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Full text of "Deutsche Philosophen: Studien aus dem wissenschaftlichen Leben der Gegenwart"

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DEUTSCHE PHILOSOPHEI 



STUDIEN 



WISSEHSCHAFTLICHEK LESEN DER GEGENWART 



Dr. MORITZ BRASCH. 



LEIPZIG 

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1891- 



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DEUTSCHE PHILOSOPHEN 



STUDIEN 



AUS DEM 



WISSENSCHAFTLICHEN LEBEN DER GEGENWART 



VON 



Dr. MORITZ BRASCH. 



LEIPZIG 

VERLAG VON ALBERT HEITZ 
1897. 




DEUTSCHE PHILOSOPHEN 



STUDIEN 



AUS DEM 



WISSENSCHAFTLICHEN LEBEN DER GEGENWART 



VON 



Dr. MORITZ BRASCH. 



LEIPZIG 

VERLAG VON ALBERT HEITZ 
1897. 



Inhalt 



QuBtav Theodor Feohner, der Begründer der Psychophysik . . I 

Morits Wilh« Drobisoh und die mathematische Psychologie ... 14 

Wilhelm Wnndt und seine Stellmig snr Philosophie der Gegenwart 51 

Heiniloh Ahrens als Rechtsphilosoph und Ethiker 77 

Gottfiried Btallbanm als Flatoniker and Schalmann 100 

Budolf Beydel and der spekulative Theismus 109 

Wilhelm Boeoher and die sozialwissenschaftlichen Strömungen der 

Gegenwart 126 

Carl Biedermann als Historiker und Publizist 195 

Ueberwes- Heime. Eine Studie zur Geschichte der philosophischen 

Historiographie 221 

Iiudwig Strümpell als Psychologe und Pädagoge 270 

Conrad Hermann als Ästhetiker, Sprach- und Geschichtsphilosoph . 295 

Hermann Wolff und der philosophische Empirismus 313 

Paul Bobert Sohuster. Eine Leipziger UniversitStserinnerung . . 352 



Gustav Theodor Fechner, 

der Begründer der Psychophysik. 

Eine philosophische Charakteristik. 

Der 21. November des Jahres 1887 sah auf dem Johannis- 
kirchhof zu Leipzig eine gar ernste und bedeutsame Trauerversamm- 
lung das offene Grab eines Mannes umstehen, welcher der Universi- 
tät, an der er über ein halbes Jahrhundert als einer ihrer ersten 
Lehrer wirkte, einen ganz besonderen Glanz verlieh. Einer der 
genialsten und vielseitigsten Forscher und Denker unserer Zeit, ein 
Gelehrter von weit über Deutschlands Grenzen hinausgehendem, 
von europäischem Rufe, wurzelte Fechner doch so ganz und gar 
seinem seelischen Wesen nach in dem heimatlichen Boden, dass, 
wer das Lebensbild desselben entwerfen wollte, allen menschlich 
liebenswürdigen und feinen Zügen seiner Persönlichkeit nachgehen 
müsste, welche an dem grossen Gelehrten so ül)eraus fesselnd waren. 
Meine Aufgabe soll hier jedoch eine andere sein: ich will die 
philosophische Bedeutung Fechners nach ihren wesentlichen Seiten 
hin würdigen, soweit eine solche Charakteristik, allerdings ohne 
Anspruch auf eine Erschöpfung des Gegenstandes, innerhalb eines 
verhältnismässig nur engen Rahmens möglich erscheint. 

Es war vor mehr als einem Vierteljahrhundert, als Gustav 

Theodor Fechner die wissenschaftliche Welt durch ein eigenartiges 

Werk in Bewegung setzte: „Elemente der Psychophysik" (zwei 

Bände, Leipzig 1860). Die einen hielten dasselbe für den Anfang 

einer wahrhaft wissenschaftlichen Neubegründung der Psychologie, 

insbesondere mit Bezug auf die Beziehungen von Geist und Körper, 

die anderen als eine wenn auch von Scharfsinn und Ausdauer 

zeugende Verirrung, während andere wiederum wohl den in jenem 

1 



2 Gustav Theodor Fechner. 

Werke zum Ausdruck gekommenen Gedanken anerkannten, dagegen 
in Bezug auf die Grenzen, innerhalb deren derselbe seine Gültig- 
keit erlangen würde, abweichender Meinung waren. 

Was heisst „Psych o physik" ? Fechner definiert sie als eine 
,,exakte Lehre von den funktionellen oder Abhängigkeitsbeziehungen 
zwischen Körper und Seele, allgemeiner, zwischen körperlicher und 
geistiger, physischer und psychischer Welt". Diese Definition ist 
offenbar zu allgemein gehalten, da Fechners psychophysische Unter- 
suchungen in dem genannten Werke nur auf die Erscheinungen 
der physischen Welt einerseits und der seelischen Welt andererseits 
anwendbar sind. Aber im Grunde genommen ist es nur die 
Wechselwirkung zwischen Körper und Seele, die hier ins Auge ge- 
fasst wird \ und zwar wiederum nur ein bestimmter Punkt in dieser 
Wechselwirkung, nämlich die Abhängigkeit der Empfindung vom 
Reize, und zwar nach Stärke und Ausdehnung, der sie hervorruft. 
Fechner hat nun nach dem Vorgange des Physiologen Ernst Heinrich 
Weber durch eine grosse Anzahl von Beobachtungen festgestellt, 
dass die Modifikation der Empfindung der relativen Veränderung 
des Reizes proportional sei, und dass dieses Gesetz, welches Weber 
in Bezug auf die Druckempfindung und Tonhöhe gefunden hatte 
(Rud. Wagners physiol. Handwörterbuch, Bd. III, 2. Abteil., Artikel 
Tastsinn und Gemeingefühl) und welches dieser in dem Satze for- 
mulierte, dass gleiche relative Reizzuwüchse gleichen Empfindungs- 
zuwüchsen und umgekehrt entsprechen, eine bei weitem allgemeinere 
Bedeutung hätte, und zwar erweitert es Fechner dahin, dass kon- 
stante Unterschiede der Empfindungsstärken den relativen Unter- 
schieden der Reizstürken meist entsprechen. 

Aber wie entsprechen sich Reiz und Empfindung? — Dass im 
allgemeinen mit dem Wachsen oder der Abnahme des ersteren auch 
die letztere wächst oder abnimmt, war schon vor Gustav Fechner 
eine längst bekannte oder eigentlich selbstverständliche Thatsache. 
Das Epochemachende der Fechner'schen Untersuchungen bestand 
nur darin, dass sie in diesem Abhängigkeitsverhältnis der einen 
Seite von der anderen ein Gesetz konstatierten, durch welches es 
möglich wurde, nun auch die Ab- und Zunahme zu messen und 
der exakten Rechnung zu unterwerfen. 



Gustav Theodor Fechner. 3 

„Aber wie kann eine Empfindungsintensität gemessen werden?" 
fragt mit Recht der scharfsinnige R i b o t *), einer von den wenigen 
Franzosen, die sich mit den neueren deutschen Forschungen im 
Gebiete der Psychologie ernstlich beschäftigt haben „Und welches 
ist der Massstab, der hierbei zur Anwendung kommt?" Seine Ant- 
wort ist ebenso scharfsinnig als klar: „Wir kennen die Abhängig- 
keit der Vorgänge im Nerven von der äusseren Bewegung des 
Reizes, aber auch die Abhängigkeit der Intensität des Nerven- 
prozesses von der Intensität der Reize. Variieren wir also den 
Reiz, so tritt auch, und zwar durch Vermittelung der Nerven, eine 
Variation der Empfindung ein. Hierbei verhalten sich also Em* 
pfindung, Nerven-Vorgänge und Reiz wie Wirkung, nächste Ursache 
und fernere Ursache. Nun aber können wir jene Ursache der minu- 
tiösen Messimg unterwerfen, folglich muss auch die Empfindung 
messbar sein. Die Exaktheit dieser Messungen gewinnen wir dann, 
wenn wir die Intensität der Empfindungen quantitativ, also als 
Grössen fassen. Waren ja doch unsere Vorstellungen von den Zeit- 
unterschieden (früher, später, jetzt) nur sehr allgemeiner Art, und 
wie fein sind nunmehr unsere Zeitmessungen geworden! Aber die 
Zeit ist etwas Ausgedehntes und die Empfindung etwas Psychisches; 
daher muss auch die Art der Messung der psychischen Grössen 
eine verschiedene sein von der Art der Messung der ausgedehnten 
Grössen. Bei der Empfindung wird der Reiz, d. h. die Ursache 
zur Messung der Wirkung, bei den ausgedehnten Grössen hingegen 
umgekehrt die Wirkung zur Messung der Ursache, d. h. wir messen 
die Bewegung im Räume an der Zeit und die Bewegung in der 
Zeit am Räume." 

Aber aus der Natur des Reizes und der von ihm abhängigen 
Empfindung haben die Untersuchungen Fechners ergeben, dass ein 
Reiz, damit er empfunden werde, um so schwächer sein muss, je 
schwächer der Reiz ist, dem er zugefügt wird, zu welchem er kommt, 
und dass die Intensität der Empfindung nicht proportional der In- 
tensität des sie hervorrufenden Reizes wächst, sondern langsamer 
als dieser. Es ist also die Frage, in welchem Verhältnisse mit der 

*) In seinem gut geschriebenen Buche ,,La psychologie expörimentale en 
Allcmagne" (2. Aufl., Paris 1884). 

1* 



4 Gustav Theodor Fechner. 

Vergrösserung des Reizes steht der Zuwachs der Empfindungen ? Hier 
kann nur die Beobachtung und das Experiment entscheiden. Und in 
der That hat Fechner durch eine grosse Zahl solcher Beobachtungen 
das in dieser Frage sich ausdrückende Gesetz zu eruieren gesucht. 
Darf man bei Fechners verwickelten und scharfsinnigen Unter- 
suchungen, auf die ich hier nicht näher eingehen kann, von einem 
Resultat sprechen, so sind es wesentlich zwei Gesetze, die er be- 
stätigen zu können glaubt: i. das Webersche, wonach der Em- 
pfindungsunterschied sich gleich bleibt, und der relative Reizunter- 
schied sich gleich bleibt, und 2. das Fechnersche, wonach 
gleiche Empfindungsinkremente den Reizinkrementen proportional 
gehen. Hierauf gestützt folgert Fechner weiter (Elem. d. Psycho- 
physik n. S. 7 fg.): „Nehmen wir an, wie es bei den Versuchen 
zur Bewährung des Weberschen Gesetzes im allgemeinen der Fall, 
dass der Unterschied zweier Reize, oder, was dasselbe sagt, der 
Zuwachs zum einen Reiz sehr klein im Verhältnis zu diesem sei. 
Der Reiz, zu welchem der Zuwachs erfolgt, heisst ß, der kleine Zu- 
wachs dßf wo man den Buchstaben d nicht als eine besondere 
Grösse, sondern bloss als Zeichen zu betrachten hat, dass d ß ein 
kleiner Zuwachs zu ß sei — schon jetzt kann man an das DifFerenzial- 

dß 
zeichen dabei denken — , so ist der relative Reizzuwachs -^-. Die 

P 

Empfindung anderseits, die von dem Reize ß abhängt, heisse y, der 

kleine Zuwachs von Empfindung, welche bei Wachstum des Reizes 
dß entsteht, heisse dy, wo d wieder nur als Zeichen kleineren Zu- 
wachses zu verstehen . . . Nach dem erfahrungsmässigen Weberschen 

da 
Gesetze bleibt dy konstant, wenn — ^ konstant bleibt, welche ab- 
solute Werte auch dß und ß annehmen; und nach dem a priori 
gültigen mathematischen Hilfsprinzip bleiben die Änderungen dy 
und dß einander proportional, solange sie sehr klein bleiben. Beide 
Verhältnisse lassen sich im Zusammenhange durch folgende Glei- 
chung ausdrücken: Kdß 

dy = -^, 

WO K eine (von den für y und ß zu wählenden Einheiten ab- 
hängige) Konstante ist. 



Gustav Theodor Fechner. 5 

Hieraus folgt durch Integration: 

y = ÄTlog- jS, 
was den Wert der Empfindung ausdrückt. 

Eis hat Fechners psychophysischem Gesetz natürlich nicht an 
Gegnern gefehlt, welche wie Helmholtz, Aubert, Delboeuf u. a. teils 
das Gesetz als solches zwar anerkannten, aber seine Grenzen ein- 
geschränkt wissen wollten, teils aber auch wie Brentano, Langer, 
Hering u. a. andere Mängel an ihm nachwiesen. Es hatte sich aus 
dieser Meinungsverschiedenheit eine lang andauernde Diskussion 
entwickelt, deren Resultate Fechner in seinen späteren Schriften 
„In Sachen der Psychophysik" (1877) und „Revision der Haupt- 
punkte der Psychophysik" (1882) zusammenfasste. Fechner fasst 
in der erstgenannten Schrift (S. 13 flf.) die Einwendungen seiner 
Gegner in folgende fünf Rubriken zusammen: 

1) Die Gesetze und Formeln der Psychophysik stimmen nicht 
mit den Thatsachen überein, sei es, dass sie unrichtig aus denselben 
abgeleitet sind, sei es, dass die Versuche viel mehr Abweichungen 
davon als Bestätigungen dafiir ergeben. Namentlich hat in dieser 
Beziehung das Webersche Gesetz Anfechtungen erfahren; fällt aber 
dieses Gesetz, so fallen auch die daraus abgeleiteten Gesetze. 

2) Insoweit sich noch von einer experi mentalen Bestätigung 
der betreffenden Gesetze, also für die äussere Psychophysik sprechen 
lässt, werden dieselben doch untriftig in die innere Psychophysik 
übertragen. 

3) Die Gesetze und Fonneln enthalten begriffliche und mathe- 
matische Untriftigkeiten. 

4) Eine klare Auffassung der Verhältnisse der Aussenwelt und 
vernünftige Teleologie vertragen sich nicht mit den Gesetzen. 

5) Hiemach müssen die von Fechner zum mathematischen Aus- 
druck der psychophysischen Gesetze aufgestellten Formeln entweder 
verlassen oder doch modifiziert werden, oder, falls sie beibehalten 
werden, müssen sie wesentlich anders gedeutet werden. 

Fechner hat versucht, alle Einwendungen der genannten Kri- 
tiker zu widerlegen, wobei ihm besonders die Verschiedenheit der 
Gesichtspunkte und der Argumente seiner Gegner zu statten kam. 
So konnte er denn, indem er das volle Vertrauen auf den Bestand 



6 Gustav Theodor Fechner. 

seiner psychophysischen Theorie ausspricht, mit einigem Rechte 
sagen: „Der babylonische Turm wurde nicht vollendet, weil die 
Werkleute sich nicht verständigen konnten, wie sie ihn bauen sollten ; 
mein psychophysisches Bauwerk dürfte bestehen bleiben, weil die 
Werkleute sich nicht werden verständigen können, wie sie es ein- 
reissen sollen." 

Dieses Vertrauen Fechners auf den wissenschaftlichen Fort- 
bestand der Psychophysik ist erklärlich und nicht unberechtigt. 
Und wenn auch — mit Rücksicht darauf, dass jetzt erst das Funda- 
ment für diese Wissenschaft gelegt ist — der Ausdruck „Bauwerk" 
kein ganz angemessener sein dürfte, so wird man nicht vergessen, 
dass sich hierin ein Vertrauen ebensowohl zu den gefundenen Re- 
sultaten, als noch mehr zu den künftigen Ergebnissen der experi- 
mentellen Methode in der Psychologie ausspricht. In dieser Be- 
ziehung erscheinen die Worte Wilhelm Wundts, der dasjenige, was 
von Fechner an einem Punkte der Psychologie versucht wurde, zu 
einer allgemeinen psychologischen Forschungsmethode erweitert hat, 
von um so grösserer Bedeutung: 

„Ich habe mich," sagt Wilhelm Wundt am Schlüsse seiner 
Abhandlung: „Die Messung psychophysischer Vorgänge" ,*) „darauf 
beschränkt, die Bedeutung der psychischen Messung an zwei Bei- 
spielen zu erläutern: an den Versuchen, ein Mass für die Stärke 
der Empfindungen zu gewinnen, und an den Beobachtungen über 
die Verhältnisse des zeitlichen Verlaufes unserer Vorstellungen. Das 
Gebiet der Messungen psychischer Vorgänge ist damit nur an 
einigen weit voneinander abliegenden Punkten berührt, zwischen 
denen sich ein reiches Feld von Untersuchungen erstreckt, in die 
nicht wieder die experimentelle Veränderung der Erscheinungen 
und die durch sie vermittelte quantitative Bestimmung derselben 
überall wirkungsvoll eingreift. Insbesondere verdankt hier die 
Psychologie alles, was sie über den Aufbau der einfachen Em- 
pfindungen zu zusammengesetzten Vorstellungen an sicheren Er- 
eignissen besitzt, dem Experiment und der Messung. An ihrer 
Hand hat sich aus der Physiologie der Sinnesorgane allmählich 
eine Physiologie der sinnlichen Wahrnehmungen entwickelt." 

*) Essays (Leipzig 1886) S. 156 ff. 



j 



Gustav Theodor Fechner. 7 

Man ^ürde Fechner als philosophischen Schriftsteller bei weitem 
unterschätzen, wollte man ihn nur vom Standpunkte seiner psycho- 
physischen Arbeiten beurteilen. Dieselben bilden zwar eine wich- 
tige, aber eben nur eine Seite seiner wissenschaftlichen und philo- 
sophischen Thätigkeit. Fechner hat das sechsundachtzigste Lebens- 
jahr erreicht (geb. zu Grosssährchen bei Muskau in der Ober- 
lausitz als Sohn des dortigen Geistlichen am 19. April 1^801). Er 
studierte zu Leipzig und habilitierte sich 1823 als Privatdocent der 
Medizin und der Naturwissenschaften, insbesondere der Physik und 
Chemie. Am 3. Oktober 1834 wurde er an Brandes' Stelle zum 
ordentlichen Professor der Physik ernannt. Im Jahre 1839 von 
einer schweren Kopf- und Augenkrankheit heimgesucht, musste er 
bis 1843 seiner akademischen Thätigkeit gänzlich entsagen. Nach 
seiner Wiederherstellung gab er die Professur der Physik auf (an 
seine Stelle trat nun Wilhelm Weber, später Wilhelm Hankel) und 
wandte sich hauptsächlich den philosophischen Wissenschaften zu, 
soweit sie mit der Naturforschung in Zusammenhang stehen That- 
sächlich las er auch in den folgenden Semestern über Naturphilo- 
sophie und Anthropologie ; dann aber dehnte er seine Vorlesungen 
über alle anderen Teile der Philosophie bis auf die Ethik und 
Religionsphilosophie aus. Fechner blickte auf eine mehr als fünf- 
undsechzigjährige schriftstellerische Thätigkeit herab. Seine ersten 
Schriften naturwissenschaftlich-humoristischen Inhalts erschienen schon 
im Anfang der zwanziger Jahre. Aber auch streng wissenschaftliche 
Werke, wie seine Bearbeitung von Biots Lehrbuch der Chemie, fallen 
in die Mitte der zwanziger Jahre, wie er auch seit dieser Zeit Mit- 
arbeiter an den hervorragendsten naturwissenschaftlichen Zeitschriften 
von Schweigger, PoggendorfF lu a. wurde. Von 1830 bis 1839 gab er 
das Pharmaceutische Centralblatt und seit 1853 das Centralblatt für 
Naturwissenschaften und Anthropologie, später eine Reihe von Reperto- 
rien für Physik, für unorganische und für organische Chemie u. s.w. heraus. 
• Mitten während seiner exakt wissenschaftlichen Arbeiten Hess 
er ein Buch erscheinen, welches ihn damals als halben Mystiker 
und Anhänger der Unsterblichkeitslehre zeigte: „Das Büchlein vom 
Leben nach dem Tode" (1836) Diese Schrift hat er vor fünfzig 
Jahren publiziert, sie ist jedoch später vielfach aufgelegt worden. 



8 Gustav Theodor Fechner. 

Zehn Jahre später veröffentlichte er eine ethisch-philosophische 
Arbeit: „Ueber das höchste Gut" (1846) und „Vier Paradoxa" (1846), 
und zwei Jahre später dasjenige Werk, welches zuerst die Auf- 
merksamkeit der gebildeten Welt auf den Leipziger Physiker lenkte: 
„Nanna oder über das Seelenleben der Pflanzen" (1848), drei Jahre 
darauf als Fortsetzung und weitere Ausführung: „Zendavesta oder 
über die Dinge des Himmels und des Jenseits" (drei Bde., 
Leipzig 185 1). 

Bis hierher reicht gewissermassen die mystisch-naturphiloso- 
phische Periode Fechners. Die Hauptwerke unseres Forschers 
aus seiner zweiten Lebensperiode sind ausser den bereits ge- 
nannten Schriften über Psychophysik folgende: „Ueber die physi- 
kalische und philosophische Atomenlehre" (1855, zweite Aufl. 1864), 
was als das eigentliche metaphysische Hauptwerk Fechners an- 
gesehen werden kann; ferner: „Zur experimentalen Ästhetik" (187 1), 
in welcher Schrift er in sehr origineller Weise die beobachtende 
und die physiologische Methode auf die Grundlehren der Ästhetik 
anzuwenden bemüht ist, und als weitere Ergänzung : „Vorschule der 
Ästhetik" (zwei Bde., 1876), eine höchst gehaltvolle und ideen- 
reiche Arbeit, „Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwickelungs- 
geschichte der Organismen" (1873), „Die Tagesansicht gegenüber 
der Nachtansicht'* (1879) und die schon im Jahre 1861 erschienene 
Schrift: „Ueber die Seelenfrage. Ein Gang durch die sichtbare 
Welt, um die unsichtbare zu finden." Wir betonen die letzt- 
genannte Schrift ganz besonders, weil sie am meisten geeignet ist, 
die gewöhnliche Annahme zu wiederlegen, dass zwischen den viel- 
fach symbolisierenden und phantasievollen Arbeiten seiner ersten 
Periode kein innerer Zusammenhang mit den Anschauungen der 
strengeren, auf induktiv-empirischen Bahnen sich bewegenden 
Schriften der späteren Zeit sei. Sie spiegelt Fechners Weltan- 
schauung in ihrer Totalität am besten wieder. In den „Ideen zur 
Schöpfungs- und Entwickelungsgeschichte" jedoch nimmt Fechner 
Stellung zu derjenigen naturwissenschaftlichen Frage , die vor fünf- 
undzwanzig Jahren noch das Hauptproblem und den Hauptpunkt der 
wissenschaftlichen Diskussion bildete: zum Darwinismus und zur 
Descendenztheorie. Das Buch zerfallt in zwölf Kapitel, in denen 




Gustav Theodor Fechncr. 9 

er noch einmal eine Zusammenfassung seiner in den früheren 
Schriften ausgeführten naturphilosophischen Prinzipien versucht. 
Dem Prinzip der Erhaltung der Kraft wird hier ein neues, teils 
empirisch und induktiv erforschtes, teils a priori deduziertes Gesetz 
zur Seite gestellt: „Das Prinzip der Tendenz zur Stabilität." Dieses 
Prinzip wird auf die ganze Stufenreihe der Wesen, vom Unorga- 
nischen zum Organischen bis zum Psychischen hinauf angewendet, 
ja sogar bis zum „1$ osmorganischen Einen" wird ihm eine religions- 
philosophische Deutung gegeben. 

Ausser den genannten Schriften hat der geistvolle Denker noch 
eine Anzahl Polemiken gegen Schieiden u. a. und unter dem Pseu- 
donym Dr. Mises eine Reihe humoristisch-satirischer Schriften (ge- 
sammelt Leipzig 1875) publiziert. 

Unzweifelhaft war Fechner eine der eigenartigsten und genial- 
sten philosophischen Erscheinungen unserer Zeit. Anfänglich An- 
hänger der Schellingschen Naturphilosophie, kehrte auch er ihr den 
Rücken, nachdem die exakte Forschung längst über sie zur Tages- 
ordnung übergegangen war. Aber obgleich er Lehrer der Physik 
war und ein Repertorium dieser Wissenschaft herausgab, das ihn 
nötigte, in Bezug auf alle Fortschritte in den verschiedensten Teilen 
derselben auf dem Laufenden zu bleiben, baute er sich doch in 
„Nanna" und „2^ndavesta" ein tiefsinniges und poetisches Natur- 
system aufl Aber wie plötzhch erwacht, wendet er seine ganze 
exakte Forscher- und Denkkraft den Fragen der Metaphysik und 
der Phychologie zu, sucht zwischen der letzteren und der Physio- 
logie eine Brücke zu schlagen und legt die ersten Grundlagen zur 
Psychophysik, an deren Prinzipien er trotz aller Anfechtungen bis 
zuletzt festhält Eine gleiche Schärfe und Exaktheit bewährte er, 
indem er ein Gebiet, welches bis jetzt entweder der Tummelplatz 
spekulativer Ideen oder das Feld der historischen Empirie war, die 
Schönheits- und Kunstiehre, der experimentellen Forschungsweise 
zu tmterwerfen sucht. Hierbei entging ihm keine wissenschaftliche 
Zeitfrage (Materialismus, Darwinismus u. s. w.), an deren Diskussion 
er sich nicht mit dem ganzen Gewicht seiner wissenschaftlichen 
und philosophischen Persönlichkeit beteiligte. 

Will man Fechners wissenschaftliche Individualität in ihrer 



10 Gustav Theodor Fechncr. 

ganzen Eigenart erfassen, so muss man die beiden Grundströmungen 
seines langen Lebens streng auseinander halten: die naturwissen- 
schaftliche und die philosophische; er war ein ebenso exakter 
Forscher als ein tiefsinniger Denker. Aber er ist in unserem Jahr- 
hundert nicht der Einzige, in welchem sich diese beiden Richtungen 
verschmolzen haben. Wir müssen also, um bis zum Kern seiner 
geistigen Eigenart vorzudringen, noch nach weiteren unterscheidenden 
Merkmalen suchen. Diese werden wir aber in der Art finden 
müssen, wie sich jene beiden Richtungen in seinem Geiste vereinigten. 
Fechner hat das ganze Gebiet der heutigen Naturforschung 
beherrscht. Er ist in seinen hierher gehörigen Arbeiten mit einer 
methodischen Strenge und wissenschaftlichen Umsicht verfahren, 
dass er seitens der exakten Forschung als einer ihrer anerkanntesten 
Vertreter gilt. Aber indem er bis zu den äussersten Grenzen und 
den letzten methodischen Fordenmgen der empirischen Wissenschaft 
ging, genügte er dieser wohl, nicht aber sich selbst und seinem 
wissenschaftlichen Triebe, der hier angelangt, über jene Grenze und 
Methode hinauswies ; so wird aus dem Beobachter und Experimentator 
ein Denker, aus dem Naturforscher ein Philosoph. Aber Fechner 
ist wiederum zu sehr wirklicher Forscher, der zu lange mit den Stoffen, 
Erscheinungen und Kräften der Natur gearbeitet, um die scharfe 
Art der Fragestellung nicht auf höhere Probleme zu übertragen. 
So wird er der Schöpfer der Psych ophysik und der experimentellen 
Ästhetik. Aber sonderbar l Diese Versuche, die Natur des Seeli- 
schen der naturwissenschaftlichen Behandlung zu unten^erfen, unter- 
nimmt er erst, nachdem er während der ersten Hälfte seines wissen- 
schaftlichen Lebens, noch halb im Banne jener Naturphilosophie, die 
im Anfange unseres Jahrhunderts so viele vornehme Geister mit 
ihrem Zauber gefangen hielt , in , Nanna" und in „Zendavesta" 
bemüht war, eine Auffassung der Natur zu gewinnen, wo diese selbst 
in tieferer Beseeltheit erscheint. Aber was in Fechner den Forscher 
zum Naturphilosophen machte, ist der Dichter in ihm und ein 
dichterisches Element, das ganz zuletzt eine fast religiöse Färbung 
annimmt, tritt auch, nachdem er längst die träumerischen Gefilde der 
Naturphilosophie verlassen hatte, immer und immer in ihm wieder 
hervor. Zwischen der nüchternsten Strenge seiner wissenschaftlichen 



Gustav Theodor Fcchner. 11 

Untersuchungen spinnen sich noch oft die schimmernden Fäden 
tiefsinniger Mystik hindurch. 

War Fechner gläubig? und wie war sein Verhältnis zur Re- 
ligion? Dem Kirchenglauben stand er wohl ziemlich gleichgültig 
gegenüber. Aber wie seine ganze Art der Naturphilosophie, wie 
von einem poetischen, ja sogar phantastischen Element durchzogen war, 
(insofern er nicht nur jedem pflanzlichen und tierischen Individuum, 
sondern auch jedem der unzähligen Weltkörper des Universums eine 
individuelle Beseelung zuschrieb), so drängte auch seine eigentliche 
Metaphysik zur Annahme eines höchsten zusammenfassenden „Welt- 
bewusstseins" hin. Fechner liebt diesen Gedanken, den er aller- 
dings nirgends systematisch und im Zusammenhange entwickelt hat, 
auf den er jedoch immer und immer wieder zurückkommt. Doch 
liebt er es nicht, über Fragen der Religion und des Glaubens sich 
in Diskussionen einzulassen. Dogmatische Lehren nahm er ent- 
weder hin als das, was sie thatsächlich sind: als das verdichtete 
Produkt des theologischen Geistes einer bestimmten Zeit, oder er 
setzte dieses oder jenes Dogma sich in ein spekulatives Philoso- 
phem um, ohne dass er Anspruch darauf erhob, für sich eine Un- 
fehlbarkeit, oder für seine Religion Azodicticität zu fordern. Viel- 
mehr begnügte er sich meist damit, dass diese seine betreffende 
Anschauung über Gott, Unsterblichkeit u. s. w. für ihn selbst über- 
zeugend sei ; wie überhaupt in seinen religionsphilosophischen Schriften 
ein gefUhlsmässiges Moment, eine Neigung zur Herzensmystik hervor- 
tritt, die oft innigen dichterischen Ausdruck bei ihm annimmt. So 
z B. in seiner Schrift „Motive und Gründe des Glaubens" (1863). 
Hier wechseln oft weitläufige metaphysische und naturphilosophische 
Erörterungen mit im Hymnenton vorgetragenen oder in die Form 
der Parabel gekleideten Anschauungen. 

Wie schon oben bemerkt wurde, konnte Fechner religions- 
philosophischen Diskussionen, besonders wenn sie sich nach der 
dogmatischen Seite hin verloren, nur wenig Geschmack abgewinnen. 
Und hierin änderte auch nichts die intime Freundschaft, die ihn mit 
dem berühmten spekulativen Theisten und Halbhegelianer Weisse, 
seinem Leipziger Universitätskollegen, verband. Wie ihm überhaupt 
das Historische in den Religionen und theologischen Systemen 



12 Gustav Theodor Fechner. 

ziemlich gleichgültig war. Die Thatsachen der Religionsgeschichten 
sind ihm nur Zeugnisse für das innere bald in dieser, bald in 
jener Form auftretende, bald mehr, bald weniger geläuterte Re- 
ligionsbedürfniss. Dass dieses jedoch im Verlaufe der Jahrtausende 
der Menschengeschichte eine stufenweise Entwickelung durchmacht, 
ist ihm sicher; dass diese sogar einem bestimmten Ziele zustrebt, 
ist ihm gewiss. Dieses Ziel jedoch scheint ihm eine Art Ideal- 
glaube zu sein, dessen Elemente in dem Boden seiner halb mysti- 
schen Naturphilosophie wurzeln. 

Hat Fechner eine philosophische Schule begründet? Wir 
müssen diese Frage verneinen. Der Grund hierfür ist wesentlich 
der Mangel an einer geschlossenen und systematisch durchgeführten 
Metaphysik, der in Fechners philosophischen Werken sich fühlbar 
macht. Er schwankt zwischen einem pantheistischen Monismus 
und einem spiritualistischen Monadismus oder Atomismus, insofern 
das innere Verhältnis der höchsten Bewusstseinseinheit, die im 
göttlichen Geiste beruht, zu den dem letzteren untergeordneten, 
einander aber koordinierten Bewusstseinseinheiten unklar bleibt 
Fechner selbst nennt seine Weltanschauung eine idealistische, ohne 
dass er doch so weit geht, die Materie für ein Produkt des Geistes 
zu halten, vielmehr ist sie ihm nichts anderes als eine immanente 
Bedingung seines Daseins. Aber mit demselben Recht bezeichnet 
er seine Grundansicht als eine materialistische, insofern er sich 
keine Thätigkeit des endlichen Geistes ohne materielles Substrat, 
ja selbst nicht eine \Virksamkeit des göttlichen Geistes ohne eine 
materielle Welt denken könne. Infolgedessen trägt seine Psycho- 
logie einen wesentlich dualistischen Charakter, da Seele imd Leib 
ihm zwei durchaus entgegengesetzte, gar nicht aufeinander bezieh- 
bare Seiten und Arten der Existenz bilden, während er doch 
wiederum am Identitätsgedanken Spinozas festhält, wonach die 
körperliche und geistige Existenz im Universum, wie sie sich in 
dem besonderen Leib und in der individuellen Seele zeigen, nur 
verschiedene Erscheinungsweisen eines und desselben Wesens seien. 

Neben diesem Mangel eines einheitlichen Grundprincips mag 
auch noch die wenig systematische Form, in der Fechner seine An- 
sicht vorträgt, dazu beigetragen haben, dass er im Grunde genom- 



Gustav Theodor Fcchner. 13 

men isoliert und ohne eigentliche zahlreiche Anhängerschaft ge- 
blieben ist Was Fechner als Schriftsteller zu gute kommt, eine 
phantasievolle und geistreiche Diktion, die viel zur Verbreitung 
seiner Schriften beigetragen hat, hat zum Teil der bündigen und 
klaren Fassung der Probleme und der von ihm versuchten Lösun- 
gen derselben Eintrag gethan. 

Anders freilich müsste obige Frage in Bezug auf eine Fech- 
nersche Schule beantwortet werden, wenn wir sie nicht auf seine 
allgemeinen metaphysischen Principien, sondern nur auf diejenige 
Seite seiner wissenschaftlichen Thätigkeit beziehen, der er seit einem 
Vierteljahrhundert unausgesetzt oblag: die Psychophysik. Auch 
hier kann freilich von einer eigentlichen Schule kaum die Rede sein. 
Wir haben jedoch gesehen, dass die Hauptpunkte der neuen Wissen- 
schaft noch vielfach angefochten werden. Abei eine grosse Wir- 
kung hat sie dennoch gehabt: sie ist der Mutterboden geworden, 
aus dem eine umfassende, in ihren letzten Zielen noch gar nicht 
übersehbare neue philosophische Wissenschaft entstanden ist, welche, 
wie viele meinen, berufen ist, die gesamte philosophische Forschung 
der Zukunft auf anderen als den bisherigen Grundlagen zu basieren: 
die physiologische Psychologie. Es ist gewiss nicht ohne 
tiefere Bedeutung, dass der Begründer und Hauptrepräsentant dieses 
jüngsten Zweiges am Baume der philosophischen Wissenschaft, Wil- 
helm Wundt, dem vorangegangenen Meister am 21. November 
1887 die Grabrede gehalten hat. 



Moritz Wilhelm Drobisch 

und die mathematische Psychologie. 

Eine kritische Stadie. 

Einem 91jährigen Denker und Gelehrten, einem Manne, dessen 
hohe wissenschaftliche Verdienste längst in den Annalen der Ge- 
schichte verzeichnet sind, und der wie keiner der Lebenden mit 
der Entwickelung der Leipziger Hochschule in diesem Jahrhundert 
verwachsen ist : dem „alten" Drobisch sind die nachfolgenden Zeilen 
gewidmet. 66 Jahre sind verflossen, seitdem er einst in Leipzig 
die ordentliche Professur der Mathematik antrat; über 50 Jahre 
sind dahingegangen, seitdem er im Beginne des Wintersemesters 
1842 den Lehrstuhl für systematische Philosophie, insbesondere für 
Logik und Psychologie, inne hat ; fast 70 Jahre sind in den Strom 
der Ewigkeit hinabgesunken, seitdem er sich als 22 jähriger junger 
Mann habilitiert hat (ein Verhältnis, wie wir es nur noch bei Kant 
zu seiner Vaterstadt Königsberg bemerken). Aber Drobisch, der 
(von Herbart abgesehen) Kant wie keinen anderen Denker verehrt, 
hat doch mit Bezug auf die Lebensdauer den grossen Königsberger 
Philosophen überflügelt. 

Wir müssen weit zurückgehen in die geistige Geschichte unseres 
Jahrhunderts, um den bedeutungsvollen Moment zu erfassen, wo 
durch Drobisch's Auftreten der philosophischen Strömung jener Zeit 
eine neue Wendung gegeben wurde. Es war in den zwanziger 
Jahren, als Hegel, der von Heidelberg nach Berlin berufen worden 
war, auf der Höhe seines Ruhmes stand. Man kann sich jetzt 
schwerlich eine genügende Vorstellung von der alles beherrschenden 
Stellung dieses Denkers machen. Ein neuer, die gesamte wissen- 
schaftliche Denkweise des Jahrhunderts umgestaltender Geist war 



Moritz Wilhelm DrobUch. 15 

von ihm ausgegangen, und von der Macht seiner philosophischen 
Dialektik zeigte sich alles ergriffen, was auf der „Höhe der Zeit" 
stand oder zu stehen wähnte. Nur noch das letzte Jahrzehnt des 
i8. Jahrhunderts, wo von Kant eine neue Reform der philosophi- 
schen Denkweise ausgegangen war, weist eine ähnliche, von einem 
Kopfe ausgehende Bewegung des Geistes wie zur Zeit Hegels auf. 
— Es ist erklärlich, dass diesem gegenüber alles zurücktrat, was 
auf philosophischem Gebiete auf eine Beachtung Anspruch erheben 
konnte, insbesondere, wenn es sich darum handelte, eine Philosophie 
zur Geltung zu bringen, die nicht durch den Zauber der Dialektik, 
noch weniger durch den eigenartigen Reiz einer rätselhaft tiefsinnigen 
und vornehm exklusiven Terminologie, sondern durch schlichten 
Ernst und gewissenhafte Begriffsanalyse die Probleme der Philo- 
sophie zu lösen unternahm. 

Von dieser Art war die Spekulation Herbart 's, eines damals 
in Königsberg wirkenden Denkers, der sich wohl bis dahin durch 
einige bedeutsame Werke bekannt gemacht hatte, deren ganzer In 
halt jedoch, mehr aber noch deren Form nur wenig geeignet war, 
gegenüber der herrschenden Tagesströmung sich geltend zu machen. 
Die beiden Hauptwerke Herbarts, seine „Psychologie, als Wissen- 
schaft neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik imd Mathematik*^ 
(2 Bde. 1824) und seine ^Allgemeine Metaphysik nebst den An- 
fängen der philosophischen Naturlehre ** (2 Bde. 1828), waren eben 
erschienen, aber sie waren so gut wie unbeachtet vorübergegangen. 
Der streng exakte, nüchterne und zugleich mathematische Charakter 
dieser Werke konnte zunächst keinen Eindruck auf eine Zeit 
machen, welche, erschöpft durch die vorangegangenen revolu- 
tionären und kriegerischen Jahrzehnte, sich in der Politik einer 
historisch-legitimistischen Rekonstruktion befleissigte, in der Litteratur 
sich in den Gleisen der wesentlich konservativen Romantik bewegte 
und von der herrschenden Zeitphilosophie mehr an die Phantasie 
und den mystischen Tiefsinn als an den nüchternen Verstand ge- 
wiesen worden war. 

Da war es merkwürdiger Weise ein junger Professor der 
Mathematik in Leipzig, der es unternahm, zunächst seine mathe- 
matischen und naturwissenschaftlichen Standesgenossen auf das 



16 Moritz Wilhelm Drobisch. 

Bedeutsame der oben genannten Werke Herbart's aufmerksam zu 
machen. Dass dieses von einem Mathematiker ausging, war natürlich; 
aber ebenso erklärlich war es, dass dieser Hinweis zunächst in den 
exakten Kreisen der Mathematiker und Naturforscher zündete. 
Denn gerade hier, wo noch die Traditionen des klaren und fass- 
baren Kantischen Kriticismus am meisten herrschend waren, hegte 
man den intensivsten Widerwillen sowohl gegen die phantastisch 
mystische Naturphilosophie Schelling's und seiner Schule, als auch 
gegen den scheinbar logischeren, aber um so despotischeren und 
unerbittlicheren Panlogismus des neuen Propheten Hegel, der Geist, 
Materie, Gott und Welt, Menschheit und Geschichte in das diaman- 
tene Netz seiner Dialektik so kühn eingefangen hatte. Hier sahen 
„exaktere" Forscher den Untergang und Ruin aller langsam, aber 
ehrlich suchenden Wissenschaft. — Dem gegenüber boten Herbart's 
Metaphysik und Psychologie durch ihren exakten und mathemati- 
schen Grundcharakter, der es erlaubte, nicht nur die Erscheinungen 
der materiellen, sondern auch der seelischen Welt den Operationen 
der geometrischen Konstruktion, wie des arithmetischen Kalküls zu 
unterwerfen, die Möglichkeit einer friedlichen Ver- 
ständigung, ja einer wechselseitigen Förderung von 
Philosophie und positiver Wissenschaft 

Von diesem Gesichtspunkte ging auch Drobisch, der junge 
Leipziger Professor, aus, als er es unternahm, im Novemberheft der 
„Leipziger Litteraturzeitung" (Bd. II. Jahrg. 1828), damals neben 
der „Allgemeinen Jenaischen Litteraturzeitung" eine der ange- 
sehensten wissenschaftlich-kritischen Zeitschriften in Deutschland 
(herausgegeben vom Oberhofgerichtsrat Dr. Blümner, Professor 
Dr. Heinroth, Professor Rosenmüller, Professor Pölitz und Professor 
Brandes, Verlag von Breitkopf & Härtel), eine kritische Beur- 
teilung der Herbart'schen Psychologie zu veröffentlichen. Schon 
früher hatte Drobisch bei Gelegenheit einer Besprechung der 
Herbart'schen Schrift „De attentionis mensura" darauf hingewiesen, 
wie hier der interessante und bis dahin neue Versuch gemacht 
wäre, die Psychologie, welche seither der angewandten Philosophie 
angehörte, zu einem Zweige der angewandten Mathematik umzu- 
gestalten — und zwar nicht im Sinne einer spielenden symboli- 



Moritz Wilhelm Drobisch. 17 

sierenden Anwendung mathematischer Begriffe und Formen, sondern 
einer wirklichen Statik und Mechanik des Geistes. Der Psycho- 
loge stellt sich hier neben den Physiker und Astronomen, welche 
die Mathematik auf die äussere körperliche Natur anwenden, 
während Ersterer bemüht ist, das Instrument der Mathematik an 
die innere Welt des Geistes zu legen. 

Aber hier waltet doch ein bedeutender Unterschied ob. Im 
äussern Universum haben wir es mit mechanischen Kräften zu 
thun, deren imendliches Spiel in eine einzige analytische Formel 
zusammengefasst werden kann, während wir im Seelenleben wohl 
auch von „Kräften" sprechen, aber nur im uneigentlichen Sinne; 
denn es ist geiade Herbarts Verdienst, das, was früher als „psychi- 
sche" Kräfte galt (wie Denk-, Willens- und Gefühlskraft), als wert- 
lose „Hypothese" nachgewiesen zu haben, durch welche man in 
das Wesen der seelischen Phänomene nicht eindringt. Wie ist 
also hier eine Uebertragung der mathematischen Methode von der 
Physik auf die Psychologie möglich? Doch treten wir dem 
Problem näher. 

Dass die Geisteskräfte nicht Gegenstand der Rechnung werden 
können, ergiebt sich nach Drobisch schon daraus, dass diese Be- 
griffe der Bestimmtheit und Einfachheit entbehren, die zum An- 
fange einer mathematischen Wissenschaft erforderlich sind Mit 
ganz anderen Kräften haben wir es hier zu thun. Es sind die 
Vorstellungen selbst, die, insofern sie einander zu ver- 
dunkeln, d. h. ihre Klarheit zu vermindern streben, zu Kräften 
werden und so Stoff zu mathematischen Rechnungen darbieten 
und aus deren Entgegenwirken und Vereinigen jene sogenannte 
Vermögen des Geistes erst erklärlich werden-, es sind nur die 
einfachen Vorstellungen, mit welchen wir es zunächst zu thun 
haben. Als Grundgesetz der ganzen mathematisch-psychologischen 
Untersuchung wird nun der Grundsatz oder die Rechnungshypothese 
aufgestellt: einfache Vorstellungen (Farben, Töne, Klänge etc.), 
die in einem und demselben Kontinuum von Vorstellungen liegen 
(unter einem gemeinsamen Merkmale so enthalten sind, dass der 
Uebergang von der einen zu anderen unmerklich ist, oder dass 

die spezifischen Differenzen gleichsam unendlich klein sind,) 

2 



18 Moritz Wilhelm Drobisch. 

verdunkeln (hemmen) einander, wenn sie, durch was immer für 
Umstände, gleichzeitig ins Bewusstsein treten, gegenseitig so, dass 
beide, bei unveränderter Stärke, gleicher Spannkraft imd unver- 
ändertem Inhalte, einen Teil ihrer Klarheit verlieren (ihre Spannung 
ändern), dessen Grösse von dem Verhältnisse der Stärke der Vor- 
stellungen und dem Abstände in dem Kontinuum (dem Grade des 
Gegensatzes, Hemmungsgrade) abhängt Das Maximum des 
Hemmungsgrades heisst voller Gegensatz ; er findet für zwei Vor- 
stellungen statt, wenn die eine ganz gehemmt werden muss, damit 
die andere ungehemmt bleibe. Die Proportionalzahl, welche dann 
angiebt, wie viel im Verhältnisse zu der Stärke der gegebenen 
beiden Vorstellungen von dieser zusammengenommen gehemmt wird, 
heisst die Hemmungssumme. Herbart und mit ihm Drobisch 
folgern aus dieser Definition des vollen Gegensatzes und aus dem 
Umstand, dass der Zustand der Hemmung der Vorstellungen, die 
nach dem zu Grunde gelegten Begriffe von ihnen ihre volle Klar- 
heit zu behaupten, also ungehemmt zu sein streben, ein unnatür- 
licher sei, dem sie möglichst widerstehen, dass die Hemraungssumme 
nicht kleiner, aber auch nicht grösser als die schwächere Vor- 
stellung sein kann. Und so wird z. B. für eine Mehrzahl von n 
Vorstellungen die Hemmungssumme gleich der Summe der (n — l) 
schwächsten bestimmt. Wie diese Folgerung, so billigt Drobisch 
auch den Herbart'schen Satz, dass der Stärke der Vorstellungen 
umgekehrt proportionale Teile der Hemmungssumme als die jenen 
zukommenden Hemmungen von der Stärke derselben abgezogen 
werden müssen, um die Verhältniszahlen zu erhalten, welche 
den Grund der Klarheit der Vorstellungen nach geschehener Ge- 
winnung bestimmen. Diese Sätze bilden gewissermassen die Statik 
des Geistes, welche die Bedingimgen des Gleichgewichts der 
Vorstellungen bei vollem Gegensatze derselben enthalten. 

Wie verhält sich nun aber diese seelische Statik, wenn kein 
voller Gegensatz der Vorstellungen stattfindet, d. h. wenn die eine 
nicht notwendig gehemmt werden muss, damit die andere unge- 
hemmt bleibe? Oder arithmetisch ausgedrückt, wie viel muss dann 
von der einen gehemmt werden? Ein echter Bruch (= m) giebt 
uns die Antwort hierauf. Ich gehe hier auf die scharfsinnigen 




Moritz Wilhelm Drobisch. 19 

mathematisch-psychologischen Entwickelungen, welche von Drobisch 
an der Hand Herbarts gemacht werden, nicht näher ein und be- 
merke nur, dass aus diesen Gleichgewichtsverhältnissen der Vor- 
stellungen Drobisch es erklärt, dass und wie es möglich ist, dass 
wir eine unermessliche Menge von Vorstellungen be- 
sitzen, ohne uns jedoch gleichzeitig mehr als einer 
sehr kleinen Anzahl bewusst zu werden, worauf er dann 
auch die Theorie des Gedächtnisses begründet. Hieraus 
ergiebt sich unter Anderem nun dies, was Herbart die Schwelle 
des Bewusstseins genannt hat: eine Stärke (^), welche eine 
Vorstellung übersteigen muss, um neben zwei oder mehreren anderen 
klar zu werden. Diese statische Schwelle ist jedoch verschieden 
von der mechanischen Bewusstseinsschwelle, wie sich aus dem 
Folgenden ergiebt. 

Die Mechanik des Geistes hat zum Gegenstande die Vor- 
stellungen, insofern sie als veränderliche Kräfte betrachtet 
werden. Es giebt eine Grundformel, welche lehrt, dass, wenn zwei 
entgegengesetzte Vorstellungen einander überlassen sind, sie sehr 
beinahe, nie aber ganz den Zustand des Gleichgewichts er- 
reichen; befindet sich aber unter drei oder mehreren Vorstellungen 
eine, die fähig ist, unter die statische Schwelle zu fallen, so zeigt 
die Rechnimg, dass die Zeit des völligen Sinkens dann immer 
endlich ist und sogar sehr klein werden kann, woraus sich ergiebt, 
wie es möglich ist, dass uns ein Gedanke sehr schnell in Ver- 
gessenheit kommt. Tritt nun diese Vorstellung unter die Schwelle, 
so verschwindet sie, die bisher von der Hemmungssumme am 
meisten litt, und die übrig gebliebenen Vorstellungen erleiden nun 
plötzlich einen bedeutenden Druck, während alle vorhergehende 
und nachfolgende Aenderung der Hemmung stetig war. So erklärt 
sich sehr natürlich manche plötzliche Aenderung unseres Gemüts- 
zustandes, schneller Übergang der Affekte, Leidenschaften etc. 

Ich verfolge diese zwar kritische, aber meist beistimmende 
Analyse des Herbart'schen Werkes seitens des Leipziger Mathe- 
matikers nicht weiter und bemerke nur, dass Drobisch alle diese 
neuen psychologischen Fragen und ihre Lösungen zu den sein igen 
machte und sich somit als strikten Anhänger der mathematischen 

2* 



20 Moritz Wilhelm Drobisch. 

Psychologie Herbarts bekannte und dieses so sehr, dass er sogar 
schon manche Vorwürfe, die der neuen Psychologie gemacht wurden, 
z. B. den, dass sie das Wesen der Freiheit aufhebe, wenn jede 
Bewegung der Seele als das Werk des Mechanismus erscheine, 
zurückweist Andererseits warnt er aber auch Diejenigen, welche 
von diesem psychologischen Kalkül angezogen, glauben möchten, 
dass am Ende alle mathematische Psychologie etwa auf einer 
durchgeführten Vergleichung mit der mechanischen Theorie etwa 
der elastischen Federn beruhe. Dem gegenüber betont Drobisch, 
dass der Statik und Mechanik des Geistes alle räumlichen Be- 
ziehungen völlig fremd sind. Höchstens könnten die analogen 
physikalischen Vorgänge als Erläuterung für Diejenigen benutzt 
werden, welche in diesen mathematisch-psychologischen Fragen noch 
ungeübt sind. — Unser junger Professor, der plötzlich als Schüler 
Herbarts auftritt, ist sich indess der umgestaltenden Kraft der 
neuen Lehre völlig bewusst und ist nicht geneigt, mit den Ver- 
tretern der alten Psychologie zu paktieren: „Die Theorie", sagt 
er am Schlüsse seiner kritischen Arbeit, „muss überall ihren festen, 
freien, rücksichtslosen Gang gehen dürfen. Sollte sie auf diesem 
Wege manche Stützen umwerfen, an welche man bisher Hauptsätze 
der Moral und Religion anzulehnen gewohnt war, so wird dann 
das Interesse der Menschheit für dauerndere Grundpfeiler sorgen, 
und so das Reich der Wahrheit doppelten Gewinn ziehen." 

Aber Herbarts mathematische Psychologie ist nur die im 
Psychischen sich vollziehende Anwendung der Metaphysik, insbe- 
sondere der Lehre von den „Realen" dieses Philosophen, und so 
ging auch Drobisch sofort nach dem Erscheinen von Herbarts 
„Allgemeiner Metaphysik" (1829) an das Studium derselben, und 
die Resultate desselben liegen in der berühmten Recension dieses 
Werkes vor, welche er im Augustheft der „Jenaischen Allgemeinen 
Litteraturzeitung" (Jahrg. 1830) veröffentlichte. Drobisch folgt in 
seiner kritischen Analyse des Werkes ganz der Einteilung desselben, 
welche bekanntlich in vier Teile zerfallt: i) Methodologie oder 
die Lehre von den Prinzipien und Methoden; 2) Ontologie oder 
die Lehre vom Sein, von der Inhärenz und der Veränderung; 
3) Synechologie oder die Lehre vom Stetigen, von Zeit, Raum 




Moritz Wilhelm Drobisch. 21 

und Materie; 4) Ei dolologie oder die Lehre von den Erscheinungen. 
— Es ist bemerkenswert, dass Drobisch in dieser kritischen Be- 
sprechung schon ganz Herbartianer ist Während er in der Rezension 
der Psychologie noch manche, wenn auch nur schüchterne, von 
seinem mathematischen Gewissen ihm eingegebene Einwendungen 
zu machen wagt, steht er hier ganz auf dem Boden des von ihm 
kritisierten Werkes, von dessen Inhalt er eine möglichst ausführ- 
liche Analyse giebt Er acceptiert also die metaphysischen Grund- 
lagen Herbarts, seine „Methode der Beziehungen," seine Kritik 
der Begriffe des Seins, seine naturphilosophischen Prinzipien in 
Bezug auf Zeit, Raum und Materie und — seine Psychologie. Ab 
und zu sucht er allerdings durch mathematische Erläuterungen die 
metaphysischen Abstraktionen seines neuen Freundes zu erklären, 
was ihm auch wirklich meist gelingt. Vielfach aber schliesst er 
sich sogar an den Wortlaut Herbarts an und fiigt dann zu dem- 
selben einige erläuternde Worte hinzu. — Diese durch eine Reihe 
von Nummern (No. 144 — 149) sich hinziehende Kritik giebt dem- 
nach eine Art Kommentar zu dem schwierigen Werke Herbarts 
(Bd. U. Der Band I ist in derselben Zeitschrift No. 112, Jahrg. 1829 
beurteilt worden). 

Am Schlüsse empfiehlt Drobisch das Studium der Herbart'schen 
Metaphysik der „Aufmerksamkeit aller Gelehrten, welche die exakten 
Wissenschaften kultivieren". Die Motive, von denen unser Mathe- 
matiker hierbei ausging, sind noch heute für grosse wissenschaftliche 
Kreise bemerkens- und beherzigenswert. „Herbart hat", sagt 
Drobisch, „diese Wissenschaften (Mathematik und Naturwissen- 
schaften) gründlich genug studiert, um nicht mit jener oberflächlichen 
Aimiassung und seichten Allgemeinheit über sie zu sprechen, wo- 
durch das ehemalige Ansehen der Philosophie in diesen Fächern 
so tief gesunken ist. Gleichwohl ist seine Metaphysik so wenig 
eine geschmeidige Dienerin der hergebrachten Meinung, vielmehr 
eine so selbständige, oft sogar schroff scheinende Spekulation, dass 
es wohl um so interessanter sein muss, zu erfahren, was für ein 
Resultat aus zwei so entgegengesetzten Richtungen der Forschung 
in einem Individuum hervorgegangen sein möge . . . Herbart ist 
nicht einer jener überschwenglichen Philosophen, die ihr System 



22 Moritz Wilhelm Drobisch. 

für ein Gestirn des Tages ausgeben, gegen welches der matte 
Stemschimmer der übrigen Wissenschaften erbleiche. Er träumt 
nicht von naturphilosophischen Konstruktionen, die, alle künftigen 
Experimente und Beobachtungen entbehrlich machend, uns ins 
Innere der Natur einführen sollen. Er will die Knoten der Speku- 
lation nicht zerhauen, sondern allmählich lüften und lösen, nicht 
Verächter, doch auch nicht Sklave der Erfahrung sein, sein Streben, 
ist: Spekulation mit der Erfahrung zu versöhnen. Herbart 
nimmt für die Philosophie nicht „absolutes" Wissen, sondern nur, 
wie in der Mathematik und den Naturwissenschaften, eine allmählich, 
aber mit Sicherheit und Genauigkeit fortschreitende Forschung in 
Anspruch und theilt seine Untersuchungen in einer reinen und 
nüchternen, dem Ernst und der Würde der Wissenschaft angemes- 
senen Sprache mit. Solche gemässigte Ansichten, solche bedeutende, 
mit reichen Hilfsmitteln unterstützte Bestrebungen dürften wohl ver- 
dienen, die Aufmerksamkeit auch Derer auf sich zu lenken, die mit 
der neueren Philosophie gebrochen haben, weil sie, in ihrem Uber- 
mute über längst begründete Wissenschaften sich erhebend, anstatt 
von ihnen zu lernen, sie mit einer Geringschätzung behandelte oder 
mit einer Oberflächlichkeit umzumodeln suchte, die doppelt ver- 
derblich auf sie selbst wieder zurück wirken musste. Möge das 
Vorstehende geeignet sein, zur Wiederaussöhnung der exakten 
Wissenschaften mit der philosophischen Spekulation wenigstens 
Einiges vorzubereiten." 

Dieser Wunsch ging merkwürdig schnell in Erfüllung. Inner- 
halb der Herbart'schen Schule, als deren Mitbegründer seit dem Er- 
scheinen dieser beiden Recensionen Drobisch anzusehen ist, fand 
thatsächlich eine solche Aussöhnung statt. Denn es waren meist 
Männer der exakten Wissenschaften, welche sich der neuen Rich- 
timg (deren eigentlicher Begrüder 1833 von Königsberg nach Göt- 
tingen berufen worden war) anschlössen, Mathematiker, Naturforscher, 
aber auch Juristen, Historiker, Philologen, Theologen und haupt- 
säglich — Pädagogen. 

Was noch weiter zur Ausbreitung der Herbart'schen Philosophie 
beitrug, war der Umstand, dass sie in ihrem praktischen Teile 
sich von aller überschwenglichen und radikalen Anschauung in 




Moritz Wilhelm Drobisch. 23 

Fragen der Religion und des Staates fernhielt, im Gegensatz zu 
den Ausführungen der Hegel'schen Schule, aus deren Anhängern 
sich meist die revolutionären Führer in Staat und Kirche rekru- 
tierten. So kam es denn, dass, während die Regierungen erklär- 
licher Weise bemüht waren, die Letztgenannten aus den akade- 
mischen Stellungen zu entfernen oder sie gar nicht erst zuzulassen, 
sie (insbesondere in Österreich und in Sachsen) den Anhängern 
Herbarts gegenüber ein weit freundlicheres und wohlwollenderes 
Verhalten zeigten. 

Drobischs schriftstellerische Thätigkeit war seitdem noch lange 
Zeit zwischen den Gebieten der Mathematik und der Philosophie 
geteilt. War er doch an der Leipziger Universität von 1827—42 
ordentlicher Professor der Mathematik, während welcher Zeit er 
wohl ab und zu philosophische Kollegien las, seine Hauptvorlesungen 
indes waren rein mathematische. Erst nach Antritt seiner ordent- 
lichen Professur der Philosophie beschränkte er sich ausschliesslich 
auf diese letztere, und zwar auf Psychologie und Logik. Neben- 
her veröffentlichte er noch Manches, was der Agitation für die neue 
von ihm acceptierte Richtung gewidmet war. In dieser Beziehung 
nennen wir nur seine „Beiträge zur Orientierung über Her- 
barts System der Philosophie** (1834), ein wesentlich apolo- 
getisch, zugleich aber auch stark polemisch gehaltenes Werk. Die 
Polemik ist hier wesentlich gegen die Hegel'schen Jünger gerichtet, 
deren Übermut und Herrschergelüste nach dem Tode des Meisters 
(1831) eine andere Richtung nicht aufkommen lassen wollten. Sonst 
war der friedliche Drobisch keine zur Polemik geneigte Natur. 
Meist überliess er die Abwehr von Angriffen auf seine Schule, an 
denen es allerdings in den vierziger imd fünfziger Jahren durchaus 
nicht fehlte, jüngeren Anhängern, unter denen z. B. der gelehrte 
Konsistoriah-at Thilo (z. B. in seiner Polemik gegen die „theologi- 
sierende Staatslehre'* Julius Stahls), sowie der vorsichtige und ge- 
wandte Pastor Flügel eine scharfe und schneidige Feder führten. 
Letzterer ist auch bisher einer der hervorragendsten und erfolgreich- 
sten wissenschaftlichen Bekämpfer des Moleschott-Büchner- Vogt'- 
schen Materialismus gewesen imd redigiert (seit dem Tode Tuiscon 
Zillers und Allihns) jetzt noch das offizielle Organ der Schule, die 



i 



24 Moritz Wilhelm Drobisch. 

früher von Allihn und Ziller herausgegebene „Zeitschrift für exakte 
Philosophie** (früher Leipzig, jetzt Köthen). 

Was Drobischs positive Leistungen innerhalb der von ihm 
mitbegründeten Herbart'schen Schule betrifft, so müssen wir hier 
auf seine beiden Hauptwerke verweisen: „Erste Grundlinien de r 
mathematischen Psychologie" (Lpz. 1850) und die „Neue Dar- 
stellung der Logik nach ihren einfachen Verhältnissen mit 
Rücksicht auf Mathematik und Naturwissenschaft" (Lpz. 
1836^ 5. Aufl. 1887). Ich will diesen beiden Werken einige Be- 
merkungen widmen und beginne mit dem letztgenannten, und zwar 
nehme ich hierbei die zweite, von der ersten ganz verschiedene 
Auflage zur Hand. 

Weder Herbart, noch Drobisch, noch ihre Schule nehmen in 
Bezug auf ihre Logik eine besondere und von ihrer Vorgängerin 
unterschiedene Stellung ein, was schon daraus hervorgeht, dass man 
vielfach von einer „Kant-Herbart'schen" Logik spricht, unter welcher 
man natürlich die formale Logik versteht, wie sie von Aristoteles 
begründet und im Laufe der Jahrhunderte, unabhängig von der Meta- 
physik, als besondere philosophische Wissenschaft ausgebildet wor- 
den ist. Dieses wurde jedoch in der Schelling-Hegerschen Zeit 
anders. Die Logik als Lehre von den formalen Denkgesetzen 
trat in den Hintergrund, da diese Gesetze von Schelling und Hegel 
zugleich als Gesetze des objektiven Seins gefasst wurden; an 
die Stelle der „formalen" trat die „metaphysische" Logik, in wel- 
cher letzteren (wie z. B. bei Hegel) die bisherige normale Logik 
nur einen geringen Teil bildete, da ja auch die Gesetze und Nor- 
men des subjektiven Denkens hier mit zum Sein des Geistes ge- 
hörten. Über die Berechtigung dieses Unterschiedes wurde in den 
dreissiger und vierziger Jahren unseres Jahrhunderts viel gestritten, 
da die Identitätsmetaphysiker die subjektive und formale Logik für 
etwas durchaus Inhaltsloses und Untergeordnetes erklärten, während 
die Kantianer dieser Identifizierung von Metaphysik und Logik jede 
wissenschaftliche Berechtigung absprachen. Aus diesem Konflikt 
ging eine Art Mittelpartei hervor, welche, wie Ueberweg sich spä- 
ter ausdrückte, eine „objektivistische Erkenntnislehre" anstrebte, und 
die mit Aristoteles in dem Denken ein „Abbild" des Seins er- 




Moritz Wilhelm Drobisch. 25 

blickt, welches einerseits zwar von seinem realen Korrelat verschie- 
den ist, ohne doch zu ihm ausser Beziehung zu stehen, und ande- 
rerseits demselben entspricht, ohne mit ihm identisch zu sein, und 
welche mit Schleiermacher die Formen des Denkens aus dem 
Wissen, als dem Zwecke des Denkens, zu begreifen und die Ein- 
sicht in ihren Parallelismus mit den Formen der realen Existenz zu 
begründen versucht. Es war der Standpunkt des sog. Idealrea- 
lismus, als dessen hervorragenster Vertreter der berühmte Aristo- 
teliker und Berliner Akademiker Adolf Trendelenburg galt. 

Dieser war es auch, der in seinen bekannten „Logischen Unter- 
suchungen" gerade mit Rücksicht auf die Herbart'sche Schule die 
wissenschaftliche Existenzberechtigung der rein formalen Logik in Frage 
stellte. „Die formale Logik" sagt Trendelenburg, „welche die Wahr- 
heit als die Übereinstimmung des Gedankens mit dem 
Gegenstande zu erklären pflegt, ist eine haltlose Disciplin. Sie 
will den Begriff, das Urteil, den Schluss allein aus der auf sich be- 
zogenen Thätigkeit des Denkens verstehen, sie trennt daher das 
Denken von dem Gegenstande, wie etwa den aufnehmenden Spiegel 
von dem einfallenden Lichtstrahl. Dieses Verfahren ist aber des- 
halb bedenklich, weil das Gesetz der Reflexion nicht von dem 
Spiegel allein bedingt wird." 

Drobisch widerlegt diese Ansicht des damals sehr einflussrei- 
chen Berliner Philosophen, indem er ausführt, dass die formale 
Logik nicht ein reines Denken voraussetzt und es n i c h t unter- 
nimmt, die Formen eines solchen in abstracto zu zergliedern oder 
zu entwickeln ; ihre Voraussetzung sei vielmehr das konkrete, mit 
dem Erkennen verschmolzene Denken, aus welchem sie ihre Grund- 
formen durch Abstraktion gewinne, diese dann aber nach Gesetzen, 
die sich aus der Betrachtung ihrer Verhältnisse ergeben, mit ein- 
ander verknüpft und dadurch zu abgeleiteten Formen gelangt 
Formen ohne Inhalt kennt sie nicht, sondern nur solche, die von 
dem besonderen Inhalte, der sie erfüllen mag, unabhängig sind, 
und für die also der Inhalt, dessen sie nie ganz entbehren können, 
unbestimmt und zufällig bleibt. Die Grundformen des Denkens 
werden auf ähnliche Weise gewonnen, wie die Grundformen der 
Geometrie, die auch nur die Reste sind, welche die Abstraktion 



2(3 Moritz Wilhelm Drobisch. 

von den physikalischen und chemischen Eigenschaften der sinnlich 
wahrgenommenen Körper übrig lässt. Das Vorstellen eines leeren 
körperlichen Raumes z. B. sei schon eine der sinnlichen Anschauung 
und ihrer gedächtnismässigen Reproduktion fremde Abstraktion, die 
geometrische Fläche erfordert eine zweite, die Linie, der Punkt 
eine dritte und vierte Abstraktion. In ähnlicher Weise komme die 
Logik zu dem Begriffe und seinen Merkmalen und Beziehungen. 
Wie aber die Geometrie sich weder mit der Auffindung der Grund- 
formen begnügt, noch mit der Klassifikation der erfahrungsmässigen 
Körperformen beschäftigt, sondern durch Kombination der ersteren 
zu ideellen Konstruktionen gelangt, in denen sie zwar zum Teil 
das Wirkliche und Gegebene konstruiert, zum Teil aber auf Gestal- 
tungen kommt, die in der uns bekannten sinnlichen Welt wie Fremd- 
linge erscheinen — , so verfahre in gleich ähnlicher Weise die Lo- 
gik in den Lehren von den Urteilen und den Schlüssen, den Ein- 
teilungen und Beweisen mit den Grundformen der Begriffe, wobei 
sie sich nur von der Übereinstimmung der Gedankenformen unter 
einander, des Denkens mit seinen eigenen Grundsätzen leiten lasse. 
Diese Übereinstimmung sei die alleinige logische Wahrheit . . . . 

Allmählich näherte sich jedoch Drobisch jener mittleren Rich- 
tung, welche zwischen der metaphysischen, die Formen des Seins 
und die des Denkens identifizierenden und der rein subjektiven, 
den Denkformen nicht nur objektive, sondern auch formale Be 
deutung beimessenden Logik sich einherbewegt. Noch die erste 
Auflage (1836) des Werkes von Drobisch steht auf dem empirischen 
und formalen Standpunkte. Aber schon in der zweiten, mehr aber 
noch in den folgenden Auflagen ist jene Annäherung sichtbar. 
Drobisch versucht diese seine weitere Entwickelung zu rechtfertigen. 

„Es lässt sich nicht leugnen", sagt er, „dass besonders seitdem 
Kant diesen empirischen Ursprung ihrer ersten Anfänge verleugnet 
hat, vielfach daraus ein Bestreben entstanden ist, Denken und Er- 
kennen von vornherein auseinander zu halten. Auch die erste 
Auflage dieser Schrift neigt sich noch dieser Ansicht zU; mit deren 
Beseitigung jedoch keineswegs die formale Logik zusammenbricht. 
Diese Ansicht wurzelte zunächst in Kants Lehre vom Erkennen 
a priori, die aber wieder mit Leibniz* und Deskartes' „angeborenen 




Moritz Wilhelm Drobisch. 27 

Vorstellungen" im Zusammenhange steht. Die Erkenntnis von a 
priori und a posteriori im Sinne der neueren Philosophie ist eine 
wohlbegründete. Das Allgemeine und Notwendige ist in der That 
kein Ergebnis der Erfahrung, sondern des Denkens, d.h. in der- 
jenigen Verknüpfung der Begriffe, welche der Beschaffenheit und 
den Verhältnissen des in ihnen Gedachten gemäss ist. Aber daraus 
lässt sich nicht mehr folgern, als dass eben diese Verknüpfung 
von der Erfahrung unabhängig ist; eine Erschleichung muss es 
genannt werden, wenn man dasselbe auch auf die Begriffe selbst, 
vor ihrer Verknüpfung, übertragen will. Es giebt nur notwendige 
Urteile und Schlüsse, aber keine notwendigen Begriffe Aus der 
Thatsache, dass es allgemeine notwendige Urteile giebt, lassen sich 
daher nicht angeborene, der Erfahrung vorausgehende Vor- 
stellungen deduzieren. Kant vermeidet zwar diesen Ausdruck, will 
indes Raum, Zeit und Kategorien als ErkeDntnisformen a priori, 
als notwendige Bedingungen der Erfahrung, als solche, ohne welche 
diese unmöglich sein würde, anerkannt wissen. Seine Behauptung 
stützt sich darauf, dass sich solche Formen im Denken von ihrem 
materiellen Inhalt entleeren, nicht aber gänzlich hinwegdenken 
lassen; er bemerkt jedoch nicht, dass bei dieser Entleerung blosse 
Abstraktionen übrig bleiben, keine einfachen und bestimmten 
Verhältnisse, dass eine reine Form, eine Form ohne alle Materie 
vorzustellen ebenso unmöglich ist, wie eine Materie ohne alle Form, 
dass aber, wo, wie in den geometrischen Anschauungen, bestimmte 
Formen übrig bleiben, die Entfernung des Inhalts keine vollständige 
Entziehung desselben, sondern nur Aufhebung seiner Besonderheit 
ist. Die Abstraktion kann im wirklichen Vorstellen nicht weiter 
gehen, als bis zur Unabhängigkeit der Form von jeder bestimmten 
Materie. Aber dieser steht eine Unabhängigkeit der Materie von 
einer bestimmten Form gegenüber. Man würde also hieraus ebenso 
gut wie reine Form auch reine Materie a priori anzunehmen be- 
rechtigt sein. In Wahrheit aber ist das eine so fehlerhaft wie das 
andere, denn Materie und Form stehen überall in untrennbarer 
Wechselbeziehung, jede von beiden fordert die andere. Unver- 
kennbar hat auf Kant die falsch ausgelegte Thatsache der reinen 
Mathematik einen verfuhrenden Einfiuss ausgeübt. Der Inhalt ihrer 



28 Moritz Wilhelm Drobisch. 

Grundbegriffe und Grundsätze ist so einfach und leicht verständlich, 
so sehr Gemeingut, dass er in der That wie ein angeborenes 
erscheint, das man nicht zu lernen, sondern auf das man sich nur 
zu besinnen braucht Indes ist es nicht einmal ganz so; der An- 
ßlnger fügt sich nicht ohne einiges Widerstreben, wenn ihm zu- 
gemutet wird, die Fläche ohne Dicke, die Linie ohne Dicke und 
Breite zu denken, denn diese Vorstellungsweise ist ihm neu und 
fremd. Wenn aber die Axiome in der That unmittelbare Evidenz 
haben, so bewähren sie sich dadurch eben als Thatsachen der 
Anschauung, denen faktische, assertorische, nicht apodiktische 
Geltung zukommt. Eine psychologische Notwendigkeit muss freilich 
vorhanden sein, in Folge deren wir uns allgemein subjektiv 
keine anderen Vorstellungen machen können, aber diese ist nicht 
mit logischer Notwendigkeit zu verwechseln, die auf dem Wider 
Spruch beruht, auf den das Andersdenken führt. Auch muss wohl 
beachtet werden, dass die reine Mathematik sich allmählich Teile 
der angewandten zueignet Denn indes es sonst nur reine Arith- 
metik und Geometrie gab, ist in neuerer Zeit eine reine Mechanik 
hinzugekommen, nachdem es gelungen, nicht nur den Begriff der 
Bewegung, sondern auch den der Kraft in so abstrakter und doch 
quantitativ so bestimmbarer Weise zu fassen, dass sich aus Zu- 
sammensetzungen von Kräften, ebenso gut wie aus denen von 
Zahlen und Linien, allgemeine und notwendige, von der Erfahrung 
imabhängige Folgerungen ziehen lassen — ." 

Eine ähnliche Bewandtnis wie mit der reinen Mathematik 
hat es auch mit der reinen Logik. Sie ist ganz gewiss eine de- 
monstrative Wissenschaft, muss aber gleichwohl ihre ersten Anfange 
aus Erfahrungsthatsachen schöpfen und ehe sie progressiv zu Be- 
griffsverkntipfungen schreiten kann, regressiv die zu knüpfenden 
Elemente aus jenen Thatsachen abstrahieren. Ein Gefühl von der 
Notwendigkeit dieses doppelten Verfahrens in der Begründung imd 
Entwickelung der Logik liegt unverkennbar Fries' Unterscheidung 
einer anthropologischen Logik von der philosophischen zu 
Grunde; nur ist es dabei ganz falsch, der letzteren eine psycho- 
logische Grundlage geben zu wollen und zu meinen, dass ihr mit 
Zergliederung der Operationen des Anschauens und Denkens, der 



Moritz Wilhelm Drobisch. 29 

Erinnerung und Phantasie etc. gedient sei. Dergleichen psycho- 
logische Untersuchungen bleiben für die Logik ganz imfruchtbar. 
Wohl aber sind die allgemeinsten Formen der inneren und äusse- 
ren Er fahrung der Boden, aus dem sie ihre abstrakten Grundbestim- 
mungen zu ziehen hat, in ähnlicher Weise, wie auch die Meta- 
physik (im Geiste Herbarts behandelt) von dieser Erfahrungsbasis, 
als dem Elrkenntnisgrund der durch die Spekulation zu findenden 
Realgründe, ausgeht. Drobisch schneidet aber durch diese empirische 
Begründung der Logik eine höhere spekulative Auffassung keines- 
wegs ab, so wenig, als die Mathematik dadurch, dass sie Raum, 
2^it, Bewegung etc. als gegeben betrachtet, tieferen metaphysischen 
Untersuchungen über diese Voraussetzungen in den Weg tritt. Die 
Bedeutung auch der Formen des Denkens für das absolute Sein 
und Wissen wird nur die Metaphysik feststellen können. Zur kon- 
kreten Erscheinung aber kommen sie in der Erfahrung; und 
durch Betrachtung der allgemeinsten Erkenntnisformen, der Vielheit 
der Dinge, ihrer Beschaffenheiten und Beziehungen gewinnt er den 
natürlichsten Anfang der Logik. Bei diesem Verfahren wird von 
ihm weder das Denken vom Erkennen gewaltsam losgerissen, noch 
vorzeitig von der Spekulation abhängig gemacht 

Dass Drobischs „Logik" ausser ihrem streng wissenschaftlichen 
Charakter auch noch einen hohen didaktischen Wert besitzt, 
zeigt die Anzahl der Auflagen, die sie erlebt hat. Und in der That 
erkennt man diesen Vorzug beim Studium des Werkes solort. Die 
Folgerichtigkeit und, ich möchte sagen, die fast mathematische Kon- 
sequenz der Gedankenentwickelung nicht minder, als die Klarheit 
und Präcision des Ausdrucks sind Vorzüge von nicht zu unter- 
schätzendem W'erte für ein Buch, welches nicht nur eine Fortbildung 
der Wissenschaft anstrebt, sondern auch ein brauchbares Hilfsmittel 
für das Studium der Logik sein will. Und dieser letztere Vorzug 
wird noch erhöht durch die geflissentliche Bemühung des Ver- 
fasse rs, alle historischen Momente, d. h. die Geschichte der Logik, 
ganz fem zu halten. Hierdurch gewinnt Drobischs Werk jene 
Durchsichtigkeit, Übersichtlichkeit und Reinheit der Darstellung, 
welche Ueberwegs sonst gehaltvolle und vortreffliche Logik 
(die neueren Auflagen von Bona Meyer) gerade wegen des Durch- 



30 Moritz Wilhelm Drobisch. 

einander historisch-litterarischer Citate und Nachweise sehr ver- 
missen lässt. 

Hatte Drobischs „Neue Darstellung der Logik" eigentlich nichts 
specifisch Herbart'sches an sich, so kehrt er in seinem zweiten^ 
14 Jahre später erschienenen Hauptwerke, in den „Ersten Grund- 
linien der mathematischen Psychologie" zu dem heimatlichen Boden 
Herbarts wieder zurück. Auch dieses Werk ist, wie die „Logik", 
nicht sehr umfangreich; aber es ist von solch einer gehaltvollen 
Gedrängtheit des Inhalts, dass man beim Studium desselben (und 
Drobischs Bücher wollen studiert, nicht bloss gelesen sein,) den 
Wunsch hat, diese oder jene Partie weiter ausgeführt, durch Ex- 
kurse erläutert und überhaupt den unerbittlich strengen, lehrbuch- 
artigen Aufbau des Ganzen durch einige freiere Formen gemildert 
wünscht Aber Drobisch lässt sich in seinen Schriften zu gar 
keinen popularisierenden Konzessionen herbei; er räumt dem heutigen 
Zeitgeschmacke, wonach auch die wissenschaftliche Darstellung des 
schmückenden litterarischen Zierates nicht mehr entbehren will, 
nichts ein: er ist auch in der Diktion seiner philosophischen Bücher 
eben Mathematiker und dieses so sehr, dass seine Darstellung 
oft von langen Reihen geometrischer und arithmetischer Formeln 
unterbrochen wird. Dass dieses hier in der „mathematischen" 
Psychologie vorzugsweise geschieht, liegt in dem Inhalt und dem 
wissenschaftlichen Charakter derselben. 

Drobisch hatte in seinen oben analysierten Recensionen der 
beiden Hauptwerke Herbarts sich darauf beschränkt, die Prinzipien 
dieser Philosophie gewissermassen nur referierend wiederzugeben 
und sie dem Studium der wissenschaftlichen Welt, insbesondere 
seiner mathematischen Fachgenossen zu empfehlen. Seit dieser 
Zeit waren nun 25 Jahre verflossen. Herbart war mittlerweile in 
Göttingen gestorben, und an die Stelle der früheren Gleichgültigkeit 
war nunmehr ein lebhaftes Interesse für die neue Philosophie einer- 
seits und eine heftige Polemik gegen sie andererseits getreten. Da 
mochte es wohl Drobisch an der Zeit gehalten haben, die viel- 
fachen Irrtümer und Vorurteile, die über das Wesen und die Be- 
deutung der „mathematischen Psychologie" im Schwang waren, 
durch eine gewissermassen authentische Auslegung, d. h. eine teils 



Moritz Wilhelm Drobiscb. 31 

apologetische, teils polemische Darlegung des wirklichen Sach- 
verhalts, zu beseitigen. Drobisch erkennt hier an, dass zwar Herbarts 
Bekämpfung der sogenannten Seelenvermögen von Erfolg gewesen 
sei, und dass auch seine Analyse und Erklärung derjenigen seeli- 
schen Phänomene, welche als wirkliche Thatsachen gelten können, 
aus den Prinzipien der Association und Reproduktion anerkannt 
worden sind. Aber zugleich beklagt er, dass gerade der mathe- 
matische Teil der Herbart'schen Psychologie nicht diejenige 
Anerkennung (fügen wir hinzu : das Verständnis) gefunden hat, die 
er thatsächlich verdient Ja als Beweis hierfür führt Drobisch an, 
da55s, obgleich bereits fast 30 Jahre seit dem Erscheinen von 
Herbarts psychologischem Hauptwerke verflossen sind, ausser einigen 
akademischen Programmen von ihm selbst (die schon oben ge- 
nannten ,,Quaestiones mathematico-psychologicae") nur eine hierher 
gehörige, allerdings bedeutsame Arbeit von Th. Wittstein*) 
erschienen sei. Im Uebrigen vermutet Drobisch nicht mit Unrecht, 
dass der Grund der mangelhaften Kenntnisnahme der mathemati- 
schen Psychologie seitens der berufenen Kreise der sei, dass die 
Mathematiker zu geringes Interesse für psychologische und metha- 
physische Fragen und die Psychologen meist eine zu geringe mathe- 
matische Vorbildung für das Studium jener neuen Disciplin hätten. 
Und so ist es auch thatsächlich später geblieben. 

In der Herbart'schen Schule sind im Verlaufe der letzten 
Hälfte dieses Jahrhunderts alle philosophischen Zweige vom Herbart'- 
schen Standpunkte bearbeitet worden, wie die Metaphysik (Strümpell, 
Exner, Lott, Hartenstein, Schilling), die Ethik (Nahlowski, Steinthal, 
Allihn u. A.), die empirische Psychologie (Volkmann, Lazarus, 
Theod. Waitz, Stiedenroth, Lindner), die Staatslehre (Stephan, 
Nahlowski, Unterholzner, Geyer, Thomas etc.), die Religionsphilo- 
sophie (Taube, Thilo, Drobisch u. A.), die Aesthetik (Lazarus, 
Durdik, Siebeck, Griepenkerl, Rob. Zimmermann, Kortiensky, Th, 
Vogt), die Naturphilosophie (Drobisch, Cornelius, Flügel), vor Allen 

♦) „Neue Behandlung des mathematischen Problems von der Bewegung ein- 
facher Vorstellungen, welche nach einander in die Seele eintreten* (Hannover 
1865). Wittstein's spätere Abhandlung „Zur Grundlegung der mathematischen 
Psychologie** (Zeitschrift für exakte Philosophie VIII, 1869) erschien erst nach 
Drobischs „Ersten Grundlinien**. 



32 Moritz Wilhelm Drobisch. 

aber die Pädagogik (Ziller, Miqudl, Kern, Stoy, Willmann, Mager); 
nur die eigentliche mathematische Psychologie in dem strengen 
und exakten Sinne Herbarts und Drobischs fand eine äusserst 
geringe Fortbildung. 

Allerdings erstand gerade dieser üisciplin eine ganze Reibe 
von Gegnern, welche geltend machten, dass die mathematischen 
Formeln durch die empirische Psychologie nicht erhärtet 
werden etc., von denen wir hier nur nennen: Carl Rosenkranz 
(in der Halle'schen Monatsschrift „Deutsche Jahrbücher"), ja Th. 
Waitz selbst, ein Anhänger Herbarts, später auch Wilhelm Wundt 
und Friedrich Albert Lange, welcher letztere der Sache am 
schärfsten auf den Grund gegangen ist. Die Gründe, welche ins- 
besondere von Kantianern und Hegelianern gegen diese Psycho- 
logie geltend gemacht wurden, waren gar mannichfaltige. Da wurde 
von dem einen gesagt, Herbart wolle aus der Psychologie ein Rechen- 
exempel machen; ein anderer hält dafür, Herbart wolle die Lehre 
des alten Pythagoras erneuern; ein dritter vergleicht die mathema- 
tische Psychologie mit der mathematischen Philosophie des Schel- 
lingianers J. J. Wagner. Auch der spekulative Mystiker Eschen- 
mayer (erst Schellings Anhänger, dann sein Gegner) habe, sagt man, 
mit mathematischen Bildern und Symbolen Spielereien getrieben, 
während ein anderer wieder meint, nicht die Psychologie, sondern 
die Mathematik werde Vorteil daraus ziehen; aber die Philosophie, 
deren Objekt „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit" sei, könne sich 
des „Kalküls" nicht bedienen. Endlich haben die idealistisch an- 
gelegten Naturen gesagt, für die unendliche Fülle unseres geistigen 
Lebens, dessen innerer zarter Organismus einem solch mageren Ge- 
rippe von algebraischen Formeln völlig unzugänglich sei, sei gar 
nichts mit der Mathematik anzufangen, die höchstens auf die tote 
und rohe Materie anwendbar sei u. s. w. „Es giebt", sagt Lange, unter 
•den mathematisch und natui'wissenschaftlich gebildeten Denkern („Ge- 
schichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der 
Gegenwart", S. 459 fg.), „eine ganze Reihe verständiger und ver- 
dienstvoller Leute, welche allen Ernstes glauben, Herbart habe mit 
seinen Differentialgleichungen die Welt der Vorstellungen so gründ- 
lich erkannt wie Kopernikus und Kepler die Welt der Himmels- 




Moritz Wilhelm Drobiscb. 33 

körper. Das ist nun freilich eine so gründliche Täuschung wie 
Phrenologie, und was die Psychologie als Naturwissenschaft betrifft, 
so ist mit dieser schönen Bezeichnung so viel Unfug getrieben 
worden, dass man leicht in Gefahr kommen könnte, das Kind mit 
dem Bade auszuschütten ....'* „Immerhin", fährt Lange fort, 
„verdient Herbarts gewaltiges Streben eine bessere Widerlegung, als 
die des blossen Nichtbeachtens." Lange hat diese Widerlegung in 
seiner bekannten Schrift vom Jahre 1865 geliefert: „Der elemen- 
tare Fehler in Herbarts mathematischer Psychologie" (Duisburg 1 865). 
Immerhin zieht Lange hierbei eine wichtige Konsequenz für seinen 
Hauptzweck, die Widerlegung des Materialismus: „Bestände die 
mathematische Psychologie (was nach ihm nicht der Fall ist), so 
würde dieses der sicherste Beweis für jene Gesetzmässigkeit 
alles psychischen Geschehens, welche der Materialismus be- 
hauptet, und zugleich die vollständige Widerlegung der Zurück- 
führung des Bestehenden auf den Stoff sein." 

Als ob Drobisch diese Folgerung Langes vorausgesehen hätte, 
bemerkt er in den 15 Jahre früher erschienenen „Ersten Grund- 
lehren der mathematischen Psychologie": „Nach den gegenwärtig 
vorherrschenden Ansichten möchte weit weniger von Seiten des 
Idealismus, als von der Neigung zum Materialismus ein Einspruch 
gegen diesen Hang der mathematischen Psychologie zu en^v^arten sein. 
Die Fortschritte der Physiologie des Nervensystems scheinen immer 
mehr zu dem Versuche hinzudrängen, das gesamte Geistesleben aus 
bloss materiellen Principien zu erklären. Einige Physiologen haben 
sich bereits die Resultate der neueren, sorgfaltiger beobachtenden 
imd zergliedernden Physiologie anzueignen versucht, um sie mit den 
Entdeckungen über die verschiedenen Funktionen des grossen und 
kleinen Gehirns, des Rückenmarks und des animalischen Nerven- 
systems in Verbindung zu bringen und aus diesen die psychischen 
Phänomene zu erklären. Diese Richtung muss konsequenter Weise 
verlangen, dass die mathematische Psychologie sich auf eine ma- 
terielle Basis stelle, etwa Schwingungen von Hirn und Nervenfasern, 
oder auf- und absteigende elektrische Strömungen in den galvanischen 
Ketten der Ner\'en oder irgend etwas derart zur hypothetischen 

Grundlage ihrer Betrachtungen mache und die Lehre der Mechanik 

3 



34 Moritz Wilhelm Drobisch. 

materieller Punkte oder der Elektrodynamik dabei in Anwendung 
bringe. Es wäre gewagt, über den möglichen Erfolg eines solchen 
Unternehmens im voraus absprechen zu wollen. Vor der Hand 
aber scheint es uns, dass zu seinem Gelingen die Bedingungen noch 
nicht gegeben sind, schon allein aus dem Grunde, weil alle phy- 
siologischen Untersuchungen, die sich auf das Psychische beziehen, 
über das Gebiet der Empfindungen und willkürlichen Be- 
wegungen, also diejenigen geistigen Regungen, die das Tier mit 
dem Menschen gemein hat, noch nicht sich erhoben haben 
und noch weit davon entfernt sind, über physiologische Be- 
dingungen der höhern Geistesthätigkeiten irgend erhebliche Auf- 
schlüsse zu gewähren." 

Wie in diesen wenigen Worten die bündigste Abweisung der 
Berechtigung materieller Erklärung geistiger Processe liegt, so zeigen 
sie aber auch die Vorsicht und Umsicht des gewissenhaften Forschers. 
Während ein Gegner der mathematischen Psychologie aus der hypo- 
thetischen Annahme eines Bestandes dieser Disciplin eine evidente 
Widerlegung des Materialismus glaubt folgern zu dürfen, geht der 
Mitbegründer der mathematischen Psychologie selbst nicht so weit, 
indem er auf die Zukimft der experimentierenden Physiologie ver- 
weist, und er erlaubt sich höchstens den Zweifel, ob diese Wissenschaft 
je dahin gelangen wird, auch für die höheren Geistesthätigkeiten 
die materiellen Bedingungen und Processe zu finden. — Freilich ist 
die Verschiedenheit dieses Verhaltens beider Forscher gewisser- 
massen geschichtlich zu erklären. Als die „Ersten Grundlinien" 
Drobischs 1850 erschienen, hatte der Materialismus kaum seine 
ersten Flugversuche gemacht, und es war bis dahin eigentlich nur 
der Streit zwischen Rudolf Wagner und Carl Vogt (Moleschotts 
„Kreislauf des Lebens" war erst 1852, Büchners „Kraft und Stoff", 
diese Bibel des Materialismus, 1855, Czolbes „Neue Darstellung des 
Sensualismus" ebenfalls erst 1855 erschienen). Dagegen hatte bei 
dem Erscheinen von Langes „Geschichte des Materialismus" (1866) 
die materialistische Strömung ihren Höhepunkt erreicht, so dass 
Lange schon als direkter Gegner gegen dieselbe auftrat. — Im 
Übrigen hatte Drobisch schon im Jahre 1842 eine „Empirische 
Psychologie auf naturwissenschaftlicher Methode ** ver- 



Moritz Wilhelm DrobUch. 35 

öffentlicht und war so gewissermassen dem Vorwurf, welcher der 
mathematischen Psychologie gemacht worden war, dass sie in ihren 
Formeln von der Selbstbeobachtung und inneren Erfahrung nicht 
genügend kontroliert sei, zuvorgekommen. 

Dass übrigens die mathematische Psychologie schon früher 
mannigfaltige Gegner gefunden haben muss, geht daraus hervor, 
dass Drobisch schon in seinen „Beiträgen zur Orientierung über 
Herbarts System der Philosophie" (1834) jene Haupteinwände zu 
entkräften bemüht ist. In der III. Abteilung dieser wenig bekannten, 
aber sehr interessanten polemischen Schrift, welche uns gewisser- 
massen die Sturm- und Drangperiode der Herbart'schen Schule 
vergegenwärtigt: „Über zwei Hauptparadoxen der Philo- 
sophie Herbarts," kommt er, nachdem er im ersten Teile das 
metaphysische Paradoxon, die Einwtirfe gegen die von Herbart 
behaupteten Widersprüche in den Begriffen des wirklichen Dings, 
der Veränderung, der Materie und des Ichs, zurückgewiesen, im 
zweiten Teile der Abhandlung auf das psychologische Para- 
doxon, d. h. auf die Frage der Anwendbarkeit der Mathematik auf 
die Psychologie. Die Sprache des damals noch ziemlich jungen 
Professors der Mathematik ist sehr zuversichtlich, selbstbewusst 
und scharf. Später ist Drobisch immer milder, nachsichtiger und 
versöhnlicher geworden. Er verweist zunächst auf Herbarts Schrift 
vom Jahre 1822 „Über die Möglichkeit und Notwendigkeit, Mathe- 
matik auf Psychologie anzuwenden" und bemerkt hierbei: „Hätten 
Diejenigen, welche sich erlaubt haben, über die mathematische 
Psychologie in den Tag hinein zu reden und abzusprechen, 
diese Abhandlung nur oberflächlich durchblättert, so wäre 
es unmöglich gewesen, dass Äusserungen darüber, von denen eine 
die andere an Sinnlosigkeit übertrifft, mit solcher Dreistigkeit 
in die Welt hinausgeschrien werden konnten . . . ." 

Zunächst konstatiert Drobisch, dass Herbart weder in der 
allgemeinen Metaphysik, noch in der Ethik die Mathematik zur 
Anwendung — wo sie auch nicht hingehörte — brachte. Er kennt 
zu gut die Macht, aber auch die Grenzen der mathematischen 
Methode. Dass sie in den Naturwissenschaften an ihrem eigent- 
lichen Platze ist, bedarf für denjenigen keines Beweises erst, welcher 

3* 



36 Moritz Wilhelm Drobisch. 

die Entwickelung der Naturforschung seit drei Jahrhunderten kennt 
Allerdings hat die Physiologie der Hilfsmittel der Mathematik bisher 
nicht in dem Masse wie die übrigen naturwissenschaftlichen Zweige 
sich bedient. Der Grund hierfür liegt in dem Mangel einer allge- 
meinen mathematischen Theorie der inneren Zustände der Wesen; 
aber Drobisch hoflft von der Entwickelung der Physiologie in der 
Zukunft nach dieser Richtung hin das Beste, denn er glaubt und 
hofft, dass die Formeln der mathematischen Psychologie auch in 
der Physiologie sich künftig als brauchbar erweisen werden. Es 
sei nur, meint Drobisch, eine leere Deklamation, behaupten zu 
wollen, das Leben entziehe sich dem Kalkül. Zum Beweise hierfür 
bezieht er sich auf Quetelet und die Moralstatistik, welche in 
den gesellschaftlichen Verhältnissen der Menschen, trotz des „freien" 
Willens der letzteren, in Bezug auf ihre Geschlechts-, Bevölkerungs- 
und Emährungsverhältnisse die Herrschaft konstanter Zahlen und 
numerisch bestimmbarer Gesetze nachweist. Dies möge Diejenigen 
warnen, welche Mechanik des Geistes gar für eine Versündigung 
an der Moralität und Religion halten. — „Man hat keinen Grund, 
weder aus Ehrfurcht vor der endlosen Fülle der lebendigen Natur, 
noch aus vermeintlicher Moral und Religiosität, vor dem Gedanken 
einer mathematischen Psychologie zurückzubeben. Andemteils seien 
die grossartigen Triumphe der Mathematik über alle Schwierigkeiten, 
welche die proteusartigen Umwandlungen der Natur ihr in den 
Weg legen, verlockend genug, ein so ausgezeichnetes Hilfsmittel 
zur höheren Erkenntnis auch bei der Erforschung der inneren 
Welt unseres Geistes, in der Experiment und künstliche Be- 
obachtung fortfällt*), zu benutzen." Dass der Gedanke einer 
Gleichgewichts- und Bewegungslehre nahe liege, gehe 
schon aus dem Sprachgebrauch hervor, welcher aus der physikali- 
schen Mechanik eine Reihe von Metaphern entnehme: „Gleich- 
gewicht," „Bewegung," „Erschütterung" des Gemüts, „ Cxeschwindig- 
keit," „Kommen und Gehen," „Aufsteigen" des Gedankens etc. 
Unsere Vorstellung habe bald mehr, bald weniger Klarheit, unser 

*) Als Drobisch im Jahre 1834 dieses schrieb, konnte er nicht ahnen, dass 
sein späterer Kollege, W. Wundt, gerade mit Hilfe der Beobachtung und des 
Experiments seine ,Experimental-Psychologie* aufbauen werde. 



Moritz Wilhelm Drobisch. 37 

Gefühl grössere oder geringere Intensität, unsere Leidenschaften 
sind bald heftiger, unser Wollen energischer als sonst, unsere 
Einbildungskraft und Erinnerung rascher oder langsamer etc.: 
also lauter quantitative Bestimmungen, die der Rechnung unter- 
worfen werden können. 

Nun hatte ja allerdings der Hegelianer Carl Rosenkranz in 
seiner Beurteilung der mathematischen Psychologie von der Unge- 
lenkigkeit und Härte der mathematischen Formeln, die in die feine 
Struktur des Seelenlebens nicht einzudringen vermögen, gesprochen. 
— Hierauf giebt der Mathematiker Drobisch eine sehr treffende 
Antwort: „Wissen denn wohl Diejenigen, welche sich darüber am 
meisten beklagen, dass unsere höhere Analyse nichts Anderes ist, 
als der Kalkül der fliessenden Grössen, wie ihn auch Newton 
nannte, dass die Differentialformeln Veränderungen jeder erdenk- 
baren Gesetzmässigkeit, die stetigsten und unmerklichsten, wie die 
plötzlichsten, mit grösster Treue und Geschmeidigkeit auszudrücken 
geeignet sind? Wissen sie, dass es die Integralrechnung versteht, 
die Summe unendlich vieler vereinigter Wirkungen, deren 
jede für sich unendlich klein ist, zu ziehen und so die endliche 
Gesamtwirkung jener verschwindenden Elemente anzugeben? Kennen 
sie denn eigentlich die wahre Bedeutung jener Formel? Haben sie 
begriffen, dass die algebraische Formel nicht bloss der Ausdruck 
des abstrakten Gesetzes ist, sondern auch die Bestimmung des 
Konkreten durch das Allgemeine in sich enthält? Wissen sie, 
dass die einer Naturerscheinung angemessene Formel diese in ihrer 
ganzen Individualität in Begriffen reproduziert; dass die Formel 
der vollständige Ausdruck eines Naturgesetzes ist, und dass jede 
Fassung in blosse Begriffe, mit Umgehung der Beziehung der 
Quantitäten, unzulänglich bleibt, indem sie bloss die oberflächliche 
Allgemeinheit enthalten kann?" 

Aber gut: vorausgesetzt, es sei so, so würde dieses Alles doch 
nur für extensive Grössen zutreffen. Wo will aber die mathe- 
matische Psychologie für intensive, innere, ideelle Grössen einen 
Massstab hernehmen ? Und dieses war eigentlich der Haupteinwurf 
der Gegner der mathematischen Psychologie und das wichtigste 
und treffendste Argument derselben. Sehen wir nun zu, wie sich 



38 Moritz Wilhelm Drobisch. 

hier Drobisch, der in diesem Punkte doch der Hauptwortfiihrer 
der Herbart'schen Schule wai, zu helfen wusste. Drobisch gesteht 
zu die Unmöglichkeit der direkten Messbarkeit intensiver 
Grössen in der Psychologie. Aber abgesehen davon, dass die 
intensiven Grössen der äusseren Natur sich in gleichem Falle be- 
finden, wobei allerdings zu beachten ist, dass sich allmählich mancherlei 
Mittel zu ihrer indirekten Vergleichung gefunden haben, was ja 
auch für die Psychologie zu hoffen sei, so hält er die Folge- 
rungen fiir falsch, die man aus jenem Mangel gezogen hat. 

„Die mathematische Psychologie," sagt Drobisch, „schwebt in 
jedem Falle nicht mehr und nicht weniger in der Luft als die 
Geometrie und die reine Mechanik. Vom Messen ist in den ersten 
vier Büchern Euklid's nicht einmal die Rede, und später wird so 
davon gesprochen, dass an eine Darlegimg der praktischen Aus- 
führbarkeit desselben gar nicht zu denken ist. Ebenso hat es die 
reine Mechanik, wenn sie vom mathematischen Hebel, vom ein- 
fachen Pendel, von der Wurfbewegung im leeren Räume spricht, 
mit rein abstrakten Voraussetzungen zu thun und nicht mit 
dem, was die Wirklichkeit giebt. Nichtsdestoweniger stehen diese 
Wissenschaften in hohem Ansehen; sollten sie dies bloss ihrer em- 
pirischen Brauchbarkeit verdanken? Gewiss werden dies am wenig- 
sten die Philosophen behaupten wollen. Doch besinnen wir uns, 
dass letztere (z. B. Eduard Beneke) wohl geneigt sind, der mathe- 
matischen Psychologie einen Ehrenplatz in der Mathematik zu gönnen, 
dass sie sich aber ihre Gegenwart in der Philosophie verbitten. Da 
müssen wir denn solchen Philosophen gegenüber geltend machen, 
dass die mathematische Psychologie im System keineswegs haltlos 
in der Luft hängt zwischen Spekulation und Erfahrung, sondern 
dass sie wissenschaftlich aus den metaphysischen Untersuchungen 
über das Ich hervorgeht, ja dass bekanntlich Herbart auf diese 
Weise wirklich zu ihr gelangt ist und nur aus Rücksicht auf Mathe- 
matiker und Naturforscher sie allenfalls auch als eine blosse Rech- 
nungshypothese aufzufassen gestattet hat. Wollte man etwa, nach- 
dem die Begriffe von Vorstellungen, die durch ihren Gegensatz 
zu Kräften werden, von Strebungen, Hemmungen der Vorstellungen 
etc. auf metaphysischem Wege gewonnen sind, von den quantitativen 




Moritz Wilhelm Drobisch. 39 

Unterschieden, die für sie statthaben können, nur so ganz im all- 
gemeinen sprechen, ohne es bis zum Rechnen kommen zu lassen, 
ungefähr so, wie es Beneke haben will, so können wir darin nur 
iene furchtsame Weisheit finden, die im Gefühle ihrer Unsicher- 
heit auf halbem Wege stehen bleibt, um ja nicht viel zu wagen. 
Denn wenn an die Möglichkeit einer Vergleichung irgend einer 
Theorie mit der Erfahrung gedacht werden soll, so darf man nicht 
bei einigen dürftigen naheliegenden Folgerungen aus dem Princip 
stehen bleiben, sondern muss diesem die ausführlichste Entwickelung 
geben, und hierbei ist der Kalkül unentbehrlich. Vom einfachen 
gleicharmigen Hebel kann man zum materiellen Wägebalken mit 
seinem Dreh- und Schwerpunkt, von dem einfachen zum zusammen- 
gesetzten Pendel, auf das Luft und W^ärme influieren etc., synthetisch 
übergehen, indem man den einfachen Voraussetzungen neue Be- 
dingungen hinzufügt, die vorher unberücksichtigt blieben; dann 
erst nähert man sich der Wirklichkeit und kann am Ende die 
Theorie mit der Erfahrung vergleichen/' 

Welche Nutzanwendung macht nun Drobisch aus diesen physi- 
kalischen Gleichnissen? Er meint, dass gerade das Bestreben, eine 
ins einzelne gehende Vergleichung der psychologischen Theorie mit 
der Erfahrung zu geben, die höchstmögliche mathematische Ent- 
wickelung erfordert. Aber ftir so wahrscheinlich Drobisch den Ein- 
fluss einer solchen reichern Entfaltimg der mathematischen Psycho- 
logie für die Zukunft hält (die letzten 6o Jahre, seitdem diese Schrift 
verfasst ist, haben freilich diese Hoffnung Drobischs nicht bestätigt), 
so sehr hält er die bis dahin hervorgetretenen Leistungen Herbarts 
für bedeutend genug, um auf dieser Grundlage weiter zu bauen. 
Die Erkenntnis der W-ahrheit schreite stufenweise und nur langsam 
vor. Wer die Planetenbahnen um die ruhende Sonne für kreisrund 
hält, sei, obwohl er das Richtige nicht sagt, der Wahrheit jedenfalls 
näher als derjenige, der die scheinbare Bewegung der Sonne für die 
wirkUche hält. Und so sei es auch hier in der Psychologie: „Wie 
entfernt auch die den verhältnismässig einfachen Rechnungen ent- 
sprechenden Voraussetzungen von der Wirklichkeit sind, so sind 
doch diese Formeln viel schärfere Umrisse des Wirk- 
lichen, viel bestimmtere Grenzen, zwischen denen das- 



40 Moritz Wilhelm Drobisch. 

selbe liegen muss, als ohne Mathematik zu erreichen 
wäre. Dass z. B. nicht das Behalten, sondern das Vergessen er- 
klärt werden müsse, hatte vor Herbart schon Fries eingesehen und 
dasselbe auf eine ins Unbegrenzte gehende gradweise Ver- 
dunkelung unserer Vorstellungen zurückzuführen gesucht, obgleich 
er sich damit schon eine Abweichung von der Erfahrung, die nur 
von gleichzeitigem Bewusstsein weniger Vorstellungen und der 
gänzlichen Bewusstlosigkeit aller übrige a etwas weiss, erlaubt 
hatte. Die ersten Seiten von Herbarts Statistik des Geistes gaben 
schon das durch seine Bestimmtheit höchst überraschende Resultat^ 
dass, wenn drei oder mehrere Vorstellungen gleichzeitig vorgestellt 
werden, bei gewissen Zahlenverhältnissen ihrer relativen 
Stärke die schwächste von den stärkeren völlig unterdrückt 
werden und somit auf Zeit in Vergessenheit kommen kann. Welche 
interessante und mit dem Allgemeinen der Erfahrung gar wohl über- 
einstimmende Folgerungen enthalten aber die Lehren von der 
Komplikation, der Verschmelzung, der Reproduktion, der 
zeitlichen Entstehung der Vorstellungen etc., Folgerungen^ 
von denen man ohne Anwendung der Mathematik keine Ahnung 
gehabt hätte." 

Aber diese eifrige Apologetik Drobischs hat nur wenig gefruchtet: 
die mathematische Psychologie Herbarts ist, wie die philosophische 
Entwickelung der letzten 50 Jahre zeigte, als keine dauernde Er- 
rungenschaft der Philosophie, als kein xtfjfiaelg ae!, etwa wie 
Kants Erkenntnistheorie anzusehen und heute, wo die Wirksamkeit 
der Schule Herbarts überhaupt stark in den Hintergrund getreten 
ist, so gut wie ohne Leben, wenn das Leben einer Lehre, die nur 
noch in den historischen Kompendien dargestellt wird, noch als ein 
„Leben" zu bezeichnen ist. — So niederschlagend für jeden Her- 
bartianer diese Thatsache sein mag, so muss er sich doch mit 
anderen, einst noch berühmteren Theorien trösten, die in der Ge- 
schichte der Philosophie aufgetreten sind, eine Zeit lang geglänzt 
haben und dann verlassen wurden, um neuen Lehren Platz zu 
machen. Man denke nur an das Schicksal der so berühmten pla- 
tonischen Ideenlehre oder an die Stoische Ethik etc. Aber damit 
ist nicht gesagt, dass jene Lehren nun auch gänzlich vergessen sind: 



Moritz Wilhelm Drobisch. 41 

sie wirken doch historisch weiter, und mancher spätere metaphysische 
Gedanke ist oft nichts als die Umbildung eines früheren. Ob Her- 
barts mathematische Psychologie nicht einst — vielleicht nach Jahr- 
hunderten — in anderer Gestalt wieder auftreten wird? 

Von Drobischs grösseren systematischen Werken erwähne ich 
noch seine „Grundlehren der Religionsphilosophie" (1840). 
Es ist im ganzen Herbarts Standpunkt, auf welchem hier ein 
ethischer Theismus aufgebaut ist, welcher das Bestreben zeigt, 
mit den Grundlehren der modernen wissenschaftlichen Theo- 
logie Fühlung zu erhalten. Wie es die Aufgabe der Meta- 
physik sei, die Widersprüche in den gegebenen höchsten Begriffen 
der Wissenschaften und des Lebens zu erkennen und zu eliminieren, 
so habe die Religionsphilosophie den Zweck, die gegebenen Vor- 
stellungen im religiösen Gebiete zu begreifen und auf ihren tiefem 
philosophischen Sinn zurückzufuhren. — Als Psychologen liegt es 
natürlich Drobisch nahe, die natürlichen anthropologischen 
Quellen aller religiösen Empfindungen zu untersuchen, deren 
Ursprung er in dem Gefühl der Beschränktheit und Ohnmacht des 
Menschen findet. Hieraus entspringt, wie schon die alten Ra- 
tionalisten und Deisten des 18. Jahrhunderts angenommen haben, 
im Menschen der Wunsch nach Befreiung aus diesem begrenzten 
Dasein und das Bedürfnis nach Erlösung aus den Banden 
aller irdischen, materiellen Existenz. (Herbart sagt: „Die Religion 
setzt das Ewige dem Zeitlichen entgegen", Encyklop. der Philos. 
S. 61). Freilich ist dieses Erlösungsbedürfnis noch nicht im kirch- 
lichen Sinne zu verstehen, sondern nur als das Bedürfnis einer 
Erhebung aus der Region irdisch-sinnlicher Beschränkung zu höheren 
und freieren Sphären des Daseins. Und dieses führt uns auf den 
hohenBegriflf der Gottheit, deren Existenz, Wesen und Wirksamkeit 
sehr wohl durch metaphysische Spekulation erhärtet werden kann 
— und hierin besteht die wissenschaftliche Berechtigung 
aller Religionsphilosophie. So nun steht Drobisch im Gegen- 
satze zu Kant, mit dem er allerdings jedoch wieder darin über- 
einstimmt, dass er den ontologischen, wie den kosmologischen Beweis 
für das Dasein Gottes verwirft. Weit annehmbarer erscheint ihm 
schon der sogenannte teleologische Beweis, der wenigstens die 



42 Moritz Wilhelm Drobisch. 

Existenz Gottes als höchst wahrscheinlich erscheinen lässt*). 
Um jedoch diese blosse Wahrscheinlichkeit zur Überzeugung und 
Gewissheit zu steigern, treten, wie bei Kant, die moralisch-prak- 
tischen Glaubensgrtinde hinzu, deren wichtigster darin besteht, 
dass uns aus zwingenden ethischen Gründen die Realisierung des 
höchsten Guts, d. h. die Verwirklichung des moralischen Weltzweckes 
(Fichte) obliegt, dieses jedoch nur dann ausführbar ist, wenn wir 
mit Kant ein Wesen setzen, welches die wirkende Ursache dieses 
sittlichen Weltzweckes und zugleich der für diesen Zweck zureichen- 
den Mittel in der Natur ist. — Aber Drobisch geht dann über 
diesen bloss teleologischen Gott hinaus und gelangt schliesslich bei 
einem theologischen an, dessen supramundanes, selbstbewusstes 
Wesen durch Herbarts ethische Ideen der Heiligkeit, der Vollkommen- 
heit, der Liebe, der richtenden und vergeltenden Gerechtigkeit 
bestimmt ist. 

Ausser den grösseren W^erken, die wir oben analysiert haben, 
hat Drobisch noch eine grosse Zahl kleinerer, aber gehaltvoller 
philosophischer Arbeiten verfasst, und zwar teils in Artikelform für 
das offizielle Organ seiner Schule, die „Zeitschrift für exakte Philo- 
sophie", teils als Monographien. In letzterer Beziehung nennen 



*) Her hart sagt: , Sobald die teleologische Naturbe trachtung 
ihren Standpunkt wieder einnimmt, wird es offenbar, dass Religion nicht vom 
Herzen ausgehend nach dem Herzen könne gemodelt werden; und dass, wie 
freundlich auch der Fixstern uns überall hin auf unseren Wegen und Stegen 
begleitet, es doch Thorheit ist, ihn ans Herz drücken zu wollen. Er dringt 
zwar dem Auge seine Entfernung nicht auf; er wird zwar nicht mit der un- 
leugbarsten Bestimmtheit gesehen; aber greifen könnt ihr ihn doch nicht 
Glauben müsst ihr, dass er eine Sonne ist, und nicht bloss ein leuchtendes 
Pünktchen; aber auch dieser Glaube steht nicht in eurem Belieben, sondern 
alles andere, was jemand versuchen möchte, lieber zu glauben, ist ungereimt. 
Diese fast bestimmte Einsicht nun ist der Religion nicht gleichgültig, sondern 
sie gehört zum Bedürfnis derselben. Denn jene Tröstung, Ermahnung, Er- 
hebung muss einen Punkt haben, von wo sie ausgeht. Freilich aber muss sie 
auch zum Herzen gelangen, sie muss innerlich zugeeignet werden. Das 
Entfernte muss ein völlig Gegenwärtiges sein. Hierin liegt der Zauber 
der Religion, der freilich manchen trüben Kopf veranlasst hat, sie mit un- 
gereimten Begriffen zu belasten und sich am Ende gar einzubilden, der grösste 
Unsinn sei die grösste Frömmigkeit". Kurze Encyklop. d. Philos. S. 65.) 



Moritz Wilhelm Drobisch. 43 

wir die mathematisch-psychologische Untersuchung: „Disquisitio 
mathematico-psychologica de perfectis notionum perplexi- 
bus" (1846). Die fünf Hefte des akademischen Programms „Qua e- 
stiones mathematico-psychologicae" (1836 — 39) haben wir 
oben schon erwähnt. Der gegen Kuno Fischer polemisierende 
Aufsatz „Über die Stellung Schillers zur Kantischen Ethik", welcher 
diese Frage nahezu erschöpft und den er im November 1869 in 
der königlich sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig 
vorlas und in den Berichten dieser Gesellschaft (Philos.-histor. Gl. 
Bd. IX. Jahrg. 1859) veröffentlichte, darf als ästhetisch-historische 
Studie ein Meisterstück in seiner Art genannt werden. Die be- 
deutungsvolle akademische Schrift (zum Gedächtnis Joh. Aug. Er- 
nestis) „De philosophia scientiae naturali insita" (1864), an 
welche wir nun herantreten, ist hauptsächlich durch die materialistisch- 
naturphilosophischen Diskussionen jener Zeit veranlasst worden. 

Die scharfsinnige und tief eindringende Abhandlung stellt sich, 
zum Teil auf Helmholtz' Forschungen im Gebiete der Sinnesphysio- 
logie sich stützend, die Aufgabe, in der Auffassung und Erklärung 
der Naturphänomene nicht minder die Realität der Erscheinungen, 
als die ideelle Bedeutung der sinnlichen und logischen Formen 
unseres Intellekts zu erweisen, wie er ja auch in der Naturforschung 
nicht bloss der Erfahrung, sondern auch den Vemunftgründen Wich- 
tigkeit beilegt (in exploratione naturae rationis argumentis non mi- 
norem concedi auctoritatem quam experientiae testimoniis). Zu 
diesem Zwecke untersucht Drobisch den Begriff von Gesetz und 
Ursachen der Erscheinungen (leges et causae phaenomenorum) und 
erklärt in Übereinstimmung mit dem Physiologen Helmholtz un- 
sere Sinneswahmehmung nicht als reale Abbilder der Aussenwelt, 
sondern als solche, denen nur symbolischer Wert mit Bezug auf 
die diurch sie auszudrückende Realität beigelegt werden kann. In 
Übereinstimmung mit Kant bilden ihm die Wahrnehmungen die 
Materie, die Zeit- und Raumbegriffe die Formen aller Erkenntnis 
und ohne die letztere geben uns die Sinne nur ein chaotisches und 
rohes Material, welches nimmer eine Wahrnehmung bilden kann 
(satis liquet, rationis auxilio non adhibito sensus fere nihil nisi rüdem 
indigestamque perceptionum molem nobis offerre). Im weiteren 



44 Moritz Wilhelm Drobisch. 

unterscheidet Drobisch Naturgesetze von Normalgesetzen (leges 
naturales und leges normales); durch jene wird das einzelne, so 
weit es ist und geschieht, begriffen (singula, quae sunt et fiunt), 
durch diese, insofern sie dem menschlichen Willen vorschreiben, 
was er zu thun und was er zu unterlassen hat (quae volimtati hu- 
manae, quid agendum sit, quid ommittendum, praecipiunt). Aber 
der Ursprung beider Arten von Gesetzen ist entgegengesetzt. Denn 
die Normalgesetze gehen in uns dem, was ihnen unterworfen wird, 
voran; während die Naturgesetze in uns erst der Erkenntnis der 
Naturphänomene nachfolgen. Im übrigen rechnet Drobisch auch 
die mathematischen Gesetze zu den Naturgesetzen. — Zu 
den eigentlichen naturphilosophischen Fragen übergehend, konstatiert 
Drobisch, dass die letzten Erklärungsprincipien der Natur nicht 
tpaLv6(iBva, sondern voovfitva sind, auch hier in Übereinstimmung 
mit Helmholtz. welcher sagt:' „Eine Naturerscheinung ist physi- 
kalisch erst dann vollständig erklärt, wenn man sie bis auf die 
letzten ihr zu Grunde liegenden und in ihr wirksamen Natiu-kräfte 
zurückgeführt hat. Da wir nun die Kräfte nie an sich, sondern 
nur ihre Wirkungen wahrnehmen können, so müssen wir in jeder 
Erklärung von Naturerscheinungen das Gebiet der Sinn- 
lichkeit verlassen und zu unwahrnehmbaren, nur durch 
Begriffe bestimmten Dingen übergehen. 

Diesen Satz erweist Drobisch aus einer mechanischen imd mathe- 
matisch-physikalischen Erörterung der Atombewegung, welche ergiebt, 
dass Bewegungskräfte (vires motrices) in der Natur gar nicht exi- 
stieren, sondern dass wir bei den letzten Naturerklärungen mit New- 
ton genötigt sind, so zu verfahren, als ob sie existierten (has vires 
in rerum natura vere esse non asserit [Newton], sed nihil nisi hoc, 
corporum motus sie se habere, ac si ejusmodi vires vere existerent). 
Daher, schliesst Drobisch weiter, sei die Kausalität auf den Be- 
griff des zureichenden Grundes zurückzuführen, und in der 
ganzen Erklärung von Naturerscheinungen giebt es keine andere 
Notwendigkeit, als diejenige ist, welche durch das Denken allein 
gesetzt ist. Denn: „Concessis viribus atomis insidentibus et lege 
inertiae, reliqua omnia e legibus ratiocinandi necessario sequuntur; 
ea vero necessitas, ex qua atomi virium impulsui obedientes moveri 




Moritz Wilhelm Drobisch. 45 

et secundum legem inertiae in motu perseverare dicuntur, nullo 
modo demonstratur, sed simpliciter supponitur." Die ganze 
Naturerklänmg, folgen Drobisch hieraus, hat also nur den Wert 
einer subjektiven und formalen Erkenntnis. Alle Naturforschung 
kommt aus dem Punkte nicht heraus, die Mannigfaltigkeit und 
Wechselwirkung der Erscheinungen durch die Denkgesetze zu meistern. 
Die Naturgesetze sind allgemeine Urteile, unter welche das Einzelne 
und Veränderliche zusammengefasst wird und die „Ursachen", deren 
sich die Naturforscher bedienen, geben nicht den notwendigen Zu- 
sammenhang der Dinge und ihrer Veränderungen (non nexum ne- 
cessarium inter res ipsas earumque mutationes), sondern den for- 
malen Zusammenhang der Begriffe und Urteile über die Erschei- 
nungen und vorausgesetzten Kräfte (sed nexum formalem notionum 
et judiciorum de phaenomenis viribusque suppositis). Oder auch: 
die Aufgabe aller Naturforschung geht dahin, die Erscheinungen 
der Vernunft zu unterwerfen (naturae explorationem id intendere, 
ut phaenomena rationi subjiciat). Aber er verhehlt sich nicht, dass 
damit die Naturforscher nicht zufrieden sein werden; denn er ge- 
steht: quamquam enim mens et ratio humana imaginando et cogi- 
tando innumerabiles fere numerorum, figurarum et motuum formas 
invenit earumque proprietates enucleavit, non omnia tamen haec ad 
naturam rerum quadrant, sed pauca tantum phaenomenis conveniunt; 
et satis superque docet scientiae naturalis historia, quam difücile 
Sit, ex illo formarum apparatu eas eligere, quibus verae leges et 
causae naturales declarantur. Allerdings lassen sich die Erschei- 
nungen keine Gewalt anthun, und sie verweigern einen Gehorsam, 
den man ihnen durch gewaltsam auferlegte Gesetze abfordert. Dro- 
bisch trägt daher kein Bedenken, obigen Satz von der Unterwerfung 
der Natur unter die Denkgesetze geistreich dahin zu modifizieren: 
rationem quidem leges ferre et rogare, naturam autem aut accipere 
aut repudiare. Also ein ähnliches Verhältnis wie etwa zwischen der 
Regierung und der Landesvertretung, welche auch das Recht hat, 
Gesetzesvorlagen anzunehmen oder zurückzuweisen. Die Begriffe 
des Seins und Denkens (essendi et cogitandi notiones) sind eben 
nicht identisch, wie die Identitätsphilosophie Hegels und seiner 
Schule angenommen hat. 



46 Moritz Wilhelm Drobisch. 

Auf Grund dieser Darlegungen möchte Drobisch alle Natur- 
philosophie definieren als einen formalen Idealismus, der durch einen 
Zusatz von empirischem Realismus gemässigt ist (idealismum for- 
malem realismi empirici additamento quodam moderatum). Dass 
die Dinge ausser uns sind, erkennt er an; von welcher Art sie aber 
sind, und durch welches Band sie zusammengehalten werden, weiss 
er nicht, da er den Begriff der Ursache nicht als eine reale, 
sondern als eine formale Form des Zusammenhangs der Welt 
erkennt. Drobisch stellt sich also hier zwischen Kant einerseits, 
und den Materialismus andererseits. Diesen letzteren weist er 
als hypothetisch, ja ganz unwissenschaftlich zurück: hoc enim 
certum, exactam quamque phaenomenorum theoriam omnia et singula 
ad cogitationis leges revocare; at vero multum abest, ut jam de- 
monstratum sit, cogitandi, sentiendi et volendi facultatem unice de- 
beri mutationibus quibusdam physicis et chemicis elementorum in 
cellulis cerebri inclusorum, cerebrique machinam fabulas poetarum, 
systemata philosophorum, theoremata geometrarum ispsasque physi- 
corum et physiologorum theorias fabricari. Aber Drobisch gesteht, 
dass nicht alle Anhänger des Materialismus zu diesen „rohen" (rüdes) 
Anschauungen sich bekennen; vielmehr gebe es „gebildetere" (cul- 
tiores) Materialisten, welche nur leugnen, dass wir durch unsere 
Sinneswahmehmungen die Dinge selbst und ihr Wesen erkennen, 
sondern dass hinter den Erscheinungen „Substanzen", d. h. Atome, 
stecken. Und dieses sei aus einer gewissen „Denknotwendigkeit" 
anzunehmen. 

Da die Materialisten mm aber ihr Hauptargument aus der 
Bewegung der Atome herleiten, beweist ihnen Drobisch, wie diese 
„gemässigten Naturalisten", obgleich meist ohne Wissen und wider 
Willen, ihre letzte Zuflucht bei der Erforschung der Natur doch 
wiederum in den Vemunfturteilen und Vemunftschliissen suchen 
müssen. 

Von bedeutendem Werte ist Drobischs Monographie „Die mo- 
ralische Statistik und die menschliche Willensfreiheit" 
(1867) insofern derselbe hier bemüht ist, durch eine Reihe scharf- 
sinniger Analysen die Behauptung der Deterministen zu widerlegen, 
dass nach den Ergebnissen der Moralstatistik die Willensfreiheit nicht 




Moritz Wilhelm Drobisch. 47 

mehr aufrecht erhalten werden könne. Dieser Arbeit hat selbst ein 
Kritiker von der Bedeutung Fr. Albert Langes eine „zwingende Über- 
zeugungskraft" beigelegt. 

