am Dreiherm-
stein 1703 (Mareile I, 3, 2). Der Schiefsplatz war hierbei am Rennsteig;
i) Wir häUen also in dieser Entstehangsweise etwas Analoges za der Lacbmaoo-
sehen „Liedertheorie'* hinsichtlich der Komposition der mittelhochdeutschen Volksepeo.
— 189 —
sn Rennsteig entlang waren die Tücher aufgespannt, dort hinauf wurde das
Wüd aus dem ganzen Neubrunner Forst zusammengetrieben, und dort wurde
ö «abgejagt und gefangen". War ein Rennsteig einmal vorhanden, so war
CS ganz natürlich, dafs er auch von Nichtjägem benutzt wurde, sofern er in
der Richtung eines Strafsenzugs zwischen zwei Handelsplätzen oder auch
nrei Burgen lag. Die Rennsteige teilten ja immer gröfsere, zusammenhängende
Waldungen im Gebirge wie im Hügelland; sie waren deshalb abkürzende
Strafsen, die Fuhrmann und Kärrner um so lieber benutzten, als ihnen so
das Umfahren der Gebirge oder der dichten Wälder im Flachlande erspart
blieb. Dals dieselben Rennsteige mehrfach auch zu Grenzwegen wurden,
kann uns ebensowenig wundem, denn Höhenwege wie Flufsläufe waren in
alten Zeiten unentbehrliche und unverwischbare Grenzzüge.
Dies ist der Kern der Freysoldtschen Lehre. Seine Ausführungen werden
mandicm plausibel erscheinen, und sie verdienen in der Tat ernste Beach-
tung. Ob sie sich indes zu allgemeiner Anerkennung durchringen, ist zweifelhaft.
Die österreichischen Renn- und Richtwege mit ihrer Vier-Klafler-Breite und
ihren Schufsscharten sind schwerlich unseren thüringischen Rennsteigen gleich-
zusetzen, welche, soweit sie in ihrer Ursprünglichkeit erhalten zu sein scheinen,
eine gleichmäfsige Breite von etwa 2 m aufweisen. Auch dürfte die an-
sehnliche Länge unseres Pfades — selbst bei Annahme der oben erwähnten
Kompositionstheorie — sowie die stellenweise auftretenden Steigungen imd
Unebenheiten (man denke an die Reitsteine am Inselberg) eine solche Gleich-
setzong widerraten. Es ist mir femer unerfindlich, weshalb einzig und allein
die auf der Kammlinie hinführenden „Aufhiebe" den mehrerwähnten Namen
getragen haben sollen, während doch die fürstlichen Weidgesellen im weiten
Getal und Gebirge ihrem Vergnügen nachgmgen. Schliefslich machen mich
die nicht selten begegnenden Synonyma, insonderheit das gut bezeugte
„Reotersteig" bedenklich. Mögen aJso die österreichischen Renn- und
Richtwege immerhin dem Jagdsport gedient haben, so bleibt es doch frag-
lich, ob wir berechtigt sind, in ihnen die Urrennsteige zu sehen und aus
dem hier erzielten Befund ohne weiteres auf die übrigen 120 — gröfstenteüs
noch wenig erforschten — Rennwege einen Schlufs zu ziehen.
In eine ganz andere Richtung weisen die Untersuchtmgen Rübeis.
Die Bedeutung der deutschen Rennsteige innerhalb des Siedelungssystems
der Franken hatte der Verfasser bereits in seinem Hauptwerk Die Franken
ai mehreren Stellen hervorgehoben. Auch seine jüngste Darstellung ^) fordert
w einigen kritischen Bemerkungen heraus. Die Erörterungen über das bei
der Maikenaussonderung durch die fränkischen forestarii beobachtete Ver-
ehren sind sicherlich geeignet, manche dunkeln Partien des frühesten Mittel-
alters zu erhellen und der Forschung neue Richtpunkte zu weisen. Dessen-
fingeachtet braucht nicht jeder, der die Grundlagen seiner Lehre anerkennt,
>Qch aDen einzelnen Folgerungen zuzustimmen: es gilt hier, wie überall, das
^Mnimentarisch Beweisbare und konkret Vorhandene von bloisen Vermutungen
s> scheiden '). Ganz einleuchtend scheint nur nachgewiesen zu sein, dafs
1) Oben S. 119— 126.
2) Die Berechtigung einer derartigen Mahnung giündet sich u. a. auch auf die An-
><tno£ eines „Trostmdter Rennsteiges**, der nach Rttbel die Marken von Beinerstadt und
TrosUdt scheiden soll und der in der ganzen Darstellung des Verfassers eine nicht un-
14 ♦
— 190 —
die Ausmessung und Abgrenzung der Marken nach feststehenden Grundsätzen
unter der Oberaufsicht der Herzöge durch staatliche „Förster" vorgenommen
wurde; auch halte ich es für glaublich, dafs die Herzöge durch feierlichen
Umritt die neuen Grenzen bestätigten. Dagegen scheint der Beweis nicht
erbracht zu sein, dafs Name und Begriff des Reimsteigs mit dieser Neu-
einteilung des eroberten Staatsgebietes durch die Franken im Zusammenhang
stehe. Keine Urkunde bezeugt ausdrücklich eine solche Wechselbeziehung.
Rubel weist ganz richtig darauf hin, dafs in den Urkunden über die Be-
grenzung der cidvocatio ecdesiae fiddensis ein Teil der Vogteigrenze Eeinne-
weg genannt werde, während doch zur 2^it des Bonifatius an dieser Stelle
offenbar noch kein Weg irgendwelcher Art vorhanden gewesen sei ; darf man
indessen aus diesem Umstände schliefsen, dafs die Umgrenzung des Gebietes
auch die „ Schaffung " eines ausgedehnten Rennsteiges als eines Grenzweges
zur Folge gehabt habe? Wer sagt uns denn, dafs dieser Rennsteig gerade
damals geschaffen worden sei ? Nach dem Wortlaute der Urkunde ^) möchte
man eher anzunehmen versucht sein, dafs die Grenzlinie in einen schon
vorhandenen Rennsteig einmündete und ihm nur bis zu einem gewissen
Punkte, der eben durch einen „steckenden Stein" markiert war, folgte. Die
Auffassung, dafs dieser „Reinnewech" sich nach beiden Richtungen noch
weiter erstreckte, ist mindestens ebenso zulässig und meinem Gefühl nach
natürlicher als jene, dafs plötzlich mitten in den Grenzumgang ein Wegstück
eingelegt war, dem man im Unterschied von den anderen den auszeichnenden
Beinamen „Rennweg'' beilegte. Die Meinung Rübeis, dafs die Marklinie
zuerst auf der Gebirgshöhe gezogen wurde, ist an sich unwahrscheinlich und
unbeweisbar. Die angeführten Urkunden machen überall den Eindruck, als
ob die Grenzfestlegung durchaus in einem Zuge vorgenommen worden sei.
Eben dieser Umstand bildet in meinen Augen ein Hauptargument gegen die
Auffassung der Rennsteige als ursprünglicher Grenzwege. Warum wird dann
nicht der gesamte Grenzzug als Rennsteig benannt, zumal doch gewüs der
Herzog von seiner jeweiligen Residenz aus den Umritt begonnen hat und
auch die Querseiten des Ausschnittes niit denselben Feierlichkeiten umritti
wie die auf dem First des Waldes ausgehauene Grenzschneise? Auch ver-
dient eine Schneise noch lange nicht den Namen eines „Weges"'). Be-
kanntlich finden wir nun aber eine Reihe von Rennsteigen, die schlechter-
dings nicht den Charakter als Grenzwege getragen haben köimen (Allzunah,
Zwenkau, Dresden). Es wäre schliefslich doch auch verwunderlich, wenn
eine solche Grenzlinie nach dem nur einmal erfolgten oder doch nur selten
wiederholten Umritt der Herzoge benannt wäre: nur eine dauernde Be-
wesentliche Rolle spielt. E^ läfst sich jedoch urkundlich nur ein Rennsteig bei Belrieth
nachweisen, seine Fortsetzung „in der Richtung auf Beinerstadt und Trostadt'* war
von mir ausdrücklich als Konjektur hingestellt worden.
i) . . . inde per Fliedena deoretsm usque in Weidemanneabruggun et nc emwm
in Beinneioech; inde per Beinnewech uegue ad eteckanden stein, inde in Moetmf
inde in veterem Slyrepham ...
3) Wenn ich S. 38 festgestellt habe, dafs unser thüringischer Rennsteig weithin eine
Landesgrenze bilde, so bezieht sich dies, wie ausdrücklich bemerkt ist, auf die neuere
Zeit. Die Frage, welches die Veranlassung zur Schaffung des Weges gewesen sei, wird
hierdurch nicht berührt.
— 191 —
sQtzangsweise drückt einem GegeDstand oder einer Örtiichkeit den
Namensstempel auf.
Gegenüber der Rübeischen Ansicht, dafs jeder Rennweg einfach ab ein
Reitweg anzusdien sei'), möchte ich doch auf die Gnmdbedeutung der
beiden in Rede stehenden Verba Gewicht legen. Alle Wörterbücher be-
lehren uns, dafs reiten einem lateinischen equo vehi entsprach, während mit
rmnen eine beschleunigte Bewegung bezeichnet wurde, wie sie eben kleineren,
Idchtbewafibeten Abteilungen, Boten zu Fufs oder zu Pferd, eigen ist. Der
Haine rtnftoerf, rimter u. dgl. findet sich vielfach in mhd. Urkunden und
zwar an Stellen, die uns eine Vorstellung von dem Rangverhältnis zwischen
Rittern, Knechten und „ Rennern '* ermöglichen'). Die Form rennwec oder
mmsHc (= »Weg der Renner *') entspricht aber recht eigentlich den mhd.
Worü>ildungsgesetzen '). Rubel bezweifelt das Vorhandensein eines entwickelten
PUrouiUendienstes für die früheren Zeiten, zumal für die Periode, in der
sich das Reiter- und Lehnswesen ausgebildet hatte. Zu der Annahme eines
solchen Kundschaftersystems bei den alten Deutschen nötigen ims indessen
bestimmte Angaben der römischen Schriftsteller ^), und zu solcher Annahme
stimmen vortrefflich die Andeutungen derselben über besondere, von den
Heerwegen verschiedene verdeckte P&de durchs Gebirge. Was sind diese
empendia viarum des Tacitus ^) anders als Rennwege? Dafs sie sich als
sdche, als PCade für hin imd her sprengende Reiter, ein Jahrtausend lang
erhalten haben sollen, habe ich nirgends behauptet, sondern ich habe ledig-
fidi ihre Anlage auf die Gepflogenheit der frühdeutschen Zeiten, solche Wege
in Kriegsläuften zu benutzen, zurückgeführt. Dafs diese aus guten Gründen
meist auf der Gebirgshöhe verlaufenden Steige später auch zu anderen Zwecken,
z. B. als Grenzlinien oder zum Jagdbetrieb, benutzt wurden, dafs sie sich
tohreise in Verkehrsstrafsen verwandelten, hat nichts Auffälliges. Aber auch
im späteren Mittelalter, ja noch in den heUbeleuchteten Tagen der Neuzeit
macht sich bisweilen die alte Bedeutung eines Rennsteiges geltend, so z. 6.
spidte der thüringische Rennsteig bei der bekannten Entführung Martin
Luthers vom Lutherquell nach der Wartburg eine bedeutsame Rolle; von
i) Dem widerspricht auch die Beschaffenheit der ftir beide Arten erforderlichen
Gdinde: ein Reitweg verlangt lockeres Erdreich, ein Renn(er)steig möglichst harten Boden«
t) Henneb. Urk. II Nr. 33 (von 1334): . . . und stüKi^gebn ein JuUbig iar eu
nidi eiste ritter swtlf loUge marg eilbers, etm knehte zehene, etm rinner funfe . . .
Urk. d. Vdgte ▼. Weida Nr. 845 (von 1342): nimi man frumen, den sal man teilen
Hodk der numegal gewapenter leuie, die hekne habin, adir zewene rinner, die pancur
•Mi gereie habin, eal man reiten vor einen wepener . . .
3] Vgl. das oben S. 37 Anm. i von mir AnsgefUhrte. Es sei noch hinzogeHigt,
^ riiwuLZ ein Mafs Wein bedeutet, wie es diensttuende Reiter erhalten.
4) Z. B. Caes. beU. Gall. IV, 19: 8nebo8 paetguam per exploratoree pontem fieri
tompmiMeent . . . nnntioe in otnnee partes dimisisee ... id. b. G. VI : mandat übiie,
<tf erdfroB expiaratores in Snebos mittant qnaeque apud eoe gerantur, eognoaeant . . .
5) Tac Ann. I, 50: Bemanne , . . aaUus ohsenros permeat caneuUatgue ex duobus
itimribne breve et solitum sequatwr an impeditius et intemptatum . . . Ann. I, 63:
•*. etreufli »ilvae paulatim cuUUvee, quas tum Arminiue implevit, eompendii»
•iam» et dto agtnine onuetum aarcinie armiegue militem cum antevenisset,
Aaa. Xn, 38 : (mihtee) ditfiei in duo agmina, qwi laevjfim iter petiverant — (Chattof)
mmo graves cireumvenere , . , at qui dextris et propioribus compendiie
itratU Wüio hoeti . . . plue cladis faciunt
— 192 —
den Reisigen, die den Reformator auf schnellen Rossen dem Asyle zufühiten,
berichtet der Chronist Binhard ausdrücklich, dafs sie etUc?te stunden im
UHÜde den reutersteig fuhren (Thür. Chron. 1613, S. 81) '). Und als Herzog
Ernst der Fromme den Rennsteig aufs neue vermessen läfst, da definiert er
ihn in seiner den Beamten erteilten Anweisung als einen Pfad, auf dem
„eine Korrespondenz (nämlich seines Kontingentes) gegen Chursachsen als
seines Kreisobristen und gegen Eger zu halten sei imd wo man auf den
Gehölzen und Höhen, also dafs man auf kein Dorf käme, verdeckt passieren
könne". Selbst im XIX. Jahrhundert bewährte er sich als via tnüitaris *),
indem nach der Schlacht bei Jena versprengte Flüchtlinge ihn benutzten, um
sich so nach Böhmen zu retten ^).
Die Anregung, die Rubel dem Rennsteigverein gibt, sich eingehender
der Erforschung der Markenbildung zuzuwenden, trifil zusammen mit gleich-
artigen Forderungen, die Bühring (Elberfeld) dem Verfiasser hat zuteil
werden lassen. Die Mahnimgen beider werden auf fruchtbaren Boden fallen
und den Verein vor Einseitigkeit und Erstarrung bewahren. Ebenso hoffen
wir indessen, dafs als Nebenfrucht der Rennsteigforschung mit der Zeit auch
neue Aufschlüsse über die Natur und Bedeutung der altdeutschen Wege
gewonnen werden, kurz, dafs diese Forschung der Verkehrsgeschichte
im weitesten Umfange zunutze kommen möge. Ludwig Hertel.
Personalien« — In Hermann Markgraf, der am 12. Januar 1906
gestorben ist, hat die schlcsische landesgeschichtliche Forschung einen Ge-
lehrten verloren, der wegen seiner eigenen bedeutenden Arbeiten ebenso wie
als selbstloser, unermüdlicher Förderer fremder Studien einen Ehrenplatz io
ihren Annalen verdient. Am 30. Mai 1838 zu Kottbus geboren und auf
dem Gymnasium seiner Vaterstadt vorgebildet, widmete sich M. auf den Uni-
versitäten Breslau, Jena imd Berlin phUologischen und historischen Studien.
In Breslau wurde er durch Roepell der Geschichte gewonnen; in Jena und
Berlin gehörte er zu den begeistertsten Schülern Droysens und Rankes; auf
seine historische Auffassung hat Droysen den nachhaltigsten Einflufs ausgeübt.
Im Februar 186 1 erwarb er auf Grund einer Dissertation De hello Burgundico
a Carola Audace contra archiepiscopum Coloniensen suscepto (Berlin 1 861) die
philosophische Doktorwürde und legte bald darauf die Staatsprüfung ab. Dem
Probejaiir folgte 1862^ die Berufung an das Kgl. Friedrichs-Gymnasium zu
Breslau, wo er bis 1876 als Lehrer tätig blieb. Die Bedeutung seiner in-
zwischen veröffentlichten wissenschaftlichen Arbeiten über den bewegtesten Ab-
schnitt der Geschichte Breslaus war es vornehmlich, die den Magistrat der Stadt
veranlafste, ihm im genannten Jahre die Stelle des Stadtbibliothekars
und -archivars zu übertragen, die er, seit 1895 mit dem Titel Direktor,
bis zu seinem Tode bekleidet hat Nachdem er bereits vor drei Jahren
hart mit dem Tode gerungen, aber bald seine voUe körperliche und geistige
Frische wiedererlangt hatte, entrifs ihn eine tückische Krankheit, bei seiner
1) Diese Umoennang ist mir, wie oben erwähnt, ein wertvoller Beweis fUr meine
Auffassang.
2) So betrachtet den Rennsteig schon Kr aufs, HildburgJiäuser Kirehfin-, Schul'
und Landeshistorie (i753)- *
3) Mareile IV, 3.
— 193 —
Rüstigkeit anerwartet und viel zu früh, seiner gesegneten, plane- und hoffnungs-
reichen Berufs- und Forscherarbeit.
M. widmete seine wissenschaftliche Tätigkeit fast ausschliefslich der
Landesgeschichte seiner neuen Heimat. Doch erfafste er sie stets in
ihrem Zusammenhange mit den allgemeinen Ereignissen. Ein bewunderns-
wertes, sich stetig vertiefendes Wissen auf allen Gebieten der Geschichte
bewahrte ihm den freien Blick und liefs ihn nie in kurzsichtiges Spezia-
Bstentum verfallen. Nach einer Erstlingsarbeit über die für die schlesi-
sche Kirchengeschichte bedeutsame Legation des Kardinalpresbyters Guido
1265 — 1267 *) ergriff er als erste gröfsere Aufgabe die Erforschung der
bewegten Zeit der böhmischen Thronwirren im XV. Jahrhundert imd deren
Rückwirkung auf Schlesien, dessen Hauptstadt in dieser Periode ihrer
höchsten wirtschaftlichen Blüte und politischen Machtstellung eine Zeitlang
die Rolle einer Vorkämpferin der Kirche gegen den Ketzerkönig spielte.
Den Kern seiner wissenschaftlichen Leistungen auf diesem Gebiete bilden die
Ausgaben der Hauptquellen dieser Periode, der Historia Wratislaviensis des
Brcslauer Stadtschreibers Peter Eschenloer*) und der Politischen Korre-
tpondene Breslaus im Zeitalter Georgs von Podiebrad *). Um sie gruppiert
sich teils als Vorstudien teils als Ergebnisse und Exkurse eine Reihe vor-
trefflicher Abhandlungen : Die biographischen Studien zur schlesischen Historio-
graphie Magister Peter Eschenloer *) und Christian Ezechiels Leben und
Schriften *), femer die Aufsätze Der Liegnitzer Lehnsstreit 1449 ^1469 ^
ond Geschichte Schlesiens und besonders Breslaus unter Königs Ladislaus
hsihumus ^) , endlich als Ausblicke in die allgemeine Geschichte der Zeit
Über das Verhältnis des Königs Georg von Böhmen zu Papst Plus II.
U5&—146J2'') und 1462-1464''), Über Georgs von Podiebrad Projekt
eines christlichen Fürstenbundes zur Vertreibung der Türken aus Europa
und Herstellung des allgemeinen Friedens innerhalb der Christenlieit *®) und
Die Bildung der katholischen Liga gegen Georg Podiebrad^^). Hierher ge-
hören auch die Studien über die Kanzlei des Königs Georg von Böhmen '*)
tmd über die römische Kurie in ihrer Ausbildung und Verfassung bis auf
tmsere 2jeii^^)f letztere lediglich zur eigenen Orientierung niedergeschrieben
und nur gelegentlich veröffentlicht.
Nach seiner Berufung an die Stadtbibliothek wandte sich Markgraf mehr
und mehr ortsgeschichtlichen Forschungen zu. Gleichwohl beweisen eine
1) Zeitschr. f. Gesch. Schles. V (1863), 81—106.
3) Scriptores rerum SiUmacarum VII. (1872).
3) Script, rer, SOes, vm. IX. (1873—74).
4) Säkiüarprognunin des kgl. Friedricbs-Gymnmsiams za Breslau (1865).
5) Ztschr. f. Gesch. Schles. XU (1874), 163—194.
6) Abhandl. d. Schles. Gesellsch. f. vaterl. Koltor. PhUos.-hitt AbteU. 1869, S.
»5—70. Nachtrag ebda. 1870, S. 41—65.
7) Ztschr. f. Gesch. Schles. XI (1872), 235—274.
8) Progr. des kgl. Friedrichs-Gymnasiums zii Breslan (1867).
9) Forsch, z. dtech. Gesch. IX (1869), 219—258.
10) Hut Zeitschr. XXI (1869), 257-304.
u) Hist. Zeitschr. XXXVIH (1877), 48-82.
13) Neaes Laos. Magaun XLVII (1876).
13) Progr. des kgl. Friedrichs-Gymnasiiims (1875).
— 194 —
Anzahl wichtiger Publikationen und Darstellungen zur allgemein schlesischen
Geschichte, dais auch dieses Gebiet bis in seine letzten Jahre von ihm nicht
vernachlässigt wurde. So veröffentlichte er die von ihm in der Fürstensteiner
Bibliothek aufgefundenen Ännaies Glogavienses — 1493 ^), gab mit C. Grün-
hagen zusammen die für die Gesamtgeschichte grundlegenden Lehns- und
Besit0urkunden Schlesiens und seiner einednen Fürstentümer im Mittd"
älter ^) heraus und endlich im Verein mit W. Schulte den von ihm in
Leyden entdeckten Liber fundationis EpiscopcUus Vratislaviensis ^) (1889),
die wichtigste Quelle zur Finanzgeschichte und zur Kolonisationsgeschichte
des Bistums. Eingehende Forschungen verdanken wir ihm auch auf dem
Gebiete der schlesischen Historiographie. Einer zusammenfassenden Dar-
stellung der Entwickdung der schlesischen Geschichtsekreibung ^) folgten,
im Anschlufs an die oben erwähnten Biographien Eschenloers und Ezechiels,
noch diejenigen Nikolaus Henels von Hennenfeld (1582 — 1656)^), Samuel
Benjamin Kloses (1730 — 1798)*) und Gustav Adolf Harald Stenzels {1792
bis 1854) '). Ausserdem veröffentlichte er eine Untersuchung über die Hin-
richtung des Herzogs Nikolaus von Oppeln auf dem Neifser Landtage von
1497 ^) und Die Rechnung Über den Peterspfennig im Ärchivdiakanat
Oppdn 1447 >).
Zur Ortsgeschichte der schlesischen Hauptstadt hat Markgraf, gestützt
auf seine intime Kenntnis der Archivbestände und der einschlägigen Literatur,
eine stattliche Reihe von Abhandlungen und Publikationen beigesteuert. Sie
betreffen, abgesehen von kleineren Studien und Gelegenheitsschriften, wie
über das evangelische Kirchenwesen '®) und das Medizinalwesen der Stadt ^^),
über Lessings Beziehungen zu Breslau ^% über die Bilder der Breslauer Rats-
herren*'), über die genealogischen Studien in Breslau '*), drei grofse Gebiete:
die Topographie der Stadt, das Stadtregiment und die Geschichte
des Handels von Breslau. Kürzere Aufsätze über die räumliche Ent-
Wickelung und die Bauten ^^) sowie über die Entfestigung der Stadt ^^) bereiteten
i) Script, rer, Säea. X. (1877).
2) Pablikat. a. d. kgl. Prenfs. Staatearch. VU and XVI (1881 — 83).
3) Cod. dipl. Silcs. XIV (1889).
4) ZUchr. f. schl. Gesch. XXII (i 888), i — 24 (Festvortr. z. 25jähr. Amtsjub. C. Grünbagens).
5) Ztscbr. f. schL Gesch. XXV (i^9^)» i~4i (Glückvanschschrift z. 70. Geburts-
tage E. Reimanns).
6) Siksiaca. Festschrift f. C. Grünhagen (1898), S. i~22.
7) Ztschr. f. Gesch. Schles. XXVI (1872), 395—417.
8) Die ChwaUtcU auf dem Neißer Landtage von 1497. Ztschr. f. Gesch. Schles.
XXn (1888), 296—309.
9) Ztschr. f. Gesch. Schles. XXVn (1893), 35^—3^3 (Glückwunschschrift z. 50 jähr.
Friesterjabil. A. Weltzcls).
10) Breslau 1877.
11) lo J. GräUer, Danid Gohl und Christian Kundmann, BresL, Schottlfinder,
1884.
12) Ztschr. f. Tergleiclk Literatorgesch. N. F. XII (1899), 43 — ^^ v> Schles. Zeitnog
1905 Febr. 9.
13J Schles. Vorzeit N. F. I (1900), 87—99.
14) Schles. Vorzeit UI (1879), 353—363.
15) In Breslaus Bauten, hrsg, vom Architekten- und Ingemeur-Verdn, Bresl.
Trewendt, 1885. Verbesserter Abdruck 1894.
16) Ztechr. f. Gesch. Schles. XXI (1887), 47-115.
— 195 —
die gruDdlegendcD topographischen Werke Der Breslauer Bing und seine
Bedeutung für die Stadt ^) und Die Straften Breslaus nach ihrer Geschichte
tmd ihren Namen*) vor, Meisterstücke gründlichen Forscherfleifises , denen
ädi die Ausgabe imd vortreflfliche Übersetzung der ältesten Heimatskunde
Sdüesiens und insbesondere Breslaus, der Descriptio tocius Silesie et ci^cUis
rtgie Vratislaviensis von Barthel Stein') anschliefst. Zwei Aufsätze
Am Breslaus unruhigen Zeiten 1418—14.26^) und Heing Domping, der
Br&lauer Hauptmann (f 1491)^)^ welche Wirren im Inneren des Rates
behandeln, stehen mit der im Verein mit Frenzel besorgten Ausgabe des
Bmiamer Siadtbuches nebst Urkunden zur Verfassungsgeschichte der Stadt ^)
m Zusanmienhang. Grofse Umwälzungen in der Stadtverwaltung im
XVm. Jahrhundert schildert die Finanz- und Verfassungsgeschichte Breslaus
imter Friedrich Wilhelm IL ''). Der Handel Breslaus, die Wurzel semer
Blüte und seines Ansehens, winkte Markgraf als dritter wichtiger Gegenstand
der Forschung. In den zugleich topographischen Studien Breslau als
dadsehe Stadt vor dem Mongolenbrande von 1241 % Die öffenilichen Ver-
harfsstätten Breslaus^) und Zur Geschichte des BresHauer Kaufhauses ^^)
hat er einige Ergebnisse seiner Arbeiten dargeboten, auch gelegentlich kurze
Überblicke über Breslaus Handel gegeben'*), leider ist es aber dem imermüd-
Hdien Forscher nicht mehr beschieden gewesen, sein Werk durch die Ver-
öSentHchtmg der von ihm gesammelten Urkunden zur Handelsgeschichte
Breslans zu krönen. Als Niederschlag endlich seiner vielseitigen Beschäftigung
mit der Geschichte der Stadt hat Markgraf eine knapp gehaltene, aber auf
gröndlichen Studien beruhende Geschichte Breslaus in kurzer Übersicht
(Breslau, Kern, i888) verfafst.
Seine wissenschaftliche und literarische Tätigkeit beschränkt sich selbst-
mstandlich nicht auf die genannten Arbeiten, zahlreiche kleinere Abhand-
loDgen und Mitteilungen aus den verschiedensten Gebieten sind u. a. in der
Zntsehrift des Vereins für Geschichte Schlesiens, den Grenzboten, der
Mgemeinen Deutschen Biographie niedergelegt. In seinem Nachlafs harrt
Dodi eme Reihe ztun Teil druckfertiger Beiträge zur schlesischen Geschichte
der Veröffentlichung. Alle Arbeiten Markgrafs zeigen gediegene Gründlichkeit,
gesundes, ungetrübtes Urteil und lebhaftes Interesse für den Gegenstand der
Forschung, dazu die Gabe einer klaren, stets streng sachlich gehaltenen,
doch von warmer Liebe zur Sache gehobenen Darstellung.
I) MiUeil. a. d. StadUrch. n. d. Sudtbibl. I (1894).
3) Mitteil. a. d. StadUrch. a. d. Sudtbibl. n (1896).
3) Script, rer. SU. XVII, 1902. (Zugleich Festgabe des Vereins f. Gesch. n. Altert.
ScUes. £.13. Deutsch. Geographentage 1901.) Die deutsche Übertetznng allein auch als
Mitteil a. d. Stadtarch. o. d. Stadtbibl. VI (1902).
4) Ztscbr. f. Gesch. Schles. XV (1880), 63-99.
5) Ztschr. f. Gesch. Schles. XX (1886), 157—196.
6) Cod. dipl. SUes. XI (1882).
7) Ztschr. f. Gesch. Schles. XXVUI (1894), 1—80, 411—420.
8) ZUchr. f. Gesch. Schles. XV (1881), 527—544.
9) Ztschr. f. Gesch. Schles. XVm (1884), 171—208.
10) Ztschr. f. Gesch. Schles. XXU (1888), 249—280.
II) Vgl. OffLsieUer Katalog der Schles, Gewerbe- u. Industriea%$s8teüung
^äku 1881, I— Vm, und den Bericht über einen Vortrag im 66. Jahresber. der
ScMo, Ges. f. Taterl. Kultur 1888, S. 305—307.
— 196 —
Wir würden Markgrafs Bedeutung für die schlesische Landesgeschichte
nicht richtig bewerten, ohne sein Wirken im Verein für Geschichte
Schlesiens und als Leiter der ihm unterstellten gelehrten Institute zu
würdigen. Stets für die Bestrebungen des Vereins lebhaft interessiert, in
freundschaftlichem Verkehr mit den Hauptvertretern der schlesischen Ge-
schichtsforschung wie Grünhagen, Luchs, Pahn, Reimann, gehörte er ihm
seit 1872 als Vorstandsmitglied, seit 1905 als Vorsitzender an. Neben
Grünhagen war er die Seele der wissenschaftlichen Bestrebungen des Vereins,
besonders mit Erfolg bemüht, jüngere Kräfte zur Mitarbeit zu gewinnen.
Der Verein verdankt ihm eine Darstellung der Geschichte seiner ersten
50 Jahre (Breslau, Max & Co., 1896) wie auch eine Skizze über die Be-
deutung und die Leistungen seiner Zeitschrift ^), der vielen Beiträge zu der-
selben und der gediegenen Vorträge in den Vereinssitzungen nicht zu gedenken;
den Vereinsaufgaben diente auch eine im Auftrage der schlesischen
Gesellschaft für vaterländische Kultur verfafste Denkschrift Über
die Bildung einer historischen Kommission gur Verzeichnung der in der
Provinz Schlesien zerstreuten Archivalien (1900). Die leider zu kurze Zeit
von Markgrafs Präsidium, auf das man grofse Hoffnungen setzte, brachte
dem Verein ein aus eigenster Initiative entsprungenes umfassendes Arbeits-
programm für die nächsten Jahre.
Die Stadtbibliothek und das Stadtarchiv zu Breslau hat Markgraf
in den 30 Jahren seiner Amtstätigkeit zu hohem Ansehen in der wissen-
schaftlichen Welt gebracht, durch sein hingebendes Wirken und den Einflufe
seiner Persönlichkeit sind sie Brennpunkte des geistigen Lebens der Provinz
und der landesgeschichtlichen Forschung insbesondere geworden. In den
Mitteilungen aus dem Stadtarchiv und der Stadthihliothek *) schuf ihr Leiter
ein eigenes Organ für die Ortsgeschichte; die Entwickelung der ihm unter-
stellten Anstalten hat er in einer Geschichte des städtischen Urkunden-
archivs zu Breslau *) und einem kürzeren Aufsatz über die Stadtbibliothek *)
geschildert. Der stille Einflufs, den Markgraf als Kenner der ihm anvertrauten
archivalischen und Bücherschätze und als vielseitiger Forscher von reichem
Wissen auf ältere und jüngere Gelehrte ausgeübt hat, ist eines seiner hervor-
ragendsten Verdienste um die Landesgeschichte. Jene fanden in ihm den
kenntnisreichen Berater, diese den stets bereiten Helfer, der es vortrefflich
verstand, zu fördern und zu leiten, ohne die Selbständigkeit des Schaffens
zu beeinträchtigen. Nicht selten überliefs er anderen das von ihm über einen
Gegenstand zusammengetragene Material, um ihnen förderlich zu sein; ihm
war die Wissenschaft wirkliche Herzenssache und nicht ein Tummelplatz für
eigenen Ehrgeiz. Auf wie verschiedenen Gebieten Markgraf wissenschafüiche
Bestrebungen gefördert hat, dafür mögen als Beispiele d^e Landeskunde v(m
Schlesien von Part seh, das Verzeichnis der schlesischen Kunstdenkmäkr
von Lutsch und die münzgeschichtlichen Schriften Friedensburgs ge-
nannt werden, an denen er in seiner Weise mit Rat imd Tat mitgearbeitet
hat Markgrafs Selbstlosigkeit in wissenschafUichen Dingen war der Ausflufs
i) Schles. Zeitung 1881, Nr. 20$, 207.
2) Vgl. diese Zeitschrift i. Bd. (1900), S. 29a — 293.
3) Archifal. Zeitschr. HI (1878), 1—27.
4) Schles. Zeilang 1881, Nr. 163.
— 197 --
eines Charakters von seltener Lauterkeit, Gradheit und Herzensgüte, der
ihn allen, die seinen Einflufs erfahren haben, unvergefslich machen wird.
Möge er den schlesischen Geschichtsforschern stets als Vorbild erscheinen!
Otfried Schwarzer.
Am I. März 1906 starb in Göttingen nach kurzer Krankheit der
Ordinarius für deutsche Philologie Moriz Heyne. In ihm verliert die
Gcorgia-Augusta einen ihrer bekanntesten und erfolgreichsten Lehrer, die
deutsche Altertumswissenschaft einen hervorragenden Forscher von starker
Eigenart. Wie wenige der heute lebenden Germanisten verband er Sprach-
v^senschaft und Altertumskimde zu einem höheren Ganzen. Freilich war
diese Vereinigung von Wort- und Sachphilologie, wie Heyne sie von seinen
Schülern verlangte und wie er selber sie im besten Sinne repräsentierte, von
pnz eigener Art: sie kam im wesentlichen nur zwei gröfseren Ausschnitten
ans den beiden grofsen Gebieten zugute, der Lexikographie und der Alter-
tumskunde im engeren Sinne. Wenn Heyne auch in seinen Vorlesungen
bis an sein Ende das Gesamtgebiet der deutschen Philologie umspannte, so
hat doch seine wissenschaftliche Tätigkeit schon früh die grammatischen,
textkritischen und literarhistorischen Aufgaben beiseite geschoben und sich
auf die genannten zwei Gebiete konzentriert. Hier liegen seine grofsen,
bleibenden Verdienste: Lexikographie und Altertumskunde hat seit
Jakob Grimm niemand wieder in solch innerlichen Zusammenhang gebracht.
Diese Beschränkung seiner wissenschaftlichen Tätigkeit auf ein engeres Stoff-
gebiet entspricht ganz der natürlichen Veranlagung des Mannes.
Einer einfachen Bürgerfamilie entstammend, ist Moriz Heyne in den
Zeiten der liberalen Ära aufgewachsen. Zeit seines Lebens hat er sich
deshalb gewisse demokratische Züge bewahrt, die ihn zum Liebling der
Börgerkreise, in Basel sowohl wie in Göttingen, machten und ihm die Herzen
der studierenden Jugend im Sturm gewannen. Im innersten Herzen aber
gab es wohl kaum einen konservativeren Mann als ihn. Seine menschliche
ttud wissenschaftliche Entwickelung ist schnell vor sich gegangen, nur kurze
Zeit ist er ein Stürmer imd Dränger gewesen, dann stand der fertige Mensch
da, der sich mit klarem Blicke seine Ideale geformt und seine wissenschaft-
lichen Spezialgebiete bestimmt hatte. Diesen Idealen ist er bis an sein Ende
treu geblieben, und seine wissenschaftliche Eigenart hat er von allen ihn
umflutenden Schulmeinungen unabhängig zu behaupten gewufst.
Eine unverwüstliche Arbeitskraft, schnelle Konzentrationsgabe, ein sicherer
praktischer Blick ftir das Erreichbare, und nicht zum mindesten die dem
Thüringer eigene fröhliche Unternehmungslust haben Moriz Heyne Zeit seines
Lebens ausgezeichnet. Sie haben ihm vor allem über die ersten schweren
Jahre hinweggeholfen, als sich der aufstrebende junge Mann unter unsäglichen
Schwierigkeiten den Zugang zur Universität imd die Grundlagen seiner wissen-
schaftlichen Ausbüdung erkämpfen mufste. Seine Sporen verdiente sich der
juoge Germanist mit einer grammatischen Arbeit, der Kurzen Grammatik der
cäyermanischen Dialekte. I. Teil: Laut- und Flexionslehre (Paderborn 1862,
4« Aufl. 1880). Er pflegte sie in späteren Jahren wohl seine „Jugendsünde"
tu nennen ; für seine Zeit war das Buch jedoch von grofser Bedeutung, es bot
— 198 —
den Anfängern eine vortrefifliche Einführung in das grofise Werk Jakob Grimms
und daneben zugleich vieles Eigene, u. a. die erste wissenschaftliche Be-
arbeitung des altfriesischen Sprachgutes. Es folgt die grofse Reihe von
Ausgaben der ältesten deutschen Literaturdenkmäler, mit denen Moriz Heyne
die ersten brauchbaren Handexemplare für den akademischen Unterricht
schuf. Den zuverlässigen Texten des Ulfilas, Beowulfs, Heliands und der
kleineren altsächsischen Denkmäler ist jedesmal ein ausführliches, genaues
Glossar beigegeben, das diesen Ausgaben auch heute noch ihren bleibenden
Wert verleiht. Voll entfalten konnte sich Moriz Heynes hervorragende
lexikographische Begabung aber erst, als er 1867 als Mitarbeiter an das
Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm berufen wurde. Diesem grolsen
nationalen Werke hat er fast drei Jahrzehnte seines Lebens gewidmet und
von allen Mitarbeitern bei weitem den gröfsten Anteil geliefert. Die Arbeit
am Wörterbuche duldete lange Jahre nur noch die akademische Lehrtätigkeit
neben sich. 1869 als Nachfolger Wilhelm Wackernagels nach Basel
berufen, wirkte Heyne von 1869 — 1883 an der dortigen Hochschule, dann
wurde für ihn in Göttingen eine neue Professur eingerichtet. Die
Göttmger Wörterbuchschule wurde jetzt die Zentrale für das Grimmsche
Wörterbuch; ein geschulter Stab von Mitarbeitern wuchs heran, und mit
berechtigtem Stolze konnte der Meister sich und seine Helfer am Wörter-
buche mit einem „wohleingespielten Quartette" vergleichen. Heynes Beiträge
zum Deutschen Wörterbuche zeichnen sich aus durch ihre klare präzise
Fassung, ihre gedrungene, kernige Form und vor allem durch die iimige
Durchdringung sprachgeschichtlicher und antiquarischer Kenntnisse, wie sie
nur Heyne besafs. Die Quintessenz seiner lexikographischen Arbeiten hat
Moriz Heyne in seinem eigenen Deutschen Wörterbuche (Leipzig 1890 bis
1895, 3 Bde.; kleine Ausgabe 1896) niedergelegt, das streng wissenschaft-
lichen Gehalt mit gefälliger Form und praktischer Handlichkeit vereinigt.
Seit 1895 hat Heyne die Arbeit am Grimmschen Wörterbuche im
wesentlichen seinen Assistenten überlassen, er selbst wandte sich, der jahr-
zehntelangen Wörterbucharbeit doch einigermafsen müde, jetzt endlich dem
Gebiete der reinen Altertumsforschung zu. Mit der Begeisterung und
Frische eines Jünglings machte er sich an die Ausarbeitung des Werkes,
das ihm schon jahrzehntelang als das letzte Ziel seiner wissenschaftlichen
Tätigkeit vorgeschwebt hatte und wirklich sein reifstes Werk geworden ist:
die Fünf Bücher Deutscher Hausaltertümer von den ältesten geschichtliche
Zeiten bis zum XVL Jahrhundert (Leipzig 1899 ff.). Mit wachsendem Staunen
sah die gelehrte Welt einen inhaltreichen Band des Werkes nach dem anderen
in kurzen Zwischenräumen erscheinen. Der Aufbau des ganzen Werkes hatte
dem Verfasser offenbar schon längst klar vor Augen gestanden, reiche
Sammlungen die Ausarbeitung beschleunigen helfen, mehr aber noch als
auf alle Zettelkasten vertraute der Ausarbeitende seinem immensen Gedächt-
nisse, das die Erfahrungen eines ganzen Lebens treulich bewahrt hatte.
Aber gerade deshalb mufs das grofs angelegte Werk jetzt ein Torso bleiben,
niemand karm hier an Heynes Stelle treten. Erschienen sind bisher Bd. i
(1899): Das deutsche Wohnungswesen, Bd. 2 (1901): Das deutsche Nah-
rungswesen und Bd. 3 (1903): Körperpflege und Kleidung bei den Deutschen.
Der 4. Band (Gewerbe und Handel) ist bis zur Hälfte im Manuskript voll-
— 199 —
endet und, so wie Heyne arbeitete, vollständig druckfertig. Alles übrige ist
mit Heynes Tode verloren gegangen, vor allem der ganze 5. Band, der eine
Beschreibung der deutschen Sitte bringen sollte.
Die Hausaltertümer Heynes reihen sich den verwandten Werken Jakob
Grimms würdig an ; Heyne hat Jakob Grinmis Arbeitsweise, die Bezeichnungen
der Sprache ab Ausgangspunkt flir die Erkenntnis der Realien zu wählen,
weitergebildet und vertieft. Nicht die stunmien 2^ugnisse der Prähistorie
zieht er heran, sondern die redenden Denkmäler der historischen und
literarischen Epochen, und nicht umsonst schliefst er im Titel seiner Haus-
altertümer die prähistorische Zeit ausdrücklich aus. Dieselbe Bevorzugung
der kulturhistorischen Altertümer vor den prähistorischen läfst sich übrigens
auch da bemerken, wo Heyne daran ging, im Dienste der Öffentlichkeit die
Altertümer einer Gegend zu sammeln und zu konservieren. Keiner war
dazu geeigneter als er: er hat in Basel die von seinem Vorgänger Wilhelm
Wackemagel begründete Historische Sammlung erst recht in die Höhe ge-
bracht, tmd er hat in Göttmgen, als er den Arbeiten an den Hausaltertümem
näher trat, eine Altertumssammlung fast aus dem Nichts geschaffen, die heute
eine 2erde der Stadt bildet. Diese Altertumssanmilung und der eng damit
lerknüpfte Verein für Geschichte Göttingens*) haben Heynes
Namen in der Stadt Göttingen überaus populär gemacht. Er war die Seele
dieser seiner beiden Schöpfungen und hing mit ganzem Herzen an ihnen; hat
er doch sogar schliefslich den ehrenvollen Ruf, als Nachfolger Essenweins an
das Germanische National-Museum nach Nürnberg zu gehen, abgelehnt
Moriz Heyne hat keine eigentliche „Schule** im gelehrten Sinne hinter-
lassen, aber eine grofse Zahl dankbarer Schüler trauert in Schule, Universität
und Museumskreisen dem humanen, anregenden Lehrer nach, und zwei
deutsche Universitätsstädte, an den entgegengesetzten Enden des deutschen
Sprachgebietes gelegen, haben in ihm ihren „Ehrenbürger** verloren, der in
weitesten Kreisen das Interesse für deutsche Sprache und deutsches Altertum
za beleben gewufst hat. Conrad Borchlbg (Göttingen).
PreisausscllFelbcn. — Die Königliche Akademie gemeinnütziger
Wissenschaften zu Erfurt hat beschlossen, für das laufende Jahr eine Preis-
angabe aus dem Gebiet der vaterländischen Geschichte zu stellen. Das
Thema soll lauten: Der sächsische Bruderkrieg (1446 — 1451). Gefordert
wird eine auf archivalischer Forschung beruhende Darstellung der Ursachen
znm Streit und des Verlaufs des Krieges. Als Ausgangspunkte der Unter-
suchung werden empfohlen: Der Anfall Thürbgens an das Haus Sachsen,
die gemeinschaftliche Regierung Friedrichs und Wilhelms bis 1445, der
Altenburger Teilungsvertrag und der Hallische Machtspruch, sowie die Politik
der Gebrüder Apel und Busso Vitztum. Die Darstellung hat auf die politische
nnd militärische Zerrüttung des Reichs, wie sie unter den letzten Lützel-
borgem und den beiden folgenden Habsburgem, besonders unter Friedrich III.
2Qtage tritt, Bezug zu nehmen, desgleichen auf das Fehlen von Rechts-
institutionen zur Beilegung von Streitigkeiten unter den Fürsten tmd auf die
i) VgL die seit 1893 erscheinenden Protokoüe Über die SiUmngen des Vereins
fir die GeeMehU GöUingene, die bis zam 3. Heft des 3. Bmndes gediehen sind.
— 200 —
Ohnmacht des Reichsoberhauptes. Auch die Schädigung der kulturellen
Entwickelung der von dem Kriege heimgesuchten Landschaften ist bei der
Darstellung zu berücksichtigen. Die Abhandlung ist sauber und deutlich
auf gebrochenen Foliobogen zu schreiben und in edler, allgemeinverständ-
licher deutscher Sprache abzufassen. Ein Verzeichnis der benutzten Quellen
ist beizufügen. Arbeiten, welche diesen Anforderungen nicht entsprechen,
bleiben unberücksichtigt. Auf die beste der einlaufenden Arbeiten ist ein
Preis von 500 Mark als Honorar gesetzt Der Verfasser tritt das Eigen-
tumsrecht an die Königl. Akademie ab, welche ausschliefslich befugt ist,
dieselbe durch den Druck zu veröffentlichen. Bewerber werden ersucht, ihr
Manuskript bis zimi i. April 1907 an das Senatsmitghed Herrn Oberlehrer
und Bibliothekar Dr. Emil Stange hierselbst einzusenden. Dasselbe ist
mit einem Motto zu versehen, darf aber den Namen des Verfassers nicht
enthalten. Ein versiegeltes Kuvert mit gleichlautendem Motto ist beizufügeo,
welches die vollständige Adresse des Verfassers enthält. Die Bewerber werden
im Laufe des Jahres 1907 von dem durch das Preisrichterkollegium ge-
fällten Urteil in Kenntnis gesetzt. Die nicht prämiierten Arbeiten werden
vernichtet, falls nicht die Verfasser bei JEinreichung ihrer Abhandlung unter
Beifügung des Portobetrages den ausdrücklichen Wunsch der Rücksendung
aussprechen. Auf weiteren Schriftwechsel wird sich die Königliche Akademie
nicht einlassen.
Die Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften wünscht eine wissen-
schaftliche Bearbeitung des Themas Geschichte des siebenjährigen
Krieges in der Obedausitz. Der Preis beträgt 500 Mark, dazu werden
noch 32 Mark für jeden Druckbogen Autorengeld bezahlt. Die Arbeiten
sind in der bekannten üblichen Weise (Namen in verschlossenem Brief-
lunschlag, Kennwort) bis zum i. Januar igo8 an den Gesellschaflssekretär
Professor Dr. Je cht in Görlitz einzuliefern. — Urkundliche Quellen zu der
Arbeit sind reichlich in den Archiven der Oberlausitzer Städte, sowie im
Hauptstaatsarchiv zu Dresden, auch sonst in Schlofs- und Kirchenarchiveu
vorhanden. Es kommt hauptsächlich darauf an, die Sonderforschungen an
die gesicherte Grundlage des Generalstabswerkes anzusclüiefsen und eine
streng wissenschaftliche Arbeit bleibenden Wertes zu liefern.
Zwei Geschlechtsgenossen der Familie von Lüttwitz setzen einen Preis
von 1000 Mark aus für den, der urkundlich die Urheimat des von
Lüttwitzer Geschlechts nachweist Die Aufgabe erscheint gelöst und
der Preis gewonnen, wenn der Zusammenhang der Glogauischen von Lüttwitz
(von Lupticz) mit den Oberlausitzer von Luptitz (auf Herwigsdorf bei Löbau)
gefunden ist, oder, was auf dasselbe hinausläuft, wenn ein Siegel der Ober-
lausitzer von Luptitz entdeckt wird und dieses sich als gleich dem der
Glogauischen von Lüttwitz ergibt. Näheres teUt der Herr Kaiserliche Lega-
tionsrat a. D. Freiherr von Lüttwitz in Herischdorf bei Warmbnmn mit.
— -201 —
Die Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde setzt aus der Mevissen-
Stiftung auf die Jx)sung folgender Preisaufgaben Preise aus: i. Geschichte
des Kölner Stapels, a. Die rheinische Presse unter französischer
Herrschaft, 3. Die Glasmalerei in den Rheinlanden vom XIII. bia
zum Anfang des XVI. Jahrhunderts. Der Preis beträgt für i und 2
je 2000 Mark, für 3 jedoch 3000 Mark. Bewerbungsschriften sind bis zum
L Juli 1908 an den Vorsitzenden Archivdirektor Professor Dr. Hansen
in Köln einzusenden.
Eln&:egaiigene Bflcher.
Beck: Festschrift zur Feier des dreihundertjährigen Bestehens des Gymna-
sium Casimirianum in Coburg 1605 — ^9^5- Coburg, Druck von Rob.
Domheim. 251 S. 8®.
Dyhrenfurth, Gertrud: Ein schlesisches Dorf und Rittergut. Geschichte
und soziale Verfassung. [= Staats- und sozialwissenschaftliche For-
schungen, herausgegeben von Gustav Schmoller und Max Sering.
Bd. XXV., Heft 2.] Leipzig, Duncker & Humblot 1906. 178 S. 8».
M. 4,20.
Engclke: Das Gogericht auf dem Desum [= Jahrbuch für die Geschichte
des Herzogtums Oldenburg, 14. Band (Oldenburg 1905), S. i — 87].
Erben, Wilhelm: Beiträge zur Geschichte der Landsknechte [= Mittei-
lungen des k. u. k. Heeresmjiseums im Artilleriearsenal in Wien, 3. Heft
(Wien 1905), S. 96— 120].
Fester, Richard: Franken und die Kreisverfassung [= Neujahrsblätter,
herausgegeben von der Gesellschaft für Fränkische Geschichte I.]. Würz-
burg, H. Stürtz 1906. 77 S. 80.
Feuereisen, Arnold: Livländische Geschichtsliteratur 1903. Riga, N.
Kymmel 1905. 82 S. 8®.
Hcnschel, Adolf: Johaim Heermann [= Schriften für das deutsche Volk^
herausgegeben vom Verein für Reformationsgeschichte Nr. 42]. Halle
a. S., Konmiissionsverlag von Rudolf Haupt 1905. 28 S. 16®.
Hofmeister, H.: Die Gründung der Universität Helmstedt [«=» Zeitschrift
des Historischen Vereins für Niedersachsen, Jahrgang 1904, S. 127 — 198].
Hatte r, Franz: Geschichte Schladmings und des steirisch - salzburgischen
Ennstales. Mit vielen Abbildungen. Grag, Ulrich Moser (J. Meyerhoff)
»906. 395 S. 80.
Knebel, Wilhelm: Kaiser Friedrich IL und Papst Honorius III. in ihren
gegenseitigen Beziehungen 1220 — 1227. Dissertation der Universität
Münster. Münster, Regensberg 1905. 151 S. 8®.
Kohl: Das älteste Oldenburger Stadtbuch [= Jahrbuch für die Geschichte
des Herzogtums Oldenburg, 14. Band (Oldenburg 1905), S. 120 — 124].
Koldc, Theodor: Die älteste Redaktion der Augsburger Konfession mit
Mdanchthons Einleitung, zum erstenmal herausgegeben und geschichtlich
gewürdigt. Gütersloh, C. Bertelsmann 1906. 115 S. 8®. M. 2,00.
K ramm er, Mario: Wahl und Einsetzung des Deutschen Königs im Ver-
hältnis zueinander [= Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte
des Deutschen Reichs in Mittelalter und Neuzeit, Bd. I, Heft 2].
Weimar, Hermann Böhlaus Nachfolger 1905. 112 S. 8®. M. 4,00.
— 202 —
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Wirken. Dresden-N., C. Heinrich. 140 S. 8*. M. 5,00.
Lobe, Rudolf: Zur Geschichte des deutschen Zunftwesens während seiner
Blütezeit, mit besonderer Rücksicht auf die Städte Altenburg und Eisen-
berg, S.-A. [«» Mitteilungen des Geschichts- und Altertumsforschenden
Vereins zu Eisenberg, 19. Heft (Eisenberg 1904), S. i — 73].
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tralischen Lebens in Detmold. I: Louis Spohr und seine Beziehungen
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Borchers. 208 S. 8^ M. 1,50.
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Hirschfeld). 141 S. 8».
Wanger in, Ernst: Johan Bauer, schwedischer Feldmarschall im 30 jährigen
Kriege, eine biographische Skizze. I. Bauers Leben bis zur Landung
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Weg euer, Ph. : Verhandlungen über eine Schulreform an der Greifewalder
Stadtschule im XVIII. Jahrhundert [= Pommersche Jahrbücher, 5. Bd.
(Greifswald, Julius Abel, 1904), S. i — 52].
Wenck, Karl: Landgraf Philipp der Grofsmütige. Rede, gehalten auf der
7. Jahresversammlung der historischen Kommission ftir Hessen und
Waldeck am 7. Mai 1904 [= Sonderabdruck aus der Zeitschrift
des Vereins ftir hessische Geschichte und Landeskunde, Neue Folge
28. Bd. (Marburg, Elwert, 1904)]. 13 S. 8®.
Wolfart: Die Patriziergesellschaft zum Sünfzen in Lindau [«> Separatabdnick
aus den Schriften des Vereins ftir Geschichte des Bodensees, 32. Heft
(1903)]. 21 S. 8^
Zahn, Joseph von: Styriaca, Gedrucktes und Ungedrucktes zur steiermär-
kischen Geschichte und Kulturgeschichte. Neue Folge, 2. Bd., des
ganzen Werkes 3. Bd. Graz, Ulrich Moser (J. Meyerhoflf), 1905.
189 S. 8^ M. 3,60.
Her»iugeb«r Dr. Annin Tille in Iioipgif.
Druck nnd VerUf ron Friedrich Andreas Perthes, AkdenfeteUschaft, Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatssclirift
lur
Förderung der landesgeschichtlichen Forschung
VII. Band Mai 1906 8. Heft
SS
Die H&usforsehung,
in Horddeutsehland
Von
WüU Pefsler (Hannover)
Die Hausforschung erfreut sich in sichtlich steigendem Mafse der
lebhaften und begeisterten Förderung seitens mannigfacher Wissen-
schaften: Historiker, Geographen, Germanisten und Architekten wett-
cifem, das deutsche Bauernhaus in seiner Entwickelung, Verbreitung,
kulturellen und technischen Bedeutung zu erkennen, jeder durch die
Methode seines Faches die anderen ergänzend, auf deren Mithilfe er
seinerseits angewiesen ist. Aus dieser Vielseitigkeit der Aufgabe er-
idärt sich die erfreuliche Beteiligung vieler an ihrer Lösung, zugleich
aber auch die Höhe der Anforderungen, die sie an den stellt, der sie
selbsttätig vorwärtsbringen will; hat man doch halb entmutigt be-
liauptet, bisher sei überhaupt noch kein Hausforscher völlig aus-
gerüstet an die Arbeit gegangen! Diese unvermeidliche Einseitigkeit
rächt sich nicht so sehr am Techniker, der durch die zeichnerische
Aufiaahme seines Objektes eine einwandfreie Grundlage geschaffen
hat, als vielmehr an jenen, welche unrichtig oder unvollständig Ge-
schautes ihrer Betrachtung zugrunde legen, denn die Hauptsache bleibt
das technische Verständnis, wenn man die konstruktiven Unterschiede
<icr Stiiarten und oft die einfachsten Abweichungen in ihrer Begrün-
<hmgr verstehen will. Leider verlieren meine Ausführungen, da Ab-
Mdungen hier nicht g^t eine Stelle finden können, an Anschaulich-
keit und, da der Text zum Deutschen Bauernhause, dieser nach der
technischen und künstlerischen Seite hin mustergültigen Leistung unserer
Architekten *), mit der letzten der zehn Lieferungen noch immer aus-
steht, an Vollständigkeit.
Zunächst einige Worte über die geschichtliche Bedeutung der
t) Dm Bumemhaus im Deutschen Reich, herausgegeben vom Gesamtrerein der
I)catftdien Architekten- and logenieorvereine (Dresden 1899— 1906).
15
— 204 —
Hausforschung. Als eines der ursprünglichsten und wichtigsten Kultur-
erzeugnisse hat der ländliche Wohnbau eine interessante Entwickeluogs-
geschichte. Dafür, wie gering bis heute die gesicherten Forschungs-
ergebnisse sind, liefert vielleicht den besten Beweis der Umstand, dass
Alwin Schultz in seinem zusammenfassenden Werke Das häudiche
Leben der europäischen Kulturvölker vom MittdaUer bis zur zweiten
Hälfte des XVIIL Jahrhunderts [= Handbuch der Mittelalterlichen
und Neueren Geschichte, herausgegeben von v. Below und Meinecke IV]
(München und Berlin 1903) die Wohnung der Bauern auf ganzen
4V« Seiten, S. 146 — 150, mit 5 Abbildungen erledigen kann. Wie
rege andrerseits das Interesse dafür ist, zeigen die Arbeiten von Heyne
und Stephan i. Ersterer hat in dem ersten Bande seiner Fünf BOcher
deutscher HausaUertümer (Leipzig 1899) ^^ deutsche Wohnungs-
wesen eingehend behandelt — vgl. oben S. 198 — , letzterer hat
sein Werk Der älteste deutsche Wohnbau und seine Einrichtung bisher
in zwei Bänden (Leipzig 1902 und 1903) bis zum Ende des XL Jahrhunderts
geführt. Dem Archäologen fällt, wenn eine gründliche Kenntnis der
jeweiligen Wohnbauten gewonnen werden soll, die Aufgabe zu, die Reste
vorgeschichtlicher Wohnstätten zu untersuchen, während der Geschichts-
forscher alle schriftlichen Quellen daraufhin zu prüfen hat, ob sie
Angaben über die jeweilige Gestaltung des Hauses enthalten. Nur so
dürfte sich etwas Bestimmtes über die Urform des Hauses in irgend-
einer Gegend feststellen lassen und ebenso über das Alter der jetzigen
Hausformen, über das wir so gut wie gar nichts Positives wissen. Eine
dankenswerte Ergänzung hierzu hätte der Germanist zu liefern, indem
er aus den mundartlichen Bezeichnungen der Hausteile ihre bauliche
Entwickelung beleuchtet, was zum TeU schon mit Glück geschehen
ist, z. B. durch Heynes tiefgründige sich gegenseitig ergänzende
Wort- und Sachkenntnis, aber nur für die ältere Zeit, und der Geo-
graph könnte aus der Verbreitung der Stilarten unter Umständen
gewisse Zeitpunkte für ihre Differenzierung erschliefsen. Viel wichtiger
für den Historiker ist jedoch das Bauernhaus als Zeichen der Stammes-
zugehörigkeit und in seiner Abhängigkeit vom Wirtschaftsbetrieb.
So hat mit Vorsicht und Geschick Van es a, Geschichte Nieder- und
Oberösterreichs, i. Bd. (Gotha 1905), die Formen der Häuser im öster-
reichischen Kolonialland als eins der Mittel benutzt, um die Her-
kunft derjenigen zu ergründen, die das Land zuerst besiedelt haben.
Er kommt auf Grund der Arbeiten von Bancalari und Dachler (be-
sonders S. 229) zu dem Ergebnis, dafs die zweite deutsche Koloni-
sationsperiode Niederösterreichs (seit dem X. Jahrh.) weit mehr fr an-
— 205 —
kisches als bayerisches Gepräge trägt Die Ortsnamenforschung
uod Hausforschung ergänzen sich bei Vancsa höchst glücklich.
Dais eine Änderung des Wirtschaftsbetriebs auch eine Umgestaltung der
Bauart herbeiiiihren kann, ist ja selbstverständlich. Indes reichen die
spärlichen Andeutungen, die die Literatur bis jetzt über diesen Punkt
enthält, keineswegs hin, um uns ein abschliefsendes Urteil darüber zu
bilden; es fehlt vielmehr noch sehr viel zu der Erkenntnis, dais ein
bestimmter wirtschaftlicher Betrieb auch eine bestimmte Bauart zei-
tigen müsse '). Die etwas besser geklärte Hauptfrage, die uns hier vor-
nehmlich beschäftigen soll, ist vielmehr die, ob der Haustypus
als Stammeskennzeichen angesehen werden kann, mithin
ethnisch bedingt ist.
Es steht fest, dais heutzutage dänische Häuser zum Teil von
Niederdeutschen, altsächsische Häuser zum Teil von Friesen oder
Wenden und litauische Häuser zum Teil von Deutschen bewohnt
werden; femer ist aus den Alpen bekannt, dafs von einem Volke sein
Baustil in einer späteren Kolonisationsperiode gegen den vorgefundenen
umgetauscht wurde, der nunmehr als charakteristisch für dasselbe er-
scheint, indem z. B nach den Forschungen von Grund *) die Bajuwaren
das Pfettendach von den Romanen übernahmen; dieses ist ein Vorgang
am dem Mittelalter, jenes sind Geschehnisse aus jüngster Zeit. Würde
man daher die Frage etwas vorsichtiger dahin einschränken: „Kommt
es vor, dafe zeitweise ein Haustypus nur einem bestimmten Stamme
angehört und als Beweis seines Vorhandenseins in einer Gegend
angesehen werden kann?'*, so ist zu antworten: zweifellos. Weil aber
Nachrichten über die Beziehungen zwischen Volk und Bauweise in
tkr Vergangenheit sehr spärlich sind und über die ehemalige Ver-
breitung der Haustypen nichts Sicheres bekannt ist, so kann man
am Werden und Wandern eines Stammes nicht die Bauart der Ver-
gangenheit, sondern nur die der Gegenwart in Beziehung setzen, und
& Frage verschiebt sich deshalb : In welchem Verhältnis stehen die
heutigen Haustypen zu den alten Volksstämmen? Findet man
i) Ein wichtiges Hilfsmittel, am hier vorwärts zu kommen, dürfte die ältere land-
*>rtschtft liehe Literatur, namentlich soweit sie Abbildungen enthält, darstellen.
N*eierdings hat Max Güntz (Weimar) in einer Reihe von Aufsätzen über den Jandwirt'
*^ftH(hm Betrieb in Deutschland im X VILJahrhundert (Landwirtschaftlich-Historische
Blätter 1902 ff.) die Werke von Hohberg, Coler, Martinas Grosser, Caspar
J'gelios, Johann Wilhelm Wnndsch, Johann Erasmos Wegener,
Christoph Fischer, Konrad Heresbach a. a. geschickt aosgebeatet.
2) Die Veränderungen der Topographie im Wiener Walde (Wien 1901), S. 96.
16*
— 206 —
z. B., dais die jetzige Bauartgrenze des Sachsenhauses im südlichen
Westfalen haarscharf mit der alten auf Grund anderer Quellen
ermittelten Stammesscheide zusammenfallt und dafs den historisch
verbürgten sächsischen Kolonien auf dem linken Rheinufer und
in Pommern noch heute altsächsische Läng^sdielenhäuser entsprechen,
so kann ein innerer Zusammenhang als erwiesen gelten, da ein
Teil der jetzigen Grenzen mit den ehemaligen identisch ist Aber
der Wunsch mancher Idealisten, Volksstamm und Haustypus gewisser-
mafsen als Korrelata ansehen zu dürfen, indem Sein und Nichtsein
des einen auch Sein und Nichtsein des anderen einschließe, findet in
den Tatsachen keine Stütze, denn die Haustypen sind in manchen
Gegenden, wie z. B. in Ostfalen, Ostfriesland, Mittelpommem und im
Weichselland durch spätere oder frühere Verschiebungen bedingt, wie
die unten mitgeteilten Ergebnisse zeigen werden, und manches
Merkmal erscheint durch das Hinzutreten anderer verwischt. Insofern
die Hausforschung ähnlich wie die Mundartenforschung die Mannig-
faltigkeit von heute erkennen läüst und festlegt, sucht sie zugleich
über ihre geschichtliche Entstehung und schliefslich über Stammes-
wanderungen Licht zu verbreiten. Notwendig ist es jedoch auf jeden
Fall, dafs sich der Forscher nicht mit der Feststellung des gegen-
wärtigen Befundes begnügt, sondern nach Kräften den früheren
Zustand zu ermitteln strebt, was hinsichtlich der Haustypengrenzen
aber leider nahezu aussichtslos ist. Wie andere Wissenschaften — etwa
Ethnographie, Anthropologie, Linguistik — so erschiiefst auch die
Hausforschung dem Historiker die Gegenwart, damit er durch deren
Tatsachen die Lücken seiner Quellen zum Teil ausfülle. So wird bekannt-
lich auiser dem Haust>'pus die Verbreitung der physischen Merkmale des
Menschen, die der Mundarten in Lautstand und Wortschatz, die der
Siedelungsformen , der Acker- und Flureinteilung, der Trachten und
sämtlicher Geräte und Gebräuche geschichtlich verwertet, und zwar
um so mehr, je gröfser ihre Beständigkeit und damit das Alter der
heutigen Form ist. Mafsgebend ist dabei der Gesichtspunkt, dafis das
räumliche Neben einander von heute unter Umständen, und mit Vor-
sicht betrachtet, das Verständnis des zeitlichen Nacheinander erheb-
lich fördern kann. Deshalb ist es die Aufgabe der Forschung, zu-
nächst jeden Haustypus auf seine jetzige Verbreitung zu prüfen und
besonders deren Grenzen genau zu bestimmen, ferner auch seine
Häufigkeit in den Dörfern — „die Hausdichte" — zu untersuchen, die
z.B. in Pommern zu der „Stammesdichte" in einem bestimmten Verhältnis
steht. Eine notwendige Ergänzung dazu bildet dann die Untersuchung,
— 207 —
ob anch ein Fehlen eines Haustypus mit der Abwesenheit jener Merk-
male zQsammeniallt, auf die man sein Vorhandensein zurückführte.
So kommt es, da£s die für die Geschichte der Volksstämme und
alle landschaftliche Geschichtsforschung anerkannt wichtige Haus-
forschung oder Ökologie es zunächst mit der Verbreitung der
Hansformen zu tun hat, die mit der Verbreitung anderer Erschei-
Dtmgen in Beziehung zu bringen ist, und somit der geographischen
Methode nicht entraten kann. Nach Ratzel bedeutet für jede wissen-
schaftliche Aufgabe die Frage: wo? gewissermafsen den Stempel der
Geographie, imd auch Richthofen hat allmählich die Bestimmung der
örtlichkeit als den charakteristischen Gesichtspunkt der Geographie
aDerkannt. Dieser Hausgeographie, die ein Teil der Siedelungs-
geographie ist, hat sich der Gesamtverein der deutschen Geschichts-
nnd Altertumsvereine schon vor fast einem halben Jahrhundert mit
Eifer angenommen, wie sein KorrespondeneblaU im Jahrgange 1859
bezeugt, und er ist es, der auch heute ihre Förderung in grofsem
Malisstabe plant '). Die kartographische Festlegung der deutschen Haus-
tormen haben Virchow und Andree energisch gefordert, da sie allein
<bs Vergleichen ganzer Länderstrecken ermöglicht hinsichtlich der
zahlreichen anderen Verbreitungserscheinungen : des anthropologischen
Typus, des Dialektes, der Dorfform, der Flureinteilung, der Gerät-
schaften und Gebräuche, nicht zuletzt auch der örtlichen Verhältnisse
tie Holzreichtum, Steinboden, Gebirgslage, Klima und der geo-
graphisch bedingten Wirtschaftsweise. In Übereinstimmung mit den
namhaftesten Hausforschem wird dabei die Statistik der Hausforuien
oder die Hausgeographie mit Nachdruck in den Vordergrund ge-
stellt Als Parallele sei daran erinnert, da(s der in dieser Zeit-
sdirift*) erschienene Aufsatz über Flufsnamen mit der Hoffnung
«iliefet: „. . . es werden sich aus der örtlichen Verbrei-
tung der verschiedenen Grundwörter die wichtigsten
Rückschlüsse auf die Heimat des Urvolkes, die Wande-
rungen der Stämme des germanischen Volkes ergeben.**
Von dem im vorhergehenden eingenommenen, für die geschicht-
liche Verwertung der Hausforschung zunächst allein fruchtbringenden
geographischen Standpunkte aus wird es erst möglich, aus der
'«streuten Literatur von ganz verschiedenem Werte das Passende aus-
i) Vgl. über die diesbezüglichen Verhandlangen auf der Bamberger Versammlang
»905 diese ZeiUchrift Bd. 7, S. 83-85.
2) 6. Bd., S. 29.
— 208 —
zusuchen, d. h. alle Angaben über die Verbreitung der Hausformen, zu-
nächst in Norddeutschland, zu sammeln und gewisse Folgerungen hinsicht-
lich der zwischen Hausform und Stamm bestehenden Beziehungen
daraus zu ziehen. Da die bis jetzt gewonnenen Ergebnisse durch die
Geschichte der diesbezüglichen Untersuchungen bedingt sind und nui
unter ihrer Berücksichtigung verständlich werden, sei letztere hier
wenigstens gestreift.
Der erste, welcher aus dem Hausbau die Heimat seiner Bewohner
erkennen wollte, war G. Lisch*), der au&erdem noch Gebräuche,
Geräte und Tracht heranzieht, um aus ihrer Übereinstimmung
Teile von Westfalen als Ursprungsort der Mecklenburger in An-
spruch zu nehmen. Er beging nur einen doppelten metho-
dischen Fehler, dafs er unzureichend beobachtete, denn diese Ge-
meinsamkeit umfafst weit gröfsere Gebiete ohne Unterbrechung, und
falsch verallgemeinerte, denn er schlofs von dem ihm bekannten Teile
Mecklenburgs ohne weiteres auf das ganze Land. Von bahnbrechender
Bedeutung sind die ein Jahrzehnt später unternommenen Forschungen
Landaus über den nationalen Hausbau, der das Programm der
wissenschaftlichen Hausforschung schon damals vorzeichnet *) und die
Grenze zwischen fränkischem und sächsischem Hause von Weser bis
Rothaargebirge abwandert, um daraus die alten Gaugrenzen zu er-
kennen. Das Jahr 1882 bringt zwei der wichtigsten Arbeiten, die von
Henning und Meitzen. Ersterer *) findet in Norddeutschland die
sächsische, friesische, anglo- dänische und ostdeutsche Bauart, die
er mit der nordischen in Beziehung bringt und daher als Überrest
der vorslawischen ostgermanischen Siedelung erwiesen sehen möchte,
jedenfalls ein Versuch, wenn auch mit noch untauglichen Mitteln, die
Haustypenverhältnisse in Ostelbien geschichtlich zu verstehen. Das
ebenfalls dort zu beobachtende Zurückschwenken des sächsischen Stil-
gebietes führt er auf Slawen zurück, die sich bereits oberdeutsche Bau-
weise angeeignet gehabt hätten. Meitzens Büchlein *) ist in gleicher
Weise grundlegend und zeichnet sich durch ein Kärtchen der Ver-
breitung der Hausformen 1 : I2C)CX)C)CX) aus, welches zum Vergleich
auch die Grenzen der Vandilier, Ingväonen, Istväonen und Römer
zeigt. Dem friesisch -sächsischen und dänischen Hause stellt er das
1) Jahrbücher für mecklenburgische Geschichte Xni (1848), S. 113.
2) Korrespondenzblau des Oesamtvereins der Geschichtsvereine VII (1859) Nr. 4
und Nr. 12, Beilage.
3) Das deutsche Haus in seiner historischen Entwickelung (Strafsbarg 1882}.
4) Das deutscJie Haus in seinen volkstümlichen Formen (BerUn 1882).
— 209 —
in Norddentschland eingedrungene fränkische und das nordische Haus
zur Seite, welches an der Weichsel herrsche und eine Kulturbrücke
zwischen Griechenland und Skandinavien andeute. Leichter sind die
westlichen Typen des sächsischen und friesischen Hauses zu behan-
deln, und wie die eben genannten beiden Führer deren Grenzen in
Umrissen angeben, so ist die Lagerung ihrer Abarten verschiedentlich
anzugeben versucht worden; so von E. H. Meyer, Deutsche VoOcS"
bmde (Stra&burg 1898), Nordhoff, Das westfälische Bauernhaus (in
Westennanns Monatsheften 1895), Meiborg-Haupt, Das Bauern'^
hus im Herzogtum Schleswig (Schleswig 1896). Kartographische Dar-
stellungen gaben 1895 Lauridsen für die Südgrenze des dänischen
Hauses vor hundert Jahren, mit der auch das dänische Volkstum bis
zur Schlei gereicht habe ^), und Andre e für den ins Herzogtum Braun-
schweig fallenden Teil der Südgrenze des Sachsenhauses *), deren auf-
fallendes Zurückweichen hinter der niederdeutschen Sprachgrenze •) durch
das Vorwiegen der vorsächsischen Bevölkerungsgrundschicht der Thü-
ring^er und ihrer Bauart zu erklären sei. Den ungefähren Verlauf dieser
Sachsenhausgrenze zwischen Leine und Weser findet man auf einer
Karte von Brandi, die hauptsächlich die Grenzen der Giebelzierden
(Pferdeköpfe und Säulen) darstellt, welche den Scheiden der Mund-
arten und damit der Bevölkerung^bestandteile entsprechen sollen *),
Eine Karte der Haustypen in Ostelbien gibt Mielke (i : 2000000) *),
der znm ersten Male den glücklichen Versuch macht, auch Abarten und
Ubergangsformen kartographisch festzulegen. Es ist gewifis kein Zufall,
daüs auiser Meitzens allgemeinem Haustypenkärtchen sämtliche über-
haupt erschienenen Karten nur Norddeutschland betreffen, und zwar
hier wieder das Sachsenhaus, dessen genauen Grenzverlauf ich jüngst
auf einer Karte im Mafsstabe i : 300000 festgelegt habe •). Leider
noch nicht veröffentlicht sind die epochemachenden Karten von
Gall6e, welche für das Königreich der Niederlande die Grenzen
1) Hisiorisk Tidskrift 6 R., VI (Kopeahagen 1895).
2) Brauntehweiger Volkskunde. (3. Auflage, Braanschweig 1901).
3) Es verdient wenigstens nebenbei bemerkt za werden, dafs die Sprachgrenze nach-
voklich seit dem XV. Jabrhondert bedeutende Veränderungen erfahren hat. So ist z. B.
io Dessau die Sprachgrenze zwischen 1408 und 1433 zugunsten des Mitteldeutschen auf
^en des Niederdeutschen verschoben worden. Vgl. Wäschke, Die DessoHer Elbr
&r«dke (Halle 1903), S. 14.
4) Mitten d. Histor, Vereins Osnabrück XVm (1893), S. i.
5) GMm$, 84. Bd. (1893), S. i.
6) Das aUsäehsische Bauernhaus in seiner geograpMsehen Verbreitung (Braun-
ickweig 1906).
— 210 —
sämüicher Hausformen, Trachten und Mundarten zeigen, aus deren
tatsächlicher Übereinstimmung sich wichtige Rückschlüsse auf Vor-
kommen und Wandern der Franken, Friesen und Sachsen ziehen
lassen. Dafs das vom Gesamtverbande der Architektenvereine ge-
schaffene Prachtwerk ^) den Höhepunkt der gesamten Hausforschung
darstellt, braucht nicht erst gesagt zu werden; doch da von einer
kartographischen Festlegung der Ergebnisse abgesehen worden ist,
verliert es für den Historiker beträchtlich an Wert. Um so erfreulicher ist
es, dafs diese bei der durch Brenner angeregten Statistik ') der deut-
schen Bauernhäuser im Vordergrunde steht. Hier soll auf Grund von
zahllosen Fragebogen das deutsche Land gewissermafsen nach Haus-
typen durchgesiebt werden, und das aliein bietet die Gewähr, dafs
weder Lücken entstehen, noch Zusammenhänge in der Verbreitung
übersehen werden; es wäre nur zu wünschen, dafs jeder versandte
Bogen wirklich beantwortet wird, damit nicht wieder ein unvollständiges
Material bearbeitet werden mufs. Die Forschung kann dann unmittelbar
an Landau anknüpfen, und bei dem lebhaften Interesse weiter Kreise
wird sie gewifis glücklicher sein als vor 50 Jahren.
Was die bis jetzt gewonnenen Ergebnisse der norddeutschen
Hausforschung anlangt, so ist man darin einig, dafis zunächst die Stadt-
häuser von der Behandlung auszuschliefsen sind, da ihrer Gestaltung
ganz andere Bedingungen zugrunde liegen. Noch nicht einig ist man
dagegen hinsichtlich der Klassifikation der Haustypen überhaupt, ob
sie nach der Zahl oder Lage der Feuerstellen, der Zahl der Gebäu-
lichkeiten, dem Mafse der Einheitlichkeit oder nach der technischen
Gestaltung, vor allem der Konstruktion zu wählen sei; jedenfalls ist
all dieses gleichmäfsig zu berücksichtigen. Auch die Wahl der
Namen macht Schwierigkeiten. Nach Meringer') und Lau ff er*)
genügen zur Übersicht die Bezeichnungen romanisch, osteuropäisch,
nordisch, oberdeutsch und niederdeutsch, also nach gröfeeren geo-
graphischen Begriffen. So erfreulich dies ist, so ist für Norddeutsch-
land dennoch damit nicht viel gewonnen, denn vor allem könnte da-
durch der tiefgreifende Unterschied zwischen sächsischem und frie-
sischem Hause verwischt werden ; auch ist hier das schwer zu deutende
ostdeutsche Vorhallenhaus zu berücksichtigen und das dänische wie
i) Das Bauemhaiu im Deutschen Beich (Dresden 1900^1906).
2) Vgl. diese ZeiUchrift Bd. 6, S. 50 und Bd. 7, S. 83-S5.
3) Deutsche Volkskunde in „Das Wissen fUr AUe'' (Wien 1901), S. 587.
4) Eitüeit, Bemerkungen über das deuUehe Bauernhaus in den Mitteilangen tos
dem Gennan. Mnseam, Jahrgang 1903, S. 3.
— 211 —
das litauische auf seine Zugehörigkeit zu prüfen. So komnfien wir
einstweilen ohne die Stammesnamen nicht aus, zumal das sog. sächsische
Hans tatsächlich auf das engste mit dem Volksstamme der Sachsen zu-
sammenhängt, jedoch auch nicht ohne einige landschaftliche Hiiüs-
aasdrücke. Höchst interessant ist die Einteilung Rhamms '), der für
den Westen auiser dem sächsischen Einhaus den kimbrischen, d. h.
den auf der Kimbernhalbinsel herrschenden Langbau , den friesischen
Massenbau und den altthüringischen Hof bau annimmt, während öst-
lich der Elbe Mielke ein märkisches Dielenhaus, ein Nute-Nieplitz-
Hau8, ein Laubenhaus und ein wendisches Haus findet.
Verteilt sind die norddeutschen Hausformen in folgender Weise.
Der Norden der Kimbemhalbinsel gehört dem dänischen Bau, der aus
einem Vierkant nach Süden zu in einen Flügelbau übergeht und in
Angeln Übergangsformen zum sächsischen und friesischen Hause
^^1 genau entsprechend dem Zusammentreffen dieser Völker und
irer Mundarten. Im Westen und auf den Inseln findet sich das
Friesenhaus, ein offenbar durch Zusammenrückung von Wohn- und
Wirtschaftsteil entstandenes Gebäude; in ersterem sind um ein Feuer
die Stuben gruppiert, in letzterem wird das in getreidegefiillte Gulfs
zerfallende Mittelschiff durch Tenne und Stall flankiert. Die Abarten
des nordfriesischen Hauses finden sich auf friesischem, die des Eider-
Äcdter Heubergs auf sächsischem Sprachgebiete. Die Abart in Ost-
feland beherbergt sächsisch redende Bewohner, die in Westfriesland
toesische, durchweg aber ist die Hausform an uralte Friesengebiete
gebunden. Den Rest von Westdeutschland füllt das sächsische Haus
^, ein Ständerbau mit freier Mittellängsdiele und Viehställen als
Seitenschiffen und sekundär entwickeltem Wohnteil. Gegen Nord-
westen macht das Sachsenhaus an der Grenze alten Friesen- und
^engebietes Halt, in Mittelschleswig ist es infolge von Kolonisation
«ö XVIII. Jahrhundert nach Norden vorgedrungen. Im Friesenlande
Ktkmarschen hat es sich verändert und westlich der Weser ist es
^ ein neueres, rein wirtschaftlich bedingtes Vordringen des frie-
den Hauses zurückgedrängt worden. Auffälligerweise hat sich auch
^ dem echt friesisch sprechenden Saterlande noch die ursprüngliche
Banart der Sachsen erhalten. Die Verbreitung des sächsischen Hauses
^ nach Holland bis zur Zuidersee stützt die Theorie eines sächsischen
Enüallcs in jene Moor- und Geestgegenden. Über die Yssel und bis
1) Der gegemoartige Stand der deutsehen HatufarfK^ung. Im Oldbus Bd. 71
'897), S. 109.
— 212 —
zur Maas vorgreifend erfüllt das altsächsische Bauernhaus auch das
ganze Land am Niederrhein, teils in reiner Form, teils als "f-Haus mit
Querdach über dem Wohnteil, eine Übergangserscheinung ähnlich der
dortigen niederfränkischen Mundart, die ihrerseits viel weiter westlich
sich erstreckt, also über die Westgrenze des Sachsenhauses hinaus;
bis zu ihrer Südgrenze aber reicht der Sachsen Haus, auffallenderweise
also zum nicht geringen Teile altes Frankenland, nämlich den östlichen
Teil des Niederfränkischen, erfüllend, östlich vom Rhein deckt sich
die Hausgrenze zunächst mit der heutigen niederdeutschen Sprach-
grenze, vom Siegerlande an aufserdem mit der Südgrenze des Stammes-
herzogtums Sachsen, der noch heute auf dem Rothaargebirge politische
Grenzen entsprechen, und der Konfessionsgrenze: vier Grenzen fallen
hier also zusammen. Mit der Sprachscheide bis zur Fulda zusammen-
fallend, schwenkt die Hausgrenze dann plötzlich nach Norden ab und
über Einbeck und Braunschweig nach Wittenberge, in Ostfalen offen-
bar noch in jüngster Vergangenheit zurückgedrängt, in der Altmark
der Bistumsgrenze Verden — Halberstadt folgend. In der Prignitz
schliefst die Hausgrenze, mit einer deutlichen Dialektscheide zusammen-
fallend, das vorwiegend sächsisch besiedelte Gebiet mit ein, umfafet
Mecklenburg-Schwerin und zum Teil Strelitz und deckt sich bis zum
Haff mit der Sprachgrenze gegen die Uckermark, somit Rügen und
Usedom entsprechend der Mundart vollkommen dem sächsischen
Typengebiete zuweisend, dem auch Wollin und der ganze Küstenstrich
Hinterpommerns angehören.
Auf andersartige völkische Einflüsse deuten Abarten des sächsi-
schen Hauses, so die im Hannoverschen Altlande auf Holländer, im
Wendlande auf Slawen. Den Süden von der Sachsenhausgrenze füllt
von Maas bis Weser der oberdeutsche Hofbau in fränkischer Gestal-
tung, östlich der Weser in Gestalt des thüringischen Hofes weit
nordwärts über die niederdeutsche Sprachscheide vorschwingend und
bis zur Elbe hin zwischen sich und dem Sachsenhause die Über-
gangsform der Querdielenhäuser zeitigend.
Das Kolonialland östlich der Elbe hat entsprechend der Be-
siedelungsgeschichte und Mundart aus der Konkurrenz der Stämme
Misch formen des Hauses erhalten, die je mehr nach Nordwesten um
so mehr den sächsischen Giebeleingang zeigen, während an der Ober-
spree das kenntliche Wendenhaus in den alten Grenzen dieses Stammes
herrscht, zum Teil also heute von Deutschen bewohnt, im Osten von
der schlesischen Abart des oberdeutschen Hauses berührt.
Das noch wenig untersuchte Land östlich der Oder macht der
— 213 —
Hausforschung- Von jeher grofse Schwierigkeit. In Hinterpommern
henschen im Anschluis an die reinen Sachsenhäuser der Küstengegend
sächsische Übergangsformen, welche im Süden, z. B. im Pyritzer Weiz-
acker, infolge oberdeutscher Einflüsse eine ausgeprägte Mischform auf-
weisen, im Osten aber an ein Gebiet mit slawischem Baustil anstofsen.
Am schwersten sind die Laubenhäuser, Häuser mit offener Vorhalle,
OT deuten, deren grofee Ausdehnung noch nicht hinreichend erforscht
ist; im Oderbruch beginnend, erstrecken sie sich über den ganzen
Osten bis tief nach Ostpreufsen; ungenügende ethnographische Deu-
tungen dafür gibt es viele : sie sollten bald ostgermanischen, bald sla-
wischen, bald deutschen Ursprungs sein. Virchow meinte, die Vor-
lauben seien durch die Baumeister des Deutschritterordens aus dem
Süden eingeführt. Es gilt gegenwärtig vor allem erst zu untersuchen,
ob die Vorhallen überhaupt an einen bestimmten Typus gebunden
änd, denn sie kommen sowohl an Giebel- wie an Traufseite vor,
zweitens, ob städtischer Einflufs möglich ist, und drittens, wie weit sie
sich erstrecken, ja ob sie überhaupt ein geschlossenes Gebiet bilden;
bislang erscheint letzteres frag^lich. Im Süden vom Hause der Ma-
suren begrenzt, weist das Bauernhaus Ostpreufsens in der mittel-
deutschen Sprachinsel auch oberdeutsche Abarten, im übrigen nieder-
deutsche Formen auf, über deren Verhältnis zur Bauart der alten
Pruzzen Unklarheit herrscht; jedenfalls haben sich slawische und
Htauische Stileinflüsse geltend gemacht. Das litauische Haus, das
man in einem prächtigen Exemplare auf der Tilsiter Ausstellung 1905
studieren konnte, bildet einen ausgesprochenen Typus für sich und
hält sich in den alten Grenzen des litauischen Volksstammes, sie
sicherer anzeigend als die heute zurückweichende Sprache ; die Hallen-
hänser der fischenden lettischen Nehrungskuren scheinen durch Volks-
Jtamm wie Lebensweise gleichmäfsig bedingt zu sein.
Man sieht, der Forschung bleibt noch viel zu tun. Am weitesten
verbreitet ist in Norddeutschland von jeher das altsächsische Bauern-
liaus, zugleich das einzige, dessen Grenzen ganz genau untersucht und
kartographisch niedergelegt sind; ob die Sachsen diese ihre charakte-
'Ktische Bauweise von den Kelten übernommen haben, ist aus der
Verbreitung nicht ersichtlich, wird aber durch die Konstruktion frag-
lich. Dagegen harren noch folgende Fragen einer befriedigenden
Antwort: Bildete das Friesenhaus früher ein zusammenhängendes Ge-
biet? Ist der oberdeutsche Bau in Ostfalen auf eine alte Bevölke-
mogsgnmdschicht zurückzuiiihren? Gibt es jetzt noch altwendische
Häuser in Elb- und Travegebiet? Welches sind die ursprünglichen
— 214 —
Bauernhäuser in Ostdeutschland? Diese und viele andere Fragen
harren der Lösung. Aufser der technischen Seite sind von nun an
auch die mundartlichen Bezeichnungen für Teile des Hauses sorgsam
festzustellen sowie die Abarten der grofeen Haustypen. Fruchtbar
aber für den Historiker werden alle diese Erscheinungen erst durch
Erforschung ihrer geographischen Verbreitung.
Beiträge zur H^itnenforsehung
aus Steiermark
Von
Franz Uwof (Graz)
Zur Ergänzung und Vervollständigung der anregenden und be-
lehrenden Aufsätze von Julius Gmelin'), Bruno Caemmerer*)
und Paul Zinck*) über Vornamen möchte ich auf die gründliche
Untersuchung und Darstellung von JosefvonZahn: Steiermärkiscke
Taufnamen hinweisen *) , welche einen sinnigen Beitrag zur Sitten-
geschichte bildet und Gebrauch und Wandel der Taufnamen vom
X. und XI. Jahrhundert bis in die Gegenwart erörtert. Da Zahns
Abhandlung aufserhalb der Steiermark wenig bekannt zu sein scheint,
so will ich hier kurz ihre Ergebnisse mitteüen.
Bis gegen das Ende des XII. Jahrhunderts kommen in Steiermark
nur einfache deutsche Namen vor:
Adalo, Charl, Eber, Enzo, Gero, Manno, Snello,
Walto, Wolfo; bei Frauen: Truta, Engila, Gerna, Guta,
Lieba, Wunna. Zusammengesetzte: Landfrit, Dietger, Liut-
pold, Volker; Frauennamen: Dietpurg, Liutgart, Volkswint,
Diemot.
An das Heidentum erinnern und von ihm stammen jene Namen,
die an die Äsen, an Irmin, an Wotans Raben, an die Runen anklingen:
Ansbert, Irmbert, Raban, Adalram, Guntram; für Frauen:
Armlint, Irmgart, Alrun, Friderun. — Vom Besitze (od, hag)
nannten sich Otakar, Otger, Hagano, Hageborn. — Auf Eigen-
i) Die Verwertung der Kirehenbüdier in dieser Zeiuchrift i. Bd., S. 157— *7o-
2) Amstädter Tauf- und Familiennamen. 5. Bd., S. 245—261, 296—315.
3) Zur Geschichte unserer Vornamen. 7. Bd., S. 39—53.
4) In den Mitteilungen des Historischen Vereins für Steiermark, XXK.
Graz iSSi) S. 3—56, nnd umgearbeitet in Styriaca, Gedrucktes und VngednMes
8wr steiermärkischen Geschichte und KuUurgeschiehte. h (Graz 1894), S. 3S~~^5*
— 215 —
Schäften des Menschen weisen hin: Frowin, Guotman, Helfrich,
Fridlieb; bei Frauen: Tultmut, Frogart, Milttrut. — Auf
männliches Wesen: Adalbero, Baldwin, Diethart, Hartmut,
Heifrich, Waltman, Wigant; bei Frauen: Adala, Berhta,
Fridepurg, Erintrud, Frumrat, Volkswint. — Wehr und
Waffen drücken sich aus in Bruno (von brünne)^ Isinrich, Wolf-
gfrim {grim = Helm), Helmbrecht, Reginhelm, Wolfhelm,
Herrant {rant = Schild), Dietprant (praw^ «= Schwert), Heri-
prant, Wurmprant, Ekkefried {ekki ^Schwert), Framrich,
Adaiger (fram, ^cr «= Spiefs) , Gerbert; Frauennamen: Gerbirg,
Gertrut. — Von der gesamten Kriegsschar (heri): Diether,
Gisilher, Herman, Hermut; von der Walstatt: Walbrunn,
Walrabo; vom Kampfe (Juidu, hilt, gunt, wie) selbst: Hadu-
precht, Hiltebrant, Gun daheim, A dal wie; bei Frauen: Albe-
gund, Hadepurch, Swanehilt, Wieburch. — Auf Sieg weisen
hin: Sigeperht, Sigefrid; Frauennamen: Siguna, Sigerat. —
Sieg bringt Ehre und Ruhm (pram, mar, ruod): Liutpram, Diet-
mar, Rudlieb. Vom Adler nennt sich Arnhalm, Arno; vom
Bär: Berengar, Pernolt; vom Wildschwein: Eberan, Eberhart;
vom Wolf: Wolfpurch, Wolfhilt.
Diese wenigen Nachweisungen aus den zahlreichen Belegen, die
von Zahn beibringt, beweisen, dals das Namenleben in der kleinen
Steiermark, dem südöstlichsten deutschen Lande, das spät in den
deutschen Kulturkreis eingetreten ist, vor acht bis neun Jahrhunderten
ein sehr reiches, abwechselndes und doch einheitliches war.
Mit dem Ende des XII. und dem Beginn des XIII. Jahrhunderts
b^innen Namen religiöser Art, Heiligennamen, solche biblischer,
griechischer, römischer Abkunft, doch nur sehr allmählich aufzutreten :
Adam, Alexander, Johannes, Lorenz, Nikolaus, Martin,
Petrus, Simon, Thomas; Agnes, Benigna, Clara, Elisa-
beth, Helena, Margareth, Sophia — so dafs sich nun zwei
^ppen unterscheiden lassen, eine der Verwendung nach vorherrschende
Gfnppe der, wenn auch nicht all zu zahlreichen, alten Namen und
«ne der im ganzen nur selten benutzten kirchlichen Namen.
Im XIV. Jahrhundert wächst die Entnationalisierung der
Namen — nur noch etwa 50 nationale finden sich — und die Hei-
ligeonamen vermehren sich ; es treten auf: Georg, Jakob, Michael,
Achaz, Christian, Christoph, Mathias; Anna, Euphemia,
Katharina. Vereinzelt finden sich auch schon Doppelnamen,
aber zusammengezogen, wie: Rudott (Rudolf Otto).
— 216 —
Bis zur zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts griff die 2^rsetzung
des alten Namenschatzes in Steiermark gewaltig um sich. War im
XII. Jahrhundert das Verhältnis der fremden Namen zu den volks-
tümlichen wie 2 : 50 gewesen, so ist zwischen 1450 und 1500 schon
das Verhältnis 4 : 5 zu beobachten. Besonders beliebt sind Johann,
Nikolaus, Heinrich, Georg, Andreas, Friedrich, Jakob,
Konrad, Ulrich. Joseph tritt erst 1429, Maria 1450 auf!
Im XVI. Jahrhundert kommt ein neues Element in die Namen-
welt, das humanistische: Cäsar, Alexander, während alle älteren
Namengattungen fortbestehen. Es erscheinen volkstümliche Namen
(Amelreich, Degenhard, Gandolf, Helfrid) neben biblischen (Abel,
Abraham, Daniel, David, Enoch, Jonas, Jeremias, Eva, Rebekka,
Salome), klassisch-humanistischen (Alexander, August, Hadrian,
Hannibal, Hektor, Kassandra, Livia, Felicitas, Polyxena), christlich-
katholischen (Maria, Johann, Joseph), protestantischen(Christian,
Christoph, letzterer war besonders beliebt), romanischen (Raphael,
Gabriel) und deutsch-poetischen (Tristram, Walchun, Wilbold). —
Auch Doppelnamen werden häufig, namentlich mit Hans: Hans
Friedrich, Hans Christoph, Hans Georg.
Mit der Buntheit der Namen, wie sie im XVI. Jahrhundert auf-
tritt, hatte es im XVII. ein Ende, und die Ursache dafür war die
Gegenreformation; denn nun treten als Taufnamen nur noch die der
katholischen Heiligen auf, vor allen Franz, Ignaz, Johann, Joseph,
Ferdinand, Paul, Stephan, Sebastian, Dominik, Dismas,
Innocenz, Thaddäus, Vincenz, Petrus, Maria, Anna,
Theresia.
So viel über die Forschungen Zahns. Es ist gewifs nicht un-
interessant, deren Ergebnisse mit den in den ersten Zeilen dieses
Aufsatzes genannten Ermittelungen aus anderen Gegenden zu ver-
gleichen. So stellt Gmelin für die Reichsstadt Hall fest, dafe im
XVI. Jahrhundert infolge des Überganges von der katholischen Zeit
mit der Mannigfaltigkeit ihrer Heiligennamen zum evangelisch-protestan-
tischen Volkstum die biblischen Namen nebst den traditionell-bäuerlichen
Namen zur vorherrschenden Stellung gelangen, dafs der Name Johannes
oder Hans der verbreitetste war und dafs Doppelnamen im XVII.
Jahrhundert namhaft auftreten, sowie dafs sich in Nürnberg" in der
zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts humanistische Namen ziemlich
zahlreich zeigen. Ganz ähnlich lagen die Dinge in Steiermark. Die
ältesten in Arnstadt schon seit dem VIII. Jahrhundert vorkommenden
Namen sind germanische, erst im XIII. Jahrhundert kommen Fremd-
— 217 —
oameo, griechische und hebräische vereinzelt vor. Ganz dasselbe
gilt für Steiermark. — Zincks Forschungen betreffen die ländliche
Umgebung- Leipzigs und erstrecken sich auf die Jahre 1574 bis
1870. Es kommen dort nebeneinander alttestamentliche , neutesta-
mentliche, altkirchliche tmd deutsche Namen vor. Aus den Tabellen
Zincks ergibt sich, dafs, während in der deutschen Frühzeit und im
Frühmittelalter deutsche Namen überreich wucherten, seit dem späteren
Mittelalter Namenarmut herrschte, im XVI. und XVII. Jahrhundert
die Reformation entscheidenden Einflufs auf die Namengebung gewann,
daüs in den letzten Generationen jedoch deutsche Namen, besonders
mäonliche, wesentlich stärker hervortreten als früher, gewifis ein Aus-
fluis des nationalen Erwachens seit den Freiheitskriegen. Doppel-
namen zeigen sich seit der Wende des XVII. und XVIII. Jahrhunderts.
Auch KegeP) weist nach, dafe in dem Gebiete, auf das er
seine Untersuchungen erstreckte, deutsche Namen bis zum XIII. Jahr-
hundert vorherrschten, dafs erst mit dem XIV. und XV. kirchliche
Namen auftraten und immer mehr das Übergewicht gewannen. Unter
dem Einflufs des Humanismus wurden latinisierte oder gräzisierte,
durch die Reformation biblische Namen üblich. Erst die Befreiungs-
kriege bringen wieder deutsche Namen, und in den letzten drei Jahr-
zehnten des XIX. Jahrhunderts hat die Unterhaltungsliteratur, Gedichte,
Dramen und Opern, einen staunenerregenden Einflufs — es sei nur
an Siegfried und Elsa erirmert — auf die Namengebung ausgeübt.
Die Einwirkung der mittelhochdeutschen Literatur auf die Namen-
vahl in Steiermark zu untersuchen wäre gewifs lohnend. Um so mehr, als
Schön bach in einer trefflichen Schrift ^) eine neue Ansicht über die
Stellung der Steiermark in der deutschen Literatur des Mittelalters aufge-
stellt hat. Die romanische Lyrik ist bekanntlich von Nordfrankreich über
Handem und die Rheinlande nach Deutschland gekommen und hat die
Putsche Dichtung beeinflufst. Nach Schönbach kommt aber neben diesem
1) DU Verbreitung der mittelhochdeutschen erzählenden Literatur in Mittel'
^ Niederdeutschland, nachgewiesen auf Chrwnd von Personennamen Von Ernst
Ke^el. [ss Hermaea, Aasgewählte Arbeiten aus dem germanischen Seminar zn Halle.
Hemsgegeben von Philipp Strauch, HI. Halle 1905.] Die besten Belege für die ge-
^cbicktliche Bedeatnng des Namenschatzes liefern die Untersuchungen, die Adolf
So ein in seinem Mittelhochdeutschen Namenbuch (Basel 1903) hinsichtlich der Namen
ÜB Gebiet des Bistums Basel angesteUt hat. Vgl. die Besprechung von Schönbach im
^^^Bi9^midnen Liieraturblatt XV (1906), Sp. 207—210. — Der Vollständigkeit halber
"o aach genannt : Beiträge eur Kenntnis deutscher Vornamen, Mit Stammwörterbuch.
lUipxig 1903).
2) Die Anfänge des deutschen Minnegesanges (Graz 1898).
— 218 —
ivestöstlicben Wege auch noch ein südnördlicher im äufsersten Osten
in Betracht, nämlich von Oberitalien über Friaul und das
Alpengebiet nach Österreich. Er nennt die 2^it von 1150
bis 1250 ein goldenes Blatt im Leben der Steiermark. Die Herr-
schenden waren damals schon die Deutschen, und dieses Herrenvolk
hatte aus seinen bayerischen Heimatsgauen eine F'ülle volkstümlicher
Überlieferungen mitgebracht, die hier neue Wurzeln schlugen. Den
Anteil der Steirer an den Dichtwerken der Heldensage (Nibelungen,
Gudrun usw.) schlägt Schönbach bei weitem höher an, als es gemein-
liin geschieht. Im XII. Jahrhundert blühte zwar in Steier die geistliche
Dichtung, aber die Glanzzeit altdeutscher Literatur in diesem Lande ist
«doch die der höfischen Dichtung, Lied und Erzählung des Rittertums. Als
•dieses, dem Süden Frankreichs entsprungen, seinen Siegeszug durch
die romanischen und germanischen Kulturvölker antrat, fand es nir-
gendwo günstigere Vorbedingungen als auf steirischem Boden, denn
hier hatten die Dienstmannen des Landesfürsten grofsen Grundbesitz
und durch den Georgenberger Freiheitsbrief vom 17. August 1186
-eine weitgehende Selbständigkeit und wichtige Rechte erhalten, so
•dafs der Adel sich genossenschaftlich organisieren und für sich das
Ideal ritterlichen Lebens annähernd verwirklichen konnte. Der dichte-
rische Ausdruck dieses Ideals war zunächst der Minnegesang — im
XIII. Jahrhundert blühten hier Epik und Lyrik : die Steiermark war ein
Vorland höfischer Bildung für die angrenzenden Gebiete und wirkte
in dieser Weise selbst auf das deutsche Reich zurück.
Das ist der wesentlichste Inhalt von Schönbachs Hypothese. Mit
Rücksicht auf sie ist es gewifs der Mühe wert, nachzuforschen und
darzustellen, inwieweit in Steiermark die Dichtkunst auf die Namen-
gebung von Einflufs gewesen ist. Zu diesem Zwecke habe ich aller-
dings zunächst nur das Urhundenhuch des Herzogtwns Steiermark *), das
üreilich nur bis 1260 reicht, durchgenommen und verzeichne daraus
folgende Namen mit der Jahreszahl ihres Vorkommens, welche in der
gleichzeitigen deutschen Dichtung auftreten oder in irgendeine Be-
ziehung zu ihr gebracht werden können:
Alberich 931, Amalbert 1250, Amalrich 1096, Berenger
1224, Dietrich 1030, Ekbert 1224, Ekkehard 1125, Erkenger
1214, Gerhard 1254, Gernot 1188, Gerold 1233, Gerunch
I169, Gisebrecht 1246, Gisilbert 1248, Gisilher 1147, Gre-
i) Bearbeitet von J. Zahn, herausgegeben vom Historischen Verein für
Steiermark. (Graz 1875— 1903, 3 Bde.)
— 219 —
gorius 1252, Gundachar 1070, Günther 1074, Hagen (Hagino)
1209, Hartmud 1233, Hartwic 1210, Helwic 1255, Herbord
1250, Hertwic 1234, Hetel 1150, Hilteprand 1145, Ilsunc 928,
Irinch 928, Irnfrid 1203, Isenrich 1195, Isingrim 1238, Lanzo
(Lanzelot?) 1070, Otacharus 1256, Ortlieb 1150, Otfrid 1070,
Pilgrim 1254, Rudiger 1050, Sigfrit 1130, Vasoldus 1259,
Volker 1155, Walther 1259, Wernher 1155, Wezelo 1251,
Wigant iioo, Wilhalm 1229, Wolfgrim 1228, Wolfhard 1213,
Wolfher 1218, Wolfker 1255, Wolfram 1050, Wulfing 1220.
VoQ Frauennamen kommen in Betracht: Berhta 11 40, Gerlind
1185, Gisla 1251, Herrad 1246, Hiltrud 1195.
Vergleichen wir diese Namen mit jenen aus der gleichzeitigen
Literatur, so ergibt sich, dafs nur wenige in der höfischen Dichtung
wiederkehren, dafs sich jedoch viele aus der Heldensage, besonders
aus dem Kreise der Nibelungensage, einige auch aus der Gudrunsage,
finden.
Rückschlüsse daraus auf die Verbreitung und den Einflufs ge-
wisser Dichtungen sind gewifs zulässig, aber es wird bei derartigen
Untersuchungen vor allem auch die hier aufser acht gelassene Häufig-
keit jedes Namens in Betracht gezogen werden müssen, wobei natürlich
jede wiederholt genannte Person nur einmal und zwar bei der ersten
Erwähnung aufgeführt werden darf. Würde dann für jeden Namen
die 2^1 der Träger von Jahrzehnt zu Jahrzehnt festgestellt, so würden
sich ganz gewifs bestimmte Anhaltspunkte für die wechselnde Ver-
breitung oder Beliebtheit gewisser Dichtungen ergeben. Solche Unter-
suchungen für verschiedene Länder würden lohnende Aufgaben für
Doktoranden darstellen.
Mitteilungen
Yersammlungen. — Die IX. Versammlung deutscher Historiker
^ programmgemäfs vom 17. bis 21. April in Stuttgart unter dem Vorsitz
^n Geh. Hofrat Prof. v. Below (Freiburg) stattgefunden und war von etwa
190 Teilnehmern besucht, unter denen natürlich an Zahl die Süddeutschen
überwogen. Weniger zahlreich als sonst waren die Österreicher vertreten,
und vor allem fehlte zum ersten Male der um die Entstehung und Ent-
»ickelung der Historikertage hoch verdiente Prof. v. Zwiedineck-Süden-
^orst (Graz), den schwere Krankheit am Erscheinen verhinderte. — Aus
dem Ausschufs des Verbandes deutscher Historiker schieden diesmal
die in Halle 1900 gewählten 5 Mitglieder aus, nämlich v. Below (Freiburg),
16
— 220 —
Meyer von Knonau (Zürich), Oswald Redlich (Wien), Dietrich
Schaefer (Berlin) und Hans Prutz (München); aufserdem war für den
durch Tod ausgeschiedenen v. Weech ein Ersatzmann zu wählen. Dem
Vorschlage des Ausschusses gemäfs fiel die Wahl auf v. Below (Freiburg),
Busch (Tübingen), v. Heigel (München), Meyer von Knonau (Zürich), Redlich
(Wien), Seeliger (Leipzig). Die nächste Versammlung soll im Herbst 1907
in Dresden stattfinden, und zwar, da Lamprecht bereits bei der Leipziger
Tagung 1894 den Vorsitz geführt hat, unter der Leitung von Seeliger,
der deshalb zum Verbandsvorsitzenden gewählt worden ist. — Der Ver-
band deutscher Historiker ist als solcher dem „Leopold von Ranke-
Verein** (Vorsitzender: Bürgermeister Kammradt in Wiehe) beigetreten,
um dadurch die Bestrebungen des Verems, über die Hans Heimelt
(Leipzig) noch nähere Mitteilungen machte und die vor allem auf die Er-
richtung eines Rankemuseums in Rankes Geburtshaus zu Wiehe abzielen, za
fördern. Aus den Barmitteln des Verbandes ist dem Deutschen Schulverein
eine einmalige Gabe von 100 Mark bewilligt worden, und femer will der
Verband die Herausgabe des dem Nachlafs von Gengier entstammenden
Manuskripts Die Stadtrechte Deutschlands aus dem XVL bis XVIIL Jahr-
hundert dadurch fördern, dafs er den Bearbeiter honoriert, vorausgesetzt,
dafs von anderer Seite ein Zuschufs zu den Druckkosten geleistet wird.
Die Vorträge, die dargeboten wurden, fallen zum Teil aus dem Rahmen
dieser Zeitschrift heraus: das gut von dem Vortrage von Meinecke (Frei-
burg) über Deutschland und Preufsen im XIX. Jahrhundert, worin der
Redner vor allem darlegte, dafs für Friedrich Wilhehn IV. die Annahme
der Kaiserkrone deshalb unmöglich war, weil er dann auf Preufsen als Staats-
persönlichkeit hätte verzichten müssen, nicht minder für die Ausführungen
Egelhaafs über England und Europa vor 100 Jahren, in denen die
wechselnde Stimmung des festländischen Europa gegenüber England im
XVIII. Jahrhundert erörtert wurde, auch für den Vortrag von L. M. Hart-
mann (Wien) über die Wirtschaftsgeschichte Italiens im früheren MiUel'
alter, in dem in knappem Umrisse die Wandelungen im Wirtschaftsleben Italiens
von der römischen Kaiserzeit bis ins X. Jahrhundert verfolgt wurden, wie
sie der Redner in seiner Geschichte Italiens im Mittelalter (Gotha 1897 bis
1903, 2 Bde. in 3 Teilen) geschildert hat. Auch die Charakteristik Karls
des Grofsen durch Hermann Bloch (Rostock) berührte Probleme,
die nicht in den Gedankenkreis dieser Zeitschrift gehören, aber er fand, neben-
bei bemerkt, mit seiner AufTassimg, die den Frankenkönig nur als wahrhail christ-
lichen Herrscher hinsteUte, bei den Zuhörern gar keinen Anklang. Auf ein zvrar
sehr interessantes, aber hier nicht zu behandelndes Gebiet führte Ernst Tröltsch
(Heidelberg) die Zuhörer in seinen Ausführungen über die Bedeutung des Prote-
stantismus für die Entsteh%mg der modernen Wdt, worin er zunächst mit gutem
Grunde den N e u protestantismus seit dem XVIIL Jahrhundert von dem Alt-
Protestantismus trennte, um im wesentlichen nur von letzterem zu reden, da
ja der erstere selbst einen Teil der modernen Welt bildet. Im Altprotestantismus
stehen Luthertum und Kalvinismus als zwei entgegengesetzte Richtungen neben-
einander; der Staat ist streng konfessionell und unterdrückt das andere Be-
kenntnis gewaltsam, und überdies die humanistische Theologie und nicht zu-
letzt das Wiedertäufertum, und doch haben gerade die beiden letzten Rieh-
— 221 —
taugen bedeutende Einwirkungen auf das moderne Geistesleben ausgeübt:
(Üe Gewissensfreiheit ist eine wiedertäuferische Forderung, und in ihr haben
die Menschenrechte, die gewissennafsen als eine Erweiterung des Prinzips
der Gewissensfreiheit gelten müssen, ihren Ursprung. Dabei betonte der
Redner scharf, dafs es sich für ihn nur um ursächliche Zusammen-
hänge handele, keineswegs um ^Werturteile, und die strikte
Durchführung dieses Grundsatzes auf einem so schwierigen Gebiete, wie es
die Geschichte geistiger Strömungen ist, zumal wenn die Gefahr besteht, dafs
die Geisteskämpfe der unmittelbaren Gegenwart berührt werden, verdient
wenigstens ebensolche Anerkennung, wie die von ausgebreitetster Kenntnis
zeugenden materieUen Darbietungen.
In engerer Beziehung zur deutschen Landesgeschichte stand
zunächst der Vortrag von Prof. Fabricius (Freiburg) über Das römische
Heer in Deutschland '). Ausgehend von der Tatsache, dafs sich bei Stutt-
gart alte Römerstrafsen kreuzten, woran das Kastell bei Kannstatt erinnert,
und unter Hinweis auf die neue Arbeit von Lachenmaier über die
Ohhtpation des Limesgebieies durch die JRömer (mit Karte i : i ooo ooo in
den Württembergischen VterteJjahrsheften für Landesgeschichte, Neue Folge XV
[1906], S. 187 — 262) bezeichnete es der Redner als die Aufgabe seiner
Untersuchung, die Organisation des römischen Heeres in der Zeit von etwa 70
bis 260 n. Chr. in ihren Wandelungen zu verfolgen; denn der Limes sei
ja das Werk des Heeres, und seine Anlage nur aus der Organisation des
letzteren zu verstehen. Da die geringen schriftstellerischen Zeugnisse aus
jener Zeit nicht genügen, um systematisch ein Bild der Heeresorganisation
zu entwerfen, so müssen die baulichen Überreste und Inschriften gründÜch
ausgebeutet und vor allem die daraus zu gewinnenden chronologischen
Angaben sorgfältig berücksichtigt werden. Geschieht dies, dann ergibt sich
etwa folgende Entwickelung. Das römische Heer zerfiel im ersten nach-
christlichen Jahrhundert in Legionen und Hilfstruppen (auxilia); in
den erstereu dienten die römischen Bürger, in den letzteren die Peregrinen,
als Reiter in den alae. als Fufssoldaten in den cohortes, die beide
etwa 500 — 600 Mann umfafsten. In Oberdeutschland waren die Hilfs-
trappen viel stärker vertreten als die Legionen, von denen nur je 2 in
Strafsburg und Mainz garnisonierten , während Rhätien ohne alle Legionen
*ar. Die Truppenkörper erhielten nun aber neben einer Geldlöhnung auch
Land zum Niefsbrauch; dadurch verwuchsen sie mit dem Boden und
»cchselten ihren Aufenthaltsort demgemäfs nur ganz selten. Die Hilfstruppen
'tirden gewohnheitsgemäfs nach den Teilen des Reiches benannt, aus denen sie
sichursprünglich rekrutiert hatten, so begegnen z. ß. auch Syrer und Thraker,
(fie damals an den Rhein gekommen waren, aber tatsächlich werden schon am
&ide des ersten Jahrhunderts die im Lande Geborenen überwogen haben. Eine
Trennung zwischen den zur Grenzwacht bestimmten Truppen und einem
Operations beere gab es im Römischen Reiche nicht, und deshalb mufsten im
i) Dem Redner verdanken wir auch eine vorzügliche, die Ergebnisse der römisch-
lermaniscben Forschung kurz zusammenfassende Arbeit: Die Besitznahme Badens durch
die Bömer [= Neujahrsblätter der Badischen Historischen Kommission, Neue Folge 8J.
Heidelberg 1905.
IG*
— 222 —
Bedarfsfalle Truppen von der Grenze weggezogen werden, wenn irgendwo Auf-
stände niederzuschlagen waren ; in solchen Fällen wurden z. B. die Legionen
aus Strafsburg und Mainz in ganz Gallien verwendet. Als im Bürgerkrieg
zwischen Vitellius und Vespasian der erstere die Legionen vom Rhein, der
letztere die von der Donau weggezogen hatte, erhob sich der Bataver-
aufstand, an dem viele Offiziere \ind Soldaten der auxüia beteiligt waren.
Die Folge dieses Vorfalles war, dafs nach 70 als Offiziere der Peregrincn
nur noch Römer zur Verwendung kamen und dafs ihre Lager von denen
der Legionen getrennt und auf das rechte Rheinufer verlegt wurden. Da-
bei lag der Verteilung der Truppen kein bestimmtes System zugrunde;
einige Gegenden waren stärker, andere schwächer besetzt, und höchst wahr-
scheinlich war die Verpflegung der Truppen dafür mafsgebend. Damals
rückte das römische Heer in die agri decumates ein, d. h. das. Zehntland,
das ursprünglich Domanialbesitz des Kaisers war und von zehntpflichtigen
gallischen und britannischen Kolonen besiedelt worden war; nach den In-
schriften gab es um 100 n. Chr. dort 4 alae imd 17 bis 20 coAor^e« Hilfstruppen,
während in Mainz und Strafsburg nur noch je eine Legion stand. Seit etwa
1 20 n. Chr. wurde der polizeiliche Grenzschutz nach einer bestimmten Schablone
organisiert, und damals wurde aus dem Grenzweg (limes) die Grenz-
befestigung, eine geradlinige Anlage mit Palisaden und Kastellen in gleich-
mäfsigen Zwischenräumen. Die einzelnen militärischen Abteilungen fingen an,
insofern sie ihren Acker bewirtschafteten, Gemeinden zu bilden, aus denen
sich die Truppenkörper rekrutierten, denn die Soldaten der Hilfstruppen
standen nur 25 Jahre bei der Fahne, waren meist verheiratet und lebten in
ihren Gehöften bei den Kastellen, während sie nur einige Stunden im Kastell
selbst Dienst taten. Dieses zuerst bei den auxilia entwickelte System vrurde
bald auch von den Legionen nachgeahmt, und nunmehr kam in den
numeri auch eine dritte Gattung Krieger hinzu, die als exploratorts verwendet
wurden und aus angesiedelten Barbaren bestanden. Grundsätzlich wurde an
der seit 120 üblichen Grenzverteidigung überhaupt nichts mehr geändert,
und um 200 waren sämtliche römische Soldaten in Oberdeutschland (Legionen,
auxilia f numeri) in dem Mafse sefshaft, dafs man sie als angesessene,
Ackerbau treibende Grenzmilizen oder als zum militärischen
Dienst verpflichtete Bauern bezeichnen darf; sie waren Verteidiger
der römischen Reichsgrenze und ihrer eigenen Äcker. Darin aber lag auch
ihre Schwäche, denn diese Grenzwache, deren Teile weit auseinanderge-
zogen waren, besafs nicht die Kraft zum Widerstände bei heftigem Andringen
der Feinde. So erklärt es sich, dafs bei dem Ansturm der Germanen um
260 sämtliche LimeskasteUe zerstört und aufgegeben wurden und dafs wir
von diesem Augenblicke an weder von aXtie noch von cohortes weitere Kunde
erhalten. Die bisherigen Grenzverteidiger hören auf, sich als Soldaten zu
ftihlen, sie werden ausschliefslich Bauern, was sie vorher schon zu drei Vierteln
gewesen waren; die Kastelldörfer überdauerten die Kastelle, und ihre
Bewohner unterwarfen sich dem germanischen Herrschervolke, das vom Lande
Besitz ergriff. Nur so wird es verständlich, dafs sich kein einziger Truppen-
körper zum Rheine zurückgezogen hat. — Aus der anregenden Aussprache,
die sich an den Vortrag anschlofs, sei nur auf die Bemerkung von Prof
Gundermann (Tübingen) hingewiesen, dafs sprachlich der Ausdruck agri
— 223 —
decumaies noch nicht genügend erklärt ist; dafs es eine keltisch-lateinische
Mischbildung sei, lehnt er ab und hält es für sehr fraglich, ob das Wort
„zehn*^ überhaupt darin enthalten ist, denn lateinisch hätte man unbedingt
0^' decumani gesagt, um den Begrifif „Zehntland'* auszudrücken.
In enger Beziehung zu früheren Ausführungen in dieser Zeitschrift stand
der Vortrag von Oswald Redlich über Historisch-geographische Probleme,
in dem er ztmächst schilderte, wie die geschichtliche Geographie als Sonder^
Wissenschaft durch die Arbeiten von Ratzel, Eduard Richter, Ernst
Cartius, Nissen, Wimmer, Bodo Knüll, Konrad Kretschmer,
Wühehn Götz u. a. in neuerer Zeit gefördert worden ist. Mit Recht hob
er hervor, dafs die Historiker im ganzen den geographischen Problemen
nicht genügende Beachtung geschenkt imd sich im wesentlichen auf die
historische Topographie beschränkt haben. Gegenüber diesen speziellen,
^ jeden geschichtlichen Arbeiter imentbehrlichen historisch-topographischen,
nur auf dem Wege geschichtlicher Forschung zu gewinnenden Angaben be-
zdchnete der Redner als Beispiele einige allgemein e geographische Probleme,
die für vergangene Jahrhimderte als gelöst angenommen tiefere Einblicke
in den Gang der geschichtlichen Ereignisse gewähren würden. Als solche
Aufjgaben der Forschimg wurde z. B. die Geschichte der Waldrodung im
Verhältnis zur Besiedelung, die Untersuchung, wie weit zu gewissen Zeiten
bestimmte Kulturpflanzen verbreitet waren, und die Vergleichung der Ernte-
ergebnisse mit den von Ed. Brückner angenommenen 35 jährigen Klima-
schwankungen hingestellt, wobei der Redner den Ergebnissen der von ihm
angeführten Sonderuntersuchungen allerdings mit Recht noch skeptisch
gegenüberstand. — In der Erörterung bezeichnete Lamprecht (Leipzig) zwei
verschiedene historisch-geographische Gedankenreihen, die grundsätzlich aus-
einanderzuhalten seien, nämlich die geschichtliche Untersuchung, die die
Antwort auf die mehr geographische Frage gibt: wie hat sich der
Boden unter dem Einflufs der menschlichen Kultur mngestaltet? und die
geschichtliche Untersuchung, die auf die mehr geschichtliche Frage
Antwort erteilt : wie sind die Menschen durch die bestimmten geographischen
Tatsachen der Bodengestaltung ^ des Klimas usw. beeinfiufst worden? Bei
der praktischen Arbeit würden zwar beide Gesichtspunkte immer neben-
ebander berücksichtigt werden müssen, das schliefse aber ihre grundsätzliche
Trennung nicht aus, um die Probleme klarer zu erfassen. Besonders ein-
igend wurde im Anschlufs an die Arbeit von Curschmann Hungersnöte
« Mittelalter (Leipzig 1900) die Notwendigkeit betont, urkundliche und
dironikalische Zeugnisse über Naturereignisse in Menge zu sammeln, um
1^ etwaigen Einwirkungen auf die Ernteergebnisse auf Grund eines genügend
i&n£ai]greichen Materials untersuchen zu können. Nachdrücklich betonte
Alexander Cartellieri (Jena) hinsichtlich der topographischen Auf-
gs^hen, dafs auch bei der rein äufserlichen Feststellung von Ortsnamen noch un-
endlich viel zu tun sei, namentlich soweit es sich um Ereignisse handelt,
die sich auf aufserdeutschem Boden abgespielt haben. Schuld daran sei
allerdbgs vor aUen, dafs unsere kleineren Bibliotheken recht schlecht mit
topographischen Nachschlagewerken ausgestattet seien.
In das Gebiet der Kunstgeschichte führte der Vortrag von Konrad
▼• Lange (Tübingen), der im Museum der bildenden Künste stattfand und
— 224 —
Schwabens SttUung in der Geschichte der Malerei behandelte. Entg^n
der früheren Ansicht, dafs die in Alb recht Dürer gipfelnde realistische
Bewegung von den Niederlanden ausgegangen und von dort über Köln nach
Süden, namentlich nach Kolmar, gekommen sei, vertrat Redner die An-
schauimg, dafs die realistische Richtung vielmehr im XV. Jahrhundert in der
Luft gelegen habe und sich zum wenigsten in Schwaben unabhängig von fremden
Einflüssen entfaltet habe. Als besonders charakteristisch für den Werdegang
des Realismus bezeichnete er die drei schwäbischen Künsder Lukas Moser,
Konrad Wietz und Hans Multscher.
Siegfried Rietschel (Tübingen) behandelte in seinem Vortrage Tausend-
schaff und Hundertschaft ein viel umstrittenes Kapitel der älteren deutschen
Verfassungsgeschichte und tilgte dabei die erst von W. Sickel in seinem
Buche Der deutsche Freistaat (Halle 1879, ^^^^ Abteilung der Geschichte
der deutschen Staatsverfassung bis £ur Begründung des konstitutioneUen
Staats) entdeckte Tausendschaft völlig aus der Reihe der bei den Deutschen
vorhandenen Verfassungs- oder irgendwelcher anderen Einheiten, da sie als
politischer Verband überhaupt nicht und als müitärischer nur bei den West-
goten — und auch nicht mit voller Sicherheit — nachweisbar sei. Die
Hundertschaft dagegen ist eine gemeingermanische Einrichtung, die sich
vor allen auch bei den germanischen, von römischen Einflüssen am wenigsten
berührten Bewohnern Skandinaviens findet und dort nicht nur Gerichtsbezirk,
sondern auch Markgenossenschaft und Pfarrbezirk war. Bei den Franken
ist die Hundertschaft, mit dem Fremdwort „Zent** bezeichnet, sicher in mero
wingischer Zeit der Gerichtsbezirk, an dessen Spitze der centenaHus steht.
Auch in Bayern finden sich im VlIL Jahrhundert Hundertschaftsbezirke, auf
deren weit älteren Ursprung Anzeigen hindeuten. Bei den AJemaimen wird
die Einrichtung der centena gewöhnlich als von den Frauken übernommen hin-
gestellt, aber in der Tat ist auch bei ihnen die Hundertschaft älter, wie die
nach Personen benannten Ortsnamen, z. B. Munsingahuntari ^ jetzt Mün-
singen, lehren. Wer war imn derjenige, der einer bestimmten Hundert-
schaft den Namen gegeben hat? Gewifs nicht ein zufälliger Hundertschafts-
vorsteher, sondern, wie Weller gezeigt hat, sind die nach Personen genannten
Ortsnamen das Ursprüngliche, und erst von dem Hauptorte einer Hundert-
schaft hat diese den Namen erhalten. Der Name ist demnach der des
Ältesten derjenige Sippe, durch die die Gegend von einem Orte aas
besiedelt worden ist. Ganz ähnliche Fälle finden sich in Schweden. Bei
den Sachsen fehlt zwar der Name Hundertschaft, aber die Sache nicht:
sie lebt in dem go, dessen Vorsteher der gogreve ist. Bei den
Angelsachsen ist die Einteilung in Bezirke allgemein üblich, die hiteinisch
mit regio, später in der Volkssprache mit hundred bezeichnet werden. Die
zweifellos als gemein germanische Einrichtung anzusprechende Hundert-
schaft war politischer und wirtschafdicher Verband zugleich. Der Name be-
zeichnet gewifs die Masse von 100 selbständigen Familienvätern, mag nun
dabei an 100 oder 120 gedacht werden, d. h. diejenigen waflfenfähigen
Männer, die zugleich wirtschaftlich selbständig sind und im Gericht sitzen;
denn die Zahl der Waffenfähigen war entschieden gröfser, da die Wehrhaft-
machung der Söhne schon im Alter von 12 — 15 Jahren erfolgte. Aber
trotzdem blieb der Jüngling in der wunt des Familienhauptes, bis er auch
— 225 —
wirtschaftlich selbständig wurde. Die Zahl hundert wurde natürlich nicht
festgehalten, sondern verschob sich, und dies war um so leichter dort, wo
das Fremdwort „Zent*' sich einbürgerte. Die Hundertschaftseinteilung hat
sich im ripuarischen Niederrheinland sogar weiterentwickelt, indem sich dort
kleine als „Hunnschaften** bezeichnete Bezirke finden, die oft nur Dorfleile
darstellen. Wenn die Hundertschaften mit den anderen Bezirken verglichen
Verden, so eipbt sich, dafs die Grafschaft jünger ist als die Hundert-
sdiaft. Die alten grofsen Gaue, die nach alten Völkerschaften, Städten,
Flässen oder Gebirgen benannt sind, werden mit Unrecht mit den späteren
Grafschaften, wenn auch die Namen z. T. dieselben sind, identifiziert. Sie
waren keine politischen Bezirke, deim die Gauver£assung war damals noch
unbekannt, sie bezeichnen vielmehr nur eine Gegend. Nur in Fällen, wo
ein solcher Gau später zu einer Grafschaft oder einer Hundertschaft ge-
worden ist, hat er den Charakter eines politischen Bezirks gewonnen. Die
Hundertschaft ist demnach der einzige politische Verband der germanischen
Urzeit. — In der lebhaften Aussprache, die sich anschlofs, kam im wesent-
bdien die Zustimmung der Zuhörer zum Ausdruck.
Prof. Knapp {Strasburg) sprach unter dem Titel Die rechtshistorischen
Grundlagen des Gddtoesens über die in seinem jüngsten Werke ^) nieder-
gelegten Anschauungen, die darin gipfeln, dafs das Metall nicht, wie die
nMetallisten*' dächten, ein fiir den Begriff „Geld'' wesentliches Element
sei, daüs vielmehr lediglich durch die Staatsgewalt Metall oder Papier
die Eigenschaft des Geldes erhalte. Das Geld im innerstaatlichen Verkehr
sei lediglich ein Erzeugnis der Rechtsordnung, in Wirklichkeit diene das
bare Geld vorzüglich im Verkehr mit dem Ausland. — Wenn auch, da eine
Erörterung nach diesem öffentlichen Vortrage ausgeschlossen war, eine gegen-
teilige Meinung nicht vertreten werden konnte, so machte sich eine solche
doch im Privatgespräch und auch nebenbei in einer Sitzung der Konferenz
von Vertretern landesgeschtchtlicher Publikationsinstitute geltend, über deren
Verhandlungen demnächst berichtet werden soll.
ArehiTe. — Nach Beendigung der Ordnungsarbeiten im Stadtarchive
m Wernigerode, über deren Ergebnisse oben S. 185 — 186 berichtet wurde,
bat Dr. Hans von Wurmb am i. AprU 1906 mit der Neueinrichtung des
Ratsarcbivs zu Frankenhausen begonnen.
Sominisslonen« — Nach 3I jähriger Unterbrechung^) hat die Kom-
mission zur Herausgabe lothringischer Geschichtsquellen am
7- Oktober 1905 wieder eine Sitzung abgehalten unter dem Vorsitze des
^ezirkspräsidenten Grafen von Zeppelin-Aschhausen. Dem von Archiv-
direktor Wolfram erstatteten Bericht über den Fortgang der Arbeiten ist
folgendes zu entnehmen. Von den Vatikanischen Urkunden und Regesten
itr GesMchie Lothringens, die Sauerland bearbeitet hat, ist der zweite
Band (Metz 1905) erschienen, der nicht nur, wie ursprünglich geplant war,
^ 136a reicht, sondern ^e Jahre 1342— 1370 umfafst. — Von den zu
1) Die staatliche Theorie des Geldes (1905).
2) Vgl. diese Zeitschrift 3. Bd., S. 242.
— 226 —
edierenden Chroniken ist die Chronik der Kaiser aus dem luxemburgischen
Hause der Vollendung im Druck nahe, während die Chronique des hSques
de Mete im Manuskript vorliegt und die Chronique de Philippe de Vigneuües,
die 6 Bände füllen wird, etwa zu zwei Dritteln abgeschrieben worden ist. Die
Reihenfolge, in der die Chroniken veröffentlicht werden sollen, wurde be-
stunmt. — Das von Prof. F ollmann (Metz) bearbeitete Wörterbuch der
deutsch 'lothringiscJien Mundarien ist im Manuskript nahezu vollendet. —
Die von Prof. Wichmann bearbeitete Ausgabe der Metzer Schreins-
rollen ist im Manuskript abgeschlossen, aber der Druck kann erst beginnen,
wenn das sehr umfangreiche Register vollendet ist. Dieses wird gewisser-
mafsen ein Adrefsbuch des Mittelalters für Metz darstellen und neben seiner
ortsgeschichtlichen Bedeutung geeignet sein, die Forschung über 2^ahl und
Zusammensetzung der mittelalterlichen Stadtbevölkerung aufs neue an-
zuregen. — Als neue Veröffentlichung wurde die der Cdhiers de doleances
von 1789 in den Arbeitsplan aufgenommen; das sind die Beschwerdeschriften,
die von jeder einzelnen Ortschaft, jedem Bezirk und jedem Stande der
Nationalversammlung eingereicht wurden. Fünf handschrifdiche Bände der
lothringischen cahiers haben sich im Bezirksarchiv in Metz gefunden, andere
werden vermutlich noch in Frankreich ans Licht kommen. Das Reich
tmterstützt diese Publikation mit 7500 Mark. Ferner schweben Verhand-
limgen über die Herausgabe einer Reihe Privaturkunden des XIII. Jahr-
hunderts, die Bibliothekar Bonnardot (Verdun) gesammelt hat und die eine
Ergänzung zu den Schreinsrollen bilden.
In Wien tagte am 31. Oktober 1905 unter dem Vorsitze Sr. Durchl.
des Prinzen Franz Liechtenstein die Kommission für neuere Ge-
schichte Österreichs^). Im Druck erschienen ist der erste Band des
von Hans Übersberger bearbeiteten Werkes Österreich und Bußland seit
dem Ende des XV. Jahrhunderts (Wien, Braumüller 1906), in dem die
politischen Beziehungen beider Staaten von 1488 bis 1605 geschildert
werden. Bald wird das erste Heft einer Schriftenreihe Materialien zur
neueren Geschichte Österreichs ausgegeben w.erden, in der Berichte über die
wichtigsten österreichischen Privatarchive veröffentlicht werden sollen. Der
erste Band der österreichisch- englischen Staatsverträge, der von Prof.
Pribram bearbeitet worden ist und bis 1748 reicht, befindet sich im Druck.
In Bearbeitung befinden sich femer die österreichisch -französischen
Staatsverträge (Staatsarchivar Schütter), die österreichisch -nieder-
ländischen Slaatsverträge (Heinrich R. von Srbik) und die seitens
Österreichs mit Siebenbürgen geschlossenen Konventionen (Roderich
Goofs), während Ludwig Bittner an dem zweiten Teile des Chrono-
logischen Verzeichnisses der österreichischen Staatsverträge, der die Zeit von
1763 bis zur Gegenwart umfassen soll, arbeitet. Die Herausgabe der
Korrespondenz des Kaisers Ferdinand I. ist von Wilhelm Bauer durch
Arbeiten in auswärtigen, durch Karl GoU in Wiener Archiven wesentlich
gefördert worden. Neu wurde unter die herauszugebenden Korrespondenzen
i) Vgl. darüber diese Zeitschrift 6. Bd., S. 137 — 138.
— 227 —
auch die des Kaisers Maximilian II. aufgenommen, und zwar wurde Viktor B i b l
mit ihrer Bearbeitung betraut. Die nach Felhiers Tode von Kretschmayr
fortgesetzte Geichiehte der Organisation der österreichischen Zentralverwaltung
konnte bis jetzt noch nicht in den Druck gegeben werden. — In die Kom-
mission isT neu eingetreten der Direktor des k. u. k. Kriegsarchivs, Feld-
marschalleutnant Emil Woinovich, und der mährische Landesarchivar
Beithold B retholz, während Minister a. D. Anton Rezek auf seine Mit-
fliedschaft Verzicht geleistet hat.
Die 24. Plenarsitzung der Badischen Historischen Kommission ^)
hat am 10. und 11. November 1905 in Karlsruhe stattgefunden. Aus dem
Berichte ist zu entnehmen, dafs die Arbeiten aufserordentlich rüstig fort-
geschritten und vor allem mehrere Werke zum Abschlufs gebracht worden
sind. Als Neujahrsblatt für 1905 ist Ernst Fabricius, Die Besitxnahme
Badens durch die Eömer (Heidelberg, Winter) erschienen; der zweite Band
<ies Oberbadischen Qeschlechterbuches , bearbeitet von Julius Kindler
vonKnobloch, hat mit der 7. Lieferung seinen Abschlufs gefunden; des-
^chen liegt das zweibändige Topographische Wörterbuch des Grofshereog-
Ums Baden, bearbeitet von Albert Krieger, in zweiter Auflage ab-
geschlossen vor; auch von den Begesten der Bischöfe von Konstanz,
bearbeitet von Karl Rieder, ist nun die Schlufslieferung des zweiten
Bandes (Innsbruck, Wagner) fertiggestellt, und das ganze Werk ist damit bis
1383 gediehen. Von der zweiten K\iXt\\}m% dtx Oberrheinischen Stadtrechte,
die den schwäbischen Rechten gewidmet ist, hat Christian Roder
<las erste Heft vollendet, welches die Rechte von Villingen und Heidelberg
enthält, von den Badischen Biographien ist die 7. bis 10. Lieferung des
ftbiften Teiles erschienen. Von den Bömischen Qudlen zur Konstaneer Bistums-
geschichte, die Karl Rieder bearbeitet, befindet sich der erste Band im
Dmck, ebenso das Register zum dritten Bande der Begesten der Markgrafen
«DM Baden und Hachberg, Auch die Fortführung der Begesten der Pfalz-
grafen am Bhein wurde beschlossen, imd zwar wird Graf von Oberndorff
»ter Leitung von Prof. Wille den 2. Band bearbeiten. Von der Ver-
öffimtlichung der Siegeil der badischen Städte ist das dritte Heft in Vor-
bereitung. Die Vorarbeiten zu den vom GroOsh. Statistischen Landesamt zu
bearbeitenden Grundkarten des Großherzogtums Baden gehen ihrem Ende
entgegen. — Mit dem 20. Bande der Zeitschrift für die Geschichte des
Oberrheins, Neue Folge, ist zugleich ein systematisches Inhaltsverzeichnis der
Osten 20 Bände ausgegeben worden; am Register zu den 39 Bänden der
iben Folge arbeitet Karl S o p p weiter. Neu wurde beschlossen, den B r ie f -
Wechsel der Brüder Ambrosius und Thomas Blarer bis 1548
kerauszugd^en und diese Arbeit dem Stadtarchivar zu St. Gallen, Traugott
Schief s, übertragen. — Prof. von Simson hat sein Mandat als ordent-
licfaes Mi^lied der Konmiission niedergelegt, da er aus dem badischen
Staatsdienst ausscheidet und nach Berlin übersiedelt. Durch den Tod verlor
die Kommission das aufserordentliche Mitglied Prof. Theodor Ludwig
{Strasburg) und das korrespondierende, Stadtarchivar Joseph Gdny (Schlett-
I) VgL diese Zeitschrift 6. Bd., S. 139—140.
— 228 —
Stadt). Neu trat als ordentliches Mitglied ein Prof. Georg v. Below
(Freiburg), als aufserordentliches Archivassessor Frankhauser (Karlsruhe)
und als korrespondierendes Archivassistent — jetzt Archivdirektor — Hans
Kaiser (Strafsburg).
Die Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde ^) hielt
ihre 25. Jahresversammlung am 3. März 1906 in Köln ab, und dabei wurde
der Bericht über das Kalenderjahr 1905 vorgelegt. Es wiurden veröfifentlichtr
Urkunden und Hegesten zur Geschichte der Bheihlande aus dem Vati-
kanischen Archiv, dritter Band: 1342 bis 1352, gesammelt und bearbeitet
von H. V. Sauerland (Bonn 1905), Kölnische KonsistorialbesMässe,
FresbyterialprotokoUe der heinUichen KÖlniscJien Gemeinde 157JS — 1596, be-
arbeitet von Ed. Simons (Bonn 1905), Die Urbare der Abtei Werdet^
a. d. Huhr, A: Die Urbare vom IX. bis XIIL Jahrhundert, herausgegeben
von Rudolf Kötzschke (Bonn 1906). Der Druck des zweiten Bandes
der Rheinischen Weistümer, der den kurtrierischen Oberämtem Mayen
imd Münstermaifeld gewidmet sein wird, soll in diesem Jahre beginnen; die
Bearbeitung der Weistümer des Fürstentums Prüm durch Archivar a. D.
Forst ist wesentlich gefördert worden. Der Druck des zweiten Bandes der
Jiitich'Bergischen Landtagsakten I. Reihe soll in diesem Jahre vollendet
werden. Auch der dritte Band der Begesten der Kölner Erebischöfe, der
die Zeit 1205 — 1304 umfafst, befindet sich im Druck, ebenso der vierte
S^<^ (1353 — 137^) dci* Urkunden und Begesten zur Geschichte der Bhein-
lande aus dem Vatikanischen Archiv. Die erste Lieferung des Tafelwerks,.
Die Bheinischen Siegel, die Siegel der Kölner Erzbischöfe enthaltend, ist
bereits gedruckt, der erläuternde Text befindet sich unter der Presse. Von
den QueUen zur Bechts- und Wirtschaftsgeschichte der niederrheinischen
Städte ist der erste Band, der der Stadt Siegburg gewidmet ist, bearbeitet
von Lau, erschienen; Neuis und Deutz werden gegenwärtig behandelt, und
aus dem südlichen Teile der Provinz Boppard, Oberwesel und Trier. Von
den QueUen zur JÜtich-Bergischen Kirchenpolitik im XV. und XV L Jahr-
hundert, die Archivar Redlich herausgibt, ist der erste Band im Drucke
bald vollendet; der Druck des zweiten Bandes wird sich unmittelbar an-
schliefsen. Die Inventarisierung der kleinen Archive ist durch Krude»
wig in den Kreisen Kochem und Prüm ausgeführt worden, aber die Druck-
legung der Übersicht über ihren Inhalt ist noch nicht erfolgt.
Stifter zählt die Gesellschaft gegenwärtig acht, von denen drei gestorben
sind, Patrone 124, Mitglieder 188. Die Gesamteinnahme des Jahres 190S
betrug 34565 Mark, die Gesamtausgabe 30264 Mark; das Vermögen be-
ziffert sich einschliefslich der Mevissen-Stiftung (43 991 Mark) auf 1 14 788 Mark.
Die von der Gesellschaft ausgeschriebenen Preisaufgaben (bis i. Juli 1908^
wurden schon oben S. 201 mitgeteilt* Für die am 31. Januar 1906 Migen
Preisaufgaben sind Bearbeitungen nicht eingegangen.
1) Vgl. 6. Bd., S. 326.
— 229 —
Die im Jahre 1905 gegründete Gesellschaft für fränkische Ge*
schichte ^) veröffeutUcht unter dem i. Januar 1906 den ersten Jahresbericht,
xas dem die erfreuliche Tatsache zu entnehmen ist, dafs schon jetzt 1 5 Stifter
und 90 Patrone die Gesellschaft unterstützen: Stifter wird jeder, der einen
einmaligen Beitrag von mindestens 1000 Mark leistet, Patron jeder, der
sich zu einem Jahresbeitrag von mindestens 50 Mark verpflichtet. Gründungs-
nnd Wahlmitglieder werden 37 gezählt. An der Spitze des sechsgliedrigen
Vorstands steht der Regierungspräsident von Mittelfranken, Ludwig Freiherr
Ton Welser (Ansbach), das Amt des geschäftsführenden Sekretärs bekleidet
Prof. Chroust (Würzburg); neben dem Vorstand steht ein vierzehngliedriger
Ausschufs. Die Einnahmen des Jahres 1905 beliefen sich auf 24663 Mark,
▼ovoD 18000 Mark als „Stammvermögen** in Wertpapieren angelegt sind.
Ausgegeben wurden nur 3370 Mark, so dafs ein ansehnlicher Aktivrest ver-
blieben ist.
Das Programm der jungen Gesellschaft ist bereits in der früher ver-
öffentlichten Denkschrift enthalten, aber eine Reihe der darin näher bezeichneten
Aufgaben ist auch bereits in Angrifif genommen worden. Sogar eine Ver-
öffentlichung ist schon erschienen, nämlich Richard Fester: Franken
tmd die Kreisverfassung ^ (Wtirzburg, H. Sttirtz 1906, 77 S. 8^ mit einer
Karte des fränkischen Kreises um 1750) unter dem Haupttitel: Neur
jahrsbiätter, Jterausgegeben von der Oesdlschaft für fränkische Geschichte, L
Quellenveröffentlichungen liegen begreiflicherweise noch nicht vor. Gearbeitet
wird gegenwärtig zunächst unter Leitung von Prof. Theodor H e n n e r (Würzburg)
an einer Bibliographie der fränkischen Geschichte. Eine Bearbeitung der
fränkischen Kreisakten hat Prof. Fester (Erlangen) übernommen und
in dem genannten Neujahrsblatt bereits ein Verzeichnis der in Frage kom-
menden Archivalien in den Kreisarchiven zu Bamberg, Nürnberg und Würz-
burg, im Geh. Staatsarchiv zu München sowie im Geh. Staatsarchiv in Berlin
und im Haus-, Hof- und Staatsarchiv zu Wien veröffentlicht. Der Umfang
dieser Publikation ist vorläufig auf fünf Bände berechnet, den Inhalt sollen
teils Aktenauszüge, teils Darstellungen bilden. Die Ausgabe der Altdorfer
Universitätsmatrikel wird Prof. St ein mey er (Erlangen), die der Würz-
borger Prof. Merkle (Würzburg) besorgen; die erstere ist schon ziemlich
weit gefördert. Eme Veröffenthchung fränkischer Weistümer wird
durch die Verzeichnung der in den Kreisarchiven zu Würzburg und Nürn-
berg vorhandenen Weistthner vorbereitet. Die Urkundenveröffentlichung,
die gerade in Franken noch recht mangelhaft ist, wird nach dem Grund-
sätze der sog. institutionellen Urkundenbücher ') erfolgen, und zwar wird
aerst das Urkundenbuch des Benediktinerklosters St. Stephan in Würzburg
durch Chroust bearbeitet werden. Als erste QueUenpublikation wird vor-
aussichtlich eine Bamberger Stadtchronik erscheinen, die den Immunitäten-
'^**) (^430 — ^435) schildert, und zwar mit einem Anhange von Urkimden
^d Akten als erster Teil emer Reihe, die den Titel Fränkische Städte-
1) Vgl. 6. Bd., S. 381—286.
2) Vgl. den Bericht Über den Vortrag des Verfassers in Bamberg, oben S. 73.
3) Vgl. daza den Aofsatz von Forst, oben S. 61 — 72.
4) Vgl. die Veröffentlichung aus dem Nachlasse von Köberlin, oben S. 96—98.
— 230 —
Chroniken führen wird. Wie diese Mitteilungen zeigen, sind in den nächsten Jahren
bedeutende Quellenveröffentlichungen zur fränkischen Geschichte zu erwarten.
Eingegangene Bfieher.
Giannoni, Karl: Geschichte der Stadt Mödling. Mit einer Gassen- und
Häuserchronik im Anhange von Dr. Karl Schalk. Herausgegeben von
der Stadtgemeinde Mödlmg. Mödling, Verlag der Stadtgemeinde, 1905.
345 S. 4".
Lange, Edmund: Ergänzungen zu seinem Werke Die Greffswalder Samm'
lung Vitae JPommeranorum (1898) [= Baltische Studien, Neue Folge
Bd. IX (Stettin 1905), S. 55—136].
Miliard, Emest: Une loi historique III: Les AUemands, les Anglais.
Bruxelles, Henri Lamertin, 1906. 292 S. 8^
Negelein, Julius v. : Germanische Mythologie [=» Aus Natur und Geistes-
welt, Sammlung wissenschafUich-gemeinverständlicher Darstellungen, 95.
Bändchen]. Leipzig, B. G. Teubner, 1906. 135 S. i6^ Gebunden
M. 1,25.
Peters, Arnold: Die Entstehung der Amtsverfassung im Hochstift Hildes-
heim (ca. 1220— 1330). Hannover, Gebr. Jänecke, 1905. 64 S. 8^
Schwemer, Richard: Die Reaktion und die neue Ära [<» Aus Natur und
Geisteswelt, Sammlung wissenschaftlich-gemeinverständlicher Darstellungen,
loi. Bändchen]. Leipzig, B. G. Teubner, 1905. in S. i6^ M. 1.25.
Stegmann, R. : Die Grafschaft Lippe im Dreiifsig jährigen Kriege [=s Mit-
teilungen aus der lippischen Geschichte imd Landeskunde III (Detmold
1905), S. 1—155]-
Steinhausen, Georg: Germanische Kultur in der Urzeit [»> Atis Natur
und Geisteswelt, Sanmilung wissenschaftlich -gemeinverständlicher Dar-
stellungen, 75. Bändchen]. Leipzig, B. G. Teubner, 1905. 156 S. i6^
Gebunden M. 1,25.
Wallmenich, Karl von: Der Oberländer Aufstand 1705 und die Send-
linger Schlacht. Mit einem Plane. München, H. Lüneburg, 1906.
164 S. 4^
Wäschke, H. : Das Zerbster Bier [=: Neujahrsblätter, herausgegeben von
der Historischen Koomiission für die Provinz Sachsen und das Herzog-
tum Anhalt, 30]. Halle, Otto Hendel, 1906. 47 S. 8^ M. 1,00.
Wolf, Georg Jacob: Ulrich von Hütten [= Die Kultur, Sammlung illu-
strierter Einzeldarstellungen, herausgegeben von Cornelius Gurlitt, 5.
Band]. Berlin, Bard, Marquardt & Co., 1905. 64 S. 16^. Gebunden
M. 1,25.
Woltmann, Ludwig: Die Germanen imd die Renaissance in Italien. Mit
über IOC Bildnissen berühmter Italiener. Leipzig, Thüringische Ver-
lagsanstalt, 1905. 150 S. Lex.-8^ M. 6,00.
Wustmann, Gustav: Geschichte der Leipziger Stadtbibliothek. Erste
Hälfte: 1677 — 1801 [= Neujahrsblätter der Bibliothek und des Archivs
der Stadt Leipzig II. (Leipzig, C. L. Hirschfeld, 1906), S. i — 122].
Herausgeber Dr. Armm Tille in Leipzig.
Druck ttod Verlag von Friedrich Andreas Perthes, Aktiengesellschaft, Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
MonatsscMft
rar
Forderung der landesgeschiclitliclieii Forschung
Vn. Band Juni xgoö 9. Heft
Die sog. t^efortnation des I^adsers Sigmund
und verwrandte t^eformsehriften
Von
Heinrich Werner (Mayen)
Eine Reformschrift von der Bedeutung der sog. Reformation
Kaiser Sigmunds verdient es, von möglichst vielen Seiten betrachtet
zu werden. Sie in den Zusammenhang mit der mittelalterlichen Publi-
zistik zu stellen, reizte mich um so mehr, als ich auch bei dieser Art
der Betrachtung Stützen fand, die mir geeignet erscheinen, meine
neuen Ansichten über die genannte Reformschrift aufrechtzuerhalten.
Freilich wird diesen von Koehne noch immer heftiger Widerstand
entgegengesetzt ^). Gewifs ist es ihm zu danken , dais er die alten
Anschauungen über die Reformschrift hartnäckig verteidigt; denn
überall, wo Reibung entsteht, da können die Funken der Aufklärung
und Einsicht leicht hervorschlagen. Ich werde deshalb auch diesmal
wieder genötigt sein, Koehnes Behauptungen, die leider an Mifever-
ständnissen meiner Ansichten reich sind, entgegenzutreten. Die sog.
Reformation Kaiser Sigmunds ist „eine früher schon viel bespro-
chene, so wenig verstandene und so viel mifsverstandene Schrift",
schrieb mir Höhlbaum, ein ausgezeichneter Kenner des mittelalter-
lichen Städtebürgertums, nach dem Erscheinen meiner ersten Auf-
ökze *) über diese Reformschrift. Er freue sich , sagen zu können,
dafe ich „vor der Öffentlichkeit doch zuerst den richtigen kritisch-
vissenschaftlichen Maisstab an die sog. Reformation gelegt" habe,
und dais meine Resultate im groisen und ganzen dieselben seien,
zu denen er gelangt sei. Leider war es Höhlbaum nicht mehr ver-
gönnt, dieser Übereinstimmung mit mir auch öffentlich Ausdruck
zu geben. Doch, wie ich höre, wird sein Nachlais veröffentlicht und
/
i) Zur sogenannten BefarmaUon Kaieer Sigmunds im Neuen Archiv der Geseü"
9dkaft fü/r altere deutsche Geschichtskunde, 31. Bd. (1906), S. 314 ff.
3) Deutsche Oeschichtsblätter, 4- Bd., S. i ff., S. 43ff-> S. 171 ff» S. 1939.
17
— 232 —
auch die wichtigen in derselben Richtung gehenden Mitteilungen daraus
werden dabei bekannt werden. Einstweilen mufe ich noch allein die
Bahn zu einem vollen Verständnis der Reformschrift Stück für Stück
frei machen. Zugleich bin ich in der Lage, die Reformschrift durch
Hinzuziehung der gleichartigen Publizistik in ein neues» meinen Ansichten
ebenfalls günstiges Licht zu setzen. Indem sie so in alle möglichen
Zusammenhänge gebracht und aus ihrer isolierten Betrachtung g^ogen
wird, verlieren viele Gedanken der Reformschrift an Originalität, be-
sonders aber an „Radikalismus".
Nach Koehnes neuesten Angriffen ist die Frage nach dem Ver-
fasser von mir nicht gelöst ^) ; denn „ man mufs durchaus an der
Meinung festhalten, dafe der Verfasser unserer Reformschrift in den
Kreisen der Pfarrgeistlichkeit, nicht in denjenigen der halbgebildeten
Juristen*) zu suchen ist". Er setzt mit seiner Widerlegung an dem
schwächsten Punkt meiner Beweisführung ein, weil sie nur eine Hypo-
these darstellt, nämlich an meiner Kombination, der Verfasser sei der
Stadtschreiber von Augsburg Val. Eber gewesen. Aber nur deshalb
ist dieser Punkt der schwächste, wie ich selbst zugebe, weil die Kon-
trolle meiner Ansicht durch den Mangel an archivalischen Veröffent-
lichungen erschwert ist. Was aber Koehne durch persönliche Er-
kundigungen *) in Augsburg über die Persönlichkeit Val. Ebers vor-
bringt, hätte er aus dem gedruckten Material bereits wissen können.
Mir war bei der Abfassung meiner ersten Aufsätze vollauf bewufst, dafe
Val. Eber bei der Abfassung der Schrift noch jung *) war. Daraus
schlieOst nämlich Koehne, daiis es „ausgeschlossen war, da(s ein so
wichtiges Amt wie das des Stadtschreibers einem ganz jungen
Manne anvertraut worden wäre", gibt aber selbst nach der Ermitt-
lung der Lebensdaten Valentin Ebers zu, dais „diese Quelle ftir die Er-
mittlung des Dienstantrittes Ebers nicht schlechthin zwingend"
sei, denn man könnte allenfalls daran denken, dafs er schon öfters
für bestimmte Fristen angestellt worden sei". „Vorher kann er also
nur eine untergeordnete Stellung in der Stadtkanzlei gehabt haben".
Dies Zugeständnis würde mir an sich schon genügen. Aber Koehne
i) Neues Archiv, 31. Bd., S. 318.
2) VgL nnteo, S. 243 ff. wo eine Reformschrift besprochen wird, von der unser Ver-
fasser abhängig ist und die ebenfalls von einem Laien nnd zwar gerade vob einem
Juristen yerfaist ist.
3) Ebenda S. 215 and 3i6.
4) Deutsche GeacfMhUibläiter, 4. Bd., S. 218. „Ebenso ist der Verfasser damals
noch jung, wie er es aach vom Reformkaiser Friedrich yerlangt.^^ Vgl. auch Cenirah
hlatt für Bibliothekswesen^ ix. Bd., S. 249 ff-
— 233 —
übersieht die von mir angeführte Stelle *) , aus der hervorgeht , dafe
Eber bereits Verhandlungen zwischen Augsburg und dem Kaiser
Sigmund geführt hat; dieser war aber bei der Abfassung der Schrift
schon tot. Stand also Eber schon im diplomatischen Dienst der
Stadt Augsburg und wurde er zu den wichtigen Verhandlungen mit
dem Kaiser verwendet noch vor der Abfassung der Schrift, so mufs
dies als Beweis seiner Reife dienen. Die Absicht des Rates war es
gewüs, ihn einmal zum Stadtschreiber aufrücken zu lassen, was er ja
auch wurde, und das genügt, um die Vermutung festzuhalten, Eber
ist einstweilen , wenn auch nicht der Stadtschreiber, so doch der im
diplomatischen Dienst der Stadt Augsburg stehende Beamte, auf den
die Beziehungen zu einem Stadtschreiber ebenso passen, wenn er
sich auch erst im Vorbereitungsdienst zu diesem Amte in der Kanzlei
befindet Koehne hat aber auch meine Beobachtung über noch
eine andere Einzelheit der Schrift, die ich schon ausgesprochen habe,
übereehen: als ich von seiner Jugend sprach, fand ich gerade darin
eben weiteren Stützpunkt ') dafür , dafs Eber der gesuchte Verfasser
sein kann. Der Verfasser unserer Schrift betont nämlich wiederholt
seme Jugend, ja er entschuldigt sich geradezu, dafs er noch so jung
sei, und es wage das Papsttum, ja überhaupt die ganze Christenheit
zu reformieren. Er gebraucht, für das Denken des mittelalterlichen
Menschen bezeichnend g^nug, zu seiner Legitimation Legende und
Prophetie. So sagt er noch in der Einleitung zu seinen Reformplänen :
dock soll man ain urlab nemen von got dem vaier, den in am ardntmg
m seinen, der gotes siaühaUer ist ... . dies soU nu vielleicJU sein, (üs
got wci ordnen mag durch die Mainen, als er tet, da er Josephat ains
tagsers sun von India in seinen jungen tagen, weißheit gab, daß
er seinen vaier und all maister in aüen kunkreichen Indie über-
lam. Er machet seinen vater Christen und aUe reich in India in seiner
Jugend. Hier will der Verfasser von sich zweierlei legitimieren, er
ist jung und ist nicht gelehrt. Das palst auf die Person eines
Stadtschreibers, als eines Halbgelehrten, und auf den damals jungen
Valentin Eber ausgezeichnet. So weisen im Verlauf der Schrift wieder-
holt prophetische Stellen ^) auf die Jugend des Verfassers ; denn er
wül ja gerade mit der Autorität der Prophetie beweisen, dafs er der
berufene Reformer ist. Ja auch der Fund, der gefunden worden ist,
1) Siadiechroniken, 5. Bd., S. 296.
2) Befische GesehidUshläHer, 4. Bd., S. 218.
3) Ebenso wendet der Verfasser das Gleicbnis ans MatthKns anf sich : „ es sei denn,
dalJs ilir werden! als der jung".
17*
— 234 —
die prophetische Kombination auf das Jahr 1439, beruht auf der Vor-
aussetzung der Jugend des Verfassers. Es sei ein sacer pussillus,
der 1439 die Reform durchführe und diese Stelle geht dazu noch auf
den jüngsten Propheten auf Wünschelburg zurück, der von einem
Jenaben die Reform erhoiit ^). Wir sehen, nichts besseres kann ich
für meine Behauptung gebrauchen als die Entgegnung Koehnes,
Valentin Eber sei zur Abfassungszeit ein noch recht, ja fast zu junger
Mann gewesen. Noch etwas möchte ich aufiserdem zu bedenken
geben : Als die Fürsten gegen die städtischen Freiheiten noch weitere
Anschläge machen, eine Stimmung, die ja auch in der fraglichen
Schrift lebhaft anklingt *), da berichtet der Frankfurter Städtebote vom
Augsburger Stadtschreiber, der vü heimliches wußte. Jedenfalls sind
die Akten hierüber, so lange sie nicht hinreichend veröffentlicht sind,
auch für mich noch rucht geschlossen.
Ich komme nun zu dem ersten Mißverständnis Koehnes meiner
Beweisfiihrung gegenüber. Ich machte ihn nämlich auf den Wider-
spruch aufmerksam, dafs sein Pfarrer lucht einmal die sieben Sakra-
mente aufzählen könne, ja die gröisten Dummheiten dabei mache,
und doch wiederholt verlange, dais die gelehrten Priester, die die
Sakramente spenden könnten, auf die Pfarrkirchen gezwungen werden
sollten. Koehne verfolgt die Unwissenheit seines Pfarrers und geht
doch diesem Widerspruch lücht nach ^) ; ja er sucht erstere zu stützen
durch Zeugnisse von Mäimem, die ungefähr 400 Jahre früher lebten (!).
Ich rate ihm übrigens, seinen Pfarrer nicht zu dumm zu machen, sonst
mufs man sich doch fragen, wie ihm diese Reformschrift überhaupt
gelingen konnte. Doch davon abgesehen, ich will jetzt diesen Wider-
spruch, der in der Person des Verfassers mit seinen Ansichten bei
der Annahme Koehnes liegt, noch erweitem. Ich gewinne dann zu-
gleich wieder neues Beweismaterial gerade für meine Ansichten über
die Schrift selbst.
Ich habe schon Koehne darauf aufmerksam gemacht, dafs der
Verfasser als Pfarrer die sieben Sakramente wiederholt aufzählt und
immer an Stelle der Priesterweihe die Orden nennt. Das ist an sich
ein Widerspruch. Mit der Bezeichnung der Orden als Sakrament steht
der Verfasser einzig da. Der Hinweis Koehnes, dafe die „Einweihung
der Mönche" schon früher zu den Sakramenten gezählt worden sei,
I) Vgl. meine Schrift: Die Flugschfift " Ofwa ecckiiae" (Giefsen 1901), S. 83.
3) Deutsehe GescMchMlätter, 4. Bd., S. 212 ff.
3) Neues Archiv, 30. Bd., S. 218 und 219.
— 235 —
triflt, abgesehen von dem grofeen Zeitunterschied (400 Jahre), die Be-
zeichnung unseres Verfassers nicht. Denn als Pfarrer würde er übri-
gens selbst bald eines besseren belehrt worden sein, das Sakrament
der Orden wird er selbst niemals zu spenden Gelegenheit gehabt haben.
Nnn ist aber unser Verfasser ein Feind des Mönchtums, und doch
will er die sieben Sakramente, namentlich auch die orden, bei seiner
Reform überall in den Vordergnmd stellen *). Ja er behauptet sogar,
(laus den Klöstern die sieben Sakramente gar nicht zustehen'), also
auch die orden nicht (? !). An einer atfderen Stelle macht er die viel-
bewunderte Bemerkung, die die Abschaffung des Zölibats rechtfertigen
soll, dafe den Priestern es zukomme, alle Sakramente zu üben*).
Also auch die orden? frage ich Koehne. Das hätte doch der Ver-
fasser als Pfarrer durch seine Praxis längst erfahren, dafs er nicht
anch Ordensmann zu werden brauchte, um Priester zu sein, er, Ordens-
mann, der doch die Orden fast auf den Aussterbeetat setzt, und aus
dem Überwuchern der Orden alles Unheil für die Kirche ableitet!
Das sind alles Ungereimtheiten, aus denen man wie aus so vielen an-
deren bei der alten Annahme über den Verfasser nicht herauskommt.
WTie kam nun der Verfasser zu diesem Widerspruch? Aus seiner mangel-
haften Kenntnis des Lateinischen und seiner Unkenntnis der sieben
Sakramente. Ohne dafs wir die sonstigen Worte des Verfassers
gleiten lassen, dafs seine Schrift eine Übersetzung sei — was
Koehne freilich immer wieder leugnet — , finden wir nicht den Schlüssel
zu diesem Widerspruch. Orden, dieser Plural ist schon auffallend, er
Kefs mich erkennen, dafs hier das Wort ordines in der Vorlage ge-
standen haben mufs. Ordines ist aber der Kunstausdruck für die vier
niederen und drei höheren Weihen der Priester, wie sie immer üblich
waren. Der Verfasser spricht selbst einmal von einer der vier niederen
Weihen : akkölit, er hat also tatsächlich in seiner Vorlage die Priester-
wcUien = ordines gehabt und konnte das Wort nicht übersetzen. Da-
für schreibt er den Pluralis Orden um so lieber, als er damit wieder
einen Gnmd mehr hat, die orden anzufeinden, weil er von der Voraus-
setzung ausgeht, die sieben Sakramente, darunter auch die orden,
würden nicht mehr ordentlich gehalten *). Die falsche Übersetzung pafst
sonnt gut für seine Tendenz, die orden als Laie überall zu geifseln.
i) Vgl. Boehm, Friedrich Beisera BeformaHon des K, Sigmund (Leipzig
1876), S. 167.
3) Ebenda S. 179.
3) Ebenda S. 189.
4) Ebenda S. 167.
— 236 —
Der positive Gewinn aber aus dieser Erkenntnis lehrt
das Gegen teilvon dem, was Koehne behauptet: Die Schrift
haterstens eine lateinische Unterlage gehabt und ist also
zum Teil eine Übersetzung, zu der noch die Erläuterungen des
Übersetzers hinzukommen. Zweitens ist der Verfasser ganz
unmöglich ein Pfarrer, sonst müfste er doch mindestens von
den niederen Weihen (ordinesj etwas wissen und sie nicht mit ördenj
die ire regd nü hdUen, übersetzen, wobei er ganz übersieht, dads er
damit das Sakrament der Priesterweihe, das er in seiner Vorlage hat«
unterdrückt ^). Gleichzeitig hatte ich Koehne auf einen weiteren Wider-
spruch des Verfassers hingewiesen, der darin bestehe, dafis er, der
Priester „jeden Kaiser einen Priester nenne *)". Auch zeigte ich schon,
dais ein Kaiser vor seiner Krönung zwar die niederen Weihen erhielt,
aber niemals zum Priester oder Pfarrer ordiniert wurde. Das hätte
aber der Verfasser, wenn er selbst Priester oder Pfarrer gewesen wäre,
wissen müssen. Er nennt nämlich deshalb „unseren Herrn, den
Kaiser", einen Priester, weil er „ das Evangelium lesen** mufs. Unser
Verfasser denkt offenbar an Kaiser Sigmund, der auf dem Konstanzer
Konzil am Weihnachtsfest das Evangelium gelesen haben soll, wie es
wohl andere Kaiser an diesem Feste auch taten. Was bedeutet nun
dieses Evangeliumlesen in der Kirche? Der Kaiser verrichtet damit
den Dienst eines Diakons, und deshalb wohl gerade am Weihnachts-
fest, weil die Worte des Weihnachtsevangeliums gerade von Kaiser
Augustus handeln, die wohl einen mittelalterlichen Kaiser schmeicheln
konnten. Auch sonst wird vom Kaiser nur überliefert, dafs er bei der
Krönung zum Kleriker gemacht wurde*) und dafs er die „Dienste
eines Subdiakonus leistete***), dafe er aber „geradezu zum Subdia-
konus geweiht wurde**, wie Koehne behauptet, konnte ich nirgends
bei Diemand finden. Das ist auch einfach unmöghch, denn der-
jenige, welcher die höheren Weihen empfängt, nämlich Subdia-
konat und Diakonat, tritt in den geistlichen Stand und übernimmt
die Pflichten desselben, namentlich die Pflicht des Z^Ubats. Die
Überlieferui^ sagt auch nur, dafs der Kaiser die Dienste eines
Subdiakons oder Diakons einmal leistete; jeder versteht den Unter-
i) Aach ist bei der Aafzählong der sieben Sakramente in unverständiger Weise die
Rene nnd Bafse anseinander gerissen worden, um die Lücke fiir die Firmung anszofHUen.
Die letzte Ölung kennt er, wie überhaupt die Siebenzahl.
2) Boehm, S. 239.
3) Vgl. Diemand, Das Zeremoniell der Kaieerhrönungen (München 1894), S. 74*
4) Ebenda S. 87.
— 237 —
schied. Etwas anderes ist es, wenn ein Kaiser vor der Krönung Kleriker
wird» d. h. er empfangt die Tonsur oder höchstens noch die niederen
Weihen ; diese empfingen aber damals alle, die geistliche Bildung ge-
nossen, wenn sie auch dann vor den höheren Weihen ein weltliches
Amt übernahmen, z. B. in die Kanzlei gingen, also einen weltlichen
£enif ausübten. Das ist es aber, was Koehne wiederholt nicht ver-
steht, wenn er behauptet, ich würde dem Verfasser ein sonderbares
Schicksal bereiten, indem ich ihn bald als Kleriker, bald als Laie
bezeichne. Er ist Kleriker durch die Tonsur und niederen Weihen,
wie sie in der Regel damals die Kanzleibeamten besaisen, er ist aber
in einem weltlichen Berufe der Laien tätig und hat so seine Vorrechte
als Kleriker angegeben, nicht aber steht er im Dienste der Kirche,
son^ hätte er die höheren Weihen dazu erlangt, einschliefslich des
Priesteramtes. Damit verstehen wir aber auch, wie der Verfasser auf
einen Kaiser als einen Priester deuten kann, wenn er den von sich
prophezeiten Priesterkaiser Friedrich legitimieren will. Sein Priester-
tum ist kein anderes als das eines Kaisers, der nur Kleriker war, also
wie ein Stadtsdireiber, nur Tonsur und höchstens die niederen Weihen
besais. Unser Verfasser ist also nichts weniger als ein Priester oder
gar Pfarrer.
Da fragt sich nun Koehne: „erübrigt es noch, die mit Recht
herrschende Ansicht über den Verfasser unserer Schrift von neuem
positiv zu erweisen ?*' Nach meiner Ansicht müfste der nun von mir
60 aig durchlöcherte Beweis von neuem geführt werden. Koehne
fihrt dagegen zwei „noch gar nicht beachtete** Stellen vor. Die
eise lautet: uns der papst gegeben hau, sund m vergeben ^). Zunädist
hätte Koehne hier genauer zitieren müssen. Dort heifst es: Und
UH8 ^t der pdbst gegeben « hott sund eu vergd>en, nichts eu erlauben . . .
Diese Stelle ist verderbt, Boehm zeigt dies mit Asterisken an, was
Bach seinen eigenen Worten bedeutet: „nicht ganz unbedenkliche
^endationen oder Worte, die nicht zu emendieren waren''. Die
Stelle ist also bedeutungslos und hat gar keine Beweiskraft, weil sie
dme Zweifel anders gelautet hat. Die andere wichtige Stelle, die für
einen Pfarrer als Verfasser sprechen soll, heifst: nichts daraus beich-
tend. Dies wird von Ratsmitgliedem gesagt. Hier erkennt man so-
fort eine sprichwörtliche Redensart, die noch heute in der katholischen
Bevölkerung mancher Gegenden im Sinne von „nichts verraten" ge-
braucht wird. Darauf fufisend glaubt Koehne schliefsen zu müssen.
i) Boehm, S. 180.
— 238 —
„alles dies bestätigt wahrlich die herrschende Meintmg über den
Autor unserer Schrift in solcher Art (! ?), dafs wohl niemand weitere
Beweise verlangen wird ! " *). Demgegenüber möge der Leser noch-
mals die zahlreichen Stellen meiner früheren Aufsätze ') nachlesen,
die einen Pfarrer als Verfasser unserer Schrift unmöglich erscheinen
lassen. Gegenüber den zwei Stellen Roehnes greife ich ebenMs
zwei beliebige von den zahlreich durch mich angedeuteten heraus.
Schon im Anfang seiner Einleitung, wo der Verfasser von der hohen
Bedeutung der Reichsstädte für die Reform spricht, gibt er seine
Persönlichkeit klar zu erkennen. Da/rumb ir edlen reichstett, sind er-
mahnt das ir ansehent, wie wir von got gefreiel seien, wie wir
uns haUen sullen% Die Reichsstädte sind mit ihr und deren Be-
wohner mit wir angeredet. Die andere Stelle hei&t: Wenn nun die
gemain weli bekennen wirt unser freihait, so ist den gewaltigen häup-
tem ir hraft benamen^), Da/rumb seien wir die gemainen woJd er-
mahnt. Nach Koehne wäre also unsere Freiheit, die Freiheit der
Pfarrer und „wir die Gemeinen** wären ebenfalls die Pfarrer.
Das ist doch offenbarer Unsinn. „Unsere Freiheit ist eben die des
Städtebürgertums**, wie der Zusatz zu obiger Stelle zeigt: „wer weit
lieber eigen sein denn frei?** Femer rechnet sich der Verfasser
nach der zweiten Stelle zu den gemeinen. Was das Wort bedeuten
soll, sagt die erste Stelle, hier ist es gebraucht in gemaine u^%
Dieser Ausdruck bedeutet unzweideutig: „die Lfaien**. So wird das
Wort auch vom Zeitgenossen Valentin Ebers, Eberhard Windecke,
der übrigens auch selbst ein Laie war, im Gegensatz zu den Geist-
lichen gebraucht^). Wir die gemainen bedeutet also klipp und klar:
„wir, die Laien**. Der Verfasser steht deutlich vor uns. Koehne
richtet aber mit diesem Wort gemain, das wiederholt in der Schrift
vorkommt, eine sonderbare Begriffsverwirrung an. Das Wort wird
von dem Verfasser in dreifachem Sinne gebraucht; Koehne aber
macht daraus in seiner letzten Entgegnung nur einen Begriff und
zwar den politischen, nämlich „die Gemeinde**^. Gewifs versteht
der Verfasser auch dieses unter dem Worte die gemein, und es ist
i) A. a. O. S. 221.
3) Vgl. diese Zeitschrift, 4. Bd., S. 7. 48. 49. 173. 207.
3) Boehm, S. 162.
4) Ebenda S. 247.
5) Sonst hfinfig: gemein Christenheit
6) Altmann, Eberhard WindeckeB DenhwürdigkeiUH tur C^eachichU des
ZeitaUers Kaiser Sigmunds (Berlin 1893), S. 350.
7) A. a. O. S. 234 f.; aach Boebm, S. 217: gemainde aasdrücklich genannt.
— 239 —
auch schon längst bekannt, dafs darunter die nicht zünftigen Bürger,
also die Glieder der niederen städtischen Bevölkerung, zu verstehen sind,
wie es auch für Augsburg von Boehm bereits ausgesprochen worden
ist '). In diesem Sinne gebraucht unser Verfasser das Wort wohl dreimal *).
Auiserdem wendet der Verfasser dieses Wort gemain als Eigenschafts-
wort an für „gemeinsam"'); besonders deutlich läfst sich dies er-
kennen S. 249, wo es heilst gemainen stoity wo die Vorlage, wie ich
unten zeigen werde, communis hat. Davon ist dann auch das Sub-
stantivum gemainsami = Gemeinsamkeit *) gebildet. Das ist die natür-
fiche Bedeutung des Wortes gemein, die nichts mit dem politischen
Begriff „Gemeinde'* zu tun hat. So wird der Ausdruck aber auch
mehraials in dem Kapitel über die Zünfte gebraucht und deshalb
von Koehne') in diesem Zusammenhang mi&braucht, weil nach Ab-
schaffung der Zünfte nicht alle der Gemeinde angehören würden
— denn dann würde dieser Begriff durch den Wegfall des anderen
(Zonft) gegenstandslos — , sondern äUe ding wären gemein {= gemein-
sam) und Jierren und jedermann wären ihnen auch gemain (= gemein-
sam) hielten mit ihnen und kämen in die Städte, die sich dann
grossekUch auffeten (= vergröfeerten). Aber noch eine dritte Bedeu-
tung hat dieses Wort gemain in der Schrift, und das ist die wichtigste
fiir unsere Betrachtung. Sie liegt hauptsächlich vor in den drei
Wendungen gemaine Christen % gemain weit ^) und wir die gemainen %
Der erstere Ausdruck kann uns gerade durch die Stelle, wo er steht,
zum Schlüssel zu den übrigen werden. Der Verfasser hat seine Schrift
deshalb übersetzt, um die gelehrten und deshalb lateinisch geschrie-
benen Vorlagen zu popularisieren, 0U ainem bekennen allen gemainen
cfaisfon in der Christenheit Hier ist gemain gebraucht im Sinne von
»mcht gelehrt**, es bezeichnet die Laien sowohl der Kirche als
auch der Bildung gegenüber. Dies ist bei der zweiten Wendung
ifmain weU ebenso sicher der Fall. Eberhard Windecke, wie
*^^ gesagt, ebenfalls ein Laie und auch Zeitgenosse Ebers, ge-
'sancht dasselbe Wort in dem unzweideutigen Gegensatz zur Geistlich-
0 S. 44.
2) S. 198. 205 und 217.
3) S. 217 mehrmals.
4) Ebenda zweimal.
5) A. a. O. S. 235.
6) Boehm, S. 171.
7) Ebenda S. 247.
S) Ebenda S. 238.
— 240 —
keit ^). Somit mufis der Ausdruck wir die gemainen ebenfalls den Sinn
haben „wir, die Laien**: also der Verfasser ist unbeding^tein
Laie. Ebenso werden in den Augsburger Chroniken, 3. Band (1892],
S. 104 für das Jahr 1449 tkumherm und pfaffen dem „gemeinen Volk"
gegenübergesetzt. Koehne sieht in allen diesen Wendungen irrigerweise
den politischen Begriff „die Gemeinde'* und ist schlie&lich doch noch der
Ansicht, unser Verfasser „konnte*' bei dem Ausdruck wir diegemainm
sich „selbst zu den Gemeinen zählen, infolge seiner bescheideoen
Stellung**. Um eine „bescheidene Stellung** handelt es sich hier
nicht, sondern nach Koehne um einen „Pfarrer**; dieser kann
sich nie direkt als Laie bezeichnen, während sich doch schUe&lich
aus Laien auch die von Koehne hier fälschlich angenommene Gemeinde
rekrutierte. Pfarrer und Laie schliefsen sich gegenseitig aas.
Übrigens hätte auch die von Koehne selbst neu angezogene Stelle
ihn auf eine andere als politische Bedeutung von gemain fuhren
können. Er bringt nämlich die Worte *) eines Klerikers , in denen
dieser die Machtlosigkeit zur Reform von selten der Geistlichen ein-
gesteht. Dieser fahrt dann fort: es were den, das das gemein voi
und die reichste^ die äugen bas außheten. Diese Stelle zeigt eben-
falls das Wort gemein in der Bedeutung von Laien, im Gegensatz zo
den Geistlichen und hat namentlich durch seinen Zusatz die Bevöl-
kerung der Reichsstädte im Auge. Damit ist aber auch wieder ein
Beleg gegeben für die Möglichkeit, dals ein Laie und Reichsstädter
einmal selbst die Reform in die Hand nahm. An dieser Stelle ist es
als Wunsch ausgesprochen, an den von mir schon früher beigebrachten
Worten als Drohung *). Wir haben also in unserer Schrift tatsächlich
erfüllt, was von Geistlichen in jener Zeit, ja vom Präsidenten des
Baseler Konzils selbst ^), teils gedroht, teils gewünscht wurde, nännlich
eine Reform von unten nach oben, von den „Kleinen** das sind, (&
Laien, der dritte Stand, die Reichsbürger, da die berufenen Häuptel
SiMafen, wie unser Verfasser sagt, d. h. da sie unfähig sind. Diese
Reformbewegung setzt hier zunächst auf dem Papier ohne revolutionäre
Ideen, aber unter der Hülle der städtebürgerlichen Selbsthilfe ein
1 ) A 1 1 m a D Q , a. a. O., S. 350. DiegoUdienst verleih also lang durch eitel geisigM
und eigen vdllen, hamut, groß hoff ort wnd nicht nur gotz ert wnd der gemeinen verlde
nütz, warnt der merteil der pfaffheit, die toam aUo gestalt, daß eie die leien gern
hetten ferdrungen . . .
2) Ebenda, S. 333.
3) Vgl. Historische Vierte^ahr9chrift, 5. Bd., S. 476 f.
4) Ebenda.
— 241 —
und umfafist noch Staat und Kirche, schreitet fort unter der Verstär-
kung', die ihr zuteil wird von den steigenden kirchlichen und sozialen
Müsständen und der durch die Prophetie genährten Erregung und
findet schlieüslich unter der Einwirkung der Reformation ihren sozial-
revolutionären Ausbruch in dem sogenannten Bauernkriege.
Auch noch eine kleine sachliche Bemerkung sei neu hinzugefügt :
Unser Verfasser ist für die Abschaffung der feierlichen Begräbnisse
and Anniversarien, offenbar weil beide Einrichtungen den Pfarrern zu
hohe Stolgebühren eintrugen. Deshalb wendet sich die Geistlichkeit
auf den Provinzialsynoden jener Zeit gegen „die Bürgermeister, Ge-
meinden und Zünfte, die gute und löbliche Bräuche abschaffen
wollen, wie Begräbnisse und Anniversarien" *). Also gehört unser Ver-
äflser diesen Kreisen an, die dieselben abschaffen wollen ; kurzum es
hieise, Eulen nach Athen tragen, .nach den von mir an früheren
Stellen und hier beigebrachten Tatsachen weitere Beweisgründe vorzu-
führen. Auch meine Argumentation über die Elntstehung der Schrift
hat Koehne in ähnlicher Weise mifsverstanden. So behauptet er,
Valentin Eber hätte nach meiner Ansicht eine „offizielle Schrift" ')
geschrieben, ohne anzugeben, wo ich diese Worte gebraucht habe.
An einer Stelle nur habe ich davon gehandelt '). Diese lautet :
7, Unsere Schrift gibt sich aufserdem durchaus als eine offizielle .,.
vnd ist insofern , privat* als sie offizielle Ratschläge und Beschlüsse
. . . von einem rein persönlichen Standpunkt erläutert darbietet" Jeder
Mann versteht, was es heifst: „sie gibt sich", doch so viel als sie
tut, als ob sie offiziell wäre und sie hat sogar offizielle Beschlüsse,
ich meinte Konzils- und Städtetagbeschlüsse , in sich aufgenommen,
ist aber privater Herkunft, also ohne offiziellen Auftrag, der Auftrag
lie^ eben in der Prophetie, als in einem höheren Auftrag, den der
Verfasser auf sich bezieht. In einer ganz unverständlichen Weise
mtfideutet Koehne eine andere Anschauung von mir. Ich hatte näm-
^ darauf hingewiesen ^), dafs man seither den Verfasser wegen seiner
fiibelkenntnis und weU er lateinisch versteht gern als Pfarrer be-
zeichnete. Letzteres suchte ich dadurch zu widerlegen, dafs ich
zeigte, der Verfasser habe in der prophetischen Stelle vom sacer
pussiüus offenbar in den lateinischen Text derselben temo nono gesetzt,
•lui DiözetamkonnUm vom IV.'-XIV. Jahrhundert (Mainz 1848), 7. Bd., S. 460.
3) k. a. O. S. 318.
3) Diese Zeitschrift, 4. Bd., S. 216.
4) In meiner Schrift ttber *imm eccluiae, S. 88.
— 242 —
um das Jahr der Veröffentlichung der Schrift 1439 darin stehen zu
haben. Dabei sei aber 1400 gar nicht und 39 falsch übersetzt^).
Daraus macht nun Koehne: ich ginge von der stillschweigenden
Voraussetzung aus, da(s die Prophezeiungen (! ?) des Verfassers aus dem
Deutschen ins Lateinische übersetzt seien '), obschon ich dies doch nur
von der genannten Jahreszahl 1439 behauptete, die, wenn auch temo
nono in dem ursprünglich lateinischen Texte stände, doch falsch ins
Deutsche übersetzt wäre. Aber Koehne geht in seiner Mifisdeutung
noch weiter und behauptet sogar, „ ich hielt diese Stelle für eine fehler-
hafte Übersetzung eines Deutschen des XV. Jahrhunderts".
Auch nicht eine Silbe habe ich davon geschrieben und Koehne weife
auch nicht die betreffende Stelle anzugeben.
Der Vorwurf Koehnes gar, als habe ich das von mir behauptete
fremde Eigentum der Reformschrift nicht nachgewiesen, noch nicht
einmal eine äulserliche Ähnlichkeit oder die Übereinstimmung in der
Aufeinanderfolge, geschweige denn im Inhalt '), beruht auf seiner Un-
kenntnis mit meinen Aufsätzen. Ich habe dort wiederholt auf sach-
liche Übereinstimmungen *) und namentlich die gleiche Anordnung
unserer Schrift wie bei anderen Reformanträgen hinweisen können.
Ich habe auch ausdrücklich die Schwierigkeit betont *) , die Überein-
stimmung von Wort zu Wort zu konstatieren, da hier eine Übersetzung
aus lateinischen Vorlagen zugrunde liege und die Übersetzungskunst
schlecht zu sein scheint, ja wir noch nicht einmal feststellen können,
wie weit des Verfassers Übersetzung geht, da er ja auch eigenes nach
seinen eigenen Worten als Erläuterung hinzugegeben hat. Aber ich bin
jetzt sogar in der Lage, eine Schrift namhaft zu machen, die genau
so disponiert war wie die unserige. Das aber ist es gerade, was
Koehne für alle Zeiten als unmöglich hinstellt •).
i) Übrigens ist nur 30 falsch übersetzt. Das kommt daher: in der Prophetie des
WOnschelborg stand die Zahl 1409; denn sie ist in diesem Jahr entstanden. (Vgl.
meine Schrift über *anu8 ecclesitu, S. 8a, Anm. 4). Sie wurde aber für das Jahr
1439 wegen der kirchenpolitischen Spannnng dieses Jahres mehrfach verbreitet. Unser Ver-
fasser hat sie deshalb anch fUr seine Schrift benatzt, die ebenfaUs wie die genannte
Prophetie 1439 erschien. So hat er 30 mit temo als in der lateinischen Vorlage stehend
von sich ans willkürlich angenommen.
2) Nenes Archiv, 31. Bd., S. 219.
3) A. a. O. S. 223.
4) Vgl. diese Zeitschrift, 4. Bd., S. 5. 6. 8. 10.
5) Ebenda S. 53.
6) In der Zeitschrift ßr Sozial' und Wirtschaftggeschichte, 6. Bd. (1897), S. 410:
„Es mnfs von vornherein bemerkt werden, dafs eine bestimmte, andere ReformvorscbUtge
enthaltende Schrift nicht nur nicht nachzuweisen ist, sondern auch schwerlich existiert bat^^
— 243 —
In einem früheren Aufsatz dieser Zeitschrift habe ich die Über-
eiDstimmung der Reformanträge des Andreas v. Escabor mit un-
serer Schrift dahin gekennzeichnet, dafis die Reihenfolge der Vorschläge
genau dieselbe ist wie die Anordntmg der ersten Hälfte unserer Schrift,
ja dais Abschnitte daraus fast wörtlich in unserer Reformschrift wieder-
klingen ^). Mufste ich auch sachliche Differenzen konstatieren, so
waren diese begründet in der verschiedenen Persönlichkeit der Ver-
fasser: Andreas v. Escabor war Geistlicher, unser Verfasser ein Laie *).
Diese Reformanträge lehnen sich aber nach ihrer eigenen Motivierung
an eine Reformschrift des bekannten Jul. Cesarini, Kardinallegaten
und Präsidenten des Baseler Konzils, an, die dieser in der Zurück-
gezogenheit zu Klein-Basel im Jahre 1435 verfafet hatte*). Die Schrift
ist bis jetzt noch nicht ans Tageslicht gezogen worden, und doch
war sie sehr bekannt und viel begehrt; auch der Abt vom Kloster
Tegemsee verlangt sie von dem Vertreter seines Klosters in Basel.
Ulrich Stöckel kann aber das Verlangen seines Vorgesetzten nicht
befriedigen und schreibt zurück^): Bern als ir begert Hb eil um re-
formationiSf das dorn, legatus gemacht Juxt, das mag ich nit gehaben^
tnum ein einziger mensch nü ist in Mo concilio, der kopieen iüitis
VbdU habe oder gehaben mag; dann dorn, legatus will es allein bei ihm
idUen und geit nur pariem, einen artikel oder eween, darauf man avi-
sieri per deputaciones. Es hai auch dasselb libeU jetzo mehr denn jnoeen
motuU geslaffen, wann das conciUum jeteo laboriert super pratnsione
papae et dominarum ca/rdindlium. Aber das wenige, was wir von dem
Inhalt und namentlich von der eigentümlichen Disposition der Schrift
wissen, deckt sich vollkommen mit unserer Schrift Ich konnte schon
an einem anderen Orte den Kardinallegaten Cesarini als Gesinnungs-
genossen der Magister und Doktoren und somit des Verfassers unserer
Schrift insofern anziehen, als in dieser sowohl wie in jenen Kreisen
die von dem Präsidenten des Baseler Konzils während der Tagung
aasgesprochene Meinung geteilt wird, dais die Prälaten die Schuld
daran trügen, weim die Reform noch immer nicht durchgesetzt sei ^).
Ja Cesarini hat wie die mit unserer Schrift verwandten Kreise eben-
falls auf die drohende Haltung der Laien bei weiterer Sperrung der
I) Vgl diese Zeitschrift, 4. Bd., S. 45 ff-
a) Ebenda S. 47-
3) Momummta eoneiKorum generoKum aaecuU XV., 2. Bd. (Wien 1873), S. 781.
4) Haller, ConcHkim Basüieme, i. Bd. (1896), S. 92.
5) Hittariiehe Vierte^ahnchrift, 5. Bd., S. 476.
— 244 —
Reform durch die Prälaten hingewiesen. Hierin liegt eine bei einem
Kardinallegaten, der doch auch zu den Prälaten gehörte, gewifis be-
merkenswerte Geistesverwandtschaft mit den Prälaten des sog. zweiten
Status und deren Anhang, den Laien.
Aber seine Schrift umfaüste ebenfalls den geistlichen und welt-
lichen Stand, die Laien. Das ist ein charakteristischer Zug dieser
Reformschrift, der nirgends wiederkehrt als in den Reformanträgen
des Andreas v. Escabor; dieser aber hat nach seiner eigfcnen Er-
klärung die Reformschrift des Cesarini gekannt und sie in der Dispo-
sition genau nachgeahmt. Er sagt darüber: Julius Cesarini oancepii Sep-
tem genera christianorum seculariutn et ecclesiasiicarum refortnare
tarn in membris quam in capüe und zwar nach dem Einteiltingsgmnd
der sieben Gaben des hl. Geistes *). Andreas v. Escabor disponiert
seine Anträge ähnlich mit Einbeziehung des geistlichen und weltlichen
Standes. Ulrich Stöckel hat uns aber die Disposition des libdlum
reformatianis genau hinterlassen. Er nennt es zunächst einen puHcher-
rimum tractahim und fährt dann über den Inhalt desselben fort: prima
pars est de reformaüane capitis, videlicet papae et dominorum cardtna-
lium, secunda pars est de episcapis et prelatis, tertia de curatis, quarfa
de canonids, guinta pars de reUgiosis, sexta de laids, septima erü com-
munis. An dieser Disposition ist auffallend, dafs die Pfarrer vor den
Kanonikern aufgezählt werden. Ich habe dies schon früher *) zu er-
klären gesucht aus der Parteinahme des Verfassers für die Pfarrgeist-
lichkeit. Jetzt haben wir aber die Vorlage gefunden, der die Dispo-
sition nachgebildet ist. Der Verfasser empfindet ebenfalls das Be-
dürfnis, an der betreffenden Stelle seiner Schrift zu begründen, warum
gleich nach den Bischöfen über die Pfarrer gehandelt wird mit den
Worten: nun soU man aller pfarrhirehen Ordnung merken, wann sy
die wirdigosten nach bischofflichem stat sind^). Ebenso
steht die Reform der Laien an derselben Stelle wie in unserer Schrift
Aber noch merkwürdiger ist die Übereinstimmung beider Schriften in
dem Schlufisteil , bei Cesarini von Ulrich Stöckel kurz pars communis
genannt, worunter ein Teil zu verstehen ist, der diejenigen Personen
behandelt, die beiden Ständen „gemeinsam'* sind, nämlich den
Stand der „Laienbrüder 'S die ja nicht völlig zu den Geistlichen und
i) Ebenso tagt unsere Schrift wiederholt, es sei zu reformieren Tom Jumpt b*^
/tum mindesten, genta wie Stöckel von Cesarinis Reformschrift beriditet, sie woUe
reformctre eaput . . . usgue ad infimum.
2) Vgl. diese Zeitschrift, 4. Bd., S. 12.
3) Boehm, S. 186.
— 246 —
Ordensleuten gehören, aber auch nicht zu den Laien. Bei unserem
Verfasser heilst es nach der Reform des weltlichen Standes : man soll
sber merken ainen gemainen sicU, der die tveÜlichen und geisüichen
mmkrti; er meint darunter die Laienbrüder verschiedener Orden.
Daraus ist unbedingt zu folgern, dais unsere Schrift nach der Reform-
schrift Cesarinis angelegt ist und ihr auch an Umfang entspricht. Ein
näherer Vergleich des Inhalts ist leider nicht mögUch; der allerdings
unzulängliche Vergleich durch das Mittel der Reformanträge des An-
dreas V. Escabor läfst aber auch hierin Übereinstimmung vermuten.
Ja vielleicht ging diese noch weiter in Anbetracht der oben erkannten
dgentümltchen, aber mit unserer Schrift übereinstimmenden Stellung
Cesarinis zu den Prälaten. Unsere Schrift ist aber infolge dieser Ab-
hängigkeit von einer genau so disponierten Schrift nicht mehr in zwei
Teile, wie früher schon geschehen ist, auch nicht in vier Teile ^) zu
zcrl^en, sondern in sieben, und diese wieder in Kapitel. So kommt
man nicht nur auf die ursprüngliche Anlage zurück, sondern schreitet
aocb fort zu einer brauchbareren Gestaltung derselben.
Von den nun von Koehne angeführten Parallelstellen aus dem
Schwabenspiel wären, die Richtigkeit der Behauptung Koehnes voraus-
gesetzt, doch nur zwei „ für die Erkenntnis des Charakters der Reformation
Kaiser Sigmunds von grofser Wichtigkeit*)".
Zunächst ist es die Stelle: alles ^ das in dem buich geschrieben
skU *), hon ich von hoher maister toeysunge, gunst und willen und
kre dise Ordnung gemachet und von latein gcUeuisch gu ainem bekennen
QÜen gemainen Christen in der christenhait . Diese Worte sollen ent-
lehnt sein aus dem Schwabenspiegel: alle die recht, die in diesem
htA geschrieben slehn, haben funden . . Sävester und Konstantinus . . .
•Hl weiser meister lere. Zunächst fällt hier jedem auf, dafs in der an-
gebUchen Vorlage etwas wesentliches fehlt, tmd zwar gerade dasjenige,
was so wichtig ist „ für die Erkenntnis des Charakters der Schrift ", näm-
^ die Aussage, es handle sich um eine Übersetzung aus dem
iateiniscben ins Deutsche. Wie steht es nun mit dem anderen Ge-
danken, dafs unsere Schrift zum Teil fremdes Eigentum ist? Jeder mit
<fer mittelalterlichen Literatur einigermafsen vertraute weifis, dais man gern
(üe Worte einer bekannten und berühmten Vorlage benutzte, um damit
•eine eigenen Gedanken vorzutragen; es könnte also sehr wohl unsere
Schrift deimoch ein tatsächliches Verhältnis zu gelehrten Vorlagen
1) Wie Koehne es tnt Neues Archiv, aß. Bd. (1898), S. 727.
2) N. A. 31. Bd^ S. 224 flF.
3) BoehiD, S. 171.
— 246 —
mit den Worten des Schwabenspiegels zum Ausdruck bringen, aber
dieses tatsächliche Verhältnis wird auch durch eine andere Stelle unserer
Schrift nochmals gestützt und hier ohne Anlehnung an irgend
eine Vorlage. So sagt der Verfasser im Sinne Kaiser Sigmunds*):
nun tun wir aber ee toissen, dass wir mit höhen wysen diese
urhund, als sy an ir seJbs beschehen ist, erleutert haben und finden
darin, das warlich gottes manung ist, das wirf nun von stück au stück
erUUert, eu einem rechten "bekennen pracht. Es ist also „diese Wendung",
wie Koehne meint, nicht „ nur deshalb gewählt worden, um die Wirkung
der Schrift auf die Leser zu steigern **, sondern sie entspricht einem tat-
sächlichen Verhältnis, in dem unsere Schrift zur Konzilsarbeit zu Basel steht
Dies wird noch besonders bestätigt durch die Beachtung des hier und sonst
häufig vorkommenden Gedankens „der Eriäuterungen" des Verfassers,
die neben die verdeutschen Vorlagen traten. Auch dieser Gedanke,
mit dem Koehne ebensowenig etwas anzufangen wei& wie mit dem
Vorgeben des Verfassers, seine Schrift sei Übersetzung gelehrter
Vorlage, hängt eng mit dea kirchenpolitischen Verhältnissen jener Tage
in Deutschland zusammen, wie ich demnächst in einem zusammen-
fassenden Aufsatze zeigen werde.
Ebensowenig vermag Koehnes Nachweis von der Anlehnung einer
anderen wichtigen Stelle an den Schwabenspiegel, die ich als die
„Proklamierung der städtischen Freiheit für alle feudal Abhängigen"
erklärt habe, zu entkräften. Wer die Stelle bei Koehne *) vergleicht,
findet, dafs einige Worte übereinstimmen, eine Übereinstimmung, die
sich auch an eine andere Stelle anlehnen köimte '). Der feierliche
Protest unseres Verfassers aber fehlt im Schwabenspiegel ganz, weU eben
der politische Hintergrund fehlt, das ist der der Bedrohung der städte-
bürgerlichen Freiheit durch die Fürsten in den Jahren 1438 und 1439;
dafs es sich nur um die städtebürgerliche Freiheit handelt, geht aus
einer Reihe von Stellen der Schrift selbst hervor, die ich wiederholt
anführen mu(ste. Nur auf die markantesten wUl ich nochmals hin-
weisen : tmd ir wirdigen reich stett .... ir habt eure freiheit ven der
Christenheit oder wenn die gemeine weit bekennen wird unsere freihdi
und wer wiU lieber eigen sein denn frei? Wir sehen, unsere Aus-
legung der Reformschrift hängt nicht von einer Stelle ab, die etwa
Anklänge oder auch wörtliche Übereinstimmung mit einer anderen
i) Boehm, S. ^44.
3) Neaes Archiv, 31. Bd., S. 225.
3) Vgl. diese ZeiUchrift, 4. Bd., S. 199.
— 247 —
Quelle haben könnte und die deshalb ihren Wert verlöre, sondern
von einer Fülle über die ganze Schrift zerstreuter Einzelheiten. Eine
Widerlegung dieser Art wird deshalb auch immer scheitern: die
Schrift als Ganzes steht immer hinter uns. Um aber auch weiterhin
dn richtiges Verständnis der bedeutenden Reformschrift anzubahnen,
bedarf es noch ihrer Betrachtung im Rahmen der mittelalterlichen
Publizistik ^). Das heilst sie in anderer Hinsicht aus ihrer Vereinzelung
befreien, imter der die sachgemäüse Beurteilung der Reformation Kaiser
Sigmunds seither so sehr gelitten hat. Vielleicht ergeben sich daraus
Züge, die dazu zwingen, sie in einer bestimmten Unterabteilung dieser
Literaturgattung zuzurechnen. Es ist aber auch möglich, dafs die
daraus gewonnenen Resultate unserer Beweisführung selbst zu gute
komme; jedenfalls aber verheifse ich hier nicht eine vollständige
Lösung dieser Aufgabe, sondern möchte nur die Richtung bezeichnen,
in der man vorgehen mufs, wenn sie gelöst werden soll«
Einer der für die Publizistik fruchtbarsten Kämpfe war der
kirchenpolitische Streit zwischen Bonifaz VIII. und Philipp dem
Schönen von Frankreich um das Jahr 1300; er hat aber auch für die
Folgezeit vorbildlich für die deutsche Reformschriftliteratur gewirkt
Um das an unserer Schrift beobachten zu können, müssen wir uns
einem bestimmten Kreise von Vertretern dieser Publizistik nähern. Ich
folge dabei den verdienstvollen Ausführungen von Richard Scholz
in seinem Buche Die Putlixistik eur Zeit Philipps des Schönen und
Banifcus VIIL (Stuttgart 1903).
Neben der grofisen Schar von Prälaten, Legisten und Kanonisten,
die auf beiden Seiten der Kämpfenden den Federkrieg führten, treten
auch drei Beamte des französischen Königs für diesen in die Schranken.
Von ihnen wiederum ist „der erste typische Publizist des Mittelalters''
der „untergeordnete Beamte und königliche Advokat" Peter Dubois *).
Schon in der Schrift Antequam essent derid aus diesem Kreise wird
dementsprechend das Laienelement in den Vordergrund gestellt').
Es geschiebt dies, um den Laien in Frankreich das Recht zu vindi-
zieren, einen Papst abzusetzen. Dieses gesetzwidrige Vorgehen wird
nun mit denselben Gedanken begründet wie es unser Verfasser bei
seinem Reform versuch von unten nach oben tut, nämlich mit dem
Hinweis auf die parvtdi, die Kleinen, „denen Gott seinen Willen ofTen-
i) VgL meinen AufsaU Kirehev^ und sozicUpolitisehe Publigistik im Mittet"
sUer in dieser ZeiUchrift, 6. Bd., S. 65—88 and S. 105— 116.
2) Scholx, S. 355.
3) A. «. O. S. 360.
18
— 248 —
baren kann" *). Dieses Beispiel zeigt, dafs schon kurz vor 1300 der
Ausdruck parvuli, die Kleinen, zur Bezeichnung für die Laien und
das Bürgertum gerade im Gegensatz zu den Geistlichen im Gebrauch
war, also für den dritten Stand und nicht für die „Gemeinde** oder
die niedrigste Bevölkerung der Stadt, wie Koehne zuletzt behauptet
hat ^). Offiziell waren ja die Reichsstädter, also der dritte Stand, schon
längst als humiles gegenüber den nöbiles, dem Fürstenstand*), be-
zeichnet worden.
Treten wir aber erst der vielseitigen puplizistischen Tätigkeit des
Peter Dubois näher, so ergeben sich der Berührungspunkte noch mehr.
Er ist schon lange gefeiert worden, „wegen seiner eigentümlichen,
auffallenden Gedankenwelt**, wegen seiner „modernen Ideen**. Ganz
so mufsten wir unseren Verfasser charakterisieren. Er nimmt genau
dieselbe Stellung innerhalb der Reformpartei zur Zeit des Baseler
Konzils ein, wie Peter Dubois unter den Publizisten seiner Zeit. Wir
glauben unsere eigenen Worte über den Verfasser der Reformation
Kaisers Sigmund zu hören, wenn wir die Worte, die Scholz über
Peter Dubois S. 375 ff. sagt, hier folgen lassen: „Er ist der einzige
unter den Publizisten, aus dessen Schriften etwas mehr als die schola-
stische Tradition und Gelehrsamkeit mit ihrer unter Formeln und
Dialektik fast erstickenden Gedankenwelt zu uns spricht, bei dem wir
eine klare Vorstellung von den gärenden, oft noch unklaren und
widerspruchsvollen Ideen erhalten, die damals in den regeren Geistern
unter den Gebildeten sich bemerkbar machten und das Kommen einer
neuen Zeit ankündigten.** „Das liegt bei Dubois zum guten Teü
daran, dafs er kein zünftiger Gelehrter ist, kein Universitäts-
magister, sondern ein Mann der Praxis, ein praktisch tätiger Jurist,
ein Laie, der mit dem lauten Treiben seiner Zeit in täglicher Be-
rührung stand.** „Sein Advokatenberuf begünstigte offenbar seine
Neigung, überall Nachrichten und Neuigkeiten zu sammeln.** Diese
Charakteristik stimmt so zu der, die ich von dem Verfasser der Refor^
mation des Kaisers Sigmund gegeben habe, dafs wir nur den Namen
des Advokaten Dubois durch den des Stadtschreibers Valentin Eber
zu ersetzen brauchen.
Welches sind nun Dubois' moderne Ideen? Der Laie Peter Du-
bois hat die Absicht, eine durchgreifende Reform der gesamten
i) Ebenda S. 371. Vgl. Matth. 11, 25; Lok. 10, 21 and dazu Boehm, S. 169,
2) Neues Archiv, 31- ^^-> S. 235.
3) Vgl. Becker, Inittative zum rheinischen Städtebund (Giefsener Diss. 1899),
s. 74.
— 249 -
Christenheit schon im Jahre 13CX) vorzunehmen *). Voraussetzung für
seine politischen Pläne ist ihm der Welt friede. Um ihn aufrecht zu
erhalten, ist nach seiner Ansicht die Einsetzung eines internationale^n
Schiedsgerichtshofes notwendig *). Auch unser Verfasser beabsichtigt
die Befriedung der ganzen Christenheit *) durch die Einsetzung von
vier Reichsvikaren mit Reichsgewalt. Vor ihnen sollen gerade wie
vor den sechs vereidigten Richtern des Peter Dubois die Streitigkeiten
beigelegt werden. Neu ist aber diese schiedsrichterliche Idee auch bei
diesem Publizisten nicht *), geschweige denn bei Valentin Eber. Wenn
aber Scholz weiter über diesen Plan seines Verfassers sagt: „neu ist
der Gedanke der Ständigkeit und der Ausdehnung unter allen euro-
päischen Staaten, sowie der detaillierte Entwurf einer Verfassung und
Geschäftsordnung für einen solchen Schiedsgerichtshof" — so gilt das
von unserem Verfasser nicht mehr, so sehr sich die Pläne beider im
übrigen decken.
Aber auch in der Kirchenreform haben beide gemeinsame Züge.
Zur Heilung der Schäden auf dem kirchlichen Gebiet fordert Dubois
fest so genau wie Eber vollständige Säkularisation des Kirchen-
g^ts durch Ablösung (Kapitalisierung?) der kirchlichen Rechte an
den Gütern um Geld*). Neu hieran sei, dafs „das umfassende Pro-
gramm einer praktischen Durchführung mit anscheinend erreichbaren
Mitteln noch von niemand aufgestellt worden ist" ^). Das Patrimo-
nium Petri sowie alles Kirchengut soll einem „grolsen König
oder Fürsten oder einigen zu ständiger Emphyteuse (Erbzins) gegeben
werden". „Die Einkünfte und Ausgaben, die Verwaltungskosten und
Gnindlasten des ganzen Besitzes sollen vorher ganz genau festgestellt
und danach die jährliche Pension bestimmt werden, die dem Papst
ausgezahlt werden soll." Unter dem Patrimonium Petri seien nicht
nur die direkten italienischen Besitzungen des Papstes, sondern auch
&t lehensabhängigen Staaten Neapel '), Sizilien, Aragonien und Eng-
land zu verstehen. Den Kardinälen soll der Papst ebenfalls entspre-
chende Renten aus dem Patrimonium zuweisen. Ebenso sollen auch
1) Scholz, Die Publizistik zur Zeit Philipps des Schonen und Bonifaz VTLL
(Stattgart 1903), S. 394.
2) Ebenda S. 396.
3) Boehm, S. 233 und 234.
4) Scholz, a. a. O., S. 396.
5) Scholz, S. 399.
6) Ebenda S. 400.
7) Von nnterem Verfasser auch genannt. Boehm, S. 163.
18*
— 250 —
die anderen Prälaten an Stelle ihrer Lehen eine feste, jährliche
Pension erhalten *). Selbst die regulierten Kleriker sollen alle Tem-
poralien in ewige Emphyteuse an weltliche Personen geben und
von den Renten leben. Die Zahl der Nonnen soll beschränkt werden
und nicht über dreizehn in einem Konvent gehen ; damit schlägt Du-
bois ein ähnliches Verfahren vor, wie es Eber in bezug auf alle Klöster
plant. Doch dieses ganze Programm der französischen Publizisten
deckt sich fast vollkommen mit dem unseres Verfassers. Hier wie
dort Ablösung der Rechte an Kirchengütem , Scheidung zwischen
weltlichem Besitz und kirchlichem Amt und feste jährliche Besoldung
der Geistlichen vom Papst bis zum Mönch. Büüsten auch durch die
Aufdeckung dieses Zusammenhanges manche Gedanken unseres Ver-
fassers ihre Originalität ein, so schliefst sich durch diese Erkenntnis ein
um so festeres Band um die Persönlichkeit beider Autoren, die beide Laien
sind. Auch die Reform der geistlichen Ritterorden interessiert beide,
wenn auch Dubois in höherem Mafse und mehr aus politischen Gründen.
Auch hat Dubois als Laie eine grofise Abneigung gegen den
Zölibat *) , ja er verweist sogar geradeso wie unser Verfasser auf den
Brauch der orientalischen Kirche, der beiden besser gefällt Wie
Dubois femer infolge seiner persönlichen Lebensstellung besonders
für eine Reform des Gerichtswesen befähigt war und deshalb die Pro-
jekte darüber „die erste Stelle'* *) einnehmen, so fiel bei unserem
Verfasser die Breite und das Pathos auf, mit dem er über das Thema
des Stadtschreiberamtes handelt. Daraus mufsten wir einen Schlnis
auf die Persönlichkeit des Verfassers ziehen, wie wir ihn aus dem
Kapitel über das Gerichtswesen ziehen könnten, wenn wir näheres
über Dubois nicht wüfisten. Neben den fSrüheren, von anderer Seite
unternommenen Versuchen, „die Konkurrenz der vielen apostolischen,
kaiserlichen und lehnsherrlichen Notare möglichst einzuschränken'*, er-
strebte Dubois ganz genau wie unser Verfasser für das Stadtschreiber-
amt „die Monopolisierung dieses Amtes" *). Ja auch der Grund, den
Scholz für die Eigenart der Gedanken des Peter Dubois anfuhrt,
müGste jetzt auch auf unseren Verfasser angewendet werden, wenn ich
ihn nicht schon früher genau so dargestellt hätte. Dubois „ist einer
der charakteristischen Vertreter eines neuen Standes und der beson-
i) Scholz, S. aoi nnd 302 ff.
2) Ebenda S. 406. Dasa Boehm, S. 187.
3) Ebenda S. 417.
4) Ebenda S. 419.
— 251 —
deren geistigen Bildung dieses Standes, er ist einer jener bürger-
üchen, juristisch gebildeten Laien, die in Frankreich im politischen
Leben fortan eine so hervorragende Rolle spielen" *). Denken wir
für „Vertreter eines neuen Standes" und abgesehen von Frankreich,
den Stadtschreiberstand eingesetzt, so haben wir die Wahrheit über
unseren Verfasser. Valentin Eber ist ein literarischer Doppel-
gänger von Peter Dubois.
Unser Verfasser gehört also unter den Publizisten in die Reihe
der bürgerlichen Reformer, die im XV. Jahrhundert immer
zahlreicher werden und von denen eine gerade Linie zu den Revolu-
tionären im Bauernkrieg und darüber hinaus bis ins XIX. Jahrhundert
namentlich in Frankreich führt. Wurde doch noch unlängst im Namen
derselben bürgerlichen Freiheit daselbst die Scheidung von Geistlichem
und Weltlichem streng durchgeführt und mit Emphase sogar dieselbe
fcmdliche Stellung gegen das Mönchtum eingenommen, ausdrücklich
Zugunsten des Pfarramts — gerade wie in unserer in echt städte-
bürgerlichem Geiste verfafeten Schrift.
Doch nach diesem Rückblick auf die mittelalterliche Publizistik
sei noch ein Ausblick von unserer Schrift aus auf der Linie der bürger-
lichen Reformversuche gestattet. Von der Verwandtschaft des Laien^
den Haupt „oberrheinischer Revolutionär" genannt hat, habe
ich bereits früher in dieser Zeitschrift gehandelt *). Es erübrigt noch^
eine andere Reformschrift, die ebenfalls den Namen eines Kaisers an
der Stime trägt, die aber schon unmittelbar vor der deutschen Bauem-
revolution vom Jahre 1525 entstand, zu unserer Reformschrift in Be-
ziehung zu setzen. Es ist die sog. Reformation Kaiser Fried-
richs III. Ihr offizieller Titel lautet: TeiUscher Nation nodtdarfft.
Bie Ordnung und reformation aller Stend im römischen Reich von
Kaiser Friedrich IIL, Qott eu lob, der ganzen Christenheit eu ntäsi
und seligJceU vorgenommen. 1523 '). Sie hat keinerlei Zusammenhang
mit den schwächlichen Reformartikeln des Kaisers Friedrich III. auf
dem Reichstag zu Frankfurt vom Jahre 1442. Sie spekuliert viel'
mehr damit einerseits in plumper Weise auf den Volksglauben vom
Reformkaiser Friedrich, wie es ja der Verfasser der Reformation des
i) Ebenda S. 443.
3) 6. Bd., S. III.
3) Anch TOD Goldast, BeichsBaUungen, L TeU (1712), S. 166—180 abgedruckt.
Leider lind die Vonrntertacliangeo sn dieser wichtigen Reformscbrift noch sehr gering';
nch ist das Verständnis fUr dieselbe noch nicht genügend angebahnt, weil sachliche
Eiltteluiitersachiingen noch so gut wie völlig fehlen.
— 252 —
Kaisers Sigmund auch tut, anderseits mit feiner politischer Absicht
auf den Erzherzog Ferdinand, der als Urenkel Kaiser Friedrichs HI.
eine Reform des gemeinen Mannes in lutherischem Geiste durchfuhren
soll. Denn dafs die Reformation bei der Abfassungszeit der Reform-
schrift schon im Gange ist, erweist schon ihre Vorrede, in der über
die grofse Wandlung der Dinge gesprochen wird '). Am deutlichsten
drückt sich hierüber der Verfasser auch in der ersten „Erklärung des
Beschlufsartikels** *) aus mit den Worten: damit die menschlich Frei-
heit christlkher Ordnung toieder auf gerichtet, die durch den rechten
wahren Antichrist uns armen Christen mit dem hl, Evangelio
und anderen Worten Christi verhm-gen und niedergelegt was.
Weiter geht seine Anlehnung an Luther nicht, wohl ist aber eine
stärkere an die Reformation Kaiser Sigmunds nachzuweisen. Zunächst
ist die Anordnung seiner Schrift dieselbe wie die genannte Reforma-
tion. Das Ganze zerfallt in Vorrede, zwölf Artikel mit ihren Erklä-
rungen und einem Beschlufsartikel. Vorrede und Schlufskapitel sind
in beiden Reformschriften analog. Der Hauptteil ist in zwölf Artikel
gegliedert und so als unmittelbares Aktionsprogramm brauchbar ge-
macht. Der Begriff von ,, Erklärungen" dazu klingt deutlich an die
„Erläuterungen" der Reformation Kaiser Sigmunds an. Auch die An-
ordnung des in der Reform begriffenen Stoffes ist im ganzen derselbe
wie in der früheren Reformation, nur schärfer epigrammatischer und
gleichsam ohne Feigenblatt. Der Verfasser ist aber kein Städtebürger,
sondern ein Adeliger. So beschäftigt er sich mehr mit den Fürsten,
aber am meisten mit den Rittern und dem gemeinen mann. Dieser
bildet gleichsam den Refrain in jedem Artikel und dessen Erklärungen,
Der Verfasser schwärmt vorwiegend für die alten Stände: Kaiser.
Ritter und Bauer. Auch kennt er Zoll, Münzen, Gewicht, Kaufmanns-
handel und widmet diesen Gegenständen einzelne Artikel, aber er ver-
hält sich hier viel kapital- und handelsfeindlicher als die Reformation
des Kaisers Sigmund, wenn man deren Haltung überhaupt so nennen
darf. Alle Stände will er erhalten wissen, sogar die Mönche. Über
Säkularisation und Abschaffung des Zölibats hat er sich nicht klar
ausgesprochen, wiewohl er letzteren sehr satirisch behandelt. Auch
teilt er die alte kanonische Auffassung, dafs das Kirchengut, das er
Patrimonium^) nennt, drei Teilen zugehört: den Bischöfen, Klerikern
und Armen. Die ersteren sind die Vormünder der Armen bei Ver-
1) Ebenda S. i66.
2) Ebenda S. 179.
3) I. Artikel, 4. Erklärung.
— 253 —
waltungf desselben. Am heftigsten spricht er sich gegen die gelehrte
römische Rechtssprechung aus '), wie es die fortgeschrittenere Rezep-
tion des römischen Rechts und die dadurch bedrängteren Interessen
des gemeinen mannes ihm aufdrängten. Die gelehrten Richter nennt
er geizig ^), wohl deshalb, weil sie sich im Gegensatz zu den Schöffen-
richtem bezahlen liefsen. Die Juristen sollen künftig nur für das
consilium, den Rechtsbescheid oder Ratschlag ^) in den juristischen
Fakultäten der Universitäten, wirken und zwar soll ihre Zahl beschränkt
sein auf drei Doktoren. Die Ritter dagegen werden erbdiener des
reckten genannt. Sie sollen das göttliche recht *) . . . vor aller Gewalt
helfen handhaben. Während der Verfasser der Reformation Kaiser Sig-
munds nur den Mifsbrauch der Bannrechte der Herren den Bauern
gegenüber abgeschafft wissen will, fordert der Verfasser der Reforma-
tion des Kaisers Friedrich freies eigentum für die Bauern, aber be-
zeichnend für seine Persönlichkeit ist es, dafs er den Boden^^ins, die
guU, aufrecht erhalten zu sehen wünscht. Hierin verriet sich der be-
teiligte, wenn auch vielleicht arme, Grundherr. Denn diesem Boden-
zins entsprechen Gegenleistungen der Grundherren, und sollten
diese ihren Pflichten nachkommen, so mufete ihnen auch der Boden-
zins erhalten bleiben. Die zwölf Artikel der Bauern verlangen da-
gegen Kapitalisierung dieses Bodenzinses durch das zwanzigfache des
Wertes. Der Verfasser, ist ein deutsch - österreichischer ^) Adeliger,
sicher ein Laie, denn er sagt selbst : wir, die hien. Deshalb kann er
sich nicht genugtun mit der christlichen freiheit menschliches wesens
rechter natürlicher vemunft. Bei der Reform des städtischen Wesens
nennt er diese christliche Freiheit®) geradezu bürgerliche freiheit,
wohl zum erstenmal in der deutschen Geschichte und gibt somit auch
der Forderung der Reformation des Kaisers Sigmund von der christ-
lichen Freiheit die richtige, d. h. städtebürgerliche Deutung.
i) Vgl. 6. Artikel und die Erklärungen dazu.
2) 4. Erklümng des 6. Artikels.
3) 5. Artikel und 4. Erklärung.
4) Schon von der Reformation Kaiser Sigmunds erwähnt (iu8 divinum im Gegen-
satz zum i%u humanum) und in den zwölf Artikeln des Bauernprogramms ein beliebtes
Schlagwort.
5) Bei den Vorschlägen über die Münzreform geht er von dem kurshabenden Geld
Österreichs and Frankens aus, ebenso soll bei der VereinheiUichung des Gewichts das
„Wienisch" Gewicht Norm werden.
6) Zu der SteUe (Goldast, S. 171): die gehorsamen des reiclks die un-
9'^ii^frsamen helfen solkn gehorsam machen, vergleiche 4. Artikel, 4. Deklaration.
— 254 —
So ergibt sich aus dieser kurzen vergleichenden Betrachtung der
Reformation des Kaisers Sigmund innerhalb der Publizistik nach vor-
wärts und rückwärts, dafs sie eine Vorläuferin besitzt, die aus dem
Bürgerstande hervorgegangen ist, und eine Nachfolgerin, die aus dem
eine von einem Laien herrührende Nachahmung darstellt, und dafe sie
demnach in die Laienpublizistik gehört. Sie zu den Meinungs-
äufserungen der radikalen Reformpartei der Geistlichen zu rechnen,
heifet die Schrift mifsdeuten. Ganz abgesehen davon, dafs sie gar
nicht radikal ist, würde sie in dieser Gruppe ganz isoliert stehen;
man könnte nichts mit ihr anfangen, sie wäre eben voller „Rätsel",
wie man sich ausdrückte. Auch wenn ihr Verfasser dem „Fort-
schritt** *) der damaligen Zeit zugerechnet würde, so hat man damit
noch nichts für das Verständnis der Schrift gewonnen. Es müfete
denn angegeben werden, worin dieser „Fortschritt** bestanden hat,
welche ganz bestimmte Bewegung der Zeitgeschichte darunter zu ver-
stehen ist. Darüber ist man aber die Antwort schuldig geblieben:
man nahm dabei offenbar den alten Gedanken von der radikalen
Reformpartei unter den Geistlichen wieder auf, wenn man nicht gar
eine neue unbekannte Gröfse wieder einfuhren wollte. Jedenfalls
kommt man bei derartigen Ansichten niemals zu einer ohne Rest
aufgehenden Erklärung unserer Schrift. Trotzdem liegt ein „Fort-
schritt** in unserer Schrift, und das ist die Hervorkehrung des dritten
Standes, des S tädtebürgertums, das der Vorläufer des modernen
Staats bürgertums geworden ist. So erklären sich auch die so modern
anmutenden Ideen der Schrift. Der Fortschritt liegt des weiteren in
dem neuen Berufe, dem des Stadtschreibers, der erst damals g^öfsere
öflfentliche Bedeutung gewinnt und in dessen Mitte die moderne Kultur
ihre Wiege hat. Er ist der des Humanismus, der mehr weltlichen BU-
dung oder latschen gelehrsamkeit, die hier zum erstenmal dazu gleich-
sam in einer subalternen Form, in der „Halbbildung**, ihre Fittiche
auf dem Gebiete der Publizistik regt. Damit ist das Verständnis der
bedeutenden Reformschrift nach allen Seiten hin erschlossen und einer
neuen Herausgabe ihres Textes nach diesen Gesichtspunkten steht nichts
mehr entgegen.
i) Koehne in ZeiUchrift für Sosidl' vnd Wirtschafhgesehichte, 6. Bd. (1897)1
S. 410 ff.
— 255 —
Mitteilungen
Yersammlnngeil» — Gleichzeitig mit der IX. Versammlung deutscher
Historiker tagte in Stuttgart die siebente Konferenz von Vertretern
laodesgeschichtlicher Publikationsinstitute, die am 17., 18. tmd
19. April je eine Sitzung abhielt, und zwar unter Vorsitz von Archivdirektor
Schneider (Stuttgart) '). Von den bereits an früheren Konferenzen be-
teiligten Publikationsinstituten waren vertreten die Kommissionen für das
Königreich Sachsen, Sachsen -Anhalt, Steiermark, Thüringen, Württemberg,
die Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, das Institut für österreichische
Geschichtsforschung, der Westpreulsische Geschichtsverein, der Verein für
landeskunde von Niederösterreich und der Historische Verein für Steiermark.
Zum ersten Male vertreten waren die Gesellschaft für fränkische Geschichte,
die Konunission für die Herausgabe elsässischer Geschichtsquellen und die
Kommission für Herausgabe lothringischer Geschichtsquellen, während die
Badische Historische Konmiission, die Gesellschaft für Salzburger Landeskunde
nnd die Gesellschaft für Geschichte des Protestantismus in Österreich nur
aus persönlichen Gründen Vertreter zu der gegenwärtigen Tagung nicht
entsendet hatten *).
Zuerst berichtete Prof. Hansen (Köb) über Absatz und Verlag
▼on Publikationen, die von den Instituten herausgegeben werden, und
schilderte vor allem die verschiedenen seitens der Gesellschaft für Rheinische
Geschichtsktmde angewandten Verfahren. Während früher die Gesellschaft
auf eigene Kosten hat drucken lassen, ist sie gegenwärtig einen Vertrag
mit einem Verleger eingegangen, der den Druck übernimmt, der GeseUschaft
die von ihr benötigten Exemplare für ihre Stifter und Patrone gegen Be-
ahhmg liefert imd im übrigen den Verkauf besorgt. Das letztere Ver-
fahren hat sich als das für die Gesellschaft günstigste erwiesen, aber bei
jedem Institut wird der Erfolg davon abhängen, wie die Mittel beschafft
werden, da sich danach der eigene Verbrauch von Exemplaren richtet. In
dieser Beziehung liegen die Verhältnisse bei jedem Publikationsinstitut etwas
anders, aber alle haben dasselbe Interesse, ihre Publikationen möglichst
weit zu verbreiten. — Aus den Mitteilungen, die seitens der Anwesenden
über die Verhältnisse anderwärts gemacht wurden, ergab sich deutlich und
übereinstimmend, dafs bei Quellenpublikationen die Zahl der im Buchhandel ab-
zusetzenden Exemplare höchstens 250 beträgt, dafs aber in vielen Fällen nur wenig
ober 100 abgesetzt werden, während bei Darstellungen der Absatz recht ver-
schieden ist, so dafs manchmal sogar davon weniger ab von Quellenveröfient-
Hchungcn verkauft werden. Der Preis scheint auf die Verbreitung ganz ohne Ein-
^ zu sein; wenigstens haben die äufserst biUigen Veröffentlichungen der
Württembergischen Konmiission auch keinen höheren Absatz ab diejenigen
anderer Institute. Vor der nächsten Konferenz werden die Vertreter um
i) Über die sechste Konferenz in Salzbarg 1904 vgl. diese Zeitschrift 6. Bd.,
S. 91— 93-
2) Dts Verzeichnis aller früher bis 1903 beteiligten Institute findet sich in dieser
Zötichrift 4. Bd., S. 256.
— 256 —
Einsendimg möglichst genauer Berichte über Kosten und Absatz der Publi-
kationen an den Berichterstatter gebeten, damit die Ergebnisse noch genauer
festgestellt werden und sich einzelne Institute die Erfahrungen anderer zunutze
machen können.
Prof. V. Thudichum (Tübingen) legte wiederum eine gröfsere Anzahl
der von ihm bearbeiteten historischen Karten Süddeutschlands vor und
machte genauere Angaben über die Kosten, welche die Herstellung der
Grundkarten erfordert hat: die Doppelsektion kommt auf 0,36 Mk. zu
stehen, wenn 1000 Stück gedruckt werden. Die Notwendigkeit, dafs endlich
auch in Bayern und Baden*) Grundkarten hergestellt werden, damit die
Forschung nicht ruhen mufs, wenn Gebiete dieser Länder in Betracht kommen,
trat bei den Darlegungen wiederum deutlich zutage.
Prof. Dopsch (Wien) berichtete im Anschlufs an seine Ausführungen
auf der letzten Konferenz *) über Mafsnahmen zur Erschliefsung agrar-
geschichtlicher Quellen, machte die jüngsten einschlägigen Ver-
öffentlichungen namhaft und forderte mit Recht vor allem eine Verzeichnung
der in den einzelnen Ländern vorhandenen Urbare, wie sie bereits für
Ober- und Niederösterreich, Steiermark und Tirol in die Wege geleitet ist
Dem Vorschlage, die Hofrechte des Mittelalters herauszugeben, steht die
Zentraldirektion der Monumcnta Germaniae freundlich gegenüber und hat
den Berichterstatter beauftragt, Vorschläge hinsichtlich der Ausfuhrung des
Planes zu machen. — In der anschliefsenden Aussprache wurde allseitig
betont, dafs die Bereisung und Durchsicht der kleineren Archive die Vor-
bedingung für jede Zusammeu Stellung des Materials sei, die auf Vollständigkeit
Anspruch machen soll, und die in dieser Hinsicht bestehenden Schwierig-
keiten wurden von verschiedenen Seiten beleuchtet. Tn Westpreufsen ist für
die Sammlung agrargeschichtlicher Quellen eine Hilfskraft tätig, die die
Gerichtsbücher bearbeitet und die Besitzurkunden seit 1772 sowie die
Handfesten aus der Ordenszeit verzeichnet.
Zu der Frage, welche Anforderungen an die Abfassung von Regesten
und Regestenwerken zu stellen sind, brachte Prof. Oswald Redlich
(Wien) ein emgehendes Referat des abwesenden Dr. Steinacker (Wien)
zur Verlesung, das die bei Bearbeitung der Habsburger Regesten gemachten
Erfahrungen verwertet und die für derartige Werke in Betracht konmienden
Gesichtspunkte erörtert. Ehe allgemein gültige Vorschläge gemacht werden
können hält der Gutachter jedoch Erhebungen darüber für notwendig, wie
grofs die Zahl der zu berücksichtigenden Urkunden in den einzelnen Land-
schaften ist, und schlägt vor, durch Referenten aus den verschiedenen
Ländern, die Unterlagen dafür zu beschaffen. Als Gegenberichterstattcr
stellte sich Prof. Rietschel (Tübingen) auf den Standpunkt des Benutzers
und zwar desjenigen für vornehmlich rechtsgeschichtliche Zwecke. Die
Hauptsache sei für ihn, dafs in nächster Zeit schon etwas Brauchbares ge-
schaffen würde, und deswegen käme für ihn nicht das Regest im Regestcn-
werk, sondern nur dasjenige in Betracht, welches den vollständigen Abdruck
i) In Baden gehen übrigens die Vorarbeiten zu Ende, so dafs dort bald aof
das Erscheinen einzelner BläUer zu rechnen ist. Vgl. oben S. 227.
2) Vgl. diese Zeitschrift 6. Bd., S. 145—167.
— 257 —
einer Urkunde ersetzen soll. Während im letzteren Falle bisher das Haupt-
gewicht auf die politischen Verhältnisse gelegt worden sei, stehe es recht
schlecht hinsichtlich aller Angaben privatrechtlicher Natur, und dies bringe
den Rechtshistoriker in grofse Verlegenheit, insofern er in den Regesten
das, was er sucht, entweder gar nicht oder nur ungenau ausgedrückt findet
Der Redner fordert im allgemeinen, bis 1300 alle Urkunden zu drucken
und höchstens seit 1250 Abkürzungen eintreten zu lassen, alle verfassungs-
und wirtschaftsgeschichtlich bedeutsamen Angaben dem Regest unter Ver-
wendung des Wortlauts der Urkunde selbst einzuverleiben und Privatrechts-
urkunden in einer Auswahl, so dafs möglichst jeder vorkommende Fall in
zwei bis drei Beispielen vertreten sei, zu veröffentUchen. Ausführliche
Überschriften seien bei Privaturkunden entbehrlich. Als Mittel zur Abkürzung
lateinischer Urkunden sei ein Auszug, der der Satzkonstruktion der Urkunde
unter Weglassung alles nicht unbedingt Notwendigen entspricht, zu emp-
fehlen. — In der Erörterung wurde die Schwierigkeit der Aufgabe und die
Hindemisse, die entgegenstehen, vor allem der Mangel an brauchbaren
Archivrepertorien hervorgehoben, dem Antrage Steinackers, die Zahl der
Urkunden festzustellen, zugestimmt und eine fünfgliedrige Kommission, be-
stehend aus Oswald Redlich, Rietschel, Kötzschke, Steinacker
und Schulte, eingesetzt, die schriftlich Vorschläge formulieren soll, welche
als Grundlage flir die Beratung auf der nächsten Konferenz dienen werden.
Hinsichtlich der Fragen über die Herausgabe von Münzwerken
crgiiff als erster Berichterstatter Prof. Menadier (Berlin) das Wort,
knüpfte an den Vortrag von Knapp ^) au und stellte im Gegensatz zu der
darin ausgesprochenen Überschätzung der Staatsgewalt fest, dafs die älteste
bisher überhaupt bekannte Münze von einem griechischen Bankier heriühre.
Auch das merowingische Geld werde namentlich von den Franzosen für
Privatgeld erklärt, denn es gäbe 2000 Münzstätten, und die Königsmünzen
seien recht gering an Zahl. Zum Gegenstand selbst übergehend behandelte
der Redner die Münzen als selbständige geschichtliche Quellen, insofern sie
Tatsachen berichten: so ist z. B. die Existenz des Palatinen Roland einzig
durch das Vorhandensein einer von ihm herrührenden Münze voll bezeugt.
Und dasselbe gilt für viele andere Tatsachen, die teils nur durch Vermittlung
der Münzen festzustellen sind, teils durch eine solche besser gestützt werden.
Diese Ergänzungen lehren, wie wichtig eine systematische umfassende Münz-
beschreibung ist, und machen sie zu einer Notwendigkeit. Eine früher in
Hannover eingesetzte Kommission behufs Schaffung eines Corpus nummorum
Otrmanicomm hat nichts getan, auch die Akademien der Wissenschaften
sind für eine solche Arbeit nicht zu gewinnen gewesen, bis endlich die
landcsgeschichtlichen Publikationsinstitute sich der Aufgabe unterzogen haben,
deren Arbeit durch die gebotene räumliche Beschränkung erleichtert wird,
wenn auch die Abgrenzung der Gebiete gewisse Schwierigkeiten bereitet.
l^ brandenburgischen Münzen 1450 — 1640 hat Bahrfeldt beschrieben,
die des Grofsen Kurfürsten sind noch nicht bearbeitet, aber die des
prcufsischen Königtums liegen wiederum vor, ferner haben die Münzen
Belgiens, Schlesiens und Frankfurts Bearbeiter gefunden. In Württemberg
I) Vgl oben S. 225.
— 258 —
wird das Werk von Binder neu herausgegeben, in Baden ist die Arbeit
Julius Cahn tibertragen worden und für Köln, Trier und Aachen hat sich
die Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde der Aufgabe unterzogen. —
Für die Bearbeitung solcher Münzwerke sollten folgende Gesichtspunkte
mafsgebend sein. Zuerst gilt es das Corpus herzustellen, knappe Beschrei-
bungen zu geben und zwar in geschichtlicher Ordnung. Eine rein zeitliche
Folge ist nicht angebracht, viehnehr gilt es sachlich zu trennen, Gold,
Kurant und Scheidemünzen gesondert zu behandeln ; die Stempelvarianten sind
der Zahl nach anzugeben. Dagegen wäre es fehlerhaft, die Stempebchneider,
Münzmeister oder Münzorte als Einteilungsgrund zu wählen, da die genannten
Personen nur ausführende Organe sind und die Münzstätten — aufser im
frühen Mittelalter — nur geringe Bedeutung besitzen. Schliefslich hat sich
der Bearbeiter auf die Münzen zu beschränken und münzenähnUche
Stücke (Stadtmarken u. dgl.) wegzulassen oder höchstens in einem Anhang
zu behandeln. — Dasselbe gilt für die Medaillen, da diese anfangs gegossen
und erst später geprägt worden sind. — Im Gegensatze zu diesen
allgemeinen Ausführungen entwickelte Bruno Kuske (Köln), der im
Auftrage der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde die Kölner Münzen
bearbeitet, sein Arbeitsprogramm unter besonderer Betonung dessen, was
der Historiker von einem Münzwerke zu verlangen hat. Die Rechts-
verhältnisse, die allgemeinen Wirtschaftszustände und im besonderen die
Geschichte der Preise mufs behandelt werden, und alles einschlägige
Material mufs zur Verfügung des Benutzers gestellt werden. Ja man kann
noch mehr fordern: eine Geldgeschichte. Dies würde aber begrifflich über
ein Münzwerk hinausgehen und müfste auch im Titel zum Ausdruck
kommen. Die für Köln geplante Arbeit wird sich in drei Teile gliedern:
einen beschreibenden Teil, der sich nicht etwa auf Stichproben beschränkt,
die Münzsorten in zeitlicher Folge nach Schrot und Korn, Namen und Weit
bestimmt, einen vorwiegend geschichtlichen Quellenband, der alle offiziellen
Dokumente über Prägung, Münzumlauf, Münzverträge, Münzordnungen, Val-
vationstabellen, detaillierte Beschreibung von Zahlungen, Verhandlungen von
Probationstagen mit Vor- und Nachakten, Anstellung der Münzbeamten,
Technik des Mtinzens, Prozefsakten gegen Münzverbrecher, Akten über Edel-
metallgewinnung und Edelmetallhandel enthalten soll, und schliefslich einen
darstellenden Teil, der sich mit der Kaufkraft des Geldes beschäftigt, Tabellen
der Münzmeister mit ihren Zeichen, des Wertverhältnisses der Münzen, des
Feingehalts usw. enthält. Die Preisgeschichte selbst jedoch möchte der
Redner vorläufig ausschliefsen , weil durch die Bestimmung der Mafse die
Aufgabe wesentlich verwickelter werden würde. — In der Erörterung recht-
fertigte Julius Cahn (Frankfurt) zunächst das Verfahren, welches er im Auf-
trage der badischen Historischen Kommission einschlägt: dort gilt es eine
Geldgeschichte der in Baden vereinigten Territorien für den Historiker zu
schaffen; die Tafeln und der beschreibende Teil treten deshalb zurück und
erscheinen später. Lamprecht (Leipzig) bezeichnete dieses Verfahren als
unwissenschaftlich, wendete sich gegen die Theorie von Knapp und nament-
lich dagegen, dafs nach dem Vortrage eine Aussprache ausgeschlossen ge*
wesen sei. Die Behandlung der Medaillen in einem Anhang wünschte er
nachdrücklich wegen ihres kunstgeschichtlichen Wertes. Prof. Luschin
— 259 —
Ton Ebengreuth (Graz) bezeichnete die Preisgeschichte als letztes Ziel
der münzgeschichtlichen Untersuchung, aber er bezweifelte sogar die Möglich-
kdty allgemein die Kaufkraft der Münzen darzustellen. Entscheidend für
jede solche Publikation sei, wer die Aufgabe stelle, wie groDs die Mittel seien
und welchen Um^uig das Werk haben dürfe. Für Köln sei gewifs eine
Geldgeschichte gut imd notwendig, für andere Territorien jedoch weniger
wichtig.
Als letzter Gegenstand kam die Publikation von Quellen zur städtischen
Rechts- und Wirtschaftsgeschichte zur Besprechung. Leider koimte
dem eingehenden Vortrage von Stadtarchivar Overmann (Erfurt) wegen
vorgerückter Stunde eine Aussprache nicht mehr folgen. Von einem Bericht
über den Inhalt der Ausführungen des Redners kann hier abgesehen werden,
da der ganze Vortrag im Julihefte dieser Zeitschrift zum Abdruck gelangen wird.
El]ig:egangene Bflcher.
Atzler, Alob: Handbuch für den Geschichtsunterricht in Lehrerbildungs-
anstalten. Fünfte umgearbeitete Auflage des Handbuchs für den Ge-
schichtsunterricht von K. Kolbe und A. Atzler. II. Teil: Deutsche
und brandenburgisch - preufsische Geschichte für Lehrerseminare. Mit
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schwerdt, Frankes Buchhandlung (J. Wolf) 1906. 532 S. 8^
Bappert, Joh. Ferd. : Richard von Kornwall seit seiner Wahl zum deutschen
König 1257 — 1272. Bonn, Peter Hanstein 1905. VIII und 144 S. 8®.
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ihre Zeit [&» Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands,
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D. Friemann 19Ö5. 44 S. 8<^.
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sichtlich Entstehung, Formulierung, Rechtsgültigkeit [=» Untersuchungen
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Gierke, 81. Heft]. Breslau, M. tmd H. Marcus 1906. 88 S. 8^.
M. 3,60.
Beschorner, Hans: Wesen und Aufgaben der historischen Geographie
[=» Historische Vierteljahrschrift 1906, i. Heft]. 30 S. 8<*.
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jahrsblätter aus Anhalt, 2]. Dessau, Paul Bamnann, 1905. 32 S. 8^
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Meininghaus, August: Die Grafen von Dortmtmd. Ein Beitrag zur
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Bruxelles, Henri Lamertin 1905. 348 S. 8^.
Miliard, Emest: Les Beiges et leurs gdndrations historiques. Bruxelles,
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Much, Rudolf: Deutsche Stammeskunde [=» Sammlung Göschen Nr. 126].
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Mulot, R.: John Knox 1505 — 1572, ein Erinnenmgsblatt zur vierten
Zentenarfeier [>=» Schriften des Vereins ftir Reformationsgeschichte Nr. 84].
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Nehring: Die Stätte der alten Harzburg und ihre Geschichte. Verlag des
Harzburger Altertum- und Geschichtsvereins 1905. 64 S. 16®.
Ney, Julius: Die Reformation in Trier 1559 und ihre Unterdrückung.
Erstes Heft: Der Reformationsversuch. [= Schriften des Vereins für
Reformationsgeschichte Nr. 88/89.] HaUe a. S., Kommissionsverlag
von Rudolf Haupt 1906. 114 S. 8^ M. 1,80.
Schwemer, Richard: Vom Bund zum Reich [= Aus Natur und Gcistes-
wdt, Sammlung wissenschaftlich- gemeinverständlicher Darstellungen.
102. Bändchen]. Leipzig, B. G. Teubner 1905. 125 S. 8<>. G^.
M. 1,25.
Herausgeber Dr. Armin Tille in Leipzig.
Druck und VerUg von Friedrich Andreas Perthes, Akdengesellschnft, Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatssclirift
zur
FSrdenmg der landesgeschiclitliclien Forschung
VU. Band JuU 1906 10. Heft
Die Herausgabe von Quellen zur städtisehen
Hechts^ und Wirtsehaftsgesehiehte ^)
Von
Alfred Ovennann (Erfurt)
Stadtrechte, städtische Rechtsaltertümer, Quellen zur Stadt- und
Gerichtsverfassung und zur Geschichte des städtischen Zunft- und Ge-
weibewesens sind schon seit Jahrzehnten und auch bereits in nicht
unerheblicher Anzahl veröfTentlicht worden; man findet sie fast in
allen städtischen Urkundenbüchem und zahlreichen anderen Publika-
tionen historischen Quellenmaterials. Ja es ist auch schon verhältnis-
maisig früh der Versuch gemacht worden, eine zusammenfassende
Veröffentlichung deutscher Stadtrechte in die Wege zu leiten: ich
brauche nur an Genglers Codex iuris municipcUis Germanica medii
am (Erlangen 1863) zu erinnern. Aber dieses grofs angelegte Werk
ist bekanntlich in den Anfängen stecken geblieben. Systematische
Publikationen, die sich auf dieses Spezialgebiet beschränken und das
hierfür in Betracht kommende Material für eine einzelne Stadt er-
schöpfend und in vollem Umfang darbieten, gibt es erst seit
verhältnismäfsig kurzer Zeit.
Das hat seinen Grund zunächst darin, dafs die grofsen Fragen
und Probleme, die im Zusammenhang mit diesem Gebiete stehen : das
Problem der Entstehung der Stadtgemeinde und der Stadtverfassung,
(fie Fragen der Stadtrechtsübertragung und der Rezeption des römi-
schen Rechts, die sozialpolitischen und wirtschaftsgeschichtlichen Pro-
bleme, die sich hier ergeben, dals alle diese Fragen, wenn sie auch
schon früh gestellt und auch hier und da behandelt worden waren,
doch erst seit verhältnismäfsig kurzer Zeit in den Vordergrund der
historischen Forschung getreten sind. Und als man auch hier, wie
i) Vorliegender Ansatz gibt den Inhalt des Vortrages wieder, den der Verfasser
am 19. April 1906 auf der siebenten Konferenz Ton Vertretern landesgeschichtlicher
P^likationsinstitate (vgl. oben S. 259) gehalten hat.
19
— 264 —
in anderen historischen Disziplinen, allmählich erkannte, dafa sich
nur auf Grund der völligen Kenntnis und Beherrschung des gesamten
Einzelquellenmaterials sichere allgemeine Schlüsse ziehen lassen, da
kam man ganz von selbst dazu, die Publikation dieses Quellenmaterials
zu fordern und in die Wege zu leiten. Und wenn sich die Konferenz
der Vertreter landesgeschichtlicher Publikationsinstitute anschickt, diese
VeröfTentlichuDgen zu besprechen, so ist das ein Beweis dafür, dals
sie sich der Wichtigkeit gerade dieser Gattung von Publikationen be-
wufst und bereit sind, sie nach Kräften zu fördern. Vielleicht hat
auch gerade der Umstand, dafs die Stadtrechtsveröffentlichung noch
in den Anfangen steckt, mit dazu beigetragen, dafs hier darüber ver-
handelt werden soll. Denn gegenwärtig wäre es ja vielleicht noch
möglich, mehr oder weniger gemeinsame und einheitliche Grundsätze
für die Herausgabe derartiger Quellen aufzustellen ^).
Der badischen historischen Kommission gebührt das Verdienst,
den ersten Schritt zu einer solchen Publikation getan zu haben. Auf
Anregung Richard Schröders beschlofs sie in der ersten Hälfte der
neunziger Jahre die Herausgabe der Oberrheinischen SUxdtrechte mit
drei Abteilungen, nämlich der der fränkischen, schwäbischen
und elsässischen Stadtrechte. Von der fränkischen Abteilung
sind von 1895 bis heute sieben Hefte erschienen, die vier ersten von
Richard Schröder, die drei letzten von Carl Koehne bearbdtet.
Die schwäbische Abteilung ist bisher nur durch ein Heft vertreten,
nämlich das über Villingen, bearbeitet von Roder (1905). Von der
elsässischen Abteilung liegen zwei Bände vor, die die Stadt Schlett-
stadt behandeln und 1902 erschienen sind. Bearbeiter ist der Schlett-
stadter Archivar Geny.
Dem badischen Beispiele folgte Westfalen. In der zweiten
Hälfte der neunziger Jahre nahm die westrälische historische Kom-
mission die Herausgabe der Westfälischen Stadtrechte in ihr Programm
auf; 1901 und 1903 erschienen die ersten Bände, zwei Städte der Grafschaft
Mark — Lippstadt und Hamm — behandelnd, beide von mir bearbeitet
Diese Publikation wirkte anregend auf das Rheinland. Auf
Antrag Ilgens beschlofs die Gesellschaft für rheinische Geschichts-
kunde im Jahre 1903, „die systematische Herausgabe von Urkunden
und Akten zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte der kleineren rhei-
nischen Städte, und zwar zunächst des Niederrheins, in Angriff zu
I) Vgl. auch den Aufsatz von C. Koehne, Die modernen StadtreehisedUümen m
„Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- and AltertnmsTereüie*',
53- J«lu-gang (1905), Sp. 251—278.
— 265 —
nehmen". Das erste Heft ist bereits fertiggestellt und wird in kürze-
ster Zeit erscheinen. Es bringt die Stadtrechte Siegburgs, be-
arbeitet von F. Lau.
Auch die thüringische historische Kommission hat die Publi-
kation der Stadtrechte in ihr Programm aufgenommen. Der erste
Band, die Stadtrechte von Eisenach, Gotha und Waltershausen ent-
haltend, wird, wie mir der Bearbeiter, Staatsminister z. D. v. Strenge
(Gotha), mitteilte, im Laufe dieses Jahres erscheinen.
Wenn endlich in Württemberg auf v. Belows Antrag die
Kommission für Landesgeschichte 1902 beschlofs, die Herausgabe
?on Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung der Stadt
Ulm im Mittelalter in Erwägung zu ziehen, so ist auch diese Publi-
kation, von der bisher ein Band ^) erschienen ist, aufs engste mit den
eben genannten Veröffentlichungen verwandt
Welche Publikationsgrundsätze sind nun erstens für die
Auswahl des aufzunehmenden Materials und zweitens für dessen
Anordnung und hinsichtlich der Form und Editionsmethode bei
den bisherigen Stadtrechtsveröffentlichungen angewandt oder aufjg^e-
stellt worden?
Was zunächst die Auswahl des Materials anlangt, so beschränkt
sich bei den oberrheinischen Stadtrechten, fränkische AbteUung, die
Publikation im wesentlichen auf die Wiedergabe der Stadtrechte im
engeren Sinne, d. h. lediglich der in das Gebiet des Privatrechts und
des öffentlichen Rechts fallenden Quellen. Das Material zur Geschichte
der Stadtverfassung wird darin keineswegs vollständig gegeben,
und für die Geschichte der Stadtverwaltung oder gar die Wirtschafts-
geschichte kommt dabei nur wenig heraus. Die Publikation geht
femer im wesentlichen nicht über das Mittelalter und die erste Hälfte
des XVI. Jahrhunderts hinaus. Nur in ganz wenigen Fällen sind auch
jüngere Stücke aufgenommen worden. Es ist endlich nicht versucht
worden, die Ergebnisse der Publikation in einer besonderen darstellen-
den Einleitung kurz zusammenzufassen.
E^ ganz anderes Bild gewähren die Westfälischen SUidtrechie. Bei
ihnen ist zunächst aufser den Rechtsquellen im engeren Sinne das ge-
samte Material zur Geschichte der Stadtverfassung, der Stadtverwaltung
and von dem wirtschaftsgeschichtlichen Quellenmaterial wenigstens das
die Zünfte betreffende in die Publikation aufgenommen worden.
i) Dm raU Bmcä dw Stadt Ulm, hcraiwgegebcD von Carl Mollwo (Stau-
gut 1905).
19^
— 266- —
Die Publikatioii beschränkt sich femer nicht auf das Mittelalter,
sondern bringt das gesamte Material bis zum Anfang des XDC. Jahr-
hunderts, also bis zum Untergang der alten Stadtverfassungen. End-
lich sind die Ergebnisse der Publikation, soweit sie die Stadt-
verfassung, die Gerichtsverfassung und die Stadtverwaltung betreflfen,
vom Herausgeber in einer darstellenden Einleitung zusammengefalst
worden.
Der erste Band der westfälischen Stadtrechte ist 1901 erschienen.
Im folgenden Jahre kamen die beiden ersten Bände der elsässischen
Abteilung der oberrheinischen Stadtrechte heraus, die Schlettstadt
behandeln. Sie zeigen nun Editionsprinzipien, die von denen der
fränkischen Abteilung völlig abweichen und den westßllischen aufs
engste verwandt sind. Der Schwerpunkt der Veröffentlichung liegt
auch hier auf dem Gebiet der Stadtverfassung und Stadtverwaltung,
nicht auf dem der Stadtrechte im engeren Sinne. Und die Wirt-
schaftsgeschichte ist gleichfalls durch Mitaufhahme der Zunft- und
Gewerbeordnungen usw. in hervorragender Weise berücksichtigt wor-
den. Auch hier beschränkt sich die Publikation nicht auf das Mittel-
alter, sondern wird bis zur französischen Revolution fortgeführt. Die
einzige Abweichung von den westfälischen Grundsätzen ist, dals eine
darstellende Einleitung fehlt.
Die Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde hat das west-
fälische Programm gleichfalls zu dem ihrigen gemacht, indem sie
beschlofs: „Nicht nur die Stadtrechte und Statutensammlungen sollen
veröffentlicht werden, sondern auch das übrige Material zur Geschichte
der Verfassung und Verwaltung und des wirtschaftlichen Lebens in
den Städten soll herangezogen und gleichfalls, wenn auch zunächst
nur in Regestenform, veröffentlicht werden." Das erste Heft dieser
Publikation wird auch eine darstellende Einleitung des Herausgebers
enthalten.
Es handelt sich also um zwei verschiedene Prinzipien, nach denen
die bisher erschienenen Stadtrechtspublikationen bearbeitet und heraus-
gegeben worden sind, und es wird zu tmtersuchen sein, welches von
beiden den Vorzug verdient.
Das erste ist zweifellos das billigere und fuhrt schneller zum Ziel,
und diese Vorzüge sind nicht zu unterschätzen, denn bei den aller-
meisten unserer landesgeschichtlichen Publikationsinstitute spielt die
Geldfrage eine grofse, ja vielfach die entscheidende Rolle. Es ist ja
natürlich viel weniger kostspielig, nur das im engeren Sinne rechts-
geschichtliche Quellenmaterial herauszugeben , denn es pflegt im all*
— 267 —
gemeinen nicht besonders umfangreich zu sein. Bei kleineren Städten
kommt ein dünnes Heftchen heraus, bei den meisten grö&eren und
gröfeten Städten würden ein oder zwei handliche Bände völlig ge-
nügen. Infolgedessen kann auch die VeröfTentlichung viel schneller
vor sich gehen. Es kann innerhalb weniger Jahre eine ganze Reihe
von Städten erledigt werden: am Oberrhein sind seit 1895 allein in
der fränkischen Abteilung die Rechte von nicht weniger als 43 Städten
publiziert worden. Freilich enthalten diese Publikationen keine An-
merkungen und, Verweise und ebenso keine Register. Also schneller
und billiger läfst sich auf diese Weise arbeiten, und manchem genügt
auch das, was hier geboten wird, vollständig. Der Rechtshistoriker,
der Jurist, verlangt in den wenigsten Fällen mehr, er hat hier alles,
was er braucht. Wozu die Publikation, so meint er, mit Dingen be-
lasten, die mit Rechts quellen, denen sie doch in erster Linie gelten
soll, so gut wie nichts zu tun haben?
Und doch möchte ich dieser Publikationsart nicht das Wort reden.
Dais man sie in Westfalen und Rheinland nicht angenommen, dafs
der Herausgeber der elsässischen Abteilung der oberrheinischen Stadt-
rechte sie gleichfalls verschmäht hat, ist sicher nicht Zufall oder
Willkür. Die Erweiterung des Publikationsprogramms , die alle jene
Bearbeiter vorgenommen haben, ist vielmehr zweifellos unter dem
Zwang einer gewissen inneren Notwendigkeit erfolgt.
Die städtischen Rechtsquellen sind, soweit sie das öffentliche Recht
betreffen, zwar gleichzeitig auch verfassungsgeschichtliche Quellen,
aber sie bilden in keinem Falle das gesamte für die Verfassungs-
geschichte vorhandene Quellenmaterial, von der Geschichte der Stadt-
verwaltung ganz abgesehen, für die sie ja nur hier und da etwas
bringen. Rechtsleben, Verfassung und Verwaltung einer Stadt stehen
aber in so innigen wechselseitigen Beziehungen, dafs man bei der
Publikation ihrer Quellen das eine nicht zugunsten des anderen ver-
nachlässigen und überhaupt keine Lücke lassen darf. Wenn man
also schon, wie das ja natürlich auch in der oberrheinischen Publi-
kation geschehen ist, mit den Rechtsquellen notwendigerweise einen
Teil der verfassungsgeschichtlichen Quellen mit veröffentlichen mufs,
80 sollte man sich mit dieser halben Arbeit nicht begnügen, sondern
gleich das gesamte Material zur städtischen Verfassungs- und Ver-
waltungsgeschichte publizieren. Erst dann kommt ein Ganzes heraus ;
das übrige ist nur Stückwerk.
Anders steht es mit der Heranziehung des wirtschaftsgeschicht-
lichen Quellenmaterials. Eine innere Notwendigkeit, das gesamte
— 268 —
einschlägige Material mit in die Publikation der Rechtsquellen hinein-
zuziehen, besteht meines Erachtens nicht. Wohl aber scheint es mir
geboten, wenigstens alles das aufzunehmen, was sich auf die Zünfte
bezieht. Die Zünfte haben im Verfassungsleben der Städte eine so
bedeutende Rolle gespielt, dafis die Quellen zu ihrer Geschichte
einen notwendigen Bestandteil der Quellenpublikation zur städtischen
Verfassungsgeschichte bilden müssen. Wirtschaftliches, Verfassungs-
geschichtliches und Politisches ist in diesen Quellen vielfach gar nicht
zu trennen, und so wird man auch dieses Wirtschaftliche mit auf-
nehmen und damit eine erschöpfende Quellensammlung zur Geschichte
der Zünfte und des Gewerbewesens erhalten.
Also — aus Gründen, die sich aus der Eigenart des Mate-
rials dem Bearbeiter ganz von selbst ergeben, halte ich es für not-
wendig, in die Publikation der Stadtrechte das gesamte Material zur
städtischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte und von den wirt-
schaftsgeschichtlichen Quellen die auf die Zünfte und das Gewerbe-
wesen bezüglichen mit aufzunehmen.
Es ist aber zweitens auch notwendig, eine solche Publikation
nicht auf das Mittelalter zu beschränken, sondern sie bis zum Unter-
gang der alten Stadtverfassungen durchzuführen. Zwar sind gewisse
Einschnitte im Lauf der Jahrhunderte zu erkennen, vor allem gerade
im XVI. Jahrhundert, aber weder auf dem Gebiet des Rechtslebens,
noch der Stadtverfassung oder der Stadtverwaltung ist mit dem Ende
dessen, was man Mittelalter nennt, ein so grofser, so bedeutsamer
Einschnitt gegeben, dafs sich eine solche Abtrennung rechtfertigen
liefse, und noch weniger ist dies auf dem Gebiet des Zimft- und
Gewerbewesens der Fall. Für letzteres hört das Mittelalter in unseren
deutschen Städten in mancher Hinsicht erst zu Ende des XVIII. oder
zu Anfang des XIX. Jahrhunderts auf. Bis dahin ist die Entwicklung
eine einheitliche und ununterbrochene, und es hat keinen Sinn, mit
dem XVI. Jahrhundert die Publikation der Quellen zur Geschichte dieser
Entwicklung abzubrechen. Im Gegenteil, es wäre sehr wünschenswert,
weim die Erkenntnis, dafs die letzten Jahrhunderte des Mittelalters
und die ersten Jahrhunderte der Neuzeit für die deutsche Städte-
geschichte eine untrennbare Einheit bilden und durchaus zu-
sammengehören, gefördert würde gerade durch die Ausdehnung einer
solchen Publikation bis zu dem wirklichen, gro(sen und bedeutungs-
vollen Einschnitt an der Schwelle der neuesten Zeit.
Femer wird man bei der Bearbeitung des Quellenmaterials über-
all die Beobachtung machen, dafis manche Seiten des städtischen
— 269 —
Rechts-, Verfassungs- und Verwaltungslebens im Mittelalter erst
angeheilt werden können durch Rückschlüsse, die nur auf Grund
von Schriftstücken der neueren Zeit möglich sind. Endlich hat die
Ausdehnung der Publikation auf das XVII. und XVIII. Jahrhundert
auch noch den Vorteil, dals dadurch ganz überraschendes Licht in
eine Periode hineinMlt, für die auf dem Wege der Quellenveröffent-
lichung bisher aufserordentlich wenig getan worden ist und die doch
gerade für das Gebiet der Stadtgeschichte des Interessanten und Un-
bekannten genug enthält
Eine andere Frage ist es, ob es als notwendig angesehen werden
muis, der Publikation eine ihre Resultate zusammenfassende dar-
stellende Einleitung zu geben. Ohne Zweifel spricht sehr vieles
dafür. Eine Publikation, wie sie eben gefordert wurde, kann nur ge-
macht werden auf Grund der Kenntnis und Beherrschung nicht nur
der für sie selbst in Frage kommenden Stücke, sondern des gesamten
für die Stadtgeschichte überhaupt vorhandenen Quellenmaterials. Wie
oft ist nicht die äufsere Politik einer Stadt beeinflufst, ja geradezu
bedingt worden durch rein wirtschaftliche Fragen und umgekehrt!
Wie eng hängt häufig die Politik eines Gemeinwesens dem Stadt-
oder Landesherrn gegenüber mit der städtischen Verfassungsentwick-
luDg zusammen! Und wie iimig durchdringen sich erst gegenseitig
die gesamten inneren Lebensäufserungen eines Gemeinwesens ! Wenn
aber schon der Herausgeber gezwungen ist, das gesamte Material
zur Stadtgeschichte durchzuarbeiten , dann liegt es sehr nahe , diese
Arbeit auch in einer darstellenden Übersicht zu verwerten, vor
allem, da eine solche gleichzeitig auch eine Entlastung der Publi-
kation bedeutet. Denn es kann dort vieles aufgenommen und ver-
wertet werden, was in den Texten allzu breiten Raum beansprucht
haben würde.
Man könnte einwenden, dafis durch eine derartige Bearbeitung
die unbefangene Benutzung des Quellenmaterials erschwert, der Be-
nutzer gewissermafisen gezwungen werde, durch die Brille des Heraus-
gebers die Dinge zu betrachten. Die Möglichkeit soll lucht in Ab-
rede gestellt werden. Aber erstens braucht er, wenn er unbefangen
das Material benutzen wUl, die Einleitung zunächst ja gar nicht zu
berücksichtigen, und zweitens bringt doch jede Arbeit, die früher
oder später auf Grund dieser Publikation gemacht wird, ganz dieselbe
Gefahr mit sich. Und schlieüslich sind-unsere VeröfTentlichungen doch
nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck. Sie sollen Bau-
B^e liefern für die historische Wissenschaft, am letzten Ende also
— 270 —
doch für eine darstellende, zusammenfassende Arbeit Für das
Gebiet der Lokalgeschichte wird aber im allgemeinen niemand geeig-
neter sein, eine solche Arbeit zu liefern, als eben der Herausgeber.
Einem Kritiker, der sich in einer Besprechung des ersten Bandes der
westfälischen Stadtrechte als ein Gegner der Einleitungen bekannte,
entschlüpfte doch am Schlüsse der Satz: „Die Einleitung lehrt den
Herausgeber als genauen Kenner der Stadtgeschichte schätzen; aber
ist es nicht selbstverständlich oder spricht nicht wenigstens die Ver-
mutung dafür, dafs ein Herausgeber den Inhalt seiner Edition besser
überschaue und mehr beherrsche, als jeder andere?" ^) Ebendeswegen
— meine ich — soll er gerade die Einleitung machen ! Und wenn einge-
wandt wird, er könne das ja in einer besonderen, von der Publikation unab-
hängigen, an einem anderen Orte zu veröffentlichenden Arbeit erledigen,
so sind damit, wie schon gesagt, die oben genannten Bedenken der
Gegner keineswegs aus der Welt geschafll. Eine gewisse Berech-
tigung hat meines Erachtens nur der Einwand, dafs durch eine solche
Einleitung nicht nur die Herausgabe der Publikation verzögert wird,
sondern auch die Kosten sich nicht unwesentiich erhöhen. Dies letz-
tere Bedenken würde freilich in vielen Fällen erheblich abgeschwächt,
wenn nicht gänzlich beseitigt werden durch die Erwägung, dafs eine
finanzielle Unterstützung der Publikation seitens der Stadtgemeinden
sich zweifellos viel eher erreichen läfst, wenn der Quellenveröffent-
lichung auch eine darstellende Arbeit beigegeben wird. Jedenfalls
stehe ich nach alledem nicht an, die Hinzufugung einer solchen, die
Ergebnisse der Publikation zusammenfassenden Arbeit als in höch-
stem Mafse wünschenswert für jede StadtrechtsveröfTenÜichung zu be-
zeichnen. Nur wenn unüberwindliche finanzielle Hindemisse vorhanden
sind, wird man auf sie verzichten können.
Was nun die Form, die Anordnung der Publikation an-
geht, so wird man da nur ganz allgemeine RichÜinien geben können
und sich hüten müssen, ein bestimmtes Schema aufzustellen. Hier
gilt meines Erachtens durchaus der Satz, dafs die Anordnung sich
aus dem Material selbst ergeben mufis.
Die Wiedergabe des Materials in einfacher chronologischer Reihen-
folge halte ich für eine Publikation bei der Ausdehnung des Inhalts,
wie sie oben gefordert wurde, nicht immer für geeignet; eine gewisse
Gliederung des Stoffes nach systematischen Gesichtspunkten scheint
mir vielmehr die Übersicht zu erleichtem. In der Regel wird sich
I) A. WermiDghoff in der Zeitschrift der Savigny- Stiftung für BeeM»-
geachichte, Germamstische ÄhteihMg, 33. Bd. (1902), S. 325.
— 271 —
eine Zweiteilung" empfehlen: der eine Teil wird alle diejenigen Ur-
kunden« Akten und Schriftstücke enthalten, die das Verhältnis der
Stadt zum Stadtherrn betreffen, also Privilegien, Rezesse usw.,
während für den zweiten Teil dann alle diejenigen Stücke in Betracht
kommen würden, die der autonomen Gesetzgebung der Stadt ihr
Dasein verdanken, als Statuten, Willküren, Verordnungen, Verwal-
tungsmaisregeln usw. Innerhalb dieser beiden Teile mufis natürlich
die Anordnung des Stoffes eine streng chronologische sein. Freilich
hat der Herausgeber der Schlettstadter Stadtrechte auch hier noch
(wenigstens im zweiten Teil) das Material nach sachlichen Gesichts-
punkten gegliedert und bemerkenswerte Gründe dafür angeführt ^).
Es wird sich femer die Notwendigkeit herausstellen, einen grofsen
Teil des Materials, besonders für das Gebiet der Stadtverfassung und
Stadtverwaltung, nicht vollständig, sondern in Regesten form zu
geben. Es ist Sache des Herausgebers, hier mit richtigem Takte
das Wichtige von dem Unwesentlichen zu scheiden. Überhaupt sollte
überall gekürzt werden, wo es ohne Schaden für den Zweck der Publi-
kation geschehen kann. In dem zweiten Bande der Schlettstadter
Stadtrechte hätten z. B. zahlreiche Stücke ebensogut in Regesten-
form gegeben werden können.
Gute, sorgfältig gearbeitete Inhaltsangaben und Register sind da-
gegen ein unumgängliches Erfordernis. Die Register sollen nicht nur
Orte und Personen umfassen, ein Sachregister ist vielmehr völlig un-
entbehrlich, und es könnte auch gleichzeitig ein Glosser für etwa vor-
kommende besonders schwierige Ausdrücke und rechtsgeschichtlich
wertvolle Formeln enthalten. Erläuternde Bemerkungen und Verweise
sind gleichfalls auDserordentlich wünschenswert. Überhaupt mufs alles
mögliche geschehen, um die Benutzung zu erleichtern.
Auf die Fragen der Orthographie, der Variantenverzeichnung usw.
einzugehen, kann ich mir ersparen, denn sie berühren ja nicht die
Stadtsrechtspublikationen allein, sondern die Editionstechnik histori-
schen Quellenmaterials überhaupt. Man wird hier gut tun, sich einem
der aufgestellten Systeme anzuschlielisen ; mir scheinen die von Keut-
gen auf S. XIII ff. der Einleitung zum ersten Bande seiner Urkunden
9m städÜsciien Verfasaungsgesehidite (189^ gegebenen Grundsätze die
i) Die weftfiUiflchen PublikatioDen haben, am das Zunft- und wirtschafUgeschicht-
liehe llaterial zusammen zu haben, fttr dieses noch eine driUe Abteilang gebildet. An
nch ist das nicht notwendig, denn alle diese Stücke liefsen sich zwanglos in die beiden
««teo Abteiinngen einreihen.
— 272 —
meisten Vorzüge zu besitzen. Eine gewisse Einheitlichkeit wäre frei-
lich wünschenswert.
Für unbedingt notwendig halte ich dagegen, dals der Publikation
ein Stadtplan und eine Karte der Gemaricung beigegeben wird.
Wir wissen ja alle, welche Bedeutung der Stadtgrundrifs und die Ge-
staltung der Gemarkung fiir eine ganze Reihe stadtrechtlicher Fragen,
vor allem fiir die Frage der Entstehung und Besiedlung der Stadt-
gemeinde hat, welch eine wichtige Rolle überhaupt der Topographie
in unserer Wissenschaft zukommt.
Man hat gefragt, ob es sich lohnte, in den Publikationen jede
kleinere Stadt so ausfiihrlich zu behandeln, wie es z. B. in den west-
fälischen Stadtrechten geschehen ist. Von dem Standpunkt aus, der
nur das Ganze übersieht, und fiir die, denen es nur um die Kenntnis
der gro&en Zusammenhänge zu tun ist, läfst sich das sehr wohl be-
zweifeln. Ich kann mir auch denken, dafs man vielleicht nur die
Mutterstadt, den Oberhof, oder überhaupt die typisch wichtigste Stadt
eines gröfseren Gebietes so eingehend behandelt und die von ihr ab-
hängigen Gemeinwesen kürzer abmacht, aber nur in der Einleitung,
nicht in den Texten. Denn gerade darin liegt meines Erachtens ein
Hauptreiz unserer Publikationen, dafs sie uns ermöglichen, die Indivi-
dualität jedes einzelnen Stadtorganismus festzustellen, die grofeen und
die kleinen, dem oberflächlichen Auge kaum sichtbaren Abweichungen
von dem Typus der Mutterstadt zu beobachten, zu beobachten, wie
hier auf Grund dieser oder jener geographischen, wirtschaftlichen
oder sonstigen lokalen Eigenheit Veränderungen und Modifikationen
eingetreten sind.
Und dann dürfen wir nicht vergessen, da(s unsere Publikationen
nicht nur allgemein wissenschaftliche, sondern auch lokal histori-
sche Aufgaben zu lösen haben. Wir dürfen auch eine kleinere Stadt
nicht nur als ein vielleicht verhältnismäfsig tmwichtiges Glied in einer
grofsen Entwicklungskette betrachten, sondern müssen sie auch als
Einzelwesen würdigen, und das um so mehr, wenn wir die finanzielle
Beihilfe der Städte erbitten wollen. In Westfalen ist das mit gro&em
Erfolge geschehen, und ich möchte das überall zur Nachahmung
empfehlen. Man wird das aber nur dann versuchen können, wenn
die Publikation für die betreffende Stadt nun auch wirklich ein ge-
schlossenes, abgerundetes, den Inhalt erschöpfendes Ganzes zu bieten
vermag.
Wie Sie wissen, sind systematische Stadtrechtspublikationen bis-
her nur für kleinere Städte gemacht worden. Ob sich daher die von
— 273 —
mir angestellten Grundsätze, die am Schlufs noch einmal kurz zu-
sammengefaüst sind^), auch auf grofse Städte anwenden lassen,
was ich selbst ohne weiteres bejahen möchte, bedarf noch der Be-
stätigimg durch die Praxis. Gerade deshalb aber würde ich es für
höchst wünschenswert halten, wenn einmal für eine unserer mittel-
alteilichen Groisstädte eine solche Publikation gemacht würde, die
sich übrigens auch schon aus dem Grunde empfiehlt, weil die Rechte
einer solchen Stadt für zahlreiche kleinere vorbildlich gewesen sind.
Freilich würde eine derartige, nach den oben aufgestellten Grund-
sätzen bearbeitete Stadtrechtspublikation, wie schon angedeutet, sehr
umfangreich werden, und die Kosten würden daher nicht unbeträcht-
lich sein. Aber erstens ist gerade bei groisen Städten ein erheb-
licher Zuschufis seitens der Gemeinde erst recht zu erwarten, und
zweitens — füllen denn die sonstigen städtischen Urkundenpublika-
tionen nicht auch ganze Reihen von Bänden? Und doch lassen sich
diese in ihrem allgemein historisch-wissenschaftlichen Wert meines Er-
achtens mit dem nicht vergleichen, was unsere Publikation bringt.
Denn wir treten ja heute mit ganz anderen Forderungen an die Stadt-
geschichte heran : nicht das DetaU suchen wir, sondern das organisch
gewordene Ganze, nicht die Begebenheiten fesseln unser Interesse in
eister Linie, sondern die Zustände und ihre Entwicklung. Nicht die
Fehden, die sie geführt hat, nicht die äufsere Politik einer Stadt ist es,
was für uns von besonderer Wichtigkeit ist, sondern kulturgeschicht-
liche, rechtsgeschichtliche, verfassungsgeschichtliche, sozialpoliüsche,
wirtschaftliche Probleme stehen für uns im Vordergrund des Interesses.
Das innere Leben und die Entwicklung des Gesamtorganismus
wollen wir erkennen und es dann, von höheren Gesichtspunkten aus-
gehend, eingliedern in eine gröfsere Entwicklungsreihe. Denn der
groise, innere Zusammenhang alles geschichtlichen Werdens ist es ja
im letzten Grunde, den wir zu erkennen versuchen.
Eben daher aber möchte ich noch einmal empfehlen : beschränken
wir uns nicht auf das enge Gebiet der Stadtrechte, des Rechtslebens
und auch nicht auf das Mittelalter. Geben wir unseren Publikationen
den Inhalt und den Umfang, der sich, wie ich glaube dargelegt zu
haben, mit Notwendigkeit aus dem Quellenmateriale selbst ergibt, und
scheuen wir auch nicht die Kosten, denn es handelt sich um die
widitigste Publikation, die es für die Geschichte der deutschen Städte
gibt Machen wir ganze Arbeit, nicht halbe!
i) Siehe onten S. 274.
— 274 —
Grundsätze für Publikationen von Quellen rur städtischen
Rechts- und Wirtschaftsgeschichte
i) Es ist notwendig, dafs in die Publikation aufser den Stadt-
rechten im engeren Sinne auch das gesamte Material zur Ge-
schichte der Stadtverfassung und Stadtverwaltung und
von den Quellen zur Wirtschaftsgeschichte wenigstens die auf die
Zünfte und das Gewerbewesen bezüglichen aufgenommen werden.
2) Die Publikation darf sich nicht auf das Mittelalter beschränken,
sondern mufs bis zum Untergang der alten Stadtverfassungen
(Ende des XVIII. oder Anfang des XIX. Jahrhunderts) ausgedehnt werden.
Für die neuere Zeit wird das Material grofsenteils in Regestenform ge-
geben werden können.
3) Es ist dringend wünschenswert, dafs der Publikation eine dar-
stellende, ihre Ergebnisse, sowie die Resultate weiterer Forschungen
zur Stadtgeschichte verwertende Einleitung beigegeben wird.
]4aehwort
Von
Armin Tille (Leipzig).
Die vorstehenden Ausfuhrungen über die Herausgabe von Stadt-
rechtsquellen haben, wie oben bemerkt ist, die TeUnehmer an der
Stuttgarter Konferenz von Vertretern landesgeschichtlicher Publikations-
institute als Vortrag gehört. Wie ebenfalls schon früher (S. 259)
erwähnt wurde, gestattete die Zeit dort eine Besprechung des
Gegenstandes nicht, und deshalb konnte auch ich einige Bemerkungen,
zu denen der Vortrag mir Anlafe zu bieten schien, dort nicht vor-
bringen. Die Frage, in welcher Weise Quellen der bezeichneten Art
am zweckmäfsigsten veröffentlicht werden, ist indes so wichtig und
gerade gegenwärtig für viele Publikationsinstitute von so grofiser praktischer
Bedeutung, dafs eine Fortsetzung der Erörterung wünschenswert und
notwendig erscheint. Von einer Fortsetzung ist m. E. deswegen
die Rede, weil Overmanns Ausführungen nur demjenigen völlig ver-
ständlich sind, der die Aufsätze von B ey erle ^) und Koehne ') kennt
i) Neue VeröffenUichungen deutacJier Stadtrechte in den DetUechen 0e9MMi-
blättern, 5. Bd., S. i— 15 und 48—56.
2) Die modernen Stadtrechteeditionen im Korreepondenzblatt des OeeawU^
vereine der deutechen Oeechüehts- %»nd AlterUAmeeereine 53. Jahi^. (1905)» Sp. 251 — 'T^*
— 275 —
Die Ausfuhrungen beider zu wiederholen, ist hier natürlich nicht der
Ort, aber wer sich mit den einschlägigen Fragen befassen und die
vo^ebrachten Gründe gegeneinander abwägen will, der wird von den
Ausfuhrungen aller drei Forscher — Beyerle, Koehne, Overmann —
Kenntnis nehmen müssen, und zwar um so mehr, als jeder der drei einen
etwas anderen Standpunkt einnimmt: während Beyerle als Jurist die
rechts geschichtliche Bedeutung der fraglichen Quellen in den Vorder-
grund rückt und Overmann vornehmlich ihre Bedeutung für die Orts-
geschichte berücksichtigt, hält Koehne ungefähr die Mitte zwischen
beiden.
Unbedingte Zustimmung verdient Overmanns Grundsatz 2, dafis
sich die VeröfTentlichung auch mit den Rechtsquellen der letzten
Jahrhunderte befassen und demgemäfs bis zum Ende des XVIII. oder
Anfang des XDC. Jahrhunderts geführt werden mufs, weil sich eben
bis dahin das autonome Stadtrecht unter den verschiedensten Ein-
wirkungen individuell abwandelt. Die Notwendigkeit, das XVII. und
XVIII. Jahrhundert in Einzeluntersuchungen gründlich zu behandeln,
habe ich schon mehrfach betont, so z. B. in einem Aufsatze Dos
Bovmer Gewerbe im XVIIL Jahrhundert *) , und diese Forderung
mufs nachdrücklich immer wiederholt werden, um vor allem die orts-
geschichtlichen Forscher, denen aus dieser Zeit meist reiches Material
zur Verfügung steht, auf dieses lohnende Feld geschichtlicher Arbeit
hinzuweisen. Es gibt wohl kaum eine Stadt, die aus den letzten
Jahrhunderten nicht wenigstens eine wichtige Verfassungsurkunde be-
sitzt, die eine VeröfTentlichung lohnt; und da die jüngeren Urkunden
in der Regel viel wortreicher sind als ältere Aufzeichnungen und auch
nicht selten das gesamte geltende Recht zusammenfassen, so ist ihnen
meist inhaltlich viel mehr zu entnehmen als älteren knapperen Rechts-
quellen. Als ein Beispiel möchte ich die Urkunden anführen, welche
die Verfassung der jülichschen Landstadt Düren 1685 und 1692 neu
regeln und die den für die Zeit bezeichnenden Namen kurfürst-
liches Reglemeni und FinalreglemerU führen'). Auf derartige späte
Verfassungsurkunden wird noch längst nicht genügend Wert gelegt,
obwohl sie nicht nur für die betreffende Stadt, sondern auch für die
Geschichte der Territorialverwaltung höchst bedeutsam sind.
1) Wutdentidie Zeitichrift fü/r Geschichte und Kumt ao. Bd. (1901), S. 85^-94.
2) Vgl. den AnisaU Ton Seh 00p, der die Ergebnisse umfangreicher Untersachnngen
loMpp nsammenfaüit: Die Entwickdung der Dürener Stadtverfaemng vom Verbund-
hrisfe 1457 1n$ eum Fmahegkw^ent 1692 in der Zeitschrift des Aachener Qe-
SfkUiktsoereins 18. Bd. (1896), S. 214—241.
— 276 —
Gerade die Behandlung der Städte durch die Territorialfiirsten um
1450 und 1650 zeigt, wie sich die Verhältnisse geändert haben; die
Herabdrückung der autonomen Stadtobrigkeit durch „ Bestätigung '* der
gewählten Ratsherren, die bisweilen sogar zur „Ernennung" fortschreitet
die Übertragung gewisser Einrichtungen von einer Territorialstadt auf
eine andere — das sind Dinge, die sich am besten ergründen lassen,
wenn die sämtlichen Städte eines Territoriums, oder wenigstens eine
bestimmte Gruppe, nach den gleichen Gesichtspunkten untersucht
werden. Gilt dies namentlich für die Städte des Kolonialgebiets schon
für das Mittelalter ^) , so wird eine derartige über das Material zur
Geschichte einer Stadt hinausgehende vergleichende Behandlung in
jüngerer Zeit ganz unerläfslich, wenn die Neubildungen im städtischen
Verfassungsleben und die Wirksamkeit der Territorialverwaltung ver-
standen und gewürdigt werden sollen.
WUl man aber solche Vergleiche in gröüserem Umfange anstellen
und nicht ganz vom Zufalle abhängig sein, dann müssen für jede
Stadt eines Territoriums wenigstens die Grundzüge der Entwickelnng
an der Hand der Quellen dargestellt werden, und wenn dies die orts-
geschichtliche Forschung versäumt, dann mufs es derjenige nachholen,
welcher behufs zusammenfassender 1 an des geschichtlicher Arbeit ver-
gleichen will und muCs. So hat z. B. Wehrmann, Geschichte vom
Ponimem 2. Bd. (Gotha 1906), S. 206 — und für andere Perioden an
anderen Stellen — die Eingriffe König Friedrich Wilhelms L in die
Verwaltung der Städte kurz zusammenfassend geschildert, wie es eben
nur möglich ist, wenn die Verfassungsgeschichte fast jeder einzelnen
Stadt untersucht worden ist; dabei werden die Ergebnisse für die eine
Stadt erst fruchtbar, wenn zugleich festgestellt wird, inwieweit etwaige
Ordnungen auch in anderen Städten Anwendung gefunden haben.
Durch diese Ejivägungen gelangen wir zu einer neuen Forderung,
die ich Overmanns Thesen hinzufügen möchte: Es ist notwendig,
^'und zwar namentlich für die spätere Zeit, dafs bei Unter-
suchungen über die Verfassungsgeschichte einer be-
stimmten Stadt die Entwickelnng anderer benach-
i) Die Bedeatang einer derartigen Arbeitsweise Teranscbanlicht Yonfiglicfa die er^
gebnisreiche Arbeit ▼oo Kretzschmar, Die Entstehung von Stadt und SUMteM
in, den Gd>ieten »wischen der mitüeren SacUe und der Laueitger Neiße (Gierke,
Untersiichiingen 75. Heft, Breslau 1905), aber es ist ganz allgemein nur durch eise Ver-
gleichnng möglich, einen MafsstabfÜr gewisse Eatwickelnngastiifen sn gewinnen, ohne den
der Forscher einmal nicht auskommt and den er sonst oft fülschlich der allgemeinen
Literatur entnimmt
— 277 —
barter *) Städte zum Vergleiche herangezogen wird. Grund-
sätzlich würde ich es durchaus für richtig halten, wenn in einer Ver-
öffentlichung, die den Stadtrechtsquellen von A gewidmet ist, eine
besonders interessante bisher unveröffentlichte Urkunde, die B betrifft,
ab Ergänzung mitgeteilt würde. Aber man kann auch noch einen
Schritt weiter gehen und eine ganze Reihe benachbarter Städte in einer
einzigen Publikation oder Darstellung zusammenfassen; m. E. im ganzen
mit Glück, wenn auch im einzelnen etwas zu weitschweifig, ist dieser
Weg betreten worden von Liesegang in seiner Arbeit über die
klevischen Städte*). Vor allem dürfte sich ein solches Verfahren
empfehlen, wo es sich um eine gröfsere Anzahl unbedeutender Land-
städtchen handelt; für jede einzelne liegt dann nicht genug
Material vor, um ein genügend deutliches Bild der Entwickelung zu
geben. Vermutlich sind derartige Gedanken auch für die Thüringische
historische Kommission ma&^ebend gewesen, die, wie oben mitgeteilt
ist, eben jetzt die Stadtrechte von Eisenach, Gotha und Waltershausen
in einem ersten Bande zusammen der Öffentlichkeit übergibt.
Eine Stellungnahme zu Overmanns Grundsätzen i und 3 in Form
einer einfachen Zustimmung oder Ablehnung erscheint mir untunlich,
da ihnen die Vorstellung zugrunde liegt, als ob es nur ein Ideal für
Stadtrechtspublikationen geben könne. Aber in dieser stillschweigenden
Voraussetzung lieget ein verhängnisvoller Irrtum, der zu ungerechtem
Urteü verleiten kann. Zurückzuführen wird jene stillschweigende Voraus-
setzung im letzten Grunde darauf sein, dafs in den durch Zufälligkeiten
bestimmten Titeln der betreffenden Publikationen der Ausdruck
„Stadtrecht" verwendet wird. In der Tat verbinden aber die Heraus-
geber mit dem Worte bei jeder der genannten Veröffentlichungen
einen etwas anderen Begriff. Deshalb aber sind die fränkischen,
schwäbischen, elsässischen , westfälischen und thüringischen „Stadt-
rechte" nicht ohne weiteres unter sich vergleichbar; denn die für
cfie Herausgeber mafsgebende Absicht, die leitende Idee, war in der
Tat nicht dieselbe. Dieser Umstand kommt bei der rheinischen
i) Das Wort „benachbart*^ soll nicht rein rfiamlich verstanden werden, es soll nur
ntammeoÜBssen. Grundsätzlich möchte ich alle LandstiUlte eines and desselben Territoriams
oder Laadesteils einschliefsen, aber es kommen onter Umständen auch Städte in Betracht,
iviscken denen trotz gröfserer Entfernung ein besonders reger Verkehr herrschte, oder
•oldie, zwischen denen das Verhältnis von Matter- and Tochterstadt bestand.
2) Niederrheimsches Siädtewesm vamehtnUeh im MiUelaUer, Untersuchungen
»» VerfassungageachiMe der kiemchen Städte [— ^ Gierke, Untersuchungen
S2. Heft]. Breslau 1897.
— 278 —
Publikation schon im Titel zur Geltung*, welcher lauten wird: QueUm
zur BechtS" und Wirtschaftsgeschichte der niederrheinischen Städte,
Dies besagt deutlich, dais über die stadtrechtlichen Quellen hinaus-
gegangen werden soll, dafs die Absicht besteht, den rechts- und w'ut-
schaftsgeschichtlichen Stoff in möglichster Vollständigkeit für je eme
Stadt zu veröfTentlichen und zwar, da keine zeitUche Begrenzung an-
gegeben wird, wohl bis zum Ende des XVIII. Jahrhunderts.
Es wäre müfsig, darüber Erörterungen anzustellen, welcher Sinn
mit „Stadtrecht", wenn das Wort im Titel einer modernen Quellen-
publikation erscheint, von Rechts wegen verbunden werde müsse;
wir haben es eben mit einem der Sprache des Mittelalters ent-
nommenen Worte zu tun — ganz ähnlich wie bei „Urbar" — , das
wir nun stillschweigender Übereinkunft gemäfs in einem etwas w eiteren
Sinne verwenden als ihm von Rechts wegen zukommt. Durch diese
Verwendung im Buchtitel und sonst bei kurzer Zusammenfassung wird
der bestimmte geschichtlich festliegende Sinn des Rechtsausdrucks
stadtrecht natürlich nicht berührt. Wir alle wissen, dais „das Stadt-
recht von N." zu einer ganz bestimmten Art. von Rechtskodifikationen
gehört, aber wir halten uns trotzdem ilir berechtigt, Urkunden, die
einzelne darin behandelte Gegenstände oder auch zufallig nicht be-
handelte Gegenstände ein für allemal regeln, oder entsprechende Rats-
beschlüsse und dgl. einzubeziehen , wenn wir von „Stadtrecht" oder
vielleicht vorsichtiger von „Stadtrechtsquellen" oder gar nur von
„stadtrechtlichen Aufzeichnungen" sprechen. Ja wenn für eine Stadt
eine zusammenhängende Rechtskodifikation überhaupt nicht vorliegt,
dann wenden wir unbedenklich auf die Gesamtheit der entsprechenden
Urkunden und Akten auch die eben gebrauchten Bezeichnungen an,
denn für unsere modernen Zwecke kommt es auf den Inhalt und
nicht auf die zufallige Form der Überlieferung an. Wir wissen auch,
dafs unter Umständen Privaturkunden und Verwaltungsakten recht
wesentliche Aufschlüsse über bestehende Rechtsverhältnisse und Rechts-
gewohnheiten geben können, und ziehen sie deshalb zur Elrgänzung
der Satzungen allerart heran. Das Wort, der Ausdruck will bei
solchen Dingen nicht viel besagen, wenn mir auch z. B. der Deutlich-
keit halber bei den Veröffentlichungen über Schlettstadt, Lippstadt
und Hamm eine Bezeichnung wie: Quellen zur Verfassungs- und Ver*
waUungsgeschichie der Stadt N. ^) zweckmäfsiger erscheinen würde als
i) „Verfmssang and Verwaltaog" hat die GeseUschaft (Ur rheinische Gesduchtskande
bei ihren Veröffentlichangen (Ur Köln und Koblenz, auf die wir noch m sprechen
kommen, im Titel verwendet.
— 279 —
die gewählte; ja es liefise sich sogar noch das Wort Wirtschafts^
goMekte einschieben. Aber trotz alledem sind dies Nebendinge; es
kommt auf die Sache an und vor allem auf die Absicht, die der
Auftraggeber (das Publikationsinstitut) und der Herausgeber verfolgten.
Für die Beurteilung der einzelnen Leistungen mu(s diese Absicht, der
verfolgte Zweck, den Maisstab abgeben.
Wenn wir die Publikationen, unbekümmert um die zufalligen Titel,
ihrem Inhalte nach klassifizieren, dann müssen wir mindestens drei
Arten unterscheiden, deren jede folgende aufiser dem in der vorher«'
gehenden Enthaltenen noch etwas mehr bietet, deren jede aber
zweifellos ihre Daseinsberechtigung besitzt und von der Forschung
dankbar entgegengenommen werden mufe. Diese drei Typen von
Publikationen möchte ich folgendermafsen kennzeichnen:
1. Publikationen, die sich auf solche Quellen beschränken, die im
juristischen Sinne Rechtssatzungen enthalten d. h. äufserlich er->
zwingbare Vorschriften ftir menschliches Verhalten in einer Mehrzahl
von Fällen. Dahin gehört also z. B. nur eine Satzung, dafs der Rat
aus so und so viel Mitgliedern bestehen solle, nicht aber eine Urkunde
oder mehrere, die erweisen, dafs in einer bestimmten 2^it der Rat
gerade so und so viele Mitglieder zählte.
2. Publikationen, die in möglichster Vollständigkeit alle Quellen
veröffentlichen, aus denen sich Belehrung über die Rechtsverhält-
nisse in der Stadt — Verfassung, Strafrecht, Privatrecht — schöpfen
la&t, unbekümmert um die Form der Überlieferung, so dafs neben
Satzungen sehr wohl Rechnungen, Privaturkunden, gewisse Teile von
Prozeisakten und dgl. eine Stelle finden. Einen Teil der Stadtver-
fassung und also des Stadtrechts bildet zweifellos auch die Zunft-
organisation, und alles, was die Zünfte betriftl — nicht nur die
Zunfisatzungen — , gehört deshalb als Teil der Stadtverfassung in eine
solche Publikation. Dabei ist es an sich unerheblich, dais bei den
Zttdtakten wirtschaftiiche Gegenstände berührt werden. Da sie uns
aber aus anderen Gründen lebhaft interessieren, so wird man gern die
Gdegenheit benutzen und über die Handwerksverhältnisse — auch
über die nichtzünftigen Handwerke — alles Wesentliche mitteilen.
Unsere wissenschaftlichen Denkkategorien decken sich nicht völlig mit
<len in den Zuständen und Quellen älterer Zeiten zum Ausdruck
kommenden, und deshalb müssen wir wohl oder übel immer etwas
mehr publizieren als der Titel der Publikation und die ursprüngliche
Ahttcht des Herausgebers erfordert, wenn wir gewisse Quellen nicht
zerrei&en und nur zerstückelt mitteilen wollen.
20
— 280 —
3- Publikationen, die das Rechts- und Wirtschaftsleben
einer Stadt, weil es so eng miteinander verbunden ist, als einheitliches
Ganzes betrachten und demgemäOs die Quellen dazu in einer Publi-
kation vereinigen. In eine solche Veröffentlichung, die natorgemäis
nur für kleinere Städte mit verhältnismäßig geringem Material in Frage
kommt, gehören dann zur Erläuterung der Rechtsverhältnisse Privatur-
kunden und als Ergänzung der für das Wirtschaftsleben geltenden Satzungen
die Zeugnisse für einzelne typische wirtschaftliche Handlungen, also
z. B. Rechnungen und Aufzeichnungen beliebiger Art über Pachtung
von Grundstücken, Handelsgeschäfte, Rentkäufe, Hauskäufe, Laden-
miete, Landwirtschaftsbetrieb, Gewerbebetrieb, Viehhaltung und dgl.
Diese drei Typen von Publikationen stellen, jede in ihrer Art,
ein verdienstliches Werk dar, befriedigen g^anz verschiedene Be-
dürfhisse und werden mit ganz verschiedener Absicht unternommen.
Es leuchtet ohne weiteres ein, daüs die erste Art, als deren Vertreterin
ich von den vorliegenden Veröffentlichungen die der fränkischen
Stadtrechte betrachte, in erster Linie allgemeingeschichtlichen
Zwecken ^) dient tmd nur das ortsgeschichtliche Material eben für diese
nutzbar macht, während bei der zweiten und dritten Art der orts-
geschichtliche Gesichtspunkt für die Anlage entscheidend wird.
Schon äu&erlich kommt dies darin zum Ausdruck, daüs sich bei einer
Veröffentlichung erster Art jede einzelne Stadt auf verhältnismäüsig
begrenztem Räume erledigen lälst und dais deswegen eine Mehrzahl
von Städten in einem Hefte oder Bande zusammengefaßt werden kann.
Dadurch wird der BUck von vornherein auf das Ganze gezogen, also
in dem angezogenen Falle auf die Gesamtheit der Städte mit
fränkischem Rechte, und zwar nicht mit Beschränkung auf die
badischen'). Welche das sind, das hat Richard Schröder, dessen
Ideen in dieser Edition verwirklicht werden, in der ZeUsckrift für
die Geschickte des Oberrheins, Neue Folge lo. Bd. (1895), S. 113 — 129
ausgeführt ') ; alle dort genannten Städte , soweit sich überhaupt
für sie stadtrechtliche Aufzeichnungen bis zum Ende des XVL Jahr-
hunderts nachweisen lassen, sollen in der fränkischen Abteilung
i) Deshalb ist auch für die Reihenfolge in der Veröffentlichang die S^osammefi-
gehörigkeit nach Stadtrechtsfamilien bzw. Oberhöfen mafiigebend gewesen.
2) Um Zusammengehöriges nicht zu zerreifsen, werden sehr verständiger Weise
z B. auch die heute hessischen Städte Hirschhorn und Neckarsteinach mit behandelt
3) Vgl. auch aber seine Absichten die Selbstanzeige in der SMtachirift der
Savigny-SHfiung für BechtsgeKhiehU, GermanisHache Ahteihmg 19. Bd. (1898),
S. 211— 213.
— 281 —
behandelt werden. Um diese Arbeit zu Ende zu fiiliren, werden
vermutlich zu den sieben vorliegenden noch zwei Hefte hinzukommen,
und in einem dritten werden die unvermeidlichen Nachträge und
die Register dargeboten werden, Schröder hatte von Anfang an nur die
Herausgabe der Stadtrechtsquellen bis ins XVI. Jahrhundert beab-
sichtigt, aber in einzelnen Fällen ist Koehne bereits auch zur Ver-
öffentlichung jüngerer Privilegien und grundlegender Verfassungsvor-
schriften geschritten ^), hat sich ^so damit bereits grundsätzlich auf den
oben von Overmann und mir vertretenen Standpunkt gestellt, wenn
auch vielleicht mancher Benutzer gleich mir ausführlichere Nachrichten
über die jüngere Entwickelung der Stadtverfassungen gern gesehen hätte
Besonders wertvoll wird eine Publikation wie die von Schröder
und Koehne dadurch, dafs sie die Möglichkeit bietet, in absehbarer
Zeit die einschlägigen Quellen aus einem gröfseren Gebiete im Druck
zu veröffentlichen und dieses Material in dem von mir oben geforderten
Sinne vergleichend zu verwerten. Eine solche Vergleichung wird
natürlich erst recht lohnen, wenn in einigen Jahren die ganze fränkische
Abteilung abgeschlossen samt den Registern vorliegt, aber dann be-
sitzen wir eine Quellensammlung, mit deren Hilfe sich eine ab-
schliefsende Rechtsgeschichte der fränkischen Städte bearbeiten läfst,
wie sie sonst gar nicht denkbar wäre. Gegenüber einer solchen
zu erhoffenden Arbeit erscheinen mir die schönsten ausiiihrlichsten
Einleitungen zu den Veröffentlichungen über je eine Stadt von geringem
Wert, wenn der Benutzer der fränkischen Rechte auch, wie ich gern
zugebe, ausfuhrlichere Mitteilungen über die Geschichte jeder Stadt
im allgemeinen oft schmerzlich vermifst. Gerade das letztere unter
Hinweis auf die meist schwer zugängliche ortsgeschichtliche Literatur
ist meinem Empfinden nach wichtiger als eine Verarbeitung des in
der Publikation gebotenen Materials, weil der ferner stehende Benutzer
viele £4nzelheiten über die allgemeinen Verhältnisse kennen mufs,
wenn er die Rechtssatzungen richtig interpretieren will.
Dem Zweck und der Anlage nach tritt bei einer Publikation wie
der fränkischen das Orts geschichtliche zurück, und es wäre nicht
nur möglich, sondern auch höchst erwünscht, wenn für eine oJer die
andere von den bearbeiteten Städten, für die die Quellen reichlich
und auch für das XVII. und XVIII. Jahrhundert fliefeen — anscheinend
i) So hat er im 5. Hefte (1900) Stücke (Ur Heidelberg von 1603 ood 1746, für
Mosbach Ton 1706, fiir Neckargemünd von 1650, 1713 und 1758 mitgeteilt, währeod im
4« Hefle (1898) bei Sinsheim und Weinheim wesentlich ttber 1600 berabgegangen worden
nt ~ Ancb Geny teilt fUr SchlettsUdt Urkunden bis 1777 mit (S. 253).
20*
— 282 —
z. B. würde sich Wimpfen dafür empfehlen, — eine ergänzende orts-
geschichtliche Publikation mit ausführlicher Darstellung geschaffen würde,
wie sie Overmann als das Wünschenswerteste betrachtet. Wie ver-
lautet, wird tatsächlich an einer umfassenden Veröffentlichung der
stadtgeschichtlichen Quellen in Heidelberg schon seit Jahren durch
die Kommission für Geschichte der Stadt Heidelberg ^) gearbeitet. Gerade
bei einer solchen Arbeit aber wird sich zeigen, wie wertvoll es ist, dafs
für so viele andere fränkische Städte ebenfalls stadtrechtliche Quellen
bequem zugänglich sind, die zum Verständnis der örtlichen Einrich-
tungen beitragen und sich zur Interpretation der Quellen heranziehen
lassen; denn die Verfassungsgeschichte irgendeiner der fränkischen
Städte gewinnt erst durch die Publikation der Masse stadtrechtlicher
Aufzeichnungen eine genügend breite Grundlage.
Diese Erwägungen bestimmen mich zu dem UrteU, da(s der Weg,
den die Badische Historische Kommission betreten hat, in Anbetracht
des verfolg^ten Zieles durchaus richtig war und dafs in diesem Falle
im Laufe von schliefislich vielleicht 15 Jahren so viel geleistet wird,
wie man nur erwarten kann. Wäre für die fränkischen Stadtrechte
die für Lippstadt angewandte Methode gewählt worden, so wäre bei
der Knappheit der zu Gebote stehenden Mittel kaum vor Ende des
XX. Jahrhunderts an eine Vollendung zu denken gewesen, und da
die behandelten Städte zum grolsen Teile heute herzlich unbedeutend
sind, so würden sich Hoffnungen auf gröfsere materielle Unter-
stützungen von ihrer Seite gewifs als trügerisch erwiesen haben. Orts-
geschichtliche Veröffentlichungen sollten nicht geschaffen werden, aber
trotzdem sind die vorliegenden Quellen auch für jede der kleinen
Städte von beträchtlichem ortsgeschichtlichem Werte, da bei der
Mehrzahl auf umfassendere Quellenpublikationen (Urkundenbücher)
kaum zu rechnen ist, und in einzelnen Fällen solche vielleicht gerade
dadurch angeregt werden.
Gnmdsätzlich ist im vorstehenden bereits das Urteil über die
beiden anderen Typen von stadtgeschichtlichen Publikationen
mit ausgesprochen ; der zweite Typus ist durch die Publikationen von
Overmann über Lippstadt und Hamm vertreten, der dritte wird ver-
mutlich bald durch die Quellen ssur Bechts- and Wirtschafts-
geschichte niederrheinischer Städte repräsentiert werden. In beiden
Fällen steht das ortsgcschichtliche Interesse im Vordergrunde, und
deswegen wird auch jeder Stadt ein besonderer Band gewidmet.
I) VgL diese ZeiUchrift 3 Bd., S. 26—37.
— 283 —
Der Untersdiied zwischen beiden liegt im wesentlichen nur in dem
Umfange des Stoffes, der zur Veröffentlichung kommt, indem sich
der Herausgeber einer Publikation nach Typus 2 auf die rechts-
g-eschichtlich (im weiteren Sinne) wichtigen Quellen beschränkt,
bei Typus 3 hingegen das gesamte wirtschaftsgeschichtlich
wertvolle Material mit herangezogen wird. In ziemlich hohem Mause
hat dies Geny schon für Schlettstadt getan, obwohl ich diese Publi-
kation immer noch dem Typus 2 zurechnen möchte. Die zugrunde
liegende Absicht weicht in diesen Fällen wesentlich von der für die
fränkischen Stadtrechte maisgebenden ab, und für sie erscheinen mir
Overmanns Forderungen empfehlens- und beachtenswert.
Da bei diesen Veröffentlichungen das örtliche Interesse vorwiegt,
Bo kann eine ausführliche Einleitung, die den Stoff verarbeitet, gewife
nichts schaden, ja sie kann auch die Publikation selbst, namentlich
für die neuere Zeit, entlasten. Wenn aber der Umfang der
darstellenden Einleitung bedeutend wächst, an Seitenzahl ebenso
ausgedehnt oder gar noch gröfser wird als die Quellenveröffentlichung,
überhaupt für den Bearbeiter und Benutzer in den Vordergrund tritt,
dann ist es doch wohl am besten, dies auch im Titel zum Ausdruck
zu bringen und von einer Geschichte der Siad^erfasBung in N. mit
einem Quellenanhang oder ähnlich zu reden oder auch beides völlig von-
einander zu trennen. Wenn wir die neueren Quellenveröffentlichungen
überblicken, so beobachten wir durchgängig, dafs die Edition in Ein-
leitung und Anmerkungen immer nur das enthält, was unmittelbar
zum Verständnis des Quellentextes notwendig ist, aber nicht mehr.
Gewifs beruht dies nur auf einer Übung ; ein innerer Grund, dafs dies
so sein müsse, besteht nicht, wenn sich auch nicht leugnen läfist,
dafs Darstellungen meist viel früher veralten als Quelleneditionen, aber
ich sehe auch nicht ein, warum man bei der Veröffentlichung von
Quellen zur städtischen Rechts- und Wirtschaftsgeschichte gerade anders
verfahren soll als bei der anderer Quellen. Sachlich ist es ziemlich
gleichgültig, ob eine Darstellung mit der Quellenpublikation vereint
oder von ihr gesondert erscheint. Rein äufserlich wäre nur zu wünschen,
dafs solche gröfseren Einleitungen nicht mit Antiquaziffem paginiert
werden, weil sich eine solche Zahl (etwa: Seite CLXXXIII) recht
schlecht zitieren läfst. Wenn schon nicht fortlaufend durchgezählt
werden kann , weil der Quellenteil früher gedruckt wird als der Text-
teil, ist es zweckmäßiger, den Seitenzahlen der einen Abteilung einen
Stern beizufügen: Seite 183*.
Von Bedeutung dürfte noch eine Erörterung über das Verhältnis
— 2Ö4 —
sein, in dem besondere Publikationen der Quellen zur Rechts- und
Wirtschaftsgeschichte einer Stadt zu städtischen Urkundenbüchem und
sonstigen stadtgeschichtlichen Quellenveröffentlichungen allgemeineren
Inhalts stehen. Wenn man von den allerbedeutendsten Städten ab-
sieht, für die sich eine Veröffentlichung des Quellenmaterials nur durch
weitgehende Teilung bewerkstelligen läfet*), wird nach heutigen
Begriffen das gesamte für die Rechts- und Wirtschaftsgeschichte einer
Stadt wesentliche Material des Mittelalters in ein städtisches Urkunden-
buch gehören, das natürlich aufserdem noch manches andere enthalten
mufs. Für Städte , die ein Urkundenbuch besitzen *) oder an seine
Bearbeitung denken, würde sich demnach für die Zeit, bis zu der
jenes geführt werden soll, die Aufgabe erledigen, aber es würde
darauf ankommen, erstens, soweit ältere Urkundenbücher vorliegen,
die das oben namentlich bei Besprechung des Typus 3 gekenn-
zeichnete Material nicht genügend berücksichtigen, in irgendeiner
Form eine ergänzende Publikation zu schaffen, und zweitens
das rechts- und wirtschaftsgeschichtlich bedeutsame Quellenmaterial
über den 2^itpunkt, mit dem das Urkundenbuch schliefist, hinaus bis
um 1800 systematisch zu veröffentlichen. Für die Verteilung des
Stoffes vielleicht auf mehrere parallel laufende Veröffentlichungen und
für die mehr oder weniger ausführliche Art der Behandlung wird immer
die Reichhaltigkeit der Quellen im einzelnen Falle und der Reichtum
an Mitteln mafsgebend sein. Von grundsätzlicher Bedeutung ist es nur,
dafs wirklich alles Quellenmaterial, welches neue Erkenntnisse vermittelt,
aufgenommen und nicht willkürlich einiges herausgegriffen wird.
Es gibt aber eine Menge selbst bedeutenderer Städte, in denen
entweder fürs erste an die Bearbeitung eines Urkundenbuches nicht
gedacht *) wird , und recht viele solche , in deren Archiv tatsächlich
i) Für Köln liegen z. B. 2 stattliche Bände Akten zur Geschichte der Verfassung
und VerwdUwng der Stadt Köln im XIV. fMid XV. Jahrhundert, bearbeitet von
Walter Stein (Bonn 1 893^95) vor ; auch die Kölner Schreinsurhunden des XIL Jahr-
hunderte, herausgegeben von Honig er, (Bonn 1884 — 94, 2 Bände) gehören hierher.
2) In dieser Lage befand sich z. B. Rottweil, denn es besafs bereits das
Urkundenbuch, als Greincr Das ältere Eecht der Beichsstadt Bottweil (Stuttgart
1900) veröffentlichte.
3) Das trifft gerade für die Städte zu, für die gröfsere Veröffentlichungen stadt-
rechtlichen Inhalts vorli^en: Schlettstadt, Lippstadt, Hamm. Aber es gilt
auch für Koblenz, für welches Urkunden und Akten sur Geschichte der Ver-
fassung und Verwaltung der Stadt Koblenz bis zum Jahre 1600 Maz Bär
(Bonn 1897) bearbeitet hat. Von letzterem Buche ist merkwürdigerweise gerade wie
von dem Steins fUr Köln bei der Erörterung über die stadtrechtlichen Quellen
noch gar nicht die Rede gewesen.
— 286 —
zu wenig Material vorhanden ist, als dals die Bearbeitung einer
umfassenderen Quellenpublikation möglich wäre ^). Diese letzteren
beiden Gruppen sind es vor allem, für die eine VeröfTentlichung der
mehr oder weniger reichhaltigen Quellen zur Verfassungs- und Wirt-
schaftsgeschichte ihrer allgemeinen Bedeutung wegen in Betracht
kommt und von den Publikationsinstituten in die Wege geleitet
werden mufs. Welche Art der Veröffentlichung gewählt wird, ob eine
Publikation nach einem der oben gekennzeichneten drei Typen ge-
eignet erscheint oder ob man einen anderen Weg einschlägt, ist dabei
schliefslich unerheblich, wenn nur unsere Kenntnis der Rechts- und
Wirtschaftsverhältnisse in den kleinen Städten bis zum Ende der alten
Verfassungszustände bereichert wird. Auf das letztere aber, die Be-
handlung auch der letzten beiden Jahrhunderte, mufs besonderes Ge-
wicht gelegt werden.
Bei Städten, die eine bedeutendere Rolle gespielt haben, für die
die Quellen nicht nur reichlich fliefsen, sondern auch bereits vereinzelt
veröffentlicht sind, ist eine neue zusammenfassende Publikation gewib
recht erwünscht, aber besser und notwendiger ist in solchem Falle
schon eine Darstellung, die den reichen Stoff verarbeitet und so
genieCsbar macht. Einiges bisher Ungedruckte kann leicht in einem
Anhang mitgeteilt, wenn es dies verdient, manches Aktenstück in
seiner entscheidenden Stelle im Wortlaut angeführt werden, vieles
aber — wie z. B. die Rechnungen *) — läfet sich als Quelle für
rechts- und wirtschaftsgeschichtliche Zustände eigentlich nur bei einer
Darstellung voll verwerten. Eine solche wird sich am besten mit
der Verfassung und Verwaltung einer Stadt beschäftigen, aber
der Verfasser braucht nicht allzu ängstlich zu fragen, ob dieses oder
jenes, streng genommen, in den Rahmen seiner Arbeit gehört, und
wird auf die inneren Zustände, auf das glänze städtische Leben, soweit
es von der Stadtobrigkeit kontrolUert und geregelt wird, eingehen
dürfen. In dieser Weise ist Otto Richter in seiner ganz vorzüg-
lichen Verfassungs- und VertocUiungsgeschicJUe der Stadt Dresden
(Dresden 1885 — 1891, 2 Bände in 3 Teilen) verfahren, aber dieses
i) Dies wird bei der Mehrzahl der Städte der FaU sein, deren RechtsqaeUen
Schröder nnd Koehne Teröfientlicht haben.
2) Wenn aach fibr eine oder die andere Rechnung in einer rechts- und wirtschalts-
getdiichtlichen QaellenpabUkaüon Raam ist, so kann die Masse dieser wichtigen
Zcognisse doch nur entweder in einer besonderen PabUkaüon (vgl. den AnfsaU
StaäUrechmmgen in dieser Zeitschrift i. Band, S. 65—7$) Torgelegt oder durch Ver-
srbeitang im einzelnen ausgebeutet werden.
— 286 —
umfassende Werk von 1228 Seiten, das eine allgemeine weit über
Dresden hinausgehende Bedeutung für die Geschichte des neueren
deutschen Städtewesens überhaupt besitzt, ist leider wenig bekannt
oder wird wenigstens auffallend selten herangezogen. Das ist sehr
zu bedauern, da hier jeder, der sich mit irgendwelchen besonderen
Fragen des städtischen Lebens befafst, reiche Belehrung findet und
sieht, wie sich auch das sprödeste Material verarbeiten läfst. Gerade
in letzterer Hinsicht kann Richters Buch vorbildlich wirken.
Ob es möglich sein wird, mit der Verfassungs- und Verwaltungs-
geschichte in einer Darstellung auch die Wirtschaftsgeschichte^
soweit nicht die wirtschaftliche Tätigkeit der Stadtgemeinde als solche,
sondern die des einzelnen Bürgers in Frage kommt, zu verbinden,
oder ob man diese Dinge lieber auf die allgemeine Stadtgeschichte
verweist, vermag ich nicht zu entscheiden; es ist mir auch eine
Arbeit, in der das erstere Verfahren eingeschlagen worden wäre, nicht
bekannt. Freilich ebensowenig wüfste ich eine umfassende Stadt-
geschichte zu nennen, die dem städtischen Wirtschaftsleben voll ge-
recht geworden wäre. In dieser Hinsicht müssen noch Erfahrungen
gesammelt werden. Für darstellende Arbeiten, die sich aus-
schliefslich mit der Wirtschaftsgeschichte einer Stadt beschäftigen,
kann Hirsch, Daneigs Handels" und Gewerhegeschickk während der
Herrschaft des Deutschen Ordens (Leipzig 1858) oder Geering,
Handel und Industrie der Stadt Basel (Basel 1886), im all-
gemeinen als Muster dienen. Wer dieses Buch durcharbeitet, wird
staunen, in welchem Umfange ungedrucktes Material darin ver-
wertet ist, aber er wird auch die Überzeugung gewinnen, dafs es in
Anbetracht des Reichtums an Quellen und der Sprödigkeit des
Stoffes fast unmöglich ist, wirtschaftsgeschichtliche Quellen in
gröfcerem Umfange zu veröffentlichen *). Gegenüber solchem Stoffe ist
der Herausgeber gezwungen, sogleich eine erste Bearbeitung vorzu-
nehmen und statistisch bearbeitetes Rohmaterial in Tabellen
i) Ganz neuerdings ist eine Veröffentlickang erschienen, die wirtschaftsgeschichtliche
QaeUen in bisher nicht üblicher Art und Reichhaltigkeit mitteilt: jRecuetI de documents
rdatif ä Vhistoire de Vinduatrie drapiere en Flandre, Partie premi^e. Tome
Premier (Bruzelles 1 906), bearbeitet von Pi r e n n e and E s p i n a s. Nen ist die Zusammen-
fassung aller flandrischen Städte in einer Publikation. Wenn die Ordnungen in so
früher Zeit (bb 1420) auch naturgemifs die Hauptmasse der Urkunden bilden, so ist
doch darttber hinaus auch anderes Material lucht remachlässigt worden: z. B. ist S. 584 — 591
eine Rechnung des Tuchmaeherhandwerks in Brügge 1372/73 mitgeteilt. Je weiter die
Publikation zeitlich fortschreitet, desto häufiger und wichtiger dürften derartige aus dem
Betriebe der Arbeit heraus entstandene Schriftstücke werden.
— 287 —
oder sonstigen Zusammenstellungen neben einzelnen Urkunden und
Akten zum Abdruck zu bringen. Oft wird aber auch dies nicht
möglich sein, und dann mufs er sofort zur vollen Darstellung über-
gehen und, wo es irgend angeht, die entscheidenden Quellenstellen
im Wortlaut anfuhren. Das dürfte bei Arbeiten aus dem Gebiete der
städtischen Wirtschaftsgeschichte überhaupt das erspriefslichste sein,
weil sich vieles Material schwer oder nur auf unverhältnismäfsig
gfrolsem Räume publizieren läfst. Auch für die Veröffentlichungen,
die ich als solche des dritten Typus kennzeichnete, wird dies in
Betracht kommen, soweit das Wirtschaftsgebaren der Bürger be-
handelt werden soll; es werden sich da immer nur einzelne Proben
geben lassen, im übrigen aber mufs sich die Einleitung zu einer
vollen Darstellung auswachsen oder dem einzelnen als Probe mit-
geteilten Aktenstück mufs eine Erläuterung beigegeben werden, die
über seine Bedeutung unter Heranziehung anderen QuellenstofTs auf-
klärt. Gewisses Material kann auch bequem in Tabellenform mitgeteilt
werden, so z. B. unter Umständen über Jahrhunderte hinweg von
Jahr zu Jahr die Zahl der Neubüi^er, vielleicht unter Angabe, wie
viele von auswärts eingewandert und wie viele Bürgerssöhne (eventuell
auch Witwen) als Bürger aufgenommen worden sind. In vielen Städten
werden in Büchern, die mit den mannigfachsten Namen belegt sind,
schon seit dem XV. Jahrhundert gewisse Verträge, die Bürger unter-
einander und mit Auswärtigen abschliefsen , öffentlich beurkundet.
Daraus läfst sich oft Jahr für Jahr ermitteln, z. B. wie viel Veräufse-
rungen städtischer Häuser vorgekommen sind, und darin spiegelt sich
das wirtschaftliche Leben wider. Auch die beurkundeten Handels-
geschäfte u. dgl. lassen sich in gewissen Städten statistisch bearbeiten
unter Berücksichtigung der Handelsgegenstände und der Persönlichkeit
der Vertragschliefsenden, so dafs gewisse Einblicke in das alltägliche
wirtschaftliche Leben der Bürger gewonnen werden.
Gewifis ist das Aktenmaterial der Archive in dieser Hinsicht nicht
annähernd vollständig und kann es nicht sein, aber typische Verhält-
nisse müssen sich in dem zufällig erhaltenen Material im wesentlichen
treu widerspiegeln, und im übrigen ist es Sache des Bearbeiters, seine
Quellen auf ihre Eigentümlichkeiten zu untersuchen *). Aber an
I) In ganz vorzüglicher Weise hat neuerdings Friedrich Bothe, Beiiräge zur
WirUchafU- und Sosialgeachichte der ReieJisstadt Frankfurt (Leipzig 1906) darge-
stellt, inwiefern die Frankfurter Stadtrechnongen des Mittelalters nicht geeignet sind,
als Unterlage für eine Statistik des Stadthanshalts zn dienen, und hat damit eine wertvolle
„Quellenkritik" der mittelalterlichen Rechenbücher Überhaupt geliefert
— 288 -
gröfseren das gesamte wirtschaftliche Leben einer Stadt berück-
sichtigenden Quellenpublikationen fehlt es heute noch vollständig;
weder selbständige sind mir bekannt, noch solche, die neben rechts-
geschichtlichen in gröfserem Umfange wirtschaftsgeschichtliche Quellen
enthielten, die nicht den Charakter von Satzungen haben, sondern
einen Niederschlag des wirtschaftlichen Lebens selbst dar-
stellen. Bisher herrschen Veröffentlichungen vor, die sich mit einzelnen
Quellen oder einzelnen Teilen des Wirtschaftslebens beschäftigen, wie
es z. B. die von Koppmann, MoUwo und Nirrnheira veröffent-
lichten Handelsbücher oder auch Moltkes Veröffentlichungen über
die Leipziger Kramerinnung und die dortige erste Grofehandelsver-
tretung sind; und selbst Schmoller, die Straßhurger Tucher- und
Webereunfl (Strafeburg 1879) wäre hier zu nennen. Es handelt sich mit-
hin um eine über das gegenwärtig Übliche hinausgehende Forderung,
wenn ich erkläre: es ist dringend nötig, dafs in gröfserer Aus-
dehnung Quellen zur städtischen Wirtschaftsgeschichte
veröffentlicht werden, sei es in Verbindung mit den rechts-
geschichtlichen Quellen, sei es unabhängig von diesen, teils roh, teils
in statistischer Bearbeitung, und zwar müssen dabei Quellen berück-
sichtigt werden, die über alle städtischen Lebensverhältnisse — nicht
nur über das Zunftwesen oder nur über den Handel — unter-
richten ^).
Mitteilungen
Eingegangene Bficher.
Düning, Adalbert: Stift und Stadt Quedlinburg im dreifsigjährigen Kriege.
Mit emem Büdnisse des Generals Grafen Königsmark. Quedlinburg,
Selbstverlag des Verfassers 1894. 65 S. 8^.
i) Als ein solches der Publikation würdiges Aktenstück möchte ich z. B. die Steuer-
deklaration des Bechtold Heller in Frankfurt von 1484 betrachten; Bücher hat sie ver-
öffentlicht in den Kleinen Beiträgen s%*r Oeschichte (Festschrift zum deutschen Historiker-
uge in Leipzig Ostern 1894), S. 159— 161. — Im Anzeiger für Kunde der deutschen
Vorzeit 1881, S. 300, ist das Inventar der 1503 in einem Leipziger Kramladen
vorhandenen Waren abgedruckt. — Die in Testamenten nicht selten enthaltenen
Inventare des Haasgeräts sind ebenso lehrreich, namentlich, wenn man solche etwa 50 Jahre
auseinanderliegende Listen miteinander vergleichen kann. Derartige Schriftstücke finden
sich in jedem reicheren Archive und verdienen, soweit sie nicht Bekanntes wiederholen,
ans Licht gezogen zu werden. Gleichartige Stücke lassen sich dann leicht durch kurzen
Hinweis auf gewisse Abweichungen erledigen, wenn eins zum Abdruck gelangt.
— 289 —
Doeberl, M.: Entwickelungsgeschichte Bayerns. Erster Band: Von den
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171 Illustrationen im Text, 6 Tafeln, einer Originalplanzeichnung nach
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Nr. 27]. Leipzig, G. J. Göschen 1905. 146 S. 16 ^ M. 0,80.
Tumbült, Georg: Die Fürstlich Fürstenbergische Brauerei zu Donau-
eschingen 1705 — 1905. Stuttgart, Greiner imd Pfeiffer. 78 S. 4**.
Ulmann, Heinrich: Beitrag zum Wirtschaftsleben Neuvorpommems m den
Revolutionsjahren 1848/49 [= Pommersche Jahrbücher 6. Band (Greifs-
wald 1905), S. 77—90].
Valentin, Caroline: Geschichte der Musik in Frankfurt a. M. vom Anfange
des XV. bis zum Anfang des XVIIL Jahrhunderts, im Auftrage des
Verems für Geschichte und Altertumskunde zu Frankfurt a. M. heraus-
gegeben. Frankfurt a. M., Völcker 1906. 280 S. 8^.
Herausgeber Dr. Armin Tille in Leipzif .
Druck und Verlag von F^edricb Andreas Perthes, Aktiengesellschaft, Godia.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
sur
Förderung der landesgeschichtlichen Forschung
VU. Band August/September 1906 11/12. Heft
Wo lag die H^iniat der I^imbern und
Teutonen ?
Von
Georg Wilke (Grimma)
Zur Aufhellung historisch-geographischer oder ethnischer Fragen
kann die prähistorische Archäologie in doppelter Richtung beitragen.
Elinmal durch Vergleichung der Kulturzustände in verschiedenen
Gebieten, die uns mehr oder minder sichere Schlüsse über Kultur-
strömungen und diesen zugrunde liegende Wanderungen gestattet.
So läßt sich aus den sehr zahlreichen archäologischen Parallelen,
die zwischen dem unteren Donaugebiete und dem Kaukasus nachweis-
bar sind, mit fast absoluter Sicherheit folgern, daß etwa um die Mitte
des zweiten Jahrtausends v. Chr. von der Nordwestecke des Pontus
eine Wanderung im Norden des Schwarzen Meeres nach den Nordhängen
des Kaukasus und über dessen Kamm hinweg nach Transkaukasien
erfolgt sein muß *). Diese archäologisch nachweisbare Wanderung ent-
spricht jedenfalls dem Einbruch der Indo-Iranier nach Asien, was
natürlich nicht ausschließt, daß nicht schon früher auf anderem Wege
indo-europäische Völker nach Klein- und Vorderasien gelangt seien
{Kossäer; Metani).
Der zweite Weg, auf dem wir zu Aufischlüssen über Wanderungen
in vorgeschichtlicher Zeit gelangen, ist eine quantitative Vergleichung
der prähistorischen Hinterlassenschaft zweier aufeinanderfolgender Kultur-
perioden in ein und demselben Gebiete. Macht sich in einer
bestimmten Epoche in einem umgrenzten Gebiete eine plötzUche sehr
starke Zunahme des archäologischen Materials bemerkbar, so kann
dies kaum anders als durch Zuwanderung größerer Menschenmassen er-
klärt werden. Eine quaUtative Vergleichung der hinterlassenen Typen
I) VgL meinen Aufsatz Ärchäol. Parallelen aus dem KaukasM und den
unteren Donauländern in der Zeitschrift für Ethnologie 36. Jahrg. (1904) H. i.
Das dort zosammengesteUte Material habe ich seitdem noch wesentlich vermehrt.
21
— 292 —
mit denen anderer Gebiete kann alsdann über den Ausg'angspunkt
dieser Zuwanderung Aufschluß gewähren.
Umgekehrt wird eine plötzliche sehr starke Verminderung dea
archäologischen Nachlasses in der Regel nur durch einen starken Be-
völkerungsabfluß innerhalb oder am Schluß der vorausgegangenen
Kulturperiode zu erklären sein. Dieser Schluß ist um so zwingender^
je größer die Zahl der Fundstellen und je sicherer einerseits die be-
treffenden Funde datierbar, und je gleichmäßigere Zeiträume anderseits
die zur Vergleichung herangezogenen Kulturperioden umfassen.
In dieser Beziehung liegen die Verhältnisse für die La-T^ne-Zeit
besonders günstig, weil hier einerseits die drei Hauptabschnitte, in die man
diese einzuteilen pflegt, über fast g^anz gleiche und noch dazu verhält-
nismäßig kleine Zeiträume sich erstrecken, und weil anderseits die
Chronologie trotz der Korrektur, die das bekannte Tischlersche Schema
durch die wertvollen Untersuchungen Reineckes ^) erfahren hat, eine
sehr sichere ist.
Auf diese Epoche sollen sich die nachstehenden Untersuchungen
erstrecken, und zwar sollen die Besiedelungsverhältnisse im mittleren
Elbegebiete während der verschiedenen La -T^ne- Perioden erörtert
werden.
Überblicken wir den Bestand der Funde in dem fraglichen Gebiet *),,
so erhalten wir folgendes Bild : Das Königreich Sachsen, die westliche
Niederlausitz und der südöstliche Teil der Provinz Sachsen bis Saale
und Elbe sind ziemlich reich an Funden der älteren und teilweise
auch noch der mittleren La-T^ne-Zeit, die, wie ich noch hinzufügen
will, zu den westgermanischen Typen gehören. Dagegen sind Reste
der jüngsten La-Tfene-Stufe in diesem Gebiete sehr spärlich. In den
nördlichen Teilen der Provinz Brandenburg und der westlichen Hälfte
der Provinz Sachsen ist dieser Unterschied weniger deutlich oder gar
nicht bemerkbar. In den östlichen Grenzbezirken unseres Gebietes
endlich erscheinen zwar Spät-La-Tene-Typen in sehr großer Zahl, aber
es sind nicht mehr rein west-, sondern teilweise schon ostgermanische
Formen.
Dieser ganz auffallende Unterschied in der Hinterlassenschaft aus
den einzelnen Perioden der La-Tfene-Zeit innerhalb des mittleren Elbe-
gebietes kann unmöglich bloßer Zufall sein. Dazu ist das Gebiet zu
ausgedehnt, die Zahl der Fundorte zu groß.
i) Korreapondenzhlatt der Chadhchaft für Anthropologie, Ethnologie und
Urgeschichte 34. Jahrg. (1903), S. 36.
2) Vgl. im einzelneQ die Zosammenstellaog im Anhang S. 303 — 310.
— 293 —
Auch das ist undenkbar, daß die Einwirkung der La-T^ne-Kultur
auf dieses Gebiet nur vorübergehend gewesen sei und daß man nach
dreihundertjährigem Bestehen derselben wieder auf die ältere Eisen-
kultur zurückgegriffen habe. Warum sollte nur die spätere La-Tene-
Kultur und diese gerade nicht auf unser Gebiet sich erstreckt haben,
während doch ihr Einfluß weit bis nach England, Dänemark, West-
und Ostpreußen und selbst bis zum Kaukasus reichte! Auch fehlt
ja bei uns die Spät-La-T^ne-Kultur nicht vollständig, sondern sie er-
scheint nur in spärlichen Resten.
Dann aber ist diese höchst auffallende Erscheinung nur durch
eine plötzliche starke Abnahme der Bevölkerung zu erklären, die ihrer-
seits nur die Folge einer großen Auswanderung gegen Ende der
Mittel-La-Tene-Zeit, d. h. etwa in der zweiten Hälfte des zweiten vor-
christlichen Jahrhunderts bilden kann. Diese Auffassung ist ja keines-
wegs neu, und besonders ist neuerdings Kossina für Sachsen und die
Niederlausitz in seiner für die älteste Geschichte Deutschlands hoch-
bedeutsamen Arbeit über verzierte Lanzenspitzen ^) in ganz bestimmter
Form für diese Ansicht eingetreten, wenn er vielleicht auch dabei
etwas zu weit geht.
Ist diese Schlußfolgerung zutreffend, so erscheint es nur folge-
richtig, wenn wir die Ergebnisse der archäologischen Forschung mit
den, wenn auch noch so unklaren und lückenhaften, geschichtlichen
Nachrichten aus jener Zeit in Verbindung zu bringen suchen. Über
Wanderungen so großen Stiles, wie wir es auf Grund der prähistorischen
Forschung voraussetzen müssen, liegt uns aber aus jener Periode nur
eine Nachricht vor, es ist der Zug der Kimbern und Teutonen,
die wie ein verheerendes Unwetter ganz Mitteleuropa von der Säve
und Drave bis zur Seine und Ebro, von dem Herkynischen Walde
bis zum Po durchtobten und deren Erscheinen die stolze Römer-
republik nicht weniger erzittern machte, als einst die Heere des Brennus
and Hannibal.
Mögen auch die Zahlenangaben der Römer über die Stärke der
Idmbrischen Heere erst aus Furcht und später nach Besiegung der
gefürchteten Barbaren aus Prahlerei übertrieben worden sein, so können
die gewaltigen Wirkungen des Kimbemzuges im südlichen Mitteleuropa
doch nur durch ganz enorme Völkermassen hervorgebracht worden
sein. Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß die Heere der Kimbern,
als sie an die Pforten Italiens anklopften, unterwegs auf ihren Kreuz-
i) Zeitschrift für Ethnologie 37- Jahrg. (1905), S. 389 flF.
21
— 294 —
und Querzügen gewiß schon durch zahh-eiche blutige Kämpfe und
wohl auch durch Krankheiten stark gelichtet waren. Allerdings schlössen
sich ihnen ja später in den Alpen auch keltische Stämme an. Aber
auch dies wird pur durch die Annahme verständlich, daß die Kimbern
in ganz überwältigenden Massen dort einbrachen und daß dieser
gigantische Völkerstrom die helvetisch-gallischen Stämme mit fortriß.
Von Teutonen, über die uns allein bestimmte Zahlenangaben vorliegen,
sollen allein in der Schlacht bei Aqua Sextiä nach den geringsten
Angaben looooo, nach den meisten Nachrichten jedoch über 200 ocx5
gefallen und außerdem 80 bis 90000 gefangen worden sein, ungerechnet
die zahllosen Weiber und Kinder. Welcher Wert diesen Angaben
auch beizumessen sein mag, zweifellos handelt es sich um eine den
Beobachtern ganz ungeheuer groß erscheinende Menschenmasse. Wenn
wir auch eine selbst annähernde zahlenmäßige Schätzung kaum wagen
dürfen, so bleibt uns doch die Gewißheit, daß in diesem Falle nicht
einige kleine Völkerschaften in Frage kommen, sondern zwei große
Völker.
Eine Auswanderung so ungeheurer Volksmassen mußte natur-
gemäß zu einer starken Verödung der heimischen Gebiete führen, die
ihrerseits in einer plötzlichen, sehr beträchtlichen Verminderung der
archäologischen Hinterlassenschaft dieser Kulturperiode sich wider-
spiegeln muß.
Aber das zeitliche Zusammentreffen des Kimbemzuges mit der
auf prähistorischem Wege abgeleiteten Massenauswanderung würde an
sich noch nicht genügen, beide miteinander in Beziehung zu bringen,
wenn nicht die ersten Ereignisse bei der kimbrischen Wanderung ganz
bestimmt darauf hinwiesen, daß der Kirabernzug — wenigstens in
letzter Linie — tatsächlich von jenem Gebiete seinen Ausgang genommen
haben muß. Nach Poseidonios traf nämlich der erste Angriff der
Kimbern die Bojer im Herkynischen Walde. Von diesen zurück-
geworfen wären sie nach dem Ister und zu den gallischen Skordiskern
hinabgezogen, sodann zu den Teuristen oder Tauriskem ^). Man kann
diese Meldung doch nur so auffassen, daß die Kimbern über das Erz-
gebirge in das damals noch von den keltischen Bojem bewohnte
Böhmen einbrachen, dort auf stärkeren Widerstand stießen und so
gezwungen wurden, in östlicher Richtung nach Mähren auszubiegen,
I) Strabo, Buch VII, Kap. 2, 2, p. 293 : (prial dk xal Botovg rdf *Eqxijviw ^QVfiöv
otxHv TiQÖTeQOv, Toifg (fl KCfißQOvg ögfi^aavrag Inl t6p TÖnov xoOov, anoxQova&ivtag
vn6 TfiJv Bo((ov Inl rbv ^laxqov xaX tovg Zxo^Caxovg raXdxag xarafiijvai, «?r inl
TevQlarag xal TavQlaxovg xrX.
— 295 —
von wo sie dann weiter nach Überschreitung der Donau zu den zwischen
Save und Drave ansässigen Skordiskern gelangten. Die von einzelnen
Forschem geäußerte Vermutung, daß die Kimbern über Schlesien
nach Mähren und Pannonien vorgedrungen seien, halte ich nicht für
wahrscheinlich. Denn die ganze westliche Hälfte Ober- und Mittel-
schlesiens war, wie sich aus den echt keltischen früh-La-Tene-zeit-
lichen Skelettgräbern zwischen Sudeten und Oder ergibt, bereits seit
Be^nn des vierten Jahrhunderts dicht mit keltischen Stämmen be-
siedelt, die offenbar aus Böhmen oder Mähren dahin gelangt waren.
Der erste Zusammenstoß der Kimbern mit den Kelten hätte daher
bereits in Mittelschlesien erfolgen müssen. Dann aber kann man sich
nicht recht vorstellen, wie die Kimbern nach dem für sie ungünstigen
Ausgang der ersten Schlacht hätten an die Donau gelangen können.
Mögen sie nun aber über Schlesien oder das Erzgebirge nach
Süden vorgedrungen sein, so weist die Nachricht des Poseidonios doch
jedenfalls darauf hin, daß die Wanderung von dem mittleren
Elbegebiete aus erfolgte, also eben dem Gebiete, für das
wir archäologisch für die gleiche Zeit eine ungeheure
Abnahme der Bevölkerung festgestellt hatten.
Allerdings brauchten trotzdem diese Gegenden noch nicht das
eigentliche Heimatland der Kimbern zu bilden. Kamen diese, wie
man ja gewöhnlich annimmt, von der jütischen Halbinsel her, so
konnten sie bei ihrem Zug entlang der Elbe recht wohl die hier
ansässigen Volksstämme, wie später die helvetischen Völker, mit sich
fortreißen. Dies ist aber nur denkbar, wenn die von weiter nordwärts
eindringenden Stämme in sehr großen Massen auftraten, da sie anderen-
falls wohl kaum die dichten Massen des mitttleren Elbegebietes hätten
in Bewegung setzen können, sondern einfach zurückgeworfen worden
wären. Wie in letzterem Gebiete müßte sich daher diese Auswande-
rung auch in der La-T^ne-zeitlichen Hinterlassenschaft Schleswig-
Holsteins und Dänemarks widerspiegeln. Dies ist jedoch keineswegs
der Fall.
Wie mir Fräulein Professor Mestorf in Kiel mitzuteilen die Güte
hatte, geht die vorrömische Eisenzeit ganz kontinuierlich in die römische
Kultorperiode über, und nichts spricht dafür, daß innerhalb
jener Periode, die man von 400 v. Chr. bis zum Beginn
unserer Zeitrechnung ansetzt, eine Verminderung der
Bevölkerung stattgefunden habe.
In ganz gleichem Sinne haben mir auch der Vizepräsident der
Dänischen archäolog. Gesellschaft, Herr Amtmann Vedel, und der
— 296 —
Direktor des Dänischen National-Museums in Kopenhagen, Herr Sophus
Müller, auf meine Anfrage geantwortet. Ja nach der nordischen Alter-
tumskunde des letzteren scheinen sogar die der mittleren und nament-
lich jüngeren La-T^ne-Kultur entsprechenden Typen in Dänemark noch
etwas häufiger zu sein, als die älteren La-Tfene-Formen.
Aber auch schon in dem nördlichen Brandenburg und den nörd-
lichen Teilen der Provinz Sachsen ist, wie wir gesehen hatten, eine
Abnahme der Volksdichte vom Ende der Mittel-La-Tfene-Zeit ab
kaum mehr wahrnehmbar, und es bleibt uns daher nur übrig,
das mittlere Elbegebiet als die eigentliche Heimat der
Kimbern in Anspruch zu nehmen.
