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DEUTSCHES ARCHIV
FÜR
KLINISCHE MEDIZIN.
HERAUSOBOBBEN
VON
Prof. B. AUFRECHT im Magdeburg, Prof. v.BAUER im München, Prof.BAEUMLER inFreiburo,
Prof. v. BOLLINOER in München, Prof. BOSTRÖM in Giessen, Prof. BRAUER in Marburg,
Prof. GURSCHMAKK in Leipzig, Prof. EBSTEIN in G^yrriNOEN, Prof. EICHHORST in Zürich,
Prof. ERB in Heidelberg, Prof. FIEDLER in Dresden, Prof. fOrbriNGKR in Bbrun, Prof.
GERHARDT in Jena, Prof. HELLER in Kiel, Prof. HIS in GÖttinqen, Prof. F. A. HOFFMANN
in Leipzig, Prof. v. JAKSGH in Prag, Prof. v. jOrgeNSEN in Tübingen, Prof. v. k£TLY
in Budapest, Prof. KRAUS in Berlin, Prof. KREHL in Strassburg, Prof. LENHARTZ in
Hamburg, Prof. v. LEUBE in Würzburg, Prof. LICHTHEIM in Königsberg, Prof. LITTEN
IN Berlin, Prof. MANNKOPFF in Marburg, Prof. MARTIUS in Rostock. Prof.MATTHES
IN Cöln, Prof. v. MERING in Halle, Dr. G. MERKEL in Nürnberg, Prof. MORITZ in
OiESSEN, Prof. MOSLER in Greifswald, Prof. F. MÜLLER in München, Prof. NAUNYN
in Baden-Baden, Prof. v. NOORDEN in Wien, Prof. PEL in Amsterdam, Prof. PENZOLDT
IN Erlangen, Prof. PRIBRAM in Prag, Prof. PURJESZ in Klausenburg, Prof. QUINCKE
IN Kiel, Prof. ROMBERG in Tübingen, Prof. RUMPF in Bonn, Prof. SAHLI in Bern,
Prof. SCHREIBER in Königsberg, Prof. F. SCHULTZE in Bonn, Prof. SENATOR in
Berun, Prof. STINTZING in Jena, Prof. ▼. STRÜMPELL in Breslau, Prof. THOMA in
Magdeburg, Prof. THOMAS in Freiburg, Prof. UNYERRICHT in Magdeburg, Dr. H. WEBER
IN London, Prof. TH. WEBER in Halle und Prof. WEIL in Wiesbaden
REDIGIERT
von
Db. L. KBEHL, Db. f. MOBITZ,
Prof. der medizinischen Klinik Prof. der medizinischen Klinik
IN Strassburg i. E. in Giessen
UND
Dr. f. MÜLLEB,
Prof. der medizinischen Klinik in München.
neunundachtzigster band.
MIT 81 ABBILDUNGEN IM TEXT UND 4 TAFELN.
*•
LEIPZIG,
VERLAG VON F. C. W. VOGEL.
1907.
.iiA.
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AUG31 1907
4L8RAHi
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CATALOf^UE»
AUG31 1907
E. H. D.
Inhalt des neuiiundachtzigsten Bandeä.
Erstes bis Viertes Heft
ausgegeben am 27. November 1906* seite
I. Beek, Über die Bewertung der Frühsjmptome bei der Entzündung
des Wurmfortsatzes 1
II. Becker. Operation einer Geschwulst im Kleinhimbrttckenwiukel.
(Mit Tafel I) 6
III. Biekel, Zur pathologischen Physiologie des Magenkatarrhs ... 34
IV. Deneke^ Zur Röntgendiagnostik seltenerer Herzleiden. (Mit
4 Kurven und 3 AbbOdungen) 39
V. Ebstein. Zur klinischen Geschichte und Bedeutung der Trommel-
schlägelünger. (Mit 10 Abbildungen) 67
VI. FraeDekel« Untersuchungen zur Entstehung der sogenannten
spontanen Magenruptur. (Mit 5 Kurven) 113
Vn. Grfttzner, Betrachtungen Über die Bedeutung der Gefäßrouskeln
und ihrer Nerven 132
VIII. Jolly, Indische Prioritätsansprüche 148
IX. Lupine. Du role des secretions dans la pathog^nie du diab^te sucre 162
X. Mendel) Gicht und Psychose 159
XI. Nicolaier, Über Verbindungen der Harnsäure mit Formaldehyd . 168
XII. Raachftifi, Über die paravertebrale Dämpfung auf der gesunden
Brustseite bei Pleuraergüssen. (Mit 17 Abbildungen) 186
XIII. äamnely. Stoffwechseluntersuchungen bei experimenteller Anämie 220
XIV. Schlttennelm, Bemerkungen über den Nucleinstoffwechsel . . . 266
XV. Schreiber, Über Herzblock beim Menschen. (Mit 4 Kurven) . . 277
XVI. Tintemann^ Zur Kenntnis der Arthrogryposis. (Mit 1 Kurve) . . 284
XVII. Tiaden, Die Diphtherie als Volksseuche und ihre Bekämpfung . 292
XVin. naldvogel, I. Zwischenfälle bei der Thorakocentese, speziell über
das Wesen der albuminösen Expektoration 322
Waldvogel, II. Z^r Pathocfenese der Fettsucht 842
XIX. Wyß, Über Perkussion und Auskultation der Säuglinge und über
die Symptome der Lungentuberkulose im ersten Lebensjahre . . 351
XX. Ebstein, Wilhelm Ebstein's Arbeiten aus den Jahren 1859—1906 367
Fünftes und Sechstes Heft
ausgegeben am 15. März 1907.
XXI. Matthes, Einige Beobachtungen zur Lehre vom Kreislauf in der
Periphene. (Mit 2 Abbildungen) 381
XXII. Kngmnoto. Zur Genese der Nierenblutungen bei Nephritis. (Mit
Tafel n) . . . .„ 405
XXm. Linser und Siek, Über das Verhalten der Harnsäure und Purin«
hasen im Urin und Blut bei Röntgenbestrahlungen 413
— IT —
XXIV. Milllery Klinische Beiträge zur Physiologie des sympathischen
Nenrensystems 432
XXV. Kftlbg, ßeitrSge znr Pathologie des Blutdrucks. (Mit 3 Kurven) 457
XXVI. Bittorf und Joehnann, Beitrage zur Kenntnis des Kochsalzstoff-
wechsels. (Mit 2 Kurven) 485
XXVII. Rogge und Mttller, Tabes dorsalis, Erkrankungen der Zirkalations-
orfi[ane und Syphilis 514
XXVIII. Sehnlti) Über das Hydrocephalusstadium der epidemischen Ge-
nickstarre. (Mit 2 Abbildungen) 547
XXIX. Hesae, Der Einfluß des Rauchens auf den Kreislauf 565
XXX. Esaer. Blut und Knochenmark nach Ausfall der Schilddrüsen-*
funktion 576
XXXI. SehmoU, Paroxysmale Tachykardie. (Mit 14 Kurven) .... 594
XXXIT. Sebieffer. Über HerzvergröOenyng infolge Radfahrens. (Mit 4 Ab-
bildungen) 604
XXXIII. Kleinere und kasuistische Mitteilungen.
1. Wagener. Thrombenbildung am durchgängigen Ductus arte-
riosus (Botalli). (Mit Tafel III) 626
2. Wiehern, Über einen Fall von sog. „essentieller Wassersucht*' 631
3. Hann und Sehmaas, Ein Beitrag zur Kenntnis der unter
dem Bilde des Landry'schen Symptomenkomplexes verlaufenden
Krankheitsfälle. (Mit Tafel IV) 643
XXXrV. Besprechungen.
1. Naonyii. Der Diabetes mellitus. (Krehl.) 649
2. Lenhartz« Jahrbücher der Hamburgischen Staatskrankenan-
stalten. (Moritz.) 660
Yerzelehnis der bei der Bedaktloa eiagegangenen Bücher 651
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DEUTSCHES ARCHIY
FÜR
KLINISCHE MEDIZIN
89. BAND. 1.— 4. HEFT.
Festschrift
HERRN
GEE-RAT PROF. DR. WILHELM EBSTEIN
IN GÖTTINGEN
ZUR
FEIER SEINES 70. GEBURTSTAGES
AM 27. NOVEMBER 1906
GEWIDMET.
HIT 1 BILDNIS, 1 TAFEL UND 44 ABBILDUNGEN IM TEXT.
LEIPZIG,
VERLAG VON P. C. W. VOGEL
1906.
WILHELM EBSTEIN
ZUR
FEIER SEINES 70. GEBURTSTAGES
IN
FREUNDSCHAFT, VEREHRUNG UND DANKBARKEIT
ZUGEEIGNET
VON
SEINEN FREUNDEN UND SEINEN SCHÜLERN.
Inhalt des neunundaohtzigsten Bandes.
Heft 1—4.
Seite
I. Carl Ueeky New- York.
Über die Bewertung der Frtthsymptome bei der EntzÜndimg des Wurmfort-
satzes 1
II. Ernst Becker, Hildesheim.
Operation einer Geschwulst im Kleinhimbrückenwiukel. (Mit Tafel D . . 6
in. Adolf Bickel, Berlin.
Zur pathologischen Physiologie des Magenkatarrhs 34
IT. Th. Deneke, Hamburg.
Zur Röntgendiagnostik seltenerer Herzleiden. (Mit 4 Kurven und 3 Abbil-
dungen) 39
Y. Erleh Ebstein, München.
Zur klinischen Geschichte und Bedeutung der Trommelschlägelfinger. (Mit
10 Abbildungen) 67
Tl. Paal Fraenekel, Berlin.
Untersuchungen zur Entstehung der sogenannten spontanen Magenruptur.
(Mit 5 Kurven) 113
TU. P« Grfltsner, Tübingen.
Betrachtungen über die Bedeutung der Gefäßmuskeln und ihrer Nerven . 132
TUI. Julias JoUy, Würzbnrg.
Indische Prioritätsansprüche • . . . 148
IX. R« Lupine, Lyon.
Du röle des secr^tions dans la pathogenie du diab^te sucre 152
X. E. Mendely Berlin.
Gicht und Psychose 159
XI. Arthur Nieolaier, Berlin.
Über Verbindungen der Harnsäure mit Formaldehyd 168
XII. C. Rauchftiß, St. Petersburg.
Über die paravertebrale Dämpfung auf der gesunden Brustseite bei Pleura-
ergüssen. (Mit 17 Abbildungen) 186
XIII. Franz Samnely^ Göttingen.
Stoffwecbseluntersuchungen bei experimenteller Anämie 220
XIT. Alfred Scliittenhelm, Berlin.
Bemerkungen über den Nucleinstoffwechsel 266
XT. E. Sehreiber, Magdeburg.
Über Herzblock beim Menschen. (Mit 4 Kurven) 277
XTI. Tintemann, Göttingen.
Zur Kenntnis der Arthrogryposis. (Mit 1 Kurve) 284
— VI —
Seite
Xyn. TJaden, Bremen.
Die Diphtherie als Volksseuche und ihre Bekämpfang 292
XYIII. Waldrogel, Göttiugen.
I. Zwischenfillle bei der Thorakocentese, speziell über das Wesen der albn-
minSsen Expektoration 322
n. Zar Pathogenese der Fettsacht 342
XIX. Oskar Wyfi, Zttrich.
Über Perkussion und Ansknltation der Sftn^linge; über die Symptome der
Lnngentnberknlose im ersten Lebensjahre 351
XX« Erieh EbsieiB, Mflnefaen.
Wilhelm Ebstein's Arbeiten aus den Jahren 1859—1906 367
Nachtrag su XII. C. RAvehfaß 379
s
, AUG31 1907 ^
1.
Über die Bewertung der FrflhBymptome bei der
fintzOndmig des Wurmfortsatzes.
Prof. Dr. Carl Beok (New- York).
(Mit Zagrtmdziegnng einiger in der Berliner med. Oesellschaft am 25. Jali 1806
gemachten Bemerkungen.)
Mit einer großen Anzahl von Kollegen teile ich die Ansicht, daß
die Appendicitis ein infektiöser Vorgang ist, welcher sich auf dem
wohlgepflügten Felde eines chi^onischen Beizzustandes entwickelt, und
zwar in einem Warmfortsatz, welcher dorch erhebliche Disposition^
denn es gibt ja Appendicitisfamilien, wie es Gallensteinfamilien usw.
gibt, durch besondere Lage der Organe, Lebensweise, gewisse Zir-
kttlationsvorgänge, Druckmomente oder auch durch eine Anzahl von
Imponderabilien derart beeinflußt wird, daß eben irgend ein weiteres
Je ne sais quoi den akuten Anfall bringt, und es scheint mir nicht,
als ob das Bakterium dabei die Hauptrolle spielt. Natürlich ohne
Bakterium keine Infektion, aber die ursprünglichen Vorbedingungen
sind doch wohl nicht vom Bakterium abhängig. In der Mehrzahl
der Fälle ist die Diagnose der Entzündung des Wurmfortsatzes
nicht schwer zu stellen.
Die Anamnese ergibt gewöhnlich gestörtes Allgemeinbefinden,
mehr oder minder ausgesprochene Übelkeit oder gar Erbrechen und
Schmerzgefühl in der Gegend des Blinddarms. In einer Beihe von
Fällen verlegen die Patienten den Schmerzpunkt zuerst in die Gegend
des Nabels und erst einige Stunden später in die des Blinddarms. Im
Einklang damit stehen die objektiven Symptome : Druckschmerzen in
der Gegend des sogenannten Mc Burney 'sehen Punktes (zuweilen
auch nach oben oder unten, je nach der verschiedenen anatomischen
Lage des Wurmfortsatzes), eine mehr oder minder hohe Steigerung der
Temperatur und der Pulsfrequenz, die Rigidität der rechtsseitigen
Detttsobes Archiv f. bÜD. Medizin. 89. Bd. 1
2 i* Beck
•
Baucbmuskalatur, häufig auch eine ausgesprochene Empfindlichkeit
des Psoasmuskels bei der Erhebung des Schenkels.
Der Lenkocytenzählung kann ich bei der Frühdiagnose keinerlei
entscheidende Bedeutung zumessen.
Unter allen Symptomen ist das wichtigste der durch den pal-
patorischen Druck ausgelöste Schmerz. Das Spiel der Gesichts-
muskeln beim Schmerzausdruck des Patienten läßt oft auf den Grad
der Entzündung schließen. Wenn man vorsichtig von der linken
Seite her gleitend und die Hand gegen die Cöcalgegend schiebend beim
Gefühl einer Resistenz plötzlich in die Tiefe drflckt und dabei eine
plötzliche intensive Schmerzensäußerung des Patienten an klassischer
Stelle wahrnimmt, so kann man schon mit ziemlicher Sicherheit an-
nehmen, daß es sich um die Entzündung des Wurmfortsatzes handelt.
, Ich will nicht bestreiten, daß beim Weibe ab und zu eine Ver-
wechslung mit Salpingitis vorkommen kann, ich selbst habe aber
; dort niemals dieses charakteristische „Insichzusammenfahren^ be-
obachtet, wie es bei der Entzündung des Wurmfortsatzes, dem
Darmpanaritium, oft geradezu verblüfil.
Die Palpation sollte nie von der rechten Seite aus direkt vor-
genommen werden. Der Patient muß sich erst an das Palpations-
manöver gewöhnen, so daß er einen geringen Muskelwiderstand
entgegensetzt. Man lasse ihn die Beine leicht anziehen und tief
atmen, während man in die Tiefe zu gleiten versucht. Man nähere
sich, Sit venia verbo, schleichend wie ein Dieb von der Seite, bis
1 man allmählich an das Corpus delicti stößt.
' Wo man bei objektivem Verdacht auf die Entzündung des
Wurmfortsatzes palpatorische Anhaltspunkte vermißt, da versäume
man niemals die Untersuchung per rectum. Die Lage des Wurm-
fortsatzes kann außerordentlich verschieden sein. Ich habe wieder-
holt, die Spitze dieses allen erdenklichen Launen unterworfenen
Organs am Leberrand gefunden, noch viel häufiger aber direkt
über der Flexur. Da erzeugt man dann bei hoher Einführung des
Fingers denselben intensiven plötzlichen Schmerzausdruck, wie ich
ihn bei der äußeren Palpation beschrieb. Im Frühstadium solcher
Fälle sind von der Ileocöcalgegend her keinerlei palpatorische An-
haltspunkte zu gewinnen.
Wo diese Erscheinungen ausgesprochen sind, da ist die Diagnose
leicht, in einer sehr erheblichen Anzahl von Fällen jedoch ist das
frühzeitige klinische Bild undeutlich oder gar völlig verwischt, so
daß der Unerfahrene überhaupt ein Bestehen einer Entzündung
des Wurmfortsatzes für ausgeschlossen hält oder die Symptome
Bewertung der Frühsymptome bei der Entzündung des Wurmfortsatzes. 3
tragen einen so eminent milden Charakter, daß Bettruhe, Diät und
Opium genügend erscheinen, um die leichte „Eotstauung^ zu be-
heben. Die grausame Erfahrung aber lehrt, daß sich unter der
Maske dieser „milden Sjrmptome^ schwere anatomische Verände-
rungen bargen, welche allzuspäte Erkenntnis leider auch heute noch
unzählige Menschenleben fordert.
Mit dieser Tatsache faßt . uns der Wurmfortsatzfrage ganzer
Jammer an. Ja, in dieser Unmöglichkeit, die Dignität der Ent-
zündung im Frühstadium zu diagnostizieren, liegt die Erklärung zu
der Verschiedenheit der Indikationsstellung und zu dem Streit
zwischen den verschiedenen Vertretern extremer Ansichten. Es war
diese schmerzlich empfundene Unsicherheit, welche auch mir gleich
einigen anderen hiesigen Chirurgen das Messer in die Hand drückte,
zu einer Zeit, als man in Deutschland die Frühoperation als eine
amerikanische Verirrung schwer verurteilte. Ich darf es mir er-
sparen, heute auf die Gründe einzugehen, welche mich trotz vieler
herber Kritikasterei unentwegt auf meinen radikalen Standpunkt
beharren ließen. Ich erörterte dieselben in der Berliner klinischen
Wochenschrift 1896, Bd. 37 u. 38 und in der Sammlung klinischer
Vorträge, Nr. 221 im Jahre 1898. Meine seit dieser Zeit gewon-
nenen Erfahrungen, welche sich, um mehr als 1000 Beobachtungen
vermehrten, haben meine Ansicht, daß die Frühoperation stets ge-
boten sei, nur befestigt
Am grellsten scheint mir die Hinterlist des Wurmfortsatzes
durch denjenigen Typus illustriert, welchen ich als die zirkumskript
gangränöse Form bezeichnete, bei der man stets Konkremente findet.
Ich will die Frage nicht berühren, ob der Stein die Ursache oder
die Folge eines milden chronischen Entzfindungsvorganges ist, aber
genug, er ist da, wenn man den Wurmfortsatz eröffnet. Und man
staunt dann, in welchem Kontrast die anatomischen Befunde zu
den milden Symptomen stehen.
Es ist übrigens die Frage was man Frühstadium nennen soll, denn
bei diesem Typus kann sich 3 oder 4 Tage ein langsamer Prozeß, eine
Art frühesten Vorstadiums, in der Tiefe abspielen, ohne daß wir über-
haupt Symptome sehen, d. h. der Patient kann sich leidlich wohl be-
finden ; Puls, Temperatur und Lokalsymptome können beinahe normal
sein, wir schneiden ein, nicht der Not gehorchend, sondern weil wir
eben mehr oder weniger gelernt haben, auch die anscheinend leichten
Fälle zu furchten und finden zu unserem großen Erstaunen einen
schwarzverfärbten Wurmfortsatz mit Perforation. Wer würde ge-
wagt haben, a priori eine solche Diagnose mit Bestimmtheit zu
1*
4 I. Bbck
Stellen ? Wir wissen also, däfi wir uns auf unsere Diagnostik nicht
ganz verlassen können. Deshalb, infolge des Bewußtseins unserer
Unsicherheit, operieren wir also in solchen Fällen. Wir können
es uns ganz gut anatomisch vorstellen, warum die Erscheinungen
bei dieser Form klinisch nicht so sehr zum Ausdruck gelangen.
Um den Stein entsteht eine üsur. Der Vorgang der Durchreibung,,
welcher folgt, ist ein so langsamer, daß sich plastische Exsudate,,
vielleicht eine schützende Adhäsionsschicht bilden, also ein nekro-
biotischer Prozeß. Zuletzt ist vielleicht nur noch eine kleine^
spinnwebengleiche, vielleicht makroskopisch nicht wahrnehmbare
Membran da. Bis zu diesem Momente braucht notgedrungen ein
symptomatischer Wellenschlag nicht vorhanden zu sein, weshalb
der behandelnde Arzt seinen derart afflzierten Patienten in einem
ganz guten Zustande verläßt. Er nennt den Fall einen milden und
verläßt beruhigt am Abend das Krankenbett. In der Nacht schreitet
die gangräneszierende Perforation langsam fort. Vielleicht ist sie
noch bei vollem Wohlsein eingetreten, die Absorption wird aber
noch eine Weile dadurch hintangehalten, daß der Stein selbst die
von ihm gemachte Lücke ausfüllt utid erst am Morgen die Eruption
vollendet. Dann freilich erkennt der Arzt die Peritonitis, er dringt
auf sofortige Operation, es ist aber schon zu spät' und der Patient
stirbt. Hier wird die Frage zur Tragödie. Und wir sollten uns
deshalb klar über unsere Täuschungsfahigkeit werden. Die drängt
uns zur chirurgischen Tat, mit der vollen Überzeugung, daß wir
gewiß manchen Appendix opferten, der auch ohne unser Messer
gesund geworden wäre, ja, daß wir vielleicht sogar dem einen oder
anderen Patienten eine Adhäsion beibrachten, wegen der er später
noch einmal operiert werden muß, während er ohne unser Zutun
geheilt worden wäre. Wollen Sie deshalb einen Stein auf uns^
werfen ? Wer aber wagt es, andererseits von vornherein behaupten
zu wollen: Dies ist ein milder Fall, der unoperiert gut verlaufen
wird, oder dieser oder jener Fall muß gleich operiert werden, sonst
stirbt er. Nach dem heutigen Stand unserer Wissenschaft kann
niemand die Verantwortung hierfür tragen. Und deshalb hängt
an dieser Unsicherheit die Beantwortung der ganzen Frage. Ich
sage mir also, wenn ich gleich hier und dort eine diagnostische
SQnde beging, so habe ich andererseits wieder eine große Reihe von
Patienten gerettet, welche ich, wie der Befund nach dem Ein-
schneiden in die Bauchhöhle erwies, bei einem Zuwarten von weiteren
24 Stunden nicht mehr hätte retten können. Denn in den letzten
Jahren ist mir kein Fall gestorben, den ich in den ersten 24 Stunden
Bewerttmg der Frtthsymptome bei der EntzUndiuig des Wurmfortsatzes. 5
operierte. Wir wählen also am besten von zwei Übeln das kleinere»
und das kleinere ist die Frühoperation.
Durch sie befreien wir den Patienten von dem Risiko, sein
Leben an eine auf ungewisser anatomischer Diagnose fufiende Spät-
operation zu binden. Wir entheben ihn femer ein für allemal
der Gefahr einer rezidivierenden Entzündung, welche im besten
Falle seine Arbeitsfähigkeit ui^ Lebensfrendigkeit bedeutend
herunterstimmt.
Bezüglich der Frage, ob man nach jedem aberstandenen An-
fall von Warmfortsatzentzündung operieren solle , müssen wir m^s
von gleichen Grundsätzen leiten lassen. Die Dominante unseres
Handelns ist auch hier die Unsicherheit der Prognose. Obgleich
de facto nicht gänzlich zutreffend, so keanzeichnet doch das
amerikanische Sprichwort: Once appendicitis, always appendicitis
(Einmal Appendicitis, immer Appendicitis) die Situation in Ulu-
strativer Weise. Es ist wohl wahr, daß es eine nicht unbeträcht-
liche Anzahl von Wurmfortsatzentzühdungen gibt, welche heilen,
ohne daß das Messer eine Bolle gespielt hätte. Und zwar geschieht
das nicht bloß temporär, sondern gar nicht zu selten dauernd.
Ja, gerade der Entzündungsprozeß kann zu vollkommener Oblite-
ration und damit zu völliger Heilung führen. Aber wer wagt die
verantwortungsvolle Frage zu beantworten : „Welche Fälle sind es
die dauernd gesunden und welche nicht?** Wer im Warten die
Antwort sucht, dem kann es just passieren, daß ein rascher töd-
licher Anfall die Frage entscheidet, noch ehe er sich zur Ope-
ration entschließen konnte.
IL
Ans dem städtischen Krankeuhanse zn Hildesheim.
Operation einer Geschwulst im KieinhimbrflckenwinkeL
Von
Dr. Ernst Becker, Oberarzt.
(Mit Tafel I.)
Im «Tahre 1870 machte nnser Jabilar^) als jnnger Assistent
am AUerbeiligenhospital in Breslau das Gehirn einer dem Brannt-
weingenusse sehr ergebenen Priesterin der Venus vulgivaga zum
Gegenstande einer wissenschaftlichen Abhandlung und führte den
Nachweis, daß eine fast vollständige Zerstörung einer Kleinhirn-
hemisphäre symptomlos verlaufen kann.
18 Jahre später habe ich^) als Ebstein 's Assistent an der
Göttinger medizinischen Klinik den Sektionsbefund eines jungen
Mädchens mitgeteilt, welches trotz hochgradiger Zerstörung des
Kleinhimwurmes durch eine apoplektische Cyste ebenfalls keinerlei
Krankheitszeichen bei Lebzeiten dargeboten hatte. Beide Arbeiten
sollten die vielleicht etwas zu schroff hingestellte Theorie N o t h -
nagel's über die Bedeutung des Kleinhirns, insbesondere des
Wurmes, einschränken.
Wiederum 18 Jahre später ist es mir in eigener Anstaltstätig-
keit vergönnt gewesen, einen Einblick in die hintere Schädelgrube
des Menschen zu tun — dieses Mal aber beim Lebenden.
Die kurze Spanne eines Menschenalters hat genügt, um Wand-
lungen in der Kenntnis der Gehirnpathologie hervorzurufen, die
damals selbst der Kühnste nicht zu erhoffen wagte. NothnageTs
berühmte Monographie der Gehirnkrankheiten beschränkt sich
1) Ebstein, Großes Osteom der linken Eleinhirnhemisphäre. Yirchow's
Archiv Bd. 49 S. 145 ff.
2) E. Becker, Ein Fall von hochgradiger Zerstörnng des Kleinhimwurmes
usw. Virchow's Archiv Bd. 114 S. 173 ff.
3) Nothnagel, Topische Diagnostik der Gehimkrankheiten. Berlin 1879.
Operation einer Geschwulst im KleinhimbrttckenwinkeL 7
lediglich auf die Diagnostik — denn eine Therapie gab es
nicht! Insbesondere waren die Geschwülste des Gehirns für den
inneren Kliniker nur ein interessantes Objekt zur Schalung seines
diagnostischen Scharfsinnes und ein Leckerbissen, dessen Genuß
ihm erst der Pathologe verschaffen sollte.
Jetzt denkt man anders. „Das Endziel aller unserer
klinischen Bestrebungen ist immer die Heilung des
Kranken", sagt LttdwigBruns^)in seiner vortrefflichen Studie
über die Geschwülste des Nervensystems, „und wo das nicht er-
reichbar ist, die möglichste Linderung seiner Leiden. Eine Hei-
lung ist bei der großen Mehrzahl der Geschwülste des Nerven-
sjTstems nur auf chirurgischem Wege möglich; die Pflicht
des Neurologen ist es, durch seine Arbeit dazu beizutragen,
daß immer mehr Fälle dieser Art möglichst frühzeitig und mit
sicherer Diagnose, mit anderen Worten u n t e r den günstigsten
Bedingungen für eine radikale Heilung dem Chirurgen
zugewiesen werden könnend „Ich selber halte nach wie
vor, trotz vieler Enttäuschungen und Mißerfolge und trotzdem ich
immer wieder dazu raten möchte, die Hoffnungen nicht zu hoch zu
spannen, an der Ansicht fest, daß die chirurgische Behandlung der
Hirn- und Bückenmarksgeschwülste und die Erfolge, die diese
Operationen gezeitigt haben, zu den größten Errungenschaften der
wissenschaftlichen Medizin des letzten Viertels unseres Jahrhunderts
gehören; ich habe auch Vertrauen in die Zukunft dieser Bestre-
bungen und ich glaube nicht, daß sie je wieder von der Tages-
ordnung verschwinden werden."
Der in den folgenden Blättern mitgeteilte Fall einer leider
tödlich verlaufenden Op eration einer Geschwulst des
Kleinhirnbrückenwinkels, bei welcher ich mich der dia-
gnostischen Unterstützung des Herrn Professor Bruns zu er-
freuen hatte, mag als ein bescheidener Beitrag zu den chirurgi-
schen Bestrebungen der neuesten Zeit aufgefaßt werden.
Karze Inhaltsangabe.
36jähriger kräftiger Mann aus gesunder Familie
erkrankt vor einem halben Jahre an Kopfschmerzen
zumal im Hinterhaupt, Schwerhörigkeit und Sausen
auf dem linken Ohre und unsicherem Gang. Gelegent-
lich Schwindelanfälle und Hinstürzen. Selten Er-
1) Bruns, Die Geschwülste des Nervensystems. Berlin 1897.
8 U.. Bbgkeb
brechen. Da2u gresellen sieb. AagenstÖrangen, welche
anfangs nur in Sehläuge^Üung der Venen an der Fa-
püle bestanden. Trotz Schwitzkaren und antisyphi-
litiseher Behandlung entwickelt sich eine Stauungs-
papille beiderseits (Ende Januar 1906). April: linke
Pupille weiter als die rechte, reaktionslos. Keine
Augenmuskellähmung. Ende März 1906: Reaktions-
lose Pupille. Cerebellare-r Gang. Ohrensausen links.
Trigeminusneuralgie links.
Diagnose: Tumor in der linken hinteren Schädel-
grube.
Operation nach Krause am 11. April 1906. Ent-
fernung eines Fibroms des Kleinhirnbräckenwinkels
linkerseits. Tod nach 3 Stunden im Kollaps. Bei der
Sektion fand sich keine Nachblutung, im übrigen be-
langloser Befund.
Krankengeschichte.
E., Heinrich, 36 jähriger Landwirt aus Groß-Giesen bei Hildesheiin.
Patient wnrde mir im Januar 1906 von dem hiesigen Augenarzte
Herrn Dr. Spengler zugewiesen mit der Diagnose Hirntumor. Ich
empfahl ihm, sich zur Beobachtung im städtischen Krankenhause auf-
nehmen zu lassen ; indessen kam er* dieser Aufforderung zunächst m<chfc
nachy sondern fand sich erst am 7. April 1906 ein auf Empfehlung seines
Hausarztes Herrn Dr. Kluge in Sarstedt, nachdem sein Leiden sich er-
heblich verschlimmert hatte.
Er gab an, früher niemals ernstlich krank gewesen zu sein und aus
gesunder Familie zu stammen. Soldat ist er aus ihm unbekannten Gründen
nicht gewesen. Nach üilitteilung seines Hausarztes ist er seinem jüngeren
Bruder von jeher sowohl körperlich wie geistig unterlegen gewesen» so
daß er sich ihm gegenüber stets ^zurückgesetzt^ fühlte. Seit ungefähr
einem halben Jahre leidet er an heftigen Kopfschmerzen zumal im Hinter-
kopfe, unmittelbar über dem Nacken. Dazu gesellte sich bald Schwer-
hörigkeit auf dem linken Ohre und Sausen in demselben. Wann sein
Gang unsicher geworden ist, vermag er mit Bestimmtheit nicht anzugeben.
Ausgesprochene Schwindelanfalle mit Hinstürzen hat er etwa zwei- oder
dreimal erlitten. Dabei stellte sich auch Erbrechen ein. Nach Ablauf
des Anfalles sei der Gang unsicher und taumelnd gewesen. Dr^hschwindel
nach einer bestimmten Seite will er nicht gehabt haben. Seit Monaten
bestanden Augenstörungen, auf welche noch genauer einzugehen ist. Das
Ohrensausen nahm in letzter Zeit derartig zu, daß er schließlieh fast
nichts mehr hören konnte; auch auf dem rechten Ohre nahm das Hör-
vermögen ab ; Ohrensausen fehlte hier aber.
Herr Augenarzt Dr. Spengler stellte mir seine Beobachtungen an
dem Ejranken freundlichst zur Verfügung: ^Am 8. November 1905:
klagt über zeitweilige Verdunkelung vor den Augen und vorübergehende
Operation einer Geschwulst im Kleinhimbrttckenwinkel. 9
YerscklecfateniDg des Sehens. Diese Anfälle waren von einiger Dauer.
Ophthalmoekopisch •rscheinen die Venen hochgradig geschwellt, Papillen
Terwaschen nit einem Ton ins Graue, aber keine Sohwellung.
Kein Astigmatismus.
R. 1,0 \
L. 1,0 /
Sehschärfe, Qläser bessern nichts.
Harn frei von Eiweiß und Zucker. Hört links schlecht. Diagnose:
Keuritis intraocnlaris oculi utriusque. Therapie: Seh witiskuren mit
Aspirin. Senffoißbäder. JodkalL 25. November: R. und L. 1,0 D,
Gesichtsfeld wenig peripher eingeschränkt, Arterien sehr dünn. 8. De-
zember: Schwitzen hört auf. Schmierkur. Injektionen Ton Hydrar-.
gyrum cyanatnm. Sehschärfe beiderseits unverändert. 19. Januar 1906:
Bäder. Jodkali. Diagnose: Chronische Meningitis? 23. Januar:
Vorgestern plötslicher Ohnmachtsanfall und halbstündige Bewußtlosigkeit;
seitdem Sehwindel und Kopfdruck. Deutliche Stauungspapille, etwa 6 — 8
Dioptrien beiderseits. Sehschärfe beiderseits 1,0, Gesichtsfeld kaum ein-
geengt. Diagnose: Tumor cerebri.
26. Februar: R. 1,0(?), L. 0,9 -|- 10 D, bds. Papillenschwellung.
15. März: R. 0,35, L. 0,75.
Gesichtsfeld nach unten stark eingeengt, links mehr als rechts. Nur
unbedeutende Drucksymptome, Sensorium frei. Unsicherer Gang. Pa-
tellarreflex links lebhaft. Leichte Parese im linken Arm und Bein(?);
ziehende Schmerzen im linken Arm. Keine Ataxie, keine Sensibilitäte-
störungen, Geruch und Geschmack normal, Gehör wie anfangs. Es wurde
der Vorschlag einer Trepanation gemacht.
17. März: Sehschärfe R. 0,15, L. 0,6 D.
4. April: Linke Pupille ist weiter als die rechte, reagiert weder
bei Akkomodation noch auf Licht einfall ;. rechts träge Reaktion auf Licht-
einfall. Bulbi nach allen Seiten gleichmäßig und ausgiebig beweglich.
Doppelsehen fehlt. Sehprüfung: R. Fingerzählen auf 1,5 m, L. Hand-
bewegungen auf 0,5 m. Die untere Gesichtsfeldhälfte fällt links bis zum
Fixierpunkt aus, rechts ist sie hochgradig eingeschränkt. Ophthalmo-
akopiseher Befund seit 23. Januar unverändert: hochgradige Stauungs-
papille (8 — 10 D), keine Atrophie.'' —
Inzwischen hatte Patient in Gemeinschaft mit seinem Hausarzte den
Spezialarzt für Nervenkrankheiten, Herrn Professor Bruns in Hannover
am 31. März 1906 konsultiert, welcher die Güte hatte, mir sein XJnter-
suohungsergebnis zum Zwecke der Publikation zur Verfügung zu stellen.
Herr Professor Bruns schreibt folgendes:
..Seit langer Zeit Kopfschmerzen, speziell im Hinterkopfe, oft be-
sonders stark morgens beim Erwachen, aber nicht übermäßig oft. Er-
brechen nur sehr wenig; jedenfalls kein morgendlicher Drehschwindel.
Allmählich Stauungspapille, jetzt links stärker, und ziemlich rasche Ab-
nahme der Sehschärfe. Pupillen reagieren kaum mehr. Gang cerebellar.
Keine Schwäche, keine Ataxie einer Seite. Reflexe beiderseits gleich und
ganz normal. Nystagmus beim Blick nach links. Links alte Schwer-
hörigkeit; hier aber jetzt sehr vermehrtes Sausen. Links Trigeminuc-
neuralgie. Sonst an den Hirnnerven nichts. Im TJrin nichts. Diagnose :
Tumor cerebelli, wohl links. ^
10 n. Beckeb
^Die Diagnose eines Gehirntumors stützte sich auf den Ver-
lauf des Leidens, die Kopfschmerzen, das Erbrechen und die Stauungs-»
Papille. Für die Diagnose ,, Kleinhirn tumor^ kam vor allen Dingen
in Betracht die cerebellare Ataxie, dazu der rasche Übergang der
Stauungspapille in schwere Amblyopie, die Hinterkopfschmerzen,
die besondere Stärke der Kopfschmerzen morgens früh nach dem
Liegen im Bette. Auf der anderen Seite waren aber sowohl die
Kopüächmerzen wie das Erbrechen nicht so stark und andauernd,
wie oft bei Kleinhimerkrankungen ; echter Drehschwindel fehlte
ganz. Bewegungsataxie speziell einer oberen Extremität, wie ich
sie in vier zuletzt von mir beobachteten Fällen von Kleinhirn-
erkrankung stets sah, fehlte; ebenso jede andere Parese, Gefühls-
oder Beflexstörung der Extremitäten. Für die Seitendiagnose waren
vorhanden der Nystagmus nach links, das Ohrensausen links und
die Trigeminusneuralgie links. Die Richtung des Nystagmus, der
Ja bei Kleinhirngeschwülsten häufig ist, ist wohl nicht von ent-
scheidender Bedeutung; am häufigsten aber scheint doch Nystagmus
nach der Seite der Erkrankung zu sein. Das wäre besonders er-
klärlich, wenn man den Nystagmus, wie ich das für einen großen
Teil der Fälle annehme, für einen Vorläufer der Augenmuskel-
lähmung hält — hier wäre es dann also eine Blickparese nach links,
durch Druck des Tumors auf die linke Ponsseite. Das Ohren-
sausen links und die Trigeminusneuralgie links sprechen ebenfalls
für die linke Seite. (Leider wurde nicht auf Areflexie der Cornea
geachtet.)
Alles in allem schien mir die Diagnose Tumor cerebelli wahr-
scheinlich. Diese Diagnose umfaßte sowohl Tumoren in der linken
Kleinhimhemisphäre selbst, wie solche im linken Kleinhirnbrücken-
winkel. Beide voneinander zu unterscheiden, ist wolil nur selten
möglich, etwa dann, wenn Hirnnervensymptome speziell vom Akustikus
lange Zeit den übrigen Symptomen vorangehen. Vielleicht kann
man auch das Fehlen von Hemiataxie und die relative Gering-
fügigkeit der Kopfschmerzen und die Seltenheit des Erbrechens
gegen intracerebellaren Sitz verwerten.^)
1) In eiuem Falle von linksseitigem Tumor im Kleinhirne selbst^ den ich
1903 beobachtete und den Dr. B o e g e 1 - Hannover operativ entfernte (Tod an
Blutung in den vierten Ventrikel) waren die Hirnnervenlähmungen viel ausge-
dehnter als hier; sie betrafen den linken 5., 6, 7., 8., 10. und 11. Hirnnerven ^
auch hier Nystagmus besonders stark nach links. Links Bewegungsataxie der
oberen Extremität. (Nenrolog. Zentralbl. 1904 S. 578.) In einem sehr gleichen
Falle, der in meinem Buche über Geschwülste der Hirnnerven abgebildet (Abb. 2>
Operation einer Geschwulst im KleinhirnbrUckenwinkel. H
Da es sich immerhin nar um eine mit großer Wahrscheinlich-
keit zu stellende Lokaldiagnose handelt und da ich mir bei der
schweren Amblyopie auch eine Bessernng der Sehschärfe dnrch
eine Trepanation nicht versprach, riet ich nicht zur Operation.
Da der Kranke aber eine solche wünschte, um nicht ganz zu er-
blinden, riet ich, dann auch an der Stelle des linken Kleinhirns
zu trepanieren, da man dort den Tumor selbst eventuell werde
entfernen können.^
Am 7. April 1906 wurde der Kranke, wie gesagt, im Elrankenbause
aufgenommen und der vorstehend mitgeteilte Befand noch nach folgenden
Richtungen hin ergänzt.
Er ist ein mäßig gut genährter Mann mit gut entwickelter Musku-
latur und kräftigem Knochenbau. Gesichtsansdruck ist blöde und apathisch.
Beim Stehen tritt leichtes Schwanken auf, das bei geschlossenen FüBen
noch zunimmt, nicht aber, wenn er die Augen schließt. Der Gang ist
breitbeinig, unsicher, schwankend. Beklopfen des Schädels wird nirgends
als schmerzhaft bezeichnet. Die Zunge wird gerade herausgestreckt ohne
Zittern. Facialis reagiert beiderseits prompt und gleichmäßig, Mimik
beiderseits gleich gut. Sensibilitätsttörungen im Gesicht fehlen; insbe-
Bondere besteht keine Areflezie der Cornea. Flüstersprache wird auf dem
linken Ohre überhaupt nicht, rechts in etwa 30 cm Entfernung gehört.
Das Ticken einer Taschenuhr wird links unmittelbar vor dem Obre kaum (?)
gehört, rechts in 20 cm Entfernung. Die auf den Kopf gesetzte tönende
Stimmgabel A (870 Schwingungen) wird angeblich beiderseits, links er-
heblich schwächer als rechts gehört, gleichviel ob beide Ohröfifnungen
freigelassen oder einzeln verstopft werden. Geruchs- und Geschmacks-
prüfungen ergeben normale Verhältnisse. Brust- und Banchorgane ohne
nachweisbare krankhafte Veränderungen. Urin normal. Temperatur
schwankt zwischen 36,5 und 37,5 ^. Im übrigen verweise ich auf den
von B r u n 8 und Spengler erhobenen und vorstehend ipitgeteilten Befund.
Der Kranke befand sich in einer bejammernswerten Lage.
Am meisten bedrückte ihn die ständige Abnahme seines Sehver-
mögens ; er sah einer baldigen Erblindung mit Sicherheit entgegen.
Ohrensaasen, Kopfschmerzen und der taumelnde Gang machten ihm
das Leben zur Qual. Er drängte daher auf die Operation, obwohl
ihm der tödliche Ausgang als sehr wahrscheinlich vorgestellt war.
Doch rechnete ich immer noch damit, daß ein gutartiger Tumor
vorliegen würde. Insbesondere war zu hoffen, daß beim Vorhanden-
sein eines Ecchinococcus die Punktion der Blase und Extraktion
des leeren Sackes keine großen technischen Schwierigkeiten machen
ist, den ich aber erst in extremis sah, konnte ich eine Seitendia^ose nicht stellen,
da doppelseitige St6nin|;en von seilen der Himnerven and des Hirnstammes be-
standen. B r u n s.
12 n. Becker
würde. Bei einer apoplektisclien oder andei^sartigen Cj^ste la^en
die Verhältnisse ähnlich. So gab ich denn dem Drängen des
Kranken und seiner Angehörigen nach und entschloß mich zur
Operation.
Am 11. April 1906 führte ich die Operation in Athemarkose
mit von mir modifizierter Sud eck 'scher Maske und 0,02 Morphin sub-
kutan aus. Beginn der Narkose 9 Uhr 45 Min. Beginn der Operation
10 Uhr 15 Min. Patient liegt in rechter Seitenlage, der Kopf ist nach
rechts vorn und seitlich gebeugt. Bogenförmiger Hautschnitt vom hin-
teren Rande des linken Waraenfottsatzes über die Protuberantia occipi-
talis externa bis zur Mitte zwischen dieser und dem rechten Warzen-
fortsatz. Die stark blutenden Hautvenen werden mit Klemmen gefaßt
und der Hautlappen noch unten bis zum Ansatz des Musculus trapezius
abpräpariert. Die linke Arteria occipitalis wird unterbunden. Bogen-
förmiger Schnitt durch das Periost parallel dem Hautschnitte. Parallel
und unmittelbar unterhalb der Linea nuchae superior wird das Schädel-
dach in horizontaler Richtung durchmeißelt, wobei der Kiiochen stark
splittert, so daß von seiner Erhaltung zwecks Knochenplastik von vom
herein abgesehen werden muß. Die Eröffnung des Schädels gelingt zuerst
etwa in der Mitte der horizontalen oberen Meißellinie zwischen Warzenfort-
satz und Hinterhaupthöcker. In der vorgemeißelten Rille wird der Meißel
dann vorsichtig nach beiden Seiten mittels kurzer Schläge weitergeschoben
und schließlich auch in vertikaler Richtung parallel der Crista occipitalis
externa die Schädelhöhle eröffnet. Nachdem der obere Meißelschnitt so
weit verbreitert, ist, daß eine Lu er 'sehe Zange eingeführt werden kann,
wird mit dieser nach und nach die Hnke Hinterhauptsschuppe abgekniffen.
Diploeblutungen werden durch Gazekoro pressen beherrscht. Zum Schutze
gegen Duraverletzung wird wahlweise ein breiter biegsamer Kupferspatel,
der Stacke 'sehe Tutor oder Elevatorien zwischen Knochen und Dura
eingeschoben. ' Jetzt erscheint am oberen Knochenrande zunächst der
Sinus transversns der linken Seite und dicht unter ihm ein etwa 3 mm
langer horizontal verlaufender Durascblitz, der offenbar beim ersten Durch-
fahren der Meißelspitze entstanden war; er blutet kaum. Schon jetzt
ließ sich übersehen, daß durch diese bislang hergestellte Lücke im Knochen
(Defekt fast des ganzen linken Hinterhauptsbeines) es nur äußerst schwierig
gelingen würde, den im Bereiche der linken Kleinhirnhemisphäre ver-
muteten Tumor zu entwickeln, da nicht hinreichender Raum für die Mani-
pulationen mit Fingern und Instrumenten vorhanden war. Es wurde des-
halb mittels breitem Kupferspatel leicht die Dura in der Gegend des
Sinns occipitalis abgehebelt und jetzt auf dem liegen bleibenden Spatel
der hier äußerst dicke und harte Schädel durchmeißelt und die Knochen-
lücke mit der Luer' sehen Zange Schritt für Schritt bis etwa 2 cm weit
in das rechte Planum nuchae hinein erweitert. Erneute Diploeblutungen
werden durch Kompression in mäßigen Grenzen gehalten. Schließlich
mußte der linke laterale Knochenrand am Warzen fortsatz noch geglättet
werden.
Nach Herstellung einer genügend weiten Knochenlücke präsentieren
sich nunmehr unter der bedeckenden Durahülle die hinteren untersten
Operation einer Geschwulst im Eleinhimbrttckenwiukel. 13
Teile beider Occipiftallappen des Ghroßhims sowie die linke Kleinhimhemi-
Sphäre und ein schmaler Streifen der rechten. Ferner waren das unterste
Ende des Sinns longitadinalis, der Sinns transversus nnd occipitalis sowie
der Confluens sinanm sichtbar. Die Dnra über der linken Kleinhirn-
halbkugel war zwar gespannt, pulsierte aber deutlich. Da der Kopf stark
auf der rechten Seite lag, so sank Dura und Gehirn zurück und es enU
stand eine etwa '/^ em breite Lücke zwischen Tabula interna und Dura.
Die Freilegung des Operationsgebietes hatte etwa '/^ Stunden in
Anspruch genommen ; der Kranke hatte ziemlich viel Blut zumal zu Be-
ginn der Operation aus den Gefäßen der Galea, später auch aus der Diploe
verloren. Der Puls war klein, kaum fühlbar, die Hände blau gefärbt^
mit kaltem Schweiß bedeckt. Die Atmung war ungest5rt.
Nach einer Pause, in der das Operationsgebiet mit neuen sterilen
Servietten abgedeckt war, wird um 11 Uhr 15 Min. mit der Schere
parallel der Knochenlücke ein bogenförmiger Lappen aus der Dura mit
unterer Basis gebildet. Der Schnitt verläuft hart am Sinus transversus
nnd occipitalis. Der Lappen wird nach unten umgelegt Keine Spur
von Hirnprolaps. Das Kleinhirn ist oben in etwa ^/^ cm Ausdehnung
mit dem Tentorium verwachsen ; vorsichtige Lösung mit dem Finger, wobei
ein Hnsengroßes Stückeben am Tentorium sitzen bleibt. Zwischen Zeige-
finger und Daumen wird jetzt die Kleinhimhalbkugel vorsichtig abgetastet;
sie fühlt sich überall gleichmäßig weich an. Nur weit nach vorn, in der
Gegend der Schläfenbeinpyramide erreichen die Fingerspitzen einen hart
anzufühlenden Gegenstand. £s wird deshalb das Kleinhirn mittels eines
biegsamen Spatels vorsichtig von der lateralen Seite aus umgangen und
nach hinten, und medialwärts verlagert. Jetzt kommt ein blaß graugelber^
knolliger, etwa kastaniengroßer, mäßig konsistenter Tumor zu Gesicht,
von dem sich die linke Kleinhirnheraisphäre leicht abheben läßt. Es be-
steben nur leichte Verklebungen, die beim Lösen mäßig bluten. Der
Tumor sitzt breitbasig der hinteren Schläfenbeinpyramide im Bereiche des
Poms acusticus internus auf. Beim Versuche, die Geschwulst mit dem
eingeführten Zeigefinger zu stielen, werden einige Gefäße zerrissen, so
daß eine nicht unbedeutende venöse Blutung entsteht, die sich aber durch
Gazetamponade beherrschen läßt. Diese Manipulationen spielen sich vor-
wiegend im Kleinhirnbrückenwinkel und an der Medulla oblongata ab.
Plötzlich hört Atmung und Herzschlag vollkommen auf, weshalb die Ope-
ration mit größter Beschleunigung zu Ende geführt werden muß.
Der Stiel des Tumors wird mit Zeige- und Mittelfinger der linken
Hand umgriffen und abgerissen, der Tumor entfernt. In die so ent-
standene große Höhle, welche von vorn durch die Hinterfläche dea
Schläfenbeines medialwärts durch Pons und Oblongata und hinten von
der Vorderfläche der Kleinhimhalbkugel begrenzt wird, stürzen im Mo-
mente der Entfernung der Geschwulst bleistiftdicke venöse Blutströme
aas Löchern, die in den Sinus petrosus inferior (vielleicht auch den Sinua
petrosus superior) gerissen waren. Die Höhle wird sofort mit einer großen
Gazekompresse tamponiert, das Kleinhirn in den Schädel zurückgelagert,
der Duralappen darüber aasgebreitet und der Hautlappen durch einige
orientierende Nähte fixiert. Gazeballen auf den Hinterkopf. Alles war
das Werk eines Augenblickes (11 Uhr 30 Min.).
14 II. Becker
Jetzt wird der Kranke aaf den Kücken gewälzt und etwa 20 Min.
lang künstliche Atmung und Herzmassage (nach Maaß-König) ausge-
führt. Abreihnngen des Körpers und der Glieder mit Handtüchern, die
in heißes Wasser getaucht waren. Nach einigen Minuten begann der
Patient wieder spontan zu atmen und der Puls kehrte zurück. Sodann
wurde eine Armvene freigelegt und eine Infusion von 2 Liter warmer
Kochsalzlösung gemacht. Autotransfusion durch Einwicklung der Unter*
«xtremitäten . Kampferölinjektionen.
Als Puls und Atmung wieder gut waren, wurde die provisorische
Naht gelöst und der eingeführte Tampon gelockert, wobei es zu einer
neuen Blutung aus der Tiefe kommt. Diese steht indessen, als von außen
gegen den Hautlappen eine Kompresse gedrückt wurde. Neue exakte
Naht. Druckverband.
Der Kranke erwachte kurz darauf aus der Narkose bis zum Stöhnen
und Ausführung von Abwehrbeweg^ngen, ohne daß das Bewußtsein völlig
wiederkehrte. Die Papillen bleiben eng (Morphinwirkung), der Horn-
hautreflex kehrt nicht wieder. Unter allmählich zunehmender Schwäche
erfolgt 2 Uhr 30 Min. nachmittags der Tod.
Sektion: 5 Uhr 30 Min.
Große männliche Leiche von kräftigem Knochenbau und sehr mäßigem
Ernährungszustande. Totenstarre vorhanden; Totenflecke nur in ge-
ringer Zahl.
Am Hinterhaupte befindet sich ein bis auf das Periost gehender
Schnitt, der etwa ^/^ bzw. 1^/^ cm hinter beiden Warzenfortsätzen be-
ginnend in einem nach dem Scheitel zu konvexen Bogen über den Knochen
verläuft. Der höchste Punkt dieses Bogens liegt ein wenig oberhalb des
Hinterhaupthöckers. Abwärts von dieser Schnittlinie ist die Haut mit
der darunter liegenden Muskulatur bis zur Linea nuchae inferior von der
Unterlage abgehoben und läßt sich nach Lösung von 8 Hautnähten weit
zurückschlagen. Vom Hinterhauptsbeine fehlt links das ganze Feld unter-
halb der Linea nuchae superior ; es wird nach vorn begrenzt durch eine
Linie, die dem abwärts gerichteten Verlaufe des Sinus transversus ent-
spricht, welcher in seinem ganzen Verlaufe sichtbar ist, und setzt sich
nach der rechten Seite übergreifend — die Grista occipitalis externa ist
fortgenommen — bis zu einer Linie fort, die nur etwa einen Qnerfinger
von der Grista entfernt parallel läuf^, während nach unten zu beiderseits
eine 1 '/^ Finger breite Knochen leiste am Hinterhauptsloch stehen geblieben
ist. Die über dem Kleinhirn gelegene Dura ist dicht unter dem Sinus
transversus durchtrennt und nach unten zurückgeschlagen, so daß die
linke Kleinhimhalbkugel freiliegt, während man von der rechten die me-
diale hintere Kante sieht. Die linke Kleinhirnhemisphäre ist von etwa
120 — 150 ccm flüssigem, dunkelrotem Blute nmgeben.
Nach Entfernung des Schädeldaches in üblicher Weise wird am her-
ausgenommenen Gehirn folgender Befund festgestellt. Bei der Betrach-
tung von der Hirnbasis aus erscheint das gesamte Kleinhirn derartig um
«ine vertikale, durch die Mitte der rechten Kleinhirn hemisphäre gelegte
Achse gedreht zu sein, daß die Längsachse des Wurmes von links vorn
nach rechts hinten verläuft und mit einer Linie zusammenfällt, die man
«ich vom Folns temporalis sinister zum Polus occipitalis dexter gezogen
Operation einer Geschwulst im Kleinhirnbrückenwinkel. 15
denkt. Dadurch entsteht links zwischen der Kleinhimhemisphäre und
dem hinteren Abfall der Kuppe des Sohläfenlappens ein etwa zwei Qaer-
finger breiter Spalt, so daß der Gyrus hippocampi und die vordere Hälfte
des Gyrus fusiformis sichtbar werden. Föns, Brachium pontis und Floc-
culus cerebelli sind links dellentörmig eingedrückt, so daß an ihrer Ober-
flache eine ovale Vertiefung erscheint, deren größerer Durchmesser von
vom nach hinten verläuft. Die Medulla oblongata ist gleich am Rande
der Brücke nach der linken Seite zu so abgeknickt, daß sie auf der
linken Tonsilla cerebelli und dem Flocculus liegt und die mittleren Längs-
achsen beider Organe einen Winkel von 135 ** bilden. Die Abplattung
des Pons an der linken Seite ist so hochgradig, daß es den Anschein
erweckt, als ob die linke Fonshälfte etwa um die Hälfte kleiner ist, als
die rechte. Auch das linke Brachium pontis erscheint infolge der Ab-
plattung auf die Hälfte reduziert und fühlt sich sehr weich an.
Die linke Kleinhimhemisphäre selbst hat ihre normale Wölbung ver-
loren ; sie ist von hinten oben nach vom unten flachgedrückt ; die größere
Achse ihres ovalen Umrisses ist 7,5 cm lang (gegen 6 cm an der anderen
Seite) und bildet mit der sagittalen Ebene einen Winkel von 50 — 55 ^.
Die Hemisphäre fühlt sich im ganzen weicher an, als die der anderen
Seite. Die Sulci cerebelli sind ebenso wie die Gefäße auf der unteren
Fläche nicht mehr zu erkennen. Dagegen sieht man 4 — 5 größere Spalten,
welche in der Bichtung der Sulci verlaufen und an einigen Stellen etwas
klaffen. Außerdem sieht man im lateralen Drittel der Unterfläche zahl-
reiche rötlichgelbe Flecke von Stecknadelkopf- bis Frbsengröße, welche
keine scharfe Begrenzung noch besondere Anordnung zeigen (Blutungen).
Hebt man die linke Kleinhimhemisphäre vom Hinterhauptslappen ab, so
sieht man an ihrer Oberfläche an dem lateralsten Teil eine etwa drei-
markstückgroße Fläche, in deren Ausdehnung die Hirnsubstanz zerfetzt
erscheint, teils rötlich verwaschen, teils gelblich gefärbt. Da der äußere
Hand dieser Fläche mit dem Hemisphärenende zusammenfallt, so sieht
dieser wie angenagt aus. £r ist mit kleinen flottierenden Stückchen von
Hirnsubstanz besetzt.
Wenn man die nach links abgeknickte Medulla oblongata hochhebt
und sich so einen Einblick in die Bautengrube verschafft, so sieht man,
daß der linke Pedunculus cerebelli (Corpus restiforme) in die Länge ge-
zogen und abgeplattet ist und sich viel weicher anfühlt, als der rechte.
Ijäßt man dann die Medulla oblongata wieder in die ursprüngliche Lage
zurücksinken, so bemerkt man, daß der linke Pedunculus sich wie eine
Schlinge, deren Konvexität nach der Medianlinie hin liegt, in sich zu-
sammensinkt.
Die Gehirnoberfläche zeigt sonst keine Besonderheiten. Auch auf
Querschnitten durch das Großhirn und die großen Ghinglien, sowie die
rechte Kleinhimhalbkugel werden krankhafte Veränderungen nicht fest-
gestellt. Dagegen sieht man auf vier Querschnitten durch die Brücke
in deren linker Hälfte und zwar am meisten am lateralen Bande eine
blutig verwaschene Färbung mit Erweichung des Gewebes. Auf Quer-
schnitten durch das verlängerte Mark bemerkt man dagegen wieder die
normale Zeichnung.
An dem herausgenommenen Präparate von Brücke und verlängertem
16 II. Bbcksb
Marke ist der vierte Ventrikel in seiner rantenförmigen Gegtalt nicht
mehr erkennbar. Er stellt vielmehr infolge der erwähnten Abknickung
des linken Strickkörpers einen hakenförmigen, nach links offenen Schlitz dar.
An der Schädelgrandfläche werden im allgemeinen krankhafte Ver-
änderungen vermißt, ^nr sitzt im linken Porus acusticus internus ein
etwa 7 mm langes und 4 mm breites Stückchen Tumorgewebe — der
Stiel der entfernten Geschwulst. Die Blutleiter der Dura enthalten dunkles
flüssiges Blut. Eine Nachblutung ist weder im Gehirne noch in der
Bautengrube zu finden. —
Die Sektion von Brust- und Bauchhöhle ergab im wesentlichen nor-
male Verhältnisse; an der TJnterfläche des linken Leberlappens fand sieb
ein walnußgroßer verkalkter Ecchinoooccus.
Die exstirpierte Geschwulst ist nach den Untersuchungen des patho-
logischen Instituts in Göttingen fascikulär gebaut und entspricht im großen
und ganzen den gewöhnlichen Fibromen der Dura mat«r. Da sie in-
dessen am Porus acusticus internus ihren Ursprung hatte, so wurde an-
genommen, daß es sich um einen typischen Fall von Akustikusfibrom
handle. Die Weigertfarbung ist leider mißlungen. — Fig. 1 auf Taf. I
stellt die Gehimgrundfläche dar ; das leere Geschwulstbett (B) liegt im
linken Kleinhirnbrüokenwinkel. In Fig. 2 auf Taf. I ist der Tumor (T)
wieder an seine Stelle gelegt.
Bis vor wenigen Jahren war man froh, wenn man mit einiger
Sicherheit einen ,,Tamor in der hinteren Schädelgrube^ diagnosti-
zieren konnte und verlegte ihn dann meistens in das Kleinhirn.
Und doch hat Virchow^) schon vor 40 Jahren in seiner am
7. März 1863 gehaltenen Vorlesung auf den Typus . von Tumoren
hingewiesen, welcher uns jetzt beschäftigen soll, nämlich die
Akustikusfibrome (Hartmann) oder die Tumoren des Klein-
hirnbrückenwinkels (Henneberg und Koch). Es lohnt
sich, die Worte des Altmeisters zu hören: „Der unzweifelhaft
häufigste Sitz von knotigen Geschwülsten ist unter den Hirnnerven
der Akustikus. Freilich ist es nicht immer genau zu entscheiden,
ob die Geschwulst gerade vom Akustikus und nicht vom Facialis
ausgeht, indes scheint das erstere doch die Kegel zu sein. Wenig-
stens ist in jedem Falle, wo eine bestimmte Trennung der Nerven
von der Geschwulst möglich war, der Facialis der trennbare Nerv
gewesen." „Manchmal sind die Geschwülste ziemlich hart und
scheinbar fibrös oder gar knorpelartig; andere Male dagegen weicher
und geradezu gallertig; zuweilen finden sich cystische und hämor-
rhagische Stellen. Auch meine eigenen Untersuchungen ^) erhalten
kein ganz sicheres Resultat, indes fand sich doch eine fascikuläre
1) Virchow, Die krankhaften Geschwülste. III. Band I.Hälfte p. 295 ff.
2) Virchow's Archiv 1858 Bd. 18 p. 264.
Operation einer Geschvrnlst im Kleinhirnbrückenwinkel. 17
feinfaserige Anordnung, welche in manchen Beziehungen an die
Neuromstruktur erinnerte". „Diese Geschwülste sitzen bald näher
am Gehirn, bald näher am Knochen und bedingen dadurch gewisse
Verschiedenheiten der Folgezustände. Taubheit ist in der Regel
vorhanden; seltener Facialislähmung. Da die Knoten gewöhnlich
eine beträchtlichere Größe haben, so üben sie stets einen erheb-
licheren Druck auf die Nachbarteile aus. Sitzen sie näher am
Gehirn, so bedingen sie grubige Eindrücke am Kleinhirn oder am
Pons; liegen sie näher am Knochen, so dringen sie leicht in den
Meatus auditorius internus ein. Bestehen sie lange, so erweitert
sich der innere Gehörgang, ja es können tiefe Löcher im Os pe-
trosum entstehen."
Der Anatom hat dem Kliniker in großen Zügen hiermit das
Bild bereits entworfen. Es ist aber das große Verdienst von
Oppenheim^) (1890), Monakow^) (1900), Hartmann») (1902),
Henneberg und Koch*) (1903), Funkenstein») (1904) und
einiger anderer*), welche kasuistische Beiträge lieferten, daß sie
auch das klinische Bild so abgerundet haben, daß man nunmehr
die fraglichen Tumoren als einen selbständigen und diagnostizier-
baren Typus auffaßt. Ich verweise auf diese Arbeiten, welche die
Symptomatologie und die Schwierigkeit der Diagnosenstellung
eingehend behandeln, da ich lediglich die chirurgische Be-
handlung dieser Tumoren zum Gegenstande einer Besprechung
machen will.
um die Häufigkeit der Hirngeschwülste im allge-
meinen zu berechnen, hat man mehrfach das Sektionsmaterial
großer pathologischer Institute benutzt (Seidel -München 1,25 *^/o
und V. B e c k - Heidelberg 0,8%). Indessen muß man dabei be-
denken, daß nicht alle Kranke mit Hirntumoren in Krankenhäusern
sterben, sondern auch im eigenen Hause, und daß in der Regel
nur bestimmte Bevölkerungsklassen in Betracht kommen ; es fehlen
die begüterten Klassen und zum großen Teile auch die im ersten
1) Oppenheim, BerUner kUnische Wochenschrift 1890.
2) Monakow, Ehenda 1900 p. 721.
3) Hartmann, Prager Zeitschr. fttr Heilkunde Bd. 23 1902.
4) Henneberg n. Koch, Archiv f. Psychiatrie Bd. 36 1903.
5) Funkenstein, Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin und
Chirurgie Bd. 14 1904.
6) Bruns, Neurolog. Zentralbl. Bd. 23 1904 p. ö78ff. — Krön, Deutsche
Zeitschr. für Nervenheilkunde Bd. 29 1905 p. 460. — Huisman^s Medizin. Klinik
1906 Nr. 12--14. — Püschmann, Deutsche medizin. Wocheuschr. 1906 Nr. 21
p. 836.
Deutsches Archiv f. klln. Medizin. 88. Bd. 2
18
n. Beckkb
Lebensjahre sterbenden Kinder. L. Bruns^) hat in 11 jähriger
spezialistischer Tätigkeit unter etwa 4300 Nervenkranken
80 mal, d. h. in 2% der Fälle, die Diagnose auf Hirntumor gestellt
Hier handelt es sich natürlich vorwiegend um wohlhabendere Kranke.
Nehmen wir aber diesen Prozentsatz als zutreffend an. so kann man
noch auf eine andere Art annähernd die Häufigkeit der Hirn-
geschwülste in bezug auf sämtliche vorkommende Krankheiten be-
rechnen. Nach dem statistischen Jahrbuche für den preußischen
Staat, herausgegeben vom Königlichen statistischen Bureau in
Berlin'), wurden in sämtlichen allgemeinen Krankenhäusern
— die Psychosen sind also im wesentlichen ausgeschlossen — an
Krankheiten des Nervensystems behandelt:
Überhaupt :
männlich weiblich zusammen
Von 1000 Kranken:
männlich , weiblich ' zusammen
im Jahre 1901
„ „ 1902
. 1903
w
24 ISO
26 717
24 220
18140
20055
18 512
42 330
46 772
42 732
52,53
55,41
45,58
66,99
70,23
59,64
57.88
60;92
50,77
Wenn also unter 1000 behandelten Kranken 57 bzw. 60 bzw. 50
Nervenkranke vorhanden waren, so würden unter Zugrundelegung
des Bruns'schen Prozentsatzes (2%) unter diesen 1000 Kranken
1,14 bzw. 1,2 bzw. 1,0 Tumorkranke gewesen sein. Wir erhalten
also zehnfach kleinere Verhältniszahlen, als bei der Durchsicht der
Sektionsprotokolle und ich glaube, daß wir damit der Wirklichkeit
näher kommen.
Ganz genaue Ergebnisse wfirde man nur durch Revision der
von den Krankenhäusern dem statistischen Bureau eingesandten
Zählkarten erhalten können, auf denen statt des allgemeinen Be-
griflfes „Nervenkrankheiten" die Diagnose „Hirntumor" verzeichnet
sein muß.
Viel wichtiger ist die Frage nach der Operabilität der
Gehirngeschwülste, wenn auch hier die Prozentzahlen natür-
lich immer nur einen relativen Wert beanspruchen können. Schon
im Anfange des Jahres 1893 konnte Allan Starr eine Zu-
sammenstellung von 87 operativ behandelten Hirntumoren machen.
Chipault*) vervollständigte im Jahre 1895 eine von ihm früher
1) L. Bruns, Die Geschwülste des Nervensystems p. 39.
2) Jahrgang 1904 p. 132, 1905 p. 115 nnd 1906 p. 149.
3) Chipanlt^ Le traitement chinirgical des tamenrs de TencSphale. Gazette
des hopitaux 1895 Nr. 145—148.
Operation einer Geschwulst im Kleinhirnbrücken winkel. . 19
(1894) in seiner großen Chirurgie operatoire du Systeme nerveux
g^ebene Statistik von 135 Fällen durch Hinzufügung weiterer
49 Fälle. Er glaubt, daß unter 100 Hirntumoren 7 radikal geheilt
werden können und daß bei 60 wenigstens palliative Hilfe möglich
ist — ein glänzender Erfolg, wenn man bedenkt, daß wenige Jahre
vorher diese Tumoren noch ein Noli me tangere waren.
Oppenheim^), der im Jahre 1896 in NothnageTs Sammel-
werke eine erschöpfende Monographie darbot, verzichtete auf eine
zahlenmäßige Bilanz der Gehirnchirurgie, da die Mitteilungen zu
angleichwertig seien. Indessen beantwortet er doch die Frage, ob
sich die chirurgische Behandlung der Hirngeschwülste vor dem
Forum der Wissenschaft behaupten könne, mit einem entschiedenen
„Ja". Kleinhimgeschwülste hält er jedoch für inoperabel.
Das folgende Jahr 1897 bringt einige wichtige Arbeiten. Zu-
nächst hat Allan Starr ^) in einem kurzen Aufsatze aus der
Gesamtheit der bekannten Zusammenstellungen der Operabilität von
Hirntumoren nach Sektionsbefunden berechnet, daß von 1161 Tu-
moren 68, d. h. 7% operabel gewesen wären. Bei 220 bisher ge-
machten Operationen wurde 140 mal der Tumor gefunden und entfernt,
7 mal gefunden und nicht entfernt und 73 mal nicht gefunden.
B r u n s *) berechnet, daß von 100 Gehirntumoren nur 32 die Eigen-
schaft besitzen, eine Operation zu gestatten, d. h. nur bei 32 ist
eine Lokaldiagnose möglich und zugleich der Sitz ein solcher, daß
man sie chirurgisch angreifen kann. Von diesen 32 würde man
aber nur in 8 bei der Operation solche Verhältnisse finden, daß
man nun auch den Tumor radikal entfernen kann; rechnet man
von diesen 8 noch 4 ab, welche die Operation wegen Shock, Ver-
blutung oder Sepsis nicht überleben, so kämen schließlich auf 100
Hirntumoren nur 4 mit vollem Erfolg exstirpierte.
In seinem 1898 erschienenen Lehrbuche gibt v. Bergmann^)
die Operationsmöglichkeit bei Gehirntumoren auf 9 % an ; nur 2 %
sind überhaupt so sicher diagnostizierbar, daß man an eine Operation
denken kann. v. Bergmann beschränkt sich auf die chirurgische
Entfernung der Geschwülste der Zentralwindungen.
1) Oppenheim, Die Geschwülste des Gehirns in NothnageTs Handbuch
Pathologie nnd Therapie IX. Bd. I. Abt. 1896.
2) Allan Starr, Remarks ou brain tamoors and their removal. British
inedical Journal 1897 Okt. 16.
3) Brnns, 1. c. p. 212ff.
4) T. Bergmann, Die chinurgische Behandinng der Gehirnkrankheiten
3. Aufl. Berlin 1898.
2*
20 n. Bbckbb
Bränniche^) beleuchtet im Jahre 1903 durch Zusammen-
stellung von 209 aus der Literatur gesammelter Fälle die Mög-
lichkeit ihrer operativen Behandlung. Diese war infolge des Sitzes,
der Natur usw. der Geschwulste in 7io ^^r Fälle ausgeschlossen;
in den übrigen Fällen war eine sichere Diagnose in ßß^/g^o über-
haupt nicht zu stellen. In 14 Fällen wurde die Operation für
möglich gehalten, in 10 von ihnen eine radikale Entfernung an-
gestrebt, ist aber nur in zwei Fällen gelungen. 6 Kranke sind im
Anschluß an die Operation gestorben.
Die letzte große Statistik stammt aus dem Jahre 1905 von
D u r e t. *) Von 400 zusammengestellten Fällen von Hirngeschwülsten
wurden 19,5 ^'/o operiert, eine Zunahme, die außerordentlich in die
Augen lUllt. Einen wirklichen Vorteil von der Operation hatten
73,25 % insofern, als Kopfschmerz, Schwindel und Stupor schwanden
und Krämpfe und Lähmungen gebessert wurden. 60®/<, erlangten
vollständig, 18% partiell das Augenlicht wieder. 134 von 400
Kranken ist nachweislich das Leben verlängert, öfter auf mehrere
Monate; eine Anzahl ist geheilt. In fast der Hälfte der Fälle
handelte es sich um Sarkome und Gliome und „für diese Art Ge-
schwülste sind die Operationsresultate an anderen Körperstellen
nicht besser. Bei 244 Operationen handelte es sich um Erkrankungen
der motorischen Region, bei 54 um das Stimhirn, bei 43 um die
Parietal-Occipital- und Temporo-Sphenoidallappen, bei 59 um das
Kleinhirn.
Was nun im besonderen die Operabilität der Geschwülste
der hinteren Schädelgrube anlangt, so sind die Tumoren des
Kleinhirns denjenigen des Kleinhirnbrücken winkeis gleichwertig zu
erachten. Die statistisch nachweisbaren Erfolge beider können
daher zusammen verwertet werden. Piollet*) stellte im Jahre
1901 fünfzig Fälle aus der Literatur zusammen, bei denen nur
21 mal der Tumor im Kleinhirn gefunden wurde; 18 mal konnte er
mehr oder weniger entfernt werden. In 60% der Fälle wurde
also ein Tumor gar nicht gefunden. Die Trepanation mit Ent-
fernung des ganzen oder stückweisen Tumors oder Entleerung
cystischer Flüssigkeit wurde 18 mal gemacht mit einem Todesfall
1) Brünniche nach dem Beferate in Hildebrand's Jahresbericht über
die Fortschritte der Chirurgie Bd. IX p. 279 1903.