Einen bedeutsamen Beitrag zur Gymnasialpädagogik lieferte 
Drobisch in dem gerade vor 60 Jahren verfassten Werke: „Philo- 
logie und Mathematik als Gegenstände des Gymnasialunterrichts" 
(1832). Als Professor der Mathematik hatte er Gelegenheit, die Er- 
fahrung zu machen, dass diejenigen jungen Leute, welche von den 
sächsischen Gymnasien abgehen und die Leipziger Hochschule be- 
hufs Studiums der mathematischen Wissenschaften beziehen, meist 
in der letzteren Disciplin sehr ungenügend vorbereitet sind und 
infolgedessen die akademischen Studien nur mit ungenügendem Er- 
folge betreiben. Drobisch hält es nun für seine Aufgabe, dahin- 
gehende Vorschläge zu machen, um diesem Übelstande abzuhelfen. 
Wenn daher der Ausgangspunkt, insofern er die sächsischen Gym- 
nasien betrifft, gewissermassen nur ein von lokalen Prämissen be- 
herrschter ist, so erhebt sich doch die Betrachtung zu höheren und 
allgemeineren Gesichtspunkten, indem der Verfasser das innere 
Verhältnis des pädagogischen Wertes der antiken Sprachen und der 
Mathematik einer logisch -psychologischen Untersuchung 
unterzieht und so zu Resultaten gelangt, welche unseres Erachtens 
gerade heute, wo die Reform der Gymnasien auf der Tagesordnung 
der öffentlichen Diskussion steht, Beachtung verdienen. Drobisch 
erkennt die Wichtigkeit der philologisch -historischen Unterrichts- 
objekte nach ihren pädagogischen, ethischen und ästhetischen Mo- 
menten vollkommen an; aber um so mehr fordert er auch einer- 
seits, dass dieser Unterricht rationell gestaltet werde, d. h. dass er 
die Zwecke der Schule im Auge behalte und sich nicht, wie es 
wohl vielfach vorkam, dahin verliere, dass z. B. bei der Interpre- 
tation der antiken Schriften das philologisch-kritische Verfahren 
in Anwendung komme, andererseits, dass auch die pädagogische 
Wirkung des mathematischen Unterrichts, insbesondere in Bezug 
auf die Ausbildimg des Denk-, Urteils-, und Schlussvermögens, sowie 
mit Rücksicht auf Erreichung von Klarheit, Ordnimg und Konse- 
quenz in der Gedankenbildung anerkannt werde. — Uns sind in 
der gymnasial-pädagogischen Literatur der Neuzeit wenige Arbeiten 



48 Moritz Wilhelm Drobisch. 

bekannt, welche das hier behandelte Thema so lichtvoll, so tief ein- 
dringend und mit so feinem psychologischen Blicke behandeln wie 
die Schrift Drobischs. — Zu vergleichen wäre damit vielleicht nur 
noch das Werk Friedrich Ueberwegs, des leider zu früh ver- 
storbenen scharfsinnigen Logikers und kenntnisreichen Historikers 
der Philosophie. Ueberweg bewegt sich in seinem Buche: „Die 
Entwickelung des Bewusstseins durch den Lehrer und Erzieher" 
(1853) ebenfalls zwar mit Bezug auf eine Gymnasialreform, aber 
wesentlich auf der Grundlage der Psychologie von Beneke, in einem 
ähnlichen Gedankenkreise wie Drobisch. 

In die erkenntnistheoretischen Diskussionen der Gegen- 
wart griff Drobisch noch vor 7 Jahren in bedeutsamer Weise ein 
und zwar durch seine Untersuchung: „Kants Ding an sich und 
sein Erfahrungsbegriff" (1885). In der unübersehbaren Kant- 
Litteratur der letzten Dreissig Jahre (seitdem Ed. Zeller 1862 seine 
Heidelberger Antrittsrede „Über Bedeutung und Aufgabe der Er- 
kenntnistheorie" veröffentlichte) bildet die Schrift Drobischs eine 
hervorragende Untersuchung, welche die vielumstrittene Frage der 
Stellung der Kantischen „Dinge an sich" innerhalb seiner Er- 
kenntnistheorie zum Abschluss gebracht hat. Drobisch kommt 
gegenüber von Kuno Fischer, B. Erdmann, Cohen und Vaihinger 
zu dem Resultat, dass Kant jene „Dinge — an sich" für not- 
wendige Voraussetzungen unseres Denkens gehalten hat, dass aber 
ihre wirkliche Existenz sich weder behaupten, noch schlechthin 
leugnen lässt, also problematisch bleibt. Drobisch erklärt die 
„Dinge — an sich" zwar für „Grenzbestimmungen", aber nicht für 
„Grundsteine" der Kantischen Erkenntnistheorie. — Im zweiten 
Teile der Schrift wird der Kantische Begriff der „Erfahrung" er- 
örtert. Drobisch behauptet, es sei Kants Absicht gewesen, darzu- 
thun, dass aller Verstandesgebrauch nur dann zu wahrer Erkenntnis 
führe, wenn er die Begreiflichkeit der Erfahrung sich zum Ziele 
setzt. Aber Kant habe über dieses Ziel hinausgeschossen, indem 
seine „Erfahrung" ihm unter der Hand zum Produkt geworden sei, 
welches der Verstand mittelst der unter seiner Herrschaft stehenden 
figürlichen Einbildungskraft (transscendentales Schema) aus 
dem ihm gegebenen Material der Empfindungen sich schafft. 




Moritz Wilhelm Drobisch. 49 

Hierdurch sei Kant einer Art des Idealismus nahe gekommen, 
der noch weiter ging, indem er nicht nur die Form, sondern auch 
den Stoff der Gegenstände der Erfahrung auf die schöpferische 
Selbstthätigkeit des denkenden Subjekts zurückzuführen suchte. Aber 
Kant selbst habe sich gegen eine solche Konsequenz gesträubt, 
wie seine Erklärung über Fichtes „Wissenschaftslehre" (vom J. 1 799), 
dass sie „ein gänzlich unhaltbares System" sei, beweise. Drobisch 
meint nun, dass hierdurch Kant mit sich selbst in Widerspruch ge- 
raten sei, indem er einerseits die Möglichkeit einer Konsequenz 
aus seiner Lehre, wie sie Fichte zog, für möglich hielt, andererseits 
aber seine realistische Überzeugung einer solchen Folgerung ent- 
gegen stand. Aber Kant konnte diesen seinen inneren Widerspruch 
nicht beseitigen, meint Drobisch, weil es ihm entgangen sei, dass 
an den Gegenständen der sinnlichen Wahrnehmung nicht bloss die 
Empfindungen, sondern auch „die bestimmten unabänderlichen 
Formen der empirischen Anschauungen, die räumlichen und zeit- 
lichen Konfigurationen der Empfindungen uns gegeben sind, und 
dass wir sie diesen letzteren nicht vorschreiben dürfen." Aus diesem 
Widerspniche, den Kant nicht löste, erklärt Drobisch die eigen- 
tümliche historische Fortentwickelung der nachkantischen Speku- 
lation, indem einerseits Kants formaler Idealismus in einen ma- 
teriellen verwandelt wurde, andererseits der Versuch gemacht 
wurde, das realistische Element bei Kant fester zu begründen 
und weiter auszubilden. Hier ist offenbar der Realismus Herbarts 
gemeint — , wie überhaupt Drobisch gern den Urspnmg seines Systems 
in engste Beziehung zu Kant setzt. Dieses erhellt auch aus einer 
der letzten kleineren Schriften desselben, aus der Rede, welche er 
bei Gelegenheit des 1 00jährigen Geburtsjubilfiums Herbarts (4. Mai 
1876) in der Aula der Leipziger Hochschule gehalten hatte: „Über 
die Fortbildung der Philosophie durch Herbart**. Hier zeigt er die 
Fäden auf, welche den Herbart'schen Realismus mit der Kant'schen 
Erkenntnistheorie verbinden. Hatte sich ja auch Herbart selbst 
gern einen „Kantianer" genannt 

Es war dieses das letzte öffentliche akademische Auftreten 

des greisen Gelehrten, und er mochte es als eine hohe Gunst des 

Schicksals angesehen haben, dass es ihm, dem Mitbegründer der 

4 



50 Moritz Wilhelm Drobisch. 

Herbart'schen Schule, noch vergönnt gewesen ist, zur akademischen 
Gedächtnisfeier seines Freundes die offizielle Rede halten zu können. 
Die eigentliche Festrede bei der an diesem Tage erfolgten Ent- 
hüllung des Standbildes Herbarts in Oldenbiu-g, dem Geburtsorte 
des grossen Philosophen, hatte ein jüngerer Schüler desselben, Pro- 
fessor Moritz Lazarus aus Berlin, gehalten. * 

Noch bis vor kurzem konnte man täglich in den Nachmittags- 
stunden den würdigen Senior unserer Universität um die Promenade 
spazieren gehen sehen: das von langen weissen Haaren umrahmte 
Haupt sinnend etwas gebeugt Wer aber einen Blick in die ernsten 
fast strengen Gesichtszüge that, fühlte sich besonders von den 
grossen stahlblauen Augen des freundlichen und liebenswürdigen 
Greises gebannt: dieser wie aus der Tiefe kommende, seinen Gegen- 
stand ruhig und scharf fbderende Blick kann nur der eines grossen 
Logikers und mathematischen Psychologen sein. 




^Wilhelm ^Wundt 

und seine Stellung in der Philosophie 

der Gregenivart. 

Wilhelm Wundt, einer der hervorragendsten philosophischen 
Forscher der Gegenwart, beging am i6. August 1893 seinen sech- 
zigsten Geburtstag: Grund genug für uns, einen kurzen Rtickblick 
auf dieses bedeutsame Gelehrten- imd Forscherleben zu werfen. 
Überdies sind es jetzt gerade dreissig Jahre her, dass er mit 
jenem Werke hervortrat, welches seinen Namen in der philoso- 
phischen Welt bekannt gemacht hat: „Vorlesungen über die 
Menschen- und Tierseele". Dieses Buch, welches bisher den 
Philosophen wie den Naturforscher in gleicher Weise fesselte, liegt 
nun in zweiter Auflage*) vor, welche man fast eine völlige Um- 
arbeitimg nennen könnte, und welche ein getreues Bild von dem 
Fortschritte der biologischen und psychologischen Wissenschaft giebt, 
deren Entwickelung seit drei Decennien wir in erster Linie den 
exakten und scharfsinnigen Arbeiten Wimdts zu verdanken haben. 
— Schon damals zeigte das Erstlingswerk die charakteristischen 
Eigenheiten der Wundt'schen Forschungsmethode: vollständige Be- 
herrschung des naturwissenschaftlichen, empirischen Materials, femer 
totale Unabhängigkeit von allen spiritualistischen und spekulativen 
Theorien, aber auch von den vor 30 Jahren mehr als heute be- 
liebten materialistischen Voraussetzungen in der Erklärung seelischer 
Phänomene, endlich eine umsichtige und besonnene Anwendung 
exakter Methoden, wie der Analogie, der Induktion und des kom- 
parativen Verfahrens im Gebiete der Psychologie. 



*) Verlag von Leopold Voss in Hamburg 1892. 



52 Wilhelm Wundt. 

Die Beachtung, welche diese „Vorlesungen über die Menschen- und 
Tierseele" in allen Lagern, auf spekulativer wie auf materialistischer 
Seite, fanden, zeigte dem Verfasser, der damals noch Docent der 
Physiologie in Heidelberg war, dass er auf dem richtigen Wege sei, 
und fortan waren seine Bemühungen dahin gerichtet, das Gebiet 
der Erscheinungen des Seelenlebens in den engsten Zusammenhang 
mit den physiologischen Thatsachen und Gesetzen zu bringen und 
hierbei mit den Forschungen und Fortschritten der modernen Physio- 
logie, insbesondere mit der der Sinnesthätigkeit und des Nervensystems, 
innige Fühlung zu behalten. Eine Reihe dahingehender Arbeiten, 
welche teils schon vor seiner philosophischen Periode, teils noch 
während derselben publiziert wurden („Die Lehre von den Muskel- 
bewegungen" 1858; „Beiträge zur Theorie der Sinneswahmehmung" 
1862; „Lehrbuch der Physiologie des Menschen" 1865, 4. Aufl. 
1878; „Handbuch der medizinischen Physik"; „Untersuchungen zur 
Mechanik der Nerven und Nervencentren", 2 Teile, 1871 — j6), 
liefern den klaren Beweis, wie Wundt nach beiden Seiten hin die 
Grundlagen für seine neue psychologische, in weiterer Konsequenz 
metaphysische Weltanschauung zu legen bemüht war. — Sie be- 
weisen aber auch, dass Wundt bereits ein namhafter und anerkannter 
Physiologe war, lange, bevor ihn psychologische Fragen inte- 
ressierten; endlich aber auch ersehen wir hieraus, dass er noch 
später, als er als einer der ersten Repräsentanten der sog. experi- 
mentellen Seelenlehre galt, nicht aufhörte, rein physiologische 
Untersuchungen anzustellen und im engsten Konnex zu bleiben mit 
der Biologie, also mit derjenigen W^issenschaft, welche den natürlichen 
Übergang und die Brücke bildet zwischen den beiden Hauptgebieten 
der Wissenschaften der Natur und der Wissenschaften des Geistes. 

Als eine Frucht dieser doppelten Thätigkeit haben wir das 
Werk anzusehen, welchem er seinen Ruf als Begründer einer neuen 
Richtung in der Psychologie verdankt, die „Grundzüge der phy- 
siologischen Psychologie" (1873; 2. Aufl. 1880). Mit dieser 
bedeutsamen Arbeit, welche er kurz vor seiner Berufung als Professor 
der Philosophie nach Zürich veröffentlicht hatte, tritt Wundt in vollen 
Gegensatz zu derjenigen Richtung, welche bis dahin Tonangeberin 
in der psychologischen Forschung in Deutschland, insbesondere aber 



Wilhelm Wundt. 53 

an der Leipziger Universität gewesen war: zur Herbart'schen Schule. 
Herbarts metaphysische Grundlegung der Psychologie, sowie seine 
Auffassung des Seelenlebens als eines konsequenten, in ma- 
thematischen Formeln fassbaren Mechanismus der Vor- 
stellungen findet in Wundt, wie früher in Friedrich Albert Lange, 
einen principiellen Gegner, wie Wundt ja auch später noch immer 
und immer wieder die Herbart'sche Psychologie bekämpft und viel- 
fach in ihr einen „versteckten Materialismus'' sieht. Kein Wunder 
daher, wenn der Senior und angesehenste Führer dieser Schule, 
unser Moritz Wilhelm Drobisch, in dem offiziellen Organ der- 
selben, in der von Allihn und Ziller begründeten „Zeitschrift für 
exakte Philosophie" (Bd. IV, Heft 4) nicht nur defensiv Herbart in 
Schutz nahm, sondern auch zur Offensive überging und die Grund- 
voraussetzungen der Wundt'schen physiologischen Psychologie einer 
scharf zersetzenden Analyse unterwarf. Es darf also immerhin als 
eine bis jetzt unaufgeklärte Merkwürdigkeit bezeichnet werden, dass 
im Herbst 1875 die Berufung W^undts von Zürich nach Leipzig, 
wo bisher neben Drobisch einige der anerkanntesten Häupter der 
mathematischen Psychologie Herbarts wie Hartenstein, Ziller und 
Strümpell eine unumschränkte Herrschaft ausgeübt hatten, ohne 
grosse innere Schwierigkeiten erfolgt ist. Einen warmen Für- 
sprecher an der Fakultät mag ja Wundt damals an dem genialen 
Fechner gehabt haben, der, abgesehen von seinen andern unver- 
gänglichen Verdiensten auf den Gebieten der Naturphilosophie, 
Metaphysik und Ästhetik, durch seine exakten psychophysischen 
Forschungen gewissermassen der Vorgänger und Bahnbrecher der 
physiologischen Psychologie geworden ist. — Wundt hat die Ver- 
dienste seines grossen Vorgängers nicht nur am offenen Grabe, 
sondern auch vielfach in seinen „Studien", sowie in der lichtvollen 
Abhandlung in seinen „Essays" („die Messung psychischer Vor- 
gänge")*) pietätvoll gewürdigt. 

Ob Wundt als ein Schüler Fechners bezeichnet werden darf? 
Nein 1 Unleugbar hat der Begründer der physiologischen Psychologie 
von der Psychophysik Fechners Anregungen empfangen. Aber das 



*) Verlag von W. Engelmann, Leipzig 1885. 



54 Wilhelm Wandt. 

Gebiet der ersteren, die freilich noch in ihren Anfängen steckt, ist 
entschieden universeller angelegt, da sie ihre Tendenz auf das ge- 
samte Seelenleben erstreckt, während die Bemühungen Fechners 
ursprünglich nur auf eine Verallgemeinerung des von Ernst Hein- 
rich Weber gefundenen Gesetzes ausgingen: dass in Bezug auf Druck- 
empfindung und Tonhöhe gleiche relative Reizzustände gleichen 
Empfindungszuwüchsen und umgekehrt entsprechen. Fechner be- 
stätigte nicht nur durch eine Reihe mühsamer fjcperimente dieses 
physiologische Gesetz, sondern erweiterte auch dasselbe auf einige 
weitere Gebiete hin, wie auf die Muskelempfindung, Tempe- 
raturempfindung, Lichtempfindung und Schallempfindung. 
Dass freilich hiermit nur ein kleiner Anfang gemacht war für den 
experimentellen Nachweis, dass zwischen dem körperlichen und 
seelischen Leben und in weiterer Linie zwischen der materiellen 
vmd geistigen Welt ein durchgängiger Parallelismus herrsche, der 
dann zur spekulativen Annahme eines universellen einheitlichen 
Monismus führe, dessen verschiedene Seiten eben nur als schein- 
bar verschiedenes körperliches und geistiges Sein erscheine: dieses 
wusste Fechner sehr wohl. Aber in der Psychophysik blieb er vor- 
sichtig experimentierender Physiker (er hatte ja ursprünglich hier 
den Lehrstuhl der Physik inne); nur in seinen spekulativen und 
naturphilosophischen Werken gab er jenem grossen, bekanntlich 
schon von Giordano Bruno und Baruch Spinoza aufgestellten Ge- 
danken des den einseitigen Idealismus und den krassen Materialis- 
mus überwindenden Monismus einen oft tiefsinnigen, oft aber auch 
phantasievollen Ausdruck. 

Aber sehen wir hiervon ab und fassen wir die rein psycho- 
physischen Ziele ins Auge, die Fechner verfolgte, so hat Wundt 
das Verhältnis seiner eigenen Forschungen zu denen Fechners 
angedeutet, wenn er am Schlüsse des schon genannten Aufsatzes 
„Die Messung psychischer Vorgänge" sagt: „Ich habe mich darauf 
beschränkt, die Bedeutung der Messung psychischer Vorgänge zu 
erläutern an den Versuchen, ein Mass für die Stärke der Empfin- 
dungen zu gewinnen, und an den Beobachtungen über die Ver- 
hältnisse des zeitlichen Verlaufs unserer Vorstellungen. Das Gebiet 
der Messung psychischer Vorgänge ist damit nur an einigen weit 



Wilhelm Wundt. 55 

von einander abliegenden Punkten berührt, zwischen denen sich 
ein reiches Feld von Untersuchungen erstreckt, in die nicht minder 
die experimentelle Veränderung der Erscheinungen wie die durch 
sie vermittelte quantitative Bestimmung derselben tiberall wirkungs- 
voll eingreift. Insbesondere verdankt hier die Psychologie alles, 
was sie über den Aufbau der einfachen Empfindungen zu 
zusammengesetzten Vorstellungen an sicheren Ergeb- 
nissen besitzt, dem Experiment und der Messung. An ihrer 
Hand hat sich aus der Physiologie der Sinnesorgane all- 
mählich eine Psychologie der sinnlichen Wahrnehmungen 
entwickelt." 

Aber schon lange mag meinen geschätzten Lesern die Frage 
auf den Lippen schweben: Worin besteht denn nun das Eigen- 
artige uud Charakteristische der Wundt'schen Psychologie? Was ist 
überhaupt physiologische Psychologie? Was ist experimentelle 
Psychologie? Beide Begriffe gehören im Sinne Wundts zusammen 
und ergänzen sich gegenseitig. Stützt jene sich auf die Erfahnmgen 
und sicheren Ergebnisse der Natxuwissenschaften und besteht ihre 
Methode in der Selbstbeobachtung und inneren Wahr- 
nehmung (vgl. Wundts Abhandlung gegen Johanes Volkelt*) in 
den „Studien" Bd. IV, S. 291 — 309), so fügt diese das Experiment 
und die von diesem untrennbare Messung seelischer Prozesse, so- 
wohl inbezug auf ihre Intensität als auch inbetreff ihrer Zeitdauer 
hinzu. Aber höre ich fragen: Wie kann man mit Seelenvorgilngen 
experimentieren? Psychologisch experimentieren heisst zunächst 
nur: die äusseren Bedingungen, welche mit der Erzeugung des 
inneren Geschehens verknüpft sind, variieren und durch sie über die 
inneren Prozesse Aufschluss erhalten. Und — dieses möge Ihnen 
zur Beruhigung dienen: Jedes psychische Experiment und jede 
Messung im Bereiche der Gefühle und Vorstellimgen lässt sich 
überhaupt nur auf jenem für den Forscher so interessanten Grenz- 
gebiete zwischen leiblichem und geistigem Leben vornehmen, 
welches dem Experiment zunächst eben zugänglich ist. Daher 

*) Volkelt, wenn wir nicht irren, jetzt in Basel, ist ein bedeutender Denker 
und gehört zu der kleinen Gruppe der „Neuhegelianer" — wohl zu unter- 
scheiden von den ehemaligen „Junghegelianem". 



56 Wilhelm Wuudt. 

kann man sagen, dass alle Experimental-Psychologie eine aller- 
dings erweiterte Psychophysik ist 

Es würde weit über die Grenzen dieser meiner Skizze hin- 
ausgehen, wollte ich hier auch auf die specielle Begründung ein- 
gehen, durch welche Wundt dem Experiment und der Messung für 
die Erforschung des Seelenlebens wissenschaftliche Berechtigung 
zu vindizieren bemüht ist. Aber einigen seiner methodologischen 
Bemerkungen wenigstens müssen wir doch Raum geben: „In dem 
Experiment", sagt Wundt in der Einleitung zu seinen Vorlesungen 
über die Menschen- und Tierseele, „entkleiden wir die Erscheinung 
aller der zufälligen Umstände, an die sie in der Natur gebunden 
ist. Durch das Experiment erzeugen wir die Erscheinung künstlich 
aus den Bedingungen heraus, die wir in der Hand halten. Wir 
verändern diese Bedingungen und verändern dadurch in messbarer 
W^eise auch die Erscheinung. So leitet uns immer und überall das 
Experiment zu den Naturgesetzen, weil wir nur im Experiment 
gleichzeitig die Ursachen und die Erfolge zu überschauen ver- 
mögen." Aber dies ist nichts neues, das hat man schon inbezug 
auf das physische Weltall seit Bacon und Newton gewusst und 
wiederholt. Für uns jedoch handelt es sich um den Nachweis der wissen- 
schaftlichen Berechtigung des Experiments für das Seelenleben. 
„Wie der Naturforscher", antwortet Wundt, „es mit Thatsachen der 
äusseren Natur zu thun hat, so der Psychologe mit den That- 
sachen des Bewusstseins. Aber indem er durch das Experiment 
verändernd eingreift in den Verlauf der psychischen Erscheinungen 
und den verwickelten Zusammenhang in seine einfachen Bestand 
teile auflöst, gewinnt er einen Einblick in jenen Mechanismus, der 
im unbewussten Hintergrunde der Seele die Erregungen ver- 
arbeitet, die aus den äusseren Eindrücken stammen. Es ist der 
nämliche Weg, den überall der Naturforscher wählt. Indem dieser 
von den verwickelten Erscheinungen, die ihm unmittelbar in der 
äusseren Beobachtung gegeben sind, mit Hülfe des Experiments 
zurückgeht auf die einfachen Gesetze, die jene Erscheinungen be- 
herrschen, thut auch er nichts anderes, als dass er gleichsam den 
unbewussten Hintergrund des Geschehens dem Auge enthüllt. Der 
Prozess, der jenseits des Bewusstseins liegt und aus dem der ein- 




WUhelm Wandt. 57 

zelne bewusste Akt hervorgeht, verhält sich zu diesem, wie das 
verborgene Naturgesetz zu der offenen, in die Anschauung tretenden 
Naturerscheinung." 

Und wie verhält es sich mit der Messung seelischer Er- 
scheinungen? „Mass imd Wage", sagt Wundt in den schon ge- 
nannten „Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele", „sind 
die beiden grossen Hilfsmittel, deren sich die experimentelle Natur- 
forschung immer bedienen muss, wenn sie zu sicheren Gesetzen 
gelangen will. Seit das Experiment entdeckt ist, sind auch Mass 
und Wage in der Wissenschaft eingebürgert. Mass und Wage 
geben überall der Wissenschaft ihren Abschluss. Die Messung erst 
findet die Konstanten der Natur, jene festen 2^hlen, die alles 
Geschehene beherrschen. Die Zahlen allein sind aber nicht der 
Zweck der Messung, sondern sie sind nur das unentbehrliche Hilfs- 
mittel zum letzten Zweck der Untersuchung. Denn erst die Zahlen 
können eine Einsicht in die Gesetze des Geschehens eröfl&ien." 
Aber wie kann man die Seele, ^ dieses unsichtbare immaterielle, 
raumlose, und imserer sinnlichen Wahrnehmung völlig unzugängliche 
Wesen, auf die Wagschale legen? Freilich inbezug auf das Wesen 
der Seele huldigte Wundt vor 30 Jahren in der i. Auflage des 
genannten Werkes einem gewissen Ignorantismus: der treibende 
Grund der Seelenerscheinungen entziehe sich überall unserer sinn- 
lichen Anschauung. Aber der psychologische Experimentator hat 
es auch nur mit psychischen Erscheinungen, d, h. mit den äusseren 
Wirkungen des Seelenlebens zu thun. Das Vordringen bis zum 
Wesen der Seele kann und darf noch nicht zu den Aufgaben der 
neuen Wissenschaft gehören. Das ist zunächst immer noch die 
Domäne der spekulativen Metaphysiken Der Seelenexperimentator 
hält sich zunächst an diejenigen Vorgänge, welche uns durch die 
körperlichen Sinne zugänglich sind, durch welche ja die Seele in 
fortdauerndem Konnex mit der physischen Aussenwelt steht. Es 
liegt in unserer Gewalt, auf die Sinne und die körperlichen Be- 
wegimgen willkürliche Einwirkungen von aussen zu üben und die 
Erfolge zu beobachten, die diese unsere Einwirkungen erzeugen, 
und aus diesen Erfolgen können wir Rückschlüsse machen auf die 
Natur der psychischen Prozesse. Hierbei ist allerdings zu be- 



58 Wilhelm Wundt. 

achten, was Wundt zumal seinen sanguinischen und allzu kühnen Jüngern 
wiederholt einschärft, dass wir niemals die Ursachen der Seelen- 
erscheinungen an sich, sondern dass man sie immer nur an 
ihren Wirkungen messen könne. Gewiss, auch der Astronom 
und der Physiker messen die bewegenden Kräfte an den Bewegungen. 
Aus den Beobachtungen der letzteren machen sie Rückschlüsse 
auf die an sich selbst niemals sinnlich wahrnehmbaren Natur- 
gesetze, nach denen die Kräfte im Weltall wirken. So misst auch 
der Psychophysiker die seelischen Funktionen an den Wirkungen, 
die sie hervorbringen oder — eine sehr wichtige, in die Metaphysik 
gehörende DistinktionI — von denen sie hervorgebracht werden, 
an den Sinneserregungen, an den körperlichen Bewegungen. Aber 
man unterschätze nur nicht die Resultate dieser Arbeiten: was Wundt 
und seine Schule (die auch jetzt noch nicht zahlreich ist) bisher durch 
Experiment und Messung bestimmt haben, betrifft doch nicht bloss 
die äusseren Wirkungen, sondern zugleich die Gesetze der Seele 
selbst, aus denen jene Wirkungen entspringen. Wir verweisen hier 
auf die einzelnen Arbeiten Wundts und seiner Schüler in den 
„Studien", von denen jetzt schon sechs starke Bände erschienen sind 

Die psychophysische und experimentelle Psychologie ist nicht 
ohne Anfechtungen geblieben: man hat bald die Methode selbst 
angegriffen, bald die Richtigkeit der Voraussetzungen in Abrede 
gestellt, von denen jene Psychologie ausgeht. Am schärfsten hat 
diesen Einwänden Ausdruck gegeben Wilhelm W^indelband (früher 
Docent in Leipzig und jetzt Professor der Philosophie in Strassburg) 
in einer lesenswerten Schrift: „Über den gegenwärtigen Stand der 
psychologischen Forschung" *). 

Windelband verkennt nicht die Wichtigkeit der Erkenntnis 
jener elementaren Seelenprozesse, aber er betont auch, dass alle 
Experimente über diese elementaren Vorgänge nicht hinausführen 
und dass sie uns da schon völlig verlassen, wo diese ersten Ge- 
bilde zu den einfachsten und gewöhnlichsten Verbindungen zu- 
sammentreten. Es ist allerdings nicht nur der relativ noch unvoll- 
kommene Zustand unserer heutigen Nervenphysik und Gehim- 



*) Leipzig 1876 im Verlage von W. Engelmann. 



Wilhelm Wandt. 59 

Physiologie, welcher sich hier hindernd in den Weg stellt, sondern 
eine grosse prinzipielle Schwierigkeit, welche darin besteht, dass 
das Experiment uns niemals etwas von der Einheit kund thun 
könnte, welche in jedem Moment zwischen den verschiedenen Bestand- 
teilen des psychischen Prozesses in dem inneren Bewusstsein sich 
herstellt „Es ist keineswegs abzusehen", sagt Windelband, „wie 
z. B. die zahlreichen Nervenerregungen, die den einzelnen Bestand- 
teilen einer durch mehrere Sinne zugleich gewonnenen Vorstellung 
eines Dinges entsprechen, eine gemeinsame Resultante von der 
Einheitlichkeit der Bewegungsform geben sollten, wie sie auf dem 
psychischen Gebiete durch die Einheitlichkeit jener Dingvorstellung 
faktisch gegeben ist Sollen wir uns etwa mit einem Rückfall in 
den phrenologischen Aberglauben denken, dass die ganze Summe 
von Nervenerregungen, an welche zwei komplizierte Vorstellungen 
gebunden sind, an eine centrale Stelle geleitet, dort zu einer ein- 
heitlichen Schwingungsform resultiert, welche dem beide Vorstel- 
lungen verknüpfenden Urteile entspricht ? Oder vermöchte vielleicht 
die kühnste Phantasie auch nur die Möglichkeit zu behaupten, dass 
man schliesslich einmal eine Vorstellung davon gewinnen könnte, 
welche Verschiedenheit der physiologischen Bewegungsform zwischen 
der Bildung eines positiven und derjenigen eines negativen Ur- 
teils besteht ? Hier stehen wir an einer principiellen Kluft, an einer 
totalen Differenz zwischen der äusseren und inneren Erfahrung: in 
der Resultante, zu welcher sich zwei körperliche Bewegungen ver- 
einigen, ist die Eigenart jeder der beiden letzteren verschwunden*, 
in der psychischen Resultante ist der besondere Inhalt jedes ein- 
zelnen Elements unversehrt erhalten. Deshalb muss eine nur 
physiologische Psychologie vor dieser einheitlichen Bildung kom- 
plexer psychischer Zustände völlig ratlos stehen bleiben. Diese Ein- 
heit heterogener Elemente ist nun aber nichts geringeres als die 
Grundthatsache und das Grundproblem des psychischen 
Lebens. Was wir von den Thatsachen desselben wahrnehmen, 
sind stets bereits komplizierte und bei der Komplexion einheitlich 
geformte Gebilde, deren gesetzmässige Konstitution somit den eigent- 
hchen Gegenstand der speciell psychologischen Forschung ausmacht 
Deshalb kann die Psychologie nur soweit mit der Physiologie 



60 Wilhelm Wundt. 

zusammengehen, als es sich um die Einsicht in den gesetzmäs- 
sigen Ursprung der elementaren Bestandteile des psychi- 
schen Lebens handelt. Von dem Punkte an aber, wo diese 
Elemente zu einem einheitlichen Bewusstseinskomplexe zusammen- 
treten, fallt der Psychologie die Untersuchung allein zu, und auf 
diesem Gebiete kann sie nur durch eine induktive Bearbeitung 
der Thatsachen der inneren Erfahrung zu Resultaten gelangen." 

Man wird das Gewicht dieses Einwurfs des noch jungen, 
scharfsinnigen Denkers in Strassburg nicht unterschätzen dürfen. 
Aber Wundt selbst — und er wiederholt es oft — ist sich der 
Grenzen seiner Wissenschaft sehr wohl bewusst, wie er ja stets da- 
rauf hinweist, dass jene „Einsicht in den gesetzmässigen Ursprung 
der elementaren Bestandteile des psychischen Lebens" noch viele 
Jahrzehnte die ganze Aufmerksamkeit des psychologischen Forschers 
in Anspruch nehmen wird. Nirgends ist das Wort Alexander von 
Humboldts anwendbarer als gerade hier: „Dass wir überall noch in 
den Anfängen der Wissenschaft stehen, macht unsere Bescheiden- 
heit, aber auch unseren Stolz aus." Im übrigen berührt jener 
Windelband'sche Einwurf zugleich die Frage nach dem Wesen der 
Seele, also ein wesentlich metaphysisches Problem. Und damit 
gelangen wir zu Wundts metaphysischen Grundanschauungen, die 
wir im Nachstehenden in aller Kürze andeuten wollen. 

Wundts Leistungen in der Logik, Ethik und Metaphysik 
knüpfen sich an seine verhältnismässig innerhalb kurzer Zeit hinter- 
einander erschienenen Hauptwerke: „Logik" (Bd. I: „Erkenntnis- 
lehre" 1880; Bd. II: „Methodenlehre" 18S3); „Ethik. Eine 
Untersuchung der Thatsachen und Gesetze des sittlichen 
Lebens" (1880); und „System der Philosophie" (1889). Ins- 
besondere bietet das zuletztgenannte Werk eine systematische Zu- 
sammenfassung und prinzipielle Begründung aller in den übrigen 
Werken enthaltenen Gedanken, so zwar, dass das aus 6 Abschnitten 
bestehende Werk in den beiden ersten die Logik und die Er- 
kenntnistheorie, im dritten und vierten die Metaphysik, im 
fünften und sechsten die Naturphilosophie und Psychologie, 
und zwar nicht in ihrer detaillierten Ausführung, sondern aus meta- 
physischem Gesichtspunkte behandelt. In einem Schlusskapitel 




Wilhelm Wundt. 61 

„Geschichte, Sittlichkeit, Religion und ästhetische Anschauung" 
werden die wichtigsten Probleme der Ethik, welche in dem oben 
genannten gleichnamigen Werke nach der ganzen Fülle und Breite 
aller Erscheinungen des thatsächlichen sittlichen Lebens behandelt 
werden, noch einmal kurz zusammengefasst. 

Wir haben hier nichts weniger als den durchgeführten Versuch 
einer allgemeinen Weltanschauung vor uns, welcher den Anspruch 
erhebt, alle höchsten Fragen des kosmischen, seelischen, sittlichen 
und religiösen Lebens in einem kausalen Zusammenhange wider- 
spruchslos und aus einem Princip heraus so zu lösen, dass in 
gleicher Weise die Forderungen der Wissenschaft wie die Bedürf- 
nisse der Vernunft imd — des Herzens befriedigt werden: offenbar 
die schwierigste Aufgabe, welche überhaupt dem menschlichen Geiste 
gestellt werden kann. — Bevor wir die Frage beantworten, ob Wundt 
die Lösung dieser gewaltigen Aufgabe, an der sich bisher die gröss- 
ten Geister des Menschengeschlechts versucht haben, gelungen sei, 
wollen wir uns erst innerhalb dieses imponierenden Gedankenbaues, 
den Wundt hier aufgeführt hat, einigermassen umsehen. Selbstverständ- 
lich halten wir uns nicht lange bei der Fülle des interessanten und 
anziehenden Ornaments auf, sondern wenden uns sofort an den 
konstruktiven Teil des Baues. Aber auch hier müssen wir uns auf 
die eigentlich tragenden und verbindenden Stücke beschränken. 

Es versteht sich von selbst, dass bei einem Denker, welcher 
Dreiviertel seines Lebens psychologischen Untersuchungen ge- 
widmet hat, der Begriff und das Wesen der Seele einen Haupt- 
punkt seiner Metaphysik bilden muss. Hier sehen wir mm Wundt 
sofort Stellung nehmen, und zwar gegen eine ganze Reihe bedeu- 
tender Philosophen der Vergangenheit wie unseres Jahrhunderts. 
Wundt befindet sich hier in einer Art von Notwehr. Gegenüber 
den mancherlei Angriffen, die seine physiologische Psychologie aus- 
zuhalten hatte, musste es ihm vor allem darauf ankommen, einen 
metaphysischen Seelenbegriff sich zu konstruieren, der eine feste 
Grundlage für seine psychologischen Untersuchungen bildet Aber 
wie alle guten Strategen, sagte sich auch Wundt: die beste Ver- 
teidigung ist der Angriff. Er trägt den Krieg in Feindesland, um 
so besser sein eigenes Gebiet zu schützen. Wundt eröffnet einen 



62 Wühelm Wundt. 

Feldzug gegen den seelischen „ SubstanzbegrifF" der bisherigen 
Psychologen und Metaphysiken Indem er so eine der stärksten 
Bastionen der Gegner in Angrifif nimmt, hofft er, im Falle dieses 
fällt, mit den anderen Befestigungspunkten schon fertig zu werden. 
Der Krieg gegen die Substanzpsychologen, worunter er auch die 
Herbartianer versteht, zieht sich durch alle seine Werke. Er ver- 
gleicht den Begriff der Seelensubstanz mit dem physikalischen Sub- 
stanzbegriff und zeigt, wie jene „Hypothese" aus einer ähnlichen 
Entwickelung hervorgegangen ist wie diese — nur dass dort alle 
Bedingungen fehlen, welche die Voraussetzung eines seelischen 
Substrats rechtfertigen. Aber als onthologischer BegrilQf hat die 
Substanzialität eine solche Menge innerer Widersprüche, dass er 
unmöglich länger aufrecht erhalten werden könne. Auch der mate- 
rielle Substanzbegriff der Naturwissenschaften ist widerspruchsvoll. 
Aber hier leistet er als provisorischer Hilfsbegriff seine guten 
Dienste und wird, wenn sich in unabsehbarer Zeit die heutige 
experimentierende Naturforschung dahin entwickelt haben wird, 
diesen Hilfsbegriff entbehren zu können, von selbst sich meta- 
physisch auflösen. Im Bereiche des Geistes jedoch hat der Sub- 
stanzbegriff gar keine Anwendbarkeit. Indem aber Wundt — in 
einer sehr scharfsinnigen, hier nicht weiter wiederzugebenden Unter- 
suchung — den Begriff der Substanz als „des beharrenden Seins" 
zerstört, muss er notgedrungen auf eine andere Grundlage aller 
(physischer und seelischer) Erscheinungen bedacht sein: er greift 
zu dem ewigen Werden des alten griechischen Denkers Heraclit 
{ndvxa gel xal ovdsv X^Q^^*) Abgesehen davon, dass dadurch erst 
eine befriedigende Basis für den modernen, alle heutige Natur- und 
Geschichtsanschauung beherrschenden Begriff der Entwickelung 
gewonnen wird, hat er das Mittel gefunden, alles todte Sein, alle 
träge Materie in den lebendigen Begriff der Aktualität zu ver- 
wandeln. Was der alte griechische Weise in halbmythischer Form 
ausdrückte, was ein banaler Satz aller dichterischen und popu- 
larisierenden Naturanschauung bisher war: dass das Leben und 
die Thätigkeit die Welt in ihren innersten Kern beherrsche — 
Wundt macht mit diesen Redensarten Ernst und beweist sie 
metaphysisch. Faust 's Wort: „Im Anfange war die That" 



Wilhdm Wundt. 63 

wird bei Wundt der Pfeiler einer umfassenden Weltanschauung. 
Indem er aber das Wesen des Geistigen als Aktualität fasst, hat 
er damit zugleich für alle praktischen Seiten des Lebens für die 
Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie eine unzerstörbare Grund- 
lage eines thätigen Idealismus gewonnen, der an unsere idea- 
listischen Ethiker vom Range eines Kant, Schiller und Fichte 
anknüpft. 

Doch hier scheint ein Widerspruch vorzuliegen: wir haben 
angedeutet, dass Wundt, wenn man die Stadien seines bisherigen 
Philosophierens überschaut, ein letztes Ziel vorzuschweben scheint, 
welches wir als eine Art von monistischem Spinozismus bezeichnet 
haben, d. h. als eine Weltanschauung, welche die Verschiedenheit der 
physischen und geistigen Welt nur als die Erscheinungsweisen einer 
und derselben Grundwesenheit herabsetzt. Spinoza aber nennt diese 
einheitliche, in sich beharrende Wesenheit, an der Geistiges imd 
Körperliches nur Modifikationen zweier von ihren unendlich vielen 
Attributen, Vorstellung imd Ausdehnung, sind, die Substanz. Nun 
wissen wir jedoch, dass Wundt jeden Substanzbegriff verwirft. 
Wie kann er also je hoffen, Spinozist zu werden? Die Lösung 
des Widerspruchs liegt darin, dass Wundt den alten griechischen 
Weisen aus Ephesos mit dem grossen jüdischen Denker aus Amster- 
dam gewissermassen zu kopulieren sucht, indem er die behairende 
Substanz des letztem in das ewige Werden des erstem verwandelt, 
so jedoch, dass er die Universalität des spinozistischen Begriffs bei- 
behält und durch den herakliteischen Gedanken des Werdens leben- 
dig macht: ein ebenso genialer als in hohem Grade fruchtbarer 
Kompromiss zweier so diametral gegensätzlicher metaphysischer 
Principien. 

Freilich sind mit der Eliminierimg des Substanzbegriffes aus 
der Metaphysik und Psychologie alle sich hiergegen erhebenden 
Schwierigkeiten noch nicht gehoben. Allerdings ist die Substanz 
nicht in der Erfahrung gegeben, sondern hier wie dort ein Hilfs- 
begriflf, eine hypothetische Konstruktion. Aber vergessen wir nicht, 
dass jede Veränderung einer Sache doch an einem beharrenden 
Kern vor sich gehen muss. Man hat nicht mit Unrecht darauf 
hingewiesen, dass wir vermöge unserer ganzen psychischen Organi- 



64 Wilhelm Wundt. 

sation gezwungen sind, hinter allem Veränderlichen etwas Be- 
harrendes, hinter der wechselnden Accidenz ein Dauerndes und Sub- 
stanzielles vorauszusetzen. Man mag mit Wundt von diesem Zwange 
unserer seelischen Organisation denken, wie man will: er ist ein- 
mal da und wir können uns ihm nicht entziehen. Im Übrigen 
wollen einige z. B. Eduard von Hartmann die Inkonsequenz un- 
begreiflich finden, dass Wundt die Widersprüche in dem Begriff der 
materiellen Substanz nicht urgiert, die er doch bei der psychischen 
Substanz nicht müde wird hervorzuheben. Nach tmserer Ansicht 
sieht Herr von Hartmann hier mit Unrecht einen Widerspruch, was 
aus dem Wortlaute W^undts (s. V. Abschn. des Systems der Philo- 
sophie) sich leicht erweisen Hesse. Doch würde uns dieser Nach- 
weis hier zu weit fuhren. 

Wir wenden uns nun mit einigen Bemerkungen Wundts 
„Ethik" zu. 

Schon in seinen früheren philosophischen W^erken zeigte er 
eine Hinneigung zu ethischen Erörterungen, und zwar auf psycho- 
logischer Basis. Erst in dem im Jahre i886 erschienenen um- 
fassenden W^erke, sowie im Schlusskapitel seines „Systems der Phi- 
losophie" stellt er sich die schwierige Aufgabe, die Ethik als phi- 
losophische Wissenschaft neu zu begründen. Und wir wollen hier 
gleich hinzufügen, dass, wenn in der Philosophie von „befriedigen- 
den" Lösungen überhaupt gesprochen werden kann, eine solche 
hier unserm Forscher in hohem Grade gelungen ist. 

Wundt zählt die Ethik (im umfassendsten Sinne, in welchem 
sie auch die Prinzipien der Rechts-, Gesellschafts- und Religions- 
wissenschaften in sich schliesst) zu den normativen Disciplinen, 
welche solche Erkenntnisgebiete umfassen, welche ihren Inhalt und 
das Ziel ihrer Aufgabe in der Erkenntnis eines geforderten 
idealen Sollens haben; im Gegensatz zu den explikativen 
Wissenschaften deren Aufgabe in der Erforschung der Gesetze eines 
gegebenen realen Seins besteht. Es ist bemerkenswert, dass 
Wundt die Ästhetik nicht zu den normativen Disciplinen rech- 
net, sondern ihr eine mittlere Stellung zwischen diesen und den 
explikativen Wissenschaften zuweist. Was nun den speciellen In- 
halt der W'undt 'sehen Ethik betrifft, so teilt er denselben in \'ier 



Wilhelm Wundt. 65 

Hauptkapitel, deren erstes „Die Thatsachen des sittlichen Lebens", 
also das Gesamtgebiet der Erscheinungen des individuellen und ge- 
sellschaftlichen sittlichen Lebens behandelt. Dasselbe umfasst die 
Gebiete: die Sprache und die sittlichen Vorstellungen, die Religion 
und die Sittlichkeit, die Sitte und das sittliche Leben und die Natur- 
und Kulturbedingungen der sittlichen Entwickelung. Das zweite 
Hauptkapitel („Die philosophischen Moralsysteme") versucht eine 
historisch-kritische Übersicht über die bisherigen ethischen Theorien: 
die antike Ethik, die christliche Ethik, die neuere Ethik, allgemeine 
Ethik der Moralsysteme. Wenn wir von Ed. von Hartmanns grossem 
Werke „Die Phenomenologie des sittlichen Bewusstseins" (2. Aufl. 
1886) absehen, so besitzen wir im zweiten Abschnitt der Wundt'- 
schen Ethik die gedrängteste und doch lichtvollste Darstellung der 
Entwickelungsgeschichte der ethischen Prinzipien der Menschheit 
Wir machen besonders darauf aufmerksam, weil sich dieses Kapitel 
sehr gut zur Repetition für Studierende eignet. Der dritte Haupt- 
abschnitt („Die Prinzipien der Sittlichkeit") ist der wichtigste des 
ganzen Werkes, insofern er die eigentliche Grundlegung und Lösung 
der ethischen Probleme behandelt, und zwar in folgenden Ciruppen: 
der sittliche Wille, die sittlichen Zwecke, die sittlichen Motive und 
die sittlichen Normen. Der vierte Teil endlich („Die sittlichen 
Lebensgebiete") hat zum Gegenstand die eigentlichen rechts- und 
socialphilosophischen Fragen: die einzelne Persönlichkeit, die Ge- 
sellschaft, der Staat und die Menschheit. 

Wir können aus dem reichen Inhalt dieses Werkes, welches 
als eine der bedeutendsten Leistungen in der modernen ethischen 
Litteratur anzusehen ist, nur einige wenige Punkte hervorheben. — 
Wir betonen nur den universellen Charakter des Werkes. 
Wundt hat sehr recht gethan, das, was bei anderen Philosophen 
meist auseinander fallt, die Moral-, Rechts- und Socialprinzipien, 
aus einem Gedanken heraus zu behandeln: denn das Gebiet der 
praktischen Sittlichkeit — wozu wir auch noch das religiöse Gebiet 
rechnen — erfordert eine Begründung aus einem einzelnen Prinzip 
heraus, da alle diese menschlichen Gebiete nur eine einzige und 
einseitige Voraussetzung haben, die physisch-psychische Natur des 

Menschen, auf die sich alle Ethik, Rechts- und Staatsphilosophie 

5 



66 Wilhelm Wundt. 

erst wahrhaft stützen kann — wollen wir wahrhaft feste wisseo- 
schaftliche Stützen dem sittlichen und gesellschaftlichen Leben geben. 
Je mehr aber die eigentUchen Psychologen, Anthropologen und Bio- 
logen sich der Sittlichkeits-, Rechts- und Gesellschaftsfragen bemächtigen, 
desto mehr ist zu hoffen, dass diese Probleme in der Zukunft einer 
wirklichen Lösung nahegeführt werden. Dieses schliesst so wenig 
eine ideale und universal-menschliche Richtung und ideale Ziele 
aus, dass man vielmehr sagen kann, dass die Begründung der 
ethischen und socialen Postulate hierdurch erst wahrhaft über- 
zeugungskräftig werden. Zu unserer Freude liegt der Charakter 
des Wundt'schen Werkes innerhalb dieser modernen Richtung. 
Hierbei geht er jedoch mit einer Mässigung vor, welche von nicht 
bloss pietätsvollem Respekt vor den gegebenen historischen Mäch- 
ten zeugt, sondern auch diesen eine thatsächliche und aktuelle Ein- 
wirkung auf die Sittlichkeit des Einzelnen, wie der Gestaltung des 
Gesellschaftsganzen einräumt 

In seiner Kritik der frühern ethischen Theorien (IL Abschnitt) 
tadelt Wundt manche seiner Vorgänger, dass sie bei der Aufstellung 
ethischer Postulate nicht genügend bedacht haben, dass alles Sollen 
doch auch ein Können voraussetzt, während die moderne Ethik 
nur solche Postulate aufstellt, bei denen das Sollen nichts anderes 
ist, als die eigene naturgemäss zu erreichende ideale Vollkommen- 
heit des Könnens, d. h. es sollen nur solche sittliche Ziele und 
Ideale aufgestellt werden, deren Erreichung in der Anlage der 
menschlichen Natur begründet ist. Hierbei werden kritische 
Seitenblicke z. B. auf den Stoicismus der Ahen, aber auch auf Kants 
sittlichen Rigorismus geworfen. — In der wichtigen Frage der 
Willensfreiheit (das alte Inventar- und Prunkstück aller Ethiker) 
stellt Wundt sich auf einen mittleren Standpunkt zwischen die 
Deterministen und die Indeterministen, er kann weder den 
einen noch den andern völlig zustimmen. Das Freiheitsbewusst- 
sein ist auch ihm das höchste menschliche Gut, eine unantastbare 
innere Erfahrung; aber die sogenannte metaphysische Freiheit, 
die sich nicht auf die im Bewusstsein gegebenen Thatsachen, sondern 
auf die jenseits des Bewusstseins gelegenen transcendenten Ursachen 
unseres Handelns bezieht, kann vom psychologischen Standpunkte 



Wilhelm Wundt. 67 

weder behauptet, noch bestritten werden. Der Indeterminist erklärt 
den Willen für eine Art von Kraft, für die Ursache seiner selbst 
(causa sui), welche keine von ihm verschiedene, weder bewusste, 
noch unbewusste Ursache voraussetzt. Die Motive, welche für den 
Wollen nichts Zwingendes haben, bilden für ihn die äussern Zwecke, 
zwischen denen er frei entscheidet Nun behauptet der Determi- 
nist, dass der W'ille, für welchen die Motive nicht bloss Zweckvor- 
stellungen, sondern zugleich Gefühle sind, die auf den Willen 
wie anziehende und abstossende Kräfte wirken, durch psy- 
chologische Ursachen bestimmt wird. Es hänge daher, wie die 
Deterministen sagen, teils von der Intensität des Motivs, teils 
von jener unendlichen Reihe der Bedingungen des Willens ab, die 
sich unserm Bewusstsein gänzlich entzieht, welchem Motive der 
Wille folgt. 

Dem gegenüber macht Wundt geltend, dass der psychologische 
Ethiker es nicht mit einer ins Unbegrenzte gehenden Kausalität zu 
thun hat, sondern mit bestimmten Thatsachen des Bewusstseins. 
Er möchte überhaupt die Einmengung des Begriffs der Natur- 
kausalität in den Prozess des geistigen Geschehens zurückweisen, 
wie er überhaupt gegen die Verknüpfung der rein physikalischen 
Prinzipien der Naturkausalität, der Konstanz der Kraft und der 
quantitativen Äquivalenz von Ursache und Wirkung mit der Kau- 
salität im allgemeinen metaphysischen Siime protestiert. Überdies 
entspringen jene physikalischen Prinzipien nicht aus der Kausalität 
im allgemeinen, sondern aus jenem Gesetz der quantitativen Un- 
verändert chkeit der Materie, welches in den besonderen Bedingimgen 
der Naturerkenntnis begründet ist Solche Identifizierungen des Wil- 
lens, meint W^undt mit einem Seitenhieb auf Schopenhauer, mit 
emer Kraft und die Anwendung der von der Kraft geltenden meta- 
physischen Bestimmungen auf den Willen hätten in der Ethik zu den 
absurdesten Anschauungen geführt. — Wenn man nun, sagt Wundt, 
den Determinismus aus sittlichen Gründen verworfen hat, da er die 
sittliche Verantwortlichkeit, die ja an die Willensfreiheit geknüpft 
ist, aufheben soll, so trete hier jener obige Fall einer Verwechse- 
lung der Naturkausalität mit seiner Äquivalenz von Ursache und 
W'irkung mit der allgemeinen metaphysischen Kausalität ein. Über- 

5* 



68 Wilhelm Wundt. 

dies habe die empirisch -psychologische Thatsache des Freiheits- 
bewusstseins, von welchem das Gefühl der sitdichen Verantwortung 
abhängt, mit der metaphysischen Freiheit nichts zu thun. Und wenn 
die Ethiker der Kant^schen Observanz die Erhabenheit ihres Frei- 
heitsbegriffs betonen, so sei zu bemerken, dass die Höhe und 
Würde des Freiheitsbewusstseins durchaus nichts einbüsse durch 
seinen Charakter als empirisch-psychologische Thatsache. 

W'undts Ethik hat von Seiten eines begeisterten Anhängers von 
Hermann Lotze, des Oberamtsrichters Hugo Sommer in Blanken- 
burg a. H., eine sehr scharfe Beurteilung erfahren. Hieraus ent- 
wickelte sich eine recht unangenehme, fast ans Persönliche streifende 
Polemik, da auch Wundts Replik : „Über die Moral der litterarischen 
Kritik" (1887) sehr scharf gehalten war. 

Schliesslich möchte die Frage nahe liegen, welche Stellung 
innerhalb der philosophischen Systeme des Jahrhunderts und der 
Strömungen der Gegenwart W^undt einnimmt. Ist er Idealist, oder 
Positivist, oder Empirist? Pantheist oder Materialist? Lehnt er sich 
mehr oder minder an irgend eine oder mehrere Weltanschauungen 
der Vergangenheit an oder steht er auf eigenen Füssen ? Über alle 
diese Fragen werden wir Auskunft erlangen, wenn wir in W^undts 
Schriften selbst die Antwort suchen. Und hier möchte ich auch 
zunächst auf zwei Vorträge hinweisen, welche Wundt in den Jahren 
1873 und 1875 beim Antritt seiner Professur in Zürich und bei 
Beginn seiner Lehrthätigkeit in Leipzig gehalten hat: „Über die 
Aufgabe der Philosophie in der Gegenwart" (1873) und 
„Über den Einfluss der Philosophie auf die Erfahrungs- 
wissenschaften" (1875). Schliesslich machen wir noch auf den 
ersten seiner im Jahre 1886 erschienenen, auch in anderer Hinsicht, 
zumal für das grössere gebildete Publikum, höchst beachtenswerten 
Essays, „Philosophie und Wissenschaft", aufmerksam. 

Wundt möchte das Verhältnis der Philosophie zu dem ganzen 
Umkreis der positiven Wissenschaften, wie es sich in unserer 2^it 
herausgestaltet hat, einer genauen Feststellung und scharfen Be- 
grenzung unterziehen. Als ein bedeutsames Zeichen der Zeit 
ist jetzt der in allen wissenschaftlichen Fächern sich regende Trieb 
nach philosophischer Vertiefung anzusehen. Ist es doch, als 



Wilhelm Wundt. 69 

wenn der Ernst der Zeit die Gemüter, welche über ein halbes 
Jahrhundert der thatsachenfrohen, aber ideenlosen Empirie in Natur, 
Kunst und Geschichte leidenschaftlich gehuldigt haben, nun an der 
Neige des Jahrhunderts wiederum das Bedürfnis empfinden lässt 
wiederum den tieferen Fragen in Wissenschaft und Leben sich zu- 
zuwenden. Wundt sieht diesen Trieb selbst in der Theologie 
sich regen, wo der Protestantismus und Katholicismus augenblicklich 
am Werke sind, die bisherigen Beziehungen ihrer Dogmatik 
zur Methaphysik zu revidieren, jener im Anschluss an die Reli- 
gionsphilosophie Kants, Hegels und Schleiermachers, dieser in An- 
lehnung an die Systeme der grossen Scholastiker, unter denen nach 
einer Erklärung Papst Leos XIII. Thomas von Aquino heute noch 
die höchste Autorität verdient. — Nicht minder bedeutsam er- 
scheinen die Versuche, welche heute auf dem Gebiete der Staats- 
und Gesellschaftslehre gemacht werden, indem im Anschluss 
an die sociale Bewegung der Gegenwart die bisherigen rechts- imd 
socialphilosophischen Begriffe nicht bloss mehr auf ihren 
historischen Ursprung, sondern auf ihre reale Wahrheit hin schärfer 
geprüft werden: Versuche, welche merkwürdiger Weise jetzt mehr 
von Juristen und Nationalökonomen, als von eigentlichen Philo- 
sophen ausgehen. Ähnliche Bestrebungen zeigen sich auch schon 
hier und dort in der Geschichte. Denn wie sehr man auch die 
früher so beliebten philosophischen Geschichtskonstruktionen ab- 
lehnt, so begrüsst man doch um so freudiger alle diejenigen An- 
läufe, welche jetzt unternommen werden, in der Entwirrung des 
bunten Durcheinander der geschichtlichen Fäden immer mehr die 
exakte Methode, die auf anderen Gebieten so Grossartiges ge- 
leistet hat, gegenüber der blossen historischen Archivgelehrsamkeit 
zur Geltung zu bringen und nach dem Vorgange des Engländers 
Thomas Buckle und seiner Schule auch im geschichtlichen Ver- 
laufe konstante gesetzliche Vorgänge nachzuweisen. 

Insbesondere zeigt sich jedoch in den Naturwissenschaften 
das Bastreben nach vertiefterer Auffassung der Fragen, und dieses 
dokumentiert sich sowohl inbezug auf die innere Verknüpfung 
der bisher getrennten naturwissenschaftlichen Einzel- 
gebiete, als auch inbetreff der Revision der bisher als unerschütter- 



70 Wilhelm Wundt. 

lieh geltenden Grundvoraussetzungen. Wenn in erster Hinsicht 
im Gebiete der unorganischen Natur die täglich sich mehr und 
mehr befestigende Lehre von der Erhaltung der Kraft, im 
Reiche der organischen Natur die immer kühner vorschreitende 
darwinistische Entwickelungslehre ein wesentlich inneres Band 
der verschiedenen Zweige der Naturforschung bilden, so braucht 
man inbezug auf die kritische Revision der bisherigen naturwissen- 
schaftlichen Grundvoraussetzungen nur darauf hinzuweisen, dass die 
hervorragendsten Forscher der Zeit nicht müde werden, die uralten 
Grundprobleme der Metaphysik, wie das Wesen der Materie, das 
Verhältnis der organischen Zweckmässigkeit zur Kausalität der Natur 
u. s. w. vom Standpunkte der naturwissenschaftlichen Erfahrung in 
Angriff zu nehmen. Ja die strengste und von der philosophischen 
Spekulation scheinbar am wenigsten berührte W^issenschaft, die 
Mathematik, fängt an, ihren ungenügenden empirischen Raumbegriff 
durch transcendente geometrische Hypothesen zu erweitem und zu ver- 
tiefen, und wenn die Führer dieser „metamathematischen** Bestrebungen 
(Riemann, Clausius u. A.) es auch noch zu keinen dauernden Re- 
sultaten gebracht haben, so sahen sie doch ein, dass, so lange der 
frühere empirische Raumbegriff noch mit den alten Fesseln der 
Anschauung behaftet ist, die (Geometrie als Wissenschaft gewissen* 
massen in der I^uft schwebt und der wahren Allgemeinheit und 
Überzeugungskraft entbehre. Und auf denselben reformatorischen 
Bahnen bewegt sich auch die neuere Algebra, wenn sie in Ab- 
weichung von der naiven Art der früheren Algebristen sich in 
Untersuchungen über das philosophische Wesen und den 
Ursprung der Zahl wie über die logischen Fundamente de- 
allgemeinen Analysis ergeht. Sogar im Gebiete der von aller 
Philosophie abseits liegenden Mechanik beobachtet man ähnliche 
radikale Vorgänge, wo die Kinematiker und Statiker den Ursprung 
und die Sicherheit der mechanischen Gesetze prüfen und durch 
neue Grundlagen feststellen. 

Wundt hält dieses alles für bedeutsame Zeichen der Zeit und 
legt ihnen grosses Gewicht bei, ja er hält sie geradezu für die 
Vorboten einer sich bald vollziehenden allgemeinen Um- 
gestaltung unserer gesamten wissenschaftlichen Weltanschauung, 




Wilhelm Wundt. 71 

und zwar nach der Richtung einer Überwindung der Epoche 
des bloss Stoff ansammelnden Empirismus. Und sehr trefifend 
fügt Wundt hinzu, dass jene Vorgänge innerhalb der Einzelwissen- 
schaften eine um so grössere Bedeutung für die Zukunft gewinnen, 
als sie zunächst noch spontan aus der inneren W^erkstätte der 
W^issenschaften ans Licht treten. 

Dem gegenüber unterwirft nun Wundt den Charakter unserer 
heutigen Philosophie einer kritischen Beurteilung, wobei er zu 
dem Resultat gelangt, dass das gegenwärtige Verhältnis zwischen 
der Philosophie und den Einzelwissenschaften ein unhaltbares ge- 
worden ist. Die Schuld an dieser Lage der Dinge sei auf beiden 
Seiten. Wenn heute auch nicht mehr so unberechtigte Eingrifife 
der Spekulation in die Einzelwissenschaften wie früher, namentlich 
zur Zeit der Blüte der grossen Systeme stattfinden, so seien die 
heutigen Vertreter der systematischen Philosophie doch noch nicht 
ganz frei von dem Anspruch, in das Getriebe der Specialwissen- 
schaften hineinzureden, ohne im Vollbesitz derjenigen Erfahrungs- 
thatsachen zu sein, deren Gesamtheit erst ein Urteil ermöglicht. 
Andererseits zeigen die oben angedeuteten erfreulichen Spuren 
philosophischer Vertiefung in den Einzeldisciplinen doch noch nicht 
die Kraft, dass etwa der Specialforscher so weit seinen Blick er- 
weitert hätte, um den Zusammenhang seines eigenen Bereichs 
mit dem anderer W^issensgebiete so klar überschauen zu 
können, dass er hierdurch einen Ansporn erhielte zur Erforschung 
der gemeinsamen Prinzipien. Von diesem Ziele sind wir noch 
weit entfernt. — Die heutigen Juristen, Nationalökonomen und 
Historiker z. B. sind, selbst wenn sie sich zu gemeinsamer Arbeit 
entschliessen könnten, aus sich heraus ebenso wenig fähig, eine 
ihre P'ächer durchdringende und heherrschende gemeinsame 
ethische Prinzipienlehre zu schaffen, als etwa die heutigen 
Botaniker, Physiologen und Zoologen aus sich heraus eine gemein- 
same, wissenschaftlich und philosophisch befriedigende Biologie 
oder gar eine allgemeine Philosophie der organischen Natur- 
wissenschaften zu begründen vermögen. 

Auf Grund dieser Sachlage, die ebenso viel Hoffnungsreiches 
für die Zukunft wie Entmutigendes für die Gegenwart besitzt, wirft 



72 Wilhelm Wundt. 

Wundt die Frage auf, wie diesem Übelstand, der freilich vom wissen- 
schaftlichen Handlanger gar nicht empfunden wird, abzuhelfen sei? Er 
wirft zunächst, bevor er an die Beantwortung dieser Frage geht, 
einen Rückblick auf die historischen Beziehungen zwischen Philo- 
sophie und Einzelwissenschaften, indem er überall bei den ent- 
scheidenden Wendungen, wo eine Umwälzung in diesen Beziehungen 
eintrat, verweilt. Er geht das Altertum, das Mittelalter und die 
Neuzeit durch, und angelangt an dem gegenwärtigen Zeitmoment, 
findet er dieses Verhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft 
„unhaltbar". Und doch erfordert der Geist des Jahrhunderts, wie 
die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung einen Frieden 
zwischen beiden — freilich einen Frieden auf dauerhafteren 
Grundlagen, als den bisherigen. 

Diese neue Ära einzuleiten und zu dem Erkenntnisbau der 
Zukunft einige wichtige Bausteine zu liefern, sieht Wilhelm Wundt 
als die wissenschaftliche Aufgabe seines Lebens an. Freilich hat 
gerade vor hundert Jahren, als Kant, ähnlich wie heute Wundt, mit 
dem Anspruch auftrat, zwischen seiner Transcendentalphilosophie 
und den Naturwissenschaften Frieden zu schliessen, ihnen Schiller 
zugerufen : 

„Feindschaft sei zwischen Euch! Noch kommt das Bündnis zu frühe, 
Wenn Ihr im Suchen Euch trennt, wird erst die Wahrheit erkannt." 

Indes zeigt nach Verlauf dieses Jahrhunderts die Ent Wickelung 
der Naturwissenschaften einerseits, wie der Philosophie andererseits 
heute eine ganz andere Gestalt. Man ist auf beiden Seiten für den 
Frieden reifer geworden. 

Zum Schlüsse möge es mir noch gestattet sein, Wilhelm Wundt 
als Schriftsteller noch einige Bemerkungen zu widmen. Es ist ganz 
unleugbar, dass auch im Gebiete der Wissenschaften das, was man 
eine schriftstellerische Kunst oder in beschränktem Sinne eine Dik- 
tion nennt, jetzt zu finden ist. Die grössere oder geringere Klarheit 
und Durchsichtigkeit, das Mass der Anschaulichkeit und des Bilder- 
reichtums, die Eigenart des Satz- und Periodenbaues und dergl. 
macht auch in der wissenschaftlichen Prosa die Eigenart des Stils 
aus. Und dass die Schreibart W^undts eine in jeder Beziehung 
charakteristische ist. wird derjenige anerkennen müssen, der sich 



Wilhelm Wundt. 73 

eingehend mit den Schriften dieses Denkers beschäftigt hat. Frei- 
lich besteht das Eigenartige hier darin, dass die Wundt'sche Schreib- 
art gewissermassen durch einen Mangel an individuellen Besonder- 
heiten sich kennzeichnet. Dieser Schriftsteller bietet das höchst 
mögliche Mass von Klarheit, Präcision, Schärfe und Genauigkeit 
in der Beziehung der Gedanken. Mit Vorliebe vermeidet er jeden 
Bilderschmuck, jedes Ornament im sprachlichen Ausdruck, so dass 
er oft trocken und nüchtern erscheint. Sein höchster Ehrgeiz ist, 
sachlich und verständlich zu sein. Nichtsdestoweniger wird er 
niemals langweilig, d. h. er weiss im Leser immer das Interesse 
für die Ideen und Gedanken, die er entwickelt, zu wecken. Aber 
er erreicht dieses seltene Ziel durch die ehrlichsten Mittel der Welt, 
durch Vermeidung aller Phrase, durch die unbefangenste und ob- 
jektivste Sachlichkeit Es giebt in seinen Schriften keine leeren 
Stellen, keine Sätze, die nur Ornament sind. Und doch ist 
auch bei Wundt eine gewisse Kunst der Darstellung bemerkbar; 
aber diese liegt nicht so auf der Oberfläche, dass sie nur als Kunst 
sichtbar wäre. Sie tritt hier mehr als Übersichtlichkeit und Durch- 
sichtigkeit in der Anordnung der Gedanken heraus. Allerdings ist 
Wundt kein eigentlicher Systematiker und so wird er auch nie in 
einem bei den Systematiken! so oft anzutreffenden äusserlichen Schema- 
tismus verfallen. Wer Kants „Kritik der reinen Vernunft" und die 
übrigen systematischen Werke dieses grossen Denkers kennt, weiss, was 
ich damit sagen will. Aber wenn man so vielfach über die Schwierig- 
keit des Verständnisses der kantischen „Kritiken" klagen hört, so 
ist es doch nicht bloss die Tiefe und logische Strenge der Ge- 
dankenentwickelungen in ihnen; es ist — sagen wir es gerade 
heraus — auch eine gewisse Unbeholfenheit im Ausdruck, der das 
Verständnis jener berühmten Werke so oft erschwert. Die nicht 
seltene Erscheinung bei Kant, dass er sich wiederholt und ein und 
dasselbe, allerdings in verschiedenem Zusammenhange, immer wieder 
vorbringt, liegt freihch bei dem Königsberger Philosophen an seiner 
Furcht, missverstanden zu werden. Eine Furcht, die bei der damals 
völligen Neuheit seiner kritischen Weltanschauung allerdings nicht 
ohne Berechtigung gewesen ist. Sie liegt aber auch in dem noch 
unentwickelten Zustande der deutschen philosophischen Prosa jener 



74 Wilhelm Wundt. 

Zeit. Man bedenke nur, dass Kant noch innerhalb der philo- 
sophischen Terminologie Christian Wulffs sich bewegt, der er freilich 
vielfach einen ganz neuen Sinn gegeben hat. Kant fühlte sehr 
wohl das Widersprechende dieses Verhältnisses, den Gegensatz 
zwischen der ursprünglichen und der von ihm erdachten Bedeutung 
der Termini und hatte in der That allen Grund, Missverständnisse 
zu fürchten und diesen vorzubeugen. Schärft er doch zumal in der 
„Kritik der reinen Vernunft" immer und immer wieder seinen Lesern 
ein, was er eigentlich meint. Dieses ist der Grund seiner Wieder- 
holungen. 

Einem solchen Stilfehler braucht ein modemer Denker, wie 
Wundt, aus dem Grunde nicht zu verfallen, weil unsere Sprache in 
der That jetzt doch eine grössere und mannigfaltigere Ausdrucks- 
fähigkeit wie vor lOO Jahren zeigt. Nach einer mehr als fünfzig- 
jährigen spekulativen Entwickelung, welche die deutsche Sprache bis 
in ihre innersten Tiefen, wenn auch nicht immer zu ihrem Voiteil, be- 
einflusst hat, trat seit der Mitte dieses Jahrhunderts, von der Natur- 
wissenschaft her eine ganz entgegengesetzte Einwirkung auf die 
Sprache zu Tage und diese musste, je intensiver sie auftrat, um so 
allgemeiner nicht nur die Spuren jenes erst genannten Einflusses 
paralysieren, sondern auch positiv im Gebrauche der W^orte, in der 
Anwendung von Metaphern und im Satzbau den Sprachgeist nach der 
entgegengesetzten, konkreten Seite hinlenken. Sie ist entschieden, 
gegenüber dem früher vorwiegenden abstrakten Charakter bei 
Weitem sinnlicher geworden, was auch im Gebiete der heutigen 
deutschen Belletristik sehr sichtbar geworden ist. — 

Nun ist es aber gerade Wundt, der, früher und noch gegen- 
wärtig als einer der ersten naturwissenschaftlichen Mitforscher, die 
Darstellung in seinen philosophischen W^erken von dem Geiste 
exakter Naturforschung beeinflusst zeigt Die ruhige, vorsichtige, 
behutsame Art, wie er an die Probleme herantritt, wie er die That- 
sachen des Bewusstseins prüft und wie er aus ihnen seine Schlüsse 
zieht, die Unabhängigkeit, in der er sich von früheren Philosophemen 
zeigt, die Kühle und Unbefangenheit, mit der er die Ansichten auch 
der grössten unter seinen Vorgängern prüft: alles dieses zeigt den 
Mann der empirischen und exakten Forschung. 




Wilhelm Wundt. 75 

Dass diese Denkweise auch die Darstellungsweise gar sehr be- 
einflusst, ist bei Wundt unzweifelhaft — mehr wie bei anderen neuem 
deutschen Denkern, die, wenn auch nicht in dem Masse, ihren Aus- 
gangspunkt von der Naturforschung genommen haben, z. B. bei 
Lotze. Allerdings kommt hier die Verschiedenheit der ganzen 
wissenschaftlichen Persönlichkeiten in Betracht. Das halb ästhe- 
tische, halb mystisch-gläubige Element in Lotze macht sich auch in 
seiner Darstellung geltend. Das halb Verhüllte seines Grundprinzips 
ist auch in seinem Stile sichtbar. Dazu kommt, dass die ent- 
schieden geistreiche Art, wie er die entlegendsten Gebiete in 
Natur und Geschichte in witziger und frappanter Weise in Be- 
ziehung setzt, ihn zu einem geistreichen Schriftsteller stempelt und 
es ist erklärlich, dass sein „Mikrokosmus" längere Zeit ein Lieblings- 
buch der höher gebildeten Kreise gewesen ist. Jetzt fängt auch er 
an, einigermassen in Vergessenheit zu kommen. 

Diesen Erfolg, wie der „Mikrokosmus" werden Wundts z. B. „Es- 
says" (1885), die ich weder inbezug auf den Reichtum des Inhalts, 
noch auf die Strenge des inneren Zusammenhanges der einzelnen 
Teile, noch inbezug auf das geistvolle der Darstellung mit jenem 
in Parallele stellen will, niemals erzielen. Nichtsdestoweniger sind 
gerade diese Essays, die allerdings nur eine Zusammenstellung 
von zum Teil schon früher veröffentlichen Abhandlungen sind, 
charakteristisch für die oben gerühmten Vorzüge der Wundt'schen 
Darstellungsweise. Der Inhalt dieser 14 Essays gehört den ver- 
schiedensten Gebieten der Philosophie, wie der Methodologie 
(I. „Philosophie und Wissenschaft") der Naturphilosophie (II. „Die 
Theorie der Materie" und III. ..,Die Unendlichkeit der Welt") der 
Psychologie (IV. „Gehirn und Seele", V. „Die Aufgaben der 
experimentellen Psychologie", VL „Die Messung psychischer Vor- 
gänge", VII. „Die Tierpsychologie", Vin. „Gefühl und Vorstellung" 
IX. „Der Ausdruck der Gemütsbewegungen", X. „Die Entwickelung 
des Willens") der Sprachphilosophie (XI. „Die Sprache und das 
Denken") der allgemeinen wissenschaftlichen Kritik (XU. „Der 
Aberglaube in der Wissenschaft", XIII. „Der Spiritismus",) ja sogar 
der Ästhetik und Litteraturgeschichte (XIV. „Lessing und 
die kritische Methode"), an, einem Gebiet, dem Wundt sonst fern steht 



76 Wilhelm Wundt. 

Beiläufig bemerkt, ist gerade die letztgenannte Studie eine wahre 
Perle in ihrer Art und ein wertvoller Beitrag zum Auibau einer 
uns noch mangelnden wissenschaftlichen Methodik in der ästhetisch- 
litterarischen Interpretation. Dass alle diese zum Teil sehr umfang* 
reichen Arbeiten auf dem Boden des Thatsachenmaterials fundiert 
und auch, methodologisch betrachtet, wahre Muster monographischer 
Untersuchungen sind, wollen wir noch betonen. 




Heinrich Ahrens 

als Rechtsphilosoph und Ethiker. 

Karl Christian Friedrich Krause, der grosse jetzt fast ver- 
gessene idealistische Philosoph, spricht an vielen Stellen seiner 
Schriften die Hoffnung aus, dass noch vor Ablauf des Jahrhunderts 
sein System, welches er selbst mit dem Namen „Panentheismus" 
belegte und womit er ganz treffend den halb pantheistischen, halb 
theistischen, aber durchweg idealistischen Charakter desselben be- 
zeichnete, allgemein anerkannt sein würde. Nun, wir stehen an 
der Neige dieses Säculums, und jene so eigenartige und in ihrer 
schematischen Gliederung so weitläufige Weltanschauung ist heute 
so weit entfernt von der allgemeinen Anerkennung, dass sie mehr 
als alle anderen idealistischen Systeme aus der ersten Hälfte dieses 
Jahrhunderts vergessen zu sein scheint. Was jedoch Krause, den 
sonst so bescheidenen Mann, auf diesen baldigen Sieg seiner 
„Wesenlehre' hoffen Hess, hängt mit der Grundidee seiner Ge- 
schichtsphilosophie eng zusammen. Bekanntlich teilte er den welt- 
und kulturgeschichtlichen Verlauf in fünf Hauptperioden, von denen 
die dritte, das „Hochalter der Reife", diejenige sei, in welche die 
Menschheit jetzt eintritt, so zwar, dass er diesen Eintritt wesentlich 
von der schnellen Verbreitung seiner (der Krause^schen) Philosophie 
abhängig macht. Die Konsequenzen dieser Anerkennung seiner 
„Wesenlehre" werden nicht nur eine vollständige Neubegrtindung 
aller Wissenschaften, ein Aufblühen aller Künste und eine unge 
ahnte Vertiefung des religiösen Lebens sein — , sondern sie werden 
auch eine Realisierung der von Krause aufgestellten Rechts-, Staats- 
und Gesellschaftsprinzipien herbeiführen. 



78 Heinrich Ahrens. 

Diese Überzeugung ging bei unserra idealistischen Denker aus 
einer Voraussetzung hervor, die etwas Rührendes hatte: nämlich aus 
dem Glauben, dass alle Fortentwickelung innerhalb der Menschen- 
welt von der Idee aus geschehe. Die heutige Geschichtsphilosophie, 
wesendich beeinflusst von der realen Weltauffassung, hat auch an 
Stelle der idealen reale Faktoren für alles historische Geschehen 
gesetzt. Auch die Geschichtsentwickelung ist, wie man Dank der 
Comte - Buckle - Taine'schen Auffassung jetzt weiss, in jedem ihrer 
Stadien nur das Ergebnis der Summe der vorausgegangenen Einzel- 
wirkungen. Der Irrtum Krauses hängt aber zu innig mit dem 
Grundgedanken seiner „Wesenlehre" zusammen, als dass er nicht 
auch auf seine Schule übergegangen sein sollte. 

Über 60 Jahre sind seit dem Tode des Begründers der „Wesen- 
lehre" verflossen (er starb zu München, 27. September 1832), aber 
seine Prophezeiung von dem Siege seiner Weltanschauung hat sich 
nicht erfüllt Ja, was man früher die Krause'sche Schule nannte, 
so zählte sie zwar noch vor 3 Decennien eine Anzahl geachteter 
Namen unter den akademischen Lehrern in Deutschland: ich nenne 
hier nur den Metaphysiker Herrmann von Leonhardi in Prag, 
der sich für den eigentlichen geistigen Erben Krauses ansah, ferner 
den Ethiker und Ästhetiker Schliep hacke (gest. 1871), den 
Rechtsphilosophen Köder in Heidelberg (gest. 1879), den Reli- 
gionsphilosophen I^ in de mann in München, einen Vorkämpfer des 
Deutsch-Katholicismus, den er durch die „Wesenlehre'* zu vertiefen 
suchte, sowie vor Allem den Rechtsphilosophen Heinrich Ahrens 
in Leipzig. 

Von allen diesen genannten Gelehrten hat Heinrich Ahrens 
auch ausserhalb der philosophischen Kreise, insbesondere unter den 
Juristen die meiste Anerkennung gefunden. — Ein glücklicher Zu- 
fall hat mich mit diesem ausgezeichneten Manne, der ebensowohl 
als akademischer Lehrer an der Universität zu Leipzig, wie als 
rechts- und kulturphilosophischer Schriftsteller eine hervorragende 
Stellung einnahm, in persönliche Berührung gebracht. Seitdem stand 
ich dem trefflichen Manne nahe, und ich durfte mich seines freund- 
schaftlichen Umganges erfreuen. Es möge mir daher hier gestattet 
sein, seinem Leben, wie seinen wissenschaftlichen Verdiensten, nach- 



Heinrich Ahrens. 79 

dem zwei Decennien seit seinem Tode verflossen sind, einige Be- 
merkungen zu widmen. 

Die ganze Weltanschauung Krauses trägt einen durchaus idea- 
listisch-kosmopolitischen Charakter, indem er, hauptsächlich im 
„Urbild der Menschheit" l8ll, den Gedanken durchzuführen be- 
müht ist, dass die Menschheit auf Erden Glied eines höheren, kos- 
mischen Geisterreichs sei und dass die Kulturaufgabe der Mensch- 
heit darin bestehe, sich hier als ein Ganzes in allen ihren Teilen 
zu vollenden und sich als ein organisch und harmonisch lebendes 
Gesamtwesen herauszubilden. Daher schlägt er die verschiedensten 
Organisationen innerhalb der menschlichen Gesellschaft vor: einen 
Wissenschaftsbund, einen Kunstbund, einen Tugendbund, einen 
Religionsbund, einen Rechtsbund etc., durch welche die Ausbildung 
des ganzen ungeteilten Menschheitslebens, als eines Organismus aus 
der gesamten menschlichen Gesellschaft und darin auch jedes Ein- 
zelmenschen, als eines ganzen, ungeteilten und dem Ganzen der 
Menschheit „wesensinnig" verbundenen Individuums, herbeigeführt 
werden soll. Wie die ganze Ethik, Rechts- und Geschichtsphiloso- 
phie des Meisters dieses grosse menschheitliche Gepräge trägt, so 
sind auch die Arbeiten seiner Schüler von diesem Geiste durch- 
drungen. Nur dass die betreffenden Werke der Schüler, wenn auch 
nicht in Bezug auf die schematische Strenge der Durchführung des 
Prinzips, so doch in der Rücksichtnahme auf die geschichtlichen 
Thatsachen diesen hyperidealistischen Charakter etwas abgestreift 
haben und sich mehr an die historischen Erfahrungswissenschaften 
anlehnen. 

Insbesondere gilt dieses von den rechtsphilosophischen Werken 
Heinrich Ähren s', der noch von Göttingen her einer der un- 
mittelbaren Schüler Krauses gewesen war und der auch in seinem 
äusseren Gelehrtenleben niemals jenen so eigenartigen kosmopoli- 
tischen Zug verleugnen konnte. So sind seine beiden Hauptwerke: 
„Cours de psychologie" (2 Bde., Paris 1836 — 38) und „Cours 
de droit naturel" (2 Bde, 1838, welches viele Auflagen erlebte) 
französisch geschrieben, wie ja auch diese Schriften aus den Vor- 
lesungen entstanden sind, welche er an den Universitäten zu Paris 



80 Heinrich Ahrens. 

und dann zu Brüssel gehalten hat*). Erst aus seiner späteren Zeit, 
als er die Professur für Rechtsphilosophie in Graz und (seit 1869) 
den Lehrstuhl der Geschichte für Philosophie in Leipzig bekleidete, 
stammen seine deutsch geschriebenen Werke, wie die umfangreiche 
„Juristische Encyklopädie oder organische Darstellung 
der Rechts- und Staatswissenschaft auf Grundlage einer 
ethischen Rechtsphilosophie'* (Wien 1855 — 57). Diese juri- 
stische Encyklopädie ist auch vielfach in fremde Sprachen übersetzt 
worden, z B. ins Russische, Polnische, Holländische und Italienische. 
Auch zu Franz von HoltzendorfTs „Encyklopädie der Rechtswissen- 
schaften" schrieb Ahrens den einleitenden rechtsphilosophischen Teil. 
Ferner ist sein ,,Naturrecht oder Philosophie des Rechts und 
Staates*' (6. Aufl. 1870 — 72) zu nennen. Das Werk ist eigentlich eine 
deutsche Bearbeitung seines „Cours de droit naturel**, bildet aber jetzt 
ein durchaus selbständiges Werk. Es besteht aus zwei Teilen, Bd. I: 
„Rechtsphilosophie oder Naturrecht auf philosophisch-anthropolo- 
gischer Grundlage'* und Bd. II: „Die organische Staatslehre*'. Dieses 
letztgenannte Buch zeigt nicht nur eine (im Sinne einer stark 
historisch-konservativen Auffassung gehaltene) völlige Umarbeitung 
und Modifikation seines oben genannten französischen Werkes, 
sondern es ist auch bedeutend erweitert und zwar durch Aufnahme 
zweier neuer Rechtsdisciplinen, des allgemeinen Staatsrechts und des 
Völkerrechts. 

Diese Modifikation seiner politischen Anschauungen liegt in 
dem historischen Gange unserer öffentlichen Veihältnisse vor und 
nach dem Jahre 1848. Ein Freund Victor Cousins und ein Pro- 
tege Guizots, steckte Ahrens früher tief in den Anschauungen des 
französischen Liberalismus. Als er dann im Bewegungsjahre 1848 
von Brüssel aus, wo er die Professur für praktische Philosophie inne 
hatte, für einen hannoverschen Wahlbezirk in die konstituierende 
deutsche Nationalversammlung zu Frankfurt a. M. gewählt wurde, 

•) Der ^Cours de droit naturel" hat die grösste Verbreitung im Auslände 
gefunden. Er wurde nicht nur ins Spanische, Italicnische, Portugiesische, Unga- 
rische, Kussische und Polnische übersetzt, sondern er wird auch an den Rechts- 
akademien der südamerikanischen Staaten, wie in Brasilien, Peru und Chile, 
<len Vorlesungen zu Grunde gelegt. 



Heinrich Ahrens. 81 

WO er dem Verfassungsausschusse angehörte, nahm er seinen Platz 
in der Fraktion der grossdeutschen Partei, welche sich gegen den 
Ausschluss Österreichs aus Deutschland mit aller Kraft wehrte. Ob 
die unmittelbare Folge dieses Verhaltens seipe Berufung an die 
Hochschule zu Graz gewesen ist, wollen wir dahingestellt sein lassen. 
Jedenfalls hat ihm dieses sein Verhalten nicht geschadet, als später 
an ihn die Berufung der sächsischen Regierung auf den Lehrstuhl 
des so kenntnisreichen und litterarisch und publizistisch so fnicht- 
baren Friedrich Bülau (1805 — 1859), der wiederum seit 1838 
ein Nachfolger des als staatswissenschaftlicher Schriftsteller und ins- 
besondere um unsere Universität so hochverdienten Pölitz war, 
erfolgte. Wie seine Vorgänger vertrat Ahrens mehrere Jahre hin- 
durch die Universität Leipzig in der Sächsischen Ersten Kammer, 
obwohl er weit mehr theoretischer Rechtsphilosoph, als aktiver 
Politiker war. Als Mensch war Heinrich Ahrens eine der sympa- 
thischsten und liebenswürdigsten Gelehrtengestalten, im Anfang etwas 
vornehm reserviert zwar, später aber, wenn er Vertrauen fasste, von 
offenem, freiem Wesen, gefallig, gütig, warm und mitteilsam bis zur 
Hingebung. Er war, wie sein Freund, Mitschüler und Gesinnungs- 
genosse Hermann von Leonhardi (geb. 18C9 zu Frankfurt a. M. 
und wie dieser ebenfalls in die hannoverschen politischen Wirren 
verstrickt und 1829 relegiert) mit einer Tochter seines Lehrers 
Krause vermählt. — Bei dem damaligen Vorherrschen der Herbar- 
tianer an der Leipziger Hochschule (Drobisch, Strümpell, Hartenstein, 
Ziller) konnte Ahrens indess hier zu keinem grösseren Einflüsse 
gelangen. Doch wusste seine stets versöhnliche Natur auch jeden 
Konflikt mit seinen akademischen Kollegen zu vermeiden. 

Dieser ausgleichende und konziliante Zug in Ahrens' Natur hat 
auch später sein Verhalten gegenüber den wissenschaftlichen Ciegen- 
sätzen innerhalb der Rechtsphilosophie bestimmt. Wie Krauses 
Metaphysik zwischen Theismus und Pantheismus hin- und her- 
schwankt, und wie alle Lücken und Widersprüche in derselben aus 
der Unmöglichkeit einer inneren Versöhnug dieses Grundgegensatzes 
herfliessen, so schwankt auch Ahrens' Rechtsphilosophie zwischen 
der alten abstrakt-philosophischen Rechtsschule der Kant-Fichte'schen 
Richtung und der eigentlichen sogen, historischen Schule. Da aber 

6 



82 Heinrich Ahrens. 

die letztere meist alle Rechtsphilosophie überhaupt ablehnt, d h. 
darauf verzichtet, die Rechtsbegriffe auf ihre letzten ethischen 
Gründe zurückzufuhren, so sucht Ahrens einen Grundbegriff, durch 
welchen er jenen Gegensatz vereinigen zu können hofft; dieses ist 
ihm der Begriff des Organischen. Aber diese Ausgleichung will 
ihm deshalb nicht durchweg gelingen, weil jene beiden Standpunkte 
aus völlig entgegengesetzten Quellen fiiessen, aus der Vernunft 
einerseits und den gesetzlich gewordenen Zuständen anderer- 
seits; und es ist kein Wunder, dass es seiner Darstellung vielfiach 
an Durchsichtigkeit und innerer Konsequenz mangelt: ein Fehler, 
den Ahrens selbst zuweilen herausfühlte. 

Wäre Ahrens Eklektiker gewesen, so würde er die verschie- 
denen Gründe, Quellen und Prinzipien, aus denen das Recht ab- 
geleitet wird, einfach nebeneinander gestellt haben, wie es heute ja 
derartige skrupel- und harmlose „Rechtsphilosophen" vielfach giebt; 
aber Ahrens ist sein Leben lang Systematiker gewesen, und wenn 
er hierbei im Einteilen und Schematisieren auch nicht so weit geht 
wie sein berühmter Lehrer, so war er doch ein zu logischer Kopf, 
um nicht das Bedürfnis zu empfinden, die grossen Gegensätze in 
der Rechtsauffassung auch innerlich zu überwinden, was ihm eben 
nicht immer gelingen wollte. Der Begriff des „Organischen", be- 
kanntlich der Naturwissenschaft entlehnt, ist aber nur sehr wenig auf 
das geschichtliche lieben anwendbar; oder man müsste den Zu- 
fall aus der Geschichte ganz eliminieren und an seine Stelle die 
Vorsehung mit allen ihren theistischen Konsequenzen setzen. Was 
heisst hier überhaupt „organisch"? Ist die Menschheit ein Organis- 
mus? und entwickelt sich dieselbe historisch nach Art eines natür- 
lichen, d. h. pflanzlichen oder animalen Organismus? Krause hat 
zwar so etwas behauptet. Aber angenommen, diese Analogie 
zwischen natürlicher und historischer Entwickelung hätte etwas für 
sich, zu welchen Folgerungen gelangt man dann? Allerdings stellt 
sich ja auch die „natürliche" Entwickelung im Sinne der Krause- 
schen „Wesenlehre" anders als nach der atomistischen Auffassung 
der heutigen Naturforschung. Nichtsdestoweniger müsste, selbst wenn 
wir statt des Atomismus das dynamische Prinzip als das leitende 
setzen wollten doch die Einheitlichkeit natürlicher und histo- 



Heinrich Ahrens. 83 

rischer Entwickelungsgesetze sich daraus ergeben. Aber wo finden 
wir diese Identität in dem gesetzmässigen Verlauf beider Gebiete? 
Ja, wo ist auch nur im Historischen eine feste Gesetzmässigkeit 
zu finden? Die beiden grossen Geschichtsphilosophen Hegel und 
Krause haben Entwickelungsepochen im Geschichtsverlaufe 
unterschieden, aber bis zum Nachweise unabänderlicher Gesetze 
sind sie nicht gelangt und konnten auch nach der Natur ihres meta- 
physischen Grundprinzips nicht gelangen. Was ist also mit einem 
solchen Begriff des „Organischen" im Rechtsleben der Völker an- 
zufangen? Oder ist damit nur überhaupt eine ruhige, von keiner 
gewaltsamen Revolution unterbrochene Rechtsentwickelung gemeint? 
Dann gelangen wir zur Frage: Was ist Revolution? Ist nicht jeder 
das Alte beseitigende, auch von „oben" ausgehende und den bis- 
herigen Entwickelungsgang störende Eingriff (z. B. ein Staatsstreich) 
eine Revolution? Aber Ahrens ist weit entfernt, diesen Begrifif des 
Organischen, wie ihn die legitimistisch-theokratische Rechtsphilo- 
sDphie Julius Stahls lehrte, für sich zu acceptieren. Im Gegenteil, 
er tritt an vielen Stellen seiner W^erke der Rechts- und Staatsauf- 
fassung Stahls mit Schärfe entgegen. W'elchen sonstigen Sinn können 
wir also mit dem Begriff der „organischen" Rechtslehre verbinden? 

Es sind zum Teil Schelling'sche Reminiscenzen, wenn Ahrens 
in seiner „Juristischen Encyklopädie" (S. 55) sagt: „Das Recht ist 
ein organischer Begriff, insofern unter „organisch" die in der 
Einheit eines Ganzen ursprünglich gegebene Wechselbestimmung 
aller Teile und Verhältnisse bezeichnet wird." Aber Ahrens geht 
noch weiter, indem er das „Organische" des Rechts nach drei Sei- 
ten hin nachweisen will : i ) an sich selbst, d. h. das Recht in einem 
gemeinsamen hohem Ganzen betrachtet*, 2) in Rücksicht auf die 
Lebensverhältnisse, welche es regelt ; 3) hinsichtlich der Thätigkeit, 
wodurch es verwirklicht wird. Wir können es uns nicht versagen, 
diese dreifache Bewährung des „Organischen" im Recht unsern 
Lesern näher darzulegen. Wir werden daraus ersehen, wie der 
innere Widerspruch seines mystisch- religiösen Grundprinzips sich 
auch in seinen Konsequenzen geltend macht 

a. An sich betrachtet ist die Idee des Rechts eine organische, 

weil die Rechtsidee im innigen Zusammenhange mit den Ideen der 

6* 



84 Heinrich Ahrens. 

Gottinnigkeit (Religion), der Wahrheit, des Guten, des Schönen und 
des Sittlichen steht und alle diese Ideen nur verschiedene Offen- 
barungen des Einen Göttlichen im Leben sind. Das Recht darf 
daher nichts, was im Widerspruche mit jenen stammverwandten 
Ideen wäre, festsetzen, es muss vielmehr, da es mit ihnen in inniger 
positiver Wechselbeziehung steht, einerseits alles, was den Bestand 
und die Förderung dieser Ideen von Seiten der menschlichen Thä- 
tigkeit bedingt, anordnen und dadurch für dieselben eine lebens- 
kräftige Stütze werden, andererseits muss es selbst die Einwirkung 
jener Lebensprinzipien empfangen, so dass demnach die gesamte 
Rechtsordnung nach allen Personen und Verhältnissen in Religioib 
Wissenschaft und Sittlichkeit gegründet und in sich selbst harmo- 
nisch, also auch als ein schönes Kunstwerk, sein soll. 

b. Nach dem Organismus der Lebensverhältnisse, in 
welchem sich der innige Zusammenhang der Ideen als Lebens- 
zweck widerspiegelt, ist das Recht organisch, weil bei jeder recht- 
lichen Bestimmung eines Lebensverhältnisses sowohl die Einwir- 
kung aller anderen wesentlichen I^ebensverhältnisse, als auch die 
Rückwirkung der rechtlichen Anordnung auf jene Verhältnisse be- 
rücksichtigt werden muss. Handelt es sich z. B. um rechtliche 
Ordnung des Eigentums und der Eigentumsverhältnisse, so 
sind zunächst die verwandten volkswirtschaftlichen Verhältnisse, 
also der Einfluss auf die Erzeugung, die Verteilung und Verzehrung 
der Sachgüter in Anschlag zu bringen, sodann aber müißen auch 
die höheren ethischen, also insl^esondere die sittlichen Lebensfor- 
derungen gehört werden. Denn es kann nicht bloss darauf an- 
kommen, dass überhaupt, etwa infolge des Prinzips und Impulses 
der Freiheit, viel erzeugt werde und sich, gleichviel wie, wenn 
nur frei, verteile, sondern es handelt sich auch darum, dass nicht 
einesteils bloss das dynamische Gesetz, wonach die grössere Ver- 
mögenskraft die geringere überwältigt, zur Anwendung komme und 
dadurch ganze Klassen verarmen, und dass nicht anderenteils alles 
in den Strudel einer schnellen Güterbewegung hineingezogen werde 
und dadurch der Staat die festen Säulen verliere, welche auf dem 
materiellen Gebiete, besonders in dem Grundbesitze, haften. 
Vielmehr soll auch in den Eigentumsverhältnissen das Gute als das 



Heinrich Ahrens. 85 

Wohl weder der abstrakten Gemeinheit, noch bloss des isoliert auf- 
gefassten Einzelnen, sondern als das Wohl des Ganzen und der 
Teile in organischer Beziehung unter einander aufgefasst und ge- 
fördert werden. 

c. Das Recht ist endlich auch nach seiner Verwirklichung 
im Leben organisch aufzufassen. Das Recht wird in allen Gebieten 
und Verhältnissen durch physische und moralische Personen ver- 
wirklicht, von denen eine jede einerseits sich selbst zu bestimmen 
hat, andererseits auch durch alle, mit ihr in Beziehung lebende, 
andere Personen bestimmt wird. Demnach soll auch im Rechte 
jede Person zunächst durch eigene freie Thätigkeit die Bedingungen 
ihres vernunftgemässen Lebens herstellen, so dass ein jeder zunächst 
an sich und seine eigene Thätigkeit gewiesen ist. So hat ein jeder, 
im sogenannten Personenrechte, die Bedingungen der Erhal- 
tung und Fortbildung seiner persönlichen Lebensgüter, 
des Lebens selbst, der Gesundheit, der Ehre, der Freiheit zu er- 
füllen. So hat femer (im Sachenrecht) zunächst jede Person, 
lichkeit die Bedingungen des Erwerbs und des Gebrauchs der 
Sachgüter zu erfüllen, also, wie nur noch in seltenen Fällen, bei 
herrenlosen Sachen Besitz davon zu ergreifen und sie in ent- 
sprechender Art zu bezeichnen, oder, wie in den meisten Fällen, 
in abgeleiteter rechtlicher Weise von andern, sei es durch freien 
Vertrag, oder infolge ethischer Lebens verbände, zu erwerben. Es 
hat demnach eine jede Persönlichkeit die Bedingungen ihres sittlich- 
guten Lebens zuvörderst durch eigene Thätigkeit herzustellen; sie 
soll selbst recht und gerecht, auch gegen sich handeln. Aber 
andererseits kann eine menschliche Persönlichkeit in allen wesent- 
lichen Lebensverhältnissen von andern abhängig und durch die 
Thätigkeit, Unterstützung und Fürsorge derselben in der Art be- 
dingt sein, dass sie nicht selbst sich diese Bedingungen durch An- 
gebot anderer I^istungen von Sachen oder persönlichen Diensten 
verschaffen kann und daher der Hilfe oder Aushilfe bedarf. In 
diesen Fällen muss die Gesellschaft in sittlicher und gerechter 
Fürsorge zu Hilfe kommen. Aber auch dies muss nach dem 
Organismus der menschlich-gesellschaftlichen Lebensver- 
bände geschehen; daher ist jeder, Kind oder Erwachsener, zunächst 



86 Heinrich Ahrcns. 

auf seine Familie hingewiesen. Ist die Familie ganz oder zum 
Teil unvermögend, so hat (freilich nur in einer ,,ständisch-organi- 
sierten" Gesellschaft) der Stand, dem er angehört, ganz oder in 
Mitwirkung, diese sowohl rechtliche als sittliche Pflicht zu erfüllen; 
ist der Stand unzureichend, so hat die Gemeinde, der erste ört- 
lich fixierte, gesellschaftliche Verband von nach Ständen verteilten 
Familien, die Aushilfe zu leisten. Sind die Kräfte der Gemeinde 
unzureichend, so hat der nächste obere Verband, also die Land- 
schaft, die Provinz, oder endlich der oberste Staatsverband aus- 
helfend einzuschreiten. In den wichtigern Fällen, wo sich die Not- 
wendigkeit umfassenderer Hilfe herausstellt, muss aber auch ein 
organisches Zusammenwirken aller dieser Stufenglieder der 
Familien, Stände, Gemeinden, Provinzen und der obersten Staats- 
gewalt eintreten, wozu auch noch die wichtige Thätigkeit besonderer 
für Hebung eines Übels oder Notstandes organisierten freien Ge- 
sellschaften kommen kann. In dieser Weise wird die sittliche 
und rechtliche Hilfeleistung in der menschlichen Gesellschaft, wenn 
sie wahrhaft organisch ist, auch wirklich organisiert. 

Wir sehen hieraus, in welchem Sinne Ahrens seine „organische" 
Rechts- und Staatsauffassung genommen haben will. Der Terminus 
„organisch" soll jedenfalls zwar nicht in scharf naturwissenschaftlicher 
Bedeutung, aber doch im Sinne einer Wechselwirkung einerseits 
der einzelnen Individuen im Staate auf einander, andererseits des 
Staatsganzen auf den Einzelnen und umgekehrt des Einzelnen auf 
das Ganze gefasst werden. In diesem Sinne und ohne dass die 
specielle Gesetzmässigkeit dieser Wechselwirkung nach- 
gewiesen ist, bleibt aber der Ausdruck ein allgemeiner, an sich zwar 
durchaus berechtigter, aber nur schwer nachweisbarer Begriff für die 
Zusammenwirkung einer Anzahl von Individuen, wobei es freilich 
unentschieden bleibt, wie weit die Wirkung des Einzelnen aus freiem 
Entschlüsse oder aus äusseren oder inneren Motiven necessitiert er- 
scheint. Fast gelangen wir hier zu der aus entgegengesetzter Quelle 
fliessenden Idee des Taine'schen „Milieu", auf welche jetzt, als auf 
ein neues historisches Prinzip, vielfach hingewiesen wird. 

Wichtig ist Ahrens^ Stellung zur geschichtlichen Auffassung 
des Rechts, wie sie durch die historische Rechtsschule in 



Heinrich Ahrens. 87 

Deutschland formuliert wurde. Im Grossen und Ganzen ist er 
ein Gegner dieser Schule, wie sehr er auch das historische Moment 
in der Rechtsentwickelung für Wissenschaft und politische Praxis 
schätzt: „Die geschichtliche Schule", sagt er, „befindet sich in einem 
Widerspruch zwischen ihrer Theorie und ihrer Anwendimg. Sie 
verkennt die höhern Normen des Rechts, welche sich auf die, tiber- 
all sich gleich bleibenden menschlichen und sittlichen Verhältnisse 
beziehen. Diese Schule hat in ihrer Schule gar keinen Massstab 
zur Ausscheidung dessen, was zu jeder Zeit Unmenschlich, Un- 
sittlich und daher absolut Unrecht ist. Um Menschliches und 
Unmenschliches, Sitte und Unsitte, Recht und Unrecht zu unter- 
scheiden, genügt nicht die Betrachtung der Geschichte, welches 
beides sie als geschichtliche Thatsachen kennt, sondern es bedarf 
des hohem Leitsterns eines aus dem Wesen der Menschheit ab- 
geleiteten und mit der Sittlichkeit Hand in Hand gehenden Rechts- 
prinzips. Manches lässt sich daher wohl in der Geschichte erklären, 
aber nicht rechtfertigen ; nicht alles ist vernünftig, was wirklich war 
oder ist. Wie die Geschichte überhaupt, so müssen auch alle ge- 
schichtlichen Rechtszustände nach den hohem menschheitlichen 
Ideen und Zielen bemessen werden ; und überhaupt können Satzungen, 
Institute, welche nicht die Grundlage oder der Ausgangspunkt des 
weitem Fortschritts eines Volkes, sondern eine Ursache der Zer- 
rüttung und des Verfalls der Staaten waren, den wahren Ver- 
hältnissen und Bedürfnissen des Lebens nicht entsprechend gewesen 
sein und müssen daher, wenigstens von dieser Seite, d. h. vom Rechte 
verurteilt werden." 

Freilich liegt hier ein unbegreiflicher Irrtum vor, wenn Ahrens bei 
diesem Seitenhieb auch auf Hegels Satz „Alles, was ist, ist vernünftig", 
der Sache die Deutung giebt, als wenn Hegel allen historischen 
Zuständen eine absolute Berechtigung zugesprochen hätte. Viel- 
mehr handelte es sich, wie ja seine „Vorlesungen über die Philo- 
sophie der Geschichte" und seine „Grundlinien einer Philosophie 
des Rechts" beweisen, nur immer um eine gewisse relative Be- 
rechtigung für jene Zeit, in der diese Zustände bestanden — , da 
nach dem unerbittlichen Entwickelungsprozess der Geschichte andere 
Zustände, als die jedesmal vorhandenen, gar nicht bestehen konnten. 



88 Heinrich Ahrens. 

Hegel hat aber niemals das Recht der spätem Zeit zur Kritik der 
früheren Geschichtsepochen in Abrede gestellt, sowie er selbst sie 
zur Genüge ausübte. Denn die spätere Zeit repräsentiert immer 
einen „höhern" Zustand, der auf den frühern als auf einen zwar 
relativ berechtigten, aber bereits überwundenen und daher immer 
nur unvollkommenen zurückblicken muss. Liegt ja doch in dieser 
Kritik nach Hegel gerade ein Anstoss zur weiteren Entwickelung 
oder vielmehr zu einer Auffassung, welche bereits von dem Be- 
wusstsein eines erreichten hohem Zustandes getragen sein muss, 
und ist sie selbst ja schon ein Ergebnis davon, dass das Vergangene 
abgestorben ist. — Hegel hätte aber die Wahrheit dieser seiner Lehre 
— wenn er heute noch existierte — an sich selbst erleben können. 
Auch das nationale Moment in der Rechtsbildung unterwirft 
Ahrens einer Erörterung. Aber bei aller Berechtigung, welche er 
demselben zugesteht, weiss er doch nur zu gut, dass die Mensch- 
heit, indem sich Rechtsprinzipien und Rechtsnormen geschichtlich 
von Volk zu Volk übertragen haben, wobei sich ja (z. B. beim 
römischen Obligationenrecht) immer Modifikationen einstellen, be- 
stimmt sei, allmählich in einen grossen möglichst einheitlichen 
Rechtsverband zu treten, da die moderne Kultur, trotz aller 
dauernd bleibenden nationalen Verschiedenheiten in den wesent- 
lichsten ethischen Verhältnissen gleiche oder doch sehr ähnliche 
Anschauungen bei allen modernen Völkern allmählich herausbildet. 
Dieses ist der eigentliche Charakter der Modernität in der heu- 
tigen Civilisation. Die innere Berechtigung dieser Richtung unserer 
Kultur liegt darin, dass in der Herausbildung des gemeinsam 
Menschlichen in den Völkern eine höhere Entwickelungsstufe 
zu erblicken sei, als in den partikularen und trennenden Zuständen. 
Dies ist auch bekanntlich das Kulturideal seines Meisters Krause 
gewesen : die Entwickelung der gesamten Menschheit gewissermassen 
zum Gesamtindividuum. Hierbei ist aber der Gedanke zurück- 
zuweisen, dass dadurch alle individuelle Schönheit und Eigenart der 
Partikularkulturen verloren gehen muss. Denn dafür sorgt schon 
der natürliche und berechtigte Selbsterhaltungstrieb der Na- 
tionen, dass ihr individuelles Selbst nicht durch den amalgamie- 
renden Kulturprozess ganz aufgesogen wird. Aber der geschieht- 



Heinrich Ahrens. 89 

liehe Charakter der heutigen Kultur besteht doch wesentlich darin, 
dass mindestens dreiviertel Teile in der gesamten Vorstellungs- 
summe der Gegenwart traditioneller, d. h. internationaler Natur sind. 

Doch sind alle diese und ähnliche Erörterungen abhängig von 
der Frage, inwieweit Ahrens eine neue philosophische Begrün- 
dung des Rechts gegeben hat. Die Frage ist insofern wichtig, 
als hierdurch diesem Denker seine Stellung in der Geschichte der 
Rechtsphilosophie angewiesen werden kann. — Ahrens geht von 
der Rechtsidee aus, welche sich im menschlichen Bewusstsein als 
gegebene Thatsache vorfindet, und die wir nicht aus der äussern 
oder innem Erfahrung abstrahiert haben. „Jeder aus der Erfahrung 
abstrahierte Begriff sagt auch nur aus, dass etwas so oder so ist, 
nicht aber, dass etwas so oder anders sein sollte. Aber vermöge 
der in uns liegenden Idee des Rechts legen wir ims die Befugnis 
bei, bestehende Lebensverhältnisse nach derselben zu beurteilen 
und stellen wir sogar die Forderung, dass nach dem, was wir fiir 
Recht halten, die bestehenden Verhältnisse und Einrichtungen ge- 
ändert und gebessert werden sollen Dieser in uns liegende 

Gedanke des Rechts findet sich in unserem Bewusstsein zunächst 
nur in bestimmter Allgemeinheit, weshalb auch die Urteile, welche 
auf Grund desselben gefallt werden, so sehr verschieden sind." 

Ahrens vergleicht die Rechtsidee mit der Wahrheits- und 
Schönheitsidee und findet, dass, während die beiden letzteren 
sich auf Erkenntnis und Gefühl beziehen, jene erstere auf den 
Willen geht, d. h. ganz wie die Idee des Guten im Sinne Kants 
eine praktische Idee ist. 

Was ist nun der Inhalt dieser Rechtsidee? Ein psychologi- 
scher, und zwar definiert ihn Ahrens in folgender Weise: „Das 
Recht bezeichnet eine Norm unseres thätigen Verhaltens 

gegen andere und gegen uns selbst." „Das Recht 

als eine Norm des thätigen Verhaltens ist ein Verhältnis- 
Begriff, der eine Beziehung unserer Thätigkeit zu irgend 
einem Gegenstand ausdrückt. Es ist also ein Relations- 
Begriff, nicht der Begriff einer einfachen Eigenschaft, 
auch nicht die Idee eines Absoluten oder Unendlichen, 
weil das Recht, wenn es vielleicht auch seinen höchsten 



90 Heinrich Ahrcns. 

Ursprung in dem absoluten und unendlichen Wesen hat, 
doch selbst stets nur endliche Beziehungen und bedingte 
Verhältnisse ausdrückt." 

Aber im „RelationsbegrifP* ist das Recht insbesondere der Aus- 
druck des Verhältnisses der Angemessenheit, es ist also eine 
„Verhältnis- Angemessenheit". Da aber das Recht diesen Charakter 
auch noch mit anderen Ideen, z. B. mit der Idee der Wahrheit 
(Übereinstimmung des (iedankens mit seinem Gegenstande) gemein- 
sam hat, so muss noch etA^'as Besonderes, Charakteristisches hinzu- 
kommen ; und dieses besteht darin, dass es sich beim Rechte nicht 
um eine Erkenntnis-Angemessenheit, sondern um eine Angemessen- 
heit unseres Handelns, Thuns und Lassens zu den Lebensverhältnissen 
handelt. Es sind dies objektive Verhältnisse und das subjek- 
tive Vermögen, wodurch wir das Recht realisieren, ist die Frei- 
heit. Weder die eine, noch die andere Seite allein ist die Quelle 
des Rechts, sondern beide, die objektiven Verhältnisse des mensch- 
lichen Lebens und die Freiheit müssen zusammenwirken, mn das 
Recht her\'orzubringen. Eine weitere Ahrens'sche Definition des 
Rechts ist daher: „Das Recht ist eine Norm, welche die An- 
gemessenheit des freithätigen Handelns oder des Freiheits- 
gebrauchs in den menschlichen Lebensverhältnissen aus- 
drückt." 

Aber alle diese Definitionsversuche sind zunächst nur erst for- 
mell. Ahrens sucht auch von der inhaltlichen Seite her dem 
Wesen des Rechts nahe zu kommen. Wissenschaft, Kunst und Reli- 
gion bilden den ideellen Inhalt der Seele*, ihre durch den Willen 
zu vollführende Realisierung fiir das menschliche Leben ist das 
Gute, dessen Gliederung sich nach den die verschiedenen Zwecke 
in sich schliessenden Lehenszwecken richtet Das höchste Gute 
(summum bonum) als objektiver Grund und zugleich als Ziel ist 
das Göttliche; die Empfindungsseite des Guten ist das Wohl 
(salus). Das Gute realisiert sich nach zwei Seiten hin als Sittlich- 
keit und als Recht. Die Sittlichkeit ist diejenige Handlungs- 
weise, in welcher der Mensch das Gute unbedingt, rein um 
des Guten selbst willen vollbringt. Das Recht ist die Gesamt- 
heit der zur Vollführung der vernünftigen Lebenszwecke 



Heinrich Ahrens. 91 

durch die menschliche Willensthätigkeit herzustellenden 
Bedingnisse. Diese Begriffsbestimmung enthält drei Momente: den 
Lebenszweck als objektives Moment; die menschliche Willens- 
thätigkeit als das subjektive Moment; und die Beziehung zwi- 
schen beiden, d. h. das objektiv-subjektive Moment, des 
Rechtsprinzips. 

Was die viel diskutierte Frage des Verhältnisses von Recht 
und Sittlichkeit betrifft, so macht dieselbe im rechtsphilosophi- 
schen System Ahrens' keine Schwierigkeiten. Die gemeinsame 
Wurzel von Recht und Sittlichkeit liegt im Begriffe des 
Guten. So ist denn jede Handlung, d. h. jede in der Sinnenwelt 
zu Tage tretende Äusserung des Willens, von zwei Seiten aus zu 
beurteilen: nach ihren inneren Motiven und nach ihrer sach- 
lichen Zweckangemessenheit. Jene sind die subjektive Ver- 
wirklichung des Guten, die Sittlichkeit; diese die objektive, das 
Recht. Daher hat jede Handlung eine sittliche und eine recht- 
liche Seite zugleich; es sei falsch, meint Ahrens, beide Seiten von 
einander zu trennen. So ist denn z. B. die Dankbarkeit eine schein- 
bar nur sittliche Erscheinung des Gemüts, zugleich aber auch hat 
sie in ihrer Äusserung einen rechtlichen Charakter, insofern es sich 
hier z. B. fragen kann, ob nicht die Grenzen des Rechts hierbei 
tiberschritten werden. Allerdings tritt beim Privatrecht das sitt- 
liche Moment, das innere Motiv, in den Hintergrund. Niemand 
hat ein Recht, die inneren Motive zu erfahren, aus welchen per- 
sönlichen Beweggründen Jemand z. B. irgend einen Vertrag ab- 
schliesst oder ein Eigentum erwirbt. Dieses gehört der Sphäre der 
freien Wirksamkeit jeder Person an. Die innige Beziehung von 
Sittlichkeit und Recht zeigt sich besonders darin, dass einerseits 
die Moral alle Rechtspflichten in sich aufnimmt und sie zugleich 
zu sittlichen macht, indem sie die Forderung stellt, dass sie zu- 
gleich in sittlicher Gesinnung vollzogen werden; andererseits 
darin, dass das Recht nichts gebietet und gebieten darf, was un- 
sittlich ist und keine rechtliche Forderung auf etwas Unsittliches 
einräumt. Allerdings kann zuweilen das Recht etwas erlauben, 
was die Moral verwirft, wie schon der römische Satz zeigt: non 
omne, quod licet, honestum est Aber eine ethische Rechtsphilo- 



92 Heinrich Ahrens. 

Sophie hat den Grundsatz aufzustellen, dass jeder in seinem Privat- 
leben einen sittlichen Gebrauch von seinen Rechten macht, da jeder 
unsittliche Gebrauch, z. B. Verschwendung seines Eigentums, zu- 
gleich ein Unrecht gegen sich selbst involviert. 

Es führte uns zu weit, in die speciellen rechtsphilosophischen 
Fragen hier einzugehen, wollten wir unsere Analyse der Ahrens'schen 
Ideen auch mit Bezug auf andere wichtige Punkte ausdehnen: wie 
den Rechtsgrund und die Rechtsfähigkeit, Unrechte und ab- 
geleitete Rechte, das Recht im Verhältnis zu den Kultur- 
zuständen in den verschiedenen Geschichtsepochen der 
Menschheit, Unveräusserlichkeit der Rechte, Konkurrenz 
und Kollision der Rechte, Wesen und Begriff des Rechts- 
gesetzes oder des juristischen Rechts u. s. w. Ich ven^^eise 
den Leser, der sich für diese einzelnen Fragen der Rechtsphilosophie 
interessiert, auf Bd. I. des Ahrens'schen „Cours de droit naturel" 
(Deutsch von Adolf Wirk nach der 2. Aufl. S. 83 bis II 3) und auf 
Buch I. „Die rechtsphilosophischen Cxrundlagen" in der juristischen 
Encyklopädie (S. 39 bis 98). 

Es ist bemerkenswert, dass auch in der Art, wie Ahrens 
die Einrichtung und Organisation des Rechts in der menschlichen 
Gesellschaft (die rechtlich organisierte Gesellschaft ist eben der 
Staat) entwickelt, sich ebenfalls das psychologische Prinzip bewährt. 
Aber das Prinzip dieser gesellschaftlichen Organisation ist ihm 
die Natur des Menschen. Alle in ihr enthaltenen Elemente, alle 
Ideen, welche diese Elemente im Geiste reflektieren, gelangen nach 
dem Gesetze der fortschreitenden Entwickelung zu einer äusseren 
Verwirklichung in der Gesellschaft. Denn jedes Element, jede Idee 
ist ein Keim, der, einmal befruchtet, vom allgemeinen Lebensprinzip 
getrieben wird, sich zu entfalten, sich für seine Besonderheit ein 
Organ und eine Funktion zu schaff"en und einen Teilorganismus 
im Gesamtorganismus des menschlichen Lebens zu bilden. Das 
Recht steht unter den bedingenden Prinzipien der menschlichen 
Natur hinsichtlich seiner socialen Bedeutsamkeit keinem anderen 
P'aktor nach — selbst der Religion nicht Aber diese Bedeutsam- 
keit kann es nur im Staate erlangen. Beide gehören zusammen. 



Heinrich Ahrens. 93 

Ein Recht ausserhalb eines Staates ist ein Unding, und ein Staat 
ohne Recht ist ein sich widersprechender Begriff. 

Ahrens hat die philosophischen Prinzipien vom Wesen und 
den Funktionen des Staates zunächst sowohl in seinem „Cours de 
droit naturel" und zwar hier das öffentliche Recht als unter das 
Naturrecht fallend, als auch in seiner „Juristischen Encyklopädie" 
(Buch IV, 749 — 96) und zwar sowohl als das eigentliche Staats- und 
Gesellschaftsrecht alsauch das Völkerrecht behandelt Nachdem 
ganzen Inhalt und der Stoffverteilung in der Encyklopädie (Buch I: 
die rechtsphilosophischen Grundlagen; Buch 11: die Rechts- 
geschichte; Buch UI: das System des Privatrechts) konnte 
naturgemäss das öffentliche Recht hier nur ganz skizzenhaft er- 
örtert werden. Nichtsdestoweniger wird man aber doch bei schär- 
ferer Prüfung herauserkennen, dass der Standpunkt unseres Rechts- 
philosophen bei Behandlung des öffentlichen Rechts in diesem 
umfassenden und äusserst gelehrten Werke ein in vieler Hinsicht 
doch schon abweichender ist von dem, den er in den verschiedenen 
vor 1850 erschienenen Auflagen seines „Cours de droit naturel" 
inne gehalten hatte. Die „Encyklopädie** hatte er als k. k. Professor 
in Graz verfasst, nachdem die Stürme des Jahres 1848 vor ihm 
vorübergerauscht waren und er mancherlei Lehren aus diesem Be- 
wegungsjahre geschöpft hatte. Kurz gesagt: die Encyklopädie von 
1850 trägt einen religiös und politisch weit konservativeren Cha- 
rakter, als sein frisches und feuriges Erstlingswerk, der „Cours de 
droit naturel'*, dessen erste Auflagen unter dem Einflüsse der kon- 
stitutionellen Bewegungen in Frankreich und Belgien entstanden 
waren. Die Vorrede zur 1. Auflage des „Cours** datiert von Brüssel 
1837. ^^^ ^^'^^ g^^^ anderes Gepräge freilich trägt die in den 
Jahren 1870 — 72 erschienene 6. Auflage des „Naturrechts oder 
Philosophie des Rechts'*, welche er als Professor und Hofrat zu 
Leipzig bearbeitet hatte ! Hier tritt die ausgesprochen religiöse Ten- 
denz sehr stark in den Vordergrund. Ahrens hatte sich in dieser 
Zeit mit der Bekämpfung der materialistischen Strömungen in Wissen- 
schaft und Leben viel beschäftigt und mancher Aufsatz und Vor- 
trag von ihm in der von seinem Freunde Hermann von Leonhardi 
redigierten Zeitschrift „Die neue Zeit*' zeugen von dem Ernst, 



94 Heinrich Ahrcns. 

mit welchem Ahrens die Polemik gegen diese Zeittendenzen führte. 
Doch wich er in dieser Hinsicht vielfach von den Bestrebungen 
seines Prager Kollegen Leonhardi ab, der weit mehr die „frei- 
religiösen" und „deutsch-katholischen" Bewegungen begünstigte. Hatte 
Leonhardi ja sogar den Agitationen Johannes Ronges das Wort geredet. 

Nichtsdestoweniger bleibt Ahrens' „Naturrecht oder Philosophie 
des Rechts" in seiner jetzigen Gestalt (2 Bde. 6. Aufl. 1870 — 72) 
ein bedeutsames und gehaltvolles Werk, von einem durchweg ein- 
heitlichen und fruchtbaren Prinzip beherrscht, welches in streng 
systematischer Form durchgeführt ist. Das Werk, so etwa in der 
Mitte stehend zwischen den Auffassungen Stahls, Mühlers und an- 
derer kirchlich und politisch streng konservativer Rechtsphilosophen 
einerseits und denjenigen Werken, welche in Staat und Kirche den 
Standpunkt des modernen Liberalismus repräsentieren, hat sich trotz 
seines gedrängten und schematischen Charakters, doch sowohl fiir 
akademische Zwecke, als Grundriss für Vorlesungen, wie auch für 
das Privatstudium sehr gut bewährt. Hier und dort würden wir ja 
die begriffliche Fassung schärfer wünschen und ein zuweilen sicht- 
barer Rückfall in die Krause'sche Terminologie (so z. B. spricht 
Ahrens in Bd. L S. 306 von der „Vereinheit", die natürlich von 
„Einheit" wohl zu unterscheiden ist und von der „Ganzheit", die 
nicht dasselbe ist als die Summe der Teüe und dergl.) gereicht 
dem trefflichen Werke auch nicht gerade zur stilistischen Zierde. 
Aber dies sind doch nur Einzelheiten, die für den inneren Wert 
des Werkes nicht in Betracht kommen. 