Mit diesem Elrgebnis, das ich lediglich aus den archäologischen
Tatsachen und den mir zugängigen schriftlichen Überlieferungen der
alten Historiker abgeleitet hatte, glaubte ich etwas völlig Neues auf-
gefunden zu haben. Ich war daher nicht wenig überrascht, zugleich
aber auch erfreut, als ich bei Umschau unter den neueren Historikern
das alte Wort Ben Akibas auch in diesem Falle bestätigt und das
Problem der Kimbemheimat schon von anderer kompetenterer Seite,
freilich auf einem ganz anderen Wege, in ganz gleichem Sinne gelöst fand.
Es seien mir daher noch einige kurze Bemerkungen über die
Geschichte des Kimbernproblems gestattet.
Bei der ganz eminenten Bedeutung, die der Einfall der Kimbern
und Teutonen für einen großen Teil der damaligen zivilisierten Welt,
namentlich aber für das stolze Römerreich haben mußte, ist es selbst-
verständlich, daß schon die zeitgenössischen Historiker und Geographen
diesen ebenso rätselhaften, wie imponierenden Fremdlingen ihr größtes
Interesse entgegenbrachten und mit Eifer ihrem Ursprung nachforschten.
Man sollte daher meinen, daß von den Zeugen jener welterschüttemden
Begebenheiten uns die genausten und zuverlässigsten Nachrichten über
deren Urheber hinterlassen worden seien und daß Zweifel über Heimat
und Herkunft jener gewaltigen Völkermassen überhaupt nicht be-
stehen könnten.
Leider ist gerade das Gegenteil der Fall. Die aus jener großen
Zeit oder bald danach stammenden Angaben sind vielmehr die Ursache
einer großen Verwirrung geworden, die bis in die neueste Zeit nach-
gewirkt hat und noch fortwirkt. Der Gesichtskreis der Römer ging
damals nicht weit über die Alpen hinaus, und wenn sie auch durch
die Reisen des Pytheas und des Gewährsmannes des Verfassers der
Ora maritima, vielleicht auch durch reisende Händler eine dunkle
Kunde von den fernen Küstenländern der Nord- und Ostsee erhielten,
— 297 —
so waren dies doch nur ganz nebelhafte Bilder, und namentlich fehlte
es ihnen so gut wie vollständig an auch nur einigermaßen zuverlässigen
ethnographischen Kenntnissen aus jenen weltentlegenen nordischen
Gebieten. Die einzigen Völker, von denen die Römer bis zur Mitte
des ersten vorchristlichen Jahrhunderts im Norden der Alpen Kenntnis
erlangten, waren Gallier, die das ganze große Gebiet von der Nordg^enze
des Römerreiches bis zu dem sagenhaften Herkynischen Walde inne-
hatten» Der Name Germanen wurde in Rom überhaupt erst um das
Jahr 80 V. Chr. bekannt und gebräuchlich *) , doch wußte man auch
da noch nicht zwischen diesen und den Galliern zu unterscheiden. So
wird es verständlich, daß man auch die von Norden her über die
Alpen einbrechenden Kimbern ebenso wie die Teutonen für gallische
Völkerstämme hielt.
Erst nachdem die Römer bei näherer und längerer Bekanntschaft
mit germanischen Völkern die Verschiedenheit ihrer Sprache und
Sitten gegenüber den Galliern kennen gelernt hatten, konnten sie zu
einer Unterscheidung beider Nationalitäten gelangen. Der erste, der
diesen Unterschied bestimmt und konsequent durchführt, ist, wie es
scheint , Julius Cäsar ^) , der auch zum ersten Male die Kimbpm und
Teutonen den Germanen zuzählt. Seit dieser Zeit wird diese Unter-
scheidung von den meisten Geographen und Historikern: Agrippa,
Vellejus Paterculus, Pomponius Mela, Tacitus , Ptolemäus und anderen
streng beobachtet und nur noch vereinzelt von halbwissenden Schrift-
stellern, die kritiklos die älteren Autoren ausschrieben, ignoriert.
Wie über die Nationalität der Kimbern und Teutonen sind auch
über ihre Namen die Ansichten der alten Historiker sehr verschieden
gewesen, und auch unter den heutigen Sprach- und Geschichtsforschen
besteht noch keine Übereinstimmung. Während der Name Kimbern
den antiken Quellen entsprechend fast allgemein für eine keltische
Benennung der germanischen Fremdlinge gehalten wurde, neigte man
bei der Deutung des Namens Teutonen mehr zur Annahme germanischen
Ursprungs *). Doch hält es Müllenhoff aus sprachlichen Gründen
für weit wahrscheinUcher, daß auch er nur eine altgallische Benennung
der Nordseevölker war, die der Rhein von den westlich davon sitzenden
gallischen Volksstämmen schied^).
Die Heimat der Kimbern und Teutonen verlegten die Römer,
i) Müllenhoff, Deutsche AlterttM/nskunde 2. Bd. (1883), S. 189.
2) Bellum Gällicum I, Kap. 33 und 40.
3) M. W. Dancker, Origines Cfermamcae (Berlin 1840), S. 90.
4) A. a. O. 2. Bd. S. 115.
— 298 —
wie ehedem auch die der Gallier, an die äußersten Enden der Welt^
an den nordischen Ozean. Der Name der Teutonen war ja bereits
längst durch den Bericht des Massilioten Pytheas bekannt, der um
325 V. Chr. im Auftrage seiner Vaterstadt angeblich nur zu Studien-
zwecken, in Wirklichkeit wohl aber auch in kommerziellem Interesse
die nordischen Küsten bereiste und östlich der Rheinmündungen an
der Nordseeküste eine von den gallischen Stämmen verschiedene, von
ihm für skythisch gehaltene Bevölkerung antraf, die bei den Galliern
jenen Namen führte. In diesen Gebieten dürfen wir daher auch den
Ausgangspunkt der Teutonischen Wanderung des zweiten Jahrhunderts
suchen, eine Annahme, die in den prähistorischen Forschungsergeb-
nissen ihre Bestätigung findet. Denn während die mittleren Bezirke
Hannovers, wie es scheint, keinen wesentlichen Unterschied in den
Fundmengen der einzelnen La-Tene-Abschnitte zeigen, sind, wie mir der
Direktor des Provinzial-Museums in Hannover, Dr. Reimers, brietlich
mitteilte, aus den an der Küste liegenden Regierungsbezirken Stade und
Aurich, sowie dem Regierungsbezirk Osnabrück fast ausschließlich Früh-
und Mittel-La-T^ne-Typen bekannt. Wir müssen also auch in jenen Ge-
bieten eine starke Auswanderung gegen Ende des zweiten Jahrhunderts
annehmen, die jedoch nicht dem Elbe-, sondern dem Emsgebiete ge-
folgt sein muß und sich dann weiter dem heutigen Frankreich zuwendete *).
Viel weniger klar lag die Sache bisher hinsichtlich der Kimbern,
für die ein ähnliches, gleich altes Zeugnis fehlt. Auch ihre Ursitze wurden,
wie gesagt, an die äußersten Gestade des nordischen unbekannten Meeres
verlegt, von denen sie durch eine große Sturmflut vertrieben sein
sollten *). Diese Begründung ihrer Auswanderung würde für die Be-
stimmung ihres Heimatlandes von ausschlaggebender Bedeutung sein,^
wenn nur diese Flutsage nicht, wie MüUenhoff gezeigt hat, eine ur-
sprünglich rein gallische Sage, und von den Galliern erst auf die
Teutonen übertragen und von diesen weiter auf die Kimbern ver-
schoben worden wäre *) , und wenn sie nicht schon von dem ältesten
in Betracht kommenden Schriftsteller, Poseidonios von Rhodos, aus-
drücklich bestritten würde *)
i) AUerdings wird ja meist angenommen, daß Kimbern nnd Teutonen nrspninglicb
zusammen marschierten nnd sich erst später irgendwo nördlich der Ostalpen trennten»
Aber ans den Qnellen scheint dies nicht zu folgen. Im Gegenteil weist die Notiz Cäsars
▼ielmehr darauf hin, dafi die Teutonen direkt über Belgien nach Frankreich eingebrochen
seien, wie es sich auch aus den archäologischen Tatsachen ergibt.
2) Strabo, Buch VII, Kap. 2, i.
3) MüUenhoff, a. a. O. S. i62ff.
4) Strabo, a. a. O.
— 299 —
Im übrigen hält aber auch Poseidonios, geleitet von der all-
gemeinen Anschauung und, wie Müllenhoff meint, unter dem Eindruck
der von ihm selbst bekämpften Flutsage stehend, an der Herkunft
der Kimbern von den Küsten des Ozeans fest, ohne indessen ihre
Wohnsitze genauer bestimmen zu können.
Wie Poseidonios sind auch die späteren Autoren, Agrippa, Pomponius
Mela, Strabo, Tacitus und Ptolemäus bei der althergebrachten Auf-
fassung stehen geblieben, nur daß sich mit der fortschreitenden Ent-
wickelung der Landes- und Völkerkunde die Angaben der verschiedenen
Schriftsteller über die Heimat der Kimbern immer präziser gestalten,
bis schließlich nach Entdeckung der jütischen Halbinsel im Jahre 4
n. Chr. diese ganz allgemein zur Urheimat der Kimbern gestempelt wird.
Diesen so bestimmten und untereinander mehr oder weniger
übereinstimmenden Berichten der alten Gewährsmänner folgend, ist
man dann auch bis in die jüngste Zeit bei dieser Anschauung stehen
geblieben, die durch eine Stelle bei Strabo und das Monumentum
Ancyranttm noch besonders erhärtet zu werden schien. Strabo be-
richtet nämlich *) : „Denn noch jetzt besitzen sie (die Kimbern) das Land,
das sie früher besaßen; auch sendeten sie dem Augustus den bei
ihnen am heiligsten gehaltenen Weihkessel als Geschenk, indem sie
um Freundschaft und Verzeihung des Geschehenen baten, und als
sie erlangt hatten, was sie wünschten, kehrten sie zurück." Und über-
einstimmend hiermit rühmt sich Augustus in der erwähnten Weihe-
schrift: „Meine Flotte ist von der Mündimg des Rheins bis in den
fernen Osten gesegelt, bis zum Ende der Welt, wohin weder zu Wasser
noch zu Lande jemals ehi Römer zuvor gelangt ist, und die Kimbern
und Charyden und Semnonen und andere germanische Völker dieser
Gegend haben um meine und des Römischen Volkes Freundschaft
gebeten."
Erst durch die scharfsinnigen Untersuchungen MüUenhoffs, der
die Berichte der alten Historiker emer erneuten Prüfung unterzog, hat
das alte Dogma von der jütischen Herkunft der Kimbern einen be-
denklichen Stoß erlitten. Nach ihm existiert der Gesamtname Kimbern
für die Bewohner der jütischen Halbinsel „überhaupt nur durch die
Meinung der Römer über die Herkunft des Volkes vom Ozean*)".
„Die Bewohner der Halbinsel gehörten schon zu den Sueven und dem
Stamm der Inguäonen. Es ist nicht wahrscheinlich und glaublich, daß
sie noch einen dritten Gesamtnamen bei ihren Stammesgenossen und
i) Strabo, a. a. O.
2) A. a. O. S. 288.
— 300 —
Nachbarn führten**^). Diese seit mehr als icx) Jahren eingewurzelte,
ursprünglich aus ganz phantastischen Vorstellungen entsprungene Auf-
fassung änderte sich auch nicht, als die vom Kaiser Augustus im
Jahre 4 n. Chr. nach der Nordsee entsendete Flotte, die wenigstens
bis zum Kattegat, wahrscheinlich aber noch weiter ostwärts vordrang,
die jütische Halbinsel aus eigener Anschauung kennen lernte und mit
den dort wohnenden Völkerstämmen in nähere Berührung kam. Im
Gegenteil mußte die Genugtuung, die das Römische Reich und der
Kaiser durch die Entsendung einer Sühnegesandtschaft erfuhren, nur
um so größer sein, wenn diese von den einst so gefürchteten Kimbern
ausging. „So wird der Name Kimbern für die Bewohner der Halb-
insel gewissermaßen offiziell anerkannt und bestätigt *)** und demzufolge
auch in die geographischen Werke der späteren Schriftsteller — Strabo,
Tacitus und Ptolemäus — aufgenommen.
Für diese Auffassung findet Müllenhoff noch eine weitere Be-
stätigung in der Art, wie die Römer mit den Teutonen verfuhren, die
sie zuerst in den unbekannten Norden verlegten, dann entweder mit
Stillschweigen übergingen oder wieder auf das Festland verpflanzten,
indem sie den Rest der inguäischen Völker zwischen Elbe und Oder
links der Ostsee für Teutonen erklärten.
Endlich beruft sich Müllenhoff auch noch auf das bereits auch
von uns für unsere Theorie in Anspruch genommene Zeugnis des
Poseidonios über die Ereignisse zu Beginn der Kimbernwanderung.
Kurz, das Gesamtergebnis der Untersuchungen MüUenhoffs geht
dahin, daß die nachmals bei ihrer Wanderung von den Kelten so
benannten Kimbern überhaupt nie an der See wohnten, sondern weiter
südwärts im Gebiete der mittleren Elbe, während die Küstenstriche
von den Teutonen besetzt waren. Wie mit diesem wurde auch mit
dem Namen der Kimbern eine Volksmasse bezeichnet, die aus
mehreren kleineren, unter besonderen Führern und Königen stehenden
Volkshaufen zusammengesetzt war und zu der insbesondere die Cherus-
ker, Langobarden, Semnonen und Hermunduren gehört haben müssen.
Ohne MüUenhoffs Beweisführung zu kennen, bin ich auf einem
ganz anderen Wege zu denselben Ergebnissen gelangt wie er, und
diese Tatsache spricht gewiß für die Richtigkeit der vorgetragenen
Anschauungen.
Schon Müllenhoff^) hat darauf hingewiesen, daß ein so un-
i) Ebenda.
2) Müllenhoff S. 286.
3) A. a. O. S. 302.
^
— 301 —
geheurer Wander- und Kriegszug, wie der der Kimbern, mit irgend-
einer großen Wendung im Leben der Nation, von der er ausging,
im Zusammenhang stehen muß. Er findet diesen Zusammenhang in
der Wanderung der Chatten und Markomannen, beides hochdeutsche
Völker, die sich nur von den Hermunduren und Semnonen an der
mittleren Elbe abgesondert haben können und als die ersten Germanen
den herkynischen Urwaldgürtel durchbrachen. „Damit war das Gesicht
der Nation, das bisher dem Norden und teilweise dem Westen zu-
gekehrt war, mit einem Male gen Süden und Südwesten gerichtet.
Die Nation ist in den Zusammenhang der Weltgeschichte eingetreten
und in eine Bahn gekommen, auf der keine Rückkehr, nur ein
stetiges, selbsttätiges Vorwärtsschreiten möglich ist. Daß diese große
Wendimg, die folgenreichste und größte im ganzen Leben der
Nation, eingetreten war, beweist der Zug der Kimbern und Teutonen,
die an die Pforten Italiens pochend und selbst sie durchbrechend
zuerst die entsetzte alte Welt das nie gesehene, unbekannte Volk
der Germanen kennen lehrten und mit Ungestüm es als eine welt-
geschichtliche Macht von neuem anzuerkennen zwangen."
Auch diese Annahme MüllenhofTs findet in den archäologischen
Tatsachen eine gute Stütze. Wie wir gesehen hatten, macht sich in
Sachsen und den nördlich angrenzenden Gebieten nicht nur eine
starke Verminderung der Spät- gegenüber den Mittel-La-Tene-Funden,
sondern auch eine beträchtliche Abnahme letzterer gegenüber den
ältesten La-T^ne-Typen geltend. Da der Zug der Kimbern erst in den
letzten Abschnitt der Mittel-La-T^ne-Zeit fällt, so kann die ziemlich
starke Verminderung des Fundmaterials aus dieser Periode gegen-
über dem ältesten Abschnitt nur zum geringsten Teil durch die
Kimbemwanderung bedingt worden sein. Es muß vielmehr schon vor
dieser ein stärkerer Abfluß der Bevölkerung erfolgt sein, sei es nun,
daß es eine einmalige große, oder wiederholte kleinere Wanderungen
waren. Eine von diesen Wanderungen kann man recht wohl mit dem
Abzug der Markomannen und Chatten *) von dem mittleren Elbegebiet
identifizieren.
Außer diesem Markomannenzug lassen sich aber auch noch, wie
Kossinna gezeigt hat, mehrere andere große Völkerbewegungen archäo-
logisch nachweisen, die m. E. ebenfalls mit der Kimbemwanderung in
i) W. Arnold, Ansiedlungen und Wcmdrungen deutscher Stämme, 3. Ausg.,
S. 59, setzt den Abzag der Chatten in das vierte Jahrhundert; aach dies ist noch an-
nehmbar.
— 302 —
einem gewissen Zusammenhang stehen, sei es nun, daß sie die Ursache
oder Wirkung dieser bilden.
Die eine dieser großen Völkerschiebungen ist das Vorrücken der
Ostgermanen nach Süden und Westen, die sich durch die Ausbreitung
scharf charakterisierter ostgermanischer Funde in der genannten Rich-
tung kundgibt. Besonders typisch sind hier verschiedene Formen
des Gürtelhakens, und zwar die zweiteiligen Scharniergürtelhaken und
die dreiteiligen Gürtelhaken von Bronze und Eisen, die im Norden
bis an die Oder herantreten, von der Neißemündung ab sie sogar
überschreiten und in der östlichen Niederlausitz eine ziemlich häufige
Erscheinung bilden. „Wir sehen hierdurch schon", sagt Kossinna, „daß
in der jüngeren La-Tene-Zeit die Wandilier die Oder nicht nur in
Hinterpommem und der Neumark erreicht hatten, sondern von dort
aufwärts bis an die Neißemündung gegangen waren, um hier die
Oder zu überschreiten und den Kreis Guben zu besetzen, während
weiter westlich die Niederlatlsitz leer blieb." ')
Die zweite größere Völkerverschiebung, die ebenfalls gegen Ende
der Mittel - La -T^ne- Zeit einsetzt, bilden „neue Zuwanderungen über
die Ostsee, bei denen die burgundische Bevölkerung von Bornholm
Führung und Herrschaft gewann, demgemäß auch dieser zweiten ost-
germanischen Gruppe den Namen gab, nach Hinterpommem und
Westpreußen gelangten und sich in die altwandUische Völkergruppe
teils hineinschoben, teils sie wohl verdrängten oder mit ihr verschmolzen".
Kennzeichen hierfür sind die Begräbnisse in Form der sogenannten
reinen Brandgruben ohne Umenbehälter, ein ursprünglich im
Alpengebiet entstandener und von dort nach Bornholm gelangter
Grabritus, der sich von hier aus zunächst über Hinterpommern und
Westpreußen ausbreitet, in der Folgezeit aber auch auf die südlich
angrenzenden Gebiete (Riedebeck, Kreis Luckau und Straupitz, Kreis
Lübben) übergeht und in der östlichen Lausitz (Homo, Reichersdorf,
Sadesdorf, Kreis Guben) in römischer Zeit sogar herrschend wird.
Diesen Auswandemngen aus Bornholm entspricht auch, wie ich einer
brieflichen Mitteilung des Präsidenten der Dänischen Archäologischen
Gesellschaft, Herrn Vedel, entnehme, eine Abnahme der archäologischen
Hinterlassenschaft Boraholms aus den späteren Perioden. Denn während
sich aus den älteren Zeitabschnitten viele Tausende von Brandgräbern
mit Gürtelhaken und groben eisernen Fibeln erhalten haben (Kenner-
gard und Mendhäi an der Westküste und Mandhei an der Ostküste),
I) z. f. EUi. 1905, H. 3.
— 303 —
macht sich schon in der späteren La-Tene-Zeit eine ziemlich bedeutende
Verminderung^ der Funde bemerkbar, obschon selbst aus spätrömischer
Zeit noch zahlreiche Brandplätter vorhanden sind.
Anhang
Der Nachweis, daß der Bestand an Funden im mittleren Elbegebiete
tatsächlich der von mir behauptete ist, würde am besten durch eine F u n d -
karte erbracht werden. Da aber die Gelegenheit fehlt, eine solche hier
mitzuteilen, so muß ich mich mit emer Zusammenstellung der Tatsachen
begnügen ').
Im Königreich Sachsen sind bisher an 1 6 verschiedenen Punkten La-
T^e-zeitliche Grabfunde gemacht worden, und zwar in Groitzsch, Knauthain,
Grobem, Markleeberg, Lösnig, Connewitz bei Leipzig, in Dehnitz bei
Wmzen, Höfgen bei Grimma, Bobersen bei Riesa, Seebschütz und Nieschütz
bei Meißen, in Stetzsch, Brießnitz, Dresden-Löbtau, Dresden-Pfotenhauerstraße
und endlich in Heidenau. Von diesen Gräberfeldern weisen Groitzsch,
Knauthein, Lösnig, Markleeberg, Connewitz, Dehnitz, Höfgen, Seebschütz,
Nieschtitz, Stetzsch und Brießnitz ausschließlich Früh-La-T^ne-Zeit-Fibeln auf.
Fibeln der Mittel-La-T^e-Zeit fanden sich je eiimial in Heidenau, Dresden-
Pfotenhauerstraße, Löbtau imd Cröbera. (Briefl. Mit. d. Herrn Hofrat Deich-
müUer). Hier außerdem eine Schieberspange, die jedenfalls schon der jüngsten
La-T^e-Stufe angehört. (N. M. Bd. IV S. 14.) Reine Jung-La-T^ne-Typen
hat bisher erst ein einziger Grabfund geliefert, nämlich der von Bobersen
(Mus. zu Grimma; Z. f. £. 1899 S. 657). Außer diesen Grabfunden ist mir noch
eine Siedelungsstätte bei Günthersdorf westlich Leipzig bekannt. Endlich
existiert noch eine Reihe von Einzelfunden, deren genaue Zeitbestimmung
aber wohl kavun möglich ist. Nur ein jüngst in der Nähe von Mutschen ge-
fundenes Fragment einer westgermanischen Mäanderume gehört — wenn
i) Um den Hinweis auf die einschlägige Literatur zu vereinfachen, werden im
nachstehenden folgende Abkürzungen der Titel angewandt.
Z, f. E. = Zeitschrift für Ethnologie ; Organ der Berliner Gesellschaft für Anthro-
pologie, Ethnologie u. Urgeschichte; Berlin.
N, A. 's^ Nachrichten über deutsche Altertumsfunde; Ergänzungsblätter der Z. f. Ethn.
Berlin.
B. V. M. =- Kgl. Museum für Völkerkunde, Berlin.
J, S, T, "» Jahresschrift für Vorgeschichte der Sächs.-Thüringischen Länder, Halle,
O. Hendel.
ündset «a Undset: Das erste Auftreten des Eisens in Nord-Europa.
G, M. =» Anzeiger des Germanischen Naüonal-Museums in Nürnberg.
Z. H, V, = Zeitschrift des Harzvereins für Geschichte u. Altertumskunde.
M, a. P. Haue = Mitteilungen aus dem Provinzial-Museum zu HaUe ; O. Hendel, Halle.
Brandenbwgia «= Archiv der Brandenborgia , Gesellschaft für Heimatkunde der
Provinz Brandenburg zu Berlin.
N, M. ^ Mitteilungen der Niederlausitzer Gesellschaft für Anthropologie und Ur-
geschichte.
F. u, St. o" Vofs n. Stimming, Altertümer der Mark Brandenburg, 1S87.
F.-, Jtf.-, S.'X.'T, -= Früh-, Mittel-, Spät-La-T^ne.
— 304 —
nicht einer noch späteren 2^it — dem Ende der La -T^e- Periode an.
Dahin rechne ich endlich auch die Funde von dem Wall im Oberholz von
Threna (Z. f. E. 1901).
Jedenfalls sehen wir, daß die spätere La-T^ne-Zeit in Sachsen gegenüber
den früheren Abschnitten äußerst spärlich vertreten ist, namendich wenn man
bedenkt, daß es sich bei diesen um ganze Gräberfelder mit einer mehr oder
weniger großen Zahl von Einzelgräbem handelt. Auch die mittlere La-
T^ne-Zeit ist nur dürftig vertreten, obschon nach den Untersuchungen Reineckes
einige der als Früh-La-Ttee angesprochenen Gräber vielleicht noch auf die
mittlere Periode fallen.
Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse in den südwestlichen Teilen der
Provinz Brandenburg und der westlichen Niederlausitz.
Hier liegen mir nähere Nachrichten vor aus dem Kreis Luckau von:
Alteno (N. M. IV S. 1 13); Friedersdorf (N. M. IV 113); Giesmannsdorf (Gräber-
feld: segelf. Ohrringe; eiserne GürtelhiJcen ; Nadel m. ellipt. Knopf; N. M. IV
129); Krossen (ebenda); Gehmlitz b. Golßen (Z. f E. 18. Jg. 1886 S. 597);
Landwehr (eiserne Gürtelhaken; segelf. Ohrrbge; Perlen N. M. IV 125)
Luckau Stadt (segelf. Ohrringe Z. f. E. 37, Jg. 05 S. 389); Niewitz (Gräberf.;
Übergang zu provinzialröm. Formen N. M. IV S. 98 u. 126); Sagritz (M.-L.-T.-
Fibel, Gürtelhaken, Schieberspange; N. M. IV 127); Paserin (F.-L.-T.-Fibel
u. Messer; Z. f. E. 37. Jg. 05 S. 389); Wierigsdorf (Gürtelhaken; N. M. IV
S. 127); Züllmersdorf (pers. Notiz d. Herrn Prof. Jentsch); Kümmritz (eiserne
Gürtelhaken wie von Mittenwalde; Undset S. 198 Taf. XX 12).
Kreis Kalau: Ragow (Gräberf.; segelf. Ohrringe; eiserne Gürtelhaken;
Nadehi, Fibeln von F.- u. M.-L.-T.-Typus ; N. M. IV S. 100); Stöbritz (ebenda
S. 101).
Kreis Sorau: Witzen (Bronzedepotf. der Übergangsz. v. Hallstatt zu
L.-T. N. A. 4. Jg. 1904 S. 46); Forst Pforten (M.-L.-T.-Fibel ; N. M. IV 127);
Zauchel b. Pforten (Vasen- u. Plattennadeln; N. A. 6. Jg. 1896 S. 44) ; Liebsgen
(Eisenbeil, vielleicht schon prov.-röm. N. M. IV 128).
Kreis Guben: Koschen (Gräberf; Fibeln; Gürtelhaken, Spangen v. F.-
u. M.-L.-T.-Typus; N. M. IV 102); Stadt Guben, Wmdmühlenberg (Gräberf.
der M.- u. S.-L.-T.-Zeit ; eiserne Fibeln; Gürtelhaken; Schieberspangen; Schar-
niergürtelhaken; Riemenzunge; Glasperlen m. gelben Inseln usw.; N. M. IV
104); Stadt Guben, Kaniger Str. (Urne von Spät-L.-T.-Zeitform m. weiden-
blattf. Lanzenspitze wie von Sadersdorf; N. M. IV 104); Stadt Guben, Bösitzer
Straße (Begräbnisplatz der älteren L.-T.-Zeit; N. M. IV 105); Haaso (Grabf.
bronz. Gürtelhaken; geschlossener Armring; Fibeln m. zurückgeschlagenem
Fuß; N. M. IV 105); Liebesitz (Grabf m. M.-L.-T.-Fibel; Z. f. E. 20. Jg. 1888
S. 435 u. N. M. IV 106); Sadersdorf (Grofses Gräberf.: bronzene u. eiserne
Fibeln von M.- u. S.-L.-T.-Form; halbkreisf. Schnallen; Dolchmesser; Messer-
schärfer; Messer; Beil ähnlich dem von Niewitz; Gürtelhaken u. Schamier-
gürtelhaken ; Schieberspange ; M.-L.-T.-Fibeln vorherrschend ; N. M. IV S. i ff.) ;
Schlagsdorf (Grabf. mit M.-L.-T.-Fibel ; N. M. IV 120); Wirchenblatt (Gräberf.
d. M.- u. S.-L.-T.-Zeit; M.-L.-T.-Fibeln vorherrschend; eiserne Gürtelhaken;
Schamiergürtelhaken ; Lanzenspitze mit scharfkantiger Mittelgräte; N. M. IV
S. 121).
Kr. Lübben: Schlepzig (Gräberf. v. 6. bis in das 4. Jh. v. Chr.; N. A.
I
— 305 —
8. Jg. 1898 S. 67); Straupitz (Speerspitzen, Beil, Messer, Messerschärfer, Trense,
Übergangszeit zu prov.-röm.; N. M. IV S. 122); Weichersdorf (M.-L.-T.-Fibel ;
Not. d. Herrn Prof. Jentsch); EUerbom (nähere Ang. fehlt; Z. f. E. n.Jg.
1879 S. 597); Lieberose (Eisenringe; Spirale m. Dom u. Sehne einer eis.
Fib.; ebenda).
Kr. Kottbus: Burg (Glasperle N. M. IV S. 102) u. eine Eisenaxt v. unbek.
Fundort (N. M. IV 102).
Kr. Züllichau-Schwiebus : Krummendorf b. Züllichau (Gräberfeld : bronzene
Schnallen, eiserne Nadeln; Gewinde einer F.-L.-T.-Fibel ; Golddraht; Z. f. E.
II. Jg. 1879 S. 222).
Kr. Stemberg: Kampitz (Gräberfeld; eiserne M.- u. S.-L.-T.-Fibel ; Sporn;
Schildbuckel; Schamiergürtelhaken ; Z. f. E. 11. Jg. 1879 S. 373)-
Kr. Lebus : Neu-Hardenberg (geschlossener Bronzearmrmg mit Gruppen
von Knöpfen; B. M. V. If. 3238); Markendorf (ebenda II 10 195); Grofs-
Nauendorf, Senlow, Kienwerder, Zechin (briefl. Mitt. d. Herrn Herrn. Busse).
Kr. Königsberg: Grenzhof b. Königsberg (Depotfund; Ring m. schalen-
fbmiigen Endknöpfen; Undset 205); Hohenwutzow (Gräberfeld: M.-L.-T.-
Fibel; segelf. Ohrringe; dreiteil. Schamiergürtelhaken; Z. f. E. 37 Jg. 1905
S. 389; Undset XXI, 7); Neuenhagen (Westgerm. Fund der frühen L.-T.-
Zeit; Z. f. E. 37. Jg. 1905 S. 389).
Außerordentlich groß ist die Zahl der L.-T. -Zeit-Funde weiter nördlich
an der mittleren Havel. Abgesehen von zahlreichen Einzelfunden ist aus
diesem Gebiete eine sehr große Anzahl von Gräberfeldem bekannt geworden,
die teilweise eine sehr bedeutende Ausdehnimg besitzen imd größtenteils in
dem Werke von Voß und Stimming zusammengefafst sind. Sie verteilen
sich, wie es scheint, auf die drei L.-T.-Perioden ziemlich gleichmäßig. Die
wichtigsten sind:
Kr. 2^uch-Belzig : Rietz, Holzberg (Gräberfeld : Segelohrringe ; F.-L.-T.-
Fibeln; Knöpfe m. Ösennadeln usw.; V. u. St. III Taf. 14 — 16); Krielow,
Weinberg (Gräberfeld : S-förmige Eisennadeln mit hohlspiegelf. Bronzescheibe ;
segelf. Ohrringe; Messer; Gürtelhaken; Knochenplatte m. konzentr. Kreisen ;
Halsring; Fibeln von M.- u. bes. S.-L.-T.-Typus ; V. u. St. IVa Taf. i bis 3);
Bochow (Gräberfeld: Ohrringe aus getriebenem Bronzeblech u. segelförm.
Ohrringe m. Perlen ; Nadeln, Gürtelhaken, Eisenfibeln von M.- bzw. S.-L.-T.-
Typus; V. u. St. IVa Taf. 12 u. 13); GoUwitz b. Gr.-Wusterwitz (Gräberfeld:
kahnförm. Bronzeohrringe; Gürtelhaken; Bronzeschmuck m. Spiralscheiben;
Eisennadel mit mnder Knaufplatte; vorwiegend M.-L.-Typen; V. u. St. IVa
Taf. 14); Werder (Depotf.: Ringe; Halsschmuck; Fibel m, breiter offener
Platte; Schaftzelte; Sicheln; Nadeki; Bmchstück eines L.-T.-Halsringes ; eis.
Gürtelhaken;; F.-L.-T.-Fibel; V. u. St. IVa Taf. 15); Golzow, Galgenberg
(Gräberfeld: Segelohrringe; Gürtelhaken; V. u. St. IVb Taf. 15); Ragösen,
Bullenberg (Gräberfeld: kahnf. Ohrringe; eiseme Fibeln von F.- u. M.-L.-T.-
Typus ; V. u. St. IVb Taf. 1 6) ; Derwitz (Gräberfeld : eis. zusammengebogenes
Schwert; eis. Speerspitze; Bronze- u. Eisenfibeln v. M.- u. hauptsächlich
S.-L..T.-Typus ; V. u. St IVb Taf. 17); Neue Burg b. Gr.-Derwitz (Grabfund;
briefl. Mitt. d. Herrn Herm. Busse); Grebs b. Lohnin (Gräberfeld gleichaltrig
mit Ragösen usw. Undset 200).
Kr. Prenzlau: Prenzlau (Einzelfimde der F.- u. M.- L.-T. -Zeit; briefl.
— 306 —
Mitt. des Kustos des Uckermärkischen Mus. Herrn v. d. Hagen); Ltibbenow
(ßronzenadel ähnl. der von Fehrbellin Z. f. E. 1884 S. 41).
Kr. Ost-Priegnitz : Demerthin (Gräberfeld: Typische S.-L.-T.-Gefölse mit
scharf profiliertem Rand; eis. Schwert u. Lanzenspitze; Schildbuckel; Gürtel-
haken; Übergang zu prov.-röm. ; Z. f. E. 22. Jg. 1890 S. 530); Luggendorf
(ringf. Bronzeschnalle; B. M. V. II 6718); Trieglitz (Pferdetrensen; Ortband
einer Schwertscheide ; Pferdegebifs, zus. mit nordischen Tutuli in einem Grabe
gef. ; vielleicht noch hallstattzeitl. ; Undset S. 193 u. Taf. XX 5, Taf. XII 3,
XX 11).
Kr. West-Priegnitz: Posllin (Gräberfeld vom Ende der S.-L.-T.- bis
zur Völkerwanderimgszeit ; N. A. 6. Jg. 1896 S. 56); Lenzen (Schwanenhals-
nadel mit vertieftem Kopf; Undset 189 u. Taf. XIX 5).
Kr. Templin: Storkow (großes Gräberfeld der beiden älteren L. -T.-
Perioden; briefl. Mitt. d. Herrn v. d. Hagen); Zchdenik (Gräberfeld: Messer,
Speerspitzen, Nadeln, Pfeilspitzen; eis. Gürtelhaken; schalenf. Ohrringe usw.
Undset 201); Hohensathen (dreiteil. Gürtelhaken v. S.-L.-T.-Typus; Undset 204).
Kr. Angermünde : Schmiedeberg b. Greiffenberg (grofses Gräberfeld der
beiden älteren Per.; briefl. Mitt. d. Herrn v. d. Hagen).
Kr. Potsdam: Potsdam (Brandgrab a. d. i. Jh. v. Chr.; Über Land
u. Meer 1904 No. 3164); Nähe der Kommune b. Potsdam (Halsring mit
petschaftähnl. vertieften Enden u. perlenf. Wülsten; Z. f. E. 24. Jg. 1892
S. 464); Neues Palais (zwei dgl. Undset 204).
Kr. Beeskow-Storkow: Willmersdorf (großes Gräberfeld v. 1000 v. bis
3. Jh. n. Chr. N. A. 10. Jg. 1900 S. 9); Storkow.
Kr. Ruppin: Zühlen (Gräberfeld: Ohrringe; Gtirtelhaken; Bronze- und
bes. Eisenfibeln von vorwiegend S.-L.-T.-Typus; Undset 201); Bienenwalde
b. Rheinsberg (großes Gräberfeld: segelf. Ohrringe m. Glasperlen; L.- T.-
Fibeln von M.- u. S.-Typus; Undset 200/1); Wustrau b. Neu-Ruppin (Gräber-
feld, vielleicht noch hallstattzeitl.; Undset 200); ICarve (Torques; Z. f. E.
16. Jg. 1884 S. 39); Feldmark Grüneberg (Gräber m. Steinpackung; Bronze-
halsring; Nadeln mit angenieteten kreuzf. Köpfen; eis. Gürtelhaken; Z. f. E.
24. Jg. 1892 S. 463); Bauschendeil (Brandenburgia 10. Bd. 1904 Taf. XXI);
Wall b. Karve (Halsring m. schalenf. vertieften Enden u. eis. Gürtclhaken;
Undset 204).
Kr. Ober -Barnim: Biesental (Hüttenbewurf; GeMreste; Bronzenadel;
durchbohrte Mahlsteine; N. A. 14. Jg. 1904 S. 12); Forsthaus Blumental
b. Biesental (durchbohrte Mahlsteine; ebenda S. 13); Hennickendorf, Buckow
(Gräberfeld gleichaltrig mit Ragösen; Undset S. 200).
Kr. Ost -Havelland: Eichstädt (Gräberfeld mit M.- u. S.-L.-T. -Typen
Z. f. E. 24. Jg. 1892 S. 464); Vehlefanz (Gräberfeld: Armringe, Gürtelhaken,
eis. Nadeln usw.; S.-L.-T.; ebenda); Ketzin (Trichtergruben u. germanische
Brandumen; Zeit unsicher; N. A. 12. Jg. 1902 S. 16); Ketzin, Havelbett
(Pferdegebifs; bronz. Halsring; eis. Schwert mit eis. Scheide; N. A. 1902
S. 55); Sakrow-Perezer-Kanal (Zaum wie der vorhergehende; ebenda S. 56);
Fehrbellin (Bronzenadel mit aufgenieteten Köpfen; Z. f. E. 16. Jg. 1884);
Kremmen (Zierplatten ähnl. denen von Eichstädt; Undset 205).
Kr. West -Havelland: Fohrde n (Urnengräberfeld mit F.-L.-T.-Typen ;
V. u. St. III Taf. I u. 2); Fohrde I (großes Gräberfeld; segelf. Ohrringe;
— 307 —
Gürtelhaken, AnnriDge, Lanzenspitze, M.- und S.-L.-T.-Fibeln ; V. u. St. IV
und IVa Taf. 7 bis 11); Klein -Kreutz, Krufiberg (Gräberfeld; F.-L.-T.;
V. u. St. m Taf. 3); Brandenburg a. Havel (Gräberfeld; Nadeln, Pfeilspitzen
usw. V. u. St ni Taf. 4 u. 5); Radewege, Mtihlenberg (Gräberfeld; L.-T.-
Umen ; Messer, Armringe, imitierter Wendelring, Pinzette, Nadeln m. näpfchenf.
Knäufen u. S-förmigem Hals; V. u. St. III Taf. 6 bis 11); Butzow, Moses-
berg (Gräberfeld: Armringe; Nadeln mit S-förm. Hab; V. u. St. III Taf. 12 ;
Klein-Kreutz, Rohrberg (Gräberfeld; V. u. St. III Taf. 13); Butzow, hinter
dem Mosesberg (Gräberfeld : Hirschhomkamm mit konzentr. Kreisen ; Schmuck-
stücke m. Spiralscheiben; eis. Nadeln mit großen Bronzescheiben; Segelohr-
jinge; Gürtelhaken; Fibeln von M.- und S.-L.-T.-Typus; V. u. St IVa Taf. 4
bis 6); Fohrde I (Gräberfeld: Segelohrringe; Gürtelhaken; Fibeln von M.-,
aber vorwiegend S.-L.-T.-Typus; V. u. St. IVa Taf. 7 bis 11) Friesak
(Gräberfeld: Fibeln u. Gtirtelhaken v. M.- u. S.-L.-T.-Typus; Z. f. E. 15 Jg.
1883 S. 727); Zootzen b. Friesak (Bronzetorques ; hallstattzeid. ? ebenda);
unbekannter Fundort (Urnen d. älteren L.-T.-Zeit; Mus. zu Neu-Brandenburg
No. 2 1X2, 2 113).
Kr. Teltow: Tempelhof (Gräberfeld ähnl. dem von Lichtenfelde ; Ohr-
ringe, Bronzeblech m. Perlen; eis. Nadeln u. Fibeln; M.-L.-T. ; Undset aoi);
Teltow (Halsring m. vertieften petschaftähnl. Enden u. perlenartigen Wülsten ;
Gürtelhaken; Undset 204); Ragow (segelf. Ohrringe; Z. f. E. 37. Jg. 1905
S. 389); Rudow (dgl.); Radow b. Berlin (Gürtelhaken; Bronze- u. Eisennadeln-
Undset S. 198 u. Taf. XIX 10); Mittelwalde (Gürtelhaken; Nadehi; Undset
S. 198 u. Taf. XX 12); Groß -Lichterfelde (Gräberfeld: Armbänder, Segelt
Ohrringe, Nadel, Gürtelhaken, M.-L.-T.-Fibeln; Z. f. E. 11. Jg. 1879 S. 342).
Kr. Nieder-Barnim : Woltersdorf und Rüdersdorf (beides ältere Gräber-
felder, die jedoch schon dem L.-T.-Typus nahe konmiende Gefäße aufweisen;
briefl. Mitt. d. Herrn Busse); Insel Reihenwerder im Tegeler See (Gräberfeld:
Urnen u. 2 Mahlsteine; briefl. Mitt. d. Herrn Busse); Niederschönhausen
(Fibel, Fußende in Tierkopf endend, Bügel m. menschl. Gesichtern verziert;
Undset Taf. XXII 11).
Auch in dem nördlich angrenzenden Großherzogtum Mecklenburg-
Strelitz ist em Unterschied der L.-T.-Funde der einzelnen Perioden nicht nach-
weisbar. Bekannt sind folgende Fundstellen: Kl.-Helle (Umenfriedhof der F.-L.-
T.-2>it ; Mus. Neu-Brandenburg, Nr. 1 9 3 2 ff.) ; Friedland-Neubrandenburger Eisen-
bahn( großes Gräberfeld mit Leichenbrand , Bronzeringe, Eisen- und Bronzefibeln
mit blutrotem dmaü usw.; ebenda Nr. 1453 ff.); Mölln (Gräberfeld, Gefäße
teilw. auf Drehscheibe geformt; ebenda 2070 ff.); Trotwiese b. Neu-Branden-
burg (Bronzefibel mit rückwärts geschlagenem Fuß ; ebenda 150); Gr.-Nemo-
row (Grabfund mit Bronzenadel ebenda 809); Grünow (Grabfimd, Bronze-
fibel und Perlen aus farbigem Glasfluß; ebenda 1005a u. b); Melchin-Warener
Chaussee (Gürtelhaken von Eisen; ebenda 1543).
In der Provinz Sachsen und dem Herzogtum Anhalt finden sich
in den rechtssaalischen imd rechtselbischen Kreisen fast ausschließlich Gräber-
felder mit F.- u. M.-L.-T .-Formen, während in den westlichen imd nördlichen
Kreisen dieses Vorherrschen der älteren Typen nicht bemerkbar ist. Die
wichtigsten Fimdorte in diesem Gebiete sind:
Kr. Neu-Haldensleben : Bülstringen (großes Gräberfeld aller drei Perioden ;
22
— 308 —
Segelohrrmge; Nadeln; Annringe; Gürtelbleche; Gürtelhaken; Messer; Perlen;
Bronze- und £isenfibeln der ältesten bis jüngsten L.-T.-Zeit. Mittlere u. Spät-
formen überwiegen. Z. f. E. 27. Jg. 1895, S. 121).
Kr. Kalbe: Kalbe a. S. (Bronzenadel m. rechteckiger Kop^latte, die
mit zwölf kleinen Kegeln besetzt ist; B. M. V. II 4 141).
Kr. Jerichow I: Leitzkau b. Prödel (Gräberfeld; L.-T.-Fibehi vorwiegend
vom Schema I. N. A. 5. Jg. 1895 S. 87); Althaus Leitzkau (Gräberfeld*,
segeiförmige Ohrringe; M.-L.-T-Fibeln ; N. A. 6. Jg. 1896 S. 83); Schermen
(Gräberfeld. Segelf. Ohrringe; M.-L.-T.-Fibeln usw.; mit Plötzky, Leitzkau,
Heidenburg, Hohenwarte u. a. gleichaltrig; J. S. T. Bd. 3, 1904 S. 140)
Plötzky (Gräberfeld=«Schermen ; N. A. 14. Jg. 1904S. 84); Heyrotsberga (großes
Gräberfeld; Fibeln wie von Schermen; gelbes u. blaues Glas; Kämme;
Umenharz N. A. 6. Jg. 1896 S. 81); Hohenwarte b. Bülstringen (Gräberfeld;
M.-L.-T.-Fibehi N. A. 5. Jg. 1895; J. S. T. Bd. 3 S. 140); Eulenmühle b. Bück-
nitz (Gräberfeld : Gefäße meist noch Lausitzer Typus ; Segelohrringe, Nadeln,.
Gürtelhaken, Halsring mit petschaftähnlichen Enden; F.- u. M.-L.-T.-Fibeln;
N. A. IG. Jg. 1900 S. 57); Ziesar (Bronzezaumkette wie von Potsdam; Z. f. E.
24. Jg. 1892 S. 464); Buden (N. A. 5. Jg. 1895).
Kr. Jerichow II: Scharteuke b. Genthin (Gräberfeld: segelf. Ohrringe;
Schwanenhalsnadeln. Grade Nadeln aus Eisen mit Bronzeknopf; Tonlöflfel;
Gürtelhaken; Bronzeberlocken; M.- u. S.-L.-T.-Fibeln) ; Schmetzdorf (Gräber-
feld : segelf. Ohrringe ; Ösenringe ; Gürtelhaken ; Bronzeringe mit Eisenzwingen ;
große Eisenfibel von M.-L.-T.-Form, die nach Reinecke jedoch schon S.-L.-T,
ist; Z. f. E. 20. Jg. 1888 S. 53); Schollene (mehrere Gräberfelder: Ohrringe;
Bronzemesser; Nadeln; Ringe; eis. Gürtelhaken; blaue Glasperlen usw.;
F.- u. M.-L.-T.-Typen; Undset 231).
Kr. Stendal: Tangermünde (großes Gräberfeld: segelf. Ohrringe mit
blauen Glasperlen; eis. Gürtelhaken u. Gürtelschloß; Z. f. E. 15. Jg. 1883 S. 369
u. 16. Jg. 1884 S. 332); Ameburg I (Gräberfeld m. Segelohrringen u. Fibeln
vom Schema II Z. f. E. 18. Jg. 1886 S. 310); Ameburg II (dgl. ; J. S. T»
Bd. 3 S. 140); Ameburg (Wohnstätten der F.-, M.- u. S.-L.-T.-Zeit ; 28. Jg.
B. des Altmärksch. Ver. f. Vaterl. Gesch. u. J. S. T. Bd. i S. 245); Badingen b.
Stendal (Gräberfeld: ähnl. dem von Windmühlenberg bei Guben, N. M. Bd. IV^
S. 103); Senne a. Kbei Stendal (Gräberfeld: ähnlich dem von Cheine;
Überg. zu prov.-röm. Undset S. 234).
Kr. Salzwedel: Ferchau (Hügelgräber der Hallstatt- u. F.-L.-T.-Zeit;
G. M. 1892 S. 62); Gr. Chüden b. Salzwedel (Gräberfeld der S.-L.-T.-Zeit;
ebenda S. 62); Vitzke (dgl; Globus Bd. 70 Nr. 17); Güsselfeld (großes
Gräberfeld: zusammengebogenes Schwert; La-T^ne-Kette; auch schon Mäander-
uraen Undset S. 230); Perver b. Salzwedel (Gräberfeld; Eisenmesser; Bronze-
beschläge; Nadeln; S.-L.-T.-Fibeln u. auch schon römische Fibeln; N. A. 1904
S. 82); Kricheldorf I (Gräberfeld mit 350 Gräbern); Kricheldorf U (Gräber-
feld m. 400 Gräbem ; Leichenreste teils in Umen, teils ohne solche in Erd-
löchem beigesetzt; Dauer beider Gräberfelder angeblich von 400 v. Chr. bis-
100 n. Chr., doch scheinen M.-L.-T.-Typen vorzuwiegen; Arch. f. Anthrop. 1903
S. 206 u. J. S. T. Bd. 3 S. 199); Cheme (großes Gräberfeld; Schildfesseln;
Fibeln z. T. schon prov.-röm.; Umenharz; Übergangszeit von S.-L.-T. zu
prov.-röm. Undset S. 233); Hennmgen, Wieblitz, Altensalzwedel, Gr.-Gischaa
— 309 —
(nähere Angaben fehlen; briefl. Mitt. d. H. Konsuls Zechlin, Konserv. der
Samml. d. Altmärksch. Gesch.-Ver.) ; Ptiggen (ähnl. Gräberf. wie Cheine ; Und-
set 233); Kahrstedt (Gräberf. von gleichem Typus; Undset 234) Gr. Apen-
burg (Wendelring m. Hakenverschluß; B. M. V. II 10537).
Kr. Osterburg: Lohne (Gräberfeld: Gürtelhaken; segelf. Ohrringe; Hals-
ringe m. petschaftähnl. Enden ; Bronze- u. Eisenfibeln von M.- u. S.-L.-T.-Typus ;
Undset S. 229/230).
Kr. Oschersleben: Oschersleben (Gräberfeld mit gleichem Inhalt wie
Schennen, Plötzky usw. J. S. T. Bd. 3 S. 140); Quedlinburg I (Schieberspange ;
N. M. rV S. 14); Wilsleben (Umenfeld; Deckelumen, gekröpfte Bronzenadel,
Rollenfibel, Eisenbeil. Z. f. E. 16. Jg. 1884 S. 142); Quedlinburg II (Grab-
fimde: T.-Fibel mit Eisenring, Bruchstücke einer Bronzekette von L.-T.-Typus,
Undset S. 2 2 7) ; Boxorenschanze b. Quedlinburg (Grabfimd : zusammengebogenes
Eisenschwert u. Scheidenbeschlag; Eisenmesser; rückwärtsgebogene Fibeln;
Undset S. 227).
Kr. Wernigerode: Silstedt b. Wernigerode (Brandgrab m. emer eis. u.
bronz. S.-L.-T.-Fibel ; das Gefäß nähert sich schon der Technik der Mäander-
umen; briefl. Mitt. des Herrn Prof. Höfer).
Saalkreis: Müchehi b. Wettin (Gräberfeld, segelf. Ohrringe; Nadebi;
Bronzeknöpfe; wulstige Armringe; onyxartige Augen; Gürtelhaken mit Platten.
Knöpfen; S.-L.-T.-Fibeln ; J. S. T. Bd. 3 S. 61); Löbejun b. Halle (Hügel-
grab; Gürtelhaken von Bronze; L.-T.-Fibeln, davon eine mit plattenartigem Bügel;
Undset S. 225 u. Taf. XXIII Fig. 3); Giebichenstein (Gräberfeld u. Wohnstätten-
fimde d. Hallstatt- u. F.-L.-T.-Zeit ; ebenda S. 226); Rotenburg a. Saale (Urne
V. L.-T.-Typus, gleich der von Wesenstedt; J. S. T. Bd. i S. 230); Brachstädt
(Bronzeknopf m. Triquetrum, ähnl. von Lanzendorf b. Zeitz; Undset S. 226).
Mansfelder Seekreis: Helfla b. Eisleben (Fibeln m. zurückgebogenem
Fuß ; briefl. Mitt d. H. Prof. Grööler) ; Welbsleben (Nadel m. hohlspiegelart.
Kopfjplatte, B. M. V. I g 332); Polleben (Gefäß mit eingedrückten mäanderart.
Punktiinien; Zeit des Kais. Augustus; J. S. T. Bd. 3 S. 103); Belleben
(Umengrab, etwa 300 v. Chr., Z. H. V. 31. Jg. 1898 S. 281 flf.; J. S. T.
Bd. I S. 130); Helmsdorf (Umengräber ; Beigaben fehlen ; „die Gefäße machen
den Eindruck, als ob sie der letzten Bronze- oder älteren L.-T.-Periode an-
gehören", J. S. T. Bd. I S. 172); Ober-Röblingen (Grab; vogelf. Tongeföß;
zuckerhutfbrmiges Glas; Schnalle; Perien; vielleicht schon frührömisch; ebenda
S. 200); Stedten (Grab m. Urne vom älteren L.-T.-Typus; Bronzeblechstück
mit Eisenniet; ebenda S. 224); Salzmünde (M. a. P. M. Halle 1900 S. 65).
Mansfelder Gebirgskreis : Maisdorf an der Selke I (Hügelgr., Urne u.
Bronzegefäß; zwei zusammengebogene L.-T.-Schwerter, eme bronzene Lanzen-
spitze; Schildbuckeln, Speerspitzen, Fibeln, GelUßscherben mit mäanderartiger
Ornamentik; Undset S. 227) Maisdorf II (Grabfund: Bronzegefäß; zusammen-
gebogenes L.-T.-Schwert; L.-T.-Fibeln ; Undset 227); Maisdorf III (ähnliches
Schwert mit S.-L.-T.-Fibel mit Knöpfen; Undset 228); Osterberg b. Maisdorf
(Gürtelhaken von westgerm. S.-L.-T.-Formen B. M. V. I g 377 u. Z. f. K 1905
S. 217 Fig. 16); Wesenstedt (Urne von L.-T.-Form; Spinnwirtel; J. S. T.
Bd. I S. 230) Gr.-Ömer (Achterberlocken; Perlen von blauem Glasfluß;
Kamm m. Bronzenieten u. konzentr. Kreisen verziert; Fingerring mit Onyx;
Silberfibel; vielleicht schon prov.-röm.; J. S. T. Bd. i S. 183).
22*
— 310 —
Kr. Merseburgs Graslücke b. Kl.-Korbetha (Umengräberfeld aller drei
Perioden; Torques. F.-, M.- u. S.-L.-T.-Fibeln; Arm- und Fingerringe; Messer;
Gürtelhaken. M. a. d. P.-M. Halle 1900 S. 43); Merseburg (L.-T.-Fibeln ;
nähere Angabe fehlt; ebenda S. 65).
Kr. Naumburg: Gr. -Jena (durchbrochener Gürtelhaken von Bronze,
Undset S. 226 u. Taf. XXII Fig. 10).
Kreis Zeitz: Aylsdorf (Gräber; L.-T.-Kette u. tierkopfartiger Haken;
Undset S. 226); Langendorf b. Zeitz (Bronzepinzette u. Bronzeknopf mit
Triquetrum; ebenda S. 226).
Kr. Querfurt: Freiburg a. Unstrut (Brandgräber; L.-T.- Urnen der
späteren L.-T.-Zeit; M. a. d. P.-M. Halle 1894 S. 21); Carsdorf II (Grabfund:
kreisbogenf. Messer; Fibel m. harfenf. geschweiftem Bügel u. Knopfscheibe
am Scheitel des Bügels; vielleicht schon prov.-röm. ; J. S. T. Bd. 3 S. 116);
Kl.-Wengen b. Nebra a. U. (Pferdegebiß, nach Technik u. Geschmack wahr-
scheinlich der S.-L.-T.-Zeit; J. S. T. Bd. 3 S. 63); Carsdorf I (Geföfifrag-
mente mit Punktverzierung; Zeit des Kaisers Augustus; J. S. T. Bd. 3 S. 104).
Kr. Weißenfels: Bauditz b. Weißenfels (Geföß mit Punktverz.; Zeit d.
Kais. Augustus; J. S. T. Bd. 3 S. 104).
Kr. Sangerhausen: Riethnordhausen (Schieberspange; N. M. IV S. 14);
TiUeda (Brandgrab: Nachbestattung; Bronzetorques mit Hakenverschluß).
Kr. Delitsch : Schenkenberg b. Deutsch I (Gräberfeld mit Brandgruben
u. L.-T.-Gefäßen ; M. a. d. P.-M. Halle 1900 S. 65 Fig. 33 u. 34); Schenken-
berg II (Gräberfeld: 60 Urnen, eiserne Fibeln m. zurückgebogenem Fuß;
ebenda Fig. 66).
Kr. Wittenberg: Zahna (Gräberfeld mit Lausitzer Gefäßen; segelf. Ohr-
ringe ; F.-L.-T.-Fibeln ; außerdem Gräber der röm. Per. ; M. a. d. P.-M. Halle
1900, S. 26 ff.); Leetze b. Zahna (Urne und Bronzehalsring mit petschafl-
artigen vertieften Enden und perlenartigen Wülsten; ebenda S. 27, Fig. 37).
Herzogtum Anhalt: Forsthaus Sorge b. Lindau (großes Gräberifeld versch.
Per.; Fibeln aller drei L.-T.-Stufen u. prov.-röm. Fibeln; Schnallen; Bronze-
und Eisennadeln; Ringfibel; Eisenpinzette; Halsring; Gürtelhaken; Mäander-
uruen J. S. T. Bd. 2 u. Taf. I bis VI); Gr.-Kühnau b. Dessau (F.-L.-T.-Fibel ;
ebenda Bd. 3, S. 82); Kl.-Kühnau b. Dessau (mehrere Geföße von F.-L.-T.-
Form; ebenda S. 83); Unbekannter Fundort (Grabfunde; Gürtelhaken von
Bronze; Undset S. 228); Köthen (L.-T.-Fund im Mus. zu Nordhausen; Mitt.
d. H. Prof. Höfer); Gödnitz a. Elbe (Urne mit keltischen Münzen; Undset
S. 228); Gr.-Wirschleben (L.-T.-Ume mit Muscheln, Schnecken usw. M. a.
d. P.-M. Halle, Bd. 3, S. 90); Latdorf (dgl., S. 90); Dröbel (dgl., S. 90).
Endlich führe ich noch einige Funde aus dem Herzogtum Braunsch weigan :
Cremlingen (Gräberfeld ; Umenharz ; blaue Glasperlen ; Knochenplatte mit konzentr .
Kreisen; Urnen, größtenteils vom Typus des 4. bis 5. Jahrh. n. Chr., doch zeigen
einzelne L.-T.-Charakter ; N. A. 1904, S. 24); Querum (Siedelung und Töpfer-
werkstätte; Charakter der Gefäße der gleiche; N. A. 1904, S. 24); Höken-
burg (Fibel mit Knöpfen wie die S.-L.-T.-Fibeln des Nordens; Undset S. 232);
Helmstedt (Umenfeld ; Ohrringe ; Eisenfibeln von F.- u. bes. M.-L.-T.-Form ;
Undset S. 231); Lauingen (Gräberfeld, ähnlich denen der Altmark; Schale von
Bronzeblech, M.-L.-T. und wohl teilweise auch S.-L.-T.-Fibeln; Undset S. 231).
— 311 —
Gesehiehtslügen und andere Sehlagwörter ^)
Von
Hans F. Helmolt (Leipzig)
Von Natur bin ich kritisch angelegt. Der Grundzug meines Wesens
ist Nüchternheit. Lessing war mir von jeher tausendmal lieber als
Schiller. Das Pathos liegt mir nicht. Mein guter Vater, der schon
als Gegengewicht zu seinem etwas eintönigen Beruf (er war der letzte
K. S. Finanzzahlmeister) die Ideale brauchte, hat meine erheblich
kühlere Denkweise oft beklag^. Daß z. B. eine gewisse Wahrschein-
lichkeit vorliegt, die Erzählung vom Teil sei durch den Chronisten
des „Weißen Buches** unter Ummodelung der dänischen Tokosage in
die Schweizer Befreiungsgeschichte eingeschmuggelt worden, bedauerte
er lebhaft, weil durch das Zerstören alten Schmuckes eine häßliche
Lücke entstehe, Zweifelsucht und Mißtrauen die Folge seien. Die
neue „Wahrheit** werde ja doch rasch durch die nächste Untersuchung
wieder gestürzt. Dennoch blieb ich bei meiner Liebe zur Kritik.
Denn wie sagt Destouches? Chassee le ncUurel, il revient au gcdop.
Oder etwas weniger fein, mit dem Fürsten Ligne: GraUez le B,u8se
et V0U8 trouverez le Cosaque, Als ich Ende 1889 die i. Auflage
von Ernst Bernheims Lehrbuch der historischen Methode durch-
zunehmen begann, ward mir das 4. Kapitel bald das liebste, und daraus
wieder der Abschnitt, wo über F'älschungen gehandelt wird: die
moabitischen Altertümer, die Pergämene di Arborea, das Privilegium
maius, die pseudo-isidorischen Dekretalen, die 400 Pforzheimer, die
treuen Weiber von Weinsberg usw. Und als dann der „Wattenbach**
drankam, war mir Beilage II besonders erwünscht; in der jüngsten
Auflage interessieren mich die Ausführungen über die fränkischen
Heiligenleben (I, i $ 11), die zu kritisieren vor allem Bruno Krusch
so erfolgreich tätig ist. Was einen dabei fesselt, ist die Aufwendung
von Scharfsinn, die erst die Enthüllung des Wahren ermöglicht.
Deshalb braucht man noch nicht gleich in den entgegengesetzten
l) VorUegender Anfsatz ist einer Literatargattung gewidmet, die noch immer viel
za kurz kommt and die doch jeder kennen mofi, der alte geschichtUche Irrtümer aas-
merzen and sich darüber Klarheit verschaffen wiU, was heute als geschichtliche Wahr-
heit gelten maß. Aas der Polemik, so anerquicklich sie sonst auch ist, wird in dieser
Richtung immer ein Ergebnis gewonnen werden. Wenn dieser Aufsatz auch etwas subjektiver
gehalten ist, als es bei den sonstigen Beiträgen zu dieser Zeitschrift üblich ist, so glaubte
ich ihm doch seines Inhalts wegen, der zur Beschäftigung mit der Schlagwörter-Literatur
anregen möge, Aufnahme gewähren zu dürfen. Der Herausgeber.
— 312 —
Fehler zu verfallen und mit de Fontenelle überkritisch zu statuieren:
Tl n*y a paint cCautres histoires anciennes que les fahles. Daß
A. Richers Essai sur les grands evenemens par les petites catises
(Genf 1758) lediglich eine höchst unkritische Sammlung" vergnüglicher
Anekdoten genannt werden kann, erkennt auch der bescheidenste
„Historiker" auf der Stelle. Schwieriger aber und dabei reizvoller
sind die Versuche, hinter das Geheimnis psychologischer Rätsel zu
gelangen. Ist z. B. Sixtus IV. so genau in die Verschwörung der
Pazzi eingeweiht gewesen, daß man behaupten darf, er habe die Er-
mordung der Medici direkt gebUligt? Oder darf man dem Papste
glauben, wenn er dem die Möglichkeit eines Todesfalles andeutenden
Grafen Riario entgegnet: Tu sii una hestia. Jo ü dico: non vaglio
la mofie di niuno, tna la mtUazione deUo stato [di Fiorenza] ^i, Oder
eine andere Frage: Dürfen wir uns bei der Beurteilung des merk-
würdigen Verhaltens Bernadottes im Herbstfeldzug 18 13 von dem
Unmute des Unterbefehlshabers Bülow und des Generalstabschefis
Adlercreutz leiten lassen, oder hat der Recueü des ordres de mouve-
ment, proclamations et buüetins de 8. A, R. le Prince Royal de Suede
recht, wenn er von einer humanen loyaute redet, qui laisse aux
chefs des corps une latitude necessaire? Diese beiden „Rettungen"
mögen genügen; es ist rein unmöglich, die zweifelhaften Fälle auch
nur annähernd zu skizzieren: ihre Zahl ist Legion. Es gibt so manchen
geschulten Geschichtsfreund, der von so manchem neueren Forschungs-
ergebnisse noch keine Ahnung hat, der Polyperchon fiir einen Druck-
fehler hält und das Vorhandensein eines Ferdinand IV. leugnet. Ja, wer
kann denn alles gelesen haben, wer soll alles wissen? Und das sind
noch besonders gravierende Vorkommnisse. Wer aber ist imstande,
die vielen Kleinigkeiten, die besonders die Kulturgeschichtschreibung
in umfassendster Weise zusammengetragen , verbessert und berichtigt
hat, sämtlich zu beherrschen? Wenn auch derartige Paralipomena
vom Zunftgelehrten meist hochmütig über die Achsel angesehen und
als „populäre Kompilationen" verachtet werden *), sind darum brauch-
bare Zusammenstellungen dieser Art ein wirkliches Verdienst,
das gerade der in sein Spezialfach vergrabene Herr Professor unum-
wunden anerkennen sollte ; er könnte, wollte er sie nur recht benutzen,
genug daraus lernen! Voilä jastemerU, comme on Scrü Vhistoire!
i) Die Titel der meisten der unten besprochenen Werke fehlen bei Dahlmann-
Waitz, Quellenkunde der deutschen Geschichte, 7. Aufl., herausgegeben von Branden-
barg (Leipzig 1906).
— 313 —
Aus der Fülle dessen, was dies meist übersehene und vernach-
lässigte Feld an Früchten hervorgebracht hat, sei heute einiges in
bunter Auswahl gewürdigt. Wer das eine oder das andere von hierher
gehörigen Büchern vermissen sollte, den verweise ich kurz auf S. 294 ff,
der 3. Auflage von Bemheims jedermann zugänglichem Lehrbuch, wo
aufier W. v. Jankos Fabel und Geschickte und Döllingers Papst-
faheln eine ganze Menge einschlägiger Literatur in höchst belehrender
Form besprochen ist.
Eigentlich müßte ich mit einem Werkchen anfangen, das meinen
eigenen Namen wenigstens als den des Herausgebers aufweist. Da ich
aber schon genügend von mir selbst gesprochen habe, so möge der
geschätzte Leser mit der bloßen Anfuhrung vorlieb nehmen : es betitelt
sich Der Treppenwite der Weltgeschichte. OeschichÜiche Irrtümer, Ent-
stellungen und Erfindungen, gesammelt von W[Uliam] L[ewis] Hertslet.
6. Auflage. Durchaus neu bearbeitet von Hans F. Helmolt** (BerUn,
Haude & Spener, 1905). Die schnelle Einbürgerung dieser Lieblings-
schöpfung des am 2. Mai 1898 verstorbenen Kaufmanns, Eisenbahners,
Bankherrn, Mathematikers und Statistikers, PhUosophen und Finanz-
schriflstellers (diese seltene Vielseitigkeit erklärt zugleich seine außer-
ordentliche Belesenheit) geht schon aus den Anfangsworten des Vor-
worts zur 12. und 13. Auflage (1895) eines anderen Buches hervor,
der OeschichtslOgefh [von Dr. Paul Majunke]. Dort heißt es: „Im
Frühjahr 1883 sandte mir Herr Verlagsbuchhändler Ferd. Schöningh sen.
das damals neu erschienene Buch von Hertslet: Der Treppenwite der
Weltgeschichte mit der Anfrage zu, ob ich geneigt sei, ein ähnliches
Volksbuch vom katholischen Standpunkte herauszugeben." Dort
lesen wir auch, daß das Wort „Geschichtslüget** vom „Altmeister der
katholischen Geschichtschreibung** Jos. Edm. Joerg 1851 in Kurs ge-
bracht worden sei. Majunke hatte bekanntlich das im allgemeinen recht
scharfe und einseitige Nachschlagebuch nicht allein verfafst, sondern
mit noch zwei anderen „Freunden der Wahrheit** (Galland und Krebs,
soviel wie ich mich zu erinnern glaube); nach deren Hinscheiden in
den Jahren 1891 und 1893 hat er andere Mitarbeiter gefunden, bis er
selbst am 21. Mai 1899 abgerufen ward. Nunmehr lautet der Unter-
titel : Eine Widerlegung landläufiger Entstellungen auf dem der Geschichte
mit besonderer Berücksichtigung der Kirchengeschichte. Aufs neue be-
arbeitet von Freunden der Wahrheit. 16. und 17. Auflage; der ersten
elf Auflagen Neue Folge (Paderborn, Ferdinand Schöningh, 1902;
Preis 4 Mk.). Zu ihrem Vorteile haben die Geschichtslügen gegen-
wärtig etwas von der unangenehmen Unduldsamkeit und bitteren
— 314 —
Polemik, die ihnen früher anhafteten, verloren. Man vergleiche z. B,
die vorliegende Fassung der Erzählungen über Luthers angeblichen
Selbstmord mit S. 187 ff. der 12. und 13. Auflage; inzwischen war
freilich Majunke von seinen eigenen Glaubensgenossen gründlichst ab-
geschüttelt worden: Hist. Jahrb. der Görresgesellsch. 16, 1895. Doch
darf man auch heute kaum behaupten, daß sie ein Buch seien
ad reuniendos dissidentes in rdigione christianos compositum (Febro-
nius, De statu ecdesiae). Die Kampfweise ist immer noch nicht ehr-
lich genug ; namentlich im Verschweigen leistet sie viel *). Verargen
kann man's jedenfalls den Herren nicht, wenn ihnen ob immer und
immer wieder verbreiteter und hartnäckig wiederholter, alberner Märchen
und irriger Schlagwörter schließlich mal die Laus über die Leber
läuft. Darum werden die Oeschichtslügen auch in Zukunft eine heil-
same Kontrolle bilden, die protestantische Heißsporne vor überflüssigen
Übertreibungen abzuhalten berufen ist.
In noch höherem Grade gilt dies von Bernhard Duhrs S. J.
Jesuiten 'Fabeln. (Ein Beitrag zur Kulturgeschichte. Vierte, ver-
besserte Auflage. Freiburg i. Br. , Herder, 1904; Preis 7.20 Mk.)
Schon in ihrer äußeren Gestalt bedeuten sie einen imponierenden
Mahner und Warner vor unvorsichtigen Aburteilungen einer Einrich-
tung, die man zwar nicht kennt, aber um so leichtfertiger herunter-
1) Ein paar Kleinigkeiten seien angemerkt. Auf S. 188 f., Anm. wird das grund-
legende Werk Ton Wilh. Walt her nicht genannt. „Von üeferem Eindringen in die
Wissenschaft war bei Luther nicht die Rede" (S. 190) — vgl. nur O. G. Schmidt,
Luthers Bekanntschaft mit den alten Klassikern (Leiptig 1883). „Wie ansinnig ist
es, zu behaupten, den Katholiken sei das BibeUesen verboten gewesen** (S. 190) — aller-
dings bezog sich das Bibelverbot nur auf Obersetzungen in den Landessprachen; wer
aber aus dem Volke war denn im Mittelalter imstande, die Vulgata zu lesen?! Auf
S. 270 Zeile 7 muß es „helfen** heifien statt „geholfen**. Karlstadt ist am 24. De-
zember 1541 gestorben (S. 298). Vermutlich werden wir in der nächsten Doppelauflage
nun auch B arges Zweibänder auftauchen und als eine willkommene Wiederauflichtung
lange verschütteter Wahrheiten gebucht sehen: so etwas läßt sich die Redaktion sicher
nicht entgehen. Warum widerlegt sie aber nicht einmal die „Legende** von den groß-
artigen Fälschungen, die sich das sonst so gepriesene Klosterwesen in Papsturkunden
und anderen wertvollen Dingen (Reliquien z. B.) geleistet hat? Da ist noch ein frucht-
bares Feld ersprießlichster Tätigkeit offen. Statt dessen reitet man nach wie vor auf
Oldecop (vgl. JBG. 16, 1893, ^h S. 292) hemm. Zum Lehmann-Naud^-Streite (S. 381)
vgl. noch Schmollers schönen Nachruf auf N. (Forschungen zur Brandenb. Gesch. 9, II,
1897). ^^^ 45* Abschnitt, Kossuth, wird man künftig schwerlich aufrechterhalten wollen.
Den über Lehnin hat man — fast möchte ich sagen: leider I — schon jetzt fallen lassen;
an unfreiwilliger Komik war er kaum zu übertreffen. Die Anordnung des III. Haupt-
kapitels häUe von Nr. 36 an saubrer sein dürfen.
— 315 —
reißt. Wenn man kein ganz verrannter und verbissener Jesuitengegner
ist, muß man Duhrs Bestreben, oft wiederholte Anklagen gegen die
Gesellschaft Jesu in ruhiger Sachlichkeit und vornehmer Gelassenheit
zu widerlegen oder doch auf ein vernünftiges Mindestmaß herunter-
zudrücken, unumwunden anerkennen. Und vor der außerordentlichen
Belesenheit des gelehrten Verfassers wird jeder seinen Hut abziehen
müssen *). Lediglich aus Achtung vor dem Dargebotenen, nicht etwa
aus heimlicher Hinneigung zu dem Orden, den auch ich in seiner
Gesamtheit von den Grenzen Deutschlands ferngehalten wissen möchte,
empfehle ich das interessante Buch, eine jedenfalls anhörenswerte Ver-^
körperung des Grundsatzes Audiatur et altera pars, unbedenklich.
Konfessionelle Gegensätze überbrücken oder umschiffen zu wollen,
ist und bleibt eine heikle Sache. Darum bin ich heilfroh, aus diesen
Klippen mich nunmehr auf neutralere Gefilde retten zu können. Da
möcht' ich zunächst auf ein in unseren Kreisen ziemlich unbeachtetes
Buch hinweisen, auf Scher m und Ernst in der Mixthematik, Oeflügelte
und ungeflügdte Worte. Gesammelt und herausgegeben von Dr. W.
Ahrens in Magdeburg (Leipzig, B. G. Teubner, 1904). Es richtet
sich unter anderem gegen die üble Angewohnheit, falsch zu zitieren;
findet ja doch erfahrungsgemäß der Irrtum viel leichter zahlreiche
Nachbeter als die Wahrheit. Aber auch das biographische Wissen,
vor allem über Gauß und Jacobi, wird durch diese eigentümliche und
überall zum Nachdenken anregende Zusammenstellung wirksam geför-
dert. Eine dritte Stärke des Buches ist die Erkendtnis der schwachen
Seiten der mathematischen Größen, d. h. das Festnageln von Fällen,
wo sich Vertreter der „exakten** Wissenschaften durch unvorsichtige
Aussprüche usw. selbst kompromittiert haben. Aber die werden nicht
etwa bissig zum besten gegeben, um die betroffenen Heroen in den
Staub zu ziehen, sondern mehr aus einem sympathischen Humor des
rvO&i aeavröv heraus, der auch an großen Geistern den Menschen
nicht verkennen mag. Von vornherein bin ich überzeugt, daß mir
mancher, der die Entwickelung der mathematischen Disziplin verfolgt,
für diesen Hinweis nur dankbar sein wird.
Damit sind wir nun eigentlich auch schon in die geheiligten
Hallen der „Geflügelten Worte** (denn diese hat Ahrens liebevoll
berücksichtigt und ungemein bereichert) eingetreten. Den „Büch-
i) VieUeicht ließe sich zum 9. AbschniUe Der Jesuitenkrieg in Paraguay noch
die selten gewordene Kurtze Nachricht von der BepuhUque, so von denen B, B, P. P,
de^' Gesellschafft JEsu . . . aufgerichtet worden, und von dem Krieg . . . (Lissabon
J760) künftig mit Tcrwerten.
— 316 —
mann'' kennt jeder anständige Mensch; von dem braucht weiter nicht
geredet zu werden. Dafür möchte ich aber eine verwandte Saite an-
klingen lassen; trägt der Ton, wie es allen Anschein hat, dann wird,
wenn nicht bereits die nächste (23.), so doch sicherlich die übernächste
Auflage des beliebten Zitatenschatzes in erwünschter Weise entlastet
werden können. Ich meine natürlich: entlastet um die Schlag-
wörter. Das ist eine junge Forschung, und hat noch keine starken
Schultern: allzuviel wird man noch nicht darauf laden dürfen. Doch
Otto Ladendorfs Historisches Schlagwörterbuch. (Ein Versuch.
Straßburg, Karl J. Trübner, 1906; Preis 6 Mk. — notabene: gegen
ein gewisses Reichsgesetz ohne jeden Druckervermerk!) beweist
allein durch sein bloßes Erscheinen, wie nötig, dringend nötig mal
eine mögUchst erschöpfende Zusammenfassung des bereits überreich
zuströmenden Stoffs gewesen ist. Hier läßt sich getrost prophezeien:
dies Buch wird genau so sicher seine Auflagen wiederholen, wie
Hertslet, Majunke, Duhr, Büchmann. Es ist einfach ein Bedürfnis.
Die Wortgeschichtsforschung und die Kulturwissenschaft können beide
manches Goldkom aus Simon Widmanns Geschichiseln (Mißverstan-
denes und Mißverständliches aus der Geschichte, gesammelt und er-
klärt. Paderborn, Ferd. Schöningh, 1891; merkwürdigerweise seitdem
nie wieder aufgelegt) ebenso bequem schöpfen, wie sie etwa Wust-
manns Liederbuche fiir altmodische Leute Als der Großvater die
Großmidter nahm einen wunderbaren Schatz halbverschütteten, halb-
vergessenen Guts entnehmen mögen; und was es sonst noch an ähn-
Uchen Sammlungen ^) gibt, die neben ihrem literaturwissenschaftlichen
Wert einen eigenen persönlichen Reiz besitzen. Aber wer kommt
gleich darauf, so entlegenes Material heranzuziehen? Hier im „Laden-
dorf** hat man — noch nicht alles Einschlägige beisammen, beileibe
nicht; aber wenigstens — die Grundlage zu einem entsprechenden
Thesaurus. Das ist doch die Hauptsache. Und weil er mit vollem
i) Nnr beispielsweise führe ich an: die beiden Werkchen von Rud. Kleinpaal:
a) Deutsches Fremdwörterbuch and b) Dm Fremdwort im Deutschen (beide in der
Sammlung Göschen); langweilig ist nie, was Kleinpaal schreibt, wenn vielleicht aach
nicht aUes richtig ist. Femer vor aUem: Fried r. Kluges EtffmologiscJies Wörter^
buch der deutschen Sprache, dessen 6. Auflage schon im a. Abdrucke vorUegt, und
seine sprachgeschichtlichen Aufsätze Von Luther bis Lessing. Die namentlich von Prof.
Dunger in Dresden gepflegte Spitznamenforschung gehört teilweise hierher. Schliefs*
lieh lälst sich manches auch ans Th. B. Harbottles Dictionary ofhistorical aUusions
(London 1903) und aus P. H. Dalbiac und Harbottles Dictionary of quotaiions,
german and sptmish holen. Kurz: an Hilfsmitteln auf diesem Felde fehlt es wahr-
haftig nicht
— 317 —
Rechte die entwickelnde Methode angewandt hat, so ist sein Buch
mindestens zu einer Hälfte eins geworden, das jeden Historiker un-
bedingt angeht. Für jeden, der seine Muttersprache, ihr geheimes
Weben und Leben liebt, hat das Schauspiel des mit ihr vorgehenden
Szenenwechsels etwas ebenso Reizvolles wie die Wandlungen des vor-
nehmen japanischen Gesichts während des letzten Menschenalters für
den Anthropologen. Und bei dem Studium der Moden, die beson-
ders das Schlagwort durchzumachen hat, fällt fiir den Kulturhistoriker
sehr viel mit ab. Auch die Grenzen zu ziehen zwischen dem bloßen
Modewort (z. B. hysterisch, seriös, bilanzsicher u. a.) und dem echten
Schlagworte (z. B. „Rotes Königreich" für Sachsen seit 1903/04;
fehlt bei Ladendorf), erfordert oft einiges Nachdenken. Hier ist eben-
falls Kritik vonnöten. Darum sei es mir zum Schlüsse vergönnt, eine
kleine Nachlese zu halten ; ihre etwaige Verwertung ist möglich, wenn
sich Ladendorf entschließt, einige entbehrlichen Längen zu kürzen, und
wenn der Herr Verleger (im eigenen Interesse, wie ich glaube) so
freundlich ist, ein paar Bogen mehr zu bewilligen. Denn fortwährend
machen sich Neuaufnahmen nötig (vgl. die Erläuterung des Reichstags-
abgeordneten Schrader zu dem „Mantelgesetz" der Steuerreform, am
1 5. Mai 1906). So fehlt bei „Volksseele" die typische Abart der „kochen-
den" Volksseele in Bayern. Aber auch ältere Anführungen heischen
hie und da eine Ergänzung. So wird das Wort „Charakterzug" von
Goethe am 18. Dezember 18 18 (Maria Feodorowna zu Ehren) ange-
wandt als Festzug. Zu Nabob sei angemerkt : nawwäb ist Plural von näib.
Ejrwünscht wäre eine kurze Erörterung über den Bedeutungsumschwung,
der sich mit dem Wort „Adept" vollzogen hat (vgl. Leipziger Zeitung
vom 19. November 1903, S. 4000); bezeichnend ist auch die Wand-
lung, die durch Kaiser Wilhelm II. in seinem Dresdner Trinkspruche
vom 25. Oktober 1905 mit dem Begriffe „Großdeutsch" vorge-
nommen worden ist. Zum „Übermenschen" vgl. das niedliche Gedicht
in der Jugend vom 2. April 1898. „Ultramontan" im geographischen
Sinne gehört sicher nicht erst dem XVIII. Jahrhundert an. Beim
„Musterstaate" durfte das „Musterländle" nicht fehlen. Zur „Heimat-
kunst" gehört der „Erdgeruch". Neben „Hurrapatriotismus** darf
Ed. Heycks „Dividendenpatriotismus** (vgl. Hans Meyers Deutsches
Volkstum, 2. Aufl., I, 159) ein Plätzchen beanspruchen. Und hieran
wieder schliefsen sich die „Coupons- oder Dividendenkriege** Rieh.
Mayrs (meine WeligeschUMe VII, 123). Über „Byzantinismus** hat
mal Max Haushofer eme anregende Abhandlung im Daheim (oder
war's die Gartenlaube?) veröffentlicht. Den „natürlichen Grenzen**
I
— 818 —
(vgl. Meyers Volkstum^ I, 175) gesellt sich der „Talweg" zu (F*riede
von Campo Formio u. ä.). Zu „Krämervolk" vgl. dasselbe Werk «
I, 177. Berlin mit „Wasserkopf" in Verbindung zu bringen, ist wohl
ein Erzeugnis vergangener Jahrzehnte; jüngeren Datums hingegen
ist Dr. Barths „Politischer Kolophoniumblitz". Doch darf man
vorübergehenden Schlagern besser die Aufnahme versagen. Ist
Kümbergers „Amerikamüder" 1855 (so Lad.), 1856 (Meyers Konv.-
Lex.) oder 1857 (so ^^ einem mir vorliegenden Antiquariatskatalog:
„Seltene Orig.-Ausg.") erschienen? Solche Feststellungen sind manch-
mal der Priorität wegen nicht überflüssig. Zum erweiterten Gebrauche
des Wortes „Soziologie" vgl. den ersten Band von Paul Barths be-
kannter Geschichtsphilosophie *). Für die Geschichte des Wortes
„Anarchist" sind vielleicht wichtig: Les chemises roages ou mimoires
pour servir ä Vhisioire des anarchistes (Paris , an VII). Was ist unter
dem Stichwort „Ehernes Lohngesetz" S. 64, Zeile 15 von unten, mit
„Ebenda" gemeint.^ Muß es heißen Völkerschlacht- oder Völker-
schlachts-Denkmal ? Setzfehler : Lassalle (S. 293) ; S. 65 Zeile 6 von
unten fehlt „in"; S. 184, Mitte: Robilant! — So, das möge genügen ;
bietet's ja doch gleichzeitig einen raschen Einblick in den Kreis des
von Ladendorf Gebotenen. Auf Wiedersehen bei der 2. Auflage!
Mitteilungen
Yersamnüangen. — In diesem Jahre wird der Gesamtverein der
deutschen Geschichts- und Altertunisvereine seine Versammlung auf
österreichischem Boden und zwar in Wien in der Zeit vom 24. bis
zum 28. September abhalten. Auf die Bedeutung dieser Versammlungen für die
Vertreter der Orts- und Landesgeschichte und im besonderen für die Ge-
schichtsvereine ist oft genug hingewiesen worden, aber dieses Mal ist
es auch eine nationale Pflicht aller reichsdeutschen Vereine, sich in Wien
vertreten zu lassen, damit die Gemeinsamkeit der geistigen Interessen offenbar
werde, die die deutsch - österreichische Geschichtsforschung mit der reichs-
deutschen verbindet. Hier bietet sich einmal Gelegenheit, den Österreichern
unseren Dank dafür abzustatten, daß sie dauernd Versammlungen im Reiche
besuchen, mögen sie auch am Rhein oder an der Ostsee stattfinden. Darum
sei noch einmal allen Vorständen von Geschichtsvereinen der Wunsch
nahegelegt, daß sie dieses Mal unbedingt einen Vertreter entsenden, wenn
auch für viele die Entfernung weit größer ist als sonst.
An der Spitze des Ortsausschusses steht Prof. Oswald Redlich; die
•
I) Philosophie der Oe$chichte als Soeiologie (Leipzig 1897).
— 319 —
Sitzungen finden sämtlich m der Universität statt. Vorgesehen sind Be-
sichtigungen der zahlreichen geschichtlichen Merkwürdigkeiten unter sach-
kundiger Führung, femer eine Fahrt nach Klostemeuburg und bei genügender
Beteiligung auch eine solche nach dem ausgegrabenen Römerlager Car-
nuntum ').
In den allgemeinen und öffentlichen Versanmilungen werden
folgende Vorträge stattfinden: Prof. Fournier (Wien) über Österreich
und Preußen-Deutschland in den ersten Jahrzehnten des
XIX. Jahrhunderts; Generalmajor Dr. v. Pf ist er (Stuttgart) über den
Tag von Jena, seine politischen und militärischen Voraus-
setzungen; Prof. V. Schröder (Wien) über die Religion der arischen
Urvölker; Prof. Dragendorff (Frankfurt a. M.) über Altertums-
forschungen in Nordwestdeutschland; Hofrat Piper (München)
über Österreichische Burgen. — In den Vereinigten fünf Ab-
teilungen wird an erster Stelle über eine systematische Sammlung der
historischen Nachrichten über Elementarereignisse und physisch-geographische
Verhältnisse *) [Berichterstatter: Swarowsky (Wien) und Redlich (Wien)] ver-
handelt, und sodann werden zusammenfassende Berichte über die imletzteu Jahr-
zehnt vom Gesamtverein angeregten imd geförderten Untemehmtmgen erstattet
werden, und zwar wird berichten Thudichum (Tübingen) über Grundkarten,
Tille (Leipzig) über Archivinventarisaäonen , W o 1 f r a m (Metz) über Historisch-
topographische Wörterbücher, Jacobs (Wernigerode) über Kirchenbücher-
verzeichnisse, Beschorner (Dresden) über Flurnamensammlung. — In der
ersten und zweiten Abteilung werden folgende Vorträge gehalten: Die Or-
ganisation der römisch-germanischen Lokalforschung in Westdeutschland von
Anthes (Darmstadt), Die Stufen und Gruppen des Gräberfeldes von
Hallstatt von Hoernes (Wien), Wien in römischer Zeit von Kubit-
schek (Wien) und Spuren römischer Kultur in Schlesien von Seger
(Breslau). — Für die dritte imd vierte Abteilung ist lediglich ein Vortrag
von Wolf (Freiburg i. B.) über Aufgaben und Grundsätze der deutschen
Territorialpolitik in der Reformationszeit vorgesehen. — In der fünften Ab-
teilung (für Volkskimde) werden Haberlandt (Wien), Me ring er (Graz),
Dachler (Wien) und Brenner (Würzburg) über Methode und Erfolg der
Bauemhausforschung sprechen, Pommer (Wien) eine Charakteristik der
Alpenjodler geben. Wossidlo (Waren) wird den Antrag, betreffend Grün-
dung einer bibliographischen Zentralstelle für Volkskunde, begründen imd
Lauffer (Frankfurt a. M.) einen solchen, betreffend Ändertmg des Namens
der fünften Abteilung.
In der Abgeordnetensitzung wird ein Antrag des Verwaltungs-
ausschusses beraten, die Zahl der Beisitzer von sechs auf neun
zu vermehren.
Auswärtige Teilnehmer werden gebeten, sich bis zum 15. September
bei Dr. Bittner, Wien I, Minoritenplatz , Staatsarchiv, schriftlich an-
zumelden.
1) Vgl. darüber diese ZeiUchrift 5. Bd., S. 286—395.
2) Dieser Vorschlag Imfipft an die oben S. 223 erwähnten Ausführungen an, die
Redlich (Wien) auf dem Stnttgarter Historikertage Tortmg.
— 320 —
Am 24. September findet ebenfalls in Wien, tmd zwar ebenfialls in der
Universität, der sechste deutsche Archivtag statt. Diese Versammlung
von Archivfachleuten, die hierbei die verschiedensten in der Archivpraxis
gewonnenen Erfahrungen austauschen und Gelegenheit finden, Archiveinrich-
tungen zu studieren — dieses Mal wird das neue Gebäude des k. tmd k.
Haus-, Hof- und Staatsarchivs besichtigt — , verdient von den staatlichen
und städtischen Behörden, denen Archive unterstellt sind, in höherem Maße
beachtet zu werden, als es bisher der Fall ist. Namentlich die städtischen
Archivare, soweit sie im Hauptamt tätig sind, sollten vollzählig vertreten
sein, und für die immer wachsende Zahl der nebenamtlich angestellten
ist die Beteiligung nicht minder wichtig.
Das Programm sieht folgende Vorträge vor: i. Archivalienschutz in
Württemberg von Archivdirektor Schneider (Stuttgart); 2. Archive und
Archivwesen in Steiermark von Archivdirektor Meli (Graz); 3. Ordnungs-
prinzipien im dänischen Archivwesen, insbesondere das Provenienzprinzip von
Archivdirektor Sech er (Kopenhagen); 4. Die Photographie im Dienste der
archivalischen Praxis von Archivrat Warschauer (Posen); 5. Archiv-
benutzung zu familiengeschichtlichen Zwecken (Schluß der vorjährigen Dis-
kussion) ^) ; 6. Zur Einführung in das neue Gebäude des k. und k. Haus-,
Hof- imd Staatsarchivs von Archivdirektor Winter (Wien).
Der in dieser Zeitschrift (oben S. 104) ausgesprochene Wunsch, die
Tage für Denkmalpflege möchten zeitlich immittelbar an die Versammlungen
des Gesamtvereins anschließen und örtlich mit ihnen zusammenfallen, ist für
dieses Jahr leider nicht in Erfüllung gegangen, und dadurch wird eine
Zersplittenmg der Kräfte eintreten, die im Interesse der Sache bedauerlich
ist. Denn der siebente Tag für Denkmalpflege findet am 27. und
28. September in Braunschweig statt, wo Geheimer Baurat Brinkmann
an der Spitze des Ortsausschusses steht. Zur Verhandlung werden folgende
Gegenstände gelangen: i. Wie ist die öffentliche Meinung zugunsten der
Denkmalpflege zu beeinflussen? von Provinzialkonservator Büttner (Steglitz);
2. Über die Möglichkeit der Erhaltung alter Städtebilder imter Berücksich-
tigung modemer Verkehrsanforderungen von Provinzialkonservator Reho rst
(Merseburg) und Provinzialkonservator Burgemeister (Breslau); 3. Be-
malung und Konservierung mittelalterlicher Holz- und Steinskulpturen von
Konservator Hager (München) und Provinzialkonservator Haupt (Eutin);
4. Die Instandsetztmg alter Altarbilder, erläutert am Flügelaltar von Haver-
beck sowie an den Antependien aus dem Dom in Goslar tmd der Kloster-
kirche in Wennigsen am Deister von Provizialkonservator Reimers (Han-
nover); 5. Bericht der Kommission über die Aufiiahme der kleinen Bürger-
häuser von Stadtbaurat Schaumann (Frankfurt a. M.) und Prof. Stiehl
(Charlottenburg); 6. Aufgaben der Denkmalpflege im Bergischen Lande von
Amtsrichter Bredt (Lennep); 7. Über Denkmalpflege auf dem Lande von
Geh. Oberbaurat *Hoöfeld (Berlin); 8. Bericht über das Handbuch der
deutschen Kunstdenkmäler von Prof. De hio (Strafsburg); 9. Über städtische
I) Vgl. oben S. 56—57.
— 321 —
KuDStkommissionen von Prof. Loersch (Bonn); lo. Backsteinbau und
Denkmalpflege von Prof. Stiehl (Charlottenburg); ii. Denkmalpflege in
Hildesheim von Architekt Sandtrock (Hildesheim); 12. Über Bemalung
alter Holzbauten von Prof. Ltibke (Braunschweig); 13. Über die Erhaltung
alter Strafsennamen von Prof. Meier (Braunschweig). In einem öffent-
lichen Vortrage wird Geh. Baurat Pfeifer (Braunschweig) über Braun-
schweigische Stifts- und Klosterkirchen (mit Lichtbildern) sprechen; auch
werden Lichtbilder zur Ergänzung des unter Nr. 2 genannten Vortrages vor-
geführt werden. Am 29. September ist ein Ausflug nach Hildesheim
vorgesehen.
Verwandte Fragen werden übrigens auch auf der Versamailung für
Volkskunde und Volkskunst behandelt werden, die in Dresden aus Anlaß
der dritten deutschen Kvmstgewerbeausstellung vom Verein fürSächsische
Volkskunde, dem Kgl. Sächsischen Altertumsverein imd dem
Verein für Geschichte Dresdens, vom 7. bis 9. September ver-
anstaltet wird. Prof. Fuchs (Freiburg) wird den Hauptvortrag halten über
die volkswirtschaftliche Bedeutung der Volkskunst, während
Prof. Seyffert (Dresden) zur Einführung in die Besichtigung der Abteilung
für Volkskunst in der Kunstgewerbeausstellung sprechen wird. Für den
9. September ist eme Dampferfahrt nach der Bastei mit Höhenbeleuchtung
während der Rückfahrt in Aussicht genommen. — Einladungen zu dieser
Versammlung sind von der Zentralstelle des Vereins für Sächsische Volks-
kunde, Dresden-A., Wallstr. 9I zu beziehen.
ArelÜYe« — Für jedes Archiv ist es eine Notwendigkeit, dafs sich
die Verwaltung darüber Klarheit verschafft, in welchem Umfange Archivalien,
die die eigenen Bestände ergänzen, in anderen Archiven vorhanden
sind. Und darüber hinaus ist es nötig, von ihrem Inhalte Kenntnis zu
nehmen und Abschriften oder Auszüge zu besorgen. Wenn das letztere
aber einmal geschieht, dann ist es ein verdienstliche^ Werk, wenn das sorg-
f^tig bearbeitete Inventar auch durch den Druck veröffentlicht wird, Dieser
empfehlenswerte Weg ist jüngst vom Staatsarchiv Düsseldorf beschritten
worden. Bekanntlich sind zur Zeit der französischen Herrschaft am Rhein
viele Archivalien aus dem Roerdepartement nach Paris gewandert, die in
den dortigen Archiven ruhen, während andere für die rheinische Geschichte
nicht minder wichtige organisch bei den französischen Zentralbehörden ent-
standen sind. Bereits früher hatte Sauerland nach Archivalien aus Köln
in Paris geforscht, und nunmehr hatRichardKnipping dasselbe für den
ganzen Niederrhein getan, soweit der Sprengel des Düsseldorfer Staatsarchivs
in Frage kommt. Er hat die BibliotMque nationale imd das Ärchives
nationales durchforscht, während das Archiv des Ministh'e des affaires
Hranghres noch eines Inventars entbehrt, an dessen Hand eine solche Durch-
sicht vorgenommen werden könnte. Das Kriegsarchiv (Archiv des Ministdre
de la guerre) dagegen veröffentlicht gerade ein ausführliches Inventar (Tome I,
Paris 1898), so daß eine auszugsweise Behandlung desselben überflüssig wird.
Als Niederrheinische ÄrchivcUien in der Nationalbibliothek und dem
Nationalarchiv zu i\im, zusammengestellt von Richard Knipping
— 322 —
[= Mitteilungen der K. Preußischen Archiwerwaltung, Heft 8 (Leipzigs
S. Hirzel 1904. VIII und 126 S. 8^ M. 5,00)], ist diese Arbeit er-
schienen, deren Inhalt durch ein Personen- und Ortsregister erschlossen wird.
Sie zerfällt in Urkunden (S. 1 — 35, 222 Nummern) und Handschriften
(S. 35 — 66) der Nationalbibliothek und in Urkunden (S. 67 — 85,
114 Nummern), Handschriften (S. 85 — 87) und Akten (S. 87 — 105)
des Nationalarchivs. Es ist kaum möglich, eine Vorstellung davon zu
geben, wie hier wieder die Materialkenntnis erweitert wird, und doppelt
dankbar mufs die Forschung dafür sein, daß diese Angaben auch durch die
Drucklegung allgemein zugänglich gemacht worden sind. War von den
mittelalterlichen Quellen vieles auch schon bekannt, so ist die Zusammen-
stellung doch von hohem Werte. Durchweg neue Erkenntnisse aber ver-
mitteln die Akten aus der Zeit der französischen Herrschaft am Niederrhein
und im Großherzogtum Berg; es sei hier nur auf die Einführung der fran-
zösischen Gerichtsverfassung (S. 87 — 88), auf die Akten über die
Universitäten Duisburg, Herbom, Münster und Düsseldorf (S. 89), das
Physikalienkabinett und den botanischen Garten in Dillenburg (S. 89),
Unterstützung reformierter Gemeinden (S. 90), vor allem aber auf die
zahlreichen Akten zur Geschichte der Industrie und des Handels
(S. 90 — 91) hingewiesen. Die Ausfuhr von Solinger imd Remscheider Fabri-
katen nach Amerika 181 3 und die Errichtimg von zwei Filialen der Fabrik
des I. G. Diederichs in Remscheid in Newyork und Charlestown 1809 — 18 11
dürften besonderes Interesse beanspruchen. Recht wichtig sind auch die
Pläne und Karten, die S. 102 — 104 verzeichnet sind.
Es wäre nur zu wünschen, daß recht bald die entsprechende Arbeit
auch für die südlicheren Rheinlande geleistet wird. Das schöne Ergebnis,
welches vorliegt, sollte dazu ermutigen, und wenn die Arbeit gut organisiert
würde — außer dem preußischen Archivsprengel Koblenz würden Hessen
und die bayerische Pfalz in Frage kommen — , dürften Arbeit und Kosten
gar nicht allzu groß sein.
Arehlre und Kunstgeschichte. — In Anlehnmig an einen früheren
Aufsatz von R. Hansen (Oldesloe) über diesen Gegenstand^) ist schon
mehrfach in diesen Blättern nachdrücklich auf die Bedeutung hingewiesen
worden, die eine eindringende archivalische Forschung für die Kunst-
geschichte besitzt, so daß sich die Notwendigkeit systematischer Arbeit in
dieser Richtung immer deutlicher ergibt Emen wichtigen derartigen Beitrag
zur Geschichte des Nürnberger Bildschnitzers Veit Stoß hat neuerdings
Wilhelm Seraphin im Korrespondensblatt des Vereins für sid>efibürgische
Landeskunde 29. Jahrgang Nr. 7 (Juli 1906) geliefert, indem er eme Ur-
kunde vom 13. Januar 1523 mitteilt, in der meister Veit Stoß, bildschnitsler,
als Mitglieder der die Maler, Tischler, Bildschnitzer mid Glaser umfassenden
Zunft zu Kronstadt in Siebenbürgen genannt wird. Noch im Jahre 1886
war auch das älteste Zunftbuch, das 1520 angelegt worden ist, vorhanden,
aber leider ist es seitdem verschollen; wenn es wieder aufgefunden würde,
so dürfte sich auch die Zeit, in der Stoß in jene Zunft eingetreten ist, näher
i) Dentsche Geschichtsblätter 4. Bd., S. 18—23.
— 323 —
bestimmen, vielleicht auch etwas über seine sonstigen Lebensverhältnisse
erkennen lassen. Da Stofi 1503 wegen Urkundenfälschung in Nürnberg
verurteilt worden ist, wäre es sehr wohl denkbar, daß er seine Heimat noch-
mals verlassen hat, nachdem er schon bis 1496 in Krakau gelebt hatte.
Völlig ausgeschlossen wäre aber auch nicht, daß es sich etwa um einen
dritten, bisher imbekannten Sohn des Meisters handelt ; denn bis jetzt wissen
wir nur, daß sein Sohn Johann 1530 in Schäsburg in Siebenbürgen ge-
storben ist tmd daß Martin beim Tode des Vaters (1533) noch in Mediasch
gelebt hat.
Eommissioneil. — Am 9. Dezember 1905 fiand in Leipzig die
10. Jahresversammlung der Königlich Sächsischen Kommission
für Geschichte') statt. Von den Veröffentlichungen der Kommission sbd
im Berichtsjahre erschienen die Sektionen 393 (Kamenz) und 394 (Niesky)
der Grundkarte des Königreichs Sachsen, so daß die von der Kommission
zu bearbeitenden Teile jetzt vollständig vorliegen, imd ^A^^en und Briefe
jsur XirchenpolUik Herßog Georgs von Sachsen , herausgegeben von Feli-
cian Geß, i. Bd., die Jahre 1517 bis 1524 umfassend (Leipzig 1905,
Preis 29 M.). Die übrigen Unternehmungen sind sämtlich gefördert worden.
Für die Bibliographie der sächsischen Geschichte sind durch den Bearbeiter,
Viktor Hantzsch, über 47700 Titel aufgenommen worden; der Brief-
üoechsel der KurfürsHn Maria Äntonia mit der Kaiserin Maria Theresia,
herausgegeben von WoldemarLippert, ist im Druck nahezu vollendet;
fertiggestellt wurden auch Die Malereien in den Handschriften des König-
reichs Sachsen^ bearbeitet von Prof. Brück (Dresden), und die Ausgabe der
ältesten gedruckten Karten der sächsisch-thüringischen Länder (1550—1593),
die Viktor Hantzsch besorgt hat. Die Vorarbeiten zu dem Histo-
rischen Ortsverzeichnis, das Alfred Meiche bearbeitet, werden
ämterweise vorgenommen, und für die Verwendung einer Hilfskraft dabei
sind dem Bearbeiter die Mittel gewährt worden. Die Reproduktion der
älteren Flurkarten Sachsens geht dank der Unterstützung, die die Öko-
nomische Sozietät zu Leipzig imd andere Körperschaften gewährt haben,
ihrem Abschluß entgegen. Die vom Verein für sächsische Volkskunde vor-
genommene Sammlung von Flurnamen wird seitens der Kommission
unterstützt. Neu aufgenommen wurde unter die Publikationen der Kommission
•eine Geschichte des sächsischen Staatsschuldenwesens, die
Dr. Däbritz (Leipzig) bearbeitet.
Neu eingetreten sind in die Kommission Joseph Parts ch, Professor
der Erdkunde an der Universität Leipzig, und Archivrat Woldemar
Lippert, Staatsarchivar in Dresden. Zum geschäftsführenden Mitgliede
auf weitere fünf Jahre wurde Prof. Karl Lamprecht wiedergewählt
Dem neunten im Mai 1906 erstatteten Jahresbericht der Historischen
Kommission für Hessen und Waldeck *) ist folgendes zu entnehmen. Im
Berichtsjahre wurde herausgegeben Der Brakteatenfund von Seega (Mit
i) Vgl. 6. Bd., S. 325—326.
2) Vgl. 6. Bd., S. 327.
23
— 324 —
23 Lichtdrucktafeln« Marburg, Elwert 1905. M. 20,00), bearbeitet von
H. Buchenau, den die Kommission im Verein mit der für Sachsen-
Anhalt veröffentlicht hat. Von der Grundkarte, die unter Leitung des General^
Eisentraut der Verein für hessische Geschichte und Landeskunde in Kassel
herausgibt, sind die Doppelsektionen Uslar- Kassel und Melsungen - Hersfeld
erschienen; das letzte Blatt, Eschwege - £isenach , ist nahezu vollendet; der
Preis für ein Blatt beträgt 0,45 M. Die Vollendung des Fuldaer Ur-
kundenbuchs, die Prof. Tan gl (Berlin) unmöglich ist, übeminm)t
Dr. E. Stengel (Berlin), der schon früher einige Zeit dafür tätig gewesen
ist. Die Arbeiten an den Landgrafenregesten sind so weit gefördert,
dafs der Druck einer ersten Lieferung bald wird beginnen können. Die
Herausgabe von Sturios Jahrbüchern der Grafschaft Hanau
1600 — 1620 übernimmt Oberlehrer Becker (Marburg); femer gibt die
Kommission eine Arbeit über hessische Behördenorganisation heraus-
die Archivassistent G u n d 1 a c h bearbeitet : der erste Teil wird ein Diener^
buch (1247 — 1604, d. h. bis zur Einsetzung des Geheimen Rats) ent-
halten, der zweite Teil eine ausgewählte Sammlung von Urkimden imd Akten
zur Geschichte der Hofhaltung imd des Beamtentums. Beiträge zur
Vorgeschichte der Reformation in Hessen, die Archivassistent
Der seh bearbeitet, herauszugeben, wurde neu beschlossen und die Leitung
einem Ausschusse, bestehend aus den Kommissionsmitgliedem Diehl,
Haupt imd Wenck, übertragen.
Durch den Tod verlor die Kommission die Mitglieder Rudolf
v. Buttlar (Elberberg) und Wilhelm Oncken (Gießen). Neugewählt
wurden als Mitglieder Oberlehrer Becker (Marburg), Prof. Brackmann
(Marburg), Geh. Baurat Hoffmann (Fulda), Archivassistent Huyskens
(Marburg), Prof. Leimbach (Fulda), Prof. Hermann Oncken (Gießen),
Prof. Richter (Fulda), Haupüehrer Vonderau (Fulda), Dr. Wiese (Mar-
burg). — Der Jahreseinnahme von 6050 M. steht eine Ausgabe von 5798 M.
gegenüber; der Kassenbestand beziffert sich auf 6314 M.
Aus dem Berichte über die 32. ordentliche Versammlung der Hi-
storischen Kommission für Sachsen-Anhalt, die 26. und 27. Mai
1906 in Zerbst stattfand, ist folgendes mitzuteilen *). Vom Urkundenbuchc
der Stadt Qoslar ist der 4. Band, der die Jahre 1336 — 1364 umfaßt, er-
schienen, ebenso der Erphurdianua antiquitatum variloquus, ersterer von
Landgerichtsdirektor Bode, letzterer von Gymnasialdirektor Thiele heraus-
gegeben. Femer wurde im Verein mit der Historischen Kommission für
Hessen und Waldeck Der Brakteatenfund wn Seega veröffentlicht Für die
Fortsetzimg des Erfurter Urkundenbuches wurde Oberlehrer Eitner ge-
wonnen, für die Bearbeitung eines Eislebener Urkundenbuchs Prof. G r ö f s 1 e r.
Dagegen hat sich die durch längere Verhandlungen erweckte Hoffnimg, mit
Unterstützung der Mansfelder Gewerkschaft ein Urkundenbuch des
Mansfelder Bergbaus zu schaffen, nicht erfUllt. Grundsätzlich wurde
dem Antrage von Prof. Heldmann zugestimmt, systematisch Quellen zur
städtischen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschafts-
i) Ober die 31. Sitzimg 1905, vgl. oben S. 58.
— 826 —
geschichtet) zu veröffentlichen, und eine Kommission (Heldmann, Liebe,
Wäschke) eingesetzt, die zunächst das Material feststellen und einen Phin
fUr die Publikation vorlegen soll. Als Neujahrsblatt für 1906 ist die Ab-
handlung Das Zerbster Bier von Wäschke erschienen. Beraten wurde
über den Antrag Größler, wissenschaftlich begründete Heimatskunden
der einzelnen Kreise unter die Veröffentlichimgen aufzunehmen; auf diesen
allgemein wichtigm Gegenstand wird später in diesen Blättern noch zurück-
zukonunen sein. Von den Denkmälerbeschreibungen ist der Kreis Naum-
burg (Land), bearbeitet von Bergner, erschienen. Zum Direktor des
Provinzialmuseums wählte die Konmiission Karl Reufi und genehmigte deu
Vorschlag, ein.e engere Vereinigung der Museen für die Provinz
zu begründen, bewilligte auch die dadurch entstehenden Kosten. Die Ver-
öffentlichung Vorgeschichtliche ÄUertümer wird mit dem erschienenen zwölften
Hefte abgeschlossen; weitere entsprechende Arbeiten sollen in die
Jahresschrift für die Vorgeschichte der sächsisch-thüringischen Lande, von
der vier Bände vorliegen, aufgenommen werden. Eine von Dr. Walther
(Wernigerode) bearbeitete Karte zur Agrarverfassung des Herzog-
tums Magdeburg in der zweiten Hälfte des XVUI. Jahrhunderts wird
auf Kosten der Kommission gedruckt imd den Magdeburgischen Oeschichts-
blättern beigegeben, in denen die dazu gehörige Abhandlung erscheint. Das
gesamte Flurkarten material, das einen Wert von 35000 Mk. besitzt, ist
von Quedlinburg nach Halle überführt worden. Nach Vollendung der Grund-
karte Zeitz-Gera liegen acht Blätter fertig vor; auch Stendal-Burg wir bald
ausgegeben werden. Hinsichtlich der Wüstungsverzeichnisse wurde
beschlossen, daß diese nicht mehr, wie bisher, nur Quellenveröffentiichungen
darstellen, sondern zu abgerundeten darstellenden Arbeiten gemacht werden
sollen. Die Inventarisation der nichtstaatlichen Archive durch
Archivar Rosenfeld ist im Kreise Jerichow nahezu vollendet; die Kosten
wird die kgl. Archiwerwaltung übernehmen.
Der Haushalt der Kommission einschließlich der Kosten für das
Provinzialmuseum zu Halle hält mit 26450 Mk. das Gleichgewicht.
Preisausschreiben. — Die Gesellschaft für Rheinische Geschichts-
kunde setzt aus der Mevissenstiftung') auf die Lösung folgender Preis-
aufgaben Preise aus: i. Begründung und Ausbau der Brandenburgisch-
Preufsischen Herrschaft am Niederrheia Zur Feier ihres dreihundert-
jährigen Bestehens. Preis: 3000 M. Frist: i. Oktober 1908. 2. Konrad
vQn Heresbach mit besonderer Rücksicht auf seine Bedeutung als
Pädagoge. Preis: 2000 M. Frist: i. Juli 1909. — Bewerbimgsschriften
sind bis zu den angegebenen Terminen an den Vorsitzenden, Archivdirektor
Prof. Dr. Hansen in Köln einzusenden.
Zar Wledertänferllteratur. — „ Die Literatur der wiedertäuferischen
Märtyrerlieder ist sehr schwer zu überschauen, weil nur ein kleinerer TeU
derselben neuerlich wieder (hauptsächlich durch Ph. Wackemagel) gedruckt
worden ist, die alten täuferischen Gesangbücher aber zu den bibliographischen
i) Vgl. EU diesem Gegenstände oben S. 263 — 288.
2) Die bereits früher gestellten Aufgaben sind oben S. 201 mitgeteilt.
23*
— 326 —
Seltenheiten gehören/* So schrieb v. Liliencron 1875 ^)* ^^^ hier aus-
gedrückten Mangel hat nun Wolkan ') durch eine Musterung und Sichtung
der Wiedertäuferlieder abgeholfen« durch die jetzt eine bequeme Übersicht
zu gewinnen ist. Bevor er zu seinem Thema übergeht, gibt Wolkan gleich-
sam als Ftmdament einen historischen Überblick über die Anfänge der Sekte,
die er mit Recht aus dem Gegensatze zu Zwingli imd indirekt zu Luther
entstehen läfst; er stellt sich in der bekannten Streitfrage mit aller Ent-
schiedenheit auf die Seite jener, welche den bewufsten Zusammenhang mit
früher auftretenden ähnlichen Anschauungen leugnen: „Der Jänner des
J. 1525 ist der Geburtsmonat der Täufergemeinden^S (S. 5.)
An erster Stelle bespricht Wolkan dann die ältesten Lieder der Täufer. Es
sind meistens Namen bekannter Männer, die als Autoren aufgeführt werden, so
Felix Manz, Michael Sattler, Balthasar Hubm^der, Hans Schlaffer, Ludwig
Hätzer, Jörg Blaurock, Hans Hut. Unter den Liedern kann der Heraus-
geber auch einige bisher ungedruckte mitteilen.
Mit der Gründung der Huterischen Gemeinde in Mähren tritt
eine Gabelung des Täufertums ein. Die Huterer waren eine fortgeschrittenere
Gemeinschaft, während die „Schweizer Brüder*' im Gegensatz dazu an
den Bestimmungen der Schlatter Artikel vom 24. Februar 1527 festhielten ').
Zunächst bei der Liederdichtung der Schweizer Brüder bleibend, behandelt
Wolkan die im zweiten Teile des Äu^>und (Ausgabe von 1583) mit eigener
Seitenzählung und eigenem Register vereinigten Gesänge, die nach der An-
gabe im Titel von den Schweizerbrüdem im Gefängnis zu Passau gedichtet
und gesungen worden sind. Mit Benutzimg der Akten des Münchener
Reichsarchivs über die in Passau (1535) gefangengesetzten Wiedertäufer
kann Wolkan die Liederdichter, die im Ausbund nur mit ihren Initialen
angeführt werden, namhaft machen. Die Passauer Lieder sind der Stamm
der täuferischen Dichtung in ganz Deutschland, speziell der Schweizerbrüder
geworden, während die Huterer, welche unter Ausbildung der Hubmaierschen
Idee von der Gütergemeinschaft ihren eigenen Weg gingen, nur wenige von
diesen Liedern übernommen haben.
Eine dritte Spielart der Taufgesinnten begründete Melchior Hoftnann,
der Kürschner aus Hall in Schwaben, aus dessen Anhängern auch, äufserlich
wenigstens, die Münsterischen hervorgingen. Für die Anhänger Hofmanns
war es von der allergröfsten Bedeutung, dafs sich ihnen im Jahre 1536 der
ehemalige katholische Geistliche Menno Simons anschlofs, insofern er
Hofmanns Dogma von der Menschwerdung Christi annahm, während er die
unfruchtbaren Schwärmereien Hoftnanns nüchternen Sinnes zurückwies. Er
löste die Hoftnannsche Richtung durch die der nach ihm benannten
Mennoniten ab.
i) Abhandl. der histor. Klasse der Kj^l. Baier. Akademie d. Wiss. 13. Bd., S. 132.
2) Wolkan, Die Lieder der Wiedertäufer. Ein Beitrag zur deutmshen und
niederlandiachen Literatur' und KirchengeschiMe, (Berlin, Behr 1903. 8*^. X und
295 S.) — Das Buch ist ein glänzendes Zeugnis dafür, welche Bedeutung die geisüichen
Lieder als Geschichtsquelle besitzen, und kann als Beispiel fUr das gelten, was Nelle
im 6. Bde. dieser Zeitschrift, S. 296 — 301, ausgeführt hat.
3) Zu S. 7 sei folgendes bemerkt: Unter Schlatten am Randen ist das noch be-
gehende Dörfchen Schlatt am Randen in Baden, Bezirksamt Engen, nicht Schieitheim im
Kanton Schafihausen zu verstehen.
— 327 —
Die Lieder der Mennoniten in Deutschland sind stark beeinflufst durch
die Lieder der niederländischen Täufer, weshalb Wolkan diesen zunächst
ein eigenes Kapitel widmet. Er handelt darin von der Liedersammlung im
Off er des Heeren % dem Liedeboech van vde dwerache Liedekens und den
Vedderhande Liedekens, welch letzteres Gesangbuch 1569 gedruckt wurde.
Das in zweiter Auflage nach dem Jahre 1569 erschienene älteste Gesang-
buch der deutschen Mennoniten ist zum Teil eine Übertragung nieder-
ländischer Originale, die sich in den Veelderhande Liedekens finden; auch
von den Schweizer Brüdern sind Lieder übernommen; nebenher gehen
Originallieder. Die dritte Auflage dieses Gesangbuches, welche auch Lieder
von Lenaert Klock enthält, setzt Wolkan in die Jahre 1589 bis 1593. Im
Gegensatz zu den Schweizer Brüdern, die die Erbsünde leugneten, hält das
mennonitische Gesangbuch an dem Dogma von der Erbsünde fest. Es kennt
auch nur die Einehe, welche jedoch im Falle eines Ehebruchs löslich ist.
Von den mennonitischen Liedern wendet sich der Verfasser zu den
späteren Liedern der Schweizer Brüder, die in dem Ausbund etUcher schöner
christlicher Qeseng und in den Etliche sehr schöne christliche Orange
niedergelegt sind. Die älteste bekannte Ausgabe beider Liedersammlungen
in einem Bande ist die von 1583. Jedoch war der Ausbund schon 157 1
vorhanden, denn in dem Frankentaler Gespräch geschieht seiner bereits
Erwähnimg. Nicht alle Lieder vom Ausbimd sind ausschliefsliches Eigentum
der Schweizer ; es finden sich Entlehnungen , besonders aus Michael Weifse's
Gesangbuch der böhmischen Brüder von 153 1, eine andere Gruppe erweist
sich als Übertragung niederländischer Lieder, eine dritte Grappe hat der
Ausbund mit der zweiten und dritten Auflage des mennonitischen Gesang-
büchleins gemeinsam. Unter den Liedern, fUr die der Ausbund erste Quelle
ist^ ragen vier Lieder von Christoph Baumann als bessere Dichtungen hervor.
Der dogmatische Gegensatz der Schweizer Brüder zu den Mennoniten in
bezug auf die Inkamationslehre wird nicht verschleiert. Während letztere
lehrten, dafs Christus durch einen besonderen Schöpfungsakt aus dem Worte
Fleisch geworden sei, gleichsam wie ein Sonnenstrahl durch die Jungfrau
Maria hindurchgegangen sei, blieben die Schweizer Brüder dabei, dafs Christus
dem Fleische nach zum Geschlechte Davids gehöre. Die in Rede stehenden
zwei Liedersammlungen, welche später zusanunengezogen wurden, erzielten
vielfache Aufli^en unter dem Gesamttitel Aushund. Die letzte Auflage ist 1838
in Basel bei Heinrich von Mechel erschienen. Neben dem Aus^imd gab es
noch eine Menge von Liedern der Brüder, die in Einzeldrucken weite Ver-
breitung fianden; sie bestätigen die Tatsache, dafs die Gegensätze zwischen
Mennoniten und Schweizer Brüdern mit der Zeit schwanden, und letztere all-
mählich und fielst unbewufst zu den mennonitischen Anschauungen sich be-
kannten, so dafs auch das niederländische „Glaubensbekenntnis der waffen-
losen Christen*' Eingang in die Schweiz finden konnte. Dieses Glaubens-
bekenntnis ist für den Historiker namentlich dadurch interessant, dafs es
noch einmal in aller Kürze eine Geschichte der Täufer gibt und diese mit
i) Enthält Mfirtyrerbriefe mit einem Anhange von Liedern, neu herausgegeben von
Cramer und Piyper als Band II der Bihlioiheca Beformatoria Neerlandica 1904, be-
sp rochen von Giemen im Archiv für Reformationsgeschichte 2. Bd., S. 406.
— 328 —
den Zürchem Konrad Grebel, Felix Manz und Jörg Blaurock beginnen läfst,
also keinerlei Zusammenhang mit mittelalterlichen Glaubensgenossen-
schaften annimmt. Die wesentlichsten Dogmen der Mennoniten, ihre Stellung
zur Menschwerdung Christi, ihre Ansichten über Obrigkeit, Schwert tmd Eid
werden in diesem Glaubensbekenntnis betont.
Das letzte imd umfangreichste Kapitel ist den Liedern der H u t e r er
gewidmet. Während der Verfasser die Lieder der Mennoniten und der
Schweizer Brüder an der Hand von gedruckten Gesangbüchern einer Be-
trachtung unterziehen konnte, war er bei der Darstellung der Liederdichtung
der Huterer oder mährischen Brüder fast ganz ausschliefslich auf handschrift-
liches Material angewiesen, zu dem namentlich die Bibliothek des Prefsburger
Domkapitels, die Kapitelsbibliothek in Gran und die Universitätsbibliothek in
Budapest beigesteuert haben. Der fruchtbarste und namhafteste Liederdichter
ist der aus Hirschberg in Schlesien gebürtige Peter Riedemann (gest. 1556
zu Protzka in Ungarn), derselbe, welcher in der Rechenschaft des Glaubens
alle Lehransichten der Huterer bis ins einzelne genau begründet hat. Einige
von Riedemanns Liedern, die alle ungedruckt sind, teilt Wolkan als Probe
mit. — Die Gesamtzahl der ims erhaltenen historischen Lieder — Lieder von
und auf Märtyrer, die den Verfolgungen des XVI. Jahrhunderts zum Opfer
fielen — dürfte sich auf 300 bis 350 belaufen; sie erzählen von den Leiden
und Verfolgungen, denen die Brüder ausgesetzt waren, sind auch ein Denk-
mal der heroischen Stimmung und der bewunderungswürdigen Überzeugungs-
treue angesichts des bevorstehenden Todes, und in diesem historischen Moment
beruht ihr Wert für die Nachwelt. Im übrigen ist der ästhetische Gehalt
dieser wie der gesamten Liederdichtung der Wiedertäufer aufserordentlich
gering. In der Form lehnen sich die Lieder der Huterer ebenso wie die
der Schweizer an das Volkslied an, dem auch die Melodien (Töne) zum
gröfseren Teil entnommen sind; einige Melodien sind katholischen, eine
gröfsere Zahl protestantischen Kirchenliedern entlehnt
Drei Verzeichnisse und zwar der Dichter, der erwähnten niederländischen
Lieder und aller Lieder der deutschen Wiedertäufer beschliefsen das Buch,
das als ein äufserst wertvoller Beitrag zur Geschichte des
Taufe rtums zu bezeichnen ist. Die Übersichtlichkeit über die Komposition
des Stoffes innerhalb der einzelnen Kapitel hätte durch den Druck oder
durch Untertitel hin und wieder etwas erleichtert werden können.
Georg Tumbült (Donaueschingen).
ArchSologtsche Karte und Fandstatistik Ton Thfirlngen. —
In Erfurt traten am 15. Juli 1906 die Vertreter der thüringischen Geschichts-
vereine, die an der Herstellung einer archäologischen Karte und
eines Fundverzeichnisses von Thüringen ^) beteiligt sind, zu ihrer
zwölften Beratung zusammen. Im Jahre 1895 wurde das Unternehmen
auf Anregung des Erfurter Geschichtsvereins beschlossen und zwar unter
finanzieller Beteiligung folgender Vereine und Institute : i . Museumsgesellschaft
in Arnstadt; 2. Thüringerwald -Verein; 3. Verem für Geschichte imd
i) Vgl. dazu diese Zeitschrift 3. Bd., S. 238 Aom. i und über archäologische
KaricQ überhaupt 4. Bd., S. 318—319 und 5. Bd., S. 156 — 163.
— 829 —
Altertumskunde der Grafschaft Mansfeld in Eisleben; 4. Kgl. Akademie
gemeinnütziger Wissenschaften in Erfurt; 5. Verein ftir Geschichte und
Altertumskunde in Erfurt; 6. Verein für Gothaische Geschichte und Alter-
tumsforschung zu Gotha; 7. Verein ftir Thüringische Geschichte und
Altertumskunde in Jena; 8. Geographische Gesellschaft in Jena; 9. Verein
für Geschichte und Altertumskunde in Kahla; 10. Altertumsverein in
Nordhausen; 11. Verein ftir deutsche Geschichte und Altertumskunde in
Sondershausen; 12. Harzverein ftir Geschichte und Altertumskunde;
13' Historische Kommission der Provinz Sachsen. In der letzten Ver-
sammlung ^) trat dem Unternehmen noch bei 14. die inzwischen begründete
Gesellschaft ftir Naturwissenschaft, Völker- und Altertumskunde zu Weimar.
Es hat lange gedauert, bis die ersten druckfertigen Teile der Arbeit
vorgelegt werden konnten, elf Jahre! und mancher der beteiligten Vereine
mag seinen Beitrag schon als wirklichen fonds perdu betrachtet haben.
Die Schuld an der langen Ausdehnung der Frist vom Entschluß bis zur Aus-
führung scheint hauptsächlich in dem Umstand zu liegen, daß man die
Arbeit anfangs unterschätzt hatte und daß man infolge davon eine Kom-
mission von drei arbeitenden Mitgliedern ftir ausreichend hielt, um die
Aufgabe zu bewältigen, Männer, die alle von ihrer amtlichen Tätigkeit in
Anspruch genommen, nur nebenbei Zeit und Kraft dem Werke widmen
konnten. Einer von diesen, Museumsdirektor Schmidt (HaUe), starb schon
1897, ehe er mit dem ihm zugefallenen Teil der Vorarbeiten begonnen
hatte. An seme Stelle wurde Professor Höfer, Vorsteher des Fürst- Otto-
Museums in Wernigerode, zum Mitarbeiter gewählt, der bis dahin als Ver-
treter des Harzvereins ftir Geschichte und Altertumskunde an den beratenden
Sitzungen teilgenommen hatte. Dieser übernahm von den Vorarbeiten die
Auszüge aus der Literatur, während die beiden anderen Mitarbeiter, A. Götz^,
Direktorialassistent am Kgl. Museum ftir Völkerkunde, und Sanitätsrat
Zschiesche, der Vorsitzende des Erfurter Geschichtsvereins , sich in die
Bearbeitung der Museen, Privatsammlungen und der Fragebogen teilten.
Die Auszüge aus dem Provinzial- Museum zu Halle und aus der dortigen
lokalen Literatur übernahm 1899 der Museumsdirektor Forts ch (HaUe) als
vierter Mitarbeiter, der aber im Oktober vorigen Jahres gestorben ist, nach-
dem er die genannten Vorarbeiten fast vollendet hatte.
Um einen Begriff von dem Umfange der Aufgabe zu gewinnen, muß
man sich daran erinnern, daß die thüringischen prähistorischen Funde in
etwa 1 7 öffentlichen Museen und in einer großen Zahl von Privatsammlungen
aufbewahrt werden; unter den ersteren sind zu nennen: das Museum ftir
Völkerkunde in Berlin, das Germanische Museum zu Jena, das Provinzial-
museum zu Halle, die Museen o<jfr Sammlungen in Weimar, Erftirt, Gotha,
Arnstadt, Mühlhausen, Sondershausen, Rudolstadt, Nordhausen, Sangerhausen,
Eisleben, Weißenfels, Wernigerode, Meiningen und Schloß Reichenfels bei
Hohenleuben. Auch die Museen in Leipzig und Dresden enthalten thüriü-
I) Es nahmen daran teU: ans Arnstadt: Cämmerer; ans Eisleben: Gröfiler;
aas Erfurt: Orgel, Overmann, Zchiesche ; aus Gotha: Florschtttz ; ans Berlin: Götze ;
aas Nordhaasen: Meyer; aas Sondershaasen: Erichsen; aas Weimar: Möller,
Pfeiffer; aas Wernigerode: Höfer. — Die Historische Kommission der Provins
Sachsen war dorch Oberbürgermeister Schmidt (Erfurt) vertreten.
— 330 —
^sche Funde. Noch mehr zerstreut ist die Literatur Über die archäologischen
Funde und Ausgrabungen Thüringens, die in Hunderten von Bänden auf-
gesucht, gedeutet und in knappen Auszügen wiedergegeben werden mußte.
Abgesehen von vielen vereinzelten Veröffentlichungen in Zeitschriften oder
Sonderschriften mögen hier nur die größeren Sammelwerke genannt werden:
Kruse, Deutsche AUertumer (Halle 1824 — 1830, 3 Bde.); Vulpius,
OuriosUäten (Weimar 1811 — 1819); Rosenkranz, Neue ZdUchrift für
die Geschichte der germanischen Völker (Halle 1832); Zeitschrift für
Ethnologie, Anthropologie und Urgeschichte \fitt)^ 1872 — 1906, 34 Bde.);
Nachrichten über deutsche AUertumsfunde (Berlin 1890 — 1904, 15 Jahr-
gänge); Jahresschrift für Vorgeschichte der sächsisch-thüringischen Länder
(Halle 1902 — 1905, 4 Bde.); VorgeschkhtUche Altertümer der Froving
Sachsen (Halle 1883 — 1906, 12 Hefte); Mitteilungen aus dem Urovinßial'
miuseum eu Haue (Halle 1894 — 1900, 2 Bde.); KorrespondenMatt der
deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (Braim-
schweig 187 1 — 1906,35 Jahrgänge); Korrespondenzblatt des Gesamtvereins
der deutschen GeschichtS" und Altertumsvereine (Berlin 1852 — 1906, 53 Jahr-
gänge) ; Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums zu Nürnberg (Nürn-
berg 1859 — 1895, 37 J^fgänge); Katalog der prähistorischen Ausstellung
in Berlin 1880; Regel, Thüringen 11,2. (Jena 1894). Undset, Das
erste Auftreten des Eisens in Nordeuropa (Hamburg 1882); Montelius,
Chronologie der ältesten Bronzezeit (Braunschweig 1 900) ; Götze, Neolithische
schnurverzierte Keramik im Saalegebiet (Jena 189 1). Außerdem die Zeit-
schriften, Mitteilungen, Jahresberichte von zwölf Geschichtsvereinen, von
denen manche auf 50, ja auf 70 Jahre zurückblicken.
Die ausführende Konmiission ist während der zwölf Jahre sechzehnmal
zusammengetreten, sowohl um den Arbeitsstoff zu teüen, den Inhalt des
Werkes nach seinen Teilen festzustellen, die Methode der Arbeit, die Form
der Auszüge, die Redaktion derselben nach Kreisen oder Verwaltungs-
bezirken möglichst emheitlich zu gestalten, als auch um eine Reihe not-
wendiger Vorfragen gemeinsam zu erledigen. So mußten für die Karte die
Farben für sechs verschiedene Perioden und die Zeichen für die verschiedenen
prähistorischen Fimdarten beraten werden, nachdem ein Versuch, zu gemein-
samen Zeichen für ganz Deutschland zu gelangen, nicht zum Ziele geführt
hatte. Es mußte femer Einigung in der Terminologie erzielt werden, sowie
in schwierigeren Fragen der PeriodeneinteUung. Die Fragebogen mußten
verfaßt und an die kleineren Sammlungen versandt werden. Mehrere Be-
rattmgen bezogen sich auch auf die Auswahl der Gegenstände, die als
besonders typisch und charakteristisch auf 24 Lichtdrucktafeln abgebildet
dem Werke beigegeben werden soUten. Die Stärke der Auflage imd die
Art der Herausgabe mußte erwogen und der Vertreterversammlung zum Be-
schluß vorgelegt werden. Es mußten schließlich die Abkürzungen für Museen
und besonders für die Literaturvermerke, die Reihenfolge der Au&ählung,
die Anwendung von Absätzen, Klammem, Punkten im Text festgesetzt
werden, Formah'täten , die nötig wurden, weü die Redaktion des Textes in
verschiedenen Händen lag.
Zur Herstellung der Kartenunterlage hat der Chef der Landesau&ahme
sowohl die Platten der Generalstabskarte von i : 100 000 zum Umdmck,
— 831 —
als auch die für die Vorarbeiten nötigen Elartenblätter unentgeltlich zur
Verfügung gestellt Der Umdruck ist erfolgt; die Kartenunterlage besteht
aus zwei großen Tafeln » von denen jede sechs und zwei halbe Sektionen
der Generalstabskarte enthält. Dabei ist der Mangel entstanden , daß die
Saale zwischen Naumburg und Halle außerhalb der Karte fällt, die hier mit
der Sektion Querfurt abschließt Dieser Mangel soll dadurch einigermaßen
ausgegUchen werden, daß wenigstens im Text die Fimde bis zur Saale auf-
geführt werden. Besser wäre es jedenfalls gewesen, wenn eine Verschiebung
der ganzen Karte um eine halbe Sektion von Westen nach Osten statt-
gefunden hätte.
Das Werk wird bestehen: i. Aus einer Übersicht über die
prähistorischen Verhältnisse Thüringens, verfaßt von Götze. 2. Aus einer
vollständigen Fundstatistik für Thüringen, geordnet nach Kreisen bzw.
Verwaltungsbezirken und innerhalb derselben nach den Ortschaften in
alphabetischer Reihenfolge; die Ftmde jeder Ortschaftsflur sind nach den
Perioden geordnet und innerhalb der Perioden nach den Kategorien:
Grabfunde, Ansiedelungen, Depotfunde, Einzelfunde. Der Text enthält von
dem Ftmdbericht so viel wie zur Beurteüung des Fimdes nötig ist, namentlich
auch Aufzählung der gefundenen Objekte. 3. Aus einem Literatur-
nachweis, enthaltend alle Aufsätze und Schriften, die über thüringische
Archäologie handeln, auch solche allgemeineren Inhalts, die für Thüringen
mit gelten; geordnet nach Perioden und der Kategorie Allgemeines, verfaßt
von Höfer. 4. Aus dem bildlichen Teil, enthaltend alle charakte-
ristischen Typen tmd wichtigen Objekte in Lichtdruck, die von der Konmiission
ausgewählt, von Götze auf 24 Tafeln angeordnet sind, dazu ein Fund-
stellenverzeichnis von demselben. 5. Aus der Karte im Maßstab von
I : IOC 000, bestehend aus zwei Teüen von je i m Länge, 0,70 m Breite.
Auf dieser sind die Fundzeichen in den betrefifenden Farben eingetragen
und zwar auf der Fundstelle selbst, wenn diese zu ermitteln ist, sonst imter
dem Ortsnamen.
Die Finanzen des Unternehmens verwaltet Sanitätsrat Zschiesche und
legt darüber jährlich Rechnung, er beruft und leitet die Versammlungen,
imd besorgt den Druck (bzw. Abschriften) imd die Versendung der
Protokolle; er hat auch die Verhandlungen mit den Vereinen imd den
Behörden geführt.
In der Vertreterversammlung am 15. Juli d. J. in Erfurt wurden als
fertig vorgelegt die 24 Lichtdrucktafeln; als druckfertig der Literaturnachweis
in 230 Nmnmem; femer der Text der Fundstatistik von drei Kreisen:
I. Sangerhausen, redigiert von Höfer; 2. Querfurt, redigiert von
Götze; 3. Erfurt, redigiert von Zschiesche; endlich die Karte mit den
farbigen Emtragungen der Funde des Kreises Sangerhausen von Höfer. Da
die Auszüge aus der Literatur und den Museen fertig vorliegen, gedenken
die drei arbeitenden Mitglieder mit der Redaktion des Textes für die übrigen
Kreise, sowie mit den Emtragungen auf der Karte am i. März nächsten
Jahres fertig zu sein, so daß dann der Druck beginnen kann.
Eine Schwierigkeit zeigte sich bei der Beratung über die Art des
Verlags. Darin waren zwar alle einig, daß das Werk durch die ausführende
Kommission zu drucken sei und im Besitz der Vereinigung bleiben müsse,
— 332 —
bis die schuldigen Freiexemplare und die den Vereinsmi^liedem zustehenden
Exemplare zu ermäßigtem Preise ausgehändigt seien. Aber bei dem be-
rechtigten Wunsche, daß auch der Rest der Auflage nicht zu geringem Preise
an einen Verlag abgetreten, sondern nur in Kommission gegeben werde,
stieß man auf das Bedenken, daß dann alle Jahre bis in infinitum ab-
gerechnet werden müsse, während doch die Vereinigung nur zum vorUegenden
Zweck geschaffen, sich nach Erreichung desselben auflösen werde, und
daß es dann kein Organ mehr gäbe, um auch später den Verkauf zu leiten
imd etwaige Einnahmen zu verteilen.
Hier mußte sich der Wunsch aufdrängen, daß, wie die südwest-
deutschen und die nordwest deutschen Geschichtsvereine sich zu je einem
Verbände zusammengeschlossen haben, um die gemeinsamen Aufgaben der
Vorgeschichte, der römischen, fränkischen und frühmittelalterlichen Periode
mit vereinten Kräften zu lösen, ähnlich auch die thüringischen Ver-
eine zum gleichen Zweck einen dauernden Verband schließen
möchten^), da die einzelnen Vereine zur Klarlegung dieser weitreichenden
Verhältnisse nur Zersplittertes leisten können. Wäre ein solcher Verband
geschaffen, so würde die oben erwähnte Schwierigkeit gehoben sein, denn
selbstverständlich würden die beteiligten Vereine die Verwaltung des gemein-
sam geschaffenen Werkes ihrem gemeinsamen Verbände und seinen Organen
übertragen. P. Höfer (Wernigerode).
Geschichtliche Kartenwerke. — Vor einigen Monaten hat sich in
München der Verein zur Herausgabe eines historischen At-
lasses von Bayern gebildet, der die Schaffung eines großen und dem
heutigen Stande der Geschichtsforschung wie der historischen Kartographie
entsprechenden historischen Kartenwerkes fUr das Gebiet des heutigen König-
reiches Bayern sich zur Aufgabe stellt '). Die bekanntermaßen sehr beträcht-
lichen Mittel, die zur Durchführung solcher Arbeiten nötig sind, erbittet der
Verein teils vom Staat, teils sucht er sie selbst dadurch aufzubringen, daß
er den Versuch macht, diejenigen Kreise von Personen oder öffentlichen In-
stitutionen, bei denen ein Interesse an den vielseitigen Arbeitsergebnissen
eines großen historischen Atlasses erwartet werden darf, zum Beitritte oder
zu finanziellen Zuwendungen zu veranlassen. Da der Verein gegenwärtig noch
darin begriffen ist, diese Organisation zu begründen und auszubauen, so
läßt sich an dieser Stelle Weiteres nicht sagen. Nur ein Punkt soll hier be-
rührt werden.
Es ist eine alte und oft wiederholte Klage, daß von den historischen
Vereinen zur Förderung wissenschaftlicher Unternehmungen nicht das ge-
leistet wird, was von dieser Seite geschehen könnte. Nun darf man aller-
dings nicht außer acht lassen, daß einerseits die historbchen Interessen der
i) Würde dieser Gedanke aasgefUhrt, dann wäre ein wesentlicher Schritt in der
Richtung getan, wie er in dieser Zeitschrift, oben S. 8i — 82, als wünschenswert tind
notwendig bezeichnet wurde; denn einem Anschloß auch anderer benachbarter Vereine
würde dann nichts mehr entgegenstehen. Die Redaktion.
2) Über die derzeitige Zusammensetzung des Ausschusses und des Vorstandes sowie
Über einige Satzungsbestimmuogen vgl. Forschungen zur Geschichte Bayerns, 14. Jahr-
gang (1905), S. 168.
— 333 —
überwiegenden Mehrzahl der Mitglieder historischer Lokalvereine keine rein
wissenschaftlichen sind, es auch nach Lage der Dinge gar nicht sein können,
und daß anderseits die Mittel der meisten Vereine sehr bescheiden sind.
Indem der Verein zur Herausgabe eines historischen Atlasses von Bayern
diese beiden Tatsachen im Auge behält, will er es dennoch imternehmen,
seine Organisation zum guten Teile auf der Beteiligung der historischen Ver-
eine aufzubauen, und er tut dies aus folgenden Erwägungen. Es ist dem
Verfasser bisher gelungen , in Altbayern , im bayerischen Schwaben und
in der Rheinpfalz nicht weniger als 36 historische Vereine zu ennitteln ^).
Erwiese es sich nun als erreichbar, alle diese Vereine zu veranlassen, einen,
wenn auch nur bescheidenen Bruchteil ihrer Jahreseinnahmen dem Atlas-
verein in der Form eines Jahresbeitrages zuzuleiten, so blieben den Lokal-
vereinen noch genügende Mittel zur Pflege ihrer besonderen Aufgaben, die
Vereinigung dieser Beiträge würde es aber doch zugleich ermöglichen, den
Grundstock der Mittel für ein großes wissenschafüiches Werk aufzubringen.
Anderseits gibt es wohl kaimi ein solches Unternehmen, das in gleichem
Maße den besonderen Aufgaben der provinzialen und lokalen Vereine ge-
recht würde. Denn man darf sagen, daß die Anlage eines großen modernen
historischen Atlasses — man braucht nur auf die Leistungen des rheinischen
oder auf das Programm des hannoverschen Atlasses zu verweisen — es mit
sich bringt, daß gerade die Ortsgeschichte die nachhaltigste Förderung
dadurch erfährt. Aus Untersuchungen zur Rechts- imd Kirchengeschichte,
über die politische, wirtschaftliche und kulturelle Vergangenheit jeder Land-
schaft, jedes einst wichtig gewesenen Ortes, die zum überwiegenden
Teile neu vorgenommen werden müssen, gewinnt der Atlas erst die Grund-
lagen für seine eigenen Darstellungen. Da aber hierbei das durch diese
Spezialforschung zutage geförderte und bearbeitete Material in einen größeren
Zusammenhang gestellt erscheint, so ist es möglich, wissenschaftliche Leistungen
zu erreichen, zu denen der Lokalforscher von sich aus nie gelangen kann. Die
örtlichen Geschichtsvereine würden daher nur ihren eigenen Zielen, der Pflege
der Ortsgeschichte in ihren verschiedenen Gebieten, getreu bleiben, wenn
sie den Arbeiten des Atlasvereins nachdrückliche Unterstützung angedeihen
ließen. Möge es gelingen, dieser Anschauung in ihren Kreisen Eingang zu
verschaffen !
Die hier berührte Frage hat aber noch aus einem anderen Grunde
größere Bedeutung. Das Königreich Bayern entbehrt, im Gegensatze zu
anderen deutschen Landschaften, einer eigentlichen Zentralstelle für landes-
geschichtliche Forschung, da der historischen Kommission bei der bayerischen
Akademie der Wissenschaften eine weiter gefaßte Aufgabe, die Pflege der
deutschen Geschichte, gestellt ist. Einem Zusammenschlüsse der bayerischen
Geschichtsvereine stünde hier eine große Aufgabe bevor. Bestrebungen ähn-
licher Art haben zur Bildung der Gesellschaft für fränkische Geschichte ge-
führt ') ; ihr sind die meisten Geschichtsvereine Frankens beigetreten. Sollte
es gelingen, die provinzialen und lokalen Vereine der übrigen bayerischen
]Landesteile einmal um eine große wissenschafdiche Aufgabe zu sammeln — und
i) Hierzu kommen noch mindestens 14 Vereine aus dem bayerischen Franken.
2) Vgl. diese Zeitschrift oben S. 229.
— 334 —
ich glaube gezeigt zu haben, daß gerade der historische Atlas dazu besonders
geeignet wäre — , den modernen Gedanken der wissenschaftlichen und
materiellen Arbeitsvereinigung hinauszutragen und die betrefifenden Kreise
damit vertraut zu machen, so wäre damit eine Arbeit geleistet, die sich
vielleicht für die ganze zukünftige Entwickelung landesgeschichtlicher Forschung
in Bayern fruchtbar erweisen könnte.
Das wissenschaftliche Programm des Vereins wurde in engster An-
lehnung an die Erfahrungen aufgestellt, die sich bei den schon weit fort-
geschrittenen historisch- kartographischen Unternehmungen ergeben zu haben
schienen ^). In der sorgf^tigen Prüfung ihrer Anwendbarkeit auf die für
das Bearbeitungsobjekt Bayern gegebenen geschichtlichen Verhältnisse bestand
der vorerst zu lösende Teil der Aufgabe. Verfistsser hofft hierbei die weit-
gehendste Zurückhaltung beobachtet zu haben. Die aus den Besonderheiten
der geschichtlichen Entwickelung Bayerns sich ergebenden neuen For-
derungen können erst während der Arbeit selbst erkannt werden. Die fol-
genden Bemerkungen wollen daher in diesem Sinne aufgefaßt werden.
Als methodische Grundlagen des Atlasses wurden vier Leitsätze auf-
gestellt Die ersten beiden, die die rückläufige Anlage und Bearbeitung
des Atlasses und die Verwendung eines großen Maßstabes für das
Kartenbild betrefifen, bedeuten nur die Aufnahme von Errungenschaften, die
als dauernd gesicherte Ergebnisse der neueren großen historisch - kartogra-
phischen Unternehmungen zu betrachten sind. Zu ihnen möchte Verfasser
auch den dritten Leitsatz rechnen, der die grundsätzliche Verwendung von
Karten mit Terraindarstellung tmifaßt. Denn es darf wohl als eine
der am meisten zu begrüßenden Erscheinimgen in der neueren historischen
Kartographie bezeichnet werden, daß die von den österreichischen Forschem
unter Führung von Eduard Richter so glänzend vorgetragenen Gründe, gerade
historische Karten mit Terraindarstellung auszustatten, sich einer wachsenden
Anerkennung erfreuen, und dementsprechend terrainlose historische Klarten
großen Maßstabes immer mehr in Abnahme kommen; ein Vorgang, der
durch das Erscheinen modemer Terrainkarten in einem die Verwendung er-
möglichenden Maßstabe allerdings sehr gefördert wird. Auch der historische
Atlas von Bayem hat sich dieses Vorteils zu erfreuen; es wird ihm möglich
i) Vgl. hierüber die eingehenderen AasfÜhmngen des Verf. in den Forschungen
zur Geschichte Bayerns 13. Jahrg. (1905), 337 — 271. Zn der daselbst angefahrten Literatur
wäre jetzt noch nachzutragen : Hans Beschorner, Wesen und Aufgaben der hisUifischen
Geographie, (Historische Vierteljahrsschrift 1906, S. i — 30.] Von deo Arbeiten des
Gesch. Atlasses der Rheinprovinz ist inzwischen noch erschienen: W. Fabricins, Dca
Hochgericht auf der Heide. Westdeutsche Zeitschr. XXIV, 101—200. (Vgl. hierzu meine
Besprechung y Hist Z. 96, S. 564 f.) Von den in Verbindung mit dem hist. Atlas der
österr. Alpenländer stehenden Abhandlungen ist die erste Sammlung im 94. Bande des
Archivs für Österreichische Geschichte vor kurzem erschienen; es sind das folgende
vier Arceiten: v. Voltelini, Die Enstehung der Landgerichte im bayrisch-österreichischen
Rechtsgebiet, F. Richter, Immunität, Landeshoheit und Walds(^henhungen und Ge*
markungen und Steuergemeinden im Lande Salsburg, Streadt, Das Land im
Norden der Donau, Über die neuesten hist-kart. Unternehmungen im Königreich
Sachsen vgl. den angeführten Aufsatz von Beschorner über die Fortschritte des
Gesch. Atlasses der Rheinprovinz usw. Deutsche Lit.>Ztg. 1906, Sp. 11 27. Dagegen
ist privaten Informationen zufolge der Plan eines histor. Atlasses des Unter-Maingebietes
aus der Reihe der bestehenden Unternehmungen wieder zu streichen.
— 335 —
sein« seinen Hauptkarten das Terrainbild der vom k. k. militärgeographischen
Institute bearbeiteten Generalkarte von Mitteleuropa (Maßstab i : 200000),
die bekanntlich auch dem historischen Atlasse der österreichischen Alpen-
länder zu dem gleichen Zwecke gedient hat, zugrunde zu legen. Die hervor-
ragend schönen Probeblätter des genannten Atlasses, die Prof. O. Redlich
auf der Konferenz der landesgeschichtlichen Publikationsinstitute in Stuttgart
vorgelegt hat, beweisen auch, dafi bei gleich sorgfältiger Behandlung der
kartographischen Einzelheiten die Gefahr eines Undeutlichwerdens des histo-
rischen Inhaltes der Karten in keiner Weise besteht.
Der letzte Leitsatz fordert die grundsätzliche Ermittelung der Flächen
der Territorien, Gerichte usw. aus dem urkundlichen Befund, also in erster
Linie aus Grenzbeschreibungen. Diese Forderung bedeutet jedoch, wie bereit-
willig zugegeben werden mag, nur die Aufstellung des idealen Zieles, dem
aber der vollendete Atlas, soweit es nur irgendwie möglich sein wird, an-
genähert werden soll. Anderseits hat die Aufstellung dieses Prinzips den
Zweck, eine grundsätzliche Zusammensetzung der Territorien, Gerichte usw.
aus den Gemarkungen der modernen Gemeinden abzulehnen. Denn die ver-
schiedene Gegenden Bayerns betrefifenden , allerdings bisher nur wenig zahl-
reichen Feststellungen ergeben, daß allein die Bildung der modernen poli-
tischen Gemeinden Bayerns zu Anfang des XIX. Jahrhunderts von sehr
einschneidenden Veränderungen im Bestände der alten Gemarkungen begleitet
gewesen sein muß, und daß deshalb die Verwendimg der modernen Ge-
meindegrenzen nicht ohne weiteres statthaft ist. Voraussetzung des an-
genommenen Prinzips ist das Vorbandensein einer genügend großen Menge
von Grenzbeschreibungen der Gerichtsbezirke. Soweit heute ein Urteil mög-
lich ist, darf angenommen werden, daß für große Teile Bayerns deren Be-
stand für die kartographische Festlegung genügt. Daß sich hierbei Lücken
ergeben werden, ist ebenso zweifellos, wie es unmöglich ist, gegenwärtig
über ihren Umfang etwas zu sagen. Fehlen nun für ein Gericht
die nötigen urkundlichen Hilfsmittel, so wird es aus den Gemarkungen, die
es einst umfiaßt hat, zusammenzusetzen sein. Es wird hierbei sogar möglich
werden, in einer Anzahl von Gerichten auf die Grenzen der alten Orts-
gemarkungen des XVIII. Jahrhunderts zurückzugreifen, da in vielen Gegenden
Südbayems die erste Katästrierung der modernen Gemeindebildung voran-
ging, die ältesten Katasterkarten also noch die alten Gemarkungen der Ort-
schaften, in Altbayem meist Obmannschaften, auch Zechen, Gnotschaften
genannt, enthalten. Wo dies nicht der Fall ist, hat man allerdings die
modernen Gemeindegrenzen subsidiär heranzuziehen, was jedoch schon in
der Karte selbst durch bestimmte Signaturen kenntlich zu machen ist
Als Arbeitskarte steht der Topographische Atlas von Bayern (i : 50000)
zur Verfügung. Es soll nur erwähnt werden, daß die Verwendung einer
Terrainkarte, wie sie die genannte Generalkarte von Mitteleuropa darstellt,
zur Grundlage der Blätter des Atlasses es an und für sich ausschließt, die
sogenannten Grundkarten als Arbeitskarten zu benutzen.
Sämtlichen Karten müssen selbstverständlich auch Textbände mit Er-
läuterungen, Quellennachweisen, statistischem Material beigegeben werden;
auch für zusammenfiBissende Bearbeitungen von Ergebnissen der Einzelunter-
suchungen, wie über das Verhältnis von politischen Gemeinden zu den Orts-
— 336 —
gemarkungen in den verschiedenen Landesteilen, und über verwandte Themen
sollte, wenn möglich, eine Publikation geschaffen werden.
Das Gebiet des heutigen Königreiches Bayern umfafit zum gröfiten Teile
Landschaften, die an der territorialen Zersplitterung West- und Mitteldeutsch-
lands im alten Reiche teilgenommen hatten. Der Grundsatz der rückläufigen
Bearbeitung des Atlasses bedeutet daher, auf ein solches Gebiet angewendet,
zimächst einen Verzicht auf die Darstellung der mittelalterlichen Entwicke-
lung und dann die Beschränkung auf die Fixierung des Zustandes am Ende
dieser Periode, das flir Bayern mit dem Jahre 1802 zusammenfällt Die
erste Karte des historischen Atlasses von Bayern wird demgemäß die Terri-
torienkarte von 1802 sein. Sie wird neben den Grenzen aller Terri-
torien deren administrative Gliederungen am Ausgange des XVIII. Jahrhunderts
enthalten, femer die Land- und Herrschaftsgerichte, die Hofmarken und das
Straßennetz des XVIII. Jahrhunderts. Es imterliegt weiterer Erwägung, ob
die Karte dann noch Raum genug bietet, um für die Darstellung auch
anderer Verhältnisse ausgenutzt zu werden.
Eine zweite Gruppe von Karten ist der mittelalterlichen Geschichte
eingeräumt. In erster Linie ist hier das Projekt der Schafifung einer alt-
bayerischen Pfleggerichtskarte zu neimen, die in engem geographischem wie
methodischem Anschlüsse an die Landgerichtskarte des historischen Atlasses
der österreichischen Alpenländer diese nach Westen in die altbayerischen
Lande hinein gleichsam fortsetzen soll. Der Grundgedanke dieser Karte
bestand ursprünglich darin, eine Geschichte des Landes unter dem Gesichts-
ptmkte der Entwickelung der Gerichtsverfassung für das ganze Mittelalter zu
geben, als welches im vorliegenden Falle die ganze Periode von den Karo-
lingern bis zum XIX. Jahrhundert aufzufassen ist. Neuerdings gewinnt es
jedoch den Anschein, als ob dieser Gedanke in wesentlichen Punkten modi-
fiziert werden müßte. Wenn z. B. die von Rietschel auf dem Stuttgarter
Historikertage vorgetragene Auffassung sich als begründet erwiese, die Gaue
seien überhaupt mehr geographische Begriffe als Jurisdiktionelle Einteilungen
gewesen, der Chiemgau habe nichts anderes bedeutet als die Gegend um den
Chiemsee, so werden alle Versuche, die Gaue mit kartographisch genau be-
zeichneten Grenzlinien zu umziehen, aufgegeben werden müssen. Aber sogar
die Feststellung der Grafschaftsgrenzen begegnete in einzelnen Gebieten der
österreichischen Alpenländer SchMrierigkeiten, die es der Atlaskommission
der Wiener Akademie geboten erscheinen ließen, im Interesse einer einheit-
lichen Gestaltung der Karte von einer Darstellung der Grafschaftsgrenzen
vorerst ganz abzusehen und ihre Festlegung späteren Arbeiten zu über-
weisen '). Die österreichische Landgerichtskarte wird demgemäß erst mit
dem XIII. Jahrhundert beginnen, in welchem die Landgerichte uns als etwas
Fertiges begegnen, und sie wird diese in ihrer Zersetzung bis zum Jahre
1848 herab verfolgen.
i) Anzeiger der philosophisch -historischen Klasse vom 31. Janaar 1906. Ich
möchte ausdrücklich betonen, dafo es keineswegs kartographische Gründe gewesen
sind, die das Arbeitsprogramm dahin abgeändert haben; von diesem Standpunkte aus
wäre es durchaus möglich, auch die Grafschaflsgrenzen in die Karte aufzunehmen, wenn
sie sich historisch nachweisen lassen. Das Kartenbild würde hierdurch nicht Überfüllt
nnd undeutlich.
— 337 —
Der bayerischen Pfleggerichtskarte wird jedoch unter allen Umständen
die Aufgabe gestellt werden müssen, den Umfang ihrer Untersuchungen eben-
falls möglichst weit zu spannen, und das Verhältnis der bayerischen Pfleg-
gerichte zu den Grafschaften in dieselben einzubeziehen. Auch wenn sich
hierbei nicht für das ganze Land kartographisch verwertbare Ergebnisse
zeigen sollten, ist das Problem der Entstehung der Landgerichte bedeutend
genug, um die Bearbeiter der Pfleggerichtskarte zu veranlassen, ihre For-
schimgen eingehend darauf zu richten. Im übrigen wird die Karte jeden-
falls die Entwickelung der bayerischen Pfleggerichte seit dem XIII. Jahrhundert
und ihre Zersetzung bis zum Ausgange des XVIII. Jahrhtmderts umfassen,
imd es wird vielleicht auch möglich sein, daneben die politische Entwicke-
lung der altbayerischen Lande zu veranschaulichen und die Grenzen der
Teilherzogtümer, die territorialen Veränderungen usw. aufzunehmen.
Für die mittelalterliche Entwickelung der fränkischen, schwäbischen und
pfälzischen Gebietsteile Bayerns ist eine monographische Bearbeitung der
einzelnen Territorien und ihrer Gerichte in Aussicht genommen, die angesichts
der weitgehenden territorialen Zersplitterung dieser Landschaften vorerst allein
durchführbar ist; die fränkischen Landesteile werden wohl zudem, wenigstens
in diesem Punkte, der Gesellschaft für fränkische Geschichte, als in deren
Arbeitsbereich fallend, überlassen werden.
Eine dritte Kartengruppe hätte sich mit den zahlreichen und wichtigen
Aufgaben der kirchlichen Geographie Bayerns zu befassen. Das große
Entgegenkommen, das der Atlasverein sofort bei kirchlichen Kreisen Bayerns
gefunden hat, legt den Wunsch besonders nahe, bald die eine oder andere
kirchliche Karte bearbeiten zu köimen. Das Progranun umfisißt sowohl
Karten der kirchlichen Einteilungen in Diözesen, Dekanate, Pfarreien für be-
stimmte Zeitpunkte, als auch Karten und Monographien über Besitzverhält-
nisse der bayerischen Kirche.
Eine vierte Gruppe soll in erster Linie der Behörden Praxis
dienen und die organisatorischen Veränderungen in der Begrenzung der Ver-
waltungs- und Gerichtsbezirke während des XIX. Jahrhunderts zur Darstellung
bringen.
Da kaum gehofft werden darf, es würden dem Atlasverein in den
nächsten Jahren Arbeitskräfte und Mittel zur Inangriflöiahme weiterer Auf-
gaben zur Verfügung stehen, so soll auch an dieser Stelle ihre Aufzählung
unterbleiben; das Verschweigen dieser Wünsche bedeutet aber nicht, daö
sie nicht lebhaft empfunden werden. Möge es gelingen, die Organisation
des Vereins und damit die Finanzierung des großen Unternehmens noch im
Laufe dieses Jahres so weit zu fördern, daß in nicht zu langer Zeit von dem
Fortgange der wissenschaftlichen Arbeit selbst berichtet werden kann.
Th. V. Karg-Bebenburg (München).
Eingegangene Bfleher.
Wehrmann, Martin: Zur Reformationsgeschichte Stralsimds [«=» Pommersche
Jahrbücher, 6. Band (Greifswald 1905), S. 49—76].
Wehnert, Stephan: Die Residenz in Würzburg. Ein Beitrag zur Kunst-
geschichte des 18. Jahrhunderts. Würzburg, Prometheus- Verlag. 60S. i6<>.
— 338 —
Werminghoff, Albert: Die Bedeutung der Gnmdkarten für die historische
Forschung [= Pommersche Jahrbücher, 6. Bd. (Grei&wald 1905),
S. 105 — 123].
Weyhmann, A.: Geschichte der älteren lothringischen Eisenindustrie
[ss Jahrbuch der Gesellschaft für lothringische Geschichte imd Alter-
tumskunde 17. Jahrg. (1905), S. I — 212].
Wilke: Beziehungen der west- und mitteldeutschen zur donauländischen
Spiral-Mäanderkeramik [«5 Mitteilungen der Anthropologischen Gesell-
schaft in Wien, 35. Bd. (1905), S. 249 — 269].
Wittich, Werner: Altfreiheit und Dienstbarkeit des Uradels in Niedersachsen.
Mit einer Beilage über das Geschlecht von Alten. Stuttgart, W. Kohl-
hammer 1906. 203 S. 8^. M. 4,00.
Wolfsgruber, Cölestm: Friedrich Kardinal Schwarzenberg. Erster Band.
Wien und Leipzig, Karl Fromme 1906. 372 S. 8®. M. 9,00.
Wolfram, G.: Der Einflufs des Orients auf die frühmittelalterliche Kultur
und die Christianisierung Lothringens [= Jahrbuch der Gesellschaft für
lothringische Geschichte und Altertumskunde, 17. Jahrgang (1905),
s. 318—354
Wopfner, H. : Freie und unfreie Leihen im späteren Mittelalter [= Viertel-
jahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 3. Bd. (1905)]. 20 S. 8^.
Wrede, Adam Joseph: Die Kölner Bauerbänke. Tübinger Dissert. 1905.
86 S. 8^
Wäschke: Des alten Dessauers Jugendzeit [= Neujahrsblätter aus Anhalt,
3.]. Ballenstedt a. H., Paul Baumann 1906. 34 S. 8^. M. 1,00.
Zimmermann, Franz : Die Lage des Archivs der Stadt Hermannstadt und
der sächsischen Nation. Wien, Gerold & Co. 1905. 57 S. 8®.
Vorlii von Frioirieh hirm Pirtbis, Aktioiiistllsctiaft, CttbL
Aus meinem Leben.
Fragxjaente zu einer Selbstbiographie,
Von
Professor der yergleichenden Sprachwtsseoschaft ia Oxford,
.autorisierte Ül>ersetvans von |1. Oros«hk«.
Preis ul 5 ; gebvnden ul 6 50.
Alte Zeiten - alte Freunde.
Xiebenserinneru.ngen
von
Professor der Yergleichenden Sprachwissenschaft zu Oxford«
^^utorifderte 'Dbersetanins von |1* Orosolik«. — ICit Forträt.
J$ 9; gebunden Jf ii.
Herausgeber Dr. Armin Tille in Leipttg.
Druck und Verlag Ton Friedrich Andreas Perthes, Aktiengesellschaft, Gotha.
Hiena ah Beilage : Prospekt des Verlages Ton Hermum Heyfelder in Frelburg I. Br«
über: DentBehe GeiBeklelite ron Prof. Dr. Kaii Lampreeht und andere Werke.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
föpdepung dep landesgesohiGhtlißhen fopsohung
unter Mitwirkung von
Prof. Bachmann-Prag, Prof. Brler-MUnster i. W., Prof. Finke-Freibnrg i B.,
Atchivdirektor Prof. Hanaen'Koln, Prof. t. Hetgel-Mtiocben, Prof. Henner-WUnbarg,
SektloDichcf T. Inama-StemeKK-Wien, Prof. Kolde-Erluigen, Prof. KosBlnoa-BerliD,
Geh. Atchirrat Krieger-Karlsrabe, Prof. L.ampracht-Leipiig,
Regiemngsrat W. Llppert-Dreidcn, Arcbivdirektor Piof. M. Hayr-lnnsbrnck,
Archivdireklor Prof. Hell-Grai, ArchivraC Men-Milniter i. W., Prof. t. Ottenthal-Wien,
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Geb. Atchitral Sello-01denbuT£, Archiirat Wllchke-Z erbst, Prof. Weber-Prag,
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herausgegeben von
Dr. Armin Tille
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Gotha igoy
Friedrich Andreas Perthes
AklinifgHllMhari
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'^
i
I n Im a 1 1«
Aufsätze :
Seite
Borchling, Konrad (Posen) : Die landesgeschichtliche Literatur Ostfrieslands
im XIX. Jahrhundert 12I — 135
QQnther, Felix (Leipzig): Das Lehrbuch der Universalgeschichte im XVIIL
Jahrhundert 263 — 278
Ilwof» Frans (Grar): Steiermärkische Geschichtschreibung von 1850 bis in
die Gegenwart i — 19 und 27 — 40
KBtsschke, Rudolf (Leipzig) : Flufsnamenforschung und Siedelungsgeschichte 233 — 246
MQllery Georg (Leipzig): Visitationsakten als Geschichtsquelle mit einer
Literaturübersichty alphabetisch nach Landschaften geordnet . 287 — 316
Olberts, Hans (Bonn): Die Idee der mittelalterlichen Totentänze . . . .108 — 120
Schwabe, Ernst (Leipzig) : Behandlung schulgeschichtlicher Aufgaben . . 59 — 82
SpieCSy Karl (Bottenhorn) : Trachtenkunde mit einer Bibliographie .... 145 — 197
Wehrmann, Martin (Stettin): Vatikanische Quellen zur deutschen Landes-
geschichte 93 — 108
Werner, Heinrich (Mayen): Der niedere Klerus am Ausgang des Mittelalters 201 — 225
Mitteilungen :
Archive: Sechster Archivtag in Wien 40-43; Siebenter Archivtag in Karlsruhe
Ankündigung 225, Programm 281 ; Zweiter Band der Obersicht
über den Inhalt der kleineren Archive der Rheinprovinz
136; Inventare Kölner Pfarrarchive 136 — 138; Urkunden und
Akten des Essener Münsterarchivs 138 — 140; Das Archiv des
Fürsten Reufs-Köstritz in Köstritz (Alfred Auerbach) 197 — 199;
Gemeindearchive in Bayern 225 — 228; Inventarisierung der Pfarr-
archive in Bayern 228; Gemeindearchive in Baden 228-229;
Stadtarchiv Kiel 246— 247; Stadtarchiv Elbing (Neubaur) 247—254;
Provenienzprinzip {)Akc Vancsa) 254—257; Stadtarchiv Oldenburg
(Dietrich Kohl) 281—284; SUdtarchiv Rostock (Dragendorff)
316 — 318; Provenienzprinzip (Wiersum, Tille) 318—322; Ge-
meindearchive in Steiermark 322.
Berichtigangen 58, 92, 232
Bibliothekskataloge, alte 231—232
Denkmalpflege: Achter Tag für D. in Mannheim, Ankündigung 225, 281
Eingegangene BQcher: . . 26, 58, 92, 120, 144, 199—200, 232, 261 — 262, 286, 336
Familienbriefe als kulturgeschichtliche Quelle 284 — 286
Qesamtverein der deutschen Oeschichts- und Altertumsvereine: Ver-
t«--^.^ Deutsche Geschichtsblätter
- 279 — jfc.
c t är LiB*«P«*^
Monatsschrift
stur
Fordening der landesgeschichtlichen Forschimg
tsr««"^ VUl. Band Oktober 1906 i. Heft
Steiermärkisehe Gesehiehtsehreibung von
1850 bis in die Gegenwrart
=?-^ ^ Von
Franz Uwof (Graz)
. %'^ ' Als Schlufs der in dieser Zeitschrift erschienenen Artikelreihe, die
sich mit der steiermärkischen Geschichtschreibung beschäftigt^), soll
vorliegender Aufsatz diesen Stoff für das letzte halbe Jahrhundert
mög'lichst erschöpfend behandeln. Die Darstellung dieses Teils ist mit
besonderen Schwierigkeiten verbunden, und deshalb schreite ich mit
.^ yr einigem Bedenken dazu. Erstens erschwert die Fülle der Arbeiten,
'^ die in dieser Periode geleistet wurden, eine Übersicht, und zweitens
-sind viele Autoren, die tätig waren, noch am Leben, so dafe sich
'^ j^ :'' abschlieisende Urteile über ihre Tätigkeit noch nicht fallen lassen.
■r^-*** ' Auch auf unbedingte Vollständigkeit möchte ich nicht Anspruch
-machen: es wird manche Arbeit geben, die mir entgangen ist, und
jv andere, die ich aus irgendeinem anderen Grunde nicht erwähne.
Um bei der grofisen Menge des Materials wenigstens einigermafisen
zu einer Gliederung zu gelangen, soll zuerst von den Leistungen des
Historischen Vereins für Steiermark die Rede sein, dann
. '^'- sollen die Arbeiten der Historischen Landeskommission an
^ **■ die Reihe kommen und endlich soll jener Publikationen gedacht wer-
den, die als selbständige Werke ans Tageslicht getreten sind.
..■«
I.
Im Jahre 1850 löste sich der 1843 gegründete Inneröster-
reichische Geschichtsverein, welcher die Länder Steiermark,
Kärnten und Krain umfafste, in die drei Landesvereine auf, und so
i) Es ertcbien bisher: Sieiermärki8cJhe OeschicfUschreibung im MitteldUer, 4* Bd.,
S. 89— loi; Steiermärhische Oeschichtachreibwng vom XVL^XVIIL Jahrhundert.
4. Bd., S. 288 — 298 und Steiermärhische Gesehiehtsehreibung van 1811^1850,
5. Bd., S. 202—213.
1
— 2 —
entstand für das erstgenannte Land der Historische Verein für
Steiermark, der am 2. Dez. 1850 seine konstituierende Versamm-
lung hielt. Erzherzog Johann blieb bis zu seinem Tode (1859) Prä-
sident des Vereins und förderte, wie er schon seit 181 1 eifrigst der
Pflege des Geschichtsstudiums sich gewidmet hatte, auf das hervor-
ragendste das Gedeihen der Gesellschaft und damit den Fortschritt
der geschichtlichen Forschung und Darstellung, so dafe auch nach
seinem Hinscheiden der von ihm gepflanzte Baum sich fruchtbringend
weiter entfalten konnte.
Von 1850 — 1903 gab der Verein 50 Hefte Mitteilungen, so-
dann als deren Fortsetzung die Steirische Zeitschrift für Geschichtey
bisher 3 Jahrgänge, die Beiträge zur Kunde steiermärhischer Geschichts-
quellen, 32 Jahrgänge (1864 — 1902) und als deren Fortsetzung die
Beiträge zur Erforschung steirischer Geschichte (33. und 34. Jahrgang,
1904, 1905) heraus.
Überreiches Material für die Geschichte der Steiermark enthalten
diese 87 Bände, so dafs eine bibliographische Behandlung der darin
enthaltenen Beiträge unmöglich ist, vielmehr nur einzelne, besonders
bedeutende genannt werden können.
Aus vorrömischer Zeit behandelt Robitsch die bei Judenburg
ausgegrabenen Altertümer und den berühmten Strettweger Wagen (M.*)
3), Pratobevera den keltischen Charakter der Judenburger Antiken
(M. 4), und liefert archäologische Beitäge über keltische und römische
Antiken (M. 4 u. 5); Weinhold bespricht Grabaltertümer aus Klein-
Glein in Untersteiermark (M. 10), keltischer Herkunft, und Fritz Pich-
1er beschäftigt sich mit der Urgeschichte von Gleichenberg und Um-
gebung (M. 38).
Für die Geschichte der Steiermark in der Römerzeit verdienen
vor allen anderen die Forschungen des ausgezeichneten Epigraphikers,
Archäologen und Numismatikers Richard Knabl Beachtung, der
für M. I — 21 29 Aufsätze lieferte, vornehmlich epigraphische Exkurse,
aber auch über ausgegrabene Antiken, über römisches Strafsenwesen,
über die Peutingerische Tafel, über das Hierosolymitanische Reise-
buch, über Münzenfunde, über die Grenzen zwischen Pannonien und
Norikum, über den römischen Staatsmann Titus Varius Clemens und über
eine kleine Bronzestatue (M. 12) wahrscheinlich der Dea Celeja. —
Welch wertvolle Arbeit Knabl geleistet hat, beweisen am besten die
i) M« «■ MOteihmgen des Historischen Vereins fiir Steiermark. Es wird nnr
die Nummer des Heftes angeführt, da die Seiten dann leicht auffindbar sind.
— 3 —
Worte, die Theodor Mommsen im Corpus inscriptionum latinarum
über diesen steiermärkischen Altertumsforscher schreibt: Quantopere
Knablius Stiriae inscriptiones ante eum male negledas et corrupias fere
vd UUentes et correxerit et atixerit, nemo peritorum ignorat, optandumque
est magis quam sperandum, vi talem tüulorum suorum sospitatorem reit-
quiae provinciae Atistriacae aliquando nanciscantur, qualem Stiriae
se praebuU per hos viginti annos senex ille prdbus et gnavt4S.
Weitere beachtenswerte Beiträge zur Römerperiode spendeten
noch Ferk, Vorläufige Mitteilungen über das römische Strafsenwesen
in Untersteiermark (M. 41), in denen sehr belehrende Hinweise ge-
geben und Grundsätze aufgestellt werden, wie und in welcher Weise
die Forschungen nach Römerstrafsen im Terrain eingeleitet und
durchgeführt werden müssen, und endlich Fischbach, Römische
Lampen aus Poetovio (M. 44), dessen den Gegenstand erschöpfende
Abhandlung von vielen Illustrationen begleitet ist.
Über die im VI. Jahrhundert n. Chr. beginnende Besiedelung der
Steiermark durch Slawen liegt nur ein Aufsatz von Wein hold vor,
der ein zu Strafsengel aufgedecktes Grab (M. 8) behandelt, welches
höchst wahrscheinlich slawischen Ursprungs ist.
Von den Mitarbeitern an den M. und B.*) wurden zahlreiche Reisen
unternommen, um in Archiven und Bibliotheken Urkunden, Akten imd
Handschriften aus dem Mittelalter und der Neuzeit aufzuspüren und
zu durchforschen, die quellenmäfsige Nachrichten zur Geschichte der
Steiermark enthalten. Über solche Reisen wurden vielfach Berichte
erstattet, so vonBidermann aus Innsbruck (B. 3 — 4), von Bischoff
aus Wien, Nikolsburg in Mähren, Hollenburg in Kärnten und vielen
Orten der Steiermark (B. 6. 13. 14), von Dworäak aus Raudnitz in
Böhmen (B. 6), von Krön es aus Wittingau und Krumau, aus Linz
und Stadt Steier (B. 28), von Levec aus Flöding in Krain (B. 29),
von Loserth aus Wien (B. 2), von Luschin aus Laibach, Eisen-
erz, Obdach in Steiermark, Wolfsberg und Klagenfurt in Kärnten und
aus verschiedenen anderen Orten in Innerösterreich (B. 5. 8. ii), von
Zahn aus München, Dresden, Graz, Wien, verschiedenen Orten Kärn-
tens und der Steiermark, aus Nikolsburg, Linz, Salzburg, Innsbruck,
Brixen, Prag, aus Friaul und Venedig, aus Tachau (B. i — 7. 9. 10. 15),
von Zwiedineck aus Steyersberg und Feistritz an der Ilz (B. 29 — 30).
Man mag aus diesen Angaben entnehmen, dafe die Forscher in steier-
I) B. B Beiträge eur Kunde steiermärkischer Chschichtsqueüen,
1*
— 4 —
märkischer Geschichte eifrigst und vielseitig nach Beiträgen zur Ge-
schichte ihrer Heimat gesucht und auch vieles gefunden haben.
In diese Rubrik gehört auch des alten verdienstvollen Archivars
und Forschers Wartinger Abhandlung über die älteste Original-
urkunde des Joanneumsarchivs in Graz (M. i); dies ist eine Urkunde
König Karlmanns über die Verleihung einiger Güter an das Benedik-
tinerstift Ossiach in Kärnten vom 9. September 878, wozu die Be-
merkungen von Ankershofen (M. 2) und Robitsch (M. 2) zu
vergleichen sind; sodann sei hier eingereiht die ausgezeichnete Ab-
handlung: Materialien zur Geschichte des Behördenwesens und der
Verwaltung in Steiermark (B. 29) von Luschin v. Ebengreuth.
Gehen wir auf das Gebiet der deutschen Literatur des Mittelalters
über, so finden wir die wertvollen Studien von Weinhold über den
Dichter Hugo VIII. von Montfort (M. 7), über das Bruchstück einer
Handschrift von Phillipps Marienleben (M. 7) und steirische Bruchstücke
altdeutscher Sprachdenkmale (M. 9); von Schönbach über die
Grazer Handschrift des lateinisch-deutschen Freidank (M. 23) und Mis-
zellen aus Grazer Handschriften (M. 47. 48. 50).
Arbeiten über die Geschichtsquellen des Mittelalters und zwar
über die Chroniken brachten Zahn: über den Anonymus Leobiensis
(B. i), Krones über die Quellen der steiermärkischen Geschichte in
der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts (B. 7), sowie eine treflfliche
Untersuchung über die Quellen zur Geschichte der Grafen von Cilli
(B. 8). Von Urkunden, Regesten, Berichten, Briefen und Formel-
büchern handeln Bischoff (B. 6), Göth (Urkundenregesten von
1252 — 1580: M. 5 — 14). Joachimsohn veröffentlicht einen Ge-
sandtschaftsbericht über Baumkirchers Hinrichtung (B. 23), Krones
Urkunden zur Geschichte des Landesfürstentums, der Verwaltung und
des Ständewesens der Steiermark von 1283 — 141 1 (B. 30) und quellen-
mäfsige Beiträge zur Geschichte der Steiermark 1462 — 147 1 (B. 11).
Franz Martin Mayer handelt von den Korrespondenzbüchem des
Bischofs Sixtus von Freising und ihrem Wert für die Geschichte der
Steiermark (B. 15) und Zahn über ein Admontisches Formelbuch
aus dem XV. Jahrhundert (B. 17). Mit den Totenbüchem beschäf-
tigten sich Khull (B. 27), Loserth (B. 26) und Zahn (B. 3. 14),
mit den Rechtsdenkmälern Bise ho ff (B. 5 — 6. 15. 18).
Für die älteste territoriale Gliederung des Landes, für die Ein-
teilung in Gaue und Kirchensprengel liegen malisgebende Unter-
suchungen vor von Felicetti v. Liebenfels über die Lage des
pagtis Chrowat (B. 5) und Steiermark vom VIIL — XIL Jahrhundert
— 6 —
(B. 9 — lo). In jener weist der Verfasser unwiderleglich nach, dafis
der Chrowat- oder Undrimagau nicht, wie man bis dahin allgemein
meinte, das Gebiet des obersteirischen Murtales und dessen Neben-
täler umfaiste, sondern da(s er in der Gegend von St. Veit in Kärnten
zu suchen ist; in jenem stellt er die politische Einteilung des Landes
im K., X. und XI. Jahrhundert fest und beschreibt es nach den Gauen
und Grafschaften, in die es zerfiel.
Die Besiedlung des Landes schildert ausführlich Krone s in dem
Aufsätze über die älteste, insbesondere deutsche Ansiedlung des
steiermärkischen Oberlandes (M. 27), während er die politische Ge-
schichte jener Epoche in dem Aufsatze zur Geschichte der nachbar-
lichen Beziehungen der Steiermark und Ungarns bis 1 192 (M. 40), in der
höchst beachtenswerten Studie über die Herrschaft König Ottokars II.
von Böhmen in Steiermark 1252 — 1276 (M. 22) und in der Arbeit
zur Geschichte der Steiermark vor und in den Tagen der Baum-
kircherfehde (M. 17) behandelt. Hierher gehört auch die Abhandlung
über Steiermark und die Kreuzzüge von Ilwof (M. 49), femer
Kümmel, Zur Geschichte Herzog Ernsts des Eisernen 1406 bis
1424 (M. 25). Endlich sei die mit einem alten Irrtum aufräumende
Untersuchung von Zahn genannt: Über das angebliche Turnier von
1194 und den Tummelplatz in Graz (M. 34), in der klar nachgewiesen
wird, dafs Leopold V. der Babenberger, Herzog von Österreich imd
Steiermark, nicht bei einem Turniere, sondern (1194) bei einem Spa-
zierritte auiserhalb der Mauern der Stadt mit dem Pferde getürzt ist,
dabei das Bein gebrochen hat und einige Tage danach gestorben ist.
Ei^länzt wird Zahns Arbeit durch die von Wa stier über den Tum-
melplatz in Graz (M. 43).
Für die Neuzeit mögen zunächst die wichtigsten Quellenpublika-
tionen genannt werden. Krön es g^b das wertvolle Verzeichnis der
landesfiirstlichen und landschaftlichen Patente der Herrscherzeit Maxi-
milians I. und Ferdinands I. heraus (6. 18 — 19); Kümmel schrieb
über die landschaftlichen Ausgabenbücher als steiermärkische Ge-
schichtsquelle (B. 14), über eine Landeshauptmannschronik des XVI.
Jahrhunderts (B. 15), über ein verloren gegangenes Geschichtswerk
Michael Frankenbergers , des Stadtschreibers zu Brück an der Mur
(B. 15). Loserth gab urkundliche Beiträge zur Geschichte des Erzher-
zogs Karl II. (B. 29), Briefe und Akten zur steiermärkischen Geschichte
unter Erzherzog Karl IL (B. 30) heraus, MichaelMayer veröffentlichte
Auszüge aus den Berichten der Grazer Nuntiatur an die Kurie (M. 41),
Gubo MitteUungen über das Toleranzpatent (B. 29), Wolf ein Hand-
— 6 —
billett Kaiser Josephs II. (B. 12), Mayer zwei Handschreiben Kaiser
Josephs II. (M. 34) und Zahn Quellen zur Geschichte des Jahres
1683 (B. 20 — 21). Hierher gehören auch die zahlreichen Beiträg-e zur
Geschichte des Kriegsjahres 1809, in dem die Steiermark von den Fran-
zosen schwer heimgesucht wurde, von Au st (M. 36), Ilwof (B. 28),
Kratochwill(M. 28), Krones(M. 35 — 36), Lange (M. 29), Levec
(M. 46), Scheiger (M. 14), Wichner (M. 23), v. Zwiedineck
(B. 23—24), Mayer (M. 46). Aus der Zeit von 1815 — 1848 sollen
genannt werden die mit Einleitungen und Anmerkungen von Ilwof
herausgegebenen Briefe Erzherzog Johanns an Joseph Freiherrn von
Hammer-Purgstall (M. 37), an Karl Schmutz (M. 41) und an die
Grafen Ferdinand und Ignaz Attems (M. 45).
Auch von den darstellenden Abhandlungen aus der Geschichte
der Neuzeit sind emige beachtenswert, so Bidermann, Die Serben-
ansiedlungen in Steiermark (M. 31), Die Beziehungen der Steiermark
zum kroatisch-slawonischen Königreich im XVI. und XVII. Jahrhundert
(M. 39), Loserth, Die Reise des Erzherzogs Karl IL nach Spanien,
1568/69 (Beitrag zur Geschichte Don Carlos) (M. 44), Reifsen-
berger, Prinzessin Maria Christierna von Innerösterreich 1574 — 1621
(M. 30), Steinwenter, Materialien zur Geschichte der östlichen
Steiermark unter der Landeshauptmannschaft Hans Ungnads von Sonneck
1530 — 1544 (B. 19), V. Zwiedineck, Ruprecht von Eggenberg, ein
österreichischer Heerführer des XVI. Jahrhunderts (M. 26), Krön es,
Aktenmäfsige Beiträge zur Geschichte des Tattenbachschen Prozesses
1670 (M. 12), G üb o, Steiermark während des Siebenjährigen Krieges
(M. 49 — 50), endlich die ausgezeichnete Abhandlung von Bider-
mann, Zur Verfassungskrisis in Steiermark zur Zeit der ersten fran«
zösischen Revolution (M. 21).
Eine furchtbare Kalamität für das Steirerland waren die Türken-
einfälle, welche entsetzliche Verwüstungen und Verluste an Menschen-
leben herbeiführten. Ihrer zählt man in der Zeit von 1396 bis 1707
nicht weniger als sechsundzwanzig, deren Verlauf und Folgen in den
M. 9 — II. 15 und 32 in fünf gröfseren Abhandlungen von Ilwof
eingehend aus den Quellen dargestellt werden. Auch unter EinßLUen
der Kuruzzen hatte die Steiermark zu leiden, 1704 (Lange, M. 30)
und 1707 (Stampfer, B. 23).
Die Zeit der Reformation und Gegenreformation ist die historisch
interessanteste Periode im Lande Steier. Von ihr handelt Loserth
in der Abhandlung über die steirische Religionspazifikation 1572 bis
1578 (B. 27), über die Gegenreformation in Graz (B. 31), über die
— 7 —
Wiedertäufer in Steiermark (M. 42. 50), über die protestantische
Stiflsschule im Gallerschen Amthofe bei Schwanberg (M. 47) und
das Tagebuch des Geheimsekretärs Peter Casal über die italienische
Reise Erzherzog Ferdinands IL 1598 (M. 48). Ferner sind hier zu
nennen: Peinlich, Die Religionshandlung zu Leoben 1576 (M. 26),
Starzer, Die Residenz der Nuntien in Graz (M. 41), Zahn, Der
Kalenderstreit in Steiermark (M. 13), Ilwof, Eine Episode aus der
Geschichte der Gegenreformation in Steiermark (M. 12); v. Zwie-
dineck, Innerösterreichische Religionsgravamina aus dem XVIII. Jahr-
hundert (M. 22).
Sind die bisher genannten Arbeiten mehr allgemeiner Natur, so
soll nun von den bedeutendsten unter jenen die Rede sein, welche
eine besondere Institution oder Persönlichkeit, einen Zweig der gei-
stigen oder materiellen Kultur, staatliche, Landes- und Gemeindever-
hältnissen u. dgl. betreffen.
Beginnen wir mit der Geschichte des Adels. Im allgemeinen
handeln von ihm Krones, Der Herrenstand des Herzogtums Steier
von 1282 — 141 1 (M. 47) und Luschin, Studien zur Geschichte des
steirischen Adels (M. 23). Daran schliefsen sich die Mitteilungen
über die einzelnen Familien: Baumkircher (M. 17. B. 11. 23), Eggen-
berg (M. 14), Herberstein (M. 19. 42. B. 24), Leysser (M. 36), Liech-
tenstein (M. 19. 20. 31), Prüeschenk (M. 13), Rauber (M. 27), Grafen
von Cilli-Saueck (M. 10 — 13. 21), Teuffenbach (M. 41. B. 34), Windisch-
grätz (12 — 13. 15. 19), Ziernfeld (40).
Der Adel hauste im Mittelalter und noch bis ins XVIII. Jahr-
hundert auf seinen Burgen und in seinen Schlössern. Eigentlich erst
durch die Aufhebung der Gutsuntertänigkeit der Bauern, durch die
Grundentlastung und durch den Übergang der Verwaltung und Gerichts-
barkeit von den Grundherrschaften auf die landesfurstlichen Behörden
und Gerichte (1848 — 1850) hat sich die Übersiedlung der adeligen
Familien in die Städte vollständig vollzogen. Daher reihen sich an
die Geschichte des Adels ganz gut die historischen Notizen über
Burgen und Schlösser an: Weifs, Emige verschollene Burgen im
Murtale (M. 32), Wichner, Zwei Burgen und drei Edelsitze in der
oberen Steiermark (M. 42 — 43), dann Monographien über die Festen
Schaumbui^ und Frauenburg im Schalltale (M. 31), Gösting (M. 5),
die Burgruine Hauenstein (M. 16), Klausenstein und Holenstein (M. 29),
Sachsenwart und Liebenstein (B. 16), Pöllau (M. 6), Rieggersburg
(M. 2), Spielberg (M. 17), Streehau (M. 4), Thalberg (M. 35 — 36).
Waldstem (M. 3).
— 8 —
Hieran mögen sich die Nachrichten über die Geistlichkeit und
das Kirchenwesen anreihen. Über die Weltgeistlichkeit liegen einige
Arbeiten vor von Tangl (M. 7) und Kernstock (B. 13). Die
Lavanter Bischofereihe ergänzt Lang, Informationsbuch eines stein-
sehen Landpfarrers vor 150 Jahren (B. 26). Dazu kommen Luschin,
Aus den Rechnungen der päpstlichen Steuereinnehmer im Erzstifte
Salzburg (B. 23), Starzer, Auszüge aus den päpstlichen Rechnungs-
büchern der Camera apostolica zur Geschichte der Kirchen der Steier-
mark in der Aquilejer, Lavanter und Seckauer Diözese während des
XIV. und XV. Jahrhunderts (B. 25), Weifs, Quellen und Studien
zur Geschichte der Pfarre Gratwein (B. 21), Wichner, Materialien
zur Geschichte verschiedener Pfarren und Kirchen in und auüserhalb
Steiermark (B. 18) und Lang, Beiträge zur Kirchengeschichte der
Steiermark und ihrer Nachbarländer aus römischen Archiven (B. 33).
Reichlicher ist die Ordensgeistlichkeit und sind mit ihr ihre Klöster
und Stifte bedacht. So berichtet über das durch Kaiser Joseph n.
aufgehobene Augustiner-Chorherrenstift Rottenmann Pangerl (M. 16.
B. 5), über das Chorherrenstift Voran Kernstock (B. 14 — 15) und
Pangerl (B. 4), über das altehrwürdige, in der Geschichte der Steier-
mark zu allen Zeiten hervortretende Benediktinerstift Admont Fuchs
(M. 9 — 11), Pangerl (B. 6), Rottmanner (M. 30), Wichner
(M. 20. 25. 40. B. 11), Zahn (B. 14. 17), über das von Kaiser Jo-
seph II. aufgehobene adelige Damenstift Göis, das älteste um 1002
gegründete Kloster in Steiermark, Theussl (M. 46), über das Bene-
diktinerkloster St. Lambrecht Pangerl (B. i — 4) und Zahn (B. 10),
über den weithin berühmten Wallfahrtsort Maria 2^11 Pangerl (M. 18),
worin nachgewiesen wird, daüs der Beginn der Wallfahrten dorthin in
die Jahre 1320 — 1330 fallt; daher kann die Gründung des „Gnaden-
ortes** nicht, wie bisher angenommen wurde, 1157 erfolgt sein. Von
dem Zisterzienserstift Rein handeln Gasparitz (M. 34. 36. 38. 42 — ^43.
45) und Weifs (M. 14. B. 2. 12), von dem Dominikanerkloster zu
Pettau Zahn (B. 16), über die Jesuiten Krön es (B. 22. 24) und
Lang (M. 46), über die Kapuziner zu Schwanberg Marie v. Plazer
(M. 40), über die Karthause Seiz Mayer (B. 21) und endlich über
die Kommende des deutschen Ritterordens zu Fürstenfeld Lange
(M. 30).
Der hohe und der niedere Adel und die Spitzen des Klerus,
namentlich der Fürstbischof von Seckau und die Äbte der Stifte bil-
deten im Mittelalter und selbst bis in die Mitte des XIX. Jahrhunderts,
da die Vertreter der Städte nur wenig zahlreich und die Bauern als
— 9 —
gutsuntertänig politisch rechtlos waren, den ständischen Landtag
des Herzogtums Steier. Daher beschäftigen sich die Forschungen
über das Stände- und Landtagswesen , über die von den Ständen dem
LandesHirsten zu leistende Erbhuldigung und die von diesen zu er-
teilenden Rechte und Freiheiten der Landstände, sowie über die Land-
handfesten vorwiegend mit Adel und Geistlichkeit Besonders wert-
volle, grundlegende Arbeiten lieferte auf diesem Gebiete Krones:
Inhaltsverzeichnis steirischer Stände- und Landtagsakten aus dem
XVI. und XVII. Jahrhundert (B. i), Vorarbeiten zur Quellenkunde
und Geschichte des mittelalterlichen Landtagswesens in Steiermark
(B. 2), Nachträge und Ergänzungen hierzu (B. 3. 6) und Materialien
hierzu in Regesten und Auszügen (B. 16). Den feierlichen Akt der
Erbhuldigung behandeln Leitner (M. i), Krones (M. 18) und
Lange (M. 37). — Das Wort Landhandfeste erscheint in der Steier-
mark zum ersten Male 1501 als Nan^e eines von König Friedrich III.
1445 erlassenen Gesetzes, und erst seit der zweiten Hälfte des XVI.
Jahrhunderts als Bezeichnung jener Sammlung von Rechtsurkunden,
Bestätigungsbriefen, landesfürstlichen Entscheidungen, Verträgen, Land-
tagsabschieden u. dgl., in denen die landständische Verfassung des
Herzogtums Steier niedergelegt war und zu deren Bestätigung der
Herzog bei der Erbhuldigung den Eid ablegte. Eine erschöpfende
vortreffliche Untersuchung und Darstellung dieses staatsrechtlichen
Aktes bietet v. Luschin (B. 9).
Zur Geschichte der Kulturverhältnisse übergehend, erwähnen wir
zuerst die den Bergbau und die Eisenverarbeitung behandeln-
den Arbeiten von Ilwof, Steirisches Eisen zu Wehr und Waffen in
den 2^iten Maximilians I. und Ferdinands I. (M. 34), von Khull,
Der alte Bergbrief von Schladming (M. 28. 30), von Mayer, Das
Eisenwesen in Eisenerz 1570 — 1625 (M. 33), Reichel, Beiträge zur
Geschichte des steirischen Bergbaues im Zeitalter des österreichischen
Erbfolgekrieges (M. 37) und Pantz, Beiträge zur Geschichte der
Innerberger Hauptgewerkschaft (B. 19). — Vom Jagd- und Forstwesen
sprechen die Aufsätze von Khull, Zwei die landesfurstliche Jagd in
Steiermark betreffende Denkmäler (B. 28), von Lange, Das Jagd-
buch von Burgau (M. 29), von Mayer, Zur Geschichte des Jagd-
und Forstwesens in Steiermark in der 2^it Maximilians I. (M. 28) und
Zahn, Notizen zur Geschichte des Jagdwesens auf den Gründen des
ehemaligen Klosters Neuberg (M. 36).
In das Schlagwort Landwirtschaft gehören die Darstellungen
über Urbarialverhältnisse und über die Lage der Bauernschaft. Davon
— 10 —
handeln Lange, Dorfrechte und Freiheiten (M. 30), Meli, Die mittel-
alterlichen Urbare und urbarialen Aufzeichnungen als Quellen steirischer
Wirtschaftsgeschichte (B. 25), Schönbach, Untersteirische Bannbe-
stimmungen (B. 13), Wichner, Über einige Urbare aus dem
XIV. und XV. Jahrhundert im Admontcr Archive (B. 13) und
Zahn, Die freisingischen Güter in Steiermark und deren ökonomische
Verhältnisse am Beginne des XIV. Jahrhunderts (M. 9) , Über
zwei Codices zur Geschichte von Donnersbach (B. 22) und Meli,
Beiträge zur Geschichte des Untertanenwesens in Steiermark (M.
40—41).
Von den Bauernunruhen und -kriegen wurde die Steiermark ebenso
wie die meisten anderen Gebiete Süddeutschlands schwer berührt.
Über diese Verhältnisse berichten Bischoff, Mayer und Zahn
(B. 14), Krainz, Über den Eisenerzer Aufstand 1683 (M. 28), Kro-
ne s. Über den Bauernkrieg von 1525 (M. 16) und über den von
1573 (B. 5), Mayer, Über die ersten Bauemunruhen in Steiermark
(M. 23. B. 13), Meli, Über den windischen Bauernaufstand 1573
(B. 26), 163 s (M. 44).
Wertvolle Materialien zur Geschichte der Zünfte lieferte Zahn
(B. 14 — 15. 18). Weniger zahlreich sind die Arbeiten über Handel
und Verkehrswesen, es wären nur zu nennen: Göth, Zur Geschichte
der Hansgrafen in Steiermark (M. 8), Bidermann, Die Verkehrs-
beziehungen der Stadt Leoben zu den westlichen Alpenländern vom
XVI. — XIX. Jahrhundert (M. 22). Über Reisen und Pilgerfahrten
machten Mitteilungen Formentini, Reichshofstaat der Prinzessin
Anna, Tochter des Erzherzogs Karl von Österreich, bei ihrer Über-
siedlung als königliche Braut nach Polen 1592 (M. 2), Khull, Be-
richt über eine Jerusalemfahrt zweier Franziskaner aus Friedau 1527
(M. 44), Mayer, Des Bildhauers Franz Ferdinand Ertinger Beschrei-
bung seiner Reisen (B. 29), Marie v. Plazer, Bericht über die
Reise des Bamberger Bischofs Ernst von Mengerstorff durch die Steier-
mark 1588 (B. 23).
Weniges, jedoch Gediegenes enthalten die Schriften des histo-
rischen Vereins über Geld, Münzwesen und Preise, nämlich: Pein-
lich, Der Brotpreis in Graz und Steiermark im XVII. Jahrhundert
(M. 25), Luschin, Das lange Geld oder die Kipperzeit in Steiermark
(M. 38) und Tauber, Beschreibung der steirischen Münzen, ins-
besondere der Kippermünzen aus den Jahren 1617 — 1623 (M. 38).
Zur geistigen Kultur übergehend, notieren wir zuerst die Arbeiten
über das Schulwesen: Krones, Zur Geschichte des Schulwesens in
— 11 —
Steiermark im Mittelalter und während der Reformationsepoche bis
1570 (M. 34), und Zur Geschichte des naturhistorischen Unterrichts
in Steiermark (M. 37), Khull, Aus der alten Landschaftsschule in
Graz (M. 45), Loserth, Zu den Anfängen der Grazer Universitäts-
bibliothek (M. 44) , Ostermayer, Schulg^ndungen im Bezirke Hart-
berg (M. 33. 39) und Beiträge zur Geschichte der Volksschule
in der Nordoststeiermark (M. 41). — Vom Buchdruck handeln
Peinlich, Zur Geschichte des Buchdrucks, der Bücherzensur und
des Buchhandels in Graz im XVI. Jahrhundert (M. 27), Zahn,
Zur steicrmärkischen Buchdruckergeschichte (B. 16) und Lang,
Ein Grazer Kalender für 1594 in der Vatikanischen Bibliothek zu
Rom (M. 41).
Sehr reichhaltig sind die Mitteilungen über die Werke der bilden-
den Kunst, so die Berichte des Landesarchäologen Haas über seine
Bereisung der Steiermark in den Jahren 1856—1860 (M. 7 — 10), der
Vortrag des Abtes von Rein Ludwig Crophius Edl. von Kaiser-
sieg über die geschichtlichen Denkwürdigkeiten von Strafsengel (M. 8),
Richter, Zur Baugeschichte der Wallfahrts- und Kreisdekanatskirche
auf dem Weizberge bei Weiz (M. 33), über die schon bei Beginn
der Gegenreformation zerstörte protestantische Kirche zu Scharfenau
bei Cilli von Orozen (M. 27), besonders jedoch von Wastler (M. 38).
Kunst und Künstler in ihrer Förderung durch die steirische Land-
schaft vom XVI.— XVIII. Jahrhundert behandelt Kümmel (B. 16),
das Inventar der Kaiserin Eleonore von Mantua - Gonzaga , Gemahlin
Kaiser Ferdinands II. (M. 30), die Malerkonfraternität in Graz gegen
die Störer und Fretter (M. 31), die Ordnung der von Peter de Pomis
gegründeten Malerkonfratemität in Graz (B. 23) und endlich die wert-
vollen Nachrichten über Gegenstände der bildenden Kunst in Steier-
mark (M. 32 — 43) Wastler. Diesen schliefsen sich an die Aufsätze
von Weifs über den geistlichen Maler Andreas Schmidt (M. 32), von
Zahn über den Maler G. A. Faber von Aussee (M. 37), über die
Malerkonfraternität in Graz wider den landschaftlichen Maler Johann
Mieüsl (M. 38), über steirische Baumeister in Friaul (B. 16). Schliefs-
lich kommen die Nachträge und Zusätze zu Walters Künstlerlexikon
von Ilwof (M. 34\ Konschegg (M. 34. 40) und Zahn (M. 32 bis
33- 37) in Betracht.
Bisch off liefert Beiträge zur Musikpflege in Steiermark (M. 37)
und zur Geschichte des Theaters in Graz 1574 — 1775 (M. 40) und
veröffentlicht neu die für die Geschichte der Dramatik im XVII. Jahr-
hundert sehr wertvolle Komödie Niemand tmd Jemand von John
— 12 —
Green, die in Graz 1608 von englischen Komödianten aufgeführt
wurde (M. 47). Eine Ergänzung dazu bietet der Aufsatz von liwof,
Über die Anfänge des deutschen Theaters in Graz (M. 33).
Ein sehr wichtiges Bevölkerungselement bildeten in Steiermark
im Mittelalter die Juden, namentlich für Handel und Geldverkehr,
bis sie auf Bitten der Stände von Kaiser Maximilian I. 1496 gegen
eine Entschädigung von 38000 Gulden aus ganz Innerösterreich vertrie-
ben wurden; erst seit 1861 dürfen sie sich wieder dort ansässig machen.
So interessant auch eine Schilderung des Tuns und Treibens der Ju-
den in Steiermark in Mittelalter wäre, bringen die Publikationen des
historischen Vereins doch nur zwei kleine Beiträge : Zahn, Über eine
jüdische Urkunde des XV. Jahrhunderts (M. 11), und llwof. Zur Ge-
schichte der Judenverfolgung in Steiermark (M. 12).
Recht reichhaltig dagegen sind die Nachrichten zur Ortsge-
schichte: Bidermann, Die Grenze zwischen Ungarn und Steier-
mark (B. 11); Mayer, Aus Stupans Beschreibung von Inneröster-
reich 1759 (B. 24); sodann über Aflenz (B. 9), Aussee (M. 33), Brück
(B. 17. M. 35), Cilli (M. 23—26. 28—30), Deutsch-Feistritz (M. 38),
Ehrenhausen (B. 22. 30), Eisenerz (B. 5. 17. 20), Fürstenfeld (M. 29.
40. B. 19), Graz (M. 16. 18 — 20. 29. 43—45), Grofe-Lobming (M. 26),
Hohenwang (M. 30), Kindberg (M. 29), Leibnitz (M. i. 4), Marburg
(M. 4. 27), Mautem (M. 38), Murau (B. 12), Neuhaus (M. 3), Pettau
(M. 32), Radkersburg (B. 16. M. 39), Ramsau (M. 25), St. Stefan ob
Leoben (M. 39), Weiz (M. 33).
Sehr reichhaltig sind auch die Notizen und Mitteilungen zur
Kulturgeschichte, von denen wenigstens einiges hervorgehoben
werden möge: Kernstock, Beiträge zur Zeit- und Kulturgeschichte
der östlichen Steiermark (M. 25); Krautgas ser. Zur Kulturgeschichte
des XVII. Jahrhunderts (M. 13. 27); Weinhold, Über das deutsche
Volkslied in Steiermark (M. 9); Wichner, Beiträge zu einer Ge-
schichte des Heilwesens, der Volksmedizin usw. (M. 33); Zahn,
Über steiermärkische Taufnamen (M. 29), Zur Sittengeschichte in
Steiermark (M. 36); Göth und llwof. Über Haus- und Hofmarken
(M. 5. 12); Bischoff, Ein Femgerichtsprozefs in Steiermark (M.
21); Pangerl, Sühne des Totschlags im XV. Jahrhundert und Zur
Geschichte des Gestütwesens im XVI. Jahrhundert (M. 18); Pein-
lich, Akten zur Geschichte Keplers (M. 16.21); Schmutz, Proden-
zen der Stradafisel = Gaunerherbergen in Obersteier (M. 45); Zahn,
Zwei lateinische Klagelieder über die Grafen von Putten (B. 2);
Zwiedineck, Ein merkwürdiges Flugblatt, ein Spottgedicht auf den
— 13 —
Winterkönig Kurfürst Friedrich von der Pfalz (M. 21), und Die Hoch-
zeitsfeier Erzherzog Karls IL mit Maria von Bayern (M. 47).
Es war eine schöne Sitte des historischen Vereins für Steiermark,
Biographien und Nekrologe um das Land und um den Verein ver-
dienter Männer in einer eigenen Abteilung der M. mit dem Titel
Oedenkbuch erscheinen zu lassen. Von den darin enthaltenen Auf-
sätzen mögen erwähnt werden derjenige über den Historiker Her-
mann Ignaz Bidermann (M. 46), den Staatsmann Moriz v. Kaiser-
feld (M. 36), den Vereinsdirektor Georg Göth (M. 26) und den
Archivar Joseph Wart inger (M. 20), Erzherzog Johann von Öster-
reich (M. 14), den Dichter und Historiker Johann v. Kalchberg (M.
26), den Epigraphiker Knabl (M. 23), den Arzt des XVII. Jahrhunderts
Dr. Adam v. Lebenwaldt (M. 28), den Dichter Karl Gottfried Ritter
V. Leitner (M. 41), den Sohn Erzherzog Johanns, Franz Graf von
Meran, einen Forscher auf dem Felde der Waffenkunde (M. 39), den
Historiker Peinlich (M. 31), den Archäologen Joseph v. Scheiger
(M. 42), den Statistiker Gustav Franz v. Schreiner (M. 21), den Topo-
graphen Karl Schmutz (M. 39), den Historiker Albert v. Muchar
(M. I. 14), den Archäologen Pratobera (M. 8), den Rechtslehrer Sand-
haas (M. 15), den Historiker Tangl (M. 15), den Topographen des
XVII. Jahrhunderts Georg Matthäus Vischer (M. 24. 29. 30), den Ver-
einsvorstand Ludwig Abt zu Rein (M. 11. 14), den Kunsthistoriker
Wastler (M. 49) und den Geschichtsforscher Felicetti (M. 49). In diese
Kategorie der Biographien können wir auch einreihen die sehr be-
merkenswerten Arbeiten: Bischoff, Zur Lebensgeschichte des Grafen
Carlo della Torre, ein Beitrag zur Geschichte des Adels und der
Rechtspflege im XVII. Jahrhundert (M. 48) und Krones, Leonor
von Portugal, Gemahlin Kaiser Friedrichs III., des steirischen Habs-
burgers 1436— 1467 (M. 49).
Mit dem Hefte 50 der Mitteilungen schlofe 1903 der Historische
Verein diese Serie seiner Publikationen und gibt nun an deren Stelle
die Steirisehe Zeitschrift für Geschickte heraus, die au&er Abhand-
lungen über die Steiermark auch solche allgemein geschichtlichen
Inhalts bringt und von der bisher drei Bände erschienen sind. Bei-
träge zur Geschichte der Steiermark darin sind : BoMwerhe und Strafsen
von AUgrcus von Kapp er und Zur Geschickte des ersten JFVanjgasenein-
fallsl797 von v. Zwiedineck (Bd. i). Der 2. Band enthält eine Mono-
graphie über den abgekommenen steirischen Edelmannssitz Fahren^
graben von Kapper, Steirisehe Gelder in Ävignan von Lang, eine
sehr lehrreiche rechtshistorische Untersuchung über Das steirisehe
— 14 —
BannricUeramt von Meli und einen Beitrag Zur Geschichte der aÜen
Finanzgebäade in Graz von Fr ^nz F reihe rrn v. Mensi. Im dritten
Bande erschien der Aufsatz: Zur Geschichte des Joannetdmsgartens in
Graz von Ilwof, und die Beiträge von Loserth Zur Genealogie des
Hauses Liechtenstein- Mur au, welche über einen Barfufsermönch aus
dieser Familie berichtet, Das Stammbuch der Frau Dorothea von Stu-
henberg, geb. Freiin von Thanhausen, während Schmut Die Ritter
von Wasserberg und Schlafs Wasserberg in Vischers Schlösserbuch,
Pircheg-ger Die Schlösser Lemberg und Rabensberg in Untersteier
behandelt. Eine Notiz über eine Eisenerzer Denkmünze von 1593
veröffentlicht Budinsky, der zugleich über eine ähnliche aus demselben
Jahre berichtet. Geschichtliches aus ünterzeirung von Schmut, Bei-
träge zur Geschichte des Grazer Theaters 1824125 von Deutsch,
Äussees Franzosenzeit 1800, 1801 von Arnold schliefsen sich an. Mit
dem Versuche Welches war die Urbevölkerung des Murbodens und wie
erfolgte die spätere Besiedlung? von Forcher v. Ainbach wird wohl
kaum ein Geschichtskenner einverstanden sein, da er Slawen als die
ersten nachweisbaren Bewohner des oberen Murtales annimmt. D o b -
linger bringt Aufzeichnungen Wolfs v. Stubenberg über die Nieder-
lage des Christenheeres durch die Türken bei Essegg 1537, Schmut
Notizen aus der Wasserberger Jagdgeschichte und Walter Smid
versucht endlich, einige steirische Ortsnamen zu erklären. Das ist
gewifs ein vielverheifsender Anfang für die neue Reihe!
Aufser diesen periodischen Publikationen veröffentlichte der Histo-
rische Verein noch eine Stiria iUustrata, bearbeitet von Zahn, ein
genaues Verzeichnis und Beschreibung aller jener Abbildungen (von
Städten, Märkten, Schlössern, Dörfern, Klöstern, Kirchen, einzelnen
Gegenden und Häusern, Monumenten und geschichtlichen Ereignissen),
welche unter Beziehung auf den Boden der Steiermark je im Druck
bekannt gemacht worden sind. Sie ist alphabetisch geordnet, umfafst
bis jetzt 512 Seiten von Admont bis Neumarkt; aus hier nicht zu
erörternden Gründen ist sie seit mehreren Jahren ins Stocken geraten ;
die Fortsetzung und Vollendung dieses ungemein brauchbaren Hilfis-
mittels für die Ortsgeschichte wäre sehr wünschenswert.
Wichtiger und bedeutender ist die vom Vereine mit Unterstützung
des k. k. Ministeriums für Kultus und Unterricht und des steiermär-
kischen Landtages erfolgte Veröffentlichung: SteiermärJdsckes Land-
recht des Mittelalters, bearbeitet von Bischoff (Graz 1875). Es ist dies
ein für die inneren Verhältnisse der Steiermark sehr wichtiges Rechts-
buch; eifrig suchend fand Bischoff zehn Handschriften desselben. Es
— 15 —
war bis dahin fast ganz unbeachtet geblieben, und wurde weder in
älteren noch in neueren Schriften über Geschichte und Recht in Steier-
mark irgendwie erwähnt. Es stammt aus der zweiten Hälfte des XIV. Jahr-
hunderts und ist eine für die Kunde des bayerisch - österreichischen
Rechts im Mittelalter überhaupt, sowie insbesondere für die Geschichte
der Standes- und Rechtsverhältnisse der ritterlichen Klassen in Steier-
mark sehr beachtenswerte interessante Quelle.
Von noch höherem Werte für die steiermärkische Geschichts-
forschung ist die durch den historischen Verein mit Förderung des
Unterrichtsministeriums, des steiermärkischen Landtages und der
ersten steiermärkischen Sparkassa erfolgte Herausgabe des Urkundef^
buches des Herzogtums Steiermark, bearbeitet von J. v. Zahn (3 Bände,
1875, 1879, 1903). Die drei Bände enthalten die Texte von
1556 Urkunden, deren älteste von 798 ist, und reichen vorläufig bis
1260. Die Ausgabe befriedigt in jeder Hinsicht: die Datierungen, die
Regesten vor dem Wortlaute der Urkunden, die Lesung und Wieder-
gabe derselben entsprechen ganz dem Stande der Wissenschaft, die
Register sind mit grofser Sachkenntnis und aufserordentlicher Mühe
bearbeitet und können ihrer Vollständigkeit und Genauigkeit wegen als
vorbildlich bezeichnet werden. Das baldigste Erscheinen des vierten
Bandes mufs jedem, der in steirischer Geschichte des Mittelalters
arbeitet, dringend erwünscht sein, da damit wenigstens das ganze Ur-
kundenmaterial bis zum Beginne der Habsburgerzeit vorliegen wird.
Wer unbefangen diese Fülle von Publikationen überblickt und
wer etwas näher in ihren Inhalt eingeht, wird zugestehen, dafs der
Historische Verein für Steiermark in dem Zeiträume seines
Bestandes, von 1850 bis 1906, also in 56 Jahren quantitativ und quali-
tativ Bedeutendes geleistet hat und dafs wir heutzutage über die Ge-
schichte dieses Landes — und damit auch über einen nicht zu unter-
schätzenden Teil des deutschen Sprachgebiets und Österreichs — in
wesentlich weiterem Umfange, aber vor allem tiefer unterrichtet sind,
als vor einem halben Jahrhundert.
II.
Es mag im Jahre 1890 oder 1891 gewesen sein, dals der damalige
Landeshauptmann von Steiermark, Reichsgraf Gundaker von
Wurmbrand-Stuppach, sich gegenüber dem Joanneumsbiblio-
thekar, Prof. V. Zwiedi neck- Südenhorst, dahin äufserte, da(s die
innere Geschichte der Steiermark, insbesondere die Verfassungs- und
Verwaltungsverhältnisse noch viel zu wenig durchforscht und bearbeitet
— 16 —
seien, und die Frage aufwarf, wie etwa diese Lücke auszufüllen seL
Prof. V. Zwiedineck schlug dem Landeshauptmann die Gründung einer
mit ausreichenden Geldmitteln auszustattenden Historischen Lan-
deskommission vor. Wurmbrand ging rasch auf diese Idee ein
und erwirkte, da(s der steiermärkische Landtag schon in der Frühjahrs-
session dem Landesausschusse die Ermächtigung erteilte, eine Histo-
rische Landeskommission zu berufen, „durch welche die Ge-
schichte des Landtages und der Stände, die Entstehung
und Entwicklung der landesfürstlichen Regierung, der
Gesetzgebung und des Verordnungswesens, die Ge-
schichte der Verwaltung durch städtische und grund-
herrliche, weltliche und geistliche Obrigkeiten, der
kirchlichen und konfessionellen Verhältnisse, der Ko-
lonisation, der Produktion, des Handels und Verkehrs
behandelt werden soll." Wurmbrand erwirkte weiter, dafe der
Landtag dieser Landeskommission einen jährlichen Beitrag von 2000 Fl.
(4000 K.) zur Verfugung stellte.
So kam diese Institution rasch zustande; der Landesausschufs
berief ihre Mitglieder, und schon am 11. Juni 1892 hielt sie ihre kon-
stituierende Sitzung. Kraft eines ihrer ersten Beschlüsse wandte sie
sich an die Familien des steirischen Hochadels und forderte sie mit
Rücksicht darauf, dalGs auch Familiengeschichten der steirischen Adels-
geschlechter gearbeitet und publiziert werden sollen, zur Beitrags-
leistung auf Die meisten dieser Familien entsprachen diesem Wunsche,
so dafs der dadurch zustande gekommene sogenannte „Adelsfonds"
schon 1903 mehr als 15CXX:) K. betrug.
Aber auch die wissenschaftliche Tätigkeit der Landeskommission
entwickelte sich bald in sehr erfreulicher Weise *). In den 14 Jahren
ihres Bestehens hat sie 6 Bände Forschungen Bur Verfasaungs- und
VenoaUungsgeschichte der Steierfnarh und 21 Hefte Veröffentlichungen
herausgegeben. In ersteren sind folgende Werke enthalten. Den ersten
Band bildet: Verfassung und VenmUung der Mark und des Hersog-
iums Steier von ihren Anfängen bis zur Herrschaft der Habsburger
von Krön es (Graz 1897). Diese Veröffentlichung stellt nun zwar
keine vollständige Geschichte der Verfassung und Verwaltung der
Steiermark bis 1283 dar, enthält aber eine Reihe ineinandei^reifender,
in streng sachlichem Zusammenhange miteinander stehender For-
i) Im einzelnen ist darüber in dieser Zeitschrift früher die Rede gewesen; Tgl.
L Bd., S. 27 und VI. Bd., S. 136—137.
— 17 —
schungen zur Verfassung und Verwaltung der Mark und des Herzog-
tums Steier von deren Gründung bis zur Ankunft der Habsburger.
In dem ersten Teile des zweiten Bandes Die Orafen von AUems,
Freiherren von HeüigenhreuB in ihrem Wirken in und fiir Steiennark
von Ilwof (Graz 1896) wird der Ursprung und das Emporkommen
des Geschlechtes der Attems in Friaul, die Verbreitung seiner Glieder
über Görz, Krain und endlich nach Steiermark (1582) erörtert und
ihre Bedeutung für dieses Land dargestellt; auch sind darin ausführ-
liche Biographien des Grafen Ferdinand und seines Sohnes Ignaz ent-
halten, welche beide ungemein verdienstvoll 1801 — 1821 und 1821
bis 1852 als Landeshauptleute in Steiermark wirkten. — Der HuU
digungsstreU nach dem Tode ErzherBog Karls IL 1590 — 1592 von
Loserth ist ebenfalls noch im zweiten Bande enthalten (Graz 1898).
Als nach dem Tode Erzherzog Karls IL von Kaiser Rudolf IL für den
minderjährigen Sohn Karls, Erzherzog Ferdinand, dessen Oheim Erz-
herzog Ernst zum Administrator von Steiermark, Kärnten und Krain
bestellt worden war, erhofften die evangelischen Stände eine Wieder-
herstellung der von Karl 1578 gewährten, später jedoch verkümmerten
Konzessionen in Religionssachen. Obwohl sich die Wünsche der
Stände teilweise erfüllten, vollzog sich doch wenige Jahre danach die
vollkommen durchgreifende Gegenreformation durch Elrzherzog Ferdi-
nand. — Der dritte Band ist einer Arbeit über das Landeswappen
gewidmet, aber Das Landeswappen der Steiermark von Anthony
V. Siegen feld (Mit 41 Textillustrationen und 51 Tafeln in Mappe.
Graz 1900) bietet wesentlich mehr als der Titel besagt. Die Entstehung
der Landeswappen, die Entwicklungsgeschichte des heraldischen Pan-
thers und Geschichte des Wappens der Steiermark im Rahmen der
bajuvarisch - karantanischen Panthergruppe wird darin dargestellt ;
das Buch ist überaus reich an neuen Ergebnissen auch hin-
sichtlich anscheinend abliegender Gegenstände und nicht min-
der an Anregungen zu weiterer Forschung. Wichtig ist es nicht
nur für die Heraldik, sondern auch für die Geschichte der inner-
österreichischen Länder und selbst für weitere Gebiete. — Im vierten
Bande, Landesfürsi, Behörden und Stände des Herzogtums Steier 1283
bis 1411 (Graz 1900) von Krones, ist die Fortsetzung des oben an
erster Stelle genannten Werkes enthalten, jedoch in etwas engerem
Sinne, indem nicht das ganze Gebiet der Verfassung und Verwaltung
berücksichtigt wird, sondern nur die Verhältnisse der Landesherrschaft
und des Ständewesens untersucht und dargestellt werden. — Den
zweiten Teil des vierten Bandes füllt Der provisorische Landtag des
2
— 18 —
Herzogtums Steiermark im Jahre 1848 von Ilwof (Graz 1901). Dieser
Landtag ist die erste nach modernen Grundsätzen, durch gewählte Ver-
treter der einzelnen Volksklassen zusammengesetzte politische Re-
präsentation der Steiermark ; er beriet die Gemeindeordnung, die Ab-
lösung der Grundlasten und die künftige Organisation des steiermär-
kischen Landtags, und ist als der Übergang vom mittelalterlichen
Stände wesen zu der seit 1861 bestehenden Interessenvertretung im
Landtage zu betrachten. Den fünften Band eröffnen Die Anfänge
der Bauernbefreiung in Steiermark unier Maria Theresia und Jo-
seph II. von Meli (Graz 1901), ein wertvoller Beitrag zur Geschichte
der materiellen Kultur, sowie zu der der Verfassung und Verwaltung der
Steiermark. — Sahburg und Steiermark im letsien Viertel des XVL
Jahrhunderts. Briefe und Akten aus der Korrespondenz der Ere-
bischöfe Johann Jakob und Wolf Dietrich von Sahburg mit den Seckauer
Bischöfen Georg IV. Ägricola und Martin Brenner und dem Viee^
domamte Leibnih, herausgegeben von J. Loserth (Graz 1905) bildet
eine schätzbare Bereicherung des Quellenstoffes für die Länder Salz-
burg und Steier am Ende des XVI. Jahrhunderts und die von dem-
selben veröffentlichten Genealogischen Studien zur Geschichte des
steirischen üradds. Das Haus Stubenberg bis jsur Begründung der
Häbsburgischen Herrschaft in Steiermark (Graz 1905) einen wichtigen
Beitrag zur Geschichte des steirischen Adels. — Die jüngste Ver-
öffentlichung endlich. Die Innerberger Hauptgewerkschaft 1625 — 1783
von Pantz (Graz 1906) ist bei der aufiserordentlichen Wichtigkeit der
Gewinnung und Verarbeitung des Eisens in und für Steiermark be-
sonders willkommen zu heifsen.
Neben den Forschungen gibt die historische Landeskommission
Veröffentlichungen heraus, von denen bisher 2 1 Hefte erschienen sind.
Da diese nicht blofs in Sonderausgaben, sondern auch in den vom
Historischen Verein für Steiermark herausgegeben Beiträgen zur Kunde
steiermärkischer GeschichtsgueUen enthalten sind, so wurde der in diesen
VeröffenÜichungen enthaltenen Arbeiten schon oben bei Besprechung der
Beiträge mehr oder minder ausführlich gedacht. Es mufs in diesem
Zusammenhange nur ausführlich darauf hingewiesen werden, da&
durch die in dieser Reihe enthaltenen Arbeiten eine grofise Fülle neuer
Quellen durch Erschliefsung bisher wenig benutzter Archive zugäng-
lich gemacht worden ist. Die Landeskommission hat die allent-
halben geforderte und in manchen Landschaften erheblich geförderte
Inventarisierung der sogenannten „kleinen Archive*' damit begonnen,
dafs sie für die bedeutendsten der Adelsarchive Inventare veröfifent-
— 19 —
licht hat. Es Hegen bis jetzt mehr oder weniger ausführliche Verzeich-
nisse der Akten vor vom reichsgräflich Wurmbrandschen Archiv zu
Steyersberg, von den fürstlich Wittingauschen Archiven in Wittingau
und in Krumau und vom gräflich Lambergschen Familienarchiv zu
Feistritz bei Jlz ^).
Mitteilungen
GesehiehtUche Bibliographie. — Für die Vertreter aller Wissen-
schaften bleibt die Vertrautheit mit dem, was früher imd von anderer Seite
über irgend einen Gegenstand geschrieben worden ist, eines der unerläfs-
lichsten Erfordemisse, und die Zahl imd Reichhaltigkeit der Hilfsmittel, die
einer raschen Unterweisung in dieser Hinsicht dienen, wird man sogar als
Mafsstab fUr die Entwicklung einer Wissenschaft betrachten dürfen. Für die
Geschichtswissenschaft, wie sie heute betrieben wird, ist ein vollständiger
Literaturnachweis d. h. ein solcher, der alle seitens der Forscher gelegentlich
in Betracht zu ziehenden Bücher enthält, schlechterdings unmöglich, weil
grundsätzlich jedes Buch, das je gedruckt worden ist, aufgenommen werden
müfste. Aber ein solcher Literaturnachweis wäre auch unzweckmäßig , weil
er dem praktischen Bedürfnis der Mehrzahl der Benutzer nicht entsprechen
würde. Eine geschichtliche Bibliographie wird vielmehr erstens sich auf
diejenigen Literaturerzeugnisse beschränken, die nach dem gegenwärtigen
Stande und Betriebe der Wissenschaft als geschichtliche Quellen und Be-
arbeitungen geschichtlichen Stoffes in Frage kommen, und wird zweitens
innerhalb dieses überreichen Stoffes notwendigerweise eine kritische Auslese
Tomehmen müssen.
Diese beiden Grundsätze dürften ganz allgemein Anerkennung finden,
soweit es sich um allgemeingeschichtliche Literatur handelt; für die
Bibliographie besonderer Gebiete, seien dies nun kleinere Bezirke oder engere
Forschungsgebiete, bleibt im Gegensatz dazu die absolute Vollständigkeit
das schwer erreichbare Ideal, und von diesem Gesichtspunkte aus haben
beide Arten der Bibliographie nicht nur ihre Berechtigung, sondern sind
sogar dazu berufen, sich gegenseitig zu ergänzen. Der Landes-
geschichtlichen Bibliographie ist früher einmal in dieser Zeitschrift *) eiue
Besprechung gewidmet worden, die allerdings entsprechend den Fortschritten
der letzten Jahre einer Ergänzung bedarf, imd deshalb soll hier nur von
allgemeinges chichtlichen bibliographischen Hilfsmitteln die
Rede sein.
Wer sich über einen beliebigen geschichtlichen Gegenstand eingehender
und zuverlässig unterrichten will, wird unter allen Umständen zu der
i) Der Schluis des Aufsatzes, der den dritten Teil, die selbständig erschienenen
Arbeiten zur Geschichte der Steiermark, enthält, wird ioi nächsten Hefte veröffentHcht.
2) Vgl. 3. Bd., S. 178—182.
2*
— 20 —
Spezialliteratur greifen müssen und sich nicht mit den Angaben in
allgemeinen Darstellungen oder Nachschlagewerken begnügen dürfen, denn
diese können ihrer Natur nach auf die fÜnzelheiten nicht so eingehen, wie
es nötig ist, wenn sich der Leser ein selbständiges Urteil über besondere
Fragen verschafifen will. Es ist aber durchaus nicht immer leicht zu sagen,
in welchem Buche eingehende Mitteilungen über einen bestinunten Gegen-
stand zu finden sind, zumal da oft Bücher in Betracht kommen, deren Titel
nicht im entferntesten vermuten lassen, dals das Gesuchte darin steht. Den
besten Erfolg verspricht in solchen Fällen das Nachschlagen eines lexikalisch
angeordneten Werkes mit bibliographischen Nachweisen bei jedem Artikel;
denn da ist es möglich, rasch hintereinander von zehn und mehr Artikeln Kennt-
nis zu nehmen, die inhaltlich zueinander in Beziehung stehen, tmd überdies
werden die einzelnen Beiträge oft von verschiedenen Verfassern mit verschiedener
Literaturkenntnis herrühren. Als solche lexikalische Werke kommen für den
Geschichtsforscher vornehmlich in Betracht: Die Allgemeine Deutsche Biographie
(Leipzig 1875 fif.; gegenwärtig sind die Nachträge, die bis 1899 bearbeitet
werden, in 6 Bänden bis Li gediehen), für die letzten Jahrhunderte die Enzyklopädie
der Neueren Geschichte (Gotha 1881 — 1890, 5 Bde.), begründet von Wilhelm
Herbst'), das Handwörterbuch der Staatswissenschaften (2. Aufl. Jena
1898 — 1901, 7 Bde.), die Bedleneyldopädie für protestantische Theologie und
Kirche (3. Aufl. Leipzig 1896 ff.) und das Kirchenlexikon oder Enzyklopädie der
Jcatholischen Theologie und ihrer Hiäfswissenschaften (2. Aufl. Freiburg i. B.
1882 — 1901, 12 Bde.). Da aber die genannten enzyklopädischen Werke,
die im Lesesaal jeder Bibliothek stehen sollten, naturgemäfs nur in gröfseren
Zeiträumen neu bearbeitet werden können, so fehlt in ihnen die jüngste
Literatur, und deswegen wird es immer notwendig sein, als Ergänzung
Meyers Konversationslexikon, dessen 6. Auflage 1902 zu erscheinen begonnen
hat und gegenwärtig bis zum 14. Bande vorliegt, heranzuziehen; denn dieses
verbreitetste aller allgemeinen belehienden Handwörterbücher stellt zugleich
die gröfste sachlich geordnete Gesamtbibliographie dar, die es gibt, nicht
nur für das Gebiet der Geschichte, sondern auch für alle anderen Wissens-
zweige, tmd gerade in der Anführung der neuesten Errungenschaften und
der neuesten Literatur liegt seine Stärke.
In den angeführten Enzyklopädien bildet die Bibliographie jedoch
immer nur eine Zugabe zu den Artikeln selbst, und die Gestaltung ist im
einzelnen von Zufälligkeiten bestimmt; ihre Benutzung lehrt vornehmlich bei
abliegenden Gegenständen, wo etwas näheres darüber zu finden ist: sie
erschliefst eine Literaturgattung. Die besonderen auf systematischer
Arbeit beruhenden bibliographischen Werke werden dadurch keines-
wegs entbehrlich, sondern ihr Gebrauch wird vielmehr dadurch erleichtert,
insofern ein zufallig nachgewiesenes Buch dort inmitten der Literatur er-
scheint, zu der es gehört, so dafs der Benutzer ntm eine sorgfältige Auswahl
derjenigen Literatur vor sich hat, die für seine besonderen Zwecke in Be-
tracht kommt.
i) Das ganze Werk wird jetzt za dem billigen Preise von Mk. 16
abgegeben! Eine Neuauflage dieses eigenartigen, längst noch nicht genügend
gewürdigten and benutzten Nachschlagewerks würde einem Tielseitig empfundenen Be-
dürfnisse entsprechen.
— 21 —
Für die Gestaltung der Hilfsmittel, die jeder Geschichtsforscher, mag
er sich beschäftigen, mit was er will, dauernd zu Rate ziehen mufs, ist die
übliche Unterscheidung von Quellen und Literatur mafsgebend geworden,
weil für das Mittelalter beide meist getrennt behandelt werden, während für
die neuere Zeit eine solche Trennung praktisch kaum durchführbar ist und
deshalb auch keine Anwendung gefunden hat. Die Kenntnis der mittel-
alterlichen QueUen vermitteln am besten Oesterley, Wegweiser durch die
Liieratur der UrkundensamnUungen (Berlin 1885 — SS, 2 Teile) imd
Potthast, Bibliotheca historica medii aevi, Wegweiser durch die GeschichU*
werke des europäischen Mittelalters (2. Aufl. Berlin 1896, 2 Bde.), während
sich kritisch mit den mittelalterlichen Geschichtschreibem Wattenbach,
Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter bis eur Mitte des XIIL Jahr-
hunderts (Bd. I in 7. Aufl. Berlin 1904, Bd. 2 in 6. Aufl. das. 1894),
Lorenz, Deutschlands GeschichtsqueUen im Mittelalter seit der Mitte des
XIIL Jahrhunderts (2. Aufl. Berlin 1886—87, 2 Bde.), Vildhaut,
Ha/ndtmch der QueUei^Dunde Mur deutschen Geschichte (Bd. i Werl 1906
in 3. Aufl. Bd. 2 das. 1900) und Jacob, Quellenkunde der deutschen
Geschichte (i. Bd. Leipzig 1906, Sanmilung Göschen) beschäftigen.
Namentlich das zuletzt genannte Werk, das auf zwei Bändchen berechnet ist
und das im ersten die Quellen bis zum Ende des XIV. Jahrhunderts be-
bandelt, wird in Anbetracht des billigen Preises (1,60 Mk. für beide Bändchen)
tmd des bei dem geringen Umfang überraschend reichen Inhalts vermutlich
allgemein Anklang finden. Für den Studierenden der Geschichte wird es
ganz tmentbehrlich sein, und jeder, der sich mit mittelalterlicher Geschichte
beschäftigt, wird es mit Nutzen lesen, da zugleich der Geist des Mittelalters
hier zu seinem Rechte kommt.
Die Literatur zur ganzen deutschen Geschichte läfst sich, wie schon
oben angedeutet wurde, überhaupt nur in einer Auswahl bibliographisch
behandeln, und das Ziel, welches bei einer solchen Arbeit verfolgt wird,
mufs naturgemäfs für ihre Gestaltung mafsgebend werden. Für den Studierenden
und den Lehrer, der nicht selbständig arbeiten, sondern sich nur über die
wichtigste Literatur unterrichten will, hat Viktor Loewe ein Handbuch ge-
liefert, das jedenfalls einem Bedürfnis entsprochen hat, da es seit 1900
bereits in drei Auflagen vorliegt. Als Kritischer Wegweiser durch die
neuere deutsche historische Literatur (Berlin 1900) hat es der Verfasser
unter dem Pseudonym F. Förster zuerst erscheinen lassen. Mit dem Ober-
titel Bücherkunde der deutschen Geschichte (Berlin 1903; 120 Seiten,
Mk. 3) und unter dem richtigen Namen des Verfassers wurde die zweite
Ausgabe veröflfentlicht, und jetzt liegt davon schon die zweite vermehrte und ver-
besserte Auflage (Berlin 1905 ; 13 1 Seiten), vor. In Anbetracht des Zweckes sind
die kurzen kritischen Bemerkungen, die eine Vorstellung vom Inhalte^ der
Bücher geben und auch Werturteile fällen, durchaus zweckmäfsig, wenn auch
die Fassung nicht immer gerade als glücklich bezeichnet werden kann. Für
weitere Kreise ist Loewes Bücherkunde ganz zweifellos wertvoll, und es ist
ihr eine Einbürgerung namendich bei den Lehrern sehr zu wünschen. Für
den wissenschafi^chen Arbeiter jedoch kommt sie nicht in Betracht, da
dieser jetzt über eine grofse Bibliographie verfügt, die tatsächlich leistet, was
billig von einem solchen Werke verlangt werden kann : DalUmann - Waitg,
— 22 —
Quellenkunde der deutschen Geschichte, unter Mitwirkung von P. Herre,
B. Hilliger, H. B. Meyer, R. Scholz herausgegeben von Erich Branden-
burg. 7. Auflage. (Leipzig, Dieterichsche Verlagsbuchhandlung, Theodor
Weicher, 1906. 1020 S. 8^, Preis geheftet 16 Mk., gebunden 18 Mk.)
Als Dahlmann zuerst die Quellenkunde der deutschen Geschichte
(Göttingen 1830) veröfFenÜichte , da war es ein dünnes Büchlein, welches
den Schülern des gesuchten Geschichtslehrers die wichtigsten Quellen und
Darstellungen namhaft machen sollte. Namentlich unter Waitz, der die
dritte bis fUnfte Auflage (1869, 1874, 1883) besorgte, ist der Inhalt des
Buches immer mehr erweitert worden, so dafs sich zugleich Anlage und Zweck
wesentiich veränderten. Und die Veränderungen, welche die jetzt vorliegende
siebente Auflage gegenüber der sechsten von Steindorff besorgten
(Göttingen 1894) aufweist, bedeuten eine den wissenschaftlichen Bedürfnissen
der Gegenwart entsprechende Umgestaltung des alten Werkes, das nunmehr
erst den praktischen Anforderungen der Geschichtsforscher, aber auch denen der
Bibliothekare usw. in hohem Grade genügen dürfte. Äufserlich ist der Um&ng
von 730 auf 1020 Seiten gewachsen, aber gleichzeitig ist das Format wesentlich
gröfser und der Druck bedeutend enger geworden. Die blofse Angabe,
dafs die Zahl der fortlaufenden Nummern von 6550 auf 10382 gestiegen
ist, erweckt deswegen noch nicht die richtige Vorstellung, weil gleichzeitig
in viel gröfserem Umfange als bisher unter einer Nummer mehrere, ja bis-
weilen mehr als zehn Buchtitel (z. B. 5258 oder 8365) aufgeführt sind.
Deshalb bedeutet die neue Ausgabe mehr als eine Verdoppelung des
Inhalts der sechsten Auflage, während der Preis nur um ein Viertel gegen-
über jener gestiegen ist. Ein grofser Vorzug der neuen Auflage ist es, dafs
die Zeitschriftenaufsätze in wesentlich gröfserem Umfange als früher
herangezogen worden sind.
Die Gesamtanprdnung des Stoffes ist im wesentlichen dieselbe geblieben
wie früher, aber im einzelnen sind die Abteilungen besser gegliedert. Das
9 Seiten umfassende Inhaltsverzeichnis gestattet sofort einen Überblick und
ermöglicht auch, rasch die Stelle zu finden, wo die Literatur über ein
gröfseres Gebiet steht. Die Einrichtung eines solchen Nachschlagewerkes
wird stets Schwierigkeiten verursachen, aber wie man auch verfahren würde,
Mängel würden sich immer herausstellen, und deshalb war es ganz gewifs am
besten, wenn die alte Ordnung im wesentlichen beibehalten wurde. Die
Hauptsache ist die Möglichkeit, rasch das Gesuchte zu finden, und
diese ist gegenüber früher wesentlich erhöht worden erstens durch die
ausführlichere Gestaltung des Inhaltsverzeichnisses, zweitens dadurch, dafs
am Rande die Untertitel der Abteilungen zu finden sind und zwar die im
Inhaltsverzeichnis stehenden in Fettdruck und aufserdem noch weitere Unter«
abteilungen in Petitdruck, drittens aber auch durch das Register. Das
letztere hätte aber vielleicht noch praktischer gestaltet werden können, sei
es durch Anfügung eines besonderen Sachregisters, sei es durch Ein-
reihung der m. £. darin unterzubringenden Stichworte in das Ver^isser-
register. Dabei denke ich an Stichworte wie Juden, Landstände, Theater,
Türkensteuer, Zeitungswesen usw. und Anführung aller dafür in Betracht
kommenden Nummern. Wie wichtig ein solches Register wäre, mag ein
Beispiel zeigen. Die Rubrik Juden findet sich im Inhaltsverzeichnis nicht,
— 83 -^
weil die einschlägige Literatur unter der Abteilung Bevölkerung S. 113 bis
114 verzeichnet steht Diese Stelle (Nr. 1595 — 1604) ist aber nicht ganz
leicht zu finden. Habe ich sie, so fehlt mir inuner noch ein Hinweis auf
Nr. 510I9 welche die Literatur über Judensteuem aufführt; ein Verweis fehlt
hier und war tatsächlich nicht gut anzubringen, da natürlich S. 114 viel
früher gedruckt worden ist als S. 406. Bei Nr. 1604 ist allerdings Vgl.
Nr. zu lesen, aber die Zahl ist nicht ausgefüllt. Vidleicht ist gerade an
Nr. 5101 gedacht worden, aber es gibt wahrscheinlich auch noch manche
andere Nummer, in der über Verhältnisse der Juden etwas zu finden ist,
und die der Suchende so nicht ermittebi kann. Ein Sachregister mit den
entsprechenden Hinweisen würde da sehr förderlich sein und würde aufser«
dem die sehr löblichen Verweise auf andere Nummern, die natui^emäfs
immer lückenhaft sein müssen, weil die Heranziehung späterer Stellen so
gut wie ausgeschlossen ist, entbehrlich machen tmd so die Bearbeiter
wesentlich entlasten. Es kommen aber auch noch andere Stichworte in
Betracht, die gerade für die Benutzer aus dem Kreise der landesgeschichtlichen
Forscher von Bedeutung sind; ganz entschieden wäre es vielfach von recht
grofsem Wert, wenn man sofort im Register sehen könnte, wo Literatur
über Bayern zu finden ist, so dafs z. B. eine Verbindung zwischen
Nr. 4825 fif. und Nr. 6246 hergestellt würde, die jetzt fehlt. Nicht anders
als bei den Ländern, Staaten und Landschaften steht es mit den Städten.
Wie zweckmäfsig wäre es, wenn z. B. die gesamte Literatur, die über Köln
bandelt, im Register zusammengestellt wäre! Aber es gibt auch Orte, für
die man kaum etwas zu finden vermag, wenn man nicht schon ziemlich gut
Bescheid weifs: es ist z. B. für R Ott weil in Nr. 651 das Urkundenbuch
und in Nr. 4985 das Stadtrecht au%eführt ohne dafs die beiden auf den-
selben Ort bezüglichen Publikationen zueinander in Beziehung gesetzt wären.
Wäre da nicht ein Register, das diese Dinge zusanmxenfafst, höchst wertvoll?
Ja man wird unbedenklich behaupten dürfen, dafs eine Benutzung des Buches
sofort für viel weitere Kreise dadurch möglich würde.
Wie im Vortoort ausgeführt wird, soll zu Anfang des Jahres 1907 ein
Supplementheft erscheinen, welches für alle Abschnitte die angefilhrte
Literatur auf eine einheitliche Zeitgrenze bringen soll, nämlich den Schlufs
des Jahres 1906. Auch Ergänzungen und Berichtigungen werden darin
enthalten sein. Vielleicht entschliefst sich der Verleger auch noch zu einem
Sachregister in dem Sinne, wie es eben verlangt wurde; die Gelegenheit
dazu, ein solches zu bieten, ist jedenfisdls vorhanden!
Eine Kritik im gewöhnlichen Sinne gegenüber einem Buche wie dem
vorliegenden ist nicht angebracht, denn die Aufgabe war für die Bearbeiter
so grofs und schwierig, dafs gegenüber dem Danke dafür, dafs das Buch
überhaupt geschaffen wurde, jeder W*unsch des einzelnen Benutzers, der
vielleicht imerfüllt geblieben ist, verstummen mufs. Da aber die absolute
Genauigkeit der Angaben eine grofse Bedeutung hat und sich die Gelegen-
heit zur Veröffentlichung einzelner Berichtigungen alsbald bietet, so sollen
einige Kleinigkeiten, die mir au^efiaUen sind, Erwähnung finden, wie solche
auch V. Below in seiner Anzeige in der VieritHjakrschrift für SoBtalr tmd
WirtschaftageschichU 4. Bd. (1906), S. 394—396 zusammengestellt hat.
Von Nr. 246 sbd auch die den ersten Band bildenden 4 Hefte als
— 24 —
Beihefte zu den Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein
erschienen und zu einem Ergänzungsband I zusammengefiedst worden. Auch
der zweite Band, vollendet von Krudewig, ist bereits 1904 erschienen.
Und es liegt auch schon das achte Beiheft (1905) vor. — Von Nr. 397
ist die dritte (nicht die zweite) Auflage 1897 erschienen. — In Nr. 523
durften nach Qeschichtsquelkn die Worte im Mittelalter nicht weggelassen
werden, schon wegen des Parallelismus zu Nr. 522 und zugleich um die
£EÜsche Vorstellung zu vermeiden, als ob auch die nachmittelalterlichen
Quellen mitbehandelt seien. Übrigens sollte jetzt das oben genannte
zweibändige Buch von Vildhaut nicht unerwähnt bleiben. — Nr. 1034
fehlt im Register sowohl unter dem Titel als auch unter dem Namen des
Herausgebers. — In Nr. 1604 ist B rann zu lesen statt Braun. — In
Nr. 1970 muis es bei Bobbe genau heifsen: Mitteilungen des Vereins fü/r
AnhaUische Geschichte und Altertumskunde; ebenda in der vorletzten Zeile:
Gebiet statt Gebieten. — Die Übersetzung von Nr. 5368 ist bereits 1885 in
Gera erschienen.
Aber auch zwei grundsätzliche Bemerkungen möchte ich nicht tmterlassen.
So wichtig die Reichhaltigkeit der Angaben ist und so wenig an sich der
Benutzer Grund hat, sich über ein zu viel zu beschweren, so glaube ich doch
in Anbetracht des Umstandes, dafs der grofse Umfang des Werkes auch
eine beträchtliche Gefahr in sich birgt, nicht mit dem Urteil zurückhalten
zu sollen, dafs manches Buch getrost hätte fehlen können. Dabei denke
ich weniger an ältere Arbeiten, die durch neuere teilweise überholt sind,
ab vielmehr an solche, die inhaltlich zu unbedeutend sind und zu viel
Falsches und Schiefes bieten, um mit Vorteil benutzt werden zu können:
dahin rechne ich z. B. die beiden Arbeiten von Nübling Nr. 1818 und
4565, während Nr. 1599 und 5226 brauchbare Arbeiten desselben Ver-
fassers sind; Nr. 8090 kenne ich nicht. Ganz ähnlich steht es mit
Nr. 5744; wird die Arbeit von Macco überhaupt genannt, dann mufs un-
bedingt die Gegenschrift von Fey, Zur Geschichte Aachens im 16. Jahr^
hundert (Aachen 1905) auch angeführt werden. Eine voUständige Biblio-
graphie aller örtlichen Arbeiten über die Reformation konnte und sollte hier
nicht gegeben werden, und deswegen konnte auch Maccos herzlich un-
bedeutendes Schriftchen sehr wohl imgenannt bleiben, und vielleicht ebenso
noch manches andre. Recht zweckmäisig ist aber die kurze Notiz vor
Nr. 5722, in der jetzt auch der Aufsatz von Ro t h : Zur neueren refor-
mationsgeschichtlichen Literatur Süd- und Mittddeutschlands in dieser
Zeitschrift 7. Bd., S. 155 — 185, mit angeführt werden sollte. Wenn
aber derarUge Spezialbibliographieen für einzelne sachliche Gebiete vorhanden
sind, und auf sie hingewiesen wird, dann wird der Bearbeiter eine strenge
Sichtung vornehmen und nur wirklich bedeutende Arbeiten verzeichnen dürfen.
Gerade mit Rücksicht auf die Spezialbibliographie scheint mir
jedoch nicht genügend Vollständiges geboten zu werden, denn ähnlich wie
an der eben erwähnten Stelle (vor Nr. 5722) hätte an recht vielen anderen
Stellen ebenfalls verfahren werden können. So hätte z. B. vor Nr. 1595
die Bibliographie zur Geschichte der Juden, die sich nach Land-
schaften und Arten gegliedert, bearbeitet von Klaus, in dieser Zeitschrift
2. Bd., S. 289 — 292 findet, erwähnt werden sollen. Demjenigen, der auf
— 25 —
diesem Gebiete ins einzelne gehen will, wäre damit gewifs am besten ge-
dient gewesen. Ebenso hätte vor Nr. 2204 bei der ersten Erwähnung
theatergeschichtlicher Arbeiten auf die einschlägige Bibliographie von Gaehde
in demselben 2. Bande dieser Zeitschrift, S. 159 — 164 hingewiesen werden
sollen. In der mit Nr. 4980 beginnenden Abteilung hätten die Stadt-
rechnungen vielleicht in einer einzigen Nummer abgetan werden können,
wenn auf meinen Aufsatz in dieser Zeitschrift i. Bd., S. 65 — 75, hin-
gewiesen und nur das seitdem neu erschienene ergänzend hinzugefügt worden
wäre. Auf die entsprechende Zusanmienstellung Stiedas (Nr. 1585) hat
bereits v. Below aufinerksam gemacht. Bei den Verzeichnissen der Kunst-
denkmäler (Nr. 914) ist der entsprechende Weg beschritten worden, ebenso
bei Nr. 5165, wo nur irgendwie hätte angedeutet werden sollen, dais der
Au&atz von Käser zu einem grofsen Teile bibliographischer Natur ist.
Bei Nr. 895 — 896 hätte auf NeUes Literaturzusammenstellung über die
Kirchenlieder in dieser Zeitschrift 6. Bd., S. 305 — 311, hingewiesen
werden können.
Ähnliche Bibliographien engerer Gebiete finden sich in der Literatur
natürlich mannigfach, tmd diese aufzuspüren und am geeigneten Orte zu
verzeichnen, eventuell durch ein bestimmtes Zeichen kenntlich zu machen,
wäre ein grofses Verdienst gewesen. Vor allem aber hätte die Bibliographie
der Bibliographien über einzelne Landschaften (Nr. 936 ff.) wasentlich aus-
führUcher gestaltet werden müssen. Z. B. vermisse ich hier ungern die
BMiotheca Lippickca von Weerth tmd Anemüller (Detmold 1886) und
recht viele andere ähnliche Bücher, auch für emzelne Städte ^), da der femer
Stehende von sich aus nur sehr schwer von ihrer Existenz etwas erfährt
tmd sich seine Arbeit doch oft recht erleichtem kann, wenn er sie benutzt.
Diese Bemerktmgen sollen nicht in erster Linie Wtinsche eines Benutzers
mitteilen, der den Däfümann-Waite täglich zu Rate zieht, sondern sie sollen
vor allem einen Weg andeuten, der eine Bewältigung der immer unüberseh-
barer werdenden Literatur ermöglicht: Ausbau der Spezialbiblio-
graphie nach räumlichen und sachlichen Gesichtspunkten
und Zusammenfassung dieser besonderen Arbeiten in Ver-
bindung mit der bedeutendsten Literatur im Dahlmann-
Waitz, für den äufserlich wohl der jetzige Umfang als das
äufserste Zulässige bezeichnet werden mufs. Das Verdienstliche
dieses Werkes in seiner jetzigen Gestalt soll durch diese Ausstellungen
gnmdsätzlicher Natur nicht im geringsten beeinträchtigt werden. Der Fort-
schritt gegenüber der 6. Auflage ist ganz bedeutend, und es ist tatsächlich
ein Buch geschafifen worden, welches die gröfste Verbreitimg verdient,
nicht nur unter den Geschichtsforschem von Beruf, sondem vor allem auch
tmter der Lehrerschaft aller Grade imd tmter den tätigen Mitgliedem der
Geschichtsvereine. Gerade derjenige, welcher fem vom grofsen Verkehr
wohnt und keine gröfsere Bibliothek zur Benutztmg hat, braucht diese Quellen-
kunde notwendig, weil sie ihm erst die Möglichkeit gewährt, sich die einschlägigen
Bücher von auswärts kommen zu lassen oder bei kurzem Aufenthalt in
I) So gibt es z. B. einen Katalog der Druckschriften über die Stadt Breslau,
herausgegeben von der Verwaltang der Stadtbibliothek (Breslau 1903, 509 S. 8^).
— 26 —
einer gröfseren Bibliothek mit Erfolg zu aibeiten. ! Wichtig ist das nene
Hilfsmittel aber auch insofern, als jeder geschichtlich Arbeitende dadurch in
die Lage versetzt ist, die Buchtitel genau und richtig zu zitieren,
auch wenn er das betreffende Werk nicht gerade zur Hand hat, dafs er sich bei
einem Zitat nicht auf sein Gedächtnis zu verlassen braucht. Und ein umständ-
liches, langes Zitat, namentlich auch das aus Zeitschriften, läfst sich nunmehr leicht
durch einen Verweis auf die entsprechende Nimimer in der siebenten Auflage
von Dahlmann-Waitz (abgekürzt: D.-W.^) vermeiden. Im Interesse der
Wissenschaft würde es liegen, wenn eine solche Art des Zitierens immer
üblicher würde, so dafs unverständliche Abkürzungen allmählich mehr und mehr
aus der Literatur verschwinden. Armin Tille.
El]iic^;aiigene Bfleher«
Bardeleben, Karl von: Einiges über das Kriegswesen der Alt- tmd Neu-
stadt Brandenburg zur Zeit des Kurfürsten Johann Georg [=s 36. — 37.
Jahresbericht des Historischen Vereins zu Brandenburg a. d. H. (1906),
S. I — ig],
Beiträge zur Geschichte der Buchdruckerei in Halberstadt, Festschrift zur
Jubelfeier der Doelle*schen Buchdruckerei am 12. August 1891. 48 S. 8^.
Böhme, Walter: Geschichte des Fürstlichen Gymnasiums „Ruthenum^* zu
Schleiz, Festschrift zur Feier des 250jährigen Bestehens der Anstalt auf
urkundlicher Grundlage bearbeitet. Schleiz, Druck von F. Webers Nach-
folger 1906. 211 S. 8^
Gramer, Julius: Die Verfassungsgeschichte der Germanen und Kelten, ein
Beitrag zur vergleichenden Altertumskunde. Berlin, Karl Siegismund 1906.
208 S. 8^ M. 4,80.
Fournier, August: Napoleon I. Eine Biographie. Dritter Band: Die Er-
hebimg der Nationen und Napoleons Ende. Zweite, umgearbeitete Auf-
lage. Wien, F. Tempsky; Leipzig, G. Freytag 1906. 441 S. 8^.
Geschichte der Frankfurter Zeitung 1856 bis 1906, herausgegeben vom
Verlag der Frankfurter Zeitung (Frankfurter Societätsdruckerei, G. m. b. H.).
Frankfurt a. M. 1906. 976 S. 4^.
Kolb, A. G. : Beteiligung des Zabergäus und Leintals am akademischen
Studium im Mittelalter [«=3 Sonderabdruck aus den Vierteljahrsheften des
Zabergäuvereins 1 904/1 905]. 47 S. 8^
Leifs, A. : Studierende Waldecker vom 13. bis zum 19. Jahrhundert (Fort-
setzung) [s=3 Sonderabdruck aus den Geschichtsblättem für Waldeck und
Pyrmont, 5. und 6. Band, S. 159 — 298]. Mengeringhausen, Waigel 1906.
Loose, F.: Mittelalterliche Glockenkreuze. Zur allgemeinen Glocken- und
Volkskunde. Mit 2 Tafeln Abbildungen. [= Sonderabdruck aus den
Mitteilungen des Anhaltischen Geschichtsvereins Band X, 3. Heft]. In
Kommissionder Hofbuchhandlung F. Gast, Zerbst 1906. 29 S. 8^ M. i.
Niemöller, Heinrich: Reformationsgeschichte von Lippstadt, der ersten
evangelischen Stadt in Westfalen [= Schriften des Vereins für Refor-
mationsgeschichte Nr. 91]. Halle a. S., Rudolf Haupt 1906. 79 S.
8^ M. 1,20.
Herausgeber Dr. Armin Tille in Leipzig.
Druck und Verlag Ton Friedrich Andreas Perthes, Akdengesellschaft, Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsscbrift
Fgrderung der landesgeschichtüchen Forschimg
VIU. Band November 1906 2. Heft
Steiertnärkisehe Gesehiehtsehreibung von
1850 bis in die Gegenwart
Von
Franz Ilwof (Graz)
(Schlufe) >)
III.
Wenn nun dazu geschritten wird, all das, was auCserhalb des
Historischen Vereins und der Historischen Landeskommission an ge-
schichtlichen Arbeiten über Steiermark seit 1850 geleistet worden ist,
zu besprechen, so kann natürlich nur das Wichtigste erwähnt werden.
Die Geschichte des Landes Steiermark von den ältesten Zeiten
bis in die Gegenwart fand einige Bearbeiter, obwohl ihre Verfasser
besser getan hätten, noch einige Jahre zu warten, bis die nötigen Vor-
arbeiten vorliegen. So wissen wir bis jetzt noch wenig über die Ver-
fassungs- und V^rwaltungsgeschichte, über Landtage und Ständewesen;
erst wenn die Publikationen der Landeskommission weiter fortgeschritten
sind, werden wir über diese hochwichtigen inneren Verhältnisse besser
unterrichtet sein. Geradeso fliefeen die Quellen für die Zeit vom Ab-
schlufs der Gegenreformation (1630) bis Maria Theresia (1740) sehr
spärlich und müssen erst durch archivalische Forschungen ergänzt
'werden. Alle bisher erschienenen Gesamtdarstellungen sind daher
lückenhaft, und auch die für die nächsten Jahre vorbereiteten können
nicht vollständiger werden.
Seit 1850 wurden nicht weniger als fünf Lehr- und Handbücher
veröffentlicht, die die ganze Geschichte der Steiermark behandeln. In
dem Sammelwerke von Hlubek Ein treues Bild der Steiermark (Graz
1860) ist eine flüchtig gearbeitete und teilweise sogar unrichtige
Geschichte der Steiermark von J, B. Weifs erschienen; dieser folgten
Gebier, Chsehichie des Hereogtums Steiermark (Graz 1 862), geschickt
i) Vgl. oben S. i — IQ.»
3
— 28 —
gemacht und g-ut lesbar, dann Das Hereogtum Steiermark von Jauker
(Wien 1881), in dem der historische Teil weitaus besser als der geo-
graphische ist, sodann Abriß der steirischen Landesgeschichte von
Reichet (2. Auflage, Graz 1884) und F. M. Mayer, Geschichte der
Steiermark (Graz 1898), korrekt, aber troken und selbst bei Erzählung
der bedeutendsten Ereignisse (Reformation, Gegenreformation, Fran-
zosenkriege) ohne Schwung und Begeisterung geschrieben. — Das
beste, ganz Steiermark umfassende Werk ist wohl der siebente, Steier-
mark gewidmete. Band des Kronprinzenwerkes: Die österreichisch^
ungarische Monarchie in Wart und Büd (Wien 1889).
Au&erdem betreffen das ganze Land noch folgende Werke: das^
Topographisch- Statistische Lexikon des Hereogtumis Steiermark voa
Janisch (3 Bde., Graz 1878—1885), in dem den „Artikeln" über
die einzelnen Städte, Märkte, Schlösser, Klöster usw. geschichtliche
Notizen, bald gut, bald minder gut, beigegeben sind. — Fast den
ganzen Zeitraum von den ältesten Zeiten bis in die Gegenwart be-
handelt Zahn, Steiermark im Kartenbilde der Zeiten vom 2. Jahrhundert^
bis 1600 (Graz 1895); dieses Kartenwerk in 20 Blättern mit Text ent-
hält kartographisch wiedergegeben das heute Steiermark bildende
Gebiet, von Ptolemäus und der Peutingerschen Tafel an durch die
mittelalterlichen Weltkarten über die erste Spezialkarte von Steiermark,,
die des Wol^ang Lazius von 1561, bis zur vierten Spezialkarte von
G. Mercator 1589 und zwei Kärtchen von 1590 bis 1600. — Endlich
ist Zahns dreibändiges Sammelwerk Stiriaca, G>edrucktes und ün-
gedrucktes zur steiermärMschen Geschichte und KuUurgeschiMe (Graz.
1894, 1896, 1905) zu nennen, welches 30 Aufsätze enthält, die Ereig-
nisse und Zustände im Lande von den ältesten Zeiten (Wann Steier^
mark eni^nd) bis in das XIX. Jahrhundert in gründlicher und an-
mutiger Weise darstellen.
Um mit der prähistorischen, keltischen und römischen Zeit zu beginnen^
so lieferten Nachrichten über urgeschichtliche Forschungen bei Wie»
Radimsky und Szombathy (Mitt. der anthropol. Gesellschaft
in Wien 1891), zur Urgeschichte von Graz Pichler (MCC *) 1881),.
über einen La-Tfene-Fund in Steiermark Riedl (ebenda 1890). Die
Zuteilung antiker Bronzen bespricht Hof mann (ebenda 1887), daa
Vorkommen des Druidismus in Norikum weist Ferk (Graz 1877) nach,
nnd Ilwof handelt in den Beiträgen zur Geschichte der Alpen- und
i) MCC iB Mitteilungen der k. k. Central-Commistion ilir EHbnclmng nnd Er-
haltong der Konst- nnd historischen Denkmale. Wien.
— 29 —
Donauländer I. (Graz 1856) von den ältesten Bewohnern Norikums. —
Das Corpus Inscriptianum kUinarum bringt im III. Bande, 2. Teil
alle römischen Schriftdenkmale aus Steiermark; Ergänzungen hierzu
bieten Frankfurter aus Gamlitz und Cilli (Archäologisch- epi-
graphische Nfitteilungen, Wien 1887), Premerstein (ebenda 1890),
Gurlitt, Römische Inschriften aus Steiermark (MCC 1890). Ein
Gesamtbild unserer Länder in römischer Zeit liefert Kenner, Norikum
und Pannonien (Ber. u. Mitt. d. Altertums-Vereins, Wien 1865), und
aulserdem finden sich manche Notizen über prähistorische und römische
Funde in den MCC, im Notizenblatt und in den Sitz.-Ber. der Wiener
Akademie, in den archäologisch- epigraphischen Mitt. (Wien) und in
den Mitt d. Wiener anthropologischen Gesellschaft. — Hier können
auch eingereiht werden die numismatische Karte von Steiermark in
der Römerzeit (Graz 1867) und die archäologische Karte von Steier-
mark. Mit Text (Graz 1879), beide von Friz Pich 1er.
Gehen wir zu den mittelalterlichen Quellen über. Der Codex dipto-
nuMcus Äustriaco-frisingensis, herausgegeben von Zahn (Fontes rerum
Austriacarum, IL Dipl. 35, 36), bringt eine Sammlung von Urkunden
und Urbaren zur Geschichte der freisingischen Besitzungen in Öster-
reich ; da dieses Bistum Grund und Boden und Untertanen in Steier-
mark hatte und Zehnten von da bezog, so kommt diese Quellen-
publikation auch der Steiermark zugute. Dasselbe ist der Fall mit
Hauthalers Liber decimationis de anno 1285 (im Jahresbericht des erz-
bischöfl. Gymnasiums Salzburg 1887), einem Beitrage zur kirchlichen
Topographie von Steiermark und Unterkärnten, der die auf dem Konzil
von Lyon beschlossenen Zehnten betrifft und (ur die kirchliche Topo-
graphie höchst wichtig ist. Eine reiche Quelle für die Geschichte der
Steiermark im XIII. Jahrhundert ist Ottokars schon früher ^) ein-
gehend behandelte österreichische Reimchronik.
Zu den ältesten Adelsgeschlechtem in Steiermark gehören die
Tenffenbach zu MafSsweg und die Teuffenbach zu Mayerhofen, unter-
einander wahrscheinlich nicht verwandt. Die Urkunden beider finden
sich im TJrhmdenbueh der Familie Teuffenbach (Brunn 1867) von
B ran dl. Untersuchungen über Quellen lieferte Mayer und zwar
über die österreichische Chronik des M. oder G. Hagen, richtig: des
Johann Sefner aus Steiermark (AÖG ') 60), sowie über die Korre-
spondenzbücher des Bischofs Sixtus von Freising (ebenda 68).
1) Vgl. diese Zeitschrift 4. Bd., S. 92—93.
2) AÖG ^ ArdÜT fttr österreichisdie Geschichte, henmsgegeben Ton der Kais.
Akad. d. Wiss., Wien.
8*
— 80 -
Krön es bearbeitete die deutsche Besiedelung der Alpenländer,
insbesondere der Steiermark .... nach ihren geschichtlichen und ört-
lichen Verhältnissen (Forsch, zur deutschen Landes- und Volkskunde,
III 5. Stuttgart 1889), Meli den comitatus Liupoldi und dessen Auf-
teilung in die Landgerichte (MIÖGF ^) XXI), Mayer die östlichen
Alpenländer im Investiturstreite (Innsbruck 1883) und Lampe 1 die
Landesgrenze von 1254 und das steirische Ennstal (AÖG 71).
Tief griffen in die Geschichte der Steiermark, ja auch in die
Ungarns und anderer Länder die im XV. Jahrhundert machtvoll auf-
tretenden Grafen von Cilli ein. Eine vorzügliche Arbeit über diese
lieferte Krones: Die Freien von Saneck und ihre Chronik ah Orafen
von CitU (Graz 1883), tmd den Grafen Friedrich II. von Cilli behandelt
im besonderen Gubo (Jahresber. des Gymn.CiUi 1888).
Ein Jahrhundert schwerer Verhängnisse, durch die Türkeneinfalle,
durch die Kriege mit Ungarn, durch die Cillier Fehde und durch die
schwache Regierung Friedrichs III. war das XV. Jahrhundert; innere
Unruhen kamen dazu, um Not und Elend noch gröüser zu machen;
von den letzteren handelt Krones in der Arbeit Zur QueBenhunde
und Literahir der Geschichte Baumhirchers und der Baiumkircherfehde
(MIÖGF Erg.-Bd. 6) und in den Beiträgen zur Geschickte der Baum-
kircherfehde (AÖG 89).
Freundlichere Bilder bieten die Arbeiten über die Pflege der
Dichtkunst in Steiermark im Mittelalter. So die von Wein hol düber
den Anteil der Steiermark an der deutschen Literatur des XIII. Jahr-
hunderts (im Almanach der Akad. d. Wiss. Wien 1860), sodann das
reizende Buch von Schönbach, Anfänge des deutschen Minnegesangs
(Graz 1898). Einzelne Dichter der Steiermark würdigt Weinhold
in der Arbeit über den Minnesänger von Stadeck und sein Geschlecht
(Sitz.-Ber. d. Akad. d. Wiss. Wien 35), Bergmann in dem Au&atze
über Die letzten Herren von Stadeck (ebenda 9) und Kummer sowohl
in dem Buche Die poetischen Erzählungen des Herrand von Wüdon
(Wien 1880), als auch in dem Aufsatze über das Ministerialengeschlecht
der Wildonie (AÖG 59). Von dem merkwürdigen Grabstein Ulrichs
von Liechtenstein auf der Frauenburg mit deutscher Inschrift berichtet
Lind (MCC 1872), und eine ausführliche Geschichte des fürstlichen
Hauses Liechtenstein lieferte Falke (Wien, 3 Bde., 1868 — 1883),
doch ohne die Liechtenstein von Murau und die von Nikolsburg scharf
auseinander zu halten. Das älteste Adelsgeschlecht der Steiermark
i) MIÖGF »» MitteÜnngen des Instituts fUr österreichische Geschicfatsforschong.
— al-
lst das der Stnbenberg; von ihnen handelt Wurzbach, Die Herren
und Orafen von Stubenberg (Wien 1879), während sich Essenwein
mit dem silbernen Zopf im Wappen der Stubenberg beschäftigte
(Anz. f. Kunde der deutschen Vorzeit 1881). Wertvolle Beiträge zur
Geschichte der mittelalterlichen Wafienkunde spendete Franz Graf
von Meranin den anonym erschienenen Monographien : Der Ptankher
Helm au3 Stift Seckau (Graz 1878) und Der sag. Leobner Helm im
Joamneum (Graz 1878).
Allgemeinen Inhalts ist die mühevolle, (lir die Geschichte der
Steiermark im Mittelalter, besonders (lir die Ortsgeschichte bedeutungs-
volle Arbeit von Zahn, Ortmamenbueh der Steiermark im MittelaUer
(Wien 1893), ^^^ bis in das XIX. Jahrhundert führt die Tabelle von
Peinlich, Ckrenistisclte Übersicht der merkwürdigsten Naturereignisse,
Landplagen und KuUurmomente der Steiermark von 1000 bis 1850
(Graz 1880).
Die historisch interessanteste und bedeutendste Zeit im Steirer-
lande war das XVI. Jahrhundert und der Beg^n des XVII. Jahrhunderts.
Alle Stände, Adel, Klerus, Bürger und Bauern durchzitterte die reli-
giöse Bewegung; das Eindringen der evangelischen Lehre, der allerdings
nur kurze 2^it währende Sieg und die von dem Landesfürstentum
ausgehende Verdrängung, durch die Land und Bewohner um gut
zwei Jahrhunderte in ihrer Entwicklung, im Fortschritte auf dem Gebiete
der geistigen und materiellen Kultur gehemmt wurden, führte zu
tragischen Konflikten. Während vor fünfzig Jahren über diese hoch-
wichtige Periode wenig, nahezu nichts bekannt war, ist seither durch
den Eifer der Forscher eine reiche Literatur entstanden, so dafs wir
namentlich über die Vorgänge, welche zur Gegenreformation führten,
und über diese selbst nunmehr ziemlich gut unterrichtet sind. Hin-
gegen fehlt es noch an Einzelnachrichten über das Eindringen der evan-
gelischen Lehre und über ihre Verbreitung im ganzen Lande, die sich
anscheinend sehr rasch vollzogen hat, aber vielfach im stillen und
teilweise im geheimen, so da(s die Nachrichten darüber naturgemäfs
spärlich sind. Aufzeichnungen haben die Beteiligten vermutlich gar
nicht gemacht, und daher werden wir wahrscheinlich für immer nähere
AufiBchlüsse darüber entbehren müssen, falls nicht etwa auswärts noch
der Steiermark entstammende Briefe oder dergleichen Schriftstücke
entdeckt werden sollten.
Schon die ersten im Südwesten Deutschlands im XVI. Jahrhundert
sich zeigenden revolutionären Bewegungen fanden ihren Widerhall in
Steiermark. Mayer erzählt von dem innerösterreichischen Bauern-
— 32 —
krieg von 1515 (AÖG 85), und Rabenlechner von dem von 1525
(Freiburg i. B. 1901). — Eine Geschichte des Protestantismus in
Steiermark vom strengsten katholischen Standpunkte schrieb Robits ch
(Graz 1859). Zahkeiche Arbeiten über diese Periode lieferte Loserth,
so zunächst : aus der protestantischen Zeit der Steiermark ( JGGPÖ ^)
16); wertvolle Notizen zur Religionsbewegung in Steiermark enthalten
die von Zahn herausgegebenen Steiermärkischen GesehiehiMäUer
(1880—1885). Über den Organisator der evangelischen Kirche in
unserem Lande, Jeremias Homberger, handelt Mayer (AÖG 74),
von der Salzburger Provinzialsynode Loserth (AÖG 85), von dem
bedeutungsvollen Brucker Landtage von 1572 wiederum Mayer
(AÖG 72). Ein umfassendes Bild jener Zeit aber lieferte Loserth
in dem Buche Die ReformaUon und Qegenrefonnaiian in den inner^
österreichischen Ländern im XVL Jahrhundert (Stuttgart 1898).
Über den tätigsten Gegner der evangelischen Lehre, über den
Fürstbischof von Seckau, Martin Brenner (i 548 — 16 16), verfafcte eine Bio-
graphie der jetzige Fürstbischof dieser Diözese, Leopold Schuster,
eine Arbeit, reich an neuem Material, aber geschrieben vom be-
schränkt kirchlichen Standpunkt.
Zahlreiche einzelne Untersuchungen und Darstellungen liegen
femer über die Zeit der Reformation und Gegenreformation vor. So
von Loserth über den Flacianismus in Steiermark (JGGPÖ 20),
über die Gegenreformation in Innerösterreich (ebenda 21, 23 und
Historische Zeitschrift 78}, über Erzherzog Karl IL und die Errichtung
eines Klosterrates für Innerösterreich (AÖG 84), über einen Hoch-
verratsprozefs aus der Zeit der Gegenreformation in Innerösterreich
(ebenda 83), über die Anfiinge der Gegenreformation in Innerösterreich
(Beilage zur Allg. Ztg., München 1897, Nr. 28 — 31), und über den
Rosolenz (MIÖGF 21), den fanatischen Bekämpfer der neuen Lehre.
Femer gehören hierher die Arbeiten von Damisch über den Leichen-
zug Karls II, (Graz 1869), von Hurt er über Maria von Österreich
(Schaff hausen 1860), von Beck über das Patent Ferdinands II. von
Steiermark 1599 (JGGPÖ 21), von Mayer über die Geschichte
Innerösterreichs im Jahre 1600 (Forschungen zur deutschen Geschichte
20), von Ulmann über die Gegenreformation in den habsburgischen
Erblanden (Preu&ische Jahrbücher 102), von Czerwenka über die
Geschichte der Gegenreformation in Steiermark (JGGPÖ 1880), von
Schmidt über das letzte Reformationspatent Ferdinands II. (eben-
I) JGGPÖ » Jahrbach der GeseUichaft (Ur die Geschichte des Protestaoüsmos
in Österreich.
— 88 —
<la 22) und über slowenische protestantische Katechismen, Postillen
und Bekenntnisschriflen usw. des XVI. Jahrhunderts (ebenda 14, 15).
Der Rekatholisierung folgte Auswanderung- der trotz aller Ver-
folgungen und Lockungen ihrem Glauben treu bleibenden Männer, Frauen
und Familien; von ihnen erzählen u. a. Horand, Öderreichisehe
JSxulanten (Anz. f. Kunde d. dt. Vorzeit, 1862), Loch n er, Inner^
^österreichische Exulanten (ebenda 1855) und Kapp er, Andreas
Stötssinger und seine Schriften (JGGPÖ 20). Im verborgenen erhielt
«ich trotz aller Verfolgungen die evangelische Lehre und trat nur hier
tmd da erst im XVIII. Jahrhundert wieder leise und unauffällig an die
Oberfläche. Davon handeln Reifs enberger in der Arbeit Zur
Oeschichte der religiösen Bewegung in .... Steiermark um die Mitte
des XVIII. Jahrhunderts (ebenda 14) und Zwiedineck in der Oc"
schichte der religiösen Bewegung in Innerösterreich im XVIIL Jahr^
hundert (AÖG 1875). Der Protestantismus in Steiermark, Kärnten
und Krain vom XVL Jahrhundert his in die Gegenwart. Von Ilwof
^Graz 1900) stellt zusammenfauraend die Entwickelung und das Leben
der evangelischen Lehre in den innerösterreichischen Ländern von
ihrem Eindringen bis in die neueste 2^it dar.
Die reformatorische Bewegung in Steiermark hatte mehrfach die
Stifter und Klöster tief berührt und teilweise in Verfall gebracht;
im XVII. Jahrhundert aber erholten sie sich wieder, und viele gelangten
2U frischem Leben, ja zu einer gewissen Blüte, bis Kaiser Josef II.
ihrer vielen, die sich als überflüssig und der Gesamtheit schädlich er-
wiesen hatten, ein Ende bereitete.
Das adelige Damenstift Göfis ist das älteste Kloster des Landes;
von ihm wird berichtet in den MCC 11 und 18 und in den Steier^
snärkischen OeschichtAläUem 1884. — Am tiefsten hat in die Geschichte
der Steiermark das herrlich gelegene Benediktinerstift Admont ein«
gegriflfen, dessen Geschichte Wichner (Graz 1874— 1880, 4 Bde.)
schrieb. In zahh-eichen Monographien, die alle gründlich und ge-
schickt gearbeitet sind, beschäftigte er sich vor allem mit Admonts
Beziehungen zur Kunst (Wien 1888) und zu Wissenschaft und Unter-
xicht (Graz 1892). Von dem Benediktinerstift St. Lambrecht hat
Pangerl die ältesten ToteabiicheT (m den Fantes rerum Äustriacarum
II. Dipl. 29, 1869) veröflTentlicht und finden sich MitteUungen in den
Studien und Mitteilungen des Benediktiner- und Cistercienser-Ordens
7, 9, hn Kirchenschmuck >) 1881, 1893, 1894, 1898, in den MCC 1896
i) Einer in Graz erscheinenden Zeitschrift Ar kirchliche Knnst, beinihe gans alleitt
-von dem Konsenrator und Professor Grans geschrieben.
— 34 —
und in den Steiermärhisehen Q^schicktsblättem 3. — Über das 1786
aufgehobene Zisterzienserstift Neuberg findet man Notizen in den
MCC I, 15, 16, N.F. 8, 1892, 1893, in den Berichten des Wiener
Altertums- Vereins 12 imd im Kirehenschmack 1882, 1892, 1893. —
Auch das Chorherrenstift Seckau, das der Sitz des Bistums gl. N.
war, bis es nach Seckau bei Leibnitz und dann nach Graz übertragen
wurde, finden sich Nachrichten in den Studien und Mitt. d. Benedikt.*
und Cistercienser*Ordens 1885, 1888, 1889, 1891 — 1893, im Kirchen-
schmuck 1871, 1883, 1889, 1892, 1901, in den MCC 1858, 1874,
1881, 1892, 1901, sowie in den Histcrisch-poliUschen Blättern 1894.
Unter diesen sei die Arbeit von Meli, Das Stift Seckau und dessen
wirtschaftliche Verhältnisse im XIV. Jahrhundert (StMBCO 14) be-
sonders hervorgehoben. — Das Chorherrenstift Voran wird besprochen
im Kirchenschmuck 1876, 1882, 1900, 1901 und ein literarischer
Klosterschatz daselbst von Reifs enberger (Wiener Montagsrevue,
1884, Nr. 15, 17). — Das nicht mehr bestehende Klarissinnenkioster
Paradeis bei Judenburg fand seinen Historiographen in Wichner
(AÖG 73), und das einstige Karthäuserkloster Seiz in Stepischnegg'
(Marburg 1884).
Eine verhängnisvolle Bedeutung erlangten in Steiermark die Jesuiten,
schon zur Zeit der Reformation, noch mehr zu der der Gegenrefor-
mation und in den folgenden Jahrhunderten. Über sie schrieben
Horawitz (Histor. Zeitschr., 28) und Peinlich (Histor.-pblit. Blätter,
1883). Eine ausgezeichnete Darstellung der Aufhebung der Klöster
in Innerösterreich 1782 — 1790 verfafste Adam Wolff (Wien 1871)
und eine Monographie über die sich über Untersteiermark ausdehnende
Diözese Lavant Oro2en (Marburg 1868 — 1884).
Im XVI. Jahrhundert und bis in das XIX. spielte neben Kirche
und Klerus der Adel eine wichtige Rolle. Noch in das Mittelalter
hinein reicht die höchst beachtenswerte Untersuchung von Zallinger
nber die ritterlichen Klassen im steirischen Landrecht (MIÖGF 1883)
und die von Luschin über die Reichenecker in Steiermark (Jb. d.
Ges. Adler, 19, 20). Im XVI. Jahrhundert traten die Herren von
Ungnad mächtig hervor; Chmel bespricht vier Briefe des Hans
Ungnad an Kaiser Ferdinand I. und König Max von Böhmen (Sitz.-
Ber. d. Wiener Akad. 3), während Steinwenter Nachrichten aus
dem Leben des steirischen Landeshauptmanns Hans III. von Ungnad-
Weifsenwolf (Jb. d. Gymn. Marburg a. D. 1884), Janko solche über
Hans Ungnad, Freiherm von Weifeenwolf und Sonnegg (Streflfleurs
Zeitschr. 89) übermittelt. — Ein rasch und glänzend emporsteigendes
— 35 —
Geschlecht war das der Eggenberge, dessen Bestand jedoch nur kurz
währte; 1470 waren sie noch Bürger von Radkersburg, 1598 Freiherren,
wurden 1623 deutsche Reichsfiirsten, starben aber schon 17 17 aus. Der
bedeutendste von ihnen, Hans Ulrich, Fürst von Eggenberg, der als
Minister Kaiser Ferdinands II., in der ersten Periode des 30jährigen
Krieges und in der Wallenstein-Tragödie ma&gebend und bedeutungs-
voll hervortrat, fand seinen Biographen in Zwiedi neck (Wien 1880).
Das Haus besafs das Münzrecht, und Mayer behandelt Münzen und
Medaillen der Eggenberge in der Numismatischen Zeitschrifl, 20. —
Die Erben ihrer Güter in Steiermark waren die Herbersteine, über die
manches in der von Karajan herau^egebenen Selbstbiographie Sig-
munds von Herberstein (Fantes verum atistriacarum I. Script, i), in dem
von Voigt mitgeteilten Briefwechsel Sigmtmds von Herberstein mit Herzog
Albrecht von Preufsen (AÖG 17), und dem von Zahn veröffent-
lichten Familienbuch Sigmunds von Herberstein (AÖG 39) vorliegt
Letzterer reiste zweimal als kaiserlicher Gesandter nach Moskau und
war selbst Schriftsteller (Selbstbiographie, FamUienbuch). Ein späterer
Herberstein, Erasmus Friedrich, war am Hofe Leopolds I. bedienstet
und wirkte besonders 1664 zu Regensburg für seinen Kaiser (Steier-
märkische Geschichtsblätter 4).
Reichhaltig ist die Literatur über den schon früher ^) gewürdigten
Erzherzog Johann, den grofsen Förderer und Wohltäter der Steiermark
und Begründer der modernen Kultur auf geistigem und physischem
Gebiete in diesem Lande. Eine treffliche Biog^phie dieses erhabenen
Kaisersohnes lieferte Leitner (in Hlubeks Treuem Büd der Steier-
mark). Schi ossär schrieb EraherjBog Johann von Österreich und sein
Einfluß auf das Kulturleben in Steiermark (Wien 1878). Zur Jahr-
hundertfeier seines Geburtstages 1882 gab auf Veranlassung seines
Sohnes, des Grafen Franz von Meran, Ilwof Aus Er eher 00g Johanns
Tagdmch, eine Reise durch Obersteiermark 1810 (Graz 1882) heraus
und Zwiedineck verfafste Ereherzog Johann im Fddzuge von 1809
(Graz 1892) sowie Das Gefecht bei St. Michael und die Operationen
des Ergherzogs Johann in Steiermark 1809 (MIÖGF 12), während
K r o n e s Aus dem Teigebuche Erzherzog Johanns von Österreich 1810 — 1815
(Innsbruck 1891) veröffentlichte. Der Deutsche und Österreichische
Alpenverein feierte das Andenken an jenen Gebirgsfreund und Alpen-
forscher 1882 in seiner Zeitschrift durch Ilwofs Beitrag Erzherzog
Johann und seine Beziehungen zu den Alpenländem, und des Erz-
I) Vgl. diese ZeiUchrift 5. Bd., S. 202—203.
— 86 —
herzogs Bemühungen um die Förderung der Viehzucht in Steiermark
legte derselbe in einer Arbeit über des Erzherzogs Beziehungen zu
dem steirischen Landwirt Paul Adler (Österr.-ungar. Revue 1891) dar.
Briefe des Prinzen aus der Zeit von 1850—1859 finden sich in den
OesammeÜen Schriften vcn Jochmus, 3. Bd. (Berlin 1884).
Hochverdiente Steiermärker des XIX. Jahrhunderts wurden durch
Biographien der Vergessenheit entrissen, so Franz Freiherr von Kalch-
berg (Graz 1897) und Josef Freiherr von Katchberg (Innsbruck 1901),
beide von Ilwof, sodann der glänzende Redner, Parlamentarier und
Landeshauptmann Moriz von Kaiserfeld durch Krön es (Graz 1888). —
Da gerade in dieser Zeitschrift früher ') auf die Wichtigkeit und Be-
deutung einer nach wissenschaftlichen Grundsätzen betriebenen
Familienforschung in bürgerlichen Kreisen aufmerksam gemacht wurde,
so sei an dieser Stelle eine diesem Gebiete angehörige Schrift:
Frizberg, Die Frieberg van Vorarlberg und ihre Nachkommen, die
Frita von Friteberg in Steiermark (Graz 1905) erwähnt.
Minder reich vertreten ist die Verfassungsgeschichte. Aus diesem
Gebiete finden wir nur das Bruchstück einer deutschen Bearbeitung
der ältesten steirischen Landhandfeste von 11 86, das Schulte (MIÖGF
1886) mitteilte, den Aufsatz : Landstände und Landiag in Steiermark von
ihren Anßngen bis in die Gegenwart (österr.-ungar. Revue 1899) von
Ilwof und Zur (beschichte der Hörigkeit und Leibeigenschaft in Steiermark
von Peinlich (Graz 1881).
Fleifsig gearbeitet wurde auf dem Gebiete der Ortsgeschichte,
so im allgemeinen durch Peinlich, der die ältere Ordnung und Ver-
fassung der Städte in Steiermark (Graz 1879) behandelte, durch
Schlossar, der das innerösterreichische Stadtleben vor 100 Jahren
(Wien 1877) schilderte, durch Luschin, der sich mit den steirischen
Städtewappen und Siegeln (MCC 1873, 1874) beschäftigte. Von der
Landeshauptstadt liegt bisher nur eine ausführliche Geschichtsdarstellung
vor, in Orcus, Geschichte und Topographie der Stadt und ihrer Umgebung
von Ilwof und Peters (Graz 1875), deren SS. 63 — 246 der Geschichte
der Stadt gewidmet sind. Sehr beachtenswert sind Hofrichters
Rückblicke m die Vergangenheit von Graz (Graz 1885) und die SchUde-
rung der Stadt vor 60 Jahren (Graz 1885).
Was andere Städte und Märkte des Landes betrifil, so seien die
Arbeiten von Steiner- Wischenbart über Feldbach (2^1tweg 1903),
von Joherl, Wildon (Graz 1891), Feldkirchen und Kaisdorf (Graz
i) VgL 4. Bd., S. 372 and 7. Bd, S. 21 ff.
— 37 —
I90S)» von Hutter über Schladming (Graz 1905), von Hofrichter
über Marburg (Graz 1863), Lnttenberg (Graz 1850) und Hartberg
(Graz 1859), über Radkersburg Arbeiten in den MCC 1889, 1890,
1893, über Murau (ebenda 1872, 1896, 1901), im Kirchenschmuck
1870, 1872, in den Steiermärkischen Geschichtsblättem 1880; über
Leoben die von List (Leoben 1885); über Fürstenfeld die von Lange
(Fürstenfeld 1883) und Steiermärkische Geschichtsblätter 4; über
CiUi (Klagenfurt 1890), über das Ennstal die von Fürst Philipp von
Hohenlohe (Wien 1882, als Ms. gedrudct) und über das merkwürdige
Felsenschlofis Riegersburg in MCC 1884 genannt.
Recht zahlreich sind die Arbeiten über Pettau, das römische
Poetovium, das im Mittelalter eine wichtige Grenzfestung gegen Ungarn
war: Pirchegger, OeschicMe Pettaus im MiäetaUer, I. (Jb. Gymn.
Pettau 1903), Raisp, PeUau topographisch geschildert (Graz 1858),
Levec, Pettauer Studien, Untersuchungen zur älteren Flurverfassung
(Mitt. d. anthropot. Ges., Wien, 28, 29), Bischoff, Diis Pettauer
Stadtrecht von 1376 (Sitz.-Ber. d. Wiener Akad. 113) sind hier zu
nennen, femer Notizen über diese Stadt (MCC 6, 28, 1890, 1892,
1893, 1896 und im Kirchenschmuek 1884). — Ein sehr beachtens-
wertes Bilderwerk mit Text ist Einst und Jetri (Graz, 4 Bde., 1863— 1866)
von Reichert, das treffliche Abbildungen von Schlössern, Städten,
Märkten, Kirchen und Klöstern der Steiermark enthält. .
In das Gebiet der politischen und Kri^sgeschichte führt Zwie-
dinecks Arbeit über die Schlacht bei St. Gotthard ') 1664 (MIÖGF
10); dieser Sieg Montecuccolis befreite die Steiermark von einem
furchtbar drohenden Türkeneinfalle. Sodann ist Dunckers Beitrag
über die Rüstungen Innerösterreichs 1683 (Mitt. d. k. k. Kriegs-
archivs, Wien 1882) zu nennen und nicht mmder die Arbeiten Mayers
über Steiermark im Franzosenzeitalter (Graz 1888), im dritten Koalitions«
kriege (Jb. des I. Gymn., Graz 1887); und die Tätigkeit der Jakobiner
(Zeitschr. f. allg. Gesch. 1887).
Über die Pflege der Wissenschaft und den Unterricht belehren
uns die Arbeiten von Peinlich über die steirischen Landschafts-
mathematiker vor Kepler (Graz 1871) und über die Geschichte des
Gymnasiums in Graz (Jahresberichte des I. Gymn., Graz, 1864,
1869—1874), sowie Die Geschichte der Karl-Franzens-Universität in
Graz (Grraz 1886) von Krön es und die des Joanneums in Graz
(Graz 1861) von Göth.
I) Vgl. diese ZeiUchrift 4- Bd., S. 279.
— 38 —
Der Literatur und Dichtkunst sind gewidmet die Arbeiten von
Wichner über zwei Bücherverzeichnisse des XIV. Jahrhunderts in
der Admonter Stiftsbibliothek (Zentralblatt f. Bibliothekswesen 1888,
4. Beiheft), von Stiefvater über die Geschichte des Buchdrucks
und Buchhandels in Steiermark (Wien 1888), von Weinhold über
Weihnachtsspiele und Lieder ans Süddeutschland, insbesondere Steier-
mark (Graz 1853), von Schönbach, über ein steirisches Scheit*
gedieht wider die Baiem (Vierteljahrsschrift f. Literaturgeschichte,
1889), vo^ Schlossar über österreichische Literatur- und Kultur*
bilder, mit besonderer Berücksichtigung der Steiermark (Wien 1879)
und von II wof über Goethes Beziehungen zu Steiermärkem (Graz 1898).
Stoffe aus dem Gebiete des Rechtslebens behandelt der Bericht
über Weistümerforschungen in Steiermark (Sitz.-Ber. d. Wiener Akad.
83» 85) von Bischoff, sowie die von Bischoff und Schönbach
(Wien 1881) herausgegebenen Steirischen und kärntischen Taidinge.
Verhältnismäfsig reichhaltig sind die Beiträge zur Kunstgeschichte.
Haas veröffentlichte eine Übersichtskarte der miäelaÜerUchm Ärchikktttr
in Steiermark (Graz 1857), Wastler ein Steirisches Künstlerlexikon
(Graz 1 883), Lacher KunsfbeÜräge €ms Steiermark^Fr^nkfurt 1 893 — 1 894;
Bd. I — 2) und Deutsche Benaissance in Österreich, I: Steiermark
(Leipzig 1883— 1884), Wastler Das Landhaus in Cf rax? (Wien 1890),
ein vortreffliches Werk über dieses hochinteressante Denkmal der
italienischen und deutschen Renaissance ui}d des Barokstils. Die
Arbeit über das Landeszeughaus in Graz (Leipzig 1881) von Pich 1er
und Franz Graf von Meran ist besonders bemerkenswert wegen
der von letzterem beschriebenen Waffenvorräte. Allgemeines Interesse
beansprucht die Verwelschung der Baumeisterzunft im XVII. Jahrhundert
in Graz (MCC 1893) und die Geschichte der Befestigungsbauten des
Schlofsberges und der Stadt Graz im XVI. und XVII. Jahrhundert
(ebenda 1887), nicht minder die Beschreibung des Mausoleums
Ferdinands II. in Graz (ebenda 1884), und die vorzügliche Schrift:
Das Kundleben am Hofe eu Graz unter den Herzogen von Steiermark,
den Erzherzogen Karl und Ferdinand (Graz 1897) — alle vier von
Wastler. Zahlreiche Notizen über Gegenstände der bUdenden Kunst
finden sich noch in den Jahrbüchern und MCC und im Kirchenschmuck,
Der Numismatik und Heraldik sind gewidmet: P ichler, Reper-
torium der sieirischen Münzkunde (3 Bde., Graz 1865 — 1875), Unger,
Numismatische Streif eilige auf archivalischem (xebiete (Mitt d. Clubs
der Münz- und Medaillenfreunde, Wien 1892); Luschin, Die Siegd
der steirischen Abteien und Konvente des MittelaUers (MCC 1873
— 39 —
und 1874); hierher gehört auch der Neudruck des steiermärkischen
Wappenbuches von Zacharias Bartsch aus dem Jahre 1567,
Faksimile-Ausgabe mit historischen imd heraldischen Anmerkungen
von J. V. Zahn und Alfred Ritter Anthony von Siegenfeld
(Graz und Leipzig 1893).
Auch die Geschichte von Industrie und Handel hat einige Be-
arbeiter gefunden: Miller von Hauenfels hat sich mit dem steier^
märkischen Bergbau als Grundlage des Wohlstandes (Graz 1859),
Bittner mit dem Eisenwesen in Innerberg-Eisenerz bis 1625 (AÖG 89),
Bisch off mit dem Schladminger Bergbrief (2^itschr. f. Bergrecht, 33),
Pogatschnigg mit der Geschichte der steirischen Glasindustrie
(Ber. d. k. k. Gewerbe-Inspektoren, 1894) beschäftigt, und die Steier-
märkischen Geschichtsblätter (1883) enthalten einen Beitrag zur Ge-
schichte des Einfuhrhandels.
Manche Veröffentlichung berührt das weite Gebiet der sogenannten
Kulturgeschichte, so: Peinlich, Creschichte der Test tn Steiermark
(2 Bde., Graz 1876— 1878) und Fossel, Die Pest im Pölstale und im
Murboden 1714—1715 (Mitt. d. Ver. d. Ärzte, Graz 1886). Über
Kreidfeuer in Steiermark (Steierm. Geschichtsblätter, 1883) handelt
Zahn, über die Hausforschung in den Ost- Alpen (Zeitschr. d. D.
u. 0. A.-V. , 24) Bancalari, einen steirischen Bauernhof aus dem
Beginne des XVII. Jahrhunderts (MCC 1894) beschreibt Meli und
Zwiedineck das Dorf leben im XVIII. Jahrhundert (Wien 1877).
Meli liefert Beiträge zur Geschichte des Hexenwesens (Zeitschr. f.
Kulturgesch. N. F. I.), Ilwof solche über Hexenwesen und Aber-
glauben in Steiermark einst und jetzt (Zeitschr. d. Ver. f. Volks-
kunde, Berlin 1899). Auch mit den Haus- und Hofmarken hat sich
letzterer (MCC 19 und in der Berliner Zeitschr. f. Volkskunde, 1894)
beschäftigt.
Da in den österreichischen Ländern in den verflossenen Jahr-
hunderten die Memoirenliteratur ziemlich spärlich gepflegt wurde, so
sind zwei einschlägige Publikationen aus Steiermark besonders wert-
voll, nämlich das auf Veranlassung des Grafen Franz von Meran
von J. V. Zahn herausgegebene Hausbuch der Frau Maria Elisabeth
Stampfer aus Vordertiberg , das die Jahre 1638 — 1700 umfafet (Wien
1887), wozu der Aufsatz von Meli, Aus dem Hausbuch einer steirischen
Bürgersfrau (Zeitschr. f. Kulturgesch. N. F. 2) heranzuziehen ist.
Das zweite derartige Werk ist das Gedenkbuch der Frau Maria
Cordula Prank aus dem XVIII. Jahrhundert (Steierm. Geschichts-
blätter 2). Zum Schlüsse sei noch der Mitteilungen über Schützen-
— 40 —
wesen und Schützenordnungen (Steierm. Gescbichtsblätter 4, 5) ge-
dacht.
Eine überreiche Fülle an historischen Arbeiten wurde hier vor-
geführt, und doch ist es noch lange nicht alles, was erwähnenswert
gewesen wäre. Aber aus dem, was gebracht wurde, wird der Leser
entnehmen, daüs man in Steiermark in den jüngst verflossenen funf-
undeinhalb Jahrzehnten fleifsig und erfolgreich gearbeitet hat. Wenn
sich die Kunde davon auch in der Feme verbreitet, so liegt darin
gewifs schon ein Lohn für die Forscher. Noch mehr aber ist zu
wünschen , dafs die genannten Arbeiten, auf deren Bedeutung und Er-
gebnisse naturgemäfs hier nicht eingegangen werden konnte, von denen,
die zusammenfassend und vergleichend arbeiten, noch mehr
als es bisher geschehen ist, wirklich benutzt werden. Gerade aus
diesem Grunde wurde vielfach bei der Aufzählung so ins einzelne
gegangen: wir alle müssen uns davon überzeugen, dafs nur die
Landesgeschichte wenigstens auf dem weiten Gebiet des Zu-
ständlichen die Bausteine zu liefern vermag für die deutsche Ge-
samtgeschichte.
Mitteilungen
Yersammlungeil. — Progranmigemäfs ^) hat der sechste deutsche
Archivtag am 24. September in Wien stattgefunden. Das Bedeutsame
dabei lag in dem Umstände, dafs es der erste war, der auf österreichischem
Boden stattfand. Dieser Umstand verlieh ihm zum Teile auch sein Gepräge,
denn naturgemäfs bildeten dadurch die österreichischen Archivare die
Mehrheit. Dennoch war auch der Zuzug aus allen Gauen des Deutschen
Reiches ein erfreulich starker, sogar Dänemark war vertreten — im ganzen
wohnten 140 Teilnehmer den Vorträgen bei — , und die Zentralleituog hatte
für ein mannigfaltiges Vortragsprogramm, das territorial ein möglichst weites
Gebiet umschrieb, gesorgt, so dafs es an der nötigen Mischung der Elemente
imd daraus entspringender gegenseitiger reicher Anregung nicht fehlte. In
erster Linie bestimmend für die Verlegung des Archivtages nach Wien v^ar
der Neubau des k. u. k. Haus-, Hof- und Staatsarchives gewesen, der, vor
etwa zwei Jahren vollendet, auf die Archivare eine grofse Anziehungskraft
ausgeübt hatte. Als Vorbereitung auf dessen Besichtigung, die am Nach-
mittage stattfand, hielt am Schlüsse der Versanunlung der Direktor des
Staatsarchives, Hofrat Gustav Winter, einen orientierenden Vortrag, der
durch seine Wärme, FormvoUendtuig tmd Klarheit allgemeine Bewunderung
hervorrief. Schon Arneth, sein Vorgänger, hatte einen weitläufigen Plan
für einen Neubau entworfen, aber noch völlig auf Grundlage des älteren
1) Vgl 7. Bd., S. 320.
— 41 —
Saalsystems. Winter eDtschied sich nach Bereisung und Besichtigung der
henrorragendsten europäischen Archive für das Magazinsystem und fand dann
in seinem Chef, dem gegenwärtigen Minister des Äufseren, Grafen Golu-
chowskiy die freigebigste Unterstützung bei der Durchführung seiner Pläne.
So ist der jetzige Minister in die Fufstapfen des Kanzlers Fürsten Kaunitz
getreten y denn ihm ist die Wiedergeburt dessen zu verdanken , was dieser
einst geschaffen hat. Der Augenschein überzeugte am Nachmittage die Teil-
nehmer von der Grofsartigkeit der Anlage mit ihren elf, nur durch Eisen-
roste getrennten Stockwerken, ihrer zweckmäfsigen Heizung (Niederdruck-
heizung) und Lüftung, ihren modernen Einrichtungen (in den Magazinen
durchweg Eisenkonstruktion), ihrer auch dem grofsen Publikum zugänglichen
Cymeliensammlung , ihrem photographischen Atelier und ihren schön und
stilvoll eingerichteten Bureau- und Benutzenräumen ^).
Hatte man hier eine mustergültige moderne Archivanlage kennen gelernt,
so gewann man durch den Vortrag des Archivdirektors Schneider
(Stuttgart) über Archivalienschutz in Württemberg Emblick in eine
nicht minder mustergültige Organisation des Archivwesens eines ganzen
Territoriimis. Wir begegnen da in Württemberg einer sehr wohltätigen
Zentralisation und einer Unterordnung sämtlicher Archive des Landes, auch
der Gemeinde- und privater Archive, sowie der Archive geistlicher Korpo-
rationen unter das Staatsarchiv, welche schon im Jahre 1775 angebahnt,
aber seit dem Jahre 1876 namentlich durch das zielbewufste Streben
Stalins systematisch durchgeführt wurde. Was nicht an das Staatsarchiv
abgegeben wurde, das wird seit 189 1 durch die staadiche Kommission für
Landesgeschichte beaufsichtigt. Sechs Kreispflegem liegt die Sorge für Auf-
bewahrung, Ordnung und Inventarisierung der kleineren Archive ob. Einen
wichtigen Schritt auf der emgeschlagenen Bahn nach vorwärts bedeutet die
neue württembergische Gemeindeordnung vom 28. Juli 1906, wonach Ge-
meindearchivalien nur mit Genehmigung des Staatsarchives vernichtet oder
veräufsert werden dürfen.
Zu dieser straffen Organisation bildet das österreichische Archiv-
wesen ') einen starken Gegensatz. Hier fehlt jeder einheitliche Zug, jeder
Zusammenschlufs der Archive und vor allem das Interesse der Regierung
und der mafsgebenden Faktoren. So sehen wir, wie Archivdirektor Prof.
Meli (Graz) in seinem Vortrag über Archive und Archivwesen einer
österreichischen Landschaft (Steiermark) an einem Beispiele, nämlich
an dem des steiermärkischen Landesarchives ausführte, in Österreich nur
territoriale Einzelentwickelungen, denen wieder einzelne Persönlichkeiten, nicht
ein allgemein gültiger Plan, das Gepräge g^eben haben. In Steiermark war
es Erzherzog Johann, der spätere Reichsverweser des Jahres 1848, der im
Jahre 181 1 das Joanneumsarchiv in Graz als Zentralstelle der im Lande
verstreuten Archivalien ins Leben rief. Im Jahre 1868 wurde dann das
Archiv der steierischen Stände damit vereinigt und so das jetzige Landes-
i) Wer sich noch eingebender darüber nnterrichten will, den verweisen wir anf das
Werk GostaT Winters: Das neue Gebäude des k, u. h Haus-, Hof- und StaatS"
arehives in Wien (Wien 1903).
2) Vgl. darüber die AnfsSUe von Giannoni und Michael Majr in dieser
Zeitschrift 5. Bd., S. 97—116 nnd 315—330.
— 42 —
archiv geschafifen, und der Vortragende wäre auch dafür , das erst im
Jahre 1906 entstandene Statthaltereiarchiv damit zu vereinigen , falls die
Regierung bei ihrer völligen Gleichgülti^eit verharre. Zum Schlüsse stellte
Meli für die an den österreichischen Archiven zu leistenden Arbeiten als
Forderungen auf: Anlage von Archivkatastem und -inventaren und deren
VeröfifentlichuDg, Abfisissung von Archivgeschichten und Ausgabe jährlicher
Rechenschaftsberichte, und spricht die Hoffiiung aus, dafs ein Zusammen-
schlufs aller österreichischer Archivare zustande kommen möge, einerseits
zum g^enseitigen Austausch der Erfahrungen, anderseits zur Vertretung ihrer
Wünsche gegenüber der Regierung und den mafsgebenden Faktoren.
Im doppelten Sinne des Wortes femerliegende Verhältnisse beleuchtete
Archivdirektor S e c h e r (Kopenhagen ), der über die Ordnungsprinzipien
im dänischen Archivwesen, insbesondere das Provenienz-
prinzip sprach. Nach diesem Prinzip, das doch wohl ganz spezifische
Entwicklungsverhältnisse, wie sie eben in Dänemark gegeben sind, voraussetzt,
ist sowohl AufsteUung als auch Inventarisierung durchzuführen; eine Scheidung
von Urkunden und Akten tritt nicht ein. Die notwendige Gnmdlage für die
Durchführung des Prinzipes ist eine genaue Feststellung der Geschichte der
einzelnen Verwaltungskörper, namentlich hmsichtlich ihrer Einsetzung, Auf-
lassung und Kompetenz, und da in Dänemark die amtliche Adressierung an
die einzelnen Beamten erfolgt, die Ausforschung der Beamtenlisten der
früheren Jahrhunderte. Von den Inventaren mit den entsprechenden ge-
schichtlichen Darstellungen und Anleitungen zur wissenschafUichen Benutzung
smd bisher (1886 — 1899) 3 Bände erschienen.
Ein Spezialthema des modernen Archivwesens behandelte Archivrat Prof.
Warschauer (Posen) in seinem Vortrag: Die Photographie im Dienste
der archivalischen Praxis auf Gnmd seiner praktischen Erfahrungen im
photographischen Institute des Prof. Dr. Miethe an der technischen Hochschule
in Charlottenburg. Anstatt der üblichen Trockenplatten, welche für die gelb-
lichen und rötlichen Töne der Urkunden nicht empfindlich sind, emp&hl er die
Feuchtplatten oder speziell die panchromatischen Platten unter Anwendung von
Kontrastfiltern, wovon er sehr anschauliche Beispiele an Aufnahmen zeigte.
Die Zukunft dürfte übrigens den im Handel noch nicht erhältlichen ortho-
chromatisch - photomechanischen Platten gehören, die alle Vorzüge vereinen.
Besonders wies der Vortragende auf die Verwendung der Photographie zum
Lesbarmachen schwer entzifferbarer Schriften oder älterer Schriften auf
Palimpsesten hin, wovon die Besucher des Staatsarchives im photographischen
Atelier dieses Institutes Beispiele zu sehen Gelegenheit hatten. — Die Fort-
setzung der Dbkussion über das im Vorjahre in Angriff genommene Thema:
„Archivbenutzung zu fiuniliengeschichtlichen Zwecken" mufste wegen der
vorgeschrittenen Zeit fallen gelassen werden. Vorschläge sollen schriftlich
erstattet werden.
Den Vorsitz bei der Tagung, welche im kleinen Festsaale der Universität
stattfand, führte der Direktor des k. u. k. österreichischen Kriegsarchives,
Feldmarschalleutnant Exz. Emil Woinowich von Belobreska, der in
seiner Begrüfsungsansprache die Erwartung äufserte, dafs der Archivtag
„die Öffentlichkeit auf die Wichtigkeit des Archivwesens
aufmerksam machen werde, dem nicht überall jene Wert-
— 43 —
Schätzung zuteil wird, die es verdient. Auch werden die
Besitzer von Privatarchiven dadurch angeregt, ihre Archive
modernen Prinzipien gemäfs zu ordnen und der Öffentlich-
keit nutzbar zu machen'*. Er konnte in dieser Hmsicht auf das
Verzeichnia des KuefstekUschen Famüienarckivea in Q-reüenstein aus dem
Jahre 1615 hinweisen, welches Graf Karl Kuefstein herausgegeben und
den Teilnehmern am Archivtage gewidmet hatte.
Was den nächsten Archivtag anbelangt, so soll er von der Haupt-
irersanmilung des Gesamtvereines der deutschen Geschichts- und Altertums-
"vereine getrennt^) und entweder in Karlsruhe, Frankfurt oder
Speier abgehalten werden. Die Entscheidung wurde dem geschäftsfUhrenden
Ausschuß überlassen.
In enger Anlehnuog an das früher ') veröflfentUchte Programm fand die
diesjährige Hauptversammlung des GesaaitrereiOB der deatschen Ge-
schichts- und Altertumsvereiiie vom 34. bis zum 28. September in Wien
statt. 383 Personen nahmen daran teil, darunter 169 Wiener. Von den
173 Vereinen, die augenblicklich dem Gesamtvereine angehören, waren 51
vertreten. AUe Sitzungen wurden in der Universität abgehalten.
Ab Festgabe wurde den Teilnehmern von der „Gesellschaft für
Münz- und Medaillenkunde in Wien ^* eine schöne Bronzemedaille über-
reicht, die vom die Gestalt E. Mühlbachers, am Schreibtische sitzend
und eine Kaiserurkunde studierend, hinten die Universität Wien zeigt.
An Festschriften hatten der „Verein für Geschichte der Deutschen in
Böhmen** Dem sechsten Deutschen Archivtag in Wien und der Haupt-
Versammlung des Oesamtvereins der Deutschen Qeschichts- und Altertums^
4oereine einen besonderen, 195 Seiten starken Band mit Beiträgen von
H. Ankert, R. Batka, C. K. Blümml, H. Hallwich, A. Horcika,
R. Knott, J. Loserth, K. Ludwig, J. Neuvirth, G. E. Pazaurek,
V. Schmidt, L. Schönach, K. Siegl, K. Sommerfeldt, J. Stein-
fierz, O. Weber, L. J. Wintera (Prag 1906) und die „GeseUschaft
*fUr neuere Geschichte Österreichs** in Wien ebenfalls eine besondere „Fest-
gabe** den Teilnehmern der Hauptversammlung gewidmet, die unter dem
Titel Betträge zur neueren Qtsclächie Österreichs September 1906 Aufsätze
von G. Loesche, W. Bauer, H. Schütter, H. Uebersberger,
J. Lampel, H. Hallwich, E. Gräfin v. Lamberg, O. Freiherrn
y. Mitis, A. Fournier, J. Hirn, M. Mayr und G. Winter bringt
(Wien 1906). An weiteren Festschriften lagen vor: Festnummer [des AUer^
4umsoereins su Wien] (Wien 1906); Festnummer der Zeitschrift für öster-
reichische Volkskunde, zur Begrüßung der Teilnehmer der V. Sektion der
Hauptversammlung . . ., herausgegeben im Auftrage des Vereins für öster-
reichische Volkskunde von Dr. M. Haberlandt (Wien 1906); Festgabe
i) Gerade im Hinblick auf die Entwiddaog der ArchiTtage wurde die vierte Ab-
teUaog des Gesamtvereios , welche bisher dem Archi?wesen nod dea historischen HUfs-
^Wissenschaften gewidmet war, za einer AbteUnng fttr „Numismatik, Sphragistik^
Heraldik and Genealogie" amgebUdet and das Archivwesen aasgeschieden.
2) 7. Bd., S. 3 18 f.
4
— 44 —
den Teili)ebmem an der Hauptversammlung ... in Wien gewidmet vom-
Vereine für Landeakunde von Niederösterreich, redigiert von Dr. Max
Vancsa (Wien 190$. Sonderausgabe des Monatsblattes des Vereins für
Landeskunde von Niederösterreich V Nr. 7 — 9); Jiihrhuch der Gesellschaft
für die Geschichte des Protestantismus in Österreich . . . herausgegeben,
von Dr. Georg Laesche, XXV. Jahrgang, Jubiläumsband 1904 (Wien
und Leipzig 1904); Monatsblatt der numismatischen Gesellschaft in Wien^
VII Nr. 9 (September 1906); Monatshlatt der Kais, Kön. Heraldischen
Gesellschaft ,,Ädler'' VI Nr. 10 (Oktober 1906); Deutsche Geschichts-^
blätter VIII Nr. 1 (Oktober 1906); J. R. Bunker, Bas Bauernhaus der
Gegend von Slams im Oberinntale (Wien 1906. Sonderabdruck aiis den
Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien XXXVI, der dritteni
Folge VI); A. Dachler, Entwicklung des Bauernhauses (Wien 1903^
Sonderabdruck aus der Zeitschrift des österreichischen Ingenieur- und Archi-
tekten-Vereines 1903 Nr. 20); J. Lampe 1, Landeskunde und Geschichts--
Wissenschaft, in der Wiener Zeitung vom 33. September 1906; O. Frei-
herr V. Mitis, Studien sum älteren österreichischen ürkundenwesen^ heraus-
gegeben vom Verein für Landeskunde von Niederösterreich, I. Heft, als
Festgabe den Teilnehmern . . . gewidmet (Wien 1906); O. Redlich, Histo-
risch-geographische Probleme (Innsbruck 1906. Sonderabdruck aus den
Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung XXVII
Nr. 4). Endlich überreichten noch die Wiener Stadtverwaltung den Teil-
nehmern das vornehm ausgestattete Bilderwerk, Wien, eine Auswahl von
Stadtbildern, im Auftrage der Gemeinde Wien herausgegeben von Karl
Mayreder, (Wien o. J.) imd Graf Wilczek die aus Johann Paukerts^
Feder stammende historisch-topographische Skizze: Kreueenstein (Wien
1904).
Wie gewöhnlich, bestand die Tagung aus allgemeinen öffentlichen'
Sitzimgen, Abteilungssitzungen und einer Vertretersitzuog. In letzterer (Mitt-
woch 1 1 2 Uhr) wurde zimächst beschlossen, dafi in Zukunft aus der vierten:
Abteilung für historische Hilfswissenschaften das Archivwesen wegen der
selbständigen Archivtage ausscheiden und diese Abteilung fortan als eine
solche für Numismatik, Heraldik, Sphragistik und Genealogie
bezeichnet werden soll. Den Vorsitz dieser Abteilung hat Emil Bahr-
fei d t (Berlin) übemonmien. Sodann erstattete Archivrat Dr. Zimmermann
(Wolfenbüttel) den Kassenbericht. Im Anschluß hieran sprach Geh. Archiv-
rat Dr. Wolfram (Metz) den Wunsch aus, es möchte ein ständiger Betrag
für einen Berichterstatter eines großen Korrespondenzbureaus, der regelmäßig
den größten deutschen Zeitungen Berichte über die Hauptversammlung liefere,,
in das Budget eingestellt werden. Der Verwaltungsausschuß wird den Vor-
schlag, der im allgemeinen Anklang fand, näher prüfen. Außerdem wurden
noch die nötigen Personalfragen erledigt. Der erste und zweite Vorsitzende,
Geh. Archiyrat Bailleu und General v. Pfister (Stuttgart), sowie der
Kassenführer Archivrat Zimmermann (Wolfenbüttel), die nach dreijähriger
Wirksamkeit ihr Amt niederlegten, wurden einstimmig wiedergewählt. Für
die beiden satzungsgemäß ausscheidenden Beisitzer des Vorstandes, Geh.
Archivrat Grotefend (Schwerin) und Professor v. Zwiedineck — Süden-
horst (Graz), wurden Professor Oswald Redlich (Wien) und Oberregienmgs*-
— 45 —
rat Ermisch (Dresdeo) gewählt. Außerdem wurde beschlossen, den Vor-
stand noch um drei weitere Mitglieder zu vermehren; demgemäß wurden
Professor Anthes (Darmstadt), Professor Brenner (Würzburg) und
Professor Dragendorff (Frankfurt a. M.) in diesen hineingewählt. Zum
Schlüsse wurde als Ort der nächsten Hauptversammlung Mannheim be-
stimmt, indem der Vorstand die durch Professor Walter (Mannheim) über-
mittelte Einladung dieser Stadt dankend annahm. Über die Zeit muß noch
mit der Stadtverwaltung und namentlich mit der Leitung des Deutschen
Historikertages verhandelt werden, da beide Versammlungen im Herbst 1907
— die eine in Mannheim, die andere in Dresden — stattfinden sollen.
In der ersten allgemeinen Sitzung (Dienstag Morgen) hielt nach Er-
stattung des Geschäftsberichtes über das verflossene Vereinsjahr durch den
Vorsitzenden des Gesamtvereins, Geh. Archivrat Dr. Bailleu (Berlin), und
nach den üblichen Begrüßungsansprachen Universitätsprofessor Dr. Fournier
(Wien) einen Vortrag über Österreichs und Preußen-Deutschland
in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts^). In licht-
voller Darstellung schilderte er, wie sich Österreich dem durch die Erobe-
rung Schlesiens zur Großmacht ausgewachsenen preußischen Staate zu ver-
schiedenen Malen, beim Ausbruche der französischen Revolution, dann 1804
tmd vor allen Dingen auf dem Wiener Kongresse, zu nähern suchte, wie
das Einvernehmen aber immer wieder durch die besondere Politik Preußens
gestört wurde: 1795 zog es sich mit Rücksicht auf die in Aussicht stehende
Erweiterung seiner Grenzen durch Säkularisation rechtsrheinischen geistlichen
Gebietes vom Kriege gegen Frankreich zurück, 1805 dagegen, weil es hofite,
durch seine Neutralität das von den Franzosen bereits besetzte britische
Hannover zu erhalten; 18 14 endlich brachte die polnische und die sächsische
Frage beide Mächte auseinander, von denen Preußen mit Hilfe Österreichs
ganz Sachsen zu gewinnen, Österreich hmgegen mit Preußens Unterstützung
die auf die Erwerbung des Herzogtums Warschau gerichteten Pläne Rußlands
zu durchkreuzen gehoflt hatte. Die Annäherung 1813 war die letzte. Seit-
dem gmgen beide Staaten rivalisierend nebeneinander her, bis das Jahr 1866
dem leidigen Zustande ein Ende bereitete und wieder ein Zusammenwirken
beider Mächte, wenn auch in ganz anderen Formen als früher, ermöglichte.
Nicht minder großen BeiCedl als Fournier fand Generalmajor z. D.
Dr. V. Pfister am Abend des gleichen Tages mit seinem in öffentlicher
Sitzung gehaltenen Vortrage über den Tag von Jena, seine politischen
und militärischen Voraussetzungen. Namentlich die lebhafte und
anschauliche Schilderung der beiden ziemlich ähnlich verlaufenen Schlachten
Ton Jena und Auerstädt fesselte die Aufineiksamkeit der Zuhörer in hohem
Grade. Beide Schlachten wurden, abgesehen von groben Fehlem, die bereits
Tor der Schlacht gemacht und vom Vortragenden gebührend berücksichtigt
wurden, hauptsächlich durch die Anordnung eines „stehenden Feuergefechtes ^*
mitten im Angriffe verloren. Der Segen der beiden schweren Niederlagen
war die unerbittliche Selbstkritik, die die preußische Regierung an sich übte.
Man fragte sich, wie dieses Unglück habe passieren können, und erkannte
i) Vollständig gedruckt in der (Wiener) Neuen Freien Preite vom 28. September
1906, MorgenbUtt.
4*
— 46 —
als Hauptfehler: die Unentschlossenheit der leitenden Kreise, die viel zu
sehr mit der Unterstützung durch Rußland rechneten, das blinde Vertrauen
auf Gott, der stets der gerechten Sache den Sieg verleihe, die törichte
Sparsamkeit, die so weit ging, dais man einmal sogar an die Einrichtung von
Milizen dachte, die geistreichelnde Richtung der Rriegswissenschaft, die mit
dem Verstände allein Siege gewinnen zu können glaubte, und vor allem auch
die mangelhafte Ausbildung der Armee. Diese und noch manche andere
Fehler erkannte man 1806 klar und ging schonungslos gegen sie vor. Darin
liegt die große Bedeutung der Niederlagen von 1806, die Bismarck bei seinem
letzten Besuche in Jena treffend mit den Worten ausgedrückt hat: „Erst in
reiferen Jahren habe ich einsehen gelernt, welchen Ring in der Kette der
göttlichen Vorsehung für die Entwickelung unseres deutschen Vaterlandes die
Schlacht bei Jena gebildet hat. Ich kann mich nicht freuen bei dieser
Erinnerung, mein Herz kann es nicht, wenn auch mein Verstand mir sagt,
daß, wenn Jena nicht gewesen wäre, Sedan vielleicht auch nicht in unserer
Geschichte seinen glorreichen Platz gefunden hätte.*'
Der Mittwochmorgen brachte in unmittelbarer Aufeinanderfolge zwei
weitere gehaltreiche Vorträge. Zunächst sprach Universitätsprofessor Dr.
Schröder (Wien) in öffentlicher Sitzung über die Urreligion der
arischen Völker. Alle Arier, die Inder, Germanen, Kelten, aber auch
die weniger begabten Letten, Litauer usw., haben ein besonders feines Natur-
gefühl, das sich in ihrer Religion wiederspiegelt. Am stärksten tritt bei allen
die Sonnenverehrung hervor. Der Kult der Sonnenfeste, welcher Tempel, Priester,
Opfer, Gebete und Lieder nicht kannte, bestand lediglich in symbolischen
Handlungen, die das Aufgehen des Sonnengestims versinnbildlichen und
seine belebende Wirkung verstärken sollten. Solche symbolische Handlungen
waren: das Werfen von Scheiben in die Luft, das Rollen von Rädern
(später auch Eiern) ins Wasser (wodurch die fruchtbringende Vermischung
von Wärme und Feuchtigkeit angedeutet werden sollte), das Schießen nach
der Scheibe, heftiges Tanzen, Schaukeln, Springen, Rennen, Ringen (Ur-
sprung der Wettkämpfe, u. a. auch der Olympischen Spiele!). Von all
diesen heftigen Bewegungen erwartete man eine gedeihliche Rückwirkung auf
die Arbeit. — Neben den Feuer- spielten die Wasserbräuche (Bespritzen
mit Wasser und dgl.), die mit dem sehr ausgebildeten Fruchtbarkeitsritus
in engem Zusammenhange standen, eine große Rolle. — Den Lebens-
standen die Totenfeste gegenüber, die aus dem Glauben an das Forüeben
der Seele nach dem Tode hervorgingen. Die Seelen der Abgeschiedenen,
die im ^\^d und Sturm durch die Lüfte ziehen (der wilde Jäger, Wotan!),
suchte man durch mimische Darstellungen (vgl. die Schimmelreiter, die
Dionysien usw.) an sich zu fesseln, weil man auch ihrer Gegenwart befruchtende
Wirkung zuschrieb. — Mit dem Hinweise auf die dritte Wurzel der arischen
Religion, den Glauben an einen guten Gott, der sich den Menschen im
klaren Himmel, nur wenn er grollt, im Gewitterhimmel zeigt und sich bei
einer Gruppe arischer Völker zum Kriegsgott umgewandelt hat, schloß der
Vortragende seine höchst anregenden Ausführungen.
An der Hand trefflicher Skioptikonbilder berichtete hierauf Professor
Dr. Dragendorff (Frankfurt a. M.), Direktor der römisch-germanischen
Kommission des k. deutschen archäologischen Instituts, über die Alter-
— 47 —
tumsforschungen in Nordwestdeutschland. Aus der Literatur,
führte Redner aus, habe man sich nur ein sehr unvollkommenes Bild von
den wichtigen Vorgängen in dem Gebiete zwischen Rhein, Elbe, Nordsee
und Ruhr während der Römerherrschaft machen können; aber auch die
Ausgrabungen hätten zunächst falsche Vorstellungen erweckt, weil man un-
kritisch alles, was man &nd, auf die Römer bezog. Jedes Kastell sollte
AHso, jeder Bohlendamm die pantea langi des Caedna sein. Erst seit den
Untersuchungen Schuchhardts, den neuerdings Rubel wirksam unterstützt hat,
erkannte man, namentlich mit Hilfe der gefundenen Scherben, eine Anzahl
der aufgedeckten Befestigungen (z. B. die Heisterburg) als karolingisch,
andere (z. B. die Düsselburg) als aus der sächsischen Periode stammend.
Die wenigen übrig bleibenden Kastelle sind sicher römisch, so vor allem
Haltern. Die Ausgrabungen, die hier bei der „St-Annabuig** begannen,
dann sich dem in drei zeitlich verschiedene Anlagen zerMenden „UferkasteU*^
zuwandten und schließlich das an Stelle eines älteren Feldlagers stehende
„große Lager*' zutage förderten, lieferten den sicheren Maßstab für die
Feststellung anderer Römerkastelle. Was man in Haltern fimd,' mußte sich
auch anderwärts nachweisen lassen. Danach sind Castra vetera bei
Xanten und das Kastell bei Ober- Aden (in West£üen) sicher römischen
Urspnmgs, wahrscheinlich auch die Altenburg bei Metze in Hessen, in
der das Mattium des Tacitus gefunden sein dürfte. Dagegen weiß man
noch nichts Rechtes mit der Befestigung bei Kneblinghausen anzufangen ;
vermutlich hat man hier eine germanische Siedlung in römischer Form vor sich.
Den fünften und letzten öffentlichen allgemeinen Vortrag hielt Mittwoch
Abend Hofrat Dr. Piper (München) über Österreichische Burgen,
in dem er, fußend auf seiner kürzlich in zweiter Auflage erschienenen
Burgenkunde, die an österreichischen Burgen besonders zu bemerkenden
Eigentümlichkeiten hervorhob, nachdem er zuvor den teilweise recht bedenk-
lichen Entwickdungsgang der Burgenkunde als Wissenschaft kurz skizziert
hatte. Als solche spezifisch österreichische Eigentümlichkeiten bezeichnete
Redner, der zur Belebung des Verständnisses eine Auswahl von Illustrationen
aus seiner Burgenkunde hatte verteilen lassen, die durchgängige Ein&chheit
der Architektur, die Ausgestaltung des Pallas, des herrschaftlichen Wohn-
raumes, zu einem verteidigungsfähigen Bauwerke, die Ausbildung der Küche
zu einem besonderen Gebäude, die außer dem Turmverließe noch an be-
sonderen Stellen angebrachten Gefängnisse tmd die Herrichtung der verschie-
densten Verteidigungsvorrichtungen an den Steiimiauem aus Holz (z. B.
hölzerne Schießscharten, Pechnasen, Wehrgänge und Sturmpfähle auf den
Brüstungen). Weiter betonte der Vortragende, daß Österreich mehrere be-
sonders schöne Felsenburgen, die sehr selten sind, und Grottenburgen besitzt;
einige Burgen zeichnen sich auch durch die Kühnheit ihrer Bauweise oder
durch die festungsartige Anlage aus. Mit einigen, teilweise herben Bemer-
kungen über verständiges und unverständiges Restaurieren von Burgen schloß
der Redner : Intra muros peecatur et extra Auch bei den Burgen empfiehlt
sich im allgemeinen der m der Denkmalspflege jetzt anerkannte Grundsatz:
erhalten, nicht wiederherstellen!
Ebenso marmigfaltig, wie die Themen der allgemeinen Vorträge, waren
die in den Abteilungssitzungen verhandelten Gegenstände.
— 48 —
Die I. und U. Abteflung hielt Dienstag und Mittwoch zwei Sitzungen ab.
In der Dienstagssitzung berichtete zunächst Professor Dr. Anthes (Dannstadt)
über die Organisation der römisch-germanischen Lokalforschung
in Westdeutschland. Er gedachte der Wirksamkeit der einzelnen Vereine,
•die durch den Zusammenschluß zu einem Gesamtvereine wesentlich gefördert
worden ist, wies auf das Eintreten der Regierungen, Städte und anderer
Korporationen für die Untersuchungen hin und hob die Erfolge der Limes-
kommission hervor, die von den Vereinen unterstützt wurde, obwohl sie
diesen an der Forschung selbst keinen Anteil gewähren konnte. Weiter
•erwähnte der Berichterstatter die neugeschaffene römisch - germanische Kom-
mission des archäologischen Institutes, deren Leitung dadurch, daß sie in
steter Berührung mit dem Gesamtverein und den einzelnen Vereinen blieb,
das bisherige Mißtrauen in volles gegenseitiges Vertrauen wandelte, und
die Gründung des südwestdeutschen imd des nordwestdeutschen Verbandes
für Altertumsforschung '). Zum Schlüsse betonte Redner die Notwendigkeit der
Denkmalspflege auch für die Bodenaltertümer. Diese erfordere, daß alle die
genannten Faktoren an der Errettung dessen mitarbeiteten, was durch die
fortschreitende Bodenkultur mehr und mehr gefährdet wird.
Ln Anschlüsse hieran machte Universitätsprofessor Hofrat Dr. Bor mann
^Wien) interessante Mitteilungen über die Arbeiten der österreichi-
schen Limeskommission ^), die sich hauptsächlich auf die Kastelle
Carnuntum und Laureacum (bei Eng) erstreckte. Besonders beachtens-
wert ist die kürzlich erfolgte Auffindung emer Bronzetafel mit Überresten des
alten Stadtrechtes von Laureacum.
Die Mittwochsitzung der I. und IL Abteilung brachte vier Vorträge.
An erster Stelle sprach Museumsdirektor Dr. Seger (Breslau) über Spuren
römischer Kultur in Schlesien. Immer betonend, wie vorsichtig
dieser Gegenstand behandelt sein wolle, führte er aus, daß eine alte Handels-
straße, die Schlesien von Süden nach Norden durchzog, im allgemeinen
nachgewiesen sei, im einzelnen herrsche aber über ihren Verlauf noch keine
Klarheit. Nur eine einzige Station stehe bisher fest: Kalisia («s Kaiisch a. d.
Prosna in Polen) wo alte Gräber (darunter allerdings auch Fälschungen !) auf-
gedeckt wurden. Funde römischer Gerätschaften, Münzen und dergleichen be-
wiesen an sich noch nicht, daß auch wirklich die Römer bis an diese
Stellen gekommen seien. Große Münzdepots hätten sich z. B. als Beute
schlesischer Krieger erwiesen. Ebenso seien die meisten römischen Gerät-
schaften und Gebrauchsgegenstände Importware. Für das zweite nachchrist-
liche Jahrhundert sei unmittelbare Einfuhr anzunehmen. Dagegen stammten
die dem 3. und 4. Jahrhundert angehörenden Römerfunde aiis den Nach-
barprovinzen und seien nicht aus römischen Werkstätten hervorgegangen.
Nur eine ganz intensive Bodenforschung könne Klarheit über die Verbreitung
der Römer in Schlesien geben, die sich aus der Literatur nur in allgemeinen
Umrissen erkennen lasse.
Sodann berichtete Professor Dr. Hoernes (Wien) über die Hall-
stätter Gräberfunde und ihre wissenschaftliche Verwertung.
1) Vgl. darüber diese ZeiUchrift 2. Bd., S. aaS— 234 und 6. Bd., S. 81.
2) Vgl. darüber ebenfalls diese Zeitschrift i. Bd., S. I95— »99 «nd 5- Bd., S. 286—29$.
— 49 —
Schon längst fühlt man in der Gelehrtenwelt die Notwendi^eit, die Funde
des Gräberfeldes von Hallstatt genau zu untersuchen, um eine scharfe Periodi-
siening der Hallstattzeit vornehmen zu können. Der Inhalt von 1036 Gräbern
ist im NaturwissenschafUichen Hofmuseum zu Wien vereinigt, der von 7000
weiteren Gräbern in alle Winde zerstreut. Alle diese Gegenstände zu in-
ventarisieren, ist Hoemes seit Jahren bemttht Unter Vorführung zahlreicher
Skioptikonbüder legte er Rechenschaft über seine bisherige Tätigkeit ab.
Die mühselige Arbeit ist noch lange nicht beendet, aber schon jetzt lassen
sich deutlich eine ältere und eine jüngere Hallstattepoche unterscheiden,
innerhalb dieser wieder die Männer-, Frauen- und Kindergräber.
Ebenfalls zahlreicher Lichtbilder bediente sich Professor Dr. Kubit-
schek (Wien) bei seinem Vortrage über Wien in römischer Zeit.
Nachdem er einleitungsweise die Bedeutung der Lage Vindobonas charakteri-
siert und auf die ungemeinen Schwierigkeiten hingewiesen hatte, denen gerade
in Wien die Bodenforschung von jeher begegnet ist, zeigte er zunächst an
einem Stadtplane die Ausdehnung der alten römischen Befestigung, deren
Lage seit Brenners Forschungen einwandfrei klargestellt ist, und führte
dann eine Reihe von Funden im BUde vor.
Den Schluß der Sitzung benutzte Kustos Dr. Frankfurter (Wien)
dazu, mit einer reichen Auswahl trefiflicher Skioptikonbüder, denen er er-
läuternde Bemerkungen hinzufügte, auf den für Sonnabend angesetzten Aus-
flug nach Carnuntum vorzubereiten.
Gleichzeitig mit der I. und IL tagte am Dienstag und Mittwoch Nach-
mittag die V., der Volkskunde gewidmete AbteUung unter dem Vorsitze
Universitätsprofessors Dr. Brenner (Wtirzburg). Am Dienstage wurde zu-
erst über den von Oberlehrer Dr. Wo ssidlo (Waren in Mecklenburg) schrift-
lich eingereichten Antrag beraten, eme volkskundliche Zentralstelle
zu schaffen, die die Aufgabe habe, alle volkskundliche Literatur zu sammeln,
über diese jedem Forscher auf Wunsch Auskunft zu geben und überhaupt
alle Fäden der weit verzweigten volkskundlichen Forschung zu vereinigen.
Brenner, der in Abwesenheit Wossidlos den Antrag emgehend begründete,
warnte gleichzeitig vor einer zu weiten Ausdehnung des Planes. Die
Schwieri^eiten seien sehr grod; namentlich sei zunächst noch kein Geld
vorhanden. Man müsse piit Kleinem beginnen. Derselben Ansicht waren
Geh. Archivrat Dr. Grotefend (Schwerin) und Geh. Archivrat Dr. Wolfram
(Metz), die Wossidlo selbst als die geeignete Kraft bezeichneten, die Gnmd-
lagen der ZentralsteUe zu schaffen, auf denen später weitergebaut werden
könne. Nachdem noch Dr. Schullerus (Grodschenk in Siebenbürgen),
Brenner, Wolfram und Oberregierungsrat Dr. Ermi seh (Dresden) über
die wünschenswerte ZusammensteUung der in den Vereinszeitschriften ent-
haltenen Arbeiten zur Volksktmde gesprochen hatten und von Grotefend auf
den Bericht über die volkskundliche Literatur, den der Verband der Volks-
kundevereme 1903 veröffentlicht hat, hingewiesen worden war, erklärte die
V. AbteUung einstimmig „die Errichtung einer Zentralstelle für
Volks kund liehe Bibliographie und Stoffsammlung für dringend
notwendig imd eimächtigte den ständigen Ausschuß, seme Beratungen
hierüber fortzusetzen, um auf der nächsten Hauptversaomilung bestimmte
Vorschläge vorlegen zu können^'. In einem Zusatzantrag ersuchte sie „alle
— 60 —
Tolkskundlichen Forscher, bibliographische Notizen oder Sonderabzttge ihrer
Arbeiten Herrn Dr. Wossidlo zur Verfügung zu stellen**.
Außer dem Wossidloschen brachte Brenner noch einen anderen
schriftlichen Antrag ein, nämlich den von Dr. Lauffer (Frankfurt a. M.),
die V. Abteilung in Zukunft „Abteilung für Volks- und ^Altertumskunde'* zu
nennen. Eine deutsche Archäologie gäbe es nach der Ansicht des Antrag-
stellers noch nicht. Er rege deshalb vor allen Dingen die Begründung eines
deutsch - archäologischen Museums an, das nicht nur, wie die bisherigen
Volkskundemuseen, die alte Kunst imd das Kunstgewerbe, sondern auch die
anderen Realien berücksichtige und so die Unterlagen zu einer deutsch-
archäologischen Forschung biete. Unter lebhafter Zustimmung der ganzen
Versapmilung und namentlich auch der Herren Wolfram, Grotefend,
Ermisch und Schullerus, die sich zum Worte meldeten, protestierte
der Direktor des gennanischen Museums Dr. v. Bezold gegen diese Auf-
fiassung. Das gennanische Museum sei doch wirklich ein Museum, wie es
Dr. Lauffer fordere. Besseres archäologisches Material könne keine andere
Anstalt schaffen. Einen Unterschied zwischen Altertumskunde und Volks-
kunde machen zu wollen, sei verfehlt Wissenschaftlich betriebene Volks-
kunde sei Altertumskunde. Emstimmig wurde mfolgedessen der Antrag
Lauffer abgelehnt.
Einen höchst eigenartigen Abschluß erhielt die erste Sitzung der Volks-
kundeabteUung durch den Vortrag von Professor Dr. Po mm er (Wien) über
Juchzer und Jodler der deutsch-österreichischen Alpenländer.
Nachdem Redner sich in liebenswürdigem Plaudertone über die Bedeutung dieser
Art unverf^chter Volkskunst für die Lösung der viel umstrittenen Frage
nach der Entstehung des Volksliedes, ferner über den Unterschied der beiden
schwer definierbaren Begriffe Juchzer und Jodler, über die Eigenart beider
und die Schwierigkeit der Forschung verbreitet hatte, gab er eine Anzahl
von Juchzem und Jodlern meisterhaft zum besten, bei den äußerst kimst-
voUen zwei- und dreistimmigen Jodlern trefflich unterstützt von den Herren
Dr. K. Kronfuß und Fr. Kratzsch. Jedem Juchzer und Jodler ließ er
eine kurze Bemerkung über den Fundort, die musikalische Besonderheit und
ähnliche Dinge vorausgehen. Die Versammlung dankte durch begeisterten
Beifall Professor Pommer, der sich um die Erforschung dieser eigentüm-
lichen, wegen ihrer ganz besonderen Modulationen und Rhythmen sehr
schwer aufzuzeichnenden Volksweisen große Verdienste erworben hat. Drei
Sammlungen hat er bereits teils bei A. Robitschek, teils bei Bosworth & Co.
in Wien veröffentlicht: zunächst in emem Bändchen „Jodler und Juchzer*' (von
ersteren 68, von letzteren la), dann in einer neuen Folge 9,252 Jodler und
Juchezer'*, endlich noch einmal „444 Jodler und Juchezer aus Steiermark
und dem steirisch-österreichischen Grenzgebiete".