2) Dur et, Les tumenrs de Tenc^phale, manifestations et Chirurgie. Paris 1905
nach dem Referate im Zentralblatte für Chirurgie 1906 Nr. 4 p. 103.
3) Fiollet, Sur le traitement chirurgical des tnmeurs du cervelet. Archives
provinciales 1901 Nr. 12.
Operation einer Geschwulst im Kleinhirnbrücken winkel. 21
bei der Operation, 7 schnellen Todesfällen, 9 Besserungen oder
Heilangen und einem unbekannten Resultate. Bei den übrigbleiben-
den 32 Explorativoperationen waren 4 Todesfalle bei der Operation,
15 schnelle Todesfälle, 12 Besserungen und ein unbekanntes Re-
sultat.
Aus dem Jahre 1905 stammt eine Arbeit von Frazier ^), der
an einer Tabelle, 116 Fälle von Kleinhirntumoren aus der Literatur
enthaltend, zeigt, daß die Zahl der erfolgreichen Operationen
im Steigen begriffen ist. Die Mortalität ist von 70 auf 38 7o
gesunken. Frazier glaubt, daß die Resultate sich noch bessern
werden wenigstens in der Hand derer, die diesen Operationen be-
sondere Sorgfalt widmen.
Was ich selbst an kasuistischen Mitteilungen über Operationen
wegen Tumoren in der hinteren Schädelgrube in der Literatur habe
finden können, läßt sich kurz folgendermaßen zusammenstellen.
1887.
1. Horsley (British med. Journal 1887, Yol. I, citiert nach
Y. Beck in Bruns' Beiträge zur klinischen Ohimrgie XII. Bd. pag. 92
Fall Nr. 3). Tuberkel in der rechten Kleinhirnhemisphäre, Tod 19 Stunden
nach der Operation.
2. Birdsall (Medical News 1887 April, citiert nach v. Beck
Fall Nr. 14). Spindelzellensarkom des linken Kleinhirns mit Kompression
der MeduUa oblongata. Tumor bei der Operation nicht gefunden. Tod
nach 2 Monaten.
3. Bennet and May (Lancet 1887 Vol. I, citiert nach y. Beck
Fall Nr. 15). Tuberkel des Kleinhirns. Tod an Meniogitis tuberculosa.
1893.
4. Parry (Glasgow Journal July 1893 zitiert nach Haas in
Bruns^ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 25. Bd. pag. 602 £P. Fall
Nr. 12). Konglomerattuberkel in der linken Kleinbirnbemisphäre). Heilung.
5. McBurney and Allen Starr (Americ. Journ. 1803 April,
citiert nach Haas Fall Nr. 15). JBasistumor auf die untere innere Fläche
des Cerebellum und die linke Hälfte des Föns drückend (Kleinhirn-
brückenwinkeltumor ?) Tod.
6. McBurney and Allen Starr (ebenda, citiert nach Haas
Fall Nr. 17). Kleinhirntumor bei der Operation nicht gefunden. Tod.
1895.
7. Bullard (Boston Journal April 30, citiert nach Haas Fall
Nr. 37). Tuberkel im Kleinhirn. Tod an Hämorrhagie während der
Operation.
1) Frazier, Remarka npon the snrgical aspects of tnmours of the cere-
beUum. New York and Philadelphia medical Journal 1905 No. 6 aud 7 (Febrnary)
nach dem Referate im Chirurgischen Zentralblatte 1905 p. 757.
22 II- Bbcub
8. Oibson (Lancet 1895 pag. 1507). Fibrosarkom mit Cyste in
der rechten Kleinhimbemispbäre nahe dem Foramen mag^nm. Exstir-
pation. Heilung nocb nach 1^/, Jabren.
9. Lampiasi (X. Congresso d. Soc. ital. di cbimrg. 26. — 29. Ott.
1905, ciiiert nacb Hildebrand's Jabresbericbt 1905 pag. 437). Tu-
mor des Kleinbims. Entfernung. Tod nacb 13 Stunden.
1896.
10. Stewart (Edinburgh Medical jonmal 1896 I pag. 689).
Cystisches Fibrosarkom von Taubeneigröße in der rechten Kleinhim-
bemispbäre nahe dem Foramen magnum, operiert von Professor Annan-
dale. Heilung.
11. Farkin (British medical Journal 1896 Dez. 19). Bei einem
4jährigen Kinde wurde ein nicht abgekapseltes Gliom, das beide
Hemisphären und den Wurm ergriffen hatte, entfernt. Heilung hält nach
2^/« Jahren noch an.
1897.
12. Murri (Lancet 1897 Jan. 30). Fibrosarkom der linken Klein-
hirnseite, das nicht vollständig entfernt werden konnte. Besserung.
13. und 14. Jany (Mitteilungen aus den Hamburger Staats-
krankenanstalten Bd. I, Heft 2, citiert nach Hildebrand 's Jahresbericht
1897 pag. 308). In einem Falle saß der Tumor im Oberwurm und war
inoperabel. Tod am selben Tage. Im zweiten Falle wurde die Ge-
flchwulst bei der Operation nicht gefunden. Der Kranke starb am selben
Tage. Die Sektion ergab eine hühnereigroße Geschwulst in der nicht
freigelegten Hemisphäre.
15. Schede (ebenda, citiert nach Haas Fall Nr. 59). Zweimal
operierter 21 jähriger Mann. Bei der ersten Operation Tumor nicht ge-
funden. Zweite Operation: Tumor im Ober wurm des Kleinhirns. Tod
am Tage nacb der zweiten Operation.
16. Co 11 in and Brewer (New York Rec. 15 V. 1897). Subkorti-
kales Tuberkulom rechterseits. Besserung auf 3 Monate. Becidiv-
operation. Tod.
17. Kümmell (Mitteilungen aus den Hamburger Staatskranken-
anstalten Bd. I, Heft 2 1897, citiert nach Haas Fall 67). Tumor der
linken Hemisphäre. Tod am Tage der Operation.
18. Allan Starr (British med. jpurnal 1897 Okt. 16, citiert nach
Hildebrand's Jahresbericht 1897 pag. 304). Gliom der rechten
Hemisphäre, bei Operation nicht gefunden. Tod nacb 8 Tagen.
19. Derselbe (ebenda) Kleinbirntumor. Operation wegen enormer
Blutung aus dem Knochen abgebrochen.
1899.
20. Haas (Bruns' Beiträge zur klinischen Chirargie Bd. 25
pag. 617 ff.). Zweimalige operative Freilegung des Kleinhirns durch
Gzerny im Jahre 1895; Tumor nicht gefunden. Tod an Meningitis.
Sektion verweigert.
1900.
21. Schede (Deutsche medizinische Wochenschrift 1900 pag. 477).
Gliom der linken Hemisphäre exstirpiert. Heilung.
Operation einer Geschwulst im Kleinhirnbrückenwinkel. 23
22. Derselbe (ebenda). Cystosarkom der linken Hemisphäre. Tod
nach einigen Wochen.
1901.
23. Piollet (ArcHives provinciales 1901 Nr. 12). Gliom der linken
Hemisphäre. Abtragung in zwei Zeiten. Heilung.
1903.
24. Bruns (Neurologisches Zentralblatt 1904 pag. 578, Fall I).
Sarkom der linken Hemisphäre. Tod infolge von Nachblutung in den
4. Ventrikel.
25. Fedor Krause (Bruns' Beiträge 37. Bd., pag. 734).
Fibrom des Kleinhirnbrückenwinkels bereits am 14. Juli 1898
operiert Tod nach fünf Tagen.
1904.
26. Bruns (1. c. Fall 11). Cyste der rechten Hemisphäre. Eröff-
nung der Schädelgmbe bei einem 4 jährigen Sünde ohne Eröffnung der
Dura. Tod in der folgenden Nacht.
27. Funkenstein (Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin
und Chirurgie 14. Bd. pag. 160 Fall L Bei multipler Neurofibromatose
Entfernung von Tumoren aus dem Kleinhimbrückenwinkel jederseits.
Tod nach P/^ Stunden.
1905.
28. Borchardt (Berlin, klin. Wochenschr. 1905 Nr. 33). Zwei-
zeitige Operation eines Fibrosarkoms im Kleinhirnbrücken winkel. Tod
nach 26 Stunden. (Derselbe Fall ist von Oppenheim in der Berl. klin.
Wochenschr. 1906 Nr. 32 pag. 1086 besprochen. Diskussion!)
29. Mills (nach dem Beferate im Zentralblatt für Chirurgie 1905
pag. 756 Fall 6). Im wesentlichen erfolgreiche Entleerung einer Cyste
im Kleinhirnbrückenwinkel.
30. Derselbe (ebenda Fall 1). Haselnußgroße Geschwulst in der
linken Kleinhimhälfte. Operativ geheilt.
31. Derselbe (ebenda Fall 2). Ähnlicher Fall (walnußgroßes Gliom),
aber Kecidiv.
32. Derselbe (ebenda Fall 3). Geschwulst bei der Operation nicht
gefunden; zweite Operation auf der anderen Seite vorgeschlagen, aber
abgelehnt.
33. Derselbe (ebenda Fall 4). Geschwulst nicht gefunden. Ex-
zision eines Teiles der Hemisphäre. Wesentliche Besserung.
34. Derselbe (ebenda Fall 5). Operation wegen enormer Blutung
aus Embsarien vor Eröffnung der Dura abgebrochen. Tod nach 12
Stunden. Sektion verweigert.
1906.
35. Füschmann (Deutsche medizinische Wochenschr. 1906 Nr. 21
pag. 836). Cholesteatom im rechten Kleinhimbrückenwinkel. Nach Spal-
tung der Dura mußte wegen Kollaps die Operation abgebrochen werden.
Tod in der folgenden Nacht.
36. Krause (Chirurgenkongreß 1906 nach dem Selbstberichte im
24 n. Becker
Zentralblatte für Chirurgie Heft 28 pag. 48). Fibrom im rechten Klein-
birnbrückenwinkel. Heilang.
37. Borchardt (ebenda Fall I). Tumor des Kleinhimbrücken-
winkeis. Tod nach 24 Stunden infolge Blatangstamponade auf die
Oblongata.
38. Derselbe (ebenda Fall II). Tod nach 6 Tagen an Scbluck-
pneumonie.
39. Derselbe (ebenda Fall IIE). Wahrscheinlich Tumorreste
zurückgeblieben in der rechten Hemisphäre. Lebt noch nach einem
halben Jahre.
40. Eigener Fall. Fibrom im linken Kleinhimbrückenwinkel.
Entfernung. Tod nach 3 Stunden im Kollaps.
Ein kurzer Blick auf diese Kasuistik genügt, um in uns nicht
gerade eine erfreuliche Empfindung wachzurufen: die große
Mehrzahl der Kranken ist dem Eingriflfe erlegen. Unwillkürlich
drängt sich uns dabei die Frage auf, ob stets unter richtiger
Indikationsstellung operiert ist und ob zweitens die Technik immer
die richtige war. Es lohnt sich nicht, aus einer Zusammenstellung
aller dieser Fälle und den Berichten über Erfolge und Mißerfolge
bindende Schlüsse zu ziehen. Viele sind außerordentlich kurz und
unbestimmt gehalten, andere sind viel zu früh nach der Operation
veröffentlicht, ein Teil war mir nicht im Original zugänglich.
Auch wird natürlich das Resultat erheblich dadurch gefälscht, daß
zweifellos die günstig verlaufenen Fälle alle, von den mißglückten
nur ein Teil veröffentlicht ist. Viel richtiger ist es mit Oppen-
heim und B r u n s die in der Literatur bisher mitgeteilten Operations-
fälle mit Auswahl und Kritik zu verwerten und alle Fälle, die
dieser Kritik nicht standhalten, fortzulassen. Die folgenden Aus-
führungen lehnen sich an diejenigen von Bruns*) an. Er kalku-
liert folgendermaßen. Die erste Frage, die sich aufdrängt, ist die :
In welchen Fällen von Hirntumoren können wir mit Recht zu einer
Operation raten ? oder mit anderen Worten : welche Umstände sind
zu fordern, um einen speziellen Fall von Hirntumor als zur opera-
tiven Entfernung geeignet ansehen zu lassen? Zunächst ist zu
fordern, daß in allen Fällen von Hirntumor, die man zur Operation
vorschlägt, die Allgemein- und Lokaldiagnose denjenigen Grad von
Sicherheit besitzt, der heute überhaupt zu erreichen ist. Gewöhn-
lich ist die Allgemeindiagnose eine ziemlich leichte, da die
Kombination von Kopfschmerz, Schwindel, Erbrechen, Stauungs-
papille und eventuell Krämpfe wohl jeden Arzt auf die richtige
Bahn leiten wird — leider aber meistens für den Chirurgen zu
1) Bruns, 1. c. p. 216ff.
Operation einer Geschwulst im Kleinbimbrückenwinkel. 25
spät. Schwieriger ist schon die Lokaldiagnose zu stellen und
meistens auch wohl erst bei genügend langer Beobachtung. Kein
Chirurg wird hierbei der Hilfe des Neurologen entraten wollen.
Bruns glaubt, daß in den meisten Fällen mit ausgesprochenen
Allgemein- und deutlichen Lokalsymptomen auch die Lokaldiagnose
des Hirntumors eine sichere ist, nach seinen Erfahrungen in 80 7o
der Fälle. Aber mit der Sicherheit der Diagnose ist für die Frage
nach der Möglichkeit und dem Erfolg einer Operation zwar sehr
viel, aber lange nicht alles getan. Vor allem fragt es sich natür-
lich: Ist der richtig lokalisierte Tumor erstens überhaupt für das
Messer zu erreichen und wenn ja, sitzt er an einer Hirnstelle, wo
seine Entfernung ohne unmittelbare Lebensgefahr möglich ist?
Leider müssen gerade aus diesen beiden Gründen — der Uner-
reichbarkeit der Geschwulst oder der direkten Lebensgefahr seiner
chirurgischen Inangriffnahme — eine große Anzahl von Geschwülsten
als für die Operation ungeeignet bezeichnet werden. Hierher
rechnen Oppenheim, Bruns und v. Bergmann auch die Opera-
tionen zur Entfernung von Geschwülsten aus der hinteren Schädel-
grabe. Krause hat inzwischen M durch seine glänzende Technik
bewiesen, daß diese Operationen ebensogut ausführbar sind, wie
die von ihm auf dem Chirurgenkongresse des Jahres 1892 zuerst
vorgeführte intrakranielle Trigeminusresektion, welche damals von
vielen für allzu kühn und gefährlich gehalten wurde; und doch
hat sie sich längst Bürgerrecht erworben. Die große Zahl der
gerade in den letzten 3 Jahren vorgenommenen Operationen be-
weist, daß das Bewußtsein einer technisch möglichen Operation in
der hinteren Schädelgrube immer mehr unter den Chirurgen Platz
greift.
Aber mit der sicheren Diagnose eines Tumors an zugänglicher
Stelle sind, wenn wir zu einer Operation raten sollen, noch nicht
alle Erwägungen abgeschlossen, die wir vor derselben anzustellen
haben. Zunächst ist auf das Allgemeinbefinden des Kranken
Rücksicht zu nehmen. Daß man Kranke in extremis, bei tiefer
Benommenheit, schwerer Störung von Herz- und Atemtätigkeit, bei
Miliartuberkulose oder Meningitis nicht operiert, ist selbstver-
ständlich. „Es wird immer unser Bestreben sein müssen, die Fälle
von Hirntumor möglichst früh, ohne schwere Allgemein-
1) Krause, Chirurgen- Kongreß 1906. Von seinen nenn Operierten ist keiner
an KoHapSf Blatnng oder Meningitis gestorben; eine Frau starb am 6. Tage an
Pneumonie, zwei andere Kranke, die starben, hatten inoperable Tumoren.
26 II. Becker
Symptome zur Operation zu bringen, und das höchste Ziel,
das wir erreichen könnten, würde das sein, gar nicht auf die AU-
gemeinsyraptome, die ja zum Teil direkt eine Gefährdung des
Lebens bedingen, zu warten, sondern allein auf die lokal>
diagnostischen Momente hin zu operieren. Allein die Erreichung
dieses Zieles wird wohl immer ein Ideal bleiben. Denn die Dia-
gnose Tumor ist eben erst dann sicher, wenn wenigstens einige
der Allgemeinsymptome — am besten auch die Stauungspapille —
vorhanden sind" (Bruns). Frazier geht sogar so weit, zu
fordern, daß man zur Operation schreiten soll, sobald die Diagnose
„leidlich sicher" ist. Wartet man ab, bis die Lokalisation zweifel-
los wird, dann kommt man fast immer zu spät.
Eine zweite Frage, die vor jeder Operation erwogen werden
muß, ist die: Handelt es sich etwa um eine syphilitische Ge-
schwulst? Eine mindestens sechs wöchentliche antisyphilitische
Kur, insbesondere auch Darreichung von Jodkali wird etwaige
Zweifel meistens beheben.
Metastatische Hirntumoren rät Bruns nur dann zu ope-
rieren, wenn man sicher ist, daß man auch den Primärtumor ent-
fernen kann; anderenfalls ist auch die Hirnoperation unnütz.
Haben wir nach allen diesen gewissenhaft angestellten Er-
wägungen die Überzeugung gewonnen, daß dem Kranken eine
Operation mit gutem Grunde angeraten werden darf, so soll man
stets bedenken, daß zahlreiche unangenehme Überraschungen
bei der Operation selbst (Art, Größe, Sitz, Multiplizität des
Tumors) den Erfolg vereiteln können, wozu außerdem noch die
Gefahren der Operation (Blutung, Shock) sich gesellen.
Wie steht es denn nun mit der Technik der Operationen
in der hinteren Schädelgrube?
Stieglitz, Gerster und LilienthaP) haben in einem
Falle, wo sie eine Neubildung an der ventralen Fläche des rechten
Kleinhimlappens in der Nachbarschaft des Meatus auditorius in-
ternus also im sog. Kleinhirnbrückenwinkel vermuteten, den Ver-
such gemacht, von oben her an die Geschwulst heranzukommen.
Sie trepanierten am Hinterkopfe oberhalb des Tentoriums, hoben
den Occipitallappen hoch und spalteten das Tentorium. Aber die
Schwierigkeiten am Lebenden, die sie nach ihren Leichen versuchen
nicht erwartet hatten, waren unüberwindlich. Die Operation blieb
1) Stieglitz, Gerster und Lilienthal nach dem Referate im Zentral-
blatte für Chirurgie 1897 p. 268.
Operation einer Geschwulst im Kleinhirnbrückenwinkel. 27
unvollendet. Denselben Mißerfolg hatte Terrier.^) Er eröffnete
die linke Hälfte der Hinterhauptsschnppe in der Ausdehnung eines
Zweifrankstückes, um den hinteren Pol des Occipitalhirnes dort,
wo er dem Tentorium aufliegt, zu erreichen. Er wollte ihn hoch-
heben, dadurch die obere Fläche des Zeltes freilegen und nach
dessen Spaltung auf die linke Kleinhirnhemisphäre vordringen.
Als aber die Dura über dem Hinterhirnlappen eröffnet wurde,
wölbte sich das Gehirn vor und vereitelte jedes weitere Operieren.
Auch T e r r i e r hatte nicht mit der Tatsache des vermehrten Hirn-
druckes bei Tumoren gerechnet. Dieser preßt die anliegenden
Hirnteile mit großer Gewalt gegen die angelegte Operationsöffnung,
so daß sie nicht allein völlig verstopft wird, sondern auch die
Hirnrinde an den scharfen Schnittwänden der Dura und des
Knochens nicht unerheblich verletzt wird.
Diese Operationen waren also technisch unrichtig ersonnen.
Fedor Krause's Verdienst ist es, uns den einzig richtigen Weg
zur Freilegung der fraglichen Teile gewiesen zu haben — nämlich
unterhalb des Tentoriams. Nur wenn letzteres das ganze Ge-
wicht des Großhirnes während der Operation trägt, ist es möglich,
unter seinem schützenden Dache durch geeignete Lagerung des
Kopfes bezw. vorsichtiges Beiseiteschieben der Kleinhirnhemisphäre
nacheinander alle Stellen der hinteren Schädelgrube sich für Auge
und Instrument zugänglich zu machen. Die Krause'sche Methode
ist daher auch von allen Operateuren akzeptiert, zum Teil durch
Modifikationen etwas abgeändert.
Man führt — der Kranke liegt mit etwas erhobenem Kopfe
auf der gesunden Seite — einen großen bogenförmigen Schnitt
durch die Kopfschwarte vom hinteren Rande desjenigen Warzen-
fortsatzes, welcher an der mutmaßlichen Seite der Geschwulst der
hinteren Schädelgrube liegt, in die Höhe und überschreitet in der
Hinterkopfsmitte die Protuberatia occipitalis externa um mindestens
Daumenbreite. Der Sinus transversus liegt nämlich in der Regel
etwas oberhalb dieses Knochenvorsprunges und kann begreiflicher-
weise am besten vor zufälligen Verletzungen geschützt werden,
wenn er in ganzer Ausdehnung frei liegt. In allen Fällen, wo es
zweifelhaft sein kann, in welcher Hemisphäre der Tumor sitzt, rät
Krause beide Seiten freizulegen und verlängert deshalb den Bogen-
schnitt bis zum hinteren Rande des anderen Warzenfortsatzes. In
1)T. Bergmann, Die chirurgische Behandlung der Himkrankheiten III. Aufl.
p. 363 ff.
28 n. Becker
meinem Falle genügte es, in der Mitte zwischen Hinterhauptshöcker
und Warzenfortsatz abwärts den Schnitt zu führen. Jetzt wird der
große Hautmuskellappen mit unterer Basis vom Schädelknochen ab-
gelöst und nach unten umgeschlagen. Die Arteria occipitalis muß
meistens unterbunden werden. An die stark blutenden Kopf-
schwartengefäße werden Klemmen gehängt und nicht eher mit der
Knochenoperation begonnen, bis die Blutstillung vollständig ist.
In meinem Falle habe ich noch mit Hammer und Meißel ge-
arbeitet. Inzwischen bin ich in den Besitz der Borchardt'schen
elektrischen Trepanationsinstrumente gelangt, welche einen ganz
wesentlichen technischen Fortschritt darstellen. Sozusagen im
zehnten Teile der Zeit kann man müheloser und viel sauberer den
Knochenlappen bilden. Technische Einzelheiten darf ich als be-
kannt voraussetzen. Gelingt es auf diese Weise einen guten osteo-
plastischen Lappen analog dem Hautmuskellappen zu bilden, den
man später in den Defekt wieder zurückschlagen kann, um so
besser. Die meisten Operateure haben sich aber davon überzeugen
müssen, daß bei den enormen technischen Schwierigkeiten und der
f4efährlichkeit der Operation alles beseitigt werden muß, was der
Zugänglichkeit hinderlich ist. Und das ist der Knochenlappen ent-
schieden. Es verzichtet deshalb mancher von vornherein auf die
osteoplastische Methode.
Man hat gefürchtet, daß beim Niederbrechen des Knochen-
lappens das Hinterhauptsbein am Foramen magnum splittern und
die MeduUa oblongata verletzen könne. Die Gefahr ist nicht so
groß, da letztere weit genug vom Knochenrande entfernt*) und
dieser überdies hier sehr stark ist. Femer schützt die sehr dicke
Membrana atlanto-occipitalis das Gehirn und wenn man diese durch-
schneidet, kommt man nicht auf die Oblongata, sondern auf die Ton-
sille des Kleinhirns; die MeduUa oblongata liegt tiefer (Borchardt).-)
Endlich bricht der Knochen meistens so, daß die Umrandung des
Hinterhauptloches stehen bleibt.
Unter allen Umständen ist die Knochenoperation sehr blut-
reich wegen der gerade hier sehr starken Diploeschicht und mehr-
facher beträchtlicher Emissarien. Einigeraale haben die Operateure
aus diesem Grunde abbrechen und zweizeitig operieren müssen;
auch Todesfälle auf dem Operationstische sind beobachtet. Bei
1) Man betrachte in Merkel's Handbuch der topographischen Anatomie
Bd. I p. 78 die Abbildung 38.
2) Borchardt, Chinirgenkongreß 1906.
Operation einer Geschwulst im KleinhirnbrUckenwiukel. 29
Blutungen aus den Emissarien kann man Elfenbeinstifte oder Holz-
pflöcke einschlagen und sie im Enochenniveau abschneiden. Zur
Beherrschung der Diploeblutung genügte mir feste Gazekompression;
man muß nur wirklich fest komprimieren, indem man die Gaze-
lage mit einem stumpfen Haken gegen die Sägefläche preßt.
Nach Herstellung der großen Knochenliicke wölben sich nun-
mehr unter der bedeckenden DurahüUe die hinteren unteren Teile
beider Hinterhirnlappen des Großhirnes und die freizulegende Klein-
hirnhalbkugel sowie ein mehr oder weniger großer Streifen der
anderen Seite vor. Man erblickt das untere Ende des Sinus longi-
tudinalis, den horizontal verlaufenden Sinus transversus und den
Sinus occipitalis. Neigt man den Kopf stark auf die rechte Seite,
so sinkt Dura und Gehirn an der linken Seite in das Schädelinnere
zurück, so daß eine etwa '/4 cm breite Lücke zwischen Tabula
interna und Dura entsteht.
Borchardt macht darauf aufmerksam, daß der an der Um-
randuDg des Hinterhauptloches verlaufende Sinus marginalis im
weiteren Verlaufe der Operation gefährlich werden kann. Er ist
in etwa 10% der Fälle enorm groß, größer noch als der Sinus
transversus, und ist rechts stets stärker als links.
Jetzt bildet man aus der Dura einen großen bogenförmigen
Lappen mit unterer Basis unter Schonung des Sinus transversus.
Der Sinus occipitalis kann doppelt unterbunden werden, wenn es
sich als notwendig erweist, beide Kleinhirnhemisphären freizu-
legen, indem man eine mit Katgut armierte Aneurysmennadel um
ihn herumführt. Klappt man nun den Duralappen herunter und
hält mit einem biegsamen Kupferspatel das Tentorium in die Höhe,
so kann man die bzw. beide Kleinhimhemisphären und den Ober-
wurm bis weit in die Tiefe hin übersehen. Neigt man den Kopf
auf die Seite und setzt den Spatel unter die Kleinhirnhalbkugel,
so kann man auch diese medialwärts verziehen und nun die Gegend
des Kleinhirnbrückenwinkels und die Hinterfläche des Schläfen-
beins bequem übersehen. Mir hat es jedenfalls in meinem Falle
keinerlei Schwierigkeiten gemacht. Findet sich eine Neubildung
im Marklager des Kleinhirnes, so wird man sie wohl meistens an
der auffälligen Konsistenz durch Betastung mit zwei Fingern fest-
stellen können. Tumoren an der Hinterfläche des Felsenbeines
(Acusticusfibrome , Kleinhirnbrücken winkeltumoren) sieht man.
Auf die allgemeinen Regeln der Loslösung und Ausschälung der
Tumoren, der Blutstillung usw. brauche ich hier nicht weiter ein-
zugehen, weil die Lokalität zu abweichenden Maßnahmen keinen
30 II. Bbckeb
Anlaß gibt. Es lag mir nur daran, den Lesern einer nichtchirur-
gischen Zeitschrift ein Bild von dem Gange einer Ope-
ration zu geben, die wahrscheinlich berufen ist, in
den nächsten Jahren eine große Rolle zu spielen.
Überblicken wir nun die Gefahren, die mit einer Operation
einer Himgeschwulst in der hinteren Schädelgrube verbunden sind,
und erwägen wir alle die Schwierigkeiten, die sich uns in den Weg
stellen können, so wird man mit einiger Berechtigung die Frage
aufwerfen dürfen, ob sich denn überhaupt vom Stand-
punkte unserer Wissenschaft solche Operationen
verteidigen lassen. „Ich glaubte früher doch oft," schreibt
Th. Billroth (Briefe 1899 Seite 147), „die Leute zum Leben
zwingen zu können. Jetzt bin ich resignierter in dieser Beziehung.
Da bin ich denn ein immer glücklicherer Operateur geworden,
vielleicht nur klüger; ob besser, wollen wir dahingestellt
sein lassen.^ Das letzte ist eben der Kernpunkt. Wir sind
bessere Operateure im letzten Dezennium geworden, wir haben
uns an immer größere Probleme gewagt und immer bessere Re-
sultate erzielt. Was bei Gallenstein-, bei Blinddarm- und zahllosen
anderen Operationen unsere Erfolge in enormer Weise verbessert
hat, ist die bessere Technik. Warum sollen der Hirnchirurgie
ähnliche Erfolge versagt bleiben?
Aber schon unsere jetzigen Erfolge drücken uns das Messer
in die Hand. Der Hirntumor ist ein Leiden, das ohne Operation
(Syphilis nehme ich aus) stets und zwar unter den fürchterlichsten
Qualen zum Tode führt. Kopfschmerz und Erbrechen spotten jeder
inneren Therapie und haben schon manchen die WaflFe gegen sich
selbst richten lassen. Dazu ist das Leiden in den wenigsten Fällen
ein kurzes, oft zieht es sich über Jahre hin. Wenn wir unter
diesen Umständen von 100 Menschen auch nur einen oder nach
anderen Berechnungen vier oder gar acht retten können, so ist
das doch ein recht erfreuliches Resultat. Wie schlecht waren an-
fangs die Resultate unserer Gallenstein- und Blinddarmoperationen!
Weshalb? Weil die Kranken bereits inoperabel auf den
Tisch kamen. Und jetzt gehören die EingriflFe unbestritten zu den
glänzendsten Leistungen moderner Chirurgie. Wird es uns ge-
lingen, einerseits die Technik zu verbessern und andererseits die
Frühdiagnose zu verfeinern, so werden wir noch mehr Menschen
dem sicheren Tode entreißen können. Die bisherigen noch be-
scheidenen Erfolge sollen uns also nicht abhalten, auf dem be-
Operation einer Geschwulst im Kleinhimbrückenwinkel. 31
schrittenen Wege umzukehren und das Messer beiseite zu legen,
wie uns auch die anfanglichen Mißerfolge der Bauchchirurgie nicht
abgeschreckt haben.
Aber noch aus einem zweiten Grunde erscheinen Hirntumor-
operationen durchaus berechtigt. Gelingt es nämlich aus irgend-
welchen Ursachen nicht, die Geschwulst zu entfernen, oder konnte
sie nur zum Teil bestätigt werden, so haben auch diese Palliativ-
operationen stets einen segensreichen Einfluß gehabt.
Die Erfahrungen haben nämlich gelehrt, daß in solchen Fällen
zwar die Herdsymptome immer dieselben bleiben, daß aber die
Allgemeinsyraptome — und diese sind ja für den Kranken ganz
besonders quälend -- nach breiter Eröffnung des Schädels meist
rasch zurückgehen. Wie mit einem Zauberschlage hellt sich das
Bewußtsein auf, der Kopfschmerz schwindet, ebenso auch das Er-
brechen und die Stauungspapille geht ra^ch zurück. Es ist von
der allergrößten Bedeutung, daß man auf diese Weise
den Übergang derStauungspapille — erfahrungsgemäß tritt
sie gerade bei den Tumoren der hinteren Schädelgrube außerordent-
lich frühzeitig auf — in Sehnervenatrophie, alsoinEr-
blindung verhindern kann. Cushing*) hat zweimal eine
Stauungspapille in wenigen Stunden verschwinden
sehen. Bei dem einen Kranken war eine Schwellung von 7 Di-
optrien nach 3 Stunden völlig abgeflacht; es handelte sich um eine
Freilegung der hinteren Schädelgrube wegen Kleinhirntumor. In
einem anderen Falle, wo er wegen Hydrocephalus internus die
Punktion des Seitenventrikels mehrmals wiederholen mußte, beob-
achtete gleichzeitig ein Ophthalmologe den Augenhintergrund. In
demselben Augenblick, wo der Liquor aus der Hohlnadel hervor-
spritzte, fielen die prallgefüllten Venen am Optikuseintritte zu-
sammen und verloren ihre Schlängelung; wenige Stunden später
war das Ödem der Papille verschwunden.
Femer haben sich in vielen Fällen die Kopfschmerzen
gar nicht wieder eingestellt, so daß die Kranken die volle Schwere
ihres Leidens nicht weiter empfanden, sondern einfach im Koma
zu^^runde gingen. Von Chipault, Jaboulay, Aldrich und
Cnshing und unter den Deutschen besonders vom Hamburger
1) Cnshing^j The establishment of cerebral hernia as a decompressive
measnre for inaccessible brain tumors usw. Surgery, gynecology and obstetrica
Volume I Number 4 Oktober 1905 page 298.
32 n. Becker
Nervenarzte Sänger ^) und von Sick -) wird die Palliativoperation
daher warm empfohlen. Von 11 Patienten Sang er 's hat die
palliative Trepanation in 10 Fällen die schweren Leiden ganz
wesentlich verringert, indem die durch den gesteigerten Himdruck
bedingten Symptome (Kopfschmerzen, Erbrechen, Krämpfe) nach-
ließen. In 8 Fällen ging die Stauungspapille zurück, in zweien
bestand schon vor der Trepanation Erblindung, in einem Falle
verschlechterte sich das Allgemeinbefinden. Als Zeitpunkt. des
operativen Einschreitens empfiehlt Sänger den Beginn der
Herabsetzung des Sehvermögens; operiert man nach diesem
Zeitpunkte, so bleibt gewöhnlich eine Optikusatrophie zurück. Nach
seiner (übrigens auch anderer) Erfahrung könne sich die Qnincke-
sche Lumbalpunktion oder die Punktion des Seitenventrikels in
bezug auf die Wirksamkeit nicht mit der Entfernung eines großen
Knochenstückes aus der Schädelkapsel messen. Er resümiert: „Die
palliative Trepanation bei einem Hirntumor ist in den Händen
eines geübten Chirurgen eine, wenn auch nicht ganz ungefährliche,
so doch außerordentlich segensreiche Operation, die ich im Hinblick
auf die Ohnmacht der inneren Medizin gegenüber dem Hirntumor
und in Rücksicht auf die qualvollen Leiden, speziell die drohende
Erblindung, in jedem Falle empfehlen möchte."
Sick verfügt unter 27 Trepanationen über drei Fälle, bei
denen die Kranken durch die lediglich zur Druckentlastung vor-
genommene Trepanation über dem Kleinhirn dauernd arbeits-
fähig geblieben sind. In dem einen Falle handelt es sich um
einen 31jährigen Telephonarbeiter, bei dem eine Cyste in der
linken Kleinhirnhemisphäre punktiert wurde; nach 14tägiger Se-
kretion schloß sich die Fistel Ein zweiter Patient wurde vor
6 Jahren operiert wegen schwerster Drucksymptome und fast
völlig aufgehobener Sehkraft. Der Kranke, ein Kommis, ist wieder
voll arbeitsfähig geworden. Im dritten Falle bestand bei einem
Lehrer gleichfalls heftiger unerträglicher Schwindel, Kopfschmerz
und Stauungspapille. Auch dieser Patient ist seit länger als einem
Jahre wieder voll hergestellt und kann seinen Dienst als Lehrer
wieder ungehindert ausüben. Sick empfiehlt daher dringend,
bei allen Fällen, wo es nicht gelingt, den Tumor operativ
anzugreifen, die Trepanation zur Druckentlastung (Tre-
1) Sänger, Über die Palliativoperation des Schädels bei inoperablen Hirn-
tumoren. Chirurgenkongreß- Verhandlungen 1902 I p. 158 ff.
2) Sick, Trepanation bei snpponiertem Hirntumor mit Ausgang in Heilung.
Deutsche med. Wochenschrift 1906 Nr. 34 p. 1396.
Deutsches Archiv füi klinische Medizin. 89. Bd.
Verl»g von F. C. W, Vogel In Leipzig.
Operation einer Geschwulst im Kleinhimbrückenwinkel.
33
panation d6compressive) zu machen, da hierdurch den Kranken
wesentlich genützt wird und sie von den oft unerträglichen
Kopfschmerzen und der Erblindungsgefahr befreit werden.
Wenn wir also — in den immerhin häufigen Fällen — erst
bei der Operation einsehen, daß eine radikale Geschwulstentfernung
nicht möglich ist, so haben wir doch das Bewußtsein, daß wir
durch unseren Eingriff dem Kranken nicht zu schaden brauchen,
sondern ihm einen wesentlichen lang andauernden Nutzen schaffen
können. Dadurch muß uns natürlich der Entschluß zur Operation
sehr erleichtert werden, und wir haben damit auch das bestimmte
Eechty einem Kranken oder seinen Angehörigen die Operation
anzuraten. Mag sie nun eine völlige Heilung oder nur eine Lin-
derung der Leiden oder aber den Tod herbeiführen, der Kranke
hat stets dabei gewonnen.
Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 89. Bd.
III.
Ans der experimentell-biologischen Abteilnng des Kgl. pathoU
Instituts der Universität Berlin.
Zar pathologischen Physiologie des Magenkatarrhs*
Von
Adolf Bickel in Beriin.
Zwei Dinge stehen beim Magenkatarrh — in welcher seiner
besonderen Ausdrucksform er nns auch am Krankenbette ent-
gegentreten mag — im Vordergrunde des pathologisch-physio-
logischen Interesses: das Verhalten der Schleimbildung und das-
jenige der Salzsäureproduktion. Wir wissen, daß speziell bei den
subakuten und chrouischen Gastritiden — wenn ich von der Gastritis
acida Boas' absehe — der Mageninhalt in der Regel abnorm reich
an Schleim und arm an Salzsäure ist. Genaueres über die Art der
Gesetze, denen die Schleim- und Salzsäurebildung bei dieser Erkran-
kung der Magenschleimhaut folgt, wissen wir nicht
Ich wende mich zunächst der Schleimbildung im kranken
Magen zu, über die E r e h 1 in seinem Lehrbuch der pathologischen
Physiologie (1904) schreibt: „Sehr zu bedauern ist, daß wir über
den Schleim des Magens nicht besser unterrichtet sind. Eine sorg-
fältige chemische und biologische Untersuchung desselben in der
Art, wie sie F. M ü 1 1 e r für das Mucin der Atemwege unternommen,,
würde voraussichtlich zu den interessantesten Ergebnissen führen,,
denn es ist recht wahrscheinlich, daß anch im Magen der Schleim
wichtige schützende Funktionen hat."
Daß die Schleimbildung im Magen anderen Gesetzen folgt, ala
die Saftsekretion, ist uns aus den klassischen Untersuchungen der
Pawlow'schen Schule bekannt; das geht fei'ner zur Evidenz aus
den Beobachtungen hervor, die Freund in meinem Laboratorium
über die Einwirkung des elektrischen Stromes auf die Magen-
schleimhaut anstellte.^) Während auf elektrische Reizung der
1) Virchow's Archiv 1905.
Zur pathologischen Physiologie des Magenkatarrhs. 35
Magenschleimhaut auch nicht eine Spur von Magensaft produziert
wird, tritt bei dieser Reizung eine lebhafte Schleim bildung auf. Um-
gekehrt ruft, wiePawlow zeigen konnte, elektrische Reizung des
Vagus, also des Sekretionsnerven der Magenschleimhaut eine Magen-
saftbildung hervor. Nur bei direkter elektrischer Erregung der
Sdileimhaut tritt statt der Saftbildung die Schleimabsonderung auf.
Wenn Uschakow (Arch. d. scienc. biol. IV) bei elektrischer
Reizung 4er peripherischen Enden der durchschnittenen Nervi vagi
neben der Saftbildung eine Schleimabsonderung auftreten sah, so
beweist diese Beobachtung noch nicht, daß die Schleimproduktion
die direkte Folge der Nervenreizung gewesen sein muß.
Ätzt man nun die Magenschleimhaut mit Silbernitrat, so tritt
eine grandiose Schleimbildu«^ auf, wie Pawl o w an Magenblindsack-
hnnden zu zeigen vermochte; ich fugte dieser Beobachtung die
andere hinzu, daß diese SchleimbfHung nach der Silbernitratätzung
sich lediglich an den Teilen der Magenwand vollzieht, die von dem
Ätzmittel betroflFen werden. Wenn man nämlich ein Tier laparoto-
miert, den Magen eröffnet und mit dem Lapisstift an zirkumskripten
Stellen vorsichtig reizt und danach von den Orenzstellen, an denen
der Schorf sich gegen die gesunde Schleimhaut absetzt, mikro-
skopische Präparate anfertigt , so lehren diese , daß ein stärkerer
Schleimbelag sich nur an der gereizten Stelle findet, während der-
jenige der nicht unmittelbar gereizten Partie keine Abweichung
von der Norm erkennen läßt.
An Hunden, denen ich einen M^enblindsack nach der P a w 1 o w -
sehen Methode angelegt hatte, stellte ich weiterhin folgende Be-
obachtungen an. Das jeweilige Versuchstier erhielt eine bestimmte
Mahlzeit (ca. 200 g Pferdefleisch); sobald die Saftsekretion lebhaft
im Gange war, wurde ein Stückchen der Schleimhaut des Magen-
blindsacks zur mikroskopischen Untersuchung auf den Schleimbelag
exzidiert. Dann erhielt das Tier eine starke Lösung (ca. 5 — 10 %)
von Argentum nitricum in den großen Magen durch die Schlund-
sonde eingeflößt. Bei den verschiedenen Versuchen werden ver-
schieden große Mengen der Silbernitratlösung eingegossen. Im
großen Magen trat eine enorme Schleimbildung auf; bei den Tieren
steHte sich in der Regel Erbrechen ein und in dem Erbrochenen
konnte man die gewaltigen Schleimmengen nachweisen. Etwa V«
bis 1 Stunde später wurden die Hunde getötet. Ans dem großen
and kleinen Magen wurden abermals Schleitnhautstückchen zur
mikroskopischen Untersuchung herausgeschnitten. Das Resultat
aller dieser Versuche war, daß sich weder mikro-
3*
36 in. BiCKBL
skopisch noch makroskopisch eine Vermehrung des
Schleimbelags anf der Schleimhaut des kleinen
Magens nach der Silbernitratätzung des großen
Magens nachweisen ließ, obschon die Schleimhaut
dieses letzteren enorme Mengen von Schleim im An-
schluß an die Ätzung abgeschieden hatte.
Auf meine Veranlassung hat dann weiterhin Herr Dr. Pewsn er
aus Moskau in meinem Laboratorium noch folgenden Versuch über
die Schleimbildung im Magen unter pathologischen Verhältnissen
gemacht.
Ein Magenblindsackhund erhielt täglich eine bestimmte Mahl-
zeit. Die im Verlaufe einer bestimmten Zeit nach der Ingestion
von der Schleimhaut des kleinen Magens abgeschiedenen Sekret-
mengen wurden gesammelt und deren Schleimgehalt quantitativ
bestimmt. Nachdem so die Schleimproduktion im kleinen Magen
in einer Normalperiode ermittelt war, wurden in einer zweiten
Periode an einer Reihe von Tagen Ätzungen des großen Magens
mit Silbemitrat vorgenommen. Das Tier erhielt weiterbin die
nämliche Mahlzeit täglich und es wurde der vom kleinen Magen
sieh abscheidende Saft in der genannten Zeit weiterhin gesammelt
und auf seinen Schleimgebalt untersucht. Daß der große Magen
in der Tat stark vermehrte Schleimmengen auf die Silbernitrat-
ätzung abschied, konnte man an den Massen sehen, die das Tier
gelegentlich nach der Atzung erbrach.
DasResnltat war folgendes: Trotz der vermehrten
Schleimbildung im großen Magen blieb die Schleim-
abscheidung von der Wand des kleinen Magens in
normalen Grenzen. Eine Steigerung in der Schleim-
produktion trat hier nicht auf.
Alle diese Versuche lehren, daß unter den gegebenen Ver-
hältnissen eine reflektorische Auslösung der Schleimbildung im
Magen nicht in dem Sinne möglich ist, wie es für die Sekretion
des Magensaftes feststeht; eine Schleimbildung im Magen durch
direkten Nerveneinfluß auf die schleimbildenden Zellen ist gleich-
falls bisher nicht bewiesen worden. Denn wenn nach der Vagus-
reizung mit der dadurch ausgelösten Saftbildung gleichzeitig auch
eine Schleimbildung auftritt, so kann diese letztere sehr wohl die
Folge des über das Sdileimhautepithel abfließenden Saftes sein und
braucht nicht als die unmittelbare Eonsequenz der Nervenreizung
angesprochen zu werden. (Vgl. die cit. Versuche von üschakow.)
So stellt sich uns an dem Beispiel der Silber-
Zur pathologischen Physiologie des Magenkatarrhs. 37
nitratätzung der Magenschleimhaat die danach auf-
tretende Schleimbildang als die lokale Reaktion der
Magenwand anf einen lokalen Heiz hin dar.
Ob das für die Schleimbildung bei allen Formen des Magen^
katarrhs gilt, kann allerdings nicht ohne weiteres bejaht werden.
Indessen müßte man, wenn man von dieser Auffassung in bestimmten
Fällen abweichen wollte, verlangen, daß durch eine stringente
Beweisführung dargetan wird, für den speziellen Fall seien die
Gesetze der Schleimbildung im Magen andere, als sie durch die
oben genannten exakten Untersuchungen festgelegt worden sind.
Ich denke dabei vor allem an die Mitteilungen von D a u b e r ^),
der annimmt, daß unter Umständen durch nervöse Reize eine
Steigerung in der Schleimbildung in Analogie zu dem Krankheitsbilde
der nervösen Supersekretion stattfinden könne.
Es bedarf keines besonderen Hinweises, daß das, was ich hier
über die Art und Weise der Schleimsekretion sagte, lediglich für
den Magen gilt Ich leugne nicht, daß eine Schleimbildung durch
direkten Nerveneinfluß möglich ist; bei den Speicheldrüsen ist sie
sogar höchst wahrscheinlich vorhanden. Gleichviel erscheint es
mir doch immerhin der Beachtung wert, daß man heute bereits
mit viel größerer Reserve von einer rein nervösen Schleimbildung
im Darmkanal im oben genannten Sinne spricht, als früher, und
daß so z. B. der BegriflF der Colica mucosa nervosa bereits eine so
starke Einschränkung erfahren hat, daß eigentlich nicht mehr viel
davon übrig geblieben ist (vgl. Boas, Schütz u. a.).
Die teleologische Auffassung Pawlow's, nach der die Schleim-
bildung im Magen eine Schutzmaßregel der Magenwand gegen
Schädlichkeiten ist, die auf ihr Deckepithel eindringen, hat vieles
für sich; aus meinen Beobachtungen läßt sich ein Widerspruch
dagegen nicht herleiten.
Der zweite Punkt, der in der pathologischen Physiologie des
Magenkatarrhs unser besonderes Interesse erregt, ist das Verhalten
der Salzsäurebildung. Auch hierüber kann uns die Analyse des
Mageninhaltes von Individuen mit Magenkatarrhen keinen sicheren
Aufschluß geben; wir müssen den Tierversuch zu Hilfe nehmen,
wenn wir einen tieferen Einblick in den Sekretionsmechanismus
unter diesen pathologischen Verhältnissen gewinnen wollen.
Mein Schüler Herr Dr. Saito aus Japan hat über diese Frage
folgende Untersuchungen angestellt. Ein Hund mit kleinem Magen
wurde täglich mit einer bestimmten Mahlzeit gefüttert. Die sich
1) Archiv für Verdaanngskrankh. Bd. 2.
38 ^I^- BiCK£L, Zur pathologischen Physiologie des Magenkatarrhs,
in den ersten 2 Stunden nach der Ingestion von der Schleimhaut
des kleinen Magens abscheidenden Saftmengen wurden gesammelt
und analysiert Nach einer mehrtägigen Normalperiode wurde der
kleine Magen des Tieres wiederholt mit Alkohol geätzt ; es bildete
sich allmählich ein subchronischer Krankheitszustand aus; die sich
abscheidenden Magensaftmengen waren reichlich mit Schleim ver-
mischt Auch während dieser Beizungsperiode erhielt das Tier
täglich die genannte Mahlzeit und es wurden die in den ersten
2 Stunden nach der Ingestion vom kleinen Magen secemierten Saft-
mengen aufgefangen und analysiert. Es stellte sich nun heraus,
daß unter dem Eindruck der Eeizung der prozentuale Salzsäure-
gehalt des reinen Magensaftes und auch der prozentuale Chlor-
gehalt abnahmen, während die ausgeschiedenen absoluten Mengen
dieser Körper infolge der sich im Anschluß an die Ätzung ein-
stellenden Hypersekretion in den ersten beiden Stunden nach der
Ingestion eine geringe Zunahme erfuhren.
Aus diesem Versuch, der übrigens zugleich ein Beispiel fdr
eine experimentell erzeugte Hypersekretion mit Hypochlorhydrie
oder Subacidität ist, geht mit großer Wahrscheinlichkeit hervor,
daß diese letztere nicht so sehr auf einer weitgehenden Neutrali-
sation des sauren Saftes durch den vermehrten Magenschleim zurück-
zuführen ist, sondern daß die Drüsen ein Sekret bilden, dessen pro-
zentualer Chlor- und Salzsäuregehalt abnorm niedrig ist
Ein analoges Verhalten konnte ich bei dem von mir^) früher
beschriebenen Falle einer spontan aufgetretenen chronischen
Gastritis in beiden Mägen eines nach der Pawlow'schen Methode
operierten Blindsackhundes feststellen. Der prozentuale HCl-Gehalt
betrug hier nur 0,074^0 gegen 0,4— 0,5 7o in der Norm.
Es kann also kein Zweifel darüber sein, daß eine Erkrankung
der secernierenden Drüsenzellen selbst zu der Bildung eines minder-
wertigen Sekrets führt, während unter anderen pathologischen
Verhältnissen im allgemeinen nur die Sekretmengen, aber nicht
ihre Komposition eine Alteration erfahren.*)
1) Zar patholog. Physiologie der chronischen Entzündang der Magenschleim-
haut. Charit6-Annalen XXX. Jahrg. 1906.
2) Vergleiche meinen Vortrag auf dem Kongreß für innere Medizin 1906.
IV.
Aus dem allgemeinen Erankenhause St. Georg in Hamburg.
Znr BSntgendiagnostik seltenerer Herzleiden.
Von
Direktor Dr. Th. Deneke.
(Mit 4 Karyen und 3 Abbildungen.)
Die gunstigen Verhältnisse, die sich für die röntgenographische
und röntgenoskopische Durchforschung aus der Lage des Herzens
als eines soliden, schattenwerfenden Organs zwischen den hellen
Lungenfeldem darbieten, sind von zahlreichen Forschern besonders
nach drei Richtungen ausgenutzt worden. In erster Linie erweckt
die Lage, in zweiter die Form des Organs, wie sie sich bei den
verschiedenen physiologischen und pathologischen Kreislaufsverhält-
nissen präsentiert, Interesse: die Beziehungen der Längsachse des
Heinzens zu den Hauptachsen des Körpers erwiesen sich als viel
weniger konstant, als man vorher angenommen hatte. Die Be-
obachtung des Lagewechsels des Herzens bei der Atmung, bei ver-
schiedenen Eörperstellungen, bei Affektionen der Nachbarorgane
bietet manches Bemerkenswerte. Die Formveränderungen des
ganzen Organs, sowie der an der Bandbildung des Herzschattens
beteiligten beiden Herzhöhlen, des linken Ventrikels und des rechten
Vorhofes, gestatteten ohne weiteres Schlüsse auf wichtige Störungen
ihrer Funktionen. Noch erheblich größere praktische Wichtigkeit
bat drittens die Röntgentechnik fDr die Feststellung der
Größenverhältnisse des Herzens gewonnen. Hier ist seit der
genialen Entdeckung des Orthodiagraphen durch Moritz die
RöDtgennntersuchung der Prüfstein aller anderen Untersuchungs-
methoden geworden, und es bereitet jedem an einer größeren
Krankenanstalt tätigen Ai'zte ein Vergnügen, die sich immer weiter
ausbreitenden Wellenkreise zu verfolgen, die von der Moritz'schen
Entdeckung ausgehen. Auf der einen Seite hat der orthodia-
graphische Apparat selbst zahlreiche Veränderungen in seiner Form
40 IV. Denbke
und in seinen Hilfsgeräten durchgemacht, die meist branchbare
Verbesserungen sind und dem Scharfsinn der Erfinder wie der
Exaktheit der ausführenden Techniker alle Ehre machen. Auf der
anderen Seite hat eine Nachprüfung unserer Methoden der topo^
graphischen Perkussion, die sich besonders an die Namen Gold-
scheider, de la Camp, Hans Curschmann knüpft, auf der
Grundlage der Orthodiagraphie begonnen und bereits zu Ergeb-
nissen geführt, die das tägliche diagnostische Rüstzeug des prak-
tischen Arztes in erfreulicher Weise zu vervollkommnen ver-
sprechen.
Weit weniger Beachtung als die Lage, Form und Größe des
Herzens haben die auf dem Röntgenschirme sichtbaren Bewegungs-
vorgänge bisher gefunden, wenigstens ist die Literatur ziemlich
arm an Veröffentlichungen, die von einem genaueren Studium dieser
Bewegungsorgane sprechen, v. Criegern^), der bereits 1899 über
die Untersuchung menschlicher Herzen mittels des fluorescierenden
Schirmes berichtete, hat sich hauptsächlich mit dem starken und
schwachen Aktionstypus, speziell des linken Ventrikels, beschäftigt
und erwähnt dabei das interessante Faktum, daß er in einem Falle
von Tricuspidalinsufficienz eine Pulsation der Vena cava superior
auf dem Schirme sehen konnte. Weinberger*) äußert nur ganz
allgemein über die auf dem Röntgenschirme wahrnehmbaren Herz-
bewegungen und legt den Aufnahmen eine weit größere Wichtigkeit
bei als den Durchleuchtungen. In dem grundlegenden W^erke von
Holzknecht ^) wird ebenfalls den abnormen Eigenbewegungen
des Herzschattens nur ein bescheidener Raum gewidmet, doch sind
die veränderten Pulsationen bei den verschiedenen Klappenfehlern
treffend geschildert. Aug. Hoffmann*) hat schon früh eine Reihe
von interessanten Einzelbeobachtungen mitgeteilt, während Ried er*)
sich wohl über die randbildenden Herzteile ausspricht, über ihre
1) V. Criegern, 17. Kongreß für innere Medizin, Wiesbaden 1899, p. 298.
2) Weinberger, Atlas der Radioskopie der Brustorgane, Wien 1901.
3) Holzknecht, Die röntgenologische Diagnostik der Erkrankungen der
Bnistorgane, Hamburg 1901.
4) Hoffmann, Über Beobachtungen von Herzarhythmie mit Röntgenstrahlen.
Deutsche med. Wochenschr. 1899 Nr. 15. — Pathologie und Therapie der Herz-
neurosen, Wiesbaden 1901, p. 276. — Zur Kenntnis der Adams-Stokes'schen Krank-
heit. Zeitschr. f. klin. Medizin Bd. 41 p. 357. 1900.
5) Rieder, Die Untersuchung der Brustorgane mit Röntgensti'ahlen in ver-
schiedenen Durchleuchtungsrichtungen. Fortschr. a. d. Gebiete der Rtmtgenstr.
Bd. VI, 1902.
Zur Röntgendiagnostik seltenerer Herzleiden. 41
Eigenbewegnngen aber nar spärliche Angaben macht. Auch Moritz^)
gibt von den auf dem Röntgenschirme sichtbaren Bewegungsvor-
g&ngen der verschiedenen Herzteile keine ausführlichere Beschrei-
bung und stützt seine Erörterungen über die den Rand des Herz-
schattens bildenden Teile nahezu ausschließlich auf den an der
Leiche beobachteten Situs. Einige kleinere kasuistische Mitteilungen
anderer Autoren werden unten erwähnt werden.
Woran liegt es, daß diese bei der ersten Röntgendurchleuchtung
jeden Beobachter so sehr frappierenden Eigenbewegungen des Herz-
schattens so selten Gegenstand eingehenderen Studiums geworden
sind, ist schwer zu sagen. Vielfach wird es an den erforderlichen
technischen Vorbedingungen gemangelt haben. Nicht nur aus-
gezeichnete Röhren, die eine Viertelstunde und länger ohne Schaden
betrieben werden können, sind zu derartigen Untersuchungen er-
forderlich, sondern auch mannigfaltige und bequeme Blendvorrich-
tnngen; vor allem aber muß die Handhabung der Apparate in
kundigen und erfahrenen Händen liegen. Dann ist für derartige
Beobachtungen mehr Zeit nötig als vielen stark beschäftigten
Klinikern zu Gebote steht; die feineren Bewegungsvorgänge erkennt
man nur nach längerem Aufenthalt im dunklen Zimmer, und man
darf sich nicht verdrießen lassen, oft mehrere Röhren verschiedener
Härte zu versuchen, die Stellungen der Röhre und der Patienten
vielfach zu variieren und die einzelnen Teile des Schirmbildes
mit Hilfe verschieden weiter und verschieden geformter Blenden-
vorrichtungen isoliert zu betrachten. — Das spezielle Interesse und
auch wohl das eindringendere Verständnis für die auf dem Röntgen-
schirme wahrnehmbaren Bewegungsvorgänge wird übrigens von
vornherein nur bei demjenigen Teile der Kliniker vorhanden sein,.
der durch das physiologische Experiment genaue Kenntnisse und
Anschauungen von den Bewegungen des freigelegten oder isolierten
lebenden Säugetierherzens erworben hat.
Durch alle diese Umstände wird das Arbeiten auf diesem Ge-
biete erschwert; vor allem aber erklärt sich die verhältnismäßige
Vernachlässigung des Studiums der Herzbewegungen wohl daraus,
daß mittels der Röntgendurchleuchtung in dem benachbarten Medi-
astinum so überaus vielfältige und wichtige Beobachtungen zu
machen waren, die uns vor der Ära der Röntgenstrahlen unbekannt
geblieben waren. Da war es begreiflich, daß die Mehrzahl der
1) Moritz, Methodisches und Technisches znr Orthodiagraphie. Deutsch.
Arch. f. klin. Med. Bd. 81 p. 1.
4£ IV.
Forscher sich bisher diesem dankbareren Gebiet zuwandte, dessen
Schätze auch jetzt keineswegs ausgeschöpft sind. Nichtsdesto-
weniger kann die Zeit nicht fem sein, wo auch die feinere Be-
obachtung des lebenden Herzens selbst wieder ihre Liebhaber findet.
In den folgenden beiden Fällen war mir die genauere Be-
obachtung der Bewegungsvorgänge am Herzen, die ich in dem
Yon Herrn Dr. Albers-Schönberg geleiteten HOntgeninstitut
unseres Krankenhauses vornahm, von erheblichem Nutzen. Die
beiden Krankengeschichten sind auch sonst nicht ohne Interesse
und bieten Gelegenheit zu einigen weiteren Bemerkungen, die fiber
das Gebiet der Röntgenographie hinausgehen.
1. Ein Fall von Adams-Stokes* scher Krankheit (mit Leichenbefund).
Krankengeschichte. J. Schw., Buchhalter, 42 J., aufgenommen
10. Juli 1905.
Anamnese: Patient erlitt zuerst am 24. Juli 1901 einen Anfall Yon
Bewußtlosigkeit, der völlig ohne Vorboten eintrat; Fat. fiel im Zimmer
plötzlich hin. Nach der B.ückkebr des Bewußtseins fühlte er sich sehr
angegriffen, konnte aber allein aufstehen und nach wenigen Tagen seinem
Berufe wieder nachgehen. Am 24. Oktober 1902 zweiter ähnlicher An-
fall auf der Straße. Am 30. November 1904 dritter schwerer Anfall;
•die Bewußtlosigkeit dauerte diesmal P/^ Stunden, die Gesichtsfarbe war
während des Anfalls sehr blaß. Seit November 1904 nach Angabe der
Frau häufiger kurze Anfalle; Fat. war immer leicht angegriffen, fühlte
«ich matt und unsicher, wenn er außerhalb des Bettes sich befand und
war unfähig zu allen Berufsarbeiten. Erhebliche Verletzungen hat Fat.
-sich bei keinem Anfalle zugezogen, sich auch nie in die Zunge gebissen.
Früher keine schwerereu Elrankbeiten. Vor 20 Jahren Gonorrhoe,
nie Schanker. Vor 1894 trank Fat. ziemlich viel Bier, nie Schnaps;
«eit 1894 mäßig Bier. Nie Tabakmißbrauch. 1894 Verheiratung. Erstes
Kind (Frühgeburt) starb an Lebensschwäche 3 Wochen alt, zweites Kind
1896 reif geboren, starb an „Erkältung" nach 6 Wochen, die folgenden
3 Kinder leben und sind völlig gesund. Frau gesund.
Status: Zierlich gebauter, gut genährter Mann, beiderseits Klump«
fuß, mäßige Kyphoskoliose der Brustwirbelhaube mit der Konvexität nach
rechts. Gesichtsfarbe blaß, Lippen etwas livide. Lungen außer bron-
chitischen Geräuschen o. B.
Her z : Ferkussorisch ist eine Verbreiterung nach beiden Seiten nach-
weisbar. Äußerste Grenze r. 7^29 1* 13 cm von der Mittellinie. Hera-
aktion äußerst langsam: 25 — 30 ziemlich regelmäßige Schläge in der
Minute. Falpation der Radialis und der Herzspitze sowie Auskultation
des Herzens ergibt die gleiche Frequenz. An der rechten Halsseite ist
über dem Schlüsselbeine eine deutlich pulsierende, gut taubeneigroße,
leicht eindrückbare bläuliche Vorwölbung sichtbar, während die venöse
StauuDg an der linken Halsseite wesentlich geringer ist. Der Fuls an
der erweiterten V. jugnlaris d. zeigt deutlich drei Erhebungen, während
Zar RtintgendUgsostik Beltecerer Herzleiden. 43
mkn BO der BadMü and am Henen nur «inen Puls fUhlt. Die Er-
h«biuigen des VeneDpnlaes lind j« naoh der Ätmosgsphaae und den iiit«r-
ferierenden CarotispiilBeii Tenchieden hoch, aber stets im Liegen wie im
Sitzen beqnem sichtbkr.
PnUknrven »n derRadialis »nfgenom men (Fig. 1) Beigen
nach 5 — 10 gleiofagroBen (je etwa ^'/g Sekunden dauernden) Perioden ein«
Tflrlängeita — '- — messende Periode, bei welcher der absteigende Scheokel
ixtrosystolisohe Er-
heboDg seigt. Eine kompensatoriBohe Pause tat nicht vorhanden, viel-
mefar ist die Diastole nach der EztrosTstole eher etwas karzer als noch
den normalen Systolen, Abgesehen von dieser stets in genau der gleichen
Weise wiederkehrenden TJnregelmSSigkeit sind die Pulskurven regelmäßig
nnd gleichmäßig. Später wnrde der Arterienpnla völlig regelmäßig.
RadiatiipoU. Zeitsuhreibong: % Sekunden. Zahlen: Sekonden.l
Die Übrigen Organe boten niohts Bemerkenswertes ; der Uria
gänzlich frei von abnormen Bestandteilen. Die Menge fibersobrttt nur
selten 1000 com, das spea. Gewicht hielt sich zwischen 1014 nnd 1030.
W&brend der weiteren Beobaohtong hob sich das Allgemeinbefinden
san&chBt so weit, daß Patient standenweise aufstehen konnte. Es konnten -
TenenpiÜBkttrven aufgenommen und eine Böntgendorchleuchtnng gemacht
werden. Die mit dem Jaqn et 'sehen Kardiosphygmographen gezeich<
neten Kurven des Herzspitze nstoBes, der r. Jngularvene und der r. Art.
radialis, von denen ich Stücke beifolgend (Fig. 3 — 4) wiedergebe , sind
nicht in allen Teilen ganz nach Wunsch gelangen, da der Patient die
Atmung nicht vollständig anhalten konnte. Auch versagte die Zeit-
schreibnng meistens. Immerbin ISßt sich deatitch erkennen, daß die
Tenenknrve während jeder SenrevoluticQ drei etwa gleich hohe Er-
hebungen (a) zeigt, die in gleichem Abstände voneinander belegen siad.
An einzelnen Stellen, wo die VorhofB'(B-) Welle sich auf die dnrch die
Carotispnlsation bedingte (c-)Welle anfaetzt (Fig. 3 bei *) oder sich mit
derv-Welle (Ventrikel welie Mackenzie's, Ys = Ventrikelstanungs welle
H. E. H e r i o g ' s , diastolische Welle D. 0 e r b a rd t ' s) kombiniert (Fig. 4),
erscheint sie besonders hoch. Auch in den Fällen, wo die Kontraktion
des Vorhofs erfolgte, während der Ventrikel kontrahiert nnd somit ge-
schlossen war, erscheint die a- Welle besonders hoch (Fig. 2, 3 am ScUbB).
weil dann die in den Venen enthaltene Blntmenge volittändig nach der
Peripherie gesofaleudert werden mnfite (Chanveau, Uackenzie,
Znr KODtgendiftgDoatik Beltenerer fleixleiden.
Lichtheim, Rooa).*) Eioige kleinere
TTnregelinSBigkeiten der Kurven erkl&ren
sich ans der nicht immer gleichen Kom-
bination der genannten Wellen und ana
d«m EinSuBBe der Ätmnng, die auch auf
die HerBSpitzenknrve stark eingewirkt hat,
vShrend der Badiolispnls aitf dteaen
Knrren keine Unregelmäßigkeiten er-
kennen ISfit.^ Verfolgt man die Besieh-
nogen der Vorhofs- snr Yentrikelfreqnens,
die sich in Fig. 4 genau wie 3 : 1 zu
verhalten soheint, durch eine lange Beihe
TOD Kontraktionen (Fig. 2 und 3), dann
erkennt man, daS die Yorhofswelle aioh
langeam an die CarotiBzacke heran- und
BohlieBlich über dieselbe binansMbiebt,
•o daß ein Intervall zwischen zwei Kammer-
pulsen eintritt, ia dem nur zwei Vor-
ho&pnlse markiert sind (Fig. S und 3
bei *). Sonst kommen in den Kurven
immer drei Yorhofspnise auf einen Kam-
merpola, nur bei ** in Fig. 3 fUlt die
Spitze einer vierten Systole nooh zur
Hilft« in «ine besonders lange Eammer-
periode hinein.
Am 19. Juli wurde eine R&ntgen-
dnrohleuohtung im Böntgeninstitut
vorgenommen ; hierbei wurde, wie stets
bei noB, die Walter- Albers-ScbSnberg'sob«
Bleikistenblende ") benutzt, die gestattet,
die Rohre in vertikaler Bichtnog zu ver-
schieben nnd mit einem sehr zweckmäßigen
1) S. später.
2) Die gleichzeitigen Phasen des verschie-
denen Willens stehen in den Kurven fast stets
senkrecht Sberelnander. Als Zeitmarlie ist
überall der Beginn des Badialispnlses benutzt.
Der SpitzenBtoQ des Patienten war schwach
nnd angieich hoch ; in der Regel gelangte nnr
die hSchste Erhebung desseibeu cnr Teizeich-
Bong. Bierans erklärt sich anch die schein-
bare Gleichzeitigkeit der Carotissacke mit dem
Berzspitzenstoß.
3) Albers-SchCnber?, BQnlgentech-
nik, n. Aufi., Hamhnrg 1906, p. 3S4. Der-
«elbe in: Deneke, Die Neubauten des allg.
Krankenhaoses 8t Georg, Jena 1906, p. 93
(nenes Modell des ünteranchnngsstuhlea).
46 IV. Dbkbkb
nnd bequem yertiellbaren OffimngSBchieber yersehen ist. Auf iem tOofiir»
sichtsbilde zeigte sich eine mä£ige YerbreiteruDg des Herzens nach recM»
und nach links ; die genaue Untersuchung der Aorta war durch die Ver*
krümmung der Wirbelsäule erschwert. Die kräftigen, äußerst langsamen
Kontraktionen des linken Ventrikels unterschieden sich in ganz oharak-
teristiscber Weise Ton den sehr beschleunigten Bewegungen des rechten
unteren Bogens, der bekanntlich von dem rechten Yorhofe gebildet wird«
Wenn man nun die Blende so weit schloß, daß nur ein schmaler senkrechter
Schlitz offen blieb und nun den Band des rechten Vorhofes isoliert be-
obachtete, konnte man mit großer Bestimmtheit drei Vor*
hofskontraktionen auf einen Badialpuls beobachten. Nach
gründlicher Oewöhnung der Augen ließen sich die recht ausgiebigen Vor-
hofskontraktionen auch ohne Blende genau zählen und mit den Kon-
traktionen des linken Ventrikels direkt vergleichen, und auch hier fand
sich stets das Verhältnis 3:1.
Am 31. Januar war das Befinden schlechter. Der Radialpuls machte
nur 16 Schläge in der Minute, die Frequenz des Venenpuises, nachdem
Augenschein gezählt, beträgt 84. Abends Radialpuls 30.
Am 1. August trat ein leichter Anfall von Kurzatmigkeit ein. Ra-
dialpuls wieder 16, Venenpuls 80. Mit auf der Herzbasis aufgesetztem
Stethoskop hört man mehrere ziemlich nahe, leise, etwas dumpfe Töne
(Vorhofskontraktionen), dazwischen dann plötzlich einen lauten, dumpfen
Ton (Ventrikelkontraktion), der dem Radialpuls synchron ist.
, Am 2. August ist das. Befinden wechselnd. Morgens Radialpuls 16^
dann 32, Venenpuls 82. Am 3. August vormittags ein Anfall, in dem
Patient kurzatmig und cyanotiseh wird, ohne das Bewußtsein zu verlieren.
Radialpuls 12, Venenpuls 80. Besserung nach reichlichen Kampfergaben.
12^/3 Uhr mittags neuer schwerer Anfall, dem Patient nach kurzer Zeit
erliegt.
Sektion 4. August 1905 Pr. Hempell).
Leiche eines zart gebauten, leidlich genährten Mannes. Ziemlich
erhebliche Skoliose mit der Konvexität nach rechts und leichte Kyphose
der Brustwirbelsäule.
Hautfarbe blaßgelb, an den abhängigen Teilen und im Qesioht cya-
notiseh.
Nach Eröffnung des Brustkorbes sinken die Lungen nur wenig ein.
Besonders fallen die enorm gefüllten Venen in der Brusthöhle und am
Halse (r. Seite) auf. Beim Anschneiden entleert sich aus ihnen sehr
viel flüssiges Blut.
Im Herzbeutel geringer (ca. 50 com?) seröser, klarer Erguß.
Herz stark dilatiert und im Bereiche des rechten Ventrikels und
der Vorhöfe prall mit flüssigem Blute und kleinen frischen Gerinnseln
erfüllt. Der linke Ventrikel ist schlecht kontrahiert und mit flüssigem
Blute erfüllt. Epi- und Perikard glatt, glänzend. Unter dem Perikard
mäßige Fettablagerungen. Endokard ebenfalls glatt, nicht verdickte
Klappenapparat völlig intakt. Coronararterien bis auf ganz kleine, ver-
einzelte, gelbliche Herde zartwandig. Herzfleisch leicht hypertrophisch,
im Bereiche des rechten Ventrikels verhältnismäßig stärker als im Be»
reiche des linken. Auf dem Durchschnitt erblickt man zahlreiche größer»
Zar RGutgendiagnoBtik seltenerer Herzleiden. 47
und kleinere Schwielen, welche diffus in die Muskulatur, besonders dea
linken Yentrikels, eingelsgert sind.
Aorta in ihrem ganzen Verlaufe zartwandig.
Pulmones nirgends mit der Brustwand verwachsen. Pleura glatt^
glänzend. Im Pleuraräume kein Erguß.
liungengewebe in allen Teilen lufthaltig, jedoch ödemreich. Blut-
gehalt ebenfalls etwas vermehrt. Bronchien (größere) mit schaumigen^
Sekrete erfüllt
Trachea mit schaumigem Sekrete erfüllt. Schleimhaut blaßrosa.
Ösophagus: Durch die Schleimhaut schimmern an Yerschiedenen-
Stellen etwas stärkere Venen durch.
Thyreoidea beiderseits vergrößert (jeder Lappen etwa klein-
hühnereigroß), kolloidreich. Im Parenchym einige sehr kolloidreiche-
Adenome.
Thymus völlig degeneriert.
Bauchsektion: Es besteht ein leichter seröser, klarer Ascitea-
(1 Liter?).
Milz etwas vergrößert, sehr derb ; Kapsel leicht verdickt, glatt..
Trabekel stark entwickelt.
Leber leicht vergrößert ; Oberfläche ist ganz wenig höckerig. Par-
enchym von dunkelbraunroter Farbe (Muskatnußzeichnung streckenweise-
angedeutet), derber als normal, enorm blutreich. Gallenwege frei.
Pankreas und Nebennieren o. B.
Nieren beiderseits gleich groß. Kapsel leicht abzulösen. Ober-
fläche glatt. Parenchym derb, von dunkelroter Farbe; Zeichnung da-
durch verwischt. Bechts = links. Harnblase kontrahiert. Schleim-
haut blaß. Prostata nicht vergrößert. Samenblasen gefüllt. Ho-
den o. B. Magen und Darm ohne pathologische Veränderungen.
Kopfsektion: Knochen o. B. Dura intakt. Sinus nur
mäBig mit flüssigem Blute gefüllt. Pia leicht milchig getrübt und ganz.
Ödematös. Ventrikel von normaler Weite. Oehirnsubstanz ohne
jeden pathologischen Befund. Gefäße überall zartwandig.
Anatomische Diagnose: Dilatatio cordis. Myoearditis fibrosa..