Was Ahrens' Verhältnis zu seinem rechtsphilosophischen Vor- 
gängern betrifft, so hat er in dem Teil 1 des Band I seines „Natur- 
rechts" (1870) eine kritisch-historische Skizze über die bisherige 
Entwirkelung der rechtsphilosophischen Theorien gegeben (1 — 222 S.) 
und sich mit den Rechtsphilosophen dieses Jahrhunderts, sowohl 
mit den spekulativen (Schelling, Hegel, Stahl, Gans, de Maistre u. a.) 
als auch mit den socialistischen (Owen, St. Simon, Blanc, Proudhon, 
Fourier, Lassalle) auseinandergesetzt. Ahrens ist ein scharfer Gegner 
aller gewaltsamen revolutionären Verletzungen bestehender Rechts- 
zustände und mit Pötzl („Über den Rechtssinn") citiert er die Ho- 
merischen Worte (Odyssee, 14, 83): 



Heinrich Ahrens. 95 

„Denn die gewaltsame That missföllt den unsterblichen Göttern, 
Rechtssinn ehren sie nur und geziemende Worte der Menschen.** 

Die Bekämpfung der Lehre vom „Allgemeinwillen", wie in den 
an Locke, Montesquieu und Rousseau sich anschliessenden Schriften 
der revolutionären Rechtsphilosophen (Si^yes in „Qu' est ce que le 
tiers ^tat" und in der „d^claration des droits de l'homme et du 
citoyen", femer in gemässigterer Form in Benjamin Constants 
Schriften, gesammelt im „Cours de politique constitutionelle") führt 
Ahrens viefach auf das politische Gebiet, imd hier erweist er sich 
in der That als weit konservativer und „historischer" wie in den ersten 
Auflagen seines Werkes. Aber dann versteht man wiederum aller- 
dings die Schärfe nicht, mit der er die „theologische" Rechtslehre 
Stahls und die „absolute" Hegels bekämpft. Freilich bei letzterem 
participiert er zugleich an der Polemik der ganzen Krause'schen 
Schule, welche sich für die Zurücksetzung rächen wollte, die sie in 
der Gunst des Zeitalters gegenüber der einst alles beherrschenden 
Hegel'schen Philosophie erfahren hatte. — Übrigens hatte Ahrens 
den politisch -konservativen Zug mit einem anderen Rechtsphilo- 
sophen aus der Krause'schen Schule, mit Karl Röder (Professor 
der Philosophie in Heidelberg) gemeinsam, der stets bestrebt war 
(insbesondere in seinen „Grundzügen des Naturrechts", 2 Bde. 
1860 — 63), den etwas phantastischen „Rechtsbund" seines Lehrers 
Krause mit einer Fülle historischen Rechtsmaterials zu verschmelzen. 
Diese seltsame Vereinigung mystisch -phantastischer Elemente und 
gelehrter rechtshistorischer Forschung giebt diesem Werke keinen 
angenehmen Beigeschmack. Im übrigen war Röder vielfach auch 
um die Reform des praktischen Rechtslebens, z. B. des 
Strafrechts und des Gefängniswesens bemüht. Eine grosse 
Reihe von Abhandlungen und Vorträgen, die er zum Teil in Leon- 
hardis „Neuen Zeit" veröffentlichte (z. B. seine Vorträge : „Über die 
wahre Aufgabe der Politik des Rechts", und „Über die Bedeutung 
und den tiefgreifenden Einfluss eines richtigen Rechtsbegriffs auf 
die Lösung der brennendsten Fragen der Gegenwart") beschäftigen 
sich mit diesen Rechtsreformen. Auch andere Anhänger Krauses 
haben bei der trotz aller Phantastereien doch wesentlich praktischen 
Tendenz seiner Philosophie sich mit Staatsrechtsfragen beschäftigt, 



96 Heinrich Ahrens. 

SO z. H. Leonhardi, der eigentliche Metaphysiker und Ethiker der 
Schule. Er veröftentlichte u. a. in Band I seiner „Neuen Zeit*' eine 
Reihe von Aufsätzen unter dem Titel: „Der Staat, die menschliche 
Gesellschaft und ihre im Cieiste der Neuzeit zu erstrebende reichere 
Gliederung;" ferner die Vorträge: „Das Entwickelungsgesetz und 
die Lebensaufgabe der Menschheit, auf (irundlage von Krauses Philo- 
sophie der Cieschichte und Gesellschaftslehre dargestellt." Diese 
merkwürdige Mischung phantastischer und praktischer Bestrebungen 
zeigte sich bei Leonhardi, der lange Zeit an der Hochschule zu 
Prag als Professor der Philosophie wirkte, aber neben einer Persön- 
lichkeit, wie der Herbartianer Volkmann war, nicht recht auf- 
kommen konnte, auch in seinen fortgesetzten Bemühungen zur Ein- 
richtung von sog. „Philosophenkongressen" als „Versöhnungs- 
rat" für die verschiedenen philosophischen Richtungen und Prinzipien. 
Thatsächlich hat er auch, Dank seiner unausgesetzten Agitationen, 
zwei solcher „Philosophenkongresse" zusammengebracht: 1868 in 
Prag und 1869 in Frankfurt a. M. Die auf diesen beiden Kon- 
gressen gehaltenen Vorträge hat Leonhardi dann in seiner „Neuen 
Zeit" veröffentlicht. 

Ausser dem Gebiete der Rechtsphilosophie war es noch 
die Psychologie, welcher Ahrens vermöge seiner nach Innen ge- 
neigten Art der Betrachtung grosse Aufmerksamkeit schenkte. Wie 
schon o])en bemerkt wurde, war derselbe, nachdem er als ganz 
junger Docent (er stand damals erst im 24. Lebensjahre) aus Göt- 
tingen heimlich entflohen war, nach Paris gegangen, wo er den Ent- 
schluss fasste, ül)er deutsche Philosophie Vorträge zu halten. Der 
damalige Unterrichtsminister Guizot, veranlasst durch Victor Cousin, 
gab ihm die Erlaubnis dazu. Und so entstand jener „Cours de 
Psychologie", welcher aus diesen in Paris gehaltenen Vorträgen be- 
steht und den er dann 1835 — 37 in Brüssel erscheinen Hess. Das 
Werk besteht aus zwei Teilen und enthält zwölf Vorträge, welche, 
wie die nachfolgende Inhaltsangabe zeigt, keineswegs nur die Psycho- 
logie zum Inhalt haben. Vielmehr sind es auch die wichtigsten 
metaphysischen Fragen, die Ahrens in den Kreis seiner Betrach- 
tung zieht. So giebt die erste Vorlesung eine wesentlich historisch 
gehaltene Einleitung in die Psychologie (Introduction et histoire 



Heinrich Ahrens. 97 

de la Psychologie); die zweite handelt: de la nature en gdneral 
et des diffdrens ordres de sa vie. — Determination de la nature 
particuli^re de Thomme; die dritte: de la distinction de Tesprit et 
du Corps de leurs rapports; die vierte: des rapports pdriodiques 
et anormaux de l'esprit et du corps. — De la veille et du som- 
meil; die fünfte: du somnambulisme, du magndtisme animal et de 
la folie. — Mit der letztgenannten Frage hatte sich auch Krause, 
der sogar heilmagnetische Kuren unternommen hatte, viel und ein- 
gehend beschäftigt. — Der Inhalt des zweiten Bandes dieser Vor- 
lesungen ist wesentlich metaphysisch. So beschäftigt sich die Bd. II 
eröffnende sechste Vorlesung: de l'^tre de Tesprit en g^ndral, 
speciell: de la nature de l'esprit; refutation des doctrines, qui nient 
Vunit^ de l'esprit; des proprietds principales de l'esprit. — Die 
siebente Vorlesung handelt: des facultes de Tesprit et de leurs 
actions; insbesondere: des trois facultas fundamentales de l'esprit, 
de la pensee, du sentiment et de la volonte; du rapport entre ces 
facultas; de Tactivite de l'esprit; du temps; de la continuitd de la 
vie spirituelle et de la memoire; des lois de la memoire. — Die 
achte Vorlesung: de la faculte de penser et de connaitre en parti- 
culier; caractere de la pensee; ses Operations; des difffrents de- 
grds de la connaissance. Die neunte: de l'imagination, de la 
r^flexion et de la raison; de la formation des notions; logique; 
defauts de la logique actuelle; indication d*une mdthode nouvelle. 
Die zehnte behandelt den Übergang der Psychologie zur Meta- 
physik (passage de la psychologie ä la metaphysique); insbesondere: 
exposition de la marche analytique, que l'esprit doit suivre pour 
par\'enir ä la connaissance certaine de l'existence de Dieu. Die 
elfte enthält eine Geschichte und Kritik der Beweise für das Da- 
sein Gottes (histoire et examen des differentes preuves ^tablies 
pour l'existence de Dieu) und zwar werden hier die bekannten 
ontologischen Beweise Anselms, Descartes', Malebranches und Spi- 
nozas, femer der cosmologische des Leibniz, der teleologische des 
Rationalismus und der moralische Beweis Kants erörtert. Im 
zwölften Vortrag giebt Ahrens seine eigenen metaphysischen Ideen 
über Gott und dessen Verhältnis zur Welt (exposition de la doctrine 

7 



98 Heinrich Ahrens. 

de Dieu et de ses rapports avec le monde). Insbesondere handelt 
er: de la personalite infinie de Dieu; de la providence; du bien et 
du mal, origine du mal; de la justice divine; de la destination in- 
dividuelle et sociale de l'homme. 

Wie im ganzen Werke, so bewegt Ahrens sich auch im letzten 
Teile innerhalb der Krause'schen Ideen. Insbesondere sind es hier 
jene aus dem Krause'schen „Urbild der Menschheit" bekannten 
„Verbände", der Wissenschafts-, Kunst-, Gottinnigkeits (Religions)-, 
Tugend-, Staats- und anderen Verbände, welche der ehemalige Göt- 
tinger Docent seinen französischen Zuhörern (St Simon, Enfantin 
u. a,) erläuterte. Die Franzosen, welche damals durch allerlei socia- 
listische Reformbestrebungen an ähnliche Gedanken gewöhnt waren, 
mochten sich durch den grossen metaphysischen Rahmen, in welchem 
sie ihnen hier vorgeführt wurden, sehr gehoben fühlen. Wenigstens 
erntete Ahrens enthusiastischen Beifall von seinen Zuhörern Hierzu 
kam, dass dieses alles ihnen in so einer idealen Form und mit einer 
so fast religiösen \N'eihe vorgetragen wurde, dass der junge deutsche 
(lolohrte ihnen den sympathischsten Eindruck machen musste. Ahrens 
Nolbst hat später im Freundeskreise gern seiner ehemahgen philo- 
sophischen Thätigkeit in Paris und Brüssel gedacht. 

Obrigens erklärt sich aus dieser fast zwanzigjährigen Wirksam- 
keit Heinrich Ahrens' in Frankreich und Belgien der nachhaltige 
Kintluss. den die Krause'sche Philosophie im Auslande, insbesondere 
in Belgien und in Spanien, erlangt hat Für Brüssel ist nun in erster 
Linie iler noch lebende Guillaume Tiberghien zu nennen, der 
die Krausesche Wesenlehre durch seine langjährige akademische 
Lehrthatigkei: wie durch zahlreiche Schriften zu verbreiten bemüht 
TBir. Di»e".':>e g:'.: von dem benihmten Rechtshistoriker Laurent 
..'.i \f^s^ MitherTi^tiker Bugs daselbst. Dass auch cer Freund von 
>.-':*r.V' Cr:: ?ro:'e^*or f^ar-s öe". Rio eesL lS6o in Madrid, im 
J^ -^"-.^ dt^r ^.\-.^.z'i*zi*z<l:.''.*'. -:-C c«:r ehemaligen Inquisition 'iinc Auto- 
t^iV> :_' K--i-yr- itT', -.■>': H -:r.ir-;:a:s*ehreri ..Ideal de '.a humanidad**. 
/'//, «riiii-rr. »«j LzA *z.:.t Reihe von Schu.err. und Anhängern 
-:..*: vr" -.t-ier:- cj^KiJs.r. ':j^\. i-t iie'*;-- eine der enreuhchsten Er- 



Heinrich Ahrcns. 99 

spanischen Krauseanern gehören u. a. noch der Rechtsphilosoph und 
Ästhetiker Giner de los Rios, der bekannte Politiker Salmeron 
u. a. Aber auch an der Universität zu Athen wirkt ein Krauseaner 
und Anhänger der Ahrens'schen Rechtsphilosophie: Herr Neokles 
Kasases, dessen rechtsphilosophische Schriften in Griechenland 
grosse Verbreitung gefunden haben. 



94723 



Gottfried Stallbaum 

als Platoniker und Schulmann. 

In der Entwickelungsgeschichte des höheren Schulwesens in 
Sachsen nimmt der Name Gottfried Stallbaums mit Recht eine der 
ersten Stellen ein. Als her\orragender Gelehrter und Schulmann 
gehörte er zu denjenigen Pädagogen, welche in den vierziger und 
fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts zur Hebung unseres höheren 
Schulwesens, welches jetzt anerkanntermassen zu den am besten 
organisierten in Deutschland gehört, am meisten beigetragen haben. 
Als Professor der Philologie an der Leipziger Universität, ins- 
besondere jedoch als langjähriger Leiter unserer altberühmten und 
ehrwürdigen Schola Thomana nimmt er in der Reihe seiner Vor- 
gänger im Rektorat (u. A. Gramer, Jacob Thomasius, die beiden 
Ernesti, Gessner, Fischer, Rost u. A.) sowie seiner Nachfolger wie 
Lipsius, Eckstein und Jungmann einen ehrenvollen Platz ein. Grund 
genug für uns, dem bedeutenden Pädagogen an seinem loojährigen 
Geburtstage, einige Erinnerungsworte zu widmen. 

Gottfried Stallbaum stanmit, ähnlich wie die beiden grossen 
deutschen Humanisten des 15. Jahrhunderts, Rudolf Agricola und 
Gonrad Geltes, aus schlichtem Bauernhause und wurde zu Zaasch 
bei Delitzsch geboren. Den ersten Unterricht erhielt er in der 
Elementarschule seines Geburtsortes. Im April 1808, als Knabe 
von 1 5 Jahren, kam er nach Leipzig, wo er erst als Externus, dann 
als Alumnus in die Thomasschule aufgenommen wurde und die er 
im April 181 5 verliess, um auf der Leipziger Universität sich 
theologischen und philologischen Studien zu widmen. Diese letz- 
teren betrieb er mit grossem Eifer unter Männern wie Beck, Gott 
fried Hermann und Spohn. Nach Absolvierung seines Triennium 



Gottfried Stallbaum. IQl 

academicum erhielt er eine Anstellung am Pädagogium zu Halle, 
wo ihm der Kanzler Niemeyer ein wohlwollender Gönner wurde. 
Hier war es, wo er den Grund zu seinem späteren philologischen 
Ruf legte; denn hier hatte er seine so berühmt gewordene kritische 
Ausgabe des Platonischen „Philebus" vorbereitet, die dann 1820 
erschien. Mittlerweile war Stallbaum wieder nach Leipzig zurück- 
'gekehrt, um, nach erfolgter Promotion, eine Lehrerstelle an der 
Thomasschule einzunehmen. Und in verhältnismässig kurzer Zeit 
sollte das Wort, welches einst der Rektor Rost bei Gelegenheit der 
Rückgabe einer wohlgelungenen lateinischen Arbeit zu ihm gesagt 
hatte, dass er vielleicht noch sein Nachfolger werden könne, in Er- 
füllung gehen. Denn schon im Jahre 1832 erhielt Stallbaum das 
Konrektorat und 3 Jahre darauf das Rektorat an der Anstalt, der 
er seine humanistische Vorbildung verdankte. Nicht weniger als 
26 Jahre bekleidete er dieses schwierige und verantwortungsvolle 
Amt, dem er seine Arbeitskraft in hingebenster Weise gewidmet 
hatte. Seit 1840 hatte er auch die ausserordentliche philologische 
Professur an hiesiger Universität, welche er mit einer Abhandlung 
über den Platonischen „Politicus" antrat, inne. Nachdem Stallbaum 
noch im Mai des Jahres 1860 sein 25jähriges Rektoratsjubiläum 
unter grosser Teihiahme der Leipziger Schulen und Bevölkerung 
(denn welcher Leipziger kannte den Rektor Stallbaum nicht!) be- 
gangen hatte, erlag er nach kaum einem Jahre, am 24. Januar 1861 
einer langwierigen schmerzhaften Krankheit. 

Stallbaums wissenschaftlicher Ruf war wesentlich durch seine 
epochemachenden Arbeiten im Gebiete der Plato-Forschung be- 
gründet. Der noch jetzt nicht beigelegte Streit über die sog. Plato- 
nische Frage, d. h. über die Echtheit, Reihenfolge und Abfassungs- 
zeit der uns überkommenen Dialoge des grossen griechischen Denkers, 
hatte in den vierziger Jahren seinen Höhepunkt erreicht, nachdem 
der geistvolle Karl Friedrich Hermann in Göttingen, ein Schüler 
Creuzers in Heidelberg und Gottfried Hermanns in Leipzig, in 
seinem scharfsinnigen Werke: „Geschichte und System der 
Platonischen Philosophie" (1839) die bis dahin allgemein fest- 
gehaltene Hypothese Schleiermachers, dass Plato schon bei Beginn 
seiner schriftstellerischen Thätigkeit einen fertigen Plan über sein 



102 Gottfried Stallbaum. 

ganzes System gehabt und im Laufe seines Lebens ihn methodisch 
durchgeführt habe, kritisch erschüttert hatte. Im^Gegensatz zu 
Schleiermacher behauptete K. Fr. Hermann, dass die 36 Plato- 
nischen Dialoge, von denen er mehrere als unecht ausschied, nach 
den verschiedenen Lebensabschnitten Piatos, denen verschiedene 
Perioden seiner inneren philosophischen Elntwickelung entsprächen^ 
eingeteilt werden müssen. In die damals hochgehenden Wogen 
dieser Diskussion griff auch Stallbaum mit ein, und er besass eine 
um so grössere Berechtigung dazu, als er durch seine kritischen 
Plato- Ausgaben und seine meist in vorzüglichem Latein geschriebenen 
Abhandlungen über PlatoFragen bewiesen hatte, dass er als einer 
der gründlichsten Kenner des griechischen Philosophen hier sehr 
wohl mitreden könne. Von diesen Ausgaben nennen wir hier nur 
die des Eutv-phron (1823), des Meno (1827). die grundlegende und 
später so berühmt gewordene Ausgabe des Parmenides (1839), dann 
die anomin erschienenen Ausgaben der Apologia Socratis (1824), 
des Phaedo (1825), die eigentlich eine Neubearbeitung der alten 
von Daniel Wyttenbach besorgten Ausgabe ist, dann die Neu- 
bearbeitung der von Friedrich August Wolf besorgten Ausgabe des 
Sj-mposion, femer die für Schulzwecke („Dialogorum delectus") be- 
stimmten Ausgaben des Krito, Phaedo u. s. w. Die Krone aller 
dieser von philologischem Scharfsinn und tiefem philosophischen 
Verständnis zeugenden Arbeiten ist seine zweifache Gesamtausgabe 
CtT Platonischen Werke, von denen die in 12 Bänden (Lpz. 1821 
Ms 1825' eine neue Textrecension mit Variantenverzeichnis dar- 
r.ietct, während die zweite in lO Bänden 11827 — 60^ als ein Teil 
der grossen von Jacobs und Rost herausgegebenen Gothaer „Biblio- 
thek^ gTäeca" er>chien. Diese letztere ist eigentlich gemeint, wenn 
:i.ar. sa^t. dass S'^iibaum das Studium der Platonischen Werke ge- 
.'*ove:. uiid \e: breitet hat. Denn die in elegantestem Latein den 
r.'.Ar :.^:^ IjvuJj^^zi voraoge^chickien Einleitungen und die als Fuss- 
:/j\t:\ i'.'j.^t.'^'rte.'.de:- erläuternden Commentare sind in hohem Grade 
!.■">,•;.•.'. -.d a.-Jiicherjd ^es^.hneben. Ich selbst kann von mir und 
..»..;?. rr.e:;.er >reur^de j^ehaupttrn , dass diese Einieinmgen und Er- 
^^Jlr.'..^^•r^ .L -*:? e:^t die h'K zum Studium Piatos geweckt haben. 
■>'^',r. \>*. ciL'ni^ die wiv^n schaftliche Lebensarbeil Stallbaums 



Gottfried Stallbaum. 103 

keineswegs erschöpft. Noch eine ganze Reihe antiker Autoren hat 
er in textkritischen Bearbeitungen und mit sachlichen Kommentarien 
herausgegeben, so z. B. den Herodot (3 Bde. 2. Aufl. 1825 — 26), 
Terenz (6 Bde. 1830 — 31), insbesondere aber seinen Lieblings- 
schriftsteller, den Horaz (1854); femer die Werke der Grammatiker 
Eustathius (3 Bde. 1825 — 26) und Ruddimannus (2 Bde. 1843). 
Unübersehbar ist die Zahl seiner wissenschaftlichen Monographieen, 
Gelegenheitsschriften und Schulreden. Professor K. H. A. Lipsius, 
sein Nachfolger im Rektorat der Thomasschule, zählte nicht weniger 
als sechzig dieser mehr oder minder umfangreichen, der Mehrzahl 
nach in lateinischer Sprache abgefassten Monographieen, abgesehen 
von den vielen noch in philologischen und anderen Fachzeitschriften 
gedruckten, bisher noch nicht besonders edirten Abhandlungen. 
Ein grosser Teil der Schriften beschäftigt sich mit Fragen aus der 
Plato-Forschung, aber auch andere die antike wie moderne Philo- 
sophie (insbesondere Leibniz) betreffende Probleme sind hier unter- 
sucht. Ein grosser Teil dieser interessanten Monographieen betreffen 
die moderne Pädagogik, insbesondere die Gymnasial pädagogik. 
Da sind es denn Fragen, wie die über den Einfluss des Studiums der 
griechischen imd römischen Schriftsteller auf die ethische und ästhe- 
tische Jugendbildung. Hierher gehören z. B. : „Oratio de finibus 
publicae juventutis educationis" (1845); „De incitamentis ad colenda 
liberalis doctrinae studia, nostrae aetati propriis" (1847); »»^^ 
bonarum literarura studio potentissima animi consolandi praesidio 
et adjumento" (1848). Oder allgemein pädagogische, ethische und 
religiöse Fragen wie : , De animis adolescentium ad veritatis amorem 
confirmandis" (1854)-, „De bonae causae victoria nunquam despe- 
randa" (eine Verteidigung der optimistischen Lebensansicht 1854); 
„De veris certisque meliorum temporum conditionibus" (1851); 
„De spe aureae aetatis" (eine Verteidigung der poetischen Be- 
rechtigung utopistischer Gesellschaftsideale); „Oratio de vestigiis 
divinae rerum humanarum gubemationis in turbulentorum temporum 
motibus et conversionibus maxime conspicuis" (1849). — Einen 
mehr apologetischen Charakter des Lehrinhalts an den humanistischen 
Gymnasien tragen die Abhandlungen: „De vetere Gymnasiorum 
disciplinae institutione praesentis aetatis rationibus caute attem- 



104 Gottfried Stallbaum. 

peranda' (1856) und die deutsche Rede: „Das Griechische und 
Lateinische in unseren Gymnasien und seine wissenschaft- 
liche Bedeutung für die Gegenwart" (1846). Bei aller Befür- 
wortung einer massigen Annäherung an die Forderungen der Gegen- 
wart ist Stallbaum hier doch ein feuriger Verteidiger der Eigenart 
unserer Gymnasien gegenüber den damals schon sich regenden 
realistischen Ansprüchen der Naturforscher und Mathematiker. Wir 
haben an einer anderen Stelle nachgewiesen, dass bei den da- 
maligen Bestrebungen der sächsischen Regierung, welche auf eine 
Refonn unserer Gyinnasien ausgingen, der Mathematiker und Philosoph 
Drobisch einer der Befürworter einer grösseren Berücksichtigung 
der „Realien" an Gymnasien war. Freilich hatte der Kampf „Hie 
Gymnasium — hie Realschule" in den vierziger Jahren lange noch 
nicht den leidenschaftlichen Ton angenommen, den er heute zeigt; 
auch hatte die Realistenpartei noch nicht so mächtige Gönner — 
wie heute. Es ist daher erklärlich* dass die Streitschriften in dieser 
Sache, zu denen auch die genamiten Stallbaums gehören, damals 
noch einen sehr gemässigten und koncilianten Charakter trugen. 
Nichtsdestoweniger darf man das Cie wicht der in der Stallbamn^schen 
Schrift entwickelten Gründe nicht verkennen. Unter den grossen Autori- 
täten, die er für die Bewahrung des humanistischen Charakters der 
Gymnasien anführt (Leibniz, Joh. von Müller, Schelling, Hegel, Herbart^ 
Carl Ritter, Alexander v. Humboldt u. a. - citiert er auch Herder imd 
Goethe. Jener sagt: „Die Griechen und Römer haben es in ihrer 
schönen Litteratur vielleicht allen Nationen der Welt zuvorgethan 
und ich fürchte, dass sie in der Geschichte immer die Einzigen in 
ihrer Art bleiben werden. Sie hatten ihre Sprache und mit der- 
selben ihren Geschmack, ihre Vernunft, ihre Beredsamkeit und was 
sie den Sinn der Menschheit (sensus hunianitatis) nannten, so aus- 
gebildet, wie wenige oder vielleicht keine neuere Sprache hat aus- 
gebildet werden können. Und Goethe spricht die bedeutimgs vollen 
Worte: „Möge das Studium der griechischen und römischen Litte- 
ratur immerfort die Basis der höheren Bildung bleiben. Zur sitt- 
lichen und ästhetischen Bildung sind sie uns unentbehrlich." 

Sehr verdienstlich sind unter den Arbeiten Stallbaums die- 
jenigen, welche sich mit der Geschichte und den Eigentümlichkeiten 



Gottfried Stallbaum. 105 

der Thomasschule selbst beschäftigen, wie: „Die Thoraasschule 
zu Leipzig nach dem allmählichen Entwickelungsgange ihrer 
Zustände, insbesondere ihres Unterrichtswesens" (1839). 
Die Säcularschrift gilt dem Andenken an die Einführung der Re- 
formation in Leipzig. Was die Schrift so interessant macht, ist 
u. A. auch die aus den Quellen bearbeitete Geschichte und Charak- 
teristik seiner Vorgänger im Rektorat; insbesondere von Jakob 
Thomasius, Ernesti, Gessner u. A. giebt er sehr lebendige und 
gerecht durchgeführte Porträts. Dass hierbei auf das allgemeine 
Geistesleben Leipzigs zur damaligen Zeit sehr helle Schlaglichter 
fallen, sei noch hier bemerkt. Speciell auch auf die traditionelle 
Musikpflege an der Thomasschule geht er in der sehr interessanten 
Abhandlung ein: „Über den inneren Zusammenhang musi- 
kalischer Bildung der Jugend mit dem Gesamtzwecke des 
Gymnasiums" (1842). Hier sind es besonders die bekannten 
Thomaskantoren, von denen er uns sehr anziehende Charakteristiken 
entwirft. Hierher gehören u. a. : Ludwig Götze, Georg Rau, Johannes 
Hermann (1531 — 36), Wolfgang Jünger (1536— 40), Ulrich Lange 
(1540 — 49) Wolfgang Figulus (1549—51), Melchior Hager (1553 
— 64), Valentin Otto (1564 — 94), Sethus Calvisius (1594 — 1615), 
Joh. Hermann Schein (1616 — 1630), Tobias Michael (1631-57), 
Johann Rosenmüller, Sebastian Knüpfer (1657 — 76), Johann Schelle 
(1677 — 1701), Johann Kuhnau {1701 — 22), vor allem Johann 
Sebastian Bach (1723 — 50), Gottlob Harrer (1750 — 55), Joh. 
Friedrich Doles (1756—89), Joh. Adam Hiller (1789— 1800), August 
Eberhard Müller (1801 — lO), Johann Gottfried Schicht (1810 — 23), 
Christian Theodor Weinlig (er starb 1842). Auf Weinlig folgte 
Moritz Hauptmann, der unseren Stallbaum überlebte. Wir dürfen 
diese Reihe noch dahin ergänzen, dass auf Hauptmann Professor 
Richter, auf diesen der Kantor Rust folgte. Und nach dessen Tode 
wurde Gustav Schreck in dieses altberühmte Amt berufen. Der 
übrige Inhalt der genannten Monographie enthält sehr feine und 
tief eindringende Erörterungen ästhetisch-pädagogischer Art, wie 
über das Verhältnis des Sittlichen zum Schönen mit Bezug auf die 
Aufgaben der Jugenderziehung im Allgemeinen und der 
Gymnasialpädagogik im Besonderen. Diese Reflektionen sind 



106 Gottfried Stallbanm. 

vom echten Platonischen Geiste durchzogen. Noch das schon oben 
erwähnte Osterprogramm von i86i enthält aus dem Nachlass des 
kurz vorher verstorbenen Rektors die Abhandlung: „De cautionibus 
quibusdara e pristina Gymnasiorura forma et constitutione repetendis 
et praesenti aetati admodum commendandis" : ein wertvoller Rück- 
blick und Beitrag zur Geschichte des Gymnasialwesens in Deutschland. 
Sehen wir von Stallbaums so umfangreichen, rein wissenschaft- 
lichen und philologischen Arbeiten ab, so war es immer das Gym- 
nasium, dessen Geschichte, Lehrverfassung und Lehrmethode ihm 
sein Leben lang am Herzen lag. Ihm sind seine Sorgen gewidmet; 
seine besten Abhandlungen und Reden bewegen sich auf diesem 
Gebiete. Überall geht seine Beweisführung auf das Ziel los, dass 
der humanistische Geist des klassischen Altertums, der sehr wohl 
mit der christlichen Ethik und Lebensanschauung vereinbar sei, die 
beste Grundlage für die höhere Jugenderziehung und die zweck- 
mässigste Vorbereitung für die akademischen Studien sei. Hierher 
gehören nun hauptsächlich 2 Schulreden, die er kurz nach Antritt 
seines Rektorats gehalten hatte: „Duae orationes aditiales de in- 
stitutione et disciplina Gymnasiorum recte moderanda** (1835), 
femer die beiden späteren Abhandlungen: „De veterum Graeconim 
institutione ac disciplina juvenili Christianae sapientiae adaucta et 
consummata" (1858) und „De necessitudine et conjunctione, qua 
antiquarum litterarum studia cum iis, quae nunc vigent, doctrinae 
studiis continentur" ,1859). Hier berührt Stallbaum das verwickeltste 
und schwierigste Problem in der damaligen wie heutigen G)ixinasial- 
frage. Nicht das Mehr oder Weniger von „Realien", welche in 
den Schulplan aufzunehmen sind, und das Mehr oder Weniger der 
„Humaniora", welche infolge dessen aus demselben auszuscheiden 
sind, ist der Kernpunkt der Frage, sondern das Hauptproblem 
besteht in der Entscheidung, welcher Geist, der antike oder der 
moderne, soll im Gymnasium massgebend sein. Auch Stallbaum 
hat die Frage nicht gelöst und konnte sie bei seinem auf die Ver- 
mittelung der Gegensätze ausgehenden Standpunkt nicht lösen. 
Aber er hat sicherlich das Beste gewollt. Dies bezeugte auch sein 
Amtsnachfolger, Professor K. H. A. Lipsius, in einem ihm gewid- 
meten Nachrufe (Osterprogramm vom Jahre 1861), in dem er sagt: 



Gottfried Stallbaum. 107 

„Als Lehrer verband Stallbaum mit dem reichsten Schatze des 
Wissens und mit jener Fülle der Gelehrsamkeit, die man von dem 
Herausgeber des Plato und so vieler und verschiedenartiger Autoren 
erwarten durfte, auch die glücklichsten Lehrgaben, insbesondere 
eine Vielseitigkeit des Geistes, die ebenso den Verstand zu schärfen 
als den Geschmack zu bilden verstand, eine Frische und Lebendig- 
keit des Vortrags, die stets die Aufmerksamkeit fesselte, einen 
Humor, der es liebte, den Ernst des Unterrichts durch heitere 
Scherze zu würzen, eine Beredtsamkeit, die in gleicher Fülle imd 
Leichtigkeit in lateinischer wie in deutscher Rede von seinem Munde 
fioss. Und so gross wie seine Begabung, so gross war auch seine 
Liebe fiir seinen Beruf. Nie strahlte sein Auge heller, als wenn er 
seine Zuhörer in den Geist seines Plato, in die Schönheiten des 
Horaz oder Sophokles einführte; nirgends befand er sich wohler, 
als im Kreise seiner Schüler. Als Erzieher aber verband er in der 
Handhabimg der gesetzlichen Ordnung mit dem nötigen Ernste 
stets auch die schonende Milde. Die Humanität, die das Gesamt- 
produkt seiner eigenen Bildung und darum den Grundzug seines 
Wesens ausmachte, bewährte er auch seinen Schülern gegenüber. 
Und wie er, nach dem Vorgange der Reformatoren, die christliche 
pietas und Caritas als die besten Erziehungsmittel pries, so suchte 
er auch selbst seinen Schülern teils mit dem Beispiele christlicher 
Frömmigkeit voranzugehen, teils mit treuer Lehrerliebe zuvorzu- 
kommen. Denn gross und unermüdet war die Liebe, mit welcher 
er nicht allein das geistige und sittliche, sondern auch das leibliche 
Wohl seiner Zöglinge zu fördern bemüht war, so dass sie in ihm 
nicht nur den Lehrer und Erzieher, sondern auch den wohlmeinenden 
Freund und Vater erkannten. Das Amt des Rektors der Schule 
aber hat Stallbaum in einer W^eise geführt, dass die Zeit seiner 
Amtsfühnmg gewiss dereinst zu den glänzendsten Perioden der 
Geschichte unserer Schule gezählt werden wird. Und mag auch 
dazu sein Ruf als Gelehrter, und der Glanz, den dieser auf die 
Schule zurückwarf, nicht wenig beigetragen haben, so hat doch 
auch seine Amtsführung selbst auf jenes Urteil gegründeten Anspruch. 
Denn wie tief und klar er das Ziel der Gelehrtenschule erkannt 
hatte, davon zeugen die klassisch geschriebenen Reden, die er all- 



108 Gottfried Stallbaum. 

jährlich am Jahresschlüsse zu halten gewohnt war. Und eben diesem 
Ziele war er bemüht, zunächst die ihm selbst anvertraute Anstalt 
möglichst nahe zu fuhren. Vor allem trat er zu einer Zeit, als 
die klassischen Studien zahlreiche Ciegner gefunden haben, als deren 
entschiedener und unerschrockener Vorkämpfer auf und sorgte da- 
für, dass ihnen zunächst an seiner eigenen Anstalt kein Abbruch 
geschehe. Zugleich aber auch trug er den berechtigten Forderungen 
der Neuzeit gern billige Rechnung und gestaltete in diesem Sinne 
zu einer Zeit, wo es noch an gesetzlichen Vorschriften fehlte, den 
Lehrplan der Schule." 

Gottfried Stallbaums Name wird in der Geschichte nicht nur 
der klassischen Philologie, sondern vor allem des humanistischen 
Schulwesens in Deutschland fortleben. 



Rudolf Seydel 

und der spekulative Theismus. 

In Professor Rud. Seydel hat die Leipziger Universität einen 
ihrer hervorragendsten Männer verloren: gleich ausgezeichnet als 
akademischer Lehrer, wie als philosophischer Schriftsteller. Obgleich 
erst im mittleren Mannesalter stehend (er starb im 57. Lebensjahre), 
gehörte er doch schon über 30 Jahre unserer Hochschule als Do- 
cent an, dessen fesselnde, geistvolle Vorträge stets eine grosse An- 
zahl Studierender um ihn versammelten. Schon sehr früh — man 
könnte sagen, fast noch im Jünglingsalter — trat er als philo- 
sophischer Schriftsteller auf und zwar in einer Weise, die sofort die 
Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Welt auf ihn zog. Die Ver- 
anlassung hierzu war bedeutsam genug, um etwa hier übergangen 
zu werden. 

Es war in den fünfziger Jahren, als die Begeistenmg fiir Schopen- 
hauers Pessimismus in Deutschland bereits hohe Wogen schlug. Zu 
den in allen seinen Schriften immer wiederkehrenden Klagen des 
Frankfurter Einsiedlers gehörte vor allem die, dass die deutschen 
Hochschulen, die er allerdings niemals sehr glimpflich behandelt 
hatte, ihn völlig ignorierten. Dieses war nun freilich nicht ganz 
richtig. Aber, um gewissermassen diesem Vorwurf die Spitze ab- 
zubrechen, hatte die philosophische Fakultät zu Leipzig — haupt- 
sächlich auf Veranlassung ihres damaligen hervorragendsten Ver- 
treters, Christian Hermann Weisse ein Preisausschreiben 
über die Philosophie Schopenhauers erlassen. Unter den ein- 
gelaufenen Bewerbungsarbeiten wurde die eines jungen einund- 
zwanzigjährigen Dresdeners, des Dr. Seydel, der kurz vorher in 
Leipzig promoviert hatte, mit dem Preise gekrönt. Seydels Schrift 



1 10 Rsdolf SeydcL 

i"'S7.' welche eine scharfe kritische Analyse und Beurteilung der 
Metaphysik und Ethik Schopenhauers giebt, ist eine tiefgreifende, 
c-*:- ir-riersten Kern dieses Systems treffende und gehört noch heute 
r»e''/r:ri rien betreffenden Arbeiten Trendelenburgs, Rosenkranzs und 
Hayrr.s zu denen, die der Frankfurter Denker niemals recht verwinden 
konr-te. In den von seinem hiesigen Schüler imd Freund, Dr. David 
A-hr:r, herausgegebenen ..Erinnerungen" finden wir einen Brief 
•'.hop^tn'nauers an Asher. in welchem er sich eingehend nach dem 

f:r.^en Manne" erkundigt, der jene Preisschrift verfasst hat imd 
■w^rin er Asher ersucht, dem Leipziger Docenten „einmal gehörig 
a:fs Dach zu steigen". Asher war nun freilich nicht der Mann 
''iazu, eine solche Arbeit kritisch zu widerlegen und er lehnte da- 
h^r den Auftrag seines „Meisters" höflich, aber bestimmt ab. Darob 
natürlich ungeheure Entrüstung Schopenhauers, dass seine einzigen 
Freunde ihn jetzt auch noch verliessen. ihn, den einsamen alten 
Mrinn, und es zuliessen, dass. ..irgend ein junger Universitätsmensch" 
ihn so von oben herab behandle. Dies war nun freilich wiedenun 
nirht rir htig. Seydel hatte Schopenhauer nichts weniger als „von 
oben herab" behandelt. Er spricht von der genialen und tiefgrün- 
digen W'illensmetaphysik, wie von dem hohen sittlichen Ernst seiner 
Ethik. Aber er hält beide trotzdem für wissenschaftlich unhaltbar, 
weil sirh in vielen Punkten widersprechend. Dr. Asher vermochte 
si<:h nun höchstens zu einer sehr gewundenen, wesentlich allerdings 
abfälligen Kritik jenes Buches in den damals von Hermann Marg- 
i^ratf redigierten „Blättern für litterarische Unterhaltung" aufzuraffen. 
Dass die vortreffliche Arbeit Sevdels den akademischen Preis 

m 

erhielt, hatte dieser wesentlich dem Professor Weisse, seinem Lehrer, 
(iönner und Kreund, zu verdanken. Wir müssen, wollen wir die 
philosophisf he Eigenart Sevdels erfassen, diesem seinem Verhältnisse 
zu Weisse, dem eigentlichen Begründer des spekulativen Theis- 
mus in Deutschland, einige Bemerkungen widmen. 

Christian Hermann Weisse, ein Sohn des berühmten Leipziger 
Juristen und Hi.storikers, und ein Enkel des bekannten Fabeldich- 
ters Weisse, hatte seinen Ausgangspunkt von Hegel und dessen 
dialektischem Pantheismus genommen, obwohl er der rechten mit 
der christlichen C )ffenbahrungslehre Fühlung behaltenden Seite der 



Rudolf Scydel. Hl 

Hegerschen Schule angehörte. Bald aber gewann in seiner Re- 
ligionsphilosophie die Richtung der Transcendenz entschiedenes 
Übergewicht über die der Immanens und in Anlehnung an den 
damaligen Standpunkt Schellings nimmt in der Schrift Weisses: 
„Über den gegenwärtigen Standpunkt der philosophischen Wissen- 
schaft" (1829) seine Differenz von Hegel eine sehr unzweideutige 
Gestalt an. Dieses hatte auch der geistvolle und originelle Konsi- 
storialpräsident Göschel, der Hegel allerdings viel näher stand, sofort 
erkannt und in seiner Schrift: „Monismus des Gedankens" (1832) 
auf den Weisse'schen Angriff repliciert. Doch wäre es irrtümlich, 
anzunehmen, und hier weiche ich von der Annahme meines unver- 
gesslichen Freimdes Seydel ab (vgl. dessen Charakteristik Weisses in 
der „Zeitschr. für Philosophie und philosoph. Kritik" Bd. 49, Jahrg. 
1866), dass Weisse sich nunmehr von dem Kern der Welt- 
anschauung, die ihn einst so ganz gefangen genommen, auch gänz- 
lich befreit hätte. Aus dem dialektischen Begriffsnetze Hegels hatte 
er allerdings seinen Kopf gezogen; aber er hing, wie einige seiner 
Werke, insbesondere sein gross angelegtes „System der Ästhetik 
als Wissenschaft von der Idee der Schönheit" (2 Bde.) zeigen, durch 
unsichtbare Fäden mit dem innersten Centrum der Hegel'schen 
Entwickelungslehre zusammen. So kommt es, dass der Haupt- 
begründer des spekulativen Theismus in Deutschland, dessen ganzes 
späteres Bemühen, besonders in seinem tiefgreifenden, die Speku- 
lation der alten Gnostiker weit überragenden Werke „Philosophische 
Dogmatik oder Philosophie des Christentums" (3 Bde. Leipz. 1855 
— 1862) dahin gerichtet war, die christlichen Heilswahrheiten spe- 
kulativ umzudeuten, doch immer und immer wieder „immanente" 
Anwandlungen hat. Ich stütze mich hierbei, gegenüber der gegen- 
teiligen Behauptung meines nunmehr seligen Freundes Seydel, auf 
das so bedeutungs- und gehaltvolle „Sendschreiben" Weisses an 
Imanuel Hermann Fichte vom Jahre 1842. Hatte dieser letztere 
ja gegen Schelling moniert, dass er die Idee des „Ursubjekts" zwar 
errungen habe, dennoch aber den Gedanken eines „blind Seienden 
oder Wirkenden" in Gott noch festhalte. Fichte gegenüber ver- 
teidigt nun Weisse in dem genannten „Sendschreiben", welches ein 
ganzes Buch von 388 Seiten bildet, den Standpunkt der Möglich- 



112 Rudolf Seydd. 

keit, ja der Notwendigkeit einer Verschmelzung der Transcendenz 
und der Immanenz von Gott und Welt. 

Was Weisse andererseits der HegeVschen Spekulation zum Vor- 
wurf gemacht, dass sie als logisches Begriffsnetz nur die Möglich- 
keit, nicht aber auch schon die Wirklichkeit des philosophischen 
Wissens darbiete und dass zu letzterem noch ein empirisches 
Element der Erfahrung, und zwar sowohl der äusseren wissen- 
schaftlichen, als auch der inneren religiösen Erfahrung hinzukommen 
müsse, glaubte er nun in seinen eigenen Arbeiten vermieden zu 
haben, deren beide Hauptwerke ich oben genannt habe, unter denen 
aber auch noch eine ganze Reihe sind, die er teils noch selbst 
herausgegeben hatte, und die teils von seinem einzigen Schüler 
Rudolf Seydel nach dem am 19. September 1866 erfolgten Tode 
aus dem Nachlasse Weisses publiziert worden sind. Da diese letz- 
er en Publikationen (meist nach Vorlesungsheften Weisses) einen 
Teil der schriftstellerischen Thätigkeit Seydels bilden, so mögen sie 
hier genannt werden: „Kleine Schriften zur Ästhetik und ästhetischen 
Kritik" (1867); „Psychologie und Unsterblichkeitslehre" (1869) 
Syste m der Ästhetik" (nach dem Kollegienheft letzter Hand 1871). 

Wir schliessen hieran Seydels eigene Arbeiten, welche inhaltlich 
eng an die (irundideen Weisses sich anschliessen, formell jedoch 
sich insofern von dessen Schriften unterscheiden, als diese zum 
Tciln ()("h in der ühcrabstrakten Sprache Hegels geschrieben sind 
withrend Scydcl einen durchaus modernen Stil schreibt. Seine 
Diktion hebt sich durch ihre Klarheit, Rundung und Eleganz sehr 
vorteilhaft von dem schwer verständlichen, höchst geschachtelten 
und abstrusen Peritidenbau seines ])erühmten Lehrers ab. Es liegt 
dieses wesentlit h daran, dass beide Männer zweien geistigen Epochen 
;in^ehnien, die völlig; von einander verschieden sind und von denen 
jene den Kinthiss tier abstrakten Spekulation, diese die Einwirkung 
(Iri exMkten Naturfoischung auf die wissenschaftliche Sprache in 
eikeiiiib.iiei Weise aufweisen. Die Präcision und Schärfe der Be- 
f/,iillsbe:.linHnunK, der wenn auch nur sparsame Gebrauch bildlicher 
U«ndtinK»'n, sowie der leichttlüssigerc Satzbau sind Vorzüge, welche 
dir lieiiiij/e plnldsophische Sprache wesentlich dem Einflüsse der 
Naluiwi'.siMew hallen verdankt und die auch auf Sevdels Schriften 



Rudolf Seydel. 113 

nicht ohne Einwirkung geblieben sind. Wir nennen hier nur, ausser 
der oben erwähnten Jugendschrift über Schopenhauer, noch folgende : 
„Der Fortschritt der Metaphysik unter den ältesten ionischen Philo- 
sophen" (i86i); „Logik oder Wissenschaft vom Wissen" (1866); 
„Widerlegung des Materialismus und der mechanischen Weltansicht" 
(1873); „Ethik oder Wissenschaft vom SeinsoUendcn" (1874), und 
die erkenntnistheoretische Untersuchung: „Der Schlüssel zum ob- 
jektiven Erkennen" (1888). Dem religionsphilosophischen 
Gebiete gehören an: „Reden über Freimaurerei" (1860); „Katholi- 
zismus und Freimaurerei" (1865); „Der deutsche Protestantenverein" 
(1867); „Die Religion und die Religionen" (gehalten im Deutschen; 
Protestantenverein 1872); „Über Glaube und Unglaube" (1874 
„Das Evangelium von Jesu und sein Verhältnis zur Buddha-Sage" 
(1882); „Die Budda-Legende und das Leben Jesu" (1884); „Buddha 
und Christus" (1884); „Religion und Wissenschaft" (1887); „Vom 
Christentum Christi" (1889). Ausserdem gab Seydel nach dem 
Tode Carl Snells, des bekannten Mathematikers und Physikers zu 
Jena, der früher am Blochmann'schen Institut und an der Kreuz- 
schule zu Dresden thätig war, aus dessen hinterlassenen Manuskripten 
„Vorlesungen über die Abstammung des Menschen" (1887) heraus. 
Es ist hieraus ersichtlich, dass Seydels schriftstellerische Thätig- 
keit sich so ziemlich auf alle Gebiete der philosophischen W'issen- 
schaften erstreckte, wobei wir allerdings unter seinen Schriften die 
ausschliesslich oder doch überwiegend für den akademischen Ge- 
brauch bestimmten Lehrbücher zu unterscheiden haben von seinen 
polemischen Arbeiten, welche meist natur- und religionsphilo- 
sophische Probleme und Zeitfragen betrafen. Überblickt man nur 
seine polemischen Arbeiten, so erscheint uns Seydel im Lichte eines 
religionsphilosophischen Aposteltums, das es ihm zur Lebensauf- 
gabe machte, die tiefe von seinem Lehrer und Meister vollzogene 
Verschmelzung von Philosophie und Religion weiter zu verbreiten 
und sie nicht nur gegen Angriffe zu verteidigen, sondern auch aus 
ihrem Gedankencentrum heraus die religiöse Verflachimg der Zeit, nicht 
minder aber auch die buchstabengläubige Orthodoxie zu bekämpfen. 
Hierbei war er allerdings weit entfernt von allem demagogischen 
Agitatorentum: die Hoheit und Heiligkeit der Sache, für die er 

8 



114 Rudolf Scydel. 

eintrat, Hess ihn keinen Augenblick die Würde der Form, die er 
seiner Sache schuldete, vergessen. Alle seine Streitschriften sind 
von jener Innigkeit und Zartheit der Empfindung, aus welcher man 
herausfühlt, dass der Polemiker nur notgedrungen und schmerzlich 
sich der polemischen Form bediente. Seydel war ein wahrer 
^Egi^ürv ev ayani^ (ein Streiter in Liebe). Seydel war auch schon 
wegen seines tiefen ästhetischen Sinnes ein Feind aller hässlichen 
persönlichen Eristik. Weit entfernt, eine charakterlose Vermischung 
der vorhandenen Gegensätze anzustreben, fand er doch, wenn auch 
nicht eine Überwindung, so doch die Möglichkeit einer Ausgleichung 
derselben in dem Worte des Kirchenvaters: „In veritate quaerenda 
diversa via progredientes caritate nos complectimur". 

Dieser Charakter der Seydel'schen Polemik tritt insbesondere 
in seinen religionsgeschichtlichen und religionsphilosophi- 
schen Werken herv^or. Wir heben in dieser Beziehung nur zwei seiner 
schon genannten Publikationen: „Das Evangelium Jesu in 
seinen Verhältnissen zur Buddha-Sage und Buddha-Lehre** 
(Lpz. 1882) und „die Religion und die Religionen" (Lpz. 1872'. 
Was zunächst das zweite Werk betrifft, so ist dasselbe aus Vor- 
trägen hervorgegangen, welche Seydel im Deutschen Protestanten- 
verein, in welchem er seit der Begründung desselben eins der her- 
vorragendsten und eifrigsten Mitglieder war, gehalten hatte. Die 
Stellung des Protestantenvereins zur religiösen und christologischen 
Frage in der Gegenwart ist aus den Schriften Daniel Schenkels, Karl 
Schwarzs, Holtzmanns, Baumgartens, Längs, Schwalbes, Lipsius\ 
Benders u. A. bekannt. Seine Aufgabe, die er seit seiner Begrün- 
dung im September 1863 zu Frankfurt a/M auf den verschiedenen 
sog. Protestantentagen, sowie in einer zahlreichen Litteratur darge- 
legt, geht wesentlich nach zwei Seiten hin: einerseits Befreiung der 
christlich -theologischen Wissenschaft von allen dogmatischen und 
symbolischen Fesseln, demnach Schutz protestantischer Lehrfreiheit 
auf Kanzel und Katheder und Kampf gegen jede hierarchische Ge- 
wissensbeschwerung. Andererseits will der Protestantenverein die 
protestantische Kirche vor jeder staatlichen Bevormundung befreien 
und verhindern, dass die Kirche für reaktionäre politische Tendenzen 
iiusgenutzt werde. Indem er den Übergriffen des Ultramontanismus 



Rudolf Seydel. 115 

entgegen tritt, erstrebt er womöglich eine deutsche Volks- und 
Nationalkirche. Ganz besonders jedoch ist der Kampf des 
Protestantenvereins gegen die verknöcherte Buchstabenorthodoxie ge- 
richtet, welche die Quellenschriften des Christentums nicht im Greiiste 
und in der Wahrheit, nicht im Sinne einer geläuterten wissenschaft- 
lichen Gesichtsauffassung, sondern nach einer engherzigen Buch- 
stabengläubigkeit erforscht und so allen Sinn und jede Empfäng- 
lichkeit für Religion und Christentum erstickt — . 

Wie wir oben bemerkt haben, werden in diesem Jahre (1893) 
drei Decennien verflossen sein, seitdem der Protestantenverein in 
Deutschland besteht und es drängt sich gewiss die berechtigte Frage 
auf, was er in diesem Zeitraum erreicht hat. Ist seitdem die Stellung 
der protestantischen Kirche eine freiere geworden? Ist die Macht 
der Orthodoxie und der evangelischen Hierarchie auch nur in einem 
einzigen Punkte gebrochen worden? Ist der freien wissenschaft- 
lichen Forschung in Religions- und Kirchenfragen eine Bahn ge- 
brochen? Ist das Predigtwort auf der Kanzel und die Lehre auf 
dem Katheder frei? Wir bedauern es tief, aber die Wahrheit er- 
fordert es, dass wir alle diese Fragen verneinen müssen. Der 
ganze dreissigjährige Kampf des Protestantenvereins war — pro 
nihilo 

Wir machen hier dieselbe Erfahrung, wie auf einem ähnlichen 
Gebiete, auf dem des Altkatholizismus: diese einige Jahre jün- 
gere Bewegung ist ja ebenfalls so gut wie — eingeschlafen, obgleich 
auch hier namhafte Gelehrte und Theologen wie DöUinger, Schulte, 
Michelis, Reinkens an der Spitze standen und die Altkatholiken, so 
lange der „Kulturkampf in Preussen bestand, sich von Seiten der 
Regierung dieses Landes sogar einer gewissen Protektion erfreuten 
und seitens der anderen deutschen Regierungen ihnen wenigstens 
keine Hindemisse in den Weg gelegt wurden. Und doch diese 
völlige Resultatlosigkeit l 

Der Grund ist hier wie dort ein und derselbe. Protestanten- 
verein und Altkatholizismus leiden an . einem und demselben Übel. 
Hier wie dort derselbe Glauben an die Idee, an die Macht der 
Wahrheit und dieselbe Unterschätzung der Bedeutung der realen 
Verhältnisse, dieselbe Geringschätzung der Gegner und ihrer ge- 

8" 



116 Rudolf Seydel. 

waltigen Machtmittel. Das Hauptmachtmittel derselben ist aber 
ihre wirksame Organisation, welche durch eine wachsame und 
gewandte Presse unterstützt wird — . Aber der Hauptgrund für 
diese völlige Resultatlosigkeit aller freiem religiösen Bestrebungen 
in der Gegenwart liegt ganz ähnlich wie auf politischem Gebiete: 
in der Halbheit derselben. Zwischen zwei Feuer gestellt, können 
der Protestantenverein und der Altkatholizismus weder mit der alles 
beherrschenden und in ihren Mitteln gar nicht wählerischen pro- 
testantischen und katholischen Hierarchie, noch mit der über- 
zeugenden Klarheit und wissenschaftlichen Konsequenz des reli- 
giösen Radikalismus rivalisieren. 

Nicht als wenn die wissenschaftlichen Kampfmittel, über welche 
jene verfügen, etwa minderwertig wären und Männer wie Döllinger, 
Schenkel, Lipsius u. A. zeugen dafür, dass die Wissenschaft hier 
in allererster Linie vertreten sei. Aber diese Wissenschaft wendet 
sich an die Hochgebildeten, nicht aber an die Massen, welche nur 
durch die Stichworte der Radikalen oder durch die fanatisierenden 
Künste der Hierarchie zu fangen sind. Die wirkliche Wissenschaft 
ist zurückhaltend, massvoll *, daher soll sie auch nicht erwarten, dass 
sie die Massen gewinnen wird — . 

Seydel wirft einmal die Frage auf, ob die Heiligkeit und der 
religiöse Wert eines Gegenstandes nicht mit seiner offenen Betrach- 
tung im Lichte der Wahrheitsliebe collidiere und — er verneint diese 
Frage. Ja er betont, dass die Existenz des ganzen Protestanten- 
vercins eigentlich auf der Überzeugung beruhe, dass beides sehr 
wohl vereinbar sei. Dieses gilt z. B. mit Bezug auf das Problem 
des historischen Jesus, wie es nach den Untersuchungen der 
niodcrnen Kritik sich gestaltet hat Dieses Problem stellt sich 
augenhlirklich so, dass wir fragen müssen, was uns von der Person 
und dem Leben Jesu, was uns von dem religiösen Werte 
evangelischer Überlieferung selbst in dem Falle übrig bleibt, 
dass die moderne Kritik in ihren wesentlichsten Annahmen und 
I>eugnungen Recht behielte. Und er beantwortet nach einer tief 
eindringenden Betrachtung diese Frage so, dass er meint: alle 
sol<:hc /Äigc aus dem wahren Leben Jesu würden hinwegfallen, 
welche nach den Analogien des sonst bekannten Natur- und Menschen- 



Rudolf Seyclel. 1 17 

lebens nicht vorgestellt, durch diese Analogien nicht verstanden 
werden können und deshalb gewöhnlich als übernatürlich, als 
Wunder bezeichnet werden. 

Aber weder die Bedeutung noch die Schönheit des in der 
Christusgestalt sich ausdrückenden Sinnes geht ihm deshalb ver- 
loren: „Der historische Jesus von Nazareth ist das vollendete Ideal 
der Gottmenschheit, sofern dieselbe angeschaut wird im Kampfe 
mit ihrem Gegensatze, mit der unter der irdischen Natur geknech- 
teten Menschheit und sofern das Ideal überall in Wirklichkeit nur 
erscheinen kann in einer bestimmten unübertragbaren Eigentümlich- 
keit und auf Erden in bestimmten Schranken, welche durch eigne 
Individualität, durch Abstammung, Nationalität, Ort und Zeit des 
Lebens gegeben sind — . Lautete aber das Wort des historischen 
Christentums notwendig also: verzichtet, um zu gewinnen; leidet, 
um höhere Freude zu erringen; sterbet dem Fleische und dieser 
Welt, um durch Neugeburt und Neuschöpfung aus dem hei- 
ligen Liebesgeiste alle Natur und irdische Freude in verklärter, 
heiliger Gestalt wiederzugewinnen — , so war die christliche Phan- 
tasie und Gedankenbildimg von vornherein auch dazu aufgefordert, 
über das Ideal des Kampfes hinaus das Ideal des Triumphes 
in lebendige Anschauung zu bringen. Dieser konnte nach Allem 
nur gefunden werden in einer unmittelbaren Einheit mit der 
Natur, in der sich der Frieden des Paradieses in höherer Potenz 
wiederholte, d. i. in einer Einheit, welche den früheren Kampf, den 
früheren Gegensatz nicht mehr kennt, sondern in welcher die 
Natur in ihren innersten Tiefen zugänglich und deshalb 
von Innen heraus durchdringbar ist, dem heiligen Willen. Ist 
der heilige Wille die Bedingung des Hinmielreichs, so ist dieser 
vollkommene Frieden mit der Sinnenwelt das ideale Endziel 
dieses Reiches; denn in diesem Reiche soll nicht mehr sein die 
Entstellung, Verkümmerung des Guten, die Verzerrung des zur 
Schönheit Bestimmten, die schmerzvolle Zerstörung des Geschaffenen 
durch Krankheit und Tod, die Feindschaft der Elemente und der 
niedem Kreatur überhaupt gegen die geistige Macht, welche Alles hie- 
nieden auch für den heiligsten Willen, auch die unabwendbare Folge 
des Widerstandes einer imbezwungenen imd unbezwingbaren Natur ist. 



118 Rudolf Seydel 

Hiermit aber ist gegeben, dass das triumphierende Ideal des Gott- 
menschen und des Gottesreiches nicht mehr vorgestellt werden 
kann durch blosse Erinnerung an wirklich Geschehenes, an 
historische Persönlichkeit und historisches Leben, sondern, 
wenn die Form sinnlicher Vorstellung nicht verlassen werden soll 
und kann, bedarf es dazu einer Andeutungsweise des Überschweng- 
lichen, des irdisch -Unmöglichen, in der die irdischen Vorstel- 
lungsbilder nur als Symbole dienen. Der heilige Willens- 
und Geistesgehalt der geschichtlichen Träger des Ideals wird 
in diesen Symbolen in das Gewand überirdischer, nur in 
einem Jenseits möglichen Idealität gekleidet. Das Thema 
solcher sjinbolischer Idealbildnerei ist naturgemäss in allen Religio- 
nen Eins: das einer magischen Einheit des heiligen Willens 
mit der Natur, das ebenso notwendig überall die gleichen wesent- 
ichen Formen fand, die Formen magischer Überschreitung 
der Schranken des Raumes, der Zeit, der Materie, aller 
physischer und organischer Gesetze, die Form der Beherr- 
schung dieser Erdgewalten im Dienste des zeitlichen und ewigen 
Heils ohne Vermittelung, von Innen heraus, durch den blossen gott- 
geeinten Willen." 

Aber was ist eine magische Einheit des Willens mit der 
Natur: Hier ist der Punkt, wo Seydel vom Rationalismus sich zur 
Mystik herüberrettete, zu der auf seine geistige Individualität sein 
Lebenlang hinneigte und die ihn auch in Weisse seinen philo- 
sophischen ^Meister finden Hess. Die Wunder leugnen und sie 
hinterher doch wieder als durch eine magische Einheit von Willen 
und Natur anerkennen, ist eine jener Halbheiten, an denen eben 
alle Theologen der protestantenvereinlichen Richtung laborieren. 

Die Vorträge des ersten Teils des genannten Werkes (^Die 
Religion und die Religionen") geben religionsgeschichtliche Studien, 
über die dem Christentum vorangegangenen religiösen Vorstellungen, 
(1. Einleitung. Das Wesen der Religion. II. Die Religionen der 
Wildheit und Halbwildheit, Mongolen, Malaien, Inkas, Azteken. 
111. Die vorbuddhistischen Religionen Chinas und Japans. Die 
arische Urzeit. Der indische Brahmanismus. IV. Der Buddhismus 
und Parsismus V. und VI. Die semitischen Völker: Äthiopier, 



Rudolf Seydel. { l\) 

Ägypter, Libyer. Die Araber und der Islani, die Habyloiüer, Assyrcr, 
Phönizier, Kanaanäer, Juden. VII. Die europäischen Arier: Kelten, 
Germanen, Slaven, Italer, Griechen). Diese ebenso anziehenil gc» 
haltenen als gründlichen Studien stehen durchweg auf dem Hoden der 
modernen Religionswissenschaft. Mit besonderer Sorgfalt int 
der Vortrag über den Buddhismus durchgeführt und zwar auf Grund 
der neuesten Forschungen Bumoufs, Foucamps, WeberH. Max 
Müllers u. A. — Seydel zeigt eine besondere Vorlieiic ftlr ilic 
buddhistische Ethik, was auch aus eben seinem obengenannten 
geistvollen, eine Art Parallele zwischen Christentum und HuddhJHmUH 
durchführenden Werke hervorgeht. Wir können eine eingehende 
Analyse dieses gehaltvollen Buches hier nicht geben und bemerken 
nur, dass die komparative Zusammenstellung dieser beiden innerlich 
so verwandten Rehgionsformen eine der interessantenten LeiMtungeti 
der neueren Religionswissenschaft genannt zu werden verdient. Wir 
verweisen hier insbesondere auf Seydels Einleitung zu dieser gro»i- 
artig gedachten und durchgeführten buddhistisch-chriHtlichen Kvangc- 
lienharmonie: ^Das christliche Recht einer freien vergleichenden 
Religionsgeschichte'', worin freilich, während er nach 1872 in den 
oben erwähnten Vorträgen das Christentum ab die Religi^m be* 
zeichnet, der gegenüber die gesamten hiAtoriiK:h vorangegjingenert 
Religionen nur als Vorbereitungsstadien zu demutlhtn anzuiteheit 
sind, die christliche Religion nur ab eine der in Vergleich gebra/.hten 
Religionen ist Die zwischen diesen beiden Standpunkten liegerule 
Difierenz (beide Bücher liegen 10 Jahre atu»einander; iM l/cdeutMMii 
genug für die innere Fortentwickelung Sey^ieb« 

Ein grosser Teil von Seydeb Si:hrifut«:Uerthätigk^it wjr <kf 
Bekämpfung des Daturwi»ften»chaftli'.h''n M;äit«;ri»li%mu% 
gewidmet, ofienbar für einen FhiJov>ph«rn, ^kr ni/Jit dwj w^Mruth'Ji^n 
leilc der heutigen Nalumihvenvix^fterj Mt^r^M, mhK iKJwii:fig< 
Aufgabe. Aber Seydel ttriuM hvtüßti uuMx ai* Iam; in <lrf Natui 
forschnng, Mmdem war t/tiö'iht, %uji vMta^jt^ •:if$K iji#il*)ivi»/i< 
empirücfac Krke&mxm ön' 'Vft^i^xkßjt^:* tj;#/j f ^yfviiUff^.treviiüiüe i\^.t 
bemigen NaicnriiAemch^ MU'jt^'djitt^h ?y> ^>%^KfMfiMi irn^ h^y^i^A 
Mch ksch fizr utnxkn, :n Ctw t^^A^yf^^ JA^ifiJCfHi^mtMti^f^^^, »m; 4r# 



laO Rudolf Seydel. 

Wort mitsprechen zu dürfen. Wir verdanken diesem Umstände 
ausser der oben genannten Schrift noch eine Reihe nmüsuigreicher 
Essays, die er in verschiedenen Revuen und Zeitschriften (auch in 
der „W^issenschaftlichen Beilage" der Leipziger Zeitung) veröffent- 
licht hatte. Einen Teil dieser Aufsätze hat noch Seydel selbst in 
dem Werke „Religion und Wissenschaft" gesammelt. — Bei der 
eigenartig originellen Art, wie er die Annahme eines rein mecha- 
nischen, jede Zweckthätigkeit ausschliessenden Lebens der Natur, 
sowie das Prinzip der Priorität der Materie in allem Naturleben zu 
widerlegen bemüht ist, wollen wir dieser Seite des Seydel'schen 
Philosophierens einige Bemerkungen widmen. 

In der oben genannten Schrift: „W^iderlegung des Materialismus 
und der mechanischen Weltansicht" (Berlin 1873), welche aus einem 
im Jahre 1872 im Leipziger Docentenverein gehaltenen Vortrage 
hervorgegangen ist, geht Seydel von der Frage aus: „Was ist das 
Beharrende?" und „Wie kommt eine Veränderung an dem Be- 
harrenden zustande?" Der Materialismus antwortet schlankweg: Das 
Beharrende ist die Materie, der körperliche Stoff der Welt, und 
jede Veränderung derselben geschieht auf mechanische Weise, 
d. h. durch die unabänderlichen Gesetze der Bewegungskräfte des 
Stoffs; durch die mathematisch bestimmbaren Wirkungen dieser 
Kräfte geschieht alles, was überhaupt im W- eltall vor sich geht. 
Diese letztere Annahme begründet das, was man die mechanische 
W'eltansicht nennt. Dieser Antwort setzt Seydel die weitere Frage 
entgegen, was denn nun eigentlich die „Materie" sei und was man 
sich unter „Bewegungskräften" zu denken habe. Unsere wissen- 
schaftliche Physik, welche über eine gewisse Grenze hinaus die von 
ihr gebrauchten Grundbegriffe nicht mehr analysiert, weil jenseits 
dieser Grenzen Beobachtung und Erfahrung aufhören, versteht eben 
unter „Materie" unbewegliche, den Raum ausfüllende Dinge, welche 
nur so weit sich bewegen und wirken, als die Kraft reicht, mit 
welcher sie durch fremden Einfluss bewegt werden. Und demselben 
gewöhnlichen Sprachgebrauch nach ist die Materie empfindungs- 
und bewusstlos, d. h. unfähig, vorzustellen und zu denken. Hier- 
nach ist auch ersichtlich, was „materielle" Bewegungskräfte dem 
physikalischen Sprachgebrauche nach sind : solche, die durch einen 






Rudolf Seydel. 1 31 

derartigen fremden Kinfluss auf einen Stoff übertragen sind, und nur 
ebenso übertragene Bewegungen und Wirkungen dürften mecha> 
nische zu nennen sein, wie die innere Bewegung einer Uhr. Will 
nun der Materialismus auf Grund dieses gewöhnlichen Sprach- 
gebrauchs seine Behauptung, dass alles nur Materie sei und alle 
AVeltprozesse nur mechanisch sich vollziehen, aufrecht erhalten, so 
wäre der Widersinn offenbar. Denn in diesem Falle würde der 
Materialismus annehmen, dass die geistigen Aktionen: Vorstellen, 
Kmpfinden, Wollen und Denken an Körpern zur Erscheinung kämen, 
welche an sich vorstellungslos, willenlos, empfindungslos und denk- 
unfähig wären; und die mechanische Ansicht würde dann annehmen, 
dass alle Bewegungen und wirkenden Kräfte im Universum nur 
übertragen wären durch fremde Einwirkung, als ob nicht dann 
auch diese fremde Einwirkung zu einer übertragenen herabgesetzt 
werden müsste und die Frage gänzlich ausser Acht gelassen würde, 
woher denn schliesslich alle diese Übertragungen stammen. 

Aber sehen wir davon ab, dass der Materialismus auf diesem 
Missbrauch der Wortbedeutung beruht, so giebt es noch einen andern 
Weg, seine Sinnlosigkeit zu erweisen. Seydels Argumentation ist 
hierbei folgende: Wäre alles im Weltall nur Materie und geschähe 
alles nur auf mechanische Weise, so wäre alles tot, d. h. von 
keinem existierenden Wesen gingen eigne Thätigkeiten aus, sondern 
alles sog. Wirken wäre nur die Übertragung fremder Kraft; und 
femer wäre alles an und fiir sich ohne Empfindung, ohne Willen, 
ohne Denken, kurz ohne ihm selbst merkbares Innenleben. Da man 
nun aber die Wirklichkeit der Erscheinungen des Empfindens 
und Denkens doch nicht leugnen kann, wie will man diese Er- 
scheinungen unterbringen, wenn doch alles Seiende in sich selbst 
erapfindungs- und bewusstlos sein soll? Es bliebe nur übrig, Em- 
pfinden und Denken und Wollen als Erscheinungen aufzufassen, 
welche zwischen den empfindungs- und bewusstlosen Stoffen oder 
körperlichen Atomen stattfinden, gleichsam zwischen denselben über- 
springen, wie elektrische Funken zwischen den dunkeln Konduktoren, 
Blitze zwischen Wolken, oder wie die seligen Götter Epicurs zwi- 
schen den Welten (jistaxoöfiia) wohnen. Aber, fragt Seydel, wer 
denn denkt, wer will, wer empfindet dann? Wenn nur zwischen 



122 



Rudolf Seydel. 



den Stofiatoraen gedacht und empfunden wird, wer ist denn nun 
der Träger dieser Empfindungen, Vorstellungen, Willensaktionen 
und (Jedanken? AVo ist denn das Wesen, welches die Elmpfindungen 
hat, sie seine Empfindungen nennt, welches Schmerz und Lust 
als seinen Schmerz und seine Lust empfindet, und welches seine 
Gedanken sich selbst gegenwärtig hält? Kann überhaupt etwas 
zwischen den Dingen (seien es Atome oder Monaden) geschehen? 
Zwischen dem Seienden ist nichts; denn wäre da etwas, so wäre 
dieses Etwas selbst wieder ein Seiendes. 

Ist diese Schlussfolgerung unanfechtbar (und sie ist es in der 
That), so muss auch der verstockteste Materialist, wenn er noch 
logisch denken kann, zugeben, dass reine Materie denmach nicht 
mehr da anzunehmen ist, wo Empfindung, Vorstellung und Willen 
ist. Hier ist die unübersteigliche Grenze fiir den Materialismus. 
Aber auch fiir die mechanische Weltansicht giebt es bei streng logi- 
scher Auffassung der Wirklichkeit und ihres Geschehens eine Grenze 
und diese besteht im Begriffe der Selbstthätigkeit, da „mecha- 
nisch" im strengen Wortsinne nur die Bewegung und Wirksamkeit 
eines durch fremde Ursachen bewegten Stoffes heisst, der, für sich 
selbst rein ])assiv, nur die übertragene Kraftwirkung fortsetzt. Eine 
Selbstthätigkeit wäre eine lebendige Regung und nichts Mechani- 
sches mehr. Hiernach setzt, wie schon Aristoteles gesagt hat, alle 
mechanische Bewegimg im Weltall eine bewegende Kraft voraus, 
die nicht selbst mechanischer Natur ist {xcvovv dxivrjrov = be- 
wegend, aber nicht selbst bewegt), sondern, von lebendigem 
Wesen ausgehend, auf tote Stoffe übertragen, erst in der not- 
wendigen, mathematisch bestimmbaren Fortleitung durch diese 
toten Stoffe zu mechanischer wird. 

Diese auf ein theistisches Grundprinzip auslaufende Kosmo- 
logie Seydels findet ihre notwendige Ergänzung in jener teleo, 
logischen Weltansicht, in der er sich mit den bedeutenderen 
Naturphilosophen der modernen Richtung (Fechner, Lotze u. a.) be- 
gegnet. Dieses setzt aber, wie schon der grosse Denker Kant wollte, 
eine zwiefache Kausalität voraus, eine mechanische für alles 
Naturgeschehen, und eine rein teleologisch-geistige und ideelle fiir 
alle psychischen und sittlichen Prozesse, wobei in der Menschen- 



Rudolf Scydd. 123 

weit und deren Geschichte, wo beide Gebiete in milliardenfacher 
Verschlingung und Vermischung, beide Kausalitäten vielfach sich 
kreuzen, oft neben einander herlaufen, oft sich bekämpfen und auf- 
heben. Aber Seydel strebt aus diesem Dualismus, der die Pro- 
bleme nur halb erklärt und der ihm deshalb nicht genügt, heraus 
zu einer einheitlichen Weltbetrachtung, die nicht, wie der Monis- 
mus Büchners und Häckels, in der Materie, sondern im Geiste 
seinen Boden hat. „Haben wir", heisst es am Schlüsse jener Schrift, 
„gesehen, dass ohne Selbstthätigkeit der Stoffe auch der mechani- 
schen Ansicht jede Anknüpfung ihrer Ableitungsgesetze, überhaupt 
jeder Grund und Boden fehlt, und wird zu zeigen sein, dass Selbst- 
thätigkeit eines Wesens immer auch in irgend einem Grade von 
Helligkeit vorstellende und Zweckthätigkeit ist: so ist uns 
hiermit die Perspektive eröffnet auf eine einheitliche Weltanschauung, 
welche nicht in der Materie und im Mechanischen, sondern um- 
gekehrt im Geiste und in der Zweckthätigkeit ihre durch- 
herrschenden Grundbegriffe findet" 

Von den grösseren W^erken Seydels möchten wir hier noch 
besonders seine „Ethik" hervorheben, deren genauere Inhaltsanalyse 
uns aber die Rücksicht auf den Raum, den wir uns für diese kurze 
Charakteristik bestimmt haben, verbietet. So viel aber können wir be- 
tonen, dass auch dieses Werk, welches eine Neubegründung dieser 
Wissenschaft (allerdings in vielfacher Anlehnung an Ethiker wie 
Kant, Herbart, Friedrich Schleiermacher, Heinrich Ritter und Richard 
Rothe) versucht und in welchem er sich von Hermann Weisse 
ziemlich unabhängig zeigt, davon Zeugnis ablegt, wie von dem 
Boden, von dem Rudolf Seydel ausging, der tiefgegründeten Gottes- 
anschauung, wie in der Naturphilosophie, so auch in der Re- 
ligionsphilosophie und Ethik ein hoheitsvoller Idealismus 
ihm erwuchs, der insbesondere in den grossen Menschheits fragen 
der Geschichte und des Staates, gleich weit entfernt von thaten- 
losem Quietismus, der sich vornehm auf eine subjektivistische, schön- 
geistige Selbstbespiegelung zurückzieht, wie von jener Selbstüber- 
hebung des Individuums ist, welches, seiner Wurzelung im Göttlichen 
unbewusst, die Güter dieser Erde als die allein erstrebenswerten 
ansieht. 



124 Rudolf Seydel. 

Die Ethik Seydels leitet ihren Standpunkt historisch-kritisch 
(S. 1—92) ein, indem Anknüpfungspunkte an die ethischen Prinzipien 
früherer und gleichzeitiger Denker gesucht und gefunden werden. 
Das ethische System selbst hat der Verfasser lehrbuchartig in 275 §§ 
und in strengem systematischem Zusammenhange entwickelt. 

Gustav Freytag bemerkt irgendwo, dass, wer die Geschichte 
des deutschen Gemüts schreiben würde, zur Erklärung der seit dem 
westphälischen Frieden bis auf jetzt in uns sich zeigenden Gnind- 
empfindung, der Sehnsucht, nur eine Begründung haben könne: 
dem Volke habe bei aller sonstigen Fülle seiner geistigen und sitt- 
lichen Gaben, der Staat gefehlt. — Aber wir haben ja doch seit 
1866 und 1870 nicht nur einen „Staat", sondern sogar das „Reich" 
und doch hat jene „Sehnsucht", von der Freytag spricht, nicht auf- 
gehört! Wir stimmen Rudolf Seydel vollkommen bei, dass, trotz 
„Staat" und trotz „Reich" die wahre innere Befriedigung des Volks- 
gemüts — heute mehr denn je fehle. „Weithin, sagt unser Ethiker, 
verdrängt freudlose Emsigkeit und rauhe Energie in äusserlichem 
Arbeitseifer das wahrhafte Lebensglück. Friedlose materielle Genuss. 
sucht ist die Religion der (gebildeten und ungebildeten) Massen und 
der Pessimismus ist die Religion der hohen Intelligenz. Die alte 
deutsche Sehnsucht wusste wohl, dass für sich allein auch die beste 
Staats form nur ein Gefäss ist, ein zwar wohlgeschätzter und wohl- 
placierter Raum, der aber des Inhalts bedarf, um etwas zu sein. 
Wertvoller Inhalt giebt allein das empfundene Wohl der 
FLinzelnen auf sittlichem Lebensgrunde und sein Wert steigt 
und fällt mit der Höhe des Innenlebens der Seelen und 
Geister. Erfüllen sich die Geister mit dem Schauen des Gött- 
lichen, die Seelen mit allumfassender Liebe zur Menschheit und 
Mitgefühl mit aller Kreatur, gelten Religion und Tugend, Wissen- 
schaft und Kunst allenthalben höher denn Besitz und Macht; so 
wird in den neuen, grossen, machtvollen Staatsformen die alte 
poetische Innigkeit und Freudigkeit deutschen Lebens reicher und 
herrlicher wiederkehren." 

Seydel war wie in der Wissenschaft, so auch im Leben ein 
wahrer und unermüdlicher Vorkämpfer alles ethischen Idealis- 
mus, dessen Kräftigung und Ausbreitung er als die Aufgabe seines 



Rudolf Seydcl. 125 

akademischen Berufs wie seines ganzen Lebens ansah. Und wie 
ritterlich und menschlich schön übte er diesen Beruf ausl Noch 
sehen wir den schlichten Gelehrten vor uns mit dem edlen Kopf, 
dessen asketische, fast streng nazarenische Züge von ein paar 
grossen, gütig und freundlich blickenden Augen gemildert wurden. 
— Das Bild des edlen Mannes wird allen Denen, die das Glück 
hatten, ihm nahe zu stehen, nimmer aus der Seele schwinden. 



] 



V^ilhelm Röscher 

und die social-wissenschaftlichen Strömungen 

der (Gegenwart. 
Eine orientierende Studie. 

Das untengenannte, dem (ieh. Rat Professor Wilhelm Röscher 
in Leipzig zu seinem 50jährigen Doktorjubiläum gewidmete Werk 
(iustav Schmollers*) ist in mancher Hinsicht bemerkenswert: 
und zwar nicht minder durch seinen Inhalt, der, wenn auch nicht 
durchweg Hervorragendes, so doch vielfach Beachtenswertes bietet. 
als durch den Standpunkt, von welchem aus der Verfasser seinen 
Gegenstand behandelt, (iustav Schmoller, Professor der Staats- 
wissenschaften an der Berliner Universität, steht in dem Kampfe 
für die sog. historisch-ethische Auffassung der Volkswirtschaft neben 
seinem i5erliner Kollegen Adolf Wagner und seinem schwäbischen 
Landsmann Albert Schäftle, dem österreichischen Minister a. D. in 
Stuttgart, in \orderster Reihe. Nur mit dem Unterschiede, dass die 
beiden letztgenannten, insbesondere Schäffle, durch eine Anzahl 
theoretisch-grundlegender Werke den Aun)au der neuen wirtschaft- 
lichen Anschauung versucht haben, während Schmollers bisherige 
litterarische Ihätigkeit wesentlich in historischen Arbeiten besteht. 
welche gewiss ganz wertvolle Beiträge zur Kultur- und Wirtschafts- 
geschichte unserer deutschen Vergangenheit sind, zur theoretischen 
I''un<l.'imenticrung der sog. ethischen Nationalökonomie jedoch nur 
wenig beigetragen haben. Übrigens steht Sc hmoller als Herausgeber 
des „Jjihrbuclis iVir (iesetzgebuiig, Venvaltung und Volkswirtschaft 

*) ,./ur LitttTiiturj^oschichle der Stoats- und Socialwissenschaften" Leiprig, 
Wrliifj v<»ii Duiiikor ^i Humblot, 188S. 



Wilhelm Koscher. 127 

im Deutschen Reiche" (bisher 15 Jahrgänge), sowie der bereits bis 
zum 12. Bd. angewachsenen „Staats- und socialwissenschaftlichen 
Forschungen" an der Si)itze von publizistischen Unternehmungen, 
welche nicht immer nur der wissenschaftlichen Untersuchung, sondern 
ebenso oft der politischen Agitation dienen. Und wenn diejenigen 
^echt haben, welche behaupten, dass die heutigen Reform- 
bestrebungen in der Volkswirtschaftslehre auf dem Punkte stehen, 
den Sieg der historischen Schule zu vollenden, so dürfen wir aller- 
dings nicht vergessen, dass die mächtige Bundesgenossenschaft, 
welche der heutigen socialpolitischen Zeitströmung zur Seite steht, 
dem etwaigen Siege dieser wissenschaftlichen Richtung nicht un- 
wesentlichen Vorschub leistet. 

Wir beobachten hier einen ähnlichen Vorgang, wie vor 50 
Jahren, in dem Kampfe zwischen der philosophischen und 
historischen Auffassung der Prinzipien der Rechtswissen- 
schaft. Nimmermehr hätte die letztere gegen die einst so mäch- 
tige Rechtsanschauung des 1 8. Jahrhunderts gesiegt, wenn ihr nicht 
die Hilfe der deutschen Regierungen und der herrschenden konser- 
vativen Parteien fördernd zur Seite gestanden hätten. Aber nur 
bis hierher geht die Analogie; denn während die historische Rechts- 
schule in ihrer philosophischen Gegnerin — und nicht mit Unrecht 
(man denke nur beispielsweise an den Gegensatz: Friedrich Carl 
von Savigny und Eduard Gans) — einst die Erbin der „Revo- 
lution" sah, hält die heutige historische Volkswirtschaftsschule, 
welche von den staatssocialistischen Bestrebungen der deutschen 
Reichsregierung begünstigt und getragen ist, gegenüber der alten 
individualistischen Gesellschaftslehre sich selbst für den 
Ausdruck des Fortschritts des Zeitgeistes. 

Freilich sie selbst hält sich dafür, ihre (iegner sind anderer 
Meinung, üoch können wir auf diese grosse Prinzipienfrage hier 
nicht eingehen, sondern wir wenden uns dem Schmoller'schen Buche 
zu, welches wie Alles, was dieser Schriftsteller veröffentlicht, einen 
wesentlich historischen Charakter trägt. Nur dass in der vor- 
liegenden Publikation, welche nicht wirtschaftliche, historische Zu- 
stände der Vergangenheit, sondern nationalökonomische Theorien 
der Gegenwart behandelt, das kritische Element in den Vordergrund tritt. 



128 Wilhelm Röscher. 

Von den hier vereinigten Abhandlungen Schmollers, welche 
fast alle schon früher in seinem „Jahrbuch" oder sonst wo ver- 
öffentlicht waren, hätten wir die beiden ersten über Friedrich 
Schiller und über Johann (i ottlieb Fichte fortgewünscht und 
zwar aus dem Grunde, weil beide nicht in den Rahmen eines der 
Geschichte der volkswirtschaftlichen Theorien gewidmeten Buches 
hineingeboren. Übrigens ist Gustav Schmoller, unseres Wissens, 
weder Ästhetiker noch Ethiker und so wenig inhaltlich gegen das 
in den beiden Abhandlungen über Schiller und Fichte Gesagte 
etwas einzuwenden ist,*) so kann man doch, ohne Widerspruch zu 
befürchten, mit vollem Rechte behaupten, dass die hier entwickelten 
(iedanken über diese beiden grössten Herren des deutschen Idealis- 
mus weder sonderlich tief und neu sind, noch auch ohne den hier 
fehlenden weiteren Zusammenhang als erschöpfend angesehen werden 
können. 

Den Mittelpunkt und Kern des Schmoller'schen Buches bilden 
zwei umfangreiche Charakteristiken, welche die wissenschaftlichen 
Leistungen und die schriftstellerische Bedeutung Lorenz von 
Steins und Wilhelm Roschers zum Gegenstande haben. Auch 
diese beiden Abhandlungen treten getrennt auf, da sie zu ver- 
schiedenen Zeiten und bei verschiedener Gelegenheit verfasst wurden. 
Die erste ist eine kritische Besprechung der ersten Bände des um- 
fangreichen Stein'schen Werkes „Die Verwaltungslehre",**") während 

*) In Betreff der SchmoUer'schen Abhandlung über Fichte, welche zuerst 
in den Hildebrand'schen Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik Bd. 5, 
1865 erschien, hat früher Professor Bona Meyer in Bonn in manchen Punkten 
seine abweichende Auffassung geäussert in seiner Schrift „Fichte, Lassalle und 
der Socialismus." (Deutsche Zeit- und Streitfragen 1879) 

**) 7 Bde., Stuttgart 1865 — 68. Ausser diesem Hauptwerke Steins sind hier 
staatswissenschaftliche Werke, wie sein „System der Staats Wissenschaft*' (2 Bde. 
1852—57), ferner die gehaltvolle Monographie „Gegenwart und Zukunft der 
Rechts- und Staatswissenschaft Deutschlands" (1876) erwähnenswert. Sehr zahl- 
reich sind Steins Arbeiten, in denen er die Entwickelungsgeschichte des Socialis- 
nius darstellt. Schon seine früheste Schrift: ,,I)er Socialismus und Kommunis- 
mus in Frankreich" (1844) bewegt sich auf diesem Gebiete. Bedeutsamer und 
umfassender ist das Werk „(leschichte der socialistischen Bewegung in Frank- 
reich von 1788 bis auf unsere Tage" (3 Bde. 1850;. Viel gelesen sind ausser 



Wilhelm Röscher. 129 

die letztere jedoch wesentlich eine Huldigungs- und Jubiläumsschrift 
zu Ehren Roschers bildet. 

Aber welch eine interessante Parallele hat sich hier der Ver- 
fasser entgehen lassen! Welche eigentümlichen Gesichtspunkte, 
welche weiten Perspektiven hätten sich hier bei der Vergleichung 
dieser so grundverschiedenen, in mancherlei wesentlichen Punkten 
jedoch übereinkommenden beiden Senioren der deutschen Staats- 
wissenschaften ergeben! Der Gegensatz der philosophischen und 
der historisch-empirischen Staatsauffassung, wie derselbe durch die 
beiden genannten Gelehrten repräsentiert wird, hätte zu einer wei- 
teren Betrachtung des höheren Gegensatzes der philosophischen 
und geschichtlichen Weltanschauung in unserem Jahrhundert über- 
haupt führen können. Indes repräsentiert weder Lorenz von Stein 
den extremen philosophischen Dogmatismus in der Staatslehre, noch 
auch ist Wilhelm Röscher ausschliesslich historischer Empiriker. 
Vielmehr schliesst sowohl jener schon durch seine, wenn auch ent- 
fernte, so doch fühlbare Zugehörigkeit zur Hegel'schen Schule ein 
sehr starkes geschichtliches Element in sich, als auch finden sich 
bei Röscher, insbesondere in seiner Geschichte der Volkswirtschaft, 
sehr merkliche Anklänge und Anlehnungen an die konstruierende 
geschichtsphilosophische Auffassung der Entwickelung der Mensch- 
heit seitens des socialen Radikalismus. 

Von alledem ist bei Schmoller keine Rede. Die, wir geben 
zu, möglichst objektiv gehaltene Beurteilung beider Männer bilden 
jede für sich ein isoliertes Ganzes, ohne irgend welchen Versuch, 
diese beiden Forscher als sich ergänzende Repräsentanten zweier 
Staatsauffassungen in unserem Jahrhundert darzustellen. 

Schmoller hat ganz Recht: Lorenz von Stein wird jetzt wenig 
mehr gelesen*, aber auch, fügen wir hinzu, wenig oder gar nicht 
mehr verstanden. Und diese Thatsache gereicht nicht dem ver- 
dienstvollen Forscher zur Unehre, sondern dem heutigen Geschlecht 
zur Schande, welches, wie es scheint, die Fähigkeit gänzlich ver- 



einigen Lehrbüchern der Volkswirtschaft (1876) und der Finanzwirtschaft (1878), 
welche er zum Zwecke seiner akademischen Vorlesungen geschrieben hat, auch 
seine Bücher über die Frauen frage, wie „Die Frau auf dem Gebiete der 
Nationalökonomie^' (1876) und ,, Die Frau auf socialem Gebiete" ( 1 880) u. s. w. 

9 



130 Wilhelm Roseber. 

loren hat, philosophische Ideen zu erfassen und ih einen Gedanken- 
zusaminenhang einzudringen, dessen Inhalt aus mehr als blossen 
historischen Thatsachen und statistischen Zahlenreihen besteht. Eine 
schriftstellerische Persönlichkeit wie Lorenz von Stein, welcher, selbst 
der philosophischen Schule entstammend, die Wissenschaft vom 
Staat und der Gesellschaft aus einem einheitlichen Prinzipe heraus 
bearbeitet und diese Einheitlichkeit auch äusserlich durch eine ge- 
schlossene Systematik seiner Werke zum Ausdruck bringt, muss den 
Empirikern der heutigen Staatswissenschaft, welche völlig systemlos 
ist, allerdings als ein „Fanatiker des Schematismus" erscheinen. 
Finden wir ja doch analoge Vorgänge auch in anderen wissenschaft- 
lichen Gebieten der Gegenwart. Es giebt z. B. Biologen und Anthro- 
pologen von Ruf, denen jeder Versuch, in das Chaos der auf- 
gehäuften Thatsachen ihrer Wissenschaft durch das Mittel der lo- 
gischen Di\'ision und ])rinzipiellen Zusammenfassung einige lichtvolle 
Ordnung zu bringen, schon als Versündigung gegen den heiligen 
Geist der thatsachenfrohen Empirie gilt. 

„Die erniedrigende Wirkung, sagt Comte, der bis zum äusser- 
sten getriebenen geistigen Arbeitsteilung wird am Schlagendsten an den- 
jenigen, die als die Lehrer und Krleuc hter der L'brigen gelten, erkannt 
Der (ieist eines Menschen wird in ebenso verhängnisvoller Weise an- 
geregt und sein Gefühl für die grossen Zwecke der Menschheit wird 
ledigli« h ebenso verkümmern, wenn er alle seine (iedanken auf die 
Klassifi/ierung einiger weniger Insekten und auf die Auflösung einiger 
weniger (Gleichungen konzentriert, als wenn er für nichts Sinn hat, 
als für das Schleifen der Spitzen, als für das Anlöthen der Knöpfe 
von Sterknadeln.** Diese „specialite ilispersive" des jetzigen Cie- 
schlechts der Gelehrten, sagt Stuart Mill, der gerechteste Kritiker 
Comte>,* die ungleich ihren Vorgängern einen thatsächlichen 
Widerwillen gegen umfassende .\nsirhten hegen und die In- 
teressen der Menschheit dagegen jenseits der engen (Grenzen ihres 
Bcmfs weder kennen noch beachten, behandelt Comte als eins der gros- 
sen 'Jnd wachsenden Übel unserer Zeit und erblickt darin das Haupt- 
hindtrni^der moralischen und intellektuellen Wiedergeburt. 

•; Ait^z^ «.'cn,!^ Tjod f^er F'ositivi>n.u< (deutsch au< «!er.i Kujjlischen über- 



Wilhelm Roscher. 131 

Sehr treffend sagt auch in dieser Beziehung der berühmte 
Rechtsphilosoph Karl von Leonhardi: „Das hohe Verdienst, das 
sich die rechtshistorische Schule erworben, wird einigermassen 
geschmälert durch die Vereinseitigung, infolge welcher in Deutsch- 
land fast alle ihre Anfänger die rechtsphilosophische Forschung 
für etwas ganz Überflüssiges hielten und manche noch jetzt sie 
dafürhalten. Diese Geschichtsfanatiker nehmen zur Rechts- 
philosophie eine ähnliche Stellung ein, wie sie zur Philosophie 
im Allgemeinen von so vielen heutigen Naturforschem eingenommen 
wird, die auch ihrerseits der Meinung sind, dieselbe gänzlich links 
liegen lassen zu dürfen, — die Einen wie die Anderen offenbar 
nur aus Unkenntnis der Fortschritte die, sowohl der Behandlungs- 
weise als den Ergebnissen nach, von der Philosophie und ins- 
besondere von der Geistesphilosophie in unserem Jahrhundert gemacht 
sind, seitdem sie den Allwissenheitsdünkel der Schelling-Hegerschen 
Schule, oder die — oft nicht weniger dünkelvolle — Wissensscheu 
eines übertriebenen Kriticismus aufgegeben hat." („Die neue Zeit". 
Heft IX, Prag 1874). Und Rudolf von Jhering, auf den Gegen- 
satz der rechtshistorischen und rechtsphilosophischen Schule hin- 
weisend, bemerkt gerade inbezug auf die sog. vermeintiiche „or- 
ganische Natur des Rechts und die Notwendigkeit eines praktischen 
Kampfes um die Rechtsidee: „Alles Recht in der Welt ist erstritten 
worden; jeder Rechtssatz, der da gilt, hat erst denen, die sich ihm 
widersetzten, abgerungen werden müssen und jedes Recht, das 
Recht eines Volkes, wie das eines Einzelnen, setzt die stetige Bereit- 
schaft zu seiner Behauptung voraus. 

Recht ist die unausgesetzte Arbeit und zwar nicht bloss der 
Staatsgewalt, sondern des ganzen Volkes. Das ganze Leben des 
Rechts, mit einem Blicke überschaut, vergegenwärtigt uns dasselbe 
Schauspiel rastlosen Ringens und Arbeitens einer ganzen Nation, 
das ihre Thätigkeit auf dem Gebiete der ökonomischen und 
geistigen Produktion gewährt. Jeder Einzelne, der in die Lage 
kommt, sein Recht behaupten zu müssen, übernimmt an dieser 
nationalen Arbeit seinen Anteil, trägt sein Schärflein bei zur Ver- 
wirklichung der Rechtsidee auf Erden." (Kampf ums Recht.) 

Eine Inhaltsanalyse des Stein'schen Werkes, dessen erster 

9* 



132 Wilhelm Koscher. 

Band die Lehre von der vollziehenden Gewalt, ihr Recht und 
ihren Organismus behandelt, während die folgenden mehr den 
Fragen der äusseren und inneren Verwaltung gewidmet sind, bildet 
den grössten Teil des Seh moller ^schen Aufsatzes, so jedoch, dass 
auch hier und dort das kritische Element zu seinem Rechte ge- 
langt. Doch liegt in demjenigen, was Schmoller an Stein tadelnd 
betonen zu müssen glaubt, unzweifelhaft gerade der ausserordent- 
liche Vorzug dieses staatsphilosophischen Denkers: 

„Vor Allem wird er durch seine Systematik charakterisiert. 
Die Systematik will bei ihm nicht etwa bloss eine relativ richtige 
Anordnung des Stoffes sein, sie will die notwendige Entwickelung 
des Lebens selbst darstellen. Noch aus der Schule unserer spekula- 
tiven Philosophie hervorgegangen, mit seiner Bildung in ihr wurzelnd, 
trägt er auch ihre Fesseln. Die Methode der spekulativen Philo- 
sophie scheint ihm das einzig richtige Gewand, in das er die Bruch- 
stücke der Ameisenarbeit unserer Zeit hüllen müsse, um aus ihnen 
ein einheitliches Ganzes zu machen. In seinen Schriften über den 
Socialismus tritt das gegenüber dem historischen Stoffe etwas zurück, 
dagegen stellt sich diese Prätension in seinem System der Staats- 
wissenschaft mit der trunkenen Sicherheit (\) des spekulativen Stand- 
punkts an die Spitze. Es hat dieses Werk gewiss nicht weniger 
Gedankenreichtum und Tiefe der Auffassung^ es bildet auch gerade 
systematisch einen gewissen Fortschritt gegenüber der bisherigen 
Nationalökonomie . . . ." Trotz alledem findet Schmoller doch in 
dem System Steins „jene ethische (irundstimmung, die wie ein er- 
wännendes Feuer das ganze Gebäude durchdringt und erleuchtet." 
Er betont ferner seine „Universalität der Bildung, die so vielen 
seiner heutigen Fachgenossen abgeht. Stein ist ebenso gut Jurist, 
als Nationalökonom, ebenso gut Historiker als Philosoph, ebenso 
Psychologe als Staatsrechtslehrer. Sein umfassender Kopf kennt 
die Grenzpfahle, die sich der Fachmann steckt, gar nicht. Überall 
ist er zu Hause; ja seine ganze Bedeutung beruht ähnlich wie bei 
Montesquieu, an den er vielfach selbst anknüpft, darin, dass er 
nicht Specialist ist. Seine bahnbrechenden Untersuchungen über 
die Bedeutung und Entwickelung der Gesellschaft, seine Darstellung 
des Steuersystems, der (iemeindeorganisation, des Bevölkerungs- 



vesens. seine Exkurse über ver^leichenile R<s hls^t^M hu hlt^ \wul ulv» 
die Geschichte dniehier Lehren >*ervlAnken wu i^Ue in eMt^i \ \\\\s> 
der Universalität seiner Bildung und seines i'»esi\^hukn?ij*es» . 

Abgesehen von der „trunkenen Sicherh«*ir\ die in dor Sioiu' 
sehen Darstellungsweise herrschen s(>\\, ist in der SchiMo\\i:^r'h\ht>u 
Charakteristik viel Zutreffendes. Aber voUkonuurn Kt'cht Im! ^x^ 
wenn er von den heutigen Volkswirten stigt: „l>ci\ mclMou Nutlonnl 
Ökonomen und Staatsgelehrten ist gcgenwÄrti^j die PhiloM^phie \\\\\\ 
die Logik eine terra incognita. Und doch können »ie der allge- 
meinen Begriffe nicht entbehren. Sie brauchen nie, aber hie ver- 
stehen nicht mit ihnen umzugchen; sie spielen ilnnUt, wie kleine 
Kinder mit Bauhölzern, so roh und ungehchickt. Die llegrifle uni- 
geben sie wie ein Zaun, über den nie nicht hinuuM^ehcn uiul der 
daher die ganze übrige Welt ihnen zudeckt , oder der weni^hieini 
ihnen für alles ein falsches Mass giebt . . .** 

Mit grosser Liebe und pietätsvoUcr Sorglidt i^t (hu l'oitiiiilijjd 
Wilhelm Roschers durchgeführt. Wer den beiuhnücM Leip/igei 
Gelehrten aus seinen Schriften kennt, wird dicw? Studie übi*r dai- 
selben in den wesentlichsten Zügen getroffen finden, ^oiuna :>< hl« kt 
Schmoller auf wenigen Seiten eine Skizze id>ej tUf gcüi hji hili« h** 
Entwickelung der Nationalökonomie, ditt In wenigen abii ^i tunken 
Strichen die Haupt Wendungen dieb«rr Kntwi<,k<r]ung maikicit: 

«Wenn wir die nationalökonoiiiiM.h«; Litt^rratur deu ty. ami j>J. 
Jahrhunderts, die von deij Fhy>>i ok raten vora»js>j/ing, 4:inh<;iili' l< *ia> h 
ihrer Methode charakterii>ieren wollen, >.o wai hi*: u U-i »* u^j(«:ii/J im 
pirisch. Selbst ihre rejn theoreti>>'iiefi S^t/^ ww4'n u'^^rn-ilur V«ri 
aligemeineningen aus roh frrlabi>t*rfj brfahrm>gbtltii,<iaÄ' tA^^rj: iht*- \/rd^. 
libcben l^.efaien waieu oft bovi^ri yit'äiir*sT , aU *U*: •n^Tf ri^i »vi^ii üf. 
tischen Nachfoi^^er, we/ hk^, 'jkj wirkli'i*<::n hrUi.hfw^ 4riiiÄU.iinii'.«:*j, 
weC l^beii UTjri Ijtr'j*"- ?»'v ^j vy Mfiffjiu*^!'y;;f /.ujjatJiJi*«*!^ i'th'/^*ji. 
E* ist in dieser gsiTiz^f ; fi,f f r ü jj • < . j r m t.* fj •- j; J .iM*;faiui «5»**: itiitvr 
Ircude aui *J'haiba'.*jii'.t**-»; iti> t>'Ä*ift»iv.i«*;i /Afcft»*?fj,4tii r^tuhuÄnniv;«*«:«' 
leciuiiisciiei- uiic :üiiaw!ri.vjf4il'J«vi»»,«. VAU/A-Mtf^-tu-A. Mi»ii iiaulv« '>»«- 
Ej'kemitiiib it «^»rri.*: ^■^»11****11^ *;</-*. 'ti,', l'/i*< 1'/ .wi*-^^»*:*- «*!• >*** >''*• 

iet2:t die O^UlVSa^ i'jMUi*;ii^it:>\Ur »u \ O i^fUmU 0/.'/i*Oiiii:>* :«»*•. f V/i*' • 



134 Wilhelm Roccher. 

klopädie i^von 1773 an) 149 Bände brauchte, um ihr Wissen an 
den Mann zu bringen." 

„Dem gegenüber war der Rationalismus der Physiokraten 
eine Erlösung, wenn er auch mit Spielereien und Fantastereien be- 
gann oder verquickt war. Und auf ihren Schultern konnte sich 
rasch und glänzend die englisch-schottische Denkerschule er- 
heben, auf deren Höhepunkt Adam Smith steht Ein glänzender 
Beobachter des menschlichen Seelenlebens und der einfachsten ge- 
wöhnlichen wirtschaftlichen Vorgänge seiner Zeit, daneben erfüllt 
von den naturwissenschaftlichen und naturrechtlichen Anschauungen 
seiner Epoche, machte er einfache Schlussfolgerungen aus der all- 
gemeinen einheitlichen Menschennatur, die das 18. Jahrhundert ge- 
funden zu haben glaubte; wenige klare Kausalverhältnisse verstand 
er beherrschend an die Spitze zu stellen und so weite Gebiete 
ursächlich aufzustellen. Mit seinem Rationalismus wies er den prak- 
tischen Bestrebungen des Jahrhunderts und einer langen Reihe theo- 
retischer Nachfolger die Wege. Während er selbst noch Empiris- 
mus und Rationalismus in abgeklärter Weise verband, so verflüch- 
tigte sich das empirische Element schon bei Ricardo mehr und 
mehr, und bei den späteren Nationalökonomen wird der Rationa- 
lismus auf die Spitze getrieben. Die Zunahme teils von Scharf- 
sinn, teils an spekulierendem Gedankenreichtum konnte diese Epi- 
gonen (1) nicht davor bewahren, immer mehr den Boden der Wirk- 
lichkeit unter den Füssen zu verlieren , immer mehr zu gänzlich 
anschauungs- und farblosen, spintisierenden, abstrakten, einteilenden, 
definierenden Stubengelehrten, zu phantastischen Socialisten, zu kal- 
kulierenden Mathematikern, zu doktrinären Thoretikern naturrecht- 
licher Robinsonaden zu werden. Es trat die geistige Schwindsucht (1) 
eines von der Empirie gänzlich (?) losgelösten Rationalismus ein." 

„Dem gegenüber indess konnte nur eines helfen: die ener- 
gische Rückwendung zur empirischen Wirklichkeit. Auf vielen 
Wegen erfolgte sie. Die Statistik hatte längst der abstrakten 
Theorie in der quantitativen Analyse der Bevölkerung, des Handels, 
der Gewerbe ein Gegengewicht geboten. Die alte deutsche Kamera- 
listik mit ihren grossen technischen, verwaltungsrechtlichen und 
sonstigen Kenntnissen hatte sich von der Adam Smith'schen eleganten 



Wilhelm Röscher. 135 

Modetheorie nie ganz beseitigen lassen. Der alte, steifleinene, aber 
breit unterrichtete, kluge und massvolle Rau stellt die Ehe zwischen 
der Kameralistik und dem englischen national-ökonomischen Libe- 
ralismus dar. Politische Beamte und Staatsmänner wie Galiani, 
Necker, Busch, Struensee, J. G. Hoffmann hatten in dem 
Masse Wahreres über wirtschaftliches Leben zu sagen gewusst, als 
sie glücklicher wie Turgot und Ricardo Empirie und Rationalis- 
mus verbanden. Friedrich List hatte mit genialem Blick und mit 
der Leidenschaft eines grossen Politikers die theoretischen Stütz- 
punkte des alten Systems über den Haufen geworfen, ähnlich wie 
seine Landsleute Hegel und Schelling das alte individualistische 
Naturrecht durch eine tiefere und edlere Staatsauffassung wissen- 
schaftlich bei Seite schoben. Aber all das waren teils mehr prak- 
tische, teils ebenfalls rationalistisch-spekulative Gegenströmungen." 

„Auf dem Boden der deutschen Philologie und der deutschen 
Geschichtswissenschaft musste die eigentliche wissenschaftliche, die 
gelehrte Richtung erwachsen, die in die Adern des schwindsüchtigen 
Körpers der Nationalökonomie wieder dauernd Blut und Leben 
brachte. Es handelte sich darum, die rationalistische Verflüchtigung 
wieder zu heilen durch eine starke Dosis empirisch-historischer 
Weltkenntnis; es handelte sich darum, auf ein Gebiet menschlichen 
Wissens, das bisher der Tummelplatz scholastischer Einfälle und 
der politischen Parteiströmungen, die Bühne für Dilettanten und 
Journalisten war, die bewährten Methoden strenger, gelehrter Fach- 
arbeit zu übertragen/' 

„Manche haben dabei mitgewirkt, nicht bloss in Deutschland, 
sondern auch ausserhalb. Eine Reihe bedeutsamer Mitstreiter sind 
dem Haupt Vertreter in seinem Vaterlande fast gleichzeitig erwachsen, 
so vor allem List, Hildebrand und Knies. Aber der eigentliche 
Begründer der historischen Schule der deutschen Nationalökonomie 
bleibt: Wilhelm Röscher. List war in seinen Gedanken viel 
genialer, kühner, bahnbrechender, aber er war kein Mann der eigent- 
lichen Wissenschaft, der gelehrten Schule; Hildebrand war ein ideen- 
reicher Politiker von klassisch-historischer Bildung, er regte alles 
Mögliche, Praktische und Wissenschaftliche an, aber er zersplitterte 
sich. Knies wies die Wissenschaft auf den historischen Weg, aber 



136 Wilhelm Röscher. 

arbeitete dann selbst auf anderen Gebieten. Wilhelm Röscher 
hat als Philologe und Historiker begonnen, er hat ein einfaches, 
schlichtes und stilles, stets nur seiner Wissenschaft und seiner Lehr- 
thätigkeit gewidmetes Leben an die eine Aufgabe gesetzt, die ab- 
strakte Nationalökonomie auf den historischen Boden zu versetzen, 
die kameralistischen Theorien Raus, die naturrechtlichen der Eng- 
länder in historische zu verwandeln. Und dieses Ziel hat er er- 
reicht." 

Diese letztere Bemerkung, soweit sie den Eklekticismus 
Roschers betrifft, ist richtig. Aber die vorstehende historische 
Skizze der Entwickelungsgeschichte der nationalökonomischen Theo- 
rien während der letzten beiden Jahrhunderte ist aus dem Grunde 
etwas schief, weil sie wesentlich aus dem Gesichtspunkte der heu- 
tigen sogen, historischen Strömung entworfen ist. Das Bild dieser 
Eiitwickelung ist so ausgefallen, wie es sich im Kopfe eines so ent- 
schiedenen Gegners der liberalen Volkswirtschaft malen musste. 
Es erinnert vielfach an die summarische Art und Weise, wie ortho- 
doxe und pietistische Theologen den protestantischen Rationalismus 
der Aufklärungszeit zu beurteilen pflegen. Es giebt nichts Tadelns- 
wertes an einer geistigen Richtung, was nicht dem Rationalismus 
nachgesagt wird: Nüchternheit, Flachheit, Mangel an spekulativer und 
aesthetischer 'l'iefe, Werkgerechtigkeit, Tugendseligkeit u. s. w. Und 
weit über die eigentliche theologische Litteratur hinaus reicht heute 
diese Feindseligkeit gegen den Rationalismus. Bis in die historischen 
Schulbücher und Zeitungsfeuilletons herab geht das Bemühen, der 
Aufklärung des i8 Jahrhunderts eins anzuhängen und dieses alles 
von Leuten, welche den Rationalismus weder begriftlich erfasst, 
noch irgend einen seiner namhaften X'ertreter je kennen gelernt 
haben. Aber wie bequem ist ein solches Verfahren! Und welche 
Undankbarkeit liegt in diesem Gebahren: man denke sich die er- 
leuchtende Wirkung der sogen. Aufklärer aus der deutschen Geistes- 
geschichte hinweg und versetze sich nur in das 17. Jahrhundert, 
mit seinen theologischen Zänkereien, Hexenprozessen und dem 
Treiben der deutschon Höfe ! Aber man kann doch, indem man 
jene Aufklärungsperiode eine „flache" nennt — und doch waren 
keine Geringern als Lessing und Immanuel Kant die Repräsentanten 



Wilhelm Roscher. 137 

und Vollender dieser Aufklärungszeit -- den Eindruck erwecken, 
als ob man selbst so „abgrundtief" in seinen Anschauungen und 
Ideen ist I Und wenn man dem „platten" Rationalismus einen rechten 
Gegensatz gegenüberstellen will, so nennt man Schelling und Hegel 
und weiss sehr wohl, dass man selbst niemals auch nur eine Schrift 
von diesen beiden Denkern gelesen hat und sie eigentlich nur so vom 
Hörensagen — allenfalls aus Litteraturgeschichten — kennt 1 1 Aber 
wenn man nur zur rechten Litteraturgeschichte greifen wollte. Aus 
den Büchern wie die von Wolfgang Menzel, Vilmar und Julian 
Schmidt wird man niemals ein objektives, höchstens ein verzerrtes 
Bild von der grossen Ideenbewegung des l8. Jahrhunderts erlangen. 
Und doch besitzen wir in Deutschland ein litterarhistorisches Werk, 
wie es das ganze Ausland nicht hat: ideenreich und klar, gründlich 
und doch geschmackvoll geschrieben, historisch gerecht und doch 
durchaus modern gehalten. Wir meinen die „Litteraturgeschichte des 
18. Jahrhunderts" von Hermann Hettner. Wer nicht Zeit, Lust 
imd Verständnis genug hat, die Repräsentanten des Rationalismus 
selbst zu lesen, der greife zu Hettner, der zu dem sonst trefflichen, 
aber nach Stil und Haltung etwas veralteten Buche von Bü sc hing 
über den Rationalismus die beste Ergänzung darbietet. — Wie sehr 
Schmoller sich auch bemüht, historische Gerechtigkeit walten zu 
lassen, so kann er doch Männern wie Ricardo und Malthus, Say 
und Bastiat nicht völlig gerecht werden. Aber Schmoller meinte 
es gut : er wollte seinem Helden ein Piedestal bereiten, auf welchem 
sich der „Begründer der historischen Nationalökonomie" um so 
stattlicher machen würde. Fraglich erscheint es nur, ob Wilhelm 
Roscher geneigt sein wird, auf dies Piedestal hinaufzusteigen. Ich 
befürchte, dass der berühmte Leipziger (belehrte es überhaupt ab- 
lehnen würde, in einen solchen historischen Zusammenhang gebracht 
zu werden und dass, wenn er einmal sich selbst einen geschichtlichen 
Platz in der Entwickelungsreihe der grossen volkswirtschaftlichen 
Theoretiker anweisen müsste, er an jenem historischen Piedestal gar 
wesentliche Änderungen anbringen würde. 

Dagegen ist die Charakteristik Roschers selbst, wie schon 
oben bemerkt. Schmoller gut gelungen: ein mit liebevoller Sorgfalt 
gezeichnetes Bild, welches trotz der weiten wissenschaftlichen Per- 






138 Wilhelm Röscher. 

spektiven, die es bietet, doch der lebensvollen Farben nicht ent- 
behrt. Man sieht: dieser Essay ist mit dem Herzen geschrieben 
und wenn das Bild des Mannes, den er so hoch stellte, selbst' 
verständlich auch seine Schatten hat, so überwiegen doch die Licht- 
seiten derart, dass die Veranlassung, welche diese Studie hen-or- 
gerufen hat, der 70. Geburtstag des greisen Forschers, so mancher- 
lei erklärt. 

Röscher gehört nicht zu den allzu produktiven ökonomischen 
Schriftstellern der Gegenwart; doch ist die Reihe seiner Werke 
immerhin eine recht stattliche. Ausser seiner klassischen Erstlingsschrift 
über das Leben, das Werk und das Zeitalter des Thukydides (1842) 
und den „Grundriss zu Vorlesungen über Staatswirtschaft" (1843) ^^* 
er eine Anzahl wertvoller Monographien über die Entwickelung des 
Socialismus und Kommunismus (Zeitschrift f. Geschichtswissenschaft 
Bd. III und IV), staatsrechtliche Studien über die Entwickelung der 
Verfassungen im „Umrisse zur Naturlehre der Staatsformen" (das. 
Bd. VII), über Kolonien, Auswanderung und Kolonialpolitik (in 
Rau und Hanssens Archiv, Bd. VI und VII), „Über Kornhandel 
und Teuerungspolitik" (1852), über Politik und Statistik der Acker- 
bausysteme (ebend. Bd VIII und IX) verfasst. Röscher hat später 
diese Abhandlungen zum Teil in seine „Ansichten der Volkswirt- 
schaft aus dem geschichtlichen Standpunkte" (3. Aufl. 1878) auf- 
genommen. Ein durch Fülle des Stoffes und Objektivität der Dar- 
stellung sehr wertvolles Werk ist seine „Geschichte der National- 
ökonomie in Deutschland" (1874), welche einen Teil der grossen, von 
der Münchener historischen Kommission der Akademie der Wissen- 
schaften herausgegebenen Sammlung historischer Darstellungen der 
Wissenschaften in Deutschland bildet. Auch diesem bedeutsamen 
litterar-historischen Werke waren verschiedene monographische Vor- 
arbeiten vorangegangen, wie die ausgezeichnete Studie zur Geschichte 
der englischen Volkswirtschaft im 16. und 17. Jahrhundert (Abh. 
der K. Sachs. Gesellsch. der Wissensch. Bd. III, 1854). Schon aus 
dem Titel dieser letztgenannten Studie ist ersichtlich, dass Roschers 
grosses historisches Werk sich nicht auf die Geschichte der öko- 
nomischen Theorien in Deutschland beschränkt, sondern auch die 
wesentlichsten Systeme des Auslands berücksichtigt. Endlich muss 



Wilhelm Koscher. 139 

noch das eigentliche theoretische Haupt- und Lebenswerk Roschers, 
das vierbändige „System der Volkswirtschaft" (Stuttg. 1854 — 
1886), welches in vielen Auflagen erschien und grosse Verbreitung 
gefunden hat, erwähnt werden. 

Der geistvolle und scharfblickende Wilhelm Scherer hat 
einmal über Röscher ein zutreffendes Wort ausgesprochen, welches 
den Mann besser charakterisiert als lange Abhandlungen. Scherer 
meint, Röscher habe für Deutschland die gesunden Traditionen der 
(iöttinger kulturhistorischen Schule gerettet, die er, verbunden mit 
moderner philologischer Bildung wieder zu Ehren gebracht habe. 
Was dieses heisst, wird dann ermessen werden können, wenn man 
sich des grossen ( Gegensatzes erinnert zwischen der alten kon- 
servativen historischen Rechtsschule von Hugo, Savigny und Nie- 
buhr mit ihrer Lehre von der „organischen" Entwickelung mensch- 
licher Verhältnisse und der mehr pragmatischen und liberalen, die 
individuelle Initiative betonenden Geschichtsauffassung, wie sie die 
Eigentümlichkeit der Göttinger Schule war. Männer wie Justus 
Moser, Pütter, Schlözer, Spittler, Heeren, Meiners und in weiterer 
Folge Schlosser, Dahlmann, Gervinus, die beiden Ritter und selbst 
Böckh und Friedrich von Raumer — wenn au( h nicht alle weder 
Historiker von Fach noch in Göttingen waren, — bilden den 
re(.hten Gegensat/, zu der später so mächtig gewordenen und bis 
auf den heutigen 'i'ag fortwirkenden konservativen Schule von 
Historikern und Juristen. 

In jene Reihe gehört auch Wilhelm Röscher, dessen breit an- 
gelegte Bildung, dessen realistischer Sinn für die wirtschaftliche 
Wirklichkeit, dessen einer gewissen philosophischen Perspektive nicht 
entl)ehrender J^lick für die Entwickelungsprozesse der Staaten und 
Völker, sowie dessen stetes Bemühen, einerseits die Naturgesetze 
aller volkswirtschaftlichen Entwickelung zu erforschen, andererseits 
Fragen des staatlichen Lebens durch Aufdeckung der wirtschaft- 
lichen Verhältnisse gewissermassen konkret zu machen, hier 'zu be- 
tonen sind: Alles dieses musste ihn vor jeder Gemeinschaft mit 
den eigentlichen Vertretern der reaktionär- kirchlichen Geschichts- 
und Rechtsauffassung, die einst in Julius Stahl ihr Haupt und ihren 
theokratischen Führer hatte, bewahren. 



140 Wilhelm Roschcr. 

Hieraus ergiebt sich Roschers ganz bestimmte Stellung inner- 
halb der wirtschaftlichen Systeme und Richtungen der Gegenwart. 
Wie er in seinen historischen Darstellungen ein Bewunderer der 
grossen englischen Ökonomen ist, welche die liberale Wirtschafts- 
lehre überhaupt begründet haben, so ist er auch selbst, wo er mit 
seiner eignen Meinung hervortritt, den liberalen Staats- und Ge- 
sellschaftsanschauungen entschieden zugethan. In dieser Beziehung 
sympathisiert er vollständig mit seinem von ihm hochgeschätzten 
Lehrer, dem Heidelberger Volkswirtschaftsforscher Karl Heinrich 
Ran, dessen durch eine Fülle statistischer Daten ausgezeichnetes „Lehr- 
buch der politischen Ökonomie" einen entschieden liberalen Cha- 
rakter trägt. Allein Rosrher fügt zu diesem Grundzuge noch ein 
bedeutsames Moment hinzu: die Entwickelungsgeschichtli che 
Begründung der einzelnen nationalükonomischen Lehren. 
Schmollcr markiert diese Seite in Roschers Wirksamkeit sehr treffend 
in folgender Weise : „Roschers hauptsächliches Interesse gilt Fragen, 
die sich weder die alte Kameralistik, noch die Engländer vorgelegt. 
Letztere hatten in der Hauj>tsache nur gefragt: was sind die Ur- 
sachen der einfachsten Wirtschafts Vorgänge, die sich überall 
wiederholen imd was hat tlas vernünftige moderne Individuum und 
der klug eingerichtete Staat zu thun, um diese X'orgänge so normal 
als möglich sich abspielen zu lassen: Was die älteren Xational- 
okonomen in dieser Beziehung gelehrt , trug Röscher ähnlich vor 
wie Kau; Ro>»'her wollte nun aber das tür die Gegenwart (je- 
bilhgie einfügen in einen grössern historischen Zusammenhang. 
Kr wollte /. H. nicht die heutige Hinkommen Verteilung dar- 
stellen, sondern erklären, wie sie entstanden; nicht bloss die 
(iründe aufzählen, die den Lohn heute bestimmen, sondern das 
heutige Lohn\ erhältnis als ein Cilied in der socialen Kntwicke- 
lung aufdecken; nicht prüfen, ob Malthus mit seiner Bevölkerimgs- 
theorie heute recht habe, sondern die heutigen Bevölkerungs- 
pro''»leme in die (ieschivhte der r>evölkerungsbewegun^ 
überhaupt einreihen." 

Roschers Kicjenart tritt nun natiirlich in seiner F.ii^enx hafi als 
Cieschichtsschreiber der Volkswirtschaft in seinem oben er\vähnten 
Werke um so prägnanter her\or. Kr teilt sein Werk in drei un- 



Wilhelm Koscher. 141 

gleiche Teile, von denen der erste, das „theologisch-humanistische" 
Zeitalter bis 1648, der zweite, die „polizeilich - kameralistische" 
Periode von 1650 — 1780, der dritte, das „wissenschaftliche" Zeit- 
alter von 1780 bis zur Gegenwart reicht. Obwohl hier wesentlich 
wirtschaftliche Litteraturgeschichte geboten wird (wobei das biblio- 
graphische Moment eine sehr weite Berücksichtigung findet), so 
sind doch auch die wirtschaftlichen Zustände nicht minder als 
auch der Zusammenhang der Wirtschaftstheorien mit den poli- 
tischen Theorien innerhalb der genannten Zeitabschnitte eingehend 
berücksichtigt. Roschers Darstellung geht bis zur Begründung des 
Zollvereins, während die neuere Entwickelung sowie der Socialismus 
und die heutige staatssocialistische Bewegung nur gestreift werden. 
Offenbar erscheinen unserem Historiker diese neuesten Entwickelungs- 
stadien noch nicht spruchreif, um schon einer geschichtlichen Be- 
handlung unterzogen zu werden. 

Schmoller stellt mit Roschers monumentalem Werke Düh rings 
zwar geistreiche, aber paradoxe und höchst subjektiv gehaltene 
Parteischrift: „Kritische Geschichte der Nationalökonomie und des 
Socialismus" in Parallele. Unseres Erachtens wird hierdurch Herrn 
Dühring zu viel Ehre angethan, wie andererseits Röscher doch Un- 
recht geschieht, wenn Schmoller den Vergleich beider so ausdrückt: 
„Dühring hat als Philosoph, Röscher als Philologe die Geschichte 
der Nationalökonomie geschrieben." Wenn Dühring wirklich „als 
leidenschaftlicher, überreizter Pamphletist gearbeitet hat" und er 
ihm durch „blinden Hass verwildert" erscheint, wenn er hingegen 
Röscher einen milden, „gerecht abwägenden Gelehrten" nennt, der 
„für sein Specialgebiet unendlich besser vorbereitet" ist: dann ver- 
stehen wir in der That nicht, wie Schmoller diese beiden toto coelo 
verschiedenen Männer miteinander in Parallele stellen kann. Dühring 
ist überhaupt kein Historiker, und es wäre ebenso verkehrt, wollte 
man seine im seichten Feuilletonstil geschriebene, und wissenschaft- 
lich gänzlich unzulängliche „Kritische (beschichte der Philosophie" 
etwa mit den betreffenden historischen Werken Zellers oder Kuno 
Fischers vergleichen. 

Dieses Verfahren ist um so unbegreiflicher, als Schmoller in 
seiner trefflichen Abhandlung sonst bemüht ist, Roschers Eigenart 



142 



Wilhelm Koscher. 



nur von der hosten Seite zu zeigen, so z. B. wenn er die von ihm 
zur (ieltung gebrachte deskriptive und komparative Methode 
volkswirtschaftlicher Darstellung gegen die hiergegen vorgebrachten 
Kinwände verteidigt, oder wenn er die aus Roschers Mittelstellung 
zwischen der altern dogmatischen Richtung und der neuem historisch- 
ethischen Strömung notwendig sich ergebende Schwankung des- 
selben in bestimmten positiven Fragen durch den Hinweis zu 
mildem bemiiht ist, dass dieses die natürliche Folge davon sei, dass 
er „zwischen zwei wissenschaftlichen Epochen mitten inne steht", 
indem er „ebensosehr dogmatischer Xationalökonom bleiben als 
ilie Satze der alten Schule historisch vertiefen wollte." Ob aber 
Wilhelm Röscher mit dieser Stellung, die ihm hier angewiesen ist, 
völlig einverstanden sein wird? 

i>tlenbar befand sich Schmoller gegenüber seiner Aufgabe in 
einer peinlichen Zwangslage. Kr hatte den Wunsch, seinen Lehrer 
und Jubiläumhelden so pietätsvoll wie möglich zu behandeln; und 
doch konnte er von seinem eignen wirtschaftlichen Standpunkte 
aus nicht Alles bewundern, was aus der Feder Roschers stammt 
Kr ist ihm \iel .*u viel noch Anhänger der alten englischen Schule 
und steht vier neuern staatssocialistischen Strömung \iel zu kühl 
j:ei:en*aber. So wurzle vier l on dieser Abh.mdlung ein schwankender, 
\-.ci Mch ^,^;d .v. hohem 1 obe .lufschw it^^::. bald in einen leisen, trotz 
/.r.or.ei \ o:h;;".l*.inj:o:^. vlvvh tV.hVxire:^. l.uie'. j.usklmirt. 