In der zweiten Sitzung der Volkskundeabteilung (Mittwoch Nachmittag) be-
richtete zunächst der Vorsitzende, Professor Dr. Brenner, über die Ergebnisse
der versendeten Fragebogen zur Bauernhausforschung und gab einige
Ratschläge für die Fortsetzung der Sammelarbeit auf diesem Gebiete ^). Bisher
haben von den 172 zum Gesamtvereine gehörenden Vereinen leider nur vier
I) Vgl dazn diese Zeitschrift 7. Bd., S. 83—85 und S. 303->ai4.
— 51 —
die Fragebogen beantwortet zurückgeschickt. Hoffentlich trägt die Feststel-
lung dieser wenig erfreulichen Tatsache dazu bei, weitere Vereine zur Ein-
sendung zu veranlassen. — In Österreich ist man bereits damit beschäftigt«
einen Atlas der Bauernhausformen zu bearbeiten. Näheres hierüber
gab Ingenieur Dach 1er (Wien) bekannt. — Daß sich auch die Hausbau-
forschimg, ebenso wie alle anderen volkskundlichen Forschungen, nicht auf
deutsches Gebiet allein beschränken darf, sondern ihre Grenzen weiter ziehen
muß, betonte Kustos Professor Dr. Haberlandt (Wien). Denselben Gnmd-
satz vertrat Dr. Schullerus, der zunächst einen Überblick über die Ent-
wicklung der Volkskunde in Siebenbürgen gab, dann aber die wichtigsten
Probleme volkskundlicher Forschimg und die Methode ihrer Behandlung er-
örterte.— Zwischen den beiden letztgenannten Rednern sprach noch Universitäts-
professor Dr. M e ringe r (Graz), der die Frage: Woher stammt das ober-
deutsche Haus? und weiter die daraus sich ergebende Frage: Woher
stammt die Stube und der Stubenofen? zu beantworten suchte. Seme
Antwort lautete: Der Ofen stammt daher, woher das Wort Kachel konmit,
nämlich aus dem römischen Wohnhause.
Die III. und IV. Abteilung hielt nur eine einzige Sitzung Mittwoch
Nachmittag 3 Uhr unter Vorsitz von Oberregierungsrat Dr. Ermisch (Dresden)
ab. In dieser legte Privatdozent Dr. Wolf (Freiburg i. Br.) die Aufgaben
und Grundsätze der deutschen Territorialpolitik in der Re-
formationszeit klar. Von der aufiUlligen Erschemimg ausgehend, daß
Ranke in den Römischen Päpsten dem Protestantismus und Katholizismus
das Streben nach Weltherrschaft zuerkennt, in semer Deutschen Geschichte
im Zeitalter der Reformation dagegen für den Protestantismus diese Tendenz
ableugnet, erklärte er den Unterschied damit, daß Ranke in den Päpsten
die Entstehung der konfessionellen Glaubensnormen, in der Deutschen Ge-
schichte aber die Entwicklung der Politik der protestantischen Reichsstände
im Auge hat. Deshalb schreibt er auch nur dem Protestantismus, nicht
dem Katholizismus die Selbstbeschränkung zu. Letzterer besaß im Papst-
und Kaisertum Institutionen, die beide aus der Vertretung kirchlicher An-
sprüche ihre Rechtstitel ableiteten. Aber Päpste und Kaiser mußten vielfach
andere politische Ziele verfolgen, und die katholischen Reichsstände standen
erst recht unter solchen anderen praktischen Erwägungen. Das stellte sich
namentlich beim Wormser Edikt heraus. Vor der Reformation hatten die
Landesobrigkeiten die rein religiösen Fragen von den kirchenpolitischen
getrennt: in ersteren hatten sie die Entscheidung den kirchlichen Behörden
überlassen, in den kirchlichen Verwaltungsfragen dagegen einen eigenen
Machtbereich beansprucht, was sich teils in selbständigen landesherrlichen
Maßr^eln, teils in den Gravamina der deutschen Nation kundgab. Die
Stellung der Landesobrigkeiten zur lutherischen Bewegung war darum keine
konstante. Sie nahmen an&ngs Partei nicht sowohl für oder gegen die
Gesamtheit des reformatorischen Programms, sondern für oder gegen die
einzelnen Elemente, aus denen sich das Programm zusammensetzte. An
eine kriegerische Verfolgung über ihre eigenen Landesinteressen hmaus dachten
sie jedoch nicht. Der Ausdruck dieser Anschauungen war der Speirer
Reichsabschied von 1526, der gnmdsätzlich durchaus mit dem Augsburger
Religionsfrieden übereinstimmt. Seine Durchführung aber hinderte Karl V.
— 52 —
durch sein Eingreifen und bereitete so seinen eigenen Sturz vor, indem er
damit den Anlaß zur Bildung des Schmalkaldischen Bundes gab.
Überreichen Stoff hatten die fünf vereinigten Abteilungen in ihren beiden
Sitzungen am Dienstag früh (ii Uhr) und Donnerstag früh (9 Uhr) zu be-
wältigen. Die ganze erste Sitzung wurde mit Erörterung der Frage aus-
gefüllt, in welcher Weise eine Sammlung der historischen Nach-
richten über elementare Ereignisse und physisch-geographische
Verhältnisse vorgenommen werden könne? Wie Dr. Swarowsky, der
Geograph des hydrotechnischen Zentralbureaus in Wien, ausführte, werden
vom praktischen Standpunkt aus genaue Übersichten über frühere Wasser-
katastrophen, strenge Winter, große Dürren, Erdbeben, Stürme, Springfluten
usw. notwendig gebraucht Die Techniker und die Nationalökonomen möchten
sich nach der Periodizität richten, die offenbar bei allen diesen Elementar-
ereignissen herrscht. Die Arbeiten, die z. B. über Wasserkatastrophen in
Bayern, Sachsen, am Rhein usw. vorhanden sind, genügen in kemer Weise.
Die Naturereignisse müssen kritisch gesammelt werden, femer nicht nur für
ein Land, sondern für größere Gebiete, womöglich für ganz Europa. Diese
kritische Arbeit können aber nur die Historiker leisten. Sie möchten sich
also der Arbeit, wenn auch vielleicht nur nebenher, annehmen und damit
den auf einer Konferenz September 1905 geäußerten Wunsch des internatio-
nalen meteorologischen Komitees erfüllen: „daß aus dem historischen
Quellenmateriale der verschiedenen Staaten Zusammenstellungen über abnorme
Witterungsereignisse, wie Überschwemmungen, Dürren, strenge Winter und
dergleichen verfaßt und der Öffentlichkeit übergeben würden.**
Universitätsprofessor Dr. Redlich (Wien), der seinen auf dem letzten
Historikertage gehaltenen Vortrag über Historisch-geographische Probleme ') in
einer Anzahl von Exemplaren zur Verfügung stellte, trat als Korreferent
warm für die Anregungen der meteorologischen Konferenz ein , wenn er es
auch ab unmöglich bezeichnete, daß die Sammelarbeit „nebenbei" von Histo-
rikern und Archivaren betrieben werden könne. Er wies des näheren dar-
auf hin, wie eng sich diese Forderungen mit den Bestrebungen der neuer-
dings so eifrig betriebenen historisch-geographischen Studien berührten, wie
sehr aber auch vom rein geschichdichen und vom wirtschaftsgeschichtlichen
Standpunkt aus Arbeiten, wie die verlangten, zu wünschen seien. Der Ver-
lauf der Kriege habe ja jederzeit wesendich von der Bodengestaltung und
von Witterungsemflüssen abgehangen; um aber zu erkennen, wie unmittelbar
wirtschaftsgeschichtliche und physische Vorgänge miteinander zusammen-
hingen, z. B. Hungersnöte und Klimaschwankungen, brauche man bloß die
Ergebnisse Curschmanns {Hungersnöte im MittdaUer) mit denen
Brückners {Klimaschwankungen seit 1700) zu vergleichen. Ähnlich werde
es mit den BevöUcerungsschwankungen und verwandten Erscheinungen sein.
Aus der sich anschließenden lebhaften Debatte, an der sich die Herren
Oberhummer, Ermisch, Grotefend, Gmelin, Brückner und
Wolfram beteiligten, sei hervorgehoben, daß Universitätsprofessor Dr. Ober-
hummer (Wien), nicht ohne Widerspruch zu finden, die Erhebungen auch
auf die Veränderungen der Flora und Fauna ausgedehnt zu sehen wünschte
i) 8. oben S. 44.
— 63 —
und auch den Orient mit zu berücksichtigen empfkhl, daß Universitätspro-
fessor Dr. £. Brückner (Wien) auf ausgezeichnete statistische Quellen über
Klimaschwankungen imd dergleichen in den Gemeindearchiven aufoierksam
machte, wie er sie namentlich in weinbauenden Gegenden Frankreichs, aber
auch stellenweise in Deutschland gefunden habe, und daß endlich Pfarrer
Dr. Gmelin (Großgartach in Württemberg) auf die Kirchenbücher als gute
Hilfsmittel für die Erkenntnis von Bevölkerungsschwankungen und ähnlichen
Erscheinungen hinwies. Zu der Bildung des Ausschiisses für die Sammlung
der Elementarereignisse (Antrag Er misch) kam es erst in der zweiten Sitzung
<ier fünf vereinigten Abteilungen am Donnerstag, und zwar wurden in diesen
die Herren Swarowsky, Oberhummer^ Brückner, Ermisch, Grote-
fend und Wolfram gewählt.
Ln übrigen wurde in dieser letzten Sitzung, in der Professor Redlich
11. a. die ersten Lieferungen des historischen Atlasses der öster-
reichischen Alpenländer vorlegte und dabei der unvergänglichen Ver-
•dienste Eduard Richters gedachte, über den Stand der vom Gesamtverein
4mgeregten oder geförderten Unternehmungen berichtet.
Zunächst gab Grotefend, in freier Anlehnung an das von v. Thudich-
um eingeschickte Referat, einen Überblick über den Stand der Grund-
kartenarbeit in den verschiedenen deutschen Staaten, nachdem er zuvor
noch einmal den Wert der Grundkarten gegen die mannigfachen Angriffe
verteidigt hatte, die hauptsächlich durch den unglücklich gewählten Titel
^, historische*^ Grundkarten hervorgerufen worden seien; u. a. meinte er,
daß in Hannover die viel gerühmten „Amt^karten*^ die Grundkarten in
keiner Weise ersetzen könnten; wenn der historische Atlas des Königreichs
Hannover auf dieser Unterlage aufgebaut werde, würde das Ergebnis durch-
aus unbefriedigend sein. — Aus der folgenden, ziemlich ausgedehnten Debatte
ergab sich nicht viel Neues. Gymnasialprofessor Dr. Küster (Hanau) teUte
die guten Erfahrungen mit, die man in Hessen mit den Grundkarten gemacht
habe, Archivsekretär Dr. Giannoni (Wien) setzte auseinander, daß in Öster-
reich die Katastralkarten die Grundkarten entbehrlich machten, mußte aber
allerdings auf Grotefends Einwurf zugeben, daß der Maßstab dieser
Karten (ungeMr i : 127000) wenig vorteilhaft sei. Er misch erklärte, daß
man für Sachsen mit Hilfe der aus dem Ende des 16. Jahrhunderts stammen-
den Öderschen Karte die große Beständigkeit der Gemeindegrenzen nach-
gewiesen habe. Geh. Archivrat Dr. Krieger (Karlsruhe) lobte die Leipziger
Zentralstelle für Grundkarten als eine ungemein notwendige und praktische
Einrichtung, endlich äußerte sich auch noch Redlich über die Grundkarten.
Er erkannte ihren Wert als Zeichenkarten vollkommen an und versprach, daß
sich in Österreich die Kommission des historischen Atlasses noch einmal
mit der Grundkartenfrage befassen tmd vor aUem erwägen wolle, ob von
der Katastralkarte etwa bUlige VervielfiUtigungen hergestellt werden könnten.
Über die Archivinventarisationen lag auch nur ein schrifUicher
Bericht von Armin Tille (Leipzig) vor, der von Bai Heu in seinen Haupt-
punkten bekannt gegeben wurde. Es ist darin der Versuch gemacht,
unter systematischem Durchgehen der Deutschen Bundesstaaten und der Pro-
vinzen Preußens den gegenwärtigen Stand der Pflege und Inventarisation der
kleineren Archive zu beschreiben und so zu erkennen zu geben, was geleistet
— 64 —
isty aber auch die Stellen zu bezeichnen, an denen die entsprechende Arbeit
noch getan werden muß. Nachdem durch die Änderung des Namens der
IV. Abteilung das Archivwesen nicht mehr in den Arbeitsbereich des Gesamt-
Vereins Mt (s. oben S. 44), darf seine Tätigkeit für die ArchivinventarisatioQ
im ganzen als abgeschlossen betrachtet werden.
Über die teils schon vorhandenen, teils noch im Entstehen begriffenen
historisch - topographischen Wörterbücher berichtete Wolfram, dabei noch-
mals die von dem Gesamtverein ausgearbeiteten „Vorschläge für die Aus-
arbeitung historischer Ortsverzeichnisse" ') und ihre Entstehung streifend. Er
gedachte der sehr breit angelegten Topographie von Niederösterreich , die
bis zum M gediehen ist, des von A. Krieger musterhaft bearbeiteten
und bereits in zweiter Auflage erschienenen Topographischen Wörterbuches des
Großhereogtums Baden, der beiden topographischen Werke in den Reichs-
landen {Das Beichsland Elsaß-Lothringen und Historisch-topographisches
Wörtertmch des Elsaß von Claufi) und endlich der historischen Oitsver-
zeichnisse, die in Posen, Westpreufien, Hessen und dem Königreich
Sachsen in Angriff genommen worden sind. Über letzteres, das von Dr. M e i c h e
im Vereine mit Dr. Pilk und O. Mörtzsch schon bedeutend gefördert
worden ist und nach den alten Ämtern bearbeitet wird, gab Er misch noch
genauere Aufschlüsse, ebenso Kustos Dr. Van es a (Wien) über die
Topographie von Niederösterreich. Nach einigen kurzen Bemerkungen von
Dr. Fuchs (Braunkirchen) über die Schwieri^eit, die richtige moderne
Schreibweise der Ortsnamen zu ermitteln, und von Gmelin über die not-
wendige Aufnahme statistischer Zahlenangaben (Bevölkerungsziffern in den
verschiedenen Zeiten), wie man sie trefflich aus den Kirchenbüchern gewinnen
könne, beendete Referent die Debatte mit einem Schlußwort, in dem er
betonte, dafi es natürlich jedem Bearbeiter historisch-topographischer Nach-
schlagewerke freis^nde, die „Vorschläge** nach seinem Ermessen zu erweitem
oder einzuschränken; sie sollten nur einen allgemeinen Anhalt geben.
Zum Schlüsse berichtete Archivrat Dr. Beschorner (Dresden) über den
Stand der Flurnamenforschung in Deutschland, nachdem die Ver-
sammlung davon Kenntnis genommen hatte, daß über die Kirchenbücher-
Verzeichnisse Amtsgerichtsrat Krieg (Sangerhausen), an Stelle des leider
erkrankten, sonst regelmäßig bei den Hauptversammlungen anwesenden Archivrats
Jacobs einen ausführlichen Bericht eingesandt habe, der in dem Protokoll und
im Korrespondenzblatt abgedruckt werden wird. Auf die ziemlich umfän^che
Literatur zur Flumamenforschung, die seit 1 903 (der Erfurter Tagung, wo zuerst
über Flurnamen verhandelt wurde) erschienen ist, ging Referent nicht näher ein;
sie soll im Druck als Anhang zu diesem Referate bekannt gegeben werden.
Dagegen stellte er mit Befriedigung fest, daß mehrere der früher begonnenen
Flumamensammlungen vollendet, die meisten anderen Sammlungen wesentlich
vervoUständigt imd acht neue Sammlungen durch die Bemühungen des Ge-
samtvereins ins Leben gerufen worden sind, nämlich in Oldenburg, Ham-
burg, Breslau, Frankfurt a. M., Kassel, Nassau, Duisburg und
Aachen. Auf die drei Flumamensammlungen des Elsässer Kreises Weißen-
burg (Kreisschulinspektor Stiefelhagen), der Sonneberger Gegend
i) Vgl. diese Zeitschrift a. Bd., S. 91—94 und 3. Bd., S. 97 ff.
— 55 —
(Kreisschulinspektor Ullrich) und des Ruppiner Kreises (Rektor Bartelt)
wies er mit besonderem Nachdrucke hin, weil diese dartun, wie ausgezeichnet
die Flurnamen mit Hilfe der Volksschullehrer gesammelt werden können.
Zu einer Aussprache über den Gegenstand fehlte leider der Versammlung
die Zeit, ebenso zu einer genaueren Besichtigung des mitgebrachten Anschau-
ungsmaterials (Teile der Weifienburger, Sonneberger und Sächsischen Samm-
lungen). £s wurde nur noch folgender Beschluß ge&fit: „Die ver-
einigten fünf Abteilungen halten es für angebracht, dafi alle
Geschichtsvereine noch einmal auf die Notwendigkeit des
Flurnamensammeins hingewiesen werden. In einem Rundschreiben
soll ihnen das von Kreisschulinspektor Stiefelhagen (Weidenburg) eingeschlagene
Ver&hren genau geschildert und ein gleiches Vorgehen Hand in Hand mit
den entsprechenden Behörden empfohlen werden, falls sie sich nicht selbst in
der Lage sehen, die Sammlung der Flurnamen vorzunehmen.*^ Dann eilte
alles zu der Schlußsitzung, in der Anthes, Ermisch und Brenner
über die Tätigkeit der einzelnen, Bailleu über die Sitzungen der vereinigten
fünf Abteilungen berichteten.
Von der Schlufisitzung eilte aUes weiter zu dem fesdichen Empfange,
den die gastliche Stadt Wien und ihr Bürgermeister Dr. Lueger den
Teilnehmern der Hauptversammlung und des Archivtages im Rathause be-
reiteten. Diese in einem glänzenden Bankett gipfelnde Festlichkeit und die
mit einem Besuche des Klosters Neuburg verbundene Besichtigung der
in historisch-archäologischer Treue wieder aufgebauten und bis in alle Einzel-
heiten hinein stilgerecht ausgestatteten Burg Kreuzenstein des Grafen
Wilczek am folgenden Tage bildeten entschieden die Glanzpunkte der fest-
lichen Veranstaltungen, von denen noch ein mit aUerhand musikalischen,
deklamatorischen und dramatischen Darbietungen gewürzter Gesellschafts-
abend im Annahof am Dienstag und ein Festessen im Savoyhotel
am Mittwoch erwähnt sein mögen. Bei allen diesen Gelegenheiten wurden
natürlich zahlreiche Reden und Trinksprüche gehalten, von denen einer
zu heftigen Erörterungen in der Presse Anlaß gab. Em Ausflug nach Car-
nuntum, zu dem sich eine kleine, erlesene Zahl von Teilnehmern am
Sonnabend zusammenfiuid, schloß die Wiener Hauptversammlung, die in
der Geschichte des Gesamtvereins wohl immer eine besondere Stellung ein-
nehmen wird.
Beschorner (Dresden).
Museen« — über die Vorgeschichtliche Abteilung des Städti-
schen Museums für Natur- und Heimatkunde in Bftagdeborg
teilt Dr. Hans Hahne, der diese als wissenschafüicher Sachverständiger
leitet, das Folgende mit:
Was in Museen und öfifentlichen Sammlungen, zu deren Au^ben die
Pflege der Heimatkunde und vaterländischen Vorgeschichte gehört, im
Sammeln und Zusammentragen geleistet werden kann, ist an manchen Stellen
Deutschlands zu sehen. Meist fehlt ja die genügende Unterstützung durch
öfientliche Mittel, aber Liebe zur engeren Heimat und weiterblickende An-
regung Einzelner bringt viel zustande.
— 66 —
Gegenüber den Anforderungen der durch jahrzehntelange Vorarbeit
nunmehr zur Wissenschaft erwachsenen „Deutschen Archäologie'^
wirkt aber die wenig sachgemäfse Behandlung der Funde in mancher
Sammlung sowie der fieist überall ersichtliche Mangel an Mitteln und Hilfi^
kräften betrübend. Die Darstellung des Materials ist meist nichtssagend
und fesselt Laien und Femerstehende zu wenig, auf deren wirksame Unter-
stützung gerade kleine und gröfsere Sammlungen angewiesen sind.
Hoffentlich werden (fie Bestrebungen, gerade die der deutschen vater-
ländischen vorgeschichtlichen Forschung gewidmeten Sammlungen durch
zusammenschliefsende Organisation zu heben, bald von Erfolg sein und dem
verderblichen Dilettantismus und der von partikularistischen Motiven ver-
anlafsten Zerstreuung vorgeschichüicher Altertümer steuern. Der Norden der
Provinz Sachsen gehört zu den ersten Stätten, wo wissenschaftliche deutsche
Archäologie (Prähistorie) getrieben wurde: Danneils und anderer Männer
Namen stehen neben dem Thomsens ehrenvoU in der Geschichte unserer
Wissenschaft. In dem prachtvollen Material des Provinzialmuseums in Halle be-
sitzt unsere Provinz eine der ältesten deutschen vorgeschichüichen Sammlungen
der Germania libera ; die hallischen Veröffentlichungen der letzten Jahre rufen
die Hoffnung wach, dafs sich mit Hilfe tüchtiger Berater und Freunde, die
in der Provinz im nämlichen Sinne arbeiten, hier ein Stützpunkt für die
vorgeschichtliche Forschung in ganz Mitteldeutschland entwickeln könnte.
Auch manche kleinere, aber unter sachgemäfser Leitung stehende Sanmihmg
von wis senschaftlicherBedeutung hat die Provinz aufzuweisen, so das Museum
in Wernigerode und das altmärkische Museum in Stendal.
Auch Magdeburg besafs schon längst in Hinterlassenschaften von
Schultheifs (Wolmirstedt) und Wiggert (Magdeburg) manchen wert-
vollen Fund. Aber erst vor 13 Jahren wurde hier ein Museum eröfinet, das
aus den Sammlungen des grofsen Naturwissenschaftlichen Vereins heraus-
gewachsen ist und wo nun auch die Vorgeschichte (allerdings als An-
hängsel der Naturwissenschaften) wirklich gepflegt wurde : durch die Fürsorge
und persönliche Arbeit des rührigen, jetzt verstorbenen Geh. Baurates Bauer
wuchs aus den spärlichen alten Beständen, die in ein paar Waschkörben
vom Rathausboden geholt wurden, eine kleine Sammlung hervor. Der Ge-
schichtsverein wurde durch Bauer bewogen, seine vorgeschichtlichen Schätze
hinzuzutun; aus Magdeburgs Umgebung wurde allmählich mancherlei zu-
sammengebracht; die Stadt bewilligte einige Mittel zu Ankäufen für das
prähistorische Kabinett des wachsenden Museums. Bauer, der die Abteilung
verwaltete, schuf eine kleine „Typensammlung** aus der europäischen
Vorgeschichte, gab auch eine kurze Einführung in die Vorgeschichte (Jahresb.
d. naturw. Vereins, Magdeburg 1897) heraus — im ganzen aber bUeb
die Abteilung auf dem Standpunkt der meisten derartigen Sammlungen aus
jener Zeit: in einem gedruckten Katalog aus dem Jahre 1891, in dem die
Bestände ungefähr aufgezählt werden, sind &8t nur die Sachen aus Metall
und Stein berücksichtigt, während die ganz allgemeine Erwähnung der so
hervorragend wichtigen Tongefäfse einer Art Anhang vorbehalten bUeb. Und
dabei befand sich bereits damab in den Beständen manches recht schöne Stück.
Mittlerweile ist das Magdeburger Museum städtisch geworden; die
naturwissenschaftliche Abteilung wird bald in geräumigen Sälen neu aufgestellt
— 57 —
werden, und dadurch wird das Ergebnis emsiger Sammelarbeit besonders
des Vereins — wiederum gebührt hier neben vielen anderen Bauer gröfste
Anerkennung — der wissenschaftlichen Verwertung mehr ab bisher zu-
gänglich gemacht werden. Der Name „Städtisches Museum für
Natur- und Heimatkunde'* verrät ein hohes Ziel; deun als Heimat-
kunde vor allem auch die Naturwissenschaft zu pflegen, ist ein modernes
imd aussichtsreiches Prinzip, und die Kunde vom Menschen in diesen
entwicklungsgeschichüichen Kreis einzubeziehen, birgt grofse Aufgaben, deren
Lösung der Zukunft vorbehalten ist. Das im Namen ausgesprochene Pro-
gramm des Museimis bt hoffendich glUckverheifsend für dieses selbst.
Die vorgeschichtlich-anthropologische Abteilung soll
den Anfang bilden für eine Volkskunde der Heimat. In diesem
Sinne hat Verfasser dieser Zeilen seit zwei Jahren die Sanmilung bearbeitet«
besonders durch persönliche Nachforschung an den Fundstellen, Ergänzung
der Fundberichte durch Umfragen, Umordnung der Bestände nach geo-
graphischen Gesichtspunkten, Zusammenstellung der Gesamtfunde imd exakte
Bezeichnungen. Dadurch, dafs nach Bauers Tode dessen Gemahlin in
hochherziger Weise die grofse vorgeschichtliche Privatsammlung ihres Gatten
dem Museum geschenkt hat, ist die Abteilung ganz wesentlich bereichert
worden. Im letzten Jahre hat man auf Anregung des Verfassers auch be-
gonnen, mit Mitteln, die seitens der Stadt gewährt wurden, systematisch
Ausgrabungen vorzunehmen, während seither fast ausschliefslich durch An-
käufe aus zweiter Hand die Bestände vermehrt werden mufsten. Jahrzehnte-
lange Ausbeutung seitens anderer Museen, Privatsammler und Händler hat
die augenfälligen vorgeschichtlichen Gräber und anderweitigen Fund-
stellen unserer engeren Heimat geleert, und die intensive Bodenbewirtschaf-
tung zerstört mit jedem Dampfpflug unzählige Altertümer. Deshalb gelingt
in unserer Gegend nur bei energischem Nachforschen der Nachweis und die
Aufdeckung von Funden. Aber z. B. für das so wichtige Gebiet der vor-
geschichtlichen Siedelungskunde bieten die Flufslandschaften der Provinz
reichen Stofl". Deshalb galt unsere erste gröfsere Unternehmung einer teilweise
steinzeitlichen, teilwebe jüngeren Ansiedlung bei Calbe a. S., die aufser vielen
Wohnstättenresten mit wichtigen Einzelfunden auch ein vorzüglich erhaltenes
Hockergrab lieferte, das im Museum so aufgestellt ist, wie es gefunden wurde.
Die Ausbeute einiger Gräberfelder der Umgegend war in den letzten
Jahren bereits käuflich erworben oder geschenkt worden, und mancher
schöne Grab- und Depotfund aus der Stein-, Bronze -,, La -T^ne**- Zeit und
den nachchristlichen Jahrhunderten ist vorhanden. Durch die Propaganda
rühriger Freunde, besonders des Direktors des Museums, wächst das Interesse
für unsere Abteilung, namentlich auch unter der Landbevölkerung, und betätigt
sich in manchen Schenkungen und Fundnachwebungen.
Neben diesen geographisch geordneten Funden aus der engeren Heimat,
deren jeder hinsichtlich der Zeit seines Ursprungs näher bezeichnet ist,
enthält die Abteilung die schon erwähnte, besonders durch Bauers Be-
mühung gegründete und durch die Erbschaft seiner Sanunlung bereicherte,
eine hübsche systematische Typensammlung, die die nord- und mittel-
europäische Vorgeschichte umfaist.
Für die Aufstellung bei der bevorstehenden Neueinrichtung des Museums
— 58 —
wurden ferner bildliche und photographische Darstellungen, auch Modelle
und Nachbildungen wichtiger vorgeschichtlicher Denkmäler und Funde her-
gestellt bzw. vorbereitet, die bezwecken, auch den Femerstehenden eine
zusammenhängende Anschauung von den Ergebnissen vorgeschichtlicher
Forschung zu vermitteln, um diesen Zweig der Heimatkunde auch bei uns
zu beleben und auf diese Weise den Wert unserer Forschungen endlich
auch allen denjenigen begreiflich zu machen, die noch zweifelnd oder ver-
ständnislos seitab stehen, wenn es die Aufhellung der Vorgeschichte und
der Anfänge der Geschichte des eigenen Vaterlandes gilt.
Das vorläufige Ergebnis der Neuordnung ist seit einiger Zeit in einer
„ Sonde rausste 11 ung vorgeschichtlich er Funde au sderProvinz
Sachsen'' im Museum am Domplatz der Besichtigung zugänglich gemacht
worden.
Eini^gaiigene BOcher.
Becker, Georg: General Fouqud in Brandenburg [=> 3 6. /$ 7. Jahresbericht
des Historischen Vereins zu Brandenburg a. d. H. (Brandenburg 1 906),
S. 30—47]-
Dahlmann-Waitz: Quellenkunde der deutschen Geschichte, unter Mit-
wirkung von P. Herre, B. Hilliger, H. B. Meyer, R. Scholz heraus-
gegeben von Erich Brandenburg. 7. Auflage. Leipzig, Dieterichsche
Verlagsbuchhandlung, Theoder Weicher 1906. 1020 S. 8®. M. 16.
Jacob, Karl: Quellenkunde der deutschen Geschichte. Erster Band [= Samm-
lung Göschen Nr. 279]. Leipzig, G. J. Göschensche Verlagsbuchhand-
lung 1906. 154 S. 8^. Geb. M. 0,80.
Meyer, Christian: Die letzten Zeiten der freien Reichsstadt Augsburg und
ihr Übergang an die Krone Bayerns. München, Max Steinebach 1906.
63 S. 8«.
Noti, Severin: Das Fürstentum Sardhana, Geschichte eines deutschen Aben-
teurers und einer indischen Herrscherin. Mit 42 Bildern und einer
Karte. Freiburg i. B., Herder 1906. 146 S. 8^. M. 2,50.
Schulze, Paul : Das Dresdner Volksschulwesen im 1 8 . Jahrhundert Dresden,
O. und R. Becker 1906. 88 S. 8^. M. 1,25.
Wehrmann, M.: Die Söhne des Herzogs Philipp L von Pommern auf der
Universität zu Greifswald [= Aus der Geschichte der Universität Greifs-
wald, Festschrift zum 450jährigen Jubiläum der Universität Greifswald,
dargebracht von der Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Alter-
tuniskimde (Stettin 1906), S. i — 36].
Berichtigungen.
Oben auf S. 8, Zeile 2 — 4 von oben, muß es richtig lauten: „Ober
die Weltgeistlichkeit liegen einige Arbeiten vor von Tangl
(M. 7) und Kernstock (B. 13), durch die die Lavanter Bischofs*-
reihe ergänzt wird. Hierher gehört auch Lang, Informations-
buch usw.".
Auf Seite 24, Zeile 2 von unten, ist statt Arten zu lesen: Orten.
Henuitceb«r Dr. Amin TiU« in Ldpog.
Druck nnd Verlag von Friedrich Aadreas Perthes, AkoeafeteUediaft, Goduu
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
sur
Förderung der landesgeschichtlichen Forschung
VIIl. Band Dezember 1906 3. Heft
Behandlung sehulgesehiehtlieher Aufgaben
Von
Ernst Schwabe (Leipzig)
In der Behandlung geschichtlicher Aufgaben tritt seit einiger Zeit
das kulturhistorische Interesse immer mehr in den Vordergrund, und
diese Veränderung der Auffassung ist auch der Erforschung der Ge-
schichte unseres deutschen Bildungswesens, insbesondere der Geschichte
der Gelehrtenschule, von großem Vorteil gewesen. Seit dem Um-
schwünge in der Auffassung und Behandlung des historischen Stoffes
widmet man auch diesem Teile der Kulturgeschichte mehr Aufmerk-
samkeit ; es ist viel Arbeit im einzelnen getan und es sind mehrfache
Versuche zu zusammenfassender Arbeit gemacht worden, so daß man
auch diesen Faktor in der Gesamtentwicklung der Völker, speziell
unseres Volkes (denn von diesem soll allein im folgenden die Rede
sein) genauer kennen zu lernen vermag, als früher. Freilich, immer
noch nicht genau genug ! denn das Material ist nur erst sehr teilweise
herbeigeschafft worden, geschweige denn gesichtet, und auch in der
Behandlung des Materials sind noch öfters die Fragen nicht richtig
gestellt worden ; gar manches könnte kürzer gefaßt oder ausführlicher
gehalten werden, und vor allem könnte, besonders in den Einzel-
arbeiten, weit mehr, als es bisher geschehen, der Zusammenhang mit
der allgemeinen Erziehungs-, und noch weiter der allgemeinen Bil-
dungs- und Kulturgeschichte, gezeigt werden.
Bei einer Gesamtmusterung der Literatur über das deutsche Ge-
lehrtenschulwesen lassen sich in der Hauptsache drei Richtlinien er-
kennen, in denen sich die gesamte schulgeschichtliche Forschung
bewegt :
Erstens finden wir Durcharbeitungen von lauter Einzel-
heiten: Geschichte der Einzelanstalten, einzelner Fächer auf einer
Reihe von Anstalten, einzelner bedeutender Schulmänner, einzelner
Schulordnungen, einzelner Lehrbücher usw. — eine sehr reichhaltige
Abteilung, die uns meistens in Aufsätzen wissenschaftlicher Journale
5
— 60 —
und in Programmabhandlungen oder Jubiläums- bzw. sonstigen Fest-
schriften vorliegt.
Zweitens sind es zusammenfassende Darstellungen ein*
zelner Gebiete der Schulgescbichte (Geschichte der Kadettenhäuser,
der Jesuitenerziehung, der Prinzenerziehung usw.), wie sie in einer
großen Reibe der Veröffentlichungen der MonumerUa Gerfnaniaepaedag(h
gka vorliegen. Daneben stehen auch die buchmäßigen Biographien
hervorragender Pädagogen, wie Ludwig Wiese, Eilers u. a. m.
Drittens finden wir zusammenfassende Darstellungen der
Gelehrtenschulgeschichte ganzer Gebiete und ganzer Epochen von
den 2^iten vor der Reformation an bis auf den heutigen Tag.
Und anhangsweise sei auch, im Anschluß an diese Schriften, die
rein historisch gehalten sind und sich lediglich um den Stoff kümmern^
ohne daraus Folgerungen für die Zukunft zu ziehen, eine neuerdings
autkommende Gattung von Schriften erwähnt, die einer Aufforderung
Paulsens folgend erst eine historische Basis schaffen, um von dieser
aus „die Richtlinien in die Zukunft zu verlängern, und so das Gebäude
der Zukunftspädagogik besser zu begründen*'.
Fassen wir zunächst die an zweiter und dritter Stelle eingereihten syste-
matischen größeren Arbeiten ins Auge, so werden wir bei ihnen allen ge-
wiß gern den Mut anerkennen, auch einmal eine Gesamtdarstellung
zu wagen, und bei sehr vielen von ihnen die Vortrefflichkeit der Ge-
samtkonstruktion zu loben haben. Aber anderseits muß doch gesagt
werden (und die Autoren werden es gewiß zuerst zugeben), daß maa
bei gar vielen Fragen, die man gern beantwortet sehen möchte, ver-
gebens nach einer genügenden Auskunft sucht. Sie findet sich nicht
und kann auch nicht gefunden werden, weil die Einzelforschung, die
ihnen die Bausteine hätte liefern sollen, nicht ausreichend gewesen
ist, und manchen sehr wichtigen Punkt, manche überaus lehrreiche
Beziehung völlig übersehen hat. Der zusammenfassende Arbeiter kann
aber diese Lücken kaum selber ausfüllen, ebensowenig, wie man vom
Architekten, der das Haus baut, verlangen kann, daß er auch noch
jedes einzelne Bauglied selber bearbeiten und heranfahren soll. Sa
müssen denn die Lücken und Unfertigkeitcn einstweilen getragen
werden. Trotzdem werden wir auch so für die zusammenfassenden Dar-
stellungen sehr dankbar sein; denn sie zeigen uns nicht bloß das
Ergebnis der schon geleisteten Einzelarbeit, sondern sie weisen uns
auch auf die Bedürfnisse der weiteren Forschung, vor allem auf die
großen Lücken hin, die es noch auszufüllen gilt. Nach zwei Rich-
tungen hin sind sie vor allem geeignet, die Einzelforschung zu beein-
— 61 —
flössen: einmal, indem sie dazu auffordern, Gleichgültiges imd Über-
flüssiges mehr in den Hintergrund zu drängen, und dann, indem sie
auf mangelnde Erforschung wichtiger, vor allen Dingen allgemein
wichtiger Dinge hinweisen. Denn auf das Zusammenfassen kommt es
vor allen Dingen an und selbst die bescheidenste Einzelarbeit darf
es nicht außer acht lassen, daß auch sie mit dazu beitragen muß, eine
umfassendere Darstellung der Gesamtgeschichte unserer Gelehrtenschule
zu ermöglichen.
Wenden wir uns nun zu den umfassenden Darstellungen der letzten
Jahre, die die Gelehrtenschulgeschichte gefunden hat, so hat es nach
Paulsens berühmtem Werke (dem sich neuerdings das Schriftchen über
Das Deutsche Bildungswesen in seiner geschichtlichen Entwickhmg ^)
angeschlossen hat, eine vortreffliche Vergeistigiing des gewaltigen
Materials) an zusammenfassenden Büchern nicht gefehlt. Um nur
einiges hervorzuheben, hat der badische Schulhistoriker Georg Mertz
sein Schulwesen der deutschen Reformation im XVL Jahrhundert ge-
schrieben ^) : so besitzen wir die höchst interessanten Abschnitte Ü1>er
deutsches Schulwesen der Reformation in Jansseas deutscher Ge-
schichte ') , ebenso ausgezeichnet durch geradezu unbegreifliche Be-
herrschung des Materials, wie geschickte Verwendung und Gruppierung
desselben, um daraus immer wieder neue Beweise für die Behauptung
zu gewinnen, daß die Reformation eine bildungsfeindUche Macht sei.
So haben wir die verschiedenen vortrefflichen Darstellungen in Schmids
großer Enzyklopädie und die kurzgefaßte übersichtliche Geschichte der
Paedagogik von Th. Ziegler^), aber die ausführlichen Schilderungen
KarlWotkes^) über das österreichische Unterrichtswesen, neben denen
das Buch von Strakosch-Graßmann *), freilich in'starkem Abstände,
zu nennen wäre, so ist neuerdings das treffliche Buch von Alfred Heu-
baum'), das die Geschichte des deutschen Bildungswesens seit der Mitte
i) Ans Natur and Geisteswelt, 1906. Bd. 100. B. G. Teabner, Leipzig.
2) Heidelberg, Winter, 680 S. — Von demselben Verfasser: Pädagogik der
Jesuiten. (Heidelberg 1899).
3) Vor aUem Bd. VE, S. i— I34i 609—634.
4) Handbudi der ErsiehungS' und ünterrichtslehre von Baumeister. I. 1*
(Mfiocben 1904).
5) Wotke, Das österreichische Gymnasium im Zeitalter Mairia Theresias
(Mon. Germ. Paed. Vol XXX.).
6) Strakosch-Gralsmann, Gesch. des österr. Unterrichtswesens. Wien 1905.
7) Henbaiim, OesckiMe des deutschen Büdungswesens seit der Mitte
des XVH, Jahrhunderts. I. Bd.: Das Zeitalter der Standes' und Beruf sersiehung.
(Berlin 1905).
6*
— 62 —
des XVII. Jahrhunderts darzustellen sich vorgesetzt hat, wenigstens in
seiner ersten Hälfte erschienen.
Und das alles sind (wenigstens nach der Ansicht des Verfassers
dieser Zeilen, soweit er mit seinem Wissen und seinem Urteil nach-
kommen konnte) vortreffliche Bücher und tüchtige Leistungen, aus
denen man sehr viel lernen kann. Um so weniger wird es unbe-
scheiden erscheinen, wenn wir sagen, daß ihnen allen verschiedene
Mängel, vornehmlich der der UnvoUständigkeit, ankleben. Wir lassen
dabei die höchst interessante, aber auch höchst anfechtbare Darstel-
lung Janssens von vornherein beiseite. Denn mit ihm werden wir
uns schon prinzipiell nicht einigen können: denn wenn wir an ihm den
spezifisch katholischen Standpunkt tadeln und das Unvermögen be-
klagen, den Bestrebungen des Protestantismus auf kulturellem Gebiete
gerecht zu werden, so wird man das eben im anderen Lager als hohen
Vorzug preisen ; und so leidenschaftslos sind wir protestantischen Schul-
historiker noch nicht, daß wir Janssens allerdings sehr geschickt for-
mulierte Folgerungen ohne weiteres als richtig anerkennen. Bei allem
Bemühen, so voraussctzungslos wie möglich zu folgern und darzustellen,
sind die meisten von uns doch auch ihrem Bekenntnis von Herzen
ergeben ; wir können unmöglich einsehen und zugeben, daß die große
Kirchenreformation den Strom des Humanismus nur gehemmt habe,
und werden uns dabei, meines Erachtens mit vollem Rechte, immer
wieder auf eine Anzahl deutscher Gelehrtenschulen berufen, die gerade
dem Protestantismus ihre Entstehung verdanken und die man von
jeher als Kleinode und Lichtpunkte auf dem Entwicklungswege der
deutschen Bildungs- und Gelehrtenschulgeschichtc anzusehen sich ge-
wöhnt hat.
Unser Blick wendet sich vielmehr zu den anderen Werken, von
denen wir oben eine Anzahl nannten; bei ihnen allen muß, ohne Aus-
nahme, festgestellt werden, daß es bisher noch keinem von ihnen
völlig gelungen ist, die gesamte deutsche Schulgeschichte in einem
Schilderungshorizonte einzufangen und zu einem großen TotalbUde zu
verschmelzen. Bei aller Mühe, sich zu einer Gesamtauffassung zu er-
heben, sind ihre Verfasser doch mehr oder minder bei einer allzu
starken Ausführung der landschaftlich umgrenzten Schulgeschichts-
bilder, oder bei einem Nebeneinander in der Schilderung des BUdungs-
wesens in den einzelnen Staaten und Territorien stehen geblieben.
Die konvergierenden Linien, die sich schließlich zu der Spitze einer
gesamtdeutschen Auffassung und Darstellung unserer Bildungsgescbichte
vereinigen sollen, fehlen noch vielfach. So finden wir z. B. bei Mertz
— 63 —
eine außerordentlich genaue Kenntnis der Einwirkung der Reformation
auf das Schulwesen Süd- und Südwestdeutschlands, jedoch vermissen
wir eine gleiche Durchdringung der Wittenberger Bestrebungen auf
dem Gebiete des kursächsischen und sonstigen territorialen Bildungs-
wesens. Der verdiente Verfasser möge das nicht als Vorwurf emp-
finden: denn es ist in der Tat eine schwere Aufjg^abe, völlig zu er-
kennen und erschöpfend darzustellen, worin eigentlich Luthers und
Melanchthons und ihrer Schüler und Nachfolger Verdienst um die
sächsischen Schulen bestand, und wie weit man die Nachwirkung ihrer
Denk- und Willensarbeit, bis ins einzelste und kleinste, zu verfolgen
hat. Schon um des willen ist die Aufgabe so schwierig, weil natürlich
bei diesem Stoffe das theologisch - dogmatische Interesse weit mehr
Anziehungskraft besitzt, als das schulsystematische und bildungsge-
schichtliche; will man aber auf unserem Gebiete zum Ziele gelangen,
8o muß man theologischer Historiker und Kenner des Bildungswesens
und seiner Geschichte in einer Person sein, und auch diesen beiden,
an sich schon weitschichtigen und schwer zu übersehenden Gebieten
gleichmäßig seine Teilnahme zuwenden : — ich fürchte, eine Auijgabe,
die eines Mannes Kraft übersteigt.
Und wenn wir uns nun zu den allemeusten Erscheinungen auf dem
Büchermarkte wenden, vor allem zu dem überaus fleißigen und leicht
übersichtlichen Buche Alfred Heubaums, das das Lob verdient,
das ihm schon mehrfach gezollt worden ist, so muß doch bei ihm der
Mangel konstatiert werden, daß in ihm (und auch in gar manchen
anderen Schriften) preußisches und deutsches Bildungswesen ohne
weiteres identifiziert werden. Daraus ergibt sich aber fiir den Leser
ein schiefes Bild, das erst dann als richtig zurechtgerückt erscheint,
wenn man den Titel einschränken will auf das kurbrandenburg^sche
und das von ihm in der Hauptsache beeinflußte norddeutsche Bildungs-
wesen des XVII. Jahrhunderts.
Wenn man sich nun nach den Gründen umsieht, warum denn
gerade bei einer so nationalen, deutschen Aufgabe und bei einer
so allseitig interessierenden Sache es nicht so recht gelingen will,
wirklich umfassende und allseitig befriedigende Darstellungen zu er-
zielen, so liegt dies meines Erachtens nicht an den Personen, die an
diese Dinge die Arbeit ihres Lebens gesetzt haben — wir würden
durch solche undankbare Beurteilung ihrer Entsagung und ihrer Un-
ermüdlichkeit bitteres Unrecht tun — , sondern an zwei anderen Ur-
sachen: Es ist einmal das Allumfassende der Aufgabe (denn der
Edelstein der deutschen Bildungs- und Schulgeschichte hat beinahe
— 64 —
ebensoviel Facetten wie die deutsche Kulturg-eschichte überhaupt),
und zweitens sind es gewisse Mängel und Einseitigkeiten der vorher
und von anderen zu leistenden Einzelarbeit.
Der erstere Mangel wird sich nie beseitigen lassen. Der Schul-
historiker muß eben sich mit den allgemeinen historischen Strömungen
der von ihm zu behandelnden Periode völlig vertraut machen, wenn
er den Anschluß ans Ganze gewinnen will ; daneben muß er aber auch
genügende Kenntnis der theologischen und philosophischen Bewegungen
des Zeitalters besitzen, mit dem sein Stoffgebiet zu tun hat; natürlich
muß er auch das Schulwissenschaftliche völlig beherrschen und wahr-
scheinlich wird er die Erfahrung machen, daß ihm auch noch manche
andere, besonders volkswirtschaftliche, Kenntnisse sehr vorteilhaft sein
würden. Alle diese Aufgaben können dem Manne, der wirklich wissen-
schaftliche Schulgeschichte treiben und schreiben will, niemals abge-
nommen werden; jeder einzelne und jede Generation muß sie wieder
für sich zu lösen suchen.
Ein näheres Eingehen jedoch verdient, meines Erachtens, der
zweite Punkt hinsichtlich der Einzelforschung. Daß es auf diesem Ge-
biete an Arbeitsstoff oder an mit hingebendem Fleiße arbeitenden
Männern fehlte, kann angesichts der gewaltig, gerade auf diesem Ge-
biete anschwellenden Literatur kaum behauptet werden *). Es gibt
wohl kaum noch eine irgendwie bedeutende und historisch verwert-
bare Schule, die nicht ihren Historiker gefunden hätte, keinen hervor-
ragenden Schulmann, der sich nicht neben dem Leichenstein in der
Allgemeinen Deutschen Biographie auch noch eines besonderen Bio-
graphen erfreute, und eine Sammlung schulgeschichtlicher Schriften
aus Deutschland würde wohl eine besondere Bibliothek für sich in
Anspruch nehmen. Aber leider steht die Masse nicht im rechten Ver-
hältnis zu ihrer Verwendbarkeit, leider muß man das Wort Fr. Paulsens
von der „Geschichte des Bildungswesens , die sich so leicht in ufer-
lose Breite oder in ziellose Ausgraberei verliert **, bei gar vielen dieser
Arbeiten als durchaus berechtigt anerkennen.
Wenn wir einen Versuch wagen, diese Schriften in einzelne Haupt-
abteilungen zu zerlegen, so stellen sich uns im ganzen vier Haupt-
richtungen der Arbeit dar:
l) Et können hier Literatnrangaben, aach nur in beschränktester Auswahl, nicht gt»
geben werden. Ich verweise aaf die ansföhrlichen Literatnrberichte in den MiUeilHnget^
für deutseKe Ereiehungsgesehichte (BerUn iS^ifif.) und in der Zeitschrift für päda-
gogische Figdkohgit, Pathologie und Hygieme (BerUn 1902 ff.).
— 65 —
i) Geschichten der einzelnen Schulen in ihrer Gesamtheit
oder in einzelnen Perioden (meist in Programmen).
2) Biographische Darstellungen von einzelnen Schul-
männern, meistens solcher in leitenden Stellungen. Soweit sie nicht
nur bloße Nekrologe sind (wie etwa im 5. Bande der Raumerschen
<yeschichte der Pädagogik, den Lotholz besorgt hat), sondern ausführ-
licher und unparteiischer gehalten, leiten sie schon weit öfter zu all-
gemeinen Dingen über, so daß sie in der Tat eine Förderung der
allgemeinen Bildungsgeschichte bedeuten.
3) Geschichten einzelner Schulfächer und Schuleinrich-
lungen, die ganz besonders verdienstlich erscheinen, aber leider nur
^anz vereinzelt vorkommen.
4) Schilderungen von Einzelereignissen aus dem Schulleben
und von Einzelheiten, die nur hier und da vorgekommen sind;
unter sie mögen auch die novellistisch gehaltenen Schulkuriosa ein-
gerechnet werden, soweit sie ernsthaft zu nehmen und wirklich historisch
beglaubig^, nicht bloß „wahre Schulerinnerungen" sind, — eine Ein-
schränkung, die hier ganz besonders am Platze ist, denn nicht alles
das, was manche Selbstbiographen von ihren weit zurückliegenden
Jugendjahren erzählen, verdient Glauben.
Von diesen vier Klassen nun ist die erste durch die meisten Bei-
spiele vertreten. Aber — es muß das einmal gesagt werden — die
allermeisten dieser Arbeiten gehen in ihrem historischen Niveau über
das Lokalgeschichtliche kaum hinaus und sind deshalb ftlr den nach
Zusammenhängen suchenden Schulhistoriker ein recht ungefüges
Material; denn es ist oft gar nicht leicht, aus einer Masse belang-
loser, nur auf den betreffenden Ort sich beziehender Notizen das
berauszuschälen, was nur für die Heimatprovinz, geschweige denn für
den ganzen Staat, das gesamte Bildungswesen bedeutungsvoll ist, und
was man als Etnzelbaustein für eine umfassende Darstellung gebrauchen
kann. In jenen Arbeiten liegt zwar ein ungeheures Aktenstudium vor,
doch nur wenige Darsteller stehen auf einem höheren Standpunkt und
vermögen weitergehenden Ansprüchen zu genügen. Um nun eine
musterhafte Arbeit zu nennen, so ist eine Spezialschulgeschichte so,
wie sie sein soll (wenngleich im einzelnen manches nachzubessern und
zu ergänzen ist), das treflTliche Werk von Theodor Flathe, St. Afra
{Leipzig 1879), dessen geschickte Disposition und übersichtliche, nichts
Wichtiges unerörtert lassende Darstellung nicht erst noch einen be-
sonderen Lobredner nötig hat. Sein Ruhmesanspruch beruht aber
^anz besonders darauf, daß sich der Verfasser mit Erfolg bemüht,
— 66 —
ja geradezu Bahn gebrochen hat in dem Bestreben, die Geschichte
der alten evangelischen Stiftungsschule des Herzogs Moritz von Sachsen
in inneren Zusammenhang zu bringen mit den religiösen Bewegungen
und den politischen Schicksalen ihres sächsischen Heimatlandes. Nur
wenige gleich gute Arbeiten sind Flathes Buche an die Seite zu stellen,
und sein Beispiel hat wenig Nachahmung gefunden. Dagegen sind
die Arbeiten anderer, die, wie gesagt, nur das lokalgeschichtliche
Interesse befriedigen und vor allem in der „Treue im Kleinen" ihren
Ruhm suchen, außerordentlich zahlreich: mit Unmut liest man sie durch,
weil man neben so viel lokalhistorischer Spreu so wenig kultur- und
bildungsgeschichtlich wertvolle Körner findet. Dabei kehren gewisse
Fehler, Auslassungen und Undeutlichkeiten fast immer wieder. Bei-
spiele dafür lassen sich aus allen deutschen Ländern und aus allen
Jahrgängen der Programmliteratur leicht auffinden und in Menge auf-
zählen. Um nur einige typische Beispiele herauszugreifen, so sind
zwar die Aufzählungen der Lehrer an einer Anstalt (be-
sonders bei Anstaltsjubiläen beliebt) eine sehr wichtige Sache für die
Angehörigen der Schule, bzw. für die früheren Schüler. Aber wenn
man daselbst, wie es gewöhnlich geschieht, selbst bei ganz bekannten
(natürlich verstorbenen) Schulmännern nur erfahrt, wann sie geboren,
bzw. gestorben sind, wann sie promoviert haben, wann sie angestellt,
ausgezeichnet usw. worden sind, so ist das nur Statistik, keine Ge-
schichte. Einem Biographen, falls er einmal in Tätigkeit treten sollte,
bliebe gegenüber einem solchen fleischlosen Gerippe von Tatsachen so gut
wie alles zu tun übrig. Wo bleiben die schriftstellerischen Arbeiten
dieser Männer? wo bleibt eine kurze Darlegung des Ganges ihrer
Schularbeit? wo ein kurzes Charakterbild, das man dann wieder als
Einzelzug in das Gesamtgemälde einer Schule, einer Epoche, einer
Gesamtheit von Schulen einfugen kann? — Oder, wenn wir seitenlang
von Streitigkeiten zwischen Rat und Schule hören, wer ver-
mag da zu behaupten, daß solche Dinge bUdungsgeschichtlich wert-
voll seien? wenn uns die Kapitelüberschriften eines früheren
Lehrbuchs abgedruckt werden, wie kann man sich daraus, wie bis-
weilen naiv angenommen wird, eine ,, Vorstellung von der Methode
des damaligen Lateinunterrichts" verschafTen? Wenn man irgendeine
Schulordnung, sagen wir einmal eine städtische einer Partikular-
schule des XVI. Jahrhunderts, abdruckt, ohne auch nur den Versuch
zu machen, sie in die Geschichte und Schulgesetzgebung der betreflfen*
den Zeit und des betreffenden Staates einzugliedern, was hat das für
Bedeutung außer der bekannten des „schätzbaren Materials'*? was ist
— 67 -
damit geholfen, wenn wir lesen: UfUerricfU in der Oraiorie, und wir
wissen nicht einmal, ob in der lateinischen oder in der deutschen?
oder wenn es heißt: M. Thoniaeus cum luniaribus Erasmi Coüoquia,
wenn wir über die näheren Umstände dieser Lektüre, vor allem dem
Tempo, das wir aus der Anführung' der Seitenzahl des Gelesenen er-
kennen könnten, und wenn wir von der benutzten Auflage des be-
treffenden Werkes weiter gar nichts erfahren?
Wer in schulgeschichtlichen Dingen sich umgetan hat, der weiß,
daß solche Desiderata sich leicht vermehren ließen, und der denkt
oft und mit Unmut daran, wie häufig ihn selbst sehr ausfuhrliche, und,
wie ihre Verfasser selbst für gewiß angenommen haben, „durchaus
vollständige" Arbeiten im Stiche ließen, und auf wie viele Fragen,
die er gern aus ihnen beantwortet haben wollte, sie ihm die Auskunft
schuldig geblieben sind. Es ist deshalb vielleicht nützlich, wenn ein-
mal eine Reihe Hauptwünsche an die Schulhistoriker hier vorgetragen
wird, damit wenigstens in Zukunft brauchbareres Material in größerer
Menge herbeigeschafft werde, und damit die Schulgeschichte der ein-
zelnen Anstalten in höherem Maße als bisher für die allgemeine Bil-
dungs- und damit auch Kulturgeschichte ausgenutzt werden kann.
Die Kardinalforderung aber ist die, daß der Schul-
historiker, wenn er nicht lediglich Lokalhistoriker sein und im
kleinsten Detail sich verlieren will, immer den Zusammenhang
mit der allgemeinen Bildungs- und Kulturgeschichte im
Auge behalten muß und auch andere Lebensverhältnisse und
Lebensäußerungen mit heranzuziehen hat, sobald sie dienlich sind,
um die Verhältnisse der zu schildernden Schule und ihrer Angehörigen
zu erklären. Dieses Verlangen erscheint so selbstverständlich, daß man
es eigentlich gar nicht erst auszusprechen nötig haben sollte, ist
es aber nicht. Die Beweise dafür ließen sich in Menge beibringen:
doch sehen wir von einer Aufzählung von Mängeln und Sünden ab
und bringen lieber einige Beispiele von dem bei, was wir so oft
in schulgeschichtlichen Dingen vermissen und was hinzugetan werden
müßte, damit das betreffende Detail in den rechten Zusammenhang
kommt und dadurch erst ganz verständlich wird.
Am besten beginnen wir mit den alleräußerlichsten Dingen,
den sachlichen Kosten, die eine Schule verursacht hat. Wenn
uns irgendein Schulhausbau geschildert wird, so sind Kostenanschläge,
Abbildungen, Inventaraufzählungen, Pläne der Schulräume, Skizzen
der Rektoren- und Lehrerwohnungen usw. ja recht schön. Aber sie
sagen uns nichts, wenn wir sie nicht in Vergleich stellen können mit
— CR —
dem, was man zu gleicher Zeit für andere Schulen anderswo ange-
wendet hat, und was für Einrichtungen an anderen Orten getroffen
worden sind. Nur dann ist ein richtiges Urteil möglich, ob der be-
treffende Staat, bzw. Stadt, seine Schuldigkeit getan hat! Speziell
bei Bauplänen von Wohnungen ist dringend der Vergleich mit anderen
Wohnungsplänen, in unserem Falle speziell der Pfarrhäuser, geboten,
sonst ist das Urteil rein subjektiv und kann jeden Augenblick umge-
stoßen werden. Unter die gleiche Rubrik gehören auch die Kosten,
die für Bibliotheken und Lehrmittel erwachsen. In der Regel sind die
Kollegien nicht mit dem zufrieden, was dafür heute ausgegeben wird,
und das überträgt der Schulhistoriker dann ganz unbewußt in seine
Darstellung und wird dabei leicht zum laudator temparis acti. Die
Sache nimmt aber ein ganz anderes Gesicht an, wenn man z. B. er-
fahrt, daß in Sachsen eine alte berühmte Schule heutzutage jährlich
etwa 1300 Mark dafür aufwenden kann, während früher (vor 60 Jahren)
ihr Bibliotheksfiskus nebst den Cjeldern für Lehrmittel nur wenig über
100 Taler betrug. So viel teurer sind die Bücher ja doch nicht ge-
worden! Und wenn trotzdem die heutige Unzufriedenheit als teilweise
berechtigt anerkannt werden muß (da mancherlei neue Forderungen
an diese Sammlungen von Büchern, Zeitschriften und Karten erhoben
werden), so muß auch anderseits zugegeben werden, daß es im Vergleich
zu früheren Zeiten weit besser geworden ist, — auch eine schul-
historisch wichtige Erkenntnis, in der festgestellt wird, daß sich die
Schulbehörden mehr als früher bemühen, den wissenschaftlichen Be-
dürfnissen der Gelehrtenschule gerecht zu werden.
Dieselbe Methode des Vergleichs mit gleichzeitigen Erscheinungen
in anderen verwandten Berufsarten und mit zeitlich verschiedenen Er-
scheinungen in demselben Berufe muß auch auf die persönlichen
Ausgaben übertragen werden, die im geschichtlichen Schulleben
aufjgeführt werden. Es nützt uns wenig, wenn wir erfahren, daß der
Rektor einer Lateinschule um das Jahr 1700 herum etwa 550 Taler
Gehalt erhielt, daß auf manchen Schulen um 1725 herum die Schüler
36 Taler Schulgeld zahlen mußten, daß das Kostgeld fiir einen Alum-
nus um 1830 herum etwa 80 Taler jährlich betrug, daß 1850 die Ge-
hälter der „KoUaboratoren" mit 500 Taler normiert waren, daß noch
1870 die Witwen von Gymnasialdirektoren mit einer Pension von jähr-
lich SO Talern abgespeist wurden. Will man ein wirkliches Urteil über
diese Zahlen, gleichviel ob sie hoch oder niedrig erscheinen, gewinnen,
so muß man noch mancherlei anderes wissen. Erstens muß man
wissen, was das Geld in der betreflfenden Zeit für eine Kaufkraft be-
— 69 —
«essen hat, und zwar aus möglichst vielen konkreten Beispielen. Und
zweitens muß man wissen, wie sich die Gehälter der entsprechenden
Stände, vor allem der Geistlichkeit, im gleichen Zeiträume darstellten,
bzw. was in anderen Ständen Dienstgenüsse imd Naturalgeßllle für
-einen Wert besaßen. Nur dann kann ich richtig beurteilen , ob z. B.
^as Kostgeld eines Alumnus wirklich angemessen war, wenn ich
einerseits die Preisverhältnisse eines anerkannten Alumnats von heute
zug^nde lege, und anderseits die Lebensmittelpreise der behandelten
Epoche kenne, ferner die Quantitäten, die geliefert wurden, und daraus
<lie Verhältniszahl zu heute festgestellt habe. Nur dann kann ein sicheres
Urteil über zu geringe Besoldung eines Lehrers gefallt werden,
wenn seine Einkünfte in einem Mißverhältnis zu den Durchschnittskosten
und -einnahmen einer gleichzeitigen Haushaltung eines Beamten von
•entsprechender Stellung stehen. Nur dann darf man beklagen, daß
die Pensionen gerade der preußischen Lehrerwitwen um 1860
herum so lächerlich niedrig gewesen seien, wenn man auch nachweisen
kann, daß es den Witwen anderer gleichartiger Stände zu gleicher Zeit
wesentlich besser ergangen ist.
Es könnte hier eingewendet werden, daß dies alles zu sehr ins
Detail führe, und daß vor allem diese Details zu schwer zu beschaffen
seien. Der erste Grund ist wenig wissenschaftlich; denn ohne die
Treue im Kleinen gibt es keinen Blick auf das Ganze. Und für
•den zweiten Einwand ist darauf zu verweisen, daß solches Material,
wie wir es brauchen, gar nicht so selten zu finden ist. Die alten
3tadtbücher und Ratsrechnungen, die ja auch sonst so oft zu schul-
wissenschaftlichen Forschungen als Quellen herangezogen werden, bieten
es oft in Hülle und Fülle dar.
Nur vor einem muß gewarnt werden, daß man nämlich diese volks-
wirtschaftlich so lehrreichen Angaben unvollständig beibringt. Wenn
ich z. B. wissen will, um das Beispiel aus einem anderen Gebiete heran-
zuziehen, ob die Einkommen der sächsischen Pfarrer sich gegen die
der Reformationszeit im Durchschnitt verschlechtert haben oder nicht
{eine gegenwärtig viel ventilierte Frage), so muß ich das Durchschnitts-
einkommen etwa von 1557 (zweite Visitation) und von 1906 kennen,
und außerdem wissen, was man 1577 für sein Geld etwa an Lebens-
mitteln (diese als Normalwertmesser angenommen) kaufen konnte.
Selbst wenn wir hierbei Dienstwohnung und Naturalgenuß von Feld
tind Garten als ausscheidbar, weil wenigstens als im Verhältnis kon-
stant gebliebene Größen ansehen, wird doch jeder, der von der Sache
etwas versteht, sofort zugeben, daß diese Fragen sich gar nicht so
— 70 —
leicht beantworten lassen, daß sehr viele Faktoren mit in Rechnui^
2u ziehen sind, wenn man ein auch nur annähernd brauchbares Resultat
erzielen will, und daß man sein Urteil nur mit größter Vorsicht formu-
lieren darf, weil man doch etwas übersehen haben könnte, was dann
zu Fehlem Anlaß gibt. Was soll man, wenn unsere Erwägung das
Richtige trifft, dann noch zu solchen häufig vorkommenden Urteilen
sagen, die uns mit schöner Bestimmtheit versichern, „die Gehälter
waren für die damalige Zeit recht ansehnlich, da das Geld damals
die zehnfache Kaufkraft hatte, wie jetzt", d. h. 1879 (Jahreszahl des
Aufsatzes) ! Sie sind schlimmer als wertlos, denn sie führen in die Irre t
Ein dritter solcher äußerlicher Punkt ist die Angabe der Fre-
quenz der Schulen, und die aus diesem Zahlenmaterial hergeleitete
Beurteilung über die Vortrefiflichkeit der Anstalt und die Tüchtigkeit
des betr. Rektors und seiner Lehrer. Es soll nicht geleugnet werden,
daß zwischen beiden Faktoren ein ursächlicher Zusammenhang bestehen
kann, aber es muß auf das bestimmteste ein notwendiger Zu-
sammenhang in Abrede gestellt werden. Wie oft findet man ganz
gewaltige Ziffern angegeben ! So haben z. B. vor hundert Jahren einige
lausitzische Rektoren 50 Primaner und mehr zusammen unterrichtet.
Sowie aber die preußische Verwaltung eintrat, da sank auf einmal
die Frequenz auf das Sechsteil herab. Und der Grund ? Kein anderer
als der, daß die preußischen Primaner die Universität nur durch die
Pforte der Reifeprüfung betreten durften, was man bis dahin in Sachsen
noch nicht kannte: der Beweis für die Richtigkeit dieser Auffassung
(nicht etwa für die der Begründung mit der mangelnden Befähigung der
Rektoren) liegt aber darin, daß sich derselbe große Rückgang der
Frequenz auch in Sachsen zeigte, nachdem man sich um 1830 herum
zu derselben scharfen Maßregel entschloß ! — Also auch hier liegt im
Vergleich wiederum der Schlüssel zum wahren Verständnis. — Ander-
seits ist bei Frequenzangaben auch noch anderes Material heranzu-
ziehen : territorialer Schulzwang, schnelles Wachstum der Städte, Ver-
stärkung der in Betracht kommenden Elternklassen durch Verlegung
von Behörden und Militär (besonders bei Mittelstädten zu beachten),
und vor allem die Termine der den Schulen zugesprochenen Berech-»
tigung^erteilungen. In den schulgeschichtlichen Arbeiten begegnen einem
solche interessante Angaben aber nur hier und da.
Ein vierter äußerlicher Punkt, der hier noch Erwähnung finden
mag, sind die Angaben über die Verteilung des Unterrichts
an Zahl und Qualität der Lehrstunden an die einzelnen Lehrer, wozu
noch einzelne Data über Menge und Länge der Korrekturen kommen.
— 71 —
Auch hier müssen die oben angedeuteten Vergleiche nach beiden
Richtungen hin, zwischen einst und jetzt, und zwischen den einzelnen
Persönlichkeiten derselben Zeit angestellt werden. Wenn wir z. B.
hören, daß um 1820 der Rektor 21, der Tertius nur 11 Stunden
wöchentlich erteilte (jetzt ist es gerade umgekehrt), so müssen wir
nicht nur wissen, um dieses Verhältnis zu verstehen, was die Gegen-
stände des Unterrichts waren, wieviel Korrekturen damit verbunden
waren und welche Ansprüche man an die Sorgfalt der letzteren erhob
(ich fürchte, sie waren nicht groß!). Wir müssen auch noch wissen,
ob der Tertius im angezogenen Falle amtlich verpflichtet war, auch
noch andere Geschäfte zu führen (z. B. nachmittags predigen, Kurrende
leiten, Leichensingen, Stadtrechnung fuhren, Schulkasse verwalten usw.)
Erst wenn man auch diesen Faktor mit herangezogen hat, ist man zu einem
richtigen Schlüsse befähigt: erst dann ist es möglich, in diesem wie
in den vorher angeführten drei Fällen (die aber nur Beispiele sein
sollen) eine wirklich vollständige und darum für die allgemeine Schul-
und weiterhin Kulturgeschichte wirklich nutzbare Einzeldarstellung zu
geben.
Der zuletzt berührte Punkt der wirtschaftlichen Seite des Schul-
lebens aber bietet uns den Übergang zu dem eigentlichen Schulbetrieb,
der uns hineinführt zur inneren Geschichte der Schulen, vom
alltäglichen Unterricht bis zu den Gesamttendenzen, die die Quintessenz
des Schullebens darstellen, und die zunächst in pädagogischen Theorien
(die wir von unserem Thema ausscheiden müssen) und dann in Gesetz-
und Verordnungsform uns entgegentreten.
Diese letzteren, die Lehrordnungen, Schulordnungen usw.
sind nun schon längere Zeit ein Gegenstand der Aufmerksamkeit für
die Schulgeschichtschreibung gewesen, und die Auffindung solcher
wertvoller Dokumente hat schon oft den Schulhistorikern eine reine
Freude bereitet. Man kann wohl sagen, daß fast alljährlich eine ganze
Anzahl solcher Lehrordnungen in Schulprogrammen ihre Auferstehung
feiert, meistens in diplomatisch genauer Wiedergabe, sogar oft in dem
Schriftsatz des Originals und mit sorgfältiger Beibehaltung auch offen-
barer alter Druckfehler, womit ja die philologische Akribie auf das
sicherste bewiesen wird. Sehr schön ! sehr dankenswert ! Aber warum
erfüllt der glückliche Finder und Herausgeber fast niemals seine Pflicht,
oder besser gesagt, warum läßt er sich fast immer die schöne Gelegenheit
entgehen, dieses kostbare Ineditum in seinen geschichtlichen und
wissenschaftlichen Zusammenhang zu bringen ? Denn auch die Schul-
ordnungen sind nicht, wie Pallas Athene aus dem Haupte des Zeus,
— 72 —
dem Kopfe des Mannes entsprungen, der damals sehoiae redor war
und dessen Name ihren Titel schmückt, (falls nicht ein hochweiser
Magistrat das Ursprungsrecht am selben Orte für sich in Anspruch
nimmt), sondern sind Symptome von Gesamttendenzen.
Freilich ist es heutzutage noch nicht leicht, gerade diesem schönsten
und interessantesten Teile der Aufgabe gerecht zu werden: es fehlt
an genügenden Gesamtpublikationen, und altes gesetzliches Material ist
nicht immer leicht zu beschaffen und aufzufinden, da es oft in ge-
waltigen, natürlich im Staube der Bibliotheken vergrabenen. Gesamt'^
kodifikationen verstreut ist. Aber das müßte doch eigentlich gerade
zum Suchen reizen 1 Und schließlich bietet das bekannte Werk von
Reinhold Vormbaum ^), wenn es auch wirklichen wissenschaftlichen
Ansprüchen nicht mehr genügt '), doch immer noch eine sehr reiche
Quellensammlung, mit der man schon ein gutes Stück weiter kommen
kann. Für manche Landschaften sind die Mcmimenta Germaniae
Paedagogica mit geradezu mustergültigen Publikationen ausgestattet
(ich erinnere nur an das vorbildliche Werk Koldeweys über Braun-
schweig), und auch das umfassende Werk Sehlings, des Erlanger
Kirchenrechtslehrers, über die Evangelischen Kirchenordnungen bietet,
besonders in seinen Prolegomena, umfassende, auf reiche archivalische
Kunde gestützte Belehrungen.
In der Regel werden jedoch diese vortrefflichen Publikationen von
den Herausgebern nicht herangezogen, und so kommt es denn immer
wieder, daß die neugefundenen Lehrordnungen ohne wissenschaftliche
Einordnung und Erklärung, sozusagen nackt und bloß erscheinen,
und uns zunächst wenigstens sehr wenig zu sagen wissen. Da haben
doch unsere alten Kollegen am Thomer Gymnasium im XVI. Jahr*
hundert ihre Sache viel besser verstanden, als sie im Jahre 1584 ihre
schöne, leider viel zu wenig bekannte InstihUio lÜerata Ihoruniensis
in drei Quartbänden herausgaben, in denen sie ihr wissenschaftliches und
pädagogisches Programm niederlegten. Sie hatten die klare Erkenntnis,
daß ihre und ihrer Vorgänger (besonders des Petrus Vincentius
aus Görlitz) pädagogische Weisheit sich ganz und gar auf Johannes
Sturms Schriften aufbaute, und darum haben sie dessen schul wissen-
i) JEvangeUsche Schuhrdnungen (Gütersloh 1860, 3 Bde). Jeder Band uinfafst die
Ordnangen eines Jahrhunderts.
a) Der Hauptmangel des Baches liegt nicht in seiner UnTollständigkeit, sondern
darin, dafs er die Ordnungen nicht ans den Originalen, sondern aus den späteren Kodi-
fikationen abdruckt, so s. B. die kursfichsischen aus dem stark überarbeiteten Codex
Auguiteus,
— 73 —
schaftliche und systematische Arbeiten direkt als Quelle genannt, und
auch sorgfältig im ersten Bande ihres Quellenwerkes mit abgedruckt.
Die gleiche Berücksichtigung der größeren schulhistorischen und
kultui^eschlchtlichen Zusammenhänge möchten wir auch empfehlen bei
gewissen Paradestücken der schulhistorischen Publikationen, nämlich
bei der Wiedei^abe von offiziellen Aktenstücken (Rektorats-
verträgen, Lehreranstellungen, gottesdienstlichen Vorschriften, Kon-
trakten mit Schulverwaltem usw.). Auf die volkswirtschaftliche Seite
der betrefTenden Sachen ward schon oben hingewiesen; hier handelt
es sich gewissermaßen um den ideellen Inhalt dieser Aktenstücke, der
nur dann ausgeschöpft werden kann, wenn man Vergleiche mit gleich-
zeitigen entsprechenden Aktenstücken zieht, und zugleich auch mit
Blicken nach vorwärts und rückwärts die historische Entwicklung dieser
Dinge sich und anderen verdeutlicht
In ganz besonderem Grade gilt das von alledem, was über
Schul festlichkeiten uns überliefert ist. Hier genügt es nicht»
wenn es z. B. heißt, daß (an einigen Schulen) den Gönnern der An-
stalt drenae überreicht wurden (d. h. zierliche lateinische Epigramme,
die die Primaner zu Weihnachten in der Hoffnung auf irgendwelche
Belohnung für die Honoratioren schmiedeten), oder daß der Gregorius-
umzug stattfand, oder daß Schulaufführungen da und dort stattfanden,
sondern diese Einzelnachrichten müssen eben in das Gesamtgefüge
eingepaßt werden. Die Geschichte des deutschen Schuldramas ist ein
noch zu schreibendes Buch , das aber durchaus nicht nur vom literar-
historischen, sondern auch vom schulwissenschaftlichen Standpunkte
aus behandelt und angefaßt sein will, wenn man ein wirkliches Gesamt-
bild gewinnen will. Gerade für die letztere Seite der Sache ist noch
sehr wenig getan : hier gilt es die Fragen zu beantworten, wie kommt
gerade diese Schule dazu, gerade dies Stück aufzuführen, wie bald
nach seinem Erscheinen ist es über die Bühne gegangen, wie oft ist
es aufgeführt worden, wie lange hat es sich gehalten, welche Um-
arbeitungen (z. B. Shakespeare) hat es erfahren usw. Und da-
neben wird man auch wissen wollen, wie die Aufführung selbst
sich vollzog, lauter interessante Dinge, die den Erforscher in schnellem
Fluge vom Conrechr scholae (dem ständigen Theaterdirektor) hin-
überführen zur Mysterienbühne und zu Terenzens Bühne einer-
seits, und zu Moli^re, Cervantes und Lessing anderseits: freilich
auch lauter Dinge, die in den Einzelpublikationen kaum an-
deutungsweise gestreift werden. Jedoch liegt hier die Schuld nicht allein
am Einzelforscher; es fehlt auch an guten literargeschichtlichen Gesamt-
— 74 —
Publikationen *) ; hat doch noch nicht einmal im Heimatlande des Schul-
dramas, in Kursachsen, sich ein Mann gefunden, der den dankbaren
Stoff gesammelt und nach allen Seiten hin , auch den technischen,
einer Darstellung unterzogen hätte.
Wenden wir uns nun zum All eralltäglichsten im Schulleben, zur
Erörterung der Lehrgegenstände. Diese kommen in der Regel
in den Schulgeschichten schlecht weg. Das, worauf es ankommt, daß
wir nämlich den Fluß der Dinge erkennen könnten, daß die Einzel-
darlegung uns jede Einzelerscheinung des Tages als ein Symptom
erfassen lehrte, finden wir, mit verschwindenden Ausnahmen, fast nie-
mals: und doch können wir z. B. den Aufschwung des griechischen
Unterrichts nach 1820 nur dann richtig verstehen, wenn er in vielen
Einzelpublikationen uns vor die Seele tritt: diese selbst aber können
ihn uns nur dann recht verdeutlichen, wenn sie wieder den Blick aufe
Ganze richten und die Einzelheiten unter die großen Gesamtheiten
unterordnen und einreihen. Oder ein anderes Beispiel! Nehmen wir
einmal die Einführung des mathematischen oder französischen Unter-
richts an irgendeiner Schule an; da ist es unseres Erachtens die Pflicht
des Darstellers nachzuweisen, nicht nur daß dieser Unterricht an der
betreffenden Anstalt eingeführt wurde, sondern er muß auch darstellen,
wie man dazu kam, ihn einzuführen, und in welcher Form er
zuerst in die Erscheinung trat. Die Fäden besonders (lir das erste
unserer Postulate werden freilich nicht immer ganz leicht zu finden
sein, da man bei dieser Gelegenheit oft zeitlich weit zurückgreifen
muß und oft ganz andere Persönlichkeiten mit in Frage kommen, die
mit der Schule nur indirekt zu tun haben, und darum uns in den
Akten auch nicht sofort plastisch entgegentreten. Doch man darf sich
durch solche Erwägung nicht abschrecken lassen. Wer nur einmal
eine solche Untersuchung geführt hat, weiß, wie reizvoll sie ist, so-
bald man nur die mühseligen ersten Anfänge hinter sich hat; denn,
ehe man es sich versieht, kommt man von der kleinstädtischen oder
territorial höfischen Honoratiorengesellschaft und vom obskuren fran-
zösischen Sprachmeister hinüber zu den Männern, die die geistige
Führung hatten und das Ideal des homo politicus herausbilden halfen.
Und genau so führt uns das kurze Verzeichnis der bescheidenen physi-
kalischen Apparate der ersten Mathematici an Gelehrtenschulen, etwa
um 1700 herum, in kürzester Frist bis zu den Höhen, auf denen
i) Die Werke von Holstein, Die Reformation im Spiegelbilde der dramatischen
Literatur (1886) and Exp. Schmidt, Die Bühnenverhältnisse des deutschen Schul-
drannas (1903) reichen ftir Karsachsen nicht aas, da das archival. Material fehlt.
— 75 —
damals Leibniz und seine Gesinnungs- und Geistesverwandten ge-
standen haben. Den Philologen, der die Neuhumanistenzeit betrachtet,
braucht man nicht erst auf F. A. Wolf, G. Hermann und A. Boeckh
hinzuweisen, dem Germanisten, der die Geschichte des deutschen Unter-
richts im XIX. Jahrhundert ergründen will, wird das Wirken der Ro-
mantik auf die Schule und ihre Lehrgegenstände etwas durchaus Ge-
läufiges sein. Bei der Erörterung der beiden letztgenannten schul-
historischen Objekte, die in mancherlei Einzelbearbeitungen uns vor-
liegt, ist nun dieser Hinweis, diese Einfügung ins Ganze und Erklärung
aus dem Ganzen etwas durchaus Hergebrachtes und Geläufiges:
wer ihn unterließe, würde einer groben Unterlassungssünde geziehen
werden : mit vollem Rechte, wie wir meinen ; nur möge man das, was man
bei diesen beiden Gebieten als recht ansieht, auch für andere Perioden
und Gegenstände unserer Schulgcschichte als billig gelten lassen.
Wer nun meinen möchte, daß mit der Erörterung von Lehr-
ordnungen und Lehrgegenständen das Bild vom inneren Leben der
Schule hinreichend gezeichnet sei, ist im Irrtum. Freilich ist die
Wechselwirkung dieser beiden Faktoren aufeinander von höchster
Wichtigkeit; will man aber zur vollständigen Erkenntnis gelangen, so
muß man noch ein drittes hinzunehmen, was freilich am schwersten
zu fassen sein dürfte, weil es dafür am wenigsten aktenmäßige Belege
gibt, nämlich die genaue Kenntnis der jeweilig geübten Schul-
praxis, des Schullebens von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr, von
Epoche zu Epoche. Trotz der Schwierigkeit, ja häufig sogar völligen
Unmöglichkeit, sich das Material zu beschaffen, — der Versuch muß
doch gemacht werden, auch in diese Materie einzudringen, denn sonst
bleibt die Schulgeschichte doch etwas Blutloses, Schemenhaftes.
Wohl dem Schulhistoriker, dem dieser Born leicht und reichlich fließt !
So weiß z. B. jeder alte Alumnatsschüler, der gern die Schicksale
seiner geliebten alma mater verfolgen möchte, daß in einer historischen
Darlegung, die allein sich auf die Akten der betreffenden Schule
gründet, der historische Grundton des Bildes richtig getroffen sein
wird; aber die feinere Tönung der Einzelheiten, die Übergänge von
hell und dunkel findet er nicht darin, die muß er in den Veröffent-
lichungen von Tagebüchern, Dichteralmanachen, novellistisch gestal-
teten Erzählungen usw. (von denen nur die Anekdoten auszunehmen
sind) sich selbst zusammensuchen. Der Schulhistoriker tut immer gut,
solches Material, und wenn es auch nur zur Kontrolle der Akten diente,
mit heranzuziehen: denn die Gesaratrichtung der Schule, die Einzel-
richtung der Fächer, die Methodik der einzelnen Lehrer usw. treten
6
— 76 —
durch solche private Äußerungen oft in eine weit schärfere und klarere
Beleuchtung, und die gewonnenen Bilder werden dadurch für die all-
gemeine Bildungs- und Kulturgeschichte weit verwendbarer. Oder:
will man z. B. ein Bild vom Fortschritt der Methodik des
deutschen Unterrichts gewinnen, und setzt mit den dazu ge-
hörigen Studien etwa um die Mitte des XVIII. Jahrhunderts an, so ist
freilich das zunächst sich darbietende Material nur das Wenige und
Dürftige, was sich in den Gesetzen und Lehrordnungen als Forderung
angestellt findet: wirkliche Fortschritte aber wird der Forscher erst
machen, den Stoff dann erst ausschöpfen, wenn er die, freilich oft recht
versteckten, Themensammlungen, die es für die „Perorier- und Dis-
putierübungen** gab, gründlich studiert. Den Einfluß vom „Klassizis-
mus** und von „Sturm und Drang** erkennen wir viel besser aus den
dichterischen Schüler- und Musenalmanachen, und aus den fast an
allen Schulen verbreitet gewesenen Schülerzeitungen als aus päda-
gogischen Abhandlungen. Gar manche Anstalt bewahrt seit alten
Zeiten bis auf den heutigen Tag die besten Arbeiten ihrer Schüler
auf, ein kostbares Material , um an ihnen innere Schulgeschichte zu
studieren. Gerade aus ihnen kann man z. B. recht gut lernen, daß
die einseitige Anleitung zum Essayschreiben, und eine gewisse, aus^
der „Technik des Dramas** hervorgehende Zerfaserung unserer klassi-
schen Dichtungen, dieses Charakteristikum unserer heutigen ,, deutschen
Arbeiten**, durchaus neueren Datums ist. Gerade aus ihnen läßt sich,
nachweisen, daß diese Einseitigkeiten zuerst auftreten, nachdem ein
besonderer, also auch geordneter Unterricht, sowohl in der Unter-
prima in der Rhetorik, als auch in der Oberprima in der philosophi-
schen Propädeutik weggefallen sind und es den Lehrern des Deut-
schen überlassen blieb, ob sie diese Gebiete nebenher mit anbauen«
wollten oder nicht. Freilich möchte ich hier auch gleich, um nicht
mißverstanden zu werden, die Schulverwaltungen in Schutz nehmen:
sie sind nur in sehr geringem Maße daran schuld, daß heutzutage
eine so große Unkenntnis der elementarsten philosophischen Begriffe
und eine so bedauerliche Unfertigkeit der Gebildeten, einfache Ge-
danken in geordneter, geschweige denn künstlerisch geformter Rede
zutage zu fördern, vorhanden ist. Jeder Schulhistoriker weiß, daß die
Verwaltungen nur den Forderungen ihrer Zeit nachgehen, und öfter
zu Dingen und Entschlüssen gedrängt worden sind, die sie selbst als
verfehlt ansehen mußten und die sie gutgemacht haben, sobald sie
konnten. So hat der naturwissenschaftliche Empirismus die spekulative
Philosophie, und die Ästhetik die Rhetorik vor etwa hundert Jahren aus der
— 77 —
Schule verwiesen, und heute ist man im Begriff, zu beiden zurückzu-
kehren, also frühere Gedankenrichtungen in modernisierter Form wieder
aufzunehmen.
Was hier ausführlich über die Geschichte der Methodik des deut-
schen Unterrichts gesagt worden ist, daß man das Material, vor allem
in gestellten Forderungen und gebrachten Leistungen, heranzuziehen
habe, das gilt natürlich für die Geschichte der Methodik eines jeden
anderen wissenschaftlichen Unterrichts. Wenn neuerdings eine Ge-
schichte der fremdsprachlichen Arbeiten in Preußen während des
XIX. Jahrhunderts ^) geschrieben worden ist , lediglich aufgebaut auf
die Betrachtung der gesetzlichen Vorschriften, die kurzen Angaben in
den Jahresberichten einzelner Anstalten imd die UrteUe berühmter
Fachmänner und Zeitgenossen, so ist das nur eine einseitige Lösung
der Aufgabe: es muß noch eine Durcharbeitung und Beurteilung der
entsprechenden Übungsbücher, und, wenn irgend möglich und zu be-
schaffen, ein Studium der wirklich geübten Praxis hinzukommen.
Dann ist es erst möglich, zu einem nur einigermaßen abschließenden
Urteil zu gelangen.
Und dies führt uns hinüber zu einem anderen Teile unserer kriti-
schen Betrachtung, nämlich, daß die Akribie des Schulhistorikers sich
nicht bloß zeigen soll in möglichst großer Vollständigkeit in der
Beschaffung des Materials, sondern auch in der denkbar größten
Akkuratesse der Behandlung der Einzelheiten.
Wie weit man noch davon entfernt ist, wie viele selbst leicht
lösbarer Aufgaben einfach ungelöst bleiben, das merkt man in den schul-
historischen Arbeiten am häufigsten und am schmerzlichsten bei der
Behandlung der beim Unterricht verwendeten Schulbücher. Da
gibt es fast keine Ausnahme! Nirgends fast findet man auch nur
einigermaßen brauchbare bibliographische und literarhistorische An-
gaben, Wenn es z. B. in alten Stadtschulordnungen heißt: D. Con-
redor cum majaribus explicai Ciceronis episiolas familiäres, so kann
man sich darunter, wenn auch nicht viel, so doch noch etwas denken.
Freilich möchte man gern wissen, welche Stücke ausgewählt wurden,
und welche Ausgabe man zugrunde legte, und selbst wenn die Sturmsche
Ausgabe genannt wird, möchte noch hinzugefügt sein, in welcher Auf-
lage, da ja die einzelnen Auflagen voneinander abweichen. Aber was
soll man zu solchen Angaben sagen: es wurden Erctsmi colloquia
i) G. Badde, Otschiehte der fremdsprachlichen schriftlichen Arbeiten an den
kökeren Knabenschulen von 1812 bis auf die Gegenwart (HaUe 1905).
6*
— 78 —
oder Petri MoseUani ^) P{$edologia gelesen oder HuUeri Compendium
erklärt oder die Hohmannschen Karlen benutzt? also |lauter Bücher,
die in gewaltigen Auflagenmengen vorlagen, und von denen die ein-
zelnen Auflagen wieder gewaltig untereinander differieren. Wie akkurat
man sein muß, um nicht sich und seine Leser in unlösbare Mißver-
ständnisse zu verstricken, das hat uns die verdienstliche Arbeit von
Alois B ö m e r ') über die Schülergespräche hinreichend gelehrt. Was
würde man heutzutage sagen, wenn man in [modernen Programmen
liest: „Geographie Afrikas mit Benutzung von Wandkarten und Atlanten
(irgendeines bekannten Verlags) "oder „Lat. Grammatik nach Ellendt-
Seyffert"? Im ersten Falle kann man sich ja alles mögliche denken,
im zweiten Falle muß man sich aus allerhand Indizien zurecht kon-
struieren, welche von den vielen Bearbeitungen gemeint ist Würde
man nicht diese Angaben als leichtfertig und in hohem Grade nach-
lässig bezeichnen ? Würde man nicht sagen, daß sich mit ihnen nichts
anfangen läßt? Und doch sind diese Angaben nur das moderne
Gegenbild zu den oben getadelten, und haben immer noch vor diesen,
die sich als historisches Material darstellen, den einen Vorzug, daß
sie wenigstens in der Zeit ihrer Drucklegung verständlich waren.
Freilich, fordern ist leicht und erfüllen ist schwer! Das g^lt hier
besonders : denn die Geschichte unserer deutschen Schulbücher ist fast
noch gänzlich eine terra incognita! Wir haben es hier mit einem
Erforschungsgebiete zu tun, das zurzeit wissenschaftlich noch mißachtet
wird. Denn die Gelehrten (Philologen und Mathematiker, um kurzweg
so zu sagen) achten diese Bücher, die sich von der eigentlichen Wissen-
schaft weg zum Gebrauche für weitere Kreise oder für die Jugend
abzweigen, zu gering, um ihren Werdegang zu verfolgen: die Schul-
männer aber kümmern sich zu wenig um das Werden ihrer schul-
wissenschaftlichen Werkzeuge und -beschäftigen sich lieber damit, das
Gegenwärtige weiter auszubauen, als Vergangenes zu studieren, aus
dem sich doch wohl auch manches lernen ließe. Daher kommt es,
daß z. B. über die historische Verteilung der lateinischen Klassiker im
Unterrichte so wenig Leute eine richtige Vorstellung haben. Wieviel von
den Hunderten von Tertianerordinarien, die Cäsar treiben, werden z. B.
wissen, daß dieser Autor vor 150 Jahren die Lektüre der Prima bildete?
wie vielen ist es bekannt, daß die neuerdings so warm empfohlenen
„logisch-rhetorischen Übungen" schon in der Oratorie des XVII. Jahr-
1) Sehr oft als ein Gespräch bezeichnet! — Neue Aasgabe von Herrn. Michel in
den Lat. Literaturdenkmälern Heft 18 (Berlin 1906).
2) A. Bömer, Die lateinischen Schülergeepräche der Humanisten (1897/99),
— 79 —
hunderts vorgelegen haben, daß Plato 6rst im XIX. Jahrhundert dtirch
Schleiermachers Einfluß seinen Einzug in das Gymnasium hielt? Wie
soll man da erst erwarten, daß das Studium der lateinischen und
griechischen Grammatiken nach ihrer historischen Seite hin bekannt und
gepflegt wäre? So sind denn auch in dieser Hinsicht nur sehr be-
scheidene Anfänge gemacht worden, und auch nur bei den allerbe-
kanntesten Lehrbüchern, um in ihr Werden einzudringen, so z. B. in
der Geschichte des Katechismus. Das meiste ist aber noch zu tun
übrig. Es mag ja auch hier der Fall sein, daß das Material für solche
Arbeiten sich schwer beschaffen läßt, denn alte Schulbücher sind
keine Keimelien, und daß man mit weit verstreuten Einzelstücken zu
rechnen hat. Aber auch hier wird emsiges Nachforschen die Mühe
lohnen. Jetzt freilich hat man fast stets das (hofientlich unberechtigte)
Gefiihl bei der Erwähnung irgendeines alten Schulbuches in einer
schulhistorischen Abhandlung, daß der betreffende Verfasser das ge-
nannte Buch überhaupt nie in der Hand gehabt, oder sich zum min-
desten um die bibliographische Geschichte des Werkes (von seiner
wissenschaftlichen Einreihung gar nicht zu reden!) nicht hinreichend
gekümmert hat. Das könnte aus manchem ergötzlichen „Druck*'-
fehler, wovon Pröbchen hinreichend selbst aus sonst sorgfaltigen
Büchern zur Verfugung stehen, nachgewiesen werden. Es hätten sonst
nicht solche elementare Schnitzer passieren können, daß man z. B.
liest, A. Siebers bekannte Gemma gemmarum sei ein naturhistori-
scher Leitfaden gewesen, oder die genannte Pciedologia Moseüani
eine pädagogische Abhandlung mit Anlehnung an Plutarchs
Schrift Ttf^t TiuUüfy uyofyijg»
Geradeso, wie von einem wirklichen Eindringen in die Methodik des
Unterrichts erst dann die Rede sein kann, wenn wir uns genauer um die
zugrunde gelegten Leitfäden und Übungsbücher gekümmert haben : ge-
radeso muß man auch den Schularbeiten, sowohl hinsichtHch der ge-
stellten Anforderungen als der gebrachten Leistungen, seine Aufmerk-
samkeit zuwenden. Auch hier ist es, wenn man sich ernstlich und ehrlich
müht, nicht so schwer, sich das Material zu verschaffen, wie man wohl zu-
erst denken könnte. Dem Verfasser dieser Zeilen ist schulhistorisch nur
sein engeres Vaterland, Sachsen, und auch dieses nur sehr stückweise be-
kannt, aber für sächsische Schulhistorie kennt er reichlich genug Material.
So könnte z. B. einmal die Erziehung unseres Wettiner Königshauses aus den
noch vielfach erhaltenen Schulheften der Prinzen und Herzöge erläutert ')
i) Z.B. ist es heute noch möglich, der Erziehung der Kuriürsten Johatm Georgs IV. ood Fried-
rich Augusts I. (August des Starken) bis auf die Bücher, die sie alltäglich benutzten, nachzugehen .
— 80 —
werden, oder die Geschichte des lateinischen Aufsatzes und der lateini-
schen Versifikation kann aus den auf den Fürstenschulen befindlichen
Sammlungen bis ins einzelne verfolgt und mit Beispielen belegt werden;
den Wandlungen des griechischen Skriptums kann man von Jahr zu
Jahr folgen, und auch über die Entwicklung der deutschen Aufsätze
vermögen wir uns aus den seit dem Beginn der Reifeprüfungen auf-
gehobenen Abiturientenarbeiten bis auf das Jetzt, das sich in dem
Buche von Theod. Matthias ^) darstellt, leicht zu orientieren. Ich weiß
nun nicht, ob man gerade nur in Sachsen so sorgfältig alles aufge-
hoben hat, aber ich denke doch, daß auch anderswo es ähnlich ge-
wesen und die Durchforschung des Materials möglich sein wird *).
Wenn wir nun aus solchen einzelnen Schularbeiten die Einzel-
forderungen nach Vorlage, Korrektur und Zensur kennen gelernt
haben, so lernen wir wiederum aus den Zusammenfassungen einer
ganzen Reihe von Einzelarbeiten oder von ganzen Jahrgängen von
Arbeiten die Gesamt forderung und die Gesamtleistung genau
erfassen und beurteilen. Wie klar und deutlich werden uns z. B. aus
dem trefflichen Buche von H. Ludwig*) die Anforderungen im
lateinischen Ausdruck an die Württemberger Abiturienten, seit 1870
bis jetzt, wie lehrreich fällt der Vergleich mit den anhangsweise heran-
gezogenen Elsässer und Badener Abiturientenskripten, bzw. den stilisti-
schen Aufgaben für die Professoratsprüfung aus ! Wieviel können wir
aus der gleichartigen Sammlung B. Gerathewohls *), die die bayeri-
schen gleichartigen Arbeiten seit 1870 in Betracht zieht, auch schul-
geschichtlich lernen. Das Studium solcher Arbeiten fördert viel mehr
als die Betrachtung der gesetzlichen Forderung und das Studium
pädagogischer Abhandlungen: denn es zwingt, in den Stoff selbst
einzudringen: so weit bringt es das schönste Drüberreden und -schreiben
i) Tlieod. Matthias, Aufsätze atcs Oberklassen [sächs. Realgymnasien], Leipzig
1905.
2) Eine sehr interessante Bestätigung dieser Vermutung fand ich nachträglich in der
Anzeige R. GaUes in der Deutschen Literaturzeitung 1906, S. 1562 aus dem Werke
von Paul Schwartz, Die neumärkischen Schulen am Ausgang des X VIII. und JLw-
fang des X.IX. Jahrhunderts, wo auf die Sammlungen der Abiturientenarbeiten seit
1788 hingewiesen wird.
3) Ludwig, Lateinische Stilübungen für Oberklassen an Gymnasien und Beal-
gymnasien (Stuttgart 1902).
4) Gerathewohl, Lateinisches Übungsbuch für die oberen Klassen des Gym^
nasiums (Bamberg 1896). — Beide Bücher enthalten Absolutorialanfgaben fiir die ge-
nannten Länder mit Hinzufügung der Anstalten (in Württemberg) und der Zahl des Jahres,
in dem sie gestellt wurden.
— 81 —
nicht, und auch nicht die schönsten (in der Regel übrigens nicht vor-
handenen) historischen Einleitungen in die „Methodik und Didaktik des
lateinischen Unterrichtes", unter A^elchen Büchern man übrigens öfter
nur die Methode eines Mannes zu verstehen hat, der Mut genug
besitzt, seine Art als allgemeingültig hinzustellen.
Man wende auch nicht ein, daß man nur für das XIX. Jahrhundert
so genau nachkommen könne. Alle solche Dinge lassen sich historisch
rückwärts verfolgen, man muß nur suchen ! Und dann hat man auch
die Genugtuung, historische Zusammenhänge wieder zu finden, und
blutlose Begriffe wie Argumentum, Imitation, Eocponieren stehen dann
wieder in voller Deutlichkeit auf. Wir lernen erst dann den Fluß der
Dinge und seine Gesetzmäßigkeit auch in den kleinsten und neben-
sächlichsten Dingen kennen und verstehen, und sind dann auch der
wirklichen Lösung der Aufgabe, kulturhistorische Schulgeschichte
zu schreiben, um ein gutes Stück näher gerückt.
Damit sind wir am Schlüsse unserer an methodologischen Wün-
schen überreichen Darlegungen angekommen. Manchem wird das
Geforderte unmöglich erscheinen, und mancher wird darüber lächeln
oder auch spotten, daß ein Material mit herangezogen werden soll,
in dem man sonst, nachdem es korrigiert und zensiert war, weiter
nichts zu sehen pflegte als Futter für den Papierkorb. Damit muß
ich mich abfinden: jede junge Wissenschaft — und die wissenschaft-
lich betriebene Schulgeschichte ist ein noch sehr junger Zweig des
auch noch nicht gar so alten Betriebes der Kulturgeschichte — muß
sich das gefallen lassen. Die Hauptsache ist nur, daß ihre Jünger
nicht verzagen, und daß sie an sich und ihre Mitarbeiter dieselben
höchsten Anforderungen stellen, die auch auf anderen Wissensgebieten
gelten: mit Voraussetzungslosigkeit an die Aufgabe herangehen und
das Material allseitig heranziehen, die Beziehungen nach anderen
kulturgeschichtlichen Gebieten so vollzählig wie möglich herausfinden
nnd im eigenen Gebiete das Höchste gleichmäßig achten, wie das
Geringste, mag es nun eine philosophische Anschauung im schul-
mäßigen Gewände sein, oder eine pädagogische Weisung für ein großes
Land und einen langen Zeitraum, oder eine einzelne Schuleinrichtung
oder gar eine einzelne Schulforderung und die dafür eingegangene
Leistung. Wenn dies jeder Schulhistoriker sich gegenwärtig hält,
dann wird es wohl gelingen, allmählich eine „deutsche Schulgeschichte"
zusammenzubringen.
Minima non curat praetor! Von den Männern, die, wie wir im
Eingange sagten, fähig und auch mutig genug sind, jetzt bereits Ge-
— 82 —
Samtleistungen vorzulegen, können wir nicht erwarten, und dürfen wir
nicht verlangen, daß sie alle die Einzelarbeit tan, deren Gesamtheit
erst geeignet ist, uns ein Gesamtbild zu geben: wir müssen ihnen
dankbar sein, wenn sie das Gerüst fugen und die Plätze andeuten^
wo noch Baumaterial herbeigeschafft werden muß. Wenn wir aber solche
GesamtdarstcUer haben wollen, die möglichst wenig divinatorisch ver-
fahren, so muß ihnen die Einzelforschung auch in der rechten Weise an die
Hand gehen. Auf archäologischen Kursen wird jetzt die richtige Art
des Ausgrabens und Erforschens der Prähistorie nach bestimmten
wissenschaftlichen Grundsätzen gelehrt: nur so hofft man die Einzel-
resultate für die Gesamtheit des Fortschrittes wirklich nutzbringend
und fördernd zu gestalten. Ein gleiches gilt auch mutatis mutandis
für die Schulgeschichte: auch sie bringt unbenutztes Material, das
richtig bestimmt und eingeordnet werden muß, um dem Ganzen
zu dienen: auch sie tut am besten, dabei nach bestimmten wissen-
schaftlichen Grundsätzen zu verfahren. Wenigstens einiges zur Fixie-
rung der letzteren sollen diese Zeilen beitragen: ich schließe,
indem ich meine Wünsche für die weitere Bearbeitung der Schul-
geschichte in Einzelabhandlungen in folgende Sätze zusammenfasse:
i) Der Schulhistoriker möge bei der Darlegung aller schul-
geschichtlichen Einzelheiten immer den Gang dergesamten deut-
schen Schulgeschichte und womöglich der gesamten deutschen
Geistesgeschichte vor Augen behalten und jede Einzelheit, die
er vorzubringen hat, damit in Beziehung zu setzen suchen; auch die
volkswirtschafUiche Seite der Frage ist zu berücksichtigen.
2) Der Schulhistoriker möge bei der Behandlung seines Stoffes
so vollständig wie möglich sein, besonders wo es sich um
innere Fragen des Unterrichtes und des pädagogischen Fortschrittes
handelt. Gesetze und Verordnungen allein tun es nicht; man muß
auch die Praxis kennen und erkennen lehren und darf dabei selbst
das unbedeutendste Beweisstück nicht verschmähen.
3) Der Schulhistoriker möge so exakt wie möglich sein,
und bei allem, was er erwähnt, keinerlei Unklarheiten übrig lassen,
sofern er sie beseitigen kann, sondern überall, und wenn es auch nur
bibliographische Angaben sein sollten, bis auf den Grund gehen.
Dann kommen wir in der Geschichte unseres deutschen Schul-
wesens vorwärts: denn dann erfüllen wir die beiden Forderungen, die
eine jede Wissenschaft an ihre Jünger erhebt: neben dem Blicke auf
das Ganze auch die Treue im Kleinen!
— 83 —
Mitteilungen
WAStdentsehland nnd der Orient. — Der raschere oder langsamere
Kultitrfortschritt junger Völker hängt wesentlich davon ab, ob sie niit den
Errungenschaften älterer Kulturen bekannt werden und ob sie die Fähigkeit
besitzen, sich diese gegebenenfalls so aneueignen, daß sie völlig mit den
selbständig entwickelten Kulturwerten verschmelzen. Was die Deutschen in
dieser Richtung Italien verdanken, dem römischen nicht minder als dem
mittelalterlichen, ist hinlänglich bekannt, und gerade in neuerer Zeit ist an
vielen einzelnen Dingen erwiesen worden, daß das geistige Leben der Ger-
manen auch schon vor der sogenannten Völkerwanderungszeit in höherem
Made durch das Römertum befruchtet worden ist, als man früher anzunehmen
geneigt war. Aber gerade je mehr wir ims der Stärke des römisch-italischen
Einflusses im frühen Mittelalter bewußt werden, desto mehr gilt es sorg-
faltig zu prüfen, ob sich nicht noch andere Einwirkungen beobachten lassen,
damit wir nicht irrigerweise bei allem Fremdartigen ohne weiteres einen
italischen Urspnmg annehmen. Solche Untersuchungen müssen natürlich
stets eine bestimmte Landschaft ins Auge fisissen, da es nur so möglich
werden wird, die fremden Einwirkungen, die sich in den einheimischen Kultur-
überresten finden, im einzelnen nachzuweisen. Als beachtenswerte Ausgangs-
punkte für solche Studien sei hier die Aufinerksamkeit auf zwei Abhandlungen
gelenkt, die sich gegenseitig ergänzen und der Aufhellting der internationalen
Beziehungen Lothringens gewidmet sind').
Die Kenner der Geschichte des heutigen Elsaß-Lothringen wissen, daß
dieses Land in römischer Zeit in zwei kulturell voneinander völlig ver-
schiedene Gebiete zerfiel, die von den Vogesen getrennt wurden: in das
völlig römisch gewordene Moselland mit Trier als Mittelpunkt und das
Oberrheintal, das den Charakter eines Grenzlandes auch nach der An-
lage des rechtsrheinischen Limes bewahrte. Für diesen tiefgieifenden Unter-
schied zwischen zwei ziemlich nahe benachbarten Gebieten und für die Tat-
sache, daß das Land an der oberen Mosel nähere Beziehungen zum Niederrhein
als zum Oberrhein besitzt, galt es nach einer Erklärtmg zu suchen, und diese
ward durch die Beobachtung erleichtert, daß einige Kunstwerke an der Mosel
nahe Verwandtschaft mit solchen der Provence aufweisen und gerade wie
jene griechisch- orientalisches Gepräge tragen. War man einmal in
der Erkenntnis so weit, dann lag es nahe, an einen Kultureinfiuß der von
griechischen Bewohnern Kleinasiens gegründeten Kolonie Massilia nach
Norden hin zu denken, wenn man sich der bekannten Tatsache erinnerte,
daß Massilia eine Handelsstadt war und sowohl das Zinn Britanniens als auch
den Bernstein der Ostseeküste in den internationalen Verkehr des mittel-
ländischen Europa einführte. Außerdem ist die Unwegsamkeit der Alpen
I) Wolfram, Der Einfluß des Orients auf die frühmiUeldUerliehe Kultur
und die Christianisierung Lothringens [^ Jahrbuch der GeseUschaft für lothringische
Geschichte and Altertomskande 17. Jahrg. (1905), i. Hälfte, S. 318^352]. Vgl. daxa
diese Zeitschrift 7. Bd., S. 80. Michaelis, Eine Frauenstatue pergamenischen
Stils im Museum su Metz in demselben Jahrbuch, S. 213-240.
— 84 —
im Altertum als ganz sicher erwiesen, so daß der lebhafte Verkehr zwischen
Italien und dem südlichen Gallien auf eine starke Benutzung des Seewegs
hinweist. Jetzt erhob sich die Frage, in welcher Stärke und in welcher
zeitlichen Ausdehnung etwa die griechisch-orientalische Kultur durch Ver-
mittlung von Massilia auf das Land an Rhone, Sa6ne und Mosel einerseits
und auf den Landstrich von der Sa6ne zur Seine andrerseits eingewirkt habe
und ob dieser Einwirkung die Kunstwerke griechischen Charakters zu ver-
danken seien. Die Prüfung der einschlägigen Quellen, der literarischen Zeug-
nisse, der Inschriften und Funde durch Wolfram, der sich dabei schon auf
manche ältere Arbeit stützen konnte, hat ergeben, daß jener Einfluß ziemlich
stark gewesen ist, namentlich im Zeitalter der Christianisierung, und daß er
sich bis über die Karolingerzeit hinweg verfolgen läßt. Es ist dabei nur zu
berücksichtigen, daß die Quellen des frühen Mittelalters die Orientalen, die
im Abendlande erschienen, sämtlich mit dem Sammelnamen „Syrer" be-
zeichnen, mögen sie nun Griechisch oder Syrisch gesprochen haben. Auf die
zahlreichen Zeugnisse flir das Auftreten von Syrern im Frankenreiche als Kauf-
leute lenkt nun Wolfram die Aufnaerksamkeit und weist vor allem nach, daß
es sich nicht nur um einzelne wandernde Händler, sondern um ganze Kauf-
mannskolonien und ein bleibendes Wohnen orientalischer Familien handelt,
die auch in der Namengebung die Gewohnheit des Landes stark beeinflussen,
indem sie griechischen Namen — namentlich bei der Taufe Erwachsener —
zur Einbürgerung verhelfen. Die Syrer beschränkten sich aber später nicht
auf das kaufmännische Gewerbe, sondern traten in höhere Beamtenstellungen
ein und zugleich in die geistlichen Ämter.
Direkt aus seiner Heimat ist das Christentum durch Seefahrer nach
Gallien gelangt, und nicht über Rom. Seitdem wir wissen, daß die Legionen
sich aus den Gebieten, in denen sie standen, vornehmlich aus den Soldaten-
kindern, rekrutierten *), muß mit der älteren Anschauung endgültig gebrochen
werden, als ob einzelne christliche Legionssoldaten dem Christentum in
Gallien und Germanien zur Verbreitung verholfen hätten. Ganz zweifellos
sind die orientalisch-christlichen Kaufleute die Bahnbrecher gewesen: in
Arles wurden in der ersten Hälfte des VI. Jahrhunderts die Psalmen griechisch
gesungen, und in Metz hat sich in einem Responsorium zu gewissen Landes
in einer Handschrift griechischer, aber mit lateinischen Buchstaben ge-
schriebener Text erhalten. Das Christentum des Frankenreichs trug also
von vornherein ein orientalisches Gepräge, und erst mit dem Wachsen des
römischen Einflusses, dem ein Rückgang des direkten Verkehrs mit Klein-
asien parallel ging, hat auch der römische Kultus das romanische und
germanische Frankenreich ergriflfen.
Aus diesen eigentümlichen Kulturzuständen heraus, die ihren Ursprung
auf den Handel Massilias und die von dieser Stadt ausgehenden Handels-
straßen zurückführen, erklärt Wolfram zum Schlüsse auch die Gestalt des
karolingischen Mittelreichs, das bei der Teilung von 843 entstand: Kaiser
Lothar erwarb dadurch außer dem ihm schon gehörigen Italien das ganze
Land, welches die alte von Marseille bis zur Nordsee führende Handelsstraße
durchzog einschließlich Frieslands ; er besaß nunmehr die Herrschaft über die
1) Vgl. dazu diese Zeitschrift 7. Bd., S. 221 — 222.
— 85 —
beiden Städte Rom und Aachen und zugleich über die einzige europäische
Großverkehrsstraße. Dieser Umstand verdient die größte Beachtung,
und unter seiner Berücksichtigung muß die politische Geschichte des IX. Jahr-
hunderts, der Verfall des Karolingerreichs, unbedingt einer neuen Untersuchung
unterzogen werden.
Es sei gestattet, hier noch einen anderen Gedanken hinzuzufügen. Be-
kanntlich sind von allen deutschen Stämmen zuerst die Friesen in größerem
Umfange als Händler aufgetreten. Sie besaßen um 800 eine Kaufmanns-
niederlassung in Mainz, und ihr Tuchhandel hatte schon eine größere Be-
deutung *). Der Besitz der Seeküste allein genügt nicht zur Erklärung, denn
dieses Vorzugs erfreuten sich andere Stämme auch. Aber insofern unter-
scheidet sich die Lage der Friesen recht wesentlich von der anderer, als ihr
Gebiet unmittelbar von dem internationalen süd-nördlichen Verkehr getroffen
wurde. Was aber mag wohl den Anlaß dazu gegeben haben, daß die
Massilioten oder die von ihnen Beauftragten im Norden gerade so weit nach
Osten ausbogen? Für den Verkehr nach Britannien, von dem sie das be-
gehrte Zinn bezogen, hatten sie dies nicht nötig, aber recht wohl konnten
ihnen die Friesen bei dem Erwerb des an der Ostseeküste gefundenen Bern-
steins behilflich sein. Der Handel mit diesem Artikel spielte bekanntlich in
Massilia eine große Rolle, und die Annahme würde nahe liegen, daß sich
dieses Produkt der Ostsee an der Küste westwärts schob, von den Friesen,
die den internationalen Handelswert erkannten, aufgesammelt und den
griechischen Händlern, die vom Niederrhein aus hierher kamen, abgegeben
wurde, wenn man nicht annehmen will, daß die Friesen direkt, um sich
dieses Gut zu verschaffen, Expeditionen nach Osten unternommen haben.
Wenn Friesland einmal für diesen einen bestimmten Artikel der Sammel- und
erste Umschlagsplatz geworden war, so bildete dieser Umstand zweifellos
einen Anlaß zur Beteiligung am Handel überhaupt und schließlich zur Er-
zeugimg des im Lande üblichen Tuches für die Ausfuhr, sobald einmal durch
die Bekanntschaft mit entfernteren Gebieten der Wert dieses Tuches für deren
Einwohnerschaft erkannt war. Es drängt sich in dieser Richtung eine große
Anzahl Fragen auf, die Antworten verlangen; besonders wird es nötig
sein, das Vorkommen von Bernstein bei Ausgrabungen recht sorg-
fältig festzustellen und zwar stets unter Berücksichtigung aller begleitenden
Nebenumstände.
In Ergänzung der Darlegungen Wolframs ist nun Michaelis in der
oben angeführten Arbeit, in der er sich im besonderen mit der nach einem
alten pergamenischen (180 v. Chr.) Vorbilde einige Jahrhunderte später in
Metz gearbeiteten Frauenstatue beschäftigt, der Untersuchung näher getreten,
wie wohl jenes Vorbild in den Besitz eines Metzer Meisters gelangt sein
könne, und hat gefunden, daß nur Massilia als Vermittelungsstelle in Frage
kommt. Von größtem Werte für alles Weitere ist vor aUem der Nachweis,
daß die um 600 v. Chr. von Phokäem gegründete Kolonie Massilia wirklich
dauernd in lebhaftem Verkehr mit Kleinasien gestanden hat, dann aber
nicht weniger die SchUderung, wie Massilia nach der Gründung von Aquae
i) Vgl. Klumker, Der friesische Tuchhandel zur Zeit Karls des Großer^ und
sein VerfuUtnis zur Weberei jener Zeit (Leipziger Dissert. 1899).
— 86 —
Stxtiae (122 V. Chr.) und der Umwandlimg von I^arho in eine römische
Kolonie als Handelsplatz zurückging, während nun die römischen Kauf-
leute auf den bisher nur von Massilioten begangenen Straßen nach Norden
vorwärts drangen und in jahrhimdertelanger Herrschaft schließlich italische
Kultur einführten y deren Glanzstück Trier war. Hatte aber Massilia auch
seine Bedeutung als Sitz des Handels eingebüßt, so blieb es doch dauernd
der Sitz des Hellenismus in Gallien, und gerade die Vereinsamung, in die
es dort versetzt wurde, der Ausschluß vom Handel nach Norden, mag dazu
beigetragen haben, daß die VerbindungsfUden nach der orientalischen Heimat
hin nicht abrissen. Ab dann das Römerreich verfiel tmd die kulturelle Be«
fruchtuug Galliens von Rom aus nachließ, so war dies für Massilia zweifel-
los ein recht günstiger Umstand; denn nun besaßen die beweglichen Orien-
talen aufs neue in dem inzwischen romanisierten Gallien ein weites aufnahme-
fähiges Absatzgebiet. Gerade diese für Händler so überaus vorteilhafte Lage
mag die Zuwanderung der Syrer recht wesentlich begünstigt haben; denn in
diesen weiten Gebieten war Gelegenheit zum Verdienst, und das alte Massilia
bot für die verschiedensten Unternehmungen einen festen Stützpunkt.
In der Geschichte Massilias von 600 v. Chr. bis in die Karolingerzeit
bildet die Periode römischer Vorherrschaft in Gallien eine zwar langwierige
(vierhundertjährige) Unterbrechimg der Entwickelung, aber die Ausdehnungs-
tendenz der Stadt hat sich dadurch nicht gewandelt, zumal da zweifellos auch
unterdessen einzelne Massilioten unter römischem Schutze als Händler weiter
tätig gewesen sind, und ab das Hindernis beseitigt war, da bewegte jsich der
Verkehr, nur viel stärker ab ehedem, wieder auf den alten Straßen, von denen
sich natürlich nunmehr kraft der intensiveren Kultur manche Seitenlinien ab-
gezweigt hatten. Welches die Hauptwege durch Gallien und nach Germanien
hin waren, das wissen wir aus der Überlieferung der Alten, namentlich den
Berichten des Pytheas, Poseidonios und Strabon. Die Straße von Narbo
nach der schiffbaren Garonne kommt hier nicht weiter in Betracht, wohl
aber die längs Rhone und Sa6ne über Dijon und Chatill on sur Seine
in das Ge^et der Seine, von deren Mündung aus die Überfahrt nach
Britannien den bequemen Bezug des Zinns gestattete; dieser Straßenzug in
einer Länge von etwa 36 Tagereisen darf ab „Zinnstraße*' bezeichnet werden.
Nun steht aber fest, daß auch der Bernstem auf dem Landwege nach Massilia
bzw. Narbo gelangte und zwar in enger Verbindung mit dem Zinn. Ganz
gewiß geschah dies nicht durch einen VVesttransport bis zur Scinemündung,
sondern unter Benutzung einer südwestlichen Straße, die etwa von der frie-
sischen Nordseeküste abzweigte und nach dem Rhone führte : ihr Lauf kann
nur den Rhein und die Mosel aufwärts und von der Mosel in das Gebiet
von Sa6ne und Rhone abwärts geführt haben, wenn auch im einzelnen
Veränderungen in der Wegführung sehr wahrscheinlich sind; diese zweite
Straße verdient den Namen „Bernsteinstraße*'. Löschcke *) vermutet
wegen der dichten griechischen Funde im Nahetal, daß der ältere Lauf
letzterer Straße an der Nahe entlang zum Rheine geführt habe. Dies ist
an sich sehr leicht möglich, ändert aber nichts an dem Gesamtbilde, und
es ist gewiß auch nicht ausgeschlossen, daß zeitweise nebeneinander die
i) Schlußnotiz zu dem AafsftU von Michaelis, S. 240.
— 87 —
Strafen im Nahe« und Moseltal benutzt worden sind, je nachdem die eine
oder andere den Kaufleuten vorteilhafter erschien. Gründe, die namentlich
im Anfiemg dazu Anlaö gaben, bald hier, bald dort zu gehen, lassen sich
manche denken: das mehr oder wenige freundliche Verhalten der Landes-
bewohner, die gröfiere oder geringere GefiUirlichkeit des Weges infolge von
Übeischwemmungen, Bergstürzen und dgl., vor allem aber die Mö^ichkeit der
Benutzung des Schiffes für den Transport, die natürlich auf der Mosel gröder
war ab auf der Nahe.
Die Forschungen über die eben berührten Fragen sind von den aus-
gegrabenen Kunsterzeugnissen ausgegangen und haben schließlich zu über-
raschenden Ergebnissen von größter kulturgeschichtlicher Bedeutung geführt.
Wolfram hat bereits darauf aufinerksam gemacht, dafi die von Schulte^)
vermittelten Erkenntnisse dadurch vervollständigt werden, aber sie er-
fiEihren zugleich auch im ganzen eine recht erfreuliche Bestätigung. Die
Verkehrsgeschichte des Altertums und frühen Mittelalters hat durch die neuen
Untersuchungen eine wesentliche Förderung erfahren, imd der Boden für
solche Forschungen ist unvergleichlich fester geworden ab er etwa vor einem
Jahrzehnt war : wünschenswert und notwendig ist es nur, daß sich idie land-
schaftliche Forschung in ganz Westdeutschland eingehend mit den Ergeb-
nissen dieser Arbeiten und den Problemen, die sie steUen, beschäftigt, daß
sie im einzelnen die körperlichen und literarischen Quellen daraufhin unter-
sucht und dazu verhilft, daß einerseits auch die feineren Fäden, die Neben-
kanäle des Verkehrs, aufgedeckt und daß andrerseits die zeitlichen
Grenzen näher bestimmt werden. Dasselbe gilt für das ganze nordwesdiche
Deutschland, für das die Verkehrsbeziehungen zum Niederrhein aufgedeckt
werden müssen, imd vor aUem auch für Friesland, auf dessen eigentüm-
liche Stellung im Verkehr des frühen Mittelalters schon oben hingewiesen wurde.
Diese Forschungen reden aber auch noch nach einer anderen Richtung
hin eine eindringliche Sprache, insofern sie ein harmomsches Zusammenwirken
der Kunstgeschichte, Altertums- und Münzkunde, Urkundenlehre und sonstiger
Fächer mit der kritischen Prüfung der literarischen Überlieferung zeigen und
jedem, der sich nicht absichtlich einer besseren Erkenntnis verschließt, die
Überzeugung aufdrängen, daß sich nur durch eine solche gegenseitige Er-
gänzung der Sonderwbsenschaften , deren jede ihre besondere Arbeitswebe
hat, und durch Heranziehung des gesamten QueUenstoffs, welche Gestalt
er auch haben möge, umfiEissende große Ergebnisse gewinnen lassen. Die
großen Richtlinien sind gegeben, und es handelt sich nun um den Ausbau
und die Vervolbtändigung im einzelnen. Der ortsgeschichUichen Forschung
erwachsen daraus große Aufgaben, aber auch wer sich nicht selbst forschend
beteiligen, sondern nur die Beweisführung im einzelnen kennen lernen oder
nachprüfen will, der darf sich nicht mit einem Auszuge, wie er hier ntur
gegeben werden konnte, begnügen, sondern muß die Arbeiten von Wolfram
und Michaelis selbst eingehend studieren. A. T.
Personalien* — Nach einjährigem schweren mit unsäglicher Geduld
getragenen Leiden verschied am aa. November d. J. der ordentliche Pro-
i) Vgl. darüber diese Zeitschrift 2. Bd. (1901), S. 193 — 20a.
— 88 —
fessor der allgemeinen neuen und neuesten Geschichte an der JCarl-Franzeos-
. Universität zu Graz, Dr. Hans von Zwiedineck- Südenhorst. An der
tückischen Krankheit versagte die Kunst der Ärzte, die ihm nur eine Ver-
längerung der Lebensfrist, Heilung aber nicht verschaffen konnte.
Mit Hans von Zwiedineck verlieren dessen Freunde einen liebenswürdigen
Menschen, seine zahlreichen Schüler, welche er durch die Macht seines Vor-
trages an sich zog, den Lehrer, die wissenschafUichen Korporationen und
Verbände einen der eifrigsten Förderer wissenschafUicher Arbeit im Rahmen
genossenschaftlicher Bildungen und die historischen Fachkreise einen Gelehrten
von ganz besonderer Eigenart.
Zwiedinecks Lebenslauf war eigenartig wie sein geistiger Entwickelungs-
gang. Ein Durchringen da und dort! Als Sohn des k. österreichischen
Artillerieobersten Ferdinand von Zwiedineck am 14. April 1845 ^^ Frank-
furt am Main geboren, kam er schon als Kind mit seiner Mutter nach Graz:
Steiermark wurde seine Heimat und blieb es bis zu seinem Tode. Nach
Absolvierung der Mittelschule widmete er* sich historischen und deutsch-
philologischen Studien an der Karl -Franzens -Universität, wurde 1867 zum
Doktor der Philosophie promoviert und trat in diesem Jahre als Bibliotheks-
praktikant in den Dienst des Landes Steiermark, in dem er 33 Jahre ver-
blieb. 1869 erhielt er die Qualifikation eines Mittelschullehrers für die Fächer
Geschichte, Geographie und deutsche Sprache und wurde Lehrer an der
Landesoberrealschule. Während seiner Mittelschullehrzeit erwarb sich Zwie-
dineck 1875 die venia legendi für neuere und neueste Geschichte an der
.Grazer Universität, und im Jahre 1880 ernannte ihn der Landesausschuis
ztmi Vorstande der Landesbibliothek am Joanneum, in welcher Stellung er
bis 1900 erfolgreich und organisatorisch wirkte. Seiner Tatkraft und seinen
Beziehungen zur steirischen Landschaft ist es zu danken, dafs nach wenig
erquicklichen Übergangsstadien die Landesbibliothek in einem Neubau imter-
gebracht wurde. Zwiedinecks Verdienste um die Organisation imd Neuein-
richtung dieses Institutes wurden vom Lande stets anerkannt, und das Joanneums-
kuratorium kennzeichnete bei Zwiedinecks Scheiden vom Amte sein Wirken mit
folgenden Worten: „Die Landesbibliothek hat ihm den Ruf zu verdanken, dafi
sie heute die erste und bestorganisierte Provinzialbibliothek der Monarchie ist.*'
Volle Befriedigung im Amte empfand Zwiedineck wohl nur so lange,
bis er die Ziele, welche er sich für den Ausbau der Landesbibliothek ge-
steckt hatte, erreichte. Es mufs als ein hervorragender Zug seines Wesens
hervorgehoben werden , daö Zwiedineck all den zahlreichen Unternehmungen
politischer, amtlicher oder wissenschaftlicher Natur nur so lange seine volle
Kraft und ganze Hingabe widmete, bis er dieselben in jene Wege leitete,
die ihm als die am sichersten zum Ziele führenden erschienen. Sein rast-
loser Eifer, Neues zu schaffen und zu begründen, trug ihn stets vorwärts:
während er diesem oder jenem Werke seme Kraft lieh, arbeitete sein Geist
bereits in der Zukimft, und hatte er seine geistigen GebUde verwiridicht, so
überließ er neidlos und selbstlos anderen die weitere Sorge für seine
Schöp^ngen.
Dieser Zug in seinem Wesen führte Zwiedineck zur akademischen Laof^
bahn. Nur schwer konnte er den Zeitpunkt erwarten, an dem ihm ein
ehrenvoller Abschied von der ihm trotz mancher Last doch liebgewordenen amt-
— 89 —
liehen Tätigkeit im Bibliotheksdienste gewährt wurde. Seit dem Jahre 1900
gehörte Zwiedineck ganz der Grazer Universität an. 1898 erhielt er den
Titel eines ordentlichen Professors, und wurde nach dem Hinscheiden Franz
von Krones' Honorardozent an der technischen Hochschule in Graz. Wenige
Wochen vor seinem Tode erfolgte seine Ernennung zum ordentlichen Uni-
versitätsprofessor. Da glitt noch ein sonniges Lächeln über die schmerz-
verzehrten Züge, da erging sich Zwiedineck seinen Freunden gegenüber in
weitgehenden Plänen über seine Stellung als wirklicher Universitätslehrer, da
erfrischte sich sein Geist an den Vorbereitungen zur akademischen Tätigkeit
im Wintersemester 1 906/1 907. Und als er im eigenen Fühlen und auf
Anraten der Ärzte schweren Herzens auf die Abhaltung der angekündigten
Vorträge verzichten muöte, klammerte der Sterbende sich noch an die Hoff-
nung, doch wenigstens die „Übungen*' mit seinen Schülern vornehmen zu
können. Den „Übungen" galten seme letzten klaren Gedanken!
Als Hans von Zwiedineck in noch jungen Jahren, nach einer reichen
journalistischen Tätigkeit während der Jahre 1868— 1872, zum ersten
Male in wissenschaftlicher Arbeit sich versuchte, ohne Anschluß an
Lehrer und Kollegen, nur dem Drange nach geistiger Arbeit folgend, fiel
in den von ihm veröffentlichten Essays und Studien, die sich schon damab
zumeist auf dem Gebiete der neueren Geschichte bewegten, jene glanzvolle
Verwertung des trockenen Quellenmaterials zu künstlerischer Darstelltmg auf,
jene bestechende Stilistik, welche Zwiedinecks spätere Werke stets auszeich-
neten, imd welche vor allem seinen Ruf als den eines „ neueren Historikers " weit
über die Grenzen Österreichs hinaustrugen. Seine zahlreichen Werke *), angefangen
von der Studie über Fürst Christian von Anhalt und seine Beziehungen zu
Innerösterreich (1874) bis auf die monographische DarsteUimg der Regie-
nmg der Kaiserin Maria Theresia, sind aus dem Vollen geschöpft imd durch
die völlige Beherrschung des behandelten Stoffes gekennzeichnet. Zwie-
dineck war ein glänzender Stilist — ein Vorzug, den auch die sogenannte
„Schule** dem Lernenden zu geben nicht vermag. Wie flössen ihm die
Gedanken aus der Feder, und nur so ist es erklärlich, daß Zwiedineck
bei seinen Berufis'pflichten , bei seiner tätigen Zugehörigkeit zu wissenschaft-
lichen Korporationen , bei seinen Beziehungen zur Politik und zur Gesell-
schaft, eine so äußerst produktive geistige Tätigkeit bis zu dem Augenblick
entfalten konnte, da schwere unheilbare Erkrankung ihm die so gewandt
geführte Feder aus der Hand nahm. Gerade weil Hans von Zwiedineck,
wie er selbst oft genug beklagte, methodischer Schulung entbehren mußte
und keinen der bedeutenden Historiker, die zur Zeit seiner Studien an Deutsch-
lands und Österreichs Universitäten wirkten, seinen „Lehrer** nennen durfte,
i) Von Zwiedinecks Werken seien hier hervorgehoben: Innerösterreichisclus Darf'
Üben im XVIIL Jahrh, (1877). — Bans Ulrich Fürst von Eggenberg (1878). —
Österreich unter Maria Theresia, Joseph IL und Leopold HL (in der von W. Oncken
herausgegebenen Allgem. Geschichte in EtngeldarsteUungen). — Politik der Republik
Venedig während des 30jährigen Krieges (1882). ~ Bilder aus der Zeit der Lands-
knechte (1883). — Deutsche Geschichte im Zeiträume der Gründung des preußischen
Königtums (2 Bände, Stuttgart, 1890 1894). — Deutsche Geschiffte von der Auf-
lösung des alten bis zur Chründung des neuen Reiches (3 Bände, Stuttgart, 1895 ^^^
1904). — Geschichte und Geschichten (1894). — Venedig als Weltmacht (1899).
— 90 —
hat sich seinen Schriften ein eigenartiger persönlicher Stempel ati^edrttckt.
Nicht an den Worten, sondern aus den Werken bedeutender Geschichts-
forscher und Geschichtschreiber hat Zwiedineck sich Belehrung und Begeiste-
rung geholt, mit eisernem Fleiße sich fortgebildet und durch die Vorzüge,
die ihm von Natur aus gegeben waren, sich zu jener wissenschaftlichen Höhe
erhoben, die ihn berechtigte, sich unter die ersten Vertreter seines Faches
an deutschen und österreichischen Universitäten zählen zu dürfen. Zwiedineck
zu hören, war für den Fachgenossen wie für den Laien immer nur ein
Genufi, gleichgültig ob er im Hörsaale vor seinen Schülern, oder ob er im
Festsaale vor einer hundertköpfigen Zuhörerschaft sprach.
Mit Hans von Zwiedineck hat die Geschichtsforschung einen Verlust
zu beklagen. Der Klageruf wird vielleicht draußen im Reiche nachhaltiger
ertönen, als hier zu I^nde. Über den inneren Wert der Werke und die
darin sich spiegehide Geschichtsauffassung Zwiedinecks zu sprechen, muß
ich unterlassen. Dies bleibe jenen vorbehalten, welche der von ihm ver-
tretenen Forschungsrichtung näher stehen als ich, dem die Berechtigung über
Zwiedinecks wissenschaftliche Tätigkeit sicher zu urteilen fehlt. Ich wollte
nur auf jene Lichtseiten , welche seine Werke zu gern gesehenen und gern
gelesenen emporhoben, hinweisen. Ich kann nur wiederholen: Zwiedineck
war ein Gelehrter von ganz besonderer Eigenart.
Allgemein anerkannt ist Zwiedinecks organisatorisches Talent.
Nicht allein in seinem Berufe, als Vorstand der steiermärkischen Landes-
bibliothek, welches Institut er zu schöner Höhe brachte, bewies er den
ihm eigenen klaren Blick für das Notwendige und Überflüssige. Seiner
Persönlichkeit, seinem bestechenden Wesen gelang es, die Fachgenossen ver-
schiedenster Richtung und Qualität zu vereinen, zu gemeinsamer Aussprache,
zu gegenseitigem Kennenlernen. Zwiedineck war ein eifriger Mitschöpfer
jener Tagungen, welche sich ab „Deutsche Historikertage*' zu reicher
Blüte entfaltet haben — nutzbringend für den Einzelnen, wertvoll für die
Gesamtheit und der von dieser getragenen Wissenschaft. Auch dem
Verwaltungsausschusse des Gesamtvereins der deutschen Ge-
schieht»- und Altertumsvereine gehörte er in den' letzten Jahren als
einziges österreichisches Mitglied an und war seit 1899 fiast regelmäßig bei
dessen Versammlungen anwesend, noch zuletzt 1905 in Bamberg. Zwiedinecks
Verdienste an der Aufstellung einer akademischen „Kommission zur
Herausgabe von Akten und Korrespondenzen zur neueren
Geschichte Österreichs" (seit 1898), und seine mitbegründende Tätig-
keit bei der „Gesellschaft für neuere Geschichte Österreichs"
sind bekannt. Für den „Historischen Verein für Steiermark*'
wirkte er von 1896 — 1903 als dessen Obmann, imd begründete die Steiriache
Zeitschrift für Geschichte, von deren Erscheinen er sich die Belebung
heimatlicher Geschichtsforschung versprach. Ganz in diesem Sinne ver-
folgte er von Anfang an mit Teibahme die Entwickelung der Deutschen
GeschichtMätter und war jederzeit bemüht, zu ihrer Fördenmg beizutragen.
Bis in die letzten Wochen seines Lebens schenkte Hans von Zwiedineck
seine vollste Fürsorge jener wissenschaftlichen Institution, die sein organi-
satorischer Geist ins Leben gerufen hatte, der „Historischen Landes-
kommission für Steiermark*'. Zwiedinecks fast freundschaftlichem
— 91 —
Verhältüi» zu dem damaligen Landeshauptmann von* Steiermi»k, Gundackei*,
Reichsgtafen von Wurmbrand, ist es zu verdanken, daß der Gedanke ^dieser
beiden, „das Wirken der modernen Verwaitungskörperschaften durch authen«
tische und erschöpfende Nachrichten über die Entwickelung des Verwaltungs-
organismus in der Vergangenheit" zu fördern, tatsächlich verwirklicht wurde.
Im Frühjahr 189a genehmigte, der steirische Landtag die Aufstellung einer
„Historischen Landeskommissiou für Steiermark", durch welche „die Ge-
schichte des Landtages und der Stände, die Entstehung und Entwickelung
der laadesfürstlichen Regierung, der Gesetzgebung und des Verordnungs-
wesens, die Geschichte der Verwaltung durch städtische und grundherrliche,
weltliche und geistliche Obrigkeiten, der kirchlichen und konfessionellen
Verhältnisse, der Kolonisation, des Handels und Verkehrs behandelt" werden
sollte. Vom Lande Steiennark materiell unterstützt, konnte diese Kommission
im Jahre 1893 mit ihrer Tätigkeit einsetzen, und Zwiedineck verstand es
wie keiner die Fachkreise für dieses — man kann wohl sagen für sein
wissenschaftliches Unternehmen zu begeistern. Fiel doch die Gründung
der „Historischen Landeskommission für Steiermark" in jene Zeit, in der
man auch in Österreich die Bedeutung der Verwaltungs- und Verfassungs-
.geschichte zu erkeimen, zu würdigen und zu pflegen begann.
Durch das Vertrauen des Laudesausschusses und der Fachgenossen
wurde Zwiedineck zur Leitung dieser Kommission berufen. Volle dreizehn
Jahre (1893 — 1906) bemühte er sich als Sekretär der Kommission Leben
einzuhauchen; selbst unter den schwierigsten Verhältnissen wußte er das
Unternehmen seinen Zielen näherzubringen, und blieb auch dann, als er
schwer erkrankt dieses Ehrenamt in die Hände des Landesausschusses zurück-
legte, noch ein eifriger Beobachter und Ratgeber für alles, was in den Wir-
kungskreis der „Historischen Landeskommission" fiel. Wie traurig stimmt
mich noch heute die Erinnerung an eine längere Unterredung mit Zwiedineck
im jüngst verflossenen August. Mit welch jugendlichem Eifer, mit welcher
Überzeugung entwickelte er mir seine Pläne in Sachen der Landeskommission,
wie wünschte und erhoffte er durch private Unterstützung es zur Verwirk-
lichung einer im groöen Stile aufzubauenden und durchzuführenden Be-
arbeitung der Geschichte des steirischen Eisenwesens zu bringen. Wie freudig
begrüöte Zwiedineck die endliche räumliche Vereinigung der Kommission
mit dem Landesarchive imd das ungetrübte Verhältnis, das nun zwischen
den beiden Instituten bestand und welches er von jeher ab eine Grund-
bedingung für eine gedeihliche Entwickelung der historischen Studien im
Lande ansah. Welche Genugtuung gewährte es Zwiedineck, wenn er an den
Tagungen der Konferenzen deutscher Publikationsinstitute die jährlichen Früchte,
welche das von ihm getragene wissenschaftliche Unternehmen gezeitigt hatte,
zur Kenntnisnahme vorlegen konnte.
Wenn auch heute die Leistungen der ,, Historischen Landeskommission
für Steiermark" nicht so ganz dem entsprechen, was man nach dem Pro-
gramm von 1892 voraussetzen konnte, so wird doch jeder, der nur
einmal so grofi angelegten Unternehmungen angehört Rat, die Wandlungen
kennen, welche sie vom programmatischen Ausgangspunkte bis zur tat-
sächlichen Entfaltung und Ausführung durchzumachen haben. Diese Er-
kenntnis blieb Zwiedineck nicht erspart, und er war der erste, der bei
— y2 —
der Erneuerung der „Historischen Landeskommission'' im Jahre 1902 offen
und mutig in den neuen Kurs mit bescheideneren, daher aber auch erreichbaren
Zielen steuerte. Für die „Historische Landeskommission'' war es schon
ein Verlust zu nennen, als Zwiedineck auf das Ehrenamt eines geschäfts-
führenden Sekretärs verzichten mußte, ein imersetzlicher, ab wir an seiner
Bahre standen. Die „Historische Landeskommission fUr Steiermark" ist
seine eigenste Schöpfung imd wird es bleiben ; wenn sie nach Jahren reiche
Früchte zu tragen beginnen wird, dann wird der Name Hans von Zwiedinecks
nur in ehrendster und dankbarster Erinnerung genannt werden können.
Graz, im Dezember 1906. Anton Meli.
Einiiiegaiigeiie Btteher.
Schmidt, Hans Georg: Die Konvention von Altranstädt vom 22. August
1707. Festschrift zur 200 Jahr-Feier. Leipzig, Armed Strauch 29 S. 8".
M. 0,10.
Schmidt, Wilhelm: Die Kirchen- und Schulvisitation im sächsischen Kur-
kreise vom Jahre 1555. Erstes Heft: Die kirchlichen und sittlichen
Zustände [= Schriften des Vereins ftir Reformationsgeschichte Nr. 90].
Halle a. S., Rudolf Haupt 1906. 74 S. 8^ M. 1,20.
Schönberg im Fürstentum Ratzeburg. Festschrift zur Feier des Einzugs
JJ. KK. HH. des Grofsherzogs Adolf Friedrich und der Grofs-
herzogin Elisabeth in Schönberg am 5. August 1906. Schönberg
(Meckl.), Verlag von Lehmann & Bernhard 1906. 47 S. 8".
Seile, Georg: Oldenburgs Seeschiffahrt in alter und neuer Zeit [>== Pfingst-
blätter des Hansischen Geschichts Vereins. Blatt II]. Leipzig, Duncker
& Humblot 1906. 67 S. 8®. M. i.
Pfau, W. C.: Skizzen vom alten Rochlitzer Handel und Wandel [= Einzel-
heiten aus dem Gebiete der Rochlitzer Geschichte Lieferung 5]. Roch-
litz i. S. 1906. 216 S. 8«.
Wintterlin, Friedrich: Geschichte der Behördenorganisation in Württemberg,
herausgegeben von der Kommission ftir Landesgeschichte. Zweiter Band :
Die Organisation König Wilhelms I. bis zum Verwaltungsedikt vom
I. März 1822. Stuttgart, W. Kohlhammer 1906. 319 S. 8^ M. 3,50.
Berichtigung.
Zu dem Bericht über den Vortrag von Archivdirektor Sech er (Kopen-
hagen) auf S. 42 teilt dieser mit, daß seine Äußerung hinsichtlich des Ver-
hältnisses zwischen Urkunden und Akten nicht richtig wieder-
gegeben sei, wenn gesagt werde: „eine Scheiduog von Urkunden und Akten
tritt nicht ein*'. Die Wirklichkeit habe er ausgesprochen, daß das dänische
Archivwesen eine prinzipielle Scheidung von Urkunden und Akten
nicht kennt und deshalb zwar aus praktischen Gründen (Rücksicht auf
die Siegel, Format und dgl.) Pergamenturkuuden für sich aufbewahrt,
aber Papierurkunden bei den Akten läßt.
Herausgeber Dr. Armin Tille in Leipzig.
Druck nnd Verlag von Friedrich Andrea« Perthes, AkriengeselUchaft, Gotha,
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
sur
Forderung der landesgeschichtlichen Forschung
VIII. Band Januar 1907 4. Heft
Vatikanische Quellen zur deutsehen
Liandesgesehiehte
Von
Martin Wehrmann (Stettin)
Leo XIIL pontifex maximus histori(ie studiis constdens tabularii
<ircana reclusit anno MDCCCLXXX. Diese kurze Aufschrift auf einer
Marmortafel, die den Arbeitsraum des Geheimarchivs des Heiligen
apostolischen Stuhles im Vatikan zu Rom schmückt, legt Zeugnis ab
von dem für die historische Quellenforschung überaus wichtigen Ent-
schlüsse des Papstes Leo XIIL, die Schätze des gröfeten und bedeu-
tendsten Archives der Welt dem wissenschaftlichen Studium zu er-
öffnen. Es ist wohl noch in der Erinnerung mancher Geschichts-
forscher, welches Aufsehen es in der wissenschaftlichen Welt machte,
als bald nach der Thronbesteigung des Papstes (20. Februar 1878)
bekannt wurde, er beabsichtige das Archiv, das bisher nur wenigen
Glücklichen zugänglich gewesen war, allgemeiner Benutzung zu er-
schließen. Noch lebhafter wurde die freudige Erwartung, als bereits
am 20. Juni 1879 durch ein päpstliches Breve der Kardinal Joseph
Hergenröther zum Archivar des Heiligen Stuhles ernannt und nach
den notwendigsten Vorbereitungen im Januar 1881 der neu eingerich-
tete Benutzersaal in Gebrauch genommen wurde. Sofort begannen
die Forscher aller Kulturstaaten, die überaus zahlreichen und wich-
tigen Archivalien, die allmählich in immer größerem Umfange der
Benutzung zugänglich wurden, in eifriger Arbeit einzusehen und nach
den verschiedensten Richtungen auszunutzen ^). Seit mehr als
i) Vgl. über die Geschichte des vatikanischen Archives n. a. Bellesheimin den
HisU)ri8ch'PoUti8ehmBläUern,Bd,g4{^SS4),S.^os--^2SxmdS.^Ss—S^^
im Historischen Jahrbuch 4. Band (1883), S. 2320. and 26off.; A. Gottlob,
ebendort S. 271 — 284; Th. v. Sickel, ebendort 24.Bd. (1903), S. 9i5ff. und vor aUem
W. Friedensbnrg, Das Kgl. preußische historische Institut in den dreisehn ersten
Jahren seines Bestehens 1888 — 1901 (Anhang zn den Abhandlangen der Kgl. preuß. Akademie
7
— 94 —
25 Jahren ist jetzt dieses Stadium in unverminderter Weise fortgesetzt
worden und hat reiche Früchte für die Geschichtsforschung ge-
zeitigt. Kaum möglich wird es sein, alle die Publikationen auf-
zuzählen, für die Quellen aus dem vatikanischen Archive benutzt
worden sind. Es ist selbstverständlich, daß auch für die deutsche
Landesgeschichte viel durch die Erschließung dieser archivalischen
Schätze gewonnen wurde, und deshalb mag es angebracht sein, im
Rückblick auf das verflossene Vierteljahrhundert einmal zusammen-
zustellen, welche Quellen aus diesem Archive für die Erforschung der
Geschichte deutscher Landschaften bisher erschlossen worden sind.
Bei der großen Zahl der Veröffentlichungen, die oft in lokalen oder
territorialen Geschichtszeitschriften einen ziemlich verborgenen Platz
gefunden haben, wird es nicht möglich sein, eine absolute Vollstän-
digkeit zu erzielen, zumal da bei zahlreichen Aufsätzen ohne ein-
gehenderes Studium kaum zu erkennen ist, ob für sie Material aus
dem vatikanischen Archive benutzt, ja in ihnen vielleicht auch einiges
abgedruckt worden ist. Ergänzungen und Nachträge zu den folgenden
Mitteilungen sind deshalb sehr erwünscht. Noch weniger können alle
allgemeinen Veröffentlichungen, Reichstagsakten, TeUe der Monumenta
Germaniae historica, Urkundenbücher, Regestensammlungen, in denen
sich natürlich auch für die Landesgeschichte Deutschlands Quellen
finden, hier mitgeteilt werden. Nur einige der wichtigsten Publikationen
dieser Art seien angeführt.
Schon vor der Elröffnung des Archives hatte die ficole firan^aise
de Rome die Erlaubnis erhalten, die Register der Päpste des XIII. Jahr-
hunderts zu bearbeiten und zu veröffentlichen. Von dieser großen
Publikation (Registres des papes du XIIL siecle), die fortgesetzt
in Arbeit ist, sind zum Teil noch nicht vollständig erschienen die
Register Gregors IX. (1227 — 1241, par L. Auvray, bisher 8 Hefte),
Innocenz* IV. (1243 — 1254, par E. Berger, 3 Bände), Alexanders IV.
(1254 — 1261 , par Bourel de La Ronciere, de Loye et A. Coulon,
I. Band), Urbans IV. (1261 — 1264, par J. Guiraud, 9 Hefle), Clemens'
rV. (1265 — 1268, par E. Jordan, 4 Hefte), Gregors X. (1271— -1272)
der WisscDschaflen vom Jabre 1903), Berlin i903.Hierist auf S. 5— 18 die Eröffnung des vati-
kanischen Geheimarchives durch Papst Leo XUI. eingehend behandelt and Literatur in
reichem Mafle angegeben. Kurs orientiert über die Verhältnisse die. kleine Arbeit
Ton G. Bnschbell, Das vattkarUsche Archiv und die Bedeutung seiner Er-
Schließung durch Papst Leo XUI. (Frankfurter zeitgemäße Broschüren XXII, la).
Hamm L W. 1903. Aus der Archivbenutzungs-Ordnung finden sich Mitteilungen in den
DeaUchen Geschichtsblättem I, S. 193 f.
— 96 —
und Johanns XXI. (12/6 — 1277, par J. Guiraud et L. Cadier, 3 Hefte),
Nikolaus' III. (1277 — 1280, par J. Gay, 4 Hefte), Martins IV. (1281 — 1285,
par M. Soehn^e, i Heft), Honorius' IV. (1285 — 1287, par M. Prou,
I Band), Nikolaus' IV. (1288— 1292, par E. Langlois, 2 Bände), Boni-
fatius' VIII. (1294 — 1303, par Digard, Faucon, Thomas, 8 Hefte) und
Benediktus' XI. (1303 — 1304, par M. Ch. Grandjean, i Band). Eine
andere Serie der französischen Publikation umfaßt Ldtres des papes
du XIV. siecle; von dieser kommen für uns besonders die Bände in
betracht, in denen die lüterae communes nach den Registern von
Avignon und vom Vatikan aufgeführt werden. Erschienen sind aus
dem Pontifikat Johanns XXII. (13 16 — 1334) 3 Bände, aus dem Bene-
dikts XII. (1334 — 1342) 4 Hefte. In ihnen findet sich viel Material
für die deutsche Landesgeschichte, und es muß deshalb nachdrücklich
auf sie aufmerksam gemacht werden.
Von deutscher Seite ist ganz besonderer Eifer der Erforschung
des päpstlichen Kanzlei- und Urkundenwesens gewidmet worden. Die
zahlreichen Veröffentlichungen, aus denen auch manches für die
Landesgeschichte zu gewinnen ist, können hier nicht aufgeführt
werden. Eis mag genügen, auf die neueste zusammenfassende Be-
handlung dieses Gegenstandes durch L. Schmitz-Kallenberg (in
A. Meisters Handbuch der Geschichtswissenschaft I, S. 172—230)
hinzuweisen. Auch die Sammlung und Neubearbeitung der Papst-
urkundeu ist in Angriff genommen worden, und als Anfang ist neuerdings
erschienen: P. F. Kehr, Regesta pcniificum Romanorum. Italia
Pontificia, vol. I. Berlin 1906 '). Die vorbereitenden Arbeiten mögen
ebenfalls für landesgeschichtliche Forschungen manches neue Stück
ans Licht gezogen haben.
Hierfür verdienen natürlich nicht geringe Beachtung die großen
Sammlungen der Franziskaner (Bullarium Franciscanum, 7 Bände, Rom
1759 ff.), der Dominikaner (Monumenta ordinis fratrum Praedicatorum
histariae, Rom 1 896 ff. ),die PubUkation der Benediktiner (RegestumClementis
papae V. ex VeUicanis archetypis cura et studio ordinis Benedict^ 9 Bände,
Rom 1885 ff.) u. a. m. Es ist nur zu bedauern, daß diese Werke den For-
schern gewöhnlich schwer zugänglich sind. Besonders auf allgemeine
deutsche Verhältnisse beziehen sich zahlreiche Publikationen, von denen
hier nur die wichtigsten aufgezählt werden sollen. Dabei ist es aber unmög-
lich anzugeben, für welche Landschaften sie im einzelnen Beachtung
i) Über die Arbeiten Ton Pflngk-Harttnng ist za vergleichen W. Friedensborgs Auf
satz in der Beilage sur Allgemeinen Zeitung 1905, Nr. 241 — 243.
— 96 —
verdienen. O. Posse bringt in seinem Werke Analeda VaHeana
(Innsbruck 1878) Beiträgre zu den Jahren 1254 bis 1372. Die von
der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien heraus-
gegebenen MiUeUungen aus dem vatikanischen Archive (Witn 1889 — 94,
2 Bände) enthalten im ersten Bande (1889) Aktenstücke zur Geschichte
des Deutschen Reiches unter den Königen Rudolf I. und Albrecht I. Be-
sonders eifrig sind die bayerischen Historiker für die Zeit Kaiser Ludwigs
tätig gewesen und haben damit auch reiches Material für die deutsche
Landesgeschichte beigebracht. So veröffentlichte F. v. Löher Vati-
kanische Urkunden eur Geschichte Kaiser Ludwigs des Bayern aus den
Jahren 1315^1326 (Archival. Zeitschrift Bd. V, S. 236 ff.; VI, S. 212 ff.)
und J. H. Reinkens Auszüge aus den Urkunden des vaHkanischen
Archives von 1315^1334 (Abhandlungen der Akademie der Wissen-
schaften in München. Bd. XIV— XVII, 1882 ff.). Von großer Wichtigkeit
sind die von S. Riezler im Auftrage der Historischen Kommission
zu München herausgegebenen Vatikanischen Akten eur deutschen (76-
schichte in der Zeit Kaiser Ludwigs des Bayern (Innsbruck 1891) *).
Hier findet sich Quellenmaterial für die Geschichte fast aller deutschen
Landschaften.
Für die Geschichte Karls IV. sind von Bedeutung die Veröffent-
lichungen von E. Werunsky (Ezcerpta ex registris Clementis VL et
Innocentii VL histariam 8. R. Imperii sub regimine Karoli IV. illu-
strantia. Innsbruck 1885) und Fr. Zimmermann (Acta Caroli IV.
imperataris inedita 1352—1376. Aus italienischen Archiven gesammelt
Innsbruck 1891). Allerdings bezieht sich das zweite Werk in
der Hauptsache auf die italienische Politik des Kaisers, kommt
aber in einigen Einzelheiten auch für die Landesgeschichte in
Betracht. Auf Grund eingehender Studien im vatikanischen Archive
hat M. Jansen den Papst Bonifatius IX. (1389 — 1404) und seine Be-
ziehungen aur deutschen Kirche (Studien und Darstellungen aus dem
Gebiete der Geschichte III, 3 und 4. Freiburg 1904) behandelt. Da
unter diesem Papste das Provisionswesen ') ganz besonders großen
Umfang annimmt, so werden in dem Buche Mitteilungen gemacht,
welche die verschiedensten deutschen Territorien betreffen.
Von allen Veröffentlichungen zur allgemeinen deutschen Ge-
schichte ist für die landesgeschichtliche Forschung am wichtigsten
i) Nachträge hat C. Enbel in dem 13. Bande des Historischen Jahrbuchs (1892)
gebracht
2) Hierzu ist o. a. das ausgezeichnete Buch von J. H aller, Papsttum und
Kirchenreform, Bd. I (Berlin 1903) zu vergleichen.
— 97 —
das Bepertarium Germanicumj Begesten aus den päpstlichen Archiven
gur Geschichte des Deutschen Reichs und seiner Territorien im XIV.
und XV. Jahrhundert, herausgegeben durch das Kgl. preußische
historische Institut in Rom. Pontifikat Eugens IV. (143 1 — 1447),
I. Band, unter Mitwirkung von Joh. Haller, Jos. Kaufmann und
Jean Lulv^s, bearbeitet von Rob. Arnold (Berlin, A. Bath,
1897) 0- Obgleich der vorliegende erste Band nur ein Jahr (vom
II. März 143 1 bis zum März 1432) umfaßt, enthält er in 2828 Nummern
neue Quellen zur Geschichte aller Territorien des Reiches im wei-
testen Sinne '). Aus diesem Werke läßt sich auch am leichtesten
eine Anschauung gewinnen von dem Material, das die päpstlichen
Register für die deutsche Territorialgeschichte vornehmlich bieten.
Es handelt sich dabei zumeist nicht um große politische Vorgänge,
für die es natürlich auch nicht an Quellen fehlt, sondern um Ver-
leihungen von Pfründen oder EIxpcktanzen , Bestätigungen von Inkor-
porationen, Schenkungen, Käufen u. a. m., Ernennungen, Indulte, Dis-
pense, Absolutionen usw. „Das Wichtigste und das eigentliche
Charakteristische dieser Publikation besteht", wie Friedensburg schreibt,
„darin, daß der Forscher ein aktenmäßiges klares Bild davon erhält,
wie tief die Kurie beständig in die kirchliche Verwaltung eines großen
Reiches, oft bis in die kleinsten Details eingriff') und bei den mannig«
iachsten Anlässen, meist aber auf Grund von Suppliken einheimischer,
d. h. deutscher Kurialen den Geltungskreis der anderen kirchlichen
Organe durchbrach". In mühsamster Arbeit ist ein reiches Quellen-
material zusammengebracht, das in dem ersten Bande nur zum aller-
kleinsten Teile veröffentlicht worden ist. Die große Sammlung von Re-
gesten aus der Zeit von 1378 bis 1447 ruht jetzt im Geheimen Staatsarchive
zu Berlin, wo sie von Forschem eingesehen werden kann. Über die
Art der weiteren Publikation, die in derselben Weise wie in dem ersten
Bande kaum fortgesetzt werden kann, ist, soviel bekannt, ein end-
gültiger Beschluß noch nicht gefaßt. Auch hat die Görres-Gesell-
i) Für die EnUtehnog des Werkes bt Friedensbargs DarsteUong (Das Kgl.
preafi. histor. Institut, S. 103 flL und S. 115—118) Ton besonderem Interesse.
2) Was z. B. fUr Pommerns Geschichte ans dem Werke zu gewinnen ist, wurde in
deo MonatsbUttem der Gesellschaft fUr pommersche Geschichte (1898. S. 105 — 107)
knrz dargel^t
3) Solche Akten finden sich natttrlicb vereinzelt anch in den deutschen Archiven,
selbst in denen einzelner Pfarrämter, wie z. B. die mannigfachen ans den Registern er-
sichtlichen Nacbweisnngen in der Übenicht über den IfihaÜ der Jäeineren Archive der
JBheiniproviHJB (Bonn 1899 — 1904, Bd. i nnd 3) erkennen lassen, aber in ihrer imponie-
renden Menge finden sie sich eben nnr in den Registern in Rom.
— 98 —
Schaft, von der die Arbeit für die Monate vom November 141 7 bis
Mai 1418 und für die Zeit von 1447 bis 1523 übernommen worden
ist, bisher noch nichts Zusammenfassendes veröfTentUcht
Für die Reformationszeit liegen wieder zahlreiche vatikanische
Quellenpublikationen vor, die auch für die Landesgeschichte in Be-
tracht zu ziehen sind. J. Hergenröthers Regesta Leanis X. panH-
ficis tnaxitni (Freiburg 1884 fr.) sind nicht vollendet. Die vorliegenden
acht Hefte enthalten aber mancherlei Beiträge zur Geschichte deutscher
Territorien und verdienen eingehende Berücksichtigung. Auch in
P. Bai ans Sammlungen (ManumetUa reformeUionis Lidheranae ex ia-
btdariis secreUoribus s. sedis 1521—1525, Ratisbonae 1883 — 1884, und
Monumenta saeculi XVI. histortam iUusiranHa V, i , Oenip. 1885)
bieten hier und dort StofT, ebenso wie andere reformationsgeschicht-
liche Arbeiten, für die das vatikanische Archiv benutzt worden ist. Man
mag diese in der neuen Ausgabe von Dahlmann-Waitz' Otiettm-
künde der deutschen Oeschichie (1906) nachsuchen.
Viel zu wenig benutzt für die Landesgeschichte ist bisher das
größte Werk , das infolge der Eröffnung des Archives in Angriflf ge-
nommen und bereits ein gutes Stück gefördert worden ist, die Ver-
öffentlichung der NtnUiaturberichte, Das preußische historische In-
stitut in Rom hat die Zeitabschnitte von 1533 — ISS9, 1572 — 1585
und 1628 — 1635 übernommen und in den einzelnen Abteilungen bis
jetzt 7, 4 und 2 Bände veröffentlicht, die von Friedensburg,
Hansen, Kiewning, Kupke und Schellhaß bearbeitet worden
sind. Von der zweiten AbteUung, welche die Jahre 1560 — 1572
umfaßt, hat die historische Kommission der Wiener Akademie bis-
her zwei Bände in der Bearbeitung von S. Steinherz heraus-
gegeben, während die Görres- Gesellschaft von den Nuntiaturberichten
1585 (1584) bis 1590 in der Bearbeitung von St Ehses, A. Meister
und F. Reichenberger drei Bände und daneben noch durch
F. Dittrich und W. E. Schwarz andere Korrespondenzen von
Nuntien hat erscheinen lassen *). Mancherlei kleinere VeröfTent-
lichungen und Ergänzungen vervollständigen die Reihe dieser für das
XVI. und XVII. Jahrhundert überaus wichtigen Quellenpublikation, in
der natürlich auch viel wertvolles Material für die Geschichte der
i) Über die Geschichte dieser Pablikation berichtet eingehend Friedensborg (Das
Kgl. preafi. histor. Institnt, S. 23 f. 38 ff. 49 ff. 72 ff. 82 ff. 119 ff. and in der Einleitong
tum ersten Bande der Nnntiatorbenchte). Fttr die genanen Titel und die- anderen kleineren
Veröffentlichungen kann auf Dahlmann-Waitz, 7. Aufl. (Nr. 5852. 5853. 6085—6089.
428) verwiesen werden.
— 99 —
deutschen Landschaften, namentlich ihre kirchliche Entwickelung,
steckt, das man, wie schon hervorgehoben wurde, noch keineswegs
genügend ausgenutzt hat Es ist allerdings zu bemerken, daß be-
dauerlicher Weise diese große Publikation in recht vielen Bibliotheken
fehlt und deshalb vielen Forschem unzugänglich bleibt. Weiter
mögen angeführt werden der von G. Kupke veröffentlichte Bericht
über die Beise des päpsilichen Legaten Hieranymo Dandino von Bom
nach Brüssel, 1553 (Quellen und Forschungen aus italienischen Ar-
chiven ^) IV , S. 82 — 94) und die Begesten mr deutschen Geschichte
otis der Zeit des PontifikcUs Innoceng' X 1644: — 1655, die W. Frie-
densburg herausgegeben hat (Quellen und Forschungen! IV,
S. 236 — 285 ; V, S. 60 — 124, 207 — 222 ; VI, S. 146—173 ; VII, S. 121 bis
138). Auch seine Beiträge zum Briefwechsel der katholischen Gelehrten
Deutschlands im BeformationszeitaUer (Zeitschrift für Kirchengeschichte,
Bd. XVI — XXllI) und andere kleinere Publikationen in verschiedenen
Zeitschriften können in Betracht kommen.
Nicht aus dem vatikanischen Archive stammt der bereits im Jahre
1875 gedruckte Liber confratemüatis b. Mariae de Anima Teutoni-
corum de urbe (Romae 1875). Trotzdem muß diese Zusammenstellung
der Deutschen, die in die Brüderschaft bei der Kirche St. Maria dell*
Anima zu Rom aufgenommen wurden, hier erwähnt werden, da sie
für die Landesgeschichte sehr wichtig ist. Leider ist die Ausgabe
recht schlecht und fehlerhaft, aber die Forscher auf lokal- oder
territorialgeschicbtlichem Gebiete werden die iiir sie in Betracht
kommenden Namen doch herausfinden ^). Manche Ergänzung geben
F. Na gl und AI. Lang in ihren Mitteilungen aus dem Archive des y
deutschen NaiionaXhospizes 8. Maria deW Anima in Bom (Römische
Quartalschrift, XII. Supplementband. Rom 1899). Die Untersuchung
über den Aufenthalt Deutscher in Rom ') bietet für die Lokalhistoriker
manches interessante ; es kommen dafür sowohl einheimische als auch
römische Quellen in Frage.
Auf vatikanischem Material beruht das große Werk K. E üb eis.
i) Über diese vom preafl. histor. Insütot in Rom seit 1897 henrasgegebene Zeit«
Schrift ist wieder Friedensbnrgs Bericht (S. 141 ff.) zn vergleichen.
2) FOr Prenften hat H. Freytag in der Zeitschrift des westpreußischen Geschichts-
Vereins 42. Bd. , S. 68—87, für die Rheinlande und Westfalen J. Evelt in der Monats-
schrift für rhein.-westfalische Geschichtsforschung 3. Bd., S. 415 — 437 eine solche Znsammen-
steUnng gemacht.
3) Zu vergleichen ist daza u. a. L. Pastor, QtBchiekU der Päpste 1, 3 n.
4. Aafl., S. 240 bis 250.
— 100 —
Bierarchia catholica medü aevi (2 Bände. Regensburg 1898 — 1901),
das auch für jeden Forscher auf dem Gebiete der Landesgeschichte
unentbehrlich und in bezug auf das Mittelalter an die Stelle der viel
benutzten Series episcoporum von Garns getreten ist. Die Fort-
setzung ist in Arbeit, und Eubel selbst hat mancherlei Ergänzungen
mitgeteilt oder für deutsche Abteien einzelne Zusammenstellungen ver-
öffentlicht *). Auch in mehreren Arbeiten, die sich mit dem Fmanz-
wesen der Kurie beschäftigen, werden Mitteilungen gemacht, die für
einzelne Territorien wichtige Nachrichten bringen, so von A. Gottlob
in seinem Buche Aus der Camera apostolica des XV. Jahrhunderts
(Innsbruck 1889) und von J. P. Kirsch in den Werken: Die päpst-
lichen Kdllektorien in Deutschland während des XV. Jahrhunderts
(Quellen und Forschungen aus dem Gebiete der Geschichte. Heraus-
gegeben von der Görres-Gesellschaft, Band III. Paderborn 1894) und
Die päpstlichen Annaten in Deutschland während des XV. Jahr-
hunderts (Band I. Von Johann XXII. bis Innocenz VI. Quellen und
Forschungen, Band IX. Paderborn 1903). Bei der Bedeutung des
Fuggerschen Hauses für ganz Deutschland ist es erklärlich, daß
AI. Schultes Werk Die Fugger in Born 1495'-1523 (2 Bände.
Leipzig 1904) auch für die landesgeschichtliche Forschung mancherlei
aus dem vatikanischen Archive gewonnenes Material enthält. Zur
Reformgeschichte des Benediktinerordens im XVI. Jahrhundert macht
B. Albers Mitteilungen Aus vatikanischen Archiven (Studien und
Mitteilungen aus dem Benediktiner- und Cisterzienserorden XXI,
S. 197 — 216; XXII, S. 113 — 147). Reiche Ausbeute für zahlreiche
deutsche Diözesen (Wien, Köln, Meißen, Brixen, Freising, Laibach,
Würzburg, Mainz, Trier, Paderborn, Regensburg, Lübeck, Merse-
burg u. a.) bringen die von Friedensburg mitgeteilten Jn/ormottv-
proeesse (d. h. Verhandlungen an der päpstlichen Kurie vor Neu-
besetzung der Bischofssitze) in vortridentinischer Zeit (Quellen und
Forschungen I, S. 165 — 203).
Diese VeröfTentlichungen leiten uns schon über zu den eigent-
lichen landesgeschichtlichen Arbeiten, die im vatikanischen
Archive vorgenommen worden sind. Sofort nach seiner EröiT-
I) Pravisianes Praelatorum während des grqfien Schimnaa (Rom. QnartaUchrift
vn, S. 405-446; vm, S. 259—273). — Die Besetzung deuUcher Abteien mittelst
päpstlicher I^visianen 1431—1503 (Stadien und MiUeilnngen ans dem BeDediktiner-
ond Cistenienserorden XX, S. 234—246). — j^ commendam verliehene Abteien
während der Jahre 1431-1503 (ebendort XXI, S. 3—15). — Papst Urhan V. und
seine I^ovisionen auf deutsche Abteien (ebeDdort XVI).
— 101 —
nung machten sich einzelne deutsche Länder und preußische Provinzen
daran, durch eigens zu diesem Zwecke nach Rom entsandte Gelehrte
das reiche Quellenmaterial für ihre Geschichte durchforschen zu lassen.
Bald wurden Ergebnisse dieser Studien veröiTentlicht. Entsprachen
sie auch nicht immer den sehr hoch gespannten Erwartungen, so
brachten sie doch ein ungemein reiches Material für die landesgeschicht-
liche Forschung namentlich auf dem Gebiete der kirchlichen Ver-
waltung und geistlichen Versorgung. Deshalb hörte diese Tätigkeit,
wenn auch vielleicht der erste Eifer etwas nachließ, nicht auf, wurde
aber dann im Anschluß an das 1888 eingerichtete preußische historische
Institut in Rom in gleichmäßigere Bahnen gelenkt ^). Dies ist mehr
und mehr der Mittelpunkt auch für diese Forschungen geworden und
bietet den deutschen Gelehrten in der reichlich bemessenen Zeit, die
für die eigentliche Archivarbeit nicht in Frage kommt, Gelegenheit
zu weiteren Studien. Mit der allmählich wachsenden Büchersammlung
ist neben der Nachschlage-Bibliothek im Vatikan (Bibliotheca Leamna)^
die doch auch nur in wenigen Stunden zugänglich ist, für den
deutschen Forscher ein viel benutztes Hilfismittel entstanden *),
Die Veröffentlichungen, die von Instituten, Vereinen oder Privaten
auf Grund solcher Studien gemacht worden sind, sollen im folgenden
möglichst vollständig kurz zusammengestellt werden. Dabei mag eine
geographische Reihenfolge gelten. Die bereits erwähnten, von der
Wiener Akademie herausgegebenen Aktenstücke ssur Geschichte Rudolfs I,
und ÄJbrechts L dienen ebenso wie die gleichfalls schon genannten
Veröffentlichungen über andere deutsche Könige oder Kaiser im be-
sonderen auch der österreichischen Geschichte. In spätere Zeit
führen uns die von K. Schellhaß mitgeteilten Akten eur Reform^
täUgkeit Fdieian Ninguardas in Bayern und Österreich während der
Jahre 1572—1577 (Quellen und Forschungen, Band I— V) und des-
selben Gelehrten Arbeit über den Franziskaner -Observanten Michael
Alvaree und seine Ordensklöster in den Priminsfen Österreich, Straß-
hurg, Böhmen und Ungarn im Jahre 1579 (Quellen und Forschungen
VI, S. 134 — 145). Für die Provinz und Diözese Salzburg hat
AI. Lang im ersten Bande der Acta Salstburgo-Aquil^ensia die Ur-
i) Interessant ist, was Friedensborg in seinem oft erwähnten Berichte (S. 18. 46 ff.
5 7 ff. 104 f.) tlber diese Arbeiten mitteilt
2) Ober das preußische historische Institut TgL anfier Friedensbargs Bericht die
Beilage mr AUgemeinen Zeitung 1901, Nr. 77, Deutsche GeschichtsbläUer II, S. 306—310
und die Jahresberichte in den neuesten Bfinden der Qmeüen und Forschungen aus
UaMemschen Archiotu,
— 102 —
künden über die Beziehungen der päpstlichen Kurie zur Provinz und
Diözese Salzburg in der Avig^onischen Zeit 1316 — 1378 gesammelt
und bearbeitet (Quellen und Forschungen zur österreichischen Kirchen-
geschichte. Serie I, i. und 2. Graz 1903. 1906). Schon früher
hat Hauthaler aus den vatikanischen Registern eine Auswahl von
Urkunden und Regesten vornehmlich gur Geschichte der Ergbischofe von
Sahhurg bis gum Jähre 1280 (Archiv ßir österreichische Geschichte
IJCXI, S. 213 ff.) veröffentlicht. Die sehr eifrige und fleißige histo-
rische Landeskommission von Steiermark (vgl. Deut. Geschichtsbl.
VIII, S. I ff.) hat sich natürlich die Schätze des vatikanischen Archives nicht
entgehen lassen. In ihrer 18. Veröffentlichung (1903) gibt AI. Lang aus
den vatikanischen Supplikenbänden des XV. Jahrhunderts , aus päpst-
lichen Konsistorialakten von 1480 — 1487 und anderen Archivalien
reiche Beiträge zur Kirchengeschichte der Steiermark und ihrer Nach-
barländer '). Eines der ersten Länder, iiir das Mitteilungen aus dem
Archiv erfolgten, ist Mähren. B. Dudik, der bereits in den fiinfeiger
Jahren 59 Registerbände benutzen konnte •), hat Ausßnige für Mährens
allgemeine Geschichte aus den Registern der Päpste Benedikt XIL und
Klemens VI. (Brunn 1885) herausgegeben. Böhmen ist neuerdings
mit zwei stattlichen Bänden, Monumenta Vaticana res gestcis Bohemicas
iUustrantia, hervorgetreten. Band I, bearbeitet von L. KU cm an,
enthält Acta Clements VI. 1342 --1352 (Prag 1903), Band V, bear-
beitet von C. Krofta, Acta ürbani VI. ei Bonifatii IX. 1378—1404
(Prag 1905). Nebenbei mag auch auf die große ungarische Publi-
kation Monumenta Vaticana historiam regni Hungariae iUustrantia
(Series I, i — 6*); Series II, i. 2. Budapest 1884 ff.) aufmerksam ge-
macht werden ; ihr gehen andere Veröffentlichungen, z. B. über das Bis-
tum Weißbrunn {Monumenta Bomana episcopatus Vesprimiensis, 2 Bände,
Budapest 1896 — 1898) zur Seite.
Vatikanische Quellen zur Geschichte der Schweiz liegen ge-
druckt vor in J. Bernoullis Acta pontifieum Helvetica (Band 1,
1198 — 1268. Basel 1891). C. Wirz hat Bullen und Breven aus
italienischen Archiven 1116 — 1623 (Quellen zur Schweizer Geschichte XXI.
Basel 1902) und Akten über die diplomatischen Beziehungen der römischen
Kurie eu der Schweiz 1512—1522 (Quellen XVI. Basel 1895) heraus-
gegeben. Zur Geschichte des Bistums Basel im XIV. Jahrhundert hat
i) Vgl. dazo oben S. 8.
2) Vgl. Dadik, Itor italicum (2 Binde. Wien 1855).
3) Inhaluübersicht in Quellen und Forschungen I, S. 323 f.
— 108 —
E. Göller einen Beitrag gebracht (Quellen und Forschungen VI,
S. 16—24).
Daß die Bayern in den ersten Jahren der Archivforschung be-
sonders eifrig an der Arbeit waren und zahlreiche Beiträge zur Ge-
schichte König Ludwigs beibrachten, wurde bereits erwähnt. Aus der
späteren Zeit liegen, wie es scheint, größere Studienergebnisse nicht
vor, wenn auch gewiß in manchen Urkundenpublikationen vatikanische
Quellen mitgeteilt sein werden. Sonst hat F. Miltenberger Aus-
güge aus den päpsHichen Bechnung^>üchem des XV. Jahrhunderts für
Nürnberger Geschichte veröffentlicht (Mitteilungen des Vereins für Ge-
schichte der Stadt Nürnberg XI, S. 87—96).
Württemberffisehes aus römischen ArchivenbringenE. Schnei-
der und K. Käser (Württembergische Geschichtsquellen U. Stuttgart
1895). Ob für die Urkundenbücher von Ulm, Rottweil, Eßlingen u. a.
auch Bestände des päpstlichen Archives benutzt worden sind, vermag
ich nicht anzugeben.
Für Baden liegen Mitteilungen aus dem vatikanischen Archive
von F. V. Weech vor (Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins X,
S. 632 — 649; XII, S. 259—272). Der erste Band der Römischen
Quellen eur Konstanzer Bistumsgeschichte von Rieder ist im Drucke.
Die von der badischen historischen Kommission herausgegebene Ar-
beit AI. Schultes, Geschichte des mittdaUerlichen Handels und Ver-
kehrs zwischen Westdeutschland und Italien (2 Bände. Leipzig 1900)
ist auch für andere Territorien von großer Bedeutung. Auch
Doren, Deutsche Handwerker und HandwerksbruderscJiaften im miiteU
aUerlichen Italien (1903) verdient Beachtung.
Reich ist der Ertrag der Forschimgen für Elsafs und Lothringen
gewesen. Es sind hier zu nennen die Arbeiten von E. Hauviller,
Alsatica aus Pariser und römischen Archiven und Bibliotheken zur
Geschichte des XV IL und XVIU. Jahrhunderts (Zeitschrift für Ge-
schichte des Oberrheins XV, S. 454 — 478), sowie Analecta Argen-
tinensia, vatikanische Akten zur Geschichte des Bistums Straßburg im
XV. Jahrhundert (Johann XXII. 13 16 — 1334) und Beiträge zur Reichs-
und Bistumsgeschichte (Band I. Straßburg 1900). Auch H. V. Sauer-
land hat zwei Urkunden, die sich auf den Straßburger Chronisten
Jakob Twinger (1396 Januar 7) und auf den Bau des Straßburger
Münsters (1396 Juni 22) beziehen, aus den Lateranischen Registern
mitgeteilt (Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Ge-
schichts- und Altertumsvereine 1899, S. 155 f.)- Derselbe unermüd-
liche Forscher hat es sich ganz besonders angelegen sein lassen, die
— 104 —
römischen Archive für die Geschichte Lothringens auszubeuten.
Als Ergebnis liegen vor die Vatikanischen Urkunden und Begeskn eur
Geschichte Lothringens, von denen zwei Abteilungen (1294 — 1342 und
1342 — 1370) erschienen sind (Quellen zur lothringischen Geschichte
I. IL Metz 1901. 1905). Kleinere, vorbereitende oder ergänzende
VeröiTentlichungen Sauerlands enthalten vtxtikanische Regesten zur
Geschichte Lothringons 1265 — 1291 (Jahrbuch der Gesellschaft für
lothringische Geschichte X, 195 — 235) und Vatikanische biographische
Notizen zur Geschichte des XIV. Jahrhunderts (ebendort XIII, S. 337
bis 344; XV, S. 468 — 475). Die Chschichte des Metzer Bistums im
XIV. Jahrhundert hat ebenfalls Sauerland unter Benutzung vati-
kanischer Quellen behandelt (ebendort VI, i, S. I19 — 176; VII, 2,
S. 69 — 168) und weitere Beiträge dazu durch Mitteilung von zwei
Aktenstücken zur Geschichte des Metzer Bischofs Philipp vonFlörchingen
1260 und 1263 (ebendort XIV, S. 431 — 448) und eines Zeugnisses
für den Leiter der Metzer Domschule vom Jahre 1363 (ebendort XV,
S. 466 — ^467) gebracht.
Auch für die Geschichte der Rheinlande hat Sauerland die Ur-
kunden und Regesten aus dem vatikanischen Archive gesammelt; es
liegen jetzt drei Bände (1294 — 1326. 1327 — 1342. 1342— 1352) vor
(Bonn 1902. 1903. 1905). K. Hayn macht Mitteilungen aus den
Annaienregisiem der Päpste Eugen IV., Pius IL, Paul IL und
Sbctus IV. 143 1 — 1447. 1458 — 1484 (Annalen des historischen Ver-
eins für den Niederrhein LXI, S. 1296*.). Zwei Briefe des Erzbischofs
von Mainz, Diether von Isenburg, aus dem Jahre 1461 ließ AI. Schulte
abdrucken (Quellen und Forschungen VI, S. 25 — 31), und Sauer-
land teilte Trierische Taxen und Trinkgelder an der päpstlichen Kurie
wahrend des späteren Mittelalters mit (Westdeutsche Zeitschrift XVI,
S. 78 fr.).
Mancherlei vatikanische Quellen sind für die Geschichte West-
falena und des übrigen Niedersachsens in den zahlreichen Urkimden-
büchem, die gerade für dies Gebiet erschienen sind, benutzt worden.
Es ist nicht möglich, diese hier im einzelnen aufzuführen. H. Finke
hat Forschungen zur u?estßlischen Geschichte in römischen Archiven
und Bibliotheken veröffentlicht (Zeitschrift für vaterländische Geschichte
und Altertumskunde, Band XLV). Ostfriesische Urkunden aus dem
vatikanischen Archive zu Rom 1401 — 1437 teilt M. Klinkenborg
mit (Jahrbuch der Gresellschaft für bildende Kunst zu Emden XIV,
S. 147 — 176). Arbeiten für die Geschichte der Stadt Bremen haben
in Rom K. Schellhaß und W. v. Bippen vorgenommen. Die Er-
— 105 —
gebnisse sollen als Anhang zum Bremischen Urkundenbuche heraus-
gegeben werden, wie Friedensburg in seinem Berichte über das
preußische historische Institut (S. 48 und 60) mitteilt. Daß auch für
die Geschichte Belgiens und Hollands Forschungen in Rom angestellt
werden, mag hier nur kurz erwähnt und wenigstens auf den ersten Band
der Analecfa Vaticana belgica, recueil de documents concemants les
dioceses de Cambrai, Liege, Therouanne publUs par V instiitU historique
Beige de Borne (1906) hingewiesen werden.
Für eine Zahl von norddeutschen Diözesen (Magdeburg, Halber-
stadt, Hildesheim, Paderborn, Minden, Osnabrück, Lübeck und Münster)
gibt Sauerland nach Akten des päpstlichen Staatssekretariats eine
Darstellung des Katholigismus und ProtesiarUismus im Jahre 1607
(Rom. Quartalschrift XIV, S. 384—392). Sehr bald nach der Eröff-
nung des Archives erschien die umfangreiche Sammlung der Päpst-
lichen Urkunden und Begesten aus den Jahren 1295 — 1378, die Gebiete
der heutigen JProvin» Sachsen und deren Umlande betreffend, die im
Auftrage der historischen Kommission der Provinz Sachsen von
G. Schmidt und P. Kehr gesammelt und in zwei Bänden bearbeitet
worden sind (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen XXI. XXII. Halle
1886. 1889). Da der Begriff der Umlande sehr weit gezogen ist, so
enthält dies Werk reiches Material für alle norddeutschen Territorien
und verdient, obgleich das darin enthaltene Material nicht ohne Fehler
oder Irrtümer ist, weitgehende Beachtung. Einige kleinere Mitteilungen
zur Geschichte der Grafen von Stolberg -Wernigerode aus dem Va-
tikan machen E. Jacobs und M. Wehrmann (Zeitschrift des Harz-
vereins XXXVII, S. 95 f.; XXXVIII, S. 156 f.). Für Braunschweig
kommen in Betracht die von Sauerland veröffentlichten drei Ur-
kunden zur Geschichte der Heirat des Herzogs Otto von Braunschweig
und der Königin Johanna I. von Neapel aus den Jahren 1375, 1376
und 1385 (Quellen und Forschungen VIII, S. 206 — 216).
Für die Provinz Brandenburg hat 1889 — 1891 J. Kretzschmar
in Rom gearbeitet und eine größere Zahl von ungedruckten Stücken
gewonnen ; die Veröffentlichung ist jedoch bisher nicht erfolgt *). An
dieser Stelle mögen einige Arbeiten aufgeführt werden, die vatikanische
Quellen zur Geschichte der Hohenzollern beibringen oder auf
solchen beruhen. Vatikanische Urkunden des XIV. Jahrhunderts zur
Geschichte des Hauses der Hohenzollern teilt Sau er land (Quellen und
Forschungen VI, S. i — 15) mit, R. Arnold Urkunden zur Geschichte
1) Vgl. Friedcnsbargs Bericht S. 60 f.
— 106 —
der erden HohenzoUer. Kurfürsten und ihres Hauses 1433 — 1447 (eben-
dort I, S. 296 — 319). P. Kalkoff behandelt die Beziehungen der
Hohenzollern zur Kurie unter dem Einflüsse der lutherischen Frage
(ebendort IX, S. 88 — 139), W. Friedensburg die römische Kurie
und die Annahme der preußischen Königswürde 1701 (Histor. Zeit-
schrift 87 [N. F. 51], S. 407—432). In das Ende des XVIII. Jahr-
hunderts führen uns die Mitteilungen G. Kupkes über eine Relation
vom preußischen Hofe vom Jahre 1795 (Quellen und Forschungen I,
S. 261 — 280) und über Briefe eines spanischen Gesandten aus Berlin
1797 (ebendort I, S. 109 — 149). Zur Geschichte des apostolischen
Vikariats des Nordens zu Beginn des XVIII. Jahrhunderts hat P. Wit-
tich en bemerkenswerte Nachrichten gegeben (ebendort VI, S. 343
bis 367).
Forschungen zur Geschichte Mecklenburgs sind in Rom von
H. Grotefend angestellt worden, die Ergebnisse werden für das
Urkundenbuch verwendet, das in seinen letzten Bänden zahlreiche
vatikanische Stücke bringt.
Für Pommern hat M. Wehr mann im vatikanischen Archive
gearbeitet *) und kleinere Beiträge namentlich zur Geschichte des
Bistums und der Diözese Cammin in den Monatsblättem der Gesell-
schaft für pommersche Geschichte (1904, S. 6 — 8. 75 — yy, 182 — 185)
geliefert. Außerdem sind Vatikanische Nachrichten zur Geschichte
der Camminer Bischöfe im XV, Jahrhundert veröffentlicht worden
(Balt. Studien N. F. VIII, S. 129—145). Im Urkundenbuche haben
die Bearbeiter vom 4. Bande an auch Urkunden aus den päpstlichen
Registerbänden benutzt.
Die Arbeiten, die R. Damus für die Provinz WestpreuTsen im
Auftrage der Provinzialkommission 1889 — 1890 in Rom vornahm, haben
bisher eine Veröffentlichung nicht erfahren*). Polnisch- Preußisches
aus der Bihliotheca Borghese im vatikanischen Archive teilt A. Levin-
son mit (Zeitschrift des westpreußischen Geschichtsvereiqs XLII,
S. 89 — 115). Als Ergebnis seiner Studien für Ostpreufsen hat
H. Ehrenberg italienische Beiträge zur Geschichte dieser Provinz
veröffentlicht (Königsberg i. Pr. 1895; auch erschienen als Beilage
zur altpreußischen Monatsschrift XXXII). Es sind vomemlich Stücke
aus dem XVI. bis XVIII. Jahrhundert. Hierzu gibt G. Kupke eine
i) Ein kurzer Bericht ist erstattet in dem als Manuskript gedruckten Vortrage
Fommersches a%M Born (Stettin 1904).
a) Vgl. Friedensburgs Bericht S. 48. 63.
— 107 —
Ergänzung in seinen Beiträgen ssur OeschicJUe der katholischen Mission
in TUsü 1792—1793 (Quellen und Forschungen II, S. ii&— 139).
Auch Livland hat nicht versäumt, für seine Geschichte die römischen
Quellen auszunutzen; das zeigen H. Hildebrands Livanica, vor-
nehmlich aus dem XIIL Jahrhundert, im vatikanischen Archive (Riga
1887) und W. Lichtarowicz' Livonica in römischen Archiven und
Bibliotheken (Sitzungsberichte der Gesellschaft für Geschichte und
Altertumskunde der Ostseeprovinzen Rußlands 1904).
Für Polen hat bekanntUch schon in den sechziger Jahren
A. Theiner für seine Vetera monumenta Poloniae et Lithuaniae
(Rom 1860 — 1864 4 Bände) päpstliche Archivalien benutzt, freilich
oft recht mangelhaft. Deshalb haben neuerdings auch polnische
Historiker fleißig in Rom gearbeitet und z. B. im 15. Bande der
Scriptores rerum Polonicarum die Früchte als Analecta Bomana heraus-
g^eben (Krakau 1894). Eigens für die in der Provinz Posen ver-
einigten ehemals polnischen Landesteile hat H. Ehrenberg in
italienischen Archiven Urkunden und Aktenstücke gesammelt (Leipzig
1892) i).
Schlesien endlich hat A. O. Meyers Studien im vatikanischen
Archiv einen Beitrag zur Geschichte der Gegenreformation (1586.
1603 — 1605) zu verdanken (Zeitschrift des Vereins für Geschichte
und Altertum Schlesiens XXXVIII, S. 343 — 361). H. Meyden-
bau er bringt Material zur Frage der gemischten Ehen in Schlesien
in den Jahren 1740—1750 (Quellen und Forschungen II, S. 195 — 244)
und J. Ph. Dengel teilt einen Bericht über die Reise des Nuntius
Josef Garampi im Jahre 1776 von Warschau über Breslau nach Dresden
mit (ebendort V, S. 223 — 268).
Es ist eine lange Reihe von Publikationen und Arbeiten, die hier
aufgeführt worden sind. Sie zeigt, daß die deutschen Geschichts-
forscher mit regem Eifer und emsigem Fleiße bestrebt waren und
noch sind, die Schätze des vatikanischen Archives auch für die Landes-
geschichte auszunutzen. Freilich wird man aus dieser bibliographischen
Zusammenstellung, bei der eine kritische Beurteilung der Veröffent-
lichungen nicht beabsichtigt war, auch erkennen, daß die in den
letzten 25 Jahren geleistete Arbeit noch keineswegs zu einem Ab-
schlüsse gekommen ist. Die Bestände der päpstlichen Archive sind
so gewaltig groß, daß es noch der Tätigkeit vieler Forscher und
i) Über Ehrenbergs römische Arbeiten spricht gleichfaUs Friedensborg S. 47.
60—63.
— 108 —
•
langer Jahre bedarf, um sie auch nur einigermaßen für unsere Zwecke
zu erschöpfen. Deshalb ist der Wunsch berechtigt, daß auch weiter
emsig in diesen Archiven geforscht werde. Es ist aber auch zu
hoffen, daß nicht nur die vorliegenden Veröflfentlichungen in erheb-
lich höherem Maße als bisher benutzt, sondern daß auch diese
Arbeiten planmäßiger gestaltet werden, wie schon die fünfte Versamm-
lung deutscher Historiker in Nürnberg (1898) den Wunsch aus-
gesprochen hat, es möge „eine Verständigung zwischen den
landesgeschichtlichen Publikationsinstituten erfolgen
über die Entsendung von Forschern zur Ausführung von
gemeinsamen Arbeiten provinzial geschichtlicher Art,
Ausschreiben von Preisaufgaben und Gewährung von
Reisestipendien seitens der Akademien und historischen
Kommissionen, um Untersuchungen und Darstellungen
der geistigen Strömungen an der Kurie und ihres Ein-
flusses auf Deutschland zu erleichtern, die neben den
Quellenpublikationen über die diplomatische, politische,
wirtschafts- und verwaltungsgeschichtliche Seite der
päpstlichen Regierung seither zurückgetreten sind."
(Bericht über die 5. Versammlung deutscher Historiker. S. 11 — 13.)
Die Idee der mittelalterlichen Totentänze
Von
Hans Olbertz (Bonn)
Der immerwährende Wechsel zwischen Tag und Nacht, zwischen
Licht und Finsternis ist ein Gleichnis des Erdenlebens. Wie die Sonne
mit ihrem Glänze auf- und untergeht, so steigt auch Geschlecht nach
Geschlecht den steilen Lebenspfad hinan und eUt ihn, auf der Höhe
angekommen, bald wieder abwärts dem Grabe zu. Wie der Urquell
des Lichtes bald seinen goldenen Strom durch den Äther fluten läßt,
bald von den Nebeln und Finsternissen der Nacht verdunkelt wird,
so fließt auch das Leben des einzelnen Menschen dahin in dem ewigen
Kreislauf: Werden, Wachsen und Welken. In der Morgendämmerung
der Kindheit lächelt der Mensch entgegen dem Frührot der Jugend-
zeit, von dessen Schein umblüht der Knabe spielt und träumt in frommer
Unschuld; dann geht dem Jüngling die Sonne der Wahrheit und
Schönheit auf in seinen Idealen, und dieses Gestirn leuchtet auch dem
— 109 —
Manne auf seinem harten, mühevollen Wege; endlich wandert er
hinab von der Mittagshöhe seines Lebens, immer einsamer wird der
Pfad, immer schwächer das Leuchten des Lichtes über ihm, bis endlich
der Lebensabend ihn an den Rand des Grabes führt, bis der Greis
sein müdes Auge für diese Welt schließt. So weit können wir den
Lauf des Daseins verfolgen. Aber dann drängt sich uns, die wir nicht
weiter zu blicken vermögen, die Frage auf: Was nun ? Kein Lebender
hat ja noch hinter den dunkeln Vorhang gesehen, keiner einen Blick
in das Land des Todes geworfen. Darum beben die Menschen be-
klommen vor dem letzten Schritt in das unbekannte Reich zurück.
Es wird ja Nacht für den Toten, Todesnacht. Wenn die Dunkelheit
kommt, so furchten sich die Kinder und weinen wohl laut, weil die
Phantasie ihnen Gespenster und andere Schreckgestalten vorgaukelt.
So sind die Menschen wie die Kinder, wenn sie das Dunkel des Todes
nahen sehen und ängstlich beklommen zaudern, den letzten Schritt
zu tun.
Das ewige Urgeheimnis des Todesgedankens ist seit alter Zeit
ein Lebensrätsel für den einzelnen und vielleicht gerade darum ein
ebenso tiefgründiges Rätsel für die Erforschung der Todesidee und
ihrer Verkörperung im Wandel der Jahrhunderte. Wollten
wir dieses Rätsel auch nur annähernd richtig lösen, so müßten wir die
Volksanschauung über den Tod mit der dichterischen und künstle-
rischen Gestaltung vergleichen, soweit uns ein Vergleich überhaupt
möglich ist. Aber gerade hier liegt die Schwierigkeit: Wir können
vielfach den Volksglauben und Aberglauben nur aus der dichterisch-
künstlerischen Verkörperung erschließen. Wer aber bürgt uns für die
Richtigkeit des Schlusses? Und wer bürgt uns vor allem dafür, daß
die Schöpfung des Künstlers wirklich nach dem Volksglauben gebildet
ist und nicht vielmehr nach der eigensten Anschauung des Bildners?
Immerhin! Wir wollen wenigstens betrachten, was uns die Sprache
der Kunst über das Rätsel offenbart Wir wollen also nicht die schwer
zu lösende Frage aufwerfen: Ist die Kunst in der Todesdarstellung
wirklich der Ausdruck der Volksseele? Vielmehr gilt es zu prüfen,
ob die vorhandenen Gestaltungen des Todes ihren Zweck als Kunst-
werke erfüllen, d. h. ob sie imstande sind, künstlerisch zu wirken.
Wenn nun der Wert eines Kunstwerks auf der Idee, dem Ge-
dankengehalt und der diese Idee verkörpernden Form beruht, so
müssen wir für die vorliegende Aufgabe die Frage anders formulieren,
als sie bisher von den zahlreichen Bearbeitern des gleichen Gegen-
standes gestellt wurde. Während diese den Wandel der Todes-
8
— 110 —
darstellung mehr äußerlich kurz skizzierten und sich des Werturteils
vielfach gänzlich enthielten, soll im folgenden einmal der Versuch ge-
macht werden, den inneren Zusammenhang des Darstellungswechsels
kritisch zu beleuchten.
Während der Betrachtung des dürren Knochenmannes in den
mittelalterlichen Totentänzen steigt dem Beobachter bei einiger Ver-
senkung in den Sinn der phantastischen Gruppen unwillkürlich der
Gedanke auf: Wilde, grausige Szenen! Ob nicht die Not des Sterbens
in anderen Zeiten einen anderen Ausdruck gefunden liat? Fragen wir
das Volk der schönheitstrebenden Griechen. Und dieses hat dem
alten Herrn Lessing *) schon vor mehr als hundert Jahren auf die
Frage seines nimmer ruhenden Forschergeistes : Wie haben die Alten
den Tod gebildet? geantwortet: Als einen schönen Jüngling
mit gesenkter Fackel. Die scharfsinnige Lessingsche Abhand-
lung ist noch heute von grundlegender Bedeutung. Viele Forscher,
die sich nach dem großen Bahnbrecher auf dasselbe Gebiet gewagt
haben, sind zu ebenso vielen verschiedenen Ergebnissen gekommen.
Sein Namensvetter Julius Lessing stellt in einer Dissertation *) fest :
„Gerade die Tatsache, daß es gestattet war, die Todesgestalt dar-
zustellen, daß sie sich aber doch nicht häufiger findet, erklärt ganz
deutlich : Die Alten sind vor der Darstellung der Todesgestalt zurück-
geschreckt." •)
Der Thanatos des Altertums wird in Dichtung und Plastik häu-
figer dargestellt, und zwar als Dämon meist in Gestalt eines geflügelten
Genius, entweder als Jüngling oder als Mann, häufig in Verbindung
mit seinem Zwillingsbruder Hypnos. Was versinnbildlicht nun der
also dargestellte Thanatos? Es scheint mir, als ob er nicht allein
i) G. E. Lessiog, Wie die AHen den Tod gebildet. Eine ün$en%idiunff
1769.
2) J. L es sing, De mortis apud veteree figura (Bonn 1866).
3) Über das Wesen des Todesgenias, des griechischen Thanatos, sowie über seine
DarsteUang im Altertam ist noch folgende Literatur zu vergleichen: G. v. Herder,
Wie die Alten den Tod gebildet? Ein Nachtrag zvl Leasings Abhandlang desselben
Titels and Inhalts (2. Aasgabe, 1796). — y, Olfers, Über ein merkwOrdigee Grab
bei Cutnä (Abhandl. d. Königl. Akad. d. Wissenschaften in Berlin. 1830). —
F. G. Welcker, AlU Denkmäler, i. Bd. (Götüngen 1849), S. 375ff. — C. Robert,
Thematos. (39. Winckelmannsprogramm. Berlin 1879.) — A. Baameister, Denk'
malet des Uaesisehen AUertums, 3. Bd. (München and Leipzig 1888). — S. Reinach,
Repertoire des vases peints grecs et Stnuques, T. I (Paris 1899), S. 149. — Die
neueste Behandlang des Gegenstandes findet sich t}ei Röscher, Lexikon der grieehi$eihen
und rämisclien Mythologie, 3. Bd., S. 2068 ff.: Personifikationen äbstralOer Begriffe
von L. D e a b n e r.
— 111 —
den Zustand des Totseins ausdrücke , die friedliche Todesruhe , wie
Herder und nach ihm andere gemeint haben; denn was sollten in
diesem Falle die Flügel bedeuten, was die symbolische Handlung des
Auslöschens der Fackel, was endlich die enteilende Seele, die wir
z. B. auf der ersten der von G. E. Lessing mitgeteilten Abbildungen
sehen? Der Dämon Thanatos hat vielmehr die Aufgabe, das Lebens-
licht des Menschen auszulöschen, die Seele aber entfleucht in den
Hades, zum Herrn der abgeschiedenen Seelen. Wenn von einer
Aufjg^abe gesprochen wird, die Thanatos zu lösen hat, so wird damit
schon vorausgesetzt, daß er von einem Mächtigeren den Auftrag dazu
erhalten hat: dieser Größere ist eben Hades, der Herrscher über die
Toten. Und wenn Thanatos zur Abberufung der Seelen vom Schau-
platze des irdischen Lebens bestellt ist, so tritt er als Bote des unter-
irdischen Gottes auf: dies mag vielleicht durch die Flügel zum Aus-
druck kommen. Thanatos ist also auch ein Sinnbild für den Augen-
blick des Sterbens, den für die meisten Menschen so qualvollen
Augenblick. Und doch, ein Bildnis, zeugend von stiller Einfalt und
schlichter Größe! Auch den Alten war der Gedanke an den Tod
schrecklich. Nennt der Dichter ihn doch oft nur mit düsteren Bei-
wörtern. Aber der Gedanke spornte den heiteren Heiden gerade zum
Genießen des kurzen Lebens an: nur dazu soll das silberne Toten-
gerippe auf der Tafel des Trimalchio mahnen: Eheu, nos miseros,
quam Mus homuncio nü est. sie erimus cundi, postquam nos auferet
Orcus. ergo vivamus, dum licet esse bene 0. Der Gedanke an das
Weiterleben der Seele nach dem Tode im Hades ist selbst flir einen
Achilleus schmerzlich. Nur wenige können gleich Sokrates mit einem
seiigen Lächeln dem Tod ins Antlitz schauen. Der griechische und
besonders der römische Dichter malt Schreckgestalten in Anschauung
des Todes. Aber der Künstler! Er stellt echt künstlerisch das Ver-
söhnende dar, das Leiden - Stillende , versöhnend und ergreifend zu-
gleich! So stimmte die ganze Lebensrichtung der Griechen, die
großenteils Diesseits-Philosophen waren, zu der künstlerischen Gestal-
tung des Thanatos. Dieses Ausdrucksmittel des Künstlers fand bei
der Umgebung, für die er schuf, vollen Anklang. In Griechenland
tmd Rom übte somit die dichterische Darstellung keinen entschei-
denden Einfluß auf die künstlerische Gestaltung aus.
Aus einer ganz anderen Wurzel ist die deutsch-mittelalter-
liche Darstellung des Todes entsprungen. Sie geht zurück auf jü-
I) F. BUcheler, Pttromi Saiwrae (Berlin 1904), S. 23.
8*
— 112 —
disch- christliche Denkweise und ist von dem heidnischen Genius so
verschieden wie Heidentum und Christentum. Die neue Gestalt findet
ihre schärfste Ausprägung in den mittelalterlichen Totentänzen*).
Über Idee und Wert der Baseler Totentänze meint Maß mann
im Vorwort zu seinem eben genannten Buche, bei den Wandgemälden
träte eine Steigerung über den strengen Ernst der ursprünglichen Be-
stimmung ein durch das Hineintragen immer größerer Kunstleistung
und Entfaltung zu Lebensbildern, an denen immer mehr der künst-
lerische Humor Teil gewinnt.
Gegenüber dieser etwas einseitigen, äußerlichen Betrachtung stellt
Lübke die Idee ausführlich also dar: „Erst das Christentum vertiefte
den Ernst der Lebensanschauung, wies nachdrücklicher auf die Ver-
gänglichkeit alles Irdischen hin, um dafür auf ein ewiges glückseliges
Leben im Jenseits zu vertrösten. Den zu erhoffenden, zu erstrebenden
himmlischen Freuden gegenüber sollten die flüchtigen Genüsse des
Daseins hienieden als wesenloser Schein betrachtet werden. Daher die
Flucht aus der Welt, aus der Wirklichkeit, daher die scheue Angst
vor der Natur, die mit ihrem bestrickenden Zauber das Gemüt nur
enger in die Irrgänge des Lebens zu verlocken schien. Des Alter-
tums höchste Weisheit war memenio vivere ; des christlichen Mittelalters
memento mori. Aber obwohl dieser Gedanke der Askese schon früh
aus der Grundanschauung des Christentums abgeleitet wurde, bricht
er sich erst in der Schlußepoche des Mittelalters allgemeiner Bahn,
tritt erst mit dem XIV. Jahrhundert bedeutsamer hervor, wird von
dieser Zeit ab in allen Tonarten variiert, in allen Predigten mit Eifer
durchgeführt. Und wohl hatten die Priester und Lehrer des Volkes
Veranlassung dazu. Denn neben dieser schroffen Auffassung der
Kirche machte sich naiv und ungestört ein sinnlich froher Zug zum
Leben und Genießen geltend, der bei den jugendfrischen Völkern
i) Die wichtigste Literatur darüber ist folgende: H. F. Mafimann, Die Baseler
Totentänze (1841). — W. Lübke, Der Totentanz in der Marienkirche zu Berlin
(Berlin i86i). — Der Totentanz in der Marienkirche zu Lübeck, nach einer Zeich-
nung von C. J. Milde, mit erläuterndem Text von W. Mantels (2. Aufl., Lübeck
1867). — J. E. Wessely, Die Gestatten des Todes und des Teufels in der dar-
stellenden Kunst (Leipzig 1876). — Synnberg und Rüttger, Der Totentanz, Ge-
mälde auf der Mühlenbrücke in Luzem, gemaU von Caspar Meylinger 1626^1635
(Lazem 1889). — B. Stehle, Der Totentanz von Kienzheim im Ober-Elsafi (Stras-
burg 1899). — G. Kern, Die Totentänze zu Basel— Kienzheim— Luzem (Straö-
bu-g 1900). — Siehe femer: W. Wackernagel, Kleinere Schriften, i. Bd., S. 302ff, —
A. Woltmann, Holbein und seine Zeit', 2. Bd., Cap. in. — A. Goette, Holbeins
Totentanz und seine Vorbilder (Straßburg 1897).
— 113 —
in leidenschaftlicher Unbändigkeit überschäumte. Besonders durch
das schnelle Wachstum der Städte seit dem XIV. Jahrhundert war
unerschöpflicher Hang zu fröhlichem Saus und Braus, zügellos derbe
Festeslust, selbst rohe Ausschweifung genährt worden, und so all-
gemein griff diese Neigung um sich, daß mit den Laien die Geist-
lichen in ungebundener Sinnlichkeit wetteiferten. Dem Rausch jedoch
folgte auf dem Fuße die Zerknirschung, die reuevolle Buße, aber auch
diese ebenso heftig, ebenso maßlos und ausschweifend. Kamen nun
verheerende Naturereignisse, Erdbeben, Pest, schwarzer Tod, Hungers-
not, so faßte man sie als unmittelbare Strafe für die Sünder auf.
Dann erschollen donnernde Predigten von den Kanzeln, dann wider-
hallten die Kirchen von dem Jammern der Büßenden, dann zogen
die Scharen fanatischer Flagellanten durch die Länder, mit Geißel-
hieben das sündige Fleisch zu züchtigen. Waren die Not und die
Ekstase vorüber, so erhob sich der alte Adam nur um so energischer,
und die unverwüstliche Menschennatur bewies ihre Federkraft. Zwie-
spalt zwischen unversöhnten Gegensätzen, zwischen Geist und Natur,
zwischen Laien und Kirche, zwischen Welt und Gott, das ist der
durchgreifende Charakterzug jener rätselhaften Epoche.
Es ist hier nicht der Ort, tiefer auszuführen, daß der geheime
Grund dieses ungelösten Mißklanges in der roh sinnlichen Äußerlich-
keit lag, mit welcher die Kirche, in ihren sittlichen Anschauungen
durchaus auf dem Niveau ihrer Zeit, die Sühne und Buße fiir die be-
gangenen Fehltritte auffaßte. Äußere Pönitenzen waren ihr Universal-
mittel, ein möglichst schreckhaftes memefUo mori ihr beliebtestes
Gegengift. Ein solches memenio mori sind die Totentänze, gemalte
oder gemeißelte Predigten über das nie zu erschöpfende Thema von
der Hinfälligkeit und Vergänglichkeit alles Irdischen.
Indes hätten diese Darstellungen nicht so allgemein beliebt werden
können, wenn in ihnen nicht zugleich etwas Tröstliches, Versöhnendes
läge, das besonders für den gemeinen Mann, den Armen und niedrig
Geborenen einen geheimnisvollen Reiz haben mußte. Das ist die
Vorstellung, daß niemand so hoch und so reich, so vornehm und an«
gesehen sei, der nicht mit in den allgemeinen Reigen müsse, daß
weder die Tiara des Papstes noch die goldene Krone des Kaisers,
weder die Inful des Bischofs noch das Zepter des Königs gegen die
Macht des Todes schütze."
Diese treffenden Ausführungen Lübkes geben wohl eine innere
Begründung für den Wechsel in der Todesdarstellung ; daß an Stelle
der euphemistischen Betrachtungsweise der Alten ein unheimlicher
— 114 —
Ernst der Anschauung* tritt, der dem Tode die Tendenz des Mahners
und Wamers beilegt, erklärt sich innerlich aus dem eigentümlichen
Zeitgeist. Aber nun ist es ebenso interessant wie lohnend, einmal
einen Schluß zu wagen über die Herkunft der Idee, den Tod gerade
als Mumie oder als Skelett vor die Augen der verweltlichten
Christenheit zu stellen. Dieser Versuch ist noch gar nicht, oder nur
sehr schüchtern gemacht worden. So sagt Wessely ^): „Wir haben
bereits angedeutet, wie sich diese Vorstellungsweise (den Tod als
Skelett zu bilden) herausgebildet haben mag. Den Alten galt das
Skelett als Repräsentant eines Toten. Dehnte man diesen Begriff
aus, so war von der Allegorie zur Personifikation nur ein kleiner
Schritt. Man stellte sich den Tod einfach so vor, wie der Mensch
durch ihn endlich wird ; der Tod entkleidet die Knochen alles Fleisches,
es bleibt nur das Knochengerüst, und darin werden alle Menschen
ohne Unterschied gleich gemacht, weshalb es vom Tode heißt:
Äeqturi ifUiequalia. Der Tote wurde zum Bilde des Todes, das Kon-
krete zum Abstrakten, aus dem MemerUo mori wurde ein MemeiUo
mortis/^
Diese Konstruktion Wesselys erscheint mir sehr zweifelhaft, weil
es unwahrscheinlich ist, daß jenes Ausdrucksmittel der Römerkunst
für einen Leichnam in die deutsche Kunst schon so früh eingedrungen
sein sollte, und überdies mit einer Verschiebung der Bedeutung.
Um demgegenüber eine andere Erklärung zu versuchen, bedarf
es zunächst einer genaueren Prüfung des Ursprungs, aus dem wir jene
abzuleiten suchen, d. h. der Todesvorstellung der jüdisch-christlichen
Gestaltenwelt.
Über das notwendige Eintreten des Todes in die Geschicke der
Menschheit berichtet die hebräische Sage I.Moses 3, 19: „Im
Schweiße deines Angesichtes sollst du das Brot essen, bis du zur
Erde wiederkehrst, von welcher du genommen bist! Staub bist du,
und zu Staub sollst du wieder werden/* Im Hinblick auf diese Er-
zählung vom Sündenfall schreibt Paulus an die Römer 5, 12 : „Gleichwie
die Sünde in diese Welt durch einen Menschen kam und durch die
Sünde der Tod, und so der Tod auf alle Menschen überg^^ngen
ist, weil alle gesündigt haben." Gemäß dieser Auffassung ist auch
die granze christliche Denkweise von der Furcht vor dem Tode durch*
zogen. Zwar wäre an sich gerade die Lehre Christi mit ihrer Selig-
keitshoffnung und dem ewigen leidlosen Leben in der Nähe des Vaters
I) A. m. o. S. 22.
— 115 —
überaus geeignet, die dem Menschen von Natur anhaftende Todes-
scheu, das Hängen an der Erde und ihren Gütern, zu überwinden;
aber von ganz besonderen Ausnahmen abgesehen, vermag das Christen-
tum den allzu menschlichen Affekt nicht zu verdrängen. Noch der
Todesschweiß gibt Kunde von den seelischen Bewegungen, die im
Augenblicke des Sterbens den Christen ebenso wie jeden anderen
Menschen quälen : es ist der Gedanke an einen Weltenrichter, der für
jedes Werk und Wort Rechenschaft forden wird, und ein geheimes
Beben ergreift selbst fromme Christen bei diesem Gedanken. Der
Tod eine Strafe für die Sünde! Nach der Lehre des Evangeliums
muß sogar der Verkünder der Froh-Botschaft vom ewigen Leben den
Tod auf sich nehmen, um den gestrengen Gott zu versöhnen und
den ewigen Tod vom Menschengeschlechte abzuwenden. Aber selbst
Christus, dieser hohe Vertreter reinen Menschentums, zittert in Er-
wartung des nahenden Todes nach dem Zeugnisse der Synoptiker.
Matthäus 26, 37 — 39 berichtet von der Angst Jesu*): ,,Er nahm
Petrus und die beiden Söhne des Zebedäus mit sich und fing an, zu
trauern und zu zagen. Da sprach er zu ihnen: , Betrübt ist meine
Seele bis zum Tode; bleibet hier und wachet mit mir!' Und als er
ein wenig weiter gegangen war, warf er sich auf sein Angesicht nieder
tmd betete und sprach : , Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser
Kelch an mir vorüber, doch nicht wie ich will, sondern wie du*."
Und dieses letzte Gebet wiederholt er noch zweimal. Die Angst mag
also wirklich so groß sein, wie Lukas sie schildert: „Und er fiel in
Todesangst und betete dringender, und sein Schweiß war wie Tropfen
Blutes, das auf die Erde rinnt."
So durchzieht die düstere Stimmung der Todesfurcht die ganze
jüdisch-christliche Gedankenwelt. Aber einen eigentlichen Anhalts-
punkt daflir, daß man den Tod als abgemagertes Gespenst darzustellen
begann, glauben wir in einer Stelle der Apokalypse (6, 7 — 8) sehen
zu dürfen: „Und da es (das Lamm) das vierte Siegel aufgetan hatte,
hörte ich die Stimme des vierten lebenden Wesens sagen: ,Komm
und sieh!' Und siehe, ein falbes Roß, und der darauf saß, hieß
Tod, und das Totenreich folgte ihm nach, und ihm war Macht ge-
geben über die vier Teile der Erde, zu töten durch Schwert, Hunger
und Seuchen und wilde Tiere der Erde." Hier haben wir die Schil-
derung eines Heerführers vor uns. Das Totenreich, gleichsam das
wilde Heer der Toten, konnte die Volksphantasie sich wohl als eine
i) Vgl. Markus 14, 33—36; Lukas 22, 42—44.
— 116 —
Schar von bleichen, ausgedörrten Mcnschenleibem vorstellen. Ihnen
voran reitet ihr Führer, der Tod, auf falbem Roß. Was liegt da
näher, als auf den König die fahle Farbe des Rosses, die dürre Ge-
stalt seines Gefolges zu übertragen, ja die Eigenschaften dem König
in noch stärkerem Grade beizulegen? Wir meinen, eine solche Ge-
dankenverbindung liege dem mehr und mehr mit christlichem Geiste
sich füllenden Mittelalter doch sehr nahe. Gerade durch die Ableitung
von einem solchen Bilde erklärt sich auch die Form des Reigens um
so besser: die Gefolgschaft des jagenden Heeres wandelt sich leicht
in die Idee eines Tanzes um, in dem der Reigenfuhrer die wildesten
Sprünge tut.
Nach dieser Begründung der neuen Todesdarstellung einmal aus
den Zeitereignissen, wie Lübke und andere sie gegeben haben, dann
aber besonders aus den christlich -kirchlichen Neigungen des Mittel-
alters und den aus uralten Phantasiegebilden hervorgegangenen Vor-
stellungen läßt sich die Idee der im Mittelalter zuerst auftretenden
Totentänze unschwer dahin erkennen und kennzeichnen: Der All-
bezwinger Tod beugt alles Irdische unbarmherzig unter
das Zepter, das ihm nach dem Sündenfall des Menschen
von der Gottheit verliehen ist. Ebenso klar wird es, daß die
Idee, von der Kirche in kluger Absicht in ihren Dienst gestellt, diese
Tendenz hat: sie soll die leichtlebige, sündige Menschheit recht oft
an den Tod und seine Schrecken mahnen und an den Eintritt ins
Jenseits, an dessen Pforten auch ein Kerberos wacht, das Gottes-
gericht. Auch ein christlicher, vielleicht wohlberechneter und etwas
versöhnender Zug des Totentanzes liegt weiterhin darin, daß in der
Idee das Horazische Wort gleichsam künstlerisch inkarniert ist:
PaUida mors aequo pulscU pede pauperum tabemas Regumque turres,
ein Wort, das wir zwar nicht wörtlich, aber doch sinngemäß an dieser
Stelle wiedergeben möchten:
„Doch mißachtend der Sterblichen Bitten
Pochet der Tod mit grinsendem Hohn
An Paläste und ärmliche Hütten."
Mit g^nsendem Hohn! Eine kühne Umschreibung für die Un-
erbittlichkeit des alle gleichmachenden Todes. Aber man werfe nur
einen Blick auf die Bilder der Totentänze. Gerade darin liegt eine
feine Ausführung der beherrschenden Idee, daß der nackte Schädel
mit den leeren Augenhöhlen und den vorstehenden fletschenden
2^nen einen Zug gierigen, grausamen Grinsens erhält. Besonders
dieser Zug der Härte mit der herben Ironie, ja bis zur bittersten
— 117 —
Satire gesteigert, war vielleicht recht geeignet, auch die Leichtfertigsten
unter den Leichtfertigen zum Nachdenken zu stimmen.
Aus den bisherigen Darlegungen über die Idee der Totentänze
und über die Wurzel dieser Darstellung ließe sich, wenn wir auch
weiter keine Anhaltspunkte hätten, fernerhin folgern, daß das abholende,
seine Opfer fortzerrende Wesen nicht ein beliebiger Toter, wie die
Szenen von den meisten Erklärem aufgefaßt zu werden pflegen, son-
dern der Tod in eigener Person ist, wenn sich auch vereinzelt, wo
mehrere Gerippe auftreten — so besonders in dem Bilde des Bein-
hauses — , wohl Anklänge an das Heer des Todes finden. Darin, daß
die Toten die Lebenden abberufen sollen, liegt nach meinem Emp-
finden kein recht künstlerischer Sinn. Der Tod, die personifizierte
Gewalt des Todes, übt, gekennzeichnet durch besondere Attribute,
selbst das obliegende Amt, „zu töten durch Schwert, Hunger und
Seuchen und wilde Tiere der Erde". Daß es der Tod selbst ist, der
in diesen Totentänzen auftritt, erhellt — trotz der unlogischen Be-
zeichnung Totentänze, die richtiger Todestänze heißen würden — noch
aus einem anderen Umsfande, der sich sofort erkennen läßt, wenn
man die Richtigkeit der vorgetragenen Erläuterung der Totentanzidee
nachprüft. Ein Beispiel möge dies kurz dartun.
Es ist eine Eigentümlichkeit der Totentänze, die auf die erste,
und zwar lebendige Gestaltung, d. h. auf die Entstehung aus drama-
tischen Aufßihrungen zurückgeht, daß uns gleichzeitig mit den bild-
nerischen Darstellungen die alten Reimzeilen erhalten sind, wie sie
von den in den szenischen Spielen auftretenden Personen gesprochen
wurden. Hierdurch sind wir über die Bedeutung der Bilder auCs ge-
naueste unterrichtet, da wir annehmen müssen, daß diese nach jenen
gestaltet sind. Aus den Reimsprüchen geht übrigens ganz klar
hervor, daß der Tod selbst zum Tanze auffordert. Vor allem aber
die Erkenntnis, daß eine ausgesprochen christlich -kirchliche Tendenz
in dem oben erläuterten Sinne vorliegt, vermittelt der begleitende
Text Die Neigung zur Askese, wie sie dem mittelalterlichen und
auch dem modernen Christentum in besonderem Maße eigen ist, wird
au£s schärfste beleuchtet durch eine Stelle in dem Reimtext *) eines
Baseler Totentanzes, der in einer Heidelberger Papierhandschrift aus
dem XV. Jahrhundert überliefert ist. Der Reigen wird eingeleitet
durch die Worte eines Predigers:
0 deser werlde weysheit hint,
Äüe die noch jfm leben smtf
i) Mitgeteilt Ton Bdafimann a. a. O.
— 118 —
Seijst yn ewr hercee cjnoey wort.
Die von cristo sint gehört.
Das eyne körnet her, das ander gehet hyn.
Doch des ersten die guten hohen gewgn^
Do sie yn den hymmd komen
Do nemen sie des guten fromen.
Das ander die böeen weyget yn peyn
Der hellen, die ouch ewig wirt seyn.
Dorvm ich euch getrewlich rathe.
Tut euch äbe oppiger thaie;
Wenne dy ceeit yst korce yn desem leben.
Doe noch wirt ach vnd we gegeben
Dvrch den czwesechegen ^) tod.
Der die oppigen brengit yn not,
Wenne mit seyner pfeyfen geschrey
Brengt her sie aUe an segnen reyn.
Doran dy weysen czu den Sprüngen
Mit den toren werden getwungen,
Als de/ses gemeldes figuren
Synt eyn ebenbilde cau trawren.
1.
Her bobist merckt off meyner pawken don,
Ir suUet dornoch hie springen schon.
Ir dorfet keyns dyspensiren,
Der tod wil euch den tantz hofyren.
JPapst,
Ich was eyn heiliger bcibist genant,
Die weyle ich lebete ane forchte bekant.
Nw werde ich gefurt frefUlich
Czum tode. ich were mich oppiglich.
2.
Her keyser euch hüfl nicht das swert,
Czeptir vnd crone sint hy nicht wert.
Ich habe euch bey der hand genomen:
Ir must an meynen regen kämen.
Kaiser.
Ich künde das reich in hoer eren
Mit streyt vnd fechten wol gemeren.
Nw hot der tod cbirwunden mich.
Das ich byn weder keyser noch menschen gleich.
i) Zwe/echigen, zwifachigen, zwi fachen.
— 119 —
3.
Ich tancee euch vor frawe heyserejfn:
Springt wir noch: der rat pst m^yfi.
Die sptrhrecher sint von euch gewichen.
Der tod hot euch aUegne dirdichen,
Kaiserin,
WcUust hatte megn stolczer leib,
Do ich lebete als egns kegsers weib.
Nw hot mich der tod ceu schänden brocht.
Das mir Jcegn frund gst nw redocht V-
4.
Her kungg ewr gewald hot egn ende.
Ich wiÜ euch füren beg den henden
An desir swarceen bruder tan»
Do gebt euch der tod egnen cranas.
König.
Ich habe als egn kungg gewddigleich
Die werld gereigiret als regn das reich:
Nw bgn ich mit des todis banden
Vorstrickt gn segnen Juinden.
Das kurze Stück bestätigt vollauf, was dargetan werden sollte;
die Probe auf das angestellte Exempel geht restlos auf. Endlich sei
noch folgender Schluß gezogen. Wie selbstherrlich der Tod auch
hier im Bewufstsein seiner Allgewalt sich gebärdet, wir können uns
des Gedankens doch nicht erwehren , daß auch er eigentlich nur ein
Abgesandter, der Bevollmächtigte einer fremden, höheren Macht ist.
Dieser Botencharakter geht vielleicht auf eine zweite, altgermanische
Wurzel der Idee zurück. Wie im Nibelungensang die beiden Spiel-
leute Werbelein und Schwemmelein als Boten ausgesandt werden, und
wie Volker, der kühne Degen, sein mörderisches Schwert so gut wie
den Bogen seiner Fiedel schwingt, so vereiniget der Tod gleichsam
zwei Eigenschaften: als Bote spielt er zum Tanze auf, zu dem er
die Tänzer, mögen sie wollen oder nicht, als Spielmaün und drängender
Partner zugleich in wildem Taumel hinwegzerrt.
Zum Schlüsse noch ein Wort über den Kunstwert der in den
Totentänzen Fleisch oder richtiger Bein gewordenen Idee. Falls wir
an sie den Maßstab legen, daß ein Kunstwerk frei von Tendenz sein
i) Oder: Daz mir kegn frewd ist me erdacht.
— 120 —
müsse, so wären die Totentänze, von künstlerischem Standpunkte aus
betrachtet, durchaus abzulehnen. Sehen wir aber über diese streng^
Regel, der manche anerkannte Kunstschöpfung' nicht standzuhalten
vermag, einmal hinweg und lassen die Todesszenen einfach auf unser
Gefühl wirken, so empfinden wir, namentlich in einer so bedeutenden
Szenenfolge, wie sie der Lübecker Totentanz darstellt, das Geheimnis-
volle der Kunst, das zum Herzen spricht, uns unvermerkt ergreift,
ohne daß wir zu sagen vermöchten, was uns denn so heimlich be-
wegt. Vom gesdiichtlichen Standpunkte ans dürfen wir uns nicht
minder darüber freuen, daß das Mittelalter jene Schöpfungen hervor-
gebracht hat, und wir wollen nicht mit unserm alten Lessing das
Knochengerippe, das Holbeins Bilder des Todes uns vorfuhren, als
einen abscheulichen Auswuchs am Baume der Kunst bezeichnen,
sondern auch dieser Schöpfung, die in einer neuen Zeit hervorgebracht
wurde, mit ihrer Vertiefung der alten Idee zu dem Gedanken : Mitten
in dem Leben sind wir vom Tod umfangen — und ebenso den
grandiosen ähnlichen Schöpfungen späterer Zeit können wir unsere
Bewunderung unmöglich versagen, wenngleich wir die euphemistische
Todesdarstellung des Altertums, wie sie später von Canova in allzu
weichen Formen und von anderen Künstlern wieder belebt wurde, als
friedlicher, versöhnender, harmonischer und darum vielleicht künstle-
rischer empfinden mögen.
Mitteilungen
Einicegmiigene Blleher.
Bernheim, Ernst: Das akademische Studium der
Mit Beispielen von Anfängerübungen und einem Studienplan. Zweite
erweiterte Auflage der Schrift Entwurf eines Studienplans usw. Greift-
wald, Julius Abd 1907. 83 S. 8^ M. i«8o.
Blume, W. ▼.: Kaiser Wilhdm der Grotte und Roon [ass Eraeher des
Preußischen Heeres« 11./12. Band]. Beilin W. $$, B. Behr's Veriag
1906. 395 S. S^.
Brettschneider« Harry: Geschichtliches Hilfsbuch flir Lehrer- und
Lehrerinnenseminare und verwandte Bildungsanstalten. I. Teil: Geschichte
des Altertums. Halle a. S.« Buchhandlung des Waisenhauses 1904.
149 S. 8^ fgeb. M. 1,60. — U. Teil: Vom Beginne chrisdicber Kuitur
bis zum WestfiÜischen Frieden. Ebenda 1904. 204 S. 8^. geb.
M. 2,10. — HL Teil: Vom Westfälischen Frieden bis cur Gegenwart.
Ebenda 1905. aio S. 8^. geb. M. 2,10.
H«nuug«ber Dr. Arada Tille in Ltipäf^
Dnack aod V«rUff von Friedrich Aadreas PMthet, AkllufMilUdia, 0«llyu
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
sur
Förderung der landesgeschichtlichen Forschimg
VIII. Band Februar 1907 5. Heft
t>ie landesgesehiehtliche Iiiteratur Ost^
frieslands im XlX. Jahrhundert
Von
Konrad Borchling (Posen)
Der Name „Ostfriesland"' haftet heute ausschließlich an dem Teile
des alten friesischen Stammesgebiets, der den preußischen Regierungs-
bezirk Aurich ausmacht. Von seiner Ostgrenze bis an die Weser
erstreckt sich das oldenburg^che Friesland, und im Westen schließt
sich die holländische Provinz Groningen an. Keine natürliche Grenze
und kein tieferer sprachlicher Einschnitt trennt das heutige Ostfriesland
von seinen östlichen und westUchen Nachbarn, nur eine auseinander-
gehende politische Entwicklung hat die drei Bestandteile des älteren
größeren Ostfrieslands auseinandergerissen. Seit dem XII. Jahr-
hundert sind die Friesen auf die Lande zwischen Fli (dem locus
Flevo der Römer) und Weser beschränkt. Hier genossen sie vom
XII. bis zum XV. Jahrhundert eine ziemlich weitgehende politische Freiheit.
Die Macht der Grafen, wie sie die fränkische Herrschaft auch in
Friesland eingeführt hatte, verlor alle Bedeutung; anstatt der alten
friesischen Gaue erscheinen seit dem Anfange des XÜI. Jahrhunderts
beinahe unabhängige Terrae (Landgemeinden), die durch ihre obersten
Behörden, die Canstdes {Redjeven, Richter) die Rechtsprechung, das
Münzrecht und die meisten anderen Gerechtsame des Landesherm
ausübten. Die Entwicklung der Consules aus jährlich wechsehiden,
durch die Gemeinheit des Volkes in engen Schranken gehaltenen,
Beamten zu mächtigen erblichen Häuptlingen rief eine Zeit des
heUlosesten Fehdewesens hervor, das Ost- und Westfriesland während
des XIV. und XV. Jahrhunderts in eine Unzahl kleiner tmd kleinster
Partikelchen auflöste und am letzten Ende den Untergang der
friesischen Freiheit, die Unterwerfung der friesischen Landschaften
unter die benachbarten großen Territorialherren herbeiführte. Nur in
dem heutigen Ostiriesland, und für eine kürzere Zeit auch in Jever-
9
— 122 —
land, geling es einheiinischen Geschlechtern, ein eigenes reichs-
unmittelbares Gebiet (lir ihr Haus zu schaffen. Zwar war die Politik
der ersten, tüchtigen Grafen von Ostiriesland aus dem Hause Cirksena
moch energisch darauf gerichtet, das ihnen vom Kaiser verliehene
Gebiet nach Osten und Westen zu erweitem, aber Groningen und
Jeverland gingen ihnen wieder verloren, und nur das kleine Harlinger-
land wurde 1600 endgültig mit Oetfrieshmd vereinigt. Eine (uhrende
Rolle unter den friesischen Landschaften hat Ostfriesland seit Edzard !•
(1491 — 1528) nicht mehr gespielt. Innere Zwistigkeiten zwischen dem
Fürstenhaus und den Ständen zerrütteten das Ländchen, bis im Jahre
1744 die kräftige Hand Friedrichs des Großen, des Rechtsnachfolgers
der Cirksena, die Ruhe wiederherstellte. Die bunt wechselnden Schick-
sale des Landes, das seit 1807 kurz nacheinander holländisch, fran-
zösisch, preußisch und hannoversch wurde, haben erst 1866 durch
den dritten AnfaU an Preußen ihren Abschluß gefunden. Der all-
gemeine Au£M:hwung, den seitdem Ostfriesland in wirtschaftlicher Be-
ziehung genommen hat, äußert sich auch in der landesgeschichtlichen
Literatur, die erst seit dem Anfange der 1870 er Jahre ein zielbewußtes
Zusammenarbeiten der Forscher und ein lebhafteres Interesse in
weiteren Kreisen des ostfriesischen Publikums erkennen läßt.
Am Eingange des XIX. Jahrhunderts steht die großangelegte
Oeifriesische Geschichte des Auricher Land -Syndikus Tileman Dothias
Wiarda (Aurich 1791 — 1798, 9 Bde.), mit dem Tode Friedrichs des
Großen abschließend; eine Fortsetzung in zwei Bänden (Leer 1817)
behandelt die ereignisreiche Zeit der Fremdherrschaft und der Be-
freiungskriege bis 181 3. Wiardas Werk ist als Ganzes bis auf den
heutigen Tag die grundlegende Darstellung der ostfriesischen Geschichte
gebUeben, so scharfe Angriffe auch seither gegen die älteren Perioden
seines Buches gerichtet worden sind, denn hier hat Wiarda, trotz
setner eingehenden Beschäftigung mit den altfriesischen Rechtsquellen,,
doch einfach die phantastischen Aufstellungen des Ubbo Emmius
angenommen und weitergebildet. Der bei weitem größere Teil von
Wiardas Werk (Bd. 3, zweite Hälfte bis 9) fallt aber der neueren
Zeit zu, von da an, wo des Emmius Vorlage aufhört. Hier hat Wiarda
mit großem Fleifie alles Material verwertet, was ihm aus seiner eigenen
reichen Sammlung und den Archiven des Landes, vor allem aus dem
Arrhive der ostfriesischen Landstände zugänglich war.
Wiardas Weric beherrschte die lokale Geschichtschreibung Ost-
frieslands zwnachst völlig. Nur an ein paar einzelnen Punkten der
älteren Zeit, wo seine Darstellung zu offenbare Lücken aufwies, setzte
— 123 —
die Forschung schüchtern ein. So schrieb H. Suur die Gestrickte
der ehemaligen Klöeter in der Provinz Ostfriedand (Emden 1838); die
beigegebenen Abdrucke von zwölf Originalurkunden des Auricher
Archivs, so fehlerhaft sie im einzelnen sind, zeigen doch zum ersten
Male das ernsthafte Bestreben, das ältere Urkundenmaterial systematisch
auszunutzen. Ein Jahr nach Suurs Tode erschien sein gröfieres Buch^
die Qesckiehte der Häupäinge Osifrieslands (Emden u. Aurich 1846);
es bringt aufler den genealogischen Untersuchungen auch je ein Kapitel
über den Umfang und die Verfassung der ostfriesischen Gaue. Hier
folgt er der Schrift L. v. Ledeburs Die fünf mimeterschen Chxue
und die sid>en SeeUmde Friedands (Berlin 1836). Dieser hatte das
wichtige Münstersche Dekanatsregistet von 1475 entdeckt und den
aussichtslosen Versuch gemacht, auf Grund dieser kirchlichen Einteilung
die ostfriesischen Gaue und in letzter Linie sogar die sieben friesischen
Seelande zu rekonstruieren. Aus Wiardas eigenem Nachlasse wurden
Bruchstücke ssur Geschichte und Topographie der Stadt Aurich (Emden
1835) herausgegeben, und gleichfalls ein postumes Werk ist die
vielbenutzte Geschichte der l^adt Emden bis zum Vertrage von Ddf"
syM 1596 (Emden 1843) ^^^ Bürgermeister Hellas Loe sing, ein Werk,
das in seinem Kerne bereits vor Wiardas Ostfriesischer Geschichte aus-
gearbeitet worden war. Ganz kurz nenne ich hier endlich noch die geo-
graphischen Schriften von Joh. Conrad Frese (Ostfries- imd HarUnger-
land, I. Bd., Aurich 1796) und Friedr. Arends (Ostfriedand und
Jevery 3 Bde., Emden 1818 — 1820; Erdbeschreibung von Ostfrieslanä^
Emden 1824), weil sie vieles Geschichtliche mit einflechten.
Wiardas großes Werk war ein grundgelehrtes Buch, aber deir
Vorzug einer fesselnden Diktion kann man ihm gewifi nicht nach-
riäimen. So hat es sehr bald eine lebhafte Unterströmung in der
vaterländischen Geschichtschreibung hervorgerufen, die mehr auf eine
geschmackvolle Popularisierung des historischen Stoffes als auf eigene
Untersuchungen gerichtet war. Im Mittelpunkt dieses Kreises stehen
zwei Theologen, die Brüder Johann Christian Hermann und Rudolf
Christoph Gitter mann, und ihr Hauptorgan waren die von dem älteren
G. herausgegebenen gemeinnützigen Zeitschriften (Ostfriesisehes Taschen^
buch 0ur Bdehrung und Unterhaltung, Norden 1813—1832; Jahr^
büeUein mw Unterhaltung und zum Nutgen, eunächst für Orifrieskmä
und BarrkngerJandy Emden 1834), in denen der gebildete Leser neben
dem Wust „gemeinnütziger Miscellen" und vielen rein literarischen
Produkten öfters auch einen gediegenen historischen Aufsatz finden konnte.
Noch einfachere Bedürfoisse befriedigte der bereits aus dem Anfangs
9»
— 124 —
des XVII. Jahrhunderts stammende Opregte Emder AJmanak, der Jahr
für Jahr hinter seinem Kalendarium eine uralte, aber bis auf die Gegen-
wart fortgeführte, holländische Kronyh of behnapt verhadl der voamaamsk
geschiedenissen van Oostvriesland zu bringen pflegte. Aus der Flut der
Publizistik der 40er Jahre, die immer ausschließlicher die politische
Tendenz hervorkehrt ^), tauchen nur wenige ernsthafter zu nehmende
Blätter, sämtlich von kurzer Lebensdauer, auf. Die Frisioj
herausgegeben von W. Schweckendieck und Ed. Krüger
(Bd. I — 5, Emden 1842— 1846), setzt die Tendenz der Gitter-
mannschen Zeitschriften mit Glück fort. Von jedem belletri-
stischen Beiwerk frei ist dagegen das Friesisd^ Archiv. Eine
Zt^Uschrifl für friesische Gtschichie und Sprache , herausgegeben von
H. G. Ehrentraut (Bd. i. 2, Oldenburg 1849 und 1854). Die sehr
wertvolle 2^tschrift betrif!l zwar in erster Linie das oldenburgische
Friesland, bringt aber darüber hinaus auch manches Interessante an
urkundlichem Material imd sprachlichen Aufsätzen für Ostfnesland,
speziell das Saterland. Endlich das Archiv für friesisch -westfälische
QeschidUe und AUertumshunde, herausgegeben von J. H. D. Möhl-
mann, Bd. i, Heft i (Leer 1841). Unter „westfälisch"' ist hier die
Landdrostei Osnabrück verstanden, der überwiegende TeU des Hefles
bezieht sich aber auf Ostfriesland und ist aus Möhlmanns eigener
Feder geflossen. Die strenge WissenschafUichkeit dieser Zeitschrift,
die weder „schreiblustigen Polygraphen" noch „sogenannten Belle-
tristikern'' offen stehen sollte, hat ihr, trotz dem vielversprechenden
Angebot von Mitarbeitern, die S. XI der Vorrede nennt, nicht einmal
zum zweiten Hefte verhelfen können. Zum Teil wird daran aber
auch die überaus scharfe persönliche Art des Herausgebers schuld
gewesen sein. Sie tritt am krassesten in Möhlmanns letzter Schrift:
Kritik der friesischen OeschicMschreibung überhat^ und der des
Dr. Onno Klopp insbesondere (Emden 1862) zutage. Mit leiden-
schaftlicher Schärfe schlägt er hier auf seinen Hauptgegner los, aber
auch die älteren Größen der ostfriestschen Geschichtschreibung, Von
Eggerik Beninga bis auf Wiarda, werden unbarmherzig beurteilt und
ihres Glorienscheines beraubt. Dieser Hyperkritik stehen keine be-
deutenden positiven Verdienste Möhlmanns gegenüber: außer einigen
kleineren Aufsätzen gab er die, von ihm im Stader Arditv wieder-
entdeckte, niederdeutsche Beimchronik van Harlmgerland des Hironiniius
i) Vgl. fiber diese and die Torhergenaiinten Zeitschriften den gnten Aafs«U ron
Ft. Sundermann, Die Musen in OstfriesJand , im Ostfries. ScholbUtt^ 39. Jahrg.,
L899, Nr. 7 und 8.
— 125 —
Qrestius (Stade und Harburg 1845), ein Werk des XVI. Jahrhunderte,
heraus Seine Haupttätigkeit bestand im Ansammeki einer sehr wertvollen
Bibliothek; sie enthielt schliefilich 8000 — 9000 Nummern, darunter
über 500, meist von Möhlmann selbst abgeschriebene, Handschriften,
ist aber leider bei seinem Tode 1865 in alle Winde verstreut worden
(vgl. Emder Jahrbuch XIV, 411).
Onno Klopps Ostfriesische Geschickte erschien 1854 — 1858 in
drei Bänden. Auch hier ist die ältere Zeit kürzer abgemacht, Bd. i
reicht bis 1570 und soll eigentlich, nach der Vorrede, nur dem ost-
friesischen Bürger und Landmann ein faßliches Lesebuch geben.
Bd. 2 und 3 dagegen haben gelehrtere Aspirationen, sie gießen nicht
bloß Wiardas trockene Darstellung in eine angenehme Form um,
sondern geben viel Eigenes. Das Wichtigste an Klopps Zutaten ist
aber die starke Tendenz des Verfassers, die ihn zu einer scharfen
Kritik der Generalstaaten in Bd. 2 , Friedrichs des Großen in Bd. 3
fuhrt. Er nimmt damit die Anschauungen der alten Auricher Hof-
partei wieder auf, wie sie einst der Kanzler Brenneysen verfochten
hatte, und vertritt zugleich die alten Rechte des Hauses Hannover
auf Ostfriesland. Es ist ein starker Beweis für die formale Gestaltungs-
kraft Klopps, wenn sein Buch trotzdem eine so weite Verbreitung
auch in dem reformierten, Preußen besonders freundlich gesinnten,
Teile Ostfrieslands erlangt hat. — Ein weit schwächerer Konkurrent
erstand dem Kloppschen Werke alsbald in der vierbändigen Ostfriesischen
Geschichte von Perizonius, die aber erst 1868, mit einem Schluß-
wort über die Ereignisse von 1866 versehen, zu Weener herauskam.
Für die Anbahnung einer besseren Erkenntnis der älteren ost-
friesischen Geschichte geschah ein wichtiger Schritt durch die muster-
hafte Edition der älteren Rechtsquellen des Landes in K. v. Richt-
hofens Friesischen Bechtsguetten (Berlin 1840). Aber eine direkte
Wirkung dieses Buches verspüren wir ebensowenig wie bei zwei anderen
Arbeiten dieser Zeit, die außerhalb Ostfrieslands entstanden: 1864
gab Wilh. Crecelius in einem Elberfelder Schulprogramm die für
die ostfriesische Ortsnamenkunde hochwichtigen Güterverzeichnisse
der Abteien Werden und Helmstedt heraus (CoOectae ad augendam
nominum propriortim Saxanicarum et Frisiorum scientiam I, Elberfeld
1864); und eine Breslauer Habilitationsschrift behandelte zum ersten
Male seit Meiners (1735) wieder das wichtige Thema der ostfriesischen
Reformationsgeschichte (C. A. Cornelius, Der Anteil Ostfrieslands
an der Beformatian bis man Jahre 1535, Breslau 1852).
Die Teilnahmlosigkeit der ostfriesischen Kreise ist um so auf-
— 126 —
frUender« als doch bereits tett 1820 diejenige Geseilidiaft existierte,
die fielt 1872 die Führung in der lokalg^chichtlichen Fonchmig
übernehmen sollte. Als „Kun8tlieblud>er -Verein** war sie an
z6. März 1820 zu Emden begründet worden, um den Verkauf weit-
voller Ölgemälde aus Emden zu verhindern, aber bald schloß sie auch
die Erhaltung und Sammlung vaterländischer Altertümer in ihr Pfo-
gramm ein, und nannte sich deshalb seit dem 23. Dezember 1823:
„Emdische Gesellschaft für bildende Kunst nnd vaterländische Alter-
tümer*'. Die Gesellschaft besitzt heute, außer einer wertvollen Ge-
mälde- und KupfiUBtichsammlung, eine reidie Altertümerabteilung,
dn Münzkabinett von rund 2600 (davon 1500 ostfriedschen) Münzen, ein
Urkundenarchiv von etwa 900 Nummern, dessen ' Hauptschätze aus
dem alten Beningha- v. d. Appelleschen Archive zu Gr. Midlum
(früher Gtimersnm) stanmien, eine Bibliothek von 4000 Bänden und
etwa 350 Handschriften, und eine wertvolle Sanmilung von Karten und
Plänen. Nach außen hin ist die Gesellschaft in den ersten 50 Jahren
ihres Bestehens nur wenig hervorgetreten; die einzige Publikation,
die in dieser Zeit von ihr ausgegangen ist, betrifft die 1829 nieder-
gerissene alte Kirche zu Marienhafe, deren vielbeklagten Untergang
die Gesellschaft nicht hat verhindern können: Die aÜe Kirche sm
Marienhafe y herausgegeben von der Gesellschaft f. b. K. usw. Mit
einem Titelbild imd 16 Tafeln (Emden 1845); ^^^ Text hat der
obengenannte H. Suur geschrieben. Eine um so rührigere Tätigkeit
entwickelte die Emder Gesellschaft, seitdem im Jähre 1872 das erste
Heft des Jakrbuchsder Cresdladuift ßir bildende Kund und vaterländische
iifterfuffier erschienen war. Ursprünglich nur dazu bestimmt, die besten der
in den Dienstagsversammlungen gehaltenen Vorträge au&unehmen, er-
weiterte das Jahrbuch bald seinen Rahmen und bildete sich zu einer streng
wissenschaftlich geleiteten 2^itschrift fiir ostfriesische Geschichte und
Kunstgeschichte aus. Es war ein glücklicher Umstand, daß im selben
Jahre 1872 die seit der Annexion Ostfrieslands 1744 nur durch
Registratoren verwaltete Archivarstelle in Aurich zum ersten Male
wieder mit einem wissenschaftlich vorgebildeten Manne besetzt wurde,
und in Ernst Friedländer fand sich der rechte Mann, der sofort
mit der Emder Gesellschaft ein enges Bündnis schloß. Schon im
zweiten Hefte des ersten Bandes bringt das Jahrbuch an erster Stelle
einen wertvollen Beitrag Friedländers über Oelfriesiiche Hausmarhem.
Aus dem überaus reichen Inhalte der bis heute vorliegenden
15 Bände des Emder Jahrbuchs kann ich hier nur die wichtigsten
größeren Aufsätze herausheben. Über die Römerzeit, Chauken u. ä.
— 1J7 —
handeln Bartels (II 2, iflf. III 2, iff.) und Bunte (XIII, iff. i84(r.
XIV, 1048*.). Ausgaben mittelalterlicher Texte finden sich 11 2,
I9ff. (Friedländer, €HUerver0eiclmis des Klosters Langen)^) und
VII I, iQflf. (Liebe, Mn BrüdUeregiskr des Amts Emäen aus dem
XV. Jahrhundert). Den Güterbesitz der Klöster Werden, Fulda,
Corvey usw. in Friesland untersucht Bunte X i, 11 ff. 29ff. XI, 83 ff.
Xn, 138 ff. — Chronikalische Texte: II 2, 47S. {Das Leben des Arnold
Oreveld, IViars eu Marienkamp hei Esens [Sauer]); IV 2, 75ff.
(Oerardi OldAorgs, Pastoris eu Bunde im Reiderland, Kleine ostfries.
Chranicke I558ff. [Deiter]); XII, iff. (Pannenborg, Mhard
Loringa und seine Genealogien). Dazu kommen viele einzelne
Urkundenabdrucke; wohl die wichtigsten sind die von Klinken borg
mitgeteilten Ostfriesischen Urkunden aus dem Vatikanischen Archiv
(XIV, 147 ff.) f die ganz neue Aufschlüsse über den Ursprung des
ostfriesischen Grafenhauses ergeben. Studien Ober das Verhältnis
Frieslands bu Kaiser und Beich, insbesondere über die friesischen
Grafen im MUtekdter liefert Prinz (V 2, iff.). Herquets Polemik
gegen v. Bippen über die Echtheit des kaiserlichen Lehnbriefs für
Ostfriesland von 1454 findet sich V i, iff., vg^l. VI 2, 149 ff. Reich
sind die späteren Geschichtschreiber seit Bening^ bedacht. Vor
allem hat hier D. Petrus Bartels einen Zyklus von feinsinnigen
Charakteristiken der einzelnen Autoren und ihrer Zeit gegeben, vgl.
seinen Aufsatz über Eggerik Beninga I 3 , iff., Emmius VI i , iff.,
die apohrgphe Geschichtsekreibung eur Zeit des Emmius m i , iff.,
E. Friedr. v. Wicht II 2, 159 ff., Brenneisen DC 2, iff., Tiaden und
J. C. Freese VII i, 131 ff., Wiarda V i, 98ff. An die Arbeit über
Emmius schließen sich mehrere Untersuchungen über die Entstehung
des DoOarts an (vgl. I i, iff. II i, iff. IV i, iff.), die von größter
Bedeutung sind. Für die älteste DoUarfkarte hält Bartels I i , 13
Anm. 2 die verlorene Karte des Emder Rathauses; von den drei
Karten von Ostfriedand, die älter smd als die der Folioausgabe des
Emmius (1616) beigegebene, hat Sello die des David Fabricius
auf dem Oldenburger Archiv •) wiedergefunden , die beiden anderen
von 1568 und 1579 hat Babucke hinter seinem Chutphaetus (s. u.)
abdrucken lassen. Vgl. zu den älteren Karten noch Jahrbuch Xm,
i) Notae LangenseB, lateinische historitdie Notiseo des 16. Jahrfaniiderts, tut aot
der gleichen Handschrift C. L. Grotefend in der Zeitschrift des historischtn Vareias
für Niedersachsen, Jahrgang 1863, 262 ff. reröffentlicht.
2) Vgl G. Sello, Des David Fabricius Karte von Ostfriesland (Norden and
Nordemex 1896).
— 128 —
153 (Berthold), X 2, 28f. und XV, 551 f. Fußnote. — Eine auf-
schlußreiche Sammelhandschrift aus dem Besitze 'Egg, Beningas, die
später sog. Penborgschen Kollektaneen , habe ich XIV, 177 ff. (Ein
Hattsbuch Eggerik Beningcis) näher beschrieben, sie enthalten auch
die XV, 104 ff. abgedruckten Akten zweier Hexenprozesse, bei denen
Beninga der Vorsitzende Richter war. Die schwierige Frage nach deü
iiueUen des ühbo Emmius ninmit die scharfsinnige und fleißige Disser-
tation von H. Reimers energisch in Angriff (XV, iff. 333 ff. , der
Schluß steht noch aus). Mit David Fäbridus und seinem Sohne
Johann, den Entdeckern der Sonnenflecke, beschäftigt sich Bunte
VI 2, 91 ff. VII I, 93 ff. 2, 18 ff. VIII I, iff. IX 1,59; vgl. dazu das
oben zitierte Büchelchen Sellos. — In die Zeit der niederländischen
Freiheitskämpfe fuhrt uns Franz, Ostfriesland und die Niederlande
0ur ZeU der Begentschafi Albas 1567—1573 (XI, iff. 203 ff. 463 ff.),
in die des 30jährigen Krieges Pannenborg (II 2, 93 ff.) und
Bartels, Aus der Mansfelder Zeit (I 2, 33ff.; III 2, 65ff.). —
Nur wenige größere Arbeiten beschäftigen sich mit der preußischen
Zeit: XI, I37ff. Wagner, Zur Geschichte der Besitenahme Ost-
frieslands durch Preußen; VIII 2, iff. Fabricius' sehr ausführliche
Geschichte der v. Derschauschen BibUoihek, die eigentlich die erste
öffentliche Bibliothek Ostfrieslands werden sollte.
Mehr der Kulturgeschichte neigen sich folgende Arbeiten zu:
Ostfriesische VoUcs- und Bitiertrachten um 1500, eine reich ausgestattete
Wiedergabe der farbigen Kostümtafeln aus dem Manningabuche auf
Schloß Lützburg, mit einem Vorwort von Rud. Virchow und
U. Jahn, und einer Einleitung von Graf Edzard zu Inn- und
Knyphausen (X 2); besonders aufmerksam gemacht sei auch auf
den reichhaltigen Kommentar des Anhangs. — Von dem Wanderleben
eines ostfriesischen Edelmanns aus der zweiten Hälfte des 17. Jahr-
hunderts hören wir III i, 89ff. XIII, 92ff. bei Pannenborg,
ÜJridi V. Werdum und sein Beisejourncd. Ost&iesische Studenten
weist Sun der mann aus den Universiiätsmatrikdn von Bologna, Köln,
Erfurt, Rostock und Heidelberg nach XI, 106 ff.; XII, 48 ff. XIV,
39ff. — Klumker, Der friesische Tuchhandel tur Z6t Karls des
Qroßen und sein Verhattnis gwr Weberei jener Zeit XIII, 29ff. ist eine
bedeutende Arbeit^).
Über Emdens Namen und älteste Geschichte vgl. die urkund-
lichen Zusammenstellungen bei Prinz, X i, 61 ff., über das Stadt-
waippen von Emden Sello XTV, 236ff. Eine größere Zahl damals
I) Vgl. darttber oben S. 85.
— 129 —
(1875) nieist noch nicht gedruckter Emder Urkunden teilt Pannen-
borg aus dem sog. TabUnum Emdense des Emder Stadt -Syndikus
Oldenhove mit. Zur Baugeschickte der Großen Kirche vgl. Vietor
I 3, I2iff., Höpken XI, I72ff.; über Emdens Handel und SchifT-
fiahrt Schweckendieck I 3, 33ff. VI i, SsflF. VII i, iff. —
Endlich sei auch noch auf die von Ritter redigierten Mitteilungein
aus den Dietis^dversaminZuit^en hingewiesen, die sich XIII, 260 ff. und
XIV, 368 ff. finden und hoffentlich fortgeführt werden.
Außer dem Jahrbuche hat die Emder Gesellschaft in den letzten
Jahrzehnten noch folgende Werke zum Drucke befördert: a) ein Ver-
ßeichnis der AUertiimer der Oesdlschaft (Emden 1877) ^^^ einen
Katalog ihrer Bibliothek (Emden 1877); b) Die heidnischen Altertümer
Ostfrieslands, im Auftrage der Ges. . . . herausg. von Dr. Tergast
(mit acht Tafeln, Emden 1879) und c) Tergast, Die Münzen Ost-
frieslands, 1. Teü bis 1466 (Emden 1883). Die Arbeiten Tergasts
sind aus der Ordnungsarbeit an den Sammlungen der Gesellschaft
hervorgegangen, sein Werk über die Münzen, dessen Fortsetzung leider
noch immer aussteht, behandelt gleichzeitig sehr eingehend das Münz-
und Geldwesen in den friesischen Gesetzen und die genealogischen
Verhältnisse der Häuptlingsfamilien.
Neben dem streng wissenschaftlich geleiteten Emder Jahrbuche
lief von 1873 — 1884 eine populäre Zeitschrift mit verwandten Interessen
her, das von Zwitzers herausgegebene Ostfriesische Monatsblatt für
provinjrieUe Interessen (Emden, Haynel 1873 ff.). In ihm lebten die
alten gemeinnützigen Zeitschriften aus den ersten Jahrzehnten des
XIX. Jahrhunderts wieder auf, aber das Monatsblatt räumte der historischen
Forschung ein ungleich größeres Gebiet ein, und die angesehensten
Forscher und Mitarbeiter am Jahrbuche verschmähten es nicht, auch
dem Monatsblatte regelmäßig Beiträge zu liefern. Jedenfalls darf
der ostfriesische Lokalforscher das Monatsblatt niemals übersehen,
es vertritt in den Jahren seines Erscheinens gewissermaßen die Rubrik
der „Kleineren Mitteilungen*' des Jahrbuchs. Endlich hat auch die
Literarische Beilage des von Friedr. Sundermann redigierten Ost-
friesischen Schulblatts in letzter Zeit manchen hübschen kleinen hi-
storischen Aufsatz zur ostfriesischen Geschichte und Ortsnamenkunde
gebracht.
Als Friedländer im Jahre 1872 seine Stellung am Auricher Archiv
antrat, war seine Hauptaufgabe die völlige Neuordnung des Archivs.
Die Überführung der sämtlichen auf Ostfriesland bezüglichen Akten
des Reichskammergerichts von Wetzlar nach Aurich brachte viele neue
— 180 —
Arbeit. Trotzdem ist Friedländer von vornherein dem Gedanken nahe-
getreten, die empfindlichste Lücke in der Sammlung des Quellen-
materials zur ostfriesischen Geschichte auszufüllen, und an die Sammlung
eines Ostfriesischen ürkundenbuches zu gehen. 1878/79 ist dies monu-
mentale Werk, vom Direktorium der Preußischen Staatsarchive würdig
ausgestattet, bei Haynel in Emden in zwei starken Bänden erschienen ^).
Es ist seitdem die sichere Basis aller historischen Forschung geworden,
so zahlreiche Nachträge auch im einzelnen bereits gesammelt und vor
allem im Emder Jahrbuche publiziert worden sind. Das Urkundenbuch
hat die 1880 folgenden, überaus wertvollen Untersuchungen gur frie*
siechen Rechtsgeschichte des Freiherm K. v. Richthofen (Bd. I,
Berlin 1880, Bd. II i. 2 1882, Bd. III i 1883) zwar nicht erst hervor-
gerufen, aber sicherlich den Anstoß ztmi endgültigen Abschluß der
seit 1840 angekündigten rechtsgeschichtlichen Arbeiten des Heraus-
gebers der JJtfriesischen BechtsgueOen gegeben. Anstatt der
sehnlichst erwarteten friesischen Rechtsgeschichte hat v. Richthofen
uns zwar nur einzelne Bausteine dazu geschenkt, aber seine Unter-
suchungen greifen gerade die Kernpunkte der friesischen Rechts-
entwicklung, die Fragen des Upstallsboms und der friesischen Freiheit,
der sieben Seelande und der kirchlichen EinteUung Frieslands, heraus
und schaffen hier überall ganz neue Werte. Zugleich aber ist
V. Richthofens auf breitester Grundlage des authentischen Quellen-
materials aufgebautes Werk eine unerschöpfliche Fundgrube für den
ostfriesischen Historiker, besonders im zweiten Bande, wo allmählich
das speziell Rechtshistorische ganz hinter dem Topographischen und
rein Geschichtlichen (Einführung des Christentums in Friesland
usw.) zurücktritt, v. Richthofens Untersuchungen haben im Lager
der Rechtshistoriker eine lebhafte Literatur hervorgerufen, die einzelne
seiner Thesen scharf bekämpft (vgl. besonders Ph. Heck, Die oB-
friesische Gerichtsverfassung, Weimar 1894), ohne doch überall zu über-
zeugen. Näher auf diese Schriften einzugehen, verbietet hier der Raum.
An bemerkenswerten Einzelpublikationen aus den letzten drei
Jahrzehnten, seit dem Erscheinen des Emder Jahrbuches, habe ich
hier noch folgende Bücher zu nennen: Des Auricher Staatsarchivars
K. Herquet Geschichte des Landesarchivs vtm Ostfriesland (Norden
1879) behandelt die ältere Geschichte des Auricher Archivs bis zum
Ende der Fürstenzeit; seine MisceUen mr Geschithte Ostfrieslands
(Norden 1883) versuchen mit Glück, aus dem reichen Auricher Material
i) Vgl. <br(lber diese ZeiUchria 7. Bd., S. 68.
— 131 —
kleine kulturgeschichtliche Bilder zu entwerfen, doch gelingt ihm die
Belebung des spröden Stoffes nicht immer. Die Insel Borhtm (Emden
1886) endlich zeigt Herquet auf seinem Hauptgebiete, dem auch die
im Emder Jb. DC i (1890), i— S9> erschienene Geschichte der Insel
Nordemey angehört. — Ebenfalls in den achtziger Jahren entstanden
ist Houtrouws umfangreiches Buch Osifriesland. Eine geschichtlich-
ortskundige Wanderung gegen Ende der Färstenaeit. Es ist ursprünglich
abschnittweise in den letzten drei Jahrgängen des Ostfriesischen Monats-
Itattes (1880 ff.) zum Abdruck gekommen, aber erst 1889 — 91 mit Unter-
stützung der ostfriesischen Landschaft als Buch in zwei starken Bänden
erschienen. Houtrouws fleifiige Arbeit beruht in ihrem Grundstocke
auf Harkenroh ts bekannten Oostvriesse Oarsprongkelijkheden (2. Aus-
gabe, Groningen 1731), die durch ihre 2Mt auch die etwas sonderbare
Lokalisierung des Houtrouwschen Buches auf die Zeit um 1730 ver-
anlaßt haben werden; aber Houtrouw hat auch die gesamte neuere
topographische Literatur bis zu Friedländers Urkundenbuch gewissen-
haft, wenn auch leider oft recht unkritisch, ausgezogen. Eine recht
gute Schilderung des gegenwärtigen Ostfrieslands ist J. Fr. de Vries
und Th. Pocken, Ostfriesland. Land und Volk in Wort und Bild
(Emden 1889); vgl. dazu die Statistische Übersicht Ostfrieslands. Nach
anUlichen Quellen (»= Beilage des Amtsblatts ftir Ostfriesland. Aurich
1871), worin besonders das Verzeichnis der Ortsnamen hervorzuheben
ist. Dazu kommen ferner ein paar wertvolle Dissertationen zur ost-
friesischen Geschichte: Ocko Leding, Die Friesen und die friesische
Freiheit (Emden 1878), eine von v. Richthofens Untersuchungen bald
überholte Arbeit. H. Nirrnheim, Hamburg und Ostfriesland in der
ersten HSlfle des XV. Jahrhunderts (Hamburg 1 890), und M. Klinken-
borg, Geschichte der tom Brooks (Norden 1 89s). Endlich H. Sunder-
mann, Friesische und niederdeutsche Bestandteile in den Ortsnamen Ost-
frieslands I (Emden 1902), eine Arbeit die in erster Linie dem Sprach-
forscher zugute kommt, aber im letzten Grunde die älteste Siedlungs-
geschichte Ostfrieslands aufhellen möchte. — Besondere Berücksichtigung
hat die Geschichte der Stadt Emden gefunden. Eine Erinnerung an den
alten Glanz der stolzen Seestadt bietet H. Babucke, Wüh. GnaphaeuSy
ein Lehrer aus dem Beformationssfeitatter (Emden 187s); Babucke
druckt hier den hochberühmten „Lobspruch der Stadt Emden" des
Gnaphaeus wieder ab, fügt eine hochdeutsche Übersetzung hinzu und
leitet das Ganze mit einer Lebensbeschreibung des Autors ein. Der
mächtige Aufschwung, den Emden seit dem Anfange der 90 er Jahre
erlebt, hat eine Reihe modemer Werke über die Stadt und ihre Be-
— 132 —
deutung hervorgerufen, die sämtlich einen historischen Abschnitt bei-
fügen. So vor allem Fürbringer, Die Stadt Emden in Gegenwart
und Vergangenheit (Emden 1893), eine ausgezeichnete wirtschafts-
politische und topographische Beschreibung der Stadt, nebst einem
Abriß ihrer Geschichte bis 1464. Inhaltreich ist auch die sehr splendide
ausgestattete offizielle Festschrift zur Eröffnung des neuen Emder See-
hafens (Berlin 1901) von C Schweckendieck, dem geistigen Vater
des Emder Hafens. Palmgren, Emden. Deutschlands neues Seetor
im Westen, seine SeebedetUung einst und jetjgt (Emden und Borkum
1901) ist historisch bedeutungslos. Die antike Rüstkammer auf dem
Emder Rathaus, eine der sehenswertesten Sammlungen dieser Art, ist
in den Jahren 1902/1903 von einem Fachmanne vollständig neu-
geordnet worden ; die Frucht dieser Arbeit ist das Inventar der ROst-
hammer der Stadt Emden, aufjg^enommen und bearbeitet von Dr. Othmar
Baron Potier (Emden 1903). Über die ältere Geschichte der Samm-
lung vgl. AI. Rolffs, Die antike Rüstkammer des Emder Rathauses
(Emden 1861) und Schnedermann, Die Geschichte der Emder
Rüstkammer im Emder Jahrbuche, Band VI, S. 80 fT.
Den letzten starken Impuls hat die territorialgeschichtliche For-
schung in Ostfnesland seit dem Beginne des neuen Jahrhunderts durch
den rührigen neuen Leiter des Auricher Staatsarchivs, Archivrat Franz
Wächter, erhalten. Er hat es nicht nur verstanden, den Umfang
des ihm unterstellten Archivs durch unermüdliche Nachforschungen
nach alten Archivalien, die noch hier und dort auf den Böden der
einzelnen Gerichte und Amtshäuser vergessen ruhten, zu vergrößern;
seit kurzem wird auch das gesamte Archiv der Ostfriesischen Land-
stände als Depositum im Gebäude des Kgl. Staatsarchivs aufbewahrt
Wächter tritt auch in anderer Beziehung in die Spuren seines ersten
Vorgängers Friedländer: ohne die wertvolle Bundesgenossenschaft mit
dem Emder Jahrbuche aufzugeben, ist er bemüht, die Tätigkeit der
Emder Gesellschaft nach zwei Seiten zu ergänzen: einmal durch
größere Quellenpublikationen nach dem Vorbilde von Friedländers
Urkundenbuch , andrerseits durch eine sehr beifallig aufgenommene
Serie kleiner populärer Hefte geschichtlichen Inhalts. Diese Abhand-
lungen und Vorträge eur Geschichte Ostfrieslands (Aurich 19048*.)
sollen durch in sich abgerundete, kleinere Arbeiten, die in der Form
allgemein verständlich gehalten, aber auf streng wissenschaftlicher
Grundlage aufjgebaut sind, den Sinn für die Geschichte der engeren
Heimat neu beleben und die Ergebnisse der neuesten Forschungen
auch weiteren Kreisen zugänglich machen. Die bisher erschienenen
— 133 —
sechs Hefte bringen nur Ungedrucktes, mit Ausnahme des vierten Heftes
(Bartels, Die äUeren osifriesischen Chroniskn und Geschichtschreiber
und ihre ZeU I), einer Überarbeitung der älteren Aufsätze Bartels' über
Eggerik Beninga und Ubbo Emmius aus dem Emder Jahrbuche. Gleich
zwei Hefte beschäftigen sich mit der charakteristischen Erscheinung^
die sich durch die gesamte neuere Geschichte Ostfrieslands hindurch-
zieht und auch die Auffassung der ostfriesischen Geschichtschreiber
seit dem Ende des XVI. Jahrhunderts bestimmt, dem tiefen Gegensatze
zwischen den ostfriesischen Ständen und dem regierenden Hause
Cirksena. F. Wächter, OstfriesUmd unter dem Einflüsse der Nach-
barländer (Heft 2) sucht diesen Gegensatz auf die Mittelstellung zurück-
zuführen, die Ostfriesland seit dem Aufkommen der Cirksena zwischen
dem deutschen Reich und den Niederlanden einnahm; Wächter ver-
folgt die Wirkungen dieser Mittelstellung nacheinander in der politischen
Geschichte, in der Kirchengeschichte und in den Darstellungen der
älteren Geschichtschreiber. Das unbestreitbare Verdienst des Grafen-
hauses um die Erhaltung Ostfrieslands bei dem deutschen Reiche
untersucht noch näher H. Reimers, Die Bedeutimg des Hauses
Cirksena für Ostfriesland (Heft 3). Die Existenz der Reichsgrafschaft
Ostfriesland und ihres rechtmäßig vom Kaiser belehnten Grafenhauses
ist an sich schon ein festes Bollwerk gegen die seit dem XV. Jahr-
hundert öfter hervorgetretenen Bestrebungen gewesen, Ostfriesland
an die westlichen Teile des alten Friesenlandes anzugliedern und so dem
Reiche zu entfremden. Reimers hebt aber auch die Verdienste der
Cirksena um die Befriedung des durch die Häuptlingsfehden des
XIV. und XV. Jahrhimderts zerrütteten Landes und um die Erhaltung
friesischer Art und Eigentümlichkeit in den späteren Jahrhunderten
gebührend hervor. Dabei ist die treffliche kleine Schrift nirgends
«ine bloße Verherrlichung des Fürstenhauses, wie sie etwa die Auricher
Hofhistoriographen aus dem Anfange des XVIII. Jahrhunderts geliefert
haben würden, sondern der gewaltige Abstand zwischen den kraft-
vollen Begründern der Dynastie und ihren entarteten letzten Gliedern
wird ausdrücklich betont, und die unheilvolle Übermacht der ost-
Iriesischen Landstände als eine notwendige Folge der geschichtlichen
Entwicklung erwiesen, der das Fürstenhaus ohnmächtig gegenüberstand.
Eine reizvolle Einzelschilderung aus der Zeit, die dem Ausbrechen
des Streites zwischen Ständen und Fürstenhaus unmittelbar vorher-
geht, bringt Heft i (P. Wagner, Ostfriesland und der Hof der Qräfln
Anna in der Mitte des 16. Jährhunderts). Auf Grund eines uns er-
haltenen Rechnungsbuches der Gräfin Anna aus den Jahren 1542 bis
— 134 —
1552« dessen unverkürzte Herau^abe dringend zu wünschen wäre,
erhalten wir einen Einblick in die einfachen, patriarchalischen Ver-
hältnisse dieses in Emden residierenden Hofes, der sich aufis schärfiite
von der prunkvolleren Hofhaltung der späteren Grafen und Fürsten
abhebt, seitdem Edzard II., der Sohn eben dieser Anna, der Gemahl
einer schwedischen Königstochter geworden war und seinen Hof nach
Aurich verlegt hatte. Heft S (C. Borchling, Die äUeren Reckis-
guälen Ostfrieslands) gibt eine ausführliche Beschreibung der wert-
vollen älteren Rechtsliteratur Ostfrieslands, von der Lex FrisUmum
an bis zu dem niederdeutschen ostfriesischen Landrechte Graf Edzards I.
von 1515. Ausblicke in die eigentliche Rechtsgeschichte sind dabei
nur dann gegeben, wenn sie fiir die Geschichte und Entstehung der
einzelnen Rechtsquellen nicht umgangen werden konnten, so besonders
bei der Besprechung der Versammlungen am Upstallsbom; hier sind
v. Richthofens und seiner Nachfolger Arbeiten ausgenutzt worden.
Einen bisher in völliges Dunkel gehüllten Abschnitt der ostfriesischen
Kirchengeschichte sucht endlich das soeben erschienene Heft 6
(H. Reimers, Die Sähidarisaiian der Klöster in Ostfriesland) auf-
zuhellen. FreUich gelingt es auch R. noch nicht, bei der allzugroflen
Lückenhaftigkeit und Dürftigkeit der urkundlichen Quellen ein ab-
gerundetes Bild der Vorgänge zu entwerfen; aber wir erkennen doch
soviel aus seinen vorsichtigen, ansprechenden Darlegungen, daß von
einer raschen, gewaltsamen Ausrottung der Klöster in Ostfriesland
xücht mehr die Rede sein kaxm.
Neben dieser populären Serie hat nun Wächter endlich auch
die Herausgabe einer zusammenhängenden Reihe größerer Quellen-
publikationen zur ostfiriesischen Geschichte ins Auge gefaßt, wofür ihm
der Herr Generaldirektor der Kgl. Preußischen Staatsarchive eine sehr
wesentliche Unterstützung zugesagt hat Als wichtigste Publikation
dieser Reihe neime ich die bisher schmerzUchst vermißte Sammlung
der MittelaUerUciien OesdiicUsguetten Oatfriedands. Bereits gegen Ende
der 70 er Jahre war das Auricher Staatsarchiv dem Plane einer solchen
Ausgabe nähergetreten, wie wir u. a. aus Herquets Bemerkungen,
Oeschidiie des LamdesarMvs van Ostfrieeland, S. 45 erfahren, aber an der
Rivalität zwischen dem damaligen Archivar Dr. Sauer nitd dem^ Aussicht
genommenen Herausgeber Dr. Pannenborg ist damals die Sache ge-
scheitert. Pannenborg hat sich seitdem von der ostfriesischen der all-
gemeinen deutschen Geschichte zugewandt, an seine Stelle ist jetzt
H. Reimers getreten, der zur Zeit das vatikanische Archiv nach
ostfriesischen Stücken durchforscht Die mittelalterlichen Rechts-
— 135 —
quellen Ostirieslands in lateinischer und altfiriesischer Sprache
liegen in der mustergültigen Ausgabe v. Richthofens vor, die etwas
jüngeren niederdeutschen Quellen dagegen sind bei v. Richthofen nur
ganz nebenbei berührt Eine vollständige Ausgabe dieser Nieäer-
deutschen Recktsqueüen, die der Verfasser dieses Aufsatzes vorbereitet,
soll die neue Wachtersche Serie eröfinen. Ein erster Band, dessen
Druck bereits begonnen hat, enthält die niederdeutschen Handschriften
des XV. Jahrhunderts, die nur zum Teile noch einfache Übersetzungen
altfriesischer Vorlagen sind. Band 2 wird die kritische Ausgabe des
in schier unzähligen Handschriften auf uns gekommenen jüngeren
Osifriesiachen LandrecUs des Grafen Edzard I. von 1515 bringen. Die
niederdeutschen Rechtsquellen Ostirieslands sind nicht bloß ftir die
jüngere Form des ostfriesischen Rechtes von großer Bedeutung, sondern
zugleich neben den Urkunden die frühesten Denkmäler der niederdeutschen
Sprache in Ostfriesland. Endlich ist ein weiterer Band für ÄUen und
Urkunden des ReformaticnseeilaUers bestimmt (Herausgeber: Dr.
Wächter), und schließlich wird hoffentlich auch die so überaus not-
wendige Neuherausgabe von Eggerik Beningas Chranyk van Oostfriedand
folgen, zu der sich ein Historiker und ein Philologe vereinigen müßten.
Erst wenn so das urkundliche und chronikalische Quellenmaterial zur
älteren Geschichte Ostfneslands in sauberen Ausgaben vollständig vor-
liegen wird, wird die nächste Generation daran denken können, den
Bau einer neuen, größeren „Geschichte Ostfrieslands" in Angriff zu
nehmen.
Mitteilungen
Archiye« — Die Invcntarisation der nicht unter fachmännischer
Leitung stehenden Archive schreitet erfreulicherweise rüstig fort,
und zwar regt es sich jetzt auch in den Landschaften, die früher kaum in dieser
Richtung tätig waren. Über den gegenwärtigen Stand der Inventarisations-
arbeiten in den verschiedenen Ländem und Provinzen zu berichten » ist an
dieser SteUe nicht nötig, da der vom Herausgeber dieser Zeitschrift gelegent-
lich der jüngsten Jahresversammlung des Gesamtvereins der deutschen
Geschichts- und Altertumsvereine erstattete Bericht *) demnächst im Karrt'
spendenMaU vollständig im Druck erscheinen wird. Ein Eingehen auf ein-
zdne Veröffentlichungen ist deshalb ytdoA nicht überflüssig » weil nicht oft
und nachdrücklich genug betont werden kamii in welchem Maße die Be-
arbeitung von Archivinventaren für den Druck die Kenntnis der einheimischen
Gescfaichtsquellen fördert.
1) VfU oben S. 53—54.
— 136 —
In der Rheinprovinz, wo sich die Gesellschaft für rheinische Geschichts^
ktmde und der Historische Verein für den Niederrhein schon seit länger als
einem Jahrzehnt in die Arbeit teilen, ist die Bereisung der kleinen Archive nach
Kreisen regelmäßig fortgeschritten. Von der Übersicht Über den Inhalt der
Ideineren Archive der BheinprovinM ist 1904 (Bonn, Behrendt) ein zweiter Band
erschienen, der über 525 Archive in sieben Kreisen berichtet, so daß damals
im ganzen 28 Kreise mit rund 1300 Archiven erledigt waren. Schon 1905
ist aber auch ein erstes Heft des dritten Bandes erschienen, das sich nur
mit dem an archivalischen Schätzen sehr reichen Kreise Schieiden beschäftigt.
Bereist sind auch bereits die Kreise Kochem imd Prüm, und die Veröffent-
lichung der Ergebnisse steht bevor. Die beiden ersten Hefte des zweiten
Bandes hatte wie den ersten Band Armin Tille, das dritte (Schluö-)Heft
dagegen, von Kreis Düren (S. 215) an, hat Johannes Krudewig be-
arbeitet, der auch die Arbeit weiterfuhrt. Die Art und Weise der Ver-
zeichnung ist dieselbe geblieben, imd das jedem Bande beigegebene Register
erleichtert die Benutzimg, zumal da nicht nur Orts- und Personennamen,
sondern auch Sachbet reffe aufgenommen sind. Aus dem Register zum
zweiten Bande seien z. B. folgende Stichworte herausgegriffen, zu denen sich
ein oder mehrere Hinweise finden : Bauemunruhen, beschütte Bruderschaften,
Buchdrucker, bursa mercatorum, Kirchherr (= Pfarrer), Kriegskontribution,
Dorf befestigung, Forstwesen, Gebräuche und Sitten, Glocken, Hexenprozesse,
Jagdgerechtsame, Juden, Ltistbarkeitsabgabe , Maße, Münzwesen, Normaljahr,
Orgelbauten, pint (Hohlmaß), Schützengesellschaften, Schulwesen, Türkensteuer,
Uhrwerke, Weinbau. Erst diese systematische Erschließimg des Inhalts
macht die Archivinventare der Geschichtsforschung nutzbar, wenn natürlich
auch praktisch einer solchen Durchdringung des Stoffes Grenzen gezogen
sind. Aber da schon bei der Abfassung der Regesten auf die Verwertung
ihres Inhalts für allgemeine Forschungen Wert gelegt wird, so gestaltet sich das
Register zum Schlüssel, der die Beobachtungen des Bearbeiters auch
den Benutzem zugänglich macht Immerhin hätte noch manches andere
Stichwort in des Register Aufiiahme finden können: S. 165 Nr. i wird z. B.
in einer Pachturkunde von 1522 die Verwendung von Mergel als Dünge-
mittel erwähnt, aber das Wort „Mergeln" fehlt im Register; oder S. 215
Nr. I* wird des Status animarum einer Gemeinde von 1778 Erwähnung
getan, aber weder dieser Ausdruck noch der wichtigere allgemeinere „Bevölke-
rungsstatistik'' findet sich im Register; auch der S. 267 Nr. 12 (1436) be-
legte andach (Oktave) ist nicht erwähnt, obwohl anscheinend hier einer der
seltenen Fälle vorliegt, wo das Wort im Sinne von Oktave bzw. als Be-
zeichnung des acht Tage nach einem bestimmten Tage liegenden Termins ver-
wendet wird : genauste wörtliche Wiedergabe der ganzen Datierung wäre hier am
Platze gewesen. Ein Fortschritt gegenüber der früheren Praxis, die nur Literatur
zu zitieren pflegte, wenn ein erwähntes Stück daselbst abgedruckt oder näher
besprochen war, ist zweifellos der etwas weitherzigere Hinweis auf orts-
geschichtliche Literatur, wie er namentlich im ersten Hefte des dritten Bandes
stattfindet
Die Inventare größerer Archive veröffentlicht der Historische Verein
für den Niederrhein in seinen Annalen, Nachdem im 59. und 64. Hefte
(1894 und 1897) die Inventare von neun niederrheinischen Stadtarchiven
— 137 —
verö£feiitlicbt worden wiren» wurden die Archire der Kölner Pfarrämter
in Angriff genommen, und im 71. Hefte (1901) zunächst deren fünf auf
215 Druckseiten behandelt ^). Die Fortsetzung dazu liefert Heinrich
Schaefer im 76. Hefte (Köln 1903« 263 S.), und zwar zeigt er, was
heute an ArchivaHen in den PBaurarchiven von St. Andreas, St Ursula
und St. Kolumba ruht. Die Urkunden stehen gegenüber den kürzer be-
handelten Akten im Vordergrunde und ihrem Alter und ihrer Bedeutung
nach gewiß mit Recht, denn neben einer Urkunde von 942 findet sich eine
ganze Reihe aus dem Xu. Jahrhundert. Wenn diese natürlich auch bisher nicht
imbekannt geblieben sind und viel&ch im Druck vorliegen, so erweist sich
doch eine systematische Nachlese, die das einzelne Archiv berücksichtigt,
als recht erspriedHch. JedenMs ist es fUr den Forscher nicht bedeutungs-
los, wenn er S. 114 Nr. 2 erfährt, daß eine Urkunde des Erzbischofe Friedrich
„mit vielen Lesefehlem*' und nicht nach dem Original veröffentlicht ist und
daß gleich bei der nächsten der Herausgeber (Ennen) irrtümlich nolmeruni
statt vciuerunt gelesen hat.
Die Bedeutung dieses zum großen Teil unveröftentlichten Quellenstofi&
für die kölnische Lokalgeschichte ist natürlich außerordentlich groß, und die
Benutzung der Plarrarchive für umfassende Forschungen ist nimmehr erst
möglich geworden. Aber wie sonst, so darf man auch bei diesen ördichen
Quellen ihre allgemeine Bedeutung nicht vergessen, und deshalb sollen
hier einige Einzelheiten erwähnt werden. Daß eine Menge Orte auch in
zien^h weiter Entfernung von Köln erwähnt und dadurch ein reiches orts-
geschichtliches Material namendich für ältere Zeiten erschlossen wird, braucht
kaum besonders betont zu werden. Angesichts der Bestrebungen Albrechts L,
die Rheinzölle der Territorialfürsten zu beseitigen, ist eine Urkunde von
1299 (S. 10 Nr. 40) von Interesse, mit der er auf Bitten des Kölner Erz-
bischofs zwei Stifbkirchen für ihre Einkünfte Zollfreiheit gewährt, „weil es
altes Gewohnheitsrecht'* sei; 13 12 (S. 13 Nr. 58) werden kirchliche Kreuz-
zugssubsidien, auf die Zehnten veranlagt, erwähnt; in einem Testament (S. 18
Nr. 88) wird 1328 ein Bremariwm (der Eriös wird zu einer Memorienstiftung
verwendet) und eine Legenda lambardica erwähnt; 1362 werden 30 aoUdi
(Attendomer Denare) 30 grossi Turonenses aniiqid in Gold oder Silber
gleichgesetzt, S. 30 Nr. 163; 1364 (S. 32 Nr. 171) und 1386 (S. 39
Nr. 220) wird gegen päpstliche Zehnterhebung protestiert; das Privileg des
Erzbischofs für die Gei^chkeit (13739 S. 34 Nr. 188) ist für die spätere
landständische Verfiusung von Wichtigkeit; ein „Elendenkirchhof" wird
S. 35 Nr. 194 (1374) und S. 38 Nr. 214 (1382) erwähnt; 1378 kommt
Strohdüngung vor (S. 36 Nr. 198) und Waid anzubauen wird verboten;
Juden als Hausbesitzer werden S. 39 Nr. 219 (1385) genannt; 1395 gab
es vor den Mauern Bonns ein Leprosenhaus (S. 44 Nr. 248); wichtig ist
eine Bäckereiordnung (1421, S. 49 Nr. 277), der gemäß aus einem Malter
128 Herrenbrote gebacken werden, deren vier sieben Pfimd und acht Lot
wi^en'); 143 1 erhob der Kölner Erzbischof vom Klerus eine Steuer zur
Bekämpfung der hussitischen Ketzerei (S. 54 Nr. 305); das Hospital der
i) Vgl. diese Zeitschrift 3. Bd., S. 217 — 220.
2) Datu ist S. 123 Nr. 42 (i486) so vergleicbeo.
10
— 138 —
annen Pilgrime wird 1441 (S. 55 Nr. 319) genannt» bestand aber schon
1343 (S. 82 Nr. 2) ; Meister Niclas Nyswylre, Doktor im Kaiserrecht» macht
1496 (S. 65 Nr. 386) sein Testament; der Buchdrucker Hermann Bongart
Ton Ketwich wird 1496 (S. 65 Nr. 387) erwähnt; 1563 soll der Taler iwei
Lot wiegen, acht gehen auf. eine köbische Mark und sollen 14 Lot feines
Silber enthalten (S. 73 Nr. 441); 1472 wird der rheinische Gulden zu vier
Mark kölnisch berechnet (S. 94 Nr. 62); ein bürgerliches Familienbuch
1422 ff. ist S. iio Nr. I verzeichnet, ein Bücherverzeichnis — 7.2 gedruckte
und geschriebene Werke — von 1483 ebenda Nr. 2; auch ein Taufbuch
von St. Paul 1629 — 1638 und ein Tauf- und Proklamationsbuch derselben
Pfarrei 1767 — 70 finden sich vor (S. iio — in, Nr. 6 und 9); eine wcrt-
ToUe Ergänzung dazu bildet der Katalog der P&rreingesessenen, nach Strafien
und Häusern geordnet, 1766 — 67 (Nr. 8); für die Geschichte des rheinischen
Adels sind die Aufschwörungsurkunden der zu Kanonissen des Stifb St. Ursula
präsentierten Damen 1608 — 1790 (S. 124 — 128) von Wichtigkeit; über die
Seelsorge und Residenzpflicht der Pfieurer handelt die Urkunde von 1426
(S. 159 Nr. 56); 1543 wurden zwei katholische Predigten wöchentlich
im Dom gestiftet (S. 194, Nr. 239); Tauf-, Trau- und Sterberegister aus
der Pfarrei St Columba fbden sich S. 244 — 245 verzeichnet; wichtig sind
auch die S. 245 ff. aufgeführten gedruckten Schriften, darunter viele
von Luther; eine ganze Reihe Geschäfts- und Haushaltungsbücher sind
S. 258 — 260 aufgeführt.
Diese kleine Auswahl bemerkenswerter Einzelheiten zeigt, was der
Forscher in diesen Regesten finden kann. Aber die Ausbeute könnte zweifel-
los eine noch viel größere sein, wenn der Bearbeiter in noch größerem Um-
fange den Wortlaut der Urkunde genau innerhalb des Regests, und zwar
durch den Druck kenntlich gemacht — etwa in Kursive — , mitgeteilt und
überhaupt immer die Erschließung des Inhalts der Urkunden noch mehr
im Auge gehabt hätte. Ohne daß sich die Arbeit vergrößert, ist dies sehr
wohl möglich, wie viele Regesten der Obersicht beweisen. Die Mühe, die
es namentlich auswärtigen Forschem verursacht, wenn sie den näheren Inhalt
einer einzelnen Urkunde eines Kölner P&rrarchivs kennen lernen woUen, wird
oft zu dem Ergebnis nicht in richtigem Verhältnis stehen, und deshalb unter-
bleibt eine Benutzung, die bei ergiebigerer Fassung der Regesten mühelos
vor sich gehen könnte. Dann aber wäre auch ein besonderes Register
der Namen und Sachbetreffe willkommen; vielleicht entschließt man sich zu
seiner Bearbeitung, wenn auch der dritte den Inventaren Kölner Pfiinarchive
gewidmete Band vorliegt. Der rheinischen und allgemeinen Geschichtsforschung
würden erst dann diese Urkundenregesten voll zugute kommen, für deren
Veröffentlichung dem Historischen Verein für den Niederrhein nicht warm
genug gedankt werden kann.
In jüngster Zeit hat sich nun den kölnischen Pfarrarchivinventaren auch
eins aus einer anderen rheinischen Stadt zugestellt: in den Beiträgen Mur
Oeschichie van Stadt und Stift Essm 28. Heft (Essen 1906) haben Heinrich
Schaefer und Franz Arens Urkunden und Akten des Essener Münster^
Archivs (348 S.) veröffentlicht Freüich wird hier mehr geboten als selbst
ein ausführliches Inventar erwarten läßt, da die älteren Urkunden voUständig
und aus den späteren die wichtigsten Dinge im Wortlaut der Urkunden selbst
— 139 —
mitgeteilt werden. Fonnell haben wir es also mehr mit einem Urkuiden-
buche zu tmi als mit einem Inventar, aber trotzdem handelt es sich nidit
um ein Urkondenbuch des Essener Münsters oder gar des Stifts, ftlr das
selbstverständlich viel Material aus anderen Archiven herangezogen werden
müfite, sondern ledi^ch um die Archivalien des jetzigen Münsterarchivs,
die in möglichst erschöpfender Weise mitgeteilt werden ^). Es ist unumwunden
anzuerkennen, dafi den praktischen Bedür&issen der Geschichtsforschung und
zugleich denen der Archivpflege auf diese Weise am allerbesten gedient wird.
Weün später wirklich einmal ein vollständiges Urkundenbuch des Stiftes
Essen entstehen sollte, das auch die jüngeren Zeiten berücksichtigt, so dauert
dies voraussichtlich noch recht lange, und fth* eine solche umfassende Arbeit
kann eine Veröffentlichung wie die vorliegende überdies nur vorteilhaft sein.
Die bei der oben besprochenen Bearbeitung der Kölner P&rrarchivinventare
hervorgehobenen Mängel sind glücklich vermieden ; denn der Inhalt der Ur-
kunden ist ausgeschöpft und durch Verwendung verschiedener Typen der
Teilt des Bearbeiters scharf vom Wortlaute der Urkunden getrennt. Ein aus-
führliches Personen- und Ortsregister, bearbeitet von Arens, ist beigegeben;
lediglich das Sachregister fehlt; es wird aber in Anbetracht des nicht allzu
grofien Umfangs des Buches nicht allzustark vermifit, wenn es auch gewiß
willkommen wäre und auch den femer Stehenden zur häufigeren Benutzung
des Bandes anregen würde. Die Art dieser Veröffentlichung beweist, dafi
auch Schaefer grundsätzlich die hier vertretene Anschauung teilt, daß der
Bearbeiter, der sich einmal als Neuordner so gründlich mit einem Archiv
beschäftigen muß, auch berufen ist, so viel wie nur irgend möglich aus dem
Inhalte mitzuteilen. Daß eine Benutzung der Origbale dadurch niemals
völlig entbehrlich wird, ist selbstverständlich, aber der immerhin umständliche
Weg wird dann nur beschritten, weim der zu erwartende Nutzen zu der
aufgewandten Mühe in richtigem Verhältnis steht.
Von allgemeinem Interesse ist Nr. i, die 1293 ^^™ Beginenkonvent ven
Hehenen Statuten in einer niederdeutschen Übersetzung des XV. Jahrhunderts.
Die Mehrzahl der Urkunden behandelt dagegen Stiftungen, Erwerb von
Grundstücken und Renten , kurz Dinge, die besonders durch die erwähnten
Nebenumstände, wie die Bestimmung von Örtlichkeiten und Neimung von Per-
sonen, ortsgeschichtlich recht bedeutend zu sein pflegen. Aber auch für die
i) Es handelt sich also hierbei am einen neuen Typus der Qaellen?eröffent*
Kchnog, und swar hat dieses Verfahren entschieden das für sich, dafs gleichseitig eia
Inventar des betreffenden Archivs dargeboten and dafs die Arbeit in absehbarer Zeit
erledigt wird, während andrerseits doch im wesenüichen räomlich Zosammengehdriges
znr Bearbeitung gelangt. In neuerer Zeit ist dieser Weg ftbrigens auch anderwärts be-
schritten worden: Die Seaesten der Urkunden des HeriogUchen Hau$' und StaaU-
arekive m Zerbti aus den Jahren 1401— J500, von denen bis jetst neun Hefte (43a
Seiten, 935 Nummern, bis 1482) vorliegen, wurden bereits im 7. Bde. dieser Zeitschrift,
S. 110 — 113, angezeigt. Neben den ebenfalls frfiher (3. Bd., S. 219) genannten ür-^
hunden des Pfarrarehivs van 8t Severin in K&n, herausgegeben von Hefs (Köln
1901) ist noch SU nennen: Dipiomatari%tm VaUis 8, Mariae manaeterii eaneHwumiaHum
ard. eist. Die Orhmden des köni^iehen JwngfrauensHfts und Klosters Oistereienser'»
Ord^ts tu 8L Marienthal in der Kgh sächs, Oberlausits, nad$ den sämtüehen
Originalen des Archivs in ausführlidien Segesten herausgegeben und erläutert von
Richard Döhler [Sonderabdruck aus dem Neuen Lausiteiseihen Magasin, Bd. 78
(1902)] 138 S. ^^
10»
— 140 —
Kenntnis des Privatrechts sind diese Urkunden wichtig , und der Rechts-
historiker wird in diesem Falle wiridich etwas danut an&ngen können, weil
das Rechtsgeschäft selbst in zahlreichen Fällen mit den Worten der Urkunde
bezeichnet wird ^). Der Memorienkalender wird S. 73 mit namanlmd^ be-
zeichnet; vom Bau einer Orgel ist 1442 S. 89 die Rede, und ein Vertrag
über den Bau einer solchen 1540 ist S. 172 — 74 zu finden; lehrreich sind
die Verpachtungsbedingungen eines Hofes (1464) S. iio; von einem und
demselben Gute handeln die Urkunden S. 4 (1297) und S. 130 (15 14),
und zwar sind die Lehnsbedingungen im zweiten Falle noch genau dieselben
wie im ersten; 1556 wird (S. 192) eine Frühmeöstiftung auf 20 Jahre einem
htdimagMer übertragen; S. 199 — 202 finden wir die Inventuraufnahme im
Hause eines Kanonikers 1564. A. T.
Fostgeschiehtlidie Aa^tellang. — Gelegentlich der Mailänder Aus-
ttAiQg 1906 wurde in einer besonderen Abteilung dem Besucher eine
Rückschj^u auf die Entwicklung der Verkehrsmittel ermö^^icht,
wie sie bis dahin wohl noch jiiemand in annähernder VoUständigkeit zu ge-
winnen Geliynheit Jiatte. Und innerhalb dieser Abteilung hatte wiederum
der teerende Fürst Albert von Thurn und Taxis aus seinem Zentral-
archiv imd der Hofbibliothek zu Regensburg durch den verdienstvollen Leiter
beider Anstalten, Archivrat Rübsam, eine Sonderausstellung veranstaltet,
die die Entwicklung der Thurn imd Taidsschen Post vom Beginn des XVL
bis in die zweite Hälfte des XIX. Jahrhunderts veranschaulichte. Es war
das erste Mal, dafi der Öffentlichkeit ein Einbhck in den ganz eigenartigen
Inhalt jener Regensburger Sammlungen gewährt wurde, und xwar zeigten rund
300 auserlesene Nummern, wie sich das älteste öffentliche Postumen in des
europäischen Kulturstaaten seit 400 Jahren schrittweise entwickelt JmU.
Äußerlich gliederte sich die Ausstellung in drei Gruppen : I. Arefaivalien
Uricunden, Briefe, Einblattdrucke usw.); II. Büdnisse, Wappen, Siegel;
III. Alte Postkarten. Die Gegenstände der Gruppen I und II waren unter
^as und Rahmen untergebracht, die der Gruppe ÜI an den Wänden — leider
des Raummangels wegen für die bequeme Besichtigung etwas zu hoch —
aufgehängt. Die Urkunden der Könige Philipps I. (Brüssel 1504, Januar 18)
und Karls I. von Spanien (Brüssel 15 16, Nov. 12) waren wenigstens durch
photographische Nachbildimgen je der ersten Seite vertreten, die älteste aus-
gestellte Originalurkunde aber war die Kaiser Karls V. (Genua 1536, Nov. 5),
duffch die den Gebrüdem Baptista, Maphe imd Simon von Taxis das ihnen
15 18 verliehene Oberstpostmeisteramt (officium supremi postarum praefecti
per universa regna ei dominia nostra) und im besonderen dem Simon von
Taxis der Besitz des kaiserUchen Postamts in Mailand bestätigt wird. Zahl-
reiche ähnliche Privilegien und Verträge zwischen Fürsten und Staaten einer-
seits imd den Postuntemehmem andrerseits schlössen sich an diese ältesten
an ; besondere Beachtung verdient unter diesen die Bestätigung des spanischen
Generaloberstpostmeisteramts für Leonard von Taxis durch König Philipp II.
vom 5. Dezember 1565, weil darin die wichtigen Worte enthalten sind:
i) Vgl. dazu die Ausführungen Rietschels im Berieht über die neunte Fer-
mmmlung deutscher Historiker zu Stuttgart (Leipzig 1906}, S. 47.
— 141 —
yydessen Vorfahren vor etwa loo Jahren unterKaiser Friedrich
dftfl moderne Postwesea zum Nutzen der Fürsten und zum
allgemeinen Wohle erfunden hättea'S Über den Verkehr innerhalb
Deutschlands unterrichtet z. B. die Urkunde vom 50. März 1596, die Kölns
damalige Stellung im Verkehr — der dort^ Taxissche Postmeister war
Jakob Henot — verdeutlicht, oder die Abrechnung (Conto deUe lettere)
von 15979 die gerade wie der Augsburger Postzettel vom 25. Mai 161 1 und
per Brüsseler vom 5. Juni 1627 über die Bedeutung Rheinhauseos (Speyer
gegenüber) Aufklärung gibt ^). Das älteste Postkursbuch, das zwar nicht
ausgestellt war, dessen Inhalt aber durch eine von Rübsam angefertigte Karte
veranschaulicht wurde, ist das des Kuriermeisters der Republik Genua von
1563. Eine Taxordnung für das Kölner Postamt von 1624 — 1628 (Druck),
eine solche fUr Frankfurt a. M. von 1629 (Druck), sowie ein Frankfurter
Postkursblatt, das vom Mainzer Postverwalter 1627 zum Druck befördert
wurde und also für die Mainzer Bürger bestimmt war, verdienen als älteste
Stücke dieser Art aus Deutschland Beachtung. Politisch wichtig ist zweifel-
los, daß der Große Kurfürst am 2. Februar 1647 (Kleve) die Anlage einer
Tazisschen PostverlHndung von Berlin über Osnabrück und Münster nach
Kleve genehmigte, und die wachsende Bedeutung der Zeitungen am Ende
des XVIII. Jahrhunderts lernen wir kennen, wenn unter dem 11. August
1787 der Erbgeneralpostmeister den Herausgebern der Ober- und Postamts-
xeitungen — das waren eben seine Ober- und Postmeister — die Aufnahme
anstößiger Zeitimgsartikel verbietet.
Nicht minder wichtig als die Archivalien der Gruppe I sind die Post-
karten, die in Gruppe III vorgeführt wurden. Darunter sind Landkarten
Dojl Einzetchnung der Postkurse zu verstehen ; die Neue Postkarte durch gans
UteutaMand von 1763 mmmt einen hervorragenden Platz unter den vor-
tModenen ein. Für die verkehrsgeschichtlichen Forschungen, nicht minder
aber auch fbr die verschiedensten anderen Untersuchungen wäre es recht
wertvoll, wenn ein Vereeicfaxus wenigstens der wichtigsten derartigen Karten
npit Beschreibung ihres hauptsächlichsten Inhalts veröffentlicht würde. Über-
haupt würde es ein nicht geringes Verdienst darstellen, wenn der Katalog
jener ersten postgeschichtlichen AussteUung, in der natürlich die interessantesten
und lehrreichsten Stücke der beiden Regensburger Sammlungen der Öffent-
lichkeit vorgelegt wurden, in einer möglichst ausführlichen Form nachträglich
»och gedruckt würde. Die Hauptarbeit war ganz zweifellos die Auswahl
tmd Beschreibung, diese ist aber längst besorgt, und es würde sich jetzt
nnr darum handeln, daß die mühevolle Arbeit Rübsams allgemein nutzbar
gemacht wird. Eine kurze Übersicht über die wichtigsten Stücke der Aus-
atrihing» auf die auch die hier gemachten Mitteüimgen zurückgehen, ist
htreits in L^ Union postaUf XXXI* volume, Nr. 12 (Bern, Dezember 1906)
cntfaalfeen.
Btttertmn and WftffBnkande. — Wenn gegenwärtig in der geschicht-
lichen Literatur vom Rittertum die Rede ist, dann pflegen die recht-
i) Über Wesen und Bedeutung der Postconti vgl. diese Zeitschrift, 7. Bd.,
14—19.
— 142 —
liehen Beziehuiigen der Ministerialen und ihre im Lehnrecht begründeten
eigentümlichen Lebensverhältnisse besonders stark betont zu werden , und
selbst die Sachkenner müssen zugeben, dafi sie im Grunde von der ritter-
lichen Lebensweise, die der Ausdruck einer eigentümlichen ritterlichen
Kultur ist, keine rechte Vorstellung haben, ^e um&ssende Bearbeilang
dieses wichtigen kulturgeschichtlichen Gebiets, und zwar sowohl im Längs-
ais auch im Querschnitt, ist deswegen zweifellos erwünscht, aber für eine
solche Arbeit ist es unerläßlich, dafi die Rechts- und Verfittsungsverhältnisse
nicht in der üblichen Weise in den Vordergrund gerückt werden. Denn
so gewiß die Rechtssatzungen das tatsächliche Leben ordnen, so wenig sind
sie die Ursache der besonderen Gestalt des Lebens, sondern im Gegenteil
das Ergebnis gewisser Lebensverhältnisse; lediglich die eigentümliche Be-
schaffenheit der zeitgenössischen Quellen bringt es mit sich, daß wir in
Ermanglung andrer Erkenntnismittel viel^h gezwungen sind, aus den Ur-
kunden der Rechtsordnung die jeweiligen Zustände zu erschließen.
Wenn das ritterliche Leben als Ganzes erfaßt und lebenswahr geschildert,
werden soll, dann empfiehlt es sich zweifellos, vom ritterlichen Berufe,
und zwar zuerst vom Waffendienste des gehamischten Reiters, auszugehen und
auf der eindringlichen Kenntnis der ritterlichen Schutz- und Trutz
Waffen fußend auch die übrigen Lebensverhältmsse des Rittertums zu be
trachten: so werden vermutlich auch die ursächlichen Zusammenhänge de
im großen und ganzen bekannten gesellschaftlichen Veränderungen besser
begriffen werden. Deshalb ist es freudig zu begrüßen, daß, wie mitgeteilt
wird, der Begründer der wissenschafüichen geschichtlichen Waffeenkunde
Hauptmann a. D. Gustav Hergsell, Direktor der Kgl. Landesfechtschule in
Prag, dem wir die vorzüglichen Ausgaben der drei berühmten Fechtbücher Tal--
hoffers von 1443, ^459 ^uid 1467 verdanken, sich entschlossen hat, seine waffen.
geschichtlichen Sonderkenntnisse in einer größeren kulturgeschichtlichen Dar-
stellung — DcLS JRUterwesen im MUteläUer — zu verwerten und in dieser
Form dem weiteren Kreise der Geschichtsforscher zugänglich zu machen.
Natürlich war es nicht möglich, sich auf die Wafien und ihre Verwendung,
im Kampfe einschließlich des Heeiwesens zu beschränken, sondern es galt,
das ritteriiche Leben, die Bfldung der Ritterorden, die Beziehungen des Minne-
sangs und der höfischen Literatur zum Rittertum, die Turniere, die geridit-
lichen Zweikämpfe, die &hrenden Ritter, das Raubrittertum und vieles andere-
heranzuziehen und in den gegenseitigen Wechselwirkungen zu beleuchten. Nur so •
wird es möglich, alle Seiten ritterlichen Lebens undaUe SfMelarten des Ritter-
tums kennen zu lernen. Dagegen brauchten die Rechts- und Wirtschafisverhält-
nisse der Ritter, die ja in der Literatur schon mehrfach eingehende Behandlui^
gefunden haben, in diesem Zusammenhange nicht nochmals dargelegt zu werden.
Das genannte Werk geht seiner Vollendung und Drucklegung entgegen
und dürfte im Frühjahr in zwei Bänden im Um&nge von etwa 33 Bogen
Lexikonoktav, geschmückt mit zahlreichen Reproduktionen aher Bilder, aus
gegeben werden. Es wird in der k. k. Hofbuchdruckerei in Prag hergestellt
und erscheint im Selbstverlag des Verfassers. Gerade weil die Wa£fenkunde
als geschichtliche Hilfswissenschaft gegenwärtig noch kamn gewürdigt wird,,
ist es nicht überflüssig, auf die Ergebnisse, die sich durch sie gewinnen lassen,,
von vornherein aufmerksam zu machen. Wijd die sachliche Bedeutung dieses^.
— 143 —
Forachuogszweiges erst allgemein voll erkannt, dann wird vermutlich auch in den
kleinen Museen den mittelalterlichen Waffen eine größere Sorgfalt gewidmet und
iror allem der einzelne Gegenstand genauer beschrieben und bestimmt werden.
Zeitschriften. — Unter den kirchengeschichtlichen Zeitschriften» die
wir heute in ziemlicher Menge besitzen , nehmen die Studien und Mit-
teilungen aus dem Bet^ediktiner- und dem Ziatergienserorden mit besonderer
Berücksichtigung der Ordensgeschichte und Statistik eine hervorragende Rolle
«in ') und müssen von Geschichtsforschern, und besonders von den landes-
igeschichtlichen, häufig zu Rate gezogen werden, da bekanntlich Benediktiner-
und Zisterzienserklöster nicht nur heute in der ganzen Welt noch bestehen,
sondern auch in früheren Jahrhunderten insbesondere in allen Teilen Deut-
schlands vertreten waren und meist einen recht großen kulturellen Einfluß
auf ihre Umgebung ausgeübt haben. Trotzdem ist die Zeitschrift ^ noch
nicht so verbreitet, wie sie es verdient; ja sie fehlt selbst in mancher
sonst ansehnlichen Bibliothek. Die verhältnismäßig niedrige Auflage bringt
es mit sich, das vollständige Exemplare der 1880 beginnenden imd bis
zur Stunde 27 stattliche Bände zählenden Reihe nur ausnahmsweise im
Antiquariatsbuchhandel angeboten werden. Die Administration im Stift
Raigem besitzt selbst nicht mehr vollständige Exemplare, die abgegeben
werden können, und liefert bloß, soweit noch Exemplare vorhanden sind,
auch einzelne der früheren Bände zum Preise von acht Mark. Ein lite-
rarisches Ereignis ist es unter diesen Verhältnissen, daß gegenwärtig ein
Gesamtregister zu den ersten 26 Bänden im Manuskript vollendet ist,
dessen Druck eben jetzt beginnt. Der Preis dafür beträgt sieben Mark.
Auch für Bibliotheken, die ein Exemplar der Zeitschrift nicht besitzen, hat
dieses Register als bibliographisches Hilfsmittel einen hohen Wert,
und es wird deshalb zweckmäßig sein, wenn interessierte Kreise sich jetzt
schon durch Vorausbestellung ein Exemplar sichern *) . Den landesgeschicht-
lichenVereinen erwächst, wenn das Register erst vorliegt, zum mindesten die
Aufgabe, ihrerseits die Arbeiten, die in den 26 Bänden über Klöster ihres
Gebietes enthalten sind, zusammenzustellen und dadurch die Auf-
merksamkeit der einheimischen Forschung darauf zu lenken, wenn man nicht
noch weiter gehen und den hauptsächlichsten Forschungsinhalt kurz
mitteilen wiU. Da tatsächlich, wie sich jeder leicht überzeugen kann,
eme vollständige Reihe der Studien und Mitteilungen sich längst nicht überall
findet, wo man ihr Vorhandensein annehmen sollte, und da sie mithin recht
vielen Forschem unzugänglich sind, würde sich ein solches Verfahren zweifel-
los in mannigfacher Beziehung als nützlich erweisen. Geschichtsvereine,
Stadt- und Schulbibliotheken, die den Wert des genannten Registers zu
i) Vgl. darttber diese Zeitschrift 2. Bd^ S. 204—205.
2) Der Jahrganf besteht aas vier Vierteljahrsheften, umfaßt darchschnittlich 800 Druck-
seiten «od kostet acht Mark. BestelloDgen sind stets direkt an die Redaktion der
Studien und Mitteilungen in Stift Raigern bei Brtinn (Österreich) ea richten.
3) Ganz ähnlich liegen ttbrigens die Dinge bei den Antdeeta BoUamdiana, Za
dieser in Brüssel (Boalerard militaire 775) erscheinenden Zeitschrift sind 1904 Indices
im iatnOB J— XX (1882— 1901) erschienen, and aach in diesem Falle hat das Register
cineD wesentlich höheren bibliographischen Wert als ihm ron Tomherein zazakommen scheint.
— 144 —
schätzen wissen und ein Exemplar zu besitzen wünschen, mögen jetzt sofort
ihre Bestellung abgehen lassen, da nur eine kleine Anzahl über die vor-
bestellten Exemplare hinaus gedruckt wird.
Ebisregangene Bfieher.
Bruiningk, H. v.: Das Aquamanile im Dommuseum zu Riga [=s Sitzungs-
berichte der Gesellscha^ für Geschichte und Altertumskunde der Ost-
seeprovinzen Rußlands aus dem Jahre 1905 (Riga 1906), S. 6 — 12].
Dierauer, Johannes: Geschichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft.
Dritter Band: 15 16 — 1648. Gotha, Friedrich Andreas Perthes A.-G.
1907. 567 S. 8^. M. 12,00.
Dücker, J. Fr. : Bilder aus der Schleswig-Holsteinischen Geschichte, für
Schule und Haus gesammelt imd eingerahmt Zweite Auflage. Schleswig,
Julius Berga 1906. 566 S. 8^ M. 4,40.
Eisler, Rudolf: Geschichte der Wissenschaften [= Webers Illustrierte Hand-
bücher, Band 256]. Leipzig, J. J. Weber 1906. 440 S. 8^. geb.
M. 6,00.
Goetz, Leopold Karl: Das Zentrum eine konfessionelle Paitei. Ein Beitrag
zu seiner Geschichte. Bonn, Friedrich Cohen 1906. 220 S. 8^.
Gothein, Eberhard: Der Breisgau unter Maria Theresia und Joseph II.
[ss Neujahrsblätter der Badischen Historischen Kommission, Neue
Folge 10]. Heidelberg, Carl Winter 1907. 130 S. 8^. M. 1,20.
Gut jähr, Emil A.: Die Urkunden deutscher Sprache in der Kanzlei Karls IV.
I : Der Kanzleistil Karls IV. Leipzig, Dieterichsche Verlagsbuchhandlung
(Theodor Weicher) 1906. 499 S. 8®.
Hausmann, R.: Ein Bronze-Depotfund mit einer römischen Bronze-Lampe,
gefunden zu Kawwast bei Dorpat [= Sitzungsberichte der Gesellschaft
für Geschichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen Rußlands aus
dem Jahre 1905 (Riga 1906), S. 65 — 74].
Kaindl, Raimund Friedrich: Geschichte der Deutschen in den Karpathen-
ländem. Erster Band: Geschichte der Deutschen in Galizien bis 1772.
[== Deutsche Landesgeschichten, herausgegeben von Armin Tille,
achtes Werk]. Gotha, Friedrich Andreas Perthes A.-G. 1907. 369 S.
8^ M. 8,00.
Meddelelser fra det danske Rigsarkiv I, i — 2. Kebenhavn, i Kommission
hos C. A. Reitzel 1906. 166 S. 8^
Schaefer, Heinrich und Arens, Franz: Urkunden und Akten des Essener
Münsterarchivs [= Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen,
herausgegeben von dem Historischen Verein fUr Stadt und Stift Essen,
28. HeftJ. Essen 1906. 348 und XXX S.
Tille, Armin: Genealogie als Wissenschaft [=? Mitteilungen der Zentralstelle
für deutsche Personen- und Familiengeschichte, 2. Heft (Leipzig, Breit-
kopf und Härtel 1906), S. 32 — 40].
Voretzsch, Max: Der sächsische Prinzenraub in Altenburg, ein urkimd-
liches Gedenkblatt nach 450 Jahren. Altenburg, S.-A., Druck von
Oskar Bonde 1906. 55 S. 8^.
HoBOSgvber Dr. Annfn Tille in
Druck und Verlaf von Friedrich Andrees Perthes, Ak^engeselUchaft, Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
rar
Förderung der landesgesctücbtliclien Forscbung
Vm. Band Mirz/April 1907 5./6. Heft
Traehtenkunde
Von
Karl Spiels (Bottenhom)
Von allen sichtbaren Erzeugnissen des Volkstums hat die Volks-
tracht von jeher am meisten Beachtung gefunden. Das läßt sich aus
ihrem auffallenden, von der Modetracht abweichenden Aussehen leicht
erklären. Auch in der Beurteilung ihrer Bedeutung für die Erhaltung
des Volkstums oder als eines Kennzeichens noch vorhandener volks-
tümlicher Eigenart hat man ihr gern eine Sonderstellung eingeräumt
Volkstum und Volkstracht wurde — und wird noch — vielfach in
einer Weise identifiziert, als müsse sich volkstümliche Eigenart auf
jeden Fall auch in einer volksmäßigen Kleidung nach außen kund-
tun und als sei da, wo die Volkstracht ausgestorben ist, die volkstüm-
liche Sonderart nicht ^ mehr in voller Ursprünglichkeit und Frische
vorhanden.
Ohne der Frage näherzutreten, inwieweit eine solche Bevorzugung
der Volkstracht vor anderen Erzeugnissen des Volkstums berechtigt
sein mag, können wir hier feststellen, daß sie weder der Erhaltung
der Trachten, noch auch, was uns hier vor allem angeht — ihrer
wissenschaftlichen Erforschung sonderlich förderlich gewesen ist. Man
könnte sogar sagen, daß sie im GegenteU immer wieder dazu ver«
leitet hat, der Volkstracht gegenüber einen verkehrten Standpunkt
einzunehmen und sich dadurch selbst den Weg zu einer nüchternen
und sachlichen Würdigung zu verbauen. Man wollte unter allen Um-
ständen die Tracht als eine originale Schöpfung des Volkes dartun;
in ihr sollte der volkstümliche Geist eine adäquate Ausprägung ge-
funden haben. Und da sich diese Anschauung mit den geschicht-
lichen Verhältnissen nicht immer völlig in Einklang bringen ließ,
mußte man den Tatsachen entweder Gewalt antun, oder sie ignorieren
und sich in luftigen Höhen, hoch über der rauhen Wirklichkeit, ein
Reich voll glänzender Schönheit suchen. Zu einer sachlichen Wür-
11
— 146 —
digung* der Volkstracht im Rahmen der wissenschaftlichen Volkskunde
konnte man auf diese Weise nicht gelangen, und hieraus erklärt es
sich auch, da(s die wissenschaftliche Trachtenkunde, soweit sie sich
mit der Volkstracht im engeren Sinne befaßt, heute erst in den ersten
Anfangen steht.
Wir setzen darum mit Bedacht die folgende programmatische
Äußerung eines Fachmannes an die Spitze unserer Ausfuhrungen, um
im Anschluß daran Aufgabe und Methode der Volkstrachtenforschung
in Kürze zu skizzieren: „Wenn von allen Denkmälern der äußeren
Volkskunde zu sagen ist, daß sie ohne ein Zurückgehen auf die histo-
rischen Formen niemals genügend behandelt werden können, so muß
man das ganz besonders stark bei der Tracht betonen. Nicht etwa,
weil es bei ihr in höherem Maße als bei den übrigen Denkmälern
notwendig wäre, sondern ledighch deshalb, weil es gerade bei Trachten-
studien heute noch am meisten zu vermissen ist. Leider stehen auch
hier noch die wenigsten Autoren mit voller Schärfe auf dem Stand-
punkte, daß sie in den Bauemtrachten fast durchgehends nichts an-
deres als umgemodelte Formen der allgemeinen Mode vor sich haben.
Die Behandlung einer lokalen Bauemtracht gewinnt aber nur dann
einen wissenschaftlichen Wert, wenn sie sich nicht auf bloße Abbildung
und Beschreibung beschränkt, sondern den historischen Vorbildern
der einzelnen Elemente nachgeht und daneben die äußeren Einflüsse
aufdeckt, unter deren Wirkung die volkstümliche Kleidung jener be-
stimmten Gegend sich entwickelt hat *)."
Die wissenschaftliche Trachtenkunde ist also ein Teil der histo-
rischen Wissenschaft. Indem wir sie so ansehen, lösen wir keineswegs
die Volkstracht von ihrem Mutterboden los ; wir befreien sie lediglich
aus der ungerechtfertigten Isolierung und stellen sie in den Zusammen-
hang mit den anderen Denkmälern unserer sichtbaren Kultur. Sie als
ein ganz originales Gewächs auf dem Boden des Volkstums behan-
deln, das würde zugleich bedeuten, sie von allen fördernden und vor-
antreibenden Einflüssen abschneiden und sie in der kleinlichen dumpfen
Enge einschließen, in die kein frischer Luftzug aus einer anderen
Kulturwelt eindringen kann. Damit wäre doch auch gerade dem Volks-
tum und seinem Gedeihen ein schlechter Dienst geleistet. Die ge-
schichtliche Betrachtung aber zeigt uns, wie auch das ländliche Volks-
tum, bei aller äußeren Abgeschlossenheit, doch niemals gänzlich den
i) Otto Lanffer in der ZeiUchHft det Vereim für VolkskHttde 15 (1905),
S. 192 f.
— 147 —
Zusammenhang' verloren hat mit den großen Wellenbewegungen der
kulturellen Entwicklung. Und wenn die Kulturwelle auch lange Zeit
brauchte, bis sie in das entlegenste Dörfchen gedrungen war, und
wenn sie dort auch nur noch schwach auf- und niederebbte, sie brachte
doch Bewegung und bewahrte vor dem Versinken in Erstarrung, die
für das Volkstum den Tod bedeutet hätte.
Wenn so die wissenschaftUche Betrachtungsweise der Denkmäler
des Volkstums im allgemeinen und der Volkstracht im besonderen in
jedem Falle den Zusammenhang mit der allgemeinen Kulturentwick-
lung entschieden betont, so führt das keineswegs dazu, dem Volkstum
alle Originalität und Gestaltung aus Eigenem heraus abzusprechen.
Das wäre so unwissenschaftlich und unhistorisch wie nur möglich. Denn
auf diese Weise würde der geschichtliche Begriff der Entwicklung"
vollständig verkannt. Es kommt im Gegenteil gerade eine ungeschicht-
liche Betrachtung des Volkstums leicht in die Gefahr, die volkstüm-
lichen Erzeugnisse als starre , unveränderliche Größen anzusehen , die
schon vor Jahrhunderten und Jahrtausenden vorhanden waren; tmd
man sieht merkwürdigerweise in dieser starren Unveränderlichkeit oft
genug einen Ehrentitel des Volkstums, im Gegensatz zu der leichten
Beweglichkeit der sogenannten „Kultur". Daß aber solche Unver-
änderlichkeit nur die starre Ruhe des Todes sein kann, bedenkt man
nicht. Es ist also auch hier wieder die wissenschaftliche Forschung,
die das Volkstum vor den Unbedachtsamkeiten seiner Freunde schützen
muß. Sie sieht in allen volkstümlichen Denkmälern, auch in der
Volkstracht, die Äußerungen eines lebendigen Organismus, und weist
an ihnen die Veränderungen und Entwicklungen nach, die überall da
unumgänglich und notwendig sind, wo Leben vorhanden ist.
Für die Trachtenforschung ergeben sich hieraus zwei program-
matische Leitsätze. Zunächst muß für die Volkstracht die Verbindung
nach rückwärts gesucht und der Zusammenhang nachgewiesen werden,
in welchem sie mit der allgemein üblichen Modetracht gestanden hat.
Es ist „von dem Bekannten, dem noch Bestehenden aus, an dem
Faden der allgemeinen Geschichte des Kostüms in stetem Vergleiche
rückwärts zu schreiten** *). Sodann ist die Entwicklung zu verfolgen,
welche die Tracht im ganzen und die einzelnen Trachtenstücke durch-
gemacht haben, seit sie Bestandteile der Volkstracht geworden sind.
Die Trachtenforschung steht also vor einer doppelten Aufgabe. Sie
i) Hermmnn Weifi, Koatümkunde. Zweite AbteUang: Neuzeit (1873), S. 1361
kamnkang,
11 •
— 148 —
hat außer einer eingehenden Beschreibung der Tracht die Frage
nach der Herkunft der Tracht zu beantworten und die Entwick-
lung der Volkstracht darzustellen.
Die Frage nach der Herkunft der Tracht schließt die nach dem
Alter der Tracht in sich. Es handelt sich darum, festzustellen, zu
welcher Zeit sich das eine oder andere Trachtenstück von der allge-
meinen Modetracht losgelöst und in der Volkstracht festgesetzt hat.
Dieser Prozeß, der im wesentlichen wirtschaftliche Gründe hatte,
mußte eintreten, sobald die allgemeinen Modetrachten begannen, sich
in schnellerem Wechsel abzulösen. Die allgemeine 2^itmode ist
früher weitaus stabiler gewesen als heutzutage. Während man heute
eine Modeepoche nach Jahren bemißt, kann man bei der Beschreibung
der mittelalterlichen Zeitmoden ruhig ebensoviel Jahrzehnte rechnen.
Das änderte sich seit dem XVI. Jahrhundert, und seit dieser Zeit eist
haben wir auch die Volkstracht. Denn diesem nun einsetzenden
schnelleren Modewechsel vermochte die breite Masse des Volkes nicht
zu folgen; und zwar, wie schon erwähnt, im wesentlichen aus wirt-
schaftlichen Gründen. Die Technik der StofTbereitung war allmählich
komplizierter geworden, sodaß selbst die Hausmacherarbeit nicht mehr
völlig ohne die Hilfe des Walkers, Färbers usw. hergestellt werden
konnte. Die Produktion der Stoffe durch Unternehmer aber ver-
teuerte die Sache so, daß eine häufigere Anschaffung unmöglich ward.
So kam es dann sehr bald, daß sich eine Volkstracht ausbildete d. h.
daß <lie breite Masse des Volkes mit ihrer Tracht hinter der 2^itmode
zurückblieb und der Abstand sich dann immer rascher vergrößerte.
Der umgekehrte Prozeß läßt sich heute beobachten: die bülige
Fabrikware verdrängt die dauerhafte Hausmacherarbeit und ermöglicht
auch der breiten Volksmasse wieder den direkten Anschluß an die
wechselnde Zeitmode. Das ist einer der hauptsächlichsten Gründe
fiir das allmähliche Schwinden der Volkstrachten.
Man könnte diesen Vorgang des Übergangs von Kostümstücken in
die Volkstracht, also die Entstehung der Volkstracht, schematisch
etwa so skizzieren : Während die Modetracht sich entwickelte
und umbildete, blieb irgend eine Gegend hinter diesem
Prozeß zurück; ein Kleidungsstück, früher allgemein ge-
tragen, war dann bald nur noch in beschränktem Kreise
üblich und blieb dann von den weiteren Umbildungen der
Modetracht verschont. Es setzte sich in der früher üb-
lichen Form fest und erschien bald um so altertümlicher,
je weiter sich inzwischen die Modetracht von der früher
— 149 —
üblichen Form entfernt, sie vielleicht inzwischen ganz
verlassen hatte. Die Entwicklung, die das so zur Volks-
tracht gewordene Trachtenstück von da an durchmachte,
ging ihre eigenen Wege abseits von der Entwicklung des
Kostüms im allgemeinen, und ließ trotz mannigfacher
Veränderungen den Grundtypus auch später noch er-
kennen. So tritt uns in den Volkstrachten eine sonst längst unter-
gegangene Welt entgegen. Moden, die wir aus alten Bildern kennen
und die längst abgestorben sind, treten uns in ihr entgegen. Und an
diesem — ich möchte fast sagen — „Stil** der Volkstracht läßt sich
im allgemeinen unschwer ihr Alter, wenigstens nach größeren 2^it-
räumen, angeben. Sie trägt noch unverkennbar den Charakter der
Kostümepoche an sich, in der sie allgemein in Mode war. Sehr schön
schildert Justi diesen archaistischen Charakter: „Bei genauer Be-
trachtung der ländlichen Trachten werden wir die in ihnen fortlebende
vereinfachte Kleidung der höheren Stände erkennen, die uns sonst
nur in alten BUdern vor Augen tritt Was diese jedoch nicht zeigen
können, sind die Bewegungen, welche zu den altfränkischen Kleidern
gehören. Die Verbeugungen der Bäuerinnen bei kirchlichen Anlässen
sind so, wie sie zur Zeit unserer Ureltem als höfisch galten und wie
man in den vierziger Jahren noch bei alten aristokratischen Damen
wahrnehmen konnte, sowie auch das Benehmen der Landleute bei
besonderen Veranlassungen zwar veraltet, aber durchaus angemessen
und an Würde streifend zu sein pflegt. ... So veranschaulicht ein
sonntäglicher Kirchgang in manchem hessischen Dorfe den altvater-
ischen Anstand, wie er bei demselben Vorgang hundert Jahre früher
üblich gewesen sein mag; auch die Gesichter rufen nicht selten Bild-
nisse des vorigen und früherer Jahrhunderte ins Gedächtnis ^)."
Um nun die Frage nach der Herkunft und dem Alter der Tracht
mit Sicherheit beantworten zu können, ist eine eingehende Be-
schreibung der Tracht erforderlich. Und zwar ist von der zurzeit
noch üblichen Tracht auszugehen. In den meisten Gegenden Deutsch-
lands ist allerdings die Volkstracht verschwunden. Hier steht der
Forscher vor der Schwierigkeit, daß er sich aus den Aussagen der Be-
völkerung und sonstigen Mitteilungen erst mühsam ein BUd zusammen-
stellen muß, das doch der rechten Anschaulichkeit entbehrt und zu-
dem auch in seinen Einzelheiten recht wenig zuverlässig sein kann.
Mit welcher Vorsicht die Aussagen der Bevölkerung selbst aufzu-
1} He$8i9che8 TraMmbuch S. af.
— 150 —
nehmen sind, vor allem dann, wenn die Tracht im Absterben be-
griffen oder schon abgestorben und infolgedessen auch die Tradition
schon unsicher geworden ist, dafür will ich als Beispiel nur die fol-
gende Bemerkung von Jostes anführen: „Man hat mir ernsthaft er-
zählt, daß die Frauen so viel Litzen um die Mütze gebunden hätten,
wie sie Kinder geboren; ich habe aber nirgendwo weder mehr noch
weniger als zwei gefunden ; — und mir sind doch Hunderte von Exem-
plaren durch die Finger gegangen ! Es wird also wohl Sage sein *)."
Neben der Unsicherheit der Tradition, die hier also schon zur Le-
gendenbüdung geführt hat, ist noch ein anderer Umstand als Fehler-
quelle zu berücksichtigen: die absichtliche Irreführung des Forschen-
den durch die Bevölkerung. Wenigstens habe ich für die folgende
Tatsache keine andere Erklärung: Sowohl Heßler in seiner Hessischen
Volkskunde *) als auch , offenbar ihm nachfolgend , Hottenroth')
berichten von der Tracht des Dorfes Bottenhom: „Zu den Eigenheiten
der Bottenhorner Mädchentracht sind die Querfalten in den Strümpfen
zu zählen, welche diesen das Aussehen geben, als seien sie zu weit
und säßen etwas herabgerutscht am Bein. Diese Ringel sind jedoch
in die Strümpfe hineingestrickt und haben ihre Bedeutung. Je reicher
ein Mädchen, um so mehr Querfalten strickt es in seine Strümpfe;
dieser Brauch ist so feststehend, daß jeder Freier imstande ist, nach
der Anzahl der Strumpfrunzeln das Vermögen des Mädchens abzu-
schätzen." Abgesehen von den Unrichtigkeiten, die der Oberfläch-
lichkeit des Forschers zur Last fallen — daß diese Ringel in den
Strümpfen nicht nur von den Mädchen, sondern auch von den Frauen
getragen werden; und daß sie nicht in die Strümpfe hineingestrickt
sind, sondern beim Anziehen um den Fuß gelegt werden, hätte eine
etwas sorgfältigere Beobachtung und Untersuchung ihm zeigen können — ,
was von der Bedeutung der Ringel gesagt wird, ist der reine Unsinn!
Nun steht in Bottenhom die Tracht noch in voller Geltung, wenige-
stens beim erwachsenen weiblichen Geschlecht Von einer Legenden-
bildung bei der Bevölkerung selbst kann also keine Rede sein. Man
muß demnach annehmen, daß der Forscher bei seinen Nachfragen
von einem ländlischen Spaßvogel gründlich mystifiziert worden ist
Ich erwähne dies Beispiel, weil es den Aussagen der Bevölkerung
gegenüber dringend zur Vorsicht mahnt.
1) Westfäiisehea Trachteribueh S. i8o.
2) Band II, S. 194.
3) DU Na$8aui$chen VbUcstraehienf hermnsg. v. Hottenroth, S. 37.
— 161 —
Am günstigsten ist der Forscher daran, wenn er noch am leben-
den Objekte die Tracht studieren kann. Wo dies nicht der Fall ist,
wird man hauptsächlich aus noch vorhandenen Trachtenstücken ein
Bild der Tracht gewinnen müssen. Bei der Beschreibung der ein-
zelnen Stücke ist nicht nur ihre Form und Farbe, sondern auch der
Stoff, aus dem sie gefertigt, und vor allem die Machart, d. h. der
Schnitt, anzugeben. Hinsichtlich der letzten Forderung lassen es
fast alle Trachtenwerke an den nötigen Mitteilungen fehlen. Und
doch ist die Beigabe von Schnittmustern von solcher Wichtigkeit,
daß wir der „grundsätzlichen Anschauung'* Lauffers nur zustimmen
können, „daß nur an der Hand von Schnittmustern eine wissenschaft-
liche Trachtenkunde zu gesicherten Resultaten gelangen kann. Nur
die Schnittmuster lassen das Typische deutlich erkennen, nur sie
bringen das Wesentliche, ohne durch Nebensächliches zu beirren,
und nur sie lassen eine ruhige entwicklungsgeschichtliche Verglei-
chung zu *)."
Soll die Darstellung durch Abbildungen erläutert werden, so ist
von einer bloßen Wiedergabe von photographischen Aufnahmen nur
abzuraten. Gerade hier versagt die sonst so bewährte photographische
Kunst, weil sie keine farbigen Bilder liefert. Und bei der Tracht ist,
was den Gesamteindruck anlangt, die Farbe alles. Darum sind auch
Bleistiftskizzen nur ein ungenügender Notbehelf; am besten entspricht
die farbige Reproduktion allen Anfordenmgen. Hier ist die nach-
schaffende Hand des Künstlers unentbehrlich. Dabei kommt es nicht
so sehr auf zeichnerische Gewandtheit als auf peinliche Treue und
minutiöse Genauigkeit in der Wiedergabe des Details an. Als un-
übertroffenes Vorbild in dieser Beziehung kann man wohl das Hes-
sische Trachtenbuch von Justi hinstellen. Wie hier die Stickereien
auf den Bruststücken (Tafel 2. 6. lo. 13), Wamsärmeln (Tafel 18),
Stülpchen (Tafel 14. 20. 29. 30. 31) und Schürzen (Tafel 22) wieder-
gegeben wird, ist schlechthin über alles Lob erhaben. Diesen Ab-
bildungen gegenüber treten selbst die zeichnerisch viel vollendeteren,
koloristisch viel wirksameren Tafeln in dem Westfälischen Trachtenbuch
von Jostes entschieden zurück. Man hat bei ihnen den Eindruck,
daß viel mehr auf das malerisch und koloristisch Wirksame gesehen
worden ist und daß die minutiöse Genauigkeit der Justischen Tafeln
gar nicht angestrebt wurde. Außerdem leiden sie an einem Mangel,
den sie allerdings mit anderen Publikationen, z. B. der Hessischen
I) Zeitschr. d. Ver. /*. VoIk$kmnde 15 (1905)1 S. 199.
— 162 —
Landeshunde von Heß 1er, teilen, und der eine schärfere Hervor-
hebung verdient : die Unterschriften unter den Bildern sind von einer
solchen Unbestimmtheit, daß sie bei jeder eingehenderen Untersuchung
im Stiche lassen. Auch hier kann man nur wünschen, daß der Vor-
gang von Justi allgemein Nachahmung finde. Er stellt nicht ein
„Mädchen aus der Gegend von . . .'* oder „Frauen aus dem Kreise . . .'*
dar ^) , sondern seine Bilder sind die Wiedergabe ganz bestimmter
Einzelpersonen. Er malt die „Luise Koch aus Bottenhom " oder den
„Jörge Debus-aus Dautphe*' und bemüht sich sogar, seine Bilder
auf direkte Porträtähnlichkeit hin zu arbeiten. Das erhöht natürlich
die Zuverlässigkeit seiner Bildertafeln um ein Bedeutendes.
In dieser Beziehung dem Justischen Werke ebenbürtig ist die
Sammlung Alte Schweteertrachkn , die die Verlagsbuchhandlung von
Stämpfli & Co. in Bern herausgegeben hat ^). Die einzelnen Blätter dieser
Veröffentlichung sind Nachbildungen von Ölbildern, die der Bemer
Maler F. N. König zu Ende des XVIII. Jahrhunderts nach der Natur
gemalt hat, und die sich zurzeit als die „ Meyer -Reinhardtsche
Sammlung" im historischen Museum zu Bern befinden. Alle Bilder
sind im Original sowohl wie in der Wiedergabe mit dem Namen der
dargestellten Personen gezeichnet, und man wird der Verlagshand-
lung zustimmen, wenn sie an den Bildern rühmt: „Das Beste daran
ist, daß wir hier nicht, wie vielfach bei neueren Trachtenwerken,
kostümierte Stadtdamen und Herren vor uns haben, sondern wirkliche
T)rpen aus dem Volke, runde, frische Mädchengesichter und ver-
wetterte Männerphysiognomien, die der Maler direkt aus dem Bauern-
hause und von der Feldarbeit geholt hat."
Farbige Wiedergabe älterer Vorlagen sind auch die von Franz
Zell mit kurzem Begleittexte herausgegebenen BcMemiratkten aius
dem bayrischen Hochland. Gleichfalls farbig und darum heute noch
namentlich für die Frage nach der Entwicklung und Umbildung der
Tracht von unvermmdertem Werte sind die Abbildungen, welche den
Kronbiegelschen Schriften über die Altenburger Bauern*) in
ihren verschiedenen Auflagen beigegeben sind. Sie halten trotz der
i) In Hefilers Volkskunde findet sich unter einem Bild so|^ nar die Unterschrift:
,Mftdchen<'.
2) Die gleichfalls sehr gerOhmce, Ton Fnm Heier li herausgegebene Sammlnog:
Die Sehufeiger 2rt»ehten vom 17. bis 19, Jahrh. ist mir nicht ra Gesicht gekommen.
3) Wegen der näheren bibliographischen Angaben Terweise ich hier wie bei allen
anderen Literatarangaben auf den bibliographischen Anhang.
— 163 —
eminenten Fortschritte der Technik gerade auf diesem Gebiete sehr
gut den Vergleich mit mancher neueren Publikation aus.
Es mögen an dieser Stelle auch die Trachtenpostkarten eine
Erwähnung finden, weil sie ein besonders leicht erhältliches Mittel zur
Veranschaulichung sind. Ich meine dabei aber nicht sowohl die nach
Photographien hergestellten — ob koloriert oder schwarz — , als die
nach Zeichnungen von Künstlern angerfertigten, wie sie z. B. im Ver-
lage von Elwert in Marburg und von Gustav Mandt in Lauterbach
(Oberhessen) erschienen sind. Die Art, wie hier Künstler von der
Bedeutung eines Otto Ubbelohde und W. Thielmann die hessischen
Bauern wiedergegeben haben, ist nicht nur von künstlerischer Voll-
endung, sondern auch im Detail so gut durchgearbeitet, daß diese
billigen Karten recht gut eine viel teuerere Reproduktion ersetzen
können. Auch darauf sei verwiesen, daß die im Verlag von Velhagen
& Klasing erschienenen Monographien zur Erdkunde >) die Tracht be-
rücksichtigen und, allerdings nur schwarze, Abbildungen bringen.
Die Beschreibung der Tracht gewinnt aber nicht nur durch die
Beigabe von Schnittmustern und Abbildungen an Wert; in hohem
Grade wünschenswert sind auch Angaben über die mundartliche Be-
zeichnung der einzelnen Trachtenstücke. Aus praktischen Rücksichten
wird sich allerdings die Einitihrung eines einheitlichen Kunstausdrucks
für jedes einzelne Stück empfehlen. Denn die mundartlichen Bezeich-
nungen wechseln nicht nur oft schon von Dorf zu Dorf, sie sind auch
so unbestimmt oder von so ungewöhnlicher Bedeutung, daß eine heil-
lose Verwirrung die Folge wäre, wollte man nur sie bei der Beschrei-
bung anwenden. So kommt z. B. bei der Hinterländer Tracht im
Kreise Biedenkopf nicht nur ein Halstuch im gewöhnlichen Wortsinn,
IroKweg „Tuch" genannt, zu reichlicher Verwendung. Es existiert
noch ein anderes Trachtenstück, „Halstuch" genannt Wer könnte
aber vermuten, daß dieses „Halstuch" ein Ärmelmieder mit kurzem
RückenteU und ganz schmalen Bruststücken ist? Oder wer könnte es
dem Worte „Wams" ansehen, daß es nicht das gewöhnlich so be-
zeichnete Kleidungsstück bedeutet, sondern ledigUch ein paar kurze
Ärmelstücke, die nach Art der Schreibärmel etwa bei gewissen Ge-
legenheiten am Unterarm getragen werden? Wenn man aber für
jedes Trachtenstück eine einheitliche technische Bezeichnung gewählt
hat, können die verschiedenartigen lokalen Namen keine Verwirrung
i) Nähere Nmchweise siehe unter „Braodeobarg^S »Smchsen^<, „ Thüringen <%
„Bmjem«, „ Schweiz *<, „ Schwanwald ^^ im bibliograpfaiachen Anhang.