Oederoa pulmonum. Stauungsleber. Stauungsmilz. Stauungsnieren. Kypho-
skoliose der Bmstwirbelsänle. Mäßiger Ascites. —
Auf meinen Wunsch hat der damalige Assistenzarzt am patho-
logischen Institut des St. Georger Krankenhauses, Herrn Dr. Fahr,
jetzt Prosektor des Hafenkrankenhauses« die Gegend des His 'sehen
Atrioventrikularbündels am Herzen meiner Patienten mikroskopisch
untersucht und die Gelegenheit benutzt, die gleiche Gegend nach-
.träglich an dem in unserer Sammlung konservierten Herzen des-
von Luce^) publizierten Falles von Adams-Stokes'schen Symptomen-
komplex mikroskopisch zu durchmustern. Herr Dr. Fahr, der über
die Befunde voraussichtlich selbst noch eingehender berichten wird,.
1) Luce, Deutsches Archiv f. klin. Medizin Bd. 74 p. 370. 1902.
48 IV. Dembkb
hat die Freundlichkeit gehabt, mir seine Präparate zu demonsti'ieren
und mir das nachfolgende Eeferat über seine Befunde zu übergeben:
„Von der YermutuDg ausgehend, daß Tielleicht in Yerändemngen
•des von His zuerst beschriebenen Atrioventrikulär bündeis die Ursache
für die Dissoziation der Yorhofs- und Yentrikelkontraktionen beim
Adams • Stokes'schen Symptomenkomplexe zu suchen sei, sollte in dem
Falle J. Schw. die Oegend, in der das His'sche Bündel zu verlaufen
pflegt, einer genauen histologischen Untersuchung unterzogen werden» Um
die richtige Stelle mit Sicherheit zu treffen, wurden Yoruntersuchungen
-an einer Anzahl normaler Herzen angestellt. Sie bildeten eine volle Be-
•stätigung dessen, was namentlich die Untersuchungen der Spateholz-
«chen Schule dargetan haben, daß nämlich das His'sche Bündel normaler-
iveise in der Muskulatur des Yorhofseptums, ziemlich dicht hinter der
Pars merabraoacea septi atriocum beginnend, den Annulus fibrosus schräg
•durchsetzt und in die Muskulatur des Yentrikelseptums einmündet, wobei
-es sich in zwei Schenkel teilt, die im spitzen Winkel auseinanderstrahlen.
Im Gegensätze hierzu wird freilich neuerdings Ton T a w a r a ^) an-
gegeben, daß das Bündel, nachdem es den Annulus flbrosus durchzogen
hat, nicht in die Muskulatur des Yentrikelseptums übergeht, daß es viel-
mehr, in zwei Zweige geteilt subendokardial bis zu den Papillarmuskeln
weiterzieht und sich unter dem Endokard fächerförmig ausbreitet, wobei
>es jedoch stets von der Yentrikelmuskulatur durch Bindegewebe getrennt
sein soll. Während nun, wie bereits erwähnt, meine Untersuchung nor-
maler Herzen zu einer Bestätigung der Befunde von Betzer, Bräunig etc.
führt, wurden bei dem Falle Schw. ähnliche Bilder gefunden, wie sie
Tawara beschrieben hat. Es wurde bei der Untersnchung des Falles
in gleicher Weise vorgegangen, wie sonst. Einige Millimeter hinter der
Pars membranacea septi und ca. 1 cm vor derselben wurden Frontal-
'flchnitte durch das Herz gelegt und das so gewonnene Stück, das in seinen
•oberen Abschnitten aus einem ca. 1 cm langen Stück des Yorhofseptums,
in seinen unteren Abschnitten aus einem ca. 2 cm langen Stück Yentrikel-
septum — beides getrennt durch den Annulus fibrosus — bestand, in
Serien zerlegt. In Abständen von 100 f.i etwa wurden Schnitte — sie
waren durchweg 10 /.i dick — gefärbt und zwar nach der van Gieson-
:8chen Methode, um den Kontrast zwischen der Muskulatur und dem
Bindegewebe des Annulus fibrosus möglichst stark vortreten zu lassen.
Hier verhielt sich das Bündel nun ähnlich, wie es von Tawara
beschrieben ist. Es tritt durch den Annulus fibrosus bis an den unteren
Band desselben, verläßt ihn aber nicht ganz, sondern zieht subendokardial
nach unten weiter, ohne eine sichtbare Yerbindung mit der Yentrikel-
muskulatur einzugehen. Im übrigsn zeigt das Bündel keine sichtbaren
Abweichungen von den in normalen Herzen gefundenen Strukturver-
hältnissen.
Außer dem soeben beschriebenen stand noch ein zweites Herz von
Adams-Stokes'schem Symptomenkomplex zur anatomischen Untersuchung^
•TSXLT Yerfügung. Es stammte von dem Fall, den Luce 1902 im Deut-
1) Die Beizleitung im Säugetierberzen. Jena 1906.
Zur Röntgendiagnostik seltenerer Herzleiden. 49
sehen Arohiv fOr klinisohe Medizin ansfiihrlich beschrieben hat. Es wnrde
bei di^em Herzen in gleicher Weise verfahren, wie bei dem vorher be-
schriebenen Falle. Der Verlauf des Bündels war hier der gleiche, wie
eingangs fOr das normale Herz beschrieben. Doch konnten die Fasern
des Bündels hier nur zum kleinsten Teile in das Yentrikelseptum ein-
strahlen. Es saß nämlich im Septum ein Tamor (Onmma? ') von Wal-
nnBgröße, der sich gerade an der Stelle, an welcher das Bündel in das
Yentrikelseptum einmündet, bis dicht an den Annulus fibrosus heranschob
und die Fasern des Atrioventrikularbündels zum allergrößten Teile ab-
sorbierte."
Ich kann davon absehen, mich an dieser Stelle eingebender
über die Symptomatologie nnd Pathogenese der Adams-Stokes'schen
Krankheit zu verbreiten, da dieser Gegenstand im Laufe der letzten
Jahre von verschiedenen, sehr kompetenten Forschern eingehend
erörtert ist Von neueren Autoren, die meistens sorgfältige Literatur-
angaben bringen, erwähne ich His d. J., -) Aug. Hoff mann,*)
Jaquet,*) Luce,*) Mackenzie,*) Finkeinburg,') Licht-
heim,») Beiski,») Eoos.1«)
Neben dem in diesen Arbeiten enthaltenen klinischen Material
hat vor allem der physiologische Versuch, insbesondere die Arbeiten
H. E. Hering's^^) und seiner Schule Klarheit über das Wesen
des „Herzblocks" gebracht und damit den wichtigsten Teil des
Adams-Stokes'schen Symptomenkomplexes unserem Verständnis er-
schlossen.
Danach handelt es sich bei unserer Krankheit stets um eine
^Überleitungsstörung" im Sinne Hering's. Die Eeizleitung, die
in der Norm durch das His 'sehe Bündel vom Vorhof auf den
Ventrikel übergeht, ist unterbrochen oder erschwert. Infolgedessen
fallen entweder einzelne Ventrikelsystolen aus, sodaß z. B. nur jede
zweite, dritte usw. Vorhofskontraktion eine Ventrikelsystole aus-
1) Lnce bezeichnet den Tumor trotz fehlender Metastasen als Sarkom. Die
besonders ausgedehnte zentrale Nekrose spricht jedoch mehr für eine gummöse
Natur der Geschwulst.
2) His d. J, Deutsches Archiv f. klm. Medizin Bd. 64 p. 316. 1899.
3) Aug. Hoffmann, Zeitschr. f. klin. Medizin Bd. 41. 1900.
4) Jaquet, Deutsches Archiv f. klin. Medizin Bd. 72 p. 77. 1902.
5) Luce, Deutsches Archiv f. klin. Medizin Bd. 74 p. 370. 1902.
6) Maekenzie, Die Lehre vom Puls, übersetzt von Deutsch, 1903, p. 260.
7) Finkeinburg, Deutsches Archiv f. klin. Medizin Bd. 82 p. 586. 1905.
8) Lichtheim, Deutsches Archiv f. klin. Medizin Bd. 85 p. 360. 1905.
9) Bei Ski, Zeitschr. f. klin. Medizin Bd. 57 p. 529. 1905.
10) Roos, Zeitschr. f. klin. Medizin Bd. 59 p. 197. 1906.
11) Zusammengefaßt in dem Aufsatze: Die (jberleitungsstörungen des Säuge-
tierherzens. Zeitschr. f. experimentelle Pathologie u. Therapie Bd. II p. 74. 1905.
Deatsches Archiv f. klin. Medizin. S9. Bd. 4
50 I^- Dbnbks
löst, oder es besteht eine völlige Dissoziation zwischen Vorhof und
Ventrikel; beide schlagen mehr oder weniger regelmäßig, aber in
getrenntem Hhythmas, wobei der Rhythmus des Ventrikels stets ganz
wesentlich langsamer ist als der der Vorhöfe und kein festes Zahlen-
verhältnis zwischen der Frequenz des Vorhofs und des Ventrikels
besteht.
Die ersten Stadien der Erkrankung bestehen vermutlich im
Ausfall von Ventrikelsystolen ; sie werden selten beobachtet werden,
da sie keine Erscheinungen machen. Es ist aber bei dem viel-
seitigen Interesse, das sich jetzt dem Studium des Venenpulses zu-
wendet, wohl einer nahen Zukunft vorbehalten, zahlreichere Fälle
von einfachem regelmäßigem Ventrikelausfall (Polyrhythmie), die
im Experiment am überlebenden Säugetierherzen so unendlich
häufig beobachtet werden, auch am lebenden Menschen nachzu-
weisen. Einige ausgezejchimtcYJKiiryen, in denen die Vorhofs-
frequenz ein VielfadM^wr vewöjc^ifrequenz ist, publizierte
Mackenzie^) bere^|wfn seinem so bewan;dernsw&rdig reichhaltigen
Werke, nämlich dKFig\l2gQ^29& von eii^em 66jährigen Manne
„mit ungestörtem feinden ^, bei dem aUerdings die Polyrhythmie
bald in DissoziationNu^g^i^^ . /^ni äbrigen sind in der Literatur
eine nicht ganz geringe AÄZEM-voirFällen zeitweiligen Ventrikel-
ausfalls vorhanden, bei denen sich aber ein regelmäßiges Zahlen-
verhältnis zwischen Vorhofs- und Ventrikelpulsen nicht nachweisen
läßt. Eihl,^) der diese Fälle selbst um drei bereichert, stellt die
Literatur kritisch zusammen.
Natürlich steht nichts im Wege, die völlige Dissoziation auch
direkt aus dem zeitweiligen (unregelmäßigen) Ventrikelausfall ab-
zuleiten, wie dies Hering (Zeitschr. f. experiment Pathologie und
Therapie, Bd. II, S. 81 1905) tut und man bedarf dann des Zwischen-
gliedes der Polyrhythmie nicht. Daß bei den ausgesprochenen
Fällen von Adams-Stokes bereits eine wirkliche Dissoziation be-
steht, ist nunmehr in den von Hering-Eihl anerkannten Fällen
von Mackenzie, Gerhardt und Finkeinburg, sowie durch
den RihTschen Fall I, femer durch die durchaus vollständig be-
obachteten Fälle von Lichtheim, Beiski und Eoos erwiesen,
und auch in meinem Falle nicht zweifelhaft. Scheinbar ist aller-
dings die Frequenz der Venenpnlse manchmal längere Zeit ein
1) Mackenzie, Die Lehre Yom Puls. Übersetzt y. A. Deutsch. Frank-
fart a. M. 1904.
2) Zeitschr. f. experiment. Pathologie n. Therapie Bd. II p. 83. 1905.
Zar Röntgendiagnostik seltenerer Herzleiden. 51
Vielfaches der Arterienpulse. Lichtheim ^) erwähnte z. B. in
der ersten Vorstellung seines Falles, daß einem Herzstoß regel-
mäßig drei Venenpulse entsprechen. In seiner kürzlich erschienenen
eingehenden Publikation ^) weist er jedoch an genauen Kurven nach,
daß die Intervalle zwischen Vorhofswelle und Garotiswelle an der
Venenkurve fortdauernd wechseln und daß nur vorübergehend die
Zahl der Ventrikelkontraktionen zu der des Vorhofs sich wie 1 : 3
verhält. Ganz ähnlich ist der Verlauf desMackenzie 'sehen Falles
und des von Hoos ganz neuerdings sorgfaltig analysierten Falles.
Auch bei unserem Patienten war an den Tagen besseren Befindens,
an denen die Venenkurven * aufgenommen wurden, ein anscheinend
regelmäßiges Verhältnis von 1 : 3 vorhanden ; erst beim Auszählen
längerer Pulsreihen ergibt sich, daß die Vorhofsperiode durchschnitt-
lich eine Kleinigkeit länger war als Vs ^^^ Ventrikelperiode. Im
weiteren Verlaufe ergab dann die tägliche Zählung der Venenpulse
und Arterienpulse das Fehlen jeder festen Beziehung zueinander,
obwohl bei diesen Zählungen der gelegentliche Ausfall einer Vor-
hofszuckung im Venenpulse, der durch Ventrikelkontraktionen ver-
anlaßt sein kann, in Betracht gezogen wurde. Dieser Ausfall zeigt
sich auch an unseren Venenkurven vielfach da, wo die ventrikuläre
Welle stärker ausgeprägt ist. Die Aufnahme von Venenkurven
aus der späteren Periode grober Dissoziation verbot sich in unserem
Falle leider durch das ungünstige Befinden des Patienten; mehr-
fache Versuche, die Venenpulse aufzunehmen, mußten aus diesem
Grande abgebrochen werden.
Der Auffassung Her in g's, der ich sonst in allen wesentlichen
Punkten folge, kann ich mich bezüglich des Zustandekommens der
Anfälle von Bewußtlosigkeit bei der Adams-Stokes'schen Krankheit
nicht anschließen. Daß der Übergang von Ventrikelaus-
fall in Dissoziation oder umgekehrt diese Anfalle veranlaßt,
scheint mir in den klinischen Beoachtungen keine Stütze zu finden ;
wenigstens erwähnt Mackenzie, dessen Patient diesen Übergang
durchgemacht haben muß, nichts von derartigen Beobachtungen.
Daß lange andauernde Dissoziation jahrelang mit Erhaltung des
Lebens und der Leistungsfähigkeit verbunden ist, zeigen die Fälle
von Hering (Rihl 1. c. S. 102), von Lichtheim, Beiski u. a.
Das einzige klinische Symptom, das bisher bei den Patienten, die
schwere, das Leben bedrohende Anfälle durchmachten, vor den An-
fallen und während derselben in oft frappanter Weise auftrat, ist
1) Deutsche med. Wochenschr. Bd. 28. 1902. Vereinsbeilage p. 69.
2) Deutsches Archiy f. klin. Med. Bd. 85 p. 360. 1905.
4*
52 rV. DSNBKB
die Zunahme der Pulsverlangsamung, ihr plötzliches
Herabgehen von z. B. 30 auf 18 oder 12 Pulse. Während der
schweren Anfälle wurden sogar lange Pausen des Ventrikelpulses
(23 Sekunden H i s) beobachtet. Daß dabei eine Vagusreizung mit-
spielt, ist nicht erwiesen. In dem Luce'schen Falle, der trotz
fehlender Venenpulskurve schon deshalb als Dissoziation anerkannt
werden muß, weil das Übergangsbändel anatomisch zerstört war,
traten schwere, zum Tode führende Anfälle von Bradycardie ein,
obwohl die Vagi nahezu völlig degeneriert waren. Die nächst-
liegende Erklärung der Anfälle wird immer die sein, daß die Zu-
nahme der Pulsverlangsamung das primäre ist, d. h., daß die auto-
matische Reizerzeugung in dem betreffenden Ventrikel einer zu-
nehmenden Schädigung unterliegt, sei es durch anatomische (degene-
rative, chronisch entzündliche) Prozesse oder durch funktionelle
Ursachen, z. B. mangelhafte Durchblutung der Ventrikelwand, Über-
füUung der Höhlen oder dergl. Sekundär entsteht dann durch
Zirkulationsschwäche des Gehirns der Ohnmachtsanfall.
Bemerkenswert in diesem Zusammenhange ist auch, daß Beiski
in einem seiner Fälle eine Ventrikelbradycardie mit völliger Dis-
soziation unter seinen Händen in eine koordinierte Herztätigkeit
übergehen (1. c. S. 555) und am nächsten Tage zur Dissoziation
zurückkehren sah. Störungen des Allgemeinbefindens beobachtete
B. dabei nicht. •
Ganz besonderes Interesse beansprucht in unserem Falle wie
in ähnlichen Fällen die Beobachtung des Herzens auf dem
Röntgenschirme. Es ist ja richtig, daß man die auf dem
Schirme sichtbaren Bewegungen noch nicht graphisch fixieren kann,
solange Momentaufnahmen von Röntgenbildern und kinematographi-
sche Zusammenstellungen solcher Momentaufnahmen technisch un-
ausführbar sind. Aber auf der anderen Seite ist die Feststellung
der gestörten Koordination zwischen Vorhof und Ventrikel durch
das Röntgenbild in außerordentlich einfacher Weise möglich und
bei der hochgradigen Bradycardie bequem und überzeugend auch
einem großen Kreise von Zuschauem zu demonstrieren, was in
unserem Falle geschah. Auch die Vergleichung der Art der
Ventrikel- und der Vorhofskonktraktionen hat etwas ungemein
Charakteristisches, wie man es sich sonst nur im Tierexperiment zur
Anschauung bringen kann : auf der einen Seite das kurze, schnelle
Zucken des Vorhofs, auf der anderen die langsamere, aber stramme
pumpende Bewegung des linken Ventrikels. Diese Beobachtung des
linken Ventrikels beweist sicher das Fehlen jeglicher Extrasystolen
Zar Böntgendiagnostik seltenerer Herzleiden. 53
während der einzelnen Systolen, die Hoffmann^) in einem Falle
von anscheinender Bradykardie auf dem Röntgenschirme noch
deutlich sehen konnte, während sie palpatorisch und auskultatorisch
nicht nachweisbar waren, und die Jaquet bei seinem Falle von
Adams-Stokes'scher Krankheit irrtämlicherweise annahm.
Eine Bewegung der Leber durch die Venenpulse war in
unserem Falle nicht auffällig, doch wurde nicht besonders darauf
geachtet. Bewegungen des linken Vorhofes gesondert auf dem
Fluorescenzschirm wahrzunehmen, gelang nicht; bekanntlich wird
der sogenannte mittlere Bogen des linken Herzrandes nur aus-
nahmsweise vom linken Herzohr gebildet, dessen kurze an das
Flügelschlagen eines aufflatternden Vogels erinnernde Bewegungen
man dann beobachten kann. Meist ist die Arteria pulmonalis
oder der Conus arteriosus dexter hier randbildend.
Zur Beobachtung der bei der Adams-Stokes'schen Krankheit
vorhandenen Bewegungsanomalien des Herzens ist der Röntgen-
schirm zuerst 1900 von Aug. Hof f mann ^) herangezogen worden.
Das Ergebnis war entsprechend dem Zustande der damaligen
Röntgentechnik kein vollkommenes, doch konnte Hoff mann zeit-
weilig „eine dritte Pulsation" des rechten Schattenrandes bemerken,
während die Auskultation eine Intermission der Herztätigkeit nach
jedem zweiten Schlage ergab. Weiterhin hat Adolf Schmidt,
über einen analogen Fall kurz berichtet*), den er in der Gesell-
schaft für Natur- und Heilkunde in Dresden am 19. Dezember 1903
vorstellte. Schmidt beschreibt die Röntgendurchleuchtung wie
folgt: „Während der untere Teil des Herzschattens, welcher den
Kammern entspricht, genau im Rhythmus des Pulses sich kon-
trahiert, wobei in der Diastole eine erhebliche Verbreiterung ein-
tritt (Hyperdiastole), pulsiert der obere Teil, zumal auf der rechten
Seite, eben so oft wie die Venen." Wahrscheinlich liegt hier ein
Druckfehler vor, da der untere Teil des Herzschattens in dfen
Leberschatten übergeht und sich deshalb — abgesehen von einem
bei tiefer Inspirationsstellung und gefüllter Magenblase sicht-
baren Teil der Spitze — der Beobachtung entzieht, während der
linke Schattenrand größtenteils dem linken Ventrikel und der
Aorta angehört und für die Beobachtung der Ventrikelaktion bei
weitem das bequemste Objekt bildet. Auf der rechten Seite ist
oben die Vena cava, unten der rechte Vorhof randbildend, der auch
1) Dentflche medizin. Wochenschrift 1899 Nr. 15.
2) Zeitflchr. f. klin. Medizin Bd. 41. 1900.
3) Mttnchener medizin. Wochenschr. 1904 p. 280.
54 IV. Dekbke
während der Inspiration ganz an das Zwerchfell heranzureichen
pflegt.
Eine Mitteilung von Zeri (II policlinico, Dez. 1903) ist mir
nur aus einem Referat der Münchener medizinischen Wochenschrift
1904, p. 491, bekannt geworden. Danach sollen in seinem Falle
von „partieller Bradycardie", vulgo Herzblock, an der oberen und
linken Seite des Herzschattens, an der dem linken Vorhof ent-
sprechenden Stelle zwei sehr deutliche Kontraktionen, mit denen
zugleich das Volumen des Ventrikels sich jedesmal etwas ver-
größerte, zwischen je zwei Kammersystolen bemerkbar gewesen
sein. Über den rechten Rand des Herzschattens ist nichts gesagt,
obwohl dessen PuJsationen mit sehr viel größerer Sicherheit als
Vorhofskontraktionen gedeutet werden können als die Bewegungen
des linken mittleren Bogens.
Endlich hat in dem ganz neuerdings beschriebenen Falle von
Roos (1. c. p. 203) eine erfolgreiche Röntgendurchleuchtung statt-
gefunden, bei der sich am deutlichsten sichtbar am rechten Vorhof
nachweisen ließ, daß auf eine Kontraktion des linken Ventrikels
zwei Zuckungen der Vorhöfe erfolgten.
Zur Feststellung der Diagnose aller Fälle von Überleitungs-
störung verdient die Röntgenoskopie mehr Berücksichtigung als
sie bisher selbst bei den gründlichsten Bearbeitern dieses Gebietes
gefunden hat. So wichtig und unentbehrlich die Venenpulse und
ihre graphische Fixierung zur näheren Erforschung der vorhandenen
Störung sind, so geben sie doch dem an den Kranken herantretenden
Beobachter nur in seltenen, besonders ausgeprägten Fällen ein so
frappantes Bild wie es in der klassischen, so oft wieder ab-
gedruckten Schilderung von Stokes gezeichnet ist Auf dem
Röntgenschirme dagegen hat der Beobachter sofort das ganze
Krankheitsbild klar vor Augen, die Diagnose „Herzblock" ist
geradezu mit Händen zu greifen. Würde die Röntgendurchleuch-
tung früher zur Aufklärung der Adams-Stokes'schen Krankheit
herangezogen sein, dann würde die bereits von His^) 1899 ge-
gebene richtige Auffassung derselben als einer Überleitungsstörung
sich weit schneller allgemeine Anerkennung verschafft haben, als
es geschehen ist.
Die allgemeinere Anwendung der Röntgenoskopie zur Auf-
klärung schwierigerer Herzfälle kann um so mehr empfohlen
werden als der Röntgenapparat heutzutage Gemeingut aller großen
1) Deutsches Archiv f. klin. Medizin Bd. 64 p. 520.
Zar Röntgendiagnostik seltenerer Herzleiden. 55
und mittleren Krankenhäaser geworden ist während die Technik
der Venenpulsanfnahme noch keineswegs überall eingebürgert ist
und auch schwerlich je zu einer bequemen klinischen Unter-
suchungsmethode werden wird. Eine Venenpulsanfnahme aber,
die ein ungeübter Arzt an einem schwerkranken Patienten vor-
nimmt, ist für letzteren eine viel größere Anstrengung als eine
Köntgendurchleuchtung, die im Stehen, Sitzen oder Liegen (Trocho-
skop) vorgenommen werden kann, kein Anhalten des Atems ver-
langt und im ganzen auch weniger Zeit beanspincht.
Daß die anatomische Untersuchung unseres Falles kein posi-
tives Ergebnis gehabt hat, ist recht bedauerlich; vielleicht gibt
die oben (p. 48) erwähnte Publikation von Tawara^) eine Er-
klärung dieses Mißerfolges. Danach handelt es sich, was bei
der Gleichzeitigkeit der Zuckung des ganzen Ventrikels stets
hätte vermutet werden müssen, bei der Verbindung zwischen Vor-
hof und Ventrikel nicht um eine einfache Muskelbrücke, sondern
um ein anatomisch und physiologisch wohl differenziertes System
leitender Fasern, die im His'schen Bündel zusammenliegen, dann
aber sich in zwei Schenkel teilen und schließlich als ein feines
Netz über die Ventrikelmuskulatur verteilen. Eine Schädigung
dieses Systems kann an den verschiedensten Stellen stattfinden,
sehr wohl auch abwärts von der Atrioventrikularbrücke im Ver-
lauf durch die Ventrikelwand oder an den Endapparaten, die die
Verbindung der reizleitenden Fasern mit den Muskelfasern her-
stellen. Ehe die anatomische Eigenart dieses Eeizleitungssystems
bei Gesunden und Kranken näher studiert and durch handliche
Methoden feststellbar gemacht ist, bleibt es verfrüht, in jedem
Falle von Adams-Stokes einen greifbaren anatomischen Befund
zu erwarten. Alles spricht dafür, daß außer den Fällen, die
makroskopisch eine Schädigung des His'schen Bündels erkennen
lassen (Luce, Stengel*)), auch solche vorhanden sind, in denen
Degenerationen des Eeizleitungssystems von feinerer und vielleicht
diffuserer Art vorliegen, als wir z. Zt. nachzuweisen imstande sind
2. Kongenitaler Herzfehler: Transposition der großen Gefäße und
Defekt der Kammerscheidewand. Diagnose mit Hülfe der Röntgen-
dnrchleachtnng intra vitanL Leichenbefund.
Krankengeschichte: Wilh. E. , 18 Jahre alt, aufgenommen
8. Dezember 1905, stammt aus gesunder Familie; beide Eltern leben
1) Das Eeizleitongssystem des Sängetierherzens. Jena 1906.
2) American. Journ. of the med. Sciences. Vol. 130 p. 1063. 1905. Cit.
nach Roos.
56 IV. DXNBKS
und Bind sehr kräftig; von vier Geschwistern leben drei und sind völlig
gesund; eine Sohwester, früher ebenfalls gesund, ist an akuter Lnngen-
erkrankung als erwachsenes Mädchen gestorben. Nie Fehl- oder Früh-
geburten der Mutter ; angeborene Gebrechen sind in der Familie nie vor-
gekommen.
Patient, das älteste Elind, war stets sehr schwächlich. Im Anschluß
an einen Brechdurchfall bemerkten die Eltern in der Mitte des zweiten
Lebensjahres eine bläuliche Färbung der Kaut, zunächst hauptsächlich
bei kälterem Wetter, später deutlich bei jeder Außentemperatur. Gleich-
zeitig entwickelte sich in den Kinderjahren eine Anschwellung der End-
glieder an Fingern und Zehen. Ernstliche Krankheiten kamen nicht vor,
von den sog. Kinderkrankheiten wurde Patient verschont.
Patient blieb in der körperlichen und geistigen Entwicklung sehr
hinter seinen Altersgenossen zurück; in der Schule kam er nur bis zur
dritten Klasse, nach der Schulzeit hat er stets im Elternhause gelebt und
sich mit kleineren Arbeiten beschäftigt. Die enorm kräftige, mit der
aufgelegten Hand fühlbare und als wechselnde YorwÖlbung stets sichtbare
Herztätigkeit ist den Eltern schon in den ersten Lebensjahren aufgefallen.
Das Allgemeinbefinden war bis vor kurzem leidlich; seit etwa 14
Tagen klagt Patient über vorübergehendes SchwächegefÜhl im linken
Arme ; einmal soll er vom Stuhl gefallen sein. Ferner traten anfallsweise
Kopfschmerzen auf und Zuckungen der Muskeln besonders im Gesicht,
keine allgemeinen Krämpfe. Der Schlaf nachts wurde durch Angstzu-
stande gestört.
Status praesens: Schmal gebautes, mageres, anämisches Indi-
viduum, fast gar kein Fettpolster, durchaus knabenhafter Eindruck. Be-
haarung mit Ausnahme des Himschädels und der Augenbrauen sehr ge-
ring, Pubes eben angedeutet. Thorax schmal, kindlich, Mammae kleine,
flache Wülste, Mamillen sehr klein ; Penis und Hoden leidlich entwickelt.
Extremitäten äußerst dünn.
Die Hautfarbe ist besonders an den peripheren vorspringenden
Körperteilen (Nase, Ohren, Hände, Füße) bläulich; bei Aufheben der
Hände verschwindet diese Färbung nicht. Die Endphalangen der Finger
und Zehen stark verdickt und dunkel bläulieb, die Nägel sind auffallend
konvex, klauenartig. Die Lippen sind dick, gewulstet und cyanotisch.
Ödeme fehlen. Die Haut fühlt sich ungewöhnlich kühl an.
Augen, abgesehen von erweiterten Venen und dunkler Pigmen-
tierung des Augenhintergrundes, ohne krankhaften Befund.
Die vorgestreckte Zunge weicht deutlich nach links ab.
Im linken Arme besteht deutliche Parese, die im linken Beine nicht
sicher nachweisbar ist. Sehnenreflexe an den Armen 1 ) r, an den Beinen
ebenfalls 1 ) r. Babinsky fehlt beiderseits. Plantar- und Cremasterreflex,
Bauchdeckenreflex beiderseits vorhanden. Sensibilität ungestört.
Der Thorax zeigt eine YorwÖlbung der Herzgegend, die während
der Systole regelmäßig stark zunimmt; besonders im 5. Interkostalraum
innerhalb und außerhalb der linken Mam. Lin. ist ein stark verbreiterter und
verstärkter Herzstoß bis 12 ^/^ cm von der Mittellinie zu fühlen. Während
der Diastole sichtbares Zurückfallen der Brustwand im 3. Interkostal-
raum links neben dem Sternum. Über der Gegend des Herzstoßes fühlt
Zur Röntgendiagnostik seltenerer Herzleiden. 57
man das Yorbeiwalzen des sich kontrahierenden Herzens fast wie ein
weiches Reihen.
Die Herzdämpfdng ist deutlich nach links, wenig nach rechts ver-
breitert. Die Töne sind rein, beide besonders an der Basis sehr
laut, der erste oft gespalten. Die Kerzaktion ist unregelmäßig, aussetzend,
die Pulswelle steigt langsam an und fällt ebenso ah, die Frequenz be-
tragt 84.
Blutdruck an der Brachialis mit nach Sahli modifiziertem B,iya-
Rocci gemessen, 115 mm Hg.
Keine Geräusche an den Arterien, kein Yenenpuls.
Lungen o. B., ebenfalls Abdomen. Leber und Milz nicht vergrößert.
Stuhl etwas angehalten.
Urin enthält etwas Albumen, ^/^ ^^^ Esbach und darunter. Mikro-
skopisch vereinzelte Erythrocyten und Blutsohattenzylinder.
Blut Hämoglobin (Sahli) 145%. In 1 6mm 8450000 Erythro-
cyten, die keine abnorme Beschaffenheit zeigen.
Die Leukocyten sind nicht auffallig vermehrt, in ihrer Zusammen-
setzung insofern verändert, daß auf 100 farblose Zellen 91 polymorph-
kernige Leukocyten, 2 kleine Lymphocyten und 7 große einkernige Lympho-
cyten kommen. Das Blut erscheint enorm dickflüssig.
Verlauf. Es entwickelt sich innerhalb weniger Tage unter sehr
heftigen Kopfschmerzen eine linksseitige Hemiplegie mit Beteiligung des
Gesichts. Zeitweilig Muskelzuckungen in den gelähmten Gliedern. Die
Augenbewegungen bleiben frei.
Nach 3 ccm Digalen sinkt der Puls von 84 auf 52, bleibt aber
unregelmäßig. Diese Yerlangsamung bleibt bis zum Exitus (8 Tage)
bestehen.
Der systolische Blutdruck wird täglich rechts und links bestimmt,
die Schwankungen sind nicht sehr groß, 107 — 130, ein nennenswerter
Unterschied zwischen r. und 1. besteht nicht. Die Albuminurie hält
sich um ^/^ — V2 P- ™* ^1^ Formelelemente bestehen aus hyalinen und
Erythrocytenzylindem, Leukocyten und Erythrocyten, mannigfachen Epi-
thelien. Die TJrinmenge überschreitet 1000 ccm in 24 Stunden nicht.
Der Herzbefund bleibt im wesentlichen unverändert; die Akzen-
tuierung des zweiten Tones an der Basis wird eine aus-
gesprochene. Geräusche treten nicht auf.
Der beschriebene Krankheitsfall fordert schon seiner Seltenheit wegen
zu einer eingehenderen Analyse auf; wenn auch therapeutische Leistungen
nicht mehr in Frage standen, vielmehr die hochgradige allgemeine Schwäche
des Patienten und die progrediente Herderkrankung im Gehirn sein
baldiges Ableben erwarten ließen, so eröffnete doch dieser Umstand auf
der anderen Seite die Aussicht, die Diagnose durch Autopsie nachzu-
prüfen. Bei der unübersehbaren Mannigfaltigkeit der hei den kongenitalen
Herzleiden möglichen Kombinationen und der Unregelmäßigkeit der durch
die bedingten Symptomenkomplexe konnte die Stellung einer sicheren,
ins einzelne gehenden Diagnose natürlich nicht in Frage kommen: wir
mußten uns begnügen, die wesentlichsten Abweichungen des Zirkulations-
apparates, die unser Patient bot, mit einiger Wahrscheinlichkeit zu er-
58 IV. Denekb
scbließen. Das ist ans unter Zahilfenahme des Röntgen Verfahrens einiger-
maßen gelangen.
Daß ein kongenitales Herzleiden bestand, war mit Bestimmtheit
anzunehmen. Das frühe Auftreten der Blausucbt, das Fehlen jedes
anderen eine Herzkrankheit bedingenden ätiologischen Moments, das Fehlen
einer die Gyanose erklärenden Lungenaffektion konnten nur in dieser
Bichtung gedeutet werden. Hierzu kam der Nachweis der Eindickung
des Blutes, einer Hyperglobulie ungewöhnlichen Grades, femer das Zu-
rückbleiben der gesamten körperlichen und geistigen Entwicklung auf
einer fast kindlichen Stufe, der hagere, schwächliche Körperbau und die
Trommelschlägelfinger.
Durchmustert man die einzelnen Gruppen der kongenitalen Herz-
anomalien nach ihren diagnostischen Merkmalen und vergleicht damit das
Symptomenbild unseres Falles, so konnte man eine Pulmonalstenose und
einen isolierten oder mit Pulmonalverengerung kombinierten Defekt der
Kammerscheidewand (Maladie de Roger) nicht annehmen, da ein systo-
lisches Geräusch völlig fehlte und ein überaus kräftiger reiner zweiter
Ton vorhanden war. Auch ein weites Offenbleiben des Ductus Botalli
konnte nicht in Frage kommen, da die Gerhard tische bandförmige
Dämpfung links neben dem Sternum fehlte, ausgesprochene Gyanose vor-
handen war und ein systolisches Schwirren oder ein systolisches Geräusch
nicht vorlag.
Dagegen sprach alles für das Vorhandensein einer Transposition der
großen Gefäße, deren klinisches Bild Hochsihger scharf umrissen hat :
Starke Gyanose, reine Töne, Verstärkung den zweiten Tones über der Basis.
Die Zahl der beschriebenen Fälle von Transposition der großen Ge-
fäße, die über das 10. Lebensjahr hinauskommen, ist allerdings sehr klein.
Vierordt^) (S. 128) führt nur acht derartige langlebige Fälle von
Transposition an, und wir mußten ernstlich überlegen, ob wir uns zur
Annahme einer so seltenen Erkrankung entschließen sollten. Aber das
Röntgenbild sprach durchaus im Sinne unserer Vermutung.
Die am 14. Dezember vorgenommene Röntgendurchleuchtung
ergab ebenfalls keinen abnormen Mittelschatten, der etwa einer Erweite-
rung des Gonus arteriosus dexter oder der Pulmonalis oder einem persi-
stierenden Ductus Botalli hätte entsprechen können: im Gegenteil sah
man nur ein auffallend schmales Gefaßband vom Herzen vertikal aufwärts
ziehen, das keinerlei Vorsprung oder stärkere Pulsation nach der Seite
hin, weder in gerader noch in schräger Durchleuchtungsrichtung (von
links hinten nach rechts vom) erkennen ließ. Das dünne Schattenband
verlief nach oben, nach dem Halse zu ohne scharfe Grenze.
War dieser Befund unter Berücksichtigung der von de la Gamp^
gegebenen Hinweise unbedingt gegen die anderen häufigeren angeborenen
Vitien und für die Transposition zu verwerten, so zeigte die Durch-
leuchtung noch einen anderen bisher nicht beschriebenen Befund.
1) Vierordt, Die angeborenen Herzkrankheiten (NothnagePs Spez. Path.
u. Ther. Bd. XV 2). Wien 1898.
2] 0. de la Camp, Eongenitale Herzleiden. Deutsche Klinik Bd. IV
Abt. 2 p. 213.
Zar Röntgendiagnostik seltenerer Herzleiden. 59
Das Hers, dessen Form und Größe, abgesehen von einer mäßigen
Vergrößening nach links vom Gewöhnlichen wenig abwich, pulsierte in
eigentümlicher Weise. Wenn man bei normalen Herzen den rechten
Herzrand genauer betrachtet, so bestehen dessen Bewegungen in einem
kurzen, der Zusammenziehung des linken Herzens eben vorangehenden
Zucken. Das zeitliche Intervall zwischen Yorhofs- und Yentrikelsystole ist
nicht immer sicher wahrzunehmen, wohl aber ist der Charakter der
Bewegung des rechten Herzrandes derartig, daß man sie auch ohne
Kenntnis der anatomischen Verhältnisse unbedingt als eine Yorhofszuckung
bezeichnen muß: eine ganz kurze, wenig ausgiebige Kon-
traktion, dann langsames, passives Wiederanschwellen. Im Gegensatz
dazu sind die Bewegungen des linken Herzrandes offenbar ventrikulär:
eine langsamere aber viel nachhaltigere und ausgiebigere Bewegung, ein
kräftiges Pumpen, dann ein kurzes Yerharren in zusammengezogenem
Zustande, darauf eine langsamer als die Zusammenziebung erfolgende
Ausdehnung, die aber doch weit schneller vor sich geht als die des Yor-
hofs. Der rechte Herzrand macht stets weiche flatternde,
der linke stramme, taktfeste Bewegungen, wie das Anf-
and Abgehen eines Pumpenstempels.
In unserem Falle war diese Sachlage verändert. Hier sah man
in voller Deutlichkeit, daß der rechte Herzrand ebenfalls
ventrikuläre Bewegungen genau gleichzeitig mit dem
linken ausführte. Das ganze Herz zog sich auf einmal von links
nach rechts zusammen, und beide Bänder näherten sich einander mit
kräftigem, nachhaltigem Bück; ein Flattern, wie es den Yorhofswänden
und Herzohren eigentümlich ist, war auf dem ganzen Herzbilde nirgends
zu erkennen. Diese Beobachtungen waren bei der langsamen Aktion des
hypertrophischen Herzens, dessen Umriß sich von den hellen Lnngenfeldem
des extrem mageren Patienten in ungewöhnlicher Schärfe abhob, in aller
Muße und Gründlichkeit zu machen und konnten von mehreren Beob-
achtern kontrolliert werden.
Auf Grund dieses Böntgenbefundes mußte man schließen, daß der
rechte Herzrand in unserem Falle von dem Yentrikel gebildet wurde.
Es mußte sich um den hypertrophischen rechten Yentrikel handeln, der
den Yorhof nach hinten oder oben verdrängt hatte.
Da eine Pulmonalstenose oder eine Persistenz des Ductus Botalli,
die beide sonst zur Erklärung der Hypertrophie des rechten Yentrikels
hatten herangezogen werden können, nach den oben gegebenen Aus-
führungen nicht wahrscheinlich waren und auch wohl kaum eine solche
Yerkleinemng und Yerschiebung des Yorhofes hätten bedingen können,
mnßte man in unserem Falle einen Defekt der Kammerscheide-
wand annehmen; wenn beide Yentrikel zu einer Höhle vereinigt waren
und die überall gleichstarken Muskelwände links und rechts gleich stark
pulsierten, war das eigentümliche Pulsationsbild befriedigend erklärt.
Diese Erwägungen trug ich, als ich am 16. Dezember den Pa-
tienten an dem „wissenschaftlichen Abende" des St. Georger Elranken-
haoses demonstrierte, den anwesenden Kollegen vor und stellte danach
— unter den bei kongenitalen Herzleiden besonders notwendigen Yor-
behalten — die WahrscbemticlilEeiUdiagDOBe auf Tranepositko:
QefSße und Defekt der Kamm erscbeide wand.
Bmstorgane von Wilh. E. Die Lnnjten sind zu rllck geklappt und mit Nadeln
in <lieser J^age befestigt. Präpariert und photograpljiert von Prosektor
Dr. Simroonds.
Die Erscbeinungen der ihrer Natur nach nicht näher anfeaklarendeD
Herderkranknng in der rechten Hirnhalfte nahmen in den nSchsten
Tagen schnell zu ; es traten tonische Krämpfe mit BewuBtloaigkeit, Beak-
tionslosigkeit der Pupillen , stertorösem Atmen auf, die die Kr&fte des
Patienten schnell erschöpften. Bereits am 18. trat nach einem solchen
Anfalle der Tod ein.
Die am 19. Dezeraher 1905 vorgenommene Sektion et^ab folgendes:
Sektinnsprotokoll: rObduiicnt Dr. Hempnll). Leiche eines
Zar Eöntgendiagnostik seltenerer Herzleiden.
61
sohlecht genährten, in seiner Entwicklang stark zarückgehliebenen jangen
Mannes. Enorm aasgesprochene Cyanose aller vorspringenden Körperteile.
Die Finger and Zehen zeigen an ihren Endphalangen trommel-
schlägelartige Verdickungen.
Brustsektion: Der Situs von Herz and Lungen weicht von der
Norm nicht ab ; nur erscheint das in dem noch geschlossenen Herzbeutel
liegende Herz etwas größer als normal.
Fig. 6.
V. Cava sup.
Atr. dext.
Duct. Botalli
Atr. sin.
Schema zu Fig. ö.
Herzsektion: Feri- und Epikard feucht glänzend, nirgends ab-
norm miteinander verwachsen. Das Herz ist in toto vergrößert und
mißt im größten Durchmesser, ohne Yorhöfe, etwa 11 cm. Seine Ge-
stalt weicht insofern von der Norm ab, als die Spitze nur wenig ausge-
prägt erscheint und eine äußerlich sichtbare Trennung der beiden Ventrikel
durch die Längsfnrchen nur andeutungsweise besteht. Das Herz bekommt
dadurch ein plumperes Aussehen und läßt sich mit einem an den Kanten
abgerundeten muskulösen Sacke vergleichen, welcher an den großen Gefaß-
stämmen aufgehängt ist. Von diesen nehmen die großen Venen einen
im ganzen normalen Verlauf, während die beiden Arterien sehr be-
merkenswerte Anomalien erkennen lassen. (Fig. 5, 6.)
62 IV- DSMBKB
Es entspringt nämlich die Aorta aus dem rechten Teile des
Herzens, fast genau an der Stelle, wo sonst die Art. pnlmon. abgeht,
während letztere das umgekehrte Verhalten zeigt« Im weiteren Verlaufe
teilt sich die Art pulmonalis etwa 3 cm über ihrer TJrsprungsstelle und
verästelt sich dann in den Lungen. An der Teilungsstelle entspringt
aus dem Bam. sin. ein etwa strohhalmdickes, für eine kräftige Sonde
gut durchgängiges Gefäß, der offene Ductus Botalli, welcher, etwa 1 cm
lang, in den Arcus aortae mündet.
Beim Vergleich der A. pulm. mit der Aorta fällt besonders auf, daß
der Durchmesser des Stammteils der ersteren etwa doppelt so weit ist als der
der Aorta. Äußere Masse (Durchmesser) : Pulmonalis 3,5 cm, Aorta 1,8 cmu
Die Wandung der Pulmonalis ist glatt und frei von Einlagerungen, ihr Lumen
elliptisch geformt; die Klappen sind schlußfabig, zeigen aber folgende
Eigentümlichkeiten : Die Stellung der Segel zueinander ist eine annähernd
normale, während sie in ihrer Größe erheblich voneinander abweichen; die
hinten und links stehende Klappe ist größer als die vordere linke, diese wieder
sehr viel größer als die rechte Klappe (Fig. 7). Sie sind frei von Auflage-
rungen, jedoch etwas derber als normal, namentlich an den freien Bändern.
Fig. 7.
E
Art. coron. d.
Art. coron. s.
Schematischer Querschnitt der großen Arterien an ihrem Ursprünge.
Natürl. Größe.
Die Aorta steigt zunächst, etwas nach links gewendet, vor der Art.
pulm. auf, um in ziemlich normaler Weise den Arcus zu bilden, welcher
auf dem Bamus dext. art. pulm. reitet und dann in die Aorta descend.
übergeht.
Die Wandung der Aorta ist glatt und frei von Einlagerungen, ihre
Klappe ist schlußfähig; die Klappensegel sind zart, gleich groß und be-
finden sich in annähernd normaler Stellung, wie aus obenstehender
Figur 7 ersichtlich ist.
Sticht man vom Scheitel des Winkels, welchen das hintere und das
linke Segel der Aortenklappe bilden, senkrecht zu Aorten- und Pulmonal-
wand eine Nadel ein, so trifft diese genau den Scheitel des zwischen
vorderem und rechtem Segel der Pulmonalklappe gelegenen Winkels.
Die großen Arterien gehen in bekannter Weise aus dem Aorten-
bogen ab. Da, wo die Aorta über den rechten Pulmonalast hinwegzieht,
steht sie durch den oben beschriebenen Ductus Botalli mit der Pul-
Zar BöntgendiagnoBtik seltenerer Herzleiden. 63
monalis in Kommimikation. Der Dact. Bot. mündet distal von der Sub-
clavia sin., dieser schräg gegenüber, in die Aorta.
Von den Coronararterien entspringt die linke in normaler
Weise aas dem linken Sinns Yalsalvae, während die rechte aas dem
hinteren Sinus abgeht. Über den weiteren Verlauf der KranzgeftUBe ist
folgendes zu sagen:
Die linke Arteria coron. ist entgegen der Hegel sehr viel kleiner als
die rechte; sie verläuft in ihrem Hauptast im Sinus oircularis bis zum
linken Herzrande und sendet auf diesem Wege einige Aste in das
Myokard. Als Versorgangsgebiet £ällt ihr etwa ^/^ der vorderen Herz-
wand zu.
Die rechte Art. ooronaria verläuft zunächst im Sinus circularis der
▼orderen Herzfläche und kann noch an der hinteren Herzfläche als ziem-
lich groBes Oefäß im Sinus circul. bis zum linken Herzrande hin ver-
folgt werden. Hier löst sie sich in kleinere Aste auf, nachdem sie auf
ihrem Wege vorher 4 — 5 sichtbare Äste zum Myocard abgegeben hat.
Ihr liegt demnach die Versorgung des rechten Drittels der vorderen und
der ganzen hinteren Herzwand ob.
Die Vena coronaria verläuft im Sinus circul. und mündet in
den rechten Vorhof.
Was nun das Herz selber anlangt, so sind die Vorhöfe mit den
Herzohren normal angelegt, doch ist der rechte Vorhof auf-
fallend klein; von vorne gesehen erscheint das rechte Herzohr neben
der Aorta kaum größer als das linke neben der Pulmonalis. Der
rechte Vorhof sitzt lediglich dem oberen Teile des
Herzens auf und läßt den rechten Herzrand völlig frei.
Dem linken Vorhof entspricht die MitraliB, dem rechten die Tricuspidalis.
Die SegelstelluDg beider Klappen ist eine im ganzen normale, die Segel
selbst sind zart und legen sich beim Schluß der betrefifenden Klappe gut
aneinander.
Wie oben erwähnt, münden in den rechten Vorhof die Vv. cavae
anperior und inferior und die Vena coronar., in den linken die Lungen-
▼enen.
Das Septum der Vorhöfe ist vollständig, das Foramen ovale
geschlossen.
Beim Aufschneiden der Herzkammern fallt auf, daß die Mus-
kulatur der rechten Herzhälfte kaum dünner ist als die der linken, die
eine deutliche Hypertrophie erkennen läßt. Im übrigen ist das Myocard
gat kontrahiert, von braunroter Farbe und frei von sichtbaren Schwielen.
Weiterhin bemerkt man das Fehlen der Ventrikelscheide-
wand, an dessen Steile zwischen den Abgangsstellen der großen Ge-
fäße ein länglicher Mnskelwulst, hypertrophierten Trabekeln ähnlich, von
der vorderen zur hinteren Herz wand zieht.
Am linken Bande dieses Wulstes findet sich eine eigentümliche
Membran mit nach rechts konkaver Fläche, von Form, Gbröße und Festig-
keit eines Aortenklappensegels (Richtungsklappe), deren freier
Band nach links und unten gerichtet ist.
Die beiden Ventrikel bilden auf diese Weise einen durch eine breite
Öffnung verbundenen Hohlraum, aus welchem Aorta und Pulmonalarterie,
64 IV. Dbneke
nur getrennt durch einen kleinen MnskelwulBt und die oben beschriebene
Richtangsklappe, dicht nebeneinander abgehen.
Das Endocard ist überall sehr zart und feucht glänzend.
Lungen: Nirgends mit der Pleura costalis verwachsen. Im Brust-
fellraume keine abnorme Flüssigkeitsansammlung. Lungen in allen Teilen
lufthaltig, aber außerordentlich blutreich. Aus den kleinsten G-efaßen
quillt dickes Blut hervor.
Kalsorgane o. B.
Bauchsektion: Situs o. B. Magen-, Darmschleimhaut sehr blut-
reich, im übrigen o. B.
Nieren ziemlich groß. Kapsel leicht ablösbar. Oberfläche glatt
glänzend. Stellulae Yerheyenii außerordentlich stark gefüllt. Parenchym
auf dem Durchschnitt dunkelrot; Mark- und Rindensubstanz gut von-
einander abgrenzbar. Von der Schnittfläche läuft viel dickflüssiges Blut
ab. Konsistenz derb. Buchte Niere gleich der linken.
Nebennieren o. B.
Pankreas: sehr blutreich.
Leber: von normaler Größe, ziemlich scharfrandig. Oberfläche
glatt. Parenchym auf dem Durchschnitte von dunkelbraunroter Farbe.
Von der Schnittfläche laufen enorme Massen eines eigentümlich dick-
^üssigen Blutes von dunkelroter Farbe ab. Die Lebervenen sind stark
erweitert und gefüllt.
Oallenblase und Gallenwege frei.
Milz etwas vergrößert, ziemlich derb, sehr blutreich.
Blase mit wenig klarem Urin erfüllt. Schleimhaut intakt.
Genitalien pueril.
Kopfsektion: Knochen des Himschädels intakt.
Gehirn: Dura intakt. Sinus prall mit dickflüssigem, z. T. frisch
geronnenem Blute erfüllt.
Pia zart, Getäße prall mit flüssigem Blute erfüllt.
Gehirnsubstanz sehr blutreich. In der Substanz der rechten
-Großhirnhemisphäre findet sich ein bis an die Binde reichender, gut
walnußgroßer Absceß, welcher auch einen Teil des Bodens des rechten
Seitenventrikels zerstört hat (Gebiet der Capsula interna). In dem
dickflüssigen Eiter werden Streptokokken nachgewiesen. Die übrige Hirn-
Substanz bietet keine Besonderheiten. Die Ventrikel sind von normaler
Weite; ihr Ependym spiegelt.
Ohren beiderseits intakt.
Nase und Nebenhöhlen lassen eiterige Prozesse nicht erkennen.
Anatomische Diagnose: Angeborener Kerzfehler: Trans-
position der großen Gefäße. Defekt der Ventrikelscheidewand. Offener
-engre Ductus Botalli. Streptokokkenabs ceß in der rechten Großhirnhemi-
sphäre. Enorme Hyperämie sämtlicher Organe. Oyanose.
Danach handelt es sich um ein Cor triloculare biatriatum (ge-
trennte Vorhöfe, gemeinsamer Ventrikel) mit Transposition der
großen Gefäße. Die Aorta, deren Verzweigungen der Norm ent-
sprechen, entspringt mehr vorn und rechts an der Stelle, wo ge-
wöhnlich die Pulmonalis abgeht; die viel weitere Pulmonalis ent-
Zur Röntgendiagnostik seltenerer Herzleiden, g5
springt, an der Stelle der Aorta. Als einziger Rest des Yentrikel-
septums ist ein rundlicher Mnskelwulst vorhanden, der zwischen
der Abgangsstelle der beiden großen Gefäße die vordere und hintere
Ventrikelwand verbindet; als Ansgleichsvorrichtnug für das ge-*
ringere Kaliber der Körperschlagader finden wir eine nach üqten
und links gerichtete Membran am unteren Rande dieses Wnlstes
ausgespannt, die einem Teile des Blutes den Weg nach der Aorta
weist. Als weitere Ausgleichs Vorrichtung ist der Ductus. Bötalli
.wirksam, wenn er auch wegen seines nur etwa strohbalmdicken
Lumens von geringerer Bedeutung ist. Die Körpervenen münden
in gewöhnlicher Weise in den rechts gelegenen, die Lungenvenen
in den links gelegenen Vorhof; das in den Lungen mit Sauerstoff
imprägnierte Blut mischt sich im gemeinsamen Ventrikel mit dem
Eörpervenenblute, und die Körperarterien erhalten somit gemischtes
Blut. Die Cyanose erklärt sich teils daraus, daß der Inhalt der
Hautvenen tatsächlich dunkler, weil konzentrierter war (145%
Hämoglobin, 8V2 Millionen Erythrocyten), als in der Norm, während
die Hautdecken selbst überaus dünn und durchscheinend waren,
teils aber auch wohl, weil eine Erweiterung und stärkere Füllung
der nur träge durchströmten Gefäße*) sich gerade an den vor-
springenden Körperteilen entwickelt hatte.
Interessant ist die Verkleinerung des rechten Vorhofs und die
-damit im Zusammenhange stehende Verschmälerung der Herzbasis.
Das verhältnismäßig bescheidene Kaliber der Aorta scheint die
Möglichkeit zu eröffnen, diese Anomalie auf eine Verminderung der
"Gesamtmenge des im Körper kreisenden Blutes zu beziehen, und
tatsächlich waren auch die großen Körpervenen verhältnismäßig
-eng. Dieser Vermutung widerspricht aber der Befund reichlicher
Mengen dunklen Blutes in allen untersuchten Organen. Wäre aber
auch nur eine normale oder selbst verringerte Blutmenge vor-
lianden gewesen, so hätte diese bei der Verlangsamung des venösen
Blutstromes, die wir oben annahmen, abnorm große Kaliber bean-
:spruchen müssen. Danach hätte man eher eine Dilatation des
rechten Vorhofes, den regelmäßigen Befund bei Stauungen im Ge-
samtgebiete der Körpervenen, erwarten müssen. Ob eine ver-
änderte Struktur der Venen, z. B. eine Verstärkung ihrer Muskel-
schicht, wie nach einigen französischen Arbeiten^) zu vermuten,
•den Zusammenhang aufklären wird, bleibt abzuwarten.
1) Vierordt p. 28, 30.
2) Vierordt p. 31.
J)eat8ches Archiv fttr klln. Medizin. 8». Bd.
66 IV. DxNBKB, Zar BOntgendiagnostik seltenerer Herzleiden.
In unserem Falle ermöglichte das Hinaafr&cken des rechten
Yorhofes auf die verschmälerte Herzbasis, daß die rechte Ventiikel-
wand randbildend wurde und daß aus ihrer veränderten Pulsation
der Septumsdefekt diagnostiziert werden konnte. Es durfte sich
empfehlen, bei kongenitalen Herzfehlern, die einen Sept umdefekt
vermuten lassen, auf dieses Symptom zu fahnden. Daß das Aorten-
band auf dem Fluorescenzschirme so schmal erschien, wird
durch die verhältnismäßige Enge des G^efäßes erklärt Der in
Strohhalmdicke erhaltene Ductus Botalli entzog sich der Diagnose,,
da er neben den hochgradigen anderweitigen Anomalien keinerlei
Erscheinungen machte.
Berichtigung zu der vorstehenden Arbeit.
S. 39 Z. 14 Y. 0. ist vor „Randbildang" „stets^ einzuschalten.
S. ^ Z. 16 Y. 0. lies: „Vorgänffe*^ statt „Bewegungsorgane ".
S. 40 Z. 21 Y. 0. ist hinter „änuert** „sich" einzascnalten.
S. 41 Z. 8 Y. 0. lies : „Woran es Hegt" statt „Woran liefft es".
S. 41 Z. 14 ist hinter „können", zn ergänzen: „und tadeUose Unterbrecher".
S. 42 Z. 12 Y. u. lies: „Brastwirbelsäule" statt „Brnstwirbelhaube".
S. 43 letzte Zeile lies: „Chauveaa" statt „Ghanveau".
S.45 Z. 31 Y. 0. lies: „Bohre" statt „Röhre".
S. 46 Z. 1 Anm. 2 lies : „der Yerschiedenen Wellen" statt „des Yerschiedenen
Willens".
S. 46 letzte Zeile der Unterschrift Ton Fig. 4 lies: „Eardiosphygmographen" statt
„Kardiopsychmographen" .
S. 47 Z. 16 Y. u. ist Yor „ödematös" „wenip;" za ergänzen.
S. 48 Z. 14 Y. 0. lies: „atriornm statt „atnocnm".
S. 48 Z. 23 Y. 0. ist hinter „soll" zu ergänzen: „bis es sich in seinen Endaas-
breitnngen mit dieser mischt".
S. 48 letzte Zeile lies : „Das Beizleitungsystem des Sängetierherzens" statt „Die
Beizleitong im Säugetierherzen".
V.
Zur klinischen Geschichte nnd Bedeutung der
Trommelschlägelfinger.
Von
Dr. med. Erich Ebstein,
VolontäraMistent am Krankenhaus 1. d. Isar in München.
(Mit 10 Abbildnngen.)
.Clubbing is one of those phenomena wlth whioh
we^ are all so familiär that we appear to know more
aboat it than we really do." '
S. West (1896) I.e. p. 64.
Geschichte der Trommelschlftgelflnger und deren
Begriffsbestimmung.
Die sogenannten Trommelschlägelfinger nnd -zehen sind be-
kanntlich ein Symptom der verschiedenartigsten Erankheitsbilder.
Ich habe mich im folgenden bemfiht^ anf Gmnd der weitschichtigen,
besonders ausländischen Literatur nnd an der Hand eigener Be-
obachtungen, die ich in der Oöttinger medizinischen Klinik sammeln
konnte, ihre Bedeutung für die klinische Symptomatologie dar-
zustellen.
Ehe wir indes Ober den Gegenstand selbst in weitere Er-
örterungen eintreten, müssen wir uns über den Begriff und die
Geschichte des Wortes „Trommelschlägelfinger" klar werden. Wer
diese Diffonnität der Endphalangen zuerst mit einem Trommel-
stock oder Trommelschlägel (oder auch gelegentlich Paukenschlägel)
verglichen hat, kann ich nicht angeben ; auch in der japanischen
medizinischen Literatur ist diese Bezeichnung angenommen worden,
obgleich, wie mir Herr Kollege Dr. N a g a i aus Tokio mitteilt, die
Japaner nicht die gleiche Form der Trommelstöcke haben, wie wir,
sondern einfache Stöcke mit scharfen Ecken. In der englischen
Literatur hat sich der Vergleich mit dem Trommelstock nicht ein-
gebürgert; wir lesen wohl als Übersetzung unseres deutschen Aus-
drucks „drum-stick fingers^, aber sonst ziehen die Engländer und
5*
68 V. Ebstein
Amerikaner den Ausdruck „clubbed flngers" vor, den ich stets in
den Arbeiten über diesen Gegenstand angetroffen habe. Bei weitem
reicher an Synonymen ist die Literatur der Franzosen ; sie sprechen
nicht nur von: „les doigts en baguette de tambour^ oder ,,les
doigts en massue", sondern auch von „les doigts en bec de perro-
quet, en töte de serpent" usw. Auch in ihrer Literatur finden
wir zuerst den Ausdruck „Doigt hippocratique" oder einfach
„rHippocratisrae" ; J. Pigeaux(l 832) und besonders Trousseau
(1834) sehen in den Ausdruck j^ygvitovvTat de Svvxog^ (les ongles
se recourbent, phthisicis ungues adunci), der in den xwaxal TtQo-
ypwaeig der Hippokratischen Schriften (Nr. 396) ^) mit als Zeichen
der chronischen Empyeme aufgeführt wird, die erste Andeutung
unserer sog. Trommelschlägelfinger, aber wohl mit Unrecht, denn
unerwähnt bleibt das hauptsächlichste Merkmal, die Verdickung
der Endphalanx oder des Nagelgliedes; erwähnt ist nur eine Teil-
erscheinung, die Krümmung der Nägel.
Ebensowenig lassen sich die Bemerkungen bei Aretaios
von Kappadocien (ca. 100 p. Chr.) — in dem Kapitel „^^gl
tpd^iaiog^ — owxsg yQVTtol danxvkmv (the nails of the fingers crooked)
mit Bestimmtheit auf unsere heutigen sog. Trommelschlägelfinger
beziehen. Nach diesem Autor „hat die Krümmung der Nägel
ihren Grund in dem Mangel des Fleischpolsters, wodurch Spannung
und Rundung verloren geht, denn das Fleisch ist die Stütze und
4er Träger der Nägel und zu dem Zwecke ist es auch am letzten
Fingerglied am dichtesten".
Erst die Andeutung bei Caelius Aurelianus (ca. 200
p. Chr.) — Chronion liber II, Kapitel XIV „De phthisica passione"
— glaube ich für die erste Erwähnung der Trommelschlägelfinger
In Ansprach nehmen zu dürfen; bei ihm heißt es nämlich: „Digi-
torum summitates crassescunt, obuncatis unguibus, quod Graeci
gryposin {y^yqvTtwatg^) vocant; nach dem Lexikon vonL.A. Kraus
leitet sich das Wort von ygvip ab, weil durch das Krümmen der
Nägel an Händen und Füßen diese den Bildern des Fabeltiers
Greif ähnlich werden!
Bis ins 16. Jahrhundert findet sich kein Wort über die Ver-
änderungen der Endphalangen der Finger; erst bei L. Dur et,
1) „Wenn die Entzündung der Pleura oder der Lunge in Eiterung über-
geht, 80 fiebern die Kranken, werfen unbedeutend aus, und schwitzen um Hals
und Nacken. Ihre Augen sind hohl, ihre Backen rot, die Fingerspitzen sind heifi
«nd rauh, die Nägel werden krumm und sind kalt, die Füße laufen an .... .^
(nach der Ausgabe von Kühn, Coacae praeuotipnes Nr. 402).
Zar klinischen Geschichte und Bedentang der Trommelschlägelfinger. 69
(I 1686) einem Kommentator der Hippokratischen Schriften, trifft
man anf eine Erläuternng zu dem Satze ,,Ungues adanci fiunt"^
Wo es heißt : „ Ac signnm quidem, qnia phthiscis nngaes sunt, more
eniosdam ferae, uncinati, causa antem: qnoniam pulmonum ulcera
tarn sunt edacia ferarum, nt sanguinem totum ö corde exhaurianf
L. Bellini (1643—1703) spricht in seinem Buche „De morbis
capitis et pectoris^ Bonon. 1683 in dem ,,Empyema seu puris col-
lectio in cavitate pectoris^ nberschriebenen Kapitel, auch von den
^curvi ungues^ neben der Aufz&hlnng anderer Symptome und
Boerhave (1668—1738) hebt unter den Folgen des Empyems iii
seinen 1709 erschieneneu „Aphorismen" hervor, daß die Nägel
hakenförmig gebogen seien.
Anno 1696 gedenkt Frankenau der „ungues incurvi et longi'^
bei den „consummatis phthisicis et hecticis% und F. B. Sauvages
de Lacroix (1706—1767) notiert, als er von den Charakteren
der Phthise spricht „supervenit demum diarrhoea coUiquativa sputa
supprimens, ungues curvantur ..." F. J. Double (1808), dem
wir eine heute noch ganz lesenswerte Abhandlung über die Nägel
verdanken, schreibt die starke Krümmung dem dritten Grade der
Phthise zu, besonders wenn diese Krankheit auf die verschiedenen
Perioden langsam folgt.
Wir sehen aus diesen wenigen historischen Notizen über die
Trommelschlägelfinger, daß sie bis in den Anfang des 19. Jahr-
handerts hinein nur als Symptome der chronischen Empyeme und
der „vollendeten Lungensuchf* (Phthisis consummata) [Naumann,
Bayer] aufgefaßt wurden. Aber in dieser ganzen Zeit wurde, wie
Trousseau besonders hervorhebt, dieses vom Altvater der Medizin
angegebeue Zeichen entweder falsch ausgelegt oder ganz vergessen.
So spricht Pätissier auch seine Yerwundeiniug darüber aus,
daß ein modemer Autor, der über allgemeine Pathologie schreibt,
die Behauptung ausspricht, daß sich die Krümmung der Nägel bei
der Lungenphthise heute nicht mehr bemerkbar mache. Indessen
fangen sich gerade in dieser Zeit Stimmen an zu regen, die be-
tonen, daß die Krümmung der Nägel nicht nur bei der Phthise,
sondern auch bei chronischen Krankheiten vorkommen, in denen
die Abmagerung auf das Höchste gestiegen sei (Bland in [1798 bis
1849], und M. Faye (1822). Erst J. Pigeaux ging anno 1832 in
einer sorgfaltigen Arbeit, die betitelt ist: „^echerches nouvelles
sur r^tiologie, la Symptomatologie et le m^canisme du d^veloppe-
ment fusiforme de Textrömite des doigts^ diesen Beziehungen ge-
nau nach und fand die phthisische NagelkrümmuDg unter 200 Phtbi-
70 V. Ebstein
sikern — die tuberkulöse LuDgenphthise wurde physikalisch nach-
gewiesen — bei 167 Fällen; indes konstatierte er bei sehr abge-
magerten, nicht phthisischen Kranken die betreffende KrümmuDg nur
in einem Drittel der Fälle. Unter 183 aasgewählten, nicht tuber-
kulösen Kranken hatten 17 (ca. Vio) ^^ Symptom, und zwar sehr
ausgesprochen; es handelte sich 9 mal um Krankheiten des Zirku-
lationsapparats, 4 mal um Emphysem, 2 mal um chronische Bronchial-
katarrhe mit Asthma, 2 mal koiuite ein bedeutender organischer
Fehler nicht nachgewiesen werden. In 13 dieser 17 Fälle wurden
Atmungsbeschwerden notiert; umgekehrt fand Pigeaux die Nagel-
krümmung nur bei denjenigen Phthisikem nicht, die keine At-
mungsbeschwerden hatten. Kein Geringerer als Trousseau nahm
die Arbeit von Pigeaux, von dem er sagt, daß ihm die Wissen-
schaft schon eine große Menge sehr empfehlenswerter Schriften
verdanke, anno 1834 wieder auf, und konnte in seiner klassischen
Abhandlung, auf die wir später genauer eingehen werden, lediglich
dessen Resultate bestätigen. Wir werden später sehen, welches
Gewicht Trousseau „der hippokratischen Form der Finger der
Tuberkulösen^ als diagnostisches Hilfsmittel einräumte.^)
Die Forscher, die seitdem sich mit dieser Frage beschäftigt
haben: Alqui6 (1838), Vernois (1839), Beau (1846), Caron
(1862), Labalbary (1863), Meillet (1874), Ulmo y Tuffin
(1876), haben neben vielen bemerkenswerten Einzelheiten keinen
wesentlichen Fortschritt gebracht.
Erst, als Pierre Marie 1890 das von ihm „Osteoarthro-
pathie hypertrophiante pneumique" genannte Krankheitsbild be-
schrieb, erhielt die Frage einen neuen Anstoß, und seit dieser Zeit
ist fast unabläßlich daran gearbeitet worden, die Frage nach der
Ätiologie und Bedeutung der Trommelschlägelfinger zu sichten
und zu klären.
Aus dieser historischen Einleitung geht wohl zur Genüge her-
vor, daß man heute mit Unrecht — besonders in der französischen
Literatur — die hippokratischen Finger mit den Trommelschlägel-
fingern identifiziert. Denn, wie wir feststellten, hat Hippokrates
unter dieser Bezeichnung nicht die krankhaften Veränderungen der
Finger in toto verstanden, sondern lediglich gewisse Verände-
rungen der Fingernägel; von den Nägeln an den Zehen spricht
Hippokrates nicht.
1) Nach Arrivot (1888 p. 34) erwähnen die französischen Kliniker LaSnnec,
Lonis u. Andral den Hippokratismns merkwürdigerweise nicht.
Zur klinischen Geschichte und Bedentang der Trommelschlägelfinger. 71
Der Trommelschlägelfinger vergesellschaftet sich also oft mit
den Veränderungen der Fingernägel ; der Vergleich der Fingerenden
mit dem an den Trommelstöcken befindlichen Knöpfen scheint mir
indes bezeichnender als der von den englischen Beobachtern ge-
brauchte Name „clubbed fingers'', der, wie mir Herr Kollege
A. Hunter ans Edinburgh mitteilt, von der Keule (Indian Clubs)
hergenommen ist, die beim Ballschlagen gebraucht wird.
Ich will hier einige Worte ttber die Bedeutung der
Trommelschlägelzehen hinzufügen und will gleich vorweg-
nehmen, da£ ihnen als klinisches Symptom nur eine, wie mir
scheint, offenbar recht untergeordnete Rolle zukommt. Denn es
ist mir unzweifelhaft, nachdem ich eine große Reihe gesunder
Personen darauf hin untersucht habe, daß diese Mißbildung der
Zehen durch mechanische Momente — als Folgen schlecht-
geschnittener Schuhe — auftreten. Besonders die zweite Zehe
bietet am häufigsten das Bild eines Trommelschlägels: es ist aber
lediglich nur dadurch entstanden, daß die beiden benachbarten
Zehen die zweite Zehe zusammendrücken, und die die beiden
Nachbarzehen meist überragende Endphalanx durch Druck die be-
treffende Gestalt annimmt. Wenn sich allgemein die Meinung ver-
breitet hat, daß die leichtgekrümmten, sog. eingeschlagenen Zehen
eine fehlerhafte Form darstellen, und daß diese durch zu kurze
Schuhe erzeugt werden, so ist dies, wie Schanz (1905) kürzlich
gezeigt hat, ein Irrtum. Denn die eingeschlagenen Zehen sind die
normalgeformten; die lang ausgestreckten Zehen sind anormal, sie
sind eine Teilerscheinung des Plattfußes. Und in der Tat findet
man die sog. Trommelschlägelzehen bei an Plattfuß leidenden
Patienten recht häufig.
Frey tag (1891) fand in dem von ihm beschriebenen Fall
von putrider Bronchitis und Lungengangrän das Ende der Nagel-
phalanx der zweiten Zehe durch kleine Knochenwärzchen ver-
breitert, an den übrigen Zehen dagegen nicht; und er ist auch
geneigt, die Verdickung an der zweiten Zehe auf den Druck des
Schuhwerks zurückzuführen, da auch er bei sehr vielen Menschen
das Endglied der zweiten Zehe verdickt gefunden hat. Auf die-
selbe Ursache möchte er auch die von ihm erwähnte Knochenzacke
an der großen Zehe beziehen.
Weiter soll hier noch auf die Frage eingegangen werden, die
bereits Trousseau (1834) angeschnitten hat, ob nämlich eine
Abhängigkeit zwischen dem Trommelschlägelfinger
nnd dem Ernährungszustand im allgemeinen besteht. Er
72 V. Ebstbin
betonte ausdrücklich, daß die Nagelkrümmung der Finger nie bei
anderen Kranken, die ebenfalls infolge chronischer Leiden abzehren^
vorkommt, sondern bloß bei Taberknlösen, da diese auch schon bei
ziemlicher Wohlbeleibtheit doch schon diese mißgestalteten Finger
haben. Daraus zieht er auch bereits den Schluß, daß die hippokra-
tischen Finger nicht infolge der Abmagerung der Hand erst ent-
stehen. Dagegen scheint L a € n n e c (1837) der erste gewesen zu sein,
der behauptet hat, daß die Krümmung der Nägel in dem Schwunde
des Fettpolsters ihren Grund habe; er schreibt: „Les articulations
des grands os et Celles des doigts paraissent grossies, k raison de
Famaigrissement des parties intermödiaires ; et les ongles m^mes
se recourbent par suite de Famaigrissement de l'extr^mit^ pulpeuse
des doigts.^ Darin haben ihm später — offenbar unabhängig —
F. Niemayer (1858), C. A. Wunderlich (1860), H6rard und
Cornil(1867) beigepflichtet; ebenso beziehen v. Li eher meist er
(1899) und Lenhartz (1905) die klauenförmige Krümmung der
Nägel noch „zum großen Teil" auf den Fettverlust.
Da indes die Krümmung der Nägel schon zu einer Zeit ein-
tritt, wo die Abmagerung noch gar nicht in den Vordergrund tritt
und die Krümmung sogar noch stärker wird, wenn die Nagelglieder
sich verdicken (vgl. Freytag, p. 20), so müßten bei allen mit
Abmagerung verbundenen Krankheiten derartige mißbildete Nägel
auftreten. Die Trommelschlägelfinger scheinen also mit der Ab-
magerung in keinem direkt ursächlichen Verhältnis zu stehen.