\ ;c'. !io:o: v.nvi ;::**v..;ns:e:u*r kO".*.:o >:vh Schmolier zwei andern 
\l.u\no:',*. 4,Cj;v':v,;1v: 'vwoccv.. \\o\ho ::: vier Kr.t^xickelunv: der Volks- 

K ,; '/, K r, ; N ;• - V : V *. > v : : S v^ '•". ,\ ' r . c H : e r w .ir cer Berliner Pro- 

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Wilhelm Koscher. 14S 

kann. Erst Knies nimmt bewusst und methodisch den Kampf gegen 
die Herrschaft der englischen Wirtschafts theorie auf Dieses geschah 
in seinem vor 40 Jahren erschienenen Werke: „Die politische 
Ökonomie vom geschichtlichen Standpunkte".*) Er hat seitdem 
einige andere Arbeiten von grundlegender Bedeutung, wie die über 
Cield und Kredit veröffentlicht, in denen er eine weitere Ausfuhrung 
der Prinzipien seiner ersten Schrifl giebt. 

Knies ist weder so gewandt und vielseitig wie Röscher noch 
so geistreich wie Hildebrand ; seine Schreibweise ist unangenehm, 
schwerfallig und unbeholfen — was wohl auch ein Hauptgrund 
dafür ist, dass sein Hauptwerk erst nach fast 30 Jahren zu einer 
2. Auflage gelangt ist: — aber er ist unleugbar ein grösserer 
Systematiker als die beiden genannten. Seine Begriffsbestinmiungen 
sind scharf, tief und vielfach erschöpfend; seine psychologischen 
und historischen Gesichtspunkte zeugen von einer hohen wissen- 
schaftlichen Selbständigkeit — so z. B. seine Betonung des Gegen- 
satzes von Natur- und socialen Erscheinungen, ein Gegen- 
satz, den er so formuliert, dass die Naturerscheinungen sich stets 
wiederholen, während die socialen Phänomene eine Entwickelmig 
zeigen sollen, welche die Wiederholung des Gleichen ausschliesst. 
Hiergegen macht nun freilich Schmoller mit Recht geltend, dass 
Knies die Frage doch nicht prinzipiell zum Abschluss gebracht hat. 
Die Natur zeigt in allen ihren Formen erst recht eine Fortentwicke- 
lung, was aus den kosmologischen und geologischen Epochen 
einleuchtet, und dass die Frage der Evolution hier sich so gestaltet, 
dass, wenn gerade infolge der strengsten Gesetzmässigkeit die Ur- 
sachen sich ändern, auch die Erscheinungen andere werden. Knies 
scheint so etwas anzunehmen, als ob für das Gebiet der anthro- 
pologischen und socialen Erscheinungen nicht das Gesetz der 
Kausalität, sondern das der Analogie herrschend sei. Aber auch 
das „personale" Element des historischen Geschehens ist dem 
Kausalgesetze nicht minder unten\'orfen als die äussere Natur. Ein 
Irrtum, der dadurch auf andern Gebieten verhängnisvoll geworden 
ist, dass er dem unkontrolierbaren Mysticismus heutzutage Thür 



'') Braunschweig 1853; 2. Aufl. 1883. 




144 Wilhelm Koscher. 

und 'l'hor geöffnet und die wissenschaftliche Forschung bedenklich 
zur(lrkzul)ringen droht. 

Im übrigen giebt Knies in seinem grundlegenden Werke nirgends 
abschliessende Resultate, sondern nur Untersuchungen von mehr 
oder minder zwar nicht relativem, aber doch wesentlich provisori- 
schem Gepräge, d. h. er musste, da er seine Wissenschaft in ihren 
theoretischen Prinzipien gewissermassen neu aufzubauen hatte, sich 
vielfach mit blossen Begriffsformulierungen und neuen Definitionen 
begnügen ; hier und dort hat er auch die Grenzen gegen verwandte 
Gebiete z. H. die Jurisprudenz und die Geschichte abzustecken, 
und dergleichen versucht. Im grossen und ganzen hat man das 
Gefühl, dass Karl Knies eine zu ruhige, vorsichtige, skeptische, zu 
wenig kühne Natur ist, dass er — zu wenig jene schöpferische 
Kraft besitzt, um als wirklicher Reformator seiner Wissenschaft 
gelten /u können ; dass er aber auch zu ehrlich und zu gewissen- 
haft ist, um den Hoden der Wirklichkeit zu Gunsten nebelhafter 
Konstruktionen zu verlassen. 

Kin ganz anders gearteter Mann ist nun derjenige Schriftsteller, 
dem sich Schmoller in dem folgenden Essay zuwendet und welchem 
er auch eine eingehendere Charakteristik gewidmet hat: Albert 
Schaffle. Oioser k. k. Staatsminister a. D. ist einigermassen schwer 
:\\ konn/eichnen. Fr ist weder ausschliesslich Theoretiker und 
.ik;ulonuM hör Violohrter. noch wesentlich Publizist und Agitator, 
UiH'h auch wai seine >uiat<manni<che Laut"bahn andauernd genug, 
um ihn der Kategorie der pr.iktischen Politiker zuzurechnen. Aber 
0» i>t von aV.edom etwas oder vielmehr alles zugleich, und dieses 
Noi^oiht ihm via-i Kigev.artige i::u: Charakteristische unter allen heutigen 
V.- V*. nähere*/. w^Vk^w .r:^^ har.*iv-ho!i SchriitstelleiT. IVv.tschLinds. 

Sv hat^'^.c wa: truhcr •.:! erster l iv.-.e rad:ka*er Demokrat. Als 
Jv.'.g/.v.g vv^r. i- Jahre- \\ar or 1S4S aus s^ir.or s^hwabiMhen Heimat 
gv^ *t. u:v. ar. vier Kui. <.'**-.:: Revoluv.o:: sivh :u beteiligen. Später 
>*,.r.ii* cT M-.tTtvlakteii: .:-. vieiv. ..SchvkaVis.her. Merkur*, der dmuus 
tu: vias siitsi.'kra: <vh-gTO->v:-jv.t>v'-^e Ide.il "va:r.:t":e. i^»':-wohl er onher 
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Wilhelm Röscher. 145 

einen solchen Namen machte, dass er, noch nicht 30 Jahre alt, die 
ordentliche Professur für Nationalökonomie an der Tübinger Uni- 
versität erhielt. In den Jahren 1862-65 gehörte er der württem- 
bergischen Abgeordnetenkammer an. Hier machte sich Schaffte 
besonders durch die leidenschaftliche Art bemerkbar, mit der er 
im Sinne der österreichischen Politik den deutsch-französischen 
Handelsvertrag bekämpfte. Seinem hierbei hervortretenden Preussen- 
hass gab er selbst noch 1868 im Zollparlament, in welchem er 
neben Moritz Mohl das grossdeutsche Element vertrat, unverhülltesten 
Ausdruck. Die österreichische Regierung wusste diese treue Hin- 
gebung zu belohnen, indem sie Schäffle als ordentlichen Professor 
an die Universität Wien berief, doch sollte er diesem seinem Lehr- 
beruf nicht lange obliegen. Denn schon im Frühjahr 1870 entschloss 
er sich, das Anerbieten des Grafen Hohenwart anzunehmen und in 
das konservative Föderationsministerium, dessen Tendenz wesentlich 
gegen das unter Preussens Führung begonnene deutsche Einheits- 
werk gerichtet war, einzutreten. So war der Preussenhass in Schäffle 
doch stärker gewesen als seine demokratische Gesinnung. Er trug 
kein Bedenken, Mitglied des aristokratisch-konservativ-föderalistischen 
Ministeriums zu werden, und so seine radikal-demokratische (Be- 
sinnung zu verleugnen, nur um seiner Antipathie gegen Preussen 
und das deutsche Einheitswerk Ausdruck zu geben. Ob neben 
Herrn Hohenwart, Jireczeck u. s. w. die Wirksamkeit des neuen 
Handelsministers „Schäffleczeck" eine so besonders grosse gewesen 
sei, kann bezweifelt werden. Er zog sich auch sehr bald zurück 
und ging wieder nach seiner schwäbischen Heimat, wo er seitdem 
zu Stuttgart eine umfangreiche litterarische und publizistische Thätig- 
keit entfaltet. Er ist jetzt der Herausgeber der Tübinger Zeitschrift für 
Staatswissenschaften und einer der Hauptmitarbeiter der Münchner 
Allg. Zeitung. Dieses beweist schon, dass Schäffle seinen frühern 
grossdeutsch-radikalen Standpunkt verlassen und sich mit der 
neuen Ordnung der Dinge in Deutschland ganz ausgesöhnt hat. 
Thatsächlich hatte er sich auch zeitweilig dem Fürsten Bismarck 
genähert, seitdem dieser seine neue staatssocialistische Wirtschafts- 
politik inaugurierte. Dagegen hat sich Schäffle der aktiven Po- 
litik als Agitator und Abgeordneter streng enthalten. Er ist jetzt aus- 

10 



146 



Wilhelm Roseber. 



schliesslich volkswirtschaftlicher Schriftsteller und Publizist; nur dieser 
Seite seiner Thätigkeit wollen wir nunmehr einige Bemerkungen 
widmen. 

Schaff les Schriften lassen sich in zwei besondere Arten einteilen 
und zwar in solche, welche rein theoretischen Inhalts, und in solche, 
welche mehr publizistischen Charakters, wirtschaftspolitischen Tages- 
fragen oder Zeitfragen überhaupt gewidmet sind. Aber beide 
Gattimgen von Arbeiten haben doch vielfache Berührungspunkte 
miteinander. Schäffle ist nicht so ausschliesshch reiner Theoretiker, 
dass nicht auch in seinen grundlegenden Werken überall nicht nur 
die stete Rücksichtnahme auf die praktische Politik vorherrschen 
müsste, sondern er ist auch hier viel zu sehr Pubhzist, Journalist 
und Agitator, als dass er sich immer nur auf der reinen Höhe ob- 
jektiver Betrachtung halten sollte. Vielmehr lässt er überall ein 
-tark polemisches Element hervortreten. Und wenn hierdurch Ton 
ind Stil seiner Werke allerdings an Objektivität, Ruhe und Gleich- 
rr-a-j-jigkeit einbüssen, so gewinnen sie dagegen hierdurch auch an 
L-ebr^ftigkeit des Colorits. 

Der leidenschaftliche Parteimann ist also im Theoretiker nicht 
A'j*riZ untergegangen. Andererseits zeigt Schäffle in seinen wesent- 
.:«.h publizistischen Schlitten eine, wie es scheint, unbezwingliche 
S-zifir.'^ z'iT d'^ktrinären Unfehlbarkeit. Lange theoretische Exkurse 
- 'i-rlrrr- -ii'.'r. oft in alle jene nur für einen Ta^reszweck bestimmte 
\z':'ä,t'. CT wie er <ie z. B. in unzähliger Menge in der ..Münchener 
Aiii- Zc/. ::.z*' vcfOnentlich: hat und wie sie jetzt in den beiden 
h-i.-. :rrr. "?<:::. er ..(jc>ammel:en Aufs:it/e'* vorliegen 

A'o-cr r.:« r.: bloss in ganzen Serien >on Zeitungs^irtikeln. sondern 
:,.<.:. r* c:r_cr iros-^en An^.khl von Abhandlungen, femer in einer 
."--.- '\-,i -rr.fii-ZTe:«: herer. luld kleinerer Monoguiphieea greift 
^. -Mr- "jc.: crTicri vier.el Uhr hundert :n d:e l>i>k*^s:on der Win- 
^.'..:.r.'.zz'i^-zr- it: Ze:t e:n. Nicht inrr.er hAlv:: seine Ansichten 
.^.»: . .>.".:r^ i t:\Liicr-. di er v::; vornherein. :ns*:^e>oncere b^ild nach 

■>• — C......X** >.s.ii zcz ><}\. ,■.,:>!:>*. ne n in?- 

Aün^Ahhvh -evioc^. :unM seitdem er 



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Wilhelm Roschcr. 147 

von dem frühem radikalern, zu einem weit gemässigtem Staats- 
socialismus übergegangen und sich so denjenigen Wegen mehr ge- 
nähert hat, innerhalb deren sich die Anschauungen der deutschen 
Reichsregierung seit zwanzig Jahren bewegen, ist seine Stimme zu- 
mal auf konkreten Gebieten nicht ohne Einiluss geblieben. Wir 
fassen alle hierher gehörigen grössern Schriften Schäflfles zusammen : 
„Kapitalismus und Socialismus mit besonderer Rücksicht auf Ge- 
schäfts- und Vermögensformen. Vorträge zur Versöhnung der Gegen- 
sätze von Lohnarbeit und Kapital" (1870). Diese Schrift bildete 
später den Bd. III seines unten erwähnten Hauptwerkes. „Die 
(Quintessenz des Socialismus" (1875. Die l. Aufl. erschien anonym, 
dann in vielen Auflagen); „Die Grundsätze der Steuerpolitik"; „Für 
internationale Doppelwährung" ; „Die Inkorporation des Hypothekar- 
kredits"; „Der korporative Hilfskassenzwang" ; „Die Aussichtslosig- 
keit der Socialdemokratie" u. s. w. 

Schäffle hat in der Zeit von 1870 bis 1885, also vom deutsch- 
französischen Kriege und der Begründung des Deutschen Reiches 
bis zur Inaugurierung der Bismarck sehen Socialgesetzgebung gerade 
in seiner Stellung zu den Prinzipien der Socialdemokratie so mancher- 
lei Wandlungen durchgemacht. Noch in der 2. Aufl. der „Quin- 
tessenz" (1877) ist er der Überzeugung, dass „an der gründlichen 
Besserung der volkswirtschaftlichen Organisation die be- 
sitzenden und gebildeten Klassen ebenso sehr interessiert sind als 
die Proletarier; denn bei der steigenden, in der Wahl der Mittel 
*mmer rücksichtslosem Leidenschaftlichkeit der jetzigen gesell- 
schaftlichen Erwerbskämpfe und bei der Unberechenbarkeit der 
Konjunkturen, der Krisen, der Speculationsabenteuer, die ganze 
Klassen erfassen, der öff"entlichen und der privaten Schuldner, der 
Umwälzungen in Technik und Verkehr — seien die besitzenden 
Familien nicht sicher, ob sie nicht in der nächsten oder über- 
nächsten Generation selbst in das Proletariat herabsinken werden. 
Sie gerade seien im Eigentum und im Familienleben durch die 
bestehenden Zustände bedroht. Deshalb sollte der Socialismus, 
welcher auch dem gesellschaftlichen Stoffwechselprocesse der Pro- 
duktion und des Umlaufes der Güter einen festen Kern anstaltlicher 
Organisation geben will, von allen Seiten einer ruhigen Erwägung 

10* 



148 



Wilhelm Röscher. 



unter/.ogen werden. ... An die Möglichkeit der plötzlichen Ver- 
wirklichung des Socialismus denken, so scheint ihm, auch seine 
Führer nicht. Eine solche Improvisation wäre wohl ein Verbrechen 
am Socialismus selbst, (jehöre ihm aber die fernere Zukunft, so 
werde sie ihm nur langsam, nach einer längeren Reihe innerer und 
äusserer Daseinskämpfe, und weit mehr durch den Process der 
Selbstvernichtung der Kapitale in der Konkurrenz und durch 
Selbstzersetzung der herrschenden liberal-kapitalistischen Cxesellschafts 
Ordnung als durch den Sieg der Barrikaden, weit mehr durch die 
Selbsterhaltungsnot des ganzen Staates, als durch einen Gewaltstreich 
von unten zu teil werden. 

Noch im Jahre 1877 verteidigt er den Socialismus in folgen- 
der Weise. „Es ist nicht richtig, dass der Socialismus das Eigen- 
tum überhaupt negiere. Es ist nicht richtig, dass er das Privat- 
eigentum schlechtweg aufhebe. Es ist nicht richtig, dass er ohne 
Troduktionsmittel arbeiten, das Kapital im technischen Sinne be- 
seitigen müsse. Es ist nicht richtig, dass er (irossproduktion aus- 
schliesse. Es ist nicht richtig, dass er innerlich materialistisch und 
zuchtlos sein müsse. Es ist nicht richtig, dass er Freizügigkeit, 
freie Berufswahl absolut ausschliesse, dass er die Freiheit des Be- 
darfs, des Haushaltes, der Geselligkeit der Vereinsbestimmungen 
grundsätzlich aufhebe." 

„Es ist weiter nicht richtig, dass der Socialismus antinational 
und rein kosmopolitisch sein müsse, da vielmehr eine inter- 
nationale Organisation der Arbeit ohne vorherige nationale 
(lliodorung aller Troduktionszweigc schlechterdings unmög- 
lit h wäre. \'iol eher wäre an die Gefahr einer zu scharfen natio- 
hiilrn Absi'hliessuni» /u denken; die jetzige freihfindlerische Richtung 
ilrr» l.iluMiilismus ist in hohem Grade kosmopolitisch.** 

„I'.N ist lornor nicht rirhtig. dass der Socialismus die Sclbst- 
bl•h^lllu^^ln^ dor Ein/olnen aut*heben, also kultur- und freiheit- 
1 r I II il 1 1 1 h wii kon \\\\\ sso. Hie MögHchkeit freier Bedarfsbestimmung, 
wir lU'i vci lassun^smässigen Selbstregierung schon in der 
Hill lifilcMi Sphau' der täglichen Benilkirbeit wäre vielmehr in ihm 
rir,! IUI alU» voih.uulon, da alle Benitkubeiter und die meisten nicht 
iiirlii l'iiN.ildiiMUM wfireu. Es ist auch unrichtic. dass der Socialis- 



Wilhelm Röscher. 149 

mus centralisierte Staatsdespotie werden muss. Vielmehr 
könnte ein hohes Mass territorial und gewerkschaftlich ge- 
gliederter Selbstverwaltung Platz greifen, über welcher die 
staatlichen Centralgewalten nur als allgemeinste und durchaus frei- 
heitlich organisierte Ordnungs-, Ausgleichungs- und Zusammenfassungs- 
organe stehen und wirken würden, so wie jetzt oder vielmehr noch 
weit weniger als jetzt die Centralgewalten den kommunalen, akade- 
mischen, kirchlichen, pädagogischen Selbstverwaltungen übergeordnet 
sind. Endlich ist es eine unrichtige und willkürliche Annahme, 
dass politischer Anarchismus dem Socialstaat prinzipiell eigen 
sein müsste. Das Ideal „konservativer Ordnung", vollständige 
berufsständige Gliederung des ganzen Volkes wäre in neu- 
zeitlicher Form dann erst möglich, während es jetzt an dieser Grund- 
lage fehlt und das allgemeine Wahlrecht sein Gebäude auf Flug- 
sand bauen muss. Allerdings würde die Thatsache der berufslosen 
(jliederung aller Individuen auch dann als Ordnungsprinzip sich 
geltend machen, wenn die Form des allgemeinen Stimmrechts für 
alle Vertretungswahlen beibehalten würde. Während jetzt von Be- 
rufsbewusstsein und fester socialer Stellung kaum noch im Ernst 
die Rede sein kann." 

Freilich hatte aber auch damals schon Schaff le am Socialismus 
mancherlei auszusetzen. Zunächst seine Irreligiosität. Er findet 
es unbegreiflich, wie die Parteien des Socialismus, deren Prinzip 
mehr als jede andere allgemeinste Selbstbeherrschung, am meisten 
Zucht, (iehorsam und Hingebung, christliche Liebe im reinsten und 
besten Sinne zur Voraussetzung der Verwirklichung hat — vielfach 
einen Materialismus und Religionshass vertreten, welcher den im 
Schweisse des Angesichts arbeitenden, mit dem Ernst des Lebens 
vertrauten Volksmassen stets im Innersten fremd war. Dem neu 
zu schaffenden Kooperativmittelstande würde doch gewiss nicht 
minder, als den bisherigen Mittelklassen, eine Anschauung wider- 
streben, deren allgemeinere Verbreitung mit Fortentwickelung 
der Gesittung und mit sittlichen Gesamtfortschritten 
praktisch unvereinbar ist. Auch findet Schäffle den Grundsatz 
verwerflich, der den Proletariern überall in absolut antikollek- 
tivistischem Geiste gepredigt wird: jeder Arbeiter müsse genau 



150 Wilhelm Roschcr. 

seinen Arbeitsertrag zugeteilt bekommen, während doch auch im 
Socialistenstaat nur Gesamtproduktiou, dieses nur nach einem 
äusserlichen Massstabe der individuellen Arbeitszeit oder Stück- 
leistung und nur nach Abzug des öffentlichen Gemeinbedaxfs, zur 
Verteilung gelangen könnte. Höchst unbegreiflich findet es auch 
Schäffle, dass die socialistischen Schriftsteller nicht vor allem ihre 
Theorie nüchtern in der Richtung vollster Herübernahme 
und höherer Potenzierung der privaten Garantien pro- 
duktiver Wirtschaftlichkeit ausbilden. Durch Beibehaltung 
fruchtbarer Arbeitskonkurrenz nach dem Prinzip des socialen Wertes 
der Leistung, könnte er am ehesten hoffen, praktikabel, mit allen 
guten Seiten der bestehenden historischen Volkswirtschaft 
vereinbar, lenkbar und organisierbar zu werden. Ein alsbaldiger, 
plötzlicher, totaler Sieg des Socialismus sei wegen der Grösse 
der Interessen- und Trägheits-Widerstände und aus anderen 
(Gründen weder zu erwarten noch zu befurchten. Auf der andern 
Seite glaubt Schäffle auf allgemeine Zustimmung rechnen zu können, 
wenn er meint, dass gegen die socialen Ideen nur Gründe, 
nicht Flintenkugeln aufkommen können Das Volk bilde ja das 
Heer, das Heer mache wieder aus ihm einen einheitlichen Körper 
mechanischer Macht. Würde daher das Volk vom Geiste des 
Soc iiilisnuis seiner Masse nach erfüllt werden, so braucht der 
Socialismus im gegebenen Augenblick nur einen grossen General 
zu erzeugen, um Krbe der Macht des militärischen Centralismus zu 
werden .... Daher fordert Schäftle, dass man sich mit den Ideen 
auseinandersetze, dass man sie vernichte , soweit sie ÜBilsch sind. 
Denn niemand könne mehr leugnen, dass der Socialismus, wenn er 
sich immer klarer wird, und sobald er mit „Abstreifung vieler seiner 
ersten hirnlosen Phantastereien" immer nüchterner nur die wirk- 
lichen Konsequenzen seines Prinzips hervorkehrt, ein die 
Massen mächtig ergreifendes (ian/es einschneidender positiver 
Keorg;misationsgedanken umschliesse. In internationaler Partei- 
organisation von nur zeitweise gelockertem Getiige werde auch 
schon am entsprechenden Aufbau der positiven, politischen Kraft 
zur Verwirklichung dieser Ciedanken gearl^eitet. I>er \-ierte Stand 
sei nach allen Seiten von den Hauptideen schon ergriffen und 



Wilhelm Roschcr. 151 

zwinge schon dadurch seine Führer, diese Ideen immer einleuchten- 
der zu formulieren. 

Es erschien ihm daher notwendig, immer und immer wieder 
auf den socialen Grund- und Kemgedanken hinzuweisen und die 
Diskussion auf diesen Hauptpunkt zu konzentrieren : Kollektiv- oder 
Privatbesitz der Mittel der kollektiven („arbeitsteiligen") Arbeit. 
Nur dann könne der richtige Standpunkt von jeder Partei gewählt 
werden. Im Kerne sei ja das, was in Frage steht, wirklich ein 
Streit zwischen Individualismus und zwischen Kollektivismus 
in Hinsicht auf das Kapital. Er erstrecke daher seine Haupt- 
konsequenzen auf den socialen Gtiterproduktions-, Güter- 
umsatz- und Güterausteilungs-Prozess. Social, meint Schäffle, 
sei dieser Prozess zwar schon im „liberalen" Staat, da die wenigsten 
Güter vom eignen Produzenten auch konsumiert werden. Die Frage 
sei vielmehr die : ob der „unbewusste", einheitslose, gewissermassen 
socialraechanische Regulator des Aufeinanderdrückens der Privat- 
interessen, d. h. die Kapitalistenkonkurrenz oder ob eine ein- 
heitlich bewusste und organisierte Socialmacht den Pro- 
duktions- und Distributions-, so zu sagen den Verdauungs- und 
Umlaufsprozess des socialen Stoffwechsels besser imd wirtschaft- 
licher besorgen würde, ob nicht eine vervollkommnete Arbeiter- 
konkurrenz um materielle Interessen und noch mehr um 
ideelle Interessen der Führerschaft, der Ehre u. s. w. an Stelle 
der Kapitalistenkonkurrenz gesetzt, — ob nicht die voll- 
genügende Ansammlung wie die fruchtbare Verteilung des National- 
kapitals über die verschiedenen Geschäftszweige auch in anderen 
als dem jetzigen Wettstreit — etwa durch geregelte und mit Gründen 
öffentlich durchgeführte Bewerbung der einzelnen Produktionskörper 
und Konsumtionsinteressen vor öffentlichen Instanzen des Finanz- 
abschiedes imd der Kapitaldotation (ähnlich wie für Staat, Schule, 
Kirche und Gemeinden) gewonnen werden könnte .... 

Man sieht hier das vollständige socialpolitische Programm 
Schäifles in starker socialistischer Färbung und mit einem merklich 
hervortretenden antiliberalen Konservatismus eigentümlich versetzt. 

Wie ganz anders jedoch spricht er in der zehn Jahre später 
(1885) erschienenen Schrift „Die Aussichtslosigkeit der Social- 



152 Wilhelm Koscher. 

demokratie." Diese Arbeit bezeichnet, im Gegensatz zu den An- 
sichten von vor lO Jahren, wie er sie in der „Quintessenz" dar- 
legte, Schättles vollständige Abwendung von den Prinzipien Lassalles 
und Marx' und seine sehr starke Annäherung an die social- 
aristokratischen Bestrebungen der Agrarier. Aber diese all- 
mählichen Wandlungen unseres ehemaligen schwäbischen Demokraten 
und Cirossdeutschen im Sinne von Karl Me\'er und Leopold Sonne- 
mann sind durchaus ehrlich gemeint gewesen. Schäfile ist nichts 
weniger als ein Streber und Ministerprätendent gewöhnlichen Schlages. 
Was man auch sonst von ihm als Politiker halten mag: er ist 
persönlich ein durchaus achtenswerter Mann. Und wenn er sich 
z. B. gegenüber der socialen (Gesetzgebung Bismarcks sehr sym- 
pathisch verhält, so betrachtet er den früheren deutschen Reichskanzler 
weit mehr als seinen staatssocialistischen Schüler, wie sich als einen 
Anhänger desselben.* 

Was nun seine rein theoretischen Schriften betrifft, so sind 
hier vor allem zu nennen sein grosses, aus 4 Bänden bestehendes 
Hauptwerk: „Bau und Leben des socialen Körpers. Encyklopä- 
discher Entwurf einer realen .\natomie, Physiologie und Psychologie 
der menschlichen Gesellschaft mit besonderer Rücksicht auf die 
Volkswirtschaft als socialer Stoffwechsel**;**» femer „Die national- 
ökonomische Theorie der ausschliesslichen Absatzverhältnisse*****'» 
und „Das gesellschaftliche System der menschlichen Wirtschaft**. 
Ein Lehr- und Handbuch der ganzen politischen Ökonomie, ein- 
schliesslich der Volkswirtschaftspolitik und Staatswirthschaft (2 Bde.'ix 



*j Schäti'le hat vor kurzein eine neae Schrift (Tübingen 1890) pablizicrt, 
. welcher er sich über die socialpolilische Lage Deutschlands nach der 
erfolgten Aufhebung des Socialistengeselzes ausspricht. Hier billigt er den 
Kntschluss der Reichsregierung, wünscht jedoch eine Anzahl ron Prlventiv- 
massregcln, ohne die Zuflucht zur «»di«>sen Verschärfung der betreffenden Be- 
stimmangen des deutschen Strafgesetzbuches zu nehmen. 

-*) Sluitg. i8t>7. (Bd. 1: .Mlgemciner Teil; Bd. II. Das Gesetz der 
socialen Entwickclung : Bd. III: .'^pecielle Socialwissenschafl. I.Hälfte; Bd. IV: 
Sjecielle Social wi'.senschaft. 2. Hälfte. 

•*•) Stattg. 1873. 

T) Siuttg. 1888. 



Wilhelm Koscher. 153 

Eine auch nur die wesentlichsten Punkte des Inhalts berührende 
Analyse dieser Werke würde uns weit über die Grenzen dieser 
Studie hinaus führen. Auch Schmollers Zergliederung des genannten 
Hauptwerkes ist mehr eine Inhaltsangabe als eine kritische Analyse. 
Aber im ganzen ist seine Charakteristik des Theoretikers Schäflfle, 
dem er sich ja in vielen Punkten wesensverwandt fühlt, nicht unzu- 
treffend. Schaff le ist Socialreformer und baut eine neue Theorie 
vom gesellschaftlichen Organismus auf wesentlich darwinistischen 
Prinzipien auf. Hierbei wird mit Recht das philosophische, stark 
konstruktive Talent Schäffles hervorgehoben. Dass der Wirtschafts- 
historiker Schmoller die allzu grosse Vernachlässigung der geschicht- 
lichen Elemente in der Entwickelung der wirtschaftlichen Gesetze 
und Formen bei Schaff le gar schmerzlich vermisst, finden wir be- 
greiflich. Doch möchten wir hier noch auf ein anderes von 
Schmoller übergangenes Moment in dei Beurteilung dieses Werkes 
hinweisen: nämlich auf den Mangel einer grundlegenden prinzipiellen 
Gesellschaftsphysik, aus welcher erst wahrhaft ersichtlich und er- 
klärlich wäre, mit welchem Rechte und auf welcher Basis Schäffle 
nicht nur solche rein naturwissenschaftliche Grundbegriffe wie: 
Entwickelung, Stoffwechsel, Zelle, Organismus u. dergl. auf gesell- 
schaftliche Verhältnisse überträgt, sondern auch die darwinistischen 
Termini der natürlichen Zuchtwahl, der Auslese, der Vererbung u. s. w. 
unmittelbar auf die socialen Prozesse und Formen anwendet. Wir 
fragen: Mit welchem Recht? Ist die darwinistische Theorie wirklich 
schon so weit ausgebildet, dass ihre Übertragung auf sociale und 
ethische Verhältnisse ohne Bedenken und nicht bloss bildlich ge- 
schehen könnte? Dies ist unseres Erachtens der Grundfehler des 
gross angelegten, unzweifelhaft gedankenreichen, aber in der Aus- 
führung der einzelnen Teile nicht gleichmässigen Werkes. Da- 
mit soll jedoch nicht gesagt sein, dass Schäffles grossartiger Ver- 
such ganz wertlos sei. Vielmehr müssen wir betonen, dass hier der 
Anfang und ein sehr bedeutsamer Anfang für die wahrscheinlich 
nicht konstruktiv und synthetisch, sondern analytisch und induktiv 
sich aufbauende Socialwissenschaft der Zukunft vorliegt. 

Die „Socialwissenschaft der Zukunft?" Nun diese wird wohl 
dereinst vor allem Aufbau eines Systems in erster Linie den Weg 



154 Wilhelm Röscher. 

und die Methode ihres Verfahrens festzustellen haben. Hierüber 
giebt es aber, wie wir aus dem Werke von Prof. Karl Menger*) 
ersehen, grade in diesem Augenblick eine nichts weniger als über- 
einstimmende Ansicht. Auch Schmoller benutzt diese Gelegenheit, 
um seine gegnerischen Anschauungen inbezug auf die Methodo- 
logie der Socialwissenschaft gegenüber seinem Wiener Kollegen 
mit einer — wir möchten sagen — chevaleresk höflichen Schärfe 
geltend zu machen. Hier zeigt sich Schmoller — zum ersten Male 
in seinem ganzen Buche — als ausgesprochenen Parteimann. Und 
in der That sind die Ansichten, die er als Vertreter der „historischen" 
Volkswirtschaftslehre vertritt, abweichend genug von den Prinzipien 
Mengers, der inbezug auf die Formulierung der Aufgabe, Methode 
und Forschungsweise seiner Wissenschaft den exakten Prinzipien 
der grossen englischen Vorbilder folgt. Hierbei möchte er aber 
nicht die methodologische Basis für die politische Ökonomie ein 
für allemal feststellen, sondern zunächst nur die Zukunft seiner 
Wissenschaft vor den „Verirrungen" der heutigen historischen Schule 
retten, indem er die wissenschaftliche „Unhaltbarkeit" der letztem 
vor aller Welt klar zu legen bestrebt ist 

Menger strebt durch eine methodologische Untersuchung eine 
Reform der internationalökonomischen Wissenschaft an, da er die 
in den letzten 4 Decennien hervorgetretene Entwickelung dieser 
Disciplin in Deutschland für eine Abirrung vom richtigen Wege 
hält: „Die neuere nationalökonomische Litteratur Deutschlands, sagt 
er ( Einleitung S. XX), von dem Auslande in Wahrheit nur wenig 
l)ear:htet, ihren eigentlichen Tendenzen nach demselben kaum ver- 
ständlich, war in ihrer Decennien andauernden Isolierung unbeein- 
fhisst durch ernstliche Oegner und hat in unerschütterlichem Ver- 
trauern auf ihre Methoden auch der strengern Selbstkritik vielfach 
ffitbtrhrt. Wer in Deutschland einer andern Richtung folgte, wurde 
iiurhr bei Seite gelassen als widerlegt. So hat lang andauernde 
l'bung eine /um Teil gradezu sinnlose Phraseologie über die 
( f rundproblemc der Methodik unserer Wissenschaft herausgebildet, 
v'uw Phraseologie, welche zur Kntwirkelung der Politischen Ökonomie 

•) (JritrrilUcliuiiKcn über die Methode der Social Wissenschaften und der 
t'OUtiichcn ^)kotiomic innbesondere (I'Cipzig 1883). 



Wilhelm Koscher. 155 

in Deutschland uin so verderblicher wurde, als sie, unberührt von 
jeder ernstlichen Kritik, gedankenlos wiederholt wurde, ja mit dem 
Ansprüche auftreten konnte, eine Epoche machende Umwälzung 
auf dem (rebiete der Volkswirtschaftslehre zu bedeuten " 

Es ist ganz erklärlich, dass Schmoller sich gar sehr bemüht, diesen 
Angriff auf die jetzt herrschende historische Schule aus voller Kraft 
zurückzuweisen. Ob ihm die Entkräftung der scharfsinnigen Deduk- 
tionen Mengers gelungen ist? Die Streitfrage ist von zu grosser 
theoretischer wie politischer Wichtigkeit, und sie bringt allzu sehr 
die Krisis, in der sich die heutige Volkswirtschaftslehre befindet, 
zum Ausdruck, als dass wir nicht dem (Gegenstände hier einige 
Aufmerksamkeit schenken sollten. 

Das Werk des Professor Menger besteht aus 4 Abschnitten, 
von denen der erste die allgemeinsten logisch-erkenntnistheoretischen 
Prinzipien mit Rücksicht auf die Methode in der Wissenschaft der 
Volkswirtschaft entwickelt.*) Zwei Hauptrichtungen des Strebens 
nach Erkenntni.s, also auch zwei Hauptgattungen von Wissen- 
schaften, erkennt Menger an: die einen, welche die konkreten 
Phänomene in ihrer Stellung in Raum und Zeit und in ihren 
konkreten Beziehungen zu einander erforschen wollen; die andern, 
welche die im Wechsel dieser erstem wiederkehrenden Erschei- 
nungsformen zum (Gegenstand ihrer Erkenntnis haben. Jene haben 
das Individuelle, diese das (Generelle, Typische und die 
typischen Beziehungen im Auge. Wie nun die andern (Gebiete 
ebensowohl Wissenschaften vom Individuellen sowohl als vom Ge- 
nerellen aufweisen, so auch das volkswirtschaftliche Gebiet. Und 
zwar sind es die (Geschichte und die Statistik, welche die volks- 
wirtschaftlichen individuellen Phänomene behandeln, während es die 
Aufgabe der theoretischen Volkswirtschaft ist, das allgemeine 
Wesen und den Zusammenhang der wirtschaftlichen Erscheinungen 
zu erforschen. Volkswirtschaftspolitik und Finanzwissen- 



*) Erstes Buch (Kap. i — 8): Über die Nationalökonomie als theoretische 
Wissenschaft und ihr Verhältnis zu den historischen und praktischen Wissen- 
schaften von der Volkswirtschaft. Vgl. auch Mengers „Grundzüge einer Klassi- 
fikation der Wirtschaftswissenschaften^^ (Jena 1889). 



ir)() Wilhelm Rascher. 

schalt bilden vlie angewandte, praktische Hethätigung der Lehren 
beider, also gewissermassen die volkswirtschaftliche Kunstlehre. 

Wie verhält sich nun in volkswirtschaftlicher Hinsicht die Ge- 
siliichte zur Theorie? Die (ieschichte betrachtet jede konkrete 
Krscheinung unter dem (iesichtspunkt historischer Entwickelung, also 
als Resultat vorangegangener ursächlicher Momente. Die Theorie 
ilagegen sieht in jedem konkreten Falle die Hethätigung eines allge- 
meinen (leset/.es, oder, wo wir noch nicht bis zur Erkenntnis von 
(lesetzen vorgedrungen sind, doch wenigstens den speciellen Fall 
einer gewissen Regelmässigkeit. Menger beklagt es als eine Schä- 
digung der \Vissens( haft, tlass man diese beiden an sich berechtigten 
Ik'trachtungsweisen durcheinander geworfen hat, und dass man, in- 
ilem man historische (iesichtspunkte in die Theorie der Volkswirt- 
schalt hineinbrachte, der Fortbildung sowohl ihrer Systematik als 
ihrer Methodik Eintrag gethan hat. 

Dagegen unterscheidet Menger zwei Wege, welche die theore- 
tische Natit>nalökonomie wandeln miisste, um zu wirklich wissen: 
schaftlii-hen Resultaten zu gelangen: den realistisch-empirischen 
\in(l ilen exakten. Jener, dessen Aufgabe es ist. die empirische 
Wiiklichkeit nach induktiver Methode festzustellen, bringt es nicht 
/u exakten (iesetzen im strengern Sinne, sondern höchstens zu 
cnipntsi hcn (ieset/en. Und so sind wir auf den zweiten, den exakten 
vi. h. deduktiven Weü auirewiesen, wo wir \on den einfachsten 
Kiementen au»^. ugehen haben und ^n durch Schlüsse zu „typischen 
Kel.ilioiien* d. h. .u wirklich a'.ls^emeinen iiesei/en kommen. Die 
'leutiiTe :iJL::o:i.i'.v^ko:H>:r.;sch^* For>chuni:. insbesondere in Deutsi:h- 
,ino. .".J.: viie 'et.terc Meihixie i;An.^*iHh xerl.^ssen. Aus welchem 

I .— — -.i - 

,r_:j:v\r\ >vr.'..>sr:. >: ': L-rge'irr.den Resultate n::: vier e:r:i*irischen 
^i:-*.i •*.'..: s:r*u-^irz ^r.! — 'Aie heutrutuce .lUvh Aiit" anderen 

__ . ^ ..... 

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Wilhelm Roschcr. 157 

auch hier, statt auf eine Universaltheorie der socialen Er- 
scheinungen auszugehen, die Einzelprobleme in Angriff ge- 
nommen werden. Nicht die universelle Natur wirtschaftlicher Er- 
scheinungen kennen zu lernen, sondern diese Erscheinungen als die 
Resultanten einzelwirtschaftlicher Bestrebungen zu verstehen, sei die 
Aufgabe der exakt theoretischen Nationalökonomie. Nichts sei 
thörichter, als der letzteren den Vorwurf des Atomismus zu 
machen. Der Atomismus ist die wirkliche (Grundlage der gesamten 
heutigen Naturforschung geworden, und es fallt keinem Natur- 
forscher ein, an Stelle dieser Basis etwa die frühere dynamische 
Hypothese setzen zu wollen. So stammt dieser Vorwurf, der übrigens 
einer falschen Analogie seine Entstehung verdankt, aus der Zeit, 
wo die Naturphilosophie und die historische Juristenschule 
die beiden im Vordergrunde befindlichen Haupterscheinungen des 
deutschen Geisteslebens im ersten Drittel dieses Jahrhunderts bildeten. 
Dieses ist ungefähr der (Gedankengang des I. Buches des Menger*- 
schen Werkes. 

Was zunächst hier auffällt, ist die Geringschätzung der induk- 
tiven Methode gegenüber der deduktiven, grade im Gegensatze zu 
der Wertschätzung, die sich heutzutage die Induktion in der ge- 
samten Naturforschung erfreut. Hier hat man gerade die Wege des 
deduktiven Schlussverfahrens, wie es zur Zeit der Naturphilosophie 
herrschte, als unwissenschaftlich erkannt und völlig aufgegeben. 
Interessant ist der logische Einwand Mengers gegen das induktive 
Verfahren. Es führe niemals zu strengen und exakten Ergebnissen, 
weil keine noch so gute Beobachtung an sich die Wiederholung 
des Falles garantiere. Dieses ist vollkommen richtig. Aber hat 
dieser innere, logische Mangel der Induktion, den wir .schon vor 
der scharfsinnigen Analyse John Stuart Mills kannten, die Natur- 
wissenschaften gehindert, vermittelst dieser Methode die gross- 
artigsten Forschungsresultate zu erzielen? Und dieses ist so allge- 
mein anerkannt, dass manche der sogen. Geisteswissenschaften, d. h. 
die historischen, ethischen und philosophischen Disciplinen schon 
lange daran gedacht haben, ihre bisherigen Methoden aufzugeben 
und durch Adoptierung der Induktion sich zum Range einer wirk- 
lichen Wissenschaft zu erheben. Es ist ja richtig: die exakteste 



158 Wilhelm Röscher. 

Discipiin, die Mathematik, befolgt die deduktiv-synthetische Methode. 
Aber der Grund hierfür liegt in der Natur dieser Wissenschaft, 
welche nur mit Grössenverhältnissen und Grössenbestimmungen zu 
thun hat. Nun haben aber alle quantitativen Grundvorstellungen einen 
apriorischen Charakter, so dass wir in der Mathematik immer von 
gewissen einfachen Grundbegriffen ausgehen und von hier aus mit 
Sicherheit schliessen können. Bisher ist jedoch noch nicht be- 
wiesen worden, dass die einfachen „Elemente", d. h. die wirtschaft- 
lichen Grundvorstellungen, z. B. der empirische psychologische Satz, 
dass alle unsere Handlungen von egoistischen Motiven ausgehen, 
apriorischen Charakters sei. Dieser auch von Schmoller über- 
sehene Einwand gegen Mengers Methodologie scheint mir .schwer- 
wiegender als alle sonstigen Raisonnements. 

Die Frage der Einzelproblemforschung ist mit Recht von 
Menger als eine sehr wichtige behandelt worden, und ich glaube 
doch, dass Schmoller seinem Wiener Kollegen eine Absicht unter- 
schiebt, die dieser nicht gehabt haben kann, wenn er die Einzel- 
forschung der Universalbetrachtung gegenüberstellt. Dieses soll 
nicht so viel heissen, als wenn Menger gemeint habe, dass, weil 
man behufs Einzelforschung oft genötigt ist, gewisse zu beobach- 
tende Erscheinungen zu isolieren, er nun geglaubt hat, auf die 
Erkenntnis des Zusammenhanges dieser ad hoc isolierten Erschei- 
nung mit andern und entlegenem Erscheinungen verzichten zu 
wollen oder dass jene Isolierungen nun auch für alle Ewigkeit 
gelten. Das kann Menger, ein so gründlicher und scharfsinniger 
Kopf, unmöglich gemeint haben. 

Sehr wichtig ist nun ferner die Frage nach der Zweckmässig- 
keit der Heranziehung von Staat und Gesellschaft, von Sitte und 
Recht zur Erklärung der theoretischen Probleme der National- 
ökonomie, d. h. mit andern Worten nach der Möglichkeit einer 
allgemeinen Socialwisscnschaft, welche den generellen Teil 
der theoretischen Volkswirtschatt bilden würde. Menger will von 
einer solchen Unterwerfung der theoretischen Nationalökonomie, die 
er im wesentHchen etwa auf die Lehre von der Preisbildung, der 
Flinkommensverteilung und vom Cieldwesen beschränken möchte, 
unter jene generelle So» ialwissenschafi nichts wissen. Er spricht 



Wilhelm Röscher. 159 

mit einer gewissen Geringschätzung von dem „Phantom einer üni- 
versaltheorie der socialen Erscheinungen". Dem gegenüber bemerkt 
Schmoller ganz richtig : „Allerdings glauben wir, dass gewisse generelle 
Sätze über die psychischen Zusammenhänge, das Zustandekommen 
von geistigen Massenbewegungen über Moral, Sitte und Recht, über 
Staatsgewalt und Freiheitsrechte u. s. w. allen socialen Disciplinen 
gemeinsam sind, und in der Nationalökonomie vorausgesetzt oder 
als Einleitung und Hilfssätze vorgetragen werden müssen. Es werden 
damit keine specifischen Gesichtspunkte der Geschichtsforschung in 
die nationalökonomische Theorie hineingetragen, sondern es wird 
nur für psychische und sociale Prozesse, die zugleich wirt- 
schaftliche sind, die gesamte Erkenntnis, die auf diesem Gebiete 
vorhanden ist, verwertet." 

Der zweite Teil des Menger'schen Werkes*) ist im wesent- 
lichen einer kritischen Auseinandersetzung mit der heute herrschen- 
den historischen Volkswirtschaft gewidmet. Menger glaubt, der 
letzteren die Konzession machen zu müssen, dass er die historische 
Entwickelung der Formenveränderung der meisten wirtschaftlichen 
Institutionen zugiebt. Aber damit ist noch nicht gesagt, dass es 
erlaubt sei, für jede historische Gestaltung und für jede Entwicke- 
lungsstufe eine besondere Theorie aufzustellen. Vielmehr müsse der 
nationalökonomische Theoretiker einen nach Ort und Zeit bedeut- 
samen Zustand herausgreifen, diesen zur Grundlage seiner Dar- 
stellung machen und dann auf die abweichenden Zustände anderer 
Zeiten und Völker hinweisen. Wie verfahre denn der wissenschaft- 
liche Anatom: Er macht die Präparate, Skelette und Leichen von 
Indogermanen zum Objekt seiner Demonstrationen und weist 
gelegentlich auf die Abweichungen an den Körpern der Neger, 
Malayen etc. hin. Statt dessen gehe die historische Richtung da- 
rauf aus, unhistorische Theorien mit historischem Beiwerk zu ver- 
brämen, die litterarische und dogmengeschichtliche Forschung mit 
der Theorie selbst zu verschmelzen und statt die Einzelerscheinung 
der wirtschaftlichen Zustände in den Vordergrund zu stellen. Er- 
fahr ungsthatsachen mit historischen Gesichtspunkten zu vermengen. 

*) Zweites Buch (Kap. i — 3): Über den historischen Gesichtspunkt der 
Forschung in der politischen Ökonomie. 



160 Wilhelm koscher. 

Dieser ganze Irnveg sei zurückzuführen auf eine Verwechselung der 
Philosophie der Geschichte, welche sich in volkswirtschaftlichen 
Parallelen verschiedener Zeiten und Völker erschöpft, mit der Theorie 
der Nationalökonomie. 

Wer vermag zu leugnen, dass in diesen Anklagen Karl Mengers 
manches Berechtigte liegt, ja, dass hier eine Erscheinung vorliegt, 
die auch auf anderen Gebieten hervortritt, nämlich eine in der ersten 
und zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhimderts eigentümliche Über- 
wucherung des ..Historicismus'* Vgl. Menger: .,Die Irrtümer des 
Historicismus." Leipz. 1884/ gegenüber den 'ITieorien? Dies ül)er- 
sieht Schmoller in seiner Entgegnung gegen Menger, dem er dafür 
den freilich sehr billigen Von*nirf macht, dass ihm das „Organ*' 
fehle, die Notwendigkeit der heutigen historischen Schule zu be- 
greifen. Viel sachlicher ist der Kinwurf. den Schmoller gegen 
Mengners Ignorierung der Kntwickeltmgsgeschichte der Volkswirt- 
schaft in den Worten erhebt: ..warum sollen wir uns begnügen mit 
einem einzigen zeitlichen Durchschnitt des Geschehens, mit dem 
der Gegenwart:** 

Im dritten Küche* wird die eigentliche Methodologie der 
Volkswirtschaftswissenschaft entwickelt und insbesondere wird hier 
die früher nur benihrte Analogie der Sociaierscheinimgen und der 
natürliche!! i »r^anismen. die Cirenzen derselben und die für die 
Sociiiiforschuni: hieraus sich ergebenden methodischen Gesichts- 
punkte weiter verfolgt 

Worin besteht nuii die Ar.uiOtic der Auttassuu^ zwischen dem 
organischen Leben der Natur und den vermeintlichen organischen 
iiebilden der mens* hli» hen Cie>ellschaft: Worin besteht das Wesen 
des «iociaien Organismus: oifenl»ar in nichts Anderem, als dass die 
Gese'/iSchai't als einheitlicher, zweckmassii: funcierer.der und in seiner 
F.ntwickelung naturlich und absichtslos verlaufender Prozess dar- 
stellender Körper aufj;efas>t wird. Mit wie i:ei intern Rechte iedoch 
diese l'benraeuns des Be^rirtes des ..< >reanischen- von der Natur 
auf die menM'hliche Gesellschaft geschieht, darüber haben wir uns 
• 'ben bei der Erwähnung des grossen Werkes von Schäfrie ausge- 

Dri::-*« E-;r. »i. — 2. Kj^ I •■■i rrga- ".sehe Ver>'.a:-.c!;.i5 der Sccial- 
ersch-rinung*r. 



Wilhelm Röscher. 161 

sprechen. Soviel steht fest, dass diese ganze Bewegung durch den 
moderren Aufschwung und durch das starke Überwiegen der Natur- 
wissenschaften entstanden ist. Man glaubte, dass die Betrachtungs- 
weise der Natur, die zu so erstaunlichen Resultaten gefuhrt hat, 
durch Übertragung auf andere, insbesondere auf das sociale Gebiet 
auch hier so herrliche Früchte tragen müsste. Aber man bedachte 
nicht, dass nur ein Teil der Socialerscheinungen eine und in diesem 
Falle auch nicht vollständige Analogie mit den Organismen 
der Natur zulasse, da Vieles bekanntlich das Ergebnis mensch- 
lichen Willens, menschlicher Übereinkunft und menschlicher Gesetz- 
gebung ist. Was den behaupteten organischen Ursprung von 
socialen Erscheinungen betrifft, so kann derselbe mit dem ersten 
Keimen und Werden natürlicher Organismen gar nicht in Vergleich 
gestellt werden. Eine nähere Untersuchung ergiebt, dass dort ent- 
K^eder ein Gemeinwille oder solche individuelle Bestrebungen 
obwalten, welche gewisse unbeabsichtigte, allgemeine Folgen haben. 
Menger vergleicht das Verfahren jener Socialtheoretiker damit, als 
wenn ein Physiologe das Nervengeflecht unseres Körpers durch ein 
Telegraphennetz erklären wollte. Nun, dieser Vergleich ist auch 
thatsächlich angestellt worden und zwar mit einigem Rechte. Denn 
die Art, wie vom Sensorium aus z. B. Willensakte an die äusseren 
Organe mitgeteilt werden, hat — mutatis mutandis — thatsächlich 
ihre Analogie in der Art und Weise wie die in der Batterie her- 
vorgerufene Elektricität durch die Leitungsdrähte des Telegraphen 
fortgepflanzt wird. Davon aber abgesehen, will Menger durch dieses 
Beispiel nur die Unvergleichbarkeit von Naturorganismen mit mensch- 
lichen Veranstaltungen erläutern. Femer abstrahieren wir davon, 
dass sociale Erscheinungen entweder aus Kollektivwillensakten (Ge- 
setze, Institutionen etc.) oder aus solchen vielen individuellen Be- 
strebungen hervorgehen, welche in ihrem Gesamteffekt ein unbeab- 
sichtigtes gemeinsames Resultat ergeben. So ist auch die Frage, 
ob die Natur der organisch- physischen Individuen, welche doch hier 
die „Atome" dieser socialen Prozesse bilden, so ganz hierbei zu 
übersehen sei, mit anderen Worten: ob die agierenden Menschen 
so ohne weiteres zu leblosen Mechanismen herabgesetzt werden 

können und dürfen. 

11 



162 



Wilhelm Röscher. 



Wir sehen hieraus, dass die „exakte" Richtung der heutigen 
Volkswirtschaft, welcher die historische Schule „Atomismus" vor- 
wirft, gerade die organische Dignität des Einzelindividuums ver- 
teidigt; nur dass sie nicht auch dieselbe Natur des „Organischen" 
auf die socialen Kollektivindividuen übertragen will. 

Aber mit einigem Rechte wirft demgegenüber Schmoller die 
Frage auf, ob alle socialen Kollektiverscheinungen sich durch jene 
zwei Rubriken erschöpfen und ob nicht doch noch Einwirkungen 
von der Gesamtheit als Ganzes auf das Individuum und umgekehrt 
— Menger leugnet diese Wechselwirkung — angenommen werden 
müssen. Für den Unbeteiligten, d. h. für denjenigen, der in wissen- 
schaftlicher Unbefangenheit die Entwickelung der Einzeldisciplinen 
vom universalhistorischen und philosophischen Standpunkte aus 
ansieht, ist soviel einleuchtend, dass die Gründe auf beiden Seiten 
sehr viel zu wünschen übrig lassen. Dieses ist aber gerade das Haupt- 
argument, auf welches immer und immer wieder hingewiesen werden 
muss, dass einer „Socialwissenschaft der Zukunft" doch vor allem 
eine „Philosophie der Geisteswissenschaften" vorangehen muss, welche 
eine Prinzipienlehre für alle andern (historischen, ethischen, 
juristischen, volkswirtschaftlichen) Disciplinen enthalten müsste. Hier 
erst wäre das Problem zu lösen, ob die genannte Wissenschaft die 
Kategorien der Natur zur Erklärung ihrer Phänomene bedürfe oder 
nicht. Wir verkennen nicht die Schwierigkeit einer solchen neuen 
Wissenschaft. Aber es sind doch in den modernen Hilfszweigen, wie in 
der Kulturgeschichte, Sprachwissenschaft, Ethnologie, Völkerpsychc- 
logie, mancherlei dankenswerte und vielversprechende Anfänge ge- 
geben. Ob dagegen einige neueste dahin zielende Versuche wie z. B. 
der von Rudolf Eucken („Prolegomena zur Forschung über die Ein- 
heit des Geisteslebens" 1888) und hauptsächlich der von Wilhelm 
Dilthey („Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer 
Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte" 
1888) nicht noch wegen Mangel an socialwissenschaftlich brauch- 
barem Material allzu verfrüht sind, wollen wir dahingestellt sein lassen. 
Den letzten Abschnitt*; hat Menger einer litterarhistorischen 

*J Viertes Buch (1. — 4. Kap.): Über die Entwickelung der Idee einer 
historischen HehandlunjLj der ])olitischen Ökonomie. 



Wilhelm Roschcr. llV) 

Betrachtung gewidmet — in welcher er den lirsprung und die Knt» 
wickelungsstadien jener „historischen** Richtung verfolgt. F^s sind 
hier mancherlei treffende Bemerkungen /.u finden. Menger «eigt 
in dieser Skizze den Zusammenhang der vielfach zwischen den 
historischen und juristischen Auffassungen des Staates während der 
ersten Hälfte unseres Jahrhunderts und den Anfängen der histoi isi^hen 
Volkswirtschaftsschule besteht. 

Trotz Schmollers Verkleinerungsversuch darf Mengcrs scharf- 
sinniges Werk als eine der bedeutendsten Krscheinungcn der neuern 
theoretischen Wirtschaftswissenschaft betrachtet werden. Die metho- 
dologischen Probleme, sowie die wissenschaftlichen Ziele dieser 
Disciplin sind hier in einer energischen und den vielfach ver- 
waschenen Versuchen der Neuzeit gegenüber rücksichtslosen Weise 
betont. Untersuchungen wie die Carl Mengers werden endlich da- 
hin führen, über die theoretischen Grundprinzipien der National- 
ökonomie Klarheit und Einstimmigkeit zu bringen. Keine Wisnen- 
Schaft — selbst die Jurisprudenz nicht — ist heute für die prak- 
Politik imd das reale Gesellschaftsleben wichtiger als die Volks- 
wirtschaft. Und doch giebt es heute wenig Wissenschaften, Über 
deren Wesen und Aufgaben gerade unter ihren eigenen Bekcnnern 
eine solche Verschiedenheit, ja eine so erbitterte (/Cgncrnihaft 
herrscht. 



Was den übrigen Inhalt des Schmoller 'sihen Werkes IrcXr'ifft, 
so sehen w^ir hier von einem grosseren Aufsatz: „Uie neueren An- 
sichten über Bevölkenings- und Moralstatistik" ab, weil er durch 
seinen Inhalt eigentlich aus dem Rahmen des H\if hcs, welches 
wesentlich historisch-kritischen Charakters ist, herausfällt. Was ausser 
den oljcn analysierten Abhandlungen noch nn interessanten al>€r 
kleineren Studien hier zu finden ist, l^etrifft ebenfalls die Litteratiir 
dei heittigen Volkswirtschaftslehre So z. \\. flie Stu/lie ül>eT den 
Schutzzöllner Henry (IsLTty und den Agrarsoria listen Hcnr> 
George „Frogress and Povcrrv", rieiit-u^h von Gfils/how, l;erlin 
1881^, die Kritik über das Werk de^ Wiener Journalisten und „frei- 
händlerischen Sorialintcn' Iheodor Herf/ka: „f>ie Gesetze der 

W 



164 Wilhelm Koscher. 

socialen Entwicklung" (Leipzig 1886),*) sowie über den geistvollen 
Funck-Brentano (nicht zu verwechseln mit dem jetzt von Leipzig 
nach München berufenen Lujo Brentano), dessen Buch ,J^a ci- 
vilisaiion et ses lois, morale sociale'* (Paris 1876) Schmoller einer 
ausfuhrlichen und sehr wohlwollenden kritischen Analyse unterzieht. 
— Auch hier wie überall ist Schmollers Urteil massvoll und zeugt 
von dem Bemühen, auch dem Gegner gegenüber gerecht zu sein. 
Nur selten tritt der Parteimann in ihm hervor. Dieses giebt seinem 
Buche, welches die Vorzüge und Mängel einer zeitgeschicht- 
lichen Publikation nicht verleugnet, doch einen höheren Wert und 
macht es zu einem orientierenden Führer innerhalb der mannig- 
faltigen volkswirtschaftlichen Richtungen und Parteien der Gegenwart. 
Es trifft dies selbst zwei so fremdartigen Erscheinungen gegen- 
über zu, wie die beiden amerikanischen Nationalökonomen Henr}' 
Carey und Henry George sind. Die Charakteristik dieser beiden 
Schriftsteller ist möglichst objektiv und von dem Streben beseelt, 
das Individuelle und Eigenartige dieser immerhin bedeutenden 
Männer dem Leser vor Augen zu führen. 

*) Hertzkas frühere Schriften bewegen sich wesentlich auf dem Ge- 
biete der Währungsfrage. Neuerdings hat sich dieser ehemalige nüchterne 
Freihändler in das Land des sog. Staatsromans begeben und seine Utopie 
,, Freiland" (Wien 1890), in welcher der frühere Börsenredakteur der farben- 
reichsten socialen Traumphantasie sich tiberlässt, erinnert an jenes einst viel 
gelesene, heute jedoch vergessene litterarische Genre des 16, 17. und 18. Jahr- 
hunderts, in welchem, nach dem Vorangang des Thomas Morus in seiner Utopia, 
z. B, der französische Abbe Morelly durch seine .,BasiHade'" , der englische 
Publizist James Harrington durch seine „Occana" u. a. sich ausgezeichnet haben. 
Einen ausgesprochenen socialistischcn Charakter trägt die vor einigen Jahren in 
Boston erschienene liebenswürdige Utopie des amerikanischen Novellisten Ed- 
ward Bellamy ,,Looking backward", welche von Prof. Georg v. Gizycki ins 
Deutsche übertragen und unter dem Titel ,,Ein Rückblick aus dem Jahre 2000'* 
herausgegeben, bei uns einen ungeahnten Erfolg erzielt hat. Das novellistische 
und romantische Element in dem Buche ist ebenso wie die Composition zwar etwas 
dürftig; doch sind die anziehenden Farben, mit denen hier die künftige sociale 
Gesellschaft geschildert wird, so anziehend und verlockend, dass dieses Phan- 
tasiegemälde fast an Etienne Gäbet s glänzende Schilderungen des Socialstaats 
in seiner einsl vielgelesenen „Voyage en Icarie" erinnert. Bellamys Utopie hat 
eine Menge von Gegenschriften hervorgerufen, die jedoch zu unbedeutend sind, 
um hier erwähnt zu werden. 



Wilhelm Röscher. 165 

Carey ist bekanntlich schon seit mehr als 20 Jahren durch 
Eugen Dühring, der ihn allerdings weitaus überschätzt, in Deutsch- 
land eingeführt worden. Seitdem sind seine Schriften, insbesondere 
seine „Principles of Political Economy" (3 Bde.), sowie seine „Prin- 
ciples of social Sciences" (3 Bde., deutsch von Adler) bei uns viel 
verbreitet worden, obgleich die bisher herrschende deutsche Frei- 
handelsrichtung den schutzzöUnerischen Ideen Careys wenig geneigt 
war. Anders freilich hat sich die Sache seit einem Decennium 
gestaltet, seitdem der „Schutz der nationalen Arbeit" auch in Deutsch- 
land das herrschende Stichwort geworden ist. Carey wird jetzt 
viel und eifrig studiert und wie früher Adam Smiths berühmtes 
Buch „Inquiry into the nature and causes of the wealth of nations" 
gewissermassen die Bibel aller volkswirtschaftlichen Jünger gewesen 
ist, so sind jetzt Careys Schriften unter der studierenden Jugend 
Deutschlands gewissermassen zum Range der „Klassicität" erhoben 
worden. 

Aber Schmoller ist doch weit entfernt, diesen schriftstellerisch 
so fruchtbaren Amerikaner zu überschätzen. Seine Charakteristik 
zeigt Licht und Schatten in der gehörigen Verteilung: „Ein reiner 
Agitator und Pamphletist war der gänzlich ungelehrte, ja wissen- 
schaftlich fast rohe oder kindliche Autodidakt ein grosses, ruheloses 
Talent, ein Polyhistor und Bücherverschlinger, ein Broschüren- und 
Leitartikelschreiber, der Jahrzehnte lang fast täglich sein Tintenfass 
ausschrieb, in seinen wissenschaftlichen Grundanschauungen so 
phantastisch, dass fast jeder deutsche Primaner (!) ihn auslachen 
muss (sicl), wenn er von derselben Kraft deklamiert, welche Planeten 
in ihrem Gange und die Menschen in ihrer Verteilung auf die ver- 
schiedenen Ansiedelungen beherrsche. Aber doch ein Mann, der 
es zu Wege gebracht hat, dass Millionen seiner Mitbürger auf ihn 
schwören, dass seine Hauptbücher in alle Sprachen übersetzt sind, 
dass ein bedeutender, freilich einseitiger Denker ihn zu den ersten 
Namen seiner Wissenschaft rechnen konnte. Was an Carey anzieht 
und anziehen muss, ist leicht zu sehen. Wen freut es nicht, einmal 
endlich einer Erscheinung zu begegnen, die auf eigenen Füssen 
steht? Carey ist ein origineller Denker und einer, der als Be- 
obachter auf einem wirtschaftlich höchst interessanten Boden, 



16(5 Wilhelm Koscher. 

auf dem jungfräulichen Boden Amerikas, umgeben von dieser 
jugendlichen Riesenkultur, vieles gesehen und gehört hat, was unserm 
europäischen (Gesichtskreise fern liegt." 

Diese Charakteristik ist in wesentlichen Pimkten zutreffend wie 
auch die psychologische Bemerkung Schmollers richtig ist, dass 
Carey, als Irländer von Abstammung, von leidenschaftlicher Wut 
gegen England erfüllt, sein Lebelang die englische Freihandeltheorie 
bekämpft habe. Aber zu diesem mehr unbewussten psychologischen 
Motiv müssen auch sachliche Gründe kommen und an diesen hat 
es Carey bei der Veiteidigung des amerikanischen Schutzzolles nicht 
fehlen lassen. Dass er hierbei sich vielleicht in Widersprüche 
verwickelte, ist ja richtig. Aber dieses hat darin seinen Grund, 
dass Carey kein deutscher Professor, kein Gelehrter in unserem 
Sinne gewesen ist, dem es darauf ankam, ein durchdachtes und 
widerspruchloses Gedankensystem auszuarbeiten, sondern wesentlich 
Journalist und Agitator war, der seine Argumente sehr oft nach der 
politischen Situation wie nach den Argumenten seiner Gegner 
modifizierte. 

Auch dem schnell berühmt gewordenen Verfasser von „Progress 
and Poverty" gegenüber ist Schmoller bemüht, möglichst objektiv 
zu sein. Henry Georges Agrarsocialismus bietet mancherlei 
interessante Punkte dar. Nicht aus mangelndem Kapital oder aus 
Meiischenüberfluss, wie Malthus behauptete, ist das Elend und der 
Pauperismus zu erklären, sondern derselbe rührt, wie George über- 
zeugt ist, von der Verteilung der produzierten Güter her. 
Dem Nachweis und der Begründung dieses Gedankens ist ein grosser 
Teil von „Progress and Poverty" gewidmet. Zu diesem Behufe 
muss eine neue Grundrententheorie aufgestellt und das Verhältnis 
von Lohn und Kapitalzins anders, als dieses bisher geschehen ist, 
formuliert werden. Alle bisher angewandten Mittel, wie der freie, 
billige Verkehr mit Grundstücken, die Beschränkung der Latifundien- 
bildung, die gleiche Verteilung des Grundbesitzes, die Beschränkung 
des Pachtrechts und dergl. werden das Grundübel, das Land- 
monopol nicht beseitigen. Das einzige und wahre Heilmittel 
besteht darin, das Privateigentumsrecht an Grund und Boden 
aufzuheben und dieses zum Gemeingut zu erheben. War ja 



Wilhelm Röscher. 167 

doch Grund und Boden auch in den früheren Kulturperioden immer 
ixemeingut gewesen. Der sociale Fortschritt (progress) muss darin 
bestehen, dass er wieder das werden muss, was er schon gewesen 
ist. Aber wie soll dieses geschehen? Nicht, wie Herbert Spencer 
will, dadurch, dass alles Land gegen Entschädigung eingezogen und 
an den Meistbietenden verpachtet wird, sondern dadurch, dass die 
Grundrente durch Besteuerung für den Staat appropriirt, sonst 
jedoch jeder Eigentümer seinen Besitz zur freien Verfügung erhält. 

George verspricht sich von seiner radikalen Massregel die 
wunderbarsten Wirkungen z. B. die Abschaffung aller anderen für den 
einziehenden Staat wie den zahlenden Bürger gleich lästigen Steuern, 
mit Ausnahme der Cirundrentensteuer. Hierdurch würde aber nach 
der festen Überzeugung Georges die Thatkraft, die Betriebsamkeit 
und die Wirtschaftlichkeit der Bürger in ausserordentlichem Masse 
erhöht werden. Ferner würde dann alles jetzt dem landwirtschaft- 
lichen Anbau entzogene Land diesem Zwecke wieder zurückgegeben 
werden. Der Verkaufspreis des Bodens würde fallen und deshalb 
alle Grundstückspekulationen fortfallen und dergl. Noch glänzender 
sind die intellektuellen und moralischen Fortschritte, welche George 
infolge seiner Landreform in Aussicht stellt. Diese Schüderungen 
lesen sich wie die Phantasiestücke in den Utopien von Thomas 
Morus, Campanella und Etienne Cabet. 

Schmollers Kritik gegen Henry George ist massvoll und scho- 
nend. Er meint, der Grundfehler des Buches bestehe in der 
Oeneralisation wesentlich amerikanischer Verhältnisse und in ihrer 
Unübertragbarkeit auf Europa. Schmoller verweist auf die Ge- 
schichte der Landwirtschaft, aus welcher zu ersehen sei, welche 
fördernde Rolle die Einführung des privaten Grundbesitzes gespiel 
hat. Ist es aber zu verlangen, dass ein ernster Reformer, welcher 
aus dem Privatlandbesitz alle heutigen Übel der Gesellschaft her- 
leitet, sich um historische Rückblicke kümmern soll? Schmoller 
furchtet auch, dass die Aufhebung des Privatlandbesitzes die „Grund- 
lage für jede unabhängige Aristokratie" zerstören könnte. Wir sind der 
Meinung, dass z. B. in Deutschland das Verschwinden des begehrlichen 
und entarteten Landjunkertums von dem grössten Teil der Nation 
nicht sehr bedauert werden wird. Wir würden dann wenigstens keine 



168 Wilhelm Koscher. 

„Agrarier" als gesonderte politische Partei besitzen, die mit allen 
rückschrittlichen Mächten in Staat, Wissenschaft und Kirche im Bunde 
steht. Und was endlich Schmollers £inwand betrifft, dass bei 
Henry George eigentlich nur Generalisationen specifisch amerika- 
nischer Agrar- und Industrieverhältnisse vorliegen und dass seine 
Vorschläge auf Europa unübertragbar wären, so vergisst er, dass 
George selbst europäische Nationalökonomen etc. citiert und auch 
in seinen Ausführungen auf die betreffenden Verhältnisse in den 
europäischen Ländern Rücksicht nimmt. Ja für Deutschland selbst 
haben, was Prof. Schmoller gänzlich übersieht, die agrarsocialistischen 
Ideen Georges ein gewisses aktuelles Interesse. Schmollers Auf- 
satz ist 1882 geschrieben, aber seitdem haben wir die Anfänge einer 
durchaus ernst zu nehmenden agrarreformatorischen Partei zu 
verzeichnen, an deren Spitze der durch seine Schriften *) bekannte 
deutsche Agrarpolitiker Michael Flürscheim steht. 

Michael Flürscheim ist Agrarsocialist und die „Sociale 
Frage" ist es, deren Lösung er bei seiner ganzen bisherigen littera- 
rischen und — neuerdings auch agitatorischen Thätigkeit im Auge 
hat. Aber diese Lösung ist nach Flürscheim nur auf dem „einzigen 
Rettungswege" möglich, d. h. der Rückgabe des Grundes und 
Bodens an die Volksgemeinschaft. Dieser Grundgedanke 
wird in dem Werke „Der einzige Rettungsweg" in 7 Kapitel-Ab- 
schnitten mit einer gewissen Breite zwar, aber mit Wärme und 
Überzeugungstreue vorgetragen. In den 7 Abschnitten behandelt er: 

*) Ein Vorschlag zur Losung der socialen Frage (3. Aufl. 1884); das 
Staatsmonopol des Grundpfandrechts (1885); der einzige Rettungsweg (1886); 
Deutschland in 100 Jahren (1887) u. s. w. Flürscheinr» war früher Fabrikant 
zu Ciaggenau in Baden und lebt jetzt als Schriftsteller in Baden-Baden. Flür- 
scheim hat grosse Reisen gemacht und die wirtschaftlichen Verhältnisse Europas 
und Amerikas eingehend studiert. Einer der Hauptagitatoren für den Fltir- 
scheim*schen Agrarsocialismus in Deutschland, Dr. Aug Theo d. Stamm in 
Wiesbaden, der Begründer des „Allwohlbundes", ist vor Kurzem (im Juni 1892) 
gestorben. Ausser einigen religionsphilosophischen Schriften, in denen er eine 
auf natürlicher und wissenschaftlicher Basis aufzubauende religiöse Reform an- 
strebt, hat er auch eine Reihe socialpolitischer Arbeiten veröffentlicht, von denen 
wir nennen: ,Die Erlösung der darbenden Menschheit" (4. Aufl. 1884); ,Die 
socialpolitische Bedeutung der Bodenreform" (188$); „Adam Smith und seiner 
Schüler Irrlehre* (1887.) 



Wilhelm Koscher. 169 

„das Problem", „die Lösung des Problems", „der einzige Rettungs- 
weg", „die Wirkungen der Reform", „die Wege der Durchfiihnmg", 
„Widerlegung der Einwände", „Zusammenfassung des Inhalts". Der 
Verfasser frSgt: „Was ist die sociale Frage" und giebt die Antwort: 
„Früher war die sociale Frage eine Sache des Mangels, heute 
haben wir das umgekehrte Bild, die Not wegen des Überflusses^ 
Wegen sog. Überproduktion haben wir Arbeitslosigkeit Die 
fehlende Kauffähigkwt wegen Geldmangels kann nicht als Grund 
gelten, da (ield nur ein Mittel zur Tauscherleichterung ist und in 
den meisten Fällen gar kein wirkliches, sondern nur Gedankengeld 
in Anwendung kommt „Das Symptom der Krank- 
heit ist der schnell zunehmende Reichtum einer Minder- 
heit neben Massenverarmung". Das Hauptunglück besteht 
aber nicht darin, dass Einzelne in Überfluss schwelgen, während 
die Andern darben, sondern in dem Umstand, dass Erstere nicht 
noch mehr vergraben, d. h. dass sie ihr Einkommen nicht verbrauchen, 
sondern zum Teil ersparend und zinsbringend anlegen. Der Zins 
ist aber ein Tribut auf die Güter-Erzeuger. Zins und Zinseszins 
bilden eine Macht, gegen welche die Arbeit nicht ankämpfen 
kann. Die Tributmacht der Rothschild, Gould, Vanderbilt u. s. w. 
iht bereits zu einer solchen Höhe gediehen, dass wir eine weitere 
Verdoppelung in den nächsten zwanzig Jahren nicht werden ertragen 
können. Friede und Sicherheit des Besitzers, ungestörte Güter- 
produktion müssen nur um so schneller den allgemeinen Ruin herbei- 
führen. Krieg und zerstörende Naturereignisse können allein in dieser 

Lage eine Herausschiebung der Katastrophe herbeiführen" 

„Der Grund und Boden bildet die Hauptquelle des imaginären 
Kapitals". Es ist kein Erzeugnis der Arbeit, bietet aber in 
Folge seiner Unentbehrlichkeit ein unfehlbares Mittel der Tribut- 
erhebung für diejenigen, welche ihn mit Beschlag belegen können. 
Der grösste Teil des Weltkapitals besteht also aus dem Wert 
der Tributpflicht der arbeitenden Volksmassen, und ist nichts 
weiter als der Marktpreis des Fleisches aller weissen und farbigen 

Sklaven 

Die Lösung der „Socialen Frage" sieht Flürscheim in der 
Abschaffung des Zinses, resp. der Rente und in der Aufhebung 



170 Wilhelm Röscher. 

des Privat- Grundeigentums. Alle andern vorgeschlagenen 
Mittel sind nur palliativer Natur und treffen nach Flürschheim auch 
nicht das Wesen jener allgemeinen Weltkrankheit, die wir „sociale 
Frage" nennen, weder ist es die Übervölkerung, noch der Militarismus, 
noch die Zollfrage, noch auch die W^ährungsfrage, am Allerwenigsten 
die sogen. Judenfrage, die das Wesen der socialen Krankheit berühren. 
Was I., die Übervölkerung betrifft, so zeigt sich das sociale Problem 
ebenso gut in dünn- wie in dichtbevölkerten Ländern. Ferner IL, 
Militarismus! Hier meint Flürschheim, dass eine Entlassung aller 
stehenden Heere die Überproduktion noch weit mehr steigern, 
also das Übel vergrössern würde. Auch IIL, die politische und 
gewerbliche Freiheit ist ohne Belang, da die sociale Not in 
ihrem Auftreten oder Verschwinden ganz unabhängig von diesen 
Faktoren ist. Dann wird auch noch die Zollfrage sehr oft als 
Grund der Notlage hingestellt. Aber mit Unrecht: denn wie in 
freihändlerischen so tritt die sociale Krankheit auch in schutz- 
züUnerischen Ländern hervor. Den Juden gar als die Ursache 
der socialen Not hinzustellen, zeugt von ebenso viel volkswirtschaft- 
licher Unwissenheit als von moralischer Bosheit. Ich gehe jedoch hier auf 
die weitern Consecjucnzen, die Flürscheim aus seinem Grundprinzip 
herleitet, nicht weiter ein, glaube indess, dass dieser Agrarsocialismus 
eine gewisse Zukunft hat, da seine l^ehauptungen auf wirklichen und 
thatsächlichen Verhältnsisen beruhen, ferner weil seine Schlüsse und 
Folgerungen logisch unanfechtbar sind, und last not least, weil die 
Bodenreform von politischen und X'erfassungsfragen völlig unab- 
hängig ist, also ebenso gut in Monarchien als in Republiken durch- 
gesetzt werden kann — . Doch kehren wir zu Schmoller zurück. 
Im Übrigen stellt unser Berliner Professor Herrn Henry George^ 
für dessen ehrliches Streben auch wir alle Sympathien haben, höher 
als sein viel gerühmtes Buch. Er erblickt in ihm einen „frischen 
ganzen Mann, dem die neue W'elt, das Rauschen des Urwaldes und 
die kernhafte Kraft des Amerikanertnms noch ein ganzes Herz und 
einen offenen scharfen Blick gelassen und der uns ein Selbstbekenntnis 
darüber ablegt, was aus einer Mischung solcher Elemente mit der 
abgelebten Schulweisheit englischer Popularphilosophie 
werden könne." Ich habe diesen Passus, der mit einem* zärtlich 



Wilhelm koscher. 171 

wohlwollenden Blick auf George zugleich einen scharfen Hieb nach 
einer andern Seite austeilt, zweimal gelesen, da mir augenblicklich 
nicht recht klar war, wem jener Seitenhieb zugedacht war. Die 
„abgelebte Schulweisheit englischer Popularphilosophie"? Mir geht 
es hierbei, wie dem seligen Rat Camillo Rota in Lessings „Kmilia 
Galotti." „Ein Todesurteil?" „Recht gern!" Wie? „Recht gern?" 
Mir will das Wort nicht aus dem Sinne: „Recht gerni". Aber 
Professor Schmoller ist doch kein verliebter Prinz von Gonzaga, 
der, von dem Eindrucke einer schönen jungen Dame in Bann ge- 
halten, so etwas gedankenlos ausspricht Wer mag nur in aller Welt 
unter der „abgelebten Schulweisheit englischer Popularphilosophie" 
gemeint sein? Adam Smith, der ausser seinem weltberühmten, volks- 
wirtschaftlichen Werke auch eine „Theory of moral sentiments" ge- 
schrieben hat, in der er in einem gewissen Gegensatz zu seinem 
einen egoistischen (irundzug zeigenden wirtschaftlichen Hauptwerke 
alle moralischen Empfindungen auf die Einstimmigkeit der Erregungen 
und das (ilück der Gesellschaft auf dieser „Sympathie der Seelen" 
aufbaute? Oder sind mit jenem vernichtenden Worte Ricardo 
und Malthus gemeint? Diese haben sich unseres Wissens niemals 
weder spekulativ noch populär mit philosophischen Problemen be- 
schäftigt. Oder Herbert Spencer? Der hochgeschätzte Verfasser 
der „Principles of biologie", der „Principles of psychologie", der 
„Principles of sociologie" u. s. w. ist nichts weniger als ein Popular- 
philosoph etwa im Sinne der sogen. Aufklärungsphilosophie des 
1 8. Jahrhunderts. Spencer ist anerkanntermassen ein exakter Forscher 
ersten Ranges. Wer ist also gemeint? Doch halt! vielleicht John 
Stuart Mill? über welchen wir bei Schmoller (S. 247) die merk- 
würdigen Worte lesen, dass „eine spätere unbefangene Geschichts- 
schreibung ihn nur als einen greisenhaften, von abstrakter Gedanken- 
blässe angekränkelten, aller kraftvollen Individualität ermangelnden, 
scharfsinnigen Epigonen der Smith-Ikntham'schen Epoche aner- 
kennen wird." 

Dem weltberühmten Verfasser der „Induktiven Logik" wird 
dieser Satz weiter nichts schaden; aber wir bedauern ihn doch im 
Interesse — Schmollers selbst, dessen Buch sonst überall — nur nicht 
den englischen Nationalokonomen gegenüber — eine schöne objektive 



172 Wilhelm Röscher. 

Haltung zeigt. Nun ist es ja richtig, dass jenes harte Wort SchmoDers 
nicht dem berühmten Logiker und Methodologen, nicht dem kritischen 
Beurteiler der Hamilton'schen Philosophie, sondern wesentlich dem 
Verfasser der „Principles of political economy** gilt, ein Werk, um 
dessen willen kein Geringerer als Adolf Soetbeer, der es übersetzt 
hat, Stuart Mill neben Adam Smith, Say und Ricardo stellt, femer 
gilt es dem demokratischen Reformer, wie er sich in den Schriften 
„Thoughts on parliamentary reform", „On representative govemement", 
„On liberty", „The Subjection of women" u. s. w. zeigt. Aber ich 
meine doch, dass es selbst der Abneigung gegen den politischen 
Radikalismus — denn dieser ist hier das eigentliche innere Motiv 
— heutzutage nicht mehr erlau])t sein darf, gegen einen der an- 
erkannt ersten Forscher und politischen Schriftsteller des Jahrhunderts 
solche Ausdrücke zu gebrauchen, ohne — sich in bedenklicher 
Weise blosszustellen. 

Es ist überhaupt bemerkenswert, dass unsere heutigen deutschen 
Publizisten, sobald sie ihre konservative Gesinnung an den Tag 
legen wollen, gerade ihr Mütchen an Stuart Mill kühlen. Die Er- 
scheinung wäre unerklärlich, wenn man nicht wüsste, dass Mill 
der grösste Gegner alles Staatsabsolutismus — auch wenn er in 
der Form eines Staatssocialismus auftritt — gewesen ist. Mill ist 
der schärfste, wenn auch nicht tiefste Vertreter des socialen und 
staatlichen Individualismus. Und er ist so garnicht „historisch", 
und der Unerbitllichkeit seiner Deduktionen fehlt jede Romantik. Da- 
her der geheime und allgemeine Hass gegen einen Mann, dessen 
berühmte Abhandlung „Über die Freiheit" dahin gerichtet ist, dar- 
zulegen, dass „der einzige Zweck, der Menschen berechtigen kann, 
vereinzelt oder vereinigt, die Freiheit anderer zu beschränken, 
der Selbstschutz ist^ dass die einzige Absicht, in der man gegen 
irgend ein Mitglied einer gesitteten Gemeinschaft Gewalt gebrauchen 
darf, die ist, Unheil für andere zu verhüten. Sein eigenes Wohl, 
das leibliche wie das sittliche, ist kein ausreichender Grund dafür. 
Man kann ihn nicht gerechterweise nötigen, etwas zu thun oder zu 
unterlassen, weil das für ihn besser wäre, weil es ihn glücklicher 
machen würde, weil es — nach der Meinung anderer — verständig 
oder auch recht ist. Dies sind gute Gründe, um ihm Vorstellungen 



Wilhelm Röscher. 17Ji 

oder Einwürfe zu machen, um ihn zu bereden oder zax beschwören, 
aber nicht, um ihn zu zwingen oder I>eid über ihn zu verhängen, 
im Fall er anders handelt. Damit dies statthaft sei, muss die 
Handlung, die man hindern will, danach geartet sein, Übles für 
jemand andern zu bewirken. Der einzige Teil seines Verhaltens, 
für den jemand der Gesellschaft Rechenschaft schuldet, ist der, 
welcher andere betrifft. In dem, was nur ihn angeht, ist seine 
Unabhängigkeit rechtlich unbeschränkt \ über sich selbst, über seinen 
Körper und Geist ist der einzelne souverän." („Über die Frei- 
heit", deutsch von Th. Gomperz S. 9.) 

Um jedoch nicht von dem immerhin gehaltvollen Werke de» 
Professor Schmoller mit einem Tadel zu scheiden, wollen wir zu- 
letzt noch eines Mannes gedenken, dessen Name gerade in den 
letzten Jahren viel genannt wurde und der, mag man von seinen 
wirtschaftlichen Prinzipien denken wie man will, in uaseren Augen 
doch als ein hochverdienter deutscher Schriftsteller und Patriot gilt. 
Dieser ist: Friedrich List leider ist Lists Name in unsern 
Tagen vielfach als Parteistichwort gemissbraucht worden, welchem 
die fanatischen Schutzzöllner, wie Dühring, Eisenhardt u a. zum 
Gegenstand eines wahrhaft orgiastischen Kultus erhoben habcm. Es 
ist nur zu natürlich, dass infolge dessen von den echten Freihändlern 
die Bedeutung Lists wiederum \H:i weitem unterschätzt wird Der 
i>escheidene und treffliche Mann ist an diesem ganzen Treil^en 
völlig unschu\di^, 

Diesen Stand punk: rumrut aij^ii iviirnoller ein l#ei der Be- 
sprechung der von Protei v^r hhiz\ff:rt£ iu KrUngen l^esorgten 
7. Auflage von Liv>. \\'eric, Jy^-, \jifion;*»e .^yMitrn rler jK/litiv^hen 
<.)konomie* «Stut^ar. i'i'6%). KJ'*<:l/-rrj( hat /« di^ri*,f Au.^al/e eine 
grössere YÄn.t'-.'.zuz ^t^,hnt\A:u, ,u -^^ut u$:t trr L;-;f% IWyiciitfjng aui 
seinem l>eber. unc Hr;ner Zei* f.>:riu* hiu//nv7> ericUrt, Intuzf 
Aofgar* sine cie -cr-.teri 4 ¥^{fV*u «>,f Kh#:^/#rr{r v.Ken Fjoleirun;^ 
gewidmet, •»ahrer/i :if* 5, K^y^fz. /U^ V^rrhüiffin 'i^ von Li^t a^:?- 
gestellten Yrjt'JTA: z-r ^J:: 'JH'dKi, vo,iCA»irv,r»Äffii/Ji^i Wii*v:nv,ir»Äf\ 
wie sie sich ?e;c*T.»ir.i2 ;r* f>fr-vy.r..;jif»/: ^tx^Xk'**^, uik\tf:r ^ifdKtvif'r* 
wird Eheoerg ^t'Jz^' \i^Jr. wjr.:.\ .r.'ßt^Uft^f kiii c^» fV//>:ri n^rr Sa.*'- 
scher ':rT:Ta,y/:x. ö^ .;,?^^.-<.*:v-:r. V,r^i'^\ /Xtk^» er zwar *r^x,': 



174 Wilhelm Roschcr. 

gewisse Originalität und Wahrheit zugesteht, die jedoch zahhreidier 
Kinschränkungen und Ergänzungen bedürfen. Schmoller stimmt 
dem auch bei, hält aber dafiir, dass bei dieser Behandlungsweise 
doch die ausserordentliche Bedeutung Lists für die Fortbildong der 
ökonomischen Wissenschaft nicht in das rechte Licht gestellt werde. 

Nun, gegenüber der „Parteien Gunst und Hass", welche vor 
kurzem bei Gelegenheit des hundertjährigen Jubiläums Lists 
so recht zu Tage getreten ist, halten wir Schmoller gegenüber die 
zurückhaltende Art Ehebergs für das Richtigere: denn nur so ist 
von dem grossen Schriftsteller und Agitator ein objektives Bild 
zu gewinnen. 

Übrigens hat die Centenarfeier Lists gezeigt, dass, obgleich 
Adam Smith und der Freihandel heute viele marmigfisdtige mid ein- 
tlussreiche Gegner haben, diese letztem doch auch nicht zugleich 
einig in der Anerkennung der Prinzipien Lists sind. In der An- 
empfehlung eines strengen Protektionismus sind zwar alle Agrarier 
mit einem Teile unserer Grossindustriellen völlig einig. Aber diese 
Einigkeit tallt in sich zusammen, sobald es sich imi die landwirt- 
schaftlichen Zölle handelt und unsere .Xgrarier müssen sich andere 
Hunvlesgenossen suchen, als da sinvi : Zünftler. Antisemiten u. dergL 
— l >ieso Bundesgenossenschaü i<t den Agrariern umso erwünschter. 
ie mehr sie sich ieizt durch den soeenanmen Acrarsocialismus. 
wie er ourch die l>efürworter öer Bocenbesiizreform repräsen- 
:iert wirv:. Vecioh: sehen. Her auf der H.V.'eschen Generaiversamm- 
lunc Ivsohiossene P'.-.n eiiier .u:itat*"riM:r.en Inangritihahme des platten 
1 , indes seitens der Socialdemokraiie >chein: schwer durchmhrbar zu 
sein, l^io Ivkuemmasse is: ru zjLhe und :rju:e. klebt an her- 
j:ebr.u h:en \ v^rs:e'/.v.r.*:er. und steh: auch noch zu sehr uster dem 
Kir^riusse der iivtsherrer. und der i.ie:st"ichke::. ils dass die Socral- 
deniv"krat:e "^t.*: M.hcn Aussicht h^tte, auf den: I or.de lesen Fuss 
ru lassen. \\r. ^reser Seite her h.-.Ven als«: die A^irier zunächst 

nooh ;;:cht> :u :.:jch:c''., l\:j:e*:en ".:e*:e:: ti runde v?r. welche eine 

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Wilhelm Koscher. 175 

Gebiete betrieben wird. Von neueren Werken erwähnen wir nur 
das vor kurzem erschienene von W. E. Backhaus: „Allen die 
Erde!'**) Das Buch ist nicht ausschliesslich der Bodenbesitzreform 
gewidmet; aber das umfangreiche Kapitel Vlll beschäftigt sich doch 
wesentlich mit dieser Frage, während die übrigen Abschnitte andere 
socialpolitische und rechtsphilosophische Probleme („W^esen und 
Zweck des Staates"; „Ur- und Grundrechte"; „Zusammengehörigkeit 
des Socialismus und Individualismus" u. s. w.) zum Gegenstande der 
Betrachtung haben. 

Von den letztgenannten Kapiteln scheint mir für den Charakter 
und die Tendenz des Werkes das VI. über die „Zusammengehörig- 
keit des Socialismus und Individualismus" das bezeichnendste zu 
sein. Bei der W^ichtigkeit der hier gemachten Vorschläge, um eine 
Versöhnung der heutigen gesellschaftlichen Gegensätze und der 
ihnen entsprechenden socialpolitischen Theorien herbeizuführen, 
wollen wir bei dem Inhalt dieses VI. Kapitels einige Augenblicke 
verweilen. 

Der Verfasser hält den Individualismus und den Socialis- 
mus nur für einen scheinbaren Gegensatz. Eine gewisse histo- 
rische Berechtigung hatte ja wohl diese Entgegenstellung: „Die 
Weltkörper können sich bekanntlich nur dadurch mit wunderbarer 
Sicherheit und Genauigkeit durch den Weltraum schwingen, dass 
die Centripetalkraft und die Centrifugalkraft gemeinsam und 
in ununterbrochener Harmonie ihnen die Bahn bestimmen. Licht 
und W^ahrheit können nur sein in Begleitung von Schatten und 
Irrtümern. Freiheit kann nur walten innerhalb eines unverrück- 
baren Ordnungsganzen. Eine Realität kann nicht Kraft und 
anstrebendes Leben gewinnen, der nicht das Siegel der Idealität 
aufgedrückt wäre; und ein Ideales ist ohne Körperlichkeit ebenso 
wenig in der Welt der Erscheinungen möglich, als ein Körperliches, 
dem nicht der ewige Gedanke innewohnte. Der ganze Weltenbau 
stellt sich uns dar als ein unendlich mannigfaltiges, aber von 
einem Geiste durchdrungenes Ganzes, in welchem alle Einzelkräfte 
und alle Gegensätze eins sind und folglich alles seelische und alles 
stoffliche, die ganze Unermesslichkeit der individuellen Erscheinungen, 

*) Leipzig 1893. Verlag von Wilhelm Friedrich. 



176 Wilhelm koscher. 

ZU einer unauflöslichen Einheit verbunden ist. Sein und Werden, 
und Werden und Sein; ein beständiges Neuerscheinen und ein 
ununterbrochenes Entschwinden; die Existenz des Besonderen im 
Allgemeinen und des Allgemeinen im Besonderen ; die Fortentwicke- 
lung des Ganzen durch das Einzelne und im ^Einzelnen, und des 
Einzelnen im Ganzen und durch das Ganze: auf dieser steten 
wechselseitigen und gemeinschaftlichen Thätigkeit beruht die Et- 
haltung und dauernde Erneuerung des Weltganzen in jedem 
organischen Einzelgebilde. Es giebt daher keinen grösseren 
Triumph des menschlichen Geistes, als zu verbinden, 
was von Naturrechtswegen zusammengehört und zu einem 
einheitlichen Zusammenwirken zu führen, was kraft des Weltgesetzes 
nicht vereinzelt wirken soll." 

Gegen diese cosmologisch-philosophische Voraussetzung wird 
wohl niemand etwas einzuwenden haben. Aber was ist der langen Rede 
kurzer Sinn? Dass im Staate die Zwecke des Individuums und die 
der Gesellschaft zwar nicht identisch sind, aber sich doch gegen- 
seitig ergänzen, weil beide mit einander verwachsen und so unlösbar in 
emander verschlungen sind, dass die Existenz einer staatlichen 
Gesellschaft nicht einmal gedacht werden könnte ohne die Elxistenz 
einer unermesslichen Summe individueller Lebenstliätigkeit Auch 
dieser allgemeine Satz ist so unanfechtbar, dass der radikalste 
Kommunist wie der konsequenteste Individualist nichts g^en seine 
Allgemeingüitigkeit einzuwenden hätte. Also sind, so folgert der 
Verfasser weiter. Socialismus und Individualismus nur relative 
Begriffe Eine Armee ist ohne einzelne Soldaten nicht denkbar 
und der einzelne Soldat leisiei nichts ohne Einordnung in einen 
ganzen Roiper y^wie Kompagnie. Bataillon. Regiment, Brigade, 
Pivisüon, Armeekorps und die ganze Armee), l'nd doch beruht 
bekanntlich die l.eisiungstähigkeii der ganzen Armee auf der 
ruchii^keii jedes einzelnen Soldaten — darüber sind alle Strat^en 
einiiT. I>ie cememsame Fhäiikikeit aller, welche in der obersten 
Leiiua*: cer Heertlihrer repra:ieniien i>i und die hingebende Tapferkeit 
oes Einzelnen jii>ammen machen ersi den Ertoig einer Armee aus. 
Pis eine ohne da> andere h;it. wie die Geschichte der alten und 
ne-eren Kiieiistlihruiii: ^e:»::. keinen Eriolg. 



Wilhelm Röscher. 177 

Aber dass das Ganze nicht ohne die Teile und die Teile nicht 
ohne das Ganze bestehen können, ist am Ende ein alter Satz der Logik, 
der, für jedermann verständlich, auch durch die organischen Natur- 
wissenschaften bestätigt wird. In der Pathologie ist Krankheit 
nichts anderes, als dass das einzelne Organ in seinem individuellen 
Leben Zwecke verfolgt, die dem Zwecke des ganzen Organismus 
Eintrag thun. — Aber was ist mit dieser Wahrheit für die Social- 
wissenschaft neues gewonnen? Die Hauptfrage l^ist doch die, wie 
muss ein Staat eingerichtet sein, damit die Zwecke des Ganzen 
sich decken mit den Zwecken des einzelnen Staatsbürgers? Denn 
alle politischen und socialen Kämpfe kamen bisher aus der Divergenz 
dieser beiden Seiten und von den vergeblichen Versuchen her, diese 
beiden Interessensphären in Übereinstimmung zu bringen; wobei 
wir noch gar nicht die Frage aufwerfen wollen, ob das Staatsganze 
auch Interessen haben soll, die nicht zugleich die Interessen des 
Individuums sind, d« h. ob der Staat um des Staatsbürgers, oder 
dieser um jenes willen da ist — Es kommt also darauf an, eine Ge- 
sellschaftsform zu finden, welche die Wohlfahrt des Individuums (d. h. 
seine materielle, intellektuelle und moralische Vervollkommnung) 
mit der Wohlfahrt des Ganzen (d. h. seine Stärke behufs Schutz 
gegen äussere und innere Feinde und die Möglichkeit einer schnellen 
und leichten Funktionierung) identisch machen kann. Wie soll nun 
dies geschehen? Herr Backhaus glaubt dadurch, dass er die indivi- 
dualistische Produktionsweise neben die socialistische als ebenbürtig 
hinstellen will. Wie ist dies zu verstehen ? Innerhalb desselben Staates ? 
Der Verfasser meint, dass, wie im individualistischen Staate das socia- 
listische Prinzip sich vielfach Geltung verschafft habe, so werde sich auch 
im socialistischen Staate das individuelle Prinzip seine Berechtigung er- 
kämpfen. Das ist wohl thatsächlich richtig. Aber dieser Vorgang 
zeugt doch nur vom Kampfe, nicht von der Eintracht beider 
Prinzipien, die doch der Verfasser anstrebt. „Warum, fragt Herr 
Backhaus, könnte der Individualismus im Reformstaate (d. h. im 
künftigen Staate des Herrn Backhaus) nicht dergestalt wirksam sein, 
dass der Nutzen des Einen nicht zugleich den Schaden des 
Andern bedingt, und nicht Einige hoch bereichert werden mit 

Gütern, welche Anderen von Naturrechtswegen gehören, während 

12 



178 Wilhelm Koscher. 

diese Anderen verarmen müssen? Aus welchen stichhaltigen Gründen 
sollte der Individualismus nicht auf allen Arbeitsgebieten, gleich 
wie in der Natur, reichen Segen verbreiten, und die Kraft des 
socialen Gedankens ohne Schädigung des Individuums, 
gleich wie in der aussermenschlichen Schöpfung, sich voll entfalten 
können? Wenn der Wirkungskreis jeder einzelnen Persönlichkeit 
eine kleine Welt für sich darstellt und allen diesen kleinen indivi- 
duellen Welten der wtiste Kampf boden kapitalistischer Konkurrenz 
entzogen worden ist und sie alle durch den fruchtbaren und fröh- 
lichen Wettstreit der Arbeit mit der Arbeit verbunden sind 
und diese Arbeitsleistung, so verschieden sie immer an äusserem 
und innerem Werte, an Nutzen und Erfolg sein möge, doch ins- 
gesamt der allgemeinen Wohlfahrt zu Gute kommen, welch' 
schönerer Sieg wäre für den Individualismus und welch* höhere 
Blüte für den socialen Staat erreichbar? Sobald der Gerechtigkeit 
im Leben des Staates in seinen Gesetzen und Einrichtungen eine 
feste Burg erbaut worden ist, wird sie überall in der Gesellschaft 
walten können, und sie wird dann, nach menschlichem Massstabe 
gemessen, überall walten." 

Die Antwort auf diese Fragen giebt dann der Verfasser selbst, 
nachdem er in Kap. VII das Programm der Socialdemokratie und ihrer 
verschiedenen Richtungen und Nuan(;en kritisch untersucht hat, in 
Kap. VllI, wo er die Vorzüge der Bodenbesitzreform darzu- 
legen bemüht ist. Wir haben also in dem Verfasser einen echten 
Anhänger des Agrarsocialismus vor uns, der in seinem zukünf* 
tigen „Reformstaate" die guten Seiten des Individualstaates mit 
denen des socialistischen Staates verschmolzen sieht. — In einem 
Schlusskapitel: „Das gemeinsame Banner" giebt der Verfasser eine 
Rekapitulation und Zusammenfassung des Inhalts seines durchweg 
auf ernsten ethischen Prinzipien beruhenden Werkes. Er formuliert 
seine Forderungen schliesslich in folgenden sechs Sätzen: 

i) „Da die Erde ein Werk der ewigen Allmacht, nicht Menschen- 
werk ist, so kann sie weder das Eigentum eines einzelnen, noch 
einiger wenigen Menschen sein. Und da sie femer der Urquell 
aller Güter, und deswegen mit ihren Kräften und Erzeugnissen, 
gleich der Luft, dem Lichte und der Wärme, zum Dasein des 



NVillielm Roscher. 179 

Menschen sowie zu seiner geistigen und körperlichen Entwickelung 
schlechterdings unentbehrlich ist: so muss jeder einzelne Mensch, 
sei es unmittelbar oder mittelbar, Teil haben an einer sein Be- 
dürfnis befriedigenden Benutzung aller jener Kräfte und Erzeugnisse. 
Das Recht auf die Benutzung der Naturkraft und aller 
natürlichen Güter, sowie das Recht auf die vollkommendste 
Entwickelung seiner Persönlichkeit und somit auf den 
ungehinderten Gebrauch aller seiner Kräfte: diese beiden 
Rechte bilden das Ur- und Grundrecht der Menschen. 

2) Weü nun aber der Gnmd und Boden der Erde thatsäch- 
lich im Besitze einer kleinen Minderheit der Menschen sich befindet, 
und die grosse Mehrheit derselben die zum Leben gehörigen Mittel 
von der Minderheit nur unter der Bedingung einer ihr abgezwungenen 
und beständig sich vermehrenden Tributzahlung notdürftig, und 
nicht einmal sicher, erhalten kann, und infolge dieses thatsächlichen 
Verhältnisses die Zahl der Besitzenden immer kleiner, d. h. immer 
reicher und mächtiger, die Zahl der Nichtbesitzenden dagegen immer 
grösser, d. h. immer ärmer und machtloser wird: so ist es sowohl 
aus Gründen der Gerechtigkeit, wie nicht minder der 
Staatsklugheit dringend geboten, sämtlichen Privatboden- 
besitz in Allgemeinbesitz, d. h in das Eigentum Aller 
umzuwandeln. 

3) In Erwägung, dass überwiegender Privatbesitz an Grund 
und Boden die Grundlage aller Unfreiheit, sowie die Ursache aller 
socialwirtschaftlichen Drangsale, der Gemeinbesitz alles Grund und 
Bodens aber die Grundlage individueller und wirtschaftlicher Wohl- 
fahrt bildet ; sowie in weiterer ErwSgvmg, dass die politische Macht 
eines Staates auf seiner ökonomischen Macht beruht, und die Besitz, 
ergreifung der ökonomischen Machtmittel als die unerlässliche Vor- 
bedingung zur Gewinnung der politischen Macht sich darstellt: ist 
es die heilige Pflicht aller Social- und Wirtschaftsreformer, 
unter welchen Parteinamen sie auch auftreten mögen, ihre 
Reformbestrebungen mit aller Kraft zunächst einzig und 
allein darauf zu richten, dass das Recht auf privates 
Eigentum am Erdboden aufgehoben werde. 

4) Die Überweisung des vaterländischen Grund und Bodens 

12* 



180 Wilhelm Roscher. 

aus den Händen der Privateigentümer in die Hände des Staates 
oder der Gemeinden muss auf dem Wege der Expropriation 
geschehen und zwar gegen Entschädigung nach Massgabe des 
durch vereidigte Sachverständige abgeschätzten Wertes. 

5) Jede Art von produktiver Arbeit muss sich im Reformstaate 
auf der Grundlage persönlicher Freiheit vollziehen; denn die 
Einzelkraft bildet die Grundfeste und zugleich die Initiative jeder 
menschlichen Schaffensthätigkeit Weil aber keine Individualkrait 
sich bilden und geltend machen kann, es sei denn innerhalb der 
menschlichen Gesellschaft, so muss der Individualismus, die 
wirtschaftliche Grund- und Schwungkraft, mit dem Socialis- 
mus, der wirtschaftlichen Zustrebe- und Sammelkraft, im 
Haushalte einer jeden staatlichen Gesellschaft, gleichwie 
im Haushalte der Natur, zusammenwirken. — Daraus folgte 
dass die Formen, in welchen die wirtschaftliche Arbeit sich voll- 
zieht, individualistisch und socialistisch, also föderalistisch, sein 
müssen. Demnach wird es in der staatlichen Gesellschaft ebenso- 
wohl Einzelgeschäfte wie sociale Geschäfte und ebenso- 
wohl individuelles wie kollektives Eigentum geben. Welche 
dieser Werk- und Eigentumsformen für die verschiedenen industriellen 
und merkantilen Betriebe am gemeinnützigsten sind und in welchem 
Verhältnisse sie zu einander stehen müssen, damit sie so gemein- 
nützig wie möglich wirken, kann erst nach der Umwandlung 
des Privatbodenbesitzes in Gemeinbesitz festgestellt werden. 

6) Da aber jedes einzelne Individuum sowie die zu einer 
Gesellschaft verbundenen Individuen nur dann von ihren Grund- 
und Freiheitsrechten Gebrauch machen können, wenn niemand die 
Macht hat, sie an der Ausübung ihrer Rechte zu hindern, und die 
Möglichkeit nicht geleugnet werden kann, dass auch im künftigen 
Reformstaate politisch und kapitalmächtige Persönlichkeiten oder 
Gesellschaften die wirtschaftlich schwächern Existenzen in ihren 
Rechten schädigen und dadurch gemeinschädlich handeln, so mögen 
in Zukunft Anordnungen und Einrichtungen nötig werden, welche 
geeignet sind, die schwächeren Glieder der staatlichen Gesellschaft, 
sowie diese selbst, gegen die Schädigung ihrer Rechte zu schützen. 

Welcher Art solche Wohlfahrtsmassregeln und in welchem 



Wilhelm Koscher. 181 

Umfange, sowie in welcher Weise sie angewandt werden müssen, 
wird sich erst nach Durchführung der Reform an der Hand ge- 
machter Erfahrungen bestimmen lassen." 

Wir haben also hier eine Art von Gesellschaftsprogramm 
vor uns, welches sich als ein Kompromiss zwischen dem heutigen 
Invidualstaat und dem von socialdemokratischer Seite geplanten 
Socialstaat charakterisiert. Dieser Kompromiss geht natürlich weiter 
und ist offenbar radikaler als jener Staatssocialismus, der von 
einigen Regierungen und Parteien angestrebt wird. Denn jener „Reform- 
staat" ist nur zu erreichen nach Durchführung der Bodenbesitz- 
reform, d. h. nach Übertragung des gesamten individuellen immo- 
bilen Eigentums auf den Staat. Unser Socialreformer verspricht sich 
von dieser Massregel allen möglichen Segen für Staat und Gesellschaft. 
Aber wie berechtigt auch manche der in dem W^erke des Herrn Back- 
haus über diesen Punkt vorgebrachten Ideen sind (welche sich 
übrigens auf die Gedanken Georges und Flürscheims stützen), so 
vermissen wir hierbei doch eins — nämlich den näheren Nachweis 
der Möglichkeit einer solchen Agrarreform und deren Fortbestand 
Ähnlich wie die Führer der Socialdemokratie, wenn sie nach der 
Form und Organisation ihres künftigen Socialstaates gefragt werden, 
ausweichend antworten, dies könne heute noch gar nicht gesagt 
werden, meint auch Herr Backhaus, dass die Modalität eines Zu- 
sammenbestehens individualistischer und kollektivistischer Arbeits- und 
Produktionsformen in seinem künftigen „Reformstaate" ebenso wie 
die „Wohlfahrtsmassregeln" gegen etwaige Rückfalle in die heutigen 
Zustände, sich erst ergeben werden nach der Durchführung der 
Bodenbesitzreform. Aber sollen wir in der That eine für Staat 
und Gesellschaft so einschneidende Massregel ins Leben setzen, 
ohne vorher wenigstens theoretisch von der Möglichkeit ihrer Lebens- 
fähigkeit überzeugt zu sein? 

Wie schon bemerkt, ist trotz alledem das Buch dieses Social- 
reformers der Beachtung aller theoretischen wie praktischen Poli- 
tiker wert: es spricht aus ihm ein ernster ethischer Geist wie ein 
wohlthuendes Bestreben nach friedlicher Lösung unserer schweren 
socialen Konflikte — . 

Unter denjenigen Socialphilosophen, welche vom Wesen des 



182 Wilhelm Röscher. 

Rechts ausgehend, zum Begriff der Gesellschaft gelangt sind, 
gehört neuerdings in erster Linie Rudolf von Jhering. Sein 
berühmtes Werk „Der Zweck im Recht" (2 Bde. Leipzig 1877 — 85) 
ist zwar im wesentlichen rechtsphilosophischen und ethischen Inhalts; 
aber grosse Partien desselben beschäftigen sich auch mit der Philo- 
sophie der Gesellschaft. — Jhering geht von dem Gedanken aus: 
Der Zweck ist der Schöpfer des ganzen Rechts, aber auch der 
ganzen Moral. Zunächst untersucht er das Wesen des Zweckes. 
Er unterscheidet im Zwecke, soweit er die gesamte Natur und das 
gesamte Leben beherrscht, drei Momente, i. Die Fähigkeit zur 
Selbstbestimmung; 2. Das Vorhandensein eines im Subjekt bel^enen 
Grundes des Zwecks; 3. die Zweck- und Selbstbeziehung, vermöge 
deren das Subjekt die gewollte Veränderung in der Aussenwelt auf 
sich bezieht und welche den Übergang des Grundes des Willens 
zum Zweck vermittelt. — Was den Zweck überall besonders 
charakterisiert, ist, dass er die Beziehung auf das eigene Selbst 
des Wollenden ist. Bestimmend ist der Zweck für alles mensch- 
liehe Handeln. Was daher der Mensch will, will er für sich: alles 
menschliche Handeln ist ein von Natur egoistisches; denn alles 
W^oUen des Menschen wird gedacht als durch den Zweck der Selbst- 
behauptung der eigenen Existenz bestimmt. „Die Natur will, sagt 
Jhering, dass die Menschheit besteht. Zur Verwirklichung dieses 
ihres Willens ist es nötig, dass der einzelne Mensch das Leben, das 
sie ihm gegeben, erhalten und weitergeben soll. Selbsterhaltung und 
Fortpflanzung des Einzelnen sind also die notwendigen Bedingungen 
zur Erreichung ihres Zweckes. Wie erreicht sie diesen Zweck? 
Dadurch, dass sie den Egoismus bei demselben interessiert; dies 
aber bewirkt sie in der Weise, dass sie ihm eine Prämie aussetzt 
für den Fall, dass er thut, was er soll: die Lust oder thut, was er 
nicht soll: den Schmerz (Bd. I, 33, Bd. II, 200). Der letzte Zweck 
des Daseins ist das Wohlsein; das blosse Dasein ist der leere 
Rahmen, der dazu bestimmt ist, das Wohl in sich aufzunehmen. 
Jedes Individuum hat nur den Zweck, sich wohl zu fUhlen 
(Bd. II, 155). Hieraus ergiebt sich, dass das Einzelindividuum, 
dessen innerster Motor für alles Wollen und Handeln das eigene 
Wohl nur ist, nicht als der Träger, als das Zwecksubjekt des 



Wilhelm Koscher. Ig8 

Sittlichen gelten kann. Da Jhering demnach alle Mittlichc ScIi)Ht- 
bestimmung in Abrede stellen muss, so kann es auch nach ihm 
keine geben. — Alles Recht und alles Sittliche kann daher nur in 
der socialen Ethik, d. h. im Staate und in der (tCNcllNchaft 
realisiert werden. — Aber hier scheint ein Widerspruch obzuwalten : 
Eine Gesellschaft, in der jedes Individuum nur Alles Air sich Helbnt will, 
kann nicht Glied eines Gemeinwesens sein, dessen Wesen darin be- 
steht, dass der Einzelne nicht bloss Air sich, sondern auch f(kr 
Andere will. Um diesem Widerspruch zu entgehen, unterschciclct 
Jhering zwischen subjektiven und objektiven /wecken, A» h. 
zwischen solchen Zwecken, die der Mensch für sich, und solchen, 
die er für andere will. Natürlich haben nur die letzteren ethische 
Bedeutung. Aber diese Unterscheidung ist doch nur eine schein- 
bare, denn Jhering will die Selbstverleugnung auch nur unter 
den Begriff des Handels für sich sul^sumieren (M. If, i(/)). Wer 
sind nun aber diese „Andern?'' Unmöglich die Kinzelindividiien. 
Denn da das Handeln für Andere den Hegriff de« Sittlichen nun' 
macht, die Einzelindi>iduen alle al>er nur bu% Kgoi«niu» handeln, 
so würde ein Handeln für solche, welche Ht\)t%i nur von %e\\mimhen 
Motiven bewegt werden, unmöglich sittlich %em könnm, DieiMr 
^Andern" müssen also nicht die Einzelnen, vm/lem tU% Ganzr, 
also die Gesamtheit der Einzelnen «ein: 4. h, ,/lfe f)*rvrllv,h»lt 
ist, wie Jhering sagt, da« Zweck«ul/iekt de« Sitt)i/.het>," Ja er ^ehf 
noch weiter and setzt ^e«ell«chaftlich" «ind „xtflUrh** aU id^nti*/ h. 
Im Sinne des Ari«tote1e« ist ihm hi^\f^ fit^ J 'f*:%^M%^ hufv* *lt 
Ganzes vor den Teiicn, Ja er i«t vjrjfar ^'rrMrigf, /iMrv:« {(''«elJ 
schaftliche i'sZtLi/t za einer b^l^bf^n, -^inheifli/.h^fi y^f^Ou- 
Hchkeit ^Bd. II, S, if/2 zti %tef$r^r», v^ ^^ rrhüif JMrrir»^ ^tft 
Subjekt, einen ItA^fr vy:«ii^hiv,h^ ^riAik^^r ntf^l, r»A/VI^A ^r 
einmal c&e ^CßtstLAfJrAfr* eia *inheif;i/>^*, U;f0^:n/>% V^««Wi %p?i*frt^ 
•nen hat. kann *x iotM ^jk^ fir i;-^^* \fAn'uU^'U>', jrV»f4^rrt/k Sx^^f- 
gesetz der .^^l^^t-^rhaifinjr a-»f *«^ ;wir»*A/>r» J^^t^^fi ^i^ 
Gcseflschalt, *a<r *t M,, ff, ^ r^, /.-» />ti i-rt-.-w/yiv W^ivrr*, V/ 



184 Wilhelm Röscher. 

dem die Natur die Sorge für die Erhaltung desselben anvertraut 
hat. Mit der Statuierung des Lebens auf Seiten der Gesellschaft 
ist der Selbsterhaltungstrieb ftir sie dargethan." 

Freilich wird man hier einwenden dürfen: In welchem Sinne 
soll hier das Wort „Leben" genommen werden? Im übertragenen, 
wo es bloss so viel heissen würde, als lebhaft, lebendig, und den 
Gegensatz zur stabilen Masse bezeichnen würde, oder soU es streng 
physiologisch gefasst. also analog dem pflanzlichen imd tierischen 
Leben genommen werden, d. h. soll man ihm StofTaneignung und 
Stoffausscheidung, Ernährung, Bewegung und Empfindung zuschreiben? 
Etwas Ähnliches hat ja der Socialtheoretiker Albert Schäffle in seinem 
grossen Werke: „Bau und Leben des socialen Körpers" durchzu- 
führen versucht. Aber hier gilt wiederum dasjenige, was ich oben 
über diesen Versuch dargelegt habe, dass wir nur schwer die 
Kategorien des äusseren Naturlebens auf die Existenzweise des 
„socialen Körpers" übertragen können und dass solche falsche Ana- 
logien zwischen zwei inkommensurablen Gebieten das wahre Wesen 
des socialen Lebens mehr verwischen als wirklich erkennen lassen. 

Sehen wir indes von diesem Haupteinwand ab, so hat Jhering 
doch mit dieser seiner Auffassung einen Weg betreten, um den bis- 
herigen Dualismus der Individualethik zu venneiden, wobei „Egoismus 
und Sittlichkeit sich als zwei separate Gedanken der Natur schroff 
gegenüber stehen und gewissermassen ein physiologisches Zweikammer- 
system bilden." Nach Jherings Ansicht würde dieser Dualismus 
hierdurch vermieden und das „Sittliche" nichts Anderes sein, als der 
Egoismus in höherer Form: der Egoismus der Gesellschaft. Es 
ist offenbar, dass damit ^'iel, sehr viel gewoimen ist. Die Gesell- 
schaft hat, um mit Hegel zu reden, die „Unendlichkeit eines Sub- 
jekts" erlangt, sie ist souverain, sie kann alles thun, was sie zur 
\'ermehrung ihres Daseins für gut, alles beiseitigen, was sie ihrem 
Dasein für schädlich erachtet, sie kann sich organisieren, kann- 
Strafgesetze erlassen, u. s. w. Und als Subjekt hat sie dazu die 
sittliche Berechtigung. Es ist nur die Frage, wie man den Sinn 
des Wortes „sittlich" fassen will. Jhering sagt: „Derselbe Trieb der 
Selbsterhaltung, der auf der Stufe des individuellen Daseins die 
(iestalt des Egoismus annimmt, tauscht dafür auf der gesellschaft- 



\Vilh«lm Koscher. 185 

liehen die Form des Sittlichen ein. Nur der Name, mit dem die 
Sprache diese höhere Form desselben belegt, wird ein anderer, die 
Sache bleibt dieselbe. Den Namen gebraucht sie nur für diese 
Mittelregion des individuellen menschlichen Daseins; was unter 
dieser Region liegt: die Sphäre des tierischen und was über 
derselben liegt: die des gesellschaftlichen Daseins, wird von ihr 
mit diesem Namen nicht belegt. Egoismus wird nur von demjenigen 
Wesen gebraucht, welches das Wort Ich aussprechen kann; das 
kann aber weder das Tier noch die Gesellschaft. Der Grund 
ist darin zu erblicken, dass nur in der mittleren Region jener Gegen- 
satz zum Sittlichen stattfindet, den die Sprache stillschweigend bei 
dem Worte Egoismus im Sinne hat, die untere kennt denselben 
nicht, weil das Sittliche nicht bis zu ihr hinabreicht, die obere 
nicht, weil sie selbst das Quellgebiet des Sittlichen enthält. — Das 
Licht kann sich selbst nicht im Lichte stehen. Allein das hindert 
nicht, das Phänomen, das alle Stufen uns wiederspiegeln, als ein 
seinem letzten Grunde nach gleiches zu erkennen. Die Vorder- 
füsse des Vierfiisslers nehmen beim Menschen die Gestalt und den 
Namen der Arme an, aber der Zoologe, der dem Gedanken der 
Natur in der Schöpfung nachgeht, erblickt in den Armen des Men- 
schen nur eine Fortbildung der Vorderfüsse der Tiere. Das Ver- 
hältnis des Sittlichen zum Egoismus ist kein anderes — : eine 
Repetition desselben Gedankens auf einer höheren Stufe des Daseins. 
Freilich eine Repetition, welche mit einem Ruck der ganzen Welt 
eine andere Gestalt giebt." 

Allerdings werden die strengeren Ethiker aus der Schule Kants 
und Fichtes diese Gegenüberstellung von Egoismus und Sittlichkeit 
nicht gelten lassen. Ihnen ist das Verhältnis beider nicht eine 
Fortbildung des einen aus dem andern, sondern das eines sich aus- 
schliessenden Gegensatzes und daher fortdauernden Kampfes, wobei 
jedoch die sittliche Idee des Egoismus der Sinnenwelt bedarf, um 
zur Erscheinung zu gelangen. 

Freilich hoflft Jhering mit seiner Theorie diesen Gegensatz auf- 
zuheben und den bisher angenommenen Antagonismus in der mensch- 
lichen Natur nicht nur beseitigt, sondern auch für sie eine An- 
knüpfung an die gesamte Natur gefunden zu haben. Nach Jhering 



186 Wilhelm Roschcr. 

geht nunmehr ein einziger Gedanke durch die ganze Natur: Selbst- 
erhaltung alles Geschaffenen, das Anklammern an das Dasein, so 
lange die Bedingungen desselben ausreichen. Er beginnt mit der 
toten Materie und endet mit dem Sittlichen. Auf der niedrig- 
sten Stufe der Schöpfung: in der unorganischen Welt ist er be- 
schränkt auf die Form des rein negativen oder passiven Ver- 
haltens im Kampfe ums Dasein, auf den Widerstand der Materie, 
den der Körper dem Körper entgegensetzt, bis er durch die Über- 
macht überwältigt dem äusseren Andrängen des fremden, der ihm 
den Raum streitig macht, erliegt und seine bisherige Daseinsform 
einbüsst. In der organischen Natur steigert sich die negative 
und passive Form der Selbsterhaltung zur positiven und aktiven, 
d. h. zur Behauptung des eigenen Daseins auf Kosten der Um- 
gebung: jeder Daseinsmoment ist Aufnahme aus der Aussenwelt, 
bestände das Aufzunehmende auch bloss in der Luft, die er ein- 
atmet — : Leben ist Zweckverwendung der Aussenwelt für das 
eigene Dasein. Und von der Pflanze zum Tiere findet aber- 
mals ein Fortschritt statt. Die Umgebung, aus welcher der Orga- 
nismus sich versorgt, und die bei der Pflanze ein für allemal 
fest bestimmt ist, wird durch die Bewegimg des Tieres eine wandel- 
bare, wechselnde: das Tier kann sich seine Lebensbedingungen im 
Raum suchen. Beim Übergang vom Tier zum Menschen geht 
mit physischer Ausstattung zur Selbsterhaltung keine erhebliche 
Änderung vor sich. Das Mittel, wodurch die Natur auf der Stufe 
des Menschen die Selbsterhaltung gegenüber dem Tiere steigert, 
ist das Organ des Geistes, die Sprache, wodurch er das Vermögen 
gewinnt, seine individuellen Erfahrungen andern mitzuteilen. Die 
menschliche Selbsterhaltung operirt nicht mit der beschränkten Er- 
fahrung des Individuums, sondern mit der unendlich reicheren des 
ganzen (Geschlechts. Dies ist möglich, ohne dass der indi\'iduelle 
Egoismus eine höhere Stufe (die des Sittlichen) beschritte. — 

Nach Jhering steigert er sich erst im Sittlichen, wenn er die 
Einsicht gewinnt, dass seine individuelle Selbsterhaltung durch 
seine gesellschaftliche bedingt ist. Hier ist der entscheidende 
Punkt, wo das Sittliche „durchbricht." Nicht also der Übergang 
vom Tier zum Menschen, an dem gewöhnlich die individualistische 



Wilhelm Roschcr. 187 

Ethik das Auftreten desselben knüpft, ist der Punkt, wo das Sitt- 
liche in der Schöpfung auftritt — hier ist er, wie Jhering meint, 
höchstens potentiell, aber noch nicht aktuell gesetzt — , sondern 
jenen Punkt bildet erst der Übergang vom Individuum zur 
Gesellschaft. Keineswegs ist das Sittliche ein Werk der Natur, 
welche den natürlichen Menschen in die Welt gesetzt hat, so dass 
der Mensch es etwa bereits fertig mit zur Welt brächte, sondern 
das Werk der Geschichte, welche die Natur ablöst, um ihr W^erk 
ganz in ihrem Sinne und Plane fortzusetzen und den Gedanken der 
Selbsterhaltung auch in Bezug auf die Gesellschaft zu verwirklichen. 
Jherings Socialethik, deren Grundprinzipien ich hier nur an- 
deute, hat in Deutschland viele Anhänger und Bewunderer, aber 
auch mancherlei Gegner gefunden. Zu den letzteren gehört z. B. 
auch Felix Dahn, der in seiner Schrift „die Vernunft im Recht" 
(1879) an eine Widerlegimg Jherings sich herangewagt hat. 