— 164 —
mehr anrichten. Daß sie auch mit angegeben werden, ist deshalb so
erwünscht, weil sie sowohl für die Vergleichung der verschiedenen
Volkstrachten untereinander als auch für dife Frage nach der Herkunft
der Tracht von Bedeutung sind.
Ist auf diese Weise für die Beschreibung der Tracht im allge-
meinen alles nötige Material beigebracht, so kann noch auf bestimmte
Einzelheiten näher ebgegangen werden. Sehr interessant und für die
Entwicklungsgeschichte der Tracht nicht ohne Bedeutung ist z. B. die
Frage, inwieweit die Farbe der Tracht mit den wechselnden 2^iten
des bürgerlichen und kirchlichen Jahres oder mit Veranlassungen mehr
persönlicher Natur, wie etwa Trauer, Hochzeit oder mit Standesunter-
schieden (Jungfrau, Frau, Witwe) u. a. m. zusammenhängt. Eine be-
sondere Behandlung verdient wohl auch die an den einzelnen Klei-
dungsstücken angebrachte Stickerei, und zwar nicht nur hinsichtlich
der Technik, sondern auch bezüglich der zur Verwendung kommenden
Motive. Ich begnüge mich hier mit einem Hinweis auf Justis Trachten-
buch. Justi beschreibt die Stickereien auf den Bruststücken, an den
Hemdenkollern und Ärmelbündchen sehr eingehend und geht der
Frage nach der Herkunft der meist pflanzlichen Motive mit einer be-
wundernswerten Gründlichkeit und erstaunlicher Gelehrsamkeit oft durch
Jahrhunderte hindurch nach. Er macht auch auf den Stil der Volks-
tracht aufmerksam: „Einen nicht geringen Reiz verleiht der Volks-
tracht der ihr eigene Stil, die während einer langen Zeitdauer heraus-
gebildete Zweckmäßigkeit des Schnittes, welche alle Bewegungen des
Körpers erlaubt und dessen Bildung zur Geltung bringt, sowie die
Farbenstimmung der einzelnen Stücke und der Schmuck der Ketten,
Bänder und Zutaten von Nadelarbeit *)." Es wäre in jedem einzelnen
Falle nachzuweisen, ob ein solcher „Stil" an der darzustellenden
Volkstracht erkennbar ist.
Den Abschluß der Trachtenbeschreibung wird am zweckmäßigsten
die Herausarbeitung eines Trachtentypus machen. Nur auf diese Weise
kann in die verwirrende Fülle des Details eine Übersichtlichkeit kom-
men, die eine Vergleichung der einen Tracht mit einer anderen ge-
stattet. Allerdings muß man mit der Anwendung des Wortes Typus
vorsichtig sein. Man darf nicht zu verschwenderisch damit umgehen
und nicht gleich jede Abweichung in der Form der Kopfbedeckung
oder der Haartracht für „typisch" erklären. Wir halten darum die
folgenden Ausführungen Hottenroths für durchaus verfehlt : „Bei dem
1) Hesiiachu TroMmibui^ S. 3.
— 165 —
Wort „Typus" darf man nicht an eine Sondertracht denken, die sich
von der benachbarten in jedem Stück unterschieden hätte. Ein Typus
wurde gewöhnlich nur durch ein gewisses Stück gekennzeichnet, das
besonders stark in das Auge fiel, vor allem durch die Kopibedeckung *).**
Daß sich ein Typus in allen Stücken von der Nachbartracht unter-
scheide, wird niemand verlangen. Umgekehrt aber wird man zwei
Trachten, die, im übrigen gleich, sich nur durch die Form der Kopf-
bedeckung voneinander unterscheiden, nicht zwei Typen, sondern zwei
Varianten desselben Typus nennen. Sonst erhielte man ungefähr
ebensoviel Typen als es Trachtendörfer gibt. Ich schreibe darum
auch die Unübersichtlichkeit und Verworrenheit, die Hottenroths NaS'
sauischen Volkstrachten anhaften, dem Umstände zu, daß er für jedes,
auch das kleinste Trachtengebiet, einen Typus konstatieren möchte,
und dabei doch nicht dazu gelangt, diese Typen nun als scharf um-
rissene Erscheinungen hinzustellen. Über seine Beschreibung der
Hinterländer Volkstrachten habe ich mich mit ihm an anderer Stelle
auseinandergesetzt ^ ) und dort nachgewiesen , daß er den wirklichen
Typus der Hinterländer Tracht vollständig verkannt hat. Er hat völlig
übersehen, daß als typisch für die Hinterländer Tracht die Tatsache
zu gelten hat, daß Rock und Mieder zusammenhängen, die ganze
Kleidung also von den Schultern getragen wird, während die benach-
barte Hessentracht Rock und Mieder in zwei separate Kleidungsstücke
trennt. Die Hinterländer Tracht existiert nun in mindestens vier Va-
rianten , die sich durch Kopfbedeckung, Haartracht, Schuhe, die Art,
wie das Übermieder oder die Jacke getragen wird u. a. m., scharf unter-
scheiden. Sie machen auf den ersten Anblick allerdings den Ein-
druck von verschiedenen Trachten. Der Forscher aber darf sich durch
solche oberflächlichen Eindrücke nicht irreführen lassen, sondern muß
in eingehender Untersuchung durch alles Nebensächliche hindurch
zum Typischen vordringen. Hätte Hottenroth nur einmal die Schnitte
von Rock und Mieder bei Hessentracht und Hinterländer Tracht ver-
glichen, er hätte das Typische mit Händen greifen können *).
Ist das Typische der Volkstracht festgestellt, so kann für die wei-
tere Untersuchung eine g^te Vorarbeit geliefert werden, wenn man die
i) Nassauischet TrachttvtJbuch S. 26.
a) Nassovia VII, 1906, Nr. 16.
3) Was ich hier am Nassanischen Trachtenbach aassteUe, gilt auch fUr manche
andere neuere Publikation. J a s t i arbeitet auch hier mustergültig ; er bringt auch Schnitt-
muster. Im übrigen muß ich mich natürlich bei der Auswahl von Beispielen zur lllostra-
tion meiner Ausführungen auf besonders drastische Fälle beschränken.
— 156 —
Grenzen der einzelnen Trachtentypen in einer Übersichtskarte
zur Darstellung' bringt. Die Vergleichung der Trachtengrenzen mit den
früheren und jetzigen politischen Grenzen geben Daten, die bei der
Frage nach der Entwicklung der Tracht sehr wichtig sind.
Ehe wir aber darauf eingehen, müssen wir hervorheben, daß mit
dieser Beschreibung der Tracht, wenn sie auch noch so eingehend
und noch so gut illustriert ist, die Aufgabe der Trachtenkunde bei
weitem noch nicht erschöpft ist. Es scheint diese Meinung allerdings,
nach verschiedenen Trachtenwerken zu urteilen, weit verbreitet. Be-
sonders bedauern wir, daß auch Hottenroth in seinen Nassauischen
Volkstrachten, abgesehen von einer kurzen einleitenden Übersicht über
die Geschichte der Bauerntracht, sich mit der allerdings sehr de-
taillierten Beschreibung begnügt hat. Denn seine sonstigen Publi-
kationen, auf die wir gleich zu sprechen kommen, zeigen, daß er das
Gebiet der historischen Kostümkunde in ungewöhnlichem Maße be-
herrscht, und berechtigen zu Erwartungen, die diese seine neueste
Publikation in keiner Weise erfüllt. Die Beschreibung der Tracht stellt
doch immer erst nur das Rohmaterial dar, das nun bearbeitet
werden muß. Hier beginnt erst die eigentliche Arbeit des Trachten-
forschers. „Die verschiedenen Teile der Tracht haben sich zu ver-
schiedenen Zeiten festgesetzt oder haben sich länger behauptet als
andere. Es ist daher Aufgabe der wissenschaftlichen Trachtenkunde,
das Alter und die Herkunft der einzelnen Teile der volkstümlichen
Kleidung zu bestimmen')." Mit anderen Worten: es g^ilt, nun den
Zusammenhang mit der allgemeinen Kostümgeschichte herzustellen.
Wenn wir die heutigen Volkstrachten und die jetzige Modetracht
nebeneinander stellen, tut sich zwischen beiden eine unüberbrückbare
Kluft auf. Eine Stadtdame letzter Mode und ein Bauemmädchen, —
wer sollte es für möglich halten, daß die Kleidung beider jemals etwas
Gemeinsames gehabt haben könnte ? Und doch führt von beiden eine
Entwicklungsreihe nach rückwärts bis zu einem gemeinsamen Aus-
gangspunkt. Die Fäden dieser Entwicklung aufzufinden, die Mittel-
glieder festzustellen, ist die eigentliche Angabe der wissenschaftlichen
Trachtenkunde. Wir können diesen Fragen im einzelnen nicht nach-
gehen. Es muß genügen, wenn wir die Aufgabe umschreiben und
auf einige Hilfsmittel der Forschung verweisen. Neben allgemeinen
kostümgeschichtlichen Werken, wie dem von Weiß *) und der Mono-
graphie von Büß'), die auch die Volkstracht berücksichtigen, nennen
1) Jntti, HestiteheB TraekUfif^udi S. i6.
2) Siehe den bibliographischen Anhang.
— 167 —
wir hier hauptsächlich die Publikationen von Hottenroth und den
Lipperheideschen Katalog. Hottenroth hat seine umfassenden und
gründlichen Forschungen in drei Werken niedergelegt: Trctchten,
Haus-, Feld- und Kriegsgeräthschaften der Volker Alter und Netter
2jeü; Handbuch der deutschen Tracht und Deutsche Volkstrachten —
Städtische und Ländliche — vom XVL Jahrhundert an bis 0um XIX.
Jahrhundert, Die Titel geben schon eine Vorstellung von der ver-
schiedenen Abgrenzung des Stoffes, die die drei Werke unterscheidet.
Am weitesten steckt das erste seine Grenzen ; es umfaßt nicht nur die
europäischen und die außereuropäischen Völker, sondern berücksich-
tigt neben der Tracht auch die Geschichte der Geräte und Waffen.
Die beiden anderen Werke unterscheiden sich dadurch, daß das letzte
ausschließlich der Volkstracht gewidmet ist, während das zweite auch
die Tracht der anderen Stände in seinen Bereich zieht. Wir gehen
auf die Deutschen Volkstrachten (Verlag von Heinrich Keller, Frank-
furt a. M., 3 Bände) etwas näher ein. Nach einer kurzen einleitenden
Übersicht (I, i — ^4) g^bt der Verfasser zunächst eine Geschichte der
Bauemtrachten vom XVI. bis IX. Jahrhundert (I, 4 — 51), in der er die
Entwicklung eines jeden einzelnen Kleidungsstückes sowohl beim männ-
lichen wie beim weiblichen Geschlecht durch den genannten Zeitraum
hindurch verfolgt. Hosen, Strümpfe, Schuhe, Stiefel, Hemd^ Hals-
binde, Kragen, Kittel, Schecke, Schaube, Wams, Weste, Mantel, Mütze,
Barett, Hut, bei den Frauen Rock, Leibchen, Jacke, Mieder, Koller,
Brustlatz, Strümpfe, Schuhe, Schürze, Mantel, Kopf hülle, Haube, Frisur,
Schmuckstücke, Handschuhe, Täschchen werden der Reihe nach ein-
gehend besprochen. Unterstützt wird die Darstellung durch eine
Fülle trefflicher Abbildungen und Schnitte, die alle auf alte und älteste
Quellen oder bekannte Sammelwerke zurückgehen und dadurch be-
sonders wertvoll werden, daß die Quelle, aus der sie genommen sind,
stets angegeben ist. Es folgen die „Trachten nach den einzelnen
G^enden", und zwar Elsaß -Lothringen (I, 51 — 80), die Pfalz und
Rheinhessen (I, 81 — 87), Baden, Württemberg und die deutsche
Schweiz (I, 81 — 126), der Maingau (I, 127 — 153), Bayern (I, 154 — 223),
das westliche Mitteldeutschland (Braunschweig, Westfalen, Hessen,
Rheingau, Köln; II, 1—88), die nord westdeutsche Tiefebene (Holland,
Niederrhein, Friesland, Schleswig -Holstein, Hamburg, Eibniederung;
II, 88—218), das nordöstliche Deutschland (III, i — 13), Mecklenburg
(in, 13 — 28), die sächsischen Staaten (III, 29 — 76), Preußen, östliche
Hälfte (Halloren, Brandenburg, Pommern, Ost- und Westpreußen, Li-
tauen, Schlesien; III, 76^133), Deutsch-Böhmen (III, 134 — 151) und
n
— 168 —
eine sehr reichhaltige Nachlese zu allen früheren Abschnitten (III,
151 — 222). Ein Quellenreg^ster, eine Übersicht der Abbildungen und
Farbentafeln, sowie ein sorgfältiges Sachregister zu allen drei Bänden
bilden den Schluß des dritten Bandes. Besondere Hervorhebung ver-
dienen die prachtvollen Farbentafeln mit Trachtenabbildungen, deren
jeder Band 48 enthält. Sie sind ebenso wie die zahlreichen Text-
abbildungen von einer minutiösen Sorgfalt, die jedes Lobes würdig
ist. Die Art, wie auch die entferntesten Quellen wie Kalender, Städte-
ansichten, Landschaftsbilder herangezogen und ausgenützt sind, macht
diese Bände zu einem Standard worh der Trachtenkunde, das für
jeden Forscher unentbehrlich ist. Was man oft bei zeitraubendster
Nachforschung in den Bibliotheken nicht finden würde, hat man hier
alles fein säuberlich gesammelt und geordnet vor sich.
Indessen wird man doch bei eingehenderen Untersuchungen auf
die Originalquellen selbst zurückgehen müssen. „Die Originalquellen
in Schrift und Bild gewinnen vom XVI. Jahrhundert ab an Umfang
und Bedeutung, an Sorgfalt und Zuverlässigkeit. Es sind, zu den viel-
fach zerstreuten Nachrichten in Chroniken, Städteordnungen, Aufwand-
gesetzen, Predigten, satirischen Schriften, Reisebeschreibungen, Einzel-
notizen, Memoiren usw. bis gegen die Mitte des XVI. Jahrhunderts die
Werke gleichzeitiger Künstler, Bildhauerarbeiten und Schnitzereien,
Gemälde, Holzschnitte, Kupferstiche, als noch insbesondere die häu-
figen bildlichen Darstellungen der zurzeit gedruckten Schriften. Diese
Quellen setzen sich in die zweite Hälfte des Jahrhunderts fort, ver-
lieren aber unter dem Einflufi der nunmehrigen Renaissance, durch
Einmischung und Nachahmung von altrömischen Kostümformen, an
sachlicher Treue und Genauigkeit. Dagegen, mit infolgedessen, macht
sich jetzt das Bestreben geltend, die Trachten auch der verschiedensten
Völker ihrer wahren Beschaffenheit nach kennen zu lernen, und diese
Kenntnisse allgemeiner nutzbar zu machen. Es entstehen Sammlungen
von Trachten, sogenannte Trachtenbücher, deren Zeichner oder Ver-
fasser sich alsbald selbst die Aufgabe stellen, auch die Trachten ver-
gangener Zeiten, nach Maßgabe ihnen bekannter Denkmale möglichst
genau zu vergegenwärtigen *). Im XVIII. Jahrhundert verlieren die
Städteordnungen, Aufwandgesetze u. dgl. an Umfang und Bedeutung.
Auch die Memoiren ziehen sich enger zusammen; dagegen liefern
nunmehr die , Reisen* mit ihren , Briefen, Beobachtungen, Schilde-
rungen der gesellschaftlichen Zustände' usw. zunehmend reicheren
Stoff. Die Trachtenbücher lösen sich immer mehr zu losen ,Trachten-
I) Weii, Kottümkimde. Zweite AbteUanf (1872). S. 525 Anm.
— 169 —
Folgen ' und Einzelblättern auf, während nach diesem Zeitpunkt diese
Folgen und Blätter selbst sich allmählich zu eigentlichen ,Zeit- und
Modebildern* gestalten. Mit den dann zuerst in Deutschland auf-
tauchenden jTaschenkalendern * und »Taschenbüchern* werden zu-
gleich derartige Darstellungen zu einem fortlaufenden Bestandteil der-
selben *).**
Ein unentbehrlicher Führer durch diese Menge von Quellenmate-
rial ist der Katalog der Freiherrlich von Lipperheideschen Sammlung
für Kostümwissenschaft, dessen „Dritte Abteilung: Büchersamm-
lung** in zwei stattlichen Bänden mit zahlreichen Abbildungen zuerst
erschienen ist *;. Der Berliner Verleger Franz Lipperheide, um seiner
Verdienste um die Kostürawissenschaft willen in den Freiherrenstand
versetzt, hat in jahrelanger systematischer Sammelarbeit eine hervor-
ragende kostümgeschichtliche Bibliothek zusammengebracht, die er
dem preußischen Staate zum Geschenk machte und die jetzt vom
Königlichen Kunstgewerbemuseum verwaltet wird. Die Sammlung
umfaßt Bilder, Einzelblätter, Bücher, Almanache, Zeitschriften. Um
ein Bild von der Reichhaltigkeit der Sammlung zu geben, notieren
wir einige Zahlen: Die Abteilung Einzelblätter besteht aus 2750 Hand-
zeichnungen, 23 750 Kupferstichen, Holzschnitten, Lithographien, 2580
Photographien; an Zeitschriften sind 185 Modezeitungen \n 1620 Jahr-*
gangen vom Jahre 1777 an, 30 illustrierte Zeitungen allgemeinen In*
halts in 4io Jahrgängen, 25 Zeitschriften für Kunst und Gewerbe in
155 Jahrgängen vorhanden. Kataloge der Bilder und Einzelblätter,
sowie der Almanache und Zeitschriften sind in Vorbereitung. Der
zuerst erschienene Bücherkatalog enthält 4818 Nummern, außer zahl-
reichen Nachträgen. Aus der Inhaltsübersicht heben wir hervor i
I. Allgemeine Trachtenkunde (Werke des XVI., XVII., XVIII. XIX;
Jahrhunderts) 98 Nummern; II. Die Tracht im Altertum (die alten
Völker des Orients, Griechenland und Italien bis zum Untergang des
römischen Reichs, die Völker in Mittel- und Nordeuropa bis zur Völker-
wanderung) Nr. 99 — 309; III. Die Tracht im Mittelalter und in der
Neuzeit (in einzelnen Perioden und in einzelnen Ländern) Nr. 310 —
1641 ; IV. Einzelne Teile der Tracht (Haartracht, Kopfbedeckung,
Halsbekleidung, Handschuhe, Schnürbrust und Reifrock, Fußbeklei-
dung, Schmucksachen) Nr. 1642 — 1756; V. Die Tracht einzelner Stände
(Herrscheromat, Hof- und Amtstrachten, geistliche Tracht, Ordenstracht,.
i) Weifi, a. a. O., S. 1205 Anm.
3) Berlin, Frans Lipperheide, 1896 — 1905.
— 160 —
die bürgerlichen Stände, die Krieg^tracht, Waffen) Nr. 1757 — 2467;
VI. Die Tracht für besondere Veranlassungen (Festlichkeiten, Leibes-
übungen und Spiele, Theater-, Phantasie- und Maskenkostüme) Nr. 2468
— 3233; VII. Ästhetik und Hygiene der Tracht Nr. 3234 — 3320; VIII.
Gesetze und Verbote (Kleiderordnungen) Nr. 3321 — 3423; IX. Streit-
schriften und Satiren auf die Tracht; Karikaturen und Spottbilder
Nr. 3424 — 3726; X. Die Künste und Gewerbe im Dienste der Tracht
(Schneiderei, textUe Kunst, Ausschmückung des Hauses) Nr. 3727 —
4439; XI. Almanache, Zeitschriften Nr. 4440 — ^4818. Der Katalog ist
nicht nur ein unentbehrliches bibliographisches Hilfsmittel, das in
der Genauigkeit seiner Angaben allen berechtigten Anforderungen
vollkommen genügt und bei selteneren Werken und Handschriften
eine eingehende bibliographische Beschreibung g^ibt Es ist für den
Forscher auch insofern unersetzlich, als es darüber Auskunft gibt, ob
ein bestimmtes Werk in der Lipperheideschen Sammlung vorhanden
ist und ihm zur Benutzung freisteht.
Wenn man nun das Alter und die Herkunft der einzelnen Trachten-
stücke nach rückwärts verfolgen will, bis man in der Modetracht frü-
herer Jahrhunderte ein mehr oder weniger getreues Vorbild von ihnen
findet, so muß man, um nicht irre zu gehen oder vergebliche Ver-
suche anzustellen, zwei Tatsachen berücksichtigen, die sich immer
aufs neue wieder bestätigen: Die Tracht des Volkes ist kein
einheitliches Ganzes und die Tracht ist nicht unverän-
derlich.
Die Tracht ist kein einheitliches Ganzes. Altes und Neues, Äl-
testes und Neuestes findet sich in ihr nebeneinander. Man kann dort,
wo die Tracht noch lebendig ist, zahlreiche Beispiele aus neuester Zeit
anfuhren. So ist der „ Motze **, die Jacke, welche die Frauen im ehe-
maligen Amt Biedenkopf und den angrenzenden Dörfern tragen, erst
im XIX. Jahrhundert aufgekommen. Vorher trug man zur Bedeckung
der Hemdärmel das „Halstuch" (vgl. bei Justi Tafel XVII); erst un-
serer verweichlichten Zeit war diese luftige Bekleidung, z. B. in der
kalten Kirche, nicht mehr warm genug. Femer haben die Hinter-
länder Mädchen , die den Sommer über auf den Höfen der Wetterau
arbeiten, von dort eine Schürze eingeführt, die zu der hiesigen schwarzen
Tracht absolut nicht paßt und trotzdem sich immer weiter verbreitet
Genau so steht es in anderen G^enden. So berichtet Bracht in den
Mitteilungen des Museums für Volkstrachten, Heft i : „ Man glaubt [in
der hoch aufgebauten Hümlinger Tüllmütze] einen Rest altertümlicher
Volkstracht vor sich zu haben. Und doch ist dem nicht so. Volks-
— 161 —
tracht ist es zwar; . . . aber altertümlich ist sie nicht Die . . . Hauben
sind genau nach der 1895 er Mode von der Ortsputzmacherin her-
gestellt. . . . Die Federn sind erst seit kurzem an der Tagesordnung/'
In der heutigen Bückeburger Tracht fallen die riesigen Flügelhauben
auf, „ohne die man sich jetzt ... die Bückeburger Frauentracht gar
nicht mehr vorstellen kann/' Und doch ist diese Flügelhaube erst
„Mitte der 1870er Jahre aufgekommen; sogar die Näherin konnte
noch festgestellt werden, die mit ihrer Anfertigung begonnen hat''
(Jostes, a. a. O. S. 189 f.). Um noch ein Beispiel aus der männlichen
Tracht anzuführen, erwähne ich die blaue Bluse, von der Jostes be-
richtet, daß sie erst im zweiten Viertel des XDC. Jahrhunderts von
Süden her in Westfalen eindrang (a. a. O. S. 163). Diese Beispiele
zeigen, daß die Trachtenstücke, die heute gleichzeitig getragen werden,
sehr verschiedenen Alters sein und oft aus weit auseinanderliegenden
Perioden der Mode stammen können. So sehr ich daher die Sach-
kenntnis Justis schätze, muß ich doch, gestützt auf diese Vorgänge
aus neuester Zeit, ein Fragezeichen machen, wenn er schreibt: „Es
kann ... die kirchliche Tracht der Männer nur in ihrer Voll-
ständigkeit aus der Stadt aufs Land verpflanzt sein; und es ist un-
denkbar, daß der aus der Mitte des XVIII. Jahrhunderts stammende
Kirchenrock in die ältere Tracht des XVI. und XVII. au^'enommen
worden wäre, ohne auch die Einführung der zugehörigen Beinkleider
mit sich zu bringen" (S. 8a). Jedenfalls wird man sich stets die
Möglichkeit vor Augen halten müssen, daß die Trachtenstücke, die
man vorfindet, zu sehr verschiedenen Zeiten aus der Mode in die
Volkstracht übernommen worden sind.
Und ebenso muß man die Veränderlichkeit der Tracht be-
achten. Ein jedes Trachtenstück hat eine mehr oder weniger durch-
greifende Veränderung durchgemacht. Schon bei der Übernahme in
die Volkstracht bleibt es nicht unverändert. „Es dauert oft lange,
bis das Auge alle Einzelheiten der Tracht richtig sieht und ihre Vor-
bilder im Wechsel früherer Moden wiederzufinden vermag, welche bei
ihrem Übergang in die Tracht gewissen von den Bedürihissen der
ländlichen Arbeit und von der auf dem Lande herrschenden Ein-
fachheit gebotenen Veränderungen unterworfen zu werden pflegen" *).
Den Einfluß der Mode auf dem Lande darf man nicht unterschätzen.
Zwar geht der Wechsel hier langsamer vor sich als in der Stadt*);
und seit dem letzten Drittel des XVIII. Jahrhunderts hat die Tracht
I) He$$. Trachtenbueh S. 13b.
i) Jottes, a. m. O. S. 161 f.
12
— 162 —
eine durchgreifende Veränderung' nicht mehr erfahren*). Aber
ganz unverändert ist darum die Tracht nicht geblieben. Die
lebenden Trachten zeigen noch heute diese Beweglichkeit, und auf
die Frage, warum dies oder jenes Stück jetzt anders getragen werde
als früher, erhält man die sehr charakteristische Antwort: „Das ist
nicht mehr Mode.*' Ein französischer Emigrant hat das schon im
XVIII. Jahrhundert an der westfälischen Stirnbinde beobachtet, „welche
in ihrem oberen Teile bis unter die Mütze reicht. Ehemals war diese
Binde von weißem Linnen und lag mit dem Rande auf den Augen-
brauen. Allmählich hat sie sich zurückgezogen, und jetzt ist sie kaum
noch einen Daumen breit. Der Luxus hat auch einen Wechsel des
Stoffes gebracht : jetzt ist es mehr oder weniger sichtbare Kante, bald
wird auch die Kante verschwinden und das Stirnhaar sichtbar werden.
Einige kühne Frauen haben dies in ihren Dörfern bereits vorgemacht
und die Kante in Fältchen auf beiden Seiten der Mütze als Verzie-
rung angebracht*'*). Genau derselbe Vorgang des „Einschrumpfens"
eines Trachtenstückes liegt bei dem im Hinterland noch jetzt üblichen
„Wams", einem Ärmelpaar*), vor, dem letzten Rest des früher ge-
bräuchlichen vollständigen Kleidungsstückes *). Den umgekehrten
Prozeß hat die münsterländische „Twigpandsmüske** durchgemacht,
die aus einer anliegenden Haube durch das Einschieben einer Papp-
scheibe sich immer mehr vergrößerte, so daß schließlich der hintere
Teil den Kopf wie eine Art Heiligenschein umgab *).
Wird durch diese beiden Umstände das Auffinden der Trachten-
originale in der Zeitmode erschwert, so haben sich doch auch ein-
zelne Kleidungsstücke völlig unverändert erhalten. Das gilt nament-
lich von solchen, die bei besonderen Anlässen getragen werden.
Weil das Ungewöhnliche auch besonders feierlich erscheint, hat sich
eine sonst völlig verschwundene Tracht oft noch als Festtracht, Abend-
mahlskleidung, Trauertracht u. a. m. erhalten ®). Eine bekannte Parallele
für diese Erscheinung ist unsere heutige Hoftracht, deren Kniehosen,
Wadenstrümpfe und Schnallenschuhe aus dem täglichen Leben längst
verschwunden sind.
i) Jnsti, S. 9b.
2) Jostes,a. a. O. S. 162.
3) Vgl. Justi, Tafel XVUL
4) Justi, S. 33. 45a-
5) Jostcs, S. 164 f. Weitere Beispiele von Veränderung der Tracht siehe bei
Tetzner, Slawen in Deutschiand, S. 306. 361.
6) Vgl. Justi, S. 8a. 38b. 40b.
— 168 —
Ein Hilfsmittel für dieses Aufsuchen der Verbindung^sfäden nach
rückwärts sind neben den eigentlichen Trachtenbüchem die Darstel-
lungen zeitgenössischer Künstler, die ja jetzt in den verschiedensten
Sammlungen zugänglicher gemacht sind. Was dieses anscheinend so
spröde Material herzugeben vermag, wenn man es ausgiebig befragt,
zeigt Justi, der sich keine Mühe hat verdrießen lassen, auch die ent-
legendsten Quellen heranzuziehen. Bei einigen seiner Tafeln hat er
den originellen Einfall, die betreffende zeitgenössische Darstellung als
WandbUd in die Bauernstuben zu hängen *). Das wirkt sehr instruktiv
und überzeugend.
Man wird sich aber stets bewußt bleiben müssen, daß diese Auf-
hellung der Vergangenheit niemals vollständig sein kann. „Die Zu-
sammensetzung der Volkstracht aus zeitlich verschiedenen Teilen in
Verbindung mit den für die ländlichen Verhältnisse erforderlichen
Veränderungen erklärt die Tatsache, daß die ländliche Tracht niemals
ein genaues Vorbild in der modischen Kleidung hat** *). Dazu kommt,
daß man die Herleitung der Volkstracht aus der Modetracht „nicht
in dem ganzen Umfange der Tracht verfolgen kann, weil die Trachten-
bücher meist zum Schaden der Gründlichkeit zu große Zeiträume um-
fassen und sich auf zu zahlreiche Länder erstrecken** *). Man begegnet
darum auch immer wieder den Versuchen, die „Originalität** der
Volkstracht zu retten, indem man ihre Herkunft aus der Modetracht
gewisser Epochen leugnet Besonders bedauerlich ist es, wenn sich
sogar in den Mitteilungen des Museums für Volksirachten folgende
pathetische Deklamationen finden: „Es sollte wohl schwer sein, in
der höfischen Tracht vergangener Jahrhunderte das Vorbild für die
Tracht der Oberbayem, der Meraner Saltner, der Mädchen und Frauen
von Bückeburg, von Altenburg, der Vierlande usw. nachzuweisen.
Und selbst wo einmal ein dreispitziger Hut, ein langer, mit blanken
Knöpfen besetzter Rock, ein Goldhäubchen als Überbleibsel einer
höfischen Tracht gedeutet werden könnte, da ist es doch in den meisten
Fällen nur ein einzelner Bestandteil des Anzuges, während sich das
übrige Kostüm als echte Volkstracht erweist***). Diese Ausfuhrungen
beweisen nur, wie viel Mißverständnisse noch zu beseitigen sind, ehe
die Trachtenkunde allgemein auf wissenschaftlichen Boden gestellt ist.
I) Tafel IX. XVIL
a) Justi, S. 15.
3) Ebd. S. 5.
4) S. 277.
12*
— 164 —
Die Tatsache, dafi die heutige „Kleidung' des Landvolkes nicht
von diesem erfunden ist, sondern die zu irgendeiner Zeit stehen geblie-
bene Mode zeigt, die sich nur wenig dadurch von der städtischen
entfernt hat, daß sie den Anforderungen der ländlichen Arbeit gemäß
verändert isf ^), läßt sich durch zu zahlreiche Beispiele belegen, als
daß sie mit Erfolg bestritten werden könnte. Darüber, wann dieses
Stehenbleiben der Mode auf dem Lande eingetreten ist, läßt sich im
allgemeinen nur sagen, daß es im Laufe des XVII. und XVIII. Jahr-
hunderts erfolgte. Bis dahin erhielt sich die im XVI. Jahrhundert
aufgekommene ländliche Tracht '). Dann aber „ blieb die Mode der
weniger bemittelten Stände oder der Bewohner kleiner Städte . . .
stufenweise zurück, sie wurde altmodisch, bis sie eine so von der
modischen verschiedene Erscheinung angenommen hatte, daß ein Zu-
sammenhang zwischen beiden nicht mehr zu erkennen isf '). Auch
die große Mannigfaltigkeit der Volkstrachten ändert an diesem Er-
gebnis nichts, denn sie „rührt daher, daß einzelne Bestandteile der
modischen Kleidung sich zu verschiedenen Zeitpunkten in der Volks-
tracht befestigt oder sich länger als andere behauptet haben'* ^).
Für das Festwerden der Modekleidung in der Volkstracht Bei-
spiele anzuführen, würde über den Rahmen dieser Skizze hinausgehen.
Wir verweisen auf die wiederholt zitierten Trachtenbücher *) und
erwähnen nur zwei besonders charakteristische Fälle. Der eine be-
trifft die Brautkrone, „ deren allmähliches Herabsinken vom Adel zum
Bürger- und schließlich zum Bauernstande die Einwirkung der städti-
schen Mode auf die Volkstracht veranschaulicht; am Schlüsse des
XVI. Jahrhunderts war die Krone in Lüneburg noch ein ausschließ-
liches Vorrecht der Sülfmeistertöchter und der Töchter von den Ge-
schlechtem" ^). Und sogar auf ausländischen Einfluß führt Jostes die
„eigenartigen, aus aufgenähten Goldplättchen hergestellten Stickereien"
der münsterländischen Hauben zurück, die zuerst von französischen
Emigrrantinnen angefertigt sein sollen. Er hält es auch für möglich,
daß die Form der dortigen Hauben, die den im Rheinland üblichen
Brabänter Hauben ähneln, ebenfalls vom Auslande her beeinflußt
worden ist ^). Um zu zeigen, wie sehr hier die Untersuchung ins De-
1) Jnsti, S. 5.
2) Ebd. S. 8.
3) Ebd. S. 15.
4) Vgl. mach Zeitsehr. d. Ver. f. Volk$hund€ XV, S. 196.
5) A. m. O. Xn, S. 473-
6) Westfäi, Irachtenbuch S. 150.
— 166 —
tail gehen muß, wie viel sich aber auch dadurch eruieren läßt, geben
wir noch kurz einige Resultate der Justischen Forschungen. Im „Büffel"
der Biedenköpfer Tracht findet er die Form des altdeutschen Hemdes
wieder (S. 17); der Vorstecklatz kommt im XV. bis XVII. Jahrhun-
dert in der Modetracht vor (S. 20); das „Oberhemd" im XVI. (S. 18),
ebenso die feingefaltelten Röcke (S. 22). Die Form der Schuhe — zwei
Seitenlaschen mit Mittelzunge — war im XVII. und XVIII. Jahrhun-
dert allgemein üblich. Die Kappe des Breidenbacher Grundes er-
innert ihn an die brabantischen Mützen des XV. und XVI. Jahrhun-
derts (S. 13. 24. 29); für die „ Schneppekapp " des Amtes Blanken-
stein findet er gar in der italienischen Mode des XV. und XVI. Jahr-
hunderts VorbUder (S. 38); während die Trauermäntelchen der Frauen
der niederländischen, auch am Niederrhein üblichen Hoike ähneln (S. 39).
Für das „Halstuch" geht er bis auf das altdeutsche henfin ärmeUuch
zurück und belegt das Vorhandensein dieses Kleidungsstückes aus
zahlreichen Quellen des XIII., XIV. und XV. Jahrhunderts (S. 31 f.)-
Gehen wir nun diesem Erstarrungsprozeß der flüchtigen Mode
etwas weiter nach, so tut sich uns sofort eine Fülle von Einzelfragen
auf, deren Lösung oft nicht geringe Schwierigkeiten macht, und bei
denen man sich vor vorschnellen Vermutungen besonders ängstlich
hüten muß. Sie hängen alle mehr oder weniger eng mit der Tat-
sache zusammen, daß die Volkstrachten alle ein ganz bestimmt um-
grenztes Gebiet beherrschen und an den Grenzorten ganz unvermittelt,
ohne jeglichen Übergang, auf eine völlig andersartige Tracht stoßen.
Wie ist diese Tatsache zu erklären? Der größte Fehler, den man
begehen kann, ist der, eine allgemein gültige Erklärung zu suchen.
Man wird vielmehr in jedem einzelnen Fall genau nachforschen müssen,
weil der Gründe für diese lokale Begrenzung der Trachten natürlich
sehr viele sind und in der Regel die lokale Begfrenzung auch lokal
bedingt ist.
Der nächste Grund, auf den die dilettantische Nachforschung
immer wieder verfallt, ist die ethnographische Verschiedenheit der
Bewohner. Es ist ja auch so einleuchtend: in der Tracht prägt sich
ebenso wie im Hausbau und in der Mundart die Verschiedenheit des
Volkstums aus: hier Franken, hier Alemannen, hier Thüringer, hier
Bayern, hier alte Keltenreste usw. Aber es fehlt für diese Behaup-
tung jegliche sachliche Begründung. Die Dialektforschung weiß das
schon lange; die Hausforschung beginnt ihre Terminologie danach
einzurichten und die Bezeichnungen „fränkisches", „sächsisches" usw.
Haus durch geeignetere zu ersetzen. Auch die Trachtenforschung
— 166 —
wird den Gedanken an eine ethnographisch bedingte Verschiedenheit
der Trachtentypen als unstatthaft und unrichtig abweisen müssen^).
Dagegen tritt es immer deutlicher hervor, welche tief in das Volks-
leben einschneidende Rolle in früherer Zeit die politischen Grenzen
gespielt haben. Genau wie bei den Mundarten sind auch bei den
Trachten die jetzigen Grenzen vielfach nichts anderes als die früheren
politischen Grenzen. Diese Tatsache ist gar nicht so auffallend. Wenn
man die Abgeschlossenheit der Dörfer bedenkt, deren Verkehr sich
meistens auf die in der Nähe gelegene Amtsstadt beschränkte, und
die Rivalität und Feindschaft erwägt, die oft zwischen zwei benach-
barten kleinen Territorien herrschte, wird man es erklärlich finden,
daß ein Teil die im anderen Teil aufkommende Tracht bewußt ab-
lehnte. So besteht noch heute zwischen dem ehemaligen Kurhessen
und dem Großherzogtum Hessen eine solche Abneigung, daß „es für
ein Mädchen aus einem Grenzdorf unmöglich ist, die Kleidung von
der anderen Seite der Landesmark anzulegen " •). In Westfalen konnte
der blaue Kittel anfangs des XIX. Jahrhunderts nicht über die nörd-
liche Grenze des Münsterlandes hinausdringen, weil man ihn jenseits
der Grenze für ein spezifisch „preußisches" Kleidungsstück ansah*).
Im Breidenbacher Grund im Kreise Biedenkopf fallen nicht nur die
Grenzen nach außen hin, sondern auch die Grenzen der beiden Va-
rianten des Breidenbacher Typus mit früheren politischen Grenzen zu-
sammen, die sich in einer eigentümlichen Rechtsordnung bis ins
XIX. Jahrhundert lebendig erhielten *). Die Marburger Tracht konnte
sich erst nach Westen hin ausbreiten, als nach 1866 der angrenzeijide
Kreis Biedenkopf gleichfalls preußisch geworden war und die frühere
Grenze sich zu verwischen begann *). Dieselben Beobachtungen lassen
sich in Westfalen **) und anderwärts machen. Man wird also stets in
erster Linie die früheren politischen Verhältnisse eines Bezirks zur
Erklärung der in ihm vorhandenen Trachtengrenzen heranziehen
müssen.
Neben diesem Erklärungsgrund pflegt man als einen ebenso wich-
tigen die konfessionellen Verschiedenheiten zu stellen und die Trachten-
grenzen als konfessionell bedingt anzusehen. Es läßt sich nicht leugnen,
i) Vgl. Jnsti S. 10. II.
i) Ebd. S. 13.
3) Jostes, S. 163.
4) Justi, S. 13.
5) Ebd. S. laf.
6) Joites, S. 170. 181.
— 167 —
daß dieses Moment eine Rolle spielt. So kann man in Westfalen die
Beobachtung' machen, daß die Sitte, die Hauben zu besticken, sich
auf die rein katholischen Gegenden beschränkt. Der Grund dafür
lieg^ darin, daß die Kunst der Stickerei hauptsächlich in den Frauen-
klöstem gepflegt ward, den protestantischen Landleuten also diese
Quelle der Anregung nicht zugänglich war ^). Indessen wird man gut
tun, mit diesem Moment nicht allzu ausgiebig zu operieren. In den
meisten Fällen nämlich, wo man Trachtengrenzen und konfessionelle
Grenzen als identisch ansieht, geschieht dies zu Unrecht. Gewiß, die
Beobachtung an sich ist richtig : die beiden Grenzen fallen zusammen.
Aber die Trachtengrenze ist nicht durch die konfessionelle Verschie-
denheit bedingt. Das konfessionelle Moment ist vielmehr sekundärer
Natur; und die beiden Grenzen haben eine gemeinsame Quelle: die
politische Grenze. Heutzutage ist meist die politische Grenze ver-
schwunden und nur die konfessionelle Verschiedenheit übrig geblieben,
und dadurch läßt man sich irreführen. Das eigentlich Trennende aber
ist die verschiedene Territorialität, und nicht die verschiedene Kon-
fessionalität, die erst selbst wieder die Folge jener ist nach dem Grund-
satz: Cuius regio eins religio. Im Marburger Kreis unterscheiden sich
die katholischen Dörfer nach Amöneburg zu in auffälliger Weise von
der Tracht der übrigen Bewohner. Aber mit der Verschiedenheit der
Konfession hat das nichts zu tun. Denn die katholischen Dörfer
waren früher kurmainzisch , und so lautet der Gegensatz, der sich
heute noch in der Tracht ausspricht, nicht: hie evangelisch, hie ka-
tholisch, sondern: hie hessisch, hie mainzisch. Ganz richtig hat dies
Jostes in einem ähnlichen Fall erkannt*). Ganz besondere Vorsicht
ist der konfessionellen Farbensymbolik gegenüber angebracht, wie sie
z. B. Hottenroth im Nassauischen TracMenbtich vertritt. Sie ist recht
zweifelhafter Natur; denn während hier die Katholiken die hellen, die
Protestanten die dunkeln Farben bevorzugen sollen, ist es anderwärts
gerade umgekehrt.
Abgesehen von einzelnen Ausnahmefällen wird man also die an-
geblich konfessionell bedingte Verschiedenheit der Tracht noch einen
Schritt weiter rückwärts verfolgen können und dann wieder auf das
erstgenannte Moment, die alten politischen Grenzen, stoßen, und da-
mit in den meisten Fällen das Rechte getroffen haben. Die Möglich-
keit einer anderen Erklärung ist natürlich unbegrenzt. Nur die sorg-
1) Ebd. S. 149 f.
2) A. a. O. S. 153.
— 168 —
same Untersuchung jedes einzelnen Falles, ohne jede vorgefaßte Mei-
nung, kann zur Entscheidung führen. Natürlich kann auch die ethno-
graphische Erklärung richtig sein, wenn sich nämlich geschichtlich
nachweisen läßt, daß da zwei verschiedene Stämme nebeneinander
wohnen. Das gilt vom Kreise Delbrück, dessen Bewohner im XI.
oder XII. Jahrhundert von den Paderbomer Bischöfen dorthin gerufen
wurden, um den sumpfigen Senneboden zu kultivieren und die jetzt
noch zu den umwohnenden Paderbomem auch in der Tracht einen
bewußten Gegensatz bilden*). Ähnlich lieg^ es, wo nachweislich
wendische Bevölkerung eingesprengt ist. Aber dieser historische Nach-
weis wird stets gefordert werden müssen. Denn sonst bleibt's bei
vager Vermutung ohne Wert. Auch der Fall ist möglich, daß zwei
verschiedene Trachten zwei verschiedene Entwicklungsstufen derselben
Tracht sind *). Ebenso spielen oft soziale Unterschiede hinein. Aller-
dings werden diese weniger die Verschiedenheiten von Dorf zu Dorf,
als die Unterschiede innerhalb desselben Dorfes erklären. Wo die
ländliche Rangordnung die Großbauern von den Kleinbauern und diese
wieder von den Tagelöhnern scharf trennt, wird das auch in der
Tracht zum Ausdruck kommen •).
Daß die Tracht nicht unveränderlich ist, vielmehr oft recht tief-
greifenden Umwandlungen unterliegt, ist oben schon ausdrücklich
hervorgehoben worden. Die Gründe für diese Änderungen lassen sich
im einzelnen sehr schwer feststellen. Es geht genau wie sonst bei der
Kleidermode: sie ist auf einmal da, ohne daß man ihren Anlaß
genau eruieren könnte. Auch auf dem Lande ist der Einfluß einzelner
Persönlichkeiten auf Geschmack und Mode oft sehr groß, besonders
da, wo die sozialen Unterschiede noch sehr schroff sind und das Bei-
spiel einer Großbäuerin z. B. für alle anderen Dorfweiber schlechthin
tonangebend ist ^). Daneben spielen dann noch andere Gründe ihre
Rolle. Ich erwähnte oben, wie Mädchen, die auswärts auf Arbeit
gehen, von dorther Neuerungen einführen, die sich dann weiter ver-
breiten. Gesundheitliche Rücksichten haben in der Ämtertracht des
Kreises Biedenkopf zur Einführung der Tuchjacke gefuhrt, das „ Hals-
tuch*' hielt nicht genug warm. Es ist unmöglich, eine vollständige
Aufzählung all der Gründe zu geben, die hier mitwirken. Hier hat
die Einzeluntersuchung ihre Aufjgabe.
i) A. a. O. S. 197.
a) A. a. O. S. 153 f.
3) A. a. O. S. 148.
4) A. m. O. S. 151. 153.
— 169 —
Namentlich in katholischen Geg'enden wird man aber auch den
Einfluß kirchlicher Sitten zu berücksichtigen haben. Er fuhrt oft zur
Aufnahme ganz neuer Bestandteile in die Tracht. In Westfalen legt die
Braut an ihrem Hochzeitstage zum ersten Male eine Kopfbinde an,
„Bindse" genannt, die in Gemeinschaft mit der Haube das Haar
völlig verdeckt. Jostes führt das auf das iKor. ii, $ geforderte Ver-
hüllen des Haupthaares durch die Frauen zurück ^). Die gleichmäßige
Verbreitung der Brautkrone über germanische und slavische Gegenden
läßt sich, ohne daß man eine Entlehnung anzunehmen braucht, da-
durch erklären, daß es sich hier um eine kirchliche Sitte handelt, die
Bestandteil der Volkstracht wurde *). Man findet nun aber diese Krone
nicht nur als Brautkrone, sondern auch als ständige Sonntagstracht
der Mädchen. Und zwar begegnet sie nicht nur in Deutschland, z. B.
im Bückeburgischen*), in Altenburg*), sondern auch in Tirol*), im
Kanton Freiburg •) , wo , ähnlich wie im Schwarzwald ^) , die Kirche
bzw. die Gemeinde eine Anzahl solcher Kronen besitzt. Der letztere
Umstand dürfte auf die richtige Quelle dieser Sitte leiten: sie hat
eine einheitliche, internationale, nämlich kirchliche Quelle, womit denn
auch ihr Vorkommen in so verschiedenen Gegenden hinreichend er-
klärt ist. Und zwar fuhrt sie Jostes auf die katholische Vorstellung
von der „Krone der Jungfräulichkeit", d. h. der besonderen Verdienst-
lichkeit des jungfräulichen Standes zurück.
In gewissem Gegensatz zu der strengen Beschränkung der Volks-
trachten auf einen räumlich umgrenzten Bezirk steht die Tatsache, daß
sich ein Vordringen der Tracht über ihren ursprünglichen Bezirk hin-
aus beobachten läßt, womit dann das Zurückweichen der früher dort
herrschenden Tracht zusammenhängt. Solche entgegengesetzten Be-
obachtungen innerhalb derselben Erscheinung des Volkstums dürfen
nicht befremden. Wir möchten überhaupt in diesem Zusammenhang
davor warnen, nach bestimmten „ Gesetzen " und „ gesetzmäßigen Vor-
g^ängen" zu fahnden, alles in widerspruchslose Ordnung und ein streng
logisches System zu bringen. Dazu ist das Leben viel zu reich und
i) A. a. O. S. 155.
3) Zeittchr, d, Ver. f. Volkskunde XII, S. 473.
3) Jostes, S. 155.
4) Kreisch mer, DetUaehe Volkstrcuhten, \ Tafel 22. 34.
5) Ebd. Tafel 88.
6) Jostes, S. 155.
7) Das Land XIU, S. 152.
— 170 —
zu bunt. Man hüte sich auch davor, ii^endetwas von vornherein für
„undenkbar" oder „unmöglich** zu erklären oder zu behaupten, dieser
oder jener Vorgang „müsse** sich „unbedingt** so oder so abge-
spielt haben. Mit solch aprioristischen, völlig willkürlichen UrteUen ist
einer geschichtlichen Betrachtung nicht gedient. Wir stoßen uns
auch nicht an dem Gegensatz zwischen der lokalen Beschränkung und
dem progressiven Verhalten, und suchen ihn auch nicht zu „erklären**;
es genügt, ihn erwähnt zu haben.
Der Vorgang des Vordringens bzw. Zurückweichens der Tracht
ist darum besonders so interessant, weil wir ihn in einzelnen Gegen-
den recht deutlich beobachten können. Ein besonders eklatantes Bei-
spiel bietet die Marburger Tracht. Sie ist die jüngste Tracht der
Gegend, aber sie breitet sich fortwährend auf Kosten der älteren
Trachten aus. Der Battenberger Tracht hat sie das Amt Wetter ab-
genommen, sich auf der linken Lahnseite ausgebreitet. Und als 1866
die Grenze nach dem bis dahin großherzogUchen Hinterland fiel,
breitete sie sich auch nach Westen aus. Das Amt Blankenstein hat
sie bereits ganz erobert; in Buchenau hielten sich in den siebziger
Jahren beide Trachten die Wage, und in Holzhausen macht die
Hessentracht von Jahr zu Jahr Fortschritte *). Ähnliche Beobachtungen
teilt Jostes mit. Die vom Emsland her eindringende „PrüUmütze** hat
die Osnabrücker Goldkappe fast völlig verdrängt*). Die Hümlinger
bzw. Harener Mütze ist auch nicht die älteste Form, vor ihr hat eben-
falls die Goldkappe geherrscht*). Die so überaus charakteristische
Bückeburger Flügelhaube hat sich auch im Kreise Minden eingebür-
gert *), und die Ibbenbürener Haube hat sich nach Norden und Süden
verbreitet*^). In der Regel tritt die neue Tracht völlig an die Stelle
der älteren. Mitunter erzeugt aber ihr Vordringen eine Misch tr acht,
wie im Amt Blankenstein, wo zu dem schwarzen Faltenrock und den
weißen Strümpfen der alten Tracht jetzt das tief ausgeschnittene Mieder
hessisch-raarburger Herkunft getragen wird *).
Das Zurückweichen einer Tracht wird in der Regel durch das
Vordringen einer Nachbartracht verursacht. Mitunter aber ist es auch
ein Zeichen des langsamen Absterbens der Tracht und des Über-
i) Justi, S. 12. 13. 56.
2) Jostes, S. 177.
3) Ebd. S. 168 f.
4) Ebd. S. 186. 189. 190.
5) Ebd. S. 167. 173.
6) Vgl. Justi a. a. O. S. 37. 48f.
— 171 —
gangs zur Modekleidung. Auf die Gründe, warum unsere Volkstrachten
nach und nach alle verschwinden, einzugehen, ist hier unmöglich,
auch nicht erforderlich. Wir möchten nur auf den Prozeß selbst hin-
weisen, der sich meist in zwei verschiedenen Formen abspielt. Die
eine ist die, daß die Erwachsenen fortfahren, Tracht zu tragen, die
Kinder aber städtisch gekleidet werden — vor allem wegen der bil-
ligen Kinderkleider, die städtische Magazine liefern. Es wächst auf
diese Weise eine Generation heran, die keine Tracht mehr kennt, und
es läßt sich fast mit mathematischer Sicherheit sagen, wann die Tracht
ganz verschwunden sein wird. So war z. B. hier in Bottenhorn vor
sechs Jahren noch die überwiegende Mehrzahl der weiblichen Konfir-
manden in Tracht gekleidet; im vergangenen Jahre war zum ersten Male
keine mehr in Tracht unter ihnen und unter der Schuljugend über-
haupt Daß Erwachsene die Tracht ablegen und zur städtischen
Kleidung übergehen, kommt äußerst selten vor '), und zwar ganz ein-
fach deshalb, weil es große Kosten verursachen würde. Die Frauen
sind meistens bei ihrer Verheiratung mit Röcken und sonstigen Trachten-
stücken so reich ausgestattet worden, daß sie überhaupt ihr ganzes
Leben lang nichts mehr anzuschaffen brauchen. Da kann natürlich vom
Ablegen der Tracht keine Rede sein.
Es läßt sich aber auch ein mehr allmählicher Übergang von der
Tracht zur Modekleidung beobachten. „Es wird zunächst die Mütze
als das zumeist ins Auge fallende Stück fortgelassen** — was eine
Veränderung der Haartracht zur Voraussetzung oder zur Folge hat — ,
„worauf die Verlängerung der Kleider** — und das Fortlassen charak-
teristischer Besonderheiten, z. B. des Hüftenpolsters, auf dem die Röcke
ruhen — , „und dann meist die Verhüllung des Mieders durch städ-
tische Halstücher erfolgt, bis die Verwandlung vollständig ist** *).
Zuweilen überdauern einzelne Trachtenstücke den Verfall. Im
Westfälischen ist es z. B. die Haube, die als „letzte Säule** von
„versch wundner Pracht zeugt**; und das Westfälische Trachtenhuch han-
delt denn auch, wo es auf die Trachten der Gegenwart zu sprechen
kommt, ausschließlich von der Haube und ihren zahllosen Variationen.
Ein eigenartiger Umstand erhielt den westfälisch-lippeschen Goldgürtel,
eine breite, um die Hüften gelegte und vom lang herabhängende Gold-
borte, bis auf den heutigen Tag am Leben: „Er wurde ohne Schürze
nur von reicheren Personen getragen, und zwar aus keinem anderen
i) Der von Jasti S. lo erwähnte Fall ist Töllig legendär, wie sich mir bei
näherem Nmchforschen ergab.
3) Jttiti, S. S; vgl. auch Tafel 19 mit ihrem ausgesprochenen Übergangscharakter.
— 172 —
Grunde als nur des Preises wegen. . . . Wer ... ein Kleid mit einer
, Magsachte' (Einsatz von Nessel unter der Schürze, um den teueren
Stoff zu sparen) trug, ... konnte sich ohne Schürze nicht sehen
lassen, und so kam es, daß die liebe Eitelkeit diesen altwestfalischen
Gürtel älter werden ließ, als es sonst wohl der Fall gewesen wäre;
er sagte eben klar und unzweideutig: ,wi hebt et ja*" *). Als Kleidung
bei besonderen Anlässen, Festtagen, Trauer, Abendmahl, hält sich
die Tracht oft noch sehr lange über ihr Verschwinden aus dem täg-
ligen Leben hinaus. Das gilt auch von der sonst fast verschwundenen
Männertracht. Der langschößige Kirchenrock, der weite Trauermantel
tauchen immer noch, wenn auch immer seltener, auf. Und wenn es
auch nur aus Sparsamkeit geschieht, um die einmal vorhandenen Klei-
dungsstücke aufzutragen.
Bei der Einzeldarstellung ist natürlich jedem einzelnen Trachten-
stück eingehende Beachtung zu schenken. Sehr gutes Material für
die historische Entwicklung bietet da Hottenroth in seinen Deutschen
Volksirachten*). Lehrreich ist stets die Vergleichung mit anderen
Trachten. Wir zeigten oben am „Jungfemkranz"*), zu welch inter-
essanten Aufschlüssen über Herkunft der Tracht u. a. m. das fuhren
kann. Auch andere Trachtenstücke sind weit verbreitet. Die Form des
Frauenhemdes*), das Hüftpolster*), der Vorstecklatz •), finden sich in
zahlreichen Trachten wieder. Man übersehe auch nicht Schmuck und
Haartracht^), die ebenfalls zur Tracht zu rechnen sind. Auch die
Frage, inwieweit fiir besondere Gelegenheiten auch besondere Trachten
üblich sind (Brauttracht, Tracht bei Gevatterschaften, bei Trauer und
Abendmahl usw.), und welche Rolle die Farbe in der Tracht spielt
— ob sie völlig dem individuellen Geschmack überlassen ist, ob hier-
für feste Vorschriften bestehen, ob sie mit 2Jeiten und Gelegenheiten
wechselt®) u. a. m. — , verdient, wie bereits erwähnt, eine genauere
Untersuchung.
Wir möchten den Gegenstand nicht verlassen, ohne an die
kleinen Museen einen starken Appell zu richten, Trachtenstücke zu
i) Jostes. S. 164.
2) I, 4—51.
3) Vgl. dazu auch Tctzncr, Slawen in Deutschland, S. 73, 157.
4) Tetzncr, a. a. O. S. 423; ZeiUchr. ä, Ver. f. VoHuihunde XV, 198.
5) Hottenroth, a. a. O. I, 109, Abb. 53.
6) A. a. O. I, 75, Fig. 39; ffl, 50, Abb. 20, Nr. 9. Tetzner, a. a. O. 8.423.
7) Vgl. die eingehende Berücksichügnng des Schmuckes bei Jostes.
8) Vgl. z. B. ttber Blau als Farbe der Trauer Zeitschr. d. Ver. f. Volkskunde
XI, 83.
— 173 —
sammeln. Gerade auf diesem Gebiet wartet ihrer eine überaus lohnende
und notwendige Arbeit. Trachtenstücke sind vei^änglich ; sie werden
abgenutzt und schließlich weggeworfen. Wenn da nicht systematisch
gesammelt wird, wird bald nichts mehr zu sammeln sein. Man nehme
einmal ein Trachtenwerk vor, das ein abgestorbenes Trachtengebiet
behandelt, etwa Hottenroth's mehrerwähnte Nc^ssauische Volkstrachten
und überzeuge sich, mit welchen Schwierigkeiten der Forscher da
zu kämpfen hat und wie gering dann trotz aller Mühe das Resultat
ist Und man vergegenwärtige sich, was die Forschung hätte ergeben
können, wenn man vor 30, 50 Jahren Kostümstücke gesammelt hätte.
Was jetzt noch vorhanden ist, verdankt dem Zufall seine Erhaltung
und läßt nicht entfernt einen Schluß auf den Reichtum des einst vor-
handenen zu. Hieraus ergibt sich ohne weiteres die Notwendigkeit
systematischer Sammlung. Man schließe auch die neueren Trachten
oder was an ihre Stelle trat, nicht aus. Denn auch sie werden einmal
alt und verschwinden wieder. Wie schnell sich dieser Untergang voll-
zieht, hat man täglich vor Augen. Von der reizvollen Kindertracht
z. B., die hier in Bottenhorn noch vor 10 bis 12 Jahren getragen
wurde, hält es schwer, überhaupt noch ein Stück aufzutreiben. Was
noch zu verwerten war, hat man zum Flicken usw. verwendet, das
Übrige einfach weggeworfen. Von der Männertracht ist überhaupt
nichts mehr vorhanden. Es ist also keine Zeit zu verlieren und die
kleinen Orts- und Kreismuseen würden ihre Aufgabe vernachlässigen,
wenn sie nicht auch die Kostümstücke aus ihrem Bezirk möglichst
vollständig sammelten. Man wird diese Forderung immer wieder er-
heben müssen, bis sie sich überall durchgesetzt hat.
Bibliographie ')
L Allgemeine Trachtenwerke
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J. D. Grüaon & Co., 1826. 16® (Lipp. 54).
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Amman und Sachs. Eygentliche Beschreibung Aller Stände au£f Erden | Hoher md
Nidriger | Geistlicher Tnd Weltlicher | Aller Künsten | Handwercken Tnnd Händeln
▼om größten bis sum kleinesten | Auch Ton jrem Vrsprung | Erfindung Tnd Gebräuchen
durch . . . Hans Sachsen . . . beschrieben j vnnd in Teutsche Reimen gefasset . . .
mit kunstreichen Figuren [von Jobst Amman] . . . Gedruckt zu Franckfurt am Mayn |
MDLXXnn. kl. 4* (Upp. 1947).
i) Bei den Werken, die im Lipperheide'schen Katalog enthalten sind, ist die
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— 174 —
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Amman and Weigel. Habitos praecipaoram popalomm tarn virorum qaam foeminaram
singalari arte depicti. Trachtenboch : darin fast allerley vnd der fiimembsten Nationen |
die heotigs tags bekandt sein | Kleidangen | beyde wie es bey Manns vnd Weibs-
personen gebreochlich | mit allem vleiß abgerissen sein | sehr lastig vnd kartzweilig
zoseheo. Gedruckt za Nürmberg | bey Hans Weigel Formschneider . . . Anno
MDLXXVn. kl. fol. (Lipp. 7).
Amman. Im Fraawenzimmer Wirt vermeldt von allerley schönen Kleidangen vnnd
Trachten der Weiber | hohes vnd niders Stands | wie man fast an allen Orten ge-
schmückt vnnd gezieret ist | Als Teutsche | Welsche | Frantzösische | Eogelländische J
Niderländische | Böhemische | Vngerische | vnd alle anstossende Länder. Darchaofl
mit neuwen Figuren gezieret | dergleichen nie ist aofigangen. Jetzund erst durch den
weitberühmbten Jost Amman wonhafift zu Nürnberg gerissen. Sampt einer kurtzen
Beschreibung durch den wolgelehrten ThrasibuluM Ibrreniinum MiUislariensem
allen ehrliebenden Fraawen vnd Jungfrauwen zu ehren in Rheimen verfafit. MDLXXXVI.
Getruckt zu Franckfurt am Mayn in Verlegung Sigmund Feyrabends. 4^ (I^ipp* 19)*
Amman. Kunstbüchlin | darinnen neben Fürbildung vieler | Gebtlicher vnnd Weltlicher |
Hohes vnd Niderstands Personen | so dann auch der Türckischen Kayser | vnnd der-
selben Obersten | allerhandt Kunstreiche Stück vnnd Figuren: Auch die sieben
Planeten | Zehen Alter | Rittmeister vnnd Befelchshaber | Reuterey | vnd Contrafaktnr
der Pferde | allerley Thurnier | Fechten | vnd dann etliche Helm vnd Helmdecken
begriffen. Alles auff das zierlichst vnd künstlichst gerissen | durch . . . Jost Amman
von Nürnberg. Jetzund von newem ... an Tag geben. Gedruckt za Franckfurt am
Mayn. 1599. 4** [= 4. Ausgabe; die i. erschien 1578] (Lipp. 498).
Neu-eröffhetes Amphi-Theatrum | Worinnen Nach dem uns bekanten gantzen Welt-
Creifl I Alle Nationen Nach ihrem Habit | in säubern Figuren repräsentiret Anbey
die Länder nach ihrer Situation | Climate . . . vornehmsten Ritter-Orden und Wappen
aufgeführet sind | Und welches | mit Zuziehung der Land-Charten | za vieler Belusti-
gung I vornehmlich aber der studierenden Jugend | als ein sehr nützliches and an-
muthiges Compendium Geographicum | Genealogicum | Heraldicum | Curiosum | Nu-
mismaticum | kan gebrauchet werden. Erffurth | Gedruckt vnd verlegt von Johann
Michael Funcken | 1733— 1728. fol. (Lipp. 35).
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Bacher. Tmchtenpavillon der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896. Ein Jahrhundert der
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— 176 —
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— — — : Iroperii ac Sacerdotii omatus. Diversaram item gentiam pecaliaris vestitas.
Excadcbat Abr. Brain. Gand. MDLXXIIX. fol. (Lipp. 10).
Fortsetzung des vorigen Werks; in der zweiten Aasgabe von 1581 sind beide ver-
einigt; eine dritte Aasgabe erschien 1584, eine vierte 1610 (s. n.).
• : Omniam pene Earopae, Asiae, Aphricae atqae Americae gentiam Habitas.
Habits de diaerses Nations de l'Earope, Asie, Afriqe et Ameriqae. Trachtenbach:
Der Farnembsten Nationen vnd Volcker kleydangen beyde Manns vnd Weybspersonen
in Europa, Asia, Afrika vnd Amerika. Antwerpen, um 16 10. qu. fol. (Lipp. 12).
4. Ausgabe des Bru3mschen Trachtenbuchs.
: Costumes civils et militaires du XVI« siicle par A. de Bruyn. Reproduction
fac-simile de T^dition de 1581 colori6e d'apr^ des documents contemporains. Texte
traduit et annot6 par Auguste Schoy. Bruxelles, G. A. van Trigt, MDCCCLXXV»
fol. (Lipp. II).
Georg Bnfl, Das Kostüm in Vergangenheit und Gegenwart. Mit 134 Abb. Bielefeld
und Leipzig, Velhagen & Klasing, 1906. gr. 8^ [a> Sammlung ülnstrierter Mono-
graphien herausgegeben von Hanns von Zobeltitz, Nr. 1 7].
Gallo t. Capricci di varie figure di Jacopo Callot . . . Fiorenza, um 161 7. qu. 16^
(Lipp. 514).
— — : Ics fantasies de Noble J. Callot Mises en lumiire par Israel son amy. 1635.
qu. i6<» (Lipp. 515).
; Varie figure di Jacopo Callot O. O. u. J. 16** (Lipp. 516).
A Collection of the Dresses of different Nations, Anticnt and Modem. Particularly
old English Dresses. After the Designs of Holbein , Vandyke, Hollar, and others.
With an accoont of the Authorities, from which the Figures are taken; and some
Short Historical remarks on the subjcct . . . London, Thomas Jefferys, MDCCLVII.
4 Bde. 40 (Lipp. 37).
Titel auch franz. : recueil des Habillements de Diff6rentes Nations , Anciens et
Modernes. Unter dem Titel ,, Sammlung von Trachten bey verschiedenen altern
und neuem Völkem. Nach den Gemälden eines Holbein . . dargestellt, heraus-
gegeben von F. H. Leipzig, Industrie-Comptoir, 1805" bzw. „recueil des Habil-
lements anciens et modernes'* existiert ein kurzer Auszug (Lipp. 49).
Le petit cosmopolite ou recueil des costumes de diff^rents peuples . . . Paris, Martinet»
o. J. 4' (Lipp. 44).
Galerie royale de Costumes peints d' apres nature par divers artistes et lithographi^s
par Alolphe, Janet-Lange etDollet. Paris, Anbert & Co., 1842 f. gr. fol. (Lipp. 60).
The book of Costume: or, annals of fashion, from the Earliest period to the
present time. By a lady of rank. London, Henry Colbnrn, 1846. 8^ (Lipp. 63).
Usi e Costumi di tutti i popoli dell' universo owero storia del govemo, delle leggi,
della roilizia, della religione di tutte le nazioni dal piü remoti tempi fino ai nostri
— 176 —
giorni. Opera compilata da ana societa di letterati italiani . . Milano, Borroni e
Scotti, 1856—1862. 40. 7 Bde. (Lipp. 69).
Bd. lü enthält die Schweiz and Holland, Bd. IV Österreich and Deutschland.
Costnme da moyen dge d'apr^s les manascrits les peintares et les monaments con-
temporains . . . [Par van Beveren d du I^essoir] Bnuelles, libr. histor.-ar-
tistiqae, 1847. > ^^' S** (Lipp. 352).
Costame du mojen &ge d'apr^ des monaments d'arts et des manuscripts contempo-
rains. Paris. 1847. 2 Bde.
Costümbuch für Künstler. Sammlung der interessantesten Gegenstände des Costttms
aller Zeiten und Völker der christlichen Zeitrechnung, heraiugegeben von einem
Verein von Künstlern. Düsseldorf, Julius Buddeus, 1839. 4^ 16 Hefte. (Lipp. 57).
Blätter für Kostümkunde. Historische und Volks-Trachten. Nach authentischen Quellen
in Stahl gestochen von verschiedenen Künstlern. Berlin, Lipperheide, 1874 — 1875.
fol. 3 Hefte (Lipp. 80).
2. Aua. 1876— 1878. fol. 2 Hefte (Lipp. 81).
-^— — Neue Folge . . . Unter Mitwirkung von Otto Brausewetter, Ludwig Bürger,
C. E. Döpler, Alois Greil, Friedrich Hiddemann, Vinc. St.-Lerche, Pan Lulv^, Franz
Meyerheim, B. Nordenberg, Bernhard Plockhorst, Rudolph Schick, Norbert Schrödl,
Franz Skarbina, Paul Thumann, Joseph Watter, Carl Werner, Constantin von Wieten*
heim u. a. herausgegeben von A. von Heyden. Berlin, Lipperheide, 1876 — 1891.
4<>. 4 Bde in 8 Tln. (Lipp. 82).
Zur Geschichte der Co s tüme. Nach Zeichnungen von Wilh. Diez, C. Fröhlich, C. Häberlin,
M. Heil, Andr. Müller, F. Rothbart, J. Watter. München, Braun & Schneider, o. J.
fol. [mm Münchener Bilderbogen] (Lipp. 83).
Curiöser Spiegel, worinnen der ganze Lebenslauf des Menschen von der Kindheit bis
zum Alter zu sehen. O. O. u. J. [letzte Ausgabe von 1824].
Daily. Usi e Costumi sociali, politici e religiosi di tutti i popoli del mondo da docu-
menti autentici e dai viaggi migliori e piü recenti di M. Daily . . . Traduzione riveduta
dal Cavaliere Luigi Cibrario . . . Torino, Stabilimento Tipografico Fontana, 1844 — 1847.
4*. 4 Bde. (Lipp. 62).
Bd. IV behandelt Europa.
Eckardt Wörterbuch der Bekleidung. Erklärung der auf die Kostüme, Volkstrachten
und Moden aller Zeiten und Völker bezüglichen Namen, sowie aller die Herstellung
der Web- und Wirkwaaren, der Putzgegenstände, der weiblichen Handarbeiten luw.
betreffenden Bezeichnungen. Zusammengestellt von Theodor Eckardt. Wien — Pest —
Leipzig, A. Hartleben, 1886. 8^ [= Hauswirtschaftliche Bibliothek. Spezial-Wörter-
und Handbücher. Band U] (Lipp. 92).
Engelbrecht. Vornehmste Reiche und Staaten der Welt | In zierlichem | und theiU
nach Ihrer Landes-Art gewöhnlichem Habit | mit Ihren Wappen- und Ordens-Zeichen
vorgestellet | Und in Kupffer gestochen von Martin Engelbrecht. Verlegts Johann
Andreas Pfeffel in Augspurg . . Druckts Johann Jacob Lotter | 171 7. fol. (lipp. 33).
Engelhard t. Herrad von Landsperg, Äbtissin zu Hohenburg, oder St Odilien, im
Elsaß, im zwölften Jahrhundert; und ihr Werk: Hortus deliciarum. Ein Beytrag zur
Geschichte der Wissenschaften, Literatur, Kunst, Kleidung, Waffen und Sitten des
Mittelalters. Von Christian Moritz Engelhardt Stuttgart und Tübingen, J. G. Cotta,
1818. Text in 8*>; Atlas in gr. fol. (Lipp. 373).
Der Hortus deliciarum, eine Hauptquelle für das Kosttim des XH. Jahrh., ging
bei dem Brand der Straflburger Bibliothek zu Grunde; obige Publikation bildet
das einzige umfassendere Abbild dieses Denkmals.
Fabri, diversarum nationum omatus. Padua 1593.
Falke. Kostümgeschichte der Kulturvölker von Jakob von Falke. Stuttgart, W. Spemaon,
1881. gr. 8» (Lipp. 88).
Ferrari o. II costume antico e modemo o storia del govemo, della milizia, della reli-
gione, delle arti, scienze ed usanze di tutti i popoli antichi e modemi provata coi
monumenti deir antichita c rappresentata cogli analoghi disegni del Dottore Giulio
Ferrario. Milano della tipografia dell' editore. MDCCCXVII. fol. 21 Tle. (Lipp. 51).
— 177 —
Aaf Earopa entfallen neun Teile, davon behandelt Bd. IV (1826) die Schweiz und
Deutschland. Das Werk erschien auch unter dem franz. Titel: Le costume anden
et moderne, ou histoire da gouvemeraent, de la milice, de la religion, des arts,
Sciences, osages de tous les penples anciens et modernes, d^nites des monn-
ments. Avec an grand nombre de figores colori^es. 17 Vols. Milane. 18 16 — 17.
Footqaier, Recaeil de modes et habits galants de diffi6rents pajs. 1771.
Gallerie der Menschen. Ein Bilderbuch zur Erweiterung der Kenntnisse über Länder
und Völker, vorzüglich für die Jugend zur Befriedigung ihrer Wiflbegierde. Neae
verbesserte und vermehrte Auflage. Pest, 1813, K. A. Hartleben. 8^ 2 Bde. (Lipp. 50).
Die erste Ausgabe erschien 1806 in drei Teilen.
Gavarni. Les parures. Fantaisie par Gavarni. Texte par M^ry. Histoire de la Mode
par le O« Foelix. Paris, G. de Gonet, um 1840. 8** (Lipp. 573).
Beschreibt die einzelnen Stücke der weiblichen Kleidung (mantille, manchon,
fichu, voile).
Grassi. Dei veri ritratti degl' Habiti. Di tutte le parti del Mondo. Intagliati in
Rame. Per opera di Bartolomeo Grassi Romano. Libro Primo. Roma, MDLXXXV.
qn. fol. (Lipp. 17).
Hansjacob. Unsere Volkstrachten. 2. Aufl. Freiburg i. Br., Herder. 8^ (Lipp. 3300).
Hauff. Moden und Trachten. Fragmente zur Geschichte des Costüms von H. Hauff.
Stuttgart und Tübingen, J. G. Cotta, 1840. 8'' (Lipp. 58).
Hausleutner. Gallerie der Nationen. Herausgegeben von Ph. W. G. Hausleutner.
Stuttgart, Johann Friedrich Ebner, 1792 — 1800. fol. 7 Hefte (Upp. 45)
Heft Vn (1800) behandelt Europa.
Hejden. Die Tracht der Kiilarvdlker Europas vom Zeitalter Homers bis zum B^inne
des XDC. Jahrhunderts von A. von Heyden. Leipzig, E. A. Seemann, 1889. 8^
[aa Seemanns Kunsthandbücher IV] (Lipp. 95).
Moriz Heyne, Körperpflege und Kleidung bei den Deutschen von den ältesten geschicht-
lichen Zeiten bis zum XVI. Jahrhundert. Leipzig, S. Hirzel, 1903. 8® [=» Fünf
Bücher deutscher Hansaltertümer von den ältesten geschichtlichen Zeiten bis zum
XVL Jahrhundert, Band US] (Lipp. 3626).
Hirth. Kulturgeschichtliches Bilderbuch aus drei Jahrhunderten. Herausgegeben von
Georg Hirth. Leipzig und München, G. Hirth, 1 881 — 1890. fol. 6 Bde. (Lipp. 481).
Hollar. Theatrum mulierum sive varietas atque diflerentia habituum foeminei sexus,
dinersomm (!) Europae Nationum hodiemo Tempore vulgo in usn, a Wenceslao
Hollar etc. Bohemo delineatae et aqua forti aeri scolptae. Londini A9 1643. ^- ^^
(Lipp. 30).
; Aula Veneris sive Varietas foeminini sexns, diversarum Europae nationum,
differentiaque habituum, ut in quaelibet (!) Provincia sunt apud iUas nunc usitati,
quas Wenceslaus Hollar, Bohemus, ex maiori parte in ipsis lods ad vivas delineavit,
caeterasque per alios delineari curauit et Aqua forti aeri insculpsit, Londini A^ 1644.
kl. 8^ (Upp. 30).
2. Teil des vorigen Werkes.
Hottenroth. Trachten, Haus-, Feld- und Kriegsgeräthschaften der Völker Alter und
Neuer Zeit von Friedrich Hottenroth. Stuttgart, Gustav Weise, 1884^1891. 4^
2 Bde. (Lipp. 91).
Bd. II behandelt „Germanische und romanische Völker. Die europäischen Trachten
seit dem Ausgange des XVI. Jahrhunderts**. 2. Aufl.
R. Jacquemin, L*art et le costume du IV« an XIX« si^de ou coUection des tjrpes
pois^s aux sources les plus authentiques et in^dits. Paris. 1859.
: Iconographie gön^rale et m6thodique du costume du IV^ au XIX« si^cle
(315— 18 15). CoUection grav6e a l'eau forte d'aprös des documents authentiques
et in^dits par Raphael Jacquemin. Paris. 1863— 1868. gr. foL 2 Bde. (Lipp. 337).
: Histoire generale du costume civil, religieux et militaire du IV« an Xu«
si^e-ocddent — (315 — iioo). Par R. Jacquemin. Paris, Ch. de la Grave, 1879.
4» (Lipp. 357).
13
— 178 —
Köhler. Die Trachten der Völker in Bild und Schnitt. Eine historische und technische
Darstellung der menschlichen Bekleidungsweise von den ältesten Zeiten bis in's neun-
zehnte Jahrhundert und zugleich ein Supplement zu allen vorhandenen Kostttmwerken . .
von Karl Köhler. Dresden, Müller, Klemm & Schmidt, 1871— 1873. 8^ 3 Tle.
(Lipp. 79).
Tl. n und m behandeln Mittelalter und Neuzeit
Köhler. Allgemeine Trachtenkunde. Von Bruno Köhler. Mit . . KostOmbildem . .
Leipzig, Philipp Reclam jun., 1900 — 1902. 8^. a Bde. [«> Universal-Bibliothek
4059. 4060. 4074. 4075. 4104. 4105. 4145. 4146. 4172. 4173. 4203. 4204. 4223.
4224] (Lipp. 98e).
Kottenkamp. Die verschiedenen Trachten. Aus dem Englischen von Dr. Franz
Kottenkamp. Druck von Scheible, Rieger & Sattler in Stuttgart 1847. ^^ [= Wochen-
bände für das geistige und materielle Wohl des deutschen Volkes, Nr. 50^52] (Lipp. 64).
Kostüme s. Co9tüme.
Kretschmer. Die Trachten der Völker vom Beginne der Geschichte bis zum neun-
zehnten Jahrhundert . . zusammengestellt, gezeichnet und lithographiert von Albert
Kretschmer . . mit Text von Dr. Carl Rohrbach. Leipzig, J. G. Bach, 1864. 4^
(Lipp. 75).
1882 erschien die 2. Auflage.
Lacauchie. Les nations. Par A. Lacauchie. Paris, Uautecoenr fr^res o. J. fol. (Dpp. 67).
Lacroix. Le Moyen Age et la renaissance, histoire et description des moeurs et usages,
du commerce et de Tindustrie, des sciences, des arts, des litt^ratures et des beanx«
arts en Europe. Direction litt6raire de M. Paul Lacroix. Direction artistiqne de
M. Ferdinand Seri. Paris. 1848— 1851. 4«. 5 Bde. (Lipp. 327).
Bd. m (1850) enthält: Kap. 7 ,,Vie priv^e dans les chateaux, dans les vüles, dans
les campagnes^'; Kap. 8 „Modes et costumes**.
I Moeurs, usages et costumes au moyen ftge et k l'^poque de la renaissance.
Par Paul Lacroix. Sixi^e Edition. Paris, Firmin Didot ctO«, 1878. 4*'(Lipp. 329).
Die I. Auflage erschien 1871.
Länder- und Völker-Schau. Eine Gallerie von Bildern, welche die Ansichten der be-
deutendsten Städte, die Trachten der Völkerstamme, Scenen aus dem Volksleben . .
kurz eine CHiarakteristik jedes Landes darstellen. Kempten, Tobias Dannheimer,
1847. qo. foL (Lipp. 739).
Abt. I Deutschland; Abt. II Das übrige Europa.
Latham, Die verschiedenen Völkerstämme aller Nationen in treuester Gesichtsbildung,
Farbe, Größe und Nationaltracht. Stuttgart und Leipzig.
Lecomte. Costumes europ6ens par Ht« Lecomte. Paris, F. Delpech, 181 7 — 181 9;
fol. (Lipp. 52).
Madou. Physionomie de la Sociötö en Europe, depuis 1400 josqn'a nos jours.
Quatorze tableaux par Madou. Bruxelles, A. De Wasme-Pletinckx , 1837. qu. fol.
(Lipp. 318).
Mar^chal. Costumes civils actuels de tous les peuples connus, dessinös d'apr^ natnre,
gravis et coloriös, accompagn^s d'une Notice historique sur les moeurs, usages,
coutumes, religions, ffites, supplices, funörailles, sciences et Arts, commerce etc.,
de chaque peuple, r^dig^s par Sylvain Mar^chal. Paris, Delerville, o. J. 8^ 4 Bde.
(Lipp. 42).
2. Aufl.; Die erste erschien 1788; s. a. St.'Sauveur,
Daniel Meisner, Sciographia cosmica. Dafl ist Newes Emblematisches Büchlein, da-
rinnen in acht Centuriis Die Vomembslen Statt, Vestung, Schlösser usw. der ganzen
Welt gleichsamb adnmbrirt und in Kupfer gestochen. Nürnberg 1642.
Menin. II costume di tutti le nazioni e di tutti i tempi descritto ed illustrato dall'
Abate Lodovico Menin. Padova. MDCCCXXXIII. Text in fol., Atlas in qn. fol.
3 Bde. (Lipp. 56).
Moseman. Newe Summarische Welt Hi&toria: vnnd Beschreibung aller Keyscrthumb,
Königreiche, Fürstenlhumb, vnnd Völcker heutiges Tages auff Erden: Was für Land
vnd Leute in der gantzen Welt, was jhre Gestalt, Kleidung, Sprachen, vnnd Hand-
— 179 —
thiemog . . sejen . . ziuammenbracht . . dorch Fleifl Hermanni Fabronii Mosemam.
Getrackt zu Schmalkalden» durch Wolffgang Ketzeln. i6ia. kl. 4^ 2 Tle. (Lipp. a8).
Mnsöe cotmopolite. Ches Aabert et O«. Paris. Um 1850 — 1860. 4^ (Lipp* 68).
Omniam fere gentiam nostrae aetatis habitos, nonquam ante hac aediti. Fernando
Berieüi aeneis typis excodebat Venetijs Anno MDLXIII. 4® (Lipp. 3).
2. Aiugabe erschien 1569.
Omniam fere gentiam, nostraeqae aetatis Nationam, habitas et effigies. In eosdem
Joannis Slaperij lierzelensis Epigrammata. Adiecta ad singalas Jcones Gallica
Tetrasticha. Antverpiae, apad Joannem Belleram, sab Aqaila aorea. MDLXXIL
8« (Lipp. 2).
Panqaet. Modes et costames historiqaes ^trangers, dessinös et grav^ par Paaqaet
ir^res d'apr^s les meilleurs maitres de chaqae ^poqae et les docoments les plos
aatbentiqaes. Paris, aax bareaax des modes et costames historiqaes, Paaqaet frlres
öditearft . . et aa barcaa de la mode artistiqae, Gastave Janet, 1875. 4^ (Lipp. 338).
Picart. Diverses modes dessinöes d'apr^ natare par Bemard Picart. Paris, V« de
F. Chereaa, am 17 10. 8® (Lipp. 477).
Planchö. A Cjclopaedia of Costame or Dictionary of Dress, inclading notices of
contemporaneoas fashions on the Continent, and a General Chronological History
of the Costames of the principal Coantries of Earope, from the Commencement of
the Christian Era to the Accession of George the Third. By James Robinson
Planche. London, Chatto and Windus, 1876— 1879. 4^ 2 Bde. (Lipp. 84).
Bd. I: the dictionary; Bd. II: a general history of costame in Earope.
A geographical Present; being descriptions of the principal coantries of the world;
with representations of the varioas inhabitants in their respektive costames, beaati-
fally coloared. London, DartOD, Harvey and Darton, 181 7. 12^ (Lipp. 480).
Quincke. Ratechismas der Kostümkande. Von Wolfgang Qaincke. Leipzig, J. J. Weber,
1889. 8* [= Weber's Illastrierte Katechismen, Nr. 124] (Lipp. 94).
Racinet Le costame historiqae . . Types principaax da v^teroent et de la parore
rapproch^ de ceax de Tint^riear de Thabitation dans toas les temps et chez toas
les peaples, avec de nombreax d^tails sar le mobilier, les armes, les objets asaels,
les moyens de transport etc. Recaeil pabli6 soas la direction de M. A. Racinet . .
avec des notices explicatives , ane introdaction g^n^rale, des tables et an glossaire.
Paris, Firmin Didot et O«, 1888. foL 6 Bde. (Upp 93).
Abt. IV, Band VI, Tafel 411 — 500: l'Earope des temps modernes par nationalit^
distinctes.
Recaeil de la diuersit^ des habits qai sont de present en vsaige tant es pays d'Earope,
Asie, Affnqae et Dies saaaages, Le toat fait apres le natarel. Paris, Richard Breton,
1 562. 8« (Lipp. I »).
Ältestes gedrucktes Trachtenbach, das bekannt ist; 1567 erschien eine gleich-
lautende 2. Ausgabe (Lipp. i).
Fritz Rumpf, Der Mensch und seine Tracht Berlin, A. Schall, 1905.
Saint-Sauveor. Costames civils actaels de toas les peaples connus, dessin^s d'aprit
natare, gravis et colori^, accompagn^s d'an Abr^g^ historiqae de lears Coatames,
Moears, Religions, Sciences, Arts, Commerce, Monnoies etc. Par M. Jacques Grasset
de Saint-Sauvear. Paris . . MDCCLXXXIV. kl. 4« (Upp. 40).
Sammlang Eoropäischer National Trachten. CoUection de manieres de se vetir des
Nations de l'Earope. Joh. Martin Wül excudit Aog. Vind., am 1780. qu. 4^
3 Tle. (Lipp. 565).
Sammlang s. auch CoUection,
A. Schrader, Allgemeine Chronik der Handwerke, Zünfte and Innungen nebst ihren
Wappen und Insignien. Berlin. 1860 ff.
Shaw. Dresses and Decorations of the Middle Ages from the seventh to the seven-
teenth Centories by Henry Shaw. London, William Pickering, 1843. 4^* 2 Bde.
(Lipp. 325).
18»
— 180 —
Spalart. Versach über das Kostüm der vorzüglichsten Völker des Alterthams, des
Mittelalters oad der neaesten Zeit. Nach den bewährtesten Schriftstellern bearbeitet
von Robert von Spalart and fortgesetzt von Jtikob Kaieerer ^). Auf eigene Kosten
herausgegeben von Ignatz Albrecht. Wien, E^erische Kansthandlang '), 1796 — 1837.
8». 2 Abt. in 10 Tln. (Lipp. 47).
Abt. II, Tl. 2: „Kostüm der Franken vom fünften bis in das zwölfte Jahrhundert''.
Tl. 4: „Kostüm der geistlichen Orden**; Tl. 5 : „Trachten der Franzosen, Italiener,
Niederländer, Schweizer, Bargander and Deutschen '<; Tl. 6: „Anmerkungen und
Ergänzungen . . Von Leopold Ziegelhäuser'* — „Im Einzelnen wenig zuverlässig
und nur mit großer Vorsicht zu gebrauchen" (Weiß, Kostümkunde).
Tinnej. A CoUection of Eastern and other Foreign Dresses. London, J. Tinney in
Fleetstreet, um 1750. fol. (Lipp. 562).
Trachten oder Stammbuch: Darinnen alle fümemste Nationen Völckem | Manns vnnd
Weibs Personen in jhren Kleydern | artlich abgemahlt | nach jedes Landes Sitten
vnd Gebrauch | so jetziger zeyt getragen werden | vnd zuvor niemals im Track
außgangen. Getruckt zu S. Gallen durch Georg Straub | Anno MDC. qu. 4^
(Lipp. 26).
Vecellio. De gli Habiti antichi, et Modemi di diverse parti del mondo libri due,
fatti da Cetare Vecellio, e con discorsi da lui dichiarati ... in Venetia. MDXC.
Presso Damian Zenaro. 8^ (Lipp. 21).
; Costumes anciens et modernes. Habiti antichi et raoderni di Tutto il Mondo
di Cesare Vecellio. 'Pr€c6d€s d'nn essay sur la gravure sur bois par M. Amb.
Firmin Didot. Paris, Firmin Didot fr^res fils et Co. MDCCCLIX. 8". 2 Tle.
(Lipp. 25).
Diese Ausgabe umfaßt sämtliche Trachtenbilder der 3 Ausgaben von 1590 (s. o.),
1598 und 1664.
Yiero. Raccolta di 126 Stampe, che rappresentano, Figuie, ed Abiti di varie Nazioni,
secondo gli Originali, e le Descrizioni dei piü celebri recenti Viaggiatori, e degli
Scopritori di Paesi nuovi dedicala . . in argomento di grata riconoscenza Teodoro
Viero . . Ap. Theodorum Viero. Venetiis . . Anno 1783— 1 791. fol. 3 Tle. (Lipp. 39).
Villepelet. Du luxe des vdtements an XVle si^cle, ^tude historique par Ferd. Ville-
pelet. P6rigueux, Dupont et 0«, 1869. 8^ [«> Annales de la Society d'agriculture,
des sciences et arts de la Dordogne, Avril et Juin 1 869. Sonderabdmck] (Lipp. 508).
Vollständige Völkergallerie in getreuen Abbildungen aller Nationen mit ausfuhrlicher
Beschreibung derselben. Meissen, Friedrich Wilhelm Gödsche, 1830—1839. 4^
3 Bde. (Lipp. 55).
Bd. III: Europa.
Wahlen. Moears, usages et costumes de tous les peuples du monde, d'apr^ des docu-
ments aathentiques et les voyages les plas röcents, publik par Auguste Wahlen.
Brüxelles, Librairie Historique-artistique, 1843 — 1844. 4^- 4 Bde. (Lipp. 61).
Bd. IV (1844): Europa.
St. Watson, costumes of the middle age from authentic sources. London.
Hans Weigel s. Amman und Weigel.
Weiß. Kostttmkunde von Hermann Weiß. Stuttgart, Ebner & Senbert, 1860—1872.
8«. 3 Tle. in 5 Abt (Lipp. 71).
Tl. II: „Geschichte der Tracht und des Geräthes im Mittelalter vom 4. bis zum
14. Jahrhundert*'. 1864; Tl. III: „Geschichte der Tracht und des Geräthes vom
14. Jahrhundert bis auf die Gegenwart'*. 1872. Abt i: Das Kostüm vom 14. bis
zum 16. Jahrhundert. Abt 2: Das Kostüm vom 16. Jahrhundert bis auf die Gegen-
wart. — Eine 2., stark verkürzte Auflage erschien 1881—83, ^^ ^ ^^^' (^^* ^'
Geschichte der Tracht und des Geräths im Mittelalter) (Lipp. 72).
Nen-eröffnete Welt-Galleria | Worinnen sehr curios und begnügt unter die Augen
kommen allerley Aufzug und Kleidungen unterschiedlicher Stände und Nationen:
Forderist aber ist darinnen in Kupffer entworffen die Kayserl. Hoffstatt in Wien |
I) von Abt. II, Bd. 3 ab. — 2) von Abt. II, Bd. 3 ab: Phil. J. Schalbacher.
— 181 —
Wie dann aach Anderer hohen HXnpter Und Potentaten | Bifl endlich gar auf dea
mindesten Gemeinen Mann . . zusammengebracht | Von P. Äbrahamo ä 8, Cla/ra . .
and von Chriitoph Weigd in Kapffer gestochen | zu Ntiml>erg. 1703. foL (Lipp. 3a)
Johann Martin Will s. Scmmlung.
Wright. Womankind in westem Eorope from the earliest times to the seventeenth Cent-
ury. By Thomas Wright. London, Groom-Bridge and Sons. MDCCCLXDC kL 4
(Lipp. 77).
IL Spezielle Trachtenwerke.
I. Deutschland im Allgemeinen.
Arndt. Deutsche Trachten. Mit einer Vorrede von E. M. Arndt Berlin, L. W. Wittich,
181 5. 4* (Lipp. 655).
Nur ein Heft erschienen.
Dürer. Trachten-Bilder von Albrecht Dürer aus der Albertina. Wien, Wilhelm Brau-
müller, 1871. gr. fol. (Lipp. 663).
£. Duller, Deutschland und das deutsche Volk. Mit 150 Stichen, 50 kolor. Kupfer-
tafeln. Leipzig. 1845.
; Das deutsehe Volk in seinen Mundarten, Sitten, Gebräuchen, Festen und
Trachten geschildert von Eduard Duller. Leipzig, Georg Wigand, 1847. ^*^ (Lipp. 737) ^)*
Enthält Trachten aus: Österreich (Steiermark, Tirol, 10 Taf.), Hessen, Baden
(je 4 Taf.), Bayern, Württemberg (je 5 Taf.), Ostfriesland (3 Taf.), Osnabrück,
Braunschweig, Thüringen, Coblenz (je 2 Taf.), Schlesien, Magdeburg, Erfurt, Wetz-
lar, Lüneburg, Holstein, Vierlande, Altenland, Schaumburg, Göttingen (je i Taf.).
Eye. Kunst und Leben der Vorzeit vom Beginn des Mittelalters bis zu Anfang des
19. Jahrhunderts in Skizzen nach Originaldenkmälern. Zweite nach chronologischer
Reihenfolge zusammengestellte Ausgabe. Von Dr. A. von Eye und Jakob Fdlke^
Nürnberg, Bauer & Raspe, Julius Merz, 1859— 1862. 4*. 3 Bde. (Lipp. 334J,
Erste Auflage: 1855 — 1859.
Falke. Die deutsche Trachten- und Moden weit. Ein Beitrag zur deutschen Kultur-
geschichte. Von Jakob Falke. Leipzig, Gustav Meyer, 1858. 8^ 2 Tle. [= Deutsches
Leben. Eine Sammlung abgeschlossener Schilderungen aus der deutschen Geschichte
mit besonderer Berücksichtigung der Kulturgeschichte und der Beziehungen zur Gegen-
wart. Erster Band] (Lipp. 589).
: Zur Costümgeschichte des Mittelalters. [*■ Mitteilungen der K. K. Zentral-
kommissioo zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale. 5. Jahrgang. Wien. 1860].
: s. auch JS^.
XV Bücher von dem Feldbaw vnd recht volkommener Wolbestellung eines bekömmlichen
Landsitzes . . Deren etliche vorlängst von Carolo Stephane \ vnd Jch. LibaUo \
Frantzösisch vorkommen. Welche . . theyls vom . . Herrn Melchiore Sebieio . .
theylfl aufi leisten Libaltisclien zusetzen durch nachgemelten inn Teutsch gebracht
seind. Etliche aber an jetzo auffs New | erstlich aufi dem FrantzÖsischen letst-
mahls emewertem vnd gemehrtem Exemplar | So dann | aufi deß Herrn Doktoris
Gtargij Marij Publicierter Gartenkunst und forter | deß Herrn Joh. FischairH . .
CoUigirten Feldbawrechten . . hinzugethan worden. Gedruckt zu Straflburg | bey Bern-
hart Jobius (seligen) Erben | Im Jar 1598. fol. (Lipp. 1984).
Frühere Ausgaben: 1580. 1588. 1592. Das französische Original führt den Titel:
„ L'agriculture et maison rustique de Charles E^tierme*^ 1564.
F. D. Gräter, Braga und Hermode oder neues Magazin fUr die vaterländischen Alter-
tümer der Sprache, Kunst und Sitten. Leipzig. 1796 ff.
Hefner-Alteneck. Trachten des christlichen Mittelalters. Nach gleichzeitigen Kunst-
denkmalen von J. H. von Hefner-Alteneck. Frankfurt a. M., Heinrich Keller. Darm-
sUdt, Wilhelm Beyerle, 1840— 1854. 4*. 3 Abt. (Lipp. 321).
i) Die Tafeln allein erschienen auch unter dem Titel: „Deutsche Volkstrachten'*
(Leipzig, Bernhard Schlicke, o. J. 4^, 50 kolor. Tafeln.
— 182 —
Hefner-Alteoeck. Kunstwerke opd Geräthschaflen des Mittelalters und der Renaissance.
Heransgegeben von C. Becker and J. von Hefner-[Alteneck]. Frankfurt am MauL»
S. Schmerber'sche Buchhandlung Nachfolger Heinrich Keller, 1852 — 1863. 4^ 3 Bde.
(Lipp. 322).
; Trachten, Kunstwerke und Geräthschaften vom frühen Mittelalter bis Ende
des Achteehnten Jahrhunderts nach gleichzeitigen Originalen von Dr. J. H. von Hefoer-
Alteneck. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Frankfurt am Main, Heinrich
Keller, 1879— 1889. fol. 10 Bde. (Lipp. 323).
Die beiden erstgenannten Werke erchienen, zu einem vereint, unter obigem Titel
als eweiie Auflage, die auch das 17. und 18. Jahrhundert noch mit mnifafit
Hottenroth. Handbuch der Deutschen Tracht. Von Friedrich Hottenroth. Stuttgart,
Gustav Weise, 1896. 8<* (Lipp. 605).
«^^— ^— > : Deutsche Volkstrachten — Städtische und Ländliche — vom XVL Jahrhundert
an bis zum Anfange 1) des XIX. Jahrhunderts von Friedrich Hottenroth. Frank-
furt a. M., Heinrich Keller, 1898— 1902. 8^ 3 Bde. (Lipp. 742«).
Köhler. Die Entwickelung der Tracht in Deutschland während des Mittelalters und der
Neuzeit, mit besonderer Berücksichtigung der jezeitigeo, für die einzelnen Kleidungs-
stücke üblichen Herstellungsweise. Von Karl Köhler. Nürnberg, Friedr. Heerdegen'scbes
Antiquariat (Barbeck), 1877. 8^ (Lipp. 590).
Kretschmer. Deutsche Volkstrachten. Original-Zeichnungen mit erklärendem Text von
Albert Kretschmer. Leipzig, J. G. Bach. 1870. 4*^ (Lipp. 740).
Eine zweite vermehrte Auflage (Leipzig, J. G. Bach's Verlag Fr. Eugen Köhler)
erschien 1887 — 1^9^ (^ipP* 74^)* Unter dem Titel „Album Deutscher Volks-
trachten. Original-Zeichnungen mit erklärenden Notizen von Albert Kretschmer.
Leipzig, J. G. Bach, 1870. 4**'* erschien ein Auszug, enthaltend: T3rrol (4 BL),
Braunschweig (2 Bl.), Provinz Sachsen, Harz, Westphalen, Vierlande (je i Bl.),
Hannover, Churhessen. Würtemberg (je 2 Bl.), Baden (4 Bl.) (Lipp. 742).
Lantö. Costumes des femmes de Hambourg, du Tyrol, de la HoUande, de la Snisse^
de la Franconie, de TEspagne. du royaume de Naples etc. Dessin^, la plupart, par
M. Lantö, gravis par M. Gatine, et colori^s. Avec une explication pour chaque
planche. Paris. 1827. 4^ (Lipp. 571).
Opiz. Volks-Trachten der Deutschen. G. Opiz f. Bey Breitkopf & Härtel, Leipzig, am
1830. fol. (Lipp. 736).
Enthält: Vierländer und Sächsische Bauern, Rbeinpfalzer, Altenburger, Tiroler.
K. Preusker, Blicke in die vaterländische Vorzeit; Sitten, Sagen, Bauwerke und Geräthe,
zur Erläuterung des öffentlichen und häuslichen Volkslebens im heidnischen Alterthume
und christlichen Mittelalter. Leipzig. 1841.
L. Quaglio, Studien nach der Natur zur Landschaft-Staffierung. 24 Bl. Karlsruhe, Veiten.
Reichard. Matthäus und Veit Konrad Schwarz nach ihren merkwürdigsten Lebens-
umständen und vielfaltig abwechselnden Kleidertrachten ans zwey im Herzoglich-
Braunschweigischen Kunst- und Naturalienkabinette befindlichen Originalien ausführlich
beschrieben und mit Anmerkungen erläutert von EHias Caspar Reichard. Ein Bejrtrag
zur Geschichte der Kleidermoden, zur Beförderung der Menschenkunde und zur
Kenntnifi der Deutschen Sprache des 16. Jahrhunderts. Magdeburg. 1786. 8®
(Lipp. 651).
Beschreibt zwei Trachtenbücher des Braunschweiger Museums (s. auch u. Schlichtegroll).
Scheible. Die gute alte Zeit geschildert in historischen Beiträgen zur nähern Kenntnifi
der Sitten, Gebräuche und Denkart, vomemlich des Mittelstandes, in den letzten fünf
Jahrhunderten; nach grofientheils alten und seltenen Druckschriften, Manuscripten,
Flugblättern etc. Erster Band: zur Geschichte hauptsächlich des Stadtlebens, der
Kleidertrachten, des Hauswesens, der Kinderspiele, Tanzfreuden, Gaukler, Bankette,
Frauenhäuser, magischen Mittel, Kirchenfeste, Pilgerfahrten etc. Aus WUh, von
Beinöhls handschriftlichen und artistischen Sammlungen herausgegeben von J. Scheible.
Stuttgart, Selbstveriag, 1847. ^^ [=» ^'^ Kloster. Weltlich und geisüich. Meist
i) In Band II und III „bis zur Mitte.«
— 188 —
aus der älteren deatschen Volks-, Wunder-, Coriositäten- and vorzugsweise komischen
Litteratur. Zur Kaltnr- und Sittengeschichte in Wort and Bild. Band VI. Zelle
21—24] (Lipp. 587).
S. 54 — 137: ,. Einige der auffallendsten Kleidertracfaten der Vorzeit^'.
Schlichtegroll. Gallerie altteutscher Trachten, Gebräuche und Geräthschaften , nach
zuverlässigen Abbildungen aus den vorigen Jahrhunderten. Als ein Beitrag zur
Geschichte der Sitten gesammelt und mit historischen Erläuterungen begleitet von
einigen Freunden des teutschen Alterthums [von F. von Schlichtegroll]. Leipzig,
Industrie-Comptoir. 1802. 4^ 2 Hefte (Lipp. 654].
Enthält Abb. aus dem Reichard'schen Trachtenwerk (s. o.!) und den Anfang zu
einer Bibliographie der Trachtenkunde. Es erschienen nur die beiden Hefte.
Schotel. Bijdrage tot de Geschiedenis der kerkelijke en wereldlijke Kleeding. Door
Dr. G. W. J. Schotel. 's Gravenhage, P. H. Noordendorp, 1856. 8® (Lipp. 1826).
Schwindrazheim, Tracht und Schmuck. Mit 25 Abb. [» Sohnrey, die Kunst auf
dem Lande, Bielefeld, 1905. S. 203 — 224].
Tetzner. Die Slawen in Deutschland. Beiträge zur Volkskunde der Preufien, Litauer
und Letten, der Masuren und Philipponen, der Tschechen, Mährer und Sorben,
Polaben und Slowinzen, Kaschuben und Polen. Von Dr. Franz Tetzner. Braun-
schweig, Friedrich Vieweg & Sohn, 1902. 8^.
Thäter. Deutsche Trachten aus dem sechzehnten Jahrhundert, bearbeitet von Julius
Thäter. 1827. 4» (Lipp. 656).
Nur ein Heft mit Nürnberger Trachten erschienen.
XVn Vorstellungen von DeuUchen National-Trachten. Augsburg, C. F. BUrglen, 1800.
S\ Lipp. 735).
Frauentrachten aus Süddeutschland, Osterreich, Schweiz.
Zur Geschichte der altteuUcben Trachten und Moden. Erster Beytrag. Beschreibung
der Kleidertracht des Herzogs Lndolf und seiner Gemahlin Oda, nach einem Ge-
mälde aus dem 16. Jahrhundert, in der Stiftskirche des Klosters Gandersheim. 8®
[— Bragur. Ein Literarisches Magazin der Deutschen und Nordischen Vorzeit.
Herausgegeben von F. 2>. Gräter, Fünfter Band. Erste Abtheilung, S. 48 — 55«
Leipzig, Heinrich Gräff, 1797] (Lipp. 653).
Deutsche Volks-Trachten s. Butter,
Die alten Volkstrachten [=> Das Land, Organ für ländliche Wohlfahrts- und Heimat-
pflege II, S. 57. 218. 359; III, S. 25. 268; IV, S. 280; V, S. 87. 235. 334].
Wagner. Trachtenbuch des Mittel-Alters, eine Sammlung von Trachten, Waffen,
Geräthen usw. nach Denkmälern. Gez. und lithographiert von H. Wagner in München.
[München, Lindauer, 1830 — 1833]. qu. fol. (Lipp. 349).
Warn ecke. Sammlung historischer Bildnisse und Trachten aus dem Stammbuch der
Katharina von Canstein, Unter Mitwirkung des Frhn. Dr. E, B. von CangUm
herausgegeben von F. Wamecke. Berlin, H. S. Hermann, 1885. fol. (Lipp. 696).
Adlige aus Niedersachsen, Hessen, Westfalen.
2. Einzelne Länder und Landschaften.
Allgäu. Franz Zell, Volkskunst im Äügäu.
Altenburg.
Friese. Historische Nachricht von denen Merkwürdigen Cereroonien derer Altenbur-'
gischen Bauern, wie sie es nemlich bey Hochzeiten, Heimführung der Braut, Kind-
tauffen, Gesinde-Miethen , Beerdigungen, Kleidung und Tracht, wie auch mit ihrer
Sprache gemeiniglich zu halten pflegen . . . vorgetragen von M. Friderico Frisio, Lyc
Altenb. Con-Rect. Leipzig, Groschuff, 1703. 8® (Lipp. 2855).
Kronbiegel. Ober die Sitten, Kleidertrachten und Gebräuche der ÄUenburgischen
Bauern . . . von Carl Friedrich Kronbiegel. Zweite verbesserte Auflage. Alten-
burg, Christian Friedrich Petersen, 1806. 8*> (Lipp. 824Z).
Die erste Auflage erschien 1796.
Kronbiegel. Sitten, Gebräuche, Trachten, Mundart, häusliche und landwirthschaftliche
Einrichtungen der Ältenburgisehen Bauern. Dritte, gänzlich umgearbeitete Auf-
— 184 —
läge der Kronbiegerschen Schrift von Ca/rl Friedridi HempeJ . . . Mit einem Für-
wort von dem Bauer und Anspanner Zacharias Kresse in Dobraschütz an seine Stamm-
genossen. Altenborg, Schnnphase, 1839. 8® (Lipp> 825).
Friese. Magister Friedrich Friese . . . Historische Nachrichten von den merkwürdigen
Ceremonien der AUenburgiechen Bauern, 1703. Neudruck, mit Einleitung und
Anmerkungen versehen . . . Schmölln, Reinhold Bauer, 1887. 8® (L'ipp« 3856).
Volger, die Ältenb%irger Bauern in ihren Trachten, Sitten und Gebräuchen. Alten-
burg, Bonde, 1890.
Amberg (Bayern).
Wiltmaister. Die Kleidertracht der distinguirten Mannspersonen [»» Churpfalzische
Kronik, oder Beschreibung vom Ursprünge des jetzigen Nordgau und oberen Pfalz,
derselben Pfalzgrafen, ChurfÜrsten und andern Regenten, nebst den . . . Merkwürdig-
keiten der churfUrstl. oberpfölzischen Haupt- und Regierungsstadt Amherg' Zusammen-
getragen und beschrieben von Johann Kaspar von Wiltmaister. Sulzbach, Johann
Baptist Haimerle, 1783. S. 587—589] (Lipp. 761).
Atsendoil
Rabe, Ans vergangener Zeit. Schönebeck a. E, Georg Wolff, o. J. [«= Sep.-Abdr.
aus dem „ Schöneberger Gen.-Anz.^^].
Bräuche bei Hochzeiten, Kindtaufen und Leichenbegängnissen, sowie Tracht um 1 750
nach der HandschrifUichen Chronik des Pcuicre Carstedt zu AUendorf.
Angiburg.
Schmidt. Vorstellung der Augspurgischen KleitertrtkcMj verlegt und zu finden bey
Albrecht Schmidt in Augspurg. [Um 1720]. fol. (Lipp. 766).
Engelbrecht. La Mode d^Augshaurg. Augspurgische Kleider Tracht. Anno 1739.
Martin Engelbrecht. (Lipp. 770).
Rohbausch. Sammlung AugspurgiscJier Kleider- Trtichten, In Verlag Joh. Michael
Motz seel. Erben. Collection de divers habits, usites dans la Ville d'Augsbourg
par les deux Sexes. Augsbourg, aux depens des Heritiers du feu Jean Michel Motz.
O. J. (Lipp. 771).
Die Stiche sind von Helena Regina Rohbausch.
Baden (s. auch ,^Schwarewald''),
Schreiber. Trachten, Volksfeste und charakteristische Beschäftigungen im Oroß"
hereogtum Beiden in XII malerischen Darstellungen und mit historisch-topographischen
Notizen begleitet von Aloys Schreiber. Freiburg, Herder, 1825. 3 Hefte, qu. fol.
(Upp. 743).
Badenia oder das hadische Land und Volk, eine Zeitschrift für vaterländische Ge-
schichte und Landeskunde mit Karten, Lithographien und colorierten Abbildungen
van Landestrachten . . . herausgegeben von Dr. Josef Bader. Karlsruhe und Frei-
burg, Herder, 1839—44. 3 Jahrg. 8<» (Lipp. 745).
Badenia oder das beuUsche Land und Volk, Eine Zeitschrift zur Verbreitung der
historisch-topographisch-statistischen Kenntnis des Großherzogtums. Herausgegeben
von Dr. Joseph Bader . . . Heidelberg, Adolph Emmerling, 1859 — 1862. 2 Bde.
80 (Lipp. 746).
Bader. Badische Volkssitten und Trachten von Dr. Joseph Bader . . Karlsruhe,
Kunstverlag [1843-— 1844]. 8<> (Lipp. 748).
Lallemand. Les ptxysans badois. Esquisse de moeurs et de coutomes. Texte et
dessins par Charles Lallemand. Strasburg, Salomon libr. Bade, D. R. Marx libraire,
[1860]. gr. 4*^ (Lipp. 750).
Gl eich au f. Beulische Landestreuihten im Auftrage des grofiherzogl. badischen
Handelsministeriums herausgegeben von H. MüUer's Kunstverlag in Stuttgart, [1862].
gr.-fol. (Lipp. 751).
Zeichnungen von B. Gleichauf,
Bad is che Volkstrachten. Freiburg i. Br., 1870. (Lipp. 752).
Gageur. Das Trachtenfest zu HeuUich im Kineigtal am 4. Juni 1899. Dargestellt
— 185 —
▼OD Karl Gageur. Freibnrg i. Br. , UDiversitätsdnickerei H. M. Poppen & Sohn,
1899. gr. 8® (Lipp. 752«).
Franz Weinit£, Zur älteren Volkskunde des Oroßherzofftums Baden [= Mittheilongen
aus dem Mosenm für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes zu
Berlin C, Klosterstr. 36. Berlin, Rudolf Mosse, 1900. Heft 6, S. 265—268].
Elard Hugo Meyer, Baditehes Volksleben im neunzehnten Jahrhundert. Strafiburg,
Trübner, 1900.
Bayern (s. a. Allgäu, Aniberg, Augsburg, Berehtesgctden, Nürnberg),
F. vonPaulaSchrank, Reise nach den südlichen Gebirgen von Bayern, München, 1 793.
Josef Hazzi, Statistische Aufschlüsse über das Herzogtum Baiem, Nürnberg, 1801.
Rheinwald. Baierische VolkstraMen, herausgegeben von J. C. L. Rheinwald.
München, 1804. fol. (Lipp. 753).
Quaglio. Oberbayrische Volkstrachten, Gezeichnet von Lorenz Quaglio. München,
um i8ao. 4® (Lipp. 754).
Lipo WS ki. Sammlung Bayerischer National -Gostüme mit historischem Text von
Herrn Felix Joseph Lipowski. München, Hermann & Barth, um 1830. fol. 12 Hefte
(Lipp. 755).
Lommel & Bauer. Das Königreich Bayern in seinen acht Kreisen bildlich und
statistisch • topographisch sowie in acht historisch - geographischen Spezialkarten
bearbeitet von einem Verein von Literaten und Künstlern unter Leitung des Archiv-
beamten Lommel und des Artilleriehauptmanns Bauer. Nürnberg, Johann Thomas
Schubert, 1836. gr.-fol. (Lipp. 757).
Trachten des bayerischen Hochlandes, 24 farbige Blätter. München, Max Ravizza, um 1 850.
Adelmann. Bayerische Trachten Ünterfranken . . herausgegeben von Dr. Leofrid
Adelmann. Würzburg, Verl. des polytechn. Vereins, 1856. 4^ (Lipp. 758).
: lUiyerische Trachten Mittelfranken , , herausgegeben von Dr. Leofrid Adel-
mann. Würzburg, Verl. des pol3rtechn. Vereins, 1858. 4° (Lipp. 759)*
Bavaria. Landes- und Volkskunde des Königreiches Bayern, München, 1860.
Jakob Grofi, Volkstrachten im Baierischen InntJutle, Sammlung von Abbildungen
nach Votivtafeln in den Kirchen um Simbaeh am Inn, 1860.
Noch unveröffentlicht; vgl. Hottenroth, Deutsche Volkstrachten vom 16. Jahrhundert
an bis zum Anfange des neunzehnten Jahrhunderts. Frankfurt a. Main, Heinrich
Keller. Bd. I (1898) S. 208.
Enhuber. Deutsches Volksleben in 13 Bildern nach Melchior Meyr's Erzählungen aus
dem Ries von Karl von Enhuber. Photographiert nach den Original - Ölgemälden
mit Text von Melchior Meyr, Berlin, G. Grote, 1869. qu. fol. (Lipp. 760).
Bronner, Vier Perlen des bayerischen Hochlandes, Leipzig, 1890.
Frefil, Die Tracht des baiwarischen Volkes vom Anfang bis zur Mitte dieses Jahr-
hunderts [= Korrespondenzblatt f. Anthropologie, Bd. XXIIl, 1892, S. 49 — 53].
Volkstümliche Hausmalereien im bayerischen Hochland [= Altbayerische Monats-
schrift 1900, S. 156].
Zell. Bauern - Trachten aus dem bayerischen Hochland . . Herausgegeben von Franz
Zell. München, Verl. der Verein. Kunstanstalten A.-G., 1903. fol. (Lipp. 760«).
Max Haushofe r, München und Bayerisches Hochland, Mit 102 Abb. und Karte.
Bielefeld und Leipzig. 1902 [= Land und Leute. Monographien zur Erdkunde,
herausgegeben von A. Scobel, Nr. 6].
Berchtetgaden (s. a. „Bayern**),
Ludwig Sailer, Bilder aus dem bayerischen Hochgebirge.
Eduard Richter, Das Land Berchtesgaden [= Zeitschrift des Deutschen und Oster-
reichischen Alpenvereins, 1885, S. 295].
Berlin.
Dörbeck. Berliner Ausrufer, Costüme und locale Gebräuche gezeichnet von Dörbeck.
Berlin, Gebr. Gropius, um 1830. 4** (Lipp. 819).
— 186 —
Schwebe 1. Zur Trachtengeschichte von Alt •Berlin. Von Oskar Schwebel. [=» Zeit-
schrift f. deutsche Kolturgf schichte. Nene Folge . . . herausgegeben von Dr. Christian
Meyer. Berlin, Hans Lüstenöder. Bd. II, Heft 2, 189a, S. 206—325. 8^ (Lipp. 820).
Blankenese.
E. Clemens, Die Blankeneser Trachten. Mit einer Dreifarbendrucktafel. [= Mit-
teilungen ans dem Altonaer Museum I, Heft 6, S. 87 — 90].
Böhmen (s. a. „Egerland", „Ktihländchm*').
Grüner. Böhmi8che VolkstracfUen. V. R. Grüner del. et sc. Prag, C. W. Ender»,
um 1830. 4® (Lipp. 874).
J. E. Wocel, Böhmische Trachten im Mittelalter. [« österreichische Blätter, 1844,
Nr. 65].
Langer, Deutsche Volkskunde aus dem ösÜichen Böhmen. Jahrgang III.
Brandenburg.
Fedor von Zobeltitz, Berlin und die Mark Brandenburg, Mit 185 Abb. und einer
Karte. Bielefeld und Leipzig, Velhagen & Klasing, 1902. [^ Land und Leute.
Monographien zur Erdkunde, herausgegeben von A. Scobel, Nr. 14].
Braunschweig.
Richard Andree, Braunschweiger Volkskunde. 2. vermehrte Auflage. Mit 12 Tafeln
und 174 Abb., Plänen und Karten. Braunschweig, Fr. Vieweg & Sohn, 1901.
Schattenberg, Die brawMchvjeigische Volkstracht im Dorfe EiUsum [*■ Brann-
schweiger Magazin II, 1896, S. 28].
Richard Andree, Braunschweigische Bauemtrachtbilder [^ Beiträge zur Anthropologie
Brannschweigs. Festschrift zur 29. Versammlung der deutschen Anthropologischen
Gesellschaft zu Braunschweig im August 1898. Braunschweig, Friedrich Vieweg & Sohn,
1898, S. 23-33].
Bremen.
Peter Koster, Afitkonterfeiung der Stadt Bremen mit samt öhrer kleidnng in hoch-
tidtlicken Dagen. Anno 161 8.
; Warhafte Kurtze und Einfältige Beschreibung dessen, Wass sich von Anno
1600 bishero In der Kayserl. Freyen Reichs- und Hansestadt Bremen zugetragen
Anno 1685 und folgends continuiret bis zu Ende des I700sten Jahres.
Handschrift; s. Hottenroth, Deutsche Volkstrachten vom 16. Jahrhundert an bis
um die Mitte des 19. Jahrhunderts (Frankfurt am Main, Heinrich Keller, 1900),
Bd. II, S. 187.
Kohl. Denkmale der Geschichte und Kunst der freien Hansestadt Bremen. Heraus-
gegeben von der Abtheilung des Künstler -Vereins für Bremische Geschichte und
Alterthümer. Bremen, C Ed. Müller, 1870. 40 (Lipp. 803).
Zweite Abteilung: Episoden ans der Cnltur- und Kunstgeschichte Bremens von
J, G. Kohl; Kap. 5: Zur Geschichte der Moden und Trachten in Bremen im
16. und 17. Jahrhundert.
Dansig.
Anton Möller, Der Dantzger Frawen und Jnngfrawen gebrauchliche Zierheit vnd
Tracht, so itziger Zeit zu sehen. 1601.
; Anton Möllers Daneiger Frauentracht enbuch aus dem Jahre 1 601 in getreuen
Faksimile • Reproduktionen neu herausgegeben nach den Original - Holzschnitten mit
begleitendem Text von A. Bertling, Danzig, Richard Bertling, 1886. 4^ (Lipp. 822).
Dithmarschen (s. a. „Frieskmd'', „Hohtein".)
Georgias Braun, Diversi Dithmarsorum et vicinnarum gentium habitus. 15 74«
Auch unter dem Titel: „Georgius Braun et Franz Hohenberg, Contrafactur vnd
Beschreibung der vomembsten Stät der Welt^^
Bgerland.
Pröckl. Eger und das Egerland, Historisch, statistisch und topographisch dargestellt
von Vincenz Pröckl. Prag und Eger, C. W. Medau & Co., 1845. > Bde. 8*
(Lipp. 876).
— 187 —
Mttller. Die Egerländer Tracht im 19. Jahrhundert. Von Med. Dr. Michael Müller.
[mm Unser Egerland. Blätter ftlr EgerU&nder Volkskunde, Jahrg. II , Nr. i. Eger,
1898] (lipp. 876m).
Grttner. Ans Sebastian Grüners Manuskript „Ober die Sitten und Gebräuche der
Egerländer'' [= Unser Egerland. Blätter fUr Egerländer Volkskunde, Jahrg. III,
Nr. 3. 4. Eger, 1899] (Lipp. 876«»).
Alois John, Oberlohma. Geschichte und Volkskunde eines egerländer Dorfes. Mit
3 Photographien, 3 Plänen und einer Kartenskizze. Prag, J. G. Calve, 1903.
[=s Beiträge zur deutsch • böhmischen Volkskunde. Geleitet von Prof. Dr. Adolf
HauflFen. Bd. IV, Heft a].
Blsaüi (s. a. „Straßbwrg''),
Henri Garnier, Costumes des Regiments et de Milices A'ÄUact et de la Sarre pendant
les XVn et XVm si^cles.
Enthält auch bürgerliche Trachten.
Die Tracht von Mietesheim. [= Jahrb. f. Geschichte und Altertumskunde Elsaß-
Lothringens XIU, 227 flF. (1897)].
Laugel & Spindler. Trachten und Sitten im EUqft. Text von A. Laugel. Illu-
strationen von Ch. Spindler. Straßburg, Elsäßische Druckerei vorm. G. Fischbach,
1900—1902. gr. 40 (Lipp. 795*)-
FriesUnd und Priesische Inseln (s. a. „Holstein^
Waaragtige Beschryvinge von Friesland Door Ackam Scharlenaem (Scharlinger)
S. Hottenroth, Handbuch der deutschen Tracht. Stuttgart, Gustav Weise. S. 403.
G>melius Kempius, Documensis de origine,. situ, qualitate Fristete, Köln, 1588.
Ubbo Emmi US, rerum Frisicantm Historia. 1596. (2. Ausgabe 16 16).
Schneider. Saxonia vetus et magna in parvo. Oder: Beschreibung des alten Sachsen-
Landes, darinnen gelegener Fürstenthümer, Graf- und Herrschafften, Vestungen,
Schlösser . . . wie auch verschiedener Jahr • Geschichte biß auf diese Zeit . . . be-
schrieben , von Caspar Schneidern . . . und ediret von Johann Conrad Knauth,
Dresden, Johann Christoph Zimmermann und Johann Nicolaus Gerlach, 1727. 4®
(Lipp. 584).
Seite 293 enthält die Schilderung einer besonderen JVacht friesischer Frauen.
Ernest Joachim de Westphalen, Monumenta inedita rerum germanicarum praecipue
Cimbricarum et Megapolensium. Lipsiae, 1739.
Christian Jensen, Die Nordfriesischen Inseln Sylt, Föhr, Amrum und die HcUligen
vormals und jetzt. Mit besonderer Berücksichtigung der Sitten und Gebräuche be-
arbeitet. Hamburg, Verlagsanslalt A.-G. vorm. J. F. Richter, 1891. 8® (Lipp. 800).
^kifriesische Volks- und Rittertrachten um 1500 in getreuer Nachbildung der
Originale des Häuptlings üniko Manninga in der GräHich Knyphausenschen Haus-
chronik zu Lützburg . . . mit einleitendem Text vom Grafen Edzard zu Innhausen
und Knyphausen und Vorwort von Prof. Rudolf Virchow und Dr. Ulrich Jahn,
herausgegeben von der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer
zu Emden. Emden, W. Schwalbe, 1893. [= Sep.-Abdr. aus dem „Jahrbuch" der
GeseUschaft, 1893] 8» (Lipp. 801).
Engen Bracht, Volkstümliches von den Nordfriesischen Inseln. [=» Mittheilungen aus
dem Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes in
Berlin C, Klosterstr. 36. Heft 6. Berlin, Rudolf Mosse, 1900. S. 226—264].
E. Clemenz, Die Föhringer Tracht seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. [== Mit-
teilungen aus dem Altonaer Museum, 1902, Heft 3, S. 47 — 51].
HaUe.
Friedrich Hondorff, Das Salz- Werk zu Hcdle in Sachsen. 1670.
Alfred Kirchhoff, Die Halloren in ihrer alten Tracht. 1888.
Hamburg (s. a. „Bkmkenese", „Vierlande%
Suhr. Die Hamburger Gebräuche und Kleidertrachten, nach den Zeichnungen von
Christoph Suhr gestochen von Cornelius Suhr. Hamburg, 1806. foL (Lipp. 806).
— 188 —
Snhr. Der Ausruf in Hamburg vorgestellt io Einhundert und Zwanzig Colorirten
Blättern gezeichnet radirt und geäzt von Suhr, mit Erklärungen . . . von K, J. H,
Mübbe, Hamburg, 1808. 8<» (Lipp. 807m).
Bnek. Album Hamburgischer Costüme. In sechsundneunzig, von mehreren Künstlern
nach der Natur gezeichneten Blättern. Mit erläuterndem Text von F. G. Buek.
Hamburg, B. S. Berendsobn, 1843 — 1^4 7* ^^ (I^ipP* S^^)*
Jessen. Trachten aas ÄU-Hamburg. 8^ (Lipp- 809).
Hannover.
Bergmann, Bilder aus dem Tuitmöverschen Wendlande. Originalphotographien.
Lüchow, 1899.
Verzeichnis der früher im hannoverschen Wendlande gebräuchlichen Trachten und
Geräte, gesammelt für das Museum zu Lüneburg. Lüchow, 1893.
Parum Schulze. Nachricht von der Chronik des Wendischen Bauern Johann Parum
Schulze, [ma Annalen der Braunschw.-Lüneb. Churlande 1794, VIII, 2. S. 369 — 288]
Steinvorth, Das hanntwersche Wendland. Bremen, 1 886 [= Deutsche geographische
Blätter, herausgegeben von der Geographischen Gesellschaft in Bremen, durch
Dr. M. Lindemann, Bd. IX, S. 141 — 154].
Helgoland.
Danckwerth und Harrwitz. Helgoland einst und jetzt. Bericht von Kaspar Danck-
werth vor ungefähr 250 Jahren über die Insel geschrieben, neu herausgegeben mit
Vorwort und Anmerkungen, sowie mit einer Bibliographie über Helgoland versehen
von Max Harrwitz. Berlin, Max Harrwitz, 1891. 8^ (Lipp* 799)'
Hessen (s. a. ^. Hinterland ^\, Hüttenberg *^,
Julie' Schlemm, Zur Volkskunde dtr Schwaltn in Hessen. Mit 44 Abb. nach Zeichnungen
der Verfasserin [= Mittheilnngen aus dem Museum ftir Deutsche Volkstrachten und
Erzeugnisse des Hausgewerbes zu Berlin C, Klosterstrasse 36. Heft 3. Berlin, Rudolf
Mosse, 1898. S. 89—117].
Enthält weitere Litteratur über die Schwalm.
H e fi 1 e r. Hessische Landes- und Volkskunde. Das ehemalige Kf^rhessen und das fftntcr-
land am Ausgange des 19. Jahrhunderts. In Verbindung mit dem Verein für Erd-
kunde und zahlreichen Mitarbeitern, herausgegeben von Carl Heßler. Marburg,
N. G. Elwert, 1904. 2 Bde. 8« (Lipp. 802»).
Justi. Hessisches Trachtenbuch von Ferdinand Justi. Mit 32 Blättern in Farbendruck,
einer Karte und 6 in den Text gedruckten Abbildungen. Marburg, N. G. Elwert,
I905' gr. fol. (Lipp. 802 c).
Volkstrachten und Sitten im Hinterlande [= Das Land, Organ für ländliche Wohl-
fahrts- und Heimatpflege III, S. 23. 24].
Hessisches Hinterland [= Die Nassauischen Volkstrachten . . bearbeitet von Fried-
rich Hottenroth. Wiesbaden, 1905. S. 29 — 40].
Karl Spieß -Bottenhom, Das nassauische Trachtenbuch. Nachträge und Berichtigungen
[= Nassovia. Zeitschrift für nassauische Geschichte und Heimatkunde. Heraus-
gegeben von Dr. C. Spielmann. Wiesbaden, P. Plaum. VII, 1906, Nr. 16, S. 196—199;
vgl. Berichtigung hierzu ibid. Nr. 17, S. 216 (Briefkasten)].
Hinterland s. Hessen,
Holland.
Buytenweg. Trachten der Holländerinnen. W. Buytwech. 1645. 40 (Lipp. 935).
Jacob Cats, Alle de Wercken soo Oude als Nieuwe. Amsterdam. 171 2. 2 Tle. fol.
(Lipp. 942).
Cauwe, De ijdelheyt on eerbaereheyt ende overdaet der vrauvelijke kleedem ende cie-
raten. Gent, 1676.
Hooghe. Figures a la mode inventez et gravez par R. de Hooge et mis en lumiere
par N. Vischer. Amsterdam um 1700. 8* (Lipp* 94i)*
Ehrmann, Die Holländer. Eine karakteristische Skizze aus der Völkerkunde. Nach
— 189 —
den befiten und neuesten Schriftstellern ausgearbeitet. Leipzig und Jena, Adam
Gottlieb Schneider, 1791. 8** (Lipp. 949).
Roode, Costumes publies en Hollande. 1793.
The costumes of the Netlierlands, 30 col. engravings after drawings from natuve bj
Miss Semple, With descriptions in English and French. London, Ackermann's
Repository of arts, 1817. gr. 4'* (Lipp. 958).
Afbeeldingen van de Kleedingen, Zeden en Gewoonten in de noordelijke provincien
▼an^ het Koningrijk der Nederlanden met den aanvang der negentiende Eeuw
By E. Mcuukamp. Amsterdam 1823. Tableaux des HabiUements , Moeurs et Cou-
tumes dans les provinces septentnonales du rojaume des Pays-Bas, au commen-
cement du dix-neuvi^me si^cle. Cbez E. Maaskamp. Amsterdam 1823. 4^ (L.ipp. 953)*
Troost. Tafereelen uit het burgerlijke Leven van de Hollanders in de achttiende
Eeuw door Comelis Troost. Seines tirees de la vie domestiquc des Hollandais aux
dix-huiti^me si^cles peintes par Corneille Troost. Publik par E. Maaskamp. Amster-
dam, 181 1. gr. qu.-fol. (Lipp. 957).
Shoberl. The world in miniature; edited by Frederic Shoberl. The Netherlands;
containing a description of the character, Manners, Habits, and Costumes of the
Inhabitants of the late seven united Provinces, Flanders and Brabant, London,
R. Ackermann, 1823. 12^ (Lipp. 959).
Greeveo. CoUection des Costumes des provinces septentnonales du royaume des
PayS'BaSj Z^essines d' apr^s nature par H. Greeven et Ljthographies par Vallon
de Villeneuve. Amsterdam, Frangois Buffa et fils. Paris, Engelmann et Co., 1828.
4« (Lipp. 960).
Perkois & Prins. Verzameling van verschillende Gekleede Mans — en — vrouwen —
standen, ter Oefening van jonge Schilders en Liefhebbers. Naar het leven geteekend
door de Kunstteekenaars Perkois en Prins en in het Kopcr gebragt door den Kunst-
graveur M. de Sallieth. Te Amsterdam, bij Gebroeders Koster, 1836. fol. (Lipp. 964).
De Nederkmden. Karakt erschetsen, Kleeder Dragien, Honding en Voorkomen van
verschillende standen. Tekst van de meest geachte Schrijvers, met Gravuren van
den Heer Henry Brown, naar Teekeningen van de voomaamste nederlandsche
Kunstenaren. 'sGravenhage, Nederlandsche Maatschappij van schoone Künsten,
1841. 8'» (Lipp. 965).
Vigne. Vade-mecum du peintre ou recueil de costumes du moyen-Äge pour servir k
Thistoire de la Belgique et pays circonvoisins, par Felix de Vigne. 2iime Edition.
Imprimerie de Busscher fr^res, k Gand, 1844. 2 Bde. 4® (Lipp. 967).
Kleederdragten en Typen der Bewoners van Nederland. Amsterdam, P. G. van
Lom, um 1850. 8® (Lipp. 969).
Bing en Braet van Überfeldt Nederlandsche Kleederdragten naar de Natnur ge-
teekend, in Kleur gelithographeerd door Valentyn Bing en Braet van Ueberveldt.
Costumes des Pa3rs-Bas. Amsterdam, Bufia en Zoonen, 1857 (Lipp. 969m).
De Oude Tijd. Geschiedenis — Maatschappelijk en Huiselijk Leven — Monumenten —
Volkseigenaardigheden — Oberleveringen — Kunst — Nijverheid — Gebruiken —
Kleeding — Volksverhalen — Spreekwoorden — Liedjes uit Noord en Zmd-
Nederland. Onder Leiding van David van der Kellen jr. Met Medewerking
van Noord-en Zuid-Nederlandsche Geschied en Oudheidkundigen en Kunstenaars.
Haarlem, A. C. Krusemann, 1869 — 1874. 6 Bde. 8^ (Lipp. 971).
Katalogus van de Tentoonstellung van Nationale Kleederdragten bijeengebracht ter Gelegen-
heid van de Inhuldiging van Hare Majesteit Koningin Wilhelmina 1898. 8^
vgl. Zeitschrift des Ver. f. Volkskunde JX, 1899, S. 204.
Holsteiii (s. u. „ Dithmar sehen** und ^,Friesland*').
Nationaltrachten verschiedener Völkerschaften in Dänemark und ScJhleswig'Holstein,
Hamburg, um 1800.
Hüttenberg (s. a. „Hessen").
Eduard Otto, Die Hüttenberger Volkstracht [»Zeitochrift des Ver. f. Volkskunde Vm,
1898, s- 361-379].
— 190 —
Storch. Lieb Heimatland. Eine Fettgabe zu dem Heimatpflege- nod Volkstrachtenfest
za Butzbach im Juni 1906. Verfaflt von A. Storch-Batebach. Bachdrnckerei
C. Schneider, Butzbach, o. J. 8®.
Koborg.
Eduard Hermann, Gebränche bei Verlobuig und Hochzeit im Herzogtum Koburg
[— Zeitschrift des Ver. f. Volkskunde XIV, 1904, S. 279—289. 377 — 384].
Kuhländchen (Böhmen).
Alexander Hansotter, Beiträge zur Volkskunde des KüMändehena. UL Hochzeits-^
Tauf- und Trachtgebrauche im KuhländcJhen vor 100 Jahren [a> Zeitschr. f. österr.
Volkskunde IX, 151 — 160. 226—234].
Lausiu (s. u. „Sachsen'*).
Anton, Erste Linien eines Versuches über der alten Slawen Ursprung, Sitten, Gebräuche^
Meinungen und Kenntnisse. Leipzig, Böhme, 1783/89.
Gräfe, Tracht der Sorbenwenden [= N.-Lausitzer Magazin XI, S. 342 — 347].
Leske, Reise durch Sachsen. Leipzig, 1785.
Müller, Das Wendentum in der Niederlaueitz^ Kottbns, H. Di£fert, 1894.
Franz T e t z n e r , Die Sorben [== Die Slawen in Deutschland. Beiträge zur Volkskunde.
Braunschweig, Friedrich Vieweg & Sohn, 1902. S. 282 — 344].
L«ipsig.
Richter. Unterweisung fUr Anfänger beyderley Geschlechts im Zeichnen . . von Johann
Salomon Richter. Leipzig, Johann Baptiste Klein, 1790—91. fol. 5 Tle. Teil V:
Leipziger Nationaltrachten. (Lipp. 826).
Vgl. hierzu: Wustmann, Leipziger Ausrufer vor hundert Jahren [= Zeitschrift
des Leipziger Mefiverbandes, herausgegeben vom Meflausschufl der Leipziger
Handelskammer. 1896. Heft 18. Leipzig, Frankenstein & Wagner] (Lipp. 827).
Litauen.
Lepner. Der Preusche lAUauer oder Vorstellung der Nahmens-Herleitung , Kind-
Tauffen, Hochzeit, Leibes- und Gemütbsbeschaffenheit, Kleidung, Wohnung, Nahrung
und Acker-Bau, Speise und Trank, Sprachen, Gottesdienst, Begräbnisse und andere
dergleichen Sachen der Littauer in Preussen kürtzlich zusammengetragen von Theodoro
Lepner . . im Jahr 1690 . . Danzig, bey Joh. Heinrich Rüdigem, 1744. 8® (Lipp. 812).
Krause, Litauen und dessen Bewohner. Königsberg, 1834.
G lag au, Litauen und die Litauer. Tilsit, 1869.
August Kuntzc, Bilder aus dem preussischen Litauen. Rostock, 1881.
Alb. Zweck, Litauen, Eine Landes- und Volkskunde. Mit 66 Abbildungen . . Stutt-
gart, Hobbing & Büchle, 1898. 8^ [«> Deutsches Land und Leben in Einzelschilde-
rungen. Stuttgart, Hobbing & Büchle. Abt. i. Bd. I].
Franz Tetzner, Die LitatiCr [==» Die Slawen in Deutschland. Beiträge zur Volkskunde.
Braunschweig, Friedrich Vieweg & Sohn, 1902. S. 24 — 112].
Lrttneburger Heide.
E. Kück, Die alte Frauentracht der Lüneburger Heide, [= Zeitschrift des Ver. f.
Volkskunde XII, 1902, S. 472 f.].
-^^— : Das alte Bauemieben der Lüneburger Heide. Leipzig, Theodor Thomas
1905.
Marschen.
A. Tienken, Kulturgeschichtliches aus den Marschen am rechten Ufer der Unterweser
[= Zeitschrift des Ver. für Volkskunde DC, 1899, S. 292 ff.]
Mecklenburg.
Emest Joachim de Westphalen, Monumenta inedita rerum Germanicarum praecipne
Cimbricarum et MegapoUnsium. 1595.
Lisch. Mecklenburg in Bildern redigiert und mit erläntemdero Texte begleitet von
G. C. F. Lisch. Rostock, J. G. Tiedcmann, 1842—45. 4 Tle. 8" (Lipp. 797).
— 191 —
Nahe (s. a. „BheiiiUmd'^.
Theodor Wolff, Volksleben an der oberen Nahe [=> Zeitschrift des Vereins f. Volks«
knnde XII, 1902, S. 308^316].
Naasan.
Friedrich Hottenroth, Die nassauischen Volkstrachten. Auf Gnind des yom f Amts-
gerichtsrat a. D. Düssell gesammelten Materials bearbeitet. Herausgegeben vom
Ver. für Nass. Altertomskonde und Geschichtsforschung. Wiesbaden, Selbstverlag
des Vereins, 1905.
Niedersachsen.
MüUer-Brauel, Niedenächsisehe Volkstrachten. [= Sep.-Abdr. aas „ Niedersachsen ^S
Halbmonatsschrift. Bremen, Carl Schttnemann, 1902] 8® (Lipp* 802«).
: Das erste niedersächsisehe Volkstrachtenfest ta Scheessel. Mit Beiträgen
von . . 0. Lehmann, Dr. Karl Schäfer, Oskar Schmndrazheim, Johannes Kruse,
Hannover, Gebrüder Jänecke, 1904. gr. 8® [=» Beiträge zur niedersächsischeo
Volkskonde 11] (Upp. 802 k).
D. Schariinghaosen, Das erste niedersächsische Volkstrachtenfest [■* Zeitschrift
des Vereins fUr Volkskunde XIV, 1904, S. 439 — 444].
Nürnberg.
Bauer. Nürnbergische Kleider-Trachten der Manns- und Weibs-Personen, Neu heraus-
gegeben und verlegt durch Johann Alexander Bauer, Kunsthändlern in Nürnberg am
Fischbach, Anno 1689. qu. 4^ (L>ipp< 7 77)«
Nürnbergische Kleiderarten. In Veriegung Johann Cramers Buchhändler in
Nürnberg. 1669. qu. 4® (Lipp. 774).
Deutliche Vorstellung der Nürhbergischen Trachten, Nürnberg, Christoph Weigel,
1701 (Lipp. 781).
Hottenroth, Handbuch der deutschen Tracht, (Stuttgart, Gustav Weise), S. 731
nennt eine Ausgabe von 1 760.
Friderich. Nürnberger Trachten. Gezeichnet und gestochen von Jacob Andreas
Friderich. Augsburg, Jeremias Wolff, um 1720. foL (Lipp. 782).
Kleidungsarten und Prospecten zu Nürnberg, La maniöre de s'habiller ^
Nuremberg et les vues de cette ViUe. allda zu finden bey Pet. Con. Monath, um
1770. kl. 8» (Lipp. 783).
Fischer. Statistische und topographische Beschreibung des Burggraf tums Nürnberg
unterhalb des Gebürgs; oder des Fürstentums Brandenburg - Anspach. . . Heraus«*
gegeben von Johann Bernhard Fischer. Anspach, 1787. 2 TIe. 8® (Lipp. 762).
T h ä t e r. Deutsche Trachten ans dem sechzehnten Jahrhundert , bearbeitet von Julius
Thäter. 1827. O. O. (Lipp. 656).
Es erschien nur Heft i mit Nürnberger Trachten.
Mayer. Des alten Nürnbergs Sitten und Gebräuche in Freud und Leid. Geschildert
von Moritz Maximilian Meyer. Nürnberg, Johann Jakob Lechner, 1831 — 36. 3 Hefte«
4' (Lipp. 787).
Teil UI: Nümtmrgisches Trachtenbuch. 1836.
Marx, Trachtenbach zur Geschichte der Reichsstadt Nürnberg, Nürnberg, Fr. Heerdegei\
(BarbeckX 1873. 4** (Lipp. 788).
Österreich.
Masner. Die Costüm-Ausstellung im k. k. österreichischen Museum 1891. Ihre wicht
tigsten Stücke, ausgewählt und beschrieben von Dr. Karl Masner. In Lichtdruck
herausgegeben von J, Löwy, Wien, J. Löwy, 1894. qu.-fol. (Lipp. 97).
Behandelt vornehmlich die Kleidung des 16. bis 19. Jahrhunderts und liefert ftlr
die Trachten der Völker Österreich- Ungarns , . besonders reiches MateriaL
Alexander. Pictaresque representations of the Dress and Manners of the Austrians ..
with descriptions. By William Alexander. London, printed for Thomas M'Lean . ,
By Howlett and Brimmer, 18 13. 8® (Lipp. 832).
— 192 —
Serres. IjAutriche ou moenrs, osages et costumes des habitmnts de cet Empire . .
par M. Marcel de Serres. Paris, A. Nepven, 1821. 12^ 6 Bde. (Lipp. 833).
K i n i n g e r. Costaines des differentes nations composant les ^tats hereditaires de S. Bf.
et R. dessinös par Kininger . . Dedi^s 4 Madame Tarchidnchesse Marie Louise
par T. MoUo et Comp. Wien, um 1821. 4" (Lipp. 834).
Es existiert auch eine Ausgabe mit dem deutschen Titel: „Kleidertrachten der
Kaiserl. KönigL Staaten. Wien, Mollo, 1808".
Yalerio. Souvenirs de la Monarchie Autrichienne suite de dessins d'apr^ oature
gravis . . par Theodore Valerio. Imprim^ par Pierron et Delatre. Paris, 1853 — 64.
gr.-fol. 5 Abt. (Lipp. 836).
L La Hongrie; IL Croatie. Slavonie. Fronti^res Müitaires; III. La Dalmatie;
IV. Les populations des provinces dannbiennes; V. Le Montenegro.
Das Kai ser- Album. Viribus unitis. Herausgegeben von der Michitharisten • Congre-
gation. Wien, 1858. gr. fol. (Lipp. 837).
Pelcoq. Souvenir de Texposition universelle de Vienne. Dessins in^dits de J. Pelcoq
gravis par Morse. Paris, 1873. 4" (Lipp. 839).
H e k s c h. Die Donau von ihrem Ursprung bis an die Mündung. Eine Schilderung von
Land und Leuten des Donaagehietes. Von Alexander F. Heksch. Wien, Pest,
Leipzig, A. Hartleben, 1881. 8" (Lipp. 840).
Gaul, österreichisch - Ungarische National - Trachten. Unter der Leitung des Malers
Herrn Franz Gaul nach der Natur photographiert. Wien, R. Lechner (Wilhelm
Müller), 1881— 1888. 4» (Lipp. 841).
Die österreichisch'Ungarische Monarchie in Wort und Bild. Auf Anregung und
unter Mitwirkung weiland des durchlauchtigen Kronprinzen Erzherzog Rudolf be-
gonnen . . Wien, Druck und Verlag der k. k. Hof- und Staatsdruckerei, 1886 bis
1898. 4« (Lipp. 842).
Die einzelnen Bände behandeln: Nieder- und Oberösterreich. Salzburg. Steier-
mark. Kärnten und Krain. Tirol und Vorarlberg. Böhmen (2 Bde). Mähren
und Schlesien. Das Küstenland. Bukowina und Galizien. Dalmatien. Ungarn
(6 Bde).
A. Gerasch, Nationaltrachten in Ober ' Osterreich , Böhmen, Mähren und Schlesien,
DcUmatien^ lUyrien. Wien, 1855.
Trentin. Wandbilder der Völker Osterreich • Ungarns, Gezeichnet von Maler
A. Trentin. Herausgegeben von Prof. Dr. F. Umlauft. Wien, A. Pichlers Witwe
& Sohn.
Heinrich Moses, Die .,Tradlhauben'S Zur Geschichte der bäuerlichen Frauentracht in
Pottschach und Umgebung (Niederösterreich) [= Zeitschrift für österreichische
Volkskunde III, 1897, S. 321 — 324].
Pf als s. „Amberg",
Poininoni»
Jahn & Meyer-Cohn. Jamund bei Köslin. Mit Berücksichtigung der Sammlungen
des Museums für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes zn
Berlin. Von Ulrich Jahn und Alexander Mey« [=» Zeitschrift des Ver. f. Volks-
kunde I, 1891, s. 77—100. 335—343].
Franz Tetzner, Die Slowinzen und Lebakaschuben. Land und Leute, Haus und Hof^
Sitten und Gebräuche, Sprache und Litteratur im östlichen Hinterpommem, Mit
einer Sprachkarte und drei Tafeln Abbildungen. Berlin 1899.
; Die Slowinzen [= Die Slawen in Deuti>chland. Beiträge zur Volkskunde.
Braunschweig, Friedrich Vieweg & Sohn, 1902. S. 388 — 440].
Posen.
Zienkowicz, Die Trachten des polnischen Volkes. Mit 36 kolorierten Kostümbildern.
Paris 1841.
Hacquet, Abbildung und Beschreibung der südwestlichen und östlichen Wenden. Mit
29 kolorierten Kupfertafeln. Leipzig 1801.
— 193 —
Franz Tetzner, Die Polen [>=* Die Slawen in Deutschland. Beitrüge cor Volkikiindt.
Brannschweig, Friedrich Vieweg & Sohn, 1902. S. 469—499].
Preofiien (s. a. „Litanen'*).
Hartknoch. Alt- and Neues Ih-msten Oder iyeu88i9Cher Historien Zwey Theile | In
derer erstem von deß Landes vorjähriger Gelegenheit and Nahmen | wie aach der
Völcker | so darinnen vor dem Teatschen Orden gewohnet | Uhrankonfft | Lebens-
Beschaffenheit I Sprache | Religion | Hochzeiten | Begrftbnttssen | Haaflhaltong | Kriegs-
rüstang | Repablic and andere Sitten and Gewohnheiten : In dem andern aber von
defi Teatschen Ordens Ursprang | desselben | wie aach der nachfolgenden Herrschafft
vornehmsten Thaten and Kriegen | Erbaaang der Städte | der itrigen Innwohner Uhr-
sprang I Religion | Mttntzordnang | Rechten and Policeywesen gehandelt wird . . za-
sammengetragen | darch M. Christophoram Hartknoch . . Frankfart and Leipzig,
Martin Hallervorden za Königsberg, Anno 1684. fol. (Lipp. 811).
Franz Tetzner, Die Kaschaben [mm Die Slawen in Deatschland. Beiträge zar Yolkt-
kande. Braanschweig, Friedrich Vieweg & Sohn, 1902. S. 441 — 468].
Rheinland (s. a. „Nahe'^j.
P/lser-Berensberg. Mittheiluogen über alte Trachten and Haasrath, Wohn- and
Lebensweise der Somt- und MoaeJbevölkenmg , gesammelt von Franz von Pelser-
Berensberg. 2. verbesserte and vermehrte Aaflage. Trier, Fr. Lintz'sche Bach-
handlang, 1901. gr. 4^ (Lipp. 802 d).
«^— ^ : Nene Forschangen Über Haasrat, Tracht, Sitten and Gebräache [«« Die Rhein-
lande. Heraosgegeben von Carl Schäfer. Düsseldorf, Aagast Bagel, 1902. Mai-Heft].
Schell, Zar EtberfMer Trachtengeschichte [=* Monatsschrift des bergischen Geschichta-
vereins, herausgegeben von Otto Schell. Elberfeld, Bädecker'sche Bachhandlang.
Jahrgang IV, 1897, S. 189 f.].
Aag. Peiniger and Albert Weyersberg, Zar Geschichte der Volkstracht in SoUngen
[==: Monatsschrift des Bergischen Gescbichtsvereins, heraasgegeben von Otto SchelL
Elberfeld, Bädecker'sche Bachhandlang. Jahrgang V, 1898, S. 24. 120].
ROgen.
Verschwindende Volkstracht in Bügen [=> Das Land. Organ fttr ländliche Wohl-
fahrts- and Heimatpflege, IV, S. 24].
Sachsen.
Wattke. Sächsische Volkskande .... heraasgegeben von Dr. Robert Wattke. Zweite
amgearbeitete and wesentlich vermehrte Aaflage. Mit 285 Abbildungen, vier Tafeln
und einer Karte vom Königreich Sachsen. Leipzig, Friedrich Brandstetter, 1903. 8®.
Sächsische Volkstrachten und Bauernhäuser. Herausgegeben von dem Ansschufi fUr
das Sächsische Volkstrachtenfest zu Dresden. 1896. Dresden, Wilhelm Hoffmann,
Sophns Rage, Dresden und die sächsisc?^ Schweie. Mit 148 Abbildungen, zwei Skizzen
und einer Karte. Bielefeld und Leipzig, Velhagen & Klasing, 1903. 8^ [«= Land and
Leute. Monographien zur Erdkunde, heraasgegeben von A. Scobel. Nr. 16].
Grinicher, Costumes in Scushsen. Dresden, Heinrich Rittner, um 1805. 4^ (Lipp. 823).
Meiche, Zu unseren Volkstrachten [=: Mitteilungen des Vereins fttr sächsische Volks-
kunde. Im Auftrage des Vereins herausgegeben von E. Mogk. Dresden, Hansa.
1897, Nr. 2, S. 12].
Julian Schmidt, Medizinisch-psysikalisch-statistische Topographie der Pflege Beichenfels.
Ein Beitrag zu Charakteristik des voigÜändischen Landvolks. Aas dem Leben und
für das Leben. Leipzig, 1827.
Sehr reichhaltiges Material an Tracht.
Saterland (Oldenburg).
Theodor Siebs, Das Saterland. Ein Beitrag zur deutschen Volkskande [=s Zeitschrift
des Vereins für Volkskande III, 1893, S. 239 — 278. 373 — 410].
8chl«tlan«
Zöllner. Briefe über Schlesien, Krakau, Wieliczka and die Grafschaft Glos aof einer
14
— 194 —
Reise im Jahre 1791 geschrieben Ton Johann Friedrich Zöllner. Berlin, Friedrich
Maurer, 1792—93- 8®. 2 Tle. (Lipp. 814).
A. Gerasch, Nationaltrachten in Ober-Österreich, Böhmen, Mähren und SMesien,
Dalmatien, Illyrien. Wien, 1855.
Scholz, Ländliche Trachten in Schlesien [<= Mitteilungen der Gesellschaft für schlesische
Volkskunde Heft 2, 1896].
Oskar Scholz, Ländliche Trachten Schlesiens ans dem Anfang dieses Jahrhonderts
[bs Mittheilongen ans dem Mnseom fttr deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des
Hausgewerbes zu Berlin C, Klosterstr. 36. Berlin, Rudolf Mosse, 1898. Heft 2,
s. 49-55].
Franz Tetzner, Die Tschechen und Mährer [■■ Die Slawen in Deutschland. Beiträge
zur Volkskunde. Braunschweig, Friedrich Vieweg & Sohn, 1902. S. 249 — 281].
Schwarswald (s. a. „Baden''),
Wilhelm Jensen, Der Schwarswald. Mit über 200 Originalzeichnnngen. 2. Auflage.
Von diesem Werk existiert auch eine Ausgabe ohne Illustrationen.
L. Neumann und Fr. Dölker, Der Schwarswald in Wort und Bild. Stuttgart, J. Weise.
4. Auflage.
L. Neumann, Der Schwarswcdd, Mit 171 Abbildungen und einer farbigen Karte.
Bielefeld und Leipzig, Velhagen & Klasing, 1902. 8® [= Land und Leute. Mono-
graphien zur Erdkunde, herausgegeben von A. Scobel, Nr. 13].
Mechel s. „Sahweis",
Hugo Böttcher, Handwerk und Bauemtracht im Schwarswald, [«« Das Land, Organ
für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpaege V, Nr. 18, S. 284].
Schweis.
König. Collection de Costumes Suisses, tir6s du Cabinet de Mr Meyer d' Aarau par
F. N. König. Unterseen, Kanton Berne, chez l'auteur. um 1804. Text 8®, Tafeln
4» (Lipp. 902).
; Nouvelle Collection de Costumes Suisses par F. N. König, Berne. Chez
l'auteur et chez J. J. Burgdorfer (um 1810) 8® (Lipp. 903«).
: Neue Sammlung von Sihweiser Trachten, nach Zeichnungen von F. N. König.
Zürich, 181 1, Orelli, Füßli & Co. I2« (Upp. 904).
Alte Schweizertrachten. Bern, Stämpfli & Ci«, 1904.
Nachbildungen der berühmten Meyer-Reinhardtschen Sammlung im historischen
Museum zq Bern, von der Hand F. N. König's.
Reinhard. Cosixuats suisses, peints par Reinhard et publi^s parP. Biermannet J. F. Huber.
Bäle, 1810. 4* (Lipp. 903).
Pinelli. Raccolta di quindici costumi li piu interessanti della Svissera disegnati et
incisi all' aquaforte da Bartolomeo Pinelli Romano. Roma, Luigi Fabri, 181 3. 4®
(Upp. 905).
Reinhardt. A Collection of Swiss Costumes, in miniature, designed by Reinhardt.
Each plate represents a view taken on the spot: to which is added a description
in french and English. London, printed by G. Schulze for W. T. Gilling, 1822.
4» (Upp. 907).
Yosy. Switzerland, as now divided into Nineteen Cantons, interspersed with historical
Anecdotes, Local Customs, and description of the present State of the country;
with picturesque representations ofthe dress and manners of the Swiss, to which is
added a short guide to travellers. By A. Josy. London, printed for J. Booth
and J. Murray, 1815. 2 Bde. 8® (Lipp. 906).
Die Schweiis oder Sitten, Gebräuche, Trachten und Denkmäler der Schweitzer, nach
den neuesten und besten Quellen bearbeitet. 4® (Lipp. 908) l=- Neuestes Gemälde
der Erde und ihrer Bewohner. 1824. Die Sdiweiz].
Lory und Moritz. Costumes sttisses, Dessin^ d'apr^ nature, publi6s par G. Lory
fils et F. W. Moritz. Neufchatel, um 1830. 4* (Lipp. 909).
— 195 —
Hegi, Sammlang tod SchtoeiMertraehten. CoUection de coitomes sniises. Zürich,
Dickenmann. O. J. 8® (Lipp* 910).
Dinkel. Recaeil de portraits et costnmes 9ui$8e$ les plus el^ganU, xuiiit dans les 23
CantODs accompagn^ d'an Supplement ; ex6cat^ par le c^&bre peintre et dessinatear
Dinkel. Pnbli^ par J, P, Lamy, Berne et Bftle, o. J. 4® (Lipp. 911).
Yolmar. CoUection de coitnmes des cantons de la Suisse^ dessin6s par Volmar. Berne,
^-^'^yt o* J* 4^ (^pp* 91^)*
Costnmes de la SuMSe. O. O. n. J. 32» (Lipp. 913).
Costnmes missea des 22 Cantons. Gen^e, S. Morel, nm 1850. 16® (Lipp* 9i2ni).
Costnmes suisses. Publik par «71 H. Locher & Znrich, 1870. 16* (Lipp. 913111).
Locher. Recaeil de portraits et costnmes «utMes les plns dl^gants, asit6s dans let
22 Cantons, accompagn^ d'an Supplement; ex^catös par Locher. Pablie par
X P. Lamy, Berne et Bftle, am 1820. 4*^ (Lipp. 906 m).
Enthält dieselben Abb., wie das Werk Ton Dinkel, jedoch die Personen in ganzer
Figar.
Heierli. Die Schtoeizer Trachten vom XVII. bis XDC. Jahrhundert nach Originalen.
Dargestellt unter Leitung von Frau Julie Heierli. Druck und Verlag von Branner
& Heuser, Zürich, 1897 ff. gr.-foL (Lipp. 915).
Holbein. Recueil de Xn Costnmes suisses Civils et militaires, hommes et femmes
du seizi^me siöcle. Gravis d'apr^ les dessins originaux du c61öbre Jean Holbein,
qui se trouvent a la Biblioth^ue publique de la rille de Basle. Publik par Chritien
de Meehel et se trouve chez lui k Basle. 1790. fol. (Lipp. 899O).
Mechel, Trachten von Bauern und Bäuerinnen ans verschiedenen G^enden der SchiweiM
und des Schwarzwaldes. Basle, Chr. de Mechel, nm 1800. 4O (Lipp. 901"»).
J. Suter, Costnmes etneees,
Füssli, les costnmes euissei.
J. C. Ebel, Tableaux des Peuples des Montages de la Suisse, Leipzig, 1798 — 1802
C. Heer, Die Schweiz. Bielefeld und Leipzig, Velhagen & Klasing, 1902. Mit 181 Ab-
bildungen und einer Karte [-^ Land und Leute. Monographien zur Erdkunde,
herausgegeben von Scobel, Nr. 5].
P. Für r er, Wie man in Ürsem gegen die Kleidermode kämpfte [■■ Schweiz. Archiv
f. Volkskunde VI, 5 7 f.].
K., Josef Steiner in Bt^wyl als Brantftthrer seiner Pathin Katharina Wolf [» Schweiz
Archiv f. Volkskunde V, 214 ff.].
; Nikiaus Emmenegger von Wichy und Anna Marie geb. Wicht seine Fran
[■■ Schweiz. Archiv f. Volkskunde VI, 64 f.].
Die beiden letzten Aufsätze beschreiben zwei Trachtenbilder von Reinhardt aus
dem histor. Museum zu Bern, die in Vierfarbendruck reproduziert sind.
Hans Heinrich Glaser, B<»»ler Kleidung aller hohen und niedriger Standts-Personen
nach deren grad auff ietzige art fleissig corrigiert und auf begeren zum anderen
mahl gemacht und verlegt in Basell im Julio anno 1634.
Wentz. Eigentliche Vorstellung der Kleider Tracht Löbl. Statt Basel, wie Solche
Standts und Weibspersonen zu tragen Pflegen. Entworffen von Barbara Wentz ge-
bohrene Mayerin. In Kupfer Verfertigt auch gedruckt durch Anna Magdalena
Beyerin. O. J.
Herrliberger. Zürcherische Kleidertrachten oder Eigentliche Vorstel/ung der dieser
Zeit in der Statt und Landschaft Zürich üblicher vornemster Kleidungen Welche
allhier in LII sauber in Kupfer gestochenen abbildnngen mit ihren Tentschen und
Französischen benennungen vorgestellet werden. Zürich, David Herrliberger, 1749*
fol. (Lipp. 919).
Pfeffel. SchweOserisches Trachten-Cabinet oder allerhand Kleidungen, wie man solche
in dem Löblichen Schweitser Canton Zürich zutragen pflegt ; in Kupffer vorgestellt
und zu finden in Augspurg bey Johann Andreas Pfeffel. Le Cabinet de tontes let
Modes d'Habits. Um 1750. fol. (Lipp. 920).
— 196 —
aUbsobOrgMi
Wittstock. VoUutttmlicbes der SUbmbiirger Sachsm too O. Wittstock. Stattg«rt»
J. Engelhoro, 1895. ^" [" Sep.-Abdr. ans „Forschungen cur deaischen Landet- und
Volkskunde IX, 2"«] (Lipp. 897 c).
Steiermark.
Sann. ÄUsteirisehe Trachten. Eine Stadie von Hans von der Sann. Graz, Selbst-
verlag des Ver&ssers, 1891. 80 [« Sep.-Abdr. ans dem „Graser Wochenblatt^' 1891]
(Lipp. 887«).
Kaiser. 38 SteiermarkB National-Trachten und Fest-AnzOge jetsiger und vergangener
Zeit Eine freundliche Spende fUr Fremde nnd Einheimische. Lithographiert von
Eduard Kaiser. Gedruckt and verlegt bei Jos. Fr. Kaiser. O. O. Um 1820. 160
(Lipp. 887).
Straüiburg.
Evidens designatio receptissimamm consnetudinnm ornameota qaaedam et insignia con-
tinens magistratui et academiae Argentinenn a maioribns relicta. Aigentorati,
excadebat Joann Carolm 1606.
S^ratburger trachtenbttchlein darinnen von Man vnd Weibspersonen ausgegangen
im Jhar 1668. Gedruckt bey Peter Aubry. qu. 8® (Lipp. 789^).
Diet erlin. 8trq/9burgi8ch Trachtenbttchlein. Petrus Dieterlin delineavit Martinas
Hailler sculpsit. La Mode de Strasbourg. Za finden bey Friderich Wilhelm
Schmuck. Um 1680. kl. 8® (Lipp. 790).
Alsace francoise ou nouveau recueil de ce qu'il y a de plus cnrieoz dans la
viüe de Strasbourg avec une explication exacte des planches en taiUe douce qui le
composent. Das Franttösische E^safi oder Neue Beschreibung der Stadt Strq/fburg
und was darin merckwürdig zu besehen Sampt einer Erklärung mit vielen Kupffer-
stttcken. Strasbourg, ches G. Boucher, 1706. foL (Lipp. 791).
Seyboth. Costumes des Femmes de Strasbourg (XVII« et XVin« SiMes) Quarante
six Planches Dessin^es d'apr^ des Documenta de TEpoqne par Ad. Seyboth.
Strasbourg, R. Schultz et Comp., 1880. 4® (Lipp. 793).
: Costumes Stratbowrgeois (Hommes) (XVI«, XVII« et XVm« sikdes)
cinquante-qnatre planches dessin^es d'apr^ des documents de l'^poque par Ad.
Seyboth. Strasbourg, R. SchulU et Comp., 1881. 8® (Lipp. 794).
Berger-Levrault, Oskar, Les costumes Slrcubourgeois 6dit^s au diz septiöme
si^le par Fr^d^ric-Gnillauroe Schmuck et an diz-huiti^me si^e par ses fils Fr^^ric
Schmuck et Guillaume Schmuck. Reproduits en fac-simil^ d'apr^ les Recueils
originaux. Paris et Nancy, librairie Berger-Levrault et O«, 1889. gr. 8® (Lipp. 795).
Enthält Reproduktionen älterer Straflburger Trachtenbücher des 17. und 18. Jahr-
hunderts.
Stabei.
von Hörmann, Stubei, Thal und Gebirg, Land und Leute.
Thüringen.
F. Loose, Aus OrqßmühHngens Vergangenheit.
A. Scobely Thüringen, Mit 147 Abbildungen nach photographischen Aufnahmen und
einer farbigen Karte. Zweite Auflage. Bielefeld nnd Leipzig, Velhagen & Klasing,
1902 [■■ Land und Leute. Monographien zur Erdkunde, herausgegeben von
A. ScobeL Nr. i].
TiffoL
Kap pelle r. I^iro^ Trachten nach den Zeichnungen des Malers Josef Anton Kappeller
gestochen und illuminiert von J, Warnberger, Wien, Industrie-Comptoir, um 1800.
4» (Lipp. 880).
J. G. Schedler, Maler in Innsbruck, 20 Stück Nationaltrachten von Tirol und VcT"
arlberg» Um 1824 (Lipp. 890 a).
Lipp. 890 ist eine Bilderhandschrift erwähnt, die nach diesem Kopferstichwerk
gefertigt ist.
— 197 —
J. Weg er, Hanpt-Charmktere vom Volke und Lande Teutsd^TiroU. Trrato 1826.
Trachten ans TyroL ao kolorierte KostOmbilder. Wien 1803.
Eduard Ille, Tiroler Trachten nach Beobachtungen ans den Jahren 1853 — 53 [■■ Zeit*
Schrift d. Ver. f. Volkskunde VIII, 1898, S. 94—96].
Max Hanshofer, Tirol und Vorarlberg. Mit 202 Abbildungen and einer Karte.
Bielefeld and Leipzig, Velhagen & Klasing, 1902 [■■ Land und Leute. Monographien
zur Erdkunde, herausgegeben von A. Scobel, Nr. 4].
Vierlande.
Griese & Voigt. Die Vierlanäe bei Hamburg. 50 Lichtdrucke von Carl Griese.
Mit einer geschichtlichen Einleitung und erläuterndem Text von Dr. F. Voigt.
Hamburg, Carl Griese, 1894. qu.-fol. (Lipp. 802).
Westfalen.
XVill et XIX Cahier des Jardins anglais contenant Cenz du Bagno ii Steinfort en
WeetphaUe . . . par Le Rouge, Ing.-G^ograpbe. Paris 1787.
Enthält die ersten Abbildungen der MUnsier'Bchtn Tracht; vgl. Jostes, Westf.
Trachtenbuch, S. 159.
Jostes. WeetfuHsches Trachtenbnch , die jetzigen und ehemalii^en westfälischen und
schaumburgischen Gebiete umfassend. Bearbeitet von Dr. Franz Jostes. Bielefeld,
Berlin und Leipzig, Velhagen & Klasing, 1904. 4® (Lipp. 802 k).
Eugen Bracht, Volksthttmliches aus dem Jitiffim/tii^. [■■ Mittheilungen aus dem
Museum ftir deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes zu Berlin C,
Klosterstrafle 36. Berlin, Rudolf Mosse, 1897. Heft i, S. 7—18].
Wflrttemberg.
Heideloff, Volkstrachten des Königreichs Württemberg. Herausgegeben von
O. Ebner. Stuttgart, G. Ebner'sche Kunsthandlung, 18 10 — 1815. 4® (Lipp. 796).
Ländliche Gebräuche in Württemberg, Mit kolorierten Kupfern. 2 Bde.
Mitteilungen
Archive« — Das Fürstliche Archiv su Köstritz wurde im Auftrage
des Fürsten Heinrich XXIV. j. L. Rend-Köstritz in den Jahren 1900 bis
1902 Ton dem Unterzeichneten neu geordnet.
Die Entstehung des Archivs ist auf den Begründer des Fürstlichen
Hauses Reuö-Köstritz, auf den Grafen Heinrich XXIV. j. L. Reuß zurück-
zuführen. Dessen Vater, Heinrich I. j. L. Reufi-Schleiz , hatte für dieses
Haus 1679 ^^ Primogeniturrecht eingeführt, tun die vorher üblichen schäd-
lichen Teilungen zu verhindern. Um seinen 1681 geborenen Sohn Hein-
rich XXIV. in etwas für den Ausfall zu entschädigen, gründete er ihm durch
zwölf Rittergüter die Paragiatsherrschaft Köstntz, einen mit allen Regalien
ausgestatteten Lehnsbesitz unter Landeshoheit der regierenden Linie Reuö-
Schleiz; die Herrschaft bildet heute noch einen Teil des Fürstlich Köstritzer
Besitzes. Auf diese ersten Herrn ist die Anlage des Archivs zurückzuführen,
versah er doch jedes Schriftstück seiner weitausgebreiteten Korrespondenz
eigenhändig mit einem Vermerk darüber, wo es im Archive einzureihen sei.
Die Archivbestände werden aufbewahrt in einem feuersicheren, tmheiz^
baren Gewölbe im ersten Geschosse des Torturmes im Vorgebäude des
Schlosses. Dieser Raum hat einen Steinfußboden und ist mit einer eisernen
Tür tmd ebensolchen Fensterläden versehen. Nur die Originalurkunden über
die Besitzungen tmd der Fürstenbrief vom 9. April 1806 be&nden sich
— 198 —
geordnet in einer besonderen Kiste, die anderen Archivalien lagen ungeordnet
in den Reposituren. Sicher ist, dafi früher einmal Aktenmaterial ausgesondert
und vernichtet worden ist; die oft sonderbaren Lücken in einzelnen Akten*
Serien verraten aber nur zu deutlich, dad es dabei an der notwendigen
Sorgüüt gemangelt hat. Ein in den sechziger Jahren des vorigen Jahr-
himderts gemachter Versuch, ein Repertorium anzulegen, erstreckte sich leider
nur auf einen kleinen Teil des Aktenmaterials. Da es eine systematische
Ordnung nicht kannte und außerdem die Aufstellung der Akten nicht einmal
nach ihm erfolgt war, so mußte es bei der jetzigen Neuaufstellung imberück-
sichtigt gelassen werden.
Nach der zunächst sich als notwendig erweisenden oberflächlichen
Sichtung des teilweise stark zerstreut durcheinanderliegenden Materials galt
es, an die Bestandsaufoahme zu gehen, die in der Weise zur Durchführung
kam, dafi alle Archivalien der Reihe nach, wie sie durch die Hände gingen,
auf Zettel notiert wurden. Nachdem letztere im Winter 1900 in eine sach-
liche Ordnimg gebracht worden waren, erfolgte nach dieser im folgenden
Jahre die Sichtung, das Bündeln und Signieren und die Aufstellung der
Akten. Da die vorhandenen Reposituren zum Legen der Aktenbündel ein-
gerichtet sind und ihre Umänderung so viel Platz in Anspruch genommen
haben würde, dafi ein neuer Archivraiun hätte geschaffen werden müssen,
so ist vom Aufstellen der Aktenbündel abgesehen worden. Eine Schutz-
pappe in jedem Fache hält den Staub ab, soweit dies möglich ist An
jedem Aktenstücke gibt ein Zettel sowohl seine Signatur im Repertorium,
als auch seinen genauen Lagerort in der Repositur an. Platz Äir Akten,
die aus der Registratur dem Archive überwiesen werden, ist in genügendem
Mafie gewahrt worden.
Von der sonst gebräuchlichen Haupteinteilung des Archivbestandes in
Urkimden, Karten imd Pläne und Akten ist aus dem Grunde abgesehen
worden, weil die Urkunden, von denen ältere überhaupt fehlen, und auch
die Karten und Pläne, sowohl hinsichtlich ihrer Zahl, als auch ihrem Werte
nach vollständig hinter den Akten zurückstehen, die eben den weitaus
gröfiten imd dem Inhalte nach den wertvollsten Bestandteil des Archivs aus-
machen. Doch reihen sich jene beiden genannten Hauptgruppen ohne be-
sondere Unterabteilungen einüich den Aktengruppen an.
Geordnet wurden die Archivalien nach folgender Einteilung: A. Das
Gesamthaus Reufi (258 Nr.); Aa. Ältere Linie Reufi. L Haus Obergreiz
(58 Nr.), II. Haus Untergreiz (3 Nr.); Ab. Jüngere Linie Reufi (3 Nr.),
I. Haus Gera (4 Nr.), IL Haus Lobeostein (28 Nr.), III. Haus Selbitz
(12 Nr.), IV. Haus Ebersdorf (19 Nr.), V. Haus Schleiz (33 Nr.). B. Haus
Köstritz (168 Nr.); Ba. Glieder des Hauses Köstritz (115 Nr.), I. Älterer
Zweig (136 Nr.), II. Mittlerer Zweig (42 Nr.), III. Jüngerer Zweig (11 Nr.);
Hb. Besitzungen des Hauses Köstritz imd wirtschaftliche Unternehmungen,
I. Reufiischer Besitz (380 Nr.), II. Nicht- reufiischer Besitz (54 Nr.),
III. Güter- und Grundbesitzverwaltung (437 Nr.). C. Materialien zur Landes-
geschichte (361 Nr.). D. Ortsgeschichte (57 Nr.). E. Verschiedene Güter
(14 Nr.). F. Nicht -reufiische Herrschaften (46 Nr.). G. Adelige Familien
(225 Nr.). H. Diverse (13 Nr.). J. Originaldokumente, das Haus Köstritz
und seine Besitzungen betreffend (151 Nr.). K. Karten und Pläne (35 Nr.).
— 199 —
Publiziert wurde aus dem Archive bis jetzt eine poetische Bittschrift
der Schüler des Schleizer Gymnasiums von 1756 in der Geschichte dieser
Anstalt (Schleiz 1906) und: A. H. Franckes Briefe an den Grafen Heinrich
XXIV. j. L. Reuß zu Köstritz und seine Gemahlin Eleonora aus den Jahren
1704 bis 1727 als Beitrag zur Geschichte des Pietismus herausgegeben von
B. Schmidt imd O. Mensel (Leipzig 1905).
Eine umfassende Charakteristik des Archivinhaltes kann an dieser Stelle
nicht gegeben werden, doch sei erwähnt, daß in ihm, von der Forschung
noch unberücksichtigt gelassen, eine Menge wertvollen und interessanten
Materials, vornehmlich für die Geschichte des Pietismus, der Bearbeitung
harrt Nicht umsonst stand Graf Heinrich XXIV. in Verbindung mit den
bedeutendsten Männern dieser geistigen Bewegung, zu deren Lebensgeschichte
mancher Beitrag hier gehoben werden kann. Briefschaften, Protokolle über
Predigerkonferenzen, Beiträge zur Geschichte der Evangelischen in Schlesien,
Material zur Schul- und Erziehungsgeschichte dieser Zeit und noch so
manches andere wird da zu benutzen sein. Dem Genealogen bietet sich
viel Stoff zur Geschichte vieler adeliger Familien. Durch ein alpha-
betisches Verzeichnis aus dem Jahre 1799 über die Bestände des jetzt voll-
ständig verschwimdenen Archivs des Rittergutes Caaschwitz ist, wenn auch
nur sehr dürftig, doch ein Anhalt dafür gegeben, was einst an Material
dort vorhanden war. Alfred Auerbach, Gera.
Elngeganiceiie Bflcher.
Devrient, Ernst: Nach welchen Grundsätzen soll der Historiker bei Quellen-
ausgaben verfahren? Kritik und Vorschläge [=s Sonderabdruck aus
dem KorrespondenßUatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts-
und ÄUertumsvereine 54. Jahrg. (1906)]. 31 S. 8®.
Erben, Wilhelm: Quellenpublikationen zur salzburgischen Geschichte, be-
sprochen von W. E. [Sonderabdruck aus den Mitteilungen der GeseOr
Schaft für Salzburger Landeskunde 46. Bd. (1906)]. 21 S. 8^.
Fritz, Alfons: Geschichte des Kaiser-Karls-Gymnasiums in Aachen [s=s Zeit-
schrift des Aachener Geschichtsvereins 28. Bd. (Aachen i9o6),S. i — 285].
Hansen, Reimer: Zur Geschichte des Bistums Schleswig im 14. Jahrhundert
[s=s Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte,
36. Bd. (1906), S. 170 — 190].
Höhnk, Helene: Dedev von Ahlefeldts Gesandtschaftsjoumal vom Jahre
1666, mitgeteilt v. H. H. [== Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-
Holsteinische Geschichte, 36. Bd. (Kiel 1906), S. 79 — 169].
Hübler, Franz: Zwei Reisen nach Griechenland und Kleinasien [c=^ Jahres-
berichte der k. k. Staatsrealschule in Reichenberg für die Jahre
1904 — 1905 und 1905 — 1906]. Reichenberg 1905 und 1906. 52
und 95 S. S^,
Höfer, Paul: Die sächsische Legende zum thüringisch-fränkischen Kriege
531 n. Chr. [= Abdruck aus der Zeitschrift für Thüringisc?ie Geschicke
und Altertumskunde 25. Bd. (1906)]. 80 S. 8^
John, Alois: Egerer Studenten an der Leipziger Universität (14 13 — 1556).
Eger, Selbstverlag 1907. 14 S. 8^.
— 200 —
Krebs, Kurt: Vor loo Jahren, Aufsätze und Urkunden zur Geschichte der
Kriegsjahre 1806 und 18 15. Leipzig, Verlag des Leipziger Stadt- und
Dorfanzeigers (G. Kürsten). 343 S. 8^.
Limes, Der römische L. in Österreich. Heft VII. Mit zwei Tafehi und
75 Figuren im l'ext Wien, Alfred Holder, k. und k. Hof- und Uni-
versitätsbuchhändler 1906. 142 Sp. 4^
Loserth, Joh. : Das Archiv des Hauses Stubenberg [^= Veröffentlichungen
der Historischen Landeskommission für Steiermark XXUj. Graz, Selbst-
verlag der Historischen Landeskommission 1906. 198 S. 8^
Mangner, Eduard: Geschichte der Leipziger Winkelschulen, nach archi-
valischen Quellen bearbeitet [= Schriften des Vereins für die Geschichte
Leipzigs, Band VIII]. Leipzig, Ferdinand Hirt & Sohn 1906. 232 S.
8^ M. 5,50.
Me ringe r, Rudolf: Das deutsche Haus und sein Hausrat [= Aus Natur
und Geisteswelt, Sammlung wissenschaftlich-gemeinverständlicher Dar-
stellimgen, 116. Bändchen]. Leipzig, B. G. Teubner 1906. iii S.
geb. M. 1,25.
Moeller, Ernst von: Die Qendenbrüderschaften, ein Beitrag zur Geschichte
der FremdenfUrsorge im Nfittelalter. Leipzig, J. C. Hinrichs 1906.
176 S. S^. M. 3,50.
Moltke, Siegfried: Leipzigs Handelskorporationen (Kramerinnung, Handels-
deputierte, Handelsvorstand, Handelsgenossenschaft, die Leipziger Kauf-
mannschaft und die Kommunrepräsentation). Versuch der Gründtmg
sächsischer Handelskanmiem im 19. Jahrhundert. Herausgegeben von
der Handelskammer zu Leipzig. Leipzig, A. Twietmeyer 1907.
248 S. 8^
Pi renne, Henri: Geschichte Belgiens [*» Geschichte der europäischen
Staaten, dreißigstes Werk]. Bd. 3: Vom Tode Karls des Kühnen
(1477) ^^ ^^^ Ankunft des Herzogs von Alba (1576). Gotha, Friedrich
Andreas Perthes A.-G. 1907. 606 S. 8®. M. 16,00.
Rietschel, Siegfried: Die germanische Tausendschaft [= Zeitschrift der
Savigny-Stifhing für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 27. Bd.
(1906), S. 234—252].
Sacken, Eduard Freiherr von: Heraldik, Grundzüge der Wappenkunde
[t=s Webers Illustrierte Handbücher, Band 51]. Siebente Auflage, neu
bearbeitet von Moriz von Weittenhiller. Leipzig, J. J. Weber
1906. 160 S. 8®. geb. M. 2,00.
Schlacht bei jena, Die. Katalog der Hundertjahr- Ausstellung im Städtischen
Museum zu Jena. Jena, Verlag des Städtischen Museums 1906.
110 S. 80.
Tecklenburg, August: Die Einführung der Reformation in Uslar [«> Proto-
kolle über die Sitzimgen des Vereins für die Geschichte Göttingens im
14. Vereinsjahre 1905 — 1906 (Göttingen 1906), S. 12 — 33].
Tille, Armin: Genealogische Quellen [= Mitteilungen der Zentralstelle für
deutsche Personen- und Familiengeschichte, 2. Heft (Leipzig, Breitkopf
und Härtel 1906), S. 41 — 64].
^^-^■^»- ■ ■
Heraiuf eber Dr. Annin Tille in Lciprig.
VerUf und Druck von Friedrich Andreas Perdiet, AkoenfeMllsdiaft, GoAa.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
sur
Fi)rderung der landesgeschiclitliclien Forscbung
VIII. Band Mai 1907 8. Heft
Der niedere Kl^t'us am Ausgang des
ISAittelalters
Von
Heinrich Werner (Mayen)
Es ist bekannt, daß sich gerade der niedere Klerus in hellen
Haufen beim Auftreten Luthers dem neuen Glauben anschloß. Die
Männer dieses Kreises müssen oiTenbar schon längst zu den Unzu-
friedenen gehört haben. Und doch soll gerade „der übermäßige
Reichtum der deutschen Kirche eine Quelle ihres Verderbens *)** gewesen
sein, aber die „übermäßig** Reichen pflegen nicht leicht in die Reihen
der Unzufriedenen zu treten. In der Tat gehörte der niedere Klerus
eben gar nicht zu dieser bevorzugten Menschenklasse. Im Gegen-
teil, gerade der pauper dericus ist seit den Tagen von Konstanz eine
beliebte Spottfigur in der Publizistik. Wohl haben sich damals Prälaten
und besonders Klöster große Besitzungen erworben, aber gerade auf
Kosten des niederen Klerus. Jenen Kreisen mag denn auch allein
-„der übermäßige Reichtum eine Quelle des Verderbens** geworden
sein. Den niederen Klerus hat vielmehr seine prekäre Lage in die
Reihen der Unzufriedenen getrieben.
Auf den großen Reformkonzilien ist die Reform des niederen
Klerus verhältnismäßig zu kurz gekommen; in Pisa und Konstanz trat
i) Pastor, Geschichte der Päpste, 4. Bd. i. Abteilung (1906) S. 200. Gewi0 ist
Yon Janssen und noch mehr von seinem Fortsetzer Pastor in der Geschichte des
deutschen Volkes I. Bd. (1897) in dem Schlafikapitel „Rückblick and Übergang ^^ ein
gewaltiges Material bewältigt, aber mit einer Willkür in der Behandlang, daß das ganze
Kapitel in seiner Anordnung anbraachbar ist. So ist z. B. der „ oberrheinische Revolutionär ^^,
der korz vor Luthers Auftreten erschien, schon im i. Band behandelt, während die Re>
formation Kaiser Sigmunds erst im 2. Bd. gewürdigt wird, obschon diese schon 1439 er-
schienen ist, nur damit diese Reformschrift zur Folie des Bauernkrieges diene, mit dem si»
^ar nichts zu tun hat.
15
— 202 —
infolge des Schismas die Krankheit des Hauptes der Kirche noch zu
sehr in die Augen der Zeitgenossen, als dafi den Gliedern eine be-
sondere Sorgfalt hätte geschenkt werden können. So stand die
refomicUio in capüe im Vordergrunde.
Auch hatte sich noch nicht die reformierende Körperschaft zu-
sammengefunden, die demokratisch genug war, um auch der Lage
der niederen Kleriker Verständnis entgegenzubringen. Aber auch, als
sich die Männer aus diesen Kreisen zu Basel zu mehren begannen,,
fing das Konzil bereits an, an dem damit einziehenden Radikalismus-
zugrunde zu gehen. Vielleicht hatte die erste aristokratischere Epoche
dieses Konzils gerade in dem glücklichen Vorgefühl einer solchea
Wendung des Reformwerks die reformatio in membris den niederen
Instanzen der Provinzial- und Diözesansynoden übertragen. Auf diesea
letzteren Synoden sind denn auch Reformvorschläge, die die Lage
des niederen Klerus verbessern sollten, in großer Zahl vorgebracht
worden. Die Akten jener landschaftlichen Synoden verdienten es„
in einer brauchbareren und vollständigeren Weise als sie bei Binterim,.
Pragmatische Geschichte der detUschen National-, Promnzialr- und mr-
jsiiglichsten DiÖMesankoneilienvom IV. — XV. Jahrhundert (7 Bände, Mainz
1848) vorliegen, von neuem ediert zu werden. Aus den päpstlichen
Urkunden , die in neuester Zeit von den Publikationsinstituten ver-
öffentlicht werden *) , ist über den niederen Klerus weniger Material
zu erwarten, da über die Erfüllung seiner Pflichten nicht die Kurial-
beamtcn zu wachen hatten, sondern die Bischöfe und Archidiakonen.
Es ist deshalb auch die vornehmliche und zugleich vornehmste Auf-
gabe dieser Zeitschrift , die Lokalforschung erneut *) zur Mitarbeit
aufzurufen. Gerade von der Kleinarbeit der Lokalvereine ist noch
mehr Licht zu erwarten über die dunkelste Seite der Kirche an der
Wende des Mittelalters, über die Notlage des niederen Klerus.
Noch zahlreicher und eindringlicher sind die Hilferufe der gleich-
zeitigen Publizistik. Freilich hörte die Geschichtsforschung bis jetzt sie zum
Teil sehr mißtrauisch an. Man argwöhnte dahinter gar zu gern radi-
kale Übertreibungen und nannte derartige Publikationen „Brandschriften*'.
Aber die neuesten Veröffentlichungen auf Grund von Akten und Ur-
kunden erweisen die Klagen der Publizisten als voll berechtigt.
Einstweilen ist das Urteil der Publizistik nur zu messen an den Ur-
kunden der neueren Ven.ffentlichungen und der älteren aus den kleineren
i) Vgl. die umfassende Übersicht von Wehrmann oben S. 93—108.
2) Die gleiche Mahnung in dieser Zeitschrift 4. Bd. (1902) S. 50 — 51 scheint
nngehört TerhaUt zu sein.
— 203 —
Synoden der Kirchenprovinzen und Diözesen, die namentlich seit dem
Baseler Konzilsbeschluß über die periodische Abhaltung derartiger
Synoden *) in Deutschland sehr zahlreich wurden. Es ist natürlich
unmöglich, an dieser Stelle den StoiT erschöpfend zu behandeln. Nur
Gesichtspunkte und die besten Stützen daiiir können hier vorgelegt
werden.
Wenn Haller *) auf Grund von Urkunden sagt, dafi „ die Bewegung
des großen Abfalles im XVI. Jahrhundert zum guten Teil Johann XXII.
(13 16 — 1334) galt", der ja dem Papsttum von Avignon den Stempel des
Absolutismus aufdrückte, so hat dieser verdienstvolle Forscher im Hin-
bUck auf den großen Übertritt des niederen Klerus vollkommen recht.
Das Papsttum, ursprünglich nur ein Glied in der Kette der Hierarchie,
war durch Zentralisation aller wirtschaftlichen und rechtlichen Fäden auf
Kosten aller übrigen Glieder krankhaft bis zur Unkenntlichkeit an-
geschwollen. Der vom Papsttum von Avignon und von den späteren
Päpsten ausgeübte Druck machte sich, auf seinem Wege durch alle
Glieder der Hierarchie hindurch vervielfältigt, bei dem niederen Klerus
am stärksten geltend. Die Quelle dieses Druckes hat schon 1439
die bisher irrtümlich als revolutionär verschriene Reformschrift, die
Reformation des Kaisers Sigmund, richtig erkannt, wenn sie sagt:
AUer geprest ligt größlich an zwain stücken: an den gaisÜichen liegt
groß Simonie, das ist als vü als toucher, dieselb hat alle gaisUiche
stat vergift .... simonie ist uffgestanden des ersten in pabstes hof^).
In die Sprache Hallers übersetzt, heißt das: „die Kurie von Avignon
war die erste Geldmacht der Welt"*); man hat das päpstliche Wirt-
schaftssystem als Fiskalismus *) bezeichnet.
Freilich war die Kurie in dieser Beziehung in ihrer Zeit nur
modern. Durch die sich damals in größerem Maßstabe vollziehende
Mobilisierung aller Werte, die für jeden Besitz die Berechnung des
entsprechenden Geldwertes gestattete, wurde der ländliche Grund-
besitz, woran die Kirche sehr reich war, im ganzen entwertet. Gerade
die Kirche würde dieser Umschwung am schwersten betroffen haben,
wenn sie sich nicht praktisch zu dem Grundsatz bekannt hätte: Geld
i) Monumenta concüiarttm generalium BoecuU XV, (Wien 1857—96) 2. Bd.
S. 525. and Binterim a. a. O. 7. Bd. S. 210.
2) Papsttum und Kirchenreform i. Bd. (Berlin 1903), S. 96.
5) Boehm, Friedrich Reisen Reformation K. Sigmunds (Leipzig 1876) S. 162 f;
4) Haller, a. a. O. S. 138.
5) Ebenda S. 103.
16*
— 204 —
ist Macht. Dazu schnellte mit der allgemeinen Steigerung der Be-
dürfnisse die Lebenshaltung des Papstes und der Prälaten in die Höhe,
sie wurde geradezu fürstlich. Aber auch gesteigerte Kulturaufgaben
stellten an das Papsttum gesteigerte Anforderungen. So forderte der
ganze potenzierte Bestand der Kurie potenzierte Mittel. Diese suchte
man dadurch zu gewinnen, daß der Papst als absoluter Herrscher das
Verleihungsrecht aller Ordinarien an sich riß und für Geld Pfründen
und Benifizien von Rom aus verlieh. Die Kurie wurde so gleichsam
zu einem Pfründenmarkt.
Die Anhäufung aller wirtschaftlichen und rechtlichen Regierungs-
geschäfte der Kirche an der Kurie hatte eine andere moderne Ein-
richtung zur Folge: ein großes Beamtenheer. Nur innerhalb der
Kirche gab es schon im früheren Mittelalter eine feste Anstellung;
jetzt wurde durcii die Zentralisation der Hof des Papstes erst recht
„der Brennpunkt nicht nur aller Ehrgeizigen, sondern des größeren
Teiles aller derer, die wenn auch einen bescheidenen so doch sicheren
Platz in der res publica ecclesiastica suchten". Diese waren nicht
durch fixes Gehalt besoldet, sondern der Wirtschaftslage entsprechend
mit Pfründen. So wurden alle Ämter, vom Kardinal bis zum Tür-
hüter, mit Pfründen „ausgerichtet**, wie die Reformation des Kaisers Sig-
mund mit Recht beklagt '). Diese Reformschrift will deshalb auch
zur Vermeidung des Mißbrauchs in der Pfründenverleihung das kapi-
talistische Besoldungswesen in der ganzen Hierarchie einfuhren.
Das allmählich usurpierte Recht der alleinigen Pfründenverleihung
des Papstes stellt sich dar als eine „gewohnheitsmäßige Konfiskation'* •)
aller kirchlichen Ämter und Pfründen, ja als eine solche „des ganzen
Kirchenvermögens des Erdkreises**. Diese Bewegung setzt mit Papst
Johann XXII. durch Erweiterung des alten kanonischen Rechtes der
päpstlichen Reservation ein und erreicht in bald steigendem bald
fallendem Kurs zur Zeit des Schismas unter Papst Benedikt XIII. ihren
Höhepunkt. Eine Handschrift der Kanzleiregeln dieses Papstes zeigt
die charakteristische Aufschrift: Reservamtis omnia^). Seitdem nun
aber das Papsttum dazu überging, auch die niederen geistlichen
Stellen durch Anwartschaft oder unmittelbare Verleihung, in steigen-
dem Maße von 1300 ab, vollends an sich zu reißen, widmeten sich
die besten Kräfte, aber auch zweifelhafte Charaktere der geist-
i) Boehm S. 164 and 173: cUle ämter am ho f werden mit kirchen atisgerichtet.
2) Sauerland, Urkunden und Begesten zur Oeschichte der Bheinlande aus
dem vatikanischen Archiv. 3. Bd. (Bonn 190$) S. LVI.
3) Hall er, a. a. O. S. 127.
— 206 —
liehen Laufbahn an der Kurie. Ihre Beamten gingen natürlich unter
den Pfründenbewerbern vor *). So erfahren wir von Haller aus den
Urkunden*), daß Schreiber, Türhüter und Köche an der Kurie mit
Pfarrpfründen besoldet wurden. Genau so drückt sich die damalige
Publizistik aus, wenn z. B. die Reformation Kaiser Sigmunds sagt : si leihen
wnd erweilen staMknechten zu pfarren und prelatenpfründen und künden
nichts damit ^). Dieses System „trug den Anfang zur Korruption in
sich**, es traf am schwersten nach jeder Seite hin den niederen Klerus.
Wenn der Papst niedere kirchliche Stellen zur Besoldung seiner
Beamten an der Kurie verwendete, so entrechtete er nicht nur damit
die allein zuständigen Ordinarien, sondern enteignete diese Ämter
auch den eigentlichen Inhabern. Kurialbeamte wie die oben ge-
nannten verstanden es schon an sich nicht, ihrem mit dem beneficium
verbundenen officium vorzustehen, aber sie waren auch bei ihrem
ständigen Aufenthalt in Rom dazu ganz außerstande. So mußte, an
Stelle des rechtmäßigen Kuraten oder Benefiziaten überall der Miet-
ling, der Vikar treten, dem von dem Ertrag der Pfründe nur so viel
zuteil wurde, wie er unbedingt brauchte, um sein Dasein zu fristen.
Was aber die Versorgung der Hofbeamten des Papstes an niederen
Pfründen übrigließ, wurde ebenfalls ausschließlich von der Kurie ver-
liehen. So zog ein täglich sich erneuernder Strom von Bittstellern
und Stellenjägern nach Rom, um mit allen Mitteln der Bestechungs-
kunst eine Pfründe zu erlangen. Die Pfründenbettelbriefe unter
Clemens VI. füllen allein 22 Foliobände *). Eine solche Reise nach
Rom und der Aufenthalt dort kostete viel Geld, nicht weniger die
üblichen Geschenke und Trinkgelder vom Kardinal bis zum Türhüter,
und dazu kamen die Taxen für Ausfertigung der Vcrleihungsurkunden.
Die Zucht unter der an der Kurie stets fluktuierenden Menge war schwer
aufrecht zu erhalten; die Urkunden geben der gelegentlichen Be-
merkung der Reformation Kaiser Sigmunds recht, wenn es dort heißt:
Die liegent im hof und verkriegent in veterlich erb, Etwen so stechent
si einander ze tod oder sie schaffen, es zetund, und kommt groß übel
davon *). Es bildete sich eben damals an der Kurie der später in der
Reformationszeit bestgehaßte Stand der Kurtisanen. Manche Päpste
i) Boehm, a. a. O. S. 168 und 173: 80 werdent alle ämter am hof mit kirchen
atisgerichtet.
2) Haller, a. a. O. S. 170.
3) Boehm, a. a. O. S. 182.
4) Saaerland, a. a. O. S. LVII.
5) Boehm, S. 182.
— 206 —
erließen zwar strenge Befehle, sofort wieder abzureisen, „aber das
System war stärker als der beste Wille" ').
Doch auch die Pfründen, die an der Kurie selbst von auswärtigen
Bewerbern erworben wurden, kamen nur zum geringsten Teil an den
eigentlichen Kurat- und Benefiziatklerus. Die meisten davon, und zwar
vor allem die reichen, waren gleichsam „in festen Händen", d.h. sie
bildeten die regelmäßige Besoldung von Universitätslehrern, Dienern
der Kardinäle, Bischöfe und weltlicher Großen,*) die dann trotz der
Übernahme des Benefiziums und ohne sich um die Residenzpflicht zu
kümmern, am Hofe der Gönner weiterlebten; denn nur um das bene-
ficium der Pfründe war es ihnen zu tun, das officium überließen
sie wieder den Vikaren.
Die wenigen übrigen niederen Pfründen, die in die richtigen Hände
des niederen Klerus kamen, waren dagegen so sehr mit Unkosten bei
ihrer Verleihung durch die Kurie verknüpft, daß sich ihre Inhaber
wieder auf ungerechte Weise schadlos halten mußten. Sie verschafften
•ich zwei oder mehrere dieser niederen kirchlichen Stellen, und man
nannte diese Vereinigung Pluralität. Auch dieses Unwesen mußte
die Mietlingswirtschaft, das Vikariat, zur Folge haben und die Erfüllung
der Residenzpflicht verhindern.
Anders stand es mit den Prälaten und Äbten. Ihnen kamen
zwar auch Pfründen und Würden infolge der mit der Verleihung ver-
bundenen Unkosten ') hoch zu stehen, sie konnten aber doch die Last
wiederum auf andere abwälzen, freilich auf keine anderen Schultern
als auf die des Volkes und des niederen Klerus. Wie schwach aber
die Schultern gerade des letzteren waren, wird sich unten zeigen. Je-
doch keine Unsitte in dem Pfründenwesen bedrohte die Existenz des
Seelsorgerklerus mehr als die Inkorporation von Pfarrstellen in
Domkirchen und Klöster, wodurch das Einkommen eines Domherrn
oder eines Abtes erhöht zu werden pflegte. Wie beliebt dieses Ver-
fahren um die Wende des Mittelalters war, zeigen für das Rheinland
z. B. die Urkunden, die in der Übersicht Über den Inhalt der
i) Hmller, a. a. O. S. 171.
2) Vgl. Saucrland, a. a. O. S. LVII and LIX.
3) Nach Saaerland, S. XLm sind deshalb die deutschen Bistümer im XULand XIV.
Jahrhundert so verschnldet. So kostete dem Erabischof Walram von Köln sein Ersbitnms
an der Kurie 4000 Golden. Ganz kraß ist der von Wid mann, Gti^ichU SalZ'
b%irg8 I. Bd. (Gotha 1907) S. 362—367 angeführte FaU, daß die Karie den Ersbischof Ulrich
einfach faUen ließ, weü er die Taxen nichtentrichten konnte (1255— 1263). Nach Haller ist es
im XIV. and XV. Jahrhundert deshalb Sitte (S. 149)1 ^^ ß^^c*» ^^^ <*"« Ernennung mm
Bischof die Erlaubnis zur Aufnahme einer Schuld verlangt wird.
— 207 —
Jäeineren Archive der Bheinpraving mitgeteilt sind ^); wie verhaßt
es war, zeig^ def Unwille, der an vielen Stellen der Reformation Kaiser
Sigmunds über diese Unsitte zum Ausdruck kommt '). Aber auch bei
der Inkorporation mußte wiederum das Vikariatswesen Platz greifen;
<ler Residenzpflicht konnte ebenfalls unmöglich genügt werden.
Was verlangte man nun von Bewerbern um eine niedere kirch-
liche Stelle ? Die mittelalterliche Kirche stellte theoretisch nur geringe
Anforderungen in bezug auf Alter und Bildung der niederen Kleriker •),
i) Leider ist (Ur diesen Zweck nur der i. Bd. (Bonn 1899) zq benutzen, dm dort
im Register anter dem Stichwort Inkarpor(Uion die einzelnen Fälle zusammengestellt
sind. Im 2. Bd. (Bonn 1904) ist dies bedauerlicherweise nicht der Fall, obwohl^ tat-
sächlich manche Inkorporation erwähnt ist. Es sei hier nur anf S. 113 diejenige von
-gleichzeitig drei Kirchen in die mensa der Äbtissin za B. Maria im Kapitol in Köln (1330)
erwähnt. Aas dem i. Bd. sind folgende Einzelfälle za verzeichnen: S. 17. Inkorporation
^er Pfarrkirche Widdersdorf in das Kloster Braaweiler (1490). — S. 27. Derselben
Abtei wird die Pfarrei Bürgel-Zons inkorporiert (1361). — S. 47 f. Eine ganze
Keihe von Inkorporationen. — S. 76. Die Kirche za Wickrath wird dem Aagastiner-
orden za Köln inkorporiert (1491), ebenso die Kirche za Bedbarg (1388.) — S. 82.
Mehrere Inkorporationen (1251 ff.). — S. 136. Erzbischof Friedrich von Köln bestätigt
'die Inkorporation von 5 Pfarrkirchen dem Kapitel za Bonn (1385). — S. 141. Erz-
l>ischof Siegfried inkorporiert dem Stift Vilich die Pfarreien Himmelgeist and Wittlaer
<i29o). — S. 156. Das Kapitel von St. Gereon za Köln erhält die Einkünfte der
Pfarrei von Niederbachem (1301). — S. 168. Der Archidiakon zu Bonn gestattet dem
Xloster Steinfeld, seine Pfarrei Fritzdorf mit einem geeigneten Mönch oder Kanoniker
«as ihrer Mitte za besetzen (1295). — S. 179. Erzbischof Siegfried inkorporiert
4]ie Pfarrei Fritzdorf dem Kloster Steinfeld (1295). — S. 178. Papst Siztas IV. inkor-
poriert die Pfarrei Flamersheim dem Zisterzienserkloster Heisterbach (1477). — S. 180.
Erzbischof Dietrich inkorporiert die Kirche za Nettesheim dem Stift St. Kunibert in
Köln (1428). Demselben Stift wird darch Johannes, Kardinal und Legat des
Jipostolischen Stuhles, die Kirche zu Heimerzheim inkorporiert (1449). — S. 183. Papst
Innozenz VIIL inkorporiert die Pfarrkirche zu St. Nikolai zu Kuchenheim dem Stift St.
Martin zu Kerpen (1488). — S. 212. Die Pfarrei ELsig wird dem Dekanat zu Nideggen
inkorporiert (1357). —
Eine ähnliche Zusammenstellung in anderen Provinzen würde eine erschreckend
^ofle Zahl der durch Inkorporation in Klöster, Kapitel und Stifte den Pfarrern enteigneten
Pfarreien ergeben! Aber dort, wo die erfreulicher Weise ftberall entstehenden Samm-
lungen von Pfarrgeschichten vorliegen, läfit sich auch leicht statistisch feststeUen, wie
-viele der 1500 überhaupt vorhandenen Pfarrkirchen noch selbständig waren.
2) Boehm S. 164: Ja auch klöster und sHfter steUen jetzt den hUrchen nach
und kaufen sie oder lassen sie sich ifüsorporieren .... auch die domherm müssen
jfu ihren pfründen noch kirchen haben.
3) Vgl. Hefele, Über die Lage des Klerus, besonders der PfarrgeisiUehkeit
4m MittelaUer in der Theolog« Quartalschrift, 50. Jahrgang (Tübingen 1868), S. 86 ff.
— 208 —
praktisch war sie nachsichtig fast bis zum Unmöglichen. Um eine Pfarrstelle
erhalten zu können, mußte man wenigstens 25 Jahre alt sein *). Setzte
man dieses Alter in einzelnen Provinzen, z. B. auf der Wiener Synode*
von 1267, bis auf 18 Jahre herab, so ging man bei Benefizien.
ohne Seelsorge — für sog. Altaristen oder Meßpriester im Gegensatz
zu den l^eutpriestem — noch tiefer herunter ; man begnügte sich z. B.
auf der Synode zu Ravenna von 13 11 mit 15 Jahren, ja für die Über-
nahme von Kanonikaten an Kollegiatkirchen genügten 12 Jahre. Aber
in der Praxis wurden auch diese milden Vorschriften namentlich bei
der Präsentation durch den Adel mißachtet, da selbst Knaben auf
Bischofstühle gelangten und Benefizien erhielten, die mit Seelsorge
verbunden waren. Selbstverständlich hatten diese nur die Temporaliea
im Genuß; die Spiritualien besorgten wiederum die Vikare.
Aber auch in bezug auf die wissenschaftliche Ausbildung dep*
Kuratklerus begnügte man sich im Mittelalter mit einem unglaublichen
Minimum. Daher die vielen Klagen in der Publizistik über die geringe
Bildung der Geistlichen. Eine Kölner Synode von 1260 bestimmter
daß die Geistlichen, wenigstens soweit es für den Gottesdienst not-^
wendig sei, lesen und singen verstehen müßten; zu den höheren
Weihen dürfe nur derjenige zugelassen werden , der die Grammatik
verstehe und hinlänglich Lateinisch sprechen könne*). Als dann die
Universitäten zahlreicher wurden, wuchsen die Anforderungen. So be-
stimmte die Magdeburger Synode von 1390, daß Plebanen (= Leut-
priester, Pfarrer) und Kuraten, deren Einkünfte es erlauben, 30 Gulden
jährlich auf Studien verwenden sollten, um drei Jahre lang auf der
Universität Theologie und kanonisches Recht zu studieren. Wenn sie
es nicht taten, mußten sie die betreffende Geldsumme an den Bischof
bezahlen. Aber der Vernachlässigung dieser Vorschriften wurde
geradezu Vorschub geleistet, wenn schließlich Benefizien erteilt wurden
unter der Voraussetzung, später innerhalb einer bestimmten Frist nach-
träglich die Weihen empfangen zu können *). Damit war allerdings der
Umgehung dieser Bestimmung Tür und Tor geöffnet. Auch im
XV. Jahrhundert wurde an der Theorie und Praxis der Benifizien-
Verleihung so gut wie nichts geändert *). Im Gegenteil, die Weihen
wurden häufig gar nicht empfangen, weil die Kurie leicht dis-
pensierte; die Seelsorge mußten dann wieder Vertreter, die Vikare^
i) Ebenda S. 100.
2) He feie, Konzüiengeschichte, 6. Bd., S. 51, 555, 624.
3) Vgl. Sauerland, a. a. O. S. LX.
4) He feie, Über die Lage, S. 106. *
— 209 —
besorgen. Besonders grassierte der Mißbrauch unter den Prälaten, die
als Fürstensöhne schon jung ein beneficium als Administratoren er-
hielten; von ihnen führt eine leicht erkennbare Linie zu der Ein-
richtung der Administratoren in der Reformationszeit. Bei der
Massenverleihung am päpstlichen Hofe war von einer Berücksichtigung
auch der geringsten Anforderungen in bezug auf Alter und Weihen-
empfang nicht die Rede ; die Verleihung war dort eine bloße Formalität,
sobald die geforderte Summe gezahlt oder in genügender Weise sicher-
gestellt war. Ja die Bestimmungen über Alter, Bildung und Residenz-
pflicht für ein Kuratbenefizium scheinen gerade dazu erlassen worden,
zu sein, um davon bei der Kurie liir Geld Dispens erwirken zu können-
Dieser Mißbrauch erreichte unter Clemens V. (1305 — 14) seinen Höhe-
punkt. Ein besonders drastisches Beispiel sei nach Sauerland *) an
geführt. Auf Grund einer noch erhaltenen Bittschrift des König
liehen Rates Nikolaus von Gymnich an Papst Clemens VI. stellt er
folgendes fest: „Als siebenjähriger Knabe war Nikolaus von dem Patron
der luxemburgischen Pfarrei Liebenborn für diese präsentiert und dann
von dem zuständigen Archidiakon auch in den Besitz eingewiesen worden.
Man hatte für ihn einen Vikar beschafft, der sich verpflichtete, dem Knaben
die Pfarreinkünfte im Jahresbetrag von 25 Königsgulden zu überlassen
und sich ,mit gewissen anderen Erträgen* zu begnügen. Acht Jahre
später hatte ihm ein anderer Laienpatron noch eine zweite und bessere
Pfarrei in seiner kölnischen Heimatdiözese verschafft, für welche
wiederum ein Vikar beschafft wurde, der ihm die Pfarreinkünfte im
Betrage von 30 Königsgulden überlassen mußte. Wiederum 11 Jahre
später hatte ihm ein anderer Laienpatron noch eine dritte und viel
fettere Pfarrei in Luxemburg verschafft, die ihm jährlich 100 Königs-
gulden eintrug." Dazu gelangte er noch in den Besitz einer Kanoni-
katspfründe mk derselben Rente. „Jetzt im Alter von mindestens
34 Jahren befand er sich im Dienste des deutschen Königs Karl IV.
und war von diesem als Botschafter an die Kurie entsandt. Dort be-
nutzte er die günstige Gelegenheit, um den Papst um Rehabilitierung in die
beiden zuletzt erworbenen Pfründen und um Schenkung der kirchen-
rechtswidrig genossenen Pfarreinkünfte zu bitten", nachdem er die
beiden minder einträglichen Pfarreien schon vorher aufgegeben hatte.
Qemens VI. willfahrte seinem Wunsche, ,*, ohne diesmal wie bei anderen
ihn zur Zahlung einer Geldsumme an die päpstliche Kammer als an-
geblicher Beisteuer zum Türkenkriege zu verpflichten. Nikolaus war
bis jetzt noch ohne Weihen und hatte auch niemals Residenz in einer
1) S. LXVU.
— 210 —
der drei Pfarreien gehalten/* Er verblieb auch weiter im Dienste des
Königes. „Auf seine Bitten gestattete ihm der Papst Unterlassung
der Residenzpflicht und des Weihenempfangs noch für die nächsten
drei Jahre."
Abgesehen davon, daß diese Urkunde die oben gerügten Mißstände
grell beleuchtet, gibt sie zugleich noch über eine andere Schattenseite
des Pfründenerwerbs Aufschluß. Die kirchenrechtlichen Bestimmungen
konnten ohne jede päpstliche Dispens überschritten werden, weil die
Unterlassung gar nicht zur Kenntnis des päpstlichen Stuhles gelangte.
Archidiakonen und ihre Bischöfe hatten eben die nachlässige Hand-
habung der Kirchengesetze von dem Oberhaupt der Kirche gelernt.
Wurde die Überschreitung schließlich im einzelnen Falle einmal der
Kurie bekannt, so erfolgte sogar, wie soeben gezeigt wurde, noch nach-
träglich und zwar gewöhnlich für Geld Dispens, und derselbe unerlaubte
Zustand wurde auf weitere Jahre durch dieselbe Dispens verlängert.
Daß durch eine derartig gehandhabte Dispensierung das ganze Kirchen-
recht über die Pfründenverleihung umgeworfen werden konnte, ist klar;
daß dies wiederholt geschah, zeigen die Urkunden. Der aktenmäßig
feststehende große Umfang dieses Unwesens klingt deutlich aus dem
WiderwUlcn der Reformation Kaiser Sigmunds heraus, die wiederholt
das leichtfertige Dispensieren geißelt *). Jedenfalls hatte gerade der
niedere Klerus am meisten darunter zu leiden, indem ihm durch alle
erteilten Dispense und alle Fälle, in denen solche von Rechts wegen
hätten erteilt werden müssen, das ihm zustehende Einkommen, der
volle Ertrag der Pfründe, vorenthalten wurde. Der Stand der Seelsorger,
für den kein ausreichender Nahrungsspielraum mehr vorhanden war,
besaß keine Lebensfähigkeit mehr. An seiner Stelle überwucherte der
minderwertige, weil mit geringeren Einkünften sich beg^nügendc Stand
der Hilfsgeistlichen, der Vikare; vicarius perpetuus oder redar lautet der
Ausdruck. *) So hatte die Kurie durch ihre systematische Entrechtung der
Ordinarien, d. h, derer, die von Rechts wegen die Pfründe an geeignete
Personen verleihen sollten, unter teils usurpierten, teils in überspannter
Weise geltend gemachten Rechtstiteln — wie Reservationen, Expek-
tanzen, Provisionen und Inkorporationen — den Pfarrklerus geradezu
exproprüert, seiner Pfründen enteignet. Da konnte es denn nicht aus-
bleiben, daß die auf diese Weise Enterbten ihre anderen Erwerbs-
i) Boehm, a. a. O. S. 176 und 179.
2) Beide Worte finden sich für dieselbe Person, die eine Pfarrkirche verwaltet,
£. B. 1392 in den Annahn des historiaehen Vereins für den Niederrhein 76. Heft
(1903), S. 42 Nr. 237. Aach deservitor (ebenda S. 87 Nr. 26, 1425) kommt vor.
— 211 —
quellen möglichst auszunutzen suchten, d. h. daß sie sich bemühten,
diese um so reichlicher fließen zu lassen, je weniger sie der ihnen
zugehö'renden Pfründen teilhaftig wurden. So behält der Verfasser der
Reformation Kaiser Sigmunds vollkommen recht, wenn er, wie oben
angeführt wurde, sagt, Simonie, das ist soviel als Wucher, sei zuerst
„aufgestanden" im Hofe des Papstes und habe so den ganzen geistlichen
Stand vergiftet.
Aber keine Anklageschrift hat das ganze System besser getroffen,
als das Pamphlet, das während der Zeit des Konstanzer Konzils
entstand , Passio in Romana curia secundum aurum et argentum *).
Sind auch die Einzelzüge dieser Schrift derb sarkastisch, so ver-
dient sie dennoch in diesem Zusammenhang einmal ganz vor-
geführt zu werden. Es heißt da : In ttto turbine dixit Dominus papa
cardinaiibus suis: quando venu fUius hominis ad sedem maiesUUis
vestrae, dicite ei: amice ad quid venisti? At iUe diu morans et nihil
dans: eicite eum foras ad tenehras exteriores. Cardinales vero dixeruni:
domine, quid faciamus, ut pecuniam possideamus? Dominus papa vero
dixit: quomodo legitis? Nonne scriptum est, düiges aurum et argentum
ex toto corde tuo et divitem sicut te ipsum? Et hoc facite in meam
commemorationem et vivetis in aetemum. Et tunc venit pauper clericus
ad curiam Romanam, qui oppressus erat ab episcopo suo, et damavit
voce magna dicens: Miseremini mei, miseremini sattem vos ostiarii domini
papae, quia paupertatis onus tetigit me, peto, ut subveniatis paupertati
meae et miseremini. At Uli dixerunt: Quid ad nos, paupertas tua sit
tecum in perditUmem, Tum vero pauper clericus ivit ad forum et vendidit
dunicam, peUicium, gladium et capuceum, Primo dedit cardinaiibus,
secundo ministris, tertio vero ostiariis. At iUi dixerunt: Et quid haec
inter tantos? Et eiecerunt eum foras. Et flevit amare. Dominus papa
dixit: Non introibis gaudium domini tui, donec reddideris ultimum
quadrantem. Post multum vero temporis venit dives episcopus impin-
guatus, incrassatus, dilatatus, qui homicidium fecerat et cum eo turba
muUa. Cardinales autem audientes, quod episcopus venercU, occurrerunt
ei dicentes et damantes: Advenisti desiderdbilis, quem exspectabamus in
hursis nostris. Tunc episcopus misit eis copiam auri et argenti. At
iMi dixerunt: Hie hämo iustus et sandus est non sictd ceteri, qui spem
non habent. DomintiS papa vero dixit: Amice ascende superif4s et erit
tibi triplo melius. Et sie salvatus est homo in iüo die. *Unde erunt
^ivites (nämlich die Bischöfe) primi et pauperes (nämlich die Kleriker)
i) Vgl. V. d. Hardt, i. Bd., S. 498.
— 212 —
novissimi. Quia quantum hohes, tantum vales. Et si nihil hahueris, in
gatidium huiusmodi non intrabis.
Die beiden übrigen Erwerbsquellen des niederen Klerus waren
Zehnten und Stolgebühren. Zu der ersteren Abgabe, einer
direkten Besteurung in Naturalien, war das Volk unter der Strafe der
Exkommunikation verpflichtet *). Aber auch dieses Recht wurde dea
Pfarrern häufig durch die adligen Patrone verkürzt, ja Bischöfe ver-
kauften oder verpachteten oft den Zehnten an adlige Laien *).
Ein weit größerer imd gefährlicherer Konkurrent jedoch erstand
den Pfarren auf diesem Gebiete in den Klöstern. Abgesehen davon,
daß diese häufig von den Ländereien ihrer abhängigen Leute den der
Pfarrkirche schuldigen Zehnten nicht entrichteten, indem sie jene oben
gerügte päpstliche Dispens vorgaben, beeinflußten sie auch das Volk
in diesem Sinne; namentlich die Mendikanten (Bettelmönche) predigten
öffentlich gegen das Zehntrecht des Weltklerus. Offenbar sind mit den
auf dem Baseler Konzil getadelten scandala erronea ^) der Mendikanten
gegen die Kuraten jene feindseligen Äußerungen der Mönche gemeint.
Aber nicht etwa aus übertriebenem Spiritualismus tritt das Mönchtum
dieser Einnahmequelle der Pfarrer entgegen, sondern aus nacktem
Konkurrenzneid. Sie suchten vielmehr den Zehnten an sich zu bringea.
Gegen die Bestrebungen erhoben sich denn auch wiederholt Synoden *).
War diese Erwerbsquelle des Pfarrers sehr stark beeinträchtigt,
so war die zweite und letzte sehr unzuverlässig; dazu haftete ihr das
Odium des Gfeschenkes, des Bettels, ja des Sakramentenkaufs, oder
der Simonie an. Es sind das die Stolgebühren. Zuerst wurden
sie von der Kirche verboten^), dann geduldet, und in beschränktem
Maße zugelassen. Freiwillige Geschenke für seelsorgerische Hand-
lungen wurden nach Vollzug derselben von den Pfarrern angenommen,
aber jede Forderung von solchen Spenden war untersagt ^). Bald
aber erhielten die üblichen Geschenke durch die Gewohnheit ') den
Charakter von Gebühren. So sahen sich schließlich die Synoden wie
z. B. die zu Trier von 1423 genötigt, das Maximum der Taxen für
Begräbnisse und Totenfeiern (Exequien) auf zwölf kleine Turonenser
i) He feie, KonziliengeschichU, 5. Bd., S. 78.
2) Hefele, Über die Lage, S. 93.
3) Monumenta conciliarum generalium aaecuU XV, 2. Bd. S. 700.
4) Hefele, Konziliengeschichte, 6. Bd., S. 216, 249, 560, 625.
5) Ebenda 5. Bd., S. 229, 634, 803 and 6. Bd., S. 96.
6) Ebenda 5. Bd., S. 290, 803, 844, 960 and 6. Bd., S. 246 and 433.
7) Wie die Reformation K. S. sagt : es ist jetzt alles in gexDohnheit gekommen^.
— 213 —
Solidi festzusetzen, wobei aber wieder jedem Mißbrauch freier Lauf
;gelasseii wurde mit der gleichzeitigen Bestimmung, daß da, wo höhere
oder niedere Taxen üblich seien , diese weiter bestehen sollten *).
Diese Einnahmequelle wurde denn immer mehr ausgebeutet, so daß es
schließlich Sitte wurde, jede seelsorgerische Amtsfunktion, auch die
.Sakramentenverleihung und die Spendung von Sakramentalien, nur
unter Hinterlegung von Gebühren zu vollziehen *). Diese Gewohnheit
^urde dann bald mit dem Makel belegt, als seien die Sakramente
käuflich. Die Meinung War im XV. Jahrhundert weit verbreitet. Auf
den großen Reformkonzilien ') wurden wiederholt Gegenmaßregeln
gefordert. Das damals geprägte Stichwort : graHs ctccepistis, gratis date
wurde ein Schlagwort; mit ihm sollte das Unrecht des Sakramenten-
kaufs gekennzeichnet werden. Auch die Reformation Kaiser Sigmunds
verwertet dieses geflügelte Wort zu demselben Zweck*). Aber mit
dieser Abgabe, die bei den zahllosen Gelegenheiten geistlicher Amts-
handlungen in damaliger Zeit bezahlt wurde, ist die Stelle gefunden,
wo der vom Papst ausgehende Druck der Depossedierung des niederen
Klerus auf einer breiten Basis im Volke aufsaß. Die Empfindlichkeit
dieses Druckes verschärfte noch die Vorherrschaft des gläubigen
Sinnes im Volke. Aber gerade zum wüstesten Ärgernis artete der
Mißbrauch des Stolgebührenwesens aus, als auch bei dieser Einnahme-
quelle die Mönche in die denkbar schärfste Konkurrenz mit den Pfarrern
traten. Von ihnen wurde denn dieser Kampf mit größter Leidenschaft
und allen Mitteln gekämpft, wie nur immer ein Kampf um die wirt-
schaftliche Existenz ausgefochten zu werden pflegt. Denn das war
der Streit zwischen Pfarrern und Mönchen, der schon in der ersten
Hälfte des XIV. Jahrhunderts *) begann und die größte Erregung unter
den niederen Klerikern des XV. Jahrhunderts hervorrief. Auf dem
i) Hefele, Über die Lagt, S. iii.
2) Das geht aus den Verordnangen kleinerer Synoden im XV. Jahrhundert hervor,
X. B. auf der Diözesansynode zu Salzburg 1420 heiflt es: die hl. Sakramente und andere
geistliche Sachen müssen frei, ohne vorherige Übereinkunft oder Vertrag gespendet werden.
Binterim 7. Bd., S. 422. Ebenso in Trier 1423. Beim Beichthören soUen nicht wegen
zu erwartender Geschenke oder wegen Hoffnung auf Gewinn kleinere Bufien auferlegt
werden. Ebenda S. 456. Auf dem Provinzialkonzil zu Mainz 1423 wurde gefordert, daß
die Priester die ihnen reservierten FlUe nicht feilbieten und keine Geldsumme sich
versprechen lassen sollen. Ebenda S. 432.
3) MonumerUa oonciliorum (saec. XV.) generalium, 2 Bd., S. 691 und 693.
4) Boehm, a. a. O. S. 163.
5) Sauerland,, a. a. O. S. LXXIII.
— 214 —
Konzil zu Basel erreichte dieser Kampf seine akute Höhe ^) und löste
sich dann in nicht minder heftige Einzelgefechte auf den Provinzial-
und Diözesansynoden ') auf. Er beginnt mit der Einmischung der
Orden, namentlich dem der Mendikanten, in die pfarramtlichen Funk«
tionen, wie Beichthören, Sakramentespenden und Abhalten von Be-
gräbnis und Anniversarien. Dieser Vorstoß ist aber nicht aus dem
heiligen Eifer der Mendikanten für die Rettung der Seelen unter-
nommen worden, sondern nur um der bei genannten Funktionen zur
Gewohnheit gewordenen Gebühren willen. Es handelt sich also um.
einen rein wirtschaftlichen Konkurrenzkampf zwischen Welt- und
Ordensklerus. Die Mendikanten wußten solches Aufsehen von ihrer
Sakramentenspendung, namentlich von ihren Begräbnissen und Jahres-
gedächtnissen (Anniversarien) zu machen, daß sie die Laien in ihre
Kirchen lockten •) und sie zu überreden suchten, bei ihnen sich be-
graben und ihre Totenfeier halten zu lassen; besonders Adlige suchten
sie dafür zu gewinnen *). Die Reformation Kaiser Sigmunds bestätigt
das Vorhandensein dieser Unsitte vollkommen. Deshalb sehen wir
auf diesem Gebiete den heftigsten Unwillen gerade unter den Laien,
in den Städtegemeinden im XV. Jahrhundert rege werden, wo
Bürgermeister und Rat die Abschaffung der Stolgebühren wie des
Begräbnisses und der Jahresgedächtnisse fordern. Auch der Verfasser
der Reformation Kaiser Sigmunds stellt als Laie dieselbe Forderung
und begründet sie mit dem aufgeklärten Gedanken : Hetten si es im
kinden oder rechten erben gelassen, es war versehenlich, die sele fräuet
sich mer, dann also *).
i) Monumenta conciliorum generaJium (XV. sacc.) 2. Bd., S. 683 und besonders
S. 700 ff.
2) In Nürnberg und an anderen Orten der Bamberger Diözese war der Kampf so
heftig, daß man sich gegenseitig von der Kanzel beschimpfte. Binterim, a. a. O. 7. Bd.
S. 247 ff. zam Jahr 1451. Auch der Erzbischof von Mainz weist in seinem Ausschreiben
zu einem Provinzialkonzil an den Bischof von Augsburg auf die falschen Lehren der
Mendikanten hin, die predigten: Hat jemand außer der Pfarrei eine Begräbnisstätte
gewählt, so braucht er dem Pfarrer die Stolgebflhren nicht zu geben. Material aus
Köln fiber die Begräbnisstätten findet sich in den Urkundenregesten der Kölner Pfarr-
archive in den Annalen des historischen Vereins fUr den Niederrhein 76. Heft (1903),
z. B. S. 157 Nr. 49, 141 1.
3) So wird auf der Provinzialsynode zu Salzburg im XV. Jahrh. heftig geklagt, daß
die Ordensgeistlichen die Pfarrkinder anlocken zur Beichte und dadurch den Weltklerus
schädigen, daß sie sogar notorische Wucherer in ihrer Kirche bestatten. Vgl. Hefele,
KoneiUengeschichU, 8. Bd., S. 88 f.
4) Hefele, Über die Lage, S. 112.
5) Boehm a. a. O., S. 189.
— 215 —
Namentlich, in Süd- und Westdeutschland wurde der Kampf sehr
erbittert gefuhrt. Schon 1261 klagt eine Mainzer Synode, daß die Mönche
sich die meisten Güter und Einkünfte verschafft hätten, so daß in ihren
Mund der ganze Jordan fließe Gerade die reicheren Kirchen wußten
sich die Klöster einzuverleiben, so daß es in Deutschland schließlich
nur noch wenige Kirchen gab, von deren Einkünften die Geistlichen
angemessen unterhalten werden konnten '). Dieser Tatsache gibt die
Reformation Kaiser Sigmunds einen kräftigen Ausdruck, wenn sie sagt :
IHe Jdäster haben das erdreich inne.
Auch an diesem Überwuchern des Mönchtums in kirchlichem
Amt und Besitz tragen die Päpste die Schuld durch ihr System des
leichtfertigen Dispensierens. Denn wenn die Pfarrer darauf hinwiesen,
daß die Mendikanten die Erlaubnis zum Beichthören von ihnen haben
müßten und wenn sie sogar an ihre Ordinarien, die Bischöfe, appellierten,
da versteiften sich die Orden auf ihre vom Oberhaupt der ganzen
Kirche verliehenen Dispense. Die Einsprüche der Bischöfe blieben
deshalb wirkungslos '). So erklärt sich denn auch der neben dem
Kampf des Pfarrklerus mit den Mendikanten einhergehende große
Haß der Laien des XV. Jahrhunderts *) gegen das Mönchtum. Er
war ein doppelter, da er nicht nur gegen die Ausbeutung des Volkes
seitens der Mendikanten selbst bei kirchlichen Funktionen gerichtet
war, sondern auch weil diese Funktionen als Übergriflfe zum Nachteil des
pfarramtlichen Wirkungskreises empfunden wurden. Die Laien nahmen
deshalb um so rückhaltloser Partei für die Pfarrer. Dieser doppelte
Haß kommt besonders in der süddeutschen Stadt Augsburg *) zum
prägnanten Ausdruck in der Reformation des Kaisers Sigmund. Der
Verfasser schiebt die ganze Schuld der mönchischen Übergriflfe mit
Recht auf die päpstlichen Dispense, die den Orden zu reichlich und
leichtfertig erteilt worden seien. Er fordert deshalb, ja keinen Mönch
mehr in irgendein kirchliches Amt zu berufen. Denn sonst würde
der Mönch, wenn er Papst, Kardinal oder Bischof geworden sei,
sofort wieder seinen Orden dispensieren, wie in der Zunft ein Mitglied
i) Hefele, KomViengeschichte, 6. Bd., S. 67.
2) B Interim, a. a., S. 284 f.
3) Vgl. Alt mann, W.Eberhard Windekea Denkwürdigkeiten (1893), S. 380:
denn die almusen doien den größten schaden tmd machten den größten krieg in
alien deutschen Landen. Ebenso S. 387 und S. 398.
4) Oben hörten wir schon, wie aktuell der Kampf iwischen Ordens- and Weltklems
gerade in der Mainzer Kirchenprovinz war, za der Augsbarg gehörte. Vgl. das S. 214
Anm. 2 mitgeteilte Schreiben des Erzbischofs von Mainz an den Bischof von Angsboig.
— 216 —
dem anderen helfe '). Sein Haß gegen die Orden macht den Ver-
fasser so blind, daß er das Wort ordines seiner Vorlage wiederholt
mit „Orden** übersetzt, um recht oft Gelegenheit zu haben, heftig
gegen die Orden zu polemisieren.
Aber nicht genug damit, daß der Pfarrklerus vom Papste um seine
Pfründe gebracht, von den Mendikanten durch heftige Konkurrenz in
seinem Einkommen verkürzt wurde, er ist auch zu den päpstlichen
Abgaben, zu Annaten und Zehnten herangezogen worden. Zum
erstenmal wurde die erstere Abgabe- 13 16 von Papst Johann XXII.
der Kölner und Trierer Diözese für einen Zeitraum von drei Jahren
auferlegt. Danach mußte jeder, der ein kirchliches Bencfizium von
mindestens 30 Kammergulden Wert innerhalb dieser drei Jahre antrat,
die Hälfte seines Einkommens an den Papst zahlen ^). Daß ein so
kapitalschwacher Klerus versagte, ist im voraus anzunehmen, und die
Urkunden bestätigen das. Der Widerwille des Klerus zeigte sich so-
fort; der Papst mußte sich nach der ersten Auflage der Annaten
ihrer Eintreibung enthalten'), und bei der zweiten Auflage 1344
zahlten nur zwei Pfründenempfänger in der reichsten und größten
Diözese, Köln, und in der ganzen Kirchenprovinz Trier war es nur ein
„verschwindend geringer Bruchteü** der Annatenpflichtigen, die ihrer
Pflicht nachkamen *). Papst Clemens VI. hat noch schlimmere Er-
fahrungen mit den Annaten gemacht. Auch unter ihm war die Summe
der Annatengelder in der großen Diözese Trier „sehr gering**. Ein
päpstlicher SubkoUektor wäre, nach seinem eigenen Berichte, ersäuft
wor<Jen, hätte er den Auftrag, die Annaten in der Trierer Diözese
einzusammeln, wirklich ausgeführt. Als dann ein „mächtiger Herr**
beauftragt wurde, gegen alle Säumigen in der Trierer und Metzer
Diözese mit Prozessen vorzugehen, wurde auch der Bote, der die Zu-
stellungen besorgte, angefallen, der Urkunden und einer Hand beraubt ;
ein anderer Bote wurde sogar erdrosselt *). Später wagte es der Erz-
bischof überhaupt nicht, die päpstlichen Prozesse anhängig zu machen %
Aber auch die Auflage des 2^hnten stieß bei dem niederen Klerus
auf denselben harten Widerspruch. Schon früh, bereits beim zweiten
1) Die analoge Deatang der Zanfl wie des Ordens als parcialitas weist schon
aaf das zünftisch regierte Augsburg.
2) Smuerland, a. a. O. S. XLV und Kirsch, Die päpstlichen KoUektorien m
Deutschland während des XIV. Jahrhunderts (Paderborn 1894), S. 33— i^S-
3) Sauerland a. a. O. S. XLVI.
4) Ebenda S. XLVU.
5) Ebenda S. XLVIU.
6) Kirsch, a. a. O., S. 195—196.
— 217 —
Konzil zu Lyon (1274), hatte er dieser Abgabe Schwierigkeiten be-
reitet *) , und unter Clemens V. verweigerte sie der Klerus der
Trierer Kirchenprovinz. Der Papst hatte auf solche Weise etwa
i Million Gulden zusammengebracht, die zu einem großen Kreuzzug
verwendet werden sollten; er verlieh sie jedoch an die Könige von
Frankreich und England. Als er starb, war „das Ende ein Skandal
ohnegleichen** *). So mußten auch die Päpste Johann XXII. und
Clemens VI. wiederholt von der Zahlung des Zehnten wegen der
Weigerung des Klerus Abstand nehmen *). Im XV. Jahrhundert gar
wurde der Widerspruch des Klerus gegen das päpstliche Finansystem
allgemein und noch lauter. Nachdem man schon auf dem Provinzialkonzil
<les Erzbistums Mainz zu AscbafTenburg 1455 entschieden die Herab-
setzung der Annaten und die Ermäßigung der Taxen an der Kurie gefordert
hatte, ging derselbe Erzbischof auf der Synode zu Frankfurt noch
fichärfer vor : infolge des wiederholt geforderten Türkenzehnten klagte
man „über die finanzielle Erschöpfung der deutschen Kirche**. Be-
sonders übel wurde vermerkt, daß sogar Kommissare des für
Frankreich bestimmten Legaten in den Diözesen Trier, Köln und
Metz vom Klerus den Türkenzehnten forderten. Es wurde deshalb
dessen Einsammlung durch päpstliche Agenten geradezu verboten,
von den Sprengein selbst übernommen und seine richtige Verwen-
dung gesichert *). Der Erzbischof von Mainz erließ sogar ein Dekret,
das jeden, der die Mißbräuche des römischen Hofes begünstige, seiner
Stelle und Rechte im Sprengel verlustig erklärte. Die Kapitel wurden
ins Vernehmen gezogen; Köln und Trier stimmten diesem scharfen
Vorgehen zu; „ein förmlicher Bund gegen Rom wurde organisiert***).
Im südlichen Deutschland gingen die Wogen der Empörung nicht
weniger hoch, nur daß sich hier der alte Unwille gegen den
Regularklerus noch dazugesellte. Der von Papst Kalixt III. aus-
geschriebene Türkenzehnte trieb auch den Salzburger Klerus zur
Abwehr gegen Rom auf der Provinzialsynode von 1456. Namentlich
klagte der untersteirische Klerus über die ihm aufgebürdeten Lasten
und forderte Schutz gegen die das Volk allzusehr an sich ziehenden
Ordensleute ^). Die in Deutschland allgemein herrschende Mißstimmung
i) Sftaerland a. a. O., S. L.
2) Vgl. Haller, a. a. O., S. 46.
3) Kirsch, a. a. O., S. 183.
4) Hefele-Hergenröther, KatmUengeschichU, 8. Bd., S. 86.
5) Ebenda S. 87.
6) Ebenda S. 89.
16
— 218 —
über die Regularen und den Papst fand auch ihren Widerhall auf
dem Frankfurter Kurfiirstentag von 1456. Man „erging sich hier in.
heftigen Deklamationen wider den römischen Stuhl, der abermals dea
deutschen Schäflein das Fell über die Ohren ziehen wolle. Dagegen^
müsse man entschieden Appellation einlegen, die Ablaßprediger mit
leeren Händen heimschicken, die päpstlichen Nepoten nicht noclt
mehr bereichern" ').
Die „zur armen Dienstmagd erniedrigte " Deutsche Nation schloß
»» gegen die römischen Übergriffe" einen förmlichen Bund. Damit
hatte die antipäpstliche Bewegung in Deutschland während des XV^
Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht, um dann im XVI. Jahrhundert
mit noch größerer Heftigkeit wiedereinzusetzen. Der Petitionensturm der
cenium gravamina nationis Oertnanicae kennzeichnet ebenfalls den Druck
vom römischen Hofe als einen noch vorwiegend finanziellen *). So kann
es nicht wundernehmen, wenn gerade an einem Teil der finanziellen
Ausbeutung, dem Ablaßinstitut, die Bewegung Luthers einsetzte.
In erster Linie war es also die durch das zentralistisch geübte Ver-
leihungsrecht des Papstes herbeigeführte Depossedierung des Kurat-
klerus, die, wenn auch nicht das Vikariat erst ins Leben rief, so doch
eine Notlage schuf, durch die das Anschwellen des Standes der
Hilfsgeistlichen gefördert wurde. Erst in zweiter Linie kommt die
„Habsucht" in Betracht, die dem kapitalistischem Zeitgeiste folgend
zur kirchlichen Anstellung, d. h. zu einem gesicherten Einkommen drängte^
Denn die Mobilisierung^ alles Besitzes entwertete den Grundbesitz.
Deshalb strebte der Adel, namentlich dessen nachgeborene Söhne,,
nach den höheren geistlichen Ämtern '), der Bauer nach den niederen
kirchlichen Stellen. Sebastian Brant sagt deshalb im NarrenschiflT
vom Geistlichwerden, daß jeder Bauer jetzt einen Pfaffen in seiner
Familie haben wolle, der sich vom Nichtstun nähre und „Herr" heiße.
Die meisten dieser Geistlichen wurden Vikare , die den eigentlichen
Pfründenbesitzer im officium vertraten. Ihre Lage war an der
Wende des Mittelalters eine klägliche. Sie läßt sich etwa mit dem
„fliegenden Zustand" modemer provisorischer Hilfsbeamten vergleichen^
nur mit dem Unterschiede, daß jene nicht vorübergehend, sonderii
i) Ebenda S. 90.
2) Vgl. A. O. Meyer, Studien zur Vorgeschichte der Reformation aus eckU-
sischen Quellen im Historischen Litbl. XIV (Mflnchen 1903), S. 70 f.
3) Siebe die verdienstvoUe Zosammenstellung bei Janssen-Pastor, Geschichte
des deutschen Volkes i. Bd. (1897), S. 689 ff.
— 219 —
ihr Leben lang, wenn auch bald hier, bald dort, Vikare blieben.
Sozial stand der damalige Hilfsgeistliche noch viel tiefer, was bei
der hohen sozialen Bewertung gerade des geistlichen Standes im
Mittelalter doppelt schwer wiegt. Der Stand trug die beiden wich-
tigsten Merkmale des Proletarischen an sich: die große Anzahl der
Vikare, also Überschuß an Kräften, und ein Hungereinkommen ^).
Es besaß z. B. die Kirche St. Elisabeth zu Breslau am Ende des
XV. Jahrhunderts an 47 Altären 1 22 Altaristen, zu derselben Zeit wirkten
in der St. Magdalenenkirche daselbst an 58 Altären 1 14 Altaristen. So
waren also an zwei Kirchen einer nicht allzu großen Stadt 236 niedere
Kleriker, die nur die Messe zu lesen hatten*). In einer Pfarrei war
oft für ein ganzes Heer von niederen Klerikern dadurch gesorgt, daß
es da Filialen, Kapellen, Oratorien, Sazellen und Altäre gab, an denen
Kleriker niederer Ordnung tmter dem Namen capeUani oder aUaridae
mit meist sehr dürftiger Dotation angestellt waren '). Dazu kamen
die Ratskapellen in den stattlichen Rathäusern, die Familienkapellen
der reichen Patrizierhäuser und in den geräumigen Stadtkirchen sowie die
Zunftkapellen der zahlreichen Zünfte. Für die Altäre aller dieser Bet-
häuser gab es Altar- und Meßstiftungen in so großer Anzahl, daß sie
Bedenken erregten *). Wer nicht einen Altar allein stiften konnte,
stiftete ein Altarlehen: so wurde an einem bereits vorhandenen Altar
ein zweiter Altarist besoldet. Überhaupt kann man am ausgehenden
Mittelalter eine Legion von frommen Stiftungen beurkundet sehen,
wobei wohl die große Nachfrage von seiten der Kleriker an erster
Stelle das ebenso große Angebot von seiten der Laien hervor-
gerufen hat
Aber die Stellung eines Altaristen hatte eine zweifache Schatten-
seite. Sie beschäftigte nicht ganz und ernährte nicht vollständig ihren
Mann. Man bedenke, daß das Tagewerk eines Altaristen nicht mehr
als 2} Stunde mit allen seinen geistlichen Obliegenheiten in Anspruch
nahm. Der Verdienst war deshalb kärglich. Er trieb den Altaristen
an, mehrere solcher Stipendien für ein und denselben Tag anzunehmen.
Da aber nach kirchlicher Vorschrift ein Priester an einem Tage nicht
mehr als eine Messe feiern darf, erfand man die häßliche Verunstaltung
i) Vgl. Falke, An der Wende des XV. Jahrhunderts in den Historisch-poli-
tiftcben Blättern 112. Bd. (1893), S. 545 ff.
2) Andere Beispiele ebenda S. 549 und 550.
3) ürktmdtnbuch der mitUlrheinischen Territorien 2. Bd. (Koblenz 1865),
S. CXXXV.
4) Grttnhagen, Geschichte Schlesiens i. Bd., S. 248.
16*
— 220 —
dieser Zeremonie , indem man missae bifaciaiae und trifadaicte las ^).
Der erste und der letzte Teil der Messe wurde nämlich dabei nach
der Anzahl der Stipendien, die man an einem Tage erwerben wollte,
wiederholt, während der Kanon, der Hauptteil der Messe, nur einmal
gelesen wurde. Andere hielten auf Kosten der abergläubischen An-
sicht, als könne man Lebende zu Tode beten, eine Totenmesse, damit
der vom Besteller der Messe Ausersehene bald das Zeitliche segne •).
Auf diese Weise mag sich noch der sittlich bessere Teil der
niederen Kleriker durchgeschlagen haben. Andere von leichtfertigerem
Lebenswandel verschmähten diesen kargen und ehrlichen Gewinn, sie
gingen im Strudel des Weltgetriebes unter. „Sie traten in die Dienste
von Laien, wurden ihre Schreiber und Beamten •), wohl auch eine Art
Kammerdiener der gnädigen Frauen, deren Jagdfalken sie besorgten.
Wieder andere trieben sich als Possenreißer und Spaßmacher im Lande
herum , oder wanderten als clerid vagabundi von Kirche zu Kirche,
um irgendwo auf einige Wochen oder Monate Stellung zu erhalten." *)
Die Kirche versuchte auch den „fliegenden Zustand" abzuändern, in-
dem sie vorschrieb, nur einen vicarit48 perpetuus, also einen definitiv
angestellten Vikar mit einer hinreichenden Quote des Einkommens zu
berufen*). Aber auch hier war „das System stärker als der Wille".
So gaben sich andere Kleriker mit Wuchergeschäften oder mit
Wirtschaft^) und mit Weinhandel im großen und kleinen ab, oder
sie verlegten sich auf die Landwirtschaft, so daß man sie von den
Bauern nicht mehr unterscheiden konnte ') , oder sie arbeiteten als
Metzger, Gerber, Schuster und dgl. Vornehme fungierten als Rechts-
anwälte, Ärzte und Wundärzte, einzelne sogar als Kanzler und Minister
der Fürsten, von denen zu schweigen, die Spielhöllen und Bordelle
unterhielten. Nicht wenige waren auch als Gerichtsschreiber tätig,
i) Vgl. A. Franz, Die Messe im deutschen Mittelalter (Freiburg 190a), S. 77.
2) He feie. Über die Lage, S. 117.
3) Hefele, Über die Lage, S. 113 f.
4) Sogmr zun Küchenpersonal der Hamburger Gesandtschaft zu Avignon gehörten
Kleriker, die von hier aus als höchstes Lebensziel eine Vikarie erwarteten. VgL
Th. Schrader, Die Bechnungsbücher der hamburgiscJien Gesandten in Ävignon
1338—1355 (Leipzig 1907), S. 48* f. Auf der Synode zu Augsburg 1355 wird darttber
geklagt, daß an einigen Orten die Vikare weniger Lohn erhalten als die Viehhirten
(Binterim a. a. O. 6. Bd., S. 298).
5) Binterim a. a. O. 7. Bd., S. 225, auf der Salzburger Sjnode von 1440 verboten,
und ebenso 1420 (S. 428).
6) Ebenda S. 420 und S. 453.
7) Deshalb wurde wiederholt von Synoden eingeschärft, daß die Kleriker geistliche
Tracht haben sollten. Ebenda S. 421, 431, 452 und 474 f.
— 221 —
obgleich die Kirchengesetze nicht bloß die direkte Teilnahipe an Blut-
urteilen, sondern selbst jede indirekte, und namentlich auch das Nieder-
schreiben und Abschreiben der Bluturteile den Geistlichen verboten'*.
So konnte Sebastian Brant in seiner derbsarkastischen Weise mit
Recht von den niederen Geistlichen sagen:
Kein anner vid^ auf erden ist,
Denn priesterschaft, der narung gebrist.
Ein so verachteter und so gering auch finanziell eingeschätzter
Stand mußte selbstverständlich die Selbstachtung leicht verlieren.
Schon im ersten Drittel des XIII. Jahrhunderts soll es in der Trierer
Kirchenprovinz mit dem Priesterkonkubinat arg bestellt gewesen sein ^).
Im XIV. Jahrhundert gar findet Sauerland aus den Urkunden einen
„massenhaft erscheinenden Konkubinat der Priester". Im Jahre 1335
unter Papst Benedikt XII. erhielten 207 Bittsteller Dispense super
defectu neUaiium, von denen 14S de presbytero et soluta geniti waren.
Im ersten Pontifikatsjahre Clemens' VI. betrug die Zahl derartiger Bitt->
steiler sogar 614, von denen 484 de preshytero geniti waren. Aber
die angeführten Zahlen betreffen nur diejenigen Klerikerkinder, die sich
wiederum dem priesterlichen Stande widmeten; die Zahl der Priester-
kinder überhaupt muß noch viel größer gewesen sein. Im XV. Jahr-
hundert nahm das Übel noch zu. So beschäftigten sich die Provinzial-
und Diözesansynoden fast regelmäßig mit dieser Frage '). Einige er-
örterten sie sehr eingehend, indem sie Geistliche und Benefiziaten auf-
forderten '), innerhalb einer bestimmten Frist ihre Konkubinen zn ent-
lassen, sonst würden sie suspendiert. Auch beschäftigte man sich
eingehend mit den Kindern der Konkubinarier *). Schon hatten die
großen Reformkonzilien zu Konstanz ^) und Basel sich mit dieser heiklen
Frage mehrfach beschäftigt. In Basel erhoben sich sogar Stimmen •),
welche die Abschaffung des Zölibats forderten, unter anderen war
sogar Kaiser Sigmund dafür ^). Eigentümlicherweise tritt auch die
unter seinem Namen erschienene Reformschrift warm für die Priester-
1) Vgl. für das Folgende: Saaerland a. a. O. S. LXDC nnd LXX.
2) Binterim a. a. O., Air Saliburg S. 228, 419 und 500, für Mainz S. 44if ^^9^
für Köln S. 482.
3) Ebenda für Trier S. 451.
4) Ebenda fUr Trier S. 451, fttr Köln S. 457.
5) Zabarella zweifelte, ob man nicht den Priestern die Ehe gestatten soUe. Vgl.
V. d. Hardt i. Bd., S. 525.
6) Vgl. Zimmermann, A., Die IdTMiehen Verfcasw^skämpfe im XV, Jahr'
hunStft (1882), S. 106.
7) Ebenda.
— 222 —
ehe ein. Jedenfalls war die Elrörtening dieses Themas im XV. Jahr-
hundert sehr beliebt und gehörte wohl zum Tagesgespräch, zumal da-
durch die damals wieder lebhafter geführten Verhandlungen wegen einer
Union mit den Griechen der Brauch der orientalischen Kirche dem
Abendlande nähergerückt war. In der Tat bezieht sich die Reformation
Kaiser Sigmunds gerade auf die orientalische Kirche, um die Priester-
ehe zu empfehlen *). Die Macht der Gewohnheit, die bei der Unsitte
des Konkubinats bereits eingerissen war, erwies sich so stark, daß
manche Priester offen erklärten: ihre Konkubinen nicht für ein Menschen-
leben entlassen zu wollen '). Die kanonischen Strafen waren frucht-
los, zumal da manche Bischöfe das Konkubinat gegen eine bestimmte
Abgabe, die Konkubinatssteuer, gestatteten. Mit Recht findet es des-
halb die Reformation Kaiser Sigmunds sehr verabscheuungswürdig,
daß Bischöfe sogar aus den Fehltritten des niederen Klerus zeitlichen
Gewinn ziehen ; st varent ssu und schickend progessen heut über diepriester,
daß si nit junkfrauen nemen oder dienstmagd haben. Si gebieten bei
hohen bennen, die priester lassens daruwib nickt, si werdent bennig.
Der bischof nimpt gdd ').
Aber das klerikale Proletariat wurde im XV. Jahrhundert durch
religiöse Genossenschaften noch vermehrt. Es waren das Anhänger
der sog. dritten Regel des hl. Dominikus, Franziskus und Augustinus.
In Wirklichkeit folgten diese keiner Regel und bestanden vielfach aus
abenteuerlichen Haufen beiderlei Geschlechts. Sie hatten auch Priester
in ihren Reihen, die von ihren Anhängern unterstützt, der besseren
Geistlichkeit durch ihre Predigten und andere geistliche Verrichtungen
neue Verlegenheiten bereiteten. Dazu schadeten z. B. die sog.
fratres spirituales, auch frcUriceUi genannt, den Orden, indem sie oft
i) Boehm, a. a. O. S. 187.
2) V. d. Hardt, i. Bd., S. 428 and Gersoo, Opera, I, 18. Über die Zanahme
der geistlichen SittlichkeitsTergehen geben auch die Rechnungen des Kölner Offizial«
gerichts nnzweideatigen Aafschloß. Die Zahl der behandelten Fälle de correetionüms ei
excessibus betmg im Rechnungsjahr 1495: 19, 1499: 16, 1515: 87, wovon aUerdings
nur 38 auf Geistliche faUen. Davon gehört die Mehrsahl dem Gebiete der geschlecht-
lichen Exzesse an, andere gehören zum Wirtshaosbesnch. Vgl. Annalen des historischen
Vereins fttr den Niederrhein, 65. Heft (1898), S. i$$.
3) Boehm S. x8i und 187. Nach den eben genannten Rechnungen waren die
Strafgelder fUr fleischliche Vergehen der GeistUchen oft reckt hoch. Anoalen des
historischen Vereins für den Niederrhein 6$. Heft (1898) S. 168, Nr. 17, 19 und S. 179,
Nr. 12 und S. 180, Nr. 16, 17. Überhaupt ist die Steigerung der Einnahmen aas den
behandelten FSUen de eorreetionibue et exceesSbue bemerkenswert, fttr 149$: 141 fl- 6^,
1499: 100 fl. 8/9 6 <f und ftir 1515: 258 fl. 7/9, so daß nur die Einnahmen aas Be*
Siegelungen mit 304 fl. 8/9 10 <f noch höher waren. Ebenda S. 156.
— 223 —
<lie wirklichen Franziskaner aus ihren Klöstern vertrieben und sie in
Beschlag nahmen. Mehrfach haben sie Päpste, wie Martin V. (1426),
Nikolaus V. (1447) zu unterdrücken versucht ^). Eine Konstanzer
Synode von 1463 erließ Verordnungen gegen eine andere religiöse Ge-
nossenschaft, gegen die Begharden oder LoUarden und Begutten ^),
sonst auch Beghinen genannt. Sie waren vielfach Laienpersonen, ver-
heiratet und lebten ohne klösterliche Regel und Klausur in der Welt.
Zum Zeichen ihrer Zugehörigkeit zu einem sogenannten dritten Orden
•diente nur ein Skapulier, das sie trugen. Ein großer Mißbrauch
scheint mit dieser Einrichtung getrieben worden zu sein, da Papst
Nikolaus V. 1453 befahl, daß die Landdechanten untersuchen sollen,
auf Grund welches Ordens oder Privilegiums einzelne die Ska-
puliere trügen '). Das größte Ärgernis erregten diese halb geist-
lichen halb weltlichen Genossenschaften durch ihre unverschämte Art
des Bettelns. Deshalb verbot derselbe Papst, den starken, arbeits-
fähigen Lollarden Almosen zu geben. Aber die Art tmd Weise,
-wie sie die Almosen den Gläubigen abpreßten, schädigte wiederum
niemand mehr als den niederen Klerus. Sie boten nämlich dafür
Ablässe feil, boten Gelübde an und mischten sich so in die Seelsorge
•des Kuratklerus. Wenn aber das Almosensammeln in jener Zeit den
Gläubigen ^) besonders verhaßt war, so trug gerade das Unwesen, das
sich durch das massenhafte Betteln solcher religiöser Genossenschaften
neben dem der Bettelmönche breitmachte, die größte Schuld daran.
So werden denn wiederholt auf Partikularsynoden des XV. Jahrhunderts
scharfe Verordnungen gegen das überhandnehmende und unbefugte
Almosensammeln erlassen« Am deutlichsten lassen die Beschlüsse
des ProvinzialkonzUs zu Trier 1423 die Exzesse erkennen. Es heißt
-dort: „Um die fortwährenden Exzesse der Almosensammler zu heben,
die auf allerhand neue erdachte Weisen die Armen zu betrügen und
von ihnen Almosen durch listige Vorspiegelungen zu erzwingen suchen,
indem sie bald Ablässe versprechen, bald gewisse Krankheiten und
Plagen von den Heiligen, in deren Namen sie Almosen begehren,
androhen und durch andere Betrügereien *) das einfaltige Volk ver-
leiten" . . ., so wird verordnet, „daß kein Laie als Almosensammler
1) Vgl. Binterim a. a. O. 7. Bd., S. 285.
2) Ebenda S. 286.
3) Ebenda S. 314.
4) Vgl. die S. 215 Anm. 3 angeführte Stelle ans Eb. Windeckes DefikwürdigkeiUn,
5) Ebenda S. 31$.
— 224 —
angfestellt werde" *). „Es ist uns zu Ohren gekommen*), daß einige
Sammler eigenmächtig dem Volke Ablässe gestatten, von Gelübdeo
dispensieren, von Sünden lossprechen, entwendete Sachen, wenn ihnen
ein Teil davon gegeben wird, eigenmächtig überlassen, oder den dritten
und vierten Teil der auferlegten Buße nachlassen, drei oder mehr Seelen
aus dem Fegfeuer ziehen, wenn ihnen ein Almosen gegeben wird.** •)
Durch diese mit der geistlichen Seelsorge konkurrierende Betätigung-
von Personen mit „geistlichem Schein** und Wesen wurde wiederum
dem Einkommen des eigentlichen Klerus empfindlicher Abbruch getan
und dadurch wurden wieder die Lasten, die die Laien schon von
Seiten des Kuratklerus trugen, noch unerträglicher gemacht, gfanz ab-
gesehen davon, daß kirchliche Einrichtungen dadurch bei den Laien
immer mehr in Mißkredit kamen.
Aber damit nicht genug. Neben den religiösen Gesellschaften gab
es namentlich seit der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts eine Unzahl
von Bruderschaften ^), denen nun ein großer Teil der Messesüftung^i
zugewendet wurde. Den Schaden davon hatte wiederum der Kurat-
klerus, dem das Einkommen damit entzogen wurde. Es wenden
sich deshalb mehrere Partikularkonzilien auch gegen das Überwuchern
dieser Bruderschaften, wie das zu Mainz ^) 145 1 und zu Köln ^) 1452.
Angesichts dieser zahlreichen Arten von Bedrückungen des niederen
Klerus durch den Papst, die Prälaten, Orden, religiöse Genossen-v
Schäften und Bruderschaften ruft der Verfasser der Reformation Kaiser Sig-
munds die ganze Christenheit auf. Als Stimme eines Laien ist der Hilferuf
besonders bemerkenswert: Die toeUlichen priester sind verirrd und sind
eüent, si empfindet der hrankhait und das unrecht an den häupten, si
enthaltend noch die christenhait baß denn die prelaten, si gewinnent in
das gut und sind ir esel. Dennocht hassent si sie baide, prdaten
und orden Da/runib alle getreuen Christen^ stand der
priesterschaft bey ^) • . • . Mit den Augen eines Unparteiischen sieht
derselbe Verfasser schon ftir seine Zeit als die einzig richtigen Mittel
zur Abhilfe: Dezentralisation der Kurie durch Wiedereinsetzung-
1) Binterim, a. a. O., 7. Bd., S. 453.
2) Ebenda S. 454.
3) Ebenda S. 454-
4) Wie groß die Zahl war, zeigt für das Rheinland und namentlich anch fUr länd-
liche Gemeinden ein Blick in die Übersieht über den Inhaii der kieineren Ärehive
der BheifiproirinM Bd. i und 2, Register.
5) Binterim, a. a. O., S. 471.
6) Ebenda S. 482 f.
7) Boehm, S. 177.
— 225 —
der Ordinarien in ihre rechtmäßig'en Befugnisse, Scheidung des
geistlichen Amtes vom weltlichen Besitz, ein festes Einkommen für
den gesamten Klerus und Säkularisation der geistlichen Reichs-
güter. Der spätere Verlauf der Geschichte hat diese Forderungen
gerechtfertigt.
Mitteilungen
Tersammlllllgen. — In der Pfingstwoche findet in den Tagen vom
31. bis 35. Mai der sechzehnte Deutsche Geographentag in
Nürnberg statt. EHe Geschäftsstelle befindet sich daselbst Luitpoldstraße i2,L
In Hildesheim tagt am 21. und 22. Mai der Hansische Ge-
schichtsverein und, wie üblich, in Verbindimg damit der Verein für
niederdeutsche Sprachforschung.
Ebenfiüls teilweise gleichzeitig mit dem Geographentag, und zwar am
23. und 24. Mai, wird in Bamberg die achte Versammlung deutscher
Bibliothekare abgehalten. Das Programm wird auf Wunsch vom Schrift-
fiihrer (Berlin W. 64, Königliche Bibliothek) versandt.
Für die zehnte Versammlung deutscher Historiker (Historiker-
tag) sind die Tage vom 3. bis 7. September bestimmt worden; der Ver-
sammlungsort ist Dresden.
Die Jahresversanmüung des Gesamtvereins der Deutschen Ge-
schichts- und Altertumsvereine findet dieses Mal in Mamiheim
statt, und zwar vom 16. bis 18. September. Unmittelbar vorher (14. Sep-
tember) wird in Karlsruhe der siebente deutsche Archivtag ver-
anstaltet, und der 15. September (Sonntag) wird seitens der Teilnehmer zu
einem Besuche des Kreisarchivs und der Kaisergräber in Speyer verwendet
werden. An die Gesamtvereinsversammlung anschliefiend werden die Tage
für Heimatschutz und Denkmalpflege abgehalten.
In Basel schließlich werden sich in der folgenden Woche (23. bis
27. September) die Deutschen Philologen und Schulmänner zum
49. Male versammeln.
Arehiye. — Unter den deutschen Staaten nahm bisher Bayern in-
sofern eine SondersteUung ein, als dort der Staat nur in geringem Maße
eine Au&icht über die Gemeindearchive ausübte. Es hat zwar durch-
aus nicht an entsprechenden Verordnungen gefehlt: schon 1873 wurde den
Gemeinden anempfohlen, ihre Archive bei den Königlichen Kreisarchiven zu
hinterlegen, und in der Entschließung des Ministeriums des Inneren vom
18. Mai 1888 wurde den Gemeinden gegebenenfalls ein staatsaufsichtliches
Einschreiten angekündigt; die Ministerialentschließungen vom 17. Mai
1902 und 15. März 1904 schärften diese Bestimmungen erneut ein.
Wenigstens in der Pfalz wurde auch durch Verfügung der Regierung vom
30. August 1900 den Gemeinden die alsbaldige Inventarisierung ihrer Archive
zur Pflicht gemacht und ihnen aufgegeben, eine Abschrift des Inventars dem
— 226 —
Bezirksamt einzureichen '). Wenn der Erfolg bisher den Erwartungen nicht
entsprochen hat, so lag das zweifellos im wesentlichen daran, daß die Ver-
waltungsbehörden und nicht die Kreisarchive mit der Aufsicht über
die Durchfuhrung der Anordnungen betraut waren.
Dieser Zustand hat neuerdings durch eine Verfügung des Staats-
ministeriums des Inneren, Nr. 175 12 vom 8. August 1906, eine wesentliche
Änderung erfahren, insofern die Mitwirkung der Kreisarchivare bei der Aus-
übung der Aufsicht über die Kommunalarchive verordnungsmäfiig fest-
gelegt wurde. Bedauerlich ist es nur, daß nicht auch für die Pfarrarchive
entsprechende Bestimmungen getroffen worden sind; es wäre zweifellos un-
schwer durchzuführen, daß die kirchlichen Oberbehörden eine wirksame Auf-
sicht über die Pfarrarchive ausübten und, gerade wie die Verwaltungsbehörden
bei den Kommunalarchiven, seitens der Kreisarchivare dabei unterstützt würden.
Hoffentlich ist die Zeit nicht mehr fem, da dieser Schritt getan wird! Über
einen Anfang dazu siehe weiter unten.
Die angezogene neue Verfügung — mitgeteilt im AmtsMaU der K.
SUwisministerien des Königlichen Hauses und des Äußern und des Innern,
Nr- 17 vom 19. August 1906, S. 326 bis 328 — ist von allgemeinem
Interesse und soll deshalb hier vollständig wiedergegeben werden.
„1. Unter Archivalien im Sinne dieser Entschließung sind alle Ur-
kunden, Schriftstücke und Drucksachen zu verstehen, denen allgemein
oder wirtschafUich geschichtliche Bedeutung zukommt und die für den
laufenden Dienst nicht mehr benötigt erscheinen.
In Betracht kommen beispielsweise insbesondere folgende Gruppen
von Archivalien:
Urkunden auf Pergament und Papier, besonders Kauf-, Tausch-,
Gilt- und Stifhmgsbriefe ;
Grund-, Sal-, Lager-, Gilt-, Schatzungs- und Lehenbücher;
Güter-, Flur-, Wald- und Markungsbeschreibungen;
Befehl-, Protokoll-, Beschluß- und Urteilsbücher, Gerichtsbücher- und
akten;
Statistische Aufstellungen, wie Bürgerverzeichnisse, Emtenachweise u. dgl. ;
Akten über Innungen und Zünfte;
Rechnimgen allerart;
Verhandlungen über Erwerb, Verkauf, Verwaltung, Verteilung, Ver-
pachtung von Gemeindeeigentum, über Gemeinderechte, Gemeinde-
privilegien, hierauf bezügliche Streitigkeiten;
Akten über Wege-, Wasser-, Forstsachen;
Akten über Kirchen- und Schulsachen, sodann über eigenartige ört-
liche Feste;
Gemeinde- und Ortspläne, Ortschroniken, ältere 2^itungssanmilungen
und Flugblätter, Abbildungen des Gemeindewappens.
Akten, Schriftstücke und Drucksachen, die über 100 Jahre zurück-
reichen, werden in der Regel als wichtigere in Betracht kommen.
2. Die Archivbestände der Gemeinden sind, soweit nicht nach
2^ffer 5 dieser Entschließung deren Übergabe an die Kreisarchive erfolgt»
i) Vgl. diese ZeiUcbrift, 3. Bd., S. 235—236.
— 227 —
in trockenen, luftigen Räumen sicher unterzubringen, möglichst rein zu
halten und übersichtlich zu ordnen.
3. Sind die gemeindlichen Archivalien nicht fachmännisch verwaltet,
so ist über sie, soweit dies noch nicht oder in unzureichender Weise ge-
schehen sein sollte, ein Verzeichnis herzustellen, das in der gemeindlichen
Registratur zu verwahren ist. Abschrift dieses Verzeichnisses ist der Auf-
sichtsbehörde zur Aufbewahrung vorzulegen. Die Aufsichtsbehörde wird
das Verzeichnis gegen Rückgabe dem K. Kreisarchive mitteilen; dieses
hat hiervon, soweit es sich tatsächlich um wichtigere Archivalien handelt,
vollständig oder teilweise Abschrift zu nehmen.
Das Verzeichnis der Gemeinden soll möglichst alle Archivalien nach
Mafigabe der Ziffer i dieser Entschließung unter Beifügung der Jahres-
zahlen und einer kurzen Inhaltsangabe mnüissen.
4. Der Veräufienmg oder Vernichtung von gemeindlichen Udcunden
und Akten hat eine sorgfsUtige Würdigung der Bestände nach ihrem prak-
tischen und geschichtlichen Werte vorauszugehen. Im Zweifelsfalle sind
hierüber die Aufisichtsbehörden zu befragen; diese haben, soweit veranlaßt,
Gutachten der Kreisarchive zu erholen.
5. Den Gemeinden ist es unbenommen, ihre Archivbestände ganz
oder teilweise (unter Eigentumsvorbehalt) den Kreisarchiven zur Verwah-
rung zu übergeben. Diese haben, soweit es ihre anderweiten dienstlichen
Geschäfte gestatten, die übergebenen Archivalien zu ordnen und den Ge-
meindeverwaltungen Verzeichnisse hierüber mitzuteUen. Den Gemeinde-
behörden steht jederzeit das Recht zu, die von ihnen übergebenen Ar-
chivalien am Sitze des Kreisarchivs einzusehen oder deren Übersendung
zur vorübergehenden Benützung oder auch deren Rückgabe zur eigenen
Verwahrung zu verlangen.
Die Übergabe der gemeindlichen Archivalien an die Kreisarchive
bietet die sicherste Gewähr für ihre ordnungsmäßige Verwahrung und Er-
haltung und enthebt die Gemeindeverwaltungen der Fürsorge tmd Verant-
wortung. Dieser Weg kann insbesondere kleineren Gemeinden, denen
geeignete Aufbewahrungsräume nicht zur Verfügung stehen, angelegentlichst
empfohlen werden.
6. Kann sich die Gemeinde zur Übergabe ihrer Archivalien an das Kreis-
archiv nicht entschließen und ist eine geeignete Persönlichkeit zu deren Ordnung
nicht vorhanden, so kann hierzu die Mitwirkung des Kreisarchivs durch
Vermittelung der Aufsichtsbehörde der Gemeinde in Anspruch genommen
werden.
Die Kreisarchive werden dann unbeschadet ihrer sonstigen Dienstes-
aufgaben die Ordnung des an den Archivsitz einzusendenden Materials
daselbst vornehmen und den Gemeinden die Archivalien mit den her-
gestellten Verzeichnissen wieder zugehen lassen.
Sollte die Ordnung am Sitze des Kreisarchivs wegen des Umfangs
der vorhandenen Bestände oder aus sonstigen Gründen Schwierigkeiten
begegnen, so werden Archivbeamte, soweit tunlich, am Verwahrungsorte
mit Genehmigung und nach Weisung des K. Allgemeinen Reichsarchivs
die nötigen Anleitungen erteilen oder die Ordnung selbst vornehmen.
Sind Gemeinden zur Bestreitung der hierfür erwachsenden Kosten außer-
— 228 —
Stande, so kann deren vollständige oder teilweise Übernahme auf die denk
K. Allgemeinen Reichsarchive hierfür etatsmäßig zur Verfügung stehenden
Mittel erfolgen. Die Gesuche um Übernahme der Kosten sind den Kreis-
archiven vorzulegen und von diesen an das K. Allgemeine Reichsarchir
zur Verbescheidung einzusenden.
7. Die Ordnung und Verwahrung der gesonderten Archivbestände
derjenigen Stiftungen, die unter gemeindlicher Verwaltung stehen, hat in
gleicher Weise zu erfolgen.
8. Die Aufsichtsbehörden der Gemeinden haben den Vollzug zu
überwachen. Insbesondere wird erwartet, dad die K. Bezirksämter der
Sache fortgesetzt sorgsames Augenmerk zuwenden, bei den Gemeinde-
verwaltungen das Verständnis für die Erhaltung und Nutzbarmachung der
Archivalien beleben und fördern und vorgefundene Mißstände nach Tun-
lichkeit abstellen.
Die K. Bezirksämter und die kreisunmittelbaren Stadtmagistrate haben den
Kreisregierungen, Kammern des Innern, bis i. August 1908 über die im Voll-
züge dieser Entschließung gemachten Wahmehmtmgen imd getroffenen Maß-
nahmen zu berichten. Gleiche Berichterstattung hat seitens der Kreisregierungen
bis I . November 1 908 an das K. Staatsministerium des Innern zu erfolgen.**
Wie oben angedeutet wurde, ist bisher in Bayern für die Pfarrarchive
weniger als in anderen Staaten geschehen, aber auch in dieser Hinsicht
scheint sich eine Besserung beobachten zu lassen, wenigstens für die evan-
gelischen Teile der drei fränkischen Regierungsbezirke. Wie nämlich der
zweite Jahresbericht (1906) der Gesellschaft für fränkische Geschichte ^) mit-
teilt, hat auf Veranlassung von Prof. Kolde (Erlangen) die Gesellschaft als
Vorarbeit zu einer Kirchengeschichte des evangelischen Franken eine Re-
pertorisierung der evangelischen Pfarrarchive Frankens im
Sommer 1906 durch Prof. Kolde und seinen Hilfsarbeiter Dr. Schornbaum
bereits begonnen und in vier Kapiteln 54 Pfarrregistraturen unter liebens-
würdiger Unterstützung der Pfarrer repertorisiert. Das Ergebnis war reicher,
als man erwartet hatte. Um das Material noch mehr zu vervollständigen,
soll auch die Besichtigung der G e m i n d e archive künftig seitens der Ge-
sellschaft angeschlossen werden. Durch diese willkommene Nachricht wird
der Bericht über den gegenwärtigen Stand der Pflege nichtstaatlicher Archive,
der jüngst im KorrespondeneUaU des Gesamtvereins der deutschen Ge-
schichiS' und AUertumsvereine 55. Jahrg. (1907), Sp. 161 — 175, erschienen
ist, in einem wesentlichen Punkte ergänzt. Hoffentlich erreicht die Gesell-
schaft, daß auch die Archive der katholischen Pfarrämter Frankens in die
Besichtigung einbezogen werden!
In Baden, wo bekanntlich die Inventarisation der Gemeinde- und
Pfarrarchive abgeschlossen ist *), hat die Ordnung und Beaufsichtigung der
Gemeindearchive ebenfalls in neuester 2^it eine neue Regelung er^ren,
i) Vgl. darüber 6. Bd., S. 281—286 und 7. Bd., S. 229—230.
2) Vgl. darüber Korre$pondenzblatt da Oesamtvereina der deuUchen Oeackiehti-
und AUertumsvereine, 55. Jahrg. (1907), Sp. 171.
— 229 —
4ind zwar sind neben dem Grofiherzoglichen Generallandesarcbiv die fünf
von der Badischen Historischen Kommission eingesetzten Oberpfleger mit
der Handhabung der Aufsicht seitens des Großherzoglichen Ministeriums des
Innern betraut worden. * Die neuen Vorschriften sind in den Mitteilungen
der Beulischen Historischen Kommission, Nr. 29 (1907) enthalten und
müssen der allgemeinen Beachtung empfohlen werden. Der Um^g gestattet
leider einen vollständigen Abdruck an dieser Stelle nicht, und deshalb mu6
«ine kurze Kennzeichnung des Inhalts genügen.
Grundsätze für die Ordnung und Beaufsichtigung der Gemeinde-
archive im Großherzogtum Baden hat die Badische Historische Kommission
im Oktober 1906 in 13 Absätzen aufgestellt. Zunächst soll eine sach-
gemäße Ordnung sämtUcher Gemeindearchive in der Weise herbeigeführt
werden, daß in jedem Jahr ein Amtsbezirk in jeder Oberpflegschaft erledigt
wird. Sobald die Ordnung genügend weit fortgeschritten ist, beginnen
Revisionen seitens der Beamten des Großherzoglichen Generallandesarchivs
und der fünf Oberpfleger, und zwar soll etwa nach einem Zeitraum von
7 bis 8 Jahren jedes einzelne Archiv wieder besucht werden. Gemäß der
Gemeinderegistraturordnung vom 1 2 . Dezember 1 905 ist aus allen geschlossenen
Akten der Registratur, soweit sie das Generallandesarchiv als zur
dauernden Aufbewahrung geeignet bezeichnet, ein Archiv zu bilden, wo
nicht bereits ein solches losgelöst von der Registratur besteht.
Für die Ausführung des Ordnungsgeschäfts sind die Bestimmungen der
Weisung für die Ordnung der Gemeindearchive im Großhereogtum Baden,
ebenfalls aus 13 Absätzen bestehend, maßgebend. In diese ist auch die
in S 35 und 36 der Gemeinderegistraturordnung enthaltene Vorschrift über
das Verfahren bei Aktenausscheidung übernommen, und der ordnende
Pfleger ist ganz besonders verpflichtet, die Gemeindebehörden auf diese Be-
stimmungen aufinerksam zu machen. — Angefügt ist schließlich noch die
Rvibrihmordnung für die Gemeinde-Archive der nicht unter der Städte-
ordnung stehenden Gemeinden des Großherzogtums Baden, und zwar ist
dabei besonders kenntlich gemacht, an welchen Stellen die häufiger vor-
handenen älteren Akten einzureihen sein würden. Dieses Schema ist eben-
fialls geeignet, in anderen Ländern und Provinzen als Vorbild zu dienen.
Bedauerlich bleibt es nur, daß in Baden gerade wie in Bayern die
Pfarrarchive von der Kontrolle ausgeschlossen sind. Aber bei dem in
Baden eingeschlagenen Verfahren bedeutet das zugleich eine Erschwerung
der Fürsorge für letztere; denn der Besuch jedes einzelnen Ortes durch
den Pfleger ist für die allernächste Zeit vorgesehen, tmd wenn dieser einmal
am Platze ist, würde eine Behandltmg des Pfarrarchivs in einer dem Gemeinde-
archiv entsprechenden Weise leicht durchzuführen sein, vor allem aber die
Gesamtkosten nur unwesentlich erhöhen, während eine künftige besondere,
lediglich den Pfarrarchiven geltende Bereisung des Landes natürlich viel be-
deutendere Geldmittel erfordert. Und überdies darf man nicht vergessen,
daß unter den kleinen Verhältnissen der ländlichen Gemeinden die beiden
Archive am Ort, das der Gemeinde und das der Kirche, sich gegenseitig
ergänzen, oder daß gar ältere Akten früher, halb versehentlich, halb aus
Gleichgültigkeit, dem falschen Archive einverleibt worden sind. Gegenseitige
Verweise sind unter diesen Umständen dringend notwendig.
— 230 —
Gesehiehtliehe Kartenwerke. — Der im Jahre 1906 gegründete
Verein zur Herausgabe eines historischen AÜasaea von Bayern ')
hielt am 2. Februar 1. J. in den Rätunen des Münchener historischen
Seminars unter dem Vorsitz des i. Vorstandes Geh. Justizrat Prof. Gareis
seine zweite Generalversammlung ab.
Das erste Vereinsjahr konnte lediglich der Organisation und der Ge-
winnung von Mitgliedern tmd Geldmitteln gewidmet werden. Der Erfolg
der darauf gerichteten Bemühungen hat gezeigt, dafi die Bestrebungen des
Vereins auf Schaffung eines großen historischen Kartenwerkes für das König-
reich Bayern in allen Kreisen, deren Unterstützung der Verein erbitten zu
können glaubte« in weitgehendem Mafie gewürdigt worden sind.
Eine Eingabe des Vereins an das Kultusministerium um Gewährung
eines jährlichen Zuschusses wurde — unter geneigter Befürwortung von selten
des Herrn Ministers — vom Landtag der Staatsregierung zur Würdigung
überwiesen. Leider ermöglichte es die Finanzlage nicht, schon für die laufende
Finanzperiode eine Summe zur Verfügung zu stellen.
£>ie Landräte von Oberbayem und Mittelfianken bewüligten in dankens-
wertester Weise namhafte Beiträge.
Eine sehr entgegenkommende Aufiiahme fand das Unternehmen bei
den kirchlichen Behörden und den ehemaligen Reichsstädten Bayerns. Die
Mitgliedschaft des Vereins erwarben die Ordinariate München-Freising, Bam-
berg und Eichstätt, sowie das Domkapitel Augsburg; femer die Stadtmagistrate
von Augsburg, Kaufbeuren, Kempten, Lindau, Memmingen, Neu-Ulm, Nörd-
Ungen, Nürnberg, Regensburg und Weißenburg.
Als besonders erfreuliches Ergebnis ist zu betrachten, dad sofort eine
Reihe von historischen Vereinen Bayerns ihren Anschlufs erklärte und somit
bewies, dafi sie auch einem, vorwiegend der Landesgeschichte dienenden
Unternehmen ihre Unterstützung zu leihen bereit sei. Der Verein zählt unter
seinen Mitgliedern bereits die Kreisvereine von Oberbayem (dieser mit einem
besonders hohen Beitrage), Niederbayem, Oberpfalz und Regensburg und
Schwaben und Neuburg und die Lokalvereine Amberg, Dillingen, Donau-
wörth, Landsberg, Memmingen, Neuberg a. D. , Reichenhall, Rosenheim,
Traunstein (Chiemgau) und Weifienburg.
Die wissenschaftliche Kommission des Ausschusses beschloß, die Unter-
nehmungen mit einer, das ganze Gebiet des heutigen Königreiches Bayem
umfassenden Karte zu beginnen, die den territorialen Bestand fUr das Jahr
1802 (in der Rheinpfalz für das Jahr 1789) festlegt. Sie wird neben den
Grenzen sämtlicher vom heutigen Königreiche Bayern umfaßten ehemaligen
geistlichen und weltlichen Territorien deren administrative und jurisdiktioneile
Gliederungen (Ämter, Land- und Herrschaftsgerichte, Hofmarken) am Aus-
gange des XVni. Jahrhunderts enthalten. Der Karte wird die Terraindar-
stelltmg der vom Wiener militärgeographischen Institut herausgegebenen General-
karte von Mitteleuropa (Maßstab i : 200.000) zugmnde gelegt werden. Als
Arbeitskarten haben zu dienen die Blätter des Topographischen Atlasses von
Bayem (i : 50.000).
Daneben soll der Anfang gemacht werden, in einzelnen Monographien
1) Vgl. diese Zeitechrift, 7. Bd., S. 332—337.
— 231 —
ausgewählte Gerichte Altbayems in bezug auf ihre Entwicklung seit der Auf-
lösung des Grafschaftsverbandes zu untersuchen; als erstes zu bearbeitendes
Gericht wurde das Pileggericht Weilheim gewählt.
Zum Leiter der Arbeiten wurde Freiherr v. Karg-Bebenburg, zum
ständigen Mitarbeiter Dr. Wilhelm Hausenstein in München bestinmit.
Nur aus Knappheit der vorerst verfügbaren Mittel mufite von der durchaus
nötigen Gewinntmg weiterer Mitarbeiter bisher abgesehen werden.
Alte Bibliothekskataloge. — Schon im 6. Bande dieser Zeitschrift,
S. 24 — 26, hat Gottlieb kurz auf die grofie kulturgeschichtliche Bedeu-
tung der alten Bibliothekskataloge hingewiesen und die Geschichts-
forscher allgemein zur Mitarbeit bei deren Herausgabe aufgefordert. Jetzt
ist diese Arbeit in ein neues Stadium getreten, wie das folgende Rund-
schreiben näher erkennen läfst:
„Die im Kartell vereinigten fünf Deutschen Akademien haben be-
schlossen, (He Herausgabe der mittelalterlichen Bibliothekskata-
loge Deutschlands als ein Kartelluntemehmen durchzuführen. Die Aufgabe
ist in der Weise geteilt worden, daß die Kaiserliche Akademie der Wissen-
schaften in Wien, die bereits vor längerer Zeit an diese Aufgabe heran-
getreten ist und der die Anregung zu dem ganzen Unternehmen verdankt
wird, die Kataloge Österreichs bearbeitet, die Kgl. Bayerische Akademie
der Wissenschaften, unterstützt von der Kgl. Preußischen Akademie der
Wissenschaften zu Berlin, der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu
Göttingen und der Kgl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu
I..eipzig, die Kataloge des übrigen deutschen Kulturgebietes übernimmt.
Die Publikation wird nach den heutigen Grundsätzen der Wissenschaft
eingerichtet werden. Sie mu6 sich also, außer der für die Literatur- und
die Bibliotheksgeschichte gleich wichtigen exegetischen Behandlung der
Kataloge, vor allem der Herstellung authentischer Texte zuwenden. Dem-
gemäß kann sie sich mit einer Sammlung und Wiederholung älterer Ab-
drücke nicht begnügen, sondern wird jedesmal auf die handschriftliche
Quelle zurückzugehen haben ; daneben ist die planmäßige Aufsuchung bisher
unbekannten Materiales ins Auge gefaßt. Es leuchtet ein, daß ein so hoch-
gestecktes Ziel mit den Kräften, über die das Kartelluntemehmen verfügt,
allein nicht angestrebt werden kann; erreichbar wird es nur dann sein,
wenn alle Bibliotheken und Archive zu fördernder Unterstützung bereit
sind, in denen mittelalterliche Bücherverzeichnisse liegen.
Die gleichmäßige Durchführung des Unternehmens verbürgt eine
Kommission („Bibliothekskommission**), die sich aus Vertretern der kartellierten
Akademien zusammensetzt. Sie besteht aus den Herren Burdach - Berlin,
Schröder-Göttingen, Hauck-Leipzig, Traube-München, von Ottenthai- Wien.
Die Kgl. Bayerische Akademie der Wissenschaften hat ihrerseits mit der
Leitung des von ihr übernommenen Teiles der Arbeiten eine aus den
Herren Traube, Grauert und Vollmer bestehende Konmiission betraut. Der
von dieser engeren Kommission eingesetzte Generalredaktor, an den auch
alle Zuschriften zu richten sind, ist Dr. S. Hellmann, Privatdozent
(München 23, Kaiserplatz 12/I); daneben behält sich dieselbe Kommission
Yor, für einzelne Bibliotheken besondere Vertreter in dieser Angelegenheit
— 232 —
zu bezeichnen und ihnen die selbständige Bearbeitung eines Teiles des
Materials anzuvertrauen/*
Es ist zu hoffen, daß dieses hocherfreuliche Unternehmen von ein-
zelnen Forschem und Vereinen tatkräftig unterstützt wird. Es ist ein
entschiedener Vorteil dafi die Person, an die entsprechende Zu-
schriften zu richten sind, genau bezeichnet ist. Je rascher die Arbeit fort-
schreitet, desto größer wird der allgemeine Nutzen sein; die Schwierigkeit,
die es heute macht, ein gelegentlich in einer mittelalterlichen Quelle zitiertes
Buch zu identifizieren, wird vermutlich nach Vollendung der großen Aufgabe
völlig verschwinden.
EingegaiiKene Bfichen
Boeck, F. v. der: Boyen [= Erzieher des Preußischen Heeres, 7. Band].
Berlin W. 35, B. Behr's Verlag 1906. 113 S. 8^ M. 2,00.
Brandt, Otto H. : Der Bauer und die bäuerlichen Lasten im Herzogtum
Sachsen- Altenburg vom 17. bis zum 19. Jahrhundert [= Geschichtliche
Untersuchungen, herausgegeben von Karl Lamprecht, 3. Band 4. Heft].
Gotha, Friedrich Andreas Perthes A.-G. 1906. 153 S. 8^. M. 3,60.
Dreißig Jahre am Hofe Friedrichs des Großen. Aus den Tage-
büchern des Reichsgrafen Ernst Ahasverus Hemrich von Lehndorflf,
Kammerherm der Königin Elisabeth Christine von Preußen. Von
Karl Eduard Schmidt-Lötzen. Gotha, Friedrich Andreas Perthes A.-G.
1907. 522 S. 8**.
Fuchs, Richard: Straßburger Phantasie über deutsche Kultur. Gedruckt
von der Piererschen Hofbuchdruckerei Stephan Geibel & Co., Alten-
burg, S.-A. Zu beziehen durch den Verfasser Olvenstedt- Magdeburg.
97 S. 8».
Günther, Felix: Die Wissenschaft vom Menschen, ein Beitrag zum deutschen
Geistesleben im Zeitalter des Rationalismus mit besonderer Rücksicht
auf die Entwicklimg der deutschen Geschichtsphilosophie im 18. Jahr-
himdert. Leipziger Dissertation. Gotha, Friedrich Andreas Perthes A.-G.
1906. 193 S. 8®.
Miedel, Julius: Oberschwäbische Orts- und Flurnamen. Memmingen, Otto
1906. 87 S. 8^ M. 1,50.
Wehrmann, Martin: Geschichte der höheren Schulen [== Sonderabdruck
aus den Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und
Schulgeschichte 16. Jahrg. (1906)]. Berlin SW., A. Hofmann & Komp.
14 S. 8^.
Berichtigung.
Infolge eines Versehens in der Druckerei ist das Doppelheft für März/April
1907 als „5./6. Heft" bezeichnet worden. Es muß natürlich: „6./7. Heft"
heißen, wie auch auf dem zugehörigen Umschlag richtig zu lesen ist, imd
es wird deshalb freimdlichst gebeten, zur Vermeidung von Irrtümern diesen
Fehler in der Zählung der Hefte zu berichtigen.
Hentugeber Dr. Annm TUle ia Leifizif.
Verlag und Druck von Friedrich Andreas Perthes, AkbenfeseUschaft, Gotha.
Deutsche Ceschichtsblätter
Monatsschrift
cur
Förderung der landesgeschicbtlichen Forscbnng
VIU. Band Juni 1907 9. Heft
Flufsnatnenforschung und Siedelungs^
geschichte
Von
Rudolf Kötzschke (Leipzig)
Die geographischen Namen sind als älteste und besonders wich-
tige Quelle der geschichtlichen Landes- und Volkskunde schon seit den
bahnbrechenden Arbeiten E. Förstemanns und W. Arnolds an-
erkannt. Zumal die Siedelungsnamen hat man für historische Zwecke
ausgebeutet ; und wenn auch neuere Untersuchungen zu der Einsicht ge-
führt haben, daß manche Einzelergebnisse, ja selbst gewisse Grund-
sätze der früheren Ortsnamenforschung sich nicht als haltbar erweisen,
so steht doch der Grundgedanke, die Ortsnamen zu historischen Auf-
schlüssen zu verwerten, entschieden fest; und es gilt vielmehr darauf
bedacht zu sein, die Ortsnamenforschung in methodischer Weise aus-
zubauen, anstatt ihre Bedeutung für Siedelungs- und Wirtschaftsge-
schichte in übertriebener Vorsicht zu gering einzuschätzen.
Andere Gruppen geographischer Namen aber haben sich bisher
nicht gleicher Beachtung bei siedelungsgeschichtlichen Untersuchungen
erfreut. Dazu gehört auch die überallhin verbreitete und in zahlreichen
vergleichbaren Beispielen vertretene Gruppe der deutschen Fluß-
namen im weitesten Sinne dieses Wortes. An mannigfacher Beschäf-
tigung mit ihnen hat es freilich nicht gefehlt. Schon dem Laien bietet
ja die Frage, was wohl ein Flußname bedeuten möge, einiges In-
teresse. So haben denn besonders Germanisten und auch Greographen
die fachwissenschaftliche Untersuchung der Flußnamengebung Deutsch-
lands gepflegt *). Das sprachliche Problem, die Namendeutung, stand
i) Unter den Schriften, in denen die Flofinamenforschnng besondere Pflege gefun-
den hat, seien hervorgehoben: £. Foerstemann, Deutsche Ortsnamen, Nordhaosen
1863. Ders., Altdeutsches Nametibtich, 2, Aufl. I. Nordhausen 1872. — J. Egli,
Geschichte der Geographischen Namenkunde, Leipzig 1886. Ders., Nomina Ge(h
17
— 234 —
dabei gewöhnlich im Vordergründe ; auf die Erklärung einzelner wichtiger
Flußnamen oder sprachlich verwandter Namengruppen war das Bemühen
gerichtet, und es sind zumal neuerdings durch Th. Lohmeyer höchst
lehrreiche Aufschlüsse über das Wesen der Flußnamengebung ge-
wonnen worden.
Auch historische Ermittelungen sind für Zwecke der Fluß-
namenforschung angestellt worden. Indes die Historiker haben im
ganzen bis vor kurzem nur wenig dafür getan; noch heute ist selbst
für das richtige Verständnis der in Urkunden und anderen ge-
schichtlichen Denkmälern uns begegnenden Flußnamen nicht ausrei-
chend vorgesorgt. Darin ist aber eine erfreuliche Wendung zum Bes-
seren eingetreten. Bei der geplanten „ Ausarbeitung historischer Ort-
schaftsverzeichnisse*' sollen auch die Namen der Wasserläufe und Seen
Berücksichtigung finden; und ebenso nehmen die an mehreren
Stellen Deutschlands in die Wege geleiteten „Ermittelungen der älteren
Flurverhältnisse" auf Flüsse, Bäche, Wasserläufe, Seen und Teiche Be-
dacht *). In der Tat bieten ja diese Namen nicht nur wegen ihres
hohen Altertums ein großes sprachwissenschaftliches Interesse und
sind ein schätzenswertes Hilfsmittel dazu. Wichtiges zur Kunde von
den Indogermanen beizutragen. Sie sind auch eine bedeutsame landes-
geschichtliche Quelle. Es gilt die gesamte Flußnamengebung einer his-
torischen Landschaft als ein eigenartiges Ganzes zu verstehen, sie ent-
wickelungsgeschichtlich aufzufassen und, soweit dies möglich ist, nach
ihrer mutmaßlichen Entstehungszeit zu gruppieren oder, anders gesagt, in
enger Beziehung mit der Besiedelungsgeschichte des Landes zu betrachten.
Die Namen der Gewässer rühren stets von einer bestimmten Be-
völkerung her und müssen aus deren Sprache sich erklären lassen.
Tritt ein Bevölkerungswechsel ein, so pflegen manche Namen, zumal
graphica, 2, Aufl. Leipzig 1893. — Th. Lohmeyer, Die HauptgeseUse der ger-
manischen Flußnamengebung. Kiel und Leipzig 1904. Ders., Unsere Flußnatnen.
Duche. GbU. VI, 29flf. — Vgl. J. W. Nagl, Chographiache Namenkunde, Leipzig and
Wien 1903. S. 92ff. — Alphabetische Verzeichnung wichtiger Fluflnamen in Ritter»
Geographisch'Statistiechem Lexikon» 8. Aufl. Leipzig 1895 (Neubearbeitung zurzeit im
Druck befindlich). Historische Nachweise in Oesterleys Hist.'geographiachem Wör-
terbuch d. dtech, MA. Gotha 1883. Vgl. die erschienenen hist-topographischen Wörter-
bücher fiir Baden, Elsaß, Steiermark u. a.
i) H. Beschorner, Denkschrift Obtr die Herstellung eines hist, Ortsverzeich-
nisses für das Königreich Sachsen, Dresden 1903. S. 53 („Vorschläge*'). 57. 64.
Ders., Flurnamen, Korrbl. GesV. dtsch. Gesch. u. Alt. V. 53 (1904) Sp. 3; 54
(1906) Sp. 379.
— 235 —
solche der größeren Flüsse, welche wichtige Verkehrswege sind, von
den Zuwandernden übernommen zu werden, sei es, daß die neue vor-
dem in der Nachbarschaft wohnende Bevölkerung jene Namen schon
vorher in ihren Sprachschatz aufgenommen hatte, sei es , daß zurück-
bleibende Reste der früheren Bewohnerschaft sie den neuen Ansied-
lern übermittelten ; dabei stellen sich bisweilen charakteristische Wan-
delungen der Namensformen ein, die wiederum aus der Sprache oder
Mundart der neuen Bevölkerung zu erklären sind. Manche Gewässer-
namen werden bei solchen Vorgängen der Neubesiedelung auch gänz-
lich durch andere verdrängt; oder es leben für einige Zeit die älteren
Benennungen neben den neuen noch fort. So stellt die Gesamtheit
der für eine Landschaft bekannten Gewässernamen — sowohl die noch
im Volksmund lebenden und in den Kartenwerken und Aufzeichnungen
der neuesten Zeit festgehaltenen wie auch die nur aus historischen
Quellen zu ermittelnden ausgestorbenen Namen, die ältesten Na-
mensformen wie auch deren jüngere Umgestaltungen — ein Ganzes
dar, bei dem das wissenschaftlich geschulte Auge Schichten der Ent-
stehung zu erkennen vermag, so gut wie in der Geologie bei der Erd-
rinde oder bei den Namen menschlicher Wohnstätten, deren Erforschung
in dieser Hinsicht viel weiter gefördert ist. Die Zeit vor der Aus-
breitung der Germanen in Mitteleuropa, die Zeiten bald feindlicher,
bald friedlicher Nachbarschaft der Germanen mit den Römern, die Pe-
riode der letzten großen Wanderungen der germanischen und slawi-
schen Stämme und der Herausbildung völlig fester Siedelungsverhält-
nisse, die Zeit der Ausdehnung der Frankenherrschaft über die Ge-
biete der anderen deutseben Volksstämme und endlich die Zeiten des
Landesausbaus und der ostdeutschen Kolonisation — alle diese auf-
einanderfolgenden Zeitalter der Besiedelungs- und Kulturgeschichte
Deutschlands haben einen Niederschlag in der Flußnamengebung hinter-
lassen; und es ist ebenso reizvoll und wichtig zu versuchen, die Fluß-
namen aus den Einwirkungen dieser verschiedenen Perioden, soweit
möglich, zu verstehen, wie sich anderseits aus Beobachtungen der
Flußnamenforschung auch wertvolle Aufschlüsse über Besiedelungs-
und Wirtschaftsverhältnisse gewinnen lassen.
Ebenso notwendig wie die Schärfung des Blickes für die zeitlichen
Unterschiede der Flußnamengebung ist nun auch die umsichtige Be-
obachtung der geographischen Momente. In höchst anziehender Weise
hat Th. Lohmeyer darauf aufmerksam gemacht*), daß auf die
I) S. Dtaehe. GhU. VI, 29 ff.
17 ♦
— 236 —
Namengebung der Flüsse die Beschaffenheit ihres Quellgeländes von
Einfluß gewesen sei, wobei man sich freilich darüber wird Rechen-
schaft geben müssen, wie solches nach allem, was wir über die
Entwicklung der Bodennutzung und Siedelung wissen, möglich ge-
wesen ist. Neben solch lehrreicher Einsicht in die Abhängigkeit der
FluOnamengebung von der I-andesnatur ist auch ihrer räumlichen Ver-
breitung gebührende Beachtung zu schenken. Wird man darauf ge-
führt, sich einen Überblick über die Gewässernamen in einer Land-
schaft und ihren Nachbargebieten zu beschaffen, so ergibt sich rasch,
daß manche Namen sich oft wiederholen; zumal wenn man auch die
kleinen Gewässer berücksichtigt, verstärkt sich diese Beobachtung.
Dabei ist nun die Art der Verbreitung überaus charakteristisch. Lehr-
reich sind solche Erscheinungen, wo auf einem engeren Verbreitungs-
gebiet ein charakteristischer Name auffallend oft sich findet oder so-
gar solche Wiederholungen von Namen sich häufen. Ursache dazu
kann die Beschaffenheit der Flüsse selbst oder ihres Quellgeländes
sein. Aber das gehäufte Auftreten eines solchen Namens kann doch
auch darin seinen Grund haben, daß dieser eine mundartliche Bezeich-
nung für Fluß oder sonst eine bei einem Stamm beliebte Art der Be-
nennung aufweist und somit das Verbreitungsgebiet des Namens zu-
gleich charakteristisch für den Bereich derjenigen Bevölkerung ist,
welcher er seine Entstehung verdankt. Zumeist wiederholt sich nun
aber der Name nicht ganz gleichmäßig, sondern mit kleinen bezeich-
nenden Abwandelungen, die sich aus mundartlichen Verschiedenheiten
erklären und somit wiederum Bedeutung für das Verständnis der Stam-
mesmischung und Kolonisation haben. Endlich läßt sich oft genug
feststellen, daß die Flußnamengebung eines untersuchten Gebietes cha-
rakteristische Beziehungen zu verwandten Namen anderer Gegenden
aufweist. Wohl möglich, daß daraus nur ein Schluß auf gleichartige
Benennung mit Wörtern aus gleicher sprachlicher Wurzel gezogen
werden darf, vielleicht von Urväter Zeiten her, wenn ein Name bloß
in entlegenen Gegenden sich wiederfindet, zwischen denen Beziehungen
siedelungsgeschichtlicher Art nicht anzunehmen sind. Aber sehr wohl
kann der Fall auch so liegen, daß gleiche Flußnamen ein Hilfismittcl dazu
sind, nähere Verwandtschaft zwischen mehreren Stämmen und Völker-
schaften zu ermitteln, oder einen Rückschluß auf Wanderbewegungen einer
Bevölkerung aus einem Ansiedelungsgebiet in ein anderes erlauben.
Den Schatz an Flußnamen, wie ihn die Flußnamenforschung wissen-
schaftlich auszubeuten hat, bietet zunächst die Gegenwart und die jüngste
Vergangenheit dar; es braucht dabei wohl kaum ausdrücklich betont
— 237 —
zu werden, daß neben den „amtlichen** Namensformen auch die echt
volkstümlichen von besonderem Werte für die Wissenschaft sind. Aber
auch die Überlieferung der historischen Quellen muß dazu ausgenutzt
werden. Sehr häufig bietet erst der Einblick in die Entwickelung einer
Namensform, gerade wie bei den Ortsnamen, die Möglichkeit zu rich-
tiger Deutung. Überdies aber sind neben den bis auf die neueste
Zeit gekommenen eine Menge ausgestorbener Flußnamen auffind-
bar, die oft gerade ein ganz besonderes wissenschaftliches Interesse
beanspruchen dürfen, wie ja auch den Wüstungsnamen, jenen Namen
der eingegangenen und verlassenen oder wenigstens ihrer Selbständig-
keit verlustig gegangenen Siedelungen, außergewöhnliche Wichtigkeit
in geographischer wie historischer Hinsicht zukommt. Aufspüren lassen
sich ausgestorbene Gewässernamen mit allen den Hilfsmitteln, deren
man sich überhaupt bei der Orts- und Flurnamenfeststellung bedient.
Mittelbar aber kommen hierbei noch zweierlei Quellen in Betracht, die
nicht immer auf den ersten Blick zeigen, daß sie in sich einen Fluß-
oder Bachnamen enthalten. Dies sind die nach Gewässern benannten
Gaue und Landschaften, sowie viele von Fluß- und Bachnamen abge-
leitete Siedelungsnamen ; öfters läßt sich aus diesen auf einen alter-
tümlichen Gewässernamen schließen, an dessen Stelle inzwischen eine
andere Benennung oder bisweilen auch nur eine wenig sagende Be-
zeichnung (z. B. Bach, [Löbauer] Wasser) getreten ist.
Auch auf die Flußnamen muß neben der wichtigen und unent-
behrlichen Einzelerklärung das wissenschaftliche Verfahren der Massen-
beobachtung in räumlicher und zeitlicher Hinsicht angewandt werden.
Denn es gilt, um diese Erkenntnisquelle allseitig auszuschöpfen, nicht
nur die größeren Flüsse und Wasserbecken ins Auge zu fassen ; gerade
auch die Namengebung der kleinen und feinsten Wasseradern und
stehenden Gewässer ist in ihrer Weise charakteristisch. Man muß den
Blick auf die Gesamtheit der Flußnamen richten; ohne zu wissen, wo
ein Flußname in den verschiedensten Gegenden sich wiederfindet, läßt
er sich weder sicher sprachlich deuten noch für weitere geographische
und historische Aufschlüsse verwerten.
Wird somit für eine Landschaft, in stetem Hinblick auf die Nach-
bargebiete, eine Sammlung der Gewässernamen ausgeführt und die
Art der Namfcngebung nach den geschichtlichen Perioden zur Genüge
geklärt, so vermag eine vorsichtige, auf ausreichender Sprachkenntnis
beruhende Deutung der Namen manche wertvollen Aufschlüsse über
Bevölkerungswechsel und Stammeszusammenhänge zu bieten, ebenso
über die für die Besiedelungsvorgänge wichtige natürliche Beschaflfen-
— 238 —
hcit des Landes und deren Veränderungen, und über die wirtschaft-
lichen Verhältnisse sogar solcher Zeiten, in die kaum die Siedelungs-
namenforschung hineinleuchtet.
Um nun die hier vorliegenden Probleme noch in etwas deutlicheres
Licht zu rücken , seien im folgenden einige Beobachtungen aus den
Landschaften an der mittleren Elbe und ihren Nebenflüssen angeführt,
aus jener Kulturlandschaft Mitteldeutschlands, die durch die Saale und
nördlich von deren Mündung durch eine Strecke des Elblaufs in einea
Ost- und einen Westflügel geschieden wird *).
Seitdem die keltische Bevölkerung, die wenigstens in den süd-
westlichsten Teilen jenes Gebietes noch um 400 v. Chr. wohnhaft ge-
wesen war, das Land verlassen hatte, bildeten sich die dauerhaften
Siedelungsverhältnisse in fünf großen Wander- und Ansiedelungsbewe-
gungen heraus. Germanische Stämme nahmen von dem Lande Be-
sitz, unter ihnen seit dem ersten nachchristlichen Jahrhimdert nach-
weisbar die Hermunduren, die mit den im Westen wohnenden Che-
ruskern und Chatten sowie mit suebischen, weiter südlich wohnenden
Stämmen näher verwandt waren. Seitdem die Germanen wenige
Menschenalter später von neuem in Bewegung gerieten, gingen manche
Völkerstürme über das Land dahin; anscheinend aber erlangte nur
eine Einwanderung germanischer Stämme vom südwestlichen Rande
der Ostsee her, der Angeln und Warnen, dauernden Einfluß im Lande.
Nach dem Sturze des thüringischen Reiches im Jahre 531 begann
die Epoche einer Besiedelungspolitik unter Führung des fränkischen
Königtums; Franken ließen sich an günstig gelegenen Orten Thü-
ringens nieder, später wohl auch in den Gegenden nördlich von der
Unstrut und den Mansfelder Grenzhöhen; in den Landen östlich und
nordöstlich vom Harz \furden Nordsueven und andere Zuwanderer
noch im 6. Jahrhundert seßhaft gemacht. Auch der sächsische Stamm
breitete sich von seinen Sitzen weiter in südöstlicher Richtung aus,
schließlich bis zum Unterlauf der Unstrut und zum Sachsgraben in
der Nähe der Mündung der Helme in die Unstrut. Das ganze Land
östlich der Saale aber ward bald danach von slawischen Völkerschaften
eingenommen; und auch auf dem linken Ufer der Saale und der
Elbe nördlich und südlich von Magdeburg gewann die slawische Be-
siedelung einigen Raum. Erst in karolingischer Zeit erlangte das
Deutschtum die Kraft zu neuem Gegenstoß, und es begann die völlige
i) VgL Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler der
Provins Sachsen, XVIII. H. Gröfiler, Landeskundliche Einleüung, S. VO ff.
— 239 —
GermanisieruDg des Gebietes vom Westufer der Saale bis zur Elbe
und über die Elbe hinaus.
Wie spiegeln sich nun diese Epochen der Besiedelungsgeschichte
in der Flußnamengebung des untersuchten Gebietes wieder? Lassen
sich aus der Beachtung der Gewässernamen Schlüsse zur Aufhellung
jener in ihrem Verlaufe oft so dunkeln Vorgänge machen?
Um solche Schlußfolgerungen vorzubereiten, ist es erforderlich,
die Art der Flußnamenbildung in jenen Gegenden, soweit möglich,
zeitlich zu ordnen. Hilfsstoff dazu bieten uns die ältesten geschicht-
lichen Erwähnungen von Flüssen: so werden uns Elbe imd Saale
{SdXag) schon zu des Drusus Zeiten bezeugt; vielleicht nennt uns Pto-
lemäus, der berühmte hellenische Geograph des zweiten nachchrist-
lichen Jahrhunderts, noch die Luppe östlich der Saale. Helleres Licht
fallt auf das Netz der Flüsse des von uns untersuchten Gebietes erst
seit der merowingischen Zeit : so nennt ein fränkischer Schriftsteller *)
die Unstrut (Onestradem) ftir das Jahr 531 ; 704 wird die in die Gera
bei Arnstadt fallende Weiße in der altertümlichen Form super fluvio
Huitteo urkundlich erwähnt *). Einige alte Namen sind mittelbar nach-
zuweisen. So ist nämlich offenbar der Name des Nabelgaus ■) nach
einem Flußnamen Nabila gebildet, der mit dem Namen der Naab ver-
wandt ist; an diesem Flüßchen ist vermutlich der Doppelsieg des me-
rowingischen Königs Chlothars I. über Thüringer und Sachsen i. J. 555
erfochten worden, ftir welchen man bisher die Örtlichkeit nicht hat
auffinden können *). Einen Flußnamen birgt auch der Name des Alt-
gaus in Thüringen^), der keineswegs den alten Gau bedeutet; zu ver-
gleichen ist die am Südabhang des Thüringer Waldes entspringende
Aldäha •), auch Altaich (AUaha) an der Donau und das Altland in
Siebenbürgen.
Wichtige Rückschlüsse auf das Alter der Flußnamen sind
aus rein sprachlichen Beobachtungen abzuleiten. So ist die Namen-
bildung mit Wörtern, die schon frühe ausgestorben sind, ein Beweis
hoher Altertümlichkeit eines Flußnamens: dlla, asa, bada, mana, stra
i) Gregor v. Tours, M. G. SS, rer, Merov. I, p. 115.
2) D ob e necker, Eeg. Hist. Thur. I, nr. 5.
3) Gan an der Wipper; s. die Bemerknng über diesen Namen unten S. 241.
4) Venantins Fortunatus, VI, i (Auct. ant. IV, 126): virtus, quam Nablis eece
probat Toringia victa fatetur; vgl. Marius Av. zum J. 555.
5) Um den Fluß Helbe gelegen, sdl. der Hainleite.
6) Spruner-Menke, Gaukarten IV (Aüas*, nr. 34), bei Breitungen, nw. Ton
SchmaUcalden.
— 240 —
(strut) sind uralte Wörter*), die einst „fließendes Wasser" (mutmaß-
lich mit gewissen Unterschieden des besonderen Sinnes), bedeuteten
und teils selbst zu Eigennamen für Flüsse geworden sind (z. B. für
die Bode, d. i. vermutlich Warmquellfluß, und die Oder im Südharz),
teils bei der Bildung zusammengesetzter Namen das Grundwort ab-
gegeben haben (z. B. : Unstrut = Onesirud^ vgl. die südlich von den
Ohmbergen fließende Ohne im Gau Onfdt (Ohmfeld), oder mit doppelter
Zusammensetzung : Holtemme = HoUemna, amana mit später vorgesetz-
tem hoU, d. i. Bergrandwasser vom Walde). Solche uralte Wörter sind
nun außerordentlich häufig in der Flußnamengebung der westlichen,
von alters germanisch besiedelten Teile des von uns untersuchten Ge-
bietes anzutreffen ; ja sie herrschen hier geradezu völlig vor, finden sich
auch bei recht kleinen Gewässern und überdies oft in so altertümlichen
Formen, daß der Schluß gar nicht abzuweisen ist, die Flußnamengebung
dieser Lande reiche selbst in abgelegenen Teilen mindestens bis in die
frühgermanische Zeit zurück und habe sich mit großer Beharrlichkeit er-
halten ; damit ist aber wiederum die Tatsache erhärtet, daß eine gewisse
zähe Dauerhaftigkeit der Besiedelung des Landes trotz mancher Wander-
bewegungen sich behauptet haben muß. Andere derartige Bezeich-
nungen, die auch alten Ursprunges sein können, haben sich im Sprach-
bewußtsein des Volkes bis in jüngere geschichtliche Zeiten, ja bis zur
Gegenwart erhalten: so ciha, Ache, ein bei den im W und S benach-
barten Stämmen sehr beliebtes Wort fiir Fluß, welches wohl auch in
Thüringen von alters heimisch gewesen ist, aber doch noch in karo-
lingischer Zeit weitere Verbreitung gefunden hat *), und das besonders
den hessischen Franken geläufige -back ■), wofür in niederdeutscher
Mundart -beke gesagt wird. Es ist charakteristisch, daß bei der Na-
mensbildung mit diesen Grundwörtern auch die Bestimmungswörter noch
heute so oft einfach verständlich sind : Sueinaha, Ltürdha, Hengstbach,
Ilasclbeke u. a., — ein Umstand, der den jüngeren Charakter dieser
Namengruppe noch deutlicher erhellt. Auf jüngere Bildung der Namens-
form läßt in diesen Gegenden die als Schlußbestandteil eines Namens ge-
brauchte Flußbezeichnung -cm schließen, die sich bei den östlichen
Sachsen und den im Norden ihnen benachbarten germanischen Stäm-
men sehr regelmäßig findet. So ist am Südabhang der Finne die
„Schafau" zu beachten; der in fränkischen Annalen des 8-/9. Jahr-
i) Vgl. darüber Th. Lohmeyer a. a. O.
3) Vgl. für die Hörsei: 932 Hwmkkgemundi^ 979 Hursiüa,
3) S. K. Lamprecht, Ansiedthmgen der Franken, ZAachGV. IV. S. 209 f.
— 241 —
hunderts ^) Missaha genannte Fluß im sächsischen Darlingengau west-
lich von Helmstedt heißt jetzt Missau. Mittelbare Aufschlüsse lassen
sich für das Alter der Fiußnamen aus Siedelungsnamen gewinnen, deren
Bildung ein hohes Alter verrät ; so bei den nach Gewässern benannten
Orten, deren Namen auf -ungen oder -ingen, -lar, -mar und dergleichen
enden: z. B. Bedungen, Heldrungen, Leinungen; man beachte dabei,
daß Ortschaften, die nach Flüssen und Bächen genannt sind, oft nahe
dem Ursprung des Gewässers liegen *).
Diese Ausführungen mögen genügen, um zu zeigen, daß es sehr
wohl möglich ist, eine gewisse zeitliche Gruppierung der Flußnamen
innerhalb einer deutschen Landschaft vorzunehmen, wobei es freilich
nicht bloß darauf ankommt, das Alter einer Namensbildung an sich
zu bestimmen, sondern womöglich ein Urteil darüber zu gewinnen,
wann die Namen den Flüssen, an welchen sie haften geblieben sind,
in den einzelnen Gegenden gegeben worden sind.
Neben solchem Versuch, die Flußnamengebung zeitlich zu ord-
nen, lassen sich nun auch siedelungsgeschichtlich bedeutsame Beob-
achtungen über die räumliche Verbreitung einzelner Namen anstellen.
Zunächst sei bemerkt, daß sich das gehäufte Auftreten gewisser Fluß-
namen in den Gegenden südlich und östlich vom Harz in charakte-
ristischen Beispielen belegen läßt. So findet sich der Name der Wipper,
der außerhalb unseres Untersuchungsgebietes selten ist, für einen Neben-
fluß der Saale am Ostabhang des Harzes, aber auch mehrfach in Thü-
ringen, am weitesten nach Süden zu in der infolge hochdeutscher
Lautverschiebung umgebildeten Form Wipfra für einen Nebenflufs der
Gera; der Name der Wipper von Frankenhausen scheint eine ältere
Benennung Nabüa verdrängt zu haben '). Auch der Name der Helme
oder der von gleichem Sprachstamm gebildete der Helbe begegnet
uns wiederholt, zumal wenn man aus einzelnen Ortsnamen in älteren
Zeiten vorhandene Flußnamen erschließt : z. B. Helmstedt, Helmonstedi,
d. i. Stätte an der Hdmana. Auffallend oft finden sich nach dem
Salzgehalt den Gewässern gegebene Namen: außer der Saale die
Salze (SaMa), ? die Selke, die Sülze n. und s. von Magdeburg
sowie mehrfach nördlich und südlich des Thüringer Waldes. Mag
auch ein bündiger Schluß aus solchen Parallelen der Flußnamengebung
seine Schwierigkeit haben, immerhin ist damit ein Umstand nachge-
i) Annales regni Francoram z. J. 747.
2) Oberhaupt sind die Beziehungen zwischen Ortsnamen- und Flußnamengebung
mehr, als dies bisher geschehen ist, zu beachten.
3) In Frankenhausen lag die Hauptburg des Nabelgaues.
— 242 —
wiesen, der bei der Frage nach den einstigen Stammes- und siedelungs-
geschichtlichen Zusammenhängen zwischen Nordthüringen und dem
thüringischen Lande südlich des Harzes mit in Erwägung zu ziehen Ist.
Ebenso bedeutungsvoll wie solche Feststellung, daß innerhalb des
untersuchten Gebietes gleiche oder ähnlich gebildete Flußnamen öfter
wiederkehren, ist die Ermittelung charakteristischer Beziehungen zu
auswärtigen Landschaften. So ist es bemerkenswert, daß die Fluß-
namengebung Thüringens manche Verwandtschaft mit der der Nach-
barlande im Westen, Nordwesten und auch im Süden zeigt; die Na-
men der Ems, Lossa, [Salzjböde, Leine u. a. finden sich hier wie dort.
Aber auch nach dem Norden weisen manche Vergleiche. So ist es
von einigem Interesse zu sehen, daß der Name der thüringischen Um
sowie der Wipper in dem an unser Untersuchungsgebiet im Norden
angrenzenden Lande, dem alten Bardeng^u, bei der Ilmenau und
ihrem Nebenflusse, der Wipper au, mit der fiir jene nördlicheren Ge-
genden üblichen Endung -au wiederkehren; zu vergleichen ist dazu
die llmana in den Donaulanden, die Wupper oder Wipper am Nieder-
rhein und an der Küste Pommerns. Auffallender ist der Vergleich
einiger thüringischer Flußnamen mit solchen aus Schleswig-Holstein
und Jütland. So findet sich der Name der Gramme, eines Neben-
flusses der Unstrut in Innerthüringen, im nördlichen Schleswig wieder;
und im südlichen Schleswig mündet die „alte Sorge" in die Eider,
wie es eine Zorge am Südabhang des Harzes bei Nordhausen und
eine Sorge als Nebenfluß der Lossa bei Kölleda gibt. Daß uns hier
wie da der Name Wie da begegnet, ist weniger belangreich, da es
nahe lag, einen Fluß nach dem Holze, tcidu, zu nennen. Wie wenig
sicher aber aus Einzelbeobachtungen solcher Art Schlüsse gezogen wer-
den können, wenn man nicht die Gesamtheit der Gewässernamen über-
schaut, zeigt die Entdeckung, daß der so seltene Name der Sarge auch
in der Westschweiz, bei Valangins, sowie bei dem Drausensee südlich
von Danzig sich wiederfindet und auch der Name der Gramme ftir
einen See bei Orteisburg in Ostpreußen wiederkehrt.
Von besonderem Interesse ist es, die Flußnamen des Gebietes
deutscher Kolonisation östlich der Saale und Elbe mit denen altdeut-
schen Siedelungsgebietes zu vergleichen. So kehren einzelne thürin-
gische Flußnamen, Gera, Leina,Weida (oder Wieda), auch die Be-
zeichnung „Graben" im ostsaalischen Lande wieder. Lehrreicher ist es
zu sehen, daß einzelne Namen gerade auch größerer Flüsse in dem Lande
östlich von der Saale in jenen nördlicheren, stets germanisch geblie-
benen Gegenden sich nachweisen lassen. So findet sich die ältere
— 243 —
Namensform Milda, statt deren sich für die beiden Flüsse der Erz-
gebirgslandschaft der Name Mulde in der der böhmischen Moldawa
verwandteren Form behauptet hat, in der Altmark wieder, aber
auch in Schleswig in Husums Nähe bei der Mildau (bei Mildstedt);
auch auf den Ort Milda im östlichen Thüringen ist hinzuweisen. Der
Name der schwarzen und weißen Elster (Elstra, Älestra) ist mit der
Alster bei Hamburg zu vergleichen; die Threne östlich von Leipzig
erinnert an die Treene, einen Nebenfluß der Eider, die Schnauder bei
Groitzsch an die Schunter w. von Helmstedt; die Ihle und Ehle,
östlich von Magdeburg an den Ort Ilfeld im Südharz, der nach einer
Ile genann sein wird. Mag nun auch der eine und andere solcher
Flußnamen sich aus dem Indogermanischen (ebenso aus dem Slawischen
wie dem Germanischen) erklären lassen, mögen auch manche in der ost-
deutschen Kolonisationszeit von Westen her in die Lande östlich der Saale
und Elbe übertragen worden sein, so leg^ doch jener eben dargelegte
Sachverhalt den Schluß nahe, daß Gewässernamen dieser ostsaa-
lischen Gebiete noch dem germanischen Sprachbestande aus der Zeit
vor der slawischen Einwanderung angehören. Somit fällt aus der
Flußnamenforschung einiges Licht auf die so wenig klare Zeit der alten
germanischen Besiedelung und deren Zusammenhang mit der Periode
slawischer Landnahme.
Überblicken wir diese Angaben über die Flußnamen des Gebietes
an der mittleren Elbe und ihrer Nebenflüsse, so zeigt sich trotz großer
Unsicherheit der Schlußfolgerung im einzelnen doch hinlänglich deut-
lich, daß der Grundstock der Flußnamen der Gegenden westlich von
der Saale in die germanische Zeit hinaufreicht und germanischen
Stämmen, die mit den im Westen und Süden wohnhaften verwandt waren,
also spätestens den Hermunduren, verdankt wird; aber auch jüngere
Einwirkung durch Zuwanderer vom Norden her, also wohl infolge
anglisch-wamischer oder auch nordsuevischer Einwanderung, in ge-
ringem Maße endlich durch fränkischen Einfluß ist ersichtlich. Im
Lande östlich der Saale überdauerte ein Bestand an germanischen
Flußnamen die Einwanderung von Völkerschaften slawischer Rasse ge-
rade auch in den von Slawen dicht besiedelten tieferen Landesteilen,
während in den höheren Gegenden, wo die slawische Besiedelung nur
spärlich hindrang, nicht wenige slawische Flußnamen gebräuchlich
wurden. Es zeigt sich also, daß die Flußnamengebung, selbst im kleinen,
großenteils aus Zeiten vor der Herausbildung fester bäuerlicher Siede-
lungswirtschaft stammt.
Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, daß uns die Fluß-
— 244 —
namen ein nicht zu unterschätzendes Hilüsmittel zur Aufhellung der
Bevölkerungs- und Stammesverhältnisse frühgeschichtlicher Zeiten bie-
ten, das heute bei siedelungsgeschichtlichen und ethnographischen
Untersuchungen nicht gebührend beachtet zu werden pflegt.
Auch an Beispielen dafür fehlt es nicht, daß durch die Gewässer-
namen die Kenntnis der natürlichen Bedingungen für Wirtschaft und
Siedelung frühgeschichtlicher Zeit, wie sie in der Tier- und Pflanzen-
welt eines Landstriches gegeben sind, gefördert werden kann. So be-
zeugen uns einzelne Bachnamen das einstige Dasein des Wisent, des
Ur, des Wildpferds, des Rot- und SchwarzwUdes, des Bibers ; oder sie
geben uns Aufschluß über den Baumschlag und das Strauchwerk, über
Versumpfung einer Gegend u. a. mehr. Auch für die Bestimmung
der Siedelungsmarken haben die Flußnamen Bedeutung; sind doch
die Bewässerungsverhältnisse zumal von den Franken, wie jüngst ge-
zeigt worden ist *), bei der Herstellung der Grenzen im großen wie im
kleinsten sehr sorgsam beachtet worden.
Diese Ausführungen über die Bedeutung der Gewässernamen für
die Siedelungsgeschichte , welche den Gegenstand in keiner Weise
erschöpfend behandeln können und sollen, werden zur Genüge dartun,
daß auf diesem Felde wissenschaftlicher Forschung noch ein Schatz
zu heben ist. Aber sie zeigen freilich zugleich, daß Einzelbeobach-
tungen, die für eine Landschaft gemacht werden, nur schwer sich zu
festeren Schlüssen verdichten lassen. Die Schwierigkeit und Unsicher-
heit dieser Untersuchungen kann nur überwunden werden, wenn für
die verschiedenen deutschen Landschaften vergleichbare Arbeiten über
die Gewässernamen geschaffen werden und somit eine verläßliche
Grundlage für Massenbeobachtung der Flußnamengebung Deutschlands
in historischer wie geographischer Hinsicht dargeboten wird.
Eine planmäßige Sammlung der Gewässernamen ist ja, wie ein-
gangs bemerkt wurde, dank dem Vorgehen mehrerer landesgeschicht-
licher Vereine und Publikationsinstitute zugleich mit den vorbereiten-
den Arbeiten zur Herstellung historischer Ortsverzeichnisse und der
Sammlung von Flurnamen in die Wege geleitet worden. In der Tat
muß bei den vorbereitenden Sammelarbeiten Landschaft für Landschaft
nach einem gleichmäßigen Verfahren vorgegangen werden, wenn wirk-
lich ein allen wissenschaftlichen Ansprüchen genügendes Vergleichs-
material für Studien über die deutschen Flußnamen beschafft werden
soll; denn es bedarf dabei einer so eindringenden Vertiefung in die
1) K. Rubel, Bit Franken (1904), S. 30 ff.
— 245 —
landesgeschichtlichen Quellen, so großer Vertrautheit mit der Landes-
und Volkskunde und den Mundarten, daß hierfür landschaftliche Ar-
beitsteilung dringend geboten erscheint. Überdies ist die Ermittelung
der Flußnamen aus den historischen Quellen mit der Sammelarbeit für
die historischen Ortsverzeichnisse und die Flurnamen am praktischsten
zu verbinden.
Aber die Eigentümlichkeit der Flußnamengebung, die in den ent-
legensten Gegenden gleiche oder wenigstens ganz ähnliche Namens-
bildungen hervorruft und doch überall ein Bestandteil landschaftlicher
Sonderart ist, sowie der Umstand, daß gerade die bedeutenderen Flüsse
verschiedenen deutschen Landschaften angehören, lassen es wünschens-
wert erscheinen, daß ein einheitliches Werk geschaffen werde, welches
ebenso den Bedürfnissen nach Beachtung des landschaftlich Beson-
deren, wie auch der Notwendigkeit, das allgemein Deutsche zu über-
schauen, in gleicher Weise Rechnung trägt. Es gilt ein deutsches
Flufsnamenbuch zu schaffen, in welchem die Namen der fließenden
und stehenden Gewässer Deutschlands mit den nötigen sprachlichen,
historischen und geographischen Erläuterungen verzeichnet sind und
rasch und sicher aufgefunden werden können ^).
Für ganz Deutschland möchte dabei eine Einteilung in mehrere
Gebiete entworfen werden, bei deren Abgrenzung Besonderheiten der
Stammes- und Kolonisationsgeschichte, wie auch die Gnindzüge des
Bodenbaues und der Bewässerung Mitteleuropas in geeigneter Weise
berücksichtigt werden müßten. Die Veröflfentlichung würde zweck-
mäßig so geschaffen, daß für ein jedes jener Gebiete ein Sonderheft
ausgegeben würde, bei dessen Anordnung die Gliederung des Stoffes
nach Flußsystemen mit der alphabetischen Namenfolge in passender
Weise zu vereinen sein würde. Diesen Sonderheften müßte ein all-
gemeiner Teil folgen, der zugleich ein gemeinsames Namenregister für
alle Sonderhefte und die aus der gesamten Forschung sich ergeben-
den Erklärungen der Flußnamen enthalten müßte. So wäre die Ein-
heitlichkeit des ganzen Werkes gewahrt und doch dem Bedürfnis, das
landschaftlich Eigenartige zu erkennen. Genüge geschehen.
i) E^ wird genügen, dabei die belangreichen Namen auszuwählen und Benennungen
wie Bach, Wasser und dgl. wenigstens nicht alle einsein anzuführen. Zur Charakteristik
der Zahl der fließenden Gewässer Deutschlands sei erwähnt, daß H. F. Bra belli (in
dem Ton Stein, Hörschelmann und Wappäus hrg. Handbuch der Geographie und StO'
tisiik, IV I, S. ii) sie ohne die kleinen Riesel und Bächlein auf mindestens 40000
schätzt. Nach einer Angabe bei Ungewitter, Neueste Erdbeschreibung und Staaten-
künde. 3. Aufl. (Dresden 1853) '• ^^-i S* ^7 ^^^ ^^^ Rhein nicht weniger als 11 853
Nebenge Wässer haben.
— 246 —
Allerdings kann die rechte Deutung der Namen nur durch ver-
gleichende indogermanische Studien gewonnen werden. Aber da es
gerade darauf ankommt nachzuweisen, wo überall die Namen auftreten,
wie sie von der Beschaffenheit der Landesnatur abhängen und wie
sich die Namensformen geschichtlich abgewandelt haben, so wäre der
Rahmen eines indogermanischen Flußnamenwerkes zu weit gespannt.
Hingegen ermöglicht die Beschränkung auf das deutsche Volksgebiet
eine Vertiefung der Probleme, die auch der indogermanischen Fluß-
namenforschung zugute kommen wird.
Die Herausgabe eines deutschen Flußnamenbuches ist ein Plan,
welcher durchaus im Bereiche des Möglichen liegt. Möchten sich
Mittel und Wege zu seiner VerwirkUchung finden! Jedenfalls aber
wird danach gestrebt werden müssen, daß Siedelungsgeschichte und
Fiußnamenforschung engere Fühlung miteinander gewinnen und zum
mindesten einmal für einzelne Landschaften die historisch-geographische
Untersuchung der Flußnamengebung auf hinreichend breiter Grund-
lage durchgeführt wird. Es wird auf beiden Seiten wissenschaftlicher
Gewinn daraus zu erzielen sein.
Mitteilungen
Archive. — In die Reihe der Städte, die ein selbständiges Stadtarchiv
unter fachmännischer Leitung besitzen, ist neuerdings auch Kiel eingetreten.
Die Bedeutung der im Archiv enthaltenen Rechtstitel wurde in diesem Falle be-
sonders deutlich erkannt, als 1904 die Stadt Kiel den Prozeß gegen den
Staat um das Eigentum am Kieler Hafen verlor, und die Folge davon war,
daß die Ordnung des Stadtarchivs beschlossen wurde. Diese Arbeit wurde
Dr. Franz Gundlach, bis dahin Archivassissent am Staatsarchiv in Mar-
burg, übertragen und von ihm im Sommer 1905 begonnen. Es handelte
sich vor aUem danun, die herrschende, schon seit 1742 wiederholt beklagte
Unordnung im Archiv endlich zu beseitigen und die Archivalien wirklich be-
nutzungsfähig zu machen. Dieses letztere Ziel war aber nur zu erreichen,
wenn man über den ursprünglichen Plan hinausging tmd eine dauernde
fachmännische Archiwerwaltung durch Anstellung eines Stadtarchivars herbei-
Rihrte. Die städtischen Kollegien bewüligten im November 1906 die Er-
richtung eines solchen Amtes, und am i. Januar 1907 wurde Dr. Gund-
lach als Stadtarchivar auf Lebenszeit angestellt, nachdem er aus dem kgl.
preußischen Archivdienst ausgeschieden war. Es ist erfreulich, daß dieser für
die Kieler Stadtgeschichte wichtige Schritt schon jetzt geschehen ist und nicht,
wie ursprünglich beabsichtigt, auf die Zeit verschoben wurde, da das Archiv im
neuen Rathause tmtergebracht sein wird; das wird kaum vor 19 11 der Fall
sein. Im letzteren sind günstig gelegene, luftige, gegen Feuersgefahr und
— 247 —
Feuchtigkeit möglichst geschützte Archlvräume vorgesehen, aber es ist selbst-
verständlich, daß die Aufstellung der Archivalien darin desto zweckmäßiger
vor sich gehen wird, je weiter die innere Ordnung vorgeschritten ist. Der
sachverständige Rat des Archivars wird sich überdies auch bei der Ein-
richtung der neuen Archivräume nicht entbehren lassen.
Über die Anfänge des Stadtarchivs in Elbing fehlen aUe Nach-
richten; doch ist es sicherlich schon im XVI. Jahrhundert vorhanden
gewesen '). Der älteste aus Elbing selbst stammende Bericht gehört dem
Anfang des XVII. Jahrhunderts an ^. Im Jahre 1611 klagt man in einer
Ratssitzung darüber, daß die Canzelei, d. h. das Archiv „ sehr zerrüttet und
viel hin und wieder zerstreut lieget*'. Mehrere Magistratsmitglieder, darunter
der Bürgermeister IsindorfT, wurden deshalb beauftragt, für Abhilfe zu sorgen.
Ob es geschehen sei, erfährt man nicht, vielmehr wird im Jahre 1636 von
neuem die große Unordnung in der Canzelei erwähnt tmd beschlossen, ein
genaues Verzeichnis der Urkunden anzufertigen. Der erste Bürgermeister,
Christian Treschenberg, soll die Reichs- und Landtags-Rezesse bearbeiten,
der zweite Bürgermeister Fuchs die Missiv-Bücher , die sonstigen Mitglieder
des Rats die in ihr Ressort fallenden Stücke verzeichnen; überdies soll alles
vereinigt werden, was sonst an Büchern bezüglich seines Inhalts in das Archiv
gohört; auch ist die Anlegung eines neuen Privilegien-Buches vorgesehen').
Nachdem im Jahre 1682 der Auftrag, welcher dem auch als Dichter bekannten
Gottfried ZamehH) und einem Sekretär Lydicius erteilt war „die Cantzelei
zu revidiren und confustun chaos in Ordnung zu bringen'*, durch den Tod
Zamehls (f 12. August 1684) unausgeführt blieb, wurde am 3. März 1689
dem Sekretär Peter Poselger (f 1709 als Ratsherr) die Verwaltung des Archivs
übertragen mit der Verpflichtung, die vorhandenen Archivalien zu inventari-
sieren. In drei noch vorhandenen Folianten ^) wurde die verhältnismäßig sorg-
fältig ausgeführte Arbeit am 3. März 1691 ftir beendet erklärt. Am 25. Ok-
tober 1690 hatte er ein Schreiben an den Rat gerichtet, worin er die „ihm
erzeigte Faveur in Übertragung der Registratur dankbarlich anerkennet'';
„weil er aber solche Arbeit ohne die geringste Beschwerde oder Unkosten
i) Professor Behring in Elbing hatte im Staatsarchiv zu Danzig eine der zweiten
Hälfte des XVI. Jahrbimderts angehörige Notiz gefanden, die dem Elbinger Archiv ent-
nommen war; doch konnte er die Stelle nicht näher bezeichnen.
2) Sämtliche aus dem XVll. Jahrhundert stammenden Nachrichten sind den verloren
gegangenen Ratsrezessen entnommen, die sich finden bei Karl Ernst Ramsey, ManuS'
cripta ElbingenHa in Fol. II 1 77/1 78 und dessen Manuscripta Elbingensiain 4^, XIV, 108.
Diese für die Geschichte Elbings sehr wichtigen Handschriften, bestehend in 15 Bänden
in FoL and 15 Bänden in 4^, nebst 4 Bänden Indices zn den jetzt nur teilweise vor-
handenen Ratsrezessen (vgl. S. 251 Anm. 2 and S. 253) wurden 1773 nach dem Tode
Ramseys von seiner Witwe an die Stadt verkaafl.
3^ Dasselbe ist noch vorhanden and enthält Abschriften der Urkunden von 1246 ab.
4) Almeni Musae Cyclades oder deutsche Bingel-Oedicht, Königsberg 1667. Über
den Verfasser vgl. T o e p p e n , Die Elbinger GeschiMaschreiber und Oeschiehtsforscher
S. 44— ^2 {Zeitschrift des We8tpre^ßi8chenOe8chicfU8verein8, Heft XXXII. Danzig 1893).
5) Unter dem Titel: Ecclesi<utica , Oecanomica (Verwaltung des Territoriums)
und Politica, Die Fortsetzung geht bis in die 70 er Jahre des 18. Jahrhunderts. In
dem Bande Politica wird Fol. 290 hingewiesen auf den Catalogus librorum in Folio,
der jetzt fehlt.
— 250 —
Erklärung aufgefordert wurde, ob er eine genaue Registrierung aller auf dem
Rathause, sowie in der Konventshalle ') befindlichen Archivalien übernehmen
wolle, nachdem ihm schon imter dem 2. Oktober 1820 die Ordnung der
vorläufig an die Stadt abgetretenen Grübnauschen Sammlung übertragen war *).
Unter der Voraussetzung einer ihm dafür zu bewilligend^^ Entschädigung
von 60 Talern, die ihm die Stadtverordneten schließlich nach mancherlei
Verhandlungen zugestanden, woUte er sich dieser Aufgabe mit Hilfe des Ar-
chivars Ramsay unterziehen. Das Resultat seiner Arbeit, die niemals voll-
endet wurde, bestand wenigstens darin, daß er sich eine genaue' Kenntnis
des Archivs verschafile, die der von ihm verfaßten Beschreibung der Siadi
EJhing und ihres Gebietes in topographischer, geschichtUcJier und statistischer
Hinsicht (1818 — 32 mit dem erst 1852 lange nach seinem Tode [1835]
erschienenen Supplement 6 Bände umfassend) zugute kam ^).
Der eigentliche Schöpfer des Archivs in seiner gegenwärtigen Gestalt wurde
nicht er, sondern der ihm befreundete FerdinandNeumann, dessen Arbeit
aUe bisher gemachten Versuche zur Wiederherstellung tmd Ordnung der auf
die Geschichte der Stadt bezüglichen Sammlungen weit in den Schatten
stellte *). Am 3. Mai 1826 richtete er folgende Denkschrift an den Magi-
strat: „Der Zustand des rathhäuslichen Archivs ist von der Art, daß dasselbe
den Anforderungen, welche die Behörden sowol in rechtlicher als in histo-
rischer Beziehung zu machen haben, auf keine Weise zu befriedigen vermag.
Mit Ausnahme der chronologisch geordneten Originalprivilegien und deren
Abschriften im Privilegienbuch, so von der Rezeßsammlung seit 1 700 ist es
nicht leicht möglich, über irgend einen fraglichen Gegenstand augenblickliche
Auskunft oder auch nur die Gewißheit zu erhalten, ob in Betrefif desselben
überhaupt etwas vorhanden sei oder nicht. Dieser Übelstand ist schon mehr-
mals tmangenehm empfunden worden und hat mitunter zu dem Glauben ge-
führt, daß über manches keine Auskunft weiter zu erwarten sei. Gleichwohl
scheint schon die nicht ganz unbedeutende Anzahl der Bände dafür zu
sprechen, daß dies nicht unbedingt der Fall sein könne, und immer wird
nur eine gehörige Übersicht des vorhandenen darüber zu entscheiden ver-
mögen. Zu einer solchen Übersicht fehlt aber nicht viel weniger als alles.
Der im Jahre 1 8 1 7 aus dem Überrest der geretteten Schriften des alten Rath-
hauses aufgestellte Theil des Archivs enthält größtenteils Originalbände aus
der ältesten Zeit der Stadt, die als Quelle für die elbingscbe Geschichte von
i) Die Sammlungen des Jacob Convent vgl. Anmerkung 6, S. 248.