Die Untersuchungen von Bamberger, Möbius und anderen
haben gelehrt, daß man die sog. Trommelschlägelfinger, auch wenn
sie nur die einzige wahrnehmbare Verändeioing darstellen, im all-
gemeinen bereits als milde Form oder als Anfangsstadium der
Osteoarthropathie von Marie aufzufassen hat. Folglich wird
man auch die ätiologischen Momente, die man für die Entstehung
der osteoarthropathischen Finger in Anspruch genommen hat, für
die gewöhnlichen Trommelschlägelfinger gelten lassen müssen.
L. Teleky (1897) stellte auf Grund des vorhandenen Materials
eine neue Gruppierung der Fälle der M a r i e 'sehen Krankheit nach
ätiologischen Momenten zusammen, und nach ihm entsteht das be-
treffende Krankheitsbild
1. nach solchen Erkrankungen, bei welchen es zu
eiteriger und jauchiger Zersetzung im Organis-
mus kommt: Tuberculosis pulmonum (mit Kavernen-
Zur kÜDischen Geschichte und Bedeutung der Trommelschlägelfinger. 73
bildung), Bronchiektasien , Empyeme, Cystopyelönephritis,
Dysenterie ;
2. nach Infektionskrankheiten und chronischen
Intoxikationen: Pneumonie, Pleuritis, Lues, Alkoholis-
mus (?);
3. bei Herzfehlern, besonders angeborenen;
4. bei malignen Tumoren: Lungensarkom, Lungen-
carcinom, Parotissarkom ;
5. bei Erkrankungen des Nervensystems: Syringo-
myelie, Neuritis (?).
Obermayer (1897) hat diesen ätiologischen Momenten noch
den chronischen Ikterus beigefügt; er reiht ihn der zweiten
Gruppe Teleky's an.
A. Dennig (1901) führt noch die Gastrektasie ins Feld,
und will sie der ersten oder zweiten Gruppe Teleky's einfugen.
Im Zusammenhange mögen nun, nach ätiologischen Momenten
geordnet, die hauptsächlichsten Affektionen besprochen werden, bei
denen eine krankhafte Veränderung an den Endphalangen der Finger
in Erscheinung zu treten pflegt.
Erkrankungen des Respirationstraktus.
Ich beginne mit den Erkrankungen des Kespirationstraktus,
weil man dieselben am frühesten mit dieser Difformität der Finger
in Verbindung gebracht hat.
In der Einleitung dieser Arbeit habe ich bereits auf die Arbeit
von Pigeaux (1832) und xJtgenrge Ton Truusseau (1^34) rer-
wiesen.
Trousseau hat ungefähr hundert Finger von Phthisikern
untersucht und kam auf Grund seiner klinischen Beobachtungen
za folgenden Besultaten:
„Ich habe keinen einzigen Kranken an der Lungensucht sterben
sehen, dessen Finger nicht mehr oder weniger jene hippokratische
Form gezeigt hätten, doch muß ich davon eine Frau ausnehmen,
die von der galloppierenden Schwindsucht in nicht ganz
vier Wochen dahingerafft wurde. Unter den Phthisikern, die schon
seit drei Monaten zum wenigsten an allen sichtbaren Zeichen der
Phthisis confirmata litten, hatte beinahe ^lo ^^^ hippokratischen
Finger. Doch beobachtete man diese Besonderheit etwa nur bei
der Hälfte derer, die nur an den rationellen Zeichen der Lungen-
sncht litten.
74 V Ebbtsin
Unter einer sehr großen Zahl von Personen, die kein Zeichen
der Lnngensucht mit sich herumtrugen, hatten nur zwei die hippo-
kratischen Hände; die eine war ein 18 jähriges Mädchen, das an
einer Herzkrankheit starb und welches in den Lungen nur einige
isolierte, nicht erweichte Tuberkeln hatte, die andere war ein
junger Mann, der bis jetzt sich noch einer vollkommenen Gesund-
heit erfreut.
Die hippokratische Entwicklung der letzten Phalanx
tritt gewöhnlich ohne Schmerzen auf, sie beginnt in der Begel am
Daumen und Zeigefinger der rechten Hand ; dann kommen dieselben
Finger der linken Hand, und später die anderen Finger nach ihrer
natürlichen Reihe. Der kleine Finger hat oft noch seine normale
Form, wenn schon alle anderen Finger mißgestaltet sind.
Obiges zusammengefaßt, gibt folgende Resultate:
A. Die hippokratische Form der Finger ist beinahe eine aus-
schließliche Eigenheit der Tuberkulösen.
B. Nicht alle Tuberkulösen haben eine hippokratische Hand,
aber alle, die sie haben, sind tuberkulös bis auf wenige Ausnahmen.
C. Bei einem tuberkulösen Individuum ist die hippokratische
Form der Finger um so mehr ausgesprochen, je länger er schon an
dieser Krankheit leidet.
Anwendung für die Klinik.
Seit Bekanntmachung der Untersuchungen des Dr. Pigeaux
und seitdem ich mich selbst mit dieser Sache genauer beschäftigte,
konnte ich in einer großen Zahl von Fällen eine tuberkulöse
Phthisis diagnostizieren, wenn auch noch alle gewöhnlichen Zeichen
dieses traurigen Leidens iehlten, und im Gegenteil, wenn chronische
Katarrhe mit Erschlaffung der Bronchien und Fieber unter den
gewöhnlichen Zeichen der Phthisis auftraten, konnte ich das Dasein
der Tuberkeln verneinen, wenn die Hand die hippokratische Form
nicht hatte.
Dieses Zeichen ließ mir mehreremale bei Pleuresien, Bauch-
fellentzündungen und chronischen Diarrhöen die Ursache in vor-
handenen Tuberkeln erkennen und mehrmals konnte ich einen töd-
lichen Ausgang dieser Krankheit vorhersagen, wenn die Finger
mißgebildet, sonst aber noch beunruhigendes Zeichen vorhanden
war; während ich immer auf Besserung hoffte und mich darin auch
selten betrog, wenn bei viel bedenklicheren Symptomen die Hand
keine hippokratische war."
Diese Trousseau'schen Thesen sind in den folgenden Jahren
Znr klinischen Geschichte und fiedentnng der Trommelschlägelfinger 75
bereits eingeengt worden. So resflmierte B landin: „Man weiß
hente, da£ sich die Krammangen der Nägel nicht nar bei Phthise,
sondern auch bei allen chronischen Krankheiten, in denen die Ab-
magemng extrem wird, bemerklich machen.^
So war der Stand der Frage, als Max Vernois (1839) eine
sehr fleißige Arbeit veröffentlichte, deren Resultate sich aaf die
Beobachtang von 276 Kranken stützten:
1. Bei einer unbestimmten Zahl von Kranken, an welcher
Affektion sie auch leiden mögen, findet man wenigstens einmal bei
drei Fällen Krfimmnngen der Nägel.
2. Bei der tuberkulösen Phthise, den Skrofeln und chronisclien
Affektionen wird die Form der Nägel ganz positiv beeinflußt Dieser
Einfluß ist indes weder ein absoluter, noch ein notwendiger, da
man eine hinreichend große Menge von Ausnahmen davon sieht.
3. Frauen zeigen diese Difiormität häufiger als Männer, ge-
wöhnlich dreimal mehr, da sie überhaupt tuberkulösen Affektionen
häufiger ausgesetzt sind.
4. Im Alter von 10—30 Jahi^en findet man die Affektion am
häufigsten; vom 1.— 10. Lebensjahr ist sie ebenso häufig als jede
andere Veränderung an den Nägeln, vom 30.— 70. Jahre beobachtet
man sie weniger häufig. Das mittlere Alter zwischen 10 und 30,
in denen man sie beobachtet, ist mit 17 und 12 Jahren.
5. Der Beruf der Kranken scheint ohne Einfiuß zu sein.
6. In Vs der Fälle fällt die Krümmung der Nägel mit einer
bedeutend ausgebildeten lymphatischen Konstitution zusammen :
weiße, glatte und anämische Haut, blonde Haare, blaue oder braune
Augen, sehr lange Augenwimpern, bläuliche Sklera und schwache
Muskeln.
Julius Heller (1900) hat die Angaben von Vernois einer
modernen Kritik unterzogen, und man darf ihm wohl beipflichten,
wenn er sagt, daß die Angaben über den diagnostischen und pro-
gnostischen Wert der hippokratischen Nägel heute wohl fast nur
noch historisches Interesse besitzen. Pigeaux wagt sogar, den
Ausspruch zu tun, daß es für eine Frau prognostisch ungünstiger sei,
1—2 Hämoptoen gehabt zu haben, als die hippokratische Nagel-
krümmung.
Übrigens gibt Heller eine ausgezeichnete Abbildung der
phthisischen Nagelkrümmung, kompliziert mit Troramelschlägel-
fingem; vgl. auch die Abbildung bei M ei 11 et 1. c. Tafel III Fig. 5,
die ich wieder reproduziere (s. Abbildung 1).
76 V. Ebstsih
C. Mettenheimer (1885) hat seine Erfahrangen fiber die
Kolbenfini^er (Froschfinger) in einer kleinen Arbeit niedergelegt,
die betitelt ist „der partielle Riesenwuchs als vorübergehende
Krankheitserscheinung^; er hält die kolbenartige Mißstaltung der
Finger keineswegs für pathognomonisch für die Lungenschwind-
sucht, betont indes, daß die Difformität sich ungemein häufig mit
jener Krankheit verbindet. Wenn Mettenheimer
Abb. 1. ^^^ ^^^^ Beobachtung von London (Mitteilungen
aus den Leprösenhütten aus Jerusailem) verweist,
in der es übrigens nur heißt „sämtliche Finger-t
spitzen sind kolbig verdickt'^ so läßt sich daraus
jedenfalls nicht ersehen, ob wir es mit Verände-
rungen zu tun haben, die den Kolbenfingern gleich
zu setzen sind. Eine derartige Veränderung scheint
für die Lepra übrigens nicht charakteristisch zu
sein(vgl. J.Heller 1. c. S. 171f.).
Was Mettenheime r's eigene Beobachtungen
anlangt, so sah er zweimal die Pädarthrokake
die letzte Phalanx ergreifen, und dieser An-
blick erinnert ihn an 4ie Kolbenfinger der Phthisiker; das
eine Mal war die letzte Phalanx des Daumens, das andere Mal
die letzte Phalanx des vierten Fingers betroffen. Im letzteren
Fall war die Endphalanx mindestens noch dreimal so breit, als
gewöhnlich; dementsprechend hatte der Nagel eine ganz abnorme
Größe ; sonst war das Nagel- und Hautgewebe ganz normal gebildet.
Mettenheimer sah ebenfalls die Kolbenfinger und -zehen ent-
stehen und sich zurückbilden; es handelte sich um ein 3 jähriges
Mädchen, welches an einer verschleppten linksseitigen Pneumonie
litt (keine Tuberkulose!). Die Krankheit währte etwa 9 Monate;
das Kind kam herunter, wurde hydropisch. Die Atemnot war lange
Zeit sehr groß, die ausgesprochensten Difformitäten an den End-
phalangen traten in Erscheinung. „Nach vielem Medizinieren und
langem geduldigem Warten verlor sich eines der beunruhigenden
Symptome nach dem anderen, auch die Finger und Zehen nahmen
wieder ihre natürliche Gestalt an, kurz, das Kind wurde völlig
wiederhergestellt."
Von den modernen Klinikern hat besonders Gerhardt den
Trommelschlägelfingern seine Aufmerksamkeit zugewandt; auch er
fand sie bei sehr vielen Tuberkulösen, mitunter als sehr früh-
zeitiges Zeichen, hält sie indes für eine minder auffallende Ver-
änderung als die bronchiektatischen Finger, auf die wir später
Zar klinischen GeBchichte nnd Bed^ntung der Trommelschlägelfinger. 77
zurückkommen weräen. Ob sie Gerhardt' für charakteristisch
— was Cornet (1899) übrigens nicht tut — ^ ansieht, geht aus
seinen Bemerkungen nicht hervor.
Nach Gerhardt gehören zu den phthisischen Fingern i. die
kolbige Verdickung der Nagelglieder und 2. die konvexe Krümmung
der Nägel. Was ihre Entstehung anlängt, so hängen sie vielleicht
«ehr mit den Bronchiektasen des Oberlappens, als mit der Tuber-
kulose selbst zusammen. „So oft sie sich findet,^ resümiert
Gerhardt, „dürfte eine sehr genaue Untersuchung
der Lungenspitzen nicht zu versäumen sein." Die An-
gabe von Walshe, daß die Verdickung der Nagelglieder auf
der Seite der alleinigen oder vorgeschrittenen Lungenerkrankung
starker entwickelt sein könne, fand Gerhardt sowohl bei Tuber-
kulösen als bei Bronchiektatikern hier und da bestätigt. Bei einem
33jährigen Mann (K. A.. Oktober *1905. Med. Klinik Göttingen),
xler an Phthisis pulmonum litt und deutliche Kavernensymptome
zeigte, konnte ich den gleichen Befund erheben. Die im ganzen
ziemlich großen Hände zeigten eine auffällige Verdickung der
Endphalangen, die der Patient selbst hatte entstehen sehen. Der
größte Umfang der Endphalangen des linken Mittelfingers betrug
5,3 cm; sie waren leicht cyanotisch verfärbt, links stärker als
rechts. Auf der linken Seite bestanden auch die bei weitem stärker
•ausgeprägten Lungenerscheinungen.
Weiter glaubt Gerhardt, ließe sich die Mißstaltung der
JFinger noch mit Eiterungsprozessen in den Luftwegen in Ver-
bindung bringen. „Ist doch das erste reichlichere Blutspeien Tuber-
Jiulöser jederzeit schon Kavernensymptom, seien die Hohlräume,
aus denen es stammt, auch noch so klein.^
Gerhardt stellte schließlich noch folgenden Satz auf, der
jdifferentialdiagnostische Bedeutung haben dürfte : „Recht aus-
gesprochene Trommelschlägelfinger, d. h. mehr kugelig verdickte
.kurze Nagelglieder lassen auf Bronchiektasie, dagegen lange, wenig
verdickte, gewölbte Nagelglieder auf Tuberkulose schließen."
-Wenigstens habe ich die Behauptung Gerhardts in einer Reihe
von Fällen bestätigen können. Der eine Fall betraf eine 54 jährige
JFrau M. G. (Med. Klinik Göttingen) August 1905; sie erkrankte
•vor 3 Monaten an Pleuritis, eriiolte sich seitdem nicht mehr,
taagerte ab, kein Appetit. Links hinten retr^cissement thoracique.
.Bronchiektasen mit typischem Sputum, geringe Arteriosklerose.
tAm Herzen keine Veränderungen nachzuweisen: Die Diagnose
lautete: Linksseitige Lungenschrumpfung nach Pleu-
78 V. Ebbtbin
ritis. Bronchiektasienbildang im linken unteren
Lungenlappen. Trommelschlägelfinger. Was die letzteren
anlangt, so hatten die Endphalangen ein kolbig verdicktes Aus-
sehen; die Nägel waren gerieft und ein wenig volarwärts ge»
krfimmt
Ein anderer Fall, den ich im August 1905 beobachten konnte,
betraf einen 9jährigen Jungen. Klinische Diagnose: Dystrophia
musculorum progi^essiva. Infiltration der rechten Lunge hinten
unten, und klingende Rasselgeräusche. Am Herzen keine Ver-
änderungen nachweisbar. Die Form der Finger entspricht ganz
der von Gerhardt beschriebenen: die Endphalangen sind wenig
verdickt, am stärksten die Pulpa; die Nägel sind dagegen stark
gewölbt in beiden Durchmessern. Im ganzen machen die Finger
des Jungen indes einen schlanken und zierlichen Eindruck. An den
Füßen bestehen Trommelschlägelzehen. Daß diese indes nicht etwa
auf mechanischem Druck des Schuhwerks usw. zu beziehen ist, —
wie es oft vorkommt, und wie ich oben auch betont habe (p. 71)
— zeigt die Krankengeschichte des kleinen Patienten, der seit
seinem zweiten Lebensjahre allmählich das Gehen verlernte, und
seit 1902 völlig bettlägerig ist wegen der an den beiden Beinen
bestehenden Kontrakturen.
Besonders stark entwickelt fand ich die Trommelschlägelform
des Daumens bei einer 27jährigen Frau, bei der die klinische
Diagnose lautete : „Pleuritis adhaesiva duplex mit Bronchiektasien-
bildungen und Infiltration beider Lungen. Amyloid der Bauch-
organe." (Med. Klinik in Göttingen. Hermine Gundelach. Jan aar
1906.) Wie die beigegebene Abbildung 2 zeigt, sind die End-
phalangen der übrigen Finger in toto auch deutlich verdickt, zeigen
aber im ganzen einen mehr länglichen Typus. Die Nägel der
Endphalangen zeigen eine leichte Krümmung. Das Böntgenbild
ergab einen normalen Befand. West (1. c.) hat bei hochgradigen
Trommelschlägelfingern auch die Beobachtung gemacht^ daß be-
sonders der Daumen und Zeigefinger in Mitleidenschaft gezogen
werden; bei geringeren Graden werden alle Endglieder in an-
nähernd gleich starker Weise befallen.
Noch im Jahre 1877 mußte Kühle bei Beschreibung der Sym-
ptome der Lungenschwindsucht betrefiis des Zustandekommens der
Fingerdifformität einfach bekennen: „Erklärungen, außer der, daß
der verhinderte Venenblutrückfiuß auch hier herbeigezogen wird,
einigermaßen bei den Haaren, sind mir nicht bekannt" Seitdem
scheint die Stauungshypothese sich keiner großen Beliebtheit mehr
Zur klinitehen Ge§cbicbte nnd Bedentnng der Trommelschlftgelflnger. 79
zn erfreoen, wenn man aach wohl oder Qbel in mancben Fällen
zn ihr wieder ihre Zaflncht nahm. So mußte sieb Gerhardt
bei einer Kranken, bei der durch G^eschwulst des Hittelfells
wassersftcht^e Anschwellung des rechten Armes, Stauung in der
rechten Drosselvene bestand, nnd dabei viel stärker entwickelte
Trommelscblägelftnger an der rechten Hand als an der linken,
sich diese Verdickung durch Venenstauang erklären.
Abb. 2.
Auch Liebermeister (1887) schreibt der Stauung die Haupt-
rolle zu; er erwähnt, dafi £ranke, bei denen schon in der Jugend
interstitielle Pneamonie entstanden ist, oft als Folge der andauern-
den mäßigen Zirkulationsstörung neben einem gewissen Qrade von
Cjanose Trommelschlägelfinger haben; weiter betont er, daß diese
VeräDdemngen an den Endphalangen — durch Beteiligung der
Beeinträchtigung der Zirkulation hervorgerufen — hauptsächlich
bei interstitieller Pneumonie, „sowohl wenn diese zu sackartiger
Bronchiektasie geführt hat, als auch wenn sie in ausgedehnter
Weise neben Tuberkulose vorhanden ist", vorkommen.
E. Bamberger (1889 and 1891) war wohl mit der erste, der
die Stanangshypothese durch eine Art Toxinbypothese ersetzen
80 V. Ebstein
^wollte. Er glaubte als Ursache der Fingerdiflfonnität — speziell
bei Bronchiektasien — ein aus dem bronchiek tauschen Sekrete
stammendes chemisches Agens annehmen zu sollen, welches äbnlicli
wie Phosphor und Arsen auf die Knochen einwirken sollte. Indes
mußte er für die bei angeborenen Herzfehlern vorkommenden Trommel-
schlägelflnger auch auf die Stauung rekurrieren.
Jedenfalls scheinen die von Bamberger bei chronischen
Lungen- und Herzkrankheiten beschriebenen Knochenveränderungen
recht selten vorzukommen ; sie sind bestätigt worden und fast immer
als Übergangsstadien zur M a r i e 'sehen Krankheit aufgefaßt worden.
Lenhartz ist es auch nicht unwahrscheinlich^ daß die Ver-
anderu^* der Endphalangen bei Bronchiektatikern, ebenso wie die
seltene^ vorkommenden, von Bamberger beschriebenen Ver-
dickungen an den Enden der Unterarme und Unterschenkel auf
die jahrelange Resorption gewisser Eiterstoffe (Toxine) zurück-
:2uführ4n sei.*)
Gerhardt hat sich in den Fällen, in denen sich tüchtige
Trommelschlägelfinger finden, und wo nur einzelne Bronchiektasien,
aber keine erhebliche. Lungenschrumpfung nachweisbar waren,
mehr ^gunsten der Annahme einer chemischen, einer Art von Gift-
wirkunjg des Kaverneninhaltes als Ursache dieser ganzen Reihe von
Ernähi^ngsstörungen ausgesprochen.
Eijne ähnliche chronische Toxinwirkung nahm Krüger (1905)
in einem Falle von Marie 'scher Krankheit an, der eine 52 j. Frau
betraf,! die an einem inoperablen Mammacarcinom litt und Ver-
änderungen am Knochensystem darbot, die besonders in periostalen
Auflagierungen und Veränderungen der inneren ^Knochenstruktur
bestanden, welche sich im Laufe von zwei Jahren entwickelt hatten.
Krüger nahm an, daß die Giftwirkung entweder von der malignen
Neubildung selbst oder von der durch dieselbe geschädigten Lunge
ausgegangen war.
In dem Fall, den Denn ig (1901) beschrieb, hatten sich die
Trommelschlägelfinger bei einer gewöhnlichen Gastrektasie, welcher
ein vernarbtes Ulcus ventriculi am Pylorus zugrunde lag, ent-
wickelt; bis auf den heutigen Tag ist meines Wissens ein ähnlicher
1) H. Schmidt (1891) beobachtete die Entwicklung' von Trommelschl^el-
fingern bei einem Fall von öfter rezidivierendem Gelenkrheamätismns, nnd zwar
unter eigentümlich stechenden Schmerzen ; in der Erklärung dieses Falles schließt
•er sich der Annahme Ton P. Marie an, daß diese Difformität durch die Resorp-
tion toxischer Stoffe entstanden und sich auch ohne vorausgegangene -Lungen-
«rkrankung entwickeln könne.
Zur klinischen Geschichte und Bedeutung der Trommelschlägelfinger. gl
Fall nicht publiziert worden. Wenn Denn ig aus dem Verlauf
des Falles, der nach der Operation eine vollständige Bück-
bildung der Trommelschlägelfinger ergab, sich den ursächlichen
Zusammenhang zwischen der Magenerweiterung und der Finger-
dittbrmität in der Art denkt, daß der zersetzte Mageninhalt ins
Blut gelangt, und dieser auf dieselbe Weise wirkt wie die putriden
Stoffe der Bronchiektatiker , so möchte ich nur darauf hinweisen,
daß mir dieses Moment nicht hinreichend genügend erscheint, um
die Formveränderung an den Fingern zu erklären. Wir hatten
vorher gesehen, daß Trommelschlägelfinger auch bei Kachektischen
vorkommen, und ich glaube, daß in dem Dennig'schen Falle, in
welchem der kachek tische Patient (Carcinom?) bereits 2Vt Monate
nach der Pylorusresektion 30 Pfund zugenommen, und sein Hämo-
globingehalt in dieser Zeit von 35 7o ^^^ ^^ % gestiegen war, die
Rückbildung der Fingerdifformität zum guten Teil auch diesem
Moment zuzuschreiben ist.
Gegen die Stauungshypothese spricht allerdings das wenig
konstante Auftreten der Diffbrmität bei der Mehrzahl der er-
worbenen Herzfehler, dem Lungenemphysem usw. Die Toxintheorie
versagt aber auch, wie Gerhardt mit Recht betont, wenn die
kolbigen Nagelglieder auch bei gesunder Lunge bei gewissen an-
geborenen Herzkrankheiten sich finden, die mit Blausucht, d. h.
mit starker Überfüllung der Körpervenen einhergehen.
Nach M. B. Schmidt's (1. c. p. 940) Ausführungen scheinen
besonders zwei Momente der Osteoarthropathie und den einfachen
Trommelschlägelflngern zugrunde zu liegen, die toxische Wirkung
und die chronische Stauung. „Man wird sich nur fragen können,
ob beide sich in der Weise verknüpfen lassen, daß man den be-
treffenden toxischen Einflüssen eine stauungserregende Einwirkung
auf die Zirkulation zuspricht.^
Lides muß hier bemerkt werden, daß Bamberger 's Versuche,
seine Toxinhypothese experimentell zu stützen, negativ ausgefallen
sind : er injizierte von drei ganz jungen Kaninchen desselben Wurfs
zweien 5—6 Wochen lang täglich eine größere Quantität bronchi-
«ktatischen Sputums ins Rektum; aber die Knochen der Versuchs-
tiere glichen denen der Kontrolltiere vöUig.
Vielleicht ist die Zeit zu kurz gewesen, um die geforderten
Knochen Veränderungen hervorzubringen: derartige Versuche sind
meines Wissens nie — auch nicht modifiziert — wiederholt worden.
Trotzdem glaubt Bamberger, daß gewisse klinische Er-
fahrungen mit der Annahme eines chemisch wirkenden Agens wohl
DeaUches Archiv fär klin. Mediein. R9. Bd. 6
8^ V. £b8TSIN
vereinbar seien. So hebt er die Tatsache hervor, daB bei Em-
pyemen, florider Phthise und akut sich entwickelnden Bronchiektasien
sich auch die Troromelschlägelflnger in kurzer Zeit ausbilden können,
ferner, daß diese gerade bei denjenigen Lnngenerkrankungen am
häufigsten sind, bei denen große Eitermassen in intensiver Zersetzung
begriffen sind wie bei Bronchiektasien, Empyemen mit Fisteln.
Diese Erfahrungen sind klinisch oft bestätigt worden. Ich
erinnere nur an den von S. West (1896) beschriebenen Fall: Bei
einem 36 j. Mann, an Empyem leidend, entwickelten sich nach sechs-
wöchentlichem Kranksein d. h. 3 Wochen vor der Operation plötz-
lich stark ausgebildete Eeulenflnger in höchstens 14 Tagen, und
zwar an allen Fingern, nicht an den Zehen. Bereits nach 3 Monaten
war die Fingerdifformität verschwunden. Es bestanden dabei nur
geringe Atembeschwerden, keine Cyanose und keine Zirkulations-
störung; einen ähnlichen Fall hat F. Lacher (1901) publiziert;
ebenfalls 3 Monate nach der Empyemoperation waren die Trommel-
schlägelflnger zurfickgebildet. Vor der Operation betrug der Quer-
durchmesser des rechten Danmennagelgliedes 3,2, des linken 3,3;
nach der Operation maßen die betreffenden Glieder 2,7 und 3 cm.
Eine ähnliche, an sich selbst gemachte Beobachtung über Ent^
stehung hippokratischer Nägel nach Empyem teilte Herr Dr. Tollet
aus Helsin^ors J. Heller (1. c.) mit.
„Der Patient litt März 1897 an einer Influenzapneumonie, an
die sich ein, 6 Wochen lang nicht diagnostiziertes, linkssei tige»
Empyem anschloß. Während dieser Zeit wurden die Fingerkuppen
dicker, die Nägel begannen sich in der Längsrichtung zu krümmea
und die Form anzunehmen, die man bei Kranken mit großen Bronchi-
ektasien konstatieren kann. Im Mai wurde eine Rippenresektion
ausgeführt; die nach der Operation verbleibende Fistel schloß sich
erst nach 11 Monaten. Erst in der letzten Zeit der Rekonvaleszenz,
kehrten die Nägel wieder zur Norm zurück. Bronchiektasien waren
bei dem Kranken nicht zu konstatieren, es bestanden nur in
der gesunden Lunge die gewöhnlich vorhandenen Kompensations-
erscheinungen. Zur Zeit (November 1898) sind die Nägel des Pa-
tienten, wie ich (Heller) mich selbst überzeugte, durchaus normal.^
Einen interessanten Fall von Lungengangrän hat Metten-
heim er beobachtet; bereits im Anfang der Erkrankung bildeten
sich bei dem Patienten Kolbenflnger und -zehen mit Kuppennägeln
aus. Etw:a 5 Jahre später traten periodische Anschwellungen
des einen Armes auf, deren Zusammenhang mit der Verdickung^
der Endphalangen Mettenheimer für wahrscheinlich hält
Zur klinischen Geschichte und Bedeutung der Trommelschlägelfinger. gg;
Ghorch (vgl. West 1. c. p. 64) beobachtete eine rasche Ent-
wicklutig der Difformit&t and ein ebenso schnelles Verschwinden*
n der Bekonyalescenz bei einem Langenabszeß.
In nicht geringerem Grade als in der Lunge sich abspielende
tuberkulöse Prozesser scheinen Bronchiektasien das Zustandekommen
der Trommelschlägelfinger zu begünstigen.
Nach Biermer (1865) kann sich die „kolbige Form der Finger-
nägel bei der Bronchiektasie ziemlich rasch entwickeln." Mehrere
intelligente Patienten gaben Bamberger selbst an, daß sie die Er^
scheinungen an den Extremitäten (schmerzhafte Verdickungen) zu
derselben Zeit bemerkt hätten, als das früher geruchlose Sputum
fötide geworden sei. Einer bemerkte dies 4 Jahre, ein anderer
1 Jahr nach dem Auftreten des f5tiden Sputums.
Am ausf&hrlichsten hat sich Gerhardt über die Beziehungen
der Trommelschlägelfinger zur Bronchiektasie und Tuberkulose ge-
, äußert; er ist der Ansicht, daß sich die trommelschlägelartige
Verdickung der Nagelglieder der Finger bei keiner anderen Krank-
heit stärker und entstellender entwickle, als bei der Bronchi-
ektasie, und betont, daß sie an den noch wachsenden Fingern der
Kinder noch mehr hervortrete. Gerhardt sieht übrigens in ihnen
das Anfangsglied einer Reihe von Folgen, die in den von ihm selbst
beschriebenen Gelenkerkrankungen der Bronchiektatiker (Rheuma-
toid), in den von E. v. Bamberger beschriebenen Knochen-
auftreibungen ihre Fortsetzung, und in der Ma r i e' sehen Osteoarthro-
pathie ihren Schluß finden. Auch an den Zehen sah Gerhardt
ähnliche Veränderungen angedeutet. Ebenso sah Marfan (1. c. S. 377)
in der Marie' sehen Krankheit gewissermaßen nur das erste Sta-
dium der Trommelschlägelfinger, wie sie bei der Bronchiektasie
vorkommen. Nach ihm können in den späteren Stadien die Finger
wahrhafte Klauenform annehmen; die Handgelenke sind dabei ver-
dickt, die Zehen haben Glockenschlägelform (en battant de cloche)
(s. Abbildung 3 nach E. G6raud 1. c). Zusammenfassend sagt
Marfan, daß sich die hippokratischen Finger, ebenso wie bei der
Marie'schen Krankheit bei allen Leiden finden, die die Blutbil-
dung stören (Bronchitis, Tuberkulose, Cyanose).
Erkrankungen der Leber.
Erst verhältnismäßig spät hat man die trommelschlägelförmigen
Fingerendphalangen mit Erkrankungen der Leber in Beziehung
gesetzt. Bei dem von M. Flückiger (1884) aus der Kußmaul-
schen Klinik berichteten Fall, bei welchem chronische Verände-
6*
84
y. Ebbtsin
rungen an den Lungen oder am Herzen nicht nachzuweisen waren,
mag die durch eine Lebercirrhose bedingte Zirkulationsstörung
als Ursache für die Erweiterung der Unterleibs- und Ösophagus-
venen angesehen werden. Für die Dilatation der übrigen Körper-
yen en und der Lungenyenen und die intra vitam verursachten
Stauungserscheinungen, die hochgradige Cyanose und die kolben-
förmigen Fingerphalangen konnte ein sicheres ätiologisches Moment
um so weniger angegeben werden, als Veränderungen in der Struktur
der Gefäße nicht gefunden wurden.
Abb. 3.
Vor allem seit dem Jahre 1 895 ist besonders in der französischen
Literatur zuerst von Gilbert und F o u r n i e r auf die mit der biliären
Cirrhose öfter einhergehenden Veränderungen der Fingerendphalangen
hingewiesen worden; die ersten 3 Fälle betrafen Kinder; in England
bestätigten Taylor (1897) und Smith (1898) diese Befunde.
Boutron (1899) hat diese Beziehungen in seiner Pariser
Dissertation klargelegt und darauf hingewiesen, daß man durch
Berücksichtigung der Fingerveränderungen besonders auf die ju-
venilen Formen der Lebercirrhose aufmerksam geworden sei, die
wesentliche Unterschiede von der bei Erwachsenen beschriebenen
aufweise.
Im Jahre 1902 stellten Gilbert und Lerchoullet bereits
40 solcher Fälle zusammen, in denen die eigentümlichen Finger-
veränderungen mit biliärer Cirrhose kompliziert waren, für deren
Ursprung sie weder Herz- noch Lungenkrankheiten verantwortlich
machen, sondern sie für eine Folge der Leberveränderung erklären.
Wie die Radiogramme und die Sektion gezeigt haben, beschränkt
Zur klinischen Geschichte und Bedentnng der Trommelschlägelftnger. 85
sieh der Prozeß an den Fingern, ansschließlich anf die Weichteile
der Fingerkuppen ohne Beteiligung der Knochen, die hier und da
nur in späten Stadien der Krankheit aufgetreten sein sollen. Es
bestanden kolbige Anschwellungen der Fingerendglieder, zum Teil
waren auch die Nägel beteiligt, die teils in der konvexen Fläche
gebogen, teils gekrümmt, in einigen Fällen sogar nach Art der
VogelkraUe auf die Plantarseite umgebogen waren. Als Ursache
der biliären Cirrhose und der damit zusammenhängenden Finger-
veränderungen nehmen Gilbert und LerchouUet teils Infektion,
teils Cholämie an. Ähnliche Beobachtungen haben u. a. P. Chatin
und A. Cade (1901) publiziert; in dem einen Fall handelte es sich
am chronischen Ikterus durch Retention, mit ascendierender Angio-
Cholecystitis und sekundären Läsionen des Leberparenchyms ; in dem
anderen Fall handelte es sich um chronische Nephritis, in deren
Verlauf sich Veränderungen an den Endphalangen zeigten, welche
an die bei der Marie'schen Krankheit beobachteten erinnerten.
Das Röntgenbild konstatierte knöcherne Läsionen. Bei dieser Ge-
legenheit erinnern Chat in und Cade an zwei ähnliche von
Es b ach (1876) mitgeteilte Fälle, und an einen von Marfan (1893)
publizierten Fall, der ein Kind betraf, das an ascendierender Pyelo-
nephritis litt und schließlich Erscheinungen der Marie'schen Krank-
heit bot
Femer konnte A. Obermayer Trommelschlägelfinger und
Wucherungen an Schenkel- und Oberknochen bei fünf ikterischen
Männern nachweisen; er führte sie hauptsächlich auf die von
M. Herz (14. Kongreß für innere Medizin 1896 p. 466) experimentell
erwiesene Erweiterung der Kapillaren, auf Überernährung und
chronische cholämische Intoxikation zurück.
Bei der sog. autotoxischen enterogenen Cyanose
(Stok vis und v. d. Bergh) scheinen auch öfters Trommelschlägel-
finger aufzutreten. Man nimmt an, daß diese Cyanose durch
endogene, unter Umständen beim StofiTwechsel sich bildende Toxine
entstehen könne. Die Beobachtung von Stokvis betraf einen
38jährigen Mann, der an einer heftigen Enteritis litt und eine
starke Cyanose der Haut und der sichtbaren Schleimhäute darbot
nebst geringer Schwellung der letzten Fingerphalangen. Bei dem
einen von v. d. Bergh mitgeteilten Falle (9 jähriger Knabe, Per-
kussionsflgur des Herzens normal, Herztöne durchaus rein, starke
Cyanose) boten die Finger und Zehen die typische Trommelschlägel-
form. Aus dem aufgenommenen Sadiogramm ergab sich, daß diese
Difformität größtenteils auf einer Verdickung der Weichteile be-
86 V. £bstbik
rahte. In dem zweiten Falle von enterogener Cyanose fehlten die
Verdickungen an den Endphalangen der Finger und Zehen.
Bereits Labrit (1899) schrieb die Fingerdifformität n. a. einer
Autointoxikation zu, die durch Zirkulationsstörungen bedingt sei
Osteoarthropathie hypertrophiante pneumiqne^)
(Marie), Sekundäre hyperplastische Ostitis (J. Arnold),
tozigene Ost6o-Periostitis ossificans (Sternberg).
Seit dem Jahre 1890, in dem Pierre Marie unter dem Titel
der Osttoarthropathie hypertrophiante pnenmique — welche wir
der Einfachheit halber als Marie'sche Krankheit bezeichnen wollen —
ist die Geschichte der Trommelschlägelflnger in ein neues Fahr-
wasser gekommen: wir verstehen unter ihr eine Erkrankung des
Skeletts, die durch Verdickung der Röhrenknochen in der Nähe
der Gelenke charakterisiert ist und durch ein eigenartiges Eeulig-
werden der Fingerenden, den gewöhnlichen Keulenfingem der
-chronischen Herz- und Lungenkrankheiten ähnlich sind, worüber ja
bereits gehandelt worden ist. Unabhängig und fast gleichzeitig
(1889 und 1891) berichtete dann E. v. Bamberger über eine Reihe
von ähnlichen Fällen, welche er für abhängig hielt von der Hyper-
trophie und Sklerose der Knochen. Seit dem Erscheinen dieser
Arbeiten ist viel über die Krankheit diskutiert, und manche neue
Fälle sind mitgeteilt worden. Miller in Philadelphia betonte vor
kurzem (1904) in einer recht lesenswerten Arbeit ^ c.) über diesen
Gegenstand, daß der längliche und etwas irreführende Titel der
Osteoarthropathie usw., trotz aller Versuche, ihn durch einen besseren
zu ersetzen, wahrscheinlich deshalb geblieben sei, weil es so schwer
sei, die verschiedenen klinischen Symptome der Krankheit darin
unterzubringen. Von allen Ersatznamen scheint Miller — und
darin wird ihm jeder beistimmen — der von J. Arnold (1894) vor-
geschlagene Name „sekundäre hyperplastische Ostitis" am nächsten
zu kommen, weil die Knochenveränderungen auch bei anderen, ab-
gesehen von Erkrankungen der Lunge, vorkommen, und die Gelenke
gewöhnlich nicht wesentlich verändert sind. Die Marie 'sehe Krank-
heit ist — im Gegensatz zur Akromegalie — fast immer eine
sekundäre Erkrankung, welche im Verlaufe von AfiFektionen der
Lungen und des Kreislaufs, von Cystitis, Pyelonephritis, Syphilis,
Dysenterie, chronischem Ikterus und anderen Affektionen auftritt,
während auch über einige Fälle berichtet ist, in welchen keine primäre
1) G6raud setzt dafür „hematique'' ein.
Zar klinischen Geschichte nnd Bedentnng der Trommelschlftgelfinger. 87
Krankheit entdeckt werden konnte« (Declonx nnd Lippmann
(1902), Stevens (1897) u. a.)
Indes die größte Zahl der Fälle wurde mit Lungenaffektionen
in Verbindung gebracht: 75®/o nach Whitmann (1899), und 70%
nach der Zusammenstellung von Janeway (1903), der die Marie-
schen und V. Bamberger'schen Typen sammelte. Die Lungen*
krankheiten, welche man gewöhnlich mit der Osteoarthropathie zu*
sammen antrifft, sind Tuberkulose, Broncbiektasie und andere eiterige
Affektionen der Lunge und Pleura, während jedoch Echinokokken
und maligne Geschwülste nur in wenigen Fällen beobachtet sind.
Die Marie 'sehe Krankheit besteht also im wesentlichen in
jeiner ossifizierenden Osteoperiostitis (vgl. Sternberg 's Bezeich-
nung), die gewöhnlich auf die distalen Enden der langen Knochen
(Ulna^ Badius, Tibia und Fibula) beschränkt ist; weniger häufig
auf die Carpal-, Tarsal- und Phalangeal-Knochen. In schwereren
Fällen kann das ganze Skelett affiziert sein. Die Veränderungen
an den distalen Phalangen selbst sind außerordentlich gering, und
oft nicht einmal durch die Radioskopie zu erweisen. In anderen
Fällen begegnet man deutlichen osteophytischen Auflagerungen,
gelegentlich dicken blumenkohlartigen Massen, die an den End*
Phalangen beobachtet wurden (v. Bamberg er). Indes die Ver-
änderungen an den Knochen sind nicht die einzige Ursache der
Difformitäten, die man während des Lebens beobachtet ; ein großer
Teil der Veränderungen beiiiht auf der Verdickung und Schwellung
der Weichteile. Die eigentümliche Fingerform, die charakteristische
Anschwellung hängt aber nicht ganz von der Hypertrophie der
Weichteile ab. Darüber hat uns das Köntgenogramm mit der Zeit
Aufklärung gebracht. Daß die knöchernen Phalangen teilnehmen
können, ist durch B a m b e r g e r (I.e. Fall III) zweifellos erwiesen,
Spillmann u. Haushalter und Leföbvre (Obs. XII) schreiben
in ihren Fällen die kolbige Auftreibung nach der Beobachtung am
Lebenden ausschließlich den Knochen zu. Indessen bedeutet dies
sicherlich Ausnahmen (M. B. Schmidt, 1. c. p. 937). Sichere
anatomische und histologische Untersuchungen stehen gegenüber
(A. Frey tag), welche das Knochengerüst der Trommelschlägelfinger
als vollständig intakt erwiesen. Lediglich starke Kapillarhyperämie
und Verdickung des kutanen und subkutanen Gewebes, aber ohne
qualitative Abweichung^ speziell ohne entzündliche Wucherungen
konnte Frey tag konstatieren. Zu demselben Resultate haben
auch die Röntgenaufnahmen durch Teleky und Sternberg ge-
führt. Der Umstand, daß sich diese Difformitäten an Fingern und
gg Y. Ebstein
Zehen in kurzer Zeit vollständig ausbilden können, sprechen auch
nicht für die Annahme einer alleinigen Affektion der Knochen.
Was die Zeit betrifft, in der sich die Trommelschlägelfinger
und Zehen entwickeln, so beobachtete Saundby (1. c), daß der
Zustand an den Händen innerhalb einer, an den Füßen innerhalb
dreier Wochen seine definitive Ausbildung erreichen kann. Ebenso
rasch wie sie in Erscheinung treten können, können sie auch ver-
schwinden, oder sich mehr oder weniger zurückbilden, über der-
artige Fälle haben Gillet (1892), Moizard (1893) und Moussons
(1890) berichtet, die sämtlich Kinder betrafen.
Daß die Auftreibungen der Endphalangen mit Besserung des
Grundleidens wieder rückgängig werden können beobachtete-Oril-
lard.
So darf man wohl mit M. B. S c h m i d t (1. c.) den Schluß ziehen,
daß die Knochenaffektion nicht etwa von der Peripherie nach dem
Zentrum des Skeletts fortschreitet, sondern an den distalen Enden
der langen Röhrenknochen beginnt, während meist gleichzeitig die
Phalangen nur durch Verdickung der Weichteile anschwellen und
nur ausnahmsweise auch hier der Knochen beteiligt wird. Weiter
folgert Schmidt aus dem Umstände, daß die Verdickung der
Vorderarme und Unterschenkel fast nie ohne ausgesprochene
Trommelschlägelform der Finger und Zehen auftritt, daß die An-
nahme einer zufälligen Kombination auszuschließen ist und daß
offenbar „die Weichteilaffektion der letzteren mit der Knochen-
hyperplasie ätiologisch auf gleiche Stufe gestellt werden muß".
Die Untersuchungen von Bamberger und Frey tag haben indes
gezeigt, daß die besprochene Difformität der Finger und Zehen
isoliert, ohne Erkrankung der langen Röhrenknochen in Erscheinung
treten kann: es fehlten nämlich oft am Lebenden die fühlbaren Ver-
dickungen und das von Bamberger betonte Symptom der Druck-
empflndlichkeit. Selbst hohe Grade der Trommelschlägelfinger haben
nach anatomischen Untersuchungen beider Verfasser intakte Roliren-
knochen ergeben. Danach darf man also nicht, wie es Moizard und
Marfan getan haben, einfache Trommelschlägelfinger ohne weiteres
mit der „Osteoarthropathie hypertrophiante" identifizieren, sondern
man wird nur sagen dürfen, daß die Fingerdifformität das Vor-
stadium der „Osteoarthropathie" darstellt, die letztere aber nicht
notwendig folgen muß ; dieser Ansicht Stern berg's hat sich auch
G6raud (1898) und Miller (1904) u. a. angeschlossen; anderer
Ansicht ist Labrit (1. c).
Ätiologisch scheinen in der Tat die gewöhnlichen Trommel-
Znr klinischen Qescbichte und Bedentong der Trommelschlägelfinger. 89
schlägelfinger dem vollen Bild der Osteoarthropathie vollständig
gleich zu stehen; denn die Grundleiden, bei welchen erstere ent-
stehen, sind nicht nur, wie gewöhnlich, Störungen des Respirations-
and Zirkulationsapparates, sondern auch die selteneren Momente,
wie Syphilis, Ikterus usw.
F. R Walters (1895) hat diese Affektion in drei Gruppen
geteilt. 1. Die typische Osteoarthropathie, mit der eigentümlichen
Form der Keulenfinger und Veränderungen an den langen Knochen.
2. Fälle, in welchen nur die eigentümliche Keulenform der Finger
zutage tritt. 3. Eine Mischform, welche alle Fälle umfaßt, in
welchen die Verdickung der Enden primär zu sein scheint, als auch
andere unsicherer Natur. Als eine vierte Gruppe möchte er die
gewöhnlichen Kenlenflnger der chronischen Herz- und Lungen-
krankheiten hinzurechnen, speziell die bei angeborenen Herzkrank-
heiten auftretenden, weil diese letzteren gewiß in enger klinischer
und ätiologischer Beziehung zur Osteoarthropathie stehen.
Die Keulenform der Finger in der Osteoarthropathie ist ganz
charakteiistisch und unterscheidet sich meistens unschwer von den
sog. hippokratischen Fingern : „Die Finger besitzen ausgesprochene
Trommelschlägelform, d. h. die unverhältnismäßig starke kolbige
Auftreibung der Endphalangen mit der Vergrößerung und uhrglas-
förmigen Krümmung der Nägel, während die erste und zweite
Phalanx nur leicht geschwollen sind und die Mittelhand und Hand-
wurzel außer einer Verdickung im Bereiche der Metarkarpus-
köpfchen normale Dimensionen bieten^; auch die Zehen haben
Trommelschlägelform (vgl. M. B. Schmidt). Miller (1904) betont
u. a. die überraschende Ähnlichkeit des Nagels mit einem Papagei-
schnabel, und gebraucht als Übersetzung für unsere Trommelschlägel-
finger zum ersten Male, soweit ich die Sache übersehe, „drum
stick", während die Engländer und die Amerikaner sonst nur von
„clubbed fingers" (vgl. oben S. 67) reden. Walters hat sich ge-
nauere Unterschiede zwischen den osteoarthropathischen und hippo-
kratischen Fingern konstruiert, er muß aber zugeben, daß es auch
intermediäre Formen gibt. Miller weist noch darauf hin, daß der
Nagel bei der Marie'schen Krankheit rosenrot, und und oft gestrichelt
und brüchig ist, während die hippokratischen Finger meistens blau
und cyanotisch sind. Die Differenz zwischen den beiden Formen
läßt sich am besten aus Abbildungen erkennen, deren ich einige
(Abbildung 4 [nach G6raud 1. c] und 5 [nach Marie I.e.])
beigegeben habe.
Die Difformität an den Fingern findet sicli gewöhnlicli an allen
90 V. Ebitbui
Fingern und Zehen (Sternberg), obgleich an letzteren weniger
ausgeprägt, wie überhaupt auf die Veräoderung an den Zehen
nicht allzuviel Gewicht zn legen ist (s. oben p. 71).
Während Freytag u. Whitman ^^^
die gewöholichen Trommelscblägelfinger
als eine bestimmte Affektion ansehen —
und die eigentümliche Form des arthi-o-
pathischen Fingers würde ihre Ansicht
scheinbar stützen, schließt sich Miller
der^Ansicht Janeway's an, der glaubt,
daß es klug sei, die Zustände als verschiedene Stadien desselben
Prozesses anzusehen, bis ein Fall mit Knochenveränderungen
und keinen Trommelschlägelfingern gefunden wird —
bis jetzt ist in der Tat kein solcher Fall beobachtet worden —
oder bis eine sichere und verschiedene Ätiologie fftr die beiden
Erkrankungen bewiesen ist.
Die Osteoarthropathie, d. h. der Marie'sche und v. Bam-
berger'sche Typus scheint bei Kindern selten vorzukommen.
Lef^bvre (1891) glaubte deshalb sogar, daß sie eine Erkrankung
der Erwachsenen wäre. Whitman hat aber einen typischen Fall
bei einem Kinde beobachtet, bei dem sich im Alter von 2 Jahren
die Pott'sche Krankheit entwickelte; mit 5 Jahren Keuchhusten,
danach dauernd Husten und Auswurf; mit ö'/j Jahren bemerkte man
Zur klinischen Geschichte nnd Bedentung der Trommelschl&gelfinger. 91
zuerst Verbreiternng der Fingerenden; mit 8 Jahren Verdickung
der Unterarme und Anschwellung der Handgelenke, charakteristische
Zeulenfinger, mäßige Kyphose, fiigidität der Wirbelsäule, und
Zeichen von Lungentuberkulose. Der von Field mitgeteilte
Fall (17 Monate altes Kind) ist von Sternberg und Janeway
als Osteoarthropathie, von Arnold als Akromegalie angesehen
worden. Der Fall von Davis: 5 V« jähr. Junge, charakteristische
.Veränderungen in Verbindung mit Empyem, ein Jahr nach einer
Pneumonie beobachtet, scheint echt zu sein. Bamberger (Fall 8,
L c. p. 201 f.) berichtet über einen 7 jährigen Knaben (Pulmonal-
stenose, angeborene Cyanose und Lungentuberkulose). Thorburn
verweist auf einen Fall bei einem Kind (das Alter ist nicht notiert),
bei dem Tibia, Fibula, Radius und ülna verdickt waren, der gewöhn-
liche lYommelschlägelfinger hatte, aber keine Lungenerkrankung.
Gillet sah einen typischen Fall bei einem dreijährigen Jungen,
welcher seit seinem vierten Jahr wiederholt Bronchitis gehabt hatte.
So existieren also nur fünf oder sechs typische Fälle des
Marie'schen Typus bei Kindern.
Wenn wir nun mit Geraud, Schmidt, Miller u. a. die
gewöhnlichen Trommelschlägel finger der chronischen Lungen- und
Herzkrankheiten als die leichtesten Grade der Osteoarthropathie
ansehen, so wird die Zahl der Fälle im frühen Lebensalter weitaus
vergrößert, da schon allein die kongenitalen Herzkrankheiten ein
großes Kontingent stellen.
6 i 11 et ist der Ansicht, daß die Affektion in der Kindheit auf
die Endphalangen beschränkt bleibt, und nur geringe Tendenz
zeigt, auch die dicken Knochen zu befallen. Indes beweist offenbar
der von Whitman beschriebene Fall, daß — wenn das auch ge-
wöhnlich die Regel sein mag — hippokratische Finger gelegent-
lich in eine typische Osteoarthropathie übergehen können ; in diesem
Falle verging eine Zeit von fünf Jahren zwischen dem ersten Auf-
treten der Keulenfinger und dem ersten Anzeichen, daß die Röhren*
knochen befallen waren.
Hans Hirsch feld hat vor kurzem (1902) eine Mitteilung über
eine Affektion gemacht, die er nach den Krankheitserscheinungen
beschreibt als eine symmetrische auf Volnmenszunahme der Haut
beruhende Vergrößerung der Hände und Füße mit trommelschlägel-
ähnlicher Difformierung der Endphalangen und Nägel, intermit-
tierendem Ödem, exacerbierenden Schmerzen und Druckempflndlich-
keit der Nervenstämme. Für die drei Fälle, die Hirsch feld
mitteilt, glaubt er eine neue Krankheitsbezeichnung „Dermato-
92 V. Ebstbiw
hypertrophia vasomotoria^ aufstellen zu müssen, wenn er auch
freilich zugeben muß, daß seine Fälle eine sehr nahe Verwandt-
schaft zu der Mari ersehen Krankheit haben. Ob es tatsächlich be-
rechtigt ist, diese als neue Krankheitsform von der Marie 'sehen
abzuzweigen, oder ob sie nicht einfach als Anfangsstadium der
letzteren, bei denen es infolge zu kurzer Dauer der peripheren
Erscheinungen noch nicht zu degenerativen Veränderungen am
Skelett kam, möchte ich mit S c h i 1 1 e n h e 1 m (1. c.) noch dahin-
gestellt sein lassen.
Daß sich die Osteoarthropathie M a r i e 's mit der Akromegalie
vergesellschaften kann, haben u. a. die Beobachtungen von AV. S.
Thayer (1896 u. 1898) und von Jolly (1899) gezeigt.
Daß die sonst fär die Akromegalie typischen Verdickungen
der Endphalangen nicht konstant zu sein brauchen, lehrt u. a. der
von F. Klau (1905) mitgeteilte Fall, bei dem die Finger im Gegen-
teil recht schlank, drehrund sind und sich sogar ziemlich bedeutend
zur Spitze hin verjüngen. Auch die Nägel sind wohl ausgebildet,
was auch auf den der Arbeit beigegebenen Abbildungen gut zu
sehen ist; der Fall erinnert, nach der Beschreibung zu urteilen, an
den Fall von E. Mendel (1896), in welchem nur eine allgemeine
Vergrößerung der Hand- vorlag, mit Verdickung der Finger, wobei
sich dieselben ebenfalls nach der Spitze hin verjüngten. In dem Fall
von Mendel nahmen nur die Weichteile an den Veränderungen teil,
nicht aber das Skelett (Edel, 1897). Der Fall von Klau konnte
nicht durchleuchtet werden. Der von W. Ebstein (1899) demon-
strierte Fall eines 31jährigen an Akromegalie leidenden Mannes
zeigte dagegen an den Endphalangen eine sehr ausgesprochene
Trommelschlägelbildung. Die Kadiogramme ließen erkennen, daß die
übrigens sonst nicht veränderten Knochen an jener Stelle volumi-
nöser, besonders breiter waren als in der Norm, aber die Haupt-
sache bei der Volumenzunahme entfiel auf die Weichteile der peri-
pherischen Partien der Extremitäten.
Myxödem.
Daß bei infantilem Myxödem Trommelschlägelfinger gelegent-
lich vorkommen können, zeigen die Beobachtungen von M e i g e und
Allard (1898). Aus dem ihrer Arbeit beigegebenen Radiogramm
erkennt man, daß nur die Weichteile an der Verdickung teilnehmen.
In dem betreflFenden Falle, bei dem der Daumen die DifFormität am
stärksten zeigte, schien die Formveränderung der Endphalangen
von der bestehenden schweren Lungenphthise abhängig zu sein;
Zur klinischen Geschichte and Bedentnng der Trommelschlägelfinger. 93
aniier den Händen waren auch die Füße an der Mißbildung beteiligt.
Die Endphalangen sind groß and dick; besonders sind die Nägel
verbreitert und nach dem hippoki^atischen Typus gekrümmt
Nach Leffebvre (1891) kommen auch beim Myxödem der Er-
wachsenen solche Difformitäten vor. Vielleicht ist das relativ
häufige Vorkommen von Tuberkulose in den Familien Myxödema-
töser (Pel, Greenfeld, Byron, Bramwell) mitunter dafür
verantwortlich zu machen.
Intrathorakale Geschwülste und Thoraxdifformitäten.
Lebert (vgl. Hertz 1. c. 1877) sah in einzelnen Fällen von
LungengeschwUlsten „kolbige Auftreibungen und Verkrümmungen
der Nägel", vne sie bei Phthisikern vorkommen.
C. Gerhardt (1898) sah, wie bereits oben hervorgehoben
(S. 79), bei einer Kranken durch Geschwulst des Mittelfalls wasser-
süchtige Anschwellung des rechten Armes, Stauung in der rechten
Drosselvene und dabei viel stärker entwickelte Trommelschlägel-
finger an der rechten Hand als an der linken.
Swoboda (1904) hat vor kurzem die Aufmerksamkeit auf das
nahezu konstante Vorkommen der Troramelschlägelfinger bei schwer
rachitischen Kindern mit raumbewegenden Thoraxdifformitäten ge-
lenkt. Er hatte Gelegenheit, einen rachitischen Thorax mit unge-
wöhnlich schweren Difformitäten zu beobachten, an dem sämtliche
Rippenknorpel im Verein mit dem ungewöhnlich schmalen Sternum
einen erkerförmigen Vorsprung bildeten, welcher im horizontalen
Querschnitt hufeisenförmig war. Die Furchen zu beiden Seiten
dieses Vorsprungs vnirden bei der Inspiration tief eingezogen, wo-
durch die Raumverhältnisse noch wesentlich verschlechtert wurden.
Eine genauere Erklärung über das Zustandekommen der Trommel-
schlägelfinger hat Swoboda nicht gegeben. Vielleicht darf hier
an die Untersuchungen von Esbach (1876) erinnert werden, dessen
sorgfältige Untersuchungen gezeigt haben, daß bei Rachitis sich
jedenfalls Knochenveränderungen an der Nagelphalanx abspielen.
Erkrankungen des Herzens, insbes. angeborene Herzfehler.
Um das Zustandekommen der bei angeborenen Herzfehlem
sich entwickelnden Trommelschlägelfinger zu erklären, hat man
bisher merkwürdigerweise die normale embryonale Entwicklung
der Phalangen und speziell der Endphalangen nicht in Betracht
gezogen.
Bekanntlich ßLlIt die eigentliche Entwicklang der ftnßeren
Form der H&nd in den dritten bis ffinften FQtalmonat (Betzins).
Eetzins hat in seinen biologischen Untersuchnngen (1904) sehr
instrnktire Abbildangen davon gegeben (Tgl. Tafel XXIfl— XXYI).
In Anfang des dritten Fötalmonats entwickeln sich speziell an den
Endphatangen der Finger „stark hervorragende halbkugelige Tast-
ballen", wie sie Betzius mit Unrecht nennt, da sie in Wirklichkeit
gar keine Tastorgane darstellen. Man kann also, je jünger diemensch-
liche Extremität ist, um so mehr von einer Engelform des peripheri-
schenEndesderNageIphaIanz8prechen(GrIlfenbergl.c., Fig.6). Da-
gegen kann man diese peripherische kolbige Terdicknng an etwas
älteren Fingern nicht mehr in dieser charakteristischen Gestalt
erkennen, da sich die Ballen gewissenoaßen zarhckbilden nnd nie-
drige werden.
Durch die LiebenswQrdigkeit des Herrn Prot
Abb. 6. i>r_ E. Kallius, wofür ich ihm anch an dieser
Stelle meinen besten Dank ausspreche, konnte
ich mehrere durch die Hände von ca. 4— 5-
monatlichen Föten gemachten Durchschnitte ein-
sehen ; aus dem einen Präparat, das ich in etwa
doppelter Vergrößerung wiedergebe (Abbildung 6)
erhellt znr Genüge, wie ich glaube, die Trommel-
schlägelfonn der embryonalen Fingerendpha-
langen. Weiter erkennt man aus den mit Thionin-
Ißsung (Kallins) bebandelten Präparaten — auf diese Färbung
eagieren besonders die embryonalen Knorpelzellen mit aberraschen-
der Exaktheit — deutlich, daß an der Verdickung der Endphalange
keineswegs die Enorpelsubstanz, sondern nur die bindegewebige
Pulpa teilhat.
Dieser Befund steht mit den bei kongenitalen Herzleiden im
allgemeinen gemachten Erfahmngen insofern im Einklang, als man
bei ihnen ebenfalls keine Veränderungen der knöchernen Phalanx
gefunden hat, und macht die Vermutung wahrscheinlich, daß die
normale fStale Trommelschlägelform der Endphalangen später, so-
bald Dmcksteigemngen irgendwelcher Art, die gerade an den
distalen Enden des Körpers am leichtesten Zustande kommen können,
unschwer die bei angeborenen Herzleiden vorkommenden Difformi-
täten der Finger erklären lassen.
Zum Beweise, daß trommelstockähnliche, kolhig aufgetriebene
Nagelglieder auch verhältnismäßig früh zur Ausbildung gelangen,
erinnert Rauchfuß an den von ihm beschriebenen Fall ven kon-
Zur kliniflcben Qescbichte nnd Bedentnng der Trommel8cblSgel&]i8:er. 95
gesitaler Atresie des Lan^narterieDostinms bei einem TiennoDat-
lichen Kinde. Wie anch Swoboda {1904} beobachtet hat, sind
TrommelschlägelfiDger im ersten Lebensjahr offenbar selten ; in der
Zeit Tom 2.-5. Lebensjahre dagegfen scheinen sie sehr häufig zn sun ;
er beobachtete sie bei Fällen von chronischer Lnngentaberknlose,
ferner bei Empyemen nnd bei einem Fall von Concretio cordis.
Das zweijährige Kind, das Hochainger (1904) beobachten konnte,
hatte Trommelscfal&gelfinger, anßerdem eine chronische Lnngen-
inflltration, die steh im Anschluß an einen Keachhnste.n eingeteilt
hatte; es wurde angeoommen, dafi es sich in diesem Falle am eine
iv relativ frohem Alter zustande gekommene Osteoarthropathie
hypertrophiante pnenmiqne g^widelt habe; einen ähnlichen Fall
beobachtete R. Whitman (1899).
Nach E. Komberg trifft man die Difformität der Finger ev.
auch der Zehen bei erworbenen Herakrankheiten „hin und wieder",
dagegen bei angeborenen Herzleiden mit lang anhaltender venöser
Staanng „recht oft".
Es kann hier unmöglich darauf eingegangen werden, wie bei
den einzelnen erworbenen und angeborenen Herzfehlern die Diffor-
mitäten der Finger sich verhalten und zustande kommen. Als
Beispiel gebe ich (Abbildang 7) die Hände eines siebenjährigen
Knaben, der an einer erst später erworbenen Mitralinsnfficienz litt.
(GQtti&ger med. Klinik.)
96 V. Ebstein
Bei den so seltenen Fällen von Pulmonalinsufficienz (vgl.
H. Bosse 1906) scheinen die Veränderungen an den Endphalangen
nicht aufzutreten.
Romberg hält ihre Ursache mit Bamberger wohl sicher
für keine einheitliche; er betont, daß bei Herzaffektionen, eine
Verdickung der Epiphysen von Vorderarmen und Unterschenkeln,
wie sie Marie bei starker Ausbildung der Veränderung im Ge-
folge von Lungenkrankheiten gesehen habe, nicht vorzukommen
scheine.
Außer an die venöse Stauung muß man nach E o m b e r g auch
an die bei angeborenen Herzfehlern so häufigen Lungenerkrankungen
und an Lues denken, die sie ebenfalls hervorrufen können, wie
wir gesehen haben, fiomberg sah diese Veränderung bisweilen
auffallend schnell entstehen ; so beobachtete er sie einmal bei einem
46 jährigen Syphilitiker mit arteriosklerotischer Aorteninsufificienz
und Angina pectoris, bei dem die Lungen gesund waren und eine
stärkere venöse Stauung nicht bestand, im Laufe weniger Wochen
in recht starkem Maße sich entwickeln.
J. Heller hat die bei Herzkrankheiten vorkommenden Ver-
änderungen ap der Endphalanx zusammengestellt, die er ausschließlich
durch Stauungen im venösen System entstehen läßt Die zweite Ver-
änderung der Nägel bei Herzkrankheiten ist die Entstehung der
hippokratischen Nagelkrümmung, die sich mit den Trommelschlägel-
fingern vergesellschaftet. Heller nimmt an, daß die Stauung
eine Hervorwölbung der Matrix bewirke, während Nagelbett und
Nagelfalz weniger durch die Schwellung alteriert würden; die
Folge davon sei das veränderte Nagelwachstum.
Von den angeborenen Herzkrankheiten kommen die häufigsten
und ausgeprägtesten Fingerdifformi täten bei der Pulmonalstenose
und bei Septumdefekten vor.
Heller gibt (1. c. p. 182) eine instruktive Abbildung von
kolbiger Auftreibung der Nagelglieder und hippokratischer Nagel-
krümmung bei Pulmonalstenose. Weit intensivere Veränderungen
muß der Fall gezeigt haben, den Aug. Hoff mann (1904) be-
schrieben hat; es handelte sich ebenfalls um Pulmonalstenose mit
ganz enorm entwickelten Verdickungen der Endphalangen der
Finger. Die Nägel waren krallenförraig gebogen, verschmälert;
sie saßen den zu Kolben verdickten Phalangen etwa zu einem Viertel
des Umfangs auf Hoffmann wundert sich, wie der Kranke —
von Beruf Biireauarbeiter — mit diesen Fingera hat schreiben
können.
s
Zur UinücheD Geschichte nud BedentiUig: der TrommelscU&Kelfinger. 9?
Was dfts Entstehen der Finger bei Pnlmon&lstenose anlaDg^t,
Go glaubt Liebermeister (1687 p. 397), daß infolge der an-
<liiuernden mäßigen Stauung im großen Kreislauf — im weiteren
Verianfe der Palmonalstenose — in der Begel diese aufi'allende
Verdickung der Nagelglieder der Finger nud der Zehen entstehe,
welche dorch üjrpertrophie der Gewebe der Bindesnbstanz bedingt
■sei. Dagegen .beobachtete Norman Moore (1885) bei einem
dreijährigen Knaben, der ebenfalls an einer Palmonalstenose litt,
keine Vermehrung des Bindegewebes, so daß der längs durch-
schnittene Finger durch Druck auf normales Volumen gebi'acht
werden konnte. Die Wände der Blutgefäße erwiesen sich mikro-
skopisch als verdickt
Lees (1880) konnte in 11 unter 25 Peacock'schen Fällen
mit ausgesprochener Cyanose Trommelschlägelfinger, und zwar
7 mal deutlich, 3 mal leicht und einmal unsicher nachweisen.
Abb. 8.
Die hochgradigste Mißbildung der Finger hat wohl Lavergne
(1886) in seiner Doktordissertation abgebildet Es handelt sich
um die Hand eines secbsjährigen Knaben, die ich nach dem
Original (in Abbildung 8) wiedergebe; die Sektion des Falles er-
gab einen Septumdefekt im hinteren Abschnitt (vgl. die analogen
Fälle Rokitanski's). In der Krankengeschichte heißt es, daß
die Hand so platt aussehe, als ob sie gequetscht worden wäre.
Die Finger sind viel zu lang; die erste und zweite Phalanx sind
dünn und wohl weniger voluminDs als die dritte; die letztere mißt
DcnttchM Archiv t. klin. Hcdizin. W. Bd. 7
im Umfang 1 cm mehr und bat speziell Trommelschlftgelform. Die
Nägel sind nach vorn gebogen, dick aiid glänzend. An den Zehen
fanden sich ähnliche Veränderungen.
Wie B.flh1e (1877) betonte, gehörten die stärksten Grade der
Trommelschlägelflnger (kolbige Änschwellnng der dritten Phalanx,
Krümmung des Nagels, besonders in der Längsrichtang) '), nicht der
Phthise, sondern den angeborenen Herzfehlem, welche mit erheb-
licher Cyanose verbunden seien, an.
Abb. 9.
Abb. 10.
Zq den Mißbildungen des Herzens sei anch die abnorme Per-
sistenz des Ductus Botalli gezählt, welcher normalerweise in den
ersten Monaten des extrauterinen Lebens obliteriert. Abbildungen
9 und 10, die ich der These tou H. Meillet (1874) entnommen
habe, betreffen einen solchen Fall; eine nähere Beschreibaug tat
nicht not, um so mehr als Abbildung 9 die drei ersten Finger
dieser Hand im Profil zeigt.
Nerrose Einflösse.
Für die Ätiologie der Trommelschlägelflnger sind von einer
Reihe von Autoren zu verschiedenen Zeiten nervöse Einflüsse geltend
gemacht worden. So hielten sie Buhl (1872) und Birch-Hirsch-
feld (1877) mit der Sklerodermie für verwandt, ohne, soweit ich
sehe, in dieser Ansicht Anhänger gefunden zu haben. West, der
sich auf einen nihilistischen Standpunkt stellt, indem er behauptet,
da uns die Ui-sache dieser Afl'ektion unbekannt sei, so bringe es
uns auch nicht weiter, sie eine „neurotrophisebe Störung" zu nennen.
Sahli (1902), der sich betreffs der Entstehung der Difformität nicht
1) Später bemerkte U. Fischer hierzu, daß sich dieeea Moment an den
Fingern gelten ^de, wenn die Nägel gleichmäßig geechüitt«u wttrdeii.
Zar klinischen Geschichte und Bedeutung der Trommelschlägelfinger. 99
genauer ausspricht, reclinet die Trommelschlägelfinger zu den
atrophischen Veränderungen" der Haut.
H. Fischer (1879) bringt die Fingerdifformität mit dem er-
worbenen Biesenwüchs zusammen und weist auf nervöse Einflüsse hin.
In den von ihm beobachteten Fällen waren hauptsächlich die
Finger beteiligt, weniger die Zehen, welche nach Fischer nie*
mals allein erkranken. Die Mifibildnng trat immer erst ein, wenn
hektisches Fieber bestand. Zugleich beobachtete er „ein Brennen
und starkes Schwitzen der Handteller und Fußsohlen, und die
Temperatur in den Handtellern war, im Vergleich zu der des
anderen Körpers, um 1 ^ C und mehr gesteigert."
Des weiteren teilt Fischer einen Fall mit, in dem sich
Trommelstockfinger fanden, ohne daß Eiterung in der Brusthöhle
oder hektisches Fieber bestand; es handelte sich um Rachitis,
Craniotabes, um die betreffende Fingerdifformität und um ver-
mehrtes Wachstum derselben an Fingern und Zehen, die bereits
im ersten Lebensjahre bemerkt wurden. Fischer hebt ausdrück-
lieh hervor, daß, so oft er das damals dreijährige Kind untersuchte,
er jedesmal eine Zunahme in der Entwicklung der Trommelstock-
finger konstatieren konnte. Gemeinsam hatte der letzte Fall mit
den Phthisikern nur die beißen und schwitzenden Hände. Fischer
nimmt in diesen wie auch in den anderen Fällen eine lokale
vasomotorische Lähmung an, und fand „in der damit zusammen-
hängenden Verlangsamung der Blutzirkulation, die an der Peri-^
pherie der Glieder ihr Maximum erreichen würde, und in der da-
durch ermöglichten stärkeren Ernährung und plasmatischen Durch-
tränkung dieser Gewebe eine Erklärung für dieses abnorme
Wachstum des Endgliedes der Finger und Zehen".
Vielleicht mögen auch Beziehungen der Trommelschlägelfinger zu
der von WeirMitchel und Lannois zuerst als Erythromelalgie
beschriebenen Affektion bestehen, die auch als eine ausschließlich
an den Händen und namentlich an den Füßen sich zeigende
Vasomotorenlähmung aufgefaßt wird ; ich will hier nur an den von
Ä. Seeligmüller (1882) beschriebenen Fall erinnern, bei dem
die Kuppen sämtlicher Finger der linken Hand kolbenförmig an*
geschwollen und lebhaft gerötet waren; auch war die Volarfläche
der Nagelphalangen bauchförmig vorgewölbt; von einer Trommel-
schlägelform ist indes in dem Falle direkt keine Bede.
Graves (1. c.) schreibt 1843 in seinem „System der klinischen
Medizin", daß er innerhalb der letzten 10 Jahre in seiner Privat-
praxis dreimal Gelegenheit gehabt habe, eine Hypertrophie so-
7*
100 V. Ebstkin
sowohl der Fi&nferspitisen als auch der Näg^el iä beobachten, und
zwar zweimal bei Personen von schwächlichem Körperbau, einmal
hei einem Phthüsikus. Bei allen war der übrige Teil des Fingers
Abgemagert , während die Fingerspitze plötzlich im Querdurch^
messer anschwoll; die Nägel waren beträchtlich länger, breiter,
stärker und mehr gekrümmt als gewöhnlich. In den Fingerspitzen
:war die kapillare Zirkulation sichtlich verstärkt, indem diese
/Teile rot, oft schwitzend , heiß und schmenshaft waren. Ein ge-
ringer Teil diesör Affektion, der sich nur durch die Krümmung
^er Nägel, aber ohne Geschwulst der Fingerspitzen, welche sogar
abgemagert erscheinen, ausspricht, ist fast in allen Fällen von Phthise
rtrorhanden.
Nach Recklinghausen (1883) hat man für das Zustande-
k:ommen der Fingerdifformität auch eine abnorme Weite der Blut«
4)ahn als ursächliches Moment angeschuldigt. Man führte zum
Beweise dafür Fälle an, in denen Hypertrophie der Extremitäten
mit Gefaßektasie, bald mit Venen-, bald mit Arterienerweitemng,
bald auch mit Teleangiektasie verbunden war. Nichtsdestoweniger
•existieren nach Kecklinghausen auch solche Fälle ohne jede
Bypertrophie der Gewebe; auch die gewöhnliche Cyanose von
jahrelanger Dauer soll sicherlich keine Hypertrophie schaffen.