« 



Ich habe eine kurze Analyse der wichtigsten Strömungen in 
der heutigen Socialwissenschaft zu geben versucht So viel dürfte 
jedoch für jeden denkenden Leser klar geworden sein, dass die 
nationalökonomische Wissenschaft, welche jetzt unzweifelhaft unter allen 
die Staatspraxis betreffenden Disciplinen die wichtigste ist, noch nicht 
diejenige Einstimmigkeit der Prinzipien zeigt, welche wünschens- 
wert ist. Selbst in den elementarsten Begriffen der Volkswirtschaft 
weichen die Vertreter derselben von einander ab. Und was soll man 
dazu sagen, wenn man sieht, dass selbst über die Begriffsbestim- 
mung dieser Wissenschaft noch keine rechte Übeinstimmung herrscht? 

Ich will, um dieses zu erweisen, einige der Definitionen, wie 
wir sie bei den hervorragendsten und anerkanntesten heutigen 
Nationalökonomen in Deutschland finden, hier neben einander stellen : 

Rau^): „Die Volkswirtschaftslehre oder Nationalökonomie ist 
die Wissenschaft, welche die Natur der Volkswirtschaft entwickelt, 
oder welche zeigt, wie ein Volk durch die wirtschaftlichen Bestre- 
bungen seiner Mitglieder fortwährend mit Sachgütern versorgt wird." 



1) Politische Ökonomie (1868, I, § 9). 



188 Wilhelm Roscher. 

— Lorenz von Stein '^): „Die wissenschaftliche Darstellung der 
Volkswirtschaft bildet die Wirtschaftslehre." — Wilhelm Roscher*) 
nennt die Nationalökonomie „die Lehre von den Entwickelungs- 
gesetzen der Volkswirtschaft, des wirtschaftlichen Volkslebens". — 
Bruno Hildebrand"*): „Die Wissenschaft von der Ökonomie der 
Völker hat die Aufgabe, den historischen Entwickelungsgang sowohl 
der einzelnen Völker, als auch der ganzen Menschheit von Stufe 
zu Stufe zu erforschen und auf diesem W^ege den Ring zu erkennen, 
den die Arbeit des gegenwärtigen Geschlechts der Kette gesell- 
schaftlicher Entwickelung hinzufügen soll." — J. Kautz*): „Die 
Nationalökonomik ist die Lehre von den Grundlagen, den Mitteln und 
den Entwickelungsgesetzen der Volkswohlfahrt." — KarlUmpfen- 
bach ®): „Die Volkswirtschaftslehre ist die systematische Elrgründung 
der Gesetze, nach welchen sich das Bedingtsein der menschlichen 
Bevölkerung durch ihren Lebensunterhalt im Kampf des Daseins 
vollzieht." — M Wirth"^): „Die Lehre von der Volkswirtschaft ist 
die Wissenschaft derjenigen Entwickelungsgesetze der Natur, unter 
deren Einfluss die Erzeugung und Verteilung der Güter in der 
menschlichen Gesellschaft vor sich geht; bei deren Beachtung die 
Völker gedeihen und bei deren Übertretung sie leiden und untergehen." 

— J. C. Glaser^): „Die Wirtschaftslehre ist die Darstellung der 
auf den Erwerb und Gebrauch des Vermögens oder der auf die 
Benutzung der Natur und ihrer Kräfte zur Befriedigung seiner Be- 
dürfnisse gericliteten Thätigkeit des Menschen." — Schaf fle") 
nennt die Nationalökonomie „die Lehre von der Erscheinung des 
wirtschaftlichen Prinzips in der menschlichen Gesellschaft** und sein 
Freund Adolf W'agn er ^^) definiert die Volkswirtschaftslehre als die 
Wissenschaft von der Volkswirtschaft, dem Organismus der Einzel- 
wirtschaften staatlich organisierter Völker". Aber während Schäffle 
in dieser Wissenschaft nur die Erscheinung, sieht Wagner in ihr 
die Darstellung der Verwirklichung des Prinzips der Wirtschaft- 



^) Lehrbuch der Volkswirtschaft (1858, S. 2). ^^j System I, § 16. •*; Jahrb. f. Na 
tionalök. u. Statistik (1863, I, S. 3). ^) Theorie u. Geschichte der Nationalöko- 
nomie (1858, I, S. 248). <*j Die Volkswirtschaftslehre (1867, S. 12). ") Grundzüge 
der Nationalökonomie (186 1, I, S. 3). **) Handbuch der polit. Ökonomie (I, 1858, 
S. 10). ^) Das gesellschaftliche System menschlicher Wirtschaft (I, S. 46). ***) Poli- 



Wilhelm Röscher. Ig^ 

lichkeit Gustav Schönberg ^^): „Der Gegenstand unserer Wissen- 
schaft ist das wirtschaftliche I^ben des Volkes, das als besondere 
Erscheinung des Volksgeistes und mit der Kulturentwickeliing in 
engstem Zusammenhang von Stufe zu Stufe fortschreitend einen 
immer hohem Organismus bildet. Ihn als solchen in seiner Er- 
scheinung in den Gesetzen und Regeln, die in ihm hervortreten, 
zu erkennen und aus dieser Erkenntnis heraus, welche auch die 
Aufgaben, deren Lösung der Arbeit unserer Generation vorbehalten 
ist, auffindet, einzugreifen in diese Arbeit, um das Wirtschaftsleben 
seinem hohen ethischen Zwecke immer mehr zu nähern — : das 
ist in kurzen (I) Worten die Aufgabe unserer Wissenschaft." — Was 
bei dieser Definition auffällt, ist zunächst ihre Länge; und doch 
nennt sie Herr Professor Schönberg „kurz"; dann aber auch ihre Un- 
klarheit, welche wesentlich dadurch entsteht, dass Schönberg das 
ethische Moment hereinbringt und so zwei heterogene Dinge durch- 
einander wirft — H. von Scheel ^^) definiert die Aufgabe seiner 
Wissenschaft als „die Darstellung des Zusammenhangs der Privat- 
wirtschaften unter einander und ihres Zusammenhangs zu grossem 
Wirtschaftsgemeinschaften (Staat, Gemeinde u. s. w.) nach Ent- 
stehung und Beschaffenheit und die Aufstellung von Regeln ftir die 
zweckentsprechendste, den Ansprüchen der erreichten und zu er- 
reichenden Kulturstufe entsprechende Ordnung." — GustavCohn^'): 
„Die Nationalökonomie ist die Wissenschaft von dem wirtschaften- 
den Menschen, d. h. von derjenigen Thätigkeit, welche sich auf die 
Aneignung der äussern Mittel richtet, deren wir zur Erreichung 
unserer mannigfaltigen Lebenszwecke bedürfen." — F. J. Neu- 
mann^*): „Die Nationalökonomie ist die Lehre vom Verhalten der 
Einzelwirtschaften zu einander und zum Staatsganzen." — Endlich 
will ich noch die Definition Carl Menger s**^) hier anführen, 
der sich zu allen diesen Begriffsbestimmungen in Opposition setzt 
und sie entweder unvollständig oder sich widersprechend findet. 
Er sucht die Aufgabe seiner W^issenschaft „in der Erklämng der 



tische Ökonomie (1876, I, S. 59). ^*) Die Volkswirtschaft der Gegenwart (1869, S. 
39). *2) Schönbergs Handbuch der polit. Ökonomie (I, S. 57). *') Über die Be- 
deutung der Nationalökonomie (1869, S- 3)« ") Tübinger Zeitschr. f. die ge- 
samte Staatswissenschaft (1872, S. 267). **) Socialwissenschaften (S. 236). 



190 Wilhelm Röscher. 

komplizierten Erscheinungen der menschlichen Wirtschaft in ihrer 
heutigen socialen Form aus den Bestrebungen und Verhältnissen der 
durch den Verkehr mit einander verbundenen Individualwirtschaften." 

Ein neuerer amerikanischer Schriftsteller, Dr. Henry Jewett 
Furber in Chicago weist in seinem vortrefflichen Werke: „Historical 
and critical studies on the development of the theories of the po- 
litical science in America", (in deutscher Übersetzung, Halle 1891), 
daraufhin, wie die ganze Entwickelung der Nationalökonomie 
als Wissenschaft in Amerika bisher durch die dortigen poli- 
tischen Parteien bedingt war. Eine von den Interessen der Par- 
teien unabhängige Volkswirtschaftslehre gab es imd giebt es jetzt noch 
nicht in Amerika. So merkwürdig, ja so betrübend dieses Geständnis 
ist, so sehr entspricht es doch der historischen Wahrheit „Schon zur 
Zeit der ersten Präsidentschaft", sagt Dr. Henry Furber, „traten zwei 
Parteien in den Vordergrund, von denen die eine Centralisation 
der Staatsgewalt in der Hand der Unionsregierung anstrebte, 
die andere die Autonomie der Einzelstaaten zu verteidigen 
suchte. Diese Verschiedenheit der politischen Ziele im Vereine mit 
den hieraus resultierenden ökonomischeR Folgerungen Hessen Streit- 
fragen entstehen, die bis in eine Zeit hineinragten, welche die Aus- 
gangspunkte jener Kontroversen längst vergessen hatte." Für die 
Geschichte der volkswirtschaftlichen Wissenschaft ist dieses Wort 
eines glaubwürdigen Historikers ebenso interessant als wertvoll. 
Die Theorien wurden also je nach Bedürfnis von den im Besitze 
der Macht befindlichen politischen Parteien beeinfiusst, nicht etwa, 
wie es doch sein sollte, umgekehrt: dass die Parteiprinzipien sich 
auf vorher erforschten theoretischen Sätzen der Wissenschaft stützten. 
Ja nicht bloss den Ausgangspunkt nahmen jene nationalökonomischen 
Systeme von der vorhandenen, aus bestimmten Interessen resultie- 
renden Parteiprinzipien, sondern während der ganzen späteren Ent- 
wickelung blieb auch dieses Verhältnis zwischen der Wissenschaft und 
der praktischen Politik, d. h. die Abhängigkeit der erstem von der 
letztern, dasselbe. Bei der grossen ^^'ichtigkeit dieses Punktes gebe 
ich unserm jungen Historiker selbst das Wort: 

„Die der erstgenannten Richtung angehörigen Föderalisten 
begünstigten zur Förderung ihrer Zwecke die Steigerung der Bundes- 



Wilhelm Koscher. 191 

Verwaltungsarbeiten, das Centralbankwesen und ein umfassendes Zoll- 
tarifsystera. Die Antiföderalisten setzten diesen Massregeln 
Widerstand entgegen und unterstützten eine Politik des „Laissez 
faire". Diese beiden Richtungen blieben für den Stand- 
punkt der verschiedenen Schulen der amerikanischen 
Nationalökonomie massgebend. Während der ersten Hälfte 
unseres Jahrhunderts sehen wir zwei einander bekämpfende Schulen: 
die altern Restriktionisten erscheinen als Schutzzölbier und als 
Anwälte der Papiergeldwährung, wogegen die Vertreter der ersten 
orthodoxen Schule einmütig die Lehren der englischen Theorie 
angenommen hatten. An die Stelle der altern Restriktionisten trat 
die pennsylvanische Schule, welche mit der Aufrechthaltung 
der Schutzzoll- und Papiergeldtheorie ihrer Vorgänger eigene lehren 
über den Wert, die Bevölkerung, die Grundrente und andere wesent- 
liche Punkte vereinigte. Unter den von der pennsylvanischen Schule 
beeinflussten auswärtigen Schriftstellern befand sich Bastiat, dessen 
„Harmonies ^conomiques" wiederum eine amerikanische Schule ins 
Leben riefen, welche von uns die der Harmonisten genannt wird. 
Diese Gruppe nahm ihren Platz in der Mitte zwischen den An- 
hängern der pennsylvanischen und der orthodoxen Schule ein. Sie 
vereinigte nämlich in hohem Masse die Theorien der erstem mit 
der Freihandels- und Hartgeldpolitik der letztem. Die Schule der 
Neu-Orthodoxen, welche zur Zeit des Bürgerkrieges her\'ortrat, 
unterscheidet sich von der alten orthodoxen Schule weniger in den 
Grundsätzen als in der Zeit ihrer Wirksamkeit und in den prak- 
tischen Fragen, mit welchen sie sich befassen musste Nur wenig 
abweichend von den Lehren der orthodoxen Schule sind die Dok- 
trinen Henry Georges, dessen Agrarsocialismus, die jüngste 
nennenswerte Entwickelungsphase socialistischer Bestrebungen in 
Amerika, durch die spätem Anschauungen John Stuart Mills wesent- 
lich beeinflusst war. Die historische Schule (die jüngste Phase 
der nationalökonomischen Entwickelung in Amerika) ist ein Kenn- 
zeichen deutschen Einflusses." 

Sicherlich hat man die Berechtigung zu fragen: gilt dieses 
Verhältnis der nationalökonomischen Doktrinen zu wirtschaftlichen 
Parteien eines Landes nur für Amerika? Wer die Geschichte der 



192 Wilhelm Röscher. 

wirtschaftlichen Entwickelung Europas in unserm Jahrhundert kennt, 
wird nicht geneigt sein, diese Frage so ohne weiteres zu bejahen. 
Auch speciell bei uns in Deutschland werden die Wirtschaftstheorien 
weit mehr, als es der Unfehlbarkeitsdünkel unserer Professoren zu- 
geben will, von der Rücksicht auf die Forderungen und Interessen 
der politischen Parteien beeinflusst. Auch hier heisst es : „Du glaubst 
zu schieben und wirst geschoben." Und wenn sich dieses auch 
nicht für jedes Lehrbuch und für jede Periode der Wirtschaftsent- 
wickelung im Einzelnen nachweisen lässt, so bleibt doch die Wahr- 
heit jenes Satzes im Grossen und Ganzen bestehen, wie sehr auch 
der Gelehrtenstolz unserer Theoretiker sich dagegen sträuben mag. 

Die erste Konsequenz, die sich hieraus ergiebt, ist, dass es fast 
so viel (und noch mehr) theoretische Systeme geben muss, als es Inte- 
ressensphären der politischen Parteien giebt. Nicht als wenn ich hier 
irgend welche unlautere Motive auf Seiten der Gelehrten annehmen 
wollte, etwa die Verteidigung gewisser Sätze einer bestimmten poli- 
tischen Partei, hervorgegangen aus Gewinnsucht oder Bestechung. 
Ich denke zu hoch von unserm Gelehrtenstande, um auch nur die 
Möglichkeit einer solchen Beziehung anzunehmen. Aber der tiefere 
Grund der Abhängigkeit der wirtschaftlichen Theoretiker von der 
politischen Praxis liegt in der Natur und in dem Inhalt der National- 
ökonomie als Wissenschaft. Abgesehen davon, dass sie, wie wir 
oben gesehen haben, als solche noch gar nicht einmal in ihren 
Grundlagen feststeht, hängt sie allzu sehr von der politischen Er- 
fahrung und deren Ergebnissen ab. 

Gegenüber diesem Mangel an Einstimmigkeit in Bezug auf die 
Prinzipien der Nationalökonomie ist gewiss die Frage erlaubt, welche 
Konsequenzen sich hieraus für das politische Leben der Gegen- 
wart ergeben. 

Ich will das Verhältnis von Theorie und Praxis in der 
Politik hier nicht noch näher, wie es bereits geschehen, erörtern. 
Aber dieses muss ich betonen, dass, zumal in Deutschland, keine 
Partei existiert, welche ihre Forderungen und Bestrebungen nicht 
durch theoretische, der „Wissenschaft", sei es der Geschichte, sei 
es dem Staatsrecht, sei es der Volkswirtschaft entnommene Gründe 
zu rechtfertigen bemüht ist. Vielfach — z. B. bei den Konserva- 



Wilhelm Röscher. 193 

tiven und Agrariern — ist dieses sich Anlehnen an die „Wissen- 
schaft" nur ein scheinbares. In der That handelt es sich hier 
darum, bestimmte Standesinteressen, welche durch die Entwickelung 
des modernen Staats verloren zu gehen drohen, zu verteidigen und hier 
und dort ihren Besitz wieder zu erlangen. Wie dem aber auch 
sein mag, es kann als ein Triumph des Geistes des Jahrhunderts 
gelten, dass man nicht mehr, wie früher, den persönlichen Eigennutz 
gegenüber dem Staatsganzen zu verteidigen wagt, sondern ihm eine 
„wissenschaftliche" Maske vorzustecken sucht 

Dass nun aber die Wissenschaft sich missbrauchen lasst, um 
unberechtigte Interessen mit ihrem Schilde zu decken, ist ein be- 
sonderes Zeichen der Zeit. 

Niemals hat sie durch ihre Autorität so krasse egoistische 
Tendenzen schützen müssen wie heutzutage. 

Ich untersuche die Gründe dieser betrübenden Zeiterscheinung 
hier nicht weiter — der künftige Kultur- und Sittenhistoriker findet 
hier eine lohnende Aufgabe — , sondern wende mich einer andern 
Seite dieser Frage zu. 

Wenn nun die Nationalökonomie, wie wir gesehen haben, weder 
in ihren Grundprinzipien noch in der Anwendung der letztem auf 
die Staatspraxis bisher einig gewesen ist, welchen Wert hat die Me- 
thode der heutigen politischen Parteien überhaupt — und in diesem 
Falle nehme ich keine aus — ihre politischen Ansprüche und Bestre- 
bungen durch die Wirtschaftslehre zu stützen? Welchen Wert hat 
z. B. der leidenschaftliche Kampf der Schutzzöllner und der Frei- 
händler gegenüber der Thatsache, dass die Wissenschaft, diese 
höchste Instanz für die Wahrheit politischer Gedanken, weder über 
die Ausschliesslichkeit der einen oder der andern Richtung, noch 
über das Wechselverhältnis beider überhaupt schon einig ist ? Welche 
Bedeutung hat die fanatische Parteinahme für oder gegen die 
socialistischen Ideen, wenn über die Grenzen des juristischen oder 
wirtschaftlichen Eigentumsbegriffs innerhalb der Wissenschaft 
selbst gestritten wird? Und sind die Gründe derjenigen, welche sich 
in die Mitte zwischen diese beiden Extreme stellen und staats- 
social istisch das Geheimnis der Lösung des Problems gefunden 
zu haben glauben, wissenschaftlich stärker? 

13 



194 Wilhelm Röscher. 

Und was von diesen Gnindgegensätzen in der heutigen Wirt- 
schaftspolitik der Staaten gilt, hat auch für die Einzelfragen seine 
Bedeutung. Die Bezugnahme auf die „Wissenschaft" der National- 
ökonomie ist eitel Wind — ; denn nirgends sind ihre Lehren sowie die 
etwa bis jetzt erzielten Resultate ihrer Untersuchungen so über allen 
Zweifel erhaben, dass man schon heute mit voller Sicherheit auf ihre 
Sätze und Aussprüche sich stützen kann. Sie selbst fühlt es wohl 
am besten und hat sich neuerdings daran gewöhnen müssen, sich 
jeder Apodiktizität in ihren Worten zu enthalten imd statt dessen 
sich einer gewissen vieldeutigen, zu nichts verpflichtenden, unter 
allerlei historischen Gesichtspunkten modifizierbaren Relativität zu 
befleissigen. 

Und dieses ist auch der heute einzig mögliche Stand- 
punkt in Bezug auf ihr Verhältnis zu den socialpolitischen Parteien. 
Wenn aber schon die Theorie gelernt hat, auf die Unfehlbarkeit 
zu verzichten: wie viel mehr steht solches erst der politischen Praxis 
und den Parteien an, die — im besten Falle — das Leben selbst 
und die gegebenen gesellschaftlichen Zustände, welche selbst ja nur 
ein Ergebnis verschiedenster, ja oft entgegengesetzter Faktoren sind 
und denen gegenüber die Berechnungen der Doktrin niemals ganz 
aufgehen, im Auge behalten müssen? 

Hieraus ergiebt sich für die Parteien die Forderung, Ge- 
rechtigkeit zu üben gegen einander: Das Wort „Discite justitiara 
etc." muss die erste Maxime in unserem heutigen politischen 
Leben werden. 



Carl Biedermann 

als Historiker und Publizist 

Einer der verehrtesten Männer Deutschlands, ein Gelehrter von 
europäischem Rufe, ein Politiker und Publizist von hervorragender 
Bedeutung, Prof. Carl Biedermann in Leipzig, der seit seinem ersten 
öffentlichen Auftreten bis auf diesen Augenblick sein Leben dem 
Dienste des Vaterlandes geweiht, hat am 25. September 1892 seinen 
achtzigsten Geburtstag begangen. In den nachfolgenden Zeilen 
werde ich eine kurze und gedrängte Erörterung der schriftstellerischen 
Verdienste dieses hochbetagten Gelehrten geben. Natürlich kann eine 
fast sechsigjährige öffentliche Wirksamkeit nicht innerhalb eines kurzen 
Aufsatzes gebührend geschildert werden. Nur eine umfassende Bio- 
graphie, welche die wissenschaftlichen und publizistischen Leistungen 
Biedermanns, die gerade bei ihm so unzertrennlich verschmolzen sind, 
in gleicher Weise würdigen würde, vermag ihrem Gegenstand gerecht 
zu werden. Hoffen wir, dass ihm einst der Stern Carl Mathys, 
seines Freundes und Strebensgenossen, leuchten wird, einen Bio- 
graphen von der künstlerischen Formbeherrschung Gustav Freytags 
zu finden. 

Dieser wird in erster Linie darzulegen haben, wie die beiden 
Thätigkeiten, welche das lange arbeitsvolle Leben Biedermanns aus- 
gefüllt haben, die wissenschaftliche und die publizistische, nur einer 
und derselben Quelle entsprangen und aus ihr fortdauernd genährt 
wurden^ er wird zeigen müssen, dass die liberalen und humanitären 
Prinzipien des 18. Jahrhunderts die Wurzeln sind, die seinem Lebens- 
baume die fruchtbarsten Säfte gegeben haben. — Biedermann ist 

1.3* 



196 ^**"^ Biedermann. 

ein Sohn der deutschen idealistischen Philosophie. Schon seine 
Dissertation behandelt die genetische Methode in der Philosophie, 
insbesondere bei Fichte, Schelling und Hegel („De genetica philoso- 
phandi ratione et methodo"; gewidmet dem Kreuzschul-Rektor Ed. 
Wagner in Dresden), seine Habilitationsschrift*) handelt von dem 
Kant-Fichte'schen Freiheitsbegriff. Den Spuren dieses Alles 
überfliegenden ethischen Idealismus folgt er entschlossen und er 
möchte von jener metaphysischen Freiheit hinüber zum öffentlichen 
Recht und zur Gesellschaft sich eine Brücke bauen. Als junger 
Professor liest er im Anschluss an die Schriften des einflussreichen 
und freigesinnten Kantianers Krug über philosophische Disciplinen, 
und auch seine schriftstellerische Thätigkeit bewegt sich eine Reihe 
von Jahren hindurch ausschliesslich oder doch wesentlich auf 
philosophischem Gebiete: „Fundamen talphilosophie" (1837); 
„Wissenschaft und Universität" (1839), worin er den Gedanken 
einer praktischen Verwertbarkeit der Wissenschaften betont, und 
das jetzt noch wertvolle historische Werk „Die deutsche Philo- 
sophie von Kant bis auf unsere Zeit" (2 Bde. 1842)**). Ich 
muss diesem Buch einige Worte widmen, weil es für die innere 
Entwickelung Biedermanns charakteristisch und bedeutungsvoll ist. 
Vor fünfzig Jahren schrieb man die (ieschichte der Philosophie 
anders als jetzt. Heute ist die (beschichte der Philosophie zu einer 
festen, methodischen historischen Disciplin herangewachsen, sie ist 
sich Selbstzweck. Damals hingegen legte man das Hauptgewicht 
nicht sowohl auf die möglichst objektive Wiedergabe des Ideen- 
gehalts der Systeme, als vielmehr auf die kritische Beurteilung 
derselben. Natürlich: wer selbst im Vollbesitz der Wahrheit ist, 
kann andere Weltanschauungen nicht darstellen, ohne einen kritischen 
Vergleich mit seiner eigenen anzustellen und ohne daher in manchen 
Punkten sich als Gegner derselben zu erweisen. Kantianer, wie 
Krug, Tennemann, Buhle u. a. schrieben kritische Geschichte der 
Philosophie. Und als gar Hegel sein System als das notwendige 

*'') ..De notionis lil)ertatis in philos()phia practica usu *' 

**) Lrsj rünglicli halte er es als Preisschrift für die Pariser ,,Academie 

des sciences raorale» et des bclles-lettres" in franzosischer Sprache ausgearbeitet 

und dann erst ins Deutsche übertragen. 



\ 



Carl Biedermann. 197 

dialektische Ergebnis aller vorangegangenen historischen Systeme 
darstellt, da entstand jene sogenannte „immanente" Kritik, welche 
in der Schule dieses Philosophen so viel historisch falsche Parallelen, 
Ausdeutungen und Konstruktionen ergeben hat. Auch der Kantianer 
Biedermann verfahrt „kritisch". Aber sein Verfahren ist doch ein 
durchaus anderes. Jedem der grösseren Kapitel fiigt er eine kritische 
Erörterung hinzu, aber nur, um zu untersuchen, wie weit der be- 
treffende Philosoph sich selbst getreu war, d. h. in wie weit die 
Konsequenzen des Systems logisch und natürlich sich aus seinen 
Prämissen und Voraussetzungen ergeben. Zu dieser logischen Kritik 
(in welcher später besonders der Berliner Aristotelik er Adolf Trendelen- 
burg glänzte) kommt bei Biedermann noch ein anderes, gewisser- 
massen social-ethisches Moment hinzu. Von der Überzeugung aus- 
gehend, „dass die deutsche Philosophie unter dem Einflüsse des 
Lebens und der in der frischen Bewegung des Lebens sich er- 
zeugenden Ideen des Fortschritts entstanden ist und sich ent- 
wickelt hat", setzt er sich die Aufgabe, „an jedem einzelnen System 
die Spuren dieses Fortschritts aufzuzeichnen." Er möchte selbst die 
schulgemässe, dogmatische und abstrakte Form durchbrechen helfen, 
durch welche die Philosophie vom lieben getrennt war, und er 
möchte durch sein Werk selbst die Vermittelung zwischen beiden 
anbahnen. Er will die Fäden aufsuchen, die von der Philosophie 
zum Leben und vom Leben zur Philosophie fuhren, ihre Ver- 
schlingungen verfolgen und die Punkte zeigen, wo diese Ver- 
bindungen zwischen dem Leben und der Spekulation durch die 
Schuld der letztem abgebrochen wurden und welche die Philosophie 
aufgeben muss, „um sich der allgemeinen Bewegung des socialen 
und nationalen Lebens wieder anzuschliessen." 

Zum Verständnis dieses Satzes will ich nur bemerken, dass, 
als das Biedermann'sche Werk erschien, man sich schon in der 
Zeit des Niedergangs der Hegel'schen Philosophie befand. Wohl 
waren aus der scheinbar so konservativen Saat, die der Meister 
(„Alles, was ist, ist vernünftig und das Vernünftige ist", sagt er in 
der Einleitung zur Rechtsphilosophie) ausgestreut hatte, ein er- 
schreckender Radikalismus in Staat, Gesellschaft und Kirche er- 
standen. (Um diese Zeit Hess Strauss sein „Leben Jesu", Feuerbach 



198 ^^'^ Biedermann. 

sein „Wesen des Christentums", Bruno Bauer seine „Synoptiker** 
erscheinen und Arnold Rüge und Karl Marx begründeten ihre 
„Jahrbücher.") Aber worauf Biedermann anspielt, ist, dass die 
rechte Seite der HegeFschen Schule sich allmählich mehr und mehr 
mit der äussersten Reaktion in Staat und Kirche identifizierte, 
während die radikale Linke den nationalen Boden immer mehr 
verliess und sich in einen wüssten Kosmopolitismus verlor. Dem 
gegenüber möchte Biedermann der Nation einen grossen Dienst 
erweisen, wenn es ihm durch dieses sein Werk gelänge, „die deutsche 
Nation zu überzeugen, dass der Weg, den ihre Philosophen sie 
geführt haben, nicht der sei, auf dem das wahre Ziel alles Völker- 
lebens liegt : in der Begründung einer kräftigen, nach aussen Achtung 
gebietenden, im Innern aber die grösste Selbstständigkeit des Ein- 
zelnen und der Gemeinden, die organische Entwickelung der öffent- 
lichen Institutionen, den stetigen Fortschritt der allgemeinen poli- 
tischen, socialen, industriellen und geistigen Bildung verbürgenden 
Nationalität", wenn es gelänge, „die vielen edlen Kräfte, welche 
noch immer teils in den zwängenden Fesseln des Systems ver- 
kümmern, teils im unruhigen, ziel- und fruchtlosen Umherschweifen, 
Sehnen und Suchen sich verzehren, für die wohlthuende und 
fördernde Beschäftigimg mit den realen Interessen, fiir die thätige 
Teilnahme an dem grossen Werke unserer Nationalentwickelung zu 
gewinnen, denjenigen aber, welche schon den Drang nach Realität 
empfinden ui.d einen Ausweg aus den Irrgängen der Spekulation 
in die freien und fruchtbaren Gefilde des Lebens suchen, diesen 
Übergang zu erleichtern und sie vor dem Rückfall in die 2Lauber- 
schlingen der Abstraktion zu bewahren." — Hier haben wir nichts 
mehr und nichts weniger als — das Programm der damaligen 
liberalen Partei Deutschlands, dessen Realisienmg die nächsten 
fünfzig Jahre der deutschen Geschichte ausfüllen. 

Von hier aus war für unsem Philosophen der Übergang von 
der rein theoretischen Denkarbeit zur praktischen auf öffentliche 
Fragen abzielenden Thätigkeit gegeben und wir betreten somit 
gewissermassen das zweite Lebensstadium Carl Biedermanns. 

Es war die Zeit einer gewaltigen politischen Gährung. In Ost- 
preussen hatte Johann Jacoby seine „Vier Fragen" erscheinen lassen. 



Carl Biedermann. 199 

Die Schrift schlug wie eine Feuerbombe in den alten Bureaukraten- 
staat ein, wo soeben der geistvolle, romantische und vielver- 
sprechende Friedrich Wilhelm IV. den Thron bestiegen hatte. Auch 
in den Volksvertretungen einiger süddeutschen Staaten hatte sich 
ein lebhaftes konstitutionell-politisches Leben kundgegeben. Aber 
auch in Sachsen lag die Regierung des Königs Friedrich August 
mit der liberalen Opposition in Konflikt. Zu allen diesen Ereig- 
nissen nahm Biedermann Stellung. Wie er den preussischen Thron- 
wechsel mit einer Schrift „Das deutsche Nationalwesen in 
seinem gegenwärtigen Zustande" (1841) begrüsste, so richtete 
er in dem sächsischen Konflikte „Ein Wort an Sachsens Stände" 
(1845), in welcher er sich in Betreff der Forderungen der Stände 
(öffentliches Verfahren im Strafprozesse, Gewährung einer freien 
protestantischen Kirchenverfassung u. s. w.) zu Gunsten der Stände 
aussprach. Publizistisch schuf Biedermann sich durch Begründung 
von Monats- und Wochenschriften die Organe seiner öffentlichen 
Wirksamkeit. Die von ihm im Jahre 1842 ins Leben gerufene 
„Deutsche Monatsschrift für Litteratur und öffentliches Leben", 
welche dann im Jahre 1842 in die Vierteljahrsschrift „Unsere Gegen- 
wart und Zukunft" umgewandelt wurde, ferner der von ihm 1844 
begründete „Herold", eine Wochenschrift ftir Politik, Litteratur und 
Öffentliches Gerichtsverfahren, vereinigten als Mitarbeiter eine An- 
zahl hervorragender Namen. Die scharfe Kritik, die der „Herold" 
auf dem Gebiete des litterarischen wie des politischen Lebens übte, 
hatte jedoch bald seine Unterdrückung zur Folge. 

In diese Zeit (1845) fällt auch Biedermanns Suspension 
von den staatsrechtlichen Vorlesungen an der Universität, 
welche die Regierung infolge einer gegen ihn wegen eines öffent- 
lich gehaltenen politischen Vortrags über ihn verhängte. Obgleich 
er in jener Untersuchung freigesprochen wurde, durfte er doch seine 
Vorlesungen über Staatsrecht und Rechtsphilosophie nicht wieder 
aufnehmen. Er hielt dann freie Vorträge vor einem auserlesenen 
Publikum in Leipzig und Dresden, und hieraus ist dann jenes Buch 
hervorgegangen, das in der vormärzlichen Zeit viel gelesen und 
citiert worden ist: „Vorlesungen über Socialismus und sociale 
Fragen" (1847). ^^ sind im Ganzen vier Vorlesungen, von denen 



200 Carl Biedermann. 

die erste die socialen Grundbegriffe (Übervölkerung, Proletariat, 
Pauperismus, Kapital und Arbeit) erörtert und eine psychologisch 
sehr treffende und geistvolle Parallele zwischen dem französischen, 
englischen und deutschen Socialismus giebt. Die zweite Vorlesung 
behandelt die bisherigen Vorschläge zur Beseitigung des Pauperis- 
mus und eine Kritik dieser Vorschläge. Insbesondere wird man dem, 
was Biedermann gegen die geplante Organisation der Gesell- 
schaft sagt, wie sie von Fourier, St. Simon, Louis Blanc u. a. er- 
sonnen worden ist, auch heute noch, unter der wesentlich ver- 
änderten Form, in der der Socialismus jetzt eine so furchtbar 
drohende Stellung einnimmt, zustimmen können. Auch schon die 
Pläne, die der damalige Socialismus in Betreff der Reform der 
Familie, der Ehe und der Erziehung hegte, werden von Biedermann 
einer ruhigen Erörterung unterzogen und in ihrer Undurchführbar- 
keit beleuchtet. Doch geschieht dieses ohne Leidenschaftlichkeit 
und mehr mit dem überlegenen Blicke des Kulturhistorikers, dem 
die wechselnden socialen Formen der menschlichen Gesellschaft als 
Ausdruck der anthropologisch-psychischen Natur des Menschen ge- 
läufig sind. Die dritte Vorlesung versucht eine Übersicht über die 
Geschichte der socialistischen und kommunistischen Systeme von 
Pythagoras und Plato bis auf Campanella, Monis und Morelly, die 
er die „Vorläufer" des Socialismus nennt. Dann geht er zu den 
eigentlichen systematischen Vertretern des Socialismus im l8. und 
19. Jahrhundert über und analysiert die socialen Prinzipien von 
Baboeuf, Darthes, Buonarotti, St. Simon und seiner Schule, Owen, 
Proudhon, Louis Blanc, Buret, Dezaniy, Villegardelle, Bartels, Jott 
rand, Kats, woran er die bekannten Versuche der deutschen Socia- 
listen Weitling, Kuhlmann, Becker, Hess, Engels und Grün anschliesst. 
Weder Karl Marx, noch Ferdinand Lassalle, welche später eine so 
grosse Bedeutung erlangen sollten, waren damals schon näher be- 
kannt. — Die vierte Vorlesung endlich bespricht in sehr interes- 
santer Weise das Verhältnis der Religion zum Socialismus, 
was damals um so näher lag, als die von Ludwig Feuerbachs Ideen 

m 

hervorgenifcne Agitation der Deutschkatholiken, der sogen. Licht- 
freunde wie der freien Gemeinden auch politisch-sociale Tendenzen 
zeigten, andererseits der katholische Socialismus eines Lamenais 



Carl Biedermann. 201 

und Leroux in Frankreich diesen Zusammenhang von Religion und 
Sociahsmus deutlich bewies. Im Prinzip bekämpft Biedermann alle 
diese socialen Theorien als undurchführbar, während er praktisch 
allerdings die Besitzenden ermahnt, gegenüber der mannigfaltigen 
Not der ökonomisch Gedrückten ihrer Menschenpflicht eingedenk 
zu sein, aus Barmherzigkeit und — aus Klugheit: denn „Discite 
justitiam, moniti !" ruft er ihnen warnend am Schlüsse seines Buches 
zu. Haben wir heute, nach 46 Jahren, ein anderes Mittel? 

Das grosse Bewegungsjahr 1848 war herangekommen: die ge- 
samte Nation war von der Erhebung ergriffen worden. Auch in 
Sachsen, auch in Leipzig hatte sie Platz gegriffen. — Es ist hier 
nicht meine Aufgabe, die hervorragende Rolle zu schildern, welche 
Biedermann in dieser Zeit spielte. Nur so viel will ich bemerken, 
dass er damals in Leipzig, wo er durch das Vertrauen seiner Mit- 
bürger Vicevorsteher des Stadtverordnetenkollegiums war, zu den ersten 
Führern der Bewegung gehörte. Als Abgeordneter gehörte er dem Vor- 
parlament in Frankfurt a. M. und dann dem sogenannten Fünfziger- 
Ausschuss an, in welchem er als Schriftführer fungierte. In der deut- 
schen Nationalversammlung vertrat er dann den Wahlbezirk Zwickau. 
Auch hier bekleidete er das Ehrenamt eines Schriftführers, später das 
eines der Vicepräsidenten. Seiner Fraktionsstellung nach gehörte er 
erst dem linken Centrum (dem sogenannten VVürttemberger Hof), 
aber nach dem Septemberaufstand in Frankfurt, in welchem General 
Auerswald und Fürst von Lichnowski, zwei hervorragende Mit- 
glieder der konservativen Rechten, umgekommen waren, dem 
rechten Centrum an. Diese Fraktion nannte sich der Augsburger 
Hof. Zu ihr gehörten u. a. Wilhelm Beseler, der Württemberger 
Rümelin, der österreichische Historiker von Arneth, der Rheinländer 
Mevissen, der Pfälzer Mathy, der Leipziger Oberbürgermeister 
Koch u a. Aus dieser Fraktion rekrutierte sich dann die sogen. 
Erbkaiserpartei, welche von ihrem Versammlungsorte der Weiden- 
busch-Verein hiess. Hier sassen eine Anzahl hervorragender Männer, 
wie Simson, Beckerath, von Patow, Riesser, Beseler u. a. In dieser 
stärksten Fraktion, welche bis auf 200 Mitglieder angewachsen war, 
führte Karl Biedermann den Vorsitz, wie er auch zur Deputation 
gehörte, welche sich (im April 1849) nach Berlin begeben hatte, 



202 ^^.rl Biedermann. 

um dem König Friedrich Wilhelm IV. den Beschluss der National- 
versammlung zu überbringen, dass er zum erblichen Kaiser von 
Deutschland gewählt sei. Kurz vor der Übersiedelung der National- 
versammlung von Frankfurt nach Stuttgart trat er aus derselben aus. 
Biedermann hat in seinem frisch und anregend geschriebenen 
Buche: „Erinnerungen aus der Paulskirche" {1849) einen kur- 
zen Abriss der Frankfurter Verhandlungen, zugleich aber auch eine 
Anzahl anziehender und interessanter Charakterköpfe aus diesem 
ersten deutschen (iesamtparlamente gegeben. Es gewährt einen 
eigentümlichen Reiz, den Mann, der als ein bedeutender Führer 
jener Versammlung gelten konnte, zugleich mit der Skizzenmappe 
in der Hand zu sehen, wie er diesen oder jenen Kopf mit Portrait- 
treue, oft aber auch nicht ohne einigen Humor zeichnet: eine eben- 
so mannigfaltige als farbenreiche Galerie von Figuren und Ge- 
stalten. Da ist der bedeutsame Heinrich von Gagem und sein 
Bruder Max, da sind die rheinischen und süddeutschen Demokraten, 
wie Raveaux, Mohl, Bassermann u. A., da sind die Österreicher wie 
Schmerling, Giskra, Arneth, Berger, Schuselka etc., da sind die 
Partikularisten und grossdeutschen Demokraten wie Heinrich Wuttke, 
Robert Blum, Heinrich Simon, Johann Jacoby, Karl Voigt, da sind 
die preussischen Halbliberalen wie Radowitz, Vincke, Kühne, meist 
(lenerale und (ieheimräte. Wir können nicht umhin, die Gerech- 
tigkeit und Objektivität hervorzuheben, mit der Biedermann hierbei 
verfährt, selbst seinen ausgesprochensten Gegnern gegenüber. Und 
wie frisch und reizvoll ist diese Porträtgalerie l Es ist mir kein 
Monioironwork aus jener bewegten Zeit (es giebt deren mehrere, 
wie von Pl'i/cr, l'niuh, Droysen, Beseler, [„Erlebtes und Erstrebtes"] 
u. A.") bekannt, in welchem die betreffende Porträtierung der agieren- 
iUmi Porsönlichkeiton so gelungen ist wie hier. Dabei macht doch 
aurh ilas Werk keinen bloss genrebildlichen Eindruck. Es ist eine 
dun haus iMusto historiscli-politische Schrift, allerdings auch unter 
der lohhafton Einwirkung des Selbsterlebten koncipiert. Aber die 
Urteile über Xorhällnisso und Personen können heute noch Anspruch 
auf c;iltigkeii machen. Freilich soll noch erst eine objektive und 
lendon/U>so (;eMhichte jener ..Reichsgründung** geschrieben werden. 
Die hai-stollungen aus der folgenden Reaktionszeit sind durchweg 



Carl Biedermann. 203 

tendenziös gefärbt und meist eine Eingebung des Parteihasses und der 
Parteibefangenheit Den ersten annehmbaren Versuch in dieser 
Hinsicht bietet Heinrich von Sybels Werk: „Die Begründung des 
deutschen Reichs durch Wilhelm I. (Bd. I. S. 127 — 319). Auch 
Professor Karl Bindings in Leipzig vor Kurzem erschienene akade- 
mische Rede: „Der Versuch der Reichsgrtindung durch die Pauls- 
kirche in den Jahren 1848 und 1849"*) >st eine gerechte Wür- 
digung jener Verfassungsbestrebungen. Binding hat selbstverständ- 
lich überall aus den ersten Quellen geschöpft, den stenographischen 
Verhandlungsberichten der Nationalversammlung und den offiziellen 
Aktenstücken der deutschen Regierungen. Sein Urteil kann daher 
in allem Thatsächlichen auf Genauigkeit und Korrektheit Anspruch 
machen. Aber auch der Geist, der aus der Binding'schen Schrift 
spricht, ist im Gegensatz zu der absprechenden Art, mit der man 
jetzt vielfach auf jene idealen Bestrebungen herabzublicken pflegt, 
ein wohlthuend gerechter und anerkennender. Auch Binding 
verhehlt sich ja nicht die Schwächen und Fehler der National- 
versammlung. Aber die „Tragödie," die sich hier abgespielt hatte, 
war doch keine selbstverschuldete: „Am 12. April 1849 erstattete 
Simson im Namen der Reichsdeputation dem Parlamente seinen 
trüben Bericht. Wie nach den Befreiungskriegen, so hatte jetzt 
zum zweiten Male das deutsche Volk seine politischen Hoffnungen 
zu begraben. Tief war sein Schmerz, aber es verzweifelte nicht." 
Diesem Schmerze und dieser Hoffnung gab Welcker am 23. April 
1849 Ausdruck: „Wohl hängen aussen eiskalte Wolken über dem 
Frühlingshimmel und drohen die Blüten zu vernichten. Es ist ähn- 
lich mit unserem politischen Frühlingshimmel. Aber so gewiss auch 
durch jene eiskalten Wolken die Sonne hervorbrechen wird, so 
gewiss wird die Sonne der Freiheit und der Ehre des Vaterlandes 
wieder hervorbrechen aus den Wolken der Kabinette." 

Heute nach mehr als vierzig Jahren, voll unvergleichlich grosser, 
weltgeschichtlicher Vorgänge, ist es wohlthuend, ein Urteil, wie das 



*) Leipzig 1892 bei Duncker & Humblot. Die Rede wurde am 23. 
April 1892 zum Geburtstage des Königs Albert in der Aula der Leipziger Uni- 
rersität gehalten. Dieselbe ist jedoch im Druck in mehreren Punkten erweitert 
und ergänzt. 



204 C**"^ Biedermann. 

Karl Bindings, eines doch wesentlich konservativen Juristen, zu ver- 
nehmen: „Von Preussen zurückgewiesen, von Österreich verhöhnt 
wem hat sie (die Nationalversammlung) zu Danke gearbeitet? Uns, 
die wir das Reich erlebt haben. Auch ihre Mängel liegen zu Tage: 
die unbezwungene Rede- und Antragslust, das geringe Geschick in 
der eigentlichen politischen Aktion und der zu grosse Glaube an 
sich selbst. Und dennoch bleibt sie uns das Vorbild einer par- 
lamentarischen Versammlung grossen Stils — nicht nur 
durch die Universalität ihrer Aufgabe, durch die Fülle wahrhaft be- 
deutender politischer und oratorischer Talente, durch den Schwung 
ihrer Energie, den Adel der Gesinnung, sondern auch durch den 
selbstlosen Respekt ihrer Aufgabe, durch die Klarheit staatsrecht- 
licher Erkenntnis und die Festigkeit des sittlichen Willens. Ihres- 
gleichen haben wir nicht wieder gehabt. Die Paulskirche ist in der 
That eine Notabein- Versammlung gewesen: die besten Deutschen 
sassen drin und haben für sie gewirkt. Und wahrlich nicht frucht- 
los war ihre Arbeit. Die Revolution hat sie gebannt, dem deutschen 
Volke die Notwendigkeit des Reichs unauslöschlich in die Seele 
gegraben, den einzigen Weg zum Ziele klar erkannt, gezeichnet 
und zur Hälfte selbst zurückgelegt; sie hat den Bundesstaat provi- 
sorisch gegründet, eine Verfassung aufgerichtet zu der sich das ganze 
Volk und 28 deutsche Staatsregierungen bekannt haben, — ein 
kühner Entschluss Preussens, und auch von den Königreichen hätte 
keines den Mut der Weigerung besessen. Ihr Wirken erreichte 
aber genau an dem Punkte sein Ende, wo die ideale Macht 
einer Nationalversammlung durch die reale der Staaten ab- 
gelöst werden musste. Da versagte nicht sie, sondern ihre berufene 
Nachfolgerin. Dadurch aber hat sie auf das Haupt Preussens eine 
nationale Schuld gelegt, für deren Zahlung seine Ehre haftete. 

Ehre ihrem Andenken und dem Denkmal, dass sie dem deut- 
schen Volke in der Reichsverfassung errichtet hat! In einem hat 
sie geirrt: sie hat geglaubt an die Macht der grossen Ideen, 
sich selbst die grossen Männer des Vollzugs zu schaffen. 
Wer hebt den Stein gegen solch adligen Irrtum?'* 

Die Bestrebungen des deutschen Volkes zur Herstellung des 
deutschen Nationalstaates waren teils durch die Intriguen, teils durch 



Carl Biedennann. 205 

die Waffengewalt der leitenden Regierungen zu nichte gemacht 
worden. Die Reaktion erhob überall ihr Haupt. Die radikalen 
Führer steckten entweder in Gefängnissen oder waren ins Ausland 
geflohen. Die Gemässigten zogen sich vom politischen Schauplatz 
zurück oder wandten sich ihrem bürgerlichen Berufe wieder zu. 
Auch Biedermann nahm seine akademischen Vorlesungen wieder 
auf (insbesondere über Staatsrecht und neuere Geschichte), ohne 
dass die sächsische Regierung Einspnich dagegen erhob. Von nun 
an war seine Thätigkeit seinem gelehrten Berufe und der Publizistik 
gewidmet. Biedermann übernahm 1850 die Redaktion eines gross- 
geplanten encyklopädischen Werkes „Germania", ohne dasselbe 
jedoch durchzuführen. Zwei Jahre später begründete er die politisch- 
litterarische Zeitschrift „Deutsche Annalen", wurde aber bald infolge 
eines Artikels, der sich auf den französischen Staatsstreich vom 
2. Dezember bezog, in einen Pressprozess verwickelt, infolge dessen 
er nicht nur zu einem Monat Gefängnisstrafe verurteilt (die er auch 
verbüsste), sondern auch seiner Professur verlustig erklärt wurde. 
Biedermann verteidigte sich in einer Schrift „In eigener Sache" 
(1854). Aber es blieb bei dieser Entscheidung. Herr von Beust, 
der nunmehr allmächtige sächsische Staatsminister, hatte das Be- 
dürfnis, an dem geistig hervorragendsten Hauptträger des nationalen 
und konstitutionellen Reichsgedankens in Sachsen sein Mütchen 
zu kühlen. 

Biedermanns gelehrte Studien, denen er sich nun mit Eifer 
hingab, bewegten sich hauptsächlich auf dem Gebiete der neuern 
Geschichte. Insbesondere waren es die Kulturbewegungen des 
18. Jahrhunderts, denen er jetzt seine Aufmerksamkeit zugewandt 
hatte. Aus diesen Studien erwuchs sein grosses kulturhistorisches 
Hauptwerk: „Deutschland im 18. Jahrhundert" (4 Bände)*). 
Es ist ein in jeder Hinsicht, inhaltlich und formell, klassisches 
historisches Werk, welches nicht schnell hintereinander erschien, 
sondern dessen Ausarbeitung einen Zeitraum von 26 Jahren bedurfte. 
Es umfasst in Band 1 Deutschlands politische, materielle und 
sociale Zustände, während die drei andern Bände Deutschlands 



*) Leipzig 1854 — 80, Verlag von J. J. Weber. 



206 Carl Biedermann. 

geistige, sittliche und gesellige Zustände im i8. Jahrhundert 
behandeln. Es geht also weit hinaus über den Inhalt einer blossen 
Kultur- und Sittengeschichte, wie sie in den Werken Scherrs, Wachs- 
muths, Klerams u. a. enthalten ist, in denen übrigens vermöge ihres 
universalhistorischen Charakters gerade das so interessante 1 8. Jahr- 
hundert viel zu kurz kommt Allerdings steht Band I des Bieder- 
mann*schen Werkes in einem gewissen äussern Missverhftltnis zu den 
übrigen drei Bänden. Die Darstellung der politischen, materiellen 
und socialen Zustände Deutschlands (Verfassungs- und Verwaltungs- 
verhältnisse der deutschen Staaten, Rechtsverhältnisse, Presswesen, 
bürgerlicher und politischer Oemeingeist, Militärwesen und Finanz- 
wirtschaft, sociale Klassen und Besitzverhältnisse, Gewerbthätigkeit, 
Industrie. Handel und I^ndwirtschaft, Geld- und Kreditwesen, Ver- 
kehrsmittel, Bevölkerungsverhältnisse u. s. w.) ist gründlich und 
überall aus den Quellen geschöpft. Es ist der geübte politische 
Blick, den man in der Darstellung herauserkennt Nichts desto- 
weniger gehört doch sein Herz den geistigen Zuständen Deutsch- 
lands. Hier fühlt er sich eigenüich heimisch; hier li^ der Schwer- 
punkt seiner Studien. Daher erklärt sich das äussere Missverhältnis 
dieses drei starke Bände umfassenden Teils zu dem ersten Teile 
des Werkes. 

Was wir hier aber auch finden, ist mit das Bedeutendste, was 
über die deutsche geistige Kultur des iS. Jahrhunderts seit 50 Jahren 
geschrieben worden ist. Gewiss sind solche Abschnitte, wie z, R der 
üK^r l.eibni/. Thomasius. Lessini:. Kant. Herder, Goethe in un- 
/ähligen Speciuhverken eingehender und detaiilirter behandelt worden, 
aln^r mit l^e/ug auf das, w;is aus cer Wirksamkeit der genannten 
Männer in die deutsche Kultur wie in das allgemeine mensch- 
liche Ku/.urideal ü->erhaup: eingeiiossen ist d'irfte die Darstellung 
Bievierniar.r.s iinerrcich: d^istehen. Und darin besteht der hohe 
Wer viieses Werkes. D:e innige Wechselwirkung, in welcher die 
Be.-ier.v-r.ger. der wissei.schaftMcher.. '.itterjLrischen, künstlerischen, 
rel:i:*."s-er. ur.d sittlichen ZustJLnde des deutschen Volkes im ver- 
CAr.ier.er. ^ihrhuncer: ^re^reic: werden, ist meines Wisssens hier zum 

. [a e ::. 'A-^nrnjut yn*vgni.\::scr.e:n *L.i:N.ininier.n.jLnge cargcsteiiL 

l\i5 s --: v:rre•^~:^■*-e W-rk Her:ner> über dis l5. Tahrhnnden 



Carl Biedermann. 207 

ist doch vorwiegend litterarhistorisch gehalten und die anderen 
Seiten in dem Geistesleben der Nation werden nur insoweit von 
Hettner berührt, als sie sich in den Litteraturprodukten spiegeln. 
Dies reicht aber noch lange nicht an die Aufgabe einer geistigen 
(xeschichte des Jahrhunderts hinan. Allerdings sind ja auch in 
Biedermanns Werk manche Partien zur Geschichte der schönen 
Litteratur, die hier nach Zweck und Anlage des Ganzen ja nur eine 
dienende Rolle einnehmen sollten, zu ausfuhrlich und zu sehr ins 
Einzehie gehend behandelt. Dieses gilt z. B. von dem umfang- 
reichsten Bd. n Abth. 3. Nichtsdestoweniger überwiegt doch auch 
hier der allgemeine kulturhistorische Gesichtspunkt, der aber jeden- 
falls durch den Fortfall der litterarhistorischen Details noch schärfer 
hervortreten würde. — Im Grossen und Ganzen hält sich Bieder- 
mann an die gesunde, pragmatische, also die kausale Verknüpfung 
der Erscheinungen des geistigen Lebens anstrebende Darstellungs- 
art der alten Göttinger Schule und hält sich von jeder der Hegel*- 
schen Schule entlehnten historischen Konstruktionsmanier fem. Er 
weiss sehr wohl, dass das Aufweisen apriorisch feststehender „Ideen" 
im Verlaufe einer Geschichtsepoche nur so weit dem Historiker 
erlaubt ist, als hierdurch dem pragmatischen Verfahren im Nach- 
weise des ursächlichen Zusammenhangs der Ereignisse kein Eintrag 
geschieht. Seine ursprüngliche Zugehörigkeit zur kritischen Rich- 
tung Kants hat in allen ethischen und staatlichen Fragen seinen 
Ansichten Idealismus und Schwung verliehen, seiner Behandlungs- 
weise aber von streng wissenschaftlichen Fragen zugleich eine ge- 
wisse Umsicht und eine nüchterne Strenge gegeben, die jedenfalls 
dem wissenschaftlichen Charakter seiner historischen Werke zu 
Gute kommt. Man vergleiche in dieser Beziehung z. B. die schon 
mehr an das Geschichtsphüosophische grenzende Darstellung des 
Hegelianers Bruno Bauer in seiner vierbändigen „Geschichte der 
Politik, Kultur und Aufklärung des 18. Jahrhunderts", und man 
wird, so geniale Blitze Bauer in der historischen Konstruktion auch 
zeigt, dem solideren Werke Biedermanns den Vorzug geben 
müssen. 

Und noch eine andere bedeutsame Seite zeigt dasselbe. Seit 
den Zeiten Friedrich von Schlegels, Schellings und Hegels war es 



'2y)S ^^ Biedcnnann. 

in den Schulen dieser grossen Männer guter Ton geworden, auf 
die ..Aufklärung" und den ..Rationalismus" des 1 8. Jahrhunderts zu 
s<:hmähen. Pietisten und Orthodoxe. Legitimisten und Reaktionäre 
aller An schlössen sich oft unbewusst. meist aber bewusst diesem 
\'3.'A sehr niedrig kriechenden, bald hochmütig orakelnden Tone an. 

Nur die Kantianer hane doch ihr Herr und Meister selbst 
Tur Herbeiführung jener geschmähten „Aufklärung" viel beigetragen) 
hielten sich von solcher Ausdrucksweise vornehm fem. Allmählich 
ging creiüch jener Ton auch in die Geschichtsdarstellungen wie in 
die Publizistik über. Wir rechnen es Carl Biedermann zum hohen 
Verdienste an. ilass er sich nicht nur von einer solchen Manier 
stets fem hielt, sondern auch in seinem grossen kiilturhistorischen 
Werke gefliessentlich darauf ausging, das Gehaltvolle, Bedeutsame 
Schöpferische und geschichtlich Fortwirkende in der Aufklärung des 
iS. Jahrhundens nachzuweisen. Soweit man von einer Historio- 
graphie dieses Jahrhunderts sagen kann, ist die Geschichtsschreibung 
Biedermanns von dem grossen liedanken des Humanismus und (seines 
politischen Sohnes' des Liberalismus getragen. — Dieser Geist 
herrscht auch in seinen übrigen kulturgeschichtlichen Arbeiten, so 
z. B. in „Friedrich der Grosse und sein Verhältnis zur Ent- 
wickelung des deutschen Geisteslebens** 1859^ einer Schrift, 
welche gewisscrniasseii einen Nachtrag zu seinem grossen Werke 
bildet, insofem don eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des 
iS. Jahrhundens naih iiirem geisti^^en iiehalte ibrgestellt wird. 

Mehr h:<:orisch-polit:>chen und staatsrechtlichen Charakters ist 
eine andere Arbeit Hiedemianns aus demselben Jahre 1859: „Die 
Kntwi« kc'iing de-^ Staatswesens in Deutschland, England 
und Frank rei»h.' Kr nennt sie einen „Heitrai: zur vers^leichenden 
Staat- und Verfa^^ungsgeschiohte.' Raumers ..Historisches Taschen- 
buch." III. F»'>!^:c. 10. fahficani: , unvl in der That ist diese Mono- 
griphi-:: ein Mu>ter dafür, wie auf \ erhaltnismässig nicht allzu aus- 
ge'Iehr.terr. Räume eine kom{urati\e ParsteVamg der Verfassungs- 
kärr.i,:'- der dr-i :«'''.it:s*'hen Hauptvöiker Kuroias irei^^eben werden 
kar.n. A:^ un : /i r.uden wir bedeutsan;e Kxkurse darin über Staats- 
recht' ::h-i: IriS'jr.. wie u:»er den Wen der Verfassungs formen, über 
Kabinett -ju-ti/. uher centralisierte un^i decentralisiene Verwaltuncfs- 



Carl Biedermann. 20 9 

maximen, über Volksvertretungen und die Rechte der Stände in" 
bezug auf finanzielle Kontrole u. s. w. 

In letzterer Hinsicht begründet Biedermann theoretisch das, was 
er schon früher sehr oft in bestimmten praktischen Fällen publi- 
zistisch durchgeführt hat, z. B. in der glänzend geschriebenen Schrift 
aus dem Jahre 1846: „Ein neuer Angriff auf das ständige 
Bewilligungsrecht in Kurhessen". Diese Schrift erschien kurz 
vor Auflösung der hessischen Kammer am 1 7. November 1 846 und 
trug damals viel dazu bei, den Forderungen des deutschen Volkes 
nach konstitutionellen Zuständen Nachdruck zu geben. In einer 
Nachschrift ermahnt nun Biedermann die hessischen Stände zur 
Ausdauer im Kampfe und hält ihnen vor, wie ihr Ausharren für 
Recht und Verfassung gewissermassen vorbildlich ist und sein 
wird ftir die gegenwärtigen und zukünftigen Rechtskämpfe des deut- 
schen Volkes. Hier erhebt sich Biedermann zum Wortführer der 
öffentlichen Meinung von ganz Deutschland, wenn er am Schlüsse 
ausruft: „Darum wird die öffentliche Meinung der ganzen Nation 
mit den Vertretern Kurhessens sein, wenn sie jenes heilige kon- 
stitutionelle Recht bis aufs Äusserste verteidigen." 

Im Jahre 1855 siedelte Biedermann, dem die Pforten der 
Hochschule seiner Vaterstadt verschlossen worden waren, nach 
Weimar über, um die Redaktion der „Weimarer Zeitung" zu über- 
nehmen. Diese Zeitung war halboffiziell; aber weder der junge 
Grossherzog Carl Alexander, der kurz vorher (1853) ^^^ Regierung 
gelangt war, noch das Ministerium huldigten irgend welchen reak- 
tionären Tendenzen, und so konnte Biedermann mit gutem Ge- 
wissen die Redaktion der „Weimarer Zeitung" übernehmen, bei 
welcher ihm vollständig freie Hand gelassen wurde und die er in 
gemässigt liberalem und nationalem Sinne acht Jahre hindurch redi- 
gierte. Während seines Weimarer Aufenthalts publizierte er noch 
manche interessante historische Monographie, so z. B. 1858 eine 
„Geschichte der Universität Jena" (Jubiläumsschrift zum 300- 
jährigen Bestehen dieser Hochschule); ferner die kulturhistorische 
Studie: „Deutschlands trübste Zeit." Ein litterarisches Unter- 
nehmen von grossem Umfang, die Herausgabe einer „Staat en- 
geschichte der neuesten Zeit" gab er nach einigen Jahren 

14 



210 ^^^^ Biedermann. 

wieder auf. Um diese Zeit lebte auch Berthold Auerbach, femer 
Karl Gutzkow, als Generalsekretär der deutschen Schillerstiftung, 
und Franz Dingelstedt, als Generalintendant des Hoftheaters, und 
eine ganze Anzahl dii minorum gentium in Weimar, so dass sich 
in der klassischen Musenstadt damals eine Art von litterarischer 
Kolonie festgesetzt hatte. Im Jahre 1863 siedelte er dann wieder 
nach Leipzig über, um die Redaktion der im Verlage von F. A. 
Brockhaus erscheinenden „Deutschen Allgemeinen Zeitung" zu 
übernehmen. Die gleichen liberalen politischen Prinzipien, denen 
der Chef dieses Hauses, Dr. Heinrich Brockhaus, und später sein 
Sohn Dr. Ed. Brockhaus huldigten, Hessen Biedermann eine Rück- 
kehr in seine Vaterstadt angenehm erscheinen, wodurch er ja doch 
in der Lage war, zu hoffen, bald wieder seine akademische Thätig- 
keit aufnehmen zu können. Biedermann leitete die „Deutsche All- 
gemeine Zeitung" im Nationalliberalen Sinne bis zum Eingehen 
dieses Blattes im Jahre 1880. Seine akademischen Vorlesungen 
durfte er wieder im Jahre 1865 aufnehmen. Fortan las er über 
neuere Kultur- und Litteraturgeschichte, zugleich aber auch 
hielt er Kollegien über modernes Staatsrecht und neuere poli- 
tische Geschichte. Als akademischer Lehrer war und ist Bieder- 
mann bei den Studenten sehr beliebt. Ohne eins der beliebten 
Kunststückchen anzuwenden, hatte er doch immer einen grossen 
Zuhürerkreis, welcher dem klaren und stets gut disponierten Vor- 
trage des würdigen Gelehrten gern folgte. Was ihm als akade- 
mischem Lehrer jedoch zu Gute kam, die klare Anschaulichkeit 
und scharf hervortretende Gliederung des Vortrags, hinderte zum 
Teil die oratorische Wirkung seiner Parlamentsreden, denen wegen 
des Vorherrschens der genannten Vorzüge oft das hinreissende Pathos 
fehlte. Weit mehr glänzte er durch wohldurchdachte und den jedes- 
maligen politischen Moment immer treffende Anträge und durch 
seine schriftlichen Referate, welche sich stets durch erschöpfende 
und taktvolle Behandlung der Fragen auszeichneten. — Dass Bieder- 
mann in den sechziger und siebziger Jahren sich von der par- 
lamentarischen Vertretung fernhielt, hatte darin seinen Grund, dass 
er seinen akademischen wie seinen publizistischen Beruf sehr ernst 
nahm. Indes hatte er auf das dringende Bitten seiner pohtischen 



Carl BiedormaDn. 211 

Freunde noch 1869 ein Mandat für die zweite sächsische Kammer 
von dem Wahlkreis Chenmitz und 1871 für den deutschen Reichs- 
tag von dem Wahlkreis Mittweida-Limbach angenommen. Hier wie 
dort gehörte er zu den her\'orragendsten Mitgliedern der national- 
liberalen Fraktion. Bei den Reichstags-Neuwahlen des Jahres 1874 
und auch später lehnte er jedoch jene Kandidatur ab. 

Carl Biedermann als Historiker hat in seinen verschiedenen 
Darstellungen einen Gesamtzeitraum von 250 Jahren behandelt, 
und zwar umfasst das oben analysierte Werk die Zeit von der Mitte 
des 17. bis zum Schluss des 18. Jahrhunderts, während er in dem 
vierbändigen Werke, dem wir jetzt unsere Aufmerksamkeit zuwenden 
wollen, das 19. Jahrhundert zum Objekt hat. Dasselbe erschien in 
zwei Abteilungen unter den Titeln: „1840 — 70. Dreissig Jahre 
deutscher Geschichte. Vom Thronwechsel in Preussen 
1840 bis zur Aufrichtung des neuen deutschen Kaisertums" 
12 Bde. 3. Aufl. 1863, Breslau, Verlag von S. Schottländer), und 
„1815 — 40. Fünfundzwanzig Jahre deutscher Geschichte. 
Vom Wiener Kongress bis zum Thronwechsel in Preussen" 
(2 Bde., Breslau, Verlag von S. Schottländer). Die letzten beiden 
Bände, welche auch später verfasst wurden, obgleich sie eine voran- 
gehende Periode behandeln, bilden offenbar eine Ergänzung nach 
rückwärts, so dass mau gut thun wird, die beiden getrennten Werke 
als eins aufzufassen, welches die wesentlichsten Momente der poli- 
tischen Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert (1815 — 70) 
umfasst. Von diesem (Gesichtspunkt gefasst, erscheint es dann aller- 
dings sehr fraglich, ob in dieser Ciesamtentwickelung die Thron- 
besteigung Friedrich Wilhelms IV. in Preussen ein Ereignis von 
solcher Bedeutung für die deutsche Entwickelung gewesen ist, dass 
dasselbe einen Haupteinschnitt innerhalb derselben biklen kann. 
Doch wollen wir mit dem Verfasser über diesen Punkt nicht rechten, 
sondern bemerken nur, dass, will man etwa für den Einheitsgedanken 
bedeutsame Wendepunkte in der deutschen Geschichte dieses Jahr- 
hunderts suchen, man ebenso gut oder vielleicht besser den Zu- 
sammenschluss des Preussisch-Hessischen und des Bayrisch- Württem- 
bergischen Zollvereins zu einem deutschen Z<^llverein (1833) ^^^^ 
die Katastrophe des 14. Juni 1S06, wo Preussen nach der letzten Ab- 

14* 



212 Carl Biedermann. 

Stimmung über seinen Antrag, betreffend die Bundesreformfrage, 
den Bundesvertrag als erloschen erklärte, als historisch bedeutsame 
Abschnitte ansehen kann. Doch sind dieses nur Äusserlichkeiten; 
denn alle historischen Einteilungen sind willkürlich und nur behufs 
Orientierung gemacht. In den objektiven Ereignissen selbst, welche 
durch eine zusammenhängende und nirgends unterbrochene Kette 
von Ursachen und Wirkungen verbunden und bedingt sind, liegen 
weder Abschnitte noch Einteilungen. 

Es ist ein imponierendes historisch-politisches Gemälde, welches 
Biedermann in diesen vier Bänden von der deutschen Entwickelung 
in unserem Jahrhundert entworfen hat. Ich sage „entworfen." 
Denn zur wirklichen Durchführung der Geschichte dieses sechzig- 
jährigen Zeitraums hätte es nicht vier, sondern zehn Bände bedurft 
Schon der Umstand, dass hier der ganze kultur- und litterar- 
geschichtliche Teil übergangen ist (und in dieser Hinsicht bilden 
die vorliegenden Bände den strikten Gegensatz zu Biedermanns 
Werk über das i8. Jahrhundert), und nur der Gang der politischen 
Ereignisse nach allen seinen Neben- imd Seitenwegen nachgewiesen 
ist, erlaubte eine kürzere und gedrängtere Zusammenfassung. Aber 
auch die Tendenz und der Ton des Werkes selbst Hessen einen 
geringeren Raum zu. Der schlichte und anspruchslose, obwohl, wo 
es die Sache erforderte, auch warme und gehobene Erzählerton 
(wir verweisen hier nur auf die Schildenmg der burschenschaftlichen 
Bewegung von 1819 — 1823), dessen sich Biedermann hier befleissigt, 
schliesst von selbst alle langen rhetorischen Ergüsse aus, wie sie 
Treitschkes „Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert" aufweist. 
Carl Biedermann kann der pathetischen und patriotischen Tiraden 
völlig entbehren. Denn Jedermann weiss, dass der Erzähler dieser 
Ereignisse, an denen er grösstenteils selbst im nationalen Sinne 
mitgewirkt hat, einer unserer gesinnungsvollsten Patrioten ist Zu 
diesem massvoll schlichten Ton des Werkes (ein Abbild seines 
Verfassers) kommt, um mich so auszudrücken, die scheinbar kunst- 
lose, im Grunde aber klug ersonnene Komposition, der Aufbau des 
Ganzen, der nur dem Gange der Ereignisse zu folgen scheint, aber 
doch auch eine solche Gruppierung zeigt, die, das Unbedeutende 
dem Bedeutungsvollen unterordnend und die Knotenpunkte scharf 



Carl Biedermaim. 213 

hervorhebend, sich leicht und natürlich der Anschauung und dem 
Gedächtnisse einprägt. In diesem Sinne ist das Biedermann'sche 
Werk ein National- und Volksbuch im besten Sinne des Wortes, 
welches in keiner Handwerker- und Schulbibliothek, in keiner 
deutschen Familie, wie einst Grimms deutsche Märchen, fehlen sollte. 
Auch hier kann man sagen: Introite, nam et hie Dii sunt! Hier wird 
Euch erzählt, von den Leiden und Kämpfen unserer Väter und 
Grossväter für die Freiheit und die Einheit des deutschen Vater- 
landes 

Doch der Herr Verfasser möge entschuldigen, wenn ich neben 
den wahrlich vielen Lichtseiten des Werkes auch auf einige (meiner 
subjektiven Überzeugung nach) Mängel hinzuweisen mir gestatte. 
Da ist zunächst bei der Darstellung des Verfassungs-Konflikts zwischen 
den preussischen Liberalen und der preussischen Regierung die 
allzu geringe Würdigung der politischen und ethischen Motive, von 
denen damals die preussische Fortschrittspartei sich leiten liess. 
Ein anderes Moment betrifft die allzu kurze imd bei der Wichtig- 
keit der Sache, nur episodische Behandlung, welche die Entstehung 

und das Wachstum der Socialdemokratie in Deutschland in de^ 

de- 
Werke Biedermanns gefunden hat. Die Rücksicht auf d^ 

schränkten Raum durfte nicht so weit gehen, eine der ge^. 

«emuneen 
und in ihren Wirkungen noch gar nicht absehbaren K . 

im politischen Leben des Jahrhunderts, mit ^^^^f^zuthu 
alle Regierungen heute rechnen müssen, so ohng^^ Aufla 
wird der letztere Punkt in einer künftigTrfen, als Biederma 
mehr einer Erweiterung und Ergänzuui^iten) nur „das erste A f 
Darstellung (Bd. ü, auf im Ganzen^nland" betrifft. Ah 
treten der Socialdemokratie in Äs Auftreten im Jahre iRf^ w 
30 Jahren, seit Ferdinand «e erschreckende Ausdehnung an^ 
heute, hat jene Beweg'-chst wichtiger Faktor im politischen 
genommen und ist -'\ geworden. Biedermann selbst erkennt 
Parteileben der r^' jndem er die stetig wachsenden Zahlen 

P ^rage hat. Schon m den vierziger 

ke»' 



214 ^^^^ Biedermann. 

Jahren hat er, wie wir oben gesehen haben, „Vorlesungen über 
Socialismus und sociale Fragen" gehalten, wiewohl es damals 
eine sociale Partei mit einem bestimmten Programm im heutigen 
Sinne, noch gar nicht gab. Auch für das, was wir heute die 
Frauen frage nennen, interessierte er sich, wie sein „Frauen- 
Brevier" (1856) zeigt, eine Reihe von kulturgeschichtlichen Vor- 
trägen über die Frauen und ihre Verhältnisse zur Familie, zum 
Staate und zur Gesellschaft. Diese Vorträge hatte er hier in Leipzig 
vor einem Kreise gebildeter Damen gehalten.*) In seiner zweiten 
völlig umgearbeiteten Auflage enthält das Werk dreiundzwanzig 
Vorlesungen über die Frauen von geschichtlicher Bedeutung, über inte- 
ressantere Fragen aus dem Gebiete der allgemeinen Kulturgeschichte, 
des Gesellschaftslebens, der politischen und der Kunst- und Litteratur- 
geschichte. Es ist ein schönes Werk, von ebenso gediegenem 
Inhalt als anregender Form. Es giebt in der überreichen Populari- 
sierungs-Litteratur unserer Zeit wenige Bücher, in denen der Versuch, 
zwischen der strengen, nüchternen Kulturgeschichtsforschung und 
den auf litterarischen und ästhetischen Genuss hinzielenden Bildungs- 
Bestrebungen für das weibliche Geschlecht zu vermitteln, so ge- 

* en erscheint, wie in diesem Biedennann'schen Buche, welches 
3,ucn 

;sserlich durch gute Ausstattung sich empfiehlt. Besonders 

owert ist, was der Redner in der einleitenden Vorlesung 

^ ' . h Q^ »i^^^sen, Wert und Mittel wahrer Frauenbildung'* 

^' thält eine luYilt^^ Vorlesung „Natur und Kultur" (Seite 45 — 66) 

\' KU * * dieser gehender und sinniger Bemerkungen über das 

1 \ en TJnd so' Faktoren zum Menschen-, insbesondere 

T.',,„^t und L»noch manche andere Kapitel, wie „Die 
trauen m ivuhm «.»"v* x- 

C;eschichte des weiblichen vir," „Erziehungsberuf der Frauen," 
".' ^i^serer gebildeten Damen 's^chts" u. s. w., welche der Lek- 

Eine ethisch-sociale , oder i-enug zu empfehlen sind 

Tendenz zeigt eine kleinere Schrift . pädagogisch-sociale 

,ÄC2 welche er unter dem Pseudonym ..^nns aus dem Jahre 

licht'hatle, und die jetzt ebenfalls in zweite. .-^^^^^^ ^,^^^^^^^^ 

^ vorliegt: „Die 

*) 27rufl. .88.. Leipzig, Verlag von 1. J. Weber. 



Carl Biedermann. 215 

Erziehung zur Arbeit eine Forderung des Lebens an die 
Schule"*). Es ist die Frage des Arbeitsunterrichts in den Schulen 
welche Biedermann schon vor 40 Jahren als eine Forderung der 
Zeit und der veränderten Lebensverhältnisse aufgestellt hatte, und 
der jetzt seit einem Jahrzehnt erst die offizielle Pädagogik ihre Auf- 
merksamkeit zuwendet. Biedermann hat hier wesentlich die Volks- 
schulen, also die Kinder unserer Arbeiter- und Handwerker- 
bevölkerung im Auge, und er formuliert seine Forderungen auf eine 
Schulreform ebensowohl als ein dringendes Postulat einer die körper- 
liche Kräftigung des Geschlechts betonenden Pädagogik, als wie 
als ein nationales Bedürfnis. Professor Biedermann hat jetzt die 
Genugthuung, dass seine Wünsche und Ideen, die in den fünfziger 
Jahren als eine Utopie verlacht wurden, heute von den Regierungen 
und offiziellen Schulräten selbst gefördert werden. 

Dann möchte ich noch das tüchtige populär-wissenschaftliche 
Werk Biedermanns erwähnen: „Deutsche Volks- und Kultur- 
geschichte für Schule und Haus" (3 Thle. Wiesbaden 1885, 
Verlag von J. F. Bergmann). Das Buch, welches nicht bloss für 
Schulen und die Jugend bestimmt ist, darf vor Allem ein Familien- 
buch im edelsten Sinne des Wortes genannt werden. Die ethische 
Bildung unserer Jugend kann, nachdem die sittlichen und ästhetischen 
Einwirkungen der Natur durch das exakte Forschungsprinzip und die Me- 
thode seitens der Naturwissenschaften zum Teil jetzt aufgehört haben, 
nur noch wesentlich durch den geschichtlichen Unterricht erzielt 
werden, hauptsächlich durch die Kenntnis von der Bedeutung und 
dem Geist der Kulturelemente in der Geschichte. So kann 
die Kenntnis der historischen Staaten, Religionen, Künste und 
Litteraturen ein ethisches Bildungsmoment von ausserordentlicher 
Bedeutung für unsere Zeit werden. Dieses scheint Biedermann in 
seiner trefflichen populären Kulturgeschichte angestrebt zu haben, 
und dahin zielt auch seine an dieses Werk sich anschliessende 
kleine Schrift: „Der Geschichtsunterricht auf Schulen nach 
kulturgeschichtlicher Methode" (Wiesbaden 1885, in dem- 
selben Verlage). Schon vor 30 Jahren hatte Biedermann (im Ver- 



*) Leipzig 1883, Verlag von Heinrich Matthes. 



216 ^^1 Biedermann. 

läge von Westermann in Braunschweig) eine Broschüre unter dem 
Titel: „Der Geschichtsunterricht in der Schule, seine Mängel 
und ein Vorschlag zur Abhilfe" (1860) veröffentlicht Hier 
hatte unser Historiker eine scharf eindringende Kritik gegen den 
bisherigen Geschichtsunterricht gerichtet. Er beleuchtete die Mängel 
desselben, welche er teils in der Natur des Stoffes selbst (in- 
sofern der Geschichtsunterricht es mit einer Zeitfolge der Be- 
gebenheiten, also gewissermassen mit einem üiessenden Objekt zu 
thun hat), teils in der erzählenden, chronologischen Methode fand. 
Biedermann meint, dass vielfach hierdurch die Anschaulichkeit des 
Stoffes und das Verständnis des organischen Zusammenhanges der 
Begebenheiten erschwert werde und statt dessen das äusserliche 
Gedächtniswerk von Zahlen, Namen und Daten an die Stelle trete. 
Ausserdem sei es selbst für den Geschichtslehrer schwierig, aus der 
unübersehbaren Masse der Thatsachen das Wesentliche auszuwählen, 
und so werde durch ein Zuviel des Stofflichen das Gedächtnis der 
Schüler überladen und der jugendliche Geist verwirrt, was zur Folge 
hat, dass die Jugend bei diesem Unterricht mehr passiv imd me- 
chanisch rezeptiv, als selbstthätig und aktiv sich verhält. Dem 
gegenüber schlug Biedermann vor, man solle beim Unterricht von 
einem bestimmten Zustande eines Volkes ausgehen und dem Schüler 
hiervon ein Gesamtbild geben. Nach psychologischen Gesetzen 
werde dieses Bild in der Seele des Schülers fester haften als eine 
isolierte Thatsache, wie eine Schlacht, oder der Name eines Helden. 
Hieran sei dann das Weitere anzuknüpfen, indem man das Werden 
und die Veränderung jenes fertigen Bildes nachweise, und so werde 
dem jugendlichen Geiste der Begriff der Entwickelung klar werden. 
Der Vorschlag Biedermanns fand bei vielen Pädagogen (insbesondere 
Herbart'scher Richtung) Beifall und er wurde vielfach aufgefordert, 
ein nach dieser (kulturhistorischen) Methode ausgearbeitetes Lehr- 
buch der Geschichte zu verfassen. Dieses liegt nun in der oben 
genannten „Volks- und Kulturgeschichte" vor. Dass hierdurch eine 
wirkliche und sicherlich folgenreiche Reform des so unmethodischen 
Geschichtsunterrichts in Schulen herbeigeführt werden würde, liegt klar 
zu Tage. Nur wäre es zu wünschen, dass auch hier die „officiellen" 
Pädagogen der Einsicht in die Verbesserungsbedürftigkeit ihres bis- 



Carl Biedermann. 217 

herigen Geschichtsunterrichts nicht länger sich verschliessen. So 
ist, wie überall so auch hier, in diesen pädagogischen Arbeiten, der 
rastlose Eüfer Biedermanns auf das im höchsten Sinne des Wortes 
Gemeinnützige, auf die Bildung der Jugend aus den so fruchtreichen 
Quellen früherer menschlicher Kultur, gerichtet gewesen. 

Diesen gemeinnützigen Wirkungstrieb bekundete er nun auch 
innerhalb des Gemeinwesens, dem er durch Geburt wie durch Beruf 
angehörte. Die älteren Leipziger erinnern sich, dass es seit 50 
Jahren keine irgendwie politische oder kommunale Angelegenheit 
von Bedeutung in Leipzig gab, in der das Wort Biedermanns nicht 
von Entscheidung gewesen wäre. Schon im Beginn der vierziger 
Jahre trat er in das Stadtverordneten-Kollegium, und als Vice- 
vorsteher desselben verfasste er in den Märztagen 1848 jene be- 
deutungsvolle Adresse, welche die Leipziger Bürgerschaft an den 
König von Sachsen richtete. Auch fiir das materielle Gedeihen 
seiner in der letzten zweiten Hälfte des Jahrhunderts so aufgeblüten 
Vaterstadt hatte er, soweit er als Gelehrter und Schriftsteller von 
Beruf hier einzuwirken vermochte, offenen Sinn und Verständnis. 
Vielfach interessierte ihn die historische Entwickelung Leipzigs, wie 
er dieses auch durch sein Urkundenwerk über „Die Geschichte 
der Leipziger Kramer-Innung" bekundete, welches er bei Ge- 
legenheit des 400jährigen Jubiläums dieser Innung (1477 — 1880) 
und des 50jährigen Bestehens der hiesigen Handelsschule, einer 
Stiftung der Kramer-Innung, verfasste. 

Und wenn es erlaubt ist, unter den vielfachen öffentlichen, 
idealen und wirtschaftlichen Interessen, die das vielbewegte und 
arbeitsvolle Leben Biedermanns ausfüllten, noch Eins zu nennen, 
welches er stets mit Eifer und Wärme vertrat, so möchte ich 
(gewissermassen pro domo) nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, 
dass er sich Zeit seines Lebens ebenso gut als Gelehrten wie als 
Publizisten und Journalisten fühlte. Auf den früheren Journalisten- 
tagen konnte man neben Männern wie Friedrich Zabel von der 
„Nationalzeitung," Hennann Kletke von der „Vossischen," Heinrich 
Kruse von der „Kölnischen," Otto Braun von der „Münchner All- 
gemeinen" und anderen hervorragenden Vertretern der deutschen 
Presse stets den geistvollen Kopf Carl Biedermanns bemerken, wie 



218 Carl Biedermann. 

er ja auch als Vorstandsmitglied den Bericht verfasste über den 
„Journalistentag" in Eisenach vom Jahre 1864, dem er präsidiert 
hatte. Auch auf den späteren Joumalistentagen zu Leipzig (1865), 
Herlin (1869) und Breslau (1872) hatte er die Verhandlungen ge- 
leitet. Im Jahre 1871 veröffentlichte er eine „die Grundlagen 
eines deutschen Reichsgesetzes über die Presse" erläuternde, 
vielfach au( h scharf kritisierende Schrift. 

Sehr verdienstlich und wertvoll endlich ist der litterarhistorische 
Beitrag, den Biedermann vor 10 Jahren zur Kenntnis Heinrich 
von Kleist *s durch Herausgabe der „Briefe Kleists an seine 
Braut" (1883) geliefert hat. Auf das vielfach Rätselhafte in dem 
Seelenleben des Dichters und seiner Geliebten, Frau Henriette Vogel, 
was schliesslich zur Katastrophe des am 2. November 181 1 erfolgten 
Uoppelselbstmordes führte, fallt durch diese Briefe einiges erhellende 
l.icht. Aber trotz alledem wird die Tragödie am Wannsee bei Pots- 
dam tiir die Litteratur-Psychologen noch lange ein anziehender 
Stot^" bleiben. 

Hieran seh Hesse ich noch die Er>vähnung einer litterax- 
historischen Studie „Berlins Eintluss auf die deutsche Litteiatnr" 
^^l8;2\ — Alle diese Arbeiten sind in den betreffenden Liiteratur- 
blüttern vollauf gewürdigt worden. Weniger allgemein bekannt 
freilich dürtte es sein, dass Biedermann sich auch als Dichter und 
jw;ur als dramatischer Dichter versucht hat. Wir haben drei 
historische Dramen \on ihm. denen man einen gewissen korrekten 
.\ufl\iv: der Handlinie, sowie Schönheit und Schwung der Sprache 
n.uhTühnv.: .l>:to 111." iSö^ . ..Kaiser Heinrich IV." 1S61 und 
..IVr 'eirio Burv.er:r.e:s:er von Strossburkf' lS~o\ 

IKiss Biev:er:v..irir. vien Wunsch gehab: ha:, aus seiner über 
c:r. h,i?.v> J.ihrhur.vien v.n^rissencer. : ub".:r:s::schen und 
:,i: ".scher. Ih.wiiike:: wer.:c>:er.s etwjLs der Veriresseuheh ru 

.X.SSC-.. •>- K » K..Jk- .»V-.. _-- ^ >v ->. ^Jk> r^»-v ■cTi.>«aJtv-.Cll. »^C^A.iJC* Ci>s. 



*»* » ^« 









\Vc'i V<s:;r'": » 






Carl Biedermann. 219 

Joumalartikeln, sowie aus Parlamentsreden, die Biedermann bei 
wichtigen Gelegenheiten teils im Frankfurter Parlament, teils in der 
sächsischen IL Kammer, teils auch bei grösseren Parteiversanimlungen 
gehalten hat. Von lokalem Interesse gewissermassen ist die oben 
schon erwähnte hier mitgeteilte und von Biedermann verfasste 
Adresse, welche in den Märztagen 1 848 vom Rat und Stadtverordneten- 
Kollegium von Leipzig an den König von Sachsen um Gewährung 
der damals dringendsten Volksforderungen: Pressfreiheit und ein 
deutsches Parlament, gerichtet wurde. Von welchem inneren Gehalt 
diese Adresse war, geht aus einem Urteil der „Times", des eng- 
lischen Weltblattes, hervor: „Unter den zahlreichen Adressen", sagt 
das englische Blatt, „die in Deutschland entstanden sind, haben 
wir keine mit mehr Interesse gelesen, als die der städtischen Be- 
hörden Leipzigs. Ihre Sprache ist sehr beachtenswert. Es liegt 
etwas in der Mässigung und Festigkeit dieser Adresse, was mehr 
Achtung einüösst, als alle die konventionellen Phrasen, in welchen 
die Nation sogar in Zeiten wie die jetzige von einigen ihrer Herrscher 
angeredet wird." Nicht minder staatsmännisch bedeutsam und ora- 
torisch glänzend scheinen mir die hier mitgeteilten Reden, die 
Biedermann in Frankfurt über das preussische Krbkaisertum, sowie 
1850 in der sächsischen IL Kammer über Sachsen und das Drei- 
königsbündnis gehalten hat. In letzterer Beziehung ist es nicht 
uninteressant, zu sehen, wie hier zwischen den beiden schärfsten 
Gegnern, Biedermann und Beust, die Geradheit und Ehrlichkeit des 
liberalen Parteiführers über die Schlauheit und Gewandtheit des 
reaktionären Ministers den Sieg davonträgt. — Doch findet vieles, 
was in diesem Sammelbande einzeln und ohne rechten Zusammen- 
hang mitgeteilt wird, seine volle Ergänzung und Erklärung in 
Biedermanns autobiographischem Werke: „Mein Leben und 
ein Stück Zeitgeschichte'' (2 Bde., 1880 in derselben Verlags- 
buchhandlung zu Breslau erschienen). Es ist in dem Buche vieles 
enthalten, was auf das innere Leben Biedermanns, auf seine wissen- 
schaftlichen Bestrebungen und Pläne, aber auch auf seine persön- 
lichen Beziehungen zu einer grossen Anzahl hervorragender Männer 
des Jahrhunderts ein Licht wirft. 

Was mich aber bei diesen Memoiren so wohlthuend berührt, 



220 ^^^ Biedermann. 

das ist einerseits die bei Autobiographien so seltene Bescheidenheit 
und Zurückhaltung, mit der der Autor von sich selbst spricht, 
andererseits aber auch das milde und nachsichtige Urteil, das 
Biedermann über Personen und Verhältnisse fällt, mit denen er in 
Berührung gekommen ist. Nirgends eine Spur von Bitterkeit den 
vielen Verfolgungen und Kränkungen gegenüber, denen er ausgesetzt 
war, niemals ein herbes Wort über seine vielfachen Gegner, welche 
in ihrem Urteil über Biedermann weniger zurückhaltend gewesen 
sind. Denn wenige Männer des öffentlichen Lebens haben die 
Wahrheit des Uhland'schen Wortes: „Der Dienst der Freiheit ist 
ein schwerer Dienst" an sich mehr erfahren, als Biedermann. 

Diese Zeilen sollten nicht eine erschöpfende Charakteristik 
Karl Biedermanns sein, der unzweifelhaft eine historische Persön- 
lichkeit ist, welche erst im Zusammenhange mit der Geschichte der 
liberalen Partei in Deutschland vom künftigen Historiker behandelt 
werden wird. Ich bezweckte nur, durch meine Skizze einen Aus- 
druck der Verehrung zu geben, die heute das ganze deutsche 
Vaterland für ihn empfindet. 

Möge nach einem langen und arbeitsvollen Leben im Dienste 
der Wissenschaft und des Vaterlandes dem greisen Gelehrten ein von 
jeder Bekümmernis freier und froher Lebensabend beschieden seinl 



Ueber^veg^Heinze. 

Eine Studie zur 
Geschichte der philosophischen Historiographie. 

Unter denjenigen deutschen Denkern, welche in den letzten 
Jahrzehnten am meisten in den Vordergrund getreten sind, ist auch 
Friedrich Ueberweg hervorzuheben, nicht zwar aus dem Grunde, 
weil er etwa eine neue in sich geschlossene philosophische Welt- 
anschauimg begründet und durch diese auf den Geist seiner Zeit 
eingewii^t hätte, sondern lediglich wegen des bedeutenden Ein- 
flusses, den Ueberweg als philosophischer Historiker und Kritiker 
einige Jahrzehnte hindurch ausgeübt hat. In letzterer Hinsicht hat 
er sich zum Amte eines philosophischen Kritikers besonders durch 
seine umfassende und gründliche Kenntnis der historischen Systeme 
wie durch seine eminente logische Befähigung geeignet, wie er über- 
haupt sowohl durch seine intellektuelle Eigenart wie durch seine ganze 
wissenschaftliche Entwickelung wesentlich zur logisch-kritischen Wirk- 
samkeit innerhalb der heutigen deutschen Philosophie bestimmt 
schien. 

Wenn wir Ueberweg mit einem anderen ihm innerlich ver- 
wandten, aber noch einflussreichem deutschen Denker unserer Zeit 
vergleichen wollten, so wäre dies sein ehemaliger Lehrer, der ge- 
lehrte Aristoteliker Adolf Trendelenburg in Berlin.*) Wie dieser 



*) Trendelenburg (geb. zu Eutin 1802) hatte unter Reinhold und Erich 
von Berger, einem Anhänger Schellings, in Kiel Philosophie studiert, habilitierte 
sich in Berlin und wurde hier 1833 ausserordentlicher und 1837 ordentlicher 
Professor der Philosophie und Pädagogik. Er starb 1872, nachdem er durch 
seine langjährige akademische Wirksamkeit einen grossen Kreis von Schülern 



222 Ueberweg-Heinrc. 

SO wurzelte auch Uebenvegs Bildung im klassischen Altertum und 
seine ersten philosophischen Anregungen erhielt er durch die 
Schriften des Plato und des Aristoteles. Wie Trendelenburg war 
auch er ein philologisch-historisch geschulter Gelehrter, dessen 
Schwerpunkt in der philosophischen Geschichtsschreibung lag. Und 
wenn der Berliner Akademiker neben seinem Lehrberuf und neben 
der historischen Erforschung der grossen Systeme der Vergangenheit 
eine seiner wesentlichen Aufgaben in der Kritik einiger zeitgenös- 
sischer Richtungen, wie der Hegels, Herbarts und Schopenhauers 
sah, so war auch der Kern in der kritischen Thätigkeit Ueber\%'egs 
daraufhin gerichtet, dem übermächtigen Einfluss des Kantischen 
Kritizismus, wie er neuerdings wiederum in Deutschland in dem 
sogenannten Neukantianismus und seinen Schattierungen sichtbar 
wird, entgegenzutreten. Daher \i^rde er nicht müde, bei aller 
Hochachtung, welche er gegen den grossen Denker Immanuel Kant 
empfand, auf die Widersprüche und den negativen Charakter seines 
transcendentalen Idealismus hinzuweisen. 

Ja so sehr lag ihm die Überwindung des „Subjektivismus" 
Kants am Herzen, dass er überall nach Bundesgenossen sich umsah 
und mit allen, selbst mit den ihm so wenig sympathischen Hege- 
lianern und anderen spekulativen Richtungen paktieren konnte, wenn 
es sich darum handelte, die Überzeugung von den Grundirrtümern 
der Kantischen Erkenntnistheorie zu verbreiten. 

So kommt es, dass Ueberweg, trotz seiner wesentlich kritischen 
Gnmdrichtung, doch für die verschiedensten spekulativen Anschau- 
ungen Verständnis, ja Neigung zeigte, ohne dass man ein Recht 
hätte, ihn eines ])rinzipienlosen Eklektizismus zu beschuldigen. Viel- 
mehr wusste er bei seiner geistigen Vielseitigkeit und dialektischen 
Gewandtheit jeder Ansicht eine Seite abzugewinnen, welche ein 
brauchbarer J5austein hätte werden können für das System der 

iii;<l Anhängern sich erworben hatte. Trendelenburgs Hauplschriften sind 
..Elenienta logices Aristoteleae" (1837, in vielen Auti.) ; „Logische Untersuchun- 
gen" (2 Bde. 1840, 3. Autl .1870) und im Anschluss an das letztere Werk, ,,Die 
h)j;ische Frage in Hegels System" C1843) und ,,Über Herbarts Metaphysik*' 
(1S54); „Historische Beiträge zur Philosophie'* (3 Bde. 1846 — 67); „Naturrecht 
auf dem Grunde der Ethik" ; 2. Aufl. 1868). 



Ucbcrweg-Heinxe. 228 

Philosophie, mit dessen Aufbau er sich in Gedanken trug, welches 
aber niemals zur Ausführung gelangen solhe. Von diesem künftigen 
System hat er hier und dort einzelne Bruchstücke hinterlassen, von 
welchen wir auf das Ganze schliessen könnten Ein solches Bruch- 
stück ist z. B. die Abhandlung über „Idealismus, Realismus, und 
Idealrealismus," sowie einige andere grundlegende Aufsätze, die uns 
erkennen lassen, dass der „Idealrealismus," an dessen Durch- 
führung er arbeitete, im Grunde eine synkretistische Bildung sein 
und die Tendenz haben würde, eine Vermittelung der grossen 
Gegensätze des Idealismus und des Realismus herbeizuführen. 

Ob ihm indes die einheitliche Ausgestaltung einer selbständigen 
und die angedeuteten (Gegensätze vermittelnden Weltanschauung 
gelungen wäre, ist schwer zu sagen, wenn man bedenkt, dass von 
vornherein ziemlich heterogene Einflüsse auf ihn einwirkten und ein 
einheitliches Grundprinzip in ihm kaum auf kommen Hessen. Schleier- 
macher und Beneke, Heinrich Ritter und Adolf Trendelen- 
burg haben ihn stark beeinflusst und bei dem Überwiegen seiner 
mehr rezeptiven und kritischen als produktiven und konstruierenden 
Art zu philosophieren, war es wenig wahrscheinlich, dass er die 
in den Richtungen der genannten Denker liegenden Gegensätze 
hätte überwinden können. 

Dazu kam noch ein Moment, welches zwar für das Streben 
und den Ernst dieses echten Wahrheitsforschers zeugt, das aber doch 
gerade ihn hinderte, die Resultate seines Denkens in systematisch 
abgeschlossener Form niederzulegen: dies war sein offener und un- 
befangener Sinn für alle Seiten wissenschaftlicher Erkenntnis, für 
alle neuen Errungenschaften, welche die rastlos fortschreitenden 
positiven Wissenschaften zutage förderten. Für die geschicht- 
lichen und die ethischen, für die Naturwissenschaften und 
mathematischen Disciplinen empfand er gleich lebhaftes Interesse 
und ihre Forschungsresultate war er unausgesetzt bestrebt, philo- 
sophisch zu venverten oder sie doch in den weiten Kreis seines 
philosophischen (iedankenlebens einzufügen. 

Dies gilt insbesondere von den Naturwissenschaften, in 
denen er, wie in der Philosophie, schon früh, insbesondere nach 
der mathematisch-physikalischen Richtung hin, weit über das bloss 



224 Ueberweg-Heinzc. 

Dilettantische hinausgehende Kenntnisse erwarb. Und dieses innere 
Interesse bewahrte er der Naturforschung durch alle ihre immensen 
Bereicherungen und Umgestaltungen hindurch bis zu seinem Tode. 
Nicht wenig hat dazu insbesondere im letzten Decennium seines 
Lebens die innige Freundschaft beigetragen, die ihn, wie wir sehen 
werden, mit einem Manne verband, welcher selbst in die materia- 
listisch-naturphilosophische Bewegung der Gegenwart als einer der 
ersten mit eingegriffen hat, mit Heinrich Czolbe, (geb. 1819 bei 
Danzig), studierte in Berlin Medicin imd lebte später als Oberstabs- 
arzt in Königsberg, wo er 1873 starb. Seine Hauptwerke sind: 
„Neue Darstellung des Sensualismus'' (1B55); „Die Entstehung des 
Selbstbewusstseins" (1856); (eine Verteidigung seines Sensualismus 
gegen Lotzes Angriff); „Die Grenzen und der Ursprung der mensch- 
lichen Erkenntnis" (1865), worin er seinen Sensualismus durch die 
Annahme einer „Weltseele" in eigenartiger Weise modificirt; „Grund- 
ztige einer extensionalen Erkenntnistheorie" (1875, herausgegeben 
von Ed. Johnson als Teil eines von Czolbe hinterlassen en und noch 
nicht publizierten Manuscripts). 

Ich versuche nun, im folgenden eine gedrängte Skizze von 
Ueberwegs Leben und schriftstellerischer Thätigkeit zu geben. 

Friedrich Ueberweg war Rheinländer von Geburt. Sein Vater 
war evangelischer Pfarrer zu Leichlingen bei Solingen, wo Ueberweg 
am 22. Januar 1826 geboren wurde. Nach dem frühen Tode des 
Vaters lebte der geistig geweckte Knabe mit seiner Mutter bei deren 
Vater, der Pfarrer in Ronsdorf war. Er erhielt seit 1841 seine 
Gymnasialbildung zu Elberfeld und Düsseldorf und bezog im Jahre 
1845 die Universität Göttingen, um Philologie und Philosophie zu 
studieren. Hier fesselten ihn besonders Karl Friedrich Hermann, 
Schneidewin, Lotze und Heinrich Ritter. Von Göttingen, wo er 
mehrere Semester lang studierte, ging er nach Berlin, um seine 
Studien fortzusetzen, die er schon an der Georgia Augusta auf alle 
Gebiete der altklassischen und germanischen Philologie, der Mathe- 
matik und Philosophie ausgedehnt hatte. Hier in Berlin war es 
nun besonders der früh verstorbene Ben ecke, dessen psychologische 
Vorlesungen ihn besonders anzogen, während er in das tiefere 
Studium der Logik insbesondere der Aristotelischen und in die 



Ueberweg-Hdnze. 225 

quellenmässige Erforschimg der historischen Systeme der Philosophie 
durch Adolf Trendelenburg eingeführt wurde. Im Sommer 1850 
promovierte Ueberweg zu Halle auf Grund seiner Abhandlung: „De 
elementis animae mundi Platonicae" und nahm, nachdem er sein 
Oberlehrerexamen bestanden hatte, eine Lehrerstelle am Blochmann'- 
schen Erziehungsinstitut zu Dresden an. Hier blieb er jedoch nur 
kurze Zeit, um dann eine Stelle am Gymnasium zu Duisburg a. Rh. 
zu übernehmen, wo sein früherer Lehrer in Elberfeld, Dr. Eichhoff, 
mittlerweile Direktor geworden war. Eichhoff nahm seinen ehe- 
maligen Schüler mit grossem Wohlwollen auf; doch konnte er nicht 
verhindern, dass Ueberweg auch diese Anstalt sehr bald verliess, 
da, obwohl sein Unterricht sich durch Klarheit und methodische 
Durchführung auszeichnete, sich gewisse Mängel in der Fähigkeit, 
die Schuldisciplin aufrecht zu halten, zeigten. Er ging im Jahre 1851 
an das G)rmnasium zu Elberfeld, wo er ebenfalls nur kurze Zeit 
fungierte. Dann entschloss er sich, die pädagogische Laufbahn 
gänzlich aufzugeben und die akademische Karriere zu ergreifen. 
Er habilitierte sich zu Bonn im Beginn des Wintersemesters 1852. Der 
junge Benekianer blieb zwar gegenüber den akademischen Celebri- 
täten Bonns wie Jahn, Bemays, Ritschi, Brandis u. A. zuerst gänz- 
lich unbeachtet; doch hatte er bald die Genugthuung, dass er all- 
mählich einen Kreis von Zuhörern um sich sammelte, welche durch 
die Schärfe und Klarheit seines Vortrags gefesselt wurden. 

Die erste wissenschaftliche Arbeit, welche Ueberweg hier ver- 
öffentlichte, war eine Abhandlung „Die Prinzipien der Geometrie". 
Dieselbe wurde schon 1848 ausgearbeitet und erschien in Jahns 
„Archiv für Philologie und Pädagogik" (1851). Eine Übersetzung 
dieser scharfsinnigen Studie gab später Delboef, ein Zuhörer Ueber- 
wegs, als Anhang zu seinen „Proldgom^nes philosophiques de la 
g^omdtrie" ( 1 860) heraus. Von nun,' an war Ueberwegs Aufmerksamkeit 
hauptsächlich logischen Untersuchungen gewidmet und als eine Frucht 
derselben ist das Werk anzusehen, das sehr bald den Namen des Bonner 
Privatdozenten in der philosophischen Welt bekannt machte : „System 
der Logik und Geschichte der logischen Lehren" (Bonn 
1857; 2. Aufl. 1865; die späteren Aufl. von Jürgen Bona Meyer). 

Da Ueberwegs Bedeutung in der Philosophie wesentlich als 

15 



226 Ucbcrweg-Hclnic. 

Logiker hervorgetreten ist, so muss ich bei diesem Hauptwerke 
seines Lebens etwas länger verweilen. 

Ueberwegs Logik hat folgendes Motto aus Scotus Erigena: 
,,Intelligitur, quod ars illa, quae dividit genera in species et species 
in genera resolvit, quae SLcdBXtLxrj dicitur, non ab humanis machi- 
nationibus sit facta, sed in natura rerum ab auctore omnium artium, 
quae vere artes sunt, condita et a sapientibus inventa et ad utili- 
tatem solerti rerum indagine usitata/' In der That bezeichnen diese 
Worte des alten Scholastikers ziemlich genau den Standpunkt, von 
welchem Ueberwegs Logik beurteilt werden muss. Zwischen der 
metaphysischen Logik Hegels, in der die Kategorien des Seins mit 
den Denkformen zusammenfallen, und der subjektivistisch*fonnalen 
Logik der Kantianer und Herbartianer, welche die Formen des 
Denkens zu denen des Seins ausser Beziehung setzen, möchte 
Ueberwegs Logik vermitteln und zwar durch Begründung einer 
„objektivistischen Erkenntnislehre", die „mit Aristoteles in 
dem Denken ein Abbild des Seins erblickt, welches zwar von seinem 
realen Korrelat verschieden ist, ohne doch zu ihm ausser Beziehung 
zu stehen, und demselben entspricht, ohne mit ihm identisch zu 
sein, und welche mit Schleiermacher die Formen des Denkens 
aus dem Wissen, als dem Zwecke des Denkens, zu begreifen und 
die Einsicht in ihren Parallelismus mit den Formen der realen 
Existenz zu begründen" versucht. 

Diesen Standpunkt hat Ueberweg auch in den späteren Auflagen 
der „Logik" festgehalten, nur dass sich sein Gegensatz zu Kant 
immer mehr vertiefte und verschärfte. „Der Kern meines Gegensatzes 
zu Kant," sagt er in der Vorrede zur 2. Auflage, „liegt in dem 
durchgeführten Nachweis, wie die wissenschaftliche Einsicht, welche 
die blosse Erfahrung in ihrer Unmittelbarkeit noch nicht ge- 
währt, nicht mittels aprioristischer Formen von rein subjektivem 
Ursprung, die nur auf die im Bewusstsein des Subjekts vorhandenen 
Erscheinungsobjekte Anwendung finden, gewonnen wird (auch nicht 
wie Hegel u. a. wollen, a priori und doch mit objektiver Gültig- 
keit), sondern durch die Kombination der Erfahrungsthatsachen 
nach logischen Normen, deren Befolgung unserer Erkenntnis eine 
objektiv-reale Gültigkeit sichert. Ich suche zu zeigen, wie insbe- 



\ 



Ueberweg-Heinze. 227 

« 

sondere die räumlich-zeitliche und kausale Ordnung, auf deren 
Erkenntnis die Apodiktizität beruht, nicht erst von dem anschauen- 
den und denkenden Subjekte in einen chaotisch gegebenen Stoff 
hineingetragen, sondern aus der (natürlichen und geistigen) Realität, 
in der sie ursprünglich ist, successive durch Erfahrung und Denken 
in das subjekt ive Bewusstsein aufgenommen wird/' 

Diese vermittelnde Stellung Ueberwegs zeigt sich nicht nur in 
dem historischen Teil der Logik, insofern sie ihn befähigt, nach 
beiden Seiten hin zwar kritisch zu verfahren, allen Teilen aber auch 
gerecht zu werden, sondern auch in der Entwickelung der logischen 
Lehren selbst, welche in sechs Abschnitte zerfallt, deren Bezeich- 
nung schon jene „objektivistische" Mittelstellung des Verfassers zwischen 
der metaphysischen oder rein objektiven und der formalen oder 
rein subjektiven Logik andeutet. Teil I: Die Wahrnehmung in 
ihrer Beziehung zur objektiven Räumlichkeit und Zeitlichkeit; Teil II: 
Die Einzel Vorstellung oder Anschauung in ihrer Beziehung zur ob- 
jektiven Einzelexistenz; Teil III: Der Begriff nach Inhalt und Um- 
fang in seiner Beziehung zu dem objektiven Wesen (essentia) und 
der Gattung (genus); Teil IV: Das Urteil in seiner Beziehung zu 
den objektiven Grundverhältnissen oder Relationen; Teil V: Der 
Schluss in seiner Beziehung zu der objektiven Gesetzmässigkeit; 
Teil VI: Das System in seiner Beziehung zu der objektiven Tota- 
lität Man sieht hier also überall das Bestreben, die logischen 
Formen des Geistes als einen Ausdruck und einen Spiegel der ob- 
jektiven Weltverhältnisse aufzufassen, ohne doch beide von vorn- 
herein zu identifizieren Aber auch in dem Aufbau des logischen 
Systems selbst hat Ueberweg die gewöhnliche Einteilung der for- 
malen Logik in eine Elementarlehre und eine Methodenlehre 
ganz verlassen. Er zeigt aber auch in dem Aufsteigen von der 
Wahrnehmung zur Anschauung und Vorstellung und von hier zum 
Begriff, Urteil und Schluss und in der Art, wie er das „System" 
nicht etwa von Aussen her als krönende Kuppel auf das Ganze 
setzt, sondern innerlich aus demselben emporwachsen lässt, endlich 
in der Parallele der genannten subjektiven logischen Denkformen 
mit den Formen des konkreten Seins: — Räumlichkeit und Zeitlich- 
keit, objektive Einzelexistenz, objektives Wesen und Gattung, ob- 

16* 



228 Uebcrweg-Hcintc. 

jektive Grund- und Beziehungsverhältnisse, objektive Gesetzmässig- 
keit und objektive Totalitat — eine stete Rücksichtsnahme auf das 
System der metaphysischen Logik der HegeFschen Schule. Nach 
dieser Richtung hin dürfte ein Vergleich der Ueberweg'schen Logik 
mit Kuno Fischers „Logik und Metaphysik" ebenso interessant als 
instruktiv sein. — 

Diesen seinen prinzipiellen Standpunkt hat Ueberweg in einer 
Reihe von Sätzen näher präcisiert, welche er als Einleitung seinem 
„System der Logik" vorangeschickt hat und die ich ihrem wesent- 
lichen Inhalte nach hier wiedergeben will. 

Ueberweg definiert die Logik als „die Wissenschaft von 
den normativen Gesetzen der menschlichen Erkenntnis". 
Das Erkennen sei die Thätigkeit des Gesetzes, vermöge deren er 
ein bewusstes Abbild der Wirklichkeit in sich erzeugt Es ist teils 
unmittelbares Erkennen oder äussere und innere Wahrnehmung, teils 
mittelbares oder denkendes Erkennen. Die normativen Gesetze 
(Gesetze, Vorschriften) aber seien solche allgemeine Bestimmungen, 
denen die Erkenntnisthätigkeit sich um der Erreichung des Er- 
kenntniszweckes willen unterwerfen müsse. 

Das Erkennen ist nach Ueberweg, da der menschliche Geist 
ein bewusstes Abbild der Wirklichkeit gewinnen soll, zweifach be- 
dingt und zwar erstens subjektiv durch die Beschaffenheit, d. h. 
durch das Wesen und die Naturgesetze der menschlichen Seele, 
insbesondere aber der Erkenntniskräfte derselben, zweitens objektiv, 
durch die Natur des zu erkennenden Objekts. Die Beschaffenheiten 
und Verhältnisse des letzteren, insofern dieselben verschiedene 
Weisen der Nachbildung im Erkennen bedingen, nennt Ueberweg 
Existenzformen. Die Begriffe von den Existenzformen heissen 
die metaphysischen Kategorien. Hiervon verschieden sind die Er- 
kenntnisformen, welche nichts anderes sind, als die den Existenz- 
formen entsprechenden Weisen, wie das Seiende im Erkennen 
aufgefasst und nachgebildet wird. Dagegen ist das Abbild selbst, 
als das Resultat der Erkenntnisthätigkeit, der Inhalt der Erkenntnis. 
Den Gegensatz zu den oben definierten metaphysischen Kategorien 
bilden die logischen Kategorien, welche die Begriffe der Erkenntnis- 
formen sind. Die Gesetze des Erkennens als solche bestimmen 



Ueberweg-Heinic. 229 

nur die Weisen der Nachbildung oder die Formen der Erkenntnis 
nicht den Inhalt derselben: daher kann [die Logik auch als die 
„Lehre von den Gesetzen der Erkenntnisformen" definiert 
werden. So ist denn die Logik eine formale Wissenschaft; aber 
ihr Objekt, d. h. die von dieser Wissenschaft behandelten Erkenntnis- 
formen sind, indem sie den Existenzformen entsprechen, durch 
die Objektivität bedingt. Auch stehen sie nicht nur im All- 
gemeinen zu dem Erkenntnisinhalt überhaupt, sondern auch in 
ihrer jedesmaligen Gestaltung zu der Besonderheit des Inhalts in 
wesentlicher Beziehung. 

Das Ziel aller Erkenntnis ist die Wahrheit. Die zur Wahr- 
heit gelangte Erkenntnis ist das Wissen. Die Wahrheit pflegt in 
die materielle oder reale und in die formale unterschieden zu 
werden. Die materiale oder reale Wahrheit im absoluten Sinne 
oder die metaphysische Wahrheit, d. h. die Wahrheit schlechthin 
besteht in der Übereinstimmung des Elrkenntnisinhaltes mit der 
Wirklichkeit. Die materielle Wahrheit im relativen Sinne (auch 
die phänomenale Wahrheit genannt) besteht in der Übereinstimmung 
des unmittelbar gewonnenen Gedankeninhalts mit den unmittelbaren 
äusseren oder inneren Wahrnehmungen, welche bei ungestörter 
Gesundheit der Seele und der leiblichen Organe entstehen oder 
doch unter den entsprechenden äusseren Bedingungen entstehen 
würden. 

Unter der sogenannten formalen Wahrheit oder vielmehr 
formalen Richtung pflegen manche die Widerspruchslosigkeit 
oder die Einstimmigkeit der Gedanken unter einander zu verstehen. 
Die materiale Wahrheit schliesst die formale im Sinne der Wider- 
spruchslosigkeit in sich; diese dagegen kann ohne die materiale 
Wahrheit sein. 

Im volleren Sinne ist die formale Richtigkeit die Überein- 
stimmung der Erkenntnisthätigkeit mit ihren (logischen) Gesetzen. 
Wenn allen logischen Anforderungen an die Form der Wahrnehmung 
sowohl als des Denkens zugleich genügt wird, so kann auch die 
(mindestens relative) materiale Wahrheit nicht fehlen und die for- 
male Richtigkeit in dem vollen Sinne verbürgt daher allerdings 
auch diese, die Richtigkeit des Denkens allein aber bürgt nur dafür. 



230 1 

dass der Zusammenhang zwischen den Voia mau i ip ^g r o md den 
Folgen so, wie er wirklich ist, also mit Wahibdt, c ilumBt wenk, 
und dass daher, falls die Voraussetzongen ^^t^riai^ Waluheit haben, 
dieselbe auch dem daraus Abgeleiteten zukomme. 

In Hinsicht auf den Zweck des Erkenncos ist daher <fie 
Logik „die wissenschaftliche Lösung der Frage nach den Kxiierien 
der Wahrheit" oder die Lehre von den nonnatiTen Gesetzen, anf 
deren Befolgung die Realisierung der Idee der Wahrbeit in der 
theoretischen Vemunftthätigkeit des Menschen beruht. 

Die Möglichkeit der bewussten Auffassung und sfstematisdien 
Darstellung der logischen Gesetze beruht auf der vorangegangenen 
unbewussten Wirksamkeit derselben und somit die Logik als 
Wissenschaft auf vorangegangener Übtmg der Erkenntnisthätig- 
keit Andererseits macht die Wissenschaft der Logik eine bewnsste 
Anwendung der logischen Gesetze und somit eine bewnsste 
logische Kunstübung möglich. 

Die Logik hat teils einen absoluten Wert als Wissenschaft* 
lieber Selbstzweck, teils einen relativen vermöge der fördernden 
Beziehung, in welcher sie als Kunstlehre zu der Übung der £r- 
kenntnisthätigkeit steht Kunstlehre ist die Logik, a) wesentlich 
schon durch die Aufstellung der Normalgesetze selbst, indem das 
wissenschaftliche Bewusstsein von denselben die Treue in ihrer 
praktischen Beobachtung fördert; sie kann es ausserdem noch 
b) durch Ratschläge über das zweckmässige Verfahren werden, wie 
unter den subjektiven Schranken und Hindernissen die Forderungen 
der logischen Normalgesetze zu erfüllen seien. In technischer 
Beziehung ist die Logik, falls sie nur als Lehre von der Über- 
einstimmung des Denkens mit sich selbst behandelt wird, ein blosses 
Kathartikon des Denkens, falls sie aber auch die Kriterien 
der materialen Wahrheit aufstellt, zugleich ein Kanon und ein 
Organ der Erkenntnis, wiewohl nur mittelbar in der Anwendung 
ihrer Gesetze auf einen gegebenen Erkenntnisstoff. 

Die Logik erklärt Ueberweg für einen integrierenden Teil 
des Systems der Philosophie. Die Philosophie ist die Wissen- 
schaft der Prinzipien, d. h. der im absoluten oder relativen 
Sinne ersten Elemente, von deren jedem eine Reihe anderer Elemente 



Ucbcrweg-Heinre. 281 

abhängig ist Im System der Philosophie bildet die Metaphysik 
mit Einschluss der allgemeinen rationalen Theologie als die Wissen- 
schaft von den Prinzipien im Allgemeinen, sofern sie allem Seienden 
gemeinsam sind, den ersten Hauptteil; den zweiten und dritten 
bilden die Philosophie der Natur und die Philosophie des 
Geistes als die Wissenschaften von den besondern Prinzipien der 
beiden Hauptsphären des Seienden, die sich durch den Gegensatz 
der Unpersönlichkeit oder (relativen) Selbstlosigkeit und der Persön- 
lichkeit oder der Fähigkeit zur denkenden Erkenntnis der Wirklich- 
keit und der Vollkommenheit und zur sittlichen Selbststimmung 
unterscheiden. In der Geistesphilosophie schliessen sich an die 
Psychologie oder die Wissenschaft von dem Wesen und den 
Naturgesetzen der menschlichen Seele zunächst drei normative 
Wissenschaften an: die Logik, die Ethik und die Ästhetik, oder 
die Wissenschaft von den Gesetzen, auf deren Befolgtmg die 
Realisierung der Ideen des Wahren, des Guten und des 
Schönen beruht. Das Wahre ist die der Wirklichkeit entsprechende 
Erkenntnis; das Gute ist die ihrer innem Bestimmung oder ihrer 
Idee entsprechende Wirklichkeit als Objekt des WoUens und des 
Handelns; das Schöne ist die ihrer inneren Bestimmung oder 
ihrer Idee entsprechende Erscheinung als Objekt des Gefühls und 
der Darstellung. An diese Wissenschaft schliesst sich femer als 
zugleich contemplativ und normativ die Philosophie der Ge- 
schichte oder die Wissenschaft von der thatsächlichen Entwickelung 
des Menschengeschlechts, wiefern dieselbe in Übereinstimmung oder 
in Widerstreit mit den idealen Entwickelungsnormen erfolgt ist, mit 
Einschluss der philosophischen Betrachtung der Entwickelung der 
Kultur, der Religion, der Kunst und Wissenschaft. 

Die Logik nimmt demgemäss in dem wissenschaftlich geglie- 
derten System der Philosophie keineswegs die erste Stelle ein; 
nichtsdestoweniger ist es aber gestattet und zweckmässig, das 
Studium derselben propädeutisch dem Studium aller übrigen 
philosophischen Disciplinen vorausgehen zu lassen. Gestattet : denn 
es genügt, aus den vorangehenden Disciplinen, namentlich der 
Metaphysik und der Psychologie wenige allgemeine Bestimmungen 
aufzunehmen, die auch ausserhalb ihres eigentümlichen Zusammen- 



232 Ucbcrwcg-HeinÄC. 

hanges verständlich und einer gewissen Rechtfertigung fähig sind. 
Zweckmässig: denn a) das Studium der Logik bietet geringere 
Schwierigkeiten als das Studium derjenigen philosophischen Dis- 
ciplinen, die ihr im systematischen Zusammenhange vorangehen; 
b) die Logik bringt die Methoden zum Bewusstsein, welche in ihr 
selbst und in den übrigen Zweigen der Philosophie zur Anwendung 
kommen müssen und übt das Denken ; die Voranstellung der Logik 
ist somit für das gesamte philosophische Studium in formaler Be- 
ziehung förderlichst, c) die wissenschaftliche Darstellung des Systems 
der Philosophie, insbesondere der Metaphysik, würde jedenfalls auch 
in materialer Beziehung einer psychologisch-erkenntnistheoretischen 
oder phänomenologischen Einleitung bedürfen, um das Bewusstsein 
auf den Standpunkt der philosophischen Betrachtung zu führen; 
die Aufgabe dieser Einleitung aber findet in der Logik als Er- 
kenntnislehre ihre erschöpfendste und wissenschaftlichste Lösung. 

Das Wertvolle der Ueberweg'schen Logik liegt, abgesehen von 
ihrer Aufgabe als Vermittelung der Kantisch-Herbart'schen formalen 
und der Hegelschen metaphysischen Logik, nun wesentlich auch 
in ihrer Brauchbarkeit als didaktisches Lehrbuch (und die späteren 
[5.] durch Jürgen Bona Meyer besorgten Auflagen [1882] haben 
diesen Vorzug womöglich noch erhöht). Der historische Teil des 
Werkes, welcher durchaus selbständig und nicht, wie man früher 
hier und da zu behaupten wagte, aus Prantls grossem Werke „Ge- 
schichte der Logik im Abendlande" geschöpft ist, "^hebt sich wie 
das ganze Werk von vielen logischen Kompendien imd Lehr- 
büchern, an denen wir wahrlich keinen Mangel haben, durch eine 
bestechende Klarheit, Übersichtlichkeit, Präcision und Schärfe des 
Gedankens wie des Ausdruckes ab. In England fand die „Logik" 
grossen Beifall, nachdem sie Professor Lindsay in Edinburg ins 
Englische übersetzt hatte. 

Was übrigens Ueberwegs Verhältnis zu Prantl und seinen 
wissenschaftlichen Vorgängern überhaupt betrifit, so liegt darüber 
ein Zeugnis des Ersteren selbst vor. Prantl hatte ihm den IL Teil 
seiner „Geschichte der Logik" geschickt, worauf Ueberweg, unter 
Übersendimg desjenigen Teils seines „Grundrisses", welcher die 
„Geschichte der Patristischen Philosophie" enthält, ihn bittet, ihm 



Ueberweg-HeiDze. 233 

mitzuteilen, wann die folgenden Abschnitte des Prantrschen Werkes 
erscheinen würden. ,,Mich gerade interessiert dies dreifach, schreibt 
er am i6. Juli 1864 von Königsberg aus, an sich um der Sache 
willen, dann zweitens — verübeln Sie es mir nicht I — um meiner 
Logik — und drittens um meines Grundrisses willen. Sie müssen 
mir schon erlauben, manches von dem, was Sie mühevoll erforscht 
haben, nunmehr mühelos zu verwenden und von Ihren Ernten auch 
in meine Scheuem einzusammeln. Wiewohl allzu bequem habe 
ich es auch nicht. Dass ich bei dem „Grundriss'' alles selbst ansehe, 
ist nicht zu verlangen; wozu wären auch Vorarbeiter? Aber auch 
so, wie ich es halte, habe ich Mühe und Not genug, in verhältnis- 
mässig kurzer Zeit die drängenden Massen zu bewältigen. Jeden- 
falls muss ich beträchtlich mehr Bände ansehen und teilweise wirk- 
lich lesen, als ich Seiten zu schreij:)en habe Von dem 

„System der Logik" soll im nächsten Jahre eine zweite Auflage 
erscheinen. Ich freue mich auf die Gelegenheit, einige unangenehme 
Versehen, die in der ersten begangen waren, endhch auszutilgen 
und zugleich in einzelnen Partien das Werk mit den Resultaten 
Ihrer Forschung zu bereichem. Erwachsen aus den Heften, die 
ich für meine Vorlesungen 1853/54 zuerst ausgearbeitet, 1854/55 
erweitert hatte, war das Manuskript etwa zur Hälfte bereits auf die 
Form gebracht worden, in der es im Druck erscheinen sollte, als 
mir Dir Werk zu Gesichte kam, welches mich zu einer Revision 
der schon niedergeschriebenen Partien veranlasste und auf die 
Bearbeitung der späteren selbstverständlich von beträchtlichem Ein- 
fluss war. Es sollte mich freuen, wenn in Ihrer Darstellung der 
neueren Geschichte der Logik (die doch hoflfentlich gar nicht zu 
kurz ausfallen wird?) an einzelnen Stellen sich auch ein Einfluss 
im lungekehrten Verhältnis bekunden könnte." 

Dass Ueberweg aber auch Prantl gegenüber, wo es sich um 
die historische Feststellung logischer Lehren handelt, durchaus 
selbständiger Ansicht war, geht aus einem Briefe hervor, den er 
von Königsberg aus (18. Dez. 1868) an den Münchener Kollegen 
richtete. 