2) Vgl. Anmerkung 12.
3) Über ihn Toeppen, Geschichtsschreiber 178—182.
4) Über diesen Mann (geb. 1792, f 1869), der orsprünglich Apotheker war, später
zum Stadtverordneten, 1834 zum Stadtrat gewählt wurde und bei seinem Austritt den
Titel eines Stadtältesten erhielt, vgl. M. Toeppen, Erinnerungen an F. Neumann
(Separatabdruck aus der AUpreußischen Monatsschrift. Band VI, Heft 4). Königs-
berg 1869. 30 S. 8** und Toeppen in den Elbinger Geschichtsschreibern 188 — 193.
In der zuerst genannten Schrift sagt Toeppen über ihn S. 13 — 14: „(Er] legte zuerst einen
äußerst umfangreichen Codex Diplomaticus zur Geschichte der Stadt Elbing an, in welchen
er alles, uas sich an Originalien und Abschriften dahingehöriger Urkunden .... noch zu-
sammenbringen ließ, aufnahm. Da er durch vieljährige Übung ein ausgezeichneter Kenner
der Paläographie , da die allergrößte Accuratesse in dem innersten Wesen seiner Natur
begründet war, endlich, da er eine ausgezeichnete Hand schrieb, so sucht dieser Codex
Diplomaticus .... seines Gleichen.'^
— 251 —
uoschätzbarem Werthe sind. Die Schwierigkeit, welche mit dem Lesen dieser
in aher Schrift und zimi Theil in einer fremden Sprache abgefaßten Doku-
mente Terknüpft ist, hat verursacht, dafi das darüber angefertigte Register
nicht nur über den eigentlichen Inhalt keine weiteren Andeutungen enthält,
sondern auch hin und wieder die Titel unrichtig angibt, wie denn tmter anderem
durch sonderbaren ZufaU auch ein medicinisches Manuscript unter diese
Sammlung gerathen ist'* *) Die Arbeit werde sehr mühsam und langwierig
sein, „da nicht nur ohne Ausnahme jeder Band mit aller Sorgfalt durch-
gesehen, sondern auch eine beträchtliche Menge zerstreuter Papiere genau
durchgangen, auch eine bedeutende Anzahl einzelner Notate vorangehen
mud" . . . „Gleichwol bin ich . . . bereit, mich derselben und zwar unent-
geltlich mit Ausnahme etwaiger reeller Auslagen zu unterziehen. Doch muß
ich bemerken, daß es mit meinen sonstigen Geschäften nicht vereinbar, auch
jedenfialls zu beschwerlich ist, diese Arbeit an Ort und Stelle vorzunehmen,
sondern muß, im Falle mein Anerbieten genehmigt werden sollte, darauf an-
tragen, daß mir die Materialien nach einander zu freiem Gebrauche aus-
gehändigt werden, wogegen ich, auf Verlangen, gern erbötig bin, über die
sorgfältige Erhaltang derselben mich eidlich zu verpflichten. '* Nachdem der
Magistrat sich mit seinen Vorschlägen einverstanden erklärt hatte, teilte
Neumann am 15. Dezember 1828 mit, was er geleistet. Er habe die 181 7
aufgenonmienen Register der Urkunden durchgesehen und gefunden, daß
von den 236 daselbst befindlichen Dokumenten 56 unter unrichtigen tmd
eine Menge anderer unter nicht hinreichend bezeichneten Titeln vorkommen.
Er überreicht drei Bände Register, in denen seine Arbeiten verzeichnet
seien *). Der Magistrat spricht ihm am 23. Dezember desselben Jahres
seinen Dank für die bisher aufgewendete Mühe aus. „Letztere bitten wir
aber um so mehr mit allem Eifer fortzusetzen, da in diesem Augenblicke
dieses Geschäft nur Stückwerk, das Leben des Menschen aber kurz und
unbestimmt/'
Die eigentliche Verwaltung führte zunächst der Sekretär Karl Ferdinand
Ramsay weiter '), und seit 1833 ^^^ Registrator und spätere Stadtrat Kohtz *).
1) Es ist die Handschrift F 39 der Stadtbibliothek: Lüium Medieine, Von Bern-
hard von Gordon ans MontpeUier (ca. 1300).
2) Diese Register enthalten chronologisch geordnete kurze Inhaltsangaben aas den
eigentlichen Urkunden, sowie aus der Folio-Ausgabe des Sammelwerks von Karl Ernst
Ramsey, den umfangreichen Handschriften von Jacob Wunderlich (f 169 1), Jacob Roule
(t 171 2), Dominic Meyer (f 1737), Sigismund Sieffert (f 1746), Israel Hoppes Miscellanea,
Johann Heinrich Dewitz' (f 1767) Elbingensia und einigen anderen, einer größeren Reihe
zum Teil sehr starker Folio-Bän<ie. Die ersten 3 Bände gehen bis zum Jahre 1699, ein
später hinzugekommener vierter Band enthält Regesten bis 1772. Von der unendlichen
Arbeit, die darin steckt, haben die Väter der Stadt damals sicherlich keine Vorstellung
gehabt.
3) Das Archiv besitzt von ihm die handschriftliche Chronik der Stadt Elhing,
welche die Jahre 1796 — 185 1 bis zum 22. April umfaßt (die Vorrede ist datiert von
1834), 9 Bände Text und 8 Bände Beilagen enthaltend, in Fol., dazu das Supplement:
Jowrnai über die Ereignisne in Elhing %md der umliegenden Gegend seit dem
Monat September 1805 bis in die Mute des Jahres 1808. Fol.
4) Folgende Denkschrift ist von ihm vorhanden: Motive ßu dem Beschluß der
Stadtverordneten in EWing vom 4. August 1836, das Elbinger Territorium betreffend.
Gedruckte Abschrift ausschli^lich eum Gebrauch des Magistrats und der Stadt-
verordneten zu Eünng, (Am Schluß:) Elhing im Dezemher 1840. 37 S. 4^.
18*
— 262 —
Neumann, der im November 1834 zunächst das Dezernat über das ArchiT
übernahm, weil er, wie sein Vorgänger Achenwall erklärte, „niemand den
Inhalt des rathäuslichen Archivs genauer kennt, und niemand in der neuesten
Zeit sich größere Verdienste um Ordnen desselben erworben hat'S trat
dasselbe 1854 an den Stadtrat Krause ab, wurde nun aber der eigentliche
Verwalter der Sammlungen, denen 1858 zwei Zimmer auf dem Rathause
angewiesen wurden, während sie bisher in einzelnen an verschiedenen Stellen
untergebrachten Schränken sich befanden. Am 16. Juli 1861 konnte Neu-
mann dem Magistrat die Anzeige machen, dafi er sämtliche Urkunden von
1600 ab verzeichnet habe. Wiederholte KrankheitsanMe , die zur Folge
hatten, dafi ihm zuletzt zur Erledigung der laufenden Geschäfte ein Stadt-
sekretär beigegeben wurde, veranlaßten ihn schließlich, um Enthebung von
semem Amte zu bitten, nachdem er noch unter dem 6. August 1868 den
Gymnasiallehrer Dr. Edwin Volckmann zu seinem Nachfolger bestimmt hatte.
Indem der Magistrat auf seinen Wunsch einging, fügte er hinzu: „Wir können
hierbei nicht unterlassen, Ihnen für Ihre Verdienste um das städtische Archiv
durch jahrelange erfolgreiche Thätigkeit unseren verbindlichsten Dank aus-
zusprechen** (13. Oktober 1868). •
An der Einrichtung des Archivs, wie es Neumann seinem Nachfolger
hinterließ, ist bisher nichts geändert; nur die von ihm noch nicht vollzogene
Inhaltsangabe einer Reihe von Folianten wurde zunächst Volckmanns Auf-
gabe. Als er sich zur Übernahme des Archivs bereit erklärte, stellte er die
Höhe der Entschädigung „einem billigen Ermessen des Magistrats'* anheim,
„indem ich mir'*, fügte er hinzu, „erlaube auf eine Parathese der Stellung
eines Stadtbibliothekars . tmd Archivars aufmerksam zu machen** (13. August
1868). Am I. Oktober d. J. wurde ihm auf 10 Jahre eine Remuneration
von je 75 Talern zugesichert. 'Seine Arbeit sollte sich nach seiner Äußerung
beziehen auf Katalogisierung der übrigen Manuskripte mit Ausnahme der
Urkunden *). Der von ihm im Laufe der Zeiten verfaßte handschriftliche
Katalog umfaßt folgende 16 Titel: I. Politik, Verträge, Landtagssachen,
Statuta terrarum, allgemeine Landessachen. II. Chronicalia, Historica, Be-
schreibungen, Territorialia Elbingensia. III. Kriegswesen. IV. Verwaltung,
Urkunden, Verhandlungen, Recesse, Missive. V. Rechnungswesen, Münze,
Numismatik, Sphragistik. VI. Handel und Zollwesen. VII. Gewerbe- und
Zunftwesen, Brüderschaften. VIII. Kirchenwesen. IX. Schul- imd Gelehrten-
sachen. X. Hospitäler, Armenwesen, Medicinalwesen. XI. Gerichtswesen.
XII. Hypotheken-, Wiesen-, Zins- und Rentenbücher. XIII — XIV. Personatia.
XV. Poetische Stücke imd Diversa. XVI. Zeichnungen und Kupferstiche.
Unter den hier aufgeführten Manuskripten sind aus alter Zeit besonders er-
wähnenswert die älteste noch erhaltene deutsche Handschrift des Lübischen
i) Er gab die von Neumann schon gefertigten Regesten der Urkunden von 1242 —
1768, denen er „die Namen der Personen, örter and Zeugen nebst den Bemerkungen
über die Siegel hinzufligte '^, zunächst als Beilage der Gymnasialprogramme von 187$ und
1876, dann als besonderes Buch unter dem Titel heraus: Katalog des EWinger Stadt'
archivß. Elbing 1875. 124 S. 4', im ganzen 614 Nummern enthaltend. Der Titel ist
insofern irreführend, als aufier den Urkunden nichts anderes darin verzeichnet ist; auch
fehlen die in verschiedenen Chroniken, wie Gotsch' Geschichte der Neustadt Elbing,
Convents Chronik von Elbing und anderswo als besondere Beilagen sich findenden Dokumente.
— 253 —
Rechts, zwischen 1260 und 1376 verfaßt (vgl. Freasdorff, Das Lübiaehe Recht
nach seinen äUesten Farmen. Leipzig 1873 S. 64/65), in dem originalen
in Form einer Brieftasche gehaltenen Lederumschlag, femer die Zinsbücher
aus den Jahren 1295 — 1320, 1402 — 1408, 1445 — 1449, ^*c Stadtbücher
von 1330 — 1360, 1361 — 1418, 1374, die Kämmereirechnung von 1404 —
14 14, das Erbbuch der Altstadt 14 17 mit der Erwähnung der Schlacht von
Tannenberg (Scriptores rerum Prussicarum III 400 — 401), das Rentenbuch
von 1340 — 1381, das Kriegsbuch von 1383 — 1409, „eine Nachweisung
aller Kriegsfiahrten, bei welchen die Stadt Elbing in dem genannten Zeitraimi
beteiligt war*' (zum Teil herausgegeben von R. Toeppen aus dem Nachlaß
seines Vaters in der Altpreußischen Monatsschrift 36 [1899] Heft 3/4), zwei
Kopialbücher aus dem 15. Jahrhundert mit Urkunden vom Ende des 13. Jahr-
hunderts ab. Dazu kommen die großen Sammelbände, teils mit Originalen,
teils Abschriften zahlreicher nicht mehr in der Urschrift vorhandenen Schrift-
stücke, von denen die wichtigsten die schon S. 247 in der Anmerkung 2 erwähn-
ten von Ramsey, von Israel Hoppe (f 1679, Typus reipublicae Elbingensis
3 Bde. Fol.), Jacob Roule, Daniel Conradi (f 1738) u. a. sind. Für das
18. Jahrhundert haben wir Air die Geschichte Elbings eine Quelle ersten
Ranges in den Ratsrezessen von 1700 — 1771* von denen freilich die Jahr-
gänge 1709, 1729, 1731 fehlen, in 69 zum Teil sehr starken Folianten,
während fiir das 1 7« Jahrhundert nur die Jahre 1602 — 1607, 1622 — 1623,
1637 — 1638, 1677, 1683, 1687 vorhanden sind, für das 16. Jahrhundert
ein Fragment von 1597 sich erhalten hat
Nachdem Volckmann am i. Oktober 1886 sein Amt als Professor des
Gymnasiums aufgegeben, legte er auch die Verwaltung des Archivs nieder ^),
die darauf dem Gymnasialdirektor Max Toeppen übertragen wurde. Die
großen Verdienste dieses Mannes um die Geschichte der Provinz Preußen
werden unvergessen bleiben. Seine Tätigkeit als Archivar bestand hauptsäch-
lich darin, daß er die von ihm verwalteten handschriftlichen Schätze durch
eine Reihe von Publikationen der Wissenschaft und weiteren Kreisen zugäng-
lich machte '). Er überwies während dieser Zeit verschiedene , ihm von
i) Über ihn vergleiche Toeppen, Elbinger Geschichi88chre%ber S. 195. Volck-
mann t 1901 zu Homburg v. d. H.
2) Hier mögen hauptsächlich genannt werden: GeBchiMe der räumlichen ÄtM'
hreitung der Stadt Elbing (in der ZeiUchrift des Westpreußischen Geschichtsvereins
Heft lUQ. 1887) nnd die in den Anmerkangen wiederholt erwähnten Elbinger GC'
sehiehtsschreiber und Geschichtsforscher in kritisdier Übersicht vorgeführt (in der
Zeitschriß des Westpreußischen Geschichtsvereins. Heft XXXIL Danzig 1893). Nicht
in Elbing entstanden sind die Elbinger Antiquitäten. Ein Beitrag zur Geschichte des
städtischen Lebens im Mittelalter; sie erschienen zuerst als Beitrag zu den Gymnasial-
programmen von Marienwerder in den Jahren 1870, 1871, 1872, dann mit neuem
Titel zu Danzig bei Theodor Bertling 1871, 1872, 1873 (300 S. 8% Ein Verzeichnis
aller bis zu seinem am 3. Dezember 1893 erfolgten Tode vollendeten Arbeiten hat
R. Reicke am Schlnfl der Biographie: Max Toppen von Karl Lohmeyer. Separat-
Abdrack aas der Ältpreußischen Monatsschrift XXXI. Heft 1—2. Königsberg 1894.
36 8. 8® g^eben auf S. 28 — 36. Von Lohmeyer rührt auch her der Artikel ,, Toeppen ^^
in der Aügemeinen Deutsehen Biographie 38 (1894), 451—453. Nach Toeppcns Tode
wurden von seinem Sohne, dem Gymnasialoberlehrer Robert Toeppen (f 26. Juni 1901),
noch verschiedene Abhandlungen in der Ältpreußischen Monatsschrift und in der Zeit-
schrift des Westpreußischen Geschichtsvereins herausgegeben, darunter das schon er-
wähnte „ Kriegsbuch ^^
— 254 —
Neumann testamentarisch hüiterlassene Handschriften dem Archiv, danmter
als die wichtigste die Hauptredaktion von Israel Hoppes Geschichte des ersten
schwedisch-polnischen Krieges in Preußen 1626 — 1636, die von ihm 1887
ab 5. Band seiner Publikation der preußischen Geschichtschreiber des 16.
und 17. Jahrhunderts herausgegeben wurde. Am 28. Oktober 1892 rich-
tete er an den Oberbürgermeister folgende Mitteilung: », Nachdem ich die
Angelegenheiten des Archivs in Ihrem Auftrage einige Jahre lang geleitet
habe, zwingt mich zunehmende Körperschwäche, diese Tätigkeit au£cugeben/'
Er erwähnt noch, daß er die Schlüssel zum Archiv bereits abgeliefert habe.
Die provisorische Vertretung übernahm zunächst ein Stadtsekretär, bis man
auf Toeppens Empfehlung vom i. April 1893 ab dem Unterzeichneten die
Verwaltung übertrug. Im Jahre 1894 wurde dem Archiv in dem neuerbauten
Rathause ein Zimmer überwiesen; ein zweites, das ursprünglich auch für
diesen Zweck bestimmt war, ward leider anderweitig vergeben. Daher kommt
es, daß, nachdem in den Jahren 1903 und 1904 eine große Reihe von
Rechnungen aus dem 16. bis 18. Jahrhundert, die bisher auf dem Boden
des Rathauses lagerten '), mit den übrigen Sammlungen vereinigt wurden,
die Raumverhältnisse aufs äußerste beschränkt sind und eine ordnungsmäßige
Unterbrmgung der neu hinzugekommenen Archivalien nicht durchführbar ist.
Für die äußere Sicherheit der Handschriften gegen Feuersgefahr wurde auf
Wunsch der Königlichen Regierung vor einigen Jahren durch eiserne Fenster-
läden, eine mit Eisenblech beschlagene Tür und eine Zementdecke gesorgt.
Trotz aller bisher auf die Ordnung des Archivs aufgewendeten Mühe
bleibt noch viel zu tun übrig. Es gehört schon eine ziemlich genaue Kennt-
nis desselben dazu, um auf plötzlich auftauchende Fragen, sofern sie nicht
ganz allgemein gehalten sind, sofort die gewünschte Auskunft erteilen zu
können. Ein alphabetisches Register über alle in den Urkunden tmd sonstigen
Handschriften erwähnten Personen und Sachen, wie man es in anderen
Sammlungen findet, fehlt, und seine Anfertigung wird wahrscheinlich ein
fronmier Wunsch bleiben, solange die Verwaltung, wie es seit 30 Jahren der
Fall ist, nur im Nebenamt unentgeltlich geführt wird.
Elbing. Prof. Dr. L. Neubaur.
Zur Frage des Provenienzprinzips im Archivwesen und zu dem
Bericht über den sechsten deutschen Archivtag in Wien, oben S. 40 — 43,
schreibt der Verfasser des letzteren, Dr. Max Vancsa, Kustos am Nieder-
Österreichischen I^Andesarcbiv in Wien:
Eine Flüchtigkeit, wie sie bei einer eiligen Berichterstattung, zu der ich
geQötigt war, einigermaßen entschuldbar sein dürfte, hat leider zur Folge ge-
i) Von diesen Rechnungen und anderen Handschriften hatte schon Stadtaekretär
Sabe ein Verzeichnis angefertigt unter dem Titel : Neben-Index des Stadtarchivs^ enthaUend
du^imigen Archivstüdce, welche bisher im Gemeindehause sich befunden haben, jetzt im
2, Stodc des Bathauses aufbewahrt werden, aufgenommen im September wnd Oktober
1858. Diese Schriftstücke waren im Laufe der 2^iten ganz unbeachtet geblieben.
Einen Teil davon hatte Professor R. Dorr seit dem Jahre 1893 ^^ ^^^ Museumsboden-
kammer aufbewahrt, bis sie 1903 mit dem Archiv vereinigt wurden, während ein anderer
Teil schon bald nach der Übersiedelung in das neue Ratbaus und der Rest, wie oben
erwähnt ist^ Ende des Jahres 1904 dorthin kam.
— 255 —
habt, daß eine Stelle in meinem Berichte über den sechsten deutschen Ar-
chivtag in Wien ein Befremden hervorgerufen hat, wie es gar nicht in meiner
Absicht lag. Ich ergreife um so lieber die Gelegenheit, für meine Worte selbst
einzutreten, ab durch ein weiteres Versehen mein Name weggeblieben war
und dadurch der Herausgebei^ dieser Zeitschrift in einen ganz unbegründeten
Verdacht gekommen ist. Es handelt sich um die Stelle, inderich — obenS. 43 —
von dem Vortrage des Archivdirektors S e c h e r in Kopenhagen über die Ord-
nungsprinzipien im dänischen Archivwesen, insbesondere
das Provenienzprinzip sprach. Meine, wie ich eben zugegeben habe,
etwas flüchtig gefaßte Wendung mußte die Annahme erwecken, als bezögen
sich meine nicht völlig zustimmenden Bemerkungen auf das Provenienzprinzip,
während es in Wahrheit lauten sollte: „Diese Prinzipien", nämlich
die Ordnungsprinzipien im dänischen Archivwesen. Nur von diesen wollte
ich sagen, daß „sie ganz spezifische Entwickelungsverhältnisse, wie sie eben
in Dänemark gegeben sind, voraussetzen", und sprach damit nicht etwa ein
rein subjektives Urteil aus, sondern verlieh, wie es mir Pflicht eines Bericht-
erstatters zu sein schien, dem Ausdruck, was viele meiner österreichischen
Archivkollegen über Sechers Ausführungen geäußert hatten. Es konnte mir
jedoch nicht in den Sinn kommen, mit diesen Worten mich gegen das
Provenienzprinzip als solches, das übrigens erst jetzt, da Sechers Vortrag im
Drucke vorliegt '), aus seinen Ausführungen stärker hervortritt, zu wenden;
schon deshalb nicht, weil man bei großen Archiven schon aus rein prak-
tischen Gründen das Provenienzprinzip befolgen muß und auch bei uns in
Österreich befolgt hat. Es entspricht das, wie ich glaube, auch einem an-
deren Grundsatze der Archivverwaltung, nämlich daß man ursprüngliche und
insbesondere lange angewendete Ordnungen nicht ohne zwingende Gründe
lunstoßen soll. Nur so ist es möglich, Bestände sowohl fremder Archive
als auch der Registraturen dem Hauptarchive rasch anzugliedern, denn mit
Recht hebt Secher hervor, daß ein anderes Einordnen eine Unzahl von Ar-
beitskräften oder Jahrzehnte, ja Jahrhimderte zur DurchfÜhmng erfordern
würde. Wogegen ich mich gewendet habe und wir uns in Österreich über-
haupt wenden müßten, ist nur jene Verfolgung des Provenienzprinzipes bis
zu seinen äußersten Konsequenzen, wie sie in Dänemark üblich ist, wo die
Akten jeder Kommission und jedes Kontors als besondere Fonds auf-
gestellt werden. Hier hat man offenbar sehr ein&che Verhältnisse in der
Verwaltung vor sich, die sich seit Jahrhunderten einheitlich ohne viele Unter-
brechungen und Umgestaltungen entwickelt haben, dazu eine frühzeitige Zen-
tralisation des Archivwesens, da ließ und läßt sich ein starres Prinzip leichter
vollständig duichführen. Man denke sich statt dessen die komplizierte
sprunghafte Entwickelung der österreichischen Verwaltung, die Vielheit, Viel-
gestaltigkeit und Wandelbarkeit unserer Behörden, zum Teil hervorgerufen
durch die Angliederung anderer Länder an die deutschen Stammlande ! Wie
oft werden im Laufe der Jahrhunderte neue Behörden geschaffen, die nach
kurzer Dauer wieder eingehen, wie oft werden auf kurze 2^it Agenden der
einen Behörde der anderen zugeteilt. Da empfiehlt sich nach meiner An-
I) Korrespondenzbutt des Gesamtvereins der deutschen Geschieh ts- und Altertums-
vereine 1906, Nr. 11/12 und Protokoll des 6. deutschen Archivtages in Wien (Berlin 1906).
— 256 —
sieht die sachliche Einreihtmg Dach der Haupteinteilung des Archives mehr
ab die Ausscheidung und gesonderte Aufstellung nach dem Provenienzprin-
zipe. Ja ich fUrchte, daß bei allzu strenger Anwendung des Provenienz-
prinzipes unsere heikelste österreichische Archivfrage, die Aufteilung des
alten HofkanmierarchiTS (jetzt Archiv des Rei^hfinanzministeriums) unter die
beiden Reichshälften, die man mit Recht in Österreich mit aller Entschieden-
heit verhindern will, zu unseren Ungunsten entschieden werden könnte. Auch
möchte ich diesem Prinzipe bei Eingliederung der Archivalien kleinerer Unter-
behörden nicht imbedingt das Wort reden. Auch da wird Zusammenziehung
nach gegenständlichen Gesichtspunkten für die »Benutzung praktischer sein.
Bekannt ist femer der aufierordentlich starke Wechsel, dem in Österreich
imd ganz besonders in Niederösterreich die Landgerichtseinteiiung unter-
worfen war; Zersplitterungen und Zusammenlegungen waren an der Tages-
ordnung. Auch da wird der Archivar in vielen Fällen lieber nach sach-
lichen Gründen einigend eingreifen.
Aus dem Gesagten geht aber auch hervor, daß das Provenienzprinzip
erst dort mit Glück einsetzen kann, wo eine Organisation uns entgegentritt,
und dieser Zeitpunkt wird in verschiedenen Ländern tmd auf verschiedenen
Verwaltungsgebieten ganz verschieden sein. Inwieweit das Prinzip auf
ältere, dahinter zurückliegende Archivbestände angewendet werden kann, soll
nicht von vornherein mit unbedingter Sicherheit entschieden werden. Kleinere,
namentlich urkimdliche Archivbestände, Bestände mit allzu bunter Provenienz
sind nach meiner Meinung am besten chronologisch zu ordnen.
An dieser Stelle noch ein Wort über den Punkt, dessenthalben ich be-
reits in diesen Blättern (oben, S. 92) von Herrn Archivdirektor Secher
eine Berichtigung erfahren habe, nämlich hinsichtlich der Scheidung von Ur-
kunden und Akten. Es scheint, daß ich den Vortragenden tatsächlich miß-
verstanden habe, da er nur bezüglich der Papierurkunden meinte, daß sie
von den Akten nicht zu treimen wären. Aber das Mißverständnis lag nahe,
denn auch in dem gedruckten Vortrage ist bei der Zusammenfassung seiner
Aufstellungen zn lesen: „3. Keine prinzipielle Scheidung von Urkunden
und Akten'*. Wir können uns nun einmal nicht recht in Verhältnisse hinein-
denken, wo, wie Secher mitteilte, sowohl der Begriff, als auch das Wort
„Urkunde" gänzlich fehlt.
Eine spezifisch dänische Einrichttmg ist es auch, daß in diesem Staate
die dienstlichen Schreiben nicht an das Amt, sondern persönlich an den
Beamten adressiert werden. Ich weiß nicht, ob dies überhaupt noch irgend-
wo anders als in Dänemark geschah; jedenfalls in Österreich und den mir
bekannten Gegenden Deutschlands nicht. Folglich hat auch für uns die Er-
forschung und Feststellung der alten Beamtenlisten, so sehr auch bei uns in
neuester Zeit die Verwaltungsgeschichte - gepflegt und die Bedeutung der
Schematismen erkannt worden ist *), wem'gstens fUr archivalische Zwecke
nicht jene hervorragende Bedeutung wie in Dänemark.
Schon hat mittlerweile an anderer Stelle ^) sich der Herausgeber dieser
i) Soeben erscheint der I. Band von Fellner-Kretschmayer, Oeschichte der
öiterreichisdien ZeiüralotrwaUwng (Wien 1907). — Vgl. aach Mitis, Hof- und Staats^
handhücher (Mitteiluigen des österreichischen Vereins für Bibliothekswesen X, 1906, 151 f.).
2) Nederlandsch Arehievenblad 1906^1907, Nr. 3.
— 267 —
Zeitschrift über die Durchführung des ProYenienzprinzipes in ähnlichem Sinne
wie ich geändert. Wir stimmen darin überein, daß man sich bei modernen
Verwaltungsarchiven schon aus praktischen Gründen für das Provenienzprin-
zip entscheiden wird, daß aber durchaus nicht ein starres Festhalten des
Prinzipes angezeigt ist ; denn jedes Archiv besitzt nach' meiner Meinung seine
Besonderheiten, sei es nach Entstehung, sei es nach den Zwecken, welchen
es zu dienen hat, und diesen Besonderheiten muß bei der Ordnung seiner
Bestände Rechnung getragen werden.
Museen. — Seit 1905 besitzt auch die Stadt Halberstadt em
städtisches Museum. Schon seit Jahren war man in den interessierten
Kreisen der Bürgerschaft und ihrer städtischen Vertretung von der Notwendig-
keit eines Museums überzeugt. War auch 1869 die höchst wertvolle Augustinsche
Sammlung prähistorischer Gegenstände durch Verkauf an den Grafen von Stolberg-
Wemigerode der Stadt verloren gegangen, so besaß sie doch eine Reihe von
Sammlungen (prähistorische und historische, Bildnisse, Münzen, Architektur-
teile), während sich andere Sammlungen im Besitz von Vereinen und Privat-
personen befanden, die den Grundstock für ein Museum bilden konnten.
Da ermöglichte es der Ankauf der sog. v. Spiegeischen Kurie zum Preise
von 85000 Mark (erbaut 1782, im Besitz der Familie v. Spiegel bis 1877,
seitdem der Familie v. Davier), der Eimichtung eines Museums näher zu
treten. Nach mancherlei Vorberattmgen einzelner Herren mit dem Ober-
bürgermeister und Stadtbaurat wurde auf Anregung des Magistrats von den
Stadtverordneten ein Museums-Ausschuß gewählt, dessen Mitglieder dem
Magistrat, dem Stadtverordneten-Kollegium und der Bürgerschaft entnommen
waren; ihm lag es ob, alle den Zweck imd die Einrichtung des Museums
und die Verteilung und Unterbringung der Sammlungen betreffenden Fragen
za beraten. Als Zweck des Museums wurde einmütig bezeichnet, eine
Volksbildungsstätte zu schaffen, um dadurch die Liebe zur Heimat
und das Interesse an der heimatlichen Scholle zu heben und zu
fördern ^). Einzelne Mitglieder dieses Ausschusses übernahmen die Aufsicht
über die einzelnen Abteilungen der Sammlungen.
Zur baulichen Einrichtung, zur Beschaffung von Mobilien und Aus-
stattungsgegenständen, sowie für die Einrichtung eines Architekturmuseums
im Kreuzgang des Liebfrauenstifts bewilligten die städtischen Behörden die
Summe von 6875 Mark. Die im Frühjahr 1905 begonnenen Arbeiten waren
bis Mitte Juni so weit vollendet, daß ein Aufruf an die Bürgerschaft mit der
Bitte um Überiassung von geeigneten Gegenständen (Altertümern, Urkunden,
Briefen, Innungssachen und Hausgerät) eriassen werden konnte. Der Erfolg
war überraschend. Vereine und Privatpersonen schenkten oder überließen
leihweise ihre Sammlungen dem Museum oder unterstützten die Bestrebungen
des Ausschusses durch Geldgaben. Bis zum Schluß des Jahres 1906 waren
es 172 Geber, von denen einzelne jedoch mehrere Gegenstände dem Museum
zum Geschenk machten, während 45 Vereine imd Einzelpersonen ihre Sanun-
lungen oder einzelne Sachen zur Aufstellung übergaben. Die Namen der
i) Vgl. den Bericht über die verwandten Verhältnisse in Magdeburg, oben S. 5$ — 58.
— 268 —
Geber werden in vierteljährlichen Zeiträumen in der lokalen Presse bekannt
gegeben.
Zur Unterhaltung und Ergänzung der Sammlungen, zur Anschaffung von
Schränken und Kästen, zmn Ankauf von besonders wertvollen Gegenständen
bewilligten die städtischen Behörden jährlich 4000 Mark.
Im Laufe des Jahres 1905 waren die Einrichtung und Ordntmg der
bereits vorhandenen und dem Musetun überwiesenen Sammlungen so weit ge-
diehen, daß die Eröfeung dieser jüngsten Schöpfung der städtischen Ver-
walttmg am 18. November 1905 stattfinden konnte. Die Festfeier in dem
unteren Vorraum der Kurie eröffnete die Begrüßungsrede des ersten Bürger-
meisters Dr. Gerhardt, der eine kurze Übersicht über die Entäehung
des Museums und über die ihm gemachten wertvollen Zuwendungen gab
und den sämtlichen Geschenkgebem ebenso wie den Herren, die sich um
die Stiftung und Aufistellung der Sachen und Sammlungen bemüht und eme
Fülle von Arbeit geleistet hätten, den wärmsten Dank der städtischen Be-
hörden aussprach. Er schloß seine Rede mit Wünschen und Hoffiiungen
für die Zukunft der neuen Einrichttmg. Hierauf wurde eine Besichtigung
der Sanmilungen vorgenommen, und bei dem unvermeidlichen Festessen
würdigten Vertreter der Stadt und der Bürgerschaft die Bedeutung des Museums
in beredten Worten.
Nach dieser feierlichen Eröfeung wurde das Museum dem großen
Publikum ztir Besichtigung freigegeben und zwar an Sonn- und Festtagen
unentgeltlich, an Wochentagen gegen Eintrittsgeld von 30 Pf. Vier Wärter
haben die Aufsicht während der festgesetzten Besuchsstunden,' während in
der Woche eine Kastellanin die Fühnmg übernimmt. Der Besuch seit Er-
öffnung bis Ende 1906 wird auf 13 — 14000 Personen geschätzt. Leiter
imd Vertreter anderer Museen der Provinz sowie der Nachbarländer haben
bei ihrem Besuch mit ihrem sachverständigen Urteil gern gedient. Auch
ganze Vereine von auswärts haben dem Museum ihre Aufinerksamkeit geschenkt.
Das Museum untersteht der unmittelbaren Aufeicht des Magistrats; der
Stadtbaurat hat das Dezernat und ist Vorsitzender des Museums-
Ausschusses, der nur beratende Stinmie hat, aber vor Entscheidungen
um sein Gutachten befragt wird. Von den Ausschußmitgliedern hat je eins
die besondere Aufsicht über die prähistorische, die Gesteins- und paläo-
botanische sowie über die Mineralien- und botanische Sanmilung.
Außer kleinen Tafeln neben den Gegenständen ist ein Fuhrer bearbeitet
worden, der, zunächst noch unfertig, bald eine zweite Auflage erlebte, wobei
man ihn in zwei Teile teilte : einmal in den eigentlichen Führer, der nur die
nach Zimmern gordneten Sammlungen und Gegenstände aufzählt (19 Seiten)
und dann in ein zweites Heft: Erläuternde Ausführungen eu den ein-
zelnen Abteilungen des Mtiseums-Führers (34 Seiten).
Das Museum besteht aus fünf Abteilungen.
I. Die prähistorische Sammlung umfaßt die überaus reiche und
schöne Sammlung prähistorischer Gegenstände des Rittergutsbesitzers Franke
in Rohrsheim (früher in Schlanstedt) , aus denen besonders eine Schwane-
becker Hausume und die Bronzesachen hervorzuheben sind; eine andere
seltene Hausume hat Gutsbesitzer G. Roloff in Schwanebeck gefunden; weiter
die Sanunlung der hiesigen Domgemeinde, enthaltend Waffen und Steinzeit-
— 259 —
liehe Geräte und die von Professor Rütot in Brüssel überlassenen Eolithen
nebst den in hiesiger Gegend gefundenen Eolithen und femer Urnen (Ab-
güsse), Beigabegefäße, Feuersteinartefakte, Steinbeile, Bronzeäxte, Nadeln und
Fibeln. — Zwei hervorragende Privatsammlungen (von Amtsrichter 2^chiesche
in Cölleda und Rittergutsbesitzer Rimpau in Anderbeck) warten noch der
Aufstellung. Ein unter der Leitung von Zahnarzt Torger ausgegrabenes voll-
ständisches Hockerskelett ist in seiner natürlichen Lage mit natürlichem
Einbettungsmaterial wieder aufgestellt. Endlich finden sich hier die Vorgänger
unserer Haustiere, weiter Knochen des Höhlenbären, Mammut, Hirsch usw.
und eine prähistorische Schädelsammlung, die Entwickelung des Menschen-
geschlechts darstellend.
Im Anschluß hieran ist die höchst bemerkenswerte Schwammsammlung,
Eigentum von Zahnarzt Torger, aufgestellt (Näheres darüber siehe in den
Erläuiemden Ausführungen S. 10 — 15); daneben sind die Cephalopoden
an einer großen Tafel angebracht. (Vgl. ebenda S. 15 — 18.)
2. Die ortsgeschichtliche Sammlung besteht zum größten Teil
aus den Gegenständen, welche die Stadt schon lange Zeit besaß oder inner-
halb der letzten Jahrzehnte käuflich erworben hat. Hierzu kamen noch
verschiedene Gegenstände, die von Vereinen, Gesellschaften und einzelnen
Personen geschenk- oder leihweise überlassen wurden. Diese Sammlung
enthält Architekturteile von Halberstädter Fachwerkbauten (Konsolen, ge-
schnitzte Wappen und Figuren, Portale) und Epitaphien, Innungssachen und
Zunftabzeichen (Gildetafeln, Truhen, Laden, Zinnkrüge und Zinnbecher), Richt-
schwerter und Gewehre, Armbrüste und Büchsen, Lanzen und Spieße, Schlösser
und Schlüssel, Laternen und Leuchter. Besonders bemerkenswert ist die
sog. „Hilariuslaterne" von 1568, mit der — wie bereits seit 1425 —
am 13. Januar, dem Hilariustage, die neugewählten Ratsherren aus ihren
Wohnungen zum Rathause abgeholt wurden, um dort vereidigt zu werden.
Femer Innungs- und Gewerkfahnen, die älteste Stadtfahne (aus dem
XVI. Jahrhundert), Urkunden aus dem Stadtarchiv, Kupfer- und Blei-
tafeln aus Kirchturmknöpfen, Normalgewicht der Stadt von 1541, ältere
Druckwerke usw.
Ein der Kleinkunst, der religiösen Kunst sowie dem Textilgewerbe ge-
widmetes Zimmer bietet dem Beschauer dar: Gemälde der Stadt und ein-
zelner mit ihrer Geschichte verbundener Personen, die frühere Kanzel der
Moritzkirche mit reicher farbiger eingelegter Arbeit, eine Pieta aus Holz
(XIV. Jahrhundert), Wandschränkchen mit Kupferplatte (1556), kirchliche
Geräte, Pokale, Königsschmuck des Schützenvereins, sowie dessen silberne
Pokale und das in seinem Besitz befindliche Marienbild (13 16). Auch
Trachten und Hauben aus der Umgegend, Tücher und Servietten, Spitzen
und Schmucksachen, Hochzeits- und Geburtstagsbänder sind vorhanden.
Ein besonderes Zimmer enthält Kupferstiche und Handschriften be-
rühmter Männer, Orden und Ehrenzeichen, und besonders die sog. Augustinsche
Sammlung von Abbildungen, welche die Stadt und einzelne Teile und Ge-
bäude, aber auch berühmte Männer darstellen, Siegel- und Münzstempel
der Stadt und endlich die Münzensammlung, von Oberdomprediger Augustin
und Gymnasialdirektor Wiggert (Magdeburg) herrührend, die zahlreiche
— 260 —
seltene Stücke (Brakteaten, Denare, Taler und Groschen) enthält und rund
300 Stücke zählt. Eine Neuordnung* ist in Aussicht genommen.
3. Ausstellung von Kunstgegenständen.
In den beiden dem Kunstverein zur Verfügung gestellten Räumen war
bei der Eröfifnung eine Gemäldeausstellung veranstaltet, zu der einzelne
Bürger und Gesellschaftskreise Gemälde berühmter Meister geliehen hatten.
Demselben Zwecke haben diese Räume zum öfteren im Jahre 1906 gedient,
indem auswärtige tmd einheimische Künstler (von letzteren nennen wir FrL
Schambach, Frl. Gerhardt, Frl. Schaberg, Frl. Bahr) die Erzeugnisse ihrer
Kun3t ausstellten. Wiederholt sind Bilder der hiesigen Malerinnen (Aquarelle,
Zeichnungen, Radierung) für das Museum angekauft worden, unter denen
wir vier Aquarelle des Kunstmalers Woltze (eines geborenen Halberstädters)
noch besonders hervorheben möchten.
Durch Schenkung der Firma Köfiler und Schrader sind dem Museum
die Nachbildung des Alexanderzuges von Thorwaldsen sowie verschiedene
Plastiken aus der Renaissancezeit überwiesen und im Treppenaufgang angebracht
worden.
4. Die naturwissenschaftlichen Sammlungen sind Eigentum
des hiesigen naturwissenschaftlichen Vereins, der es sich zur Aufgabe gestellt
hat, den Nordharz und die nördlich dem Harze vorgelagerte sog. subher-
zynische Kreidemulde zu erforschen und das in ihr vorhandene Material
möglichst vollständig zu sammeln.
Die Gesteinssammlung enthält die Gesteine der dem Harze vor-
gelagerten Halberstädter Mulde und die Gesteine des Harzes selbst und um-
faßt die paläozoische und mesozoische Formationsgruppe; neuerdings ist die
känozoische Gruppe hinzugekommen (Findlinge und Gesteinsarten aus dem
Norden).
Die Mineraliensammlung, die sich noch im An£angsstadium be-
findet und kaum 300 Nummern mnfaßt, hat ihren wertvollsten Bestandteil
in einer vollständigen Zusammenstellung der im Abraum von Wilhelmshall
vorkommenden Mineralien und Salze; femer enthält sie recht gute Kristalle
und Funde und eine grofie Anzahl von Halbedelsteinen und Edelsteinen teils
geschliffen , teils in. natürlichem Vorkommen , Funde von Gold und Platin,
sowie die größten geschliffenen Diamanten imd die wichtigsten Edelsteine in
guten Nachbildungen und Mansfelder Kupferschiefer in allen Stadien des
Verhüttungsprozesses vom Erz bis zum MetalL Die ganze Sammlung stammt
von Mitgliedern des naturwissenschaftlichen Vereins.
Die Petrefaktensammlung beginnt mit den Vertretern der jüngsten
Kreideschicht und führt bis zu den ältesten Silurschichten. An den Wänden
sind große Tafeln mit Abbildungen rekonstruierter vorweltlicher Tiere angebracht.
Das wertvollste Stück aus dem Jura-Lias ist der in einer Tongrube
dicht bei Halberstadt aufgefundene Plesiosaurus Dolichodeirus Conybeare,
der von der in England häufigen Stammform verschiedentlich abweicht. Sein
Hauptwert liegt da^n, daß er nicht im Stein eingebettet und zusammen-
gedrückt aufgefunden wurde, sondern frei im Ton lag, so daß er heraus-
präpariert und restauriert werden konnte. In dieser Beziehung wohl bisher
das einzige Exemplar.
— 261 —
Die botanische Sammlung umfafit das Phanerogamen- Herbarium
(Umgegend, Harz, Alpen), Moose und Flechten, Pilzmodelle und Fruchtzapfen
in- und ausländischer Koniferen (letztere: Eigentum von Ho£apothekenbesitzer
Maak), auf 30 Tafeb deutsche Nutzhölzer in ihrer Gesamtentwickelung und
die wichtigsten fleischfressenden Pflanzen.
Die paläobotanische Sammlung besteht aus Resten der unter-
gegangenen Arten und Familien von Pflanzen früherer Erdperioden (Bothoden-
drazeen, Calamanen, Lepidodendreen, Farne, Sigelbäume, Nadelhölzer, Cyka-
deen, Crednerien, Taxus); auch sind lebende Vertreter im Aussterben be-
griflener Familien oder nahe Verwandte bereits ausgestorbener mit vorgeführt.
Endlich ist eine reichhaltige Sammlung von Inoceramen (d. h. zu den
Weichtieren gehörige zweischalige Muscheln, die in der Jura- und Kreide-
zeit unsere Meere bevölkerten) vorhanden; sie gehört dem Apotheken-
besitzer Maak.
Die zoologische Sammlung umfaßt die Käfersammlungen (von
Dr. Bäumler und Zigarrenfabrikant C. Kirchner geschenkt), femer Trocken-
präparate verschiedener Insekten, Beispiele von Mimikry, heimische Schnecken
und Muscheln, Spirituspräparate von verschiedenen Gliedertieren, ausgestopfte
Tiere und eine Eiersanmilung heimischer Vögel (letztere geschenkt von Zimmer-
meister Richard Schmidt) ; mit einer Zusammenstellung aller heimischen Säuge-
tierarten wurde ein Anfang gemacht.
5. Das Architekturmuseum im Liebfrauenstift, das zunächst
auch nur einen wohlgelungenen Anfang darstellt, enthält alle diejenigen
Architekturteile von hiesigen Fachwerkbauten, die in der Spiegeischen
Kurie nicht zur Aufstellung gelangen konnten: Konsolen und Figuren, ge-
schnitzte Balken mit Inschriften, Türsturze tmd Türen, in Holz geschnitzte
und bemalte Wappen besonders von dem 1903 abgebrannten Schuhhof^
Grab- und Gedenksteine, einen Taufstein von 16 10, steinerne Urnen u. a.
Es ist in der Tat mehr als ein verheißungsvoller Anfang, der mit der
Einrichtung eines städtischen Museums gemacht ist. Es steht zu hofien, daß
die städtischen Behörden im Verein mit der opferfreudigen Bürgerschaft an
dem Weiterausbau dieser jungen Einrichtung arbeiten, damit das Musetun
den bei seiner Gründung beabsichtigten Zweck erfüllen kann, „das Interesse
an der heimischen Kunst zu wecken und die Liebe zur Heimat
XU fördern". Pastor Arndt.
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feldischen Amtes Rammelburg und der zu ihm gehörigen Flecken,
Dörfer und Güter Wippra, Abberode, Biesenrode, Braunschwende, Forst
Braunschwende, Friesdorf, Haida, Hermerode, Hilkenschwende, Könige-
rode, Popperode, Rammelburg, Ritzgerode, Steinbrücken. Halle, Otto
Hendel 1906. 408 S. 8^. M. 4,00.
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henen auf dem Breslauer Sande [= Kritische Studien zur schlesischen
Geschichte, herausgegeben vom Oberschlesischen Geschichtsverein,
I. Heft]. Groß-Strelitz, A. Wilpert 1906. 120 S. 8^ M. 2,00.
Straßburger, E.: Geschichte der Stadt Aschersleben. Aschersleben, Karl
Kinzenbach 1906. 533 S. 8^ geb. M. 6,50.
Herausgeber Dr. Armin Tille in Leipziff.
Verlag und Druck Ton Friedrich Andreas Perthes, Aktiengesellschaft, Gotha.
\
\
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
lur
Förderung der landesgeschichtlichen Forschung
VIII. Band Juli 1907 lO. Heft
Das Iiehrbueh der Universalgesehiehte im
XVIII. Jahrhundert')
Von
Felix Günther (Leipzig)
Die Geschichte gehört zu den Gaben, die der Humanismus dem
deutschen Bildungsleben bescherte. Melanchthon führte sie zu
Wittenberg in den Kreis der freien Künste ein und war selbst ihr
erster Dozent *). Der praeeepicr Germaniae bahnte ihr auch den Weg
in die Lateinschule seiner Zeit. In den Schulordnungen tritt von da
ab nicht selten Historie als Lehrgegenstand auf. Dabei handelt es
:8ich bis tief ins XVIII. Jahrhundert hinein stets um Universalgeschichte,
niemals um die Greschichte eines einzelnen Landes oder Volkes. Doch
wäre es verkehrt, hierbei an einen Geschichtsunterricht im heutigen
Sinne zu denken. Die Historie war an den Mittelschulen keinesfalls
Selbstzweck, sondern galt allgemein dem Latein als Mittel zum Zweck.
Schulmänner wie Trotzendorf und Sturm führten sie daher gar
aiicht als Lehrgegenstand auf. Erst zu Anfang des XVIII. Jahrhun-
derts wurde die Greschichte ein selbständiges unabhängiges Unterrichts-
fach. Freilich vollzog sich damals der Bund mit der höheren Knaben-
schule aus ganz anderen Motiven wie einstmals der mit der Hoch-
schule. Dieser entstand aus der uninteressierten Hingabe an alles,
^as antik schien und womit die Alten sich beschäftigt hatten. Jener
liat gerade in der entgegengesetzten Stimmung, im Utilitarismus
i) In dem Sinne, wie es in dieser Zeitschrift — oben S. 59 bis 8a — gefordert
•wurde, soll hier fUr das Gebiet des Greschichtsanterrichts die Besiehnng swischen dem
Lehrbetrieb und der allgemeinen Geisteskoltor hergestellt werden. Der Wert der Schol-
bttcher als geschichtlicher Quelle wird dabei in das rechte Licht treten, und dem Schul-
historiker bieten vielleicht diese Darlegungen den Anlaß, die Angaben der Lehrpläne und
Schulakten über den Geschichtsunterricht noch genauer zu verfolgen. Die Red,
2) Hartfelder, I^üippi Mekmchthoma DedamationeB (Berlin 1891), S. XDC.
19
— 264 —
des XVIIL Jahrhunderts, seinen Ursprung, m jener Geistesrichtung, die
den unmittelbaren praktischen Nutzen fürs Leben zum Leitstern auch
der Jugenderziehung machte, ihm zuliebe realistische Lehranstalten
gründete und die Historie als nützliche Lehrerin für allerlei Lagen des
Lebens im Unterrichte nicht entbehren zu können glaubte ^).
Gleichwohl müssen wir in unserer Erörterung über das historische
Schulbuch im XVIII. Jahrhundert bis zur Reformation zurückgehen.
Denn sah der Geschichtslehrer des XVL, XVII. und selbst noch des"
beginnenden XVIII. Jahrhunderts seine Aufgabe auch nur darin, die
Knaben mit den epochis bekannt zu machen, in denen die Ereignisse
sich zugetragen, während die Universität erst die Bekanntschaft mit
eben diesen Begebenheiten bringen sollte, oder darin, denen Tyronir
bus einen Vorschmack zu geben, so ^ begierig und geschickt machen
wird, sich in das grosse und weite Meer der Historie einzulassen *), so
gab es doch schon eine Menge Lehi-bücher, die die ganze Welthistorie
umfaßten und zum Teil auch noch in den Schulen des XVIII. Jahr-
hunderts Verwendung fanden. Wir rechnen nicht hierzu jene köst-
liche Teutscher Nation Chronic — , Die leutschen den Teutschen sw
Teutsch sich darinnen ssuerspiegeln, fi^rgesteUt durch S^astian Franck '),
der durch Umfang und Format (Großfolio) und den dadurch bedingten
Preis der Zugang zur Schule verschlossen geblieben sein dürfte, wohl
aber die nur ein Jahr später erschienene Chronica durch Magister Jo^
han Carion / vleissig jsusamen gezogen / meniglich nützlich zu lesen. Sie
ist nach unserem Dafürhalten das beste Handbuch der Geschichte, das
bis zum Schluß des XVII. Jahrhunderts existiert hat. Es erschien
— um bei seinen äußeren Vorzügen zu beginnen — in einem hand-
lichen Oktavformat, war von ausgezeichnetem Druck und Papier, be-
diente sich der deutschen Sprache und brachte ohne nennenswerte
Lücken den ganzen Stoff der Universalhistorie bis zum Jahre 1519
auf 340 Seiten unter. Alle diese mehr äußeren Momente mögen das
Werk immerhin nicht so empfohlen haben wie der Umstand^ daft
Melanchthon an seiner Abfassung mitbeteilig^t gewesen war und
zeitlebens es seinen historischen Vorlesungen zugrunde legte *). Diese
i) AasfÜhrliches hierüber wird eine Arbeit des Verfassers im Angusthefte der Neuen
Jahrbücher für das klassiaehe Altertum, Geschichte, deutsche Literatur und Päda-
gogik, herausgegeben von Ilberg and Gerth, bringen.
a) Weihenmajer, Vorbericht zur i. Anflage der Kurtzen Einleitung gu der
Historie (1707), S. m.
3) Frankfurt a. M., Egenolf, 1531.
4) Vgl. Ziegler, Chronieon Carumis (HaUe 1898).
— 266 —
Tatsache spricht hinreichend auch für seinen relativen wissenschaft-
lichen Wert, den übrigens erst der völlig ermessen kann, der es mit
den Chroniken von Franck, Nauclerus und Schedel vergleicht,
Werken, die nur wenige Jahre früher dem Buchhandel übeigeben wor-
den waren.
Charakteristisch iiir den Schulbetrieb jener 2^it ist freilich, daß
Carions Buch nicht in seiner ursprünglichen Form die Schule er-
oberte, sondern in lateinischer Übersetzung, deren erste von Hermann
Bonnus (1539), die zweite aber unter wesentlichen Verbesserungen
und Zusätzen von Melanchthon selbst besorgt wurde (1558). In
der Gestalt, die es von letzterem und nach dessen Tode (1560) von
Kaspar P e u c e r erhielt — als Oktavband in geschmackvollem Schweins-
ledereinband von etwas über 1000 Seiten — hat es das XVI. und
XVII. Jahrhundert überdauert. War es auch in erster Linie für Stu-
denten berechnet, so fand es doch in Folioformat und Prachteinband
(Ausgabe von 1572) auch Zugang zu den Büchereien des gebildeten
Bürgerstandes und teilt den Ruf, das am meisten gebrauchte histo-
rische Schulbuch gewesen zu sein, nur mit einem Werke, der Uni-
versalgeschichte des Johann Sleidanus.
Diese war der Melanchthoaausgabe Carions unter dem Titel De
quaiuor summis imperiis, libri ires in graUam juventutis canfedi etc. /
um zwei Jahre vorangegangen, wurde, mit einem Autorenverzeichnis
versehen, fortgesetzt bis 161 5 von Maibomius, sodann bis 1668
von Strauchius und schließlich — soweit unsere Kenntnis reicht —
bis 1676 von Schurz fleisch. Es stellte sich dar als Büchlein in
Kleinoktav von 489 Seiten, war von vornherein ausdrückUch zum Leit-
faden iiir die Jugend bestimmt >) und hatte den beispiellosen Erfolg,
einige siebzigmal aufgelegt zu werden.
Neben Carion und Sleidan hatten alle übrigen Geschichtsbücher
in der Lateinschule des XVI. und XVII. Jahrhunderts einen schweren
Stand. Wir hatten in Händen des Dionysius Goihofredns Hisioria
universalis, die zuerst 1540 erschien, in der Ausgabe von 1668, be-
sorgt von He senthaler; desjoh. Clnv er US Histariarum Mius mundi
cpUome, 1633, sowie Bunos in Schulplänen mehrüach erwähnte Idea
Hisiaricke *). Von diesen nahmen Quverus und Gothofredus auf die Be-
dürfhisse der Schule keinerlei Rücksicht. Dagegen ließBuno — be-
kanntlich Speners Schwiegersohn und selbst ein namhafter Schul-
i) Vgl. die Anrede «1 Herzog Eberhard von Württemberg in der i. Aaflage (1556).
a) Vgl. t. B. Scholordnong der Fmnckeschen Anstalten (1702), Ordnung des Gym-
nasinmt ra Weimar (17 12).
19»
— 266 —
mann — deutlich den Einfluß des Comenius erkennen, indem er sein
Büchlein mit Bildern ausstattete, so daß es wiederum den späteren
Ausgaben des Gothofredus zum Muster gedient haben mag. Deim
auch diesem sind in Auflagen, die im XVIII. Jahrhundert noch ver-
wendet wurden, Bilder von Merian beigegeben, während z. B. in der
Ausgabe vom Jahre 1668 Comenius wohl einmal erwähnt, auf seine
pädagogischen Forderungen aber in keiner Weise Bezug genommen
wurde *).
Die Zahl sonstiger Handbücher der Geschichte, die für die Schule
in Betracht kommen könnten, scheint nicht eben groß zu sein. Wir
fanden verzeichnet, ohne daß wir die Bücher selbst hätten erreichen
können, folgende Titel: Cuspianus, De Cciesaribus (i54X>), I%ea-
trum historicum — in quo qucUtuyr Mona/rchiae nMgnae onmesque reges
et Imperatorea decribunlur (1668), und Bö der, Historia umversdlis
(168 1).
Geradezu verblüffend wirkt daher die Menge derartiger Bücher,
die uns zu Anfang des XVIII. Jahrhunderts entgegentreten. Wir kön-
nen uns diese Erscheinung nur damit erklären, daß mit dem Eintritt
eines ueuen, des höfisch -weltmännischen Btldungsideales , sowie mit
dem Einsetzen eines neuen Geisteslebens vornehmlich in den bürger-
lichen Kreisen mit seiner überwiegend materialistischen Tendenz auch
der Unterricht in der Geschichte eine ganz andere Wertung er£aihren
hat. Zwar dominiert im Unterrichtsplane der Schule jener Zeit noch
immer das Latein. Dies spricht sich auch darin aus, daß einige der
bis 1720 neuerschienenen Geschichtsbücher noch in lateinischer Sprache
abgefaßt waren. Wir verzeichnen an dieser Stelle: Rud. Roth, J5K-
storia universalis pragmaUca (Ulm 1706), Christ. Cellarius, Hisi(h
ria universalis Qena 1709), Gottlob Krantz, Compendium hishriae
4nviUs (Breslau 1709). Zu Beginn der zwanziger Jahre scheint indessen
die unbeschränkte Macht des Latein in den deutschen Mittelschtden ge-
brochen gewesen zu sein. Und wenn auch noch Neuauflagen der bisher
aufgeführten Geschichtsbücher in den Handel kamen, so waren doch
nur noch zwei völlig neue Lehrbücher ausfindig zu machen, die sich
der lateinischen Sprache bedienten: ein zweisprachiges Geschichts-
buch unter dem Titel: Historischer Anfang oder kurze und leichte
Weise, die katholische Jugend in der Historie zu unterrichten (Inns-
bruck 1755) von einem ungenannten Jesuitenpater, das den lateini-
schen Text auf der linken, die deutsche Übersetzung auf der rechten
i) Vgl Vorrede mm n. Teil.
— 267 —
Seite brachte, und eine HistoricLe antiquae chrestomathia philanthropica
(Dessau 1776) von Basedow. Da dessen Philanthropin alles andere
war und selbst sein wollte als eine Pflegstätte der alten Sprachen ^),
macht dieses Buch einen etwas sonderbaren Eindruck. Immerhin ver-
übelten die Zeitgenossen dem Verfasser den Gebrauch der lateinischen
Sprache nicht so sehr wie die schweren sachlichen Fehler, die das
Buch in Menge zeigte.
Den Reigen der deutsch geschriebenen historischen Lehrbücher
eröffneten um die Wende des XVII. Jahrhunderts Johann Hübners
(Rektors zu Merseburg und später zu Hamburg) Kurze Fragen aiAS der
pciUisdien Historie ^ den Lehrender^ und Lernenden eur Erleichterung
aufgesetget (Leipzig 1697). Es war, wie der Titel sagt, sowohl für
Lehrer wie für Schüler bestimmt; doch konnte letzterer Umstand nicht
hindern, daß das Werk allmählich auf 10 stattliche Bände von je rund
1000 Seiten anwuchs, deren letzter unter dem besonderen Titel Kurze
Einleitung zur politischen Historia, den Anfängern zum besten aus allen
neun Teilen zusammengezogen (1722), einen Überblick über den Wissens-
stoff der anderen Bände bot. Trotz dieses riesigen Umfanges erlebte
die Arbeit zahlreiche Auflagen. Durch Supplementbände vermehrt,
die den neuesten politischen Ereignissen Rechnung trugen, war sie
noch bis tief in die zweite Hälfle des XVIII. Jahrhunderts in Gebrauch *).
Joh. Anton Niemeyer *) berichtet allerdings, daß auf vielen Schulen
nur der erste TeU verwendet worden sei. Der Geschichtschreiber
Heeren hat diesem Werke einen ehrenden Denkstein gesetzt in seiner
Schrift Andenken an Deutsche Historiker aus den letzten fünfzig Jahren *).
Er weist darauf hin, daß es durch den Gebrauch der deutschen Sprache
ein Volksbuch im besten Sinne geworden sei und mehr als alle Ar-
beiten Pufendorfs und Leibnizens dazu beigetragen habe, das Interesse
der bürgerlichen Kreise Deutschlands für die Geschichte wachzurufen.
In einem komischen Gegensatze zu diesem Werke steht eine Neu-
erscheinung des Jahres 1705, Berckenmeyers Poetische Anleitung
zur UniversdlrHistorie, samt deren Erletäerung, wodurch der Jugend in
weniger Zeit diese Wissenschaß gar leicht kan hey gebracht werden
i) Vgl. Niemeyer, Ansichten der deutscTien Pädagogik und ihrer Geschichte
im XVnL Jahrhundert, S. 33, 34, 53.
2) Vgl. Wach 1er, Geschichte der historischen Forschung und Kunst. II. Bd^
I. Abtlg. S. 261 ff.
3) Vorrede zur 8. Auflage von Frey er s Näherer Einleitung zur universal
Historie (i775)> S. V.
4) Historische Werke, IV. Teil. (Göttingen 1823.) S. 444-
— 268 —
(2. Aufl. 17 14). Der Verfasser behandelt hier in Knüttelversen auf
16 Seiten in Kleinoktav die ganze Weltgeschichte. Zur Erläuterung
in Fragen und Antworten braucht er nur weitere 128 Seiten. Wesent-
lich ernster genommen zu werden verdient hingegen eine Arbeit des
Stuttgarter Gymnasialrektors Johann Georg Essich unter dem Titel:
Kurze Einleitung eu der allgemeinen weÜlichen Historie (1707) ^). Das
Buch umfaßte annähernd 600 Seiten und mußte 1750 zum sechsten
Male au%eleg^ werden. Auf diesem verhältnismäßig kleinen Räume
behandelte Essich die gesamte Universalgeschichte, sodann in einer
Spesialhistorie die Geschichte der einzelnen deutschen Territorien und
der Länder Europas, und schließlich noch die Geographie der ganzen
damals bekannten Welt; wie denn auch Berckenmeyer bereits seiner
Universalgeschichte in demselben Bändchen eine Qtographia ange-
schlossen hatte. Weniger Glück hatte der Direktor des Gymnasiums
zu Koburg, Gottfried Ludwig, mit seiner UniversaJhisiarie in Freien
und Äntwarien (1716). Sie wurde zwar auch mehrere Male aufjgelegt;
doch wird ihrer nirgends, auch nicht bei Wachler') gedacht. Der
Mangel eines Gesichtspunktes für die Stofiauswahl macht sich in dieser
Arbeit besonders deutlich geltend. Braucht doch Ludwig iur den Zeit-
raum 1713— 1720 einen weit stärkeren Band als iiir die ganze voraus-
gehende Weltgeschichte ! Man fragt sich unwillkürlich, wie eine Ver-
wendung solcher sinnloser Stoffsammlungen in der Schule möglich
war. Die wirklichen Bedürfnisse der Schule scheinen dagegen für
Hilmar Curas, Professor am Joachimsthalschen Gymnasium zu Berlin,
in dessen Einteilung zur Universalhislarie (1723) bestimmend gewesen
zu sein. Nach der Sitte der 2^it behandelte Curas die Weltgeschichte
in Frage und Antwort; aber er erledigte sie auf nicht mehr als 234
Seiten und fügte eine Geschichte von Brandenburg-Preußen auf rund
50 Seiten hinzu. Das Buch hatte gewiß seine großen Mängel —
Meusel ') setzt es in einer Zusammenstellung bekannterer Lehrbücher
als den „elenden Curas" an letzte Stelle — nachdem aber Nicolai,
sein Verleger, 1773 in Joh. Math. Schroeckh einen neuen Bear-
beiter gefunden hatte, scheint sich das Buch wieder Anhänger erwor-
ben zu haben, so daß sich noch 18 16 eine Neubearbeitung durch
K. H. L. Pölitz verlohnte.
Für den Geschichtsunterricht in den Franckeschen Anstalten zu
i) Herausgegeben ron Weihenmejer.
3) OesehxMe der Mstoriachen Forschung %$nd Kunst (GöiXingtn 1812— 1816, 2 Bde.).
3) Meusel, Fortgesetzte Betrachtungen etc. (i773) IV. Teü. In der Ncttbcmr-
beitang von Schroeckh ist indessen das alte Werkchen kaum wiederzaerkennen.
— 269 —
Halle, die bei ihrer Neueinrichtung Cell arius undBuno^) verwendet
hatten, verfaßte der Inspektor des Pädagogiums Hieronymus Fr eye r
zwei Lehrbücher, die Erste Vorbereitung mr Universalhistorie (1724)
für Anfanger und die Nähere Einleitung Bur Universalhistorie (1728),
für die im studio historico fortgehende Jugend, Ersteres wurde im
Waisenhause , letzteres im Pädagogium verwendet '). Da die Zahl
derer, die in den ersten 50 Jahren des Bestehens der Franckeschen
Anstalten als Lehrer in denselben tätig waren und deren Geist in alle
Teile Deutschlands trugen, nach Biedermanns Zusammenstellungen ')
in die Tausende geht, ist es verständlich, daß Freyers Geschieh ts«
bücher im XVIII. Jahrhundert die weiteste Verbreitung und die größte
Zahl der Auflagen erlebten. Nach Freyers Tode besorgte die Neu-
bearbeitung und Fortsetzung der Einleitung bis zur 10. Auflage (1763)
aein Amtsgenosse Joh. Anton Niemeyer. Die 11. Auflage (1771) hat
zwei ungenannte Bearbeiter gefunden.
Von sonstigen Lehrbüchern der Geschichte, die noch vor der
wissenschaftlichen Fundierung dieser Disziplin durch Gatterer und Schlöjser
im Buchhandel erschienen und von denen mir P. Christ. Höpfners
Borna antiqua, dessen Borna media, Graecia antiqua und Germania
antiqua (1709- 1713), Gauhens Historisches Helden- und Heidinnen-
Lexikon (1716), Georg Heinsins'* Kurze Fragen aus der Kirchen»
historie (2. Auflage 1728), Ernst Wegeners Einleitung m den WeU-
und Staatsgeschichten (1743) und Joh. Heinrich Z o p fs Erläuterte Grund-
legung der Universalhistorie (1729) vorgelegen haben, hat nur das
letztgenannte weitere Verbreitung gefunden. Von Zopf, dem Rektor
des Gymnasiums zu Essen, ursprünglich als Unterlage seines eigenen
Geschichtsunterrichtps benutzt, wuchs es allmählich von elf auf rund
vierzig Bogen an und mußte 1761 zum zehnten Male aufgelegt werden.
Interessanter noch erschienen uns aber die beiden zuerst genannten
Werke. Gauhen behandelt in seiner Biographie, die allerdings nicht
ausdrücklich für die Schule bestimmt war, die Helden in alphabeti-
scher Reihenfolge, und so kommt es, daß z. B. auf Brasidas, den Kapi-
iain der Lacedämonier , Braunschweig-Wolfenbüttel, Herzog Heinrich,
15 14 — 1568, folgt, und femer, daß der bekannte Truppenführer im
30jährigen Kriege Holcke dem Holofemes, General über des Nebu-
kadne/sars Armeen vorangeht. Sehen wir in diesem Werke den
i) Schulordnungen der Franckeschen Stiftungen (1703}.
2) Vgl. Ausgabe rom Jahre 1736, Vorrede. S. 4.
3) Geschichte des XVUL Jahrhunderts (Leipzig 1854—1880, 4 Bde.).
— 270 —
historischen Heroenkult auf die Spitze getrieben, so haben wir in
Höpfners Arbeiten die ersten Versuche einer Kulturgeschichte vor
uns. Höpfner, der als Konrektor an der Martinschule zu Halberstadt
tätig war, spricht in jedem der genannten Teile i) von den Kirchen-
gebräuchen, 2) von den bürgerlichen Gebräuchen, 3) von den Kriegs-
gebräuchen und 4) von den Hausgebräuchen des betreffenden Volkes
zu einer bestimmten Zeit und macht uns die bemerkenswerte Mittei-
lung, daß diese Altertumskunde gegenwärtig von denen Lehrenden
und Leimenden auf dcis fleißigste getrieben und cuUiviret werde ^) und
daß Thomasius sich sogar gegen die übertriebene Pflege einzelner
Gebiete dieses Faches im Unterricht ausgesprochen habe *).
Neben die vorgenannten Lehrbücher trat in der zweiten Hälfte
des XVIII. Jahrhunderts eine Anzahl öeuer Arbeiten, die zwar zumeist
den modernsten geschichtswissenschaftlichen, nicht aber immer den
neuesten pädagogischen Ansprüchen genügten. Dahin gehören die
Bücher von vier Universitätsprofessoren, das Handbuch der Universal'
historie von Gatter er (Göttingen 1761), die Allgemeine Weltgeschichte
für Kinder von Schroeckh (3 Teile, Leipzig 1774 — 1795), J. A.
Remers Handbuch der Geschichte neuerer Zeiten (1771) und die Vor-
bereitung zur WeUgeschichie für Kinder von Schlözer (Göttingen
1779). Von diesen Arbeiten hat <jatterers Handbuch den geringsten
Erfolg in der Schule gehabt. Es war dem Unterrichte nur wenig an-
gepaßt, obwohl sich Gatterer angeblich durch den gänzlichen
Mangel eines brauchbaren Lehrbuches zur Abfassung ver-
anlaßt geftihlt hatte, eignete sich aber um so besser für Studierende der
Geschichte. In deren Hand ist es eins der besten Mittel zur Förderung
der historischen Studien in Deutschland geworden. Im Gegensatz zu die-
sem haben die übrigen drei Lehrbücher in der pädagogischen Welt viele
Freunde gefanden. Alle drei mußten mehrmals aufgelegt werden und
blieben bis ins XIX. Jahrhundert im Gebrauche. Von ihnen hat wieder
Schroeckhs Geschichtsbuch den nachhaltigsten Einfluß ausgeübt. Es
wurde von Parizek für katholische Schulen bearbeitet unter dem Titel:
Versuch einer kurzgefaßten Weltgeschichte für Kinder (Prag 1782) •) und
scheint auch den Lehrbüchern der Geschichte zum Muster gedient zu haben,
die fiir den Unterricht in Bürger- und Realschulen oder, wie die Titel
i) Borna (mtiqua, Vorrede, S. 8.
2} Ebenda S. 30.
3) J. S. Ersch nennt aufisrdem in seiner lÄUratur der Otschiehte (Leipzig 1827),
S. 36 J. Kp. F. Müller und K. F. Höh n als Bearbeiter dieses Lehrbaches für Katholiken.
— 271 —
sagen, für Kinder, Ungelehrte und Liebhaber der Geschichte bestimmt
waren *).
Eine ganz neue Art von Geschichtsbüchern eröffnete 1773 eine
Übersetzung aus dem Englischen unter dem Titel: Historische Auf-
Sätze fwr die Jagend, aus den berühmtesten Schrißstellem gezogen: Ihr
ist auch die schon erwähnte Chrestomathie Basedows zuzurechnen, an
die sich anschlössen: Mangelsdorf, Alter Zeiten ExempeVmch,
brauchbar für die Ztoischenstunden im Unterricht (17 gy), und Gramer,
Auswahl aus der Geschichte zu einem Lehrbuch für die Mittelklassen
gelehrter Schülern (i797)« Sie bekunden den Bruch mit der bisherigen
Praxis, das ganze Gerüste der Weltgeschichte dem Gedächtnis det
Kinder einprägen zu wollen, und enthalten den Versuch, sich mit Schil-
derungen einzelner Geschichtsepochen und geschichtlicher Persönlich-
keiten zu begnügen, einen Versuch, der, wie bekannt sein dürfte, in
vielen unserer heutigen Volksschulen mit gutem Erfolge geübt wird.
Meusel begleitete in seinen fortgesetzten Betrachtungen über die
neueste historische Literatur (1774) die oben erwähnte Übersetzung mit
dem Wunsche, „ daß Männer, die Kenntnisse und Geschmack besitzen
— denn andere würden wir uns wohl verbitten — nun auch die Mühe
über sich nehmen würden, zum besten der Jugend eine Auswahl der
merkwürdigsten und lehrreichsten Begebenheiten aus allen Zeiten und
Ländern, besonders aus der deutschen Geschichte, wo es noch am
meisten fehlt, und die uns doch am meisten interessiert, anzustellen
und unseren jungen Lesern zum Geschmack zu machen'*, damit man des
Gebrauches bloßer Übersetzungen überhoben sein möge. Basedow
scheint allerdings nach Meusels Urteil die nötigen Kenntnisse und den
Geschmack nicht besessen zu haben ; aber auch die anderen Arbeiten
entsprechen nicht den Anforderungen, die nach dem Stande der da-
maligen Geschichtswissenschaft billig an sie gestellt werden durften ^).
Zum Schluß erwähnen wir als einen ferneren Beweis pädagogischer
Charlatanerie auf dem Gebiete des historischen Lehrbuches den Kur^
zen Abriß der bürgerlicJien Fundamentalhistorie zum Unterrichte für
Kinder (1775) von Christ Friedr. Kretzschmar. Der Verfasser
i) H ammers dörff er, Grundzüge der aVgemeinen Wdtgeschichie gum Ge-
brauehe heim Unterricht (1789). Raff, Abriß der Weltgeschichte für die Jugend
und ihre Freunde (1787). Mayer, ÄUgem. WütgeschichU zur Unterhaltung fiir
Liebhaber und UngeUhrte (1793). Galetti, Elementarbuch für den ersten Schuld
Unterricht in der Geschichlkunde (1795)*
2) Ad philanthropinistische Bestrebungen erinnert ein 1774 in Frankfart erschiene*
Des Chronologisches Spiel zum Gebrauche der Jugend von L. Wagner, ein Würfel-
spiel aaf einem BogeD, das der Einübung historischer Epochen und Hanptereignisse diente.
— 272 —
sagte von sich, daß er selbst noch für ein Kind angesehen wer-
den könne. Meusel begleitete in der Rezension dieses Machwerkes
das naive Geständnis mit den sarkastischen Worten, daß der Verfasser
wenigstens in der edlen Geschichte noch ein wahres Kind sei und
wegen seiner in dem vorliegenden Büchlein eingestreuten Kindereien
die Rute der Kunstrichter verdiene ').
Spiegeln sich in der Anlage all dieser Bücher und in der Ge-
Staltung" des Stoffes der Universalhistorie vornehmlich die Wandlungen
in den pädagogischen Grundanschauungen des XVIII. Jahrhunderts,
so läßt uns die in ihnen niedergelegte Geschichtsauffassung
nicht minder die tiefeinschneidenden Veränderungen innerhalb der
Geschichtswissenschaft deutlich erkennen.
Den Verfassern derjenigen Lehrbücher der Geschichte, die seit
den Zeiten der Reformation in Gebrauch waren oder bis zur Mitte des
XVIII. Jahrhunderts verfaßt wurden, galt die Geschichte allgemein als
eine Wissenschaft „ merkwürdiger Begebenheiten'*. Der Umfang dieses
Begriffes ließ dem subjektiven Empfinden des Historikers einen unge-
heueren Spielraum ; was kann doch zehn Menschen von verschiedenen
Lebenserfahrungen und verschiedener Weltanschauung nicht alles
„merkwürdig" sein! Man sollte daher im Inhalte der historischen
Lehrbücher jener 2^it die größte Mannigfaltigkeit erwarten. In Wirk-
lichkeit herrschte aber darin eine überraschende Einförmigkeit. Wir
brauchen die Gründe nicht weit zu suchen. Sehen wir ganz davon
ab, daß das zumeist auf ein einzelnes Territorium beschränkte Urheber-
recht das Plagiat nicht unmöglich machte — u. a. klagt Zopf dar-
über, daß man sein Lehrbuch widerrechtlich in Frankfurt a. M. nach-
gedruckt habe, — so herrschte doch seit der Blütezeit der Stadt-
chroniken völlige Übereinstimmung darüber, was wichtig genug sei,
um in die Geschichte aufgenommen zu werden. Es waren Lebens-
schicksale und Taten der Regenten, gleichviel ob weltlicher oder geist-
licher, und besonders unheilvolle oder segensreiche Naturereignisse.
Je mehr seit dem XVI. Jahrhundert die Macht der Fürsten wuchs, je
mehr seit der Mitte des XVII. der Glanz der Höfe das Auge der
Untertanen blendete, je mehr endlich die Gelehrten in finanzielle Ab-
hängigkeit von den Fürsten gerieten, um so mehr trat jedoch die Be-
rücksichtigung der Naturereignisse zurück, und die politische Geschichte
wurde reine Fürstengeschichte. So war es in der ganzen ersten Hälfte
des XVIIl. Jahrhunderts und blieb es noch bis in Schlözers Zeit.
I) FortgesetzU Betrcichtungen. 1775. IL Teil, S. 256.
— 273 —
Darum waren auch Geschlechter- und Wappenkunde aufs innigste mit
der Geschichte verbunden und Hilüswissenschaften derselben in einem
ganz anderen Sinne als heutigen Tages.
Die Fürsten und ihre nächste Umgebung „machten" nach der
Aufüassung dieser 2^it die Geschichte. Zu dieser Überzeugung war
man nicht etwa durch metaphysische Lehren gekommen, wie z. B.
im 2^italter des deutschen Rationalismus durch die Annahme des
Leibnizschen MonadenbegrifTes zum individualistischen Heroenkult, son-
dern man hatte sich durch die alltägliche Erfahrung belehren lassen;
Im Hintergrunde alles Geschehens sah man aber stets die göttliche
Vorsehung. Auch die Fürsten waren nur Werkzeuge in Gottes Hand.
Die Theologie diktierte, wie man sich das Zustandekommen des Welt-
geschehens zu denken habe. So trägt die Geschichtsauffassung bis
ungefähr zur Mitte des XVIII. Jahrhunderts ein heroisch-religiöses
Gewand.
Auf den ersten Blick will es scheinen, als sei auch die Geschichts-
auffassung der zweiten Hälfte des Jahrhunderts religiös verankert ge^
wesen. Sahen doch auch Schlözer und seine Gesinnungsgenossen
überall in der Geschichte das Werk der göttlichen Vorsehung. In-
dessen hat man es hierbei zumeist nicht mit der spezifisch christlichen
Gottesvorstellung zu tun ; der Gott der meisten Historiker dieses Zeit-
raumes ist der Gott Leibnizens, der bei genauer Betrachtung mit dem
Shaftesburys recht viele Züge gemeinsam hat: es ist der Schöpfer
der prästabilierten Harmonie. Aber der Mensch, vor allem der Geistes-
heroe, handelt dieser Auffassung nach frei, insofern seine Vernunft
als Teil des göttlichen Geistes von Natur ihre Bestimmungsgründe in
sich selbst trägt und je nach ihrem Klarheitsgrade im Rahmen der prästa-
bilierten Harmonie zur Entfaltung kommt *). Im Verzicht auf den Glauben
an das direkte Eingreifen Gottes in den geschichtlichen Verlauf und in
der Anerkennung der Prärogative der menschlichen Vernunft liegt zum
Unterschied von der religiösen Geschichtsauffassung der früheren Zeit das
Charakteristische der herrschenden Geschichtsauffassung der zweiten
Hälfte des XVIII. Jahrhunderts. Doch sei immer wieder betont, daß die
alte Überzeugung niemals ausgestorben war und daß sie vor allem aus nahe-
liegenden Gründen in den meisten Lehrbüchern der Geschichte, und
zwar nicht nur in denen, die aus der ersten Hälfte des XVIII. Jahr-
hunderts übernommen worden waren, ruhig weiterlebte.
I) Vgl. meine Arbeit Die Wiaaenschafl vom Menschen (Gothm 1907), Kap. XI:
Die deutsche Getchichtswissenschaft im Zeitalter des Rationalismas.
— 274 —
Mit dem Eindringen der durch Montesquieu erneuerten Theorie
über die Abhängigkeit des Menschen von seinem Wohnorte und setner
Umwelt in die deutsche Wissenschaft wurde der Individualismus der
deutschen rationalistischen Geschichtsauffassung in angemessene Grenzen
zurückgedrängt. Aus der Ahnung der physiologischen Abhängigkeit des
Menschen von Einflüssen der äußeren Natur erwuchs endlich — wenn
auch zunächst nur keimhaft — der moderne Entwickelungsgedanke, der in
der Kulturgeschichte das Feld seiner Betätigung suchte *) und besonders
geschichtsphilosophische Probleme auf die Tagesordnung setzte. Da-
mit sind wir bei der Geschichtsauffassung der letzten geistigen Periode
iin XVIII. Jahrhundert, als deren hervorragendster Vertreter Herder
angesehen werden muß, angelangt. Sie hat, was an dieser Stelle er-
wähnt werden möge, nur in wenigen Lehrbüchern der Geschichte ein
vernehmbares Echo gefunden.
Tritt die rein religiöse Geschichtsauffassung der früheren Zeit im
Laufe des XVIII. Jahrhunderts immer mehr hinter die individualistische
zurück, so spricht sich doch die Herrschaft der ersteren unzweideutig
aus in der Gliederung aller der Geschichtsbücher, die aus dem
XVI. und XVII. Jahrhundert in das XVIII. hineinragten oder noch in
dessen erster Hälfte verfaßt worden sind. Da die religiöse Geschichts-
auffassung im Weltgeschehen eine Geschichte des Reiches Gottes auf
Erden suchte, nicht aber etwa eine Entwickelungsgeschichte des mensch-
lichen Geistes oder sozialer und politischer Formen, so begann die
Universalhistorie jener Zeit stets an der Stelle, wo ihr der Zusammen-
hang zwischen Gott und Menschheit zum ersten Male urkundlich ver-
bürgt schien, d. h. mit der Erschaffung des Menschen laut Oenesis
I, I. Aus demselben Grunde zog sie nur diejenigen Völker in ihren
Bereich, die zur Geschichte des Alten und des Neuen Bundes in ii^end-
welcher heilsgeschichtlicher Beziehung standen. Das sind aber, ab-
gesehen vom „Volke Gottes", nur die Nationen, aus denen sich die
Danielschen vier Weltmonarchien zusammengesetzt haben. Aller
übrigen Völker wurde in dieser Weltgeschichte in der Regel über-
haupt nicht gedacht. Die Einteilung des Stoffes erfolgte zumeist
auf Grund zweier Prophezeiungen. Die eine, der köstliche spruch des
trefflichen Propheten Elia ^) wurde von Carion in die Geschichts-
schreibung eingeführt und lautet nach diesem: Sechstat^send jar
1) Vgl. meine Wissenschaft vom Mensehen, Kap. ii, J 4. Ferner Schaamkel)
Oes(^%chte der deutschen KuUurgeschichtschreibung von der Mitte des XVIII. Jahr-
hunderts bis zur Romantik (Leipzig 1905).
2) Carion, Chronica, S, 8.
— 276 —
isi die tpelt / und darnach wird sie subrechen ^). Zweytimsend oed.
Zweitausend / das gesete. Zweytausend / die jgeit Christi. Und so die
8eU nicU gantjg erfüllet wird / wird es feilen umb unser sunde wiUen /
wilche gros sind. Danach teilt Canon die Geschichte ein in drei
Teile; der erste enthält die Zeit von Adam bis Abraham; der zweite
umfaßt 2000 Jahre von Abraham bis Christus, darinnen die grossen
reich und Monarchien nach einander komen j Darümb müssen wir
diese aeü teilen jnn die vier Monarchien — . Der dritte Abschnitt be-
handelt die 2000 Jahre von Christus bis eu ende der weit / wieweit
dabey angeaeiget, das nicht ganig zwey tausend iar sein sdUen.
Sleidanus läßt die carionische Dreiteilung fallen und hält sich nur
an Daniels Weissagung. Er behandelt also den ,, Gründer" der assy-
risch-babylonischen Monarchie, den „ König Nimrod " noch vor Abra->
ham, bringt aber gleich Carion die Geschichte der ersten drei Reiche
in den I. Teil seines Geschichtsbuches, behandelt im II. Teile die
Geschichte des römischen Reiches bis zur Eroberung Konstantinopels
und läßt den III. Teil mit einer Vorgeschichte der Germanen begin-
nen. Dabei galt in allen Fällen die deutsche Geschichte als Unter-
abteilung der römischen Geschichte. Sleidans Einteilung hat in der
Folgezeit den meisten Anklang bei Verfassern von Universalgeschichten
gefunden. In diesen Werken folg^ gewöhnlich der Erläuterung des
Begriffes der Universalgeschichte bei Adam beginnend eine Geschichte
des Volkes Gottes. Je nachdem, ob dafür das i. Buch Mosis oder
Berosus in Verbindung mit Josephus und einzelnen Stellen aus dem
Neuen Testamente als Unterlage benutzt wurde, fiel sie länger oder
kürzer aus. Die kritiklose Zusammenstellung assyrischer, griechischer
und jüdischer Autoren hatte ganz unglaubliche Geschichtsblüten zur
Folge, wie z. B. daß Noah ein Gigant in Syria war, zu dessen nachgebore-
nen Söhnen auch Tuisko zählte, der Stammvater der Germanen und
Sannaten und leibUche Vater zum Beispiel des Mannus, Suevus, Jng-
hävon, Istevon, Herminon, Vandalus, Hunnus und Hercules *).
Neben Carions und Sleidans Einteilung findet sich in den Geschichts-
büchern des XVI. bis XVIII. Jahrhunderts noch eine dritte,eine bio-
graphisch-synchronistische. Sie verzichtet auf bestimmte Epochen
und handelt im Anschluß an einen Helden alle Ereignisse ab, die zu dessen
Lebzeiten in der damals bekannten Welt sich zugetragen hatten ').
1) eu hredun » eerbrechen,
2) Vgl. Gothofredns, Hisioria universalis, S. 3. So aach schon bei Seb.
Fraock. Vgl. aach Carions Völkertafel auf S. 18 — ao seiner Chronica.
3) Vgl. ClaTcras und Weihenmajer a. a. O.
— 276 —
Den Bruch mit der unhaltbar gewordenen Danielschen Monarchien-
theorie vollzieht zu Anfang des XVIII. Jahrhunderts Freyer. Er trennt
die Universalgeschichte in eine solche vor und eine solche nach Christi
Geburt.
Die Geschichte der vorchristlichen Periode gruppierte er um die
„biblische (d. h. jüdische) Regentenhistorie"; der „Universalhistorie
des neuen Testamentes" wurde von Ihm die römische Kaiserhistorie
zur „Fundamentalhistorie" bestimmt. Zopf folgte in dieser Beziehung
dem Beispiele Frey ers; nur ließ er nicht wie dieser Religion und Na-
tionalität der römischen Kaiser Gesichtspunkte der weiteren Einteilung
sein, sondern handelte die Geschichte nach den einzelnen Jahrhun-
derten ab. Ludwig hatte überhaupt nur diesen chronologischen Ein-
teilungsgrund gelten lassen. Freyer und Zopf unterschieden sich übri-
gens auch insofern von den an erster Stelle genannten Autoren, als
sie neben der politischen Historie auch der Kirchen- und der Ge-
lehrtenhistorie besondere Abschnitte zuwiesen. Deutsche Geschichte
behandelte ausfuhrlich nur Hübner. Ihre Anfange verlegte er aller-
dings ebenso wie die Spaniens, Portugals, Frankreichs, Englands usw.
in Noahs bzw. Adams Zeit.
Sprache und Darstellungsform aller dieser Bücher waren be-
dingt durch ihre Bestimmung. Sie sollten sowohl Lernbücher für die
Jugend als auch Unterlagen für den historischen Vortrag der Lehrer sein.
Beide Zwecke erforderten Knappheit des Ausdruckes und Übersicht-
lichkeit in der äußeren Anordnung des Stoffes. Aus der Vereinigung
beider Forderungen ergab sich, vor allem in den Lehrbüchern der
ersten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts, der Charakter des Tabellen-
mäßigen. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die Rubrizie-
rung, Längsstriche an den Seiten für Jahreszahlen und dergleichen
mehr. Als ob damit für die Pflege eines mechanischen Lemunter-
richtes noch nicht genug getan gewesen wäre, wurden an manchen
Schulen noch besondere historische Tabellen benutzt, von denen die
synchronistischen Tabellen Theodor Bergers *) und Trautzschens
TabeOen für den Unterrichi (1772) die weiteste Verbreitung gefunden
zu haben scheinen.
Welchen Einfluß hat nun Schlözers und Gatterers Reform der
Geschichtswissenschaft auf die Lehrbücher der Geschichte in der zwei-
ten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts ausgeübt?
Wir haben schon oben erwähnt, daß es den Führern der dama-
1) Theodor Berber, Synehroni$ti$ch€ ünkenalhiitarit in 40 TiMUn (1767).
— 277 —
ligen Geschichtswissenschaft nur unvollkommen gelungen ist, ihre
Ideen in ihren wissenschaftlichen Werken zur Anwendung zu brin-
gen. Ungfleich besser glückte es wenigstens einigen von ihnen in den
Lehrbüchern der Geschichte. In Gatterers Handbuch dominierte
zwar noch die politisch-individualistische Geschichte. Auch Rem er
räumte ihr den weitaus größeren Teil seines Handbuches ein. Dagegen
entsprachen die beiden Neuerscheinungen des Jahres 1779, die Lehr-
bücher von Schlözer und Schröckh, den höchsten Ansprüchen, die im
XVni. Jahrhundert von der Geschichte wie von der Pädagogik an ein his-
torisches Lehrbuch gestellt werden konnten. Mit feinem Verständnis (lir
die psychologischen Voraussetzungen, die die Schüler dem Geschichts-
verlaufe entgegenzubringen pflegen, vermieden sie beide das charakteris-
tische Moment der pragmatischen Geschichtswissenschaft, die Aufdeckung
der Kausalzusammenhänge. Um so ausführlicher verweilten sie bei der
Schilderung der kulturellen Zustände der Völker und Zeiten. Je ein
Beispiel aus Schröckh und aus Schlözer mögen dies veranschaulichen.
In dem Kapitel Die alten Deutschen behandelt Schröckh folgende
Abschnitte: Gestalt, Nahrung, Lebensart der alten Deutschen. Ihr
kriegerischer und freiheitsliebender Geist. Ihre kriegerischen Gebräuche.
Waffen. Kriegsheer. Heerführer. Schlachtengesänge. Weiber und
Kinder muntern die Fechtenden auf. Religion der Deutschen. Ihre
Götter. Geheiligte Wälder. Priester und heilige Frauen. Tugenden
der alten Deutschen. Ihre unveränderliche Ehrlichkeit. Ihre eheliche
Treue. Ihre Gastfreundschaft Trunksucht Ihre Fürsten. Ihre Ver-
sammlungen. Strafen. Einkünfte und Hofstaat der Fürsten. Leib-
eigene. Spielsucht. Gold, Silber, Handel. Wohnungen der alten
Deutschen. Ihre Kleidung. Ihre Leichenbegängnisse.
Schlözer spricht in dem Kapitel: Erfindung mechanischer Künste
über folgendes: Der Urmensch wird ein Kulturmensch. Hohe Würde
der mechanischen Künste. Stufen ihrer Erfindung. Unterschied zwi-
schen Wilden, Barbaren und kultivierten Völkern. Geschichte der
meisten Künste ist verloren. Mutmaßungen, wie einige haben erfunden
werden können. Spinnen, Filzen, Weben, Nähen (neuere Erfindungen:
Spinnrad, Stricken, Strumpfwirkerstuhl, Spitzenklöppeln). Wie die
Kochkunst entstanden. Essen und Trinken, Zusammenleben. Anfang
des Sprechens. Erfindung des Feuers. Völker ohne Feuer. Künste,
es zu konservieren: Gemeindefeuer, Vestalinnen. Künste, es zu re-
produzieren: Feuerreiben, Küchenfeuerzeug. Nutzung des Feuers:
Metalle zu schmelzen und zum Kochen. Küchengeräte. Töpferkunst.
Backen. Verschiedene Arten von Kultur. Würde der Handwerker.
— 278 —
Man ist aufs erste überrascht, daß Schlözer auch viele solcher Gegen-
stände, die wir heutigen Tages entweder der Ethnologie oder der Kunst-
oder der Wirtschaftsgeschichte zuweisen, in die Weltgeschichte auf-
genommen hat. Doch gibt sich gerade in dieser Reichhaltigkeit des
historischen Stoffes au£s deutlichste der Reflex zu erkennen, den die
damals modischste historische Disziplin, die „ Geschichte der Mensch-
heit", auf den Inhalt der historischen Lehrbücher geworfen hat.
Es war natürlich, daß Schlözers Lehrbuch überall dort abgelehnt
werden mußte, wo diese eigenartige Wissenschaft *) keinen Beifall fand.
Schröckh hat — wie schon aus obigem Beispiel hervorgehen dürfte —
mit weit größerer Vorsicht sich auf das Gebiet der eigentlichen Kul-
turgeschichte beschränkt. Sein Lehrbuch besaß daneben den großen
Vorzug, daß ihm eine Sammlung von Kupfiertafeln beigegeben war.
Dadurch machte es nicht nur den veralteten Buno überflüssig, son-
dern durfte auch dort auf Benutzung rechnen, wo Basedows Elemen-
tarwerk mit seinen Kupfern aus prinzipiellen Gründen der Zugang ver-
schlossen war.
Dieser veränderte Inhalt bedingte auch eine ganz andere Dar-
s t e 1 1 u n g s f o r m. In all diesen Lehrbüchern ist nichts Tabellenmäßiges
mehr zu bemerken. In leichtverständlicher, flüssiger Sprache, die
Fremdwörter möglichst vermied, ohne Schematismus und äußere Ge-
dächtnishilfen schildern sie den Geschichtsverlauf. Im Zusammenhang
damit steht die Tatsache, daß diese Bücher nicht eigentlich mehr
Lernbücher sein sollten als vielmehr Lesebücher, an denen sich
die Jugend erfreuen und veredeln sollte *).
Das Lehrbuch der Geschichte hat damit im Prinzip die Form ge-
funden, die es, von den eigentlichen Repetitionstabellen abgesehen,
auch heute noch hat. Inhaltlich aber bereitet sich um die Wende des
Jahrhunderts eine tiefgreifende Wandlung vor, die dem Lehrbuche der
Geschichte im XIX. Jahrhundert das Gepräge gegeben hat : die ungleich
höhere Wertung der deutschen gegenüber der alten Geschichte *).
i) Vgl. mein Buch Die Wissenschaft vom Menschen (Gotha 1907), besonders
S. 142-
2) Vgl. die Titel der auf S. 271 genannten Geschichtsbücher. Ferner: die Vorrede
zu. Basedows CfirestomaiMae , Andre and Hensinger, Ulrich Flemmmg, ein
lehrreiches Lesebuch für Kinder, welche gern die Geschichte erlernen mÖMen (Braan-
schweig 1799). Nikolaas Voigt, System der allgemeinen WeltgeschiclUe (Mains
1785) enthält einen Plan zu einem künftigen Vorlesebach.
3) Vgl. Joh. Bengel, Geschichte der Methodik des kulturgesehichtlichen Unter'
richtSy (Wiesbaden 1896).
— 279 —
Mitteilungen
Tersammlongeu. — Wie bereits im Maihefte mitgeteilt wurde, findet
die zehnte Versammlung deutscher Historiker, kurz Historiker-
tag genannt, in der Zeit vom 3. bis 7. September in Dresden statt. Zur
Teilnahme sind alle Fachgenossen, Fachverwandten sowie Freunde geschicht-
licher Forschung eingeladen. Leiter der Versammlung ist der derzeitige
Vorsitzende des Verbandes deutscher Historiker, Prof. Gerhard Seeliger
(Leipzig). Vorträge werden halten: Privatdozent Caro (Zürich) über Gnu id-
herrschaft imd Staat; Prof. Hauck (Leipzig) über die Rezeption und die
Umbildung der Allgememen Synoden im Mittelalter; Prof. Hintze (Berlb)
über die Entwickelimg der modernen Ministerialverwaltung ; Prof. Keutgen
(Jena) über Königtum, Fürstentum, Kirche; Prof. Jacob (Tübmgen) über
den Großen Kurfürsten im Lichte neuerer Forschung; Prof. Kromayer
(Czemowitz) über Hannibal und Antiochus den Grofien, eine strategisch-po-
litische Betrachtung; Prof. Lamprecht (Leipzig) über Probleme der Uni-
versalgeschichte; Prof. Otto Richter (Dresden) über Dresdens Bedeutung
in der Geschichte; Prof. Alois Schulte (Bonn) über die deutsche Kirche
des Mittelalters und die Stände.
Gleichzeitig wird, wie gewöhnlich, die Konferenz von Vertretern
landesgeschichtlicher Publikationsinstitute tagen, und zwar
wird deren erste Sitzung voraussichtlich schon am 3. Sept. nachmittags
3 Uhr in der Technischen Hochschule (Bismarckplatz) stattfinden. Als Gegen-
stände der Verhandlung sind folgende Punkte vorgesehen: i. Bericht über
den Stand der Geschäfte und die Organisation der Konferenz, erstattet
von deren Sekretär, Prof. Kötzschke (Leipzig); 2. Die Veröflfenüichung
von Quellen zur städtischen Geschichte: die Quellen zur Rechts- und Ver-
fiassungsgeschichte der deutschen Städte wird Stadtarchivar Overmann
(Erfurt) behandeln, die Quellen zur städtischen Wirtschaftsgeschichte Armin
Tille (Leipzig); 3. Anlage und Aufgaben der mittelalterlichen Regestenwerke,
auf Grund der Gutachten von Prof. Rietschel (Tübingen) und Privatdozent
Steinacker (Wien); 4. Ausstellung von Karten zur Geschichte der säch-
sischen Kartographie und zur Erläuterung der historisch-geographischen Unter-
nehmungen im KönigreichSachsen (Archivrat Beschorner, Dresden).
Wie hieraus ersichtlich ist, werden die Verhandlimgen sich eng an die-
jenigen der letzten Konferenz in Stuttgart — vergL darüber diese Zeitschrift
7. Bd., S. 255 bis 259 ^) — anschließen, und hofientlich werden sich
wieder so viele Teilnehmer dazu einfinden.
Wie gleichfalls schon angekündigt wurde, findet die Hauptversammlung
des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertums-
vereine in Verbindung mit dem siebenten deutschen Archiv tag in den
Tagen vom 14. bis zum 18. September in Mannheim bzw. Karlsruhe und
1) Der aosfUhrlicbe Bericht über die Verhandlangen ist enthalten im Bericht über die
neunte Versammlung deutscher Historiker zu Stuttgart 17. bis 21. April 1906 (Leipzig,
Dtincker and Humblot, 1907), S. 40—54. Dort sind auch diejenigen Pablikationsinstitote
aafgeftthrt, die sich an der Konferenz gegenwärtig offiziell beteiligen.
20
— 280 —
Speyer statt, während der Verbandstag der west- und süddeutschen Vereine
für römisch-germanische Altertumsforschung am 14. September
in Heidelberg abgehalten wird. Hofiendich bieten diese Aussichten auf
eine ergebnisreiche Arbeit im Südwesten des Reiches recht vielen Ge-
schichtsforschern den Anlaß, ihre Sommerreise so einzurichten, daß sie
bequem daran teilnehmen können. Vor allem aber ist es die Pflicht der
Vorstände der im Gesamtverein verbundenen Vereine, dafür Sorge zu
tragen, daß die Vereine als solche sich noch mehr an den Arbeiten be-
teiligen und zu diesem Zwecke bevollmächtigte Vertreter entsenden; denn
nur auf diese Weise wird es möglich, daß auch die Vereine selbst aus den
gemeinsamen Beratungen Kraft zu neuer Arbeit schöpfen und den Vorteil
würdigen lernen, den die Zugehörigkeit zum Gesamtverein gewährt.
Die Gesamtvereinstagung beginnt Sonntag, 15. September, abends mit
der Begrüßung im Rosengarten und endet Mittwoch, 18. September, mit
einem Ausflug nach Bruchsal. Für die öffentlichen Versammlungen sind
folgende Vorträge in Aussicht genommen: Prof. Wille (Heidelberg) über
den Humanismus in der Pfalz; Prof. Bering er (Mannheim) über Goethe
und seine Beziehungen zur pfälzischen Kunst; Prof. Doeberl (München)
über die Entstehung des modernen Staates in Bayern; Prof. Walter (Mann-
heim) über Mannheimer Stadtgeschichte. — In den Abteilungssitzungen
wird über folgende Gegenstände beraten werden. In der Sitzung der ver-
einigten I. und II. Abteilung, die zugleich eine Verbandssitzung der west-
und süddeutschen Vereine für römisch-germanische Altertumsforschung ist,
spricht Prof. Gradmann (Stuttgart) über schwäbisch-fränkische Hallenkirchen
des XIV. und XV. Jahrhunderts, Rektor Heuberger (Bnigg) über die
neuesten Grabungen in Vindonissa, Museumsdirektor Krüger (Trier) über
die Neumagener Skulpturen, Museumsdirektor Lehne r (Bonn) über die
neuesten Forschungen in Vetem (Xanten), Museumsdirektor Schumacher
(Mainz) über die neue archäologische Karte von Mannheim und Umgebung,
Sanmilungsdirektor Wagner (Karlsruhe) über die Inventarisierung der Alter-
tümer in Baden. In der UI. Abteilung behandelt Armin Tille (Leipzig)
die Sammlung und Verwertung familiengeschichtlicher Forschungen und I^arrer
Gmelin (Großgartach) die Bevölkerungsbewegung auf Grund der Kirchen-
bücher. Die IV. Abteilung, die ihrer neuen Zweckbestimmung zum ersten
Male dient, wird dieser Tatsache dadurch Rechnung tragen, daß Prof.
V. Renner (Wien) die Frage erörtert: Welchen Zwecken soll die Vereinigung
der deutschen numismatischen Gesellschaften dienen? Femer spricht Ober-
finanzrat Ritter v. Bauer (Wien) über die notwendige Planmäßigkeit der
heraldisch - genealogischen Forschungen und Quellenpublikationen, Justizrat
Haek erlin (Frankfurt a. M.) über Rom bei seinem Eintritt in den Welt-
verkehr an der Hand der Münzen und Regierungsrat v. Pantz (Wien) übei
den steirischen Gewerkenadel. In der V. (Volkskunden-) Abteilung schließ-
lich behandelt A. Becker (Ludwigshafen) Frühlingsfeiem in der Pfalz, Prof
Gradmann (Stuttgart) das schwäbische Bauernhaus, während Prof. Brennei
(Würzburg) über den Fortgang der Hausbauforschung und die SchafiFun§
einer bibliographischen Zentralstelle berichtet. Über noch zu bestimmende
Gegenstände sprechen Otto Lau ff er (Frankfurt a. M.) und Prof. Pfaf
(Freiburg i. B.).
— 281 —
Die Teilnehmer am Archivtag treffen sich Freitag, den 13. September,
abends 8 Uhr in Karlsruhe im Hotel Tannhäuser (Kaiserstr. 146). Die Ver-
sammlung selbst findet Sonnabend im Generallandesarchiv (Nördliche Ifflda-
promenade 2) statt. Vorträge werden halten Archivdirektor Obs er (Karls-
ruhe) über Archivalienschutz in Baden, Reichsarchivassessor Striedinger
(München) über Versendung von Archivalien und Archivassessor Frank-
haus er (Karlsruhe) über den Neubau des Generallandesarchivs, dessen
Räume auf einem Rundgange besichtigt werden. Am Sonntag firüh wird
Speyer aufgesucht und daselbst das Kreisarchiv, die Protestationskirche,
das Pfälzische Museum und vor allem der Dom mit den Kaisergräbem unter
der sachkundigen Führung von Prof. Grau er t (München) besichtigt
Nach Schluß der Gesamtvereinstagung findet Donnerstag und Freitag,
19. und 20. September, in Mannheim der Tag für Denkmalpflege statt,
dessen Abschluß am 2r. September ein Ausflug nach Wim pfen am Neckar
bilden wird.
Archive, — In Oldenburg i. Gr., das im Jahre 1345 von Graf
Konrad I. mit dem bremischen Stadtrecht bewidmet worden war, bewahrte
man während des Mittelalters die städtischen Urkunden in der Ratskammer
auf '). Die Aufsicht führte ein vom Chorherrenstift zu St. Lamberti gestellter
geistlicher Stadtschreiber; seit dem Ende des XVI. Jahrhunderts hatte dieses
Amt ein gelehrter Syndikus. Mit dem XVII. Jahrhundert beginnen regelmäßig
geführte gerichtliche Protokollbücher, sowie die jährlichen Rechnungsbücher
der städtischen Kämmerer und Baumeister, und es tritt seitdem eine erheb-
liche Vermehrung der Akten ein. Aus dem zweiten Jahrzehnt desselben
Jahrhunderts ist ein Inventar vorhanden. Die Registraturen der einzelnen
Ämter wurden Jahrhunderte lang in verschiedenen Zimmern des Rathauses
aufbewahrt, ohne daß die älteren Sachen davon getrennt waren. Nach einer
im Jahre 1751 versuchten, aber anscheinend in den Anfangen stecken ge-
bliebenen Inventuraufnahme wurde 1790 und in den folgenden Jahren vom
Syndikus Tenge ein neuer Ordnungsversuch gemacht und durchgeführt, wo-
bei die Justizakten von den Verwaltungsakten geschieden und die älteren
Akten vielfach in Bündel zusammengefaßt wurden. Die französische Besitz-
ergreifung von 18 IG rief eine neue Befundaufnahme, aber zugleich infolge
der Überweisung der Archivalien an verschiedene Behörden Verwirrtmg her-
vor. Nach der Wiederherstellung der früheren Behörden im Jahre 18 14
wurde alles wieder unter der Verwaltimg des Magistrats vereinigt, doch erst
nachdem 1833 ^^ Stadt eine neue, den modernen Verhältnissen besser an-
gepaßte Verfassung erhalten hatte, ging man wieder an eine durchgreifende
Ordnung der Schriftenbestände. Die älteren Akten, d. h. durchweg die vor
der französischen Zeit entstandenen, wurden als Alte Registratur von den
jüngeren, der Neuen Registratur, getrennt und beide Registraturen mit be-
sonderen Repertorien versehen. Mit diesem von dem damaligen Stadtdirektor
VVöbcken geleiteten Ordnungswerke war wenigstens bei den Akten eine for-
melle Scheidung zwischen Magistratsarchiv und Magistratsregistratur vollzogen.
i) Aosnihrlicher hat der Verfasser den Gegenstand in dem Aufsätze GtschichU des
(Menbwrger Stadtarchivs im Gemeindeblatt der Stadt Oldenburg Nr. 16/17 ▼om
27. April 1907, S. 71—86 behandelt.
20*
— 282 —
An der Art der Aufbewahrung änderte das jedoch noch nichts. Der gröfite
Teil des Materials, namentlich die Akten, befand sich zwar im Registratur-
zimmer des Rathauses, das übrige aber war in den verschiedenen Bureaux
und Sitzungszimmern verstreut Ein Umbau des ganzen Gebäudes 1886/87
machte einen zweimaligen Umzug notwendig, was die Ordnung natürlich
nicht förderte. Nach der Rückkehr der Behörden in das neu hergestellte Haus
stellte sich, obwohl es vergrößert worden war, bald Platzmangel ein, und die
Archivalien hatten das zu büßen. Statt in dem für sie bestimmten Zimmer
Aufstellung zu finden, kamen sie meist auf den Boden und gingen hier all-
mählich völliger Verwahrlosung entgegen. In dieser Ver&ssung fand ich sie,
als mich Studien, die ich zur Stadtgeschichte anstellen wollte, im Jahre 1903
auch auf den Rathausboden führten. Um mir die Benutzung zu ermöglichen,
erbot ich mich, eine Neuaufstellung und Ordnung in die Hand zu nehmen.
Nachdem die städtischen Körperschaften, bei denen ich befriedigendes In-
teresse und Entgegenkommen fand, die erforderlichen Mittel bereit gestdlt
hatten, begaim die Überführung der auf dem Boden lagernden Archivalien
nach einem vorläufig genügenden Raum in der Städtischen Oberrealschule,
wo die Neuaufstellung im Herbst 1906 beendet wurde. Da der in der
Rathausregistratur befindliche Teil der älteren Sachen gleichfalls hergegeben
wurde, so sind nunmehr zum ersten Male alle Archivalien räumlich ver-
einigt, und ein Stadtarchiv als besondere Verwaltungsstelle ist begründet worden .
Der etwa 8:5 m große Raum, in dem die städtischen Archivalien
nunmehr untergebracht sind, liegt zwar im Souterrain des genannten
Schulgebäudes, ist aber durch gute Zementierung des Fußbodens imd
sonnige Lage gegen Feuchtigkeit, außerdem durch steinerne Wände und
starke Gewölbe in dem durch Blitzableiter gut gesicherten Hause gegen
Feuersgefahr geschützt. Vor den Fenstern sind an der Innenseite dicke
Eisenstangen in die Mauer gelassen. Die Repositorien, teils an den Wänden,
teils in der Mitte stehend, bestehen aus Holz und sind ohne Anstrich; auch
sonst macht die Einrichtung einen etwas provisorischen Eindruck. Da die
Zentralheizung des Gebäudes sich leider nicht in diesen Raum erstreckt, so
koimte die Aufstellung eines Ofens (Gasofens) nicht umgangen werden, der
freilich in der kältesten Zeit keine ausreichende Wärme gibt. Indessen ist
doch hier die bequeme Benutzung der Archivalien möglich, und für eine
absehbare Zukunft ist die Verlegung des Archivs in neue, eigens dafUr ein-
gerichtete Räume vorgesehen, die in einem demnächst durch Umbau zu ver-
größernden städtischen (Kirch-) Turm, dem einzigen noch vorhandenen mittel-
alterlichen Gebäude, daifür geschaffen werden sollen.
Die Urkunden (bisher 181 Nummern v. J. 1342 — 1798), die frühei
zusammengefaltet und in Papierumschläge gewickelt mit heraushängender
Siegeln in einer eisernen Kiste lagen, befinden sich jetzt auseinandergebreite
und zwischen Papierbogen gelegt, in Pappschachteln. Die Akten liegen
mit Bindfäden verschnürt, einstweilen noch ohne Schutzkartons auf dei
offenen Gestellen, doch werden sie wahrscheinlich später gleich den Buchen
zum Aufstellen eingerichtet werden.
Über die Urkunden gab es bisher schon ein kurzes, 1888 im städtische]
Gemeindeblatte abgedrucktes chronologisches Verzeichnis, doch reicht dieses
zumal da bei der Neuordnung eine ganze Reihe neuer Urkunden (über aoo
— 283 —
hinzugekommeii ist, nicht aus, und es ist daher mit einer genauen Regestieniog
bereits begonnen worden. Bei der Repertorisierung der Akten konnte, dem
Provenienzprinzip getreu, die nach 1833 geschaffene Alte Registratur zugrunde ge-
legt werden, deren Repertorium wieder aufgefunden wurde ; damit verschmolzen
wurden die in späteren Jahrzehnten bis zuc Gegenwart ausgeschiedenen Bestände
der Neuen Registratur, die nach demselben System eingerichtet war. Über an-
dere Teile des Archivs, wie die Gerichtsakten, die Akten aus der französischen
Zeit, die Bücher, fanden sich nur Bruchstücke von Repertorien, indes hat sich mit
Hilfe der Titel und Signaturen die ursprüngliche Ordnung wiederherstellen
lassen. Nur bei denjenigen Stücken, die ohne Schnüre imd Aktendeckel
an dem letzten Aufbewahmngsorte lose umherlagen, war eine zeitraubende
Sortierung nach dem Inhalte nötig, die noch nicht zu einem in allen Punkten
befriedigenden Abschlüsse gediehen ist Nachdem die einzelnen Teile des
Archivs repertorisiert sind, wird ein Gesamtrepertorium die Teilrepertorien
in sich vereinigen. Auch die Anfertigung von Registern bleibt noch zu
erledigen.
Den Hauptinhalt des Archivs bilden natürlich die von den Gemeinde-
behörden und -beamten herrührenden Archivalien, vor allem die Registratur
des Magistrats, die nach historisch gegebener Einteilung in die beiden Zweige
der Verwaltung (nebst Polizei) und Rechtspflege zerfallt Eine hiervon un-
abhängige Gruppe stellt die aus der französischen Okkupationszeit (18 10 —
18 13) stammende Registratur dar. Aus praktischen Gründen ist auch der
Registratur der Stadtkämmerei , obwohl der Kämmerer früher ein Mitglied
des Magistrats war, Selbständigkeit verliehen worden. Femer bilden die
Bücher und Akten der nicht zum Rat gehörigen städtischen Baumeister und
Armenvorsteher, sowie der Rest von der Registratur des Kirchenkollegiums,
deren größter Teil 1841 an den Staat abgegeben worden ist, besondere
Teile. Neben diesem Stadtarchiv im engeren Sinne sind sodann die Gruppen
„Archive städtischer Korporationen*' und „Familienarchive'' gebildet worden,
deren Inhalt städtischen Gilden, Innungen, Gesellschaften und Familien entstammt.
Der Abschnitt „Sammlungen*' um£aßt lose Siegel, Pläne und Karten usw.
Gedruckte Bücher aus älterer Zeit, die sich im Rathause vorfanden, sind mit
neuangeschafllen Werken zu einer Archivbibliothek vereinigt worden . Im
ganzen ist, wie man sieht, das Provenienzprinzip bei der Einteilung zugnmde
gelegt. Daher erscheinen die Urkunden, Akten und Bücher als Unter-
abteilungen innerhalb der einzelnen Archivgruppen, doch stellt sich tatsäch-
lich das Verhältnis so, daß der weitaus überwiegende Teil der Urkunden
und Akten dem Magistratsarchiv zuMt. Die gewählte Gliederung veran-
schaulicht die Entstehung des Archivs, sowie die Geschichte der städtischen
Verfassung und ermöglicht es, dem Archiv jeglichen Zuwachs ohne Änderung
der Gesamtorganisation einzuverleiben.
Die literarische Verwertung des von dem Stadtarchiv dargebotenen
Materials bleibt noch weit hinter den Grenzen ihrer MögUchkeit zurück.
Und doch bildet letzteres eine wertvolle Ergänzung zu den Beständen des Groß-
herzoglichen Haus- und Zentralarchivs. Dort werden auch die KoUektaneen
des früheren oldenburgischen Geschichtsforschers Ludwig Strackerjan auf-
bewahrt, der die städtischen Archivalien viel benutzt hat; im Druck ist von
seinen Arbeiten erst nach seinem Tode einiges erschienen. Neuerdings habe
— 284 —
ich selbst bei einer Reihe von Aufsätzen, die meist im Jahrbuehe für die
Oeschichte des Hereogtums Oldenburg veröffentlicht sind, das Stadtarchiv
verwertet. Mehrfach ist es auch für genealogische Forschungen in Anspruch
genommen worden. Die neue Ordnung wird hoffentlich nach allen Seiten
für das Studium von Nutzen sein.
Dietrich Kohl (Oldenburg).
Pamilienbriefe als kulturgeschichtliche Quelle. — Solange man
geschichtliche Forschung wissenschaftlich betrieben hat, ist man wohl da-
von überzeugt gewesen, daß der Brief neben Urkunde tmd Annale eme
wichtige historische Quelle bildet, — eine Quelle, die um so wertvoller ist,
weil sie in der Regel von Dingen spricht, die der Zeit des Briefischreibers
angehören. Zu diesem „ zeitgenössischen*' Charakter tritt noch meist ein
anderer Wert des Briefes als Quelle. Der Briefschreiber wird in der Regel
von Ereignissen berichten, die in seiner Nähe, seiner Umgebung vor-
gefallen sind und die er nun dem Empfänger des Briefes in der „Feme*'
mitteilen will. Ja sehr oft spricht wohl aus dem Brief heraus der Augenzeuge!
Nach diesen zwei Seiten hin hat man denn auch früh den Brief m
seiner Bedeutung als Quelle erkannt und ihn zur Erforschung des Tatsäch-
lichen, der Ereignisse , des Geschehenen benutzt. Und da es zunächst dar-
auf ankam, die öffentlichen Ereignisse, das staatliche und poli-
tische Leben zu erforschen, so zog man naturgemäß nur die Briefe als
Quellen heran, in denen diese Seiten des Lebens berührt waren. Letzteres
war vorwiegend der Fall bei Briefen, die aus der Feder von Männern oder
Frauen des öffentlichen Lebens stammten. Derartige Staatsmänner-, Minister-,
Ratshermbriefe waren ja auch leichter zu haben, da staatliche wie städtische
Archive für Aufbewahrung von Briefen dieser Art schon seit altersher Sorge
getragen hatten. Und wo diese Briefe in handschriftlicher Form schwer er-
reichbar waren, da edierte man sie, so daß heute an gedruckten Briefen
kein Mangel mehr ist, vielmehr, wie Steinhausen ^) ganz richtig bemerkt:
„die Publikation von Briefen in politisch - historischem und namentlich in
literarhistorischem Interesse nach unbefangener Auffassung in unseren Tagen
das berechtigte Maß zu überschreiten droht".
Besonders gefördert wurde dieses Herausgeben von Briefen sowie über-
haupt das Heranziehen des Briefes bei geschichtlicher Forschung durch die
biographische Geschichtsschreibung, im besonderen nicht unwesent-
lich durch Arbeiten auf dem Gebiete der Dichtung, denn die Literatur-
geschichtsschreibung beschränkte sich für lange Zeit im wesentlichen auf die
Biographie der Dichter.
Aber auch jetzt blieb man grundsätzlich auf dem alten Standpunkt
stehen, indem man auch wieder nur solche Briefe beachtete, die von Männerri
und Frauen stammten oder an solche gerichtet waren, die ihrer persönlichen
Bedeutung wegen Interesse beanspruchen durften. Wie man vorher Briefe
von Königen, Ministem, Ratsherrn, kurz Männern der Öffentlichkeit als Quelle
benutzt hatte, so sammelte man jetzt solche von Dichtem imd Schriftstellern,
i) Briefwechsel Balthasar Paumgartners des Jüngeren mit seiner Oattif
Magdalena (Tübingeo 1895), Einleitung.
— 285 —
Gelehrten und Künstlern: also auch wieder von Männern, die infolge ihrer
höheren geistigen Fähigkeiten über dem Durchschnitt der Menschheit standen.
Dieser Entwickelung der Briefedition folgend zieht auch Steinhausen, in
seiner Geschichte des deutschen Briefes (Berlin 1889 — 91, 2. Aufl. 1893),
in der Hauptsache das Briefinaterial heran, das von Personen stammt , die
aus der Masse herausragen.
Zwar hat Steinhausen wohl bei Herausgabe dieses Werkes bereits jene
Erkenntnis, die hinter dem bisher ausgesprochenen ruht, besessen, wie er
sie ja sechs Jahre später in der Einleitung bei Herausgabe des oben zitierten
Briefwechsels aussprach. Aber einmal stand ihm wohl Briefmaterial im
Sinne des schlichten Privatbriefes nicht zur Verfügung, zum andern aber
war das Ziel, das er bei Benutzung der Briefe zu historischer Forschung er-
strebte, ein anderes: Steinhausen will das Formale nicht als Mittel zum Zweck
haben, ihm ist es Selbstzweck, weil er nicht darauf hinzielt, mittels der Briefe
bis auf den psychischen Kern der Zeit durchzudringen. Das ist wohl auch
der Grund, warum er in seiner sonst so verdienstvollen Arbeit nicht auf
die Fragen kommt, an die gerade die Briefiiteratur unmittelbar heranführt.
Wer nur das öffentliche Leben schildern will, dem mögen vielleicht
die Briefe oben angeführter Art genügen, der wird aber aus ihneü auch nur
das Äußere und Allgemeine, das Große und Summarische des Lebens er-
forschen können. Entspricht das aber dem Wesen des Briefes? WiU dieser
nicht vielmehr die Mitteilung des Intimen, Familiären und dabei zugleich die
Äußerung des Seelischen sein? Wenn er aber das ist, — und daß der Brief
im letzten Grunde den bezeichneten Zweck hat, darüber kann wohl kein
Zweifel obwalten — , so muß der Forscher, der aus ihm „Geschichte" ge-
winnen will, auch den Brief des gemeinen Mannes, schlechthin den Fa-
milie n b r i e f, gleichgültig von wem er stammt, beachten. Wenn der Historiker
den schlichten Familienbrief als Quelle benutzt, so wird er auch zu anderen
Resultaten kommen. Er wird nicht nur das verwerten, was der Brief sagt,
sondern auch die Art, wie er es sagt ; freilich nicht um seiner selbst willen !
Vielmehr wird er hinter den geschilderten Tatsachen aus der Art der Schil-
derung das Seelenleben des Briefschreibers beobachten können, und wenn
sich daim gleiche seelische Eigenschaften in vielen, ja den meisten Briefen
ein und derselben Zeit, in denen derselben Gesellschaftsschicht und desselben
Volkes wiederholt finden, so wird er sogar das Seelenleben der betreffenden
Kulturgemeinschaft, ja des ganzen Volkes aus den Briefen zu erkennen ver-
mögen. Damit wird ihm aber der Brief zur kulturgeschichtlichen
Quelle, zu einer Quelle, die neben dem eben erwähnten Kern des jeweiligen
Volkslebens, dem Psychischen, zugleich die Betätigung des Individuums in
der Familie, die Entwickelung des Familiensinns, zeigt und damit die Ge-
schichte der Familie aufklären hilfl.
In dieser Weise den Brief als kulturhistorische Quelle zu benutzen, hat
sich der Schreiber dieses zur Aufgabe gestellt. Nun wird es ihm freilich
versagt bleiben müssen, für weit zurückliegende Zeiten mit Hilfe von Familien-
briefen Volksleben und Familiensinn zu erforschen, denn wohl schwerlich
werden sich sehr zahlreiche Privatbriefe finden lassen aus Zeiten, die mehrere
Jahrhunderte zurückliegen. Daher wird man sich zunächst an das XIX. und
XVIII. Jahrhundert halten müssen, wovon das letztere, weil besonders brief-
— 286 —
reich, den Vorzug verdient. Auch räumlich wird sich vielleicht die Be-
schränkung auf eine bestimmte Landschaft als notwendig oder wenigstens
zweckmäßig erweisen, aber welche etwa zunächst dafür in Frage kommt, das
wird von der Fülle des Stoffes abhängen, der zu Gebote steht. Am ver-
lockendsten wäre es gewiss, Mitteldeutschland zuerst in der bezeich-
neten Richtung zu untersuchen, weil es im XVUI. Jahrhundert den Mittel-
punkt geistigen Lebens in Deutschland bildete imd seine Strahlen nach allen
Richtungen hin aussandte. Aber eben unter dem letzteren Gesichtspunkte
wird es sich nötig erweisen, auch alle anderen Landschaften mit in den
Kreis der Betrachtung zu ziehen.
Mit diesen kurzen Darlegungen möchte der Verfasser dieser Zeilen seine
eigenen Absichten kurz andeuten und hofft damit im Kreise der Geschichts-
forscher Verständnis zu finden. Unter der Voraussetzung, dafi dies der Fall
ist, gestattet er sich aber auch eme Bitte zur öffentlichen Kenntnis zu
bringen. Die Arbeit, wie sie geplant ist, läßt sich nur ausführen, wenn
eine genügend große Anzahl von Familienbriefen zur Ver-
fügung steht, deren Form und Inhalt näher untersucht werden
kann. Gedruckt ist ja davon nur ein verschwindend kleiner Bruchteil, und diese
Briefe finden sich überdies noch überall zerstreut, so daß es schon große
Mühe verursacht, sie in Biographien und ähnlichen Druckschriften ausfindig
zu machen. Aus diesem Grunde sei an dieser Stelle öffentlich an alle Ge-
schichtsforscher und Freunde der Geschichte die Bitte gerichtet, sie möchten
die geplante Arbeit dadurch unterstützen, daß sie darauf aufmerksam
machen, in welchen Archiven, Bibliotheken, Ortsmuseen,
Privatsammlungen oder persönlichem Privatbesitz sich Familien-
briefe aus der Zeit von 1700 bis etwa 1830 finden. Auch
Blätter aus Stammbüchern, soweit sie eigene, d. h. vom Schreiber selbst ver-
faßte Einträge enthalten, werden bei der Forschung von Wert sein können,
und nicht minder sonstige ungedruckte Prosamitteilungen; auf diese wird
deshalb gebeten, das Augenmerk gerade so wie auf Briefe zu lenken.
Der Herausgeber der Deutschen Geschichtsblätter hat sich bereit er-
klärt, die Vermittelung zu übernehmen, und an ihn wird deshalb gebeten,
die etwaigen Mitteilungen gelangen zu lassen.
Möchte jeder, der diese Zeilen liest, dabei im Auge behalten, daß es
bei derartigen Sammlungen gerade auf den Einzelnen ankommt, denn nui
durch viele kleine Zusendungen — und wenn es auch nur ein oder zwe
Briefe wären — wird ein umfangreiches Material gewonnen und erst durcl
Beihilfe vieler die Lösung dieser interessanten und für die Wissenschai
nicht unwichtigen Aufgabe gewährleistet. A. K.
Eingegangene BOeher.
Falk, Franz: Marianum Moguntinum, Geschichte der Marienverehning un<
der Immakulata-Tradition im Bistum Mainz und am Mittelrhein. Mains
Druckerei Lehrlingshaus* 1906. 217 S. 8^ M. 2, so.
Hoffmann, H. Edler von: Deutsches Kolonialrecht [= Sammlung Göschen
Leipzig, G. J. Göschen 1907. 150 S. 8**. geb. M. 0,80.
U«ra«tfeber Dr. Armin Tille in Lciptiy.
VerUf und Druck von Friedrich Andrem» Perthes, AkbenfeselUchaft, Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
mr
Förderung der landesgeschichtlichen Forschung
VIII. Band August/September 1907 11./12 Heft
Visitationsakten als Gesehiehtsquelle
Von
Georg Müller (Leipzig-)
Bei den neueren Verhandlungen über den Verlauf und die Be-
deutung der kirchlichen Bewegung des XVI. Jahrhunderts haben die
Visitationsberichte mehrfach eine völlig entgegengesetzte Auslegung
erfahren. Während die Verteidiger der alten Kirche sie zur Recht-
fertigung ihrer Vorwürfe gegen die reformatorische Bewegung be-
nutzten, wurde von den Vertretern der letzteren ihre Notwendigkeit
gerade mit den Ergebnissen der genauen amtlichen Untersuchungen
begründet ').
Jedenfalls geht aus den Auseinandersetzungen der Parteien die
Bedeutung und Wichtigkeit dieser Geschichtsquelle klar hervor. Auch
heute noch möchte man mit einem Rezensenten des Allgemeinen
LUerarischen Anzeigers aus dem Jahre 1797 (Sp. 296) sein Erstaunen
darüber aussprechen, wie es gekommen sei, daß dieses wichtige
Material, das so viel zur Kenntnis vergangener Jahrhunderte beiträgt,
so lange unbeachtet geblieben ist. Auch P. Tschackert hat mit
Recht hervorgehoben: „Detaillierte Visitationsberichte sind die zuver-
lässigsten und lehrreichsten Quellen für eine möglichst objektive Er-
kenntnis der kirchlichen Zustände ihrer Zeit"*).
Die Visitationen, schon in der alten Kirche gebräuchlich, waren
i) Fr. Roth, Zur neueren reformationsgeschichüiehen Literatur Süd- und
Miiteldeutschlanda in den Deutschen Geschichtsblättern, 7. Band, S. 165. 166. 169. —
G. Liebe, Die Herausgabe von Visitationsprotokollen im Korrespondenzblatt des Ge^
samtvereins der deutschen Geschichts- and Altertamsvereine, 51. Jahrgang (1903), S. 48.
2) Theologische Stadien and Kritiken, Band LXIII (1890), S. 614. — Vgl. aach
M. Lingg, Geschichte des Instituts der Pfarrvisitation in Deutschland (Kempten
1888), S. 4: „Diese Akten, aach nar nach gewissen Jahrgängen oder Gesichtspunkten
▼eröffentlicht, wären eine Fandgrabe für Lokal-, Spezial- and namentlich Kaitargeschichte.
Leider ist diese Geschichtsqaelle bisher fast ganz anbenatzt geblieben."
21
— 288 —
im fVankenreich genau vorgeschrieben, besonders von Karl dem
Großen im Interesse der Volkserziehung hochgeschätzt und bildeten
eine wichtige Seite der Tätigkeit des Bischofs *). Solange er selbst
sie vornahm, war eine schriftliche Feststellung des Tatbestandes nicht
nötig, namentlich dann nicht, wenn keine besonderen Verhältnisse
vorlagen. Doch sind einzelne schriftliche Berichte erhalten. Erwähnt
sei das älteste, uns erhaltene Visitationsprotokoll des Bischofis Ercham-
bert von Freising (835 — 854). Es beginnt: Breve cammemarcUorium;
Hie innoCescit, quid ibi invenimtis ad Perechirichum. Genau wird die
Kirche mit ihren heiligen Ausrüstungsstücken, das Kirchenvermögen
unter Angabe der Zahl der zugehörigen Dörfer beschrieben, dann
eine eingehende Beschreibung des Pfarrhauses mit seinen Beiwohnern
und dem Inventar gegeben ; es ist ein umfangreicher, wohlgeordneter,
landwirtschaftlicher Betrieb, der geschildert wird *).
Erst als der Bischof andere mit der Visitation beauftragte, nament-
lich solche, die nicht an seinem Sitze lebten, wurde ein schrift-
licher Bericht und damit eine genauere Aufzeichnung über den Be-
fund, den Gang und das Ergebnis der Verhandlungen wünschenswert
oder notwendig *). Dieser Wandel vollzog sich im Laufe des XI. Jahr-
hunderts und gelangte im nächsten zum Abschlüsse. Einzelne Bischöfe
nahmen wohl die Visitationen noch selbst vor; der größere Teil über-
ließ sie einem Stellvertreter, meist dem Archidiakon — der bisher
der Begleiter gewesen war und wohl nun das Geschäft selbst wieder
einem Beauftragten übergab — oder dem Archipresbyter oder Dekan,
oder schließlich auch dem bischöflichen OiSzial oder Vikar. Jetzt
wurden die Anweisungen über die schriftlichen Berichte getroffen.
i) E. Friedberg, Lehrbiich des luUhoKschen und evangelischen Kirchenrechts
4. Auflage (Leipzig 1895), S. 297 ff. — G. Uhlhorn, KirchenmsiUUionen in der Beal
ensyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Auflage (Leipzig 1901)
Band X, S. 480—485. ~ J. Janssen, GesdUchte des deutschen Volkes, 3. Band
5. 56—67. — G. Müller, Verfcusungs- und VerwaUungsgeschichte der sächgischet
Landeskirche in den Beiträgen fUr sächsische Kirchengeschichte, Heft 9, S. 152 — 212.—
J. Köstlin, Martin Luther. Sein Leben und seine Schriften, 5. Auflage, ... toi
G. Kawerau (Berlin 1903), Band II, 3. Kapitel: Kirchenvisitation, S. 26 — 41.
2) C. Meichelbeck, Historia Frisingensis (Augsburg 1724), Band i, S. 126. —
Lingg a. a. O., S. 24, Anm. i; S. 74 f.
3) Lingg a. a. O., S. 24ff. — Vgl. Hilling, Die westfälischen Diözesansyno
den bis zur Mitte des XIII. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur geistlichen Verfassnngs
geschichte der Bistümer Münster, Paderborn, Osnabrück und Minden (Lingen 1898). —
D ö b e n e r , Hildesheimische Synodalstatuten des X V. Jahrhunderts in der Zeitschril
des historischen Vereins für Niedersachsen (1899).
— 289 —
So erließ Bischof Konrad II. von Meißen 1374 folgende Be-
stimmung ^) : Qtuindo visiUUionis officium per nos vd dlios exercere de
cetera voltimus, notarium publicum et testes apud nos seu visitcUares
nostros habere debemus, gui in visitatione detecta fideliter conscribat et
ccpiam super eisdem, si necesse fuerit, et iam sub manu publica patenti
faciat. Wie wenig von dieser Bestimmung Gebrauch gemacht worden
ist, geht aus dem Fehlen derartiger Aufzeichnungen im Dresdener
Hauptstaatsarchive hervor, wie überhaupt die Visitationen in dieser
Zeit zurücktreten. Unter den zahlreichen Urkunden, die uns von den
Bistümern erhalten sind, beschäftigen sich nur verschwindend wenige
mit der Visitation. Aus dem Hildesheimschen sei die Urkunde von
1230 erwähnt, die Anweisungen über die Tracht der Nonnen u. a. m.
im Kloster Heiningen enthält*). So ist es erklärlich, daß, als der
EjTzbischof von Köln sein Visitationsrecht im Jülichschen Gebiete
wieder aufnehmen wollte, seitens der herzoglichen Regierung Wider-
spruch erhoben wurde und die Berufung auf die kaiserliche Instanz
sich als erfolglos erwies ').
Diesem Mangel an Nachrichten im Mittelalter steht im XVI. Jahr-
hundert die Fülle von Visitationsakten gegenüber, die sowohl aus den
der alten Kirche treu gebliebenen Gebieten, wie aus der Verwaltungs-
tätigkeit der für die Reformation gewonnenen Landschaften stammen.
An der Spitze der letzteren stand Kursachsen*), in dem Friedrich
der Weise nur zögernd vorging, während nach Hausmanns und Luthers
Ratschlag Kurfürst Johann im Einverständnisse mit dem Kurprinzen
Johann die Sache kräftig in die Hand nahm und Vorbilder für das
evangelische Deutschland schuf. Preußen, Brandenburg -Baireuth,
Hessen, Braunschweig und zahlreiche Städte folgten. Reformation
und Visitation standen in engstem Zusammenhange. Entweder be-
reitete die Visitation die Reformation vor oder die Visitation war die
Folge der in Angriff genommenen Reformation.
Visitationskommissionen , die ' aus Theologen und Juristen zu-
sammengesetzt waren, durchzogen das Land, um die Übelstände an
i) Cod. dipl. Sax. reg., i. Abteil., 2. Band, p. 155.
2) Hoogeweg, Urkundenbuch des HochsUfts HUdeaheim und seiner Bischöfe
(HanDOTer und Leipzig 1901), Nr. 583.
3) Redlich, Jülich'Bergisehe KirchenpoUHk am Ausgange des Mittelalters und
in der BeformaHonseeü (Bonn 1907), i. Band, S. 8o» u. ö.
4) Pallas, Die Begistraiwren, i. Abteil., Vorwort and S. I ff. — G. Mttller,
Die Kirchenvisitationen und Kinhenordnungen in den Beiträgen zur sSchsischen Kirchen-
geschichU, 9. Heft, S. 152—218.
21*
— 290 —
Ort und Stelle zu untersuchen und auf die Abstellung hinzuwirken.
Zunächst handelte es sich um die Angelegenheiten, über die am
meisten geklagt wurde : die Amtsführung, das sittliche Leben und die
Bildung der Geistlichen, die Gestaltung des Gottesdienstes, den kirch-
lichen Unterricht der Jugend, das religiöse und sittliche Leben der
Gemeinde. Die neue kirchliche Verfassung und Verwaltung unter
Superattendenten wurde angebahnt.
Spätere Visitationen dienten der Sicherung der reinen Lehre.
Namentlich Kurfürst August von Sachsen suchte in der Visitation von
I555i wie in den Generalvisitationen und Lokalvisitationen seit 1574
diesen Gedanken durchzuführen. Auch nach dem Sturze der Krj^pto-
kalvinisten handelte es sich um das gleiche Ziel. Nachdem die Not
des Dreißigjährigen Krieges zahlreiche umfangreiche Visitationen ver-
anlaßt hatte, erlahmte das Interesse. Die Visitation war eine papieme
Maßregel geworden. Erst seit Mitte des XIX. Jahrhunderts traten die
Bemühungen wieder auf.
Welche urkundlichen Stücke stehen als Quellen zur Verfügung?
I. Die Instruktionen. Die für die ersten Visitationen waren
nur kurz und beschränkten sich auf allgemeine Anweisungen, weil die
Behandlung und Entscheidung der Streitfragen, die Ordnung der vei-
schiedenen Angelegenheiten dem Ermessen der Kommissare anheim-
gestellt wurde. Aber als später alle wichtigeren Fragen dem Landes-
fürsten und seinen Räten unterbreitet wurden, als der Synodus darüber
zu beraten hatte, als die Visitationen nur zu bestimmten Zwecken, z. B.
zur Feststellung und Sicherung der Rechtgläubigkeit erfolgten, da
wurden die einzelnen Punkte genau hervorgehoben und bestimmte
Richtlinien gegeben. Als Beispiel sei die Instruktion erwähnt, die
1574 in Kursachsen für die Lokalvisitationen erlassen wurde. Sehling
hat sie auszugsweise aus dem Zerbster Superintendenturarchive *), Pallas
wörtlich aus dem Magdeburger Staatsarchive *) veröffentlicht. Bemer-
kenswert ist hier gleich im Anfange (Artikel II) die Hervorhebung des
legalen Charakters der Bestimmungen unter Hinweis auf die Mitwirkung
der gesetzmäßigen Faktoren bei der Entstehung : Dieselben artikd haben
erstlich s. kurfürstl. gn. zusampt derselben räthen durch die gegen Torgau
erforderten landstände und etzliche vomefne, dar zu deputierte theologen
emstlicJi und christlich bewegen und berathschlagen lassen. In achtzehn
zum Teil umfangreichen Artikeln erfolgen die einzelnen Anweisungen.
i) Schling, Evangelische Kirchenordnungen, Band I, i, S. 352—354.
2) Pallas, Die Registraturen der Kirchenvisitationen. Allgemeiner Teil, S. 89
bis 97.
— 291 —
Für die in der Instruktion nicht berührten Punkte werden die
Visitatoren des Fürstentums Calenberg von Herzog Julius 1588 auf
die Kirchenordnung, Gottes Wort, Erhaltung der reinen Lehre und
wie sie es hiemächst vor Gott und uns, unseren Erben und jedermännig-
liehen unvorweislich verantworten können und mögen, verwiesen *), wäh-
rend in der Oberpfalz ihnen zu erfolgreicher Durchführung ihres Werkes
1558 die erbetene weitgehende Vollmacht in dreifacher Richtung er-
teilt wird *).
Aus praktischen Gründen wurde die Instruktion oder einzelne
Teile durch den Druck veröffentlicht und den Gemeinden zugeschickt,
z. B. in Kursachsen 1555, damit sie zur Erinnerung und Verwarnung
von den Pastoren und Predigern in jeder Kirche vom Predigtstuhl ab-
gelesen und verkündigt werden sollten ').
2. Urkunden und Dokumente. Damit den Visitatoren ein
gründlicher Überblick ermöglicht wurde, hatte der Pfarrer die Ab-
schriften der Kirchen- und Schulordnungen beizubringen, wenn solche
vorhanden waren, oder die bestehende Übung aufzuschreiben. Die
Schriftstücke wurden zu den Akten genommen. Auch über die be-
stehenden Stiftungen von Altären und Bruderschaften waren die Nach-
weise vorzulegen ; besondere Sorgfalt wurde der Feststellung des Ein-
kommens der Kirchen, Geistlichen, Lehrer und Schulen zugewendet.
Gerade bei den ersten Visitationen spielen diese Nachweise eine große
Rolle. Während die Kirchen- und Schulordnungen schon zum Teil
veröffentlicht worden sind, ist dagegen für die Ausnutzung des Mate-
rials über die Dörfer wenig geschehen. Bei der Visitation von 1555
wird erwähnt in Glashütte ein Lehnbrief vom Herzog Georg vom Jahre
1511*); ein Vertrag wegen des heiligen Brunnens in Weißig*), bei
dem der Prior und zwei Brüder des Augustinerklosters zu Altendresden
(Dresden-Neustadt) zugegen sind; zu Krögis eine Annenbruderschaft,
von der seit 15 Jahren die dem Geistlichen zukommenden jährlichen
30 gr. nicht gegeben werden *) ; zu Raußlitz ein Kaiandgarten, dessen
Besitzer Handarbeit tun mußte ^); Lehnbriefe in Skäßgen ®); ein Seque-
i) Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte, 8. Jahrg., S. 118.
2) F r. L i p p c r t , Die BeformaHon . . . der Oberpfaiz (Rothenburg o. T. 1 897), S. 69.
3) Pallas, Die Registraturen. Allgemeiner Teil. S. 53, Anm. i.
4) Dresdener Hanptstaatsarchiv, Loc. 1987. Visitationsbach des Meißnischen Kreises,
1556. Bl. 89.
5) Ebenda Bl. 304 b.
6) Ebenda Bl. 375.
7) Ebenda BL 383.
8) Ebenda Bl. 550.
— 292 —
strationsabschied zwischen Pfarrer und Kloster zu Sornzig vom Jahre
1541 *); zu Mühlberg eine Urkunde von Sigismund Pflug, praepositus
Heynensis, vom Jahre 1492 *) u. a. m. Bei der Visitation der Supcrin-
tendentur Pegau wird in Audigast (Audias) erwähnt ein Vertrag zwi-
schen Herrn von Peris und dem dortigen Gotteshause. Da er untei
dem Bischöfe Adolf von Merseburg abgeschlossen ist, fallt er in die
Zeit zwischen 15 14 und 1526*).
3. Die Ergebnisse wurden in den „Abschieden"*) odei
„Rezessen"*) zusammengefaßt, die die wichtigsten Punkte enthiel
ten, freilich noch der Genehmigung der Fürsten bedurften. Ob si<
immer erfolgte, ist nicht ersichüich. In einem Falle hat die Gelegen
heit noch neuerdings zur Verhandlung Veranlassung gegeben. In
Jahre 1559 war bei Gelegenheit der Visitation der Stadt Bischofswerd
dieser das Versprechen gegeben worden, daß sie allezeit der Sitz eine
Superintendenten sein solle ®). Als nun Bischofswerda bei Gelegen
heit der Frage der Verlegung der Superintendentur von Radeber
sich auf ihr altes verbrieftes Recht berief, stellte sich heraus, da
wohl eine Abschrift des Visitationsrezesses erhalten war, daß aber di
Bestätigung desselben durch den Kurfürsten sich nirgends fand.
Die Anordnungen der Visitatoren zerfielen nicht selten in zw
Gruppen : a) in die Generalia '), die für einen großen Bezirk oder dj
ganze visitierte Gebiet galten und allgemeine Anordnungen enthielte
und b) solche, die nur einzelne Gemeinden angingen.
4. War die Visitation abgeschlossen, so wurde ein Bericht i
den Kurfürsten erstattet, ein Exemplar an das Konsistorium abgegebe
Die Akten führten wohl auch den Namen „Registratur" ®). Vielfa<
i) Ebeodm Bl. 731.
2) Ebenda BL 550.
3) Dresdener HauptstaaUarchiv, Loc. 1986. Registratur der Visitation der Sapei
tendentur Pegau, 1574. — Loc. 2000, Acta XII. Visitatioms Loedlis vemalis a«
Christi 1584. Nach Bl. 145 enthält ein Register und ordentliches VerzeichDis aj
Kirchen and Pfarren durch den Leipziger Kreis, aus dem „ Dienerbach *' gesogen (15^
38 Blätter Folio, mit Seitenzahlen, die mit der Paginierung des Aktenstückes nicht üt
einstimmen.
4) Dresdener Hauptstaatsarchiv, Loc. 10594. Visitation 1540. Bl. 45: Abschied, .
▼on Roflwein übergeben.
5) Rezeß erwälmt in einer Abschrift des Bischofswerdaer Saperintendenten ^
36. Mai 1723 in einem Kodex des Bischofswerdaer Pfarrarchivs.
6) Sehling, Kirchenordnungen, i. Abteil., 2. Hälfte, S. 104.
7) Pallas, Die Begistraturen, Allgemeiner Teil. S. 33. 36. 38. 69 u. ö.
8) Ebenda S. XUL — Relation der VisiUtion, Pallas, Registraturen, Band L
S. 80. 84. 177.
- 293 —
wurde der Name Visitationsprotokolle *) gebraucht, wiewohl diese Akten
nicht immer den Anforderungen entsprechen, die wir an das Proto-
koll zu stellen gewöhnt sind. Die wichtigsten Punkte unterlagen noch
der Behandlung des Spnodus. Seine Beschlüsse wurden den Superin-
tendenten zur Mitteilung an die einzelnen Geistlichen und Kirchen
zugestellt.
Während in den katholischen Gebieten im allgemeinen die
Aufrichtung der Visitationen an die mittelalterliche Tradition anknüpfte,
ging der im übrigen der römischen Kirche treue und um ihren Schutz
bemühte Herzog Georg von Sachsen wesentlich andere Wege *). Was
in den kirchlichen und namentlich den klösterlichen Kreisen das
höchste Aufsehen erregte, war, daß er bei seinen Bemühungen, Zucht
und Ordnung in seinen Klöstern herzustellen, völlig auf die Mitwirkung
der geistlichen Personen verzichtete ; auch, als ihm der Vorschlag ge-
macht wurde, zu den getroffenen Anordnungen die Einwilligung des
heiligen Vaters einzuholen, dies kurzerhand ablehnte. Zwei angesehene
Leipziger Universitätsprofessoren, Georg von Breitenbach und Melchior
von Ossa, wurden mit der Visitation der Klöster seines Herzogtums
beauftragt.
Ihre Berichte enthalten wertvolles Material über die kirchlichen
Zustände und den wirtschaftlichen Rückgang. Mit Ausnahme der
Deutsch -Ordens -Kommende Zwätzen bei Jena und des Zisterzienser-
nonnenklosters Beutitz bei Weißenfels fand sich überall die gewissen-
loseste Raubwirtschaft in den Waldungen, an der sich zum Teil sogar
herzogliche Beamte beteiligten. Mangelhaft war die Rechnungsführung;
in Sittichenbach fehlte sie seit dem Bauemaufruhr, in Langendorf seit
1532. In Goseck herrschte nichts als wüstes Treiben, als „Fressen und
Saufen"; der Abt war ein „voller, törichter Mensch", der Tag und
Nacht im Kretscham lag, mit seinen Bauern sich herumschlug und zahl-
reiche Schrammen im Gesicht davongetragen hatte. Manche Klöster
standen seit dem Bauemaufruhr ganz verwüstet. Die einzelnen Visi-
tationsabschiede gestatten uns einen Einblick in die eigentümlichen
Verhältnisse eines jeden Klosters.
i) Ebenda S. XIV. — Ober das Aufkommen der Protokolle in der kirchlichen Ver«
waltnng Tgl. J. Haller, DU ProtokoOe des Konnh von Basel 1431—1433 (Basel
1897), ^ ^^ Einleitung.
3) Gefl, DU KlostervisUationen des Hersogs Georg von Sachsen (Leiptig 1S88),
bes. S. 37flf. Derselbe, BeforwutUon und VisUation der Klöster in den Akten und
Briefen cor Kirchenpolitik Herzog Georgs Ton Sachsen, i. Band 151 7 — 1524 (Leipzig
1905), S. XXI—LIL
— 294 —
Einen ähnlichen Charakter selbständigen landesherrlichen Ein»
greifens trugen die Visitationen der jülich-kleveschen Regierung. Von
ihr wurden selbständige Erkundungen ohne Mitwirkung erzbischöf-
licher Vertreter angestellt und auch fortgesetzt, als Erzbischof Adolf
von Schaumburg von Köln darüber beim Kaiser Beschwerde erhob.
Dieses Verfahren erscheint in gewissem Sinne als eine Fortsetzung
der von den Vorfahren des Herzogs Wilhelm der Kirche gegenüber
eingenommenen Stellung, wenn auch die reformatorischen Gedanken
der Wittenberger einen gewissen Eänäuß ausgeübt haben mögen ^).
Im Dienste der Gegenreformation wurden die Visitationen von
den Organen der römisch-katholischen Kirche erfolgreich verwendet ').
Nachdem bereits die Formula refomuUionis Karls V. in dem Titulus 20
de refamuUione mancherlei Anregungen gegeben hatte, auch Theo-
logen, wie Gropper, für sie im Dienste katholischer Reformation ein-
getreten waren •), faßten mehrfache Beschlüsse des Konzils von Trient
die Aufgabe klar und bestimmt dahin zusammen : VisüaHanum atdem
omnium istarum praecipuus sit scopus, sanam orihodoxamque dodrinam
exptUsis haeresibus inducere, bonos mores tueri, pravos corrigere, popu-
lum cohortationibus et (idmonitionibus ad religionem, pacem innocentiam"
gue accendere; cetera, prout locus, temptis et occasio feret, ex visitan^
tium prudentia ad fiddium frudum constituere *). Im Zusammenhange
mit der allgemeinen Verbreitung des schriftlichen Verfahrens wurde auch
hier die protokollarische Feststellung der Ergebnisse vorgeschrieben:
Ärchidiaconi autem, decani et alii inferiores in iis ecdesiis, ubi hoc-
tenus visitationem exercere legitime consueverunt, debeant quidem, as^
sumpto notario, de consensu episcopi deinceps per se ipsos iantum ibi-
dem visitare^).
Dieser Bejstimmung entsprechend wurden in den einzelnen Diö-
zesen schriftliche Berichte angeordnet So wies der Breslauer
Bischof Martin von Gerstmann in der Visitation von 1579 ^^^ 1580
die Visitatoren an, über die vorgefundenen Zustände und namentlich
über die zutage getretenen Schäden und Ärgernisse Berichte zu er-
statten, damit diese als Grundlage für die auf der Synode zu erlassen-
i) Redlich, Jolich-Bergiache KirchenpoUtik am Ausgange des MütelaÜers und
in der Beformationszeit (Bonn 1907), Band I, S. 8o»f. lai».
2) Lingg ft. ft. O., S. 46.
3) W. V. Gnlik, Johannes Oropper (Frcibnrg i. B. 1906), S. 147. 241 f.
4) E. Friedberg a. a. O., S. 298.
5) Ebenda S. 297.
— 295 —
den Reformdekrete benutzt werden könnten *). Der Archidiakonus
Theodor Lindanus entwarf dazu die Ordnung: Visitaiio ecclesiasHca
pro temporis rcUione dioecesi Wraiislaviensi accommodata *). Auch die
Anweisung, die Bischof Andreas von Jerin auf der Synode zu Breslau
1592 gab, machte schriftliche Aufzeichnungen zur Pflicht. Während
aus den nächsten Visitationen schriftliche Berichte nicht erhalten sind,
stehen solche für die von 1638, sowie 165 1 und 1652 zur Verfügung ;
aus ihnen sind die fürchterlichen Verheerungen ersichtlich, die der
Dreißigjährige Krieg herbeigeführt hatte. „Fast überall fand der Visi-
tator ausgeplünderte Kirchen, zerbrochene Altäre, zerstörte Tauf-
brunnen; viele Kirchen waren ohne schützendes Dach und drohten
einzustürzen; die Priester waren gefoltert, beraubt und vertrieben und
die hirtenlosen Herden unterdes dem Glauben entfremdet worden.
Unter dem entsittlichenden Drucke der Kriegsnöte war unter dem
Klerus Zucht und Ordnung gelockert, an vielen Orten ganz aufgelöst
worden." *) In dem Neißer Synodaldekret vom 26. Mai 1653 wurden
in 54 Abschnitten nähere Anweisungen zur Hebung des kirchUchen
Lebens gegeben.
Über die in den folgenden Jahrzehnten gehaltenen Visitationen
sind die Akten in Breslau erhalten, namentlich aus dem Archidiako-
nate Oppeln *), in dem 1652 4 Archipresbyterate, 1679 16 und 1687/88
wieder 16 mit den drei Kollegiatkirchen Oppeln, Oberglogau und Rati-
bor besucht und in sehr genauen Protokollen geschildert wurden. Sämt-
liche Protokolle der Breslauer Diözese aus dieser Zeit sind in lateinischer
Sprache abgefaßt, die im allgemeinen gewandt gehandhabt wurde.
Auch der römische Stuhl selbst nahm sich der Visitationen wieder
an. Sixtus V. erließ 1585 Bestimmungen über die visit€Uio Uminum
und schrieb zu dem mündlichen Berichte einen schriftlichen, die rekUio
skUus, vor, für die später unter Benedikt XIII. eine bestimmte Form
maßgebend wurde. Sie mußte an die Congregaiio visii€Uionis aposto-
Uoae gerichtet werden *).
Gleichzeitig wurden von der päpstlichen Kurie Nuntien nach
Deutschland gesandt, die durch Visitation der gefährdeten Gegenden
diese der römischen Kirche zu erhalten bemüht waren. Germanico
1) J. JuDgnitK, Visitationsberichte der Diözese Breslau, i.Teil(Bre8ljin 1902), S. 3.
2) Ebenda S. 11—28.
3) Ebenda S. 5.
4) Jangnitz, Visitatiansberichte der Diözese Breslau, Archidiakonat Oppelo. i.Teil
(Breslau 1904). Überblick über die Archipresbyterate, S. VII — XII.
5) Friedberg a. a. O., S. 159. 296.
— 296 —
Malaspina, von Gregor XIII. 1580 nach Graz an den Hof des Erz-
herzogs Karl geschickt, visitierte viele Klöster in dessen Gebieten.
Im Oktober 1584 an den kaiserlichen Hof in Prag designiert, empfahl
er dem Kaiser Rudolf IL eine allgemeine Visitation der Kirchen Böh-
mens als das wichtigste Mittel zur Hebung der kirchlichen Verhältnisse.
Anfang 1585 erteilte der Kaiser seine Zustimmung, gab ihm den Propst
Andreas Jerin von Breslau bei, ordnete auch zur Unterstützung welt-
liche Kommissare ab. Aber das Vorgehen fand bei der Kurie zu-
nächst keine günstige Aufnahme, und als sie ihre Einwilligung erteilte,
erlitt die Visitation wegen der Pest einen Aufschub, bis sie schließlich
infolge der Abberufung des Nuntius unterblieb. Auch Johann An-
dreas Caligari, der in Graz an Malaspinas Stelle getreten war, berichtet
interessante Einzelheiten über Visitationen bis zu seiner Abberufung
im Jahre 1 587. In den Nuntiaturberichten sind die Aktenstücke neuer-
dings veröffentlicht und auf ihre Bedeutung hin gewürdigt worden *).
Auch Ottavio Mirto Frangipani war ungefähr gleichzeitig in ähnlichem
Sinne am Rheine bemüht*).
In der Gesellschaft Jesu war die Visitation von Anfang eine
stehende Einrichtung. Schon ihr Gründer hatte es als Grundsatz aus-
gesprochen ') : Sociei(M8 damus visere sive visüare, est valde proprium
. . . ofjßcii praeposUorum provincialium. Als z. B. die Provinz Ober-
deutschland eine Ausdehnung erlangte, die dem Provinzial die vor-
geschriebenen Visitationen nicht ermöglichte, wurde von Lainez die
Teilung in Aussicht genommen *). Es geschah dies auf Natals Antrag,
der jahrelang in den wichtigsten Städten des Ordens als Visitator auf-
trat *). Wie eifrig Canisius in dieser Richtung tätig war, geht aus
i) R. Reichenberger, NuntiaturhenchU aus Deutschland nebst ergäneenden
Aktenstücken, 1585 — 90. 3. Abteil.: Die Nuntiatur am Kaiserhofe. i. Hälfte. (Quellen
und Forschungen ans dem Gebiet der Geschichte, herausgeg. von der GörresgeselUchaft,
10. Band.) Paderborn 1905. — Vgl. auch G. MttUer, Beformation und Gegenrefor-
mation in den Jahresberichten fUr Geschichtswissenschaft, herausgeg. von Bemer (1905).
2. Band (Berlin 1907), S. 323—325.
2) Ehses, Nuntiaturberichte aus Deutschland ne^t ergänzenden Aktenstücken,
1585 (1584) bis 1590. I. Abteil.: Die Kölner Nuntiatur. 2. Hälfte. Ottavio Mirto Fran-
gipani in Köln, 1587 — 1590. (Quellen und Forschungen aus dem Gebiete der Geschichte,
herausgeg. von der Görresgesellschaft, 7. Band.) Paderborn 1899.
3) Constitutiones SodetaHs Jesu. Pars 8, c. i, 1.
4) Brief des P. Polancus vom 18. Dezember 1562 in O. Braunsberg er, Seati
Fetri Canisii ... epistulae et acta. Friburgi Brisg. 1901. Vol. III, p. 820. Vgl. auch
p. 578. Über die Bedeutung der Visitation für die Verdrängung häretischer Bttcher vgl
ebenda tom. I, p. 345. 490.
5) Ebenda tom. m (Register), p. 858 c.
— 297 —
seinem Briefwechsel deutlich hervor. Das schriftliche Verfahren spielte
auch hier eine g-roße Rolle. Genaue Berichte wurden an den General
erstattet. Wenn der Visitator erschien, mußte der Rektor des Koll^^
die Akten in guter Ordnung haben, damit eine schnelle Einsicht in
die Verhältnisse möglich war *). Über den Zustand des Kollegiums
zu Mainz werden wir durch den Bericht und die Ordnungen unter-
richtet, die Natal 1567 erließ: Unterricht, Promotionen, Disziplin wur-
den näher bestimmt *). Ähnliche Anweisungen ergehen für das dor-
tige Knabenseminar in dem Visitationsrezeß vom Jahre 1591 *). Drei
Jahre später erließ der General Aquaviva Anordnungen über die Schul-
visitation. Der Entwurf der lUUio Studiorum im Jahre 1586 hatte in
Spanien einen Sturm gegen die Jesuiten entfesselt. Sogar ihre Recht-
gläubigkeit hatte man in Zweifel gezogen. Nachdem die fünfte General-
kongregation 1593 sich mit der Angelegenheit, namentlich mit der
Autorität des Thomas von Aquino beschäftigt hatte, wurde eine genaue
Vorschrift für die Visitation des philosophischen und theologischen
Unterrichts veröffentlicht *).
Welche Fülle von Stoff die Visitationsberichte über die kirchlichen Zu-
stände bergen, ist bekannt. Daher brauche ich auf diesen Punkt nicht
einzugehen. Nur einige wenige Züge seien hervorgehoben.
Zunächst fesselt es, die Visitatoren bei der Arbeit zu sehen
und in ihrem Verkehr mit den Geistlichen und Gemeinden zu beob-
achten. Im allgemeinen beschränkte sich dieser auf die amtlichen
Verhandlungen. Bisweüen findet ein vertrauteres Verhältnis, statt. Als
die Visitation in der katholischen Kirche zu Staude (Archipresbyterat
Sohrau) abgehalten war und der Visitator die Pfarre betrat, fand er
sie mit Männern und Frauen gefüllt. Kirchväter richteten eine Tafel
her, stellten Leuchter darauf, brachten sechs Gänge von den Frauen
bereiteter Speisen herbei und luden den Visitator zum Essen ein. Bei
jedem Gange wurden die hölzernen Löffel und Teller gewechselt und
ein neuer Becher Bier kredenzt. Als der Visitator nach dem Grunde
dieser festlichen Veranstaltung fragte, wurde ihm geantwortet: „Die
Visitatoren lutherischen Bekenntnisses sind von unseren Vorfahren so
bewirtet worden, daher erneuern wir diese Sitte mit dem jetzigen
(modemo) Visitator." Als er sich zurückzog, ging das Gelage weiter.
Bei der Abreise baten die Leute um sein Wohlwollen, worauf er sich
i) Ebenda tom. III, p. 99.
3) Pachtler, Batio Siudiarum et InstütUianti ScholatUcae Soetetatia Jem
(Berlin 1887), tom. I, p. 207.
3) Ebenda tom. I, p. 438, 4) Ebenda tom. I, p. 3i5--3>7*
— 298 —
mit dem Spruche verabschiedete: „Siehe, wie fein und lieblich ist es,
wenn Brüder einträchtige beieinander wohnen.** In seinem Herzen hatte
er freilich den stillen Wunsch, daß der Pfaurer lieber den unterlassenen
Katechismusunterricht wieder aufnehmen möge ^).
Zur Gelehrtengeschichte findet sich prächtiges Material. Er-
wähnt sei z. B., daß auf Grund der Zschopauer Visitationsberichte fest-
gestellt werden konnte, daß der „Schwärmer** Valentin Weigel in
seiner Amtstätigkeit zu Ausstellungen bezüglich der Kirchenlehre keine
Veranlassung gab und als völlig korrekt geschildert wurde ').
Ausgiebige Nachrichten finden sich über die Verfassung, den Zu-
stand und den Unterrichtsbetrieb der Universitäten'). Als Beispiel
seien die Beschwerden der medizinischen Fakultät zu Leipzig bei Ge-
legenheit der Visitation von 1657 angeführt, die sich zunächst mit
persönlichen Angelegenheiten zu beschäftigen hatte. Das Einkommen
war den Professoren unregelmäßig gewährt worden ; nicht weniger als
5975 fl. 6 gr. hatten sie zu fordern. Dazu kamen andere Standes-
fragen. Die philosophische Fakultät ließ die Mediziner nicht zu Kol-
legiaturen kommen, die mit guten Einkünften verbunden waren; mit
den Juristen hatten sie einen Rangstreit wegen der Präzedenz gehabt.
Sie baten, daß die Quacksalber und Marktschreier, wie auch die, so
nicht graduieret, oder Balbierer, so nicht beeidigt, zur Besichtigung
der Wunden, ob sie tödlich oder nicht, nicht zugelassen werden
möchten, weil sie deswegen oft Beschwer, auch in ihrem Gewissen,
empfunden hätten, wenn sie sähen, wie unverständig damit umgegangen
würde. Weiter baten sie um ein kurfürstliches Mandat, damit die
toten Körper der Delinquenten ins Theatrum ancUomicum verabfolgt
werden möchten, was ihnen in Aussicht gestellt wurde. Die Prüfung
der Apotheken des Landes nahmen sie für sich in Anspruch ^).
Von besonderem Interesse sind die Mitteilungen über den Lehr-
i) Jungnitz, Visitaiion^terichte. Archidiakonat Oppeln. i. Teil, S. 121.
2) Allgemeine Deutsche Biographie, Band XXXXI, S. 473/6. Vgl. daza Kaweraa
in den Jahresberichten für neuere deutsche Literaturgeschichte, Jahrgang 1897.
3) G. Müller, Die ViBiUUiantn der Universität LeipHg zur Zeit des Dreißig'
jährigen Krieges im Neuen Archiv für die sächsische Geschichte and Altertumskunde,
Band XXVU (Dresden 1906), S. 18—59.
4) Dresdener HaupUtaatsarchiv, Loc. 8724. Acta die Huldigung und dabei ru-
gleich vorgegangetie Visitation der Churf. und Fürstliehen Sächß. Qesambt Uni-
versität zu Leipzig betr. Anno 1657. Item die InstrtikHon der Universitäi Leipzig
und Erörterung der bei der Visitation Anno 1657 übergebenen Gravaminum betr.
Anno 1659 und 1660. Bl. 247—253.
— 299 —
betrieb'). Nach der unter Kurfürst August erlassenen Universitäts-
ordnung mußten die Bücher Galens und Avicennae expliziert werden;
von den Vorfahren sei dies, so erklären die Professoren der medizini-
schen Fakultät, in bester Absicht geschehen; jetzt aber sei es offen-
bar und am Tage, daß die Medizin durch Gottes Gnade und gelehrter
Leute Arbeit eine weit bessere Gestalt und Ansehen bekommen habe,
also daß, was man damals vor 80 Jahren, als diese Ordnung gnädigst
erteilt wurde, aus denen Scriptis Graecorum et Arabum mit großer
Mühe, langer Zeit und vermittelst der griechischen Sprache, zu welcher
sich anizo nicht der 10. Studiosus gewehnen läßt, erklären, auch denen
Discentibus vortragen müssen, man itzo weit leichte)', kürzer, ordent*
licher und nützlicher traktieren kann, indem außei' anderen D, Daniel
Senert *) in seinen Instructionibus und Praxi Medica, die sich auf die
Auen gründen, die Medizin also traktiert wird, daß uns genug Anlaß
zu nehmen, qua methodo die Medicin auf der Universität zu profitieren sei
Deshalb macht die Fakultät Vorschläge zu neuen Lehrplänen, über deren
Genehmigung die Visitatoren Verhandlungen mit den kurftirstlichen
Leibmedicis beantragen. Sie erklärt ausdrücklich im Eingange der
Eingabe, daß sie das Bewußtsein hätte: aut nunc, aut nunquam.
Erreiche sie nichts, so solle sie wenigstens vor der Nachwelt ent-
schuldigt sein.
Diese zum Teil recht pessimistisch gehaltenen Ausführungen hatten,
wie die Beschwerdeführer bereits geahnt hatten, keinen rechten Erfolg.
Jahrelang zogen sich die Verhandlungen innerhalb der kurfürstlichen Re-
gierung hin. Die allgemeine Finanznot war das Haupthindernis tat-
kräftigen Eingreifens. Erst nach und nach heilten die Wunden aus,
die der böse Krieg, wie der medizinischen Fakultät, so der ganzen
Universität geschlagen hatte.
Was in neuerer Zeit für die Erforschung der Geschichte der
Lateinschulen geschehen ist, geht nicht zum geringsten Teile auf
die Ausnutzung von Visitationsakten zurück, wie die Arbeiten von
Theodor Flathe und Karl Rößler beweisen. Für die kleineren Schulen
ist noch wenig geschehen. Als Beispiel sei die Schule erwähnt, die
der Gönner des Flacianismus , Wolf von Schönburg, sehr zum Ver-
i) Dresdener HaapUtaatsarchiv, Loc. 10596. Fm totton der Unwersitäi und Con-
sisioriums zu Leipzig, une auch der 8chr{ft$as9en, Geiztiichkeit , audi Pfarrer und
Sehuldiener in Thüringen und Voigtiand betr. Anno 1657. 58. 59, 60, Bl. 124:
Bericht des Oberhofpredigers Dr. WeUer vom 9. Dezember 1657.
2) Sennert starb 1637 in Wittenberg. Vgl. Allgemeine Dtutzche Biographie,
Band XXXIV, S. 34.
— 300 —
druß des Kurfürsten August errichtet hatte '). Bei der Visitation 1574
wird dem Pfarrer vorgeschrieben: in der edlen knabenschuie, welcher-
gestaU die juxend unterwiesen, was vor ein Ordnung mit Lesen darinnen
gehauen, und sonsten allenthalben vleißig aufsehen und inspektian m
haben, auch in solche Privaischule niemand anders €Us edle Knaben
nemen zu lassen, damit der andern gemeinen und ordenäichen schuel
in der stadt (Penig) hierdurch kein abbruch erfolge *).
Für die vernachlässigte Volksschulgeschichte liegt eine
Fülle von Material vor. In Kirchberg wird über den Schulmeister
berichtet: Johann Günther, Kirchbergensis, 87 Jahre aU, ist 16 Jahre
im Dienst, hai auf keiner Universität studiert; hat 22 Schüler, die er
lehret lesen, dedinieren und conjugieren und lieset inen epistolas Stur-
mii, Catonem, proverbia Salomonis, Evangdia und Catechismum. Wider
ihn u)urde da^ fürgebradU, daß er der Schule nicht fleißig wartde, auf
seinen Grütem herumlaufe. Darumb ich mit im geredet hob und dem
Pfarrer bevolen, daß er die Schule oft visitieren soll^). In dem mark-
gräfliche» Gefel hat der Schulmeister das Amt eines Stadtschreibers
mit verrichten müssen; weil dadurch die Schule sehr versäumt wor-
den, hat der Rat eingewilligt, einen eigenen Stadtschreiber zu halten,
damit die Schule gefördert werde. Der Schulmeister soll das alte
Gehalt behalten und die Orgel spielen *). In Kürbitz wollte Rudolf
Levin von Feilitzsch dem Küster wegen des Neubaus der Schule ein
Servitut auflegen. Das Schulhaus soll daher auf das Pfarrgrundstück
kommen, und der Küster seiner Schule unverhindert abwarten mögen ^).
Auf Grund solcher Nachrichten hat Lippert eingehende Mittei-
lungen über das Volksschulwesen gemacht *).
Noch wenig ausgenutzt sind die in den Visitationsakten enthal-
tenen Angaben zur Statistik und Wirtschaftsgeschichte. Die
i) Distel, Der Flacianismus in Sachaen (Dresden 1879).
2) Dresdener Haoptstaatsarchiv, Loc. 1990. Visitation der Snperintendentar Roch-
Utz, 1574. BL 162*.
3) Dresdener Haoptstaatsarchiv, Loc. 1977. Herbstvisitation des Leipziger Kreises,
1584. Bl. 356.
4) Dresdener Haoptstaatsarchiv, Loc. 1995. Herbstlokalvisitaüon des Leipzigei
Kreises, 1585. BI. 286 b.
5) Ebenda Bl. 302.
6) Lippert, Pfarreien und Schulen in den Verhandlangen des histor. Vereini
von der Oberpfalz nnd R^ensborg (1901), 53. Band. Derselbe, OeaehidUe det
GegenreformcUion, S. 255 — 259. Derselbe, Beformatum, S. 224—234. — Übei
Sachsen vgL G. Müller, Das kureächsisc?^ Schulwesen beim Erlc^ der Schulard-
nung von 1680 (Dresden 1888).
— 301 —
Zahl der Inhaber der Gerichtsbarkeit, der Güter, ihrer Besitzer und
Bewohner, wird in einzelnen Berichten genau überliefert. Als Beispiel
führe ich die Mitteilungen über Göda aus dem Jahre 1580 an: darin
unterm churfl ampt Stcipen 3 hreteschmar, welche dem pfarhem erb-
eins geben; tmter MaMs Richtern ein farberg doselbst, 3 unrte, darunter
ein lehnmann, 1 unbewohnt guU, 1 muele mit 2 gengen, 11 gertener,
7 heuseler; unter dem e. capittel zu Budissen 6 wirte, darunter 2 lehn-
leutCy 4 gertener, 3 heuseler; unter Petem van HaugwUe zu Darin
2 wirte, wdchs halbe lehnleute, 2 gertener, 1 heuseler; unter dem pfar-
herm 1 gertener; dataies uff der gemeine 3 heusd vor hirten und tadten-
grdfer. Cammunicanten zu Qaeda 300 ^).
Die Zahl der Lehrer zeigt den Fortschritt oder Rückgang des
Schulwesens. Im sächsischen Kurkreise gab es 1528 in 8 Städten je
einen, 1555 in 7 Städten je einen Schulmeister; 1528 hatten 2 Lehrer
II, 1555 nur 8 Städte; die Zahl der Städte mit .3 Lehrern war unter-
dessen auf 5 gestiegen; Wittenberg hatte 4 behalten. Die Zahl der
Lehrkräfte war von 34 auf 42 um 8, d. h. um beinahe 25 Prozent ge-
stiegen ^). Dazu waren zahlreiche Mädchenschulen mit eigpien Lehrern
entstanden, die täglichen Unterricht erteUten. In den Knabenschulen
konnten infolge der vermehrten Kräfte mehr Klassen errichtet, die
Zahl der Schüler in diesen verringert, die alphabetarii von den Latein-
schülern getrennt werden.
Die Bemühungen um Erhöhung der Gehalte der Geistlichen und
Lehrer haben genaue Erwähnung ihres Einkommens, der Zusammen-
setzung und Art desselben, namentlich der verschiedenen Natural-
leistungen zur Folge. Pfarrwitwen und Waisen erfuhren wohlgemeinte,
auf eine gute Schulbildung der Kinder, z. B. in den Fürstenschulen,
hinzielende Fürsorge ; die Gründung von Witwenkassen wurde angeregt,
begegnete aber wegen der erbärmlichen Gehalte großen Schwierig-
keiten. Kranke und gebrechliche Geistliche wurden unterstützt Die
Hebung der sozialen Lage und die Förderung des geringen Standes-
bewußtseins wird in zum Teil ergreifenden Zeugnissen geschildert.
Für die Geschichte von Glauben und Sitte nach ihren verschie-
denen Gebieten, nicht am wenigsten dem Volksaberglauben in den
verschiedenen Ständen, finden sich zahlreiche Nachweise, deren Ver-
öffentlichung wünschenswert erscheint
i) Dresdener HanpUtaaUarchiv , Loc. 1999. VUitationtacta der Soperintendentar
BischoCiwerda, 1568—1580. Bl. 10 ff.
3) W. Schmidt, Die KircheH- und Schulvititationen im $äch9i$chen Kurkreiae
vom Jahre 1565, 2, Heft, S. 49. 570.
— 302 —
Wie soll diese erfolg-en?
Bisher war es vielfach so, daß die Veröffentlichung^ und Benutzung
mehr zufällig erfolgte. Ein Fund regte zur Verwertung an ; die Freude
an dem vielseitigen Inhalte veranlaßte die Drucklegung oder Ver-
arbeitung, meist im Interesse orts- und heimatkundlicher Forschung.
Elrst in neuster Zeit ist ein planmäßiges Vorgehen hervorgetreten, das
als zweckmäßig in Zukunft zu fördern ist.
Die ältesten Visitationsakten werden in wörtlichem Abdruck zu
veröffentlichen sein. So hat Pallas sein Unternehmen durchgeführt,
so hat Jungnitz die Protokolle in genauster Vollständigkeit dargeboten.
In Sachsen werden die Urkunden sicher bis zur großen Visitation Kur-
fürst Augusts in den Jahren 1555 und 1556 zu drucken sein. Ob die
späteren, namentlich die einzelnen Lokalvisitationen, die Veröffent-
lichung in gleicher Ausdehnung verdienen, ist zu bezweifeln, um so
mehr, da bei den halbjährig wiederkehrenden Lokalvisitationen der In-
halt der Aufzeichnungen, die Angaben über die Personalien, die Schil-
derung der äußeren und sittlichen Verhältnisse, die Aufzählung des
Inventars, die Beschwerden und Gesuche sich sehr ähneln. Es kommt
hinzu , daß bei der schnellen Wiederholung der Visitationen , dei
Schwierigkeit des Verkehrs in den zum Teil abgelegenen Gegenden,
dem Mangel an verfügbaren Beamten, die die Beschlüsse zu fassen
die Entscheidungen zu fällen, die Mittel zur Abhilfe zu beschaffet
hatten, die neue Visitation schon erfolgte, ehe die vorige zu Ende
behandelt war.
Auf jeden Fall verdient nicht nur das Aktenmaterial des XVI.
sondern mindestens des XVII. Jahrhunderts die Veröffentlichung
Denn die Wirren des Dreißigjährigen Krieges hatten einen Verhängnis
vollen Einfluß gehabt. Ein sicheres Bild, z. B. nach der Wirtschaft
liehen Seite, kann nur gewonnen werden, wenn das Material vollständig
zur Verfügung steht. Gerade die Akten, wie sie Jungnitz über Schle
sien geboten hat, sind hier der beste Beweis für die Richtigkeit un
serer Auffassung. Auch das XIX. Jahrhundert kann auf Berücksich
tigung rechnen. In der sächsischen Oberlausitz, die sich kirchliche
Selbständigkeit erfreute, waren früher Visitationen nicht üblich ge
wesen. Als nun der Regierung die Hebung des Schulwesens not
wendig erschien, wurden seit dem Jahre 1823 von dem neuangestellte
Kirchen- und Schulrate, namentlich von G. L. Schulze, die ein
zelnen Schulen auf ihren äußeren und inneren Zustand hin untersuch!
Die Ergebnisse boten dem letztgenannten das Material zu der scharfe
Kritik, mit der er die Notwendigkeit eines Volksschulgesetzes bc
— 303 —
gründete. Die Berichte enthalten aber auch sonst wertvollen kultur-
historischen Stoff.
Um nun einen Überblick über das Material zu bekommen und
möglichste Vollständigkeit zu erstreben, wird es sich empfehlen, den
in den kleineren Archiven, den Pfarren, erhaltenen Bestand festzu-
stellen, wie es in den Rheinlanden und Westfalen teüweise und im
Großherzogtum Baden vollständig geschehen ist.
Bei der Herausgabe selbst werden die erklärenden Zutaten nicht
fehlen dürfen, vor allem eine Einleitung, die in lesbarem Texte das
Wichtigste nach den verschiedenen Seiten zusammenfaßt, die charak-
teristischen Eigentümlichkeiten feststellt, den Zusammenhang mit ähn-
lichen Vorgängen in anderen Gebieten hervorhebt, wie dies bei Sch-
ling dankbar zu begrüßen ist.
Außerdem wird sich dann die Bearbeitung im lokalgeschichtlichen
Interesse empfehlen. Für die Städte ist schon mancher beachtliche
Anfang gemacht worden. Aber für die Dörfer finden sich bisher nur
sehr bescheidene Anfänge. Für solche Zwecke wird sich die Art der
Behandlung praktisch erweisen, wie sie Pallas geübt hat. Er geht Ort
für Ort durch und druckt für jeden die Angaben aus den verschie-
denen Visitationen, stellt zum Teil auch Vergleiche an, hebt das Ab-
weichende hervor und bereitet so eine spezielle Bearbeitung vor.
Dazu ist eine kritische Bearbeitung der Quellen nötig.
Gerade infolge des eifrigen Bemühens der Visitatoren, die Zustände
möglichst genau zu erforschen und ungeschminkt darzustellen, findet
sich eine erdrückende Fülle ungünstigen und belastenden Materials,
das auf einzelne Gemeinden und für ganze Gebiete, wie auf die Zeit
selbst ein schlechtes Licht wirft. Es wird die Pflicht des Historikers
sein, den rechten Maßstab anzulegen und gerecht abzuwägen ^).
Dies gilt auch bei Beurteilung des Erfolges der einzelnen Visita-
tionen. Zahlreiche Schwierigkeiten stellten sich den ernstgemeinten
Bemühungen entgegen. Erwähnt sei nur der Widerstand der Patrone,
die um so mächtiger waren, als sie die niedere Gerichtsbarkeit be-
saßen. In Sachsen erschienen noch 1574 viele nicht bei den Ver-
handlungen und stärkten dadurch den passiven Widerstand von Geist-
i) G* Liebe, Die Herausgabe von Kirchenvisitationsproiokolkn im Koirespon-
denzbUtt des Getamtfereins der deaUchen Gescbicbts- and Altertamsvereioe, 51. Jahrg.
(1903), S. 47—49. — Fr. Lippert, Die Reformation, Einleitung. S. 72. 73 n. ö. —
Steinhaasen, Geschichte der deutschen Kultur (Leipzig nnd Wien 1 904),
s. 450- 505 ff.
22
— 304 —
liehen und Gemeinden ^). Ähnlich war es in der Pfalz *). Dazu kann
daß, wie noch heute, jeder Fortschritt auf geistigem Gebiete finau
zielle Opfer fordert und diese oft bei dem großen Mangel an Bai
mittein nicht gebracht werden konnten ■). Bisweilen mag wohl auc
der geringe Eifer *) oder einseitige theologische Aufi^issung der Vis
tatoren*) hinderlich gewesen sein. Von Bestechlichkeit ist selte
die Rede •).
So wird eine streng sachliche Ausnutzung und Beurteilung d(
Visitationsakten mit ihrem reichen Material über die Zustände, die Ai
fange einer strafferen Verwaltung, die Ziele und Bestrebungen d(
Fürsten, wie ihrer weltlichen und geistlichen Ratgeber, dazu be
tragen, nachdem die alte Auffassung von der Reformationszeit nac
mancher Richtung hin erschüttert worden ist, durch genaues Studiui
der tatsächlichen Verhältnisse unter Einhaltung der Grenzen streng(
Objektivität ein gerechtes Bild von einer der größten Zeiten Deutscl
lands herzustellen und auch die Kenntnis des XVII. Jahrhunderts nac
verschiedenen Seiten, z. B. der wirtschaftlichen '), zu vertiefen.
i) Dresdener Haaptstaatsarchiv , Loc. 1995. Herbstlokalvisitation des Leipzig
Kreises, 1585. Bl. 76^: ist keiner der Leute rar Visitation gekommen, werden eingesper
drei Tage in Gewahrsam gehalten. Bl. 148^: Die Visitatoren werden nicht hoch geacht<
Die Schuld tragen die Gerichtsherren und die Obrigkeit Bl. 32 7 f. : bittet der Visitat
um Aufhebung der Herbslvisitation im Namen der Eingepfarrten, um die 6 gr. zu erspare
es ist gerade Schnitt« und Säezeit. Bl. 336 f.: Edelmann ausgeblieben, u. ö. Bl. 19: i
Begründung des Pessimismus angegeben: quod parum aut nihil sequitnr.
2) Lippert, Die Befarmatum, S. 71.
3) Eine namentlich nach dem Dreißigjährigen Kriege häufig wiedericehrende Klage
4) Bei der katholischen Kirchenvisitation in der Pfalz 1629 hatte jeder Visitator fc
Tisch 2 bis 3 Maß Wein gebraucht. Solche Exoeß im Essen und Trinken ist nie
iiüein an sich selbst unverantworüich , , ,, sondern gibt auch den Leuten gri
Ärgernis . . . und verursacht schlechte Visitatores, Lippert, Geschichte der (rege
reformation, S. 197.
5) Kaweran, Stössel in der Realenzyklopädie', 19. Band, S. 60, Z. 29 ff.
6) Herzog Julius warnt die Visitatoren 1588, kein Gift noch Gaben zu nehme
wie dies 1568 geschehen sein solle. Vgl. Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsisc
Kirchengeschichte, 8. Jahrg., S. 118 und Anm. i.
7) Lippert, Geschichte der Gegenreformation, S. 198.
— 305 —
liiteraturübersicht,
alphabetisch nach Landschaften geordnet«
Anhalt) Fürstentam.
Becker, Aus Cöthener Kirchenvisitations- Akten von 1567: Zeitschrift fUr Kirchen-
geschichte, herausgegeben von Brieger und BeO. Bd. XXI (1901), S. 265 — 290.
Sehling, E., Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, i. Abt.
2. Hälfte. Leipzig 1904. S. 493-565.
Baden, Großherzogtum.
Kluckhohn, A., Urkundliche Beiträge zur Geschichte der kirchlichen Zustände, ins-
besondere des sittlichen Lebens der katholischen Geistlichen in der Diözese Kon-
stanz während des XVI. Jahrhunderts : Zeitschrift fdr Kircheogeschichte, herausg^eben
von Brieger und BeÖ. Bd. XVI (1896), S. 590—625.
Krieger, A., Die kirchlichen Verhältnisse in der Markgrafschaft Hochberg im letzten
Drittel des XVII. Jahrhunderts : Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins. Heraus-
gegeben von der Historischen Kommission. NF. Bd. XV (1900), S. 259 — 324.
Birkenmayer, A., Archivalien aus Orten des Amtsbezirks St. Blasien. 1701.
Oktober 12. Copia betr. die Visitation der Forsten und Waldungen in der
Grafschaft Hauenstein: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins. NF. Bd. X
(1895), S. m 51.
Baumgarten, Fritz, Aus dem Gengenbacher Klosterleben: Zeitschrift flir die Ge-
schichte des Oberrheins. NF. Bd. VIII, S. 456-460; 470; 660.
Kirchenvisitationsprotokolle von 1495, 1602 und 1626 zu Steinenstadt (Amt Mühlheim):
ebenda NF. Bd. VIII, S. m 55.
Extractus libri visitationis generalis capituli ruralis Ettlingani 1623: Zeitschrift ftlr die
Geschichte des Oberrheins. NF. Bd. VIII, S. m 112.
Recessus visitationis in capitulo Stockach: 1651, 1672, 1709, 1715. Ebenda NF.
Bd. Vm, S. m 65.
Kirchenordnung zu „Key 11'^ (Kehl) mit Siegel vom 8. Juni 1 661 im evangelischen Pfarr-
archiv zu Kehl: ebenda NF. Bd. XVII (1902), S. m 63.
Revidierte Straßburger Kirchenordnung von 1670, gedruckt und in roten Plüsch ge-
bunden, im evangelischen Pfarrarchiv zu Kehl: ebenda NF. Bd. XVII (1902), S. m 63.
Akten über Pfarrei- und Kirchenvisitationen zur katholischen Pfarrei Löffingen (Amt Neu-
sUdt i. Schw.) 1697 ff.: ebenda NF. Bd. XVII (1902), S. m 45.
Kirchenvisitations - Akten , -Berichte und -Bescheide 1730 ff. der evangelischen Pfarrei
Nußbaum (Kreis Bretten): ebenda NF. XVIII (1903), S. m 69.
Die Entschädigung der Geistlichen, welche den Visitator beherbergt haben, betr. 1732
zu Stockach (kath.): ebenda NF. Bd. Vm, S. m 65.
Decretnm Ro. Ordin. Argent. de visitatione ecclesiae par. Mühlenbach (Amt Wolfach)
vom Jahre 1740: ebenda NF. Bd. IX, S. m 18.
Modus visitandi ecclesias etc. i Band in der evangelischen Pfarrei Nußbaum (Amt
Bretten) vom Jahre 1743: ebenda NF. Bd. XVIII (1903), S. m 69.
VifitationsprotokoU von Johann Joseph Zilling, visitator generalis, und Karl Martin de
Bayer , convisitator, 1 748. Sept. 4., in der katholischen Pfarrei Ittendorf (Amt Über-
lingen): ebenda NF. Bd. IX, S. m 49.
Auszug aus dem Kirchenvisitationsprotokoll des Straßburger Ordinariats in der katho-
lischen Pfarrei Honau (Amt Kehl) vom Jahre 1761: ebenda NF. Bd. XVII (1902),
S. m 63.
Recessus visitationis generalis in der katholischen Pfarrei Aach, 1762, Juli 13: ebenda
NF. Bd. IX, S. m 30.
ViiitationsprotokoU für das Kapitel Linzgau von Johann Simon Spengler, visitator
generalis, und Johann Christoph Kolb, convisitator, 1763, Juni 18: ebenda NF.
Bd. IX, S. m 49.
22»
— 306 —
Bescheid der biscltöflichen Generalvisitatoren an den Klerus des Kapitels Neaenbnrg
a. Rh. vom Jahre 1775: ebenda NF. Bd. DC, S. m 54.
Schalvisitationsbescheide etc. i Faszikel der evangelischen Pfarrei Nofibanm (Amt Bretten)
1775 ff.: ebenda NF. Bd. XVm (1903), S, m 70.
Sancti Patroni dedicationes, altaria ecclesianim et locoram visitationi monasterii S. Blasü
in Silva Hercynia snbiectomm o. J., ans dem XVIII. Jahrhundert, die Kirchen und
Kapellen von 89 Orten enthaltend: ebenda NF. Bd. IX, S. m 18.
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Neustadt i. Schw.); ebenda NF. Bd. XVU (1902), S. m 48.
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Dithmmnchen, Land.
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Tirol, Geforstete Grafschaft.
Ottenthai, E. von und Redlich, O., Archivberichte aus TiroL i. Heft. Wien 1888.
Hier sind ans Kirchenarchiven folgende Visitationsmkten und Dekrete verzeichnet:
S. 7. Visitationsakten 1688 — 1847 ^^ Flanrling.
Berichte über die Visitation der Einsiedler 1747 zu Telfs.
Visitationssachen von 1 688/1 698, 1705 zu Mieming.
Visitationsakten von Umhausen 1688 und Hauming 1688 zu Silz.
Visitations- und Kongregationsakten von 1698 an zu Imst.
Visitationsdekrete seit 171 2 in Lazfons.
Visitationsakten von 1680 an in Velthurns.
Visitationsdekrete seit 1649 in Völs.
Visitationadekrete von 1649 an in Welschnoven.
Visitationsdekrete seit 1680 in Pens.
Visitationsdekrete und Protokolle von 1734, I74if 175' «'» TUtü.
Visitationsdekrete von 1688, 1698, 1705 in Gries.
Visitationsdekrete von 17 19, 1734, 1751 in St Jacob.
S. 329/330. Visitationsprotokolle von 1739 (3 verschiedene) in Zams.
S. 330. Visitmtionsdekrete von 1681 in Zams. ^
^- 353- Visitationsdekrete von 1734 und 1739 in Tösens.
S. 363. Visitationsdekret von 1723 in HafUng.
S. 476. Visitationidekrete seit 1682 in Partschies.
s.
24.
s.
36.
s.
44.
s.
56.
s.
86.
s.
89.
s.
106.
s.
144.
s.
153-
s.
299.
s.
307.
s.
3".
— 316 —
S. 460. Visitationsdekrete seit 1658 in Tirol.
S. 470. Visitationsdekrete seit 1693 in St. Martin.
Böhmen, Königreich.
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Trienniumsberichte des Züricher Kirchenrats.
Mitteilungen
Archive. — Veranlafit durch eine freundliche Anregung des Heraus-
gebers dieser Blätter, soll heute in aller Kürze auf das Ratsarchiv der
Mecklenburgischen Seestadt Rostock hingewiesen werden, das demnächst
sein bisheriges Heim verläßt, um in neuen eigens für seine Zwecke erbauten
und hergerichteten Räumen tmtergebracht zu werden.
Daß dieses Archiv zu den wichtigeren deutschen Stadtarchiven gehört,
darf als bekannt gelten. Zwar ist Rostock stets Territorialstadt gewesen,
aber seine Bedeutung für das Territorium, innerhalb dessen es bis heute
eine der Neuzeit sonst fremde städtische Selbständigkeit bewahrt hat, seine
einstige Zugehörigkeit zum Bunde der Wendischen Städte, dem eigentlichen
Kern der Hanse, seine Hochschule, die bis ins XIX. Jahrhundert hinein unter
dem Kompatronat der Stadt gestanden hat, lassen von vornherein ein reiches,
eigenartiges, archivalisches Material erwarten. Es kommt hinzu, daß dieses
Archiv durch ein gütiges Geschick vor großen Verlusten, wie sie an so
vielen anderen Orten beklagt werden, bewahrt geblieben ist.
Die erste Erwähntmg des Archivs findet sich m. W. in der Urkunde
vom 29. Jtmi 1265, durch die der Sitz der infolge eines fürstlichen Pri-
vilegs vom 18. Juni 1262 vereinigten städtischen Verwaltimg aus der Alt-
stadt in die Mittelstadt — d. h. nach dem jetzigen Neuen Markt — verlegt
wird. Es wird hier von Rat und Gemeinde bestinmit, daß die Privilegien
— 317 —
der Stadt femerhiu in der Altstadt in loco tuto sub custodia trium camera-
riornm aufbewahrt werden sollen. Wie lange sie noch dort blieben, und
wo sie nach ihrer Überführung in die Mittelstadt zunächst untergebracht
wurden, ist unbekannt. Im Jahre 1733 wurden im Rathause, zwei Treppen
hoch, drei Zimmer, deren Fenster teils nach dem Scharren, teils nach der
Straße hinter dem Rathause gingen, für das Archiv eingerichtet. In späterer
Zeit ist noch ein viertes danebenliegendes Zimmer mit Fenstern nach der
letztgenannten Straße und nach dem Rathaushof hinzugekommen. Diese
Räume beherbergen bis heute die Hauptmasse der Archivalien. Ob das —
oft als „Geheimarchiv** bezeichnete — Gewölbe hinter der Ratsstube, in dem
Anbau über dem einstigen Brodscharren, eine Treppe hoch gelegen, schon
vor 1733 Archivzwecken diente, hat sich bisher nicht mit Sicherheit fest-
stellen lassen. In ihm, als dem einzigen einigermaßen feuersichem Räume,
werden jetzt die wichtigsten Urkunden und Akten aufbewahrt. Außerdem
sind auf dem Rathausboden mehrere z. T. sehr geräumige Kammern zur
Aufnahme von Archivalien eingerichtet Alle diese Räume sind überfüllt.
Der älteste, ziemlich bescheidene Index actorwm^ der sich erhalten hat,
stammt aus dem Jahre 16 12. In einem starken Pergamentbande mit dem
Titel Begistratur aller in diesem Archive befindlichen Privilegien, Originälien,
Acten, Missivtn und Schriften findet sich eine Eintragung des Notarius
publicus Daniel Brune vom 28. Dezember 1628. Der Schreiber behauptet
darin, als erster das Archiv in Ordnung gebracht und den Katalog angefer-
tigt zu haben, dessen Fortführung er seinen Nachfolgern empfiehlt.
Seit etwa 1700 wissen wir von Archivaren aus der Mitte des Rats.
Noch heute führen zwei rechtsgelehrte Senatoren diesen Titel; sie haben
die Interessen des Archivs im Ratskollegium zu vertreten.
Nach zahlreichen Ordnungsvorschlägen und mehr oder weniger dilettan-
tischen, wenn auch z. T. durch Jahre fortgesetzten Ordnungsarbeiten kam es end-
lich im Jahre 1884 zur Anstellung eines Stadtarchivars. Daß man für dieses
Amt als ersten keinen geringeren als Karl Koppmann gewann, wird für
das Rostocker Archiv stets bedeutungsvoll bleiben. Koppmann hat hier bis zu
seinem Tode gewirkt. Seit dem Jahre r900 steht neben dem Stadtarchivar
der Archivsekretär als zweiter wissenschaftlicher Beamter.
Als ein für das Archiv besonders wichtiges Ereignis sei noch der Ur-
kundenfund vom 6. Mai 1899 erwähnt, der beim Umbau der Ratsstube
gemacht wurde und durch den gegen 1000 Urkunden und zahlreiche andere
Aktenstücke und Bücher an den Tag kamen *).
Was die Größe des Archivs anlangt, so ergab eine im vorigen Jahre
auf Wunsch der Konferenz für landesgeschichtliche Publikationsmstitute ver-
anstaltete Zählung für die Zeit bis zum Jahre 1500 über 3000 Urkunden
und über 50 Bücher verschiedenen Inhalts und außerdem 27 Stadtbuch-
fragmente. Über die Menge der in der Zeit nach 1500 hinzugekoimnenen,
bisher nur teilweise geordneten Archivalien lassen sich vorläufig keine An-
gaben machen.
i) Vgl. darüber: K. Koppmann in den Beiträgen iur Geschichte der Stadt
Bostoek III, I, S. Vff.
— 318 —
Auf den Inhalt des vorhandenen Materiab, soweit es wissenschaftlich
von Interesse ist, hinzuweisen, soll einer späteren Zeit vorbehalten bleibeo.
Ernst Dragendorff.
Es ist nötig, nochmals auf den Bericht über den sechsten deutschen
Archivtag zurückzukommen.
Mit Bezug auf die oben S. 42 und 256 berührte Adressierung der
dienstlichen Schreiben in Dänemark bemerkt Archivdirektor Secher in
einer Zuschrift an den Herausgeber, dafi durch den Wortlaut des Berichts
die Auffassung erweckt werden könne, als ob die Adressierung an den Be-
amten anstatt an das Amt auch heute noch üblich sei. Dies ist jedoch
nicht der Fall, sondern das Gesetz vom 2. April 1870, welches das bis
dahin in Dänemark herrschende Titelwesen stark einschränkte, hat jene Art
der Adressierung beseitigt. Bemerkenswert ist also nur, daß sich in Däne-
mark die Adressierung der Dienstschreiben an den einzelnen Beamten wesent-
lich länger erhalten hat als in Deutschland.
Zu der oben S. 254 — 257 erörterten Frage, inwieweit sich praktisch
das Provenienzprinzip im Archivwesen anwenden lasse, schreibt Archivar
Dr. E. Wiersum in Rotterdam:
„Nach dem Zugeständnis des Herrn Dr. Vancsa, daß sein Bericht über
den sechsten deutschen Archivtag in Wien etwas flüchtig ge£äßt und daher
undeutlich geworden ist, würde es unhöflich sein, dies nochmals ausdrück-
lich zu betonen. Der subtile Unterschied, den er zwischen Einzahl und
Mehrzahl von Prinzip gemacht haben will, und mit dem er das Mißverständnis
aufzuklären sucht, macht mir allerdings die Sache nicht deutlicher. Wenn
ich die AusfÜhnmgen des Archivdirektors Secher richtig verstanden habe,
verteidigte er grundsätzlich das Provenienzprinzip, wie es jetzt in Dänemark
voUständig durchgeführt ist. Er gab zwar zugleich eine Übersicht über die
früheren Ordnungsprinzipien, die jedoch jetzt alle abgetan sind und auf die
die Bemerkung des Berichterstatters sich also kaum beziehen konnte. Und
wenn der Redner dann weiter über die Herstellung von Handbüchern, die
Anfertigung von Beamtenlisten usw. sprach, so bezog sich dies nur auf einige
praktische Folgen, die die Anwendimg des Prinzips verursacht, berührte
aber die Hauptfrage, nämlich die nach der Tauglichkeit oder (Jntauglichkeit
des Prinzips, überhaupt nicht. Deswegen konnten diese Dinge auch nicht
in Betracht kommen, wenn es die Frage zu beantworten galt, ob sich das
Provenienzprinzip auch in den Archiven der Länder anwenden läßt, die
nicht die „ ganz spezifischen Entwickelungsverhältnisse, wie sie eben in Däne-
mark gegeben sind", besitzen.
Was dann die Befolgtmg des Provenienzprinzips speziell in der öster-
reichischen Archivverwaltimg betrifft, so gestehe ich gern zu, daß auch nach
meinem Dafürhalten leicht Schwierigkeiten entstehen können, sei es durch
die häufigen Änderungen in der Behördenorganisation und den Territorial-
grenzen, sei es durch die Kompliziertheit des Verwaltungsapparats, Nur
will mir scheinen, daß diese Schwierigkeiten sich auch bei strenger An-
wendung des Provenienzprinzips in den allermeisten Fällen überwinden lassen,
wenn einleitungsweise die Geschichte der Behörden und ihrer Zuständig-
— 319 —
keit beschrieben und im Inventar selber darauf verwiesen wird. Letzteres
wird sich auch bei Eingliederung der Archivalien kleinerer Unterbehörden
empfehlen, bei der Vancsa seinen Zweck durch „Zusammenziehung nach
gegenständlichen Gesichtspunkten*' erreichen will Im ersten Fall aber wird
die ursprüngliche Organisation der Archive erhalten bleiben, im letzteren
die gesamte Masse der Archivalien ziemlich willküdich durcheinander ge->
werfen werden.
Weiter will Vancsa auch „kleinere, namentlich urkundliche Archiv-
bestände, Bestände mit allzu bunter Provenienz '* nicht der Ordnung nach
dem Provenienzprinzip unterwerfen, sie dagegen chronologisch beschreiben.
Dabei übersieht ^r aber, daß ein Inventar imd eine RegestenUste zwei ver-
schiedene Sachen sind. Wie bunt die Provenienz der Archivbestände auch
sein mag, wenn sie nachzuweisen ist, so kann es nur nützlich sein, die
Sammlung danach aufzuteilen und zu beschreiben. Um den Interessen des
gegenwärtigen Forschers entgegen zu kommen, kann dem Inventar ein Re-
gestenverzeichnis angefligt werden, wie es die Anleitung £um Ordnen und
Beschreiben von Archiven von Muller, Feith und Fruin (Deutsche
Ausgabe, Leipzig 1905) in den Paragraphen 72 — 77 vorschlägt.
Ein Satz in der Beweisführung Vancsas ist mir absolut unverständ-
lich. Ich meine den, wo er sagt: „Ja ich fürchte, daß bei allzu strenger
Anwendung des Provenienzprinzips unsere heikelste österreichische Archiv-
frage, die AufteUung des alten Hofkammerarchivs (jetzt Archiv des Reichs-
finanzministeriums) unter die beiden Reichshälften, die man mit Recht in
Österreich mit aller Entschiedenheit verhbdem will, zu unseren Ungunsten
entschieden werden könnte.'* Inwiefern die Ordnung eines Archivs, einerlei
nach welchem System, das Zusammenbleiben der Bestände gefährden kann,
das begreife ich nicht. Wie würde man jemals das Aufteilen eines Archivs,
das doch immer ein organisches Ganzes ist, entschuldigen können mit dem
Hinweis auf das Prinzip, nach welchem es geordnet ist! Und daß gerade
das Provenienzprinzip im besonderen dazu Veranlassung geben könnte, das
ist mir noch weniger verständlich.
In der soeben angezogenen Anleitung heißt es vielmehr in $ 10:
„Ein bereits abgeschlossenes Archiv ist nicht über zwei oder mehr
Depots zu verteUen^* und in S 11 sogar: „Es empfiehlt sich, eine etwa
schon vorhandene Zersplitterung von Archiven wieder rückgängig zu machen,
wenn dies ohne erhebliche Bedenken geschehen kann.'* Wenn abo jemals
das alte Hofkanmierarchiv imter die beiden Reichshälften aufgeteilt werden
soUte, so wird man gewiß das arme Provenienzprinzip dafür nicht verant-
wortlich machen können.
Jetzt noch ein Wort über die Scheidung von Urkunden und Akten.
Meines Dafürhaltens ist hinsichtlich dieses Punktes auch jetzt noch das Miß-
verständnis bei Vancsa nicht aufgehoben. Ganz bestimmt war es die Ab-
sicht Sechers zu betonen, daß das dänische Archivwesen eine prinzipielle
Scheidung von Akten und Urkunden (Pergament- oder Papier-) durchaus
nicht kennt, vielmehr lediglich aus praktischen Gründen einige Pergament-
urkunden für sich aufbewahrt, in der Beschreibung aber auch diese
niemals von den Akten trennt.
Schließlich sagt Vancsa — und dem stimme ich vollständig bei — ,
23
— 320 —
daß jedes Archiv seine Besonderheiten besitzt, denen bei der Ordnung der
Bestände Rechnung getragen werden muß. Allein ich muß hinzufugen, daß
meines Erachtens jedes Archiv, wenn in der Ordnung die durch die Ent-
stehung bedingten Besonderheiten recht deutlich zum Ausdruck gelangen,
am besten „den Zwecken, welchen es zu dienen hat*', entsprechen wird.
Vielleicht haben sich infolge dieser Auseinandersetzungen auch manche
andere Archivare ihren Standpunkt hinsichtlich des Provenienzprinzips etwas
klarer gemacht. Trifit dies zu, dann werde ich es nicht bereuen, zur Er-
örterung des Gegenstandes angeregt zu haben, und deshalb bitte ich auch
Herrn Dr. Vancsa es mir nicht übel zu nehmen, daß ich die Aufmerk-
samkeit auf die Stelle aus seinem Berichte über den Archivtag gelenkt habe.''
Zu vorstehenden Ausführungen des Herrn Archivars Dr. Wiersum
erlaubt sich der Herausgeber folgendes zu bemerken:
Da ich bereits im Nederlandsch Archievehblad, 15. Jahrgang (1906 —
1907), S. 159 — 161, in aller Kürze meine Ansichten über das ProvenieDz-
prinzip imd seine Zweckmäßigkeit ausgesprochen und auch die Fälle erörtert
habe, in denen mir die strenge Durchführung desselben unzweckmäßig er-
scheint, glaube ich einer Auseinandersetzung darüber an dieser Stelle über-
hoben zu sein. Ohne der weiteren Aussprache vorgreifen zu wollen, die
ich ebenso wünsche wie Herr Wiersum, möchte ich nur auf zwei Einzel-
heiten eingehen, bezüglich deren die obigen Ausführungen möglicherweise
zu falschen Folgerungen verleiten köimten.
Erstens scheint mir ganz allgemein die Anschauung über das Verhältnis,
in dem die Registraturen zum Archiv stehen, einer Klänmg zu be-
dürfen. Wenn das Wort „Archiv" auch recht oft für „alte Registratur"
gebraucht wird, so muß man, um bei den hier zu erörternden Verhältnissen
nicht undeutlich zu werden, deimoch beide begrifflich scharf auseinander
halten. Das Wesen des Provenienzprinzips besteht darin, daß es die Re-
gistraturen, so wie sie im Geschäftsbetrieb entstanden sind, erhalten will und
einen Zustand anstrebt, in dem ein modernes Archiv tatsächlich ein „Neben-
einander alter Registraturen" bildet, wie Wackernagel in der
Einleitung zum Bepertorium des Staatsarchivs Basel (Basel 1 904), S. XLIII,
wenn auch im Sinne einer Ablehnung des Prinzips, ganz richtig sagt. Grund-
sätzlich muß man zweifellos zwei verschiedene Arten der Anwendung des
Provenienzprinzips imterscheiden : die erste ist die von alters her übliche,
die z. B. die Archivalien von zehn aufgehobenen Klöstern, die heute in
einem Staatsarchiv oder Stadtarchiv ruhen, als zehn verschiedene Depots be-
trachtet, die unter kernen Umständen untereinander gewürfelt werden dürfen;
die zweite Art dagegen wird erst in neuerer Zeit gefordert, um sie handelt
es sich im wesentlichen bei allen einschlägigen Erörterungen, und sie betrifft
die innere Anordnung jedes einzelnen dieser Depots nach seiner Entstehung
und Zusammensetzimg. Um bei dem Beispiel eines beliebigen Klosterarchivs
2\i bleiben, gilt es abo die abteiliche Registratur von der des Kapitels zu
trennen imd ebenso die Akten der Zentralgüterverwaltung von denen der
einzelnen grundherrschaftlichen Lokalverwaltungen. Gegen die zuletzt er-
wähnten Grimdsätze allein ist im wesentlichen noch in neuerer Zeit gesündigt
worden, während man wohl niemals so töricht gewesen ist, in einem größeren
— 321 —
Archiv den Versuch zu machen, die gesamten Bestände, oder auch nur die
mittelalterlichen, nach irgendeinem einheitlichen Gesichtspunkte zu ordnen.
Wo man bezüglich der Urkunden so verfahren ist und sie sämtlich in eine
einzige zeitliche Folge gebracht hat , da ist dies zwar gnmdsätzlich nicht zu
billigen, hat aber auch manche Vorteile gewährt und im ganzen nicht allzu-
viel geschadet. Aber in bezug auf die Akten liefien sich irgendwelche ein-
heitliche Gesichtspunkte, seien es nun zeitliche, örtliche oder sachliche, gar
nicht finden, nach denen man eine Ordnung oder besser Unordnung hätte
herstellen können. Voraussetzung ist und bleibt bei der Anwendung des
Provenienzprinzipes beide Male, daß im ersten Falle der Archivar die Her-
kunft der Archivalien bestimmt kennt, die bei vereinzelten älteren Stücken
z. B. gar nicht immer ohne weiteres zu erkennen ist, und im zweiten, dafi
tatsächlich eine organische Ordnung jemals bestanden hat und sich die
Zusammengehörigkeit der einzelnen Aktenstücke auf Grund der alten Ord-
nungsnununem erkennen läßt. Trifft letzteres nicht zu oder sind nur ganz
wenige Stücke aus einer einst vermutlich sehr großen Zahl von Aktenfaszüceln
vorhanden, dann ist meines Erachtens gegen ein beliebiges anderes Ordnungs-
prinzip nichts einzuwenden. Wenn in Wirklichkeit ein modemer Archivar die
Gruppierung mangels sicherer Grundlagen auf eigene Faust vornimmt, dann
muß sich dieses Verhältnis auch äußerlich sofort erkennen lassen.
Es ist zwar denkbar, daß ein modernes Archiv nur aus einer einzigen
alten Registratur besteht, aber in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle
sind in einem Archiv viele alte Registraturen vereinigt, wenn auch meist
eine davon als Rückgrat dient. Lediglich die letzteren aber sind, jede für
sich, organisch entstanden, nicht das Archiv. Wenn aus Gründen der Zweck-
mäßigkeit eine ganze abgeschlossene Registratur aus einem Archiv in ein
anderes überfUhrt wird, so läßt sich dagegen nicht das geringste einwenden,
imd ein solches Verfahren muß eingeschlagen werden, wenn etwa ein neues
Archiv geschaffen wird, wie es 1 900 in Danzig geschah ; denn in jenes neue
Archiv müssen natürlich Teile des bisher für das Gebiet zuständigen Archivs
aufgenommen werden. Das Provenienzprinzip wird durch eine solche Be-
raubung oder schließlich wohl gar Aufteilung eines Archivs nicht be-
rührt, und diese selbst ist durchaus nichts Unerhörtes. Unerhört ist und
wohl einmütig von allen modernen Archivaren abgelehnt wird lediglich das
Aufteilen einer Registratur, wie es z. B. leider bei der des ehe-
maligen Reichskammergerichts zu Wetzlar und in vielen anderen Fällen ge-
schehen ist; denn dort hatte eben der Geschäftsbetrieb des Gerichts diese
ganz bestimmte Zusammensetzung der Prozeßakten ergeben, die zu zerstören
eine schwere Schädigung archivalischer Interessen bedeutete.
Hierdurch bin ich zu dem zweiten Punkte geführt worden, den ich be-
rühren wollte, zu der Angelegenheit des österreichischen Hofkammer-
archivs. Die besonderen Verhältnisse desselben sind mir unbekannt, aber
die Angaben im Handbuch der deutschen Archive von Burkhardt(3. Aufl.
Leipzig 1887), S. 200 — 201, im Verein mit den Mitteilungen Giannonis
in dieser Zeitschrift 5. Bd., S. loa — 103, geben wohl der Erörterung eine
genügend sichere Grundlage. Die Hofkammer war 1527 — 1848 die Zen-
tralbehörde nicht nur für die österreichischen Erblande, sondern auch für
Böhmen und Ungarn. Demgemäß ist die Registratur dieser Behörde ganz
23*
— 322 —
zweifellos ein einheitliches unzerreifibares Ganzes, das zu zerstören eine Bar-
barei wäre. Über diesen Punkt sind sich in Österreich die Archivare und
Geschichtskenner einig. Aber damit ist die Angelegenheit mit nichten er-
ledigt, weil nicht die Fachleute, sondern die Politiker das entscheidende
Wort zu reden haben; denn diese archivalische Frage ist, geradeso wie
manche andere, zugleich eine hochpolitische. Die Vertreter des gegenwärtig
selbständigen Staates Ungarn fordern tatsächlich die Herausgabe des Teiles
der Akten, die ihr Land betreffen, weil sie — ungarischer Provenieuz
seien. Gerade das Provenienzprinzip wird, wenn man es auch ungarischer-
seits in einem falschen Sinne anwendet, vorgeschützt, um die Forderung
überhaupt diskutabel zu machen und eventuell archivalische Laien von deren
Berechtigung zu überzeugen. Daß unter diesen Umständen gerade die Be-
tonung des Provenienzprinzips eine gewisse Gefahr in sich schließen kann,
da eben archivalische Laien die letzte Entscheidung zu treffen haben, läßt
sich meines Erachtens nicht in Abrede stellen. Um so notwendiger ist es,
die richtige Auffassung des Provenienzprinzips darzulegen und auch weitere
Kreise damit bekannt zu machen.
Nunmehr ist auch Steiermark in die Reihe jener österreichischen
Kronländer getreten, deren autonome Landesverwaltungen den Archiven
und älteren Registraturen der Landgemeinden mangeb eines staadichen
Denkmalschutzes systematische Aufmerksamkeit zuwenden. Im Anschlüsse
an die seit den neunziger Jahren in Österreich, in hervorragender Weise
namentlich in Oberösterreich, Tirol, Böhmen imd Galizien, in Sachen der
Ordnung und Erhaltung der Gemeindearchive ergriffenen Maßregeln hat der
steiermärkische Landesausschuß auf Vorschlag der Direktion des Landes-
archives beschlossen, bei sämtlichen Gemeindeverwaltungen des Landes Steier-
mark über das Vorhandensein und den Zustand der bei den einzelnen Ge-
meinden bewahrten alten Urkunden, Bücher und Akten Umfrage zu halten,
um zunächst auf diesem Wege von den im ganzen Lande zerstreut
liegenden Archivalien Erkundigungen einzuziehen. Nach der Gemeindeordnung
gehört das Archiv zum Vermögen der Gemeinde, über das dem Landes-
ausschusse das Aufsichtsrecht zusteht. Es liegt sicherlich im Interesse jeder
Gemeinde, daß die in ihrem Besitz befindlichen alten Urkunden und Akten
sich nicht nur in sicherer Verwahrung, sondern auch in solchem Zustande der
Ordnung befinden, daß jedes Stück jederzeit zu Rechtsnachweisen sofort auf-
gefunden werden kann. Die eigentliche Regelung des Gemeindearchivwesens
in Steiermark, wie eine solche in Tirol seit 1899, in Böhmen seit 1900
mit Erfolg durchgeführt wird, kann erst auf Grund der Ergebnisse der gegen-
wärtigen Umfrage erfolgen. Zu erwähnen wäre noch, daß seit 1870 bereits
33 steierische Städte und Märkte ihre z. T. wertvollen und umfangreichen
Archive dem Grazer Landesarchive zur dauernden Aufbewahrung unter Wahrung
des Eigentumsrechtes abgetreten haben.
Kommissionen. — Die Württembergische Kommission für
Landesgeschichte ^) hat am 10. Mai 1906 ihre fünfzehnte und am
I) Vgl. diese Zeitschrift 7. Bd., S. 186—187.
— 323 —
2 8. Mai 1907 ihre sechzehnte Sitzung abgehalten. Im Laufe der beiden
Berichtsjahre sind folgende Veröfifentlichungen im Druck erschienen: Von
den Oeschichtlichen Liedern und Sprüchen WUrtiembergs , bearbeitet von
Steiff und Mehring, Heft 5 (1905); von der Württembergischen Müns-
und Medaülenhunde von Binder, neu bearbeitet von Ebner, Heft 3 (1905)
und Heft 4 (1906); Schubart als Musiker von £. Holzer (1905); Die
versierten Terra sigiUata'&efäße von Cannstatt und Köngen-Grinario von
R. Knorr (1905); Die Matrikeln der Universität Tübingen, herausgegeben
von Hermelink, i. Bd. (1906); Geschichte der Behördenorganisation in
Württemberg von Wintterlin, 2. Bd. (1906); Heinrich Seuse, Deutsche
Schriften, herausgegeben von Bih Im eye r {1907); Bibliographie der Württem-
bergischen Geschichte Bd. 3, bearbeitet von Th. Schön {1907). Die be-
gonnenen Arbeiten sind sämtlich günstig fortgeschritten. Neu wurde be-
schlossen, einen zweiten Band vom ürkundenbuch der Stadt Bottweil, den
pohtischen Briefwechsel des Königs Friedrich von Württemberg, die Ellwanger
Kapitelstatuten, Briefe von württembergischen Humanisten, Reformatoren und
Gegenreformatoren, Akten zur Verfassungsgeschichte der Reichsstadt Ravens-
burg, ein Inventar des kgl. Finanzarchivs in Ludwigsburg, eine Geschichte
des Feldzugs in Ungarn 1663 — 1664 mit besonderer Berücksichtigung der
württembergischen und schwäbischen Kreistruppen sowie eine Geschichte
des humanistischen Schulwesens in Württemberg zu veröffentlichen. Auch
eine Sammlung württembergischer Biographien ist ins Auge gefaßt. Die In-
ventarisation der nichtstaatlichen Archive ist in allen sechs Kreisen rüstig
fortgeschritten, und die Erlaubnis zur Veröffendichung der Inhaltsangaben ist
von der Mehrzahl der Archivbesitzer bereits erteilt worden.
Durch den Tod hat die Kommission die Mitglieder v. He yd und
V. Funk verloren; sein Amt niedergelegt hat v. Stalin. Neu eingetreten
sind als ordentliche Mitglieder: Prof. Goetz (Tübingen), Archivrat
Wintterlin (Stuttgart) und Prof. Ernst Marx (Stuttgart), als außerordent-
liches Mitglied: Prof. Jacob (Tübingen). Die Ausgaben beliefen sich im
Rechnungsjahre 1905 auf: 18 451 Mark, 1906 auf: 16083 Mark.
Die 35. Plenarsitzung der Badischen Historischen Kommission ^)
hat am 25. und 26. Oktober 1906 in Karlsruhe stattgefunden. Im Berichts-
jahre sind folgende Werke erschienen: als Neujahrsblatt für 1906 Bupprecht
der Kavalier, PfaUgraf bei Bhein (1619—1682) von Kart Hauck (Heidel-
berg, Winter. 117 S.); vom Oberbadischen Geschlechterbuch, bearbeitet von
Julius Kindler von Knobloch, die i. Lieferung des 3. Bandes; Denk-
würdigkeiten des Markgrafen Wühelm von Baden, bearbeitet von Karl
Obs er, Bd. I; von den Oberrheinischen Stadtrechten das 7. Heft der I.
(fränkischen) Abteilung, bearbeitet von Karl Koehne; die 11. (Schluß-)
Lieferung vom 5. Teile der Badischen Biographien, herausgegeben von
F. V. Weech und A. Krieger. Die in Angriff genommenen Veröffent-
lichungen sind sämtlich mehr oder weniger gefördert worden. Von den
Regesten der Bischöfe von Konstant bearbeitet Karl Ried er einen 3. Band;
i) Vgl. diese Zeitschrift 7. Bd., S. 227—228.
— 324 —
von demselben werden 1908 BönUsche QueUen nur Konstanser Bistums-
geschickte erschemen. Von den Begesten der Markgrafen von Baden und
Hacfiberg wird der 4. Bd. durch Frankhauser, der 5. Bd. durch Krieger
bearbeitet. Von den Oberrheinischen Stadtrechten ist das 8. Heft der
fränkischen und das 2. Heft der schwäbischen Abteilung in Bearbeitung;
in der letzteren wird fortan jedes Heft ein Orts-, Personen- und Sach-
register sowie ein juristisches Wörterbuch enthalten. Zur Politischen Korre-
spondenz Karl Friedrichs von Baden 1782 — 1806, die 1888 — 1901 in fimf
Bänden erschien, bereitet Obs er einen Nachtragsband vor. Die Inventari-
sation der kleben Archive ist ziemlich abgeschlossen; über die erfreuliche
Regelung des Archivwesens in den Gemeinden vgl. das oben S. 228 — 229
Mitgeteilte.
Durch Tod verlor die Kommission das ordentliche Mitglied Archiv-
direktor V. Weech, durch Niederlegung seines Amtes das ordentliche Mit-
glied Prof. Hausrat h. Neu traten als ordentliche Mitglieder ein: Prof.
Friedrich Mein ecke (Freiburg), Prof. Georg Pf eil schift er (Freiburg) und
Prof. Hans von Schubert (Heidelberg). Ehrenmitglied der Kommission
wurde der bisherige Vorsitzende Prof. Dove; an seine Stelle trat Prof. Erich
M a r c k s. Zum Sekretär wurde auf die Dauer von fünf Jahren Geh. Archiv-
rat Albert Krieger bestellt.
In Wien tagte am 31. Oktober 1906 unter dem Vorsitze Sr. Durch-
laucht des Prinzen Franz^von und zu Liechtenstein die Kommission für
neuere Geschichte Österreichs^). Im Druck erschienen ist der erste
Band der österreichisch-englischen Staatsverträge, bearbeitet von Pribram
(Innsbruck 1907), der bb 1748 reicht. Das von Thomas Fellner hinter-
lassene Werk Die österreichische ZentrdtverwaUung i. Abteilung: von Maxi-
milian I. bis zur Vereinigung der böhmischen und österreichischen Hof-
kanzlei (1749), hat Heinrich Kr etschmayr vollendet und wird es bald in
drei Bänden (einer geschichtlichen Übersicht und zwei Aktenbänden) vorlegen.
Derselbe wird die Arbeit bis 1848 fortsetzen. Schließlich wurde das i. Heft
des I. Bandes der Archivaiien Mur neueren Geschichte Österreichs (Wien,
Holzhausen 1907. 113 S.) ausgegeben. Aus den Archiven von fünf hoch-
adeligen Häusern (Lobkowitz, Schwarzenberg in Knunau, Schwarzenberg in
Wittingau, Buquoy, Dietrichstein) sowie aus dem Archiv des Museums des
Königreichs Böhmen werden darin Archivalien zusammengestellt, deren Aus-
beutung für die geplanten Veröffentlichungen der Kommission in Frage
kommen wird und düe zugleich einen Einblick in den Reichtum der hoch-
adeligen Privatarchive gewähren. Im Museum des Königreichs Böhmen
findet sich vor allem ein Rest der Korrespondenz des Grafen Maximilian
von Trautmannsdorf (gestorben 1650).
Unter dem 31. Dezember 1906 hat die Gesellschaft fü r fränkische
Geschichte*) ihren zweiten Jahresbericht veröffentlicht Als Neujahrsblatt für
1) Vgl. diese ZeiUchrift 7. Bd., S. 226 — 227.
2) Vgl. diese Zeitschrift 7. Bd., S. 229—230.
— 325 —
1907 wurde Aus den Wanderjahren eines fränkischen Edelmannes von
Alexander von Gleichen-Rußwurm herausgegeben. Als erste Quellen-
veröffentlichung wird eine Bamberger Chronik des XV. Jahrhim<^erts er-
scheinen. Mit welchen anderen Aufgaben die Gesellschaft gegenwärtig be-
schäftigt ist, wurde schon früher mitgeteilt. Neu in Angriff genommen wurde
die Inventarisierung zunächst der evangelischen Pfarrarchive; es war darüber
bereits oben S. 228 die Rede. Weiter ausgebaut wurde die Organisation
der Gesellschaft» und vor allem wurde eine Ordnung für die Bearbeitung der
wissenschaftlichen Aufgäben der Gesellschaft für fränkische Geschichte be-
schlossen, die aus 18 Paragraphen besteht und im Jahresbericht vollständig
abgedruckt ist. Etwas wesentlich Neues darin ist, daß das Verhältnis der
„Mitarbeiter 'S die mit Dienstvertrag und auf festes Gehalt angestellt werden,
ein für allemal geregelt ist; demnach beträgt das Anfangsgehalt 1620 Mark
und steigt jährlich um 90 Mark bis zum Höchstbetrage von 2160 Mark.
Das ist gewiß keine allzu glänzende Endohnung streng wissenschaftlicher
Arbeit, aber es ist trotzdem wesentlich mehr, als bei den übrigen Publikations-
instituten in der Regel gezahlt wird.
Die Zahl der Stifter ist von 15 auf 18, die der Patrone von 91 auf
96 gestiegen. Das aus den Beiträgen der Stifter gebildete Stammvermögen,
das jetzt 21 500 Mark beträgt, hat der Kaiser durch eine einmalige Zu-
wendung von 500 Mark vergrößert. iDer Jahreseinnahme von 16 147 Mark
steht eine Jahresausgabe von 8833 Mark gegenüber.
Die Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde ') hielt ihre
26. Jahresversammlung am 9. März 1907 in Köln ab; es wurde dabei der
Bericht über die Täti^eit im Kalenderjahre 1906 erstattet, aber zugleich
zeichnete Prof. Hansen in seinem inzwischen im Druck erschienenen Vor-
trage, Die Gesettschaft für Rheinische Geschichtshunde in den Jahren 1681
bis 1906 (Bonn, Georgi 1907, 34 S.), ein Bild ihrer Tätigkeit während
des ersten Vierteljahrhimderts ihres Bestehens. Auch für die Forscher, die
den rheinischen Verhältnissen femer stehen , bietet diese Zusammenfassung
höchst lehrreiche Mitteilungen, und besonders den Leitern von Publikations-
instituten ist deshalb der Vortrag angelegentlichst zu empfehlen. — Zur Ver-
öffentlichung gelangte im Berichtsjahre: Bheinisehe Siegel, I: Die Siegel der
Ergbischöfe von Köln (948^1795), 32 Lichtdrucktafeln mit erläuterndem
Text, bearbeitet von Wilhelm Ewald (Bonn 1906); JüHich-Bergische Kirchen^
poUtih am Ausgange des Mitteilalters und in der Beformationseeit von
Otto Redlich, I: Urkunden und Akten 1400—1553 (Bonn 1907); Quellen
£ur Bechts- und Wirtschaftsgeschichte der rheinischen Städte. Bergisehe
Städte. I: Siegburg t bearbeitet von Friedrich Lau (Bonn 1907). Der Voll-
endung im Druck gehen en^;egen der 2. Band der JÜlieh-Bergischen Land^
tagsdkten L Beihe, herausgegeben von v. Below, Die KOlner Zunfturkunden
nebst anderen Kölner Gewerbeurkunden bis gum Jahre 1500, herausgegeben
von V. Lösch, und Bd. 4 der Urkunden und Begesten sur Geschichte
der Bheuüande aus dem Vatikanischen Archiv, bearbeitet von Sauerland,
i) Vgl. diese ZeiUchrift 7. Bd., S. 228.
— 326 —
der die Zeit 1353 — 1362 umfaßt. Als Beilage zum Jahresbericht werden
die Inventare der kleinen Archive in den Kreisen Kochern und Prüm ver-
öffentlicht. Zur Inventarisierung des Fürstlich Wiedschen Archivs in Neuwied
hat die Gesellschaft einen Zuschuß geleistet.
Stifter zählt die Gesellschaft gegenwärtig 9, von denen 3 verstorben
sind, Patrone 135, Mitglieder 300. Die Gesamteinnahme des Jahres 1906
betrug 26 896 Mark, die Gesamtausgabe 20676 Mark; das Vennögen be-
ziffert sich einschließlich der Mevissen-Stiftung (45 389 Mark) auf 1 18 109 Mark.
Maseen. — Zu Ende des Jahres 1902 wurde in Straßburg i. £.
ein Elsässisches Museum gegründet, das die Eigentümlichkeiten der £1-
sässischen Bevölkerung veranschaulichen imd namentlich Trachtenstücke und
Erzeugnisse des Hausgewerbes sammeln wiU. Welche Bedeutung der Volks-
kunst und der Sanunlung ihrer Überreste zukommt, darüber braucht an dieser
Stelle kein Wort verloren zu werden ; es genügt festzustellen, daß in diesem Falle
ein lediglich volkskundliches Museum ins Leben getreten ist, in dem
die Sammltmgsstücke nach Möglichkeit zu vollständigen Zimmereinrichtungen
mit plastischen Figuren vereinigt werden.
Es ist erfreulich, daß materiell gleich von vornherein die für ein sol-
ches Unternehmen unbedingt notwendige Gnmdlage geschaffen worden ist,
da sich eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung gebUdet hat, an der die
angesehensten Familien des Elsaß beteiligt sind. Außerdem haben sich
mehere hundert „unterstützende Mitglieder** gefunden, die entweder einen
Jahresbeitrag von mindestens 10 Mark oder einen einmaligen Beitrag von
IOC Mark zahlen, dafUr freien Eintritt in das Museum haben und dessen
Veröffentlichungen erhalten. Das Museum steht unter der Leitung der Herren
Dr. med Bucher und L. Dollinge r. Von der Leistungsfähigkeit der Gesell-
schaft zeugt der Umstand, daß bereits 1904 das Haus Nikolausstaden 23, schon
an sich als altes Patrizierhaus eine Sehenswürdigkeit Straßburgs, fUr die Zwecke
des Museums erworben werden konnte; seit Frühjahr 1906 ist die ansehn-
liche Sammlung darin untergebracht.
Das genannte zweistöckige Gebäude besitzt eine Renaissancefassade in
Stein, einen Hof, den Holzgalerien umgeben, aus dem XVII. Jahrhundert, ein
Seitengebäude aus dem XVI. imd mancherlei Zutaten aur dem XVIII. Jahrhundert.
In einem gewölbten Raum, den man vom Hofe aus betritt, ist eine kleine
Kapelle eingerichtet. Zum ersten Stock fUhrt eine Holztreppe des XVUI.
Jahrhxmderts , imd dort bildet den Anziehungspunkt eine Stube aus dem
oberelsässischen Weinlande aus dem Jahre 16 19 mit Holztäfelung, einem
grün-weißen Kachelofen, geschnitzten Stühlen usw. und vor allem mit dem
vollständigem Kostüm einer Straßburger Patrizierfrau des XVII. Jahrhimderts.
Im ältesten Teile des Hauses ist in einem gewölbten Räume ein alchemi-
stisches Laboratorium eingerichtet. Im zweiten Stocke sind im Korridore
bäuerliche Geräte und BUder, letztere namentlich in Form von „ Gettelbriefen '*
(Patenbriefen), ausgestellt, während der Saal die verschiedensten Überreste
bäuerlicher Gebrauchsgegenstände und Kostümbilder nebst vielen Kostüm-
figuren enthält. In besonderer Reichhaltigkeit sind die im Ebaß sehr ver-
breiteten Holzskulpturen und geschnitzten Hausgeräte vertreten, zu denen
— 327 —
auch die „ Hofzeichen *' (Initialen des Hofbesitzers mit Jahreszahl inmitten
einer geometrischen Figur) gehören. Auch die verschiedenartigsten Erzeug*
nisse der bäuerlichen Töpferei haben hier eine Sammelstätte gefunden.
Seit 1904 erscheinen Bilder aus dem Elsäaser Museum, die, wie
schon gesagt, den Personen, die durch ihre Beisteuer das Musemn imter-
halten, geliefert werden. Sie sollen elsässische Volkskimst xmd elsässisches Volks-
leben der Vergangenheit und Gegenwart auf Grund guter Quellen imd direkter
photographischer Aufnahmen in künstlerischer Form schildern, und zwar
sind die Bilder lose Blätter in Licht- und Farbendruck und Heliogravüre
im Format von 24 : 32 cm mit knappem Text*, sie erscheinen jährlich in 6 Liefe-
rungen zu je 4 Blättern, also 24 Blätter im Jahr, und stellen typische Bauern-
häuser, ihre Einrichtungen, Trachten und Trachtenteile sowie Szenen aus dem
Volksleben dar. Auch bedeutsame Einzelgegenstände aus dem Musemn ge-
langen darin zur Darstellung. Die vorliegenden 88 Blätter bilden eine wert-
volle Sammlung kulturgeschichtlicher Abbildimgen und verdienen allgemein
bekannt zu werden. Leider ist es unmöglich hier auf die einzelnen Dar-
steUungen, namentlich die Trachtenbilder, näher einzugehen.
Personalien. — Durch den am 10. Mai d. J. plötzlich und uner-
wartet eingetretenen Tod des Geheimen Justizrates Prof. Dr. Hugo Loersch
in Bonn haben nicht nur die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität imd
das engere Fach der deutschen Rechtsgeschichte, das er hier vertrat, son-
dern die ganze rheinische Provinzialgeschichte und die gesamte deutsche
Denkmalpflege einen schmerzlichen imd schwer zu verwindenden Verlust erlitten.
Hugo Loersch war ein Sohn der Kaiserstadt Aachen, wo er am
20. Juli 1840 geboren war, und er hing an seiner Vaterstadt, die er all-
jährlich für längere oder kürzere Zeit aufsuchte, mit rührender Treue. Die
Aachener Stadtbibliothek hat er zuletzt auch zur Erbin seiner BibUothek und
seiner reichen Materialiensammlung eingesetzt. In Aachen und Brüssel vor-
gebildet, hatte er in Bonn das Gymnasium besucht und dann in Heidelberg
imd Bonn studiert: von Anfang an gehörte seine Liebe neben der Rechts-
wissenschaft der Geschichte. In Heidelberg hatte er zu Häußers Füßen ge-
sessen, in Bonn trat er vor allem zu den Juristen Bauemband und Walter
in enge Beziehungen. Im Jahre 1862 zum Doktor beider Rechte in Bonn
promoviert, habüitierte er sich schon drei Jahre später ebendort für deutsches
und rheinisch- französisches Recht Seine Gelehrtenlaufbahn ist von änderen
Störungen, Verwicklungen und Wandlungen ganz frei geblieben : er war mit der
rheinischen Universität und mit der rheinischen Forschung so verwachsen, dad
er nicht daran dachte, diese seine engere Heimat zu verlassen. Er war eine der
bekanntesten Persönlichkeiten und der markantesten Erscheinungen in dem
Lehricörper der rheinischen Hochschule, wegen der unbeirrbaren Rechtlich-
keit seiner Gesinnung und wegen der vornehmen und hochsinnigen Geradheit
seines Urteib von der älteren Generation wie von der jüngeren in gleicher
Weise geschätzt und verehrt. Über vierzig Jahre lang hat er seine Tätigkeit
ausgeübt, zumal in früheren Jahrzehnten, als noch das rheinisch-französische
Recht seine große praktische Bedeutung besaß, hat er lange Reihen von
rheinischen Juristen zu seinen Schülern gezählt. Seine Hörer haben ihm
— 328 —
allezeit eine herzliche Anhänglichkeit bewahrt, nicht zum geringsten sein
erlauchtester Schüler, der damalige Prinz Wilhelm von Preußen: der Kaiser
ließ keine Gelegenheit vorübergehen, seinem alten Lehrer Treue und Verehrung
zu bezeigen und häufte immer neue Ehren auf ihn. Der Verstorbene war
Kronsyndikus und aus Allerhöchstem Vertrauen lebenslängliches Mi^lied des
Herrenhauses. Der Erbgroßherzog Friedrich von Baden ist ihm in treuer An-
hänglichkeit bis zum heutigen Tage verbunden geblieben. Kein besserer Nach-
ruf konnte dem Toten gespendet werden, als die lebhaft anerkennenden Worte,
die das kaiserliche Beileidstelegramm für den Menschen und den Gelehrten fand.
Loerschs Bedeutung ftir die Rechtsgeschichte wird in den Fachzeit-
schriften von Berufenen gewürdigt werden, hier sei nur ein Wort seiner Arbeit
auf dem Gebiete der Land es geschieh te gewidmet. — Schon bei seinen
ersten Arbeiten bemächtigte sich seiner die starke Erkenntnis, die nun den
leitenden Gedanken ftir alle seine Untersuchungen und Forschungen bildete, daß
die deutsche Rechtsgeschichte auf der Orts- und Landesgeschichte aufgebaut und
im Anschluß und in Verbindung mit dieser gepflegt werden müsse. Zu der gleich-
mäßigen Verfolgung allgemeingeschichtlicher Studien neben den rechtshistori-
schen befähigte ihn gerade der Umstand, daß er — wie kaum ein anderer — mit
der lokalen und provinzialen Forschung verwachsen war. Er sah überall den
historischen Boden, bei allen Rechtsideen den geschichtlichen Hintergrund,
imd so lösten sich für ihn ganz von selbst alle Rechts- tmd Verfassungs-
kämpfe aus der allgemeinen geschichtlichen Konstellation ab. Schon in seiner
Doktordissertation hatte er in diesem Sinne die Entwicklung der Landes-
hoheit in der Grafschaft Jülich bis zur Mitte des XIV. Jahrhunderts verfolgt.
Die beiden wichtigsten Publikationen seiner älteren Zeit: die Aachener Bechts-
denkmäler aus dem XIIL — XV. Jahrhundert (Aachen 187 1) und Der Ingd-
heimer Oberhof (Bonn 1885) halten sich gleichfalls an diese Leitidee.
Loersch wollte auf der ersteren Veröflentlichung eine Darstellung der
Rechts- und Verfassungsgeschichte von Aachen aufbauen, für die er
Materialien gesammelt hatte. Er kam leider nicht dazu, diese zusammen-
fassende Arbeit zu Ende zu führen. — Als langjähriger Vorsitzender des
Aachener Geschichtsvereins konnte er wenigstens durch wissenschaftliche An-
regungen, durch Förderung, die er fremder Arbeit zuteil werden ließ, den
Boden für solche allgemeine Publikationen ebnen.
Eine ganz neue und viel ausgedehntere Tätigkeit fand Loersch in den
letzten Jahrzehnten, seit der vor 25 Jahren erfolgten Begründimg der Gesell-
schaft für rheinische Geschichtskunde, deren Vorstande er von Anfang an
angehörte. Als Schriftführer hat er lange Jahre mit der ihm eigenen pein-
lichen Gewissenhaftigkeit und Sauberkeit an der schwierigen und aus-
gedehnten Geschäftsführung teilgenommen. Die meisten großen Unter-
nehmungen der Gesellschaft, vor allem auch den historischen Atlas der Rhein-
provinz, hat er lebhaft unterstützt und gefördert. Ihm war persönlich die
Veröffentlichung der Weistümer der Rheinprovinz zugefallen. Als Vor-
arbeit für dieses großangelegte Unternehmen war schon 1883 ein erstes
Verzeichnis publiziert worden, aber erst 1900 ward der erste Band
selbst veröffentlicht, der die Weistümer des südlichen Teiles der Provinz um-
faßt: die Oberämter und Ämter Boppard, Ehrenbreitstein und Koblenr, so-
wie die Hauptstadt Koblenz. In einer eingehenden Einleitung und in einem
— 329 —
iimfäDglichen wissenschaftlicheo Apparat würdigte er diese wichtigen länd-
lichen Quellen und projizierte sie zugleich auf den Boden der ganzen rhei-
nischen Provinzialgeschichte. Den zweiten Band abzuschließen, war ihm leider
nicht vergönnt ; nur eine umfangreiche Materialiensanmilung liegt hierfür vor. —
Indes je länger je mehr gehörte Loerschs Interesse einem verwandten
Gebiete seines Forschungskreises, der Untersuchung und Sammlung der
monumentalen Quellen tmserer heimischen Geschichte: der Bau- und
Kunstdenkmäler, auf deren Bedeutung neben den literarischen Quellen
hinzuweisen er nicht müde ward. Loersch war nicht im eigentlichen
Sinne Kimsthistoriker und erhob nie den Anspruch auf Kennerschaft
und sicheres Stilurteil; er hat sich auch nie in eigenen Arbeiten auf diesem
Gebiete versucht, aber er hatte sich allmählich eine eingehende und detaillierte
Kenntnis der rheinischen Denkmäler, der kirchlichen und profiuien, und
ihrer ganzen Ausstattung angeeignet. Und auch auf diesem Gebiete zeich-
nete ihn die seltene und vorbildliche Tugend aus, die in allen seinen wissen-
schaftlichen Beschäftigungen zu erkennen war, die gleichmäßige, b'ebevoUe
und gewissenhafte Beachtung auch des scheinbar Kleinen und Nebensäch-
lichen. Ein hoher Respekt vor dem Objekt, der ihn nichts übersehen und
nichts geringschätzen ließ, leitete ihn hier. Darüber hinaus hatte er auch
den Denkmälern von ganz Deutschland ebe besondere Beachtung zugewendet
und verfolgte die großen Publikationen und die weit auseinanderfließende
Einzelliteratur mit lebhaftestem persönlichem Interesse. Der Verstorbene war
Mitglied der Provinzialkonmiission für die Denkmalpflege in der Rhein-
provinz, Mitglied tmd stellvertretender Vorsitzender der Kommission für die
Provinzialmuseen der Rheinprovinz, Vorsitzender der Sachverständigenkommis-
sion für die Ausschmückung des Aachener Münsters.
Ein großer Teil seiner Arbeitskraft gehörte seit dem Jahre 1887, seit
genau 20 Jahren, der rheinischen Denkmälerinventarisation. Als in diesem
Jahre die rheinische Provinzialverwaltung sich an die Gesellschaft für rheinische
Geschichtskunde wandte mit dem Ansinnen, die statistische Aufnahme der
rheinischen DenkmäT^r in die Wege zu leiten, trat Loersch sofort an die
Spitze der von der Gesellschaft gebildeten Kommission für die Denkmäler-
statistik der Rheinprovinz. Im Verein mit Kari Lamprecht stellte er die
ersten äußeren Linien für die Bearbeitung auf imd erledigte die umfänglichen
Vorarbeiten. Er*bahnte der Einzelbearbeitung selbst den Weg und war tm-
ermüdlich, das erlahmende Interesse der Behörden wieder wachzurufen imd
neue Helfer zu werben. Der Schreiber dieser Zeilen, der im Frühjahr 1890
durch Loersch an den Rhein gezogen ward imd das Glück gehabt hat,
17 Jahre lang mit ihm zusammen arbeiten zu dürfen, weiß am besten,
welche Fülle von Arbeit und Sorge der Verstorbene diesem großem Werke
gewidmet hat. Mit immer gleicher Umsicht tmd mit nie nachlassender Treue
und Gewissenhaftigkeit hat er die Bereisung der einzelnen Kreise vorbereitet,
mit diplomatischem Geschick der Denkmäleraufhahme die Pfiside geebnet
und die Drucklegung eines jeden Heftes beaufsichtigt. Auf seine Initiative
war es wesentlich zurückzuführen, daß die rheinische Denkmälerstatistik sich
zugleich zu einem bibliographischen Kompendium für die Orts- tmd Landes-
geschichte auswuchs. Ztmial zu den historischen Partien hat der Vorsitzende
der Kommission nicht imwesentliche Beiträge geliefert. Mit welcher pein-
— 330 —
liehen Sorgfalt hat er vor allem sich um die Feststellung und Ergänzung der
ihm besonders am Herzen liegenden Inschriften bemüht Die Korrekturen
zu einem jeden Bogen gingen mehrere Male durch seine Hand, ehe er den
Text für hinlänglich gefeilt erachtete. Mit dem großen Werke der rheinischen
Denkmälerinventarisation wird der Name Hugo Loersch dauernd verknüpft bleiben.
Das ganze Prognunm der deutschen Denkmälerverzeichnisse hat sich
seit dem Beginn der rheinischen Denkmälerstatistik wesentlich geändert
Man kann hier schwerlich von einheitlichen Grundsätzen sprechen. Nicht
nur jede Provinz und ein jeder Bimdesstaat, auch ein jedes Jahrzehnt bat
einen eigenen Maßstab mit sich gebracht. So hat sich auch die rheinische
Denkmälerstatistik alhnählich gewandelt. Nach der im Anfange nötig er-
scheinenden Zurückhaltung und Beschränkung, bei der nur die wirklich
irgendwie künstlerisch oder historisch wichtigen Denkmäler herangezogen
werden sollten, ist jetzt eine größere Breite und Vollständigkeit eingetreten.
Die Zahl der Illustrationen ist vervielfacht, der historische TeU ist weiter
ausgebildet worden. Diese Umwandlung der rheinischen Denkmälerstatistik
war schon in den letzten Jahren xmter Loerschs Zustimmung und Leitung
angebahnt worden. Sie wird auf dem von ihm schon betretenen Wege in den
nächsten Jahren notwendig fortgesetzt werden müssen. Eine besonders freudige
Genugtuung fand der Verstorbene zuletzt noch darin, daß das rheinische
System der Bearbeitung der Deokmälerverzeichnbse von der Bayrischen Re-
gierung bei der Neubearbeitung der bayrischen Inventare bis in die Details
genau aufgenommen worden war.
Daneben gehörte Loerschs Arbeit, zumal im letzten Jahrzehnt, den
Fragen des rechtlichen Denkmalschutzes und der Denkmalpflege. Schon
im Jahre 1897 hatte er in einem Bonner Universitätsprogramm als einen
Beitrag zum Rechte der Denkmalpflege das französische Gesetz vom 30. März
1887 behandelt, das er mit Recht als vorbildlich auch für die deutsche
Denkmälerschutzgesetzgebung erkannte. Loersch war wohl der beste Kenner
des Rechtes des Denkmalschutzes in Deutschland — er hatte die gesamte
europäische und außereuropäische Gesetzgebung dieser Materie gegenüber
im Auge und las zuletzt mit dem Autor dieser Zeilen zusammen ein regel-
mäßiges Kolleg über Denkmalschutz und Denkmalpflege, wobei ihm der
juristische Teil ausschließlich zufiel. Immer und immer wieder hat er be-
tont, daß die Ehrfurcht vor den monumentalen Zeugen der eigenen Geschichte
das beste Zeugnis nationalen Stolzes sei. An die Spitze jener kleinen Pu-
blikation hat er die Worte Montalemberts gesetzt: Les longa Souvenirs fönt
les grands peupUs. Im Herbste des Jahres 1899 traten bei Gelegenheit
der Generalversammlung des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Alter-
tumsvereine eine Reihe von berufenen Fachleuten in Straßburg zusammen,
um, zunächst eber Anregung des genannten Gesamtvereins entsprechend,
über die Frage einer deutschen Denkmälerschutzgesetzgebung zu verhandeln. —
Eine aus Ix>ersch, dem Direktor des Germanischen Nationalmuseums in
Nürnberg, Geheimrat von Bezold, und dem Unterzeichneten bestehende
Kommission hatte damals schon die Leitsätze fUr die Denkmälerschutzgesetz-
gebung ausgearbeitet, die bei den künftigen Erörterungen imd auch den
ersten praktischen Versuchen zugrunde gelegt wurden. Die in Straßburg
versammelten Vertreter der Denkmalpflege: Juristen, Verwaltungsbeamte,
— 331 —
XuDStgelehrte und Architekten, erkannten aber bald, daß diese wichtige
Frage in der zufälligen Verknüpfung mit dem Gesamtvereine und in der
Unterordnung unter diese bedeutsame und umfassende, aber allzu vielen
Interessen dienende Vereinigung unmöglich zielbewußt und selbständig ge-
fördert werden könnte. Es wurde deshalb eine vollständig freie Organisation
geschaffen, in der Gestalt der Tage für Denkmalpflege, die zunächst
noch rein äußerlich mit dem Gesamtvereine dadurch verbunden waren, daß
sie zur gleichen Zeit und am gleichen Orte tagten, die aber nun eine gleich-
sam offizielle Vertretung der Denkmalpflege Deutschlands und daneben
Österreichs und der Schweiz wurden. Die Tage flir Denkmalpflege sind
hintereinander in Dresden, Freiburg, Düsseldorf, Erfurt, Mainz, Bamberg,
Braunschweig abgehalten worden, jedesmal eingeladen und unterstützt durch
die Regierung des Bundesstaates, in dessen Gebiet sie tagten. Vertreter
der einzelnen bundesstaatlichen Regierungen, sowie der preußischen Provin-
zialverwaltungen und Abgeordnete der größeren Architekten- und Fach-
vereine haben ihnen regelmäßig beigewohnt. Das allgemeine Interesse an
den wichtigen Fragen der Denkmälererhaltung ist durch diese neue Organi-
sation ganz außerordentlich gestärkt, das öffentliche Gewissen ist durch sie
geschärft, die amtliche Teibaahme der Regierungen durch sie wachgerufen
worden. Loersch war schon bei den vorbereitenden Straßburger Verhand-
lungen zum Vorsitzenden gewählt worden und er hat seitdem bis zum Jahre
1906, in dem er müde das Zepter in die Hände seines Nachfolgers, des
Geheimrats Professor Dr. vonOechelhäuser in Karlsruhe niederlegte,
die Geschäfte des ständigen Ausschusses geflihrt und die Tagungen vor-
bereitet und geleitet. Welche Unsunmic von Arbeit hat er in diesen Jahren
im wesentlichen allein geleistet: Verhandlungen mit sämtlichen deutschen
Regierungen, einen ausgedehnten Briefwechsel mit Fachgenossen und Re-
gierungsvertretem geführt. Wie oft hat er hier begütigend zureden, aus-
gleichend wirken, wie oft Widerstrebende zur Mitarbeit aufrufen müssen.
Die Verhandlungen leitete er mit vornehmer Ruhe; sorgsam wachte er dar-
über , daß der Ton der Gerechtigkeit und Rücksicht bei den Debatten nicht
vergessen ward. Des Wortes in hohem Maße mächtig, fand er immer die
ti'effende Entgegnung, das geeignete Schlußwort und verstand es, den Tag
durch oft sehr kritische Zeiten und durch die ersten Fährlichkeiten als ein
geschickter Kapitän hindurchzusteuem.
Es ist hier nicht der Ort, dem Ausdruck zu geben, was er persönlich
war: seiner Familie, seinen Freunden, seinen Kollegen; nur den Zoll, den
er der Öffentlichkeit gezahlt hat, gilt es hier zu messen. Allen seinen Mit-
arbeitern und denen, die in Ausschüssen und Kommissionen ihm zur Seite
sitzen durften, war er der treueste Freund, der gütigste Berater, um jüngere
Genossen wie ein Vater sorgend bemüht. Innerlich von einer tiefen Frömmigkeit
erfüllt, war er eine konservative Natur von strengster Gewissenhaftigkeit und un-
beugsamer Wahrheitsliebe, ein in allen Lebenslagen, auch den Mächtigen dieser
Erde gegenüber aufrechter Mann ; gerade und offen, herzlich und ritterlich. Die
Vornehmheit, die sein äußeres Wesen und Auftreten kennzeichnete, war eine
innere Tugend bei ihm. Er war echt vom Scheitel bis zur Sohle. Einer der
besten Rheinländer ist in ihm dahingegangen.
Paul Giemen (Bonn).
— 332 —
*) Es starben: Am 27. April 1905 in Wien der ordentliche Professor der
alten Geschichte des Orients Jakob Krall, 54 Jahre alt; 3. Mai in Berlin der
Erforscher der Kreuzzüge und Pilgerüthrten nach Palästina Reinhold Roehricht,
63 Jahre alt; 6. Mai in Bischweiler (Elsaß) der ordentliche Professor der
alten Geschichte in Freiburg (Schweiz) Karl Holder, 39 Jahre alt; 6. Jimi
in Tübingen der ehemalige Professor des deutschen Privatrechts Otto von
Franklin, 75 Jahre alt; 8. Juni in Leipzig der ordentliche Professor der
alten Geschichte Kurt Wach smuth, 68 Jahre alt; 10. Juni in München der
Unterarchivar am Vatikanischen Archiv Heinrich D e n if 1 e , 6 1 Jahre alt; 1 9. Juni
der Professor der Kunstgeschichte in Wien Alois Riegl, 47 Jahre alt; 14. Juni
in Berlin der Numismatiker Hermann Dannenberg; 23. Juli in Erfurt der
Literarhistoriker Wilhelm Heinzelmann, 65 Jahre alt; 31. Juli in Blumen-
thal bei Bremen der Geschichtschreiber Konstantin Bulle, 61 Jahre alt;
11. August in Gießen der ordentliche Professor der Geschichte Wilhelm
Oncken, 67 Jahre alt; 4. September in Schweinfurt der fränkische Ge-
schichtsforscher Friedrich Stein, 85 Jahre alt; 6. Oktober in Berlin der
Geograph Freiherr von Richthofe n, 72 Jahre alt; 12. Oktober in Berlin
der königliche Hausarchivar Ernst Berner, 52 Jahre alt; 16. Oktober in
Straßburg der außerordentliche Professor der Geschichte Theodor Ludwig,
37 Jahre alt; 21. Oktober in Charlottenburg der Gründer der GeseUschaift
fiir deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte Karl Kehrbach, 59 Jahre
alt; im November der Direktor des Provinzialmuseums in Halle Major a. D.
Oskar Förtsch, 66 Jahre alt; 4. November der Direktor des Provinzial-
museums in Trier Hans Graeven, 39 Jahre alt; 12. November in Nürn-
berg der zweite Direktor des Germanischen Museums Hans Boesch, 56 Jahre
alt; 14. November in Salzburg der Direktor des städtischen Museums Ale-
xander Petter, 73 Jahre alt; 17. November m Karlsruhe der Direktor des
großherzoglichen Generallandesarchivs Friedrich von Weech, 68 Jahre alt;
8. Dezember in Kiitzschen bei Torgau der ehemalige Leipziger Professor der
Geschichte Woldemar Wenck, 86 Jahre alt; 8. Dezember in Regensburg
der fürstlich Thum und Taxissche Archivar Komelius Will, 75 Jahre alt;
12. Januar 1906 in Breslau der Vorstand des Stadtarchivs imd der Stadt-
bibliothek Hermann Markgraf, 66 Jahre alt; 19. Februar in Stuttgart der
frühere Vorstand der württembergischen Landesbibliothek Wilhelm von Heyd,
82 Jahre alt; 4. April in Sudenburg der Direktor des königlichen Staatsarchivs
in Magdeburg Eduard Ausfeld, 55 Jahre alt; 25. April in Kolmar der
Direktor des Bezirksarchivs Heino Pfannenschmidt, 78 Jahre alt ; 16. Juni
in Gießen der Literarhistoriker xmd Pfleger der Volkskunde Adolf Strack,
46 Jahre alt; 5. Juli in Göttingen der Bibliothekar Julius Priesack, 41 Jahre
alt; II. Juli in Jena der Professor der alten Geschichte Heinrich Geiz er,
59 Jahre alt; 13. Juli in Berlin der zweite Direktor der preußischen Staats-
archive Karl Sattler, 56 Jahre alt; 15. Juli in Frankfiirt a. M. der Bi-
bliothekar Heinrich v. Nathusius-Neinstedt, 55 Jahre alt; im Juli in
Erfurt der Geschichtschreiber Ludwig Stacke, 90 Jahre alt; 31. Juli in
*) Personalvcrändcrungcn wurden zuletzt im 6. Bd., S. 236 — 237 (Maiheft 1905)
mitgeteilt. Aus der langen Zwischenzeit von mehr als zwei Jahren werden hier die
sentlichsten Nachrichten nachträglich zusammengestellt.
— 333 —
Jena der Direktor des königlich sächsischen Hauptstaatsarchivs in Dresden
Paul Hassel, 68 Jahre alt; im August in Czemowitz der Professor der
österreichischen Geschichte Ferdinand Zieglauer, Eldler von Blumenthal,
77 Jahre alt; 13. September in Münster i. W. der Kunsthistoriker Bernhard
Nordhoff, 68 Jahre alt; 23. September in Hannover der Oberbibliothekar
Eduard Bodemann, 78 Jahre alt; 11. Oktober in Würzburg der Professor
der alten Geschkrhte Georg Friedrich ünger, 81 Jahre alt; 6. November
in Charlottenburg der ehemalige Dresdener Oberbibliothekar Ernst Wilhelm
Förstemann, 84 Jahre alt; 9. November in Brüssel der belgische Ge-
schichtsforscher Leon Vanderkindere, 64 Jahre alt; 22. November in
Graz der Professor der Geschichte Hans Zwiedineck, Edler von Süden-
horsC, 61 Jahre alt; 8. Januar 1907 in Breslau der schlesische Altertums-
forscher Geh. Sanitätsrat Professor Wilhelm Grempler, 80 Jahre alt;
8. Februar in Mockau bei Leipzig der Geograph Alfred Kirchhoff, 68 Jahre
alt; 3. März in Würzburg der Oberbibliothekar Dietrich Kerler, 69 Jahre
alt; 12. März in Frankhirt a. M. der Direktor des städtischen historischen
Museums Otto Cornill, 83 Jahre alt; 14. März in München der Alter-
tumsforscher und Herausgeber der Prähistorischen Blätter Julius Naue,
72 Jahre alt; 5. April in München der Numismatiker Hans Riggauer,
55 Jahre alt; 15. April in Dresden der Literarhistoriker Adolf Stern, 71 Jahre
alt; 16. April in Stuttgart der ehemalige Konservator der württembergischen
Kunstdenkmäler Oberstudienrat Eduard Paulus, 69 Jahre alt; i. Mai in
Lübeck der Staatsarchivar Professor Paul Hasse, 62 Jahre alt; 19. Mai in
München der Professor der lateinischen Philologie des Mittelalters Ludwig
Traube, 46 Jahre alt; 5. Juni in Cannstatt der Kirchenhistoriker Heinrich
Köstlin, 60 Jahre alt; im Juli in Bremen der Geschichtsforscher Professor
Heinrich Dünzelmann; 15. Juli in Venedig der Geschichtschreiber Moritz
Brosch, 78 Jahre alt.
An deutsche Hochschulen wurden berufen: der außerordentliche Pro-
fessor H. Lüthge in Tübingen zum außerordentlichen Professor der Ge-
schichte der Medizin in Erlangen; W. Kolbe, bisher beim preußischen
archäologischen Institut in Athen, zum außerordentlichen Professor der alten
Geschichte in Rostock; der außerordentliche Professor der neueren Literatur-
geschichte in Halle Adolf Berger zum ordentlichen Professor der Literatur-
geschichte und Geschichte, insbesondere Kulturgeschichte, in Darmstadt; Sani-
tätsrat W. Sud hoff in Hochdahl bei Düsseldorf zum außerordentlichen Pro-
fessor der Geschichte der Medizin in Leipzig ; Privatdozent Georg K ü n t z e 1
in Bonn zum Professor der Geschichte an die Akademie flir Sozial- und
Handelswissenschaften in Frankfurt a. M. ; der ordentliche Professor der Geo-
graphie in Wien Albrecht P enck in gleicher Eigenschaft nach Berlin ; der ordent-
liche Professor der deutchen Rechtsgeschichte in Breslau Konrad Beyerle
in gleicher Eigenschalt nach Göttingen; der ordentliche Professor der Kircheu-
geschichte Hans von Schubert in Kiel in gleicher Eigenschaft nach Heidel-
berg; der Professor der Geographie Eduard Brückner in Halle in gleicher
Eigenschaft nach Wien; der Privatdozent Otto Hoetzsch in Berlin zum
Professor der Geschichte an der königlichen Akademie in Posen; der
außerordentliche Professor der Geschichte Gustav Buchholz in Leipzig
zum etatsmäßigen Professor der Geschichte an der königlichen Akademie in
— 334 —
Posen ; der Privatdozent Hennann O n c k e n in Berlin zum ordentlichen Pro«
fessor der Geschichte in Gießen; der ordentliche Professor der Geschichte
Friedrich Meinecke in Straßburg in gleicher Eigenschaft nach Freiburg i. B. ;
der Oberlehrer Karl Strecker in Dortmund als außerordentlicher Professor
der lateinischen Philologie des Mittelalters nach Berlin ; der Geograph Alfred
Philippsonin Bern als ordentlicher Professor nach Halle a. S. ; der ordentliche
Professor der alten Geschichte Benediktus Niese in Miffburg in gleicher
Eigenschaft nach Halle; der ordentliche Professor der alten Geschichte
Walter J u d e i c h in Erlangen in gleicher Eigenschaft nach Jena ; der Privatdozent
der alten Geschichte Adolf Schulten in Göttingen zum ordendichen Professor
in Erlangen; der ordentliche Professor der Geschichte Fester in Erlangen
in gleicher Eigenschaft nach Kiel; der Privatdozent der Geographie Ule in
Halle zum außerordentiichen Professor in Rostock ; der außerordentliche Pro-
fessor der Geschichte Georg Preuß in München in gleicher Eigenschaft nach
Breslau; der Privatdozent der Geschichte Friedrich Luckwaldt in Bonn zum
etatsmäßigen Professor an der Technischen Hochschule in Danzig ; der ordent-
liche Professor der Geschichte Erich M a r c k s in Heidelberg als Professor der Ge-
schichte an die Wissenschaftliche Stiftung in Hamburg; der ordentliche Professor
der Geschichte Hermann Oncken in Gießen in gleicher Eigenschaft nach
Heidelberg ; der ordentliche Professor der Literaturgeschichte Oskar Walze 1 in
Bern in gleicher Eigenschaft nach Dresden; der Privatdozent Gustav B eckmann
in München zum außerordentlichen Professor der Geschichte in Erlangen;
der ordentliche Professor der alten Geschichte Otto Seeck in Greifswald in
gleicher Eigenschaft nach Münster i. W. — Unter Verbleiben an ihrem
Wohnsitze wurden ernannt: im Marburg der Gymnasialoberlehrer A. Brack-
mann zum außerordentlichen Professor der Geschichte; in Berlin der
Honorarprofessor für Geschichte des europäischen Ostens Theodor
Schiemann zum ordentlichen Professor dieses Fachs; in Straßburg
der Honorarprofessor und bisherige Archivdirektor W^ilhelm Wiegand
zum ordentlichen Professor der neueren Geschichte; in Bonn der außer-
ordentliche Professor der Kirchengeschichte Heinrich Böhmer zum ordent-
lichen Professor; in Wien der außerordentliche Professor Rudolf Much
zum ordentlichen Professor der germanischen Sprachgeschichte und Alter-
tumskunde; in Gießen der außerordentliche Professor der alten Geschichte
Strack zum ordentlichen Professor; in Leipzig erhielt der außerordentUche
Professor der Geschichte Rudolf Kötzschke einen Lehrauftrag für säch-
sische Landesgeschichte und Siedlungskunde in Verbindung mit einem be-
sonderen Seminar fiir diese Gebiete; in Kiel wurde der Privatdozent Ernst
Daenell zum außerordentlichen Professor der Geschichte, insbesondere der
schleswig-holsteinischen Landesgeschichte ernannt; in Tübingen der außer-
ordentliche Professor der Geographie Karl Sapper zum ordentlichen Pro-
fessor; ebenda der außerordentliche Professor der alten Geschichte Ernst
Kornemann zum ordentlichen Professor.
An Archiven gingen folgende Veränderungen vor sich : Direktor des
Geh. Haus- und Staatsarchivs in Stuttgart wurde der bisherige Archivrat
Eugen V. Schneider; Direktor des Großherzoglich badischen Generallandes-
archivs in Karlsruhe Geh. Archivrat Karl Obser; Direktor des Bezirksarchivs
des Unterelsaß in Straßburg der bisherige Hilfsarbeiter Hans Kaiser; Di-
— 335 —
rektor des königlich sächsischen Hauptstaatsarchivs in Dresden der bisherige
Staatsarchirar Otto Posse; Direktor des Bezirksarchivs des Oberelsaß in Kohnar
Stadtarchivar Ernst Hau vi Her; Zweiter Direktor der königlich preußischen
Staatsarchive der Geh. Staatsarchivar Paul Bailleu; Hausarchivare am könig-
lichen Hausarchiv zu Charlottenburg wurden die Staatsarchivare Georg Schuster
und Hermann Granier; Direktor des königlichen Staatsarchivs m Magdeburg
Georg Winter, bisher in Osnabrück; Direktor des königlichen Staatsarchivs in
Osnabrück Bnmo Krusch, bisher Archivar in Breslau; Stadtarchivar in
Rostock wurde Ernst Dragendorff» Archivsekretär daselbst L. Krause;
Stadtarchivar in Görlitz Oberlehrer a. D. R. Je cht; Stadtarchivar in Kiel
Franz Gu n dlac h ; Archivassistent am Bezirksarchiv in Metz der bisherige Hilfs-
arbeiter am sächsisch-emestinischen Gesamtarchiv in Weimar, Erich Gritzner;
Archivar und Bibliothekar der Stadt Metz K. von Brunn, gen. von Kauf-
fiingen, bisher Stadtarchivar in Mühlhausen i. Th.; Stadtarchivar in MüU-
hausen i. Th. Rudolf Bemmann; dritter Staatsarchivar am königlichen
Hauptstaatsarchiv in Dresden Artur Brabant, bisher Archivsekretär am könig-
lich bayrischen Kreisarchiv in Nürnberg; Staatsarchivar in Lübeck der kgl.
preussische Archivrat Johannes Kretzschmar in Berlin.
An Bibliotheken gingen folgende Veränderungen vor sich: Stadt-
bibliothekar Karl Kunze in Stettin wurde Direktor der königlichen Biblio-
thek in Hannover; Oberbibliothekar Konrad Häbler an der königlichen
ÖffentUchen Bibliothek in Dresden gbg in gleicher Eigenschaft an die könig-
liche Bibliothek nach Berlin; Staatsarchivar Hubert Ermisch in Dresden
wurde Direktor der königlichen Öffentlichen Bibliothek daselbst.
Der Direktor des historischen Museums in Dresden Karl Koetschau
wurde Direktor der grofiherzoglichen Museen in Weimar; Direktor des Pro-
vinzialmuseums in Trier wurde Emil Krüger.
Der Privatdozent der Geschichte Prof. Albert Werminghoff in
Greifswald wurde als Abteilungsdirektor der Monumenia Oennaniae Mstoriea
nach Berlin berufen.
Der Professor der Geschichte in Lüttich Gottfried Kurth wurde Direktor
des Belgischen historischen Instituts in Rom.
Es habilitierten sich: Ernst Vogt für mittelalterliche und neuere Ge-
schichte in Gießen; Viktor Bibl Air Geschichte der Neuzeit in Wien; Harald
Steinacker für Geschichte des Mittelalters und für historische Hilfswissen-
schaften in Wien; Ignaz Philipp Dengel für neuere Geschichte in Innsbruck;
K. K r o f t a für österreichische Geschichte in Innsbruck ; Johannes L e i p ol d t
für Kirchengeschichte in Leipzig; Adolf Hasenclever für Geschichte in HaUe ;
Wühebn Stolze für Verfkssungs- und Wirtschafbgeschichte in Königsberg;
H. Uebersberger für Geschichte Osteuropas in Wien; Johannes Has-
hagen für Geschichte in Bonn; F. Fehling für neuere Geschichte in Heidel-
berg; Alfred Herrmann für mitdere und neuere Geschichte in Bonn; Karl
Mo 11 wo für Nationalökonomie und Wirtschafbgeschichte in Danzig; Paul
Herre für Geschichte in Leipzig; E. Kaspar für Geschichte in Berlin;
Hans Spangenberg für mittlere und neuere Geschichte in Königsberg;
K. Schmitz für Geschichte der Medizin in Bonn; Jakob Strieder für Ge-
schichte in Leipzig; Hubert Schmidt für Kulturgeschichte in Berlin; W. Otto
für alte Geschichte in Breslau; Archivdirektor Hans Kaiser für Geschichte
84
— 336 —
und geschichtliche Hllfisirissenschaften in Strasburg; Paul Haake für Ge-
schichte in Berlin; P. Hartmann für Kunstgeschichte in Straßburg; Ed-
mund Ernst Stengel für mittelalterliche Geschichte in Marburg; F. Stä heiin
für alte Geschichte in Basel; Paul Sander für Geschichte in Berlin.
Eingegansrene Bfieher.
Wustmann, Gustav: Der Leipziger Kupferstich im i6., 17. und 18. Jahr-
hundert [<B Neujahrsblätter der Bibliothek und des Archivs der Stadt
Leipzig III. 1907]. Leipzig, K. B. Hirschfeld 1907. 112 S. 8^
M. 4,00.
Witte, Hans: Wendische Zu- imd Familiennamen [= Jahrbuch des Vereins
für mecklenburgische Geschichte, 71. Bd. (Schwerin i. M. 1906), S.
153—290].
Engelke: Das Gogericht Sutholte, die Freigrafschaft und das Holzgericht
zu Goldenstedt [= Jahrbuch für die Geschichte des Herzogtums Olden-
burg, herausgegeben von dem Oldenburger Verein für Altertumskunde
und Landesgeschichte XV (Oldenburg 1906), S. 145 — 265].
Mai er, G.: Soziale Bewegungen und Theorien bis zur modernen Arbeiter-
bewegung [^ Aus Natur und Geisteswelt, Sammlung wissenschaftlich-
gemeinverständlicher Darstellungen, 2. Bändchen]. Dritte Auflage.
Leipzig, B. G. Teubner 1906. 162 S. 8^ geb. M. 1,25.
Pagenstert: Ein Zollkrieg zwischen Oldenburg und dem Königreich West-
falen in den Jahren 1809 und 18 10 [= Jahrbuch für die Geschichte
des Herzogtums Oldenburg, herausgegeben von dem Oldenburger Verein
für Altertumskunde und Landesgeschichte XV (Oldenburg 1906), S.
139—144].
Rüthning, G. : Graf Antons IL Eisengießerei f= Jahrbuch für die Ge-
schichte des Herzogtums Oldenburg, herausgegeben von dem Olden-
burger Verein für Altertumskunde und Landesgeschichte XV (Olden*
bürg 1906), S. 273 — 280].
Wenck, Karl: Deutsche Kaiser und Könige in Hessen [= Zeitschrift des
Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde, Neue Folge 50. Bd.,
s. 139—157]-
Eschbach, Peter : Die Ratinger Mark, ein Beitrag zur Wirtschaftegeschichte
des Niederrheins [= Sonderabdruck aus den Beiträgen zur Geschichte
des Niederrheins, ßd. XX, Jahrbuch des Düsseldorfer Geschichtsvereins
für 1905J. 61 S. 8^
Bartels: Die älteren ostfriesischen Chronisten und Geschichtschreiber und
ihre Zeit II. [= Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfries-
lands, Heft VII]. Aurich, D. Friemann, 1907. 63 S. 8 ®.
Berendsohn, Robert L. : Krieg oder Frieden? Deutsches Volk — Ent-
scheide! Volksvortrag. Hamburg, Konrad H. A. Klofi 1907. 16 S.
8®. M. 0,25.
Bötticher, Arno: Neumärkische Leichenpredigten in der Bibliothek der
Marienkirche in Frankfurt a. O. [= Schriften des Vereins für Geschichte
der Neumark Heft XIX (Landsberg a. W. 1906), S. i — 77].
Herausgeber Dr. Armin l*ille in Leipzig.
Verlag und Druck von Friedrich Andreas Perthet, AkUengeseUschaft, Goduu
— 337 —
Verlag von Friedrich Andreas Perthee, Aktiengesellschaft, Gotha.
Deutsche Xanöcsgeschichten.
Herausgegeben von Armin Tille.
6escliiclite von Jrannscliveig an) )bnnover.
Von Dr. Otto von Heinemann,
Herzogl. Oberbibliothekar zu VVolfenbüttel.
Erster Band. 1882. Preis: Ji 6. — .
Zweiter Band. 1886. Preis: Jk 9. — .
Dritter Band. 1892. Preis: Ji 9.—.
6escliiclite 9er Icntsclien in ienXarpatlienlindern.
Von Raimund Friedrich Kaindl,
Professor an der Universität Czemowitz.
Erster Band. Geschiebte der Deutschen in Galizien bis 1772.
Mit einer Karte. 1907. Preis: *^ 8. — .
Zweiter Band. Geschichte der Deutschen in Ungarn und Sieben-
bürgen bis 1763, in der Walachei und Moldau bis 1774.
Mit einer Karte. 1907. Preis: Ji 10. — .
6escliiclite von fivlan).
Von Dr. Brust Seraphim.
Erster Band. Das livländischc Mittelalter und die Zeit der
Reformation. (Bis 1582.)
1906. Preis: Ji 6. — .
6escliiclite JReier- nnd OberSsterrdclis.
Von Max Vancaa.
Erster Band. Bis 1283. 1905. Preis: Ji 12. — .
Zu tieaieheii durch jede Buchhandlung.
— 338 —
Verlag von Friedrich Andreas Perthes, AktiengesellsGhaft, Gotha.
6escliiclite von Ost- und Westprenjsen.
Von Dr. Karl Lohmeyer,
Professor an der K. Albertus- Universität zu Königsberg.
l. Abteilung. 2. Auflage.
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Erster Band. Bis zur Reforroation (1523).
1904. Preis: Jt 5. — .
Zweiter Band. Bis zur Gegenwart.
1906. Preis: Jt 7. — .
Beide bände in einen Band gebunden J$ 14. — .
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Sachsen vereinigten Gebiete.
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1883. Preis: Jt 8.40.
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Zweiter Band: Bis 1740.
1886. Preis: Ji 7.60.
Zu beliehen durch jede Buchhandlung.
Deutsche GescMchtsblätter
Monatsschrift
föpdepung den landesgesohiohtliBhen forsohung
unter Mitwirkung voo
Prof. Bacbni«m-Pr>e, Prof. Brivr-MUnttcr i. W.. Prof. Finke-Freiborg i. B.,
Archivdirektor Prof. Huwoa-Köla, Prof, ▼. Heigel-MüncheD, Prof. Henner-Wlinbiirg,
Sektionachef v. Inanu-StemegK-Wien, Pcof. Kolde-ErUngea, Prof. KoiiiaiU'Berlia,
Geh. ArcbiTTit Kriege r-K>rlsnihe, Prof. L.*mprecbt-Leipiig,
Regieranganl W. Uppert-Dreiden, Archivdirektor Prof. H. Majrr-Innsbrack,
Archivdirektor Prof. Hell-Grai, ArchiTrat Men-MUniter i. Vf., Prof. v. Onenthal-Wien,
Prof. Obw. Redlich-Wien, Prof, t. d. Ropp-Marbarg, Prof. A. Schulte- Bonn,
Geb. Arcbivrat Sello-Oldcnburg, Archivrat Wiecbke-Zerbst, Prof. Weber-Prag,
Prof. Wenck-MaÄnrg, Archivdireklor Winter-Magdeburg, Archivar Wlne-Schwerin
heiausgegeben von
Dr. Armin Tille
Gotha ig 08
Friedrich Andreas PerthcB
AkIi«t»*IUc>»li
I n li ai 1 1«
Auf 8äta^ :
Seite
Bauer, Wilhelm (Wien): Hilfswisstnschaftliche Forschungen und For-
schungsauf gaben auf dem Gebiete neuzeitlicher Geschichte l6l — 175
Caro, Georg (Zürich): Grundherrschaft und Staat 95 — 113
Härtung, Frits (Wien): Das Zeitalter des Absolutismus im Fürstbistum
Bamberg 119 — 133
Hergsell, Gustav (Prag): Die Panzerung der deutschen Ritter im Mittel-
alter 223 — 243
Kretsschmar, Johannes (Leipzig): Der Stadtplan als Geschichtsquelle . . 133 — 141
Lücke, AAHlhelm (Halle a. S.): Deutsche Flugschriften aus den ersten
fahren der Reformation 184 — 205
Reuschel, Karl (Dresden). Volkskunde und volkskundliche Vereine . . . 63 — 83
Roth, Friedrich (München): Zur neueren reformationsgeschichtlichen Li-
teratur Ost' und Norddeutschlands nebst den Grenzldndem . 275 — 31 1
Schelens, Hermann (Cassel): Humanisten als Naturwissenschafter und
Arzneikundige i — 17
Tille, Armin (Dresden): Quellen zur städtischen Wirtschaftsgeschichte . . ""—47
Werner, Heinrich (Mayen): Landesherrliche Kirchenpolitik bis zur Refor-
mation
Werner, Heinrich (Mayen): Die Geburtsstände in der deutschen Kirche des
Mittelalters
Mitteilungen :
Archive: Mühlhaosener ArchiTbenntzongsordnong 17 — 22; SpitalsarchiT zu Ra*
vensborg (GustaT Merk) 56 — 61; Siebenter deutscher Archivtag
in Karlsruhe 83 — 85 ; Fürstlich Leiningisches Archiv in Amor-
bach (Krebs) 112 — 116; Achter deutscher Archivtag in Lübeck
177 (Ankündigung) u. 273 — 274 (Progmmm); Stadtarchiv Fran-
kenhftusen (Hans v. Wurmb) 177 — 178; Archiv des Strafiburger
Domkapitels 178; Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv zu
Colmar 178 — 1 79 ; Württembergiscfte Archivinventare 244
bis 245; Das mährische Landesarchiv in Brunn 245 — 247; Ord-
nung für das Vorarlberger Landesarchiv 311 — 313; Stadtarchiv
Cottbus 313—314.
Eingegangene Bücher 29—32, 61—62, 94, ti8, 142, 222, 248—250, 274,
319—320.
Historikertag, aehnter deutscher in Dresden 47 — 51
Seite
Historikertag, Baltischer: Programm 175—176; Bericht 369—272.
Historische Kommissionen: Kgl. Sächsische K. fär Geschichte 22 —23 a. 315;
Historische Landeskoromission für Steiermark 23 — 24; H. K, fUr
Sachsen-Anhalt 24—25; Tbttringische H. K. 24—25; H. K. fdr
Hessen und Waldeck 25 — 26; H. K. für das Grofiherzogtam
Hessen 26 u. 314 — 315; H. K. der Stadt Frankfurt a. M. 141
bis 142; Badische H. K. 179 — 180; Kommission zar Herans-
gabe lothringischer Geschichtsqaellen 316 — 317; Kommission
für neuere Geschichte Österreichs 317; Gesellschaft für fränkische
Geschichte 317— 318; Gesellschaft fUr rheinische Geschichts-
kunde 318 — 319.
Familienbriefe als kultarge! chichtliche Quelle (Arthnr Köhler) .... 180—182
Qesamtverein der deutschen Qeschichts- und Altertumsvereine: Ver-
sammlang 1907 in Mannheim 85—91; Versammlang 1908 in
Lübeck 177 (Ankündigung) und 272 — 273 (Programm).
Konferenz von Vertretern landesgeschichtlicher Publikationsinstitute
in Dresden 51 — 56
Museen: Zeitschrift Museufnskunde (Armin Tille) 26—30; Vorgeschichtliche
Sammlangen in Anhalt (Wäschke) 116—118.
Nekrolog: für Albert von Pfister (Mehring) qi. g^
Ortsgeschichte (Armin Tille) 205—222
Personalien 91 — 94
Preisausschreiben 247 - 248
Versammlungen: Zehnte Versammlung deutscher Historiker in Dresden 47
bis 51; Achte Konferenz von Vertretern landesgeschicbtlicher
Publikationsinstitute 51-56; Tagung des Gesamtvereins 1907
in Mannheim 85— 91; Baltischer Historikertag in Riga 175 bis
176 (Programm) und 269-272 (Bericht); Internationaler Kon-
greß für historische Wissenschaften in Berlin (Programm) 176;
Tagung des Gesamtvereins 1908 in Lübeck 177 (Ankündigung)
und 272 — 273 (Programm).
Zeitschriften: Museumskunde (Armin Tille) 26—30; Generalregister zu den
Studien und Mitteilungen aus dem Benediktiner- und Zister-
zienserorden 319.
^ '-V . X ^">_
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
cur
Förderung der landesgeschiclitlichen Forschung
IX. Band Oktober 1907 i. Heft
Humanisten als flaturwissensehafter und
Arzneikundige
Von
Hermann Schelenz (Cassel)
Dem Dienste der Musen lediglich, den Kamönen, widmeten sich
im Grunde die Humanisten. Nach harmonischer Durchbildung der
die Krone der Schöpfung über das Tier erhebenden Anlagen des Ge-
müts, des Verstandes strebten sie. Wie man in Hellas und Rom diese
Anlagen, die Einbildungskraft, die sie, noch mehr der Musagetes
Apollo dem Sterblichen in die Brust legten, dadurch hob und läuterte,
daß man die Werke besonders begnadeter alter Sänger und Sager
sich zu eigen machte, so verlangte die Renaissance Studia humaniora,
In denen die mittelalterlichen Schulen ihren Gipfelpunkt fanden, lite-
rarische Studien, ein Sich- Versenken wiederum in die Meisterwerke der
Klassiker, dazu Kenntnis der für ihr Studium im Urtext nötigen, in
erster Reihe der griechischen Sprache, und als Poetcte^ Graed, Oratores,
Latinisten usf. sonderten sich diese Brüder in Apoll untereinander,
und nicht ohne Selbstüberschätzung erhoben sie sich als Ritter des
Geistes, weil sie der ewig jungen, nie veraltenden Phantasie, angeborener
Einbildungskraft die Zügel schießen lassen konnten, weil sie, von
Ihrem Schutzgott mit den nötigen Gaben belehnt, verkünden konnten,
was geschehen war und was geschehen sollte, weil sie, insofern sxtlibercdes
•artes oder dodrinae trieben, wie es Freigeborene von vornherein sind,
iiberales, edeldenkend und anständig, oder um ein modernes, nicht
zu verdeutschendes Wort zu brauchen, Gentlemen waren, über die
anderen. Auch dienten sie den Wissenschaften oder Künsten [von
Können], sie ähnelten aber in ihrem Tun dem alten Banausos oder
dem Caupo einigermaßen, insofern sie auf Tatsachen sich stützten, die
«ie ihrer Sinneswahrnehmung verdankten, auf Beobachtungen und Ver-
suche, zu denen sie die Fertigkeit ihrer Hände nötig hatten, und
1
— 2 —
insofern, als sie nicht zur Selbsterbauung, wie in der weltentrücktea
oxokf) oder für die Ehre oder ein Ehrengeschenk, ein Opfer, sondera
geradezu für Lohn ihre Kunstfertigkeit in den Dienst des Nächsten
stellten.
Die Musensöhne oder Brüder in Apollo dachten trotz ihrer klas-
sischen Studien nicht daran, daß der Musagetes im Hauptamt ein
^ioti^Q und nai(ifj)(!)Vj ein Medicus, ein Seuchenvertreiber und Allheiler
ist, daß seine Söhne in seinem Dienste den Sterblichen vor Krank-
heit bewahren, den Kranken heilen sollen und daß folgerichtig alle die,
die in solchem Dienste die Welt und, was in ihr ist, an der Spitze
den Menschen selbst, das Gefäß des göttlichen Odems, des Geistes,
in allen seinen Äußerungen beobachten und studieren, in Wahrheit ihre
Brüder sind und als solche eine Zurücksetzung nicht eben verdienen.
Von den ältesten Zeiten bis zu den Klassikern geht das Studium
der Geisteswissenschaften mit dem der empirischen Hand in Hand,
die Geistesgrößen widmen sich den Naturwissenschaften, die Gottes-
gelehrten, die Priester, die Ärzte der Seelen, sind gleichzeitig Arznei-
und Heilkundige. Die Pflege des Geistes war von der des Körpers
nicht zu trennen.
Tatsächlich trugen solchen, vielleicht auch, wie ich zugeben will,
praktischeren Erwägungen die Unterrichtsanstalten der christlichen Zeit,
später die Kirche, die sie in ihre Botmäßigkeit brachte, Rechnung. Von
den Nestorianerschulen berichtet Asseman, daß sie als Artes^
liberales omnes doceri consuevisse, Grammuiicam, Rheioricam, Poeticam,.
Dialedicam, Arithmeticam^ Geomeiricam, Musicani, Astrofwmiam, Medici^
nam, Cassiodor verlangt von der Klostergeistlichkeit, daß sie in Er-
mangelung griechischer Kenntnisse, statt des Hippokrates, Diosko-
rides und Galen, das aus diesen Klassikern zusammengeschriebene
Buch eines Anonymus (vielleicht den Escolapius), ferner den Caelius^
Aurelianus et diverses alios medendi arte compositos lihros benutzen
sollten. Für seinen Orden bestimmt Benedikt die Scientia curationupn
ad temperamenium et salutem corporum inventa als notwendig. Alku in.
erzählt, daß an Karls des Großen Gelehrtenschule auch arznei-
bereitende Arzte teilnahmen. In den geistlichen Schulen derselbei*
Zeit mußten auf Grund eines Kapitulare von 805 auch Physica gelehrt
werden , d. h. Naturwissenschaften , die die Grundlage für die Heil-
kunst und -Wissenschaft sind.
Es lag an der Kirche selbst, daß sie mit den gedachten Dis-
ziplinen in Fehde geriet, daß sie die auch von Christus geübte Kunst,
die sie zuerst im Dienste christlicher Charitas herbeigerufen und eifrige:
— 3 —
gepflegt hatte *), als unbequem empfand und sie von „ihren Rockschößen
abzuschütteln" trachtete. Non nisi prius mercedem acceperit — schnö-
den Gewinnes halber betrieb der Arzt der Seele die Heilkunst so
schamlos, daß die Kirche sie notgedrungen als entwürdigend verbieten
mußte, trotzdem ihre auri sacra fames sie erstrebenswert erscheinen
ließ, weil ihr bekannt war, daß „dcrf Galenus opes" *).
Weiteren Zwiespalt brachte am Ende auch die Tatsache, daß
man vergaß, daß der Naturwissenschafter, der Physictis, seine Tätigkeit
nicht aus wissenschaftlichem und menschlichem Interesse dem Meister-
stück der Schöpfung und Gottes Ebenbild widmete, sondern daß man
nur an die sündige Kreatur dachte, die ob ihrer Fehler und Schwächen
durch Krankheit und Leid bestraft wird, an die widerwärtigen Schwären
des,, Bruders Esel**, des unwürdigen Gefäßes des göttlichen Geistes, das
ihn durch seine Schwäche niederhält und knebelt, durch seine fleisch-
lichen Begierden von tugendsamem Wandel ablenkt und das ob sol-
chen lästerUchen Treibens durch Kasteiung, Geißelung niedergekämpft,
unschädlich gemacht werden muß. Beschäftigung mit ihm degradierte
den Chirurgen und gar erst den Bader den eigentlichen Ärzten
gegenüber geradzu zum unwürdigen Handwerker, zum „Okulisten**,
Bruch- und Steinschneider, zum Zahnbrecher und Camifex, und unter dem
berechtigten Vorurteile gegen sie und die marktschreierischen Quack-
salber litten, wie im alten Rom so im Zeitalter der Renaissance und
der späteren Humanisten, unzweifelhaft die Ärzte — und diesem Vor-
urteile dürfte zu danken sein, daß von Humanisten aus ihrem Stande,
von Humanisten, die „im Hauptberufe** Heil- oder Arzneikundige,
d. h. Männer waren, die sich den Naturwissenschaften gewidmet hatten
und, nicht selten des Kampfes ums Dasein halber, sie nach der Seite
der Medizin hin zum Beruf machten, lange kaum die Rede war •). Sie
i) In meiner Geschichte der P^mume (Berlin 1904) versachte ich die Verhält-
nisse näher darzustellen.
2) Petrarca, der selbst Jurist, von der Höhe seiner von der Kritik wenig ge-
läuterten philosophischen Anschauung auf die Rechte mit derselben Verachtung herab-
schaut wie auf die Medizin, die damals einzigen Brotstudien, sagt: Die Dichter strahlen
im Ruhme, in ihrem Namen und in der Unsterblichkeit, die sie nicht nur sich selbst,
sondern auch anderen erwerben ; denn ihnen ist es vor anderen gegeben, der Vergessen-
heit der Namen vorzubeugen {InvecHvarum contra tnedicum gueindam Ubri IV),
Sein Schelten über den Ärztestand verliert — so nützlich es unzweifelhaft flir ihn und
die Menschheit war — an Wert, wenn man daran denkt, dafi Petraca sich jedenfalls auf
nur sehr geringfügiges Bcobachtungsmaterial stützte, daß er im Übrigen, gleich seinem alten
Vorgänger C a t o ein Gegner der Arzneibehandlung, wie jener für Kohl, selbst für rohes Obst
und Wasser schwärmte, fanatbch wie alle solche Arzte am eigenen Körper, dafür eintrat
— 4 —
selber zogen den Schmuck der Lorbeeren vor, und die Welt und die
Humaniores insonderheit suchten selbst den Makel des alten Berufe
zu vergessen und ihn vergessen zu machen — Erscheinungen, wie
sie mutatis mtUandis auch jetzt noch vorkommen.
Es ist nicht zu verkennen, daß der Wert des Menschen nur nach
dem größeren Maßstabe des der ganzen Menschheit geleisteten Nutzens
anzuschlagen ist. Deshalb kommt es bei Dante kaum in Betracht,
daß er tatsächlich , wie aus der von G i a c o s a >) veröffentlichten Ma-
trikel klar erwiesen wird, dem „Tribo dei medici e degli speziali"
angehörte und unzweifelhaft als Arzt-Apotheker zeitweise tätig war, es
ist ebenso gleichgültig, daß die fürstlichen Förderer der Humanisten-
bestrebungen die Florentiner Medici mit ihren als Pillen gedeuteten
Falle im Wappen vermutlich Ärzte, Arzneikundige und Arzneihändler
waren, ehe sie ihre auf deren Boden erworbenen Opes der Förderung
der Humaniora im engeren Sinne widmeten.
Zieht man deren Grenzen aber weiter, denkt man auch nur an
das vorgehend Gesagte , so sind die Naturwissenschaften •) von den
Humaniora kaum zu trennen. Ihnen völlig gleich auch zeigten sie
^ich in ihrem Ergehen, in ihrer Eigenart, in ihren Lebenserscheinungen,
ganz wie jene litten sie unter den Krankheiten der Zeit, saft- und
kraftlos führten sie ihr Dasein unter dem Joch dogmatisch-scholastischer
Knechtschaft. Die Kirche, die da glaubt, die Wahrheit abgeschlossea
zu besitzen, hinderte als gebietende und verbietende Bevollmächtigte
Gottes') die freie Forschung nach ihr, das Anathema sü, mit dem
unwissende Kleriker Entdeckungen ernster Forscher als Hirngespinste
verdammenswerter Ketzer abtaten, und die Qualen, denen sie die
Entdecker überlieferten, zwangen sie darnieder und was von Wissen-
schaften noch da war, wurde von zum Teil betrogenen Betrügern, um
und seia Schelten erst erhob, mls ein päpstUcher Leibartt Qean d'Alais oder Guy
Chaaliftic?) ihm riet, er möchte doch „bei seinem Lügenhandwerk bleiben ^^ Es handelt
sich hier also offenbar am einen ganz persönlichen Streit, während Cato und später
Plinius tatsfichlich mit ihren Anklagen, von Vaterlandsliebe getrieben, die „wierdigen**
GriechenSrste treffen woUte, und Rabelais in erster Reihe wohl an priesterliche Arxnei*
kundige dachte.
i) Magistri Salemitani nondam editL
3) Die frühere Astronomie gehörte im Grande nicht, wie das jetzt berechtigt
erscheint, za ihnen. Sie galt der Weissagung, deren Schützer ja ApoUo anch war, es
handelte sich bei ihr tatsächUch nor am Astrologie, die noch lange, übrigens auch
in der Arznei- and Heilkunde, ihr Unwesen trieb.
3) Hermann Lotze, Mikrokosmus, Ideen zur OßschidUe und Natwrgeathü^te
der MensM^t,
— 6 —
ihr Nichtwissen zu verstecken, durch öde Phantastereien verdeckt und
unkenntlich gemacht
Daß die Renaissance auch auf die Naturwissenschaften ihren Ein-
fluß ausübte, ist völlig selbstverständlich. Wie die Flamme die um-
gebenden Luftschichten himmelwärts mit sich reißt, wie der Sturm
alles mit sich fortfuhrt, was sich ihm in den Weg stellt, so zog die
Bewegung des Geistes auch die Naturwissenschaften in sich hinein,
und den Vorboten der Reformation auf religiösem Gebiet sind ähnliche
auf dem der Naturwissenschaften an die Seite zu stellen, und mit dem
größten Humanisten, der die schlimmste Zwingherrschaft brach, die
die Bewegung des Geistes lähmte, mit dem großen kirchlichen Re-
formator trat schließlich ein solcher auf dem Gebiete der Naturwissen-
schaften, der Physica auf.
Es ist etwas Mißliches um die landläufigen Behauptungen, daß
eine Wissenschaft, eine Kunst zu einer gewissen Zeit beginnt, als von
einem bestimmten Forscher geschafTen zeitlich zu bestimmen ist. Die
Geschichte lehrt immer und immer wieder, beschämend oder tröstend,
daß „alles schon dagewesen ist", daß tatsächlich der Mensch nur
wiederfindet oder verbessert, was, wenn auch nur in rohen Anfangen,
die Vorzeit wußte oder ahnungsvoll aussprach. Für die Naturwissen-
schaften ist es ebenso unrichtig, zu behaupten, daß sie im Grunde erst
mit dem XVII. Jahrhundert beginnen. Nehmen wir zu ihren hervor-
stechendsten Eigenarten die „induktive, durch Experiment und Be-
obachtung arbeitende Forschungsmethode", so ist nicht zu verkennen^
daß der berühmte Dodor mirabüis, der umfassend gebildete, frei-
mutig eifernde Franziskaner und Naturforscher Roger Bacon (ge-
storben 1294) experimentierte und seine Schlüsse auf Grund des Er-
gebnisses vieler Versuche zog, daß Arnaldus von Villanova, in
seiner Vorbildung dem Genannten gleich, an den Säulen überkommener
Wissenschaft rüttelte, daß Biringucci und Lionardo da Vinci,
vermutlich ohne Kenntnis von Bacos Streben, zwei Jahrhunderte später
schon zielbewußter in gleicher Art gearbeitet haben *) — und daß die
Genannten doch wohl bewußt oder unbewußt auf den Schultern des
Dominikaners, nichtsdestoweniger vermutiich nach damaligen BegrifTen
freidenkenden Naturforschers Albertus Magnus von BoUstädt
standen, von dem Trithemius erklärt, daß er Mcynus erat in Magia
ncUurali (d. h. in Naturwissenschaften), major in phüosopkia, maximus
in theologia — alles aber jedenfalls nur, soweit ihm dies das Studium des
i) Gnareschi, Storia deOa cAtmica lU.
Aristoteles g'estattetc, des großen Naturforschers, dessen Lehre ihm
vermutlich allerdings nur unter einem Wust arabisch-jüdischer Zutaten
bekannt war.
Sollte nicht die Eigenart der Naturforschung, sollte nicht etwa die Er-
fahrung dieser „empirischen" Wissenschaft, daß die Überlieferungen
der damaligen für unfehlbar gehaltenen Geistesprodukte klassischen
Ursprungs, daß Dioskorides, Hippokrates und Galenos und
Escolapius, die Griechengelehrsamkeit überliefern sollten, die die
Wissenschaft von der Natur lehren sollten, tatsächlich häufig genug
Irrlehren verbreiteten, sollte die Kritik der Naturwissenschafter nicht
bestimmend und beeinflussend auf die Arbeitsart der häufig genug in
einer Person vereinigten Geisteswissenschafter gewirkt und sie dazu
gebracht haben, anstatt sich mit philosophischen Spitzfindigkeiten und
von der Kirche her eingedrungenen dialektischen Wortklaubereien *)
lieber mit nüchternem Sehen und Sichten zu beschäftigen, sollten
nicht die ersteren zuerst nach den klassischen Quellen zurückverlangt
haben, sollte nicht vielleicht der Medicus und Spcciarittö dem Li-
teraten Dante den Wunsch ans Herz gelegt haben, zurückzugehen
an die Quellen reiner, keuscher Wissenschaft, sollte nicht tatsächlich
die Naturforschung den Anstoß zum Humanismus gegeben haben?!
Felix, qui detergety möchte ich mit Boerhave ausrufen, dem Gottes-
gelahrten, den die Liebe zur Natur den Naturwissenschaften in die
Arme trieb. Eine bündige Antwort auf die von mir hier angeregte
Frage wird vielleicht eine spätere Zeit geben. Ich muß mich auf
einige Fingerzeige und darauf beschränken, einige Männer aufzuzählen,
die die mindestens auffällige Tatsache belegen, daß die von vornherein
so widersprechend anmutenden Wissenschaften , deren Zusammen-
gehörigkeit doch wieder die hellenische Sagenwelt anmutig, die Ge-
schichte der Kirche praktisch erklärt, in einer mens ihre Pflege fanden,
und daß diese eine Mens in eineyn Corpus ihre Hülle, ihren Träger
fand.
,, Rühmlich war das Beispiel, das die Italiener anderen Nationen
in den klassischen Studien gaben, aber glänzend und herrlich das
Muster, das die Deutschen allen Völkern, die so lange unter dem Joch
der Priesterherrschaft geseufzt hatten, darin gaben, daß sie die Ver-
nunft wieder in ihre Rechte setzten", sagt Kurt Sprengel in seinem
Versuch einer pragmatischen Geschichte der Äreneikunde (Halle 1792 flf.).
Dem großen Reformator gleich, mußten, offen oder versteckt, die
i) Hrabanus Mau ras erklärt die Dialccüca als Disciplina disciplinarum.
— 7 —
Humanisten „Protestanten" sein, sie konnten sich der Bibel, richtiger
den Dogmen der Kirche, die einen Christenglauben predigte, der unter
dem Beiwerk, das die Jahrhunderte auf Grund politischer, sozialer und
praktischer Erwägungen, kaum mehr zu erkennen war, nicht beugen:
eine Menge Stellen im „Gotteswort", in Wahrheit der Überlieferung
der Anschauung einer früheren vorbiblischen Zeit, sprachen der ein-
fachsten Naturbeobachtung Hohn.
Luther verfügte neben seiner vermutlich ziemlich einseitig juri-
stisch-theologischen wohl kaum über eine nennenswerte naturwissen-
schaftliche Vorbildung. Was er von der alle Welt bewegenden Wissen-
schaft der Metallveredelung durch die Kunst der Alchemie wußte,
interessierte ihn vom materiellen und ideellen Standpunkt aus. Er
wiederholt im Grunde nur, was die Anhänger der völlig mit Unrecht
^, philosophisch" genannten Kunst faselten. Den Theologen in ihm be-
stach ,,das schöne Gleichnis, das Alchemie mit der Auferstehung der Toten
am jüngsten Tage hat", den Gelehrten „der alten Weisen Philoso-
phey", den praktischen Mann „ihre Tugend und Nutzbarkeit, die sie
hat mit Destillieren und Sublimieren in den Metallen, Kräutern, Wassern
und Olitäten". Um seine Ansichten möglichst anschaulich zu gestal-
ten und vorzutragen, verwendet er die gedachten Vergleiche. Wie
^r selbst sich von dem Bann des Aberglaubens, der Annahme über-
natürlicher, in des Menschen Leben eingreifender Mächte nicht frei-
machen konnte, beweist das bekannte Abenteuer auf der Wartburg.
Daß Luther ebenso wie Melanchthon sich gegen des Coppcr-
nicus Lehre ablehnend verhielten und ihrer Verbreitung entgegen-
arbeiteten , liegt daran , daß sie sie für gemeingefährlich hielten und
praktische Erwägung über humanistische setzten *).
Einen ganz anderen Bildungsgang als Luther hatte Melanchthon.
Der „Praeceptor Germaniae", der „Humanist unter den Reformatoren"
hatte neben tiefgründigster humanistischer Vorbildung und angeborener
Fülle geistiger Regsamkeit, naturwissenschaftlich-medizinische Studien
gemacht, die keineswegs an der Oberfläche geblieben sein können.
Die Alchemie tut er anders als der Erfurter Mönch klaren Blicks als
Impostura sophisfica ab. In seinem Werk De anima sagt er: Non
solis tnedicis sed omnilms hominibus utilem esse mediocrem cognitionem
paiiium corporis, manifesHssimum est. Daß er selbst in Erfurt über
i) „Dabei maßten sie erleben, daß Rheticas, der in WiUenberg die hergebrach-
ten kosmischen Anschauungen in den Herzen der Jagend festigen sollte, za dem ver-
femten Manne, zu Koppemikus ging" (Lcop. Prowe II, 388). Vergleiche übrigens des
Matianas Anschaaangen.
— 8 —
Ulkender s Alexipharmaea gelesen, bezeugt, daß er Omen unzweifel*
haft gerecht geworden ist, und seine Consüiorum et episMarwm wiedi-
einalium libri VII stellt Pagel unter die „besten (arznetwissenscfaaft-
liehen) Literaturprodukte damaliger 2^it''.
In Melanchtbons Schwiegersohn, dem ungemein vielseitigen Peucer,
dem ersten Anhänger des Hohenheim in Wittenberg, einem vor-
trefflichen Arzt und Naturforscher und ebenso grofien Humanisten,
sehen wir gleicher Zeit ob seiner freisinnigen Anschauungen ein Opfer
geistlicher Unduldsamkeit, der Bosheit und Roheit starrer Anders-
gläubiger.
Einer abgeschlossenen, wirklich humanistischen Ausbildung er*
mangelte vermutlich Theophrastus von Hohenheim, Para-
celsus. „Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankte sein
Charakterbild in der Geschichte", bis Karl Sudhoff als Mediziner,
neuerdings Franz Strunz als Philosoph das Dunkel um diesen Re-
formator auf dem Gebiete der Naturwissenschaften und Medizin nahezu
völlig aufhellten. Zehn Jahre nach Luther geboren, lebte er auf einem
Boden, der durch dessen Arbeit gelockert und auch für seine Arbeit
vorbereitet war. Seine Studien zeigten ihm die Unzulänglichkeit der
Lehren der Araber, der von ihnen und ihrer Gefolgschaft verball-
hornten Klassiker. Er brach mit ihnen auch symbolisch, indem er vor
seinen Schülern ihre Schriften, wie vor ihm Luther mit den religiösen
getan , dem Scheiterhaufen *) überlieferte. Wenn auch durch seine
Widersacher gereizt und nicht ganz frei von persönlichen Beweg-
gründen, wendet der vorurteilslose Denker sich auf Grund seiner eigenen
Erfahrungen gegen die eingewurzelten Schwächen nicht nur der ganzen
Disciplma, sondern auch gegen die ihrer Jünger: ,^Das Spekulieren
tnctcht keinen Arzt sondern die Kunst, die ist keine Speculatio sondern
ein Experiment durch die Hände erfunden, und ncickträglich gehört
contemplation daeu. Acht auf die Natur, wie man sie brauchen soU,
alsdann kommt die Erfahrenheit derselben Kunst, die ist Meister, denn
eines Arztes Theorica ist die Erfahrenheit,'' So nun der Arzt aus der
Naiur wachsen soll, was ist die Natur anders als Philosqphei?! Er
schilt die prahlerische Tracht seiner Kollegen: „Ist sie Physica? Ist
sie das Juramentum Hippokratis? Ist dos die Kunst?'' Nichts als
Trugerei ist in den Apothekerbüchsen, merda pro Moscho, — Holzem
une die Büchsen sind Dodoren und Apotheker."
l) Ebenfalls nach Luthers Beispiel offenbar, legte ein späterer henrorragender Arznei-
kundiger Franz Joel I (in Rostock and Greifswald) sein naturwissenschaftlich-medizini*
sches Glaubensbekenntnis in Thesenform dar.
— 9 —
Der christliche Humanist, der wahre Protestant, rügt auch die
Verfehlungen der Ärzte der Seelen im Gebiete der Medizin: ihre
Klöster gleichen Hurenhäusem, die geistlichen Krankenpfleger lägen
selbst in weichen Betten, die Kranken ließen sie in Ställen schmachten.
Sie sollten ihre feinen Hemden mit den schmutzigen der Kranken
tauschen.
Dem freimütigen Eiferer mußte trotz rückhaltloser Anerkennung
des Reformators der hohle Zwang, den Luthers Nachbeter, lutherischer
als der Reformator selbst, an seinen Worten hangend und ihren tiefen
Gehalt nicht begreifend, verlangten, „inhuman" erscheinen. Strunz
dürfte das Richtige getroffen haben, wenn er der „eigenen "Religion
des treudeutschen Mannes, dem der Ehrentiteleines Humanisten auch ge-
zollt werden muß, weil er Luthern gleich (übrigens zeitlich nach dem
Rostocker Humanisten Tileman Heverlingh, der 1 501 den Juvenal
deutsch erklärte) seine Vorträge in deutcher Sprache hielt, etwa
folgende Worte leiht*): „Die Verwirklichung des Reiches Gottes lag
seiner Bruderschaftsgesinnung zugrunde. Mit der Glut eines künst-
lerisch veranlagten Mannes reflektierte er solche Gedanken und hielt
sie lebendig ; mit frommer nachempfindender Reizbarkeit, die sittlichen
Bewegungen eines abgeklärten Geistes entspringt, wußte er sich im
Verkehr mit seinem Gott geborgen. Starres juristisches Kirchentum
und zersetzenden Konfessionalismus hatte er frühzeitig schon weit von
sich geworfen. Und so stellte er sich nicht nur gegen ein römisches
Bekenntnis, sondern auch gegen die Grunddogmen des Protestan-
tismus."
Im hessischen Simtshausen ward i486 Heinrich Urban ge-
boren. Mit Eobanus Hessus erfuhr er ofTenbar eine vortreffliche
Vorbildung im benachbarten Frankenberg. Er bezog die Universität
Erfurt *), um seinen hervorragenden literarisch-poetischen Fähigkeiten,
die er schon des öfteren betätigt hatte, die übliche Vertiefung zu
geben. Seine Spottverse auf die damaligen Tagesgrößen machten
Euricius Cordus [Euricius durch Vorsetzen von Eu vor den lati-
nisierten Kosenamen Rike; Cordus weU er der spät — , nach acht
Brüdern und fünf Schwestern geboren war, nach humanistischen Ge-
pflogenheiten umgetauft] bekannt und schufen ihm Feinde, aber auch
i) Theophrastas Paracelsui, Sein Leben und seine Persönlichkeit»
2) Cordas wurde neben Hessus, Jnstus Jonas u. a. Genosse des „Bundes**
des Philosophen, dessen Humanismus durch seine Anschauung, dafi Freisinn nicht fürs
Volk gehöre, sondern dafi dieses blind dem Glauben und dem Gesetz gehorchen mfisse^
ein etwas sonderbares Geprfige bekommt.
— 10 —
Freunde, unter ihnen seinen Landsmann Mut ianus *) dann Joach. Ca-
merarius, später Erasmus, Melanchthon und insonderheit den
geistesverwandten Luther, dem er bis an sein Lebensende rückhalt-
lose Treue bewahrte. In wahrer humanistischer Begeisterung schwang
er die Geißel seines Spottes in dem Gewände formvollendeter Verse
gegen alles, was der Wahrheit, dem Licht der Wissenschaft entgegen-
stand oder sich entgegenstemmte, gegen unwissende Priester, die das
Walten der Vernunft durch die Forderung blinden Glaubens darnieder-
hielten und zum Besten ihres Säckels die Gläubigen aussogen, nicht
eben „human** gegen die Juden, und er pries die Segnungen der Bil-
dung. Das Dahinschwinden des elterlichen Erbteils zwang ihn, als
Brotstudium das der Medizin zu ergreifen. In Ferrara saß er — wie
vor ihm auch der große Humanist Rud. Agricola der Altere —
zu den Füßen von Leon icenus, der, der erste oder jedenfalls einer
der ersten, der das klassische Altertum auf dem Gebiete der Medizin
aufleben lassen wollte, an Stelle der Araberwissenschaft wieder den
großen Koer Hippokrates setzte und in De erroribus Plinii aHo-
rumque 1492 kritisch und reformierend gegen überkommene Dogmen
auftrat*). 1521 kehrte er zu Weib und Kindern heim. Erfurt, jetzt
von streitenden Pfaffen erfüllt, stieß ihn ab. Er vertauschte es mit
Braunschweig, dieses als Professor der Medizin mit Marburg, wo er
sich in der Hauptsache mit der Scientia amabilis abgab. Die Heraus-
gabe eines botanischen Werks unterblieb infolge der kostbaren, gleich-
zeitig erscheinenden Arbeit von Otto Brunfels'), aber den Dios-
Jcorides, in Wahrheit die Bibel der Arzneikundigen, in der sie alles
vorhanden wähnten, was das Universum an Pflanzen und Tieren (die
vorerst nur als Heilstoffe interessierten) hervorbrachte, bearbeitete er
kritisch und offenbarte in seinem Botanohgicon seine Zweifel an der
Universalität des Anazarbäers. In formvollendeten Versen läßt er darin
seinen Schwager, den Apotheker Ralla in Leipzig, Antonius Niger
(Melas), Lehrer des Griechischen in Breslau, dann Professor Physicae
et Mathematicae in Marburg, Guilelmus Bigotius und Joh. Mego-
bachus-Meckbach (Arzt, Schwiegervater von Andr. Osiander)
i) Flore poesis non caruit. Vgl. G. Bauch, Die Universität Erfurt im ZeiU
alter des Drühhumanismus (Breslau 1904).
2) Kurt Sprengel urteilt: Seit einem Jahrtausend hatte die Geschichte der
Medizin kein Werk aufzuweisen, welches diesem Werk an die Seite zu setzen ist.
3) Er, anfänglich Karläusermönch, dann Arzt in Bern, ferner Hieronymus Bock-
Tragus, Leonhardt Fuchs, Philologen oder Theologen und Ärzte, und Konrad
Geßner, die sog. „Väter der Botanik", dürfen in ihrem Streben und Wirken gleich-
falls als Humanisten angesprochen werJen.
— 11 —
die schon seine Freundschaft als gleichstrebend legitimiert, die Ge-
danken ansprechen, die ihn beseelen. Auch der nachgerade hand-
werksmäßig betriebenen Harnschau seiner Fachgenossen geht er zu
Leibe und, wie den Unfug anderer dunkler Ehrenmänner, so zieht er,
der Sachverständige, mit mehr Recht als Petrarca, in der Form
vollendeter als der nahezu gleichzeitige französische humanistische
Franziskaner und Arzt Rabelais, all ihre Schwächen ans Licht des
Tages. Mit Erasmus entzweit er sich. Sein Empfinden zwingt ihn,
treu, ohne Wanken an Luthers Sache festzuhalten.
Auf dem Gebiete der Gesteinskunde in erster Reihe liegen die
unsterblichen Verdienste von Georg Bauer-Agricola, dem hervor-
ragenden Schulmanne, Arzte, Philosophen, Staatsmanne und Ge-
schichtschreiber*). 1494 in Glauchau geboren, suchte er seine aka-
demische, theologische, philologische und philosophische Ausbildung
15 14 in Leipzig, wo unter anderen Petrus Mosellanus, der „Vater
des sächsischen Humanismus", ihn in die „süße Sprache" der Griechen
einführte. 15 18 wurde er in Zwickau an der altberühmten Stadtschule
Baccalaureus supremus und Meßpriester. Kurze Zeit ging er als Helfer
von Mosellanus 1522 nach Leipzig, von wo aus er in dem schon ge-
dachten Kreise des Mutianus, Eobanus Hessus *), Megobachus,
Eur. Cordus und Georg Sturz, den freigebigen Unterstützer des
Erfurter Dichterbundes und hervorragenden Arzt und Metallurgen
kennen lernte. Letzterer dürfte ihn dazu bestimmt haben, Physica ^),
,, einen Teil der damaligen Philosophie, in Italien zu studieren,
wohin alles drängte, was sich humanistisch und naturwissenschaftüch
betätigen wollte — wie wir sahen und sehen werden, auch alle, deren
1) Ich folge zum größten Teile der vortrcflflichen Lebensbeschreibung von Reinh.
Hof mann (Gotha 1905).
2) Auch dieser Hesse, der, wie Agricola sagt, wohl der „erste Liederdichter
Deutschlands*' war, wandte sich, um sein durch eine lebensfrohe aber schließlich gerade-
zu liederlich-leichtsinnige Wirtschaft fast zum Scheitern gebrachtes Lebenschiff wieder flott
zu machen, der Medizin zu. Dauerndes leistete er auf dem naturwissenschaftlichen Gebiet
ebensowenig wie auf dem der Poesie. Seine augenscheinlich henorragenden Gaben ver-
zettelte er in Gedichten, die durch seine überraschende Beherrschung der lateinischen
Sprache verblüffen. Sein wankelmütiger unsteter Charakter zeigt, daß auch die Humaniora
solchem, nach jetzigen Begriffen „labilen** Menschen, nicht Halt geben können. Vgl.
K. Krause, Leben und Werke, Gotha.
3) Physicus ist im XVIU. Jahrh. noch ein Naturkundiger, das Tentamen physicttm
der heutigen Mediziner eines in Naturkunde. Vergleiche auch oben. Philosophie deckte
sich im Mittelalter tatsächlich mit Alchemie. Phüosophus per ignem nannte sich
Anfang des XVIl. Jahrh. van Helmont, und im XVIII. ist ein Phihsophus einer, der
in den natürlichen Dingen erfahren ist.
— 12 —
wir hier gedenken. In Bologna und Venedig studierte er Medizin^
las selbst über Galen und dehnte seine Studien auf Naturwissen-
Schäften im allgemeinen, vornehmlich auf Mineralogie aus. 1527 lieff
er sich als Stadtphysikus und Apotheker (an des eben genannten
Sturtz Stelle) aus naturwissenschaftlichem Interesse in JoachimsthaP)^
nieder, wo er im Bermannus de re metaUica die erste wissen-
schaftliche Mineralogie schafft. Der We^^ang seines Freun-
des Petrus Plateanus, der „als Grammaticus und der Medicin
beflissen" dort als Lehrer angestellt war und als Professor nach Marburg
ging, mag ihm Joachimsthal verleidet haben. Er dürfte 1533 nach
Chemnitz gegangen sein, wo er nach einem äußerst arbeits- und er-
folgreichen Wirken als Arzt, Gesichtsforscher, Schriflsteller besonders^
auf mineralogischem Gebiete (hier entstand sein klassisches Werk
De re metaUica '), auf das hin Erasmus Agricola vorhersagt, daf^
es ihn zu einem „Fürsten der Wissenschaft** machen würde), als Pä-
dagog, als Verwaltungsbeamter am 21. November 1555 dahinschied.
„ In der Sprache war er dem Columella gleich , doch war er noch
beredter als dieser**, rühmt Herm. Conring von ihm, außer Latein
und Griechisch verstand dieser Humanist im wahrsten Sinne des Worts,,
nach Döllinger „nächst Melanchthon der erste**. Hebräisch, er
scheint Arabisch lesen gekonnt zu haben, und er war des Italienischen:
mächtig. Vorurteilsfrei steht er der Astr o 1 ogie, der „Magie** gegenüber
(die Wünschelrute erklärt er entschieden richtig), die Betrachtung^
der Natur ist ihm „der Seelen anmutigste, süßeste Speise**, die Er-
fahrung preist er als beste Wegweiserin für Lehrende und Lernende^
Für die Schäden der katholischen Kirche hatte Agricola volles^
Verständnis; er verdammt das Reliquienunwesen, an „den päpstlichen
Indulgentien und dem Ablaßkram hat er Abscheu und Mißfallen**, der
feindenkende Humanist sah aber wie Erasmus^ Mosellanus, Me-
lanchthon, dessen Schwiegersohn P e u c e r und Hohenheim, daff
der mächtige Strom der Reformation „ästhetische, wissenschafUiche
und gesellschaftliche Bestrebungen** schädigte, er konnte sein Denkea
und Fühlen nicht dem unterordnen, was Luthers den Buchstaben über
den Geist setzende Nachfolger, wahren Reformationsideen zuwider, als^
i) Hier trifft er auch mit dem Lehrer and späteren protestanüschen Pfarrer Joh^
Mathesias, dem Schüler and Freand Lathers, xosammen, der sich ebenfalls am den.
Bergbau durch seine „wunderlich frische" BergpostiUe Sarepia verdient machte.
2) "Ea wurde von dem Baseler Arzt und Philosophen Philipp Bechius-
verdeutscht, und Georg Fabricius, sein hingebender, vortrefflicher Freund, leitete
das Werk mit einer „Elegie" ein.
— 13 —
Hauptsache erzwingen wollten ; er hielt zähe, wenigstens äußerlich, an
dem alten Glauben fest, deutsch-treu aber blieb er auch den befreun-
deten Geistesgenossen, die der geistigen Bewegung auf religiösem
Gebiet angeschlossen waren, einer Bewegung, die ob ihrer Notwendig-
keit unaufhaltsam dahinschritt und neben deren Glanz vermutlich
Agricolas und seiner Werke Wert verdunkelt wurde.
In keiner Art die Bedeutung des vorigen hat Jan us Cornarius,
Hainpoll oder Hagenbut, und doch hat er, vielleicht der erste
unter den sogenannten philologischen Medizinern, wie sie
Pagel in seiner Geschichte der Medizin nennt, oder wie wir allgemeiner
und richtiger sagen können, unter den nach humanistischen Grund-
sätzen und auf Grund der so genannten Wissenschaften den Natur-
wissenschaften dienenden Gelehrten für ihren Fortschritt Erkleckliches
geleistet. In Rostock, wohin er gerufen war, um der gesunkenen
Hochschule mit aufzuhelfen, las er über den Hippokrates, in der me-
dizinischen und gleicherzeit in der „Artistenfakultät" über griechische
Sprache. Musterhaft und noch hochgeehrt sind seine Ausgaben und
Übersetzungen der alten Klassiker, des Hippokrates, Galen, Ori-
basius u. a.
Ihm gleicht Joh. Winter von Andernach, Guinterus
Andernacensis, der erst in Löwen Professor der griechischen
Sprache, dann in Paris der Medizin war, ihm auch AnutiusFoesius,
ein Arzt, der sich hauptsächlich der Hippokratesforschung widmete,
ihm schließlich Leonhard Fuchs (ius), der Magister artium und
Doctor medicinae war und ein Reformator der Physica auf griechischer
Grundlage wurde.
Zünftiger Mediziner oder Naturwissenschafter ist Ulrich von
Hütten nicht gewesen. Aber er hat tatsächlich der Menschheit nicht
allein als Kämpfer für ihre Geistesfreiheit, als Gegner des eingerotte-
ten blinden Autoritätsglaubens genutzt, er hat nicht allein das Jahr-
hundert der Wissenschaft bereiten helfen, in dem es „eine Lust war,
zu leben**, er hat auf seinem unsteten Wanderleben (mittellos ward er
nach Greiiswald verschlagen, deshalb umsonst immatrikuliert; um
seinen Manichäem zu entgehen, entfloh er bettelarm nach Rostock)
sich die Seuche geholt, die eine traurige Signatur der 2^it war, und
durch Studien am eigenen Körper lernte er den Gebrauch des Fran-
zosenholzes, das er dann in einer Schrift Ulrichs von Hütten eines
deutschen Ritters von der tvunderbarlichen artzney des HdUg Guajacum
(Straßburg 1509 und später), die eine eingehende Beschäftigung des
Verfassers mit seinem Thema verrät, der (wie er für sich selbst frei-
— 14 —
mutig bekennt) an ihrem Leide allein Schuld tragenden geplagten
Menschheit verkündete und sich so in der Tat zu einem Humanisten
auf geistigem wie körperlichem Gebiete machte.
Noch eines Mannes sei gedacht, dessen Name dem Volke be-
kannt ist lediglich als der eines Bahnbrechers auf astronomischem Ge-
biet. Der Thorner Nikolaus Coppernicus — Koppernigk, der
Begründer unserer heutigen Astronomie auf „Koppemikanischem", den
Angaben der Bibel widersprechendem Weltsystem, der Mann, der des
Mondes Umlaufzeiten bestimmte und damit unserem heutigen Kalender
seine Grundlage schuf, war neben seinen tiefen Sonderkenntnissen
„eingeweiht in die gesamten Studien des Humanismus, er war ein
Kenner der klassischen Sprachen und ihrer Literatur, er hatte außer-
dem theologische und juristische Studien gemacht und, nach der
Meinung der Zeitgenossen, mit seiner kirchlichen Stellung kaum ver-
einbar, auch in der Heilkunde (also in den Physica) umfassende Kennt-
nisse und praktische Übung sich erworben" *).
Mühelos könnte ich aus der in Frage kommenden Zeit noch
eine Menge von Namen nennen, die für den „Dualismus** der wissen-
schaftlichen Grundlagen und Leistungen vieler Humanisten beweis-
kräftig wären *), ich beschränke mich darauf, einige Namen von Männern
zu nennen, die da zeigen, daß ähnliche Vorkommnisse auch im Aus-
lande an der Tagesordnung waren, daß die betreflfenden Geisteshelden
im übrigen in ihrem Ergehen dieselben Erfahrungen machten wie die
deutschen. In Frankreich kommt in erster Reihe Montpellier mit
seinen Schülern und Lehrern in Betracht. Dorthin gehörte der schon
genannte Rabelais, Joubert Dalechamps, Ruellius, dorthin
i) Leop. Prowe (Berlin 1883).
2) Koberts Nachrichten über die medizinische Fakultät in Rostock, die mir ge-
rade vor Augen kam, entnehme ich die Namen der Professoren Jak. Bording und
Höh. Brucaeus, die beide nach humanistischen Studien, der eine der Medizin, der
andere der Astronomie als Bahnbrecher dienten. Aus G. Bauchs interessanter Schrift
über die Anfönge des Humanismus in Ingolstadt suchte ich den Namen Windsberger-
Ventimontanns-Aeolides heraus. Der Träger war der erste Professor Poeüces
und Ordinarius für Medizin daselbst. Jos. GrUnpeck war Geschichtschreiber und Arzt
(behandelte die Syphilis), Georg Tannstetter-Collimitius gehörte der artistischen
und medizinischen Fakultät an. Auch Joh. (Ammonius) Agricola gehörte der Ingol-
städter Hochschule an und nützte der Medizin durch vortreffliche Übersetzungen der
Klassiker. Noch gehört z. B. Dessenius von Cronenberg hierher, femer der
gleich dem Genannten in Italien vorgebildete Augsburger Occo II, Felix Platter»
der fabelhaft vielseitige Luzemer Apotheker Renwert Cysat, wie ich sie beim Durch-
blättern meiner Geschichte der Pharmacie entnehme, der Mag. artium und Doct.
medicinae Ulsenius usw. usw.
— 15 —
auch der Spanier Serveto, der allem Anschein nach den später erst
von Harvey entdeckten Blutkreislauf kannte, übrigens ein Opfer Cal-
vinscher Unduldsamkeit wurde. Ich erinnere schließlich an Fernel,
die Italiener Matthioli, Porta, den Engländer Linacer usw.
Als Verdienst wird der Renaissance zugerechnet, daß sie Aka-
demien gegründet hat, in denen in gegenseitigem Meinungsaustausch
die Gelehrten ihre Ansichten klären, sich zu immer höheren Leistungen
heben und begeistern konnten. Als Vorbild diente unzweifelhaft auch
für die Benennung die Akademeia in Athen — für ihre Verfassung zur
Zeit des Aufblühens klassischer Studien vermutlich doch die Einrich-
tung der Gilden, in die sich (im übrigen auch nach dem Muster
klassischer CoUegia, Sodalitates u. dgl.) schon ums Jahr 1300 in Mai-
land die Aromatarii, in Florenz die Ärzte und Apotheker geschart
hatten — nicht nur zum Zwecke der Wahrung ihrer materiellen In-
teressen, sondern auch begreiflicherweise zur Hebung ihres geistigen
Lebens. Schon oben erwähnte ich, daß Dante Mitglied des „Tribo
dei medici e degli speciali" war. Über Spanien kam griechische,
arabisch verbrämte Arznei- und Heilwissenschaft zurück nach Italien,
in dessen Klöstern die Klassiker verstaubt und verrottet waren *). Sollte
mit ihr nicht auch hierher Kunde gekommen sein von den regelmäßigen
Zusammenkünften, die verbürgt im Hause von Abul Kasim von ge-
lehrten Naturforschern abgehalten wurden, wahren Akademien für
gegenseitige Aussprache und zur Klärung strittiger Ansichten?! Hand
in Hand jedenfalls geht später mit der Gründung „humanistischer"
Vereinigungen die Gründung solcher für naturwissenschaftliche Sonder-,
aber im Grunde doch gleiche Zwecke. Bemerkenswert ist dabei, daß
der Ort der Gründung nicht selten ein Ort ist, der wieder den Arznei-
wissenschaften dient. So wurde 1584 die (übrigens wohl nur huma-
nistischen Zwecken dienende) Accademia deUa crusca in dem Hinter-
stübchen der Apotheke des in Literatur und Politik gleich hervor-
ragenden Lasca in der Tomabuonistraße in Florenz gegründet, später
die Acad^mie des sciences in Paris auf Grund von Zusammenkünften
in der Apotheke von Mathieu-Fran^ois Geoffroy, dem Stamm-
vater eines berühmten Gclehrtengeschlechts , und die Royal Society
in London, ähnlich im Hause eines Apothekers Gross in Oxford.
Ich glaubte mich «nuf Grund meiner Beobachtungen berechtigt, in
meiner Geschichte auszusprechen, daß der Apotheker (der ja damals
i) Constantin VII. Porphyrogenetos haUe an Abd el Rahman IIL in
Cordova einen Dtoskorides gesandt zugleich mit einem gelehrten Mönch, Nikolaus,
der dort griechische Wissenschaft lehren sollte.
— 16 —
und lange noch ganz dieselbe- Vorbildung in Pbysica genoß wie der
Arzt, der er häufig genug in einer Person war, und umgekehrt; es
gilt das Gesagte also im Grunde auch für die Ärzte ^)), „wenn nicht
aus sich heraus, so doch angeregt durch das Beispiel seiner Lehrer
auf dem Boden freier Naturforschung stand und erleuchtet von den
Strahlen des Humanismus, sich einem gewissen Freidenkertum, damit
auch den Lehren des Wittenberg er Freigeistes sich zugewandt habe".
In der Ratsapotheke zu Nordhausen trafen sich die Honoratioren, um
über die Nachrichten aus Wittenberg zu beraten. In Wittenberg ver-
waltet ein Freund und Mitarbeiter des jüngeren Valerius Cordus,
Kaspar P fr und, Schwiegersohn Lukas Cranachs, dessen Apotheke,
in Schmalkalden wohnt Melanchthon in der Rosenapotheke
(später waltet hier der bedeutende Gelehrte und Dichter Marold als
Apotheker), und Gg. Sturtz behandelt ihn usw.
Nun, nichts Wunderbares finde ich in dem Übergreifen gerade der
Naturwissenschaften in das Gebiet der Verstandeswissenschaften, der
Artes. Wahr ist jedenfalls der Ausspuch : Ein Arzt, der nur die Me-
dizin kennt, kennt nicht einmal die Medizin ! Er muß, um dem Priester-
tum seines Berufes gerecht zu werden, Einblicke tun in alles das, was
des Menschen Herz bewegt, in die Arbeit menschlichen Geistes, und
die Naturforschung muß als ihr Höchstes die Wissenschaft vom Men-
schen ansehen. Wohl glaubte die Naturforschung auf Grund unleug-
barer Erfahrung, unterstützt von der registrierenden Geschichte, mit
gewisser Nichtachtung auf die Literaten, die Künstler herabsehen zu
dürfen. Was jener geistliche Leibarzt dem Petrarca vorwarf, muß
xlie moderne Wissenschaft als begründet ansehen. Hirngespinste, Lügen
tischen die Dichter, von gelegentlich geradezu krankhafter Phantasie
getrieben, auf. Gleich zweifelnd und kritisch steht der Naturforscher
anderen Arbeiten der Geisteswissenschaften gegenüber, weil seine
Wissenschaft es so herrlich weit gebracht, vermaß er sich in abgetanem
Materialismus wohl, eine zwecksetzende geistige Kraft in der Welten-
x>rdnung leugnen zu dürfen und das Schaffen eines Homunculus gar
als möglich darzustellen. Ihm sind aber Grenzen gesetzt, gerade wie
<len feurig strebenden Humanisten — beide müssen immer und immer
wieder ihr non posstimus bekennen, der „Erdenwurm", der Mikro-
Jkosmus im großen Betriebe des unermeßlichen Makrokosmus muß sich
erinnern, daß es ohne dessen Leiter, in dem schließlich alle Wissen-
schaft gipfelt, nicht geht, daß ein auch in bezug auf Medizin be-
i) Vergleiche oben Georg Agricola und Starts.
— 17 —
wanderter Humanist des XVII. Jahrhunderts im Jesuitenge wände, Jakob
Bälde, recht hat, wenn er in einer seiner Satiren, das Walten dieses
Wesens bestätigend, sagte: ÄedificcUus hämo est! Äedilem habuisse
negabis?!
Mitteilungen
ArehiTe. — Für jeden, der gezwungen ist, in Archiven zu arbeiten,
besitzt die in jedem einzelnen Falle geltende Benutzungsordnung grofie
Wichtigkeit, vmd es liegt deshalb im öfifentlichen Interesse, dafi die be-
stehenden Ordnungen hinlänglich bekanntgegeben werden. Darüber hinaus
aber ist es wünschenswert, daß die hinsichtlich der Archivbenutzung geltenden
Bestimmungen nicht allzusehr voneinander abweichen und den Bedür&issen
der Archivbenutzer nach Möglichkeit entgegenkommen, wenn sich auch nicht
verkennen läßt, daß die verschiedenen örthchen und sonstigen Verhältnisse
eine grundsätzliche Gleichmacherei als unzweckmäßig und untunlich erscheinen
lassen. Die bei den deutschen tmd wichtigsten außerdeutschen staatlichen
Archiven geltenden Bestimmungen hat Pius Wittmann in dem Aufsätze
ArchivbentUzungsordnungen im i. Bande dieser Zeitschrift (1900), S. 181
bis 194 *), zusammengestellt, und es wäre zeitgemäß, wenn einmal über die
inzwischen vorgefallenen Veränderungen von berufener Seite Bericht er-
stattet würde.
Indes die staatlichen Archive bilden doch nur einen Teil der vorhandenen,
und gar manches städtische Archiv kommt einem kleineren staatlichen
an Bedeutung ziemUch nahe. Bezüglich der Benutzung städtischer Archive
gelten jedoch noch viel mannigfaltigere Bestimmungen als hinsichtlich der
staatlichen, obwohl da die Verhältnisse an sich viel eher ein gleichartiges
Verfahren gestatten dürften; die Übernahme der Bestimmungen, die sich an
irgendeinem städtischen Archiv bewährt haben, an em anderes wird sich
deshalb im allgemeinen empfehlen, und es wäre gewiß nur gut, wenn, un-
beschadet kleiner örtlicher Abweichtmgen , einige wenige Typen der bei
städtischen Archiven geltenden Benutztmgsordnungen sich embürgem würden.
In dieser Erkenntnis hat der ThüringerArchivtag') einhellig beschlossen,
die daran beteiligten Archivare möchten bei den ihnen vorgesetzten staatlichen
und städtischen Behörden beftirworten, daß die ftir Mühlhausen i. Th.
unter dem 8. November 1905 erlassene Benutzungsordnung') auch bei
ihnen eingeftihrt werde. Dieser Beschluß wird es rechtfertigen, wenn hier
der volle Wortlaut dieser Ordnung zum Abdruck gelangt und einige kritbche
Bemerkungen daran geknüpft werden. Sie lautet:
S I. Erlaubnis zur Archivbenutzung. — Jede Archivbenutzung
i) Eine wichtige Ergfinzoog daza S. 243.
2) Vgl. darüber den Bericht im Korrespondenzbkiit des Gesamtvereins der
DeuMten Oesehichts- und Altertumsvereine 55. Jahrgang (1907), Sp. 371. Nor fUr
{5h wurde noch eine genauere Formalierang empfohlen.
3) Sie ist alt Anlage dem 7. Jahrgange (1906 — 1907) der MüMhäuser Oeschichts-
hlätter angehängt
2
— 18 —
(mit vorheriger Angabe des Zweckes) bedarf der Yorangehenden Ge-
nehmigung des Magistrats. Von einer solchen Eriaubnis kann in den
Fällen abgesehen werden, wo es sich um eine unbedeutende Einzelfrage
oder um eine kurze genealogische Atiskunft handelt. Versagt kann sie
aber werden, wenn anzunehmen ist, dafi die Benutzung des Archivs nur
zu dem Zwecke erbeten wird, aus seinen Akten und aus den auf Grund
derselben erworbenen Kenntnissen Rechtsansprüche gegen andere Personen
herzuleiten und dieselben auf dem Rechtswege geltend zu machen.
S 2. Anfragen und Benutzungsgründe. — Anfragen und Be-
nutzungsgründe sind mit Bezeichnung des Zweckes und Angabe des
Forschungsgegenstandes unter engster Begrenzung seines Umfimges beim
Magistrat der Stadt Mühlhausen i. Thür. (Abteilung Stadtarchiv) frankiert
einzureichen. Auf der Adresse genügt die gleiche Angabe ohne Nennung
eines Beamtennamens. Gesuche sind in Kanzleiformat auficusetzen; die
Verwendung von Briefbogen in geringerer Größe und von Postkarten ist
nicht erwünscht.
S 3. Benutzungen an Ort und Stelle. — a) Die BenutEungen
an Ort und Stelle haben nur in den dazu bestinmiten Räumlichkeiten
unter Aufsicht des Archivars oder seines Stellvertreters stattzufinden; vor-
herige schriftliche Anmeldung ist dringend erwünscht
Ab Zeit der Benutzung gelten:
1. die festgesetzten Dienststunden,
2. ausnahmsweise die besonders zu vereinbarenden Stunden, welche
vom Archivar aus eigener Gefälligkeit festgesetzt werden.
b) Zu Besprechungen, Nachweisungen und kürzeren Auskünften
dürfen die beiden Archivbeamten angegangen werden und zwar,
soweit eine besondere Sprechzeit vorliegt, nur in dieser. Eine
weitere Inanspruchnahme der Beamten, namentlich zum Lesen
von Archivalien und zu zeitraubenden Nachforschungen (betreffs
Familiengeschichtsforschung vgl. S 6) ist nicht gestattet Da-
gegen wird den Benutzem gern die Einsichtnahme in die Re-
pertorien und Zettelkataloge bewilligt.
c) Die Handbibliothek des Archivs darf während der Dienststunden
nur in den Diensträumen benutzt werden. Verleihungen der
Bücher außerhalb des Archivs und des Rathauses finden unter
keinen Umständen statt.
d) Die von den Benutzem gefertigten Abschriften und Auszüge
sind dem Archivar vorzulegen und werden erst nach Genehmigung
des Archivars resp. Magistrats frei verfügbares Eigentum.
S 4. Versendungen nach auswärts. — Die Versendung yon
Archivalien (Urkunden imd Akten) findet bei Erfüllung nachfolgender Be-
dingungen statt:
1. Der Benutzer muß die einzelnen Archivalien genau bezeichnen
köimen; allgemeine Wünsche, wie „Akten über den und den
Ort'* und dgl. sind nicht genügend.
2. Der Zustand der gewünschten Archivalien muß derartig sein,
daß Beschädigungen durch die Versendung nicht zu befürchten sind.
3. Die Versendung erfolgt nur an Archive, Bibliotheken, wissen-
— 19 —
schafUiche Anstalten und andere Amtsstellen, die für feuer-
sichere Aufbewahrung, alleinige Benutzung des Antragstellers
(nur in den Diensträumen), sowie pünktliche Rücksendung in
der bestimmten Frist im voraus einstehen und von denen ein
gleiches VerfiEthren erwartet werden kann. Das Eintreffen der
Akten ist von der empfangenden Behörde schrifdich zu bestätigen.
4. Die Versendung geschieht in der Regel nur auf die Dauer von
acht Wochen. Auf einen speziellen einmaligen Antrag des
Entleihers oder der die Archivalien aufbewahrenden Behörde
hin kann diese Frist lun weitere sechs Wochen verlängert werden.
5. Alle Sendungen hin und her haben unter Wertdeklaration zu
gehen, wobei die entstehenden Unkosten (Porto, Versicherungs-
gebühr und dgl.) dem Benutzer zur Last fallen.