Daß in der Tat nervöse Einflüsse den Boden zur Osteoarthro-
pathie liefern könneü, haben eine Beihe von Beobachtungen wahr-
scheinlich gemacht. So beobachtete 0. Rosenbach (1890) Auf-
treibungen an den basalen Enden der Fingerendphalangen, die er als
Neuritis der zum Periost gehenden Nervenfasern ansah; so konnten
J. Arnold (1891) P. J. Möbius (1892), und Hans Hirschfeld
(1902) in ihren Fällen, in denen es sich um osteoarthropathische
Veränderungen bei chronischen Lnngenkrankheiten usw. handelte,
neuritische Prozesse als Grundlage annehmen. Schließlich lehrte
der von Walter Bereut (1903) veröffentlichte Fall, daB Osteo-
arthropathie lediglich durch schwere Neuritis entstehen kann.
Daraufhin kam Bereut zu der Annahme — und ihm schließt sich
auch M. Bernhardt 1906 an — , daß höchstwahrscheinlich neu-
ritische Prozesse überhaupt die Grundlage der osteoarthropathischen
Veränderungen bilden, nicht nur Blutstauungen oder Einwirkungen
von Toxinen, die durch Stauungskatarrhe resp. eiterige Prozesse in
den Lungen begleitet sind. Und zwar nimmt Bereut an, daß die
von Marie angenommenen Toxine derart wirken, daß sie eine
Neuritis erzeugen, durch die dann wiederum die osteoarthropathi-
schen Veränderungen entstehen.
Zar klinischen Geschichte und Bedeatung der Trommelschlägelfinger. 101
Einseitige Trommelschlftgelflnger.
Wir haben gesehen, daß die Affektion fast immer bilateral
und symmetrisch auftritt, indes kommen auch einseitige Trommel?
Schlägelfinger zar Beobachtung, welche aber offenbar zu den
großen Seltenheiten gehören. Ein solcher Fall ist zuerst durch
Ogle (1859) beschrieben worden : es handelte sich um ein enormes
Aneurysma der rechten Subclavia« Die Mißbildung der Finger —
eigentümliche Cyanose und Trommelschlägelbildung der Endphalangen
mit starker Hypertrophie der Nägel — saß auf derselben Seite,
auf der das Aneurysma sich befand; ähnliche Fälle von Canton
und Thomas Smith (citiert nach West 1. c). Gay hat auch
an einen Fall erinnert, in welchem zwei Subclavia- Aneurysmen be-
standen, und bei denen die Difformität dementsprechend bilateral
auftrat.
In allen diesen mit Aneurysmen vergesellschafteten Fällen
brachte die Heilung derselben — wenn, wie in dem vorhin citierten
Fall von Ogle nicht vorher Berstung des Aneurysmensacks ein-
getreten war — auch ein Verschwinden der Difformität mit sich.
Vor kurzem hat Groedel (1906) einen Fall von linksseitigen
Trommelschlägelflngem veröffentlicht; er kam schließlich zu der
Annahme, daß das links bestehende Aneurysma am Übergang des
Arcus zur Aorta descendens sitzen müsse, in der Nähe der Sub-
clavia sinistra abgehe und nach vom und links sich ausdehnend
einen Zug ausftbe zunächst an der Arterie, damit aber zugleich
auch die Vene komprimierend, resp. abknickend.
Angeregt durch die GroedeTsche Publikation veröffentlichte
M. Bernhardt (1906) einen Fall von einseitigen Trommelschlägel-
fingem, der dem von Bereut beschriebenen in allen wesentlichen
Punkten recht nahe steht. In Bernhardts Fall handelte es
sich um ein Aneurysma der Aorta ascendens, der Anonyma und
des Aortenbogens. Durch den Dnick der aneurysmatisch er-
weiterten Halsgefäße war eine schwerere Affektion des Plexus brachi-
alis herbeigeführt, die sich kundtat in sehr intensiven Schmerzen,
in der Abmagerung der betreffenden oberen Extremität, in den
auch objektiv nachweisbaren Sensibilitätsstörungen und den für
eine schwere Läsion der Nerven sprechenden Veränderungen der
elektrischen Erregbarkeit der dem achten Cervikal- und ersten
Dorsalnerven entstammenden Nerven, sowie aus der Beteiligung
des Sympathikus.
102 V. £BSTBn(
Pathologisch-anatomische Beftinde«
Die anatomisch-pathologischen Befunde sind nicht so zahlreich,
als man glauben sollte; das hängt wohl mit der Schwierigkeit zu-
sammen, daß man bei der Sektion einen so sichtbaren Teil am
Körper, wie die Finger und Zehen schlecht zur Untersuchung fort-
nehmen kann.
Die Untersuchungen betreffen naturgemäß den Nagel, die Pulpa
und den Knochen der Endphalanx.
Pigeaux beschäftigt sich hauptsächlich damit, wie die Krüm-
mung des Nagels zustande kommt Er stellt sich vor, daß durch
Zirkulationsstörungen in der (vom Herzen am meisten distal liegen^
den) Phalanx eine ödematöse Schwellung entstehe, deren Folge eine
Hebung der Matrix der Nägel sei. Wird diese Matrix mehr als
das Nagelbett gehoben, so müssen die Nägel schräg abwärts nach
der Volarfläche zu wachsen. Trousseau hat diese Erklärung
für das Zustandekommen der hippokratischen Krümmung der Nägel
auch angenommen, und betont noch, daß durch das Hypertrophieren
des blätterigen Gewebes an der Basis und unter der Wurzel des
Nagels, die Nagel wurzel selbst natürlich um so viel mehr vom
Knochen entfernt werde; das könne man fühlen, wenn man auf
die Rückseite der Phalanx drücke, der Nagel schwanke dann etwas.
Gusrtav Simon hat im Jahre 1851 die Beobachtungen von Pigeaux
einer Nachprüfung unterzogen. Er berichtet, daß er oft Gelegen-
heit gehabt habe gekrümmte Nägel von Schwindsüchtigen zu unter-
suchen; um eine recht genaue Anschauung von der Beschaffenheit
der Teile zu erhalten, hat er die Finger von Leichen der Länge
nach durchsägt (vgl. das. Tafel VIII, Fig. 5). Er konnte indes
weder ein Schwinden der Weichteile an der Fingerspitze^), noch
eine Infiltration an der Nagelwurzel wahrnehmen, und mußte
schließlich gestehen, daß ihm die Ursache der fraglichen Nagel-
veiänderung dunkel geblieben sei. Der Nagel selbst zeigte, ab-
gesehen von der Krümmung, keine Veränderung.
A. KöUiker (1859) nimmt mit Henle an, daß, da die Bil-
dung der Nagelsubstanz von den Gefäßen des Nagelbettes abhän^
häufig wechselnde Zustände derselben auch ein unregelmäßiges
Wachstum, stellenweise Verdickung, Verdünnung und selbst Ab-
lösung der Nägel bewirken, und daß auch die Difformitäten der-
selben bei Cyanosis und Phthisis hiervon abhängen. Sehr häufig
rührt aber auch, wie K o 1 1 i k e r beobachtet hat, die Verdickung
1) Wurde bereits 1808 von Double behauptet.
Zur kliniflchen Geschichte nnd Bedentmig der Trommelschl&gelfinger. 103
und Mißbildung der Nägel von teilweiser ünwegsamkeit der Kapil-
laren des Nagelbetts her (vgl. Mikroskop. Anatomie n, 1 p. 93
Leipzig 1852).
Am ausgiebigsten hat Esbach (1876) die von Pigeaux be-
gonnenen Untersuchungen wieder aufgenommen. Nach ihm be-
wirkt — und darin scheint ihm auch J. Heller (1900) beizustimmen
— die durch Stauung hervorgerufene seröse Durchtränkung der
Nagelphalanx und vor allem der Nagelmatrix eine verbesserte oder
wenigstens gesteigerte Ernährung und Neubildung der Nagelplatte.
Esbach fand durch genaue Messungen die Dicke eines solchen
düTormierten Nagels in seiner Mitte = 0,59 mm, während der nor-
male Nagel nur 0,39 mißt Bei dieser Verdickung scheint es sich
jedoch weniger um eine direkte Vermehrung der Hornmasse der
Nägel als um eine durch Wasseraufnahme bedingte Qnellung zu
handeln. Auf all die Schlüsse, die Esbach aus seinen Messungen
der Nägel (in der Mitte und am freien Rande) sieht, soll hier nicht
näher eingegangen werden, da ihre Erklärungen nicht recht ein-
deutig und von zu geringem praktischem Interesse sind. Es mag
hier nur noch der Beobachtung gedacht werden, daß durch die
starke Gefäßfiillung infolge der Stauung die Lunula mehr und
mehr schwindet. Esbach hält daher das Schwinden der Lunula
des Daumennagels für ein prognostisch und diagnostisch wichtiges
Zeichen.
Was die Untersuchungen der Pulpa der Endphalanx anlangt
so sind sie nicht sehr zahlreich.
Pigeaux fand die Pulpa hinreichend fest, im allgemeinen
von einer mehr oder weniger mit Blut tingierten wässerigen Flüssig-
keit durchsetzt. Die mikroskopische Untersuchung hat in den
untersuchten Fällen nichts Bemerkenswertes ergeben. V a r i o t (1897)
fand, daß das tiefe Venennetz stark erweitert sein könne, ebenso die
in die Papillen aufsteigenden Eapillarschlingen. Alle diese venösen
Gefäße und Kapillaren sind mit Blutkörperchen angefüllt.
West (1897) hält die Schwellung der Pulpa der Endphalanx
für kein Ödem, ebenso Bamberger. Ludwig Buhl (1872) wollte die
kolbigen Endphalangen der Finger nicht einer Zirkulationsbehindemis
zuschreiben, sondern es war ihm wahrscheinlich, — vgl. oben S. 98 —
daß sie mit der Sklerodermie verwandt sind, welche ebenfalls meist
an den Fingerspitzen, seltener an den Zehen beginnt und von da
weiter fortschreitet. Sie endige fast immer mit Phthise. Buhl
hält weiter Sklerodermie und kolbige Finger für Analoga der
Lungencirrhose und sie beruhten beide auf Hypertrophie des Binde-
104 V. Himnr
gewebes; er hat schoa ein paarmal bei beginnender Sklerodermie
die erst nach 2—3 Jahren auftretenden Anfänge der Lungen-
phthise vorhersagen können.
Birch'Hir Sehfeld (1877) bat sich — offenbar unabhängig
— der Ansicht BnhTs angeschlossen; nach ihm handelt es sich
um eine der Sklerodermie verwandte Hypertrophie des kutanen
und subkutanen Bindegewebes, welche er mit Wahrscheinlichkeit
anf die Zirkulationsstörung in den peripher gdegenen Teilen zn-
rilckfthrt.
Die von Buhl angenommene fibröse Verdickung des Rete
mucQsnm läßt West (1897) für chronische Fälle zu, aber nicht
far akute oder frische. Da man nun in der Mehrzahl der Fälle
keine frischen Fälle zur Obduktion erhält, so dürften sich die
Untersuchungen von Buhl und Birch-Hirschfeld doch als
richtig erweisen. H. Fischer (1880) fand bei der anatomischen
Untersuchung der Finger „eine gleichmäßige Zunahme sämtlicher
Gewebe bei normalem Bau''.
Die Frage, inwieweit der Knochen der Endphalanx an der
Difformität derselben beteiligt ist, ist oftmals untersucht worden^
besonders, nachdem die Böntgendurchleuchtung in den Dienst der
klinischen Medizin getreten war.
Bereits Pigeaux und Trousseau fanden durch genaue
Untersuchung, daß der Knochen der Endphalanx bei den diffor-
mierten tuberkulösen Fingern keineswegs vergrößert oder stärker
geworden sei.
Litten demonstrierte am 24. Februar 1897 in der Berliner
med. Gesellschaft an zwei Kranken trommelschlägelartige Finger
und Zehen, von denen er Böntgenogramme gemacht liatte. Bei der
einen Kranken (22 jähr. Fräulein, Vitium cordis congenitum; ver-
mutlich Pulmonalstenose mit offenem Ductus Botalli) bestand neben
der Deformation ausgesprochene Cyanose, bei dem zweiten Fall
(Kind, ebenfalls Vitium cordis congenitum) bestanden noch viel
hochgradigere Veränderungen an den Fingern. In beiden Fällen
war von einer Verdickung des Skeletts, wenigstens, soweit es die
Nagelphalangen betraf, nicht die Rede. Litten glaubt, wenn er
sich auch dagegen verwahrt, einen verallgemeinernden Schluß aas
diesen zwei Fällen ziehen zu wollen, daß dies die Regel sein dürfte,
da ja in diesen beiden Fällen die Bedingungen für eine sehr hoch*
gradige Stauung die denkbar günstigsten waren. Senator be-
merkt dazu, daß auch in anderen Fällen derselbe Befund gemacht sei,
und erwähnt Röntgenbilder aus Paris, in denen ebenfalls sich nur
Zur klinischen Geschichte nnd Bedeutung der Trommelschlägelfinger. 105
die Weiehteile nnd nicht die Knochen als verdickt hepansgestellt
haben. (Vgl Farnrohr, 1. c)
Wenn man die klinische Geschichte der Trommelschläge! finger
überblickt^ so wird man erstannt sein, wie sich im Lanfe der Zeit
die klinische Geschichte nnd Bedentang dieses Krankheitssymptoms
gewandelt^ verwickelt und kompliziert hat. Wie Bamberger nnd
noch vor kurzem Th. Groedel II (1906) n. a. es ausgesprochen
haben, gehören zur Bildung jener Difformität offenbar mehrere
Umstände: eine einheitliche Auffassung ist zurzeit nicht möglich^
und wir dürfen getrost mit dem Ausspruch^ von S. West
schUefien, den ich dieser Arbeit vorangesetzt habe: „Clubbing is
one of those phenomena with which we are all so familiär that
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Derselbe, Die Heilbarkeit der akuten Miliartuberkulose. Archiv der Heilkunde.
I. Jahrg. Leipzig 1860. p. 297.
> t >
VI.
Ans der UnterrichtsanstaU f&r Staatsarzneikunde in Berlin
(Direktor : Geheimer Medizinalrat Prof. Dr J 8 1 r a fi m a n n).
Unterisnchiingeii znr fintstehnng der sogenannten
spontanen Magenmptnr.
Von
Paul Fraenckel^
AiBistaiit der Amtalt.
(Hit 5 Knrren im Text.)
»
Vor anderthalb Dezennien hat AlgotKey-Äberg^) zum ersten-
mal einen jener seltenen, f&r den Kliniker wie den gerichtlichen Medi-
ziner gleich interessanten Fälle von Zerreißongen in den Magen-
wänden mitgeteilt, die gelegentlich im Gefolge einer unzweckmäßig
ausgeführten Magenspülung entstehen. Bei der Obduktion eines an
Opinmvergiftung verstorbenen Mannes beobachtete er in dem sonst
gesunden Magen eine gi-ößere Anzahl Zeireißungen der Schleim-
haut, die offenbar vitalen Ursprungs waren und aus denen sich
reichlich Blut dem Mageninhalt beigemengt hatte. Sie saßen längs-
gerichtet auf einem 2— 4 cm breiten Gebiet, in und nächst der
kleinen Kurvatur, das in einem Abstände von ungefähr 2 cm von
der Kardia begann und sich von hier bis etwas mehr als halb-
wegs zum Pylorus hin erstreckte. Bei dem halb bewußtlos ein-
gelieferten Manne war eine etwas eilige Ausspülung des Magens
vorgenommen worden, bei der das eingegossene Wasser nicht wieder
vollständig herauszubefördem war. Bald nach der Operation trat
der Tod ein. In zahlreichen Experimenten an Leichen hat Key-
Äberg dann nachgewiesen, daß sich die unvollständigen und voll-
ständigen Bißwunden im linken Teil der kleinen Kurvatur mit
1) AlgotKey-Abergy Zur Lehre von der gpontanen Magenmptnr. Viertel-
jahisscbrift ftlr gerichtl. Medizin u. öifentl. Sanitätswesen 1891. Dritte Folge
1. Bd. p. 42—70.
DeutschM Arehiv f. klin. Medizin. 80. Bd. 8
114 VI. Fbabsckel
Regelmäßigkeit bei zu starker Anf&llung des Magens erzeugen
lassen, daß erst bei stärkerem Druck auch an^atideren Stellen Risse
auftreten, die bei selir starker Anspannung radienweise um die
Kardia angeordnet sein können. Er bat femer die Lage und Be-
ziehung der Serosarisse zu den Schleimhautüssen ermittelt und
festgestellt, daß sie an anderen Stellen nie eher entstehen, als wenn
es bereits in der Schleimhaut der kleinen Kurvatur zur Ruptur ge-
kommen ist und vieles andere mehr, worauf hier einzugehen nicht
der Ort ist, was ich aber, wie ich vorwegnehmen möchte, durchweg
bis ins Kleinste bei meinen Versuchen bestätigen konnte.
Die Literatur weist bisher keinen analogen Fall auf. Der
einzige ihm ähnliche ist von Straßmann ^) mitgeteilt. Hier
handelte es sich aber um einen krebskranken Magen, bei dem im An-
schluß an eine sehr energische Magenspäluug schnell der Tod durch
Perforation in die Bauchhöhle erfolgte. Der Riß saß, weit entfernt
von der krebsigen Infiltration, in der Mitte der kleinen Kurvatur,
war ihr parallel gerichtet, bikonvex und beiderseits spitz zulaufend.
Ein vollkommenes Analogen zu dem Key-Aberg'schen Fall
hat dagegen Straßmann kfirzlich, auf der diesjährigen Natur-
forscherversammlung in Stuttgart aus seiner Praxis veröffentlicht.
Auch hier war es eine Opiumvergifbung, bei der sich nach Magen-
ausspftlungen in einem hiesigen Krankenhause eine ganz typische
Zerreißung der Schleimhaut gebildet hatte, etwa ein Dutzend Risse^
die auf der kleinen Kurvatur und strahlenförmig um die Kardia
gelagert waren und sich vollkommen mit der Beschreibung des erst-
genannten Falles deckten.
Wenn auch unabhängig von einer Magenausspülung, so doch
auf Grund derselben mechanischen Verhältnisse entstanden ist eine
interessante Verletzung, die v. Wunsch heim*) beschrieben hat
Bei einem 52jährigen Manne mit Ösophaguscarcinom war es nach
einer vergeblichen Sondierung zum Tode infolge Durchbruchs der
Geschwulst in die Aorta gekommen. In dem aufgetriebenen Magen
fand man fiber einen Liter teils geronnenen, teils flüssigen Blutes.
An der hinteren Wand, in unmittelbarer Nähe der kleinen Kur-
vatur ein 5 cm langer, parallel zu ihr gelegener klaffender Schleim-
hautriß, der bis auf die Muscularis reichte, diese aber intakt ließ.
Die Praxis hat demnach Key-Äberg's experimentell ge-
1) Fr. Strftßmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medisin 1895 p. 399.
2) V. Wunschheim, Zur Kasoistik der spontanen Magenrnptar. Prag-er
med. Wochenschr. Nr. 3 1893.
(Jateranchung^eii zur fintstehnng der logeiiannteii spontanen Mag^enrnptnr. 115
wonnene Anscbaaung, dafi der menschliche Magen in der kleinen
Eoryatar fBr Innendmck einen Locus minoris resistentiae hat^
mehrfach bestätigt
Die Erklärangj die er Ar das Zastandekommen dieses
schwächsten Punktes gibt, war mir aber, weil sie nicht ganz zu
befriedigen schien, Veranlassung, zn untersuchen, ob sie sich bei
experimenteller Prflfung aufrecht halten läßt Nach erschöpfender
Berflcksichtigung aller in Betracht kommenden Verhältnisse ent-
scheidet sich Key-Äberg nämlich fBr die Ansicht, daß das Phä-
nomen, abgesehen von der relativ geringt^ren Falten bildung der
Schleimhaut, nichts mit anatomischen Verhältnissen zu tun habe,
sondern wesentlich von der Form des Magens abhängt Er vergleicht
diese mit einem etwas gekrümmten und etwas abgeplatteten Konus.
Ein gerader Kegel von zirkulärem Durchschnitt setzt bei innerem
Druck queren Zerreißungen einen doppelt so großen Widerstand
entgegen als längsgerichteten und die Beanspruchung macht sich
am meisten und gleichf5rmig an allen Punkten des größten Durch-
messers geltend. Durch die Abplattung werden die zwei stärker
gekrümmten Stellen des größten Durchmessers am meisten ge-
fährdet. Diese Stellen sind aber am Magen der fragliche Punkt in
der kleinen Kurvatur und ein korrespondierender der großen. Da
nun die kleine Kurvatur stärker abgeplattet ist als die große, so
wird sie, weil der Innendmck danach strebt, den Querschnitt kreis-
förmig zu machen, einer verhältnismäßig großen Formveränderung
ausgesetzt werden und an der bezeichneten Stelle die größte Be-
anspruchung erleiden.
Diese Erklärung erscheint trotz ihrer bestechenden Einfachheit
nicht völlig befriedigend. Sie hat zur Voraussetzung, dafi sich die
Hagenwand dem von innen wirkenden Drucke gegenüber in allen
Teilen gleichmäßig verhält, daß sie für ihn als homogen zu be-
trachten ist Key-Äberg hat diese Vorfrage nach seinen Er-
fahrungen bejaht Und doch drängt sich bei der einfachen Be-
trachtung eines menschlichen Magens der Gedanke auf, daß diese
Bedingung nicht erfüllt ist. Gerade die Gegend der kleinen Kur-
vatur ist es, die sich durch einige Besonderheiten vor den übrigen
Hagenwandungen auszeichnet und der Vermutung Kaum läßt, es
könnten doch auch rein anatomische Verhältnisse dabei mitwirken,
daß die Schleimhautrisse und die Sprengung des Magens überhaupt
diese Stelle bevorzugen.
Die Übertrittsstellen des Peritoneums auf die Magenwände voll-
ziehen sich nämlich, wie die Betrachtung lehrt, an den beiden Kur-
8*
116 VI. Fbabhciuu.
vataren in verschiedener Weise und es ist nicht m6glieh, • diese
beiden Teile in di^ser Beziehung als gleich anzusehen. Der Unter-
schied besteht erstens darin, daß an der kleinen Eonratar die
beiden Peritonealblätter erheblich weiter auseinanderliegen als an
der großen, so daß der, unbekleidete Tjdil der. Muskelschicht dort
viel breiter ist . als hier. Dieser Unterschied kann nun freilich
nicht zu der geringeren Widerstandsfähigkeit der kleinen Kurvatur
in Beziehung stehen und er ist nur der Vollständigkeit wegen er-
wähnt Denn wenn überhaupt die Serosa eine wesentliche Ver-
stärkung der Magenwand abgibt, so mttflte ihr Fehlen auch schon
an einer schmalen Strecke, wie an der großen Magen krQmmung.
Gelegenheit zum Reißen geben. Überdies hat ;Eey-Äberg ex-
perimentell erwiesen, daß Serosadefekte keinen Locus minoris
resistentiae schaffen.
Wichtiger scheint zunächst der andere Unterschied an den beiden
Übertrittsstellen des Peritoneums, der in der Anordnung der Oefäße,
mit begleitenden Nerven und Bindegewebe und des Fettgewebes be-
steht. Die Gefäße, nämlich die größeren Seitenäste . der Arteriae
coronariae und der Venae gastricae, liegen am oberen Magenrande
erheblich dichter beieinander als an dem unteren, . eine Folge, des
beschränkteren Raumes. Das Fettgewebe wiederum ist nicht nur
an der kleinen Krümmung, auch bei mageren Individuen, viel reich-
licher als an der großen, sondern es steht auch in festerer Ver-
bindung mit den Magenwänden und erstreckt sich vom wie hinten
mehrere Zentimeter weit auf. die Seitenflächen, während es an der
unteren Krümmung, wenn überhaupt, nur wenig auf sie übergreift
Durch die genannten Verhältnisse entsteht eine viel derbere Be-
schaffenheit der oberen Magenkrümmung,, die sich mit einer Ver-
stärkung der Wandung vergleichen läßt Es ,wäre daher denkbar,
daß sie für die Entstehung der ersten Schleimhautrisse an «dieser
Stelle in der Art von Bedeutung wäre, daß die Schleimhaut in
ihrem Streben, sich allseitig auszudehnen und der Kug«lform zu
nähern, hier ein Hindernis fände. Es müßte dann, da sie sich zu
den Seiten der kleinen Kurvatur stärker vorbuchten kann als in
der Mitte, ein Zug in querer Richtung nach beiden Seiten hin ent-
stehen, der zu einem Einreißen in der Längsrichtung führen müßte. —
In demselben Sinne könnte die Schleimhaut aber auch durch den in
der kleinen Kurvatur gelegenen Muskelzug beeinflußt werden, der
durch besondere Dicke und Festigkeit vor der übrigen Muskulatur
ausgezeichnet ist.
Der Frage, ob sich die Wände des Magens dem Innendruck
Unteraachnngen zur Entgtehnng: der sogenannten spontanen Magenmptnr. Il7
gegenftber homogen verhalten, habe ich mich bemQht, durch Elasti-
zit&tsbesümmongen näherzutreten, denn die in den Wänden ent-
stehenden Spannungen, die dem Innendruck das Oleichgewicht halten
m&ssen, sind von der Elastizität abhängig. Das Haß der hier in
Betracht kommenden Zugelastizität ') ist bekanntlich der Dehnungs-
oder Elastizitätsmodul (c), der definiert ist durch die Gleichung
P-1
i = — ^, worin 1 die ursprüngliche Länge des untersuchten Streifens
bedeutet, P die ihm erteilte Belastung, l die erlittene Verlängerung
und q den Querschnitt Während für viele anorganischen Körper
das Hook'sche Gesetz gilt, daß innerhalb der Elastizitätsgrenze
Proportionalität zwischen Belastung und Verlängerung besteht^
€ also eine Eonstante ist, ist dies bei organischen Gebilden nicht
der Fall, sondern e wächst langsamer als die Spannungen. Um den
Modul für jeden Fall zu berechnen, muß der Querschnitt des
untersuchten Stückes genau bekannt sein. Diese Messung stoßt
aber bei der Art der Magengewebe auf sehr große Schwierigkeiten.
Da es hier nur darauf ankam, Vergleiche der verschiedenen Stellen
desselben Organs vorzunehmen, so konnte auf die Ermittlung des
Moduls verzichtet werden und die Darstellung des elastischen Ver-
haltens durch Dehnungskurven geschehen, auf deren Abscisse statt
p
dei Spannungen — nur die belastenden Gewichte und auf deren
Ordinate die Werte für -p eingetragen sind.
Die Bestimmung des wirklichen Elastizitätswertes war ja schon
darum nicht zu erreichen, weil nur Leiehenorgane untersucht werden
konnten, an denen die absoluten Verhältnisse geändert sind, die
relativen aber fortbestehen.
Über die Technik bedarf es einiger Worte. Große Schwierig-
keiten bereitete die Lösung der Aufgabe, aus den verschiedenen
Stellen der Magenwandungen die erforderlichen gleich großen, haupt-
sächlich gleich breiten Stücke auszuschneiden, weil die Bestimmung
der wahren Bnheverhältnisse, bei denen weder eine ZeiTung ausge-
übt wird, noch unzulässige Faltung besteht, gerade bei einem Hohl-
1) Anf die strittige Fragte, ob nnter-Elaituität die. Fähigkeit zu TerBtehen
lei, eine dnrch innere Kräfte veranlagte Formftndemng nach Fortfall dieser Kräfte
wieder anssngleichen, oder aber die in einem Körper dnrch einen Zwang wach-
gerufene innere Kraft (elastischer Widerstand), gehe ich als hier belanglos nicht
näher ein.nnd yerweise anf die ErOrternngen bei Triepel, Einftlhning in die
physikalische Anatomie. Wiesbaden 1902.
118 VI. Frabncksl
organ besonders unsicher ist. Außerdem kommt dazu, daß die Masse
der Schleimhaut die der Muskelschicht an Ausdehnung übertrifft,
was sich in ihrer Faltung ausdrückt, und wodurch am heraus-
geschnittenen Stücke, sobald der Zwang zur Faltenbildung auf-
gehört hat, die Schleimhaut an den Bändern überquillt Auf die
Messung der Wandschichten im ganzen kam es zunächst aber an,
daher war es nötig, die Stücke aus dem unaufgeschnittenen Organe
zu entnehmen. Die besten Besultate gab unter diesen Bedingungen
schließlich folgendes Verfahren: der Magensack wurde auf einem
gut angefeuchteten Holzteller so ausgebreitet, wie er sich ohne
jeden äußeren Zug oder Druck legen ließ. Der Teller wurde zu
dem Zwecke angefeuchtet, um die Reibung der zunächst aufliegen-
den Seite zu vermindern. Dann wurden rechteckige Stücke mit
Hilfe von Maß und Zirkel, unter Vermeidung von Druck, ans-
gemessen und jeder Punkt sofort durch Einschlagen einer Nadel
durch alle Schichten bis auf das Holz fixiert Die Stecknadeln
wurden darauf durch gerade Linien, die mittels eines dünnen Glas-
stabes mit einer konzentrierten Farblösung aufgetragen wurden, zu
dem Rechteck verbunden. Nachdem die auszuschneidende Figur
so gesichert wai*, wurde sie mit der Spitze eines besonders scharfen
Messers, ebenfalls unter möglichster Vermeidung von Druck oder
Zerrung ausgestanzt und hierbei besonders beachtet, daß die Schleim-
haut gleich mit durchschnitten wurde. Während die Nadeln noch
immer steckten, wurden schließlich die gebliebenen Brücken zwischen
den einzelnen Stichen mit einer scharfen Schere durchtrennt Auf
diese Weise glaube ich, die Fehlerquellen hinreichend ausgeschaltet
zu haben.
Zur Messung wurden die Stücke zwischen zwei Klemmen ein-
gespannt, von denen die obere an einem festen Galgen angebracht
ist während die untere eine Öse zum Einhängen der Gewichts-
schale trägt, und außerdem mit zwei seitlichen Nadeln versehen
ist, die die Ablesung ihres Standes auf zwei an den Galgenschenkeln
angebrachten Millimeterskalen gestatten. Die Metallteile sind aas
Aluminium gearbeitet, so daß die untere Klemme mit der Schale
nur 7,5 g wiegt. Das Auflegen der Gewichte hat so vorsichtig zu
geschehen, daß nie ein plötzlicher Ruck entsteht.
Fraglich kann sein, wann abzulesen ist Es zeigt sich nämlich
bei der Dehnung der Magenwand, wie es von organischen Geweben
überhaupt bekannt Ist, eine außerordentliche Nachdehnung, so daß
man verschiedene Längen ermitteln kann, je nach der Zeit, die
man wartet Man kann nun so lange warten, bis voller Stillstand
UulersnchoDgren zur Entstehung der sogenannten spontanen Magenraptor. 119
eingetreten ist, dies ist aber praktisch nicht dnrchzuführen, weil
sich ein solcher Versuch über viele Standen hinziehen würde.
Meine Beobachtungen über dieses langsame Ablaufen der Nach-
wirkung beim glatten Muskel stehen ganz im Einklang mit dem,
was TriepeH) darüber sagt, der sehr charakteristisch bemerkt:
^man erhält den Eindruck, als ob die durch Nachwirkung bedingte
Verlängerung größer wäre als die momentane. Ja, oft sieht es so
aus, als hätte das Auflegen des Gewichtes keine oder fast keine
momentane Wirkung und gäbe nur den Anstoß zu einer allmählich
in der Bichtung der Klemme ablaufenden Bewegung.^ Daß dies
Verhalten bei der Magenwand tatsächlich auf der Muskularis be-
ruht, habe ich dadurch feststellen können, daß ich die Schichten
einzeln prüfte und es bei der Mukosa nicht in angenähert dem-
selben Maße wiederfand wie bei der Muskularis. Jedenfalls ist es
leichter und einwandfreier die momentane Dehnung als Maß zu
nehmen; denn es gelingt doch in den^ allermeisten Fällen ohne
Schwierigkeit einen Zeitpunkt zu finden, wo die Dehnung zunächst
scheinbar aufgehört hat. Allerdings ist diese Art der Beobachtung
etwas willkürlich; sie äußert sich in der Unregelmäßigkeit der
Kurven, da häufig durch das neue Gewicht die zu den vorigen
gehörige Nachwirkung erst ausgelöst und damit eine weitere
Zunahme vorgetäuscht wird als der wahren Dehnung entspricht.
Ebenfalls auf der langen Nachwirkung beruht, daß stärker
gedehnte Teile nur nach sehr langer Zeit, oft nach vielen Stunden,
ihre ursprüngliche Länge wieder annehmen, wie dieses auch von
Triepel beobachtet ist. Indes habe ich sowohl beim mensch-
lichen wie beim Hundemagen in allen Fällen, wo ich die Voll-
kommenheit der Elastizität geprüft habe, gefunden, daß nahezu,
wenn nicht ganz, die Anfangslänge erreicht wurde, und zwar auch
nach sehr starker Dehnung, wofern diese nicht später als etwa
48 Stunden nach dem Tode vorgenommen wurde.
Bei dieser Stärke der Nachwirkung kann es bedenklich
scheinen, überhaupt den Zustand des Magens nach dem Tode als
einen Gleichgewichtszustand anzusehen, weil anzunehmen ist, daß
die Dehnung von der letzten Füllung her noch fortwirkt. Das
Bedenken dürfte aber dort belanglos sein, wo es wie hier nur auf
Vergleichswerte an demselben Organe ankommt, und wo, wenigstens
bei den menschlichen Organen in einer doch stets nach Tagen
zählenden Zeit seit dem Tode die Nachwirkung aufgehört haben dürfte.
1} Triepel, I.e. p. 126, 128.
120 VI. Fbawokbl
Als QrsprQiiglicbe Lftnge, anf die die Verlängerungen sich be-
ziehen, konnte nicht die eigene Länge des aasgeschnittenen Streifens
angenommen werden, weU er sich ohne Belastung nicht genügend
streckte, um eine Bestimmung .zu . erlauben, fis wurde daher in
allen Versuchen als Ausgangswert ,der Stand der Nadeln bei Be-
lastung mit der Oewichtsschale, also mit 7,5 g, gewählt. Da es
auf den absoluten Wert nicht ankam, durfte dies ohne wesentlichen
Fehler geschehen. Das Verhältnis zwischen den relativen Ver-
längerungen durch die Schale ist, wie ich mich überzeugte, dem
der späteren Verlängerungen gleich; die absoluten Werte fallen
natürlich, wenn man von diesem Belastungszustand ausgeht, kleiner
aus, als wenn man die „ursprüngliche^ Länge zugrunde ge-
legt hat.
Es war nicht immer mOglich, eine völlig horizontale Stellung
der Nadeln beizubehalten. Offenbar in Abhängigkeit von den
Muskelfaserrichtungen dehnte sich häufig eine Seite mehr als die
andere, ohne dafi sich indessen eine Regelmäßigkeit hat erkennen
lassen. Ähnliches hat Bönniger^) bei seinen Messungen von
menschlicher Haut beobachtet. In solchen Fällen ist das Mittel
aus beiden Längen genommen worden, die natürlich aber nicht zu
stark difi'erieren durften. Es kommt hierdurch zwar eine weitere
kleine Ungenauigkeit in die Resultate; aber diese können so wie
so nicht mehr beanspruchen, als einen ungefthren Anhalt zu geben.
Wenn man sich aber hütet, aus derartigen Versuchen Schlüsse zu
ziehen, die nur bei mathematischer Präzision des Experimentes ge-
stattet sind, so dürfte sich dagegen nicht mehr einwenden lassen^
als daß es eben nur grobe Versuche sind.
Es seien nun einige Versuche als Typen mitgeteilt. Zuvor
sei nur noch darauf hingewiesen, daß die benutzten menschlichen
Mägen durchweg plötzlich Verstorbenen angehörten, die ja bei dem
Material der Unterrichtsanstalt für Staatsarzneikunde die Mehrzahl
ausmachen. Außerdem durften die Leichen nicht älter sein als
2 X 24 Stunden, eine Bedingung, die dafür bei unserem Material
nur selten erfüllt war. Aus diesem Grunde wurden Tierleichen
mit herangezogen. Durch das Entgegenkommen des Herrn Prof.
Regenbogen von der Tieräntlicben Hochschule standen mir die
Leichen der eben getöteten Hunde zur Verfügung. Diese werden
durch eine intrapleurale Injektion von Blausäure umgebracht.
1) Bönniger, Die elastische Spannung der Haut nnd deren Beziehang znm
Ödem. Zeitschr. f. exp. Pathol. n. Therapie Bd. 1.
Untennchnngen zur EntatehnDg der lOfflBMiirtMi «pontAnen llit(^rnptar. 121
Makroskopisch erkennbare Ma^nkranktaeiten habe ich an den
erhaltenen U&gen nie beobachtet. Anf die Unterschiede zwischen
Honde- und Meoscheomagen komme ich weiter nnteQ znrflck.
Beitpiel 1. Hagen einN erwaohsenen HanuM. 3 Tage nmob dem
(gewaltawneD) Tode nntemicht. Ea werdan-asB der Vorderwand vier Stücke
ontersncbt, die je 2 cm breit, i cm lang sind and alle Wandeobiobten
betnffeo :
a) lenkrecbt mr kletnem Korvatnr, nahe dem Öeophagtu, mit der
sobmalen Seite dicht an die kleine Knrvatar heranreichend;
b) parallel aar kleinen Karvator, nttber dem Pyloma, ebenfalls aber
mit der Liogueite dicht an die kleine Knrratnr heranreichend ;
c) eenkreobt aar groften Kurrator, nKher dem Pylorvsteile, mit der
sobmalen Seit« dicht am die groBe Korvatnr beranreiobend ;
d) parallel znr grofien Knrvatar, im Fandaeteil, mit der Lftngueite
dicht an die große Knrvatar heranreichend.
b
c
__. _
Belastong
Unge
l
Länge /:
mm 1
Länge ! Ä
L^ge
1
Schale
ai.8
23,5
26.6 1
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-i-3g
32,6
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26,9 t 0,01
;i4,3
0,02
ft
33,7
0.06
24.0
0.03
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0,10
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0,15
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0,05
23
37,7
0,19
25.4.
0,08
30.6 0,15
36,2
0.07
m
39,0
0,23
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0.09
31.2 1 0.17
:-«i,r,
0,08
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39.8
G.ih
26,4
0,12
33.0 1 0,24
H7.a
0.10
36
40,3
0,27
26,4
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33.5 1 0,26
;-i7,ö
0,11
48
40.8
0,28
26,9
0.14
maQte wegen 8tö-
38.0
0,13
48
41.1
0,29
27,0
0,15
mne im Apparat
38,5
0,14
ÖS
41.8
0..41
273
0,16
abgebrochen
:i8,7
0.15
73
42,7
0,34
27.7
0,18
werden
3a,i)
0.18
93
43,8
o;88
■28.3
0,20
■10.7
0.21
103
44,2
0,39
29,5
ü.ati
41.3
0,23
123
45,0
0,42
3o:i
0.28
43,8
U.3U
1Ö3
46,1
0.45
S1.5
U,34
45,0
0,34
193
(49,2
0.56?)
33.7
0A3
46,8
0,36
Aas diesen Werten lassen sich folgende Dehnnngsknrven kon-
stroieren (s. Karre 1).
Ergebnis: Der Elastizitätskoe^zieDt war für die Dehnung
in der Längsrichtang des Uagens lileiner als für die in der queren,
anabb&ngig davon, ob das StUck der Gegend der kleinen oder der
großen Kurvatur entnommen war. Die Koeffizienten fQr die gleich
gerichteten Streifen waren praktisch gleich.
iO 90 U K N TO so 90 wog
jr verscbiedeneD St
und LäDgsrichtiiiig (b and d) gedehnt.
Beiapie] 3. Magen einm 6j&hrigen Kiodes. 3 Tage oach dem
(gewaltsamen) Tode antenncht. Jedes StQok ist 2 cm breit, 4 cm lang:
a) parallal der kleinen Knrvatar, ibr mit der LSngeeeite dicht tu-
liegend ;
b) parallel der großen Kurvatur, aoa dem Fundnsteil.
b
Belastnng
LfiDge
/
Lftnge
mm
r
mm
T
Schale
21,0
30,1
+ 3g
21.5
0,02
3i;6
0.05
8
22.3
0,06
33,6
0.11
VA
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0.09
34:5
0.16
18
23.0
0,10
35.1
0.17
23
23,2
0,10
35,6
0,18
28
23;*
OM
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0.20
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23,5
0.12
36,5
0,21
38
2h:5
0.12
36,7
0.21
43
23,9
0,14
37.1
0,23
48
23:»
0,14
37.4
0.24
53
24,0
o:i4
37.6
0,25
68
24.2
0.15
37.8
0,26
63
24,4
0,16
38,2
0.27
83
24,8
0,18
38,5
0,28
103
25;i
0,20
39:5
0,3t
123
26,.T
0,21
40,8
036
143
261
0,24
41,2
0.37
168
26:6
027
41,8
0,39
las
26,8
0,28
203
27:i
0,29
43.0 ,
0,43
Die graphische Darstellung ergibt die Korve II.
nntersachniigen sor Eobitehiiiigr der so^iwniiteii spontmneD Hageniuptiir
Kurve 2.
10 tO NM 60 MIO
Ergebnis: Der Elasttzitätskoeffizient iUr die Dehnung in
der Längsrichtung var in der Gegend der kleinen Karvatnr er-
heblich kleiner als im Fundosteile.
Beiepiel 3. Hnademageo. Qaer über die kleine Korvator,
Ton der nur die lose anhaftenden FettmaMen abgelöst werden, werden
swei 3 cm lange and 2 cm breite Streifen auageatanat. Der ente wird
im gaosen nnterancbt, der zweite wird in seine beiden Sobiehten getrennt
and dieae einaeln gemeuen. Die Trennung wird mit einer spitien und
Bcharfen Schere nnter mdgliob«ter Vermeidung jeden Znget und jeder
Verletznng einer der Schichten vorgenommen. Aus den Tabellen, deren
Abdruck von nun ab unt«rb]eiben mag, erhielt ich folgende Kurven, die
allerdings besonders unregelmäSig gestaltet sind (Karre III).
Knrre 3.
MWTOHaWMO Ml
124 VI. PSIBHCUL
Ergebnis: Trotz der durch starke Nachwirkangea und durch
Versachsfehler bedingten sehr anregelm&fligen Kurrenforaien läSt
sich erkennen, dafi der Etastizitätskoeffizient der M^osa kleiner
als der der Muskularis war, and da£ dieser dem der gesamten
Wanddidte nahestand. Die Elastizität der gesamten i Wand hSn^
demnach anscheinend im wesentlichen von der der Muskel-
schiebt ab.
Beispiel 4. Hundemsgen. Zwei Streifen tod ^: 2, cm werdeo
qaer znr Läogsrichtnng ansgestüut: 1. quer Aber die kleine Knmtni,
von der ftlles anhaftende Fett- and Bindegewebe mSglichet Tollstiiidi|[
entfernt worden ist; 9, qner Über die Vorderfliehe des Hageu. Beide
Stfloke werden Toreichlig in Hoeknlaria and Vukoea getrennt nnd *od 1.
beide Schichten, von 2. die Hnsknlarüi gemessen.
Die Tabellen ergeben in graphiacber Damtellnng folgende KnrTni:
Kurve 4.
^^^^H
— ^^— l^^^^^l
^H
^^^^^^^^^^B
SSQ^^B
Bill
HBBBHmB
wss
H^^^^^B
j^^gÜ
i^^^^^^^l
^I^^^^B
^^^^M
—
HHH^^^B
Hondemageo. Dehnnng der einKelnen Schichten in qnerer Richtnng. 1) An der
kleinen Kurvatur. 2] An der Vorderflllche de« Magens.
Ergebnis: Mukosa und Unskolaris desselben Stflckes der
kleinen Kurvatur weisen fast denselben Blastizitätskoefflzienten in
querer Richtung auf, sofern man von den Versnchsfeblem absieht
Der Etastizitätskoeffizient des Streifens Ton der Vorderflftche ist
ein wenig größer als der der kleinen Kurvatur.
Beispiel 5. Hensobliober Hagen. Ans etwa der Mitte der
Vorderfläohe, in der K&he der groBen Kurvatur, wird ein 4 om langer.
3 om breiter Streifen in der LbigsrichlaDg ansgestanet nnd Toruchtig in
beide Schichten getrennt, die einzeln gemessen werden (Knrre 5).
Ergebnis: Der Elastizititkoefflzient der Mukosa für Dehnnng
der L&nge nach ist in der Seitenwand kleiner als der der Mus-
kularis.
UDterHDcliaiigeii tau Entstehnng der mgeiiuiDt«!! apouUnen Hagreuniptiir. .125
Knrve 6.
Menschlicher Hagen. Dehnung in Läiwsricbtnng^ an der Vorderfliiche.
11) Moakaluis, (2) Makosa.
Wie die mitgeteilten Beispiele zeigen, mit denen andere Ver-
snche übereinstimmen, lassen sich etwa folgende Sätze aufstellen:
1. Die Dehnnng der Magenwand an den Kurvaturen ist bei
gleicher Belastang in querer Sichtung größer als in der Längs-
richtung (1). I ,
2. Sowohl in der Längsrichtung (II) als auch in der Quer-
ricbtung (IV) bat die Magenwand in der Nachbarschait der kleinen
Kurvatur gewöhnlich einen geringeren Koeffizienten als die des
abrigea Magens. Dieser Unterschied kann aber fehlen (I), ob in-
folge einer LeicheuTerändemng, kann ich zunächst nicht entscheiden,
das Beispiel I scheint dafhr zu sprechen, weil die Ausnahme hier
filr beide Richtungen gilt.
3. Die Elastizität der Magenwand scheint im wesentlichen von
der der Muskelschicht herzurilhren (III).
4. Der Elastizilätskoeffizient der Schleimbaut ist ganz ge-
wöhnlich, wie es in Kurve III und V der Fall ist, kleiner als der
der Mnskelhaat.
In Knrve IV ist er hingegen dem Mnskelkoei^zienten so gut
wie gleich. Es liegt nahe anzunehmen, daß der Ausgleich dem
hier geringeren Wert dieses KoefBzienten zuzuschreiben ist, nicht
einer Zunahme des Koeffizienten der Schleimbaut. Da ich aber
leider zurzeit nur Qber diesen einen Versuch an Querstreifen der
getrennten Schichten in der kleinen Kurvatur verfüge, muB ich mich
mit dem Verzeichnen der Tatsache begnügen, ohne weiteren Wert
anf diesen Befund legen zu können.
126
VI. Fbukcs».
Die unter 1 and 2 genannten Erscheinungen, die bei einzelne
Streifen beobachtet waren, prOfte ich an zwei ganzen menschlichen
Mttgen nach und fand sie bestätigt. Die freilich sehr primitiven
Versnobe worden so angestellt, daB anf den schlaffen Magen
Bechtecke von 4 nnd 2 cm Seitenl&ngen anfgezcidinet werden.
Nachdem die Farbe getrocknet war, wurden die Mfigeo ab-
gebunden, AQfgeh&ngt und langsam mit Wasser gefUllt Unter
Assistenz wnrde, als der Magen gleichm&Big gespannt war, zu
möglichst gleichen Zeiten, die nicht n&her definiert wurden, die
Verftndemngen der Fignrenseiten mit dem Bandmaße festgestellt
An der kleinen Kurvatur waren Fett- and Bindegewebe abgetragen
worden.
Magen I. Drei Bechtecke a, b und c
a liegt anf der Vorderflftcbe, l&ngsgericfatet (4 in der
Längs-,. 2 in der Querricfatung),
b liegt quer über der kleineuEurvatDr (4 in der Quer-,
2 in der Längsrichtung),
c liegt quer Über der kleinen Kurvatur, etwas mehr
nach dem Pylorns hin (2 in der Längsrichtung).
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a
0
Magen Ü. Drei Bechtecke a, b uod c
a liegt quer über der Mitte der kleinen Knrvatnr (4 in
der Quer-, 2 in der Längsrichtung),
b liegt quer über der großen Kurvatur (Pylomsteil)
(4 in der Quer-, 2 in der Längsrichtung),
c liegt längs Aber der großen Kurvatur (Fundns) (2 in
der Quer-, 4 in der Längsrichtung).
Untersnehimgeii xnr Entstehung' der sogenannten spontanen Magenruptor. 127
Q n e r r i e h t n n g
a(4)
b(4)
c(2)
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cm
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3,0
0,6
7,0
0,75
Aach in diesen Fällen war die Dehnnng an den Enrvataren
in der Quere stets größer als in der Länge; bei la, das der Vorder-
wand entnommen war, bestand dagegen ein geringer Unterschied
zQnngnnsten der Qnerdehnnng. Femer wurde hier ebenfalls der
IL Satz für den Vergleich zwischen beiden Kurvaturen bestätigt,
daß nftmlich die Dehnnng an der kleinen Kurvatur sowohl in der
Längs- wie in der Querrichtung kleiner als die der großen Kurvatur
ist Im Vergleich mit der Vorderfläche war dieses Verhältnis aber
nicht nachzuweisen.
Ans dieser Übereinstimmung zwischen dem Verhalten isoliei*ter
Stocke und des Organes im ganzen darf man jedenfalls schließen,
daß nicht allein die Form f&r die Verschiedenheit der Dehnungen
verantwortlich sein kann, sondern daß anatomische Gründe mit-
wirken müssen. Es wäre somit durch die Messungen die Vermutung^
gestützt worden, daß der kleinen Kurvatur rein anatomisch besondere
physikalische Verhältnisse innewohnen, die sie zu einem bei starkem
Innendrucke besonders gefährdeten Teile der Magenwand machen.
Ein abschließendes Urteil, wie dies geschieht, ist jedoch nach diesen
Versuchen noch nicht möglich, weil eine gründlichere Berück-
sichtigung der maximalen Spannungen dazu notwendig ist Meine
bisherigen Erfahrungen über sie und die Zerreißuugsgrenze sind
noch zu spärlich.
Soviel kann ich aber bereits übersehen, daß die Bindegewebs-
und Fettauflagerungen an der kleinen Kurvatur nicht die anfangs
vermutete Bedeutung besitzen. Ich habe nach Key-Abergs
Vorgang an einer größeren Anzahl von Leichen den Magen so-
wohl in situ, als bei geöffneter Bauchhöhle und im isolierten Zu-
stande mit Wasser gefüllt und die Verhältnisse bei der Sprengung
nachgeprüft. Hierbei habe ich alle Angaben des genannten Autors
128 VI. Fhabkckkl
bestätigt gefunden.^) Aosnahmflos erfolgte der Darchbroch an der
charakteristischen Stelle, and zwar war es gleichgültig, ob zuvor
die Auflagerungen von der kleinen Kurvatur entfernt ^worden
waren oder nicht. Der Einriß trat in der kleinen Knrvatui* selbst
dann auf, wenn die Oastromalacie des Fundus schon weit yor-
geschritten war, oder wenn die Serosa des Fundus bei der Trennung
von Verwachsungen mit der Milz eingerissen war.
Die Beteiligung dei* Muskulatur an der Entstehung dieses
tjrpischen Risses erscheint mir aber mehr wahrscheinlich als un-
wahrscheinlich. Bei der Auftreibung des frei an den Ligaturen
des Pylorus und des Ösophagus hängenden Magens fällt die kleine
Kurvatur, sobald die gleichmäßige Anspannung der Wände be-
gonnen hat, durch die große Straffheit des dortigen Muskelbündels
auf, das sich ja, wie angelFÜhrt, fast oder gar nicht in die Länge
dehnt. Diese Spannung, die leicht mit dem tastenden Finger als
stärkster Widerstand der ganzen Magenwand zu erkennen ist
Yomehmlich zu beiden Seiten der Kurvatur, setzt sich aber nur
bis zum Anfang des Pylorusteils fort. Dieser bleibt lange d«:
«chlaffste Teil des Magens und erfährt eine scharfe Aufwärts-
biegung, so daß mitunter in der kleinen Kurvatur ein wahrer
Knick entsteht. Für diese Erscheinung ist vor allem der genannte
Widerstand verantwortlich zu machen, der eine gleichmäßige
Ausdehnung an der oberen Krümmung hindert (daß er als Zug
wirkte, ist zwar nicht unmöglich, aber nach meinen Beobachtungen
spricht wenig dafür). Der Innendruck im beweglichen Pyloms-
teil richtet diesen auf und verwandelt so allmählich die ursprüng-
liche Konkavität in einen Winkel. Die geringere Spannung in
dieser Oegend, die man hiemach ebenfalls in Znsammenhang mit
dem straffen Strange der kleinen Kurvatur bringen kann, erklärt,
weshalb an dieser Stelle keine Risse entstehen. Namentlich zu
der Zeit, wo die Dehnung schon groß genug ist, um seichte Schleim-
hautrisse herbeizufahren, steht nach meinen Erfahrungen der Druck
im Pylorusteii noch erheblich hinter dem des Fundusteils zurück.
Um über die Ursache der diskutierten Erscheinungen aach
durch Vergleich bessere Vorstellungen zu bekommen, habe ich die
Wirkung des Innendruckes bei einer größeren Anzahl (14) Hunde-
magen untersucht. Es seien nur die wichtigsten Resultate be-
sprochen.
1) Die Fttllnng geschah direkt im Anschluß an die WaB9erleitang. deren
Strahl aber so klein gedreht wnrde. daß die Anftreibnng ganz langsam Tor sich
ging nnd alle Veränderungen leicht zu beobachten waren.
Untersnchangen znr Entstehang der sogenannten spontanen Magenniptur. 129
Im allgemeiiien verläuft die Verletzung des Hundemagens unter
gleichen Bedingungen viel mannigfaltiger als die des Menschen«^
magens. Vor aUem ist die kleine Kurvatur nicht der ausschließ-
liche Sitz der ersten Schleimhautrisse und des Durchbruchs. Wohl
kann man häufig nach starker Dehnung, die nicht bis zum Bersten
des Magens gesteigert wurde, dieselbe Anordnung der Schleim-
hautrisse im kardialen Teil der kleinen Kurvatur wie beim mensch-
lichen Magen erhalten, aber daneben sind regelmäßiger und tiefer
als bei letzteren noch radiär zur Cardia gestellte Risse vorhanden,
die schräg nach der großen Kurvatur verlaufen. In einem dieser
Risse, bald an der Vorder-, bald an der Rnckfläche, ab^r nie in
der großen Kurvatur selbst, erfolgte besonders oft der Durchbruch,
etwa in derselben Entfernung von der Cardia, in der die Risse
der kleinen Kurvatur zu liegen pflegen. Vollständige Risse an
dieser selbst habe ich, vielleicht zufällig, nie erhalten; jedenfalls
entstehen sie hier viel schwerer als beim menschlichen Magen.
Dagegen bekam ich einige Male eine Ruptur nahe oder in der
Mitte der großen Kurvatur. Aufßlllig ist femer, wie oft trotz
erfolgender Ruptur ausgebreitete Schleimhautverletzungen fehlen,
w&hrend, wenigstens im Experiment am Menschenmagen die totale
Berstung erst bei so stark erhöhtem Druck erfolgt, daß es dann
zu zahlreichen Rissen in der Schleimhaut gekommen ist. Bei einer
Ruptur der großen Kurvatur, die an dem in situ belassenen Magen
bei offener Bauchhöhle unter dem gewöhnlichen Druck (schwacher
Strahl aus der Leitung) erfolgte, zeigte die Schleimhaut nur einen
feinen Riß pai'allel der 6 cm langen Durchreißung, aber nichts an
der kleinen Kurvatur oder an anderen Stellen. Der Hund war vor
1 Stunde getötet worden und der Magen war nicht ftbermäßig stark
mit Speisebrei gefüllt und makroskopisch durchaus gesund. Das
Fehlen jeglichen Risses in der Schleimhaut, besonders in der kleinen
Kurvatur habe ich beim Hunde noch mehrmals getroffen, trotzdem
es zu breiten Einrissen in der Serosa gekommen war. Fftr den
Hundemagen gilt daher nicht wie für den menschlichen, daß die
Serosa in der Regel erst nach der Schleimhaut einreißt; doch
kommt es auch vor.
In zwei Fällen, in denen die Schleimhautrisse Oberhaupt ganz
fehlten, fiel mii* die ungewöhnlich starke Faltenbildung der Mukosa
auf. Dieser Befund unterstützt die auch von Key-Äberg geteilte
Ansicht, daß die besondere Faltenarmut der menschlichen kleinen
Kurvatur für die Ätiologie der Ruptur von Bedeutung ist.
Ein weiterer Unterschied gegen den Magen des Menschen
Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 89. Bd. B
130 VI. Fbabkckel
zeigte sich darin, daß dieser sich nicht anders verhält, wenn man
ihn frei aufgehängt oder in sitn untersucht Beim Hundemagen ist
es mir dagegen in allen Fällen aufgefallen, daß sich bei der Sprengung
im isolierten Zustande nur einige Einrisse in der Umgebung des
durchgehenden Risses, aber nie die weit ausgebreiteten und besonders
längs der kleinen Kurvatur ziehenden Risse wie sonst fanden.
Aus all diesen Unterschieden darf, wenn auch nicht viel, doch
dies geschlossen werden, daß die Form des Magens allein nicht
maßgebend sein kann für die Art seiner Berstung. Denn der
Hundemagen zeichnet sich zwar durch eine stärkere Ausbuchtung
des Fundus von dem menschlichen aus, der Vergleich mit einem
„gekrümmten und etwas abgeplatteten Kegel mit bauchigem Boden*"
trifft aber auf ihn ebenfalls zu und ebenso die Lage des größten
Durchmessers. Folglich müßte auch die Gegend der gi*6ßten Be-
anspruchung dieselbe sein.
Nun sieht man aber bei der Auftreibung außerhalb des Körpers,
daß sich die kleine Kurvatur des Hundemagens, die vorher ebenso
stark oder stärker konkav war als eine vom Menschenmagen, bei
zunehmenden Spannungen deutlich konvex vorwölbt, ohne allerdings
eine kugelähnliche Form wie die Teile im Fundus zu erreichen.
Beim Menschenmagen habe ich das nie beobachtet, sondern stets
eine noch konkave bis höchstens ebene Fläche an der oberen Be*
grenzuug notiert. Wäre es nicht möglich, daß sich hier ein Schlüssel
zur Erklärung fände? Wenn wirklich, wie es nach diesen Be-
obachtungen scheint, die Muskulatur dieser Stelle beim Hund dehn-
barer ist als beim Menschen, so läge die Annahme nahe, daß in
situ die Lokalisierung der Schleimhautrisse an der kleinen Kur-
vatur davon herrührt, daß die tief in die kleine Kurvatur sich
einsenkenden unteren Leberlappen beim Hunde die Ausdehnung
hemmen und die Rolle des Hindernisses übernehmen, das beim
Menschenmagen die straffere Muskulatur bildet; daß dagegen außer-
halb der Bauchhöhle die Muskularis ihre Dehnbarkeit ausnutzen
und die Mukosa ihr folgen kann, statt seitlich ausweichen zu müssen.
Es wird vielleicht möglich sein, durch vollkommenere Messungen,
die Vergleiche zwischen verschiedenen Organen zulassen, diese
Hypothese zu prüfen.
Die gewonnenen Resultate möchte ich nach dem Dargelegten
folgendermaßen zusammenfassen. Die Wand des menschlichen Magens
besitzt in der Gegend der klein^i Kurvatur einen Widerstand, der
von den dort gelegenen Muskelschichten gebildet, die Ansdehnangs-
fähigkeit des ganzen Sackes, namentlich aber des Schleimbautsackes
UntersnchuDgen zur Entstehang der sogenannten spontanen Magenruptur. 131
hindert Hierdurch kommt es bei übergroßem Innendrack an dieser
Stelle zu besonders hohen Spannungen in dorsoventraler ßichtung
und damit zu Längsrissen. Dabei scheint die besondere Armut der
Schleimhaut an Falten an dieser Stelle befördernd mitzuwirken.
Die Bevorzugung des kardialen Abschnittes der kleinen Kurvatur
hängt, wenigstens zum Teil, wahrscheinlich ebenfalls mit jener Ver-
stärkung zusammen, die nur bis zum Beginn des Pylorusteils in
gleicher Stärke besteht. VieDeicht wirkt auch, wie noch erwähnt
sei, die Art der Verbindung mit dem Ösophagus mit* Die um die
Cardia radiär gelagerten Bisse, die nicht bis zum größten Durch-
messer nach rechts reichen, sprechen für eine solche Beziehung.^)
Neben dem Muskelwiderstand hat selbstverständlich auch die
Form des Magens eine große Bedeutung fdr die Bevorzugung der
kleinen Krümmung. Es leuchtet ja sofort ein, daß die konkave
kleine Kurvatur einen viel größeren Weg bis zur Kugelfoim zu
machen hat als die anderen Wandteile und daß ihre Beanspruchung
schon hierduixh am größten ist. Daß dazu aber noch rein anato-
mische Verhältnisse treten, die in derselben Richtung wirken, scheint
mir nach dem Dargelegten sehr wahrscheinlich gemacht.
Zum Schluß möchte ich noch auf zwei praktische Punkte hin-
weisen. Es scheint mir wichtig auf Grund der erworbenen Erfah-
rangen zu betonen, daß auch darin Key-Ä her g vollkommen recht
hat, daß schon eine sehr große Gewalt dazu gehört, den menschlichen
Magen bei einer Ausspülung wirklich zur Perforation zu bringen. Mir
ist es mit Schlauch und Trichter selbst an der Leiche eines Neu^
^borenen nicht gelungen, einen vollkommenen Riß zu erzeugen.
Femer ist hervorzuheben, daß in beiden klinischen Fällen, in denen
die Berstung am gesunden Magen erfolgte, eine schwere narkotische
Vergiftung bestand. Ob es von Bedeutung ist, daß es gerade beide-
male das die Magendarmmuskulatur spezifisch beeinflussende Opium
war, ist nach d€n zwei Fällen nicht zu entscheiden. In unserem
Institute werden darüber Versuche angestellt. Immerhin erscheint
«ine abnorme Beschaffenheit der Muskulatur oder ihrer Nerven dazu
zu gehören, Um die Verhältnisse zur Geltung zubringen, die wir am
Leichenmagen beobachten. Daß der Befund einer im Leben erzeugten
Verletzung mit dem einer kadaverösen so weit übereinstimmt, macht
^ doch sehr wahrscheinlich, daß eine Beseitigung des vitalen
Tonus voraofgegangen sein mnß.
1) Ähnliches kann mtai beobaditeti^ wenn man einen der feinen ^wnrst-
fönniget** Gummiballons an seinen Mnndsttkck fesU>indet und langsam und gleich*
mäßig zerplatzt.
VIL
Betrachtnngen über die Bedentnng der Gef&ßmnskeln
und ihrer Nerven,
Von
P. Orfltzner (TQbiDgen).
Als der bekannte Augenarzt Poarfour du Petit im Jahre
1712 an Hunden die beiden Vagosympathiei — wie wir lieute
sagen würden — oder den Hauptstrang des Interkostalneryen und
des 8. Nerven wie er sagt — durchschnitten hatte, bemerkte er
auiier den schon bekannten Erscheinungen der Atemnot, der Stimm*
losigkeit, des Erbrechens oder der Brechneigung noch eigenartige
Erscheinungen an den Augen. Sie wurden kleiner und trüber.
Da aber die Hunde infolge der Operation nach ein paar Tagen
zugrunde gingen, war er nicht sicher, ob nicht diese Veränderungen
an den Augen nur mittelbare Folgen der doppelseitigen Nerven-
durchschneidung sein könnten, und um diese zu vermeiden, durch-
schnitt er den Nerv nur einseitig. Da beobachtete er dann auf
das Unzweideutigste — womit auch seine anatomischen Unter-
suchungen übereinstimmten — , daß der besagte Nerv unmittelbare
Beziehungen zu den Augen hatte. Die Pupillen von den Augen
der operierten Seite wurden nämlich kleiner, die Hornhäute häufig
etwas trüber und flacher. Meistens aber war die Conjunctiva
bulbi stark gerötet und schob sich etwas über die
Ränder der Hornhaut hinüber, welche dadurch verkleinert
wurde. Die äußeren Gefäße des Auges — eben die der Sklera —
waren weit, die inneren dagegen sollten durch die Spannung der
Sklera dünn und wenig mit Blut gefüllt sein, wodurch seiner
Meinung nach eine geringere (lymphatische) Spannung des ganze»
Augapfels, eine geringe Abflachung der Hornhaut und eine geringe
1) Petit, Medecin, Memoire dans le qnel est demontr^ qne les Nerfs Inter-
costanx foumissent des rameanx qni portent des esprits dans les yeiuu Histoire
de rAcad^mie royale des sciences. Paris 1727. p. 1.
Betrachtangen über die Bedentang der Gefftfimnskeln und ihrer Nerven. 133
TrubuDg, beziehungsweise Bunzelung derselben entstehen maßte.
Die Rötung der Augen, die uns am meisten interessiert, wurde als
eine entzündliche betrachtet
Obwohl andere Forscher wie Dupuy/) Cruikshanks,
Ärnemann diese Tatsachen bestätigten und erweiterten, ja ob-
wohl Brächet geradezu behauptete, daß das Herz den betreffenden
Teilen zwar nach wie vor ihr Blut zuführe, aber da die Kapillaren
der operierten Seite nicht mehr kräftig reagieren, sich somit
später ausdehnen und erschlaffen, so machten doch alle diese An-
gaben verhältnismäßig wenig Eindruck auf die Zeitgenossen und
anf die Forscher im Anfang des vorigen Jahrhunderts. Die starke
Durchblutung, die Erwäimung der betreffenden Teile, gelegentliche
sekretorische Tätigkeiten der mitbetroffenen Drüsen führten höchstens
zn der Feststellung der Tatsache, „daß die sympathischen Nerven
einen großen Einfluß auf die nutritiven Funktionen ausüben''. Es
fehlte eben das innere Verständnis für diese Vorgänge. Man
wußte zwar, daß die Grefaße enger und weiter werden konnten,
wie aber Nerven auf sie einwirken sollten oder könnten, darüber
war man sich noch nicht klar. Man stellte eben einfach die Tat-
sache fest, daß Durchschneidung des Sympathikus entzündliche oder
diesen ähnliche Erscheinungen am Auge und in seiner Nachbar-
schaft hervorrief Der, wie es uns heutzutage scheint, so unend-
lich nabeliegende Gedanke, daß die Bewegungserscheinungen in
den Getäßen, ihr Weiter- und Engerwerden, mit Muskeln zu-
sammenhängen könnte, wurde zwar ausgesprochen, aber nicht be-
wiesen. Denn wo waren diese Muskeln? Kein Mensch hatte sie
gesehen. Sie existierten für die damaligen Forscher entweder gar
nicht oder nur in ihrer Phantasie.
Da sprach das Genie von Jakob Henle das erlösende Wort:
Die Wandungen der Gefäße enthalten Muskeln. Die ahnungsweise
von den früheren Forschern sogenannte Tunica muscularis der Ge-
fäße, insonderheit der Arterien, welche durch ihre rhythmische
Tätigkeit den Puls und durch eine schwer zu definierende aktive
Tätigkeit eine stärkere Durchblutung, eine Kongestion der Gewebe
erzeugen sollte, enthält tatsächlich Muskeln, ähnlich denjenigen,
wie man sie im Darm, im Magen, in der Harnblase usw. kannte.
Und merkwürdig, während die muskellose Tunica muscularis, in
der wenigstens niemand vor Henle Muskeln gesehen hatte, alle
1) über die interessante Geschichte dieses Themas vgl. H.Milne Edwards,
Le<:ons sor la Physiologie et ranatomi^-compar^. Paris 1859. T. 4 und A. Vulpian ,
Le^ns snr Tappareil vasomotear. Paris 1875.
134 VII. OHth?«riiH
diese wunderbaren Bewegungen d. h. Muskelleistungen ausführen
sollte, wurden jetzt, nachdem H e n 1 e *) in den Arterien Muskeln
entdeckt hatte, dieselben fast zur Untätigkeit verurteilt; die Ge-
fäße waren nur einfache elastische Schläuche. Am bestimmtesten
spricht sich Magen die') darüber aus, der eine Annahme von
Muskeltätigkeit in den Gefäfien geradezu für eine Ketzerei ansieht;
denn er sagt: Du moment que Ton admet que les parois des arteres,
grosses ou petites se contractent ä la mani^re du tissu musculaire,
il n'ya plus de th6orie de la circulation possible." Wenn auch diese
Worte wesentlich gegen S6nac und andere, nicht gegen Henle,
dessen Entdeckung später erfolgte, gerichtet waren, so ist es doch
interessant, wie hier von autoritativer Seite, der natürlich der
Anhang nicht fehlte, jedwede Muskeltätigkeit der Gefäßwand als
unverständlich und als unvereinbar mit dem Vorgänge der Zirkula-
tion erklärt wurde.
Mit wenig Worten sei noch darauf hingewiesen, daß einige
Jahre später Magendie's großer Landsmann Gl. B e r n a r d ^) den
Petit 'sehen Versuch wiederholte und einen unmittelbaren Einfluß
des Sympathikus auf die Muskeln der Gefäße, genauer gesagt, auf
die Gewebe, annahm. Denn seine Durchschneidung ließ die Ge-
fäße erschlaffen, die betreffenden Teile wurden blutreich und warm.
Beizte man dann den Sympathikus, was 6rownS6quard zuerst
ausführte, so zogen sich die Gefäße, vornehmlich die Arterien,
krampfhaft zusammen; die betreffenden Teile wurden blaß und
blutleer. Obwohl Bernard die Erscheinungen nicht durchweg
richtig deutete, erregten seine Mitteilungen doch das größte Auf-
sehen und die Brücke von dem zentralen Nervensystem durch die
„Gefäßnerven" zu den Muskeln der Gefäße war geschlagen.
Als nun Schiff*), Bernard und Eckhard auch noch
zeigen konnten, daß Reizung gewisser Nerven die Gefäße bedeutend,
jedenfalls viel bedeutender erweitert, als Durchschneidung des
1) J. Henle, Wochenschrift für die gesamte Heilkunde 1840 p. 329 und
Sömmering, Vom Bau des menschl. Körpers Bd. 6. 1841 oder J. Henle. All-
gemeine Anatomie usw. Leipzig 1841. p. 512.
2) Magendie, Le^ons sur les ph6nora6nes physiques de la vie T. 2 p. 78.
Die Vorträge wurden 1837 gehalten, die Zeit des Druckes ist nicht angegeben.
3) Cl. Bernard, Inflnence du grand sympadqne sur la sensibilite et la
calorification. Comptes rendus de la sociale de biologie 1851 p. 163 und Comptes
rendus de Tacad^mie de.s sciences 1852.
4) M. Schiff. Ein accessorisches Arterienherz bei Kaninchen. Archiv für
physiol. Heilkunde Bd. 13 p. 521. 1854 und gesammelte Beiträge von ihm Bd. 1
p. 131 u. f. 1894.
Betrachtungen über die Bedeutang der Gef&ßmnskeln und ihrer Nerven. 135
Veren^erers, so mußte man auch noch eine aktive Erweiterung
der Gefäße annehmen. Denn um nur ein Beispiel zu erwähnen;
durchschnitt Schiff einem Kaninchen den linken Sympathicus,
wodurch das linke Ohr warm und rot wurde, während das rechte
verhältnismäßig blaß blieb, so wurde jetzt dieses rechte viel röter
als das linke, wenn man das Tier irgendwie erregte. Links waren
nur die Gefäßverengerer gelähmt, rechts wurden die GeflLßerweiterer
gereizt
Nachdem man auch bald die vielfachen Beflexe kennen gelernt,
durch welche größere oder kleinere Grefäßgebiete erweitert oder
verengt wurden, war es vornehmlich Ludwig^) und seine Schule,
welche durch eine große Zahl berühmter Arbeiten einmal die Re-
gulation des Gesamtblutdruckes — denn Verengerung großer ar-
terieller Gefäßgebiete mußte den Blutdruck in die Höhe treiben,
Erweiterung ihn herabsetzen — durch die vasomotorischen Nerven
kennen lehrte, sowie andererseits die Versorgung bestimmter Organe
mit viel oder wenig Blut ins klare setzte, je nachdem die zu diesen
Organen zufuhrenden Arterien weit oder eng waren und gleich
dem mehr oder weniger geöffneten Hähnen einer Wasserleitung viel
oder wenig Flüssigkeit aus- bzw. einströmen ließen. Letztere
Tätigkeit der Gefäßmuskeln hatte in geistvoller Weise bereits
Henle*) auf das Bestimmteste ausgesprochen, indem er sagt: „Den
Anteil, den die Kontraktilität des Herzens und der Gefäße an der
Zirkulation nehmen, kann man mit zwei Worten so ausdrücken,
daß von dem Herzen hauptsächlich die Blutbewegung, von den
Gefäßen die Blutverteilung abhängig ist.""
Die allgemeine, von Ludwig und seiner Schule vertretene
Ansicht geht also dahin, daß, wenn wir von der Tätigkeit des
Herzens absehen, eine Steigerung des arteriellen Blutdruckes durch
Verkleinerung des Binnenraumes der arteriellen Gefäße zustande
kommen sollte. Dabei mußte natürlich der Kreislauf durch die
jetzt gesetzten Widerstände in den Arterien jenseits derselben ab-
geschwächt, die Geschwindigkeit herabgesetzt sein, gleich dem
Wasserabfluß hinter einem halb geschlossenen Hahn, auch wenn
der allgemeine Druck etwas höher geworden sein sollte. Zu seiner
größten Überraschung fand nun Heidenhain das gerade Gegen-
teil. tTenseits der angeblich stark verengten Arterien floß das
1) Die diesbezüglichen mannigfachen Arbeiten L u d w i g 's und seiner Schüler
hier zu nennen ist überflüssig; hingewiesen sei auf einen interessanten Aufsatz
Ton ihm: Die Nerven der Blutgeftße. Im neuen Reich 1876, 1. S. Hirzel, Leipzig.