Gewissermassen zur Logik im weiteren Sinne gehörend ist ein 
kleiner Aufsatz, den Ueberweg um diese Zeit infolge einer Polemik, 



234 Ueberweg-Hcinic. 

in welche sein Freund Dr. Radicke durch seine Abhandlung „Über 
die Bedeutung und den Wert arithmetischer Mittel" (Wunderlichs 
Arch. f. phys. Heilkunde. N. F. Bd. H. 1858) mit Vierordt (in 
Virchows Arch. für pathol. Anatomie, Bd. XVI 1859) geraten war, 
veröffentlicht hatte: „Über die sogenannte Logik der Thatsachen" 

Neben den logischen Arbeiten trieb er während seiner Do- 
zentur in Bonn hauptsächlich auch psychologische Studien, wobei 
ihm wesentlich Benekes Grundauflfassung der Seelenlehre zum Vor- 
bilde diente. In diesem Sinne ist auch die zwei Jahre nach seiner 
Habilitierung veröffentlichte Schrift psychologisch-pädagogischen In- 
halts gehalten: „Die Entwickelung des Bewusstseins durch 
den Lehrer und Erzieher" (Berlin 1853). 

Die Tendenz der Schrift, deren Abfassung zum Teil noch in 
die Elberfelder Lehrthätigkeit Ueberwegs fällt, und welche dem 
Professor Beneke und dem Gutsbesitzer Schwarzlose, dem bekannten 
Freund und Bewunderer Benekes und Förderer seiner Schüler, ge- 
widmet ist, erhellt aus dem Nebentitel derselben: „Eine Reihe 
pädagogisch-didaktischer Anwendungen der Beneke'schen Bewusst- 
Seinstheorie besonders auf den Unterricht der Gymnasien und Real- 
schulen". Und in der That beabsichtigt Ueberweg in seiner Arbeit 
nichts Geringeres, als eine sehr einschneidende Reform der ge- 
samten Gymnasial- und Realschulpädagogik auf der Basis der 
Beneke'schen Psychologie. 

Nach einer gedrängten die psychischen Grundprozesse ent- 
wickelnden Einleitung führt Ueberweg sein Thema, die pädagogische 
Bedeutung des Bewusstseins, in der Weise durch, dass er diese 
Bildung nach vier Richtungen hin verfolgt und zwar stellt er hier- 
bei die aus dem heutigen Gymnasial- und Realschulunterricht sich 
ergebende psychologische Wirkung in Parallele mit dem Ergebnis, 
wie es aus einer nach Beneke'schen Prinzipien entwickelten Didaktik 
resultieren müsste : oder vielmehr er prüft die Didaktik der höheren 
Schulen, sowohl nach der linguistischen als nach der realwissen- 
schaftlichen Seite, an dem Massstabe der aus der Beneke'schen 
Psychologie sich ergebenden Anschauungen über die Entwickelung 
der Seelenfunktionen, insbesondere des Bewusstseins. Hierbei werden 



Uebcrwcg-Heinze. 235 

SO ziemlich alle Fragen und Probleme, welche in die heute so 
erregte Diskussion über Schulreform fallen, eingehend behandelt, 
oder doch in ihrem wesentlichen Kern erfasst und auf ihre psycho- 
logisch-pädagogische Bedeutung hin untersucht. Dass Ueberweg 
hier und da dem logisch-grammatischen Element in unserer Gym- 
nasialpädagogik einen sehr grossen Raum gewährt, ist wesentlich 
auf seine eigene specielle Neigung und Begabung, zum Teil aber 
auch auf den Einfluss Adolf Trendelenburgs zurückzuführen, dessen 
Vorschlägen in Bezug auf die Einführung der Aristotelischen Logik 
in die Gymnasien Ueberweg zustimmt« Neben diesem formalen 
kommt aber auch das realistische Element in Ueberwegs Unter- 
suchimgen, wie die Abschnitte des Buches über den naturwissen- 
schaftlichen und mathematischen Unterricht beweisen, zur vollen 
Geltimg. 

Man wird diese streng wissenschaftliche und sehr gehaltvolle 
Arbeit Ueberwegs, welche vor nunmehr 40 Jahren erschienen und 
jetzt etwas in Vergessenheit geraten ist, auch heute noch, obgleich 
die Fragen über eine Reform des Gymnasialunterrichts jetzt 
aus einem wesentlich anderen Gesichtspunkte diskutiert werden, doch 
nicht ohne vielfache Anregung lesen. Und dieses um so mehr, 
als, wie uns scheinen will, die jetzigen Debatten über Schul- 
reform mehr aus praktischen als aus psychologischen Gesichts- 
punkten geführt werden. Schliesslich kann aber alle Pädagogik 
und alle Schulmethodik doch niu* in der menschlichen Seelenlehre 
ihre richtige Begründung finden, da die Seele des Menschen, ins- 
besondere der Jugend, Objekt aller Erziehung ist und bleibt und 
alle Erziehungslehre doch nur auf eine richtige Erkenntnis der 
Funktionen imd Kräfte dieser Seele basiert werden kann. 

Übrigens hatte Ueberweg mit dieser Schrift einen jener Preise 
gewonnen, die der obengenannte Gutsbesitzer Schwarzlose für Ar- 
beiten über Probleme der Beneke'schen Psychologie ausgesetzt hatte, 
und zwar war im Heft III von Benekes „Archiv für pragmatische 
Psychologie" (185 1) die Preisaufgabe in folgender Weise formuliert 
worden: „Über die Entstehung, das Anwachsen und den Wechsel 
des menschlichen Bewusstseius hat die neuere Psychologie eine 
eigentümliche, auf die Thatsachen der innern Erfahrung gebaute 



236 Ueberweg-Heinze. 

Theorie aufgestellt. Diese bietet für die Erziehung und den 
Unterricht in mannigfachen Richtungen eine fruchtbare prak- 
tische Anwendung dar. Man wünscht nun, dass, nach vorgängiger 
Darstellung der Grundzüge der Theorie, die hauptsächlichsten Gegen- 
stände dieser Anwendung entwickelt und zugleich die Mittel nach- 
gewiesen werden, durch welche die bei derselben sich herausstellen- 
den pädagogischen und didaktischen Zwecke erreicht sind." 
Ueberweg hatte den ausgesetzten Preis für seine Arbeit erhalten, 
in welcher er sich übrigens noch als einen überzeugten Psychologen 
der Beneke'schen Schule bewährte, was er auch in der Einleitung 
offen mit den Worten bekennt : „Wem die Wahrheit der von Beneke 
begründeten „Psychologie" zur Überzeugung geworden ist; wer 
ihre umgestaltende Bedeutung für alle Zweige der Philo- 
sophie, wer namentlich die Fruchtbarkeit ihrer Anwendung auf 
die Pädagogik und Didaktik kennt, der darf sich der Pflicht nicht 
entziehen, teils für ihre allgemeine Anerkennung in Wort und Schrift 
zu wirken, teils auch an ihrer fortschreitenden inneren Elntwickelung 
und praktischen Ausbeutung nach dem Masse seiner Kraft mit- 
zuarbeiten." 

Hand in Hand mit diesen psychologischen Arbeiten gingen 
seine Studien im Gebiete der Nerven- und Sinnesphysiologie Haupt- 
sächlich waren es die Werke Johannes Müllers (dessen physio- 
logische Vorlesungen er ja auch in Berlin eifrig besucht hatte), 
sowie die betrefienden Schriften seiner Schüler Helmholtz, Brücke, 
Budge, Ludwig, Dubois-Reymond u. a., in denen er nach einer be- 
friedigenden physiologischen Grundlegung jener psychologischen 
Hypothese suchte, die er sich schon früh und merkwürdigerweise 
in Abweichung von der Anschauung des von ihm so hochverehrten 
Beneke gebildet hatte: es war dieses eine neue Theorie der Funktion 
des Sehens. Diese Theorie beruht auf der Annahme der ob- 
jektiven Realität des Raumes und der damit zusammenhängen- 
den Räumlichkeit der inneren Wahrnehmungen. Ueberweg 
dachte sich die ganze Erscheinimgswelt als „seine Vorstellung"; 
und so musste, da diese Erscheinungswelt drei räumliche Dimensionen 
hat, das „Sensorium", in welchem die Vorstellungen sich befinden, 
auch „dreidimensional" sein. Das „Sensorium" wird nun durch eine 



Uebcrweg-Heinze. 237 

Art von „Gehirnäther" angefüllt, welcher der Träger der Vorstellungen 
ist. Hier bilden sich so durch Vermittelung der Sinnesnerven Ab- 
bilder der wirklichen Welt, etwa wie sich die äusseren Gegenstände 
auf der Platte einer Camera obscura abspiegeln. Natürlich geben 
diese Abbilder keine ganz treue Kopie der wirklichen Dinge, da 
sie doch einen Zusatz von der menschlichen Organisation behalten, 
keineswegs aber, meinte Ueberweg, ginge diese Differenz der Dinge 
imd ihrer Abbilder soweit, dass die ganze räumlich-zeitliche Ordnung 
der ersteren etwa eine Folge dieser menschlichen Organisation sei. 
Der Kern dieser Anschauung ist in einer Abhandlung enthalten: 
„Zur Theorie der Richtung des Sehens", die er in Henle und 
Pfeuffers „Zeitschrift für rationelle Medicin" (3. Reihe, V. Band, 
3. Heft, Jahrg. 1858) veröffentlichte. Lange, Lasson, Dilthey und 
Johnson*) haben auf die Bedeutung dieser Theorie hingewiesen,, 
welcher die empiristische Theorie Lotzes gegenübersteht. Inmierhia 
sagt Helmholtz (Physiol. Optik § 33) auch von der Lehre Ueberwegs, 
dass sie „einen klar und konsequent denkenden Kopf verrät". Später 
ist Ueberweg bei aller Erweiterung und Modifizierung seines Stand- 
punktes immer und immer wieder auf diese seine Lieblingsanschau> 
ung zurückgekommen, besonders in der Erläuterung zu seiner 
Übersetzung von Berkeleys „Prinzipien der menschlichen Erkennt- 
nis" imd in der sich daran schliessenden Polemik mit Collyns Simon. 
Es giebt, zumal in den historischen Wissenschaften, gewisse 
„unsterbliche" d. h. nie gelöste Fragen, an welche aber immer wieder 
neue Lösimgsversuche herantreten. In der Geschichte der Philo- 
sophie z. B. gehört die Katharsisfrage in der Aristotelischen Poetik 
und die Echtheit, chronologische Reihenfolge und der Zusammen- 
hang der platonischen Dialoge zu solchen ungelösten Problemen. 
Bekanntlich sind die Ansichten der Forscher inbezug auf das 
platonische Problem sehr geteilt und unter den verschiedenen Auf- 
fassungen sind es neuerdings wesentlich zwei, die Schleiermachers 
und die Karl Friedrich Hermanns, welche sich diametral gegenüber- 
stehen. Unter den zahlreichen Arbeiten, welche auf das im Jahre 1 859 



♦) Vgl. Ed. Johnson „Über die wirkliche Grösse der Welt im Anschluss 
an Ueberwegs nativistische Theorie des Sehens'* (Philos. Monatsh. VIII.) 



238 Ucberweg-Heinzc 

erlassene Preisausschreiben der Wiener Akademie der Wissen- 
schaften über diese Platonische Frage eingelaufen waren, gehörte 
die Ueberwegs: „Untersuchungen über die Echtheit und 
Zeitfolge Platonischer Schriften und über die Haupt- 
momente aus Platons Leben" zu denen, welche des Preises 
für würdig erachtet wurden. 

Selten ist das Urteil eines wissenschaftlichen Preisrichterkol- 
legiums gerechter gewesen, als das der Wiener Akademie. Ueber- 
wegs Schrift ist in der That eine ganz hervorragende Arbeit, die 
in ihrem ersten Teile (i — 1 18 S.) die kritische Geschichte der neuem 
Plato-Forschung darlegt, während der zweite (ii2 — 296 S.) eine 
Reihe von Specialuntersuchungen über die Echtheit und Zeitfolge 
der Platonischen Schriften liefert. Hier werden die gesamten bis- 
herigen Forschungen zusammengefasst und zu einem selbständigen 
Ergebnis geführt. Was nun den ersten, historischen Teil, betrifft, 
so hat Ueberweg, um von den Arbeiten älterer Gelehrten hier ganz 
abzusehen, die Forschungsresultate von Tennemann, Ast, 
Schleiermacher, Socher, Stallbaum, Herbart, (Dieser fasst 
das Resultat seiner Untersuchung in den Satz zusanunen: „Divide 
Heracliti yavtöcv ovrjöa Parmenidis, habebis iöiag Platonis") und 
Karl Friedrich Hermann berücksichtigt. Der grösste Teil dieses 
Abschnitts ist aber einer kritischen Gegenüberstellung und Prüfung 
der Schleiermacher'schen und Hermann'schen Anschauung gewidmet. 
Wie Schleiermacher von der Voraussetzung ausgegangen ist, dass Plato 
bei der Ausarbeitung seiner Dialoge einen bestimmten Plan gehabt 
habe, so war es die Meinung Karl P'riedrich Hermanns, dass bei 
der Anordnung der Platonischen Schriften von dem Prinzip einer 
stufenweisen Selbstentwickelung des Philosophen ausgegangen werden 
müsse. Ueberweg sucht eine gewisse Vermittelung beider Theorien, 
so jedoch, dass er unter Zustimmung zu Hermanns Ansicht über 
,,Phädrus" (der auch Socher und Stallbaum beistimmen), doch im 
Grossen und Ganzen mehr dem Schleiermacher'schen Standpunkt 
sich nähert. Der zweite Teil beginnt mit einer sehr wertvollen, 
kritisch gesichteten Biographie Piatos (li2 — 130 S.), um dann zu 
einer Würdigung der Zeugnisse für die Echtheit der unter Piatos 
Namen auf uns gekommenen Schriften überzugehen (13c — 201 S.). 



Ueberweg-Heinze. 239 

Diese Zeugnisse sind die des Aristoteles und von den späteren 
Schriftstellern die des Theopomp von Chios, Krantor von Soli, 
Persäus, Aristophanes von Byzanz, Panätius, Cicero, Trasyllus, Fa- 
vorinus, Diogenes Laertius und Suidas. Die Untersuchung selbst 
jedoch bezieht sich auf fast alle Platonischen Dialoge, deren Echt- 
heit insbesondere fiir Timäus, Republik, Gesetze, Phädon, Phädrus, 
Symposion, Gorgias und Meno konstatiert wird. Eine Reihe gramma- 
tischer Erörterungen, die Ueben\'eg anstellt, bezieht sich auf: Hippias 
minor, Philebus, Apologie, Theätet, Sophist, Politicus, Laches, Lysis, 
Protagoras, Euthydem und Kratylus. Die Echtheit wird angezweifelt 
für: Hippias major, Parmenides, Theages, Charmides, Hipparch, 
Alcibiades 1 und II, lo und Clitophon. Bei einem Teile der ge- 
nannten Schriften kann die Unechtheit geradezu behauptet werden. 
Der letzte Teil des Ueberweg sehen Werkes (201 — 296) beschäftigt 
sich dann mit der Zeitfolge der Platonischen Dialoge. 

Diese Untersuchungen werden wesentlich aus drei Gesichts- 
punkten geführt: nach äusseren Zeugnissen (Aristoteles und die 
schon genannten nacharistotelischen Schriftsteller, zu denen noch 
Athenäus, Plutarch und GeUius hinzukommen), nach historischen 
Spuren in Piatos Schriften selbst und nach inneren Beziehungen 
in der Gedankenwelt desselben. Während indess in den früheren 
Teilen das philologische Moment überwiegt, ist es hier wesentlich 
das phüosophische, welches in den Vordergrund tritt. Und zwar 
richtet sich Ueberwegs Untersuchung auf alle drei Seiten der Plato- 
nischen Philosophie d. h. auf die Ideenlehre (mit Einschluss der 
Dialektik), auf die Physik (mit Inbegriff der Psychologie und Un- 
sterblichkeitslehre) und auf die Ethik (mit Einschluss der Staatslehre). 

Die Ueberweg'sche Schrift erschien zu Wien im Jahre 1861 
und trug nicht wenig dazu bei, den Bonner Privatdocenten nun 
auch in denjenigen Gelehrtenkreisen als einen tüchtigen Forscher 
bekannt zu machen, welche geneigt sind, die philologische Tüchtig- 
keit als den wesentlichsten Faktor gediegener Wissenschaftlichkeit 
zu betrachten. Innerhalb des Forschungsgebietes jedoch, auf welchem 
sich die Preisarbeit über Plato bewegt, hat dann Ueberweg später 
in verschiedenen Zeitschriften, insbesondere in der Fichte'schen, eine 
Reihe historisch-philosophischer und kritisch-philologischer Abhand- 



240 Ucbcrwcg-Heinic. 

lungen veröffentlicht, z. B.: „Über Sokrates' Entwickelungsgang/' 
(Phil. XXI): In dieser interessanten Abhandlung sucht Ueberweg 
u, A. auch die Frage 'betreffs der Schuld des Sokrates und der 
etwaigen Rechtmässigkeit seiner Verurteilung zu entscheiden. Er 
bekämpft hierbei die alte, unkritisch-naive Anschauung von der ab- 
soluten Unschuld des Sokrates und dem Unrecht seiner Verurteilung, 
wie sie z. B. Moses Mendelssohn in der Einleitung zu seinem „Phädon" 
noch annahm; aber er kann ebenso wenig der Ansicht Hegels bei- 
stimmen, wonach die Verurteilung ideell gerechtfertigt war. Wohl 
habe nach Hegels Meinung Sokrates durch seine Überschreitung 
des altgriechischen Prinzips der Sittlichkeit eine Schuld auf sich 
geladen, die er mit dem Tode büssen musste. Aber, sagte Hegel, 
solch' eine Schuld und Strafe sei eben das Recht und die Ehre 
der welthistorischen Genies imd die Abweisung des höheren 
Prinzips durch Verurteilung des Sokrates sei eben so sehr die 
Schuld der Athener, wofür auch sie zu büssen hatten. — Ueberweg 
war anderer Ansicht: „Ich muss, sagt er, meine Ansicht entschieden 
dahin aussprechen, dass auch vom wahrhaft ideellen Standpunkte 
aus die Verurteilung (ebensowohl wie vom positiven) für ungerecht- 
fertigt zu halten sei. Vom ideellen Standpunkte aus, kann dem 
Staate die Berechtigung zur Selbsterhaltung in seiner bisherigen 
Form nicht unbedingt zuerkannt werden, er darf, wenn die Zeit 
erfüllt ist, den wahrhaften Fortschritt zum höheren Prinzip eben so 
wenig von sich weisen, wie der Knabe sich sträuben darf, zum Jüng- 
ling und der Jüngling, zum Manne zu reifen. Sokrates hatte für 
sich das Recht des höheren Prinzips, welches bei ihm nicht 
nur, wie bei den Sophisten, als Auflösung des früher Geltenden 
erschien, sondern auch den fruchtbaren Keim neuer Entwickelungs- 
formen in sich trug, und er trat damit auf in einer Zeit, wo die 
alten Staats- und Bewusstseinsformen schon ihr früheres Ansehen 
grossenteils verloren hatten, und nicht in künstlicher Restauration, 
sondern nur in der Aneignimg eben jenes Neuen, welches Sokrates 
bot, das Heil lag. Recht und Schuld können einander gegen- 
seitig beschränken, aber es kann nicht das volle Recht ebenso sehr 
auch volle Schuld sein. In dieser Ordnung muss jedesmal irgend 
ein bestimmtes Verhalten dem Menschen Pflicht sein und als solche 



Ueberweg-Heinze. 24 1 

frei von Schuld, nur in der Überschreitung des xMasses oder in 
dem Zurückbleiben hinter dem Masse würde eine Pflichtverletzung, 
eine Schuld mit eintreten. Ist dem Manne von genialer Bedeutung 
zu einer gewissen Zeit ein Durchbrechen früher geltender Schranken 
ethische Pflicht, so trägt er um dieser 'Ihat als solcher Willen 
keine ethische Schuld, sofern er Mass zu halten gewusst hat. Es 
ist wahr, dass solche That denen, die noch in den früheren Schran- 
ken befangen sind, notwendig als Schuld erscheinen muss, aber 
nicht, dass sie vom ideellen Standpunkt aus ebensowohl für Ver- 
schuldung, wie für Verdienst zu halten sei. Wohl ist es die Ehre 
des Genius, dass er gewürdigt wird, seinem Prinzip sich selbst 
als Opfer darzubringen, und hinwiederum wird das Prinzip seiner- 
seits durch solch' ein Opfer geehrt und ihm die Anerkennung im 
Bewusstsein der vielen gesichert, die für den (bedanken in seiner 
■abstrakten Gestalt kein Verständnis gewinnen würden, wohl aber 
der Anerkennung der sittlichen Grösse in der vollen persönlichen 
Hingabe und Aufopferung fähig sind und dadurch mittelbar auch 
mehr und mehr zum Verständnis und zur eigenen Hingabe an das 
so vertretene Prinzip geführt werden. Nur sofern Sokrates nicht 
in absoluter sittlicher Reinheit sein Prinzip vertreten haben mag, 
sondern vielleicht egoistische Lust an Bewährung der eigenen Vir- 
tuosität im dialektischen Kampfe mit Schwächern sich einmischen 
mochte: nur insofern mag sein Tod als verschuldete Sühnung dessen 
gelten, was sein Auftreten persönlich Verletzendes hatte; sofern er aber 
in reiner Hingebung seiner Sache, die des Crottes Sache war, gelebt 
hat, war sein Thun nur berechtigt, seine Verurteilung un- 
gerecht, sein Tod für ihn selbst wohl ein Leiden, aber über- 
reichlich ersetzt und belohnt durch Erhöhung seines sittlichen Be- 
wusstseins und zugleich ein Segen für viele, für alle, die in höherem 
oder geringerem Masse das wahre Verständnis seines Strebens ge- 
wannen und teilhaftig wurden des Geistes, der ihn erfüllte." 

Sokrates' Verhältnis zur Sophistik wird in Übereinstimmung 
mit der Auffassung von Hegel, Bernays, Zeller u. A. in Kürze so 
präcisiert: „Das Recht des Menschen im Gegensatz gegen alles, 
was ihm ein Äusseres ist, das Recht des Subjekts, erscheint (in 

-der Sophistik) zunächst als das Recht der zufälligen Stimmung und 

16 



242 Ueberweg-Heinze. 

der Willkür des Einzelnen. Die Wahrheit wird so dem Sinnenschein^ 
die Sittlichkeit dem Egoismus, der Sinnenlust, und dem Ehrgeiz 
geopfert. Im Gegensatz gegen diese entartete Sophistik ist eben 
dieses das welthistorische Verdienst des Sokrates, den Standpunkt 
der Subjektivität, der Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung, der 
Freiheit des Geistes gegenüber aller äusseren Autorität, diesen 
Standpunkt in sich selbst gereinigt und vertieft zu haben durch 
Reflektion auf das, was im Menschen von höherem ewigen Wert 
ist, auf seine Vernunft und sein Gewissen. Und dieses durch So- 
krates errungene Bewusstsein, bewahren seine Schüler und Nach- 
folger, die sein Prinzip zum System entfaltet haben. 

Zudem sei erwähnt: „Über den Gegensatz zwischen Methodikern 
und Genetikern und dessen Vermittelung bei dem Problem der Ord- 
nung der Schriften Piatos" (Zeitschr. f. Phil, Bd. 40.) Dieser letztere 
ziemlich umfangreiche Aufsatz insbesondere schliesst sich in seinen Aus- 
führungen unter Widerlegung gegnerischer Ansichten (insbesondere 
Brandis, der Schleiermacher folgt und Steinhardts, welcher den An- 
schauungen C. Fr. Hermanns huldigt,) an das genannte Werk über 
Plato an; femer „Über die Platonische Weltseele" (Mus. f. Phil. N. 
F. Bd. IX.), „Über den Platonischen Timäus" (Zeitschr. f. Phil.,. 
Bd. 46), „Der Dialog Parmenides" (Jahrb. f. klassische Phil. XL) 
etc. Hierher dürften dann noch die Abhandlungen gehören, die 
Ueberweg an seine mit einem wertvollen erklärenden Kommentar 
und einem textkritischen Anhang versehene Übersetzung der Aristo- 
telischen Poetik („Philosophische Bibliothek" Bd. 19. 2. Aufl. 1875) 
anschloss, wie „Die Lehre des Aristoteles vom Wesen und der 
Wirkung der Kunst" (Zeitschr. f Phil.) und „Über den Begriff der 
Katharsis . . . ." (ebenda 1869.) Eine kritische Ausgabe der 
Aristotelischen Poetik (nach dem ältesten Pariser Codex Ac von 
1741) hatte er 1870 besorgt. 

Im Jahre 1859 hatte die Wiener Akademie eine Preisaufgabe 
wesentlich litterarhistorischen Charakters gestellt: „Schillers Ver- 
hältnis zurWissenscha f t." Als Ueberweg von diesem Konkurrenz- 
ausschreiben hörte, kam ihm die Lust an, sich auch an diese Auf- 
gabe heranzumachen. Er bearbeitete auch das Thema in einem 
grösseren Manuskript und reichte dasselbe in Wien ein. Es ist 



Ueberweg-Heinre. 243 

bekannt, dass der Preis dem Werke Karl Tomascheks („Schiller 
in seinem Verhältnis zur Wissenschaft" Wien 1 862) zuerkannt wurde. 
Neben Ueberweg hatten sich u. a. auch Männer wie Karl 
Twesten und Adalbert Kuhn um den Preis beworben. Aber sie 
alle mussten vor der in der That ausgezeichneten Arbeit Toma- 
scheks zurückstehen. Ueberweg hatte später sein Manuskript, in 
Gemeinschaft mit seinem Freunde Adolf Lasson in Berlin einer 
Neubearbeitung imterzogen, offenbar in der Absicht, dasselbe zu 
publizieren. Doch hatten Arbeiten aller Art ihn später davon ab- 
gehalten. Erst im Jahre 1884 unternahm ich es, die Ueberweg'sche 
Arbeit über Schiller zu veröffentlichen.*) Dieselbe umfasst siebzehn 
Bogen und kann, sowohl was die litterarhistorisch-kritische als auch 
ästhetisch-philosophische Seite derselben betrifft, als ein ebenso in- 
teressantes wie geistvolles, dabei aber durchaus selbständiges Werk 
anerkannt werden. Ueberweg leitet seine Darstellung durch eine 
höchst anziehende Studie ein: „Schillers Jugendbildung" (i— 34S.) 
in welcher die frühesten Einflüsse persönlicher und geistiger Art, 
welche auf den Dichter einwirkten, in vollständiger erschöpfender 
Weise nachgewiesen sind. Dann werden Schillers philosophische 
Arbeiten aus seiner vorkantischen Periode („Die philosophisch-medi- 
zinischen Dissertationen," „Die ästhetischen Abhandlungen der früheren 
Periode," „Die philosophischen Briefe," „Das philosophische Gespräch 
im Geisterseher," und „Schillers Geschichtsphilosophie"") einer sehr 
eingehenden Analyse (43 — 144 S.) unterworfen. Der zweite leil 
des Buches (144 270 S.) behandelt die philosophisch-ästhetischen 
Arbeiten aus der Kantischen Periode Schillers. Hier werden nun 
Schillers Abhandlungen „Über den Grund des Vergnügens an tra- 
gischen Gegenständen," „Über die tragische Kunst," Über Anmut 
und Würde," „Vom Erhabenen," „Über das Pathetische," „Zer- 
streute Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände," 
insbesondere die „Briefe über ästhetische Erziehung" einer gründ- 
lichen Analyse unterzogen. Bei der vollkommenen Beherrschung 
sowohl des philosophischen Stoffes als des litterarhistorischen 



♦) „Schiller als Historiker und Philosoph" von Friedrich Ueberweg, her- 
ausgegeben von Dr. Moritz Brasch (Leipzig. Carl Reissner 1884.) 

16* 



24 4 Ueberweg-Heinze. 

Materials, die Ueberweg in seinem Buche zeigt, darf dieser Abschnitt 
desselben, in welcher die Genesis des ästhetisch- ethischen Idealismus 
Schillers im Anschluss an die Philosophie Kants nachgewiesen wird, 
als nahezu erschöpfend angesehen werden. Es ist beachtenswert, 
dass Ueberweg das Resuhat seiner Untersuchungen im Schlusskapitel 
l^„I)ie Beziehungen zwischen Schillers Dichten und Denken") im 
< legensatz zu manchen andern heutigen Interpreten des Dichters dahin 
zusammen fasst, dass Schiller trotz der mannigfaltigen wissenschaft- 
lichen und philosophischen Wandelungen, die er durchgemacht, 
„dem wesentlichen Ciehalte seines ursprünglichen Freiheitsideals un- 
wandelbar treu geblieben ist; ausnahmslos gilt von seinen Dich- 
tungen das (ioethe'sche Wort, die Idee der Freiheit gehe durch 
alle Werke hindurch." 

Als eine wesentliche Ergänzung und weitere Ausfuhrung eines 
wii'htigen (ledankens in diesem Werke über Schiller, ist Ueber- 
wcgH K|)äter erschienener Vortrag anzusehen: „Die Schicksalsidee 
in S<:hillcrs Dichtung und Reflexion." So hatte sich denn Ueberweg 
binher nach vier Seiten hin, nach der logisch-erkenntnistheoretischen, 
dt*r pHychologisch-pädagogischen, der historisch-philosophischen und 
littcrarluHtorisch -ästhetischen, als ein selbständiger Forscher bewährt. 
Ueberweg stand im sechsunddreissigsten Lebensjahre, als er im 
llribnl 1862 eine Berufung als ausserordentlicher Professor der 
l'hiloHdphic nach Königsberg erhielt. Er folgte diesem Rufe, und 
mit Hcincr Übersiedelung nach Königsberg beginnt für ihn ein 
lUMirn, UiiHserlich günstigeres, aber auch innerlich reicheres Leben. 
Dir unshiTordentliche Professur trat er mit der Abhandlung an: 
„Dr prinre et posteriore forma Kantianae critices rationis purae," 
in wrh'hrr er die bekannte Streitfrage über die prinzipielle Verschieden- 
liril dn beiilen Ausgaben der Kantischen Kritik der reinen Ver- 
niiiil! (von 17S1 und 1787) noch einmal zusammenfasst und zu einer 
iMilhi heidung dahin zu gelangen sucht, dass die Abweichungen der 
"pAlrirn Ausgabe keineswegs eine so einschneidend prinzipielle Be- 
diMiUing haben, wie manche behaupten. 

In Königsberg fand Ueberweg seitens seiner akademischen 
Kollagen ein freundliches Entgegenkommen, und insbesondere 
\sn\vi\ CS Männer wie Karl Rosenkranz, Ludwig Friedländer und 



Ueberweg-Heinze. 245 

Lehrs, mit denen er sich gut stand und die dem kenntnisreichen, 
scharfsinnigen und doch so bescheidenen jungen Denker mit Wohl- 
wollen und Sympathie begegneten Wenn wir aus den Briefen 
Ueberwegs an seinen Berliner Freund, Adolf Lasson, welche aus 
dieser Zeit stammen, schliessen dürfen, so fühlte er sich jetzt in 
seiner neuen Stellung vollkommen glücklich. Im März 1863 ver- 
lobte er sich mit einer jungen Dame aus Pillau, der Tochter eines 
dortigen Kaufmanns, Louise Panzenhagen. „Sie ist ein gutes, 
liebes Kind," schrieb der philosophische Bräutigam seinem Berliner 
Freunde, „heiter und ernst, sanft und fest, ein liebenswürdiges 
Gemüt." Die Vermählung fand im August desselben Jahres statt. 
Ueberwegs durch vier Kinder gesegnete Ehe war, auf innigstem 
gegenseitigem Verständnis und Seelengemeinschaft gegründet, eine 
überaus glückliche. Im Jahre 1867 erfolgte seine Ernennung zum 
ordentlichen Professor der Philosophie und zum Mitgliede der 
Prüfungskommission. Seine Vorlesungen erstreckten sich zunächst 
auf die Logik und die (beschichte der Philosophie, später auch auf 
die Psychologie, Ethik und Pädagogik. 

Von den wissenschaftlichen Arbeiten, die zwar früher in Bonn 
schon begonnen waren, hier aber erst ausreiften, ist in erster Linie 
sein „Grundriss zur (beschichte der Philosophie" zu nennen. 
Dieses, in der 4. Autl. (1875) von Rud. Reicke, in den späteren 
Auflagen von Professor Max Heinze in Leipzig bearbeitete 
Werk in drei Bänden (7. Aufl. 1888 flg.) hat längst die verdiente 
Verbreitung und Anerkennung gefunden. Heinze ist auch Verfasser 
einer Reihe gründlicher Monograj)hien zur (beschichte der alten wie der 
neuem Philosophie. Ich nenne hier nur: „Die Lehre vom Logos in 
der griechischen Philosophie" (1872); „Die Sittenlehre des Descartes" 
(1872); „Zur Erkenntnislehre der Stoiker" (1880); „Eudämonismus in 
der griechischen Philosophie" ( 1 883). Ferner ist er nebst Wilhelm Wundt, 
dem berühmten Leipziger Psychophysiker Mitherausgeber der von Prof. 
Richard Avenarius in Zürich redigierten „Vierteljahrsschrift für wissen- 
schaftliche Philosophie". Max Heinze, welcher seit dem Tode Heinrich 
Ahrens den Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie an der Leipziger 
Universität einnimmt, ist vermöge seiner gründlichen historischen 
Kenntnisse und seiner liebenswürdigen und concilianten Persönlichkeit 



246 L'cbcnreg-Heinze. 

neben Wundt einer der beliebtesten und einflussreichsten Lehrer inner- 
halb der philosophischen Facultät dieser Hochschule. Er bekleidet eine 
Reihe akademischer Ehrenämter und kann als einer der würdigsten Ver- 
treter der Philosophie bezeichnet werden. In seinen aus den Quellen 
bearbeiteten historisch-philosophischen Arbeiten zeigt er sich als einen 
geschmackvollen Stilisten. Von den oben erwähnten Monographien zur 
Cieschichte der Philosophie darf die über die Lehre vom griechischen 
Logos als die bedeutendste bezeichnet werden, insofern Heinze hier das 
weitschichtige Material, das ebensowohl der antiken Philosophie als der 
christlichen Doginengeschichte angehört, zusammengefasst und die 
Korschungsresultate zu einem einheitlichen Bilde gestaltet hat. — Über 
den wissensi haftlichen Wert des „Grundrisses," seine Zuverlässigkeit und 
Nollständigkeit als repertorischer Führer beim Studium der Geschichte 
der Philosophie braucht hier weiter nichts bemerkt zu werden. Ueber- 
weg, welcher noch den ausserordentlichen Erfolg desselben erlebte, 
wurde nicht uuide, durch immer neue Zusätze, Bereicherungen und 
\ cr\ ollkoumumngen dieses Buch zu einem unentbehrlichen historischen 
llillsnüttcl /u gestalten, dasselbe ist jetzt allgemein unter dem Titel 
„IVborweg'Hein/e" bekannt und in der Gelehrtenwelt beliebt geworden, 
w oiUuch auch iler Titel meiner Studie gerechtfertigt erscheinen dürfte. 
Kr selbsSt l\at sich in diesem Werke als einen ungemein gründlichen 
Ihstoiikcr uiul Renner der philosophischen Systeme bewährt, wie er 
M\K'\\ \\\\\v\\ sein in den Noten hervortretendes kritisches Verhalten seine 
ciuouc Stellu!\g /u den einzelnen Philosophemen gekennzeichnet hat. 
l)ioso seine kiitische Tendenz tritt auch in einer Reihe von 
\bhaiulluuf;on hervor, welche Ueberweg schon früher und dann 
spiUci seit seiner Künigsherger Wirksamkeit in verschiedenen wissen- 
V» halthehen Zeitschriften veröffentlicht hat. Diese kleineren Arbeiten 
eiHtieekeh sieh uul die Gebiete der Erkenntnislehre, Ethik, 
Ästhetik unii Geschichte der Philosophie und die hervor- 
hiueiuisteu derNclben sind ausser der schon oben genannten Ab- 
handluhK ..l ber Idealismus, Realismus und Idealrealismus" noch: 
.lUiei tlen hegritV der Philosophie"; „Ist Berkeleys Lehre unwider- 
IcKb«»'?" „Über das Aristotelische, Kantische und Herbart'sche 
Miiialpiiiu'ip"; „l'ber den Begriff und die historische Entwickelung 
dni Ethik" u. s. w.; ferner mehrere Vorträge über Kant, Schiller, 



I'ebcrweg-Heinze. 247 

Fr. Heinr. Jacobi ii. a., welche teils in Geizers „Protestantischen 
Monatsblättern", teils in der „Altpreussischen Monatsschrift" von Reicke 
und Wiehert erschienen sind. Der oben genannte Aufsatz über 
Berkeley, welcher sich seinem Inhalte nach an die kritischen 
Noten anschliesst, die Ueberweg seiner Übersetzung von Berkeleys 
„Treatise on the j)rinciples o( human knowledge" für Kirchmanns 
„Philosophische Bibliothek" (Bd. 12) hinzufügte, wurde die Veran- 
lassung fiir einen peinlichen, aber in historisch-philosophischer 
Beziehung nicht uninteressanten Streit. Auf Ueberwegs kritische 
Angriflfe gegen Berkeley fühlte sich nämlich der Engländer CoUyns 
Simon, der sich als einen Anhänger des Phänomenalismus Berkeleys 
eni\'ies und auch in diesem Sinne ein Werk veröffentlicht hatte: 
„On the nature of Elements of the extemal world or universal 
Immaterialism" (Lond. 1862), veranlasst, in einem offenen Briefe 
(in der Zeitschr. f. Philos.) Berkeley gegen Ueberweg zu verteidigen. 
Ausserdem mischten sich noch zwei deutsche Gelehrte, die Profes- 
soren R. Hoppe und W. Schuppe in die Streitfrage. Ueberweg, 
durch diese dreifache Gegnerschaft gereizt, antwortete etwas erregt, 
worauf seitens Schuppes eine ebenso sachliche als scharfe Erwide- 
rung (in den Philos. Monatsheften) erfolgte. Abgesehen von dem 
wissenschaftlichen Interesse, welches diese ganze Diskussion dar- 
bietet, zeugt sie auch noch von der eminenten logischen und dialek- 
tischen Befähigung Ueberwegs, der, einem dreifachen, von nicht 
geringen Gegnern herkommenden Feuer ausgesetzt, seine Position 
mit möglichster Geschicklichkeit verteidigte.*) 

Im Übrigen hielt er Cxeorge Berkeley, wiewohl er die Be- 
gründung seines Phänomenalismus als nicht stichhaltig angriff, für 
einen Denker, welcher „einen der möglichen und relativ berechtigten 
Standpunkte mit Entschiedenheit vertritt, mit unübertroffener Klar- 
heit begründet und mit vollster Strenge und Konsequenz entwickelt 
hat." Er nennt dieses sein Hauptwerk, welches früher noch nie- 
mals ins Deutsche übertragen worden v.ar, „eines der klassischen 



*) Ich habe diese interessanten pclemischen Aufsätze Uebtrwegs sowie 
die seiner Gegner in mein Werk: „Die Welt- und Lebensanschauung Friedrich 
Ueberwegs in seinen gesammelten philosophisch kritischen Abhandlungen*' (Leip- 
2ig 1888) aufgenommen. 



248 Ueberweg-Heinze. 

Dokumente moderner Spekulation". Ja gegenüber dem Überhand- 
nehmen des neuesten Hylozoismus und Materialismus, meint Ueber- 
weg, könne die von Berkeley vollzogene Auflösung der Materie 
in eine Vorstellungswelt jetzt noch nicht bloss ein historisches, sondern 
auch ein philosophisches Interesse beanspruchen. Jener oben betonten 
Gewandtheit Ueberwegs in der wissenschaftlichen Polemik entsprach 
auch seine ausserordentliche Schärfe und Geschicklichkeit in der 
mündlichen Diskussion. Seit seiner Studienzeit hatte Ueberweg, wo 
er nur Gelegenheit fand, seiner Neigung zu philosophischen Debatten 
nachgegeben. In Bonn war es besonders der ihm eng befreundete 
Dr. Boecker, ein als medizinischer Schriftsteller bekannter Arzt 
mit ausgesprochen materialistischer Weltanschauung, mit welchem er 
auf den weiten gemeinsamen Spaziergängen philosophisch diskutierte. 
Auch Albert Lange und Adolf Lasson rühmen seinen Scharfsinn, 
Hciric (icwandlheit und seine methodische Strenge im mündlichen 
DiHput. Wie sehr es aber Ueberweg daran lag, in solchen Unter- 
hi'illiinj^cn weniger die eigene Meinung aufrecht zu erhalten, als 
vielmehr die objektive Wahrheit zu eruieren, geht daraus hervor, 
<luh«t (jr im Disput oft die Partei seines Gegners gegen sich selbst 
irrgrifl, um durch die Herleitung und Gegenüberstellung der Kon- 
Mu\\wiiM:t\ beidrr Ansichten womöglich zu einem gemeinsamen be- 
in*'<li^rn<lrii Kirsullatc durchzudringen. 

In Königsberg war es nun ein ihm befreundeter Arzt, 
l)t, llriniHli (Izolbe*;, der bekannte naturphilosophische Schrift- 
Mrllri und Hrgrtindcr eines Systems des teleologischen Na- 
I um I H)mnh, mit welchem Ueberweg eifrigen Umgang pflegte. Dieser 
Bund Witt Itir die philosophische Entwickelung beider Freunde von 
1141 hliiil!ig»»t<tr Wirkung. Hatte jener allmählig den Wert und die 
iJrdriiliuig den spekulativen Denkens erkannt, so hatte für Ueberweg 
tuti\,n^^mi\vrc. der fast tägliche persönliche und wissenschaftliche 
Viikrh; mit C/olbe die bedeutsame Wirkung, dass er in den letzten 
\,t\itrn drn scnsualistisch-teleologischen Prinzipien dieses Xatur- 
plMlovoplMii, dem er in persönlicher Freundschaft ergeben war, sich 

*; (ui'\i. iHr^ bei i>anzig, studierte in Berlin Medizin und Naiurw i^sen- 
.,),^iir„ i.M<) U'hU- seit 1868 in Königsberg aN (»berstab^ar:!. xvo t-r au.h 1S73 



Ueberweg-Heinze. 249 

mehr und mehr zuneigte. Aus dem mir zur Einsicht vorgelegenen 
noch ungedruckten Briefwechsel zwischen Ueberweg und Lasson 
ersieht man, dass es wesentlich naturphilosophische Fragen gewesen 
sind, welche die Freunde (hauptsächlich in den Jahren 1868 — 71) 
diskutierten. Hierbei spielten die Probleme der heutigen Astrophysik 
und Biologie eine besonders wichtige Rolle. Natürlich war es immer 
ein philosophisches Interesse, welches sich, hauptsächlich bei 
Ueberweg, an diese Diskussionen knüpfte. Immer drängt er auf den 
der Frage zu Grunde liegenden allgemeinen Gedanken. So ist es 
nicht die Frage von der Existenz oder Nichtexistenz eines Welt- 
äthers, sondern die des Wesens der Materie, die ihn interessiert. 
Oder wenn er über das Wesen des „Organischen" in einen langen 
Briefwechsel sich ergeht, so ist es doch wieder wesentlich das natur- 
philosophische Problem der allgemeinen organischen Weltseele, die 
ihn beschäftigt. Bei den metamathematischen Untersuchungen der 
Göttinger, die ihn stark interessiert, ist es wiederum das meta- 
physische Raumproblem, um dessenwillen er sich in jene ihm sonst 
fem liegenden Untersuchungen einlässt, zum Teil in der stillen 
Hofifnung, von hier aus ein neues Argument gegen den ihm anti- 
pathischen transcendentalen Idealismus Kants zu gewinnen. 

Czolbe erzählt (in einem mir von Herrn Dr. Ed. Johnson in 
Chemnitz freundlichst zur Verfügung gestellten Manuskript aus Czolbes 
noch ungedrucktem Nachlass) von ihren gemeinsamen Wanderungen 
an dem bei Königsberg sich hinziehenden, von waldigen Bergen 
herrlich geschmückten Strande der Ostsee. \'on einigen Höhen 
erblickt man am fernen Horizonte den Frauenberger Dom, in 
welchem der grosse Begründer der neueren heliocentrischen Welt- 
anschauung, Nicolaus Kopernikus, ruht. Unvergesslich, sagt Czolbe, 
wird es mir bleiben, wie Ueberweg bisweilen in kindlichem Froh- 
sinn mit jenen, seinen aus einem Chore des Euripides erhaltenen 
Lieblingsversen das Brausen der Wogen zu übertönen versuchte, 
mit denen er auch in seinem Cirundriss (Bd. 1 ; die Darstellung des 
Anaxagoras abschliesst, weil sie im Hinblick auf diesen die Glück- 
seligkeit des Forschers preisen: 

"OXßiog voTig zijg imooiuc 
F0/€ fiu&rjatr, fiyte jto/.tiMy 



250 Ucberwcg-Hcinze. 

jigd^etg 6ofi6>v, 

dXX^ düdvarov xadoQwv <pvo8€Oi 

xooptov dyrjoco, xig xs owdcrtj 

xai OJT]] xal ojtcog. 

TOig TOiovTOig ovdaroi^ aioxQcl>v 

Die letzten Lebensjahre Ueberwegs waren vielfach durch 
Kränklichkeit getrübt. Die Absicht, eine längere Erholungsreise 
nach dem Süden anzutreten, bestand wohl; doch schien sie ihm 
immer unausführbar wegen der rastlosen Sorgfalt, die er der Be- 
arbeitung der neuen Auflagen seiner Lehrbücher widmete Seine 
akademischen Pflichten hat er bis kurz vor seinem Tode erfüllt. 
Dieser trat nach mehrwöchentlicher Krankheit ein. — Ueberweg 
hatte sich infolge einer Erkältung eine heftige innere Entzündung 
zugezogen — : am 9. Juni 1871 erftlgte der Tod und — schnitt 
ein arbeitsvolles f'orscherleben ab, welches ausschliesslich der 
grossen Sache der Wissenschaft und der Wahrheit gewidmet war. 
— Er hatte in den letzten Jahren seines Lebens sich mit weit- 
gehenden wissenschaftlichen Plänen getragen. So wollte er z. B. 
ein System der Ethik mit Berücksichtigung der Geschichte der ein- 
zelnen ethischen Lehren schreiben. Ein schon früh in ihm leben- 
diger, später immer mehr reifender Gedanke war es z. B. auch, eine 
„Philosophie der Mathematik" auszuarbeiten und dergl. In Bezug 
auf seine ethischen Grundüberzeugungen neigte er entschieden 
zu den Prinzipien Herbarts. So heisst es in der schon oben er- 
wähnten Abhandlung: Über das Aristotelische, Kantische und Her- 
bartische Moralprinzip: „Wir finden in der durch Herbart ange- 
bahnten Richtung die wahre Vermittelung zwischen der einseitig 
materialen und der einseitig formalen Grundlegung der Sitten- 

") „O selig der Mann, der zu forschen gelernt! 
Nie gehet er aus auf der Mitbürger Kcid, 
Noch auf Thaten, die gegen das Recht. 
Er versenket den Blick ins nie alternde Werk 
Der ewigen Natur, woraus es gefügt, 
Und weshalb und auf welchem der Wege! 
Wer also gesinnt, nie haftet ihm an 
])ie Geneigtheit zu unschönen Thaten.* 



Ueberweg-PIeinze. 251 

lehre und zugleich die Möglichkeit, die volle Strenge allgemein 
gültiger Gesetze mit der eingehendsten Rücksicht auf die individuelle 
Natur des besonderen Falles zu vereinigen. Wir meinen aber auch 
in dieser Grundlegung den wahrsten philosophischen Ausdruck des 
durch das Christentum begründeten ethischen Bewusstseins zu finden." 

Friedrich Albert Lange hat versucht, die Ergebnisse der 
inneren Umwandlung Ueberwegs, wie sie durch die Adoptierung 
des Czolbe'schen Naturalismus und Verschmelzung desselben mit 
Ueberwegs Teleologismus zu Tage trat, teils nach gelegentlichen 
und brieflichen Äusserungen Ueberwegs selbst, teils nach Stellen 
in seinen Abhandlungen aus dieser Zeit, teils aber auch nach den 
Andeutungen, die Czolbe selbst über die Sache gab, sich zu kon- 
struieren. Er spricht sich darüber in folgender Weise aus: 

„Es handelt sich hier hauptsächlich um die Stellung des 
teleologischen Prinzips zum naturalistischen. Dass Ueberwegs 
„Ideahsmus" ohne das teleologische Prinzip trotz seines idealistischen 
Elements einem konsecjuenten Naturalismus sehr nahe stehen musste, 
ergiebt sich auf den ersten Blick. Man durchdenke die Sache nur 
einmal vom Standpunkte seiner logisch-psychologischen Fundamental- 
hypothese! Da haben wir ein nach drei räumlichen Dimensionen 
ausgedehntes, mit Materie erfülltes und von den allgemeinen Natur- 
gesetzen in der Bewegung seiner Teile regiertes Universum. Die 
in demselben vorhandenen Dinge sind in kolossalem Massstabe 
grösser, als die Dinge unserer Erscheinungswelt; sie haben vielleicht 
die umgekehrte Lage, sie mögen auch in ihrer Beschaffenheit in 
mancher Beziehung abweichen, aber im wesentlichen sind sie die 
Urbilder, welche den Bildern in unserem Geiste, d. h. unserer 
Erscheinungswelt, nach unwandelbaren Naturgesetzen entsprechen. 
Die Körper der Menschen, gleich allen Gegenständen dieses Uni- 
versums relativ kolossal zu denken, bergen in einem Teil ihres 
Gehirns jenen „Äther", oder wie Ueberweg später anzunehmen vor- 
zog, jene Substanz von „indifferenter" (d. h. nach allen Seiten gleich 
gut leitender und gleich beweglicher) Struktur, in welcher sich die 
Empfindungsimpulse, nach ])sychologischen Gesetzen durch die 
Nerven zugeleitet, zu jenen Bildern der Dinge vereinigen, die wir 
fiir die Objekte selbst halten, die aber in der That unsere Vor- 



252 L'eberweg-Heinze. 

Stellungen sind. Der Schall und andere sich nicht zu einem Bilde 
formende Empfindungen verbreiten sich als gleichmässige Erregungen 
im ganzen Empfindungsraum und verschmelzen eben dadurch auch 
mit den Bildern als tönend gedachte Gegenstände. Diese Bilder 
wechseln beständig, angeregt von den organisch gegliederten Teilen 
des Gehirns und auf sie zurückwirkend. Die Bedingungen des 
Gedächtnisses und sämtlicher Reproduktionserscheinungen 
der Seele suchte Ueberweg nicht im „Sensorium" selbst, sondern 
in den Ganglienzellen des Gehiins, und zwar in beharrenden Modi- 
fikationen der festen Struktur ihrer Windungen, d. h. er nahm nicht 
irgend eine Aufbewahrung der Vorstellungen selbst an, sondern nur 
ein Bleiben der rein materiellen Bedingungen ihres Entstehens" . . . 

,. Bevor wir", fährt Lange fort, „auf den teleologischen Faktor 
eingehen, der bei Ueberweg das Gegengewicht gegen den natura- 
listischen bildete, sei noch erwähnt, dass die Frage, ob die „Dinge- 
an-sich" oder die kosmischen Urbilder unserer mikrokosmischen Welt 
auch im Sinne des Czolbe^sihen „Sensualismus" oder des Kirchmann'- 
schen „Realismus" Qualitäten haben, die unseren Empfindungs- 
qualitäten entsprechen, für Ueberweg eine offene blieb. Das „Ding- 
an-sich" des von uns vernommenen Tones ist allerdings, soweit die 
Wissenschaft uns sicher lührt, die Vibration der Saite, der Luft u. s. w., 
aber wie die Vibrationen, in den Nerven umgestaltet, aber immer- 
hin noch materielle Bewegung, in unserem Sensorium zu dem werden 
können, was wir Schall oder Farbe oder Wärme u. s. w. nennen, 
so muss diesen Vorgängen auch im Dinge-an-sich etwas Ähnliches, 
vielleicht als Vorstellung der Weltseele entsprechen. Hier scheint 
Ueberweg nur deshalb ni(ht zugestimmt zu haben, weil ihm diese 
Fassung des Sachverhaltes zu eng und dogmatisch war, gegenüber 
anderen, berechtigten Möglichkeiten, namentlich hinsichtlich der Art, 
wie Vorstellungen der Weltseele zu denken sind." 

„Dass Ueberweg überhaupt eine Weltseele annahm, würde sein 
System noch keineswegs vom Materialismus unterschieden haben; 
denn die bekannte Behauptung, dass der Materialist „die Seele 
leugne", kann sich ja nur auf eine bestimmte Auffassungsweise der 
Seele beziehen, da es noch nie jemandem eingefallen ist, sein 
eigenes Denken, Wollen und Begehren zu leugnen. Kann nun aber 



Ueberweg-Heinze. 2r)3 

dieses ira menschlichen Mikrokosmus eine Funktion der Materie 
sein, so kann es sich mit einem hypothetischen Vorstellen und 
Wollen des Weltganzen oder eines organisierten Centrums des- 
selben durchaus ebenso verhalten." 

„Der wahre Unterschied lag vielmehr ausschliesslich in der 
teleologischen Weltanschauung, die, auf die Weltseele angewandt, 
unmittelbar auch zu einer theologischen werden rausste . . Hier 
lag nun aber die Schwierigkeit: Wie verhält sich Teleologie 
zu Kausalität? Ein Mann von Ueberwegs Scharfsinn und (Ge- 
wissenhaftigkeit vermochte sich nicht mit der eleganten Grazie eines 
Trendelenburg über diesen fatalen Punkt hinwegzusetzen, üeberweg 
war darüber völlig im Klaren, dass mit einer immanenten Zweck- 
mässigkeit, die nur als das Gesamtresultat den wirkenden Ur- 
sachen in ihrer Vereinzelung gegenüber gestellt würde, sein 
Postulat nicht erfüllt sei; ebenso aber darüber, dass jede Art, den 
Zweck „leitend", „regierend" u. s. w. in die Kausalreihe als ein fremdes 
Element eingreifen zu lassen, in schwere Konflikte gerät mit der 
Natur des Kausalbegriffes selbst, mit dem von ihm anerkannten 
Postulat eines anschaulichen Denkens und mit der Forderung der 
Wissenschaft, einer mathematisch-physikalischen Analyse des (Ge- 
gebenen keine Schranken zu setzen." 

„Denn in der That, wenn auf irgend einem Punkte ein fremd- 
artiger Faktor in die Kausalreihe eingreifen und etwas schaffen soll, 
was dem Theologen vielleicht sehr „begreiflich" ist, vom Standpunkt 
der wirkenden Ursachen aus aber schlechthin als ein Wunder, 
als eine absolute Unterbrechung der, soweit unsere Forschung 
reicht, ununterbrochenen Kette der Ursachen und Wirkungen 
erscheinen muss, wo ist dann die Grenze und wozu überhaui)t noch 
wirkende Ursachen, weim der Zweck einen materiellen Effekt 
ohne dieselben her\orbringen kann: Diesem Argument, das natür- 
lich in den mannigfaltigsten Formen wiederkehren kann, vennochte 
auch Üeberweg bei all seiner (Gewandtheit im Diskutieren niemals 
zu widerstehen." 

„Doch wir wollen für die Schwierigkeiten, die Üeberweg in 
diesem Punkte fand und die seinem Verstände und seinem Charakter 
alle Ehre machen, zunächst ihn selbst reden lassen und dann kurz 



254 Uebcrwcg-Hcinzc. 

angeben, wie er sich half. In einem Briefe vom i8. November 1860, 
veranlasst durch die Philalethes-Broschüre, schreibt er wörtlich 
folgendes: „Auf mein teleologisches Argument sind Sie nicht ein- 
gegangen. Ich weiss, dass man die bloss subjektive Bedeutung 
entgegenzuhalten pflegt; [aber diese steht doch auch in Frage. Wer 
in diesem Punkte nicht auf der Seite Spinozas steht, muss nach- 
weisen, wie denn die Erscheinungen des organischen Lebens, die 
wir uns am becjuemsten mittels jenes Begriffes zurechtlegen, ohne 
denselben irgend denkbar seien. „Kausalität" pflegt doch objektiv 
genommen zu werden; nun aber kommen wir mit einer Zusammen- 
würfelung der Atome allein sicher nicht aus; Hegels „inmianente 
Zweckmässigkeit", „schöpferischer Begriff' hält aber eine imklare 
Mitte zwischen Atomistik und Teleologie und weist über sich selbst 
herauH. Kants Theorie ist an den Kantianismus überhaupt gebunden, 
der doch als Ganzes, wie er in den drei Kritiken vorliegt, nicht 
haltbar ist und bei Fichte nur noch toller wird. Ich bin beinahe 
in derselben Klemme, worin Herbart sich befand: einesteils ist 
die Annahme notwendig, andererseits entweder unvollziehbar (nach 
der I lerbart'schen Metaphysik), oder doch schwer vollziehbar (nach 
Fechners und meinem Standpunkte^. Helfen Sie mir aus der 
Klenmi(r, und ich werde Ihnen Dank wissen. Dazu genügt aber 
iiirFjt, dass Sie mir als unwahrscheinlich nachweisen, was ich selbst 
,'iIh an sirh sehr wenig wahrscheinlich anerkenne, sondern dass Sie 
mir eine andere Aussicht eröffnen, die mir auch nur einigermassen 
plaiinibrl ersr.heine." 

„Die Art nun," bemerkt Lange weiter, „wie Ueber>veg sich 
lii'lbht half, war die Annahme „innerer Zustände" in der Materie, 
well Ur (hirch eine materielle Kausalreihe erregt werden und wieder 
eine Holthe erzeugen, jedoch an sich selbst nicht materiell sind. 
II Ml war denn auch für die Einwirkung des Zweckes ein Angriffs- 
|/Miikl K**K*'''*'"» ^*^** ^^"^ ^^^^ ^^^ Widerspruch zwischen Kausalität 
lind 'I i-|eo|r)gie verbarg. Diese Annahme einer Kritik zu unter- 
wrtU'ii, dm He hier nicht an der Stelle sein. In unserer späteren 
K/»fiet>ponden/ war von diesem Punkte nicht mehr viel die Rede 
nnd M li will daher hier nur noch zwei Umstände anführen, welche 
/* i|/rii, wir hohen Wert Ueberweg einerseits auf jede Erweiterung 



Ucbcrwcg-Hcinzc. 25& 

unserer Erkenntnis nach Kausalbegriffen legte, auch wo sie 
mit seinen Lieblingsmeinungen in Konflikt zu geraten schien, und 
wie zäh er doch andererseits an seiner Teleologie festhielt. Der 
erste Umstand ist, dass Ueberweg die Theorie Darwins, sobald 
er sie näher kennen gelernt hatte, unumwunden als einen berechtigten 
und mehr als „einigermassen plausibeln" Versuch zur Erklärung 
des organischen Lebens aus den wirkenden Ursachen anerkannte; 
der andere, dass ihn Ed. von Hartmanns „Philosophie des Un- 
bewussten" entschieden sympathisch berührte, die man als den ver- 
wegensten neueren Versuch bezeichnen kann, die Herrschaft der 
wirkenden Ursachen in der Natur wieder mit einem mystischen und 
teleologischen Prinzip zu durchbrechen und, anscheinend auf Mathe- 
matik und Naturwissenschaften gestützt, der mathematisch-naturwissen- 
schaftlichen Forschung die Basis ihrer Operationen zu entziehen."*) 
Ich habe diesen ganzen Passus aus der Lange'schen Abhand> 
lung hier wiedergegeben, weil, abgesehen von ihrem Wert für die 
Charakteristik Ueberwegs, aus derselben ziemlich klar hervorgeht, 
dass, wenn Ueberweg den schon in seiner Logik (§ 6) angedeuteten 
Plan eines Systems der Philosophie niemals zur Ausfiihrung gebracht 
hat, er doch die Hauptpunkte zur metaphysischen Grundlegung 
eines philosophischen Systems nicht nur schon sehr früh mit sich 
herumtrug, sondern auch fortwährend von allen Seiten her fester zu 
basieren bemüht war: je nach den Einflüssen, welche die fortschrei- 
tenden positiven Wissenschaften oder das kritische Studium anderer 
philosophischer Meinungen oder der briefliche oder persönliche 
Austausch seiner Ansichten mit wissenschaftlichen Freunden auf ihn 
ausübten. Im Grossen und Ganzen jedoch wird Ueberwegs Stand- 
punkt, trotz mancher Wandelungen, die später erfolgten, als jener 
Idealrealismus anzusehen sein, wie er ihn in seiner Abhandlung 
aus dem Jahre 1859 selbst kennzeichnet: „Es ist die stets wieder- 
kehrende Dialektik der (beschichte, dass durch partielle Bestätigung 
mythologischer Hüllen die Wahrheit in immer reinerer Gestalt zu 
1 age tritt. Leicht zerbricht einseitiger Idealismus vorzeitig die Form 



*) Vgl, Altpreussische Monatsschrift. Herausgegeben von R. Reicke und 
E. Wiehert. VIII. Jahrg., Heft 15 und 16. 



250 Ucljerweg-Heinze. 

und verliert den Oehalt, und leicht fallt, wer diese Scylla zu meiden 
sucht, in die ('harybdis ungerechtfertigter Accomodation. Aber auch 
die wahre V'ermittelung scheint, vom Standpunkte eines jeden der 
beiden Kxtrenie aus, dicht an dem entgegengesetzten Extreme zu 
liegen. Immer noch findet der kampflustige Realismus idealistische 
Kiemente vor, mit denen er nichts zu schaffen haben mag und 
deren Konservierung ihm als Befangenheit in der von ihm abgethanen 
Mythologie erscheint, und nicht minder besorgt der konservierende 
Idealismus den Verlust des Kernes selbst bei der Sprengung der 
HiUlen. Sokrates erscheint, um seiner Gerechtigkeit willen den 
Kallikles als ein Unreifer, der sich noch nicht losgemacht habe 
von den Besprechungen und Bezauberungen, worin von Jugend auf 
die Besten und Kräftigsten hineingezwängt würden; von den Ver- 
tretern des Altbürgertums aber wird er, der die antike Bewusstseins- 
i'orm durchbricht, den Sophisten zugezählt. Der religiöse Afifect 
unterliegt zugleich mit den Formen, die er sich schafft, demselben 
Läuterungsprocess, wie das politische und philosophische Bewusstsein. 
Das Christentum befreit die religiöse Idee von den Schranken des 
jüdischen Particularismus und der heidnischen M)^hologie. um eine 
reinere Bewusstseinsform an die Stelle zu setzen und ist der jüdischcc 
Befangenheit ein atheistisches Ärgernis, dem exclusiven Xaturaiismcs 
aber eine j)ietistische Thorheit. Bei den Reformationen innerhiib 
der christlichen Kirche und Philosophie wiederholt sich stets in 
sublimierter Clestalt derselbe Process. Auch die blosse Mitte, cä 
einen Teil der Idee in der frühern naiven Form festhält, den ainien 
mit der Form zugleich preisgiebt, hat ihr temperäres historisciie- 
Ke( ht als Vorläufer der wahren Yermittelung. Und nicht nur si:^ 
Mille, sondern auch die Reaktion hat relative Berechtigung. «.; 
lange tlie Zeit, für tlen Krnst des Gedankens zu träge octr 
/u feig, die Form der Freiheit zur Bosheit missbrauchen irüKif. 
Fh ist ein verdienstvolles Werk, vor der Freiheit, die das Lebe^na- 
elrnuMit des (lereiften ist, den geistig Unreifen zu bewahren, oec 
hir nicht /u ertragen vennöchte. Absolut berechtigt ist iber 
<loi h immer nur der wissenschaftliche Gedanke, welc"::t* 
«liulurc h, (lass er allen Flementen sein Recht werden la>>:> 
notwendig zum lilealrealismus wird. Die reinste Trä«r:r 



Ueberweg-Heinze. 257 

dieses Gedankens ist die Philosophie. Nur die Spekulation über- 
windet den Gegensatz von Materialismus und mythischer Vor- 
stellungsweise. Und so giebt es keine Erlösung von den Wirren 
der Zeit; so lange die Zeit die Philosophie verschmäht Jede rettende 
That ist doch immer nur ein Palliativ, so lange sie sich nicht mit 
den rettenden Gedanken eint, deren einzige Wahrheit sich in der 
Philosophie ihre zutreffendste Form schaffte. (Vgl. „Über Idealismus, 
Realismus und Idealrealismus" in der Zeitschr. f. Philos. u. philos. 
Kritik Bd. 39 (1859). 

Was nun noch etwa von Ueberwegs Stellung zu den reli- 
giösen und politischen Bewegungen der Zeit gesagt werden kann, 
so gilt hier besonders in den Fragen der Religionsphilosophie 
dasselbe, was von ihm als Logiker, Erkenntnistheoretiker und Historiker 
der Philosophie gesagt werden muss, dass wir, wie Adolf Lasson*) 
bemerkt, „in ihm ein edles Vorbild eines rein der Sache gewidmeten 
uneigennützigen Strebens zu verehren haben." Dieselbe Überzeugungs- 
treue, denselben Feuereifer für die Wahrheit, die ihm bei wissen- 
schaftlichen Problemen erfüllte, zeigte er auch, wo er, in seltenen 
Fällen zwar, öffentlich in religiösen oder politischen Fragen auftrat. 
Auf beiden Gebieten gehörte Ueberweg der liberalen Richtung 
an. Er bekundete dies besonders in einem Offenen Briefe: „Über 
freie Gemeinden und Gottes Persönlichkeit"**), den er an den 
protestantischen Reformprediger Uhlich in Veranlassung eines von 
letzteren am 8. August 1860 in Bonn gehaltenen Vortrages („Über 
Missverständnisse in der Religion") unter dem Pseudonym „Philalethes" 



*) Professor Adolf Lassen in Berlin gehört zu den wenigen spekulativen 
Philosophen der Gegenwart, weiche, wie Johannes Volkelt, Gustav Biedermann 
u. A. an Hegel anknüpfen, aber denselben im Sinne der neuern wissenschaft- 
lichen Forschung weiter bilden wollen. Lasson ist Verfasser einer Anzahl philos. 
Schriften, welche sowohl Werke als auch kleinere Monographien bilden: Fichte 
im Verhältnis zu Kirche u. Staat (1863); Meister Eckhart (1868); Das Kultur- 
ideal u. der Krieg (1868); Prinzip und Zukunft des Völkerrechts (1871); System 
der Rechtsphilosophie (1882); Die Entwickelung des religiösen Bewusstseins der 
Menschheit (1883). Auch hat derselbe Giordano Bruno^s Schrift „Della causa, 
principio ed uno^ fUr die Kirchmann*sche „Philosophische Bibliothek^* ins Deutsche 
Übertragen und mit Einleitungen u. Anmerkungen versehen (1872). 

**) Bonn 1860, V^erlag der Rheinischen Buchhandlung. 

17 



258 Üebcrwcg-Heiiwc. 

gerichtet hatte. Ueberweg stand der religiösen Reformbewegung, 
wie sie damals bereits in abgeschwächterera Tempo hen-ortrat, sehr 
sympathisch gegenüber und zwar war er in der Frage des Verhaltens der 
„Gebildeten" gegenüber der kirchlichen Orthodoxie für ein sofortiges 
massenhaftes Austreten derselben aus der Kirche und für Bildung 
von Gemeinden auf der Grundlage einer „gereinigten" Religions- 
anschauung. Freilich verkannte er nicht, dass alle historischen 
Kirchen jetzt doch in einer Art von Übergangszustand leben und 
dass man sich noch lange mit Cieduld wappnen müsse, ehe an deren 
Stelle die „Kirche der Zukunft" treten werde, welche ihren Wahr- 
heitsgehalt nicht in mystisch-poetischer, sondern in bestimmter, 
den Beweistseinsinhalt der wissenschaftlich fortgeschrittenen 2^it 
repräsentierender dogmatischer Form werde fassen müssen. 

Bei der Wichtigkeit der Frage von Ueberwegs religiöser Über- 
zeugung für die Beurteilung seiner ganzen philosophischen Per- 
sönlichkeit wollen wir einige der charakteristischen Stellen aus dem 
genannten „Sendschreiben" hier wiedergeben. 

Uhlich hatte die vielen unkirchlich Gesinnten, die dennoch 
in der alten Kirchgemeinschaft verharren, aufgefordert, ihrer besten 
Überzeugung zu folgen, und sich den freien Gemeinden an- 
zuschli essen. Hieran knüpft Ueberweg an mit der Frage nach der 
Bedeutung eines solchen Übertritts: „Ist derselbe für diejenigen, 
welche das Wesentliche Ihrer Ansichten im Gegensatz gegen die 
Kirchlichen mit Ihnen teilen, eine sittliche Anforderung oder nur 
eine Konsequenz kirchlicher Intoleranz?" Nach gewissenhafter Er- 
wägung aller 13edenken, die geltend gemacht werden könnten, 
kommt Ueberweg zu dem Schlüsse, dass der neue Inhalt religiöser 
Überzeugungen, um seiner selbst willen eine eigene Gemeinschaft 
fordern muss, deren Ciestaltung durch ihn bedingt sein muss. „Das 
neue Prinzip, sagt er, fordert einen neuen Organismus, in dem es 
als der beseelende Cieist ohne trübende Vermischung mit fremd- 
artigen Mächten walte." 

Die zweite Frage Ueberwegs ist von noch prinzipiellerer Bedeutung 
und geht auf den Gottesbegriff, wie derselbe in den Reden 
und Schriften der Führer der freien Gemeinden hervortritt. Uhlich, 
Wislic.cnus, Hahzer, Schünemann, Bayrhoffer u. A. waren erst vom 



Uebcrweg-Heintc. 259 

Widerstände gegen den orthodoxen Kirchenglauben allmählich, und 
im wesentlichen Anschlüsse an Ludwig Feuerbachs anthropolo- 
gischen Naturalismus zwar zu einer Art populärem Pantheismus 
gelangt, welcher indes die wesentlichsten ethischen Erfordernisse 
enthielt. 

Ueberwegs Bedenken betreffen nun allerdings gerade diese 
Fassung des Gottesbegriffs und zwar zunächst inbezug auf die Per- 
sönlichkeitsfrage und dann inbetreff der sich hieraus ergebenden 
Konsequenzen für das Verhältnis der Menschen zu Gott. 

Die Frage des Verhältnisses von Gott und Welt im Sinne der 
orthodoxen Schöpfungslehre ist für Ueberweg entschieden. Die 
Welt in einem bestimmten Zeitpunkte durch das früher und zwar 
von Ewigkeit her vorhandene, bis dahin aber nach aussen unthätige 
göttliche Wesen erschaffen zu lassen, weist er weit von sich. Viel- 
mehr müsse man sich das Weltganze als unbegrenzt in Zeit und 
Raum denken; jede Wundertheorie, welche ein Eingreifen Gottes 
in den Verlauf der Naturprocesse und des geistigen Lebens lehre, 
sei zu verwerfen und an deren Stelle sei das Walten einer ewigen, un- 
verbrüchlichen Gesetzmässigkeit zu setzen. In allen diesen Punkten 
gesteht Ueberweg seine Übereinstimmung mit der Religionsphilo- 
sophie der freien Gemeinden zu. Seine Bedenken gehen nur dahin, 
ob man auf allen den genannten Voraussetzungen dennoch nicht 
genötigt sei, für das Ganze der Welt ein einheitliches Gesamt- 
bewusstsein anzunehmen. Dieser Frage der Transcendenz oder 
Immanenz Gottes zur Welt, worin ja das Hauptproblem 
aller Religionsphilosophie enthalten ist, sucht Ueberweg in 
folgender Weise beizukommen. Die Verteidigung eines göttlichen 
Selbst- und Weltbewusstseins, wie sie hier Ueberweg giebt, 
ist in ihrem wesentlichen Gedankengange nicht originell, alle deistischen 
Systeme haben bisher dieselben Argumente beigebracht. Aber die 
Art dieses Plaidoyer, wenn auch reserviert und hypothetisch, ist doch 
die denkbar klarste und dem gegnerischen Standpunkt gegenüber 
gerechteste. 

* 

„Es ist unverkennbar und auch Sie haben es ausgesprochen, 

dass das Weltganze weder eine blosse Vielheit, noch eine blosse 

17* 



■MHAM 



260 Ucbcrweg-Heinie. 

Einheit, sondern Einheit in der Vielheit ist. Wir finden zwischen 
den einzehien Objekten, die uns zunächst in ihrer Verschiedenheit 
und Selbständigkeit erscheinen, wesentliche Beziehungen, welche das 
Entstehen und Bestehen derselben bedingen, und diese Beziehungen 
verknüpfen nicht niu* wenige einzelne Dinge untereinander, sondern 
mehr oder minder alle mit allen. Es ist nicht nur das Individuum 
an seine Familie, sondern auch diese wiederum an das gesaoite 
Geschlecht, es ist die Tierwelt an das Pflanzenleben, dieses an die 
chemischen und physikalischen Prozesse gebunden, es ist Weltkörper 
an Weltkörper durch Schwere und Licht geknüpft, das Leben der 
Erde ist durch die Sonne bedingt, und die Sonne ist Glied eines 
Fixstemsystems, welches selbst wiederum wahrscheinlich einem andern 
grösseren Systeme sich einreiht. Nun aber ist die Welt keine Ma- 
schine d. h. nicht von aussen her durch eine fremde Kraft zu- 
sammengefügt, sondern sie ist ein Organismus, ein gegliedertes 
Ganzes, das auf sich selbst ruht und nach innewohnenden Ge- 
setzen sich entfaltet. In der Maschine ist auch Einheit in der 
Mannigfaltigkeit; aber nicht für sie selbst, sondern für uns, die wir 
sie anschauen; bei den lebendigen Organismen aber, die sich von 
ihnen her entfalten, ist Einheit und Mannigfaltigkeit in Wahrheit an 
ihnen selbst, und bei den hohem Organismen konzentriert sich diese 
Einfachheit für sie selbst in einem einheitlichen Bewusstsein. Was 
hindert die Annahme, dass sich auch für das Weltganze selbst 
die in ihm liegende Einheit in einem Gesamtbewusstsein zu- 
sammenfasst? 

Es kann eingeworfen werden: wir finden bei der astronomischen 
Betrachtung keinen einzelnen Punkt, der als Träger eines solchen 
Bewusstseins gelten könnte. Diesen Einwurf halte ich nicht fUr 
schlagend. Denn auch bei dem Tiere und bei dem Menschen 
finden wir keinen einzelnen Punkt, der als Sitz der Bewusstseins- 
erscheinungen angesehen werden dürfte; die Nervenfasern laufen 
gar nicht in einen solchen Punkt, nicht einmal in einen einzelnen 
Raum zusammen, sondern enden an verschiedenen Stellen in Gang- 
lienkugeln, die mit einander durch Verbindungsfasem, welche die 
Eindrücke leiten, verknüpft sind. Unser Bewusstsein ist an diese 
räumliche Ausbreitung gebunden, und doch ein einheitliches, sofern 



Ueb<?rweg-Hcinze. 261 

wir uns als diese eine bestimmte Person fühlen und wissen. Wir 
dürfen demnach auch in dem Weltganzen nicht einen einzelnen 
Centralpunkt als Sitz des Gesamtbewusstseins suchen, sondern müssen, 
sofern in ihm ein Bewusstsein ist, den Ort desselben in der ge- 
samten räumlichen Ausbreitung erkennen. Das ist dieselbe Voraus- 
setzung, die in der Lehre von der göttlichen Allgegenwart liegt. 

Aber, so könnte weiter die Entgegnung lauten: wir finden doch 
im Tiere xmd im Menschen ein eigenes Organ als nächsten und 
unmittelbaren Träger des Bewusstseins, nämlich das Nervensystem, 
imd das fehlt in der Welt. Doch wie, wenn die einzelnen leben- 
digen Wesen hier eine ähnliche Bedeutung hätten, wie die einzelnen 
Ganglienkugeln in dem Ganzen des Gehirns? Die Leitimg in Ner- 
ven und Gehirn ist mit der elektrischen nicht identisch, aber dieser 
doch analog; wie, wenn der Weltäther im Weltganzen der unmittel- 
bare Träger des Gesamtbewusstseins wäre? Doch lege ich auf 
diese letztere Hypothese kein Gewicht; es kann sich das göttliche 
Bewusstsein auch an das Ganze der Welt gleich unmittelbar 
knüpfen. 

Ja, alles dies, so Hesse sich ferner einwenden, gehört im besten 
Falle zu den blossen Möglichkeiten, gegründet auf gewisse Ana- 
logien; was ist damit bewiesen? — Nun die Meinung ist auch 
nicht, dass damit das Vorhandensein des einheitlichen Gesamt- 
bewusstseins im Weltganzen bereits erwiesen sein sollte, sondern es 
ist nur gemeint, dass gewisse Einwürfe, welche gegen die Zulässig- 
keit einer solchen Annahme gerichtet sind, nicht zutreffen. Es 
soll vorläufig die Frage nur als eine offene gelten, deren Beant- 
wortung im verneinenden Sinne noch eben so wenig, wie im be- 
jahenden, erwiesen sei. 

Soll aber flir die Bejahung ein Argument aufgestellt werden, 
so wäre auf die Harmonie hinzuweisen, die, zugleich mit einem 
gewissen Antagonismus, der aber selbst das Leben fördert, zwischen 
den verschiedenen Teilen der Welt bei all ihrer Getrenntheit in 
der Zeit besteht. Die Kräfte, welche an der einen Stelle wirken, 
sind der Art, dass sie an einer andern Stelle, und die Kräfte, welche 
jetzt wirken, sind der Art, dass sie für eine künftige Zeit — Leben 
und genau bestimmte Lebensformen bedingen. Da ist der Keim 



262 Ueberweg-Heinze. 

z. B. SO beschaffen und bestimmt, dass durch Bethätigung der in 
ihm verschlossenen Kräfte alle die Organe entstehen, deren in einer 
künftigen Zeit das Leben zu seinem Verlauf bedarf. Dieser Keim 
stammt freilich wiederum von einem gleichartigen Lebendigen; aber 
dieses selbst ist bereits auf seine Erzeugung angelegt. Dass ein in 
sich harmonisch Gestaltetes bestehen könne, ohne neue Keime zu 
erzeugen, zeigt uns jede Maschine; es bedarf also einer eigenen 
Vorrichtung, die durch die Beziehung auf Künftiges bedingt ist, um 
die Keimerzeugung zu bewirken. So tritt in einer früheren Zeit 
eine Vorausnahme des Künftigen ein, welche die Art bedingt , wie 
das zeitliche Vorangehende sich gestaltet und wirkt. Was kann 
diese Vorausnahme des Späteren anders sein, als ein Vorausdenken 
desselben? Das Spätere ist ja nicht real, sondern nur ideal anti- 
cipiert, es ist voraus gedacht, im Begriff da. Das ganz Ähnliche 
gilt von der harmonischen Gestaltung des räumlich Gesonderten. 
Nun aber ist diese Beziehung nicht auf gewisse Zeiten und Räume 
beschränkt, sondern erstreckt sich, wenigstens in gewissem Mass, 
soweit wir nach unserer Erfahrung urteilen können, auf das Ganze 
in aller Zeit und allem Raum. Also wäre ein einheitliches Denken 
in diesem Ganzen vorauszusetzen, also doch wohl auch ein Zu- 
sammenschluss aller Mannigfaltigkeit zu einem allgegenwärtigen 
und ewigen Gesamtbewusstsein; — was zu beweisen war. 

Ich gestehe, dass diesem Argumente die Möglichkeit eines 
„bewusstlosen" Denkens entgegen gehalten werden kann. Aber auch 
bei dieser Auffassung wäre jenes Denken im VV^eltall als ein einheit- 
liches, allumfassendes, ewiges und allgegenwärtiges zu bezeichnen. 
Doch möchte die Annahme des bewussten Denkens in einem dem 
Weltganzen iimewohnenden göttlichen Geist nicht nur die uns näher 
liegende, sondern auch die an sich selbst weitaus wahrscheinlichere 
sein; denn wie sollte ein an sich nur bewusstloses Denken solche 
Kausalverhältnisse begründen können, die zu etwas höherem, als es 
selbst ist, nämlich zum bewussten Denken im Menschen hinfuhren 
mussten? 

Der Einwurf: dass bei dieser Beweisführung die Gottheit nach 
der Weise unseres eigenen Bewusstseins gedacht werde, schreckt 
uiich nicht. Warum sollte dieser Erkenntnisweg unberechtigt sein: 



Ueberweg-Heinze. 268 

^\'enn wir in Gott sind und durch ihn, warum sollten wir nicht 
nach seinem Hilde geworden sein, warum ihn nicht nach der Ähn- 
lichkeit mit dem Höchsten in uns denken dürfen? Etwa nicht, 
weil sonst auch dem Tiere dasselbe zustände? Das Tier vermag 
das nicht um der niedrigen Stufe willen, auf der es steht, und ver- 
möchte es sich zu solchen Gedanken zu erheben, so wäre das Re- 
sultat kein wesentlich verschiedenes. Auch im Tier ist ja das 
Höchste, dessen es teilhaftig ist, das Bewusstsein. 

Wie aber auch über die Persönlichkeit geurteilt werden möge, 
so ist davon doch die Entscheidung über einen Punkt unabhängig, 
auf den ich jetzt eingehe. Sie finden im Weltganzen ein „All- 
leben." Ich habe nichts gegen die Erweiterung des Begriffs Leben 
einzuwenden, die darin liegt. Man mag auch die Kraft, die im 
Sandkorn wirkt, als ein „Leben" bezeichnen; spricht ja doch auch 
die wissenschaftliche Mechanik von einer „lebendigen Kraft," freilich 
nur in einem ganz bestimmten Sinne, wovon ich hier absehe. Aber 
ich frage, ob es wohlgethan sei, dieses Allleben selbst als die 
(Gottheit zu fassen, oder ob wir besser thun, nur seine „Blüte," nur 
seine oberste Stufe, also nur den „Geist," und im Geiste wiederum 
das Vollkommenste, den Cieist der Wahrheit, Güte und 
Schönheit mit dem Goltesnamen auszuzeichnen? Ich würde mich 
diu"chaus für das letztere Verfahren entscheiden; Ihr Ausdruck aber 
schien mir zwischen beiden Weisen zu schwanken. Der „Gott" des 
Menschen ist das, was er am höchsten verehrt, und dem er mit 
Demut und doch mit Zuversicht nachstrebt; er ist sein Ideal, wel- 
ches er, sei es mit Recht oder Unrecht, in der Form der Persön- 
lichkeit sich vorstellt. Beim Gebrauche dieses Wortes muss aller- 
dings strenger, als es gemeinhin zu geschehen pflegt, zwischen den 
Vorstellungsweisen unterschieden werden, die nur bildliche Geltung 
haben und also nur in der gehobenen religiösen Rede gebraucht 
werden sollten, und denjenigen, welche von wissenschaftlichem Werte 
sind. Die wissenschaftliche (iotteslehre muss ausdeuten und 
veredeln, was in der gangbaren Vorstellung liegt. Das Streben, 
diese Unterscheidung zu vollziehen, ist eine der achtungswertesten 
Tendenzen der freien Gemeinden. Aber ich finde nicht, dass durch 
den Begriff „Allleben" der Inhalt des Gottesbewusstseins glücklich 



264 Ueberwcg-Heiiize. 

gedeutet sei. In dem „Allleben" erkennen wir nicht unser Ideal. 
Das Leben als solches, auch das Allleben, ist uns noch nicht Gegen- 
stand der Verehrung, am wenigsten bereits der göttlichen Verehrang, 
Nicht jeder Form des Lebens beuge ich mich, sondern nur der 
höchsten, niu* denjenigen Formen, die höher stehen, als das Leben, das 
schon in mir ist, und die mir noch Ziele meines Strebens sind. 
Ich vefehre den Geist der Wahrheit, Schönheit, Güte; ihm beuge 
ich mich, denn hier liegen meine Ideale." 



Inbetreflf der Stellung Ueberwegs zu den religiösen Fragen der 
Zeit giebt auch Fr. Alb. Lange einigen Aufschluss: „Wie oft, er- 
zählt Lange, haben wir über Religion und Kirche der Zuknnft 
geredet und gestritten! Es war ihm eine Herzenssache, darüber 
völlig ins Klare zu kommen, ob ein Mann, der sich durch sein 
Denken vom naiven Glauben abgelöst hat, die Pflicht habe, dies 
ofien zu sagen und damit aus der Kirche auszuscheiden, oder ob 
es richtiger sei, wegen des idealen Gehalts der Religion und um 
der Gemeinschaft willen mit so vielen wohlgesinnten aber wenig 
aufgeklärten Elementen der Gesellschaft, auf die wir nun einmal 
angewiesen sind, zu bleiben und auszuhalten. Ich neigte Ham^u 
ftir die Gegenwart zu einem rückhaltlosen Anschluss an die be- 
stehende Gemeinschaft mit Benutzung der Hegel'schen Künste der 
phflosophischen Deutung der Religion nebst Rückübersetzung philo- 
sophischer Gedanken in die Sprache des Christentums, indem ich 
dabei zugleich eine völlige Trennung der religiösen von den 
politischen Fragen, nach amerikanischem Muster, ftir möglich und 
wünschenswert hielt. Ueber^-eg dagegen war mehr ftir eine sofortige 
Reformbewegung und ftihlte sich daher auch durch die Frage be- 
unruhigt: schweigendes Dulden des Konfliktes imd Abwanen der 
Wirkung einer allgemeinem Ausdehnung wissenschaftlicher Einsicht, 
oder Austritt und Bildung neuer Gemeinden " 

Versuchen wir, diese verschiedenartigen Punkte zu einer einheit- 
lir.hen Formel, die mannigfaltigen, zerstreuten Züge Ueberwegs zu einer 
geftr:hlossenen, gewissermassen persönlichen Physiognomie znsammen- 
/tjfassen, so ist dieses Vorhaben aus dem Grunde nicht leicht weQ 



Uebcrwcg-Heinze. 265 

die innere Entwickelung Ueberwegs keine konsequente war, sondern 
eine solche, die sich diu*ch Adoption immer neuer Prinzipien aus 
ihrer ursprünglichen Richtung herausdrängen Hess. Bei seiner ausser- 
ordentlichen wissenschaftlichen Empfänglichkeit Hess er — ein echter 
Wahrheitssucher, — sich nicht so leicht von dem einmal ange- 
nommenen Prinzip fesseln. Vielmehr war er, stiess er auf einen 
neuen ihm zusageikden Gedanken, sofort bereit, nicht etwa sein 
früheres Prinzip wegzuwerfen, sondern eine Vermittelung zwischen 
diesem und jenem einzugehen. Eine solche Neigung führt nicht 
leicht dahin, ein einmal acceptiertes System nun auch konsequent 
festzuhalten. Und je allseitiger und scharfsinniger der betreffende 
Denker ist, je mehr er der Selbstkritik dieselben Rechte einräumt 
wie der Kritik anderer, desto weniger wird er sich in eine einseitige 
Systembildung verHeren. Und dieses war bei Friedrich Ueberweg 
der FaU. Ob man aber deshalb schon ein Recht hat, ihn einen 
„empirischen Eklectiker" zu nennen, wie ein neuerer Historiker thut, 
möchte mir zweifelhaft erscheinen. Im übrigen war er vermöge 
des von ihm in Anlehnung an Trendelenburg, Schleiermacher u. a. 
acceptierten erkenntnistheoretischen Prinzips des „Idealrealismus" 
(s. oben) gewissermassen prädestiniert zu einer solchen Vermittelungs- 
thätigkeit «wischen den philosophischen Gegensätzen der Zeit. Hierbei 
ist bei der historischen Grundrichtung seiner Studien, die er von 
Beginn seiner gelehrten Laufbahn bis zu seinem Tode festhielt, 
ganz erklärlich, dass er selbst diesen seinen vermittelnden Ideal- 
reaHsmus mit Vorliebe vom geschichtlichen Gesichtspunkte aus, 
d. h. aus dem Wechsel der historischen Gegensätze, zu rechtfertigen 
bemüht war. Er erörtert diesen Gedanken am Schlüsse des oben 
citierten Aufsatzes über „Idealismus, Realismus und Realidealismus", 
(den er noch als Bonner Dozent (1859) in der Fichte-Ulrici^schen 
Zeitschrift für Philos. und philos. Krit. erscheinen Hess) in folgen- 
der Weise: „Es giebt in metaphysischen und theosophischen, wie 
auch in ethischen Theorien eine Mythologie des Idealismus, 
d. h. eine Verwechselung poetischer und wissenschaftlicher Wahrheit, 
die immer da auftritt, wo der Idealismus den Realismus von sich 
ausschliesst, und ihn daher dualistisch als feindliche Macht neben 
sich stehen lassen muss, anstatt ihn als fundamentales Moment in 



266 Ueberweg-Heinze. 

sich aufzunehmen. Es giebt andererseits einen ideenlosen Realis- 
mus, der zum exklusiven Naturalismus und Materialismus fortgeht, 
eben darum aber auch das idealistische Element in sinnlich klarer, 
aber auch transcendaler oder (um mit Fortlage zu reden) mytho- 
logischer Form neben sich bestehen lassen muss, indem er es 
entweder mit stets nur schwankendem Kriegsglück bekämpft, stark 
im Angriff, schwach in der Verteidigung, oder es in irgend welcher 
Form, etwa (mit Schieiden) als ästhetisch berechtigten Aber- 
glauben neben der Wissenschaft gelten lässt, da doch vielmehr 
alle poetische Wahrheit auf dem Grunde idealistischer W'irklichkeit 
ruhen muss, und die transcendenten Elemente auch nicht einmal 
ästhetisch berechtigt sein würden, sondern (mit Feuerbach) schlecht- 
hin verworfen werden müssten, wenn nicht ein spekulativer Idealis- 
mus auch wissenschaftliche Wahrheit hätte. Zwar darf der Mythus 
nicht gleich einem Faktum der Geschichte eingereiht werden; er 
hat nur poetischen Wert; aber er würde auch diesen nicht haben, 
sondern als eitles Traumbild oder leere Grosssprecherei aller und 
jeder Berechtigung ermangeln, wenn nicht eine Idee oder ein Kreis 
von Ideen sich in ihm ausprägte, dem auch die Wissenschaft volle 
Wahrheit, volle Übereinstimmung mit einem entsprechenden Ele- 
mente der zeitlichen oder ewigen Wirklichkeit zuerkennen müsste. 
Die Aufgabe beweisen, diese Ideen in Form philosophischer Er- 
kenntnis zu entwickeln, heisst, sich an dem Unwahren genügen 
lassen mit dem Bewusstsein, dass es unwahr sei, und den Weg zur 
Wahrheit verschmähen. Das Ziel der philosophischen Forschung 
liegt in dem Idealrealismus, der das Ideale im Realen, das 
ä/ xatä xä nokkcc erkennt, in der realen Leiblichkeit die ideale 
Beseelung." 

„Der metaphysische Idealrealismus hypostasiert nicht (mit einer 
platonisierendcn Fraktion des mittelalterlichen Realismus) das Ge- 
nerelle und Wesentliche, und spricht demselben ebenso wenig (mit 
dem Norainalismus) bloss subjektive Bedeutung zu, sondern erkennt 
(mit Aristoteles) das Eine in dem Vielen, die Immanenz des Wesens 
in den Erscheinungen. Der Idealrealismus weist nicht ^mit Hegel) 
die physikalische Betrachtung ab und nicht Unit dem Materialismus) 
die 'releologic; er sucht auch nicht dualistisch die Zweckursache 



Uebem eg-Heinze. 267 

da, wo die Erkenntnis der wirkenden Ursache ausgeht, und beruft 
sich nicht auf die mechanische Kausalität, wo der Zweck zu fehlen 
scheint, sondern findet in dem Mechanismus den Komplex der- 
jenigen Gesetze, welche durch den idealen Zweck selbst als die 
Wege seiner Verwirklichung bestimmt sind. — Der ethische Ideal- 
realismus weist nicht (mit Kant und Heibart) den Zweck als Be- 
stimmungsgrund des sittlichen Handelns ab, und sieht ebenso wenig 
(mit dem Utihtarismus und Hedonismus) in den erstrebten Zwecken 
selbst, und etwa näher in dem vollsten Masse der Lust die sittliche 
Norm, sondern in dem Verhältnisse ihres Wertes^ wohl soll die 
höchste Energie und die daran geknüpfte höchste Lust erstrebt 
werden^ aber die höchste in qualitativem Sinne: auf die an sich 
wertvollste, geistigste Thätigkeit und Lust soll zu oberst unser 
Trachten gerichtet sein. — Der Idealrealismus setzt nicht den 
Willen Gottes an die Stelle eines anthropologischen Moralprinzips 
und schliesst nicht um der anthropologischen Begründung willen 
die Form der Ethik aus, sondern erkennt in dem menschlich Wert- 
vollsten das Gottgewollte. 

Jede der philosophischen Hauptrichtungen hat ihr Charisma 
und jede ihre Gefahr. Wohl wahrt der reine Idealismus die 
höheren, edleren Aufgaben des Geistes; aber nicht leicht hält er 
sich frei von trübender Versetzung mit unwissenschaftlichen, mytho- 
logischen Elementen. Der Vorzug des Realismus ist die Rein- 
haltung des wissenschaftlichen Interesses; seine Gefahr aber ist, 
indem er die inadäquate Hülle verneint, zugleich den darunter ver- 
borgenen Wahrheitskern zu verlieren. Die Vollendung des 
Idealrealismus ist diejenige Vermittelung der Extreme, wobei 
beide Seiten voll und ganz zu ihrem Rechte kommen, seine 
Karrikatur aber die Mitte zwischen den Extremen, ein mattes Juste- 
milieu. das keiner von beiden Seiten gerecht wird." 

In politischer Hinsicht gehörte Ueber^eg — was nach seiner 
ganzen ethischen Weltanschauung selbstverständlich war — stets 
der liberalen Partei an. Den Umschwung, wie er in Preussen 
nach dem Regierungsantritt des Prinz-Regenten und der Berufung 
eines liberalen Ministeriums Auerswald-Schwerin eingetreten war, 
begrüsste er mit Freuden. Ebenso stand er später beim Ausbruch 



268 Ueberweg-Heinzc. 

des grossen Militär- und Verfassungskonfliktes unentwegt auf Seite 
der Volksvertretung. Politisch trat er einmal in die Öffentlichkeit 
Es handelte sich um die Wiederwahl des konservativen Abgeordneten 
Professor Braun für den Bonn-Rheinbacher Wahlkreis. Für Brauns 
Wiederwahl war das ultramontane Mitglied des Hermhauses, Pro- 
fessor Bauernband, neben Stahl, Pemice und Gossler einer von den 
Kronsyndici aus der Regienmgszeit Manteuffels, mit einem „offenen 
Sendschreiben" eingetreten. Ton und Haltung dieser Bauerband'- 
schen Schrift, welche ein Angriff auf das liberale Wahlflugblatt war, 
erforderten eine Entgegnung. Und zu dieser Arbeit entschloss sich 
der junge Bonner Privatdozent, Dr. Friedrich Ueberweg. Ich würde 
diese „Antwort" (Bonn i88i) hier nicht besonders erwähnen, wenn 
sie nicht Manches enthielte, was gerade für die politischen Anschau- 
ungen Ueberwegs in Bezug auf konstitutionelle Fragen bezeich- 
nend wäre. 

So z. B. betreffend das Verhältnis der Abgeordneten zu den 
Wählern. „Der Sinn der Volksvertretung ist nicht, dass das Ab- 
geordnetenhaus das Volk bevormunde und dass es nur eine neue 
Form eines Geheimen Staatsrats sei, sondern vielmehr, dass eine 
lebendige, durch das ganze Volk verbreitete Teilnahme an den 
öffentlichen Angelegenheiten in ihr einen Mittelpunkt finde. 

Es handelt sich zum Behufe des Urteils der M^ählerschaft über die 
Haltung ihres Vertreters um die Festigkeit in den politischen An- 
schauungen, um die wesentliche Übereinstimmung der gesamten 
Bildungsrichtung desselben mit dem Sinn und Geist der bestehen- 
den Verfassung, und für uns um die lebendige Erkenntnis, dass das 
Prinzip der politischen, socialen und religiösen Freiheit 
die wesentliche Bedingung der Grösse und Macht des 
preussischen Staates ist." 

Dann geht Ueberweg, um diese Nichtübereinstimmung des Ab- 
geordneten Braun mit der Gesinnung der liberalen Wählerschaft 
zu konstatieren, auf die einzelnen Fragen während der abgelaufenen 
Legislaturperiode ein. (Kurhessische Verfassungsfrage, Steuergesetz- 
gebung, das Gesetz von der Eheschliessung, die itaüenische Frage 
u s. w.) „Wir sind entschlossen, ruft er aus, unseie Wahlstimmen 



Uebcn^'eg-Heinze. 269 

Männern zu geben, die persönlich ehrenwert sind, zugleich aber 
auch ihrer politischen Gesinnung nach der liberalen Anschauung 
huldigen, und in voller Treue gegen Preussen und Deutschland 
dem gemässigten Fortschritt zugethan sind, der allen Staaten zum 
Heile gereicht, für den unsrigen aber nach seinen innern Verhält- 
nissen und um seiner Stellung zu Deutschland und Europa 
willen die erste und wesentliche Bedingung seines kräftigen 
Bestehens und seiner wachsenden Macht und Grösse ausmacht." 

Dieser politischen Gesinnung ist Ueberweg auch immer treu 
geblieben. Die grossen weltgeschichtlichen Ereignisse von 1864, 
1866 und 1870, welche Deutschlands politische Einheit begründet 
haben, weckten in ihm einen Patriotismus, welchem der sonst so 
kühle Denker in seinen Briefen an Freunde oft einen enthusiastischen 
Ausdruck verleiht. Aber noch öfter betont er, dass aller Macht 
und Grösse nur der freiheitliche Ausbau des preussisch-deutschen 
Staates für die Zukunft Blüte und Frucht verleihen könne. 

Ueberwegs schriftstellerische Produktivität war keine über- 
mässig grosse. Aber alles, was er geschrieben, trägt den Stempel 
seiner reinen und lautern, nur auf die Erforschung der Wahrheit 
gerichteten wissenschaftlichen Persönlichkeit Sein Stil ist begriff- 
lich präzis, scharf und (infolge des Strebens nach Kürze) gedrungen. 
Jedoch kann er sich auch, obwohl in seltenen Fällen und wo es 
die Sache erfordert, zu schwungvollem und ergreifendem Pathos wie 
zu hoher poetischer Bildlichkeit erheben. Im Ganzen aber trägt 
Ueberwegs Diktion das Gepräge seines ebenso ernsten, klar uud 
ruhig abwägenden als scharf eindringenden philosophischen Geistes. 



Lud^w^ig Strümpell 

und die psychologische Pädagogik. 

Ludwig Strümpell, ausserordentlicher Honorarprofessor der 
Philosophie an der Leipziger Universität, ist einer der hervorragendsten 
und ältesten Vertreter der Herbart'schen Schule. Er hat im Juni 1 893 
das 81. Lebensjahr vollendet (geb. am 23. Juni 1812 zu Schöppen- 
stedt in Braunschweig) und sieht schon auf eine mehr als 60jährige 
akademische Wirksamkeit zurück. Ein direkter Schüler Herbarts 
aus der Königsberger Zeit dieses Philosophen, verlebte der junge 
Braunschweiger mehrere Jahre als Erzieher auf Kurländischen Gütern. 
Er habilitierte sich dann im Jahre 1 843 und wurde schon ein Jahr später 
ausserordentlicher und 1849 ordentlicher Professor der Philosophie 
in Dorpat. Im Jahre 1871 siedelte er dann nach I^eipzig über, wo 
er seitdem bis heute als Honorarprofessor der Universität über 
mehrere philosophische Disciplinen viel besuchte Vorlesungen hielt 
Strümpell hat auch ausser seiner Lehrthätigkeit eine auf fast alle 
philosophischen Gebiete sich erstreckende schriftstellerische Thätig- 
keit entwickelt, so als Metaphysiker („Die Hauptpunkte der 
Herbart'schen Metaphysik," 1840; „Der Kausalitätsbegriff und sein 
metaphysischer Gebrauch in den Naturwissenschaften" 1872) als 
Logiker („Entwurf der Logik" 1846; „(irundriss der Logik") als 
Ethiker und Religionsphilosoph („Vorschule der Ethik"; „Ge- 
danken über Religion und religiöse Probleme" 1888), als Histo- 
riker der Philosophie („Geschichte der griechischen Philosophie" 
2 Bde. 1854 — 61 und „Einleitung in die Philosophie vom Standpunkte 
der Geschichte der Philosophie" 1 886) und in den letzteren Jahren 
hauptsächlich als Psychologe und Pädagoge: in der antidar- 



Ludwig Strümpell. 271 

winistischen Schrift: „Die Geisteskräfte des Menschen verglichen 
mit denen der Tiere" 1878^ „Psychologische Pädagogik" 1884 und 
„Pädagogische Pathologie" 1890. 

Strümpell als philosophischer Schriftsteller ist von einer 
geschlossenen, strengen Systematik, klar, präcis und gedrungen in 
seiner Ausdrucksweise; niemals macht er Konzessionen dem populären 
Verständnis etwa durch ungebührliche Breite oder bilderreiche Sprache, 
vermeidet auch jede überflüssige, nur die Dunkelheit fördernde 
Terminologie. Wie in seinem Leben und in seiner persönlichen 
Erscheinung ein ernster, nur der Wahrheit und ihrer Erforschung 
zugewandter Gelehrter, so machen auch seine Werke den Eindruck einer 
zwar etwas nüchternen, aber durchaus objektiven Sachlichkeit — . Die 
Pädagogik speciell, in welcher er weit systematischer ist als z. B. 
Waitz, Ziller und andere jüngere Vertreter derselben innerhalb der 
Herbart'schen Schule (Lindner, Stoy, Willmann) gründet er wie 
seine ganze Schule auf psychologischer Basis. 

Hier kommen nun hauptsächlich zwei der oben genannten Werke 
in Betracht: Die psychologische Pädagogik und die pädago- 
gische Pathologie, zwei Werke von hervorragender Bedeutung, 
welche auch in den hierbei interessierten Kreisen, insbesondere in 
der deutschen Lehrerwelt, die gebührende Anerkennung gefunden 
haben. Insbesondere hat das letztgenannte Buch durch seine Be- 
ziehungen zur Physiologie und Psychiatrie auch die Aufmerksamkeit 
der Mediziner und Irrenärzte erregt. Was nun das erstgenannte 
Werk betrifft, die „Psychologische Pädagogik" so handelt es sich 
in demselben nicht sowohl um eine Neubegründung der Pädagogik 
auf psychologischer Grundlage (dieses ist vor Strümpell schon von 
Herbart selbst, von Waitz, Benecke u. A. geschehen), als vielmehr darum, 
beide Wissenschaften in einen so engen Konnex zu bringen, dass 
sie sich gegenseitig Licht gewähren, insbesondere gilt dieses bei 
demjenigen Teile der Pädagogik, die von der Verstandesbildung 
handelt. Aber Strümpell hofft, dass diese engere Beziehung beider 
Disciplinen auch für die Lehren über religiöse, ästhetische 
und sittliche Bildung fruchtbringend sein werde. Die „Psycho- 
logische Pädagogik" besteht aus sechsundzwanzig Kapiteln, von denen 
die Hälfte (l — 13) eine in ihren Hauptprincipien und Gnmdlehren 



^.äm 



272 Ludwig Strümpell. 

durchgeführte Psychologie auf Herbart'scher Basis enthält; Kap. 14 
imd 1 5 („Die Bildsamkeit des Kindes") bilden dann den Übergang 
zum zweiten Teil, welcher aus 10 Kapiteln (16 — 26) besteht und 
die innern Beziehungen von Psychologie und Pädagogik nach- 
zuweisen bemüht ist. 

Versuchen wir bei dem reichen Inhalte des Werkes einige 
Augenblicke zu verweilen, so verweisen wir zunächst auf Kap. 7 
(„Das successive und gleichzeitige Vorstellen. Der mechanische und 
und normierte Vorstellungsverlauf') imd Kap. 8 („Die psychischen 
Kausalitäten"). Der Inhalt dieser beiden Kapitel hat insofern eine 
prinzipielle Bedeutung, als Strümpell, ein eifriger Gegner des 
Materialismus, d. h. der physikalischen Erklärung des Geisteslebens, 
alles dasjenige, was der Materialismus behufs Stützung seiner Hypothese, 
d. h. der Ableitung seelischer Thätigkeiten aus physikalischen Vor- 
gängen, an Thatsachen beibringt, durchaus ihrem Werte nach 
bestehen lässt. Erst hierdurch wird die Widerspruchslosigkeit zwischen 
dem psychischen Mechanismus einerseits und den nicht mecha- 
nisch wirkend psychischen Kausalitäten andererseits ein- 
leuchtend. — Nicht minder principiell wichtig ist die weitere Frage 
nach der von manchen Materialisten geleugneten Erkennbarkeit 
der Natur der Seele (Kap. 9). Strümpell beantwortet die Frage 
in folgender Weise: 

„Die Erkennbarkeit der Natur der Seele kann teils nach Be- 
grififen gemessen werden, denen in der Erfahrung nichts entspricht, 
teils nach Begriffen, in denen wenigstens ein der Beobachtung zu- 
gänglicher Bestandteil enthalten ist, welcher zugleich aber auch mit 
einem der Beobachtung nicht Zugänglichen unzweifelhaft zusanunen- 
hängt. In ersterer Hinsicht sagt man, die Seele sei ein Wesen 
von absoluter, nicht bloss relativer Existenz, sie sei einfach, quan- 
titätslos, durch keine räumlichen und zeitlichen Prädikate bestimm- 
bar — . Diese Begrifife sind augenscheinlich nur Negationen 
dessen, wonach die Seele nicht soll gedacht werden. Sie haben 
nur den Wert, um für den Begriff der Seele eine Grenze zu ziehen, 
durch welche von demselben dasjenige soll abgehalten werden, was 
ziu: Bestimmung ihrer Natur nicht passt. Wie wichtig insofern diese 
Begriffe auch sind, so dürfen sie dennoch aber dazu nicht missbraucht 



Ludwig Strümpell. 273 

werden, das Wesen der Seele so sehr von der thatsächlichen Wirk- 
lichkeit zu isolieren, dass nichts als das blosse Abstraktum eines in 
sich indifferenten Einerlei zu denken übrig bleiben würde. So 
gewiss vielmehr nur um des mannigfaltigen, inneren Geschehens willen 
die Seele als dessen realer Grund gedacht wird, so gewiss muss 
umgekehrt auch ihr Wesen für jenes mannigfaltige Geschehen zu- 
gänglich sein — . Ist dies richtig, so muss man das Verhältnis 
zwischen Geschehen und Sein, zwischen dem, was geschieht und 
dem, was ist, so denken, dass das Geschehen überhaupt in keinem 
absoluten Gegensatze zum Sein steht. Das Geschehen drückt 
vielmehr denjenigen Unterschied aus, ob wir ein Reales, ein Wesen, 
in abstracto als frei von allen kausalen Bezügen zu andern Wesen 
und insofern ohne zeitliche und räumliche Beziehungen, oder aber 
ob wir es, wie es der Wirklichkeit der Erfahrung allein entspricht, 
nach seinen kausalen Bezügen, d. h. in einem innem Wirken und 
Leiden denken, wodurch es sein Wesen auch in räumlichen und 
zeitlichen Verhältnissen zu andern Wesen geltend macht. Mit andern 
Worten: man muss auf das Wesen der Seele durchaus die Vorstellung 
der Entwickelung in dem Sinne anwenden, dass ein ihr zugehöriger 
Inhalt in der ihm adäquaten Form successive sich geltend, d. h. 
wirksam machen und unter gesetzlichen Bedingungen in die Zeit, 
lichkeit übergehen kann. Diese dem Seeleninhalte in seiner zeitlichen 
Entwickelung adäquate Daseinsweise ist das Bewusstsein oder das 
Übergehen in bewusste Zustände. Hiernach besteht die Iden- 
tität der Seele darin, dass sie in ihrer ganzen zeitlichen Entwicke- 
hmg immer ihre eigne Natur bewahrt und ein Wirken und Leiden 
nur dieser folgt. Ihre Einfachheit und reale Einheit aber be- 
stehen darin, dass in jedem einzelnen Gliede dieser Entwickelung 
sich auch ihre ganze unteilbare Natur geltend macht/' 

Mit diesen Sätzen will Strümpell zugleich die empirische 
Erkenntnis der Seele ausgesprochen haben, da das Wesen der Seele 
sich in Allen und Jeden zu erkennen giebt, dessen sie sich bewusst 
wird. So z. B. in den verschiedenen Inhalten der Empfindung und 
Wahrnehmung, der Erinnerung, des Denkens, des Fühlens, WoUens 
und Handelns, in denen ihr geistiges Wesen zeitlich aus dem Un- 
bewusstsein hervortritt. Indes warnt Strümpell davor, anzunehmen, 

18 



274 Ludwig Strümpell. 

dass etwa das, wozu die Seele in den Inhalten und Formen des 
Bewusstseins gelangt, etwa schon vorher als Unbewusstes in ihr 
fertig gewesen sei. Vielmehr entstehe es aus dem unbewussten 
Inhalte der Seele unter Bedingungen, die bis dahin nicht wären — . 
Diese Bedingungen, sagt unser Psychologe (S. 98), sind andere als 
im Gebiete physischer Bildung, wo keine Bildung von innen heraus 
ohne Zufuhr von aussen eintreten kann, nicht ohne Material, welches 
zur Formentwickelung den Stoff giebt. Nur die Rntwickelung 
der Formen empfängt hier vom Innern das Gesetz zur Verwen- 
dung des Materials. Im Geistigen aber liegt nicht bloss das Gesetz 
der Formbildung im Innern, sondern dieses Innere ist auch selbst 
das Material zur Bildung, welches, stets nur aus dem unbewussten 
Wesen der Seele zum Bewusstsein aufsteigt - . Hieraus schliesst 
Strümpell weiter, dass die Natur der Seele empirisch erkennbarer 
sei, als die Natur irgend eines Dinges in der Aussenwelt. Strümpell 
begründet dies in folgender metaphysischen Art: 

„Kein Ding in der Aussenwelt erkennen wir als das, was es 
an und für sich ist, sondern nur insofern kennen wir es, als wir 
die Veränderungen bemerken, die wir als von ihm dadurch verur- 
sacht ansehen, dass es in bestimmter Weise auf andere Dinge und 
.durch diese auch auf uns selbst einwirkt. An den imter gleichen 
Bedingungen eintretenden gleichen Wirkungen eines Dinges unter- 
scheiden wir es von einem andern Dinge, welches anders wirkt, 
und haben hierin ein ganz ausreichendes Mittel, jedes Ding auch 
im Zusammenhange mit andern und mit uns wieder zu erkennen 
und es mit keinem andern zu verwechseln. Kommt hiernach keine 
Spur von der eignen Qualität eines Dinges durch sein Wirken mit 
in die Kenntnis hinein, die wir von ihm haben, so verhält es sich in 
Betreff der Erkenntnis unserer Seele ganz anders, insofern als 
hier in der That das, was die Seele an und für sich ist, in dem 
bewusst gewordenen Inhalte auch qualitativ mit eingegangen sein 
muss. Dies ist um so gewisser, als die bewussten Empfindimgen 
die einzigen Qualitäten sind, die wir überhaupt kennen und die 
ihnen zugehörige Beschaffenheit nirgends anderswoher abstammen 
kann, als eben nur vom Wesen der Seele/' 

Wie schon oben bemerkt wurde, hat sich der Verfasser den 



Ludwig Strümp«!!. 275 

Übergang zum zweiten Teil seines Werkes durch einige Zwischen- 
kapitel („Die Vergeistigung der Aussenwelt", „Die Bildsamkeit in 
der Natur", „Die Bildsamkeit des Kindes") geebnet. Von diesen 
ist das 12. Kapitel, welches von der Vergeistigung der Aussen- 
welt handelt, in hohem Grade interessant und geistvoll. Gewiss, 
wir verwandeln von unsem ersten Empfindungs- und Vorstellungsakten 
nach der Geburt bis zum Tode fortwährend die Aussenwelt in 
eine uns zugehörige Innenwelt und — lernen so jene verstehen. 
Dieses beruht auf der Wirkung zweier Verhältnisse: Erstens näm- 
lich wirft der Mensch schon alle diejenigen Gefühle, Stimmungen, 
(xemütsbewegungen. Begehrungen und Verabscheuungen, in welche 
er im Verkehr mit den Dingen und Ereignissen durch Einwirkungen 
derselben auf sein Inneres versetzt wird, und für welche er deshalb 
später bei reiferem Verstände in jenen Dingen und Ereignissen die 
Ursachen erblickt, in diese Dinge und Ereignisse selbst als ihnen 
zugehörig hinein. Mit andern Worten: Schon das Kind proji- 
ziert und lokalisiert seine eigenen Selbsterlebnisse, wie Gefühle, 
Wünsche, Hoffnungen, Erwartungen, Begehrungen, Befürchtungen in 
vermeintlichen Ursachen derselben, d. h. in diejenigen Dinge und 
Ereignisse, von denen es seine Erlebnisse als herkommend 
vorstellt (S. 124). 

Das zweite Verhältnis, auf welchem jene Vergeistigung der 
Aussenwelt beruht, ist dieses: Ein grosser Teil der menschlichen 
Empfindungen entsteht durch Vermittelung der körperlichen Organe. 
Daher projiziert und lokalisiert der Mensch viele Empfindungen in 
sein Körperbild, d. h. er schreibt dieselben seinem Körper als 
dessen eigne Empfindungen zu. Wenn er nun bei den Bewegungen 
seines Körpers und bei vielen Vorgängen in demselben in angenehme 
oder unangenehme Gefühle und in die ihnen entsprechenden Be- 
gehrungen gerät, so wird er — schon in der Kindheit — von 
einer psychischen Notwendigkeit getrieben, an alle andern dinglichen 
Wahrnehmungsbilder, insbesondere an solche, die seinem Körper- 
bilde ähnlich sind, dieselben Gefühle, Empfindungen, Stimmungen, 
Begehrungen und Verabscheuungen anzuknüpfen — , sobald er 
voraussetzen kann, dass jenen Dingen dasselbe widerfahre, aus 
dessen Erlebnis seine eignen Empfindungen und Begehrungen ent- 

18* 



276 Ludwig StrflmpelL 

Sprüngen sind. Es ist richtig, was Strümpell bemerkt, dass unsere 
ganze Sprache von solchen Personifikationen, welche aus unserer 
fortdauernden Vergeistigung der Aussenwelt entspringen, angefüllt 
ist und die grössere oder geringere Dichterkraft besteht auch in 
dieser grössern oder geringem Befähigung, die Aussenwelt zu beleben. 
So sprechen die Poeten von der Majestät des Himmels, von der 
Lieblichkeit der Landschaft, von der Heiterkeit des Abends, 
von der todbringenden Kugel, von dem durstigen Erdboden, 
von dem lächelnden Morgen u. s. w. 

Aus dem zweiten Teile der psychologischen Pädagogik hebe 
ich nun vor allem den wichtigen Abschnitt über die psychischen 
Kausalitäten (Kap. i6) hervor. Dieses bildet gewissennassen die not- 
wendige Ergänzung zum 6. Kap. des ersten Teils, wo die Bewegung, 
die Verbindung, Trennung und Nachgiebigkeit der Vorstellungen 
als die formalen Bedingungen psychischer Kausalität bezeichnet 
wurden. Während sich diese Thatsachen mehr auf das Einzelne 
beziehen, gehen die hier untersuchten „Gesetze" oder „Grundsätze" 
der seelischen Verursachung auf das Allgemeine. Strümpell unter- 
scheidet nun vier solcher „Gesetze": L Das Gesetz der Be- 
harrung der Vorstellungen und der damit zusammenhän- 
genden Vorstellungen. Aus diesem Gesetze der Beharrung 
ergeben sich nach Strümpell die Folgerungen: a) Es bedarf keiner 
besonderen Kraft, wie eines Gedächtnisses, um Bewusstseinsinhalte, 
wie Empfindungen, Vorstellungen, Begriffe, Gefühle festzuhalten und 
aufzubewahren, b) Ist das dauernde Bewusstsein jedes einzelnen 
Inhalts das naturgemässe Verhalten der Seele, so ist mithin das 
Unbewusstwerden ihrer Zustände, also die Thatsache, dass nicht 
alles, was wir geistig sind und besitzen, in jedem Zeitmoment auf 
einmal uns bewusst ist, und dass nicht eine allgemeine fortdauernde 
Geistesgegenwart stattfindet, etwas durch die Wirkung anderer 
Ursachen Erzwungenes, c) Jeder bewusste Seelenzustand lässt 
sich, insofern er die Wirkung des Seelenzustandes teilt, und des- 
halb fortbesteht, jedem andern Zustand gegenüber wie etwas relativ 
Selbständiges ansehen, d. h. jeder Seelenzustand leistet jedem andern, 
von ihm verschiedenen, welcher die Beharrung seines bewussten 
Daseins hindern könnte, Widerstand. In solchem Falle wird ein 



Ludwig Strümpell. 277 

Seelenzustand, der als solcher fortzubestehen und zu beharren fähig 
ist, jedem andern gegenüber, der gleichfalls zu beharren hat, zu 
einer Kraft, durch welche ein Verhältnis unter den Seelenzu- 
ständen entsteht, das dem gleichzeitigen Beharren mehrerer 
bewusster Seelenzustände entgegen ist. d) Die Grösse dieser 
Widerstandskraft ist, abgesehen von noch andern dabei möglicher 
Weise in Betracht kommenden Einflüssen, zunächst der Bewusst- 
seinsstärke oder der Intensität des wirklichen Erlebnisses 
proportional zu setzen. Strümpell macht hier auf die pädago- 
gischen Konsequenzen aufmerksam, die sich aus diesem Gesetze 
ergeben und zwar mit Bezug auf das Bestreben des Lehrers, die 
Selbstthätigkeit des Schülers zu wecken, ihm etwas anschau- 
lich zu machen, seine Gedanken zu verdeutlichen und aufzu- 
klären, ihn zum Zusammenfassen des Gedachten anzuhalten 
und überhaupt ihn zur Aufmerksamkeit, zur Besinnung, zum 
Insichgehen anzuregen. Dies alles geschieht in der richtigen 
psychologischen Voraussetzung, dass dadurch die Bewusstseins- 
stärke eines geistigen Zustandes und mit dieser die Widerstands- 
fähigkeit desselben gegen jeden fremden Angriff, also auch gegen 
das Vergessen, vergrössert werden, e) Femer folgt aus dem Gesetze 
der Behammg, dass, wenn aus irgend welchen Ursachen, ein be- 
wusster Seelenzustand hat nachgeben müssen und unbewusst ge- 
worden ist, er deshalb nicht bloss nicht vernichtet ist, sondern 
dass die Seele auch die Befähigung beibehält, in denselben Zustand 
zurückzukehren und in ihn zurückkehren muss und wird, 
sobald jene Ursachen zu wirken aufhören. Eine sehr wichtige Kon- 
sequenz knüpft Strümpell an diese Thatsache: nämlich den Hinweis 
auf den Unterschied zwischen dem physischen und psy- 
chischen Beharnmgsvermögen Im Physikalischen hat das Be- 
harrungsvermögen den Sinn, dass ein Zustand in seinem augenblick- 
lichen Verhalten fortdauert, wenn er durch nichts gestört wird; im 
Psychischen dagegen wiederholt sich nicht nur dieses Gesetz, 
sondern jener Zustand participiert auch noch an der zeitlosen 
Wirklichkeit der Seele. — Aus diesem allem folgt weiter f) dass 
die Annahme einer eignen von den Seelenzustanden ab- 
gelösten und neben ihnen wirkenden Kraft, wie etwa 



278 Ludwig Strümpell. 

Gedächtnis oder Erinnerungskraft, welche das unbewusste 
Verhalten der Seele wieder zu einem bewussten machen 
soll, ganz unnötig und überflüssig ist. Strümpell, wie die 
ganze psychologische Schule Herbarts, verwerfen das „Gedächtnis", 
g) In Bezug auf Vorstellungen möchte daher Strümpell den Aus- 
druck „Gedächtnis" durch die Worte „Das Vermögen der Re- 
produktion" ersetzen, d. h. die Vorstellung, welche aus irgend 
welchem Zwange bewusst zu sein aufgehört hat, verhält sich wie 
eine Kraft, frei von sich aus wieder bewusst zu werden, sobald nur 
jener Zwang gewichen ist. Hiernach glaubt Strümpell, dass der 
vermeintliche Widerspruch, der im Ausdruck „unbewussten Vorstellung" 
liegt, verschwinde, h) Die letzte Folgerung, die dann unser Psycho- 
loge aus dem Beharrungsvermögen ziehen zu müssen glaubt, ist die, 
dass die unbewussten Zustände der Seele nicht aufhören 
das bewusste Verhalten derselben mitzubestimmen, und 
dass eine fortdauernde Rückwirkung der erstem auf die letztere 
stattfindet. Ja Strümpell glaubt sogar annehmen zu dürfen, dass 
unter den unbewussten Zuständen der Seele diejenigen 
Kausalverhältnisse fortdauern können, die unter den be- 
wussten stattfinden. Unleugbar liegt etwas Wahres darin, dass 
die Seele in ihrem Verhalten sehr stark determiniert wird von 
dem, was sie früher bewusst erlebt hat, welches dann aber unbewusst 

geworden ist. In der Seele geht nichts verloren 

Das zweite grosse Gesetz der psychisch-mechanischen Kau- 
salität ist das Gesetz der Kontinuität: es besteht wesentlich 
darin, dass die reale Einheit und Einfachheit der Seele als 
solche der hinreichende Grund oder die Ursache aller 
Zusammenhänge und Verbindungen ihrer Zustände, kurz 
aller Einheitlichkeiten des Bewusstseins ist und die 
letztern mit Notwendigkeit aus der Natur der Seele folgen. 
Das Verhältnis der beiden Gesetze der Kontinuität und des Be- 
harrens zu einander ergiebt im Weitern folgende psychologische 
Folgerungen: a) Aus dem Gesetze der Kontinuität folgt in erster 
Linie, dass es keines besonderen Vermögens, noch einer 
besonderen Kraft der Synthesis bedarf, um Zusammenhang 
und Verbindung unter den Empfindungen, Vorstellungen und über- 



Ludwijr Strümpell. 279 

haupt unter den geistigen Zuständen hervorzubringen, weil die zeit- 
liche Erscheinung der Einheitlichkeiten des Bewusstseins eine natur- 
notwendige Folge der realen Einheit der Seele ist. Ausser dieser 
wichtigsten unterscheidet Strümpell noch 7 weitere Folgerungen, 
wie die Einheitlichkeit der Bewusstseinsinhalte trotz aller Kon- 
traste und Gegensätze der Vorstellungen, Empfindungen und 
Strebungen: Insbesondere weist er auf das Gesetz der Verschmel- 
zungen hin, soweit es sich aus dem Kontinuitätsgesetze ergiebt. 
Auch geht er hierbei sehr speciell auf die Prozesse ein, wo durch 
Verschmelzung gleichartiger Vorstellung ihre Widerstandsfähigkeit 
gegen andere bald gestärkt, bald geschwächt wird und auf die 
analogen Wirkungen bei Verschmelzung ungleichartiger und ver- 
schiedener Vorstellungen. 