S 5. Benutzungen auf dem Wege der Korrespondenz. —
a) Längere Ausarbeitungen und zeitraubende schrifUiche Auskünfte
werden von dem Archivar in der Dienstzeit nicht geliefert.
b) Die Beantwortung kleinerer Anfragen, deren Erledigung ohne
erheblichen Zeitaufwand bewirkt werden kann, geschieht kosten-
los in der Dienstzeit.
c) Die Anfragen von Staats-, Provinzial- und Stadtbehörden, sowie
die flir sie gefertigten Abschriften und Beglaubigungen werden
kostenlos in den Dienststunden erledigt.
d) Die Anfertigung und Lieferung von Abschriften oder Auszügen
aus Urkunden, Akten und Repertorien, sowie die Durchsicht
von Repertorien und Vergleichung von Texten geschieht auf
Kosten des Benutzers seitens des Archivars in den dienstfreien
Stunden. Die Vergütung ist auf 3,00 Mark pro Stunde fest-
gesetzt, auch wenn der Bearbeiter in den betreffenden Stunden
nichts Einschlägiges findet. Den Benutzem ist es jedoch ge-
stattet, mit Genehmigung des Archivars resp. Magistrats eigene
Hilfskräfte, die sich durch schriftliche Vollmacht auszuweisen
haben, zum Abschreiben, Kollationieren usw. in den Dienst-
räumen des Archivs zu verwenden.
e) Für amtliche Beruhigung von Abschriften ist die gesetzliche
Stempelgebühr zu entrichten.
$6. Archivbenutzung zu genealogischen Zwecken. —
Auf Grund der Beratimgen des 5. Deutschen Archivtages zu Bamberg
vom 25. September 1905 sind (nach den von Herrn Geh. Archivrat
Dr. H. Grotefend- Schwerin vorgeschlagenen Thesen) bei Unterstützung
der von Familien selbst beschafiten oder von ihnen veranlaßten Familien-
forschungen folgende Punkte zu berücksichtigen:
a) Unerläßliche Vorbedingung für eme Archivbenutzung zur Fa-
milienforschung ist, dafi ihr die Durchsicht des gesamten ge-
druckten Materials vorhergegangen ist.
b) Sodann mufi der Antragsteller den Zweck seiner Forschung ge-
nau angeben: ob eme Familiengeschichte, die Aufstellung eines
Stammbaumes, einer Geschlechtsfolge, einer Ahnentafel oder
2*
— 20 —
nur der Nachweis der AbstammuDg von einer bestimmten Per-
sönlichkeit beabsichtigt wird.
c) Vor dem Begbne der Archivbenutzung muß eine genealogische
Übersicht des bereits dem Forscher bekannten Materials dem
Archive vorgelegt werden, da nur hiemach die Forschung zweck-
entsprechend geleitet werden kann.
d) Die Forschung hat nicht aufs Geratewohl hin hier oder dort
einzusetzen, sondern kann nur dann auf Unterstützung durch
das Archiv rechnen, wenn sie systematisch von den jetzt
lebenden oder den zuletzt bekannten Familienmitgliedern nach
deren Vorfahren zu gerichtet ist, ohne eigenen Vermutungen
oder Familienüberlieferungen ungebührlichen Einflufi zu gestatten.
Das Archiv wird und muß daher die so oft erstrebten An-
knüpfungen an notorisch bereits ausgestorbene Familien, wenn
nicht zwingende Beweise ihrer Möglichkeit erbracht werden,
von vornherein abweisen.
e) Da die Familienforschung ihrem Hauptzweck nach privaten In-
teressen gewidmet ist, so muß ihre Unterstützung durch das
Archiv gegenüber den amtlichen oder den rein wissenschaft-
lichen Aufgaben des Archivs erforderlichenfalls zurücktreten.
Das Archiv kann sich daher dieser Unterstützung amüich nur
insoweit widmen, als die Arbeitskraft des Archivars und die
Arbeitszeit es zulassen. Die weitere Förderung der Familien-
forschung durch den Archivar muß daher unter allen Umständen
dessen persönlicher Bereitwilligkeit und privater außeramtlicher
Tätigkeit (vgl. $ 5 d) überlassen werden.
S 7. Pflichtexemplare von den mit Hilfe des Archivs
entstehenden literarischen Veröffentlichungen. —
a) Jeder Benutzer des Archivs ist verpflichtet, von den mit Hilfe des
Archivs entstehenden literarischen Veröffentlichungen ein Frei-
exemplar resp. einen Sonderabdruck an die Handbibliothek des
Archivs abzugeben resp. portofrei einzusenden. Bei geringer
Benutzung des Archivs kann auf das Gutachten des Archivars
hin von dieser Verpflichtung abgesehen werden.
b) Jedem Benutzer des Archivs wird deshalb vor Beginn seiner
Archivarbeit ein Reversformular zur Unterschrift imd zur Be-
achtung überreicht resp. mit den Archivalien zugesandt, welches
folgenden Wortlaut hat:
Revers.
Endesunterzeichneter bekennt hiermit, daß er Archi-
valien aus dem Stadtarchiv zu Mühlhausen i. Thür. zur
Einsichtnahme erhalten hat und verpflichtet sich durch
Unterzeichnung dieses Reverses, bei eventueller VeröflTent-
lichung dieser Archivalien unaufgefordert ein Freiexemplar
des ganzen Buches (resp. einen Sonderabdruck bei
Aufsätzen, die in Zeitschriften erschienen smd) portofrei
an die Bibliothek des Stadtarchivs in Mühlhausen i. Thür.
einsenden zu wollen. Im Falle der versäumten Lieferung
— 21 —
des Pflichtexemplars wird dies vom Archivar der Stadt
Mühlhausen i. Thür. für die ihm unterstellte Bibliothek re-
klamiert werden.
S 8. Portokosten. — Das Porto für alle vom Archiv ausgehenden
Briefe und sonstigen Sendungen in Benutzungsangelegenheiten hat der Be-
nutzer zu tragen. Sind von demselben keine Briefmarken für die Frankierung
eingeschickt, so gehen die Sendungen des Archivs unfrankiert als „porto-
pflichtige Dienstsachen**. Sonstige Gebühren und Unkosten können durch
Nachnahme erhoben werden.
Mühlhausen i. Thür., den 8. November 1905.
An dieser Archivbenutzungsordnung ist erfreulich, daß zunächst die amt-
liche Tätigkeit des Archivars genau umschrieben ist imd daß dem Benutzer von
vornherein klargemacht wird, daß er die Arbeit an den ihm vorgelegten Archi-
valien allein zu leisten hat. Erfreulich ist es femer, daß grundsätzlich dem
Benutzer die Einsichtnahme in die Repertorien und Zettelkataloge bewilligt
wird. Die für die Versendung der Archivalien (auch der Urkunden, nicht
nur der Akten) aufgestellten Grundsätze entsprechen durchaus dem heute
üblichen Verfahren ; nur dürfte es sich empfehlen, in $ 4, Absatz 5 ausdrück-
lich auszusprechen, ob das Archiv eine besondere Packgebühr erhebt und
wie es sie berechnet.
Aber auch Einwendungen gegen einzelne Bestimmungen sind zu erheben.
Zunächst ist es wohl kaum unbedingt nötig, daß in jedem einzelnen Falle
die Genehmigung des Magistrats erteüt werden muß; in den Fällen,
wo Archivalien bis zu einer bestimmten Zeitgrenze — etwa bis 1800 —
vorgelegt werden, sind wohl in der Tat niemals aktuelle Interessen gefährdet,
und deshalb dürfte es wohl angängig sein, daß der Archivar selbständig die
Erlaubnis erteilt. Liegen einmal ausnahmsweise irgendwelche besonderen Ver-
hältnisse vor, die den Archivar zur Vorsicht veranlassen, so wird er dem
Magistrat Mitteilung machen und dessen Urteil einholen. Wenn der Archi-
var bis zu einer bestimmten Zeitgrenze die Benutzungserlaubnis erteUt, so er-
leichtert dies zunächst den Geschäfbgang , gestattet aber auch die münd-
liche Erteilung der Benutzungserlaubnis, die jetzt gar nicht vorgesehen ist.
Mit den modernen Bestrebungen, den Geschäftsbetrieb der Behörden mög-
lichst zu vereinfachen, steht es nicht recht in Einklang, wenn gefordert wird,
daß die Gesuche in Kanzlei format aufzusetzen sind, imd wenn gewöhnliche
Briefbogen und Postkarten als unerwünscht bezeichnet werden. Normale
Briefbogen sind im amtlichen Verkehr heute in so großem Umfange üblich, daß
sich dagegen nichts einwenden läßt, und ihre aktenmäßige Behandlung macht,
wenn nur ein ordentlicher Rand gelassen wird, gar keine Schwierigkeiten.
Als durchaus unberechtigt erscheint jedoch der ganze S 6, der sich, wie ein-
gangs gesagt wird, von unwesentlichen redaktionellen Änderungen abgesehen,
mit den von Grotefend gelegentlich des Bamberger Archivtags aufgestellten
Leitsätzen deckt '). Ungerechtfertigt ist es zunächst, die Archivbenutzung zu
i) Vgl. diese ZeiUchrift 7. Bd., S. 57. Et ist bedaaerhch, daß die ganze Frage
nach der ArchivbenaUong za genealogischen Zwecken auf dem Wiener Vchi^tag (1906)
nicht ement zar Behandlang gekommen und im Programm des siebenten Archirtags Über-
haupt nicht wieder zur Erörtemng gestellt worden ist.
— 22 —
genealogischen Zwecken überhaupt besonders zu behandeUi, während im
übrigen die Zwecke, die der Forscher verfolgt, nicht berücksichtigt werden
und bei dem formalen Charakter einer derartigen Ordnung auch gar nicht
berücksichtigt werden können. Außerordentlich kühn ist der erste Satz von
Absatz e! Dafi „die Familienforschung ihrem Hauptzweck nach privaten
Interessen gewidmet ist*', läßt sich wohl kaum aufrechterhalten. Das könnte
man doch höchstens von den Fällen sagen, in denen ein Lebender nach seinen
Vorfahren forscht oder forschen läßt. Aber das trifit doch längst nicht für alle
genealogischen Untersuchungen zu ! Dann ist es aber eine sonderbare Logik,
private, amtliche und rein wissenschaftliche Zwecke zu imter-
scheiden. Soweit Privatpersonen in Archiven arbeiten, verfolgen sie meines
Erachtens immer „private" Zwecke, und ob die Arbeiten als „wissenschaft-
lich", rein wissenschaftlich oder populär-wissenschaftlich, zu bezeichnen sind,
das hängt nicht im geringsten von dem bearbeiteten Stoff, sondern von der
Qualität der geleisteten Arbeit ab. Rundweg der familiengeschichtlichen Arbeit
ihren wissenschaftlichen Charakter abzusprechen, ist durchaus nicht angängig,
imd gegen derartige Behauptungen muß im Interesse der wissenschafdichen Genea-
logie entschieden Emspruch erhoben werden. Für die Archivbenutzungsordnung
kommt aber besonders in Frage, daß der ganze S 6 keinen einzigen Ge-
danken enthält, der nicht schon vorher grundsätzlich ausgesprochen wäre,
und deshalb muß die Aufiiahme dieses Abschnitts in die Benutzungsordnung
als ein Mißgriff bezeichnet werden. Wenn ein für allemal der Standpunkt
der Archiwerwaltung in dieser oder ähnlicher Weise festgelegt imd jedem
einzelnen Benutzer, der familiengeschichtliche Zwecke verfolgt, aus praktischen
Gründen gedruckt eingehändigt wird, so ist dagegen gewiß nichts einzuwenden,
aber in eine allgemeine Archivbenutzungsordnung, die als formale Richtschnur
für den Archivar nicht minder als für die Benutzer dienen soll, gehören
solche Auslassungen keinesfalls.
KommissioilCll. — Am 9. Februar 1907 fand in Leipzig die elfte
Jahresversanmilung der Königlich Sächsischen Kommission fürOe-
schichte*) statt. Von den Veröffentlichungen der Kommission sind seit
Erstattung des letzten Berichts erschienen: Die Malereien in den Hand*
Schriften des Königreichs Sachsen, herausgegeben von Robert Brück (Dres-
den 1906. Mk. 25. — ); Die ältesten gedruckten Karten der sächsisch--
thüringiscJ^en Länder 1550 — 1593^ herausgegeben von Viktor Hantzsch
(Leipzig 1906. Mk. 18. — ). Außerdem hat die Kommission die Heraus-
gabe der von der Historischen Kommission für Sachsen -Anhalt veröffent-
lichten Grundkarte von Zeitz-Gera (Doppelsektion 414/440), die auch kleine
GebietsteUe des Königreichs Sachsen enthält, unterstützt. Die begonnenen
Unternehmungen sind sämtlich mehr oder weniger fortgeschritten. Der
Briefwechsel der Kurfürstin Maria Äntonia mit der Kaiserin Maria
Theresia f herausgegeben von Woldemar Lippert, ist im Druck vollendet.
Das Register der Markgrafen von Meißen von 1378 ist behufs Herausgabe
i) Vgl. diese ZeiUchrift 7. Bd., S. 323.
— 23 —
abgeschrieben worden, aber eine für die Bearbeitung geeignete Kraft hat sich
noch nicht finden lassen. Die photographische Reproduktion der Flur-
karten aus den Jahren 1835 — 1843 Qcbst farbiger Bezeichnung der Kultur-
arten ist im wesentlichen vollendet. Die reproduzierten Krokis befinden sich
im Seminar fUr Landesgeschichte und Siedelungskunde in Leipzig (Universität,
Bomerianum); Abzüge einzelner Flurkrokis können gegen Ersatz der Her-
stellungskosten bezogen werden. Neu wurde beschlossen die Veröffentlichung
der Kirchenvisitationsakten aus der Refonnationszeit und die Fort-
führung des Urkundenbuchs der Universität Leipzig von 1559
bis ins XDC. Jahrhundert. Schließlich wurde die Herausgabe darstellen-
der Einzelschriften geringeren Umfangs in Aussicht genommen.
Durch den Tod verlor die Kommission die Mitglieder Geh. Rat Hassel
imd Geh. Hofrat von Gebhardt, während Prof. Buchholz bei seinem
Weggange von Leipzig nach Posen seinen Austritt aus der Konmussion er-
klärte. Staatsminister a. D. von Seydewitz, der bisherige Vorsitzende,
wurde zum Ehrenmitglied der Kommission ernannt; ihm folgte im Vorsitz
sein Amtsnachfolger im Kultusministerium, Staatsminister von Schlieben.
Stellvertretender Vorsitzender wurde Geh. Rat Wa entig (Dresden). Als
ordentliche Mitglieder traten in die Kommission ein: Prof. Kötzschke
(Leipzig), Direktor des Seminars für Landesgeschichte und Siedelungskunde
an der Universität, Archivrat Beschorner (Dresden) und der Direktor der
Universitätsbibliothek Boysen (Leipzig).
Die Historische Landeskommission für Steiermark hat
seit dem letzten Berichte^) drei Sitzungen abgehalten, am 25. Mai 1905,
28. Juni 1906 und 14. Februar 1907. In dieser Zeit sind die Hefte 20
bis 23 der Veröffentlichungen der Historischen Landes 'Kommission für
Steiermark erschienen, in denen Meli (20) Regesten zur Geschichte der
Familien von Teufenbach in Steiermark (1074 — 1547) und Loserth (22)
das Übersichtsinventar des Archivs des Hauses Stubenberg veröffentlicht,
während die Hefte 21 imd 23 Arbeiten von Meli über das Archiv der
steierischen Stände und über Archive und Archivschutz in Steiermark ge-
widmet sind. Von den Forschungen Bur Verfassungs- und VenoaUungs-
geschichte in Steiermark enthält das 2. Heft des V. Bandes: SaUburg und
Steiermark im letzten Viertel des XVL Jahrhunderts von Loserth und
das I. Heft des VI. Bandes: Die Innerberger Hauptgewerkschaft (1625 bis
1783) von Pantz. Außer den schon früher in Bearbeitung befindlich ge-
nannten Stoffen steht die künftige Veröffentlichung von nachstehenden Pu-
blikationen bevor: Die steieriche Landesgerichtsordnung, bearbeitet von
Fritz Byloff, befindet sich im Druck; Freiherr von Mensi behandelt die
direkten Steuern in Steiermark, Otto von Zwiedineck-Südenhorst die
steierische Sozial- und Wirtschafbgeschichte im XV. und XVI. Jahrhundert,
Richard Meli das Privaturkundenwesen in Steiermark, Peisker die Ge-
schichte der Siedelungen in Steiermark, Ilwof das Landtagswesen unter
Maria Theresia und Josef U, Luschin von Ebengreuth das steierische
x) Vgl. diese ZeiUchrift 6. Bd., S. 136—137 und 7. Bd., S. 16—19.
— 24 —
Münz- und Geldwesen im Mittelalter, Viktor Thiel Regesten zur Geschichte
des landesfürstlichen Behördenwesens in Steiermark.
Wesentlicher noch als diese Arbeiten war eine nach sorgfältigen Vor-
arbeiten 1906 beschlossene Neugestaltung des Arbeitsprogramms und
zwar im Sinne der Beschränkung der Arbeiten, da alhnählig eine Zersplitte-
rung der Kräfte imd eine Ablenkung von dem Hauptziele, die Verfassungs-
und Verwaltungsgeschichte aufzuklären, drohte. An Stelle des r905 zurück-
getretenen und inzwischen verstorbenen Sekretärs Prof. Hans von Zwie-
dineck-Südenhorst *) wurde Archivdirektor Prof. Anton Meli vom
Landesausschusse zum Sekretär emaxmt, und gleichzeitig wurde eine enge
Verbindung zwischen der Kommission und dem Steiermäikischen Landes-
archive hergestellt.
Aus dem Berichte über die 33. ordentliche Versammlung der Hi-
storischen Kommission fü r Sachsen-Anhalt, die am 11. und 12. Mai
1907 in Tangermünde stattfand, ist folgendes mitzuteilen*). Im Druck er-
schienen ist der erste Band der Registraturen der KirchenvisUationen im
ehemals sächsischen Kurkreise, herausgegeben von Pallas. Die meisten
begonnenen Arbeiten schreiten rüstig fort. Oberlehrer Hinze in Nordhausen
hat es übernommen die Regesten der Sachsen -Wittenberger Kurfürsten aus
dem Anhaltinischen Geschlechte fortzusetzen. Das von Dr. Möllenberg
gesammelte urkundliche Material über den Mansfelder Bergbau wird die
Kommission veröffentlichen. Die im Vorjahre eingesetzte Kommission, die
die Herausgabe von Quellen zur städtischen Verfassungs-, Ver-
waltungs- und Wirtschaftsgeschichte vorbereiten sollte, hat fleißig
gearbeitet und sich zunächst davon zu überzeugen gesucht, welches für die
Edition geeignete Material in den einzelnen Städten vorliegt. Ehe bestimmte
Vorschläge gemacht werden können, mufi jedoch die genauere Inventarisations-
arbeit, die sämtliche Städte zu umfassen hat, noch fortschreiten. Als Neu-
jahrsblatt flir 1907 ist die Arbeit Die Kämpfe in und bei der Stadt
HäUe a. S, am 17. Oktober 1606 von Hertzberg erschienen. Um die
Bearbeitung wissenschafdich begründeter Heimatskunden vorzubereiten,
deren Plan schon im vorigen Jahre Prof. Gröfiler entwickelte, wurde eine
sechsgliedrige Kommission eingesetzt. Die Bearbeitung der Bau- und Kunst-
denkmäler nach Kreisen, namentlich durch Pfarrer B e r gu e r (Nischwitz),
Prof. Brinkmann (Zeitz) und Archivrat Jacobs (Wernigerode) schreitet
rüstig fort. Von der Jahresschrift für die Vorgeschichte der sächsisch-
thüringischen Lande liegt der fünfte Band abgeschlossen vor.
Die nächste Versammlung wird in Mühlhausen i. Th. gehallen werden.
Der Haushalt der Kommission einschließlich der Kosten flir das Provinzial-
museum zu Halle hält mit 29 840 Mark das Gleichgewicht.
Die Thüringische Historische Kommission^) hielt am 7. Juli
1907 in Georgenthal eine Sitzung ab, wobei über den Fortgang der Arbeiten
i) Vgl. den Nekrolog im 8. Bande dieser Zeitschrift S. 87 — 92.
2) Vgl. diese ZeiUchrift 7. Bd., S. 324 — 325.
3) Vgl. diese Zeitschrift 7. Bd., S. 59—60.
— 25 —
berichtet wurde. Der Druck der Stadtrechte von Eisenach, Gotha und
Waltershausen ist vollendet, und der Herausgeber von Strenge hat bei
seinem Tode auch die umfassende Einleitung fast druckfertig hinterlassen,
so daß das Werk bald erscheinen wird. Prof. Koch (Meiningen) arbeitet
an der Herausgabe des Saalfelder Stadtrechts. Bis zum Jubiläum der
Universität Jena (1908) wird sowohl die Biographie Johann Friedrichs des
Großmütigen von Mentz als auch die Geschichte der Universität bis 1582
von Stoy vollendet sein. Über die Veröffentlichung der ältesten Visi-
tationsberichte aus Franken und Thüringen durch Pfarrer Berbig wu^e
verhandelt, aber ein endgültiger Beschluß noch nicht gefaßt. Um im einzelnen
den von Prof. Michels entwickelten Plan, ein Wörterbuch der
thüringischen Mundart herauszugeben, vorzubereiten, wurde ein sechs-
gliedriger Ausschuß eingesetzt. An einem Werke über die Forst- und
Flurnamen Thüringens, zunächst des gothaischen Gebiets, arbeitet Frau
Gerbin g. Die Inventarisation der Archive ist fortgeschritten: Inventare
wurden eingereicht vom Pfarr- und Superintendenturarchiv in Ostheim v. d. Rhön,
und von den Pfarrarchiven in Sondheim v. d. Rhön und Urspringen. Neu
geordnet wurde das Stadtarchiv zu Frankenhausen durch Hans von Wurmb.
Zum Hauptpfleger für Weimar wurde Dr. Lämmerhirt bestellt; in
Neustadt a. O. ist als stellvertretender Hauptpfleger Archidiakonus Dünnebier
tätig. In Eisenach hat Prof. Kühn das Amt eines Hauptpflegers nieder-
gelegt, und ein Ersatz für ihn ist noch nicht gefunden. Auch von den
Pflegern sind zahlreiche zurückgetreten, ohne daß überall ein Ersatz zu be-
schaffen gewesen wäre.
Dem zehu'cn im Juli 1907 erstatteten Jahresbericht der Historischen
Kommission für Hessen und VS^aldeck ^) ist folgendes zu entnehmen.
Erschienen ist im Berichtsjahre eine Veröffentlichung nicht, aber die be-
gonnenen Arbeiten sind zum größten Teile gut foicgeschritten. Die Voll-
endung des Fuldaer UrkundenhucJis hat Privatdozent Stengel übernommen ;
die Herausgabe der Hessischen Landtagsakten kann Prof. Glagau nicht
fortführen; der Druck der ersten bis 1308 reichenden Abteilung der Land -
grafenrege st en, bearbeitet von Grotefend, hat begonnen; das von Wiese
herausgegebene Urkundenbuch der Stadt Wetzlar geht semer Vollendung
entgegen ; das Erscheinen eines zweiten Bandes vom Urkundenbuch der Stadt
JFViedberg ist gesichert, da die Stadt die erforderlichen Mittel bereitgestellt
hat und in Oberlehrer Dreher ein geeigneter Bearbeiter gefunden worden
ist; die Vollendung des sechsten und letzten Blattes der Grundkarte, Eschwege-
Eisenach, steht unmittelbar bevor. Neu beschlossen wurde die Herausgabe
eines Werkes, welches die hessischen, fiildischen, hanauischen und waldeckischen
Lehen und ihre Inhaber bis zum Ende des Lehnswesens übersichtlich ver-
zeichnen soll; mit der Ausführung wurde Archivassistent Knetsch betraut
Besonders erfreulich sind die Nachrichten über die Inventarisation
der kleinen Archive, über die der Vorstand bereits 1900 beraten hatte,
von der aber aus Mangel an Mitteln und Arbeitskräften damals Abstand ge-
i) Vgl. dartiber diese Zeitschrift 7. Bd., S. 333—334.
— 26 —
nommen worden war ^). Seitens des Kgl. Staatsarchivs in Marburg sind seit
langen Jahren städtische, kirchliche und private Archive auf ihren Inhalt
untersucht worden , vmd über die Ergebnisse dieser Arbeiten wird in einem
Anhange zum vorliegenden Jahresbericht (S. 15 — 39) Bericht erstattet, der
allgemeine Beachtung verdient und von emer bislang unbekannten eifrigen
Tätigkeit der Archivdirektion zeugt. In emer Anlage A werden die älteren
Archivalien, namentlich solche aus der Reformationszeit, au%eführt, die sich
in den evangelischen Pfarreien des Regierungsbezirks Kassel finden. Eine
Anlage B verzeichnet in aller Kürze, was die städtischen Archive des
Archivsprengeis Marburg — es sind 64 an Zahl — enthalten.
Durch den Tod verlor die Kommission die Patrone und Mitglieder:
Bischof Endert, Freiherm von Wintzingerode und Prof. Justi. Neu
traten in die Kommission ein: Dr. Armbrust (Göttingen), Generalleutnant
z. D. Beß (Marburg), Archivar Müsebeck (Marburg) und Privatdozent
Vogt (Giefien). — Der Jahreseinnahme von 5980 Mark steht eine Ausgabe
von 4591 Mark gegenüber; da aber zu Beginn des Rechnungsjahres
6314 Mark zur Verfügung standen, so beziffert sich der Kassenbestand auf
7703 Mark.
Ganz neuerdings wird bekannt, daß eine Historische Kommission
für das Grofsherzogtum Hessen in der Bildung begriffen ist.
Haseen. — Unter den geschichtlichen Quellen spielen die körperlichen
Überreste der Vergangenheit eine mindestens ebenso grofie Rolle wie die schrift-
lichen aus dem Geschäftsbetrieb erwachsenen Aufzeichnungen, die Archivalien ').
Aber je mehr sich das Interesse der Forschung dem Zuständlichen zugewandt
hat, um so wichtiger sind diejenigen Überreste geworden, die von der Be-
tätigung menschlichen Lebens und Arbeitens herrühren und die bekanntlich in
unzähligen grofien und kleinen Sammlungen unter den verschiedensten Gesichts-
punkten aufgespeichert werden. Denn heute wird wohl von keiner ernst zu neh-
menden Seite mehr die Sammlung „alten Gerumpels '^ gnmdsätzlich abgelehnt, wie
es einst geschah, als der Gründer des Germanischen Nationalmuseums in
Nürnberg, der Freiherr von A u f s e fi , die Anregung zu einer systematischen
Sammlung der Überreste der älteren deutschen Kultur gab und, den Reich-
tum daran beträchtlich unterschätzend, alles an einer Stelle zusammenbringen
wollte. Ganz allgemein ist man heute dazu fortgeschritten, jeden Gegen-
stand als das Erzeugnis der Zeit und des Ortes seiner Entstehung zu wür-
digen, nicht nur für die Erhaltimg hervorragender Kunstgegenstände zu sorgen,
sondern auch die gewerblichen Durchschnittserzeugnisse gebührend zu be-
achten. Auf diesem Wege sind neben den mannigfachen Museen, die mehr
praktischen Zwecken dienen oder künstlerischem Interesse ihre Entstehung
i) Hiemach wären die Angaben zu berichtigen, die im Korrespondenzblatt des
Gesamtvereins der Deutschen GeschichtS' und Ältertumsvereine 55. Jahrgang (1907),
Sp. 168 enthalten sind.
2) Vgl. Bern heim, Lehrbuch der Historischen Methode und der Geschichts^
Philosophie 3. und 4. Aafl. (Leipzig 1903), S. 331 ff.
— 27 —
▼erdankeD, die kulturgeschichtlichen Museen erwachsen, die sich be-
wußt die Aufgabe stellen, Überreste der Vergangenheit als solche zu sam-
meln, damit sie die Zustände der Vergangenheit geschichtlich verstehen
lehren. Bis zu einem gewissen Grade tun das alle andern Museen auch,
aber der unmittelbare Zweck ihres Daseins und der Grund ihrer Entstehung
ist dennoch auf anderen Gebieten zu suchen. Zu den kulturhistorischen
Museen gehören auch alle landes- und ortsgeschichtlichen Samm-
lungen, von denen in dieser Zeitschrift schon oft die Rede gewesen ist.
Diese erfreuliche Wendung in der Sammlung geschichdichen Stofifs hat
eine Menge Menschen, die zunächst nur das sachliche Interesse, aber weder
besondere Fachkenntnisse noch technische Schulung besaßen, zur Arbeit des
Sammeins, Prüfens, Ordnens, Aufstellens, Konservierens und Verzeichnens
gezwungen und damit zu einer Tätigkeit, welche die Verwalter aller mög-
Uchen andern Museen in ganz ähnlicher Weise übten. Und indem
das Gemeinsame in der Arbeit dieser Personen erkannt wurde, entstand,
zunächst ohne Rücksicht auf die in dem einzelnen Museum zu sammelnden
Gegenstände, ein neuer Wissenszweig technischer Art: die Museumskunde.
Ganz gewiß muß jeder Museumsleiter in derjenigen Wissenschaft gut be-
schlagen sein, die ihm die Gesichtspunkte ftir seine besondere Arbeit liefert,
aber dieses Fachwissen genügt allein noch nicht; es ist vielmehr auch eine
technische Schulung ftir die praktische Arbeit notwendig. Mag diese
auch im einzelnen je nach dem Gebiet, dem eine Sammlung angehört, ver-
schieden sein, so wird sich trotzdem jeder, der in einem Museum tätig ist,
die £r£eihrungen, die an anderer Stelle gemacht worden sind, nutzbar machen
müssen. Das ist aber ftir die Mehrzahl der im Museumsdienst stehenden
Personen nicht gerade leicht, weil sie aus eigener Erfahrung doch immer
nur einen kleinen Teil der vorhandenen Museen kennen lernen können und
eine allgemeine Anleitung ftir die praktische Museumsarbeit in Form ebes
Handbuchs zurzeit noch fehlt. Diese Lücke auszuftillen, zunächst eben
Sammelpunkt von Musealnachrichten zu Schäften und so den Stofi" ftir
eme Museumskunde allmählich zusammen zu tragen, war zweifellos ebe
Zeitschriftam geeignetsten, imd b dieser Erkenntnis hat Karl Koetschau,
damals Direktor des Königlich Historischen Museums in Dresden, seit Früh-
jahr 1907 Direktor der Großherzoglichen Museen in Weimar, 1905 ein
Organ ins Leben gerufen, das b Vierteljahrsheften vornehmster Ausstattung
b Quartformat erschebt: Museumskunde, Zeitschrift für Yerwallung und
Technik öffentlicher und privater Sanmlungen (Berlin, Georg Reimer).
Zwei Bände (1905 und 1906 von je 240 Seiten, Preis des Bandes
Mk. 20.00) liegen gegenwärtig abgeschlossen vor, und das darb Dargebotene
rechtfertigt die Forderung, daS sich jeder Sammlungsvorsteher dauernd vom
Inhalte der Zeitschrift Kenntnis verschaffe, weim anders er seiner Aufgabe
genügen will. In besonderem Maße gilt dies ftir die Leiter kulturgeschicht-
licher Museen, von denen ja bekanndich eb recht großer Teil nebenamtlich
tätig ist und überdies einer besonderen museumstechnischen Ausbildung ent-
behrt Um zu zeigen, was die Museumskunde dem Historiker bietet, soll
hier auf den ebschlägigen Inhalt der beiden ersten Bände kurz hbgewiesen
werden.
Mit eber äußeren Angelegenheit von größter praktischer Bedeutung be-
— 28 —
schäftigt sich Hans Lehmann (I, S. 104 — 109), wenn er die Feuer-
versicherung von Kunstwerken und Altertümern bespricht und zwar zwei
Fälle mitteilt, die zeigen, wie sich in Wirklichkeit Versicherungsgesellschaften
bei Bränden in Museen verhalten haben. Pazaurek (I, S. 97 — 104) be-
handelt die Feuersgefahr und die Mittel, die sie vermindern sollen. Auf
die Notwendigkeit einer Museumsschule weist Lei sc hing (I, S. 91 — 96)
hin, wenn er die Einrichtung von „Museumskursen** fordert. Einen dreh-
baren, von ihm selbst konstruierten Schaukasten, der für einen ausgestopften
Vogel hergestellt worden ist, beschreibt Heinrich Lenz (S. 109 — iii):
auch flir wertvolle geschichtliche Gegenstände, deren einzehie Teile bei guter
Beleuchtung betrachtet werden müssen, würde sich dieses Modell empfehlen.
Für jedes Museum, das auch eine Münzsammlung, wenn auch eine solche
bescheidenen Umfangs, enthält, wird es wichtig sein zu erfahren, wie in
einer der größten Sammlungen die Schätze aufbewahrt werden. Eine solche
Belehrung bietet Menadier (I, S. 16 — 34), der die Neueinrichtung des
königlichen Münzkabinetts im Kaiser -Friedrich -Museum zu Berlin ein-
gehend beschreibt. Die Instandsetzung der Raffael-Tep piche, über die
man überall da, wo ähnliche Ausbesserungen notwendig werden, gern etwas
Näheres hören wird, beschreibt Carlotta Brinckmann (I, S. 34 — 37),
und über die Notwendigkeit gemeinsamer Arbeit bei Erhaltung von Kunst-
gegenständen handelt im allgemeinen Karl Koetschau (I, S. 53 — 56) im
Anschluß an die 1904 auf Veranlassung der k. k. Zentralkommission für
Kunst und historische Denkmäler in Wien gepflogenen Verhandlungen, deren
Verlauf anscheinend die Teilnehmer nicht befriedigt hat. Im zweiten
Bande äußert sich Römer (S. 74 — 79) besonders über die Feuersgefahr
in naturhistorischen Museen. Die billig an die Vorbildung eines Museums-
direktors zu stellenden Ansprüche bespricht (S. 175 — 189) der Amerikaner
Hoyle. Wie Muscumsschränke praktisch zu gestalten sind, wenn sie
ihre Zwecke erfüllen sollen, zeigt Pazaurek (S. 79 — 84). Die neu er-
bauten Museen in Braunschweig (S. 128 — 139) und Riga (S. 68 — 74)
werden eingehend beschrieben, und wo man nur immer an einen Neubau,
einen Umbau oder eine Neueinrichtung geht, wird jede derartige, aus sach-
verständiger Feder fließende, leicht zugängliche Schilderung willkommen sein.
In das engere Gebiet des Geschichtsforschers führt der Aufsatz von
Max V a n c s a über die Vorarbeiten zur Gründung eines niederösterreichischen
Landesmuseums in Wien (S. 8 — 17), worin die für die Errichtung von
Landesmuseen überhaupt maßgebenden Gesichtspunkte entwickelt werden;
auch der erfolgreichen Tätigkeit der Landesgeschichtsvereine für die Museen
wird darin gedacht. Von allergrößter grundsätzlicher Bedeutung aber ist
der Beitrag von Brandt über Provinzial- und Lokalmuseen (S. i — 7).
Dieser Gegensatz hat die Gemüter in neuerer Zeit auf beiden Seiten mannig-
fach erregt, und deshalb ist es entschieden zeitgemäß, wenn von sachkun-
diger Seite dazu Stellung genommen und der Wirkungskreis, der jeder der
beiden Arten von Museen im Interesse der geschichtlichen Forschung zu-
gewiesen werden muß, näher umschrieben wird. So viel ist ja ohne weiteres
klar, daß bei der Sammlung geschichtlicher Überreste — bezüglich der
Erzeugnisse der hohen Kunst gelten ganz selbstverständlich andere Gesichts-
punkte — der Zusammenhang mit der Gegend, der sie entstammen, gewahrt
— 29 —
werden mufi, und das erscheint in einem gemeindeutschen Museum, wie es
das Germanische Museum ist, unmöglich; ein solches muß sich aber schon
aus äußeren Gründen naturgemäß Beschränkungen auferlegen und zweck-
mäßigerweise mehr sachliche als räumliche Gesichtspunkte fUr die Auswahl
und Aufstellung der Sammlungsgegenstände maßgebend sein lassen. Zu
wesentlichen Interessenkonflikten zwischen dem Nürnberger oder anderen all-
gemeinen Hauptstadtmuseen und den geschichtlichen Museen mit räumlich
beschränktem Arbeitsfeld ist es deshalb bisher tatsächlich nicht gekommen.
Den normalen Rahmen für die Sammlung geschichtlicher Überreste bildet ganz
zweifellos die Landschaft, d. h. der mehr oder weniger große Bezirk,
der als geschichtliche Kulturgemeinschaft aus der Vergangenheit in die Gegen-
wart hereinragt und sich in der Regel mit einem Staate, einer Provinz oder
einem Verwaltungsbezirke im wesentlichen deckt Es gibt im Deutschen
Reiche gegenwärtig wohl kein auch noch so kleines Gebiet, für das nicht
auch ein zuständiges Landes- (Provinzial-)Museum vorhanden wäre. Für die
zielbewußte Bereicherung dieser letzteren müssen die geschichtlich interessierten
Kreise jeder Landschaft im öffentlichen Interesse ganz unzweifelhaft zuerst
sorgen, imd das wird im ganzen nicht allzu schwer s^in, weil dafür immer
einige Mittel aufgewandt werden und ein hauptamtlich tätiger, fachmännisch
gebildeter Museumsleiter in den allermeisten Fällen vorhanden ist. Darüber,
daß ein solches Landesmuseum ein wirkliches Bild von der Vergangenheit
des Landes und der ihm eigentümlichen Kultur geben muß, sind sich alle
Beteiligten einig, und auch daß diesen Sammlungen ein streng wissenschaft-
licher Charakter eignen muß, wird kaum bestritten werden. Es fragt sich
nur, ob die in jüngster Zeit überall, selbst in ganz kleinen Städten und
Dörfern, entstehenden Ortsmuseen nicht die größeren Aufgaben beein-
trächtigen. Nicht wenige ernste Geschichtsfreunde sind dieser Ansicht, und
man wird den Worten Brandts die Zustimmung nicht versagen können, wenn
er betont, daß diese kleinen Sammlungen vielfach in ungenügenden Räumen
untergebracht sind, eine auch nicht im entferntesten für die schwere Auf-
gabe befähigte Leitung besitzen, der meist namendich hbichtlich der Kon-
servierung jede praktische Erfahrung fehlt, und daß es meist an allen Mitteln
für sachgemäße Unterhaltung und für Neuerwerbungen gebricht. Als den
schwersten Mangel jedoch empfindet Brandt das Unsystematische des
Sammeins, das sich vor allem darin äußert, daß alles mögliche aufgenommen
wird, weil es zufällig vorhanden ist, auch wenn es nicht in den
Kreis hineingehört, auf den sich naturgemäß das ortsgeschichtliche Museum
beschränken muß. Demgegenüber tritt Brandt aber auch warm für die ver-
ständig gepflegten Lokalmuseen ein und sagt: „Es ist gar nicht in erster
Linie der höhere Wert der Sammlungsgegenstände an sich, welcher das gute
Lokalmuseum von dem schlechten so vorteilheft unterscheidet, sondern neben
der liebevoll durchgeführten Aufstellung und der guten Erhaltung der Sammel-
bestände vor allem eine mit Kenntnis und Folgerichtigkeit durchgeführte
Beschränkung im Sammelprogramm. Da findet man kein planlos durch-
einander gewürfeltes Allerlei. Es ist nur gesanmielt, was zum Kulturbild
der nächsten Umgebung gehört, auf alles andere ist konsequent ver-
zichtet, auch wenn es sich als Schenkung aufdrängen wollte. Eben in solcher
verständigen Beschränkung schemt mir das Wesentliche zu liegen. Ein kleines
— 30 —
Museum sollte nicht eine Reihe von Kulturbildern, sondern nur ein einziges
Kulturbild geben wollen und alles ausscheiden, was nicht in den Rahmen
dieses einen Bildes pafit, andererseits aber auch das eine Bild bis in jede
kleinste Einzelheit durchzuführen suchen." Als besonders wünschenswert
bezeichnet der Verfasser die Benutzung alter Bürgerhäuser zur Unterbringung
eines ortsgeschichtlichen Museums, sowohl um des letzteren willen als auch
deswegen, weil so für die Erhaltung eines solchen Hauses in seiner Eigen-
art am besten gesorgt ist Unter den Gründen, die gegen die Überhandnähme
kleinster Museen sprechen, scheint mir der folgende besondere Beachtung
zu verdienen. In der Regel ist eine Person die Schöpferin eines solchen
Museums, und selbst wenn ganz Vorzügliches geleistet wird, besteht die große
Gefahr, dafi nach ihrem Tode oder Weggang ein geeigneter Nachfolger fehlt
und daß dann die Sammlung allmählich verkommt, da eine kleinere Gemeinde
naturgemäß größere Opfer dafür nicht bringen kann. Ganz besonders not-
wendig ist es überall da, wo aus irgendeinem Grunde einem ortsgeschicht-
lichen Museum der aUmähliche Verfall droht, rechtzeitig helfend einzugreifen,
sei es durch Gewinnung eines neuen tatkräftigen Leiters, sei es durch Einverleibung
der ganzen Sammlung in ein größeres Museum. — Die hier berührten Pro-
bleme besitzen für alle wissenschaftlichen Arbeiter auf dem Felde der Landes-
und Orts- und nicht mmder auf dem der allgemeinen Kulturgeschichte die
allergrößte Bedeutung. Es ist dringend notwendig, daß für jede Landschaft,
d. h. in diesem Falle für den Bezirk jedes Landes- (Provinzial-)Museums,
die einschlägigen Verhältnisse unter Heranziehung der EigentümlicUceiten des
Landes untersucht und dargestellt werden, und um die Anregung zur Er-
örterung der berührten Fragen und zugleich Grundlagen dafür zu geben,
wurde hier länger bei dem Aufsatze von Brandt verweüt, der von den in
Schleswig-Holstein gesammelten Beobachtungen ausgeht.
Außer den Aufisätzen, von denen hier nur die für den Geschichtsforscher
wichtigen erwähnt wurden, bietet die Museumshunde in jedem Hefte in einer
„Museumschronik** eine Menge kurze Nachrichten über Vorgänge im Mu-
seumswesen, und für diese Abteilung sollten im öffentlichen Interesse dem
Herausgeber recht viele zuverlässige Mitteilungen zufließen! Auch die Lite-
ratur wird durch Anzeige von Neuerscheinungen in jedem Hefte berücksichtigt,
und gerade in dieser AbteUung finden sich nicht wenige Nachrichten über
örtliche Museen. ^ »p
Elngegan^ne Bflcher.
Dohna, Burggraf und Graf Hannibal zu: Napoleon im Frühjahr 1807, ein
Zeitbild. Mit 14 Abbildungen. Leipzig, Georg Wigand 1907. 143 S.
8^ M. 4,00.
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wart. München, Georg D. W. Callwey 1907. 296 S. 16^. M. 4,00.
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Mit 59 Abbildungen im Text [= Aus Natur und Geisteswelt, Sanun-
lung wissenschaftiich-gemeinverständlicher Darstellungen, 117. Bändchen.].
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— 31 —
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Fournier, August: Österreich und Preußen im XIX. Jahrhundert, ein Vor-
trag. Wien, Wilhehn BratunüUer 1907. 34 S. 8^ M. 1,00.
Gleichen-Rußwurm, Alexander von: Aus den Wanderjahren eines frän-
kischen Edelmannes [= Neujahrsblätter, herausgegeben von der Gesell-
schaft für Fränkische Geschichte II]. Würzburg, H. Stürtz 1907.
61 S. 8^ M. 2,00.
Grupp, Georg: Kulturgeschichte des Mittelalters. I. Band. Zweite voll-
ständig neue Bearbeitung. Mit 45 Illustrationen. Paderborn, Ferdinand
Schöningh 1907. 458 S. 8^ M. 5,60.
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besserte Auflage. [= Aus Natur und Geisteswelt, Sammlung wissen-
schaftlich-gemeinverständlicher Darstellungen, 43. Bändchen.] Leipzig,
B. G. Teubner 1906. 164 S. geb. M. 1,25.
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[= Baltische Studien, herausgegeben von der Gesellschaft ftir Pommersche
Geschichte und Altertumskunde. Neue Folge Bd. X. (Stettin 1906),
S. 1—32].
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Vereins für Reformationsgeschichte Nr. 93.]. Halle, Rudolf Haupt 1907.
85 S. 8^ M. 1,20.
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Geschichte des süddeutschen Gerichtswesens und Straftechts. Mit Unter-
stützung der Savignystiftung herausgegeben. I. Band: Die Weistümer
und Ordntmgen der Würzburger Zenten. I. Abteilung. Mit zwei Ab-
bildungen. Berlin, J. Guttentag, G. m. b. H. 1907. 708 S. 8^ IL Ab-
teilung. Mit einer Abbildung. Ebenda. S. 709 — 1405. M. 45,00.
Kunze, Richard: Die Germanen in der antiken Literatur, eine Sanmüung
der wichtigsten Textstellen. U. Teil: Griechische Literatur. Leipzig,
G. Freytag. 128 S. 8*. geb. M. 1,50.
Krollmann, C.: Schlobitter Erinnerungen an das Jahr 1807 \= Sonder-
abdruck aus den Oberländischen QeachiehUibUUtern^ Heft IX.J. 13 S. 8^
Leifs, A. : Studierende Waldecker vom 13. bis zum 19. Jahrhundert (Fort-
setzung) [= Sonderabdnick aus den Q-eachichtsblättem für Waldeck
und Pjßrmontf 7. Band, S. 57 — 129.].
Loening, Edgar: Gnindzüge der Verfassung des Deutschen Reiches.
Zweite durchgesehene Auflage. [= Aus Natur und Geisteswelt, Samm-
lung wissenschaftlich-gemeinverständlicher Darstellungen, 34. Biüidchen.]
Leipzig, B. G. Teubner 1906. 140 S. 8^ geb. M. 1.25.
Meysenbug, O. Freiherr von: Beiträge zur Geschichte musikalischen und
theatralischen Lebens in Detmold. IL Lippesche Theatergeschichte zur
Zeit Graf Simon Augusts tmd Fürst Leopolds I. [^ Mitteilungen aus
der lippischen Geschichte und Landeskunde IV (Detmold 1906)»
S. 82 — 146.]
— 32 —
Schmidt, Wilhelm: Die Kirchen- imd Schulvisitation im sächsischen Kur-
kreise vom Jahre 1555. Zweites Heft: Die wirtschaftlichen Verhältnisse.
[= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte Nr. 92.] Halle a. S.,
Rudolf Haupt 1906. 88 S. 8^ M. 1,20.
Seyler, Emanuel: Der Römerforschung Leistungen und Irrtümer. Nürnberg,
in Kommission bei F. Willmy 1907. 49 S. 8^. M. 0,50.
Stenger: Beiträge zur Geschichte der Schule in der Marie im 18. Jahr-
hundert [= Jahrbuch des Vereins für die Evangelische Kirchengeschichte
Westfalens, Neunter Jahrgang (Gütersloh, C. Bertelsmann 1907)
s. 19—39]-
Strakosch-Grafsmann, Gustav: Die Volkszahl der deutschen Städte in
Gegenwart und Vergangenheit, eine vorläufige Zusammenstellung. [Se-
paratabdruck aus dem Jahresbericht für 1 906/1 907 des städtischen
Kaiser-Franz-Joseph-Jubiläum-Realgymnasiums in Komeuburg.] Komeu-
burg 1907. 79 S. 8^
Tille, Alexander: Zur Geschichte der Saarflößerei und Saarschiffahrt [=
Südwestdeutsche Wirtschaftsfragen, Heft 7]. Saarbrücken, Kommissions-
verlag von C. Schmidtke 1907. 45 S. 8^.
W i d m a n n , Hans : Geschichte Salzburgs. Erster Band (bis 1270) [= Deutsche
Landesgeschichten, herausgegeben von Armin Tille, Neuntes Werk].
Gotha, Friedrich Andreas Perthes, Aktiengesellschaft 1907. 384 S. 8^.
M. 8,00.
o-<DQ>-
Herausgeber Dr. Armin Tille in Leipsif .
Verlag und Druck von Friedrich Andreas Perthes, Aktiengesellschaft, Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
sur
Förderung der landesgeschicbtüchen Forscbimg
IX. Band November 1907 2. Heft
Quellen zur städtischen Wirtsehafts^
gesehiehte ^)
Von
Armin Tille (Dresden)
Den äußeren Anlaß zu diesen Darlegungen bildet der Umstand,
•daß bei der siebenten Konferenz von Vertretern landesgeschichtlicher
Publikationsinstitute in Stuttgart über die „Herausgabe von Quellen
i) Im folgenden ist dasjenige enthalten, was der Verfasser am 3. September 1907 vor
<ler achten Konferenz von Vertretern landesgeschichtlicher Publika-
tionsinstitate (vgl. unten S. 52 — 53) ausgefUhrt hat. Dem Charakter des Vortrags ent-
sprechend wurde mit wenigen Aasnahmen von der Bezognahme auf bestimmte Veröffent-
lichungen abgesehen, und dies schien auch deswegen ratsam, weil fUr jede der einzelnen
hier berührten QueUengattungen eine mögUchst umfassende ZusammensteUung des bereits
gedruckten oder in DarsteUnngen ausführlicher ausgebeuteten Stoffes als dringend not-
wendig bezeichnet werden muß und derartigen Arbeiten durch eine willkürliche Auswahl
nicht vorgegriffen werden soll.
Inhaltlich berühren sich diese Ausführungen mit dem, was ich in meiner Schrift Wirt'
Schaftsarchive (Berlin 1905) mit Bezug auf die wirtschaftsgeschichtlichen Quellen des
XIX. Jahrhunderts dargelegt habe; die dort entwickelten Gesichtspunkte werden hier auf
•die früheren Perioden der deutschen Geschichte angewandt, aus der Beschäftigung mit
denen heraus die grundsätzliche Forderung, die Überreste der Geschäftsführung als
primäre Quelle besser zu würdigen, entstanden ist. Es handelt sich dabei im letzten
-Grunde um dieselbe Idee, die Richard Ehrenberg, der Herausgeber des Thünef^
Archivs, mit der Forderung einer exakten Wirtschaftsforschung vertritt, wenn
sich auch der Historiker, den weiter zurückliegende Zeiten fesseln, voU t>ewnfit bleibt,
dafi das Material nicht entfernt vollständig genug ist, um auch nur annähernd die Kenntnis
•der Dinge zu gewinnen, die sich für das XIX. Jahrhundert möglicherweise erreichen läßt.
Weil solche unmittelbar aus dem wirtschaftlichen Leben des Tages heraus erwachsene
QaeUen, die sich für die Benutzung meist recht spröde erweisen, wenigstens seit dem
XIV. Jahrhundert für viele Städte in mehr oder weniger reicher Auswahl vorhanden sind,
ohne daß sie bisher gebührend ausgebeutet worden wären, scheint es an der Zeit, grund«
^ätzlich auf die Notwendigkeit ihrer Ausbeutung hinzuweisen.
3
— 34 —
zur städtischen Rechts- und Wirtschaftsgeschichte" *) ver-
handelt werden sollte, daß aber der Berichterstatter, Stadtarchivar
Overmann (Erfurt), in der Tat näher nur auf die Quellen zur Ge-
schichte der Stadt Verfassung und Stadtverwaltung einging,,
die wirtschaftlichen Quellen aber nur teilweise streifte. Es war die&
weiter nicht wunderbar, weil die neueren VeröfTentlichungen, die kritisch*
verglichen wurden, sich tatsächlich nur mit ersteren beschäftigen und
sich auch ihren Titeln nach gar nicht mit der Wirtschaftsgeschichte
befassen wollen. Für die Formulierung des Verhandlungsthemas war
eine Publikation entscheidend gewesen, die Ostern 1906 noch nicht
vorlag, aber jetzt erschienen ist, nämlich die von der Gesellschaft für
rheinische Geschichtskunde herausgegebenen und von Lau bearbeiteten
Quellen zur Stadtgeschichte von Sieg bürg mit dem Obertitel r
Quellen ssur Hechts- und Wirtschaftsgeschichte der rheinischen Städte^
Mit dem Erscheinen dieses Buches, welches eine Reihe gleichartiger
Veröffentlichungen einleitet, hat die Erörterung eine neue Grundlage
gewonnen, und bestimmte Forderungen zu erheben, erscheint gegen-
wärtig um so mehr angebracht, als auch die Historische Kommission,
für die Provinz Sachsen und Anhalt „Quellen zur städtischen Ver-
fassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte** herausgeben wilL
Overmann bezeichnet es mit Recht als eine Mindestfordenmg^
daß in stadtrechtliche Publikationen auch die auf die Zünfte und das-
Gewerbewesen bezüglichen Quellen aufgenommen werden müssen *)^
Nach meinem Dafürhalten ist es jedoch längst nicht genug, wenn dieser
Mindestforderung entsprochen wird, und zwar deswegen nicht, weil
Zunftprivilegien, gewerbepolizeiliche Anordnungen u. dgl. aus dert
Machtbefugnissen der Stadtobrigkeit entspringen , wesentliche Teile
ihrer Tätigkeit bilden und deswegen schon als Teile der Stadtverfas-
sung und Stadtverwaltung Berücksichtigung verdienen. Die königliche^
i) Vgl. deo Aufsatz von Overmann über den Gegenstand in dieser Zeitschrift
7. Bd., S. 263 — 274. In dem anschließenden Ncuhwort habe ich zuletzt (S. 286 — 288)^
bereits dasjenige angedeutet, was hier weiter aasgeführt wird.
2) In der neuen Formulierung seiner Grundsätze hat Overmann seine Meinong
noch deutlicher zum Ausdruck gebracht, wenn er sagt: „Bei kleineren Städten and
überall da, wo von einer besonderen Publikation der wirtschafts-
geschichtlichen Quellen abgesehen wird, ist es erforderlich, dafl den
rechtsgeschichtlichen Veröffentlichungen auch die auf die Zünfte and
das Gewerbewesen bezüglichen angegliedert werden." — Hier soll in erster
Linie von besonderen wirtschaftsgeschichtlichen Publikationen die Rede sein und in zweiter
von allen Quellenveröffentlichungen zur Stadtgeschichte, die neben andern auch wirtschafts->-
geschichtlichen Stoff enthalten.
— 35 —
Verleihung" des Markt-, Zoll- und Münzrechts an einen Ort betrifft
gewiß wirtschaftliche Dinge, aber in unseren Quellenpublikationen
pflegen wir gewohnheitsgemäß derartige Privilegien in erster Linie als
Grundlage von Rechten zu betrachten; wir erblicken darin zunächst
eine verfassungsgeschichtliche Quelle und erst in zweiter Linie eine
wirtschaftsgeschichtliche. Jede stadtrechtliche Urkunde bezieht sich
auf einen gewissen Gegenstand, aber soweit wir das Stadt recht unter-
suchen, tritt dieser Gegenstand zunächst zurück, der Nachdruck wird
vielmehr darauf gelegt, daß irgendein Lebensgebiet grundsätzlich
geordnet, geregelt wird. Weil unter den Urkunden, die die Stadt-
verfassung darstellen, auch einige sind, die wirtschaftliche Dinge be-
treffen, deswegen wäre es durchaus nicht nötig, im Titel besonders
„von Wirtschaftsgeschichte*' zu sprechen, wie dies übrigens auch in
den westfälischen Veröffentlichungen, in denen reichlich Zunft- und
Gewerbeakten enthalten sind, nicht geschieht; denn dort wird einfach
das Wort „Stadtrecht" als umfassende Bezeichnung für den ganzen
Komplex von Quellen verwendet, die über das innere Leben einer
deutschen Stadt bis zum Ende der alten Stadtverfassung unterrichten.
Wenn ich hier von Quellen zur städtischen Wirtschafts-
geschichte spreche, so fasse ich den Begriff wesentlich weiter und
glaube mich dabei in Einklang mit dem allgemein üblichen Sprach-
gebrauch zu befinden; ich verstehe darunter alle diejenigen
Quellen, die uns über das in einer beliebigen Stadt je-
mals herrschende wirtschaftliche Leben belehren, nicht
nur über das Gewerbe oder den Handel, sondern ebenso über die
Wirtschaft des Ackerbürgers, über den städtischen Grundstücksmarkt,
über das Geld- und Kreditwesen und nicht zuletzt über die Verbrauchs-
wirtschaft und die Lebenshaltung jeder der in der Stadtbewohnerschaft
vertretenen sozialen Schichten. Daß die Quellen über alle diese Dinge
nicht so reichlich fließen, wie der Forscher wünschen mag, dessen
bin ich mir voll bewußt, aber eben deswegen ist es doppelt notwendig,
den entsprechenden Quellen in jeder einzelnen Stadt sorgfältig nach*
zuspüren und die gefundenen nach Möglichkeit allgemein zugänglich zu
zu machen. Die Verfassungen der einzelnen Städte sind formal ziemlich
ähnlich; die wirtschafUichen Verhältnisse dagegen weichen in verschie-
denen Städten recht erheblich voneinander ab, da sehr oft ein einziger
Nahrungszweig dem Wirtschaftsleben einer bestimmten Stadt seinen
eigenartigen Stempel aufdrückt. Das Wirtschaftsleben in jeder von
zehn beliebigen Städten zeigt erheblich viel mehr individuelle Züge
als das Stadtrecht, und deswegen ist es notwendig, den städtischen
3*
— 36 —
Wirtschaftsverhältnissen ihrer ^ranzen Breite nach, in allen Einzel-
erscheinungen Beachtung zu schenken. Verfassungs formen sind über-
tragbar und kehren teilweise immer wieder, das pulsierende Leben
aber erzeugt an jedem Orte einen etwas anderen Inhalt und ver-
ursacht seinerseits unter Umständen auch erhebliche Wandelungen in
den überkommenen Verfassungsformen.
Wenn ich die Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand lenke, so
geschieht es, weil ich bei meinen langjährigen eigenen Arbeiten
2U Forderungen gelangt bin, die meines Erachtens allgemein erhoben
werden müssen. Bedauern muß ich nur, heute eine eigene größere
Publikation noch nicht vorlegen zu können ; denn die aus Darstellung
und Quellenanhang bestehende Arbeit über Leipzigs Wirtschafts-
geschichte, die mich seit 1900 beschäftigt, wird vermutlich erst im
nächsten Jahre abgeschlossen werden.
Soviel man auch in neuerer Zeit allenthalben der Wirtschafts-
geschichte Aufmerksamkeit geschenkt hat, bei einer Durchmusterung-
<ier Literatur gelange ich doch zu dem Urteile, daß wir noch fiir
•keine einzige Stadt eine berechtigten Anforderungen genügende Ge-
schichte des wirtschaftlichen Lebens über mehrere Jahrhunderte hin-
weg besitzen, noch weniger aber eine alle Lebenszweige umfassende
Quellensammlung. Von den einschlägigen Darstellungen ist nach
meinem Urteil noch immer die beste Handel und Industrie der Stadt
Basel von Geering (1886) ; denn die vielen anderen tüchtigen Einzel-
untersuchungen sind sämtlich zeitlich und sachlich mehr oder
weniger beschränkt, so daß immer nur ein kleiner Ausschnitt zur Dar-
stellung gelangt. Damit ist aber dem vorhandenen Bedürfnis nicht
entsprochen ; denn die wirtschaftlichen Zustände sollen uns den Schlüssel
geben zum Verständnis der sozialen Schichtung und der jeweiligen
Eigentümlichkeiten der Verfassung, und dazu ist es notwendig erstens,
das ganze Wirtschaftsleben einer bestimmten Zeit und zweitens die
Veränderungen über längere Zeiträume hinweg, grundsätzlich vom
frühesten Anfange an bis zur Gegenwart, zu überblicken.
Bezüglich der Quellenveröffentlichung ist es wohl mit Köln gegen-
wärtig am besten bestellt, weil dort bereits die verschiedensten
Gebiete berücksichtigt worden sind. Ganz abgesehen von den Ver-
öffentlichungen in den Zeitschriften, namentlich in den Mitteilungen
aus dem Stadtarchiv, und in den 6 Bänden Quellen von Ennen und
Eckertz liegen fiir diese Stadt folgende Publikationen vor: 2 Bände
Schreinsurkunden, 2 Bände Akten zur Geschichte der Verfassung- und
Verwaltung des XIV. und XV. Jahrhunderts, 2 Bände Stadtrechnungen.
— 87 —
Dazu kommen neuerdings die Zunft- und Gewerbeurkunden, während
eine Publikation über das Münz- und Geldwesen und eine solche über
den Kölner Stapel und den Handel in Vorbereitung ist. Bei dem
archivalischen Reichtum Kölns waren dazu mehrere getrennte Werke
nötig, aber unter kleineren Verhältnissen lassen sich die verschiedenen
Gattungen von Quellen sehr wohl in einer Veröffentlichung zusammen-
fassen. Natürlich ist auch eine Vermehrung des Stoffes zur Kölner
Wirtschaftsgeschichte noch sehr wohl möglich, namentlich in der
Richtung einer zeitlichen Vervollständigung nach der Gegenwart zu,
wenn auch vielleicht da eine Verarbeitung mit relativ wenigen Akten-
beilagen den Vorzug verdient. Zu fehlen schemt mir dagegen eine
gerade für Köln recht wichtige Abteilung, in der für das Mittelalter
und vielleicht noch das XVI. Jahrhundert Urkunden und Akten über
das bürgerliche Leben in einer Musterauswahl enthalten wären;
darin sollten alle diejenigen Quellen untergebracht werden, die vom
privatwirtschaftlichen Leben der Bürger zeugen *). Gewiß
sind einzelne solche Dokumente auch schon in anderen Quellenbänden
mit enthalten, aber der Grund für die Aufnahme war dann nicht der,
daß sie Einzelheiten über die bürgerliche Privatwirtschaft berichten,
sondern daß sie zugleich öffentliche Verhältnisse in irgendeiner
Weise berühren.
Hiermit komme ich auf den wunden Punkt bei der überwiegenden
Mehrzahl der selbständigen Publikationen zur städtischen Wirtschafts-
geschichte zu sprechen. Es scheint fast, als ob die Herausgeber und
Bearbeiter eine stillschweigende Übereinkunft geschlossen hätten, immer
nur Quellen zu berücksichtigen, die uns die Stadtobrigkeit, also vor-
nehmlich den Rat, aber auch Stadt- und Landesherren, als wirtschaften-
des Subjekt zeigen, sei es mittelbar oder unmittelbar. Die wirtschaft-
liche Tätigkeit einer Stadtobrigkeit zeigt sich in dreifacher Weise:
i) im städtischen Haushalt, d. h. insofern die städtischen Ein-
künfte verwaltet, direkte und indirekte Steuern erhoben, Schulden ge-
macht und die öffentlichen Bedürfnisse mit den so beschafften Mitteln
bestritten werden;
2) in der Ausbildung einer Wirtschaftsverfassung, insofern
die Stadtobrigkeit kraft ihres Amtes auch die wirtschaftliche Betätigung
der Bürger ordnet und leitet und zu diesem Behufe allerei Anstalten
trifft, vor allem die Gewerbe- und Handelspolizei ausübt;
i) Ein Blick io die Inventare der 14 Kölner Pfarrarcbive, die in den An*
naJen de$ HisU)r%9ehen Vtreim für dm Niederrhein, Heft 71 (1901), 76 (1903) and
83 (1907) enthalten sind, zeigt, welche FttUe von Material vorliegt.
— 38 —
3) endlich in der Verfolgung einer Wirtschaftspolitik, insofern
die Stadtobrigkeit bestrebt ist, die wirtschaftliche Leistung oder wen^-
stens den Nutzen der Bürger zu erhöhen, ihnen die Beschaffimg der
Rohstoffe zu erleichtem , den Export zu beleben oder unbequeme
Konkurrenten zu unterdrücken.
Die wirtschaftlichen Funktionen des offiziellen Repräsentanten der
Stadt mögen damit erschöpft sein, aber diejenigen der Stadt selbst,
d. h. die der Gesamtheit ihrer Bürger, sind es nicht. Im Gegenteil:
das wirtschaftliche Gebaren der Bürgerschaft, ihre bestimmte Beteili-
gung am Ackerbau, an der gewerblichen Gütererzeugung und am Handel
bildet ja erst die Grundlage und den Hintergrund für die wirtschaft-
liche Kraftentfaltung des offiziellen Stadtrepräsentanten! Und diesen
Hintergrund zu erforschen, das halte ich für die Hauptaufjgabe des
Wirtschaftshistorikers, der die Zustände in den Städten wenigstens vom
späteren Mittelalter an bis in die Gegcnw^art herein aufklären will.
Sehr wohl weiß ich, daß die Quellen über das privatwirtschaftliche
Leben der Bürger im ganzen nicht allzu reichlich fließen, und daß
sich recht viele Eigentümlichkeiten des bürgerlichen Daseins nur
mittelbar aus den Verordnungen imd sonstigen zufalligen Nieder-
schlägen allgemeiner Art in den Akten des Rates erschließen lassen.
Das darf uns aber nicht von vornherein zu einem Verzicht verleiten;
wir dürfen uns nicht abhalten lassen, trotzdem nach unmittelbaren, aus
dem praktischen Leben heraus entstandenen Zeugnissen für die wirt-
schaftliche Betätigung der Bürger systematisch zu suchen; wir
dürfen uns nicht damit begnügen, nur gelegentliche, besonders ins
Auge springende Funde zu verwerten. Im Gegenteil : den Zeugnissen
für die individuelle Betätigung in der Wirtschaft kommt die allergrößte
Bedeutung zu; gerade sie gilt es, zur Grundlage der Forschung-
zu machen! Mit Hülfe des allgemeinen Materials müssen wir sie zu
erklären suchen, und umgekehrt den Wert und Sinn der Ordnungen
aus den konkreten Vorgängen heraus zu verstehen trachten. Um ein
Beispiel anzuführen, so besitzen wir in ziemlich großer Zahl städtische
Steuerordnungen, deren allseitige Erklärung nicht geringe Schwierigf-
keiten bereitet. Aber wenn es uns gelingt, eine einzige aus dem Leben
stammende Steuererklärung oder Steuereinschätzung zu finden, die eine
Anwendung der Steuerordnung *) ist, so erhält jede Bestimmung der
i) Eime solche Steaererklärung ist diejenige des Frankfarter Bürgers Bechtolt Heller
von 1484, die Bücher im Verein mit der Bedeordnong Ton 1475 fUr Frankfurt a. M. in
^er Festschrifl (Ur den Leipziger Historikertag (1894), S. 159 — 161, veröffentlicht hat.
— 39 —
letzteren sofort Leben, und jedes der beiden Dokumente hilft das
andere verstehen. ^
Den Grundgedanken meiner Forderung' glaube ich mit dem Ge-
sagten genügend deutlich entwickelt zu haben. Es fragt sich nun, in
welcher Weise sich daraus praktisch brauchbare Grundsätze für die
Avirtschaftsgeschichtlicbe Arbeit und Quellenveröffentlichung ableiten
lassen. Von vornherein leuchtet ein, daß die Verhältnisse für jede
Stadt etwas anders liegen je nach der Eigenart ihrer wirtschaftlichen
Bedeutung und je nach dem Reichtum an Quellen. Aber auf diese
örtlichen Besonderheiten kommt es hier nicht an, sondern auf den
Grundgedanken, der bei jeder Herausgabe und Verwertung städtischer
Geschichtsquellen den Bearbeiter leiten soll, möge es sich um ein
städtisches Urkundenbuch , ein noch allgemeineres Quellenwerk oder
um irgendwelche nach formalen Gesichtspunkten ausgewählte besondre
Quellengruppen handeln. In allen diesen Fällen fordert der Wirt-
Bchaftshistoriker sinngemäße Berücksichtigung seiner besonderen
Wünsche, und zwar in ganz ähnlicher Weise wie Rietschel bei der
Erörterung über die Regestenwerke die Berücksichtigung der Bedürf-
nisse der Rechtshistoriker gefordert hat, die sich mit dem älteren
Privatrecht beschäftigen. Wenn die wirtschaftsgeschichtliche Forschung
eine genügend breite Grundlage erhalten soll, dann muß von den
Quellen über die private Wirtschaftsgebarung der Bürger so viel
dargeboten werden, daß mindestens für jede quellenmäßig zu belegende
typische Erscheinung des Wirtschaftslebens einige Beispiele zu finden
sind; aber auch besondere ungewöhnliche Erscheinungen müssen be*
rücksichtigt werden. Ohne Vollständigkeit anzustreben, will ich hier
konkret einige solche Quellengruppen, deren Berücksichtigung mir not-
wendig erscheint, namhaft machen, um meine Meinung möglichst
deutlich zum Ausdruck zu bringen.
Da interessieren sehr stark die Urkunden über alle Arten von
Rentkäufen, von denen im Verhältnis zu der außerordentlich großen
Menge, die in den Archiven ruht, nur verschwindend wenige veröffent-
licht, aber auch nur recht wenige in Darstellungen verwertet oder
statistisch bearbeitet worden sind. Der Rentkauf als wirtschaftliche
Einrichtung hat seine Geschichte, die noch recht sehr der Aufhellung
bedarf, aber ganz abgesehen von dem Rechtsgeschäft, das im Mittel-
punkt steht, enthalten die Urkunden nebenbei noch außerordenthch
viel andere wirtschaftsgeschichtlich wertvolle Angaben. Wo die Rent-
käufe bisher behandelt wurden, da legte man entweder den Nachdruk
auf das öfTentliche Schuldenwesen, d. h. man stellte die Eigenschaft
— 40 —
der Stadtgemeinde als Schuldnerin in den Vordergrund ^), oder man
berücksichtigte lediglich das Schwankeii des Zinsfußes ^. So wichtige
Quellen die Rentk^uüsurkunden für diese Dinge darstellen, so wenig
ist ihre Bedeutung damit erschöpft. Vielmehr sind sie auch wichtige
Zeugen für die geldwirtschaftliche Betätigung des einzelnen Bürgers
und für die Geschichte der Kapitalansammlung und Vermögensbildung,,
die noch sehr der Aufklärung bedarf.
Wenn sich der Privatmann durch Abschluß eines Rentkaufs Ka*
pital verschafft, so ist das in den meisten Fällen die äußere Form für
die Aufnahme einer Grundstückshypothek, insofern ein Grundstück
verpfändet wird als Sicherheit für die zu zahlende Rente, und so
führen uns die Rentkaufsurkunden zudem Hypothekenwesen und
dem Grundstücksmarkt über. Zur Aufhellung dieses Gebiets
ist im ganzen noch recht wenig geschehen, und dennoch bieten nicht
nur die oft recht ausführlichen Kaufurkunden wichtiges Material, sondern
vor allem die „Gerichtsbücher", d. h. die örtlich mit den verschieden-
sten Namen belegten Verzeichnisse, in welche die öffentliche Beurkua-
dung von Eigentumsübertragungen städtischen Grund und Bodens —
nicht selten neben anderen Dingen — eingetragen wird. Die letzteren
lassen sich auch statistisch ausbeuten und geben uns nicht nur be-
stimmte Vorstellungen von der Bew^lichkeit des Grundbesitzes, von
der Wertsteigerung und Wertminderung, sondern auch vom Vermögen
der Besitzer.
Für die letztere Seite kommen aber ganz besonders die Testa-
mente und die zum Behufe der Erbschaftsregulierung aufgenommener^
Vermögensinventare in Betracht, die zugleich lehrreiche Blicke
in die bürgerlichen Haushaltungen tun lassen. Von diesen Quellen
sind bisher immer nur einzelne Stücke mehr als Kuriositäten veröffent-
licht worden, aber an ihre grundsätzliche Würdigung ist man meine»
Wissens noch nirgends herangetreten. Und doch glaube ich mich
auf Grund von einzelnen Erfahrungen zu dem UrteU berechtigt, daft
es wohl kaum ein besseres Mittel gibt, um sich den allmählichen
Verfall des Bürgertums von der Mitte des XVI. Jahrhunderts bis zur
Mitte des XVII. Jahrhunderts zu veranschaulichen, als eben diese in
Menge vorhandenen Vermögensinventare. Nebenbei nur möchte ich
1) So z. a OUo Beyer, Schuldenwesen der Stadt Breslau im XIV. und
XV, Jahrhundert [» Zeitschrift des Vereins für Geschiebte und Altertum Schlesiens-
35. Bd. (1901), S. 68—143].
2) So G. Winter, Zur Geschichte des Zinsfußes im Mittelalter [— ZciUchrift
für Sodal- and Wirtschaftsgeschichte 4. Bd. (1896), S. 161 — 175].
— 41 —
daran erinnern, welche Bedeutung^ die Inventare teilweise für die Kunst-
geschichte besitzen, insofern sie oft Kunstgegenstände, auch Gemälde
(tafeln) bisweilen mit näheren Angaben über Darstellung und Künstler
auffuhren.
Hinsichtlich der Erwerbswirtschaften ist bisher die Ackerwirt-
schaft der Stadtbürger ungebührlich vernachlässigt worden. Mit der
allgemeinen Behauptung, daß selbst in Städten mit weitreichendem
Großhandel die Landwirtschaft als Nebenbetrieb und ftir eine gewisse
Schicht der Bürgerschaft sogar als Hauptbetrieb eine bedeutende
Rolle gespielt hat, ist es nicht getan. Wir müssen vielmehr sorgsam
den Quellen nachspüren, die uns Einzelheiten verraten, und vor allem
denjenigen, die uns in den Stand setzen, die relative Wichtigkeit dieses
Nahrungszweiges. (ur einzelne Haushalte abzuschätzen. Auch gilt es
zahlenmäßig den Rückgang des städtischen Ackerbaus im XVIII. und
XIX. Jahrhundert zu beleuchten. Quellen für diese Dinge sind be-
sonders die noch sehr vernachlässigten „Haushaltungsbücher"; das
Hausbuch des Nürnberger Bürgers und Kaufherrn Ulrich Starck aus dem
XV. Jahrhundert z. B. hat Köberlin *) eingehend beschrieben, aber mir
sind ziemlich viele, namentlich aus dem XVII. und XVIII. Jahrhundert,
in Archivin ventaren begegnet, über deren Inhalt noch Mitteilungen
fehlen. Die Haushaltungsbücher besitzen für die städtische Bürgerwirt-
schaft dieselbe Bedeutung, wie die bekannten „Handelsbücher", von
denen einige ja vollständig veröflfentlicht sind, fiir die Handelsgeschichte;
sie ergänzen aber die letzteren auch teilweise, insofern sie uns den Han-
delsherrn, wie z. B. den oben genannten Starck, zugleich als Haushaltungs-
vorstand und FamUienvater , als Landwirt und eventuell sogar als
Grundherrn vorstellen und uns auch Einblicke in die Verbrauchs-
wirtschaft des Hauses gewinnen lassen. Man gehe nur den frag-
lichen Quellen nach, und man wird selbst aus kleinbürgerlichen Haus-
haltungen seit dem XVI. Jahrhundert nicht ganz wenige Rechnungs-
bücher finden, die noch der Ausbeutung harren und sie verdienen.
Die wichtigsten Arten der Ern'erbswirtschaft in den Städten sind
natürlich allenthalben das Gewerbe und in einer bedeutenden Minder-
zahl der Handel. Hinsichtlich des Gewerbebetriebs fesselt den
Forscher auf den ersten Blick die Zunftverfassung am meisten,
aber es ist doch nicht zu vergessen, daß sie nur Mittel zum Zweck
war, daß sie nur den äußeren Rahmen für das mehr oder weniger
kräftig pulsierende gewerbliche Leben darstellte. Alles in allem ge-
i) In der Beilage zur AUgemeinen Zeitung 1901 Nr. 10 1 (3. Mai).
— 42 —
nommen haben wir aus den in neuester Zeit in stattlicher Zahl ver-
öffentlichten Zunftbriefen des XV. bis XVIII. Jahrhunderts herzlich
wenig grundsätzlich neue Erkenntnisse gewonnen. Unter Umständen
wertvoller sind nach meinen Erfahrungen die Einträge in die Zunft-
bücher: Rechnungen, Verzeichnisse der neuen Meister, Nachrichten
über Zwistigkeiten unter den Zunftgenossen, verhängte Strafen u. dgl.»
die ein viel anschaulicheres Bild vom Leben in der Zunft und nament-
lich von den Veränderungen geben als die allgemeinen Ordnungen *).
Auch für die im XVIII. Jahrhundert durchweg zu beobachtende uni-
formierende Beeinflussung der Zunftoi^anisation durch die Landesherren
finden sich in den Zunftbüchem nicht selten lehrreiche konkrete Be-
lege, wenn natürlich auch zunächst die Akten über die landesherrliche
Gewerbeaufsicht, Generalzunftartikel usw. dafür hei:anzuziehen sind.
Über die wirtschaftliche Leistung des einzelnen Zunftgenossen und den
in seinem Betriebe üblichen Arbeitsprozeß sind die urkundlichen Zeug-
nisse begreiflicherweise nicht sehr häufig, aber sie fehlen auch nicht
vollständig. Bei öffentlichen Arbeiten sind solche Nachweise z. B. in
den Belegen zu den Stadtrechnimgen enthalten, gelegentlich sind
sie sogar aus den einzelnen in der Rechnung selbst verzeich-
neten Posten zusammenzustellen. Aber bezüglich größerer Arbeiten
finden sich auch bisweilen besondere Werkverträge, die in
der Regel die Arbeit des Handwerkers vorwiegend als Lohnwerk
erscheinen lassen; es ist mir z. B. eine ganze Reihe solcher instruk-
tiver Verträge über den Umguß von Glocken bekannt*). Derartige
Urkunden, die aus dem Geschäftsbetrieb heraus entstanden sind und
einen konkreten Fall hell beleuchten, sind wichtige Quellen für die
Geschichte des Gewerbes und müssen allgemein als solche geschätzt
werden. — Das Handwerk ist aber nicht die einzige Form gewerb-
licher Betätigung, sondern seit dem XVI. Jahrhundert kommt die pri-
vilegierte Unternehmung, die Manufaktur, hinzu, und es ist grund«
sätzlich zu fordern, daß Manufakturprivilegien und etwaige ergänzende
Akten geradeso berücksichtigt werden, wie die Zunftakten.
Was für das Gewerbe gilt, darf auch für den Handel Geltung-
beanspruchen. Es muß, sobald die Organisation der Handelskörper-
schaften und die allgemeine Handelspolitik erörtert ist, der Geschäfls-
i) Es sei z. B. aaf die entsprechenden Aaszüge ans dem Bache der Leipziger
Kramcrinnang hingewiesen, die Moltke, Die Leipziger Kramerinnung im XV, und
XVL Jahrhundert (Leipzig 1901) veröffentlicht hat; namentlich die Rechnangen sind
wichtig.
2) Vgl. diese Zeitschrift 4. Bd., S. 231 — 232.
— 43 —
betrieb des einzelnen Kaufmanns untersucht und das dabei entstandene
Schriftenmaterial herang^ezogen werden. Den bereits herausgegebenen
mittelalterlichen Handelsbüchem ') sollten sich bald noch manche
andere zugesellen, und auch das XVI. bis XVIII. Jahrhundert müßte
berücksichtigt werden. Ein voller Abdruck des Textes ist ja nicht
nötig, ja eine gründliche Bearbeitung des Inhalts wird bei jüngeren
Handelsbüchern ersprießlicher sein als eine einfache Herausgabe.
Neben den Handelsbüchern, die ein Geschäft in langjähriger Entwick-
lung zeigen, gibt es auch nicht wenige Einzelrechnungen, die sich z. B.
als Beilagen <zu Prozeßakten finden, Abrechnungen über Gewinn und
Verlust bei Kompagnieuntemehmungen, Inventare der bei Übernahme
oder Verkauf eines Geschäftes vorhandenen Waren, sogar jährlich
wiederkehrende Aufnahmen des Warenbestandes und nicht zuletzt Ge-
schäftsbriefe — alles wichtige, der Beachtung, Veröffentlichung und
Verwertung würdige Quellen. Systematisch auszubeuten ist auch die
offizielle Korrespondenz der Stadträte untereinander und mit den Fürsten,
denn in den bekannten Handelsstädten dreht sich ein großer Teil der
Briefe um die Geschäfte einzelner Kaufleute: die Brief bücher des
Nürnberger Rats (seit 1404) sind eine unerschöpfliche Fundgrube *)
ftir die Geschichte der Handelsbeziehungen vieler deutscher Städte,
ebenso die umfangreiche Sammlung der beim Danziger Rat ein-
gegangenen Schreiben. Gerade für die Zwecke der Handelsgeschichte
müssen grundsätzlich immer die auswärtigen Archive berücksichtigt
werden.
Diese kurze Charakteristik der wichtigsten Quellen der städtischen
Wirtschaftsgeschichte im weiteren Sinne muß hier genügen. Es kam
nur darauf an, das Augenmerk der Forscher und namentlich das der
Leiter von Publikationsinstituten auf die Quellen zur Geschichte des
wirtschaftlichen Lebens selbst hinzulenken. Was von Quellen der be-
zeichneten Art bisher herausgegeben worden ist, das ist zum aller-
größten Teile gelegentlich, nebenbei in Zeitschriften, besonders oft
in den Hansischen Geschichtsbläitem, gedruckt worden, aber die größeren
Quellensammlungen zur städtischen Geschichte enthalten von solchem
Stoff nur wenig, und darin muß meines Erachtens Wandel geschaffen,
i) Unter deo oeuereo Arbeiten ans diesem Gebiete ist die Heidelberger Dissertation
{1905) von SUski, Daniiger Handd im XV, Jahrhundert, .auf Orund eines im
Danstiger Stadtarehiv hefindiiehen Handlungibudiee geecküdert, zn nennen.
a) VgL diese ZeiUchrift 7. Bd., S. 9$.
— 44 —
es mufi zu systematischer Arbeit auf diesem Felde ^^chritteni
werden.
Wie das im einzelnen zu geschehen hat, dafür sind die besonderen^
Verhältnisse jeder einzelnen Stadt und jedes Publikationsinstituts ent-
scheidend; ja die Arbeit nach irgendeinem allgemeinen Schema wäre-
gar nicht am Platze. Nur so viel möchte ich betonen, daß es mir
nicht etwa als Ideal erscheint, wenn die ganzen Massen einschlägiger
Archivalien im vollen Wortlaut oder auch nur im Auszuge veröffent-
licht würden. Das ist nicht möglich, aber auch nicht wünschenswert.
Notwendig ist nur die sachgemäße Ausbeute und die Veröffentlichung
von Musterbeispielen.
Für eine solche Edition oder eine entsprechende darstellende Ar-
beit mit Quellenbeilagen ist jedoch eine besondere wirtschaftsgeschicht-
liche Vorbildung erforderlich, denn der Bearbeiter muß mit den mancher-
lei Problemen der Forschung vertraut sein, um überhaupt jede Nach-
richt würdigen und ihre Veni^'endbarkeit abschätzen zu können. Mit
dem bloßen Abdruck einzelner Urkunden und Akten ist nur wenig*
getan; die Interpretation und sachgemäße Beleuchtung des Inhalts
macht den Wert dieser spröden Quellen meist erst verständlich. Eine
Forderung nur möchte ich grundsätzlich erheben, nämlich die, daß*
nicht nur das Mittelalter, sondern auch die Zeit des wirtschaftlicheo.
Niedergangs und des neuen Aufschwungs seit 1700 mit behandelt wird.
Bisher pflegte das Interesse der Forscher an der städtischen Wirt-
schaftsgeschichte meist zu erlahmen, wenn die Mitte des XVI. Jahr-
hunderts überschritten war. Und doch gewährt die Untersuchung ge-
rade von dieser Zeit an ganz eigenartigen Reiz ; das im ganzen reich-
licher fließende Material gestattet überdies viel vollständigere Bilder
zu entwerfen als für die frühere Zeit. Das Ende der alten Stadtver—
fassung bildet naturgemäß für die Geschichte einer Stadt als wirt-
schaftlicher Individualität keine Grenze, und deswegen muß grund-
sätzlich auch die Ausdehnung der Untersuchung auf das XIX. Jahr-
hundert gefordert werden.
Den Ausgangspunkt zu diesen Erörterungen haben die neuen
Veröffentlichungen der „Stadtrechte** abgegeben, und dazu möchte-
ich jetzt zurückkehren. Die einzelnen Herausgeber und Bearbeiter
müssen bei Aufstellung des besonderen Arbeitsplanes erwägen, in
welchem Maße sie etwa die hier von Seite eines Wirtschaftshistorikers-
gegebenen Anregungen berücksichtigen können, ohne dadurch das-
einmal im großen und ganzen feststehende Arbeitsprogramm um-
zustoßen. Für jedes einzelne neue Dokument, das aus der Wirtschafts—
— 46 —
^ebarung eines Städtebürgers entstanden ist, wird die Forschung
dankbar sein, wenn zugleich die zum Verständnis notwendigen, dem
femer stehenden Leser nicht zugänglichen Angaben hinzugefugt werden,
die das Dokument in den Strom der städtischen Wirtschaftsentwicklung
hineinstellen. Als Form einer solchen Darstellung verdient z. B. bei
Handelsfirmen die Geschichte eines Hauses unter Heranziehung des
bei anderen Firmen entstandenen Quellenmaterials als Vergleichsgegen-
standes empfohlen zu werden.
Unter Hinblick auf die aufgestellten Forderungen möchte ich noch
kurz auf die neue Veröffentlichung über Siegburg ^) zu sprechen
kommen, weil mir scheinen will, als ob bei weiteren derartigen Bänden
ziemlich leicht Material der bezeichneten Art mit dargeboten werden
könnte. Die in dem Bande mitgeteilten Rechtsquellen bleiben dabei
natürlich im wesentlichen aufier Betracht; ich muß mich auf die
Quellen wirtschaftlicher Natur beschränken. Als wesentlicher Fort-
schritt gegenüber anderen Veröffentlichungen erscheint zunächst der
Abdruck der ältesten Stadtrechnung(i 429/30), deren systematische
Bearbeitung und die Vergleichung mit den Etatsjahren 1578/79 und
1695/96 und nicht minder die ziemlich ausführliche Darstellung der
städtischen Finanzverwaltung in der Einleitung S. 49* bis 79*, die
manches ungedruckte und anderweit gedrucktes Material mit großer
Umsicht verwertet. Eine für den Forscher, der sich mehr oder weniger
eingehend mit Siegburg beschäftigen muß, recht wertvolle Beigabe
sind auch die Listen der Schultheißen, Amtleute, Schöffen und Bürger-
meister. Bezüglich der Zünfte hat sich Lau dankenswerterweise nicht
auf die Zunftbriefe beschränkt, sondern auch andere Akten heran-
gezogen. Das gilt namentlich für das wichtigste Siegburger Hand-
werk, das der Töpfer (Ulner); wir erfahren da vom Absatz der Er-
zeugnisse über Köln nach Hamburg im XVI. Jahrhundert (Nr. 65, 82)
und über Frankfurt nach dem Oberland (Nr, 70, 71, 79). Auch die
Tuchmacherei muß im XVI. Jahrhundert einigermaßen geblüht und
Exportware erzeugt haben. Praktischer als die rein zeitliche F*olge
der Urkunden und Akten zur Rechts-, Verfassungs- und Wirtschafls-
geschickte, die den zweiten Teil (S. 50—192 in 109 Nummern) bilden,
wäre vielleicht eine sachliche Gliederung innerhalb dieser Abteilung
in der Art gewesen, daß sämtliche die Ulner oder die Gewandmacher
betreffenden Stücke unmittelbar nebeneinander zum Abdruck gelangt
i) Qttellen zur JB^d^ und Wirt8chaft9geBMMe der rheini$ehen Städte,
Bergisehe Städte I: Siegburg, bearbeitet von FHedricfa Lau. Bonn, P. Hanstein 1907.
236 S. 8*.
— 46 —
wären ; da ein Sachregister und auch eine umfassende Inhaltsübersicht
fehlt, ist es bei der gewählten rein zeitlichen Anordnung recht leicht
möglich, daß der Benutzer eine unter einem bestimmten Gesichtspunkte
wichtige Urkunde übersieht.
Betrachtet man aber die Publikation als Ganzes, so wird unwider-
leglich klar, daß der Bearbeiter die Quellen zur Stadtver£assung und
Stadtverwaltung einschließlich der Wirtschaftsv erfassung mitteilen
wollte. Nur in ganz wenigen Nummern, zu denen die über den Handels-
vertrieb der Töpferwaren gehören, ist er über den engen Rahmen hinaus-
gegangen, und das muß ihm als Verdienst angerechnet werden, weil
er in der Tat dadurch die engen Fesseln der Gewohnheit durchbrochen
und den Weg für die Aufnahme von Privataktenstücken der Bürger
über ihre wirtschaftliche Tätigkeit freigemacht hat Nur hätte ich
gewünscht, daß er damit noch wesentlich weiter gegangen wäre,
und hoffe, daß in den künftigen entsprechenden Publikationen in dieser
Richtung wirklich weiter gegangen wird. Nachdem einmal die Be-
ziehungen zu Frankfurt a. M. und über Köln zu den Niederlanden
und Hamburg aufgedeckt waren, hätten sich über diesen Export bei
weiterer Nachforschung gewiß noch mehr Einzelheiten ermitteln lassen.
Wichtig genug wäre dies gewesen, denn Siegburg hat eben für die
große Welt wirtschaftlich nur durch seine Töpferei Bedeutung erlangt,
und deshalb verdient dieses Gewerbe eine ganz besondere Beachtung
nicht nur vom Standpunkte der Siegburger Stadtgeschichte aus, sondern
auch unter dem Gesichtswinkel des Handels: es ist ja doch einer
der gar nicht so zahlreichen Fälle, in denen gebrauchsfertige, in einer
deutschen Landstadt erzeugte Waren verhältnismäßig früh auf größere
Entfernungen durch den Handel verbreitet wurden.
Auch über das Angeführte hinaus hätte sich meines Erachtens
die Publikation noch erweitern lassen, und zwar kann ich dabei auf
bestimmte im Siegburger Stadtarchiv, das mit dem Pfarrarchiv ver-
einigt ist, vorhandene Archivalien ') hinweisen. Da finde ich es
auffällig, daß zur Erläuterung der Gerichtsverfassung nicht einige kon-
krete Beispiele angeführt werden, wie z. B. das Schreiben vom
lO. August 1464, in dem das abteiliche Hofgericht zu Niedergymnich
das Siegburger Schöffengericht als . seinen Oberhof (so as ir unae
haufl sijd) bezeichnet; ganz im allgemeinen ist dieses Verhältnis S. iS"*"
i) Vgl' Übersicht über den InhdU der kleineren Archive der Ehein^otfing
I. Bd. (Bonn 1899). S. 329. Der Stem (*) neben dem Ortsnamen bedeotet (s. S. XI),
dafl die Mitteilnngen nicht erschöpfend sein, sondern nar einen allgemeinen Überblick
geben sollen.
— 47 —
erwähnt, aber die Beleg'e für solche Beziehungen durch Aktenstücke
sind doch für den Forscher auch notwendig. Unbedingt in den Rahmen
der Veröffentlichung hineingehört hätten einige Erb- und Leibrentbriefe
nebst den Quittungen für erhaltene Renten. In der Einleitung sind
die einschlägigen Dinge zwar behandelt, aber der Benutzer hat ein
Anrecht darauf, einige solche typische Urkunden in guter zeitlicher
Verteilung in ihrem Wortlaut kennen zu lernen, schon um der darin
berührten Nebenumstände willen. Umgekehrt vermisse ich aber auch —
und das hat vermutlich Lau ganz fern gelegen — einige Urkunden,
aus denen wir Siegburger Bürger als Kapitaldarleiher kennen
lernen. Da der mittelalterliche Bürger sein Geld gern nach auswärts
verlieh, so wäre nach solchen Urkunden vor allem in auswärtigen
Archiven zu suchen gewesen ; schon in Köln hätten sich gewiß einige
nachweisen lassen. Als eine auch vom Standpunkte des Bearbeiters
aus ernstliche Unterlassung erscheint es mir, daß die Pfarrkirche,
ihre Rechtsstellung und ihre Einkünfte nur ganz nebenbei berührt
wird. Tatsächlich sind Kirchrechnungen vom Ende des XV. Jahr-
hunderts an, auch ein Verzeichnis der Kirchenrenten von 15 16 vor-
handen, Quellen, die ja nicht nur für die Kirche als solche wichtig
sind, sondern in denen sich auch die wirtschaftlichen Verhältnisse in
der Stadt widerspiegeln.
Diese auf die Einzelheiten eines bestimmten Falles eingehenden
Bemerkungen sollen zeigen, welche Anforderungen meines Erachtens
an eine Quellenveröffentlichung zu stellen sind, die neues Material zur
städtischen Wirtschaftsgeschichte erschließen soll. Gerade
jetzt ist man da und dort in dieser Hinsicht an der Arbeit, und des-
halb schien es mir richtig, Wünsche zu äußern, deren praktische Er-
füllbarkeit jeder einzelne Bearbeiter stadtgeschichtlicher Quellen zu
erproben in der Lage ist.
Mitteilungen
Tersamnilongen. — Programmgemäß ') hat in den Tagen vom
3. bis 7. September in Dresden die zehnte Versammlung deutscher
Historiker stattgefunden. Den Vorsitz führte Prof. Seeliger (Leipzig);
die Teilnehmerliste führte 226 Namen auf, aber es fehlten merkwürdigerweise
viele von den bisher regelmäßig Erschienenen. Von den aus dem Aus-
schusse des Verbandes deutscher Historiker satzungsgemäfi ausscheidenden
Mitgliedern wurden Lamp recht (Leipzig), Mein ecke (Freiburg i. B.) imd
1) Vgl. diese Zeitschrift 8. Bd., S. 279.
— 48 —
Eduard Meyer (BerUn) wieder-, neu dagegen Breßlau (Strasburg), Egel-
haaf (Stuttgart) und Ermisch (Dresden) gewählt. Zum Vorsitzenden des
Verbandes wurde, da die nächste Versammlung in Strasburg stattfinden
soll, Prof. Breßlau (Straßburg) bestimmt. Bezüglich der Zeit wurde ztmächst
September 1909 in Aussicht genommen, mn eme allzu große zeidiche An-
näherung an den im August 1908 in Berlin stattfindenden internationalen
Historikerkongreß zu vermeiden. Diese Rücksicht scheint indes nicht recht
angebracht, wie manche privatim vorgebrachte Äußerung beweist Der Wechs^
zwischen Ostern und September in der Tagungszeit der Historikerversanmilungen
hat sich gut bewährt und ist eine Forderung der Gerechtigkeit, mn den zahl-
reichen Lehrern an höheren Schulen die Teilnahme zu ermöglichen, deren
Ferien bekanntlich in den verschiedenen Bundes.staaten so voneinander ab-
weichen, daß sich ein ftir alle Staaten geeigneter Termin gar nicht finden
läßt. Im Interesse dieser zahlreichen Teilnehmer an den Versammlungen
ist ein regelmäßiger Wechsel in der Tagungszeit dringend geboten. Hoffen
wir, daß sich der Verbandsausschuß doch noch entschließt, die Einladungen
zum elften Historikertage für die Osterwoche 1909 ergehen zu lassen!
Bei der letzten Tagung war der Vorschlag gemacht worden, die Heraus*
gäbe der in Genglers Nachlaß vorgefundenen Deutschen StadtrechU aus
dem XVL bis XVIIL Jahrhundert seitens des Historikerverbandes finanziell
zu unterstützen *) , wenn von andrer Seite em Zuschuß zu den Druckkosten
gezahlt würde. Die in letzterer Hinsicht eingeleiteten Verhandlungen haben
leider ein Ergebnis nicht gehabt, so daß an eine Herausgabe des Manuskripts
zurzeit nicht zu denken ist. Dagegen wurde eine kleine Unterstützung zu-
gunsten der geplanten Bibliographie der Dissertationen beschlossen, um das
dankenswerte Unternehmen auch moralisch zu fördern.
Der Inhalt der Vorträge, die dargeboten wurden, fällt zum großen Teile
aus dem Rahmen dieser Zeitschrift heraus: das gilt von dem Vortrage von
Hintze (Berlin) über die Entwicklung der modernen Ministeriälverwaltung,
dem von Kromayer (Czemowitz) über Hannibal und Äntiochus den Oroßen,
eine strategisch 'politische Betrachtung. Lamprechts (Leipzig) Vortrag
Zur Ausgestaltung der universalgeschichtlichen Studien im Hochschtdunter-
rieht nahm vornehmlich auf Nordamerika Bezug und forderte die Beschäftigung
mit dieser eigenartigen und ebenso anderen Kulturen, aber da in dem be-
fürworteten Seminar für Kultur- und Universalgeschichte, wie es in Leipzig
in der Entstehung begriffen ist, die Studien zur deutschen Kulturgeschichte
im Vordergrunde stehen werden und die Beschäftigung mit fremden Kulturen
den Blick für das Verschiedenartige im Kulturleben überhaupt schärfen soll,
so ist von den bei dieser Gelegenheit gegebenen Anregungen gerade für den
systematischen Betrieb der deutschen Kulturgeschichte viel zu erwarten, wenn
sich auch greifbare Forderungen in dieser Hinsicht — abgesehen etwa von
der Notwendigkeit persönlicher Anschauung — zunächst kaum ableiten lassen^
Unmittelbar in den Kreis der ortsgeschichtlichen Forschung führte der
Vortrag des Dresdner Stadtarchivars Prof. Otto Richter über Dresdens
Bedeutung in der Geschichte, in dem der Redner die wechselnde Bedeutung
der Stadt im politischen und künstlerischen Leben und ihre kulturelle Fem-
i) Vgl. diese Zeitschrift 7. Bd., S. 220.
— 49 —
-Wirkung anschaulich schilderte. Von den beiden verfassungsgeschichtUchen
Gegenständen, die Caro (Zürich) und Keutgen Qena) behandelten, wird
4er erstere, Ghrundherrachafi und Staat, in etwas gekürzter Form den Lesern
dieser Zeitschrift bekanntgegeben werden, der zweite, Königtum^ FürstentuMf
Kirche y trug jedoch mehr historisch -politischen Charakter und kommt des-
wegen hier weniger in Betracht.
Von größter allgemeiner Bedeutung waren dagegen die Ausführungen
iron Hauck (Leipzig) über die Besfeptkm und die Umbildung der Allgemeinen
Sgnoden im Mittelalter, die zu einer Wandlung der Ansichten über die
großen Konzilien des XV. Jahrhunderts Anlaß geben werden. Die alten
ökumenischen Konzile waren vom Kaiser berufene und unter seinem Vor-
sitze tagende Versammlungen des römischen Episkopats zur Entscheidung in
Lehrfragen. Der Gedanke einer Vertretung der gesamten Christenheit fehlte. Die
Bischöfe fungierten als Bischöfe, nicht als Vertreter der Kirche. An dieser
Auffassung der ökimienischen Konzile hielten die abendländischen Theo-
logen noch lange Zeit fest. Die tatsächlichen Verhältnisse zerstörten aber die
Möglichkeit dieser allgemeinen Synoden; denn mit der Einheit des römischen
Reiches hörten auch die ökumenischen Konzile auf. Die Entwickelung der
neuen Nationen fUhrte zu Reichs- und Landessynoden; es fehlte ein Über-
gang zur Universalkirche, wenn auch für die Diözesansynoden der Bistümer
•die Bezeichnung synodus generalis üblich wurde. Die meisten Reichssynoden
wie päpstlichen Synoden hatten daher nicht den geringsten Anspruch, Uni-
verssdsynoden genannt zu werden. Die von Kalixt IL 1123 als generale am-^
cilium berufene Lateransynode vertrat nicht die Gesamtheit, wenn auch
Bischöfe verschiedener Provinzen erschienen waren. In der Folge begannen
•die vom Papst autorisierten Synoden die alten ökumenischen Konzile ab-
zulösen. Innozenz III. trug sich lange mit dem Gedanken, ein allgemeines
Konzil zu berufen; doch erst 12 13 vermochte er zur Reform der Kirche
und zur Befreiung des heiligen Landes ein Generalkonzil auszuschreiben. Zu
diesem wurden auch die weltlichen Henen geladen. Innozenz III. dachte
dabei sehr wahrscheinlich an die alten Konzüien. Die Kirche der Gegen-
wart sollte dem alten Idealbild ähnlich werden. Die Synoden Innozenz' III.
haben aber tatsächlich nur wenig mit den alten ökumenischen Konzilien gemein-
sam; jene versammelten die Leiter der Christenheit zu gemeinschaftlichen Be-
ratungen, diese nur den Episkopat. Diese Umbildung war nur möglich, da
sich der KirchenbegrifT seit dem XII. Jahrhundert geändert hatte. Im
früheren Mittelalter hatte man Kirche und Hierarchie einander gleichgesetzt.
Dennoch haben die Theologen nie vergessen, daß die Kirche die universalis
congregatio fidelium war. Dazu trat die Theorie von der Stellung des Papstes
in der Welt, als des Inhabers beider Gewalten, der weltlichen und der geist-
lichen. Aus diesen Zusammenhängen heraus erhielt die Kirche als Korpo-
ration der Gläubigen zwei Seiten, eine weltliche und geistliche, über denen
beiden der Papst stand. Die ganze Welt sollte so zur Stütze der Kirche
gemacht werden. Die Universalsynode wurde damit zu einer vom Papst be-
rufenen Versammlung der Führer beider Stände zur Beratung über das Wohl
der Kirche. Im Anschluß daran bildete sich in der Folge unter der Ein-
wirkung der aristotelischen Staatslehre, daß das allgemeine Wohl von der
Gesamtheit gefördert werde, der konziliare Gedanke aus: die Kirche
4
— 50 —
wird vertreten durch allgemeine Synoden, der Papst ist an*
deren Beschlüsse gebunden. Alle Gedanken dieser konziliaren Theorie^
sind beim Schisma von 1378 bereits vorhanden. Der Papst erkannte nun-
mehr die ihm drohende Gefahr imd verhinderte eine Weiterbildung,
so daß die Konzilien der neueren Zeit einen rein hierarchischen Charakter
erhielten.
Ebenfalls durchaus neue und für die weitere Forschung, gerade auf
landesgeschichtlichem Gebiete, wertvolle Gedanken entwickelte Alois Schulte
(Bonn) in dem Vortrage Die deutsche Kirche des Mittelalters und die Stände.
Er stützte sich dabei auf seine eigenen Untersuchungen und die seiner Schüler,
unter denen die gekrönte Preisschrift von Kisky über Die Domkapitel der
geistlichen Kurfürsten in ihrer persönlichen 2^u8ammenseteung im XIV.
und XV, Jahrhundert (Weimar 1906) am bekanntesten geworden ist, und
lieferte den unanfechtbaren Beweis, daß im Mittelalter die geistlichen korpo-
rationen in ihrer persönlichen Zusammensetzung ein ausgeprägtes Standes-
bewußtsein offenbaren, daß der Geburtsstand für die Aufnahmefähigkeit
entscheidend war tmd daß es sich dabei nicht um eine späte Entartung
oder Exklusivität handelt, sondern daß der erwähnte Grundsatz von Anfang
an Geltung besaß. Wichtig ist vor allem, daß es solche Klöster gab, die
nur die Söhne von Fürsten, Grafen und freien Herren aufnahmen, Ministerialen-
söhne dagegen ausschlössen, und dieser Klasse legt Schulte «den Namei»
„freiherrliche Klöster** bei. Es gehörten dazu durchgängig die alten Bene-
diktinerklöster, die sich durch diese Beschränkung in der Auswahl der Mönche
wie durch andere Dinge zwar zur Regel des Heil. Benedikt in Widerspruch
setzten, aber auch offen und ehrlich dem Stolze über die edle Abstanmiung
ihrer Mönche Ausdruck gaben und dadurch ihre deutsche Denkart bewiesen.
Des weiteren sind aber nur für solche freiherrliche Klöster bisher klöster-
liche Ministerialen erwiesen, so daß der Besitz oder Nichtbesitz von Mi-
nisterialen für die Standeszugehörigkeit der Mönche eines Klosters als Kri-
terium dient. Zeitlich aber ist zu beobachten, daß die Klosterreform in den
Tagen des Investiturstreits unter anderem auch die Ministerialität zu besei-
tigen strebte; denn die Ministerialen hatten großen Einfluß erlangt, den man
abzuschütteln bestrebt war. Nun aber konnten die Klöster ihrer Pflicht, an
der Reichsheerfahrt teilzunehmen, nur vermittels der Ministerialen genügen^
imd wenn sie solche nicht mehr haben wollten, mußten sie versuchen, jene
lästige Pflicht überhaupt los zu werden. Und in der Tat ist dies vielfach
gelimgen; die klösterliche Ministerialität ist verschwunden.
Auch im späteren Mittelalter wurde innerhalb der Kirche die Gleichheit
aller Menschen keineswegs praktisch beobachtet, sondern jedes Kloster
hatte, wenn auch in anderer Abgrenzung als früher und den neuen Standes-
bildungen Rechnung tragend, eine besondere Bevölkerungsschicht, aus der
sich die Insassen rekrutierten. Der Ortsgeschichte erwachsen durch diese
grundlegenden Forschungen ganz neue Aufgaben, insofern' für jede geistliche-
Körperschaft, für jedes von vielleicht zehn Klöstern, die es in und bei einer
beliebigen Stadt um 1500 gab, untersucht werden muß, welcher sozialen
Schicht die Insassen ihrer Geburt nach angehörten; das ist aber nur mög-
lich, wenn für möglichst viele einzelne Personen der Familienzusammenhang"
nachgewiesen wird. Wenn dies geschieht — und solche Untersuchungen liegen
— 61 —
bereits mehrere vor — , dann wird die genealogische Methode in den Dienst
der sozialgeschichtlichen Forschung gestellt, und mit ihrer Hi'.fe
sind die verschiedenartigsten Aufschlüsse zu erwarten.
In Verbindung mit der lo. Versammlung deutscher Historiker fand
vom 3. September an die achte Konferenz von Vertretern landes-
geschichtlicher Publikationsinstitute ^) statt. Offizielle Vertreter hatten
diesmal allerdings nur neun Institute entsandt; von den Besuchern der Hi-
storikerversammlung beteiligten sich im ganzen 55 an den Verhandlungen.
Den Vorsitz führten Bibliotheksdirektor Oberregierungsrat Er misch und als
sein Stellvertreter Regierungsrat Lippert. Drei Sitzungen wurden abgehalten.
An erster Stelle berichtete gemäß einem auf der Stuttgarter Tagung der
Konferenz gefaßten Beschlüsse Prof. Kötzschke (Leipzig) als stän-
diger Sekretär über die Organisation der Konferenz. Zunächst
charakterisierte er deren Entwicklung seit der ersten auf dem Leipziger Hi-
storikertage 1894 gegebenen Anregtmg zu ihrer Begründung und legte den
Stand der seitdem zur Verhandlung gekonunenen Beratungsgegenstände dar.
Insbesondere erwähnte er, daß auf die Umfrage bezüglich der Bedingungen
für Druck und Verlag der Veröffentlichungen eine Anzahl von
Antworten eingegangen sei; es könne darüber noch nicht auf Grund der
eingeleiteten Umfrage Bericht erstattet werden, doch solle auf einer künftigen
Tagung dies Thema neu zur Verhandlung gestellt werden; auch an die
Frage nach der Stellung der Mitarbeiter, sowie die Frage, was zur
gemeinsamen Förderung landesgeschichtlicher Arbeiten beim
Vatikanischen Archive geschehen könne, sei zu erinnern; endlich sei
überhaupt darum zu bitten, daß Wünsche betreffs der Themawahl aus den
Kreisen der Publikationsinstitute dem Sekretariat möglichst frühzeitig mit-
geteilt werden möchten.
Was den Kreis der beteiligten Institute betreffe, so sei in bezug
auf die Teilnahme an den Bestrebungen der Konferenz durch Beschickung
der Tagungen, Zahlung von Beiträgen und dgl. die Praxis eine ziemlich
lockere; es sei wohl am besten, dabei es bewenden zu lassen; doch sei es
immerhin wünschenswert, noch andere Institute heranzuziehen, unter anderen
auch das eine oder andere von den älteren großen Publikationsinstituten.
Es seien zwar auch künftig nicht Beiträge von bestinmiter Höhe zu fordern,
aber doch die Beitragszahlungen möglichst etwas regelmäßiger zu gestalten.
Um bessere Fühlung mit den Publikationsinstituten in den verschiedenen
Landesteilen zu gewinnen, erscheine dem Berichterstatter die Einsetzung eines
kleinen oder auch mehrgliederigen Ausschusses wünschenswert, damit das
Sekretariat einen Rückhalt an ihm gewinnen könne und die Ausschuß-
mitglieder für die Interessen der Konferenz wirkten.
Auch erscheine es wünschenswert, gedruckte oder sonst in geeigneter
Form dauerhaft vervielfältigte „ Mitteilungen ** der Konferenz an die beteiligten
Institute je nach Bedarf gelangen zu lassen, um die bei Gelegenheit der Be-
ratungen oder zu deren Vorbereitung oder auch in Ausführung der Beschlüsse
i) Über das Programm vgl. diese Zeitichrift 8. Bd.^ S. 279.
4»
— 52 —
zu bearbeitendea Gutachten, MateriaUea dafür und dgl. unter Umständen
den Interessenten besser zugänglich zu machen, und auch in der Zeit zwischen
den einzeUien Tagungen für die Konferenz tätig zu sein; ein regelmäßig
erscheinendes Organ der Konferenz zu schaffen könne und solle damit nicht
beabsichtigt sein; nur von Fall zu Fall sei an die Herausgabe solcher Mit-
teilungen zu denken.
Was die Finanzen der Konferenz betreffe, so seien bisher 13 Institute
mit unregelmäßigen Beiträgen (in der Höhe von 30 Mark) beteiligt; die ver-
fügbare Summe habe bisher ausgereicht; es müsse aber nunmehr, da die
Kosten der Dresdener Tagung höhere seien als sonst, ein neuer Beitrag er-
beten werden.
Eine allgemeine Aussprache über diese Gedanken schloß sich an, die
aber naturgemäß zu greifbaren Ergebnissen nicht führen konnte, da es sich
im wesentlichen um organisatorische, vom engeren Kreise der Instituts Vertreter
zu erörternde Fragen handelte.
An zweiter Stelle nahm, und damit trat die Versammlung in die mate-
riell^ Beratung ein, der Herausgeber dieser Zeitschrift Armin Tille das
Wort, um über die Veröffentlichung von Quellen zur städtischen
Wirtschaftsgeschichte zu sprechen. Seine Ausführungen sind ihrem
wesentlichen Inhalte nach oben Seite 33 — 47 mitgeteilt. Die darin enthaltenen
Forderungen waren kurz in den folgenden, schon vorher mit dem endgültigen
Programm ausgegebenen Leitsätzen veröffentlicht worden. Sie lauten:
„So erfreuliche Fortschritte auch die Erforschung der wirtschaftlichen
Zustände in den Städten gemacht hat, von einer Veröffentlichung der im
engeren Sinne wirtschafllichen Quellen ist dennoch nur in sehr be-
schränktem Maße die Rede. Mögen sich viele Quellen ihrer Natur nach
nicht zum vollständigem Abdruck eignen, so ist es doch wünschenswert,
daß solcher Stoff in einer Rohbearbeitung (Tabellen, Regesten) vorgelegt
wird, die dem einzelnen Forscher die Benutzung der Archivalien erspart
oder sie ihm wenigstens sehr erleichtert, vor allem aber die Aufmerksam-
keit darauf lenkt.
An solche Veröffendichungen, sei es, daß sie Quellenstoff unmittelbar,
sei es in irgendeiner Bearbeitung mitteilen, sind folgende Anforderungen
zu stellen:
i) Eine zeitliche Beschränkung ist noch weniger als i)ei den Quellen
zur Stadtverfassung am Platze ; die Forschungen sind deshalb grundsätzlich
auch auf die neuere Zeit pCVn. bis XIX. Jahrhundert) auszudehnen, und für
den Fortgang der Arbeit wird sich sogar vielfach ein rückläufiger Gang
der Untersuchung empfehlen, etwa so, daß von den Zuständen gegen
Ende des XVIII. Jahrhunderts ausgegangen wird.
2) Beschränkungen auf einzelne Zweige der Wirtschaft (Handwerk,
Handel) sind zu vermeiden, viehnehr ist immer das gesamte Wirtschafts*
leben zu betrachten und im besonderen, damit die Wechselwirkungen
unter jenen deutlicher werden, das Augenmerk zu lenken auf:
a. den städtischen Haushalt, in dem sich die wirtschaftliche Leistungs-
fähigkeit und die Eigenart der Bürgerschaft im ganzen wider-
spiegelt,
b. die landwirtschaftliche Betätigung der Stadtbewohner,
— 63 —
c. deren häusliche Verbrauchswirtschaft,
d. den städtischen Grundstücksmarkt
3) So unumgänglich nötig die Erforschung der Wirtschafbverfassung
und der Wirtschaftspolitik in jedem Falle ist, so wenig darf sich die Unter-
suchung auf beide beschränken. Es ist vielmehr der Versuch zu machen,
überall da, wo es die Quellen gestatten, die Einzelwirtschaft eines Bürgers,
sowohl die Erwerbs- als auch die Verbrauchswirtschaft, zu erforschen und
auch den technischen Dingen Teilnahme zu schenken.
4) Die für diese Zwecke wichtigsten Quellen sind die aus dem privat-
wirtschaftlichen Betriebe erwachsenen Schriftstücke, mögen sie (wie Kauf-
urkunden, Eintragungen in Gerichtsbücher, Steuerbekenntnisse und dgl.)
öffentlich beglaubigt sein oder (wie Vermögensverzeichnisse, Haushalttmgs-
und Geschäftsbücher, Geschäftsbriefe und dgl.) mehr persönlichen Cha-
rakter tragen.**
Eine Aussprache schloß sich wegen der vorgerückten Stunde an diese
Darlegungen nicht an.
Eine unmittelbare Fortsetzung der Stuttgarter Verhandlungen Ostern 1906
bildeten die kurzen Darlegungen des Stadtarchivars Overmann (Erfurt) über
die Grundsätze, die bei Veröffentlichungen von Quellen zur städtischen
Rechtsgeschichte anzuwenden sind. Es stehen sich da') zwei Systeme
gegenüber, das am Oberrhein und das in Westfalen angewandte : ersteres be-
schränkt sich auf die unmittelbar die Stadtverfiassimg berührenden Quellen, letzteres
greift weiter, zieht die gesamte Stadtverwaltung in Betracht, hält die Behand-
Itmg der Zünfte und des Gewerbewesens für unbedingt notwendig und be-
fürwortet zugleich die Verarbeitung des Stoffes in einer ausführlichen, dar-
stellenden Einleitung. Nur gegen die letztere Forderung erhoben eim'ge Teil-
nehmer aus methodischen und praktischen Gründen Einwendungen. Aber
die ebenfalls mit dem Programm den Teilnehmern bekanntgegebenen Grund-
sätze des Redners fanden in folgender Form Zustimmung:
„i) Es ist notwendig, daß in die Publikation außer den Stadtrechten
im engeren Sinne auch das gesamte Material zur Geschichte der Stadt-
verfassung und Stadtverwaltung aufgenommen wird. Bei kleineren Städten
imd überaU da, wo von einer besonderen Publikation der wirtschaftsge-
schichtlichen Quellen abgesehen wird, ist es erforderlich, daß den rechts-
geschichtlichen Veröffentlichungen auch die auf die Zünfte und das Ge-
werbewesen angegliedert werden.
2) Die Publikation darf sich nicht auf das Mittelalter beschränken,
sondern muß bis zum Untergang der alten Stadtverfassungen (Ende des
XVUl. oder Anfang des XIX. Jahrhunderts) ausgedehnt werden. Für die
neuere Zeit wird das Material großenteils in Regesten oder in einer anderen
Form gekürzter Bearbeitung mitgeteilt werden können.
3) Es ist dringend wünschenswert, daß der Publikation ein Stadtplan
nebst Karte der Gemarkung beigegeben werde.'*
Zu wiederholten Malen schon hat sich die Konferenz mit den Aufgaben
der historischen Geographie, die als wesentliche Grundlage aller landes-
geschichtlichen Arbeit zu gelten hat, beschäftigt; gerade die Königlich Säch-
i) Vgl. darüber den Aufsatz von OvermanD in dieser Zdtfchrift 7. Bd., S. 263—374.
— 54 —
sische Kommission für Geschichte hat auf diesem Felde mit großem Erfolg
gearbeitet, und das Ergebnis der bisherigen Arbeit wurde in einer Veröflfent-
lichung von 84 Druckseiten den Teilnehmern an der Historikerversanmiiung
vorgelegt, die Die historisch-geographischen Arbeiten im Königreich Sachsen
betitelt ist. Über dasjenige, was sie enthält, belehrte die Versammlung ein
eingehender Vortrag des Archivrats Dr. Beschorner (Dresden), der selbst
an den Arbeiten beteiligt ist, und der durch eine außerordentlich interessante,
bisher noch nie in ähnlicher Weise ausgeführte Ausstellung die Entwicklung
der Kartographie im Königreich Sachsen von der Mitte des XVI. Jahrhunderts
bis zur Gegenwart veranschaulichte. Mit beredten Worten wußte er die
Fortschritte im Kartenzeichnen von Humelius und Matthias Öder an bis zur
neuesten Generalstabskarte zu schildern und den Hörern zugleich die Grund-
lagen für eine sachgemäße Betrachtung des Ausstellungsmaterials, das technisch
nicht weniger interessant ist als inhaltlich, darzubieten. In einem zweiten
Teile setzte er dann auseinander, was die Königlich Sächsische Kommission
bisher getan hat, um den historisch-geographischen Studien ftir Sachsen eine
genügende Grimdlage zu geben: es wurden zuerst als Gnüidlage für alle
nur denkbaren Karten sogenannte Grundkarten im Maßstabe der General-
stabskarten angefertigt, gerade wie in vielen anderen deutschen Landesteileo,
dann aber — und darin steht Sachsen bisher ganz allein da — wurden
von sämtlichen rund 4500 Gemeinden des Königreichs die tun 1840 auf-
genommenen Flurkrokis, die die Gemeindefiuren vor der Zusammenlegung
und der Gemeinheitsteilung zeigen, photographisch vervielfältigt, so daß sich
heute jeder Forscher für etwa den Preis von i Mark die Abbildung der
Flurkarte einer beliebigen sächsischen Gemeinde verschaffen kann. Praktisch
ausgeführt wurden historisch-geographische Arbeiten bisher schon mannigfach,
aber vollendete Ergebnisse liegen natürlich noch nicht vor. Gearbeitet wird
an einer Sammlung der alten Flurnamen, an einem historischen Ortsverzeichnis
und an der Beschreibung der ehemaligen Bistümer Meißen und Merseburg,
aus der sich vor allem über die kirchlichen Verhältnisse im XV. Jahrhundert
wert\^olle Erkenntnisse gewinnen lassen.
Als letzter Punkt der Tagesordnung wurde schließlich die Frage nach
der Bearbeitung von Urkundenregesten und den daran zu stellenden Anfor-
derungen behandelt. Auch diesen Gegenstand hatte die Stuttgarter Tagung
schon vorbereitet. Eine damals eingesetzte fünfgliedrige Kommission hatte
sich über den Gegenstand gutachtlich geäußert — auch diese umfangreichen
Gutachten waren schon rechtzeitig vor der Tagung in die Hände der Be-
teiligten gelangt — und durch eine Umfrs^e bei 100 Archiven war der
etwa vorhandene Urkundenvorrat ermittelt worden. Wie Privatdozent Stein-
acker (Wien) mitteilte, gibt es etwa eine Million Originalurkunden in Deutsch-
land, Osterreich und der Schweiz bis 1500, aber davon fallen nur 5000 in
•die Zeit bis 1200 und 40000 in die Zeit 1200 bis 1300, so daß erst nach
1300 die Masse des Stoffes so ungeheuer anschwillt. Ein vollständiger Ab-
druck dieser Urkunden ist unmöglich und auch praktisch nicht notwendig,
wünschenswert dagegen ist eine Veröffentlichung des Inhalts in einer reichen
Auswahl. Dazu dient seit langer Zeit das sogenannte „Regest**, d. h. eine
Inhaltsangabe in neuhochdeutscher Sprache. Eine solche genügt aber heute
der Anforderung der Forschung nicht mehr, weil das Urteil des Bearbeiters
— 55 —
über den Inhalt jede solche Inhaltsangabe trübt, und deshalb wird eine
andere Form der Mitteilung gewünscht: der Auszug in der Sprache des
Originals (lateinisch oder altes Deutsch). Die in den fünf Gutachten nieder-
gelegten Gedanken wurden zu Leitsätzen zusammenge£iißt , die in der unten
mitgeteüten Form allseitige Zustimmung fanden.
Ganz neue Gesichtspunkte für die Erschließung des Urkundenschatzes zur
deutschen Geschichte eröfifnete dagegen der von Prof. Lamprecht (Leipzig)
gemachte Vorschlag, sämtliche Urkunden, bis etwa 1270, zu photographieren
und so allgemem zugänglich zu machen. Zur Beschafiung der Kosten soll
das Deutsche Reich und Österreich um Mittel angegangen werden. Um
diese Arbeit vorzubereiten imd bei der nächsten Tagung einen fertigen Pe-
titionsentwurf vorzulegen, wurde ein fünfgliedriger Ausschuß eingesetzt, be-
stehend aus den Herren Breßlau (Straßburg), Chroust (Würzburg), Hansen
{Köhi), Lippert (Dresden) und Steinacker (Wien). Die gebilligten Sätze über
<lie Veröffentlichung des ganzen mittelalterlichen Urkimdenstoffes lauten:
„i) Die Kommission spricht sich dafür aus, daß bei Herausgabe
des Urkundenstoffes deutlich zwischen dem früheren und dem späteren
Mittelalter unterschieden wird Zur Abgrenzung der beiden Zeiträume empfehlen
sich je nach den besonderen Verhältnissen der verschiedenen Gebiete die Jahre
1250 oder 1273, für den Osten sogar eventuell ein noch späteres Jahr.
2) Für den ersten Zeitraum spricht sich die Kommission dafür aus,
daß der gesamte. Urkundenvorrat unter Herstellung von photogra-
phischen Nachbildungen der Originale gedruckt und daß dabei,
wenn möglich, das ganze Material nach diplomatischen Gesichtspunkten
neubearbeitet wird.
Die Traditionsbücher sind einer besonderen Bearbeitung vorzubehalten.
3) Für den zweiten Zeitraum spricht die Kommission die Meinung aus^
a. daß die absolute Vollständigkeit bei der Masse des Stofifes in
der Regel nicht erreichbar ist;
b. daß der Privatrechts- und Wirtschafbgeschichte durch relative VoU-
ständigkeit in der Urkundenpublikation gedient werden kann und soll ;
c. daß im übrigen für das spätere Mittelalter die üblichen Bischofs-
und Fürstenregesten einen gewissen Ersatz für die voUständige
Veröffentlichung des urkundlichen Stoffes bieten. Dabei empfiehlt
es sich auch, in diesen Regestenwerken individuell oder typisch
besonders wichtige Urkunden in vollem Druck mitzuteilen.
Andrerseits hält die Kommission die Forderung nach erschöpfenden,
bis zum Beginn des Aktenmaterials reichenden territorialen Regestenwerken
ab eme ideale Forderung im Sinne des Gutachtens von Geheimrat Schulte
aufrecht. Was das Fürstenbergische Urkundenbuch für ein zersplittertes,
städtearmes Gebiet erreicht hat, soll auch anderwärts unter besonders
günstigen Umständen angestrebt werden, damit wenigstens Cur einige typische
Territorien voUständige Sammlungen des Urkundenstoffes vorliegen.
4) Als Ersatz für die vollständige Veröffentlichung ist eine Erleichterung
der vollständigen archivalischen Benutzung anzustreben, und zwar
a. durch eine interne, nicht zum Druck bestimmte knappe Regestie-
rung der Bestände seitens unserer großen Archive,
b» durch eine summarische Aufiiahme der kleineren nichtstaatlichen
— 66 —
Archive, die, wie das Beispiel einiger Landschaften zeigt, mit
Hilfe des Pflegersysteros unschwer durchzuführen ist.
Die Ergebnisse dieser Arbeiten, für welche den Archivrerwaltungeir
besondere Mittel zufließen müßten, sind durch Publikation von Archiv-
inventaren, Archivgeschichten und Archivberichten, sowie durch einen
Tauschverkehr zwischen den Archiven zugänglich zu machen.,
5) Zur technischen Seite der Urkundenherausgabe spricht die Kom-
mission folgende Anregungen aus:
a. daß mehr ads bisher der Urkundenauszug eventuell unter sehe-
matischer Wiedergabe einzelner Formeln im Sinne des Gut-
achtens von Prof. Rietschel statt des Abdrucks und des Regests-
verwendet werde, welches nicht nur an die historisch-diplomatische,,
sondern auch an die privat- und kirchenrechtliche Vorbildung des
Bearbeiters imgleich höhere Anforderungen stellt, als der Auszug p
b. dort, wo das Regest in Verwendung bleibt, empfiehlt sich die-
im Gutachten Steinacker beschriebene Form;
c. die besondere Ortskolumne kann bei spätmittelalterlichen Re-
gestenwerken wegfiadlen;
d. besondere Ausführlichkeit ist für die Namens- und Sachregister
der Regestensammlungen zu verlangen/*
Archive. — Die Neueinrichtung des Spitalarchivs zu Ravensburg,.
mit deren Besorgung der Unterzeichnete von der Kgl. Württembergischen
Kommission für Landesgeschichte und der Ortsarmenbehörde Ravensburg
beauftragt war, wurde im Frühjahr 1907 fertiggestellt Mit Rücksicht auT
die sog. „Spitalarchive** anderer Städte wurde auch hier diese Bezeichnung
gewählt, wenngleich der Titel Stiftungs- Archiv vielleicht der zutreffendere
gewesen wäre, da sich die Archivbestände auf sämtliche Ravensburger
milde Sdfhingen (Spital, Seelhaus, Siechenhaus St. Georg und Heiligkreuz,.
Bruderhaus, Zucht- und Arbeitshaus, drei und vier imierte Pflegen) beziehen^
Damit aber, dafi die Dokumente über das Spital die Mehrzahl bilden, der
Archivbestand überhaupt in dem trockenen feuersicheren, durch eiserne Türen
und Laden verschließbaren Gewölbe im Pfründnerhaus des Hospitals auf-
bewahrt und derselbe Eigentum des städtischen Spitals bzw. Armenfonds-
ist, dürfte erstere Bezeichnung hinlänglich gerechtfertigt sein.
Früher hatte das Spital und das Seelhaus (Stiftung des Frik Holbain
1408) je sein eigenes Gewölbe zur Aufbewahrung der Dokumente. Aus
einer Notiz über den Zweck und Bestimmung des letzteren erfahren wir::
„Das Seelhaus wurde früher auch benutzt zur Aufbewahrung der Stiftungs-
briefe und in den ältesten Zeiten, um durchreisende Pilger und zum heiligen
Grab nach Jerusalem wallfiedirende Fremde über Nacht zu beherbergen und
zu verpflegen*' (vgl. hiezu die Seelhausordnung vom Jahre 144 1). Ob von
Anfiemg an im Seelhaus Stiftungsbriefe aufbewahrt wurden, läfit sich nicht
nachweisen, und auch die detaillierte Seelhausordnung von 1441 gibt darüber
keinerlei Auskunft, sondern spricht nur von der Aufbewahrung der Urkunde
in der „gemeinen Lade**. £>ie erste Nachricht stammt erst aus den Jahrein
1638 und 1641, in welch letzterem vom Bürgermeister und Seelhauspfleger
— 57 —
Johann Kolleffel des geheimen Rats und Jakob Haimen, Gerichtsschreiber zu
Ravensburg, „Briefe auöem Seelhausgewölb genommen** wurden. Und unterm
IG. Dezember 1664 ^^^ ^^^ ^^^^ <^ Spitalgewölbe berichtet, daß die dort
stehende Lade in die Schreibstube getragen imd die darin zu der Pfarrei Theu-
ringen und Kaplanei Berkheim, über die das Spital das Patronat besad, gehörigen
Briefe und Dokumente gefunden wurden. Die Schlüssel zu dem „Hospital-
archiv und den Akten** war laut Magistratsbeschluß vom 4. März 1706 dem
Spitalverwalter „committiert**, jedoch daß er dem Spitalmeister auf jedes Be-
gehren „das ein oder andere acta tamquam documenta communia extra-
dieren solle** (Ratsprotokoll 1705/07 Fol. 81). „1708 ist Alles durch Feuers-
brunst aufgegangen, darunter auch der Heiligkreuzpflegschaft Zinsbuch** —
<wo ist leider nicht angegeben. Von dem Seelhaus- und Heiligkreuzarchiv
und dessen neueingerichteter Registratur ist noch je eine „Tabulatura** vom
Jahre 1728 vorhanden, „worinnen nicht allein alle und jede bey diser
Pflegschaft vorhandene Acta, Dokumente, Kaufbriefe, Verträge, Verglich,
Güter-Tausch, Augenschein, Untergänge, Mark-Beschreibungen, Fürstl. imd
Gräfl. Belehnungen, Lehenbriefe und Revers, Consensus ad alienandum, £r-
lasstmgen der Lehenschaft, Cessiones, Ergebungen in die Leib-Eigenschaft,
Manumissiones, Sententiae Judiciales, Zinsverschreibungen, Wein-Bodenzins,
Jahrtäg und andere Stüftungen, Urbarien, Zinßrödel, Zinsregister, Rechnungen,
auch alle andere Briefliche Urkunden jedes mit seinem Rubro, Dato und
Numero fleißig angezeigt, sondern auch secundum ordinem alphabethicum
dergestalt unter ihrer Haupt-Rubriken gebracht seyn, daß gleich bey deren
Aufschlagung primo intuitu ersehen werden kaim, wie viel und was fUr
Documenta von der verlangten Materie vorhanden, auch unter was Numero
zu finden und falls man mehreren Nachricht geben will zu dem jeden
Fasdculo beygelegtem Repertorio speciali remittiert wird. Auf rühmlicher
Veranstaltung und lobenswürdiger Vorsorg Hr. Johannes Zeiler, Hr. Johann
Jacob Zeller (des inneren Rats vmd Rentamtsverwalter) auf das neue und
nach heutigem Zustand beschriben, registrirt und in Ordnung gebracht von
Abraham Möhrlin**. Nach dem noch vorhandenen, allerdhigs undatierten
„alten Akten Repertorium des Hospitalitischen Archivs** mit seinem letzten
Eintrag vom Jahre 1754 zu schließen, waren damals die einzelnen Archive
noch getrennt und abgesondert. Aus den Gantakten des Johann Georg Igel von
Kippenhausen ist zu entnehmen, daß im Jahre 1773 das Spitalarchiv ge-
ordnet wurde, da bei der „dermalen neuen Hospitalarchiv Einrichtung** es
uimiöghch gewesen, die Hauptobligation vorzufinden. Wer diese Einrichtung
besorgte, ist uns nicht bekannt, es fehlt darüber neben allen Akten auch
ein Beschrieb und Repertorium. Die Besorgung der Archive der Stadt
Ravensburg ließ übrigens im XVIII. Jahrhundert sehr zu wünschen übrig,
was nur Ausfluß und Folge der damals überhaupt schlechten Ökonomie-
Verwaltung der Stadt war. Im Jahre 1753 konnte im Stadtarchiv nicht ein-
mal das Original des mit der Landvogtei Schwaben geschlossenen Vertrags
von 1537 aufgefunden werden, weshalb der Rat beschloß, ein Register von
den in dem Archiv aufbewahrten Urkunden anzulegen und dieselben von
dem „garstigen Wust** zu säubern. „Schon zur Zeit der Reichsstädtischen
Verfasstmg wurde der Abmangel zweckmäßiger Grund- und Lagerbücher bei
den hiesigen Stiftungen desideriert Dieses Erfordernis als die Grundlage
— 58 —
einer geregelten und soliden Vermögensverwaltung^ das damab, wie nachher
unter der Regierung Bayerns immer ein frommer Wunsch blieb, sollte für
tmsere Zeit aufgespart seyn", schreibt Registrator Gutermann im Vorwort zu
seinem angelegten Concept • Repertorium über das Archiv des Armenfonds
{jetzt Spitalarchiv). Dem allweg beizupflichten sind wir nicht in der Lage,
da gerade die noch vorhandenen Grund- und Lagerbücher von einer pein-
lichen Führung und Beschreibung zeugen; der Fehler lag nur an dem ab-
gehenden Sinn und Verständnis der Pfleger der einzelnen Stifhmgen für eme
sorgfältige Registrierung und Indizierung. Als 1814 die Hospitalpflege, das
hospitalitische Arbeitsinstitut, Heiligkreuz> und Seelhauspflege, die drei uniertcn
Pflegen, d. h. Große Spend-, Schmalz- und Bruderhauspflege unter dem Namen
allgemeiner städtischer Armenfonds vereinigt wurden und vom Jahre 18 15
an ab Georgi nur eine Kasse und eine Rechnung geführt wurde, hätte
man meinen sollen, daß auch sämtliche Dokumente der einzelnen Pflegen
vereinigt würden. Dem scheint aber nicht so gewesen zu sein und wenn,
so ließ man sie ungeordnet liegen und ihrem Schicksal anheimfallen.
Den Anlaß zu einer besseren Wertschätzung der Archive der Stadt
Ravensburg gab laut Ratsprotokoll ein Regierungsdekret vom 2. Juni 1822,
wonach die städtischen Registraturen, „indem sie auf die teutsche Geschichte
vielen historischen Wert haben dürften, ohne Verzug zu ordnen seien und
die älteren Urkunden sorgfältig aufbewahrt werden" sollten. Nach der
stifhmgsrätlichen Sitzung vom 11. Oktober 1822 wurde nun Cameral-Canditat
Registrator Friedrich Gutermann ^) die Anfertigung von Grund- und Lager-
büchem mit der weiteren Bedingimg übertragen, vorerst für den allgemeinen
städtischen Armenfonds aus den zerstreuten Papieren der früheren einzelnen
Pflegen dieser Stifhmg eine förmliche Registratur einzurichten. Die Akten
sowohl wie auch die Behältnisse ihrer Aufbewahrung waren nach Gutermanns
Aufzeichnungen „im kläglichsten Zustande". Ein Teil der Akten befand
sich noch in den Händen der Verwandten früherer Beamten. Einen anderen
Teil fand er auf dem Rathause aufgestellt, und derjenige Teil, der sich bei
der Stiftimgsadministration selbst vorfand, lag in zwei flnsteren Gemächern
des Hospitals zerstreut lunher, von Moder und Ungeziefer ergriffen. Sein
Hauptaugenmerk ging dahin, die Akten nach den verschiedenen Pflegen zu
sortieren und wie sie ehemals zur Zeit der Reichsstädtischen Verfassung
Ravensburgs und nachher während der bayerischen Regierungsperiode be-
standen haben. Von den 29 Pflegen^), die er aufzählt, hatte unter der
i) Er legte den Grund zu seinen geschichtlichen Studien in früher Jugend in den
klösterlichen Mauern der Karmeliter in seiner Vaterstadt Ravensburg, wo ihm, „obgleich
Protestant, eine freundliche Aufnahme zuteil geworden" war. Vgl. Gutermann, Die
(Ute Ratienapurgf Vorrede.
2) I. Paritätische Stiftungen : Hospital, Arbeitsinstitnt, Seelhaus-, Heiligkreuz-Almosen,
Große Spende-, Schmalz- und Bruderhauspfiege (letztere drei die sog. drei unierten Pflegen),
die vier unierten Pflegen St. Michael, St. Georg. St. Leonhard und St, Nikolaus.
II. Katholische Kirchenpflegen: Liebfrauenkirchenpflege kathol. Kasse, Major Rat
J. und IL Stiftung, Gresseriche, Gassersche Stiftung, Kirchenpflege St Jos. Fronleichnams-
bmderschaft daselbst, Kathol. Partimsknabenkasse, Kirchenpflege Maria Miiblbmck, Mottersche
Stipendiumpflege. Die vier Landkirchenpflegen Theuringen, Bavendorf, Wolpertswende,
Mochenwangen.
ni. Evangelische Pflegen : Kirchenkasse, Subsidienkasse, Partimsknabenkasse , Geist*
liehe Witwenfundationskasse.
— 69 —
Reichsstädti&cheQ Verfassung jede zwei eigene Verwalter, und er hat recht,
^enn er die Administration der kleineren Stifbingen mehr eiüe private Wirt-
schaft als eine öffentliche Verwaltung nennt. Unter den angeführten Um-
ständen erklärt es sich leicht, wie es kam, dafi sich Stifhmgsdokumente in
-den Händen von Privatpersonen befanden und daß sie in so ausgedehntem
Maße verschleudert werden konnten. Auch Gutermann selbst ließ es sich
„ernstlich angelegen sein, damit Niemanden ein Nachtheil erwachsen möge
unbrauchbare Acten zu zernichten'*, obgleich er „wohl zu Gemüte geführt
was Hecht in seinem Versuch einer Theorie der Begistraturlehre (Heidel-
berg 1808) sagt": „Daß bei Aufbewahrung unbedeutend scheinender Pappiere
eine übertriebene Gewissenhaftigkeit dem Rasch zufahrenden Leichtsimi immer
vorzuziehen sey". Am 25. November 1825 übergab Gutermann die „Re-
gistratur**, ohne aber seine Arbeit ab abgeschlossen zu bezeichnen, nachdem
er am Schlüsse seines Vorworts (S. 5) über seine Tätigkeit kurz Aufschluß
gibt, daß der größte Teil und namentlich die von ihm überschriebenen Fas-
zikel durch ihn aus einzelnen zusammengelesenen Blättern angelegt sei, die
wenigeren, schon überschriebenen Faszikel ließ er bestehen, ohne sie zu
öfihen. Eine „chronologische Verzeichnung der einzelnen Teile eines Fas-
zikels*' ließ er „im Anstand", weil noch ein bedeutender Teil der Stadt-
archivakten an das Spital übergeben werden müsse. Er verbindet damit
die Bitte an diejenigen, welche genauere Nachrichten über das Einzelne
seiner Arbeiten zu wissen wünschen, daß sie sebe monaüichen — allerdings
nicht mehr vorzufindenden — Arbeitsberichte hierüber nachlesen möchten.
Die „Registratur** des Armenfonds errichtet und die Akten der ein-
zelnen * Pflegen räumlich wenigstens vereinigt zu haben, muß als Werk Guter-
manns anerkannt werden. Seine Regestierungsarbeit war aber eine unge-
nügende, seine Ordnung keine systematisch durchgreifende, die Faszikel-
überschriften stimmten mit dem wirklichen Faszikelinhalt überhaupt nicht
überein, geschweige daß die Akten chronologisch oder auch nur nach ihrem
sachlichen Inhalt geordnet waren, die Anlage des Repertoriums war eine
mangelhafte, und so konnte zudem bei einer bekanntlich schlechten Instand-
haltung seitens der aufsichtführenden Verwaltungsbeamtung die „Registratur**
unschwer in ihr altes Chaos zurückfallen.
Auf dem Bühnenraum des Hospitals bei Holz und Torf lagerte lange
2^t nach Gutermanns Arbeit ein sehr beträchtlicher Teil der Archivalien, der
dann später in das Registraturzimmer der heutigen Armenfondsverwaltung ge-
bracht und von dem Unterzeichneten gesichtet dem Archiv wieder einverleibt
wurde. Bei der Un- masse der aus den Faszikeln gerissenen und lose herum-
liegenden Urkunden und Aktenstücke war ein anfangs von der kgl. Kommission
für Landesgeschichte geplanter und beabsichtigter Aufbau auf der Grundlage
des Gutermannschen Repertoriums ausgeschlossen und eine völlige Neuorgani-
sation unvermeidlich. Bei derselben wurden Urkunden und Akten soweit
archivalisch zulässig getrennt. Die Hauptemteilung ergab sich demgemäß
von selbst in Urkunden, Akten und Bücher. Als Form des Regests wurde
fast durchweg die ausführlichere gewählt, wo nicht, wurden sämtliche Namen
mit V. M. (= vorkommende Namen) am Schluß des Regestes aufgeführt Jede
Urkunde wurde, soweit möglich ausgebreitet, in einem nach zwei Seiten offenen
Umschlage untergebracht und beides, Urkunde und Umschlag, mit dem Re-
— 60 —
posituTvermerk versehen. Eid kleiner auf dem Umschlage aufgeklebter Zettel
gibt die der einzelnen Urkunde zugewiesene Hauptrubrik mit dem aufgelösten
Datum an. Etwa 25 — 30 Urkunden in Umschlägen in einem Pappkasten mit
Klappfalle, der am oberen Falldeckel die Repositurbezeichntmg trägt, bilden
ein Faszikel. Die Urkimden sind unter folgenden Hauptnibriken geordnet:
i) Stiftungen (direkte, Legate, indirekte, Leibgedinge, Jahrtäge, Pönen);
2) Grundeigentum und Besitzstand (Häuser, Mühlen [an der Zahl 8],
Äcker, Wiesen, Baum-, Kraut-, Rebgarten, Waldungen, See und Weiher);
3) Aktive Lehenshöfe (an 94 Orten je mit ziemlichen Urkunden);
4) Passivlehen (von Bischof von Konstanz, vom Haus Fürstemberg, Stift
Lindau, Truchsessen von W'aldburg, Kloster Reichenau);
5) Zehnten Aktiv (Bavendorf, Bibruck, Bonhausen, Ebenweiler, Hefigkofen,
Kestenbach, Mauren, Riedhausen, Seldenhom, Stadel, Waldhatisen,
Wilhelmskircb, Winterbach);
6) Zehnten Passiv (von Dompropstei Konstanz: Bavendorf, Bitzenhofen,
Stadel, Abtei Löwenthal: Lottenweiler, Stift St. Gallen: Eggenweiler,
Ellenweiler, Gometsweiler nebst anderen Zehntverhältnissen);
7) Zinsbriefe (Spital, St. Georg, Heiligkreuz, Seelhaus, von Privaten, Zins-
ablösungen) ;
8) Kapitalien (Spital, Heiligkreuz, Seelhaus. Passiva: Spital bei Hauptmann-
schaft Konstanz, Kommende Altshausen, Abtei Schussenried, Andreas von
Salis-Chur, Bierwiggen, Isni ; Seelhaus und Stadt Ravensburg, Ki^italien
von Privaten);
9) Grundbesitz von Privaten (Gebäude, Altdorfer Bad, Mühle zu Klitzistobel^
Äcker, Wiesen, Baum-, Kraut- und Rebgärten, Waldimgen, Wdher zu
Bavendorf und Galgenweiler);
10) Gerichtsbarkeit (Niedere zu Mochenwangen-Wolpertswende, Ho%ericht
Rottweil, Vorladungen, Vollmachten, Urteile, Achtbriefe, Appellationen,
Reklamationen, Prozeß des Spitals gegen Stift Buchau, Verträge und
Vergleiche, Leibeigenschaftsverhältnisse, Verlassenschaften, Bürgschaften»
Schätzungen, Verzichte);
11) Diverse Urkimden mit den ältesten Quittungen, Geburts- imd Leumunds-
atteste usw.;
12) Kirchliche Verhältnisse (Spital, Pfarrkirche St. Jodok, Liebfrauenkirche,
einzelne Benefizien, Pfarreien: Berg, Blitzenreute, Grünkraut, St. Chri-
stina. Patronate : Kaplanei und Pfarrei Berkheim, Pfarrei Danketswefler,
Kaplanei und Pfarrei Ebenweiler, Kaplanei Mochenwangen , Pfarrei
Riedhausen, Kaplanei und Pfarrei Theuringen, Pfiarrei Wolpertswende
und Zußdorf).
Den Urkunden konform wurden auch die Akten rubriziert, nur reihten
sich als weitere Hauptrubriken an : Verwaltung der Stiftungen (Beamtung, Be-
stellung, Besoldung, Entiasse, Prozesse, Normalerlasse darüber). Wirtschaft-
liche Verbältnisse (Haushalt des Spitals, Heiligkreuz, FruchtkastenverwaltUDg),.
Vermögensverhältnisse (Inventare, Beschriebe, Zins- und Zehnt-Naturalbezüge
und -gefMlle, Ausstände), Rechnungswesen (Rechnungen der einzelnen Stif-
ttmgen, Abrechnungen, Revisionsmonitorien , Abhörakten, Instruktionen uikI
Verordnungen), Bauwesen (Tabellen, Protokolle, Überschläge, Bausachen der
Lehensleute, Straßenbau, Wasser, Brückenbau, Schussenufer), Abgaben und
— 61 —
öffentliche Leistungen (Steuern, Leistungen für Wohltätigkeitszwecke, Militär-
Verpflegung, Kriegskontributionen), Armenwesen (Almosenordnung, -protokoUe,
Verzeichnisse, Au&iahmen ins Spital, Heiligkreuz, Bruderhaus, Armeni^>otheken,
Rechnungen, Waisenkinder, Verpflegungs und Leichenkosten, Pfründwesen,
kaiserl. Panisten und Königsegg-Aulendorfsche Pfründner). Sämtliche Akten
sind chronologisch in Quartrangeln geordnet, auf dem Faszikelumschlag die
Zahl der einzelnen Stücke und deren Inhalt mit Repositur verzeichnet. Da die
Reposituren bereits zum Legen der Faszikel eingerichtet waren, mußte von einem
Stellen der Akten Abstand genommen werden. Die Bücher sind verschieden-
sten Inhalts. Der gesamte Archivbestand ist in einem drei Bände imifassenden
Repertorium verzeichnet, der vierte Band ist das umfangreiche Personen-Orts-
Sachregister.
In dem Urkundenrepertorium ist in Kolonne „ Bemerkungen '* jede ein-
zelne Urkunde nach Stoff, Beschaffenheit, Sprache, Zahl und Zustand der
Siegel näher beschrieben. Das Personenregister, das soweit möglich auch
über die Ehe- und Verwandtschaftsverhältnisse Aufschluß gibt, soll dem oft
mühsam arbeitenden Genealogen eine wesentliche Erleichterung bieten und
wurde auch mit Rücksicht auf die neuerdings immer mehr um sich greifende
genealogische Forschung so angelegt.
Publiziert ist aus dem Spitalarchiv nur Der Pfeffertag in Ravensburg
(Freiburger Diözesanarchiv 1905). Dasselbe harrt nach den verschiendensten
Gesichtspunkten namentlich auch in wirtschaftsgeschichtlicher Richtung einer
sicher lohnenden Ausbeute.
Ravensburg. Gustav Merk, städtischer Archivar.
Eingegangene Bfleher.
Redlich, Otto R. : Jülich-Bergische Kirchenpolitik am Ausgange des Mittel-
alters imd in der Refonnationszeit. Erster Band : Urkunden und Akten
1400 — 1553 [= Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Ge-
schichtskunde XXVIII.] Bonn, P. Hansteins Verlag 1907. 121* -f" 4^2
S. 8». M. 20,00.
Schneider, Hermann: Kultur tmd Denken der alten Ägypter [=» Ent-
wicklungsgeschichte der Menschheit, Erster Band]. Leipzig, R. Voigt-
länders Verlag. 1907. XXXVI + 564 S. 8«. M. 12,50.
Witte, Hans: Romanische Bavölkerungsrückstände in deutschen Vogesen-
tälem [= Deutsche Erde, Jahrgang 1907, S. 8 —14, 49 — 54, 87 — 91].
Ziekursch, Johannes: Beiträge zur Charakteristik der preußischen Verwaltungs-
beamten in Schlesien bis zum Untergange des friderizianischen Staates
[=ai Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte, heraus-
gegeben vom Verein für Geschichte Schlesiens, Vierter Band]. Breslau,
E. Wohlfahrt 1907. 100 S. 8».
Benndorf, Paul: Der alte Leipziger Johannisfriedhof und die Rats- oder
Hospitalgruft, ein Beitrag zur Stadtgeschichte. Mit 70 Abbildungen in
Lichtdruck nach photographischen Aufnahmen des Verfassers und 2 Plänen
des Friedhofs. Leipzig, Georg Merseburger 1907. Quer-Lexikonoktav.
96 Sp. und 48 Tafeln.
— 62 —
Bericht des Vereins CamuDtum in Wien für die Jahre 1904 und 1905.
Mit 3 Tafehi und 107 Figuren im Text. Wien, im Selbstverlag de»
Vereins Camuntum 1906. 214 Sp. Grofiquart.
Blök, P. J.: Geschichte der Niederlande. Dritter Band: bis 1609 [=»
Geschichte der europäischen Staaten, herausgegeben von Heeren, ükert,
V. Giesebrecht und Lamprecht, 33. Werk]. Gotha, Friedrich Andreas
Perthes, Aktiengesellschaft 1907. X und 671 S. 8®. M. 18.00.
B ö h n e r , Fritz : Geschichtlicher Überblick über die Entwicklung der Latein-
schule zu Amorbach (1807 — 1907) mit einem Verzeichnis der Lehrer
und Schüler. Als Beilage zum Jahresbericht 1906/07 zur Jahrhundert-
feier der Anstalt verfaßt von F. B. Amorbach 1907. 46 S. 8«.
Doehler, Richard: Geschichte des Dorfes Leuba in der Königlich Säch-
sischen Oberlausitz, nach archivalischen Quellen bearbeitet Zittau,
Kommissionsverlag von Arthur Graun (Olivas Buchhandlung) 1907.
200 S. 8®.
Fe ebner, Hermann: Wirtschaftsgeschichte der preußischen Provinz Schlesien
in der Zeit ihrer provinziellen Selbständigkeit 1741 — 1806. Breslau,
Schlesische Verlagsanstalt von S. Schottländer 1907. X und 735 S. 8<*.
Forrer, R. : Die ägyptischen, kretischen, phönikischen usw. Gewichte und
Mafie der europäischen Kupfer-, Bronze- und Eisenzeit, Grundlagen zur
Schaffung einer prähistorischen Metrologie [= Jahrbuch der Gesellschaft
für lothringische Geschichte und Altertumskunde 18. Jahrgang (Metz
1906), s. 1—77];
Hei gel, K. Th. : Politische Hauptströmungen im 19. Jahrhundert. [=^ Aus
Natur und Geisteswelt, Sammlung wissenschaftlich -gemeinverständlicher
Darstellungen, 129. Bändchen.] I^ipzig, B. G. Teubner 1906. 112 S. 8®.
M. 1,25.
Holzhausen, Freiherr Fritz von: Die Weltgeschichte in mnemonischen
Reimen (Gedächtnis-Kunst), ftir seine Enkelkinder verfaßt. Berlin S,
L. Schwarz & Comp. 32 S. 16^.
Hoeniger, Robert: Die Kontinentalsperre in ihrer geschichtlichen Bedeu-
tung [= Meereskunde, Sammlung volkstümlicher Vorträge zum Ver-
ständnis der nationalen Bedeutung von Meer und Seewesen, i. Jahr-
gang 5. Heft]. Berlin, Ernst Siegfried Mittler und Sohn 1907. 48 S. 8*.
Jentsch, Hugo: Geschichte des Gymnasiums zu Guben, i. Teil bis zum
Jahre 1708. Guben, Albert Koenig 1907. 50 S. 4^.
K allen, Gerhard: Zur oberschwäbischen Pfründengeschichte vor der Re-
formation. Stuttgart, Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft
1907. 46 S. 8^
Kjellberg, Carl M.: Uppsala stads privilegier jämte dit hörande handlingar
1314 — 1787. Uppsala, K. W. Appelbergs Boktryckeri 1907. 232 S. 8®.
Kreuzberg, P. J.: Geschichtsbilder aus dem Rheinlande, ein Beitrag zur
Heimatskunde der Rheinprovinz. Zweite erweiterte Auflage. Bonn,
Peter Hanstein 1906. 207 S. 8^ M. 3,60.
Limes. Der Römische Limes in Österreich. Heft VIII. Mit 3 Tafeln
und 85 Figuren im Text. Wien, Alfred Holder 1907. 224 Sp. 4®.
Heniiug^er Dr. Armin Tille in Leipzig.
VerUf und Druck von Friedrieb Asdreas Perthes, Aktiengesellschaft, Goduu
11
i
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
cur
Förderung der landesgeschichtlichen Forschimg
IX. Band Dezember 1907 3. Heft
Volkskunde und volkskundliehe Vereine
Von
Karl Reuschel (Dresden)
Das Wort „Volkskunde" ist wie das zuerst von Friedrich Lud-
wig Jahn gebrauchte „Volkstum** eine Schöpfung des XDC. Jahrhun-
derts. In Anlehnung an das englische populär sang, populär poetry,
vielleicht auch an das französische chanson populaire, poSsie poptUaire,
bildete Herder den Ausdruck „Volkslied**: der Name „Volkskunde**
verdankt seine Entstehung dem Vorgange des Engländers William
Thoms, der im Jahre 1846 die Volksüberlieferungen als folklore be-
zeichnete, und dieses Wort wurde zeitweilig nicht nur als Fremdwort
gebraucht, sondern davon auch das Wort „Folklorist** abgeleitet. In
Deutschland hat sich der danach geformte Ausdruck „Volkskunde**
jedenfalls seit Wilheln^ Heinrich Riehls Vortrag Die Volkskunde als
Wissenschaft vom Jahre 1858 eingebürgert (jetzt in den KuUurstudien
aus drei Jahrhunderten neu gedruckt). Eine zuverlässige Geschichte
des Wortes „Volkskunde** und seiner Bedeutungsentwicklung fehlt
zurzeit noch, dürfte auch verfrüht sein, da die Ansichten über den
Umfang des Begriffes nicht völlig geklärt sind. Jedenfalls aber steht
fest, daß sich gegenüber der ursprünglichen Anwendung des Namens
„folklore** eine starke Erweiterung vollzogen hat. Das letzte Ziel der
Volkskunde muß sein, die wissenschaftliche Formel für den Begriff
Volksseele zu finden '). Genauer umschreiben läßt sich die Aufgabe
der Volkskunde als „Erforschung, Darstellung und Erklärung aller
Lebensformen und geistigen und seelischen Äußerungen, die aus dem
natürlichen Zusammenhange eines Volkes unbewußt hervorgehen und
durch ihn bedingt werden** '). Da sich die Eigenart eines Volkes am
I) Adolf Hmaffeo, Einführwug in die deHUch-bÖhmiscKe ro&skunde (Prag
1896), S. 94.
3) Engen Mogk in dem Artikel Volkskunde des 17. Bandes Ton Brockhmas' Koo-
5
— 64 — »
I
reinsten in den von der höheren Kultur wenig berührten unteren
Schichten offenbart« so wendet ach die volkakttsdliclie Arbeit vor-
wiegend dem vtdgtis in pqpulo zu, aber nicht ausschließlich; denn
auch die oberen Stände, soweit sie nicht des Zusammenhanges mit
dem Volkstum entbdiren, kommen als Träger volkstümlicher Über-
lieferungen in Betracht. Als gemeinsames Merkmal der in den Be-
reich der Volkskunde gehörenden Lebensäußerungen gilt, daß sie nicht
als Erzeugnisse des Einzelwillens gefühlt werden. Man kann eine
stammheitliche (nationale) und eine allgemeine Volkskunde
unterscheiden^), welch letztere in die Völkerpsychologie einmündet;
eine theoretische und praktische oder angewandte. In gei-
stigen und realen Schöpfungen zeigt sich die Volksseele; darum gibt
es eine literarische und eine reale Volkskunde.
Unbewußt volkskundlich gearbeitet worden ist längst, bevor eine
wissenschaftliche Pflege der Volkskunde erfolgte. Am frühesten wurde
unter dem Einflüsse von Bischof Percys Beliques of ancient Englisk
poetry (London 1765) das Augenmerk dem Volksliede zugewendet Das
nationale Gegenstück zu der internationalen Sammlung Herders bildete
Des Knaben Wunderham, herausgegeben von Achim von Arnim und
Klemens Brentano*). Neben Herder muß Justus Moser als einer
der Vorläufer volkskundlicher Wissenschaft genannt werden; seine
Patriotischen Phantasien greifen, obgleich sie sich an Verhältnisse der
engeren Heimat anschließen, weit aus. Die Bemühungen der Brüder
Grimm um Sagen und Märchen, besonders ^er Jakob Grimms um
die Rechtsaltertümer und die Mythologie der germanischen Stämme
dienen zusammen mit Ludwig Uhlands feinsinnigen Untersuchungen
über Sagen und Volkslieder und mit Friedrich Andreas Schmellers
Bayerischem Wörterbuch als Beweis, daß die volkskundliche Wissen-
schaft älter ist als ihr Name. Gegen die Überschätzung der Edda-
lieder als Quellen allgemein germanischen Volksglaubens wandte sich
im Jahre 1849 ^^^ Schulprogramm von Wilhelm Schwartz, Der
heutige Volksglaube und das alte Heidentum, und die vergleichende
Mythologie förderte die Volkskunde bedeutend. Eine treffliche volks-
kundliche Monographie, Sebastian Grün er s, eines Egerer Magistrats-
rats, Werk Über die aUesten Sitten und Bräuche der Egerländer, bereits
1825 niedergeschrieben und von Goethes regster Teilnahme begleitet,
versmtionslexikon in 14. Auflage; omch Adolf Strmck, He8siBche Blätter für Vofkm^
hunde I, 156.
i) Eduard Hoffmann-Krajer, Die VolksktMde ah Wissenschaft, Zttricb 1903.
2) Vgl. Heinr. Lobre, Von Fercy sum Wunderhom, Berlin 1903.
I
— 65 —
hätte längst vorbildlich wirken können, wenn es nicht erst dreiviertel-
hundert Jahre nach seiner Elntstehung dem Druck übergeben worden
wäre (durch Alois John im 4. Bande der Beiträge zur def4isch'böhtni'
sehen Volkskunde, Prag 1901).
Die bewußt volkskundliche Bewegung setzt in Deutschland nach
englischem und französischem Vorgang während der achtz^er Jahre
des XIX. Jahrhunderts ein, und zwar wird zunächst nur die literarische
Seite der Volkskunde ins Auge gefaßt. Lazarus und Steinthal
hatten die Völkerpsychologie und die ihr gewidmete Zeitschrift be-
gründet und . damit zu manchen aprioristischen Behauptungen den An-
laß gegeben. Mit dem Jahre 1881 war eine besonders von Lehrern
unterstützte Zeitschrift zur Pflege volkstümlicher Überlieferungen Am
Urdsbrunnen (später Am Urgudl, noch später Der ürqueU) erschienen
und hatte namentlich unter Friedrich S. Krauß' Leitung eine größere
Zahl tüchtig wissenschaftlich Arbeitender vereinigt Veckenstedts
Zeitschrift für Volkskunde (seit 1889) erfüllte die Enthärtungen nur in
bescheidenem Maße, und so erhielt die neu aufblühende Forschung
trotz der von Alfred Kirch hoff unternommenen Anleitung zur deut-
schen Landes- und Volkskunde (1889) erst in der Fortsetzung der 2!eit'
Schrift für Völkerpsychologie, der Zeitschrift des Vereins für Volkskunde,
seit 1891 einen rechten Mittelpunkt. Ein deutliches Programm sandte
Karl Weinhold, der Begründer des Berliner Vereins für Volks-
kunde (1881), der von ihm bis zu seinem Tode redigierten Zeitschrift
voraus, die durch ihn das führende wissenschaftliche Organ für Volks-
kimde in Deutschland geworden ist und dann in Professor Johannes
Bolte den sachverständigsten und in langer Arbeit bewährtesten
Herausgeber erhalten hat. Weinhold bezeichnete als Angaben der
Wissenschaft das Sammeln und das geschichtliche Begründen der
Überlieferungen, zog den Kreis des Forschungsgebiets vielleicht ab-
sichtlich recht weit und versäumte nicht, auf Grund seiner längst be-
währten reichen und vielseitigen Kenntnisse die Methode zu beleuchten.
Mit der Einrichtung dieser Zeitschrift wurde eine Forderung erfüllt,
die Gustav Meyer in dem Aufsatze Folklore in seinen Essays und
Studien zur Sprachgeschichte tmd Volkskunde, i. Band (1885) gelegent-
Uch eines schönen Aufklärungsartikels über Wesen, Bedeutung und
Geschichte der Volkskunde gestellt hatte. Das von ihm verlangte
wissenschaftliche Organ war nun geschaffen. In ähnlicher Weise wurde
sein Wunsch bezüglich der Gründung von Vereinen für Volkskunde
und der Herausgabe von Vereinsblättern mit gut gesichtetem Material
zur Tatsache. Bei keiner Wissenschaft vielleicht ist die Mittätigkeit
5*
— 66 — »
der Laien so notwendig wie bei der Volkskunde. Aber keine Wissen- [
Schaft muß sich auch so sehr vor dilettantischem Betriebe hüten wie
diese. Möglicherweise wäre dem Fache manche Anfeindung erspart
geblieben, wenn Gustav Meyers Rat, daß zwar die Sammelarbeit,
nicht aber die wissenschaftliche Verwertung des Zusammengetragenen
in die Hände von Liebhabern gelegt werden dürfe, immer befolgt
worden wäre. {
Erfahrungsgemäß sind die Bemühungen von Dilettanten bei wissen-
schaftlichen Aufgaben dann am schätzbarsten, wenn sie sich auf Pflege
des Heimatlichen beziehen. Genaue Kenntnis der örtlichkeiten und
Persönlichkeiten, eine Andacht zum Kleinen machen ihre Mitwirkung
wertvoll und zuweilen unbedingt notwendig. Was den einfachen Mann
fesselt, sind mehr die Geschicke und Verhältnisse seines engeren
Kreises als die der großen Lebensgemeinschaft des Stammes oder
der Nation. Der berufene Erforscher der Volksseele könnte ohne
solche Förderung sein Ziel entweder gar nicht oder doch nur an-
nähernd erreichen. Wo aber wird es besser möglich sein, brauchbare
Mitarbeiter heranzuziehen und ihnen die Technik des Sammeins vor-
zuführen als in den nach politischen oder Stammesgrenzen abgeteilten
volkskundlichen Landesvereinen? Es braucht kaum betont zu wer-
den, daß in ihnen eine scharfe Scheidung zwischen volkskundlichem
und landeskundlichem Stoff von vornherein zwar wünschenswert ist,
aber sich nur schwer durchfuhren läßt. Werden diese Dinge auch ein
wenig durcheinander geworfen, so schadet das nicht viel. Der Fach-
gelehrte weiß das für ihn Nützliche vom Nutzlosen zu sondern. Da-
mit schon diese volkskundlichen Landesvereine in echt wissenschaft-
lichem Geiste arbeiten , muß wenigstens im Vorstande für Vertreter
der strengen Wissenschaft gesorgt sein, und da sich der Geist einer
solchen Körperschaft am deutlichsten in ihren Veröffentlichungen aus-
spricht, so gebührt die Leitung der Vereinszeitschrift nur einem Manne,
der über das Dilettantische hinausragt. Die reale Volkskunde, nament-
lich soweit sie sich auf Gegenstände der Volkskunst bezieht, erregt
wie man erprobt hat, bei den Laien einen fast noch größeren Anteil,
und darum wird es Aufgabe jeder volkskundlichen Vereinigung sein,
eine Art Museum zu begründen, wo derartige Erzeugnisse Platz finden
und den breitesten Schichten als Anschauungsmaterial dienen können.
Auch bei einer derartigen Gründung hängt fast alles von der Tatkraft
und dem Geschick einer Einzelpersönlichkeit ab, die durch Fühlung-
mit dem Volke in den Stand gesetzt ist, die oft sorgfaltig verborgfen
gehaltenen Ergebnisse volkstümlicher Kunstauffassung hervorzulocken
— 67 —
und zur Geltung zu bringen. Dazu gehört aber nebe;n Fleiß und Un;-
ermüdlichkeit die genaueste Erforschung volkstümlicher Gefiihlswcise.
Sind diese Eigenschaften vorhanden, so werden gerade auf diesem
Gebiete Theorie und praktische Einwirkung auf die volkstümliche Kunst-
übung in schönster Art zu verbinden sein. Daß dann die volkskund-
lichen Museen eine hohe erzieherische Wirkung zu erfüllen vermögen,
wer wollte das leugnen^)? An dieser Stelle sei darum der Verein
der Sammlung für deutsche Volkskunde zu Berlin er-
wähnt, der ganz Deutschland zu bearbeiten unternommen hat und dem
es gelungen ist, ein Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeug-
nisse des Hausgewerbes zu schaffen. Er ist als Verein des Museums
für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes bereits
1891 begründet worden; die Vorarbeiten reichen bis ins Jahr 1888
zurück. Im Jahre 1903 hat die preußische Regierung seine „Samm-
lung für deutsche Volkskunde** übernommen. Seit 1905 ist im Ger-
manischen Museum zu Nürnberg die volkskundliche, mehr als 14000
Gegenstände umfassende Sammlung allgemein zugänglich. Gerade auf
dem Gebiete des Museumswesens dürfte möglichste Konzentration am
Platze sein. Über Trachtenkunde sind die trefflichen Erörterungen
von Karl Spieß in dieser Zeitschrift (Bd. 8, S. 145 — 173) zu ver-
gleichen. Zugleich sei ^uf die Mitteilung über das Elsässische Museum
in Straßburg (ebenda, S. 326—327) hingewiesen.
Sonst waren Arbeitsteilung und Begründung von landeskundlichen
Vereinigungen auch deshalb dringend am Platze, weil die Elmte rasch
eingebracht werden muß. Mehr und mehr häufen sich die Klagen dar-
über, wieviel an alten ÜberUeferungen verblaßt und in Vergessenheit
gerät. Wenn der einzelne mit allem Fleiß immer nur ein kleines ört-
liches oder sachliches Gebiet durchforschen kann und dazu jahrelanger
Mühe bedarf, so sind die Scharen freiwilliger Helfer, die ein wohl-
geleiteter Verein für Volkskunde ausbildet oder doch wenigstens an-
regt, die willkommensten Hilfstruppen, deren Freudigkeit im Sammeln
auf schnelle Förderung des Werkes hoffen läßt.
Damit wir endlich dem Ziele stammheitlicher Volkskunde nahe-
kommen, sind die Landesvereine zweifellos nötig.
Scheinbar stimmt zu dieser Ansicht ein Umstand durchaus nicht
Am frühesten in der jetzigen, durch Vereinstätigkeit charakterisierten
Periode der Volkskundegeschichte, bereits 1891, hat in Mecklen-
i) Oskmr Sejffert, DtuMuseum fiir sächsische Volkskunde als VoOcsernehrnngs-
Stätte in Unsere Heimat, heniiugeg. tod Prof. Dr. Heioricb Spindler, 3. Jahrgang,
1904.
— es —
bürg das planmäßige Sammeln volkstümlicher ÜbeiliefSeningeii be-
gonnen« Der Schweriner Altertomsverein hatte die Dringlichkeft des
Bedürfnisses eingesehen und in dem Gymnasiallehrer Richard Wos-
sidlo eine geeignete Kraft gefunden. Und bei aller Anerkennung
für diese Entschlossenheit einer zunächst anderen Zwecken dienenden
Körperschaft darf doch ausgesprochen werden, daß hier ein dnzelner
Mann so viel, ja mehr geleistet hat als anderswo eine stattliche Ver-
einigung. Daraus den Schluß zu ziehen, daß die seitdem in größerer
2^ahl entstandenen Vereine für Volkskunde in den verschiedensten
Gegenden deutschen Sprachgebiets überflüssig seien, wäre gnmdver-
kehrt. Denn einerseits sucht die Umsicht und Tatkraft Wossidlos
ihresgleichen und anderseits war der Rückhalt, den dieser begnadete
Sammler an dem Schweriner Verein ftir mecklenburgische Geschichte
und Altertumskunde besaß, gewiß nicht gering einzuschätzen. Wos-
sidlo hat übrigens unter weit günstigeren Verhältnissen tätig sein
können, als sie zumeist auf deutschem Boden anzutreffen' sind, denn
Mecklenburg als vorwiegend agrarischer Staat mit einer geringen
Bevölkerungsdichte ist der Bewahrung volkstümlicher Art besonders
günstig »).
Zwei Angehörige des Gymnasiallehrerstandes haben auch die erste
provinzielle Zeitschrift für Volkskunde ins Leben gerufen, nachdem in
einzelnen der Landesgeschichte dienenden Organen wie dem Karre^
spandengblatt des Vereins für siebenbürgische Landeskunde — die Sieben-
bürger Sachsen dienen der Volkskunde mit rührigstem Eifer und tief-
stem Verständnis; der Pfiarrer Adolf Seh uUerus gehört zu den besten
Vertretern des Faches — und der von Birlinger begründeten Ale-
mannia die junge Wissenschaft eifrige Pflege gefunden hatte. Manche
Beschreibung der malerischen und romantischen Gegenden Deutsch-
lands, vor allem das große unter W. H. Riehls Leitung seit 1860 ver-
öffentlichte Sammelwerk Bavaria und Die österreichiseh-ungarisehe
Monarchie in Wart und Bild (seit 1886) waren nebst vielen land-
schaftlichen Sagen- und Liedersammlungen und Arbeiten über das
Volksschauspiel dieser Gründung vorausgegangen. Das Verdienst der
Herren Knoop und A. Haas, die 1893 die Blätter für pammersche
Volkskunde herauszugeben und etwa ein Jahrzehnt hindurch aufrecht-
zuerhalten unternahmen, muß in der Geschichte der volkskundlichen
Bestrebungen allezeit gewürdigt werden. Gerade diese Schöpfung aber
I) Vgl. Rieh. Woff idlo. Ober die Technik des Sammehts volketümlieher Über^
liefenmgen in der Zeitschrift des Vereins für VoJksktmde, 1906.
— 69 —
liefert den Beweis, daß solche Bemühungen viel eher von dauerndem
Erfolge gekrönt sind, wenn hinter dem einzelnen eine ihn tatkräftig
unterstützende landschaftliche Vereinigung steht. Erst die dankens-
werten MiUeilungen des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde
ermöglichen es, das allmähliche Erstarken der volkskundlichen Interessen
in den verschiedensten Teilen des deutschen Sprachgebiets zu ver-
folgen. So dürfte gerade in den Deutschen Geschichtsblätiem, die der
landesgeschichtlichen Forschung gewidmet sind, eine Übersicht über
die zahlreichen jetzt bestehenden Vereine für Volkskunde und deren
Ziele am rechten Orte sein.
Der Badische Verein für Volkskunde ist zwar sehr jung
(1904 begründet), aber müßte eigentlich an erster Stelle genannt
werden, da er aus einer schon elf Jahre früher geschaffenen Ver-
einigung herausgewachsen ist und die Zeitschrift Alemannia sozusagen
das Organ dieser Körperschaft bildete, als anderwärts im Deutschen
Reiche noch kein derartiger landschaftlicher Mittelpunkt wie in Frei-
burg vorhanden war. Die Sammlungen der Freiburger Vereinigung
sind der einzigen bis jetzt erschienenen Gesamtdarstellung deutscher
Volkskunde, dem Werke Deutsche Volkskunde von Elard Hugo Meyer
(Straßburg 1898) ebenso zugute gekommen wie dem Badischen Volks-
leben im XIX. Jahrhundert von dem gleichen Verfasser (Straßburg
19CX)). Die Blätter des bardischen Vereins für Volkskunde werden von
dem Professor Dr. Pfaff geleitet. Sie erscheinen seit dem Jahre 1905.
Der bewährte Herausgeber hat die erste größere VeröfTentlichung des
Badischen Vereins, Volkskunde im Breisgau, als Zeichen der Huldigung
dem großherzoglichen Paare gewidmet (Freiburg i. B. 1906). Sie er-
weist, wie die volkskundliche Wissenschaft vaterländischen Zwecken
dient, ohne aufdringlichen Patriotismus auf ihre Fahne zu schreiben.
In Breslau, wo Karl Weinhold längst den Boden bereitet hatte,
entstand unter der Führung des Professors Vogt im Jahre 1894 eine
Schlesische Gesellschaft für Volkskunde, die sofort Mittei^
lungen an ihre Mitglieder ausgehen ließ. Unter dem Vorsitze -von
Vogts Nachfolger, Professor Siebs, war es möglich, diesem Vereins-
blatte eine erweiterte Form zu geben. Seit 1891 erscheinen auch Bei-
hefte, die größere selbständige Arbeiten bringen und bisher namentlich
der Behandlung von Ortsmundarten gedient haben. Die glänzendste
Leistung der Gesellschaft aber sind Schlesiens volkstümliche Überliefe-
rungen. Im ersten der drei bis jetzt herausgekommenen Bände be-
handelt Friedrich Vogt die schlesischen Weihnachtsspiele als würdiger
Nachfolger Weinholds, im zweiten und dritten schildert Paul Drechsler
— 70 —
Sitte, Brauch und Volksglauben seiner Heimat. Dem Mangel an einem
Museum wird einigermaßen durch künstlerischen volkstümlichen Buch-
schmuck dieser Bände abgeholfen.
Gleichfalls ins Jahr 1894 fallt die Gründung des Vereins für
bayerische Volkskunde und Mundartforschung mit dem Sitz
in Würzburg. Professor Oskar Brenner, seit Anfang der Vorsteher,
leitet auch die Mitteilungen und Umfragen zur bayerischen Volkskunde,
ein äußerlich bescheidenes Blatt, das doch durch sehr geschickte, in
Form kleiner Aufsätze gebrachte Anregungen sich um die Pflege volks-
kundlicher Bestrebungen große Verdienste erworben hat. (Der i. bis
10. Jahrgang sind zu einem Bande vereinigt bei Bruckmann in München
veröfientlicht worden.) Ein besonders glücklicher Gedanke des Heraus-
gebers dieser nur viermal jährlich erscheinenden Zeitschrift war es, sie
zwei großen Tageszeitungen regelmäßig beizulegen und dadurch weit
über den Kreis der Mitglieder hinaus zu wirken. Die Mitteilungen und
Umfragen locken zur Mitarbeit, indem sie die Einlaufe mit Namens-
nennung der Einsender verzeichnen. Im reich ausgestatteten Archiv
des Vereins befinden sich viele Materialien, die für eine künftige Dar-
stellung des Bauernhauses in Bayern nutzbar gemacht werden können.
Der realen Volkskunde widmet sich der Verein sonst weniger. Er hat
das auch nicht nötig, weil eine später begründete zweite bayerische
Gesellschaft für Volkskunde sich mit diesem Zweige der Wissenschaft
fast ausschließlich beschäftigt. Aus den „Sammlungen** ist ein erster
Band ; Kleeberger, Volkskundliches aus Fischbach in der Pfalg
(Kaiserslautern 1902), veröffentlicht worden. Einen Preis von 300 Mark
hat der Verein für die beste Bearbeitung des folgenden Themas aus-
gesetzt: „Die Besiedlung eines kleineren ländlichen Bezirks in Bayern
geschichtlich und volkskundlich dargestellt.*' Die Bewerbungsschriften
sollen bis zum i. Oktober 1908 eingeliefert werden.
Im Jahre 1 894 traten noch zwei österreichische Vereinigungen für
Volkskunde ins Leben, die in der Geschichte der jungen Disziplin
ehrende Erwähnung verlangen und in dreizehnjährigem Bestehen be-
deutende Zeugnisse wissenschaftlicher Betätigung abgelegt haben : der
Verein für ^aterreichische Volkskunde in Wien und der Aus-
schuß für deutsch -böhmische Volkskunde in Prag, letzterer
nur eine Sektion der Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissen-
schaft, Kunst und Literatur in Böhmen.
Die Tätigkeit des Vereins ftir österreichische Volkskunde, dessen
Seele Michael Habe rl an dt ist, zeigt sich einmal in der Zeitschrift^
die in jährlich sechs stattlichen Heften erscheint, zum anderen in dem
1
— 71 —
Museum, das einen vorzüglichen Überblick über das Volksleben des so
weiten und mannigfaltigen Gebietes liefert. Es umfaßt über 20000 Num-
mern , die leider räumlicher Verhältnisse wegen nicht ganz zur Gel-
tung kommen können. Welche Fülle von Stoff ist da aufgespeichert!
Man muß dringend wünschen, daß die Gegenstände bald zweckent-
sprechender untergebracht werden, damit diese einzigartige Sammlung
noch viel mehr Beachtung finde. Die ganze ungeheure Arbeit hat
der Leiter innerhalb eines Jahrzehnts neben der Herausgabe der Zeit-
schrift und seinem akademischen Amte geleistet. Ein sehr vernünf-
tiger Grundsatz wird von Haberlandt als Redakteur befolgt. „I^i^
Autoren sind für den Inhalt ihrer Mitteilungen allein verantwortlich",
heißt es in jedem Hefte. Der Inhalt ist trotzdem stets gediegen, weil
sorgfältig über dem wissenschaftlichen Charakter des Unternehmens
gewacht wird. Besonders darf anerkannt werden, daß die Zeitschrift
sich um gute Bibliographien bemüht und in ihrer ethnographischen
Chronik aus Österreich fortlaufend über alle in dieses Gebiet einschla-
genden Verhältnisse und Arbeiten berichtet. Die Ausstattung ist muster-
gültig; reiche bildliche Erläuterungen zu den einzelnen Aufisätzen sind
eine sehr erwünschte Beigabe. Zu den Jahrgängen 1900, 1904, 1905
und 1906 erschienen Supplementhefte: das erste enthält Kinderreime
und Kindersprüche bei den Heanzen und aus der Iglauer Sprachinsel,
das zweite Grabschriften aus Österreich und die beiden letzten Unter-
suchungen über Kultgebäcke von Hofrat Max Höfler (Tölz).
Dem Ausschuß für deutsch-böhmische Volkskunde,
dem die Herren Hofrat Gröhmann und Professoren Hauffen, Laube,
Lenz und Sauer angehören und der in Professor Hauffen seinen tat-
kräftigen Leiter hat, verdankt die volkskundlichc Wissenschaft eine
noch lange nicht völlig verarbeitete Summe vielfaltigsten und gediegen-
sten Stoffes und sechs Bände Beiträge zur detUsch-böhmischen Volks-
kunde, darunter eine von Hauffen geschriebene, mit Bibliographie ver-
sehene vorbildliche Einführung in die deutsch-böhmische Volkskunde
und wichtige Studien von Laube, Lippert und John, sowie die von
Am mann veröffentlichten Volksschauspiele aus dem Böhmerwalde, alles
Leistungen, die dem Böhmerlande, wenn man die vorzügliche Volks-
liedersammlung von Hruschka und Toischer (1888 ff.) sowie die
erfolgreichen, später zu würdigenden Sonderbestrebungen Alois Johns
und Eduard Langers hinzunimmt, eine hervorragende Stellung in der
neueren Volkskundebewegung sichern.
Die Bemühungen um die Volkskunde in der Schweiz sind alt.
Einen Mittelpunkt aber fanden sie erst im Jahre 1896, als zu Ölten
\
— 72 —
die Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde gegründet
wurde. Die Ähnlichkeiten dieses Vereins mit dem großen österreichi-
schen liegen zutage : auch hier Volkstum sehr verschiedener Art, aber
glücklicherweise zu einer Nationalität verschmolzen. Die Zeitschrift,
das Schweizerische Archiv für Volkskunde, wird seit 1897 herau^egeben
und zwar hauptsächlich von Professor Eduard H o f f m ann-K rayer, dem
seit einigen Jahren ein Redaktor für den romanischen Teil (früher
Jules Jeanjaquet, jetzt Maxime Reymond) zur Seite steht. Jähr-
lich erscheinen vier Hefte gediegensten Inhalts, bisweilen prächtig
illustriert. Die reale Volkskunde wird nicht minder berücksichtigt als
die literarische. Neben StofTmitteUungen werden große selbständige
Untersuchungen gebracht Aber der Verein begnügt sich nicht mit
der Veröffentlichung dieses Organs, das weit mehr als nur schweize-
rische Bedeutung zu beanspruchen hat, sondern läßt daneben noch
eine Sammlung Schriften erscheinen, die bisher fünf Bände enthält,
darunter eine Geschichte der Reliquien in der Schweiz in zwei Teilen
von E. A. Stückelberg und drei ausgezeichnete Arbeiten über das
Volkslied, das Kinderspiel und das Kinderlied, nämlich Alfred Tobler:
Das Volkslied im ÄppenzeUerlande (Zürich 1903); A. L. Gaßmann:
Bas Volkslied im Lugemer Wiggertal und Hinterland (Basel 1906)
und Gertrud Züricher: Kinderspiel tmd Kinderlied im Kanton Bern
(Zürich 1902). Die Verfasserin des zuletzt genannten Buches, eine
Schülerin von Professor Singer in Bern, der sich als Kommentator
der Schweizer Märchen ausgezeichnet betätigt hat (Heft 3 und 10 der
Untersuchungen zur netteren Sprach- und Literaturgeschichte, heraus-
gegeben von Professor Oskar F. Walze 1), beabsichtigt ein umfassen-
des Werk über den Gegenstand, das Roch holz' vor fünfzig Jahren
herausgekommenes Alemannisches Kinderlied und Kinderspiel ersetzen
dürfte. Die Arbeiten von Tobler und Gaßmann erwecken die Hoff-
nung, daß die geplante Sammlung schweizerischer Volkslieder, zu der
Ende vorigen Jahres ein Aufiruf erlassen wurde, eine großartige wissen-
schafUiche Tat bedeuten wird. Hat doch den Vorsitz des Ausschusses
Professor John Meier übernommen, der die Volksliedforschung seit
beinahe zwei Jahrzehnten gewaltig gefördert und vielfach in neue
Bahnen gelenkt hat. Für den Zweck ist ein Volksliederarchiv be-
gründet worden. Das Museum befindet sich noch in den Anfängen.
Das Jahr 1897 sah drei landschaftliche Vereinigungen für Volks-
kunde entstehen, die vor den älteren nicht zurückzutreten brauchen :
die Vereinigung für hessische Volkskunde, den Verein für
Egeriänder Volkskunde und den Verein für sächsische Volks-
— 73 —
künde. Der zuletzt erwähnte ist der größte überhaupt. Er zählt
etwa 2300 Mitglieder, die sich in einige fünfzig Ortsgruppen verteilen.
An der Spitze steht Generalmajor z. D. Freiherr von Friesen, dessen
Organisationsgeschick und warmer Anteil am Volkstum sich über die
Grenzen des Vereins hinaus bewährt hat. Der Herausgeber der MU-
teUungen ist Professor Eugen Mogk, zurzeit Vorsitzender des Ver-
bandes der deutschen Vereine für Volkskunde. Unter den
Arbeiten, die er der Sache widmete, seien namentlich seine Dar-
stellungen in Pauls Ghrundriß der germanischen Philologie erwähnt.
Auf seinen schönen Vortrag Die Volkskunde im Rahmen der KuUur-
etUwickhmg der Gegenwart (im 3. Bande der Hessischen Blätter für
Volkskunde, 1904) mag auch an diesem Orte hingewiesen sein, weil
er alle Beziehungen unserer Wissenschaft zum Kulturleben darlegt.
In die Verwaltung des Archivs und der Bibliothek haben sich die
Professoren Mogk und Stumme geteilt. Die schönste Emingen-
schafl des Vereins bildet das Museum mit sdnen rund 7000 Nummern.
Es ist dem rührigen Professor Oskar Seyffert unterstellt, dessen Um-
sicht und Eifer fiir die Sache neben einem tiefdringenden Blick fiir
das künstlerisch Echte, Lebensvolle sich im Laufe eines reichlichen
Jahrzehnts glänzend bewiesen und die unschätzbare Sammlung streng
im Rahmen einer volkskundlichen gehalten haben '). Dem Stellvertreter
des Vorsitzenden, Oberbaurat Schmidt, liegt die Bewahrung und
Wiedereinführung einer volkstümlichen Bauweise in sächsischen Dörfern
am Herzen, und er hat in seiner amtlichen Stellung reichliche Gelegen-
heit, praktische Volkskunde zu betreiben. Der ursprüngliche Arbeits-
plan des Vereins lief auf eine Landeskunde, nicht auf eine Volkskunde
Sachsens hinaus. Die dankenswerte Sächsische VoUcsktmde, unter Mit-
wirkung zahlreicher Fachgelehrter von Robert Wuttke im Jahre 1900
herausgegeben und 1901 in zweiter Auflage erschienen, entspricht
darum nicht mehr ganz den Ansichten des Vereins, von dem sie
übrigens völlig unabhängig entstanden ist. Ein neuer Arbeitsplan,
der sich den geänderten Verhältnissen anpaßt, wurde soeben veröffent-
licht. Die vierteljährlich in mäßigem Umfange erscheinenden Mit-
teilungen wollen sich mit den größeren wissenschaftlichen Organen
nicht vergleichen lassen, sondern etwa im Sinne der ^tteüungen und
Umfragen des bayerischen Vereins aufklärend und anregend wirken
und einen Meinungsaustausch herbeiführen. Wenn im Laufe der
i) Vgl. es Genannten Von der Wiege bis gum Orabe. Ein Beiu^ xar tichsi-
sehen VoUukande (Wien 1906), ein prächtiges niastrationswerk, das ahnen läfit, wie riel-
seitig das Maseam ist. Leider hindert Platzmangel die Benutzung sehr.
— 74 —
letzten Jahre in Sachsen stattliche Werke über volkskua41iche Gegen-
stände herausgekommen sind, die einzelne Punkte des Arbeitsprograipms
erledigen, so hat der Verein als Auftraggeber gewirkt und die Be-
nutzung seiner Sammlungen gestattet. Außer dem erwähnten Bilder*
werk von Professor Oskar Seyffert haben als Veröffentlichungen des
Vereins zu gelten : das Sagenbwii des Königreichs Sachsen von Alfred
M ei che (Leipzig 1903) und Die Dorfkirche im Königreich Scuhseih
von O. Grüner (Leipzig 1904). Eine Sammlung sächsischer Kinder-
lieder steht zu erwarten. Professor Mogk gibt noch, gleichfalls im
Auftrage des Vereins, seit 1905 Beiträge zur Volkskunde heraus, von
denen bisher vier Nummern erschienen sind: G. Schlauch, Sachsen
im Sprichwort (I.), P. Ilg, MaUesische Märchen und Schwanke (IL, III.)
und Arthur Kopp, Ältere Liedersammlungen (IV.).
Die Hessische Vereinigung für Volkskunde spiegelt im
kleinen den Entwicklungsgang wieder, den die auf Verbindung der
volkskundlichen Körperschaften abzielende Bewegung durchgemacht
hat. Sie wurde als Abteiltmg des Oberhessischen Geschichtsvereins
und zwar unter dem Namen: Vereinigung für hessische Volkskunde
begründet, löste sich im Jahre 1901 von dem Mutterverein los und
erhielt den jetzigen Namen, der andeutet, daß das Arbeitsfeld nicht
mehr so eng begrenzt ist wie zu Anfang. Die Mitteilungen, heraus-
gegeben von Adolf Strack, heißen seitdem Hessische Blätter für
Volkskunde, während sie von 1899 bis 1901 als BläUer für hessische
Volkskunde bei viel bescheidenerem Umfange auch engerem Zwecke
gedient hatten. Eine Anzahl hervorragend tätiger Philologen unter
Führung des Germanisten Adolf Strack brachte der Volkskunde nicht
bloß starken Anteil entgegen, sondern zeigte sich auch zur Förderung
der volkskundlichen Wissenschaft berufen, und in wenigen Jahren er-
oberte sich die neue Zeitschrift eine führende Stellung, so daß sich
der Kreis ihrer Mitarbeiter ständig vergrößerte. Schaffenskraft und
Schaffensfreudigkeit erfüllte die wackeren Männer. Adolf Strack er-
kannte, daß zu wissenschaftlichem Betrieb der neuen Disziplin eine
Bibliographie der Neuerscheinungen nötig sei, und rief eine volkskunji-
liche Zeitschriftenschau ins Leben, die vor anderen Unternehmungen
ähnlicher Art wie der Bibliographie in dem Jahresbericht der Gesell-
schaft für deutsche Phüologie zu Berlin und in den Jahresberichten
für neuere deutsche Literaturgeschichte, auch in dem VollmöUerschen
Jahresbericht der romanischen Philologie und im Euphorien, heraus-
gegeben von August Sauer, den Vorzug hatte, auf breitester Grund-
lage angelegt und völlig international zu sein. An die Zeitschriften--
— 76 —
schau hat sich seit 1903 eine Büchei'schau angegliedert. Strack, der
Vater des Verbandes der deutschen Vereine für Volkskunde, ist
leider früh verstorben. Nach seinem Tode im Jahre 1906 übernahmen
Karl Helm und Hugo He p ding sein Erbe. Ein zweiter schwerer
Schlag, den die Vereinigung erlitt, war die Berufung des Professors
Richard Wünsch nach Königsberg. Möchte die stolze Schöpfung
auch unter wesentlich erschwerten Verhältnissen weiter gedeihen ! Die
literarische Volkskunde — um diese handelt es sich hauptsächlich —
hat eine Zeitlang nirgends in akademischen Kreisen sorgfaltigere, aus
gleichem Geiste entsprossene Pflege gefunden als in Gießen *).
In das Jahr 1897 ^^l^^^ endlich die Gründung des Vereins für
Egerländer Volkskunde mit dem Sitz in Eger. Der Schriftsteller
Alois John, dem wir ein paar treffliche Monographien über volks-
kundliche Gegenstände verdanken, war die Seele dieser Gesellschaft.
Seit Beginn wird die Zeitschrift Unser Egerland veröflfentlicht, die sich
durch die Gediegenheit ihrer Beiträge einen Ruf verschafft hat. Die
umsichtige Leitung Johns weiß die Volkskunde zur Trägerin erfreu-
lichen Heimatsgefiihls zu machen. Als John sich genötigt sah, aus
dem von ihm geschaffenen Verein auszuscheiden, hatte dieser keine
Lebensfähigkeit mehr. Doch ließ sich der eifrige Pfleger heimischen
Volkstums nicht beirren: er führte seine Zeitschrift weiter und rief
1904 einen Verband für Egerländer (Nordgauische) Volks-
kunde ms Dasein, dessen Sammelgebiet erweitert wurde. Unser
Egerland erscheint als Verbandsorgan in jährlich sechs Heften. Zwei
Bände Egerländer Volkslieder sind 1898 und 1901 herausgekommen.
Hervorgehoben zu werden verdient eine Sonderausgabe zweier Hefle
von Unser Egerland als Karlsbader Volkskunde^ die mit ihrem präch-
tigen Bilderschmuck geeignet erscheint, die volkskundlichen Gedanken
in alle die Gegenden hinauszutragen, aus denen die Badegäste Karls-
bads zu den heilkräftigen Quellen hinströmen.
In bescheidenen Grenzen hält sich die Württembergische Sammel-
stelle für Volkskunde. Das statistische Landesamt in Stuttgart und
die Württembergische Vereinigung für Volkskunde bildeten sie auf
Grund einer Anregung, die Professor Bohnenberger in Tübingen
1899 gab. Die Mitteilungen erscheinen in den Württembergischen
Jahrbüchern für Statistik und Landeskunde, aber auch in Sonder-
abzügen. Ein erstes Heft (1904) behandelt nach den Ergebnissen der
i) Vgl. den schönen Nachruf an Strack von Karl Helm im 5. Bande der Hetti"
9chm Bläiter für Volkskunde.
— 76 —
Beantwortung von Fragebogen Glaube und Sage in sehr auficbaulicher
Darstellung; es ist von Professor Bohnenberger bearbeitet
Professor Moritz Heyne in Göttingen hat immer als ein vorzüg-
licher Kenner der Realien gegolten ^). Bereits 1898 war auf seine
Anregung hin eine akademische Vereinigung zu dem Zwecke ge-
schaffen worden 9 volkskundliche Sammlungen vorzunehmen. Aus ihr
hat sich dann 1902 eine Gesellschaft für niederdeutsche Volks-
kunde entwickelt Das Programm vermeidet manche Fehler, wie sie
anderwärts, z. B. in Sachsen, gemacht worden sind. „Die Gesellschaft
besitzt kein Museum und keine Bibliothek; das Archiv ist besonders
reich an um&nglichen Sammlungen für das festliche Jahr *).*'
Der Verein für Volkskunst und Volkskunde wurde am
15. Juni 1902 begründet und heißt seit dem 6. Februar 1904 Baye-
rischer Verein für Volkskunst und Volkskunde mit dem Sitz
in München. Seit Anfang 1903 gibt er eine wundervoll illustrierte
Monatsschrift VoOcshun^ und Volkskunde heraus, deren Leitung einem
Redaktionsausschuß mit dem Architekten Franz Zell an der Spitze ob-
liegt, einem Manne, dem die künstlerische Volkskunde viel dankt Die
Ziele des Vereins sind vorwiegend praktisch ; er strebt Einfluß zu ge-
winnen auf eine im Volkstum wurzelnde künstlerische Gestaltung von
Dorf- und Stadtanlage, Haus und Gerät und ergänzt so die unter
Brenners Führung arbeitende, mehr theoretische Gesellschaft aufs
glücklichste.
Noch fehlte eine Körperschaft, die sich die Pflege der Volks-
kunde in Westfalen und im niederrheinischen Gebiete zur Angabe
machte. Die Göttinger Gesellschaft hat Westfalen, die Gegenden, wo
Immermanns Oberhof spielt und wo Annette von Droste-Hüls-
hoff bald darauf ihre feinsinnigen Skizzen Bei uns gu Lande auf dem
Lande niederschrieb, nicht in den Kreis ihrer Betrachtungen gezogen.
So fanden sich, einer Aufforderung des bekannten Sagenforschers
Bibliothekars O. Schell entsprechend, am 26. Juli 1903 vaterländisch
gesinnte Männer zusammen, um in Elberfeld bei einem gewiß nicht
überflüssigen Verein für rheinische und westfälische Volks-
kunde Pate zu stehen. Als nächste größere Au^abe denkt der
Verein ein westfälisches Wörterbuch vorzubereiten. Die Zeitschrift
des Vereins für rheinische und westfälische Volkskunde erscheint in
i) Ygl. den Nachrnf, den ihm Borchling in dieser Zeitschrift (7. Bd., S. 197 bis
199) gewidmet hat
2) Mitteilungen des Verbandes deutscher Vereine für VoOtikunde Nr. i (Janvmr
1905).
— 77 —
vierteljährlichen Heften; sie wird von K. Prüm er (Dortmund), Pro-
fessor P. Sartori (Dortmund) und den zwei Elberfelder Herren
O. Schell und K. Wehrhan herausgeg^eben und verfolgt neben
Mitteilung von Stoff wissenschaftliche Zwecke. Schon das erste Heft
(1904) zeigte sich auf der Höhe; es enthielt u. a. eine lichtvolle Unter-
suchung über Roland in Schimpf und Ernst von Professor Franz
Jostes, dem Verfasser des Westfälischen Tracktenbuches (1904).]
Nachdem wir so eine Übersicht über die deutschen Gesellschaften
gegeben haben, die der Volkskunde ausschließlich dienen wollen, muß
daran erinnert werden, daß es noch manchen Verein gibt, der einen
Teil seiner Tätigkeit den volkstümlichen Überlieferungen widmet oder
dessen Bestrebungen denen der volkskundlichen Vereine wenigstens
nahestehen. So beabsichtigt der Verein für Vierländer Kunst
und Heimatkunde in Altengamme die Volkskunde zu pflegen, wie
er bereits einen Zweig, die Volkskunst, in seine Obhut genommen
hat; so berührt sich die bekannte Berliner Gesellschaft für
Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte eng mit dem
Arbeitsgebiet der Volkskunde, ebenfalls die Wiener Anthropo-
logische Gesellschaft, die schon in den achtziger Jahren des
verflossenen Jahrhunderts die Volkskunde eifrigst betrieben hat, weiter
der Bund Heimatschutz, dessen Bremer Zweigverein, der Verein
für niedersächsisches Volkstum, schon durch den Namen die
Verknüpfung zu erkennen gibt, daneben eine größere Anzahl Ge-
schichtsvereine und touristische Vereinigungen wie der Alpenverein *),
der Verein für niederdeutsche Sprachforschung mit seinem
Jahrbuch, der allgemeine deutsche Sprachverein durch Herausgabe
der Zeitschrift für deutsche Mundarten , geographische Zeitschriften,
namentlich der Globus, auch das Archiv für Religionswissenschaft und
Baumgartens Monatsschrift für die kirchliche Praxis, in der Paul
Drews zum ersten Male seinen schönen Plan einer religiösen Volks-
kunde entwarf (i. Band).
Der „Verein für hessische Geschichte und Landeskunde** (im
ehemaligen Kurhessen) hat neuerlich einen besonderen Ausschuß ein-
gesetzt, der volkskundliche Überlieferungen sammeln und bearbeiten
soll. Da dieser Arbeitskommission auch der Marburger Professor
Vogt angehört, der sich in seiner früheren Tätigkeit zu Breslau um
die Volkskunde verdient gemacht hat, so darf man erwarten, daß die
i) Vgl. Anton E. Schönbacb, Über den wifsentehaftlidien Betridp derVoües-
huindt in den Alpen, in der ZeiMirift de» (fet»<«dbeii und ötierreidiisd^en Alpen-^
Vereins, 1900.
— 78 —
Hessische Volkskunde von Heß 1 er, ein in vieler Hinsicht wenig ge-
nügendes Werk, in absehbarer Zeit durch eine wirklich auf der Höhe
der Wissenschaft stehende Darstellung abgelöst werden wird. Mit
Freuden ist die Mitteilung zu begrüßen (Korrespondenzblatt der deut-
schen Geschicbts- und Altertumsvereine, 1906, Sp. 187), daß der „Verein
für nassauische Altertumskunde** ein nassauisches Trachtenbuch vor-
bereitet. Was der deutsche Volksgesangverein in Wien und sein
Leiter Josef Po mm er, der Herausgeber der Zeitschrift Das deutsche
Volkslied, für den deutschen Sang geleistet hat, läßt sich bei dieser
Übersicht nur andeuten.
Wenigstens genannt werden müssen noch Zeitschriften populären
Charakters und Zeitungen, die sich mit heimatkundlichen und volks-
kundlichcn Dingen gern oder ausschließlich beschäftigen. So erfüllt
Professor Knoop mit der Herausgabe des Bogasener Sonntagsblattes
eine schöne vaterländische Pflicht. Sohnreys Land, Niedersachsen,
Unser Vogtland (später Vogtländische Monatsblätter), Heinrich Spind-
lers Unsere Heimat, Unser Anhalt, Hannoverland, Die Oberpfale sind
der Erwähnung wert. Ein ganz vortreffliches Unternehmen ist die
Zeitschrift für Heimatforschung und Heimatkunde Deutsche Gaue, von
Kurat Frank in Kaufbeuren geleitet.
Einzelne Forscher haben immer mit eigener Kraft Tüchtiges zu
leisten vermocht. Vor allen ist Richard Andree zu nennen, dessen
zuerst im Jahre 1896 veröffentHchte und fünf Jahre darauf wesentlich
vermehrte und verbesserte Braunschweiger Volkskunde eine unendliche
Fülle von gut verarbeitetem Stoff bietet. Mit Neid dürfen die Freunde
des Volkstums in anderen deutschen Gegenden auf das Allgäu blicken,
dessen Sagen, Gebräuche und Sprichwörter von Karl Reiser muster-
haft herausgegeben worden sind (2 Bände, Kempten o. J.). Sehr an-
erkennenswert ist Professor Raimund Friedrich Kaindls Leitfaden
Die Volkskunde, Ihre Bedeutung, ihre Ziele und ihre Methode (Leipzig
und Wien 1903), nicht ohne Nutzen das Buch von Karl Knortz, TFos
ist die Volkskunde und wie studiert man dieselbe? (3. Aufl., Jena 1906).
Die kritischen Übersichten über Methodik von Lucian Scherman
und Friedrich S. Krauß (in Vollmöllers Jahresbericht und Romanischen
Forschungen) behandeln die Zeit von 1890 — 1902 nach großen Ge-
sichtspunkten, jedoch weniger die eigentlich deutsche Forschung.
Auch die Darstellung und Ergründung der deutschen Mundarten
ist wesentlich die Arbeit einzelner gewesen. Zu nennen ist unter
den staatlich unterstützten Unternehmungen hauptsächlich Wenkers
Sprachatlas des deutschen Beiches. Die Sammlung von Dialektgramma-
— 79 —
tiken, die Professor Bremer leitet, gibt in bisher nicht übertrofiener
Art den Charakter der Laute wieder. Die Dialektwörterbücher wurden
in neuerer Zeit durch ein elsässisches und ein schwäbisches vermehrt.
Nur durch die Übernahme in den Verlag- des Deutschen Sprachvereins
ist die Zeitschrift für hochdeutsche (jetzt deutsche) Mundarten sicher-
gestellt worden. Sogar eine landschaftliche Zeitschrift, die selbständig
von einem einzigen Manne verfaßt wird, ist entstanden und hat sich
durchgesetzt: Eduard Langers Volkskunde (uis dem östlichen Böhmen
(190 iß*.], gewiß ein Zeichen des starken Anteils an volkskundlichen
Fragen.
Aber das Bedürfnis nach einem Zusammenschluß aller im deut-
schen Sprachgebiete wirkenden Körperschaften und Volkskundler
machte sich je länger je mehr geltend. Man vermißte einheitliche
Grundsätze beim Sammeln und Verwerten der Überlieferungen, man
erkannte, daß das getrennte Arbeiten zu unheilvoller Zersplitterung
führte und viele Kräfte nutzlos vei^eudet wurden, man merkte, daß
gewisse große Aufgaben nur zu bewältigen seien, wenn eine Einigung
erfolge. Der Wunsch sollte zur Tat werden durch die Bemühungen
des Generalmajors z. D. Freiherrn von Friesen, der die taktische
Regel: „Getrennt marschieren, vereint schlagen" auch auf die volks-
kundliche Tätigkeit übertragen wollte. Auf der Generalversammlung
des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine
im September 1900 zu Dresden hielt er einen Vortrag über die Be-
ziehungen der Vereine für Volkskunde zu diesen Vereinen, und seiner
Anregung zufolge wurde am 25. September 1901 auf der Jahres-
versammlung des Gesamtver^ins zu Freiburg i. B. die Gründung einer
fünften, volkskundlichen Abteilung beschlossen. Im November
erging sodann an alle deutschsprachlichen Gesellschaften für Volks-
kunde und an die Vertreter des Faches die Aufforderung, sich der
neuerrichteten Abteilung anzugliedern und die jährlichen Haupt-
versammlungen zu besuchen. Unter von Friesens Vorsitz trat bei
der Jahrs darauf in Düsseldorf stattfindenden Generalversammlung die
volkskundliche AbteUung zu wissenschaftUcher Beratung zusammen.
Thesen, die der sächsische Verein durch Professor Mogk hatte auf-
stellen lassen, wurden durch Professor Brenner aus Würzburg er-
läutert, und Pfarrer Grob als Abgesandter des Luxemburger Vereins
Ons Hemecht sprach über einige volkskundliche Verhältnisse seines
Landes, besonders über die Flurnamen. Die Entwicklung der fünften
AbteUung hatte durch den Anteil des Verbandsleiters Geheimen Ar-
chivrats Baillcu trotz mancher Hemmungen einen erfreuUchen Ver-
6
— 80 —
lauf genommen. Wie sehr die Historiker der Volkskunde zugeneigt
waren, erwies eine Tatsache : zu Erfurt konnte bei der nächsten Ver-
sammlung (1903) Mogk seinen Vortrag über die Volkskunde im
Rahmen der Kulturentwicklung der Gegenwart in einer allgemeinen
Sitzung halten. In einer anderen Sitzung der vereinigten Sektionen
sprach Archivsekretär Beschorn er (Dresden) über das Sammeln von
Flurnamen, einen Gegenstand, der die Geschichtsforscher in gleicher
Weise angeht wie die Volkskundler. Die fünfte Abteilung hatte bei
der Erfurter Tagung wichtige Fragen zu behandeln. Professor Mogk
gab zu erwägen, ob ein engerer Zusammenschluß der Vereine für
Volkskunde wünschenswert sei und in welcher Weise er im Bejahungs-
falle erfolgen solle, ob als selbständiges Glied des großen Gesamt-
vereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine oder als für sich
stehender Verband. Zur weiteren Beratung der Angelegenheit wurde
ein Ausschuß eingesetzt (Brenner, Mogk, Wossidlo). Privatdozent
Robert Petsch in Würzburg verbreitete sich dann, Ansichten von
Krejöi [Zeitschrift für Volkerpsychologie 1889) weiterführend, über
Volksdichtung und volkstümliche Denkweise *). Endlich sprach Ober-
baurat Schmidt aus Dresden über heimatliche Kunst und Bauweise
in Sachsen und Thüringen.
Trotz häufiger und dringlicher Werbungen konnten sich manche
der volkskundlichen Vereine für den Anschluß an die Historiker nicht
erwärmen. Zum Teil spielten Erfahrungen aus früherer Zeit dabei
eine Rolle. Um aber die Meinungen über den geplanten Zusammen-
schluß zu klären, beriefen die Professoren Mogk und Strack Vereine
für Volkskunde und einzelne Forscheiv zu einer Sitzung auf den
6. April 1904 nach Leipzig. Hier wurde, da sich keine Stimmung
zeigte, die fünfte Abteilung des Gesamtvereins als ausschließliche Ver-
treterin der Gesamtheit volkskundlicher Körperschaften anzuerkennen,
ein selbständiger Verband begründet, der Verband deutscher
Vereine für Volkskunde. Gießener Professoren mit Strack an
der Spitze sollten den künftigen Ausschuß bilden. Ein erster Ver-
bandstag wurde auf den Herbst 1905 nach Hamburg gelegt.
So gab es denn eine Vereinigung, die freilich unvollständig war,
weil beispielsweise zwei der mitgliederreichsten Gesellschaften für
Volkskunde, die sächsische wie die bayerische, nach wie vor in der
fünften Abteilung des Gesamtvereins zu verbleiben erklärten und aus
i) Vgl. den Abdruck des Vortrags im 2. Bande der Hesbischtn Blätter für
Volkskunde,
— 81 —
geldlichen Gründen ihren Eintritt in den neuen Verband von einer
Änderung- in dessen Satzungen abhängig machten.
Die Hauptversammlung des Verbandes der deutschen Geschichts-
und Altertumsvereine zu Danzig (August 1904) bewies, daß die fünfte
Abteilung lebensfähig, ja entwicklungsfähig war. Aus den Verhand-
lungen sei namentlich die Beratung eines Antrages von Professor
Brenner hervorgehoben über die Anbahnung einer geographischen
Statistik der Haustypen. Noch bevor der neue Verband deutscher
Vereine für Volkskunde in Hamburg tagte, hielten die Geschichts-
und Altertumsvereine vom 25. bis 29. September 1905 ihre Haupt-
versammlung in Bamberg ab, bei der sogar zwei Sitzungen der volks-
kundlichen Abteilung stattfinden konnten. Generalmajor von Friesen
berichtete über die Ergebnisse der Humamensammlung im Königreich
Sachsen, Professor Brenner erlangte die Einsetzung eines Ausschusses
zur Förderung der Hausbaustatistik; es wurde eine Resolution ange-
nommen: „Die fünfte Abteilung des Gesamtvereins der deutschen Ge-
schichts- und Altertumsvereine bittet die hohen Staatsregierungen, zur
Erhaltung der Eigenart und Schönheit unserer deutschen Dörfer und
ihrer volkstümlichen Bauweise tunlichst baugesetzliche Bestimmungen
erlassen zu wollen." Auch fanden volkskundliche Vorträge von Pfarrer
Heibig aus Groitzsch und Architekt Kronfus aus Bamberg statt.
Auch die Hamburger Tagung des Verbandes der deutschen Ver-
eine für Volkskunde (am 2. Oktober 1905) hatte Erfolg. Man be-
schloß, die eigentlich volkskundlichen deutschen Zeitschriften in der-
selben Weise, wie es seit 1902 in der Zeitschriftenschau der Hessi-
schen Blätter geschieht, bibliographisch zu bearbeiten, und auf An-
regung Professor John Meiers und Antrag dreier volkskundlicher
Vereine nahm man einstimmig die folgende Resolution an: „Da
eine allen wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Sammlung der
deutschen Volkslieder bis jetzt nicht vorhanden ist, hält es der
Verband deutscher Vereine für Volkskunde für seine Pflicht, eine
solche zu schaffen und zu diesem Zwecke zunächst eine Inventarisation
der Liedertexte und Melodien vorzunehmen." Zur Vorbereitung dieser
Inventarisation wählte man einen Ausschuß (John Meier, Johannes
Bolte, Adolf Strack). Die von der fünften Abteilung des Gesamt-
vereins eingeleitete Hausbaustatistik sollte nach Kräften unterstützt
werden; so lautete ein weiterer Beschluß. Blieb es auch bedauerlich,
daß eine vollkommene Einigung nicht erzielt worden war, so mußte
doch die Eröffnung gemeinsamer Aufgaben als günstiges Vorzeichen
schönen Zusammenwirkens gelten. Der wissenschaftliche Ertrag der
6*
— 82 —
Hamburger Versammlung beschränkte sich übrigens nicht auf die
Resolutionen; drei Vorträge, jeder in seiner Art trefflich, wurden g
halten: Oberlehrer Wossidlo sprach über die Technik des Sammel
(s. o.), Crome aus Göttingen über historische Volkskunde und Pr
fessor Thilenius aus Hamburg über Volkskunde und Völkerkund
Die nächste Tagung sollte im Laufe des Jahres 1907 zu Berlin stal
finden.
Doch zuvor bot sich eine schöne Gelegenheit, die volkskun<
liehen Interessen in einem Brennpunkte zu vereinigen. In richtige«
Würdigung des Einflusses, der dem Anteil an dem künstlerisch ui
bewußten Schaffen, wie es sich in der Volkskunst zeigt, in dem gegCL
wärtigen Kunstgewerbe zukommt, hatte der Ausschuß für die dritt
deutsche Kunstgewerbeausstellung zu Dresden (1906) der Volkskuns
einen breiten Raum gegönnt. Es war dem Leiter des volkskundlichei
Museums in Dresden, Professor Oskar Seyffert, gelungen, ein Bil<
deutscher Bauemkunst zu schaffen, ein volkskundliches Anscbauungs
mittel ersten Ranges, und nur vereintes Bemühen hatte dieses Werl
zustande gebracht. Mit dieser Ausstellung wurde nun eine freie Ver
Sammlung für Volkskunde undVolkskunst (vom 7. bis 9. Sep-
tember 1906) verbunden, die Vertreter der verschiedensten Anschau -
imgen nach Dresden führte und die beiden großen volkskundlichen
Gruppen einander wesentlich näherte. Der allgemeine Verlauf der
Tagung ist in zahlreichen Blättern und besonders in den Mitteilungen
des Vereins für sächsische Volkskunde (IV, 3) geschildert worden. Ge-
treu den praktischen Zielen dieses Vereins standen Fragen der an-
gewandten Volkskunde diesmal im Vordergrunde, wie sich schon in
der Wahl der Vortragsthemen verriet: Professor Fuchs aus Frei-
burg i. Br. sprach über die volkswirtschaftliche Bedeutung der
Volkskunst und Professor Seyffert über die Volkskunst auf der
dritten deutschen Kunstgewcrbeausstellung. Auch die wohlgelungenen
volkstümlichen Abende und das Marktfest in Wehlen haben sicher
unseren Bestrebungen viel genützt.
Während der Verband deutscher Vereine für Volkskunde, dem
inzwischen der sächsische und der ältere bayerische Verein beigetreten
waren, durch den frühen Tod seines Führers zu einem Stillstande ver-
urteilt zu sein schien, tagte die fünfte Abteilung des Gesaratvereins
der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine auf dessen Haupt-
versammlung in Wien (Herbst 1906) wieder zweimal. Auf Antrag
Wossidlos wurde die Errichtung einer Zentralstelle für volkskund-
liche BibUograpbie und Stoffsammlung beschlossen. Josef Pommer
— 83 —
sprach über die Jodler der österreichischen Alpenländer, Adolf
Schullerus über siebenbürgisch - sächsische Volkskunde. Weiter
wurde über die Bauemhaustypen und ihre Statistik verhandelt und
ein Bericht über die Steinkreuzfrage entgegengenommen.
Leider erwies es sich als unmögUch, die zweite Tagung des Ver-
bandes der deutschen Vereine 1907, wie beabsichtigt, in Berlin ab-
zuhalten. Da sich aber die Neuwahl des geschäftsfiihrenden Aus-
schusses nicht länger hinausschieben ließ, so mußte eine Abgeord-
netenversammlung berufen werden, die am 24. Mai 1907 in Eisenach
stattfand^). Einstimmig wurde der Anregung Dr. Wossidlos, be-
treffend Inventarisierung des volkskundlichen Stoffes, Folge gegeben
und beschlossen, „den Vereinen durch besonderes Anschreiben als
dringendste Aufgabe zu empfehlen, ihren Bestand an Drucksachen
und handschriftlichen Sammlungen volkskundlichen Inhalts nach ein-
heitlichem Schema zu verzetteln". Professor Bolte verlas den Be-
richt des Volksliederausschusses. Zur Sammlung von Zaubersprüchen
und Segen wurde eine Kommission eingesetzt. Der neugewählte ge-
schäftsfuhrende Ausschuß besteht aus den Herren: Professor Eugen
Mogk (Leipzig), erster Vorsitzender, Professor Oskar Seyffert
(Dresden), stellvertretender Vorsitzender, Gymnasialoberlehrer Oskar
Dähnhardt (Leipzig), Schriftführer. Als Rechner bestimmte der
Ausschuß nachträglich Herrn Pantenius (i. Fa. Voigtländer & Co.,
Leipzig). Das Ergebnis dieser Wahl ist sehr erfreulich, weil die weitere
Annäherung des „Verbandes** und der „fünften Abteilung** damit ge-
sichert erscheint. Diese fünfte Abteilung hat inzwischen mit reichem
Erfolge in Mannheim bei Gelegenheit der Hauptversammlung des Ver-
bandes der Geschichts- und Altertumsvereine getagt *).
Möchten die bedeutungsvollen Aufgaben, die der Volkskunde
vorbehalten sind, einer nicht zu langsamen Lösung entgegengeführt
werden ! Einheit im großen bei möglichster Vielgestaltigkeit und An-
erkennung berechtigter Eigenart wird dazu verhelfen.
Mitteilungen
Yersainmlangeil. — In Karlsruhe hat am 14. September pro-
grammgemäß ') der siebente deutsche Archivtag stattgefunden. Den Vor-
sitz führte Archivdirektor Obs er; 67 Teünehmer wurden gezählt. An erster
i) Vgl. Mitteilungen des Verbandes Nr. 5, Jnni 1907.
2) Vgl. darüber den Beriebt anten S. 90—91.
3) Vgl. diese Zeitschrift 8. Bd., S. 281.
— 84 —
Stelle berichtete Archivdirektor Obser über den Archivalienschutz in
Baden, dessen Grundsätze den Lesern dieser Zeitschrift ^) bekannt sind.
Die sämtlichen kleben Archive des Landes, und zwar von 1600 Gemeinden
imd 12 10 Pfarrämtern, sind durch die Historische Konmiission inventarisiert
worden, imd dazu kommen noch 56 grundherrliche Archive. Die Inventare
füllen im ganzen 2300 Druckseiten. Nur verhältnismäßig wenige Gemeinden,
nämlich 107, haben ihre Archivalien im Generallandesarchiv hinterlegt. Die
gegenwärtig geltenden Bestimmungen sind das Ergebnis der eingehendsten
Erwägungen, nachdem sich viele andere in Vorschlag gebrachte Wege als
ungangbar erwiesen hatten.
An zweiter Stelle sprach Archivassessor Striedinger (München) über
die Versendung von Archivalien zu privaten Zwecken und kam
zu dem Ergebnis, dafi eine solche unter allen Umständen fUr die Archivalien
imd die Verwaltung des Archivs nachteilig sei und deshalb nach Kräften
eingeschränkt werden müsse. Nicht die Regel dürfe die Versendung bilden,
sondern eine außergewöhnliche Vergünstigung müsse man darin erblicken.
Als Notwendigkeit ergäbe sich bei Befolgung dieses Grundsatzes, daß die
Benutzung am Orte den Archivbesuchem möglichst erleichtert und auch
die Abschriftnahme kleinerer Stücke, Kollationierung usw. durch das Archiv
versorgt werden müsse ; auch von der Photographie sei Gebrauch zu machen.
Die temperamentvoll vorgetragenen Gedanken stießen im Kreise der Zuhörer
auf geteilte Meinung. Da die Zeit zu einer ausgiebigen Erörterung nicht vor-
handen war, wurde eine solche auf die nächste Tagung verschoben. Der
Redner aber faßte seine Ausführungen in Leitsätzen zusammen, die als Grundlage
der künftigen Aussprache dienen werden und die ihrem Inhalte nach hier folgen :
1. Die Versendung von Archivalien bringt Nachteile für den Dienst und
Gefahren für die Archivalien mit sich.
2. Sie sollte daher nach Möglichkeit eingeschränkt werden.
3. Dies kann geschehen
I. indem man sie in gewissen Fällen entbehrlich macht durch geeig-
nete Maßnahmen wie
a) amtliche imd unentgeltliche Herstellung von kürzeren Abschriften
und Vergleichimgen,
b) Zulassung und nötigenfalls Besorgung fähiger Kopisten und sonstiger
Vertrauensmänner für umfangreichere und zeitraubendere Arbeiten,
c) jegliche Förderung des Photographierens und anderer Verviel-
fältigungsarten,
d) Unabhängigmachung der Benutzungszeiten von den eigentlichen
Amtsstunden ;
II. indem man Unterschiede macht
a) je nach Person und Zweck des Antragstellers, so zwar, daß z. B.
an Anfänger und Dilettanten gar nicht, an bewährte Forscher
und an Institute in geeigneten Fällen versendet wird, und
b) je nach dem Wert und der sonstigen Versendbarkeit der Archi-
valien, wobei besonders kostbare oder schwer versendbare Stücke
in der Regel von der Versendung ausgeschlossen bleiben.
I) VgL diese ZeiUchrift 8. Bd., S. 229.
— 85 —
4- In den geboten erscheinenden Fällen sind nur kleine Partien auf ein-
mal und diese nur auf kurze Fristen zu versenden.
5. Sobald sachgemäße Aufbewahrung und unversehrte Rückgabe gewähr-
leistet erscheint, kann auch an Privatpersonen und nichtöffentliche
. Stellen versendet werden; jedoch soll die Versendung an Bibliotheken
imd Archive die Regel bleiben.
6. Die erstinstanzielle Entscheidung in Versendungsangelegenheiten soll
grundsätzlich dem Archiworstand zustehen.
Archivdirektor Hauviller (Kolmar) behandelte die Organisation des
französischen Archivwesens und schilderte die dortigen durch eine
straffe Zentralisation ausgezeichnete Verwaltung imd ihre Leistungen in recht
rosigem Lichte. Gegen diese Auffassung wandte sich Prof. Wiegand (Strafi-
burg), der bekannte, sein eigenes früher recht günstiges Urteil doch bei ge-
nauerem Zusehen geändert zu haben ; namentlich die Lage der Archivare in
den Provinzen sei wenig beneidenswert, und in der Praxis sei auch die Ver-
waltung der Archive nicht so, wie es die gesetzlichen Vorschriften vermuten ließen.
An letzter Stelle berichtete Archivassessor Frankhauser (Karlsruhe)
über die Geschichte des Generallandesarchivs und die des
Neubaus, der 1902 — 1905 ausgeführt worden bt und bei dem das Maga-
zinsystem Anwendung gefunden hat. Die erste Ordnung des badischen Ar-
chivwesens ist 1802 erlassen worden. Damals wurden außer dem General-
landesarchive noch Provinzialarchive in Mannheim, Rastatt und Durlach er-
richtet, die aber nacheinander in den Jahren 1826 bis 1872 aufgehoben
wurden, so daß seit 1872 alle Archivalien im Generallandesarchiv vereinigt
sind. Dem schon 1887 auftretenden und immer drückender werdenden
Raummangel hat erst der Neubau abgeholfen. Eine Besichtigimg des Ge-
bäudes schloß sich an den Vortrag an.
Am 15. September (Sonntag) unternahmen die Teilnehmer einen Ausflug
nach Speyer, wo das neue Kreisarchiv, das Pfälzbche Museum tmd die
Protestationskirche besichtigt wurden. Ganz besonders interessant aber war
der Besuch, den die Gäste unter der sachkundigen Führung von Prof. Grau er t
(München) den Kaisergräbem im Dom abstatten durften. Die Geschichte
ihrer Aufdeckung und Untersuchung, die der Führer eingehend darstellte,
verdient nicht nur ihrer Ergebnisse wegen, sondern auch wegen der dabei
befolgten methodischen Grundsätze Beachtung.
Der achte deutsche Archivtag wird 1908 in Lübeck stattfinden.
In unmittelbarem Anschlüsse an den Archivtag fand vom 15. bis zum
18. September in Mannheim die Jahresversammlung des Gesamtvereins der
deutschen Geschichts- und Altertumsvereine statt. Die Teilnehmer-
liste verzeichnet 191 Namen. Vertreter hatten von den verbundenen Vereinen
dieses Mal 63 entsandt, aber das will nicht allzuviel besagen, da die Zahl
der Mitglieder des Gesamtvereins im letzten Jahr durch den Beitritt der
numismatischen Vereine von 173 auf 184 gestiegen ist; gerade die letzteren
waren vollzählig vertreten, während von den sonst recht tätigen Vereinen be^
dauerlicher>i'eise viele sich den V^ersammlungen dauernd fernhalten. Sollte
es nicht möglich sein, darin einen Wandel herbeizuführen?
— 86 —
Im folgendem Jahre wird die Versaimnltmg in Lübeck stattfinden, und
zwar wieder in der zweiten Hälfte des September. An Stelle der satzmigs-
gemäß auscheidenden Ausschußmi^lieder wurden neu gewählt Prof. Grad-
mann (Stuttgart), Museumsdirektor Schumacher (Mainz) und von Bezold
(Nürnberg). Endlich stinmite die Vertreterversammlung dem Antrage des
Archivdirektors Wolfram (Metz) zu, einen Fonds zur Unterstützung
einzelner größerer historischer Arbeiten anzusammeln. Als eine
solche Arbeit kommt zunächst die in Wien beschlossene Sammlung der
Nachrichten über Naturereignisse ') in Betracht Zu diesem Zwecke sollen
die Verebe sich selbst besteuern, imd zwar wird als untere Grenze ein Jahres-
beitrag von 3 Mark angenommen.
Die in den öffentlichen Versammlungen dargebotenen Vorträge beschäf-
tigten sich sämtlich mit der Mannheimer bzw. mit der an die Jubiläums-
stadt angeschlossenen Pfälzischen Geschichte. So gab Prof. Walter
(Mannheim), der Schriftführer des Ortsausschusses, unter dem Titel Aus der
Geschichte Mannheifns eine vortreffliche Übersicht über die dreihimdertjährige
Geschichte der Jubilarin, die darstellte, eine wie völlig verschiedene Physio-
gnomie, beruhend auch auf ganz verschiedener Bevölkerung, Mannheim in
jedem dieser drei Jahrhunderte aufweist: im XVII. Jahrhimdert war es eine
Festung des pfälzischen Protestantismus mit der Front nicht nur gegen den
Katholizismus, sondern auch gegen Frankreich, von welchen beiden Feinden
es denn auch einer zweimaligen gründlichen Zerstörung anheimfiel, deren
zweite 1689 unter Melac zugleich zur völligen Abwanderung seiner bisherigen
Grundschicht, der französisch-wallonischen Hugenottengemeinde, führte, die
zumal in Magdeburg ihren neuen Wohnsitz fand; im XVIU. Jahrhundert war
es eine gänzlich auf ihren prunksüchtigen Hof, der seit 1720 mit Karl
Philipp und Karl Theodor hier seine Residenz aufgeschlagen hat, angewiesene
und von ihm lebende Höflingsstadt mit katholischem Gnmdcharakter, deren
Hauptdenkmal die an das Schloß anstoßende Jesuitenkirche ist. Diese Ge-
sellschaft wurde von dem Verlust der Residenz (1778 mit der bayrischen
Erbschaft, die den Wegzug der Hofhaltung nach München zur Folge hatte)
wie dann vollends dem Übergang an Baden (1809) aufs schmerzlichste be-
troffen, bis dann seit den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die
dritte Ära einsetzte, der mit dem Aufkommen des Zollvereins wie mit der
neuen Verkehrsentwicklung, Eisenbahnen und Dampfschiffen, zusammen-
hängende Aufschwung zum modernen, zu drei Fünfteln aus auswärtigen Zu-
züglern sich zusammensetzenden Handelsemporium des Oberrheins wie von
ganz Südwestdeutschland, geleitet von einer großzügigen, über Handel und
Lidustrie auch die wissenschaftlich -künstlerischen Interessen nicht vernach-
lässigenden Stadtverwaltung. Wo in unserem ganzen deutschen Vaterlande
ist eine zweite Stadt, die in einem zeitlich so kurzen Rahmen auf eine gleich
wechselvolle Geschichte und zugleich auf eine großartigere Zukunflsperspekdve
hinsehen könnte?
Einem Ausschnitt aus dieser Stadt und der mit ihr zusanmienhängenden
pfälzischen Geschichte galt sodann der zweite Vortrag von Dr. Bering er
(Mannheim) über Goethe und seine Beziehungen eur pfälzischen Kunst, die
I) Vgl. diese Zeitschrift 8. Bd., S. 52.
— 87 —
sich von dem Besuch im Antiken-Kabinett an (17 71), der für die ganze
Weiterentwicklung des Dichters entscheidend war, über ein halbes Jahrhundert
bis zu seinem Ende erstreckt haben, also ganz anders als bei Schiller, dessen
Beziehungen zu Mannheim auf eine kurze, aber freilich ungleich mehr in das
Volksempfinden übergegangene Episode beschränkt geblieben sind. Den
größten Erfolg unter allen Vortragenden hatte jedoch der dritte Redner
Archivdirektor Wolfram (Metz), der ein Lebensbild des einer Seitenlinie
des Zweibrücker Astes entsprofiten Pfalzgrafen Georg Hans von Veldenz-
Lützelstein (1544 — 1592) entwarf und dieses selbst als Lebenstragödie be-
zeichnete. Inhsütlich bildeten seme Ausfühnmgen im Gegensatz zu den
sonstigen über diesen phantastischsten Witteisbacher des XVI. Jahrhunderts,
den Schöpfer von Pfalzburg, woran er sich auch verblutete, laut gewordenen
Urteilen eine Ehrenrettung eines geistig hochstehenden Mannes. In religiös-
kirchlicher Hinsicht forderte der Fürst im Unterschied von dem damaligen
engherzigen Konfessionalismus den Beweis der Religion durch die Praxis.
Seinen politischen Scharfblick zeigte er, indem er eine einheitlich geleitete
deutsche Flotte und eine auf diese gestützte, tatkräftig-planvolle Kolonialtätig-
keit zunächst in den baltischen Ländern, den einstigen Vorposten der Ger-
manisierung im Osten, forderte, und damit zeigte er sich seinem Zeitalter weit
überlegen. Sein größter Fehler war der so vieler genialer Naturen, daß er
drei Jahrhunderte zu früh gelebt hat. Um so mehr hat unsere Zeit die
Dankesschuld eines ehrlichen Gedächtnisses gegen einen solchen Mann ab-
zutragen, für dessen bedeutsam-packende Persönlichkeit auch schon die Tat-
sache spricht, daß selbst die wechselvollen letzten drei Jahrhunderte nicht
vermocht haben, sein Bild aus dem Andenken der Waldarbeiter und Forst-
knechte der Vogesen völlig zu verwischen.
Mit dem pfälzischen Geistesleben, namentlich dem in Heidelberg dank
der Universität herrschenden, beschäftigte sich der Vortrag von Oberbiblio-
thekar Wille (Heidelberg) über den Humanismus in der Pfalz, in dem der
Redner knapp die seit Kurfürst Friedrich I. (gest. 1476) gepflegten huma-
nistischen Studien und ihre wesentlichsten Vertreter von Peter Luder bis
Sebastian Münster behandelte.
Von den Abteilungen, deren Arbeit wie immer den Hauptinhalt der
Tagung bildete, hatte die vor- und frühgeschichtliche das reichhaltigste Pro-
gramm aufzuweisen, zumal wenn man, wie es bei dem Schlußbericht (erstattet von
dem Geh. Schulrat Hang [Mannheim] an Stelle des vorher abgereisten Ab-
teilungs-Vorsitzenden Prof. Anthes [Darmstadt] geschah), auch den am 14.
und 15. September in Heidelberg abgehaltenen achten Verbandstag
der west- und süddeutschen Vereine für römisch -germanische Altertums-
forschung einbezog. Auf diesem hatte es sich außer dem Bericht des Verbands-
vorsitzenden Anthes über die Tätigkeit der Verbandsvereine seit Bamberg
(1905) namentlich um die Vorträge der Herren Hofrats Schliz (Heilbronn)
über die „Beziehungen römischer Bauanlagen zu bestehenden vorgeschicht-
lichen Verhältnissen" gehandelt, und zwar hatte der Vortragende einen Zu-
sanmienhang zwischen beiden festgestellt, der sich zumal auch auf die neuen
römischen Entdeckungen in Weinsberg stützt. Sodann hatte Prof. He rtl ein
(Heidenheim) ein Erklärung der sog. „Jupiter-Gigantensäulen" versucht, die
diese mit der (700 Jahre später an ganz anderer Stelle auftauchenden) Ir-
— 88 —
minsäule in VerbinduDg brachte und die Göttergestalten am Sockel als c
vier Jahreszeiten deutete, dabei aber starken Widerspruch aus dem Schol
der Versammlung gefunden. Endlich hatte Prof. Burkhardt-Biederman
(Basel) die römische Stadtbefestigung von Augusta Rauracorum (Äugst) b
sprochen. Das Museum in Heidelberg hatten die Teilnehmer in seiner pn
historischen Abteilung leider in Abwesenheit des erkrankten Leiters der Aui
grabungen besucht imd auf emem Ausflug auf den Heiligenberg am Sonnta
den merkwürdigen Ringwall besichtigt, an dem neuerdings durch die städtisch
historische Kommission erfolgreiche Ausgrabimgen stat^efimden haben.
Ftir die Hauptversammlung waren dann noch, da Prof. Mehlis (Neu
Stadt a. H.), der über den Stand der Forschung bezüglich römischer un<
mittelalterlicher Straßenzüge in der bayerischen Rheinpfalz sprechen wollte
sich nicht einfand, fünf Nummern übrig. Zunächst berichtete nach de:
einleitenden allgemeinen Versammlung am Montag vormittag in Anwesenhei
S. K. Hoheit des Erbgroßherzogs von Baden Geh. Rat Wagner (Karbruhe
über die Inventarisienmg der Altertümer in Baden, wobei namentlich die
Frage der kartographischen Festlegung der Ergebnisse erörtert wurde. Sodann
gab Prof. Schumacher (Mainz) eine Erläuterung der neuen archäologischen
Karte von Mannheim und Umgebung, wobei die Kontinuität der Besiedelung
von der ältesten Zeit her zu konstatieren war. Weiter referierte Museums-
direktor Krüger (Trier) über die Neumagener Skulpturen. Besonderes In-
teresse erregten sodann die Bemerkungen von Rektor Heuberger (Bragg
i. d. Schweiz) über die neuesten Grabungen in Vindonissa, die von einheit-
lichen Fimden in dem römischen Legionslager, die dazu von Menschenhand
fast unberührt geblieben seien, zu erzählen wußten. Sanitätsrat Kohl (Worms)
teilte seine neuen Beobachtungen an neolithischen Wohnplätzen, die mit den-
jenigen von Hofrat Schliz in mancher Beziehung zusammentrafen, mit.
Der Zahl der Progranmmummem nach weit spärlicher war der Speise-
zettel der UI. Abteilung besetzt, die aber doch in zwei Sitzungen am Montag
vor- und nachmittag über drei Stunden zu tun hatte. Zuerst sprach Annin
Tille (Leipzig) über Sammlung und Verwertung famüiengeschichtlicher For-
schungen, Indem er an dem Beispiele der Forschungen von Schulte über
die Beziehungen der mittelalterlichen Klöster ') zu den Geburtsständen und
der Darstellung der wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Zustände Durlachs
im XVIII. Jahrhundert durch Roller*) erläuterte, welche Ergebnisse sich
vermittels der genealogischen Methode unter Umständen gewinnen lassen, be-
gründete er die Notwendigkeit, zuverlässig festgestellte genealogische Tatsachen
systematisch zu sammeln, wie es die Absicht der Leipziger Zentralstelle
für deutsche Personen- und Familiengeschichte ist, damit die einmal er-
mittelten Nachrichten allgemein verwendet und nutzbar gemacht werden. In
der anschließenden eingehenden Erörterung wurde weniger die sachliche Be-
gJündimg, warum gesammelt werden soll, besprochen als vielmehr die
Zweckmäßigkeit der genannten Zentralstelle, und das Ergebnis wurde schließlich in
1) Vgl. oben S. 50—51.
2) Roller: Die Einwohnerschaft der Stadt Durlach im X VIII. Jahrhundert,
in ihren wirtscJ^aftlicJ^en und kuUurgeachichtlichen Verhältnissen dargestellt aus
ihren Stammtafeln (Karlsrahe 1907).
— 89 —
den folgenden Worten zusammengefaßt. Die dritte Abteilung des Ge-
samtvereins kann über die Zentralstelle jetzt ein abschließen-
des Urteil noch nicht gewinnen, sondern glaubt ihre fort-
schreitende Arbeit, deren Zweck sie freundlich gegenüber-
steht, zuvor abwarten zu sollen.
In der zweiten Sitzung sprach Pfarrer Gmelin (Großgartach) ixher Be-
völkerungsbewegung auf Grund der Kirchenbücher und zwar als Grundlage
zu dem Antrage, die historisch-statistische Ausbeutung der Kirchenbücher ^),
deren außerordentliche Bedeutung ebenso fUr die historisch- geographische
Statistik wie für die Soziologie, Biologie und Klimatologie dabei kurz dargelegt
wurde, in allgemeine Anregung zu bringen, indem diese Ausbeutung als ein
dringendes Interesse der Wissenschaft erklärt wurde. Der Antrag fiEmd bei-
fällige Aufnahme; nur der zweite Teil des Antrags, einen Ausschuß zur An-
fertigung eines Schemas behufs einheitlicher Bearbeitung einzusetzen, wurde
auf Antrag von Hagedorn (Hamburg) abgelehnt. Es wurde aber folgende
Entschließung gefaßt. Die dritte Abteilung des Gesamtvereins
erklärt, daß die Bearbeitung bzw. Ausbeutung der Kirchen-
bücher nach historisch-statistischen Gesichtspunkten im
Interesse der historischen Wissenschaft gelegen ist, und er-
sucht den Berichterstatter, Pfarrer Dr. Gmelin, auf einer der
nächsten Tagungen Vorschläge zu machen, wie das in ein-
heitlicher Weise geschehen könne.
Den Beschluß machte hier der durch seine Forschungen über die Her-
kunft der Indogermanen wohlbekannte Ludwig W i l s e r (Heidelberg) mit seinem
Vortrage über Namen als Geschichtsqttellen, indem er zeigte, wie nicht nur
der Ruf- bzw. Taufoame selbst, sondern auch schon unter Umständen dessen
verschiedene Form für die verschiedenen alten Stämme charakteristisch sei,
so daß sich daraus die Zugehörigkeit eines Trägers zu einem dieser Stämme
erkennen lasse; ein gewiß für die Erforschung des germanischen Altertums
bedeutsamer Punkt.
Eine besonders stattliche Teihiehmerschaft wies die unter Leitung von
E. Bahrfeld (Berlin) stehende Abteilung IV auf, die ihrer neuen Bestimmung
zum ersten Male diente. An erster Stelle sprach Prof. von Renner (Wien)
über die Zwecke einer Vereinigung der deutschen numismatischen Gesell-
schaften und bezeichnete eine Reihe von Aufgaben, die sich durch eine
systematische Zusammenarbeit der Vereine vielleicht lösen lassen. Dabei ver-
mied er es jedoch, im einzelnen Vorschläge zu machen, in der Absicht, zu-
erst einmal die einzelnen Vereine und ihre Vertreter gnmdsätzlich auf die
Notwendigkeit solchen Zusanunenwirkens hinzuweisen.
Den Vollbeweis für die wirtschafdiche Ebenbürtigkeit dieser Vereine
lieferte der Vortrag von Justizrat Haeberlin (Frankfurt a. M.) über Roms
Eintritt in den Weltverkehr (seit ca, 335 v. Chr.), nachgeuHesen auf Grund
seiner Münxung, der in Wirklichkeit eine großartige Obersicht über die Ent-
wicklung des ganzen antiken Münzwesens gab, das in seinen Grundlagen
I) Vgl. dazu diese Zeitschrift, i. Band S. 157—170: Die Verwertung der Kirchen»
bücher von Gmelin.
— 00 —
durchaus auf die Babylonier zurückführt. Das war zweifellos eine der "wert-
vollsten Darbietungen der Gesamttagung.
Die genealogische Richtung in der IV. Abteilung vertrat ein Vortrag
von Oberfinanzrat Ritter von Bauer (Wien) über Die notwendige I^an-
mäßigkeit der heraldisch' genealogischen Forschunfj und Qutüenpublikation,
der sich mannigfach mit den Vorschlägen von Tille und Gmelin in der
III. Abteilung deckte, ^vie mit einem Antrag von Freiherrn von Gaisberg-
(Schöckingen), vertreten durch Freiherm von Min n ige rode (Allerstein), auf
photographische Aufnahme aller nicht bloß fiir die Lokalgeschichte, sondern
namentlich auch die Heraldik und Genealogie besonders wichtigen, aber in
unserer Zeit in wachsendem Grad der Gefahr der Zerstörung aus-
gesetzten alten Grabsteine, von welchen Aufnahmen dann je ein Exemplar
an das Germanische Museum in Nürnberg eingesandt werden soll. Nach den
Ausführungen des Freiherrn von Minnigerode sollen jedoch nicht, wie der
ursprüngliche Antragsteller wollte, Berufs-, sondern Liebhaber- (Amateur-)
Photographen mit der Aufgabe betraut werden, zunächst schon wegen der
Kosten, und dann auch, damit überhaupt baldmöglichst ein Anfang mit der
praktischen Ausführung gemacht werde.
Die in Bamberg neugegründete V. Abteilung (für Volkskunde) end-
lich, die an Prof. Brenner (Würzburg) einen dauernden Vorsitzenden hat,
hatte infolge J^embleibens eines im Programm angekündigten weiteren Refe-
renten nur drei Gegenstände zu behandeln. General Freiherrvon Friesen
(Dresden) sprach zunächst über den Einfluß der Rasse auf das Volkstum.
Dann folgten als eine sehr wertvolle und dankbar aufgenommene Gabe Aus-
einandersetzungen von Prof. Gradmann (Stuttgart) über das schwäbische
Bauernhaus,, worin er als das Ergebnis seiner diesbezüglichen Forschungen
ausführte, daß zwar in dem eigentlich altwürttembergischen Gebiet infolge
von dessen allzu gründlicher bureaukratischer Regierung nichts Ursprüng-
liches mehr zu finden sei, daß es aber doch im Bereich des jetzigen König-
reichs ein Gebiet, zum früheren Vorderösterreich in Oberschwaben gehörig,
gibt, in dem wir ein Bauernhaus von so primitiven Formen, mit dem Kenn-
zeichen des Walmdaches, finden, daß dieses ohne Schwierigkeit aus den älte-
sten prähistorischen Verhältnissen sich erklären lasse, wie man dann auch
ohne allzu große Änderung daraus auf der einen Seite das Allgäuer,
auf der anderen das Schwarzwaldhaus ableiten könne. Es war ein für die
Bauernhaus-Forschung sehr bedeutsamer Beitrag; nur verschuldete leider der
Mangel an Illustrationen, daß die technisch weniger sachverständigen Zuhörer
an manchen Stellen dem Vortrage nicht leicht folgen konnten. Im Anschluß
daran führte hinsichtlich der zur Bauemhausforschung ausgegebenen Frage-
bogen Prof. Brenner noch weiter aus, daß deren Zweck nicht überall
genügend erkannt worden sei und so das Bedürfnis eines erläuternden Textes
sich geltend gemacht habe. Deshalb wurde der Antrag an den Gesamtverein
gestellt und angenommen, eine solche Schrift als Texterläuterung abfassen
zu lassen. Ein zweiter Antrag, den auch Prof. Brenner einbrachte, betraf
die bibliographische Zentralstelle. Nachdem im letzten Jahr be-
schlossen worden ist, das einschlägige Material an Oberlehrer Wossidlo
(Waren, Mecklenburg) zu schicken, dieser aber aus Mangel an Zeit sich
außerstande gesehen hat, sich weiter mit der Sache einzulassen, wird die
— 91 —
Schaffung einer Zentralstelle um so nötiger empfunden; ihre besondere Auf-
gabe ist es, die Antworten auf volkskundliche Umfragen dauernd aufzube-
wahren und deren Inhalt nach einem einheitlichen Schema zu verzetteln.
Endlich sprach Gymnasialassistent B e c k e r (Ludwigshafen) über Früh -
lingsfeiern in der Pfalz, indem er hierbei zwei verschiedene Gebiete
unterschied, deren Eigentümlichkeiten jedoch vielleicht auf alte Stammes-
berührung zurückgehen. Im Anschluß hieran war eine Ausstellung von Bil-
dern zur Pfalzer Volkskunde veranstaltet, die später als Lichtbilder großen-
teils auch bei dem zwanglosen Bankett im großen Saale des Friedrichsparks
am Dienstagabend vorgeführt wurden, so daß dieses Bankett selbst ab
weiterer Beitrag zur Pfalzer Volkskimde wirkte, nur eben in der angenehm-
gemütlichen Form eines Unterhaltungsabends, wie er bei unseren Vereins-
tagungen als Mischung von Ernst und Scherz üblich ist. Dieses Mal wurde
die Unterhaltung nicht am wenigsten durch die beiden Pfälzer Mundarten-
dichter Daniel Kühn (Speyer) und Richard Müller (Obermoschel), die beide
Proben ihrer Volksdichtung vortrugen, auf eine höhere Stufe gehoben, tmd
überdies brachte das Zusammenwirken der Vereine der bayerischen Pfalz mit
dem Mannheimer Jubiläumskinde die Fortwirkung der einstigen historischen
Zusammengehörigkeit links und rechts vom Rheine in harmonischer Weise
zum Ausdruck.
Als Ausdnick dieses Zusammengehörigkeitsgefühls kann auch die Fest-
gabe gelten, die vom historischen Verein der Pfalz sämtlichen Teilnehmern
in Gestalt des 29. und 30. Heftes seiner 3IUteüungen gewidmet und von
diesen gleich anderen ähnlichen Gaben, wie dem Pfälzer Museum Nr. 7 — 10,
der Festnummer der Mannheimer Geschichtsblätter, sowie einem Führer durch
Mannheim, von der Stadt Maimheim dargeboten, dankbar aufgenommen wurde.
Daran reihte sich anläßlich des Besuches des ehemals fürstbischöflichen
Speyrer Residenzschlosses in Bruch*5al, der am Mittwoch nachmittag unter-
nommen wurde und den schönen Schluß der ganzen Tagung bildete, die
Oktober-Nummer der Zeitschrift für Geschichte der Architektur^ sowie eine
prächtige Publikation über Das Bruchsaler Schlofs im XIX. Jahrhundert von
Architekt Dr.-Ing. Fritz Hirsch, dem die Restaurationsarbeit dieser groß-
artigen Residenzanlage leitenden Baukünstler, welcher auch in mündlicher
Rede vortrefflich diese ausgedehnte Schöpfung des XVin. Jahrhunderts er-
läuterte. So reiht sich die Mannheimer Tagung schon infolge ihrer Reich-
haltigkeit als eine der bestgelungenen ihren Vorgängerinnen an, in ihrem
wissenschafdich - historischen Wert zugleich ein würdiger Beitrag zu dem
dreihundertjährigen Jubiläum einer solch reichhaltigen lebensvollen Stadt-
geschichte,
PersonalieD. — Am 19. Oktober 1907 starb ganz unerwartet an
einem Schlaganfall der württember^che Generalmajor z. D. Dr. Albert von
Poster, der durch zahlreiche geschichtliche Arbeiten und durch seine eifrige
Teilnahme an den Tagungen des Gesamtvereins der deutschen Geschichts-
und Altertumsvereine in den Kreisen der Fachgenossen und Geschichtsfreunde
wohlbekannt und hochgeachtet und um seiner persönlichen Eigenschafken
willen vielen besonders wert war.
Er stammte aus einem schwäbischen Pfeirrhause, war geboren in dem
— 92 —
fränkischen Münster bei Creglingen am 6. Mai 1839, verbrachte aber sei
Jugend in Hohenacker bei Waiblingen, wohin sein Vater bald versetzt word^
war. Aus der Waiblinger Lateinschule kam er, von Haus aus zum Theologe
bestinunt, in das niedere theologische Seminar Blaubeuren. Aber nach de)
dortigen vierjährigen Kurs führten ihn 1857 seine Neigungen nicht auf di
Universität, sondern auf die Kriegsschule nach Ludwigsburg, die er 185
als Portepeekadett verliefi. Seine Ernennung «um Leutnant folgte noch in
gleichen Jahr aus Anlafi der damaligen Mobilmachung. Als Oberleutnan
machte er dann den Krieg von 1866 mit, und war darauf eine Zeitlanj
als Lehrer zur Kriegsschule kommandiert. Während des Deutschen Krieg;
1870 — 71 war er der Landwehr zu Uhn zugeteilt und kam nicht an dei
Feind. Im Jahr 1890 wurde er Kommandeur des Infanterie - Regimenti
Nr. 124 und 1893 nahm er seinen Abschied.
Sein Sinn für geschichtliche Studien erhielt im Vaterhaus und durch
die Erinnerung an seinen 1835 verstorbenen Großvater, den Historiker Job.
Christian Pfister, seine Nahnmg. Als Leutnant erbat er sich 1862 einen
einjährigen Urlaub, um in Tübingen Geschichte zu treiben; dort ward er ein
Schüler von Reinhold Pauli, dessen Gedächtnis er nachher in seinem Buch
Deutsche Zwietracht (Stut^art 1902) gefeiert hat. Die erste Frucht seiner
Studien waren die Denkwürdigkeiten aus der württemhergischen Kriegs-
geschichte des XVIIL und XIX. Jahrhunderts im Anschluß an die Ge-
schichte des 8. Infanterie-Regiments (Stuttgart i868), in dem der Ver&sser
den Feldzug von 1866 mitgemacht hatte. Die folgenden Jahre, durch Be-
rufstätigkeit ausgefüllt, brachten doch zahlreiche kleinere Aii>eiten. Zunächst
zwei Regimentsgeschichten in populärer Bearbeitung für Unteroffiziere und
Soldaten (Geschichte des 1, württembergischen Infanterie-Regiments Nr. 119.,
Stuttgart 1875; Geschichte des Infanterie-Regiments Kaiser Wühdm König
von Preußen Nr. 120. f Stuttgart 1881),* zwischenhinein auch ein Schulbuch,
wie es dem ehemaligen Lehrer an der Kriegsschule anstand: Leitfaden für
Geschichte und Geographie heim militärischen Unterricht (Stuttgart 1878),
Heft I : Übersicht der Geschichte Deutschlands. Heft 2 : Geschichte Württem-
bergs. Heft 3: Geographie. Politischen Charakter trägt die Schrift: Der
Müiegedanke in Württemberg und die Versuche eu seiner VerwirJdichung
(Stuttgart 1883). Auch später noch einmal hat Pfister, um das hier vorweg
zu nehmen, eine politische Tagesfrage in einer geschichtlichen Broschüre
erörtert, in dem Heftchen Freiheit des Rückens, Allgemeine Wehrpflicht,
Öffentlichkeit des Strafgerichts, drei Etappen auf dem Wege militärischer
Entwickelung (Stuttgart 1896). Vorher gingen zunächst noch drei Lebens-
bilder: König Friedrich von Württemberg und seine Zeit (Stuttgart 1888),
bahnbrechend für eine günstigere und wohl auch gerechtere Auf&ssung der
Persönlichkeit des Königs. Dann Herzog Magnus von Württemberg (Stutt-
gart 1891), ein reizvolles Büchlein, in dem die spärlichen Nachrichten
über den Prinzen, dessen Gedächtnis ein romantischer Schleier umgibt, mit
schriftstellerischer Kunst in ein Bild der Zeit hineingestellt und dadurch
plastisch ausgestaltet sind. Endlich das in mehreren Auflagen erschienene
Büchlein über Kaiser WUhelm I. '), dem Pfister noch 1906 eine Darstellung:
i) Kaiser Wilhelm, ein Abriß aus seinem Leben und Wirken (Stuttgart 1887).
— 93 —
Kaiser Wilhelm und seine Zeit, in Heycks Monographien zur Weltgeschichte
gewidmet hat. Daneben gingen kriegsgeschichtliche Arbeiten verschiedenster
Art her, von denen manche in den Württembergischen Vierteljahrsheften
für Landesgeschichte und sonst veröffentlichte Aufsätze zeugen.
Nach seiner Verabschiedung liefi Pfister noch einmal 3 Lebensbilder,
vereinigt in einem Heft, erscheinen: Brei Schwaben in fremden Kriegs-
diensten (der österreichische Feldzeugmeister Graf Harrasch + 1722; der
preußische Oberst Joh. Friedr. Herwarth von Bittenfeld, gefallen bei Kolin
1757; der preußische General Joh. Jak. Wunsch + 1788), Heft 12 der
Württembergischen NevjahrstHätter 1895. ^^ gleichen Jahr noch erwarb er
auch bei der philosophischen Fakultät in Tübingen den Doktortitel.
Das erste größere Werk Pfisters, zu dem er auch in größerem Umfang
archivalische Studien machte, galt den Napoleonischen Kriegen 181 2 — 15:
Aus dem Lager des Bheinbunds 18 12 — 13 und Aus dem Lager der Ver-
bündeten 18 14 — 15 (beide Stuttgart 1897). Schon die Titel zeigen, daß es
ihm nicht um eine umfassende und vollständige Darstellung der Ereignisse
zu tun war; in der Tat liegt der Wert der beiden Bände in der Benutzung
der württembergischen Kriegsakten und der Korrespondenz König Friedrichs,
woraus wertvolles Material zur Zeitgeschichte und zur Beurteilung des Königs
und seiner Politik geschöpft ist Zur Jahrhundertwende schilderte Pfister Das
deutsche Vaterland im XIX, Jahrhundert (Stuttgart 1900). Dann widmete er
dem befreundeten Dichter Hansjakob ein warmherziges Büchlein: Heinrich
Han^akob, Aus seinem Leben und Arbeiten (Stuttgart 1901). Später griff
er über den Ozean mit dem Werk : Die amerikaniscJie Bevolution 1775 — 1783,
Entwicklungsgeschichte der Grundlagen zur Freiheit wie zum Weltreich
unter Hervorhebung des deutschen Anteils (2 Bde. Stuttgart 1904). Endlich,
als er in Vertretung des Königs von Württemberg und als Abgesandter des
Schwäbischen Schillervereins bei der Schillerfeier der Deutschen in Amerika
gewesen war, sammelte er die dort gewonnenen Eindrücke und Erlebnisse in
einem Buch: Nach Amerika im Dienste Friedrich Schillers. Der Völker-
freundschaft gewidmet (Stuttgart 1906).
Seine Schöpfung ist auch das großangelegte Werk Herzog Karl Eugen
von Württemberg und seine Zeit, das vom Württembergischen Geschichts-
und Altertumsverein herausgegeben und von einer größeren Zahl von Mit-
arbeitern geschrieben wird; Pfister selbst hat zu dem i. Bd. die Einleitung
und die Abschnitte „Hof und Hoffeste" und „Militärwesen" beigesteuert.
Das Beste aber und Persönlichste, was er gegeben hat, sind seine beiden
selbstbiographischen Bücher Pfarrers Albert, Fundstücke aus der Knabenzeit
(Stuttgart 1901) und Deutsche Zwietracht, Erinnerungen aus meiner Leut'
nantszeit 1859 — 1869 (Stuttgart 1902). Mit welcher Frische \md Lebendigkeit
sind da die Erlebnisse seiner Jugendzeit geschUdert, wie weiß er mit gemütvollem
Humor anziehende Bilder vom schwäbischen Leben zu gestalten. Ab kluger
Beobachter und scharfer Beurteüer steht er den Dingen gegenüber. Seine
unbefangene, von warmer Vaterlandsliebe und echter deutscher Gesinnung ge-
tragene Schildenmg der politischen und militärischen Zustände in Württem-
berg in dem Jahrzehnt vor der Schaffung des neuen Reichs, wie er selbst
sie mit erlebt hat, ist für das Verständnis der Ereignisse von großem Wert.
So werden diese beiden Bücher als Quellenwerke für schwäbisches
— 94 —
Wesen ihre Bedeutung behalten. Uns sind sie zugleich Spiegelbilder von der
ganzen gewinnenden Persönlichkeit ihres Verfassers. Seine wissenschaftlichen
Werke, in denen wohl zuweilen (wie bei seinem Grofivater) die Quellen zu
viel selbst mitreden, haben die historische Erkenntnis in manchen Punkten geför-
dert. Aber auch ihr Hauptvorzug ist die lebendige anschauliche Darstellimg.
Mag Pfister sich an einen kleinen Leserkreis von bescheidenen Gaben oder
an ein anspruchvolleres Publikum wenden, immer ist er im besten Sinne
volkstümlich. Er erfreut durch die Entschiedenheit seiner Parteinahme imd
seines Urteils gelegentlich auch da, wo der strenge Forscher vielleicht ein
Fragezeichen machen möchte.
So zeigt sich Pfister in seinen Büchern, so war er auch im Leben.
Wie vielen ist er bekannt geworden als gewinnender Redner, dem grofie Ge-
wandtheit des Ausdrucks, lebhafte klare Darstellung, schlichter angenehmer Vor-
trag zu Gebot standen. In den Sitzungen des Gesamtvereins, dessen Vorstand er
angehörte, im Württembergischen Geschichts- und Altertumsverein, im Goethe-
bund, im Schwäbischen Schillerverein und sonst in der Öffentlichkeit hat er oft ge-
sprochen ; so hat er auch die Schwaben in Amerika hingerissen. Er verstand
es mit wunderbarer Feinheit, sich der Art seiner Zuhörer anzupassen, auch im
gewöhnlichen Leben im Gespräch den rechten Ton zu finden, imd selbst dem
sonst nicht leicht zugänglichen schwäbischen Bauern ist er in Buoch bei
Waiblingen, wo er in den letzten Jahren sich ein Landhaus erbaut hatte
imd seinen Garten liebevoll pfiegte, recht innerlich nahe gekonunen. Überall,
wo er gewirkt hat, empfindet man schmerzlich die Lücke, die sein Scheiden
gerissen hat. ^, r^ ^ /o. \
^ Mehring (Stuttgart).
Eingegangene Bficher.
Mamlock, G. L.: Friedrichs des Großen Korrespondenz mit Ärzten.
Stuttgart, Ferdinand Enke 1907. XU und 168 S. M. 6,00.
Menke-Glückert, E. : Goethe als Geschichtsphilosoph und die geschichts-
philosophische Bewegung seiner Zeit [= Beiträge zur Kultur- und Uni-
versalgeschichte, herausgegeben von Karl Lamprecht, Erstes Heft].
Leipzig, R. Voigtländers Verlag 1907. 146 S. 8°. M. 5,40.
Niese, Hans: Prokurationen und Landvogteien, ein Beitrag zur Geschichte
der Reichsgüterverwaltung im XIIL Jahrhundert. Straßburger Disser-
tation. Innsbruck, Wagner 1904. 69 S. 8".
Pachali, Johanna: Moritz von Sachsen, eine Charakterstudie [= Schriften
für das deutsche Volk, herausgegeben vom Verein fUr Reformations-
geschichte, Nr. 45]. Halle a S., Rudolf Haupt 1906. 28 S. 8®.
Pfeifer, Wilhelm: Lehrbuch für den Geschichtsunterricht an höheren Lehr-
anstalten. V. Teil: Lehraufgabe der Unterprima. Mit einem Bilder-
anhange zur Kunst- und Kulturgeschichte von Paul Brandt Breslau,
Ferdinand Hirt. VIII und 234 S. 8®. M. 3,25.
Dasselbe. VI. Teil: Lehraufgabe der Oberprima. Mit einem Bilder-
anhange zur Kunstgeschichte von Paul Brandt Breslau, Ferdinand Hirt
1907. Vm und 228 S. 8®. M. 3,25.
Herausgeber Dr. Anntn Tille in Leipzig.
VerUf nnd Druck von Friedrich Andreas Perthes, AkdengeselUchaft, Gotha.
Hierzu als Beilage: Prospekt der Deutschen Verlagsaktiengesellschaft,
Leipzig, über uTNePanO^YTEM , Jahrbücher für foWoriatische Erhebungen
und Forschnfigen.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
lur
Förderung der landesgeschichtlichen Forschung
IX. Band Januar 1908 4. Heft
Grundherrsehaft und Staat*)
Von
Georg Caro (Zürich)
Grundherrsehaft unterscheidet sich vom blofien Grundeigentum
oder Grundbesitz dadurch, daß sie nicht nur über den Boden sich
erstreckte, sondern auch Rechte über die Leute einschloß, die auf
dem Boden saßen. Die Rechte konnten dem Grundherrn durch die
Gesetzgebung zuerkannt sein, wie dem römischen Possessor über seine
Kolonen, oder auch auf obrigkeitlichen Befugnissen beruhen, wie die
Erbimtertänigkeit der ostelbischen Bauern im XVIII. Jahrhundert; denn
die Gutsherrschaft ist nur eine Form der Grundherrschaft. Ob das
Verhältnis des Grundherrn zum Grundholden durch einen Vertrag be-
gründet war oder in anderer Weise, ist nicht schlechthin entscheidend.
Die ältere lombardische Grundherrschaft zählte außer Unfreien und
Aldien auch freie Zeitpächter, libeUarii, zu Hintersassen ^).
Neben dem rechtlichen darf ein wirtschaftliches Moment als Kenn-
zeichen der Grundherrschaft gelten, nämlich daß auf dem agrarisch
nutzbaren Besitzkomplex, der ihr zugehörte, nicht ein landwirtschaft-
licher Betrieb allein, sondern mehrere vorhanden waren. Die Betriebe
brauchten nicht notwendig in organischer Verbindung zu stehen, wie
das bei der ausgebildeten Villikationsverfassung der Fall war und
*) Nachfolgende AnsfUhnmgen, die größerenteils einen auf der Historikenrersammlang
XU Dresden, September 1907, gehaltenen Vortrag wiedergeben (vgl. oben S. 49), suchen mit
Rttcksicbt auf die durch See liger, Die tasiaU und poUHdehe Bedeutung der Grund'
herrschaft im früheren MitUHalter (AbhandL der philol.-hist. Klasse d. K. Sachs. Ges.
<ler Wissenschallen, Bd. XXU, Nr. i, Leipzig 1903), henrorgerofenen Erörternngen, eine
Grundlage für die Auffassung des Verhältnisses von Gnmdhemchaft und Staat su ge-
winnen. Da vielfach, wie bei der Immunitätsfrage, allgemein bekannte Literatur in Be-
tracht kommt, beschränken sich die Belege in den Anmerkungen auf wenige Hinweise.
I) Vgl. L. M. Hartmann, Zwr WirtidutfiagesdUchte ItaUena im firühm
Miiielalter (Gotha 1904), S. 53 ff.
7
— 96 —
später wieder beim ostelbiscben Rittergut, wo die Arbeitskraft vod
Bauern, deren jeder für sich wirtschaftete, zugleich in der Eigenwirt-
schaft des Herrn Verwendung fand. Der Zusammenhang fehlte viel-
leicht bei der ftühgermaniscben Grundberrschaft ^) : Tacitus spricht
nur von Abgaben der angesiedelten Unfreien, nicht auch von Fronden.
Und der Zusammenhang ist wieder fortgefallen, als die Grundherren
den Eigenbau aufgaben und sich mit dem Bezug von Grundrente be-
gnügten. Jedenfalls läßt sich nur dann von Grundherrschaft im wirt-
schaftlichen Sinne reden, wenn der Boden an mehrere Betriebe ver-
teilt war, übergeordnete und abhängige, oder auch gleichgestellte;
nicht jedoch kann ein einziger Betrieb, der den gesamten Boden um-
faßte, wie etwa die römische Plantage vor Ausbildung des Kolonats*)»
als grundherrlich bezeichnet werden, und es tut der begriflflichen
Abgrenzung keinen Eintrag, daß, wie ein Grundherr getrennte
Villikationen, so auch ein Grundeigentümer mehrere Plantagen besitzen
konnte.
Das Mittelalter hat freilich isolierte Großbetriebe wohl überhaupt
nicht gekannt Die Sallandwirtschaft in den Villikationen war mäßigen
Umfanges und stets mit dienenden Gütern verknüpft Betriebe, für
die ausschließlich die Arbeitskraft des Inhabers und seiner Haus-
genossen in Betracht kam, also der Familienglieder und unfreier
Knechte im früheren Mittelalter, gemieteten Gesindes im späteren,,
darf man getrost als bäuerliche bezeichnen. Nun hat jeder Land-
wirtschaftsbetrieb eine gewisse Konzentration zur Voraussetzung. Äcker,,
die allzuweit vom Hofe abliegen, erfordern un verhältnismäßigen Zeit-
aufwand für die Bestellung. Wenn etwa ein Großbauer Außenlände-
reien einem Knecht zu selbständiger Bewirtschaftung überließ, so
verwandelte er selbst sich dadurch in einen Grundherrn. Schon aus
Erwägungen ganz allgemeiner Natur würde sich ergeben, daß Voll-
freie im früheren Mittelalter sowohl Grundherren als Bauern sein
konnten; die Kluft war leicht zu überbrücken. Auf der Geburt be-
ruhte das Standesrecht, nicht auf der Größe des Besitzes oder gar
auf der Betriebsform. Durch den Übergang aus einer wirtschaftlichen
Klasse in die andere wurde es nicht berührt. Die Alternative, ob die
i) Vgl. R. Kötzschke, Studien zur VerwaHung^gtttchithte der Großgrund^
hertnehaft Werden an der Muhr (Leipzig 1901), bt sondere die Ansführongen in } 2,.
S. 52 ff., im Vergleich zu Tacitas, Germania, cap. 25.
2) Über die gallo - römischen Agrarzustände s. Fastel de Coalanj^e, Hwtoire-
de$ insHtutiong politiques de Vancienne France, besonders L'Alleu et ie domaine:
rural (Paris 1889).
— 97 —
freien Leute Grundherren oder Bauern waren, hätte niemals aufgestellt
werden sollen.
Unhaltbar ist jedenfalls die Theorie von einer gnindherrlichen
Lebensweise der Germanen *), die ja auch insoweit, wie sie ihnen den
Eigenbau absprechen wollte, der Urheber selbst bereits aufgegeben
zu haben scheint. Bis zum späteren Mittelalter mag kaum ein Grund-
herr, und wenn es selbst ein Stadtbewohner war, sich mit dem Bezug
von Grundrente begnügt haben. Gerade in Sachsen, für das jene
Theorie zunächst gelten sollte, oder doch sicher in Ostfalen, hat der
grundherrliche Eigenbau sich viel besser erhalten als in Südwest-
deutschland '). Landwirte, Leiter eines landwirtschaftlichen Betriebes,
waren die sächsischen Ritter von jeher, und im Kolonisationsgebiet,
jenseits der Elbe, sind sie es andauernd geblieben.
Andrerseits ergeben sich die schwersten Bedenken gegen die klein-
bäuerliche Theorie, gegen jene Auffassung des Freien als Einhufners,
der, zufrieden mit seinem Gütchen, gar nicht mehr Land haben wollte,
als eine einzige Hufe, damit nur nicht die ideale Besitzgleichheit ge-
stört werde. Die Hufenfrage ') ihrem ganzen Umfange nach aufzu-
rollen, würde abseits fuhren. Selbst wenn die deutsche Hufe nach
Analogie der nordischen Grofihufe ein Landmafl war, das nach der
jeweiligen Leistungsfähigkeit eines Pfluges mit Gespann berechnet
wurde, so braucht sie deswegen noch nicht das Normalmafl für den
Besitz des Freien darzustellen, und ganz unerweislich ist ein massen-
i) S. W. Wittich, Die Grundherrachaft in NordwestdeutaeMand (Leipzig
1896), Anlage 6, S. 104* ff., and in Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Beehie-
geschickte, germ. Abt B. 22 (1901), S. 245 ff. Vgl. dagegen Ph. Heck, Beiträge eur
Geschichte der Stände im Mittelalter, I. Die Gemeinfreien der karolifigisehen Volks-
rechte (Halle 1900), S. 292 ff., und in Vierteljahrschrift f Soz,- u. Wirtsdhaftsgesch,,
1905, S. 45 »ff.
2) Vgl. hier und sonst meinen AnCiatz 8ber PtohUme der deutsehen AgroT"
geschichte in Vierteljahrschrift fiir Sozial' und Wirtschaftsgeschichte, 1907, Heft 3,
S. 433 ff.
3) Vgl. meinen Aufsatz Über Die Hufe in dieser Zeitschrift 4. Bd. (1903),
S. 25 7 ff., gegen den die weitschweifigen Ausführungen von K. Rhamm, Ethnographische
Beiträge zur germanischen und slawischen Altertumskunde, i. Abt., Die Grofihufen
der Nordgermanen (Braunschweig 1905) gehend gemacht worden sind durch H. Brunn er,
Deutsche Bechtsgeschichte , Bd. I, 2. Aufl., S. 285, Nr. 22. Es sollten doch einmal
dänische Grundherrschaften, wie sie etwa im Urbar des Bistums Roeskilde, bei Lange-
bek, Scriptores rerum Danicarum, Bd. VII, beschrieben sind, nicht im Hinblick auf
die mythische Urzeit, sondern mit Berücksichtigung der gleichzeitigen Zustände in den
ostdeutschen Kolonisationsgebieten utitcr&ncht werden. Vgl. übrigens R. Henning in
Anzeiger für deutsches Altertum und deutsdie Literatur, Bd. XXV (1899), S. 225 ff.
— 98 —
haftes Herabsinken der Freibauern in Abhängigkeit. Gleich ihnen
hat sich auch das Eigen als bäuerliches Besitzrecht andauernd er-
halten ^). Seine wirtschaftliche Bedeutung (lir die Landschaften, in
denen es breiten Raum einnahm, darf nicht unterschätzt werden.
Eigen war beliebig teilbar; so hatte die Neigung zur Güterzersplitte-
rung, die für ein Charakteristikum des südwestdeutschen Agrarwesens
gilt, ireiesten Spielraum, und als seit dem XIII. Jahrhundert grund-
berrliche Hufen durch die erbberechtigten Inhaber aufgeteilt wurden,
zerfielen sie nicht wie anderwärts in Hälften oder Viertel, sondern
nach dem Vorbild des Eigen in Parzellen. Auch dem Rückschlag
gegen die übermäßige Parzellierung, der Herstellung geschlossener
Höfe, die gegen Ende des Mittelalters erfolgte*), setzte das Eigen
Schranken. Gerade weil das Eigengut der Teilung unterlag, ist es
undenkbar, daß Hufen selbst nur zwei Generationen hindurch ihren
ursprünglichen Bestand bewahrt hätten, wenn sie Bauern zu Eigentum
gehörten. Durch Erbgang, Kauf, Tausch, Mitgift und Morgengabe
zerfielen die Besitzungen, und Bruchstücke wurden wieder zusammen-
gelegt. Statt Regelmäßigkeit und Ordnung zeigen die Urkunden aus
deutschen Stammesgebieten von Anfang an Zersplitterung und Streu-
lage, bei Grundherrschaften und Bauerngütern.
Die geschlossene Villikation oder das grundhörige Dorf, wie es
im Pciyptychum Inninanis beschrieben wird, hatte seine Heimat in
Nordfrankreich. Als vollkommenste F*orm grundherrlichen Betriebes
diente es zum Muster iiir die deutschen Großgrundherrschaften. Das
Streben nach Erreichung des Vorbildes macht deren Entwicklungs-
gang aus; als der Impuls sich abschwächte, begann ihr Verfall. Eine
gewaltige Summe organisatorischer Tätigkeit muß es erfordert haben,
zerstreute Besitzsplitter zu festen Hofverbänden zusammenzufügen, und
kaum leichter mag es gewesen sein, den Fronhoüsbetrieb auf neu-
gerodetem Boden in Gang zu bringen. Der Ausbau der Villikationen
zwischen Rhein und Elbe ist wesentlich in der Karolingerzeit vollzogen
worden, wenn er auch früher begann und später noch fortgesetzt
wurde. Seine rechtliche Basis bUdeten der Besitz des Bodens, Gewalt
i) S. den sehr wertfoUen, weil nach Maßgabe des Quelleobeftandes schwierigen
Nachweis von nicht gnindherrlich belastetem Eigen bei Th. Knapp, Über die vorwtaiige
Verfaseung der Landorte des jetzigen Oberamte Heilbrann, in Württewibergieche
Jahrbücher für StoHetik und Landeskunde, Jahrg. 1899, S. 55.
3) Vgl. E. Gothein, Die Hofverfassung auf dem Schtoarswald, dargesteiüi €tn
der OesehielUe des Gebiets von St, Peter, in Zeitschrift f, d. Oesch, d. Oberrheif%s,
N. F., Bd. I, S. 257 ff.
— 99 —
über die Person der Anbauer und Befugnisse, die der Staat den Grund-
herren gewährte. Alle drei Momente, die fast von Anfang an sich
miteinander vermengten, müssen reinlich geschieden werden, und da
haben nun Schlüsse aus den Volksrechten und Kapitularien zu Er-
gebnissen geführt, deren volle Tragweite erst unlängst erkannt worden
ist. Der Sachverhalt läßt sich etwa folgendermaßen darlegen.
Am einfachsten wäre der Fall, daß ein Grundherr die Villikation
mit seinen eigenen Unfreien besetzt, ihnen Hütten baut, Hufen zuweist
und die Betriebsmittel, Zugvieh und Ackergerät, liefert. Dann kann
er die Abgaben und Dienste festsetzen, deren Verwendung regeln;
er kann aber auch die Hufner ein- und absetzen oder bei Todesfall
über die Hufe verfugen. Die Gesamtheit der vom Grundherrn ge-
troffenen Anordnungen und die im Laufe der Zeit für den Betrieb der
Villikation sich herausbildenden Gewohnheiten machen das Hofrecht
aus, das notwendigerweise viele zivilrechtliche Bestandteile in sich
aufnahm. Erbrecht und eheliches Güterrecht der Hintersassen, Ab-
grenzung ihrer Besitzungen, Nutzung der Almende, die dem Herrn
gehörte, unterlagen hofrechtlichen Normen, und diese mußten in
Großgrundherrschaften, die aus einer Mehrzahl von Villikationen be-
standen, um so festere werden, weU nicht der Herr persönlich jeden
einzelnen Betrieb leitete, sondern dazu seinen Vertreter bestellte, den
viüicus oder Meier, der für die Behandlung der Untergebenen sich
an die einmal vorhandenen Grundsätze zu binden hatte. Außerdem
stand dem Herrn über seine Unfreien die volle leibherrliche Gewalt
zu; er schlichtete Streitigkeiten zwischen ihnen, bestrafte Vergehen;
selbst wenn ein Totschlag vorfiel, war die Ahndung seine Sache. Nur
bei Klagen Dritter hatte er seine Unfreien vor Gericht zu verant-
worten. Was innerhalb der unfreien famüia vorging, bekümmerte
niemand als den Herrn und den Beamten, den er mit Wahrnehmung
seiner Rechte betraute.
Die geschlossene, von bestimmten Grenzen umfaßte Vülikation
stellte, wenn sie mit Unfreien besetzt war, an sich schon einen lokalen
Herrschaftsbezirk dar, in dem der Grundherr aus eigener Machtvoll-
kommenheit gebot. Solche Privatherrschaften von rein grund- und
leibherrlichem Charakter dürften freilich nicht häufig vorgekommen
sein. Es gab überhaupt nirgends so übermäßig viel Unfreie, und
während die Zahl der nicht angesiedelten sich stetig verminderte, ist
bei gar mancher unfreien Villikation die Frage aufzuwerfen, ob die
Hintersassen von Ursprung servi waren, oder aber zu Unrecht so
genannt wurden. Sicherlich ist schon früh eine gewisse BegrifTsver-
— 100 —
wirrung eingetreten. Je mehr mit Einschränkung des Sklavenhandels
die Unfreiheit ihr Wesen veränderte, um so leichter konnten andere
grundhörige Hintersassen, Halbfreie oder römisch-rechtliche Kolonen,
als schlechthin unfrei gelten.
In Gallien bestand bereits vor der fränkischen Eroberung die
Masse der Landbevölkerung aus Kolonen, bei denen das wesentlichste
Stück des Hofrechts, das Ausmaß der Leistungen, ein iiir allemal fest-
stand. Der Staatsgewalt gegenüber spielte für die Kolonen der Grund-
herr den Vermittler, und er übte förmliche Gerichtsbarkeit über sie,
nicht bloße Disziplinargewalt wie über Sklaven; denn die Kolonen waren
an sich freie Leute, wiewohl die Fesselung an die Scholle ihre Freiheit
gar sehr minderte. Auch die mit Kolonen besetzten, geschlossenen
Villikationen büdeten Herrschaftsbezirke, und deren muß es in Gallien
ungemein viele gegeben haben; sie nahmen wohl den größeren Teil
des Landes ein. Richterliche Funktionen der Privatbeamten von Groß-
grundherren sind für das VII. Jahrhundert bezeugt *) und gehen auf
römische Einrichtungen zurück. Eigentlich ist die fränkische Graf-
schaftsverfassung kaum älter als die Privatherrschaften, und die Ge-
währung der Immunität an Großgrundherren reicht jedenfalls höher
hinauf als die ältesten der erhaltenen Urkunden.
Die Immunität war ein Privileg, das der König aus Gnade gewährte.
Privilegien sind nach dem strengen Wortlaut zu interpretieren, galt
einstmals als juristischer Grundsatz. Die historische Auslegung hat
von den Verhältnissen auszugehen, auf die sie berechnet waren. Nun
tritt bei der Immunität nach dem üblichen karolingischen Formular,
das in der Hauptsache dem älteren, merowingischen entspricht, die
negative Seite in den Vordergrund. Den Staatsbeamten wird ver-
wehrt, den Boden des Grundherrn zu betreten und geg^n dessen
Hintersassen Amtshandlungen vorzunehmen. Aus der Grafschaft eximiert
war der immune Boden mit nichten; gerade die karoling^sche Gesetz-
gebung hat die Fälle präzisiert, für die das Verbot des Einschreitens
nicht galt. Räuber, die nicht ausgeliefert werden, holt der Graf selbst,
um sie aufzuhängen, auch behielt er seine volle Kompetenz gegen-
über dem Immunitätsherm, wenn nicht noch besondere Beschränkungen
zu dessen Gunsten eintraten. Kirchen erlangten durch Aufnahme in
den Königsschutz, Laien als königliche v<issi privilegierten Ge-
richtsstand.
I) Im Edikt CMothars II, von 614, 3f. Q. CapH. i, 22, vgl. auch W. Sickcl,
Bit Privatlierrschaften im fränkischen Beich^ Westdeutsche Zeitschrift, Bd. XV
(1896), S. III ff. und Bd. XVI (1897), S. 47«.
— 101 —
Entsprechend der Herkunft aus Gallien entsprach die Immunität der
dort vorwiegenden geschlossenen Villikation, deren Abschluß nach aufien
sie vollendete. Zu den Villikationen in Streulage paßte die Immunität
viel schlechter. Hier fehlte es der Privatherrschaft des Grundherrn
ohnehin an der wesentlichsten Vorbedingung, der räumlichen Ab-
grenzung, und in deutschen Stammesgebieten waren noch andere Vor-
aussetzungen zu vermissen. Das Hofrecht entstand erst beim Ausbau
der Villikationen. Die leibherrliche Gerichtsbarkeit, uneingeschränkt
über Unfreie, mangelte ganz gegen freie Hintersassen, die sich nicht
in Schutz ergeben hatten. Der sächsische Late bedurfte vor Gericht
keiner Vertretung durch den Herrn. Von den fränkischen Königen
nach Deutschland übertragen, konnte die Immunität hier nicht die
gleiche Wirkung üben wie in ihrer Heimat, sondern bedurfte der
Modifikationen. Da muß es denn als höchst bedeutsam erscheinen,
daß sie von Anfang an neben den negativen Bestimmungen eine
positive enthielt. Zur Freiung des Bodens und der Bewohner trat die
Zession aller Einkünfte, die davon der Fiskus beziehen konnte. Die
bekannte Formel, quicquid exinde fiscus noster sperare poiercU, das
alles schenken wir dem Heiligen so und so zum Unterhalt der Mönche,
oder wie sie sonst lauten mag, findet sich nicht jedesmal; aber sie
ist sehr alt, schon im Jahre 635 wurde sie angewandt^). Inhaltlich
steht sie einer Regalienverleihung gleich. Dem Immunitätsherm wird
der Bezug von Einkünften aus Hoheitsrechten des Königs zugewiesen,
Pertinenzen der Staatsgewalt sind ihm übertragen.
Mit mehr Recht als später ein Ludwig XIV. konnte der fränkische
König sich selbst ;ils Inbegriff des Staates betrachten. Alle staat-
liche Gewalt ging von ihm aus und war nichts anderes als seine
persönliche Regierungsbefugnis, die er selbst übte oder von anderen
wahrnehmen ließ. Als Träger der Staatsgewalt handhabten der König
und seine Beamten den Bann, mittels dessen sie Befolgung ihrer Ver-
fügungen erzwangen. Wer den Bann brach, machte sich bußfidlig,
und die Buße kam dem zu, der sie verhängte. Die Ausübung der
Regierungsgewalt verschaffte Einkünfte ; ein b estimmter Kreis von Ver-
fugungen bildete sich heraus, die ausschließlich dem König vorbehalten
blieben. Nur er konnte Märkte errichten mit der Friedensgewährung
für die Besucher, die wohl einer Abgabe wert war; ihm allein kam
i) Diese und andere bei Behandlung der Immiinitat im folgenden berangesogene
Urkunden sind snsammengestellt bei Alt mann and Bern he im, ÄusgeufählU ür^
kmukn jntr ErUMerung der Verfa$8ung$g€$d^%chte DemtBchkmds im MiUelaUer,
3. Aufl. (Berlin 1904)1 S. 286 ff.
— 102 —
es zu, für Handel und Wandel auf den allgemeinen Verkehrsstraßen,
auf schiffbaren Flüssen, an Ankerplätzen und Brücken Gebühren zu
erheben. Der König- legte seinen Bann über die Fische in den Ge-
wässern und das jagdbare Wild im Forst. Die Verfugung über allen
Boden, der nicht Privateigentum war, nahm er in Anspruch; für die
Besiedlung mußte ihm ein Zins entrichtet werden. Jedes Hoheits-
recht des Königs war nutzbar oder konnte nutzbar gemacht werden,
Gerichtsbarkeit so gut wie Markt, Münze, Zoll, Forsten, Fischerei.
Mit dem Begriff der Regalien hat sich ganz von selbst derjenige der
Nutzbarkeit verbunden.
Der Name Regalien ist jüngeren Ursprungs. Im letzten Stadium
des Investiturstreites war viel von ihnen die Rede; später, als Kaiser
Friedrich I. die Verfassungsverhältnisse der Lombardei ordnen wollte,
ließ er ermitteln, was Regal sei, und es wurde auf dem ronkalischen
Reichstage ein Verzeichnis angelegt*), dem nicht nur für Italien Be-
deutung zukommt; denn davon kann nicht die Rede sein, daß die
Bologneser Doktoren römisches Recht des corpus iuris an Stelle des
geltenden italienischen Staatsrechts gesetzt hätten. Fast alles, was in
dem Regalienverzeichnis enthalten ist, stand auch den früheren Be-
herrschern des regnum Italicum zu.
Zwischen deutschen und italienischen Regalien gab es noch Unter-
schiede. Diesseits der Alpen sind die Könige nicht so früh und in
so ausgedehntem Maße zur Nutzbarmachung ihrer Hoheitsrechte ge-
langt wie im Süden. Märkte und Münzstätten mußten erst errichtet,
Zölle neu eingeführt werden, während in Italien und Gallien solche
Einnahmequellen des römischen Staates niemals zu fließen aufgehört
hatten. Die in der Immunität enthaltene Regalienverleihung bezog
sich hauptsächlich auf die Bannbußen und Friedensgelder, die statt
an den Fiskus an den Immunitätsherm fallen sollten; aber eine prin-
zipielle Beschränkung enthielt die übliche Formel nicht. Schon 673
wurde ausdrücklich die Erhebung eines rotaticus (Wagengeld) durch
die Staatsbeamten auf den Märkten des gefreiten Gebietes ausge-
schlossen; und nicht so gar viel jünger sind unmittelbare Regalien-
verleihungen, die neben der Immunität einhergehen, ohne mit ihr
innerlich zusammenzuhängen.
i) In ▼ertchiedenen Fassungen ▼erliegend , M. G, ConsHt, tmp. i, 244, Nr. 175.
Für die Regalien und anderes anf Italien Bezügliches verweise ich aaf meinen, wohl
demnächst in den Jahrhüchem für NtUionalÖkanomie und Statistik erscheinenden
AufsaU: Zur Geschichte der Grundherrschaft in Oheritalien.
— 103 —
Ganz unzweifelhaft ist der Königszins, den langobardischen ari-
mannie entsprechend, unter die Regalien zu rechnen, ob er nun als
Entgelt für eine Niederlassungs- und Rodungserlaubnis angesehen
oder auf einen alten Tribut zurückgeführt wird. Über den Königs-
zins freier Leute hat bereits Karl Martell zugunsten des Klosters
Reichenau *) und Pippin für St. Gallen *) verfügt. Die Hoheitsrechte
und ihr Ertrag waren nicht untrennbar mit dem Fiskus verknüpft,
sondern konnten in Immunitätsprivilegien überlassen oder mittels be-
sonderer Verleihung übertragen werden.
Zu den Regalien gehörte die Gerichtsbarkeit. Herzogtümer,
Markgrafischaften, Grafschaften, Stadtkonsulate verleiht der König, und
auch das sind nur spezielle Fälle seiner allgemeinen Befugnis, Obrig-
keiten für die Rechtspflege zu setzen, wie sie im ronkalischen Regalien-
verzeichnis Anerkennung gefunden hat. Zur Wahrnehmung der Rechts-
pflege ist von den fränkischen Königen die Grafschaftsverfassung ge-
schaffen worden. Mit Banngewalt ausgestattet, übte der Graf den
Gerichtszwang über alle Eingesessenen des Gaues, Grundherren und
Bauern ; aber eine Nötigung, zu gerichtlichen Zwecken sich ausschließ-
lich der Grafen zu bedienen und der von diesen gesetzten niederen
Beamten, gab es für den König nicht Hat doch erst Karl der Große
die Grafschaftsverfassung einheitlich im ganzen Reiche durchgeführt,
und gerade er ließ häufig durch Sendboten Gericht halten. Nun
schrieb sich die grund-leibherrliche Gerichtsbarkeit nicht wie die gräf-
liche vom König her. In den Immunitätsprivilegien als bestehend
vorausgesetzt, bedurfte sie einer ausdrückhchen Erwähnung höchstens
dann, wenn in ihrer rechtlichen Existenz etwas zweifelhaft erschien;
aber sie konnte auch im weitesten Umfange verliehen werden, wo sie
noch nicht bestand, sondern mit Neugründung einer Villikation erst
hergestellt werden mußte. Um eine Verleihung von Gerichtsbarkeit
handelt es sich bei der Urkunde Ludwigs des Frommen für den
Spanier Johannes, und ganz analog ist die Verleihung erblicher Ge-
richtsbarkeit durch Arnulf 888 an seinen Ministerialen Heimo für
dessen Eigengut in der Ostmark. Befugnisse, die anderwärts dem
Grundherrn seit alters zustanden, wurden hier speziell übertragen. Der
König regelte die Ausübung der Gerichtsbarkeit nach seinem Gut-
dünken.
i) S. die Restitution der Urkunde von K. Brandi, Quellen und Forschungen
zur Geschichte der Abtei Reichenau, Bd. I (Heidelberg 1890), S. loi.
3) S. Urkundenbueh der Ahtei St. Gallen, heraiug. toq H. Wart mann, Bd. I,
S. 289, Nr. 312.
— 104 —
Weitergehende Rechte, als Karl der Große am Anfang seiner
Regierung den Bischofskirchen von Trier und Metz ') bestätigte,
konnten kaum aus den rein negativen Bestimmungen der Immunität
abgeleitet werden. Die Hintersassen der Kirchen sollten von den
Staatsbeamten weder an die öffentlichen Malstätten geladen, noch
dort verurteilt werden; sie haben vielmehr ihren ausschließlichen Ge-
richtsstand vor den Beamten der Kirchen, in deren privatem Gehör
sie Recht geben und nehmen. Außenstehende haben demnach Klagen
gegen Immunitätsinsassen vor dem Immunitätsgericht anzubringen.
Der Grundsatz mag nicht überall gleich früh und vollständig durch-
gedrungen sein, war aber eine notwendige Folge des Prinzips der
Immunität. Indem die Staatsgewalt ihn anerkannte, nahm sie zugleich
Einfluß auf die Bestellung der Privatbeamten in Anspruch und das
Aufsichtsrecht. Karl der Große reglementierte oft genug *) , welche
Eigenschaften ein tüchtiger vicedomintis, (idvoccUtis oder praepasüue
nötig habe, und was wurde da nicht alles verlangt. Gesetzeskundig
sollen sie sein, gerechtigkeitsliebend, friedfertig, milde, sogar uneigen-
nützig und frei von Habgier; wenn sie den Anforderungen nicht ent-
sprachen, konnten königliche Sendboten ihre Absetzung verfugen,
gleich wie die von Unterbeamten des Grafen, der Vikare und Zen-
tenare, mit denen überhaupt die Privatbeamten in der karolingischen
Rangordnung auf einer Stufe standen, ohne daß deswegen die Befug-
nisse identische gewesen sein müssen. Auch der vicedomiutis, pre-
positus und advocatus unterscheiden sich recht wesentlich in ihren
Amtspflichten.
Durch die Eingriffe des Staates in die Verwaltung der Privat-
herrschaften wurde deren Umbildung angebahnt Je mehr der Grund-
herr und seine Beamten sich den allgemeinen, vom König festgesetzten
Normen zu fugen hatten, um so leichter konnten ihnen wiederum
Rechte übertragen werden, die über ihren ursprünglichen Wirkungs-
kreis hinausreichten. Soll eine reinliche Scheidung zwischen grund-
leibherrlicher und öffentlich-rechtlicher oder staatlicher Gewalt durch-
geführt werden, so bleiben für erstere nur die Hofgerichtsbarkeit in
ihrer Begrenzung auf die Betriebsordnung der Villikation übrig und
die leibherrlichen Befugnisse nach Maßgabe des Volksrechts über
Unfreie, Halbfreie und kommendierte Freie oder andere Mundmannen.
Was darüber hinausgeht, muß als öffentlich-rechtlich gelten und ließe
i) S. Jtf. G. Dipl KaroUnorum, Bd. i (1906), S. 95, Nr. 66 und S. 131, Nr. 91.
2) S. M, O, Öapit. I. 93. loi. 104. 124 usw.
— 105 —
sich nur von königlicher Verleihung' ableiten, wenn eben nicht das
Prinzip der Immunität seine Einwirkungen geübt hätte. Tradenten,
die ihre Güter zu Prekarie zurückempfangen hatten, wurden gelegent-
lich in die Immunität einbezogen. Die Privilegien des X. Jahrhunderts
erkennen regelmäßig an, dafi Hintersassen auf immunem Boden, gleich-
gültig wes Standes, vor dem Vogt zu Recht stehen sollen; damit
war aber auch die äußerste Grenze einer inneren Entwicklung der
Immunität erreicht. Über den Boden der Grundherrschaft hinaus
konnte sie sich nicht erstrecken. Für alles, was durch königliche
Verleihung hinzukam, liegt der staatliche Charakter ohne weiteres zu-
tage ; aber auch die Rechte innerhalb der Immunität können, insoweit
als sie die ausschließlich grund- leibherrlichen Befugnisse überragen,
nicht für rein private angesehen werden.
Eine begriffliche Unklarheit haftet den Bestimmungen der Ur-
kunden an, die vielfach negativ ausdrücken, was doch auch positiv
hätte verfügt werden können. Die Ursache hierfür liegt offenbar in
dem Charakter der Grundherrschaften selbst. Bei der geschlossenen
Villikation gallischen Gepräges genügte die Immunität, um den Ab-
schluß der Privatherrschaft zu vollenden. Selbst daß Außenstehende
mit Klagen gegen Immunitätsinsassen sich an den Immunitätsrichter
zu wenden haben, ließ sich aus der bloßen Negation des staatlichen
Gerichts ableiten. Der Fall mag übrigens viel seltener eingetreten
sein, als bei den Grundherrschaften in Streulage, die in den deut-
schen Stammesgebieten überwogen. Hier war es zur Vermeidung
von Streitigkeiten wohl angebracht, ausdrücklich hervorzuheben, was
anderwärts sich beinahe von selbst verstand. Dem gallischen Vor-
bild gleichzukommen, vermochten die deutschen Grundherrschaften
dennoch nicht, soweit es ihnen nicht gelang, sich durch Austausch
von Besitzsplittem zu arrondieren. Sonst war die Herstellung privater
Herrschaftsbezirke nur möglich durch den Erwerb öffentlich-recht-
licher Befugnisse, die sie wiederum ihres privaten Charakters ent-
kleideten. Den Grundherren wurde Gewalt über Personen zuteil, die
nicht zur Grundherrschaft in Beziehung standen, und diese Gewalt
wurde über einen räumlich abgegrenzten Landkomplex erstreckt, indem
sie Ausdehnung fand über Boden, der nicht zur Grundherrschaft ge-
hörte. Die Regalienverleihungen gliederten der Immunität Rechte an,
die nur noch rein äußerlich mit der Grundherrschaft sich berührten.
Das konnte dann in verschiedener Weise geschehen.
Märkte errichteten die Grundherren am liebsten auf eigenem
Boden; es fiel ihnen dann allein der Arealzins von der Kaufmanns-
— 106 —
ansiedlung zu, und in die Gerichtsbarkeit konnte sich der Immunität
wegen niemand einmischen. Notwendig war es aber nicht, daß der
Boden des Marktorts ganz dem Marktherm gehörte; dann ergänzte
der König durch Verleihung, was zur Machtvollkommenheit fehlte,
und es wurden so Bannbezirke mit bestimmten Grenzen konstituiert,
innerhalb deren in der Regel einem Grundherrn die Gerichtsbarkeit
zustand, aber nicht notwendig dem Grundherrn des Ortes *). Der Zu-
sammenhang zwischen Grund- und Gerichtsherrschaft war nur nodi
ein lockerer. Die vom König verfugte Änderung der lokalen Ver-
waltung berührte weder das Standesrecht der Bewohner, noch ihr Be-
sitzrecht am Boden. Sie besuchten fortan die drei jährlichen placiia
vor dem Richter, der Vogt hieß, statt vor dem Grafen; das war alles.
Wem die fiskalischen Gefalle zufielen, die sie ohnehin entrichten
mußten, konnte ihnen gleichgültig sein. Hofrecht stand für die Stadt
überhaupt nicht in Frage. Die Marktansiedlung war keine VUlikation,
und Kaufleute sind keine Bauern.
Wenn Empfanger von Regalien eine Kirche war, ein Bistum oder
ein Kloster, so trat es in den Genuß der Einkünfte. Die Gerichtsbar-
keit übte jedoch in Deutschland nicht der Bischof oder Abt persön-
lich, sondern der Vogt. Dessen Befugnisse konnten auch vom König
unmittelbar erweitert werden, durch Verleihung des Rechts bei Königs-
bann zu richten *) , während in Italien , wo sich mit der Vogtei juris-
diktioneile Befugnisse nicht verknüpften, an Grundherren unmittelbar
eine höhere als die gräfliche Gerichtsbarkeit verliehen wurde, nämlich
die missatische, und zwar nicht nur an Bischöfe fiir ihre Städte und
deren Umkreis, sondern auch anderweitig'). Die letzte Erweiterung
i) Vgl. z. B. für Bremen S. Rietschel, Das Bwrggrafenamt und die hohe
Gerichtsbarkeit in den deutschen Bischofsstädten toährend des früheren Mittelalters
(Leipzig 1905), S. 283 ff., und Markt und Stadt in ihren rechtlichen Verhaltninen
(Leipzig 1897), S. Soff. S. auch das Marktprivileg für den Erzbischof von 965, M. Cr.
Dipl, I, 422, Nr. 307, das ihm Erlaubnis gibt, in loco Bremun einen Markt zu er-
richten, nicht in loco suo. Den Kaufleaten, die der Kaiser zugleich in seinen Schatz
nahm, gehörte offenbar der Grund und Boden, auf dem ihre Häuser standen, zu Eigen-
tum, während die Gerichtsbarkeit über sie mit den Regalien nunmehr dem Erzbischof
(bzw. seinem Vogt) zufiel, der jedenfalls in dem Bannbezirk bereits Gmndeigentom besafi.
Die Erweiterung einer Regalienverleihung (Münze und Zoll) durch nachträgliche Hinzu-
fügung der Gerichtsbarkeit s. M. G. Dipl i, 154, Nr. 74 und 157, Nr. 77.
2) Zum Königsbann vgl. Heck a. a. O. II, Der Sachsenspiegel und die Stände der
Freien (Halle 1905), S. 734 ff-, und H. Feh r, Fürst und Graf im Sachsenspiegd, in
Berichte und Abhandlungen der K. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaftern
phil.-hist. Klasse, Bd. LVIII (1906), S. 41 ff.
3) S. die Urkunde des Gegenkönigs Arduin, M, G. Dipl 3, 706, Nr. 6.
— 107 —
der Immunität durch äußere Aagliederuag von Rechten stellte alles
Frühere auf den Kopf. Wenn der Grundherr, von dessen Besitzungen
die Grafengewalt durch Immunität ausgeschlossen war, ganze Graf-
schaften erwarb oder g^fUche Rechte in Teilen von Gauen, so verlor
die Immunität alle Bedeutung; aber es fiel auch der letzte Zusammen-
hang zwischen Grundherrschaft und Hoheitsrecht weg, denn die gräf-
liche Gewalt war rein territorial.
Nur in beschränktem Maße gelangten deutsche Bistümer oder gar
Klöster zum Erwerb ganzer Grafschaften. Wo das nicht der Fall war,
und überhaupt, wo nicht kraft spezieller Verleihung Hoheitsredite zur
alten karolingischen Immunität hinzutraten, blieb diese selbst in Kraft.
Von einheitlicher Fortbildung kann nicht die Rede sein; doch läßt
sich auch schwer denken, daß ihre Wirkungen sich abgeschwächt
haben sollten. Es wäre da noch ein Moment zu beachten, das bei
den bisherigen Erörterungen keinen Platz fand. Immunität ist Steuer-
freiheit; davon hat sie ihren Ausgang genommen. Die fiskalischen
Gefälle sind dem Immunitätsherm überwiesen ; der Graf darf von den
Hintersassen keinerlei Leistungen fordern. Nun waren aber die Ein-
künfte des Grafen aus seinem Amt recht ansehnlich. Die Grafschaft
stellte ein Objekt erheblichen Wertes dar *), denn die gräflichen Rechte
ließen sich nutzbar machen, so gut wie die Regalien. Allein schon
der Anspruch auf Beherbei^ng bei Abhaltung der Gerichtstage
mochte Erkleckliches einbringen ; auch scheuten sich die Grafen nicht,
mit außerordentlichen Forderungen an die Insassen ihrer Gerichts-
bezirke heranzutreten. Eine wirkliche Steuer entwickelte sich aus den
exactionea, die in der Immunität einzutreiben ihnen verwehrt war.
Der immune Boden trug nichts zu den Grafschaftslasten bei;
diesen Vorzug kann er um so weniger eingebüßt haben, als seine
Bewohner, die Hintersassen des Grundherrn, durchaus nicht steuerfrei
waren. Wer über sie Gerichtsbarkeit übte, erhob etwa die gleichen
Ansprüche wie der Graf auf Beherbergung und Abgaben, und da nun
in der geistlichen Immunität der Vogt zu richten hatte, nicht der
Bischof oder Abt, so leisteten die Hintersassen geistlicher Grundherr-
schaften dem Vogt, was der Graf von ihnen nicht nehmen durfte.
Die Vogtei über eine Großgrundherrschaft war wohl kaum weniger
einträglich als eine Grafschaft'); der Grundsatz, daß selbst zerstreute
i) Vgl. Waits, D, Verf.'Oeteh, 7, ayfi., s. Adam ▼. Bremen, Hb. 3, Kap. 45,
M. G. 88. 7. S. 353.
3) VgLWaitz a. a.O., S. 3508. S.ftr die Vogtei ttber St Gallen, Conradns de
Fabaria, Kap. 10, 8t GaUer Müteihmgen 17» 153t.
— 108 —
Splitter immunen Bodens vom Vogt geschätzt werden und nicht vom
Grafen, konnte nicht leicht in Vergessenheit geraten. Tatsächlich
mochte sich der Unterschied verwischen, wenn etwa der Graf die
Vogtei in den Immunitäten seiner Grafschaft erlangte. Überhaupt,
was sich begrifflich einigermaßen deutlich sondern läßt, unterlag im
realen Verlauf der Dinge den mannigfachsten Trübungen. Wie ver-
schieden ist doch kraft spezieller Auseinandersetzungen das Verhält-
nis zwischen dem geistlichen Immunitätsherm und ihren Vögten ge-
staltet worden; eine Menge gefälschter Urkunden bezeugt, welche
Mühe es sich die geistlichen Herren kosten ließen, den finanziellen
Ansprüchen der Vögte Schranken zu setzen.
Der Vogt bezog also die Bede, nicht der geistliche Grundherr *) ;
aber die Bischöfe und die Äbte der alten, königlichen Klöster waren
Reichsfursten. Mit dem Zepter verlieh ihnen der König die Regalien,
seit er auf die Investitur mit Ring und Stab verzichtet hatte. Landes-
hoheit zu erwerben ist den geistlichen Fürsten vielfach gelungen, und
zwar auf dem gleichen Wege der Agglomeration von Rechten, der
früher zur Erweiterung der Immunität geführt hatte. Freilich mußte
dabei gewissermaßen von vorn angefangen werden, denn auch die
Villikationsverfassung selbst hatte Wandlungen durchgemacht. Hof-
gerichtsbarkeit übte der geistliche Grundherr in der ersten Hälfte des
XII. Jahrhunderts nicht persönlich, sondern sie war dem Meier, einem
Ministerialen, zu Lehen gegeben und infolgedessen zum erblichen
Recht des Inhabers geworden, das ihm abgekauft werden mußte, um
wieder durch gesetzte Beamte verwaltet werden zu können. Nicht
minder war ein Rückerwerb der Vogtei an das Stift erforderlich. Lange
genug zog sich gelegentlich die Konsolidation hin ^) , und wo der
Rückerwerb von Meieramt und Vogtei nicht gelang, blieben dem
geistlichen Grundherrn nur die Grundzinse, für die etwa der Meier
eine jährliche Pauschalsumme ablieferte. Davon ist dann in den
finanziellen Nöten des späteren Mittelalters vieles abgebröckelt und
schließlich ganz verloren gegangen; die alte Grundherrschaft hatte
ihre Rolle ausgespielt.
Für den Erwerb von Gerichtsbarkeit und anderen Hoheitsrechten
war der Grundherr keineswegs an den Bereich seines Grundbesitzes
i) Vgl. G. ▼. lielow, Zur Frage nach dem Ursprung der ältesten deutedten
Steuer, in MUteil d. Instituts f, österr. Geschichtsforschung, Bd. XXV (1904), S. 455 ff.
2) Vgl. für Kloster Werden R. Kötzschke in der Einleitung zur Aasgabe der
Werdener Urbare [Publikationen der Gesellschaft für rJ^einische (}esdiidUdBunde
XX. Bd. 2 (Bonn 1906)], S. LVnflF.
— 109 —
gebunden. Überdies konnten neuerdings durch königliche Verleihungen
fehlende Rechte ergänzt werden. Bei Bistümern kam auch die Ge-
walt über Vasallen und abhängige Klöster in Betracht. Sicherste
Grundlage der Landeshoheit von Geistlichen und Laien war allerdings
die Grafschaft ^), nur daß nicht etwa der Besitz gräflicher Rechte allein
schon als Basis iiir die Landeshoheit ausreichte. Die bedeutendsten
weltlichen Territorien beruhten auf Herzogtum oder Markgrafschaft.
Daß gar mancher einfache Graf sich zum Landesherm aufschwang,
konnte nur durch Erweiterung seiner Rechte geschehen, mittels Er*
werb von Regalien, Vogteien und spezieller Privilegien; aber wenn
nun auch ein weltlicher Herr eine Summe von Rechten zusammen-
brachte und deren Verwaltung nach staatlichen Gesichtspunkten or-
ganisierte, wie das gerade im XlII. Jahrhundert des öfteren eintrat,
so führte der Geldmangel, das Erbübel der deutschen Fürsten im
späteren Mittelalter, erneute Zerstückelung herbei, nur daß die Be-
sitzungen und Rechte nicht stets in der gleichen Abgrenzung ver-
pfändet oder zu Lehen vergabt wurden, wie sie erworben worden
waren, sondern besser lokal verbunden und abgerundet. Eben dieses
Moment dürfte für die Frage nach Entstehung der Bannbezirke be-
achtenswert sein, die neuerdings mit Recht in den Vordergrund ge-
schoben worden ist, aber vorerst nur mit großer Reserve behandelt
werden kann ^) ; denn wenn irgendwo, so kommen hier lokale Unter-
schiede sehr wesentlich in Betracht.
Das Auseinandergehen von Leibherrschaft, Grundherrschaft und
Gerichtsherrschaft gilt als Charakteristikum der westdeutschen Agrar-
zustände in späteren Zeiten, und da nun die Gerichtsherrschaft, zumal
in den kleineren Territorien Schwabens und am Rhein, häufig mit der
Landeshoheit zusammenfiel, wurde sie vollends das maßgebende
Element der ländlichen Verfassung. Besser als in Deutschland läßt
sich die Zurückdrängung von Grund- und Leibherrschaft in Oberitalien
erkennen *), wo sie allerdings früher und weit entschiedener erfolgte.
i) Vgl. H. Febr, Die Entstehung der Landeshoheit im Breisgau (Leipzig 1904)»
fOr ein geistliches Fttrstentnin siehe F. Rörig, Dte Entstehung der Landeshoheit
des Trierer Ersbischofs swisehen Saar, Mosel und Rnwer und ihr Kampf mit den
pntrimfmialen Gewalten, in Westdeutsche Zeitsdmft, Ergänzuogsheft XIU (Trier 1906).
Vgl. aach E. Richter, Immunität, Landeshoheit «mit Waideehenkungen, ArtMv für
österr. Gesdiichte, Bd. XCIV (1906), S. 41 ff.
3) Vgl. jeut daza Seeliger in Htstorisdie Vierteffahrschrift , Bd. X (1907),
S. 3050.
3) Die Ausführungen von H. ▼. Voltelini, Immunität, grund^ und kibherr--
— 110 —
Die Regalienverleihungen Friedrichs I. für geistliche und weltliche
Herren erstreckten sich nicht nur auf die königlichen Hoheitsrechte,
sondern auch auf gerichtsherrUche Befugnisse, die sich von der Graf-
schaft herleiteten. Was über den Anspruch auf Grundrente hinaus-
ging, den das Eigentum am Boden gab, — von Unfreiheit oder per-
sönlicher Bindung war in der lombardischen Tiefebene kaum noch
die Rede — , wurde unmittelbar auf königliche Verleihung zurück-
geführt. Der alte Staatsgedanke erhielt begrifflich seine schärfste
Ausprägung, als er mit dem Gemeindeprinzip sich auseinanderzusetzen
hatte.
Zum Erwerb von Regalien sind Stadtgemeinden in Deutschland
'wie in Italien gelangt ; aber die Ausbildung von Stadtstaaten, in denen
•eine herrschende Stadtgemeinde über Landgemeinden imd unter-
:geordnete Regalinhaber obere Gerichtsbarkeit und andere Regalien-
rechte, also die Landeshoheit übte, kam in Deutschland über Ansätze
nicht hinaus. Die deutschen Staaten der Neuzeit fuhren ihren Ur-
.sprung auf die landesherrliche Gewalt von Fürsten zurück, und da
ist denn in den großen Territorien des Ostens nochmals die Grund-
lierrscbaft zu einer allerdings mehr scheinbaren als wirklichen Be-
•deutung gelangt; denn für die ostelbische Gutsherrschaft mit ihren
landwirtschaftlichen Großbetrieben bildeten gerichtsherrliche Rechte
<ien Ausgangspunkt der Entwicklung '). Die Organisation des Ritter-
guts, äußerlich der alten Villikation so ähnlich, unterscheidet sich von
ihr fundamental durch die rechtUche Basis. Der Grundherr des
früheren Mittelalters übte Gewalt über seine Hintersassen nach Maß-
gabe des Hofrechts und der leibherrlichen Befugnisse. Auf dem ost-
^Ibischen Rittergut der Neuzeit waren die Bauern gerichtseingesessene
Jiehe Geriehttbarkeit in SüdHrol, Wien 1907, S.-A. {ÄreMv für österreiehische Öe-
MhichU, Bd. XCIV, TeU 2, S. 311 ff.) betreffen nicht rein italienische Znstfinde.
i) In Preußen ist gleich bei der Kolonisation ¥001 Landesherrn (dem Deutschen
Orden) den Grandherren hohe und niedere Gerichtsbarkeit verliehen worden, s. H. Plehn,
Zur Geschicte der AgrarverfasBung von Ost- tmd Westpreußen, Forschungen tut
hrandenbttrgischm und pretySisehen Geschichte, Bd. XVII (1904), S. 6Sff. Fir die
Mark Brandenbarg s. einen spesieUen Fall, bei dem aUerdings die Verleihung nicht durch
den Markgrafen, sondern durch einen Herrn Yon Mecklenburg -Rostock erfolgte, bei
Riedel, Novtu codex dipl. Brandenb,, S. i, Bd. I, S. 445 ff* ^^^ Aufsats: Da« 90-
richüiche Exemtionarecht der Babenberger von B r u n n e r , Sitsungsberichte der phil.'hiti.
Klasse der Wiener Akademie d. Wies,, Bd. XLVII (1864), S. 315 ff. weist des ferneren
■aaf den Zusammenhang der Verleihungen von Gerichtsbarkeit mit den alten Immunitäten
hin, fUr den Urkunden wie die Ludwigs des Frommen von 815 fUr den Spanier Johannes
jind Arnulfs ftir Heimo von 88S die Brücke bilden.
— 111 —
Erbuntertanen des Gutsherrn, wenn sie auch mancherorten mißver-
ständlich und mißbräuchlich als Leibeig'ene bezeichnet wurden.
Indem bei der Gutsherrschaft des Ostens regelmäßig Gerichts-
und Grundherrschaft über einen bestimmt abgegrenzten Landkomplex
zusammenfielen, trat eine gewisse Vermischung der Begriffe ein. Es
wurde unklar, ob und inwieweit die Rechte des Gutsherrn vom Eigen-
tum am Boden und von der durch den Landesherm verliehenen Juris-
diktion sich ableiteten; wohl nicht ohne Absicht ist gelegentlich die
Scheidelinie verwischt worden. Als nun der Territorialstaat, zumal
in der Epoche des aufgeklärten Absolutismus, seinen Betätigungskreis
ganz ungemein erweiterte, da konnte eine rationalistische Auffassungs-
weise, die von geschichtlichen Zusammenhängen abstrahierte, der
patrimonialen Gewalt der Gutsherren einen privaten Charakter beilegen,
im Gegensatz zu der öffentlichen oder staatlichen Gewalt, die durch
den Landesherm oder unmittelbar in seinem Namen durch Beamte
geübt wurde. Für die historische Betrachtung ist es gewiß von Wert
zu erkennen, wie die Zeitgenossen jeweils bestehende Rechtsverhält-
nisse auffaßten. Die Anschauungsweise des XVIII. Jahrhunderts ver-
dient an und ftir sich schon Beachtung; aber die damaligen Zustände
sind nur das Ergebnis einer langen Entwicklung, die nicht klargelegt
werden kann, wenn man Begriffe, die am Ende galten, auf den An-
fang überträgt. Dem Staat des XVIII. Jahrhunderts, der absoluten
Monarchie, fehlten wesentliche Funktionen, die von seinen Vorgängern
aus der Hand gegeben waren, während er andrerseits seine Wirksam-
keit auf Gebiete erstreckte, die früher unberührt geblieben sind. So
mußte das Verhältnis von Grundherrschaft und Staat durchaus ver-
schoben erscheinen. Es war gleichsam dem Bewußtsein entschwunden, daß
die Rechte der Gutsherren über die Bauern aus Verleihung durch den
Inhaber der Staatsgewalt sich herleiteten, daß also gerade die Agrar-
verfassung des Ostens einen ganz überwiegend öffentlich-rechtlichen
Charakter trug, während eher noch im Westen sich Reste der alten
privatrechtlichen Ausgestaltung erhalten hatten, Überbleibsel des Hof-
rechts und der eigentlichen Leibeigenschaft.
Die durch Zeitumstände bedingte, aber historisch unberechtigte,
Scheidung von staatlich-öffentlich und patrimonial oder privat darf nicht
den Ausgangspunkt für soziologische Betrachtungen bilden '), etwa so,
daß dem kleinen, privaten Kreise der Grundherrschaft der große Kreis
der Stadt entgegengestellt wird, in dem eine öffentliche Gewalt ent-
i) S. P. Sander, Feudalstaat %tnd bürgerliche Verfassung, Berlin 1906.
8
— 112 —
stehen konnte. Der Staat und mit ihm der Begriff von staatlicher
oder öffentlicher Gewalt existierte lange, bevor die Stadt durch kräftig-e
Ausbildung der Ortsgemeinde sich vom Lande sonderte, und diese
Staatsgewalt ist niemals zugrunde gegangen, wenn auch geistlichen
oder weltlichen, großen oder kleinen Grundherren und Stadtgemeinden
viele ihrer abgesplitterten Attribute zuteil wurden. Selbst die der
deutschen Verfassungsentwicklung eigentümliche Verschiebung, dafi
statt des Königs die Landesherren zu den eigentlichen Trägem der
Staatsgewalt wurden, kann den Zusammenhang zwischen der ältesten
Form des Staatsbegriffs und seiner jüngeren, unendlich reichen Ent-
faltung nicht verdunkeln. Der Staatsbegriff hat seine Kontinuität be-
wahrt, während die Grundherrschaft in ihrem vielverschlungenen Ent-
wicklung^sgange zu einem Bestandteil der Staatsverfassung wurde, oder
aber, unter Einbuße ihres wesentlichen Kennzeichens, sich zum bloßen
Grundeigentum verflüchtigte.
Mitteilungen
Archive. — Das Fürstlich Lemingische Archiv in Amorbach.
Die Erlaubnis zur Benutzung des Archivs ist schriftlich bei der Fürsüich
Leiningischen Generalverwaltung in Amorbach (Unterfranken) einzuholen. Ur-
kimden und Akten werden, wenn nicht besondere Gründe dies verbieten,
an Archive, Bibliotheken und sonstige wissenschaftliche Anstalten versandt
Das Archiv setzt sich aus zwei ihrem Ursprünge nach ganz verschiedenen
Teüen zusammen:
1. aus dem Leiningischen Haus- und Familienarchiv,
2. aus Archivalien, die sich auf diejenigen Gebietsteüe beziehen, aus
denen 1803 das neue, rechtsrheinische Fürstentum Leiningen gebüdet
wurde.
Die äufiere Geschichte des Archivs behandelt ein 1898 in Heft 22 der
Mitteilungen des historischen Vereins der Pfalz erschienener Aufisatz des
Unterzeichneten Archivgeschichte des Hauses Leiningen; über seine Bestand-
teile soll im folgenden ein kurzer Überblick gegeben werden.
L Leiningisches Haus- und Familienarchiv.
Älteste Originalurkimde von 1196; 80 Originalurkunden bis 1300, 375
bis 1400. Kopialbücher ohne besondere Bedeutung, früheste Repertorien
aus der ersten Hälfte des XV. Jahrhunderts, vgl. hierzu den erwähnten Auf-
satz S. 2 fr.
Den Hauptbestandteü bUdet das eigentliche Familienarchiv mit seinen
auf die Personalien der einzelnen Familienglieder bezüglichen Akten , den
Hausgesetzen und Familienverträgen, kaiserlichen Privüegien usw. Die Ein-
künfte- und Landesteilungen innerhalb der verschiedenen Linien und Zweige.
Lehenbriefe und Lehensreverse, Lehenbücher (vgl. a. a. O. S. 14), Akten über
Aktiv- und Passivlehen. Korrespondenzen mit Verwandten und Nachbarn.
— 113 —
Kriege und Fehden, bekannt die mit den Herren zu Lichtenberg und Fried-
rich dem Siegreichen von der Pfialz. Umfangreiche in den Prozessen um
das Hessosche (gegen Westerburg) und Saarwerdener Erbe (gegen Nassau) er-
wachsene Akten.
Die Beziehungen des Hauses zum Wetterauischen Grafenkollegium, zum
Oberrheinischen Kreis, zum Reich. Besondere Reichstagsberichte von 1721
bis 1727, von 1757 bis 1766 — vom Kreisgesandten von Pistorius — ,
von 1793 bis 1806. Eigene Berichte Leiningischer Bevollmächtigter aus der
Zeit vom Rastatter Kongreß bis zum Reichsdeputationshauptschlufi.
Die Besitzungen des Hauses lagen in der heutigen Rheinpfalz —
Dürkheim, Hardtdörfer bis Grünstadt, Falkenburg — , in Rheinhessen —
Guntersblum imd Bechtheim — und im Elsaß — Grafschaft Dagsburg — .
Das Material hierüber ist unvollständig, die älteren Sachen sind meist vor-
handen, das Neuere ist nur durch Zufall in Bruchstücken erhalten. Denn
einmal verbrannte 1794 mit dem Schlosse zu Dürkheim die Hauptregistratur
der Regienmg, des Konsistoriums und der Rentkammer bis auf die schon
vorher auf das rechte Rheinufer geretteten Teile, anderseits wurde von dem
Geretteten, soweit es sich auf die einzelnen Ortschaften und ihre wirtschaft-
lichen Verhältnisse bezog, das meiste wieder an Frankreich, bzw. Bayern ab-
geliefert (vgl a. a. O. S. 33 fr.)* Hierdurch erklärt sich der lückenhafte Cha-
rakter des noch Vorhandenen. Von diesem verdient Erwähnung: Kirchen-
imd Schulakten aus dem Ausgange des XVI. imd dem Anfange des XVII. Jahr-
hunderts. Material über Burgen, Schlösser und Herrensitze, die mit anderen
Herrschaften gemeinsamen Besitzungen (Falkenburg, Frankenstein, Haßloch),
Beziehimgen zu den Nachbarn (Pfalz, Zweibrücken, Speyer, Worms), zu dem
eingesessenen Adel, den Klöstern. Kloster Wadgassen — sein Besitz zu
Bockenheim 1582 von Leiningen erworben — , Kloster Limburg — Brief-
bücher aus der Zeit der Aufhebung 1560 bis 1570 — , Kloster Hessen bei
Saarburg (Lothringen).
Naturgemäß lückenhaft ist das Material über die Besitzungen, die sich
nur vorübergehend beim Leiningischen Hause befanden: Aspremont (nw.
Nancy, Frankreich), Broich a. d. Ruhr, Brumat (Elsaß), Gutenburg und Min-
feld (Rheinpfalz), Limpurg - Gaildorf (Württemberg, Jagstkreis), Oberbronn
(Elsaß) und Oberstein (Fürstentum Birkenfeld).
Rechnungen sind vom X¥. Jahrhundert an vorhanden, dieselben
bilden aber keine vollständigen Reihen durch die Jahrhunderte hindurch.
Es liegt dies mit an den vielen Landesteilungen, Vormundschaften, Wittums-
nutzungen usw., die eme von den wechselnden Landesherren unabhängige
und deswegen sich gleich bleibende Geschäfbübung imd Rechnungsstellung
nicht aufkommen ließen.
An handschriftlichem Kartenmaterial finden sich nur einige Forstkarten
aus dem XVin. Jahrhundert.
Die Sammlungen des im Herbste 1907 verstorbenen bekannten Heraldikers
Karl Emich, Grafen zu Leiningen -Westerburg sind, soweit sie sich auf das
Haus Leiningen beziehen — Urkunden, Siegel, Münzen — , an das fürstliche
Archiv übergegangen.
II. Die Archivalien des neuen rechtsrheinischen Fürstentums Leiningen.
Dasselbe wurde gebildet aus den Mainzischen Oberämtem Amorbach
8*
— 114 —
(mit den Kellereien Amorbach, Buchen, Osterburken, Selgental und Walldürn),
Miltenberg und Tauberbischofsheim (mit den Kellereien Bischofsheim und
Külsheim), den Pfalzischen Oberämtem Boxberg imd Mosbach (mit der Stadt-
schultheißerei Mosbach und den Kellereien Eberbach, Hilsbach, Lohrbach
und Neckarelz), den Würzburgischen Ämtern Hardheim, Lauda und Ripperg,
dem zwischen Mainz und Würzburg gemeinsamen Schüpfer Grunde und dem
Kloster Amorbach.
Das hierher gehörige Material zerfällt in drei Gruppen:
a) die ehemals Mainzischen, Pfälzischen, Würzburgischen und Kloster
Amorbacher Archivalien,
b) die beim Entstehen des neuen Fürstentums erwachsenen Akten,
c) das Archiv des souveränen Fürstentums Leiningen (1803 bis 1806).
a) Erste Gruppe. Älteste Originalurkimde von 1197, 45 Originalurkimden
bis 1300, 180 bis 1400. Am vollständigsten ist das Archiv des ehemaligen
Benediktinerklosters Amorbach, da es unzertrennt an Leiningen übergegangen
ist. Was das Kloster im XVIIL Jahrhundert an Archivalien besaß und in
seinem großen siebenbändigen, 1774 bis 1784 von P. Bonifadus angelegten
Repertorium verzeichnete, ist audi jetzt noch vorhanden. Es fehlt aber
nahezu alles aus der Zeit vor 1200, und zwar muß dieser Verlust schon
sehr frühzeitig eingetreten sein. Erhalten haben sich im Kopialbuche C
(2. Hälfte des XV. Jahrhunderts) nur die Abschriften dreier Königs- bzw.
Kaiserurkunden (von 826, 986 imd 1016). Ein großer Teil der wichtigeren
Urkunden ist in Gropps Historia monast. Amorb. 1736 abgedruckt; wenig
Berücksichtigung haben dabei die wirtschaftlichen Verhältnisse gefunden, über
die wertvolles Material vorhanden ist. Urbar von 1395, Zins-, Gült- und
Lagerbücher über den ausgedehnten Klosterbesitz, der sich vom Main bis
zur Jagst und zum Kocher erstreckte. Fast lückenlose Zehntregister von
15 13 an. Akten zur kirchlichen Reformtätigkeit im Erzstifte Mainz in der
2. Hälfte des XVIII. Jahrhunderts.
Rechnungen — nicht sehr zuverlässig und übersichtlich geführt — von
15 13 an, nicht vollständig.
Die Mainzischen, Pfälzischen und Würzburgischen Archi-
valien sind Bruchstücke, hervorgegangen aus einer Zerteilung der Archive
dieser drei Staaten. Über die Art imd Weise dieser Teüung vgl. a. a. O.
S. 38—45-
Von Generalakten befinden sich nur verschwindend wenige im fürstlichen
Archive, dieselben blieben in Aschaffenburg, Würzburg imd Mannheim bzw.
Karlsnihe. Sammlungen der Verordnungen der drei Staaten und Lehenakten,
die aber nur bei Mainz weiter zurückgehen, dürften allein hierher zu zählen
sein. Auch bezüglich der Urkunden ist Mainz am reichsten vertreten, am
dürftigsten sind Pfälzer Urkunden, die bis auf wenige Ausnahmen erst aus
dem XVn. und XVIII. Jahrhundert stammen. Ein großer Teil der Urkunden
bezieht sich auf ausgestorbene Adelsgeschlechter wie die Düms, Hartheims,
die Riedem, Rosenberg, Tottenheim, Wichsenstein.
An Archivalien, die Hoheitsrechte betreffen, wären zu nennen: Juris-
diktionalbücher, Weistümer, Dorfordnungen, Centverhältnisse, Leibeigenschaft,
Atz und Fron, Beziehungen zu Klöstern (Altenmünster, Billigheim) und ein-
gesessenem Adel (Adelsheim, Degenfeld, Gemmingen, Gudenus, Rüdt, Ven-
— 115 —
DiDgen, Wieser, Herrschaft ZwiogeDberg) , Aufsicht über Kirchen, Schulen,
Handel und Gewerbe, Zunftordnungen, Forst- und Jagdhoheit, Fischerei,
markgenossenschaftliche Waldungen, Neckar- und Mainhoheit, Zölle, Mono-
pole, rund 300 Bände Zins-, Gült-, Lager- und Schatzungsbücher der ein-
zelnen Ämter imd Orte.
Alle Judicialia wurden bei der Mediatisierung bzw. 1848 an Baden imd
Bayern abgegeben.
Am umfangreichsten und vollständigsten sind die Akten über Domänen-
sachen: herrschaftliche Gebäude, herrschaftliche Güter, in Selbstbewirtschaf-
tung und Pacht, Erbbestände (Mühlen), Schäfereien, Trift- und Weiderechte,
Forste, Forstberechtigungen.
Die Rechnungen der oben aufgezählten Ämter sind von 1700 an vor-
handen, nur beginnen dieselben beim Amte Boxberg erst mit dem Jahre 1738.
Dagegen haben sich Rechnungen der Ämter Amorbach und Miltenberg vom
XV. bzw. XVI. Jahrhundert an erhalten, die älteste Amorbacher Amtsrech-
nung ist von 14 13, die älteste Miltenberger von 1550. Außerdem vereinzelte
Gemeinde- imd Kirchenrechnungen und die Rechnungen der Mainzischen
Domfaktoreien Bischofsheim, Königheim und Miltenberg von 1700 an.
Zahlreiche imd wertvolle Forstkarten, daneben landwirtschaftliche und
Gemarkungskarten und Güterrenovationen.
Die Gruppe b umfaßt die Akten über die Besitzergreifung der Ent-
schädigungsländer und die Ausemandersetzung mit den verschiedenen hierbei
beteiligten Reichsständen wegen Übernahme und Verteilung der Schulden,
der Beamten, Diener und Pensionisten. Originalprotokolle der Rheinpfälzischen
Ausgleichungskommission in Mannheim (1803 bis 1807, 7 Bände). Ab-
schriften der Protokolle des zur Staatsschulden und Lastenverteilung des er-
loschenen Kurfürstentums Mainz versanmielten Kongresses (Frankfurt 1804).
Daneben direkte Ausgleichsverhandlungen mit dem Kurerzkanzler. Mit Würzburg
waren namentlich die strittigen Besitzverhältnisse im Schüpfer Grunde zu regeln.
Gruppe c, das Archiv des souveränen Fürstentums Leiningen.
Verordnungen und Landesorganisation. Regierungs- und Hofkanomer-
protokoUe. Statistische Umfragen zur Kenntnis (1803) und Hebung (1806)
des Landes (20 Bände). Polizeisachen (Gesundheits-, Baupolizei, Aufsicht
über Handel, Gewerbe, Verkehr). Kirchen- und Schulwesen. Forstverwaltung.
Domänen. Militär.
Auswärtige Verhältnisse : Beziehungen zu den Nachbarn (Baden, Bayem-
Würzburg, Deutschorden, Erbach, Hessen, Löwenstein, Fürst Primas, Salm-
Krautheim, Württemberg), Grenzstreitigkeiten und Grenzberichtigungen, Ge-
biets- und GefäUsaustauschverträge, Freizügigkeit. Reichsritterschaft Stellung
zu Kaiser und Reich, zur katholischen Kirche, zu Frankreich. Die Union.
Korrespondenzen allgemein politischer Natur.
In folgenden Büchern und größeren Aufsätzen ist Material des fürst-
lichen Archivs verarbeitet:
Albert, Steinbach bei Mudau. Freiburg i. Br. 1899.
Derselbe, Baden zwischen Neckar und Main 1803 bis 1806. Neujahrs-
blätter der badischen historischen Kommission. Heidelberg 1901.
Bohne r, Geschichtlicher Überblick über die Entwicklung der Lateinschule
zu Amorbach (1807 bis 1907). Amorbach 1907.
— J16 —
Brefilau, Die im Anfiang des XJX. Jahrhunderts gefälschte Dagsburger
Waldordnimg vom 2 7 . Juni 1 6 1 3. Jahrbuch der Gesellschaft für lothringisdie
Geschichte und Altertumskunde. X. 1898.
Ebhardt, Deutsche Burgen. Berlin 1899 fr. Lieferung i (Wildenburg),
liefenmg 7 und 8 (Hartenburg).
Esser, Die Waldberechtigungen in der ehemaligen Grafechaft Dagsburg.
2 Bände. Straßburg 1894.
Glasschröder, Urkunden zur Pfälzischen Kirchengeschichte im Mittelalter.
München und Freising 1903.
Gut mann, Die Fayence-Fabrik Mosbach. Abschnitt IV in „Die Kunst-
töpferei des XVIII. Jahrhunderts im Grofiherzogtum Baden**. Karlsruhe
1906. Exkurs in „Kimstdenkmäler des Grofiherzogtums Baden**, Band IV,
Abteilung 4, S. 78 fr.
Hausrath, Änderungen in der Bestockung des PfiÜzer Odenwalds. Forst-
wissenschaftliches Zentralblatt, 27. Jahrgang 1905.
Hofmann, Karl, Der Bauernaufstand im badischen Bauland und Tauber-
grund 1525. Karlsruhe 1902.
Derselbe, Das Kurpfälzische Oberamt Boxberg im Dreifiigjährigen Kriege.
Pforzheim 1902.
Derselbe, Der Bauernaufstand des Jahres 1848 im badischen Bauland. (N.
A. für die Geschichte der Stadt Heidelberg.)
Kaiser, Geschichte des Orts und der Pfarrei Höpfingen. Tauberbischofe-
heim 1900.
Krebs, Die Politik des Grafen Emich VIII. zu Leiningen und die Zer-
störung des Klosters Limburg 1504. Mitteilungen des historischen Vereins
der Pfalz, Heft 23, 1899.
Derselbe, Die Weistümer des Gotteshauses und der Gotteshausleute von Amor-
bach. Alemannia, NF. Band III, IV und VL
Lehmann, Urkundliche Geschichte des gräflichen Hauses Leiningen-Harten-
burg imd Westerburg. Kaiserslautem.
List, Franz, regierender Graf zu Erbach. Straßburg 1903.
Maurer, Rühl. Ein Elsässer aus der Revolutionszeit. Straßburg 1905.
Schreiber, Der Zusammenbruch des Bahrdtschen Philanthropinums zu Heides-
heim. Rheinische Blätter für Erziehung und Unterricht Frankfurt a. M. 1895.
Schreibmüller, Die Landvogtei im Speiergau. Kaiserslautem 1905.
Obenheinische Stadt rechte. I.Abteilung. Fränkische Rechte. Heidelberg
1895 ff. Namentlich Hefl 3 mit den Rechtsquellen von Amorbach, Wall-
düm. Buchen usw.
Volksschulwesen. Geschichte der Entwicklung des Volksschulwesens nn
Großherzogtum Baden. Bühl 1900. Band I und IL
Weiß, Geschichte der Stadt Eberbach. Eberbach 1900.
Archivar Krebs (Amorbach).
Mnseen. — Über die in Anhalt vorhandenen städtischen Museen
ist in aller Kürze bereits früher ') berichtet worden. Es bestehen Sanmi-
i) Vgl. diese Zeitschrift 5. Bd., S. 73 f.
— 117 —
luDgen meist prähistorischer Gegenstände in Bemburg, Köthen, Zerbst und
Groß-Kühnaciy daneben zahlreiche Privatsammlungen. Die Sammlung in
Bemburg gehört dem dortigen Geschichts* und Altertumsverein, die in Zerbst
der Stadt, die in Köthen und Groß-Kühnau Sr. Hoheit dem Herzoge. Was
bisher noch gefehlt hat, ist ein Landesmuseum; dies zu begründen ist seit
langer Zeit der Wunsch aller Geschichtsfreunde in Anhalt, — aber die Aus-
fUhnmg dieses Planes ist mehrerer Gründe wegen bisher noch nicht in die
Wege geleitet. Der wichtigste ist wohl der, dafi die Finanzen des Landes
vorläufig durch andere wirtschaftliche Aufgaben gebunden sind, daß auch
der Landtag für diese besondere Aufgabe der Fürsorge fUr historische Denk-
mäler noch nicht die notwendige Anregung erhalten hat. Es fehlt vor allem
noch an einer gesetzlichen Grundlage, die historischen Denkmäler jeder Art
zimächst für den Staat in Anspruch zu nehmen, darum verfaUen die Funde
nach den geltenden privatrechtlichen Bestimmungen zur Hälfte dem Finder,
zur anderen Hälfte dem Besitzer vom Grund und Boden, auf welchem der
Fund gemacht ist. Wenn nun auch in dieser Webe die Funde, die auf
fiskalischem und herzoglichem Grund und Boden gemacht werden, einem
Landesmuseum erhalten werden könnten und durch die Bemühungen der
Herzoglichen Regierung und ihrer Organe, der Kreisdirektionen, auch zum
Teil erhalten werden, so geht doch ein Teil derselben sowie fast alle auf
privaten Grundstücken der Allgemeinheit verloren, indem sie der Privat-
sammelwut zum Opfer fiadlen und, wenn es hoch kommt, ab Dekorations-
stücke in Privathäusem verwendet werden und dadurch der eigentlichen
Forschtmg und Wissenschaft entzogen sind. Zu beklagen ist femer, daß
die Provinzialsanmilungen Preußens und vor allem das Völkermuseum den
prähistorischen Funden unseres Landes Gefahr bringen. Infolge der reich-
licheren Mittel, über welche diese Institute verfügen, werden die einheimischen
Fmder veranlaßt, diesen die Funde zu überlassen, ein Schaden, der nicht
nur uns trifit, sondern auch jene Institute selbst: uns raubt dieses Verfahren
die wissenschaftlichen Objekte, die Möglichkeit historische Zusammenhänge
zu finden und darzulegen, jene aber gewinnen zum Teil fremdartige Stofife
und Zusammenhänge, die schließlich nur Ballast werden, und außerdem führt
diese Konkurrenz zu einer Steigerung der Preise, die nur dem oft ganz un-
gebildeten Finder zugute kommt, die Erwerbsfähigkeit der heimischen Samm-
lungen aber in ungerechtfertigter Weise mindert Es wird, und diese Ansicht
habe ich schon vor ein paar Jahren beim Provinzialmuseum zu Halle geltend
gemacht, dahin kommen müssen, daß sich die konkurrierenden Institute über
folgende Grundsätze einigen: i. Die prähistorischen Funde gehören dem
prähistorischen Museum des Landes, in dem sie gemacht sind; ein anderes
Institut ist nur dann zum Ankauf berechtigt, wenn das zuständige Landes-
museum nachweislich den Ankauf abgelehnt hat a. Die konkurrierenden
Institute setzen untereinander eine gemeinsame, verbindliche Taxe fUr Ent-
lohnung der Finder fest. 3. Die konkurrierenden Institute benachrichtigen
einander von vorztmehmenden wissenschaftlichen Ausgrabungen in dem ihnen
zuständigen Gebiete, lassen zu den Ausgrabungen Vertreter der anderen In-
stitute zu und geben bei Funden einander die Berechtigung zur Erwerbung
etwaiger Duplikate, sowie zum Austausch usw. Unter Anerkennung dieser
Grundsätze, die, wie ich höre, ja auch bereits zur Diskussion gestanden
— 118 —
haben, können die Sammlungen der Kleinstaaten mit einigem Erfolg sich der
Konkurrenz erwehren und eine erfolgreiche Tätigkeit entwickeln. Von der
bisherigen Praxis haben einen Vorteil eigentlich nur die Privatsammlungen
derjenigen gehabt, die auf eigene Faust Ausgrabungen veranstalteten.