2] A. a. 0. Allg. Anatomie p. 512.
136 VII. Grütznbr
Blut mit größerem Druck und größerer Geschwindigkeit oder
es erwärmte sich das betreffende Glied in viel höherem Maße,
wenn seine Nerven erhalten, als wenn sie durchschnitten waren,
ganz wie oben bei dem Versuche von Schiff mit dem erhaltenen
und durchschnittenen Sympathikus.
Ganz besonders lehrreich aber sind alle diejenigen Versuche,
in denen der Blutdruck auf verschiedene Weise erhöht wird und
seine Wirkung auf Gefäßgebiete ausübt, welche ihre vasomotorischen
Nerven besitzen und auf solche, die sie nicht besitzen. So fand
z. B. Ostroumoff bei Heidenhain folgendes. Einem Hund ist
der linke Ischiadikus durchschnitten, demzufolge die linke Pfote
sehr warm. Jetzt ward bei dem curarisierten Tiere ein sensibler
Nerv, z. B. der Vagus zentral gereizt, dessen Eeizung den Blut-
druck gar nicht bedeutend zu erhöhen braucht, ja ihn sogar herab-
setzen kann. Nichtsdestoweniger wird jetzt die normale Pfote
stärker durchblutet und viel wärmer, als die gelähmte. Dies findet
aber nicht statt, wenn der allgemeine Blutdruck auf eine andere
Art in die Höhe getrieben wird, wie ihn z. B. die Beizung des
Splanchnikus zur Folge hat, also durch Verengung der Gefäße der
Bauchhöhle. Ich betone diesen Punkt deshalb ganz besonders, weil
neuerdings vielfach die Meinung ausgesprochen worden ist, daß Er-
höhung des Blutdruckes durch Verengerung größerer Gefäßgebiete
andere Gefäßgebiete durchaus erweitem müsse. Wenn es sich ein-
fach um Eautschukschläuche handelte, wäre dies der Fall; die
Gefäßwandungen, namentlich die normal innervierten Getäße lassen
sich in ihrer Weite aber für gewöhnlich sehr wenig durch ver-
schieden hohen Blutdruck beeinflussen.
Wie sollte man sich nun alle die von Heidenhain und
anderen — ich nenne vor allen Dingen Goltz, Vulpian, Luch-
singer, Dastre und Morat — gefundenen Erscheinungen,
namentlich die zuletzt beschriebenen erklären ? Mit der einfachen,
andauernden Verengung von fast allen kleineren Arterien, wie
Ludwig zuerst glaubte, waren viele Erscheinungen, vor allem die
erhöhte Durchblutung der betreffenden Organe nicht vereinbar, aber
auch die Verengerung beschränkter Gefäßgebiete reichte ftir die
Erklärung vieler Vorgänge nicht aus; denn die Gefäße verhielten
1) R. Heidenhaiu. Über bisher unbeachtete Ein Wirkungen nsw. Pfläg^rs
Archiv Bd. 3 p. 504. 1870, A. Ostroumoff, Versuche über Hemmungsnerveu.
Ebenda Bd. 12 p. 219. 1876 und P. Grützner und B. Heidenhain, Beitrage
zur Kenntnis der Gefäßinnervation. Ebenda Bd. 16 p. 1 u. 31 u. 47. 1878.
Betrachtangen Ober die Bedeatang der Gefäßmnskeln und ihrer Nerven. 137
sieh ihr gegenüber auBerordenÜicfa selbständig. Es maßten also in
den Gefäßen anzweifelhaft Yorrichtnngen vorhanden sein, welche
selbst bei niedrigem, allgemeinem Blntdrock eine außerordentlich
starke Dorchblatong von Organen zar Folge hatten. Nun das
sollten eben die Gefäßerweiterer (oder wie sie Heidenhain nannte
die Hemmnngsnerven der Gefäße) sein.
Wie hat man sich nan dieses Spiel der beiden (refaßnerven,
der Verengerer nnd der Erweiterer, zu denken ? Vor allen Dingen
ist hier auf eine irrige Auffassung hinzuweisen. So wenig nämlich
wie elektrische Reizung des Nervus ischiadicus mit den tetani-
sierenden Strömen eines Induktionsapparates die gereizte Extremität
in normale Bewegungen versetzt, sondern wie vielmehr gewaltige
Streckkrämpfe entstehen, unter denen die schwächeren Beuger ge-
zerrt werden und stark leiden, so wenig erzeugt Reizung eines vaso-
motorischen Nervenstammes normale Vorgänge in den Gefäßmuskeln ;
denn hier wie da sind wohl in jedem vasomotorischen Nervenstamm
zweierlei Fasern vorhanden. Man weiß es bestimmt vom Sym-
pathikus am Hals und vom Ischiadikus, aber auch die 'Chorda,
welche man bisher für einen reinen Gefäßerweiterer hielt, enthält,
wie kürzlich^) gezeigt wurde, gefößverengernde Nerven. Da man
nun aber immer nur die gewöhnlichen Induktionsströme zur Reizung
dieser gemischten Nerven anwendete und da außerdem gezeigt
worden ist, daß die Gefäßerweiterer eine ganz andere Erregbarkeit
besitzen als die Verengerer — sie bleiben z. B. nach der Durch-
schneidung des Nervenstammes viel länger erregbar, können durch
konstante Ströme, durch mäßige Erwärmung usw. gereizt werden —
so sind alle die vielfachen Angaben, in denen durch obige Mittel
nur eine Nervenart, z. B. die Verengerer nachgewiesen werden
konnten, nur im positiven Sinne beweisend. Sie sagen nicht das
Geringste darüber aus, ob nicht auch Erweiterer in dem unter-
suchten Nervenstamm enthalten sind.
So wie nun bei den natürlichen Muskelbewegungen ein abge-
messenes Spiel bald der einen, bald der anderen Nerven beziehungs-
weise Muskeln stattfindet, wie namentlich (nach meiner Auffassung-))
verschiedene Muskelelemente hintereinander in Tätigkeit ge-
raten und nur dadurch das Langsame und Gemessene der natürlichen
Bewegungen verständlich machen, so ist dies sicher auclf bei den
Nerven beziehungsweise Muskeln der Gefäße der Fall.
1) A. Fröhlich n. 0. Löwi, Über vasokonstriktorische Fasern der Chorda
tTinpani. Zentralbl. f. Physiol. Bd. 20 p. 229, 1906.
2) Arcbivio di Fisiologia etc. dal G. Fano, Vol. 2, p. 114, 1904.
138 Vn. Grütznbh
Wenn schon die Erf^ttndang der natfirlichen MuskelbewegUDgen,
die wir doch aaf da45 Genaueste sehen und verfolgen können, groSe
Schwierigkeiten bereitet, so gilt dies natürlich in noch höherem
Maße bei den sicher nicht weniger komplizierten Bewegungen der
G^ßmuskeln.
Welcher Art sind nun diese normalen Bewegungen, die gewiS
von den oben erwähnten, durch künstliche Reizung erzeugten
himmelweit abweichen? Nun zunächst dürfte eines sicher sein.
Die Gefäße, ich denke zunächst an die Arterien, können weit und
können eng sein. Sind sie das erstere, so wird ganz wie bei einer
weit geöffneten Wasserleitung viel Flüssigkeit durch sie hindurch-
strömen, zugleich wird wohl das Volumen des durchströmten Organes
zunehmen. Sind sie eng, so muß das Entgegengesetzte eintreten.
Die betreffenden Organe erhalten nur wenig Blut, werden blaß und
kleiner. Es ist nur die Frage, ob dies die einzige Tätigkeit der
Gefäßmuskeln ist. Sollten sie also nur die Pförtner sein, die ein-
mal die Pforten, durch welche das Blut zu den Organen strömt,
nahezu 'zu verechließen und das andere Mal weit zu öffnen hätten ?
Sollten also diese Millionen und aber Millionen wunderbarer Arbeits-
maschinen keine eigentliche Arbeit leisten ? Denn wenn die GelSße
erschlafft sind, ist ihre Arbeit jedenfalls verschwindend; die Ring-
muskeln, also die Hauptmasse aller Muskeln in den Arterien, müssen
erschlafft sein, die Längsmuskeln sind vielleicht zusammengezogen
und er weitem dadurch das Lumen der Gefäße. Sind dagegen die
Gefäße verengt, so haben sich die Ringmuskeln zusammengezogen
und bleiben es. In beiden Fällen wird also nur eine physiologische,
keine physikalische Arbeit geleistet. Es wird dauernd eine ge-
wisse Spannung in den Muskeln erhalten, etwa um diese Leistung
mit einer ähnlichen der quergestreiften Muskeln zu vergleichen,
ein mehr oder weniger schweres Gewicht, vielleicht eine Hantel mit
ausgestrecktem Arm ruhig hoch gehalten.
Schon das ist von vornherein recht unwahrscheinlich. Da ein
hoher Blutdruck oft lange Zeit besteht, so ist selbst bei der Lang-
samkeit der Bewegungen von glatten Muskeln ein derartig langer
Tetanus etwas Ungewöhnliches, wenn auch nicht Unmögliches.
Unter allen Umständen aber müßte das Herz, wenn es gegen diesen
erhöhten* Widerstand arbeiten sollte, höhere Spannungen aufbringen,
ohne doch damit etwas Nennenswertes für den Kreislauf zu er-
reichen; denn es muß ja gegen einen stärkeren Widerstand arbeiten.
Die Gefäßmuskeln also strengen sich an und bürden durch diese
ihre Anstrengung auch noch dem Herzen mehr Arbeit auf, eine
BetrachtQDgen über die Bedentnng der GefUßmuskeln und ihrer Nerven. 139
hSehst wnnderliclie Einrichtnog ! Ich habe gesagt Arbeit. Streng^
genommen ist das nicht bewiesen; denn wenn in demselben Maße
wie der Blatdrock steigt, das Schlagvolamen und die in der Zeit-
einheit gef5rderte Blatmenge kleiner wird, so kann natürlich die
physikalische Arbeit des Herzens gleich groß bleiben; ja bei sehr
kleinem Schlagvolumen sogar kleiner werden. Wenn man nun aber
derartige Versuche anstellt, so gewinnt man sicher nicht die Vor-
steilnngy daß bei Erzeugung eines hohen Blutdruckes, z. B. durch
ReiauDg von sensiblen Nerven das Herz entlastet wird. Es hat
sicher mehr zu tun, was übrigens vielfach geradezu nachgewiesen
worden ist. Es bestände also hier die unsinnigste Vergeudung von
Kraft an dem lebenswichtigsten Muskel des ganzen Körpers, dem
Herzen. Denn wenn sich die Gefäße nicht verengten, würde ja
darch mäßige Erhöhung der Herzarbeit die Zirkulation viel wirk-
samer gefördert werden können. Man schaltet doch auch nicht
Widerstände ein, um die Stromstärke zu erhöhen, sondern man er-
höht die Stärke des stromgebenden Apparates oder setzt die Wider-
stände herab.
Ich glaube nun nie und nimmer, daß die Muskeln der Gefäße und
die Muskeln des Herzens einander entgegenarbeiten sollten, um
nichts zu erreichen. Ich bin vielmehr der Meinung, daß die Muskeln
der Gefäße (ganz abgesehen von der Verteilung des Blutes an ver-
schiedene Organe) die Arbeit des Herzens unterstützen und er-
leichtem und daß in den Gefäßen selbst Kräfte tätig sind, welche
unabhängig vom Herzen das Blut vorwärts bewegen, so wie es das
Hers tut, nur nicht mit derselben Kraft.
Selbstverständlich ist diese Meinung nicht von mir zuerst aus-
gesprochen worden, sondern sie taucht nach ihrem ersten Er-
scheinen immer und immer wieder in der Literatur auf. Der erste,
welcher sie äußerte, war meines Wissens Senac, der geistvolle
Leibarzt Ludwigs XV., welcher in seinem berühmten zweibändigen
Werke Trait6 de la structure du coeur, de son action et de ses
maladies, Paris 1774, T. 2 p. 193 die allerdings viel zu weit gehende
Behauptung ' ausspricht, daß die Kräfte der Arterien denen des
Herzens überlegen sind ^), daran aber den weiteren einschränkenden
Satz schließt, den man wohl unterschreiben kann: Les art^res sont
de vrais coeurs sous une autre forme. Ihnen wohnen zweierlei
1) Daß die&es tatsächlich hin und wieder zutrifft, dafür bringt Senac in
scharfsinniger Weise das Beispiel eines Fisches bei, der gegenilber seinem großen
Körpergewicht von 36 Zentnern (trente-cinq qnintaux) ein anOerordentlich kleines
Herz hatte, welches nur 3 Pfand (trois livres) wog.
140 VII. Grützkbb
Kräfte inne, einmal die Elastizität, die auch im Tode fortbesteht,
und eine zweite, an das lebendige Gewebe gebundene Kraft, die
Irritabilität, welche auch dem Herzen eigentümlich ist. Daß bei
vielen Tieren die Arterien, oder sagen wir lieber pulsierende Gefäße,
tatsächlich die Stelle des Herzens vertreten, war ihm wohl nicht
bekannt, wurde aber von späteren Forschern zum Beweise für die
Tätigkeit der Arterien überhaupt herangezogen.
Die Behauptung, daß den Arterien eine das Blut vorwärts
treibende eigene Kraft innewohnt, kehrt noch häufig wieder, ohne
daß ich hier auf Einzelheiten eingehen will. Eine ganz bestimmte
Gestalt aber nahm sie wohl erst an, als Schifft) unmittelbar an
einem Waimblüter. am Kaninchen, eine vom Herzen unabhängige
Pulsation in einer Arterie nachwies. Betrachtet man nämlich bei
einem ruhig dasitzenden Kaninchen die Gefäße des Ohres in durch-
fallendem Licht, so gewahrt man leicht, daß die mittlere, ziem-
lich große Arterie bald weit, bald eng ist Die Erweiterung erfolgt'
rasch, die Verengerung dagegen langsam und allmählich und schreitet,
was von besonderer Wichtigkeit ist, stets von dem Grunde des Ohi-es
zur Spitze fort. Es liegt also unzweifelhaft ein arterielles Herz vor.
Späterhin haben namentlich Legros und Onlmus*) die An-
schauung vertreten, daß den Arterien gerade so wie den anderen
muskulösen Hohlorganen, z. B. dem Darm, eine andauernde „wurm-
förmige" Bewegung zukomme, welche das Blut vorwärts treibt.
Es fragt sich nun, haben wir Beweise für diese an und für
sich äußerst wahrscheinliche Behauptung. Vielfach wird als ein
solcher die Tatsache angeführt, daß die Arterien nach dem Tode
leer sind. Und auch ich glaube, man kann diese Erscheinung nicht
anders deuten, als durch eine das Blut vorwärts treibende Kraft
der Arterien. Zunächst ist soviel klar, daß die Elastizität der
Gefäßwandungen allein die Erscheinung nicht erklärt; denn infolge
der elastischen Fasern verkleinern die Arteriön ihre Lichtungen
nur sehr wenig. Die Muskeln müssen also mithelfen; aber ihre
Tätigkeit muß in ganz bestimmter Weise geregelt sein. Sie müssen
in ganz bestimmter Beihenfolge und Stärke sich zusammenziehen,
damit schließlich die Arterien leer und die Venen voll werden.
Zögen sich z. B. die mittelgroßen und kleinen Arterien zusammen,
so müßten sie ihr Blut, — denn Klappen sind ja nicht vorhanden
1) A. a. 0.
2) Legros et Onimus. Sar la circiüation etc. Journal de rauatomie et
de la Physiologie T. 5 p. 362 et p. 479, 1868.
BetrachtuDgen über die Bedeatnng' der Gefftßmnskeln und ihrer Nerven. 141
— sowohl in die größeren Arterien, wie in die kleinsten Arterien
and Kapillaren pressen.
Wohin der größere Teil des Blntes kommen würde, das läßt
sich nicht übersehen, da man nicht weiß, welches von den beiden^
vor und hinter den zusammengezogenen Partien gelegenen Gefäß-
abschnitten dnrch den gleichen Druck mehr oder weniger gedehnt
wird. Nehmen wir beispielsweise an, drei apfelgroße Kantschack-
ballons seien hintereinander mit Bohren verbanden and alle mit
Wasser gefüllt. Der erste (sonst geschlossene) Ballon, der durch
die Röhre in den zweiten übergeht, sei dickwandig und schwer
dehnbar, der mittlere — was übrigens hier gleichgültig ist —
habe eine mittlere Dehnbarkeit und der dritte (ebenfalls sonst ge-
schlossene) sei dünnwandig und leicht dehnbar. Wird jetzt der
mittlere Ballon mit der Hand zusammengedrückt, so entleert sich
dessen Inhalt wesentlich in den dünnwandigen Ballon Nr. 3; nur
wenig Wasser tritt in den Ballon Nr. 1. Der Ballon Nr. 1 wird
also sehr wenig, der Ballon Nr. 3 stark ausgedehnt. Es ist mir
nicht unwahrscheinlich, daß sich die großen Arterien etwa wie der
Ballon Nr. 1, die kleineren dagegen wie der Ballon Nr. 3 ver-
halten. Ein derartiger Vorgang würde das postmortale Übertreten
von Blut aus den großen in die kleinen Arterien und dann weiter
in die Kapillaren und in Venen neben einer etwaigen fortschreiten-
den Peristaltik der Arterien nicht unbedeutend unterstützen.
Damit nun aber das Blut in den Venen bleibt, müssen noch
ventilartige Vorrichtungen hinzukommen. Diese Ventile sind offen-
bar die Kapillaren und die kleinsten Gefäße; denn ist einmal das
Blut aus den Arterien heraas in die Venen getrieben, so kommt es,
weil der Druck in diesen schlaffen nachgiebigen Gefäßen binnen
kurzer Zeit gleich Null wird, nicht mehr in die Arterien hinein.
Wir haben aber noch weitere Beweise am Lebenden. Es ist
bekannt, daß wenn man bei Fröschen die Zirkulation in der Pfote
beobachtet, man dieselbe noch einige Zeit — wenn auch außer-
ordentlich viel schwächer — fortdauern sieht nach Abbindung des
Herzens. Es wäre dies wie bei dem Absterben des Herzens nicht
möglich, wenn die Zusammenziehung der Arterien nicht in einer
ganz bestimmten Ordnung von den größeren zu den kleineren vor
sieh ginge.
Femer sprechen folgende Tatsachen für die pumpende Kraft der
Arterien. In einer verhältnismäßig wenig beachteten Arbeit von
V. Bezold und Gscheidlen,^) deren Besultate man unschwer
1) A. Y. Bezold u. K. Gscheidlen, Von der Lokomotion des Blutes durcK
142 VII. GBeTZNBE
bestätigen kann, finden sich dieselben vor. Um die Tätigkeit der Blut-
gefäße allein zn untersuchen, schalteten die genannten Forscher das
Herz vollkommen ans, teils durch starke Elektrisierung desselben,
teils durch Umschuürung seiner Basis, so da£ die großen Venen und
die Aorta vom Herzen getrennt wurden. Die Versuche geschahen an
curarisierten Kaninchen, deren arterieller und vaiöser Druck be-
stimmt wurde, der erste in der Carotis, der zweite gewöhnlich in
der Vena cava. War das Zentralnervensystem dieser Tiere er-
halten, so war längere Zeit, das heißt etwa 1 — 2 Minuten nach
Ausschaltung des Herzens der Blutdruck in beiden Gefäßen
nahezu gleich, nämlich etwa 86 mm Wasser. War dagegen das
Halsmark durchschnitten, also der Einfluß der Vasomotoren auf-
gehoben, so betrug um dieselbe Zeit der Blutdruck in der Arterie
im Durchschnitt 86,6, der in der Vene nur 43,4 mm Wasser.
Wurden schließlich die Vasomotoren in dem durchschnittenen Hals*
mark gereizt, so stieg der Venendruck z. B. von 50 auf 7ö mm
Wasser, während der arterielle fleL Trotz eines außerordentlich
geringen Druckes in den Arterien von vielleicht 80—100 mm
Wasser, das ist etwa 7 mm Quecksilber, vermögen also die Ge-
fäße, wenn ihre Vasomotoren gereizt werden, Blut in die Venen
hinüberzupumpen. Sie vermögen in den Venen und in den Arterien
nahezu gleichen Blutdruck zu erhalten, wenn die Vasomotoren
überhaupt noch vorhanden und offenbar schwach tätig sind; sie ver-
mögen aber so gut wie kein Blut in die Venen zu treiben, wenn
sie ihrer Vasomotoren beraubt sind.
So wie in den Versuchen von Heidenhain und mir selbst
bei geringem Blutdruck infolge Reizung sensibler Nerven die be-
treffenden Körperorgane viel besser durchblutet wurden und der
Venendruck in ihnen bedeutend anstieg, so können selbst die Ar-
terien bei einem Druck von ein paar Millimeter Quecksilber ihren
Inhalt in die Venen vorwärts schieben. Hier, wie bei all diesen
Versuchen handelt es sich niemals bloß um andauernde Er-
weiteiung oder wie gesagt wird, um andauernde Reizung der
Oefäßerweiterer, der sogenannten Hemmungsnerven der Gefäße:
denn dann wäre es völlig undenkbar, wie bei den v. Bezold-
Osc hei dien 'sehen Versuchen der Venendruck gelegentlich über
den arteriellen Druck sich erheben könnte, was er tatsächlich tut
Es kann sich auch nicht um eine dauernde Zusammenziehung einiger
die glatten Muskeln der Gefäße. Untersuch, aus dem pfaysiol. Laboratorium in
Würzburg. Heft 2. 1867. p. 347.
Betrachtungen über die Bedeutung der Gefiäßmuskeln und ihrer Nerven. 143
Arterien handeln ; denn dieselbe könnte eher den Zuflufi zu den Venen
sperren nnd wie schon oben angedeutet fast ebensogut das Blut in
die größeren Arterien, wie in die Kapillaren pressen. Es mnfi eine
Art Pumpwirkong vorliegen, welche das Blut vorwärts treibt. Dem-
nach halte ich es auch nicht für unmöglich — was vielleicht mancltem
etwas ketzerisch vorkommt — , daß gelegentlich in kleineren Arterien
während kurzer Zeit ein höherer Druck bestehen kann, als in der
Aorta, wenn dieselben gleich einem mit Wasser gefnUten Grinnmi'?
schlauch, der fortschreitend zusammengedruckt wird, sich fort^
schreitend zusammenziehen.^)
Ich glaube, die mitgeteilten Tatsachen beweisen zur Genüge,
da£ die Arterien das Blut nach den Venen vorwärts schieben. Es
mögen aber noch einige andere hier Platz finden. Heidenhain
und ich^) fanden, daß Eeizung sensibler Nerven, welche nach
Ludwig den allgemeinen Blutdruck wesentlich d,urch Verengung
der Gefäße des Splanchnikusgebietes in die Höhe treibt, diese
Wirkung auch dann hat, wenn das ganze Splanchnikusgebiet durch
Unterbindung der Aorta über der Cöliaca und der Vena cava inr
ferior über den Nierenvenen vollkommen ausgeschaltet ist. Hierbei
sollte nach Heidenhain ein derartiger Eingriff die Gefäße der
Haut durch reflektorische Beizung ihrer Hemmungsnerven erweitern,
dasselbe sollte eintreten mit den Muskelgeiaßen. Welche Gefäße
sollten sich denn da verengern und durch ihre Verengerung den
Blutdruck in die Höhe treiben? Die Gefäße des Unterleibs waren
ausgeschaltet, die anderen noch vorhandenen sollten sich erweitern^
und doch stieg der Blutdruck.
Es gibt noch andere ähnliche Tatsachen, auf die ich aber,
weil ihre Erörterung ohne ausführliche Beschreibung der betreffen^
den Versuchsanordnnngen kaum verständlich wäre, hier nicht näher
eingehe. Sie sind ebenso völlig unbegreiflich, wenn. die arterielle
Oefäßmuskulatur weiter nichts machen soll, als die Gefäße dauernd
weit oder dauernd eng zu erhalten, werden aber leicht verständ-
lich, wenn man annimmt, daß die Arterien vorwärtstreibende
Kräfte besitzen.
Femer sei noch auf folgende Tatsachen hingewiesen. Fragen
wir uns, wo die meisten Muskels in den GefiLßen sind, so erhallen
1) Damk h&ag^ die aUe(0. Volknann, Hämodynamik p. 174). neuerdings
wieder genau untersuchte Angabe, daü der Dmck in der Cmralis größer sein soll
als in der Carotis, nicht zusammen. (S. £. Weber, Vergleichnng des Druckes usw.
^atralbl, fttr Physiologie Bd. äO p. 123. 1906.)
2) A. a. 0. p. 48.
144 VII. Grützmbb
wir zur Antwort^ zunächst in den kleinsten Arterien, in denen dio
Pampkraft des Herzens schon nachzulassen beginnt, dann aber in
deigenigen Arterien, in denen der Fortbewegung des Blutes offen-
bar gewisse Schwierigkeiten entgegenstehen ; z. B. in den Arterien
des DanneSj welche ein doppeltes Eapillarsystem zu speisen haben,
das des Darmes und das der Leber. Sollten da die reichlichen
Bingmuskeln in ihnen dazu da sein durch dauernde Verengerang
der Arterien der Durchblutung Schwierigkeiten zu bereiten, die
schon an und fttr sich schwierig genug ist? Das kann niemand
glauben. Vielmehr wird jeder Unbefangene das Entgegengesetzte
annehmen, daß nämlich die hier besonders reichlich vorhandenen
Ringmuskeln die Durchblutung der Unterleibsorgane in irgend einer
Weise unterstützen und fördern.
Ganz dasselbe gilt von den Muskeln der Vena portae und ihrer
Äste, welche im Vergleich mit den übrigen Venen des Körpers
daran sehr reich sind. Namentlich enthalten sie viele Ringmuskeln,
zu gleicher Zeit finden sich in ihnen reichlich Klappen. Köppe^),
der diese anatomischen Verhältnisse in Ludwig's Institut sorg-
fältig untersucht hat, äußert sich über die Bedeutung dieser Muskeln
folgendermaßen: „Ihrer Gegenwart ist es zu verdanken, daß sich
die Mesenterialvenen in verschiedenem Grade mit Blut zu f&Ilen
vermögen, ohne daß sich in ihrem Binnenraume der Druck ändert,
und umgekehrt, daß der letztere dort sehr ungleich groß angetroffen
wird, trotzdem, daß die im Rohre enthaltene Blntmenge denselben
Wert besitzt Beides läßt sich durch Lähmung oder Reizung der
Vasomotoren leicht veranschaulichen, und ebenso beweisen, daß die
Geschwindigkeit — nicht die Stärke — des Stromes innerhalb der
Portalvenen bis zu einer gewissen Grenze hin unabhängig ist von
dem Zufluß aus den Arterien und von dem Widerstände in den
Lebergefäßen." Ob diese Darstellung das Richtige trifft, darüber
will ich mir ein Urteil nicht erlauben. Jedenfalls trifft sie meines
Erachtens nicht das Wesentliche; denn Klappen deuten auf Be-
wegung in bestimmter Richtung und Muskeln im allgemeinen auch
auf Bewegung, nicht auf längeren Stillstand in Tätigkeit oder in
Ruhe. Die Muskeln der portalen Gefäße, davon bin ich fest über-
zeugt, dienen in allererster Linie der Fortbewegung des Blutes
welches mit außerordentlich geringem Druck — denn es hat ja
schon ein Kapillarsystem passiert — in die Darmvenen eintritt
1] H. Koppe, Muskeln and Klappen in den Wurzeln der Pfortader. ArchiT
für Physiol. 1890, Supplement p. 168.
Betrachtungen über die Bedentnng der Ge&Kmuskeln und ihrer Nerven. 145
Wie kräftig sie zu wirken imstande sind, davon hat sich Mall-^)
fiberzeagt, der nach Abschnümng der Aorta bei Reizung des
Splanchnikos die Gefäße sich bis „zum Verschwinden des Lmnens'^
verengern sak (Daß diese gewaltigen Zasammenschnürangen
normalerweise nicht vorkommen dürften, sondern Krämpfen zu ver-
gleichen sind, versteht sich nach dem oben Gesagten von selbst.)
Wenn man weiter bedenkt, daß nach Bayliss^ der glatte
Muskel auf jede Spannungsänderung in typischer Weise reagiert,
die Füllungen der Gefäße und damit die Spannungen ihrer Wände
sich aber fortwährend ändern, so werden die glatten Muskeln der-
selben sozusagen nie Ruhe haben und gewiß in ähnlicher, wenn
auch nicht so komplizierter Weise arbeiten, wie die Muskeln des
Darmes, die nach Ex n er 's') interessanten Versuchen selbst Steck-
nadeln mit ihrer Spitze voran durch den Darm leiten, ohne ihn zu
verletzen, wie ein seekundiger Lotse ein Schiff auf schwieriger
Fahrt
Schließlich noch eine Frage. Wozu dienen die gewaltigen
Mengen glatter Muskeln, die ringförmig die Nabelarterien des
Xabelstranges umgeben ? Sollen sie sich vielleicht ebenfalls dauernd
zusunmenziehen und den Widerstand auf dem langen Weg vom
Nabel des Kindes bis zur Placenta noch vergrößern ? Das ist ebenso
anwahrscheinlich, wie die dauernde Zusammenziehung der Darm-
arterien und -venen. Die Nabelarterien sind sicher, solange das
Kind im Mutterleibe sich befindet, sekundäre Herzen, welche das
venöBe Blut in die Placenta treiben helfen. Verläist das Kind
oder das Tier den Mutterleib, dann allerdings ziehen sie sich, wohl
durch den Eältereiz, so stark zusammen, daß aus ihnen, d. h. aus
dem Neugeborenen, kein Blut mehr austritt
So hat sich denn in mir durch alle diese Betrachtungen die
von mir^) schon vor Jahren ausgesprochene Behauptung, daß die
Arterien die Tätigkeit des Herzens unterstützen, aber nicht hemmen,
von neuem bekräftigt Und in gleichem Sinne wie die Arterien
wirken sicher auch die Kapillaren und die Venen. Die ersteren be-
1) F. P. Mall, Die motorischen Nerven der Portalvene. Archiv für Physio-
io^e 1890, Supplement p. 57.
2) BaylisB, The reaction of blood vessels etc. Journal of physiol. Vol. 26,
Proceedin^ etc. p. 29. 1900 und On the local reactions. £benda Vol. 28 p. 220. 1902.
3) A. Einer, Wie schützt sich der Verdauungstrakt vor Verletzungen usw.
PflUger's Archiv Bd. 89 p. 2d3, 1902 und A. Müller, Beiträge zur Kenntnis von
den Schutzeinrichtungen des Darmtmktes usw. Ebenda Bd. 102 p. 208. 1904.
4) P. Grfltzner, Über verschiedene Arten der Nervenerregung. Pflüger's
Archiv Bd. 17 p. 215 (231). 1878.
Dentaches Archiv f. klin. Medizin. 89. Bd. 10
146 VII. Ghützmbr
sitzen zwar keine Muskeln, sie können sich aber unzweifelhaft,
wie dies zuerst Stricker und neuerdings Steinach undKahn^)
zeigten, durch die sie umgebenden Ronget-Mayer 'sehen Eorbzellen
verengern und erweitem und so ebenfalls fördernd und gelegentlich
natürlich auch hemmend auf den Blutstrom wirken.
Die Venen besitzen Muskeln und sie dürften dieselben wesent-
lich auch zur Förderung des Blutstroms benutzen. Wissen wir doch
auf der einen Seite aus den wichtigen und sinnreichen Versuchen
von Goltz'), daß schon die Lähmung der Bauchvenen den Blut-
lauf vollkommen unmöglich macht, da sich das Blut dann in ihnen,
wie in großen, schlaffen Säcken ansammelt und das Herz kein Blut
bekommt, und ist es doch andererseits bekannt, daß in gewissen
Venen, wie z. B. in denen der Fledermausflügel *), tatsächlich Stellen
nachzuweisen sind, welche sich nach Art des Herzens rhythmisch
mit großer Kraft zusammenziehen und das Blut dem Herzen zu-
treiben. Vei-sagt diese vorwärtstreibende Kraft in den Venen der
menschlichen Haut, so gibt es, wie ich glaube, cyanotische Verfai-
bungen, wahrscheinlich auch leicht Erfrierungen bei irgendwelchen
Störungen der Zirkulation.
Wenn ich so den glatten Muskeln der Gefäße eine ziemlich
komplizierte Arbeit zugewiesen habe, indem sie sowohl für sich
allein, als auch im Verein mit der Tätigkeit des Herzens das Blut
dahin führen, wo es hauptsächlich gebraucht wird, so entsteht
schließlich noch die Frage, durch welche Vorgänge sie zu dieser
Tätigkeit veranlaßt werden. Nun die Alten sagten: UM Stimulus,
ibi affinxus. Das ist ja gewiß richtig, über die Art aber, wie der
Stimulus wirkt, darüber erfährt man nichts. Zunächst ist bekannt,
daß mechanische Reize, welche die Haut treffen, die Gefäße der
getroffenen Stelle in eigentümlicher Weise erregen. Warum frei-
lich z. B. ein tätiges Organ im allgemeinen stärker durchblutet wird,
als ein untätiges, das wissen wir nicht. Wohl aber hat Bier*)
in einer geistvollen Untersuchung gezeigt, daß die Gefäße aller
1) £. St ein ach n. R. H. Kahn, Echte Kontraktilität und motor. Inner-
vation der BlutkapiUaren. Pflüger's Archiv Bd. 97 p. 105. 1903.
2) F. Goltz, Über den Tonns der Gefäße u. s. w. Virehow's Archiv Bd. 29
p. 394, 1864.
3) T. Wharton Jones, Discovery that the veins of the Bats' Wing are
endowed with rythmical contractilitj etc. Philosophical Transactions 1852 p. 131
und B. Lnchsinger, Von den Venenherzen in der Flnghant der Fledermfiuse.
Pflüger's Archiv Bd. 26 p. 445. 1881.
4) A. Bier. Die Entstehung des Kollateralkreislaufes. Vircbow^s ArcliiT
Bd. 147 p. 256. 1897.
Betrachtungen über die Bedentnng der Gefäßmnskeln und ihrer Nerven. 147
derjenigen Gewebe viel Blnt in dieselben fördern, die gleichsam nacli
Blat besonders hungrig sind, weil man ihnen das Blut längere
Zeit vorenthalten hat. Das anämische Gewebe zieht gewissermaßen,
wie sich Bier ausdrückt, unabhängig vom Zentralnervensystem
arterielles Blut an und sperrt sich gegen venöses, und selbst bei
verschwindendem Blutdruck kann so das betreffende Gewebe stark
mit Blut durchströmt werden. Wenn Bier nun meint, daß dies
geschieht „durch eine gewaltige Herabsetzung der Widerstände in
den kleinen Gefäßen und vielleicht auch in allen anderen Gewebs-
teilen, deren elastische Spannung vielleicht durch die Anämie herab-
gemindert wird^, so möchte ich glauben, daß einfache Erweiterungen
kleiner Gefäße für das Entstehen einer Hyperämie unter diesen
Bedingungen kaum ausreichend sind. Die Gefäße müssen selbst
aktiv tätig sein und das bißchen Blut, was sie bekommen, dahin
treiben, wo es nötig ist, auch ohne nennenswerten allgemeinen
Blutdruck. Wie sollte man sich sonst jenen interessanten Versuch
(25, p. 287) von Bier erklären, in welchem einem Schwein zu-
nächst ein Oberschenkel durch die Esmarch'sche Binde blutleer
gemacht, dann etwa 2 Finger breit unterhalb des Schnürschlauches
amputiert wird? Der Schlauch wird jetzt gelöst, das Blut schießt
aus den Arterien heraus, aber trotzdem rötet sich der Rand des
Beinstumpfes von dem Schnürschlauch bis zur Wundfläche. Sollte
der geringe Druck in den spritzenden Arterien ausreichend sein,
um jene Hyperämie durch bloße Erweiterung der kleinsten Haut-
geföße zustande zu bringen? Unmöglich wäre es ja nicht, aber
da wir oben gesehen haben, daß bloße Gefaßerweiterungen allein
keineswegs die starke Durchblutung von Geweben erklären konnten,
so halte ich es mindestens für wahrscheinlich, daß auch hier die
Erweiterung allein jene Hyperämie nicht zustande bringt.
Es sei schließlich noch dauf hingewiesen, daß namentlich von
klinischer Seite die den Blutlauf unterstützende Wirkung der Ge-
fäßmnskulatur (meines Erachtens) richtig erkannt worden ist. Was
bei mangelhafter Zirkulation in schweren Krankheiten Schwäche des
Herzens sein sollte, das hat sich vielfach als eine primäre Schwäche
•der Geftße beziehungsweise ihrer nervösen Zentralorgane heraus-
gestellt, wie dies wohl zuerst Naunyn, später Romberg,
Päßler^) u. a gezeigt haben. Ja von Rosenbach^} undHase-
1) Päßler n. Bollj, Experimentelle Untersuchungen usw. Dieses Archiv
Bd. 77 p. 96 1903, woselbst auch die flbrige Literatur.
2) 0. Rosenbach, Eine neue Kreislaufstheorie. Berliner klin. Wochenschr.
1903 p. 1066.
10*
148 VII. Grützxbr, Betracht, üb. d. Bedent. d. Gef&ßmiiskeln xl ihrer Nerven.
broek^) wurden die Qef&ße geradeza als akzessorische Herzen
angesehen, ähnlich wie auch ich es oben getan habe.
Alles spricht somit f&r die Richtigkeit, meiner Behanptuni;:
Die Gef&fie, insonderheit die Arterien, aber auch die
Kapillaren und die Venen sind akzessorischeHerzen,
welche die Tätigkeit des Herzens unterstützen und
nebenher die Blutverteilung besorgen.
1) K. Hasebroek, Versach einer Theorie nsw. Dieses Archiv Bd. 77
p. 350 1903.
vm.
Indisclie Prioritfttsansprttche.
Von
Professor Dr. phil. et med. Julius Jolly
in WärzbuTR.
Als die Verbreitung der Malaria durch Moskitos nachgewiesen
war, traten anläßlich der Untersuchungen über die Ursachen einer
Fieberepidemie in Colorobo dort eine Anzahl einheimischer Arzte
in einem Beport mit der Behauptung hervor, daß schon in alt-
indischen Werken über Medizin das Vorkommen von Moskitos neben
Unreinlichkeit der Luft und des Wassers als Hauptursache des
Malariafiebers bezeichnet sei. Sir H. Blake, der Gouverneur der
Insel Ceylon, ging der Sache nach und legte als Resultat seiner
Erkundigungen dem Ceylon Brauch der British Medical Association
in einem am 15. April 1906 gehaltenen Vortrag zwei Stellen aus
dem berühmten Sanskritlehrbuch der Medizin von Su^ruta vor,
in welchem dem Stich gewisser Moskitos so schlimme Folgen vrie
den Bissen todbringender Insekten zugeschrieben werden, insbe-
sondere Fieber, Gliederschmerzen, Pusteln usw. Sir H. Blake
knüpfte hieran die Bemerkung, daß in diesen vielleicht schon
3000 Jahre alten Texten eine Vorahnung der großen Entdeckungen
von Manson und Boß über den Ursprung der Malaria vorliege.
Hiergegen glaube ich in dem Journal der R. Asiatic Society in
London 1905, 558—60 und 1906, 222—24 nachgewiesen zu haben,
daß die todbringende Wirkung, welche Su^ruta den Stichen ge-
wisser, ihrem Namen nach in Gebirgsgegenden (also nicht in Sumpf-
distrikten wie die Malaria) vorkommenden Moskitos oder schäd-
lichen Insekten zuschreibt^ nichts mit der Malaria zu tun hat, viel-
mehr das hierbei erwähnt« Fieber ein Wundfieber ist, daß femer
unter den äußerst mannigfaltigen Ursachen der Fieber, welche
tabilische, keine animalischen Gifte zu verstehen. Seine allgemeinen
Vorstellungen von dem Wesen und der Wirkung giftiger Substanzen,
wozu er z. B. auch die Nägel und Zähne von Katzen, AiFen, Alliga-
toren u. a. vrilden Tieren rechnet, sind sehr roh und lassen keinen
Vergleich mit modernen Anschauungen zu.
150 vm. joLLY
S u ^ r u t a anderwärts aufzählt, Moskitostiche nicht erwähnt werden.
Unter den Giften, die Sai^ruta als Fieberursache nennt, sind vege-
Als man früher bei den Untersuchungen über den Ursprung;
der Pest auf das Auftreten der Pest bei den Satten und die Über-
tragung der Infektion durch dieselben aufmerksam geworden war,
tauchte in der indischen Presse eine Nachricht über die Entdeckung
eines alten Sanskrittextes in einem Purana (Lehrgedicht) auf, der
eine göttliche Offenbarung über ein ausgedehntes Rattensterben als
Vorboten der Pest und über den Grundsätzen der modernen Hygiene
entsprechende Yorkehrungsmaßregeln gegen die Pest enthalten sollte.
Auch in deutsche Zeitungen gingen diese Angaben über. Der an-
gebliche Sanskrittext ist jedoch nie publiziert worden. Er ist ohne
Zweifel ebenso apokryph, wie z. ß. der in Bombay 1897 gedruckte,
gefälschte Sanskrittext des Bhavisyapuränam, den Aufrecht als
eine Fälschung erwies, in der Adam und Eva, Noah und Lamech,
Timur und Humayun u. a. biblische und historische Persönlichkeiten
in indischem Gewände auftreten.^)
Als im Anfang des 19. Jahrhunderts die Knhpockeninipfnng
durch europäische Ärzte in Indien weite Verbreitung gefunden
hatte als ein wirksames Schutzmittel gegen die dort besonders
verheerend auftretenden Pocken, entdeckte ein gelehrter Inder,
Kalvi Virambam, 1819 zwei Texte, den einen in Sanskrit-
versen, den anderen nur in englischer Übersetzung, aus einem an-
geblich von Dhanvantari, dem Arzt der Götter, verfaßten Werk,
worin die ganze Prozedur der Kuhpockenimpfung mittels einer
Lanzette genau beschrieben war. Indessen äußerte schon Ainslie
Bedenken gegen die Echtheit dieser Texte, weil Kuhpocken in dem
heißen Klima Indiens nicht vorkämen. Bohlen in seinem be-
kannten Werk über das alte Indien (1830) erklärte das Alter des
zitierten Werkes für fraglich. Haas, ein gründlicher Kenner der
indischen Medizin, bemerkte über die beiden Texte, daß der Sans*
krittext mit seiner entsetzlich unbeholfenen Konstruktion deutlich
den Stempel der unklaren Umbildung aus fremder Quelle an sich trage,
während der englische Passus zwar klar genug sei, aber auch ein ent-
schieden modernes Gepräge an sich habe.^) Auch in diesem Falle
handelt es sich sicher um eine der Fälschungen, wie sie leider auf
dem Gebiete der Sanskritliteratur von dem „Ezour Vedam" ab, durch
den Voltaire sich täuschen ließ, nur zu häufig vorgekommen sind.
1) Über das Bhavisyapuräna. Ein literarischer Betrag. Von Th. Aufrecht
Zeitschrift der deatschen morgenländischen Gesellschaft LVII 276 — 84 (1903«.
2) Zeitschrift der deutschen morgenländ. üesellsch. XXX 660 f. (1876).
Indische Prioritätsansprüche. 151
Es liegt hier also eine typische Erscheinang vor, indem wich-
tige Entdeckungen der europäischen Medizin in bezug auf die
endemischen Krankheiten Indiens den indischen Nationalstolz
herausfordern, so da£ es dann auch nicht an einem gelehrten
Pandit fehlen kann, der einen alten Sanskrittext zu produzieren
weiß, in dem die Entdeckungen der europäischen Gelehrten schon
in nuce enthalten sind, so daß der indischen Wissenschaft die
Priorität gewahrt bleibt. Bedauerlich ist es aber, wenn solche
tendenziösen Behauptungen ohne Kritik hingenommen und von
Engländern in hoher amtlicher Stellung, wiederholt und noch über-
boten werden. So hat Lord Ampthill in einer Eede^) sich
nicht nur die Anschauung angeeignet, daß die Pest in Indien von
der frühesten Dämmerung der Geschichte an bekannt gewesen sei
und den vorhin erwähnten Sansknttext über Kuhpockenimpfung
für bare Münze genommen, sondern Indien auch überhaupt für die
Wiege der medizinischen Wissenschaft erklärt, die dort auf-
gekommen, dann nach Arabien und weiterhin nach Europa aus-
geführt worden sei. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts herab
hätten die europäischen Ärzte ihre Weisheit aus den Werken
arabischer Arzte geschöpft, während die arabischen Arzte viele
Jahrhunderte früher ihre medizinischen Kenntnisse aus den
Werken der großen Ärzte Indiens, eines Dhanvantari, Caraka
und Su^ruta, bezogen hätten. Es ist ja richtig, daß die Haupt-
lehrbücher der indischen Medizin schon frühe in das Arabische
und Persische übertragen wurden und daß berühmte arabische
Ärzte wie Kazi sich nicht selten darauf berufen. Aber weit
überwiegend war doch in der arabisch -persischen Medizin, schon
von ziemlich frühen Zeiten ab, der griechische Einfluß und der
„arabisierte Galenismus^, in den die europäische Heilkunde in der
zweiten Hälfte des Mittelalters überging, enthält daher die griechi-
sche Medizin des Altertums in doppelter Gestalt, nämlich teils in
ihrer ursprünglichen, teils in arabisierter Form. Es kann niemand
ferner, liegen als mir, die welthistorische Bedeutung und Expansiv-
kraft der indischen Medizin, die eine so umfangreiche, bisher nur
stückweise bekannte Literatur hervorbrachte, verkleinern zu wollen.
Die immer wieder von den einheimischen Gelehrten Indiens erhobenen
Prioritätsansprüche müssen jedoch von Fall zu Fall sorgfältig ge-
prüft werden und die Indologie und Sanskritphilologie hathier dem
indischen Chauvinismus gegenüber eine wichtige Aufgabe zu erfüllen.
1) Nach einem Referat in der "Indian Review" Vol. 6, 1905. p. 203.
IX.
■
Da löle des s6ci^tions internes dans la pathog^nie da
diaböte sncrä.
par
B. Lupine (Lyou).
Le professeur Ebstein, qui a contribu6 d'une maniere si ef-
ficace k raccroissemeDt de dos connaissaBces sur le diab^te sucre.
admet que cette maladie est due k une disposition d^fectaense du
Protoplasma „et du noyau" cellulaires. En acceptant cette con-
ception, on peut ajouter que de multiples influences viennent modifief
Tactivit^ du protoplasma. Parmi ces influences, il ne faut pas
nfegliger les secr6tions internes, dont Timportance a 6t^ r6v61ee
aux mMecins par Brown Sfequard.
Certaines glandes n'ont pas de conduit excr^teur: De ced6faut
on a deduit qu'elles doivent verser dans le sang ou dans les
lymphatiques les produits qu'elles ont 6Iabor6s. Cette conclusion
— trfes naturelle d'ailleurs — n'est pas forc6e; car il se pourrait que
leurs cellules eussent pour fonction unique de d^truire certaines
substances circulant dans le sang, sans c6der k ce liquide un prodnit
special. Dans cet ordre d'idees, Blu^ conteste que la thyroide ait
une s^cr^tion interne. Mais cette opinion, un peu absolue, n'est
pas g6n6ralement accept^e, et on admet qu'outre son action anti-
toxique, cette glande, dont Tirrigation sanguine est si active, evacue
dans les espaces lymphatiques le contenu de ses vesicules, quand
celles-ci sont gorgees.
Les glandes depourvues de conduits excreteurs n'ont pas seules
le privil^ge de ceder au sang une secretion interne. II n'est pas
contestable que si les cellules du foie versent dans les canaux
biliaires une secretion exfccrife, „la bile", elles fönt, d'autre pait,
passer, dans les capillaires sus-h6patiques, le sucre qu'elles ont
Da Töle des s^cr^tions internes dans la pathogenie da diab^te sacr^. 153
produit dans leur Interieur ^X Claude Bernard noiis a fait con-
naltre Timportance, pour rorganisme, de cette s^cr^tion. H noos a
appris aassi qne son abondance trop grande rompt parfois r^qailibre
da miliea intöriear.
Röle de la s^cr^tlon interne du pancr^as. — Les observations
cliniqoes de Lan^ereanx, et Texp^rieBce memorable de v. Mering
et Minkowski (1889) ont prouvö que le pancr^as peat aossi inter-
venir dans le m^tabolisme des hydrates de carbone. Mais, v. Mering
et M i n k 0 w s k i n'ont pas sonpconne, tont d'abord, que Finfluence
da pancreas s'exer^at par une s6cr^tion interne: Ils ont admis qne
le diabete cons^cntif ä l'ablation de cette glande 6tait du ä la
sappression d'une fonction inconnne quelle poss^dait et c'est seule-
ment dlx-huit mois plns tard que se tronve, pour la premiöre fois,
exprimee d'nne mani^re, d'ailleurs fort explicite; Tid^e que le
pancreas, bleu qne possedant un conduit excr^tenr, devait aussi,
comme le foie, verser dans le sang une s^cr^tion interne.^) A Tappui
de cette hypoth^se on peut citer le fait que la ligatnre du canal
de Wirsung, qni, comme on le sait depuis longtemps, n'est jamais
9aivie de glycosurie, amene au contraire, de Thypoglycemie, et une
augmentation du pouvoir glycolytique du sang (L6pine, Barral
et Boulud). Cela s'explique naturellement en admettant que
Faccroissement de la pression dans les canaux pancr^atiques, con-
secutive k la ligature, amene la resorption de substances favorisant
la glycolyse g6n6rale.
On peut encore citer les experiences montrant que le sang de
la veine pancreatique (Lepine et Hartz), et la lymphe du canal
thoracique (Lepine et Boulud) recueiUie quelques beures aprte
Texcitation faradique des nerfs du pancreas, ont, sur la fermen-
tation alcoolique, une action beaucoup plus prononcee que s'ils ont
ete recneillis avant cette excitation. ^) — D'abord envisag6e avec
defiance, Thypoth^se d'une secr^tion interne du pancreas a 6t6 ac-
ceptee par la plupart des physiologistes comp6tents (notamment
par Minkowski, apres sa belle exp^rience de greffe, confirmee
1) En sni^ant la voiefray^e par Brown -S^qaard on poarrait mßme ne pas
limiter les secr^tions internes anx produits des blandes senles, et consid^rer, par
exemple comme one s^cretion interne, pathologique. les poisons que les roascles
fati^es yersent dans le sang.
2) Lupine, La patbogenie du diab^te. Revne scientifiqae 1891, 28 f Syrier.
S) Voir, ponr plos de d^tails, Tarticle Glycolyse da Dictionnaire de pbysio-
logie <le Riebet, tome VII, 2e fascicnle, 1806.
164 IX. LftpiNE
par Hedon). — L'insuccös de Topoth^rapie pancr6atique dans le
diabite ne prouve rien contre la realit6 d'une s6cr6tion interne du
pancreas. C'est an fait n^^atif ; or les faits n^gatifs laissent intacts
les faits positifs. II d^montre seulement que dans les conditions
oü eile a 6t6 tent6e cette thörapeutique a 6te insuffisante.
Lieu de la ri^sorption de la s^cr^tion interne da pancn5as. —
Laguesse, Opie etc. ont suppos^ qne les üots de Langerhans
sont les organes exclusifs de la s^cr^tion interne „dout le nom
d'endocrines, donnö par Lagaesse h ces ilots". Cette hypo-
th^se n'est pas, k priori, irrationnelle: le testicole poss^de en effet^
une glande, dite interstitielle, dont la s^cretion interne, alors
meme que les voies spermatiques sont oblit^rees des denx cotes,
conserve k rhomme, sauf, naturellement, le pouvoir föcondant, tons
les caractferes de la viiilit6. Mais la glande interstitielle n'a pas
de connexions avec les tubes seminüeres. Or il n'en est pas de
meme entre les acini et les ilots du pancreas; ils out meme origine,
et, d'aprfes Laguesse, Schmidt, Hansmann, Küster, Herx-
heim er etc., on observe entre eux des formes de passage. —
Meme chez Tadulte, des ilots se d6veloppent aux dfepens d'acinl
D'aprfes Laguesse, Karakascheff etc. la r^ciproque existe. —
Voilä, une diflfference importante entre le testicule et le pancreas.
Quant k la question speciale de savoir si les ilots sont les organes
exclusifs de la s6cr6tion interne, eile me parait tranchee, dans le
sens oppos6 ä Thypothese de Laguesse, par le fait que jai
Signal^, il y a plus de quatorze ans, et que 'je rappelais tout k
Theure, que la ligature du canal de Wirsung, ou une injection
d'huile dans son interieur, bref, tonte cause capable d'y augmenter
la pression, est suivie d'une hypoglycemie, et de Taugmentation du
pouvoir glycolytique du sang. ^)
Or Taugmentation de la pression dans les conduits excreteurs
du pancreas ne peut gu6re retentir sur les ilots de Langerhans
puisqu'aucune injection, si flne qu'elle soit, n*y pfenetre. Elle ne
peut donc acroitre le pouvoir glycolytique du sang qu'en com-
primant les cellules des acini, et en exprimant, en quelque
Sorte, leur contenu dans les capillaires lymphatiques ou sangains.
Laguesse, Opie etc., ont invoque k Tappui de leur hypothese
constatations anatomo-pathologiques faites dans le pancreas cer- ,,
5- . (;.-;,.*, ^.--J
1) Lupine, Eevae de Medecine 1892 p. 486, et 189i ^p: 879, et Journal de
Physiologie 1905, janvier.
Da role des secretions intenies dans la pathog6iiie da diabete sacr^. 155
taines des diab^tiques. Mais les travaux les plus recents et les
plus d^cisifs^) proavent que les ilots ne sont pas specialement
atteints chez les diabetiques, et que souvent avec des ilots sains,
on rencontre nne pancreatite interstitieUe des acini, bien 6tudi6e
antrefois par Lannois et Lemoine. D'autre part, on a eu
fr^quemment Toccasion d'observer chez des snjets non diab^tiques,
des lesions insulaires identiqaes & Celles qa'on a rencontr^es chez
des diab^tiqnes.
Natnre de la s^r^tion interne. — Blumenthal a d6montr6
que le snc da pancreas (press6 k la presse hydraaliqne) peut au
beut d'un certain nombre d'henres, d6truire une petite quantit6 de
glucose, Cohnheim a contest^ le fait. En tont cas ü a prouv^
que cette action est fort nette si on additionne le suc du pancreas
an suc musculaire. Rahel-Hirsch^) a trouv^ que le snc du foie
a aussi un pouvoir glycolytique, et que le pancreas Taugmente.
Tontes ces exp6riences (et je pourrais allonger cette Enumeration)
ODt un interet biologique incontestable, mais elles ne touchent pas
directement ä, la question qui nous occupe. En effet chez Tanimal
Tivant, le suc du pancr6as et des muscles ne sont pas directement
en contact avec une Solution de glucose.
Ponr se placer dans des conditions un peu plus analogue ä la
realit6 il faut injecter dans le sang des extraits de pancreas. Or,
un certain temps aprös de telles injections on observe une aug-
mentation considErable du pouvoir glycolytique du sang, et une
hypoglycemie, bref un 6tat tout k fait semblable ä celui que j'ai
antrefois indiquE comme se produisant quelques heures apr^s Tex-
citation faradique des nerfs du pancreas. ^) Cette identitE d'action
est bien propre k prouver que les excitations du pancreas fönt
deverser dans le sang des substances excitant la glycolyse generale.
Je dis ^substances excitant, ou favorisant la glycolyse^, parce-
que je ne crois pas que ces substances aient, par elles-memes, une
action glycolytique notable: On a vu que le suc pur du pancreas,
exprim6 k la presse, n'a qu'un tres faible pouvoir glycolytique. II
r6sulte d'aiUeurs de recherches encore in^dites, que j'ai faites avec
la coUaboration de B o u 1 u d , que des extraits de diiferents organes
1) Voir Karakascheff, Dcatsches Archiv f. klin. Med. 1904, LXXXII, et
1906 LXXXVÜ; Heriheimer, Virchow's Archiy 1906, LXXXIII.
2) Ou tronvera toates les indications bibliographiqaes dans mou article
„Glycolyse" du Dictionnaire de Physiologie de Riebet.
3) Lepine, Volume da Cinqaantenaire de laSoci^t^ de Biologie. Paris 1899.
156
IX. LUPINE
ont ane action rappelant celle des extraits de pancr^as. Bien plus,
de Teau sal6e, physioloj^qne, injectee ä dose süffisante, dans nne
veine, chez un chien (par exemple k la dose de 50 ccm, par kg, de
poids vif), agit d'ane mani6re analogue aux extraits d'organes, c'est
ä dire qu'aprös une premi^re Periode, pendant laquelle la glycolyse
est diminaöe, vient, aa bout de 15 ä 24 beares, une seconde periode,
avec hypoglyc^mie et angmentation consid^rable da poavoir glyco-
lytique du sang. C'est evidemment un effet de reaction de Tor-
ganisme. ^)
L'influence que le pancr^as exerce snr la glycolyse gön^rale
n'est donc pas une fonction speciale, et qui serait d^volue ä des
organites sp^ciaux, les ilots; c'est une action qu'il partage avec
les autres organes; et, s'il la poss^de k un plus haut degr^, c'est
que, notamment chez le chien (animal qui a servi k presque toutes
les exp^riences sur le sujet qui nous occupe) le pancr^as est une
glande particuli^rement active^) qui cede au sang des ferments
^nergiques, provoquant une reaction autrement intense que Tean
sal^e. *) C'est aussi parceqne, comme Font trös bien vu Chanveau
et Kaufmann, le pancreas est, en quelque sorte, coupI6 avec le
foie, puisqu'ind^pendamment des connexions nerveuses qui existent
entre ces deux organes, le foie regoit par la veine porte le sang
de la veine pancr^atique.
On sait que l'injection de divei*ses substances dans un des
rameaux d'origine de la veine porte est suivie d'une exagöration
de la glycog^nie. D'autre part, Chanveau et Kaufmann ont
pens6 que la s6cr6tion interne du pancreas pouvait exerce sur la
glycog^nie une action mod^ratrice. A Tappul de cette id^e jai vu.
1) Des exp^riences plus recentes et ^galement in^dites nous ont montre qae
riDgestion de snc de divers organes, et notamment de pancreas sont suivies d*ane
forte angmentation du pouToir glycolytiqne du sang et d'on pen d^hypogljcemie
(L 6 p i n e et B 0 n 1 n d). Vn la facUite avec laquelle ce snc est ing^re ces f aits nous
paraissent avoir une reelle port^e th§rapeutique.
2) Tandisque le poids du pancreas, chez i'homme, ne depasse pas 1 g,
5 par kg, il peut s'elever chez le chien ä 3.5 (Collin, No6). II faut aussi teoir
compte de Tirrigation sanguine du pancr^a», je ne sache pas qn*eUe ait 6t^ döter-
miu6e d'nne mani^re exacte; mais, notamment apr^s Texcitation des nerfs de cet
Organe, le d^bit de la veine principale est consid4rable. Enftn, les Üotft con-
tribnent a la secr6tion interne du pancreas : 11 est clair que le produit de ceUules
priv6es de condnits excr^tenrs ne peut se deverser que dans le sang.
3) II est probable que la secr^tion interne du pancreas renferme antre diose
que des ferments et les proferments contenus dans cette glande, car les extraits
bouillis, sont encore tr^s actifs. D*apr^s de Meyer (de Brutelles), ils pooirüent
meme ^tre port^s ä 120 degr^s sans perdu tonte lenr action.
Dn role des s^r^tions inlernes dans la pathogönie da diaböte sacr^. 157
avec MartZy qne Taddition de pancreatine au sang qa'on fait cir«
euler k travers an foie isol6 diminue la proportion de sacre de ce
sang. Mais on peut se demander si, dans cette exp^rience la pan-
crtetine n'a pas excitö la glycolyse intrah^patique. ')
Böle de la s^er^tion Interne de la thyrolde. — Bien des
faits montrent qae la thyrolde n'est pas sans influence sur le
mötabolisme des hydrates de carbone, et ces faits paraissent mieux
s'expliquer par rbypotbise d'nne s6cr6tion interne que par le
mtowisme antitoxiqne. (Yoir plos haut.) On sait qn'ä T^tat nor-
mal, lorsque le sang re^it par ingestion, on autrement nne trop
gfrande qaantitä de sncre, une partie se transforme rapidement en
graisse. *) D'aprös v. Noorden, le prodnit de la s6cr6tion de la
thyrolde met obstacle ä ce processus r6gulateur. D'autre part les
Sujets dont la glande tbyroide est atrophi^e assimilent des qaantit^s
consid^rables de sncre. On a vn des myxcedömateax, du poids de
20 kilog., seulement ing^rer 300 g de sucre, et meme davantage^
Sans avoir de la glycosurie alimentaire. Tels sont les faits, pea
probants d'ailleurs, sur lesquels on s'est fond^ pour supposer que^
dans certains cas, la tbyroide pourrait contribuer k la production
d'un diaböte.*)
Role de la s^cr^tion interne de Thypophyse. — Quelques
acromegaliques sont glycosuriques ; et, parmi eux, on rencontre de
vrais diabetiques. Comme cette coincidence ne s'observe guere que
dans le cas ou coexiste une tumeur hypophysaire, il parait au
Premier abord, possible que la secretion interne de Thypophyse ait
jou6 un role dans la production du diabete. Mais cette hypothöse
n'a, en realitö, aucune base physiologique ; les extraits d'hypopbyse
o'ont pas ete Studios, quant ä leur action sur le mötabolisme des
hydrates de carbone; et d'autres th6ories, notamment celle de Loeb
(qui a suppos6 Texistence d'un centre diabetogöne k la base du
1) On sait qtie le foie poss^de un ponvoir fi^lycoljtiqne (Jacob y, Rahel-
Hinch). II est interessant de noter que ce pouvoir fait d^faut dans le foie dia-
iietique (Blnmenthal, Jacoby).
2) Hanrioty CR., de TAcad^mie des Sciences 1892 et Archives de Physio*
kgie 1893.
3) D'antres faits t^moignent dans le m^me sens, par exemple la glycosurie,
et m§me le diab^te y^ri table, qn'on a observ^s dans nn certains nombre de cas
de maladie de Basedow; mais ces faits sont encore moins probants; car, dans ces
cas la glycosurie est k la rigneur explieable par une influence nervense. Quant
aox l^ions histologiques qui ont He parfois constat^es dans la tbyroide de dia-
betiques, leur signification ne parait pas tr^s claire.
158 ^^' LUPINE, Da röle des secretions interoes dans la pathog^nie da diab^te sacr^.
cerveau) peavent expliqaer la coexistence d'an diabäte et d'nne
tnmear de Thypophyse.*)
Böle de la s^cr^tlon interne des capsules surr^nales. —
Blum a prouv6 que Tinjection d'une forte dose d'extrait capsulaire,
dans la veine d'un chien bien nourri, peut etre promptement stÜTie
d'une glycosurie assez abondante. On en connait le m6canisme:
Ainsi que Tavait suppose Blum, la glycog^nie h^patique est
augment^e. Le pancr^as, contrairement k une bypothtoe d'Herter.
ne joue aucun röle important; car la glycosui^ie cons^cntive ä rin-
jection d'extrait capsulaire (ou d'adr6naline) s'observe, chez un
cbien qui vient d'etre depancreatä, avec les memes caract^res, ä pen
de chose pr6s que chez un chien sain (Lepine).
Si ces foite prouvent la r^litä d'une glycosurie adrenalique trän-
sitoire, s'ils sont de nature k rendre, theoriquement, acceptable l'idee
qu'une activit6 anomale de capsules puisse aider ä la production
d'un diabäte, chez Thomme, d'autre part, aucun fait clinique positif
ne dfemontre jusqu'ä ce jour la r6alit6 de cette contribution; et
Yu la dose considärable d'adränaline n^cessaire pour amener la
glycosurie, vu la prompte accoutumanee qui se produit, eile ne
parait guäre vraisemblable. *)
En resumä: Dans la pathogänie du diabäte pancreatique, le
däfaut de la säcrätion interne normale du pancräas, excitatrice de
la glycolyse gänärale, joue un role important.
II est probable que, dans le cas oü Tactivitä du pancräas est
amoindrie, la diminution de cette secretion interne contribue ä la
production d'un diabete, ayant d'ailleurs une autre origine.
D'autres s6cr6tions internes exercent sans doute une action
plus ou moins importante sur le metabolisme des hydrates de car-
bone. Cela parait prouvä experimentalement pour plusieurs d'entre
elles; mais les faits cliniques ne sont pas suffisants pour affirmer
qu'elles interviennent d'une maniere efflcace, comme causes adju-
vantes d'un diabete sucre.
1) Voir, poar la bibliographie, et ponr ceUe dn diab^te coiucidant avec la
maladie de Basedow: Lepine, Le diab^te et son traitement, Paris 1899. 11
n'a ^t^ pablie. depais, qae tr^s pea d'observations d'acroni^galiqaes diab^tiqnes.
2) Voir Lupine, Bevue de MMecine: Existe-t-il un diab^te surrenal? Jaulet
1906.
X.
Gicht und Psychose.
Von
E. Mendel in Berlin.
Der Einfluß der Gicht auf den geistigen Zustand des Kranken
ist seit langer Zeit Gegenstand ärztlicher Beobachtung gewesen.
Sydenham^j, gleichzeitig Opfer und Autor der Gicht, be-
schreibt bereits in trefflicher Weise den Einfluß der Gicht auf Ge-
müt und Geist: „Der Körper ist nicht der einzig leidende Teil und
die Abhängigkeit des Kranken ist nicht sein ärgstes Mißgeschick.
Das Gemüt leidet mit dem Körper und was mehr leidet ist
schwer zu sagen.
Gemüt und Verstand verlieren ebenso alle Energie wie der
Körper.
Der Gichtpatient ist das fortwährende Opfer der Furcht, Angst
und anderer Leidenschaften, während das Gemüt die Ruhe wieder-
findet, sobald die Krankheit vorübergeht.
Die sogenannte Melancholie ist die Vorläuferin und unzertrenn-
liche Begleiterin der Gicht.
Da diejenigen, die ihr unterworfen sind, gewöhnt sind, ihren
Geist durch langes und tiefes Denken zu quälen und zu zermartern,
so machen sie durch die intensive und unaufhörliche Anstrengung
die Erhaltung des Körpers zu einer Unmöglichkeit Aus diesem
Grunde scheint es mir, daß die Gicht niemals Narren befällt.
Mögen diejenigen, die es wollen, hierbei den Autor ausschließen/'
Der depressive und gereizte Zustand ist nicht nur ein unge-
mein häufiger Begleiter, sondern auch ein Vorläufer des Gicht-
anfalles und Ebstein citiert in seiner berühmten Monographie
der Gicht') als Beispiel dafür den Chemiker Berzelius, welcher
1) Syd. Soc. Trans. Vol. II p. 128, 148.
2) Natur und Behandlung der Gicht. 2. stark yermehrte Auflage. Wies-
baden 1906. p 289.
160 X.^Mkndbl
von seinen „nervösen Gichtanfällen" spricht. Dieselben charakteri-
sierten sich durch Niedergeschlagenheit und äußersten Widerwillen
gegen die Arbeit. In vielen Fällen von Gicht besteht als Zeichen
nervöser Erkrankung und depressiver Stimmung eine Schlaflosigkeit,
welche besonders die ersten Stunden der Nacht bis etwa 2 — 3 Uhr
morgens trifft. Mit Ebstein nehme ich auf Grund eigener Be-
obachtungen an, daß ein Teil der Kranken, welche in den Jour-
nalen der Ärzte und den Veröffentlichungen in der Literatur als
Neurastheniker bezeichnet werden, tatsächlich Gichtiker sind.
Ein recht fiberzeugender Fall für mich war der eines Herrn,
welcher seit mehreren Jahren Über Kopfschmerzen, schlechten
Schlaf, allgemeine Mattigkeit, trübe Stimmung, Unlust zu geistiger
Arbeit geklagt hatte, in ausgeprägter hypochondrischer Weise den
Ausbruch der progressiven Paralyse fürchtete, und von einer
Anzahl von Ärzten wegen Neurasthenie behandelt worden war.
Die Untersuchung der Kopfbaut ergab in dem subkutanen Binde-
gewebe eine Zahl kleiner Tophi etwa von der Größe einer halben
Erbse. Die Diagnose wurde von mir bei dem 58 jährigen Herrn auf
Gicht gestellt Es fehlten im übrigen alle objektiven Veränderungen
speziell am Nervensystem, dagegen bot der Urin bei wiederholten
Untersuchungen einen erheblichen Hamsäureüberschuß. Nach etwa
einem Jahre stellten sich typische Erscheinungen der Gicht au den
Fingergelenken, an den Ohren, später auch an den Schultergelenken
ein. Der neurasthenische Zustand besserte sich unter der gegen
die Gicht gerichteten Behandlung. Lange ^) hat periodische
Depressionszustände auf dem Boden der harnsauren Diathese be-
schrieben. Die von ihm ausführlich analysierten Krankheits-
erscheinungen werden häufig genug von den Nervenärzten beobachtet
und sind auch von mir als periodische Melancholia simplex oder
Hypomelancholie beschrieben worden.^) Es handelt sich um Per-
sonen, welche in gewissen Zwischenräumen oft alljährlich, zuweilen
aber nur alle 2-3 Jahre, von einem Depressionszustande befallen
werden, welcher in der Regel mit Schlaflosigkeit beginnt, mit Herab-
setzung des Appetits und Verstopfung einhergeht. Es entwickeln
sich dann eine größere oder geringere Unfähigkeit der gewohnten
Beschäftigung nachzugehen, Verzagtsein über Gegenwart and Zu-
kunft, Angstzustände und Todesgedanken. Wahnvorstellungen und
1) Deutsche Aii9g:abe von Eurella. Hamburg u. Leipzig 1896.
2) Spez. Psychiatrie in Ebstein-Scbwalbe's Handbnch der prakt. Medizin
1. Aufl. V p. 64 u. 83.
Gicht und Psychose. IgX
Sinnestftiisehimgreii fehlen. Nach einigen Wochen, in der Regel erst
nach einigen Monaten schwindet meist allmählich der krankhafte
Znstand.
Zuweilen sah ich die Wintermonate durch die Depression aus-
gefällt^ während der übrige Teil des Jahres frei blieb.
Lange fand fast durchgehends bei diesen Patienten einen oft
aoBerordentlich reichen Bodensatz von Uraten und reiner Harn-
8änre.
Für einen Teil meiner Kranken, aber nicht für die Mehrzahl
derselben könnte ich diese Beobachtung bestätigen, wobei aller-
dings noch dahingestellt bleiben mu£, da die betreffenden Kranken
nicht in einer Klinik oder in einem Sanatorium behandelt wurden,
wieweit der Hamsäureüberschuß mit der geistigen Veränderung und
nicht etwa mit der Diät in Zusammenhang steht Der Lange'sche
Satz, daß man bei den an Depressionen leidenden Patienten durch-
geh ends, sowohl während ihrer Anfälle, als auch außerhalb der-
selben, die Neigung trifft, einen starken sedimentösen Urin zu
lassen, auch ohne die Einwirkung von Gelegenheitsursachen, welche
die Bildung von hamsaurem Sediment begünstigen, durfte demnach
noch weiterer Prttfung bedfirfen.
Es wird um so mehr Vorsicht hier geboten sein, als genaue
klinische Urinuntersuchungen, welche bei periodischen Psychosen
vorliegen, und auf welche ich weiter unten noch zurückkomme,
eine besondere Bedeutung einer Hamsäurevermehrung nicht er-
kennen lassen.
Daß die Gicht mit Krankheiten des Nervensystems abwechselt,
daß sie dieselben gewissermaßen ablöst, ist eine bekannte, auch
von Charcot^) besonders hervorgehobene Tatsache.
Die Epilepsie wird in seltenen Fällen durch einen Gichtanfall
zum Verschwinden gebracht, asthmatische Anfalle können mit An-
fällen von Gicht abwechseln und sie ersetzen.
Es existieren femer einige sehr seltene, doch wohlbeglaubigte
Krankheitsgeschichten, welche zeigen, daß ein gichtischer Anfall
eine bestehende Psychose zum Schwinden bringen kann.
Sa vage') berichtet yon einem 53 jährigen Manne, welcher
S oder 9 Monat vor der Aufnahme in die Irrenanstalt an einer
melancholischen Geistesstörung erkrankt war. Er wies das Essen
zurück, versuchte beständig zu entweichen, weil er viviseziert zu
1) Cliniqae des Maladies du systöme neryenx 1892 p. 368.
2) D. y. Knecht, Klin. Lehrbach der Geisteskrankheiten. Leipzig 1887.
p. 521.
Dentflches Archiv f. klin. Medizin. 89. Bd. H
162 X. Mkndbl
werden fürchtete. Er machte verschiedene Selbstmordversuche, aU
sein Denken richtete sich darauf, der Welt und ihren Verfolgungen
zu entgehen.
In demselben Zustande blieb er noch 3 Monate nach der Auf-
nahme in die Irrenanstalt, so daß im ganzen die Geisteskrankheit
1 Jahr gedauert hatte. Eines Morgens empfing der Kranke freund-
lich Dr. Sa vage, zeigte auf seinen Fuß und sagte lächelnd:
„Doktor, ich habe die Gicht wieder bekommen und bin ganz ge-
sund."