Das dritte Gesetz der psychisch-mechanischen Kausalität ist 
das Gesetz der Ausschliessung, welches Strümpell so begründet: 
„Da zu jedem Inhalte auch nur ein einziger und eigen- 
tümlicher Vorgang in der Seele gehört, so kann ein Vor- 
stellungsakt nicht zugleich für einen anderen Inhalt funk- 
tionieren, sondern schliesst durch seinen Inhalt jeden 
andern von sich aus. Auch dieses Gesetz hat eine für den 
psychischen Mechanismus wichtige Reihe von Folgerungen, z. B. die, 
dass dieses Gesetz die erste Ursache des Unbewusst- 
werdens oder des Zurückweichens eines Bewusstsein- 
inhalts ist. Ferner bringt eine Zusammenwirkung des Beharrungs- 
und des Ausschliessungsgesetzes mancherlei psychische Erscheinungen 
hervor. So z. B. erlangt hierdurch jeder Bestandteil einer Kom 
plexion die Fähigkeit, durch sein bewusstes Dasein auch die 
übrigen mit ihm zusammengehörigen Bestandteile derselben Kom- 
plexion, die unbewusst sind, gleichfalls zum Wiederbewusst- 
werden anzuregen. Dasselbe gilt, wenn eine Komplexion mit 
anderen Komplexionen zusammenhängt. Sehr scharfsinnig hat 
Strümpell die Einzelheiten dieser psychischen Vorgänge entwickelt. 

Das vierte mechanische Gesetz der Seele ist das (iesetz 
der Reihenbildung, welches nichts anderes ist, als die psy- 
chische Notwendigkeit, dass aus gleichartigen Vorstel- 
lungen Vorstellungsreihen entstehen müssen. Auch hiervon 



280 Ludwig StrttmpelL 

leitet Strümpell eine Anzahl für den psychischen Mechanismus wich- 
tiger Konsequenzen ab. An Bedeutung steht es den drei anderen 
seelischen Grundgesetzen nicht nach, da es das Gesetz der Aus- 
schliessung ebenso ergänzt, wie dieses letztere das Gesetz der Kon- 
tinuität, obwohl die beiden letzteren allerdings den Hauptbestand- 
teil der psychischen Mechanik bilden. Aber nimmermehr würden 
wir von einer Ordnung oder einer Regel in der Welt etwas 
wissen, wenn wir nicht das psychische Gesetz der Reihenbildung 
in uns trügen. 

Wie von selbst drängt sich hier die Frage auf, wie gegenüber 
diesen durchweg unser ganzes Seelenleben beherrschenden psy- 
chischen Mechanismen noch von einer Selbstbestimmung, Freiheit 
der Seele u s. w. gesprochen werden kann. Und doch war Herbart 
und seine ganze Schule Anhänger und Verteidiger der Willens- 
freiheit. Um diesen offenbaren Widerspruch auszugleichen, nimmt 
Strümpell eine doppelte psychische Kausalität an: eine mecha- 
nische imd eine nichtmechanische. In welchem Verhältnisse 
diese beiden Kausalitäten innerhalb einer und derselben Seele be- 
stehen, hat unser Psychologe in Anknüpfung an die Erörterung 
über die vier Grundgesetze dargelegt Bei der prinzipiellen Wich- 
tigkeit dieser Frage setze ich die betreffende Stelle wörtlich hierher : 

„Es muss doch notwendig einen bestimmten Zusammenhang 
zwischen beiden Gruppen der Kausalität geben, von denen die eine 
die in der Seele herrschende Naturnotwendigkeit, die andere aber 
eine höhere, über der Naturnotwendigkeit stehende Art des Wir- 
kens und Leidens in dem Innern der Seele repräsentieren. Es ist 
früher schon der Gedanke hervorgehoben und begründet worden, 
dass sämtliche mechanische Vorgänge schliesslich nur dazu dienen, 
dem tiefern Inhalte der Seele die Anlässe zu seinem Hervortreten 
zu gewähren und dadurch Bewusstseinsinhalte und Formen ins 
Leben zu rufen, in denen die Seele ihre intelligible Natur ausge- 
prägt und in den Bahnen einer höheren, vollkommeneren Bildung 
fortschreiten kann. Mit dem Hervortreten die er neuen Bewusst- 
seinsinhalte und Formen beginnt, ausser der hier zunächst nicht in 
Betracht kommenden Kausalität der Stimmung, die Wirksamkeit der- 
jenigen Kausalitäten, die wir nach ihren Eigentümlichkeiten als 



Ludwig Strümpell. 281 

logische, ästhetische, moralische und als Kausalität der 
Selbstbestimmung unterscheiden. Zwischen diesen letztern Kau- 
salitäten und den mechanischen Kausalitäten muss es also ein ver- 
mittelndes Glied geben, in welchem einerseits der Mechanismus 
fortwirkt, andrerseits aber die Bedingung der neuen Kausalität ent- 
halten ist. — Die Rolle dieser Vermittelung ist nun in der Ge- 
schichte der zeitlichen Seelenentwickelung den drei Gesetzen der 
Kontinuität, der Ausschliessung und der Reihenbildung erteilt, und 
zwar jedem in einer eigentümlichen Weise und doch so, dass jedes 
von ihnen auch einen gewissen Anteil an der Miterwirkung sämt- 
licher nicht mechanischer Kausalitäten in Anspruch nimmt. — Pas 
Gesetz der Kontinuität hat vorzugsweise den Erfolg, dass die Be- 
wusstseinsinhalte, Empfindungen und Vorstellungen in solcher Weise 
verbinden und in derartige Abläufe geraten, dass die Seele, sobald 
dieselben ungestört und vollständig stattfinden, in ihnen und durch 
sie in ästhetische Gefühle versetzt wird. Durch dieses (besetz 
wird also das Auftreten der ästhetischen Kausalität ermöglicht. 
— Das Gesetz der Ausschliessung hat vorzugsweise den Erfolg, 
dass die Seele, so oft sich die Ausschliessung zwischen zwei oder 
mehreren Bewusstseinsinhalten geltend macht, dadurch ein logisches 
Gefühl erlebt. Durch dieses Gesetz wird also das Auftreten der 
logischen Kausalität ermöglicht. — Das Gesetz der Reihen- 
bildung hat vorzugsweise den Erfolg, dass es sowohl den Wir- 
kungen der Kontinuität als auch der Ausschliessung, mithin sowohl 
die ästhetischen wie auch die logischen Gefühle teils noch er- 
gänzt und erweitert, teils aber auch der Seele den Anlass giebt, sie 
zu bestimmten Vorstellungsinhalten umzuwandeln und aus der Ge- 
fühlswelt in die Begriffswelt überzuführen. Hierdurch wirkt das 
Gesetz der Reihenbildung fördernd auf die Wirkungen der ästhe- 
tischen imd logischen Kausalität ein, wodurch dasselbe auch 
nach dieser Seite hin seine hervorragende Bedeu tung, sowohl für die 
ästhetische wie für die intellektuelle Fortbildung der Seele zu er- 
kennen giebt Seine Bedeutung für die intellektuelle Bildung, also 
für das Zustandekommen und die Vermehrung des Wissens und der 
Erkenntnis der Wahrheiten, drückt sich thatsächlich in dem Um- 
stände aus, dass bei weitem der grösste Teil des Wissens und Er- 



282 Ludwig Strümpell. 

kennens, wie beide in den exakten Wissenschaften niedergelegt sind, 
durch eine logische Fortbildung gewisser Reihen, wie namentlich 
der Raum- und Zahlenreihen, gewonnen ist. Auch dokumen- 
tiert sich dieselbe Bedeutung des Gesetzes der Reihenbildung 
hervorragend dadurch, dass fast sämtliche erklärende Wissen- 
schaften, ehe sie diesen höheren logischen Charakter erreichten, an 
der Systematisierung ihres Materials, also unter der Wirkung des 
Gesetzes der Reihenbildung arbeiteten, und dass in diesen Arbeiten 
der Verstand gleichsam die erste und lange anhaltende logische 
Freude genossen hat und zum Teil noch geniesst. Andererseits 
aber beansprucht das Gesetz der Reihenbildung den besonderen 
Vorzug, dass es auch das Hervortreten der moralischen Kausa- 
lität in der Seele vermittelt und hierdurch insbesondere für die 
sittliche und rechtliche Bildung wichtig wird. Eine nähere 
Untersuchung zeigt, dass die primitiven moralischen Gefühle sämt- 
lich in der Wirkung von Reihen ihren Ursprung haben, welche 
unter Vorstellungen mit aufstrebender Tendenz, also unter Be- 
gehrungen und Willensregungen, entstehen. Dies wird klarer, wenn 
man bemerken will, dass auch alle Bezüge zwischen Bewusstseins- 
inhalten, welche man speciell Verhältnisse und Proportionen 
nennt, unter den Begriff der Reihe fallen. Die moralischen Gefühle 
wandeln sich durch ausgeprägtere Reihenbildung in sittliche Ur- 
teile um, und diese wiederum werden durch die logische Thätigkeit 
in reihenförmiger Ordnung systematisiert." 

Endlich weist Strümpell noch den Zusammenhang der kausalen 
Selbstbestimmung mit dem oben entwickelten psychischen 
Mechanismus in der Thatsache nach, dass dieser Mechanismus 
die Vorstellungen in einer Weise zusammenführt, aus welcher das 
Bewusstsein der Bejahung und Verneinung entsteht. Wie in 
der Herbart'schen Psychologie überall, so können auch hier diese 
Vorstellungen zu Kräften werden, die sich gegenseitig bekämpfen 
und verbrauchen. So macht sich bald das Bewusstsein der Be- 
jahung, bald das der Verneinung geltend. Das Material für diese 
Prozesse liefern die andern Kausalitäten. Erst in der Selbst- 
bestimmung jedoch findet das Verhältnis zwischen den mechanischen 
Kausalitäten und den frei wirkenden Kausalitäten seinen Abschluss. 



Ludwig Strümpell. 283 

Kaum sieht man es diesem etwas trockenen psychologischen 
Raisonnement an, welcher grosse Gedanke metaphysischer Natur da- 
mit erwiesen werden soll Ist der psychologische Mechanismus Her- 
barts und seiner Schule eine Stütze für den Materialismus oder eine 
Waffe gegen denselben? Strümpell meint das letztere. Wenigstens 
wollte er durch diese ganze Deduktion erweisen, dass logische, 
ästhetische und moralische Urteile inhaltlich erst durch die 
Mitwirkung von Kausalitäten, die dem Mechanismus nicht unter- 
worfen sind, zu Stande kommen. War dieser Beweis überzeugend? 
Ja und nein! Je nachdem. — Schon 15 Jahre vor dem Kr- 
scheinen der StrümpelVschen „Psychologischen Pädagogik" hat 
Friedrich August Lange, ein entschiedener Gegner der Herbart'- 
schen Psychologie, in der ersten Auflage seiner „(beschichte des 
Materialismus" (1866) gesagt, dass, wenn die mathematische Psy. 
chologie mit ihrem seelischen Mechanismus bestände, so wäre sie 
gerade der sicherste Beweis für die Gesetzmässigkeit alles 
psychischen (Geschehens, welche gerade der Materialismus mit 
Recht behauptet; zugleich wäre sie aber auch die strikteste Wider 
legung des materialistischen Gedankens, dass alles Bestehende auf 
den Stoff zurückzufuhren sei. — Immerhin muss also die Strümpell'- 
sche Deduktion, die ich oben in ihrer ganzen Ausdehnung mit- 
geteilt habe, für alle diejenigen Idealisten ihren Wert haben, welche 
von der Behauptung des Materialismus, dass der Idealismus ein ge- 
setzmässiges Wirken der Seele nicht nachweisen könne, ohne dass 
diese Gesetzmässigkeit in den physiologischen Prozessen beruhe, 
in die Enge getrieben werden. 

Der eigentliche pädagogische Teil des Strümpell'schen 
Werkes wird zwar auch schon hier und dort in den Kapiteln des 
ersten Teils berücksichtigt, findet jedoch eine mehr zusammen- 
hängende Behandlung in den spätem Abschnitten Ich verweise 
in dieser Beziehung auf das Kapitel 19: „Einige pädagogische 
Folgerungen aus dem Unterschiede zwischen fc^mpfindung 
und Vorstellung", Kap. 21: „Das Zustandekommen des 
Sprechens und der Sprache", wo er eingehend auch das phy- 



284 Ludwig Strümpell. 

siologische Moment der Sprache erörtert. Auch das umfang- 
reiche Kap. 23: „Die Verständigkeit des Sprechens und das 
Verstehen des Gesprochenen" ist wesentlich pädagogischen 
Inhalts. Doch möchte ich hierbei die Lehrer, die etwa dieses Werk 
studieren wollen, vor einer Enttäuschung warnen. Alle diese Erör- 
terungen haben mit den gewöhnlichen Regeln und Erfahrungen der 
Pädagogik wenig zu thun. Vielmehr besteht das pädagogische Mo- 
ment hier wesentlich darin, dass Strümpell meist nur auf die 
Uebergänge von den Lehren der Psychologie auf pädagogische 
Zwecke hinweist So ist auch nicht ganz zutreffend das Versprechen 
Strümpells in der Vorrede, dass er in dem Werke „eine Wissen- 
schaft von der geistigen Entwickelung der Kinder habe darstellen 
wollen, bezogen auf die Zwecke, welche die Erziehung der Kinder 
durch den Erwachsenen im Anschluss an die Individualität der 
Kinder zu erreichen strebt". War dieses in der That der 
Grundgedanke des Buches, so musste allerdings die Behand- 
lungsweise, welche hier die Psychologie erfahrt, wie die ganze Glie- 
derung und Verteilung des Stoffes eine andere sein. Doch soll 
damit kein l'adel gegen den Verfasser ausgesprochen sein. Freuen 
wir uns vielmehr, dass uns Strümpell noch vor 8 Jahren, also als 74- 
jähriger Mann ein so scharf und consequent durchdachtes Werk 
über die psychologische Wissenschaft geschenkt hat Wenn es 
auch nicht ganz das hält, was sein Titel verspricht, so beweist es 
doch von Neuem, dass keine der bestehenden philosophischen 
Richtungen sich auf dem Gebiete der systematischen Psycho- 
logie mit der Schule Herbarts messen kann. 

Das zweite hervorragende Werk Strümpells von wesentlich 
psychologisch-pädagogischem Inhalte ist das schon oben genannte: 
„Die pädagogische Pathologie oder die Lehre von den 
Fehlern der Kinder" (2. Aufl. Lpz. 1892^ Ich muss diesen 
ebenso interessanten als seinem (rrundgedanken nach originellen 
Buche hier einige Bemerkungen widmen. - Eine der schwierigsten 
Aufgaben für den Lehrer und Erzieher ist ohne Zweifel die, 
die seelischen Abnormitäten der Kinder, die sie von Natur 
aus mitbringen, zu erkennen und pädagogisch zu behandeln. Schon 
der Umstand, dass dem Lehrer, dem oft eine Klasse von 40—60 



Ludwig Strümpell. 285 

Kindern zu unterrichten obliegt, selten Zeit hat, sich mit einem 
einzelnen zu beschäftigen, tritt ab Hindernis auf, die Individualität 
jedes Schülers zu beachten. Und doch hat alles Erziehen und 
Bilden dne solche vorherige Erkenntnis des Eigenartigen tmd In- 
dividuellen im Kinde zur Voraussetztmg. Denn alle Erziehung 
ist eine Entwickelung der von Natur aus vorhandenen 
Keime, Fähigkeiten und Kräfte, welche in jedem Kinde in 
verschiedener Stärke imd in anderer Mischung auftreten. Hier 
z. B. ist ein Knabe, dessen Begabung entschieden nach der logisch- 
mathematischen Seite hinneigt; dort ein anderer, dem man bei 
seinem bald lebhaften, bald träumerischen Wesen sofort anmerkt, 
dass die Phantasie das vorherrschende Element in seiner Seele 
ist: bei einem dritten überwiegt das Gedächtnis: Ifd einem vierten 
die Willenskraft: bei einem fünften tritt das weiche und rezeptive 
Gefühlselement in den Vordergrund u. s. w. Aus allen diesen 
Vorhandenen Anlagen können die mannigfaltigsten Kombinationen 
Und Formen hervorgehen, welche, je nach dem Mischtmgsgrade 
der einzelnen Elemente und dem Vorwiegen dieses oder jenes 
i^aktois die geistige Individualität des Kindes ausmachen. Aber 
^on der psvcfaischen Individualität bis zur Konstatierung von Fehlem 
^läiyfai imd Abnormitäten in der Seele ist noch ein weiter Weg. 
^Wesentlich auf oft tmbekannten oder doch schwer zu konstatieren- 
^cn MissbAdongen. Verletzungen oder abnormer Eatwickehmg der 
korperliclien Organe beruhend sind jene Abweichungen immer noch 
v^iclit das, was man eigenitich gei>ttge Krankheiten nenn*, die 
^•ir von jenen sehr wohl zu tmterscheiden haben. Das gei^üteskranke 
^^ind, dessen Bdiandlimg tmd Heilung ist Sache des F^vchiatr:- 
^ers: h in g ege n das Kind, an welchem nur gewisse geistige Av 
v^ormitäteD, sei es im Charakter oder im Intellekt sichtbar simi. 
Unterliegt der Au%abe des Pädagogen. 

Es värc nicht zutrefiend die Summe der dieses CJebief bc- 
tvefieBden Eiiihnmgen etwa mit den Erscheintmgen der Päthoiogie 
in dem Bereiche der Medizin in Paraijele zu stellen. Ins Verfaaltm.^ 
der Phjsiologie, a'^ der I^ehre von den normalen Funktioner 
des mfiwchHchen txnd tierischen Organismtis, zur Pathologie 
als der Ldve von den Krankhettsorsachen tmd den Krankheh»- 



1 



286 Ludwig Strümpell. 

erscheinungen des körperlichen Organismus, ist doch fast dasselbe 
wie das Verhältnis der psychologischen Pädagogik zur päda- 
gogischen Pathologie. Denn so wenig es einen absolut ge- 
sunden und absolut normal gebauten und funktionierenden leiblichen 
Organismus giebt, ebensowenig kann es einen absolut normal 
funktionierenden Geist geben. Wie dort also in der Wirklichkeit 
das physiologische Leben des Einzelnen, der äusserlich ganz gesund 
erscheint, nicht ganz frei ist von pathologischen Störungen, so spielt 
hier in jedes scheinbar noch so normale psychische Leben ein bald 
grösseres, bald geringeres psychiatrisches Element hinein. Auf die 
Pädagogik angewendet wird sich hieraus ergeben, dass neben der 
psychologischen Erziehungslehre, die nur ideale, d. h. in der Wirklich- 
keit gar nicht vorhandene absolut normale Kindesnaturen zur Vor- 
aussetzung hat, die pathologische Pädagogik oder — was dasselbe 
sagen will — die pädagogische Pathologie nebenher zu gehen hat. 

Von welcher ausserordentlichen Bedeutung dieser letztere Zweig 
der pädagogischen Wissenschaft und zwar nicht allein für Lehrer, 
Erzieher und Arzte, sondern auch für Eltern und Schulbehörden ist, 
dürfte aus dem oben genannten Werke Strümpells zur Genüge er- 
hellen. Die Aufgabe jedoch, welche Strümpell dieser seiner Wissen- 
schaft stellt, fasst er in die Worte zusammen: „Die pädagogische 
Pathologie ist die Lehre von allen denjenigen Zuständen und Vor- 
gängen, welche erfahrungsgemäss während der Entwickelung des 
geistigen Lebens im Kindesalter von solcher Beschaffenheit sind, 
iiass sie der Abschätzung der Wertbestimmimg, nach denen der 
Pädagoge sie im Hinblick auf die von ihm gedachte und erstrebte 
Jugendbildung auffasst und beurteilt, sich entweder nicht als 
genügend oder als bedenklich oder schädlich, überhaupt sich als 
in irgend welcher Hinsicht der Besserung bedürftige Fehler 
darstellen. Solche Fehler nennen wir pädagogische Fehler." 

Hieraus ergeben sich nach Strümpells Auffassung folgende spe- 
ciellere Aufgaben dieser seiner neuen Wissenschaft: Sie hat zunächst 
die in der Kinderwelt beobachteten und mit eigenen Namen be- 
zeichneten pädagogischen Fehler möglichst vollständig zu sammeln. 
Dann hat sie aus diesem Material diejenigen Fehler auszuscheiden, 
deren Kenntnis zwar von ihrer psychischen Seite dem Pädagogen 



Ludwig Strümpell. 287 

unentbehrlich ist, die jedoch wegen ihres kausalen Zusammenhanges 
mit einer körperlichen Krankheit, die ein zeitweiliges, mitunter lange 
oder auch zeitlebens dauerndes Übergewicht über das geistige Leben 
hat, in das Gebiet der medizinischen Pathologie oder auch in 
das der Psychiatrie gehören. Femer sind die Kindesfehler zu 
klassifizieren und auf die Vorgänge und Verhältnisse im Be- 
wusstsein des Kindes zurückzuführen, was die eigentliche Auf- 
gabe der angewandten psychologischen Pädagogik ist. Die wich- 
tigste Aufgabe wird die Aetiologie der pädagogischen Fehler, 
d. h. die Darlegung der Veranlassungen und Ursachen sein, aus 
denen die Fehler entstehen können. Erst auf einer solchen Er- 
kenntnis der Ursachen kann die pädagogische Prophyla.xis und 
die pädagogische Therapie dieser Fehler sich ergeben, d. h. 
die Auswahl der Massregeln, welche der Lehrer, der Schularzt und 
die Schulaufsichtsbehörde zu ergreifen haben. 

Wie mannigfaltig die Abnormitäten der Kindesseele s nd, und 
wie unendlich gross die Zahl der Hindemisse ist, welche der Thätig- 
keit des Lehrers und Erziehers entgegenstehen, sehen wir, wenn 
wir uns in den reichen Inhalt des Strümpellschen Werkes vertiefen. 
— Jene Abnormitäten können entweder solche des kindlichen 
Intellekts sein, also das Gebiet der Wahrnehmungen, Vorstellungen, 
Begriffe und Ideen betreffen, oder auch das Bereich des Naturells 
und Temperaments berühren und also auf physiologischen 
Eigentümlichkeiten und Fehlern beruhen. In allen diesen Fehlern 
spielt auch die Vererbung eine grosse Rolle und es wird mit 
Recht die Frage aufgeworfen werden können, mit welcher Aussicht 
auf Erfolg die Erzieherthätigkeit in solchen Fällen verknüpft ist. 

Strümpell hat nun versucht, eine Anzahl der wichtigsten und 
in der Lehrerpraxis am häufigsten vorkommenden Fehler alpha- 
betisch zusammenzustellen und ich will einige aus dieser grossen 
Anzahl hier mitteilen: Ängstlichkeit (Ergriffensein von einem 
momentanen Angstgefühl, hat meist physiologische L-rsachen — im 
Unterschiede von der Angst vor Strafe); Abneigung oder Anti- 
pathie gegen gewisse Erscheinungen in der Empfindungs- und 
Wahrnehmungssphäre, z. B. gegen Raupen, Spinnen, Frösche, gegen 
Blut, gegen gewisse Speisen, gegen rauhe oder glatte Oberflächen u s. w. 



288 Ludwig Strümpell. 

In vielen Fällen geht diese Abneigung der Kinder in einen starken 
Affekt über und kann Angst, Zittern, ja Krämpfe erzeugen Aus- 
gelassenheit (oft nur ein Ausdruck körperlichen Kraftgefühls). 
Anmassung (vielfach ein habitueller Fehler, insbesondere bei den 
Kindern der reicheren Gesellschaftsklassen und meist eine Folge 
fehlerhafter häuslicher Erziehung . Affektieren (sich), oft bei 
Mädchen, seltener bei Knaben. Aufbrausend (eine Folge heftigen 
Temperaments). Altklug (meist Folge der ersten häuslichen Er 
Ziehung). Angeberisch und Augendienerisch (wird von den 
Lehrern sehr oft im späteren Knaben- und Mädchenalter beobachtet 
und zwar in dem Verhalten der betreffenden Kinder imter sich, 
zum Lehrer und in der Familie). Arbeitsscheu (hat oft seinen 
Grund in den physiologischen Verhältnissen des Kindes . Ab- 
1 aufsfehl er der Vorstellungen (zu rascher oder zu langsamer Ver- 
lauf der Vorstellungsreihen des Kindes). Apperceptions fehler 
(beruht auf der zu schweren und unsicheren Apperception der 
Wahrnehmungen). Blödsinn ist wie alle Arten von Idiotbmus 
eine Psychose, die doch mehr den Psychiatriker als den Päda- 
gogen interessiert. Aber in den milderen Formen, in denen diese 
Idiotismen aufb-eten, gehören sie in das Gebiet der pathologischen 
Pädagogik. Auch die Blödigkeit (ursprünglich eine Folge schöner 
kindlicher Befangenheit) gehört in dieses Gebiet Dickfälligkeit 
(zunächst im physiologischen Sinne Unempfindlichkeit gegen Stoss, 
Druck u. s. w.j ist im psychischen Sinne Unempfindlichkeit gegen 
Lob oder Tadel. Hier liegt für den Pädagogen eine schwere Auf- 
gabe vor. Dummdreistigkeit (schlimmer als Altklugheit) deutet 
auf einen Defekt der Urteilsfähigkeit hin. Denkfaulheit (wird 
meist von den Lehrern der Mathematik bei ihren Schülern be- 
obachtet). Eigensinn (einer der häufigsten Kindesfehler) ist viel- 
fach als die Folge nervöser Zustände bei den Kindern beobachtet 
worden. Empfindlichkeit, eine allzu grosse psychische Sensibi- 
lität, kann in der Hand des einsichtigen Erziehers und Lehrers 
ein gutes pädagogisches Mittel abgeben. Empfindsamkeit (im 
Sinne krankhafter Sentimentalität) kommt erst bei Schülerinnen im 
Zustande sich entwickelnder Geschlechtsreife vor und zumeist auch 
nur infolge schlechter Romanlektüre. Eifersucht wird schon in 



Ludwig Strümpell. 289 

frühester Kindheit beobachtet, z. B. bei Geschwistern auf die Liebe 
der Eltern. Eitelkeit, Ehrgeiz, Eigendünkel sind psychische 
Fehler, bei denen der Pädagoge wie die Eltern ein wichtiges Gebiet 
für ihre Erziehungsthätigkeit haben. Flüchtigkeit, Flatterhaftig- 
keit, Faselei, Faulheit, Feigheit, Frechheit (alle diese Fehler 
der Kinder bedürfen keiner weiteren Erläuterung). Gefühllosig- 
keit (im Sinne von Roheit im Quälen der Tiere) ist ein nur 
zu oft vorkommender Fehler bei Knaben. Gewinnsucht und 
Neigung zum Betrügen werden besonders bei den Knabenspielen 
oft beobachtet. Geschlechtliche Verirrungen der Schuljugend 
ist ein noch zu lösendes Problem, gleich wichtig für Lehrer, Schul- 
ärzte und Eltern. Gefallsucht wird mehr bei Mädchen als bei 
Knaben beobachtet. Dagegen tritt bei den reiferen Schülern imserer 
höheren Schulen eine gewisse nicht genug zu bekämpfende Gecken- 
haftigkeit jetzt vielfach hervor. Bei der Gedankenlosigkeit 
ist zu unterscheiden ob sie nur temporär, also als momentane Zer- 
streutheit, oder als ein habitueller Geisteszustand zu fassen ist 
Gewissenlosigkeit (ein schwerer moralischer Fehler), Gräm- 
lichkeit ist die Neigung zu krankhafter Verstimmung und beruht 
meist auf pathologischen Ursachen des Körpers. Dieser Fehler ist 
mehr Sache des Hausarztes als des Lehrers. Dagegen ist Ge- 
schwätzigkeit ein Fehler, der mehr den Lehrer und Erzieher an- 
geht Hartnäckigkeit (ein höherer Grad von Eigensinn) kann 
sich bis zur Halsstarrigkeit steigern und ist für die pädagogische 
Kunst eine schwer zu bemeisternde Aufgabe. Herrisches und 
hochmütiges Wesen (eine nicht minder wichtige Aufgabe für den 
Erzieher). Hartherzigkeit (ein Gemütsfehler, den besonders die 
elterliche Erziehung zu müdem und zu beseitigen hat). Hinter- 
listig (ein selten beobachteter Fehler, weil er der im allgemeinen 
überwiegend vorhandenen unbefangenen Offenheit der Kindernatur 
entgegensteht). Dagegen kommt die Gruppe der hysterischen 
Fehler, als zum Gebiet der Kinderpsychosen gehörig, um so 
öfter vor. In dasselbe rein medizinische Gebiet gehört auch 
die besonders zur Zeit der Geschlechtsentwickelung oft 
auftretende Hypochondrie. Alle diese Abnormitäten unter- 
liegen mehr der Behandlung des Hausarztes als des Lehrers. 

19 



290 Ludwig Strümpell. 

Einer der wichtigsten sittlichen Fehler dagegen ist die Lügen- 
haftigkeit und Verlogenheit. Hier sind Strenge und Konsequenz 
in der Bemühung, den Wahrheitssinn zu wecken und zu 
kräftigen, das einzige zum Ziele fiihrende Mittel. 

Doch ich breche hier ab und ersuche meine Leser, welche 
sich über diese wichtigen Fragen weiter unterrichten wollen, das 
gehaltreiche Werk Strümpells selbst nachzulesen. Es darf immer 
als ein Zeichen interessanter Behandlimgsweise gelten, wenn ein 
Buch von fast 400 Seiten, welches einen bestimmt umgrenzten 
psychologisch-pädagogischen Inhalt behandelt, nirgends den Eindruck 
bloss formalistischer Leere und Abstraktion macht, sondern überall 
(auch in den erläuternden Anmerkungen) aus dem Vollen und 
Ganzen der pädagogischen Erfahrung und der psycho- 
logischen Vertiefung schöpft Allerdings schieben sich auch 
breite Kapitel rein theoretischer Art ein, in denen Strümpell die 
metaphysisch-psychologischen Probleme, die ja überall im Hinter- 
grunde lauem, im Sinne seiner Schule zu erörtern unternimmt 
Man kann, ohne Widerspruch zu befürchten, behaupten, dass 
Strümpell hier als der Begründer einer neuen pathologisch-päda- 
gogischen Wissenschaft erscheint.*) 

*) Dass der Grundgedanke des StrümpelVschen Werkes auf fruchtbaren 
Boden gefallen ist, ersehen wir aus einem neuerdings erschienenen, im Übrigen 
vortrefflichen und mehr für Mtltter bestimmten Buche von Dr. med. Scholz« 
Direktors der Irrenanstalt zu Bremen: ,,Die Charakterfehler des Kindes*' 
(Lpz. E. PI. Mayer). Scholz behandelt sein Thema als pädagogisch gebildeter 
Arzt. Im übrigen stützt er sich nach seinem eigenen Geständnis auf die Er- 
gebnisse der ersten Auflage (1890) des Strümpell'schen Werkes. Schon die Ein- 
teilung und Gliederung des Stoffes hat Scholz wesentlich dem Leipziger Forscher 
entlehnt: i) Die Kindesfehler auf dem Gebiete des Fühlens und Empfindens 
(das traurige, empfindliche, launenhafte, ängstliche, verlegene, übermütige, hoch- 
mütige, eigensinnige, eitle, vorlaute, indolente, rührselige, schadenfrohe Kind); 
2) Die Kindesfehler auf dem Gebiete der Vorstellung (das duomie, zer- 
streute, flüchtige, faule, frühreife, phantastische, phantasielose, heimlichthuende, 
neugierige, pedantische Kind); 3) Die Kindesfehler auf dem Gebiete des 
W o 1 1 e n s und Handelns (das unruhige, linkische, begehrliche, sammelnde, 
betrügerische, neidische, ungefällige, boshafte, grausame, unkeusche, zerstörungs- 
süchtige, lügnerische Kind). Ein interessantes Kapitel in dem Scholz'schen 
Buche bildet das Über die neuerdings besonders in den höheren Ständen in er- 
schreckender Weise zu Tage getretene Erscheinung des Selbstmordes der 



Ludwig Strümpell. 291 

Zum Schlüsse will ich noch bemerken, dass Professor Strümpell 
auch als Historiker der Pädagogik in erfolgreichster Weise auf- 
getreten ist. Sein schon oben genanntes Werk: „Die Pädagogik 
der Philosophen Kant, Fichte und Herbart" (Braunschweig 
1843) ^st eine sehr gründliche und im Wesentlichen erschöpfende 
Zusammenstellung der Gnmdgedanken der genannten Philosophen 
über Pädagogik. Dass hierbei Herbart den Löwenanteil erhalten 
hat (S. 79 — 208), während die beiden erstgenannten Denker sich 
mit einer nur sehr kurzen und gewissermassen aphoristischen Be- 
handlungsweise begnügen mussten, folgt doch nicht bloss aus der 
nähern Beziehung Strümpells zu Herbart, sondern auch daraus, dass 
in der That weder Kant noch Fichte für die Entwickelung der 
neuem Pädagogik als Wissenschaft diejenige Bedeutung gehabt haben 
wie Herbart. Diese Darstellung macht daher den Eindruck, als 
wenn die beiden erstgenannten (S. l — 58) nur die Einleitung für 
den letztgenannten bilden. Thatsächlich jedoch tritt, bei näherer 
Prüfung, eine grosse Differenz der pädagogischen Lehren der drei 
Denker hervor: insbesondere weicht Fichtes Pädagogik, wie er sie von 
seinem ethischen Hyperidealismus aus, und später auf den in den 
„Reden an die deutsche Nation" entwickelten nationalen Voraussetzungen 
aufbaut von der wesentlich psychologischen Basis Herbarts ganz 
erheblich ab. Im Übrigen hat Strümpell die innerhalb der Fichte- 
schen Pädagogik selbst hervortretenden Differenzen zwischen seinem 
früheren idealistisch-kosmopolitischen und dem späteren 
ethisch-nationalen Standpunkt sehr gut hervorgehoben. Der 
erstere ist wesentlich im „System der Sittenlehre," der letztere in 
den „Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters" und in den populär 
gewordenen „Reden an die deutsche Nation" vertreten. Doch will 
mir scheinen, als wenn Strümpell der gewaltigen ethischen Persön- 
lichkeit Fichtes nicht ganz gerecht wird, wenn er von Fichtes auf 
beiden Standpunkten in gleicher Weise hervortretenden konsequenten 



Kinder: sicherlich eines der schwierigsten Probleme der pädagogischen Patho- 
logie. — Schliesslich erwähne ich noch als hierher gehörig die pädagogisch- 
pathologischen Skizzen, die Gustav Siegert, ein Leipziger Volksschullehrer, 
in seinem anregend geschriebenen Büchlein „Problematische Kindes- 
naturen^ (1^9^) veröffentlicht hat. 



292 Ludwig Strümpell. 

Radikalismus sagt: „Der Volksredner erscheint in der Gestalt des 
Pädagogen als derselbe unerfahrene Moralist, als welcher er in 
seinem „System der Sittenlehre," ohne rechts noch links zu blicken 
mit seiner überschwenglichen alle Empirie weit hinter sich lassenden 
Freiheit und Spontanität auftritt. Der einmal gefasste (iedanke, 
entsprungen in der Phantasie, ohne Kenntnis seiner Bedingungen, 
überwältigt nicht bloss das ganze Denken, sondern er soll und muss 
und wird auch die Welt der Thatsachen überwältigen. Allerdings 
wird uml muss er dies im Sinne Fichtes, der nicht bloss ein 
ülicixger Logiker, sondern auch von der ethischen Überzeugung 
eiiuUt ist» ilass dies, was er für wahr hielt, auch in der Wirklich- 
keit re^alisiert werden müsse. Der Gedankendespot Fichte kannte 
nicht ieae dop|>elte Buchführung mancher heutiger Philoso j^hen^ 
wvuuih nun etwas in der Theorie für unumstosslich wahr halten, 
uud doch in iler l^axis für etwas Anderes oder gar Entgegen- 
^C'iv^titcs eintreten könne. Fichte war eben unter den deutschen 

PhiUw\>phen iler grosste Charakter" 

Küuts Pädagogik ist zum Teil hier in wörtlichen Auszügen 
i^u^ seineu Schriften wiedergegeben. Herangezogen sind ausser der 
..Motuph\sik der Sitten" noch die kleineren Schriften desselben. 
N;uh K»nt ist alle Erziehung eine Kunst, weil die Entwickelung 
dci Wituianlugen bei dem Menschen nicht von selbst geschieht. 
Iioüu h ist ilieso Kunst eine ausserordentlich schwere, ja die schwerste, 
die dem Menschen aufgegeben ist. Das Prinzip der Pädagogik 
isf ,,Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem 
^\iK\U\niKcn möglichst besseren Zustande des menschlichen 
i;o»*cl\lc\ l\ts, d. h. der Idee der Menschheit und deren 
^{\iuoi Hcslimmung angemessen erzogen werden. Speciell 
vciHichl Kam unlcr „Erziehung": „Die Wartung Verpflegung, 
l'nicihjiltung). Disziplin (Zucht) und Unterweisung nebst Bildung." 
An andcici SloUe ilefiniert Kant die Erziehung als die Ihätigkeit, 
welche <lic \eis<ngung und Bildung sich zur Aufgabe stelh. 
Wieder an anderen Stellen seiner Schriften unterscheidet er die 
Privat- und öffentliche Erziehung und zwar soll das Ver- 
hältnis beider zu einander so .sein, dass die öffentliche Erziehung 
die allgemeine Inlonnation, die private jedoch die Ausübung der 



Ludwig Strümpell. 293 

Vorschriften zu realisieren haben. Die wichtigste Einteilung jedoch, 
die Kant giebt, ist die in physische und moralische Erziehung. 
Die letztere hat die Aufgabe, den Menschen zu einem frei handeln- 
den Wesen, zu einer Persönlichkeit, zu einem bewussten Mit- 
glied der sittlichen Gemeinschaft der Menschheit heran- 
zubilden. Die physische Erziehung jedoch hat sich möglichst der 
Natur anzuschliessen, sowohl in der Ausbildung der leiblichen Organe 
als mit Bezug auf Erzielung von Gewandtheit, Kraft und Schnellig- 
keit des Körpers. — Ziemlich ausführlich handelt Kant von den 
Erziehungsmitteln, zu denen er auch die Strafen zählt. Hier 
unterscheidet er: natürliche und künstliche. Jene sind solche, 
welche als die durch die Naturgesetze gegebenen Konsequenzen 
der Abweichung von der Norm anzusehen sind, z. B. Krankheiten 
infolge von Selbstverschuldung*, die künstlichen Strafen können ent- 
weder physische oder moralische sein. Die ersteren bestehen 
entweder in Verweigerung eines Begehrten, oder in Zufügung eines 
leidenden Eindrucks. Die erste ist negativ, und mit der moralischen 
Strafe verwandt; die letztere, meint Kant, soll man mit grosser 
Behutsamkeit ausüben. Grosses Gewicht legt dieser Philosoph 
auf die moralische Strafart, weil er sich von ihr die besten und 
nachhaltigsten Erfolge verspricht. Von der vorhandenen Neigung 
des Kindes, geliebt und geehrt zu werden, soll man in solchen 
Fällen Gebrauch machen, indem man bei passender (Gelegenheit 
es so beschämt oder ihm so kalt begegnet, dass es dieses als Strafe 
empfindet. Indes soll die Strafe niemals die Merkmale des Zornes 
und des Rachegefühls an sich tragen, vielmehr soll sie so ver- 
richtet werden, dass das Kind sehe, dass sie nur seine Besserung 
bezwecke. Bei dem Gewicht, welches Kant auf die moralischen 
Strafen legt, will er die physischen nur dann eintreten lassen, wenn die 
ersteren unzulänglich und die letzteren ergänzend eintreten 
können. Die Frage, wie lange die Erziehung dauern solle, be- 
antwortet Kant dahin, dass er dieselbe bis dahin annimmt, wo die 
Natur selbst den Menschen bestimmt hat, sich selbst zu führen, wo 
sich bei ihm der Instinkt zum Geschlechte entwickelt hat, d. h. 
wo er selbst Vater werden kann und selbst erziehen soll, 
also bis zum 17. Lebensjahre 



294 Ludwig Strümpell. 

Dass der autonome Charakter der Kantischen Ethik auch in 
seiner Pädagogik zu Tage tritt, ist, da der Zweck aller Erziehung 
ein sittlicher ist, selbstverständlich. Es sind schöne und kräftigende 
Worte, die der Philosoph bei dieser Gelegenheit sagt und die 
er einer Zeit und einem Geschlecht gegenüber aussprach, welches 
„mehr mit schmelzenden, weichherzigen Gefühlen oder hochfliegen- 
den, aufblähenden und das Herz eher welk als stark machenden 
Anmassungen über das Gemüt mehr auszurichten hofft, als durch 
die der menschlichen Unvollkommenheit und dem Fortschritte im 
Guten angemessenere, trockene und ernste Vorstellung der Pflicht." 
Aus einem solchen Prinzip heraus ist die pädagogische Vorschrift 
Kants erklärlich, dass eine Darstellung der reinen Tugend mehr 
Macht über das menschliche Gemüt hat imd kräftigere Ent- 
schliessungen hervorbringt, das moralische Gesetz aus blosser 
Achtung vor ihm jeder anderen Rücksicht vorzuziehen, als alle An- 
lockungen, die aus einer Vorspiegelung von Vergnügen und über- 
haupt von solchem, was man zur Glückseligkeit zählen mag, 
oder auch als alle Androhimgen von Schmerz und Übeln jemals 
wirken können." 

Wie schon oben bemerkt wurde, hat Strümpell in seinem 
Werke der Pädagogik seines Lehrers Her hart den überwiegend 
breitesten Raum gewährt. Die Darstellung beruht wesentlich auf 
Herbarts „Allgemeiner Pädagogik" und auf dem aus den letzten 
Göttinger Jahren stammenden „Umriss pädagogischer Vorlesungen". 
Ich verweise hier auf die betreffenden Werke. Wem sie aber 
nicht zur Verfügung stehen, dem bietet die hier von Strümpell ge- 
gebene Darstellung eine trotz ihrer gedrängten Kürze doch er- 
schöpfende Entwickelung des Herbart'schen Systems der Pädagogik. 



Conrad Hermann 

als 

Ästhetiker, Sprach- u. Geschichtsphilosoph. 

Die heutige Stellung der Ästhetik, der jüngsten aller philo- 
sophischen Wissenschaften, an den deutschen Universitäten ist keine 
beneidenswerte. Abgesehen davon, dass sie an der allgemeinen 
Ungunst participiert, in welcher die Philosophie überhaupt in der 
öffentlichen Meinung der Gegenwart steht, hat sie auch an dem 
eigentümlichen Verhältnisse /ai leiden, in welchem sie sich zu den Litte- 
ratur- und Kunstwissenschaften befindet. Wäre sie heute noch, wie 
zu den Zeiten Sulzers und Eschenburgs, eine Technik der Künste 
oder wie man damals sagte, eine „Theorie der schönen Wissen- 
schaften," so würde man ihre untergeordnete Position innerhalb der 
akademischen Disziplinen begreiflich finden. Seit Kant aber ist 
die Ästhetik metaphysisch so vertieft worden, dass sie bei den 
grossen Denkern des 19. Jahrhunderts ein integrierender Teil ihrer 
weit angelegten Gedankensysteme bildet. Aber mit dieser Ver- 
tiefiing und Erweiterung ihres Inhalts hat das Interesse der Stu- 
dierenden für sie nicht gleichen Schritt gehalten. Und dieses liegt 
wesentlich daran, dass unsere praktische Zeit die Anwendbarkeit 
der ästhetischen Ideen und Gesetze weder auf die Litteratur noch 
auf die Künste so ohne weiteres begreift und sie daher sowohl 
für die produzierenden Dichter und Künstler als auch für das ge- 
niessende Publikum für „überflüssig" erklärt. Als ob es die aus- 
schliessliche Aufgabe der Ästhetik wäre, formelle poetische Regeln 
und Kunstgesetze aufzustellen! Hier liegt offenbar eine Verwechse- 
lung der Poetik und der Technik, welche nur Teile der Ästhetik 



296 Conrad Hennann. 

sind, mit dieser letzteren selbst vor, welche nichts anderes sein 
will als die Wissenschaft vom Schönen, wie es sich in Natur und 
Kunst ausspricht. Als solche ist sie eine begreifende Wissen- 
schaft, welche das metaphysische Wesen des Schönen und die 
psychologischen Vorgänge bei der Produktion wie bei der Auf- 
fassung desselben zu erforschen hat. Hierzu kommt noch der 
äusserliche Umstand, dass sie als akademische Disziplin niemals 
Gegenstand der Examina gewesen ist, was ja meist dazu beiträgt, 
den Wert einer Wissenschaft in den Augen der Studierender sinken 
zu lassen. Bei diesem mangelnden Interesse für die ästhetische 
Wissenschaft haben sich auch die Regierungen nicht entschliessen 
können, besondere Lehrstühle an den Universitäten für sie zu er- 
richten, so dass sie bisher nur nebenher lief, so zwar dass es bald 
Philosophen, bald Litterar- und Kunsthistoriker waren, die sich ihrer 
annahmen und ein Kolleg über dieselbe lasen. 

Nicht anders verhält es sich an der Leipziger Universität, ob- 
gleich seit vielen Jahren hier ein Mann wirkt, dessen Namen als 
Ästhetiker einen weiten Klang besitzt. Conrad Hermanns Ruf 
als ästhetischer Schriftsteller knüpft sich an folgende Werke: „Grund- 
riss einer allgemeinen Ästhetik" (1857); »»Ästhetik in ihrer 
Geschichte" (1875); „Die ästhetischen Prinzipien des Vers- 
masses im Zusammenhange mit den allgemeinen Prinzipien 
der Kunst und des Schönen"(l865); Ästhetische Farbenlehre" 
(1876). Hermann hat in diesen Schriften zum Teil anknüpfend 
an Plato, Kant und Hegel, ohne doch als ästhetischer Eklektiker 
bezeichnet werden zu können, eine Fülle tiefer Ideen und feiner 
Beobachtungen niedergelegt. Seine Darstellung ist, ohne jedweden 
äusserlichen Schematismus, eine sich frei bewegende, ohne dass 
man doch die innere Gedankengliederung und klare Durchsichtig- 
keit vermisst. Hermann citiert fast gar nicht frühere Autoren, und 
doch fühlt man seiner Darstellung die ungemeine Belesenheit und 
Kenntnis der ästhetischen Systeme seiner Vorgänger an: er benutzt eben 
ihren Ideengehalt, ohne sich doch sklavisch an den Wortlaut derselben 
zu binden. — Nichts destoweniger darf derselbe doch als ein durch- 
aus selbständiger Forscher in der Ästhetik bezeichnet werden. 
Und diese seine Selbständigkeit besteht wesentlich darin, dass er 



Conrad Heriuann. 297 

eine Art Mittelstellung zwischen den Gehalts- und den Formal- 
ästhetikern in der Weise behauptet, dass er für das Entstehen 
des Schönen die Bedeutung des objektiven Seins nicht minder be- 
tont, als die subjektive psychische Thätigkeit. Er huldigt demnach, 
um mich so auszudrücken, gewissermassen einem ästhetischen 
Idealrealismus. In letzterer Hinsicht giebt er eine bis ins Ein- 
zelne gehende ästhetische Erkenntnistheorie, wie er ja auch 
die Kunst „das Gebiet der schaffenden Anwendung unseres ästhe- 
tischen Erkenntnisvermögens" (Grundr. S. 198) nennt. Hermann unter- 
scheidet genau das logische vom ästhetischen Erkenntnisver- 
mögen und letzteres teilt er in ein niederes und ein höheres. Nur 
dem Menschen kommt ein ästhetisches Urteil zu, welches ein solcher 
Erkennungsakt ist, durch welchen sich mit einer bestimmten zuerst 
gegebenen Anschauimg oder Wahrnehmimg eine andere solche in 
der Eigenschaft einer ihr natürlich gleichartigen oder organisch in 
ihr enthaltenen verbindet. 

Eines der wichtigsten Probleme der allgemeinen Ästhetik ist 
das Verhältnis des Wesens zu der Form in den Dingen. 
Hier entsteht zunächst die Frage, wie eine sinnliche Wahrnehmung 
überhaupt etwas mehr für uns bedeuten könne, als was sie unmittel- 
bar ist, d. h. was der zureichende Grund und das bedingende 
Prinzip aller unserer ästhetischen Erkenntnisurteile sei. „Überall, 
sagt Hermann, ist das ästhetische Erkennen das Verstehen eines 
Inneren aus einem Äusseren; nur dasjenige fremde oder ausser uns 
liegende Innere aber ist es, das überhaupt durch Vermittelung 
eines zunächst entgegentretenden Äusseren von uns verstanden 
werden kann, für welches es ein ihm Homogenes in unserem 
eigenen Innern selbst giebt. Das ästhetische Prädikat daher 
ist überall nichts als die fremde Ursache, durch welche das Subjekt, 
die Wahrnehmung selbst, als ihre Wirkung hervorgerufen worden 
ist oder es ist ein jedes ästhetische Erkennen das Verstehen 
einer Ursache aus ihrer Wirkung. Schöne Gegenstände 
oder Erkenntnisse aber sind diejenigen, bei denen das 
Prädikat, die fremde von uns erkannte Ursache der Wahrnehmung, 
nicht wie sonst eine einzelne und an und für sich gleichgültige 
Beschaffenheit, sondern etwas seinem Inhalte nach Höheres. 



298 Conrad Hermann. 

und Allgemeines und insofern eine wirkliche in sich selbst 
wertvolle Empfindung ist." — Was ist die Form und die 
Ästhetische Form der Dinge? Darauf antwortet Hermann: „Ein 
jeiies Sinnliche fiUlt als solches unter den Begriff der Form. Die 
Form ist das an und für sich Leere, Wesenlose, Accidentielle gegen- 
über dem Inhalt oder dem Wesen als der wahrhaften und eigent- 
lichen Beschaffenheit oder aktuellen Substanz der Sache selbst. 
Ein jedes ästhetische Erkennen daher ist das Verstehen eines 
Wesens aus einer Form, von welcher das erstere die letztere als 
seine eigene unmittelbare durchscheinende Aussenseite 
mit innerer Notwendigkeit nach seinem Bilde erschaffen 
oder von denen diese der identische Repräsentant jenes 
ersteren m der Sphäre der erscheinenden Sinnlichkeit ist 
Per i»rundsatz der (Weichheit von Wesen und Form, deren 
nähere^ Verhältnis immer als das der Ursache und Wirkung 
Cischeiut. ist die notwendige Basis des ganzen Prinzips 
viel .ästhetischen Erkenntnis. Nur das logische Erkennen 
aI^ i*t dusienige» welches sich unmittelbar auf das Wesen oder 
vU^üAu uiul'tursich-seiende in den Dingen richtet, während das ästhe- 
tixchc immer ein durch ihre sinnliche Form oder Erscheinung 
vciuiitteltes ist," v^. 38.) 

W.^x »st das wissenschaftliche Prinzip aller Ästhetik? 
Vn\c< rhiUvsoph geht bei der Beantwortung dieser Frage, wobei er 
viv*^ |Kx\choloj;is\h'methodologischen Weg einschlägt, von der ur- 
xpuu^lKhv^n lUxleutung des Wortes „Ästhetik" aus, wie sie von 
VlsA.uKkn lUum^utlen ^„Aesthetica") und Immanuel Kant (wie in 
th l vUi Kl d. r. Vern. iils „Transcententale Ästhetik") zur An- 
\\cikUh»< kxUM. Hot mann unterscheidet im Sinne der T.eibnitz- 
Wv^lOxNhcn Schule nach den seelischen Grundvermögen Empfinden, 
\\nsU^*> mui IVnkeu. in der Philosophie Ästhetik, Ethik und 
\ s^^xl PtosvM iirupi^e steht eine andere gegenüber: Die Meta- 
ph\\a uiul vho TsNchologie. Die Welt und die Seele (der 
objokt^xc Maku^kv^sn\os vuul der subjektive Mikrokosmos) sind die 
bculon ^cgclvuon Hauptabteilungen alles philosophischen Erkennens. 
S\c biKlon vicn Stört lier menschlichen Erkenntnis, die nach dem 
t;uu\d\cinu^cn rmc dreilache Art sein kann, von denen jede eine 



Conrad Hermann. 299 

andere und specifische Auffassungsweise des objektiven Krkenntnis- 
stoffes hat. Das Wesen der äusseren Welt oder der Objektivität 
tritt der menschlichen Seele oder der Subjektivität im Ganzen von 
einer dreifachen Seite gegenüber, von der des Schönen, der des 
Wahren und der des Guten und es ist die allgemeine Vollkommen- 
heit oder die wesentliche Bestimmung unseres inneren Vermögens 
des Empfindens an die Einstimmigkeit mit der Idee oder dem 
Inhalte des Schönen, die des Denkens an diejenige mit der des 
Wahren, die des WoUens endlich an diejenige mit der des Guten 
verbunden. Ein jedes dieser drei Vermögen der Seele erfüllt sich 
insofern mit einem bestimmten weiteren an sich ausser ihm liegen- 
den Inhalte und es ist überhaupt nur eine Beziehung unserer Sub- 
jekti\'ität auf die äussere Objektivität, aus welcher alle wirkliche 
Entwickelung des menschlichen Seelenlebens entspringt. Die drei 
Wissenschaften der Ästhetik, Logik und Ethik aber beziehen sich 
auf jene drei ( Grundvermögen des Empfindens, Denkens und Wollens 
nicht so, wie dieselben ihrer unmittelbar gegebenen psychischen 
Naturbeschaffenheit nach sind, sondern so, wie dieselben unter dem 
Gesichtspunkte ihrer an und für sich geforderten Vollkommenheit 
oder des von ihnen zu erreichenden idealen Inhalts und Zieles 
sein sollen. Eben hierdurch aber begrenzen sich diese Wissen- 
schaften in einer ganz bestimmten und festen Weise mit dem Stand- 
punkte der allgemeinen Wissenschaft von der menschlichen Sub- 
jektivität, der Psychologie. (Vgl. Ästhetische Farbenlehre S. 24 ff.) 
— An einer anderen Stelle dieser tiefgreifenden ästhetischen Studie 
teilt Hermann die Wissenschaften in solche, welche sich auf die 
Erklärung und Bearbeitung der gesetzlichen Erscheinungen eines 
bestimmten gegebenen Seins, und in solche, welche sich auf die 
Bestimmung der Gesetze eines geforderten idealen Sollens be- 
ziehen. Jene nennt er Realwissenschaften, diese Idealwissen- 
schaften. Jener gehören in der Philosophie die Metaphysik und 
Psychologie, dieser die Aesthetik, Logik imd Ethik an, welche den 
drei Ideen der Schönheit, Wahrheit und Güte entsprechen. Diese 
Trias von Ideen findet ihren Ausdruck in den drei Kulturgebieten 
der Kunst, der Wissenschaft und der Religion. Der äussere 
Rahmen aber und zugleich der Boden, auf welchem die Realisierung 



300 Conrad Hermann. 

jener Ideen innerhalb ihrer Sphären bewirkt werden kann, ist die 
Gesellschaft und der Staat. 

Freilich hat Hermann anderwärts (vgl. seine Abhandlung „Die 
Philosophie und ihre Teile" in den philos. Monatsheften Bd. 11 
Heft 3) einer anderen Einteilung das Wort geredet und der Ästhetik 
nicht die hervorragende Stellung im System der philosophischen 
Wissenschaften angewiesen, wie es hier geschieht. In der genannten 
Abhandlung geht er von der antiken Einteilung (bei Plato, Aristoteles, 
den Stoikern und Epicuräern) in Physik, Dialektik und Ethik aus. 
Aber indem er die allmählige Erweiterung des philosophischen 
Gebiets durch Hinzufügung der Psychologie und Ästhetik betont, 
bemerkt er: „Hat man in neuerer Zeit angefangen, die Geschichte 
einzelner Teile der Philosophie, wie jüngst namentlich die Ästhetik, 
selbständig zu behandeln (Robert Zimmermann, Lotze und neuer- 
dings Ed. von Hartraann), so hat dieses ganze Verfahren doch 
immer etwas Bedenkliches, weil der wahrhaft entscheidende Nerv 
des Fortschreitens dieser Teile doch immer nicht sowohl in ihnen 
selbst, als vielmehr nur in der Weiterentwickelung des wissenschaft- 
lichen Prinzips der Philosophie im Ganzen beruht." Aber hat nicht 
Hermann, wie wir oben gesehen haben, selbst eine historische Dar- 
stellung der Entwickelung der ästhetischen Wissenschaft („Die 
Ästhetik in ihrer Geschichte" 1875) geschrieben? — Doch ver- 
lassen wir jetzt diese allgemeinen Erörterungen und wenden uns 
den speciellen ästhetischen Lehren unseres Philosophen zu. 

Wie ich schon angedeutet habe, teilt Hermann das ganze 
Gebiet der Ästhetik in eine niedere und höhere. Jene umfasst 
etwa dasjenige, was wir die Naturschönheit nennen würden, diese 
beschäftigt sich mit der Philosophie der Kunst Dass die erster e 
als die Grundlage der letzteren angesehen wird, darin stimmen alle 
Ästhetiker überein, auch diejenigen der Hegel'schen Schule, welche 
— mit Ausnahme von Vischer — das weite Naturgebiet des 
Schönen meist sehr mangelhaft behandelt haben. Aber es ist 
charakteristisch für den Geist dieser Schule, dass die grosse Fülle 
von Schönheit, welche über die gesamte Natur in allen ihren auf- 
steigenden Stufen gebreitet ist, gegenüber der Kunst, welche Hegel 
selbst in seinem System nebst Religion und Philosophie zum Gebiete 



Conrad liermann. 301 

des „absoluten" (ieistes zählt, das Prädikat des „Untergeordneten" 
erhält Die Naturschönheit, sonst als die unerschöpfliche Quelle 
und das unerreichbare Vorbild für alles Schöne anerkannt, gilt hier 
nur als die „Vorstufe" der Kunst. — Conrad Hermann, obwohl 
sonst eigentlich nicht zur Hegel'schen Orthodoxie gehörig, schliesst 
sich in der Ästhetik dieser Auffassung an — Doch ist die Be- 
gründung im Einzelnen durchaus selbständig und eigenartig und 
man wird beim Studium der Hermann'schen Werke auf eine reiche 
Fülle origineller und tiefeindringender Ideen und Gedanken stossen. 
Eine besondere Aufmerksamkeit hat unser Philosoph dem Bereiche 
der ästhetischen Optik gewidmet Der Ästhetik des Lichts und 
der Farben sind in seinem „Grundriss" mehrere (15. — 19.) Kapitel 
gewidmet, wie er ja auch über diesen Gegenstand eine eigene 
Monographie verfasst hat. Der tiefgreifende Unterschied der an- 
organischen und organischen Natur für das Ästhetische findet hier eine 
erschöpfende Erörterung. Nicht minder reich an feinen Bemerkungen 
ist hier die Ästhetik des Tones und der Sprache behandelt, 
wobei ich noch besonders auf das Kapitel (33) verwei.se, welches 
sich mit dem Ästhetischen des Versmasses beschäftigt. Auch 
über diese schwierigen (Gegenstände hat Hermann eine Monographie 
verfasst (Dresden 1865, Verlag von Rud. Kuntze), welche die Frage 
nach der linguistisch-grammatischen wie ästhetischen Seite hin 
beleuchtet Offenbar hat unser Philosoph seine Vorliebe für metrische 
Fragen von seinem Vater, dem berühmten Philologen Gottfried 
Hermann, einst eine Säule der Leipziger Philologie, ererbt, dessen 
Werke über Metrik („De metris Graecorum et Romanorum poeta- 
rum" 1796; „Handbuch der Metrik" 1798', „Elementa doctrinae 
metricae" 18 16; „Epitome doctrinae metricae" 1818 u. s. w.) fiir 
diesen Teil der klassischen Altertumswissenschaft grundlegend ge- 
worden sind.*) Der philosophische Geist, der in diesen Unter- 

*) Üb«r Gottfried Hermanns Bedeutung für die antike Metrik urteilt Otto Jalin, gewiss 
ein koi|tpetenter Richter auf diesem Gebiete, in folgender Weise: 

„Die Würdigung des Kiinstlerlschen in der Sprache musite Hermann notwendig 
auf da^enlge Element führen, das künstlerischer Gestaltung vorzugsweise fähig ist, das rhyth- 
mische und mit Recht ist er als Begründer der Metrik allgemein anerkannt. Selbst 
sein Lehrer tud Freund Reiz, dem Hermann auch die Anregung zu den metrischen Studien 
und die Erkemitnis und Verehrung für Bentleys grosses Vorbild verdankt, stand noch auf 
dem Standpunkte empirischer Silbenzählerei und Porson, als Kritiker durch Scharfrinn, Sorg- 



302 C^onrad Hennann. 

suchungen herrscht und der den bemerkenswerten Versocfa in sich 
schliesst, die Kantische Kategorienlehre (Gottfried Hermann war in 
seinen letzten philosophischen Überzeugungen strenger Kantianer) 
auf die Gesetze der Metrik anzuwenden, hat beim Sohne Conrad 
Hermann eine ästhetische Auflassung der metrischen Eiscbeinun- 
gen erzeugt, welche im engsten Zusanmienhange steht mit seinen 
sonstigen sprachphilosophischen Prinzipien, wie er sie in 
seinem hierher gehörenden Hauptwerke ».Philosophische Gram- 
matik'' (Lpz. 1858) tmd in einer Reihe kleinerer linguistisch- 
philosophischer Abhandlimgen entwickelt hat Das bedeutende 
Werk ist bedauerlicherweise weniger bekannt, als dasselbe es ver- 
dient und ich will ihm daher hier einige Bemerkungen widmen. — 
Es zerfällt in 5 Teile (I. Einleitung, IL Sprachphilosophie, 
III. Etymologie, IV. Syntax, V. Metrik, VI. Hermeneutik) tmd 
enthält nicht nur die eigentliche Philosophie der Grammatik im 
Sinne einer Untersuchung über die physiologischen und logischen 



falt und Gräodlichkeit hervorragend, kam in der Metrik, auf die er zuerst wieder das Stadinm 
lenkte, nicht über empirische Beobachtungen des Gewohnlichsten hinaus. Hermann war es, 
der mit genialer Kühnheit die Bahn brach. Er durchfonchte das ganze Gebiet der alten Poesie 
und entdeckte auch in der scheinbaren Willkür der freien lyrischen Masse Ordnnng nad Gesetz. 
Unbekümmert um die Autorität der alten Grammatiker drang er in das Wesen des Rhytfamns 
ein und bestimmte aus dieser Einsicht die notwendigen, allgemeinen Gesetze der Metrik. Ge- 
stützt auf die sorgfältigste und schärfste Beobachtung erklärte er die einzelnen Masse und ihren 
Gebrauch, ihre Verwendung zu grösseren Gruppen, die in der strophischen Kompositioo ihr 
höchstes Ziel erreicht, er Mries die strrnge Gesetzmässigkeit und die geniale Freiheit in der 
metrischen Kunst der Alten nach und verfolgte die Entwickelung derselben in ihren einzelnen 
Spuren. In allen wesentlichen Punkten stellte er gleich zu Anfang in der Schrift ,,De metrts** 
mit sicherer Hand das ganze Gebäude fertig hin ; im einzelnen wurde er nicht müde, an dieser 
Aufgabe seines Lebens zu bessern und zu feilen. Auch praktisch führte er seine Ansichten 
gleich an der schwierigi^ten Aufgabe, am Pindar, durch. Heyne, der mit grammatischer und 
metrischer Kritik nicht eben vertraut war, ersuchte ihn, dieselbe am Pindar zu üben, und unter 
jveiner kühnen und kunittgeübten Hand entwickelte sich aus dem, was man höchstens als eine 
Art von Streckveisen angesehen hatte, die prachtvolle Gliederung der chorischen Lyrik; nicht 
minder neue Aufschlüs*>e gab er über die pindarische Sprache und bahnte der Kritik denelben, 
dir er durch geniale Emendationen, wie niemand ausser ihm, gefördert hat, den Weg, auf dem 
fcpkter Bockh fortgeschritten ist. Er hatte aber durch diese Leistung sogleich seine wissen- 
H<.haftliche Stellung fest begründet; nicht nur die Fachgenossen freuten sich bewundernd der 
neuen Aufklärung, auch in weiteren Kreisen fanden diese Studien, besonders seit der deutschen 
Heaibeitung der Metrik (1799), Beachtung und Teilnahme. Bei dem allgemeinen Au^hwung 
tler puetiichen 'lliätigkeit machte sich damals das Streben geltend, auch in der Vollendung 
drr Form hich den Mustern des Altertums zu nähern; wie willkommen musste da- 
her ein Werk wie die Metrik seinl Besonders Goethe, der damals mit der „Achilleis** und der 
,, Helena" beschüftigt war, und genauer in das Wesen der antiken Versmasse einzudringen strebte, 

nahm den regnten Anteil daran " (Oedächtnis&rede auf Gottfried Hermann, gehalten 

am J^. Januar 1849 in der akademischen Aula zu Leiprig.) 



Conrad Hermann. 303 

Gesetze der Sprache, sondern auch noch eine Reihe anderer wich- 
tiger Erörterungen, wie über das Verhältnis der Philologie, der 
Altertumswissenschaft und der Philosophie zu einander über die 
historische Entwickelung der Sprachen, über das ästhetische Kiemen t 
in der Sprachbildung, femer pädagogische Fragen, die gerade in 
der Gegenwart eifrig diskutiert werden, wie das Verhältnis des 
Humanismus zum Realismus; auch mancherlei Stilfragen 
kommen zur Erörterung. Hermann ist ein strenger Anhänger der 
humanistischen Jugenderziehung und daher jeder etwaigen 
Gymnasialreform nach der realistischen Seite hin ahhold. 
Bei der Wichtigkeit, welche diese Frage heute hat, gestatte ich mir, 
einige Sätze aus dem betreffenden Kapitel den Lesern mitzuteilen : 



„Das klassisch-humanistische Bildungsprinzip ist die Basis oder der 
Mittelpunkt des ganzen höheren oder gelehrten Schulunterrichts, als der Vorstufe 
fär die höchste und rein wissenschaftliche Bildungsanstalt der Universität. 
Daher besitzt dieses Prinzip eine tiefe und durchgreifende Bedeutung für das 
ganze neuere Leben, indem von ihm alle diejenigen, auf denen die fernere Bil- 
dung, Leitung und Regierung dieses letzteren beruht, die ganze geistige 
Aristokratie der neueren Gesellschaft selbst, ihren Ausgang nehmen. 
Es ist dieses zunächst etwas historisch Gegebenes oder durch eine lan^ährige 
ununterbrochene Erfahrung und Tradition Festgestelltes, dass nur durch das 
Altertum zu wahrer wissenschaftlicher Bildung und vollendeter 
geistiger Humanität gelangt werden könne; daher wird unser eigenes 
wissenschaftliches Leben durchaus auf die Grundlage der antiken oder huma- 
nistisch-klassischen Geistesbildung gestellt und es lebt in dieser das Altertum 
überhaupt noch in stetem Zusammenhang unter uns fort. Dieses Prinzip aber 
hat successiv verschiedene Anfechtungen, Modificationen und Verunstaltungen 
zu erfahren gehabt; teils ist die Art seiner Pflege nicht immer diejenige ge- 
wesen, wie sie die für die Erreichung seines allgemeinen äusseren Zweckes, der 
in der geistigen Bildung selbst enthalten liegt, geeignet und erfordert war, teils 
ist durch das sich eindrängende Geltendmachen anderer rein moderner, 
namentlich mathematisch - naturwissenschaftlicher Elemente 
der Bildung die ausschliessende Herrschaft jenes Prinzips überhaupt zurück- 
gedrängt und in Frage gestellt worden. Aber alle Erziehung hat sich davor 
zu hüten, dem eigenen Entwickelungsgange des zu Erziehenden im Voraus zu 
enge Grenzen zu stecken oder das Ziel dieses letzteren als solches in falscher 
Sebstüberhebung mit zu grosser Bestimmtheit vorgreifend festsetzen zu wollen; 
Eraehnng überhaupt aber ist notwendig und namentlich ist der Unterricht selbst 
sowohl nach Stoff und Methode ungleich weniger aufzufassen als ein eigener in 



304 Conrad Hennann. 

sich ruhender Zweck, wie vielmehr als ein blosses Mittel der allgemein mensch- 
lichen Anleitung zum Guten und zur Zucht. Die Anwendung des aufge- 
nommenen Wissens für die späteren Zwecke des Lebens ist ein 
teils an sich durchaus unterjjeordneter teils ein dem Prinzip aller 
wahren Erziehung entschieden feindlicher und entg^engesetzter Ge- 
sichtspunkt; der Stoff ist zunächst nur das Mittel, an dem sich die innere Kraft 
üben oder mit welchem kämpfend und ringend sie in sich selbst gestäikt und 
in ihrem wahren Vermögen geweckt werden soll *' 

Innerhalb der letzten 35 Jahre, seitdem Hermann diese Worte 
geschrieben, hat freilich sein streng formalistischer Standpunkt seitens 
der \'orkämpfer des pädagogischen Realismus mancherlei beachtens- 
werte Widerlegung gefunden und ich bezweifle, ob Prof. Hermann 
heute noch an diesen Ansichten so zähe festhalten wird. .\uch 
was er über die bloss erziehliche Kraft der Mathematik und der 
Naturwissenschaften auf die Gymnasialjugend im weiteren sagt, 
dürfte heute nicht mehr zu verteidigen sein, seitdem man die un- 
geheure sachliche Bedeutung dieser wichtigen Disziplinen auch 
für das Leben der höheren Stände kennen gelernt hat. — Hermann 
betont die Notwendigkeit der „unbedingten Prädomination" der 
Sprachen des klassischen Altertums im Unterricht der Gymnasien, 
ohne uns doch zu sagen, wie der Bildungseffekt, den die genannten 
Disziplinen, unzweifelhaft auf die jugendlichen Geister ausüben, 
also die Bildung des Schlussvermögens und der Schärfe sinnlicher 
Beobachtung (jenes durch die Mathematik, dieses durch die experi- 
mentierenden Naturwissenschaften) anderweitig zu ersetzen wäre, 
vorausgesetzt, dass es den humanistischen Ultras wirklich gelänge, 
jene realistischen Disziplinen vom Gymnasialstundenplan wieder zu 
entfernen oder auch nur zu beschränken. Dass allerdings jetzt das 
Vielerlei der heutigen Schuldisziplinen gegenüber der Einheitlich- 
keit der früheren Lateinschule sein Missliches hat, soll nicht in 
Abrede gestellt werden und es bleibt wahr, was Hermann hierüber 
bemerkt: Alle Erziehung hat den Zweck, Menschen d. i. 
geistig und sittlich unabhängige Individuen oder Charak- 
tere zu bilden. Von Seiten des Erziehenden ist überall zu be- 
denken, dass ihm in der zu erziehenden Natur des Einzelnen eine 
vollkommen eigentümliche an kein allgemeines Mass der Berechnung 



Conrad Hermann. 305 

gebundene Kraft gegenübersteht, die durch ihn nur vor Ausartungen 
bewahrt und in dem, was sie durch sich selbst vermag, zur Thätigkeit 
oder Geltung gebracht werden soll. Zur Erweckung und Bildung dieser 
Kraft aber ist von Anfang an immer eine gewisse Einheit und 
Koncentration ihrer Anwendung erforderlich; zugleich aber muss 
der Stoff dieser Anwendung in sich selbst von einer für das Geschäft 
der Bildung oder Erziehung geeigneten Natur sein. Das Vielerlei 
als solches aber zerstreut" 

Indes habe ich mich in der Betrachtimg der ästhetischen 
Anschauungen Hermanns unterbrochen und fahre hier weiter fort. 

Die allgemeine und specielle Kunstlehre hat er in dem 
zweiten Teile seines „Grundriss einer allgemeinen Ästhetik" (S. 
157 — 326) abgehandelt. Die ersten 10 Kapitel (37—75) sind der 
eigentlichen Metaphysik des Kunstschönen (Begriffsbestimmung 
des Schönen, die Harmonie, als Formbestinunung des Schönen, das 
Schöne und Vollkommene, Gliederung des Schönen, das Schöne, 
das Erhabene und Lächerliche u. s. w. gewidmet — Die speci el- 
ler e Kunstlehre, welche für die Poesie eine Poetik und für die 
übrigen Künste eine Technik der Künste in sich schliesst, be* 
handelt dann die Dichtungsarten (insbesondere Epos, Drama und 
Lyrik), die Geschichte der Poesie (nur in grossen Zügen), die Kunst 
nach ihren geschichtlichen Hauptcharakteren (Orient, klassisches 
Altertum und Neuzeit (in der Charakteristik derselben schliesst sich 
Hermann wesentlich Hegel an). Diese historische Gliederung des 
menschlichen Geschmacks ergiebt die Kunstrichtungen des Klas- 
sischen, Romantischen und Modernen, woran sich die Frage 
nach der Möglichkeit eines absoluten Massstabes für die 
Poesie und Kunst aller Zeiten, d. h. nach einer absoluten für alle 
Zeiten giltigen Wertschätzung der Kunst ergiebt. Hieraus würde 
sich etwa das Problem nach einer sogenannten Weltlitteratur und 
Weltkunst in dem Sinne ergeben, wie sie Goethe einst vorschwebte. 
(Vgl. Goethes Aufsatz über Winckelmann Bd. 1 1 und seine Studie 
über Weltlitteratiu: Bd. 12, Ausg. von Heinrich Kurz, Bibliogr. Institut, 
Lpz. 1869). Hermanns Kunstlehre ist, offen gestanden, inhaltlich 
etwas dürftig und leidet gar allzusehr an einem gewissen abstrakten 
Schematismus. Gerade solche in das Gebiet der Litteratur und 

20 



306 Conrad Hermann. 

Kunst eingreifende Untersuchungen bedürfen eines belebenden kon- 
kreten Materials, d. h. vieler Beispiele aus dem Leben und dem Kunst- 
und Litteraturgebiet der Völker. Nur so kann die öde Abstraktion 
unterbrochen werden. Von allen modernen Ästhetikern hat diese 
Kunst der Darstellung Moritz Carriere in trefflichster Weise ver- 
standen, da seine ästhetischen Werke allerdings mit Bezug auf die Form 
der Darstellung, den Glanz und Bilderreichtum, selbst die von Karl 
Rosenkranz und Friedrich Theodor Vischer tibertreffen. 

Das Bild, welches sich der Leser nach dem Vorangehenden 
von Conrad Hermanns philosophischer Bedeutung machen würde, 
wäre sicherlich sehr unvollkommen, wenn wir nicht noch einer Seite 
seiner Forschung unsere Aufmerksamkeit zuwenden würden, welcher 
er seit seinem ersten Auftreten als Schriftsteller sein Denken gewidmet 
hat: der Philosophie der Geschichte. Dieser noch jungen 
Wissenschaft (sind doch erst seit Giovanni Battista Vico's „Principi 
della scienza nuova" kaum 1 70 Jahre verflossen) hat unser Philosoph 
einen grossen Teil seiner philosophischen Lebensthätigkeit zugewandt. 
Aber schon seine Habilitationsschrift, mit welcher er im Sommer- 
semester 1849 ^^ ^^^ Lehrkörper der Leipziger Universität eintrat, 
„Prolegomena zur Philosophie der Geschichte" lässt die 
Richtung erkennen, welche er in der Bearbeitung dieser Wissenschaft 
später einschlagen wird. Es ist im grossen und ganzen ein modi- 
fizierter Hegelianismus, dem er folgt. Unzweifelhaft war der 
junge Leipziger Gelehrte von dem Umfange der Perspektiven wie 
von dem Schwünge und der Kühnheit der Linien, innerhalb welcher 
Hegel die historische Entwickelung der Menschheit gefasst hatte, so 
sehr ergriffen, dass er fortan auf den Bahnen dieses grossen Denkers, 
welcher gerade in Leipzig, bei dem Vorherrschen der Kantischen 
und Herbart'schen Richtung, am meisten bekämpft wurde, wenn auch 
mit einer gewissen Selbständigkeit sich bewegte. Es giebt eine 
ganze Reihe von Punkten, welche Hermann mit der Hegel'schen 
Geschichtsauffassung gemeinsam hat. Schon die ungeheure Wichtigkeit, 
welche er dem Staate, als dem Mittelpunkt des ganzen historischen 
Lebens, giebt, ist ganz im Geiste Hegels. Auch die eigentliche 
Grundfrage, betreffend das Verhältnis der grossen historischen 
Persönlichkeiten zu ihrer Volksgenossenschaft und zu ihrer Zeit, ist 



Conrad Hermann. 307 

im Sinne des berühmten Berliner Philosophen. Hegel war weit 
entfernt, die Bedeutung der „Heroen" in der Geschichte, wie dies 
später von Thomas Buckle und Hippolyte Taine geschehen ist, 
zu Gunsten einer immanenten Volksentwickelung, deren Produkt 
nur jene Persönlichkeiten sein sollen, zu unterschätzen. Das histo- 
rische Werden ist vielmehr das Resultat der Zusammenwirkung von 
grossen Individualitäten und den Volksgemeinschaften. So sehr er 
auch sonst geneigt ist, in seiner Metaphysik das Individuelle und 
Einzelne von der „Idee" aufzehren zu lassen, so lässt er doch in 
der Geschichte der Menschheit den „Persönlichkeiten" ihr volles 
Recht angedeihen. 

Ähnlich ist die Auffassung Conrad Hermanns. Aber dieser ist 
auch weit entfernt, die Bedeutung der Subjekte in der Geschichte, 
wie es Thomas Carlyle gethan hat, zu überschätzen. Die Auffassung 
der Geschichte als einer Geschichte der Persönlichkeiten, heisst es 
in den „Prolegomena" (S. 6) ist die niedere und rohere, die da- 
gegen einer solchen der Völker und überhaupt der Gesamtheiten 
die tiefere und geistigere. Jene sind die uns zunächst entgegentretenden, 
scheinbaren, diese in Begleitung mit den sie umgebenden und 
bedingenden Verhältnissen die wahrhaften und eigentlichen 
Träger der historischen Begebenheiten. Die Geschichte ist nicht 
von Einzelnen gemacht worden; sie hat diese Einzelnen nur in 
derjenigen Eigentümlichkeit, in welcher sie ihrer zu ihrer eigenen 
Vollziehung bedurfte, aus sich herausgetrieben; ihr Fort- 
schreiten ist nicht ein einfach unmittelbares und rein massenhaftes, 
sondern ein wenigstens in seinen markierten Übergängen durch die 
Vermittlung bestimmter persönlicher Organe vorsich- 
gehendes; ihre ganze Gestaltung demnach nicht eine zufallige und 
von verschiedenen unzusammenhängenden Punkten aus bestimmte, 
sondern eine aus ihr selbst notwendige und auf einer einheit- 
lichen Basis beruhende. Aber was von dem Verhältnis der 
grossen Individuen zu ihren Völkern gilt, hat auch von der Beziehung 
ganzer Völker und „gemeinschaftlicher Individuen" zur ganzen 
Menschheit seine Giltigkeit. Auch die Volksindividuen, so wertvoll 
die Resultate ihres geschichtlichen Lebens auch sein mögen, sind 
nicht um ihrer selbst willen, sondern um der ganzen Menschheit 

20* 



tiiff^ Conrad Hermaim. 

willen vorhanden. „Die Zurückfühning der historischen Individu- 
alitäten, nagt Hermann, auf ihren Begriff oder auf die Stellung, 
wclrhe Hie aU Mittel allgemeiner Lebensfunktionen der Geschichte 
f?innehmen, bildet da» höchste Ziel der Geschichtsbetrachtung. Es 
darf die Geschichte zuletzt nur aus ihr selbst, nicht aus irgend 
wclrhcr persönlichen oder sachlichen Zufälligkeit erklärt werden 
können. K» ist kein Raub und keine Verkleinerung der historischen 
i'erHÖnlichkciten, sie zu Organen des Ganzen herabzusetzen, nur 
hierauf beruht ihre distinguierte Stellung vor andern; sie sind 
nicht von aussen in die Geschichte gekommen, sondern es ist nur 
ihr Lebensinhalt ein rein und unmittelbarer historischer 
aJH der der Andern. Die konkrete Farbe, welche der Inhalt der 
(JcMc.hichte durch diese scheinbar persönliche und sachliche Zufällig- 
keit seiner Durchführung gewinnt, stellt sich bei genauerer Betrachtimg 
als ein durchgehend näherer oder fernerer Ausfluss des eigenen 
WcHcns der Menschheitsgeschichte dar." 

Das Wesen des geschichtlichen Prozesses ergiebt sich aus 
dt*m Verhältnisse des Menschen zur Natur. Es ist dies das Ver- 
hältnis von Subjekt zum Objekt. Subjekt sein heisst: Aktivität 
sein; Objekt: Passivität sein. Das Subjekt ist inhaltslos an sich 
seihst, es ist nur die Beziehung auf das Objekt, durch die es sich 
entwickelt und aus der es seinen eignen Inhalt gewinnt; der gegebene 
Inhalt des Objekts bildet fiir seinen zu gewinnenden Inhalt die 
Vonuisset£ung. Nun aber hat der Mensch die Aufgabe, den Inhalt 
der Natur zu überwinden und ihn in die Formen seines 
eignen Seins einzuführen. Der menschliche Inhalt, an sich 
nichts als die allgemeine ideelle Kraft, ist eigentlich nur eine höhere 
Foru\ des Inhalts der Natur Die Uber^'indung des letztem durch 
jenes ideelle Vennögen ist das Wesen des ganzen historischen 
Kulturprorosses. Der Mensch ist ein Teil der Natur, aber ein 
s^v^Kher TeiK ii\ welchem die Natur sich über sich selbst erhebt, 
indem sie ihren Teil sich selbst als ihr Anderes gegenüber stellt 
\\n\ viiesem itesichtspuukte aus ist die menschliche Knhurgestaltung 
^le Nie hier ,uif diesem tellurischen Planeten vor sich geht, nur 
euw VoitsetruUii unvi höhere Stufe des Naturproiesses. 
Die V*^e^>ÄUl\Uu^ der Natxir viurvh den Menschen 



Conrad Hermann. 309 

fache: erstens durch die Erkenntnis ihrer Erscheinungen und Gesetze 
und Dienstbarmachung ihrer Stoffe und Kräfte zu Gunsten des 
Menschen und zweitens dadurch, dass die Natur erst die beding- 
enden Momente aller menschlichen Entwickelung darbietet Die 
Geschichte ist teils eine äussere, teils eine innere: jene ist die fort- 
schreitende Entwickelung des allgemeinen auf die Beziehung des 
Menschen zur Objektivität beruhenden Lebensinhalts; diese besteht 
in den eignen Beziehungen des Menschengeschlechts in seinen 
Teilen und Sonderungen unter einander und in der durch dieselben 
immittelbar bedingten Entwickelung der politischen und gesellschaft- 
lichen Lebenszustände. Aber beide Seiten bedingen sich gegen- 
seitig: Kultur- und Civilisationsgeschichte einerseits und Völker- und 
Staatengeschichte andererseits durchdringen sich gegenseitig als ver 
schiedene Ausflüsse eines und desselben historischen Prozesses des 
Menschengeschlechts. Freilich ist die Geschichte keine streng 
einheitliche im Sinne unmittelbarer und ununterbrochener 
Succession, sondern, da die Träger derselben immer andere sind, 
nur eine mittelbare: ein Verhältnis der Simultanität, welche 
sich mit dem der Succession gegenseitig bedingt. Jeder Moment 
des successiven Fortschreitens des Ganzen knüpft sich an ein 
Moment der simultanen Entgegensetzung einzelner Teile; es ist nur 
die stufenweise erfolgende Aufhebung dieser entgegengesetzten Teile 
in ihrem unterschiedenen Inhalt, durch welche sich die Geschichte 
zuletzt zur wirklichen oder äusserlich wahrnehmbaren 
Einheit der Gesamtheit des menschlichen Lebens, welche bis 
dahin nur eine verborgene oder rein ideale gewesen ist, erhebt. 
Die successive Einheit des historischen Prozesses wird zu einer 
simultanen der sichtbaren Erscheinung werden. Wir finden diesen 
Grundgedanken in dem Verhältnis des Orients zum Occident, den 
beiden Hauptträgern der Geschichte, bestätigt, wie Conrad Hermann 
es in seinem hierher gehörigen umfassenden Hauptwerke, in seiner 
„Philosophie der Geschichte" (Lpz. 1870, Verlag von Friedrich 
Fleischer) nachgewiesen hat. 

Hermann teilt das Menschengeschlecht in die nördliche oder 
hellfarbige und in die südliche oder dunkelfarbige Rasse, von 
welcher die erstere in die kaukasische Varietät im Westen und 



310 Conrad Hennann. 

die mongolische im Osten zerfällt. Dass er den Charakter der 
südlichen oder äthiopischen Rasse in der Passivität findet, durch 
welche Eigentümlichkeit sie überhaupt in die Geschichte eingreife, 
und dass dieses durch die Notwendigkeit bewiesen sei, mit welcher 
die Sklaverei der Schwarzen in Amerika und Afrika bestehe — 
diese ganze Behauptung fallt in sich zusammen, nachdem wir sehen, 
dass' Amerika wirtschaftlich gut besteht, obgleich seit 30 Jahren dort 
die Sklaverei aufgehoben ist. Und was Afrika betrifft, so wäre die 
Macht der arabischen Sklavenhändler bald gebrochen worden, wenn 
es Emin Pascha vergönnt gewesen wäre, seinen grossen Lebensplan 
zu realisieren : die Befreiung und Civilisierung des „schwarzen" Erd- 
teils. Nachdem er aber, wie jetzt ziemlich sicher feststeht, dem 
Dolchstiche eines der aus wohlbegreiflichen Gründen ihm feind- 
selig gesinnten arabischen Häuptlinge erlegen ist, dürfte der grosse 
Lebensplan Emins, — trotz der Antisklaverei-Gesellschaft — noch 
sehr lange seiner Verwirklichung harren. — 

Die Charakteristik der einzelnen Rassen, wie sie Conrad Her- 
mann giebt, bietet wenig Neues. Doch scheint mir das Prädikat 
der mongolischen Rasse Ost- und Nordasiens, dass sie zur Stabilität 
bestimmt sei, historisch nicht ganz gerechtfertigt. Wir sehen das 
Gegenteil an dem Kulturaufschwung Japans. Auch das vermeint- 
liche gegensätzliche Verhältnis der beiden Varietäten der eigent- 
lichen Kulturträgerin, der Kaukasischen Rasse, der indogermanischen 
(der germanisch-skandinavischen, keltisch-romanischen, slavischen 
und arisch-indischen) und der semitischen Varietät ist historisch nicht 
ganz zutreffend, da ein bedeutender Faktor der gesamten modernen 
Kultur, das Christentum, aus der Zusammenwirkung beider (des 
alt-jüdischen Monotheismus und der griechischen Philosophie) ent- 
standen ist. Oder hat vielleicht Schopenhauer Recht, dass das 
semitische Christentum durch den „rein" arischen Buddhismus, 
welcher mehr zur Weltreligion sich eigne, bald abgelöst werden wird: 

Die Erde, auf welcher sich alle Menschengeschichte abspielt, 
ist nicht eine regellose Vereinigung von Umrissen und Grenzen 
ohne bedingendes Gesetz ihres Zusammenstimmens, sondern ein 
regelrechter, auf bestimmten Prinzipien der Gestaltung beruhender 
Organismus, des.sen jeder Teil mit der Idee des Ganzen in einem 



V 

% 



Conrad Hermann. 311 

gesetzmässigen Zusammenhange steht. Dieser „geographische Or- 
ganismus" soll nach Hermann nur durch die Geschichte, die sich 
auf ihm abspielt, verständlich werden. „Die Geschichte, sagt unser 
Geschichtsphilosoph, kann nur in ihrem Einklänge mit der Geographie 
und umgekehrt begriffen werden." Die Erde in ihrer äusseren Gestal- 
tung als geographischer Organismus ist nichts als „das natürliche 
Organ für die Geschichte, welches mit den Zwecken und dem 
Inhalte der letzteren in einem prädestinierten Zusammenhange 
steht; sie ist der körperliche Leib für das geistige Leben des 
Menschengeschlechts, die Spitze der ganzen Gestaltung der Natur, 
durch welche diese jenes seinem Ziele zuführt." Dieses klingt stark 
teleologisch und erinnert gar sehr an die Anschauungen Schellings 
und seiner naturphilosophischen Schule; dass Hermann aber diese 
teleologische Ansicht nicht bloss in seiner grundlegenden Arbeit, in 
den „Prolegomena", darlegt, sondern auch in seinem weitausgeführten 
Werke, in der zwanzig Jahre später erschienenen „Philosophie der 
Geschichte" festhält, geht aus zwei Kapiteln der letzteren hervor: 
„Die organische und die teleologische Ansicht von der Geschichte" 
(21 — 24) und „Das Prinzip des Determinismus in der Geschichte" 
(27 — 33). Im Übrigen betont Hermann im letzteren Werke ge- 
flissentlich überall seinen Gegensatz zu Hegel, indem er sich 
bemüht zeigt, wo es nur irgend angeht, seinen theis tischen Stand- 
punkt hervorzukehren. Doch ist es ihm in dem grossen Werke 
nicht ganz gelungen, die evolutionistischen Prinzipien der „Prolego- 
mena", zu verwischen. — Trotz alledem ist die auch stilistisch vor- 
trefflich geschiiebene „Philosophie der Geschichte" eines der her- 
vorragendsten Werke über diesen Zweig der Historiographie. Die 
gesamte Geschichte der Menschheit, welche nach inneren Prinzipien 
gegliedert erscheint, zieht vor unserem Blicke in grossen Zügen 
wie in einem idealen Abbilde vorüber. Die Charakteristik der 
einzelnen Perioden und Zeitalter ist geistvoll erfasst und scharf 
formuliert und die individuellen Züge der Geschichtsabschnitte treten 
in markanten Linien heraus. — Wenn wir einerseits Friedrich 
von Schlegels halb theologisches Werk über die Phüosophie der 
Geschichte als veraltet ansehen, andererseits Carl Ludwig Michelets 
im strengsten Hegel'schen Sinne geschriebene „Geschichte der 




312 Conrad Hermann. 

Menschheit" (welche übrigens nur bis 1770 reicht) als ein zwar 
geistvolles, aber doch unvollständiges Werk erklären, so dürfte Conrad 
Hermanns Arbeit die einzige sein, welche bei ziemlicher Vollständig- 
keit diejenigen Ansprüche erfüllt, welche man an eine „Philosophie 
der Geschichte", d. h. an eine aus philosophischen Ideen heraus 
entwickelte Darstellung der gesamten Menschheitsgeschichte stellt. 

Im Übrigen ist Hermann auch auf verwandtem Gebiete als 
Historiker aufgetreten in seiner 1867 erschienenen „Geschichte 
der Philosophie", ein auch für akademische Zwecke höchst brauch- 
bares Werk. Auch hier ist die Auffassung in betreff der Anord- 
nung und des spekulativen Sinnes der historischen Systeme schon 
eine ganz andere als es bei Hegel und seinem orthodoxesten Schüler 
Michelet der Fall ist. Die künstliche und vielfach unhistorische 
Stellung, in welche Hegel die Geschichte der Philosophie zur Philo- 
sophie der Geschichte gebracht hat, hat auch Hermann lange Zeit 
beschäftigt, wie eine diese Frage behandelnde Monographie (1861) 
zeigt. Dem Bemühen, von Hegel loszukommen, verdankt jedenfalls 
auch die Schrift „Hegel und die logische Frage" (1878) ihre Ent- 
stehung. Das Buch rührt Diskussionen, die vor 40 Jahren einst 
in Deutschland eifrig gefuhrt wiu*den, zu einer Zeit wieder auf, wo 
Hegels Logik, neben Kants „Kritik d. r. V.", jedenfalls das tief- 
sinnigste \\'erk der neueren Philosophie, kaum noch studiert wird. 

Conrad Hermann, ein geborener Leipziger und ein Sohn des 
grossen Philologen, steht jetzt im 74. Lebensjahre Seit 35 Jahren 
gehört er an unserer Universität zu den geschätztesten Lehrern der 
philosophischen Wissenschaften. 



Hermann ^W^olff *) 

und der philosophische Empirismus. 

Neue philosophische Weltanschauungen gehören zu den sel- 
tenen Erscheinungen im geistigen Leben der Gegenwart. Der auf 
diesem Gebiete noch stark vorherrschende Historicismus einerseits, 
sowie der beherrschende Einfluss einiger grosser Systeme aus der 
ersten Hälfte dieses Jahrhunderts andererseits, endlich der neu er- 
wachte Kriticismus: Alles dieses hat das Aufkommen neuer Welt- 
anschauungen wenig begünstigt. Wo wir jedoch Ansätze zu solchen 
wahrnehmen, da sind es hauptsächlich die Naturwissenschaften, 
auf deren Grundlage man versucht, neue Gedankenbauten aufzu- 
führen, entsprechend dem realistischen Grundzuge der Zeit, welcher 
dem rein spekulativen Elemente in der Philosophie nichts weniger 
als günstig ist. Unter diesen Versuchen heben wir als ein durch 
Umfang, Inhalt und Tendenz hervorragendes Werk hervor, welches 
einen Leipziger Universitätsdozenten, Dr. Hermann Wolff, zum 
Verfasser hat und den unten genannten Titel führt. 

Die bisherigen Publikationen Wolflf's — sie bilden eine statt- 
liche Reihe von Bänden — bewegen sich auf dem Felde der Er- 
kenntnistheorie, der Logik, der Sprachphilosophie und 
der Psychologie. Sie haben sich in wissenschaftlichen Kreisen 
eine gewisse Beachtung errungen und diese verdanken sie wesent- 
lich zwei Eigenschaften ihres Autors: seiner Ehrlichkeit und seinem 



*) Kosmos. Die Weltentwickelung nach monistisch-psychologischen Prin- 
zipien auf Grundlage der exakten Naturforschung dargestellt von Dr. Hermann 
Wolff, Dozent der Philosophie an der Universität Leipzig. 2 Bände. Verlag 
von W. Friedrich, Leipzig 1892. 



314 Hermann Wolff. 

Mute. Denn diese waren es, die ihn befähigten, einen Kampf 
aufzunehmen, der, man mag über Wolffs eigene Leistungen denken 
wie man will, eine unerschütterliche Überzeugungstreue erforderte. 
In einer Zeit, wo Immanuel Kant redivivus, mit dessen Hilfe man 
das gefürchtete Ungeheuer des Materialismus erkenntnistheoretisch 
überwand, fast alle Lehrstühle an den Hochschulen beherrscht, war 
es sicherlich keine Kleinigkeit, gegen die apriorischen Grundlagen 
seines Idealismus zu Felde zu ziehen — ohne doch einem seelen- 
losen und trivialen Materialismus zu huldigen. 

Wolff geriet hierdurch zwischen zwei Feuer und indem er die 
Nachteile einer solchen Stellung — er ist seit fast 20 Jahren 
Privatdocent — auf sich nahm, verdient er die Würdigung 
auch weiterer Kreise als einer jener Bescheidenen, Verkannten und 
Einsamen, die in der heutigen Gelehrtenwelt, in der sich leider 
schon lange ein gewisses Strebertum geltend macht, so selten ge- 
worden sind — — . 

Wolffs philosophischer Standpunkt ist der des realwissen- 
schaftlichen Empirismus. In seinen früheren Arbeiten sich 
mehr dem Realismus Julius von Kirchmanns anschliessend, wie 
dieser ihn in seiner „Philosophie des Wissens" (1864) entwickelt 
hatte, hat Wolff sich später immer mehr selbständig gemacht und 
in seinem neuesten vorliegenden Werke steht er ganz auf eigenen 
Füssen — . 

Schon der äussere Aufbau, die systematische Architek- 
tonik dieses Werkes ist ein wohlthuender. Ein Gedankenprinzip 
beherrscht dasselbe bis in seine kleinsten Teile hinab. Mit Recht 
hat Wolff dem grundlegenden Teile, der „Biontologie", einen ana- 
lytisch-induktiven Teil vorausgeschickt, in welchem er den ganzen 
Reichtum des kosmisch-psychischen Lebens zusammenfasst und sich 
so eine Basis schafft, von welcher aus der spätere Aufbau der Bi- 
ontologie erst verständlich wird. Um aber zunächst von dem 
Reichtum des hier verarbeiteten wissenschaftlichen Materials dem 
Leser eine Vorstellung zu geben, möge es erlaubt sein, auf die 
freie (Gliederung des Cinmdgedankens, wie er hier durchgeführt ist, 
in Kürze hinzuweisen 

Nach einer einleitenden Betrachtung über Methode und 



Hermann Wolflf. 315 

Ausgangspunkt aller philosophischen Forschung, geht der Ver- 
fasser vom menschlichen Individuum, als Objekt physiologischer und 
psychologischer Behandlung — zusammen der Mikrokosmus — aus. 
Im bewussten Ich — als der unmittelbaren Synthese der körper- 
lichen wie der [psychischen Existenz, sieht er seinen festen und 
sichern Ausgangspunkt. Aber durch diese Synthese bahnt er sich 
zugleich den Weg für eine Behandlungsweise beider Gebiete — 
des körperlichen und seelischen, durch welche er im Folgenden das 
eine nicht ohne das andere betrachten kann: eine unseres Er- 
achtens durchaus neue und fruchtbare Methode, welche ja in letzter 
Instanz auf jenen Monismus hinführen muss, wie er vorbildlich und 
in unerreichbarer Tiefe in Spinozas einheitlicher Weltbetrachtung 
gegeben ist. In weiterer Ausführung dieses Gedankens ergeben 
sich dann als erster Teil zwei Parallelismen physischen und 
psychischen Lebens — welche Gegenstände der Anatomie des 
körperlichen Lebens einerseits, und der Individualpsychologie an- 
dererseits, dann wiederum der Embryologie des Organismus einer- 
seits, und der Entwickelung des seelischen Lebens andererseits sind. 
— Diese Gegenüberstellung körperlicher und seelischer Entwicke- 
lung nach ihrer gegenseitigen Bedingung und Beeinflussung ist in 
physiologischer Hinsicht — man denke nur an die postembryo- 
nalen Erscheinungen der Mataplasis, der Anaplasis und der Kata- 
plasis — nicht minder interessant, als in Bezug auf die Nutzan- 
wendung in der Intellektual-, Gemüts- und Willens pädagogik. Hier 
kommen auch die wichtigen Unterschiede der physischen Entwicke- 
lung und der psychischen Entfaltung zur Sprache. Unterschiede, 
welche auf eine noch in der Zukunft in der Lehre vom Charakter 
mit Bezug auf die schwere Kunst der Pädagogik von un- 
berechenbarer Bedeutung werden dürfte. 

Diese ganze Betrachtung war dem Menschen, als physisch- 
psychischem Wesen, als Mikrokosmus des Weltalls, gewidmet. Nun- 
mehr gabelt sich die Darstellung des Verfassers, indem er im 
zweiten Teil versucht, die Welt des Makrokosmus einerseits nach 
ihrer körperlichen Erscheinungsweise und zwar zunächst als or- 
ganische Natur erstens nach ihrer systematischen, mid zwar 
sowohl nach ihrer vegetativen als animalischen Gliederung, zweitens 



316 Hermann Wolff. 

nach ihrer morphologischen, drittens nach ihrer biologischen 
Seite hin zu analysieren. Bilden diese mannigfaltigen und gestalt- 
reichen Lebensprozesse aber erst den Inhalt der organischen Welt, 
so sind die folgenden Betrachtungen den Funktionen derselben 
gewidmet, wie die Wissenschaft der Ontogenie, der Phylogenie der 
organischen Natur — nach dem Vorgange des genialen Häckel — 
den Inhalt der Physiologie und der Psychologie der organischen 
Natur darstellen. Dieser letztere Teil, in welchem die wichtigen 
und schwierigen Probleme der Pflanzenpsychologie, der Tierpsycho- 
logie, der Zellenpsychologie — hier besonders mit Rücksicht auf 
die Forschungen Ferdinand Cohns und Wilhelm Wundts — der 
Sprachpsychologie, der Sittenpsychologie, der Kultur- und Völker- 
psychologie erörtert sind, — ist in dieser Vollständigkeit und 
Systematik meines Wissens noch nirgends so entwickelt worden. 
Unter den mannigfaltigen anziehenden Partien gerade dieses Ab- 
schnittes will ich nur auf den geistvollen und scharfsinnigen Nach- 
weis einer Anwendbarkeit des HäckeVschen biogenetischen 
Grundgesetzes auf die Prozesse des psychischen Lebens hin- 
weisen. 

Es folgt als dritter Teil die Entwickelung der anorganischen 
Welt, als Unterbau des Makrokosmus, auf welchem sich die or- 
ganische und psychische Welt erhebt. Dieser in sieben Abschnitte 
gegliederte Teil stellt sich zur Aufgabe den Nachweis, wie sich die 
gesamte anorganische Natur im wissenschaftlichen Bewusstsein 
der Gegenwart spiegelt. Hier tritt uns nun vor Allem der Bau 
und die Anordnung der anorganischen Welt entgegen: der unend- 
liche Weltenraum, das Fixsternuniversum, die Nebelwelterscheinungen, 
das Sonnensystem, die Planeten, die Asteroiden, Trabanten, Kometen, 
Meteore u. s. w. Ein grosser Abschnitt hiervon ist der Ent- 
wickelung des psychischen Welltalls gewidmet. In gleicher Weise 
wird die Morphologie der anorganischen Natur — immer mit 
Rücksicht auf die prämorphologischen Verhältnisse — und 
zwar sowohl der Fixsterne, als der Sonne, der Planeten, und un- 
seres Erdkörpers, inbezug auf den letzteren dann die geologischen 
Formationen, die mineralogischen und chemischen Formbildungen, 
die Krystallisations- Erscheinungen und ihre Systematik, dann die 



Hermann Wolff. 317 

schwierigen Fragen des Heteromorphismus und des Isomor- 
phismus u. s. w. erörtert. Der folgende Abschnitt (III). ist der 
Chemie der anorganischen Natur gewidmet, ein reiches und 
reichhaltiges Kapitel, in welchem die grossen Probleme der elemen- 
taren Wirksamkeit der Naturgesetze, insbesondere die wichtige Mole- 
kular- und Affinitätstheorie in ihrer Anwendung auf die moderne, 
von Robert Mayer und Helmholtz aufgestellte Lehre von der Er- 
haltung der Kraft oder der mechanischen Wärmetheorie, dann vor 
allem das Grundproblem aller modernen Naturforschung, die Atom- 
theorie, entwickelt wird. 

Der sich hieran anschliessende Abschnitt (IV.) ist wesentlich 
naturphilosophisch. Hier wird nun zunächst eine Kritik an der 
Atomentheorie — als dem Versuch, die letzten Teile der elemen- 
taren ürstoffe zu ergründen — geübt, aber Wolff sucht auch die 
Bedenken zu beseitigen, welche gegen diesen Versuch erhoben 
worden sind. Die kurze Übersicht über den Entwickelungsgang 
der Atomistik ist, historisch genommen, im Allgemeinen richtig. 
Doch würde Wolff wohl Einiges anders formuliert haben, wenn er 
das soeben erschienene höchst verdienstliche Werk von Kurd 
Lasswitz „Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton" 
(2 Bde. 89 — 91) schon gekannt hätte. Aber schon hier bahnt sich 
Wolff den Weg zu seinem späteren System der „Biontologie", indem 
er abweichend von der gewöhnlichen physikalischen Anschauung 
und mehr in Anlehnung an Fechner und Lotze das Atom als 
„Kraft- und Energiecentrum" fasst. Hieraus ergeben sich ihm wich- 
tige Konsequenzen, da er auf Grund der Unterscheidung von 
potentieller und kinetischer Energie jene drei bereits von Newton 
erkannten und in seiner „Philosophia naturalis princ. mathem." 
entwickelten Gesetze ableitet, welche in jedem Akt der Hervor- 
bringung der Arbeit in einem System von Atomen zur Geltung 
kommen: Das Beharrungsgesetz, das Gesetz des bündigsten 
Kausalnexus im kosmischen Geschehen und das Gesetz der 
Gleichheit oder Homogenität der Materie. Als Endresultat 
ergiebt sich unserm Forscher, dass nicht, wie bisher, der mechanische, 
sondern ein dynamischer Atomismus oder eine atomistische 
Dynamik als Grundlage aller materiellen Weltprozesse angenommen 



318 Hermann Wolff. 

werden müsse. „So ist das Weltall, bemerkt Wolflf, seinem letzten 
naturwissenschaftlichen Was nach zurückgeführt auf eine bestimmte 
Quantität wirkungsföhiger, potentieller Energie — die weder vermehrt 
noch auch vermindert werden kann, — deren Überführung in kine- 
tische Energie und alle die sinnlichen Erscheinungen, die dieselbe 
anzunehmen fähig ist, der Weltentwickelungsprozess ist. Und damit 
sind wir an die Grenze des naturwissenschaftlich-induktiv Erreich- 
baren gelangt." Bd. I. S. 306 fg. 

Doch dürfen wir den Verfasser nicht beim Wort nehmen; 
denn er ist noch lange nicht am Schluss seiner naturphüo- 
sophischen Betrachtungen angelangt. Erst der folgende Abschnitt 
beschäftigt sich eingehender mit dem, was man die „Geschichte" 
der anorganischen Natur nennt. Wir sind gewöhnt, das Wort Ge- 
schichte in unserm engeren menschlichen Sinne zu nehmen und 
dadurch sehr kleine Vorstellungen auf die unendlichen Zeiträiune 
des geschichtlichen Naturwerdens zu übertragen. Aber schon der 
grosse Geologe Cotta sagt: „Was man Weltgeschichte zu nennen 
pflegt, ist nur der letzte und kürzeste Akt der Geologie." (Ein- 
leitung zu den „Geologischen Bildern.") Doch ist hier nicht von 
dieser menschlichen, sondern von der natürlichen Weltgeschichte 
die Rede, in welcher wir wesentlich drei grosse Perioden zu unter- 
scheiden haben: und zwar i) die bis zur Entstehung des Fixstern-Uni- 
versums oder der selbstleuchtenden Sonnen, 2) die bis zur Ent- 
stehung der Erden, und 3) die bis zur Entstehung des organischen 
Lebens auf unserem Planeten. Was vor der Entstehung des Fix. 
sternen-Universums gewesen ist? „Denken wir uns, sagt der Ver- 
fasser, das Universum nach seiner anorganischen Gestaltung, in 
seinen Nebeln, Sternhaufen, Fixsternen, Erden und Trabanten auf- 
gelöst zu den es bildenden Elementen und diese wieder zu den 
Atomen, aus deren Bewegung alles Leben seinen Ursprung nimmt. 
Statt eines geordneten Geftiges haben wir von Anfang an nur den 
Zustand einer chaotisch wogenden Masse, in welcher, wenn wir nur 
die Anziehung der Materie haben, der ganze Kraftvorrat dieses 
gegebenen Systems als Massenbewegung der kleinsten Teile 
vorhanden sein wird. Alles ist von Anfang an finster und dunkel. 
Chemische Kräfte, Elektricität, Magnetismus und Wärme werden 



Hermann Wolff. 319 

erst später auftreten, wenn ein Teil der inneren Arbeit in diese 
Form der Bewegung kleinster Teilchen umgesetzt worden ist. Erst 
wenn eine hinreichende Menge mechanischer Arbeit in Wärme 
tibergegangen ist, wird die Materie sichtbar werden, d. h. die 
Bewegtmg der kleinsten Teilchen wird den Alles erfüllenden „Äther** 
erschüttern und sich als „Licht" fortpflanzen. „Es ist die Nacht, 
die sich das Licht gebar," wie Goethes Mephistopheles es genannt hat. 

Wollen wir uns, um mit Ovid zu sprechen, in dieses „Chaos 
indigestaque moles," welches weder Wärme noch Licht, weder che- 
mische noch elektrische Prozesse kennt, hineinwagen? E^ genüge, 
zu konstatieren, dass diese chaotische Masse unzählbare Milliarden 
von Jahren brauchte, um sich in den „Kosmos,** d. h. zu einem 
geordneten Weltall mit seinen Sonnen, Planeten, Trabanten zu ent- 
wickeln. Die Gesetze dieses Weltprozesses sind bisher immer noch 
die von La place und Kant aufgestellten. Weniger Überein- 
stimmung der Ansichten freilich herrscht über die Thatsache des 
ersten Auftretens des organischen Lebens auf unserer Erde, 
insbesondere über das Problem der generatio spontanea oder aequi- 
voca. Doch kann man sagen, dass die meisten der namhaften 
Forscher der Gegenwart, (einer der eifrigsten Fürsprecher der 
Selbstzeugung ist bekanntlich Ernst Häckel in seiner „Generellen 
Morphologie*') der Hypothese einer Autogonie oder Selbst- 
zeugung zuneigen. Wir folgen auch nicht dem Verfasser in der 
Schilderung der einzelnen Erdepochen, Erdrevolutionen bis zur Auf- 
nahme organischen Lebens und während der organischen Perioden. 
Mit Vorliebe, ja mit einer gewissen Wollust pflegen Astrophysiker 
und Paläontologen ihre Phantasie durch jene unermesslichen Zeiträume 
schweifen zu lassen und ab und zu pflegen auch die poetisch ge- 
stimmten Gemüter unter ihnen sich in Betrachtungen über die 
„Erhabenheit" der Natur zu ergehen. 

Diesen Herren hat der Kantianer Schiller schon bemerklich 
gemacht : 

„Schwatzet mir nicht so viel von Nebelflecken und Sonnen! 
Ist die Natur nur gross, weil sie zu zählen Euch giebt? 
Euer Gegenstand ist der erhabenste freilich im Räume ; 
.\ber, Freunde, im Raum wohnt das Erhabene nicht." 



320 Hermann Wolff. 

Ich gehe auch auf die folgenden beiden Abschnitte (VI und 
Vll), welche uns in das Specielle der physikalischen Gesetze und 
Erscheinungen der anorganischen Natur einführt, nicht weiter hier 
ein, weil solches weit über den mir zugemessenen Raum und den 
Zweck dieser kritischen Studie hinausgehen würde. Wohl aber 
scheint mir bemerkenswert die Art, wie Wolff schon hier sich die 
Wege ebnet, um die Fieser auf die Grundlehre des Bd. FI seines 
Werkes vorzubereiten: ich meine nämlich die hier schon gemachten 
Andeutungen in Betreff der seelischen Äusserungen in der 
anorganischen Natur. Ich sage „Andeutungen". Denn was hier 
über gewisse chemische Verhältnisse und Beziehungen der Körper 
von grösserer oder geringerer Affinität oder über die Gesetzlich- 
keit der Krystallisationserscheinungen in der Bildung von Flächen, 
Linien und Winkeln, oder gar über die sogen. Weltharmonie als 
äusseren Ausdruck eines inneren einheitlichen Lebens des Univer- 
sums gesagt wird, geht eben über den Charakter blosser aphoristi- 
scher Andeutungen nicht hinaus. Haben ja schon Männer wie Co- 
pernikus und später Her seh el, ersterer in seinem Werke „De 
orbium coelestium revolutionibus" Nürnberg 1 543 (libr. I cap. IX), 
letzterer in seinem „Treatise of Astronomy" (London 1833) ähnliche 
Bemerkungen gemacht. Aber hier hätte sich dem Verfasser ja ein 
reiches Feld der Ausbeute dargeboten. Er brauchte nur eine der 
Naturphilosophien aus der Schellingschen Schule, etwa eines der 
Bücher des phantasievollen Steffens oder des tiefsinnigen Schubert, 
oder das Werk des eigentlichen Systematikers dieser Schule, Lorenz 
Okens, „Lehrbuch der Naturphilosophie" (3 Bde., 3. Aufl. 1843), 
insbesondere seine wundervolle Studie „Über das Universum, ein 
pythagoräisches Fragment", die ideenreichste und tiefste Schrift der 
ganzen naturphilosophischen Schule, zur Hand zu nehmen. Aber 
eine natürliche und wohl begreifliche Scheu hielt unsem Empiriker 
ab, der überall ängstlich bemüht ist, die Grenzen wissenschaftlicher 
Thatsächlichkeit inne zu halten, zu jenen mystischen Quellen hinab- 
zusteigen, wohl wissend, dass er damit den exakt-empirischen Cha- 
rakter seines Werkes verlassen würde. „Cave Metaphysicam" ! denkt 
er mit den Jansenisten von Porte-Royall Nicht als wenn es unserm 
Denker an einem mystischen Elemente fehlte — welcher wirkliche 



Hermann Wolff. 321 

Philosoph darf und kann dieses Elements entbehren? — nein, 
Wolff ist viel zu viel Realist, um nicht ängstlich bedacht zu sein, 
von der Thatsächlichkeit der Welt durch Konzessionen an die 

Phantasie etwas zu verlieren 

Jch würde aber der Eigenart dieses Forschers und seines 
Werkes viel gerechter werden, wenn mir der Raum erlaubte, Über 
den bisherigen Gang der Darstellung einen kurzen orientierenden 
Rückblick zu werfen, bevor ich mich anschicke, den zweiten grund- 
legenden Band einer Analyse zu unterziehen. Es würde sich 
aus diesem Rückblick ergeben, dass der Verfasser in seinem 
Rundgang „Durch den ganzen Kreis der Schö[)fung" wesent- 
lich bemüht war, das Entwickelungsprinzip auf allen Sta- 
dien des Universums nachzuweisen, und wie insbesondere jener oben 
angedeutete Parallelismus zwischen der physischen und psychischen 
Welt auf jeder ihrer beiderseitigen Stufen die Kntwickelungsrichtimg 
nach Aufwärts zeigt. Entsprechend dem .Ausgangspunkte diese» 
Werkes, vom fertigen entwickelten Menschen, als der individuellen 
Synthese der körperlichen und seelischen Welt, konnte der Verfasser 
in umgekehrter Linie nachweisen, wie in der Individual|>»ycho- 
logie, welche in der heutigen Wissenschaft einen hohen (Jrad der 
Ausbildung schon erlangt hat, die Tierpsychologie, die Voraussetzung 
und Vorstufe für die menschliche Seelenlehre, wie dann die 
Pflanzenpsychologie ^die freilich noch in ihren Anfängen liegt) 
die Vorstufe für die Lehre von der Tiersct:le biUlet und wie end- 
lich die seelischen Äusserungen in dem /ellenreiche wiedf!nim die 
Vorstadien zu den seelischen Funktionen des I'tlanzen-, 'l'ier- und 
Menschenlebens sind. Ist es ein zu gew;igtfrr Schhiss, dass das frei- 
lich nur sporadisch und zusammenhan^slfis wahrnehmbare Seelen- 
leben in der anorganisr h^Mi Natur wiederum die l'asis f<lr die 
Zellenpsychologie bildet, wie ja psyrholoj(isr h die anorganischen Kie- 
mente und Stoffe die r;nindinge tir die Körperli/ hkeit der 
pflanzlichen und tierischen Zelle bilderi? f'ndblirken wir von ''ler 
Individualpsychologie aufwärts, werden wir ni^ht hier in ^l'-n m 
thropologischen Erfahrungen die Vor'iuss'rtznna^fri /'i ■;'K'ri''n h^'^f^u, 
aus welchen die j jngste r,ller Cieistrswissens/ haften, ^i*- K»^ ;*r<e 
sogenannte Völkerp^ycholoj/ie sir h ans ihrem nof.h ;(/jr -lehr 



322 Hennann Wolff. 

chaotischen Zustande zu einer wirklichen Wissenschaft entwickeln 
wird? 

Aber gestehen wir nur, diese ganze bisherige Betrachtung hat 
eine Menge Lücken gezeigt, neue Fragen angeregt und gar manche 
Probleme ungelöst gelassen. Das Kausalitätsbedürfnis des Forschers 
ist wohl angeregt, aber auf der Wanderung durch dieses gewaltige 
Naturgemälde nicht völlig befriedigt Dieser erste Band weist uns 
also auf einen zweiten hin, welcher die grundlegenden Prinzipien 
und Ideen entfalten soll, aus welcher sich erst eine befriedigende 
Lösung aller hier wachgerufenen Zweifel, Probleme und Fragen 
ergeben werden. 

Der Band II führt den Titel: „Biontologie. Versuch einer 
psychologisch-ethischen Erklärung des Daseins". War es 
also die Aufgabe des ersten Bandes, die naturwissenschaftlich- 
psychologische Weltauffassung der (Jegenwart zu entwickeln, um 
so eine wissenschaftlich allgemein anerkannte Basis zu schaffen, 
auf welcher sich das neue Welterklärungsprinzip stützen kann, so 
ist es Zweck und Ziel des zweiten Teiles, diese Welterklärung, d. h. 
eine Ableitung der gesamten physischen, psychischen und ethischen 
Welt aus diesem Prinzip heraus zu geben. War also dort das Ver- 
fahren ein wesentlich empirisch-induktives, so muss es hier in 
der Hauptsache ein deduktives sein. Kam es dort darauf an, 
Erscheinungen physischer und psychischer Natur auf ein ihnen zu 
Grunde liegendes Allgemeine zurückzuftihren, so wird es hier die 
Aufgabe des Verfassers sein müssen, aus dem Gesetz die Thatsache, aus 
dem allgemeinen Prinzip die Erscheinung herzuleiten. Wie die Objekte, 
so korrespondieren und ergänzen sich auch die Methoden oder 
vielmehr ein und dasselbe Objekt, die Welt in ihrer phy- 
sisch-psychischen Doppelgestalt, wird aus zwei entgegen- 
gesetzten Gesichtspunkten betrachtet. Ist das hierbei zu Grunde 
liegende Realprinzip wahr, so müssen die Resultate der einen wie 
der anderen Betrachtungsweise sich decken: „Du combat des con- 
traires sort la veritd". 

Der zweite Band gliedert sich in ähnlicher Weise wie der erste 
in drei Teile, welche zusammen wiederum 12 Abschnitte bilden. 
Ein Teil dieser Kapitel ist metaphysisch-erkenntnistheore- 



Hennann Wolff. 323 

tischen, ein anderer ethischen, wieder ein anderer pädagogischen 
Fragen gewidmet. Doch muss ich mir hier erlauben, gegen die 
Einteilung und Anordnung dieses Bandes gerade aus methodo- 
logischen Gründen einen Einwand zu erheben. Die ganze Gedanken- 
gliedenmg des Werkes liess erwarten, dass der zweite Band mit der 
„Biontologie", i h. der Entwickelimg der Lehre von den „Bionten" 
beginnen würde: denn diese bilden das neue von dem Verfasser 
zum ersten Male ausgesprochene Realprinzip, aus welchem heraus 
er glaubte, das gesamte Universum erklären zu köimen. Alles 
andere, was als physische, psychische und ethische Erscheinung auf- 
tritt, durfte, konsequent gedacht, nur aus dieser Voraussetzung heraus 
deduziert werden. Statt dessen sehen wir jedoch die ganze Ethik 
(in Abschnitt I — VIII) vorweg genommen und daim erst den meta- 
physischen Teil, die „Biontologie" folgen. Aber seitdem es eine 
systematische Philosophie giebt, ist die Metaphysik inmier als die 
Grundlage der Ethik und diese als Konsequenz jener gedacht worden: 
erst das Sein, dann das Sollen. Schon die Notwendigkeit 
eines engeren Anschlusses des ersten an den zweiten Band, von 
denen jener die Welt nach ihren natürlichen Gesetzen und Phäno- 
menen, dieser nach ihrem wahrhaften inneren Wesen, oder, um mit 
Kant zu reden, gewissermassen als erkennbares Ding — an — sich be- 
trachtet, erforderte die Voranstellung der Metaphysik. Zwar hat 
der Verfasser dem Band I eine erkenntnistheoretische Einleitimg 
und den Titel „Idealismus und Realismus" vorangeschickt. 
Doch kann diese vermöge ihrer aphoristischen Kürze (S. I — 15) den 
Übergang nicht genügend vermitteln. Dass der Verfasser das Fehler- 
hafte dieser Anordnung selbst gefühlt hat, ersieht man aus der 
etwas gezwungenen Begründung derselben auf S. 1 5 : „Beinahe jeder 
Abschnitt des ersten Bandes schloss mit dem Hinweis, dass der 
Kulminationspunkt der kosmischen Entwickelung in einer durch die 
Leuchte der wahren Erkenntnis sich vollendenden Moral bestehe. 
Wie könnten wir darum hoffen, an des Daseins letzte Fragen heran- 
treten zu können, weim wir nicht erst diesen Höhepunkt alles Lebens 
uns zur wissenschaftlichen Erkenntnis gebracht hätten?" Gerade um- 
gekehrt, verehrter Kollege! Weil die Ethik den Höhepunkt des 
Lebens bildet, musste sie methodisch richtig hinter „des Daseins 

21* 



324 Hermann Wolfl". 

letzte Fragen", oder aber, als empirische Thatsachenwissenschaft 
gefasst, an den Schluss des ersten Bandes gebracht werden. Letzteres 
wäre aber nach der ganzen Gliederung dieses ersten Bandes, der 
mit blossen „Andeutungen" über die seelischen Äusserungen der 
physischen Welt schliesst, völlig ausser allem sachlichen Zusammen- 
hange gewesen. — Doch lassen wir diesen methodischen Fehler 
auf sich beruhen und wenden uns dem Inhalte dieses zweiten Bandes 
näher zu. 

Hier übergehen wir zunächst den ganzen Teil IV (i. bis 
8. Abschnitt), welcher das Moralproblem umfassend, den Inhalt und 
die Gesetze der Moral behandelt (Bd. II, S. i6 — m), um später 
auf diese wichtigen Fragen zurückzukommen, und wenden uns so- 
fort dem Kern des ganzen Werks, der „Biontologie" zu Diese 
neue metaphysische Lehre Wolffs füllt hier den ganzen Theil V 
(I. bis 4. Abschnitt) aus. Auch hier beginnt der Verfasser wieder- 
um mit erkenntnistheoretischen und methodologischen Erörterungen. 
Er unterscheidet eine „sinnliche Idealerkenntnis" und eine „psy- 
chische Realerkenntnis", wobei zu bemerken ist, dass hier Ideal- 
erkenntnis" im Sinne von „Erscheinungserkenntnis" ge- 
nommen ist. Was dann „Psychische Realerkenntnis", als 
Ciegensatz zu jener erstem sein soll, ist mir, offen gestanden, nicht 
ganz klar geworden; vennutlich meint der Verfasser damit die auf 
das Wesen der Dinge gerichtete, also metaphysische Erkenntnis. 
Wir haben also richtig vennutet, dass die „Biontologie" eine nach 
Inhalt und Methode geltende Metaphysik sein soll; um so weniger 
allerdings verstehen wir jetzt die Voranstellung der Ethik vor die 
Methaphysik. Dadurch schwebt die erstere völlig in der Luft, um 
so mehr, als der Verfasser selbst hier unmittelbar an den Schluss 
des Bandes I, an die Lehre von der Atomistik seine „Biontologie" 
anknüpft. Und diese Anknüpfung ist auch ganz richtig und na- 
türlich. Denn nichts Einfacheres und Selbstverständlicheres als das 
„Atoui" in ein „Bion" zu verwandeln, freilich nicht das Atom der 
heutigen mechanischen Naturauffassung, sondern das einer künftigen 
dynamischen Atomistik. Mit welchem Rechte jedoch Dr. Wolff 
der heutigen mechanischen Auffassung ihre baldige einstige Umwand- 
lung in eine dynamische prophezeit, wollen wir dahingestellt sein lassen. 