So war auch eine der umfangreichsten PrivatsammUmgen , die des
Dr. med. H Seelmann in Alten (jetzt in Dessau), entstanden. Dieser Herr,
der sich mit großer Liebe und energischer Täti^eit der prähistorischen
ForschuDg in Anhalt gewidmet und eine Reihe von Aufsätzen darüber ver-
öffentlicht hat, hat nun seine Sammlung der Stadt Dessau zum Kauf an-
geboten, und die Stadt, die ja über reiche Geldmittel verfügt, hat den An-
kauf beschlossen, so dafi sie also in den Besitz eines prähistorischen
Museums gelangt. Es ist selbstverständlich, dafi Herr Seelmann auch unter
den neuen Verhältnissen die wissenschaftliche Leitung behalten und nach
Kräften darin weiter zur Ordnung und Vermehrung beitragen wird. Wir
können jedoch nicht verhehlen, daß wir den Ankauf dieser Sanunlung durch
die Stadt bedauern; denn nach unserer Ansicht wäre dies die Pflicht
des Staates gewesen, der damit einen wertvollen Anfang zur Gründung
eines Landesmuseums hätte machen können; auch die Stadt würde ja
in diesem Falle nicht zu kurz gekommen sein, da sie, als Residenz, so wie
so doch der Sitz des Landesmuseums geworden wäre. Wir stehen also in
Anhalt immer noch auf dem alten unrichtigen Standpunkte: wir haben drei
große städtische, zwei herzogliche prähistorische Museen, deren größtes, das
in Groß-Kühnau, sogar abseits von der größeren Verkehrsstraße liegt, —
aber kein Landesmuseum, tmd doch gehört nach meiner Ansicht die Prä-
historie nicht in das Gebiet der stadtgeschichtlichen, sondern in das der
landesgeschichtlichen Forschung. Es wird auch wohl noch viel Zeit
vergehen, ehe die einzelnen derartigen Institute ihren eigensten Zweck be-
greifen und nur diesem dienen: lieber ein kleines und wohlgeordnetes, in-
struktives Ganze aus ihrem Kreise zu bilden, als an der bunten Mannig-
faltigkeit eines Basars Artikel aus aller Welt zu sanmieln und darauf die
Mittel zu verwenden. „, . , .„ , .
Wäschke (Zerbst).
£IngegaiiiE:eiie Bficher.
Philippi, F.: Westfälische Landrechte L: Landrechte des Münsterlandes
[= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen.
RechtsquellenJ. Münster i. W., in Kommission der AschendorfTschen
Buchhandlung 1907. XUI und 279 S. 8*^.
Regensberg, Friedrich : 1870/71. Der Deutsch-Französische Krieg, nach
den neuesten Quellen dargestellt. Band I. : Vorgeschichte des Krieges,
Vorbereitungen zum Kriege, Einmarschkämpfe (Weißenburg, Wörth,
Spichem) mit 5 Karten und 3 Beilagen. Stuttgart, Frankh'sche Ver-
lagsbuchhandlung {W. Keller & Co.). 336 S. 8^. M. 7,50.
Forrer, R.: Keltische Numismatik der Rhein- und Donaulande, VL Fort-
setzung und Schluß [= Jahrbuch der Gesellschaft für lothringische
Geschichte und Altertumskunde, 18. Jahrgang. {Metz 1906), S. 284 — 316].
Hermusgeber Dr. Annio Tille in Leipd^.
VerUg und Druck von Friedrich Andreas Perthes, Aknenfesellschaft, Oodia.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsscbrift
sar
Förderung der landesgeschichtiichen Forschung
IX. Band Februar tgoB 5. Heft
Das Zeitalter des Absolutismus
im Fürstbistum Bamberg
Von
Fritz Härtung (Wien)
I.
Es mag gewagt erscheinen, die Geschichte des Fürstbistums Bam-
berg im XVIII. Jahrhundert, wenn auch nur in großen Zügen, darzustellen,
ohne zu versuchen, die Lücken unserer Kenntnis durch eigene archi-
valische Forschung auszufüllen. Aber so viel auch noch auf diesem
Gebiete zu tun bleiben mag und so tmgleich auch der Stand der
Forschung ') über das Wirken der einzelnen Bischöfe ist, der Versuch
scheint mir gleichwohl berechtigt, diese Epoche der Bamberger Ge-
schichte einer zusammenfassenden, von Einzelheiten absehenden Be-
trachtung zu unterziehen und das Moment zu betonen, das ihr die
innere Einheit verleiht, den fürstlichen Absolutismus.
Es klingt allerdings seltsam, Absolutismus im geistlichen Fürsten-
tum. Denn der Absolutismus ist, wenn man mehr den geistigen In-
halt als die Form ins Auge faßt, d. h. ihn als Epoche der Verfassungs-
geschichte, nicht als staatsrechtlichen Begriff betrachtet, nichts anderes,
als der Kampf des Fürstentums mit den geburtsständischen Korpo-
rationen um die Macht im Staate, ein Kampf um rein weltliche Zwecke,
um irdische Herrschaft, ein Kampf, in dem Beamtentum und Militär
i) Ich nenne nur die neueren Arbeiten, in erster Linie die mosgeteichneten Ab-
handlungen von K. Wild: Lothar Fnnu van SchÖnbam (Heidelberg 1904) nnd 8tuat
und Wirtaehmft in den Bititümmn Würiimrg mnd Bamberg (ebenda 1906), ferD«r
Zöpfl: Fränkieeke Handelipolitik im Zeitalter der Aufkiänmg (Leipug 1894),
Leitschah: FranM Ludwi§ v(m Erthal, Füretbiechof von Bamberg und Wütm-
hurg, Herzog von Franken (Bamberg 1894) ond den Vortrag von Wolfram über den-
selben im Korrespondentblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- and Altertums-
vereine 1906, Sp. a25ff. — Looshorn: Geeehichte des BistuwM Bamberg (Manchen
1 886 ff.) eotbekrt dagegen des Verstindmases für die Anfordenmgen der Wissenschaft.
9
— 120 —
die Hauptwaffe des Fürstentums bilden. Was diesem Kampf seine Be-
deutung für die Weiterbildung der Staatsverfassung verleiht» ist die
Tatsache, daß das Fürstentum im Interesse seiner Macht nicht bloß
die Landstände in ihren Ansprüchen auf Mitbesitz der Regierungs-
gewalt bekämpft, sondern auch an die Stelle ihrer ^[x>i8tischen
Klassenpolitik eine eindringende, vor allem die bisher vernachlässigten
Schichten der Bevölkerung berücksichtigende Wirtsch afts- und Wohl-
fahrtspolitik setzt, und daß sick mit dieser Erweiterung der Staats-
tätigkeit eine Vertiefung des Staatsgedankens verbindet. Der Absolu-
tismus hat die Grundlagen geschaffen, auf denen der moderne Staat ruht.
Im geistlichen Territorium erleidet dieser Typus naturgemäß er-
hebliche Abänderungen. Der rein weltliche Zug bleibt ihm allerdings
erhalten. Mit der kirchlichen Seite des Bischo&amts hat die Ent-
wicklung, die ich zu schildern unternehme, nichts zu tun. Wohl findet
die eifrige Reformtätigkeit, die wir in vielen geistlichen Staaten des
XVIII. Jahrhunderts beobachten, häufig ihre Ergänzung in Reformen
auf kirchlichem Gebiet, vor allem auf dem der Disziplin und der Aus-
bildung des Klerus; aber das Schwergewicht ruht doch überall auf
der staatlichen Seite. Die Steigerung des Bewußtseins, nicht nur
Kirchen-, sondern auch Reichsfiirst, nicht nur Seelenhirt, sondern auch
Landesherr zu sein, gibt sich auch äußerlich kund, indem die Bam-
berger Bischöfe seit Peter Philipp von Dembach (1672 — 1683) ihrem
Titel die Worte sacri Romani imperii princeps hinzufugen. Und
eifersüchtig wahrte man Fürstenwürde und Fürstenrang, vor allem
gegenüber der Kurie, die den deutschen Bischöfen den Titel ÄUegza
beharrlich versagte.
Der entscheidende Unterschied zwischen dem Absolutismus des
weltlichen und geistlichen Staates liegt in den Machtverhältnissen.
Es fehlten dem geistlichen Staate die Triebfedern der weltlichen Fürsten,
sowohl der Ehrgeiz, die Herrschaft der Dynastie zu befestigen, wie die
Möglichkeit, mehrere Territorien in einer Hand zu vereinigen und sie
dauernd zu einem Ganzen zu verschmelzen. Und noch weniger konnte
das Moment wirksam werden, das in enger Verbindung mit den beiden
ersten den eigentlichen Ausgangspunkt des Absolutismus gebUdet hat,
das Machtstreben nach außen; denn eine aggressive, ausgreifende
Politik war völlig ausgeschlossen gegenüber den immer wieder säku-
larisationslüstemen weltlichen Staaten. So blieb nur noch das eine
übrig, die inneren Kräfte des geistlichen Staates zu wecken und aus-
zubilden; und das ist auch in Bamberg der Ausgangspunkt für die
Wirksamkeit des Lothar Franz von Schönbom (1693 — 1729) gewesen.
— 121 —
Der fürstbischöfliche Absolutismus verfolgt mithin eine durchaus defen-
sive, konservative Politik, deren Hauptziel es ist, eine Verschiebung
der Machtverhältnisse zuungunsten der Kleinstaaten zu verhindern»
Das ist auch die Richtschnur für die Reichspolitik und bedingt die
Haltung gegenüber Österreich nicht minder als gegen Frankreich.
Dieser Gedanke bildet auch das ausschlaggebende Moment für die
Stellung zu den anderen Reichsständen. Im Interesse der Erhaltung
der bestehenden Machtverhältnisse hat sich Lothar Franz energisch
dem Versuch Preußens, in Baireuth festen Fuß zu fassen, widersetzt,
und ihm ist es gelungen, Preußen für mehrere Menschenalter vom
fränkischen Kreise fernzuhalten.
Wenn aber Lothar Franz eine tatkräftige Politik zur inneren
Stärkung seines Staates durchfuhren wollte, so mußte er vor allem
freie Hand haben, und das führte zum Konflikt mit dem Domkapitel.
Noch mehr als die „Herren Stände" in weltlichen Territorien bean-
spruchte das Domkapitel eine weitgehende Mitregierung, und es war
in der angenehmen Lage, nicht nur bei jedem Regierungswechsel
seine Ansprüche in der Wahlkapitulation sichern zu können, sondern
auch die Zeiten der Sedisvakanzen zur Stärkung der eigenen Position
auszunutzen. Zwei Ziele verfolgten die Kapitel aller geistlichen Staaten
in ihrer Politik gegenüber den Bischöfen : erstens suchten sie möglichste
Unabhängigkeit für sich und ihre Besitzungen beim Bischof durchzusetzen,
und zweitens waren sie bemüht, einen möglichst großen Einfluß auf
die bischöfliche Regierung zu erlangen, der das Kapitel fast zum Mit-
regenten machte und von ihm lediglich zur Pflege eigener, nicht der
Landesinteressen verwendet wurde. Immer mehr hatte man die
Bischöfe einzuengen versucht; aber schließlich hatte gerade die Über-
spannung der Forderungen zum Konflikt geführt. Überall setzte gegen
Ende des XVII. und im Anfang des XVIII. Jahrhunderts die Reaktion
gegen die Ansprüche der Kapitel ein. In Speier wollte Bischof Damian
Hugo von Schönbom (1719 — 1743) nicht mehr der „stumme Hund"
seines Kapitels sein '), auch in Eichstätt kam es im Laufe des XVIII. Jahr-
hunderts zum Konflikt zwischen Bischof und Kapitel '). In Bamberg
und Würzburg hatte schon Fürstbischof Peter Philipp von Dembach
i) über Damian Hugo, detsen Tendenzen sich vielfach mit denen seines Bruders
Friedrich Karl, des Bamberger Bischofs, berfihren, vgl. Wille, BrttehSiU (a. Auflage,
Heidelberg 1900).
2) Sax, Die Bischöfe ^nd Beichafürtten von Eichstätt 2. Bd. (Landshnt
1885), S. 661, leider ohne jedes Verständnis fUr die verfassangsgeschichtliche Bedeutung
der Vorginge.
9*
— in —
(1672 — 1683) versucht, sich von den Kapiteln unabhängig zu machen;
aber er war noch nicht durchgedrungen, und nur in Würzburg gelang
es seinem zweiten Nachfolger, Johann Gottfried von Guttenberg (1684
bis 1699), das Kapitel endgültig zu besiegen, indem er beim Papst
die Kassation aller vor der Wahl erfolgenden Kapitulationen erwirkte.
In Bamberg dagegen hatte nach Peter Philipps Tode das Kapttd
nochmals die Macht in die Hand bekommen. So mufite auch Lothar
Franz von Schönbom, als er 1693 zum Bischof von Bamberg gewählt
wurde, eine sehr einengende Kapitulation beschwören. Aber die
Erfolge der Würzburger Nachbarn wirkten doch auch auf Bamberg
ein. Es glückte Lothar Franz, das Kapitel ohne scharfen Konflikt
tatsächlich beiseite zu schieben und ungestört zu regieren. Dieses
Vorgehen ist bezeichnend für die Anfänge des Absolutismus, die wir
unter Lothar Franz finden: es konnte sieh für ihn noch nicht darum
handeln, prinzipiell alle Sondergewalten unter seine Macht zu beugen,
sondern er mufite damit zufrieden sein, wenn er für die fürstliche Ge*
walt überhaupt erst eine Basis schaffen konnte. Daher begnügte er
sich mit dem praktischen Erfolg, daß das Kapitel seiner Regierung
keine Hindemisse bereitete, auch schon 1708 seinen Neffen Friedrich
Karl von Schönbom zum Koadjutor mit dem Recht der Nachfolge
wählte.
Das gleiche Verfahren, Verzicht auf prinzipielle Entscheidung, aber
energisches Zugreifen im rechten Augenblick und Festhalten am prak-
tischen Erfolg, wendete Lothar Franz auch g^enüber dem Beamten-
tum und in der Behördenorganisation an. Diese blieb in den Grund-
zügen unverändert; aber in die Einzelheiten des Geschäftsgangs griff
der reformeifrige Fürst desto mehr ein, um die alteingewurzelten Miß-
stände, den „alten Kammerschländer'', wie es der Neffe in Speier
nannte ^) , auszurotten und eine Beschleunigung des Verfahrens durdi-
zusetzen. Mehr war auch nicht zu erreichen, ehe nicht das Beamten-
tum selbst für den landesfürstlichen Dienst erzogen war, und des-
wegen war nun das Hauptstreben darauf gerichtet, das Beamtentum
zu einem willigen, pflichtgetreuen, für Reformen empfanglichen Organ
des Fürsten zu machen. Zwar ließ Lothar Franz das Vorrecht des
Kapitels, daß die Präsidentenstellen der wichtigsten weltlichen Be-
hörden aus seiner Mitte besetzt werden mußten, unangetastet; auch
blieb nach wie vor ein Teil der Ratsstellen dem Stiflsadel vor-
behalten. Aber daneben bildete Lothar Franz doch einen ihm er-
I) Wille, S. 30.
— 128 —
gebenen Beamtenstand aus bürgerlichen Kreisen und aus dem nicht
kapitelfahigen Adel heran, der allein von ihm abhing und auf seine
Absichten gern und verständnisvoll einging. Daß er sich allerdings
noch keineswegs als sicheren Herrn seiner Beamten fühlte, zeigen das
Mißtrauen, das er gegen sie hegte, die scharfe Kontrolle, die er überall,
am eindringendsten im Rechnungswesen, einführte, und die schweren
Strafen, mit denen er nachlässige Beamte bedrohte.
Es war eine wichtige Frage, ob es gelingen werde, ein tüchtiges
Beamtentum zu erziehen. Wohl ging die Initiative zu allen Reformen
vom Fürstbischof selbst oder seinen nächsten Vertrauten aus; aber
für die Durchführung, vor allem der wirtschailspolitischen Absichten,
brauchte man ein fähiges Organ um so notwendiger, als die Bevölke-
rung von den neuen Ideen * gar nichts wissen wollte und sie auch
kaum verstehen konnte. Nur durch stete Einwirkung der Beamten,
durch unablässige Bevormundung waren die „schläfrigen Franken*',
wie Friedrich Karl, mißmutig über den passiven Widerstand, auf den
er bei ihnen stieß, sie mehrmals genannt hat, dahin zu bringen, daß
sie die wirtschaftlichen Verbesserimgen annahmen, die ihnen der Staat
darbot.
Daß der Fürst so eingehend für die wirtschaftliche FortbUdung
seiner Untertanen sorgte, geschah nicht der Glückseligkeit des Volkes
zuliebe. Vielmehr verfolgte Lothar Franz dabei den konkreten Zweck,
die Mittel seines Staates zu vermehren. Die wirtschaftliche
Hebung sollte die Untertanen instand setzen, durch vermehrte Ab-
gaben zur Deckung der Kosten beizutragen, die die Verteidigung des
Bistums nach außen erforderte. Auch bei Lothar Franz tritt die dem
Merkantilismus eigentümliche Überschätzung der Bedeutui^ des baren
Geldes deutlich hervor; gerade wegen des einseitig fiskalischen Zugs
sind die Erfolge seiner Wirtschaftspolitik gering gewesen. Auch die
Ungeduld des Bischofs, der rasche Resultate sehen wollte und der
Kleinarbeit kühnere, rascheren Erfolg versprechende, aber nicht ge-
währende Pläne (wie die Wiederaufnahme des Bergbaues) vorzog, mag
von Einfluß gewesen sein.
Auf die ganze Regierungstätigkeit des Lothar Franz hat der
Mangel an Nachdruck und Stetigkeit seitens des Füfsten nachteilig
eingewirkt. Und dieser ist wohl in erster Linie veranlaßt durch den
Mangel dnes lebendigen Staatsgefühls, der Empfindung der Zusammen-
gehörigkeit von Fürst und Volk. Lothar Franz ist Zeitgenosse
Ludwigs XIV.; in seiner Jugend hat er das Frankreich des Sonnen-
königs mit eigenen Augen gesehen, dann hat er als Kurfur^ von
— 124 —
Mainz und Erzkanzler des Reichs eifrigen Anteil genommen an der
großen Politik Europas. Kein Wunder, daß ihm Zeit und Lust fehlte,
sich ganz den Interessen des Bistums Bamberg hinzugeben. Er steht
noch mitten in der Zeit des VEtat c^est moi. Der Staat ist ihm nicht
Selbstzweck, sondern nur Mittel, um den Glanz des Fürsten zu erhöhen
und die Entfaltung fürstlichen Prunks zu ermöglichen. Als ein Wahr-
zeichen fürstlicher Größe sollte in Bamberg die neue Residenz er-
stehen, die noch heute erkennen läßt, daß sie wesentlich umfiassender
geplant war, als sie ausgeführt worden ist.
II.
Mit Friedrich Karl von Schönborn, der 1729, fast 55Jährig,
seinem Oheim in Bamberg — nicht aber in Mainz — folgte und noch
im gleichen Jahr zum Bischof von Würzburg gewählt wurde, beginnt
eine prunklosere Zeit, aber dafür eine Zeit unermüdlicher stiller Arbeit.
Friedrich Karl war, nachdem er 1734 seine Stelle als Reichsvizekanzler
niedergelegt hatte, nur noch Territorialfürst und besaß nicht den Ehr-
geiz, in der großen Politik eine Rolle zu spielen. Aber dafür wollte er
unbedingter Herr seines Territoriums sein. Weder kümmerte er sich
um Rechte, die Kaiser und Reich in Bamberg zustanden, wie Post-
und Zollwesen oder die Gerichtsbarkeit des Reichskammergerichts,
noch ließ er sich durch Sondergewalten in seinem Fürstentum beirren.
Er beugte sie alle unter seine Gewalt. Lothar Franz hatte sich damit
begnügt, die Verpflichtungen, die er in seiner Kapitulation hatte ein-
gehen müssen, stUlschweigend nicht zu erfüllen und den Absolutismus
praktisch zu begründen. Friedrich Karl bekannte sich zum grund-
sätzlichen Absolutismus ; er hat eine Kapitulation überhaupt nicht unter-
zeichnet, sondern prinzipiell versucht, das Kapitel auf die Stufe be-
ratender Landstände herabzudrücken, hat den Kampf mit ihm um die
Staatsgewalt auf der ganzen Linie, um Polizei-, MUitär- und Steuer-
hoheit, aufgenommen und unbekümmert um die Einmischung des
Kammergerichts siegreich durchgeführt. Was er erreicht hat, zeigt
ein Vergleich der Wahlkapitulation des Lothar Franz mit der des
Nachfolgers Philipp Anton von Frankenstein (1746 — 1753). Dort
130 Paragraphen, die eine volle Mitregierung des Kapitels fordern
und sogar Strafen gegen den Bischof für den Fall der Verletzung
festsetzen, hier nur noch 29 Paragraphen, in denen lediglich das Recht
der Beratung in Anspruch genommen wird.
Es ist natürlich, daß nach der Niederlage des Kapitels auch die
bisher privUegierten Abteilungen Michelsberg, Langheim und Banz
— 125 —
die Oberhoheit des Bischofs anerkennen mußten *). Auch die un-
mittelbare Reichsritterschaft, die zwar kein Rival der fdrstbischöflichen
Gewalt war, aber ihrer umfassenden Tätigkeit auf dem Gebiet der
Verwaltung viele Hindernisse in den Weg legen konnte, zu beugen
und zur Befolgung wenigstens der polizeilichen Verordnungen zu
zwingen, hat Friedrich Karl, wenn auch mit großer Rücksicht gegen
den Adel und daher mit geringem Erfolg versucht. Auch der geringe
Rest von Selbstverwaltung, den die Stadt Bamberg noch besaß, wurde
beseitigt. Während sich Lothar Franz mit Empfehlungsschreiben fiir
die Persönlichkeiten, deren Wahl in den Rat er wünschte, begnügt
hatte, nahm Friedrich Karl (ur sich das Recht der Bestätigung der
Gewählten in Anspruch. Es kam aber auch vor, daß er Leute be-
stätigte, die gar nicht gewählt worden waren, und schließlich blieb
der Bürgerschaft nur ein Vorschlagsrecht, während der Fürstbischof
die Entscheidung sich selbst vorbehielt. Und zu noch kräftigerer Wahrung
der furstbischöflichen Interessen trat an die Spitze des Stadtrates ein
Vizedom. Die „Muntäten", d. h. die der fürstlichen Polizeihoheit
nicht unterstehenden Stadtbezirke, verloren ihre Privilegien und wurden
den übrigen Stadtteilen gleichgestellt. Über allen Sondergewalten
stand jetzt eine einheitliche Staatsgewalt.
Der Einheitlichkeit der Staatsgewalt entspricht die des Beamten-
tums. Während irüher das Domkapitel in den Kapitulationen gefordert
hatte, daß die Beamten in ihrem Amtseid auch ihm Gehorsam ge-
loben sollten, setzte Friedrich Karl es durch, daß sie nur noch auf den
Fürstbischof vereidigt wurden und dem Kapitel nur (ur die Zeit der
Sedisvakanz Gehorsam schwuren. Dadurch bekam der Fürst das
Beamtentum ausschließlich in seine Hand, und er verstand es auch,
die so gewonnene Macht anzuwenden. Von einem Amtsrecht, von
Rechten der Beamten gegenüber dem Fürsten, war keine Rede. Wie
sein Bruder Damian Hugo, so wollte auch Friedrich Karl „der Herr
bleiben oder ein kalter Cadaver sein, ehender er der Herr zu sein
aufhöre", und war weit davon entfernt, „mit seinen Räten und Dienern
gleichsam ein pactum redprocum zu stabilieren" '). Noch stand
er im Kampf um die Staatsgewalt, und das Rfißtrauen gegen die
eigenen Beamten, das für den fürstlichen Absolutismus überhaupt
charakteristisch ist, beseelte auch ihn so sehr, daft er die wichtigen
i) Bedeatender, aber weniger erfolgreich war der Kampf, den Friedrich Karl alt
Bischof von Wttrzborg mit dem ReichtanmiUelbarkeit beanspruchenden Kloster Ebrach
ausfocht. Vgl. Wild, S. 36 f.
2) Wille, S. 30; Wild, SUMot und WwUekafi, S. 77, Anm. 130.
— 1S6 —
Behörden mit zwei Präsidenten besetzte, die sich gegenseitig zu kon«
troUieren hatten. Die Vorbildung der Beamten wurde neu geregelt
und allen, auch den Adligen, die bisher von der Abfassung schrift-
licher Relationen befreit gewesen waren, ein akademisches Studium
vorgeschrieben. Um den Landeskindem — diese bevorzugte der
Fürstbischof — die Erfüllung dieser Vorschrift im Inlande zu ermög-
lichen, wurden an der bisher rein theologischen Akademie in Bamberg
drei Professuren für Rechtswissenschaft errichtet.
Die Erfolge dieser Reformen sind unverkennbar. Wohl gab es
auch unter Friedrich Karl noch manche imtauglichen Elemente unter
den Beamten ; auch wirkte ungünstig ein, daß der geistliche Stand der
rein irdischen Tätigkeit eines weltlichen Beamten immer vorgezogen
wurde, was manchen fähigen Kopf vom Eintritt in die weltliche Beamten-
laufbahn abhielt. Auch hing es mit dem inneren Wesen des geist-
lichen Kleinstaats und den geringeren Ansprüchen, die man an seine
Kräfte stellte, zusammen, daß eine so unbedingte Hingabe des Beamten-
tums an den Staat, wie sie Friedrich Wilhelm I. von Preußen erzielt
hatte, nicht erreicht wurde. Aber in seiner Gesamtheit war auch das
bambergische Beamtentum seinem Fürsten ergeben, eifrig und zeigte
sich den ihm gestellten Aufgaben gewachsen.
Eine besondere Aufmerksamkeit wandte Friedrich Karl der Rechts-
pflege zu. Gerade auf diesem Gebiet zeigten sich die segensreichen
Wirkungen der Erziehung des Beamtentums zu Arbeitsamkeit, Pflicht-
treue und Unbestechlichkeit. Dazu kam noch, daß das materielle
Recht im Allgemeinen Fränkischen Landrecht einheitlich fiir das ganze
Fürstentum zusammengefaßt und das Gerichtsverfahren reformiert wurde.
Wohl mochte dabei die Absicht Friedrich Karls, Appellationen an die
Reichsgerichte zu verhindern, stark mitwirken; aber der eigentliche
Grund liegt doch tiefer. Er hängt mit der Staatsauffassung Friedrich
Karls überhaupt zusammen. So nahe verwandt sie der des Oheims
erscheint tmd so sehr sie sich in der starken Betonung der Fürsten-
macht mit ihr berührt, so besteht doch ein grundlegender Unterschied,
oder vielmehr : es läßt sich eine fortschreitende Entwicklung von Lothar
Franz zu Friedrich Karl beobachten.
In dem harten Kampf um die Macht im Staate, den Friedridi
Karl ausfechten mußte, hatte sich seine Anschauung vom Staate ver-
tieft. Anfangs erschien der Staat dem Fürsten wohl als ein Privat-
gut; aber je länger und je schärfer der Kampf wurde, desto mehr
ordnete der Fürst seine eigenen Interessen und seine Persönlichkeit dem
Staate unter. So erst bildete sich eine lebendige Staatsidee heraus,
— 127 —
und der Fürst fühlte sich nicht mehr als Eigentümer, sondern als
Organ der Gesamtheit, als Verkörperung des Staats. Für die Fürsten-
gewalt bedeutete dies keine Minderung; sie blieb den Untertanen gegen-
über gleich unbedingt und unumschränkt. Darin unterschied sich der
geistliche Fürst keineswegs vom weltlichen. Aber diese Machtfiille
fand ihre Ergänzung in dem Pflichtgefühl des absoluten Herrschers.
Der Staat ist ihm kein Besitz, sondern ein von Gott anvertrautes Amt,
das Pflichten auferlegt und unermüdliche Arbeit fordert. So hat es
Friedrich Karl aufgefaßt; er hat manchmal geseufzt über den „Fürsten-
käfig*', in dem er gefangen saß, und sich gesehnt nach dem sorg-
loseren Leben Wiens, wo ihm sein Amt als Reichs Vizekanzler reichlich
Muße ließ zur Veranstaltung von Festen und zu Liebhabereien, wie
der Züchtung von Tulpen. Aber er hat nicht nachgelassen, seine
Kraft dem Staate zu widmen und die gesamte Verwaltungstätigkeit zu
überwachen und zu leiten.
Eine neue Fürstengeneration war auch in den Kleinstaaten er-
wachsen. Wie Friedrich Karl, so dachte und handelte sein Bruder
Damian Hugo, der Speierer Bischof; auch er hat seine ganze Arbeits-
kraft in den Dienst seines Ländchens gestellt und mit eindringender
Sachkenntnis alle Zweige der Verwaltung und des Hofhalts geleitet.
Darin besteht der Fortschritt gegenüber Lothar Franz. Erst jetzt fand
der Absolutismus, das rücksichtslose Vorgehen gegen althergebrachte
und wohlerworbene Rechte, seine historische Rechtfertigung, indem
der Fürstbischof von den Rechten, die er in erbittertem Ringen ge-
wonnen hatte, in einer umfassenden, planvollen, bis ins kleinste und
daher oft ins kleinliche gehenden Arbeit für die Gesamtheit Gebrauch
machte.
So bildete das ausschlaggebende Motiv für die Justizreform der
Gedanke einer Sicherung des Untertanen in seinen Privatrechten durch
einheitliches Recht, geordnetes Verfahren, tüchtige Richter. Von einem
Schutz des einzelnen gegen die Staatsgewalt war dabei natürlich keine
Rede, obwohl auch der absolute Staat grundsätzlich Privatrechte nicht
antastete.
In der Finanzverwaltung gab sich der neue Staat^edanke darin
kund, daß sie als eine einheitliche Angelegenheit des Staates be-
trachtet, der Dualismus von fürstlichen imd Landeskassen beseitigt
und auch die landständische Steuerbehörde, die Obereinnehmerei , in
eine fürstliche Behörde umgewandelt wurde. Gegen die volle Ver-
schmelzung von Kammer und Obereinnehmerei, wie sie Friedrich
Wilhelm I. in Preußen in Zentrale und Provinzen durchführte, erhob
— 128 —
jedoch das Domkapitel erfolgreich Widerspruch. Eine geordnete Ver-
waltung mit strenger Kontrolle trug zur Vermehrung der Staatseinnahmen
viel bei. Grundsätzliche Änderungen an der Steuerverfassung wurden
nicht vorgenommen; nur die unter Lothar Franz begonnene Regu-
lierung der Grundsteuer wurde zu Ende gefiihrt. Nach neuen Ein-
nahmequellen brauchte der Kleinstaat nicht zu suchen, denn die
unbedeutende Armee verursachte keine allzu großen Kosten. In den
Ausgaben herrschte peinliche Sorgfalt und Sparsamkeit, so daß man
sogar mit der Tilgung der Schulden beginnen konnte. Die Kosten
des Hof halts wurden von denen des Staats getrennt und stark ver-
mindert.
Auch die Wirtschaftspolitik , die bei Lothar Franz vor allem den
Zweck gehabt hatte, Geld zu verschaffen, wurde jetzt von neuen,
höheren Gesichtspunkten aus betrachtet ^). Das zeigte sich äußerUch
daran, daß das Kommerzienwesen nicht mehr zur Kameralwissenschaft,
d. h. zur Lehre vom Staatshaushalt, sondern zur Polizei, d. h. zur
Wohlfahrtspflege im weitesten Sinn, gerechnet wurde. Ganz merkan-
tilistisch klingen die Äußerungen Friedrichs Karls*): „Die Haupt-
beförderung des Handels und Wandels für ein Land hat darin zu be-
stehen, daß dessen Notdurft in dem Lande erzielet, folgsam das Geld
zu Hause gehalten und circulieret werde, von den Handwerkern aber
die Waren hinausgeschickt, also Geld in das Land gebracht werde . . .
Man muß femer mittelst des Zucht- und Arbeitshauses vorgehen und
an Tuch, Zeug, Strümpfen, Decken usw. das Land versehen, ebenso
das Leinenhandwerk fördern . . . durch Salz, Glas, Papier, Schleif-,
Walk- und Stampfmühlen . . . das Geld zirkulieren machen.*' In
der Praxis aber war es schwer, diese Grundsätze zu betätigen.
Wohl begann Friedrich Karl mit dem Ausbau von Straßen, reformierte
das Zollwesen und belebte die Märkte von neuem; auch auf dem
Gebiete des Manufakturwesens suchte er, es den „ohnkatholischen'*
Staaten gleichzutun und fremde Handwerker zu gewinnen; um dem
Mangel an Arbeitskräften abzuhelfen, wurden die Zuchthausinsassen, so-
wohl Sträflinge wie Bettler, zwangsweise mit Tuchmacherei beschäftigt
Aber mit all seinen Bemühungen stieß Friedrich Karl auf un-
übersteigbare Schranken. Die Geringfügigkeit des Aufischwungs der
i) Zöpfl (m. A. O. S. 36) betrachtet die „ Experimentalpolitik auf dem Gebiet der
Volkswirtschaft und VoUcswohlfahrt'' zu wenig in ihrem Zusammenhang mit dem ganzen
System der Regierung. Seine Worte erwecken beinahe den Anschein, als ob es sich
um eine Spielerei handle.
3) Zöpfl, S. 116.
— 129 —
Manufakturen lag zum Teil wohl an der Bevölkerung und an den
Beamten; auch hing es mit der Natur des Landes zusammen, daß die
Landwirtschaft Haupterwerbszweig blieb. Wichtiger aber ist doch die
Kleinheit des Territoriums. Nicht nur mit dem mangelnden Erwerbs-
trieb stehen die geringen Fortschritte des Manufakturwesens in Ver-
bindung, sondern zweifellos ebensosehr mit dem geringen Bedürfnis
nach Vermehrung der Einnahmen, das wieder eine Folge der geringen
militärischen Machtentfaltung ist. Der fiskalische Geist, der mit Nach-
druck an der Entwicklung aller Geldquellen arbeitete, hatte eben doch
auch seine guten Seiten gehabt, und seine Verdrängung zeitigte nicht
nur gute Früchte. Eine wirksame Handelspolitik aber wurde in erster
Linie durch den geringen Umfang des Fürstbistums vereitelt. Die
eigenen Bemühungen zur Hebung des Handels wurden nur zu ofl
durchkreuzt und um den Erfolg gebracht durch die Gegenmaßregeln
des Nachbarn. Und dann hängt mit der Kleinheit des Territoriums
auch eine gewisse Enge des Gesichtskreises zusammen. Die dem
Merkantilismus eigentümliche Anschauung, daß eine Förderung des
eigenen Handels nur auf Kosten der andern Staaten möglich sei, führte
hier in kleinlichen Verhältnissen zu einer Handelspolitik, deren Haupt-
ziel die Schikanierung des Nachbarn war. Wohl hat man Straßen
gebaut; aber um den Nachbarn zu schädigen, hat man auch Straßen
durch Einrammen von Pflöcken ungangbar gemacht. Und noch zwei
Jahrzehnte später hätten die Würzburger lieber das ganze Mainkom-
merzium vernichtet, als einem dritten Stande überlassen. Auch in
der volkswirtschaftlichen Theorie Friedrich Karls finden sich Reste
älterer, kleinstaatlicher Anschauungen. Den neu aufkommenden Groß-
betrieben „mit Verlag und selbständiger Handelschaft** stand er miß-
trauisch gegenüber; auch der Pächter des Zuchthausbetriebes sollte
sich in den Grenzen handwerksmäßiger Produktion halten. Wohl be-
tonte auch Friedrich Karl wie seine merkantUistischen Zeitgenossen
die Notwendigkeit, bares Geld ins Land zu bringen; aber diesem
Gedanken hielt der Wunsch nach einem „gerechten**, d. h. billigen
Preis, bei dem Produzent und Konsument ihr Auskommen finden
sollten, das Gleichgewicht. Diese wohlwollende Politik entspUcht der
Natur des Kleinstaats wie die rücksichtslose Anspannung der wirtschaft-
lichen Kräfle der Untertanen der Natur und den Bedürfnissen einer
werdenden Großmacht. Eine solche mußte im Interesse ihrer Macht
Wirtschaftspolitik im großen Stile treiben; im Kleinstaat überwog der
Wohlfahrtsgedanke frühzeitig das Machtinteresse.
Ein Aufschwung des wirtschaftlichen Lebens dank der auf alle
— 130 -
Zweige ausgedehnten regulierenden Tätigkeit der Regierung ist un-
verkennbar. Aber er berechtig^ doch kaum, von „Volkswirtschaft"
zu sprechen ; denn das wirtschaftliche Leben hielt sich doch fast ganz
in den Bahnen des Hergebrachten, und auch beim Tode Friedrich
Karls (25. Juli 1746) war Bamberg noch fast ganz Agrarstaat.
.III.
Friedrich Karl hat den Kampf um die Macht im Staate endgültig^
ausgefochten. Unter den Nachfolgern hören wir nichts mehr von An-
sprüchen des Domkapitels auf Mitregierung. Man stellte zwar noch
Wahlkapitulationen auf^ aber die Bischöfe brauchten sie nicht mehr
zu beschwören *). Ungestört — auch von kriegerischen Verwicklungen
blieb Bamberg, von den Zeiten des Siebenjährigen Krieges abgesehen^
nach dem Tode Friedrich Karls ein halbes Jahrhundert hindurch ver-
schont — konnten die Nachfolger der Schönboms sich der Pflege
und Weiterbildung der von diesen begonnenen Wohlfahrtspolitik widmen.
Die Grundrichtung blieb unverändert, aber das Nachlassen der Spannung^
die mit Friedrich Karls Ringen um die Macht verbunden gewesen
war, und das gleichzeitige Eindringen des humanen Geistes der Auf-
klärungsepoche übten doch unverkennbaren Einfluß auf das Regierungs-
system aus. Mit Adam Friedrich von Seinsheim, der, seit
1755 Bischof von Würzburg, 1757 auch Bischof von Bamberg wurde,,
setzte nach den Worten eines Zeitgenossen „die Periode der Land-
und Menschenverbesserung** ein. Unter den Schönboms war allein
das materielle Leben der Untertanen Gegenstand der staatlichen Für-
sorge gewesen; Adam Friedrich wandte sich auch der Reform des>
Schulwesens zu. In der Wirtschaftspolitik wurden die alten Bahnen
weiter verfolgt'. Zur Hebung der Arbeitsamkeit wurde die Zahl der
Feiertage vermindert; auch die Bemühungen, eine Industrie zu schaffen»
dauerten fort. Angeregt durch das Beispiel seiner Nachbarn in Mainz
widmete Adam Friedrich seine Fürsorge vor allem dem Handel. Der
Straßenbau wurde in großem Maßstab aufgenommen ; die Vollendung
fallt allerdings erst in die Zeit des Nachfolgers. Im Interesse der
Belebuilg' der Mainschiffahrt war man sogar bereit, sich eine „merk-
liche Verminderung des eigenen Cameralnutzens** gefallen zu lassen»
und verhandelte mit Mainz darüber. Es kam auch im Jahre 1 766 zum
Abschluß eines Vertrags, der die Rangfahrt der Schiffer — denn von
freier Konkurrenz konnte noch keine Rede sein — ordnete, eine
i) Leitschab, m. a. O., S. 4.
— 131 —
Herabsetzung der Zölle um ein Drittel und den Ausbau der Zufahrts-
straßen bestimmte. Aber ein dauernder Erfolg war auch diesem Ver-
trage nicht beschieden; denn der eine Kontrahent, Mainz, fand es
vorteilhafter, den Vertrag in seinem Gebiet nicht auszuführen , und zu
einer selbständigen Regelung des Mainhandels war Bamberg, auch in
Verbindung mit Würzburg, nicht imstande. So stieß Adam Friedrich
auf die gleiche Schranke wie Friedrich Karl: die Kleinheit des Ter-
ritoriums.
Es ist daher verständlich, daß Franz Ludwig von Erthal,
der 1779 zum Nachfolger Adam Friedrichs in Bamberg und Würzburg
gewählt wurde, den Schwerpunkt seiner Regierungstätigkeit nicht in
der Wirtschafts-, sondern in der Wohlfahrtspfl^e im engeren Sinne
uchte. N/cht als ob er ganz darauf verzichtet hätte, die wirtschaftliche
Betätigung seiner Untertanen in bestimmte Bahnen zu lenken; er
wirkte vielmehr namentlich auf Verbesserungen in der Landwirtschaft
hin und errichtete zu diesem «Zweck, vielleicht nach dem Vorbild des
Bistums Speier, eine Musterwirtschaft, versuchte durch Ausfuhrverbote
für rohe Häute, Wolle u. dgl. der Industrie bUlige Rohstoffe zu ver-
schaffen und vollendete den Straßenbau; aber seine Haupterfolge, denen
er seinen Ruhm verdankt, liegen auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege.
Das Armenwesen wurde neu geregelt, ein großes Krankenhaus gebaut,
eine Krankenversicherung für Handwerksgesellen und Dienstboten ein-
gerichtet. Das staatliche Interesse, insbesondere die Rücksicht auf
die Finanzen, trat hinter der Fürsorge für das Individuum zurück.
Das lag zum Teil im Geist der Zeit und trug auch seine Früchte ;
aber das Nachlassen der staatlichen Energie hatte doch auch seine
Nachteile. Gerade in den Tagen Franz Ludwigs empfand man immer
mehr, daß die geistlichen Staaten trotz alles Eifers ihrer Regenten
mit den weltlichen nicht mehr gleichen Schritt halten konnten. Man
hatte vieles von den großen Staaten gelernt ; so gut wie die preußischen
Könige waren die Bamberger Bischöfe die ersten Diener ihres Staates
und Selbstherrscher im wahren Sinne des Wortes, die bis ins einzelne
selbst anordneten und verfugten ^). Auch in wirtschaftspolitischer Hin-
sicht hatte man vieles nach dem Muster der Großstaaten eingerichtet
oder wenigstens einzurichten versucht. Aber eines hatte man nicht
nadizuahmen vermocht: den Geist des Regierungssystems.
i) Daran ändert die Tattache nichts, dafl das (toUicbe Kabinett nicht, wie in
Preoflen, ans Subalternen bestand, sondern nach österreichischem Muster dem höchsten
weltlichen Beamten, dem Kinder, mtenteUt ww.
— 132 —
Was Friedrich Karl von Moser *) über den esprit de corps der
weltlichen Behörden der geistlichen Staaten im Vergleich zu denen
in weltlichen gesagt hat, es sei „ungefähr so, als wenn man die
Garnison einer Reichsstadt neben einem preußischen Feld-Regiment
aufmarschiren und abfeuern sähe", das gilt auch vom ganzen Regierungs-
system. Es hing eben zu eng mit den Machtverhältnissen zusammen.
Wenn die preußischen Könige mit unermüdlicher Zähigkeit an der
Schaffung einer Industrie und an der Entfaltung aller wirtschaftlichen
Kräfte ihres Landes arbeiteten, so taten sie das nicht aus theoretischen
Erwägungen, sondern aus dem rein praktischen Bedürfnis, fiir die Be-
zahlung der Armee das nötige Geld aufzubringen. Für sie blieb keine
andere Wahl als unerbittliches Beharren in dieser Arbeit oder Verzicht
auf ihre europäische Machtstellung. In Bamberg war es anders. Von
Machtpolitik war hier nicht die Rede und daher auch nicht von der
kostspieligen Beschaffung der Machtmittel. So brauchte der Absolutis-
mus nicht so schroff und hart zu werden wie in Preußen, und vor
allen Dingen herrschte nicht die herbe Einseitigkeit, die rücksichtslose
Anspannung auf ein einziges großes Ziel, das doch vieler Herzen
Sehnen nicht zu befriedigen vermochte. Eine schönheitsdurstige Seele
wie Winkelmann hat dem Preußen Friedrich WUhelms I. den Rücken
gekehrt; J. B. Neumann hat in Friedrich Karl von Schönbom seinen
Mäcen gefunden. Gerade die Begründer des Absolutismus in Bamberg,
Lothar Franz und Friedrich Karl, sind die g^flen Förderer der Bau-
kunst gewesen ; auch am Hofe Adam Friedrichs haben die Musen eine
Stätte gefunden.
So war das Leben in Bamberg zur 2^it des Absolutismus gewiß
angenehmer und behaglicher als travaiUer pour le rai de Pntsse,
aber eben darum ist der Absolutismus auch nicht so weit durch-
gedrungen. Der Geist' des Kleinstaats wurde nicht ganz verdrängt;
gerade die Tendenzen Franz Ludwigs erinnern mit ihrer starken Be-
tonung des Wohlfahrtsgedankens an das patriarchalische Stilleben eines
Kleinstaats des] XVI. und XVII. Jahrhunderts. Trotz aller Fortschritte
im einzelnen war man in der Gesamtentwicklung stehen geblieben.
Am deutlichsten zeigt sich dies auf dem Gebiet der auswärtigen Politik.
Lothar Franz hatte noch im Bunde mit den Kreisständen eine wenn
auch bescheidene Rolle im europäischen Konzert spielen können.
Friedrich Karl war es in den Wirren des österreichischen Erbfolge-
krieges noch möglich gewesen, sich neutral zu halten und finanzielle
I) Über die Regierung der geisüichen Staaten in DeuteMand (1787).
— 133 —
Vorteile aus seiner Neutralität zu ziehen. Durch engen Anschluß an
Österreich hatte Adam Friedrich im Siebenjährigen Kriege wenigstens
die Existenz seines Stifts gerettet, so groß auch die Leiden waren,
die der Krieg über Bamberg brachte. Franz Ludwig mußte wehrlos
zusehen, als Preußen im fränkischen Kreise Fuß faßte und um sich
griff, und nur der Tod (14. Februar 1795) hat ihn vor dem Schicksal
bewahrt, vor den Franzosen fliehen und den Zusammenbruch seines
Fürstbistums mitansehen zu müssen.
Der Stadtplan als Gesehiehtsquelle
Von
Johannes Kretzschmar (Leipzig)
Der Straßburger Historiker J. Fritz ist der erste gewesen, der
auf den Stadtplan als wertvolles Hilfsmittel für die geschichtliche
Forschung hingewiesen hat. In der 1894 erschienenen Programmarbeit,
Deutsche Stadtanlagen, erbrachte er den Nachweis, daß wir in dem
Grundriß, dem Bebauungsplan unserer Städte ein hervorragend gutes
und zuverlässiges Quellenmaterial besitzen. Dieser ist nach seiner Auf-
fassung gleichsam „festgewordene Geschichte", eine geschichtliche Ur-
kunde, welche die geschriebene Urkunde in vorzüglicher Weise ergänzt
und unterstützt. Die Arbeit von Fritz hat viel Anklang gefunden ; es sind
seitdem eine größere Anzahl von Untersuchungen veröffentlicht worden,
die sich — teils bewußt teils unbewußt an ihn anlehnend — der
topographischen Methode bedienen und insbesondere den Stadtplan
als historische Quelle benutzen 1).
Man muß zugestehen, daß unter der Voraussetzung, die auch
Fritz macht, daß die „Kontrolle und Ergänzung durch die geschicht-
i) Es seien hier die folgenden namhmft gemacht: S. Rietschel, Mturkt und Stadt
in ihrem redUliehen Verhälinia (Leipzig 1897). — A. Hand, CMmar vor und während
seiner Entwiekltmg zur Beidustadt (Strafibarger Diss. 1899). — Job. R. Kretssch-
m ftr , Die Ent$teh%tng von Stadt und Stadtredkt in den Otbieien stoischen der mitt»
leren Saale und der LausitMer Nef/ie (BresUo 1905). — W. Deecke, Die Besiehungen
der vorpommersdien Städte sur Topographie und Geologie ihre Umgebung (Pommersche
Jahrbücher 6. Bd. 1905). — S. Rietschel, Das Burggrafenamt und die hohe Ge-
richtsbarkeit in den deutechen Bisehofsstädten während des früheren Mittelalters
(Leipzig 1905). — E. Riehme, Markgraf, Burggraf und Ho^stift Me^/ien (Lti^gtr
Diss. 1906). — p. Meinardns, Das Neumarkter BeMsbu^ und andere Neumarkter
BechtsqueHen (Darstellungen und Qaelleo zur schles. Gesch., Bd. II, Breslau 1906).
— 134 —
liehe und topographische Literatur älterer und neuerer Zeit'* nicht
außer acht gelassen werden darf, in der Tat die Verwertung* des
Stadtplanes dem Historiker außerordentliche Vorteile bietet. Man kann
den von Fritz ausgesprochenen Gedanken, es müsse eine Sammlung
deutscher Stadtpläne, ein „Deutsches Stadtplanbuch" in ähnlicher
Weise wie unsere Urkundenbücher ins Leben gerufen werden, nur
mit Freude begrüßen, und es ist sehr zu bedauern, daß bisher nodi
nichts zu seiner Verwirklichung getan worden ist '). Fritz begnügt sich
mit den Plänen unserer heutigen modernen Städte; man müßte aller-
dings wohl noch weiter gehen und nach Möglichkeit die älteren
Grundrisse publizieren, auf denen noch nicht die großen Umwälzungen
seit den ersten Jahrzehnten des XIX. Jahrhunderts bemerkbar sind,
die das alte Straßenbild oft ganz auffallend verändert haben. Auf
den alten Plänen finden wir noch Mauern und Tore, sowie manches
später zerstörte oder abgebrochene Gebäude, das für die Forschung
von Bedeutung ist; sie bieten insgesamt — auch hinsichtlich der
nächsten Umgebung der mittelalterlichen Stadt — ein Bild, das der
ursprünglichen Anlage ziemlich nahe kommt, zum wenigsten aber mit
geringer Mühe die Rekonstruktion gestattet. Schon seit dem Ende des
XVII. Jahrhunderts sind zuverlässige Stadtpläne nachweisbar. In den
größeren Archiven liegen hier noch reiche Schätze verborgen, die
zu heben sind; besonders das XVIII. Jahrhundert scheint eine sehr
wertvolle Ausbeute zu verheißen. Es wäre wünschenswert, daß diese
meist als Handzeichnungen uns erhaltenen Pläne nach Territorien
geordnet publiziert und so der wissenschaftlichen Bearbeitung dienst-
bar gemacht würden.
Die Bedeutung des Stadtplanes fiir die Forschung liegt auf ver-
schiedenen Gebieten; er läßt sich sowohl ftir die Lokalgeschichte als
auch für die allgemeine Geschichte verwenden; er erklärt singulare
Erscheinungen und dient als wertvolles Hilfsmittel vergleichen-
i) Nur die Thüringische Historische Kommission hat iUr ihr Arbeitsgebiet einen
entsprechenden Versach gemacht, freilich Tergeblich: Dobenecker hat 1900 die H«^>t-
pfleger aufgefordert , alte Stadtpläne aller Städte im Mafistabe i : 2000 und in Ermang*
lung alter moderne Pläne einsusenden, aber ein £rfolg war, wenigstens bis 1901,
nicht zu verzeichnen, da nur ein Plan eingesandt worden war. (VgL diese Zeitschrift
2. Bd., S. 238 und 3. Bd., S. 3x4.) Seitdem ist über diese Angelegenheit nichts wieder
verlautet, und auch ans anderen Landschaften ist nichts von ähnlichen Bestrebungen be-
kannt geworden. Wie die Dinge liegen, erscheint eine solche Arbeit heute nur durch
Ausführung in landschaftlicher Begrenzung möglich, und die Historischen Kom-
missionen und Landesvereine wären diejenigen, welche die Sammlung in die Hand
nehmen sollten! Die Redaktion.
— 135 —
der Forschung zur Erklärung und Begründung von wiederholt vor"
kommenden und weiter verbreiteten Erscheinungen.
Was die Lokal Forschung betrifil, so ist es schon ohne ausfuhr«-
liehen Nachweis begreiflich, daß das Entstehen und Werden irgend-
eines bestimmten Ortes lediglich aus der schriftlichen Urkunde heraus
in der Regel kaum zu verstehen ist. Häufig fehlt uns die letztere, und dann
bleibt als einziger Weg nur die topographische Forschung übrig. In
vielen Städten besitzen wir wohl sichere Nachrichten über eine Burg;,
ein Dorf, ein Kloster, das schon vor der Stadt selbst, der Marktr
niederlassung, bestand ; aber über die Entstehung dieser letzteren selbst
fehlt jede urkundliche Überlieferung. Aber auch dann, wenn sie vor-
handen ist, macht sie das Studium der Stadtanlage noch durchaus
nicht überflüssig; sie muH dasselbe aussagen wie diese, und ist das nicht
der Fall, so wird zunächst der Stadtplan die größere Glaubwürdigkeit
für sich in Anspruch nehmen dürfen. Nicht selten wird sogar die
Stadtgründungsurkunde erst durch den Stadtplan richtig interpretiert
werden können. Ein solcher Fall liegt beispielsweise bei Leipzig
vor. Der sogenannte „Stadtbrief**, zwischen 1 156 und 1170 von dem
meißnischen Markgrafen Otto dem Reichen ausgestellt, ist, trotzdem
er die klare Wendung enthält: Marckio lApz aedificandam distribuii,
bisher immer nur als RechtsprivUeg aufgefaßt worden, dem zufolge der
Markgraf ein schon lange bestehendes, ehemals slawisches Dorf mit
Stadtrecht bewidmet und zur Stadt „erhoben** haben soll. Die An-
lage ist aber nun, wie. sich aus dem Stadtplane und seiner Verglei-
chung mit den nach ,dem sogenannten „nordostdeutschen Schema'*
angelegten Städten mit Sicherheit feststellen läßt, nicht vor der zweiten
Hälfte des XII. Jahrhunderts und offenbar, woran nicht zu zweifeln ist,
gleichzeitig mit dem Stadtbrief entstanden; letzterer ist also nicht nur
als Rechts-, sondern auch als GründungsprivUeg zu betraditen« Ähn-
liche Fälle sind in den Städten des kolonialen Ostens sehr häufig zu
konstatieren. Namentlich auch dort, wo mehrere Anlagen an einem
Orte vorhanden sind und in kausalem Zusammenhange mit der Ent-
stehung und Entwicklung der Marktsiedelung stehen, ist die Zuhilfe-
nahme des Stadtplanes direkt unerläßlich. Dies lassen z. B. die kom-
plizierten Verhältnisse in Braunschweig, Halberstadt, Osnabrück, Magde-
burg, Halle a. S. erkennen, wo es sich meist um sehr alte Siedelungen
handelt Wie schwierig derartige Städte zu untersuchen sind, lehrt
Hunds Arbeit über Kolmar, wo der Zusammenhang der Stadtent-
wicklung mit einer im IX. Jahrhundert nachweisbaren Dorfsiedelung und
insbesondere zwei Fronhöfen, dem Oberhof des Klosters Peterlingen
10
— 15« —
flild dem Niederkof des DomkafMteis KoMtaaz, sü bdeitclit»!! ist.
Die Arbeit von E. Riehme aber Meii)ea lehrt daMeU>e; sie siellt
mit Hilfe angedehnter topograph»cber Fonckuagen fett» wie weit an
dmem Orte m den äkeeten Zeilen der Hemcbiftabereich v^-
•ohiedeiier Gewakeü rdchte, n^ hält die räiimlidie Afladehwuig voa
Bttfu^frsäieit, Domfreiheit, St Airmsiodehttig «nd MaridaiedrilaMiung
•tharf wseiMndcr. Awch der A«£atz vom A. Till«: Zmm Mülpiober
StmthtM >) gehört hkriier. £r zeigt, wie das hcttlige IM^idBL auf
dm wohl etwa gfeidneltig entrtandeae Aafaigen airiickgeht : dca Hof
Mmimden (später Pfanbenik St Martin), die P&lz des KöiMr En-
Mschofis ^s^er Pfanbesiilr 5t Marien) nd die MadctsiediviasMac
<apiltor PfitR4>eziric St Peter). Ferner verdient die Ariieit vom R«4.
SehaUz«: Die hmt§em)m6UMie Flmmmiwioktm^ 4&r 8tmM Barn ^ an
^eser Stelle Erwäkfiai«; sie lüt sds ttrsprängfUdie BcstaadlSile der
Slaadt — iBit eingebender BerüdosichttgttQg des PlaaeS — das alte
)'6inische ooatrmm^ die viSa Btmlica \(Vefma) mik, deas Casaiasntifte
wnd ^nem Komplex voa Höfen mit dem Marktfriüls zwisokem aaslmai
tmd «jlfo etkennen.
betrachtet tnftn fitin a^ber im i^i^meinen die zasammwEssaeaden
bfeftorisdien Dustenung^en über einzelne St&dte, sowoAil alte» als auch
nefuiere, '^ \iX. leider zu kerostsltieren , daß 'Omen imebr oder ^^fffsäaget
ein gewisser Kf ang^l gememsam 4^ : sie shid tm ^^eftmgeii «nd ein-
'^Itig "imd arwsir insofern, ah sie den einzelnen Ort mir aus läoh selbst
hthratfs ztt verstehen suchen, ohne Rficksi<jbt avf die £ttMehoag oad
fintwidehing der detftseben Sttdte überhaufi^ oder w^aigstens der des
ßr den Lokalforscher in B^ty&cht kommenden Tervüoitaaai. Die
LokaHiistöriker gehen in der Regel nicht vergleichend «i We&e,
lind doch vfirde ihneti eüi prüfender BHck auf die Städte der »Uns-
gebnng sefhr vicA nützen: m würde ihixen Irrtüttier in der voo^efiiäten
Meinuiig zeigen und manche Lüdke dort -awsftillen »belfea, wo das
TJifcöidenitMlterial des Heimatortes versagt*). ^Bine verg4et5dheftde
Städtplanfotschüng Würde auch hier 'ihr redliohes «Teil Aku bd-
'tl^en, mögliehät große 'I^lafheit über den Ursprung der etonlnesi
i) JfHiaJeti dtM tiistarischm Vereins für den Niederrhein, 73. Aeft (1902).
2) In der ZtiUchrifl Der StädUhau, Heft 8, 1904.
3) 'Auf diesen Ponkt hat kürzlich aach Tille aafmerksam gemacht ; rgl, Biese Zeit-
schrift, 7. Band (1906) S. 277, wo er ftir die innere Gesöhidhte PanUlelMhatidlitiig
mehrei'ir Städte 'fordert. Um die «in^elne StttAi fafesser <u efst^faen. Y^l. ^mtu cka S. 159
fR>«r Oot1i«in «frtd I r^ rb 'Geftagte.
— IST —
Stadt zu erzeogren ; der Ver|^leidi mit anderen OrteD würde das Wisiefl
über die eigene Stadt um so sicherer stützen.
Ein ganz besonderer, oben bofsits aagedeiiteter Vorteil der ver-
gleichenden Untersuchung der Stadtpläne besteht aber nun ferner
darin, dafi sie chronologische Feststellungen ermöglicht, daß sie einen
in den meisten FUlen sicheren Schtufi auf das Alter einer Stadt zu-
läßt. Fritz hat auf den Unterschied zwischen den regelmäßigen An-
lagen östlich der Elbe und den auffallend unregelmäßigen Anlagen
westlich der Elbe hingewiesen; er hat jene als die jüngeren, diese
als die älteren festgestellt. Die uns erhaltenen Gründungsprivilegien
bestätigen dies; Quedlinburg, Halberstadt, Erfurt, Magdeburg, Halle,
Naumburg weisen durch Plan und Urkunde auf frühecen, Loipeig»
Dresden, Breslau, Neumarkt u. a. auf späteren Ursprung hin. Wie
ich in meinem obengenannten Buche, S. 4 f. und 133 f., gezeigt
habe, gehen die älteren Marktsiedelungen meist bis in das DC. und X
Jahrhundert zurück, die jüngeren nur bis io die zweite Hälfte des XII. Jahr-
hunderts. Auf die Weise ist z. B. festzustellen, daß die ehemalige
Mark Meißen ältere und jüngere Städte besitzt, von denen die älte-
sten im XL, die jüngeren zu Beginn des XIII. Jahrhunderts entstanden
sein müssen. Mit diesem Gedanken haben wir aber bereits den lokal*
historischen Gesichtspunkt verlassen und haben uns dem Gebiete der
allgemeinen Geschichte zugewandt. Hier leistet der Stadtplan nicht
minder wertvolle Dienste und zwar sowohl für die Siedlungs- als
auch für die Rechtsgeschichte.
Was die Siedlungsgeschichte betrifit, so ze^ sich an der
deutschen Stadtanlage recht klar der Gegensatz von Mutterland und
Kolonialland, und die seit der Unterwerfung des slawischen Ostens
durch die Ottonen einsetzende gewaltige Siedelungsbewegung spiegelt
sich im Stadtplan recht anschaulich wider. Namentlich gilt dies von
den seit 1200 sich vollziehenden Stäittegrüadungen in der Lausitz,
Schlesien, Bnmdenburg und Posen. Auf diese Tatsache hat Fritz
den Schwerpunkt seiner Untersuchui^ gelegt und eine ganze Reiht
von Grundrissen zum Abdruck gebracht, die in klarer Weise
diesen G^ensatz erkennen lassen. Dort, wo wir älteres und
jüngeres Kolonialland vor uns haben, wie im Königreich Sachsen, läßt
sidi dies ebenfidls aus der Stadtanlage erschließen; ich habe deshalb
seinerzeit auf die in der Mark Meißen zwischen Saale und Elbe sidi
vorfindenden älteren und jüngeren Marirtsiedelungen auim^ksam ge-
macht, insbesondere auf die „ Doppelmärkte '*, das sind jene AnIngen,
wo ein gemeinsamer Mauerring eine ältere und eine jüngere Markt«
10 •
— 138 —
niederlassung' mit je einem Marktplätze einschließt. Beispiele hierfür
sind Freiberg, Altenburg^, Grimma, Leisnig, Oschatz, Mügeln.
Die Entstehung dieser Orte hat man sich offenbar so zu denken,
daß sich ursprünglich mehr auf dem Wege der Emzelsiedelung eine
ältere Stadtanlage nach mutterländischem Muster bildete, die sich je-
doch für einen später hinzukommenden größeren Ansiedlertmpp als un-
zureichend erwies und deshalb durch eine planmäßige nach dem ost-
deutschen Normalschema ausgeführte Neuansiedelung erweitert wurde.
Ähnliche Verhältnisse scheinen sich auch in den Gebieten der südost-
deutschen Kolonisation nachweisen zu lassen. In Prag finden wir die
Altstadt neben der Kleinseite, erstere als die frühere, letztere als die
später gegründete Anlage. Man darf sich jedoch durch die Bezeich-
nung „Altstadt" nicht irreführen lassen; in sehr vielen Fällen deutet
dieses Wort nicht auf eine ältere Marktniederlassung hin. Es kommt
vielmehr sehr häufig vor, daß dort, wo ursprünglich eine Burg be-
stand, sich an diese ein Burgvorort, das sogenannte suburbium an-
lehnte. Dieses Suburbium hat eine mehr ländliche Bevölkerung ge-
habt und läßt sich nirgends als alte Kaufmannsansiedelung nach-
weisen. Die Niederlassung der merccUores ist später daneben ent-
standen; im Gegensatz zu ihr ist dann der ehemalige Burgvorort als „alte
Stadt", „Altstadt", antiqua civitas, benannt worden. Im Bereich der
Ottonischen Burgengründungen des X. Jahrhunderts, sowohl westlich
wie östlich von Saale und Elbe, sind diese alten Suburbien sehr häufig.
Im Stadtplane sind sie ohne große Mühe zu erkennen. Als Beispiele
seien genannt Merseburg und Meißen, außerdem zwischen beiden noch
Würzen, Borna, Zeitz, Taucha, Rochlitz, Leisnig. Im späteren Mittelalter
ist das Suburbium oft mit in den Mauerring der Stadt eingeschlossen
worden; doch ist uns auch eine Anzahl von Fällen bekannt, in denen
dies nicht geschah und die Altstadt als selbständige Ortschaft neben
der Marktniederlassung bestehen blieb.
Bei den Möglichkeiten, die durch die Benutzung alter Stadtpläne
gegeben sind, liegt nun auch der Gedanke nahe, sie in Beziehung zu
bringen zu rechtlichen Problemen. Deswegen hat es sich neuerdings
auch die Rechtsgeschichte angelegen sein lassen, die topographische
Forschung für ihre Zwecke zu verwerten und insbesondere den Stadtplan
heranzuziehen. Dies gilt vor allem von den Arbeiten Rietschels,
namentlich den beiden schon erwähnten Werken : Markt und Stadi
in ihrem rechÜichen VerhäUnis (1897) ^^^ ^^ BurggrafenanU und
die hohe Gericht^arheU in den deutschen Bischofsstädten während des
friiheren Mittelcdters (1905). Rietsehel hat mit Hilfe der Stadtplan-
— 139 —
förscbung, die er direkt von J. Fritz übernommen hat, das alte Pro-
blem des rechtlichen Ursprungs des deutschen Städtewesens bedeutend
gefördert. Er hat einen großen Teil von Markt und Stadt der
^ monographischen Behandlung einer Reihe der wichtigsten deutschen
Städte gewidmet" und findet hier stets Gelegenheit, auf den Stadtplan
hinzuweisen. Mit seiner Hilfe, natürlich unterstützt durch schriftliche
Aufzeichnungen, kommt er schließlich zu dem Ergebnis, daß die
deutschen Marktansiedelungen „keine in Marktorte umgewandelte
Dörfer sind, sondern im Anschluß an Märkte entstandene Ansiede-
lungen von Kaufleuten und Gewerbetreibenden, welche regelmäßig
•eine eigene Gemeinde, meist auch einen eigenen rechtlichen, gericht-
lichen und kirchlichen Bezirk bilden und welche sich, je nachdem sie
befestigt sind oder nicht, in Städte und offene Märkte scheiden"
(S. 232). Ich habe dann in ähnlicher Weise, wie es Gothein
1891 in seiner Wirtschaftsgeschichte des Schwarjstoaides tat, wie es
neuerdings (1902) auch Ilgen in seiner Arbeit Die Entstehung der
Städte des Erjsstifts Köln am Niederrhein ^) versucht hat , ein einzel-
nes Territorium zum Gegenstande der Untersuchung gemacht und
den Gedanken Rietschels auf die ehemalige Mark Meißen angewandt
{vgl. Die Entstehung von Stadt und Stadtrecht usw., bes. Kapitel IV
S. 140 ff.). In den Gebieten zwischen Saale und Elbe läßt sich mit
Hilfe des Stadtplanes ohne große Mühe erkennen, daß hier für die
Landgemeindetheorie kein Boden ist Die meißnischen Städte sind
weder aus Dörfern, noch aus den Burgen Heinrichs I. und seiner
Nachfolger entstanden. Sie sind neben diesen ins Leben gerufen
worden, räumlich und rechtlich davon getrennt; Dorf und Burg haben der
Stadt den Namen gegeben, sind dann bald an Bedeutung hinter der
neuen Marktsiedelung zurückgetreten, haben sich aber neben ihr meist
bis auf die Gegenwart erhalten. Der Grundriß der Stadt selbst aber
weist stets auf den Marktplatz als auf den Kern der Anlage und den
Ausgangspunkt der städtischen Besiedelung hin. Er ist es, der zu-
erst angelegt worden sein muß und meist seinen Ort unmittelbar an
einer wichtigen Heerstraße fand ').
An den Marktplatz schließen sich dann die StraQenzüge an;
i) Annakn des Historischen Vereins für den Niederrhein, 74. Heft (1902).
Die sehr wertTolle Untersachang behandelt die Stfidte Andernftch, Bonn, Brtthl, DeaU,
Kempen, LechenicÜ, Neaß, Rees^ Rheinberg, Siegbarg, Ürdingen, Wesel, Xanten, Zons,
Zülpich.
2) Vgl. hierzu meinen Aufsatz MarlUpiatz und Heerstraße in der ehemaligen
Mark Meißen. Wiss. Beil. z. Leipziger Zeitung. 1906. Nr. 5.
— 140 —
straklcaü^rmi^ geben sie sowohl in den ucLre^limiifiigea» ätimen» ab
in 4ea feg elmäöfgen, nencsefi Anlagen von ihm an» umd denlen mit
voller BestiiDinthck daravf hin, dall der MafMioerk^r das Räloct db»
Städteurspruogs löet^ denn er ist es, des die KanAente hefaneiebt ud
sie zur ^ederlassuag^, sof Ansiedehing veraaiaßt So wieist die I age
des MarktplaitzeS) die AMiäagJ|fkeit des Staraßeasiige von ikm inAOf^
halb des mittelalterliciMa Mauerringes^ klar und dtutlidt darauf his,
daß die Stadtanta^ nur ein Produkt des Handelsveiibehi« scm kaim
und zwar insofern, zh sie nur von solchen ÄAsiedlem heriühsen tramn^
die an ihm ein unmittelbares Interesse hatten, den Kaufteuten^ de«
mercatores. Das Studium des Grundrisses der Stadtanlag« hat hier
eine doppelte Bedeutang; einnud ermö|^ht es, den Urspm&gf der
Stadt chronologisch annähernd genau zu bestimmen; aadeserseits
klärt es d»über auf, ob wir im gegebenett Falte eine selbsliadige
Neuanlage vor uns haben oder nicht. Das ättere schriftliche Ur*
kufldenmaCerial kann hierzu niemals im Widefspmche stehen ; richtig
interpretiert — namenthcfa dort, wo es sich um die früher oft shitUgon
Bezeichnungen urbe, eMi^, oppidum, mäa handelt — wird es ^o Ans-
ss^e des Stadtplanes stets bestätigen und dann auch dazu dtenen
können, die tiefer liegenden rechtlichen Zusammenhänge erkennen zu
lassen und für diese zu bestimmten allgemeinen Sätzen zu fUhren.
Wie es oft trotz reichen diplomatischen Materials erst durch den
Stadtplan möglieh wird, gewisse verwickelte Reehtsverhattnisso d»
ältesten Zeit richtig zu deuten, hat Rietschel an verschiedenen Stadien
des westetbiscfaen Mutterlandes gezeigt, namentlich an Osnid>rüdc^
Halberstadt, Braunschweig. Für die Kolonialgebiete des deutschen
Ostens sei hier noch kurz hingewiesen auf Halte a. S. und FVeiberg.
In der letz^^annten Stadt haben wir in der älteren Zeit eine etwa»
komplizierte Rechtsverfassung, die von der der übrigen meifinisehMi
Städte nicht unerheblich abweicht. Sie erklärt mch dadurch, daß hier
im XII. Jahrhundert kurz nacheinander zwei Siedlungen entstanden sind,
eine Niederlassung von Bergleuten — die sogenannte „Säcbs8tadt*%
civüas Saxonum — und eine Ansiediung von Kaufleuten — dte
eigentliche Stadt mit dem alten und dem neuen Maricte. Beide An-
lagen sind ursprünglich räumlich und rechtlich getrennt gewesen und
erst im XIII. Jahrhundert äußerlich und innerlich zu einer Einheit ver-
schmolzen. Analoge Verhältnisse liegen in Halle vor. Wie wir im
Freiberger Rechte bürgerliches und Bergrecht verquickt vorfinden, so
im halUschen bürgerliches und Hallorenrecht, und zwar scheinen hier
die Verhältnisse noch viel komplizierter zu sein. Wie ich in mainer
— 141 —
obeng'enanflteo Atbot S. 27 ff, daczaleg-en veietieht hs^, wie attdi
m demseibeti Jahre nnabfaängiif von n^ E. Gm t jähr ausfiklffte in
seiner genialen Untersuchung Zur neuhcK^täeutscken Schriflspftuhe
Eykes von Bqpgowe, des Schöffen beim obersten secheischen ße-
ridäshafe und Pairisfiers in der JBergstadt zu HMe a. d. Saale ^ro-
l^ramm der IV. Rcedschuie in Leq^ig 190$), «ind dieae vem^ick^tM
VerhlfttnlBBe <iarauf ^arückzuMire«!, A2A HaHe ebonso wie Fveibeiff traf
eine Öoppelsiedhmg «rrtickgeht, die im Jöffl. Jahrhundert dorch Maner-
ring umschlossen wurde. Sie bestand aus einer Salzsiederniedcrlassung
und «ioer ICauimaxiasaDsiedlaag. Erslere war die ältere, letztere die
jüagste, Avf »dem SUdIpiatte beben «sieh lbei& dettlioh voiiiainaAder
itb; er HGlmdet «clivrf die Tuhtadt mit dem lAmi Mattete ^an. 4er
Bergstadt mit dem neuen Markte.
MüteÜttagea
JComillissioiien. — Die von der Stadt Prankfurt a. M. im Jahre 1 906
ins Leben gerufene 4md lediglich aus städtischen ^tteln dotierte Historische
Kommission'), bestehend aus den Herren Stadtrat Julius Ziehen,
Archivdirektor Prof. Rudolf Jung und Akadende - ?rof. Georg K ü nt 2 e l ,
hat iHr die nächsten Jahre fblgeode Veröffentlichuugen in ihren Arbeitsplan
aufgenommen : Bie Neubearbeitung des 1^96 endhienenen Weiires 'von Jung
über das Stadtarchiv (Das historische Archiv der Stadt Frankfurt a. M,,
seine Bestände und Gesdki6hte ^ner JSnMehung) durch den Verteser,
eine Bibliographie 'tat Gesdiichte der Stadt Frankfurt a. M. von Biblio-
thdL^ H. Lafrenz. In diesen beiden A/beiten soli das geschriebene
und gedruckte Material zur städtischen <je9chichte zusammengestellt werden.
Pemcr ist gepllant die Ifcnmsgabc der -von *GotÄieb S^hnapp^er- Arndt
tmvollend^ binterlasseueu ^Beitr^je ztir ^Gieschic^e des -Geld^^e^ehrs,
der Preise tmd der Lebenshaltmig in Pnokfhrt a. M. vom Ausgang
des lifittieMeers bis -et» Beginn 4kb XVffi. JahrhoKlem duivh Dr.
K. Brauer; eine Darsttlhng des Msriten Fettaaflch^Ailteandes v6z2 bis
r6i6 hn Zusammenhange mit den poBtisdien, sozialta ^und wirtsolHiftlichen
Bewegungen der ^Zek 'durch Or. 'F. ^otlK; «die Äsderuag der Veifiissung
und Reorganisation der Verwaltung im XVin. Jatehmideft» wcflche ö» Grund-
lage des hommunaltti ^Lebens ^r die JeMe teicfai^dtiBdie und die gaoae
'toistädARihe Z«k ^gesduflba hat, ^ufcfa BiUiolfaekariDr. P. Hoiieaemser;
die Geschichte der üreislftdtisdhea Zeit i^y^^sSM bzw. x668 ^iurdi Prof.
^r. ^chwe-wer. Bieg Arbeiten gnÜeiaa-ühMiMgfla sollen ai^ehse botoaden
wichtige £podbBn 'der stfidtiadkcni «Geadhidile, ^die Ulfaer neoh j^ nicht
oder ttar u^genügead »behandelt woidoi ;iiad, in iiuiaiMnrnlitttyiiditr Dar-
lelluiig ^UBler VaiöfieutlickiiDg des wifthtigtUm Aktmrniatftoals daxstelka;
i) Vgl. diese Zeitschrift 7. Bd., S. 115— 116.
— 142 —
ihre gründliche Erforschung ist insbesondere darum ein dringendes Bedür&is,
weil eine Gesamtgeschichte der Stadt ohne diese sehr atisgedehnten Einzel-
forschungen nicht geschrieben werden kann. Diese noch fehlende wissen-
schaftliche Darstellung der gesamten Geschichte der Stadt wird die Haupt-
arbeit für die fernere Tätigkeit der Konmiission bilden, für welche unter
anderem auch die Neubearbeitung der Gw inner sehen Ktmstgeschichte,
eine Geschichte des Frankfurter Rechtes, eine Frankfurter Biographie in
Aussicht genommen sind. — Die Fortsetzung der Neubearbeitung des Ur-
kundenbuches von 1 341 ab bleibt der Dr. Böhmerschen Nachlaßadministration
vorbehalten. Von Veröffentlichungen von Urkunden und Akten aus dem
Archiv der Stadt wird die Kommission zunächst die Handwerkerordnungen
und Akten des Mittelalters und XVI. Jahrhunderts bis zum Fettmilch-Aufstande
unter Leitung von Prof. Dr. Bücher (Leipzig) bearbeiten lassen und heraus-
geben; über die Herausgabe der Verfassungs- und Verwaltungsakten des Mittel-
alters steht die Beschlußfassung noch aus.
Etiigeganii:ene Bttcher.
Hausrath, Hans: Der deutsche Wald [= Aus Natur und Geisteswelt,
Sammlung wissenschaftlich -gemeinverständlicher Darstellungen, 153.
Bändchen]. Leipzig, B. G. Teubner 1907. 130 S. 8*. M. 1,25.
Nießner, Alois: Zwanzig Jahre Franzosenherrschaft am Niederrhein 1794 bis
18 14. Aachen, Gustav Schmidt 1907. 208 S. 8®. M. 3,00.
Poetzsch, Albert: Studien zur frühromantischen Politik tmd Geschichts-
auffassung [== Beiträge zur Kultur- und Universalgeschichte, heraus-
gegeben von Karl Lamp recht. Drittes HeftJ. Leipzig, R. Voigtländer
1907. III S. 8®. M. 3,60.
Roller, Otto Konrad: Die Emwohnerschaft der Stadt Durlach im XVIIL
Jahrhundert, in ihren wirtschaftlichen und kulturgeschichtlichen Ver-
hältnissen dargestellt aus ihren Stammtafeln. Karlsruhe in B., G. Braun
1907. XXII, 424 und 272 S.
Arbusow, L.: Grundriß der Geschichte .Liv-, Est- und Kurlands. Dritte,,
umgearbeitete Auflage. Mit einer Karte und zwei Lichtdrucktafeln. Riga»
Jonck und Poliewsky 1908. 291 S. 8^
Bärge, Hermann: Andreas Bodenstein von Karlstadt i. Teil: Karlstadt
tmd die Anfüge der Reformation. Leipzig, Friedrich Brandstetter
1905. VIU tmd 500 S. 8^ M. 10,00. 2. Teil: Karlstadt als Vor-
kämpfer des laienchristlichen Puritanismus. Ebenda 1905. XI tmd
632 S. 8^ M. 12,00.
Bier mann, W. Ed.: Die Weltanschautmg des Marxismus, an der materia-
listischen Geschichtsauf&sstmg und an der Mehrwertlehre erörtert Leip-
zig, Roth tmd Schunke 1908. 83 S. 8^ M. 1,60.
Dresbach, Ewald : Reformationsgeschichte der Grafschaft Mark. Ztir. Er-
innerung an die 300jährige Verbmdtmg der Mark mit Brandenbtirg-
Pretißen. Gütersloh, Bertelsmann 1909. XX tmd 519 S. 8®. M. 6,00.
Herausgeber Dr. Armin Tille in Leipsig.
Verlag aad Druck von Friedrich Andreas Perthes, Aktiengesellschaft, Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
zur
Förderung der landesgeschichtlichen Forschung
IX. Band März/April 1908 6./;. Heft
Iiandesherrliehe Kirehenpolitik bis zur
^Reformation
Von
Heinrich Werner (Mayen)
An dem Tage, an dem Luther seine Gründung dem Kurfürsten
von Sachsen empfahl ^, trat ein Umschwung in der Entwicklung des
neuen und alten Kirchenbegriffes ein. Die Not drängte zur Zuhilfe-
nahme der territorialen Gewalt, die jetzt Luther aus eigenem Antrieb
in Anspruch nahm *). Aus der Reformation hat der Staat bereitwilligst
den Reingewinn gezogen. Es bedurfte nicht einmal eines langen
Prozesses der Umwandlung; denn der territoriale Staat hatte schon
in der Kirche seines Landes Hoheitsrechte ausgeübt Der heutige längst
Stand der Forschung lehrt, daß schon vor Luther alle Rechte eines
landesherrlichen Kirchenregiments von vielen Territorialfürsten , wenn
auch nicht rechtlich, so doch durch die Macht der Gewohnheit ge-
handhabt wurden. Nur der Gedanke einer Loslösung der Landes-
kirche von der Universalkirche lag noch fern. Aber gerade durch
seinen Kampf gegen das Papsttum und die Weltkirche war Luther
dazu berufen, auch dieses Band zu zerschneiden und damit die freie
Landeskirche ins Leben einzufuhren. Der Gang der Entwicklung soll
auf den folgenden Blättern skizziert werden *).
1) In einem Briefe an den Kurfürsten. Vgl. De Wette, 3f. lAUherB Briefe^
JSendachretben umc, 5 Bde. (Berlin 1825—28). III, S. 39.
2) C. A. H. Barkhardt, Geschichte der sächsischen Kirchen- und Schul-
Visitationen van 1524—1545, (Leipzig 1879) S. 8.
3) Für mehrere Territorien sind in den letzten Jahren über diesen Gegenstand
Einzelantersnchangen erschienen. So von Finke für Schleswig -Holstein in Zeitschrift
für Schleswig- Holstein 'Lauenburger Geschichte , Bd. XIII und von v. Schubert.
Ebenda, Bd. XXIV; für Jülich-Berg von v. Below, Lcmdtagsakten von Jülich (1895I
nnd von Redlich, Jülich- Bergische Kirchenpolitik am Ausgange des MittdaUers
11
— 144 —
Seitdem die königliche Macht dem Kurfürstentum gegenüber an
Boden Einbuße erlitt, indem dieses die Hoheitsrechte der Zentralgewalt
territorialisierte, gewann auch das Landesfiirstentum in seinem Streben
nach voller Landeshoheit ein Stück nach dem anderen hinzu. Als
Erbe des Königtums übernahm es auch den alten Grenzstreit zwischen
Weltkirche und Weltreich oder zwischen Geistlich und Weltlich. In
den letzten zwei Jahrhunderten des Mittelalters war nun die Weltkirche
auf dem rechtlichen und wirtschaftlichen Gebiete am weitesten über
die Grenzen des Geistlichen in das Gebiet des Weltlichen vorgedrungen.
Als deshalb Nikolaus von Kusa gegen die Mitte des XV. Jahrhunderts
zwischen der Summe geistlicher und weltlicher Rechtsansprüche die
Bilanz zog, stellte er folgende merkwürdige Verschiebung fest:
imperiale efßcUur papaie et spririttuüe temporale *). Die Rückeroberung
des weltlichen Gebietes mußte deshalb zuerst auf rechtlicher und wirt-
schaftlicher Grundlage erfolgen. War die Landeshoheit überhaupt im
wesentlichen auf Grund der Erwerbung der Gerichtshoheit zustande
gekommen, so ist es um so verständlicher, wenn es auch auf dem Ge-
biete der Jurisdiktion zuerst zwischen dem jungen Landesfiirstentum
und der Kirche zum Zusammenstoß kam. Ein besonderer Anreiz dazu
lag gerade in der Überspannung geistlicher Rechtsansprüche, wie sie
durch Innozenz III. und die Dekretaliensammlung formuliert worden
waren. Sollte doch danach überall da, „wo einer Partei eine Sünde
zur Last fallen konnte**, die geistliche Jurisdiktion Platz greifen. Hatte
der große Grenzstreit zwischen Papsttum und Kaisertum mit der Nieder-
lage des letzteren geendet, so ging aus den nun einsetzenden kleinen
Kompetenzstreitigkeiten das Landesfürstentum als Sieger hervor.
Schon im XII, Jahrhundert wurde die Prärogative der geistlichen
Gerichtsbarkeit von dem weltlichen Gerichtsherrn um so schwerer
empfunden *), als dieser durch die Umgehung seines Forums Einbuße
an Gerichtsgefällen erlitt und die geistlichen Richter namentlich seit
dem XIII. Jahrhundert bei reinen Geldforderungen kirchliche Straf-
und in der Beformationszeit (1907); ^^ Brandenbarg tod Priebatsch, Staat und
Kirche in Brandenburg in Zeitschrift für Kirchengeschichte, Bd. XIX and XX; für
Sachsen von Geß, Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Oeorgs von ScKihsen^
I. Band (1905); fiir Österreich von Srbik, Besiehungen von Staat und Kirche in
Osterreich (1904). Eine mehr aUgemeine Übersicht gibt Werminghoff, Geschichte der
Kirchenverfassvmg Deutschlands im Mittelalter, i. Band (1905) and zaletst fiir die
Pfak Lossen, Staat und Kirche in der Pfalz im Ausgang des Mittelalters (1907)-
i) Concordantia catholica lib. III, cap. 29.
«
2) Vgl. Werminghoff, a. a. O. S. 266, fUr die städtische Gerichtsbarkeit
S. 284 ff.
— 145 —
mittel verhängten und geistliche Beklagte oft straflos ausgehen ließen.
Da die Zentralgewalt außerstande war, die Überschreitung der Kom-
petenz geistlicher Gerichte zurückzuweisen, so griffen Fürsten und
Städte zur Selbsthilfe. Häufig wurde dann ein kriegerischer Austrag
zwischen geistlicher und weltlicher Macht dazu benutzt, im Friedens-
vertrag auch die Kompetenz geistlicher und weltlicher Gerichtsbarkeit
von neuem abzugrenzen. So geschah es 1289 in einer Fehde Jülichs mit
dem Erzbischof von Köln *). Der von Frankreich ausgehenden •) Be-
wegung, — dort trat die Lust, sich von der geistlichen Gerichtsbarkeit
zu emanzipieren am frühesten in Erscheinung '), — schlössen sich die
Nachbarländer, die Niederlande, Brabant und Lüttich an. Von hier
aus griff sie über auf Jülich und Berg. Nachdem hier Graf Gerhard *)
1349 einen entschiedenen Anlauf zur Emanzipation von der Ge-
richtsbarkeit des Erzbischofs und Offizialats gemacht hatte, traten die
Landesfursten beider Länder seit ihrer Erhebung zu Herzogtümern
1380 auf Grund ihrer potenzierten Macht entschieden selbstbewußter
auf. Die geistlichen Gerichtsherren ließen es nicht an Gegen-
maßregeln fehlen *). So ging der Kölner Erzbischof schon in den
Provinzialstatuten des XIII. und XIV. Jahrhunderts dazu über, die
geistliche Jurisdiktion zu schützen. Jedoch haben beide Territorien
in dieser ganzen Epoche dem weiteren Vordringen geistlicher Rechts-
ansprüche standgehalten; Berg war es geglückt, sogar mit einem
Indult des Papstes die Übergriffe der geistlichen Jurisdiktion zu
parieren, während Jülich sogar dazu sich versteigen konnte, beim
Erzbischof von Köln die Ausschließung aller causcie, die vor das welt-
liche Gericht gehörten, zu erwirken •). Aber trotz der Ausbildung ihrer
i) Vgl. O. Redlich, JÜHch-Bergisehe Kirchmpolitik am Ausgang des Mittd-
alters und in der BeformaHansseU. I. Band, Urknndeo and Akten 1400 — 1553
[XXVm. Band der PubKkcOionen der Geseüschaft für rheimsd^e Oesehichiskunde,
(Bonn 1907)], S. 18. Redlich bietet ans hier ein reiches Akten «Blaterial in moster-
gültiger Form, das nicht nar die Jttlich-Bergische Kirchenpolitik von 1400 — 1553 ^Ih^üg
beleachtet (S. i — 432), sondern aach die Kenntnis der mannigfachsten anderen kirch-
lichen and sozialen Verhältnisse wesentlich erweitert. Besonders lobenswert ist die aas-
fUhrliche Einftihrong in das Stadiam der mitgeteüten Akten (S. i^ — 121^) and das aas-
gibige Register (S. 431 — 482).
2) Ebenda S. 28.
3) Ebenda S. 4. Anm. i.
4) Ebenda S. 19 a. 20.
5) Ebenda S. 12 ff.
6) Aach in den Städten Worms and Speyer warden nm die geistliche Gerichts*
barkeit die erbittertsten Kämpfe geführt. Lossen, a. a. O. S. 79 ff.
11 •
— 146 —
völligen Landeshoheit haben beide bemerkenswerterweise nirgends
ihr Lehensverhältnis zur kölnischen Kirche gelockert.
Auch nach der Vereinigung beider Territorien (1423) hat der Her-
zog von Jülich-Berg zumal bei der Zunahme der Streitigkeiten zwischen
Geistlichen und Weltlichen im XV. Jahrhundert durch seine schieds-
richterliche Tätigkeit große Bedeutung erlangt. Zur Vermittlerrolle *)
wurde der Landesherr aber geradezu herausgefordert, als infolge von
Rechtshändeln zwischen Klerikern und Laien die geistlichen Zucht-
mittel, Bann und Interdikt, oft wegen rein persönlicher Forderungen
immer häufiger angewandt wurden. Konnte es doch vorkommen, daiJ
„ein ganzes Kirchspiel dem Interdikt verfiel, weil die Weinfässer eines
Dechanten beim Transport aufgehalten worden waren" *). Der Landes-
herr nahm also nur das berechtigte Interesse des Volkes wahr, wenn
er auf Abstellung derartiger Maßnahmen drang, durch die das Land
in geistliche Zensur geriet, die es wirtschaftlich und sozial schädigten.
War es bereits zur Strafsentenz gekommen, so konnte durch herzog-
lichen Schiedsspruch Relaxation derselben herbeigeführt werden.
Allmählich aber ging der Landesherr aus der defensiven Stellung
heraus und dazu über, auch auf die geistliche Gerichtsbarkeit Einfluß
zu erringen, schließlich in das Gebiet der geistlichen Jurisdiktion ein-
zugreifen und seine Rechtssphäre zu erweitern. Dieser weitere Schritt zur
Kirchenhoheit geschah vermittels der Intervention des Landesherm.
Der Herzog von Jülich-Berg konnte davon Gebrauch machen vermöge
seiner Stellung zum Landdechanten. Herrschte doch in Jülich die An-
schauung, daß der Herzog zwei Rechte habe, ein geistliches und ein welt-
liches, das erste liege in der Hand des Jülicher Landdechanten. Dieser
wurde aber im XV. Jahrhundert als der kompetente geistliche Richter in
allen Sachen, die überhaupt Anlaß zu einem geistlichen Prozeß geben
konnten, nämlich bei Ketzerei, Ehebruch, Inzest, Hurerei, Zehnten-
pflicht, Wucher, Zauberei, Schwören u. a. , in Jülich angesehen*).
Als es dann durch die Ausschaltung der Archidiakonalgerichtsbarkeit
zum Konflikt zwischen Dechanten und Erzbischof kam, führte die
Intervention des Herzogs auf einem Landkapitel vom Jahre 1496
zu einer erneuten Formulierung der Rechte des Landdechanten
i) Dieses Amt des Schiedsrichters konnte auch der Kurfürst Friedrich von der
Pfalz in einem Streit des Speyrer Bischofs mit der Stadt Speyer im Jahre 1466 ausüben.
Vgl. Lossen, a. a. O. S. 75 und S. 83flf. und S. 90.
2) Redlich, a. a. O. S. 59 und Wcrminghoff, a. a. O. S. 288 flf. «eigen, wie
die geistliche Strafgerichtsbarkeit von den Städten eingedämmt wurde.
3) Ebenda S. 66 ff.
— 147 —
durch den Herzog selbst. Der Kompetenzstreit wurde jahrelang hin-
geschleppt und endigte erst 1503 durch einen auf zehn Jahre ab-
geschlossenen Vergleich. Das Denkwürdige in diesem Streit war,
daß hier der Landesherr durch seine Hilfsstellung zur Gerichtsbar-
keit seines Landdechanten seine Untertanen gegen eine ausländische
Kirchenbehörde und einen fremden Gerichtshof schützte. Bei der
wachsenden Erregung des Volkes gerade gegen die OfSzialgerichts-
barkeit — immer bewegter wurden die Klagen des Volkes um die Wende
des XV. Jahrhunderts über die „Geldschinderei** der Offiziale *) —
lag es im Landesinteresse, hier einzuschreiten, und Städte und Fürsten
gingen gleichzeitig gegen die Bedrückung des „armen Mannes** durch
die geistliche Behörde vor. Einen beredten Ausdruck fand der Volks-
unwille in dem Petitionensturm der centum gravamina, die dem Wormser
und dem ersten Nürnberger Reichstag vorgelegt wurden und von denen
40 Artikel, und gerade die ersten, gegen die geistliche Gerichtsbarkeit
und die Appellation nach Rom gerichtet sind. Unter dem Druck
der sozialen Unruhen traf der Herzog von Jülich-Berg 1524 und 1525
Verordnungen gegen die materielle Schädigung des Volkes durch das
geistliche Gericht auch des Landdechanten *). Nachdem so die Landes-
gewalt aus der Hilfsstellung zur niedrigsten Instanz geistlicher Ge-
richtsbarkeit, zum Sendgericht, in eine direkt feindliche Haltung
übergegangen war, schritt sie zur Bekämpfung der geistlichen Gerichts-
barkeit überhaupt fort '). Wir stehen in der Reformationszeit. Der
Kompetenzstreit zwischen geistlicher und weltlicher Jurisdiktion wurde
nun unmittelbar zwischen geistlichen und weltlichen Untergewalten
ausgefochten , zwischen Erzbischof und Herzog. Nach langwieriger
gegenseitiger Befehdung — der Erzbischof brachte die Angelegenheit
bis vor den Kaiser, der Herzog fand in den Ständen einen Rückhalt —
kam es im Jahre 1553 zu Bacharach zur Verhandlung*). Der Erz-
bischof vertrat seine althergebrachten Rechte, der Herzog stützte sich
auf sein Gewohnheitsrecht mit um so mehr Erfolg, als seine politisch
klare unzweideutige Stellung als Landesherr ihn dazu stark genug hatte
werden lassen. Der Konflikt blieb ungelöst bis 1621, wo er nach dem
i) Gebhardt, Die gravamina der deutschen Nation gegen den römischen
Hof {2. Aufl. Breslau 1895), S. 108 f.
2) Ebenda S. 79.
3) Werm inghoff, a. a. O. S. 291. zeigt dies an den Städten schon für das
XIV. Jahrhundert.
4) Ebenda S. 8 7 f.
— 148 —
Eintritt ruhigerer Zeiten durch einen Vergleich beigelegt wurde. So
sehen wir, daß kirchliche Hoheitsrechte zuerst auf dem Gebiete der
Gerichtsbarkeit mit der erstarkenden Landeshoheit zusammen-
wachsen.
Das war aber nur em Gebiet, auf dem die geistliche Gewalt
kraft der zunehmenden Schwäche der Zentralgewalt weit über die
natürlichen Grenzen ihres Machtbereichs vorgedrungen war und auf
dem naturgemäß der Gegenstoß der Landesherm zuerst fühlbar
wurde. Indes auch auf dem Grebiete der Verwaltung hatte die Kirche
im Mittelalter eine starke Prärogative gegenüber der weltlichen Ge-
walt behauptet und diese immer mehr in zentralistischem Sinne ge-
handhabt. Von alters her beanspruchte der Klerus neben dem Privi-
legium fori auch das Privilegium immuniiaiis. Die Steuerfreiheit, die
Befreiung des Klerus vom Ungeld, wurde vor allem in den Städten *)
als eine wirtschaftliche Einbuße um so schwerer empfunden, als im
ausgehenden Mittelalter der Besitz der toten Hand ins Ungemessene
stieg. Die klöster han das ertrich inne *). Um die Erl^ung des
Ungeldes entbrannten zwischen der Geistlichkeit und der Stadt l)äufig
heftige Kämpfe, die zur Verjagung der GeistUchkeit und zur Ver-
hängung von Bann und Interdikt über die Stadt führten *).
Das Territorium des Landesfursten hatte meistens schon von An-
fang an hierin sein Recht besser behauptet. So war in Jülich und
Berg die Befreiung von Schatz und Bede sowie von Dienstpflicht und
Zollabgabe nicht ohne weiteres zugestanden worden, sondern sie mußte
jedesmal von neuem verbrieft *) werden. Diese Verbriefimg galt dann
als Stiftung, als Kompensation für die dem Seelenheil des Lances-
herrn dienenden kirchlichen Leistungen. Daß neben der gewöhnlichen
Schatzpflicht der Klerus auch zu außerordentlichen Schatzimgen heran-
gezogen wurde, zeigt eine Urkunde aus Beig von 1246 *). Aber in all
diesen Fällen befindet sich das Territorium der Kirche gegenüber noch
in der defensiven Stellung. Zu einer direkten Einmischung in die
Verwaltung des Kirchenvermögens gelangte der Landesherr erst durch
i) Vgl. die Zusammenfassung bei Werminghoff, a. a. O. S. 2 78 ff.
2) Die Beformation des Kaisers Sigmund, herausgegeben von H. Werner als
in. Ergänzongsheft des Archivs für Kulturgeschichte (Berlin 1908), S. 23.
3) Vgl. Seidenberger, Die kirchenpoUtische Literatur unter Ludwig dem
Bayern und die Ztmftkämpfe vornehmlich in Maine in Westdeutsche Zeitschrift
für Geschichte und Kunst 8. Band, S. 92 ff. and Werminghoff, a. a. O. S. 282 f.
4) Redlich, a. a. O. S. 47.
5) Ebenda S. 41.
— 149 —
das Amt eines Kirchen- oder Klostervogts. Fiel ihm schon als Erbe
des Kaisertums die Rolle eines advoccUus ecclesitie zu, so gab ihm das
Vogteirecht Gelegenheit, nicht nur der betreffenden geistlichen Kor-
poration seinen äußeren Schutz angedeihen zu lassen, sondern auch
deren Güterveräußerung und Gütertausch zu beaufsichtigen. Dieses
Vogteu-echt suchte dann der Herzog von Berg auf alle geistlichen Kor-
porationen auszudehnen *), während einzelne Korporationen wieder durch
pfandweise Erwerbung oder Kauf gerade derVogteirechte sich der Vogtei-
schaft des Herzogs im XIII. Jahrhundert zu entziehen suchten. Es führte
diese Bewegung zu den heftigsten Kämpfen zwischen Erzbischof, Prä-
laten, Geistlichen und Klöstern einerseits und dem weltlichen Territorial-
herm *) andrerseits. Infolge des Vogteirechtes schritt der Landesherr
bei der Vermehrung des Besitzes der toten Hand auch dazu fort, den
Gütererwerb der geistlichen Korporationen zu überwachen, ja sogar
einzuschränken *). Es begann nämlich am Ende des Mittelalters auf
diesem Gebiete die Revindikation des Kirchengutes, indem der Adel
und namentlich der Landesfiirst sich seiner alten Rechte an dem
Kirchengut wieder bewußt wurde. So beanspruchte der Landesherr
ein Obereigentum am gesamten bevogteten Gut *). Deshalb legt ein
Pamphletist dem Kaiser Friedrich IIL die Worte in den Mund : pfafien-
hob ist mein Jcammergut Tatsächlich sprach einmal Friedrich IIL von
unsem praUUen, den von statten und andern^ so in unser kammer
gehören *).
Auf dem Patronatsrecht des Fürsten beruhte die Präsentation
zahlreicher Würdenträger, so daß der Landesherr im XV. Jahrhundert
i) Herzog Albrecht n. von Osterreich nannte sich zuerst obrister vogi in dem
land ze Oegterreieh, Erst Herzog Rudolf hat sich zum Erbvogt aller Stifter erklären
lassen. Vgl. v. Srbik, Die Beziehungen von Skuxt und Kirche in Österreich wahrend
des Mittelalters (Innsbruck 1904) S. 82 und Lossen, a. a. O. S. 66 ff.
2) Redlich, a. a. O. S. 40.
3) Ebenda S. 42, 48. Auch Srbik weist nach (a. a. O. S. 89), daß der Herzog
Friedrich U. von Osterreich, ebenso Rudolf IV. ein förmliches Konsensrecht statuierten,
und Lamprecht {Deutsches Wirtschaftsleben I./2., S. 1073) hat diese Konsenserklärung
auch bei Änderung der Bebauungsart und der Verwaltung des Kirchengutes fUr die Mosel-
gegend nachgewiesen. Vgl. auch Lossen, a. a. O. S. 143.
4) So fUhrte der Kurfürst Philipp von der Pfalz als Obereigentttmer durch einen
Erlafi an seine Amtleute 1499 die Oberaufsicht ftber die Verwaltung des Pfrttndenvermögens
ein. Vgl. Lossen, a. a. O. S. 105 f. und S. 139.
5) Vgl Srbik, a. a. O. S. 91, ferner Chmel, Beiträge sur Oesthichte Kaiser
Friedrichs IV. 2. Bd., (Wien 1840), S. 282 und Lossen, a. a. O. S. 72.
— 150 —
geradezu an die Stelle des Ordinarius rückte ^). Zur Zeit des Schisma
suchen die österreichischen Herzöge mit allen Zwangsmitteln überall
in ihren Bistümern die von ihnen vorgeschlagenen Bewerber ein-
zusetzen. So kam es, daß die Landesgewalt nun immer schärfer mit
dem maßlos ausgeübten Provisionsrecht der Päpste zum Nachteil der
Kollationsberechtigten konkurrierte. Eine andere Äußerung des ur-
sprünglich vom römischen Kaiser geübten ius advocatiae ist ebenfalls
vor dem XV. Jahrhundert bereits kenntlich, nämlich der Versuch, kirch-
liche Anordnungen zu treffen. So sehen wir 1303 den Grafen Wilhelm
von Berg und die Ritter von Eller über die Verleihung von Pfründen
an der von ihnen zur KoUegiatkirche erhobenen Pfarrkirche zu Düssel-
dorf statutarische Bestimmungen treffen über Dechantenwahl , Seel-
sorge, Opfer u. a. , die dem Erzbischof vorgelegt wurden *). Ja in
anderen Territorien gehen Landesherren gerade als Stifter von geist-
lichen Korporationen und auf Grund der von ihnen den Klöstern
verUehenen Schutzprivilegien zu innerkirchlichen Maßregeln über. So
wurde in Brandenburg *) bereits vor dem XV. Jahrhundert das Plazet
gehandhabt, und in Österreich das Konsens- oder Vetorecht geltend
gemacht *). Auch erscheint in dieser Periode bereits der Landesfürst
als Erbe des kaiserlichen defensor ecdessiae in der Rolle eines Vor-
kämpfers der Rechtgläubigkeit. Bemerkenswert ist in dieser Beziehung
der Erlaß des Herzogs Wilhelm III. an alle Amtleute in Jülich und
Geldern, gegen das Unwesen der Geißelbrüder aufzutreten*) (1400,
Mai 26.). Aber namentlich in Süddeutschland, wo am frühesten der
Kampf gegen Dogma und Hierarchie der Kirche entbrannte, waren
es die Landesfürsten von Schwaben, Bayern und Österreich, die das
hrttchium sectdare gegen Irrgläubige erhoben. Bekannt ist das Ketzer-
i) Redlich, a. a. O. S. 44 and Lossen, a. a. O. S. 97 ff. Werminghoff
bezeichnet mit Recht den Patronat and die Vogtei als „die beiden wichtigsten Voraas-
Setzungen, an die ein landesherrliches Kirchenregiment anknüpfte '', a. a. O. S. 259. In
diesem Buche wird, soweit der i. Band reicht, zum erstenmal ein sehr wertvoller und
zuverlässiger Führer geboten durch die mannigfachen Beziehungen, welche die Kirchen-
Verfassung des Mittelalters mit dem öffentlichen Leben in dem Territorium der Stadt und
des Fttrstentoms verbinden. Namentlich werden die Wandlungen des Verhältnisses zwischen
Kirche und Staat im XV. Jahrhundert klargelegt. Das Buch sei besonders den Lokal-
forschern empfohlen, weil es bei aller Buntheit der Gestaltungen immer wieder die ge-
meinsamen Züge der verfassungsgeschichtlicben Entwicklung hervortreten läflt.
2) Redlich, a. a. O. S. 45 und Lossen, a. a. O. S. ii9ff.
3) Redlich, a. a. O. S. 46.
4) Srbik, a. a. O. S. 89.
5) Redlich, a. a. O. S. 52f.
— 151 —
mandat der österreichischen Herzöge Wilhelm und Albrecht IV. vom
Jahre 1397. Ja Albrecht V. ließ die Professoren der Wiener Uni-
versität den Eid der Rechtgläubigkeit ablegen, um sie gegen den
Husitismus gleichsam immun zu erhalten ^).
Aber das Fürstentum blieb nicht bei der Abwehr und Revindi-
kation auf dem rechtlichen und wirtschaftlichen Gebiete stehen, sondern
es ging auch direkt auf geistliches Gebiet hinüber und übte, wenn auch
nur zeitweilig, das volle Kirchenregiment aus*). Diese Grenz-
überschreitung konnte allerdings nur unter einem abnormen Zustand
der Kirche, wie er durch das große Schisma geschaffen war, und
unter der fieberhaften Geisterbewegung der Reformkonzilien vor sich
gehen. Noch kurz vor dem demütigenden Gang des Papsttums nach
Avignon hatten sich als Gegengewicht gegen die absolutistische
Überhebung Bonifaz' VIII. in Frankreich die Vorboten gezeigt. Eine
Ständeversammlung im Louvre (1303) hatte unter der Leitung des
eigentlich treibenden Elements , der juristischen Laien , an ein all-
gemeines Konzil, die erste Appellation dieser Art, appelliert, das
über den ketzerischen Papst zu Gericht sitzen und den Zustand der
Kirche verbessern sollte *). In der nun folgenden verhängnisvollen
Zeit des Schismas bewarb sich das durch seinen Zwiespalt ge-
schwächte Papsttum um die Obödienz von Fürsten und Völkern,
indem es zu ihrer Erlangung seither sorgsam gehütete Vorrechte ver-
geudete. Der Kampf um die Einheit der Kirche hätte die kaiserliche
Macht an ihre alte superiore Stellung erinnern können. Siegmund ge-
fiel sich auch in dieser universalen Mission, der er sich in Konstanz
mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften hingab. Aber in der
anderen Rolle, in der eines großen Reformators, die ihm das Geschick
ebenfalls zugedacht hatte, war er nicht so glücklich. Da bei der
Reform zu Basel die Interessen nicht nur der Nationen, sondern in
Deutschland auch der Territorien auf dem Spiele standen, so wollten
die deutschen Fürsten deren Wahrnehmung, wie schon lange auf
dem politischen, so auch jetzt auf dem kirchenpolitischen Gebiete
nicht mehr dem Königtum überlassen. Wenn es auch einige Prälaten
anstößig fanden, daß ein weltlicher Fürst das Konzil zu Basel so
offenbar beherrschte *), so wußten doch die beiden sich immer heftiger
i) Srbik, a. a. O. S. 113 f.
2) Vgl. fiir die Städte Werminghoff, a. a. O. S. 295.
3) Voigt, G., Enea Silvio de Piccdomini ah Papst Piu$ IL und sein Zeit-
alter (Berlin 1856), i. Band, S. 24.
4) Voigt, a. a. O. 1, S. 43.
— 162 —
befehdenden Parteien, Papst Eugen IV. und das allgemeine Konzil,
wo die letzte Entscheidung in der Machtfrage zwischen diesen beiden
Faktoren ruhe, nämlich bei den weltlichen Fürsten. Nachdem der
kirchliche Kampf schließlich zum Verfassungskonäikt ^) — das Konzil
entsetzte den Papst, und dieser verlegte es nach Ferrara — innerhalb
der Kirche geführt hatte, waren es die staatlichen Organe, bei denen
die Entscheidung lag. Frankreich ging als geschlossene Nation vor
und rezipierte die Reformdekrete des Baseler Konzils auf der National-
synode zu Bourges; in Deutschland fuhren sich die Kurfürsten in der
Neutralität fest. Zeitgenossen nannten das einen Staatsstreich. Die
Neutralitätsurkunde erklärte am 17. März 1438, im Streit zwischen Papst
und Konzil keinem von beiden Teilen zufallen zu wollen, und für den
Zeitraum von 6 Monaten sollten die Gebote der einen oder der anderen
Partei in ihren Landen kraftlos sein *). Die Kurfürsten wollten das Steuer
der geistlichen Herrschaft in ihren Diözesen und Territorien in die Hand
nehmen unter Wahrung etwaiger Rechte des Papstes und Konzils '). Um
aber dennoch die Reformdekrete vom Jahr 1435/36 für die Territorien
Deutschlands zu retten, wurden diese auf dem Reichstag zu Mainz am
* *
26. März 1439 akzeptiert unter dem Vorbehalt von Änderungen, Er-
läuterungen und Einschränkungen, wie sie durch die territoriale Ver-
schiedenheit bedingt seien. Durch die Verlängerung der Neutralität wurde
zugleich der ex-lex-Zusiand noch weiter ausgedehnt. Ja der Binger Kur-
verein vom 20. März 1439 bestimmte, daß unter Aufrechterhaltung der
Neutralität die beiden uniyersalen Autoritäten durch geistUche und welt-
liche Landeskonsistorien ersetzt werden sollten *). Also auch das
geistliche Territorium nahm willigen Anteil an den Emanzipationsbestre-
bungen der weltlichen Untergewalten gegen die päpstliche Prärogative !
So war die universale Reform in ihre nationalen, in Deutschland, der
politischen Entwicklung entsprechend, in ihre territorialen Faktoren zer-
fallen. Reichsgesetzlich war sie in der Akzeptationsurkunde von 1439 fest-
gelegt, nachdem sie schon kirchengesetzlich kurz zuvor eingeleitet war.
Denn auch das Konzil hatte in seiner 15. Sitzung (1435) die universale
Reform in partikulare Bahnen geleitet, indem es bestimmte, daß regel-
mäßig Provinzial- und Diözesansynoden zur Reform der Einzelkirchen
1) Vgl. für das Folgende meinen Aufsau Der kirchliche Verfa88ung8konflikt vom
Jahre 1438139 und die sog. Beformation des Kaisers Sigmund im Neuen Archiv
für ältere deutsche Geschichtshunde XXXII, S. 730.
2) Text bei 6 ach mann im A. fUr österreichische Geschichte 21'.
3) Joachimsohn, Gregor Heimburg, S. 52.
4) Srbik, a. a. O. S. ii.
— 153 —
abg^ehalten werden sollen. In der Voraussicht nämlich, daß die Re-
form der Gesamtkirche bei dem immer rascheren Anschwellen der
Zahl der radikalen Elemente auf Abwege geraten könne , wollte man
zunächst die bereits dekretierten Reformbeschlüsse erst Gestalt
annehmen lassen. Das war die Absicht der damals fuhrenden
Geister wie des Kardinallegaten Cesarini. Sein Zeitgenosse Joh. Nieder
sprach sich in demselben Sinne aus, wenn er meinte, man solle jetzt
eifrig Klöster und Gemeinden reformieren, da er von der totalis
reformcUio ecclesiae nichts erhoffe '). Es trat in der Reform der ge-
samten Kirche ein Stillstand ein, der zugleich zu einem Wendepunkt in
der ganzen Reformbewegung wurde, weil diese nun partikularisiert d. h.
territorialisiert wurde. Das sprachen die Landesfürsten auf das An-
erbieten des Papstes hin, fiir die gravamina der deutschen Nation
Abhilfe zu schaffen, offen aus, nämUch, daß die gravamina land-
schaftlich verschieden seien, es sei deshalb Sache der einzelnen
Landesteile , sich eine provisio geben zu lassen *). So arbeiteten
Papst, Konzil und Landesfürsten darauf hin, daß letztere selbst das
allein ins reformandi ausüben könnten. Ja wir begegnen bereits
in dieser Bewegung dem Worte „Protestation" =« Neutralität. Aber bei
aller Ähnlichkeit der Protestation des XV. Jahrhunderts mit der des
XVI. Jahrhunderts sind beide Begriffe doch so voneinander ver-
schieden, wie die Reform des XV. von der Reformation des XVI. Jahr-
hunderts. Nicht anders steht es um das hier rechtlich in Anspruch ge-
nommene und tatsächlich ausgeübte itis reformandi. Denn dieses soll
1439 unter dem Vorbehalt einer von dem Papst und Konzil zu
erteilenden Indenmität ausgeübt werden, während das ius reformandi
des I. Speierer Reichstags das universale Band durchschneidet und die
Landeskirche begründet. Die nun von dem Papst, Konzil und den
Landesfürsten eingeleitete Partikularreform in Deutschland setzte bei
den Klöstern zuerst ein. Sie führte zu kirchlichen Organisationen in
der Gestalt der Bursfelder und Windesheimer Kongregation. Auch bei
dieser scheinbar aus der Kirche selbst hervorgehenden Erneuerung
sicherte der weltliche Arm der Fürsten erst die Verwirklichung
und Dauer *). So sehen wir , wie der Reformator des deutschen
Augustinerordens, Andreas Proles, mit der Einführung der Observanz
in die sächsischen Augustinerklöster erst dadurch Erfolg erzielte, daß er
1) Vgl. meine Aasgabe der Befarmation Kaiser Sigmunds S. XXÜ.
2) Reicbstagsabschied vom Reichstag zu Frankfart 1439. Vgl. Joacbimsobn,
a. a. O. S. 60.
3) ^Sl> *°cl) Lossen, a. a. O. S. 150 ff.
— 164 —
dem Herzog von Sachsen Wilhelm III. das Reformationsrecht vindi-
zierte „um der eigenen Seelen Seeligkeit und des Volkes Besserung
willen" ^). Erfüllt von den Reformideen des Baseler Konzils, publizierte
dieser denn auch als Abschied des Landtages zu Weißensee (1446)
die Landesordnung, wonach „alle Klöster in seinem Lande reformiert,
alle Priester ermahnt werden sollen, sich geistlich zu halten**. Sonst
tvoüen toir mit dUen fleyß daran syn und schaffen^ daß der gestrafft
und gerechtfertiget unirde, als sich gd>iret, und das auch selbst tun.
Trotz des eifersüchtigen Eingreifens von seiten des Ordensgenerals
mit kü-chlichen Strafen gegen den reformeifrigen Mönch erließ der
Herzog strenge Mandate gegen die Konvente, die auf den Wink des
Generaloberen von der Observanz abfielen, und ließ diese wieder durch
seine Amtleute einfuhren *). Ebenso lieh ein anderer tatkräftiger welt-
licher Fürst, Herzog Albrecht V. von Österreich, einer ähnlichen
Reformbewegung, die von Kloster Melk ausging, seinen starken Arm
und erzwang beim Widerstand gegen das Reformwerk die Einsetzung
einer Visitationskommission *). Ja er ließ sich durch einen Vertrag
mit dem Bischof von Passau die Einholung der Zustimmung des
Landesherrn zur Vornahme von Visitationen gewährleisten *).
Nicht weniger fest steht, daß der Herzog Wilhelm von Jülich-
Berg ebenfalls die Reformation der Klöster seines Landes anordnete
oder bei den geistlichen Organen in Anregung brachte, denen er seine
Räte zur Seite stellte *). Selbst geistliche Fürsten hielten die Reform
für eine territoriale Angelegenheit, wie der Erzbischof von Köln dies
i) Kolde, Die deutsche Augustiner - KongregcUion und Joh, von Staupitz
(1879), S. 108 ff. Vgl. auch Gefi, Akten und Briefe zur Kirchenpolitik des Herzogs
Georg von Sachsen, i. Band (Leipzig 1905), S. XXXVIII. Dieser neue religiös-sittliche
Beruf der Fürsten, für das Seelenheil der Untertanen verantwortlich tn sein, tritt auch
an Herzog Albrecht V. hervor, der am Nichtbestätigung des Passaaer Bischofs bittet:
propter scUutem animarum sucie et suorum subditorum (a. 1424/25). Srbik, a. a.
O. S. 10.
2) Kolde, a. a. O. S. 119. Vgl. auch die bezeichnenden Äußerungen von
Mathias Döring (Albert, Mathias Döring, S. 152) und Priebatsch, Staat und
Kirche in der Mark Brandenburg am Ende des M. A, in Zeitschrift für Kirchen-
geschichte 19. Band, S. 417.
3) Srbik, a. a. O. S. 212.
4) So konnte ein Nekrolog diesem Herzog den stolzen Titel geben: reformator
totuis religiosae vitae in Au^tria. Eigner, Geschichte des aufgehobenen Klosters
Mariazell (1900), S. 91.
5) Redlich, a. a. O. S. 93. Auch der Reformator Johannes Busch [vgl.
K. Grabe: Johannes Busch, Augustinerpropst zu Hildesheim, Feiburg 1881, S. 52]
ruft für seine Tätigkeit den weltlichen Arm an.
— 155 —
für sein kurkölnisches Gebiet in Anspruch nahm. Von anderen Bei-
spielen territorialer Ausübung des ins reformandi ist hier auch
der merkwürdige Versuch eines Reichsstädtebürgers zu erwähnen,
für das Territorium der Stadt das Recht der Reformation in Anspruch
zu nehmen, in der „Reformation des Kaisers Siegmund**. Ist diese
Reformschrift auch kein offizielles Aktenstück in der damaligen terri-
torialen Reformbewegung, so steht doch jetzt fest *) , daß sie sich an
einen offiziellen Akt, an die Akzeptationsurkunde des Reichstags von
Mainz (1439), eng anschließt und alles Ernstes die Stadt zur unmittel-
baren Vornahme der Reform der Kirche in ihrem Gebiet aufruft. Diese
Zumutung an die öffentliche Meinung in den Städten würde unberech-
tigt erscheinen, wäre diese für die partikulare (territoriale) Kirchen-
reform nicht schon längst vorbereitet gewesen.
In der Tat, die öffentliche Meinung drängte schon längst zu dieser
Entwicklung. Die Ideen, die in dem letzten großen Kampf zwischen
Papsttum und Kaisertum keimten und immer mehr Wurzel faßten,
schössen in der schwülen geistigen Atmosphäre des Schismas und der
Reformbewegung üppig ins Kraut. Die päpstliche Lehre von der
Prärogative des Geistlichen hatte bereits die radikalste Publizistik in
jenem Kampfe in ihr Gegenteil gekehrt. Die Kirche hat nach der An-
sicht ihrer extremen Vertreter kein Recht der Legislative, keine eigene
Gerichtsbarkeit, kein Sondereigentum, keine Steuerfreiheit für dasselbe;
das Privilegium fori der Kleriker muß vielmehr zugunsten der weltlichen
Gewalt fallen. Die Beschränkung und Besetzung der kirchlichen Stellen
steht ihr allein zu. Der Fürst hat sogar das Recht, im Notfall und
auf Anruf der geistlichen Gewalt auch in die Spiritualien einzugreifen *).
Den Vertretern der Staatsgewalt fällt ein Notreformationsrecht zu,
kurzum die Kirche wird als organischer Bestandteil des Staatsganzen
in Anspruch genommen *). Mit gutem Erfolg hat Srbik den bisher
geleugneten *) Einfluß dieser Publizistik auf die landesherrliche Kirchen-
politik nachgewiesen *). So habe Occams bedeutendstes Werk , der
Dialogus, den Herzog Albrecht II. von Österreich veranlaßt. Bann
und Interdikt über Ludwig den Bayern in seinen Landen nicht an-
i) Neues Archiv für ältere deutsche Geschichtskunde 32. Band, S. 379 ff.
2) Friedberg, Die Grenzen zwischen StcMt und Kirche (1872), S. i34ff.
3) Dorn er, Verhältnis von Stitat tmd Kirche nach Occam in Theologischen
Studien und Kritiken (1885), S. 684 ff.
4) Vgl. von B e 1 o w , Die städtische Verwaltung des Mittelalters in Historischer
Zeitschrift 75, 453 und Joachimsohn, Chregor Heimburg, S. 205 f.
5) Srbik a. a. O. S. 7.
— 166 —
zuerkennen. Bemerkenswert ist auch das zeitliche Zusammenfallen dieser
literarischen Bewegung mit den Mainzer Zunftkämpfen, die ihren An-
griff auf die geistliche Gerichts- und Steuerexemtion, den Erwerb der
toten Hand, richteten und das Geistliche vom Weltlichen schon um
die Mitte des XIV. Jahrhunderts zu scheiden versuchten. Jedenfalls
lag für Fürst und Volk hier in den Werken der Publizistik das Rüst-
zeug zum Kampf für ihre territoriale Unabhängigkeit von der geist-
lichen Gewalt bereit. Auf die Publizistik des XV. Jahrhunderts gar
hat diese Literatur erst recht Einfluß ausgeübt. Marsilius und
Occam lieferten Dietrich von Niem *) , Mathias Döring *) und Gregor
Heimburg *) die Waffen im Kampfe gegen die Prärogative der geist-
lichen Gewalt. In der Not des Schismas, als das kirchliche Oberhaupt
infolge seines Zwiespaltes selbst in den Kampf der Parteien gezogen
wurde, erging der Ruf an die Fürsten, der Kirche wieder zur Einheit
zu verhelfen *). An die Herzöge von Österreich wandte sich mit Er-
folg die Wiener Hochschule um Mitwirkung bei der Abstellung des
Schismas *). Wieder ist es als lautester Rufer im Streit Heinrich von
Langenstein, der in einer deutlichen Apostrophe an den Herzog von
Österreich sich wendet, er solle gemeinsam mit Frankreich und Bur-
gund die Einigung der Kirche bewerkstelligen. In der Tat geht der
Herzog Ernst von Österreich mit König Siegmund von Ungarn ein
Bündnis zur Beseitigung des Schismas ein •). Der Erfolg der Publi-
zistik auf die territoriale Kirchenpolitik liegt hier ebenfalls klar zu
Tage. Selbst die gemäßigtere Richtung, die Nikolaus von Kues und
Eneas Silvius vertreten, hält an der Scheidung des Weltlichen vom
Geistlichen fest und fordert völlige Koordination beider Gewalten.
Auch trotz der konservativen Ansicht des Stadtschreibers Valentin Eber
in seiner Reformation des Kaisers Sigmund, daß alles Recht seinen
Ursprung im Papst und in den Kardinälen habe, fordert dieser Laie
angesichts des Notstandes in Reich und Kirche — denn das gaisUich
recht ist krank, das kaisertum und aUes, das im eugehort, statt Be un-
i) Finke, in Bömische Quartahchrift 7, 2240. und Erler, Q. Dietrich
von Niem (1887), S. 417.
2) Albert, Mathias Döring (1892), S. 154.
3) Joachimsohn, Oregor Heimburg, S. 233.
4) Z.B. in der invectiva contra monstrum Babylonis von Heinrich von Langen-
stein (Kneer, Entstehung der konzHiaren Theorie in Bömische QuartaUchrift,
I. Snpplementheft, S. 94 f.)«
5) Ebenda, S. 98 f., und Aschbach, Geschichte der Wiener Universität, 1,382.
6) Deutsche Beiehstagsakten 5, 41 3, Nr. 305 nnd Göller, E., König Siegmunds
Kirchenpolitik (Freiburger Dissert. 1901), S. 10.
— 157 —
recht ^) — , daß man geistlich und weltliches Recht mit Gewalt durchbrechen
soll*), und er vindiziert auch dem Territorium der Stadt das ins reformandi
nach dem Gesichtspunkt der Scheidung des Geistlichen vom Weltlichen.
In dieser Zeit der Neubildung und des Ausbaues der Landes-
hoheit trat auch in Deutschland ein neuer Stand als Bundesgenosse
dem Fürstentum zur Seite, der juristisch 'gebildete Laienstand. Durch
die sich im XV. Jahrhundert anbahnende Rezeption des römischen
Rechts erfuhr gerade das Landesfürstentum eine Potenzierung der
Machtfiille, die sich bald auch nach der kirchlichen Seite hin breit-
machte. Wenn auch Eneas Silvius in seinem LibeUus de oriu et auto-
ritcde imperii Bomani ') in adulatorischer Absicht sich noch einmal
an die Zentralgewalt, an Kaiser Friedrich III., gewandt hat, um ihn
mit absolutistischen Gedanken zu erfüllen, so ruft das namentlich in
der Hinsicht Bedenken hervor, wenn man die Kluft mit dem geistigen
Auge mißt, die zwischen solchen Ansprüchen imd der tatsächlichen
Stellung der Reichsgewalt damals sich auftat. Dazu hat dieser „Apostel
der absoluten Staatsidee** *), der namentlich auf Peter von Andlau in
seinem LibeUus de Caesarea Monarchia nachhaltigen Einfluß ausübte,
weniger der Zentralgewalt genützt als ihren Erben, den Fürsten ; denn
die Rollen waren längst vertauscht. Den Untergewalten, dem Fürsten-
tum, wird nun mehr durch die Rechtsdoktoren mit den Begrifien antik-
römischer Allgewalt das weltliche Schwert geschärft, mit dem jetzt das
Landesfürstentum zu Eroberungen auf dem geistlichen Gebiete ins Feld
zieht. Ist doch die ganze kirchenpolitische Bewegung des Jahres 1438
bis 1439, die im Staatsstreich imd der Obödienzverweigerung dem Papst
und Konzil gegenüber gipfelte, gerade das Werk dieser humanistisch
gebildeten Rechtsgelehrten *) als der Berater der geistlichen und welt-
lichen Fürsten. Ihr bedeutendster Redner, Gregor Heimburg, erklärte
bezeichnenderweise die Beilegung des Streites zwischen Konzil und
Papst als eigenste Sache der Fürsten. Ihr Verhalten in diesem
werde der ganzen Christenheit Norm sein. Denn „ihnen hat die Ge-
walt beider Schwerter geistliche und weltliche Ehren verliehen** •).
i) S. 79 meiner Ausgabe (Berlin 1908).
2) Ebenda.
3) Meosel, A., Enea Silvio ah Publizist, 7. Heft der Untersuchungen zur
deutschen Staats- tmd EeMsgeachiehte, herausgegeben tod O. Gierke (1905).
4) Ebenda, S. 82.
5) Joacbimsobn, Gregor Heimburg, S. 51.
6) Joacbimsobn, a. a. O. S. 21. Ebenso spielen bei der Beratung der 9 gra-
veroina der dentschen Nation auf verschiedenen Fttrstentagen seit 1452 diese beiden Jaristeo,
Martin Mayr und Gregor Heimbarg, eine Haoptrolle. Vgl. Lossen, a. a. O. S. 2 7 f.
— 168 —
So ist denn auch gerade das XV. Jahrhundert wieder reich an
kirchenpolitischen Kämpfen zwischen Geistlich und Weltlich, aber
diese werden zwischen LandesfUrsten und geistlicher Gewalt und
zwar beiderseits zwischen den Untergewalten ausgefochten. Die
beiden Obergewalten werden nur noch als Schiedsrichter angerufen.
Ich erinnere an die Streitigkeiten, die mit der kühnen und nicht
weniger die öffentliche Meinung aufregenden Feder eines Gregor Heim-
burg und Martin Mair gefuhrt wurden *) , als die von Männern wie
Marsilius und Occam. Dieser literarische Kleinkrieg der Untergewalten
bringt so recht deutlich die Wendung in der Machtverteilung zwischen
der Zentralgewalt und den territorialen Faktoren ztim Ausdruck. Diese
ließen sich denn auch bei Verständigung zwischen Kirche und Staat
in den Wiener Konkordaten nicht mehr ausschalten. Die Neu-
tralität und die Akzeptation waren ein Provisorium. Beide hatten sich
als ein Versuch des eben an den Fürstenhöfen zur Geltung gelangen-
den römischen absolutistischen Systems herausgestellt, und das Papst-
tum suchte nun mit allen Mitteln diesem hinter dem Drängen der Fürsten
nach Reform versteckten Anlauf zur Verweltlichung der Kirchengewalt
entgegenzutreten. In dem von den Territorien geübten itis reformandi
lag ein bedeutender Schritt zum Landeskirchentum. Wäre aus der
die Obödienz verweigernden Neutralität eine dauernde Einrichtung ge-
worden, so hätten wir in Deutschland die Nationalkirche haben müssen.
Aber die Geschichte macht wie die Natur keine Sprünge. In Deutsch-
land gab es keine Nation, keinen Einheitsstaat, die einzelnen Fürsten
sollten zuerst immer mehr die volle Kirchenhoheit in ihre Hände be-
kommen, bis Luther den letzten Schritt tat, auch die Verbindung der
Fürsten mit der Universalkirche zu durchschneiden. Vorerst kam im
Jahre 1446 das Kompromiß zwischen Papsttum und Landesfürstentum
zustande, durch das die Obödienz unter das Papsttum mit dem Ver-
zicht auf die akzeptierten Reformdekrete wiederhergestellt wurde. Das
Fürstentum zog aber schon aus der Reformbewegung den Reingewinn.
So erhielt der Kurfürst von Brandenburg vornehmlich die Besetzung
der Bischofsstühle mit dem Landesfiirsten genehmen Männern, Ein-
dämmung der geistlichen Gerichtsbarkeit u. a. *). Bayern und Sachsen
i) So Martin Mayr als Rat Georg Podiebrads von Böhmen; vgl. Höfler, Dm
kaiserliche Bitch des Markgrafen Albrecht AchiUes (Bayreuth 1850) und Gregor Heim-
bürg als Bundesgenosse des Sigmund von Tyrol gegen Nikolaus von Cues; vgl.
dazu Pastor, Geschichte der Päpste 11^, S. 132 — 149, sowie den Streit Herzog
Albrechts V. in Österreich, den S r b i k dem Siegmunds von Tirol gleichstellt, a. a. O. S. 33.
2) Priebatsch, Staat und KircJie in der Mark Brandenburg, a. a. O. 19, 404.
— 159 —
erhielten ähnliche Vorteile. Auch die geistlichen Kurfürsten sowie
der Erzbischof von Salzburg erhielten das Recht, die in den päpst-
lichen Monaten vakant werdenden Benefizien zu besetzen ^). Auch
der Kaiser Friedrich III. erhielt in Gestalt der Kirchenhoheit in seinen
Erblanden einen bedeutenden Kaufjpreis *) für den Verzicht auf die Re-
formdekrete. Es ist also falsch, von einer Auslieferung der deutschen
Kirche an das Papsttum durch die Wiener Konkordate zu sprechen.
Es gab keine deutsche Nationalkirche, sondern nur zu einem guten
Stück bereits territorialisierte Landeskirchen. Durch dieses Kompro-
miß hat also gerade das Papsttumun bewußt der Universalkirche
weiteren Abbruch getan und der fortschreitenden Territorialisierung
der Landeskirche Vorschub geleistet. Die öffentliche Meinung schätzte
deshalb bald darauf das Ziel dieser Entwicklung, wenn auch nicht
den tatsächlichen Zustand des Landesfiirstentums , richtig ein,
da von mehreren Landesfürsten gesagt wurde: papa est in
terris «ms '). In Sachsen wurde denn auch in demselben denk-
würdigen Jahre 1446 von Herzog Wilhelm III. das landesherrliche
ins circa sacra kodifiziert ^); ferner wußten Brandenburg ^) und Österreich
der Kirchenhoheit des Staates Geltung zu verschaffen. In Jülich-Berg
war es erst Herzog Wilhelm IV. (147S — 1511)1 der seine Geistlichkeit
den landespolizeilichen Anordnungen unterwarf^. So mischte sich
bereits der Herzog in innerkirchliche Angelegenheiten ein, indem er
Gottesdienstordnungen erließ und Anweisungen über Prozessionen gab ;
noch am Vorabend der Reformation ordnete er Sakramentstrachten,
Prozessionen u. a. an ^. Er erkannte nicht mehr das Privilegium im-
muniiaiis, die Steuerfreiheit der Kleriker an, sondern zog sie zu Schatz-
und Dienstpflicht heran. Um die Steuerkraft des Klerus zu erhalten,
überwachte er die Auflagen von selten der Päpste und Erzbischöfe
i) Srbik, a. a. O. S. 14.
3) Ebenda and Roßmann, BeiraMungen Über das ZeitaUer der BefarmaUon
(1858), S. 161.
3) Redlich, a. a. O. S. 9., weist dies fUr die Landesherren von Kleve and von
Sachsen nach.
4) Gefl, Akten wfid Briefe i. Band (1005), S. XXI.
5) Lehmann, Ffti/^en und die katholische Kirche seit 1640^ i. Band (Leipzig
1878), S. 8.
6) Redlich, a. a. O. S. loo*. Srbik, a. a. O. S. 16, für den Herzog Radolf IV.
von Osterreich, schon 1367 Hir den Herzog von Bayern, Grafen von Schaambarg and
Herzog von Württemberg.
7) Ebenso Karförst von der Pfalz. VgL Lossen, a. a. O. S. 133 f.; Hlr die
Städte siehe Werminghoff, a. a. O. S. 292 f.
12
— 160 —
Kölns '). Aber auch das sittliche Wohl seines Landesklerus behielt
er im Auge. War er auch mit seinen Verordnungen gegen das Kon-
kubinat der Kleriker so wenig glüddich wie die General- und Partikular-
konzilien seiner Zeit ') , so suchte er durch seine Anordnungen von
1491 gegen unsittlich und ungeistlich lebende Priester geradezu in die
Stellung der Kirchenobrigkeit einzudringen.
So war die geistliche Gewalt auf ihr eigenes Gebiet zurück-
gewiesen, indem der Staat lediglich die Kompetenz der kirchlichen
Gerichtsbarkeit in Ehe-, Patronats- und Zehntensachen anerkannte '), das
Privilegium fori und immunüaHs des Klerus überhaupt nicht mehr
gelten ließ, das Kirchengut der Besteuerung unterwarf, den Erwerb
liegender Güter an seine Genehmigung und Beschränkungen knüpfte,
und auch ins innere Leben der Kirche selbst eingriff. Denn selbst die
beiden mächtigsten Handhaben des Staates, um die Beeinträchtigung
des Staatswohls zu verhüten, das placet und den recursus ab obusu,
übte die weltliche Gewalt bereits im XV. Jahrhundert aus *). So hatte
sich allmählich an Stelle der Untversalkirche als eines Staates im
Territorialstaate eine Kirche in der Kirche, die Landeskirche in der
Universalkirche, gebildet. Die Reformation hatte beide nur noch
äußerlich von einander zu trennen, ihre Unabhängigkeit voneinander
theoretisch zu begründen und praktisch zu vollenden.
Durch den Speierer Reichstagsbeschlufi (1526) wurde den Landes-
fürsten das VU8 reformandi, d. h. das Recht, Landeskirchen zu gründen,
erteilt. In demselben Jahre trat die erste Landeskirche in Hessen
ins Leben. So ging für einen großen Teü Deutschlands in Erfüllung,
was Dietrich von Niem in Anbetracht seiner Zeit, wo reges ei jprm-
cipea ...de praesenii . . . intromütunt se de facHs ecdesiarum usque ad
ultimum de potentia. Idco ecdesiae fere in oto mundo maie skmt, schon
voraussagte, daß man sich um Papst und Kurie in kirchlichen Dingen
nicht mehr bekümmern werde *).
I) Redlich, a. a. O. S. loi ff. and Werminghoff, a. a. O. S. 264.
a) Redlich, a. a. O. S. 108.
3) Srbik, a. a. O. S. 14.
4) Srbik, a. a. O. S. 15.
5) Finke, Bit hirchenpoHtischen %md hirehüehen VerhaUnisae su Ende de»
MütelaÜers ncush der Darstellung K Lamprechts in Römische Quartdlsdirifl,
IV. Supplcmentheft (1896), S. 7.
— 161 —
Hilfswissensehaftliehe Forschungen
und Forsehungsaufgaben auf dem Gebiete
neuzeitlicher Geschichte
Von
Wühelm Bauer (Wien)
Es ist vielleicht nicht unangebracht, zunächst in Form eines zwang-
losen Referats des Verhältnisses zu gedenken, das zwischen den histo-
rischen Hilüswissenschaften und der Geschichte der Neuzeit besteht,
und anzudeuten, in welcher Richtung sich in Zukunft das gegenseitig
befruchtende Zusammenwirken beider Wissensgebiete zu bewegen haben
wird. Gerade die Funktion der historischen Hilfswissenschaften beim
Zustandekommen geschichtlicher Erkenntnisse wird vielfach verkannt.
Spricht man von der Tätigkeit des Historikers, so verbindet man
damit vielfach einzig und allein den Begriff der psychologischen Kom-
bination und Darstellung, man denkt wohl dabei an die Kritik der
Tatsachen und Ereignisse, nicht aber an die der geschichtlichen Über-
lieferung der Quellen. Und doch ist diese die wichtigste Voraus-
setzung der ersteren, sofern die Schilderung historischer Vorgänge
nicht in den Bereich des Romans fallen will. Die geschichtliche Dar-
stellung, die man vielfach aus dem Kreise der Wissenschaften aus-
zuscheiden geneigt wäre, ist eben nur die eine Seite unserer Tätig-
keit. Die andere, nicht minder wichtige, beschäftigt sich mit der
Überprüfung, Beurteilung und Sichtung der Quellen, sie bildet ein
Gebiet, das jenseits künstlerischen Wirkens die schöpferische Phantasie
in die Schranken strenger Methodik weist und doch wieder mit jeg-
licher historischer Forschung aufs unzertrennlichste verknüpft ist. Von
den primitivsten Vorkenntnissen, wie sie der unmittelbare Verkehr mit
den überlieferten Zeugnissen der Vergangenheit erfordert, bis zur
Lösung der verwickeltsten Quellenuntersuchungen, — all das fällt in den
Bereich der historischen Hilfswissenschaften. So zeigt die Geschichte
ein Doppelgesicht. Dem femstehenden und flüchtigen Beurteiler gibt
sie sich bloß als literarische Leistung und nur dem tiefer in das Wesen
Dringenden als das Ergebnis gelehrter Forschung. „Die Historie ist**,
wie Ranke gelegentlich sagt, „zugleich Kunst und Wissenschaft.**
Gerade aber die Eigenart Rankes, wie sie in seinen Werken zum
Ausdruck kommt, der Zauber seiner glänzenden Stilistik, die Kraft
seines Wortes, die Anschaulichkeit seines epischen Talentes, das er
12 ♦
— 162 —
mit Vorliebe in den Dienst der neuzeitlichen Geschichte gestellt hat,
haben den Anschein erweckt, als wären die historischen Hilfiswissen-
schaften für diesen Zweig geschichtlicher Erkenntnis von ganz neben-
sächlicher Bedeutung. Und dies schien um so zutreffender, wenn man
mit dem Rüstzeuge, mit dem man bei der Erforschung des Mittelalters
so überraschende Elrfolge aufweisen konnte, an die Geschichte der
Neuzeit herantrat *).
Namentlich die Urkundenlehre, deren rascher Siegeszug fast
gleichbedeutend mit der wissenschaftlichen Festlegung unserer Kennt-
nis vom Mittelalter überhaupt wurde, hat, je näher wir der G^en-
wart treten, um so geringere Bedeutung. Die Urkunde hat eben an
geschichtlichem Werte verloren, seit das Rechtsleben der Völker
mannigfaltigere Formeii angenommen, seit ein geordnetes amtliches
Registerwesen die Frage der Echtheit und Unechtheit in den Hinter-
grund gerückt und überhaupt die Urkunde als Einzelerscheinung an
Bedeutung arge Einbuße erlitten hat Zeigt sich dies bereits im
späteren Mittelalter, so verwischen sich nachher immer mehr die
Grenzen zwischen Diplomatik und Verwaltungsgeschichte. Immerhin
bewahren einige Urkundengruppen ') auch für die spätere Zeit ihre
Wichtigkeit.
Auch die Paläographie hat, je näher wir der Gegenwart
treten, an Terrain verloren. Trotzdem kann der Weg zu den Über-
lieferungen der Vergangenheit auch in der Neuzeit meist nur über
die Schriftkunde gehen. — Der klassische Boden für die Paläographie
der Neuzeit ist Frankreich. Nicht als ob die Schriftentwicklung
dieses Landes so richtunggebend und einflußreich für das übrige
Europa geworden wäre, aber unzweifelhaft wird uns hier das meiste
Material zugänglich gemacht. Der schulmäßige Betrieb der Schrift-
kunde wird ja stets an die Herausgabe entsprechender FaksimUewerke
gebunden sein*). Frankreich ist nun am reichsten an solchen. So
i) Ans deo folgenden Darlegungen warden Chronologie, Sphragistik, Heraldik,
Namismatik nsw. absichtlich aasgeschaltet.
2) So namentlich die Staatsverträge. Über sie handelt L. Bittner, CKronolog.
Verzeichnis der öeterr. SiacUweriräge, Wien 1903. (Veröffentl. der Kommission fUr
neuere Geschichte Österreichs) i. S. Xff. — Die Verträge wie den offizieUen Verkehr
zwischen den einzelnen Staaten in der neaesten Zeit nnd Gegenwart verzeichnen Das
StcMisarchiv, Sammlung der offiziellen Aktenstücke zur Gesch. der Gegenwart (Ham-
burg 1 861 ff.) und die Ärchives diplamatiques, (Paris 1 861 ff.).
3) Neben B. B r e t h o 1 z , Latein. PcUaeographie (Meisters Grandriß der Geschichts-
wissenschaft i), S. 56 ff. bietet jetzt die Liste des recueüs de faC'Simüe de chartes
von R. Poupardin and M. Prou in den Actes du congres intemaÜanal paur la
— 163 —
bringt A. de Bourmont*) auf 1 3 Tafeln 20 Schriftproben aus dem
XVI. bis XVIII. Jahrhundert, wobei sowohl auf Regesten-, Urkunden- und
Bücherschriften u. a. Rücksicht genommen worden ist. Das Material
entstammt zumeist Archiven der Normandie. Interessanter, wenn
auch vom paläographischen Standpunkt weniger lehrreich, ist die
Sammlung von J. Kaulek und Eug. Plantet'), in der die Hand-
schriften aller Herrscher Frankreichs von Heinrich IV. bis Napoleon
und die ihrer Gemahlinnen vertreten sind. — Außer diesen nur der
Neuzeit gewidmeten Werken kommen aber auch alle anderen größeren
Faksimileausgaben in Betracht, da diese, anders als die deutschen,
zumeist über das XV. Jahrhundert hinausg^eifen. Da ist zunächst das
MusSe des Archives dipartemerUales (Paris 1878), das von Tafel 50
bis 60 dreißig Schriftnachbildungen des verschiedensten Materials aus
der Zeit von 1499 bis 1764 bringt, darunter z. B. Nr. 143 ein eigen-
händiges Schreiben Melanchthons. In den vier Faszikeln des Becueü
de faosimiUs ä Tusage de T£cole des Charles (Paris 1880 fr.) finden sich
14 Stücke aus der Zeit von 1500 bis 1725, von denen aber allein neun
dem XVI. Jahrhundert angehören. Auch das Album paleographique
ou recueü de documevUs impcrtants relaüfs ä Vkistoire et ä la liüirature
nationales . . . avec des notiees explicaHves, par la SodiU de VtjccHe des
Chartes (Paris 1887) bringt auf 7 Tafeln 6 Schriftproben von 1532
bis 1682, dem Titel entsprechend meist geschichtlich interessante
Stücke. Für das XVI. und XVII. Jahrhundert ist femer Jules
Flammermont') heranzuziehen, wo namentlich Schriftbilder aus
dem einst brabantischen Kreise verwertet wurden. Maurice Prou
hat in seinem Manuel de paleographie* Recueü de fac-simiUs d'ecriiures
du Xn* au XVII* siede (Paris 1892) die letzten 12 Tafeln dem Zeit-
raum von 15 IG bis 1650 gewidmet und in dem späteren gleichnamigen
Werke*) 12 Schriftproben von 15 12 bis 1687 eingeräumt. Nament-
lich ftir die französisch - niederländische Schriftentwicklung bieten
reproduetum des manuscrits etc, ä Lügt 1905 (Bevue des UibUoihkques et archints
de Belgique. Publieatüms 1), S. 219 ff., den YoUständigsten OberbUck ttber die Faksimile-
literatnr.
i) Ledwre et transcription des vieUies icrüures. Manuel de paliographie des
XVI*, XVn*, XVin* sUeUs (Caen 1881).
a) Beeueü de fac-simiUs pour servir ä fäude de la paUographie inodeme,
XVU* et XVUI* Stieles (Paris 1889). I*w SMe: B<ris et Beines de France.
3) AUmm paUograpMque du Nord cie .FVonce (UUe 1896). (Traraiix et M6moires
de lUniversitö de LiUe. Atlas Nr. 2.)
4) Mit dem Untertitel No^veau recueü de fae-siwUUs d^icritwes du XII* au
XVn* such (Paris 1896).
— 164 —
Reusens' Clements de pcUeograjohie (Louvain 1899) aus der Zeit von
1506 bis 1791 14 Faksimile*).
Die deutschen Faksimileausgaben können sich, soweit die Neu-
zeit in Betracht kommt, an Reichhaltigkeit mit den firanzösischen nicht
messen. Das einzige Werk, das sich bewußt die Förderung der
späteren Schriftkunde zur Aufgabe macht, sind die von der Direktion
des k. und k. Kriegsarchivs zusammengestellten UfUerrichiä)ehelfe eur
Handschriftenkunde, Handschriften aus dem XVI., XVII. und XVIII. Jahr-
hundert, (Wien 1889). Als besonders wertvoll darf darin die Ver-
wertung der typischen Kanzleischriften jedes der drei Jahrhunderte
hervorgehoben werden. Auf 20 Tafeln werden fünf Schriftproben des
XVI., acht des XVII. und sieben des XVIII. Jahrhunderts gebracht
Ein ausgezeichneter Beitrag zur Paläographie des XVI. Jahrhunderts
sind die von Joh. Ficker und O. Winckelmann herausgegebenen
Handschriftenproben des sechzehnten Jahrhunderts nach Straßburger Ori-
ginalen (Straßburg 1902). 1. Band: Zur politischen Geschichte, 2. Band:
Zur geistigen Geschichte. Indem hier auf 102 Tafeln sowohl die Hand-
schriften der führenden Geister Straßburgs des XVI. Jahrhunderts, aber
auch die ungenannter Kanzlisten, Schreiber und Theologen gebracht
werden, wird dieses Werk eine Fundgrube schriftkundlicher Forschung
wie auch für straßburgische Personalien und Stadtgeschichte jener
Zeit. Aber es gleicht einem erratischen Block, denn leider finden
sich nirgends Ansätze zu ähnlichen Ausgaben, die in gleich methodischer
und umfassender Art die Schriftentwicklung der späteren Zeit auf ört-
lich und kulturell scharf umgrenzten Gebieten verfolgen und wieder-
geben. R. Thommen*) überläßt von 20 Tafeln bloß zwei, in der
i) Ponpardin-Proa führen weiter noch an: M. Battheney, Uarchiviste frangois
(Paris 1775) mit Schriftproben bis 1650, ferner A« de Bastard, Petntures et ome-
fnenU des manwsriU . . . depuis le IV* siede . . . juaqu'ä la fin du XVI* sikde (Paris
1832— 1869), dznn Isographie des hammes cHehreSy ou coUection de fac-simüe de lettres
autographes sons les auspices de M. M. B^rard, Chanteaogiron, Dnchesne,
Tr6misot et Berthier (Paris 1843), ^^^^ ^^^ alphabetischen Reihenfolge der Persön-
lichkeiten geordnet, meist Briefe des XVI. bis XVIII. Jahrhonderts. Bis an die Grenze des
XVII. Jahrhunderts reichen die Fac-simile de 24 püces des arckives hospitdlieres de
Meaux (Meaox 1878). Ein interessantes Werk scheint das Musie des Archives wUtO-
nales. DocumerUs originaux de Vkistoire de France exposis dans Vkötel Saubise.
Publik par la direction generale des Archives nationales. Paris 1872 zu sein, das
einen AossteUongskatalog mit 1 200 Faksimiles ans der Merowingeneit bis zur Revolations-
zeit darsteUt.
2) Sckrißprohen atM Handschriften des XIV. bis XVL Jahrhunderts (Basel
1888), 2. Aufl. 1908.
— 165 —
zweiten Auflage vier, dem XVI. Jahrhundert. Sie entstammen durchweg
Baseler Handschriften. Von den großen deutschen Faksimilesamm-
iungen sind es nur die MonumerUa Piikieographica, herausgegeben von
Anton Chroust (München iSpQflF.)', zwei Bände zu je zwölf Liefe-
rungen, die wenigstens die Schriftentwicklung des ausgehenden Mittel-
alters mit bewußter Sorgfalt pflegen. Lieferung 24 reicht sogar über
das erste Viertel des XVL Jahrhunderts hinaus. Doch sind diesem groß-
angelegten Werke schon durch seinen Untertitel : Denkmäler der Schreib-
kunst des MiüdaUers bestimmte Grenzen gezogen. In dem löblichen Be-
mühen nach Universalität hat Fr. Steffens^) auch aus der Zeit vom
XVI. bis zum XVIII. Jahrhundert einige Schriftproben aufgenommen, die
aber kein Bild der späteren Schriftentwicklung zu geben vermögen *).
England hat iiir unseren 2^itraum weniger methodische Faksi-
milesammlungen aufzuweisen, aber um so mehr Werke, die durch ihr
stofflich -historisches Interesse hervorragen. Immerhin bieten sie ein
ungemein reiches Material. Nur der Neuzeit gehört G. F. Warner*)
an, der in 5 Serien Autogramme nicht nur englischer Herrscher,
Staatsmänner und Dichter, sondern auch anderer berühmter Männer (wie
Karls V., Luthers, Erasmus*, Dürers, Friedrichs des Grofsen, Napoleons,
Rousseaus usw.) angenommen hat. Dem gröfiseren Teil nach fallen
in unser Gebiet die Facsimües of Nationcd Manuscripts from WiUiam
the Canqueror to Queen Anne, selected under the direction of the
master of the rolls and photozinco - graphed by command of Her
Majesty Queen Victoria by colonel sir Henry James (Southampton
1865 flf.). Part 2 reicht von Heinrich VIII. bis Eduard VI., Part 3
von Maria der Katholischen bis Elisabeth, Part 4 bis Anna. Obwohl
nicht die besten Reproduktionen, zum Teil verkleinerte Wiedergaben
geboten werden, ist diese Sammlung vom politisch-historischen Stand-
punkte interessant Die Facsimües of national manuscripts of Scotland,
selected under the direction of ...W. Gibson-Craig (Southampton
1867 fr.), reichen bis an die Grenze des XVII. Jahrhunderts. Von den
i) Latemisdie PcUäograpkie (Freiburg i. Schw. 1903). Erscheint jeUt io zweiter
Auflage.
2) Als nur nebenbei der Schriftkonde dienend mag Ch. Ob er leitner, Album de
facfimUe des regetUt, eapitaimes et howumes d'HtU depuia fon 1600 pugu^en 1576
(Vienne 1862) erwähnt werden, das zumeist nur Unterschriften bringt. Ähnlich rereinigen
die vom k. and k. Kriegsarchiv herausgegebenen Autogramme «mt neueren OeeekidUe
der habiburgieehen Länder, i. Band (Wien 1906), die Unterschriften aller Habsburger,
soweit eigenhändige Unterfertigongen vorhanden sind.
3) Faceimilee of royal, hietorical, lüerary and other autographa in the dt'
partment of manuecripia British Museum (London 1895^1899).
— 166 —
grofsen paläographischen Tafelwerken bringt zwar M. J. B. Sil-
vestre *) im 2. Bande einige Stücke s. XVI — ^XVII, doch sind es, von
Wenigem abgesehen, durchweg Proben kalligraphisch ausgeführter
Schriften. 2%e PdUeographicäl Society edited by E. A. Bond, E. M.
Thompson and G. F. Warner (London 1873 flf.) widmet dem
XVI. Jahrhundert ungeßLhr 6 Tafeln, die mehr den Kunsthistoriker als
den Paläographen angehen.
Was die italienischen Faksimilesammlungen betrifft, so waren
mir gerade von denen, die unsere Periode betreffen, nur wenige zu-
gänglich. Ich erwähne deshalb nur kurz den Titel von A. Galante
InterpreUusione e riproduziane fatggrafka dt aicuni smUi dd XV dl
XVIII secolo etc. (Caltagirone 1899), N. Barone, Cenno palech
grafico dd tereo periodo della scrittura latina (Neapel 1899), P. Vayra,
II museo storico ddla casa, di Savoia neW archivio di staU> in Ibrino
(Roma-Torino-Firenze 1880), desselben Herausgebers Auiograß dei prin-
dpi savrani deUa casa di Savoia 1248 — 1859 (ebenda 1883) gehören
fast allesamt dem französischen Sprach- und Schriftgebiet an. Die
italienische Schriftentwicklung des XVI. Jahrhunderts illustriert E. Mo-
naci im Archivio Paleografioo Itaiiano (Roma 1882 ff.) durch 9, die
des XVII. und XVIII. Jahrhunderts durch je eine Tafel. Dessen
Facsimili di tmtichi manoscritH per uso deUe scucie di fUciogia neoUUina
(Roma 1881 ff.) bringen aus dem XVI. Jahrhundert eine italienische,
zwei portugiesische und zwei rumänisch-cyrillische Schriftproben. Dessen
Esempi*) bieten für das XVL, XVII. und XVIU. Jahrhundert je ein
Faksimile. Die Monumenta pälaeographica Sacra *) veröffentlichen un-
gefähr 21 Stücke aus dem XVI. Jahrhundert, doch wird das Haupt-
gewicht auf Miniaturen und Zierschriften gelegt *).
Die spanische Literatur weist kein Faksimilewerk auf, das sich
bloß der Neuzeit widmet, doch reichen fast alle bis ins XVII. Jahr-
hundert. Über Christoval Rodriguez ^), Estevan de Terreros y
i) Universal Falatography of ftuxiimüeB of wriHngs of aü natkma and periodi
(London 1850). In französischer and englischer Aasgabe.
2) Esempi deUa scrittwra latina del secolo I di Cristo (deW era inodema)
al XVm, »eeolo, (Roma 1892.) Naota editione (1906).
3) Mit dem Untertitel AUante paUogrttfico artietioo compHato sui manoeeritti
esposH 'in Torino etc., pabblicato per cnra di F. Carta, C. Cipolla e C. Frati
(Torino 1899).
4) Erwähnung verdient die ZeiUchrift La BibliofUia (Firenze 1899 ff.), die Faksi-
mile sowohl von alten Dracken als von Handschriften veröffentlicht.
5) BibUotheca universcU de poHygrapTUa eepoMola etc. (Madrid 1738) mit einem
Faksimileanhang. Zam Teil interlineare Transskription.
— 167 —
Pando^) brauche ich keine Worte zu verlieren. Ein g^z praktisches Hand-
buch mit reichhaltigen Faksimilebeigaben aus dem XVL,XVII. und XVIII.
Jahrhundert, portugiesischen u. a. Schriftproben, Abkürzungsverzeich-
nissen usw. bietet Andres y Merino de Jesu-Christo*), der
auch das Vorbild und die Quelle für Antonio AI vera Degras •) ab-
gab. Im Grunde folgt auch D. Jesus Munoz y Rivero in seinem
Manual de paleografia diplomdtica espancia de los siglos XII al XVII
etc. (Madrid 1880) den Spuren Merinos. Von den 176 Schriftproben
im Anhang gehören 55 dem XVI. und 34 dem XVII. Jahrhundert
an. In dessen Chrestamaikia palaeographica. Scripiurae Hispaniae
veteris specimina. Pars prior: scripiura chartarum (ebenda s. a.)
sind die letzten 82 Tafeln dem XVI. und XVII. Jahrhundert reserviert.
Doch stört hier wie in seinem Idioma y escrUura de Espana (eben-
da 1882) die minderwertige technische Wiedergabe und das kleine
Format *).
Schon diese dürftigen Anmerkungen zu den einzelnen Faksimile-
ausgaben dürften gezeigt haben, wie sehr die Paläographie der Neu-
zeit noch der Zusammenfassung bedarf und wie sehr sie noch der
Grundlage ermangelt, die einzig und allein durch übersichtliche Schrift-
tafelwerke gewonnen werden kann. Es fehlt ja an Faksimileeditionen
gewiß nicht. Sie sind reichhaltiger als man gemeinhin annimmt, aber
wie wenige Institute und Bibliotheken besitzen sie vollständig. Zum
Teil sind es nur in beschränkter Zahl ausgegebene Prachtwerke, zum
Teil nur um teures Geld erschwingliche Ausgaben. Es ist gewiß vor-
teilhaft, wenn man für gewisse Schreibgebiete, wie dies ftir Straßburg
geschehen ist, eigene Sammlungen anlegt, daneben muß aber eine
leicht erreichbare, nicht allzu kostspielige Zusammenstellung neuzeit-
licher Schriftproben veranstaltet werden, die nicht bloß die paläo-
graphische Entwicklung in Deutschland veranschaulichen dürfte, sondern
auch Italien, Frankreich, allenfalls auch Spanien und England in ihren
Bereich ziehen müßte. In einer solchen Sammlung könnten aber auch
i) Paleografia etpa^ola etc. (Madrid 1758).
3) Etcuela palaeographica, 6 de leer letrae eturnvae anliguas y Modemo« etc.
(Madrid 1780).
3) Cow^fiendio de paleografia eepaHola 6 eeeuela de leer . . . (Madrid 1857).
4) Die CoUeeion de fae-simües de documenloe de lo$ sigloe XII al XIII etc.
Madrid 1880) war mir nicht zagäDglich. Der Catalogo de las eoUccionea expuestas en
las vUrinas del Palaeio de Liria, por la Daqaesa de Berwick j Alba
(Madrid 1898} bringt nur verkleinerte Reproduktionen teilt spanischer Zierschriften, teils
nicht-spanischer Stücke des XVI. Jahrhunderts.
— 168 —
als Anhang Proben chiffrierter Stücke aufjg'enommen werden, denn
auch die Kenntnis des Chiffrenwesens kann nur auf Grund syste-
matischer Übung über das Niveau einer praktischen Fertigkeit ge-
hoben werden. Was in dieser Hinsicht methodische Behandlung zu
leisten imstande ist, beweisen die Arbeiten A.Meisters*). Eine Zu-
sammenstellung auch moderner ChifTrenkunde und -literatur gibt
M. Prou*). Indessen beschäftigen sich mit neuerer Kryptographie
begreiflicherweise zunächst militärische und diplomatische Fachkreise.
Ihrem inneren Wesen der neuzeitlichen Paläographie zuzurechnen
ist die Inkunabelkunde, deren Studium ebenfalls nur auf Grund ent-
sprechender und nach methodischen Grundsätzen angeordneter Faksi-
milewerke möglich ist •). Leider entsprechen die bestehenden nicht
immer den gerechten Wünschen. Für Deutschland kommen die von
F. Lippmann und Dohme freilich nur für praktische Zwecke be-
rechneten Drtickschriften des XV. bis XVIIL Jahrhunderts (1884 flf.),
ferner K. Burg er Manumenta Gertnaniae et Itdliae typographica und
Alfred Götze *) in Betracht, für I^rankreich O. Thierry-Poux *), für
England E. Gordon Duff •), für die Niederlande J. W. Holtrop ^) usw.
Die Paläographie ist eine wichtige Vorbedingung und zugleich ein
wertvolles Instrument für den Historiker, aber keineswegs Endzweck.
Wichtiger noch ist die Kritik der Quellen selbst. Reich, ja überreich
sind uns die Nachrichten aus den neuzeitlichen Jahrhunderten über-
kommen, so daß deren Sichtung notwendiger ist als irgend etwas.
Die Bewertung der Historiographie knüpft an Rankes epoche-
machendes Buch Zur Kritik der neueren Geschichtschreiber ^ das er
dann im Anhang zu verschiedenen seiner Werke fortgesetzt hatte. Es
i) Zur Kenntnis des venenanischen Chiffrentoesens , Hist. Jahrb. 17 (1896)
S. 319 ff. — Die Anfänge der modernen diplomatischen Geheimschrift (Pader-
born 1902). — Die Oeheimschrift im Dienste der päpstlichen Kurie. Von ihren
Anflingen bis zum Ende des XVI. Jahrhunderts. (Ebenda 1906.) Quellen und Fortchangen,
herausgegeben von der Görresgesellschaft, Band XL
2) La Grande Encychpidie 13, S. 528 ff. s. v. Cryptographie, doch ist die an-
gegebene Literatur keineswegs vollständig.
3] Wie sie Dziatzko, Samwiung bibliotJteksunssenschaftlicher Arbeiten 6,
S. 3 f. niedergelegt hat. — Ein Gesamtkatalog der Wiegendrucke wird bekanntlich eben
vorbereitet.
4) Die hochdeutschen Drucker der Reformationszeit (Straßburg 1905).
5) Premiers monuments de Fimprimerie en France au 15, eihcle (1890).
6) Early English Printing a Portfolio of Facsimiles (London 1896).
7) Monuments typographiques des Pays-Bas au 15 « si^cle (La Haye 1857—68).
— 169 —
ist durchaus kein Zufall, daß diese Untersuchungen zu keiner enzyklo-
pädischen Zusammenfassung Anlaß gegeben haben ^).
Die Aufzeichnungen eines einzelnen, und sei er noch so sehr mit
den Äußerungen des staatlichen, wirtschaftlichen und geistigen Lebens
vertraut, müssen notwendig dort an Gewicht verlieren, wo uns ein um-
fassenderer Einblick sozusagen in die Werkstätte der Geschichte selbst
geboten wird. Die Neuzeit kennt in Europa fast ohne Ausnahme
Beamtenstaaten mit einer mehr oder minder streng geregelten Hierarchie
ihrer Diener und meist scharfer Kompetenzabgrenzung ihrer Behörden.
Aus dem ganzen Wesen des Beamtentums und dem Instanzengange
seiner Beschlüsse geht aber schon hervor, daß der Verkehr zwischen
den einzelnen Amtsstellen nur ein schriftlicher sein kann. Selbst dort,
wo etwa mündlich kollegialische Beratungen stattfinden, muß eine
protokollarische Festlegung zumindestens ihrer Ergebnisse erfolgen.
Es bedarf keines Beweises, wie hoch der Niederschlag der Tätigkeit
dieses Beamtentums in Form der uns überkommenen Akten*) als
historische Quelle anzuschlagen ist. Und sie sind uns in reicher
Fülle erhalten, denn das Gefühl der Verantwortlichkeit und das Be-
wußtsein der eigenen Wichtigkeit haben den Beamten von jeher ver-
anlaßt, die Tätigkeit seines Wirkens aufzubewahren und vor Ver-
nichtung zu schützen. Deshalb fallen auch in den verschiedensten
Ländern die Anfange eines geordneten Archivwesens mit denen
moderner Beamtenorganisationen zeitlich zusammen.
Aus den Instruktionen und Weisungen für die Gesandten, aus
deren Berichten, aus dem brieflichen Verkehre der Behörden unter-
einander und aus deren Entscheidungen und Beschlüssen läßt sich ein
ziemlich genaues, wenn auch vielleicht etwas einseitiges Bild sowohl
i) Für Dentschland im allgemeinen bietet F. X. Wegele, CUscMchU der deut-
schen Historiographie (München and Leipzig 1885) einigen Ersatz. Sonst sei Inirz hin-
gewiesen auf G. Wyfi, Geschichte der Historiographie in der Schwele (Zilrich 1895),
J. Goldfriedrich, Die historische Ideenkhre in Deutschland (Berlin 1902), ferner
auch die Arbeiten von P. Joachimsohn, O. Wetzstein, M. Lenz, J. G. Droysen
u. V. a. Für Frankreich anf G. Monod, Du progres des Hudes hist, en Franee
depuis le XVI • siecle. Revue hist. i (1876) S. 5 flE. Für England auf F. W. Ehe-
ling, Englands Creschichtsschreiber (Berlin 1852), S. R. Gardiner- J. B. Mul-
linger, Introduetion to the study of EngUsh History (London 1903), 4* Aufl.,
S. 307 ff. o. a.
2) Gegenüber der Anschanung E. Bernheims, Lehrbuch der historischen Me-
thode (Leipzig 1903, 3. n. 4. Aufl.), S. 274, als ob Urkunden and Akten begrifflich za-
sammenfielen, scheint mir eine Trennung beider stichhältiger. VgL Osw. Redlich in
ürhundenlehre von Erben, Schmitz-Kallenberg, Redlich, I, S. 108.
— 170 —
von der politischen als auch von der inneren Geschichte eines Landes
entwerfen ^). Aber die Benutzung dieser eigentümlichen Quellenart ist
für den Historiker ebenso belehrend wie unter Umständen ge&hrlich,
denn nicht allein der künstlerischen Verarbeitung bieten sich zahl-
reiche Schwierigkeiten, vor allem auch ihrer hilfiiwissenschafUichen
Wertung. Die Scheidung des Wichtigen vom Unwichtigen, die Er-
kenntnis des Formelhaften ist nicht immer leicht. Wie es in der
Diplomatik nicht genügt, die einzelne Urkunde als etwas Gegebenes
zu betrachten, so darf sich auch der Benutzer von Akten nicht dabei be-
ruhigen, diese als etwas Fertiges hinzunehmen, ohne sich vorerst da-
mit vertraut zu machen, wie sie entstanden sind, wer an ihrem Zustande-
kommen beteiligt war und auf welchem Wege sie an ihren gegen-
wärtigen Aufbewahrungsort gelangt sind. Denn erst, wenn man dies
festgestellt hat, kann man den einzelnen Akt dort kritisch einordnen, wo-
hin er gehört. Damit begibt sich aber der Historiker von vornherein der
Möglichkeit, auf Grund irgendeiner ihm z u f ä 1 1 i g vorliegenden Aktenreihe
eine Seite des geschichtlichen Lebens behandeln zu wollen, ohne das
ganze Material heranzuziehen, wie es aus dem Geschäftsgänge der Be-
hörden hervorgegangen ist Nur durch ideelle Rekonstruktion der
Archivbestände in ihre ursprüngliche Zusammengehörigkeit kann man
in dieser Hinsicht methodisch vorgehen '). Es ergibt sich von selbst,
daß eine solche Wiederherstellung der ursprünglichen archivalischen
Zusammenhänge eine genaue Kenntnis der Behördenorg^anisation und
ihrer Gebräuche zur Voraussetzung haben muß. Erst eine systema-
tische Behandlung einheitlich entstandener Archivbestände mit Be-
rücksichtigung jener verwaltungsgeschichtlichen Momente, welche für
die Entstehung dieser Schriftstücke von Bedeutung sind, kann deren
historische Verwertung zu einem wissenschaftlich befriedigenden Er-
gebnisse führen, wobei aber auch die rein formale Betrachtung des
einzelnen Stückes als Glied einer in ihren äußeren Merkmalen vielfach
gleichartigen Queilengruppe nicht außer acht gelassen werden darf.
Daß diese Forderungen keiner bloßen Hinneigung zum Theoreti-
sieren entspringen, beweist die praktische Ausfuhrung, wie sie Sickel
in den Vorarbeiten zu den Nuntiaturberichten und zur Trienter Konzils-
i) Vgl. Sägmüller, Die Anfänge der diplofnatiachen Korre^pondens. Histo-
risches Jahrbach 15. Band (1894), S. 2790., wo man die einschlSgige Literatur ver-
zeichnet findet.
2) Dafl dies auch für die Ordnung der Archive maßgebend sein mofi, zeigt die An'
leitung zum Ordnen und Beschreiben von Archiven von Müller, Feith and Frain,
bearbeitet von H. Kaiser (Leipzig 1905), S. 20 f., 26 ff.
— 171 —
korrespondenz geleistet hat ^). Der Altmeister der Diplomatik hat da
ein Musterbeispiel dafür geboten, wie sich der hilfswissenschaftliche
Geist auch auf die Behandlung neuzeitlichen Materials verpflanzen
läßt Er hat gezeigt, in welcher Weise die kritischen Grundlagen ge-
schaffen werden müssen, um die gedeihliche Benutzung eines wichtigen
Quellenstoffes, dessen archivalischer Zusammenhang längst zerrissen ist,
dessen Überlieferung die verschiedensten Formen aufweist, zu ermög-
lichen. Er hat dargetan, wie er zunächst in seiner Gesamtheit zu-
sammengefaßt, wie dessen etwaige Lückenhaftigkeit festgestellt und
womöglich nach deren Ursachen geforscht werden müsse. Gerade die
sorgfiLltige Textvergleichung zwischen Konzept, Reinschrift und Kopie
hatte ihn zu wertvollen Ergebnissen gefuhrt. Aber aus den Römischen
Berichten geht auch hervor, wie sehr die Kenntnis der beteiligten Be-
amten, ihres Wirkungskreises und ihrer Persönlichkeit für die kritische
Bewertung der von ihnen herrührenden Akten und Korrespondenzen
von Bedeutung ist ').
Von anderen Gesichtspunkten aus als Sickel hat Küch in dem
Werke PdiHsches Archiv des Landgrafen Philipp des QroßmUtigen von
Hessen ') ähnliche Ziele wie jener verfolgt Mit weiser Zugrunde-
legung der verwaltungsgeschichtlichen Grundsätze wurde darin der
Stoff so abgegrenzt, daß aus der ganzen Masse der Archivalien die
politisch-geschichtlichen herausgeschält wurden. Mit Recht wird Ge-
wicht darauf gelegt, die historischen Zusammenhänge beizubehalten
und dort, wo eine zufallige Trennung und Zerreißung des Materials
stattgefunden hat, die ursprüngliche Einheit wiederherzustellen. „Das
Ziel war, die einzelnen Aktenfaszikel in dem Zustande vorzuführen, in
dem sie sich befanden oder bei guter Kanzleifuhrung hätten befinden
müssen, als die Handlung, aus der sie erwachsen waren, ihren Ab-
schluß fand" (S. XVIU). Dies konnte natürlich nur durch Feststellung
der Kompetenzen der an der Aktenentstehung mitwirkenden Be-
amten erreicht werden. Verdienstvoll ist es auch, daß Küch die
i) Bömischt Berichte in den SB. der Wiener Ak. phiL-hist. Kl. 133, 135, 141,
143, 144. — HoffenUich beschreitet dis Archiv für Urhundenfonch%tng, hermosgegeben
von Brandi, Brefllaa nnd Tangl (Leipzig 1907), die Bahnen SickeU, wenn es,
wie die EinfUhrnng S. 3 verspricht, die , Jüngere Entwicklang und Ausgestaltung des Ur-
kunden- und Aktenwesens'^ in den Kreis seiner besonderen Beachtung zieht.
2) Dort wird auch der Postgeschichte der Platz eingeräumt, den sie als Hilfs-
mittel der Kritik verdient.
3) PubUkaHanen am den Kämghch Pre^ßi$dieH StaaUarchiven, Bd. 78. (Uip-
zig 1904.)
— 172 —
einzelnen Aktenformen scharf zu fixieren sucht. Seine Unterscheidungen
in: „Schreiben" (mit Konzept, Mundum, Ausfertigung und Kopie als
Hauptunterabteilungen), in Vollmachten, Instruktionen, Protokolle, Denk-
zettel , Propositionen , Artikelbriefe , Eidesformeln , Prozefischriften,
Zeitungen, Register, Rechnungen und Rechnungsbeilagen treffen wohl
im allgemeinen das Richtige und dürften Anregung zu weiteren Fest-
stellungen geben. Hoffentlich gelingt es hier sowohl wie in bezug
auf die Editionsgrundsätze der Akten *), eine gewisse Einheitlichkeit
zu erzielen.
Wenn ich der Akten in diesem Zusammenhange ganz besonders
ausführlich Erwähnung tat, so wollte ich nur hervorheben, wie ihnen
ob ihrer Reichhaltigkeit und Fülle ein ganz besonderer Platz unter
den übrigen Quellen der Neuzeit gebührt und sie deshalb das vor-
züglichste Objekt hilfswissenschaftlicher Behandlung darstellen. Doch
ist nicht zu übersehen, dafi ihre Vorzüge, der Charakter der Amt-
lichkeit, das Autoritative ihrer Herkunft, vielfach auch deren schwache
Seiten in sich schließen. Rücksichten höherer Art gebieten oft dem
amtlichen Berichterstatter eine dem Historiker unerwünschte Zurück-
haltung, geben den Akten sogar bisweilen eine dem Tatsächlichen
nicht entsprechende Tendenz (vgl. Bemheim S. 437). Worüber aber
der Staatsmann oder Feldherr in seinen Depeschen schweigt und schwei-
gen muß, spricht er sich vielleicht in seinen Denkwürdigkeiten
offen und rückhaltslos aus. Und ihre Bedeutung wächst, je näher
wir der Gegenwart treten, in der uns der Einblick in das archivalische
Material vielfach erschwert ist. In diesem Zusammenhang sei auch
der Selbstbiographie gedacht, deren höhere Bedeutung mit der
größeren Individualisierung des modernen Lebens zusammenhängt^.
Aus ähnlichen Ursachen erklärt sich der verhältnismäßig hohe
i) Leider drangen die von F. Stieve formulierten Grundsätze (Ur Akteneditionen
(Berieht über die 2, Versammlung deutscher Historiker zu Leipzig 1694), die auf
dem Historikertag zu Frankfurt 1895 (s. den Bericht) abgeändert wurden, nicht durch. Sonst
geben die Deutschen Beichstagsakten i, S. LX ff. wertvolle Fingerzeige.
2) Vgl. F. V. Bezold, Über die Änßnge der Selbstbiographie, Erlanger
Rektoratsrede 1893. H- G lag au, Die moderne Selbstbiographie als historische Quelle
(Marburg 1902). M. SerranoySanchez, Äutobiografias y Memorias (Madrid 1905).
Von G. Misch, Die Geschichte der Autobiographie (Leipzig 1907), ist erst der i. Band,
der das Altertum bebandelt, erschienen. Für die historische Verwertung von Memoiren
lehrreiche Winke bei A. Fournier, Napoleon L Bd. 2' S. 403 ff. Auf die wichtigen
französischen und englischen Memoirensam rolungen von Guizot, C. B. P^titot,
Bouchon, J. Ph. Michaud, Poujoulat, Berville et Barriere usw. sei hier nur
kurz verwiesen.
— 173 —
Rang, den der Brief als historische Quellenart einnimmt*). Hat er
noch im XVI. Jahrhundert weniger als Gedankenaustausch denn als
Neuigkeitsvermittlung gedient und im politischen Leben eine be-
deutendere Rolle gespielt als heute ^), so übernahm späterhin dessen
Aufgabe als Vehikel der öffentlichen Meinung die Zeitung •). Ihr
Aufschwung ist eng verknüpft mit der Entwicklung des Verkehrs-
wesens, der Errichtung regelmäßiger Postlinien, mit dem Emporblühen
jener Handelshäuser des XVI. Jahrhunderts, deren Interessenkreis weit
über den heimischen Markt hinaus alle damals bekannten Teile der
Erde umspannte.
Ursprünglich nur als Nachrichtenorgan verwendet, hatte die
Zeitung, soweit man von einer solchen im heutigen Sinne reden kann,
ihre suggestive Einflußnahme auf das öffentliche Leben, die sie jetzt
ausübt, der Flugschrift überlassen. Solange erstere noch nicht
jene Organisation und Bewegungsfreiheit erreicht hatte, bediente sich
namentlich in err^en Zeiten der Kampf der Parteien mit Vorliebe
der Streitschriften und Pasquille in Flugschriftenform*).
Mit dem Aufkommen und der Ausbreitung parlamentarischer
Reg^erungsformen gewannen die Reden als historische Quelle an
Bedeutung zusammen mit den Manifestationen und Programmen
der politischen Parteien*).
Wenn diese Aufzählung den Eindruck des Bruchstückartigen
1) G. Steinhaasen, OtsehiehU des deutschen Briefes (Berlin 1889— 1891).
Weniger wichtig J. Barbcy d'Attrevilly, LitUrature ipistdaire (Parii 1893) ^^
Vicomte de Broc, Le style ipistolaire (Paris 1901).
2) R. Graflhof, Die hriefUche Zeitung des XVL JahrhunderU, Diss. (Leip
lig 1877.)
3) Vgl K. Bttcher, Die Anfänge des Zeitungswesens in Die Entstehung der
Foflkmctrtoc^/K S.A. (Tübingen 1906), S. 220 ff. L. Stilomon^ OesehidUe des deutsehen
Zeitungswesens (Oldenbnrg 1900/06). Eine Bibliographie des internationalen Zeitnngs-
wesens und dessen Geschichte im Katalog der Bibliothek des Börsenvereins der deut-
schen Buchhändler (Leipzig 18850.).
4) Vgl. R. M. Meyer, Über die deutsche Flugsahrift, Aussng in Deutscher
Literaturzeitiing 29 , S. 164 f. Eine Übersicht über die franxösische Pamphletliteratnr in
P. Larousse Grand Dictionnaire universel du XIX* si^cle X9. S. 91/99. Die Auf-
zähloBg aUer hierher gehörigen Sammlangen «nd Abhandlangen würde za weit führen.
5) V/ertToU als allgemeiner Überblick and wegen seiner Literatarangaben ist
Seignobos, Hist. politique de V Europe coniemporaine, Jßvolution des partis et
des formes poUtiques 1814^1896 (Paris 1897). ^^ Deutschland vgl. Specht and
Schwabe, Die Beichstagswahien von 1867-1903 (2. Aafl. 1904), F. Salomon,
Die deutschen Parteiprogramme (Leipzig 1907) (Qaellensammlang zar deutschen Ge-
schichte), filr Österreich G. Kolmcr, Parlament und Verfassung in Osterreich
1848—1885 (Wien 1902 ff.).
n
— 174 —
macht, mag die Größe des Gebietes mitschald daran sein. Nicht zu-
letzt hängt dies aber mit dem Mangel an geeigneten Nachschlage-
büchem zusammen. Es gebricht uns, wenn ich so sagen darf, an
einem Potthast der Neuzeit, es fehlt uns ein Oesterley der Akten-
publikationen. Gerade ein Verzeichnis der letzteren müßte als Grund-
lage neuzeitlicher Quellenkunde zugleich ein Wegweiser für die archi-
valische Forschung werden. Hier darf auch darauf verwiesen werden,
welchen Wert besonders für die politische Geschichte der Neuzeit die
Kenntnis des Gesandtschaftswesens, seiner Technik und seines Ent-
wicklungsganges besitzt. Es li^ auf der Hand, wie viel Berührungs-
punkte die neuzeitliche Quellenkunde mit der Geschichte der Diplo-
matie hat Dies zeigt z. B. Ed. Rott, Histoire de la repre9mitaium
diplomatique de Id France aMprks des cantons Suisses etc. (Beme 1900 ff.) ^).
So sehr anerkannt werden muß, daß die oben erwähnten metho-
dologischen Momente von geschulten Historikern schon längst berück-
sichtigt worden sind, so haben sich doch zum Teil gerade in dieser
Hinsicht falsche Vorstellungen eingebürgert. Man vergißt vielfach,
daß Altertum, Mittelalter und Neuzeit — so wenig präzise diese
Unterscheidungen auch sein mögen — ganz deutliche Verschieden-
heiten in ihrem Quellenmateriale aufweisen. Da nun die historischen
Hilfswissenschaften die Aufgabe haben, die überlieferten Zeugpusse der
Vergangenheit zu überprüfen und zu werten, so ist es selbstverständ-
lich, daß sie sich je nach den drei 2^itabschnitten unterscheiden. Wie
die Epigraphik für die Geschichte des Mittelalters an Wert einbüßt,
so verliert für die Neuzeit die DiplomatUc ihren Vorrang. Es wäre
also nichts verfehlter, als die Hilfswissenschaften des Mittelalters auch
für die Neuzeit unbesehen als Paradigma aufzustellen, wenn auch ein-
geräumt werden muß, daß der klassische Boden für die Schulung
hilfswissenschafllichen Forschens noch lange im Mittelalter zu suchen
sein wird. Die Neuzeit weist ja in dieser Hinsicht erst Andeutungen
künftiger Gestaltungen auf. Und das ist nicht zu verwundem, ist sie
doch die jüngste unter den drei Schwestern. In ihr knüpft Gewordenes
unmittelbar an Werdendes an, in ihr sind noch nicht alle historischen
Bewegungen zum Abschlüsse gelangt. Die Leidenschaften von einst
zittern noch vielfach nach in dem Tagesstreite von heute, und es ist
i) Ganz anderer Art and deshalb fUr die hier erwähnten Zwecke weniger wichtig
ist Fr. Combes, Histoire ginerdU de la diplomaiie ewropUmie (Paris 1854). —
Eine ziemlich vollständige Übersicht Über die wichtigste Literatur über das Gesandtschafts-
wesen bei Mischler-Ulbrich, OsterreichiBches Staatswörterbuch (Wien 1895, i«
S. 765) und Sägmüller a. a. O.
— 175 —
deshalb begreiflich, daß der Historiker, der den Lebensäuße-
rungen einer Zeit nachzuspüren hat, deren Pulsschlag noch fortschlägt
in der lebenden Generation, von der Lockung fortgerissen wird, zu
erzählen und darzustellen. Darin eben liegt aber für die Geschichte der
Neuzeit die Gefahr, daß das stoffliche Interesse nur zu oft das wissen-
schaftliche überwiegt, weil politische, nationale und religiöse Gesichts-
punkte nicht selten den klaren Ausblick verhängen. Eine stärkere Be-
tonung des hilfiswissenschaftlichen Momentes ist gerade deshalb, wie
ich glaube, von doppelter Wichtigkeit.
Mitteilungen
Yersammlimgeil. — Am 15. April wird in Riga ein Baltischer
Historikertag eröffnet, dem hoffentlich andere folgen werden. Zahlreiche
Vereine, und zwar nicht nur solche, die rein geschichtliche Zwecke verfolgen,
haben das Zustandekommen ermöglicht, und die Gesellschaft für Ge-
schichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen Rußlands
hat die hauptsächlichste Vorarbeit geleistet. Die Versammlung wird, soweit
dies aus dem Programm ersichtlich ist, etwa die Mitte halten zwischen den
deutschen Historikertagen und den Jahresversammlungen des Gesamtvereins
der deutschen Geschichts- tmd Altertumsvereine. Einesteils soll sie ein
reiner Fach- und Arbeitskongreß sein und verzichtet demgemäß auf äußer-
liche Repräsentationsveranstaltungen, andrerseits aber werden Sektionen (Ar-
chivwesen; Denkmalpflege; Ortsnamenforschung; Heimatkunde tmd Orts-
fÜhrer) gebildet und nur einige allgemeinere Vorträge versprochen. Die
Gegenstände, die da behandelt werden sollen, zeigen in recht erfreulicher
Weise, wie lebhaft die entsprechenden Arbeiten in Deutschland verfolgt
worden sind, denn wohl über jeden einzelnen Punkt hat man auf deutschen
Versammlungen schon verhandelt. In der Sektion für Archivwesen, fUr
die Stadtarchivar Feuereisen (Riga) besonders tätig ist, wird über die
Veranstaltung einer Archivenquete und über die Bearbeitung einer Übersicht über
den Stand des Archivwesens in den Ostseeprovinzen, beraten werden, und
Vorschläge zur Hebtmg tmd Regeltmg des Archivwesens der Ostseeprovinzen
unter Berücksichtigimg des Standes der Archivfrage im Inneren des Reichs
tmd in Westeuropa sind in Aussicht gestellt. Die Forschtmg nach landes-
geschichtlichen Quellen in auswärtigen Archiven (z. B. im Vatikanischen)
wird erörtert werden, tmd dazu wird Prof. Ha 11 er (Gießen) über Livonica-
funde im Vatikanischen Archiv Mitteiltmg machen. Schließlich stehen Be-
richte in Aussicht über das Livländische Ritterschaftsarchiv, das Kurländische
Landesarchiv, die Stadtarchive von Wenden, Lemsal und Riga, das Archiv
der Großen Gilde in Riga sowie über das dortige Schwarzhäupterarchiv.
Die Sektion ftir Denkmalpflege, die unter Leitung des Rigaschen Ar-
chitektenvereins steht, wird ein über die Hauptatifgaben tmterrichtender Vor-
trag von Prof. W. von Stryk eröffnen, an den sich die Vorlage von Plänen
18
— 176 —
zur Erhaltung des alten Stadtbildes, namentlich in Riga, von Abbildungen
interessanter Bauten und Inneneinrichtungen anschließen wird. Die ent-
sprechende Sanuneltätigkeit soll sich künftig auch auf technische Anlagen
und Geräte erstrecken. In der Sektion fUr Ortsnamenforschung wird
W. Schlüter (Dorpat) den einleitenden Vortrag halten und einen Plan zu
S3rstematischer Erforschung der Ortsnamen vorlegen, wobei der kartogra-
phischen Festlegung der &gebnisse besondere Berücksichtigung zuteil werden
wird. In der Sektion für Heimatkunde und Ortsführer wird Pastor
Hörschelmann (Mitau) den ersteren, A. von Hedenström den letzteren
Gegenstand behandeln im Anschluß an ältere Bestrebungen einschlägiger Art.
Außerhalb der Sektionen werden folgende allgemeine Vorträge dargeboten:
Prof. R. Hausmann über die Archäologie der OstseepVovinzen im letzten
Jahrzehnt, Pastor O. Schabert über den Plan einer Publikation zur Re-
formationsgeschichte Livlands; Prof.. B. Doß über Anregung zum Sammeln
von Nachrichten über Naturereignisse im baltischen Gebiet aus Chroniken und
Archiven. Auch die Veranstaltung einer Ausstellung von Städteansichten
und Medaillen auf livländische Persönlichkeiten und Ereignisse ist geplant.
Die Verhandlungen versprechen vielseitig imd lehrreich zu werden, tmd
in Deutschland wird man allseitig von den Ergebnissen, die hoffentlich be-
quem zugänglich gemacht werden, mit Interesse Kenntnis nehmen. Wie
schon aus dem Programm hervorgeht, hat wenigstens ein reichsdeutscher
Historiker — Prof. Hall er (Gießen) — seine Mitwirkung zugesagt Hoffent-
lich bleibt er nicht der einzige, und umgekehrt wäre es sehr zu begrüßen,
wenn bei den deutschen Versammlungen auch einige baltische Forscher als
regelmäßige Gäste sich einfinden würden. Beide Teile können durch solchen
Verkehr nur gewinnen!
In Berlin findet vom 6. bis zum 12. August 1908 ein Internationaler
Kongrefs für historische Wissenschaften statt. An der Spitze des
Organisationskomitees stehen Reinhold Koser, Eduard Meyer imd Ulrich
von Wilamowitz- Mollen dor ff; Schriftführer ist Privatdozent Erich
Caspar (Berlin W 15, Kaiserallee 17), an den etwaige Zuschriften zu
richten sind.
Außer den allgemeinen Versammlungen finden noch Sektions-
sitzungen statt, und zwar sind acht Sektionen gebildet worden, nämlich
ftir i) Geschichte des Orients, 2) Geschichte von Hellas und Rom, 3) Poli-
tische Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit, 4) Kultur- und Geistes-
geschichte des Mittelalters und der Neuzeit, 5) Rechts- und Wirtschafts-
geschichte, 6) Kirchengeschichte, 7) Kunstgeschichte, 8) Historische Hil&-
wissenschaften. Neben diesen Sektionen, deren Leiter bereits bestimmt sind,
ist die Bildung neuer nicht zulässig, aber wohl kann eine Trennung derselben
in Unterabteilungen eintreten. Von jedem Teilnehmer am Kongresse wird
ein Beitrag von 20 Mark erhoben. Die für die allgemeinen Versamm-
lungen in Aussicht genommenen 13 Vorträge sind bereits näher bezeichnet.
Das endgültige Programm wird von Mitte Juli ab versandt werden. Wer
an eine Teilnahme an dem Kongresse denkt, wird gut tun, sich schon jetzt
das vorläufige Programm von dem Schriftftlhrer zusenden zu lassen.
— 177 —
Der Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertums-
vereine wird in diesem Jahre seine Versammlung in Lübeck abhalten,
und zwar in der Zeit vom 22. bis zum 24. September (Dienstag bis Donners-
tag). Montag, den 2». September findet ebenfalls in Lübeck der Archiv-
tag und 24. bis 26. September (Donnerstag bis Sonnabend) der Tag für
Denkmalpflege statt.
ArehiT6. — Nach fast dreivierteljähriger Arbeit wurde das Ratsarchiv
zu Prankenhausen a. K. ^) durch den Unterfertigten vollständig neu ge-
ordnet. Dafi dies geschehen konnte, ist in erster Linie dem energischen
Vorgehen des dortigen Ersten Bürgermeisters, Herrn Stemberg, zu danken,
der den derzeitigen Stadtrat von der dringenden Notwendigkeit, hier Wandel
zu schaffen, zu überzeugen vermochte.
Man war früher vielfach der Ansicht, daß alle alten imd wirklich wert-
vollen Archivalien, die das Jahr 1525 überdauert haben, durch den Rathaus-
brand von 1833 vernichtet worden seien. Daß diese Bestände — von ganz
wenigen Ausnahmen abgesehen — erst mit dem Jahr des Bauernkriegs beginnen,
damit hatte man allerdings recht. Thomas Münzer mit seinen Rotten tat
ganze Arbeit, ab er Anümg Mai besagten Jahres das Archiv auf seine Art
„ aufräumte *^ Der Scheiterhaufen auf dem Markte fraß nur zu gierig alles,
was man ihm brachte, Bücher, Urkunden und Akten, und was nicht brennen
wollte, wie das große Ratssiegel, „zerschmissen'' sie, wie Müldener, der
Chronist, erzählt. Daß trotzdem ein paar alte Ratsrechnungen von 1412
an, einige Schuldverschreibungen gleichfialls aus dem XV. und Anfang des
XVI. Jahrhunderts sowie wenige noch ältere Urkunden aus der Vergangen-
heit der beiden Hauptkirchen Frankenhausens vom XIII. Jahrhundert ab dem
auch ihnen drohenden Verderben glücklich entrannen, ist lediglich dem Zu&ll
zuzuschreiben.
Also erst, was nach diesem Schreckensjahr an Schrifbtücken neu ent-
stand und aufgehoben wurde, bildete später das Archiv. Und dies alles sollte
wieder ein Opfer des großen Brandes von 1 833 geworden sein ? Nein, hier irrte
man zum Glück! Zwar brannte das Rathaus in der denkwürdigen Februar-
nacht, die zwei Dritteile der Stadt in Asche legte, bis auf die massiven
Mauern nieder, aber diese blieben doch erhalten und mit ihnen das darin
wohlgeborgene Archiv. Ob Akten aus der alten Ratsstube mit verbrannten
oder gerettet wurden, läßt sich nicht erweisen : ein Vorhandensein von Lücken,
das fUr die erstere Annahme spräche, ergab sich bei der Durchsicht nicht.
Man hatte also die Archivalien wohl beizeiten in Sicherheit gel)racht
So kam ein inmierhin fast vier Jahrhunderte altes Material in Frage,
aber schlimm lag es durcheinander und bös genug sah alles aus, obwohl
bereits im Jahre 1864 ein pensionierter P&rrer, namens Dinckler, den An-
lauf zu einer Neuordnung nahm, die indes unvollendet blieb und bald wieder
zu einem ähnlich bedauernswerten Zustand führte wie ehedem. Hier mußte
also einmal etwas Durchgreifendes geschehen — und es geschah dank
1) \g\, diese Zeitschrift 7. Bd., S. 235 sowie Mitzschke, Wegweiser durch die
Hiatoriaclien Archive Thürtngens (Gotha 1900), S. 33.
13*
— 178 —
dem Entschlüsse einer einsichtsvollen Stadtverwaltung. Der Archivraum ward
nun ganz feuersicher ausgebaut, mit neuen Fenstern, Fliesen und Regalen
ausgestattet und in letzteren, nach Ausscheidung des nicht Hineingehörigen,
das Aktenmaterial ordnungsgemäß untergebracht Die einzelnen Stücke sind,
außer mit der Inhaltsbezeichntmg , noch mit Stempel und Fachnummer ver-
sehen, und über die ganzen Bestände, die in alphabetischer Reihenfolge
der Materien und der Zeit nach angeordnet sind, gibt ein Zettelkatalog die
nötige Auskunft.
Hans V. Wurmb.
Einer kurzen Mitteilung, die der Direktor des Straßburger Bezirksarchivs,
Hans Kaiser, in der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, N.F.
Bd. 2 2, S. 127 — 130, veröffentlicht, ist zu entnehmen, daß neuerdings ein
bedeutsamer archivalischer Fund gemacht worden bt, der nicht nur für die
elsässische Landesgeschichte, sondern auch fUr die allgemeine Geschichte
wichtig ist Bei dem Verkaufe der Nationalgüter 1790 sollte das Archiv
des Strafsburger Domkapitels dem dortigen Bezirksarchiv einverleibt
werden, aber in Wirklichkeit fanden sich nur einige wenige Bände mit
Protokollen vor, und deren größter Teil galt daher als verloren. Dies
trifit aber zum Glück nicht zu. Vielmehr ist, wie so oft, ein Teil des Ar-
chivs tatsächlich nicht abgegeben worden, sondern im Besitz des Domkapitels
verblieben. Merkwürdig ist nur, daß diese Tatsache bislang unbekannt bleiben
konnte und der Öffentlichkeit erst 1906 durch einen Zufall mitgeteilt wurde.
Der Versuch, die zerrissenen Akten, so wie es das Provenienzprinzip fordert,
wieder zu vereinigen, ist leider fehlgeschlagen, aber erfreulicherweise hat
das Domkapitel sein Archiv der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und im
Oktober 1907 eine zweckmäßige Benutzungsordnung erlassen, so daß ietzt
beide Teile des alten Domkapitelarchivs durchforscht werden können. Und
zwar werden die neuentdeckten Archivalien den Benutzem im Bezirks-
archiv vorgelegt, so daß sie die Archivalien beider Teile nebeneinander
benutzen können. Auch an auswärtige Archive werden Akten versandt
Entsprechende Gesuche sind an den Archivar des Kapitels, Domherrn
Schickele (Schiffleutstaden 13), zu richten. Über den Inhalt des Archivs
unterrichtet eine Schrift von Ingold: Catatogue sommaire des documents
conservSs aux archives du chapitre de la catMdrale de Strasbourg [«=» Bib-
lioth^que de la Revue d'Alsace XIII]. Kolmar, Hüffel 1906.
Um Quellenstoff aus dem Stadtarchiv zu Kolmar mitzuteilen und
Arbeiten, die solchen verwerten, abzudrucken, hat die Stadtverwaltung durch
den Stadtarchivar Eugen Waldner die Herausgabe einer Schriftenfolge in
die Wege geleitet, deren erstes Heft vorliegt. Der Titel lautet: Veröffeni-
lichungen aus dem Stadtarchiv bu Colmar, im Auftrage der StadtvenoaUung
herausgegeben von dem Stadtarchivar Eugen Waldner, Erstes Heft. Mit
einem Bilde (Kolmar 1907. 177 S. 8®).
Der erste Abschnitt (S. i — 12) ist der Geschichte des Archivs
gewidmet, und wir lernen daraus in Kürze kennen, wie es verwaltet wurde
— 179 —
und welche Gestalt die InventarisieniDg aDgenommen hat. Die Loslösimg
der Archiwerwaltung vom Amte des Stadtschreibers und die Anstellung eines
besonderen Archivars (Registrators) erfolgte 1638. Das erste Inventar von
626 Seiten in Folio wurde 1662 abgeschlossen. Nach dem Eintritt einer
Verwahrlosung kam es 17 19 zur Anstellung von zwei Archivaren, einem
katholischen und einem protestantischen, von 1726 an aber gab es wieder
nur einen. Matthias Hü f fei bearbeitete 1719 — X733 ein neues Inventar
von 1600 Seiten in Folio. Während der Revolution hütete Friedrich ßirkel
das Archiv, so daß es im ganzen keinen Schaden litt, aber es riß dann
wiederum Unordnung ein, bis seit 1864 Moßmann aufs neue zu einer nun-
mehr wissenschaftlichen Inventarisation schritt. Sein Werk setzte 1893 bis
1900 Waldner, dann August Hertzog, 1903 — 1906 Ernst Hauviller
und dann wieder Waldner, der aus Gesundheitsrücksichten ausgeschieden
war, fort.
Der zweite Teil bringt Verordnungen des Rates der Stadt
Kolmar 1362 — 1432 (S. 13 — 80), die dem ältesten Stadtbuche ent-
. nonmien sind und als Quelle zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte
der Stadt Bedeutung besitzen. Der Inhalt wird durch ein Sach- und Namen-
register (S. 81 — 84) einigermaßen erschlossen, so daß diese Veröffentlichung
auch für allgemeinere Zwecke zu Rate gezogen werden kann.
An dritter Stelle endlich erscheint eine darstellende Arbeit: Dit An-
geUgenkeit der Reichsstädte des Elsafs am Reichstage und vor dem Schieds-
gerichte Bu Regensburg 1663 — 1673 (S. 85 — 177). Es handelt sich hier-
bei um eine Veröffentlichung von Quellen in Form einer Bearbeitung, die
sich eng an die Vorlagen anschließt und auch deren Ausdrucksweise mög-
lichst beibehält; der Zweck ist, das im Archiv von Kolmar ruhende Material
über den Streit mitzuteilen, der sich zwischen Frankreich und den elsässischen
Reichsstädten wegen der Landvogteirechte erhob. Die Kolmarer Korre-
spondenzen sind deswegen so wichtig, weil Kolmar damals die Führung des
Städtebundes hatte und den Abgeordneten dieser Stadt die Vertretung der
Interessen des Bundes oblag. Auf den Inhalt kann hier nicht näher ein-
gegangen werden, aber es ist hervorzuheben, daß die Hauptmasse der
Schriftstücke erst aufgefunden worden ist, nachdem die Schrift Zur Qe-
schicJtte der Annexion des Elsaß durch die Krone Frankreichs von Rocholl
(Gotha 1888) erschienen war.
Der reiche und auch für weitere Kreise wertvolle Inhalt dieser neuen
Veröffentlichung aus einem Stadtarchive erweckt den Wunsch, daß recht
bald ein weiteres Heft folgen möge, und nicht minder denjenigen, daß auch
andre Städte sich zu ähnlichen Publikationen entschließen möchten.
Kommissionen. — Die 26. Plenarsitzung der Badtschen Histo-
rischen Kommission') hat am 8. und 9. November 1907 in Karls-
ruhe stattgefunden; den Vorsitz führte, da die Stelle eines Vorstandes zur-
zeit unbesetzt war, der frühere Vorstand, Prof. Dove, der in einem warmen
Nachrufe die der Geschichtsforschung durch den verstorbenen Großherzog
i) Über die 25. Sitzung vgl. diese Zeitschrift, 8. Band, S. 323 — 324.
— 180 —
zuteil gewordene FörderuDg rühmend henrorhob. Im Berichtsjahre sind fol-
gende Werke erschienen: als Neujahrsblatt für 1907 Der Breisgau unter
Maria Theresia und Josef II, von Eberhard Gothein (Heidelbei^, Winter,
130 S.); vom Oberbadischen QescMechterbuchf bearbeitet von Julius Kindler
von Knobloch, die 2. Lieferung des 3. Bandes; von den RegesUn der
Markgrafen von Baden und Hachberg die 5. Lieferung des 3. Bandes, die
das von Fritz Frankhauser bearbeitete Orts- und Personenverzeichnis
enthält. Die in Angriff genommenen Veröffenüichtmgen sind sämtlich mehr
oder weniger gefördert worden. Die von Karl Rieder bearbeiteten Bö*
mischen QueUen eur Konstanger Bistumsgeschichte sind mit Ausnahme der
Einleitung im Druck vollendet. An einem 5. Bande der Begesten der Mark-
grafen von Baden und Hachberg, der diejenigen des Mariegrafen Christoph I.
(1473 — 15^7) bringen wird, arbeitet Albert Krieger. Für den 2. Band der
Begesten der Pfalegrafen bei Bhein ist Graf von Oberndorff unter Leitung
von Prof. Wille tätig. In der Schwäbischen Abteilung der Oberrheinischen
Stadtrechte ist das Stadtrecht von Überlingen, bearbeitet von Geier,
bald zu erwarten; das von Neuenburg bearbeitet Merk, das von Konstanz
Beyerle. Der Nachtragsband zur Folüischen Korrespondenß Karl Fried-
richs von Baden, bearbeitet von Obs er, geht seinem Abschlüsse entgegen.
Mit der Bearbeitung des 2. Bandes der Denkwürdigkeiten des Markgrafen
Wilhelm von Baden hat Obs er begonnen. Als neue Veröffentlichtmg
wurde in Aussicht genommen eine Geschichte der badischen Ver-
waltungsorganisation vom Ende des Mittelalters bis zum Er-
laß der Verfassung (1818).
Entsprechend der früher *) mitgeteilten Regelung der Fürsorge fUr die
kleinen Archive ist 1907 die Ordnung der Gemeindearchive in sechs
Amtsbezirken durchgeführt worden. Die Verzeichnung der grundherrlichen
Archive nähert sich dem Abschluß.
Von allgemeiner Bedeutung ist es, daß jetzt das Register zu Band i
bis 39 der sdten Reihe der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins,
dessen Bearbeitung einst im i. Bande dieser Zeitschrift (1900), S. 239
gefordert wurde, im Manuskript vorliegt.
Infolge Ausscheidens aus dem badischen Staatsdienste sind die Pro-
fessoren Erich Marcks und Ulrich Stutz aus der Kommission ausgeschieden.
Neu traten als ordentliche Mitglieder ein Hermann Oncken, Professor der
neueren Geschichte in Heidelberg, und Alfred Schnitze, Professor der
deutschen Rechtsgeschichte in Freiburg i. B. Archivdirektor Hans Kaiser
in Straßburg, bisher korrespondierendes Mitglied, wurde zum außerordent-
lichen Mitgliede gewählt. Zum Vorstand der Konunission für fünf Jahre
schlug diese Prof. Dove (Freiburg) vor, der als solcher durch allerhöchste
Staatsministerialentschließung bestätigt wurde.
Familienbriefe als kalturgeschichtliche Qaelle. — Im Juli-
hefte 1907 der Deutschen Qeschichtsblätter (S. 284 — 286) hatte ich einen
Aufruf zum Sammeln von Familienbriefen erlassen. Dagegen geht ein Ano-
I) Vgl. diese Zeitschrift, 8. Band, S. 228—229.
— 181 —
nymus in dem von Georg Steinhausen herausgegebenen Archiv für KuUur-
geschickte, Bd. VI, Heft i, S. 12 1/2 an, indem er zugleich und vornehmlich eine
Lanze für Georg Steinhausen zu brechen sucht. Der Anonymus liest näm-
lich im Gegensatze zu der Anerkennung der großen Leistungen Steinhausens
aus meinem Aufruf „eine sehr geringe Orientienmg meinerseits über das
auf dem berührten Gebiete Geleistete '^ heraus und sucht mein Vorhaben da-
dtirch in den Augen seiner Leser herabzusetzen, daß er „feststellt, daß meine
Idee von Georg Steinhausen längst ausgesprochen und vor allem bereits zu
einem Teile verwirklicht ist, und zwar besonders auch schon für das XVI.
und XVII. Jahrhundert".
Nach der Auflassung des Anonymus ist also das, was ich erst auf
Grund eines hoffentlich recht umfangreichen, neuen und ungedruckten Brief-
materials untersuchen will, bereits in Steinhausens Geschichte des deutschen
Briefes längst erforscht.
Zu diesem Urteil würde der Anonymus schwerlich gelangt sein, wäre
ihm einigermaßen klar gewesen, daß zwischen der Steinhausenschen Behand-
lung des Quellenmaterials und der meinigen ab unüberbrückbarer Grenzwall
eine gänzlich verschiedene Auffassung des Begriffes Kulturgeschichte steht.
Steinhausen ist kulturgeschichtlicher Archäologe, ich bin Entwicklungshistoriker.
Ist da nun noch besonders auseinanderzusetzen, daß unser abweichender
genereller Standpunkt natürlich auch zu verschiedenen Resultaten bezüglich
der Beurteilung der Quellen führen muß?
Schon die grundverschiedene Auffassung von Kulturgeschichte überhaupt
macht also — selbst wenn der Wille dazu bei Georg Steinhausen stärker
vorhanden wäre — eine Verständigung zwischen der Steinhausenschen und
meiner Arbeitsrichtung unmöglich. Noch viel weniger aber ist — wenigstens
nach den Ausführungen des Gewährsmannes von Georg Steinhausen — an-
zunehmen, daß Steinhausen je verstehen wird, was ich meinte, als ich vom
„psychischen Kern" als dem Ziel aller kulturhistorischen Forschung
sprach. Will mir nun aber Steinhausen etwa verwehren, auch von meinem
Standpunkte aus an die Briefe als Quellenmaterial heranzutreten, und dabei,
nach den Anforderungen meines Standpunktes, über die Briefsammlungen,
die er benutzte, hinauszugehen und auch solche Briefe mit heranzuziehen,
die in keinem Archiv vorhanden, sondern nur aus den verborgenen Schränken
schlichter Bürgerfamilien herauszuholen sind? Oder will der Anonymus etwa
gar allen Ernstes behaupten: Steinhausen hätte in seiner Geschichte des
detäschen Briefes in erster Linie das Briefoiaterial verarbeitet, das ich zu
sammeln mich bemühe und von dem mir heute, nach wenigen Monaten des
Sammeins, bereits beträchtliche Mengen zur Verfügung stehen *) ? !
Welcher Art dieses Briefmaterial sein muß, das sei hier — vielleicht
auch zur Belehrung des Anonymus — noch einmal mit wenigen Worten
unzweideutig gesagt:
Briefe von Männern und Frauen, die in keiner Weise über der Menge
i) Bei dieser Gelegenheit will ich nicht unterlassen, besonders auch allen den Lesern
der Deutschen Geschichtsblätter herzlich zu danken, die mich bisher durch freondliche
Znseodang von Familienbriefen bestens unterstützten, zugleich aber meine Bitte im all-
gemeinen wiederholen.
— 182 —
stehen, deren Namen deshalb in keiner Landes- oder Staats-, keiner Literatur-
oder Kunstgeschichte jemals genannt sind, die selbst nicht einmal als be-
sonders angesehene Patrizier (etwa wie die Nürnberger Behaims) eine bevor-
zugte Stelle in der Bürgerschaft einer Stadt oder einer anderen Gemeinschaft
eingenommen haben, die auch nicht etwa auf Grund höherer Bildung oder
geistiger Fähigkeiten das schlichte Volk überragen, denn sobald letzteres der
Fall wäre, könnten ja ihre Briefe infolge der gehobenen sozialen Position,
oder wegen der höheren geistigen oder künstlerischen Ausbildung der Ver-
fasser nicht maßgebend sein für die kulturhistorische Beurteilung der breiten
Schichten, weil ihr Denken (und auf das kommt es ja an, nicht nur auf
die bloß beschreibende Feststellung seelischer Eigenschaften !) nicht dem
des schlichten Volkes entspricht.
Ein derartiges Briefmaterial habe ich aber trotz fleißigen Suchens in Stein-
hausens Geschichte des deutschen Briefes nicht verwertet gefunden, weshalb
ich zum zweiten Male bestinmit erkläre, daß „in seiner Geschichte des deutschen
Briefes in der Hauptsache das Briefinaterial herangezogen ist, das von
Personen stammt, die aus der Masse hervorragen*'. Wenn der Anonymus
zur Rechtfertigung Steinhausens die mehrere Jahre nach Erscheinen des eben
genannten Werkes veröffentlichten Briefsammlungen Steinhausens anführt, so
muß ich das als nicht zur Sache gehörig zurückweisen, da ich ja von diesen
in meinem Aufruf gar nicht geredet, insonderheit mich jeder Kritik über
ihre Bedeutung enthalten habe. Daß ich mit meiner Forderung, den Privat-
brief in dem angedeuteten Sinne zu verwerten, etwas völlig neues ausspreche,
habe ich nicht behauptet, aber nicht auf die Forderung kommt es an, son-
dern auf die Ausführung der als notwendig erkannten Arbeit, und da zu
einer solchen erst Quellenstoff beschafit werden muß, so war ich gezwungen,
um mir ihn in möglichster Reichhaltigkeit zu versorgen, meine Absichten
einem weiteren Leserkreise kund zu tun und darin mein Programm deutlich
zu entwickeln. Es lag jedoch vollständig außerhalb meines Planes und
Zweckes dabei alles dasjenige aufzuführen, was etwa über den Brief und
seine Verwertung schon gesagt worden ist. Hätte ich das gewollt, dann
hätte ich außer Steinhausen auch noch manchen anderen SchriftsteUer nam-
haft machen müssen.
Zum Schlüsse bleibt mir noch eine peinliche Aufgabe. Ich muß
darauf hinweisen, daß der Anonymus ohne den geringsten Gnmd
die Behauptung aufgestellt hat: ich hätte die einschlagenden Schriften Stein-
hausens nicht gelesen. Ich weise diesen Angriff mit Entrüstung zurück —
nicht ohne es zugleich merkwürdig, ja in mehr als einem Betracht komisch
zu finden, daß der gleiche Vorwurf bisher in der kritischen Literatur der
letzten Jahre wohl nur einmal, und zwar auch in der Steinhausenschen Zeit-
schrift Band III, S. 370 — 371, da aber nicht durch einen Anonymus,
sondern durch — Herrn Steinhausen selbst erhoben worden ist.
Arthur Köhler.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Dr. Armin TiUe in Dresden.
Verlag und Druck Ton Friedrich Andreas Perthes, Aktiengesellschaft, Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsscbrift
rar
FSrdening der landesgescMchtlichen Forschung
IX. Band Mai 1908 8. Heft
Deutsehe Fluds^ohriften
aus den ersten Jahren der t^eformation
Von
WUhelm Lücke (HaUe a. S.)
Auf dem Deutschen Pfarrertage in Hannover 1907 wurde unter
anderem auch die Bedeutung der Presse gewürdigt. Dabei fiel etwa
folgende Äußerung : Wenn Luther die Rolle, welche die Presse heute
in unserem öffentlichen Leben spielt, hätte ahnen können, so würde
er sicher eine „Wittenberger Korrespondenz" gegründet haben *).
Diese Behauptung ist recht anfechtbar. Die Reformationszeit, und
vor allem Luther selbst, hat die Bedeutung der Presse sehr wohl ge-
kannt *). Allerdings in anderer Form ihrer Erzeugnisse. Regelmäßig
erscheinende Zeitungen gab es noch nicht, und vielleicht wären die
gar nicht einmal angebracht gewesen. Jedenfalls hat sich die damalige
Waffenrüstung unserer geistigen Großmacht recht gut bewährt.
Vor dem Auftreten Luthers war der Besitz gedruckter Schriften
noch ein Vorrecht der Gebildeten gewesen. Zwar ließ die neue
Kunst alte Heldengedichte und Lieder wieder erstehen, zwar ver-
breitete sie medizinische Ratgeber, geistliche Erbauungsbücher und
ähnliches, aber all ihre deutschen Erzeugnisse traten in den Hinter-
i) Wie ich nachträglich mos dem mir frenndUchst too Herrn Pastor Pasche>Dietkaa
sngesteUten ProtokoU der Verhandlungen des Verbandet Denttcher ETangelischer Pfiarrer-
Tereine in Hannover 1907 ersehe, ist meine auf einem Referat der DetitadbaM Zeihmg
beruhende Angabe ongenan. Es wurde gesagt: Wäre die Presse schon organisiert ge*
wesen wie heute, so hätte Lnther sicher eine „Wittenberger Korrespondenz'^ gegründet.
a) VgL Kapp, Otsehichie des deutsdien Buchhandeü I (1S86), 409 ff., femer
die Anmerkimg des Herausgebers in Band VI , 65 f. dieser ZeitschrifL Wie auch schon
das Mittelalter von dem Wert der Publizistik durchdrungen war, dafür vgL den ebenda,
S. 65-^88 und 105- 116, erschienenen AnfiMtz von H. Werne >-, Kircket^ und aohol-
jpoiUisehe PubKtistik im MiUelaUer.
14
— 184 —
gnind vor den lateinischen Darbietungen der mittelalterlich-scholasti-
schen Literatur und vor denen der Humanisten.
Nach dem Beginn des großen Greisteskampfes wurde das anders.
Weitaus behaupten jetzt die deutschen Schriften den Vorrang. In den
sieben Jahren von 15 17 bis 1523 sti^ die Zahl der deutschen Drucke
auf das ZwölfTache, von einigen achtzig auf rund tausend ^). Luther
schrieb deutsch, und ihm folgen bald ursprüngliche Lateiner wie
Hütten, Rhegius, Butzer, Okolampad und viele andre. Und dazu
tritt eine stattliche Zahl von Neulingen mit Werken in der Mutter-
sprache auf den Kampfplatz. Die Literatur stellt sich in den Dienst
der großen kirchlichen und politischen Bewegung ; sie wird tendenziös,
agitatorisch. Dazu müssen sich ihre Produkte dem geistigen Horizont
der breiten Massen in Sprache und Gehalt möglichst anpassen. Sie
dürfen auch nicht zu umfangreich sein, schon um billig verkauft werden
zu können.
Diese Bedingungen erfüllen die Flugschriften, die in den
ersten Jahren der Reformation der ganzen deutschen Literatur ihr
Gepräge geben, die dabei historische, vor allem kulturhistorische Zeug-
nisse allerersten Ranges sind').
Von diesem Gesichtspunkte aus sei zunächst ihr Inhalt betrachtet.
Aus den Kämpfen jener Tage ragt Luthers Gestalt am mächtig-
sten heraus. Was Wunders, wenn der Reformator auch im Mittel-
punkt so mancher Flugschrift steht *). Von den Feinden meist grob
gelästert, von einem, Thomas Murner, geistvoll verspottet, von den
i) Kmpp, m. a. O., 408. Über die Bedeatang des Nachdrucks ebenda, 427.
a) Neben den gröfleren Geschichtswerken (Ranke, ▼. Besold, Janssen n. a.),
die im Zusammenhang ihrer DarsteUnng anch die Flngschriften würdigen, ist noch immer
unentbehrlich K. Hagen, DewtBeMands lüerari$€he smuI rdigiöm VerhäUm$9e im
Eeformatumueitalter n (Erlangen 1843), *>««• S. 176—219. Zumal Inhaltsangaben
liefert A Baar, Deutschland in den Jahren 1517^1526 (Ulm 1872). Unter der
neueren reichen EinseUiteratur bieten viel Material manche Schriften des Vereins für
Reformationsgeschichte und zahlreiche Artikel des Archivs fUr Reformationsgeschichte. — -
Vgl. auch Band VIT, S. 155 ff. dieser S^eiUchrift.
Im Neudruck ist immerhin erst ein kleiner Bruchteil der grofien Masse dieser
Schriften veröffentlicht. In Betracht kommen vor aUem: O. Schade, SaHren und
PädqttüU aus der BeforwMtiansgeU. 2. Ausgabe. 3 Bände (Hannover 1863), im fol«
genden angeftihrt als „ Schade <<; Neudntcke deutscher LUeraturwerke des XVL und
XVII. Jahrhunderts (HaUe a. d. S.X hier angeführt als „HaUesche Neudrucke^; mietet
O. Giemen, Flugsdiriften aus den ersten Jahren der BeformaUan (Leipag 1907 f-)«
bisl»er 2 Binde, angeführt als „O. Qemen, Flugschriften'*.
3) U. a. vgl. Schade II, Nr. 11, 16, 18, 21, 22. m, 2, 6. O. Giemen, .FIm^
Schriften I, Nr. i, 2, 12. II, 7.
— 185 —
Gegnern Roms geachtet, selbst wenn sie ihm nicht immer zustimmen,
viel häufiger geehrt und gefeiert, oft geradezu vergöttert — so tritt er
vor uns in diesen Schriften hin.
Seine großen Tage kennt das Volk und erstattet darüber Bericht.
Einmal wurde ihm von Rom aus eine hohe kirchliche Würde angeboten,
wenn er in Zukunft schwiege. Ein Gesandter Beelzebubs selbst war
es, der diese Mission erfüllte und schmähliche Abweisung erfuhr, so
legt der Dudogus van MarHno Luther und der geschickten Botschaft aus
der HöUe dar *). Unter der Flut von Flugschriften, die der Reichstag
von Worms veranlaßt hat, übertrifft eine alle an Kühnheit in der
Verherrlichung des Reformators: Doctor M. Luthers Passion^). Ganz
im Stil des Evangeliums wird seine Wormsfahrt geschildert: Es ist
ausgangen der Luther mit seinen jungem über den fluß des Bhems
und eingangen gen Worms, . . Dort hält er mit seinen Freunden
das Nachtmahl, wird verraten und gefangen: am andern tag umh die
viert stunde als er mit sein jungem redte, nempt war, da ist der her
von Pappenheim kamen und mit im ain große schar mit Schwertern vnd
kalben . . . und haben den Luther gefilrt auf das gerichihaus. Das Ver-
hör findet statt, falsche Zeugen treten auf, unter ihnen Johannes von
Eck. Er erklärt: der hat gesagt, das Cancüium gu Costene hob geirt
und der bapst sei ein Entchrist. Da ist Caiphas der bischof van Mene
aufgestanden und hat zu im gsagt: was antwerstu zu disen dingen, die
sie wider dich reden, ich beschwer dich bei dem lebendigen got, bekenn,
die ding war sein! Und fest und mutig bekennt sich Luther zu seiner
Lehre. Der Bischof von Trier muß nach weiterem Verhör gestehen:
ich find kain ursach in im des todts. waU ir, so wül ich in laßen.
Aber wilder Widerspruch tönt auf allen Seiten ihm entgegen. Da
will der Kaiser selbst als Richter das Urteil finden. Doch sein Weib,
die deutsche Nation, schickt zu ihm und warnt ihn: Dir sol nichts
sein mit disem gerechten. Dann in diser nacht hob ich vü durch
seinetwillen erlitten. Zaudern des Richters, wildes Gebrüll der
Menge! Laßestu den ledig, so bistu nit ain freund des römischen
bischafs. er wirt dir hilf thün wider Frankreich. . . Der schwache
Richter gibt nach. In effigie wird Luther mit seinen Büchern ver*
brannt, Hütten zur Rechten, Karlstadt zur Linken. Aber Furcht be-
schleicht gleich hinterher die Gegner, denn er hat gesagt, er würde
i) HcrmiugegebeD tod L. Enders, Htllesche Neadrucke Nr. 6a. — AU Verfasser
gilt Erftsmos Albems. Vgl. Beiirägt am QesMMt der demtsehen Spraehe XXVm, 2 28 ff.
2) Schade II, 108 — 113. Vgl. O. Giemen, Beiträge sur BeformatiofisgtBMt^
m, 9—20. Katholik 82, 2. S. 95 £ 82, 2. S. 576.
14^
— 186 —
noch größere Dinge schreiben. Sie lassen neue Gebote ausgehen,
alle Schriften des Heiligen zu verbrennen. Keiner kehrt sich bislang
daran, sie werden sehen, m icelchen sie gestochen haben!
Ein enger Zusammenhang besteht zwischen der Reformation und
dem Humanismus. Der bedeutendste Humanist, Erasmus von Rotter-
dam, arbeitete Luther auf das wirksamste mit seiner griechischen Aus-
gabe des Neuen Testamentes vor. Erasmus ist allerdings alles andre
eher als ein Volksmann, aber die gebildeten Kreise sehen in ihm
einen Kampfgenossen des Wittenbergers. So setzt Albrecht Dürer
nach dem Verschwinden Luthers im Mai 1521 auf ihn allein noch
seine Hoffnung für die neue Lehre *). Andere suchen dem Volke
seine Gestalt nahe zu bringen, sei es durch Übersetzung seiner Werke,
sei es durch Verherrlichung in besonderer Form. Zumal süddeutsche
Flugschriften singen so sein Lob '). Aber Erasmus gehört zu denen,
die weder Fisch noch Fleisch sind; mit der alten Kirche ist er zwar
innerlich fertig, allein die Auswüchse der neuen Bewegung, das Poltern
und Gezänk, widerstreben seinem jeder kräftigen Parteinahme abholden
Gemüt*). Und sehr bald tritt die Unzufriedenheit mit dieser seiner
Haltung auch in der Flugschriftenliteratur hervor. Bezeichnend dafür
ist seine Rolle in dem Qesprächbüchlein von einem Bauern, BeUal,
Erasmo BoUerodam und Dodor Johann Fabri*). Nur noch die
Meisterschaft des zierlichen Lateins wird ihm da zuerkannt, sonst ist
er der weltkluge, kleinmütige Erasmus, der Schmeichler des Papstes
und unverschämte Gotteslästerer. Belial hat ihn ganz auf seine Seite
gezogen, indem er ihm zeigte, welche weltlichen Ehren er bei ihm,
welche Gefahr und Verfolgung er bei Luther zu erwarten hätte.
Erasmus überlebte seinen Ruhm — mitten aus dem Wirrwarr der
i) Vgl. M. Thausing, Dürers Briefe, Tagebücher und Reime {=> QucHenschnücti
ZOT Kunstgeschichte, 3. Band, Wien 1872), S. 119 ff.
2) Vgl. hienro z. B.: Die göttUche MüMe, Schade I, aaff.; Runs tmd Fritg,
Schade II, 121; Ein kurz OediefU, so neulich ein thurgäuiseher Baur ...gemacht
h(U, Schade II, 161; Ein schöner Dialogus zwischen einem Pfarrer und einem
Schultheiß ..., Schade II, 153; Der erste und der achte Bundsgenosse, Johann
Eberlin von Günzbnrg, Schriften, heraasgegeben von L. Enders, I (Halle 1896), 3, 12,
86 (fernerhin angeftthrt als Enders, Eberlin).
3) Vgl. G. Kaweran, Luthers Stellung zu den Zeitgenossen Erasmus, Zwim^
und Melanchihon. Sonderabdmck aas den Deutsch -evangelischen Blättern 1906.
Heft 1—3, S. 3 ff.
4) Herausgegeben von O. Giemen, Flugschriften I, S. 313—336. — AU Ver-
fasser sucht A, Götze Erasmus Albems zu erweisen: Archiv für Hifwmatiom
geschickte, V. Jahrgang (1908), Heft i, S. 48 — 68.
— 187 —
Kämpfe, die er bis zuletzt gefuhrt, riß das Geschick Ukich von Hütten
hinweg. Voll Begeisterung hatte er für Luther mit seiner Feder den
Kampf aufgenommen. Mit deutschen Flugschriften war auch er seit
1520 auf den Plan getreten ^). In einem flammenden Liede hatte er,
auf sich selbst gestellt, die Römlinge gewarnt:
Ob dam mir nach tut denken
der curtisanen Ust:
am herz last sich nit hrenken
das rechter mainung ist.
ich ivaiß noch vü, todin auch ins spü
und soUens drüber sterben:
auf, landsknecht gut und reuters müt,
last Hütten nit verderben!*)
Als der streitbare Held lebt er auch in der Vorstellung des
Volkes, und so zeichnen ihn die Flugschriften. Virich van hatten übt
die fäder vnd das schivert, gu erwecken alie Teüische erberkeit. . . aber
die Curtisanen ligen im am unlg, so ruft der erste Bundsgenoß Karl V.
zu^), imd der achte stimmt dem Gefährten bei und fordert die Deut-
schen auf zum Eintreten für Luther und Hütten: 0 ir frommen teiU-
sehen, greifen die sach dapffer an und halten ob den EuHtngdischen
lerem und ob allem irem anhang. Sind kdck, die gj^ ist hie, gott ist
mit euch^)l
Die Wirkung solcher Aufrufe äußerte sich auch in den Flug-
schriften. Hüben und drüben greift man die Gegner mit Ungestüm
an. Ihre Parteistellung allein ist dabei ausschlaggebend, auf eine
Untersuchung tiefer liegender, etwa im Charakter begründeter Motive
läßt man sich fast niemals ein.
Mit der Person Ecks beschäftigt sich Ein schöner Dialogus,
Cunjs und der Frits ...*): Der Junker Eck oder Geck von Ingolstadt
i) über den Beginn der denUchen SchrifUteUerei Hntteni vgL Fr. Strmnfl, ühich
von Hütten (4.-6. Aufl. Bonn 1895), S. 345^*9 S. Szmmmtölski, ükid^ von
Hütten deutsche Schriften (1891), S. 640., W. Lacke, Die deutsche Sammiung
der E3ag9dmftm ülriehs von Huiten (Progr. Sohl 1905), S. 18.
2) Ain new Ued herr VUridu von Hütten 15Ü1, Ulrichs ?on Hatten Schriften,
heraasgegeben von £. Böcking II, 92 — 94.
3) Enders, Merlin I, 4.
4) Ebenlm I, 88. — Vgl. ferner Schade II, 4, 199 and besonders die Lieder
ükrich wm Hütten das edel bMt ..., Hnttens Schriften, henutsgcgeben von Böcking
II, 96 and Ach edler Hut annß FVancken . . ., ebenda II, 94ff.
5) Schade II, 124 ff. — Als Verfasser wird Urbanas Rh^as angenommen. Vgl.
nüetst A. Götze, ZeUechrift für deutsche PhOoiogie XXXVU, 106 ff.
— 188 —
hat sich der Operation des Narrenschneidens ') unterziehen müssen.
Sie ist ohne Erfolg* g-eblieben. Es sitzen noch so viele Narren in
seinem Leibe, daß er damit ein ganzes Kloster füllen könnte. Dabei
ist er fürwahr frommer als Judas! Der hat Christum um nur dreißig-
Pfennige verkauft, er hat doch für den Luther wenigstens blankes
Gold genommen.
Andere Vertreter der römischen Partei kommen in anderen Schriften
nicht besser weg. Der „Jude" *) Aleander, des Papstes Gesandter auf
dem Wormser Reichstage, konnte mit Recht von sich sagen, daß er
die bestgehaßte Person in deutschen Landen sei*). Hogstraten
war auch nach der Epoche der Dunkelmännerbriefe noch nicht ver-
gessen *).
Einer der vielseitigsten und begabtesten Gegner der neuen Lehre
war der Straßburger Franziskaner Thomas Murner. Durch witzige
Spottgedichte, in denen auch das Leben der Kleriker mit grausamem
Hohn an den Pranger gestellt wurde, hatte er sich bereits einen
Namen gemacht^). Dann aber trat er für die alte Kirche in die
Schranken. Im Jahre 1520 kündigte er an, daß er in 32 Traktaten
die Wittenbergsche Ketzerei bekämpfen wollte. Wenn auch nicht
alle erschienen, so maß er sich doch mit einer ganzen Reihe von Re-
formatoren in literarischen Fehden.
Drei seiner Schriften ragen aus der Masse besonders hervor, die
An den großmäcMigsten und durchlauchtigsten Adel deutscher Nation
i) Hierbei wird einerseits mof die durch Sebastian Brants Narrenschiff ge«
weckten VorsteUangen , andrerseits aof die von den damaligen Ärzten viel geübte Konst
des Steinschneidens Besag genommen.
2) Um dem oft wiederkehrenden Vorwurfe jüdischer Abstammung zu begegnen, steUt
Aleander in einem Schreiben an Eküc einen pompösen Stammbaum für sich auf, der aller-
dings der realen Grundlagen entbehrt. P. Kalkoff, Die Depeschen des NwiUius
Aleander vom Wormser Beichstag 1521^ (Halle 1897), 9 f.
3) Vgl. P. Kalkoff, a. a. O., 27f., 4Sflf., 79«. Dazu: Schade II, 108, ia6,
190. Diahgus von Martino Luther und Simone Hesse tu Worms geschehen (iS^iy,
in Huttens Schriften IV, 6iof.
Weitaus am schärfsten aber ist das Pamphlet des Wormser Pfarrers Johannes
Römer: Das ist der hochthum Bahd^ id est Cöfusio Fapae, darin doctor Luther
gefangen ist. Die Schrift entstand unmittelbar, nachdem Luthers Aufhebung in Worm»
bekannt geworden war, am 14. Mai 1521. Vgl. O. Giemen, Zeitschrift für Kirchen-'
geschichte XX, 445.
4) Vgl. Schade III, 113, 12$. Femer die lateinische Schrift Hogstratus ovanSf
abgedruckt in Huttens Schriften, herausgegeben von Böcking, Supplement I, 439 ff.
5) Vgl. W. Kawerau, Thomas Mumer und die Kirche des MittMUers
(s= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte Nr. 30, HaUe 1890).
— 189 —
(1520) ^), eine Erwiderung auf das Büchlein, das Luther an die gleiche
Adresse gerichtet hatte, das Neue Lied von dem Untergang des Christ^
liehen Glaubens, das er als Antwort auf das Lied von der ehristförmigen,
rechtgegründeten Lehre Dr. M. lAähers des Eßlinger Augustiners
Michael Stifel 1522 veröffentlichte*), und schließlich das Gedicht
Von dem großen lutherischen Narren '). In diesem lieferten ihm Eber-
lins 15 Bundsgenossen und das alte Motiv des Narrenbeschwörens
die Handhaben zu der satirischen Einkleidung. Denn unter den kleinen
Narren, die der große lutherische Narr bei sich trägt, sind die schlimm-
sten eben diese fünfzehn Bundesgenossen, deren jeder mit grimmigem
Hohn überschüttet wird. Unter den sonstigen Narren aber befinden
sich auch die, welche Murner selbst in Pamphleten öffentlich oder
anonym angegriffen hatten.
Und das war in ausgiebigstem Maße geschehen. Auf den Spuren
der Humanisten, die den Straßburger Mönch schon lange vor der
Reformation durch die Verschandelung seines Namens in „Murmarr**
weidlich geärgert hatten*), gingen jetzt Luther, Stifel, Pamphilus
Gengenbach *) und andere gegen ihn vor. Er war „ein Talent, kein
Charakter"^), und mancher Punkt in seinem etwas abenteuerlichen
Leben bot Gelegenheit zum Angriff, zumal seine Geldgier und Ruhm-
sucht. Die bedeutendste Schrift, die ihn in dieser Weise mitnimmt,
ist der Karsthans'^). In ihr tritt er als Kater auf, als „böse Katze,
die vom leckt und hinten kratz t'*. Auch der Titelholzschnitt deutet
diese Verspottung an: er wird dort als Mönch mit einem Katzen-
kopfe gezeichnet.
Die Darstellung der Gegner unter der Gestalt von Tieren ist
i) Herausgegeben von E. Vofl, HaUesche Nendracke Nr. 153 (1899). ^S^* <^^«^
W. Kaweraa, Thomas Mumer und die deutsche Reformation (= Schriften des
Vereins flir Refonnationsgeschichte Nr. 33, HaUe 1891), S. 30 ff.
2) Abgednickt bei L. U bland, AUe hoch- und niederdeutsche VolksUeder.
3. Auflage. (CoUasche Bibliothek der Gesamtliteratnr) n, 216 ff. Vgl. W. Kaweraa,
a. a. O., 55 ff. Janssen, Geschichte des deutscTkcn Volkes H, 125 f. — M. Stifels Lied
bearbeite ich zum Neudruck in O. Clemens Flugschriften,
3) Herausgegeben von H. Kurs (Zürich 1848).
4) Vgl. W. Kawerau, Thomas Mumer und die Kirche des Mittelalters, zot^
Derselbe, Thomas Mumer und die deutsche Reformation, A^fL
5) In der Noveüa, abgedruckt bei K. Goedeke, PümphUus Chngenbat^ (Hannover
1856), 262 — 391. Ober die Verfasserfrage H. König, Zeitschrift fOr deutedht
Philologie XXXVn, 40 ff.
6) Kawerau, Thomas Mumer und die deutsehe Reforwuxtian, 96.
7) Abgedruckt bei Böcking, Huttens Sdtriften IV, 615—647.
— 190 —
überhaupt beliebt in der Flugschriftenliteratur. Cochläus wird zur
Schnecke, Alveld zum Esel, Eck tritt verschiedentlich als Schwein
auf ^). Emser und Luther begrüfien sich gegenseitig als Bock von
Leipzig und Stier von Wittenberg*).
Mit zarten Fingern fiaßt man sich gegenseitig nicht an in diesen
Pamphleten, und auf einen groben Klotz kommt immer ein noch
gröberer Keil. Aber im allgemeinen treten die Angriffe auf die ein-
zelnen Gegner in den Schriften der lutherischen Partei doch zurück
hinter denen auf das ganze System, dessen Spitze Rom ist*).
Ein altes Motiv, das schon zur Zeit des avignonesischen Exils
begegnet, lebt jetzt wieder auf. Der Papst ist der Antichrist, der
Teufel selbst, oder die Kirche ist das Reich des Satans, der Papst
ein Lehnsmann des Höllenfürsten. Mit einem Sendbrief wendet sich
Luzifer an ihn und seine Bischöfe^): Nachdem die Päpste einst Vor-
bilder im tugendhaften Leben für die Christenheit gewesen seien und
damit seinem höllischen Reiche großen Abbruch getan hätten, sei es
ihm endlich gelungen, andere Männer auf Petri Stuhl zu bringen,
solche, von denen Jesus einst gesagt: Sie herrschen, aber nicht aus
mir. — Bei der Aufzählung der Vorteile, die ihnen der Teufel für
ihre Dienste verschafft hat, wird mit scharfen Strichen die Verderbt-
heit der höheren Geistlichen gezeichnet. Sie sollen nur weiterhin ge-
treu ihrem Herrn und Meister dienen, sich insonderheit seine liebsten
Töchter Betrügerei, Unkeuschheit und die Frau Simonie befohlen sein
lassen. Er wird sie belohnen : Ir sorgeni nü auf gukünftige bdommg,
ir ßrchten atuih nit die ewige pein. Darumb werdemU ir au(h nU he-
i) Vgl. hiena Die Luiemch StrebkaU (i524~i$a5), Schade m, iiafiL; Em
kuree Anred su aJlen Mißgünstigen Doetar Lnthen und der ehristiichen DreO^eU
(1523), Schade ü, i9off. — Ferner: O. Giemen, Archiv für BeformaHans-
gtBchichte n, 78 — 90. Derselbe, Ein Spottgedieht cum Speier von 1524, Archw
fiir Beformationsgeschichte V, 77 — 86. — Eine DarsteUung der Gegner als Wölfe
im Wolfgeeang, Schade III, i — 3$. Zur Verfasserfirage dieser Schrift vgl. E. Kflck,
Judas Naearei, Vom alten und neuen Qott, Glauben und Lehre (1521) ■« Hallesche
Neadmcke Nr. 143, 143 (1896), 69 ff.
2) Luther und Emeer, Ihre Streitschriften aus dem Jahre 1521, herausgegeben
▼on L. Enders. Hallesche Neudrucke Nr. 83 — 84 (1889), 96 — 98 (1891).
3) VgL H. Preufl, Die VorsteUungen vom Antichrist im späteren MittelaUer,
bei Luther und in der konfessionellen Polemik (Leipzig 1906).
4) Ain grqßer Preis, so der Fürst der Heüen^ genant Lucifer iets den Oaiet-
liehen ,,,. embeut. 1521. Schaden, 85 — 92. Vgl. dasn Weller, Bepertorium
typographicum 455; Anmerkung su Nr. 444.
— 191 —
süssen, das ir verachten, sunder ir werdent erlangen mit uns den ewigen
tot. — In dieser Art gibt es noch mehrere Schriften*).
Sehr wirksam ist auch die Gegenüberstellung: Papst — Jesus.
Wie bezeichnend ist schon der Titel eines Büchleins des Heinrich
von Kettenbach : Vergleiehung des aUerheiligsten Herrn und Vaters, des
Papsts, gegen den seltsamen fremden Gast in der Christenheit, genannt
Jesus, der in kurzer Zeit wiederum in Detdschland ist kommen und
jeteund wieder wiU in Egyptenland, als ein Verachteter bei uns^).
Aber auch über die niedere Geistlichkeit gießen die Flugschriften
reiche Schalen voller Vorwürfe aus. Ihre Unwissenheit, Habsucht,
Unsittlichkeit bieten breite Angriffsflächen*). Dabei wird indes auch
nicht verkannt, daß bei vielen ihrer Glieder eine lebhafte Sehnsucht
nach Besserung der traurigen Zustände herrscht. So läßt Eberlin
sieben fromme Pfaffen herzbeweglich ihre mancherlei Leibes- und
Seelennöte klagen^), und er tröstet sie in einem besonderen inhalt-
reichen Sendschreiben*).
Am schlimmsten werden in der Kampf literatur die Bettelmönche
mitgenommen. Mit recht groben Worten schildert sie u. a. Wenzes-
laus Link als gekrönte Esel, Mastsäue, grobe Bachanten und gottlose,
unverständige Tölpel*). Mit feisten Schweinen vergleicht sie die Glosse
des Ablasses gu HaUe ^). In feiner, satirischer Weise kennzeichnet ihre
Verbohrtheit Johannes Römer von Worms in der famosen Predigt, die
die Einleitung zu seinem Dialogus von den vier größten Beschwernissen
eines jeglichen Pfarrers bildet *).
Ein Dorfpfarrer hat zum größeren Glanz der Kirchweihe sich
einen berühmten Kanzelredner aus einem Bettelorden verschrieben.
i) Z. B. die bei Schade 11, 93 ff., 99 ff. abgedruckten.
2) Herausgegeben von O. Giemen, Fhtgtehriften U, 126—152.
3) VgL hierxu und sum Folgenden: H. Werner, Der niedere KUrue am ^t«-
gcmg de$ Mitteldlters, Band vm, 201 ff. dieser Zeitschrift
4) Syben firum aber troeUoß pfaffen klagen vre no^ ... (1522), Enders,
Eberlin n, 57—77.
5) Der frummen pfaffen trott ... (1522), ebenda II, 79^93.
6) Diahgus Mwiedien einem Papisten und einem evangditdien Laien von wegen
der auegdaufenen Mönd^ Büj.
7) E. Böhmer, HalliedM TrMU-Som von 1S21 (HaUe 1862), 1. — Ahnlich
fittfiert sich auch Hans Sachs in dem (}eaprä4sh von den Seheimoerhen der Geistlichen
und ihren QdObden. Vgl. R. Köhler, Vier Dialoge von Harn Sache (Weimar
1858), 2 7 ff.
8) Derselbe erscheint in kurtem, von mir herausgegeben, als 2. Heft des 3. Bandes
von O. Clemens Flugechriften. Dort der Nachweis des Verfassers.
— 192 —
Dieser stellt als Thema seiner Predigt auf: Tria sunt genera ofmtm
laudantium detmu Wie man bei der Dreifaltigkeit von Vater, Sohn
und heiligem Geist spricht, so gibt es drei Arten von Vögeln, die
Gott loben, die Nachtigall, die Drossel und den Raben. Reizend ist
die Schilderung der Nachtigall: sie ist grau gekleidet — wie ein
Mönch, sie vermischt sich mit den Spätzlein, sie hebt schon zu Mitter-
nacht an, Gott mit Gesänge zu preisen und vergißt darüber selbst, sich
Futter zu suchen. Und nun die Anwendung! Bey dem süsien fMekti-
gdlel soU jr verstan uns arme geisÜiche brider und vdUer. Zu gleicher
weiße wie das graw fögelin hObsch und Mein, also sin wir andecUigen
Herren auch und demütig, wiewol wir uns mit euch menschen (da
deutet er mit der hand uff die frauwen!) vermüschen. Dann kommt
ein Eigenlob der Mönche, wie es im Buche steht Was wollen gegen
diese Heiligen die Stiftsherren bedeuten, die in ihrer Bequemlich-
keit und Freßgier mit der Drossel verglichen werden? Und gar die
Dorfpfaffen? Der drit schwartz hesslich vogel der steckt sumer und
Winter in den tvüsten stinckenden dörffem, warten, wo etwas stirbt, hiß
jn ein schelm (Aas) jsu teil wirt, das er im zernag sein fleisch, das ist
ein Rap. dann schreit er grab, grab, grab. Das sein die dorff pfaffen.
die singen seilen, dann wann jr bauem sterben, das sie euer schelmen
bein nagen.
So sprüht es von Humor, so schwingt der Verfasser geradezu
genial die Geißel seines Spottes.
Gegen die entarteten Diener der Kirche hatten sich ja schon
längst aus ihrem eigenen Kreise höhnende, aber auch warnende
Stimmen erhoben. Auch auf manchen Gebieten der Lehre und des
Kultus hatte die Kritik schon vor der Reformation eingesetzt. Jetzt
geht sie auch hier mit den schärfsten Waffen vor.
Das kanonische Recht, auf dessen Grundlage sich die Macht-
stellung der Kirche erhebt, sucht man als Menschenwerk und Menschen-
tand , als Lug und Trug zu erweisen *). Gegen die Reliquien- und
Heiligenverehrung*), gegen die Wallfahrten*), gegen das „Chorge-
i) Vgl. besonders Luther, An den christlichen Adel Krit. Gesamtausgabe
(Weimar) VI, 458. — Hallesche Neadnicke Nr. 4, S. 68. L. Spenglers Atueug aim
den päpstlichen Rechten gab Lather 1530 mit einer Vorrede heraus. V|fl. Köstlin,
M. Luther^ TL, 143 f.
a) Vgl. £. B. Luthers Wider den neuen Abgott %md alten Teufel, der zu
Meißen soll erhoben werden, herausgegeben von O. Albrecht, Krit Gesamtansgabe
XV, 170 ff., femer Von der recJUen Erhebung Bennonis ein Sendbrief (1524)1 heraus-
gegeben von A. Götze in O. Clemens Flugschriften I, 1850. H. v. Kettenbach,
— 193 —
plärr** ^) wenden sich neben Luther auch Eberlin, Nikolaus Hermann,
ein Hans Schwalb*) und viele andere. Unter den gegen die Seel-
messen gerichteten Schriften zeichnet sich eine durch prächtigen Witz
aus: Eine Mögliche Botschaß an den Papst, die Seelmeß betreff end,
welche krank liegt und unU sterben^). Die Ohrenbeichte wird oft
verurteilt, z. B. auch von Luther*), aber seine Angriffe sind matt, ver-
glichen mit den Anstürmen, die Heinrich von Kettenbach und der
Eiscnacher Prediger Jakob Strauß gegen sie unternehmen *). Nicht
minder wird der Zölibat bekämpft, die Priesterehe nicht nur von
Luther empfohlen®).
Die Verteidigung der alten Zustände wird den Anhängern Roms
bedeutend schwerer als die gegen persönliche Angriffe. Zu sehr
lagen die Schäden am Tag, selbst Mumer muß anerkennen: „Wir
haben schuld daran** '). Um so mehr sucht man mit Gewalt die neuen
Lehren zu unterdrücken. Zwar erfüllt das Wormser Edikt keineswegs
seinen Zweck, und bald bestimmen die äußeren politischen Verwick-
lungen die Haltung des Reichsregiments. Doch in einzelnen Land-
schaften findet die Reformation ihre Märtyrer: in den Niederlanden
wurden zwei Augustiner verbrannt, in Dithmarschen starb Heinrich
Ein Gespräch mit einem frommen AJtmüiterlein von Ulm, herausgegeben von O.
Giemen, Flugschriften ü, 5a ff, bes. 59. Hierher gehört auch die schon erwähnte
Glosse des Ablasses zu Hatte,
3) Z. B. Ein Gespräch stoischen vier Personen, wie sie ein Gezänk haben von
derWaUfahrt im Grimmental ... (1523 oder 1524), herausgegeben von O. Giemen,
Flugschriften I, 131 ff. Vgl. aach Lather, An den chrisUidten Adel, 54 f*
(Hallesche Neadmcke); Enders, EberUn I, 118 (10. Bnndsgenofi); Nik. Hermann, Ein
Mandat Jesu Christi ... 1524, heraosg^eben von G. Loesche bei O. Giemen,
Flugschriften n, 265.
i) Enders, EberUn I, 68ff.
2) Beklagung eines Laien, genannt Hanns Si^walb, über viel Mißbräuche
ehrisÜichen Ld>ens 1521, herausgegeben von W. Lücke in O. Glemens Ilug*
Schriften I, 337 ff.
3) Abgedruckt bei Schade IT, 252—263.
4) Luther, Von der Beichte, ob die der Papst Macht Aa6e zu gebieten 1521.
Krit Gesamtausgabe VHI, 129 ff.
5) Kettenbach, Ein neu Apologia und Verantwortung Martini Luthers ...
1523, O. Giemen, Iflugschrifien II, i6off. — Straufi, Ein neüw wunderbarUeh
Beychibuchiin ... 1523. Eine Ausgabe der Wetke Jac. StrauO* bereitet Sarge fUr
O. Glemens Flugschriften vor.
6) Z. B. von Karlstadt in der Schrift Von Gelübden Unterrid^tung 1521.
Ferner von Eberlin: Wie gar gefährlich sei, so ein Üriester kein Eheweib hat
(1523), Enders II, 21 ff.
7) Vgl. Kawerau, ThowMS Mumer und die deutsche Reformation, 56 f.
— 194 —
von Zütphen als treuer Bekenner, in Tirol büßte Leonhard Kaiser« in
Wien Kaspar Tauber seine Ketzerei mit dem Tode *). Ihnen allen
standen Verteidiger auf, Luther selbst gab die Geschichte Kaisers mit
einer Vorrede heraus'), ebenso verfaßte er selbst den Bericht von
dem traurigen Schicksal des Bruders Heinrich'), die Kunde von den
niederländischen Märtyrern ließ er im Liede erschallen^). Die Er-
zählung der Verfolgungen, die Jakob Probst in Antwerpen erleiden
mußte, übersetzte Eberlin ins Deutsche^); für Arsacius Seehofer, der
nach hartem Gefängnis in Ingolstadt zum Widerruf gezwungen wurde,
trat in mutigen Schriften eine der interessantesten PersönUchkeiten
jener Tage ein, Argula von Grumbach, geborene von Stauflf*).
So bieten auch in diesen Apologien, deren Zahl eine recht be-
deutende ist, die Flugschriften eine reiche Ausbeute für den Reforma-
tionsforscher.
Luther hatte einst durch seinen Thesenanschlag den Anstoß zu der
gewaltigen Bewegung g^eben, die Millionen eigriffen hatte. Aber
nicht unbedingt folgten nun diese MUlionen auch seinen kirchlichen
Maßnahmen und Vorschlägen. Innerhalb der deutschen Reformation
machen sich mancherlei Unterströmungen geltend, auf dem Gebiete
der Kirchenlehre äußern sich besonders schroff die laienchristlich-puri-
tanischen und die wiedertäuferischen Bestrebungen. Auch sie kommen
in unserer Literatur zum Ausdruck.
Andreas Bodenstein von Karlstadt ist der Begründer und Vor-
kämpfer des laienchristlichen Puritanismus ^). Schon 1521 spielt er in
dem sogenannten Wittenberger Bildersturm eine führende Rolle.
i) Vgl. dazu Loesche, Geschichte des Prüie8t€mti8muB in OeUrreich (1903),
21. Luthers Briefwechsel, heraiugegeben von L. Enders V, 46.
2) Abgedruckt: Krit. Gcsamtaosgmbe (Weimar) XXm, 443 ff. Vgl. daza Köstlin,
M. Luiher^ II, 104 f., 635 f.
3) Von Bruder Henrico in Ditmar verbramU ... 1525. Heransgegebeo von
O. Giemen, Krit. Gesamtausgabe XVni, 215 — 240. Zu H. von Zütphen vgl, die
Monographie von J. F. Iken, Schriften des Vereins für Refonnationsgeschichte, Heft 12
(HaUe 1886). Weitere Literatur in der Einleitung O. Clemens zu dem Neudruck.
4) Ein neues Lied wir heben an . . . Abgedruckt bei Wackernagel, Das
deutsche Kirchetüied III, 3 f*
5) Ein schone vnd clegUche history bräder Jacobs probst Augustiner ordens . . .
(1523), Enders, Eberlin II, 95 — 117. Vgl. dazu O. Giemen, Beiträge sur Befor-
mationsgeschichte I, 33 ff.
6) Vgl. Th. Kolde, Arsacius Seehofer und Argula von Orumbach (Beitrüge
zur bairischen Kirchengeschichte XL, 49 ff.).
7) Über ihn jetzt H. Bärge, Andr. Bodenstein von Karlst€UU (Leipzig 1905),
2 Bände.
— 196 —
Aber zumal seine Traktate über die Abendmahlslehre lassen sich in
ihrer Wirkung auf die religiöse Leidenschaft der Massen wohl zu-
sammenstellen mit Luthers großen Reformationsschriften ^). Für uns
eine auffallige Tatsache, da der Stoff spröde, die Beweisftihrung zum
Teil schwer verständlich war. Aber, um mit H. Bärge zu reden, „von
der späteren Geistesarmut eines steif gewordenen Dogmatismus unter-
scheidet sich vorteilhaft die geistige Beweglichkeit und Empfänglich-
keit der damaligen Menschen. Jeder einzelne suchte die religiösen
Probleme selbständig zu durchdenken, empfangend und mitteilend
zugleich"*). Das „mitteilend** gilt auch für literarische Betätigung.
Meist wurde sie in dieser Art von Laien geübt, die an Luther an-
knüpfend in puritanischem Geiste sein Werk fortsetzen und diejenigen
kirchlichen Institutionen zertrümmern wollen, die dem unmittelbaren
Verkehr der Seele mit Gott im Wege stehen. Sie fanden Wider-
spruch im streng lutherischen Lager. Die literarischen Äußerungen
zu Karlstadts Abendmahlslehre, die Fehdeschriften Amsdorfs gegen
die magdebuigischen Laienprediger sind hierher zu rechnen').
Oft waren schon mit diesen puritanischen Bestrebungen christlich-
soziale Forderungen verbunden, oft waren diese Bestrebungen auch
begleitet von wilden Lärmszenen. Beides ist noch viel mehr der
Fall bei den schwärmerisch-täuferischen Tendenzen. Der Name ihres
bekanntesten Vertreters Thomas Münz er ist eng verquickt mit dem
Bauernkriege von 1525 *).
Diese Erinnerung führt zu einem neuen Kapitel in der Betrach-
tung der Flugschriftenliteratur, zu ihrer Bedeutung in der Geschichte
der sozialpolitischen und nationalpolitischen Bewegungen jener Zeit
Welche Gefahren für die Würde der Nation und noch mehr für
den Volkswohlstand mit manchen der kirchlichen Schäden verknüpft
waren, das war auch vor Luthers Auftreten schon manchmal be-
leuchtet worden*). Noch viel greller geschieht das jetzt.
Unsummen Geldes gingen alljährlich nach Rom. Aus dem Kampf
gegen den Ablaß war die Bewegung entsprungen, aber es gab noch
1) Vgl. Bärge, a. a. O., U, I44ff.
2) Bärge, a. a. O., II, 187.
3) Vgl. Fr. Httlfle, Die EmfiOmmg der BeformaUon m der Stadi Mvgde-
bürg. GetchichUblätter für Stadt und Land Magdeburg XVm (1883), 2461!.
4) Vgl. AuB dem Kampf der Schwärw^er gegen Luther. Drei Fitgeehriften
(1524, 1525). Henuugegeben Ton L. Endert. Hallesche Neodnicke (1903) Nr. 118.
5) Vgl. a. a. H. Werner, ESnAet^ wnd eotia^poUtieehe PMiaieÜk im Mittel-
cUer^ Bd. VI, 65ff., io$fL dieser Zeitschrift
— 196 —
eine lange Liste von Titeln, für die man den Deutschen die Rechnung
ausstellte: Annaten, Pallien, Inkompatabilien , Kommenden usw. Am
gefährlichsten für den Volkswohlstand war aber die „Pfründenfresserei* "^
der römischen Kurtisanen. Luther erzählt von einem römischen Höf-
ling, der 22 Pfarren, 7 Propsteien und 43 sonstige Pfründen in seiner
Hand vereinigte *).
Auch in diesem Ringen um eine wirtschaftliche Hebung der
Nation hatte Luther zunächst die Führung mit seiner Schrift an dea
christlichen Adel. Neben ihm eifern im größeren Zusammenhang ihrer
Pamphlete Eberlin, Römer, Urbanus Rhegius u. a. gegen das Pfründen-
unwesen und die zahllosen Abgaben an Rom'). Manche Flug-
schriften stellen sich allein dies Thema, so das Gedicht Der Kur^
üsan und Pfründenfresser *) und die bedeutende Von dem Pfründmarki
der Kurtisanen und Tempelhnechte%
Daß man zuweilen der Kirche ungerechter Weise zuviel Schuld an
den sozialen Nöten zuschob, kann in dieser Zeit der Entfesselung reli-
giöser Leidenschaften nicht wundernehmen. Aber vielfach wird doch auch
anerkannt, daß auch auf weltlichem Gebiete manches faul im deutschen
Reiche sei. Manches harte Wort fallt gegen die weltlichen Herren,,
die „großen Hansen**, auch gegen den Kaiser Karl V., dem man zu-
erst mit so hoffnungsvoller Erwartung entgegengesehen hatte ^).
Doch man bekrittelt und verneint nicht nur, in steigendem Maße
treten auch Reformvorschläge an die Öffentlichkeit.
Viele beziehen sich auf die nächstliegenden Bedürfhisse. In den
i) Lather, An den chrisÜichen ÄdeL Hallesche Neadrocke Nr. 4, 26. Krit.
Gesamtaiugabe VI, 424.
2) Selbst Aleander gibt der Karie den dringenden Rat, die unersättlichen Inhaber
zahlloser PfrtUiden, die auch die deutschen Benefizien alle an sich reiflen möchten, zo.
zügeln. Kalkoff, Depeschen AJeanders^, 48*
3) Schade I, yff.
4) Schade m, 59ff. A. Götze, Vom Pfründmarkt der KwrUsanen (Zeit-
schrift für deaUche Philologie XXXVII, 193 ff.) sacht den Strafibarger Prediger Sebastian
Meyer ans Neaenbarg am Rhein als Verfasser der Schrift za erweisen.
5) Man Tgl. z. B. das unbegrenzte Vertrauen, das Eberlin im i. Bundsgenossen dem
Kaiser ausspricht (etwa April 1521), mit der bittem Datierung des etwa im Juli oder
August entstandenen 12. Bnndsgenossen : Dixtum yn zeit vnd stat, got vnd tftiß wissent.
wir verhoffen, so vnser genedigoster herr Kaiser Karolue vnd oOe stand des reidis
ewer worhaffUge kiag vnd vnser frünHich erbieten werden ermessen, ey sSüen grqß
gefallen dar ab Juiben.
Dein hoffnung sets allein in got
Vnd hob mit sorg es für sich godt.
Enders, I^}erUn I, 141.
— 197 —
laienchristlichen Kreisen taucht mit der Ordnung der Stadt Witten-
berg 1522 der Gedanke der Errichtung eines „gemeinen Kastens*'
auf *). Aus den bisherigen Einkünften der Priester soll eine Art Dar-
lehnskasse fiir gemeinnützige Zwecke geschaffen werden. Der Vor-
schlag fand viel Anklang, auch Luther stimmte ihm zu'). Aber für
eine Lösung der sozialpolitischen Fragen im weiteren Sinne, wie sie
sonst vielfach versucht wird, ist er nicht zu haben. Ihm ist die
Obrigkeit etwas Gottgewolltes, an einer prinzipiellen Weiterbildung
der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung kann und soll nach
ihm dem Christen nichts liegen *).
Für Reformprogramme umfassender Art bot schon das ausgehende
Mittelalter manche Vorbilder, das berühmteste in der sogenannten „Re-
formation Kaiser Sigismunds'* *). An sie lehnt sich z. B. auch die nach
Kaiser Friedrich III. bezeichnete Reform an, die für die alten Stände
Kaiser, Ritter, Bauer und (ur den neuen des Stadtbürgers neue Grund-
lagen schaffen will*). Ein Fortsetzer der Reformer des XV. Jahr-
hunderts ist auch Eberlin von Günzburg ^). In vielen seiner Schriften
greift er hinüber auf das politische Gebiet Eine geschlossene neue
Ordnung des geistlichen Standes stellt er im zehnten^), eine des
weltlichen im elften Bundesgenossen auf^). Er ist auch der geistige
Vater der historisch wichtigsten und berühmtesten Reformschrift des
Zeitalters, der 12 Artikel der Bauernschaft*). So wird er mittelbar
i) H. Bärge, KarhtacU I, 37^ ff* Vgl. dizu die nagschrift J^tn Oespräeh von
dem gemeinen Schwabacher Kasien ... (1524) bei Schade in, i96ff.
2) Vgl. Köstlin, M, Luther^ I, SSot
3) Vgl. £. Brandenbarg, M. Luthers Anschauung vom Staate und der Ge-
sellschaft (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 1901), 17.
4) Siehe daza die Aufsätze von H. Werner in dieser Zeitschrift Band IV, i ff.,
43 ff., 171 ff., 193 ff., VI, 840^, Vn, 231 ff. Jetzt neu herausgegeben von H. Werner,
Die Beformation des Kaisers Sigmund. 3. Ergänzungsheft zum Archiv für Kultur-
geschichte. (BerUn 190S.)
5) Vgl. Band VII, 251 ff. dieser ZeiUchrift.
6) Über ihn M. Radlkofer, JoJl EberUn von Oünzburg und sein Vetter
Hans Jakob Wehe von Ldpheim. (Nördlingen 1887.) Ergänzungen: W. Lücke, Die
Entstehung der 15 Bundsgenossen des Joh. EberUn von Günzburg. pisserution
Halle 1902) Schornbaum, Leutershausen bei Beginn der Beformationsjseit und
das Ende Eberlins von Günsburg (Beiträge zur bairischen Kirchengeschichte XI, 1 ff.).
7) Enders, Eberlin I, i07ff.
8) Ebenda 121 ff.
9) A. Götze, SebasUan Lottere Schriften (Leipzig 1902), 10. Die zwölf Artikel
sind zuletzt untersucht und neu gedruckt von A. Götze, Historische Vierteljahrsschrift V
(1902), 1—33.
— 198 —
zu einem Urheber der Revolution, deren Rotten er in Erfurt in
machtvoller Predigt entgegentritt und die zu bändigen ihm hier auch
gelingt.
Denn in kriegerischen Wirren entlädt sich die Unzufiriedenheit
zweier Stände mit ihrer sozialen Lage. Aus der von Hütten mit
allem Feuer seiner hinreißenden Leidenschaft herbeigepredigten Er-
hebung der Ritterschaft wird zwar schließlich kaum mehr als eine
persönliche Fehde Sickingens mit seinen fürstlichen Gegnern, aber
die schwüle Stimmung, die in der bedrückten und befrondeten
Bauernschaft herrscht, bricht in einem furchtbaren Gewittersturm los.
Die Volksliteratur verfolgt natürlich diese Bewegfungen in ihrem
ganzen Verlauf. Über den sozialen Niedergang seines Standes, an
dem er der Geistlichkeit nicht die kleinste Schuld zuweist, unterredet
sich Sickingen mit einem Bauern in dem Gespräch Neu Karst-
hans^). Sickingens letzter Kampf wird in Prosa und Poesie be-
handelt*), über das traurige Los seiner Anhänger gibt eine Unter-
haltung Kunde, die ein Fuchs und ein Wolf auf dem Steigerwald
führen •).
Die Nöte der Bauernschaft sind schon in den Schriften der ersten
Reformationsjahre oft erörtert worden. Gerade dieser Stand hatte ja
unter vielen der kirchlichen Mißstände am meisten zu leiden, unter
den hohen Wucherzinsen, der Gült*), und den Zehnten, auch dem
„ Fürkauf *S jenen Getreidespekulationen, die manche Ähnlichkeiten mit
Machenschaften unserer Zeit im Trustwesen zeigen*). Bei diesen
politisch unreifen Köpfen fanden nun die Schwärmer mit ihren phan-
tastischen Ideen Anhang. Vergebens sind die Warnungen Luthers*)
i) Schade 11, 1—44.
2) Z. B. in dem DiaJogus, 80 Franciseus van Sickingen vor des HimnuU
Pforten mit Sankt Peter und dem Ritter Safikt Jörgen gehalten ... Schade II,
45—59- Ferner das Lied Drei forsten hond eich aina bedacht ... Uhland, VoUee-
lieder II, Nr. 182.
3) Schade 11, 60—72.
4) Von der GiÜt ... Schade H. 73flF.
5) Vgl. hierza das Gespräch Ain Dicdogus, des InhdU ein Ärgmment der üomo-
nisten ... von Hans Sachs. Abgedruckt tod R. Köhler, Vier Dialoge von Hans
Sachs (Weimar 1858), 43 ff.; bes. 45 f.
6) Hierher gehören: Brief an die Fürsten zu Sachsen vom aufrOkrerim^ien
Geist 1524. Enders, Luthers Briefwechsel IV, 373. Krit. Getamtaosgabe XV, 1090.
Brief an Bat und Gemeinde zu M^^lhausen 1524. Enders, a. a. O., 377 f. Brief
an die Christen zu Strqfiburg wider den S^wärmergeist 1524. Krit. Gesamt-
ausgabe XV, 380 ff. Wider die himmlischen ^-opheten 1525. (<»«««» Karlstadt)
Erlanger Ausgabe XXIX, 134 ff.
— 199 —
und anderer. Vergebens ist der Versuch einer originell eingekleide-
ten Flugschrift, der Scharfen Mete, die mit den Schüssen des Gottes-
worts von Empörung und Gewalttat zurückscheuchen will *): die Revo-
lution bricht los. Die zwölf Artikel durchfliegen in fast unglaublicher
Zahl der Auflagen das Land'). Auch in den Städten regt sich das
Proletariat. Bald feiert die Erhebung blutige Orgien. Ein trauriger
Anblick, und doch eine um des größeren Ziels willen wohl verständliche
Tatsache ist es, daß Luther in diesem Konflikt sich auf die Gegen-
seite stellt und in schärfster Konsequenz zur Vernichtung „der räube-
rischen und mörderischen Rotten der Bauern** aufruft '). Nach anfang-
lichen Mißerfolgen sieget die Staatsgewalt, triumphierende Weisen
stimmen die Berichte über die letzten Niederlagen der Bauern an.
Wenig denkt die harte Zeit des tausendfachen Elends der Besiegen ^).
Ich glaube, mit diesen Darlegungen die Hauptzüge des Inhalts
der Flugschriften gezeichnet zu haben, nur die Hauptzüge, denn es
gibt noch eine ganze Anzahl von Themen, welche hier zu erörtern
zu weit fuhren würde, wie die Judenfrage ^), das Gerichtswesen^), die
Pflege der deutschen Sprache^) u. a. Ich muß indes meine Skizze
noch erweitem durch einige Angaben über die Form, oder vielmehr
die Formen der Flugschriften.
Man hat sich gewöhnt, die Drucke, welche vor dem Jahre 1500
i) Die scharf Metz wider die, die sich evangelisch nennen und doch dem
EvangeUo entgegen sind. Herausgegeben ron W. Lacke in O. Clemens Flug^
Schriften I, 95 ff. Die gleiche Absicht verfolgen die Schriften des Heilbronner Predigers
Johann Lachmann. Sie sind jetzt herausgegeben von G. Bossert in O. Clemens
Ilugschriften II, 415—455-
2) A. Götze führt a. a. O. 2$ Auflagen an.
3) Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern, Erlanger
Ausgabe XXIV, 287 ff.
4) Vgl. R. V. Liliencron, Die historischen Volkslieder der Deutsehen m,
Nr. 374—392.
5) Vgl. dazu u« a. : Ein Gespräch swisd^en einem Christen und Juden, auch einem
Wirte s<m$ seinem Hausknecht, den Eckstein Christum betreffend {1S24), heraus-
gegeben von W. Haupt bei O. Giemen, Flugschriften I, 373ff. und Ein Untet'
redung vom Glauben durch Herr Michdn Kromer, Pfarrherr su Kunite, und einen
jüdischen Babbiner (1523), herausgegeben von O. Giemen, Fhtgs^riften I, 4^3 ff.
6) U. a. ist es behandelt in dem schon erwähnten Dialogus von den vier graten
Beschwernissen eines jeglichen Pfarrers,
7) Hierher gehört Eber lins 8. BwuUgenqfi. Sehr bemerkenswert ist die Ein-
leitung des Johannes Krefl zu Ain schöner lustigi^ Dialogus von dem reMen
wiMren glauben . . . Dttrch Vhrieh BurdAart des Bisehoffs im Bamberg CapeUan
newH^ besekriben. Jf. D. XXV.
15
— 200 —
entstanden sind, als Inkunabeln, Wiegendrucke, zu bezeichnen. Eia
lieferer Grund dafür ist nicht ersichtlich; einen Wendepunkt im Buch-
druck, zumal im deutschen, bringt erst Luthers Auftreten. Auch in
der äußeren Gestalt der Preßerzeugnisse zeigt sich das : an Stelle des
Folioformats tritt das Quartformat. Und dieses ist fast aussdüießlich
auch das der Flugschriften. Der Umfang ist dabei meist gering, oft
nur ein paar Seiten. Im Verhältnis wenig Schriften kommen über
den dritten Bogen hinaus. Der Titel steht meist in einer, oft sehr
kunstvollen Umrahmung, in vielen Fällen tritt noch ein besonderer
Holzschnitt dazu *). Neben grob ausgeführten gibt es da auch vollen-
dete Kunstwerke von den bedeutendsten Holzschneidern der Zeit
Der äußeren Ausstattung hat sicher manche Flugschrift ihre große
Verbreitung verdankt. Aber viel mehr zur Wirkung trug natürlich neben
dem „sensationellen* ' Inhalt, den oft schon der Titel kundgab, die innere,
die eigentliche Form bei, die Art der Einkleidung der Gedanken, der Auf-
bau, die Komposition, die Sprache. Schlichte Prosaaufisätze, die rein
sachlich ein Thema behandeln, sind nicht allzu zahlreich ; vielmehr sucht
man möglichst der Form eine besondere Eigenart zu geben.
Es ist auffallend, wieviel Briefe uns aus der ersten Hälfte des
XVI. Jahrhunderts erhalten sind. Das beruht auf dem Sammeleifer der
Zeitgenossen, aber auch auf ihrer lebhaften Pfl^e des Briefwechsels.
Diese Freude am Brief zeigt sich auch in der Anlage vieler Flug-
schriften. So sendet ein Wittenberger Student eine prächtige Epistel
über Luthers Lehre an seine Eltern *), ein Basler Franziskaner recht-
fertigt in einem Bericht an seinen Vater seinen Austritt aus dem
Orden"), ein J. N., wohl der Zwickauer Johannes Neander, erzählt
einem Konstanzer Gastfreunde von dem tollen Spottspiel, das Buch-
holzer Bergknappen auf die Heiligsprechung des Bischofs Benno von
Meißen veranstaltet hatten^), u. a. m.
i) Wie für die Drnckerforschung dieser Zeit ttberhaapt, so ist anch für die Be-
schreibung der Umrahmongen und Zierstttcke grundlegend A. v. Dommer, Luther'
drucke auf der Hamburger StadtbibUathek (Leipzig. 1888). Eine Erweitemng nach
der Seite der Typenformen bildet A. Götze, Die hochdeutschen Drucker der i2e*
farmathnseeit (Straßbarg 1905).
3) Ein Sendbrief van einem jungen Studenten zu Wittenberg an eeine Mtem
im Schwabentand von wegen der Lutheriedien Lehr gugeachrieben, (iS^s)- Heraus-
gegeben Ton O. Giemen, Flugschriften I, iff.
3) Joh. Schwan aus Marburg. Vgl. über ihn O. Giemen, Beiträge Mur Befor^
mationsgeschichte Ij S^ti
4) Von der rechten Erhebung Bennowis «m. Sendbrief, herausgegeben yoa
A. Götze. O. Giemen, Flugschriften I, 185fr.
— 201 —
Nocli häufiger ak die Form der Privatbriefe ist die der Send-
schreibeiL Sie sind an den Kaiser oder an einen Fürsten oder an
den Rat einer Stadt gerichtet Ihre Sprache hält sich an die ge-
messenen Regeln der Kandeien, meist entspricht ihr ganzer Aufbau,
mindestens aber AnCamg und Schluß, den amtlichen Vorschriften. Ihr
Inhalt sind Verteidigungen, Vermahnungen, Beschwerden. Luthers Schrift
an den deutschen Adel ist die berühmteste der Art. Sie hat eine kürzere,
stilistisch glänzende Parallele in Eberlins erstem Bundesgenossen^).
In anderen Sendschreiben ist das hohe Pathos ersetzt durch einen
beißend satirischen Ton. Absender wie Adressat werden oft vorge-
täuscht; so wenn sich Luzifer an die Kirche wendet, wenn die Kardi-
näle an den Teufel, ihren rechten Herrn, einen Bericht erstatten.
Nach VorbUdern der Kanzlei sind auch die Edikte und Erlasse
gearbeitet, die oft begegnen. In einem „Mandat** fordert Jesus alle
seine getreuen Christen auf, dem Teufel das verlorene Schloß des
Glaubens wieder abzugewinnen'). In teils ernster, teils recht ergötz-
licher Weise veröffentlichen Eberlins lo. und ii. Bundesgenosse die
geistliche und weltliche Ordnung des Fabellandes Wolfaria, des christ-
lich-sozialen Idealstaates. Allerdings ist der Verfasser dessen Er-
richtung gegenüber selbst etwas skeptisch, wie die Daten bezeugen:
Datum in unserer stat Baldeck uff den xxxv. tag übdis im jar, ah Ostern
uff den Montag gfid und Datum in unser haupt stat Wdtffeck, im Monat
genant QMwyle, 'im jar do man den hättet münchen die kutten staubt*).
Noch zahlreiche Beispiele ließen sich anführen, wie die Einkleidung
der Flugschriften an die Sprache und die Bräuche des öffentlichen
amtlichen Lebens anknüpft. Fast noch häufiger indes — und das
darf in dieser Zeit der Kirchentrennung, da der Geistliche und der
Gelehrte im Vordertreffen fochten, nicht wundernehmen — leihen
Formen des kirchlichen und weiter des wissenschaftlichen Lebens den
Schriften das äußere Gewand.
Predigten werden oft im Druck verbreitet. In Anlehnung an
akademische Bräuche werden Thesen verteidigt, Glossen, Kommentare
und Auslegungen gegeben*). Ein sehr wertvolles Stück dieser Art
I) Vgl darüber Lncke, Die EfMehung der 16 BuHdBgeno$$en d€$ Joh.
EberKn von Oündmrg (190a), 57 ff-
3) Heraosgegebeo von G. Loetche bei O. Giemen, Fhig$chriften TL, 2S$ff.
3) Enders, Eberlin I, 119* i3i-
4) Besonders berühmt ist Hottens Glosse ni Luthers BannboUe, abgedruckt in HiAtens
Sdirilten V, 301— 333, Die Glosse tarn Ablaß von Halle herausgegeben von Böhmer,
HäUeicKea TnUz-Bom 1521 (Halle i86a).
15^
— 202 —
ist das schon in anderem Zusammenhange erwähnte Lied von der
ckristßrmigen rechigegründelen Lehre Dr. IL Luthers, das den auch
in der Geschichte der Mathematik berühmten Michael Stifel von
Eßlingen zum Verfasser hat Die Erläuteiiingen werden an ein Lied
zum Preise Luthers angeschlossen, aus dem noch heute Strophen an-
muten*).
Manchmal knüpfen die Ausführungen des Textes auch an ein
Bild an, so in der Kursen Anred eu dUen Mißgünstigen Dodor
Luthers^), deren Titelholzschnitt die in Tiere verwandelten G^ner
des Reformators zeigt. Noch mehr ist das Gedicht Triumphes veri-
taiis^) die ausführliche Beschreibung einer Illustration. In der
Luterischen Strebkalz^) gibt das Titelbild eine Erläuterung zum Text
Die Strebkatz ist ein mittelalterliches Krafbpiel. So stellt nun das
BUd dar, wie auf der einen Seite Luther, auf der anderen der Papst
sich bekämpfen. Beide knien, um ihren Nacken ist ein dicker Strick
gelegt, jeder sucht daran den anderen aus seiner Stellung zu zerren.
Schon stürzt der Papst vornüber, die dreifache Krone entfallt seinem
Haupte, seiner Hand ein Beutel mit Geld. Vergeblich sind die Be-
mühungen tierköpfiger Helfer, Luther von dem Kreuz, an das er sich
klammert, hinwegzuziehen.
Lebendigkeit, Leben! Auf die verschiedenste Weise suchen es
die Verfasser der Flugschriften auch der Form ihrer Werke einzu-
hauchen. Das einfachste Mittel dazu ist aber die Wiedergabe wechseln-
der Rede, der Dialog. Mit seiner Anwendung feiert die Flugschriflen-
literatur ihre höchsten Triumphe.
Auf lateinische Vorbilder geht diese Dialoggruppe zurück, Hütten
darf als ihr Begründer gelten^). Und aus welschen Landen kommt
den deutschen Gesprächen ein oft auftretender Unterredner, dessen
Name sich für tendenziöse Angriffsschriften im weitesten Sinne einge-
bürgert hat, der PasquilP).
i) Über Stifel am besten der Artikel Kaweraus in der Realencjklop. för pro-
testantische Theologie* XIX, 24 ff. Über seinen Streit mit Momer hoffe ich demoicfast
etwas veröffentlichen zu können.
a) Schade 11, iQoff.
3) Schade II, I96ff.
4) Schade m, ii2ff. O. Giemen, Die Luteris^ SMbkais (Archir för Re-
formationsgeschicbte II, 78 ff.).
5) Vgl. dazu G. Niemann, Die DiahgUteratur der Befarmation$geU nach
ihrer EnUMmng und EfUwiekhimg (Leipzig 1905).
6) Vgl. O. Giemen, Beiträge mr BeformationsgeaeihichU I, iff. Dort weitere
Literatur.
— 203 —
Vor dem Palazzo Braschi in Rom steht eine verstümmelte Mar-
morgestalt, an deren linkem Bein der Rest einer zweiten noch zu er-
kennen ist. Traurige Überbleibsel einer einst herrlichen Gruppe:
Meaelaos, der des Patroklos Leichnam verteidigt. Im Anfang des
XVI. Jahrhunderts stand dies Werk vor dem Palazzo Orsini, und
römische Spötter hatten die Statue nach einem gegenüberwohnenden
Schulmeisterlein Pasquino genannt; der Name war bald stadtbekannt.
Alljährlich am 25. April wurde dieser Pasquino von Künstlern ge-
schmückt und maskiert; zugleich wurden Spottverse an ihm ange-
heftet, und so wurde der Pasquino bald ein Sammelplatz römischer
Schmähliteratur.
Im Jahre 1518 hatte Leo X. wegen der Türkengefahr Bußfahrten
angeordnet. Warum sollte nicht auch Pasquino an der Not seiner
lieben Römer teUnehmen? Er tat es. Am 25. April fand man ihn
ausgerüstet zu einer Wallfahrt nach St. Jago di Campostella. Muschel-
hut, Mantel und Stab trug er wie ein echter Jakobsbruder. Ganz Rom
lachte, die Literatur aber hatte eine neue Gestalt, den P(nsquiUus extd.
Aus Italiens Gauen zog er fort, kam nach Deutschland und gab hier
in den Flugschriften seine römische Weisheit zum besten, zuerst noch
Person, dann die Schrift selbst
Ein buntes Gewimmel von Gestalten tummelt sich neben ihm in
diesen Dialogen, Gesprächen, Gesprächbüchlein, oder wie sonst sie
genannt werden. Die Führer im Kampfe, Luther, Sickingen, Hütten,
Mumer und andere, die Vertreter einzelner Stände, der Edelmann
und die Edelfrau, der Gelehrte, Handwerker, Bürger, Bauer, Papst und
Bischof, Mönch und Nonne, Dorfpfarrer und Student, Jude und Türke,
auch St. Petrus und St. Georg, selbstverständlich auch der Teufel, sie
alle und viele außer ihnen müssen heran und messen sich mit den
Gegnern in Rede und Widerrede, schimpfen oder lehren, klagen oder
jubeln je nach ihrem Standpunkt. In manchen Dialogen treten auch
Tiere auf, in einem gar die Medikamente einer Apotheke *). Unwill-
kürlich wird man an Andersens Märchen erinnert, wenn man diesen
gelungenen Streit der Heilkräuter und Salben liest, den sie unter
Führung der Wurzel Angelica und des Unguents Apostolicwn über
Luthers Lehre ausfechten. Mit allgemeiner Versöhnung schließt der
Redekampf. Einträchtig singt schließlich die ganze Apotheke Te deum
laudamus.
i) Dialogus oder getpreeh de$ apostolieums Angdiea vnd anderer tpeeerei der
apoteken antreffen doctor Jf. LnUers ler tmd sein atüumk. Schade ü, 36 ff.
— 901 —
Der Gedankengang dieses Gesprächs ist typisch fitr die Mehrzahl
der Gruppe : Opposition, Belehrung, Zustimmung, Versöhnung. Manch-
mal tritt zu der Rede noch eine einfache Handlung, und ein^e Stücke
sind, wenn auch nicht Dramen, so doch dramatische Sienen. —
Eine Auflalligkeit des Personenregisters muß hier noch erörtert
werden. Ungemein häufig kommt der Bauer vor, und er wird dabei
so ganz anders charakterisiert als der Tölpel der früheren Fastnachts-
spiele. Das hängt mit dem Fortschreiten der kirchlichen Bewegung
zusammen. Viele ihrer Vorkämpfer suchten in der niederen Bevölke-
rung, zumal in der Bauernschaft ihre Stütze, und um sie zu gewinnen,
schmeichelte man ihr auch in der Literatur. Ein Zug, der sich ja
heute vielfach dem Arbeiterstande gegenüber wiederholt:
„Alle Räder stehen still.
Wenn dein starker Arm es will."
Damals ist der Bauer der Held. Er steht mit dem Dreschflegel
seinen Mann, ein Sickingen würdigt ihn seiner Freundschaft, aber auch
im scharfen Zungengefecht weiß er über Gelehrte und Geistliche durch
Mutterwitz und Bibelfestigkeit zu triumphieren *).
Wohl sicher steht mit dieser demokratischen, um nicht zu sagen
demagogischen Tendenz eine noch nicht berührte Eigentümlichkeit
vieler Flugschriften in Zusammenhang, ihre Anonymität. Luther,
Hütten, auch Kettenbach und einige andere verleugnen sich nicht in
ihren Werken, offen treten sie für deren Inhalt ein. Und die Schriften
wenigstens Luthers und Huttens wirkten schon durch das Gewicht des
Namens ihrer Verfasser. Aber andere — und bei der größeren Zahl
der Flugschriften ist es der Fall — verheimlichen ihre Person, und
manches Rätsel haben sie damit noch der Forschung unserer Zeit
aufgegeben. Teils müssen sie Nachstellung und Gefahr bei offenem
Auftreten befürchten, teils stehen sie aber auch nicht auf so ausge-
setztem Posten, daß ihre Namen schon größere TeUnahme erwecken
können. Sie wollen mithelfen nach Kräften, aber klug treten sie mit
ihrer Person zurück und lassen die Sache allein wirken, geben ihr
aber dann zumeist eine Form, die auf die Kreise, an die sie sich wenden,
ohnehin Eindruck machen muß. Es kam vor, daß Agitatoren dieser
Art sich als Glieder der niederen Volksschichten ausgaben; als der
Bauer von Wöhrd ist einer, der in Franken unter großem Zulauf
predigte, in der Erinnerung geblieben. Er wurde in Nürnberg als
i) Vgl. data Joh. Bolte, Der Bauer im deutschen Liede in den Acta Germanica,
heraosgegebea roa Henning und Hofforj, Band I (1S90), lySff.
— 206 —
ehemaliger Priester entlarvt'). Und gleich ihm opferten auch viele
Verfasser von Flugschriften dem „Herrn Omnes".
Doch bald wurden die Geister übermächtig , die man heraufbe-
schworen hatte. Vor den Scharen Jörg Metzlers, Jäcklein Rohrbachs,
Florian Geyers erbebten die geistUchen und weltlichen Gebieter und
die friedlich Gesinnten. In den Schutz der Fürsten flüchtete sich vor
den Rotten der Empörer die kirchliche Bewegung, die die Volksseele
zuerst in ihren tiefsten Tiefen erschüttert hatte.
Das Jahr 1525 ist em Wendepunkt auch in der Literatur. Die
wissenschaftliche Theologie besetzt den Platz, den eine Volksliteratur
über ein halbes Jahrzehnt unumschränkt innegehabt hatte. Und wie
der Inhalt der deutschen Schriften jetzt immer einseitiger wird, so
geht auch ihre Zahl mit einem Schlage gewaltig zurück. Die Flug-
schriftenliteratur der Reformationszeit in dem weiten Sinne, wie ich
sie geschildert, ist zu Ende.
Ernst war die Zeit, in der sie herrschte, eine Zeit der Gärung,
der Wallung, des Bruchs mit alten Formen, der Entfesselung neuer
Kräfte. Doch Jahre waren es des gewaltigsten Lebens. Und das
spiegeln die Flugschriften wider. Aus ihnen spricht der hohe sitt-
liche Ernst der Reformation, frohlockt die laute Freude am Kampf,
aber aus ihnen tönt auch der befreiende Humor jener Epoche wider,
„Das gute, alte, deutsche Lachen
Verschollner, lieber, alter Zeit!**
Mitteilungen
Ortsgesehiehte. — Eins der wesenüichsten Ziele heimatsgeschicht-
licher Forschung, ja für sehr viele schlechthin das Ziel büdet die Herstellung
einer lesbaren, auch dem Laien verständlichen, für alle Ortseingesessenen
interessanten Ortsgeschichte, die unter Heranziehtmg aller vorhan-
denen — gedruckten, geschriebenen und körperlichen — Quellen auf dem
Wege streng wissenschaftlicher Arbeit entstanden ist tmd deshalb zugleich in
ihren Einzelheiten der allgemeineren Forschung zu neuen Erkenntnissen ver-
hilft. Gegen die Berechtigimg eines solchen Ideals werden wohl heute
theoretisch von keiner Seite mehr Einwände erhoben, wenn man auch bis-
weilen der Meinung Ausdruck verleiht, es komme auf die wissenschaftlich
unanfechtbare Grundlage nicht so sehr an, sondern vielmehr auf den er-
zieherischen Zweck d. h. darauf, daß in weiteren Kreisen der Bevölke-
rung der Sinn für die Heimatsgeschichte und dadurch die Liebe zur Heimat
1) Vgl. O. Clemen, Beiträge zur Beformatiansge$M<Me n, SsflE.
— 206 —
geweckt werde. So berücksichtigenswert dieser Gesichtspunkt an sich ist»
so entschieden muß doch heute dagegen Einbruch erhoben werden, daß
die löbliche Absicht des Verfassers als Entschuldigung fUr eine mangel-
hafte Leistung ins Feld geführt wird. Denn bei der Veröffenüichung
solcher Schriften und ihrer Kritik handelt es sich nicht um eine Zensur,
die dem Verfieisser zuteil wird, überhaupt nicht um seme Privatangel^enheit,
sondern um eine öffentliche Sache, weil ein über den Ort N. handeln-
des Buch von IOC bis 500 Seiten naturgemäß am meisten am Orte imd in
dessen nächster Umgebung gelesen und sein Inhalt als maßgeblich erachtet
wird, zumal dann, wenn der Verfasser am Orte selbst lebt und eine an-
gesehene gesellschaftliche Stellimg einnimmt. Sind nun aber in einer sol-
chen ortsgeschichdichen Schrift — und Beispiele daftir lassen sich leicht
beibringen — unrichtige Angaben enthalten, zum Teil längst wideri^;te Irr-
tümer aufs neue vorgetragen, die Verhältnisse schief beleuchtet und un-
vollständig dargestellt, dann wirkt sie direkt schädlich, hilft Falsches ver-
breiten und richtet namentlich in den Köpfen der Lehrer, die jedes heimats-
kundliche Hilfsmittel zu benutzen trachten, unangenehme Verwirrung an. Der
Schaden ist dann entschieden größer als der bestenfalls ^eichzeitig erzielte
Nutzen, der in der Erweckung des Interesses an der Heimatsgeschichte über-
haupt besteht.
Derartige Gedanken drängen sich dem Kritiker auf, der die in allen
Teilen Deutschlands wie Pilze aus der Erde schießenden Geschichten von
Dörfern und kleinen Städten durchmustert und dabei die Überzeugung ge-
winnt, daß die allergrößte Mehrzahl den billigerweise an eine Oitsgeschichte
zu stellenden Anforderungen nicht genügt und bei der mangelhaften ge-
schichtlichen Vorbildung der Verfasser auch gar nicht genügen kann. E>es-
halb ist es dringend nötig, daß sich die wissenschaftlichen Vertreter heimats-
geschichtlicher Forschung zur Wehr setzen gegen den Dilettantismus, der
ihre eigenen zum Glück eben emigermaßen anerkannten Bestrebungen der
Verachtung preiszugeben droht, weil der femer stehende Beobachter den
Unterschied zwischen den beiden gnmdsätzlich verschiedenen Leistungen
nicht macht und im einzelnen Falle von vornherein auch kaum machen
kann. Abhilfe schafft aber auch die beweglichste Klage über die minder-
wertigen Leistungen nicht, sondern ein Erfolg läßt sich nur dadurch erzielen,
daß die berufenen Vertreter ortsgeschichtlicher Arbeit nicht müßig bleiben
und das tatsächlich vorhandene Bedürfnis nach Ortsgeschich-
ten durch gute Arbeiten befriedigen, damit im großen und ganzen
den Liebhabern die Lust vergeht, ihre eigenen Arbeiten drucken zu lassen.
So stehen gegenwärtig die Dinge, und es gilt, die geschichtlichen Landes-
vereine tmd historischen Kommissionen sowie alle anderen be-
rufenen Körperschaften tmd Behörden auf diese ihnen erwachsende Aufgabe
nachdrücklich hinzuweisen. Auf einen tatsächlich gemachten ersten Versuch,
die Ortsgeschichtsforschung in einem Lande gewissermaßen zu organisieren,
soll unten aufinerksam gemacht werden. Die Zeit zu einer solchen organi-
satorischen Beeinflussung, um die Dinge nicht ein&ch ihrem Laufe zu über-
lassen, ist ganz tmfraglich gekommen, und zwar erstens, weil sich schon
genug Sachverständige über die Aufgaben und das Mmdestmaß dessen, was
von einer Ortsgeschichte verlangt werden muß, ausgesprochen habeii, so
— 207 —
daß gewisse Sätze bereits allgemein anerkannt sind, zweiten s, weil eine
nicht ganz unbedeutende Anzahl empfehlenswerter Muster ganz verschiedener
Art vorliegen, und drittens, weil tatsächlich in vielen Kreisen der Wunsch
nach einer Anleitung, wie konkret eine „Ortschronik'* zu gestalten sei,
besteht. So wird es zur Pflicht der wissenschaftlichen Arbeiter, nicht
mit ihren Ansichten hinter dem Berge zu halten, vielmehr, soweit das mög-
lich ist, Rat zu erteilen, um zu verhüten, dafi Unberufene es tun und da-
durch Unheil stiften.
Was die bereits veröffentlichten Arbeitsratschläge für die Verfasser von
Ortsgeschichten anlangt, so mufi hier zuerst auf den Aufsatz Orisyeschichte
von Albert*) hingewiesen werden , der alles Wesentliche enthält und vor
allem an Beispielen zeigt, wie sich mit Erfolg arbeiten läßt; denn selbst
die vollkommensten theoretischen Anweisungen werden dem ebzelnen Ar-
beiter nicht entfernt so viel nützen wie einige von berufener Seite als nach-
ahmenswert empfohlene Bücher, neben denen auch eine oder die andere als
abschreckendes Beispiel genannte Schrift immer lehrreich zu lesen sein wird.
Albert hat dann gewissermaßen als Fortsetzung zu seinem Aufsatze im
4. Bande dieser Zeitschrift (1903) in einer Mitteilung Zur deutschen
Ortsgeschichte (S. 312 — 316) noch einmal das Wort zu dem Gegenstande
ergriffen und noch einige inzwischen erschienene Einzelschriften besprochen.
Seine Ausführungen sind auch nicht imbeachtet geblieben; so leitete z. B.
Ermisch die Anzeige von 15 Büchern zur sächsischen Ortsgeschichte im
Neuen Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde 24. Band
(1903), S. 190—- 204, damit ein, daß er „alle angehenden Ortschronisten*'
auf jenen Aufsatz aufmerksam machte mit der Begründung : „ Sie finden darin
eine Anleitung, wie auf diesem so ungemein fruchtbaren und doch leider
oft mit wenig Glück gepflegten Gebiete auch der Dilettant, dem seine Be-
arbeitung zumeist näher liegt als dem Fachmann, bei einigermaßen geschicht-
licher Veranlagung befriedigende Ergebnisse zu erzielen vermag.*'
Ohne Alberts Ausführungen zu kennen, haben sich wie vorher so auch
nachher andere Männer über die einschlägigen Fragen geäußert. Es mag
hier auf zwei Kundgebungen hingewiesen werden, die sich im Schleswig-
Holsteinischen Kirchenblatt 6. Jahrgang (1905) finden imd die deswegen
besonders lehrreich sind, weil sie nicht von Geschichtsforschern im engsten
Sinne ausgehen: zuerst hat der Provinzialkonservator für Schleswig -Holstein,
Richard Haupt, in Nr. i seine Stimme erhoben, und in Verfolg seiner
Anregungen in Nr. 21/22 ein P&rrer, Jakobsen in Glückstadt, der selbst
eine bisher allerdings noch nicht veröffentlichte Geschichte seiner Pfarr-
gemeinde geschrieben hat imd nun zimächst eine bisher allerdings noch
nicht veröffentlichte Geschichte seiner Pfarrgemeinde seinen geistlichen
Amtsgenossen Fingerzeige für die praktische Arbeit geben will; in beiden
Fällen ist von einer speziellen Unterabteilung der Ortsgeschichte, näm-
lich den Kirchspielschroniken, die Rede. Haupt faßt sich kurz; der
Leser merkt sofort, daß ihm der Ärger über minderwertige Ortschroniken,
die von Unberufenen stammen, die Feder in die Hand gedrückt hat.
1) In die 11 er Zeitschrift 3. Band (190a), S. 193—208, wo ucb einige ältere An*
leitoogen für Ortsgeschichttchreiber (S. 202 — 204) erwähnt sind.
— 208 —
Er fordert zunächst vom Ver&sser einer Ortsgeschichte Selbstkritik und
womöglich Prüfung seiner Arbeit durch einen anderen vor dem Druck, zu-
mal dann, wenn zur Erleichterung des Druckes im voraus Subskribenten
gesucht oder wohl gar öffentliche Mittel in Anspruch genommen werden.
Objektiv aber fordert Haupt dreierlei, nämlich erstens die Ausführung nach
einem bestimmten Programm, zweitens Klarheit darüber, inwiefern der
Verfasser gegenüber dem Bekannten und aus der Literatur ohne weiteres zu
Entnehmenden Neues bietet, und drittens eine Vorführung des Stoffes in
guter Disposition sowie Erschließung des gesamten Inhalts durch gute
Register. Die knapp gefaßte Forderung Haupts würde eine weite Ver-
breitung verdienen, und wenn die vornehmlich von Geistlichen gelesenen
Zeitschriften die hier ausgesprochenen Gedanken öfters einmal kurz wieder-
holen wollten, so wäre das gewiß von Nutzen ; denn es sind in recht vielen
Fällen die Ortsgeistlichen, die gute, weniger gute und schlechte Ortsgeschich-
ten verfassen, da sie, vielfach durch ihr Amt zu derartigen Untersuchungen
veranlaßt, die Ergebnisse ihrer Arbeit auch anderen mitteilen wollen. Es
gibt ja in vielen Landesteilen Sammelwerke, die sich mit der Geschichte
aller Kirchengemeinden nach Bezirken (Dekanaten, Diözesen) beschäftigen ')
und so recht wesentliche Teile der Ortsgeschichte bearbeiten. Aber be-
dauerlicherweise geht das Urteil der Kritiker fast immer dahin, daß bei einer
gründlichen Überprüfung des Manuskripts durch einen Fachmann auf engerem
Räume viel Besseres hätte geschaffen werden können und daß es zu emp-
fehlen sei, eine derartige Arbeit einem geschulten Geschichtsforscher — und
und deren gibt es ja zum Glück unter den Geistlichen nicht wenige — zu
übertragen. Es beruht einfach auf einer Verkennung des tatsächlichen Zu-
standes, wenn man von vornherein annimmt, jeder normal ausgebildete Pfarrer
müsse auch die Fähigkeit zum Geschichtsforscher und Geschichtschreiber be-
sitzen. Es bedarf vielmehr keines Beweises , daß die Fähigkeit zu solcher
Arbeit, selbst wenn sie die des Dilettanten im guten Sinne sein soll, erst
erworben werden muß und daß sie zu einem guten Teile eine besondere
Veranlagung, eine Begabung mit historischer Denkweise, zur Voraussetzung hat.
i) Solche Sammelwerke für die Erzdiözese Köln und den katholiscbea Teil des
Herzogtums Oldenburg sind in dieser Zeitschrift 2. Band (S. 39-40) genannt, und
ebenda S. 209 diejenigen für das Bistum Augsburg, das Erzbistum München-Frei-
sing und das Bistum Würzbnrg. — Als Parallelerscheinung aus dem evangelisclien
Teile Deutschlands sei die Nette SächsiscJhe KirchengaHerie (Leipzig 1899 ff., bis jetzt
14 Bände) erwähnt; ein älteres Werk dieser Art ist SacMens Kirchengalerie, um 1848 in
1 2 Bänden erschienen. Die Kirchengalerie der Provinz Sachsen scheint über das erste
Heft (Leipzig 1903), das sich mit der Geschichte der Kirchgemeinde Badeleben beschäf*
tigt, nicht hinausgekommen zu sein. — Von weltlichen Sammelwerken, die sich mit
sämtlichen Gemeinden eines Landes beschäftigen, muß besonders die Beschreibnog der
einzelnen württembergischen Oberämter und der in ihnen gelegenen Orte genann.
werden (vgl. darüber diese Zeitschrift, 3. Band [1902], S. 98). Auch die anderen dort
von Vancsa beschriebenen meist lexikalisch angeordneten Werke kommen — das eine
mehr, das andere weniger — in Betracht^ da zum wenigsten die Grundlagen für die Ge-
schichte unendlich vieler Siedlungen darin zu finden sind, während sich in einig^i Fällen
Monographien, wie in den württembergischen Oberamtsbeschreibungen, aneinander reihen.
Diese Sammelwerke leiden nur sämtlich daran, daß sie zu groß sind und daß deswegen
auch die besonderen von dem einzelnen Orte handelnden Teile nur ausnahmsweise dort
selbst heimisch werden.
— 209 —
Pfarrer Jakobsen besitzt diese Begabung offenkundig, obwohl er
nicht, wie er selbst erklärt, zu den gelernten Historikern gehört, und er
6at sich entschieden auch die dem historischen Fachmann eigene Arbeits-
weise mit Erfolg anzueignen versucht. Er beweist das, wenn er gleich zu
Beginn eine ganze Spalte lang Frage an Frage reiht, die alle jeder Orts-
geschichtsforscher für sein Arbeitsgebiet aufweifen imd zu beantworten suchen
soll. Entscheidend Air die Art seiner Fragestellung ist der auch ausdrück-
lich ausgesprochene Gedanke, daß die frühere enge Verbindung zwischen
kirchlichem und weltlichem Leben den Geschichtschreiber der Kirch-
gemeinde von ganz allein dazu führe, sich mit der Geschichte des Ortes,
der Siedlung, nach allen Richtungen hin zu befassen und auch die rein
weltlichen Dinge, Ortsnamen, Flurverfassimg, Wirtschaft, nicht zu vernach-
lässigen. Um die örtlichen Erscheinungen in den eigentlich kirchlichen
Angelegenheiten zweckentsprechend behandeln zu können, sucht er in der
Geschichte des geistigen Lebens der letzten vier Jahrhunderte nach der
rechten Fragestellung und lehrt seine Leser so in beherzigenswerter Weise,
daß alles örtliche Leben nur eine bestimmte Variation des allgemeinen ist,
wie umgekehrt die allgemeine Entwicklung als solche nur dadurch erkannt
wird, daß sich dieselben Erscheinungen in grundsätzlich gleicher Weise an
vielen Orten, in einem ganzen Lande oder dem Siedlungsgebiete eines ganzen
Volkes wiederholen. Jakobsen ist sich voll bewußt, daß eine Au&ählung der
Punkte, auf die der Bearbeiter sein Augenmerk richten soll, niemals voll-
ständig sein, daß es sich nur um Fingerzeige und Beispiele handeln kann;
denn „schließlich hat jede Chronik das Gesetz ihres Um&ngs und ihres
Inhalts an der betreffenden Gemeinde selbst, an ihrer besonderen Stellung
und ihrem eigentümlichen Leben. Da muß jeder selbst zusehen.*' Zur
Materialbeschafiung übergehend zählt er die wichtigsten gedruckten Werke
zur Schleswig- hobteinischen Geschichte auf, die jeder zu Rate ziehen muß,
nennt auch das bibliographische Hilfsmittel^), dessen keiner entraten
kann, um dann eine intensive Ausbeutung des Kirchenarchivs und die
Würdigung der steinernen Denkmäler, besonders des Kirchengebäudes, zu
fordern. Zum Schluß wird davon gesprochen, für wen gearbeitet werden
solle, und da sagt der Pfarrer kurz und bündig: „für die Gemebde*^
Diese denkt er sich auch als die Körperschaft, die für die Drucklegung
sorgen soll. Wenn Jakobsen seine eigene Arbeit ausdrücklich in Gegensatz
zur wissenschaftlich -geschichtlichen Literatur stellt — formell ist allerdings
von der ganzen Gattung Schleswig- holstemischer Kirchspielschroniken die
Rede — , so spricht daraus eine zu große Bescheidenheit. Aber auch sach-
lich hat er mit dieser Unterscheidung nicht recht, weil sich eine solche
Grenze im allgemeinen gar nicht ziehen läßt. Der Betrieb der heutigen
landesgeschichtÜchen Forschung ist ihm wohl kaum bekannt, und des-
wegen weiß er nicht, wie wichtig es für diese ist, über mögUchst viele
Orte örtlich zugespitzte auf guten Quellen beruhende Nachrichte zu
bekommen; insofern ist jede Ortsgeschichte ein Baustein zur Landes-
i) Witt, Queüen und Bearbeitungen der schleewig'hoisteimschen Kurehen-
geschickte (Kiel 1899). VgU den Aufsatz von Lorensen in dieser Zeitschrift, 2. Band
(1901), S. 108— 114 ond 134— 137*
— 210 —
geschichte, und die letztere hat das Recht Berücksichtigiiiig ihrer Bedürf-
nisse zu verlangen.
Wenn alle Kirchspiebchroniken, die gesondert veröffentlichten nicht
minder als die in den oben genannten Sammelwerken enthaltenen, unter so
großen Gesichtspunkten wie den von Jakobsen entwickdten abgeüeifit wären,
dann könnten sich die wissenschaftlichen Vertreter der Landesgeschichte in
allen Gebieten Glück wünschen. Das trifit aber eben leider nicht zu, da
längst nicht jeder, der sich zu einer solchen Arbeit berufen fühlt, auch die
Fähigkeit dazu besitzt: es fehlt oft an der erforderlichen Gewissenhaftigkeit,
der kritischen Begabung, der Gerechtigkeit gegenüber vergangenen Zeiten und
das Vermögen, sich in ganz anders geartete Zustände hineinzuversetzen. Ge-
rade im Sinne Jakobsens müßte direkt davor gewarnt werden, daß ein P&rrer
nur auf eine äußere Veranlassimg hin ohne inneren Drang dazu schreitet,
seine Kirchspielschronik drucken zu lassen; denn die Drucklegung, nicht
die private Bearbeitung des Stoffii ist das gefiüirliche. Wenn aber zur Ver-
öffentlichung geschritten wird, dann muß auch eine Gewähr daftir geboten
sein, daß der Inhalt auf einer gewissen Höhe steht. Auch darf der Um-
fang nicht künstlich durch Heranziehung abliegender Dinge gesteigert werden,
nur damit ein dickes Buch entsteht: ein Schriftchen von 50 Seiten kann
imter Umständen viel inhaltreicher sein und nützlicheres wirken als ein Band
von 500 Seiten!
Jakobsens Aufsatz ist entstanden, weil die Geistlichen in seiner Provinz
eine praktische Anweisung für die Arbeit zu haben wünschten, deren Aus-
führung ihnen die kirchliche Aufsichtsbehörde übertragen hat'). Und Jakobsen
hat sich seiner Aufgabe mit Geschick entledigt; denn in seinen Worten gibt
sich überall der geschichtlich unterrichtete Mann zu erkennen. Auch von
anderer Seite ist indes der Wunsch nach eber Anweisung für die Abfassung*
von „Dorfchronikeu** geäußert worden, und das ist erfreulich, weil darin
das Zugeständnis liegt, daß auch nach dem Urteile der zunächst Beteiligten
bisher der rechte Weg nicht überall gefunden worden ist. Die Gesellschaft
für Geschichte und Literatur der Landwirtschaft ') wollte auf ihrer 4. Haupt-
versammlung (6. April 1907 in Eisenach) auch die Frage der Ortschroniken be-
handeln, und Heinrich Sundermann (Berlin), der Redakteur der jtft/^et{icfi^e»
der deutscJien LandwirtschaftsgestlUchaft^ wollte darüber Bericht erstatten.
i) Durch Verfügung des evangelisch-lutherischen KonsUtoriums in Kiel vom 15. Juli
1897 wurde angeordnet, daß für jede selbständige Kirchgemeinde eine kirchliche Ge-
meindechronik einzurichten sei, deren Bearbeitung den Pfarrern znfsUlt. Jede Chronik
soll aus drei Teilen bestehen, nämlich einem historischen, einem topographisch-
statistischen und einem chronikalischen. Der Zweck, der damit verfolgt wird,
ist in erster Linie nicht ein historischer, sondern durch die Feststellung der gegenwärtig
herrschenden Zustände und vorkommenden Ereignisse soll erstens den künftig in den Ge-
meinden wirkenden Geistlichen ein Mittel gegeben werden, aus dem sie sich über die ört-
lichen Zustände unterrichten können, und zweitens soll auf diese Weise wichtiges Material
für eine spätere Kirchengeschichtschreibung gesammelt werden; der geschichüiche Teil
ist nur die unvermeidliche Ergänzung nach rückwärts, so weit die Quellen eine solche
gestatten. Die einzelnen Arbeiten sind nur im Archiv niederzulegen, werden aber nicht,
wie in den oben erwähnten Fällen, in einem Sammelwerke veröffentlicht Wenn einige
Geistliche ihre Arbeiten zum Druck befördert haben, gerade wie es früher geschehen ist,
so haben sie als Privatleute und nicht im amtlichen Auftrage gehandelt.
2) Vgl. darüber diese Zeitschrift, 6. Band, S. 327 — 329.
— 211 —
In Wirklichkeit geschah das nicht, aber die dafür bestimmten Ausführungen
sind als Aufsatz Zur Frage der Darfchronücen in den XandtcirischaftUeh"
kistarischen BläHem^ 6. Jahrgang Nr. 6 (Juni 1907), erschienen , und die
Redaktion hat zu weiterer Aussprache über den Gegenstand aufgefordert,
ohne dafi bisher jemand das Wort ergriffen hätte. Es ist ohne weiteres
Uar, daß die Sache hier unter einem ganz anderen Gesichtspunkte betrachtet
wird als vorhin, dafi die wirtschaftlichen Verhältnisse des Dorfes, nicht die
kirchlichen im Mittelpunkte des Interesses stehen, so wenig sich auch beide von-
einander ganz trennen lassen. Aber daraus ergibt sich eben nur die Forderung,
daß der Geschichtschreiber eines Dorfes, dessen einheitliches Wesen Jakobsen
zutreffend erfaßt hat, alle Lebensäußerungen gleichmäßig berücksichtigen muß,
daß er sich nicht auf einen Zweig, der ihm besonders nahe li^t, beschränken
darf. Wenn sich die ganze Kraft eines Forschers auf ein räumlich so eng
begrenztes Gebiet, wie es ein Dorf ist, konzentriert, dann muß innerhalb des
gegebenen Rahmens unbedingt so weit in die Tiefe und Breite gegangen
werden, wie es die Verhältnisse, vor allem die Quellen, nur irgend gestatten,
und ein Buch muß die Frucht dieser Studien bilden. Sundermann hat die
Aufgabe im ganzen richtig erfieißt; er weiß sehr wohl gute imd schlechte
Ortschroniken ^) zu unterscheiden; er weiß, daß Geistliche imd Lehrer, die
sich in der Regel einer solchen Arbeit unterziehen, nicht imbedingt das
nötige Verständnis für die wirtschaftlichen Dinge besitzen imd fordert im
Interesse der Geschichte der Landwirtschaft, daß die Fluranlage, der
Wohnbau, die Wirtschaftsweise früherer Zeit sachgemäß beschrieben werden.
Aber die Schwierigkeit einer solchen Arbeit scheint er doch bedeutend zu
unterschätzen; denn nicht nur Vertrautheit .mit der allgememen, auf dem
Lande schwer zugänglichen Literatur ist dazu unbedingt nötig, sondern auch
Kenntnis der Forschungsprobleme, die auf diesen umstrittenen Gebieten die
Fachleute beschäftigen, und es ist überdies grundsätzlich zu verlangen,
daß der Bearbeiter einer Dor%eschichte nicht die in der allgemeinen Literatur
enthaltenen Angaben über Flurverfassung imd Wohnbau einfach übernimmt,
sondern daß er von den tatsächlichen Verhältnissen dieses einen Ortes aus-
geht, diese beschreibt imd an der Hand der Literatur erklärt. Um nun
dem Ziele näher zu kommen, d. h. um immer mehr gute, auch der Ge-
schichte der Landwirtschaft Rechnung tragende Dorfgeschichten zu erhalten,
fordert Sundermann, daß die Gesellschaft für Geschichte und Literatur der
Landwirtschaft einen Leitfaden bearbeite und verbreite, der die Aufgabe
der Dorfchronik darstellen und Fingerzeige für ihre Bearbeitung bieten soll.
„Es der Passion von Heimatfreunden zu überlassen, hat insofern seine Schatten-
seiten, als dabei große einheitliche Gesichtspunkte der Forschung verioren
I ) Auf den begrifflichen Unterschied zwischen „Chronik*' ond ,, Geschichtet^
soll hier nicht weiter eingegangen werden, da die Laien beide Worte meist unterschieds-
los rerwenden. Aach Sandermann spricht tatsächlich zum größten Tcüe von* der Be-
arbeitung Ton Dorfgeschichten, aber ihm liegt sogleich auch an der Ftthmng einer
Orttchronik, in der die neuen Ereignisse gebucht werden sollen. Diese zweite
Forderung interessiert uns in diesem Zusammenhange weiter nicht, rerdient aber an sich
sehr wohl Beachtung und Ifiuft auf dasselbe Ziel hinaus wie die schleswig-holsteinischen
Kirchspielschroniken und riele andere derartige zwar offizieU anbefohlene, tatsächlich
aber nur in ganz bescheidenen Grenzen regelmäßig fortgesetzte Aniscichnuogen der
Zeitereignisse.
— 212 —
gehen. Wohl wird man die Bearbeitung auch in Zukunft den Herren za
überlassen haben, die unmittelbar im dörflichen Leben stehen. Aber diese
werden anderseits flir Anregungen, die von aufien an sie herantreten, zwetfid-
los empf^glich und dankbar sein/*
Die Verwirklichung von Simdermanns Vorschlag kann nach meinem
Dafürhalten — und wenn der zu schaffende Leitfaden die gediegenste, wissen-
schaftlich voll auf der Höhe stehende Arbeit wäre — niemals den beab-
sichtigten Erfolg haben; im günstigsten Falle würde er den Beteiligten die
Augen darüber öffnen, welche schwierige Aufgabe sie sich gestellt haben,
sie abschrecken und dadurch zur Verminderung der Zahl erbärmlicher Dorf-
geschichten beitragen. Das wäre immerhin ein Nutzen, aber doch gewifi
nicht der beabsichtigte ; denn gerade viele imd natürlich gute Arbeiten werden
begehrt. Solche werden aber nur dann entstehen, wenn ein in geschicht-
licher Arbeit geschulter und mit den Problemen, die jede Geschichte des
platten Landes stellt, vertrauter Bearbeiter an den Stoff herankommt, und
das sind eben Pfarrer und Lehrer im grofien und ganzen trotz rühmlicher
Ausnahmen nicht. Es gibt vielleicht kaum eine schwierigere Aufgabe als
die Geschichte eines Durchschnittsdorfes oder einer Kleinstadt ohne hervor-
ragende geschichtliche Merkmale imd Eriebnisse ansprechend und in einer
einigermafien künstlerischen Form, zugleich aber flir die Wissenschaft frucht-
bringend darzustellen! Die am Orte lebenden und mit ihm verwachsenen
Personen können zur Aufklärung der Tatbestände viel beitragen, aber eine
Druckschrift, die gern gelesen werden und nützlich wirken soll, muß auch
literarisch auf einer gewissen Höhe stehen, und zu ihrer Gestaltung ist nicht
nur konzentrierte Tätigkeit, sondern auch tief gehende Geschichtskenntnis
erforderlich. Um die ermittelten Tatsachen sachentsprechend zu bewerten,
wichtiges vom Unwesentlichen unterscheiden zu können, dazu gehört ein
umfassendes Wissen vom Leben der Vergangenheit, wie es erfiahrungsgemäß
nur durch eigenes kritisches Arbeiten erworben wird. Selbstverständlich muß
ein guter Dorfgeschichtschreiber auch die allgemeine Literatur, die landes-
und fachgeschichtliche kennen, und er muß diejenigen SpracMcenntnisse be-
sitzen, die eine sachgemäße Verdeutschung der in mittelalterlichem Latein
und in älterem stets dialektisch gefärbten Deutsch abgefisißten Quellen er-
möglichen. Das sind aber Anforderungen, die weit über das Maß des
Wissens hmausgehen, das im allgemeinen bei Liebhabern der Geschichte
vorausgesetzt werden kann, und deshalb ist es Unrecht, sie zu Ar-
beiten zu reizen, denen sie nicht gewachsen sind. Sie mögen
den Stoff sammeln helfen, das Gesammelte sorgsam verwahren und die ihrem
engeren Arbeitsgebiete nächst liegenden Dinge untersuchen, aber die Ver-
arbeitung des Stoffes zu einer umfassenden, erschöpfenden DarsteUung muß
Sache des Fachmanns bleiben, wenn die Arbeit dauernd gutes wirken soll.
Aber ebenso klar ist es, daß sich nur ganz ausnahmsweise ein geschulter
Forscher finden wird, der ein Arbeitsjahr aus reiner Liebe zur Sache an
eine Dorfgeschichte wendet ; wer das an sich könnte, der sucht sich in der
Regel anderen Stoff zur Bearbeitung. Und deshalb ist es selbstverständlich,
daß die Personen oder Körperschaften, die den ernsten Wunsch hegen, eine
ordentliche Ortsgeschichte zu bekonmien, in ihren Beutel greifen und
einige tausend Mark opfern müssen, damit sich ein — natürlich von berufener
— 213 —
Seite empfohlener und in entsprechender Arbeit bereits bewährter — Fachmann
ein Jähr lang ausschließlich mit der Geschichte des Dorfes N. befassen kann.
£in solches Verfahren wird jedoch aller Voraussicht nach nur ganz
vereinzelt eingeschlagen werden; die Regel wird es nicht so leicht bilden,
und deshalb muß der Versuch gemacht werden, dem Ziele auf andere Weise
näher zu kommen: durch eine Organisation der ortsgeschichtlichen
Forschung in ähnlicher Weise, wie sie bei der Inventarisation und Beschreibung
der Bau- und Kunstdenkmäler eingeschlagen worden ist. Grundsätzlich ist
ja bereits bei den oben genannten Geschichten der Pfarrgemeinden so
verfahren worden, aber diese leiden eben zum größten Teile daran, daß sie
geschichtswissenschaftliche Laien zu Ver&ssem haben und deswegen den
billig zu stellenden Anforderungen nicht genügen; deswegen sind sie auch
im eigenen Lande verhältnismäßig wenig bekannt, geschweige denn in anderen
Gebieten. Soll dies anders werden, dann müssen solche Sammelwerke von
geschichtlichen Gesichtspunkten aus durch geschulte Historiker be<
arbeitet werden; das kann natürlich nur landschaftlich geschehen, und die
geschichtlichen Landesvereine und Historischen Kommissionen müssen
deshalb als Unternehmer und Organisatoren der Arbeit auftreten.
Eine Anrejgung zu solchem Beginnen, und zwar aus dem Schöße einer
Historischen Kommission hervorgegangen, liegt bereits seit zwei Jahren vor,
hat aber, wie es scheint, bisher weitere Kreise nicht interessiert Wie in
dieser Zeitschrift^) schon mitgeteUt Moirde, hat Prof. Größler (Eisleben)
bei der Sitzung der Historischen Kommission für die Provinz Sachsen und das
Herzogtum Anhalt im Mai 1906 den Antrag gestellt, wissenschaftlich
begründete Heimatskunden der einzelnen Kreise') unter die
:i
Vgl. 7. Band (1906), S. 325.
Vielleicht würde es sich anch empfehlen, in diesem Falle nicht die moderne
Einteilung des Landes zugrunde zu legen, sondern die nach alten Territorien bzw,
Ämtern, weil sich dann die ältere Geschichte der Verwaltungseinheiten in den Rahmen
der Landesgeschichte noch besser einfügen würde. Nach diesem Gesichtspunkte ist z. B.
die Hiatorisch'geographisch'Statigtisehe Besc^eUmng der Grafschaften Haya und
Diepholg von H. Gade (Hannover, M. & H. Schaper 1901, 3 Bände von 600 und 660
Seiten) bearbeitet In besonderen Abteilungen für jede Grafschaft sind Spesitüe Ort$^
geschickten zusammengestellt, und wenn der einzelnen Siedelung auch nur wenig Raum
gewidmet werden kann, so sind doch in Hoya 744 und in Diepholz 139 Orte ganz kurz
behandelt, während sich die beiden ersten Teile mit der Geschichte der Grafschaften im
allgemeinen beschäftigen. Das ist unter allen Umständen eine ganz anerkennenswerte
Leistung, wenn auch die örtlichen Besonderheiten naturgemäß nicht so hervortreten können,
wie es flir die hier besprochenen Zwecke wünschenswert ist. Schon die urkundlich über-
lieferten Formen des Ortsnamens und die früheste Erwähnung der Siedlung in jedem
einzelnen Falle sind dem Forscher und dem einheimischen Leser in gleicher Weise will-
kommen. — In ähnlichen Bahnen wandelt Hermann Schotte in seiner MammMurger
Chronik (Halle a. S., Hendel 1906, 408 S.). Den Gegenstand seiner Darstellung bildet
das alte Mansfeldische Amt Rammelburg, und während er sich in den Abschnitten I — IX
und XII mit den Verhältnissen in dem ganzen Gebiete beschäftigt, behandelt er im Ab-
schnitt X die besondere Geschichte von dreizehn Dörfern (S. 139 — 194) und im Ab-
schnitt XI (S. 194—231) <lie <)«> Marktfleckens Wippra. Das ist ein entschieden zweck-
mäßiges Verfahren, und auch materiell hat der Jurist Schotte seine Angabe gut gelöst;
sein Buch ist in vieler Hinsicht lehrreich und wird auch den Lehrern im Rammelburger
Gebiete für den heimatskundlichen Unterricht gute Dienste leisten. Die Flurkarte von
Wippra und die Karte des Amtes, in die anch die eingegangenen Orte eingetragen sind,
sowie das gute Register machen das Bach für viele Zwecke bravcbbar.
— 214 —
Veröffentlichungen aufzunehmen. Die eingehende Begründung, auf
die besonderen in der Provinz Sachsen bestehenden Verhältnisse zugeschnitten,
nimmt Bezug auf die inmier ausführlicher gewordenen* Mitteilungen über die
Geschichte jedes Ortes in der Beschreibenden DarstdUtmg der älteren Bau-
und Kunstdenkmäler der Prcvhuf Sachsen und der angrenMenden Gebiete
tmd fordert, diese Teile selbständlich zu machen, ausführlicher zu gestalten
und durchweg quellenmäßig neu zu bearbeiten. Die Gründe, die Gröftler
anführt, treffen ganz allgemein zu und verdienen in allen Landschaften be-
herzigt zu werden, so dafi sie hier eine Stelle finden mögen. Er sagt:
1. Die Heimatskunden sind schließlich das Ziel, dem idle die vor-
bereitenden Arbeiten für Geschichtsquellen usw. zustreben und dem
sie dienen sollen. Das Bauholz muß endlich doch einmal zu
Bauten verwandt werden.
2. Es wird hohe Zeit, die wie Pilze aus der Erde schießenden, meist
von seminaristisch gebildeten Lehrern geschriebenen, mehr oder
minder kritiklosen und wegen Nichtbenutzung der neuerschlossenen
QueUen ganz imzulänglichen Heimatskunden durch solche mit besseren
Eigenschaften zurückzudrängen; sonst wird es kaum mehr möglich
werden, die vielfach darin enthaltenen Irrtümer aus^rotten.
3. Da eine Heimatskunde im richtigen Sinne das Ergebnis selbständiger,
mühevoller Forschung sein wird , so verdient sie auch eine selb-
ständige Erscheinungsform. In der bisherigen Vergesellschaftung
und imter dem bisherigen Titel kann sie die von ihr zu erwartende
Wirkung nicht ausüben. Wozu sollen heimatskundliche Forschungen
nur Magddienste für die Baudenkmälerbeschreibungen tun? Aus-
nutzen mögen letztere für neue Auflagen die ersteren unter gebüh-
render Angabe der Quelle, aus der sie schöpfen, aber keinesfalls
die selbständige Herausgabe von Heimatskunden verhindern, denn
was sind sie denn im Grunde anders, als ein selbtändiger Ausschnitt
aus der sie mit um&ssenden Heimatskunde?
Die Wüstungsverzeichnisse sind in ihrer gegenwärtigen Fonn
wesentlich Geschichtsquellen, haben also auch bis zu einem gewissen
Grade der Heimatskunde zu dienen. Aber sie befassen sich nur
mit einem längst erstorbenen, jedoch immerhin von der geschicht-
lichen Betrachtung zu beachtenden Leben; die Hauptaufgabe der
letzteren wird aber eine Geschichte der noch bestehenden und zum
Teil zu immer größerer Blüte gelangten Gemeinwesen und Bezirke
sein, für die sich die lebenden und die nachfolgenden Geschlechter
vorzugsweise interessieren werden.
4. Heimatskunden der angedeuteten Art werden das beste Mittel sein,
um die große Masse der Gebildeten und nach Bildung Strebenden
für die Aufgaben der Historischen Kommission zu erwärmen und
den Beweis zu liefern, daß die von der Provinz gewährten Gelder
eine der Provinz dienende Anlage sind. Damit aber diese Heimats-
kunden leichter in weitere Leserkreise eindringen können, muß die
Möglichkeit gegeben sein, sie billig zu erwerben. In den Baudenk-
mälerbeschreibungen lebten sie zwar diesen einen großen Dienst,
kommen aber nicht zu ihrer vollen Wirkung, weil nur wenige sich
— 215 —
die ziemlich teueren Baudenkmäler kaufen können oder mögen.
Es dürfte sich daher empfehlen, zwar die Stadt- und Landkreise
als Rahmen der Darstellung anzunehmen, aber innerhalb der Land-
kreise die Darstelltmg wieder nach Amtsbezirken oder kleineren
Städten zu federn, so daß die Heimatskunde eines Kreises aus
einer Anzahl von Liefenmgen besteht, deren jede die Geschichte
einer Anzahl von Dörfern oder einer Stadt umfaßt und für einen
geringen Preis auch allein zu haben ist Dann wird der Absatz
voraussichtlich ein guter sein.
Die Beschlußfassung über den Gegenstand wurde 1906 auf die nächste
Sitzung (1907) verschoben, und in dieser erhidt eine sechsgliedrige Kom-
mission ^) den Auftrag, den Arbeitsplan näher zu beraten. Wer die Ver-
hältnisse kennt, wer weiß, wie unzulänglich die für den Schulunterricht in der
Heimatskunde meist zur VerfÜgimg stehenden Schriftchen sind, der wird auch
begreifen, welche Bedeutung der von Größler gegebenen Anregimg für die
Volkserziehuug zukonmit; es handelt sich um eine sozialpolitisch hoch
wichtige Sache, die eine reichliche materieUe Unterstützung aus öfientlichen
Mitteln zwar braucht, aber auch in vollem Maße verdient. Wenn oft aus-
gesprochen wird, daß es an den erforderlichen Arbeitskräften fehle, um
verhältnismäßig schnell ein solches Werk vorwärts zu führen, so ist das eine
durchaus fedsche Auffassung. Die Arbeitskräfte, und zwar tüchtige, sind
sofort vorhanden, wenn ihre Tätigkeit den entsprechenden Lohn bringt, aber
für ein Bogenhonorar von 30 — 60 Mark kann natürlich nur derjenige
eine wissenschaftlich begründete Heimatskunde für ein Dorf oder sämtliche
Gemeinden eines Verwaltungsbezirks schreiben, der von seinen Renten lebt.
Nebenbei, in einigen Mußestunden, lassen sich solche Arbeiten auch nur schlecht
erledigen, und sie nehmen dann vor allen eine ganz unverhältnismäßig lange
Zeit in Anspruch.
Rein wirtschaftlich betrachtet, d. h. vom Standpunkte der Arbeitsökono-
mie, ist es ganz zweifeUos das einzig Zweckmäßige, wenn ein Forscher ein
eng abgegrenztes Gebiet vollständig .bearbeitet, schon weil die hand-
schriftlichen QueUen für alle darin gelegenen Orte, soweit sie in den 2^ntral-
archiven liegen, vielfach ineinander greifen und weü die allgemeine Literatur
für jeden Ort dieselbe ist. Für die Erklärung der individueUen Erscheinungen
kann eine Vergleichung der Nachbarorte nur von Nutzen sein , und in der
Darstellung braucht vieles nur einmal gesagt zu werden, was bei einzeln
dastehenden Ortsgeschichten in jeder wiederholt werden müßte. Mag man
die Bezirke wählen wie man will, nur nicht zu groß, dann wird es möglich
sein, in einem einleitenden Hefte alles allgemein für den ganzen Bezirk
giltige — z. B. die Flurverhältnisse — darzustellen und dann in Einzel-
heften für je eine Gemeinde oder auch für zwei enger verbundene die Nach-
richten über das Besondere folgen zu lassen. Mit Erfolg wird übrigens wohl
nur dort gearbeitet werden können, wo die sogenaimten kleinen Archive
schön bereist sind imd die Kunstdenkmälerbeschreibung vorli^. Trifit
beides zu, dann ist es durchaus möglich in verhältnismäßig kurzer Zeit etwas ab-
schließendes zu liefern, den Bezirkseingesessenen ein gern gesehenes Lesebuch,
i) Siehe diese ZeiUchrift, oben S. 24.
16
— 216 —
den Lehrern einen brauchbaren Leit^Eiden für den Untericht in der Heimats-
kunde und der landesgeschichtlichen Forschung ein überaus wertroUes Hi&-
mittel zu geben, wenn sie Einzelheiten um ihrer selbst willen oder als konkrete
Belege für gewisse typische Vorgänge benötigt.
Das im Vorstehenden entwickelte Programm hat die Annahme zur
Voraussetzung, dafi es einem geschulten Geschichtsforscher möglich ist, auch
den für ein beliebiges Hhirchschnittsdorf vorliegenden viel&ch lückenhaften
Quellenstoff zu einer wissenschaftlich wertvollen und zugleich für weitere Kreise
— insbesondere die Ortsbewohner — lehrreichen Darstellung zu verarbeiten.
Ein auf alle Fälle anwendbares Rezept, mit dessen Hilfe das Ziel zu erreichen
wäre, gibt es natürlich nicht und kann es nicht geben; dazu sind die tat*
sächlichen Zustände und die Arten der Überliefenmg zu verschieden. Indes
möglich und, wie schon oben gesagt wurde, für den angehenden Orts-
geschichtschreiber empfehlenswert ist es, verschiedene, aus ganz verschiedenen
Verhältnissen erwachsene gute Ortsgeschichten eingehend zu studieren und
nicht nur ihre Ergebnisse, sondern vor allem auch die Arbeitsweise und die
Fragestellung der Verfasser zu verfolgen. Das ist jedoch dem einzelnen
Arbeiter immer nur möglich, wenn er auf solche Bücher aufinerksam
gemacht wird, und deswegen sei hier neben älteren als gute Orts-
geschichten empfohlenen Büchern ') noch auf eine neue Schrift hingewiesen,
die in vieler Hinsicht als vorbildlich bezeichnet werden muß, nämlich:
Oeschichte des Dorfes Leuba in der Königlich Sächsischen Oberlausitg,
nach archivalischen Quellen bearbeitet von Richard Doehler (Zittau, in
Kommission bei Arthur Graun — Olivas Buchhandlung — 1907. 199 S. 8*^).
Der Verfasser ist der langjährige Pfarrer des Ortes, tmd die genaue Be-
kanntschaft mit den örtlichen Verhältnissen kommt ihm selbstverständlich zu
statten. Aber gerade wenn man sein Buch mit den Schriften anderer Orts-
pfarrer vergleicht, die ihre Gemeinde gewiß ebenso gut kennen und nicht
weniger lieben, wird ersichtlich, daß die persönliche Beziehung, so wertvoll
sie ist, doch nicht für das Gelingen den Ausschlag gibt, sondern vielmehr
die geschichtliche Bildung und die Vertrautheit mit der wissen-
schaftlichen Arbeit. Doehler hat sich bereits mehrfach als Historiker
bewährt, vor allem als Herausgeber bezw. Bearbeiter der Urkunden des Klosters
Marienthal und der des Stiftes Joachimstein *), die er auch in dem vorliegenden
Werke ausgiebig benutzt; er hat seiner Pflicht als Forscher getreu durchweg
aus den ersten QueUen geschöpft und demgemäß außer dem Pfiärr- und
Gemeindearchiv zu Leuba das Ratsarchiv in Görlitz, die dortige Milichsche
Bibliothek und das Dresdner Hauptstaatsarchiv benutzt, sich aber dabei nicht
auf einige Brocken beschränkt, wie man sie in einigen Stunden zusanmien-
raflt, sondern er hat systematisch gearbeitet und ist gründlich den Dingen
nachgegangen, so weit sie nur irgend für seinen Zweck Bedeutung besaßen.
Der Leser vergißt allmählich, daß ein bescheidenes Dorf im Mittelpunkte der
i) Albert: Steinbach hei Mudau (Freibars: i. B. 1899); John: OberMma,
Geschichte wnd VbUcshwnde eines egerländer Dorfes [» Beiträge zur Dentsch-böhmiflchea
Volkikiuidc IV, 2], Prag 1903; Trauer: Chronik des Dorfes Marieney i. V. (Pümen
i. V. 1903).
2) Beide sind im Neuen Latuitzischen Magazin reröffentlicht nnd zwar in Band 78
(1902) and in Band- 81 (1905).
— 217 —
Darstellung steht; er steht vielmehr in den erzählten Ebzelheiten das Typische,
tmd so wird das statdiche, gut ausgestattete, mit Abbildungen und der
unentbehrlichen Flurkarte ^) geschmückte Buch ein wertvoller Beitrag zur
oberlausitzer Landesgeschichte. Nicht etwa nur die mit Liebe verfolgte
Geschichte der in Frage kommenden Adelsgeschlechter (v. Gersdor£f, v. Üchtritz»
v. Schweinitz, v. Trautmannsdorf) und die wichtige Beziehimg Leubas als
eines Görlitzer Weichbilddorfes allein rechtfertigen diese Wertung , sondern
der Blick des Verfassers für alle im Dasein eines Dorfes wesentlichen Er-
scheinungen hat dazu verholfen, dafi ein Bild oberlausitzischer Dorfzustände
überhaupt entstanden ist. Mögen die Herren in anderen Dörfern anders beiden
und mögen in die äußere Geschichte anderer Orte mancherlei verschiedene
Dinge hereinspielen, die Beziehungen der Herrschaften zu ihren Dörfern und
die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in letzteren sind im großen
und ganzen in eber Landschaft die nämlichen; und wenn 50 Nachbar-
dörfer in gleicher Weise genau untersucht werden, sind deshalb immer wieder
dieselben Bilder mit relativ kleinen Abweichungen in den Einzelzügen zu er-
blicken. Aus dieser in den Tatsachen des Lebens begründeten Eigenart der
Verhältnisse ergibt sich wie für jede gute Ortsgeschichte so auch für die
Leubas ihre Bedeutung für die Landesgeschichte, wie umgekehrt nur die
Vertrautheit mit der besonderen Geschichte der Landschaft und ihrer Ge-
schichtsliteratur die richtige Bewertung aller den Quellen zu entnehmenden
Angaben ermöglicht
Doehler hat den Stoff in drei Hauptabschnitte gegliedert: Geschichte
der politischen Gemeinde, Geschichte der Kirchgemeinde und Kriegs-
ereignisse; es folgt dann eine Zuzanunenstellung der Leuba betreffenden Ur-
kimden, zumeist in Regestenform, seit 14 13, unter denen die Ehdingsordnung
von 1595 (S. 185 — 189) als Beispiel einer eingehenden Dorfordnung besondere
Beachttmg verdient, und im Anhang werden die Besitzerreihen der 1 3 Bauern-
güter imd des Kretschams mitgeteUt. — Die Kriegsnöte, die Leuba heim-
gesucht haben, wie sie S. 151 — 172 kurz zusammengestellt sind, bilden zwar
nicht einen natumotwendigen Teil der Ortsgeschichte, aber mittelbar werden
durch die Schüderung der Ereignisse, die sich in den Hussitenkriegen, den
Türkenkriegeh, im Dreißigjährigen Kriege in den Schwedenkriegen, den Schle-
sischen Kriegen, den Franzosenkriegen 1806 — 181 5 und im Kriege von
1866 in und bei Leuba zugetragen haben, auch die Verhältnisse im Dorfe
beleuchtet; so z. B. der Viehstand (S. 168) in der Gemeinde. Besonders
wichtig sind diese Kriegsereignisse (S. 152), weil sie das Material an die
Hand geben, um die geographische Lage des Ortes an der Görlitz-Zittauer
Straße, über die auch S. 94 — 96 selbständig gehandelt wird, richtg zu
bewerten. Besser wäre das vielleicht noch geschehen, weim die einzelnen
den Quellen entlockten Zügen in Verbindung mit der Schilderung der Zu-
stände, die sie beleuchten, Erwähnung gefunden hätten. Indessen in dem
i) Daß eine wisseoschaAlicb gearbeitete Dorfgeschichte ohne bUdliche Anschauung
der Dorfflar ganz andenkbar ist, leuchtet ohne weiteres ein. Vgl. diese Zeitschrift,
4. Band, S. 314 Anm. 2. Sehr erleichtert wird in Sachsen nicht nnr die VeröffentUchong
einer Flnrkarte, sondern aoch die vergleichende Verwertung rieler durch die nunmehr
vollendete photographische Reproduktion sämüicher sächsischer Flurkrokis aus der Zeit
vor der Grundstttckzusammenlegung. Vgl. oben S. 23.
16 ♦
— 218 —
madigen Umfange und weil der Verfasser nur örtliche Quellen benutzt, nicht
aber — wie so mancher andere — fem liegendes heranzieht und übennädig
wek ausholt, ist auch dieser Teil des Buches dankbar zu begrüßen. Nur
wenn so unter Benutzung der örtlichen Rechnungen und Akten ins einzelne
gegangen wird, besteht die Möglichkeit, unter Umständen der allgemeinen
G^chichte eines Krieges, auch in neuerer Zeit, etwaige bisher unbekannte
Züge einztiftigen, wenn auch im aUgemeinen in dieser Richtung von der Orts-
geschichte nicht zu viel erwartet werden darf. Bedeutenden Nutzen haben
solche Feststellungen jedoch für den Unterricht, weU im Bewußtsein der
Schüler die Ereignisse, deren Schauplatz sie genau kennen, viel tiefer haften
und weU sich die Opfer, die ein Krieg im allgemeinen forderte, an dem
Beispiele der eigenen Heimat leicht yeranschaulichen lassen '). Soll die Dar-
stellung aber diesen Zweck erfüllen, dann darf sie auch nicht allzusehr in
die Einzelheiten gehen. Die Schlußzahlen der Rechnungen — z. B. über
die entstandenen Verluste während der Zeit, da der Ort militärisch besetzt
war — soUen bestimmte vergleichbare Gesamtvorstellungen wecken, während
genaue Rechnungen, die uns über die Zusanmiensetzung der Summen auf-
klären, nur dann gerechtfertigt sind, wenn sie uns Zustände erkennen helfen,
die aus direkten Quellen nicht zu ermitteln sind, d. h. wenn wir sie als
Rohmaterial für eine Wirtschaft- oder Sozialstatistik benutzen *).