Er hatte tatsächlich einen heftigen Gichtanfall, bei dessen
Schwinden die Geistesstörung nicht wiederkehrte. In den folgenden
6 Jahren besuchte er den Arzt regelmäßig und bemerkte jedesmal:
„Ja Doktor, ich habe die Gicht bekommen und hoffe, sie, solange
ich lebe, zu behalten, denn solange ich sie habe, bin ich geistig
vollkommen gesund und klar gewesen."
Es bringt dieser Fall die Bestätigung eines alten Satzes:
Erumpitur podagra, solvitur melancholia.
Fer6^) berichtet von einem 46jährigen Kranken, der mit
35 Jahren einen Krampfanfall mit Bewußtseinsverlust hatte. Ein
solcher Anfall kehrte nicht wieder, dafür aber kamen 2 Jahre
später und in den folgenden 7 Jahren zweimal jährlich eigentüm-
liche Anfälle von Zwangsideen und Zwangshandlungen. Patient
sieht Knaben vor sich, bekommt Erektionen, malt sich wollüstige
Szenen aus, endlich muß er Oi*te aufsuchen, wo Knaben verkehren,
will er sich einem nähern, so stellt er ihn sich nackt vor und be-
kommt eine Pollution, darauf kehrt er beschämt nach Haus zurück,
um am nächsten Tage wieder dieselben Symptome zu haben.
F^re nahm an, daß es sich um epileptische Anfälle handle,
verordnete Brom in größeren Dosen, doch ohne Erfolg, bis sich
plötzlich ein charakteristischer Gichtanfall einstellte, welcher seit-
dem regelmäßig die früher geschilderten Anfälle von Zwangs-
ideen usw. ersetzt.
Die geschilderten Beobachtungen ernster Ärzte drängen zu
der Annahme, daß psychische Erkrankung und Gichtanfälle
sich ersetzen, daß die ersteren gewissermaßen als Äquivalente seine
Gichtanfalls auftreten können.
Aus meiner eigenen Erfahrung kenne ich einen solchen Fall.
Es handelt sich um einen 56 Jahre alten Gutsbesitzer, welcher
vor 12 Jahren einen Gichtanfall hatte. Seit dieser Zeit kehren in
1) La Flandre medicale 1 JoiUet 1894.
Gicht und Psychose. 183
Zwischenräumen von 6—8 Monaten AnfÄlle wieder, in denen er
schlaflos, deprimiert, unfähig ist, seine Geschäfte zu besorgen, zu-
weilen sich auch mit Suicidgedanken beschäftigt. Ein solcher
Anfall dauert etwa 3 Wochen. Zweimal sind in dieser Zeit Gicht-
anfUle wiedergekehrt und nach der Angabe des Kranken treten
sie. zu der Zeit ein, zu welcher nach dem gewöhnlichen Verlauf
die Wiederkehr seiner melancholischen Zustände erwartet wurde?
welche dann aber ausblieben.
Es wird weiter zu erörtern sein, ob die Gicht eine Psychose
erzeugen kann, mit der sie vereint besteht, so daß Gichtanfälle
neben den psychischen Erscheinungen vorhanden sind, ob es eine
Gichtpsychose gibt.
Berthier nimmt eine Folie goutteuse an und hat 22 Fälle
fremder and eigener Beobachtung zusammengestellt. Er findet
Imal Stupor, Imal melancholisches Delirium, 2 mal Melancholien
mit Suicidium, 3 mal einfache Demenz, 5 mal Dementia paralytica,
6 mal allgemeines Delirium und 4 mal Psychosen ohne spezielle
Diagnosen. 12 mal folgte die Psychose dem Aufhören der Gicht,
8 mal wechselte sie mit den Anfällen derselben ab, 2 mal begleitete
sie die Gicht. Er erwähnt dabei eine Reihe früherer Beobachtungen
aus der Literatur, von denen ich folgende hier hervorhebe.
Whyte^), Loroy«), Pinel«), Mathey*), EsquiroH),
Ellis*) geben übereinssimmend an, daß durch das Ausbleiben der
Gichtanfalle Geisteskrankheit entstehen könne.
Gnislain^) nimmt an, daß die Gicht ebenso wie die Aus-
schlagskrankheiten das Gehirn in der Gestalt von Metastasen an-
greifen kann.
Aus den Schlußsatzungen Berthier 's seien folgende hervor-
gehoben :
Wenn auch im allgemeinen die Gichtpsychose mit manifester
Gicht verbunden ist, so besteht sie doch häufig bei anormaler Gicht.
Die Diagnose der Gichtpsychose wird begründet durch die
hereditäre Anlage, die Anamnese, die Beziehungen der Delirien
zur Gicht und die chemische Veränderung des Urins.
1) Obserrations on tbe natnre usw. London 1765.
2) De praecipois morbornm conversionibns. Parisii 1789.
3) Trait^ m^dico-philosopbiqne 1809.
4) Nonvelles recberches 1816 p. 279.
5) Maladies mentales I p. 76. 1838.
6) Tratte de Tali^nation 1840 p. 139.
7) V. Laehr, 1854 p. 267.
11'
j[g4 ^- Memdkl
In ähnlicher Weise haben Mabille und Lallemant^) in bezog
auf die Erzeugung der Folies diath^siques der Gicht als Diathese eine
hervorragende KoUe zuerkannt Sie bringen Fälle, in denen die
Psychose mit der Gicht zusammen vorhanden ist, solche, in welchen
Gicht und Geistesstörungen miteinander abwechseln, solche, in
welchen der Gichtanfall die geistige Störung verschwinden läSt.
Man wird bei vorurteilsloser Prüfung sowohl der von Berthier.
wie der von den eben genannten Autoren angeführten Fälle nicht
zu der Überzeugung kommen können, daß auch nur bei einem
größeren Teile derselben die Gicht als ätiologisches Moment die
wesentlichste Rolle spielt oder gar, daß die beschriebenen Formen
von Geistesstörungen irgend etwas Charakteristisches hätten, so
daß man von einer Folie goutteuse in symptomatischer Beziehung
sprechen könnte. Es haben unter den Psychiatern jene Arbeiten
vielfachen Widerspruch hervorgerufen, und als bei Gelegenheit des
internationalen medizinischen Kongresses in London Dr. Rayner
(Hanwell) ^) über die Beziehungen der Gicht zu Geistesstörungen
sprach und ausführte, daß sich Psychosen an akute Gichtanftlle
anschließen, daß dieselben aber auch während der Intermissionen
auftreten können und dann mit dem Ausbruch neuer Erscheinungen
von Gicht schwinden, und daß er sich die Wirkung der Gicht,
ähnlich wie die der Blei- und Alkoholvergiftung denkt, erwiderten
ihm Savage und Crichton-Browne, daß sie den inneren Zu-
sammenhang beider Krankheiten bei der Seltenheit des Vorkommens
von Psychosen bei Gichtkranken bezweifeln, und daß sie bei der
Mehrzahl der Fälle an ein zufälliges Zusammentreffen derselben
glauben.
Ich will hier noch kurz auf eine Erörterung des Verhältnisses
der Gicht zu den periodischen Psychosen und zur progressiven
Paralyse eingehen.
Besonders die erstere Form der Geistesstörung scheint an und
für sich geeignet, bei dem Wechsel der Form der Anfälle, so weit es
sich um zyklische Geisteskrankheiten handelt, durch die Vergleicbnng
des Urins bei den verschiedenen und entgegengesetzten psychischen
Zuständen etwaige Beziehungen der Harnsäure zur geistigen
Störung aufzudecken.
Leider haben die zahlreichen Untersuchungen, welche an-
gestellt worden sind, irgend ein sicheres Resultat nicht gebracht.
1) Memoire conronne par rAcad^mie de Medecine Prix Falret 1890. Parif 1891«
2) Zeitschr. f. Psychiatrie Bd. 39 p. 111.
Gicht und Psychose. 165
Schäfer^) fand in dem manischen Stadium der zirknl&ren
Psychose Erhöhung des Harnsäoregehalts, T a g a e t ^) in demselben
Stadium Verminderung der Harnsäure. Übereinstimmend hat sieb
allerdings bei den meisten Autoren eine Verminderung der Harn-
s&ure in dem melancholischen Stadium gezeigt. (So auch bei
Stefani.«))
Mit Recht bemerkt Piltz, daß die Schwierigkeiten derartiger
Untersuchungen gerade bei Geisteskranken so große sind (z. B.
die ganze 24 stündige Hammenge zu erhalten, die Diät absolut
regeln und beaufsichtigen zu können), als daß dieselben ein sicheres
Besultat zu bringen imstande wären.
In bezug auf die progressive Paralyse und die Be-
deutung der Gicht für dieselbe liegt eine größere Arbeit von
Mairet und Vires*) vor.
15 mal fuhren sie unter 174 Fällen von Paralyse die Krank-
heit auf Arthritismus zurück. Unter „Arthritismus" verstehen sie
den Bheumatismus, die Gicht, den Arthritismus selbst im engeren
Sinne, die Fettsucht, das Ekzem, den Diabetes, Nierensteine, Gallen-*
stdne usw.
Aus den von ihnen angefahrten Fällen kann ich nicht ersehen^
daß der Gicht bei der Hervorbringung der Paralyse irgend wie
eine besondere Rolle zukommt, und dies stimmt mit dem überein^
was aus den monographischen Bearbeitungen der Paralyse (Voisin,
Michle, Mendel) sich ergibt.
Mit diesem im großen und ganzen negativen Ergebnisse aus
den Aufzeichnungen der Literatur scheint im Einklang zu stehen^
daß in den neueren und neuesten Lehrbüchern der Psychiatrie die
Gicht als ätiologisches Moment fast nirgends erwähnt ist.
Ich finde nur bei Dagonet^) die Bemerkung, daß nicht
bezweifelt werden kann, daß in einigen seltenen Fällen ein Delirium
einer rheumatischen oder gichtischen Diathese folgen kann.
Es dürfte sich aber jener Mangel der Erwähnung der Gicht
noch aus einer anderen Tatsache erklären lassen.
Ich habe eine Anzahl von erfahrenen Irrenärzten, welche über
ein großes Material seit langer Zeit verfügen, gefragt, ob sie in
ihrer Anstalt je einen Gichtanfall bei einem Geisteskranken beob-
1) Nenrol. Zentralblatt 1886 Nr. 23.
2) Annal. m^A. psych. 1882 Mars.
3) Bivista sperimentale di fren. t. XXI.
4) De la paralysie generale. Etiologie nsw. Paris 1898.
5) Trait^ des Maladies ment. les 1894 p. 135.
166 X. Mendel
achtet hätten, und die Antwort fiel fast durchweg so aus, wie sie
Baillarger auf Befragen Charcots gab, ^) dafi Baillarger nie
einen Fall von Gicht bei seinen Geisteskranken beobachtet hätte.
Diese Tatsache erscheint recht auffallend, wenn man bedenkt, dafi
die Gicht eine häufige Erkrankung ist, und daß sicher nicht etwa
die Diät und die Lebensweise der Anstaltsinsassen die Gicht-
anfälle zu unterdrücken imstande sind. Es gibt unzweifelhaft viele
Gichtiker, welche noch strengere Diät und noch geregeltere Lebens-
weise führen als die Kranken der Irrenanstalt und doch von ihren
Anfällen nicht verschont bleiben.
Man denkt dann unwillkürlich an Philander Misaurus,
welcher in the „Harleian Miscellany", voL II, p. 45, betitelt „The
Honour of the Gout" 1699, sagt: „Die Gicht ist ein vollständiger
Zerstörer der Geisteskrankheit", und weiter schließt, daß es wert
sei zu untersuchen, ob die Gicht nicht als Mittel gegen die Geistes-
krankheit angewendet werden könnte, und daß man wirklich dies
annehmen müßte, wenn die Untersuchung ergäbe, daß in Bedlam
(der Londoner Irrenanstalt) keine Gichtiker wären. Er empfiehlt
in diesem Falle, zur Behandlung der Geisteskranken eine etwas
ausschweifende Lebensart, auch Wein, Weib usw. anzuordnen (statt
der damaligen recht barbarischen Behandlung), sie würden dann die
Gicht bekommen und wären damit kuriert.
Ich selbst sah in zwei FäUen von sekundärer Demenz
nach wiederholten apoplektischen Insulten mit andauernder Hemi-
plegie Gichtanfälle in typischer Weise auftreten. In dem einen
Falle, welcher einen 68 jährigen Herrn betraf, hatte das erste Er-
scheinen der Rötung und Schwellung des gelähmten Fußes den
Verdacht einer trophischen Störung hervorgerufen; die nachfolgende
Schwellung an der großen Zehe des anderen Fußes und der
charakteristische Ablauf dieser Schwellungen ließ an der Diagnose
des Gichtanfalles keinen Zweifel. Der letzt vorangegangene Gicht-
anfall war 8 Jahre früher gewesen.
In dem anderen Falle hatten die Gichtanfälle bis kurz vor
dem Eintritt der Apoplexie bestanden und waren die ersten 2 Jahre
während des Bestehens der Hemiplegie ausgeblieben, um dann in
Zwischenräumen von etwa 6 Monaten wiederzukehren.
In einem Falle sah ich nach dem Ablauf eines schweren Gicht-
anfalles, welcher etwa 14 Tage gedauert hatte, und mit Temperatur-
steigerungen bis zu 39,5 Grad C einhergegangen war, ein Delirium
1) Oeuvres compiaes T. VIT p. 101.
Gicht and Psychose. 167
ballacinatorium ausbrechen, welches sich sowohl in bezug auf seine
Symptome, wie in bezng auf seinen Verlauf in nichts unterschied
von den gewöhnlichen Fällen dieser Form psychischer Erkrankung,
wie sie nach dem Ablaufe von Infektionskrankheiten öfter be-
obachtet wird.
Der Kranke genaß nach 2 Monaten. Fasse ich die Ergebnisse
fremder und eigener Beobachtung zusammen, so ergibt sich in
bezug auf das Verhältnis von Gicht und Psychose folgendes :
1. In sehr seltenen Fällen tritt nach einem
schweren mit Fieber verbundenen Gichtanfall eine
akute Psychose auf, welche mit Trübung des Bewußt-
seins und ausgedehnten Halluzinationen einhergeht
und klinisch als Delirium hallucinatorium zu be-
zeichnen ist.
2. In seltenen Fällen ersetzt eine akute Psychose
den Gichtanfall und verläuft meist in kurzer Zeit.
3. In äußerst seltenen Beobachtungen zeigt sich
daß ein auftretender Gichtanfall eine Psychose zur
Heilang bringt, welche lange, selbst Jahr und Tag
anverändert bestanden hat.
4. Das Zusammenvorkommen von einer Psychose
mit Gichtanfällen ist ein ungemein seltenes Vor-
kommnis und man ist nach den bisher vorliegenden
Erfahrungen nicht berechtigt, von einer Gichtpsy-
chose zu sprechen.
Das Wort Griesinger's: „Über die Entstehung von
Seelenstörungen unter dem bestimmenden Einfluß
der Gicht läßt sich nichts Positives sagen*', besteht
auch heute noch zu Recht.
XL
Ober Yerbindnngen der flams&nre mit Formaldehyd.
Von
Prof. Dr. med. Arthur Nicolaier
in Berlin.
Ich habe znerst im Jahre 1893, wie ich in meiner ersten
Arbeit ^) über das Urotropin mitgeteilt habe, die Beobachtung ge-
macht, daß der Formaldehyd Harns&ure und ihre Salze besonder»
in der Wärme gut zu lösen vermag. Ich war auf diese Eigen-
schaft des Formaldehyds aufmerksam geworden bei Gelegenheit
von Versuchen^ Urin durch Formaiin (40 % Formaldehydlösung) za
konservieren. Es zeigte sich nämlich dabei, daß in Hamen, die
beim Stehen reichlich Urate oder Hamsäurekristalle ausschieden,
diese Sedimente nicht ausfielen, wenn ihnen genügend reichliche
Mengen von Formaiin zugesetzt waren. Selbst nach Hinzufugen
von Salzsäure trat in solchen formalinhaltigen Urinen eine Aus^
Scheidung von Hamsäurekristallen nicht auf.
Die Beobachtung, daß Formaldehyd Harnsäure namentlich in
der Wärme leicht löst, wnrde dann von ToUens') und seinen
Schülern Pott und Weber') bestätigt. Es gelang ihnen auch
zwei leicht lösliche Verbindungen von Formaldehyd und Harnsäure
darzustellen; die eine besteht aus einem Molekül Harnsäure und
vier bis fünf Molekülen Formaldehyd und ist in Wasser so leicht
löslich, daß sie schon an der Luft zerfließt; die andere, die sich
weniger leicht in Wasser löst, enthält auf ein Molekül Harnsäure
nur zwei Moleküle Formaldehyd und wurde deshalb als Diformal-
1) Nicolaier, A.. Über die therapeutische Verwendung des Hexamethylen-
tetramin. Zentralbl. für die medizin. Wissenschaften Nr. 61. 1894.
2) T 0 1 1 e n s , B., W e b e r , K., und P o 1 1 , R., Über Verbindungen von Formal-
dehyd und Harnsäure. Berichte der deutsch, ehem. Gesellschaft Bd. 30 p. 2514/15. —
T 0 1 1 e n 8 und Weber, K., Über die Einwirkung von Formaldehyd auf Harnsäure.
Annalen der Chemie Bd. 299 p. 340.
3) Weber, K., Über die Einwirkung von Formaldehyd auf einige mehr-
wertige Alkohole. Inauguraldissertation 1897 p. 45 ff.
über Verbindung^en der Hamsäiire mit Formaldehyd. 169
dehydharnsäure bezeichnet. Über einige Eigenschaften dieser
Diformaldehydhams&nre hat His^) im Jahre 1901 kurz berichtet
1897 ist dann noch von der Chemischen Fabrik von G. F.
Böbringer und Söhne in Waldhof bei Mannheim eine neue, im
Verhältnis zar Harnsäure leicht in Wasser lOsIiche Verbindung
von Harnsäure und Formaldehyd dargestellt worden, die aus
gleichen Molekülen Harnsäure und Formaldehyd besteht, und des-
halb Monoformaldehydharnsäure genannt wurde. Ob die
Yon Cot ton') kurz erwähnte Formaldehydhamsäureverbindung Mono-
oder Diformaldehydhamsäure gewesen ist, läfit sich auf Qrund der
Ton dem Autor gemachten dürftigen Angaben nicht entscheiden.
Ich selbst habe mich, seitdem ich die Löslichkeit der Harn-
saure in Formaldehyd gefunden habe, namentlich im Anschluß an
meine Forschungen über das Drotropin mit Untersuchungen über
die FormaldehydharnsäureverbiDdungen viel beschäftigt und ge-
legentlich dieser nicht nur einige Beobachtungen gemacht, die von
den bisher veröffentlichten abweichen, sondern auch eine noch nicht
bekannte, später noch näher zu besprechende Formaldehydhamsänre-
Verbindung gefunden.
Die Verbindungen des Formaldehyds mit der Harnsäure haben
neuerdings durch therapeutische Versuche bei der hamsauren
Diathese Interesse gewonnen. Bekanntlich werden diese Krank-
heitszustände jetzt vielfach mit nicht giftigen Formaldebydver-
bindnngen, wie mit dem Urotropin und dem Citarin (methylen-
zitronensaurem Natrium) behandelt Bei der Anwendung dieser Mittel
ging man von der Annahme aus, daß sie im menschlichen Organis-
mus freien Formaldehyd abspalten, daß dieser sich mit der Harn-
säure verbindet, und so die Harnsäure in Form der leicht löslichen
Formaldehyd Verbindungen zur Ausscheidung kommt. Insbesondere
hielt man die therapeutische Anwendung des Citarins bei der Gicht
für angezeigt, nachdem E i c h e n g r ü n ^) die Behauptung aufgestellt
hatte, die übrigens auch von anderen Autoren wörtlich wieder-
gegeben ist, daß die Methylenzitronensäure die Fähigkeit hat, im
1) Eis, W. d. J., Die bamsauren Ablagenmgen des Körpers and die Mittel
zu Qirer Lösung. Therapie der Gegenwart 1901 p. 434.
2) C. F. Böbringer n. Söhne, Verfahren zur Darstellung: von Monoformal«
ddhydTerbiiidUDgen der Hamsftnre and ihrer Alkylderivate. Patentschrift Nr. 102 158
vm 16. NöTMBber 1897.
3) M. OottOB, Über den EinflnO des Formaldehjds anf Hambestandteile.
Rep. de Pharm. 1897. 54, ref. Pharmac. Zentralhalle 38. 1897. p. 341.
4) Siefaengrün, Über Aristochin, Mesotan, Helmitol und Theocin. Pharma-
zeutische Zeitung 1902 Nr. 87/88.
170 XL Nicola iKR
Organismus die Methylengruppe in Form von freiem Formaldehyd
abzuspalten. Ich habe bereits in meinen Arbeiten über Urotropin
und Methylenzitronensäure etc. ^) darauf hingewiesen^ daß bis jetzt
weder Eichengrün noch die anderen Autoren den Beweis er-
bracht haben, daß nach Darreichung von Methylenzitronensäure
bzw. ihres Natriumsalzes im Blut und den Geweben des mensch-
lichen Körpers Formaldehyd frei wird. Daher gründet sich meines
Erachtens die Anwendung des Citarins ^) als Gichtmittel, die sich
vorzugsweise darauf stützt, daß der im Körper ireiwerdende Formal-
dehyd die Ablagerung der im menschlichen Organismus zirkulieren-
den Harnsäure erschwert bzw. verhindert andererseits die bereits
abgelagerte Harnsäure in Lösung überführt, nur auf eine nicht
bewiesene Annahme.
Die bis jetzt über die therapeutische Wirkung des Citarins bei
der Gicht veröffentlichten Mitteilungen lauten fast durchweg günstig,
nur Brugsch') hält das Citarin für ganz wertlos bei der Behand-
lung dieser Erkrankung. Wenn Brugsch mit diesem Urteil bis
jetzt auch allein steht, so wird man doch, wie ich glaube, diesem
Urteil eine besondere Beachtung schenken müssen, weil es sich anf
die klinische Beobachtung von sieben Gichtikem, bei denen exakte
Stoffwechseluntersuchungen angestellt wurden, gründet. Brugsch
konnte nachweisen, daß das Citarin bei Gichtkranken ebensowenig
wie bei Gesunden einen Einfluß auf die Harnsäure bzw. Purin-
körperausscheidung hat, daß es selbst in großen Dosen Gichtkranken
verabreicht weder die Anfalle zu coupieren noch sie günstig zu
beeinflußen imstande ist, und daß es auch keine schmerzstillende
Wirkung hat.
Auch im Harn tritt nach Darreichung von Citarin kein freiei-
bzw. locker gebundener Formaldehyd auf. Das ergibt sich schon
daraus, daß, wie die von Impens*) angestellten Versuche be-
1) Nicolai er, A., Über Urotropin, Methylenzitronensänre and inethylen-
zitronensaures Urotropin. Dentsches Archiv für klinische Medizin Bd. 81 p. Id2ff.
und Bd. 82 p. 609.
2) Citarin, ein neues Mitt«! gegen Gicht. Allgemeine medizinische Zentral-
zeitnng 1903 Nr. 25 p. 511.
3) Brngsch, Th., Zur Bewertung der Formaldehydtherapie der Gicht und
der harnsanren Diathese. Therapie der Gegenwart 1905 p. 530£f. und^: Zur Stoff-
wechselpathologie der Gicht. Zeitschr. für experimentelle Pathologie u. Therapie
Bd. 2 p. 619 ff.
4) Impens, £., Zur Hamdesinfektion. Monatsberichte für Urologie Bd. YII
1903 p. 257.
über YerbindQDg;eii der Hamsäare mit Formaldehyd. 171
weisen, der Harn des Menschen selbst nach großen Gaben des
Mittels gewöhnlich keinen entwicklungshemmenden Einfluß auf
Mikroorganismen hat, der sich ja bekanntlich schon bei Gegen-
wart minimaler Mengen von Formaldehyd zeigt Infolgedessen
bleibt auch im menschlichen Harn selbst nach Darreichung sehr
großer Dosen Citarin, wie sich aus den Versuchen von Brugsch
ergibt, die Bildung von Formaldehydhamsäuren aus. Wenn Harne
gelegentlich nach großen Gaben von Citarin hamsäurelösende Eigen-
schaften haben, so ist dies also nicht auf die harnsäurelösende
Wirkung des Formaldehyds zurückzuführen, sondern es ist eine
Folge der unter dem Einfluß des Citarins auftretenden Alkalescenz
oder Herabsetzung der Äcidität des Harns.
Ganz anders verhält sich in dieser Beziehung das Urotropin.
Wie ich zuerst^) nachgewiesen habe, geht das Urotropin, das ja eine
Verbindung von Formaldehyd und Ammoniak ist, nach innerlicher
Darreichung beim Menschen schnell in den Harn über und spaltet
in ihm bei Körpertemperatur freien Formaldehyd ab. Der Harn gibt
nämlich nach dem Einnehmen der therapeutisch wirksamen Dosen
meist die für Formaldehyd charakteristische Jorissen 'sehe Phloro-
glucinprobe, und er zeigt femer, was für die Gegenwart von freiem
Formaldehyd besonders beweisend ist, bei Körpertemperatur anti-
bakterielle Eigenschaften, so daß in dem Harn, selbst wenn er mit
Mikroorganismen infiziert ist, diese bei Bruttemperatur nicht zur
Entwicklung kommen und er dauernd klar und steril bleibt. Die
Darreichung von Urotropin gibt außerdem noch dem Harn, ohne
seine saure Eeaktion zu ändern, die Eigenschaft, bei Körper-
temperatur hamsäurelösend zu wirken. Ich habe schon in meiner
Monographie über das Urotropin darauf hingewiesen, daß diese
Wirkung bedingt ist durch den im Urotropinham sich abspaltenden
Formaldehyd, der ja besonders in der Wärme ein gutes Lösungs-
mittel für Harnsäure ist; der frei werdende Formaldehyd führt
nämlich die Harnsäure in die leicht löslichen Formaldehydham-
säuren über. Das Vorhandensein von Formaldehydhamsäuren im
Urotropinham ist übrigens später durch His*), G. Klemperer*)
und Brugsch bestätigt worden.
Ij Nicolaier, A., Experimentelles und Klinisches über Urotropin. Zeit-
schrift fUr klinische Medizin Bd. 38 1899 p. 3ö0ff.
2) His, L c.
3) G. Klemperer, Die Behandlung der Nierensteinkrankheit. Sonder-
abdmck ans: Therapie der Gegenwart 1904 p. 64.
172 ^I* NtCOLAXBB
Mit Rflcksicht auf die Eigenschaft des Urotropins, den Harn
des Menschen bei E5rpertemperatar harnsäurelösend zu machen,
habe ich dieses Mittel znr Behandlung der hamsauren Steine
empfohlen, und es ist auch bei dieser Erkrankung mit Erfolg an-
gewandt worden, um so mehr als die bei seinem Gebrauch ge-
legentlich auftretende Vermehrung der Hamroenge die hamsäare-
lösende Wirkung des Harnes noch steigert und auch die Ans-
schwemmung der Eonkremente befördert, und außerdem das Mittel
oft noch durch die Desinfektion der Hamwege nützlich wirkt.
Jedenfalls steht es jetzt fest, daß nach Gebrauch von Urotropin
im Harn des Menschen Formaldehydhamsäuren auftreten, und daher
haben diese Verbindungen nicht bloß ein theoretisches Interesse.
Ich nehme deshalb Veranlassung, das was bisher über die
Hamsäureformaldehyd Verbindungen bekannt geworden ist. und was
ich selbst bei meinen Untersuchungen ermittelt habe, hier kurz
zusammenzustellen.
Ich beginne mit der zuerst gefundenen und bis jetzt am meisten
untersuchten Verbindung der Harnsäure und des Formaldehyds, der
Diformaldehydharnsfture.
Die Diformaldehydhamsäure hat die Formel C,H8N40;. ==
C5H4N403-2CH20 und wahrscheinlich die Konstitution
HN — CO
CILOH
OC C — x/
! II /CO
HN — C — Nv
^CHjOH
Sie scheidet sich als weißes kristallinisches Pulver ab, wenn
Harnsäure in 40 % Formaldehyd im Verhältnis von 1 : 2,3 bei
100— HO** C im Glyzerinbade gelöst wird, und das Filtrat einige
Zeit steht. Durch einmaliges Umkristallisieren aus heißem Wasser,
wobei längeres Kochen zu vermeiden ist, wird die Säure rein er-
halten. Sie ist in Wasser ganz erheblich leichter löslich als die
Harnsäure. Nach den Angaben von His löst sich die Diformaldehyd-
hamsäure bei 18® C in Wasser im Verhältnis von 1:5—400,
während die Harnsäure bei dieser Temperatur im Verhältnis von
1:39000 löslich ist Die Diformaldehydharnsäure wird nach His
auch von verdünnten Säuren ziemlich leicht gelöst, und sie wird
deshalb aus der wässerigen Lösung ihrer Salze durch diese nicht
ausgefällt.
über Verbindungen der Hamsftore mit Formaldehyd. 173
Kocht man die wässerige Lösung der Sänre längere Zeit, so
zei'setzt sie sich and« es entsteht durch Freiwerden des Formal-
0
dehyds, der dann schon durch den Geruch wahrnäimbar wird, ein
an Formaldehyd ärmeres Produkt bzw. Harnsäure selbst. Diese
Zersetzung findet, wie ich gefunden habe, auch statt, wenn die
wässerige Lösung längere Zeit bei Bruttemperatur gehalten wii*d.
Nach meinen Beobachtungen wird aus der wässerigen Lösung
der Formaldehydhamsäure durch Alkalilaugen schon bei Zimmer-
temperatur leicht Formaldehyd abgespalten, denn setzt mau zu ihr
etwas Natronlauge und Phloroglucin, so tritt sofort eine starke,
allmählich abblassende Eotfärbung ein. die bekanntlich für freien
Formaldehyd charakteristisch ist
Gegen Säuren ist die Diformaldehydhamsäure beständiger,
wenigstens fand ich, daß in einer wässerigen Lösung eines frisch
omkristallisierten Präparates die Arnold- MentzeTsehe saure
Phenylhydrazin probe ein negatives Resultat gab, es trat nämlich
nach Zusatz von Phenylhydrazin, Eisenchlorid und Schwefelsäure
nicht die für freien Formaldehyd charakteristische Rotfärbnng auf.
Sie wurde erst bei Anwendung dieser Probe erhalten, als das Prä-
parat einige Tage alt war, es hatte sich in dieser Zeit offenbar
freier Formaldehyd abgespalten. Mit Hilfe dieser Probe konnte ich
an dem frischen Präparat leicht nachweisen, daß aus der Diform*
aldehydhamsäure nicht nur durch Alkalilaugen, sondern auch durch
Lösungen alkalischer Salze wie Natriumkarbonat und femer durch
Ammoniak, in dem sie sich auch leicht löst, Formaldehyd abgespalten
wird, denn im Gegensatz zu der wässerigen Lösung tritt nach
Znsatz dieser Agentien sofort Rotfärbung ein. Mit dieser Probe gelang
auch der Nachweis, daß in einer wässerigen Lösung der Säure nicht
nur, wie schon oben bemerkt wurde, bei genügend langem Kochen,
sondern auch schon bei 37^ C, wenn diese Temperatur längere
Zeit einwirkt, eine Abspaltung von Formaldehyd erfolgt.
Die Diformaldehydhamsäure gibt ebenso wie die Harnsäure
stark die Mnrexidreaktion.
Wie ich gefunden habe, tritt bei Zusatz einer Lösung von
salpetersaorem Silber zu einer wässerigen Lösung der Säure ein
weißer flockiger Niederschlag aut, der auch bei längerem
Stehen am Licht seine Farbe nicht ändert; er ist in verdünnter
Schwefelsäure und auch in Ammoniak löslich. Wird die Diform-
aldehydhamsäurelösung aber mit Natronlauge versetzt, und fügt
man dann etwas salpetersaures Silber hinzu, so scheidet sich so-
gleich metallisches Silber ab. Dasselbe tritt ein, wenn die Lösung
174 ^> NiCOLAIKR
mit NatiiumkarboDat alkalisch gemacht wird. Dabei macht es
keinen Unterschied, in welcher Reihenfolge die Reagentien zugesetzt,
und ob kleine oder große Mengen Alkali verwendet werden.
In etwas anderer Weise verhält sich eine frisch bereitete wässerige
Lösung der Sänre gegenüber Ammoniak und salpetersanrem Silber-
Es tritt nämlich in der Kälte sofort eine Schwarzfärbung in-
folge der Reduktion des Silbersalzes ein, wenn man sehr wenig
Ammoniak (einen Tropfen) und dann salpetersaures Silber hinzu-
setzt. Fügt man jedoch zu derselben erst salpetersaures Silber
und dann einen Tropfen Ammoniak, so löst sich der nach Zusatz
des salpetersauren Silbers entstandene weiße Niederschlag, und erst
beim Stehen am Licht tritt allmählich eine braune Verfärbung ein.
Bei Anwendung von einem großen Überschuß von Ammoniak tritt,
wenn erst dieses und dann salpetersaures Silber zugesetzt wird,
eine sofortige Ausscheidung von Silber nur nach dem Kochen ein,
in der Kälte bleibt die Lösung zunächst wasserhell und erst beim
Stehen am Licht färbt sie sich bräunlich. Bei Anwendung
der Reagentien in umgekehrter Reihenfolge bleibt das Gemisch
auch bei längerem Stehen am Licht wasserhell, schwärzt sich aber
sofort nach dem Kochen. Daher ist die Angabe von Eis. daß
beim Versetzen einer Lösung von Diforraaldehydharnsäure mit
salpetersaurem Silber und Ammoniak das Silbersalz unter Ab-
scheidung von Silber reduziert wird, dahin einzuschränken, daß
dies in der Kälte bei Anwendung von sehr wenig Ammoniak nur
ganz allmählich, bei einem großen Überschuß aber nur nach dem
Kochen stattfindet.
Nach den üntei-suchungen von His bildet sich, wenn die
Lösung von Diformaldehydharnsäure Magnesiumsalze enthält, ebenso
wie bei der Harnsäure ein Silbermagnesiumsalz, das beim Zerlegen
mittelst Schwefelwasserstoffes den größten Teil der Diformaldehyd-
harnsäure unverändert abscheidet. Ist diese nur in geringer Menge
vorhanden, dann wird sie beim Eindampfen mit Säure zersetzt, und
es scheidet sich dafür Harnsäure ab. Nach His kann man
Diformaldehydharnsäure aus sehr verdünnter Lösung mittelst des
Ludwig-Salkowski 'sehen Verfahrens in Harnsäure verwandeln
und als solche bestimmen.
Dazu ist zu bemerken, daß schon durch die heiße alkalische
4
Schwefelkaliunilösung, die bei der Ludwig-Salkowski'schen
Methode zur Zerlegung des Silbermagnesiumsalzes der Harnsäure
benutzt wird, die Diformaldehydharnsäure, die doch schon in der
Kälte durch Einwirkung von Alkali leicht gespalten wird, viel-
über Verbindungen der Harnsäure mit Formaldebyd. 175
leicht bereits vollkommen zersetzt wird, jedenfalls auch dann, wenn
.sie in etwas größeren Mengen vorhanden ist. Sollte dabei noch
ein kleiner Teil Diformaldehydhamsäare der Zersetzung entgehen,
dann erfolgt diese sicherlich beim Eindampfen mit der Salzsäure.
In der Tat konnte ich aus einer Lösung von 0,4 g Diformaldehyd-
hamsäure in 200 ccm Wasser mit dem Ludwig-Salkowski'schen
Verfahren nur Harnsäure gewinnen ; denn die bei diesem Verfahren
zarückbleibenden weißen Kristalle, die die Murexidreaktion gaben,
zeigten bei der Jorissen'schen Probe keine Kotfärbung, während
die Diformaldehydhamsäure sie sofort sehr intensiv mit dieser Probe
gab. Danach kann man also die Diformaldehydhamsäure auch
dann, wenn sie sich in etwas größerer Menge in einer Lösung
vorfindet, mit dem Ludwig -Salkowski 'sehen Verfahren in Harn-
säure überfahren.
Nach den Beobachtungen von H i s soll sich die Diformaldehyd-
hamsäure ebenso wie die Harnsäure in konzentrierter Schwefelsäure
losen, aber im Gegensatz zur Harnsäure beim Eintragen der Lösung
in viel Wasser nicht ausfallen. His hält deshalb die konzentrierte
Schwefelsäure für ein Mittel, um Harnsäure und Diformaldehyd-
hamsäure aus Gemischen zu trennen und getrennt zu bestimmen.
Ich kann zwar bestätigen, daß die Diformaldehydhamsäure ebenso
wie die Harnsäure in konzentrierter Schwefelsäure löslich ist, doch
ist das Verhalten dieser Lösung gegenüber von Wasser anders,
als es His angibt. Ich habe nämlich zusammen mit Herrn
Dr. H u n s a 1 z gefunden, daß beim Eintragen von in konzentrierter
Schwefelsäure gelöster Diformaldehydhamsäure (im Verhältnis von
1:5) in gekühltes Wasser sich eine weiße Substanz ausscheidet.
Ich will noch hinzufugen, daß die Ausscheidung von der Menge
Wasser, die man benutzt, unabhängig ist, sie erfolgt auch dann,
wenn man reichliche Mengen anwendet, z. B. einen Tropfen der
Lösung in 10 ccm Wasser einträgt Diese weiße Substanz ist aber
nicht, wie man nach dem Verhalten der Harnsäure unter gleichen
Verhältnissen vermuten könnte, Diformaldehydhamsäure, sondern,
wie weiter unten (p. 182) nachgewiesen werden soll, eine andere
Verbindung von Harnsäure und Formaldehyd.
Jedenfalls ist die Angabe von His nicht richtig, daß wir in
der konzentrierten Schwefelsäure ein Mittel haben, um Harnsäure
nnd Diformaldehydhamsäure in Gemischen zu trennen und getrennt
zu bestimmen.
Nach Weber und Tollens ist die Diformaldehydhamsäure,
wie Titrationen mit ^8 Normalkali ergaben, einbasisch. Die Ver-
176 XI- NlCOLAISB
suche von Weber und Tollens, Salze zu bereiten, gaben nur
teilweisen Erfolg. Es gelang ihnen, wenn auch schwierig, ein
Barium- und ein Caiciumsalz darzustellen. Beide waren in Wasser
schwer löslich. Dem Calcium gegenüber verhielt sich im Gegen-
satz zum Barium die Säure zweibasisch. His erwä.hnt noch ein
leicht lösliches Natriumsalz, er gibt aber nicht an, wie er es gie-
wonnen hat. Es wäre das von Interesse gewesen, weil, wie ich
oben bereits erwähnt habe, ja die Diformaldehydharnsänre von
Natronlauge sehr leicht zersetzt wird.
Die Diformaldehydhamsäure lös^ sich, wie ich beobachtet habe,
leicht in Urotropinlösung, und mir ist es gelungen, eine Verbindung
von Diformaldehydhamsäure und Urotropin darzustellen. Löst man
1 Molekül Diformaldehydhamsäure und 2 Moleküle Urotropin in
sehr wenig Wasser und setzt dann absoluten Alkohol hinzu, so
scheidet sich ein weißer Niederschlag aus ; derselbe wurde abfiltriert
gut mit absolutem Alkohol gewaschen, im evakuierten Exsikator
getrocknet und dann, um etwa noch überschüssiges Urotropin za
entfernen, mit heißem Chloroform behandelt. Es blieb ein weifles
Pulver zurück, das sich in Wasser sehr leicht löst 1 Teil ist in
etwa ö Teilen Wasser löslich. Die wässerige Lösung gibt wie die
Diformaldehydhamsäure mit der Murexid- und mit der Jorissen-
schen Probe eine positive Reaktion und ferner mit Bromwasser
den für Urotropin charakteristischen orangegelben Niederschlag.
Es ist nicht ausgeschlossen, daß beim Menschen das nach
Urotropingebrauch in den Ham übergehende Urotropin zur Lösung
der aus ihm im Ham sich bildenden Diformaldehydhamsäure bei-
trägt.
Mit der Diformaldehydhamsäure habe ich bei verschiedenen
Tierarten Versuche angestellt. Ich fand, daß Mäuse, wenn ihnen
die Säure in schwach alkalischem Wasser gelöst subkutan injiziert
wird, und die einverleibte Menge derselben verhältnismäßig groß
ist, zugmnde gehen und sich in den Harnkanälchen der Nieren,
ebenso wie bei subkutaner Einspritzung von gelöster Harnsäure.
Ablagerungen von Körnchen und Sphärolithen finden können. Es
muß die Frage offen bleiben, woraus diese Ablagerungen bestamtai,
da eine chemische Untersuchung wegen der geringen Mengen von
Substanz nicht möglich war.
Bei Ratten traten, auch wenn ihnen 0,2 g, in Wasser suspen-
diert, 5 Tage hintereinander subkutan eingespritzt wurden, abge-
sehen von einer nach der Injektion auftretenden Unruhe, keine
Krankheitserscheinungen au! Als sie ca. 30 Stunden nadi dar
über Verbindangen der Hamsftiire mit Formaldebyd. 177
fctetM Injektion getdtet wurden, waren weder in den Nieren iooch
in den übrigen Organen Ablägerangen nachweisbar. Auch an der
Injektionsstelle waren Reste der eingespritzten Diformaldebydham-
sänre nicht zu finden.
Beim Hunde hat schon His einen Versneh mit dieser Säiu^
4&ngestellt, über dessen Ergebnis er nnr mitteilt^ d^ß sich nach
Darreichiing von lg im Harn ca. 0^05 g Hamsänre fanden.
His läftt es unentschieden, ob diese Menge als solche im Harn
Yorhanden oder aas -der in den Harn übergegangenen Diformal-
dehydliamsaare darch das Ludwig-Salkowski' sehe Verfahren
entstanden war. Ich habe die Diformaldehydharnsäure bis za 2 g
pro die aaf einmal Händen per os gegeben. Bis aaf Erbrechen,
das ich einmal nach Darreichung von 2 g beobachtete, fanden sich
keine Störungen. Im Harn der Hunde konnte ich weder direkt
noch im Destillat, auch wenn der Harn vor der Destillation mit
Alkali oder Säure versetzt war, Formaldehyd mit der Jorissen-
«chen Probe nachweisen. Danach wird man annehmen müssen,
daß die Diformaldehydharnsäure bei Darreichung dieser Dosen
nicht in den Harn der Hunde übergeht; sondern im Körper der-
selben zerstört wird.
His hat auch das Verhalten der Diformaldehydharnsäure im
•menschlichen Körper und zwar an sich selbst untersucht. Er berichtet
über diesen Versuch nur ganz kurz, daß er von 1 g der eingenommenen
Säure in den nächsten 18 Stunden ca. den vierten Teil als Förmal-
•dehydverbindung mit dem Harn ausschied. His gibt dabei zwar
nicht an, wie er die Formaldehydhamsäuren bestimmt bat, doch
wird man wohl als sicher annehmen können, daß er in der gleichen
"Weise verfahren ist, wie bei dem in derselben Arbeit (p. 499) mit-
geteilten Urotropinversuch. His hat dabei zunächst mit dem
L ud w ig- Salkowski' sehen Verfahren und außerdem nach der
von ihm angegebenen Keimsalzmethode den Gehalt des Harnes an
Harnsäure ermittelt Da die Formaldehydhamsäure nach der Lud-
wig-Salkowski 'sehen Methode als Harnsäure bestimmt wird,
•dagegen nicht, wie His annimmt, nach seinem Keimsalzverfahren
aasgeföUt wird, so sieht His die Differenz der nach diesen beiden
Methoden gefundenen Werte als die Menge der im Harn als Formal-
•dehydverbindung vorhandenen Harnsäure an. Diese Art und Weise
^e Formaldehydhamsäuren im Harn quantitativ zu bestimmen, ist
nneines i^rachtens nicht ganz einwand^ei. Eine größere Zahl von
Versachen, die ich in Gemeinschaft mit Herrn Dr. Dohrn ange-
:stellt habe und über die demnächst noch ausführlicher berichtet
Deutsches Archiy f. klin. Medisin. W. Bd. 12
X78 ^I> NXOOLAUR
werdett soll, haben nämlich ergeben, daß zuweilen in Hamen von
Menschen, die keine Formaldehydyerbindnng eingenommen haben,
bei Anwendnqg der Hls'schen Methode Harnsäure und manchmal
in nicht unbeträchtlicher Menge der Fällung entgehen kann. Des-
halb ist es mir zweifelhaft, ob in den Fällen, bei denen Formal-
dehydverbindnngen verabreicht sind, die Differenz der nach der
Ludwig-Salkowski'schen und nach der His'schen Metiiode
ermittelten Hamsäurewerte immer der Menge der im Harn vor-
handenen Formaldehydhamsäuren entspricht.
Ich will noch hinzufügen, daß ich bei einem Vei'such Hn mir
selbst nach dem Einnehmen von 1 g Diformaldehydhamsäare weder
in den einzelnen Hamportionen noch in der 18 stündigen Gesamt-
menge von 710 ccm (spez. Gewicht 1029) Formaldehyd mit der
Jorissen'schen Probe nachweisen konnte. Ebenso erfolglos blieb
der Nachweis mit dieser Probe in dem Destillat der mit Natron-
lauge versetzten Gesamtmenge. Da die Diformaldehydhamsäure
schon in der Kälte durch Laugen spaltbar ist, so wird man bei
meinem Versuche das Vorhandensein dieser Säure im Ham aas-
schließen m&ssen, um so mehr als nach meinen Beobachtungen
schon verhältnismäßig kleine Mengen im Harn direkt mit der
Jorissen 'sehen Probe nachweisbar sind. Ich fand nämlich, als
ich 0,1 g Diformaldehydhamsäure in ca. 50 ccm Wasser löste und
diese mit Ham auf 600 ccm auffüllte, diese Mischung mit dieser
Probe eine mäßige starke Rotfärbung gab; selbst bei einer Ver-
dünnung auf 750 ccm war die Eotfärbung, wenn auch nur schwach,
wahrzunehmen.
Das Ergebnis dieses Versuches an mir selbst spricht also gegen
die Annahme von His, daß die Paarung mit Formaldehyd die
völlige Zerstörung der Harnsäure im menschlichen Körper hindert.
Im Anschluß an die Diformaldehydhamsäure will ich noch kurz
die von ToUens und Weber^) zuerst dargestellte Verbindung
von Harnsäure und Formaldehyd erwähnen, die auf 1 Molekül
Harnsäure 4—5 Moleküle Formaldehyd enthält. Tollens und
Weber erhielten sie als trockenes gelbes Pulver aus dem bei der
Darstellung der Diformaldehydhamsäure als Filtrat zurückbleiben-
den Sirup in der Weise, daß sie ihn mit absolutem Alkohol and
Äther behandelten und den dann entstehenden Gummi mit Alkohol
und Äther zerrieben. Das Pulver ist sehr hygroskopisch und schon.
1) 1. c.
über Verbindang^ der Harnsäure mit Fonualdebyd. 179
beim Anfassen mit dem Finger wird es kleberig. Ihre Konstitution
ist bis jetst nicht bekannt Diese Verbindung ist noch nicht
weiter untersucht worden, und auch ich habe von Untersuchungen
mit ihr Abstand^ genommen, weil sie sehr leicht zersetzlich ist und
sich schon beim Lösen in Wasser ans ihr Diformaldehydhamsäure
bildet.
MonoformaldehydharnsSnre. ^)
Sie hat die Formel C^ H« N^ O4 + H^ 0 und wird in der
Weise dargestellt, daß man einen Teil Harnsäure mit einem
Teil (2V, Moleküle) Ätzkali (80%)' in 15 Teilen Wasser unter ge-
lindem Erwärmen in Lösung bringt, die Lösung auf Zimmertempe-
ratur abkühlen und nach Zusatz von 1,5 Teilen 40 % Formaldehyd
bei Zimmertemperatur stehen läßt. Nach einigen Stunden wird die
noch klare Lösung mit Salzsäure angesäuert und mit etwas Kohle
behandelt; es scheidet sich dann beim Stehen die Monoformaldehyd-
hamsäure in derben glänzenden Prismen aus, die durch Waschen
mit Alkohol und Äther rein erhalten werden. Die Säure enthält ein
Molekül Kristallwasser, das bei längerem Erhitzen auf 120—130 ^ 0
langsam entweicht. Nach meinen Beobachtungen geht beim Er-
hitzen der trockenen Säure über 100® auch Formaldehyd fort, der
schon durch den Geruch wahrnehmbar ist.
In der gleichen Weise lassen sich auch ein Molekül Formal-
dehyd enthaltende Verbindungen von einigen alkylierten Harn*
sauren darstellen.
In diesen Additionsprodukten ist das Kohlenstoffatom des
Formaldehyds mit einem Stickstoffatome der Hamsäure bzw. der
Alkylhamsäuren in direkte Bindung getreten, so daß wahrscheinlich
eine Oxymethylenverbindung entstanden ist. Daher wird die Mono-
formaldehydhamsäure auch als Oxymethylenhamsäure ^) bezeichnet
Die Monoformaldehydhamsäure läßt sich durch Reduktion mit
Zinn nnd Salzsäure in die 7. Methylhamsäure ^) übeif ühren und hat
deshalb die Konstitution
1) D.R.P. Nr. 102158. C. F. Bö bringe r u. Söhne in Waldhof. Verfahren
zur Darstellnng von Monoformaldehyd Verbindungen der Hamsäure und ihrer
AJkylderivate.
2) Anch die DiCormaldeliydharnftänre ist eine Oxymethylenhamsäure.
3) D.B.P. Nr. 106340. C. F. BOhringer n. SöhnQ in Waldhof. Verfahren
zur Darstellung methylierter Harnsäuren.
12*
(180 ■ ■ ■ . ; Xl NieoLuia:
...•:;;••. " ■ ' , 'fiN — GOI ' ' ;. ■•;■.•
• ' .; I . I , I •■ ^CHjOR
OC- C— N^ .
l'- ■ ■■''■■■ HN'-fc-NH ■ • .'■
Sie ist also die 7. Oxymethylenharnsäure.
Die Säure ist in Wasser weit löslicher als Harasäore, ich
fand, daß sie sicji bei 18<* C im Verhältnis von 1 : 400 löst Sie
läßt sich aus heißem Wasser leicht Umkristallisieren \\nä bildet
cEann 'feine N&delchen und kurze farblose Prismen; dabei inüß aber
läng-erei Kochen vermieden werden, da sie sich sonst in Fömjal-
dehyd! und Harnsäure spaltet. Die Kristalle haben keinen Schmelz-
J)unkt, beim Erhitzen färben sie sich von 320 <> C ab bräunlich und
zersetzen sich bei höherer Temperatur unter Dunkelfärbung ohne
Aufschäumen.
Von der Monofonnaldehydharnsäure ist angegeben, daß sie beim
Kochen mit Wasser, verdünnten Mineralsäuren oder Alkalien sich
leicht in Formaldehyd und Harnsäure spaltet. Ich kann das be-
stätigen. Nach meinen Beobachtungen erfolgt die Abspaltung von
Formaldehyd auch schon bei 37 ® C, wenn diese Temperatur eine
Zeitlang einwirkt. . Wie meine Untersuchungen weiter ergeben
haben , wird auch durch Alkalilaugen schon bei ^immertenipe-
ratur aus der Monofonnaldehydharnsäure Formaldehyd frei. Es
ergibt sich das schon daraus, daß in einer wässerigen Lösung der
Säure Äiit der Joris sen 'stehen Phloroglucinpröbe eine intensive
Rotfärbung auftritt.
Mit der sauren* Phenylhydrazinprobe (Arnold -Mentzel)
gibt eine wässerige Lösung eines frisch umkristallisierten Prä-
parates keine Reaktion. Als es aber einige Tage alt war, zeigte
sie die für jfreien Formaldehyd charakteristische Rotfilrbung, «
hatte sich also in dieser Zeit aus dem Präparate Formaldehyd ab-
gespalten. Mit dieser Probe konnte ferner an dem frischen Präparat
nachgewiesen werden, daß auch alkalische Salze und AimmcmiiÜL
Formaldehyd aus der Säure frei machen. Ebenso wie die Diformal-
dehydharnsäure gibt auch die Monofonnaldehydharnsäure stark die
Mnrexidreaktion und bei Zusatz von ^alpetersaurem Silber zu der
wässerigen Lösung entsteht auch ein weißer in Schwefelsäure zum
Teil leicht löslicher Niederschlag. War vorher diese Lösung durch
Zusatz von Alkalüaugen, Natriumkarbonat oder wenig Ammoniak
alkalisch gemacht, dann tritt sofort Schwarzfärbung infolge von
Ausscheidung von metallischem Silber auf.
über Verbindniig^en der Hariisäitr^ mit Formaldehyd. 181
EBthUt) die wässerige Lösutisr' der Säute :l£agpQe8iiim3li.tie, so
bildet sich nach Zusatz von salpetersaurem Silber, ebenso wie 'bei
der Diformaldehydhamsi^ire ein SUbermagnesiamsalz. Nach meinen
Unfersnchnngen ^ird anch die Monoformaldehydiiamsftiire änrcli
das LBdwig-Salkowski'sdie VerfahrAn in> Barnsäure fiber^
gefthrt; denn ich erhielt,, als ieÜ dieses Verfahren auf eine XiÖsung^
Yon O^g der Säure in 200 ccm Wasser anwandte, weiBe Kristalle;
die die Murexidreaktion/ al>er idcht wie die M6n()forBraldefayd-^
hamsänre eine Botfärbung mit/der Jorissen 'sehen Probe galNenj
Wie 'ich gefunden habe, 'ist die Ikfonoformäldehy^anisäure
ebenso wie die Harnsäure und die Diformaldehydhamsäure' ih ken-^
zentrierter Schwefelsäure löslich. Läfit man diese Lösung" * auf Eis^
tropfen, dann scheidet sich auch eine weiße Substanz aus. Die
Säure löst sich fema* leicht in rerdtinnten Alkalien ; konzentrierte
Alkalilaugen fallen nach einiger Zeit die entsprechenden Salze, die
farblose, zu kugeligen Aggregaten vereinigte Nädelchen bilden. Da^
Kalisalz entsteht auch leicht, wenn man auf saures harnsaures
Kall die f&nffache Menge konzentrierter Formaldehydlösung längere
Zeit am, besten unter Schütteln einwirken läSt.
Auch in Ammoniak und in wässeriger Urotropinlösung ist die
Monoformaldehydharnsäure leicht löslich. !
Versuche, mit der Monoformaldehydharnsäure. bei Tieren und
beim Menschen sind bisher noch nicht angestellt. Ich habe Ratten
eine wässerige Aufschwemmung subkutan injiziert und beobachtet^
daß sie, selbst bei Dosen von 0,2 g, die ihnen mehrere Tage hinter-
einander eingespritzt wurden, keine ErankheitserscheinungenizeigteUf
Bei der Sektion der 30 Stunden nach der Injektion getöteten Tie;re
fanden sich nur in den Nieren und zwar in den Harnkanälchen
« « • '
des Papillarteiles sehr spärliche Ablagerangen in Form von kleinei^
Körnchen. . ,
Bei kleinen Hunden, denen ich 1 g pro die auf einmal mit dem
Futter verabreichte und die danach keine Störung des Befindens
zei^n, konnte iph weder, in dem am Versuchstage und. am Tag^
daraof gelassenen Harn noch in seinem nach Zusatz von Natron*
lauge gewonnenen. Destillat mit der Joris sen'dchen Probe Formali
dehyd nachweieen.
Aach in einan an mir angestellten Versuch, bei dem ich I g
der Säure auf einmal einnahm, gelang 4er Nachweis von Formal-*
dehyd in der 16 Stunden nach der Darreichung gesammelten
Hammenge von 680:ccm nicht, und auch in diemBöatiHat dieses
182 XI. NlCOLAIBR
mit Natronlauge alkalisch gpemachten Harnes wurde Formaldehyd
nicht gefunden.
Nach diesen Versuchen wird man annehmen müssen, daß die
Monoformaldehydharnsäure in den angegebenen Dosen verabreicht,
vom Menschen und von Hunden im Harn nicht ausgeschieden wird.
Ich will noch erwähnen, daß im Harn des Menschen, dem eine
w&sserige Lösung der Säure zugesetzt war, so daß er sie im Ver-
hältnis von 0,1:500 enthielt, Formaldehyd mit der Jo rissen*
sehen Probe noch nachweisbar war.
Aus dem Vorstehenden ergibt sich also, daß die Monoformal-
dehydharnsäure in ihren Eigenschaften eine große Ähnlichkeit mit
der Diformaldehydhamsäure hat
AnhydrodiformaldehydhamsSare.
Wie bereits oben erwähnt, habe ich im Gegensatz zu His die
Beobachtung gemacht, daß beim Eintragen von in konzentrierter
Schwefelsäure gelöster Diformaldehydhamsäure in Wasser sich eine
weiße Substanz ausscheidet. Die Diformaldehydhamsäure zeigt also
in dieser Beziehung dasselbe Verhalten wie die Harnsäure. Während
aber aus einer Lösung von Harnsäure in konzentrierter Schwefel-
säure, wenn man sie in Wasser einträgt, die Harnsäure wieder
ausfällt, ist, wie ich schon oben angedeutet habe, die sich unter
gleichen Verhältnissen aus einer Lösung von Diformaldehydham-
säure ausscheidende weiße Substanz keine Diformaldehydhamsäure.
Bei meinen Versuchen habe ich 1 Teil Diformaldehydhamsäure
unter Efihlung in 5 Teilen konzentrierter Schwefelsäure eingetragen
und nach einigen Tagen, nachdem die Lösung erfolgt war, diese in
Wasser, das mit Eis gektlhlt war, tropfen lassen. Es schied sich dann
ein weißer amorpher Niederschlag aus, der abgesaugt und wiederholt
mit reichlichen Mengen kalten Wassers gewaschen wurde. Das
gleiche Resultat erhält man, wenn man die Lösung in gekühlten
75% Alkohol einträgt. Da der weiße Niederschlag sich nicht aus
heißem Wasser Umkristallisieren ließ, und es auch nicht möglich
war, ihn durch Lösen in Alkalien und nachherigen Zusatz von
Säure unzersetzt wieder zu gewinnen, so wurden die Analysen an
Präparaten gemacht, die nur mit reichlichen Mengen kalten Wassers
wiederholt gewaschen waren. Zu diesem Zwecke wurden die
Präparate, um Zersetzung zu vermeiden, im evakuierten Exdccator
getrocknet.
Die Analysen ergaben folgende Resultate:
über VerbindmigeB 4er Hundnre mit Formaldebyd.
183
Berechnet fflr
C7H.OÄ
I '
Präparat
n
•
111
C 40
H 2,86
N 26.6
39,54
3,16
26,14
39,23
2,93
a) 24,83
b) 24,63
1
39,83
2,78
1
1
Die Zahlen stimmten, also abgesehen von den f fir N gefundenen,
die etwas zn niedrige Werte ergaben, auf die Formel C7He04N4, so
dafi es sich wohl um die bisher nicht bekannte Anhydrodiformal-
dehydhamsäure handelt, die folgende Eonstitntion haben wOrde:
HN— CO
OC C— N-CH,,
I
HN
11 >co >0
Man kann diese Säure auch erhalten, wenn man 3 Teile poly-
merisierten Formaldehyd und 5 Teile Harnsäure in 25 Teilen kon-
zentrierter Schwefelsäure bei Zimmertemperatur löst und diese
Lösung in Eiswasser oder gekühlten 75% Alkohol tropfen läßt.
Die Anhydrodiformaldehydhamsäure ist im Gegensatz zur Mono-
und Diformaldehydhamsänre in kaltem Wasser weit schwerer lös-
lich, sie löst sich aber hierin viel leichter als Harnsäure. Die
wässerige Lösung ist opaleszierend. In heißem Wasser gelöst,
scheidet sie sich nach dem Erkalten nicht wieder aus» es bleibt
eine milchig aussehende Lösung zurück, die ohne einen Rück-
stand zu hinterlassen, das Filter passiert Sie ist leicht in Alkali-
langen, Ammoniak und in Lösungen von Natriumkarbonat und
Urotropin löslich.
Beim längeren Kochen mit Wasser wird die Säure zersetzt,
es läßt sich im Destillat der wässerigen Lösung Formaldehyd mit
der Jorissen'schen Probe nachweisen. Ebenso entweicht Formal-
4lehyd beim Erhitzen der trocknen Säure auf 125^ G (et unten).
Auch durch Alkalilaugen wird aus ihr Formaldehyd abgespalten,
daher gibt eine Lösung in verdünnter Natronlauge nach Zusatz
von Phloroglucin eine Rotfärbung, die jedoch ceteris paribus
schwächer ist als bei der Mono- und Diformaldehydhamsäure. Für
den Nachweis der Abspaltung des Formaldehyds aus der Anhydro-
diformaldehydhamsäure eignet sich besonders die saure Phenyl-
hydrazinprobe von Arnold-Mentzel; die Säure gibt nämlich
in wässeriger Lösung, auch dann, wenn sie schon längere Zeit auf-
bewahrt ist, im (Gegensatz znr Mono- und DilbnnaldehydharDsäiire
nicht die für Fonnaldehyd charakteristische Botfärbung. Mit Hilfe
dieser Probe l&ßt sich • nun ^zeigen, da& ans ihr nicht bot durch
Alkalilau^en, sondern auch durch Ammoniak and femer durch
Natriumkarbonat, wenn es längere Zeit einwirkt , Fonnaldehyd
frei wird.
Die Anhydrodiformaldehydhamsänre unterscheidet sich von der
Mond* und Difonnaldehydhamsäore sowie auch von der Harnsäure
durck ihr Verhalten bBi der Murexidi»t)be. LOet man Harnsäure
bzw. Mono- oder Düomraldehydhamsänre in Salpetersäui^e, dampft
danit auf dem Waefiserbade ein, bis ein gelber Ruckstand verbleibt
und setzt zu diesem einen Tropfen Ammoniak, so entsteht bekannt-
lich an dem Rande desselben eine purpurviolette Farbe auf. Die
Anhydrodiformaldehydhamsänre -hinterläßt, in der gleichen Weise
behandelt, auch einen gelben Rückstand, doch tritt bei Zusatz eines
Tropfens Ammoniak am Rande desselben eine Orangefärbung auf.
Beim Liegen an der Luft kann nach längerer Zeit in der Um-
gebung des Tropfens eine violette Färbung auftreten.
Endlich zeigt die Säure ein anderes Verhalten als die Harn-
säure und die Mono- und Diformaldehydharasäure gegenüber sal-
petersaurem Silber. Sie gibt zwar wie diese in natronalkalischer
Lösung mit dieseüi Reagens sofort eine Schwarzfärbung. Löst
man jedoch eine wässerige Aufschwemmung durch Zusatz von sehr
wenig Ammoniak oder etwas Natriumkarbonatlösung auf und setzt
salpetensaiired Silber hinzu, so tritt eine Schwarzfarbung, die bei
'der Harnsäure und den beiden Formaldehydharnsäuren unter diesen
Bedingungen sofort entsteht, nicht sogleich auf. Die Ammoniak
enthaltende Lösung bleibt auch beim Stehen am Tisch wasserhelL
Erhitzt man die trockene Anhydrodiformaldehydhamsänre auf
125 ^ C, so jQlmmt sie an Gewicht ab, und es entweicht, wie be-
reits erwähnt, Formaldehyd der schon durch den (Grerach wahr-
nehmbar ist.
Die bei dieser Temperatur bis zum konstanten Gewicht erhitzte
Substanz gab weder mit der Jorissen '^chen noch mit der Arnold-
Ment2e riehen Probe Formaldehydreaktion. Üafi sie nicht aus
Harnsäure bestand, ergab sich daraus, daß sie mit der Murexid-
' probe Orangefärbung gab und ihre Lösung, der sehr wenig Natriun*
karbonat oder Ammoniak zugesetzt war, Silberlösung in der Kälte
nicht sofort reduzierte. Eine Analyse eines auf die. angegebene
Weise aus der Anhydrodiformaldehydhahisäure (Substanz II p. 182)
dargestellten Präparates ergab einen Öe&alt Von 38)08 %C, 2,7 \U^
über Verbittdangen der Hamsänre mit Formaldebyd.
186
und 28,04 ®/o N. Sie bestätigte zwar nicht meine Annahme, daß es
sich am eine M ethylenharnsänre = C«H4N40, handelt, die einen Gehalt
von 40 «/o C, 2,22 % H und 31,11 % N haben würde; doch halte ich
es nicht f&r aosgeschlossen, daB noch weitere Versache, die ich zur-
zeit aus äußeren Umständen nicht mehr ausführen konnte, ergeben^
daß sich aus der Anhydrodiformaldehydhamsäure eine Methylen-
hamsäure darstellen läßt.
Ich habe mit der Anhydrodiformaldehydhamsäure noch eine
Reibe von Versuchen bei Tieren und beim Menschen aogestellt.
Mäuse, denen ich sie in leicht alkalischem Wasser gelöst subkutan
injizierte, gingen meist 2—3 Tage danach zugrunde. In den Harn-
kanälcben ihrer Nieren fanden sich in der Hegel Ablagerungen
in Form von Körnchen^ und zwar meist reichlicher in den Eanälchen
des Markes.
Kaninchen, denen bis zu 3 g täglich auf einmal per os ver-
abreicht wurde, vertrugen diese Dosen ohne jede Beschwerde; in
ihrem Harn war nie, weder direkt noch in seinem Destillat, Formal^-
dehyd nachzuweisen.
Auch bei Versuchen an Menschen, die bis zu 2 g pro die in
Einzelgaben von 0,5 und 1 g einnehmen und diese sehr gut ver-
tragen, wurde, weder im Harn selbst noch in seinem nach Zusatz
von Kalilauge gewonnenen Destillat, Formaldehy4 mit der Jo-
ris sen 'sehen Probe gefunden.
Danach wird also die Anhydrodiformaldehydhamsäure vom
Kaninchen und vom Menschen nicht im Harn ausgeschieden, sondern
im Körper zerstört
XII.
über die parayertebrale Dämpfang auf der gesnnden
Brnstseite bei PlearaergOsseii.
Ton
C. RftuelifiiB in St. Petersburg.
(Hit 17 AbbUdnngen.)
Auf der Breslaaer NaturforscherversamtDlang (1904) berichtete
ich in einer Sitzung der Gesellschaft f&r Kinderheilkunde über das
Resultat meiner seit einer langen Reihe von Jahren gesammelten
Beobachtungen über Dämpfungserscheinungen, welche sich auf der
gesunden Brustseite neben der Wirbelsäule bei Pleuraergüssen
wahrnehmen lassen.') Diese Erscheinungen erwiesen sich als so
konstante und von so bedeutendem klinischen Interesse, daß es mir
unverständlich war, daß ein so auffaÜiger klinischer Befund der
Beobachtung entgangen sein konnte, denn es war mir nicht ge-
lungen, in der Literatur dasselbe erwähnt zu sehen; erst kurz yor
meinem Breslauer Vortrage fand ich in den Archives genörales de
m6decine (21. Juni 1904) in Übersetzung aus dem Italienischen eine
1) S. Verhandlnngen der 21. Versammlnng der Gesellschaft für Kinderheil-
kimde in der Abteilung für Kinderheilkunde der 76. Versammlnng der Gesellflchaft
deutscher Naturforscher nnd Arzte In Breslau 1904. Da diese Yerhandlimgen
eine beschränkte Verbreitung haben, so muß ich in gegenwärtiger Abhandlung
Tieles wiederholen aus meinem Breslauer Vortrage, dessen erweiterte Ausarbeitung
sie bildet. Nach einer langen Reihe von Jahren zuerst Tereinzelter, dann zu-
sammenhängender Beobachtungen teilte ich das Ergebnis in meinen Hospital-
sitzungen, dann in der Aprilsitzung 1903 der St Petersburger Gesellschaft der
Kinderärzte und im Januar 1904 auf dem Pirogoff -Kongresse russischer .^rste
mit, immer in der Voraussetzung, daß es sich um eine in der Literatur bisher
unbekannte Erscheinung handelt. Die absolute Identität des Befundes, ja seiner
Benennung und die Übereinstimmung in der Deutung mit Grocco undBaduel
und Siciliano war mir eine ebenso unerwartete wie interessante Stütze für
meine Beobachtungen und Anschauungen ; *hervorheben muß ich auch/ daß bei den
italienischen Klinikern es sich um Erwachsene, bei mir um Kinder handelte.
Paravertebrale Dftmpfäng auf der goraiiden Bmstseite bei Pleniaergfiasen. ]g7
Arbeit von Badael und Siciliano (Le triangle paravertebral de
firocGo), ans der ich erfahr, daß schon im Jahre 1902 Orocco in
der Hivlsta crit di clinica med. No. 11, 12 u. 13 (März) kurze
Mitteilangen veröffentlicht hat Qber ein neues diagnostisches Zeichen
pleuritischer Exsudate, welches er in seinem klinischen Unterrichte
schon verwertet hatte. Die Arbeit von Baduel und Siciliano
enthält höchst interessante eigene Versuche an Leichen zur Deutung
des neuen klinischen Phänomens.
Die Arbeiten von Grocco, sowie von Baduel und Siciliano
scheinen im allgemeinen wenig Beachtung, selbst in der referieren-
den Literatur, über Italien hinaus, gefunden zu haben ^); um so
mehr war es mir von Wert, voneinander so unabhängige Beobach-
tungen, wie die italienischen und die meinigen, in bezug auf Eon-
stanz und Bedeutung des neuen klinischen Phänomens in so voll-
standiger Übereinstimmung zu finden.
Der klinische Befund, um den es sich handelt, ist der kon-
stante, durch Perkussion und Abtasten (Tastperkussion) nachweis-
bare dreieckige Dämpfungsbezirk, der sich, je nach der
Höhe des Pleuraergusses, auf der gesunden Seite längs der Wirbel-
säule, mehr oder weniger hoch, oft bis zum Niveau des Ergusses,
hinau£deht und an seiner, der unteren Lungengrenze entsprechenden
Basis eine Entfernung der Hypothenuse vom Dornfortsatze von
2— 8 cm aufweist (Kindesalter). Jeder freie der Wirbelsäule
anliegende Ergufi, der bis zum 8. Wirbel hinaufreicht, also
noch vor Eintritt positiven Druckes in der Pleurahöhle, gibt einen
deutlichen, dem Tastgeftthle durch vermehrte Resistenz und dem
Gehör durch Perkussion wahrnehmbaren, paravertebral en,
dreieckigen Dämpfungsbezirk auf der gesunden Seite,
2) Die italienischen Verfiffentlichunffen sind in der Arbeit Ton Badnel nnd
Siciliano angefahrt In der der Breslaner NatorforAcherversamminng gewid-
meten Nr. 39 der „DentBchen mediEinischen Wochenschrift" Tom 22. Sept. 1904
fnde ich in der Literatnrbeilage ein knrzes Referat über eine in der Riforma
med. No. 35 Ton Ferranini piagnose von Plenraexsndaten) veröffentlichte
Arbeit, welche die diagnostische Bedeutnng der paravertebralen Dttmpfnng fttr
einseitige, freie Plenraexsndate betont nnd diese D&mpfnng auf Verschiebung Ton
Hera und Mediastinnm bezieht. Ans späterer Zeit stammt eine Mitteilung von
Kraus (in der OeseUschaft der Charit^arzte in Berlin. Sitzung vom 2. Nov. 1905.
Deutsche med. Wochenschr. 190d p. 1945), welcher dem Befund einen kliniscl^n
Wert zuerkennt, in differential-diagnostischer Beziehung (gegenüber Pneumonie)
und als Mafistab fttr die Größe des Exsudats und ihn wesentlich auf Verschiebung
des Mediastinums zurttckftthrt — und eine Arbeit von P. Hamburger in der
Wiener klin. Wochenschr. 1906 Nr. 14 über paravertebrale Dämpfung und Auf-
hellung bei Pleuritis, auf welche ich noch weiter einzugehen habe.
188
X'JX. fi'AVCH7ü88
^sben-GiMe nit'ttem Ergüsse zur und- abnimmt Besonders au£-
f&llig ist'die Zu«, and Abnabme der .Höhe des Dreieckes; diese
Schn^aukimgen: [seiner GrOßa .fölgjBn * den Niveänschwanknngen des
lErgoBsks in einer Iveit mehr ; feinffibli^^en, anffallenden und mit
grikSarer Siehekrheit iemierbaren Weise, als die an der vorderen
•Brostfl&eha.') ..
Ich will ZOT Illustration des Gesägten folgende Beöbabhtungen
anführen.