Hermann Wulff. 325 

Für unsern kritischen Zweck genügt es, darauf hinzuweisen, 
dass das neue Prinzip der Biontologie sich auf einen Stand- 
punkt der Naturwissenschaften stützt, der nicht der heutige, allgemein 
anerkannte, sondern ein in der Zukunft liegender ist. Denn das 
mag Herr Kollege Wolff nur bedenken, dass der extreme Dyna- 
mismus, wie ihn z. B. noch Schopenhauer in seinem Werke „Über 
den Willen in der Natur" mit allen jenen Konsequenzen von „Le- 
benskraft" und dergleichen vertritt, von exakten Vertretern der 
gesamten heutigen Naturforschung völlig verworfen wird. Es mögen 
ja einzelne Naturforscher der dynamischen Weltauffassung sich zu- 
neigen \ die Mehrzahl der Physiker (einschliesslich der Astrophysiker) 
und Physiologen stehen auf dem Standpunkte Pankrahe's, wie er ihn 
in seiner Schrift „Das Rätsel von der Schwerkraft" entwickelt hat. 
Erklären wir aber mit dem Verfasser diesen seinen W^echsel auf 
die Zukunft des Dynamismus für gilt ig, dann ist alles in Ordnung: 
Das Atom ist dann ein Energie- und Kraftcentrum. Die Energie 
ist entweder potentielle oder kinetische, so zwar, dass im W^eltent- 
wicklungsprozess fortdauernd und ununterbrochen potentielle Ener- 
gie (Kraft) entsteht, welche ohne Unterlass in die verschiedenen, 
sinnlich wahrnehmbaren Fonnen der kinetischen oder der Be- 
wegungsenergie verwandelt wird. Nun wird weiter der physische 
Begriff „Kraft" und der psychologische Begriff „Begierde" nach dem 
Vorgange von Copernikus, John Herschel und Schopenhauer iden- 
tisch gesetzt und das Übrige ergiebt sich ebenfalls von selbst. 
Atom, als das Kraft- und Energiecentrum, ist dann der Träger 
desjenigen Elements, wodurch die Begierde, d. h. der Drang zum 
Leben, getragen wird. Wo nun aber Begierde in Wirksamkeit ist, 
da sind auch Gefühle und intellektuelle Regungen vorhanden. 
„Denn jede Begierde, sagt Wolff, wird durch Gefühle in Anregung 
gebracht und jede Begierde ist auf ein zn verwirklichendes Ziel, welches 
durch den Intellekt gegeben ist, gerichtet." Nun schliesst unser 
Philosoph weiter: „Ist also in der sinnlich wahrnehmbaren Kraft 
in Wirklichkeit Begierde in F'unktion, dann sind ebenso mit ihr 
Gefühle und intellektuelle Regungen — wie dunkel und geheim- 
nisvoll auch immer — in Funktion. Eins ohne das andere ist 
physisch unnachweisbar." 



326 Hermann Wolff. 

Damit kommen wir zum letzten Gliede unserer Schlusskette: 
Fassen wir also die Atome (immer vorausgesetzt den dynamischen 
Atomismus) als die physikalischen Kraft- und Energiecentren psy- 
chisch, d. h. erweitem wir sie zu Centren von Begierden mit 
Gefühlen von intellektuellen Regungen und bezeichnen wir diese 
Centren als Träger des Lebens, so haben wir damit die Lebens- 
centren, also die Bionten (jJt6fii = leben, ro ^tot5v = das Lebende) 
gewonnen: quod erat demonstrandum Wir haben also statt der 
bisher giltigen kleinsten, körperlichen — geistige Wesen als die 
Träger des Weltlebens erhalten und an Stelle der Demokritisch- 
Epikuräisch-Gassendi'schen Körperchen treten niedliche WolflTsche 
Geisterchen, von welchen ausschliesslich alle Bewegtmg imd alle 
Thätigkeit im Universum ausgeht: ein wahres Geisterreich, welches 
alsbald die bisherige Herrschaft des Materia lismus in die des Spi- 
ritualismus umwandeln mlisste. Und wie selbst überrascht und 
berauscht von seiner grossen Entdeckung, ruft der Verfasser mit 
Faust aus: 

„Die Geisterwelt ist nicht verschlossen. 
Dein Sinn ist zu, dein Herz ist tot! 
Auf, bade, Schüler, unverdrossen 
Die irdische Brust in Morgenrot I'' 

Wolflf thut sich allerdings viel zu Gute darauf, dass er mit 
seinen Geisterchen, den „Bionten", keine neuen Wesen in die 
Wissenschaft eingeführt, sondern die vorhandenen Atome gewisser- 
massen nur vergeistigt habe und dass daher seine „Biontologie" 
eine einfache Fortsetzung des dynamischen Atomismus sei. 
Zunächst ist darauf zu erwidern, dass der dynamische Atomismus, 
wie schon oben bemerkt wurde, nicht der mechanische Atomismus 
der wirklichen heutigen Naturwissenschaft sei und dass eine solche 
„Erklärung" und „psychologische" Weiterführung des letzteren für uns 
nicht einmal sinnlich erkennbaren, sondern nur hypothetisch ange- 
nommenen körperlichen Elements nur dann eine Art von Ver- 
söhnung von Naturwissenschaft und Philosophie sein würde, wenn 
es gelungen wäre, das mechanische „Atom" in das „Bion" zu 
verwandeln — was meines Erachtens, so lange man das Atom so 
nimmt, wie es die heutige Naturforschung auft'asst — als die kleinsten 



Hennann Wolff. 327 

Körperteile, denen nur Unteilbarkeit Bewegung und Gestalt zukommt 
und die qualitativ völlig indifferent sind — nimmermehr möglich 
ist. — Dass aber solche Versuche, das starre, leblose Atom in ein 
geistiges Kraftcentrum zu verwandeln, in der Geschichte der Philo- 
sophie doch nicht so ganz neu ist, wie der Verfasser anzunehmen 
scheint, beweist die berühmte Monadologie des Leibniz, der, um 
beide Gebiete, die Naturwissenschaft und die Philosophie, in eine 
engere Verbindung zu bringen, die Atome, welche Gassendi, Des- 
cartes und Newton nach dem A'orbilde der alten griechischen 
Atomistiker noch ganz physikalisch fassten, mit Vorstellungskräften 
begabte und nach Massgabe grösserer oder geringerer Vorstelliuigs- 
kraft unendlich verschiedene Stufen ihrer Entwickelung und zwar 
in aufsteigender Linie annahm: das sind die bekannten Leibniz*schen 
Monaden, Vorstellungsträger von verschiedenster Kapacität, in denen 
sich die Welt, d. h. die Unendlichkeit der übrigen Monaden auf 
unendlich verschiedene Weise spiegelt — . Diese unleugbar geist- 
reich gedachte Hypothese geht jedoch in eine gewisse Künstlichkeit 
über, sobald Leibniz daran geht, aus diesen in unendlicher Ab- 
stufung sich kreuzenden Vorstellungscentren vermittels einer Art 
Analysis des Unendlichen die Bewegungs- und Veränderungsprozesse 
des Weltalls abzuleiten und zu berechnen — . In ähnlicher Weise 
verhält es sich mit den „Realen" Herbarts, aus denen dieser nicht 
minder künstlich, wenn auch höchst scharfsinnig in seiner „Syne- 
chologie" (dem 2. Teil der Metaphysik) die materielle Natur erklärt 
Freilich ist Wolff besser daran als Leibniz und Herbart, da 
er die reich und methodisch entwickelte exakte Naturwissenschaft 
unseres Jahrhunderts vor sich hat, aus welcher er nur mit vollen 
Händen zu schöpfen brauchte, um fiir seine Theorie eine Fülle 
von Thatsachen und Belegen beizubringen. Bevor er aber an das 
wichtige Geschäft der Verifikation seiner Hypothese geht, 
sucht er sich den Begriff und die Tragweite seiner „Bionten" mög- 
lichst klar zu machen. Doch geben wir dem Verfasser in diesem 
seinem eigensten Gebiete selbst das Wort: i) „Die Bionten sind 
das reale Was, das An sich der Dinge, der bleibende beharrliche, 
unvergängliche Träger des Seins, alles Lebens und aller Entwickelung, 
der natürlich gegebene Hintergrund alles sinnlich-phänomenalen 



328 Hennann Wolff. 

Erscheinungslebens. Sie vergehen nicht; sie altem nicht; ihr Inhalt 
ist Sein, Leben, Bewegung, Entfaltung. Ihrem Wesen nach haben 
wir sie uns so einfach wie möglich, so unseelisch wie möglich, so 
materiell wie möglich vorzustellen. Von den Atomen der Natur- 
wissenschaft unterscheiden sie sich nur dadurch, dass ihr Inhalt 
nicht mehr die unverstandene Kraft, sondern die verstandene Be- 
gierde mit Gefühl und Intellekt alles Daseins, sowohl des 
sinnlich materiellen, wie des seelischen, ist. Was wir mit Ma- 
terie und Seele zu bezeichnen pflegen, sind nur verschiedene 
Entwickelungsstadien desselben einheitlichen Urstoffs." 

2) „Unermesslich an Zahl sind sie von Hause aus ihrem Wesen 
und Inhalte nach vollkommen gleich. Ihrem Wesen nach sind es 
lebende Existenzen, Lebenscentren der einfachsten Art, ihr Inhalt 
sind die Anlagen zu Begierde, Geftihl und Intellekt. Dieselben 
wirken zunächst völlig unbewusst. Bewusstsein, Selbstbewusstsein 
sind Entwickelungsstadien, die erst auf den höheren und höchsten 
Stufen der Bethätigung her\'ortreten Ihr Sein ist Leben und dieses 
besteht in dem Drange zu der Entfaltung der in ihnen schlummern- 
den Anlagen." 

3) „Dieselben können nur entfaltet werden durch einen Ver- 
kehr der Bionten unter einander Daher stehen sie insgesamt in 
einem gegenseitigen Einflüsse auf- und untereinander. Derselbe ist 
bedingt durch das Leben derselben; er zeitigt die in ihnen schlum- 
mernden Anlagen. Welcher Art aber dieser ist, dafür fehlen der 
Sprache, welche ja vorwiegend durch die sinnlichen Daten bestimmt 
ist, die Worte. Nur gleichnisweise können wir andeuten : Der Ein- 
fluss ist ein derartiger, wie wenn zwei Persönlichkeiten instinktiv 
zu einander hingezogen oder aber instinktiv von einander abge- 
stossen werden. Was dieses bewirkt, ist die seelische Verwandt- 
schaft oder der seelische Gegensatz. So wittert Gretchen an 
„Faust" schon von ferne den Mephistopheles und fühlt sich unwill- 
kürlich instinktartig von ihm abgestossen. Denselben Zug seeli- 
scher Verwandtschaft oder seelischen Gegensatzes bestätigt auch 
das Leben. Gleichheiten ziehen sich an, Gegensätze stossen 
sich ab; aber ebenso gilt auch das Wort: Gleichheiten stossen 
sich ab, (Gegensätze ziehen sich an. In dieser Weise müssen wir uns 



Hermann Wolff. 329 

auch den Verkehr der Bionten unter einander und den dadurch be- 
dingten Einfluss denken." 

4) „Dieser Einfluss ist der reine Ausdruck des Lebens und 
Geschehens. Befreit noch von jeder logischen Reflexion ist er 
ein freier. Die Bionten sind ihrem Wesen nach frei. Diese 
Freiheit gehört zu ihrem Grundwesen. Erst wenn an diese von 
Natur aus gesetzte Freiheit der logische Reflexionsprozess 
von Ursache und Wirkung herangebracht wird, verwandelt sich 
das Geschehene in Kausalität und die vorangehende Freiheit in 
logische Notwendigkeit. Alsdann steht alles in dem immanenten 
gesetzmässigen Kausalnexus, wie solchen die Naturforschung unserer 
Tage fordert. Diese (?) Freiheit ist aber keine Gesetzlosigkeit, 
sondern birgt die höchste Gesetzmässigkeit in sich. Sie ist die 
Bedingung alles Geschehens in der Welt." 

5) „Als lebende Wesen verdanken sie inämlich die „Bionten") 
ihren Ursprung einem Urwesen: (iott, als den Inbegriff alles 
Lebens. Nur lebende Wesen können aus Gott, als dem geistigen 
Urwesen, ihren Ursprung nehmen. Eine Vorstellung von diesem 
Akte können wir uns nicht machen; die Sprache und das reflek- 
tierende Denken bezeichnen ihn beziehungsweise mit Schöpfung 
aus nichts. Die religiöse Entwickelung dokumentiert die Er- 
innerung an diesen Akt. Sie beginnt mit einer dunklen Gottes- 
ahnung und erhebt sich von da bis zu einer klaren Erkenntnis 
dieses Verhältnisses." 

6; „Die Entfaltung der schlummernden Anlagen dokumentiert 
sich sinnlich als der Entwickelungsprozoss des kosmischen 
Lebens. Jene ist der reale metaphysische Hintergrund der Aus- 
bildung für dieses zur sinnlichen Erscheinung gelangende Leben. 
Die Entfaltung strebt eine Ausbildung aller Anlagen an, und dieses 
zuletzt in einer normalen, völlig ethisch-harmonischen Weise. Die 
Moral ist die Quintessenz, der Höhepunkt, der tiefinnigste meta- 
physische Gehalt alles kosmischen Lebens und jeglicher kosmischen 
Entwickelung. Die Weltordnung ist in Wahrheit eine durch und 
durch moralische. Sie ist bedingt durch die Gleichheit der Urwesen 
und durch das natürliche Streben, die in ihnen gesetzten Anlagen 
in einer völlig gleichen, zuletzt ethisch-hanuonischen Weise zur Ent- 



330 Hermann Wolff. 

faltung zu bringen. Die vollendete Moral ist die vollkommene 
Harmonie des Weltalls. Ihr strebt alles kosmische I^ben zu.** 

7) Die sinnliche Erscheinung dieses grossen Entfaltungs- 
prozesses ist das kosmische Leben. Er manifestiert sich in drei 
Stufen. Die anorganische Natur repräsentiert das Nachtleben 
der Bionten; die organische das Dämmerungsleben, die Kultur- 
entwickelung endlich das Erwachen des Tages und das Tag- 
leben der Bionten. Durch diesen Entwickelungsprozess gelangt 
das biontische Leben zur Selbsterkenntnis, welche schliesslich die 
wirksamste Unterstützung für die moralische Bethätigung ist" Bd. IL 
S. 119 — 121. 

In diesen sieben Sätzen haben wir gewissermassen die Quint- 
essenz der Wolff sehen Biontenlehre, deren weitere und speciellere 
Ausführung in den folgenden Abschnitten 2, 3 und 4 dieses V. 
Hauptteils des Werkes erfolgt. Bevor wir jedoch in diese speciellen 
Darlegungen eingehen, möchten mir uns zu den obigen Hauptsätzen 
selbst einige Bemerkungen gestatten: 

Zunächst sollen nach 2) die Bionten qualitativ ihrem Wesen 
und Inhalt nach alle gleich sein und doch wird unter 4) von einer 
grösseren oder geringeren Gleichheit oder Gegensätzlichkeit derselben 
gesprochen, wodurch ihr Verkehr und ihre Entfaltung bedingt 
sein soll. Hier liegt ein Widerspruch vor. Femer: die Bionten 
sind an sich frei, so lange an sie nicht der „logische Reflexions- 
prozess von Ursache und Wirkung herangebracht wird", oder mit 
anderen Worten, so lange sie nicht dem Kausalitätsgesetze 
unterworfen sind. Zunächst entsteht hier die Frage, wann tritt 
das Kausalitätsgesetz an sie heran? W^enn wir noch so weit in die 
Zeit zurückgehen, immer sehen wir die Herrschaft desselben, sowie 
wir überhaupt das Dasein einer Wirklichkeit ohne dieses C besetz 
uns gar nicht vorstellen können. Liegt hier schon ein unlösbarer 
Knoten vor, so wird er noch dadurch verwickelter, dass die Bionten 
vorher, d. h. bevor an sie die kausale Notwendigkeit herantrat, 
,frei" waren, ohne dass sie jedoch aufhörten, in höchster Gesetz- 
mässigkeit zu agieren. „Frei", d. h. keinem Gesetz, keiner Norm, 
keiner Regel, keiner Notwendigkeit unterworfen und „in höchster 
Gesetzmässigkeit", also doch einer höheren, sei es in ihnen selbst 



Hermann Wolflf. 331 

li^enden und über ihnen stehenden Norm und Notwendigkeit 
unterworfen sein: das ist ein zweiter Widerspruch. Aber abgesehen 
davon, welche „Gesetzmässigkeit" soll dies sein, wenn nicht eine 
kausale, und ist es diese, welche später erst an die „Bionten" 
herantritt? Wenn es aber keine kausale Gesetzmäsigkeit ist, unter 
welcher die Bionten in ihrem vomattirlichen Dasein (Hegel würde 
sagen: Die Idee der Welt vor der Weltschöpfung) sich befinden, 
welche andere könnte es dann sein? Der Verfasser hat es ims 
nicht verraten. — Oder vielleicht das Gesetz der Identität, d. h. 
A=A? Dies ist eine solche Gesetzmässigkeit, welche ohne die 
Kausalität bestehen kann. Aber das Identitätsgesetz besteht ja auch 
für die wirklichen Dinge; es würde also das ideelle, d. h. vorkausale 
Dasein der Bionten nichts Unterscheidendes, Charakteristisches und 
Auszeichnendes an sich haben. Hier liegt ein dritter Widerspruch. 
Auch das sub 5) Gesagte erregt nicht geringes Bedenken. 
Hier heisst es: „Als lebende Wesen verdanken sie ihren Ursprung 
einem Urwesen, Gott, als dem Inbegriff alles Lebens." Dieser 
teistische Satz kommt hier ohne Not und auch völlig unmotiviert 
hineingeschneit Gott soll also die Bionten schaffen und zwar hat 
diese „Schöpfung aus nichts" sogar einen biblischen Beigeschmack. 
Quel embarras de contraires! Zunächst ist der Begriff Gottes 
hier völlig neu und steht ausser allem Zusammenhange mit den 
vorangegangenen Entwickelungen. Dann diese Biontenschöpfung 
aus Nichts l Oben sub i) wurden sie die „bleibenden, beharrlichen, 
unvergänglichen Träger alles Seins" genannt („sie vergehen nicht, 
sie altem nicht"); folglich sind sie unvergänglich, d. h. ewig. Was 
aber ewig ist, hat weder ein Ende in der Zukunft, noch einen 
Anfang in der Vergangenheit, folglich können sie nicht ge- 
schaffen sein. Zwar könnte Wolff sich hier auf zwei grosse Vor- 
gänger berufen, auf Plato und Leibniz, von denen jener in der 
„Idee des Guten", dieser in der „monas monadum" eine Art Deus 
ex machina, jener in seine Ideenlehre, dieser in seine Monadologie 
hineingebracht haben. Aber bei Plato schaflt die „Idee des Guten" 
oder eigentlich die „Zweckidee", da sie der Träger der Teleologie 
der Welt ist, die übrigen Ideen nicht. Als altattischer Republikaner 
konnte ihm die königlich monarchische Herrschaft einer einzigen 



332 Hermann Wolff. 

Idee nicht behagen: bis zu einem gewissen Grade ist sie in dem 
Adelsstaat der Ideen auch nur par inter pares (vielleicht so etwas 
wie der aQ%av Intlwfiog in der alten Verfassung), wie es seinem 
aristokratischen Sinne entsprach. Gottfried Wilhelm Leibniz 
jedoch, dessen ganzes politisches Leben dem Ausgleich (bald 
zwischen dem Papst und dem Kaiser, bald zwischen diesem und 
den Territorialfürsten, dann wieder zwischen diesen und ihren Ständen, 
dann wieder zwischen dem Katholicismus und dem Protestantismus 
u. s. w.) gewidmet war, brauchte für seine Monadenwelt, in der 
jede Monade vorstellend das ganze übrige Universum in sich, wenn 
auch in verschieden abgestufter Klarheit, spiegelt, einen Ausgleicher, 
der die unausgleichbaren (Gegensätze, die aus diesen gegenseitigen 
Spiegelungen entstehen, vermittelt, und so musste er eine höchste 
Monade haben, welche den Grund der harmonia praestabilata 
der Welt in sich trägt. Aber weder Plato noch Leibniz liessen 
ihre „Ideen" resp „Monaden" aus einem Schöpfuugsakt hervor- 
gehen. 

Ein eigentümliches Bedenken ist mir sub 6) aufgestossen. 
Dort heisst es: „Die Entfaltung (der „Bionten" nämlich) strebt eine 
Ausbildung aller Anlagen an, und dieses zuletzt in einer nor- 
malen, völlig ethisch-harmonischen Weise." Das verstehe 
ich nicht, noch weniger aber das Folgende: „Die Moral ist die 
Quintessenz, der Höhepunkt, der tiefinnerste metaphy- 
sische Gehalt alles kosmischen Lebens und jeder kos- 
mischen Ent Wickelung." Wie vorhin die Theologie, so schneit 
hier die Moral ganz unmotiviert in die Betrachtung hinein. Auch 
steht dieser Satz nicht in Übereinstimmung mit der Stellung, die 
der Verfasser der Ethik zwischen der Naturphilosophie und der 
Metaphysik (nämlich am Anfange des Bd. II), wie ich oben be- 
merkt habe, angewiesen hat. Aber abgesehen von diesem rein 
formellen Fehler verstehe ich nicht recht, wie nach dem Bisherigen 
die obigen Sätze zu begründen wären. Gewissl Die Ethik erhebt 
sich über die Physik. Diese hat die (Gesetze der Welt des That- 
sächlichen, jene die Normen und Prinzipien festzustellen, welche zur 
Schaft'ung einer idealen Welt des Sollens führen. Beide aber finden 
ihre Begründung in der Metaphysik, welche die letzten Gründe der 



Hermann Wolff. 333 

realen und der idealen Welt, sei es in ihrer Identität (Monismus), 
sei es in ihrer \'erschiedenheit ^Dualismus) zu entwickeln hat Woln 
strebt offenbar einem Monismus zu ^der eigentlich bei ihm eine 
Art aufsteigender Trinität ist: Gott, die Bionten und die Atome). 
Aber mir ist die Brücke noch nicht sichtbar, welche ^gerade vom 
Standpunkt der „Biontologie**) von der Physik zur Ethik hinüber- 
fuhrt. Vielleicht hat der Herr Verfasser gerade durch die fehler- 
hafte Stellung, die er der Ethik in seinem System angewiesen hat, 
sich die Sache imnötiger Weise erschwert. Dann aber die Haupt- 
sache: wo nimmt Wolff die Berechtigung her, aus seinem streng 
kausalen Weltzusammenhang, der jede Zweckidee ausschliesst, die 
Forderung des Sollens, d. h der Schaffung einer über die phy- 
sische hinausgehenden ethischen Welt aufrecht zu erhalten? Oder 
liegt das Recht hierzu in seiner Metaphysik, also in seiner Lehre 
von den „Bionten" etwa begründet? Diese „Urwesen" sind in sich 
völlig gleich, wie wir oben gesehen haben und der Grund aller 
Weltentwickelung liegt in ihrem Streben, „die in ihnen gesetzten 
Anlagen in einer gleichen Weise zur Entfaltung zu bringen." Aber 
wo liegt hier das Ethische? „Gewiss, könnte mir Wolff antworten, 
alles, was ihre „Welt des Sollens" je hervorzubringen vermag, ihr 
ganzer ethischer Inhalt, liegt bereits als „Anlage" in den Bionten, 
folglich ist hierdurch der Übergang von der Physik zur Ethik ge- 
geben." Wirklich? Wir werden später bei dem Problem der Frei- 
heit sehen, wie weit dieser eventuelle Einwand meine Bedenken 
aufzuheben imstande ist. Denn gerade, um dieses hier vorweg 
zu nehmen, beim Problem der Freiheit muss es sich entscheiden, 
ob Wulffs Monismus echt und konsequent durchgeführt ist. Alle 
idealistische Ethik setzt eine Vernichtung der Physis zu Gunsten 
des Ethischen voraus, so bei Kant, so bei Fichte („\h\s Weltall ist 
der Schemel meiner Pflichterfüllung"). Wogegen alle realistische 
Ethik ^Spinoza-Hegel und seine Schule, Schleiermacher, Wundt u. a.j, 
die ethischen Motive und Zwecke in dieser thatsachlichen Welt 
suchen und ihre Ausgestaltung anstreben. — Und nun endlich sagt 
Wolff: „Die vollendete Moral ist die vollkommene Harmonie des 
Weltenalls. Ihr strebt alles kosmische Leben zu." Wollen wir nicht, 
wie einst der alte tiefsinnige aber leider allzu mystische Schellingianer 



334 Hermann \\o\S. 

Krause^j über der terrestischen, noch eine planetarische 
oder gar eine kosmische Menschheit anndimen, welche so ziem- 
lich trotz der Verschiedenheit ihrer physischen Bedingungen das- 
selbe psychische Leben und dieselben ethischen Vorstellungen 
haben soll — , ich sage, wollen wir nicht in diesen Abgrund von 
Phantastik uns stürzen, so entsteht die Frage, mit welchem Recht 
können wir das Wort ,,ethisch" über die Dimensionen dieses unseres 
Planeten Erde, den wir bewohnen, hinaus, auf etwaige kosmische 
Bewohner von ähnlicher Organisation und ähnlicher seelischer Ent- 
wickelung wie wir, übertragen? Befinden wir uns hierbei noch in 
den Grenzen und auf der „Grundlage der exakten Naturforschung?'' 
Doch muss ich mir eine Analyse der WolflTschen Ethik für später 
vorbehalten, und mich jetzt der oben unterbrochenen Analyse der 
Biontologie zuwenden. 

Wir befinden uns eigentlich jetzt mitten in der Naturphilo- 
sophie Wolffs, und zwar zunächst in jener Region, die er das 
„unbewusste Nachtleben der Bionten" nennt, im Reiche des An- 
organischen, wo das Atom herrscht, imd die chemischen und physika- 
lischen Kräfte die Welt aufbauen. Hier sehen wir: 

„Wie alles sioh zum Ganzen webt, 
Eins in dem Andern wirkt und lebt! 
Wie Himmelskrafte auf- und niedersteigen 
Und sich die goldenen Eimer reichen! 
Mit segenduftenden Schwingen 
V^om Himmel durch die Elrde dringen, 
Harmonisch aXV das All durchklingen/* 

Ja wohll „Harmonisch all' das All durchklingen", wie Goethe 
sagt in Erinnerung an jene dunkle altpythagoräische Lehre von der 
klingenden Welt-Hamionie, deren schwacher Wiederklang uns noch 
in unseren mathematisch-musikalischen Ton Verhältnissen erreicht 
Strebt ja doch unsere ganze moderne Atomistik und Astrophysik 
einer mathematischen Grundlegung zu, nach deren weiterem Ausbau 



♦) Vcrgl. Krauses .,Urbild der Menschheit** (2. Aufl. 1819, S. II7 fg.). 
Die beiden Hauptwerke Krauses, abgesehen von allem Andern, was später seine 
Schüler wie Leonhardi, Ahrens, Lindemann u. A. herausgegeben haben, sind: 
„Vorlesungen über das System der Philosophie" (1828) und „Vorlesungen über 
die Grundwahrheiten der Wissenschaft" (1S29). 



Hermann Wolff. 335 

die alte pythagoräische Ahnung von der grossen musikalischen 

Weltharmonie eine exaktere Gestalt annehmen dürfte 

Ach! ihr armen Klaviertrommler, Virtuosen, Kontrabassisten und 
Komponisten, dann könnt Ihr mit Euren Präludien, Symphonien, 
Arien und Ouvertüren einpacken, wenn wir erst die Gesetze dieser 
Weltenmusik erforscht haben und — eine Kleinigkeit! — unser akus- 
tisches Gehör, bei einem etwas beschleunigteren Tempo in der Höher- 
bildung des menschlichen Organismus, erst im Stande sein wird, die 
Welt-Symphonien zu gemessen. Wer wird dann noch auf den Singsang 
Eurer Primadonnen und Tenöre und das Jammergezirpe Eurer Instru- 
mente hören wollen! Und Ihr Wagnerianer-Jünglinge, freut Euchl Wenn 
Ihr das Bischen ästhetisches Gehör bis dahin noch nicht ganz einge- 
büsst habt, werdet Ihr eine „Unendliche Melodie" von ganz anderem 
Kaliber zu hören bekommen, und — ohne teures Entree. 

Doch bis dahin kann noch eine lange Zeit vergehen. Die 
nächste Aufgabe der Wissenschaft ist es, die physische Welt nach 
ihrer mathematischen Gesetzmässigkeit zu erkennen. Hier möchte 
ich nur beiläufig — des bekannten bisher ungelösten Grundproblems 
in der heutigen Atomistik erwähnen, wie bei aller Voraussetzung 
einer zufälligen Atombewegung in den Resultaten derselben 
doch eine mathematische Gesetzmässigkeit sowohl in den 
Bewegimgen der Weltkörper, als in den Molekularbewegungen in 

den Einzelkörpern sich ergeben kann Doch liegt uns diese 

schwierige Frage hier nicht im Wege. Wir schreiten in der Analyse 
des WolfTschen Werkes weiter und gelangen an den Punkt, wo 
aus der Biontenbewegung sich der sogenannte Weltäther bildet. 
Biontenbewegung? Wer gab ihnen die erste Bewegung? Gott, 
würde Hermann Wolff antworten. Das führt uns auf die alte Streit- 
frage in der Aristotelischen Metaphysik vom ngärov xlvovv und 
vom Aivrjtdr, vom ersten Beweger und vom Bewegen. Aber der 
erste Beweger darf selbst nicht bewegt sein, sonst kann ei keine 
unendliche Bewegung ausüben. Aber wie kann, fragt der alte 
Stagirite, das (IxLvtjTOv eine xivtfii^f wie kann das Unbewegte eine 
Bewegung ausüben? Wie kann, ins „Biontologische" übertragen, der 
den Bedingungen von Raum und Zeit nicht unterworfene Gott auf 
die doch wohl im Raum und in der Zeit befindlichen Bionten eine 



3o6 Hermann Wolff. 

erste Bewegung ausgeübt haben? Denn jede Bewegiuig ist nur im 
Räume denkbar, und wenn Wolff auch als Antikantianer Kaum und 
Zeit nicht als reine Anschauungsformen, sondern als reale 
Seins formen anerkennen wird (er spricht sich über das wich- 
tige Raum- und Zeitproblem nur kurz aus), so ist damit der 
Widerspruch der ersten Biontenbewegung erst recht nicht beseitigt. 

Doch gehen wir in unserer Betrachtung weiter. Vom Äther 
gelangen wir zum eigentlichen Begriff der Materie, zu den Ele- 
menten und (Grundstoffen der Chemie. In der Frage nach der 
Entstehung der chemischen Elemente und nach dem Wesen der 
chemischen Gesetze befindet sich der Verfasser ganz auf dem Boden 
der heutigen Naturwissenschaft. Hier ist es denn nicht uninteressant 
zu sehen, wie geschickt Wolff die Hypothesen und Thatsachen der 
gegenwältigen Chemie und Physik mit seiner Biontologie zu ver- 
schmelzen gewusst hat. So z. B. meint er in Betreff der chemischen 
Elemente, deren Zahl jetzt etwa 73 beträgt, dass alle ihre Unter- 
schiede in der „periodischen Funktion" ihrer Atomgewichte bestehen. 
Das sagt allerdings auch die heutige Chemie. Nun aber folgert er 
weiter: „Gewicht ist gemessene Kraft. Kraft ist Begierde zum Leben. 
Kommen alle Unterschiede in den Elementen auf periodische 
Funktionen der Atomgewichte hinaus, so heisst dieses mit anderen 
Worten, die Unterschiede sind durch die Anzahl der Gewichts- 
einheiten bedingt, die in dem Atome eines Elements zur Erscheinung 
gelangen. Jede solche Gewichtseinheit nun ist repräsentiert durch 
ein Bion. Bestimmen demnach die Unterschiede in den Gewichten 
der Atome die Unterschiede in den Elementen, so resultieren die- 
selben endgiltig aus der Anzahl der Bionten, welche in dem Atome 
eines Elements vereinigt sind. In einem Elemente, welches schwerer 
ist, werden mehr Gewichtseinheiten oder Bionten in den Atomen 
desselben vereinigt sein, als in einem Elemente, welches leichter ist. 
Alle qualitativen Unterschiede sind auf quantitative zurück- 
geführt und die letzteren sind Unterschiede der Vereinigung der 
Anzahl der Bionten zu den Atomen der zur sinnlichen Erscheinung 
gelangenden Elemente." 

Dieses ist allerdings überraschend einfach: nur gewinnt die 
Sache eine andere (iestalt dadurch, dass der Verfasser es vorge- 



Hamun Wolfif. 337 

zogen hat, das Woit ^\tom'* hier in der Bedeutung von Körper- 
Atom oder, was gebräuchlicher ist, M o l e k u l e zu gebrauchen, während 
er früher immer nur, in Uebereinstimmung mit der heutigen Atomistik. 
das Aet her- Atom darunter verstanden hau Nun sind diese Aether- 
atome nichts als die Bionten (gewissermassen nach ihrer ph)^ika> 
iischen Erscheinung , hiemach würde obige ElntiK-ickelung anders 
lauten, wenn wir überall statt „Atome" „Moleküle" und statt der 
93ionten''„Aetheratome" setzen würden. In dieser Gestalt jedocii ist diese 
ganze biontologische Umdeutung der chemischen Vorgange 
nur ein anderer Ausdruck dessen, was auch die heutige Chemie 
annimmt, z. B. R. Nfartin und Richard Mever. 

Dasselbe Verüadiren (Aetheratome = Bionten- beobachtet der 
Verfasser bei der Darstellung der BOdimg der Weltkörper. Auch 
hier haben die schweren Bionten oder Aetheratome das Innere sich 
gebildet, die leichteren die atmosphärische Hülle, imd die ganz 
leichten erfüllen den Weltraum als Aether: so i^t der astronomische 
Grund des Universums die weitere Stufe „innerer biontischer 
Lebensentfaltung". Aber die Biontenverbiudungen lösen sich auch 
auf, ja, sie sind in einer ewigen Verbindung und Trennung begriffen 
und dieser Vorgang, mataphysisch als Werden bekannt, zeigt sich 
durch das ganze Universum als Leben und Tod. Aber in der 
Natur giebt es keinen wirklichen Tod; denn jede Trennung der 
Bionten ist nur die Bedingung für eine neue Verbindung, d h. für 
ein neues Leben. Freilich ist damit noch nicht der innere Grund 
dargelegt, warum die Bionten sich nach einer Zeit des Zu:>ammen- 
seins nieder trennen müssen. Der Verfasser nennt es das Schick- 
sal, das Fatum der Welt: damit ist nun die Notwendigkeit des 
Vorganges, aber noch nicht der innere Grund dieser Notwendigkeit 
erklärt. Ja, bei der innem (/leichheii der Bionten s. Bd. II , S. 119 
ist eine solche ffUlic tuu vtUog der Urelemente, wie der alte 
Empedokles es nannte, kaum erklärlich. Natürlich werden nun 
auch die höheren physisrhen Lebensformen nach demselben Prinzip 
analysiert, so z. B. die Krystallisation, welche durch Apposiion 
und die organischen Zellen, welche durch Intusception der 
„Bionten" ^ich bilden. Mit dem Begriffe der Zelle tritt die .\nalyse 
in da< Reich des Organischen ein, welches nun eine Weile der 



338 Hermanii Wolff. 

Mittelpunkt der Betrachtung bleibt Wie in der unorganischen 
Niitur die Erscheinungen des Drucks, des Lichts, des Schalls, 
der Wärme und der Elektricität auf der Gemeinsamkeit der 
molekularen Bewegungsvorgänge beruhen, so auch hier im 
Organischen, wo die Funktionen der Ernährung, der Fortpflanzung^ 
der Bewegung und der seelischen Bethätigung ebenfalls die 
molekularen Bewegungen eines jener unorganischen Prozesse gemein- 
sam haben. Nur dass hier im Organischen die genannten Funk- 
tionen gesondert auftreten imd specifische Organe zu ihrer Bethätigung 
besitzen. Und so wiederholt sich jener Grundvorgang, wenn wir 
auch ins Einzelne der organischen Funktionen hinabsteigen, auch 
bei der Ernährung der Organismen in der Stoffaufnahme, Stoffassi- 
milisation und Stoffausscheidung, femer bei der Fortpflanzung, wo das 
Wachstum des Einzel-Iindividuums über das individuelle Maass hin- 
aus in Bezug auf einen Teil desselben ein neues Ganze bewirkt 
und so trotz des scheinbaren Untergangs des Individuums in 
einem neuen modifizierten Einzelwesen die Gattung erhalten wird 
u. s. w. Dass die organische Welt gerade diese vier Funktionen 
zeigt, hat nach Wolff einen teleologischen Grund, damit die Bionten 
zur Ejitfaltung ihrer höchsten Anlagen, und zwar des sog. „Moral- 
faktors" gelangen: wir bitten unsere Leser nachzusehen, was wir 
oben über die „moralische" Spitze der Biontologie gesagt haben. . . . 
In demselben Abschnitt (III. Th. V, Bd. II) findet sich der 
Verfasser auch mit der Darwinistischen Descendenzlehre, 
Kampf ums Dasein, Anpassimg, Vererbungstheorie u. s. w. ab, 
allerdings in einer, wie mir scheinen will, für die Wichtigkeit dieser 
Lehren des Darwinismus etwas zu beiläufigen und zu wenig ausführ- 
lichen Weise. Die grösste und folgenreichste Entdeckung der or- 
ganischen Naturforschung in diesem Jahrhundert durfte zumal in 
einem auf die Thatsachen der heutigen Naturwissenschaft sich 
stützenden philosophischen Werke eine eingehendere Behandlung 
verdienen. Dagegen ist den beiden animalen Funktionen, Bewegung 
und Empfindung, sowie der ganzen Sinnesphysiologie und der sich 
daran schliessenden Erkenntnisfunktion ein weiter Raum gegeben 
(Bd. II, S. 177/9). In dieser ganzen psychologischen Darlegung 
ist ohne Zweifel das wichtigste: die Erklärung des Bewusstseins,. 



HermaoD WolfT. 339 

welches nach Wolff nicht ein Zustand, sondern eine Reihe ununter- 
brochen wiederholter psychischer Akte innerhalb des „Bion", ein 
Bewusstw erden, ist: eine Reaktion des Bion gegen die von 
Aussen her kommenden Erregungen und denmach inneren Verän- 
derungen desselben, die Wolflf „Bewusstseinsqualitäten" nennt. Aber 
mit diesen Akten des „Innewerdens** seines und eines fremden 
Seins zugleich ist zwar der Bewusstseinsprozess beschrieben, aber 
nicht erklärt: es bleibt auf diesem Standpunkte ein Rätsel, wie A 
seiner selbst und Nicht- A zugleich inne werden und als eins em- 
pfinden kann. Hier liegt die Schwäche und die Grenze des Em- 
pirismus. Wolflfs Polemik gegen Ed. von Hartmanns Theorie 
des Bewusstseins („Die Ix)sreissung der Vorstellung von ihrem 
Mutterboden, dem Willen zu ihrer Ven^irklichung und die Oppo- 
sition des Willens gegen diese Opposition") ist zutreffend; denn in 
der That ist diese ganze Definition des Philosophen des Unbe- 
wussten eine geradezu mythologische. Nicht ohne Scharfsinn hat 
dann Wolff die freilich noch sehr hypothetischen Erklärungsversuche 
der Physiologen, betreffend die Vorgänge der Zellendifferenzierung 
im Zellenapparat des Gehirns, auf seine Biontologie übertragen. In 
Betreff der Morphologie des Zellensystems, welche hier ziemlich 
weitläufig und gründlich behandelt ist, stützt sich der Verfasser 
wesentlich auf die .\rbeiten von Nägeli, Kölliker, Häckel u. A., 
wie er überhaupt diesen anatomisch-physiologischen Auseinander- 
setzungen einen nach meinem Gefühl allzugrossen Raum gegeben 
hat. Hier, wo Wolff Gelegenheit hatte, vielfach den Parallelismus 
zwischen Reiz resp. Empfindung und Bewegung zu streifen, wäre 
dagegen der Ort gewesen, die Cirundthatsachen der heuligen Psycho- 
physik, welche die gegenseitige Abhängigkeit jener drei Funktionen 
in quantitativ möglichster Exaktheit darstellt, vom Standpunkte der 
Biontologie zu betrachten. Doch habe ich zu meinem Bedauern 
hier eine empfindliche Lücke wahrgenommen. Interessant dagegen 
sind die Bemerkungen des Verfassers über Zellenseele, Pflanzen- 
seele und Tierseele, .so weit sich in ihnen die Bethätigung des 
organischen und animalen Lebens der Bionten dokumentieren soll. 
Doch müs.sen wir, so verlockend es auch ist, dem Verfasser in 

seinen Kreuz- und Querzügen durch das organische Reich der 

22* 



^^Tl Hcrmana Wolflf. 

Natur zu folgen, diesen ganzen Abschnitt hier verlassen, um nur noch 
einen Blick auf den letzten wichtigen (l\^ Abschnitt der Bionten- 
lehre zu werfen. 

Dieser Abschnitt, der die Anthropologie im weitesten Sinne 
umfasst, beschäftigt sich mit dem „Tagcsleben" der Bionten, im 
(Gegensatz zu dem vorangegangenen Kapitel, welches das y,Nacht- 
leben" derselben betraf. Doch ist diese Bezeichnung insofern nicht 
ganz zutretfend, als ia schon früher das Erwachen und die Theorie 
des Bewusstseins behandelt wurde. Hier sind es nun eine Reihe 
wichtiger Punkte, die zur Sprache kommen, insbesondere soweit sie 
den Menschen, sein anthropolc^isches und psychisches Wesen 
und seine intellektuellen und ethischen Beziehungen zur Gattung 
betreffen. In der Entstehung des Menschen in der Reihe organi- 
scher Wesen auf unserem Planeten sieht Wolff nicht — hier tmter- 
scheidet er sich von den Materialisten und Monisten von der An 
Häckels — die Fortsetzung imd Höherbildung des tierischen 
Lebens, sondern das Hervortreten einer neuen Idee im bionti- 
schen Lebensprozess mit der ausdrücklichen Bestimmtmg, Er- 
kenntnis und Moral zu realisieren. Ihm liegt der Schwerpunkt des 
menschlichen Lebens in der psychischen Bethätigung nach der in- 
tellektuellen und ethischen Seite hin. Hier betont Wolff ausdrück- 
lich den idealistischen C'harakter seines Systems. Und was von 
einzelnen Menschen gilt, hat noch mehr lielttmg von der Gesamt- 
heit der Menschen in ihren eeselischaltlichen und staadichen Ver- 
f>anden: Wis>en5chaft, Kunst und Technik sind und bleiben die 
Höhepunkte aller Kuiturentwickelung, Die Solidarität und Zu- 
sammengehörigkeit aller Indi\iduen der Menschengattung kommt 
hier erst zum adäquaten Ausdruck Das ist das Menschenreich, 
in welchem das Tagesleben der Bionten sich voll und ganz dar- 
stellt. Hierin findet der \erfasser „das metaph\-sische Wesen** des 
.Menschen Daran schiiesst er einige kurze. al>er mehr h)'pothetische 
Erörterungen über die Frage, ob mit dem .\blauf der Periode dieser 
Menschheit ein neuer Elntwickelungsprozess eintreten wird, der etwa 
:zn den heutigen so weit hinausgehen wurde, wie dieser über das 
I'ierleben. Woln vernein: diese Frage aus nicht ganz triftigen 
C^jrjnden. Denn selbst vom ."Standpunkt der Biontol(^e muss man 



Hermann Wolff. 341 

doch annehmen, dass mit den beiden Funktionen Krkenntnis und 
Moral das Wesen der neuen Kntwickelung nicht erschöpft sein 
kann. Also warum soll man nicht eine neue Entwickelungsreihe 
der Menschheit für möglich halten? Die Perspektive in die Unend- 
lichkeit hat immer etwas sehr Tröstliches. Hätte der Verfasser 
diese Frage bejaht, so brauchte er nicht das Problem der indivi- 
duellen persönlichen Unsterblichkeit (II, S. 247) aufzuwerfen. Denn 
seine (xründe in dieser viel ventilierten Frage sind sehr dürftige und 
kaum ernsthaft auf die Sache eingehend. Ktwas gründlicher geht 
Wolff im Abschnitt 8 des Th. III. dieses zweiten Bandes auf das 
Problem ein: „Der empirisch-psychische Realismus und die Unsterb- 
lichkeit". Freilich dürfte es schwer sein, hier den Gründen der 
Verteidiger wie der Oegner der individuellen Seelen fortdauer ein 
wesentlich neues Moment noch hinzuzufügen, weil ohne jene An- 
nahme die auf Erden unmögliche Verwirklichung der sittlichen Be- 
stimmung des Menschen undurchführbar wäre. Kant selbst, welcher 
aus dem psychologischen Wesen der Seele die individuelle Fort- 
dauer abzuleiten für unmöglich hielt, musste sich bekanntlich in das 
Gebiet der Ethik flüchten und jene ganze Forderung für ein „mo- 
ralisches Postulat" der reinen Vernunft erklären. Gustav 'i'eich- 
müller hat das weitschichtige Material in dieser Frage vollständig 
zusammengestellt in seinem interessanten Werke: „Über die Un- 
sterblichkeit der Seele". (Leipzig 1874). 

Wir waren genötigt, in der Analyse des WolfTschen Werkes 
behufs grösserer Klarheit den gesamten 2. Teil „Das Moral- 
problem" zunächst auszuscheiden. Jetzt am Schlüsse unserer Über- 
sicht müssen wir das Übergangene nachholen. Doch erlaubt uns 
zu unserem Bedauern die Kürze des uns zugemessenen Raumes nicht, 
diesem wichtigen Teile des Werkes, welches den Inhalt und die 
Gesetze der Moral behandelt, nach Gebühr gerecht zu werden. 
Wir werden uns also nur auf einige Andeutungen beschränken 
müssen, um dem Leser den ethischen Standpunkt des Verfassers 
klar zu machen. 

Wolff steht in der Ethik auf dem hier allein sichern psycho- 
logischen Boden. Er analysiert die menschlichen Handlungen, 
untersucht ihre Motive und Endzwecke und gelangt zu einem Urteil 



342 Hermann Wolff. 

über das Wesen des sittlichen Momentes im Handeln. Schon die 
Untersuchung der Natur des Begehrens und Wollens ist rein psy- 
chologisch und in derselben Richtung bewegen sich die folgenden 
Abschnitte (II, III und IV), welche das gesamte Geftihlsgebiet im 
Seelenleben, soweit ihnen Motive für menschliche Handlungen ent- 
springen, untersuchen. Wir haben hier eine ziemlicJi vollständige 
Psychologie der Gefühle vor uns, in welcher keine Kategorie 
derselben, von den sinnlichen und ästhetischen bis zu den intellek- 
tuellen, moralischen und religiösen Gefühlen in ihren unendlich feinen 
Übergängen, Nuancen und Schattierungen übergangen ist. Auch 
die sogenannte Mechanik und Statik der Gefühle, ein bisher von 
den Psychologen noch wenig bearbeitetes Terrain, ist hier nach 
den wesentlichen bisherigen Thatsachen und Gesetzen berücksichtigt. 
Diese ganze Welt von Gefühlen wird aber von zwei Grundempfin- 
dungen beherrscht, die überall nur in unendlich modifizierter Form 
und (lestalt wiederkehren: Lust und Unlust, laetitia und tristitia, 
wie die alten Psychologen schon sagten und die Komposition beider 
in den so interessanten, gerade im Gebiete der Ästhetik und der 
Kunst heimischen „gemischten Gefühlen". 

Doch bildet das ganze Gefühlsleben nur erst die eine, die 
eudämonologische Wurzel der Motive für das menschliche 
Handeln. Wie bekannt ist, hat es berühmte und einflussreiche Mo- 
ralsysteme gegeben, die sich überhaupt nur mit dem Eudämonis- 
mus als Triebfeder alles Handelns, begnügt haben. Die zweite 
Motivationsquelle ist nun bei Wolff der sogenannte „Moralfaktor** 
und in dessen näherer Entwickelung besteht nun die eigentliche 
Ethik des Verfassers (Abschnitt 5, 6, 7 und 8). Auch hier sucht 
er nach dem psychologischen Moment, dem „Quellpunkt der Moral'*, 
und findet ihn im Zustande des Respekts oder der Achtung der 
im Wesentlichen gleich organisierten Menschheit voreinander. Ver- 
wandte seelische Zustände sieht er im Staunen, in der Bewunderung, 
im Majestätischen, im Erhabenen. Hieraus ergeben sich für den 
Verfasser acht moralische Grundgesetze, welche ihre Forderungen 
in kategorischer Form aussprechen. Dieselben stimmen so ziemlich 
mit den moralischen Geboten des Dekalogs überein : „Du sollst kein 
falsches Zeugnis ablegen*', „Du sollst die Ehe nicht brechen", 



Hermann Wolff. 843 

„Du sollst nicht stehlen" u. s. w. Bei jedem dieser „Grundsätze" 
zeigt Wolff, wie es auf das Gefühl der „Achtung", sei es vor dem 
Körper, vor der Seele, vor dem Eigentum des andern oder unserer 
selbst sich reduzieren lässt. Hierbei polemisiert er in einer langen 
Anmerkung (Bd. II S. 65 bis 66) gegen Kirchmann, dem er ja 
selbst so mancherlei Anregungen verdankt, und gegen dessen Au- 
toritäten Moral. Ich habe schon vor 6 Jahren die falschen Grund- 
voraussetzungen der Kirchmann 'sehen Ethik nachgewiesen, einer 
Theorie, nach welcher für die Autoritäten selbst (Gott, Fürst, Volk*), 
Vater) das Sittliche oder Gebot gar nicht besteht: Princeps 
legibus solutus, wie die römischen Juristen sagten. Aber der 
Irrtum Kirchmanns besteht darin, dass er das sittliche Moment 
seiner Autoritäten, die ihm eine „lex aeterna" ist, nicht als „ratio", 
sondern als „potestas", ja sogar als „vis" d. h. als Naturmacht fasst. 
Diese über Hallers („Restauration der Staatswissenschaften") und 
noch über Stahls theokratisch-theologische Begründung der Ethik 
hinausgehende Fassung, die dem ehemaligen altpreussischen Demo- 
kraten imd Steuerverweigerer so schlecht zu Gesichte steht, verliert 
jedoch, um gerecht zu sein, viel von ihrem abstossenden Charakter, 
wenn man bedenkt, dass Kirchmann in den „Grundbegriffen des 
Rechts und der Moral" (2. Aufl., Berlin 1873) dieses brutal-na- 
turalistisclie Prinzip doch erheblich zu mindern bemüht ist und 
zwar durch die Ethisieruung des Begriffs Autorität durch den Be- 
griff der „Achtung". Vgl. in dem oben citierten Buche: „Inhalt 
des Sittlichen" S. 63 ff. 

Dass Wolffs jetzige Fassimg (früher war er ja selbst Anhänger 
dieser Autoritäten-Theorie) würdiger, menschlicher und vor Allem 
liberaler ist, gereicht ihm zum Lobe. In den folgenden Abschnitten 
werden dann die wichtigen ethischen Probleme des höchsten Gutes, 
des Tugend- und Pflichtenbegriffs, des Gewissens, des sittlichen 
Charakters etc. entwickelt. Die beiden letzten (7 und 8) Abschnitte 
dieses Teils sind dann den grossen und viel behandelten Fragen 
der „Willensfreiheit" und des „Glücks" gewidmet. (Das letztere in 



•) Vgl. meine „Philosophie der Gegenwart, ihre Richtungen und ihr Haupt- 
vertreter" (Leipzig 1888, Z. 591—640). 



344 Hermann Wolff. 

Form eines dem Plato nachgebildeten Dialogs.) Um hier gleich 
bei letzterem Punkte zu bleiben, so erweist sich Wolff hier als 
scharfer Gegner aller pessimistischen Lebensauffassung, was er dann 
im letzten (III.) Theil dieses zweiten Bandes („Der empirisch- 
psychische Realismus und der Pessimismus", S. 269 ff.) weiter aus- 
fuhrt und ergänzt. Dass dann \N'olff in dem wichtigen 7. Kapitel 
das schwierige Problem der „Willensfreiheit" nicht löst und auch 
von seinem Standpunkte aus nicht lösen konnte, war vorauszusehen. 
Um beiden Teilen, den Indeterministen und den Deterministen, 
gerecht zu werden, hat er der Physik das sinnreiche Gleichnis vom 
Parallelogramm der Kräfte entlehnt, aber ohne doch recht zu 
überzeugen. Aber mit diesem physikalischen Gleichnis selbst („Zwei 
Seitenkräfte wirken auf einen Punkt. Ist die erstere im Verhältnis 
zur zweiten gleich Null, so wird der Ciegenstand in der Richttmg 
der zweiten fortbewegt*, ist die zweite Seitenkraft im Verhältnis zur 
ersten gleich Null, so wird er in der Richtung der ersten fortgesetzt^ 
sind beide Seitenkräfte gleich stark, so wird er nach dem Parallelo- 
gramm in der Richtung der Diagonale des Parallelogramms der 
Seitenkräfte fortbewegt") stellt sich schon der Verfasser auf die 
Seite der Deterministen, obgleich seine Neigung ihn nach der 
Seite der Verteidiger der Willensfreiheit hinzieht. So kommt es, 
dass dieser ganze Abschnitt, wie noch manche andere Kapitel des 
umfangreichen Werkes, nicht wie aus einem Guss heraus gearbeitet 
ist. Die zwiespältige Stellung des Autors zum Problem wirkt daher 
auch auf den Leser zurück. Dr. Wolff hat wohlgethan, diesen 
ganzen der Ethik gewidmeten Teil (S. l — 112) in einer Separat- 
aiisgabe unter dem Titel „Handbuch der Ethik" zu publizieren, da 
er alle Standpunkte, alle Fragen und Probleme der ethischen Wissen- 
schaft hier in gedrängtester Kürze zwar, doch aber vollständig und 
erschöpfend behandelt hat. Behandelt — ob aber auch endgültig 
gelöst? Dies ist freilich eine andere Frage. 

Wir wollen von vornherein zugestehen und anerkennen, dass 
das eudämonistische Moment im Sittlichen in seiner ganzen 
Mannigfaltigkeit und nach allen Richtungen des Gemütslebens hin 
vom Verfasser berücksichtigt worden ist. Dieses allein muss schon 
seiner Ethik, die keine blosse Sammlung von moralischen Vor- 



Hermann Wolff. 345 

schritten ist, einen hohen Wert verleihen. Denn gerade der Reich- 
tum und der Wechsel des psychischen Lebens giebt erst den echten 
menschlichen Hintergrund, auf welchem sich die ethischen Prozesse 
die ja nichts als psychische Vorgänge sind, abspielen. Will man 
aber der Ethik als Wissenschaft in weiteren Kreisen Freunde 
werben, so ist das Verfahren, wie es Wolff eingeschlagen hat, durch- 
aus zweckmässig. Nur durch den Hinweis auf den Reichtum, die 
Fülle und die 'IMefe menschlichen Seelenlebens wird man auch In- 
teresse erwecken für ethische (besetze, denen jene Seelenprozesse 
als Material dienen. 

Dem gegenüber können wir nun in lieantwortung unserer 
obigen Frage, auch mit unseren Hedenken nicht zurückhalten. 

Zunächst scheint mir der Übergang vom „eudämonistischen" 
zu dem „moralischen" Moment nicht genügend vermittelt und 
motiviert, ja zu künstlich und gewaltsam zu sein. Wo liegt die 
zwingende Gewalt des Sittengesetzes r Die durch die Jahrhunderte 
hindurch gehende, durch Vererbung gefestigte Norm lässt eine so 
ausgedehnte und immer grösser werdende Abweichung vom Sitten- 
gesetz, wie sie die Kriminalstatistik aller V^ölker ausweist, unerklärt. 
Hat das Sittengesetz durch Tradition und Vererbung die Kraft eines 
Naturgesetzes erlangt, wo kommen die vielen Verbrechen her und 
vor allem die ausgedehnte unmoralische Gesinnung in unserer Zeit? 
Wie kommt es dann, dass die Gesetzgebung unseres Jahrhunderts 
die Kriminalstrafen, die früher im Sinne des humanen i8. Jahr- 
hunderts gemildert waren, jetzt immer mehr verschärft? Hieran 
schliesst sich naturgemäss die Frage, ob die Individuen und die 
Völker im sittlichen Fortschritt oder Rückschritt begriffen sind? 
Und ob der intellektuelle Fortschritt, welchen die Menschheit 
unzweifelhaft beschreibt, notwendig, wie es doch scheint, mit einem 
moralischen Rückschritt verbunden sein muss? Auf alle diese 
Fragen giebt Wolff hier, wo die Ethik von den Erfahrungen der 
Kulturgeschichte beleuchtet werden müsste, keine Antwort. 

Obige Einwände werden aber nicht erschüttert durch die Art, 
wie Wolff den Charakter des Zwingenden des Moralgesetzes sich 
zu erklären sucht: „Fragen wir uns nun zuletzt, was dieses Moral- 
gesetz bedeute, so kann die Antwort darauf nur lauten: Nichts 



346 Hermann Wolff. 

anderes wie die innere Harmonie in dem Leben und in der Ent- 
wickelung der im wesentlichen gleich organisierten Menschheit. 
Dieses bringt jedes einzelne Gesetz zum Ausdruck. Und daraus (?) 
erklärt sich das absolut Verbindliche, das schlechthin Gebietende, 
die kategorische Form, in welcher jedes einzelne Gesetz Gestalt 
annimmt. Jedes ist ein Ausdruck dieser inneren Harmonie, jedes 
einzelne ist ein Bruchteil derselben, jedes einzelne drückt einen 
bestimmten Teil dieser Harmonie aus^ von jedem gilt das gleiche 
Soll, die gleiche absolute Verbindlichkeit, jedes tritt in der gleichen 
kategorischen Form auf. Ist eines derselben verletzt, so ist mit 
diesem das ganze Gesetz verletzt. Aber erst in ihrer Gesamtheit 
sind sie imstande, dieser Harmonie Ausdruck zu geben, die das 
Wesen der gleichen körperlich-seelischen Organisation mit sich bringt" 

Aber bei aller Anerkennung der Richtigkeit der Voraussetzung 
der im wesentlichen gleichen physiologischen und seelischen Natur 
der Menschen bleibt doch die Frage bestehen, warum die Ab- 
weichungen von der Norm, also im Sinne des Autors, die Störung 
dieser natürlichen Harmonie, d. h. die Immoralität und das Ver- 
brechen, so häufig sind? Ebenso bleibt unsere obige Frage, wie 
das Gesetz der Vererbung innerhalb dieser körperlich-seelischen 
Organisation immer grössere Abweichungen im Verlaufe der Ge- 
schichte der Menschheit hervorbringen konnte, unbeantwortet. 

Um von manchen anderen sich mir aufdrängenden Bedenken 
hier zu schweigen, möchte ich dann dem Zweifel Ausdruck geben, 
ob die Art, wie der Verfasser sich das Verhältnis von Recht und 
Moral denkt, etwa ganz einwandsfrei sei Überhaupt hätten wir 
hier eine methodologische Erörterung über die Prinzipiengemein- 
schaft oder Prinzipiendivergenz von Ethik und Rechtsphilo- 
sophie gewünscht, da von der Entscheidung dieses Punktes eine 
ganze Reihe moderner politischer und socialer P'ragen abhängt. 
Eine heutige Ethik muss aber diese Materie behandeln. Denn die 
Lösung, die WolfF für die Gebrechen im heutigen Gesellschaftsleben 
in der Erziehung sucht, macht zwar seinem Standesbewusstsein 
alle Ehre, kann aber bei weitem nicht genügen. — (Bd. U, Th. VI, 
Abschn. V, 283 — 287.) 

Wer, wie der Verfasser dieses Werkes, mit einer neuen Welt- 



Hermann Wolff. 347 

crklärungstheorie, mit einem neuen philosophischen Prinzip 
hervortritt, muss das Bedürfnis fühlen, sein neues System den andern 
Standpunkten der (jegonwart gegenüber zu rechtfertigen. Der Autor 
hiit dieses im letzten (VI.) Teil des gesamten Werkes und zwar in 
acht besonderen Kapiteln gethan. Wir können dieses Verfahren 
nur anerkennen, um so mehr, als er das \N'erk selbst hierdurch rein 
gehalten hat von allen polemischen und apologetischen Zuthaten, 
indem er aus diesen notwendigen Nachzüglern ein besonderes 
Armeekorps zusammengestellt hat. 

Seinen eignen erkenntnistheoretischen Standpunkt, von welchem 
er sein Werk beurteilt haben will, hat er ja in der Einleitung zu 
Bd. II. („Idealismus und Realismus") kurz dargelegt. Die grosse 
Frage, wie das Verhältnis unseres sinnlichen Krkennens zu dem 
objektiven Sein der Dinge ist, ob wir, wie die heutige Naturwissenschaft 
in Übereinstimmung mit Kant, behauptet, nur Erscheinuugser- 
kenntnisse erlangen können, oder ob wir es, wie der scharfsinnige 
Physiker und Physiologe Helmhollz meint, nur bis zur Symbol- 
Erkenntnis (unsere Empfindungen geben nur die Zeichen für das 
reale Wesen der Dinge) bringen, oder ob wir, wie der naive Materialis- 
mus will, in unsern Sinnes A\'ahmehmungen die wirkliche Realität 
der Aussenwelt in uns aufnehmen; in dieser Frage entscheidet sich 
Wolff dahin, dass er eine Idealerkenntnis für die äussere, ma- 
terielle Welt, und eine Realerkenntnis für die innere psychische 
Welt annimmt. So glaubt er beiden Seiten zu genügen und diesen 
seinen Kompromissstandpunkt nennt er den empirisch- psycho- 
logischen Realismus. 

Der von W^olff gewählte Tenninus zur Bezeichnung seines 
eigenen Systems: „Empirisch-p.sychologischer Realismus", ruft die 
(iefahr arger Missverständnisse hervor, die selbst nicht durch Ein- 
schiebung des Wortes „psychologisch" ganz abgewendet wird. Gehen 
wir von der Terminologie desjenigen Philosophen aus, von welchem 
diese erkenntnistheoretischen Bezeichnungen ihren Ausgangspunkt 
genommen haben, von Immanuel Kant, so sind bei ihm die beiden 
Standpunkte des iransscendentalen Idealismus und des em- 
pirischen Realismus zusammengehörig, ebenso wie die ent- 
gegengesetzten Standpunkte des transscendentalen Realismus 



348 Hermann Wolff. 

und des empirischen Idealismus im Sinne Kants ebenfalls als 
notwendig zusammengehörend betrachtet werden müssen. Und Kant 
wird in seiner grossen Vernunftkritik nicht müde, zu betonen, wie 
sehr er die beiden ersteren bewiesen und die beiden letzteren — 
als die Standpunkte des Dogmatismus — widerlegt habe. Aber 
machen wir uns diese Unterschiede klar. Bekanntlich lehrt die 
Kant'sche Krkenntnistheorie, wie die allen gemeinsame Erschei- 
nungswelt zu Stande kommt; dies geschieht vom Standpimkt des 
„transscendentalen Idealismus". Da nun aber Kant — vennoge 
seines „empirischen Realismus" — ferner lehrt, dass es für uns keine 
anderen Krkenntnisobjekte giebt als die F>scheinungen oder die 
sinnlichen Dinge, so sind bei dem Standpunkte im Sinne Kants 
notwendig beide zusammengehörend. Und umgekehrt: Der „trans- 
scendentale Realismus" wie ihn z. B. jetzt Ed. von Hartmann ver- 
tritt*) behauptet, dass die Dinge ausser uns unabhängig von un- 
seren Vorstellungen, d. h. Dinge - an - sich seien: desshalb können 
wir — und dies ist der Standpunkt des „empirischen Idealismus"- 
wie ihn etwa ein Teil der modernen Sinnesphysiologen vertritt — 
uns die Dinge ausser uns nicht unmittelbar, sondern nur mittel- 
bar, d h. durch Schlussfolgerungcn, vorstellen und daher können 
wir weniger gewiss ihres Daseins, als unseres eigenen Denkens 
sein. So haben wir denn — nach demselben Standpunkt, wenn 
Physiologen überhaupt metaphysische Schlüsse machen — von der 
Existenz unseres Ichs eine grössere (rewissheit, als von dem Dasein 
einer Aussenwelt. Dass diese beiden letzteren Standpunkte ebenfalls 
sich ergänzen, geht daraus hervor, dass, wer die äussere Welt für 
unabhängig von unserer Vorstellung, also für Dinge - an • sich hält, 
derselben nicht unmittelbar gewiss sein kann, d h. der „trans- 
cendentale Realist" muss „empirischer Idealist" sein. 

Auf die Terminologie unseres Philosophen WoltY angewandt, 
wollte ich mit dieser Auseinandersetzung sagen, dass, wer als ein 
so strikter Gegner Kants auftritt, wie er selbst, die Verpflichtung 
hat, für seinen eij^cnen Standpunkt eine Bezeichnung zu wählen, 



*J Vgl. „Kritische Grundlegung des transscendentalen Realismus'*, 3. Aufl. 
Leipzig 1890. Vertag von W. Friedrich. 



Hermann WollT. 349 

die eine Verwechselung niil dem Kantischen aiisschliesst. „Kmpi- 
risch-psychologischer Realismus" scheint erkenn inistheoretisch 
nicht viel anders als „empirischer Realismus". Doch dieses nur 
nebenher. 

Vom Boden dieses seines „empirisch-psychologischen Realismus" 
aus nun beurteilt der Verfasser im letzten hauptsächlich polemischen 
Teil seines Werkes die wesentlichsten und bedeutendsten Standpunkte 
unserer Zeit, so z. B. den Neukantianismus, wobei er freilich 
keine grösseren Autoritäten wie die Herren Th. Weber und Kreyen- 
buhl gegenüber Kants grosser Erkenntnistheorie anführen kann. 
Dem Materialismus, insbesondere Büchner gegenüber betont 
Wolft' mit Recht — und zwar ganz im Sinne seiner „Biontologie" 
— die Notwendigkeit einer Weiterbildung von dessen Prinzipien. 
Bekanntlich glaubt Wolff dieses dadurch vollzogen zu haben, 
dass er die materiellen Atome in „Bionten" verwandelt hat. Die 
dann folgende Polemik gegen Schopenhauer und seinen Pessimis- 
mus ist eine Fortsetzung seiner ethischen Auseinandersetzungen. 
Sehr wichtig und beachtenswert sind die Erörterungen Wolffs im 
VI. Abschnitt dieses letzten Hauptteils. Sie betreffen seine Ansichten 
über Pädagogik, wobei der Verfasser (der selbst praktischer Pä- 
dagoge und Director einer Leipziger Bürgerschule ist) auf eigenstem 
Gebiete sich bewegt. Es werden aber auch so ziemlich alle heu- 
tigen Fragen über Schule und Erziehung (ja sogar die Universitäten 
und eine Reform der akademischen Studien werden in Betrachtung 
gezogen) in einer Weise erörtert, dass wir wünschen, der Verfasser 
möchte diesen ganzen Abschnitt erweitern und als besondere Mo- 
nographie herausgeben. Wenig Neues dagegen bietet das Kapitel, 
worin er „die sociale Gegenwart" vom Standpunkt seines Realismus 
aus behandelt. Hier sieht man, dass der Verfssser mit den ein- 
schlägigen Fragen der Social politik nicht genügend vertraut ist. 
Eins der letzten Kapitel will dann noch in Ergänzung der oben 
entwickelten aus der Biontologie sich ergebenden Ideen die Frage 
der individuellen Seelenfortdauer oder die sogenannte Unsterblichkeit 
im^' bejahenden Sinne beantworten. In diesen aphoristischen auf 
5^ Seiten (316 — 321) sich beschränkenden Bemerkungen konnte 
dieses alte und schwierige Problem nicht erschöpft werden. 



350 Hermann Wolff. 

Wir sind an den Schluss dieser kritischen Analyse des Wolff- 
schen Werkes angelangt. Dieselbe sollte keine wirkliche immanente 
Kritik sein, welche einem Buche dieses Umfanges gegenüber noch 
weit eingehender hätte sein müssen. Doch glaubten wir soviel 
wenigstens den Lesern dieses Buches darlegen zu müssen, dass es 
sich hier um ein philosophisches W^erk handelt, welches die Be- 
achtung nicht nur des kleinen Kreises der Fachphilosophen, sondern 
auch aller derjenigen verdient, welche die grossen philosophischen 
Probleme vom Standpunkte der modernen Naturforschung aus ge- 
löst zu sehen wünschen. Wie weit dieses dem Verfasser gelungen 
ist und ob seine Hoffnung, hier ein neues abschliessendes, Philo- 
sophie und Naturwissenschaft verschmekendes Welterklärungssystem 
geschaffen zu haben, berechtigt ist, wird die Zukunft lehren. Die 
wissenschaftliche Kritik darf aber schon jetzt den hingebenden Eifer, 
den Fleiss, die Umsicht und das reiche und vielseitige Wissen 
hervorheben, mit welcher Herr Dr. Wolff an seine schwierige Auf- 
gabe herangetreten ist: „In magnis voluisse sat est." 

Was den Titel des Wolffschen Buches „Kosmos" betrifft, so 
erinnert er ja an das weltberühmte Werk Alexander von Humboldts, 
welches im Grunde nur eine physische Naturbeschreibung des 
Universums war. Aber Wolffs Werk giebt in seiner Zweiteilung 
nicht zwar ein „Gemälde" des Alls, als vielmehr den Versuch 
einer wissenschaftlichen Erklärung desselben. Zugleich jedoch 
ist jener Name „Kosmos" völlig dadurch gerechtfertigt, dass zu 
diesem Welterklärungsversuch die geistigen Wissenschaften 
nicht minder als die Naturwissenschaften ihr Kontingent beigetragen 
haben. 

/u allerletzt will ich nicht unterlassen, auf die dem Band I 
beigegebenen Tafeln hinzuweisen, welche die Begriffsent Wickelung 
dieses Teils und ihren systematischen Zusammenhang in graphischer 
Form veranschaulichen sollen. Die Art, wie der Verfasser auf diesen 
sieben Tafeln die gesamte komplizierte Gliederung der physisch-psy- 
chisch-ethischen Welt nach ihrer mannigfaltigen Verzweigung und Ver- 
ästelung dem Leser vor Augen führt, entbehrt nicht einer gewissen 
Originaliiät. Diese graphische Gruppieiung des Stoffes ist folgen- 
derweise durchgeführt: 



Hermann Wolfl". 351 

Tafel I: Entwickelung der Sinnlichkeit zum Vorstellungsreichtum 

im Bewusstsein. 
Tafel II: Entwickelung des logischen Faktors im einheitlichen 

Bewusstsein. 
Tafel III: Entwickelung des Gemütsreichtums aus den einfachen 

Zuständen von Lust und Schmerz. 
Tafel IV: Entwickelung des Willens zum Charakter aus dem ein- 
fachen Drange zum Leben. 
Tafel V: Entwickelung der Geraütsanomalien aus den psychischen 

Vorgängen. 
Tafel VI: Entwickelung der Tugenden aus den einfach normalen 

Gemütsvorgängen durch den Einfluss der Moral. 
Tafel VII: Gesamtentwickelung des seelischen Lebens aus den 
psych isch-einfachen Grund Vorgängen. 

Hier auf dieser letzten Tafel nimmt Wolff einen Anlauf zu 
einer grösseren Zusammenfassung der seelischen Vorgänge; aber 
die Art, wie er aus der Wurzel des „unbewussten Dranges zum 
Leben" das ganze Reich der Gefühle und der Wlllensregungen ab- 
leitet, erinnert vielfach an Benekes Psychologie mit ihren „Ur- 
vermögen", welche schon vor allen äusseren Eindrücken mit einer 
„grundwesentlichen Spannung, einem Aufstreben behaftet" sind. 
Diese ursprüngliche Selbstthätigkeit der Psyche wird nach Beneke 
durch von der Aussenwelt herkommende Reize erst wahrhaft aus- 
gefüllt und befriedigt. Wolffs Psychologie findet nach meiner 
Meinung in Benekes Lehren ihre natürliche Ergänzung. Wie über- 
haupt unseren heutigen psychologischen Forschern von allen älteren 
Vorgängern dieses Jahrhunderts keiner so zu empfehlen ist, als 
der zwar fast vergessene, aber der heutigen naturwissenschaftlich- 
exakten Richtung so wesensvei wandte und doch auch zugleich so 
tiefe und fruchtbare Eduard Beneke. 



Paul Robert Schuster. 

Eine Leipziger Universitätserinnerung. 

Der junge, nur allzu früh verstorbene Leipziger Gelehrte, dem 
diese Zeilen gewidmet sind, ist in weiteren Kreisen wenig bekannt 
geworden. Doch verdient er als Mensch sowohl wie als philo- 
sophischer Forscher und als Dichter, dass sein Bild in der schnell 
vorüberrauschenden Woge der Zeit in seinen wesentlichsten Zügen 
für die Nachwelt fixiert werde. 

Paul Schuster gehörte jener historisch-eklectischen Richtung 
in der Philosophie an, welche an der Universität, an welcher er 
seine Studien gemacht hatte und die ihn einige Jahre hindurch zu 
ihren jüngeren Lehrern zählte, nur wenig vertreten war. Im Gegen- 
satz zur Berliner Hochschule, welche in der zweiten Hälfte dieses 
Jahrhunderts durch Adolf Trendelenburg, den gelehrten Aristoteliker, 
und später durch Eduard Zeller zum eigentlichen Sitz der historisch- 
philosophischen Richtung in Deutschland erhoben worden war, galt 
Leipzig seit Beginn des Jahrhunderts als die Stätte der eigentlichen 
systematischen Philosophie. Hier war es, wo im l8. Jahrhundert 
Crusius, Carl Adolf Cäsar und Plattner, jener ein Gegner, diese 
beiden Anhänger der Leibniz-WolfiTschen Philosophie wirkten, wo 
dann der Kantianer Wilhelm Traugott Krug über dreissig Jahre 
hindurch und bis zu seinem 1842 erfolgten Tode die Fahne eines 
modifizierten Kantianismus hochhielt, wo der Halbhegelianer und 
spekulative Religionsphilosoph und Ästhetiker Christian Hermann 
Weisse seinen ebenso tiefsinnigen als ideenreichen Theismus bis in 
die sechziger Jahre hinein lehrte, wo der liebenswürdige Krauseaner 
Heinrich Ahrens Jahrzehnte hindurch das System der Rechtsphilo- 



Paul Robert Schuster. 353 

Sophie vom humanitären und kosmopolitischen Standpunkte aus 
vortrug und der vielseitige und interessante Theodor Fechner über 
ein halbes Jahrhundert hindurch exakte Forschung und naturphilo- 
sophische Mystik in eigenartigster Weise verband. Insbesondere 
aber galt Leipzig seit den zwanziger Jahren als der Hauptsitz der 
Herbart'schen Schule. Von hier aus hat der Mathematiker Moritz 
Drobisch, der Senior und hervorragendste Vertreter dieser Richtung, 
durch seine kritischen Besprechungen der Psychologie und Meta- 
physik Herbarts diesem Denker zuerst die Wege in Deutschland 
geebnet. Hier haben dann auch Männer wie Hartenstein, Strümpell 
und Ziller für die Verbreitung der metaphysischen, psychologischen 
und pädagogischen Lehren Herbarts das Meiste gethan. Und wenn 
wir noch hinzufügen, dass von Leipzig aus der geistvolle Hennann 
Lotze seinen Ausgang nahm, um später in Göttingen die Höhe 
seines wissenschaftlichen Ruhmes zu ersteigen, und dass jetzt noch 
der Badenser Wilhelm Wundt, der Begründer der physiologischen 
Psychologie, hier seine bedeutsame Wirksamkeit entfaltet: so ersieht 
man, dass Leipzig bisher nicht recht der Ort gerade zur Pflege des 
historisch-kritischen Zweiges der Philosophie sein konnte, obgleich 
jetzt der vielseitige und gelehrte Historiker Max Heinze dieses 
Gebiet mit ebenso viel Glanz als Erfolg vertritt. 

Aber man würde doch den Charakter der Leipziger Hoch- 
schule verkennen, wenn man nicht zugleich auf eine andere wich- 
tige Seite in dem wissenschaftlichen Leben derselben hinweisen 
wollte. Leipzig war in unserem Jahrhundert eine Hauptstätte der 
klassischen Philologie und man braucht nur die vier Namen Gott- 
fried Hermann, Moritz Haupt, Otto Jahn und Friedrich Ritschi zu 
nennen, um dieser Behauptung Gewicht zu verleihen. So wurde 
der Geist der kritisch-linguistischen Altertumsforschung, der heute 
noch durch Männer wie Curtius, Lange, Ribbeck, Lipsius u. A. so 
würdig vertreten ist, aufrecht erhalten, und von dieser Seite aus 
erhielt auch die historische Forschung in der antiken Philosophie 
obwohl durch die vorherrschende systematische Richtung bedeutend 
in den Hintergrund gedrängt, vielfach Anregung und Nahrung. 

Doch noch eine dritte Seite in dem geistigen Leben dieser 
Universität darf nicht ausser Acht bleiben. Seit der Reformation 

23 



354 Paul Robert Schuster. 

war Leipzig eine der Hauptpflegestätten der orthodox-lutherischen 
Theologie. Wir wollen hier nur auf die Kämpfe des i6. und 17. 
Jahrhunderts verweisen. Auch jetzt noch lehren bez. lehrten hier 
die Koryphäen protestantischer Rechtgläubigkeit, wie der Dog- 
matiker Luthardt, der Kirchenhistoriker Kahnis, der Exeget 
Delitzsch u. A, So bildet in der geistigen Atmosphäre dieser Uni- 
versität das streng theologische Element ein nicht unbedeutendes 
Ingredienz. 

In dieser eigentümlich gelehrten Luft ist Paul Schuster gross 
geworden. Obgleich er zuerst der Theologie angehörte, ist er doch 
später ebenso sehr Philosoph als Philologe gewesen; aber auch eine 
tiefmnerliche Religiosität war ihm stets eigen geblieben. 

Paul Robert Schuster wurde am 7. Oktober 1841 zu Mark- 
neukirchen im sächsischen Voigtlande geboren. Er gehörte einer 
schon lange daselbst angesessenen wohlhabenden Fabrikantenfamilie 
an. Paul erhielt seinen ersten Unterricht durch Hauslehrer und 
einer der letzteren, der noch lebende Diacon Hendel in Adorfs 
welcher 2 Jahre hindurch im Schuster^schen Hause imterrichtet hat^ 
rühmt die hohe geistige Begabung wie das sinnige Gemüt seines 
Zöglings. Er nennt ihn eine „stille, beschauliche, nach innen an- 
gelegte Natur, der in seinen Freistunden über seinen Büchern lag 
und dem nur draussen in der Natur das Herz und der Mund 
aufging." 

Im Jahre 1856 kam er auf die Fürstenschule zu Grimma, die 
er nach drei Jahren, im Herbst 1859, mit dem Zeugnis der Reife 
verliess, um in Erlangen Theologie zu studieren. Zwei Jahre hin- 
durch lag er hier mit hingebendem Eifer dogmatischen, exegetischen 
und kirchenhistorischen Studien ob. Man kennt die bedeutsame 
Stellung, welche die Hochschule Erlangen für die Entwickelung der 
orthodox protestantischen Theologie in diesem Jahrhundert ein- 
nimmt. Theologen wie Hofmann, Luthardt, von Zahn u. A. sind 
von Erlangen ausgegangen und in dieser Beziehung bildet Erlangen 
gewissermassen einen Gegensatz zu Tübingen, wo einst Ferdinand 
Christian Baur im Siime einer freieren kritischen Forschung wirkte 
und eine einflussieiche theologische Schule (Strauss, Feuerbach, 
Zeller, Kosilin, Hilgenfeld, Schweglcr u. A.) begründete. Die reli- 



Paul Robert Schuster. 355 

giöse Einwirkung, welche Schuster in Erlangen erhielt, konnte er 
niemals innerlich überwinden. Im Oktober 1861 ging er nach 
Leipzig, wo er unter Kahnis und Delitzsch theologischen, daneben 
aber auch allgemein wissenschaftlichen, insbesondere philosophischen 
und philologischen Arbeiten oblag. Schuster war nunmehr ein 
fertiger Theologe und hatte auch schon in der Johanniskirche zu 
Leipzig am Sonntag den 18. Januar 1863 seine erste Predigt ge- 
halten. 

Aber nun muss in dem 23jährigen Theologen eine starke 
innere Umwandlung sich vollzogen haben. Er verliess Leipzig, um 
eine Lehrerstelle am Winter'schen Institut in Ludwigslust anzunehmen. 
Hier blieb er bis zu Ostern 1865, E^E dann auf kurze Zeit nach 
Dresden und von hier nach Berlin, in der Absicht, seine theolo- 
gischen Studien daselbst zu beendigen. In der That stellte er sich 
auch den Koryphäen der protestantischen Orthodoxie in Berlin vor. 
Von Hengstenberg hatte er den Eindruck, dass sich in ihm doch ein 
Stück modemer Kirchengeschichte repräsentiere. Denn keiner 
hat gegen den Rationalismus und die philosophische Theologie so 
viel Kämpfe bestanden wie er. Aber obwohl er den Mut und die 
Beharrlichkeit dieses HauptflLhrers der konservativ-christlichen Partei 
in Preussen anerkennt, kann er weder seine Schriftauslegung noch 
seine politisch-kirchliche Thätigkeit irgendwie billigen. Von Berlin 
hat der junge Sachse, der natürlich damals nicht ohne inneren 
Groll nach der preussischen Hauptstadt gegangen ist, trotzdem die 
beste Meinung. 

Im Jahre 1866 kehrte Schuster nach Leipzig zurück, wo er 
vielfach an Privatlehrinstituten unterrichtete und 1869 auf Grund 
der Abhandlung „De veteris Orphicae theogoniae indole atque 
origine" (Leipzig, 1869) promovierte. Seine Habilitation für das 
Gebiet der Philosophie erfolgte im Wintersemester 1872 auf Grund 
einer Abhandlung über Heraklit von Ephesus. Diese Arbeit hat 
Schuster dann zu einem umfassenden Werke erweitert, welches im 
Jahre 1873 unter dem Titel erschien: „Heraklit von Ephesus. 
Ein Versuch, dessen Fragmente in ihrer ursprünglichen 
Ordnung wieder herzustellen." Das W'erk erschien vor seiner 
Separatausgabe in den von Friedrich Ritschi herausgegebenen „Acta 

23* 



356 P*"l Robert Schuster. 

societatis philologae Lipsiensis" (Bd. III, S. l — 394j. Ein Jahr 
später wurde Schuster zum ausserordentlichen Professor in der phi- 
losophischen Facultät ernannt. Das Hauptfach, über welches sich 
seine Vorlesungen erstreckten, war wohl zunächst, entsprechend dem 
bisherigen Gange seiner Studien, die Geschichte der Philosophie, 
insbesondere der antiken Spekulation, deren Kenntnis er, nicht 
aus Lehrbüchern und Kompendien, sondern, wie seine Arbeit über 
Heraklit bezeugt, aus den Quellen selbst schöpfte. Im Jahre 1876 
veröffentlichte er eine kleine, aber sehr gehaltvolle und interessante 
Monographie „Über die erhaltenen Porträts der griechischen 
Philosophen", seit Viscontis bekanntem, aber schwer zugäng- 
lichem ikonographischen Werke der erste Versuch, die bisherigen, 
auf die erhaltenen Bildnisse der griechischen Denker angestellten 
Forschungen kritisch zu sichten und zusammen zu fassen. 

Die letzte Arbeit unseres jungen Philosophen war eine er- 
kenntnistheoretische Untersuchung: ,;Giebt es unbewusste und 
vererbte Vorstellungen?"*) Dieselbe ist in Vortragsform ge 
halten und thatsächlich war sie auch ursprünglich die Antrittsvor- 
lesung, mit welcher er am 5. März 1877 seine ausserordentliche 
Professur in Leipzig eröffnete. Aber schon 5 Wochen später, am 
II. April 1877, erlag Paul Schuster einem akuten Leiden im 
36. Lebensjahre: zu früh für die Hoffnungen und Erwartungen, die 
der junge Gelehrte in allen seinen wissenschaftlichen Freunden er- 
weckt hatte. 

Bei allen seinen wissenschaftlichen Freunden? Ich bekenne, 
dass bei der gründlichsten wissenschaftlichen, insbesondere philo- 
logischen Bildung, bei aller kritischen Akribie, die er auch philo- 
sophischen Problemen gegenüber bewährte, endlich bei allem 
heissen Forschungstrieb, der ihn erfüllte, mir doch immer ein ge- 
wisses Etwas in ihm auffiel, das sicher ihm, dem künftigen Meta- 
physiker, Hindemisse in den Weg gelegt hätte: dies war seine 
starke Hinneigung zum orthodoxen Glauben. Der voraussetzungs- 
lose Philosoph hat niemals in ihm den gläubigen Theologen ganz 
überwinden können. 

*) Nach dem Tode Schusters herausgeg. von Friedrich Zöllner, Leipzig, 1 879. 



Paul RoliCTt Schuster. 357 

Aber ist dergleichen bei einem angehenden Gottesgelehrten 
wohl begreiflich, so ist die harmonische Ausgleichung, in welche Paul 
Schuster später in seiner Antrittsvorlesung als Lehrer der Philosophie 
diese Wissenschaft mit dem Glauben bringt, gewiss nicht minder cha- 
rakteristisch. Die bemerkenswerte Stelle am Schlüsse der Vorlesung 
lautet: „Man vergleicht die Menschheit gern mit Prometheus; aber 
man vergisst meistens dabei das Ende der Fabel. Anfangs, als 
er sich mit Zeus verfeindet hatte, zürnte der Titan heftig, trotzte 
und hoffte, der Sohn der Thetis werde einst nach dem Orakel den 
Ciötterkönig stürzen und ihn selbst von seiner Qual befreien. Als 
aber die Zeit hinging, überlegte er sich, dass es besser wäre, sich 
sogleich mit Zeus, der sich im Übrigen als ein weiser Herrscher 
zeigte, zu versöhnen, als auf einen neuen Herrn mit noch gewal- 
tigerer Kraft und vielleicht wilderen Sitten zu warten. Kr verriet 
also das Geheimnis an Zeus, wurde befreit und lebte von da an 
in Frieden mit dem verhassten Gott, während Thetis, an einen 
Sterblichen verheiratet, mit diesem einen wackeren, aber den 
Göttern nicht gefährlichen Sohn erzeugte. Prometheus ist die 
Menschheit, Zeus ist Gott, Thetis das Denken und ihr Kind 
die Wissenschaft. Vielleicht wird auch die Menschheit nicht ewig 
grollen gegen Gott, und nicht ewig bestrebt sein, aus ihrem Denken 
eine Gott feindliche Macht zu schaffen. Die gegenwärtige Not 
und der Gedanke, dass am Ende der Ausgang keine Erlösung, 
sondern die Verzweiflung bringen könnte, wird die Seelen zur 
Versöhnung stimmen, und während das Kind des Denkens seine 
Heldenlaufbahn hier verfolgt, werden sie zu Gott zurückkehren, 
erlöst aus den Ketten und dem Dunkel der Unterwelt und mit 
besseren Mitteln der Erkenntnis ausgestattet." 

Schuster hat bis zu seinem nur allzu früh erfolgten Tode nicht 
nur einen allgemein theistischen, sondern geradezu direkt gläubigen 
Zug in sich bewahrt. Aber als hervorragend beanlagte kritische 
Natur hat der junge Denker in der genannten Publikation, in der 
er als philosophischer Schriftsteller auftrat, gerade dieses kritische 
Moment hervorgekehrt, so zwar, dass er der herrschenden, wesent- 
lich negativ kritischen erkenntnistheoretischen Richtung gegenüber 
an eine zukünftige „Metaphysik" appelliert, dann aber dem Materialis- 



358 Paul Robert Schuster. 

mus der Gegenwart gegenüber (den er übrigens viel ernster nimmt, 
als gewöhnlich von philosophischer Seite aus geschieht) den kritisch- 
erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt geltend macht, endlich dem 
pantheistischen Pessimismus unserer Zeit (Schopenhauer und Hart- 
mann) den optimistischen Gefühlsglauben entgegensetzt. 

Schusters eindringende Untersuchung gelangt zu dem Resultate: 
„Wir haben unbewusste, wir haben vererbte und wir haben ange- 
borene Ideen. Die letztern entsprechen teils dem Verstände, teils 
dem Willen. Beide Male ist es ein zwingendes Gefühl, das den 
Grund ihrer Evidenz ausmacht. Wenn dieses Gefühl uns täuschte, 
so wäre alle Demonstration und Erfahrung umsonst. Das Gefühl 
ist das letzte Unbeweisbare, worauf alle Gewissheit zurück- 
geht. Und das Gefühl ist wieder selbst nichts Anderes als der 
Index eines Willens. Je nachdem also der Wille gerichtet ist, 
wird das Gefühl sein und wird die Welt sich vor uns aufbauen 
durch Anschauen und Denken, durch Begehren und Schaffen . . . ." 

Von hier aus wird dann ein Blick geworfen auf die Konse- 
quenzen aus der Annahme angeborner Ideen nach der metaphysi- 
schen, ethischen, ästhetischen und religionsphilosophischen Seite hin. 
Schuster möchte ebenso gut die Notwendigkeit eines kausal be- 
gründeten Weltganzen, als die Idee der Freiheit, nicht minder aber 
auch das Wesen des Schönen als die Idee Gottes aus den ge- 
fundenen Resultaten ableiten. Es geschieht dieses Alles aber nur an- 
deutungsweise, jedoch nicht ohne uns etwas von der Schärfe seiner 
Folgerungen und Beweise fühlen zu lassen. 

So wenig freilich in dieser Abhandlung schon eine fertige und 
geschlossene Erkenntnistheorie vorliegt und bei der Jugend ihres 
Verfassers vorliegen konnte, so sehr muss ich doch betonen, dass 
diese kleine Studie von 83 Seiten eine der scharfsinnigsten und ge- 
haltvollsten Arbeiten ist, welche in den zwei letzten Jahrzehnten über 
dieses schwierige Gebiet der Erkenntnislehre erschienen sind. Hierbei 
verfügt er nicht nur über eine sehr eingehende quellenmässige 
Kenntnis der philosophischen Litteratur der alten und neuen Zeit, 
wie auf jeder Seite der genannten Schrift sichtbar ist, sondern auch 
über eine umfassende und gründliche Kenntnis der mathematischen 
und physikalischen Wissenschaften wie aller neuem auf diesen 



Paul Pobert Schuster. :j5 

(Gebieten hervorgetretenen allgemeineren Theorien. Hierbei ist die 
Methode der Untersuchung, wie sie hier in dieser Schuster 'sehen 
Abhandlung über die Frage der angebornen Ideen herrscht, 
charakteristisch für den Autor selbst. Unser junger Philosoph hat 
sich, wie schon bemeikt wurde, nach allen Seiten hin eine gewisse 
Unabhängigkeit bewahrt, was ihn befähigt, die bisherigen Anschau- 
ungen in Bezug auf das Angeborensein von gewissen Ideen unpar- 
teiisch zu prüfen und zu kritisieren. Dieses thut er auch in vollem 
Masse, wobei ihn kein noch so grosser Mann abhält, gegen das 
etwa Unhaltbare seiner Ansichten Kritik zu üben. Von Leibniz 
und Locke bis auf die neuesten sinnesphysiologischen, psychologi- 
schen und metamathematischen Untersuchungen hin, lässt er keine 
in dieser Hinsicht hervorgetretene Theorie ungeprüft. 

Wie schon oben bemerkt wurde, war Paul Schuster auch ein 
tüchtiger Philologe, ein Schüler von Haupt, Böckh und Ritschi, zu 
welchem letztern er in sehr freundschafüicher Beziehung stand und 
dem er auch einen Nekrolog*) widmete. Schuster hing, obwohl 
sein Schwerpunkt wesentlich auf philosophischem Gebiete lag, mit 
grosser Bewunderung an seinem ehemaligen Lehrer, den er den 
letzten „princeps philologorum Oermaniae" nennt und von dessen 
akademischer Wirksamkeit er rühmt, dass „seine Schüler, anstatt in 
der gleichmässigen Routine des Lehramts abgestumpft zu werden, 
in lebendigem Zusammenhang mit der stets fortschreitenden Wissen- 
schaft zu bleiben suchten und dadurch hinwiederum bef^igt wurden 
in ihren Schülern ein wahres und frisches Interesse zu erwecken 
für die Studien, welche die Gnmdlage sind unserer hohem, hu- 
manen Bildung." 

Wie ernst es unser junger Denker, dessen Studien wesentlich 
der antiken Phüosophie zugewandt waren, mit seiner philologischen 
Bildung nahm, geht daraus hervor, dass er auch in den Neben- 
zweigen derselben, so z. B. in der Archäologie, welche jetzt freilich 
schon eine selbständige Wissenschaft geworden ist, eine gewisse 
Stärke zu gewinnen suchte. Es folgt dieses aus der oben schon 
genannten kleinen aber interessanten Arbeit „Über die erhaltenen 



♦) Im „Neuen Reich** Jahrg. 1875. 



360 ^^^ Robert Schuster. 

Porträts der griechischen Philosophen". Mit 4 Tafehi in Licht- 
druck. (Leipzig, 1876. Breitkopf & Härtel) Die Studie ist 
dem Grafen Terenzio Mamiani, Vizepräsidenten des Senats von 
Italien, einem unserer gelehrtesten und verdientesten Archäologen, 
gewidmet. Schuster hatte sich im Winter 1874 in Italien aufge- 
halten, wo ihm von dem Grafen fiir seine archäologischen Studien 
die eifrigste Förderung zu Teil wurde. Die Deutung der Charakter- 
ztige antiker Philosophen — Pythagoras, Heraklit, der Mediziner 
Hippokrates, Sokrates, Antisthenes, Rukleides, Diogenes von Sinope, 
Plato, Aristoteles, Xenokrates, Theophrastos, Zeno, Chrysippos, 
Poseidonios, Epikuros, Hermarchos, Metrodoros, Kameades von 
Cyrene, Hipparchos, Theo aus Smyma und ApoUonios von Thyana 
— ist fein und geistvoll, zuweilen unter Anspielung auf moderne 
Persönlichkeiten nicht ohne treffenden Witz. Die beigegebenen 
Lichtdrucke der Philosophenbüsten sind nach vorhandenen Abgüssen 
in den italienischen Museen, zum Teil auch nach dem berühmten, 
aber freilich sehr schwer zugänglichen Werke des Archäologen 
Ennio Quirino Visconti*). 

Als das wissenschaftliche Hauptwerk Schusters muss sein 
schon oben erwähntes Werk über Heraklit von Ephesus ange- 
sehen werden. Seine gründliche linguistisch-philologische Durch- 
bildung kam ihm hierbei nicht minder zu Statten, als seine genaue 
Kenntnis der philosophischen Schriften des Altertums. Bekanntlich 
sind die Akten über die Echtheit und die Anordnung der herakli- 
teischen Bruchstücke noch nicht geschlossen. Trotz der Vorarbeiten 
von Zeller, Bemays, Bonitz, Teichmüller und Anderen ist eine 
Übereinstimmung in Bezug auf die oft dunkeln Sätze und Aus- 
sprüche des Ephesiers noch nicht erzielt. Denn auch der geistvolle 
Versuch Ferdinand Lassalles**): das, was er die „Philosophie des 
Heraklit" nennt, in einen inneren gedanklichen Zusammenhang zu 
bringen, hatte doch nicht durchweg, insbesondere nicht die unbe- 
fangneren philologischen Kreise befriedigt, da man bei aller Aner- 
kennung, die man den in der Sammlung des Materials hervortretenden 



*) Mus:eo Pio Clementino (7 Bde., Rom 1782 — 1807). 
**) Die Philoso):hie Herakleitos des Dunkeln von Ephesus (2 Bde. 1848; 
2. Aufl. 1869). 



Paul Robert Schuster. 361 

Fleisse, sowie der scharfsinnigen Kombination Lassalles zollte, die 
hier zur Anwendung gekommene Methode seines Meisters Hegel, 
die (ieschichte der einzelnen philosophischen Systeme, nach einem 
von vom herein feststehenden logisch-dialektischen Schema zu 
konstruieren und insbesondere die Herakliteischen Sätze auf die 
Hegcl'sche Terminologie zu bringen, doch allzu gewagt und bedenk- 
lich, ja unhistorisch fand. 

Das Schuster'sche Werk über Heraklit dagegen hält sich von 
jeder sog. Konstruktion der Lehren des Ephesiers fern. Es sucht 
die herakliteische Schrift über die Natur (negl <pt<Jfog) nach den 
vorhandenen Bruchstücken, deren Echtheit und Wortlaut eingehend 
untersucht werden, in ihrem natürlichen (Jedankengange wieder her- 
zustellen, wobei über das Verhältnis dieses Philosophen zu den 
frühern, gleichzeitigen und spätem griechischen Denkern, ebenso 
über seine Lebensumstände und seinen persönlichen Charakter 
Erörtemngen angestellt werden. An die einzelnen Aussprüche 
Heraklits hat der Verfasser gleichzeitig die Übersetzung ange- 
fügt, welche freilich oft mehr paraphrasierend als wörtlich ist. Nach 
der Annahme Schusters teilt sich die herakliteische Schrift in drei 
Teile, deren erster die (bedanken des Philosophen über das All 
enthalten {koyog nsgi xov Tiavioc) während der zweite seine poli- 
tischen Grundsätze (noUTixog koyog) giebt, und der dritte die 
theologischen Sätze {Xoyog O'aoAoyixog), d. h. die Umdeutung der 
Götternamen wie der griechischen Mythen im religonsphilosophischen 
Sinne darbietet, wobei Schuster vielfach auf den wahrscheinlichen 
Zusammenhang der im Platonischen Kratylos angestellten sprach- 
philosophischen Deutungen mit diesen analogen Versuchen Heraklits 
hinweist. 

Im Übrigen tritt Schuster auch in Bezug auf die Gesamtauf- 
fassung des Heraklit durchaus selbständig auf, indem er sowohl der 
Schleiermacher'schen , wie der Hegel-Lassalle'schen Auffassung viel- 
fach widerspricht. 

Über seine von den Vorgängern in der Bearbeitung der 
Herakliteischen Fragmente abweichende Auffassung spricht sich Schuster 
in folgender Weise aus: „Ich glaube, dass Schleiermacher doch 



362 Paul Robert Schuster. 

etwas zu voreilig wai, als er am Schlüsse seiner Abhandlung meinte, 
seiner Darstellung der Herakliteischen Lehre würde sich nichts wesent- 
lich Neues hir./.iL-etzen lassen. Im Gegenteil hat sich mir nicht in 
XebensMcht.i, sondern in der Auffassung der apodiktischen und 
nietaphysi.ichen Prinzipien eine bedeutende Änderung als notwen- 
dig aufgedrängt. Denn was die Erkenntnistheorie betrifft, so be- 
trachte ich in direktem Gegensatz zu der herrschenden 
Ansicht Heraklit nicht als einen Verächter der Sinne, sondern als 
den, welcher zuerst in der Welt die Forderung aufgestellt hat, die 
Erkenntnis auf die Erfahrung der Sinne zu basieren, also als den 
ersten aller Realphilosophen.*) Und in Bezug auf die Lehre vom 
ewigen Werden glaube ich nicht, dass nach ihm der Übergang 
des einen Gegensatzes in den andern stets auf dieselbe Weise bei 
verschiedenen Dingen erfolgt, dass also, um ein Bild zu gebrauchen, 
nicht das Eine so gut wie das Andere, vom Strome des im Kreise 
flutenden Stoffes ergriffen und rings im Zirkel mit herum gerissen 
wird, sondern dass jenes hier, das andere dort eine Bucht findet, 
wo es wieder bewegt und in kleinerm Räume sich umhertreibt, bis 
es versinkt. Hiermit hängt dann zusammen, dass mir jener Strom 
weniger intensiv vorkommt, als die gewöhnliche Auslegung des 
navra^sl ihn schildert. Es ist möglich, dass dies ein Fehler im 



*) „SoUte sich dieses bewahrheiten, so ist von vornherein klar, in welcher 
seltsamen Täuschung sich Hegel befand, als er Heraklit als seinen Vorgänger 
proklamierte mit dem von Lassalle als Motto seines Buches benutzten Au>spruche : 
..Bei Heraklit ist zuerst die philosophische Idee in ihrer spekulativen Form an- 
zutreffen. — Hier sehen wir Land ; es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht 
in meine Logik aufgenommen." Ich glaube im Gegenteil, es gicbt keinen 
grösseren Gegensatz als Heraklit, den Verehrer der lebendigen Anschauung 
und Hegel, den Vertreter des voraussetzungslosen, reinen Gedankens. Jetzt 
aber, so der Meister widerlegt ist, ist es auch sein Schüler Lassalle. Denn das 
ganze Buch Lassalles geht darin auf, die Herakliteischen Sätze auf die Termino- 
logie Hegels zu bringen. Neben der eigentümlich enthusiastischen, dabei oft 
monotonen Darstellungsweise und der an Creuzer sich anlehnenden, in den 
Bahnen der Romantiker wandelnden Auffassung der Mythologie und der Bezieh- 
ungen der orientalischen Völker zu den Griechen ist mir jene Reproduktion des 
Antiken im Hegel'schen Gewände als das hervorstehende Charakteristikum der 
Schrift Lassalles erschienen." 



Paul Robert Schuster. 363 

Systeme wäre; aber vielleicht lässt sich zeigen, das derselbe vom 
Standpunkte des Philosophen aus geringer erscheint, als man sonst 
meinen könnte. Da nun aber Heraklit von so grossem Einfluss 
nicht bloss auf seine Schule, sondern auch auf die Eleaten, auf die 
Sophisten, auf Plato, die Stoiker und Skeptiker gewesen ist, ganz 
/u geschweigen von dem Einflüsse, den er auf die Bildung gnosti- 
srher Sekten und demnach auf die in mancher Hinsicht noch jetzt 
so dunkle Entwicklung des Christentums nach dem Tode der 
Apostel hatte, und den er indirekt durch das Medium der Stoa auf 
die Denkweise ganzer Massen besonders in der römischen Welt 
übte, so wird jede Änderung in der Auffassung der Herakliteischen 
Lehre von einer grossem Tragweite sein, als wenn dieselben eins 
der späteren Systeme betrifft." 

Ich flige dem Voranstehenden hinzu, dass Schuster auch noch 
in manchen andern und zwar in der Fassung und Beurteilung ganz 
spezieller Lehren des Ephesiers von Schleiermacher wie von Lassalle 
abweicht: so in der Fassung des koyog, des Wegs nach oben tmd 
unten (oödg ävca oÖog xdro ), des jtyrjötijQ der Herakliteischen Kos- 
mogonie, der natürlichen Richtigkeit der Namen ((pvÖBL og^orr^g 
oi/Ofiarcn/), der nakivxgonog agfiovla und der damit zusammen- 
hängenden Lehre von der Einheit der Gegensätze. Nicht minder 
weist Schuster, wie er selbst schon oben gesagt hat, in Bezug auf 
die Fassung des Herakliteischen Kreislaufs der Elemente und ihre 
Fixierung auf drei Grundformen: Erde, Wasser und Feuer hin. 
Ebenso abweichend sind seine Ansichten in Betreff der Welteinricht- 
ung und Welt\'erbrennung {öiaxoöurjöig und ixTCvgcDöig). 

Alle diese Abweichungen begründet Schuster in gründlicher, streng 
wissenschaftlicher Weise, wobei ihm nicht nur seine tüchtige Kennt- 
nis des Griechischen und seine ausgebreiteten philologischen Kennt- 
nisse, sondern auch der sachliche und dabei fein kritische in 
der Schule unserer ersten Philologen ausgebildete Sinn zur 
Seite steht. 

Diese Arbeit Schusters wurde sofort nach ihrem Erscheinen 
in der wissenschaftlichen Welt nach ihrer ganzen Bedeutung erkannt, 
die weit hinausgeht über den Wert eines bloss historisch-kritischen 
Beitrages zur Geschichte der griechischen Philosophie. In allen 



{ 



864 Paul Robert Schuster. 

diesen Erörterungen zeigt Schuster eine grosse Selbständigkeit der 
Auffassung seines Gegenstandes, sowie eine Besonnenheit in der 
Kritik der Ansichten seiner Vorgänger und eine Feinheit der Kom- 
bination, welche seine wissenschaftlich-kritische Reife in das hellste 
Tjcht stellen. 

Zu den akademischen Kollegen, mit denen Schuster auf intim- 
erem freundschaftlichen Fusse stand, gehörte auch Professor Friedrich 
Zöllner, der berühmte, nunmehr auch heimgegangene Leipziger 
Astrophysiker. Der philosophisch gebildete Mathematiker fand, 
wie er selbst gesteht, bei dem wesentlich auf historischer Basis 
stehenden jungem Denker metaphysisch vertiefende Anregungen, 
während dieser durch den freundschaftlichen Verkehr mit dem be- 
deutenden Naturforscher vielfach seine Anschauungen nach der 
Seite der Naturerkenntnis hin erweitern und ergänzen konnte. „Trotz 
der vorsichtigen Zurückhaltung, gesteht Zöllner, bei Gegenständen, 
die dem Verständnis und der eingehenden Kenntnis Schusters 
femer lagen, verrieten doch seine Fragen und kurz hingeworfenen 
Bemerkungen eine weit tiefere Sachkenntnis, als man dies nach 
seiner reservierten Haltung zu erwarten berechtigt war. Es war der 
Ausdruck jener feinen Selbstkritik, welche er zur Aufrechterhaltung 
der Schranken zwischen Meinen und Wissen jederzeit gegen sich 
selbst anwandte." 

Zöllner erkennt an, einen wie bedeutenden Einfluss der an- 
regende Verkehr mit Schuster auf die Gestaltung und Entwickelung 
seiner eigenen Ideen gehabt habe, wie aus folgendem Vorkommnis 
folgt. Zöllner hatte eines Abends bei Gelegenheit einer derartigen 
Unterhaltung seine Projektions-Hypothese entwickelt, nach 
welcher die ganze Erscheinungswelt, soweit sie unseren Sinnen und 
unserem Verstände zugänglich ist, den Charakter einer Schatt^n- 
projektion von ,, Dingen an sich" trage, deren Existenz und Be- 
ziehungen nur durch die Vemunft erschlossen werden könnten. 
Schuster erwiderte, dass bereits von Plato eine ähnliche Anschau- 
ung ausgesprochen und durch ein Gleichnis erläutert worden sei. 
Und bei nächster Gelegenheit hatte dann Schuster ihm den griechi- 
schen Text des „Staates" von Plato mitgebracht und ihm die auf 
jenes Gleichnis bezügliche Stelle von der berühmten Platonischen 



Paul Robeit Schuster. 365 

Höhle im 7. Buche übersetzt. Die Freude Zöllners über die Über- 
einstimmung Piatos mit seiner Anschauung ist dann noch erhöht 
worden, als Schuster zum Beweise, einen wie tiefen Eindruck jenes 
schöne (lleichnis Piatos auf ihn einst gemacht habe, ein damals 
von ihm selbst gemaltes kleineres Aquarellbild aus dem Buche her- 
vorholte, welches, genau nach den Angaben Piatos, die Höhle mit 
den Gefesselten und den Schatten auf der ihnen gegenüber befind- 
lichen Höhlenwand darstellte. Seit jener Zeit, gesteht Zöllner, habe 
er die Symbolik des Platonischen Gleichnisses mit besonderer Vor- 
liebe vielfach zur Erläuterung seiner eigenen Ideen benutzt. „Die 
Platonische „Idee" und das Kantische „Ding an sich", sagt er*), 
lassen sich als räumliche Objekte von mehr als drei Dimensionen 
auffassen, welchen wir in demselben Sinne eine grössere Realität 
beilegen können, wie wir bei unserer gegenwärtigen Raumanschauung 
den dreidimensionalen Objekten eine grössere Realität als ihren 
zweidimensionalen Bildern auf der Netzhaut zuschreiben. In diesem 
Sinne erhält die Behauptung Pia tos, dass das Attribut des wahr- 
haft Seienden allein den „Ideen" zukomme, eine anschauliche 
Bedeutung. Obschon ich selbstverständlich in jenem Gleichnisse 
Piatos von der Höhle nicht eine bewusste Anticipation der höheren 
(besetze der synthetischen Geometrie erblicke, so ist es doch meiner 
Überzeugung nach keineswegs zufällig, dass sich Plato gerade dieses 
Gleichnisses bedient hat. Es giebt in der That, soweit ich sehe, 
kein Kausalverhältnis zwischen irgend einer Ursache und ihrer 
Wirkung, bei welchem die Unveränderlichkeit eines Objekts 
mit der Veränderlichkeit seiner Erscheinung so anschaulich 
verknüpft wäre, wie in dem Verhältnisse einer Schattenprojektion 
zum schattenwerfenden Objekte. Die Höhle Piatos hat die Natur 
in der Camera obscura unseres Auges realisiert, und wir tragen also 
auch hier, wie in den symmetrischen Gestalten unserer Gliedmassen, 
den Schlüssel zum Verständnis der Welt als Vorstellung stets 
bei uns." Vgl. noch Zöllners Studie „Thomsons Dämonen und die 
Schatten Piatos" (Bd. I seiner „Wissenschaftlichen Abhandlungen.") 



*) An einer Stelle der ,, Prinzipien einer elektrodynamischen Theorie der 
Materie" Bd. I. S. LXXXVl. (Lpz. 1876.) 



36G Pawl Robert Schuster. 

Zöllners astrophysische Untersuchungen hatten auf unseren 
jungen Denker, welchem sich von hier aus eine ganz neue Welt 
eröffnete, einen tiefen Eindruck gemacht. Und wie schnell er in 
diese ihm bis dahin ziemlich fremde Ideenwelt sich einzuleben ver- 
mochte, ersieht man aus einem Briefe, den Schuster an ZöUner 
richtete, nachdem dieser ihm den Separatabdruck der Einleitung 
zum ersten Bandeseiner „Principien einer elektrodynamischen 
Theorie der Materie" übersandt hatte. Da dieser Brief auch 
seines sonstigen Inhalts wegen bemerkenswert erscheint, teile ich 
denselben hier mit: „ . . . . Sie hat mich diese ganze Zeit über 
im Innern beschäftigt, was wohl der beste Beweis dafür ist, dass 
der Eindruck ein tiefer imd nachhaltiger war. Abgesehen von der 
Kampflust, die aus ihr atmet und den Leser unwillkürlich ebenfalls 
in kriegerische Stimmung versetzt, ist mir vor Allem der Ernst und 
die Entschiedenheit bewunderungswürdig, mit der Sie die allgemeinsten 
und höchsten Fragen auf Grund der Erfahrungswissenschaften zu 
diskutieren unternahmen. Obgleich oder vielmehr weil ich fast 
lediglich auf historische Studien angewiesen bin, ist es seit lange 
meine Überzeugung, dass das richtige Philosophieren sich mit 
der Naturwissenschaft deckt, d. h. wenn die Naturwissenschaft 
sich nicht mit der Beschreibung der Wirklichkeit und der Auffindung 
der nächsten Ursachen begnügt, sondern durch Verallgemeinerung 
und Analogie zu den letzten Prinzipien hinaufzusteigen versucht. 
Dass es gelungen ist, nicht eine Hypothese, sondern ein Gesetz 
aufzustellen, das nicht nur für die Bewegungen elektrischer Teilchen 
gilt, sondern auch die Bewegungen der Himmelskörper, die chemi- 
schen, die Kohäsions-, Adhäsions- und Reibungserscheinungen als 
Specialfälle zu erklären vermag und vielleicht bald als Univcrsal- 
gesetz der ganzen Erklärung der Natur zu Grunde gelegt 
werden kann, erfüllt mich mit tiefer Bewunderung. Dies und nur 
dies ist „philosophia naturalis*'. Ebenso freue ich mich auf den 
Inhalt des zweiten Bandes, eine gut begründete und den horror 
vacui nicht teilende Atomistik. Ihre Bekämpfimg der Wirbel und 
die Klarstellung der Ansicht Newtons wird sicher sehr wohlthätig 
wirken. Hier ist jedoch ein Punkt, den ich noch gern mündlich 
mit Ihnen besprechen möchte. Dass die Fern Wirkung zwingt, 



Paul Robert Schuster. 367 

über die mechanischen Ursachen hinaus zu gehen, also nicht- 
mechanische d.h.metaphysische anzunehmen, scheint mir auch wahr- 
scheinlich. Aber Newton scheint mir diesen Willen und Verstand, 
dessen Ausdruck die jetzt bestehenden Naturgesetze sind, in eine 
von den Atomen getrennte Gottheit zu verlegen, während Sie, 
ohne dass ich Ihre Schlussfolgerung in ihren Gliedern zu verfolgen 
im Stande wäre, die Atome zum Sitz derselben machen. Die Um- 
kehrung S. LX: „Es ist begreiflich, wie beseelter, lebendiger 
Stoff ohne irgend eine sonstige Vermittelung auf einen anderen 
Körper ohne gegenseitige Berührung wirken kann'', ist nicht die 
einzig mögliche, sondern sie könnte auch lauten: „E^ ist begreiflich, 
wie unbeseelter, roher Stoff durch eine immaterielle Vermittelimg 
(d. l durch eine Weltseele oder durch eine ganz analogielose gött- 
liche Kraft) auf einen anderen Körper ohne gegenseitige Berührung 
wirken kann." Ich möchte fast glauben, dass das letztere der Sinn 
der Sphinx gewesen ist " 

Friedrich Zöllner, der bedeutende Forscher, ist im kräftigsten 
Mannesalter dem früh geschiedenen jungen Freunde nun auch bald 
nachgefolgt! 

üas Bild, welches ich hier von Paul Schuster zu entwerfen 
bemüht bin, würde in einem wesentlichen Zuge mangelhaft und 
unvollständig sein, wenn ich nicht noch auf eine Seite im geistigen 
Leben desselben hinweisen würde: auf seine dichterische Thätig- 
keit. Schuster war eine entschieden poetisch beanlagte Natur. 
Schon in seinen philosophischen Arbeiten findet man Gleichnisse 
und Bilder von einer oft überraschenden Schönheit, Kraft und An- 
schaulichkeit: Beweis genug, dass in ihm die energischste abstrakte 
Denkthätigkeit das Walten der Phantasie nicht abzuschwächen oder 
gar zu ertöten vermochte. Es war im Jahre 1869, wo Schuster 
die südlichen Abhänge des Schwarzwaldes während der Sommer- 
ferien kreuz und quer durchstreifte. Hierher verlegt er auch die 
Handlung seiner epischen Dichtung „Konrad und Anna" in 
9 Gesängen.*) Es ist dies eine im idyllischen (irundtone gehaltene 
poetische Erzählung, welche reich ist an ebenso rührenden als er- 

*) Gotha 1873 hei Perthes. 



368 Paul Robert Schuster. 

greifenden Scenen. Die Handlung spielt im Kriegsjahre 1870. 
dessen grosse weltgeschichtliche Ereignisse in die schlichte Familien- 
geschichte hineinspielen. Das Epos ist in Hexametern geschrieben; 
aber nur zu oft flihlt man, dass dieses heroische Versmass, welches 
den kriegerischen Schilderungen wohl entspricht, zu den rein idylli- 
schen Scenen nicht recht stimmen will. Die Kritik nahm die Dichtung, 
als deren Verfasser der Pseudonym P. Venator genannt wurde, sehr 
günstig auf 

Schuster war von rührender Bescheidenheit. Wie man später 
erfuhr, hatte das Manuskript in hiesigen Professorenkreisen lange 
cirkuliert und erst auf den dringenden Wunsch von Männern wie Frie- 
drich Ritschi und Zarncke entschloss er sich, die Dichtung der 
Öffentlichkeit zu übergeben. Es ist wohl etwas zu viel gesagt, 
wenn ein Kritiker der „Leipziger Zeitung" die Schuster'sche Idylle 
damals mit Goethes „Hermann und Dorothea" auf eine Linie stellte; 
aber bedauerlich ist es in der That, dass die herrliche, auch vom 
echten Geiste deutschen Gemüts erfüllte epische Dichtung so schnell 
der Vergessenheit anheim gefallen ist. 

Die glückliche Abwechselung von Friedens- und Kriegsscenen, 
die lebendige Schilderung der Naturscenerien wie die fein durch- 
geführte Charakteristik der Haupt- und Nebenpersonen der Dich- 
tung, die innerliche Art der hier vorherrschenden Empfindung, nicht 
minder aber auch die rhythmische und metrische Schönheit der 
Sprache, wie des Versbaues lassen in der That den poetischen \\ ert 
dieser an einen welthistorischen Hintergrund sich anlehnenden Idylle als 
einen hohen erscheinen. Ich teile hier als Beleg einige Stellen 
mit. Zunächst die Stelle über General von Werder: 

,, Werder: Wem nicht das Herz bei diesem Namen entbrennt, 

Nenne sich Deutscher nicht mehr! Wie einst in den Schluchten des Wasgau 

W^alther von Aquitanien focht in der schützenden Enj^o 

Und mit dem riesigen Leib der Zahl der eisernen Recken 

Wehrte den Zugang zum trauten Weib und den köstlichen Schätzen 

Einer gegen die Vielen; so stand an der Pforte des Elsass 

Werder nun, der Spiele des Krieges wie kein Anderer kundig, 

Weislich hatte er dort, wo der Abfall der hohen Vogesen 

Hintritt zu der benachbarten Schweiz und den Eingang verengert, 



Paul Robert Schuster. 369 

Künstliche Wälle geschaffen und sie verschanzt mit Geschützen, 
Wie sie sonst gegen Mauern verwenden die Städteerstürmer. 
Und nnn lauerte er vor dem Bau, bis die Richtung er merkte, 
Welche der Feind befolgte. Da fiel von der Flanke er auf ihn 
Und gewann noch das Ziel und zog hinein in die Stellung. 
Dreimal stürmte der Feind mit wachsenden Kräften ; und dreimal 
Stiess ihn die wehrende Faust zurück von der Höhe der Brüstung. 
Wie bei der Fluth des Meeres, wenn nach den Gezeiten der Ebbe 
Wieder zum Strande zurück die Reihen der unendlichen Wellen 
Wandern, vor der Ge^'alt des Sturmes sich höher und höher 
An der Düne hinauf erhebt sie die kochende Brandung; 
Aber sie müht sich umsonst, die verderblichen Wasser hinüber 
Über den Gipfel zu giessen, sie sinkt ohnmächtig zu Grunde — . 
Also zogen heran die Welschen den Mücken vergleichbar, 
Oder den stöbernden Flocken, die uns der Winter versendet, 
Zahllos; aber sie suchten umsonst, eine Lücke zu brechen. 
Und es erlahmte zuletzt ihr Mut und sie wandten zum Rückzug 
Ihren Fuss, wo der klappernde Frost, Hunger und Elend 
Und das Schwert des Verfolgers sie aufrieb, bis sie zum Schlüsse 
Weichen musstcn auf fremdes Gebiet, ein unrühmliches Ende.*' 

Ich knüpfe hieran eine friedliche Stelle von mehr lieblichem 
und idyllischem Charakter: 

„Also erschien nun endlich der Tag, wo die Hochzeit eifolgte 
Golden strahlte vom Himmelsblau die Sonne hernieder 
Und beschien einen glücklichen Zug. Zwei bräutliche Paare 
(jingen voran. Die Männer im festlichen Rocke des Kriegers, 
Mit dem eisernen Kreuz auf der Brust, die lieblichen Bräute 
Schön geziert in der Tracht des Schwarzwaldes; stattlich dahinter 
Schritten die Väter und Mütter einher und die Sippen der Paare, 
Auch geladene Freunde, viel andere Burschen und Mädchen. 
Erst ging es den Plügcl herab, und über die Brücke, 
Wo im dichten Versteck der überhängenden Weiden 
Längst Mutwillige lauerten, die nach alter Gewohnheit 
Schossen mit einem Mal in die Flut der blinkenden Wellen, 
Um sich zu freuen am Schreck der zusammenfahrenden Dirnen, 
Su unter Schüssen langten sie an am Thore des Städtchens; 
Dort stand vor den Thüren das Vulk und begrüsste den Brautzug, 
Rechts und links die Strasse entlang bis hin zu der Kirche. 
Und sie schritten hinein in den Raum der heiligen Halle, 
Orgeltöne erklangen, dazu die erhebenden Lieder, 
Als durch Maien hindurch und über geworfene Blumen 

24 



370 Paul Robert Schuster. 

Wandelten zum Altar die Vier, um ewige Treue 

Zu dem innigen Bund, den angestiftet die Neigung, 

Aber die Trübsal fest geschürzt und die Freude verklärt hat.'' 

Doch scheint es, als wenn Schusters specielle dichterische Be- 
fähigung mehr dem dramatischen Gebiete zuneigte. Nicht weniger 
als 21 Bühnendichtungen haben sich als Manuskript in seinem 
Nachlass vorgefunden: historische Tragödien, moderne Lustspiele, 
Schauspiele und Volksstücke. Von allen diesen Arbeiten des Dich- 
ters gelangte nur das Trauerspiel in 5 Akten: „Perpetua** ein 
Jahr vor seinem Tode am 15. Januar 1876 im Leipziger Stadt- 
theater zur Aufführung und zwar zu Gunsten des Fonds zur Er- 
richtung des Leipziger Siegesdenkmals. Der Dichter selbst hatte einen 
von warmer patriotischer Empfindung getragenen Prolog gedichtet, 
welcher der Aufführung seiner Tragödie voranging. 

Die Tragödie „Perpetua,** welche an jenem Abend lebhaften 
Beifall fand, ist eine ernste und gedankenreiche, im grossen drama- 
tischen Stil gehaltene Dichtung. Sie spielt im ersten Jahrhundert 
n. Chr. und führt uns einen Konflikt vor, der, so menschlich und 
individuell er hier durchgeführt ist, doch eine gewisse typische Be- 
deutung hat: den Gegensatz zwischen dem schwärmerischen Glauben 
und der leidenschaftlichen Liebe im Herzen einer heimlich zum 
Christentum bekehrten vornehmen jungen Römerin. Die Kritik 
hatte damals Beziehungen zwischen der Tendenz des Stückes und 
dem erbitterten Kulturkampf herauswittem wollen. Doch mit Un- 
recht, Derartige scheinbare Absichten könnte man in den tendenz- 
losesten Dramen nachweisen, wenn man darauf ausgeht, sie darin 
zu finden. Die Sprache in „Perpetua** ist pathetisch gehoben, doch 
ohne hohle Rhetorik. Einzelne lyrische Partieen sind von einem 
poetischen Hauch übergössen, der an unsere besten Dichtungen 
gemahnt. Ob das eine oder andere der noch im Nachlass Paul 
Schusters befindlichen zwanzig Bühnenstücke je das Lampen- 
licht des Theaters erblicken wird? Vielleicht findet sich bald 
ein erfahrener Dramaturg, der den Schuster 'sehen Nachlass 
auf seine Aufführungsfähigkeit hin prüft und dieses oder jenes 
Drama oder Lustspiel für die Bühne vorbereitet. Bei dem heute 
allgemein anerkannten Mangel an guten und wirksamen Theater- 



PäzI Roben Sehn««. 371 

dichtungen wäre hier vielleicht noch mancher wem'olle Schjiu s\\ 
heben oid aus seiner Verborgenheit ans Licht zu bringen. 

Paul Schuster hat es weder als philosophischer Forscher noch 
als Dichter zur vollen Entwickelung und Entfahung seiner reichen 
Begabung gebrachL Im noch nicht vollendeten 36. Lebensjahre, 
mitten in den umfassendsten wissenschaftlichen Plänen sank er dahin. 



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