Der Schwerpunkt von Doehlers DarsteUung liegt begreiflicherweise in
den beiden ersten TeUen, die sich mit der Dorfgemeinde und dem Kirch-
spiele beschäftigen und die in sachentsprechende Unterabschnitte gegliedert
sind. Die entschieden wichtigsten und für jeden Forscher, der sich mit den
Zuständen im Kolonisationsgebiete beschäftigt, lesenswerten sind diejenigen
über die Flur- und Untertanenverhältnisse (S. 34— 63) und über das Gerichts-
wesen (S. 63 — 77); innerhalb letzteren Abschnitts wird neben der Ober-
i) Mit grofiem Geschick bat Naa mann in seinem Heimatkundliehmi Vademecum
für die Lehrer der Epharie EckarUberga i. Heft (Eckartsberga 1907) diesen Gedanken
für sein Gebiet dorckgeftthrt , indem er neben anderen Aufsätzen solche über die Teü'
niikme unserer Oegend am Bauernkriege (S. 38 — 46), ttber die örtUchen Bedehangen
snr Schlacht bei Rofibach (S. 47 — 50, 54 — 67) und sn der bei Anerstedt (S. 68 — loa)
bietet. Trotzdem bleibt grundsätzlich zu beherzigen, daü die Ortsgeschichte ihrem Wesen
nach nichts mit den mehr oder weniger zahlreichen groflen Weltbändeln zu tun hat, die
sich zufallig in der Nähe des Ortes zugetragen haben: das sind immer nur Episoden.
Die Erforschung der Ortsgescfaichte bezweckt vielmehr die Klarl^ung der örtlichen
Indiridualität, sie will das innere Wesen des Ortes als solchen, als selbständigen
Gliedes eines Ganzen begreifen. Vgl. dazu meinen Aufsatz Cfrimmas Sieüung in der
deutschen Geschichte im Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts-
nnd Altertumsvereine, 53. Jahrgang (1904), Sp. 265 — 276.
2) Auch das mufi mit groficr Vorsicht geschehen! Wie ich in einem kleinen
Aufsatze EutritMScher Kriegsnöte im Jahre 1745 (Leipziger Kalender, $. Jahrgang,
1908, S. 87) mitteUte, verloren die Eutritzscher Bauern durch die Preußen 80 Stück Rind-
vieh, 288 Schafe, 52 Schweine und 586 Stück Federvieh, aber nur i Pferd und 2 Fohlen.
Wenn man diese Zahlen in einer offiziellen Rechnung liest, dann liegt für den Wirt-
schaftshistoriker der Schlufl nahe, dafl man damals nur außerordentlich wenig Pferde
im Dorfe gebalten habe. Das ist aber falsch, wie uns in diesem Falle der zeitgenössische
Bericht selbst sagt. Pferde fanden die Preußen deswegen so wenig vor, weil diese Ton
den fliehenden Sachsen als Vorspann benutzt worden waren. ' Solche Erfahmngen lassen
es geraten erscheinen, immer alle Umstände zu berücksidttigen und nicht voreilige Trug-
schlüsse zu ziehen.
— 219 —
gerichtsbarkeit das Dorfgericht und der Kretscham erstens als Erbgericht,
zweitens als Bierschankstätte behandelt. Recht erfreulich ist die Verzeichnung
sämtlicher Flurnamen (S. 43 — 48), weil der Leser ein Gesamtbild dieser
als Quellen bedeutenden Bezeichnungen gewinnt und nicht nur einige aus-
gewählte Namen vor sich sieht. Natürlich werden neben den Verhältnissen
der älteren Zeit auch solche des XIX, Jahrhtmderts und sogar der allemeuesten
Zeit beschrieben, aber es wird erfreuücherweise auch bei der Schilderung der
Gegenwartszustände Maß gehalten und nicht, wie so oft, allzuviel geboten. Das
Mitgeteilte wird aber nicht nur in der engeren Heimat, sondern auch in anderen
Landschaften mit anderen Gebräuchen und Einrichtungen gern gelesen werden.
Für allgemeinere Arbeiten wertvolles Material, das in einer Form mit-
geteilt wird, die ein Weiterforschen ermöglicht, findet sich fast auf jeder
Seite. Es seien hier einige Einzelheiten herausgegriffen! Belege für die
Auskaufimg von Bauern durch einen Junker (152 1 ff.) finden sich S. 37 — 38
imd S. 61; jeder Wirt durfte 1499 auf die gemeine Weide, di arm und
reich ist, 2$ Schafe treiben, imd es wurde damals auch ein gemeiner Hirt
angenommen (S. 50); die Rechtsverhältnisse der in Bauern, Gärtner und
Häusler zerfallenden Hintersassen des Klosters Marienthal in Oberieuba bis
1840 werden S. 57 — 58 beschrieben; die Hintersassen des Junkers zu
Niederleuba dagegen zerfallen in Bauern, Hofegärtner, Kleingärtner und
Häusler (S. 59); im XVIU. Jahrhundert gab es in Leuba einen Pranger,
S. 68 ; das älteste , jetzt verschollene, aber im Auszug erhaltene Schoppen-
buch des Dorfes (begonnen 1498) enthält die Ordnimg der für Einträge
imd Auszüge zu entrichtenden Gebühren (S. .71), setzt also eine geordnete
GeschäfbfÜhrung beim Dorfgericht voraus; das städtische Bierschankrecht
und der typische Streit um die Dorfwirtshäuser zwischen Görlitz und Zittau
seit 1488 wird S. 74 geschildert; eine Turmuhr erhielt die Kirche zuerst
1676 (S. 109); die älteste der nachweisbaren Glocken wurde 1668 von
Andreas Herold in Dresden gegossen, während man später Reichenberger
imd Sorauer Giefier in Nahrung setzte (S. 109); durch den Kirchenlieder
dichtenden PfiEtrrer ToUmann (gest 1765) erhielt Leuba an Stelle des bis
dahin üblichen Görlitzer ein eigenes Gesangbuch (S. 131); die ortsübliche
Bezeichnung für die Gesamtheit der P&rrgnmdstücke lautet widmut (S. 140),
ganz ähnlich dem dafür im Rheinland üblichen Ausdrucke Wittum gebildet
Diese Proben mögen genügen. Aber ehe wir von Doehlers freudig zu
begrüßenden Buche Abschied nehmen, muß doch noch die Aufinerksamkeit
auf einige Einzelheiten gelenkt werden, bezüglich deren der Forscher mit
allgemeineren Zielen gern mehr gesehen hätte, vor allem deswegen, weil
die gewissenhafte Art der Quellenbenutzung die Gewähr für zuverlässige An-
gaben geboten hätte. Es ist ja klar, daß der Verfasser sich noch mit vielen
Dingen beschäftigt hat, die er wegen unzureichender Ergebnisse nicht aus-
führlicher behandelt, aber, wie es scheint, sind ihm doch auch manche
nahe liegende Dinge entgangen oder nicht wichtig genug erschienen, weil
er die Gesamtheit namentlich der wirtschaftsgeschichtlichen Probleme nicht
genügend überblickt*). So hätte z. B. das alte im XVIIL Jahrhundert
i) Der Landwirtschaflsbittoriker findet deshalb nicht diejenige Belehrung, die er
erwarten sa dürfen glaubt.
— 220 —
herrschende Steuersystem, von dem S. 8i die Rede ist, genauer geschildert
werden sollen, und ebenso die alte Ver&ssung und Verwaltung der Dorf-
gemeinde. Bei der Erwähnung der älteren Feuerpolizei S. 87 hätten die
Artikel 10 und 11 der Ehdingsordnung Ton 1595 (S. 186) genauer heran-
gezogen, überhaupt das dörfliche Feuerlöschwesen der Oberlausitz vom XVI.
bis XVUI. Jahrhundert eingehender geschildert werden müssen. Es wäre
hier durchaus am Hatze gewesen, die allgemeinen landesgesetzlichen Be-
stimmungen heranzuziehen und die ördichen Angaben daran zu messen; erst
das Mandat vom 30. Juli 1689 ordnet für die Oberlausitz ') allgemein die
Errichtung örtlicher Feuerordnimgen an, wie eine in Leuba im Kern schon 1595
vorhanden war, und dieses Verhältnis ist doch nicht ganz unwesentlich. £^
älteste Brandkataster von 1788 hätte vermutlich über die Zahl der Wohn-
stätten und ihren relativen Wert Anhaltspunkte geben können. Sind ältere
Kirchenvisitationsakten überhaupt nicht vorhanden? Als erste Visitation wird
S. 150 die von 1824 genannt. Vermifit wird auch eine statistische Aus-
beutung der 16 14 beginnenden (S. 128) Kirchenbücher, die interessante
Aufschlüsse über die Bevölkerungsvorgänge zu geben pflegen; die Summen
der Taufen, Trauungen und Sterbefälle in den einzelnen Jahren sind stets
interessant. Ein klares Bild von der 2^1 der jeweib vorhandenen Haus-
haltungen und der Einwohner gewinnt der Leser nicht; sogar nach der
modernen Einwohnerzahl (528) habe ich vergeblich gesucht. Die für die
Ausbildung der Rittergutswirtschaft überaus wichtigen Angaben über die
Schafweide des Junkers 1532 und 1536 (S. 174, 179) werden nicht ge-
würdigt, nicht mit dem Weiderecht der Bauern imd der Auskaufung in Ver-
bindung gebracht, obwohl das Material offen da liegt. Der mitgeteilte Ur-
kundenstoff hätte sich entschieden noch stärker inhaltlich ausbeuten imd
dann etwas einschränken lassen. Mit 1697 brechen die Quellenauszüge ab.
Warum? Lagen aus dem XVIII. Jahrhundert keine derartigen Schriftstücke
vor? Es scheint mir ein anderer Umstand daran schuld zu sein, nämlich
die Vertrautheit des Verfassers mit den Quellen und Problemen der mittel-
alterlichen Geschichte, der ein gleiches Interesse für die neuere Zeit, nament-
lich das XVüI. Jahrhundert, nicht entspricht; denn bei der Behandlung des
XIX. Jahrhunderts und der modernen Verhältnisse kommen für ihn eben
andere als geschichtliche Gesichtspunkte in Betracht. Ein entschiedener
Mangel ist dagegen das Fehlen eines Registers!
Diese Ausstellungen sollen die Freude an der Geschichte Leubas nicht
trüben; sie wurden hier auch weniger im Sinne der Kritik angeführt, vielmehr,
um zu zeigen, daß auch in guten Büchern manches noch anders sein kann,
und zugleich, um anderen Ortsgeschichtschreibem Fingerzeige zu geben, in
welcher Richtung sie Untersuchungen anstellen müssen.
Als Gegenstück zu der Arbeit Doehlers möchte ich auch noch den
Blick auf ein Buch lenken, das als warnendes Beispiel angeführt werden
muß ; ich meine Chronik von Lauchheim, Geschichte der ehemaligen Deutsch-
ordenskommende Kapfenburg. AusschliefiUch nach den Quellen von Dr. August
Gerlach, Stadtarzt in Lauchheim. Mit 62 Abbildungen und einer Original-
1) CoUection derer den Statum des Marggrafihums Ober-Laimtz . . . betreffenden
Sachen. Tom. I (1770), S. 784—785.
— 221 —
umschlagzeichnuDg von Prof. G. Mayer-Franken in München (EUwangen, Franz
Bücher, 1907. 363 S. 8*^. M. 3,00).
Lauchheim ist eine kleine württembergische Stadt von etwas über 1000
Einwohnern, aber infolge des Umstandes, dafi der Deutsche Orden 1364
die Burg Kapfenburg erwarb, dafi er 1430 den Ort Lauchheim, in dem seit
1402 drei Jahrmärkte gehalten wurden, befestigte und bis 1806 beide besaß,
gewinnen Burg und Stadt nicht nur ein allgemeineres Interesse, sondern die
innere Entwicklung des Gemeinwesens muß auch besondere Züge aufweisen,
durch die es sich von der Umgebung unterscheidet. Der Ort, mit dem
sich Gerlach beschäftigt, bildet infolge dieser Umstände ganz tmstreitig einen
viel verlockenderen Gegenstand für den Geschichtsforscher als das Dorf Leuba,
und dennoch ist das Buch in jeder Hinsicht unbefriedigend, ein typisches
Beispiel dafür, wie eine Ortsgeschichte nicht sein soll. Dem Verfasser mag
ein solches Urteil wehe tun, aber er wird vielleicht auch selbst empfinden,
inwiefern seine Darstellimg unzureichend ist. Daß sich der viel beschäftigte
Arzt mit großer Liebe in die Vergangenheit seines neuen Wohnsitzes ver-
senkt und überaus fleißig gesammelt hat, soll keinen Augenblick verkannt
werden. Aber der Ehrgeiz, die Früchte seiner Sammelarbeit selbst der
Öffentlichkeit übergeben zu woUen, hat ihn geblendet, und es ist ein Buch
entstanden, das nur Materialsammlung ist, keine Darstellung und das auf
jeder Seite zeigt, wie wenig der Verfasser mit wbsenschafUich- literarischer
Arbeit überhaupt und im besonderen mit geschichtlicher Forschung vertraut
ist. Wichtiges kann er nicht von Nebensächlichem, Typisches nicht vom
Ausnahmefalle unterscheiden ; der Arbeit liegt kein fester Plan zugrunde, und
rein äußerlich sind Nachrichten, die verwandte Gegenstände betreffen, neben-
einander gestellt. An sich bilden diese für den Ortsgeschichtsdarsteller ein
gewiß schätzenswertes Material, aber der Wert desselben wird dadurch er-
heblich beeinträchtigt, daß nirgends zu erkennen ist, aufweichen bestinmiten
Archivalien die Angaben beruhen. Angenehm berührt das ausführliche alpha-
betbche Register, mit dessen Hilfe sich der Leser über manche interessante
Einzelheit unterrichten kann, wenn er auch in jedem einzelnen Falle eine
Gewähr dafür, daß die Archivalien richtig verstanden worden sind, nicht be-
sitzt. Über die mittelalterliche Stadtver&ssung von Lauchheim erhalten wir
S. 47, wo der Ort dafür gewesen wäre, keine Belehrung; wenn das Bruch-
stück einer Gemeindeordnung von vor 1500 existiert, dann mußte dieses
wichtige Schrifbtück vollständig wiedergegeben, und die allmähliche Ein-
. Schrumpfung der städtischen Autonomie, von der die Rede ist, mußte durch
Tatsachen erhärtet werden. Wie es mit Gerlachs rechtsgeschichtlicher Bildung
steht, zeigt der Satz (S. 52): „Die Jurisdiktion war von uralten Zeiten her
ein Regal, d. h. ausschließliches Recht des Grundherrn*^ Demnach
scheint rex Grundherr zu bedeuten! Um solche für den Laien geradezu
verhängnisvolle Sätze zu vermeiden, muß sich jeder Ortsgeschichtschreiber
über den Begriff, den die dem Historiker geläufigen Worte decken, Klarheit
verschaffen, und ein treffliches Hilfismittel dazu bietet das Lehrbuch der
deutschen Eechtsgeschichie von Richard Schröder, das 1907 in 5. Auf-
lage (Leipzig, Veit & Comp.) erschienen ist.
Mit dem Hinweis auf die Ortsgeschichten von Leuba und Lauchheim
seien diese kritischen und programmatischen Bemerkungen über Orts-
— 222 —
geschichtschreibuDg geschlossen. Auf einen Hieb ^t kein Baum,
und es werden in nächster Zeit noch manche unreife Ortsgeschichten er-
scheinen. Aber aUmählich werden sich die Verhältnisse doch bessern, wenn
etwas mehr Selbstkritik geübt wird und wenn die Laien mit regem geschicht-
lichen Interesse sich klar machen, daö zur Ausführung s<^cher Arbeit noch
etwas mehr gehört, nämlich allgemeingeschichtliche Bildung, Ver-
trautheit mit der historischen Arbeitsweise und langjährige lieberoUe
Beschäftigung mit dem gesamten Quellenstoff, dem handschrifttichen
wie dem gegenständlichen. Zunächst ist es Sache der wissenschafffichen
Geschichtsforscher, einerseits immer wieder vor voreiliger VeröffentUchung
unreifer Ortsgeschichten zu warnen tmd dadurch die Zahl solcher Schriften
zu vermindern, anderseits aber darauf hinzuwirken, dafi geschulte Forscher
für die Bearbeitung von Oitsgeschichten gewonnen werden.
Armin Tille
Eingegani^eiie Bfleher.
Kaindl, Raimund Friedrich: Geschichte der Deutschen in den Karpathen-
ländem. Zweiter Band: Geschichte der Deutschen in Ungarn und
Siebenbürgen bis 1763, in der Walachei und Moldau bis 1774. Mit
einer Karte [s=s Deutsche LAndesgeschichten, herausgegeben von Armin
Tille, Achtes Werk]. Gotha, Friedrich Andreas Perthes, Aktiengesell-
schaft 1907. XI und 421 S. 8^ M. 10,00.
Lohmeyer, Karl: Zur altpreufiischen Geschichte. Aufsätze und Vorträge.
Gotha, Friedrich Andreas Perthes, Aktiengesellschaft 1907. 331 S. 8^.
M. 6,00.
Werminghoff, Albert: Geschichte der Kirchenverfitssung Deutschlands im
Mittelalter. Erster Band. Hannover und Leipzig, Hahn 1905. Vn und
301 S. 8*. M. 7,00.
Meyer, Arnold Oskar: Studien zur Vorgeschichte der Reformation. Aus
schlesischen Quellen. [=s Historische Biblioüiek, herausgegeben von
der Redaktion der Historischen Zeitschrift, 14. Band.] München und
Berlin, R. Oldenbourg 1903. XIII und 179 S. 8^ M. 4,50.
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durch Essen]. Essen-Ruhr 1907. 51 S. 8^.
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Gesammelte Aufsätze. Graz tmd Leipzig, Ulrich Moser (I. Meyerho£f)
1908. 270 S. 8*. M. 3,50.
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[= Mitteilungen des Vereins für Geschichte Dresdens, 20. Heft].
Dresden, Wilhelm Baensch 1907. 86 S.®.
Werner, Adolf: Die politischen Bewegungen in Mecklenburg und der
aufierordentliche Landtag im Frühjahr 1848. [= Abhandlungen zur
Mittleren tmd Neueren Geschichte, herausgegeben von Georg v. Below,
Heinrich Finke, Friedrich Meinecke, Heft 2.] Berlin und Leipzig,
Walther Rothschild 1907. 117 S. 8®. M. 3.60.
Henutfttber und verantwortlicher Rednkteur: Dr. Armin Tille In Dresden.
Verlag md Druck von Prt«drich Andreas Perthes, Aktiengesellschaft, Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
sur
Förderung der landesgeschicbtlicben Forscbung
IX. Band Juni 1908 9. Heft
Die Panzerung der deutsehen t^itter
im ISAittelalter
Von
Gustav Hergsell (Prag)
Neben dem Schilde zählte zu den ältesten Schutzwaffen vor allen
das „Panzerhemd" oder der „Harnisch", welcher der Leder-
und Stahlschienenrüstung voranging. Von den alten Deutschen wurde
diese Panzerung auch „Ringe", „Halsberg", „Brünne", „Brunne"
oder „Brunika" genannt Brünnen hießen die Brusthamische zur
Zeit der Karolinger, aber auch schon in der Lex Salica und der Lex
Biptmria kommt das Wort bruina häufig vor. Jeder Franke, der
zwölf Hufen besaß, mußte ersterem Gesetze nach in Zeiten der Ge-
fahr mit einer bruina, das heißt vollkommen gewappnet, und nebst
zwei Schildknappen im Felde erscheinen. Die Brünne bildete die oft
kostbare Brustbedeckung des Ritters, wenn auch die in den Dich-
tungen gelegentlich angegebenen Preise oder Wertbestimmungen einen
Anhaltspunkt für den wirklichen Wert nicht gewähren. Eine beacht-
liche Wertbestimmung enthält dagegen die Lex Biptmria (36, 11),
wenn sie bei der Wehrgeldzahlung eine gute Brünne mit 12 Schillingen
berechnet, d. h. 6 Stieren oder einem guten Hengste gleichsetzt.
Wenn das Wort Brünne auch noch im Nibelungenlied *) mehr-
fach vorkommt, so wird es in der Blütezeit des Rittertums, obwohl es
nicht gänzlich verschwindet, doch so weit zurückgedrängt, daß es von
den Dichtern nur noch selten gebraucht wird. Wir finden vielmehr
für die Panzerung dann die Bezeichnung „Halsberg". Darunter
wird jedoch stets nur jener Teil des Panzers verstanden, der den Hals
bedeckt, wie dies der Name deutlich besagt — zum Unterschiede
i) Lachmanns Aasgabe Strophe 67, 179a.
17
— 224 —
von den „Beinbergen", der Bekleidung und Bepanzening der
Beine *).
An de m Halsberg, der nicht mit dem darüber angebrachten Kehl-
stück verwechselt werden darf, war der ganze Harnisch, vor allem
dessen Hauptstück, der Brustpanzer, befestigt. Auch die oft vorkom-
mende Bezeichnung : Spaldenier oder Spaldener bedeutet nichts anderes
als Halsberg. Daß aber auch die Bezeichnung Halsberg oft — pars
pro toto — iür die ganze Bepanzerung genommen wird, ist dem
Nibelungenliede zu entnehmen. So sagt Hagen zu Rüdiger: „Wenn
ich den Schild tragen würde, den du vor Händen hast, so bedürfte
ich .... keiner Halsberge mehr *)." In der dichterischen Sprache
wird Halsberg sog^ im Sinne von Ritter gebraucht, entsprechend
der in späterer Zeit üblichen Verwendung des Wortes Harnisch •). Im
Nibelungenliede heißt es zu Beginn der 32. Aventiure in diesem Sinne:
Die Bioeddines recken, die voaren edle gar:
Mit tüsent halspergen huoben si sich dar.
Gegen Ende des X. und im Anfange des XL Jahrhs. trugen
die Ritter ein langes Waffenkleid in Kittelform, aus Leder oder staricer
Leinwand, den „Haubert", eine romanische Umbildung des deut-
schen Wortes Halsberg; auch das Wort Brünne wird dafür verwendet,
muß aber dann von der metallenen Schutzwaffe der fränkischen und
Karolingerzeit unterschieden werden.
Der „große", auch „weiße" Haubert genannt, reichte gewöhn-
lich bis zum Knie, und dessen wenig anschließende Ärmel, oder das
Armzeug, bis zum Ellenbogen. Erst in späterer Zeit wurden diese
verlängert. Der „kleine" Haubert hingegen, den im VIII. Jahrh.
alle Ritter trugen, und der später die Rüstung des weniger bemittelten
Edelmanns und der Knappen bUdete, war eine Art Schuppenjacke mit
kurzen Ärmeln und reichte kaum bis zu den Hüften. Eine Art Ketten-
kapuze oder Haube, auch Camail genannt, bedeckte Kopf und Nacken,
so daß nur ein kleiner Teil des Gesichtes frei blieb.
In den Handschriften des XL Jahrhs. findet sich das Wafien-
kleid in dieser Weise oft .dargestellt; doch begegnen wir daneben
auch in einer gleichzeitigen Handschrift der Darmstädter Bibliothek
einem deutschen Ritter in dem großen Haubert mit langen Ärmeln, so-
I) Bagnberga kommt Aach schon in der Lex Bip%taria (36, 11) vor.
3) Lachmftnns Ausgabe Str. 2132: 9ane gerie ich zen Hiunen deheiner hals*
perge mir.
3) „Er k»m mit so und so viel Harnischen an*^ ist eine in den deutschen Chro-
niken des XIV. and XV. Jahrhanderts oft wiederkehrende Wendang.
— 226 —
wie in getrennten Rüsthosen und Rüststrümpfen. Diese Schatzrüstung,
die sich in Deutschland schon im XI. Jahrh. findet, wurde, wie den
vorhandenen Siegeln* zu entnehmen ist, in Frankreich, Spanien und
England erst im XII. Jahrh« üblich. Der normannische Haubert des
XI. Jahrhs. war dag^en eine enganliegende Jacke mit daran sitzen-
den Rüsthosen und bestand aus einem einzigen Stücke, das den
Körper vom Halse bis zu den Knien und den Ellenbogen bedeckte. —
Der lose Canuiil oder die Kettenkapuze bedeckte gleichfalls Nacken,
Kopf und einen TeU des Gesichtes.
Der Haubert war ein, wie bereits erwähnt, aus Leder oder Lein-
wand verfertigter Kittel, auf welchem Stoffe entweder starke Ringe
von geschmiedetem Eisen nebeneinander aufgenäht, oder Ketten
senkrecht oder wagerecht, oder auch Metallplatten verschiedener
Art, meist in der Grestalt von Schuppen befestigt waren. Unter
„Ringe'* ^) oder „Ringgespänge" ist im eigentlichen Sinne stets
der mit Ringen besetzte und dadurch zum Panzerhemd gewordene Kittel
zu verstehen. Indes scheint diese in allen mittelalterlichen Dichtungen
vorkommende Bezeichnung auch noch allgemeiner für jede Art von
Panzer verwendet zu werden. Dieser leicht bewegliche Panzer, der
sich ziemlich eng an den Leib anschloß, bUdete demnach entweder
eine Jacke mit Schurz, die bis zu den Knien reichte, oder ein rich-
tiges Wams, mit Ärmeln und Beinkleidern; letztere wurden „Rüst-
hosen" genannt*).
Die ältesten Panzerhemden bestanden aus mehreren Lagen ge-
polsterten und gesteppten Zeuges, das ein Gitterwerk aus Lederstreifen
zusammenhielt; in deren Mitte und Winkeln aber waren sie mit
einem breitköpfigen Nagel oder mit einem Ringe besetzt. Aber es
gab auch Brünnen, die weder mit Ringen noch mit Nagelköpfen
versehen waren, wie es anderseits Maschen- oder Kettenpanzerhemden
gab, die vollständig aus Metali angefertigt waren und jeglicher
Unterlage auf Zeug oder Leder entbehrten ; diese hatten naturgemäß
keine Kehrseite.
i) So schon im HüdebrandsUed : gurtun iih iro Bwert €ma .... übar
(sie gfirteten sich ihre Schwerter um ... . fiber den Panxer).
2) Die Tftpete von Bftjenx, um iioo entstanden, eine wichtige QaeUe für die
Kenntnis der normannischen fiewaffiiiing, stellt Wilhelm den Eroberer schon mit
langen Rttsthosen dar, die wie der Haabert mit Ringen besetzt sind. Die Fttfie der
dort dargesteUten Ritter sind dagegen ähnUch denen der angelsichsischen Krieger mit
Riemen umwickelt. — Das Standbild eines der GrtUider des Naombnrger Domes zeigt
gleichfalls lange Rüsthosen, desgleichen einige der von Heinrich dem Löwen geschla-
genen Milnzen.
17*
— 226 —
Man hatte es da mit einem Metallgewebe zu tun, das wie ein
Hemd angelegt wurde, dessen Ringe Stück für Stück fest vernietet
waren, und diese Art der Vereinigung hieß Gerstenkomvemietung.
Es gab zweierlei Arten dieses Maschenpanzerhemdes, die „ein-
fache" und die „doppelte" Masche, aber in beiden Fällen war
jede dieser Maschen mit vier anderen verbunden '). Die Ringe waren
oval und flach, und einer bedeckte den anderen immer zur Hälfte.
Eine weitere Art der Bepanzerung bestand aus kleinen durch-
brochenen viereckigen und rautenförmigen Schuppen aus Eisen, zu-
weilen auch aus Hom*), die dachziegelförmig aneinander befestigt
waren. Sie waren so fest aneinandergefügt, dafi zwischen den ein-
zelnen Schuppen kein freier Raum blieb, durch den eine AngrifTswaffe
hätte eindringen können.
Diese Schuppenpanzer, auch unter den Namen j<ieera$%s oder
horcusinus bekannt, reichen, wie der Dichtung zu entnehmen ist, weit
vor die Zeit des Rittertums zurück und wurden nur als alte Bewaff-
nung übernommen. Diese Schuppenpanzer ') dürfen jedoch nicht mit
den in den Museen heute zu sehenden Exemplaren aus späterer Zeit
verwechselt werden.
Auch das Maschenpanzerhemd des Mittelalters, von dem irrtüm-
licherweise angenommen wird, es sei infolge der Kreuzzüge aus dem
Orient eingeführt worden, war bereits vor dem XI. Jahrhundert der
Ritterschaft des mittleren und nördlichen Europas bekannt. Dem Ku-
drunliede entnehmen wir, daß Herwig seine Brünne „in den Schild
gleiten ließ", und „daß seine Kleider mit dem Roste seines Hauberts
i) Dieses gemaschte Kleid hiefi ftach Irorx „Maschen*^ im mittelalterUchen La-
tein wutculatf daher französisch der ganze Panzer mecheB, maüUs oder cattes de maüUs,
Diese Art der Rttstang zeigt das Grabmal Herzog Heinrichs IV., des Minnesängers, (gest.
1290) in Breslau und das des Herzogs Boleslaw (gest. 1201) in Lenbns.
3) Ans einer Kölner Chronik geht henror, daß die gepanzerten Krieger Kaiser
HeinricLs V. 1115 Halsberge, — hier wird das Wort JuiUberge im Sinne von Panzer-
hemd gebraucht — aus Hörn hatten. Die Stelle; gut loricis oomeia ferro impene*
trabilibus utebantur wird in einer alten Übersetzung verdeutscht : die lUU hatten hole-
berghe van ftom gemacht.
3) Den ältesten ziegeiförmig geschuppten Haubert zeigt der Codex awreue in St
GaUen aus dem VIII. Jahrh. Aach auf den Magdeburger HeUem von 11 50— 11 60 ist
die DachziegeUage der Schuppen auf den Panzerhemden deutlich zu unterscheiden ge-
radeso wie bei den Wandmalereien im Braunschweiger Dom aus dem XL Jahrh. Für
das frühe Dasein dieser Art Panzer spricht eine SteUe (Vers 470) im Gedicht De €X-
pediiione Attüae ac de rebue gestie WtMiarii, wo es heifit:
I^aecingite corpora ferro;
Fortia aqamoeus thorax tarn terga recondat.
— 227 —
bedeckt waren" '). Leider treffen wir in den Museen sehr viele
Nachahmungen solcher Panzer, die allerdings an der mangelhaften
Vernietung leicht erkennbar sind.
Nach dem bisher Gesagten gab es demnach dreierlei Arten von
Panzerhemden, und zwar:
i) „beringte'S die aus flachen nebeneinander aufgenähten Ringen
angefertigt waren, wohl die älteste Art der Metallbepanzerung
überhaupt ;
2) „bekettete'S aus ovalen ineinandergreifenden Ringen her-
gestellt, und
3) „beschildete*', die aus dachziegelförmig übereinander ge-
fugten Schuppen oder rautenförmigen Eisenplättchen hergestellt
waren.
Die gegitterten Panzerhemden, und ebenso die mit Ringen ver-
sehenen, waren zwar pfeilfest, vermochten jedoch der Lanze wenig
oder gar keinen Widerstand zu leisten; sie wurden in Frankreich
bereits unter Ludwig dem Heiligen (gest. 1270) durch die Maschen-
oder Kettenpanzerhemden völlig verdrängt. Fast alle wohlhaben-
den Ritter trugen im XIII. Jahrh. Maschenpanzerhcraden , die aber
ebensowenig wie die gegitterten stoßfest waren. Erst durch die Er-
findung des Drahtziehers Rudolf von Nürnberg 1306 erreichten sie
eine derartige Vervollkommnung, daß sie selbst dem Eindringen der
misericardia — des tückischen Dolches — festen Widerstand zu lei-
sten vermochten.
Die vollständige Maschenrüstung bestand daher um 1300 aus dem
langen Panzerhemde, der Kettenkapuze, Rüsthosen und Rüststrümpfen.
Die Ärmel des Waffenrockes oder des Panzerhemdes wurden in der
letzten Zeit ihres Bestandes von einer derartigen Länge, daß sie auch
die Hände gleichsam wie in ein Futteral hüllten, und nur zuweilen
den Daumen frei ließen, der gleichfalls mit Maschen bedeckt war, so
daß der Ritter vollkommen in ein Eisengewebe eingehüllt erschien.
Unter dieser vollständigen Maschenrüstung, die der „große Hau-
bert" oder auch „weißer Haubert** hieß, trugen die Ritter auf
der Brust nicht selten noch eine eiserne Platte.
Die Einführung der Turniere in Deutschland, die bereits im
X. Jahrhundert unter Heinrich I. in Sachsen landesüblich waren, er-
i) Do $ehuUe er im geuxtefen in des mMdes romtp
Do gie er isenvarwer (Strophe 1530). — Im Nibelaogenliede kommt
JwrfKMchvar (vom Harnisch geftrbt) in demselben Sinne vor.
— 228 —
klärt zur Genüge, daß man der Vervollkommnung der Rüstung ein
besonderes Augenmerk zuwandte, und daß in der Folge deren An-
fertigung in Deutschland mit so großer Meisterschaft betrieben wurde.
Trotzdem behauptete sich der große Haubert bis gegen das Ende des
XIII. Jahrhunderts, demnach durch volle fünf Jahrhunderte.
Erst nach einer Übergangsrüstung, die gegen Ende des XIII. Jahrhs.
aufkam, und die aus dem gekürzten Panzerhemde nebst Arm- und
Beinschienen, anfangs aus hart gesottenem Leder, später aus Stahl-
platten bestand, erfuhr die Bewaffnung im XIV. Jahrhundert überall
eine gründliche Umgestaltung.
Zu dieser Zeit wurde die deutsche Rüstung, die nunmehr den
Haubert verdrängte, mehr oder weniger vollständig aus Stahlplatten
hergestellt; es war die „Schienenrüstung", die sich von nun an
überall einbürgerte und die der „Plattenrüstung" voranging.
Diese letztere Art der Bepanzening bestand aus großen Blechen
oder Stahlplatten, die den Ritter vom Kopf bis zu den Fußspitzen in
Eisen einhüllten, und nur an den Armen, Schultern, Lenden und
Füßen Gelenke besaß, um den Bewegungen des Körpers nachgeben
zu können. Sie war gefugiger als der Maschen- und Schuppenhar-
nisch; der Ritter konnte sich leichter bewegen, und überdies wurde
durch die vollkommene Deckung der Schild entbehrlich. Von ihrer
unverkennbaren Ähnlichkeit mit den Schalendecken des Krebses wurde
die aus Eisenschienen hergestellte Rüstung noch im XVI. Jahrhundert
„Krebs" genannt *).
Im eigentlichen Sinne wurden unter diesen Namen aber nur jene
Teile der Rüstung verstanden, die den Oberschenkel decken sollten
und mittels Riemen an den Vorderschutz befestigt waren. Indessen
bezeichnen einige Schriftsteller die ganze aus Schienen hergestellte
Rüstung als „Krebs" und nennen dann den unteren Teil der ge-
schienten und mit langem Schenkelschutz versehenen Rüstung, wie sie
sich am Ende des XVI. und am Anfange des XVII. Jahrhs. findet,
„Halben Krebs" oder „Krebsfuß". Auch m Frankreich nannte
im XVI. Jahrh. der Schriftsteller Foucher die gänzlich geschienten
Rüstungen ecreaisses, also Krebse.
Die vollkommene Schienenrüstung um 1500 bestand aus folgen-
den Teilen: dem Halsberg, der den ganzen Harnisch trug, nebst
den dazu gehörigen Achselstücken; dem Brustpanzer, häufig
i)Leonhard Frundsberg nennt in seinem Kriegsbnche die Rttstnng den
,, Krebs'*. Luther spricht in diesem Sinne Epheser 6, 14 vom „Krebs der Gerech-
tigkeit «S
— 229 —
mit einer, das Bruststück von oben nach unten in der Mitte teilenden
Linie, der sogenannten Gräte, versehen, sowie derRückenplatte.
An der linken Seite der Brustplatte befand sich zum Einlegen der
Lanze der Rüsthaken, auch Lanzenrast genannt, femer ge-
hörten zur Rüstung die kleinen Schienen, die Achselstücke,*
mit oder ohne Ränder, die Achselhöhlscheiben, die, zum
Schutze der Achselhöhlen dienend, mit dem Ende des XV. Jahrhs.
ihr Ende erreichten, und schließlich die Krebse im engeren Sinne,
der Beinschutz.
Weiter gehörte zur Rüstung das Arm zeug, das aus Schienen
für den Ober- und Unterarm bestand , die zum Schutze des Ellbogens
durch die Menseln oder Ellbogenkacheln miteinander verbun-
den waren, samt den verblechten Handschuhen, mit Stulpen
versehen, die mit getrennten Fingern als gefingerte Tatze oder
Fingerhandschuh und ohne Finger als Fausthandschuhe vor-
kommen, weiter der Vorderschurz sowie der Hinterschurz oder
Hüftstücke, die, wie der Name sagt, die Hüften bedeckten, gewöhn-
lich aus Stahlschienen bestanden und an den Krebsen endigten, und
die Gliedschienen.
An diese schlössen sich an: die Schenkelstücke oder
Schenkelschienen, auch Dichlinge oder Dielinge genannt,
sowie die Beinschienen für den Unterschenkel, die bis 1500 nur
das Vorderbein bedeckten. Deren Fuge über dem Knie wurde
durch das Kniestück bedeckt. Den Fuß bekleideten die aus
Schienen zusammengesetzten Eisenschuhe der verschiedensten Form
mit den angeschnallten Sporen; das Haupt bedeckte der Helm,
am Arme wurde der kleine Brustschild getragen. Das waren
die sämtlichen Teile der Kriegsrüstung; bei Wafienspielen kamen noch
der große Brustschild, auch Scharfrenntartsche genannt,
die Turnierlendenplatte und einiges andere hinzu.
Die gesamte Waffenkleidung, den vollständigen Schmuck des zum
Kampfe gerüsteten Ritters, den er auf dem Leibe trug, nannte man
sarabcd, wie das Wort wiederholt in der Reimchronüc Ottokars von
Steiermark genannt wird, oder auch sarawai, oder sanoat, also Kriegs-
gewand, Kriegsanzug. Weil aber die Ritter nicht immer gehamischt
ritten, und erst vor dem Kampfe die schwere Rüstung anl^en, so
wurden die Rüstungen in Säcken oder anderen Hüllen nachgefiihrt.
Diese Säcke hießen „Sarbalg" *), wobei „Sar" *) die Rüstung oder
i) Wigalois, Vers 61 13.
3) Im HUdebrandsUed als sairo (Genetiv mtipm) bezeugt
— 280 —
den Harnisch bedeutete. Den Schild trug während des Marsches der
Schildknappe.
Alle diese Stücke wurden von dem plaUner, dessen Gewerbe sich
im XIV. Jahrh. hoch entwickelte, mittels Hammer und Punze aus Eisen
pder Stahl getrieben. Mit dem Namen flauen wurde gelegentlich
auch die ganze Rüstung oder wenigstens der Brustpanzer bezeichnet
Da auch noch in späterer 2^it die Hamischmacher und Hamisch-
schmiede die Plattnerzunft bildeten, so ist dies nicht unberechtigt, und
überdies ist die Benennung noch bezeichnender als das Wort Krebs.
Die Limburger Chronik beschreibt die Bewaffnung folgender-
maßen: L% dersdbm Zeit — um das Jahr 135 1 — und manch Jahr
nachher, da waren die Waffen als nachher geschrieben steht: Ein jeg-
Uch guter Mann, Fürst, Oraf, Herr, Ritter tmd Knecht^), die untren
gewappnet mit Platten *), und auch die Bürger mit ihren Wappenröcken
daran über, 0U stürmen und streiten, mit „Schossen'*^) und „Leib-
eisen^% das sm der „Platte'^ ^) gehörte; mit ihren „gekrönten"^) Hel-
men, darunter hatten sie kleine „Bundhauben'*. Und führte man
ihnen ihr Schild und Tartsche nach und auch ihre „Gleve'*'') nach.
Und den gekrönten Helm führte man ihnen nach auf ihren Globen ®)
und führten sie auf ihren Beinen „Streichhosen*' ^) und darüber
große weite ,,Lersen'*^% Auch führten sie „Beingewand'', das war
vorne von Leder gemacht, also Amdeder, oder also von Sgreck gestipt ^^),
und eisen Böcklein vor den Knien^^).
Solange die Schienenrüstung nicht in Verwendung kam, waren
zum Schutze der Arme die Panzerhemden oft mit Ärmeln versehen,
die anfanglich aus Platten aus gesottenem Leder, später aber aus
Stahlscheiben bestanden. Zum Schutze der Hand dienten Maschen-
fausthandschuhe.
Mit Einfuhrung der Schienenrüstung fand auch der eiserne Arm-
schutz Verwendung, der den Arm in allen seinen Teilen schützte. Es
i) Das heifit: Knappen. 3) Hier also der Ausdruck PlaUen (Ür Rüstung.
3) Dies waren die blechernen oder eisernen Hosen.
4) Die eiserne Rttstung, die den Leib bedeckte.
5) Daher unter Platte die YoUe Rüstung verstanden.
6) Gekrönte Helme sind Timierhelme, an denen der Dank angebracht war.
7) HeUeparte, Lanze.
8) Darunter sind wahrscheinlich die Handschuhe verstanden.
9) Eng anliegende Hosen.
10) Dies waren die Stiefel.
11) Das heifit von Seide gesteppt
12) Eiserne Becken, eiserne Schalen.
— 231 —
gab einfache und doppelte sowie vollständige Armschienen; letztere
umhüllten den Oberarm, den Vorder- und Hinterarm vollkommen.
Die Rüstung des Unter- und Oberarmes war durch Ellbogenkacheln
verbunden. Die großen Tumierarmschienen der Tumierrüstungen um
1500 waren nur für den linken Arm bestimmt, und die mit ihnen un-
mittelbar verbundenen Kampfhandschuhe waren nicht gefingert
In der Frühzeit des Mittelalters waren die Beine selten bewehrt,
und wenn diese geschützt werden sollten, so wurden sie mit ledernen
Riemen umwickelt, wie dies die Mmiaturen der Handschriften des
Vni. bis X. Jahrhs. zur Genüge beweisen, die den Krieger weder mit
Ketten oder Maschenstrümpfen noch mit Beinschienen darstellen. Erst
nachdem im Beginn des XI. Jahrhunderts die Rüsthosen und Maschen-
rüststrümpfe aufgekommen waren, wurde gegen Ende dieses Jahrhun-
derts der vordere Teil des Beines durch Schienen aus gesottenem
Leder, die Schenkelstücke, geschützt, und später wurden diese durch
Schienen aus Eisen und Stahl, „Dichlinge** oder „Dielinge",
oder Schenkelschienen ersetzt. Sie wurden mittels Riemen an den
Rüststrümpfen befestigt, deren Fuge über dem Knie das Kniestück
bedeckte. Daß Beinschienen und Eisenschuhe in Deutschland bereits
am Ende des XI. Jahrhs. im Gebrauche waren, beweist das Merse-
buiger Denkmal. Miniaturen des XIII. Jahrhs. stellen bereits verein-
zelt Schienenrüstungen dar. Auf einem Grabdenkmale erscheint die
neue Rüstung zuerst 1258.
Als die Maschenstrümpfe durch die Beinschienen ersetzt wurden,
stellte man auch die Fußbekleidung aus Eisenschienen oder Eisen-
platten her. Die ersten „Rüst- oder Eisenschuhe'* waren spitz,
lanzettförmig, und näherten sich den Schnabelscbuhen.
Daß diese Mode im XII. Jahrh. herrschte, beweist eine Stelle
in den Denkwürdigkeiten der byzantinischen Prinzessin Anna Comnena.
Sie sagt: „Der Franke ist furchtbar, wenn er zu Roß sitzt, sobald
er aber herunterfällt, erscheint der Reiter nicht mehr derselbe, denn
schwerfällig durch seinen Schild und die langen Eisenschuhe wird er
leicht zum Gefangenen gemacht." Auch die Handschrift von Tristan
und Isolde aus dem XIII. Jahrh. zeigt bereits die Ritter in „Schna-
belschuhen''.
Gegen die Mitte des XIV. Jahrhs. aber verschwindet der Schna-
belschuh und wird durch die Halbschnabel- oder Lanzettbogenform
ersetzt; die Spitzen verlängerten sich so weit, daß sie scheinbar für
den Kampf gleichfalls unbrauchbar waren. Es wird berichtet, daß
die österreichischen Ritter bei Morgarten (1315) sowie bei Sempach
— 232 —
(1386), als sie von den Pferden abstiep^en, die langen Enden ihrer
Schuhe abschneiden maßten. Die Schnabelschuhe, die gegen Mitte
des XIV. Jahrhs. verschwunden . waren , erscheinen am Ende dieses
Jahrhunderts wieder und haben sich bis in das XV. Jahrh. gehalten ;
damals war auch die gotische Spitzbogenform und nach dieser, gegen
Ende des XV. Jahrhs., der „Halbholzschuh'' oder „Halbbären-
fuß*' im Gebrauche, auch „Halbbärenklaue" genannt.
Mit der Maximilianischen oder Mailänderrüstung kam die der
gerippten Rüstung eigentümlich angehörende Fußbekleidung, der
„Holzschuh" oder „Bärenfuß" (Bärenklaue) in Gebrauch, der
sich bis in die zweite Hälfte des XVI. Jahrhs. erhielt
Dieser Form folgte der sogenannte „Entenschnabelschuh"
als letzter Eisenschuh, den im XVII. Jahrh. der Reiterstiefel und der
Gamaschenstiefel endgültig verdrängte.
Was den Schutz der Hand anbelangt, so wurde sie im XII. und
XIII. Jahrh. durch das äußere Ende des Ärmels des Panzerhemdes
geschützt, so daß dieser, da er keine getrennten Finger besaß, eine
Art Maschensack bildete. Nur in seltenen Fällen erscheint der Daumen
abgetrennt. Die Bilder des IX. bis XL Jahrhunderts stellen die Be-
waffneten mit unbedeckter Hand dar.
Der älteste Kampfhandschuh war die „gefingerte Handtatze",
die außer der Hand noch einen Teil des Vorderarmes bedeckte ; sie
geht bis zum Ende des XIII. Jahrhs. zurück. Im XV. Jahrh. wurde
sie durch den Fausthandschuh mit ungetrennten Fingern ersetzt,
um abermals gegen Ende dieses Jahrhs. den gefingerten Hand^
schuhen Platz zu machen, denn es gibt gotische Rüstungen des
XV. Jahrhs., die wieder gefingerte Handtatzen aufweisen, so daß eine
Zeitlang beide Arten nebeneinander in Verwendung standen. Fast
alle gerippten Rüstungen haben jedoch ungefingerte Handschuhe.
Das Erscheinen der Pistole verhalf dann gegen Ende des XV. Jahrhs.
dem gefingerten Kampfhandschuh zu allgemeiner Verbreitung.
Außer diesen Kampfhandschuhen finden wir noch den linken
„Armschienenhandschuh" der Turnierrüstungen, der der zwdten
Hälfte des XV. Jahrhs. angehört.
Die Handschuhe, die bei Ottokar von Steiermark auch manikd
heißen *), wurden auch sinnbildlich verwendet. Forderte ein Ritter den
andern zum Zweikampfe, dann warf er ihm den rechten Handschuh
i) Kapitel 536. Alle alten Bilder stellen die Kampfhelden mit anbedeckter
Hand dar, so dafi der Kampfhaodschah erst za Ende des XIII. Jahrhs. üblich geworden
za sein scheint.
— 233 —
hin; der Herausgeforderte verpflichtete sich zu erscheinen, sobald er
den Handschuh aufhob. Wurde ein Ritter in der Fehde oder im
Zweikampfe überwunden, so übergab er dem Sieger seinen Handschuh
und seinen rechten Sporn, manchmal auch sein Schwert als Zeichen
der Versicherung, daß er die Bedingungen, unter denen man Frieden
schlieflen würde, auch erfüllen werde. Durch Übergabe eines Hand-
schuhes verlieh auch der Herrscher die Ausübung gewisser könig-
licher Rechte; der Handschuh wurde so zum InvestitursymboP), und
da er auch bei Verleihung des Marktrechtes *) in diesem Sinne Ver-
wendung fand, fuhren nicht wenige Städte Handschuhe in ihren
Wappen, die irrtümlicherweise oft für Hände gehalten worden sind.
Desgleichen findet sich auf Münzen nicht selten ein Handschuh geprägt,
der gleichfalls oft falschlich für eine Hand gehalten worden ist. Auch
bei Belehnungen oder Standeserhebungen diente der Handschuh als
Symbol, und umgekehrt sandten auch vornehme Vasallen bisweilen
ihren abwesenden Lehnsherren ihren Handschuh, um die Übernahme
der Lehnspflichten symbolisch anzudeuten. Bei Hegung des pein-
lichen Gerichtes zog der Richter das Schwert und hielt es in der
rechten Hand, die mit einem verblechten Handschuh geschützt sein
mußte.
Bei den alten Deutschen waren die Helme nach Tacitus sehr
selten, und andere römische Geschichtschreiber sagen ausdrücklich,
daß die Deutschen mit entblößtem Kopfe gekämpft hätten. Später
bediente man sich, um den Kopf vor Verwundungen zu schützen,
vielleicht auch in der Absicht, dem Gegner doppelt furchtbar zu er-
scheinen, des Schutzes von Tierfellen; diese waren die Vorläufer der
Helme. Als man solche dann verwendete, waren sie gewöhnlich aus
Eisenblech, mehr oder minder stark, und gestalteten sich mannigfach
um, je nach ihrer Bestimmung; doch war es nur den Anführern der
germanischen Stämme gestattet, Helme zu tragen, und ihr Dasein ist
lediglich durch schriftliche Zeugnisse erwiesen.
Die deutsche Heldendichtung weiß vieles von wunderbaren, selbst
von gefeiten Helmen zu erzählen, und die nordischen Sagas berichten
i) Vgl. Schröder, Lehrbudi der deutsehen Bechtagem^iMe, 5* Aufl. (Leiptig
1907), S. 411— 412. Der lateinische Aiudrack Uatet per gauhtm, gwaulum, waulum
oder toafUanem, Doch werden wir dabei an einen anderen als den Kampfhandschah
denken müssen, da dieses InTestitarsymbol schon früher vorkommt als jener üblich wnrde.
Vgl. Sachsenspiegel II, 36, 4 und HI, 66, i.
2) Siehe ebenda S. 201.
— 334 —
von Helmen, die gleich den berühmten Schwertern besondere Namen
trugen. Wie die Worte Lanze und Harnisch, so stand auch das Wort
Helm in einem solchen Ansehen, daß es kurz zur Bezeichnung der
Ritter selbst gebraucht wurde.
Die Helme der südgermanischen Herzöge zeigen alle dieselbe
konische Form wie die der franko-germanischen Stämme des XI. Jahrhs.
An diesem Helm findet sich ein unbeweglicher, fester, mehrere Finger
breiter Nasenschutz oder Schemenbart, der über das Gesicht herab-
reicht und der Nase Schutz gewährt. Dieser Helm wurde über der
Ringhaube oder Kapuze (Camail), die das Panzerhemd oder der Hau-
bert abschloß, getragen. Der Helm der Nordgermanen zeigt hin-
gegen eine gewölbte Glocke, mit gleichfalls fester Nasenberge, der
sich später noch Wangenklappen und ein beweglicher Nackenschutz
zugesellte.
Über oder unter der Kettenkapuze wurde die „kleine Kessel-
haube'' {Badnet, auch Himkappe genannt) getragen, doch bedeckte
sie in letzterem Falle den Kopf nicht unmittelbar, da diesen zunächst
eine gepolsterte Zeugmütze, die „Watten kappe" beschützte, die
durch Riemen an die Maschenkapuze befestigt war. Während des
Kampfes oder im Turniere wurde über diese dreifache Kopfbedeckung
der umfangreiche und unförmliche „Topfhelm" getragen, dessen
erste Exemplare bereits gegen Ende des XII. Jahrhs. erscheinen.
Die kleine „Kesselhaube" von spitzer orientalischer Form,
die gleich einer eng anliegenden Kappe den Kopf bedeckte, darf da-
gegen nicht mit der „großen Kesselhaube" des XIV. Jahrhs.
verwechselt werden, die bereits mit Wangenklappen und Nacken-
schutz versehen war und häufig ein bewegliches Visier hatte, das
sich mittels eines Scharniers an der linken Seite öffnen ließ. Die
große Kesselhaube, unter der die Ritter noch eine Zeitlang die Maschen-
kopfbedeckung beibehielten, hatte eine ähnliche spitze Form wie die
kleine Kesselhaube. Aber mit Anfang des XV. Jahrhs. hört der
völlige Gebrauch der Kesselhaube auf.
Bisweilen erschienen die Ritter nur mit der Ringhaube oder nur
mit der kleinen Kesselhaube, am häufigsten aber trugen sie beide
Schutzbedeckungen gleichzeitig.
Die ersten „Topfformhelme" erscheinen gegen Ende des
XII. Jahrhs., und aus ihnen sind alle späteren Formen erwachsen.
Der echte T o p f h e 1 m , dieser ungestüme schwere Kopfschutz, der um
1300 erscheint und nur im Kriege und während des Turniers ge-
tragen wurde, war stark und schwer und hatte eine flache Glocke ; er
— 285 —
wurde auf dem Marsche am Sattel befestigt, vor dem Kampfe aber
mittels Schrauben und Ketten mit der Rüstung eng verbunden. Die
damals üblichen regelrechten Turniere brachten es mit sich, daß der
Kopf gegen die mit aller Macht geführten Stöße der schweren Lanze
geschützt werden mußte.
Der Stechtopfhelm des XIV. Jahrhs. wurde weit mehr bei
den Turnieren als im Kriege verwendet, da man im letzteren Falle
meist den leichteren Kriegstopfhelm benutzte, den später die
große Kesselhaube ablöste; letztere wurde sogar noch eine Zeitlang
über der Maschenkapuze getragen.
Der Stechhelm, der Helm für den Emstkampf, dessen Visier
oder Helmsturz nicht aufgeschlagen werden konnte, und der daher
auch „geschlossener" Helm hieß, gestattete das Durchsehen nur
durch kleine Öffnungen, während der „offene** Helm, der Helm fiir
das Spiel, der Turnierhelm, für das Scheingefecht aufkam. Bei diesem
leichten Helme ließ sich das gitterartige Visier mittels besonderer Ge-
lenke ganz oder halb auf- und halb abwärts schieben. Später kamen
Tumierhelme mit doppeltem Visier auf, wobei das zweite gleich jenem
des Stechhelms bloß in der Augenhöhe fein durchlöchert war und
sich vor dem Gittervisiere befand.
Die halb offenen Helme waren bei den eigentlichen oder
Hauptturnieren in Gebrauch, in denen nur mit Kolben oder Schwert,
aber nicht mit der schweren Lanze gekämpft wurde, und daher für
das Gesicht keine Gefahr bestand.
Im XV. Jahrh. wurde die Kesselhaube durch die Schale ver-
drängt. Es ist dies ein Helm deutschen Ursprunges, der bei den
zeitgenössischen Schriftstellern auch „Schaller'* heißt Anfangs mit
fester Lichtöffnung, später mit beweglichen Visieren versehen, war er
jedoch so kurz, daß sie nicht übcrr die Nasenspitze reichten und des-
halb das „Kinnstück'*, das auf den oberen Teil des Brustschildes
geschraubt wurde, zum Schutze von Hals, Kinn und Mund unentbehr-
lich machten. Oft bestand auch das Kinnstück mit dem Halsberge
aus einem Stücke.
Die Schalen oder Seh all er sind durch ihren Nackenschutz
gekennzeichnet und besaßen Ähnlichkeit mit dem Eisenhut. Letz-
terer Helm, der weder Visier noch Nackenschutz aufwies, war ver-
schieden geformt und mit breiten Rändern versehen ; er reicht gerade
wie die „Eisenkappe** — den vorhandenen alten Wandmalereien
sowie den Handschriften nach — bis gegen Ende des XII. Jahrhs.
zurück, findet sich jedoch auch noch im XVII. Jahrh., wenn auch
— 286 —
dann mit Wangenklappen, Nasenbeine und Nackenschutz au^erüstet
Die Eisenkappe, sehr schwer und dick, diente im XVL und
XVII. Jahrh. bei Belagerungen,
Außer den genannten ist noch der Burgunderhelm zu er-
wähnen, der dem XV. Jahrh. angehört; seine gewölbte Glocke war
mit Kamm, Augenschirm, Wangenklappen und Nackenschutz versehen.
Seine kleinere Nebenform war die Burgunderkappe.
Der Visierhelm, der sich von der zweiten Hälfte des XV. Jahrhs.
bis zur Mitte des XVII. Jahrhs. erhielt, muß als der vollkommenste
Helm genannt werden. Damit wären die wesentlichsten Helmt>rpen
aufgezählt Aber neben diesen Typen gab es noch eine große
Menge der verschiedenartigst geformten Helme, wie der Morian,
der Birnhelm usw., die den Bogenschützen und Fußsoldaten als
Kopfschutz dienten.
Was die nach den Vorbildern der Antike geformten Helme der
Renaissance anlangt, so waren diese mehr Schmuck- und Parade- als
Kriegs- und TumierwafTen. Ihr archäologischer Wert ist demnach ge-
ring. Die Sitte, auf dem Helme noch einen besonderen Schmuck
anzubringen, scheint bis in die Frühzeit zurückzugehen. Nach Plutarch
zierten die Kimbern ihre Helme mit oft ftlrchterlichen und schrecken-
erregenden Figuren, und diese Sitte findet sich bei der mittelalter-
lichen Ritterschaft wieder. Zur rechten Ausrüstung eines Ritters ge-
hörte auch ein besonderer Schmuck auf seinem Helme. Diese Helm-
zierden, oft phantastische Bilder darstellend, die in späterer Zeit, als
der einzelne Ritter sie schon längst nicht mehr trug, in ihre Wappen
übergingen und sich auf den Helmen der Wappen erblich als heral-
dische Abzeichen erhielten, wurden Zimier, Helmkleinode, auch
Helmzier oder Helmschmuck genannt. Um sie zu befestigen,
legte man um den Helm eine Wulst, aus dem dann die Kronen oder
Kissen entstanden. Auch der Dank, den der Ritter im Turnier er-
hielt, prangte oft auf seinem Helme, und da jener oft aus Kronen
oder Kränzen bestand, die der Sieger als seinen größten Schmuck,
als sein persönlich erworbenes Gut ansah, der ihm von Frauenhand
überreicht wurde, so war die Bezeichnung gekrönter Helm gleich-
bedeutend mit Turnierhelm. So nur wird der Ausspruch jenes
Rhters verständlich, der ein ihm als Geschenk angebotenes pracht-
volles Zimier mit den Worten zurückweist: „Ich habe nie einen an-
deren Schmuck getragen, als den durch das Schwert erworbenen."
In der Limburgischen Chronik heißt es unter anderem: „In derselbigen
Zeit (135 1) erschienen und manch Jahr zuvor, die Ritter gewappnet
— 237 —
mit Platten und mit ihren gekrönten Helmen, darunter hatten sie
kleine Bundhauben.'*
Die Helmzeichen galten jedoch anscheinend „nicht immer**
als sicheres Erkennungszeichen für dessen Träger, wie es in den fol-
genden Jahrhunderten der Fall war. Dies lehrt eine Stelle aus Ulrichs
von Lichtenstein „Frauendienst**, in der er von der „Zubereitung**
zum Turniere spricht: „Samt, Zobel, Pfeile, Hermin, Zendal schnitt
man freudig ohne Maßen viel zum Tumei, Silber und Gold wurde
auf Zendal gelegt, mancher, der das nicht hatte, schnitt Bukram (?),
jeder ziemierte *) sich, wie er wollte.**
Die Helmdecken kamen erst ziemlich spät in Gebrauch, ob-
gleich es bereits im XII. Jahrh. allgemein Sitte war, daß die Ritter
Schleier, Tücher, Bänder, sogar Ärmel, die sie von ihren Damen
erhielten, an den Helmen befestigten.
Die Zimiere war der vorzügUchste Platz, um den Dank der
Frauen oder sonstige 2^chen ihrer Gunst anzubringen, und man wird
nicht viel fehlgehen, wenn man in diesem Gebrauche den Ursprung
der Helm- und Waffendecken sucht*), die auch Helmbinden,
auch wohl Helmlör oder Brünnlör hießen. Unter Lör ist die
Binde zu verstehen. Auch der Name Zindelbinde^) kommt oft für
Helmdecke vor.
Die Vorläufer der Helmdecken waren wohl Tücher, die den Zweck
hatten, den Träger des Helmes vor den UnbUden der Witterung,
namentlich der brennenden Sonnenglut, zu schützen.
Schild, Helm und Helmdecken, in denen der Regel nach die
Hauptfarben des Wappens wiederkehren, sind die drei alten, wesent-
lichen BestandteUe eines Wappens ; sie bUdeten bereits im XIII. Jahr-
hundert ein harmonisches Ganze, und waren unstreitig geeignet, eine
mit ritterlichen Vorzügen ausgestattete Persönlichkeit zu kennzeichnen.
Diese des Schmuckes halber oft ausgezackten sowie durch den Ge-
brauch zerfetzten Helmtücher wandelte dann der omamentale Gestal-
tungssinn der Wappenmaler und Bildhauer in jene reichen Arabesken-
i) Von „Zimier** (>a Helmkleinod) gebildet
2) Nach anderer Ansicht sind die Helmdecken dorch die Einftthning der Wappen
während der Kreozzttge entstanden, und swar nicht allein infolge der Anregung, die der
färben- nnd formenreiche Orient den abendlündischen Kriegern gewfihrte, imd die eine
vielfach höchst phantastische Geschmacksrichtang in der Wappenbildnerei sor Folge ge*
habt haben soll, sondern vor allem dadurch, dafl ein dritter Wappenbestandteil notwen-
dig wurde, und das waren eben die Helmdecken.
3) Zindel ist ein leichter Taft.
— 238 —
gebilde um, die wir noch heute auf Wappenbildem fioden. Bei
Verleihung der Ritterwürde war der Helm unentbehrlich: er wurde
bei Erteilung des Ritterschlages dem Ritter als 2^ichen der neuen
Würde aufgesetzt.
Zu den Obliegenheiten des Knappen gehörte es auch, seinem
Herrn den Helm in gehöriger Art aufzusetzen und festzuschnüren.
Ein Versehen dabei konnte bei einem Turniere oder im Emstkampfe
verhängnisvolle Folgen haben *). Hatte während des Turniers ein
Ritter das Visier aufgeschlagen, oder gar den Helm abgenommen
— „abgebunden" — , galt es als ehrlos, ihn anzugreifen. Das
Abnehmen des Helmes war daher das Zeichen dafiir, daß der Ritter
nicht mehr kämpfen wollte; umgekehrt bedeutete „mit aufgebundenem
Helme", daß der Ritter zum Kampfe bereit sei. Durch das Ab-
nehmen des Helmes bezeigte der Ritter auch seine Achtung vor den
Großen und seine Demut vor Gott und den Heiligen, aber auch ein
Akt der Höflichkeit war mit dem Abnehmen des Helmes verbunden ').
Auch der gefangene Ritter band seinen Helm ab.
Als Symbol der Gastfreundschaft galt der Helm ebenfalls. Ein
auf den Zinnen der Burgen angebrachter Helm gab, wenigstens in
Frankreich, davon Kunde, daß ein jeder fahrende Ritter versichert
sein könne, daselbst eine freundliche Aufnahme zu finden.
Die vollkommene Ausbildung der Rüstung war im Norden viel
früher vollendet als in Frankreich, wo sich die Übergangsepoche
bis in den Anfang des XIV. Jahrhs. , bis in die Zeit Philipps IV.
(1285 — 1314), erstreckt. Die gegen 1210 entstandene deutsche Hand-
schrift von „ Tristan und Isolde " zeigt die Ritter bereits in Schienen-
rüstung, während die Miniaturen einer burgundischen Handschrift des
XV. Jahrhs. der Bibliothek des Arsenals zu Paris •) noch den Ma-
schenhaubert, demnach eine weit weniger vorgeschrittene Bewaffnung
aufweisen.
Alle Stücke der Rüstung waren so eng miteinander verbunden,
i) Es heißt daher anter den Vorschriften für einen Ritter: Euer Helm Bty weder
zu fest noch zu lose, sondern so, daß er paßt, aufgeschnürt,
2) Als WigoUis zur Königin Ginevr«, der Gemahlin des Königs Artus, kommt nnd
die Königin erblickt, so band er seinen Helm ab:
Und setzt in auf den satelbogen,
Er war hofsch vnd wol gezogen.
3) Es ist das die Handschrift einer römischen Geschichte, die für den burgundi-
schen Herzog Johann Obnefurcht (1401 — 141 9) geschrieben sein soU, die jedoch erst
dem Ende des XV. Jahrhs. anzugehören scheint.
— 239 —
daß im ehrlichen Kampfe, Mann gegen Mann, nicht so leicht ein Stoß
durch ihre Fugen dringen konnte, aber ein Hieb noch weniger im-
stande war, eine Verletzung herbeizuführen. Die mit aller Kraft ge-
führten Hiebe, sei es mit dem Schwerte oder dem Kolben, ver-
mochten nur eine Betäubung des Ritters und hierdurch eine Trennung
vom Streitrosse herbeizuführen, wodurch dann allerdings der Ritter
der Gnade des Siegers anheimgestellt war; denn letzterer hatte nun
das Recht, von seinem Dolche, dem Panzerbrecher, Gebrauch zu
machen. Bei der deutschen Ritterschaft geschah dies jedoch viel seltener
als bei der italischen und spanischen. Am wenigsten aber wurde der
Dolch in Deutschland in meuchelmörderischer Absicht benutzt.
Die Panzer, meist aus geglättetem und hellglänzendem Stahl
verfertigt, waren oft mit reich damaszierten oder tauschierten und ge-
triebenen Ornamenten und Figuren, oder mit geätzten Gravierungen
versehen, deren Detailausführungen einen hohen künstlerischen Wert
aufwiesen. Wenn auch im Oriente, besonders in Hindustau, Persien,
Khorasan und anderen Orten die Anfertigung von Luxuswaffen schon
einen hohen Grad der Vollendung hinsichtlich des „Inkrustierens'*
und „Damaskinierens" oder der „Tauschierarbeiten" zu
einer Zeit erreichten, als man in Deutschland sich noch größtenteils
der WafTen aus grobgeschmiedetem Eisen bediente, so gehört die
Kunst des Eisentreibens, die nicht mit dem Ausstechen oder
Stechen zu verwechseln ist, sowie die Zusammensetzung vollstän-
dig gegliederter Plattenrüstungen dem christlichen Mittelalter und den
nordischen Völkern an. Das Inkrustieren oder Damaskinieren besteht
im Einlegen dünner Gold- oder Silberfäden in Eisen oder Stahl, also
Metall, während das Einlegen in Holz „ marketieren " heißt.
Gegen Ende des XV. Jahrhs. übertrafen die getriebenen Ar-
beiten Mitteleuropas hinsichtlich ihrer Zeichnungen die Erzeugnisse
der orientalischen Waffenschmiede bei weitem, und erreichten gleich-
zeitig den höchsten Grad der Vollendung. Die Waffenschmiede
brachten es dahin, die Helmglocke aus einem einzigen Stücke, ohne
j^liche mechanische Hilfe, zu hämmern, und ihre Rüstungen suchen
ihresgleichen ^).
i) Bekannte Waffenichmiede sind: Desiderias Kollmann in Augsbarg gegen
1533; Lorens Plattner, der Waffenkänstler Maximilians I.; Wilhelm Seusen-
hofer ans Innsbmck, der Waffenkttn stier Karls V. und Ferdinands I., gestorben 1547;
Georg Springenklee in Passaa; Klemens Hörn und Johann Hopp in So-
lingen, nach 1500; Peter Pah und Bulff in München. Die Namen der Maler
Schwarz, van Achen (gestorben 1597), Brockberger, Johann Milich in
18
— 240 —
Spanien hat aus München und Augsburg reiche Rüstungen be-
zogen, die in der Armeria real zu Madrid lange als die Werke
italienischer und spanischer Meister aufbewahrt wurden, bis ihr deut-
scher Ursprung unzweifelhaft bewiesen wurde.
Es ist jedoch nicht zu leugnen, daß die von diesen Meistern
hinterlassenen prachtvollen Werke denEinflufi ausländischen Geschmacks
verraten; denn die Renaissance zeigte sich auch in der WafTenschmiede-
kunst, in der Ornamentik und in den wunderbar ziselierten Arbeiten.
Sie führte aber auch durch die Herrschaft der Reminiszenzen zu einer
verkünstelten Antike.
Was die Formen der Schienenrüstung anbelangt, so haben sich
diese im XV. und XVI. Jahrh. bedeutend geändert, denn sie paßten
sich der Zeit an, und man kann behaupten, daß die Mode auf ihre
Umgestaltung derart eingewirkt hat, daß sich die Rüstungen nach
ihrer Art und Entstehungszeit leicht bestimmen lassen. Dabei ist je-
doch zu berücksichtigen, daß die Umgestaltungen auch durch die
veränderte Fechtweise infolge der Verbreitung der Feuergewehre ge-
radezu unvermeidlich wurden.
Während des XV. Jahrhs. war die Form der Rüstung in allen
ihren TeUen gotisch, und die gotische Bewaffnung germanischen
Ursprungs nahm überall dorthin ihren Weg, wo der Geist des echten
Rittertums herrschte. Alles war harmonisch gegliedert, und die
Rüstungen einschließlich des Schwertes bieten die schönsten Typen
ritterlicher Bewaffnung. Aber die edeln Linien verlieren sich bereits
gegen das Ende des XV. Jahrhs. Der Brustschild wölbt sich immer
mehr, und im Anfange des XVI. Jahrhs. weisen die einzelnen Teile
der Rüstung eine größere Ausdehnung auf.
Die dieser Epoche angehörende gerippte Rüstung, auch Mai-
länder oder Maximilianische Rüstung genannt, eine deutsche Erfindung
aus MaximUians I. Zeit, zeichnete sich durch schöne rippenartige Aus-
kehlungen aus, die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts häufig, durch
kunstvoll geätzte oder gravierte Zeichnungen geziert sind.
Die Hamischtracht, die unter Maximilian I. in ihrer höchsten
Blüte stand, erreichte gegen Ende des XVI. Jahrhs. ihre größte Voll-
endung, doch vermochte die Eiseneinhüllung in dieser Zeit g^en die
MfiDchen (gestorben 1592), welche die Zeichnungen fUr diese illnstren Meister lieferten,
sind unzertrennlich von der deutschen Waffenschmiedekunst. — Nicht za vergessen sind
auch die beiden Nürnberger Meister Wohlgemath (1434- 15 19) und dessen Schfiler
Albrecht Dürer, 1471 geboren, welche die Rüstungen mit geätzten Graviermigen
— ihrer Erfindung — versahen.
— 241 —
sich immer mehr verbreitende Feuerwaffe, die dem Fernkampfe das
Übergewicht verschaffte, keinen hinreichenden Schutz mehr zu ge-
währen. Die Rüstung erfüllte ihren Zweck nicht mehr, und sie ver-
fiel, gerade wie das Rittertum, infolge der geänderten Kriegskunst
schnell, um in der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhs. völlig außer
Gebrauch zu kommen.
Ein Rüstungsstück verschwindet nach dem anderen : bald wird kein
Armzeug mehr benutzt, und an Stelle des Beinschutzes und der Eisen-
schuhe treten die Reitstiefel und der Gamaschenstiefel. Wir stehen
vor der sogenannten Halbrüstung. Bevor jedoch diese eingeführt
wurde, nehmen die Brustschilde der Rüstungen groteske Formen an,
und das ist das Anzeichen für den vollständigen Verfall der Rüstung.
In Deutschland sehen wir zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges bereits
den Lederkoller mit leichter Halsberge an Stelle des Kürasses oder
Brustpanzers, der sich mit dem Helme bis auf unsere Zeiten nur bei
einigen Reiterregimentern erhalten hat.
Was die Tumierrüstungen anbelangt, so waren sie immer schwerer
als die für den Kriegsdienst bestimmten. Hinsichtlich der Dimensionen
aller Rüstungen des XIV. bis XVI. Jahrhs. gilt, daß sie ziemlich eng
sind und von kräftig gebauten Männern unserer Generation nicht
getragen werden könnten.
Um die Streiche des Gegners zu entkräften, zugleich um — be-
sonders bei den Maschenharnischen — empfindliche Quetschungen
hintanzuhalten, trugen die Ritter unter dem Harnisch ein aus Lcder,
Leinwand oder seidenem Zeuge hergestelltes Wams ohne Ärmel,
Gambeson oder Gamboison, auch Watnbasium genannt, das mit Baum-
wolle, Werg oder dergleichen leicht bepolstert war. Als die neue
Rüstung das Maschenpanzerhemd verdrängte, erfuhr auch das Unter-
kleid insofern eine Änderung, als nunmehr an dem Wams sitzende
Rüsthosen und Rüststrümpfe gleichfalls aus leicht gefüttertem
Leder- oder Leinenzeug üblich wurden.
Zwischen Wams und Harnisch soll zum Schutze der Brust bis-
weilen noch eine Eisenplatte eingefügt worden sein; ja nach Wilhelm
de Breton wurde sie sogar unter dem Wams getragen, was jedoch
an sich unwahrscheinlich ist.
Die herrlichste Zierde, die der Ritter über die ganze Rüstung zog,
war der Waffenrock. Dieses Oberkleid, in Form einer Dalmatika,
stets ohne Ärmel, aus feinstem Tuche hergestellt, war meist mit Gold
und Silber reich durchwirkt, mit prächtigem Pelzwerk oder mit kost-
barem Zeug geftittert oder verbrämt, und mit den Wappen des Trägers
18*
— 242 —
geziert. Der Gewohnheit der Zeit entsprechend waren auch die Waflfen-
rocke gelegentlich mit Denksprüchen geziert. Ein höchst kostbarer
Waffenrock galt als vorzügliches Kennzeichen ritterlicher Würde. Nur
ein Ritter durfte einen Waffenrock tragen, und einem Knappen war
er ebensowenig gestattet wie ein Ritterpanzer. Allzu großen Luxus in
Waffenröcken suchten besondere Vorschriften hintanzuhalten.
Je nach der Sitte der Zeit oder dem eigenen Ermessen des Rit-
ters entsprechend, war der Waffenrock von verschiedener Länge und
reichte meist bis zu den Knien, bisweilen auch bis zu den Knöcheln.
Die Farbe des Tuches ward willkürlich gewählt; doch war das Schar-
lachrot wegen seines in die Augen fallenden Glanzes besonders beliebt *).
Ulrich von Lichtenstein gibt uns folgende Beschreibung seiner
Bekleidung, als er als König Artus verkleidet, vom Paradiese kom-
mend, von neuem in die Welt zieht, um die Ritterschaft der Tafel-
runde wieder herzustellen. Er sagt: „Auch legte ich einen Halsberg
an, von festen leuchtenden Stahl, scharlachrot war mein Wappenrock,
mit gelben Zendal gefuttert, seine Länge schwang bis auf die Erde*).
Über den Knien war er mit Borten gezegelt und meisterlich gegattert.
Über dem Wappenrock führte ich einen Gürtel, deß Borte war grün
und mit Gold beschlagen, an meiner Brust sah man ein köstlich Heft-
lein von Gold. Da zog man mir mein Roß her, das war wohl ver-
deckt mit Scharlach, die Decke reichte bis an den Huf, sie war dem
Wappenrock gleich gefüttert, und mit Borten reich gegattert. Ich stieg
zu Roß und band den Helm zu Haupte, der war mit einer goldenen
Wele ^) gezimiert, um die ging ein Kranz von Scharlach, die Zegel*)
schwankten bis auf die Fenster ^). Dann nahm ich den Schild zu Halse,
er war wie der Wappenrock von Scharlach, und reich mit Borten
gegattert, er hing voll Schellen, die lauten Klang von sich gaben."
Man sieht, daß auch hier die Scharlachfarbe vorherrschte. Sie hat sich
bei Krönungsmänteln sowie bei feierlichen Aufzügen in der Kleidung
hoher obrigkeitlicher Personen bis in die neuere Zeit erhalten.
Um das Flattern des Waffenrockes hintanzuhalten, das den Ritter
i) Der Farzival dargereichte Mantel hatte eine rote Farbe, und im „Iwain^' heifit es:
,, Ein scharlachenes Mantelein gab sie mir an.<^ „ Scharlach <^ bezeichnet jedoch im
Mittelalter nicht immer die Farbe, sondern auch oft ein feines TucIl, so dofi einmal so-
gar von hrün scharla^hen die Rede sein kann.
2) Das bezeugt die übergroße Länge der Waffenröcke, die besonders auf den Sie-
geln so auffallend lang dargestellt sind, daß es ans kaum möglich erscheint.
3) Das heißt mit einem zusammengefalteten Tuche geziert.
4) Das waren die Enden oder Zipfel.
5) Das heißt bis zu dem Visier des Helmes.
— 243 —
in der freien Bewegung hindern konnte, wurde ein schmales Gürtel-
band oder eine Schärpe um die Hüfte angelegt, der Rittergürtel,
ein breiter, reich verzierter Gurt, in dem links das Schwert und rechts
der Dolch steckte.
Aus der Farbe der Schärpe konnte man zuweilen erkennen, welcher
Nation der Ritter angehörte. So trugen die Engländer rote, die Fran-
zosen weiße Schärpen. Die letzteren fügten auch ihnen noch ihre
eigene Hausfarbe hinzu, und nannten diese ihre Leibfarbe, „Livrei**,
woraus sich später der Name der Tracht der Bedienung entwickelte.
Die deutsche Ritterschaft wählte, sofern sie sich nicht der Farben
ihrer Wappenbilder bediente, als Farbe ihrer Schärpen die Farbe ihrer
Damen. Da später die F^arbe der Schärpe an Bedeutung gewann, wurde
sie auch über die Rüstung gelegt, aber nicht mehr um die Hüften,
sondern von der rechten Schulter zur linken Hüfte überhängend.
Das wichtigste Attribut der Ritterwürde waren die Sporen, die
dem Ritter nebst den anderen Rüstungsstücken bei Erteüung des
Ritterschlages in feierlicher Weise angelegt wurden. Ohne mich auf
die verschiedenen Formen der Sporen hier einzulassen, sei nur auf
deren symbolische Bedeutung in aller Kürze hingewiesen.
Schon bei deren Anlegung, die zuweilen auch Frauen vornahmen,
wurde dem jungen Ritter die Mahnung zuteil, daß ihn die Sporen
hauptsächlich daran erinnern sollten, daß Tapferkeit und Ehre der
einzige Sporn, der einzige Antrieb zur edeln Tat für ihn sein dürften.
Die Redensart „nach goldenen Sporen streben", „die Sporen ver-
dient haben" bedeutet nach der Ritterwürde streben, oder dieselbe er-
langt haben.
Der Besiegte mußte dem Sieger nebst dem rechten Handschuh
den rechten Sporn übergeben als Zeichen, daß er die Bedingungen,
unter denen ihm das Leben geschenkt oder die Gefangenschaft er-
lassen wurde, treu erfüllen werde. Die Sporen wurden auch als
Siegestrophäen in den Kirchen aufbewahrt, und nicht selten den Rit-
tern auch in den Sarg gelegt.
Auch noch spät bildeten die Sporen ein Merkmal des Adels als
solchen und zwar hielten sich Ritterbürtige auch dann für berechtigt,
Sporen zu tragen, wenn sie nicht Gelegenheit hatten, ein Reitpferd
zu besteigen, oder überhaupt keines besaßen. Demgemäß legten ehe-
dem auch die Doktoren beider Rechte, die als solche für adlig er-
achtet wurden , als Zeichen ihrer hohen Würde wenigstens bei dem
feierlichen Akte der Promotion Sporen an.
— 244 —
Mitteilungen
Archive» — Die Organisadon des staatlichen Archivwesens in Würt-
temberg ist den Lesern dieser Zeitschrift bekannt ^) , und auch die Ent-
stehung und der Inhalt des Finanzarchivs zu Ludwigsburg, das dem
Kgl. Finanzministerium untersteht, ist schon kurz berührt worden. Nunmehr
ist als erstes Heft Württembergischer Archmnventare, herausgegeben Ton
der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte, eine Publikation
erschienen, die uns wenigstens mit einem Teile der Bestände, nämlich denen
der herzoglichen Rentkammer , näher bekannt macht *), In der Einleitung
wird die Entstehung des Finanzarchivs (1806) und seine Zusammensetzung
beschrieben: den Grundstock bilden die Akten der herzoglichen Finanz-
verwaltung (Herzogliche Rentkammer) und die der Kirchengutverwal-
tung (Herzoglicher Kirchenrat), denen noch andere Abteilungen an-
gegliedert worden sind. Durch voreilige Aktenausscheidung in den ersten
Jahrzehnten des XIX. Jahrhunderts sind wertvolle Teile verloren gegangen,
so die Akten über die Erbauung des Ludwigsburger und Stuttgarter Schlosses,
der Solitude und anderer Bauten, während andere als geschichtlich beson-
ders wichtig erkannte Archivalien dem Kgl. Staatsarchiv einverleibt worden
sind. Trotzdem ist aber noch ein recht bedeutender Rest vorhanden, der
in dem vorliegenden Hefte übersichtlich beschrieben imd dadurch der Öffent-
lichkeit zugänglicher gemacht wird.
Als Beilagen sind abgedruckt die Verordnungen über die Geschäfts-
ftihrung des Kammerkollegiums von 1728 und über die Organisation des
Kollegiums 1791, wodurch zugleich der Wirkungskreis, aus dem heraus
Akten entstanden sind, trefflich gekennzeichnet wird, wenigstens ftir das
XVIÜ. Jahrhundert. Für die ältere Zeit bietet einen gewissen Ersatz dafür
die Aufzählung der Einnahme- und Ausgabeposten der Landschreiberei-
rechnungen von 1484—86, 1584 — 85, 1684/85 imd 1784/85.
Der Hauptteil (S. 6 — 147) enthält eine ziemlich ins einzelne gehende
Übersicht über die Bestände, die sich offenbar eng an das handschriftliche
Inventar anschließt Darin liegt zugleich ein unverkennbarer Mangel der
Veröffentlichung, insofern einesteils ganz unnötigerweise viele Formehi des
Kanzleistils abgedruckt werden, während andemteils fUr den fremden Be-
nutzer recht wesentliche Angaben fehlen, nämlich Andeutungen über den
Umfang der einzelnen bezeichneten Akten. In einem gedruckten Archiv-
inventar darf man sich zweifellos kürzer fassen als: Die Veranstaltungen
und Festivitäten aus Afilafs der Vermählung des Hereogs Karl mit der
Prinzessin lYiederike Sophie inm Brandenburg - Bayreuth 1748151 (S. 7).
Recht wissenswert für einen, der diese Akten benutzen will, ist dagegen,
wieviel Faszikel über dieses Ereignis vorliegen. Eine kurze, aber treffende
Kennzeichnung des Tatbestandes ist dagegen auf derselben Seite die : Fürstl.
i) Vgl. 2. Bd., S. 29—32 und 6. Bd. S. 134—135.
2) Bas würitemhtrgische Finanzarchiv. I.: Die Akiensammlung der hersag-
liehen Rentkatnmer von £. Denk. Stattgart, W. Kohlhammer, 1907. IV n. 160 S.
8°. JH 2,00.
— 245 —
Beiseteungs- und Trauerakien (38 FäUe) 158311799, während Der fürst-
brüderliche Vergleich 1777180 offenbar zu wenig besagt.
Trotz dieser Mängel in der Sachbezeichnung sind die Mitteilungen na-
mentlich für die Wirtschaftsgeschichte des XVII. und XVIU. Jahrhunderts
ganz außerordentlich wertvoll, ja für allgemeinere Zwecke besagen schon die
kurzen Angaben des Inventars teilweise genug, so z. B., daß es 1731 bis
1751 herzogliche „Kindbettstuben*' gegeben hat (S. 7) oder daß 1747 — 52
württembergisches Holz für die Pforzheimer Industrie gegen Lieferung von
1000 bis 1500 Zentner Eisenwaren abgegeben wurde (S. 16). Für die
Geschichte der Bezirksämter und der in ihnen gelegenen Orte liegt, wie
Angaben über die Akten der in alphabetischer Ordnung aufgeführten Ober-
amteien und Kellereien (S. 73 — 121) erkennen lassen, ein ganz überaus
reichliches Material vor, das bisher gewiß nur zum kleinsten Teile für die
Ortsgeschichte ausgebeutet worden ist. Indes den wertvollsten Teil der
Archivbestände scheinen die Akten über Forstwesen, Hütten und Salinen,
Regalien (Salpeter, Tabak, Kalender), ganz besonders aber diejenigen über
Kommerzien, Fabriken imd Manufakturen (S. 60 — 63) zu bilden, deren
gründliche Durcharbeitung außerordentlich zu wünschen wäre.
Ober das Wesen der Landesarchive der einzelnen österreichischen
Kronländer unterrichtete bereits früher ein Aufsatz von Michael Mayr ^),
und zwar wurde dort dasjenige in Brunn als eines der hervorragendsten
bezeichnet. Wie berechtigt dieses Urteil war, beweist schlagend eine ganz
prächtige, äußerlich sehr vornehm ausgestattete und inhaldich mustergültige
Veröffentlichung, zu deren Herausgabe der Umstand Anlaß gab, daß 1907
das Landesarchiv aus ungeeigneten, schon seit Jahren unzulänglichen Räumen
in neue, zweckentsprechende übergeführt wurde. Mit der Übersiedlung war
aber zugleich eine außerordentlich starke Vermehrung der Bestände ver-
bunden, imd die Aktensammlungen befinden sich gegenwärtig in einem sol-
chen Zustande, „daß das Landesarchiv nicht mehr ein fiast unzugängliches
Depot verborgener Schätze, sondern ein interessantes besichtigenswertes wissen-
schaftiiches Institut darstellt*^ Diese Veröffentlichung führt den Titel: Das
mährische Landesarchiv, seme Oeschichte, seme Bestände, herausgegeben
vom Landesausschusse der Markgrafschaft Mähren, von Dr. Bertold Bretholz,
Landesarchivar. (Brunn, Verlag des mährischen Landesausschusses 1908,
161 S. 40.)
Das Titelbild zeigt den Prachtbau des neuen Amtsgebäudes für den
mährischen Landesausschuß, in dessen zweitem Stock das Archiv gegen-
wärtig untergebracht ist. Auf fünf weiteren Tafeln ist der Grundriß dieses
Stockwerks und der Anblick von vier Archivsälen veranschaulicht, und wir
erkennen daraus, daß die Aufgabe, einem modernen Verwaltungsgebäude
zweckmäßige Archivräume einzugliedern, nicht nur ganz vorzüglich gelöst
worden ist, sondern daß zugleich die bei den neueren Archivbauten ge-
machten Erfahrungen Verwertung gefunden haben. Die Beschreibung der
Äußerlichkeiten der Archiveinrichtung (S. 70—73) verdient die Beachtung
i) Vgl. diese Zeitschrift 5. Bd., S. 317—318.
— 246 —
aller, die in dieser Richtung Erfahrungen sammeln wollen. Auf zehn wei-
teren Tafeln sind wertvolle Bestandteile des Archivs vorzüglich reproduziert,
die — in dieser Weise einer breiteren Öfiendichkeit zugänglich gemacht —
gewifi dazu beitragen, das Interesse vieler für das Archiv wachzurufen» die
ihm bisher teilnahmlos gegenüberstanden. Demselben Zwecke dient die
dauernde Ausstellimg von Archivalien mannigfachster Art und verschiedensten
Inhalts, deren ausführlicher Katalog (350 Nummern, S. 1 23 — 161) auch sachlich
recht lehrreich ist, weil er zugleich auf zahlreiche inhaltlich und formell be-
deutende Stücke des Archivs hinweist. Die Regesten mit ihren Erläutenmgen
können überdies als mustergültig gelten.
Für die fernere Benutzung des Archivs zu geschäftlichen und wissen-
schaftlichen Zwecken von allergrößter Bedeutung ist die übersichtliche Be-
schreibung der Bestände (S. 73 — 113) imd die Geschichte des Ar-
chivs (S. I — 67), die sich gegenseitig in der Weise ergänzen, daß ein Teil
immer erst durch den andern voll verständlich wird. Was in diesen Blättern
schon so oft für jedes Archiv gefordert worden ist — ein sog. Über-
sichtsinventar — , das liegt hier für das mährische Landesarchiv vor,
und an seiner Hand vermag sich jeder Forscher ein Urteil darüber zu bil-
den, welche Archivalien er mit Grund dort suchen darf. — Den Grundstock
der Landesarchive bildet in allen Kronländem die Registratur der alten
Landstände, über deren Verwahrung wenigstens seit dem XVI. Jahrhundert
genauere Angaben vorliegen. Eme Verwertung imd Ordnung des Archivs
in modernem Sinne und zu wissenschaftlichen Zwecken wurde in die Wege
geleitet durch die Anstellung des mährischen Historiographen (seit 1836)
Anton Boczek als Landesarchivar (1839), wenn auch zunächst mehr die
Absicht vorschwebte, eine Zentralstelle für Erforschung der mährischen Landes-
geschichte zu gründen und zu diesem Zwecke die im Lande verstreuten Ar-
chive zu inventarisieren. Als Boczek Anfang 1847 starb, war für die Aus-
gestaltung des Archivs selbst nur wenig geschehen, aber eine bedeutende
Erwerbung bildete doch der Nachlaß des 1826 gestorbenen Johann Peter
Cerroni für eine 15jährige Rente von 400 Gulden an dessen Neffen.
Auch Boczeks Nachlaß wurde angekauft.
Als Historiograph trat 1849 Beda Dudik in den Dienst des Landes,
während Chytil (gest. 1861) und Peter Ritter v. Chlumecky (gest. 1863)
seit 1853 die Organisation des Landesarchivs in die Hand nahmen und
ersteier 1855 offiziell zum Archivar ernannt wurde. Neben mannigfachen
Veröffentlichungen, die auf die Erschließung der kleineren Archive hinaus-
laufen, wtu-de nun begonnen, das Landesarchiv zur allgemeinen Sammelstelle
für „alle auf Recht und Geschichte Bezug nehmenden und zum kurrenten
Dienst nicht mehr gehörigen Schriften, Urkunden und Akten der Landes-
behörden" zu machen. Schon 1856 wurden die Archive der aufgehobenen
Klöster einverleibt (S. 49), und 1857 beschloß man eine allgemeine Archiv-
statistik durch die PfarrgebUichkeit des Landes vornehmen zu lassen (S. 51
bis 52). Ja 1858 ging v. Chlumecky noch weiter imd ernannte „Archiv-
korrespondenten *S d. h. Personen, die ganz in dem Sinne wirken sollten
wie die Archivpfleger in Baden seit 1884 tätig gewesen sind. Ein Jahr
lang waren die Bemühungen dieser Männer von Erfolg begleitet (S. 53),
aber dann versagte die Organisation. Unter dem Archivar Vinzenz B ran dl
— 247 —
(i86i — 1899)9 <^cr sich die Aufgaben eines Landesarchivs längst nicht so
umfassend dachte wie v. Chlumecky, trat eine Stockung ein, wenn auch die
Tätigkeit des letzteren noch einige Jahre über seinen Tod hinaus nachwirkte.
Der Zuwachs an Archivalien aus Registraturen, namentlich seit 1867, war
demgemäß gering, während manche Einzelstücke im Handel erworben wur-
den. Die Haupttätigkeit Brandls lag auf literarischem Gebiete, und zwar
beschäftigte er sich besonders mit der Rechtsgeschichte. Diesem Umstände
ist es zu verdanken, daß durch ihn dem Archive eine große Zahl Gerichts-
bücher einverleibt wurde.
Die Räume, in denen das Archiv seit 1877 imtergebracht war, er-
wiesen sich schon imter Brandl, noch mehr aber unter seinem Amtsnach-
folger, Bretholz, der in v. Chlumeckys Fußtapfen trat, als völlig unzu-
reichend. Die schon 1897 beschlossene Übernahme der Statthaltereiregistratur
mußte wegen Platzmangels aufgeschoben werden, und ebenso ging es mit
anderen angebotenen Zuwendungen. EHesen Übelständen wurde durch den
Neubau des Amtsgebäudes und die Schaffung großer, zweckmäßiger Archiv-
räume darin begegnet, und der Erfolg war, daß die Bestände 1907 um das
Fünffache des bisherigen Umfangs vermehrt werden konnten. Nunmehr ist das
Landesarchiv das Zentralarchiv für Mähren geworden, und nimmt von jetzt
an unter den Landesarchiven der Kronländer eine ganz besondere SteUung ein.
Auf die Übersicht der Bestände (S. 73 ff.) braucht hier weiter nicht
eingegangen zu werden. Aber für jeden Archivar und jede Archivbibliothek
besitzt das vorliegende Buch eine solche Bedeutung, daß seine Verbreitung
in allen Landschaften wünschenswert erscheint. Die in schlichter Weise ge-
schilderte Entwicklung des Archivwesens in Mähren — nichts weniger wird
geboten — ist geradezu typisch, und für die Lösung der modernen archi-
valischen Aufgaben finden sich manche Fingerzeige. Deshalb schulden die
Archivare dem Verfasser, dem derzeitigen Landesarchivar, für sein Buch den
wärmsten Dank. Dank schuldet ihm aber auch das Land Mähren und
dessen offizielle Vertretung, der Landesausschuß ; denn diese großartige Neu-
organisation in den neuen Räumen war eben nur mögUch, weU sich ein
Mann wie Bretholz der Riesenaufgabe unterzogen hat sie durchzuführen.
Zu der früheren Mitteüung über das Stadtarchiv in Elbing *) teUt
Prof. Neubaur das Folgende mit Zum ersten Male wird, soweit bis jetzt
bekannt ist, das Archiv in einem Schreiben des Rats zu Elbing an den zu
Dan zig vom 30. Dezbr. 1580 (Orig. im Staatsarchiv Danzig) erwähnt, und
zwar handelt es sich um die tx^rmals eingesanUeten simplen Accisen. Dieses
Schreiben ist auch archivgeschichtlich deswegen bemerkenswert, weU darin das
Wort „Archiv'* im modernen Sinne verwendet wird, wenn es heißt: . . .,
indem wir in unserm archivo disfcUs wenig nachrichtiges befinden Sonst
findet sich dieser Sprachgebrauch erst im XVIL Jahrhimdert.
Prelsmnssehrelben. — Durch eine Stiftung desKammerherm von
Frege-Weltzien ist die Kgl. Sächsische Kommission für Geschichte in
i) Vgl. diese Zeitschrift 8. Bd., S. 247 Anm. i.
— 248 —
die Lage versetzt worden, Preise für darstellende Arbeiten auszuschreiben.
Gegenwärtig geschieht dies zum ersten Male, und zwar soll der Einflufs
der Kontinentalsperre auf die Entwicklung des Wirtschaftslebens
im Königreich Sachsen möglichst aUseitig imd derartig untersucht wer-
den, daß die Ergebnisse sichere Bausteine zu einer vertieften Geschichte
Sachsens in der Zeit Friedrich Augusts des Gerechten bieten. Bearbeitungen
sind unter Beigabe des Namens des Verfassers in einem verschlossenen
Briefumschlage, der ein Kennwort und eine Adresse für die Rücksendung
des Manuskriptes tragen muß, bis zum i. September 1910 an die Kgi.
Sächsische Kommission für Geschichte, Leipzig, Universität, Bomerianum
einzusenden. Preis 1000 «4f.
Das Preisausschreiben der Oberlausitzischen Gesdlschaft der Wissen-
schaften vom Jahre 1906, das zur Bearbeitung einer Geschichte des
Siebenjährigen Krieges in der Lausitz^) aufforderte, ist offenbar er-
gebnislos geblieben. Deshalb wird die Aufgabe unter Reichen Bedingungen
aufs neue gestellt und als Ablieferungstermin der i. Jantiar xgii bestinmit
Eingegangene Bflcher.
Schnitze, Karl: Aus acht Jahrzehnten, Lebenserinnerungen. Gotha, Fried-
rich Andreas Perthes, Aktiengesellschaft 1907. 269 S. 8^'. M. 5,00.
Wittenberger Ordiniertenbuch 1537 — 1560, veröffentlicht von Georg
Buchwald. Leipzig, Georg Wigand 1894. 141 S. Lex.-8®. M. 5,00.
Dasselbe. Zweiter Band: 1560— 1572 mit Berichtigungen und Ergän-
zungen fUr die Jahre 1558 — 1568 aus Paul Ebers Aufzeichnimgen,
veröffentlicht von Georg Buchwald. Leipzig, Georg Wigand 1895.
2x8 S. Lex.-8^ M. 9,00.
Zah n, W.: Die Geschichte und die wissenschaftliche Tätigkeit des Altmärkischen
Vereins für vaterländische Geschichte 1836 — 1906 [= 34. Jahres-
bericht des Altmärkischen Vereins für vaterländische Geschichte zu Salz-
wedel (Magdeburg, E. Baensch jun. 1907), S. i — 14.].
Beiträge zur Geschichte der Universitäten Mainz und Gießen, herausgegeben
im Auftrage des Historischen Vereins für das Großherzogtiun Hessen
von Julius Reinhard Di et er ich und Karl Bader. Gießen, Emil
Roth 1907. '532 S. 8^.
B e n s n e r Bezirkskalender für das Jahr 1 908 . Bensen, Heinrich Pilz. 171 S. 4^.
Fink, Georg: Standesverhältnisse in Frauenklöstem und Stiftern der Diözese
Münster imd Stift Herford. Bonner Dissertation. Münster, Regensberg
1907. 82 S. 8®.
Ger lach, August: Chronik von Lauchheim, Geschichte der ehemaligen
Deutschordenskommende Kapfenburg. EUwaugen, Franz Bucher 1907.
363 S. 8^. M. 3,00.
Halle, Ernst von: Die Seemacht in der deutschen Geschichte [= Samm-
lung Göschen, Nr. 370]. Leipzig, G. J. Göschen 1907. 154 S. i6®.
Geb. M. 0,80.
i) Vgl. diese Zeitschrift 7. Bd., S. 200.
— 249 —
Kot he, Wilhelm: Kirchliche Zustände Strafiburgs im XIV. Jahrhundert,
ein Beitrag zur Stadt- und Kulturgeschichte des Mittelalters. Freiburg
i. B. 1903. 126 S. 8^ M. 2,50.
Nikel, Johannes: Allgemeine Kulturgeschichte, im Grundriß dargestellt.
Paderborn, Ferdinand Schöningh 1907. 621 S. 8^. M. 5,80.
Reformation des Kaisers Sigmimd, die erste deutsche Reformschrift eines
Laien vor Luther, herausgegeben von Heinrich Werner [= III. Er-
gänzungsheft des Archivs für Kulturgeschichte, herausgegeben von Georg
Steinhausen]. Berlin, Alexander Dtmcker 1908. 113 S. 8^.
Roth, Friedrich: Augsburgs Reformationsgeschichte. III. Band: 1539 bis
1547 bzw. 1548. München, Theodor Ackermann 1907. 564 S. 8^.
Schmithals, Otto: Drei freiherrliche Stifter am Niederrhein (Essen, Elten,
Gerresheim). Bonner EHssertation. Bonn 1907. 80 S. 8^.
Slaski, W. von: Danziger Handel im XV. Jahrhundert, auf Grund eines
im Danziger Stadtarchiv befindlichen Handlungsbuches geschildert.
Heidelberger Dissertation 1905. 97 S. 8^.
Srbik, Heinrich Ritter von: Der stai^che Exporthandel Österreichs von
Leopold I. bis Maria Theresia, Untersuchungen zur Wirtschaftsgeschichte
Österreichs im Zeitalter des Merkantilismus. Wien und Leipzig, Wilhelm
Braumüller 1907. 432 S. 8^. M. 8,00.
Archivinventare, Württembergische. Herausgegeben von der
Württembergischen Kommission für Landesgeschichte. Erstes Heft:
Das württembergische Finanzarchiv, i. Die Aktensammlung der her-
zoglichen Rentkammer. Von £. Denk, Finanzrat in Ludwigsburg.
Stuttgart, W. Kohlhanmier 1907. IV und 160 S. 8^. M. 2,00.
Blennerhassett, Charlotte Lady: Maria Stuart, Königin von Schottland
1542 — 1587, nach den neuesten Forschungen und Veröffentlichungen
aus Staatsarchiven dargestellt Kempten und München, Jos. Kösel
1907. V und 386 S. 8®. M. 4,20.
Bretholz, Bertold: Das mährische Landesarchiv, seine Geschichte, seine Be-
stände, herausgegeben vom Landesausschusse der Markgrafschaft Mähren.
Brunn, Verlag des mährischen Landesausschusses 1908. 161 S. 4®.
Buchkremer, Josef: Das Grab Karis des Großen. Mit 5 Abbildungen
[= Zeitschrift des Aachener Q^chichtsvereins, 29. Band, S. 68 — 210].
Aachen 1907.
Devrient, Ernst: Thüringische Geschichte [= Sammlung Göschen Nr. 352].
Leipzig, G. J. Göschen 1907. 181 S. 16^. M. 0,80.
Dilichs, Wilhelm, Federzeichnungen kursächsischer imd meißnischer Ort-
schaften aus den Jahren 1626 — 1629, herausgegeben von Paul Emil
Richter und Christian Krollmann [>« Aus den Schriften der
Königlich Sächsischen Kommbsion für Geschichte]. 3 Bände quer-fol.
Dresden, C. C. Meinhold & Söhne 1907. 28 S. Text und 142 Ab-
bildungen. M. 28,00.
Efilinger, C.: Das Postwesen in Ostfnesland in der Zeit von 1744 bis
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Heft Vni/lX]. Aurich, D. Friemann 1908. 89 S. B^.
Fischer, Franz: Die Reformationsversuche des Bischofs Franz von Waldeck
im Fürstbistum Münster [= Beiträge für die Geschichte Niedersachsens
— 250 —
und West&lens, 6. Heft]. Hfldesheim, August Lax 1907. 176 S. 8^
M. 3,00.
Frey tag, Hermann: Wie Danzig evangelisch wurde. Danzig, Evangdische
Vereinsbuchhandlung 1903. 61 S. 8^.
Fried, Alfred H.: Die moderne Friedensbew^^g [= Aus Natur und
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Leipzig, G. J. Göschen 1908. 162 S. i6^ M. 0,80.
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C. H. Beck [1901]. 24 S. 8«.
Hauffe, Gustav: Die grundlegenden Unterschiede zwischen ELnaben- imd
Mädchenschulen. Preisschrift, preisgekrönt vom „Verein für das höhere
Mädchenschulwesen im Königreich Sachsen'*. Hohen-Neuendorf, Rieh.
Fuchs [1908]. 212 S. 8^ M. 3,50.
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zeitalter. Mainz, Hermann Quasthoff 1907. 280 S. 8^. M. 6,00.
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Erster Teil [»» Veröffentlichungen aus dem Fürstbischöflichen Diözesan-
archive zu Breslau, dritter Band]. Breslau, G. P. Aderholz 1907.
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Knapp, Hermann: Die Zenten des Hochstifts Würzburg, ein Beitrag zur
Geschichte des süddeutschen Gerichtswesens imd Strafrechts. Mit Unter-
stützung der Savignystiftung herausgegeben. L Band: Die Weistümer
und Ordnimgen der Würzburger Zenten (2 Abteilimgen 1400 S.).
IL Band: Das Alt-Würzburger Gerichtswesen und Strafrecht (979 S.).
Berlin, J. Guttentag 1907. M. 75,00.
Knapp, Hermann: Die Würzburger Zentgerichts-Reformation 1447, heraus-
gegeben und erläutert von H. K., eingeleitet von Josef Kohler
[ssm Quellen zur Geschichte des Strafrechts außerhalb des Karolina-
kreises]. Mannheim, J. Bensheimer [1907]. 92 S. 8^. M. 3,00.
Koniecki, O.: Geschichte der Reformation in Polen. Zweite vermehrte
und verbesserte Auflage. Posen, W. Decker & Co. 1901. 276 S. 8 ^
M. 1,50.
Krause, G.: Die Reformation und Gegenreformation im ehemaligen König-
reiche Polen, besonders in den jetzigen Ostmarken Deutschlands bzw.
Preußens. Zweite erweiterte Auflage. Lissa i. P., Friedrich Ebbecke
1905. 146 S. 8^ M. 1,60.
Lenz, Max: Ausgewählte Vorträge und Aufsätze [= Deutsche Bücherei,
Band i8/i8*]. Dritte vermehrte Auflage. Berlin SW 68, Verlag
Deutsche Bücherei [1907]. 228 S. 8®. M. 0,60.
Mamlock, G. L.: Friedrichs des Großen Korrespondenz mit Ärzten. Stutt-
gart, Ferdinand Enke 1907. 168 S. 8®. M. 6,00.
Maydorn, Bernhard: Bilder aus der schlesischen Reformationsgeschichte
für Volk und Jugend. Breslau, Ferdinand Hirt 1903. 64 S. 8®.
M. 0,60.
Henotfeber und Terantwortlicher Redakteur: Dr. Armin Ulle in Dresden.
VerUf und Druck von Friedrich Andreas Perthes, Aktienfesellschaft| Gotha.
Deutsche Ceschichtsblätter
Monatsschrift
cur
Förderung der landesgeschicbtlicben Forschimg
IX. Band Juli 1908 10. Heft
Die Geburtsstände in der deutschen i^irche
des Mittelalters
Von
Heinrich Werner (Mayen)
Seitdem A. Schulte den von ihm gebildeten Kunstausdruck „ frei-
herrliche** ^) Klöster in die Debatte geworfen hat, regen sich viele
fleißige Hände, um die Standesverhältnisse der geistlichen Korporationen
des Mittelalters genauer zu untersuchen. Der bisherige Stand der
Forschung läßt sich am besten in die Worte Janssen-Pastors *) kleiden,
der sagt: „Eine überaus schwere Schuld hat auch hier der
deutsche Adel auf sich geladen. Mit einer Rücksichtslosigkeit
sondergleichen ging sein Streben dahin, den von den bischöflichen
Sitzen und allen übrigen höheren Kirchenstellen ausgeschlossenen
Bürger- und Bauemsöhnen nun auch den Eintritt in die reichen Klöster
und Abteien zu verwehren. Nach und nach fiel die Mehrzahl dieser
Anstalten mit ihren unermeßlichen Hilfsquellen für Bildung und Unter-
richt lediglich dem Adel anheim. Selbst das altehrwürdige Stift
Einsiedeln war zu Ende des XV. Jahrhs. zu einer Versorgungs-
anstalt für die nachgeborenen Söhne der Freiherrn und Grafen
Alemanniens und Burgunds herabgesunken . . . Tiefer Verfall
war die Folge." Diese landläufige Anschauung lautet, kurz formu-
liert, folgendermaßen. Der Adel schlechthin, ohne Rücksicht auf
seine feinere Gruppierung, betrachtete infolge einer widerrechtlichen
Anmaßung im XV. Jahrh. außer den höheren Kirchenstellen ')
i) lo einem Vortrage aaf der X. Versammlong deutscher Historiker ea Dresden
(1907) bezeichnet A. Schulte selbst den Ausdruck „freiherrlich" fUr „nicht gut^', da
er „nicht ohne Bedenken sei<<. Vgl. Bericht über diese Versammlung S. 13 und 16.
2) C^chichte des deutschen Volkes n^ (i^97)> S. 723f.
3) Wie die deutschen. Bistümer und Erzbistümer als Sinekuren fUr fUrsUiche und
19
— 262 —
auch die reichen Abteien und Kapitel als seine Domäne. Es liegt
darin für diese geistlichen Korporationen eine Entartung, die zu einem
vom Adel selbst verschuldeten Verfall dieser Körperschaften fuhren
m\xQte.
Hier setzte nun die neue Fragestellung A. Schultes *) ein , in-
dem er zunächst den BegrifT des Adels enger faßte und wie im Mittel-
alter sich die Geburtsstände überhaupt scharf voneinander schieden,
auch innerhalb des Adels zwei Klassen deutlich auseinanderhielt: die
Freien einerseits, nämlich die Freiherren, Grafen und Fürsten und ander-
seits die Unfreien (Ministerialen). Erstere haben die freie Geburt
gemeinsam und unter ihnen besteht das Konnubium. Die Ministerialen
dagegen sind unfrei geboren. Es war also jetzt nachzuprüfen, welche
von den beiden Adelsklassen die geistlichen Korporationen für sich
allein beschlagnahmten. Es ergab sich, daß man nicht nur von adligen,
sondern auch von freiherrlichen Klöstern reden muß. Dabei stellte es
sich zugleich heraus, daß der für das XV. Jahrh. gerügte Zustand viel
älter ist, ja bis auf die Gründung dieser Körperschaften zurückgeht,
daß in diesem Zustand auch keine Entartung zu suchen ist Es wurde
der Beweis geliefert, daß „im Mittelalter die geistlichen Korporationen
(Klöster, Stifter, Kapitel) in ihrer persönlichen Zusammensetzung ein
ausgeprägtes Standesbewußtsein offenbarten" *).
A. Schulte versteht unter einem „freiherrlichen** Kloster ein sol-
ches, „dessen sämtliche Mönche entweder Söhne von Fürsten und Grafen
oder doch aus den Kreisen edler freigeborener Geschlechter hervor-
gegangen sind, in dessen Konvent also weder Söhne der Ministerialen
oder des niederen Adels aufgenommen wurden, noch die Sprossen der
vornehmsten städtischen Geschlechter, geschweige denn die Kinder von
Handwerkern oder unfreien Bauern** •). Damit sind der Geschichtsfor-
schui^ neue Aufgaben gestellt worden. Da eine große Reihe von Ein-
zeluntersuchungen zur vollständigen Lösung der Frage nötig ist, ist
gr&f liehe, also auch „ freiherrlichen ^' Familien im XV. Jahrh« angesehen wnrden, lehrt
die TabeUe bei Janssen a. a. O. S. 689 ff.
i) Zuerst über die Standesverhältnisse der Minnesänger in Zeitschrift für detU^
sches Altertum 39 (1895), S« i^Sff* ^^^ U^cr ireiherrliche Klöster in Baden als Fes^
Programm der Universität Freiht*rg für Großherzog Friedrich von Baden (1896)
veröffentlicht.
2) A. Tille in seinem Vortrag: Samnüimg und Verwertung famiHengesa^Ucht"
licher Forschungen, gehalten in der Hauptversammlung des Gesamtvereins der deutschen
Geschichts- und Altertomsvereine , abgedruckt im Korrespondenzblatt des Gesamtvereins
(1908), Spalte 52.
3) In Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst 25. Bd. (1906), S. 178.
— 263 —
namentlich die Lokal forschung dazu berufen, hier ihrerseits die
Bausteine für die noch sehr lückenhafte Klostergeschichte des aus-
gehenden Mittelalters zu liefern. Dabei muß die genealogische und
statistische Methode auch für die Zeit des Mittelalters einmal
deutlicher in den Vordergrund treten. In der Anwendung dieser Me-
thode haben es mit A. Schulte an der Spitze mehrere seiner Schüler
zu sehr anerkennenswerten Leistungen gebracht *). Die Resultate
dieser Einzeluntersuchungen sollen im folgenden gewertet werden.
Von den bis jetzt vorliegenden Arbeiten über die Standeszugehörig-
keit kirchlicher Korporationen im Mittelalter ist die Untersuchung
Kothes nicht nur eine der ersten, sondern auch die vollständigste,
insofern sie einen Querschnitt, wenn auch nur für den Zeitraum von
13CX) — 1400, durch die Straßburger Kirchengeschichte bietet und dabei
die Standesverhältnisse nicht nur aller kirchlichen Körperschaften,
sondern auch aller geistlichen Personen Straflburgs behandelt. Zu-
nächst prüft Kothe die Standeszugehörigkeit der Mitglieder des Großen
oder Domstifts zu Straßburg und findet, daß mindestens schon in
der zweiten Hälfte des XII. Jahrh. überwiegend freiherrliche Ge-
schlechtsangehörige an der Straßburger Hauptkirche saßen. Aber erst
seit der Mitte des XIII. Jahrh. erscheinen die Ansprüche des Frei-
herrenstandes auf die Sitze des Straßburger Domkapitels vollständig
durchgesetzt. Das läßt sich aus einer Appellation des Kapitels gegen
eine Provision des Papstes vom Jahre 1231 erkennen, in der von
einer „alten, bisher unverletzt gewahrten Gewohnheit" gesprochen
wird, keinen Bewerber um eine Domkapitelspfründe nisi ab tUroque
parente iUastrem zuzulassen. Auch kann Kothe bereits für das Jahr
125 1 ein Personenverzeichnis des Domkapitels mitteilen, das aus-
schließlich freiherrliche Geschlechtsnamen aufweist'). Ein vollstän-
diges Mitgliederverzeichnis liegt erst aus dem Jahre 13 18 vor. Eine
Stichprobe auf die freiherrliche Abstammung der rezipierten Kano-
i) Für sämtliche geistliche Korporationen Strafibargs behandelt die Frage:
W. Kothe, Kirchliche Zustände Straßburgs im XIV. Jahrh, (1903), Freibarg.
Für einzelne Körperschaften die Bonner Dissertationen von 1907: Fink, Standes'
verThättnisse in FrauenMöstem und Stiftern der Diözese Münster und Stift Her-
tOfd\ Schmithals, Drei freiherrliche Stifter am Niederrhein (Essen, EUen,
Oerresheim), Dazn kommen die Arbeiten von Kisky, Die Damkapitel der geitüichen
Kurfürsten in ihrer persönlichen Zusammensetgung im XIV, und XV. Jahrh.
(Gekrönte Preisschrift 1906). Derselbe, Das freiherrliche Stift St. Gereon in Köln
in Anoalen d. h. V. f. d. Niederrhein 82. Heft (1907). K. H. Schäfer, Die Kano-
nissenstifter und der Adel in Stutz, kirchenrechtl. Abh. Heft 43/44-
2) Kothe, a. a. O. S. 7.
19*
— 264 —
niker ergibt, dafi in diesem Jahre unter den 44 Stiftsherren nur ein
einziger Fall vorli^t, in dem die freiherrliche Abstammung zweifel-
haft genannt werden kann ^). Auch Kisky beschränkt seine Unter-
suchungen über die Domkapitel zu Köln, Mainz und Trier auf das
XrV. Jahrh. und fügt das XV. noch dazu mit der ausgesprochenen
Begründung, daß in diesem Zeitraum die ständische Abschlieflung in
den geistlichen Korporationen ihren Höhepunkt erreicht habe, die
Beschränkung der Kapitel auf eine bestimmte Anzahl von Mitgliedern
allgemein durchgeführt sei und so die Prüfung der noch vorhandenen
Listen von Kapitelsmitgliedern auf ihre Vollständigkeit erst möglich
sei. Übrigens legt der Mangel an urkundlichen Nachrichten aus
früherer Zeit und das Fehlen des Nationale der Kanoniker vor dem
XIIL Jahrh. dem F'orscher diese Beschränkung von selbst auf. Wie
lagen nun die Standesverhältnisse im Kölner Domkapitel? Kisky
findet die Ahnenproben der freien Geburt zum erstenmal für das
Jahr 1373 ausdrücklich betont*). Die daraus ersichtliche Gewohn-
heit bestätigten die Bullen der Päpste Bonifaz IX., Sixtus IV. und
Innocenz VIII. Noch der päpstliche Legat Caietanus bezeichnet das
Domkapitel als unentbehrliche Versorgungsanstalt für nachgeborene
Söhne des höchsten Adels *). Ebenso sprechen schon alte Schrift-
steller von der ständischen Sonderstellung der Mitglieder des Kölner
Domkapitels. Eine unmittelbare Bestätigung dieser Zeugnisse gibt
die Statistik. Kisky stellt eine ausfuhrliche und zum Teil recht
mühevolle Liste aller Kölner Domherren vom Jahre 1300 — 1500 zu-
sammen^). Daraus ersehen wir den Stand derselben und ihr Re-
krutierungsgebiet. Unter den 352 Domherren, die sich auf nur
109 FamUien verteilen ^), befindet sich nur ein bürgerlicher, der dazu
vom Papst providiert war, ebenso ein ebenfalls vom Papst providierter
Ministeriale. Alle anderen stammen aus fürstlichen, gräflichen und
freiherrlichen FamUien. Somit steht für den genannten Zeitraum die
Tatsache fest, daß im Domkapitel zu Köln nur Mitglieder des hohen
Adels aufgenommen wurden, dagegen solche des niederen Adels und
der Bürger ausgeschlossen waren. Dies Ergebnis deckt sich voll-
kommen mit den Standesverhältnissen des Straßburger Domkapitels
i) Ebenda S. 9 ff.
2) Kisky, Die Domkapitel der geistlichen Kurfürsten in ihrer persönlichen
Ztisammensettung im XIV. t^d XV, Jalvrh, S. 13.
3) Ebenda S. 1 1 f.
4) Ebenda S. 26 — 103.
5) Ebenda S. 22.
— 255 —
wenigstens für das XIV. Jahrh. Ja in Köln wurde der Ring der
Standesexklusivität schließlich immer enger zugunsten der Grafen und
Fürsten gezogen *). So sind z. B. von den loo in den letzten 50 Jahren
des XIV. Jahrh. aufgenommenen Domherren 5 1 noch Freiherren und
45 Grafen; aber von dem Zugang der letzten 50 Jahre des XV. Jahrh.,
121, sind 104 Grafen und nur noch 17 Freiherren. Die freiherrlichen
Geschlechter waren allenthalben in der Abnahme begriffen. „Auf
den Friedhöfen der freiherrlichen Klöster und Domkapitel liegt die
Blüte des Hochadels des Mittelalters"*).
Etwas anders lagen die Standesverhältnisse im Mainzer und Trierer
Domkapitel. Während in Mainz die blofie ritterliche Abkunft als hin-
reichend für die Aufnahme ins Kapitel angesehen wurde, so forderte
man in Trier adlige Herkunft schlechthin. Die bei Kisky angeführte
statistische Zusammenstellung für den genannten 2^itraum 1300 bis
1500 weist in Mainz 415 Domherren in 205 Familien auf, davon sind
286 Ministerialen, also mehr als zwei Drittel der Gesamtheit'). Eine
allmähliche Verschärfung der Aufnahme wie in Köln fehlt hier ganz.
In Trier ergibt die Liste 378 Domherren in 185 Familien *). Davon
sind 190 Ministerialen, also gerade die Hälfte der Gesamtzahl.
Darunter findet sich jedesmal ein kleiner Prozentsatz Bürgerlicher.
Die erste Folge dieses Systems ist: Je enger der Ring der
Standeszugehörigkeit, um so weiter das Ergänzungs-
gebiet. Das zeigt sich am Kölner Domkapitel am deutlichsten.
Solange hier die Freihenen überwogen, solange stammte die Mehr-
zahl der Kapitelsmitglieder aus der Erzdiözese selbst — die Grafen
stammten schon damals aus entfernteren Diözesen. In den letzten
50 Jahren des XV. Jahrh., der Zeit der strengsten Exklusivität kamen
nur noch 11 Mitglieder aus der Erzdiözese ins Kapitel. Sämtliche
Freiherren stammten aus anderen Diözesen ^). Die Grenzgebiete des
Rekrutierungsbezirkes bildeten etwa die Diözesen Utrecht, Bremen,
Ratzeburg, Meificn, Freising, Konstanz, Genf und Arras. In Straß-
burg griff entsprechend dem hohen Grade der Exklusivität das Rekru-
tierungsgebiet der Domherren auf neun fremde Diözesen über. Im Süden
i) über die Priesterkanoniker vgl. unten S. 257.
2) Vgl. Schulte in seinem Vortrag: Die deuUche Kirche des Mitteküters und
die Stände^ gehalten anf der 10. Versammlung deutscher Historiker za Dresden (1907),
gedmckt im Bericht darüber (S. 12 ff.) S. 15.
3) Ebenda S. 103.
4) Ebenda S. 156.
5) Ebenda S. 23 ff.
— 266 —
ist die Gegend von Bern, im Westen Diedenhofen, im Osten die
Gegend von Nördlingen und im Norden Hanau und Bingen die
Grenze *).
Eine zweite Folge des freiherrlichen Systems war die Art der
Ergänzung der Domkapitel. Da der Ring ein für allemal in Köln
und StraOburg für freiherrliche Abkunfl geschlossen war, so mußte
auch bei der Vakanz einer Domkapitelstelle eine besondere Art und
Weise der Kapitelwahl Platz greifen. Der Wahlmodus war der der
Selbstergänzung oder wie der technische Ausdruck lautet, der Koop-
tation, eine übrigens recht alte Art der Eli^^änzung aristokratischer
Körperschaften. So vereinigten sich in Straßburg immer zwei der
jüngeren Domkapitulare zur Ernennung eines neuen Amtsbruders, der
dann die Expektanz auf die zunächst freiwerdende Pfründe hatte *).
Ähnlich war es in Mainz und Trier*). In Köln bestand ein be-
stimmter Turnus, wonach ein jeder Domherr in bestimmter Reihen-
folge (ex ordine) wohl nach der der Anciennität, bei eintretender
Sedisvakanz den Domherrn ernannte.
Als Begleiterscheinung dieser zweiten Folge leuchtet die Tatsache
ein, daß ein Geschlecht, das einmal festen Fuß in einem Domkapitel
gefaßt hatte, sich darin jahrhundertelang behaupten konnte. Bei der
Kooptation konnten die Domherren in erster Linie ihre Verwandten
berücksichtigen. Das ersehen wir schon aus der Zahl der an Dom-
herrenstellen beteiligten Familien. In Köln waren es im Zeitraum
von 1300 — 1500 109 Familien, in Trier 185, in Mainz 207*). Das
ergibt die neue Gesetzmäßigkeit: Je enger die ständische Ex-
klusivität an einem Domkapitel, um so enger auch der
beteiligte Familienkreis. Ähnlich war es in Straßburg. Hier
herrschte wie in Köln die Vetternwirtschaft (Nepotismus). Nicht selten
saßen zwei , oft drei leibliche Brüder im Straßburger Kapitel *). Es
wird Zeiten gegeben haben , wo die Domherren fast alle miteinander
verwandt waren *). Gewisse freiherrliche Geschlechter sind durch Jahr-
hunderte hindurch stereotyp vertreten. So betrachteten es die ein-
heimischen Freiherrengeschlechter des Elsasses als ein durch Her-
kommen begründetes Recht, daß ihre Familien im Straßbui^er
1) Kothe, a. a. O. S. 6.
2) Ebenda S. 11.
3) Kisky, IHe Domkapitel usw. S. 14.
4) Kisky, a. a. O. S. 15.
5) Kothe, a. a. O. S. 12.
6) Kisky, a. a. O. S. 15.
— 257 —
Domkapitel vertreten waren. In einer Pfründenstiftung des jüngeren
Hermann von Geroldseck, Kanonikus der Straßburger Hauptkirche
(1324), wurde das Besetzungsrecht der Pfründe dem ältesten Mitglied
(also werden andere gleichzeitige vorausgesetzt) der Familie Geroldseck
reserviert, das Kanonikus der StraOburger Domkirche sei ^). So treten
neben die päpstlichen Reservationen noch eigenmächtige der freiherr'
liehen Familien, die auch die Kooptation von neuem einengen. Ver-
hältnismäßig wenig machte der Papst von seinem Provisionsrecht Ge-
brauch, da er an der Vetternwirtschaft nicht zu rütteln wag^e. Häufig
aber bedeutete die päpstliche Provision noch den kürzeren Weg als
den der Ernennung durch Verwandte. Eine weitere Begleiterscheinung
dieses Systems war auch die Ernennung selbst von Kindern zu Prä-
bendaren *). In Köln, Mainz und Trier erreichten die Päpste über-
haupt nur dann ihr Ziel, wenn das Kapitel nichts gegen den Geburts-
stand des Providierten einzuwenden hatte.
Eine weitere Folge des immer schärfer betonten Standesbewußt-
seins war die schließliche Festsetzung einer bestimmtenPfründen-
zahl im Kapitel. Denn nach dem Willen sowohl des Stifters als
auch des den Sohn versorgenden Freiherren sollte die Pfründe ein
standesgemäßes Einkommen gewähren. Infolge des Sinkens des
Rentenwertes und der Steigerung der Ansprüche einer immer aus-
schließlicher auftretenden höheren Adelsklasse in den Domkapiteln
mußten natürlich mehrere Pfründen zusammengelegt werden, um den
einzelnen Rentenanteil zu erhöhen. Die Zahl der Präbenden mußte
also von selbst über die festgesetzte Zahl hinaus zusammenschrumpfen.
Diese Tatsache wird uns unten nochmals beschäftigen.
Der Edelkanoniker wertete eine Pfründe nur nach ihrer Eigen-
schaft als Sinekure. So verschärfte sich auch allmählich immer mehr
der Gegensatz zwischen Edelkanonikern und Priesterkanonikern,
an die keine Forderung der Geburt gestellt war. Der Kapitelstaat schied
sich schließlich in solche, die nur Würde und Einkommen genossen,
und in solche, die die Bürde des Amtes trugen und arbeiteten.
Schließlich glitt auch das Amt der Priesterkanonücer, sei es durch die
aus zu reichlicher Zuwendung von Stiftungen entstandenen allzu großen
Verpflichtungen, sei es aus der auch in diesen Kreisen einreißenden
Laxheit, in die Hände von Vikaren. Wie gering die Edelkanoniker
selbst die geistlichen offida einschätzten, ersieht man daraus, daß
i) Kothe, a. a. O. S. 12.
2) Kisky, Die Domkapitel usw. S. 15 f.
— 268 —
„vielfach die Edelherren mit den Priesterp&ünden ihre Hausgenossen
und famuU versorgten'' ^). Als dann auch in Köln die Universität
errichtet war, kamen zwei solcher Priesterpräbenden des Domkapitels
als Versorgungsrente in die „ festen Hände ** *) von zwei Professoren.
Den freiherrlichen Standesgenossen reservierte man die mühelose
besser dotierte Kanonikerpfninde und überließ den eigentlichen geist-
lichen Dienst gegen geringeres Entgelt den Angehörigen niederer
Stände. Dabei achtete der Standesdünkel der freiherrlichen Dom-
kapitel natürlich die gelehrte Bildung gering, sodaß z. B. in Straß-
burg keiner der Edelkanoniker sich die Magisterwürde erwarb ').
Freilich mußte der Adel es sich dennoch gefallen lassen, daß ein
akademischer Grad eines der Geburt nach nicht Ebenbürtigen adliger
Geburt gleichgestellt wurde *).
Eine weitere Folge der ständischen Exklusivität war Disziplin-
losigkeit. Da die Edelkanoniker mit dem Empfang der Tonsur
oder der niederen Weihen beim Eintritt in ein Domkapitel die An-
schauungen ihres Krieger- und Herrenstandes nicht so rasch abstreifen
konnten, so dürfen wir uns nicht wundem, wenn von ihnen mit ge-
wappneter Faust wiederholt Streitigkeiten um geistliche Stellen aus-
gefochten werden (so z. B. im Jahre 1338 in Straßburg) ^). Denn oft
wurden fiir eine Stelle zwei, drei, ja vier Personen von den Kanonikern
ernannt^). Aber nicht nur untereinander, sondern auch gegen ihren
unmittelbaren Vorgesetzten, den Bischof, wurde Gehorsam und Dis-
ziplin von den Freiherren und Grafen als lästig empfunden. So
sehen wir im Jahre 1300 sich eine Kapitelslig^ mit dem Domkapitel
an der Spitze bilden gegen den Bischof von Straßburg ganz allein
deshalb, weil dieser die billige Forderung stellte, daß jeder Pfründen-
inhaber die seiner Stellung zukommende Weihe empfangen sollte ^).
Im Jahre 1388 ging man geradezu zur Revolution über, die mit dem
Siege der Kapitelsliga endete.
So versteht es sich denn wiederum von selbst, daß nur der
Bischof, der mit einer ähnlichen Hausmacht ausgestattet war wie
seine Kapitulare, dem Ansturm der im Domkapitel vereinten freiherr-
1) Kisky, Die Domkapitel S. 18.
2) Vgl. meinen AnfsaU in dieser Zeitschrift 7. Bd., S. 206.
3) Kothe, a. a. O. S. 30.
4) Kisky, Die Domkapitel S. 13.
5) Kothe, a. a. O. S. 13.
6) Ebenda S. 22.
7) Kothe, a. a. O. S. 17.
— 2Ö9 —
liehen Familien und deren Verwandtschaft standhalten konnte. Ed
sagt deshalb schon der Chronist Königshoven vom StraOburger Erz*
bischof Lamprecht (1371 — 1374): „Weil er kein Graf oder Freiherr
war, so war er gehaßt von allen Edlen, so daß er ehrlos war und
sein Land nicht beschirmen konnte'' '). So entwickelte sich ein
Familienegoismus, eine Interessenwirtschaft in der kirchlichen Ämter-
laufbahn, die zu denselben Erscheinungen im staatlichen Leben Deutsch-
lands iiihrte : zur Verselbständigung der Untergewalten gegenüber der
Zentralgewalt. Daher hat denn auch die Säkularisierung solcher Ka-
pitel dem Adel mehr als der Kirche geschadet.
Ähnliche Zustände inbezug auf die ständische Zusammensetzung
herrschten wie im Domkapitel zu Köln auch im Stift St. Gereon da-
selbst. Auch iiir diese geistliche Korporation fuhrt Kisky den unan-
fechtbaren Nachweis, daß ihre Mitglieder freiherrlich und nicht adlig
schlechthin waren. Das bezeugt eine Bestätigungsurkunde, die sich
das genannte Stift, nach langer Untersuchung der alten Gewohn-
heit, vom Erzbischof von Köln über seine freiherrliche Zusammen-
setzung 1329 ausstellen ließ '). Ebenso bestätigen dies die einzige
und ausführlichste Präsenzliste des Stiftes vom Jahre 1287 ^"^ ^^^
uns erhaltene älteste Ahnenprobe vom Jahre 1377. Nicht nur wußte
das Stift seinen freiherrlichen Charakter zu wahren, sondern es drängte
auch wie das Kölner Domkapitel die Freiherren immer mehr zurück ').
Dabei traten natürlich dieselben Folgen in die Erscheinung. Je enger
die Ausschließlichkeit des Standes der Mitglieder, um so enger das
Rekrutierungsgebiet. Die Kooptation beschränkte den Kreis der Fa-
milien, aus denen die Kapitulare hervorgingen, und damit zogen auch
in diese Körperschaft dieselben Mißstände ein, die wir oben an den
Domkapiteln beobachteten.
Etwas anders verhält es sich mit den drei übrigen Stiftern in
Straßbui^ *). Es sind das St. Thomas , St Peter und St Arbogast.
Auf Grund einer Liste der Stiftsherren weist Kothe nach, daß in
St. Thomas zwei Drittel aller Mitglieder im XIV. Jahrh. Patrizier
waren, das ist der Inbegriff aller ratsiahigen Ritter und Bürger der
Stadt im Gegensatz zu den erst seit 1332 ratsfähig gewordenen Hand-
i) Ebenda S. 23. Andere Beispiele daselbst.
2) Kisky, Das freiherrliche Stift St. Gereon in Köln in Annalen des Hin.
Vereins f. d. Niederrhein, 82. Heft (1907), S. 29 ff.
3) Ebenda S. 44.
4) Kothe, a. a. O. S. 24?.
— 260 —
werker. Das andere Drittel bestand aus Fremden der nahe gelegenen
Städte und Dörfer des Elsasses ^).
In St. Peter hatten die Straßburger Patrizier noch mehr das
Übergewicht über die Fremden. Diesen Standesverhältnissen gemäß
ist das Rekrutierungsgebiet denn auch sehr einfach: Straflburg, Stadt
und Land, höchstens noch das Elsaß. Aber trotzdem haben wir in-
folge der städtisch-bürgerlichen Exklusivität ebenfalls die Vetternwirt-
schaft in den Stiftern. Dadurch, daß das Wahlrecht an die einzelnen
Glieder als Emennungsrecht überging, wurden auch hier nur Leute
aus derselben Sippe und Partei ins Kapitel aufgenommen. Welche
weittragende Bedeutung eine solche Besetzung der Kapitel bei
städtischen oder kirchenpolitischen Streitigkeiten haben konnte, leuchtet
ohne weiteres ein. Aber in einem Punkte heben sich die städte-
bürgerlichen Stifter von den freiherrlichen deutlich ab, darin nämlich,
daß ihre Mitglieder es nicht verschmähten, in Paris, Bologna und
Padua tüchtige wissenschaftliche Studien zu machen. Namentlich
mußte, wie ehedem bei den Domkapiteln, der Mangel der adligen
Gebiurt, so jetzt der Mangel der Straßburger Ortszugehörigkeit bei
den Fremden durch gelehrte-wissenschaftliche Qualifikation ausgeglichen
werden. Von den einheimischen Stiftsherren ist im XIV. Jahrh. jeder
zwölfte, von den fremden jeder dritte Mann magister gewesen. Dabei
spielten recht praktische städtebürgerliche Gesichtspunkte mit, indem
derjenige Fremde die meisten Aussichten auf eine Kanonikatspfründe
hatte, der sich medizinische Kenntnisse erworben hatte. So waren
unter den 40 fremden Stiftsherren von St. Thomas wenigstens fünf
Ärzte *). Das weit hinter St. Thomas und St. Peter zurückstehende
Stift St. Arbogast zeigt bereits die bunte soziale Mischung des niederen
Weltklerus. Wenden wir uns nun den weiblichen Stiftern zu.
Das bedeutendste und größte Damenstift war in Essen *). Mehrere
Jahrhunderte lang nach seiner Gründung gehörte es dem sächsischen
Königshause als Familienstift. Die erste uns zugängliche Liste der
Kanonissen vom Jahre 1275 weist 13 Namen auf*), die vom Jahre
1) Ebenda S. 25 ff.
2) Kothe, a. a. O. S. 31.
3) Vgl. für das Folgende A. Schulte, Über freiherrliche Klöster in Baden.
Freiburger Festprogramm 1896, und Schmithals, Drei freiherrliche Stifter am
Niederrhein, Bonner Dissertation 1907.
4) Schmithals, a. a. O. S. I3f. — Die Zahl der Pfründen und die der je-
weils vorhandenen Nutznießer festzustellen ist sehr wichtig. Dies tut mit Erfolg Kallen,
Zur oherschwäbischen Pfründengeschichte vor der Information (Bonner Dissert. 1907)'
— 261 —
1292: 27, I3IO- 12, 1330: l6, 137O: 21, I376: 12, 1396: 14,
1399: 9, 1426: II, 1431: 7, 1445: 8, 1459:7. Die von 1400—- 1500
überlieferten Namen der Essener Kanonissen ergeben 130 Stiftsdamen ^).
Abgesehen von drei Familien, deren Stand nicht bekannt ist, gehören
sie alle dem freien Adel an. Diese 130 Namen verteilen sich auf
71 Familien, somit im Durchschnitt auf eine Familie zwei Stiftsdamen.
Bei einigen Geschlechtem geht aber der Anteil weit über die Durch-
schnittszahl. So sind z. B. die Isenburger nut 7 Angehörigen ver-
treten, andere mit 5 , 4 und 3 '). Die Höchstzahl der Kanonissen in
Essen betrug im Jahre 1292: 27; also fast nur die Hälfte der vor-
handenen 50 Präbenden. A. Schulte konstatiert dieselbe auffallende
Tatsache auch für Reichenau und macht dafür als allein ausschlag-
gebenden Grund die Abnahme der freiherrlichen Geschlechter geltend.
Doch es liegt auch hier noch eine wirtschaftliche Ursache vor, die
ich oben schon bei den Domkapiteln von Straßburg, Mainz und Trier
betont habe. Das Sinken des Rentenwertes und das diese Rente noch
verringernde Wachsen der Ansprüche einer standesgemäßen Lebens-
haltung der freiherrlichen Stiftsdamen erforderte Zusammenlegen
mehrerer Pfründe zu einer. Die Abnahme der freiherrlichen Familien
reicht allein zur Erklärung nicht aus. Wir haben nämlich auch die
merkwürdige Tatsache vor uns, daß in dem Zeitraum von 1300—1400
die freiherrlichen Damen mit 24 Mitgliedern die Höchstzahl erreichen,
während gleichzeitig das gräfliche Element ebenfalls wächst und zwar
so, daß von 1400— 1500 sich nur 5 freiherrliche, aber 13 gräfliche
Kanonissinnen aus den vorhandenen Listen ergaben '). So wurde das
Essener Stift schon in der Mitte des XV. Jahrh. in einer Urkunde als
„gräflich" bezeichnet. Hätten nun die freiherrlichen Familien be-
sonders rasch abgenommen, so müßte diese Erscheinung sich besonders
bei dem gräflichen Stande geltend machen, der doch an sich schon
in geringerer Zahl vertreten war als der freiherrliche. Bei der immer
größer werdenden Standesexklusivitat , wie sie in obigen Zahlen vor-
liegt und schon bei den oben genannten Domkapiteln erwähnt ist,
wurde natürlich die standesgemäße Lebenshaltung der überwiegend
gräflichen Kanonissen kostspieliger und erforderte immer mehr die
Zusammenlegung einer größeren Anzahl von Pfründen. Vielleicht
fehlte es nicht selten auch einfach an Kandidatinnen. Die Höchst-
zahl 27 (abgesehen von der ordnungsmäßigen Zahl 50) schrumpfte so
i) Ebenda S. 32.
2) Ebenda S. 38 f.
3) Ebenda S. 39.
— 262 —
.auf 9, 8 und 7 zusammen. Im Hochmittelalter ist noch das Rekru-
tierungsgebiet des Stiftes das Rheinland und Westfalen. Später aber,
entprechend der oben angeführten Gesetzmäßigkeit, greift bei der sich
immer mehr verengenden Standesabschließung die Rekrutierung sogar
über deutsches Gebiet hinaus.
Nicht ganz so verhält es sich mit dem Stift Elten. Auch hier
sprechen die Urkunden von den „edlen Jungfrauen**, von denen ge-
radezu Ahnenproben verlangt wurden '). Die Listen der Kanonissen
sind hier weit spärlicher herzustellen, doch gehören von 65 Kanonissen
9 dem Grafenstand und 27 den Freiherren, zusammen 42 Geschlechtem
an; nur zwei mußten den Ministerialen zugezählt, über andere konnte
nichts Sicheres ermittelt werden. Damit ist auch dieses Stift im ganzen
als freiherrlich anzusprechen *).
Einen tieferen Einblick in die persönliche Zusammensetzung eines
Stiftes erhalten wir durch die reiche Arbeit Kothes über Straßburgs
kirchliche Verhältnisse. Das alte Kanonissenstift von St. Stephan ')
steht in mannigfacher Parallele zu dem Hohen Stift der Domkano-
niker. Zwar ist hier die freiherrliche Exklusivität nicht so aus-
gesprochen vorhanden, wie in den oben besprochenen Damen-
stiftern, geschweige denn die des Hohen Stifts. — Es gab nämlich in
diesem Damenstift etwa zu gleichen Teilen Freiinnen, Töchter aus-
wärtiger und städtischer Ritter — aber es ist hier eine andere Schranke
der Exklusivität aufgerichtet, die zu ähnlichen Folgen fiir das Stift
führte, wie die oben angefiihrte Beschränkung auf Grund der Geburt.
Die Freifrauen und ritterlichen Damen schlössen sich nämlich zu einer
Partei der Fremden zusammen , und es gelang ihnen , die Partei der
Straßburgerinnen, also der Einheimischen, zu majorisieren. Mit dem-
selben Terrorismus wurde dann auch dieses System gehandhabt. So
mußte in der Mitte des XIV. Jahrh. eine Äbtissin vor ihrer Wahl den
Eid leisten, keine Straßburgerin in das Stift au&unehmen. Und tat-
sächlich widersetzte sich diese Äbtissin der Aufnahme einer Straß-
burgerin gegen den Willen eines päpstlichen Nuntius so lange , bis
die Exkommunikation und die Entbindung von dem genannten Eide
durch den Papst die Äbtissin willfährig machte *). Die Folge dieses
Systems war ebenfalls die Fixierung der Pfründenzahl, die Einfiihrung
der Kooptation und demgemäß die Monopolisierung der Pfründen
i) Ebenda S. 46.
2) Ebenda S. 79.
3) Kothe, a. a. O. S. 46fr.
4) Ebenda S. 49.
— 263 —
durch die deshalb häufig sich wiederholenden Geschlechter *). Auch
zeigt der ausschließliche Zutritt der städtischen Ritterstöchter zu dem
Stift gegenüber den aus dem Handelsstande hervorgegangenen Adels-
geschlechtern, wie diese noch nicht die gleiche Anerkennung genossen.
Auch hier hat der Kastengeist dieselben Folgen der Disziplinlosigkeit
gehabt. So weist das Stift das Recht der „preces primaria^" von-
seiten des Erzbischofs von sich und verfällt im Jahre 1355 deshalb
dem Bann. Ein Statut von 1366 sollte weitere ähnliche Fälle wenigstens
in ihren materiellen schädlichen Folgen dadurch hintertreiben , daß
jede neugewählte Stiftsdame sich verpflichtete, dem Klostgr sechs Bürgen
und Mitschuldner zu stellen, die, falls die Wahl der genannten Stifts-
dame vom Papst, Kaiser, König, Bischof oder einem anderen an-
gefochten wird, dann dem Stift den daraus envachsenden Schaden
binnen acht Tagen voll zu ersetzen habe. Das war geradezu eine Ver-
sicherung auf den aus einem Akt der Disziplinlosigkeit erwachsenden
Schaden.
Mit den Standesverhältnissen von Frauenklöstern und -stifiem der
Diözese Münster und vom Stift Herford macht uns Fink des wei-
teren näher bekannt*). So bietet die Reichsabtei Herford, „der
Typus der westfälischen Klöster mit Ministerialen und freiherrlicher
Spitze ", das stereotype Bild für die ganze Landschaft Westfalen. Die
Äbtissinnen sind bis in die neueste Zeit freiadlig gewesen *), während
die Nonnen, für deren Standeszugehörigkeit wir erst im XIII. Jahrh.
vollwichtige Zeugnisse haben, schon am Ende des XIV. Jahrhs. eine
Ministerialin aufweisen *). Das freiherrliche System wird dann im An-
fang des XV. Jahrhs. noch mehr gelockert, um dann von der Mitte
desselben Jahrhs. an wieder straffer angespannt zu werden. Ebenso
steht es mit den Standesverhältnissen des als Reichsabtei gegründeten
Stiftes Vreden *) und der Stifter Freckenhorst *) und Borghorst. Bei
den beiden letzten sind sogar Ministerialinnen schon im XIV. Jahrh.
in die Prälatur eingedrungen. Dieser Vorgang mußte natürlich auch
i) Ebenda S. 46. Aas diesen Tatsachen ist ersichtlich, mit welcher Berechtigung
sich die Reformation des Kaisers Sigmund über die Domklosterfranen anspricht : Mcm
spricht, es tey der edlen spitcd, sie erben allermeist dieselben kloster-
frawen. Vgl. meine Aasgabe: Die Beformation des Kaisers Sigmund. III. Er-
gänmngsheft des Archivs für Kdtargeschtchte (1908) S. 55.
2) In der oben angeführten Arbeit.
3) Ebenda S. 5, 12 and 14.
4) Ebenda S. 19.
5) Ebenda S. 20 ff.
6) Ebenda S. 42.
— 264 —
auf die Standeszugehörigkeit der Nonnen in der Richtung zunehmender
Ministerialisierung einwirken *). Auch im ältesten Frauenstift in West-
falen, St. Martin zu Nottuln, war die Reihe der Äbtissinnen bis zur
Mitte des XV. Jahrhs. von Ministerialinnen freigeblieben •) , obwohl
hier keine einzige Kanonissin freiherrlich war, ja sogar Bürgerlichen
die Pforten des Stiftes offenstanden. Ähnlich stand es mit den Klöstern
Metelen •) und Überwasser-Münster *). Es scheint hier folgende land-
schaftliche Übereinstimmung vorzuliegen: Die aufgezählten Kon-
vente sind freiherrliche Stiftungen, und darauf geht auch ihre fast
ausnahmslose- -iveiherrliche Spitze zurück. Dem entspricht die freiherr-
liche Zusammensetzung der Konvente und Klöster wenigstens fiir die
ersten Jahrhunderte, für die allerdings bis jetzt nur ganz spärliche
Zeugnisse vorliegen. Als sich dann später viele edle Geschlechter
in ein teilweises oder ganzes Dienstverhältnis begaben, schwand die
Zahl der freiherrlichen Familien und man nahm jetzt doch die Töchter
aus diesen ministerialisierten Adelsgeschlcchtern. Später aber besann
sich der Freiadel wieder auf den ursprünglich freiherrlichen Charakter
der Stiftungen und betrachtete wenigstens Herford wieder als seine
Domäne. Durch Zusammenlegen von Pfründen paßte sich die Zahl
derselben der zusammengeschmolzenen Anzahl der freiherrlichen Ge-
schlechter mehr an, zumal diese infolge Sinkens des Rentenwertes
und der Erhöhung der Lebensansprüche auch eine Erhöhung des
Pfründeneinkommens erheischten. Die anderen Stiftungen blieben
weiteren Kreisen geöffnet.
Was nun die Standeszugehörigkeit der Herrenklöster und anderer
Frauenkonvente betrifft, so hat A. Schulte bei drei schweizerischen
Abteien : Zürich , St. Gallen und Einsiedeln *) , ebenso bei drei ba-
dischen Klöstern: Reichenau, Waldkirch, Säckingen*) ihren freiherr-
lichen Charakter nachgewiesen und zuletzt ist ihm auch derselbe Be-
weis für das Herrenkloster Werden ') gelungen. Seit dem XII. Jahrh.
ist der Bestand des Werdener Konvents exklusiv freiherrlich *). Da-
mals blühte der Konvent wirtschaftlich auf und war deshalb stark be-
setzt. Der wirtschaftliche Apparat erhielt einen großartigen Ausbau,
i) Ebenda S. 57.
2) Ebenda S. 68.
3) Ebenda S. 69 fr.
4) Ebenda S. 74 ff.
5) In Zeitschrift für deutsches Altertum, 39. Band.
6) In Festprogramm der Universität Freiburg (1896).
7) In Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst (1906).
8) Ebenda S. 190.
— 265 —
aber seit 1300 wurde der Konvent immer lebensunfähiger und geriet
so in ein seltsames Mißverhältnis zu der wirtschaftlichen Anlage. Im
Jahre 1425 sind nur noch 9 Mönche, 1450: 5, 1474 nur noch Abt,
Propst und Küster im Kloster Werden vorhanden. So schrumpfte
Werden wie Reichenau, St. Gallen und Einsiedeln und viele andere
Benediktinerklöster in Westfalen zusammen, weil sie an der Forderung
der Geburt festhielten. A. Schulte fuhrt Krieg und Zölibat als Ur-
sachen dieses Schwindens der freiherrlichen Klöster an, insofern die
freiherrlichen Familien infolge frühen Todes oder Ehelosigkeit seit
dem XII. Jahrh. aussterben. Oder sie sanken auch infolge von Miß-
heirat und aus anderen Gründen zur Ministerialität herab. Dazu lockte
die Freiherren auch die bessere Aussicht auf Prälaturen von den
Klösten weg. „Die alte Organisation ist auf große imponierende Ver-
hältnisse eingerichtet, die Zahl der vorhandenen Mönche, von denen
schließlich keiner mehr Priester ist, macht das Kloster zu einer leeren
Halle, in der die Edelmönche verschwinden. Den Bau haben die alten
freien Geschlechter aufgerichtet, die letzten Sprossen des verdorrten
Blutes schleichen wie Schatten in ihnen umher. Das frühere und
hohe Mittelalter hat hier seine Ruinen " *). So wird es auch vielen
anderen uns noch nicht genauer bekannten ehemals reichen Bene-
diktinerklöstern ergangen sein. Nur fragt man sich denn doch, woher
haben diese Freiherren diese unverantwortliche Engherzigkeit her-
genommen, diesen gewaltigen wurtschaftlichen Apparat veröden zu
lassen. Wären die Schranken der Standesexklusivität allein so stark
gewesen, auf die Dauer den damals so sehr nach kirchlicher Ver-
sorgung drängenden niederen Ständen der Ministerialen oder Bürger
standzuhalten? Denn wir sahen doch, wie tatsächlich bei Frauen-
klöstern und Stiftern das exklusive Prinzip durch Ministeriale und
Bürgerliche durchbrochen wurde, wenn auch nur vorübergehend. Es
muß hier noch eine wirtschaftliche Ursache stark mitgewirkt haben.
Der wirtschaftliche Betrieb dieser vorwiegend auf Landwirtschaft ge-
gründeten Benediktinerklöster wurde im XV. Jahrh. stillgelegt. Und
zwar haben mehrere Ursachen dies herbeigeführt. Einmal war es das
Sinken der Grundrente, also der Rentabilität, die aber noch dadurch
besonders herabgemindert wurde, daß an Stelle des klösterlichen
Kommunismus und der gemeinsamen Betriebsweise das Privateigentum *)
1) Ebenda S. 180.
2) Linneborn, Der Zustand der westfälischen Benediktinerklöster in den
letzten 50 Jahren vor ihrem Anschlüsse an die Bursfelder Kongregation (Zeitschrift
für vaterländische Geschichte und Altertumskunde [Westfalens] 56. Bd. [1898], S. 9 ff.).
— 266 —
und der Einzelbetrieb trat. Dieser konnte aber niemals bei dem für
gemeinsamen Betrieb eingerichteten wirtschaftlichen Apparat die alte
Rentabilität der Klosterwirtschaft erzielen. Dazu versagte damals
durchaus das zu jeder klösterlichen Bewirtschaftung nötige Element
der Laienbrüder. So sehen wir die alten feudal-agrarischen KJoster-
genossenschaften veröden hinsichtlich des Personal- und Besitzbestandes,
während die neueren mehr demokratisch -kapitalistisch organisierten
Orden an Überftillung leiden, so daß der Verfasser der Reformation
des Kaisers Sigmund sie allmählich fast auf den Aussterbeetat setzen
will. Während die Domkapitel und Stifter sich durch Union der
Pfründen und namentlich durch Inkorporationen von Pfarrkirchen *) zu
helfen wissen , drängen sich namentlich die Bettelorden in die Seel-
sorgc und erhöhen somit ihr Einkommen. Eis entstand ja daraus ein
hartnäckiger wirtschaftlicher Konkurrenzstreit mit dem Kuratklerus.
Daß man diese beiden Gruppen von Klöstern auseinanderhalten
muß, bestätigt auch die Untersuchung Kothes über die anderen Kloster-
genossenschaften in Straßburg. Wenn auch dort die Dominikaner
als älter und angesehener, für aristokratischer im Vergleich zu den
Franziskanern gehalten wurden, so waren dennoch in diesen beiden
Bettelorden die Angehörigen aus allen Ständen brüderlich vereint.
Diesen Ruf rechtfertigten übrigens die Predigermönche im Laufe des
XIV. Jahrhs. immer mehr, indem sie in der Tat das patrizische Stadt-
clement (ratsfähige Ritter und Bürgergeschlechter) bevorzugten *).
Auch waren dem Franziskanerkonvent uns aus anderen aristokratischen
Körperschaften Straßburgs bekannte Namen nicht fremd. Verschmähte
doch der Freiherr von Entringen die Würde eines „gardianus** nicht;
doch überwog neben patrizischen Mitgliedern die Zahl derer aus
Straßburger Zünften. Das Rekrutierungsgebiet beider Orden war das
ganze Rheinland von Köln bis Basel. Zu den übrigen Bettelorden:
Augustiner-Eremiten, Karmeliter und Wilhelmiter drängten sich fast
nur Zünftlcr. Den einheimischen Konventualen , die meistens aus
Handwerkerfamilien stammten, tritt eine große Anzahl von PVemden
an die Seite. Nur aus diesem Elemente setzte sich dann noch das
ganz abseits der Stadt gelegene Kartäuserkloster zusammen, ein Seiten-
stück zu dem Stift St. Arbogast derselben Stadt. Bei dieser Gruppe
von Klöstern hören wir also nichts von ständischer Exklusivität, nichts
von Einschrumpfung des Personen- und Besitzstandes. Da sie kein
i) Kothe.
2) Kothe, a. a. O. S. 42.
— 267 —
reiches Stiftungsvermögen besaßen, sondern vom Bettel, Seelsorge
und Handarbeit lebten *), waren sie gleichsam nicht salonfähig, hatten
also auch nicht unter der Monopolisierung durch einen Stand wie der
Freiherren zu leiden.
Anders verhält es sich wieder mit den Frauenklöstern derselben
Stadt. Bei ihnen finden wir wieder eine bestimmte Standesexklusivität,
da sie im XIV. Jahrh. sämtlich den Töchtern wohlhabender Patrizier
reserviert waren *). Ja gegen Ende des Jahrhunderts befindet sich
dort ein erheblicher Prozentsatz von Töchtern des elsässischen Adels.
Zünfte sind dagegen ganz von den Frauenklöstem Straßburgs aus-
geschlossen. So stehen wir vor der merkwürdigen Tatsache, daß
Mädchen aus dem Straßburger Volke überhaupt ihr Leben in einem
regelrechten Kloster nicht zubringen konnten, während doch die
Männerklöster dem männlichen Geschlecht dazu reichlich Gelegenheit
boten. Dabei ist der Überschuß an weiblichen Geburten damals recht
groß gewesen. Man hat auf looo Männer mindestens iioo Frauen
gerechnet ^). Unter diesem Mißverhältnis hatten natürlich die Mädchen
der besseren Stände mehr zu leiden, als die der niederen, die keine
Standesrücksichten beim Nahrungserwerb zu üben hatten. Dazu blieb
einem Frauenkloster gerade die Seelsorge als damals ergiebige Er-
werbsquelle verschlossen. Es mußte deshalb für den Eintritt einer
Frau ins Kloster die Mitgift hoch sein, um ihr ein standesgemäßes
Auskommen zu sichern. So fiel von selbst der Zutritt zu den Frauen-
klöstern ausschließlich den Töchtern aus besseren Ständen in die
Hände. Dazu paßte dann auch das beschauliche Leben den Mädchen
aus diesen Kreisen eher als den aus dem niederen Volke. So wandten
sich denn die mittellosen Töchter des Volkes den kirchlichen Körper-
schaften zu, die eine Versorgung ihrer Mitglieder boten auf Grund
von körperlichen Arbeiten, wie Waschen, Nähen, Spinnen u. a. Das
waren die Beghinenhäuser. Groß war deshalb die Zahl dieser
Beghinenhäuser gerade in Straßburg (noch größer in Köln). Im Jahre
13 17 waren es z. B. 30, von 1300 — 1400 lassen sich 70 urkundlich
nachweisen. Die Zahl ihrer Insassen schwankte zwischen 6 — 24. So
war durch diese kirchliche Institution der weibliche Überschuß auch,
dieser Volkskreise untergebracht. Doch gab es noch drei vornehme
Kollegien von Beghinen, die sogenannten Mantelfräulein, die sich
i) Beides wurde freilich als lästige Konknrrenz in den Städten empfunden, ersteres
▼on dem Knratklems, das letztere von den Handwerkern.
2) Kothe, a. a. O. S. 49.
3) Vgl. C. Bücher, Die Frauenfrage im Mittelalter (1882) S. 5.
20
— 268 —
ebenfalls durch ihren patrizischen Standescharakter scharf von dem
Gros abhoben.
Es bleibt uns nur noch Weniges über die Standesverhältnisse des
niederen Weltklerus von Straßburg zu sagen übrig, das sich im wesent-
lichen mit dem deckt, was ich bereits in einem früheren Aufsatz in
dieser Zeitschrift *) auf Grund anderer Untersuchungen mitgeteilt habe.
Schon im Anfang des XIV. Jahrhs. war der Prozeß vollendet, daß
der eigentliche rector ecdesiae, der Kirchenherr depossediert war und
an seine Stelle infolge der Inkorporation seiner Pfründe in Kanonikate
und Klöster der vicarius perpetuas getreten war. Diese werden nun
immer zahlreicher namentlich durch die sich ständig mehrenden
Messepfründner mit ihrer kärglichen Löhnung *). Im Zeitraum von
1300 — 14CX) sind in Straßburger Kirchen 140 Meßstipendien gestiftet
worden, abgesehen von den verloren gegangenen Urkunden. Es haftet
also diesem Heere von geistlichen Hilfsarbeitern das echt Proletarische
an: die große Zahl und ein Hungereinkommen. Es sind das deshalb
meistens Söhne aus dem Straßburger Handwerkerstande. Besser si-
tuierte Patrizier versorgten ihre Söhne auch nicht selten mit einer
gfuten Meßpfründe, reservierten sie aber dann ihrer FamUie oder sie
brachten sie in der kirchlichen Verwaltung imtcr, wo sie sich dann
durch vornehme Verwandten die Anwartschaft auf eine Kanonikats-
pfiründe erwarben. Auch hier entschied besseres Einkommen und
höhere Würde über den Eintritt in eine kirchliche Körperschaft oder
kirchliches Amt, das, je sorgenloser und arbeitsloser es war, um so
mehr von den vornehmen Ständen als Domäne behandelt wurde.
Ohne Zweifel stehen wir vor einer Reihe von merkwürdigen und
weittragenden Ergebnissen, zu denen wir auf Grund der angeßihrten
Arbeiten gelangt sind. Abgesehen von der schärferen Profilienmg
des Bildes, das sich für die Geschichte der geistlichen Korporationen
namentlich für das Klosterwesen ergibt, steht nun noch eine Ver-
wertung der Resultate aus fiir die Frage der um die Mitte des
XV. Jahrhs. einsetzenden Klosterreform sowie für das Verhalten dieser
Korporationen der Reformation gegenüber. Auf die Bedeutung der
neuen Fragestellung für die allgemeine deutsche Geschichte ist schon
hingewiesen worden. Es bleibt immer noch vieles zu tun übrig.
Trotz der einheitlichen Gesichtspunkte, die wir oben feststellen konnten,
trotz aller Gesetzmäßigkeit ist doch nirgends Schablone. Jedenfalls
i) Vgl. diese ZeiUchrift, 8. Bd., S. 219 ff.
a) Vgl. Kothe, m. m. O. S. 38 f.
— 269 —
hinterläßt die Feststellung eines so weitgehenden Standesbewußtseins
in den geistlichen Korporationen des Mittelalters beim Beobachter
einen imposanten Eindruck. Entstammten doch ihre Mitglieder den
reichsten und mächtigsten Familien des Landes, in denen ihre Wurzeln
aber auch die Kraft ihres Widerstandes bei der Reformbewegung, zum
Teil auch bei der Reformation lagen. Freilich stand das ganze Ge-
wohnheitsrecht der ständischen Exklusivität im direkten Widerspruch
zu Statuten und Ordensregeln. Man spricht so gern von Romani-
sierung des Christentums. Ist es nicht an der Zeit, angesichts der
vorliegenden Tatsachen, dem eine Germanisierung des Christentums
gegenüber zu stellen? Gewiß ließen sich dafiir noch andere Gründe
hinzufügen.
Mitteilungen
Versammlangeil. — Der Baltische Historikertag, dessen Pro-
gramm oben, S. 175 — 176, mitgeteilt wurde, hat in der angekündigten
Weise stattgefunden und zwar am 15. bis 17. April russischen, d. h. 38.
bis 30. April unseres Kalenders. Über die wissenschaftliche Leistung der
Versammlung wird später ein Sammelband Auskunft geben, der den Titel
tragen soll: Arbeiten des L Baltischen Histarikertages. Aber vorläufig ist
ein kurzer Bericht erschienen: Protokolle des Ersten Baltischen Historiker'
tages bu Biga lö.jJSS.— 17.130. Aprü 1908 (Riga, W. F. Hacker 1908,
45 S. 8®), dem wir einige MitteUungen entnehnien wollen.
Offiziell beteiligt haben sich an der Versammlung 19 Vereine sowie
II Verwaltungen von Archiven, Bibliotheken und Museen. Unter den 163
persönlichen Teilnehmem überragen allerdings an Zahl die aus Riga alle an-
deren bei weitem, aber immerhin waren Reval, Dorpat, Mitau, Peraau und
Petersburg gut vertreten. Aus dem Deutschen Reiche waren anwesend Biblio-
thekar Dr. Hans Schmidt (Posen) und Baron v. d. Osten-Sacken
(Berlin). Hoffentlich werden sich auch einige Balten an der Versammlung
des Gesamtvereins in Lübeck beteiligen!
In den Verhandlungen kennzeichnete zunächst Oberlehrer Worms
(Mitau) die Aufgaben der volkskundlichen Forschung in den Ostsee-
provinzen, die es bisher nach seiner Meinung noch nicht gibt Nachdem
er die entsprechenden ausländischen Bestrebungen, namentlich die der deut-
schen Vereine flir Volkskunde '), geschildert hatte, forderte er für die balti-
schen Gebiete ein anderes als das dort eingeschlagene Verficüiren, weil der
eigentliche Träger volkskundlicher Überlieferungen, der deutsche Bauernstand,
fehle. Es gelte darzustellen, wie sich die Volksseele äußere in den Worten,
im Glauben, in den Handlungen und in den Werken. Durch Vermittlung
i) Vgl. darüber oben, S. 63—83.
20^
— 270 —
der deutschen Vereine sollten Fragebogen ausgegeben und der dadurch
gesammelte Stoff solle von den historischen Vereinen durch historisch-
philologisch gebildete Kräfte bearbeitet werden. — Im Anschloß daran
machte Ingenieur Minuth (Riga) Mitteilungen über die Handwerksgebräuche
der Rigaer Kupferschmiedegesellen, und Redakteur Seraphim (Riga) for-
derte nachdrücklich dazu auf, alle derartigen Dinge schriftlich au&uzeichnen ;
notwendig sei aber vor allem die Errichtung von Sammelstellen, an denen
solcher Stoff niedergelegt werde.
Auf Veranlassung der geographischen Sektion des Baltischen Lehrer-
tags 1907 hat sich ein Zentralkomitee der baltischen Heimat-
kunde gebildet und als erste Aufgabe die Herausgabe eines imifassenden
Lehrbuchs der Heimatkunde ins Auge gefaßt. Pastor Hörschelmann
(Mitau) erläuterte den Plan näher. Stadtbibliothekar Busch (Riga) vertrat
dagegen die Ansicht, daß ein Werk wie das geplante, das eine allgemein
verständliche Darlegung der Geographie, Naturkunde, Geschichte sowie der
politischen tmd wirtschaftlichen Verhältnisse enthalten solle, noch keine
Heimatkunde sei, sondern nur eine Vorarbeit dazu. Das notwendigste sei
Schafiung von Heimatkunden fUr die einzelnen Unterrichtsorte, denn
die Aufgabe des heimatkundlichen Unterrichts bestehe darin, zur Beobach-
tung der sichtbaren Spuren des geschichtlichen Werdegangs in der Um-
gebung anzuregen. Deswegen ist er der Meinung, daß dem Bedürfnis nach
heimatkundlichen Hilfsmitteln im Unterricht am besten durch Bearbeitung
historischer Ortsführer entsprochen werde, wie sie v. Hedenström
(Riga) als notwendig bezeichnet hatte. Letzterer hatte für jede Stadt der
Ostseeprovinzen einen Ortsführer verlangt, der an der Hand der Realien
die geographischen, historischen und soziologischen Bedingungen der engeren
Heimat erläutere.
In Anlehnung an die entsprechenden deutschen Bestrebungen ') be-
sprach Prof. Doß (Riga) die Sammlung historischer Nachrichten
über Naturereignisse und physisch-geographische Verhält-
nisse des Ostbaltikums, erläuterte die große wissenschaftliche und
praktische Bedeutung solcher Bemühungen und forderte die Einsetzung eines
Ausschusses, der bis zur nächsten Versammlung bestimmte Vorschläge machen
solle in Anschluß an die bis dahin vermutlich ins Leben getretene ent-
sprechende Organisation in Deutschland. Außer dem Redner wurden Ar-
chivdirektor Stavenhagen (Mitau) und Stadtarchivar Feuereisen (Riga)
in diesen Ausschuß gewählt. — Die Notwendigkeit, den Naturdenkmälern
auch in den Ostseeprovinzen Aufmerksamkeit zu schenken und für ihre Er-
haltung zu sorgen, besprach Arzt Otto Thilo (Riga), und Prof. Kupffer
(Riga) erläuterte an der Hand ausgestellter Naturdenkmäler aus der baltischen
Pflanzenwelt — meist Überreste früherer Vegetationsperioden — die Wich-
tigkeit dieser Gedanken.
Prof, V. Stryk (Riga) führte in seinen Darlegungen über Denkmal-
pflege den Gegensatz^ der in dem Konservieren oder Restaurieren der
Denkmäler zum Ausdruck gelange, auf einen andern zurück, nämlich den,
ob das Kunstwerk oder die Urkunde geschützt werden solle; denn
i) Vgl. diese ZciUchrift 7. Bd. (1906), S. 223 und 8. Bd. (1907), S. 52—53-
— 271 —
beides zugleich sei meist unmöglich, und deshalb müsse über die letzte Ab-
sicht, was man bezwecke, Klarheit herrschen. — Der Rigasche Architekten-
i^erein hat sich in einem ausführlichen Gutachten über die Aufgaben der
Denkmalpflege im Ostseegebiet ausgesprochen, und zwar bildete den Anlaß
<lazu eine seitens der russischen Regienmg geplante gesetzliche Regelung
des Denkmalschutzes, über die sich schon 1905 die Gesellschaft flir Ge-
schichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen Rußlands gutachtlich ge-
äußert hat. Ein besonderer Ausschuß, dem Mitglieder des Architekten-
vereins und der genannten Gesellschaft angehören, soll diese Angelegenheit
im Auge behalten. — Stadtarcbivar Feuereisen (Riga) machte noch sehr
interessante Mitteilungen über den in Schweden und Livland tatsächlich im
XVU. Jahrhundert geübten Denkmalschutz.
Prof. Hausmann (Dorpat) schilderte in dem Vortrage Die archäo-
logische Forschung in den baltischen Provinzen im letzten Jahrzehnt knapp
zusammenfassend den gegenwärtigen Stand des Wissens über die baltische
Vorgeschichte. — Oberlehrer Diederichs (Mitau) forderte die systema-
tische Herausgabe der bereits früher gedruckten, aber meist schlecht bear-
beiteten, und der bisher ungedruckten Geschichtsquellen und begründete seine
Forderung eingehend. Auch diese Bestrebungen soll ein besonderer Aus-
schuß fördern. — Für die Herausgabe eines baltischen Ortsnamens-
buchs trat Dr. Schlüter (Dorpat) ein und entwickelte einen bis ins ein-
zelne gehenden Arbeitsplan. In der Eröiterung wurde auch die Sammlung
<ler Flurnamen eingehend mit behandelt, und über eine von A. Bielen-
stein 1892 vorgenommene Umfrage, durch die 40000 Namen zusammen-
gebracht \»urden, berichtete dessen Sohn. Auch der Aufgabe, diese An-
regungen weiter zu verfolgen, wird sich ein besonderer Ausschuß unterziehen.
Für die deutschen Arbeiten auf dem Gebiete der Flurkarten-
forschung interessant waren die Mitteilungen von v. Löwis ofMenar
(Riga) über kartographische Archivalien: aus der Zeit von 1681 — 1693 hegen
28 Folianten mit Gutskarten vor, und Wegekarten von 1695 geben will-
konmiene Ergänzungen. Der letztgenannte hat auch bereits Geschichts-
karten für Livland bearbeitet, und zwar im Maßstabe i : 100 000 und
I : 230000; es liegen bis jetzt 20 verschiedene Karten vor. Es werden
^rauf dargestellt die heidnischen Burgberge, die Landschaftsgrenzen des
XIL Jahrhunderts, die politische Einteilung Livlands in den Jahren 1207, 1220,
1237, 1250, 1297, 1382 und 1398, die Territorialgrenzen und Diözesan-
grenzen des XV. Jahrhunderts, die politische Gestaltung von Livland, Estland,
Kurland in den Jahren 1563, 1585 und 1630, die kurländischen Kolonien
im XVIL Jahrhundert, die Ostseeprovinzen in den Jahren 1699, 1721» 1783»
1819 und 1908.
Nicht mindere Beachtung verdienen die eingehenden Mitteilungen über
das baltische Archivwesen, das durchgängig den Organen der Selbst-
verwaltung untersteht. Wie dem eingehenden Berichte des Stadtarchivars
Feuereisen (Riga) zu entnehmen ist, wurden die Stadtarchive von Riga
tmd Reval 1882 und 1883 durch Trennung der alten von der laufenden
Registratur als wissenschaftliche Anstalten gegründet; dasselbe geschah in
Pemau 1893 und in Dorpat 1900, während sich des Stadtarchivs zu Fellin
die dortige Literarische Gesellschaft angenommen hat. Ein Landeszentral-
— 272 —
archiv für Livland gibt es in gewissem Sinne in dem Livländischen Ritter-
Schaftsarchiv ^), in welchem die alten Kirchenbücher ruhen, gefährdete
Archive imd sonstige ausgeschiedene Akten verwahrt werden. Weniger Sorg-
falt ist bisher dem Schwedischen Generalgouverneur-Archiv in Riga,
das zurzeit auch ungenügend untergebracht ist, gewidmet worden, aber der
eben vollendete, von Bienemann bearbeitete Katalog des Schwedischen
Qenerälgauvernetir'Ärchivs eu Riga (Riga 1908, 70 S.) wird vermuüich den
Anfang einer inhaltlichen Ausnutzung bedeuten. — In Mitau ist 1903 ein
Kurländisches Landesarchiv ^) gegründet worden, dessen Zusanmien-
setzung und weitere Aufgaben Archivdirektor Stavenhagen schilderte. —
Bei der Estländischen Gouvemementsregierung in Reval gibt es auch ein
„Schwedisches Archiv", über das Propst Winkler (Reval) Bericht
erstattete; es ist nicht fachmännisch geordnet und bisher nur sehr wenig
wissenschaftlich benutzt worden. — Auch über die Archive der Städte Libau,
Wenden und Lemsal sowie über das der Genossenschaft der Schwarzen
Häupter in Riga wurden nähere MitteUungen gemacht.
Mit der ferneren Fürsorge für die Kirchenarchive beschäftigte sich
Pastor Grüner (Salgaln, Kurland). Nachdem im Revolutionsjahre 1905
mehrere Kirchenarchive zugrunde gegangen sind, haben die kurländischen
Kirchenbücher aus der Zeit vor 1833 sämtlich im Landesarchiv zu Mitau
eine Stelle gefunden. Darüber hinaus hielt der Redner eine gleichmäßige
Inventarisation aller Pfarrarchive flir notwendig und forderte zu diesem
Zwecke die Einsetzung einer dreigliedrigen Kommission für jeden Ver-
waltungsbezirk, darüber hinaus aber die Gründung von Synodalarchiven
und Kirchenzentralarchiven flir alle Kirchgemeinden der größeren
Städte.
Für das Jubeljahr 191 7 wird die Herausgabe einer livländischen Refor-
mationsgeschichte geplant. Aus der Regestensammlung des Repertorium
Crermanicum in Berlin hat Baron v. d Osten-Sacken die Livonia aus-
gezogen und berichtete über seine Arbeit
Diese kurze Übersicht über die vielseitigen Verhandlungen und Mit-
teilungen kann natürlich den Inhalt bei weitem nicht erschöpfen, aber sie
lenkt vielleicht die Aufmerksamkeit manches Lesers auf die zu erwartende
größere VeröfTentlichtmg. Der nächste baltische Historikertag soll in zwei
Jahren stattfinden, und es wäre von Herzen zu wünschen, daß die baltischen
Historikertage eine dauernde Einrichtung werden, so wie es die deutschen
geworden sind.
Wie schon oben, S. 177, kurz mitgeteilt wurde, findet die diesjährige
Tagung des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertums-
vereine in Lübeck statt, und zwar vom 21. September an, nicht wie oben
angegeben wurde, am 2 2 . September beginnend. Vorträge finden am 2 1 . bis
23. September (Montag bis Mittwoch) statt; am Sonntag ist der Begrüßungs-
abend. Für Donnerstag, den 24. September, sind die Teilnehmer an der
i) Über dessen Geschichte machte Hermann v. Brainingk eingehende Mitteüangen.
2) Vgl. dazu diese Zeitschrift 2. Bd. (1901), S. 210—213.
— 273 —
Versammlung zu einem Besuch in Schwerin seitens des Vereins fUr Mecklen-
burgische Geschichte und Altertumskunde eingeladen, während Mittwoch Aus-
grabungen bei Alt -Lübeck besucht werden und eine Fahrt nach Trave-
münde stattfindet. In der Katharinenkirche zu Lübeck sind am Montag
und Dienstag Lübecker Urkunden und Zeichnungen und Lichtbilder Lübecker
Baudenkmäler sowie Pläne zur Erhaltung des Lübecker Stadtbildes ausgestellt.
In den öffentlichen Versammlungen wird Senator Fehling (Lübeck)
über Marksteine lübischer Geschichte, Geh. Archivrat Grotefend (Schwerin)
über VoUcsßählungsmateriäl im Schweriner Archive 1498 — 1900 und Prof.
Reuter (Lübeck) über Die Deutschen und die Ostsee von Karl dem Großen
bis Mum Interregnum sprechen.
Für die I. und II. Abteilung sind folgende Vorträge voi;gesehen: Der
Stand der vorgeschichtlichen Forschung in Mecklenburg (Prof. Beltz,
Schwerin); Vorschläge zur Katalogisierung kleinerer Sammlungen (Prof.
Dragendorff, Frankfurt a. M.); Schwäbisch - fränkische Hallenkirchen des
XIII. und XIV. Jahrhunderts (Prof. Gradmann, Stuttgart); Die Anfänge
des Ziegelbaues in Wagrien und ihre persönlichen Zusammenhänge (Prof.
Haupt, Eutin); Die Pipinsburg und Verwandtes (Dr. Hofmeister, Lü-
beck); Neue neolithische Wohngräber bei Worms (Sanitätsrat Koehl,
Worms). — In der III. Abteilung werden folgende Gegenstände behandelt:
Die Aufgaben der deutschen Seegeschichte (Prof. Dietrich Schäfer, Berlin);
Der Grundriß der deutschen Stadt des Mittelalters in seiner Bedeutung ads
geschichtliche Urkunde (Museumsdirektor Prof. Meier, Braunschweig); Der
Lageplan der osteuropäischen Kolonialstädte (Archivrat Prof. Warschauer,
Posen). — Die IV. Abteilung wird sich mit folgenden Pimkten beschäf-
tigen: Einige Besonderheiten der Altersverhältnisse in Südtirol (Prof. Außerei);
Besprechung der auf der Mannheimer Versammlung ') von Ritter v. Bauer
und Prof. Renner gemachten Vorschläge; Das Münzwesen von Stadt und
Bistum Lübeck (Prof. Curtius, Lübeck); Alt-Lübecker Heraldik (Stadtbau-
inspektor Grube, Stettin); Die Bedeutung des Wetzlarer Staatsarchivs für
genealogische Forschungen (Schrifbteller Macco, Berlin); Die Wendungen
des Münzrechts im Deutschen Reiche (Prof. Menadier, Berlin); Die äl-
testen Stammbücher des Stiftes Kremsmünstcr (Prof. Pösinger). — In der
V. Abteilung (für Volkskunde) endlich kommt zur Erörterung: Au^aben der
Hausbauforschung in Schleswig-Holstein (Prof. Haupt, Eutin); Das nieder-
sächsische Bauernhaus (Dr. Peßler, Hamburg); Berichte über die Haus-
statistik und die volkskundliche Bibliographie (Profi Brenner, Würzburg);
Das Schleswig -hobteinische Idiotikon (Oberlehrer Mensing, Kiel); Die
Rethraforschung (Oberlehrer Wossidlo, Waren).
An die Teilnehmer ergeht die Bitte, sich bis zum 15. September beim
Schriftführer des Ortsausschusses, Rat Dr. Linde, Lübeck, Mühlenstr. 72,
anzumelden.
Während in unmittelbarem Anschluß an die eben genannte Ver-
sammlung am 24. und 25. September (Donnerstag, Freitag) der Tag für
1) Vgl. oben S. 89—90.
— 274 —
Denkmalpflege in Lübeck stattfindet, wird am 20. September (Sonntag)
der Achte deutsche Archivtag daselbst abgebalten. Als Teil desselben
gilt auch der bereits oben genannte Vortrag von Grotefend über Volks-
zählungsmaterial im Schweriner Archiv von 1498 bis 1900. Den Haupt-
gegenstand der Verhandlungen bildet die Aussprache über den vorjährigen
Vortrag von Striedinger (München) über die Versendung von Archivalien ').
Außerdem wird Archivar L u 1 v ^ s (Hannover) über die Verwaltung der Staats-
archive Italiens im letzten Jahrhundert, Senatssekretär Dr. Hagedorn
(Hamburg) über das Hamburger Staatsarchiv und die Personenforschung ^
und Staatsarchivar Kretzschmar (Lübeck) über das Lübecker Staatsarchiv
berichten.
Anmeldungen zum Archivtag erbittet Geh. Archivrat Dr. Grotefend
in Schwerin (Meckl.). Eine zwanglose Zusammenkunft der Archivare als-
Vorbereitung für die Versammlung findet Sonnabend, den 19. September^
8i Uhr abends im Schabbeihause (Mengstr. 36) statt.
Eingega]iii;ene Bfleher.
Me ring er, R.: Das deutsche Haus und sein Hausrat [= Aus Natur und
Geisteswelt, 116. Bändchen]. Leipzig, B. G. Teubner 1906. iii S.
8«. M. 1,25.
Pflaum, Chr. D.: J. G. Droysens Historik in ihrer Bedeutung für die
moderne Geschichtswissenschaft [= Geschichtliche Untersuchungen^
herausgegeben von Karl Lamprecht, 5. Band, 2. Heft]. Gotha,
Friedrich Andreas Perthes, Aktiengesellschaft 1907. 115 S. 8®. M. 2,40.
Prutz, Hans: Die geistlichen Ritterorden, ihre Stellung zur kirchlichen,
politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung des Mittel-
alters. Berlin, Ernst Siegfried Mittler und Sohn 1908. XVIII und
549 S. 8^ M. 14,00.
Ranck, Chr.: Kulturgeschichte des deutschen Bauernhauses [== Aus Natur
und Geisteswelt, 121. Bändchen]. Leipzig, B. G. Teubner 1907.
103 S. 8<*. M. 1,25.
Spangenberg, Hans: Hof- und Zentralverwaltung der Mark Brandenburg
im Mittelalter [=• Veröffentlichungen des Vereins flir Geschichte der
Mark Brandenburg]. Leipzig, Duncker & Humblot 1908. M. 14,40.
Tschamber, K.: Der deutsch- französische Krieg von 1674 — 1675. Mit
4 Schlachtplänen und 3 Karten, nach urkimdlichen Quellen bearbeitet.
Hüningen, Kart Weber 1906. 268 S. S^, M. 3,80.
Volz, G. B.: Aus der Zeit Friedrichs des Großen. Mit 5 Bildern. Gotha^
Friedrich Andreas Perthes, Aktiengesellschaft, 1908. 270 S. 8". M. 4,50.
Wäschke, H.: Die Zerbster Ratschronik, übersetzt. Dessau, C. Dünnhaupt
1907. 96 S. 8®. M. 1,20.
i) Vgl. oben S. 84—85.
2) Dieser Vortrag Hihrt die in Bamberg (1905) erörterte Frage über die Archiv-
benntzung zu genealogischen Zwecken (vgl. diese Zeitschrift 7. Bd., S. 56 — 57}
weiter.
Hemugeber und verantwortlicher Redakteur : Or. Armin Tille, in Dresden.
Verlag und Druck Ton Friedrich Andreas Perthes, Aktiengesellschaft, Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
cur
Förderung der landesgescMcbtlichen Forschimg
IX. Band August/September zgoS 11./12. Heft
Zur neueren fefoftnationsgesehiehtliehen
liiteratuf Ost^ und florddeutsehlands nebst
den Gf enzländer n ')
Von
Friedrich Roth (München)
Da in einem früheren Aufsatze ') eine Anzahl neuerer und neuester
Schriften besprochen wurde, welche die religiöse Bewegung und die
Kirchenreformation in Süd- und in Mitteldeutschland von Thüringen
bis ins Hessische zum Gegenstande haben, wollen wir uns diesmal in
den Osten und Norden des Reiches und dessen Grenzländer wenden,
wo die evangelische Kirche im Gegensatz zum Süden, von dessen
Territorien die größten von der alten Kirche festgehalten, andere
entweder ganz oder teilweise zurückerobert worden sind, ihre wich-
tigsten Heimstätten gefunden hat.
Wir beginnen mit einigen Neuerscheinungen, die uns nach Witten-
berg, dem Ausgangspunkt der deutschen Reformation, fuhren und sich
mit Karlstadt beschäftigen, einem der markantesten unter den pro-
testantischen Dissenters, deren Leben und Wirken man in unserer
Zeit mit einer gewissen Vorliebe nachgeht. Hermann Bärge hat in
Gemeinschaft mit E. Freys im ZentraJbhU für Bibliothekwesen ein
mit Angabe der verschiedenen Ausgaben nmd der Fundorte sowie mit
Druckbeschreibung und historisch - chronologischen Notizen ausgestat-
tetes Verzeichnis der gedruckten Schriften C. Bodensteins veröffent-
licht^), im ganzen nicht weniger als 156 Nummern, von denen manche
i) Die Rücksicht auf den zar VerHigang stehenden Raun macht es aach diesmal
anmöglicb, eine vollständige oder auch nur aUe wichtigeren Schriften umfassende Ober-
sicht zu bieten ; der Haaptsache nach habe ich mich wieder auf solche Bücher und Zeit-
schriftenaufsätze beschränkt, die mir zur Besprechang vorlagen.
2) Vgl. den Vil. Band (1906), S. 156—185.
3) Jahrgang XXI (1904), S. 153«., S. 209 flf., S. 305 ff.
21
— 276 —
nur schwer erreichbar waren; und als Ergänzung hierzu fügte Bai^e
ebenda noch eine Untersuchung Zur Chronologie und Drucklegung
der Karlstadtschen AhendnuMstrcMate ^) an. Diese Drucke und eine
Menge bisher unbekannter oder nur wenig beachteter Stücke, die
Bärge in dem reichen sächsischen Gesamtarchiv zu Weimar, im Staats-
archiv zu Basel, in der Stadtbibliothek zu Zürich, auf der Ratsbiblio-
thek zu Zwickau und anderwärts mühsam zusammentrug, bildeten den
Grundstock des gewaltigen Materials, aus dem er, {linfzig Jahre nach
der veralteten Karlstadtbiographie von C. F. Jäger*), sein großes
zweibändiges Werk über Karlstadt •) aufbaute, von dem der erste Teil
Karlstadt und die Reformaiian, der zweite KarUtadt als Vorkämpfer
des laienchristlichen Puritanismus *^) behandelt. Eine solche Arbeit
war so recht geeignet, die theologischen Grundfragen, die die Re-
formation hervorriefen und in ihrer Entwicklung bestimmten, von
neuen Gesichtspunkten aus wieder aufzurollen, und Bärge hat es auf
das gründlichste getan und damit unsere Kenntnis der aus den Tiefen
des damaligen geistigen Lebens erwachsenen religiösen Strömungen
in unzähligen Einzelheiten erweitert und vertieft. Und was Bärge
über die letzten Lebensjahre Karlstadts aus archivalischen Quellen
geschöpft hat , ist fast vollständig neu *). Also gewiß ein vortreff-
liches, preiswürdiges Werk! „Als Resultat", sagt Bärge selbst, „er-
gab sich eine nicht unwesentliche Verschiebung des herkömmlichen
Gesamtbildes, wie es in den Werken, die über die Geschichte jener
Tage handeln, festgehalten zu sein pflegt. Wenn in unserem Buche
Karlstadt eine weit bedeutsamere Rolle zufallt, als ihm bisher zuge-
standen ist, So darf der Grund hierfür nicht in dem Bemühen des
Verfassers gesucht werden, eine persönliche Ehrenrettung seines Helden
zu unternehmen. Vielmehr führte ihn zu seinen Ergebnissen das Be-
mühen, auch in d i e reUgiösen Symptome und Bewegungen unbefangen
einzudringen, welche — wenn schon dem reformatorischen Gesamt-
bewußtsein entspringend — - doch sich unabhängig von Luther ent-
i) Ebenda S. 323 ff.
2) Stattgart 1856.
3) Andreas Bodenstein von Karlstadt (Leipzig 1905). — Über Karlstadt als
Scholastiker handelt G. Bauch in der ZeiUchr. fUr Kirchengesch. Bd. XVIII (1897) S. 37ff.
4) Nebenbei sei hier bemerkt, daß der II, S. 198 o. im Reg., S. 628 erwähnte
Angsborger Weber Ulrich Richsner hie0, nicht Ulrich Risner, wie er infolge eines Schreib-
oder Druckfehlers genannt wird; ferner, daß die ErfUllang des II, S. 201 Anm. 135
aasgesprochenen Wunsches den erwarteten Aufschluß nicht bieten würde.
5) Im Anschluß an diese FeststeUnngen berichtet Über den Lebensabend Karlstadts
in der Schweiz auch Egli, Zwingliana U, S. 77 ff., der Bärge nicht durchaus zustimmt.
— 277 —
faltet, und deren Träger sich von der durch Luther geschaffenen
kirchlichen Organisation bewußt fernhielten." Ob der Verfasser, indem
er diesen Weg ging, sich die Objektivität zu wahren vermochte, die
er sich zur heiligen Pflicht gemacht hat? Wir wagen nicht, uns darüber
zu äußern, müssen aber darauf hinweisen, daß die berufensten Kenner
der hier in Betracht kommenden Persönlichkeiten und Verhältnisse
wie Kawerau*), Kolde*), Friedensburg*) und namentlich K.
Müller^) bei aller Anerkennung, die sie Barges Werk sonst zuteil
werden lassen, der Meinung sind, daß er viel zu viel durch die Brille
Karlstadts sieht und dadurch gegen Luther ungerecht geworden ist. —
Dem ersten Band ist ein aus der Basler Universitätsbibliothek ent-
nommenes Bild Karlstadts und ein Anhang von neun Exkursen
beigegeben, dem zweiten ein sehr interessanter Epilog KarlskuUs
Nachleben, der von der an seinen Namen sich knüpfenden Teufels-
legende, von seiner Witwe, seinen Kindern und seinem Fortleben bei
Reformierten und Lutheranern handelt, dann eine Sammlung von acht-
undfünfzig das Leben Karlstadts beleuchtenden Briefen und anderen
Dokumenten.
Ein aus Wittenberg stammendes, für die Reformationsgeschichte
wichtiges Quellenwerk ist das von Georg Buchwald herausgegebene
WiMenberger Ordinierbuch *), das sich als ein neues Glied an die be-
kannten Editionen K. E. Förstemanns: Liber decanorum facuUcUis
thecHcgicae AJsademiae Witeberg. ®) und ÄJbum AJcad. Viieb. ^) und
Köstlins: Bacalaurei und Magistri der Wittenb. philosophischen Fa-
cuUät ®) anschließt. Das Ordinierbuch enthält die Namen sämtlicher
in Wittenberg ordinierten Geistlichen, den Namen des Ordinators und
die Angabe der Berufissteilung (Pfarramt, Predigtamt, Priesteramt,
Schulmeisterstelle), die der Ordinierte an dem Orte, wohin er berufen
wurde, einnehmen sollte. Welche reiche Fundgrube sich hier für die
lokalgeschichtliche und kirchengeschichtliche Forschung erschUeßt,
liegt auf der Hand. Für die Zeit von 1558 — 1567 gibt es noch
i) Deutsche Literatarzeitung, 1906, Nr. 2.
2) Beitr. zur B. Kirchengesch. Bd. XII (1906), S. 189, Bd. XIV (1908), S. 144.
3) Archiv filr Ref.-Gesch. Bd. IH (1906), S. 208.
4) Luther und KarUtadt (Tttbingen 1907).
5) Erster Band, 1537 — 1560 (Leipzig 1894), zweiter Band, 1560— 1572 (Leipzig 1895).
6) Leipzig 1838.
7) Alb. ac. V. ab a. Chr. 1502 uaque ad 1602 (Lipsiae 1841) VoL II, 1502 bis
1602 (Halis 1895).
8) Osierprogrammt der Universität HaUe (Wittenberg 1887, 1888, 1890, 1891).
21*
— 278 —
parallellaufende Aufzeichnungen Paul Ebers ^), aus denen Buchwald
wertvolle Berichtigungen und Ergänzungen sowohl iiir den ersten wie
für den zweiten Band seines Werkes entnahm. „In letzterem ist die
Form der Einträge eine andere, reichere als im ersten : Der Ordinand
schreibt kurz seinen Lebensgang mit eigener Hand ein, so daä sich
die Ordinierbücher zu einem großen Album der ganzen evangelisch-
lutherischen Geistlichkeit gestalten." Sehr instruktiv sind die Über-
sichten, die Buchwald dem Vorwort zum zweiten Bande eingefugt
hat; so gleich die erste, aus der zu ersehen ist, wie viele offenbar
nur recht mangelhaft vorgebildete PersönUchkeiten man infolge des
schrecklichen Mangels an entsprechenden Kräften zum Predigtamte
zulassen mußte : ehemalige Buchdrucker, Küster, Schreiber, ja gewöhn-
liche Handwerker und Bauern. Eine andere Übersicht zeigt uns die
Zahl der von 1537 — 1816 in jedem Jahre Ordinierten. 1537 sind es
8, 1538 24, 1539 HO; im Jahre 1553 wird die Maximalzahl 126 er-
reicht. 1572 steigt sie zum letzten Male über 100 ; das Jahr 1600
weist 70, 1650 16, 1700 8, 1750 6, 1800 12, 1816 einen Ordinanden
auf. Dieser eine, der letzte, war Karl Theophil Ulich, der sich durch
einen ziemlich langen Eintrag verewigt hat. — Jeder der beiden Bände
ist mit einem sehr sorgfältig ausgearbeiteten Personen- und Ortsregister
ausgestattet.
Das Verdienst, auf die Ordinierbücher wieder aufmerksam gemacht
zu haben, gebührt E. Rietschel, der über die Ordination eine grund-
legende Schrift veröffentlicht hat *), und er war es auch, der die An-
regung gab, diese Bücher, soweit sie in die Reformationszeit und die
sich anschließenden Jahrzehnte fallen, durch den Druck der Wissen-
schaft allgemein und bequem zugänglich zu machen. Die Ergebnisse,
zu denen Rietschel in seinem Buche gekommen, wurden in neuester
Zeit nachgeprüft von P. Drews*), der nach sorgfaltiger Abwägung
aller einschlägigen Quellenstücke und Umstände in mehreren wichtigen
Punkten seinen Vorgänger berichtig^.
In der Wittenberg so nahe liegenden Mark Brandenburg fand
die Reformation bekanntlich erst Eingang unter dem Kurfürsten Jo-
i) Eigentum der Herzogl. Bibl. su Gotha (Cod. Chart. B nr. 18): Ordinati ad
ministerium Euangelii Vuitebergae a pastore Pavio Ehero ab vndecima die OcUh
bris, quo ia commigravit in damum parochidlem, quod faustum et scdutare eit Ec-
clesiae Anno 1558.
2) Luther und die Ordination, 2, Aufl. (Wittenberg 1889).
3) Die Ordination, Prüfung und Lehrverpflichtung der Ordinanden in Wüten-
^^g 1535 in d«r Deutschen Zeitschrift fiir Kirchenrecht, Bd. XV (1905), S. 66 ff. und
S. 273 ff.
— 279 —
achim IL, der im Gegensatz zu seinem streng am alten Glauben
festhaltenden Vater schon früh Hinneigung zum Evangelium hatte
erkennen lassen, ohne jedoch offen Farbe zu bekennen. So hielt er
es auch nach seinem Regierungsantritt; er machte kein Hehl aus
seiner protestantischen Gesinnung, wollte aber doch als gehorsamer
Sohn der alten Kirche angesehen werden. Er fühlte sich zum Ver-
mittler zwischen den Gegensätzen berufen und suchte nach Kräften
auf das Zustandekommen des religiösen Friedens im Reiche hinzu-
wirken und auf diese Weise der Reformation in seinem Lande Eingang
zu verschaffen. In der Tat brachte er es dahin, daß der nach dem
dritten zwischen dem Kaiser und Frankreich geschlossenen Frieden
drohende Religionskrieg durch den Frankfurter Anstand wieder hinaus-
geschoben wurde. Und nun zögerte er auch nicht länger, in der
Kurmark, in der das Gebäude der alten Kirche unterdessen immer
mehr in Verfall gekommen war, eine die katholischen „Bräuche^
so viel als möglich beibehaltende evangelische Kirchenordnung ein-
zuführen, die dem Bischof von Brandenburg, „der mit der heil-
samen Lehre des Evangeliums einig war** *), die Ordination der Geist-
lichen überließ. Diese Dinge sind, natürlich mit der Erschließung
neuer Quellen fortschreitend in immer größerer Klarheit und Ausiiihr-
lichkeit, nach verschiedenen Richtungen hin, schon öfter dargestellt
worden; in neuerer Zeit von J. Heidemann'), von J. Gebauer*),
von P. Steinmüller*), von F. Meine, der die vermittelnde Sklltmg
Joachims su den politischen und religiösen Parteien seiner Zeit unter-
suchte*), und von J. Sonneck, der die Beibehaltung katholischer
Formen in der Reformation Joachims und ihre allmähliche Befestigung
in einer Rostocker Dissertation erörterte *). In der viel besprochenen
Frage, ob Kurfürst Joachim, der seinen persönlichen Übertritt zum
i) J. Gebaner, Beiträgt sur Oeseh, des M(Uth. wm Jagow, Bitchoß ton
Brandenburg (1526— 1544) im J^J^rb. f. Brmndenb. K.-G., IV (1907), S. Syflf. — Siehe
aach A. Parisias, Über die TeUoww Eimgung (1539)1 ebenda I (i9<H)) S. 222 fif.
2) Die Reformation in der Mark Bnmdenburg (Berlin 1889).
3) Die Reformation des Bietums Brandenburg, Progr. (Brandenb. 1898).
4) Einführung der Reformation in der Kurmark Brandenburg durch Jo-
achim IL (HaUe 1903, Sehr, des V. für Ref.-Gesch.). — Das Bekenntnis Joachims 11,
in Forsch, z. Brdb.-prenfi. Gesch. Bd. XVII (1904).
5) Lüneburg 1898. — Vgl. auch Rosenberg, Der Kaiser und die Protestanten
in den Jahren 1537—1539 (HaUe 1903, Schriften des Ver. fiir Ref.-Gesch., Nr. 77);
Landwehr, Joachims IL Stellung sur KonsUsfrage in den Forschungen tur Brandenb.-
preuß. Geschichte, Bd. VI (1893).
6) Rostock 1903.
— 280 —
Evang-elium durch die Kommunion unter beiderlei Gestalt einleitete,
diesen Schritt in der Nikolaikirche zu Spandau oder in der Stiftskirche
zu Berlin getan, entscheidet sich Steinmüller nach eingehender
Prüfung aller darüber sprechenden Quellenstellen für Berlin ; dort fand,
wie er überzeugend nachweist , am i. November 1539 diese Abend-
mahlsfeier, an der sich auch Joachims Gefolge beteiligte, in aller
Stille statt, „demi er hat seinen Bekenntniswechsel augenscheinlich
nicht verbergen, wohl aber auch nicht Gegenstand des Gespräches
sein lassen wollen" — und zwar zumeist aus Rücksicht auf den Kaiser
und den König, mit denen er es um keinen Preis verderben wollte.
Die Bistümer, Stifter, Klöster und Komtureien wurden in ihrem Stande
belassen und sollten, wie es die Landstände verlangten, keine „Ände-
rung" erfahren. Im Jahre 1540 begann die erste Visitation*), durch
die unter vielen Schwierigkeiten die neue Kirchenordnung überall zur
Einführung kam, worauf im Jahre 1543 durch Errichtung eines aus
Theologen und Juristen zusammengesetzten Konsistoriums für das
neue Kirchenwesen eine Zentralbehörde geschaffen und 15 51 weiter
ausgestaltet wurde. Auf dem Reichstage zu Regensburg (1541) er-
langte Joachim, daß seine Kirchenordnung durch den Kaiser bis zur
Entscheidung eines Konziles anerkannt wurde, wogegen er zur Nach-
folge König Ferdinands in der Kaiserwürde seine Zustimmung gab
und jedem protestantischen Bündnisse fernzubleiben versprach.
Die wissenschaftliche Bildung und das Schulwesen standen in der
Mark damals auf einer tiefen Stufe. Der Humanismus hatte hier nur
sehr wenig Boden gefunden; auch auf der 1506 begründeten Univer-
sität Frankfurt, wo ein Wimpina und ein Mensing die Hauptrolle
spielten, vermochte er nicht au&ublühen, und im dritten Jahrzehnt
des Jahrhunderts kam diese Hochschule infolge der durch die Re-
formation erzeugten eigenartigen Störungen und öfteren Auftretens
der Pest zu völligem StUlstand. Die Einzelnheiten dieses Verlaufes
ergeben sich aus G. Bauchs Buch: Die Anfänge der Universiiäi
Frankfurt a. 0, und die EntwUMung des wissenschaftlichen Lebens an
der Hochschule, 1506—1546 (Berlin 1900) und aus den von G. Kauf-
mann und ihm herausgegebenen Urkunden der Universiiäi^).
1) Miller o. Parisias, Die Abschiede der in den Jahren 1640— ISUi in
der Ältmark gehdUenen ersten GenertUkirchenvieitation (Magdeburg 1891).
2) Akten und Urkunden der Universität Frankfurt o. 0. Heraosg^eben von
G. Kaufmann and G. Bauch (Breslau 18970.). — Siehe aach E. Friedländer,
Aktenstücke zur Universität Frankfurt a. 0. i. und 2. in den Forschungen vai
Brandenb.-prenß. Gesch., Bd. VIII (1895).
— 281 —
Eine kurze Strecke die Elbe abwärts ziehend, betreten wir die
anhaltischen Ländchen >), deren Regenten unter den deutschen Fürsten
zu den ersten und treuesten Bekennem des Evangeliums zahlen. Für
uns ]commt hier nur Georg III. in Betracht, der innerhalb der Wirkungs-
kreise, in die er gestellt war, ein hervorragender Förderer der Re-
formation gewesen ist. Er erscheint als ein von natürlicher Frömmig-
keit beseelter, edeldenkender Mann von untadeliger Sittenreinheit, der
in seiner trefflichen Art als Mensch und Fürst in mancher Beziehung
an den Grafen Wolrad von Waldeck erinnert und als Angehöriger
des geistlichen Standes, in den er schon früh als Domherr zu Merse-
burg und Dompropst zu Magdeburg eintrat, im Gegensatz zu den
meisten seiner Standesgenossen ein lebhaftes Bewußtsein der ihm von
seinen Würden auferlegten Verpflichtungen in sich trug. Nach schweren
inneren Kämpfen und gewissenhafter Prüfung der im Vordergrunde
stehenden theologischen Streitfragen wandte er sich seit etwa 1530
dem Evangelium zu, entschloß sich aber, im Einvernehmen mit seinen
Brüdern Johann und Joachim, erst im Jahre 1534, seine Gesinnung
in die Tat umzusetzen, indem er in Dessau das Abendmahl sub
utraque spenden ließ und „etliche Mißbräuche*' abschaffte. Als geist-
licher Koadjutor des im Jahre 1544 zum Bischof von Merseburg ge-
wählten Herzogs August von Sachsen, eines Bfuders des Herzogs
Moritz, war er eifrig daran, die Reformation in diesem Stifte durch-
zuführen , was ihm auch vollständig gelang '). Seine Persönlichkeit
und sein Lebenswerk wurde gelegentlich der 400jährigen Feier seines
Geburtstages der Gegenstand von zwei Publikationen F. Westphals,
einer größeren und einer kleineren ') , in denen er mit Umsicht und
Geschick die gesamte ältere Literatur sowie eine Anzahl neu er-
schlossener Quellen ausbeutete, um eine dem jetzigen Stande der
Geschichtschreibung entsprechende Biographie George bieten zu können.
Von solchen neuen Quellen sind die wichtigsten der von O. Giemen
herausgegebene Briefwechsd Oeorg JSfeto*), der der Lehrer, Freund
i) Siehe zum Gaoseo H. WSichke, Die landeBge$eh, Forsehung in AnhaU in
Bd. V dieser BläUer.
2) Die Akten der enten VieitaHan im HwMift MenOmrg (i544-~i545) >"><!
beransgegeben von P. Flemming in der Zeittcbr. des Ver. fttr Kirchengesch. in der
Pronns Sachsen, m (1906), S. 145 ff.
3) Fü/rsi Oeorg der Goheeüge su AnhaU. Sein Werden und Wirken. 1907.
(Mit Abdruck der Quellen.) — Zur Erinnerung an Fikret Georg den OdieeUgen «m
AnhaU. Zum 400jährigen Geburteiage am 15. Auguet 1907. (Uipzig 1907 , Sehr,
des Ver. Ar Ref.-Gesch., Nr. 95).
4) Im Arch. f. Ref.-Gesch., ed. W. Friedensburg: Eigin£.-Bd. 11 (Leipdg 1907).
— 282 —
und innigste Vertraute George war, und die gleichfalls von Clemen
veröffentlichte Sammlung von Briefen Emsers, CocMäus', Mensmgs
und Peter Rtmchs an die Fürsten Johann und Georg und deren Mutter
Margareta, eine geborene Herzogin von Münsterberg '). Die beiden
Editionen ergänzen sich in der Art, daß uns die erstere bekannt macht
mit den dem Hofe mehr oder weniger nahestehenden Persönlichkeiten
der erfolgreich vordringenden „Neuerer^, während die letztere uns
einen Einblick in die Lebensverhältnisse und die Denkweise der katho-
lischen Gruppe gestattet, die trotz ihrer Bemühungen sich zu behaupten
von Tag zu Tag an Boden verlor. Wie mit Helt so stand Georg
auch mit dem 1531 von Zwickau her als Hofprediger nach Dessau
berufenen Nikolaus Hausmann in enger Verbindung, dessen Andenken
in jüngster Zeit F. Bobbe*) erneuert hat. Die Verdienste, die sich
der Fürst erwarb, indem er Joachim II. von Brandenburg zu seinem
Übertritt „innerlich vorbereitete^, sind letzthin in einer Abhandlung
von Nikolaus Müller näher beleuchtet worden*).
Wir schreiten nun über die damaligen Grenzen des Reiches hin-
aus in die Gebiete der Oder und Weichsel, zunächst nach dem ge-
fahrvoll zwischen Böhmen und Polen eingeklemmten Schlesien, das
in eine Anzahl von eigenen Herzögen und Fürsten beherrschter Teile
zerspalten war und 'unter der Oberhoheit des Königs von Böhmen
stand. Eine Übersicht über die Ausbreitung der Reformation in allen
Territorien des Landes findet sich in der Einleitung zu H. Zieglers
trefflicher Geschichte der Gegenreformation in Schlesien (Halle 1888).
Mit Recht betont er darin den eigenartig konservativen Charakter der
schlesischen Reformation und den fast auffällig ruhigen Übergang vom
Alten zum Neuen, der auch darin zum Ausdruck kommt, daß Schlesien
der verheerende Bauernkrieg erspart blieb und die Richtung der
„Schwärmer^ der Hauptsache nach hier in der verhältnismäßig mUden
i) Briefe von H. Em$er, J, Cochläus, J. Meneing u. P. Baw^ an die FürUin
Margareta und die Forsten Johann und Oeorg von Anhalt (Münster iQ^Ti Driues
Heft der von J. Greving heraosgegebenen BeformationsgeeehichÜichen Studien und
TexU).
2) Nikolaus Hausmann und die Reformation in Dessau in H. Wäschke,
Net^ahrsblätter aus Anhalt (1905}.
3) N. Müller, Beziehungen zwischen den Kurfürsten Joachim L u, II. von
Brandenburg Mnd dem Fürsten Chorg III. von AnhaU in den Jahren 1534—1540
im Jb. für Brandenb. Kirchengescb., Bd. IV (1907), S. 127 ff. — Derselbe teilt auch in
einem Aufsatie Zur Geschichte des Beichstages von Begentburg 1541 (ebenda S. 1 75ff.)
eine Anzahl von Schriftstücken mit, die über die damalige Sendung des Fürsten Georg
und seines Bruders Johann zu Luther neue Aufschlüsse bieten.
— 283 —
Form der „Schwenckfelderei" auftrat Wenn man nach den Männern
blickt, die der schlesischen Reformation dieses -Gepräge aufdrückten,
so sind es vor allem zwei, die die Aufmerksamkeit auf sich lenken,
nämlich Johann Heß und Ambrosius Moibanus, beide mit Luther eng*
verbunden und in Breslau tätig. Von den älteren Schriften über Heß
seien A. J. Koldes Br. Heß, der schlesische BefamuUcr (Breslau 1846),
J. Kost lins Johann Heß^ der Breslatier Reformator genannt *), von
neueren die D. Erdmanns, Luther und seine Beziehungen jsu Schlesien,
insbesondere zu Breslau (Halle 1887), die sich zum größten Teile mit
Heß beschäftigt, und A. Henschels Dr. Johannes Heß, der Breslauer
Beformaior (Halle 190 1) *). Über einige Einzelheiten in dem Leben
Heß' handelt G. Bauch in einem Aufsatz Zur Breslauer Refor-
mationsgeschichte ') ; in einem anderen bespricht er das Verhältnis
dieses Mannes zu dem Breslauer Bischof Johann Thurzo *), Den
zweiten der genannten Breslauer Reformatoren, Ambrosius Moibanus,
der im Jahre 1525 vom Breslauer Rate als Pfarrer an der Elisabethen-
kirche aufgestellt wurde, hat uns zum ersten Male P. Konrad in
einer größeren Lebensbeschreibung näher gerückt ^) ; wir lernen ihn
hier nicht nur als erfolgreichen Förderer der Reformation und tüch-
tigen Seelsorger, sondern auch als umsichtigen Schulmann und eifrigen
Bekämpfer der Wiedertäufer kennen. — Erwähnen wollen wir hier
noch Maydorns Bilder aus der schlesischen Reformationsgeschichte
(Breslau 1903), die frisch und packend geschrieben sind und beim
„Volk und der Jugend", denen er sie widmet, sicher den vom Ver-
fasser gewünschten Eindruck machen werden.
Zur Erweiterung unserer Kenntnisse von den wissenschaftlichen
Bestrebungen und den damaligen Schulverhältnissen in Schlesien hat
das meiste wieder G. Bauch getan, sowohl durch Herausgabe der
Aktenstücke zur Geschichte des Breslauer Schulwesens im XVL Jahr-
hundert (Breslau 1898), als durch seine Beiträge zur Literaturge-
schichte des schlesischen Humanismus*) und seine Abhandlung über
1) ZeiUchr. f. Gesch. o. Altert. Schlesiens VI, i (1865) S. 97 ff., 2 S. 181 ff., XII,
2 S. 410 ff. (1874).
2) Schriften für das Deutsche Volk, heraosgeg. Tom Verein fttr Ref.*Gesch. Nr. 37.
3) ZeiUchria fUr Gesch. n. Altert. Schlesiens, Bd. XLI S. 336 ff. (1907).
4) Ebenda, Bd. XXXVI (1902). Vgl. H. Luchs, SchUsisO^ Fürttenbiider des
MitUläUers (Breslau 1872).
5) Dr, Ambronua Moüxmua. Ein Beitrag Mur GtschichU der Kird^e und
Schule ScMesiena im BeformatümsieitaUer (HaUe 1891, Schriften des Ver. fUr Ref.-
Gesch., Nr. 34).
6) In der Zeitschr. fUr Gesch. n. Altert. Schlesiens Bd. XXIX, XXX, XXXI
— 284 —
den Schulmeister Laurentius Corvin >). Die Kirchenordnungen Schlesiens
wurden von G. Eb^rlein veröffentlicht*). Von den schlesischen
Fürsten, die in der Reformationszeit besonders hervortraten, hat der
seit 1524 mit dem Herzogtum Jägerndorf belehnte Markg^raf Geoi^
von Brandenburg in D. Erdmann •), der zeitweise zwischen den Par-
teien schwankende Herzog Karl I. von Münsterberg-Ols in Schimmel-
pfennig*) einen Biographen gefunden.
In die Vorgeschichte der schlesischen Reformationsgeschichte
führt uns ein das in der Historischen Bibliothek erschienene Büch-
lein Oskar Meyers*), der den größten Teil des hier benutzten Ma-
terials in dem Staatsarchiv sowie in dem neubegründeten Diözesan-
archiv zu Breslau fand und in letzterem namentlich die für die Zeit
von 15 10 — 1520 vollständig erhaltenen Sitzungsberichte des Breslauer
Domkapitels •) — eine ebenso reichhaltige wie wertvolle Quelle —
ausbeuten konnte. Die Schilderung Meyers, die unter besonderer
Betonung der kirchlichen und religiösen Verhältnisse die gesamte
geistige und sittliche Kultur Schlesiens berührt, bestätigt uns in allem
das bekannte Bild der kirchlichen und sittlichen Verderbnis, das man
noch überall erhalten hat, wo man aus ähnlichen Quellen schöpfen
konnte wie der Verfasser. Der neuen Züge, die sich ergeben, sind
nicht allzu viele, und so beruht der Hauptwert dieser Arbeit, in der
außer dem archivalischen Stoff eine sehr umfangreiche Spezialliteratur
verwendet worden ist, wohl zumeist in den lokal- und territorialge-
schichtlichen Ergebnissen, die in ihr zutage gefördert wurden. Von
(1897), XXXIV (1900), XXXVn, XXXVm (1904). — siehe auch die LebensbescbreibuDg
von Heinrich (1485— -1544) w»d Seyfried Bibitsch (1530— *574) von R. Foerster
ebenda Bd. XU, (1907), S. 170 ff.
1) Zcitschr. für Gesch. u. Altert. Schlesiens Bd. XVII (1883), S. 230«.
2) Die evangelischen Kirchenordnungen Schlesiens im 16, Jahrhundert Si-
lesiaca 1898.
3) Markgraf Georg von Brandenburg -Jägemdorf und seine Verdienste um
die Beformation in Oberschlesien im Korrespondenzbl. des Ver. für Gesch. der evangeL
Kirche in Schlesien, I— III. S. aach Neastadt, Markgr, G. V. Br, ob Ersieher am
ungarischen Hofe (Breslau 1883).
4) Herzog Karl L von Münsterberg - Öls und seine Si^twester Margareta von
Anhalt in der Zeitschr. für Gesch. u. Altertum Schlesiens, Bd. XVm (1884), S. 117 ff.
5) A. O. Meyer, Studien smr Vorgeschichte der Beformation, aus schlesischen
Quellen (Mttnchen u. Berlin 1903) =. Hist. Bibl. Bd. XIV.
6) Acta capituH ecdesiae cathedralis 8. Jchannis. Sie werden in den kfirzlich
begründeten Veröffentlichungen aus dem iUrstbisch. DiösesanarchiTe herausgegeben werden.
Der erste Band dieser Publikation enthält die Vieitationsberichte der Diözese Breslau,
Archidiakonat Breslau, i. Teil, ed. J. Jnngnits (Breslau 1902).
— 286 —
besonderem Interesse ist für uns das letzte Kapitel des Buches —
Bischof Johann Tureo und das DamkapUel im Verhältnis zur Befor-
mation — , in welchem Meyer im Widerspruch mit den meisten pro-
testantischen Forschem zu beweisen sucht — wie uns scheint mit
Erfolg — , daß der Bischof zu Unrecht als Freund der Reformation
angesehen wird; ja der Verfasser glaubt feststellen zu können, daß sich
in der ganzen Regierung Johanns nicht ein Zug findet, „der seinen
Anschluß an die Wittenberger hätte erhoffen oder befürchten lassen **.
In dem mächtigen Polenreiche, wo die Kirche dem Papsttum
gegenüber sich einer weit freieren Stellung erfreute als in Deutsch-
land und König Siegmund im Jahre 1525 ein außerordentlich günstiges
Konkordat mit der Kurie abgeschlossen hatte, war es hauptsächlich
die Spannung zwischen dem polnischen Kleinadel, der Szlachta, und
der reich begüterten Geistlichkeit, aus der die Antriebe zu einer rasch
und weit sich ausdehnenden Opposition gegen das alte Kirchentum
erwuchsen. Die einzelnen Phasen dieses Kampfes und die Wirkungen,
die die Reformation im allgemeinen auf die Geschicke Polens aus-
geübt, sind natürlich schon längst in größeren Werken festgelegt,
aber es fehlte noch an Spezialarbeiten, die in die Einzelheiten hinein-
leuchten und zu einer wirklich allseitig erschöpfenden polnischen Re-
formationsgeschichte den Grund legen. Das ist nun auch anders ge-
worden, und es ist eine erfreuliche Tatsache, daß es nicht zuletzt
Autoren deutscher Zunge sind, die sich in dieser Beziehung erfolg-
reich an die Arbeit gemacht haben. In vorderster Reihe steht hier
der Pfarrer Theodor Wotschke von Santomichel; er verfolgte in
mehreren gehaltvollen Aufsätzen namentlich die Strömungen, die die
polnische Reformation zum Antitrinitarismus führten, und ist nun auch
mit einer umfangreichen Quellenpublikation, dem Briefvoechsd der
Schweizer mit den Bellen ^) hervorgetreten, die die zahlreichen Be-
ziehungen zwischen der kleinpolnischen Kirche und der Schweiz noch
deutlicher erkennen läßt, als es bisher schon der Fall gewesen, und
tiefe Einblicke in die Entstehung des Unitarismus in Polen gewährt.
Eine aus den gegenwärtigen nationalen und religiösen Kämpfen
in den deutschen Ostmarken erwachsene Tendenzschrift im guten
Sinne des Wortes ist G. K r a u s e s Beformaticn und Gegenrefarmaiion
im ehemaligen Königreich Bolen *) , die keinen Anspruch auf selbstän-
i) Archiv fttr Ref.-Gesch.., ed. Friedensborg: m. Efgäazungsband (Leipzig 1908).
2) Die Beformation u, QegenrtformatUm im ehemaligm Kömgrtieke Fcknf
htsonden in den jetzigen Ottmarken Deutschlands bsw, Pre%^/9ens, Zweite erweiterte
Auflage (Lissa 1905).
— 286 —
dige wissenschaftliche Forschung macht, sondern sich die Aufgabe
setzt, die deutsch-evangelischen Elemente Westpreußens und Posens ^)
in ihrem Kampfe gegen das Polentum und den Katholizismus zu
stärken. Es wird gezeigt, wie die Reformation, deren Anhänger sich
in Böhmische Brüder, Lutheraner, Kalvinisten imd Sozinianer schieden,
in den polnischen Ländern eine solche Verbreitung gewann, daß sich
auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung vielleicht drei Viertel der Be-
völkerung zu ihr bekannten, und wie sie dann den schwer errungenen
Boden nach langem, erschöpfendem Ringen mit den immer mächtiger
werdenden Gegnern, unter denen die Jesuiten die gefahrlichsten
waren, bis auf geringe Reste wieder verlor. Mit welcher unglaub-
lichen Brutalität dabei gegen die Evangelischen verfahren wurde, zeigt
das noch im Jahre 1724 unter ihnen angerichtete „Thorner Blutbad*' *).
Erst der im Jahre 1767 zwischen Polen und Rußland abgeschlossene
Vertrag, der den protestantischen Dissidenten und den Griechisch-
Katholischen die in der Konföderation von 1573 verbrieften Freiheiten
und Rechte zurückgab, machte diesen Quälereien ein Ende. Das
Schlußkapitel des Büchleins umfaßt den Zeitraum von 1767 bis zur
Gegenwart, in dem das 1888 erlassene Ansiedelungsgesetz für Posen
und Westpreußen einen Markstein bildet. Der am Schlüsse angefugte
Anhang von „20 Empfehlungen und Rezensionen^ kann nur mit dem
patriotischen Zweck, den der Verfasser verfolgt, entschuldigt werden.
Wie groß die Teilnahme ist, die solchen Schriften gegenwärtig ent-
gegengebracht wird, ist daraus zu ersehen, daß die im Jahre 1871
zum ersten Male erschienene Geschickte der Reformation von Pcien
von Koni eck i nun rasch hintereinander in zwei neuen Auflagen
erscheinen konnte •). Auch sie will , ohne eigentlich eine Förderung
der Wissenschaft anzustreben, der Belehrung weiterer Kreise dienen,
und daß sie dabei den rechten Ton getroffen, zeigt die große Ver-
breitung, die sie gefunden. Ein Anhang, enthaltend ein längeres Stück
Aus Krowickis größerer Apologie und das Antwortschreiben des Fikrsten
Nikolaus Radgiwill, Woiwoden von WUna^), auf die Zuschrift des
i) Für Posen siehe noch im allgemeinen: Christian. Meyer, Die Geschichte des
Landes Posen (Posen 1881); L. Schmidt, Geschichte des Deutschtums im Lande
Posen unter polnischer Herrschaft (Bromberg 1904). Zar Reformationsgeschichte:
A. Werner u. Joh. Steffany, Gesch. der evangel. Parochien in der Provinz Posen.
2. Aufl. (Lissa 1904).
2) Siehe hierzu besonders die sehr ansführliche Darstellung von F. Jacobi, 2Hu
Thamer Blutgericht , 1734 (Halle 1896, Schriften des Ver. für Ref.-Gesch., Nr. 51. 52).
3) Mir liegt die zweite vor: Posen 1901; die dritte erschien in Lissa 1904.
4) Er ist der Held des vielfach mit großer Begeisterung aufgenommenen historischen
— 287 —
päpsüichen Legaten Ähysius Lippamanni vom März 1556 hätte fuglich
weggelassen werden können.
Kleine Ausschnitte aus der polnischen Reformationsgeschichte
bietet Hermann Frey tag in seinem Aufsatz Die Beziehungen Danzigs
zu Wittenberg tn der Zeit der Refomuxtian *) und in dem populär ge-
schriebenen Büchlein Wie Danzig evangelisch umrde (Danzig 1902).
Durch einen Aufruhr wurde anfangs 1525 der Rat abgesetzt und ein
neuer gewählt, der dem Evangelium Tür und Tor öffnete, aber schon
im Frühling des nächsten Jahres erfolgte eine verderbliche Reaktion.
Am 17. April zog König Siegmund ein, um die Stadt zur Wiederher-
stellung der früheren Zustände zu zwingen, und wenige Tage darauf
fielen die Häupter der „Rebellen" unter der Hand des Henkers. So
wurde die religiöse Bewegung in Danzig niedergeschlagen und kam
erst in den dreißiger Jahren wieder in Fluß. Besondere Abschnitte
widmet der Verfasser den evangelischen Armenordnungen *) und dem
1555 begründeten Danziger Gymnasium, dessen erste Leiter der tüchtige
Johann Hoppe, dann Heinrich Möller und der aus Memmingen ge-
bürtige Andreas Frankenberger waren.
Einen Beitrag zur Reformationsgeschichte von Livland*), wozu
auch Kurland, Estland und Osel gehörte, liefert Wilhelm Schnöring
in seiner auf gründlichen Studien beruhenden Biographie des Johannes
Blankenfeld *), eines der begabtesten, gelehrtesten und rührigsten Vor-
kämpfers der alten Kirche, der dem „neuen Wesen", auf das er
überall stieß, mit unermüdlicher Zähigkeit und Energie entgegentrat.
Elr war der Sohn eines Berliner Kaufmannes, erwarb sich in Bologna
die Würde eines Doktors beider Rechte, trat in den geistlichen Stand
ein, wirkte mehrere Jahre als akademischer Lehrer in Leipzig und
Frankfurt, dann als brandenburgischer Assessor am Reichskammer-
gericht und weilte seit 15 12 in eifriger Geschäftigkeit als Orator des
Schauspiels „Die neue Lehre*' (ans der Zeit der EinfUhmog dtr Reformaüon in Litauen
und Polen) too Hans von Hansen (Psendon3rm).
1) In der Zeitschrift des Westprenßischen Gesch.-Ver., Heft 38. (Danzig 1898).
2) Frey tag hat Über sie anch in einem eigenen Anfsatz gehandelt : Zwei Danziger
Annenordnnngen des sechzehnten Jahrhnnderts, ebenda, Heft 39 (Danzig 1899). — Siehe
anch : Die Stadt Damig, ihre geschichtliche EfUwi4!khing und ihre öffentlichen Ein-
richtungen, Herausgegeben im Auftrage des Magistrats (Danzig 1904).
3) Nen erschienen: E. Seraphim, Livländische Geschichte bis znr Einverleibung
in das russische Reich, 3. Bd., 2. Aufl. (Reval 1897 — 1904)- Derselbe: Geschichte von
Livland, Bd. I bis 1582 (Gotha 1905).
4) Johannes Blankenfeld, Ein Lebensbild ans den Anflingen der Reformation
(Halle 1905, Schriften des Ver. fUr Ref.-Gesch., Nr. 86).
~ 288 —
Kurfürsten von Brandenburg und als Prokurator des Deutschen Ordens
in Rom. Einen Haupterfolg zugunsten des Brandenburgischen Hauses
errang er, als er durchsetzte, daß der Papst Albrecht, dem Bruder
des Kurfürsten, gestattete, gegen alles Herkommen die Erzbistümer
Mainz und Magdeburg sowie das Bistum Halberstadt in seiner Hand
zu vereinen; er war es auch, der hauptsächlich die Verhandlungen
wegen des als eine Art Entschädigung für die von Albrecht an
den Papst hierfür zu entrichtende „Komposition^ (von locxx) Dukaten)
bewUligten Ablasses führte ^) , dessen Ausbietung Luther zu seinem
Thesenanschlage veranlaßte. Blankenfeld hatte sich in Rom großes
Ansehen und eine viel beneidete Beliebtheit beim Papste, bei den
Kardinälen und anderen hohen Würdenträgem erworben und erlangte
außer anderen Gunstbezeugungen im Sommer 15 14 die Ernennung
zum Elekten des Stiftes von Reval. So kam er nach Livland. Schon
nach zwei Jahren aber begab er sich als Vertreter des Deutschherm-
ordens wieder nach Rom und schlug diesmal im Jahre 15 17 für sich
die Anwartschaft auf zwei Abtstellen in Gotland und auf ein Bistum
in den Ostseeprovinzen oder in Schweden heraus. Demgemäß wurde
ihm das im Jahre 15 18 freiwerdende Bistum Dorpat zugesprochen,
neben welchem er Reval behalten durfte. Und noch höher stieg er
hinauf; im Jahre 1523 wurde er Koadjutor des kranken und schwäch-
lichen Erzbischofs Jasper von Riga, der ihm schon im nächsten Jahre
den Platz räumte. Von den beiden Bistümern, die er innehatte,
mußte er nur Reval abtreten, so daß er sich nun im Besitze einer
bedeutenden Macht und beträchtlicher Einkünfte befand. Aber unter-
dessen war der Boden, auf dem Blankenfeld stand, durch die allent-
i) Diese Sache wird auch behandelt von Aloys Schulte in seinem Werk Die
Fugger in Born (i495 — ^S^3)i Bd. I: DarsteUang, Bd. II: Urkunden (Leipzig 1904) und
von Schrörs in einem Aufsatz Leo X,, die Mainzer ErzhiichofawaM und der
deutsche Ablaß am St. Peter im Jahre 1514, ein Beitrag zu ihrer hirchengeschicht'
liehen und kcmonigtischen Würdigung in der Zeitschr. für kath. Theologie, Bd. XXXI
(1904), S. 2670. Während Schulte in diesem Handel Simonie erblickt, sucht Schrörs nach-
zuweisen, daß ein solcher Vorwurf unbegründet ist. Dieser Ansicht ist auch PUlff in
den Stimmen aus Maria Laach (1904, Heft 8), S. 323 ff. und Kalkoff, der in seiner
Abhandlung Zu den rämischen Verhandlungen Ober die Bestätigung Erzbischof
Albrechts von Mainz im Archiv für Ref. -Gesch., Bd. I (1904), S. 379 ff. zu dem Schlüsse
kommt, daß die vom Papste geforderte „Komposition^^ sich ganz im Rahmen der her-
kömmlichen Taxenordnung halte. Gegen diese Stimmen wendet sich Schnöring in einem
seiner Schrift über Blankenfeld als Nachtrag (S. 91) angefügten „ Exkurs <', in welchem
er die Auffassung Schultes, die er zu der seinigen macht, verteidigt. Vgl. auch Th.
Briegers in den Preußischen Jahrb., Bd. CXVI (1904), S. 41 7 ff. veröffentlichten Aufsatz
Über Die neuesten AbUißstudien.
— 289 —
halben gewaltig überhandnehmende evangelische Bewegung, die in
Livland zu gefährlichen politischen Verwicklungen führte, vollständig
unterwühlt worden; wohin er blickte, sah er nur Feinde, die sich zu
seinem Verderben verschworen zu haben schienen. Alle Versuche
Blankenfelds , das Unheil durch List oder Gewalt zu unterdrücken,
waren vergebens. Der Deutschmeister Walter von Plettenberg wurde
Herr der Bistümer, und Blankenfeld, der schließlich in die Gefangen-
schaft der erzstiftischen Ritterschaft geriet, muflte, um die letzten
Reste seines Besitzes uüd seiner Befugnisse zu retten, am i6. Juni
1526 auf dem Landtage zu Wolmar mit seinen Suffraganen dem
Deutschmeister den Eid der Treue leisten, womit er auf die unmittel-
bare Freiheit des Reichsfiirstenstandes sowie auf die Selbständigkeit
als Lehensherr verzichtete und sich natürlich auch aller Eingriffe m
die religiösen Verhältnisse des Landes begab. Aber einen solchen
Schwur zu halten, war der ehrgeizige Mann nicht gewillt. Sein ganzes
Trachten ging jetzt darauf hin, das Geschehene rückgängig zu machen,
wobei er auf die Hilfe des Papstes und des Kaisers hoffte. So machte
er sich zunächst auf nach Rom, aber der Papst war eben jetzt als
Mitglied der heiligen Liga in einen schweren Krieg mit dem Kaiser
verwickelt und konnte nicht daran denken, ihm Beistand zu leisten.
Also auf zum Kaiser, der in Madrid weUte. Elr war nur mehr zwei
Tagreisen von seinem Ziele entfernt, als er, von der Ruhr ergriffen,
am 9. September 1527 in der Nähe von Palencia seinen Geist aus-
hauchte. Welch ein tragisches Ende nach einem so verheißungsvollen
Lebensgang! Sein Nachfolger in Riga wurde nicht, wie er gewünscht
hatte, Herzog Georg von Braunschweig-Lüneburg, der Dompropst zu
Köln und Straßburg war, sondern Thomas Schöning, der Dompropst
des Erzsüfles, der zwar die Aufhebung des Wolmarer Vertrages er-
langte, aber sich zur Duldung des Evangeliums in Riga verpflichten
mußte. Sein Koadjutor wurde Wilhelm, ein Bruder des Herzogs Al-
brecht von Preußen.
Der der fränkischen Linie des Hauses Hohenzollem entstammende
Albrecht ') hatte als Hochmeister des Deutschherrenordens in seinem
Gebiete die Reformation schon im Jahre 1525 durchgeführt. Wohl
kam ihm dabei zustatten, daß er als Fürst eines „jenseits der Zivili-
sation" gelegenen, schon „sarma tischen" Landes vor dem Eingreifen
des Kaisers sicher war, und daß die beiden Bischöfe seines Gebietes,
i) Siehe K. Lohmeyer, Herzog ÄJbreekt von I^eußen (Danzig 1890]; Loh-
meyer schrieb auch eine C^chichU von 0»t- und Westpreußen, Abt L (Gotha 1880.
3. Aufl. 1908).
— 290 —
der von Samland ^) und der von Pomesanien, nicht nur evangelisch
gesinnt waren, sondern ihre Gesinnung auch in der Tat bewährten:
aber es gehörte doch ein ganzer Mann dazu, mit den jahrhunderte-
alten Überlieferungen so radikal und plötzlich zu brechen, in dem
Gewirr der zu überwindenden Schwierigkeiten die Ruhe, Besonnenheit
und Mäßigung, die seinem Handeln das eigenartige Gepräge ver-
liehen, nicht zu verlieren und mit sicherer Hand die Kreise zu ziehen,
innerhalb deren sich die Neuordnungen zu bewegen hatten. Am besten
zeichnet ihn als reformatorische Persönlichkeit eine Monographie von
P. Tschackert*), der seme Arbeit auf das von ihm in drei Bänden
herausgegebene Urkundenbuch eur Refortnatumsgeschickte des Her-
zogtums ^eußen stützen konnte *). In seiner Schrift wird natürlich
auch von der Gründung der Universität Königsberg gesprochen, die
zunächst die Angabe hatte, für die Kirche, die Schulen und die Be-
hörden einheimische Kräfte heranzubilden, aber darüber hinaus ein
segensreicher Mittelpunkt der Pflege deutscher Kultur und Wissen-
schaft im äußersten Osten des Reiches wurde ^) und nach Jahrhunderten
einen Kant zu ihren Lehrern zählen konnte. Die Opfer, die diese
Gründung den Herzog kostete, brachte er gern, denn er war ein
warmer und aufrichtiger Freimd der Wissenschaft und der Gelehrten,
die er nach ihrem Werte zu schätzen und zu ehren wußte. Tschackert
hat auch diese Seite des Herzogs in einem eigenen Kapitel eingehend
gewürdigt.
Der Theologe, dessen sich Albrecht bei der Durchführung seines
Werkes hauptsächlich bediente, war neben Briesmann, Poliander und
Michael Meurer der tüchtige Paul Speratus aus Röteln bei Ellwangen,
dessen neuestes Lebensbild ebenfalls Tschackert verfaßte*). Spe-
i) Tschackert, Oeorg von Polentz, Bischof van Samland (Leipzig 1888).
2) Herzog AU>recht von Preußen als reformatorische PeraöhlichkeU (Halle 1894,
Schriften des Ver. ftir Ref.-Gesch., Nr. 45).
3) Urktmdenbuch zur ReformcUionegezchichte des Herzogtums Preußen, 3. Bd.
(Leipzig 1890, in den Pabl. ans den königl. preußischen Staatsarchiven). — Fttr die vor-
ausgehende Zeit bis 1525 siehe Joachim, Die Politik des letzten Hochmeisters in
Preußen, AlbrecJU von Brandenburg, 15 10—1525. 3. Bd. (Leipzig 1892 — 1895),
ebenfalls ein Teil dieser Publikationen.
4) S. H. Frey tag, Der preußische Humanismus bis 1650 in der Zeitschr. des
Westpreuß. Geschichtsvereins, Bd. XLVU (1905), S. 41 flf.
5) Paul SpercUus von RöÜen, evangelischer Bischof von Pomesanien und
Marienwerder (Halle 1891, in den Schriften des Ver. für Ref.-Gesch., Nr. 33). — Seit-
her erschien noch ein Aufsatz von Kolde, P. Speratus und J, Poliander als Dom-
prediger in Würzhurg in den Beitr. zur bayer. Kirchengesch. , Bd. VI (1900), S. 49 ff.
nud Z e 1 1 e r , Paulus Speratus . . . Seine Herkunft, sein Studiengang und seine I^ig-
— 291 —
ratus kam 1524 zunächst als Hofprediger nach Königsberg und wurde
1530 Bischof von Pomesanien mit dem Sitze in Marienwerder. Er
war ein echter Kirchenmann, wie ihn das Land mit seinen eigenartigen
Verhältnissen brauchte, und verstand es trefflich, den harten Boden,
der ihm anvertraut war, urbar zu machen. Sein Verdienst haupt-
sächlich ist es, daß die neue preußische Kirche eine echt evangelische
Kirchenordnung vom Wittenberger Schlag (1544) und ein ihr ange-
paßtes Gesangbuch erhielt, daß die neu abgegrenzten Parochien lebens-
fähig .gemacht und die aus dem Katholizismus übernommene Pfarr-
geistlichkeit des Landes durch Predigtanleitung und dogmatische
Belehrung evangelisch umgebildet wurde. Er ist es auch gewesen,
der die auch in Preußen mächtig um sich greifende „Schwenkfelderei*^
besonders zäh und erfolgreich bekämpfte und nicht nachließ, bis der
eine Zeitlang schwankende Herzog, erschreckt durch die Auswüchse
des spiritualistischen Christentums in Münster, den Sektierern in Preußen
den Boden rechtlich entzog. Speratus starb im Jahre 1551, nachdem
er noch die ersten Wogen der verderblichen Wirmisse gesehen hatte,
die durch den von Nürnberg nach Preußen berufenen Oslander er-
regt wurden. So blieb es ihm erspart, den unermeßUchen Schaden,
der durch den Osiandrismus der preußischen Kirche zugefügt wurde,
und die Schwäche, die sein ehedem so energischer Herr während der
letzten anderthalb Jahrzehnte seiner Regierung an den Tag legte,
beklagen zu müssen. Erst die Kirchenordnung vom Jahre 1568, die
im wesentlichen an die von 1544 anknüpfte, leitete die kirchlichen
Verhältnisse des Landes wieder in die Bahn des Luthertums zurück.
Über die Tätigkeit des bekannten Joachim Marlm, der seit Ende der
sechziger Jahre Bischof von Samland war, berichtet ein Aufsatz von
F. Koch»).
Unter den weltlichen Räten, denen der Herzog sein Vertrauen
schenkte, ragt über alle hervor der treffliche Ritter Friedrich von Hey^
deck, den wir aus einer Monographie von Besch näher kennen lernen •),
und der häufig als Gesandter verwendete Asverus von Brandt, dessen
keii in den Württemberg. Vierteljahrsheften für LaDdetgeschichte , 1907, Heft 2 ood 3,
die über die Anfänge des Speratos viel Neaes bringen. Vgl. hierzu auch Kolde in
den Beitr. zur bayer. Kirchengesch. Bd. XIII (1907), S. 291 ff.
i) Joachim Mörlin ak Bisehof von Samiand (1567^1671) in der AltprevflischeD
Monatsschrift, Bd. XLIV, 2 (1907). — Koch gab auch heraus den Briefwechtel des
Dr. Joachim Mörlin mit Herzog AJbreM, WoV von KöteriU und Christoph von
Kreutz wahrend der Osiandrischen Wirren. Ebenda, Bd. XXXIX (1902), S. 5170.
2) Th. Besch, Friedrich von Heydeck, ein Beitrag mr Geschichte der Be-
formaHon und Säkularisation Preußens. Ebenda, Bd. XXXIV (1897)-
22
— 292 —
inter^ante Briefe und Berichte an den Herzog samt den darauf er-
g^genen Antworten im Auftrage der ostpreufiischen Provinzialver-
waltung Ad. Bezzenberger') herauszugeben begonnen hat.
In Pommern *) regierte bei Beginn der Reformation Herzog Bole-
slaw, der, 96 Jahre alt, 1523 starb. Er konnte sich natürlich in die
neuen Ideen, die sich während der letzten Zeit seines Lebens überall
Bahn brachen, nicht mehr hineinfinden, sondern suchte sie zu unter-
drücken. Von seinen beiden Söhnen, die nun die Regierung gemein-
schaftlich übernahmen, verhielt sich der ältere, Georg, der am Hofe
des Lutherfeindes Georg von Sachsen erzogen worden war, allen
religiösen Neuerungen gegenüber durchaus ablehnend, während der
jüngere, Barnim, der in Wittenbei^ studiert und der Leipziger Dis-
putation beigewohnt hatte, ihnen geneigt war oder sie wenigstens nicht
mit mißgünstigen Augen betrachtete. Als Georg 1531 starb und ihm
sein Sohn Philipp folgte, faßte dieser und Barnim, nachdem sie eine
Landesteilung vorgenommen, den Entschluß, die kirchliche Refor-
mation , die namentlich in Stralsund und in den anderen größeren
Städten des Landes schon festen Fuß gefaßt hatte, selbst in die Hand
zu nehmen und sich zu diesem Zwecke auf dem Landtage zu Trep-
tow ') mit den Landständen und dem Landesbischof von Kammin ins
Einvernehmen zu setzen. Dabei stützte man sich hauptsächlich auf den
aus Wittenberg berufenen Johann Bugenhagen ^), der sein praktisches
Geschick als kirchlicher Organisator schon anderwärts bewährt hatte.
Gelang es ihm auch nicht, mit seinen Vorschlägen vollständig durch-
zudringen, so hatten seine Bemühungen doch wenigstens so weit Er-
folg, daß die pommersche Kirche eine feste, auf der Grundls^e der
Augsburger Konfession fußende Ordnung erhielt *) , die trotz ihrer
i) Die Berichte und Briefe des Sates und Gesandten Her tag Älbreckts von
^eußen Asverus van Brandt (f 1560) nebst den an ihn ergangenen Schreiben
in dem königl. Archiv tu Königsberg, Heft i, enthaltend die Schreiben von 1538 bis
1545, Heft 2 die von 1545 — 1547 (Königsberg 1904). — Drei Briefe Brandts an Albrecht
mitgeteilt von Wotschke anter den Beilagen zu seinem Aufsatz Stanislaus Lutomirski
im Archiv ftir Ref.-Gesch , Bd. III (1906), S. 151. 153. 154.
2) Martin Wehrmann, Geschichte von Pommern, Bd. I, bis zur Ref., 1523»
Bd. n, bis zar Gegenwart (Gotha 1903, 1906).
3) K. Graebert, Der Landtag zu Treptow an der Bega 1534 (Berliner
Dissertation, 1900).
4) Von katholischer Seite: E. Goerigk, Bugenhagen und die Protestantisierung
Pommerns, im Katholik, Bd. LXXV, i (1895).
5) M. Wehrmann, Die pommersche Kirchenordnung vom Jahre 1535 (Stettin
1S93). — ^- Uckeley, Johann Bugenhagens Gottesdienstardnung fikr die Klöster
— 293 —
Anlehnung an die Kirchenordniingen anderer Territorien den Sonder-
verhältnissen Pommerns in gebührender Weise Rechnung trug. Sie
enthielt auch Anweisungen für die sofort vorzunehmende Kirchen-
visitation, die im nächsten Frühling (1535) unter wirksamer Beteiligung
Bugenhagens vor sich ging '), aber auf mancherlei einer einheitlichen
Neugestaltung des Kirchenwesens sich entgegenstemmende Hinder-
nisse stieß. Dies war besonders der Fall in Stettin und Stralsund ^),
wo man die Visitatoren schon deshalb mit Unwillen kommen sah,
weil man in der Ausfuhrung ihres Werkes einen Versuch zur Stärkung
der herzoglichen Gewalt erblickte, dem die auf ihre Privilegien und
Freiheiten so eifersüchtigen Bürgerschaften nicht ohne weiteres nach-
geben wollten. Und noch weitere unerfreuliche Züge traten bei dieser
Visitation zutage: daß die Städte rücksichtslos die Hand auf die ihnen
erreichbaren geistlichen Güter legten, und daß sie, was zum Teil da-
mit zusammenhing, so gar wenig Ernst zeigten, für die Besoldung ihrer
Geistlichen auch nur das Nötigste bereitzustellen. Auch die HoiTnung,
daß man der pommerschen Kirche die bischöfliche Gewalt erhalten
könnte, erfüllte sich nicht, da der Bischof von Kammin — Erasmus
von Manteuffel — , über dessen Persönlichkeit uns eine Biographie von
Gräbert unterrichtet'), sich auf die dabei für ihn erwachsenden
Konsequenzen nicht einließ ; und selbst, wenn er es getan hätte, wären
damit noch lange nicht alle in dieser Sache sich ergebenden Schwierig-
keiten behoben gewesen, da Stralsund mit den benachbarten Städten
und Dörfern zu dem Bistum Schwerin, Rügen zu dem dänischen
Bistum Rösküde gehörte. So teilte man das ganze Land in drei Diö-
zesen: in die Superintendenturen Pommern - Wolgast und Pommern-
Stettin *) und in die Präpositur Stolpe. Von dem Abendmahlstreit
blieb Pommern so ziemlich frei, ebenso von den Wiedertäufern; und
und Stifte in Pommern, im Archiv für Ref.-Gesch., Bd. V (1908), S. iisff., wo sie
S. 133 ff. neu gedruckt ist.
i) Die Visitation begann in Stolp. S. Uckeley, Zur Visitation von Stolp, in
der Zeitschr. ftlr Kirchengetch., Bd. XXVffl (1907), S. 48 ff.
2) Neu: M. Wehrmann, Zur Befttrm.-Oeach, Straleunda, Pomm. Jahrbb., Bd.
VI (1905), S. 49 ff.
3) Eraemus von Manteuffel, der UUte Biechof von Kammin, (Berlin 1903^
Zum Teil gegen die Schrift, die E. Goerigk (Mainz 1905) über diesen Bischof rcr-
öffentlicht hat, gerichtet
4) Erster Superintendent Paulus von Rode. Siehe über ihn Franck in den Bal-
tischen Studien, Bd. XXII (i868> und einen Artikel Bahlows in MonaUbl der Gesellsch.
für Pommersche Gesch., 1905, S. 98 ff.
22*
— 294 —
auch der osiandrische Streit, der in anderen Ländern so verderblich
wirkte, richtete in Pommern nicht allzu viel Schaden an.
Der Gang dieser Dinge, wie wir ihn hier angedeutet, wird uns
anschaulich geschildert von F. Bahlow in seiner Schrift Johann
Enipstroh, der erste CreneralsuperifUeHdent in Pamtnem-Wdlffasi ^) , die
natürlich besonders auf die Verhältnisse der Örtlichkeiten eingeht, in
denen dieser tüchtige, aus recht kleinen Verhältnissen emporgestie-
gene Mann gewirkt hat. Es sind dies: Pyritz bei Treptow, Stettin,
Stargard, Stralsund, Greifswalde und Wolgast, wo Knipstroh im Jahre
1556 starb. Knipstrohs Nachfolger in der Wolgaster Superintendentur
war Jakob Runge (1557 — 1595) i ^^^ Verfasser der ersten Pommer-
sehen Reformationsgeschichte, der, wie eine seine Tätigkeit beleuch-
tende Abhandlung R. Dieckmanns') erkennen läßt, das von seinem
Vorgänger Begonnene in gedeihlicher Weise zum Abschluß bzw. erst
in Fluß brachte.
Die seit 1456 bestehende Universität Greiüswalde *) geriet, da sie
sich gegen die Reformation verschloß, von 1526 an in gänzlichen
Verfall und mußte im Jahre 1539 neu begründet werden, wobei man
den Anregungen, die Bugenhagen seinerzeit gegeben hatte, folgte.
Der erste Professor für Theologie wurde hier Knipstroh, der diese
Stelle zwar schon nach kurzer Zeit niederlegte, aber später wieder
übernehmen und bis zum Jahre 1552 beibehalten mußte. Auch sonst
machten die Schulen des Landes, von denen in der humanistischen
Zeit die von Bugenhagen (1505 — 1521) geleitete Anstalt des Klosters
Beibeck bei Treptow die bekannteste gewesen, jetzt erfreuliche Fort-
schritte ^). So wurde in Stettin die alte Ratsschule zu einem fünf-
klassigen Gymnasium und die dortige Domschule zu einer Landes-
anstalt ausgebaut. In Stralsund legte man 1560, in Grei&walde ein
Jahr später die Trivialschulen zusammen, um größere Gelehrtenschulen
einzurichten, und auch in Stargard und Kolberg entstanden höhere
Schulen.
Um die Aufhellung der mecklenburgischen Reformationsgeschichte
hat sich in neuerer Zeit am meisten H. Schnell bemüht, der in
i) Halle 1898, in den Schriften des Ver. für Ref.-Gesch., Nr. 62.
2) Monatsbl. der Ges. für Pommersche Gesch., 1903, S. 97 ff.
3) E. Friedländer, ÄUere üniversitäimatrikeln, T. U: Greifewald, 2 Bd.,
1456— 1700 (Leipzig 1893). — Siehe aach ückeley, Bef.-Cfesch, der SUidt Greif s-
wald in Pomm. Jahrb., 1903, S. i ff.
4) Wehrmano, Begründung des evangelischen Schulwesens in Pommern bis
1563, in den Mitteil, der Ges. fUr deutsche Erziehungs- nnd Schnlgeschichte , Beiheft 7
(Berlin 1905).
— 295 —
rascher Folge eine Geschickte Mecklenburgs im ZeiiaUer der Refor-
matian, 1503 — 1603 (Berlin 1900) *), und die Monographie Heinrich F.,
der Friedfertige, Herzog van Mecklenburg, 1503 — 1552 (Halle 1902),
schrieb. Heinrich, ein der Reformation günstig gesinnter Fürst, mußte
die Regierung des Landes teilen mit seinem ihm an Charakter und
Lebensrichtung sehr unähnlichen Bruder Albrecht VII., der ein Schwieger-
sohn des Kurfürsten Joachim I. von Brandenburg war, zu der den
Habsburgem anhängenden katholischen Fürstenpartei gehörte und der
Ausbreitung der Reformation in Mecklenbui^, soviel an ihm lag, nach
Kräften en^egenarbeitete. Auch Herzog Heinrich aber trachtete da-
nach, mit dem Kaiser stets in gutem Einvernehmen zu stehen, und
so konnte er sich lange nicht aufraffen, für die Reformation offen ein-
zutreten. Immerhin bewirkte er, dafl das Wormser Edikt in Meck-
lenburg nicht verkündet und der evangelischen Predigt möglichst
viel Raum gegeben wurde, wozu er sich durch die Reichstags-
abschiede berechtigt glaubte. Andere Neuerungen aber, insbesondere
Eingriffe in die Zeremonien, duldete er nicht. Und dem entsprach
auch sein Verhalten in der Politik ; wohl ließ er sich zum Anschlüsse
an das Torgauer Bündnis herbei; aber sein Name findet sich nicht
unter den Unterzeichnem der Speirer Protestation sowie der Augs-
burgischen Konfession , und auch von der Schmalkaldischen Einigung
hielt er sich fem. Bei alledem aber brach sich in dem Herzog, der
manche Verbindungen mit Wittenbergem unterhielt, immer mehr die
Überzeugung von der Notwendigkeit der Reformation Bahn, und an-
fangs 1533 entschloß er sich, der Stimme des Gewissens zu folgen.
Nachdem er durch die Aussöhnung mit dem ihm verfeindeten Bruder
Albrecht freiere Hand bekommen, ordnete er für das Jahr 1535 eine
Visitation an *), setzte 1 540 den bekannten Prädikanten Johann Rieb-
ling •) als Generalsuperintendenten mit dem Sitze in Parchim ein und
ließ nach der Norm einer von Osiander für Nürnberg ausgearbeiteten
Kirchenordnung *) eine neue Visitation vornehmen, die sich auch über
i) In kurzer Zosammenfassang: Die Einführung dtr BeformaHon in Meckkn^
hurg (Halle 1899, Nr. 35 der ▼om Vcr. för Ref.-Gesch. henuugegebeiieD Schriften für
das Deotsche Volk).
2) Das Protokoll der Visitation vom Jahre 1535, heraosgegcben von Lisch
in den Jahrbüchern för Meckleob. Gesch. n. Altertamskunde, Bd. VH! (1843)1 S- 43 ff-
3) Über RiebUng and aeine erste Berufung nach Mecklenburg: Schnell in
den Jahrb., Bd. 63 (1898), S. 207.
4) Schnell, Die Mecklenburgischen Kirchenordnungen, ein Beitrag sur Ge-
schichte unserer Landeskirche, in den Jahrb., Bd. 63 u. 64 (1899). — Eine buher wibekannt
— 296 —
die Herzog Albrecht gehörenden Landesteile erstreckte. Als der Kaiser
auch von Herzog Heinrich die Durchführung des Interims verlangte,
wies der nach Stemberg berufene Landtag dies zurück und übersandte
ihm zur Motivierung dieses Beschlusses ein auf Veranlassung des
Herzogs gestelltes Bekenntnis % das am 20. Juni 1549 vor den
Ständen verlesen wurde. Dieser Tag gilt in Mecklenburg als der
eigentliche Geburtstag der Landeskirche und wurde am 20. Juni 1899
nach 350 Jahren wieder als solcher gefeiert — Viel trug zu dem
ruhigen Verlaufe der mecklenburgischen Reformation der Umstand
bei, daß das Bistum Schwerin, das den größten Teil Mecklenburgs
umfaßte, im Jahre 15 16 an Herzog Heinrichs minderjährigen Sohn
Magnus gekommen war, der evangelisch erzogen wurde und später
seinem Vater bei der Reformation des Landes fördernd zur Seite stand.
Die Einführung der Reformation in Rostock, der bedeutendsten
Stadt des Landes , die auch Hansastadt war ') , schildert Axel Vor-
berg *) , der dem eigentlichen Thema seiner Schrift zwei interessante
Kapitel: Bosiocks kirchlidie VerhaUnisse bei Beginn der Befarmation
und Vorrefarmaiarisehe Strömungen, hauptsächlich Nikolaus Rutze^)
betreiTend , vorausschickt. Der hervorragendste Reformator der Stadt
war Joachim Slüter, der seine Rostocker Laufbahn als Kaplan bei
St. Peter begann, und ihr Hauptförderer beim Rate der Jurist Johann
Oldendorp, der an verschiedenen Universitäten, zuletzt in Grei&wald
als akademischer Lehrer tätig gewesen war und im Jahre 1526 Syn-
dikus von Rostock wurde. Vom Jahre 1531 an trat der Sieg der
evangelischen Richtung in der Bürgerschaft und im Rate ofTen zutage,
und als Slüter 1532 starb ^), war Rostock der Hauptsache nach eine
gebliebene zweite Ausgabe der Mecklenburger Kirchenordnnng von 1540 wird besprochen
von ihm in der Zeitschr. für Niedersächsische Kircbengesch., Bd. Vn (1902), S. 280 ff.
i) Schnell, Dm Bekenntnis des Hersogtums Mecklenhurg, Kaiser Karl V,
überreicht, nebst denjenigen des Landes Braunsehweig-Lüneburg. Ein Beitrag twr
Geschickte des Augsburger Interims (Berlin 1899).
2) K. Koppmann, Geschichte der Stadt Bostock. Rostock 1887.
3) Die Einfahrung der Beformatian in Bostock, (Halle 1897, in den Schriften
des Vereins fUr Ref.-Gesch., Nr. 58).
4) Siehe über ihn hauptsächlich: J. Wiggers, Nie. Rufi und sein Buch von den
drei Strängen in Niedners Zeitschr. fUr die hist. Theol., Jahrg. 1850; K rey in den Bei-
trägen zur Mecklenb. Kirchen- und Gelehrtengesch. , Bd. U, S. I74ff. ; J. Malier: Zu
den Schriften des Mag, Nikolaus Butze in der Zeitschrift der Ges. für niedere,
Kirchengesch., Bd. I (1896), S. 173; Krauses ArUkel in der Allg. D. Biogr., Bd. XXX
(Leipzig 1890).
5) Über sein Ende: Koppmann, Die angdfUche Vergiftung Joachim SHUers,
in den Beitr. zur Gesch. der SUdt Rostock, Bd. I (Rostock 1895).
— 297 —
evangelische Stadt. 1532 fielen die letzten altkirchlichen Bollwerke,
als das Nonnenkloster zum heiligen Kreuz das Evangelium annahm
und die Mönchsklöster aufjgehoben wurden. Die Universität Rostock,
die älteste in Niederdeutschland, hatte dasselbe Schicksal wie Greiüs-
walde ^) ; erst von den vierziger Jahren konnte sie sich langsam wieder
erholen. Bedeutendere evangelische Gelehrtenschulen entstanden in
Schwerin, in Güstrow und Parchim, in Wismar und Rostock. — Eine
interessante Episode aus der vorreformatorischen Zeit des I^andes isi
das „Blutwunder" in der Stadt Stemberg, dessen Geschichte K. Schmidt
in einem lesenswerten Schriftchen ') wieder ins Gedächtnis zurück-
gerufen hat. Herzog Magnus, Heinrichs Vater, ließ für die zur Ver-
ehrung der Wunderstätte herbeikommenden Andächtigen eine Fron-
leichnamskapelle bauen und aus einem Teil der ihr erwachsenden
Einkünfte ein Augustinerkloster errichten, das einzige in Mecklenburg
und den angrenzenden Grebieten, dessen Insassen wesentlich zur Aus-
breitung der Reformation in Stemberg beitrugen; schon im Sommer
1524 konnte sie Luther beglückwünschen, daß sie dem bei ihnen
„herrschenden Aberglauben das Maul gestopft und ihren gottlosen
Erwerb abgetan" hätten.
Einen eigenartig bewegten, stürmischen Verlauf nahm die Re-
formation in der mit den mecklenburgischen und pommerschen Städten,
hauptsächlich mit Rostock und Stralsund, in vielen Wechselbeziehungen
stehenden freien Hansastadt Lübeck '), wo sich mehr noch als ander-
wärts demokratische und politische Strömungen mit den religiö9en
kreuzten. An die frühere Gcschichtschreibung über diese Bewegungen
reiht sich als letzte die von Heinrich Schreiber^), die mit dem
endgültigen Siege des Evangeliums, im Jahre 1531, abschließt. Nach
einer Einleitung, die mit festen Strichen die bei dem Kampfe des
Alten mit dem Neuen in Betracht kommenden Momente erörtert,
geht der Verfasser auf die „evangelischen Bestrebungen** der Bürger-
schaft über, die von Seite des patrizischen ^ , schroff an der alten
1) A. Hofmeister, Die Matrikel der Univenität BoeUKk. T. 1-4, 1417
bis 1747 (Rostock 1889 — 1900).
2) Bob heiUge BhU van Sternberg (HaUe 1892, in den fom Ver. fUr Ref.-Getcfa.
heraosgegebeoen Schriften, Nr. 18).
3) M. Hoffmann, Oeachichte der freien und Hamaetadt Lübeck, 2. Bd.
(Lübeck 1889), S. 92.
4) Bit Reformation Lübecks (Halle 1902, Schriften des Ver. für. Ref. -Gesch.
Nr. 74).
5) Wehrmann, Ba8 Lübecker PatriMiat in der Zeitschrift fttr Lttb. Geschichte,
1888, S. 295 ff.
— 298 —
Kirche festhaltenden Rates entschiedene Zurückweisung' erfuhren, aber
trotzdem nicht unterdrückt werden konnten. Eine Wendung hierin
trat erst ein, als der Rat infolge finanzieller Schwierigkeiten, in die
die Stadt durch ihre letzten kriegerischen Unternehmungen gestürzt
worden war, von der Bürgerschaft die BcMrüligung neuer Abgaben
fordern mußte, was von dieser benutzt wurde, als Gegenleistung die
Zulassung lutherischer Prediger zu verlangen. Der Rat sah sich an-
gesichts der gereizten Stimmung und tumultuarischen Haltung der Ge-
meinde *) zum Nachgeben genötigt, hoffte aber, die gemachten Zu-
geständnisse in Bälde bei günstiger Gel^enheit wieder zurücknehmen
zu können. Die Bürgerschaft, die diese Absicht wohl durchschaute,
wurde nun immer trotziger und ungestümer und wählte einen Aus-
schuß, der dem Rate zur Seite trat und, rasch an Macht gewinnend,
die Wünsche des Volkes mit Energie und Beharrlichkeit verfocht.
Im Sommer 1530, während des Augsburger Reichstages, mußte es
der Rat geschehen lassen, daß das alte Kirchenwesen in der Stadt
vollständig „abgetan** und im darauffolgenden Herbst Bugenhagen
herbeigeholt wurde; die Warnungen des Kaisers und die Drohungen
des Herzogs Heinrich von Braunschweig gaben der Stadt nur neue
Antriebe, sich um Aufnahme in den Schmalkaldischen Bund zu be-
werben. Nachdem Bugenhagen die neue Kirche organisiert •) und
auch die Armenpflege und die Schulen in zweckmäßiger Weise ge-
ordnet hatte, kehrte er im Frühling 1532 nach Wittenberg zurück.
Der erste Superintendent der Stadt wurde auf Bugenhagens Empfeh-
lung der bis dahin als Schulmann tätige Hermann Bonnus, dessen
Leben von Spiegel beschrieben worden ist •). Die Herren vom
Domkapitel hatten natürlich so lange als möglich ihre Rechte und
den in der Stadt befindlichen Besitz zu erhalten gesucht, fugten sich
aber schließlich der Macht der Verhältnisse und schlössen am 10. No-
vember 1531 einen Vertrag, durch den sie dieser die in ihren Mauern
liegenden Kirchspielkirchen überließen und dafür auf Lebenszeit im
Besitze ihrer Einkünfte blieben. Von Seite des Bischofs Heinrich
von Eutin und des Erzbischofs Christoph von Bremen, der nur wenig
i) HauptqaeUe: Petersen, Ausführliche Gesch. der LÜbeckschen Kirchen-
reformation in den Jahren 1529—31 aus dem Tagebuch eines Augenzeugen und
Beförderers der Reformation (Lübeck 1830).
2) Lübecksche Kirchenordnung von Joh, Bugenhagen Pom. (Neue Aasgabe:
Lübeck 1877).
3) Spiegel, Hermann Bonnus (Göttingen 1892).
— 299 —
kirchlichen Sinn besaß, erfuhr die Stadt keine ernstlichen Hemmung'en
ihres Reformationswerkes.
Ruhiger als in Lübeck ging die Reformation in dem damals noch
wenig bedeutenden Hamburg vor sich , wo der Rat zwar auch nur schrittweise
und notgedrungen den Forderungen der Evangelischen entsprach, aber,
weil hier ein Patriziat fehlte, der Gemeinde weniger schroff gegen-
überstand. Es sind hauptsächlich zwei neuere Schriften, die uns eine
tiefere Kenntnis der Hamburger Reformation vermitteln, nämlich die
Einfuhrung der BefamuUion in Hamburg von W. Sillem ^) und der
Kampf Hamburgs um die Refarmaticn, 15 17 — 61, von H. Kalt*). In
diesen Rahmen fallen auch die von C. Bertheau herausgegebene
Hamburger Kirchenordnung vom Jahre 1529*), Sillems Edition der
Briefsammlung des Hamburger Superintendenten J, Westphol (Hamburg
1903), desselben Aufsatz über den Dominikaner Augustin von Getelen ^),
den redegewandten Gegner des Evangeliums, über den auch Nikolaus
Paulus geschrieben hat^), die GeschiMe des Johannisklosters von
Gaedechus, M. Gensler und Koppmann (Hamburg 1884), die
Publikation von Aktenstücken aus den Jahren 1535 — 36, betreffend die
Au fnahme Hamburgs in das christliche FerstöiMJnis von H. Nirrnheim ^)
und eine Studie des gleichen Autors über den den Neuerungen gänzlich
abgeneigten Hamburger Bürgermeister Hinrich Salsborch (1524 — 31) ').
Der lang sich hinziehende Streit, in den die Hamburger bei ihrer Refor-
mation mit dem Domkapitel verwickelt wurden, gliedert sich in zwei
Abschnitte: der erste umfaßt die Zeit von 1528 — 36, während dessen auf
Klage des Kapitels ein Reichskammerprozeß gegen die Stadt schwebte,
der zweite den diplomatischen Kampf zwischen den beiden Parteien in
den nächsten Jahrzehnten, der erst im Jahre 1561 durch den Bremer
Vergleich beendet wurde. Der Verlauf dieser Begebenheiten, den man
bisher nur sehr unvollkommen kannte, wurde aus den einschlägigen
Aktenbeständen des Hamburger Stadtarchivs bis in alle Einzelnheiten
i) Halle 1886, Schriften des Ver. für Ref.-Getch. Nr. 16.
a) Programm. Hamburg 1898. 99.
3) Kirchenordnong fUr die Stadt Hamburg von 1529 (Hamburg 1885).
4) In der Monatsschrift für die CT.-lath. Kirche im Hamb. Staate, V. (Hamburg 1885),
S. 335 ff.
5) Zuerst in der Innsbrucker Zcitschr. für kath. Theol., Bd. XXV (1901), S. 4" ff.,
dann in seinem Buch Die deutsdien DomnUcaner im Kampfe gegen Luther (Frei-
burg i. Br. 1903), S. 77 ff.
6) In den Mitt. des Ver. für Hamb. Gesch., Bd. XXV (1905)1 S. 27 ff.
7) In der Zeitschr, des Ver. für Hamb. Gesch., Bd. XU (1904), S. 261 ff. — Vgl.
auch SiUems Artikel über Salshorch in Bd. LHI der Allg. D. Biogr., S. 692 ff.
— 300 —
hinein aufgerollt in einer Abhandlung J. Spitzers *), die im XL Bande
der Zeitschrift des Vereins für Hamburger Geschichte erschien. In
diesen Streit mischten sich auch die dänisch-holsteinischen Landesfiirsten
und stellten dabei so drückende Anforderungen an die Hamburger,
daß sich diese veranlaßt sahen, einen Ratschlsig des in solchen Dingen
mehr als alle anderen Reformatoren er&hrenen Buzer einzuholen.
Dieser Ratschlag, der sich als eine wertvolle Bereicherung der vielen
Buzerschen reformationspolitischen Dokumente darstellt, ist nach dem
Original im Straßburger Thomasarchiv und einer Hamburger Kopie
herausgegeben in einem Aufisatze von H. v. Schubert'), der die
Arbeit Spitzers in erwünschter Weise ergänzt.
In ganz anderen Bahnen als in Lübeck und in Hamburg bew^e
sich die Reformation in Bremen, an deren Geschichte wir an der
Hand Ikens') herantreten. Während in den beiden anderen Städten
der Rat sich so lange wie möglich g^en das Evangelium wehrte,
nahm in Bremen von Anfang an Rat und Bürgerschaft einträchtig für
dieses Partei, und daran vermochten weder die KunstgrifTe, die der
Erzbischof Christoph dagegen versuchte, noch die drohende Haltung,
die er nach deren Mißlingen gegen die Stadt einnahm, etwas zu ändern.
Der Reformator Bremens war bekanntlich der ebenso durch gedi^ene
Charaktereigenschaften als durch tüchtige theologische Kenntnisse aus-
gezeichnete Heinrich von Zütphen *) , der sich seit dem Spätherbst
1522 in der Stadt aufhielt, durch seine Predigten den weitaus größten
Teil der Bevölkerung für sich gewann und so eine allmähliche
Wandlung der Dinge anbahnte, der sich keine größeren inneren
Schwierigkeiten entgegenstellten. Iken ließ es sich angelegen sein,
durch sorgfaltige Nachprüfung der bereits über Heinrich vorhandenen
Literatur sowie durch Ausnutzung einer Anzahl neuer Quellen, die
gerade für dessen Tätigkeit in Bremen noch manches Neue ei^ben,
feste und gesicherte Ergebnisse zu gewinnen, so daß nur noch ganz
wenige Punkte in dem Lebensgang des Märtyrers zweifelhaft oder
i) Hamburg im Beformaiiansstreit mit dem DomkapiUl, Ein Beitrag zur
Hamhürgischen StcuxU' und Kirehengesehichte d, J, 1526—1561 in der Zeitschr. des
Ver. für Hamb. Gesch., Bd. XI (1903), S. 430 ff.
3) Scbrifteo des Ver. Air Schlesw.-llolsteiner K.-G., 2. Reibe, Bd. III, 1904, S. iff.—
Einen Nachtrag hiereu liefert Schubert im dritten Heft dieses Jahrganges. S. 394 ff.
3) J. F. Iken, Die erste Epoche der Bremisi^hen Befonnation, Bremer Jb.
Bd. VIII (1876).
4) Iken, Heinrieh von Zütphen (HaUe 1886, Schriften des Ver. fUr Ref.-Gesch.,
Nr. la.) S. hierza C Rolfs in den Schriften des Ver. (Ur Schlesw.-Ho st. K-G., 2. Reihe,
Bd. IV (1905), S. 143 ff.
— 301 —
unaufgeklärt geblieben sind. Als Heinrich Ende November 1524 die
Stadt Bremen, deren Rat ihn dem seine Auslieferung verlangenden
Erzbischof Christoph gegenüber ebenso besonnen wie entschieden ver-
teidigt und geschützt hatte, verließ, um sich für einige Monate nach
Meldorf im Lande Ditmarsen, wohin man ihn rief, zu begeben und
sich dort ein neues Arbeitsfeld zu suchen, konnte er ruhig scheiden,
denn er durfte vertrauen, daß die zwei Prädikanten, die seit kurzem
neben ihm in der Stadt angestellt waren, bis er wiederkäme, das Be-
gonnene in Fluß halten und weiterführen würden. Doch er sollte
nicht mehr zurückkehren. Schon nach wenigen Tagen, am 10. De-
zember 1524, wurde er durch eine hauptsächlich von dem fanatischen
Prior des Meldorfer Dominikanerklosters, Augustin Tomeborch, an-
gestachelte und betrunken gemachte Volksmenge überfallen und
unter dem schlechtgewahrten Schein eines Rechtsverfahrens auf das
grausamste ermordet. Die ausführliche Erzählung dieser Vorgänge
und der daraus sich ergebenden Folgen bildet das ergreifende
Schlußkapitel dieser Biographie. Den Bremern, an die Luther ein
Trostschreiben, eine kurze Auslegung des 10. Psalmes von den Mär-
tyrern Christi und eine „Histori von Bruder Heinrichs von Zütphen
Martyrertode" sandte, wurde die an ihrem Liebling verübte Bluttat
nur ein Ansporn, die Reformation in ihrer Stadt nun rasch und
kräftig durchzuführen. Schon im Herbste des folgenden Jahres waren
alle Kanzeln Bremens, den Dom ausgenommen, mit evangelischen
Prädikanten besetzt. Die Messe wurde abgeschafft und der Gottes-
dienst nach Wittenberger Vorbild gestaltet Aber auch im Ditmarsen-
land übte die blutige Tat der Verblendeten eine dem Evangelium
günstige Wirkung; langsam und in der Stille breitete es sich unauf-
haltsam aus.
Das benachbarte Weifenland war damals in vier Gebiete zer-
spalten: in die Herzogtümer Braunschweig -Grubenhagen, Calenberg,
Wolfenbüttel und Lüneburg. Verweilen wir zuvörderst bei dem zu-
letzt genannten, so haben wir vor allen der Arbeiten Wredes zu
gedenken : seiner Einfuhrung der Befarmation im Lüneburgischen durch
Herzog Ernst den Bekenner (Göttingen 1887) ^^^ seiner Monographie
Ernst der Bekenner, Herzog von Braunschweig und Lündmrg (Halle
1888). Dieser Fürst, der beim Antritt der Regierung mfolge der
Mißwirtschaft des Vaters und der aus der hildesheimischen Fehde ent-
standenen Nachwehen mit äußerst ungünstigen äußeren Verhältnissen
zu kämpfen hatte, richtete schon früh sein Augenmerk darauf, über
die Klöster seines Landes, denen er als überzeugter Lutheraner die
— 302 —
Existenzberechtigung absprach, mehr und mehr Macht zu gewinnen
und ihr Vermögen zur Bezahlung der drückendsten Schulden heran-
zuziehen. Dies und die ganze Art und Weise, wie er das alte Kirchen-
tum trotz schwerer Hindemisse allmählich verdrängte, kennzeichnet
die Reformation im Lüneburgischen so recht als eine Reformation
,,von oben,, nicht hervorgegangen aus einer tiefgehenden Bewegung
des Volkes, sondern unternommen und durchgeführt von dem Landes-
herm unter geringer aktiver Beteiligung der Massen". Seine wich-
tigsten Helfer waren dabei sein Kanzler Joh. Förster und von 1531
an Urbanus Rhegius ') , den er nach einiger Zeit zu seinem Landes-
superintendenten machte. Dieser ging, ganz im Sinne des Herzogs,
als solcher mit großer Mäßigung vor, tastete die alten Zeremonien
möglichst wenig an, legte bei der Ordnung des Hauptgottesdienstes
Luthers Formula missae zugrunde, duldete, daß man der „lieben
Heiligen in der Kirche ehrlich gedachte'* und behielt sogar die Me-
morien Verstorbener, soweit sie im Gebet fiir die Toten bestehen,
bei. Im Jahre 1543 wurde für das Land, das schon seit 1529 als
evangelisch gelten konnte, eine allgemeine Kirchenordnung erlassen *).
Dem Kaiser und dem Reich gegenüber stand Herzog Ernst seit 1 526
offen auf Seite der evangelischen Fürsten: er war Mitglied des Tor-
gauer Bundes, unterzeichnete die Speierer Protestation und die Aug^«
burger Konfession, trat der Schmalkaldischen Einigung schon bei ihrer
Entstehung bei und wirkte eifrig für deren Stärkung und Elrweiterung.
Die Teilnahme am Religionskriege blieb ihm erspart, da er einige
Monate vorher, kurz nach Luther, starb. — Die bedeutendste Stadt
seines Landes war Lüneburg *) , die nur in einem sehr lockeren Ab-
hängigkeitsverhältnis zu dem Herzoge stand, allen seinen Versuchen,
ihr etwas abzugewinnen, trotzig begegnete und mit allen seinen offenen
oder heimlichen Gegnern in Verbindung trat. Auch hier suchte der
Rat, wie fast überall, die in der Gemeinde herrschende religiöse Er-
rcgung, mit der sich verschiedene auf Erweiterung der bürgerlichen
Rechte abzielende Forderungen verquickten, mit allen Mitteln nieder-
zuhalten; erst, als er eine Verständigung der Gemeinde mit dem
Herzoge befurchten mußte, gab er nach (1530) und berief den von
i) ühlhorn, Urbanus Bhegias (Elberfeld 1861); der gßtat «weite Teil dieses
Buches handelt von der Tätigkeit dieses Reformators in Norddeatschland.
2) Knoop, Herzog Ernsts, des Bekenners, Ordnung vom 15. Nov. 1543.
ZeiUchr. der Ges. für Niedcrsächs. Kirchengesch. Bd. IV (1899), S. 203 flf. S. auch
Bd. IX (1904), S. 203 ff.
3) Siehe neben Wrede noch Uhlhorn S. 176 ff.
— 303 —
den Evangelischen begehrten Prädikanten Stephan Kempe, der in der
Stadt eine Nachbildung der hamburgischen Kirchenordnung zur Gel-
tung zu bringen suchte. Auch Rhegius weilte auf Bitten der Lüne-
burger mit Erlaubnis des Herzogs zweimal längere Zeit bei ihnen,
vermochte aber trotz aller Anstrengungen der in der Stadt herrschen-
den religiösen Wirren nicht recht Herr zu werden, und eine von ihm
entworfene Kirchenordnung gewann ebensowenig allgemeine An-
erkennung, wie die von Kempe. — Der erste Rektor der von Rhe-
gius eingerichteten Schule wurde der tüchtige Hermann Tulichius, den
man von Wittenberg her berief, und neben ihm wirkte Lukas Lossius,
über den eine Biogrs^^hie von Görges^) vorliegt.
In denkbar schärfstem Gegensatze zu der Haltung, die der Lüne-
burger Herzog in den religiösen Kämpfen der Zeit einnahm, steht die
seines Vetters aus der Wolfenbüttler Linie des weifischen Hauses, des
„tollen Heinz**, der starr am alten Glauben festhielt und einer der
rührigsten Parteigänger der kaiserlichen Politik war. Trotzdem konnte
er nicht verhindern, daß sich das Evangelium auch in den Städten
seines Landes festsetzte, insbesondere in Braunschweig und Goslar,
um deren Reformation^eschichte sich von Neueren hauptsächlich
Hänselmann') bzw. Hölscher') verdient gemacht haben. Die
von Heinz gegen diese Städte *) verübten Feindseligkeiten hatten die
Folge, daß der Schmalkaldische Bund gegen ihn einschritt, ihn 1542
im Felde besiegte und vertrieb, um dann in seinem Gebiet die Re-
formation durchzuführen ^). Das wirkte, um dies hier anzufügen, auch
I) Görges, JuUus Louius, ein Sd^hnann de$ 16, JahrhdU, (Progr. des
Johanneams za Lüneburg. 1885). — Interessante Hinweise auf die selten gewordene
Schrift des Lossius, Lüneburg im Scichsenlande, von E.ZechHn in den Lttnebnrger
MaseumsbläUem, Bd. I (1904), S. 41 ff.
a) In der Einleitung zu der von ihm herausgegebenen Kirchenordntmg für die Sttidt
Brcmnsehweig vom Jahre 15!i6 von Job. Bugenbagen (Wolfenbttttel 1885).
3) Gleich, der Ref. in Goslar n<»€h den Akten im atädt, Archive. Hannover
und Leipzig 1901 ; Gesch, des Interime in Goslafr Zeitschr. der Ges. fOr Nieders.
Kirchengesch. Bd. VIII (1903), S. 46 ff. — Siehe auch Tscbacke rt, Joh, Amandue,
der erste Superintendent der freien Reichsstadt Goslar, ebenda. S. 5 ff.
4) Für Braonschweig G. Hassebranck, Heinrich der Jüngere und die Stadt
Braunsdnoeig im Jahrb. des Gesch.- Ver. fttr das Herzogtum Braonschweig, Bd. V (1906),
S. I ff.
5) F. Koldewey, Die Ref. des Hersogtums Braunschweig-Wolfenlfüttei unter
dem Regiment des sdmudk, Bundes. Zeitschr. des bist Ver. für Niedersachsen 1868. —
Über die Förderung des Schulwesens in der Reformationsseit siehe von demselben Autor :
Braunschweigis<^ Schulordnungen bis 1528 in Mon. Germ, paed., Bd. I u. 8. (Berlin
1886); Gesch, des Schulwesens im Herzogtum Braunsehweig von den ältesten Zeiten
— 304 —
auf die Verhältnisse in der Stadt Hildesheim, wo nun (1542) die
längst der neuen Lehre anhängende Bürgerschaft dem Evangelium,
das der Rat unter Anführui^ des tüchtigen, aber ganz „papistiscb"
gesinnten Bürgermeisters Wildefüer so lange „tyrannisch** unterdrückt
hatte, fast plötzlich freie Bahn erzwang. Zu der älteren hierüber vor-
handenen Geschichtsliteratur gesellte sich zuletzt K. Kaysers Buch
Die Einfuhrung der Beformaiian in Hildesheim (1883) und die kleine
für weitere Kreise berechnete Schrift G. Erdmanns BeformoiUan und
Gegenreformation im Fürstentum Hildesheim (Hannover 1 889), die auch
eine übersichtliche Darstellung der HUdesheimer Stiftsfehde enthält.
Im Calenberger Landesteil, wo der „abenteurische** Herzog
Elrich I. regierte, kam die religiöse Bewegung erst in Fluß, als nach
seinem Tode seine zweite Gemahlin Elisabeth, eine Schwester des Kur-
fürsten Joachim II. von Brandenbui^, der die Vormundschaft über
ihren unmündigen Sohn Erich IL zufiel, mit Hilfe Anton G)rvins, Jo-
hann Sutellius' und anderer zugunsten der Reformation eingriff und
ein evangelisches Kirchenwesen begründete, für das sie im Jahre 1 542
eine von Corvin verfaßte evangelische Ktrchenordnung erließ. Die
Einzelnheiten dieser Bestrebungen und die Störungen , die die neue
Kirche durch den im Jahre 1545 ans Regiment kommenden jungen
Herzog infolge seines Übertritts zum Katholizismus erfuhr, lernen wir
aus mehreren wertvollen neueren PublUcationen kennen. Wir nennen
hier von Tschackert die Schriften Die Herzogin Elisabeth von
Minden (Leipzig 1900) ^), Antonius Corvinus' Leben und Schriften
(Hannover 1899) sowie den Briefwechsel des Antonius Corvinus
(Hannover 1906), dann Uhlhorns Antonius Corvinus (Halle 1892)
und F. Kochs Sammlung von Briefen der Hereogin Elisabeth und
ihres Sohnes aus den Jahren 1545 — 54 *). Die fast wie freie Städte
dastehenden größeren Städte des Landes erforderten eben wegen ihrer
Selbständigkeit Sonderdarstellungen ihrer Reformationsgeschichte, und
so entsand, nachdem bereits Uhlhom, A. Ulrich und andere vorge-
arbeitet, die Geschichte der Reformation der Stadt Hannover von
hü zum BegierungMntritt des Hergogs Withelm im J. 1831, (Wolfenbflttel 1891);
A. Heinemaan, Oeich, des Volksschulwesena im Hersogtum Braumschweig, Van
den Anfingen bis zum Tode Herzog Wilhelms (Braanschweig 1900).
i) Vgl. anch das Scbriftchen von A. Kars, Elisabeth ^ Herzogin van Braun-
schweig-Ckdenberg, geborene Prinzessin van Brandenburg (Halle 1891, Schriften fHr
das d. Volk, heransgegeb. Toin Ver. für Ref.-Gescb., Nr. XXXVII).
2) Zeitschr. der Ges. für Nieders. Kirchengesch., Bd. X (1905), S. 331 ff.; Bd. XI
(1906), S. 89 ff.
— 305 —
W. Bahr dt (Hannover 1891) und die Geschickte der Kirchenrefarmation
in der Stadt Oattingen von G. Erdmann (Göttingen 1888). Wich-
tigere spezialgeschichtiiche Arbeiten, die die Reformation dieser beiden
Städte betreffen, sind das von Tschackert gezeichnete LAenshild
des Juristen Autor Sanders ^) , der in Braunschweig und Hildesheim
als energischer Förderer des Evangeliums auftrat und der erste evan-
gelische Syndikus der Stadt Hannover wurde, seine Biographie des
in Göttingen, Schweinfurt und Northeim als Reformator tätigen Mag.
Johann Sutel '), und die ebenfalls von Tschackert veröffentlichten
Briefe und Aktenstücke MMins aus der Zeit seiner Oöttinger Wirk-
samkeit bis 0u seinem Weggang aus der Stadt (1543 — 1550)'). Die
Einführung der Beformatian in der kleinen Stadt Utlar, wo im Jahre
1543 die erste Kirchenvisitation gehalten wurde, schildert uns ein Auf-
satz A. Tecklenburgs^). Die refarmatarischen Kirchenvisitaiionen
in den weifischen Landen (1542 — 1544) veröffenüichte K. Kays er
(Göttingen 1898), dem wir auch eine lehrreiche Abhandlung über
die Anfänge des deutschen VoUcsschulwesen^ in den aliwelfischen Her-
eogtümem der Provinz Hannover ^) verdanken.
Indem wir nun von hier aus zurückblicken, haben wir eines
Mannes zu gedenken, der in mehreren der von uns durchwanderten
Gebiete, wie in Norddeutschland überhaupt, eine ebenso umfassende
wie tiefgreifende Tätigkeit entfaltet hat. Es ist dies Bugenhagen.
Sein Lebenswerk wird stückweise erzählt in den Reformationsgeschichten
der Territorien, denen er seine Kräfte gewidmet hat, aber in seiner
ganzen Bedeutung tritt er uns nur in den ausfuhrlicheren Beschreibungen
seines Lebens zutage , deren letzte — von Hermann Hering*) —
infolge der Übersichtlichkeit und Klarheit der Darstellung und der
i) Ebenda, Bd. IX (1904), S. i ff.
2) Brmiuischweig 1897.
3) Zeittchr. für Niedere. K.-G., Bd. X (190$), S. 1240. — Ein Bild vom
kirchlichen Lehen OÖttingens aus dem Jahre 1565 (Beschwerdeschrift des Prid. Hart-
mann Henremann an den Rat über den Bfirger Steffen Ramme) bietet D. K. K n o k e
im Archiv fttr Ref.-Gesch., Bd. II (1905), S. 362 ff.
4) ProtokoUe über die Sitzungen des Vereins für die Gesch. Göttingens, Bd. III,
Heft 4 (1905), S. 12 ff.
5) 2^itschr. des Hist. Ver. ftir Niedereachsen, 1904, S. 64 ff.
6) Hering, Doctor Pameranus, Johannes Bugenhagen, Ein Lebensbild aus
der Zeit der Be/bnnaUon, (Halle 1888, in den Schriften des Ver. fttr Ref.-Gesch., Nr. 22).
Hier ist aach die frühere Literatur sorgfältig verzeichnet. — Joh, Bugenhagens Brief-
Wechsel, herausgegeben von O. Vogt, enchien im gleichen Jahre in Stettin. Nachträge
hiersa von Enders in den TheoL Stad. o. Kritiken, Jahrg. 1889.
— 306 —
geschickten Gruppierung und Verwertung des umfangreichen Materials
in der Bugenhagenliteratur eine hervorragende Stelle einnimmt. Und
noch eine zweite Persönlichkeit, die Bugenhagen an Bedeutung frei-
lich nicht erreicht, darf in diesem Zusammenhange nichi übergangen
werden, nämlich Heinrich Winkel aus Halberstadt, dessen Entwicklungs-
gang und Tätigkeit uns Ed. Jacobs unter Ausnutzung mancher früher
unbeachteter Quellenstücke in einem liebevoll gezeichneten Lebens-
bild vor Augen führt *). Winkel wirkte, wie wir daraus ersehen, nach-
einander in Halberstadt, Braunschweig, Göttingen, Hannover und Hildes-
heim und gewann hier überall so großes Ansehen, daß sich die
Schilderung seines Wirkens in jeder dieser Städte für die Zeit seiner
Anwesenheit in ihnen zu einer Art Reformationsgeschichte derselben
gestaltet.
Anhang.
Noch liegen einige Bücher vor uns, die ihrem Inhalt nach nicht
in den Kreis der uns diesmal gestellten Aufgabe hineinfallen, aber,
nachdem sie uns einmal zugesandt worden sind, anhangsweise doch
auch zur Besprechung kommen sollen.
Als erstes die ReformcUionsgeschicMe der Grafschaft Mark von
Ewald Dresb ach*), der außerordentlich weitschichtige und weit zerstreute
Quellenbestände zu bewältigen hatte, um seinen Gegenstand, wie er
beabsichtigte, in einem abschließenden Werke so viel als möglich
erschöpfend darzustellen. Es war dies um so schwieriger, als er dabei
an vielen Stellen auf die so verwickelten politischen Verhältnisse des
Herzogtums Kleve eingehen mußte, die zeitweise einen der wichtigsten
Angelpunkte der europäischen Politik bildeten. Auch war die zu
durchlaufende Strecke eine sehr ausgedehnte, denn der Abschluß des
märkischen Reformationswerkes fallt erst in das Jahr 1672, in welchem
der am 6. Mai zwischen Pfalz-Neuburg und Brandenburg abgeschlossene
Religionsvergleich den konfessionellen Kämpfen die gesetzlichen
Schranken zog. Das Eigenartige der Reformation in der Mark beruht
darin, daß sich hier „ die evangelische Neueinrichtung nicht wie anderswo
itnter Anlehnung an den Staat, sondern aus den Gemeinden frei
heraus und oft genug im schärfsten Gegensatz zu dem Staat entwickelt
hat**. Während der langen Regierung des Herzogs Wilhelm herrschte
i) Ed. Jacobs, Heinrich Winkd umi die Eefarmation im südlichen Nieder-
sachsen, (HaUe 1896, Sehr, des Ver. fUr Ref.-Gesch., Nr. 53.)
2) Zur Erinnernng an die 300 jähr. Verbindung der Mark mit Braodenborg-Preufien.
(Güterslho 1907).
— 307 —
in dessen Landen ein religiöser Zwitterzustand, der auf der einen
Seite in dem Sinne gedeutet wurde, daß das Evangelium zugelassen
sei, während auf der anderen behauptet werden konnte, „der recht-
liche Zusammenhang mit der römischen Kirche sei in Kleve nie
unterbrochen worden*'. Dresbach charakterisiert den schwankenden
Kurs, den der herzogliche Hof während der Reformationszeit einhielt,
mit den Worten: er war erst „lutherfeindlich bis 1525, dann eras-
misch bis 1539, darauf annähernd melanchthonisch bis 1543, femer
kaiserlich bis 1555, von da an kassandrisch bis 1567". In diesem
Jahre erkrankte der Herzog und wandte sich unter dem Drucke
spanischen Geldes wieder entschieden dem Katholizismus zu, so
daß die letzte Periode von 1567 bis zum Aussterben des klevischen
Hauses im Jahre 1609 als „spanisch-jesuitisch" gekennzeichnet werden
kann. Aber die Evangelischen, denen die vielen Freiheiten und Vor-
rechte der Ritterschaft und der Städte eine mächtige Handhabe zu
ziemlich freier Bewegung darboten, verfolgten, unbeirrt von den
Schwankungen des Hofes, ihren Weg; überall entstanden evangelische
Gemeinden, die sich, wenn sie auch des äußeren rechtlichen Zu-
sammenhanges entbehrten, kräftig entwickelten, so daß im Jahre 1609
die ganze Grafschaft evangelisch war. Die weitere Ausgestaltung des
märkischen Kirchenwesens erfolgte während des Erbfolgestreites in
stürmischen Zeiten unter vielen Gefahren, Nöten und inneren Kämpfen,
deren wechselvoller Verlauf uns von dem Verfasser eingehend ge-
schildert wird. — Fast gleichzeitig mit dem Werke Dresbachs ließ
Heinrich Niemöller seine Beformationsgeschichte van Lippstadt er-
scheinen, das zu den sogenannten „Nebenquartieren** der Mark ge-
hörte und unter dem Kondominat der Grafen zur Lippe und des
Herzogs von Kleve stand '). Die Stadt war unter den westfälischen
Städten , die das Evangelium annahmen , die erste und hielt daran,
trotz mancher Bedrängnisse, die sie deshalb zu erleiden hatte, wacker
fest, bis ihr der Religionsfriede Ruhe und Sicherung brachte.
Nördlich grenzte an die Mark das Hochstift Münster, auf dessen
Bischofsstuhle in der zweiten Hälfte des Reformationszeitalters Franz
von Waldeck saß. Im Gegensatze zu den Reformations versuchen des
Erzbischofs Hermann von Köln, die durch die Werke von Drouwen »)
und Varrentrapp') ins hellste Licht gerückt wurden, haben die sich
nach der gleichen Richtung hin bewegenden Bestrebungen des Bischofs
i) HaUe 1906, in den Schriaen des Ver. für Ref.-Gesch., Nr. 91.
2) Die Beformaiwn in der CölmBchm KircKenproving (Neafl u. Köln 1S76).
3) Hermann von Wied und sein BeformationeverBueh in Köln. Leipng 1878.
23
— 308 —
Franz bis in die neueste Zeit herein bei den Historikern verhältnis-
mäßig nur wenig Beachtung gefunden. Erst, als die großen Akten-
publikationen von Lenz ^) und Winckelmann *) neue, bis dahin un-
bekannte Quellen eröffneten, wurden die Pläne dieses Bischofs einer
genaueren Prüfung unterworfen, und zwar zuerst von Janssen-Pastor
(Bd. III, 17. u. 18. Aufl.), der hierzu auch Akten des Frankfurter
Archivs benutzen konnte. Ihm folgt jetzt Franz Fischer*), der fiir
sein Buch aus den reichen Schätzen des in Marburg aufbewahrten
Archives des Landgrafen Philipp schöpfen durfte und auf Grund des
dort vorgefundenen Materials und anderer bereits gedruckter, aber
noch nicht in dieser Sache verwerteter Schriftstücke noch viel Neues
zu bieten und manche alten Irrtümer zu berichtigen vermochte. —
Die Anfange des Bischofs, eines jüngeren Sohnes des Grafen Philipp II.
von Waldeck, waren heiter und glückverheißend. Frühzeitig schon
kam er in den Besitz reicher Pfründen; am 2. Februar 1530 wurde
er zum Bischof von Minden gewählt, am i. Juni 1532 zum Bischof
von Münster und wenige Tage darauf, am ii. Juni, zum Bischof von
Osnabrück, so daß er nun zu den mächtigeren Fürsten Niederdeutsch-
lands zählte. Aber er kam zu keinem friedlichen Genuß seines Be-
sitzes, sondern sein Dasein gestaltete sich unter dem Drucke großer
geschichtlicher Ereignisse — man denke an das zionistische Reich der
Wiedertäufer in Münster — bald zu einem Leben voll innerer und
äußerer Kämpfe, die ihn unablässig in aufreibender Spannung und
Bewegung erhielten. Das Evangelium war ihm unzweifelhaft Herzens-
sache. Es war sein fester Vorsatz, ihm in seinen Bistümern Raum
zu schaffen und den ihm hierbei begegnenden Widerstand seiner
Landstände und Domkapitel zu brechen ; ja eine Zeitlang trug er sich
sogar mit dem Gedanken, in den Ehestand zu treten, seine Stifte zu
säkularisieren und zu Erbfürstentümem umzuwandeln. Daß er hierin
nur mit Hilfe des Schmalkaldischen Bundes zum Ziele kommen könne,
war ihm von Anfang an klar, und er machte in verschiedenen, ihm
hierzu geeignet erscheinenden Zeitpunkten ernstliche Anstrengungen,
in den Bund Aufnahme zu finden, aber trotz der warmen Fürsprache
i) Briefwechsel Landgraf Fhüipps des Großmütigen von Hessen, m. Bd.,
Leiptig 1880 — 90.
2) Politische Correspondene Strcßhurgs aus der Bef-Zeii, II. u. III. Bd.
(Straflbarg 1887, 98).
3) Die Beformationsversuche des Bischofs Franz von Waldeck im Fiirsientum
Monster. (Hildesheim 1907, in den Beiträgen fUr die Gesch. Niedersachsens a. West-
falens, ed. Georg Erler, 6. Heft).
— 309 —
des Landgrafen jedesmal vergeblich. Als der unheilvolle Religions-
krieg ausbrach, war Franz willens, sich offen den Schmalkaldern an-
zuschließen, aber die Stände des Stiftes Münster nötigten ihn zur
Neutralität und überhaupt zum dauernden Verzicht auf die Ausführung
seiner so lange mit zäher Ausdauer verfolgten Entwürfe. So war sein
Zusammenbruch zum guten Teil eine Folge der kurzsichtigen Politik
des Schmalkaldischen Bundes, der in der Sorge, sich in der Person
des Bischofs ein unbequemes Bundesglied aufzuhalsen, versäumt hatte,
dem vom besten Willen für das Evangelium Beseelten zur rechten
Zeit die schützende und fördernde Hand zu reichen. Andere Gründe
für diesen betrübenden Ausgang lagen in der Persönlichkeit des Bischofs,
dem die zur Überwindung großer Schwierigkeiten erforderlichen Kräfte
und Eigenschaften nicht verliehen waren. Die letzten Jahre seiner
Regierung verlebte er, von seinen Ständen fast aller weltlichen Macht
beraubt, zurückgezogen in seiner Lieblingsresidenz Iburg. Er wurde
daraus aufgescheucht, als im Jahre 1553 Philipp Magnus von Braun-
schweig, ein Sohn des Herzogs Heinrich, mit einem Söldnerheere
gegen ihn heranzog. Auf der Suche nach einem neuen Zufluchtsort
wandte sich Franz nach Osnabrück, aber die Stände erklärten, ihn
nicht einlassen zu wollen, bis der durch den Kxiegszug des Braun-
schweigers verursachte Schaden gedeckt sei. Er überlebte diese
Kränkung, zu der sich noch andere gesellten, nur kurze Zeit. Am
15. Juli des Jahres verschied er auf der Burg Wolbeck und wurde
im Dome zu Münster beigesetzt. — In einem rückschauenden Kapitel
kommt Fischer auch auf die Vorwürfe zu sprechen, die man gegen
Franz in sittlicher Beziehung erhoben. Das, was hierüber feststeht,
läßt erkennen, daß er in diesem Punkte allerdings bedenkUche
Schwächen zeigte, aber sicher nicht tiefer stand als die meisten hohen
Würdenträger dieser Zeit. Im übrigen entbehrte sein Charakter keines-
wegs schöner und edler Züge, wie die von Corvin und anderen, die
ihn näher kannten, gefällten Urteile zur Genüge beweisen.
Und nun geht es zum Schlüsse noch nach dem uralten, herr-
lichen Mainz. Die Reformationsgescbichte dieser Stadt ist in neuester
Zeit durch mehrere sehr wertvolle Arbeiten bereichert worden, so
durch Kalkoffs Schrift TT. Capüo im Dienste Ergbischofs Albrecht
von Mainz '), durch einen Aufsatz von Bauch Aus der Geschichte des
i) In den Quellen und Forschungen eu den entecheidenden Jahren der BefoT'
matian 1519 — 1523 = N. Boawetscb a. R. Seeber^, Neae Stadien zur Gesch. der Thcol.
u. der Kirche, Stück i. Berlin 1907.
23*
— 810 —
Mainzer Humanismus ^), durch Kißlings Abhandlung über den Dom-
dekan L, Truchseß von Pommersfelden •) und vor allen durch F. Her-
manns Buch Die evangelische Bewegung in Mainz im Beformationszeü-
aUer '), bei dem wir einen Augenblick stehen bleiben wollen. Das vom
Verfasser hierzu benutzte archivalische Material mußte in Würzburg, Mün-
chen und Wien gesammelt werden, wobei sich zeigte, daß es sich nur
lückenhaft erhalten hat. Trotzdem ist es Hermann gelungen, die An-
fange und den Verlauf der Mainzer Reformation ausfuhrlich und klar
zu zeichnen, so daß kein wichtigeres Glied in der Kette der Ereig-
nisse vermißt wird. Voraus geht der eigentlichen Geschichte eine
interessante Studie „ Zur Sittengeschichte des Mainzer Klerus im XVI.
Jahrhundert", die ersehen läßt, daß auch in Mainz das alte Kirchen-
wesen durch und durch verdorben und faul war.
Die drei ersten Kapitel umfassen den Zeitraum von 15 17 bis 1523,
während dessen der Erzbischof von Mainz, Kardinal Albrecht, der
Kurie gegenüber in dem „Lutherhandel** eine dieser verdächtig er-
scheinende Zurückhaltung an den Tag legte, die teils durch allerlei
selbstsüchtige Berechnungen, teils durch die an seinem Hofe herrschende
humanistische Strömung veranlaßt wurde. Vom Jahre 1520 an aber
war es hauptsächlich der zuerst kurze Zeit als Domprediger, dann als
erzbischöflicher Rat in Mainz wirkende Wolfjgang Capito, der auf die
Haltung des ihm wohlgewogenen Kirchenfiirsten größeren Einfluß übte
und dadurch erreichte, daß sein Herr gegen die Lutheraner keine Gre-
walttat unternahm, sondern sie im allgemeinen ruhig gewähren ließ. Die
Folge davon war, daß das Evangelium auch in Mainz Boden fand und
sich dort wohl dauernd festgesetzt hätte, wenn nicht der Erzbischof
nach dem mißglückten Unternehmen Franz von Sickingens, das ihm
empfindliche Ungelegenheiten und Schädigungen zuzog und auch den
Austritt Capitos aus dem mainzischen Dienste zur Folge hatte, seine
bis dahin gegen die Protestanten beobachtete Taktik geändert und
fortan, wenn auch anfanglich nur zögernd, ihnen feindselig entgegen-
getreten wäre, was im vierten Kapitel eingehend dargetan wird. Caspar
Hedio, der seit Ende 1520 an Capitos Stelle die Domprädikatur ver-
sah, mußte im Spätherbste 1523 abziehen, um sich nicht der Gefahr
auszusetzen, daß er in kurzem verjagt würde. Das Jahr 1525, dem
das fünfte Kapitel gewidmet ist, brachte die endgültige Entscheidung :
i) Beitr, zur Oesch. der üniv, Maim u. Gießen, hermusgegeb. Ton dem Hist.
Ver. für das Groflhenogtam Hessen zar Gieflener Jubelfeier, S. 3 ff.
2) Im KaihoUk, 3. Folge, Bd. XXXm (1906), S. i ff., S. 93 ff-, S. 167 ff.
3) Mains 1907.
— 311 —
nachdem die revolutionäre Bewegung der Bauern, von der die Evan-
gelischen in Mainz sich Rettung versprachen, niedergeworfen worden,
war es auch mit dem Luthertum in Mainz zu Ende, soweit es sich
um eine nach Begründung einer evangelischen Kirche ringende Partei
handelte. Immerhin aber gab es in Mainz, wie in dem sechsten
Kapitel ausgeführt wird, auch fernerhin no'ch Lutheraner genug, einige
sogar unter den Mainzer Kanonikern und unter den erzbischöflichen
Hofbeamten. Erst als in der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts
■
die Bekehrungstätigkeit der Jesuiten einsetzte, gelang es dem Katho-
lizismus, das Luthertum aus der Stadt allmählich gänzlich zu ver-
drängen. Dreiundzwanzig Beilagen, von denen die ersten einen ,, Status
urbis Mog. circa annum domini 1500" enthält, sind dem Texte an-
gefügt.
Mitteilungen
ArchiTe» — Für das Vorarlberger Landesarchiv ') in Bregenz ist
im Laufe des Jahres 1908 eine vom Landtag genehmigte Ordnung er-
lassen worden. Aus dieser seien hier diejenigen Stellen mitgeteilt, die all-
gemeineres Interesse beanspruchen dürfen.
S 17. Neben . . . erfordert die Bestimmung des Landesarchivs, nach
Möglichkeit auf die stete Vennehnmg desselben durch Einverleibung aller
auf die Landesgeschichte Bezug habender Archivalien bedacht zu sein. Es
ist daher ein besonderes Augenmerk auf die allmähliche Einverleibung
aller in den Registraturen der dem Lande untergeordneten
Behörden und Ämter erliegenden Archivalien zu richten. Daneben
soll die Überlassung und Erwerbung etwa frei werdender Archivalien der
staatlichen Behörden z. B. der Justiz- und Finanzbehörden angestrebt werden.
Die Erwerbung von staatUcben Archiven oder Archivalien hat jederzeit
im Einvernehmen mit dem zuständigen staatlichen Archive zu erfolgen.
$ 18. Ein besonderes Augenmerk soll auf die Erwerbung der am
meisten gefährdeten Gemeindearchive gerichtet und die Gemeinden,
Körperschaften und Private aufgemuntert werden, ihre historisch wertvollen,
für die laufenden Geschäfte nicht mehr benötigten Archivalien dem Landes-
archive wenigstens als Depositum unter Wahrung des Eigentumsrechtes
zu übergeben, woselbst sie auf die im $ 14 bestimmte Art und Weise zur
Aufstellung gelangen sollen.
Die Archivalien bleiben Eigentum der Übergeber und sind ihnen im
Bedarfsfalle im Original auszufolgen.
Über alle von Gemeinden, Körperschaften oder Privaten abgelieferten
Urkunden und Aktenstücke werden genaue Regesten angefertigt. Je ein
i) Vgl. darüber diese ZciUchrift 5. Bd., S. 112 und S. 317—318.
— 312 —
vollständiges Exemplar wird dem Übergeber bzw. Eigentümer kostenlos
zur Verfügung gestellt
Tritt die Gefahr der Vernichtung oder Verschleppung auf
die Geschichte des Landes bezüglicher Akten imd Urkunden ein, soll das
Landesarchiv diese oder auch sonst angebotene Archivalien eventuell kauüs-
weise oder wenigstens abschriftlich zu erwerben suchen.
In geeigneten Fällen kann auch ein passender Austausch mit anderen
Archiven, Bibliotheken oder Instituten angebahnt werden.
S 24. Mit Ausnahme der Landes-, Staats- und Kirchenbehörden sind
alle Archivbenutzer als Privatpersonen zu betrachten.
S 25. Wer das Archiv in irgendeiner Weise zu benutzen wünscht, hat
sich unter genauer Angabe des Zweckes an den Landesarcbivar zu wenden,
sich entsprechend zu legitimieren und den vorgelegten Benutzungsbogen
ordnungsgemäß auszufüllen. In der Regel erteilt der Landesarchivar die
Erlaubnis zut Benutzung; in besonders wichtigen Fällen, oder wenn der
Landesarchivar die Verantwortung nicht übernehmen will, ist ein schrift-
liches Gesuch an das Landesarchiv zu richten, das von diesem mit einem
Gutachten zur Entscheidung an den Landesausschuß geleitet wird.
S 26. Die zur Benutzung ausgehobenen Archivalien sind vor der Aus-
folgUDg durchzusehen und in das Benutzungsprotokoll einzutragen. Es
bleibt dem Landesarchivar überlassen, die Menge des jeweilig vorzulegenden
Materials zu bestimmen.
S 27. Die Einsicht in die Buchrepertorien, wie in die Zettel-
repertorien findet in der Regel nicht statt, bleibt aber dem Ermessen des
Landesarchivars anheimgestellt.
$28. Die Benutzimg der Archivalien findet in den Arbeitsräumen des
Archivs unter Aufsicht statt. Die Mitnahme von Archivalien in die Privat-
wohnung der Benutzer ist untersagt.
Der Benutzer darf vertrauenswürdige Personen als Kopisten verwenden.
S 29. Nach erfolgter Benutzung sind die Archivalien in bezug auf
Vollständigkeit, Unversehrtheit und Ordnung zu prüfen und nach richtigem
Befunde sogleich zu reponieren. Es ist strenge darauf zu achten, daß Be-
schädigungen und unachtsame Behandlung der Archivalien, wie Anbringen
von Zeichen und Notizen vermieden werden.
S 30. Eine Versendung von Archivalien findet bei Erfüllung
folgender Bedingungen statt:
a) der Benutzer muß die einzelnen Archivalien genau bezeichnen können ;
b) der Zustand der gewünschten Archivalien muß derartig sein, daß Be-
schädigungen durch die Versendung nicht zu befürchten sind;
c) die Versendung erfolgt nur an Archive, Bibliotheken, wissenschaftliche
Anstalten und andere Amtsstellen, die für feuersichere Aufbewahrung,
alleinige Benutzung des Antragstellers (nur in den Diensträumen), sowie
pünktliche Rücksendung in der bestimmten Frist im voraus einstehen.
An Privatpersonen werden Urkunden oder Akten nicht ausgefolgt;
d) die Versendung geschieht in der Regel nur auf die Dauer von acht
Wochen. Auf einen speziellen, einmaligen Antrag des Entleihers oder
der die Archivalten autbewahrenden Behörde hin kann diese Frist um
weitere sechs Wochen verlängert werden;
— 313 —
e) alle Sendungen hin und her haben unter Wertdeklaration zu gehen,
wobei die entstehenden Unkosten (Porto, Versicherungsgebühr u. dgl.)
dem Benutzer zur Last fallen.
S31. Anfragen auswärtiger Persönlichkeiten hat das Landesarchir
nur insoweit zu beantworten, daß der Fragesteller im allgemeinen über die
fUr seine Zwecke vorhandenen Archivalien tmterrichtet wird. Abschriften
oder Auszüge darf das Archiv an Private nur ohne Beeinträchtigung der
laufenden Geschäfte und archivalischen Arbeiten liefern. Hierfür wie für
Recherchen rein privater Natur sind mäßige, nach den paläographischen
Schwierigkeiten zu bemessende Gebühren zu entrichten.
S 32. Für die Ausstellung beglaubigter Abschriften ist neben
den Gebühren für Abschrift und Vidimierung die gesetzliche Stempeltaxe
zu entrichten.
§ 33. Behufs Herstellung von Photogrammen, die in den Archiv-
räumen nicht ausgeführt werden können, kann der Landesarchivar gestatten,
daß die betreffenden Archivalien unter Aufsicht an einen geeigneten Ort
gebracht werden. Doch muß die Rückstellimg der Archivalien noch an
demselben Tage erfolgen.
S 34. Das Landesarchiv erwartet von seinen Benutzem, daß von
jeder mit Benutzung seiner Bestände veröffentlichten Druckschrift ein Exem-
plar der Vorarlberger Landesbibliothek gewidmet werde.
§ 35. Direkt an das Landesarchiv gerichtete Eingaben, sowie Zu-
schriften rein wissenschaftlichen Charakters erledigt dieses selb-
ständig. Glaubt der Landesarchivar die Verantwortung nicht übernehmen
zu können oder zu sollen, so legt er den betreffenden Akt samt seiner
gutachtlichen Äußerung dem Landesausschusse vor.
In den Niederlausitßer Miiteüungen 10. Bd., S. 115 — 239, veröffent-
licht Mittelschullehrer Fritz Schmidt Regesten der im Stadtarchiv Cott-
bus ruhenden Urkunden 1386 ff. Das Archiv der Stadt ist bei einem
Brande 167 1 zum größten Teile zerstört worden; es handelt sich also bei
den jetzigen Beständen nur um Überreste, die allerdings durch spätere
fleißige Sammlung verschiedener auf die Stadt bezüglicher Urictmden be-
trächtlich ergänzt worden sind. Ein 1772 angelegtes Urkundenbuch enthält
abschriftlich zahlreiche Urkunden, deren Originale nicht mehr vorliegen, imd
dessen Inhalt ist deshalb gleichzeitig mit ausgebeutet worden. Unnötige
Mühe hat sich der Bearbeiter bei der Auflöstmg der Daten gemacht, da er
sich selbst jedesmal Ostern „einmal nach der Gaußschen Formel, das andere
Mal unter Berücksichtigung des Sonnenzirkels, der goldenen Zahl und des
Ostervollmondes" berechnet hat. Demnach scheint Grotefends jSeU'
rechnung des deutschen MitteüaUers und der Neuheit, Erster Band (Hannover
189 1) immer noch nicht genügend bekannt zu sein! Recht erft^ulich ist
die Ausarbeitung eines eingehenden Namen- imd Sachregisters, das die Be-
nutzung und Ausbeutung der ziemlich ausführlich gehaltenen Regesten sehr
erleichtert. Nicht nur für den engeren Kreis der Stadtgeschichte sind die
Ergebnisse wertvoll. So fehlt z. B. die Urkunde des Meißner Bischöfe
Rudolf vom 8. Februar 141 3 im Urkundenbuehe des HoehsHfts Meißen von
— 814 —
Gersdorf 2. Bd., S. 393, wo zwischen Nr. 851 imd 852 ihr Platz sein
würde. Die Urkunde vom 26. August 1524 belehrt uns^ daß auch in Cottbus
in jener bewegten Zeit eine Empörung der Büi^erschaft gegen den Rat statt-
gefunden hat. Demnach würden wir der Liste jener Städte, für die das
gleiche nachgewiesen ist *) , nunmehr auch Cottbus einreihen können. Seit
1500 wird wiederholt ein „Altar der Schützen** mit einem eigenen Altaristen
erwähnt; die Schützengilde war demnach auch zugleich gdsffiche Brüderschaft.
Im Register fehlt ein Hinweis auf diese bemerkenswerte Tatsache. Über die
Finanzen des gemeinen kastens geben zwei Urkunden von 1549 u. a. Aus-
kunft; identisch damit scheint der große hirehenkaeten zu sein; neben dem
es aber noch einen Meinen kirchetäBCUien (1589, März 30) gibt Ein
Leipziger Schöppenspruch von 155 1 setzt die Länge der Meile fest Für
die Wertrelation der Münzen ist die Urkunde vom 11. November 1564
wichtig. Der Vergleich zwischen Kurfürst Johann Sigismund und der Cott-
buser Ritterschaft vom 12. Juni 161 1 sieht unter anderem auch vor, dafi
eine fernere Auskaufung der Bauern nicht stattfinden solL Neben der (1579,
März 23) genannten „wendischen** Kirche wird eine andere (1628, Januar
15 und öfter) als die „deutsche** bezeichnet. Vom Verfiedl des Gewerks
der Leineweber berichtet die Urkunde vom 17. November 1638. Durch
den Rezeß vom 30. Oktober 1685 werden die Zunftprivilegien durch-
brochen.
Diese Einzelheiten sollen kurz darüber belehren, daß auch die allgemeine
Forschung manches aus solchem örtlichen Quellenstoflfe lernen kann und
nicht achtlos daran vorübergehen darf. Andrerseits läßt sich aber auch bei
dieser für den Verfasser gewiß höchst mühseligen Arbeit die Beobachtung
machen, daß ohne Mehraufwand an Zeit sehr leicht eine noch größere sach-
liche Ausbeute zu erzielen gewesen wäre, wenn der Bearbeiter die Bedeutung
jedes Quellenbelegs für die Geschichte der Zustände auf Grund allgemeiner
Quellenkenntnis und Vertrautheit mit den Aufgaben der Forschung voll er-
kannt hätte.
KoiIlIlllssioiL6Il« — Zu den älteren Historischen Kommissionen
ist, wie schon oben S. 26 kurz berichtet wurde, neuerdings eine solche für
das Grofsherzogtum Hessen getreten, die am 11. Mai 1908 unter dem
Vorsitze des Staatsministers Braun ihre erste Versammlung abgehalten hat.
Der Staat, der auch den Historischen Verem mit 1000 Mark jährlich unter-
stützt, hat der Kommission eine jährliche Beisteuer von 2000 Mark bewilligt,
so daß die Arbeiten sofort in Angriff genommen werden können. Auf An-
trag von Prof. Behaghel (Gießen) wurde der Arbeitsplan festgestellt. Es
handelt sich zunächst erstens um die Herausgabe von Quellen, zweitens
um die Bearbeitung von Nachschlagewerken und Darstellungen und
drittens um die Veröffentlichung historischer Karten. EHe Herausgabe des
Codex traditionum Laureshamensis übernehmen Archivdirektor Freiherr
Schenk zu Schweinsberg und Staatsarchivar Dieterich (Darmstadt),
die des Codex diphmaticus Mognetinus Prof. Haller (Gießen). Die iVoto-
i) Zasammengestellt von Käser in dieser Zeitschrift 4. Bd., S. 30.
— 316 —
koUe des MainMer Damkapitels bis in die zweite Hälfte des XVU. Jahr-
hunderts wird Lic. Hermann (Darmstadt), die Statuten der Landesuni-
versität Gießen Oberlehrer Becker (Darmstadt) herausgeben. Oberbiblio-
thekar Voltz (Darmstadt) bearbeitet eine Hessische Bibliographie,. Für die
Herstellung einer Hessischen Biographie wurde Bibliotheksdirektor Haupt
(Giefien) als Leiter gewonnen. Für jede dieser geplanten Veröffentlichungen
wurde ein Ausschuß gebildet und aus dessen Mitte ein Leiter bestellt. Staats-
archivar Dieterich ist sachverständiger Beirat der Geschäftsleitung.
£ine Reihe anderer Arbeiten wurden wenigstens besprochen, imd zwar
wurden einzelne Mitglieder der Kommission beauftragt, bei der nächsten
Versammlung Vorberichte zu erstatten über die Herausgabe von Hessischen
Weistümem, der Briefe tmd Akten Ludewigs I. (i 790 — 1830), eines Ortsnamen-
wörterbuchs und einer Hassia saera sowie über die Bearbeitung von Karten.
Am 14. Dezember 1907 fand in Leipzig die zwölfte Jahresversammlung
der Königlich Sächsischen Kommission für Geschichte') statt.
Von den Veröffentlichungen der Kommission sind seit Erstattung des letzten
Berichts erschienen: Wilhelm Düichs Federseichnungen kursächsischer und
meiflmischer Ortschaften aus den Jahren 1626 — 1629, herausgegeben von
Paul Emil Richter imd Christian Krollmann (3 Bände, Dresden, C. C.
Meinhold & Söhne 1907. Mark 28.00).
Fast vollendet liegt im Drucke der von Regierungsrat Lippe rt (Dresden)
bearbeitete Briefwechsel der Eiurflirstin Maria Antonia mit der Kaiserin
Maria Theresia vor. Im Manuskript abgeschlossen ist die von Prof. Wuttke
und Bibliotheksdirektor Er misch (Dresden) vorbereitete Ausgabe der In-
struktion eines Vorwerksverwalters von 1570, die das erste
Lehrbuch der Landwirtschaft in deutscher Sprache auf Grund heimischer
Erfahrungen darstellt. Die übrigen Arbeiten sind sämtlich rüstig fortgeschritten.
Neu wurden unter die geplanten Veröffentlichungen aufgenommen : die Heraus-
gabe des ftir die historische Landeskunde, für Verfassungs-, Rechts-, und
Wirtschafbgeschichte sowie die Adelsgeschichte überaus wichtigen Registers
der Markgrafen von Meißen vom Jahre 1378, dessen Bearbeitung Archivrat
Beschorner (Dresden) übernommen hat, femer die Prof. G. Müller
(Leipzig) übertragene Bearbeitung der Visitationsakten aus der Reformations-
zeit Auch wurde der Plan einer Sammltmg der sächsischen Dorford-
nungen ins Auge gefaßt, sowie die Herausgabe von Neujahrsblättern
mit kurzen, für weitere Kreise bestimmten Darstellungen aus der sächsischen
Geschichte. Von der Frege-Weltzin-Stifbmg und der durch sie ermöglichten
Ausschreibung einer Preisarbeit war schon oben S. 247 — 248 die Rede.
Die Reproduktion der sächsischen Flur karten ist vollendet, von der
Grundkarte fehlt nur noch die Sektion Finsterwalde-Großenhain, die von
der Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt bearbeitet wird. Die Samm-
lung der Flurnamen hat erfreuliche Fortschritte gemacht, ebenso die Arbeit
am historischen Ortsverzeichnis imd an der Bibliographie der
sächsischen Geschichte.
i) Vgl oben S. 22—33.
— 316 —
EHe Kommission zur Herausgabe lothringischer Geschichts-
quell en^) tagte am 12. Oktober 1907 in Metz unter dem Vorsitze des
Bezirkspräsidenten Grafen von Zeppelin-Aschhausen. Dem von Archiv-
direktor Wolfram erstatteten Bericht über den Fortgang der Arbeiten ist
folgendes zu entnehmen. Als Band 4 der Qudkn Mur Mkringiachen Ge-
schickte ist die Chronik des Jacques d'Esch (Jaique Dex) über die Kaiser
und Könige aus dem Luxemburgischen Hause, herausgegeben von Wolf-
ram (Metz, G. Scriba 1906) erschienen, und vier andere Chroniken
werden für die Herausgabe vorbereitet. Die von Prof. Wichmann be-
sorgte Bearbeitung der Metzer Schreinsrollen liegt druckfertig vor, imd
zwar aufier dem Textre sechs Register, die den Inhalt erschließen. Eanleitung
und Kartenwerk werden während des Druckes fertiggestellt Als Probe der
beizugebenden Karten lag eine Karte vor, die auf Grund der Rollen graphisch
den Besitzstand der Metzer Bürgerschaft in Metz und weiterer Umgebung
(in roter Farbe) imd die Herkunft der Metzer Bürger (durch Bezeichnung
der betr. Geburtsorte mit schwarzer Farbe) darstellt. Femer soll eine Karte
von Metz und Umgebung unter Zugrundelegung des heutigen Bebauungs-
zustandes mit Eintragtmgen der alten Orts- und Straßenbezeichnungen der
Rollen versehen werden. Referent schlägt vor, die Rollen nicht als Schreins-,
sondern richtiger tmd treffender als Bannrollen zu bezeichnen, da sie
von den Kölner Schreinsrollen inhaltlich wesentlich abweichen.
£ine Ergänzung zu dieser eigenartigen Veröffentlichung bildet die der
Metzer Amansur künden des XIII. Jahrhunderts. Bibliothekar Bonnardot
(Verdun) hat vor 30 Jahren schon deren Sammlung begonnen, und Proben
davon wurden vorgelegt. Damach bat Bonnardot bisher in erster Linie als
Linguist gesanmielt imd zwar nur die altfranzösischen Urkunden, wird aber
nunmehr das Werk nach der historischen Seite durch Hinzufügung der bis-
her übergangenen lateinischen Urkunden vervollständigen.
Der Druck des WMerbuchs der deHi8ch''lothHngi8chen Mvndmrten, be-
arbeitet von Prof. FoUmann (Metz), kann beginnen. Als Ergänzung dazu
wurde beschlossen, auch ein Wörterbuch des Patois messin durch Prof.
Z^liqzon (Metz) bearbeiten zu lassen. Der 3. Band der Vaükamsi^ien
Urkunden und Regesten eur Geschichte Lothringens, gesammelt von Sauer-
land, kann voraussichtlich, da bis jetzt 600 Nummem vorlagen, und der
Gelehrte etwa 200 weitere Urkunden bis Juni 1908 in Aussicht stellte, im
nächsten Jahre veröffentlicht werden. Dieser Band würde bis 14 10 reichen.
Auch mehrere neue Veröffentlichungen wurden beschlossen, so vor
allem die der Cahiers de doUances, d. h. der Beschwerdeschriften, welche
1789 von jeder einzelnen Ortschaft, jedem Baillage tmd jedem Stande
an die Nationalversammlung eingereicht wurden. Die Bearbeitung dieser
Cahiers von Lothringen nach dem Muster der gleichen französischen Publi-
kation ist von Abb^ Lesprand und Abb^ Dorveaux im Manuskript
bis zur Vollendung des 3. Bandes gefördert worden. Da vom Bezirkstag
von Lothringen eine Subvention in dankenswerter Weise zur Verftigung ge-
stellt wurde, ist der Dmck bereits in Angriff genommen. Femer bereitet
Prof. Grimme (Metz) die Herausgabe der Protokolle des MeUser Dom-
i) Vgl. darüber 7. Bd., S, 225 — 226.
— 317 —
kapitels vor, während fUr die von Paulus begonnenen Begesten der Metzer
Bischöfe bald ein geeigneter Fortsetzer gefunden sein wird.
An Stelle des ausgeschiedenen Abb^ Paulus wurde Professor Bour
(Metz) zum Mitglied der Kommission gewählt.
In Wien tagte am 31. Oktober 1907 unter dem Vorsitze Sr. Durch-
laucht des Prinzen Franz von und zu Liechtenstein die Kommission für
neuere Geschichte Österreichs'). An Stelle des durch den Tod
ausgeschiedenen Mitgliedes der Kommission Hans von Zwiedineck-Südenhorst
wurde Archivdirektor Heinrich Kretschma]yr in die Kommission berufen.
Im Druck erschienen ist das von Thomas Fellner hinterlassene Werk Die
österreichische ZenträlverwaUung, I. Abteilung: fnm Maximilian L bis ssur
Vereinigung der österreichischen und höhmischen Hofkanzlei (1749), das
Kretschmayr bearbeitet und vollendet hat; einen Band fUUt die Dar-
stellung und zwei die Akten (Wien, Holzhausen 1907). Für die Abteilung
Staatsverträge arbeitet Pribram am zweiten Bande der österreichisch-
englischen (seit 1749), Ritter v. Srbik an den österreichisch-niederländischen,
Roderich Gooß an den österreichisch-siebenbürgischen Konventionen, Sek-
tionsrat Schlitter an den österreichisch-französischen Verträgen; leider
mußte letzterer anderer Arbeiten wegen vorläufig seme Tätigkeit einschränken.
Der von Ludwig Bittner hergestellte zweite Band des Chronologischen Ver^
zeichnisses der österreichischen Staatsverträge (bis 1847) ^^^ druckfertig
vor. Für die Herausgabe der Briefe Ferdinands I. ist Privatdozent Wilhelm
Bauer tätig und hat das Material für einen ersten bis 1526 reichenden
Band gesammelt, während Karl GoU die Abschrift der Briefe Marias an
Ferdinand besorgt. Viktor Bibl bearbeitet die Korrespondenz Maximilians U.
und hat zu diesem Zwecke die Archive zu Florenz, Modena, Turin, Genua
und Mantua durchforscht. — Ein zweites Heft der ÄrchivaUen zur neueren
Geschichte Österreichs ist in Vorbereitung; für die beiden nächsten Hefte
(2. und 3.) ist die Veröffentlichung weiterer Berichte über böhmische und
mährische Privatarchive in Aussicht genommen; hiermit dürfte der erste Band
abgeschlossen und dann zu der Publikation der nieder- und oberöstereichischen
Archivberichte geschritten werden.
Der dritte Jahresbericht der Gesellschaft für fränkische Ge-
schichte'), das Jahr 1907 umfiässend, erzählt von deren weiterer günstigen
Entwicklung: Die Zahl der Stifter ist von 18 auf 19, die der Patrone von
96 auf 103 gestiegen. Den Einnahmen von 19800 Mark stand eine Aus-
gabe von 12640 Mark gegenüber; das Stammvermögen beziffert sich auf
23 500 Mark.
Als erste Veröffentlichung (Leipzig, Quelle & Meyer 1907) ist Die Chronik
des Bamberger Immunitätenstreites 1430 — 1435 mit einem ürkundenanhang,
nach einem Manuskript von Th. Knochenhauer neu bearbeitet und heraus-
i) Vgl. diese Zeitschrift 8. Bd., S. 324.
2) Vgl. diese Zeitschrift 8. Bd., S. 324—325.
— 318 —
gegeben von Anton Chroust, erschienen. Als drittes Neujahrsblatt (für
1908) erschien Die Nürnberger Malerakademie und Zeichenschde, im Zu-
sammenhang mit dem KuneÜeben der Beichastadt von der Mitte des
XVII. Jahrhunderts bis 1821 nach literarischen und archivalischen Quälen
dargestellt von Kreisarchivar Georg Schrotte r. Rüstig gearbeitet wird an
der Bibliographie der fränkischen Geschichte durch mehrere Mitarbeiter unter
Leitung von Prof. Henner, während die durch den Weggang Festers ver-
waiste Bearbeitung der Akten des fränkischen Kreises von Fritz Härtung
for^esetzt wird; der erste Band wird die Zeit 1521 — 1559 umfassen. Die
Matrikehi der Universitäten Altdorf imd Würzburg, namentlich die der ersteren,
sind in ihrer Bearbeitung schon weit fortgeschritten. Die Verzeichmmg der
in den Archiven zu findenden Weistümer und Dorfordnungen nimmt ihren
Fortgang, aber, um auch bald zu einer Herausgabe zu gelangen, ist die An-
stellung eines besonderen Arbeiters unter Leitung von Prof. von Eheberg
und Prof. Steinmeyer beschlossen worden. Die Ausgabe des Urkunden^
buche des Benediktinerklosters 8t. Stephan in Würjsburg bereitet Franz Josef
Bendel vor; zwei Bände werden dafür nötig sein, von denen der erste
(bis 1300) Urkundentexte, der zweite (bis 1500) vornehmlich Regesten ent-
halten wird. Die Inventarisienmg der evangelischen Pfarrarchive durch Prof.
Kolde und Pfarrer Schornbaum (Alfeld bei Hersbruck) ist soweit ge-
fördert worden, daß die Dekanate Roth, Hersbruck, Schwabach und Rothen-
burg nahezu erledigt sind. Auch den Gemeindearchiven wird bei der Be-
reisung der einzelnen Orte jetzt Beachtung geschenkt Erfreulicherweise ist
jetzt auch in den Archiven der katholischen Pfarreien die Repertorisierung
durch Pfarrer Dr. Amrhein (Efifeld bei Giebelstadt in Unterfranken) m An-
griff genonmien worden, und zwar wurde in den Dekanaten Ochsenfurt,
Röttingen und Bütthard begonnen. Voraussichtlich werden vom nächsten
Jahre an die Ergebnisse der Repertorisierungsarbeiten im Anschluß an die
Jahresberichte veröffentlicht.
Die Gesellschaft für rheimsche Geschichtskunde ^) hielt ihre
27. Jahresversammlung am 7. März 1908 in Köln ab. Aus dem bei dieser
Gelegenheit erstatteten Berichte ist das folgende zu entnehmen. Im letzten
Jahre wurden veröffentlicht: Landtagsakten von JOtich-Berg, herausgegeben
von Georg von Below. Zweiter Band: 1563 — 1589 (Düsseldorf 1907);
Urkunden und Begesten Mur Geschichte der Bheinlande €MS dem Vatikanischen
Archiv, gesanmielt und bearbeitet von H. V. Sau er 1 and. Vierter Band:
^353 — 1362 (Bonn 1907); Die Kölner Zunfturkunden nebst anderen
Kölner Gewerbeurkunden bis Bum Jahre 1500, bearbeitet von Heinrich
von Lösch. Zwei Bände (Bonn 1907). Die begonnenen Arbeiten sind
sämtlich fortgeschritten. An Loerschs Stelle hat die Leitung der Weistümer-
herausgabe Prof. Stutz (Bonn) übernommen, und Referendar Edwin Mayer
(Bonn) hat mit der Bearbeitung der Kurkölnischen Weistümer begonnen.
Am dritten Bande der Begesten der Kölner Ergbischöfe (1204 — 1304) wird
gegenwärtig gedruckt. Vom Geschichtlichen Atlas der Bheinprovine hat
i) Vgl. diese Zeitschrift 8. Bd., S. 325—326.
— 319 —
Fabricius eme Karte der kirchlichen Einteilung um 1300 hergestellt, und
zwar im Maßstabe i : 500000; dieser genügt, da die Pfarrgrenzen wegbleiben
und nur die Namen der Pfarr- tmd Kapellenorte ebgetragen werden. Der
Teil des dazugehörigen Textes, der der Kölnischen Kirehenprovinz gewidmet
ist, befindet sich im Druck. Quellen zur städtischen Rechts- und Wirt-
schaftsgeschichte werden für Neufi, Deutz, Trier, Boppard und Oberwesel
bearbeitet. Neu beschlossen wurde die Herausgabe der Statuten des Kölner
DomkapUela vom XIU. bis XVIII. Jahrhundert, die Gerhard K allen unter
Leitung von Prof. Stutz besorgt. Gemeinsam mit der Kgl. Akademie der
Wissenschaften in Berlin gibt die Gesellschaft ein Wörterbuch der rheinischen
Mundarten heraus; Prof. Franck (Bonn) leitet die Arbeit, und der rheinische
Provinzialverband gibt eine besondere finanzielle Unterstützung dazu. — EHe
Inventarisation der kleinen Archive ist in den Kreisen Montjoie, Eupen tmd
Malmedy ziemlich zu Ende geführt worden. Die Inventarisienmg des Neu-
wieder Archivs ist vollendet, und der Druck des Inventars mit ausführ-
lichem Namenregister hat begonnen.
Stifter zählt die Gesellschaft gegenwärtig 9, von denen 3 verstorben
sind, Patrone 136, Mitglieder 201. Die Gesamteinnahme des Jahres 1907
betrug 33828 Mark, die Gesamtausgabe 28000 Mark; das Vermögen be-
ziffert sich einschliefilich der Mevissen-Stiftung (46 866 Mark) auf 1 20 1 93 Mark.
Zeitschriften. — Das bereits im 8. Bande, S. 143—144, als in
Vorbereitung begriffen erwähnte General-Register zu den ersten 27 Bänden
(1880 — 1906) der Studien und Mifteüungen aus dem Benediktiner' und
Zisterßsienserorden ist nunmehr erschienen, und da diese Veröffentlichung
nicht im Buchhandel zu haben ist, sondern nur direkt von der Administration
der Studien usw. in Stift Raigem bei Brunn zu beziehen ist, so sei noch-
mals darauf aufmerksam gemacht. Der Band (210 Seiten) zerflLllt in zwei
Teile: ein Autoren- und ein Sachregister. Das erstere verzeichnet jedoch
nicht nur die Verfasser der Aufsätze, sondern auch die der angezeigten
Bücher, während in dem letzteren nicht nur die Namen der behandelten
Klöster, Personen und Gegenstände zu finden sind, sondern auch der Inhalt
der rezensierten Bücher an den betreffenden Stellen Erwähnung gefunden hat.
So erhält dieses Register einen Wert als bibliographisches Nachschlagebuch
auch für denjenigen, der die Reihe der Studien nicht besitzt und sollte in
keiner wissenschaftlichen Bibliothek fehlen.
Eingeganiceiie Bfleher.
Bierbach, Arthur: Die Geschichte der Halleschen Zeitung, Landeszeitung
für die Provinz Sachsen, für Anhalt und Thüringen. Eine Denkschrift
aus Anlaß des 200jährigen Bestehens der Zeitung am 25. Juni 1908.
Halle a. S., Otto Thiele 1908. 168 S. 8«.
Braun, LUy: Im Schatten der Titanen, ein Erinnerungsbuch an Baronin
Jenny von Gustedt. Braunschweig, George Westermann [1908]. 412 S.
8». Geb. M. 6,50.
— 820 —
Fehr, Hans: Der Zweikampf. Antrittsrede. Berlin, Karl Curtius 1908.
64 S. 8*. M. 2,00.
Fournier, August: Historische Studien und Skizzen. Zweite Reihe. Wien,
Wilhehn Braumüller 1908. 361 S. 8^ M. 6,00.
Führer durch die Staats-Sanmilung vaterländischer Altertümer in Stuttgart,
herausgegeben von der Direktion. Mit einem Grundriß und 48 Tafeln
in Ton- und Strichätzung. Efilingen, Paul Neff (Max Schreiber) 1908.
136 S. i6^ M. 1,20.
Hashagen, Justus: Der Menschenfreund des Freiherm Friedrich von der
Trenck, ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung in Aachen [= Zeit-
schrift des Aachener Geschichtsvereins, 29. Band (Aachen 1907),
S. 49—67]-
Hennig, Bruno: Die Kirchenpolitik der älteren Hohenzollem in der Mark
Brandenburg und die päpstlichen Privilegien des Jahres 1447 [= Ver-
öffentlichungen des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg].
Leipzig, Duncker & Humblot 1906. 258 S. 8^ M. 7,00.
Kiekebusch, Albert: Der Einfluß der römischen Kultur auf cÜe germanische
im Spiegel der Hügelgräber des Niederrheins. Nebst einem Anhang:
Die absolute Chronologie der Augenfibel. Stuttgart, Strecker & Schröder
1908. 92 S. 8^ M. 3,60.
Kluge, Friedrich: Bunte Blätter. Kulturgeschichtliche Vorträge und Auf-
sätze. Freiburg i. B., J. Bielefeld 1908. 213 S. 8*. M. 6,00.
Liermann, Otto: Das Lyceum Carolinum, ein Beitrag zur Geschichte des
Bildungswesens im Großherzogtum Frankfurt [= Beilage zum Programm
des Wöhler-Realgymnasiums in Frankfurt a. M. Ostern 1908]. 70 S. 8^
Loewe, Victor: Bibliographie der Hannoverschen und Braunschweigischen
Geschichte. Posen, Joseph Jolowicz 1908. 450 S. 8^. M. 15,00.
Meyer, Christian: Altreicbsstädtisclie Kulturstudien. München, Max Steine-
bach 1906. 257 S. 8®.
Mitteilungen über römische Funde in Heddemheim IV, herausgegeben
von dem Vereine für Geschichte und Altertumskunde zu Frankfurt a. M.
Frankfurt a. M., K. Th. Völcker 1907. 170 S. 4^^ mit 25 Tafeln.
Müller, Anton: Das neue Kreisarchiv der Pfalz in Speier [= Sonder-
abdruck aus der Ärchivalischen Zeitschrift N. F. 12. Bd. (1905)].
20 S. 8^.
Berichtigungen.
Nachträglich seien folgende Dnickfehler berichtigt:
S. 226 Z. 15 V. o. lies koraztns statt korasinus,
S. 226 Z. 16 V. u. lies macles statt meches.
S. 228 Z. 7 V. u. lies ^crevüses statt ecreoüses.
S. 229 Z. 9 V. o. lies ,, Schutz fUr den Oberschenkel^^ statt ,, Beinschatz ^^
S. 273 Z. 26 T. o. lies „Adelsverhältnisse'^ statt „Alteraverhältnisse*'.
Herautfeber \ind yerantwordicher Redakteur: Dr. Armin Tille in Dresden.
Verlag und Druck von Friedrich Andreas PerthM, Akdensesellschaft, Gotha.
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Stanford, California
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