Fall 1 (Fig. 1 und 2). Beohisseitif «b seröses -Pieura-
6xsiidät.i Boris M., 11 jähriger JQutbe, erkrankte plötzlich mit bohem
Pieber am 2. Janaar 1903. Aofhahme in das Kxnderhospital des Prina^
▼on OideDbnrg am 6. Januar. Entwickelang und Ernfthrang8z^8taDd
Leichtes ^Fieber, geringe Dyspnoe, . M:unterkeit. . Am KQcken beginnt
intensive ' Dämpfung des Perkossionssohalls mit intensivem Resistei
T«eht».in der Höhe des«5,-~6. Wirbels, dia Dämpftingilinie fiolgt der 5.
nach vorn, erhebt sich an der .Vorderfläohe des Thorax zam 3.{Sip|
Jtnorpel und geht * abwärts in die Leberdämpfung über. Links bi
am Bücken in gleicher Höhe, neben der Wirbelsäule eine bandförml
besonders darch leise und tastende Perkussion scharf abgrenzbare, ai
ausgesprochene, doch weniger intensive Dämpfung und Besistenzsteigerang^
die nach unten breiter werdend bis zur Langengrenze herabgeht — ein
paravertebra.le.8 Dreifjbk bildend, dessen Basis 5 cm (1, Fig. 2)
mißt.. Bechts hört man, im oberen Bereich der Dämpfung hinten, be»
sonder» näher zur Wirbelsäule, Bronchialatmen, im unteren keine Atem:»
geräusche, Pektoralfremitus hintep etwas abgeschwächt, tlber der I>äiDp*-
fungslinie und links normales, lautes Atmen, auch über dem linksseitigwi
' paravertebralen Dufll^cfe, keiM Basselgeräusche. Tiefstand des Diaphragwl
(Leber und Hilz). Lioke. Grenze der relativen (großen) Herzdämpl
etwas naeh links verschoben, doch ist dies deatlicher im oberen Abschi
wahrnehmbar, an der Verschiebung der Gefäßstämme,, als
Spitze hin (Unke Grenze oben 2 cm nach links von der mittleren Sten
linie, unten nur 1,5 cm nach außen von der Mamüla, was in der Gren^^
der Norm liegt — (vgl. 1, in Fig. 1). Spitzenstoß undeutlich, naeh innen
von der Mamilla. Trotz Vorhandensein von leichtem Meteorismos bei
alledem Dyspnoe sehr gering. Temp. die folgenden Tage zwischen 38,5
und 39,5—39,8, am 11. Januar sinkt sie auf 37,2, um gegen Abend wieder
auf 39,0 anzusteigen. Harn 750 — 850 ohne Eiweiß. Am 14. Jsnaar
1) Steht das Niveau des Ergasses noch unter deai VIII. Bmstwirbd, so er--
hält man meist keinen paravertebralen, sondern nur einen vertebralen Dämpfon^a-
bezirk von der Höhe des Erlasses. Ich will bei dieser Gelegenheit betonen, dat
es von großem Interesse ist, die Wirbelsänle zu per^ntieren and abr
zu tasten bei jeder Untersnchnng der Bmstorgane. Bis zum IV. Wirbel schallt
sie dumpf, dann wird der Schall laut; findet sich dann unter dem IV. Wirbel
dumpfer Schall, so deutet das auf paravertebrale dämpfende Medien (pararerte-
•brale Verdichtungen der Lungen , Bronchialdrttsen und andere . paravertebnüe
Tumoren, Pleuraergttsse u. dgl.).
PftraTertebntle Dampfnng auf der gesnnd^nBröstMite bei Pleunerg^Ksen. 'J^
«rg^bt die. FrobepniiUion. «io' Baröaes (Iticbt fibrüäm)', atu^lel £zBiidkt.
Ansteigen des Exsad«U -^ md I8.:Jaiuiftr (3, in- Fig. l'iiJä) lua Enm
^ÜTe»a d«B 4. WirbelB, etw» 1,6. an tmterliiib der Spiiia' loaptilae seib-
lich längs der 4. iBii^e:vsrIanfeiid,' sm in der vordAtea Bcostflüche wieder
»oetei^end, den Knorpeldvr 2. Rippe ax emicben^ Dm parxvertebrftle
Dreieck iai.bis zoin 4. Wirbel Ünanfgutiefea, in »IIbii 'DimenBioDen
größer geworden, seine Basia miBt 8'cm. Die VerBäbiebung.des'H«rseDs
n*ch liniks h»t aagonommen, besondere au^lend ist die* dm oberen Teile
der linken Eerzgrmze wahmsbrnbar, wo tat jetxt 3,5. ^Etatt 3 cm) «od
der mittleren Stemalline entfernt iit, wSbrsnd nnten die .link« Htragrenze
^g- 1- . ' .■ ' Fig. 2. ■ ,
nm 3,5 cm nacb «uBea liegt (gegen 1,3, was noch im Bereich normaler
Verfaältoine lag). Am 19. Januar werden 600 ocm Exsudat aspiratoriscb
entleert, in zwei aufeinsoderfolgenden Perioden, sanilohat 300 com, dann
400 ecm. Anf die Entleerang von 200 ocm sinkt das Nirean des Exsudats
hint«a bis zam 7, Wirbel (3, Fig. 2) nnd der Gipfel des paravertebra)eD
Dreiecks beginnt zwischen 7. — 8. Wirbel ; ea bat sich in allen Dlmen-
aionen Terkleinert, auch im Vergleich zum Auagaogsbefund, gegen den
aoch das Exendatnirean um einen Wirbel niedriger steht; nach Ent-
leerang von weitersn 400 ccm (im ganzen 600 com) sinkt das Exsudat-
niveaa bis snun 9. Wirbel und TerlKnft snr Seite etwas geneigt Über die
8k»pnl» (etwa 1,5 cm Aber dem Winkel); vom paravertebralen Dreieck
.sind nur Spursn sachweisbar (4, f^g. 3), die bald vollkommm schwinden.
'An der .TOTderen Brastfläche ist das Exsudatnivean undeutlich nacbweisbar
{Steigerung der relativen Leberdämpfung). Gegen den Ausgangsbefund
190 Xn. Baüchfuss
(1. Flg. 1) hat sich das Hen in setnem oberen Abschnitt und an der
Gefäßwttrzel deutlich nach rechts verschoben und ist hier in die Normal-
lage aorüokgekehrt, während im nnteren Teile die Differenz abnimmt und
zur Spitze aufhört (die untere linke Grenze war auch . beim Amwgsagh
befund im Bereich der Norm geblieben). Erst spiter bet leichter Be-
traktion der rechten Thoraxhftlfte rückt auch der untere Abschnitt der
linken Ghrenzlinie der relativen Heradimpfnng um 1 cm weiter nach
rechts, so daß sie nur um 0^5 em nach außen von der Mamillä liegt
(unter der Norm). Während eine leichte Dampfung auf der rechten Seite
noch bis zum 7. Wirbel hinauf einige Zeit nachweisbar und das Yeai-
kularatmen abgeschwächt bleibt (periphere Subatelektase)» schwindet das
Bronchialatmen. Obgleich der Brustkorb vorn von der 2. — 5. Rippe
abgeflaeht erscheint, der Brustumfang rechts 31, Knks 32,5 cm beträgt,
ist an der Wirbelsäule keine Skoliose wahrnehmbar und beide Spinae
stehen im gleichen Niveau, als der Knabe am 6. April, 3 Monate nach
der Aufnahme, das Hospital verläßt. Mittlerweile war auch die Atmungs-
tiefe der rechten Lunge fast zur Norm zurückgekehrt. Die Körper-
temperatur hielt sich noch 2 Wochen nach der Entleerung des Exsudats
auf 38,5 — 39,2 langsam abklingend, die Hammenge war von 750 auf
1200 gestiegen. Emährungs» und Lagerungstherapie, zuletzt leichte
Atemübungen.
Dieser Fall spricht fflr sich selbst und erläutert den klinischen
Wert der paravertebralen Dämpfung und die Exakt-
heit, mit der sie den Niveauschwankungen des Er-
gusses folgt, ohne weiteres; man vergleiche nur wie gering die
Verschiebung der linken Herzgrenze ist im Vergleich zu den Größen-
veränderungen (besonders in der Höhe) des paravertebralen Drei-
ecks. Eine Erscheinung, welche die Photographie nicht wieder-
gegeben hat, ist eine leichte aber deutliche Verschiebung der
Trachea nach links. ^) Der schlanke Hals des Eindes, die leichtere
Abtastbarkeit der Trachea, welche in größerer Länge über dem
Stern um freiliegt, gestatten Verschiebungen der Trachea bei Kindern
mit nicht zu starkem Fettpolster weit leichter nachzuweisen als
beim Erwachsenen. Meines Wissens hat zuerst Gerhardt auf
diese Erscheinung hingewiesen, sie scheint mir aber wenig beachtet
worden zu sein. Eine zweite, wie mir scheint, gleichfalls wenig
beachtete Erscheinung, ist die Verschiebung der Gefäß-
wurzeln, welche die Verschiebung des Herzens oft, wie auch in
diesem FaUe, weit früher und deutlicher nachweisen läßt, als an
1) Der mediastinale Drack ist in seltenen Fällen so bedeutend, daß nicht
nur eine Verschiebung der Trachea eintritt, sondern der Druck auf den untersten
Abschnitt der Trachea so groß wird, daß leichte Stenosenerscheinungen auftreten»
die sich besonders beim Hasten geltend machen (nasales Timbre, yoix de poli-
chinelle).
Paravertebrale Dämpfung auf der gesunden Brustseite bei Pleuraergüssen. 191
deo nnteren HerzabschnitteD. Aus der Lage des unteren Ab-
sehnittes der linken Grenzlinie der relativen Herzdämpfong konnte
man zunächst nicht auf eiue Verschiebung des Herzens schliefen,
auch nicht aus der Lage des undeutlichen Spitzenstoßes. Es ist
interessant, die Lage der linken Grenzlinie oben (1, 2, 4 Fig. 1)
mit ihrem unteren Abschnitt zu vei^leichen und mit den Grenz-
linien des paravertebralen Dreiecks (1, 2, 4 Fig. 2). Gold-
scheider ist in seiner interessanten Arbeit über Herzperknssion
(D. med. W. 1905, 2. März) kategorisch der Ansicht entgegen-
getreten« man könne nicht die Lage der großen Gefäße perkussoriscb
bestimmen; er konnte unter normalen Verhältnissen die Gefäß-
wurzelbreite (Moritz) herausperkutieren, am besten bei tiefer
Exspirationsstellung. Ich lege auf die Bestimmung der linken
Grenze der relativen Herzdämpfung bis zum ersten Interkostalraum
hinauf großen Wert bei Herz- und Lungenkrankheiten und muß in
dieser Beziehung meine Darstellung in Gerhardt 's Handbuch der
Kinderkrankheiten IV. Bd. 1878 korrigieren; allmählich hat sich
mii* diese Berücksichtigung des
oberen Abschnittes der großen ^^- ^* ^*-
Herzfigur aus der immer mehr
ausgebildeten leisesten, tastenden
Perkussion ergeben. Übrigens hat
ja schon Weil in seinem Hand-
buch der topographischen Perkus-
sion daraufhingewiesen, daß ein
von ihm im Verlaufe schwerer
fieberhafter Krankheiten beobach-
teter Symptomenkomplex eine vor-
übergehende Erweiterung der Pul-
monalarterie zur Grundlage hat,
-— w^elche sich durch eine zirkum-
skripte relative oder absolute Dämpfung am Stemalrande des
2. linken Interkostalraumes zu erkennen gibt, in Verbindung mit
einem ungewöhnlich lauten systolischen Geräusch an eben dieser
Stelle, bald mit bald ohne Verstärkung des zweiten Pulmonaltons.
Hier wollte ich nur daraufhinweisen, wie bemerkbar sich die
MediastinalverschiebuDg an der Lage der Trachea und der Gefäß-
wurzel machen kann. Die räumlichen Beziehungen der Lage des
Herzens zum Dreieck stellt Fig. 1, 2 a dar, in welcher beide über-
einander gepaust (das Dreieck getüpfelt) dargestellt sind.
Als weitere Illustration für die Bedeutung der paravertebralem
I9i
xn. RiLc
Dämpfaog mochte ich foliii'enden F'all eines zuoächst dnrch aspira-
torische Entleernngen, schliefllirli diircli Thorakotomie geheilten
Pleniaergasses anführen.
Fall 3 (Fig. 3 und 4). Eec
PlearaexBn<lat. SUnialaiu C.
Kinderbospital aufgenommen, nach<li
Fieber, mit Hosten und Seitensteche
auBgesprocheoe Dyapnoe.
etwas unter dec Norm. Die rechte
ti^es serÖHpuralentes
1 5. Jhduu- 1903 in da»
or 2 Wochen unter bobem
ikt var; bei der Aufnahmp
'ucliB entüprfchend, Körpergewi
llrustliälfte ist erweitert, die Int
koBtalräume verstrichen. Das Hediiislii
schoben, die linke OrenzUnie der n.'ln
die Hittellinie oben an den OeföSatainni
nnten zur Spitze hin um 8 cm idie M^u
Bteht in der Uamillarlioie um 7 cm, in
des Rippenbogens. Die rechte BruttljM
AuBdehnnng bis zum 3. "Wirbel und <
gedämpften Ferkaasionssohali and hoi^l
oberen Sand der 2. Kippe, Anf der
der "Wirbelsäule eine in der Höbe il.-i
Lungengrenze h inabre ichende , allmiUi
nachweisen, welche ein paravert.l
Stsia in der Höbe des 11. Wirbels 4
ni ist bedeutend nach links v«r-
ven Herzdämprung überachreitet
1 um 3 cm nach linka (1, Fig. 3t.
Ikrliuic. Der untere Leberrand
T Sttmnllioie um '.' cm unterbau)
te ergibt hinten in ihrer pausen
? 8|>iiiB Bcapulae hinauf abaolat
radi^e He-Sistenz, vom bia sum [
ikvn Brustbälfie lältt üch neben
ii. Wirliela beginnende, bia xw
'li brtiter werdende Dämpfung
ules Dreieck bildet, dess«i
n breit ist, die Orenzeo dieers
Pararertebrale Dämpfung auf der gesuiideii Bmstseite bei Pleuraergüssen. 193
Dreiecks treten scharf bei leiser und tuender Perkussion und beim
direkten Abtasten hervor (1, Fig. 4).
Auskultation: In den unteren ^j^ keine Atmungsgerliusche, darüber
Bronohialatmen, an der Spitze unbestimmtes Atmen mit leichtem bron-
chialen Timbre des Expirationsgeräusches. Volumen auctum der linken
Lunge, lautes vesikul. Atmen. 2. Pulmonalton akzentuiert. Puls klein.
Harnmenge 500. Die Probepunktion (7. Januar) ergibt ein leicht ge-
trübtes, Eiter und Diplokokken enthaltendes, seröses Exsudat. Die Temp.
fällt von ca. 39 ^^ (5.^7. Januar) auf 38^ Am 8. Januar werden 250,0
und nach kurzer Unterbrechung 150,0 ccm entleert. Im ersten Akt fallt
das ]^iveau des Ergusses vom 3. Wirbel bis zum 6., nach dem zweiten
<Totalentleerung — 400 ccm) bis zum 8. Wirbel (2, 3, Fig. 4), zu gleicher
Zeit nimmt das paravertebrale Dreieck in allen Dimensionen ab, der
Gipfel sinkt vom 3. Wirbel zum 7. Wirbel resp. 9. Wirbel, die Basis
ig von 4 cm auf 3,5 resp. 3 cm zurück (2, 3, Fig. 4). An der vor-
Brustfläche steht das Niveau des Ergusses am unteren Bande der
Lippe, die Verschiebung des Mediastinums ist deutlich rückgängig ge-
len (3, Fig. 3), die linke Grenzlinie der relativen Herzdäropfung
lidet die Mamillarlinie, die Oefäßstämme sind hinter den linken Stemal-
surückgetreten, der untere Leberrand steht um 2 cm hoher gegen
prim&ren Befund. Die rechte Lunge hatte sich gut entfaltet; aber
14. Januar, 6 Tage nach der Entleerung der 400 ccm, nimmt der
wieder zu, so daß 2 Tage später (16. Januar) der Status vom
fijfanuar wieder erreicht und das paravertebrale Dreieck in seiner pri-
Gestalt wieder nachweisbar war (1, Fig. 3 u. 4). Temp. vor der
ion 39 ^, danach 38,5, nach Entleerung von 400 ccm allmählich
S698 sinkend, dann 38,8 — 37,5 und schließlich am 18. Januar wieder
bis zum 24. Januar — als zur Thorakotomie mit Rippenresektion
iiten wurde. Die Hammenge war von 300 — 400 nach der aapi-
shen Entleerung allmählich auf 800, nach der Thorakotomie auf
eem gestiegen, Eiweißspuren schwanden nach der Thorakotomie. Der
nach der Thorakotomie war günstig, subfebrile Temp., die allmäh-
auf die Norm zurückgingen. Das paravertebrale Dreieck
sofort nach der Thorakotomie auf den reduzierten Stand nach der
^leerung von 400 ccm zurückgegangen und schwand dann allmählich.
INach 5 Wochen Genesung.
Die folgende Beobachtung lehrt uns das paravertebrale Drei*
eck bei linksseitigem Plenraerguß kennen.
Pall 3 (Fig. 5 und 6). Linksseitiges Empyem. Michael
N., 5 Jahre alt, wird am 16. Juni 1906 mit allen Erscheinungen eines
^ie linke Pleurahöhle vollkommen füllenden Ergusses aufgenommen. Probe«
ponktion: Eiter. Herz so stark nach rechts verdrängt, daß die rechte
-Grenslinie der relativen Herzdäropfung oben 0,5 cm nach außen vom
rechten Sternalrand, unten über die Mamillarlinie geht, um dann mit
eiDem aasgesprochen spitzen Yorhofleberwinkel auf die absolute Leber-
-disapfung zu stoßen. Diffuser Herzimpuls rechts vom Sternum bis zu
dieser Ghrenzlinie und im Skroblkulum (Fig. 5 XX). Über der Bücken-
^äche des Brustkorbes links durchweg intensive Dämpfung, rechts ein
Deatsohea Archiv f. klin. Medizin. 89. Bd. 13
194
XU. Raüchfüss
paravertebralea Dreieck, walohes vom 6. Wirbel beginnend mit
einer Bttsia von 7 cm die Leberdämpfang trifft, Links eine bandförmige,
para vertebrale Zone leichter Aufhellung, rechts eiae etwas breitere
leichte Dämpfung, beide nnr bei stärkerer Perkiiasion wahrnehmbar, so
daß diese rechte einen die ganze BrnstwirbeUänle begleiteaden Streifen
leichter Dämpfung erzeugt and das Dreieck weaig deutlich begrenzt, ver-
schwommen hervortreten läßt, während sehr leise and TastperkoBsion nnr
das Dreieck mit deutlichen G-renzen hervortreteo lUtt, nicht aber die
paravertebrale Dämpfnngszone. Nach der am 33. Juai unternommenen
Thorakotomie mit Bjppenreeektion kehrt das Herz auffallend rasch znr
normalen Stellung zurilck, 9 Tage darauf (vielleicht auch früher, da vor
Verbandwechsel nicht untersucht werden konnte) ist der HerzstoB anter
der linken Brustwarze fühlbar, das Dreieck, das sieb sofort aaf die Hälfte
reduziert hatte, schwindet dann allmählich.*
Fall 4 (Fig. 7 und 8). Eechtsseitiges Empyem. Zina
N., 3'/^ Jahr alt, seit ä Monaten krank, wird am 31. Jali 1906 mit
den Zeichen eines den rechten Pleuraraum auBtüUenden rechtsseitigen
^Empyems aufgenommen. Verschiebung der Trachea und des
. Herzens (Fig. 7). Linke Qrenzlinie der relativen Herzdämpfang unten
5 cm nach links von der Mamillarlinie, Tiefstand des DiaphrEignia, Milz
bedeutend nnter dem Rippenbogen hervortretend, Leber gleichfalls, nnterer
Rand derselben in wenigen Tagen bedeutend tiefer stehend. F a r a -
vertebrales Dreieck vom 7. Wirbel beginnend (1, Fig. 8) nach
Entleerung von 200 ccm Eiter sofort kleiner werdend (2, Pig. 8). Thorax-
perinieter rechts S5,5 — lioks S3,5. Aaf der rechten (Exsudat-) Seite
eine bei stärkerer Perkussion auftretende, bandförmige, paravertebrale
Auf bellnngsaoDe (4), auf der linken (gesunden) Seite eine breitere,
paravertebrale Dämpfnngszone (3). Noch der Thorakotomie
mit Rippenresektion (6. Augnst) rasches Schwinden des Dreiecks.
PiimTartaftraTe D&M^ung auf der gesanden Brnatseite bei PleuraergÜBS'
195
Beim Vergleich dieser 4 Fälle, weldie als Repräsentanten der
^wohnlichsten Typen von PIearaerg:uß mit begleitendem und die
Menge des Ergusses und seioe Schwankungen abspiegelndem para-
vertebralen Dreieck gelten können, fällt zunächst auf, daß der
Gipfel des Dreiecks nicht immer annähernd auf dem Niveau
des Ergasses steht (Fall 1 u. 2), sondern auch erheblich niedriger
stehen kann (Fall 3 u. 4), aber auch dann den Niveanschwankungen
Fig. 7.
Fig. 8
des Ergusses folgt (Fall 4), und zwar ergibt sich aus der Durchsicht
von 77 Krankheitsgeschichten (1896 — 1906), in denen genaue Notizen
aber diese Verhältnisse niedergelegt sind, daß nnr in der Hälfte der
Fälle der Gipfel annähernd auf der HChe des Ergusses (genau und
1—2 Wirbel niedriger), in den übrigen nm 3—4 Wirbel niedriger
stand (letzteres öfter bei sehr massigen Ergüssen). Es schien
darauf die Daner des Ergusses von Einfluß, aber erklären ließen
sich diese Verschiedenheiten selten zur Evidenz, was ja aus den
komplizierten Bedingungen des Znstandekommens des paraverte-
bralen Dreiecks verständlich ist. Die von F. Hamburger be-
schriebenen Dämpfongs- und Änfhellungszonen sind nur bei Fall
3 D. 4 angegeben, da erst nach Erscheinen seiner Arbeit darauf
geachtetwurde und neben demDreieck auch die Zonen Hamburger's
notiert wurden.
13»
196 XU. RAÜCHFU88
Bei nndeatlicber Yerscbiebong der Herzgrenzen und versagender
oder versagter Probepunktion kann das paravertebrale Dreieck eine
wertvolle Stütze der Diagnose werden, wie folgende Fälle zeigen.
Fall 5. Fienritis metapneamoniea dextra. Marie Seh.,
10 Jahre alt, wird am 6. Mai 1902 aufgenommen. Fibrinöse Pneumonie
des rechten Oberlappens, zu Jlnde des 3. Tages Pseudokrise, am 4. und
5. Tage aufs neue hochfiebernd (39,8) mit Erscheinungen einer rechts-
seitigen Pleuritis, die am 7. Tage einen nachweisbaren Erguß ergeben
mit Andeutung eines paravertebralen Dämpfnngsdreiecks auf der linken
Seite; am 9. Tage erreicht die Dämpfung rechts den 6. Wirbel, das
paravertebrale Dreieck ist sehr ausgesprochen, die Herzdämpfung
kaum verschoben. Am 11. Tage steht das Exsudat schon in der Höhe
der Spina scapulae, Stimmfremitus leicht vermindert, Atemgeräusch ab-
geschwächt, nach oben bronchial klingend, aber die Probepunktion ist
resultatlos, 2 Tage später füllt sich die Spritze mit einigen Tropfen Eiter,
dann werden wiederholt resultatlose Probepunktionen vorgenommen, bei
denen in den an der Nadelspitze klebenden trüben Tropfen Diplokokken
nachgewiesen werden. Vollkommene Resorption ; am 30. Juni mit sehr
geringer Dämpfung und durchgängiger Lunge entlassen.
Fall 6. Pleuritis serosa dextra im Verlaufe einer Mas-
toiditis. Eugenie R., 12 Jahre alt, wird am 2. Februar 1902 bebufs
Trepanation aufgenommen, nachdem sie zu Hanse Masern mit Diphtherie
durchgemacht hatte und eine Mastoiditis hinzutrat. 21. Februar Radikal-
Operation der Mastoiditis, Fortdauer hoher remittierender Fiebertempe-
raturen, am 24. Februar Dämpfung über der unteren Hälfte der rechten
Brustseite, vom Mediastinalverschiebung nicht sicher nachweisbar (Stand
des erweiterten Herzens im Bereiche der Norm), Zeichen eines Pleura-
ergusses unsicher, da tiefes Atmen und Vokalfremitus nicht zu erreichen
und das Kind sehr unruhig war, Probepunktion von den Eltern wegen
großer Schwäche des Kindes (Myodegeneration des Herzens) verweigert,
paravertebrales Dreieck links hinten am 8. Wirbel beginnend.
Die damit entschiedene Diagnose eines rechtsseitigen Pleuraergusses be-
stätigt sich weiter durch den Verlauf; im Verlauf des 24. Februar war
das Niveau des Ergusses vom von der 4. Rippe bis zur 3. Rippe
(Mamillarlinie) gestiegen, am 25. wieder bis zur 4. Rippe gefallen. Diese
Schwankungen machten sich am Dreieck aber in viel aufge-
sprochener Weise geltend, indem der Gipfel sich zugleich mit jenen Niveaa-
sch wankungen zwischen 8 Wirbeln bewegte (7. — 9.) und auch die Breite
des Dreiecks konform zu- und abnahm. Am 7. März war der Ergnß
und damit auch das Dreieck geschwunden, nur rechts über der Leber-
grenze blieb einige Zeit ein kleines paravertebrale« Dreieck bestehen,
wohl durch Atelektase und Fibrin anflagerungen bedingt.
So konnte denn ohne Probepunktion durch das Dreieck
und die Schwankungen der Exsudatmenge nachge¥niesen werdeo.
daß es sich um einen Pleuraerguß handelte, und zwar um einen
rasch resorbierbaren^ was um so wertvoller war. als eine regelrechte
Untersuchung durch den Schwächezustand des aufgeregten Kindes
Paravertebrale Dämpfung auf der gesnnden Brnstseite bei Pleuraergüssen. 197
ausgeschlossen war. Die beiden folgenden Beobachtungen (7—8)
zeigen, daß das Schwinden oder Fehlen des paraverte-
bralen Dreiecks eine mitentscheidende Bedeutung haben kann
bei der Beantwortung der Frage: hängt die an der kranken Brust-
seite zurückgebliebene Dämpfiing von noch bestehendem Erguß
oder von anderen Bedingungen ab.
Fall 7. Kechtsseitiger seröser Pleuraerguß. Appolon
0., 7 Jahre alt, wird am 5. Krankheitetage hc»ob£lebernd den 8. Juli
1902 mit einem Pleuraerguß aufgenommen, welcher rechts bis Eur Spin«
scapulae reicht und nach vom bis zur 3. Kippe; die rechte Brustbälfte
ist etwas ausgedehnt, der Pektoralfremitns ist nur wenig gegen links ab-
geschwächt, das Herz etwas nach links verdrängt, doch überragt der
Spitzenstoß etwas die Mamillarlinie. Leber 2 Finger unter dem Rippen-
bogen ; das Exsudat steigt in 3 Tagen bis zum 2. Wirbel und das Niveau
halt sich an die 2. Rippe, der G-ipfel des paravertebralen Dreiecks steigt
vom 4. zum 2. Wirbel, aber seine Basis bleibt auf der geringen Breite
von 2 cm stehen, so daß ein schmales in den unteren '/^ bandförmiges,
paravertebrales Dreieck resultiert, dabei steigt die Leber noch mehr herab
und der Spitzenstoß rückt weiter, bis 2 cm außerhalb der Mamillarlinie.
In der rechten Thoraxhälfte in den unteren ^/^ stark abgeschwächtes,
resp. fehlendes Atemgeräusch, darüber bronchiales. 2 Tage später, am
13. Juli, wurden 50,0 com serösen Ergasses durch Aspiration entleert, worauf
der Status des Ergusses und des Dreiecks auf den Befund des 8. Juli
zurückkehren. Nach Entleerung von weiteren 50,0 com und wohl auch
durch Resorption geht das Niveau auf die Höhe des 7« Brustwirbels
herunter und das paravertebrale Dreieck auf der gesunden Seite
schwindet vollkommen. Die Lunge wird allmählich mehr und
mehr durchgängig für die Lufc, bei tiefen Atemzügen hört man Atelek-
tasenknistem. Die Dämpfung hält sich jedoch in gleicher
Höhe, nimmt aber nach längerer Dauer tiefer Atemzüge ab, ohne zu
sdiwinden, wird dann intensiver, dabei bildet sich eine ausgesprochene
ThorazBchrumpfung aus und das Herz rückt immer mehr nach rechts,
so dü^ am 7. August bei vollkommener Resorption und noch geringer
Dämpfung die rechte Grenzlinie der relativen Herzdämpfung nur noch
einen Finger breit von der rechten Brustwarze entfernt und der Spitzen-
stoß um zwei Finger breit nach innen von der linken Brustwarze fühlbar
ist. Die ThoraxBchrumpfung ist aber eine labile, die rechte Schulter
steht zwar ein wenig niedriger, aber die Skoliose tritt erst bei längerem
Stehen hervor, ist gering im Beginn des Stehens und im Gehen. (Temp.
im Beginn ziemlich hoch, fallt nach der ersten Entleerang nach starken
Remiflsionen und dann weiter lytisch, TJrinmenge vor und nach der £nt-
leenmg 900—1000.)
Die auffallende ErscheinuDg des Schwindens der links-
seitigen paravertebralen Dämpfung bei einem rechts-
seitigen Dämpfangsniveau in der Höhe des 7. Brustwirbels ist
wohl durch die allmähliche, durch Retraktion bedingte Verschiebung
SIL Bauch Fcas
bti
des Herzens nach rechts bedingt, ond wohl auch dadui-ch, daß die
Dänpfang nun wesentlich durch Atelektase bedingt war.
eeitige Spi tzenpoenmonie, part-
o ünterlappea und abgesacktee
l>iirchbruch ia den paraverte-
Atelektatiscber Lunge einge-
Faul Seh., 5 Jahre. Qenaine Fnennomie
Falls (Fig. 9). Re
vertebrale Ätelektai«
Fmpyem, mit apäteren
bralen im Beginn vo
nomm«nen Flenraraum,
im rechten Oberlappen, am 33. Jnni 1906 Änfnahme, lytischer Abfall
am ä7. Juni, dann neue Fieberwelle und Dämpfung rechts hinten unten
vom tl. Wirbel an bis zur unteren Pleuragrenze, nach vorn abfalleud mr
4. Rippe in der Mamillarllnie. Sehr abgeBchwächteB, unten feblendrs
Atmen im Bereiche der DSmpfnng. Kein paravertebralee Dreieck
auf der geannden Seite: Frobepnnkijon (6. Juli) im 8. Interkostalranm,
reobta innen Yon der Skapularlinie ohne Ergebnig (a, Fig. 9), 2 Finger
nach außen von dieser Stelle (b) wird die Spritze leicht mit Eiter gefUllL
Bei der Ferkuseion fiel es aus, daB der obere Abachnitt des paraverte-
bralen Teiles (1, 2, 3, 4) des
*^'8- °- Dämpfangsbezirka etwa« weniger
gedämpft war als der untere, und
besondere als der ihm anliegende,
von der Wirbelsäule entferntere
(3, 5, 4, 6); das Ergebnis der
Funktion bestätigte nun die dnrch
dasFeblen des paraverte-
bralen Dreiecks auf der ge-
sunden Brnatseite von vorn herein
aasgesprochene Ansicht, der Er-
guß, falls ein solchier vorhanden,
könne nicht bis in den para-
vertebralen Bezirk des Plenra-
raums reichen. Es ergab sich
nnn, als die Probepunktion weiter
nach außen £liter ergab und das
Wesen des der Wirbelsänle an-
liegenden DämpfungsbezirkB anf-
znklären war, daß durch fortge-
setzte tiefe Inspirationen diese
Dämpfung allmählich vollkommen
schwand und an dieser Stelle der
Schall laut wurde und ve»ku-
läres AtemgerSuBch auftrat. Nnn
, daß es sich um ein abgesacktes Empyem handelte; in
skia
den nächsten Tagen stieg das Niveau nm
Fig. 9) ohne jedoch die vertikale Grenzbnie in
säule zn überschreiten. Auf die Thorakotomie
nicht ein und aus Furcht vor der Operation,
"leilter Fälle nicht beseitigt
Kind i
i der Anstalt (13. Juli). Es gelang jedoch,
Wirbelhöhe (2, 7. 8, 5,
der Sichtung zur Wnbel-
ging die Hntter abioint
die ihr anch dnreh das
konnte, nahm sie das
I nach einigen
Parayertebrale Dämpfung auf der gesunden Brnstseite bei Pleuraergüssen. 199
Tagen zu bewegen, das Kind behufs Untersuchung wieder vorzustellen.
£s ergab sich nun, daß das Empyem die absackende Vor-
klebung durchbrochen hatte, die Dämpfung reichte bis zur Wirbel-
säule und nach oben bis zum 2. Wirbel (9, Fig. 9) und nun ergab sich
anch ein ausgesprochenes Dämpfungsdreieck auf der gesunden
Seite, ein Dreieck, dessen Gipfel in der Höhe des 7. Wirbels stand, in
dessen Basis 4,5 cm breit war, zu gleicher Zeit war das Herz deutlich
nach links verdrängt. Weiterhin gelang es nicht mehr, die Mutter zu
bewegen, das Kind ins Hospital zu bringen; sein weiteres Schicksal ist
wohl ein trauriges gewesen.
Schließlich mag, um ein weiteres Beispiel anzuführen für den
klinischen Wert des uns hier beschäftigenden Phänomens, noch der
folgende Fall Platz finden, den ich leider aus dem Gedächtnis an-
fuhren muß, da, ans der Konsiliarpraxis stammend, mir die Notizen
nicht zur Hand sind.
Fall 9. Empyema interlobare. Durchbrach in die
Pleurahöhle und sofortiges Auftreten des Dreiecks.
A. 6., 12 jähriges Mädchen (1901), Pneumonia fibrinosa duplex mit
schwerem Verlauf, der schließlich bei partieller fortschreitender Lösung
links und hartnäckiger Dämpfung, besonders intensiv in den oberen -/g
der rechten Brusthälfte, unter 5 Wochen langem hohem remittierendem
■und intermittierendem Fieber zu völliger Erschöpfung führt. Fehlen des
paravertebralen Dreiecks (Mediastinalyerschiebuug vom schwer eruierbar
durch die Lungen affektion) läßt freien PleuraerguB ausschließen, für
Lungenabsceß fehlten entscheidende Symptome (Sputa). Da entsteht
plötzlich ein Pyopneuroothorax und die rechte Brusthälfte erweist nun eine
intensive Dämpfung im unteren Abschnitt die rasch bis zum 6. Brust-
wirbel ansteigt und gleichzeitig ein ausgesprochenes paravertebrales
Dreieck links« Es hatte sich zweifellos um ein interlobares Empyem
gehandelt, das in den Pleuraraum durchbrach. Sofort Thorakotomie und
sehr glatter Verlauf ohne die geringste Thoraxeinziehung.
Ich möchte hier zunächst, aus dem Rahmen der Abhandlung
heraustretend, auf den raschen und glatten Verlauf der
Heilung nach der Thorakotomie aufmerksam machen. Es ist
wohl kaum za bezweifeln, daß die Erscheinungen der Lungenver-
dichtung rechts, die für eine nicht zur Lösung gekommene Pneu-
monie gehalten wurden, durch das interlobare Empyem bedingt
waren ; aus verschiedenen Gründen (Privatpraxis) war es nicht zur
Probepunktion gekommen, für mich war ja auch das Fehlen des
Dreiecks bei einer der Wirbelsäule anliegenden Dämpfung^ der
kranken Seite entscheidend, ich glaubte daher bis auf weiteres an
eine nicht gelöste, wohl in Eiterung übergehende Pneumonie. Der
glatte rasche Verlauf nach der Thorakotomie erklärt sich durch das
Fehlen von pleuritischen fibrinösen Auflagerungen bei der Plötzlich-
200 XII. Rauchvuss
keit der Entstehung des freien Pleuraergusses durch Einbruch,
daher die prompte Heilung ohne Schrumpfung und Thoraxeinziehung.
Ich habe unter ähnlichen, freilich seltenen Verhältnissen, d. h. bei
noch nicht erfolgten pleuritischen fibrinösen Auflagerungen die
Lungen sich nach der Thorakotomie stets prompt entfalten sehen,
was ja auch leicht verständlich trotz des von den Anhängern der
Bülau-Drainage als Hindernis der Lungenentfaltung so sehr
und mit Unrecht gefürchteten Luftein tritts bei der Thorakotomie.
Auch bei der spontanen Resorption oder der Entleerung von serös-
flbrinösen Ergüssen, hängt alles davon ab, ob fibrinöse Ablagerungen
und wie weit sie vorhanden sind. Gerade solche Fälle lehren ja,
wie unabhängig die zögernde Entfaltung der Lunge vom freien
Luftzutritt in die Pleurahöhle ist.
Zu einer anderen Digression veranlaßt mich Fall 8 mit seiner
einen Pleuraerguß im Verlauf der ersten Untersuchung vortäuschen-
den Atelektase, auch das Schwinden des paravertebralen Drei^
ecks in Fall 7 bei Fortbestehen der Dämpfung auf der kranken
Seite. Ich besitze eine Reihe von Beobachtungen, besonders aus
den letzten Jahren, auch Photographien, mit denen ich den Druck
dieser Abhandlung nicht belasten will, welche die Atelektasen-
bildungen bei oberflächlich atmenden, fiebernden, konvalescenten
Kindern, als eine klinisch wichtige Erscheinung dokumentieren.
Treten sie an den unteren Lungengrenzen auf, auch zuweilen para*
vertebral, so können sie zu falschen Deutungen fuhren ; ebenso wenn
sie die linke Orenzlinie der absoluten Herzdämpfung als einen
parallel laufenden mit ihr verschmelzenden Streifen begleiten, und
sie dadurch vergrößert erscheinen lassen; die Herztätigkeit liegt
ja in solchen Fällen nicht selten danieder und die eilig gezogene
Konsequenz auf ein erweitertes Herz ist durchaus möglich. Auch
durch Schmerz gehemmte Inspiration, die keineswegs immer an
sich auffällig erscheint, kann zu Atelektasen führen. So beobachtete
ich vor kurzem in einem leichten Anfall von Appendicitis mit ge-
ringen Schmerzen eine die Herzdämpfung um 1,5 cm nach links
überschreitende und mit ihr verschmelzende Dämpfungszone und
damit verbunden eine Dämpfung am unteren Abschnitt des Thorax,
die von der 5. Rippe begann. Bei gewöhnlicher Auskultation selbst
mit der Aufforderung tief zu atmen, auf welche Kinder, ohne
spezielle Dressur für die Auskultation nicht zweckmäßig reagieren»
besteht die Atelektase fort, erst bei methodisch tiefem Einatmen
wird die Atelektase beseitigt, wobei nicht immer, zuweilen auch
nur fiüchtig, selbst momentan, Atelektasenknistem auftritt; diese
Paravertebrale Dämpf ang auf der gesunden Brnstseite bei Pleuraergüssen. 201
Atelektasen recidivieren leicht, wenn die InspirationsUbungen nicht
fortgesetzt werden, nnd die leider meist viel zu wenig beachteten
Verhältnisse der Krankenlagernng unberücksichtigt bleiben.
Ich glaube, daß in diesen, aus einer großen Reihe von Kranken^
geschichten ausgewählten Fällen, die Haupttypen enthalten sind
hr das Auftreten des paravertebralen dreieckigen Dämpfungs^
bezirks auf der gesunden Brustseite bei Pleuraergüssen. Ich habe
schon früher und auch in meinem Breslauer Vortrage auf die Ge-
setzmäßigkeit und die Feinfühligkeit dieses Phänomens hingewiesen,
sowie auf den Umstand, daß im Eindesalter, auf welches sich
meine Beobachtungen beziehen, die sich in den ei*sten Jahren voll-
ziehenden Form Veränderungen des Thorax,^) mehr als beim Er-
wachsenen — mit einem Thorax von durchschnittlichem Normal-
typus — die Bestimmung der linken Grenze der relativen (großen)
Herzdämpfung und des Grades ihrer Verschiebung erschweren
können.') Es sind auch (vgl. Fig. 1 u. 3) nicht so selten die Ver-
schiebungen des Mediastinums und seine Schwankungen deutlicher
an den großen Gefäßen wahrnehmbar, als an dem unteren Ab-
schnitt der linken Herzgrenze und dem Spitzenstoß. Ja an den
Gefäßen und zeitlich voran am paravertebralen Drei^
eck erkennt man oft das Vorhandensein des Ergusses ganz zuerst^
weit bevor die Retraktion der Lungen erschöpft ist, wie ja auch
schon weit vor diesem Moment die Verschiebung des Mediastinums
eintritt ^) Es ist auch immer wieder zu betonen, wie oft bei Kindern
die kardinalen Zeichen des Ergusses versagen, so der PektoraU
fremitos bei jungen Kindern mit hohem Stimmregister, bei schwachen
oder furchtsamen, der klinischen Untersuchungsdressur schwer zu-
gänglichen Kindern, die auskultatorischen Erscheinungen wegen
1) cf. C. Kauchfttß, Gerhardt's Handbuch der Kinderkrankheiten IV, 1
p. 5 o. f .
2) In Breslau hob ich schon hervor, was auch ans dem Vergleich von Fig. 5
mit Fig. 1 u. 3 hervorgeht nnd übrigens wohl allgemein bekannt ist, daß die
Verlagerung des Herzens nach rechts gewöhnlich leichter nachweisbar ist als die
nach links, besonders beim Kinde; die Beziehungen des Herzens zur Brnstwand
sind hier eben andere ; es wandert beim linksseitigen Erguß an der rechten para-
stenaleii, mehr ebenen Vorderfläche d^ Brnstwand, beim rechtsseitigen Ergüsse
an der linken mamillaren, lateral abgebogenen. Hier mnfi man die von Moritz
nnd von Goldscheider angegebenen Kantelen einhalten, um nicht ein falsches
Projektionsbild durch divergente Perknssionsstrahlen zu erhalten.
3) Vgl. die Untersuchungen Garland 's und die grundlegenden Forschungen
Weil 's (Zur Lehre vom Pneumothorax). Dieses Archiv Bd. XXV 1879 nnd Hand-
buch der topographischen Perkussion. 2. Aufl. 1880.
202 XII.' Bauchfüss
der Eaumbeschränkung und erhöhter Querleitung des kindlichen
Brustkorbes. Man muß oft rasch untersuchen, ein schwaches über-
reiztes Eind, und hat weder Zeit, noch findet mau Verständnis
und Entgegenkommen für die klinische Respirationsdressur des
Patienten. Es ist daher gut, die kleinen durch die Untersuchung
des Arztes erregten Patienten vor seiner Ankunft durch verständigte
Angehörige und Pflegerinnen auf das bei der Auskultation in Frage
kommende Verhalten (tiefes regelmäßiges Atmen, Stimme) einzn-
üben. Auch die Probepunktion kann versagt werden oder ver-
sagen. Alles in allem ergibt sich, daraus gerade bei Kindern der
hohe Wert des paravertebralen Dreiecks für die Diagnose und die
Beurteilung des Verlaufs von Pleuraergüssen.
Zur klinischen Bewertung des Phänomens war vor
allem notwendig festzustellen, ob es nur bei pleuritischem Ei^uß
oder auch bei Lungenverdichtung, praktisch wichtig zunächst
bei Pneumonie, beobachtet wird und in der Tat in dem Maße, als
seit Jahren das Phänomen im Kreise der im Kinderhospital assi-
stierenden und hospitierenden Ärzte immer bekannter wurde, ge-
schah es oft, daß mir Fälle von unzweifelhafter fibrinöser Pneu-
monie präsentiert wurden, in denen das paravertebrale Dämpfungs-
dreieck vorliegen sollte. Ich hatte natürlich diese Frage selbst
bei PneumoniefäUen, besonders bei zweifelhafter Diagnose verfolgt
aber jedesmal fand sich erst bei stärkerer Perkussion eine mehr
bandförmige, paravertebrale, diffus begrenzte Dämpfung gegenüber
der bei Pleuraergüssen nach oben zur Wirbelsäule ablenkenden
und so das Dreieck bildenden scharf begrenzten ; ja meine Kollegen
fanden sie häufiger, was mir zunächst nicht klar war, bis ich mich
überzeugte, daß sie gewohnheitsmäßig stärker perkutieiten, als ich.
Dagegen konnte ich schon seit langen Jahren eine andere, den
klinischen Wert der paravertebralen Dämpfung beim Pleuraergüsse
besonders hervorhebende Beobachtung machen, ihr Auftreten bei
einer vorhandenen oder sich lösenden Pneumonie als zuver-
lässiges Anzeichen eines pleuritischen Ergusses. Ich
habe Fälle beobachtet von genuiner Pneumonie, die protahiert ver-
liefen, remittierendes Fieber zeigten, in denen das Dreieck zuerst
mit Sicherheit auf den hinzugetretenen Pleuraerguß hinwies: oder
•die Lösung beginnt, die Dämpfung wird wieder intensiver, ein
remittierendes Fieber schließt sich an den lytischen Abfall an, die
auskultatorischen Leichen sind nicht eindeutig, das Dreieck klärt
zuerst den Sachverhalt. Es ließe sich daher, wenn einmal ein
paravertebrales Dämpfungsdreieck auch bei Pneumonie des unter-
Faravertebrale Dämpfang auf der gesunden Brustseite bei Pleuraergüssen. 203
lappens aufträte, ähnlich dem beim Erguß, auch nicht immer aus-
schließen, ob nicht dennoch ein Erguß vorläge, der sich durch die
vordere Mediastinalverschiebung und die Punktion nicht nachweisen
ließe und mit der Lösung der Pneumonie schwände.
Daß bei Pneumonie Dämpfungserscheinnngen auf der gesunden
Seite vorkommen, ist, meines Wissens, zuerst von Jürgensen
(CroupSse Pneumonie. Ziemssen's Sammelwerk. 1874. V, p. 86)
beobachtet worden. Er führt sie auf hypostatische und atelektatische
Zustände zurück auf Grund des physikalischen und des Leichen-
befundes. Es handelt sich hier also um ganz andere Dinge als
bei der uns beschäftigenden paravertebralen Dämpfung, an deren
Stelle keine Rasselgeräusche, keine wesentlichen Veränderungen
des Vesikuläratmens wahrgenommen werden. Ob die bekannte Er-
scheinung eines Dämpfungsbezirkes an der ßückenfläche bei größeren
Perikardialergüssen nur, wie es, glaube ich, angenommen wird,
durch Kompression und Hypostase des Lungengewebes hervor-
gerufen wird, lasse ich dahingestellt; es scheint mir jedoch dieser
Dämpfungsbezirk wesentlich von der Annäherung einer größeren,
nicht schwingenden Masse, wie sie das Perikardialexsudat vorstellt,
an die hintere Brustwand, von einer Beschränkung der hinter ihr
liegenden Schwingungsmasse abzuhängen.
In einer durch meinen Breslauer Vortrag angeregten Arbeit
,.Über paravertebrale Dämpfung und Aufhellung bei Pleuritis"
(Wiener klin. Wochenschrift 1906 Nr. 14) hat F. Hamburger
angegeben, daß bei Pleuraergüssen der Schall auf der gesunden
Seite neben der Wirbelsäule dumpfer ist als in den äußeren Thorax-
partien, dagegen der Schall auf der kranken Seite neben der
Wirbelsäule heller als in den äußeren Partien.^) Freilich ist der
Schall, sagt Hamburger, in der Zone paravertebraler Aufhellung
dumpfer als in der 2one paravertebraler Dämpfung. Am Ende
seiner Abhandlung gelangt Hamburger zu dem Schlüsse, daß
die dilFerentialdiagnostische Bedeutung des Phänomens der para-
vertebralen Dämpfang und Aufhellung eine verhältnismäßig ge-
ringe, auch die Form der Dämpfung keine dreieckige ist.
«Es ist ja", sagt er, „nach den ganzen, bisher angeführten
Überlegungen und Versuchen klar, daß eine Schwarte oder eine
sehr ausgedehnte Lungeninflltration ähnliche Perkussionsresultate
bedingen muß wie ein Exsudat.^
Ij Vgl. Fig. 6 u. 8 (p. 194), in denen die Zonen Hamburger '8 angegeben
«ind.
204 XII- Baüchfctss
Auf die Lösung dieser Widersprüche mit meinen Erfahrungen
komme ich später zurück.
Bei meinen ersten Beobachtungen des Phänomens schien es
mir so eindeutig die an der vorderen Brustfläche nachweisbare
Mediastinalverschiebung wiederzuspiegeln , daß ich sie in den
Krankheitsgeschichten aus jener Zeit auch oft als hintere M^
diastinalverschiebung bezeichnet finde. Als ich mich eingehender
mit diesem Phänomen zu beschäftigen begann, regelmäßig danach
forschte und schließlich eine freilich anders geartete und mehr
diffuse paravertebrale Dämpfung auch in einigen Fällen von Pneu-
monie fand, da erschien es mir zweifelhaft, ob die Sache sich so
einfach verhalte. Am hinteren Mediastinum war ja, wie es mir
schien, nicht viel zu verschieben, das der Untersuchung zugäng*
liehe Organ, das Herz, lag im vorderen und mittleren Mediastinum,
es war, wie mir damals schien, durch die Perkussionserschötternng^
besonders bei leiser Perkussion, kaum zu erreichen; daß eine
Lungenverdichtung ebenfalls, wenn auch in anderer, meist leicht za
differenzierender Weise, eine kontralaterale paravertebrale Dämpfung
hervorrufen könne, mußte immerhin berücksichtigt werden.
Da aus Zeitmangel die systematische Verfolgung des Themas
mir nicht möglich war, so unterblieb auch die Veröffentlichung bis
zur Klärung der physikalischen Bedingungen, unter welchen das
paravertebrale Dreieck zustande kommt. Diese Klärung war zu-
nächst von Leichenversuchen zu erwarten. ^)
1) Die eingangs angeführte Abhandlung tou Badnel und Siciliano»
welche ich in den Archives g^n^rales de Mededne (21 Juin 1904, No. 25) in Ober-
Hetzung kennen lernte and aus der ich erfahr, daß Grocco das Dreieck schon
im März 1902 beschrieben hatte, enthielt die Beschreibung nnd Kritik einer Reihe
höchst lehrreicher und exakter Leichenrersache, welche ich hier in der Haupt-
sache anführen möchte. Nachdem B. u. S. durch Injektion einer 10% Gelatine-
lösung in die Bauchhöhle das Diaphragma gestützt, die Aorta mit derselben
Lösung gefüllt, wurde in hoher Stellung des Kadavers auch die Pleura gefüllt;
wonach sofort das Dämpf ungsdreieck auftrat und zwar ausgesprochener bei An-
füllen des rechten Pleuraraumes. Durch ein Fenster in der hinteren Thorax-
wand nahe der Wirbelsäule konnte man den Inhalt des hinteren Mediastinums
leicht abtasten und die Verschiebung konstatieren. Einzelne Kadaver wurdet
dann in eine 10% Formalinlösung gelegt und transversale Hchnitte in verschie-
dener Höhe (in der Brustwarzenhöhe, im 2. Interkostalraum usw.) angefertigt
Die Abbildungen, welche diese Schnitte darstellen, sind in hohem Grade lehr-
reich; man sieht deutlich die prall gefüllte Pleura in ihrem paravertebralen Ab-
schnitt, sich vor die Wirbelsäule drängen, Ösophagus und Geftfie vor sich her-
schiebend. Baduel und Siciliano halten für das Zustandekommen des Dämp-
ParaTertebrale Dämpfung auf der gesunden Brastseite bei Pleuraergüssen. 205
Die Frage, die ich mir bei meinen vor 4 Jahren begonnenen
QDd dann von Zeit zn Zeit wiederholten Leichenversnchen stellte,
war: wie beeinflußt Flüfisigkeitsansammlnng in einer Pleurahöhle
die Perkussionserscheinungen der anderen Bmstseite, wenn die Ver-
drängung des Herzens ausgeschlossen wird und wie wirkt letztere
allein, ohne Flüssigkeitsansammlung, und endlich wie beide ver-
eint? Die sehr einfache Versuchsanordnung, welche die beiden
Hanptfaktoren zu isolieren bestrebt war, bestand darin, daß ich an
«iner noch intakten Leiche mit gesunden Lungen, durch Einführen
dnes Ebonitstabes (oder einer dickeren, am unteren Ende knopf-
fömiig abgestumpften Metalisonde) durch die V. jug. int. dextra,
fungsdreiecks die durch diese Verhftltnisse bedingte Behinderung der Schwingungs-
fähigkeit der Wirbel und der Bippen für das Wesentliche. G. Pierracini
(La Pneumonie massiye on bronchopnenmonie fibrineuse. Clinica modema No. 1
1903 — citiert nach Badnel und Siciliano) nimmt an, dafi der ErguC indem er
das hintere Mediastinum komprimiert und verschiebt die AtmungsgrCite (capacit^
respiratoire) der benachbarten Abschnitte der gesunden Lunge beeinträchtigt,
und auf diese Weise das Dämpfungsdreieck entsteht, eine AnHicht die, wie mir
scheint, durch das Fehlen des tympanitischen Schalles und einer Beeinträchtigung
des Yesikuläratmens, widerlegt wird. Grocco, sowie Baduel und Siciliano
betonen die dreieckige Form der Dämpfung, geben seine HOhe als gleiche mit
dem Exsudatniveau, die Breite seiner Basis mit 3—6 cm an. Die Angabe, daß
«ich das Dreieck in verschiedenen Stellungen ändert (Liegen) war mir neu, alles
übrige stimmt genau mit den von mir noch lange vor Kenntnisnahme dieser Yer-
(IfTentlichungen gewonnenen Erfahrungen. Grocco findet, daß das Phänomen
deutlicher ist bei rechtsseitigen Ergüssen, was ich nicht bestätigen kann, ich habe
«ehr viel rechtsseitige Ergüsse beobachtet, obgleich die linksseitigen etwas über-
wiegen. Den Wechsel in der Gestalt des Dreiecks bei verschiedener Lagerung
habe ich leider nicht geprüft, obgleich ich seit Kenntnisnahme der Arbeit von
B. u. S. viele Ergüsse beobachtet habe aber leider übersah ich bis jetzt diese
Bemerkung; ich bedauere dies, und will es nachholen, denn es ist sehr wohl denk-
bar, daß bei längerer Lagerung auf der kranken Seite der prall gefüllte para-
vertebrale Pleuraraum sich entspannen, zum Teil entleeren und umgekehrt stärker
füllen wflrde ; meine Versuche an Leichen sprechen sehr dafür und die Verfolgung
dieser Seite der klinischen Beobachtung wäre von größtem Interesse. B. n. S.
fanden das Vesikuläratmen im Dreieck abgeschwächt, was ich nicht bestätigen
kann. Außer Grocco, der das Phänomen zuerst beschrieb, citiere ich aus der
Arbeit von Baduel u. Siciliano als Autoren, welche die Beobachtung be-
stätigten: Flora (Riv. crit. di clinica med. No. 19 1902), F. Maragliano
^BuUet. deUa Societä Eustachiana Nr. 1 und 2, 1903), G. Pierracini, Bncco
<1903); nur Barbier i (Parma) spricht sich dagegen aus, und Eoranyi soll
nach dem Zeugnis von B. und S. in der Wiener klin. Bundschan Nr. 16 1902
eine das Dreieck darsteUende Abbildung gegeben haben, ohne es zu deuten. Es
ist doch unbegreiflich wie alle diese Beobachtungen italienischer Forscher der
referierenden JonmaUiteratur und der aUgemeinen Kenntnisnahme entgehen
konnten.
206 XII- Rauchpuss
Cava sup. und Vorhof in die rechte Kammer, in der Lage war das
Herz nach rechts ^) oder links zu verschieben und es der vorderen
oder hinteren Brustwand zu nähern, oder, wenn ich die Sonde aus
dem Vorhof in die untere Hohlvene gleiten ließ, das Herz in seiner
natürlichen Stellung einigermaßen zu fixieren. In beiden Fällen
wurden die Perkussionserscheinungen auf beiden Seiten der vorderen
und hinteren Fläche des Brustkorbes bestimmt, mit Dermograph die
Grenzlinien bezeichnet und nun sehr langsam Wasser in die eine
Pleurahöhle eingeführt, bei liegender oder sitzender Lage der Leiche.
Auf diese Weise waren drei Versuchsanordnungen geschaffen:
Deviation des Herzens ohne Wasseransammlung, Wasseransamm-
lung bei fixiertem Herzen und Deviation des Herzens mit Wasser-
ansammlung in der der Deviation entsprechenden Seite (also bei
Deviation nach links Wasseransammlung im rechten Pleuraraum).
Dabei wurden in allen Versuchen die Perkussionserscheinuugen bei
verschiedenen Graden der Deviation und verschiedenen Mengen
eingebrachten Wassers bestimmt, indem man diese allmählich an-
wachsen ließ. Leider hing die Vornahme dieser Versuche so vom
Zufall ab, daß ich nicht dazu kam, die dermographischen Linien
photographisch festzuhalten ; eine Leiche mit intakten Lungen war
nicht so oft und dann nicht immer Zeit vorhanden zum Photo-
graphieren, das ja hier in jedem Stadium des Versuches statt-
zufinden hätte. Es wurden daher die dermographischen Linien auf
dem Schema nachgezeichnet und von den Anwesenden geprüft: sie
haben also nur schematischen Wert, sind aber so überzeugend, daft
kleine Verzeichnungen gar nicht in Frage kommen.
Ich führe hier eine Reibe von Versuchen vor, nicht in chrono-
logischer Folge seit ihrem Beginn sondern mehr systematisch gruppiert;
es wurden ja die Versuche immer in großen Intervallen vorgenommen.
1] Die Verschiebung nach rechts erfolgt meist weniger leicht und aDiigiebig-
als nach links, es sei denn daß zuvor der linke Pleuraraum mit Wasser gefällt
ist. Das Einschieben der Sonde in die Cava inf. gelingt meist leicht, stets bei
einigem Abtasten, oft gelangt man auch ohne es zu wollen sofort in die Cava
und muß dann die Sonde wieder zurückziehen um in die Kammer zu kommen.
Während der Versuche die in sitzender und in liegender Stellung vorgenommen
wurden (erstere machte wegen der Leichenstarre oft Schwierigkeiten) war der
Kopf in eine Glisson'sche Schwebe fixiert, wodurch vermittels eines vertikulen
Rollenzuges leicht die Stellung verändert und in dieser oder jener abwechselnd
untersucht werden konnte. Die Einlaufe in die Pleurahöhle konnten unter ver-
schiedenem Druck vorgenommen werden, da ein anderer Rollenzug den Irrii^tor
in verschiedene Höhen stellen ließ, vom Irrigator ging ein Gummischlancb zur
Punktionskanüle.
Pwsvettebrale Dänipfang auf der geaanden Bniataeite bei PlenraergÜBW
207
lie ich gerade Zeit hatte und wenn sich Gelegenheit bot. Fig. 10 — 13
g«beD die DämpfaDgaerscheiDUDgeD wieder, welche an derselben Leiche
benorgerufen wurden durch Ablenkung des Herzens nach links
(Mg. 10, 11) und saoh rechts (Fig. 13, 13). An der vorderen Bruat-
Fig. 10.
Fig. U.
208 XII. lUucHFcsa
flächa ist d«a 4uroli die Ferknaaioti nftchweisbar« Beanltst der Ablenkong
durch punktierte Liaien bezeichnet. In Fig. II trat du parBTertabnl«
Dreieck erst dentlioh hervor bei AndrSngen dea Henens gegen die hiolere
Bmstwand. In Fig. 13 stellt ab die scharfe, ao die mehr diffnae asd
veniger deutliche Grenze des Dreiecke dar, die schärfer und dentlicher
hervortritt, wenn du Herz gegen die hintere Bnutwand rekliniert wird.
Diesem Versuch kann ich einen andern, an der Leiche eines 9 monit-
liehen Kindes Torgeuommenen, gegenüberstellen, an der es selbst bei
dem Versnobe starker Ablenkung nach links nicht gelang an der vor-
deren Brostwand eine sehr deutliche Verschiebung des Herzens tath
links nachzuweisen (Bmstform), ein kleines Dreieck mit dem Gipfel an
Fig. 14.
Fig. 15.
9 Wirbel und einer 2 cm breiten Basis aber dennoch nachgewieiea
werden konnte, freilich nicht gerado scharf. Aus der ersten Zeit meinet
Leichenversucbe (Oktober 190S) stammt folgendes in den Fig. 14 und
und 15 dargestelltes. Die Vorderansicht (Fig. 14) zeigt die linke Greni-
linie der relativen Herzdärapfung in normaler Lage (o), bei mgfiig«
Deviation des Herzens nach links (1) und bei starker (3). Demenl-
sprechend kann man an der RKekenfläche des Brustkorbes links nebsn
der Wirbelsäule ein bei der leichten (I) und ein bei der stark<tn De-
viation (3) auftretende! DKinpfangsdreieck auftreten sehen. F&IH bU
nun den rechten Pleuraraum bis zum 8. Wirbel (3) hinauf mit Waaaer
«n, so wächst das Dreieck 1 auf 2 an, füllt man den Pleuraraum 1»«
2um &. Wirbel so wächst das Dreieck 3 bis an den bei 4 angegebenen
Dimensionen.
PiraTertebntle Dämpfung auf der gfesnodeu Bniatgeite bei PlenrnergUssen. 209
Ee gelingt suweiIeD bei allmSblichem EinlftnfeD von Wuser io die
Hake Fleamhöhle den Drnck in der Flenrahöhle so hoch zu Bteigero, daß
die D«ch der aogegebeneo Methode anigefUbrte Deviation, hier also
Rechts lagern Dg dee Uerzena, ein anch am Lehen beobachtetes UaziniDm
erreicht, die rechte Grenzlinie der relatiren Herzdämpfung Ubenchreitetr
die rechte Brustwarze ; dann liegt der Qipfel des paravertebraleu Drei*
ccks in der äShe des ti. Wirbel«,
Schließlich will ich noch einen der Veranebe erwähnen, die ioh im
Juni ditiaes Jahres nntemahni, anoh um die Zonen Haraburger's zu
prüfen (Fig. 16). Es wurden bei eiaigermaßen fixierten Herzen zunächst die
Unke Flenrahöhle bis zur Höhe des 6. — 7. Wirbels, dann bis zur Höbe
des 4. Wirbels ganz allraKhIich in
Fig. 16.
sitzender Stellnng gefüllt (a und h),
wobei an der rechten firustbälft«
znnäcbat das paravertebrale Drei-
eck a, dann b (Gipfel S. Wirbel,
Breite der Basis 4,5 cm) her-
vortrat recht deutlich aber nicht
sehr Bcharf umgrenzt auch bei
leisester Perkussion und Abtasten,
zu gleicher Zuit traten bei stär-
kerer Perkussion die bei leisester
nicht wahrnehmbare linke para-
vertebrale Aofhellungazone (1) und
rechte Dämpfungszone (S) auf,
letztere war breiter.
Als nun das Herz dnrcb den
in den Ventrikel eingeführten, bie
dahin in der Cava inf. ruhenden
Stab srtark nach rechts versoboben
wfirde, was jedoch dieses Mal nicht
sehr «nsgiebig gelang, denn die
rechte Grenzlinie konnte kaum
Ober die Parasternallinie, nicht
bis zur Brust warse gebracht
werden, nnd etwas Wasser naoh-
gefnilt werden mußte, um das
Niveaa b zu erhalten, erweitert« sich daa paravertebrale Dreieck so-
fort io allen Dimensionen, stieg mit dem Gipfel bis zum 7. Wirbel und
vergrößerte seine Baeie von 4,6 auf 7,5 ; es war nuu auch äußerst echarf
begrenzbar.
Überblickt man diese Versuche *), so erhält man wohl den Eiti-
dnick, daß es sich beim Zustandekommen der paravertebralen
DämpfuDg doch om kompliziertere Verhältnisse handelt, als um
«ine Verschiebung des Herzens allein; es ergibt sich, daß die
1) SSmtlicIie hier angeführten Versuche sind, wo nicht anderes t
an Leichen von Kindern mittleren Alters (5 — 9 Jahren) auegefShrt.
< Arohtv f. kill. Medisin. S>. Bd. 14
igegeben
210 XU. Bauchfuss
Flüssigkeitsansammlung an sich nicht ohne Einfluß ist und es er-
übrigt noch die Frage, wie weit die Belastung des hinteren
Mediastinums hier eine Rolle spielt Aufschluß darüber konnte
die Röntgenuntersuchung bei in den Ösophagus eingeführter, den
Durchgang der Röntgenstrahlen hemmender Sonde und der Leichen-
versuch geben. In Breslau demonstrierte ich eine Röntgenauf-
nahme von einem Kinde mit rechtseitigem, hochgradigem Pleara-
erguß, dem eine mit Bismuth subnitr. eingeführte Schlundsonde
eingeführt war, sie erwies deutlich eine bedeutende in sanftem
Bogen verlaufende, im unteren Abschnitt (8.-9. Wirbel) sehr auf-
fallige Abbiegung des Ösophagus zur gesunden Seite. ^) Darauf
untersuchte ich bei meinen Leichenversuchen mehrere Male die
Verhältnisse im hinteren Mediastinum durch Resektion 3—5 cm
langer paravertebraler Rippenstücke auf der gesunden Seite, um
durch ein Thoraxfenster einen P^inblick auf die Wirbel und das
Spatium mediastinale posterius zu gewinnen. Es ergab sich, da&
der paravertebrale, an das Spatium m. p. grenzende Bezirk des
Pleurasackes ^) durch die Flüssigkeitsansammlung prall gespannt
und vorgebaucht vor die Wirbelsäule und über dieselbe hinaus in
die Paravertebralregion der freien Seite gedrängt wird. Diese Ver-
hältnisse werden durch die angeführten schönen Untersuchungen
von Baduel undSiciliano überzeugend klargelegt Beobachtet
1) In bezng: auf das paravertebrale Dänipfungsdreieck konnte die Böntgea-
untersQchnng mir keinen weiteren Anfscblnß geben, da das Dreieck durch den
diaskopiachen Herzschatten gedeckt ist; ist doch das paravertebrale Dreieck zum
Teil gleichsam ein Schattenbild des verlagerten Herzens auch bei der physika-
lischen Untersuchung am Lebenden. Als ich mir in meinen früheren Beobach-
tungen öfter durchgepauste Bilder der Vorder- und Rttckenansicht des Thorax
mit den eingezeichneten GrenzUnien anfertigte erhielt ich zuweilen Bilder von
auffallender Kongruenz der Herzsilhouette (s. Fig. 1, 2 a) mit dem Dreieck gleich-
sam als Illustration für die Auffassung, das Dreieck entspreche wesentlich der
Lage des Herzens. Liegt ja auch das Herz wenn es sich seitlich und gewöhn-
lich auch nach diagonaler Verdrängung erfährt, durchaus nicht außerhalb der
Wirkungssphäre der Perkussionserschütternng der hinteren Brust wand. Aber
meist ist das Dreieck schmäler als die Herzsilhouette. Baduel und Siciliano
führen in ihrer Abhandlung an, Grocco habe im Jahre 1902 auf dem Kongre(l
für innere Medizin in Rom angegeben, daß die Radiographie die Existenz der
matten Zone bestätige; mir liegen die Verhandlungen des Kongresses nicht vor
und ich kann daher nicht beurteilen ob es sich um etwas anderes als den kon-
gruenten Herzschatten gehandelt habe.
2) Dieser klinisch wichtige Bezirk des Pleurasackes entbehrt einer anatomi-
schen Bezeichnung, während die übrigen Grenzbezirke (Kuppe, Sinus) anatomisch
gekennzeichnet sind; ich möchte vorschlagen, ihn Recessus pleurae paraverte-
bralis d. et sin. zu nennen.
ParaTertebrale Dämpf nng anf der gesunden Brnstraie bei Pleuraergüssen. 211
man in liegender Lage, so ist dies weniger anffiUIig, denn die
Flüssigkeit fließt gleichsam von der Wirbelgegend ab, dagegen
wird die Erscheinnng sehr prägnant in sitzender Stellung. Hat
man den einen Pleuraraum vollkommen angefüllt, dann sieht man^
wie der gefüllte paravertebrale Pleurarecessus je mehr nach
unten desto auffälliger zur anderen Seite vor die Wirbelsäule sich
ansbaucht, so daß er nicht mit der Wirbelsäule parallel vor der-
selben zur anderen Seite gedrängt wird, sondern weit mehr in
den unteren Abschnitten als in den oberen, gleichsam als ein in
der Breite stark reduziertes aber immerhin deutliches paraverte-
brales Dreieck.
Fassen wir alles zusammen, so kommen wir zu einer be-
friedigenden Deutung des Phänomens. Es handelt sich um
eine Verschiebung des Gesamtmediastinums, wobei der
Anteil des Spatium mediastinale posterius durch die soeben be-
schriebene pralle Füllung des paravertebralen Pleurarecessus und
sein Vordrängen vor die Wirbelsäule durchaus kein so geringer
ist wie es mir a priori schien. Neben dieser Belastung des hinteren
Mediastinums spielt zweifellos die Flüssigkeitsansammlung eine Rolle
bei der Hemmung der perkussorischen Erschütterung der Wirbel-
saale und der Rippen der gesunden Seite. Welchen Anteil die
Flüssigkeitsansammlung im Pleuraraum — an sich —
mit Ausschluß der Mediastinalverschiebung haben könnte, das habe
ich versucht an der Leiche dadurch klar zu stellen, daß ich das
Herz fixierte; allein die Verschiebungen im Spatium mediastinale
posterius, die sich hinter dem Herzen abspielen, konnte ich damit
nicht ausschalten. Dennoch scheinen meine Versuche, die ich
übrigens in bezug auf den Einfluß der Flüssigkeitsansammlung im
Pleuraraum, an sich, auf die kontralaterale Dämpfung noch für
unvollständig halte und leider noch nicht abzuschließen in der
Lage war, zu beweisen, daß ein solcher Einfluß besteht. Er ist
nor zu erklären durch die Einschränkung der Schwingungsmasse,
des Ausbreitungsbezirkes der Perkussionserschütterung, welche da-
durch gegeben wird, daß bei der Perkussion eines paravertebralen
Bezirks die Erschütterung durch die Wirbelsäule und die Rippen
sich nicht auf die andere Seite fortpflanzen kann, wenn diese in
ihrem paravertebralen Bezirk die Schwingungsfähigkeit durch einen
die Lange von der Brustwand abdrängenden, paravertebral ge-
legenen Erguß eingebüßt hat. Ja es müßte, theoretisch, immer
ein Dämpfungsdreieck entstehen, wenn etwa ein die untere Hälfte,
selbst die unteren % einer Pleurahöhle einnehmender P>guß vor-
14*
212 XII. RAÜCHPÜ88
läge, auch ohne den Einfluß der Mediastinalverschiebang; denn
perkutierte man die gesunde Seite auf der Höhe des Ergusses,
dann wurde die transversale (kontralaterale) Übertragung der Er-
schütterung noch über dem Spiegel des Ergusses frei stattfinden
können, aber je mehr man paravertebral mit der Perkussion herab-
ginge, desto weiter würde der Weg, den die Erschütterung durch
die Wirbelsäule zurücklegen müßte, um noch freie Kippen und
Schwingungsmassen zu treffen, und desto breiter würde der Däm-
pfungsstreifen auf der gesunden Seite nach abwäi*ts werden, ein
Dreieck bildend. Aber diese an sich plausible Erklärung des
Dämpfungsdreiecks hält vor der Ei*fahrung nicht stand, da auch
beim weiteren Ansteigen des Exsudats bis zur Pleurakuppe das
Dreieck fortbesteht und wächst; es müßte ja zu einer paraverte-
bralen bandförmigen Zone geworden sein. Und in der Tat wäre
es so, wenn nicht die indes ad maximum gediehene Verschiebung
des hinteren Mediastinums, in der soeben dargelegten Weise, in den
unteren Abschnitten der paravertebralen Teile des Brustkorbes
Verhältnisse geschaffen hätte, welche die Dreieckform der Dämpfung
festhalten, selbst abgesehen von dem mächtigen Einfluß der Ver-
schiebung des ganzen Mediastinums mit dem Herzen. Das Fehlen
dieser Verhältnisse bei Pneumonie, die ja wie jede Lungenver-
dichtung die kontralaterale Schwingungsmasse einschränken müßte,
bedingt es, daß hier eben auch das Dreieck fehlt und nur bei
stärkerer, die Erschütterung ausbreitender Per-
kussion eine diffuse, mehr bandförmige, paravertebrale Dämpfungs-
zone zur Wahrnehmung kommt (Hamburger 's Dämpfungszone
vgl. oben S. 203). Nun erfüllt ja auch in der Kegel eine pneu-
monische Verdichtung, selbst wenn es sich um eine kompakte, bis
ins paravertebrale Gebiet reichende Pneumonie handelt — die
conditio sine qua non der kontralateralen Dämpfung — keineswegs
die Bedingungen, welche durch den sich noch vor die Wirbelsäule
prall vordrängenden Pleuraerguß geschaffen werden. Unvollkommene
Kompaktheit der Infiltrate (lobulärer und bronchialer Luftgehalt^
weiHlen die angeführten Bedingungen für das Auftreten der kontra-
lateralen Dämpfung stören, eine begleitende fibrinöse Pleuritis sie
dagegen steigern. Bei der großen Bedeutung, welche der Ver-
schiebung des Gesamtmediastinums, mit seinem Inhalt, für das
Zustandekommen der paravertebralen Dämpfung zukommt, darf es
nicht Wunder nehmen, daß sie nach der Thorakotomie und Ent-
leerung des Ergusses zwar sofort sehr bedeutend abnimmt, aber
doch nicht sofort, sondern erst nach mehreren Tagen ganz schwindet ;
Paravertebrale Dämpfang auf der gesaaden Brnstseite bei Pleuraergüasen. 213
denn die Rückkehr des Gesamtmediastinums in eine vollkommen
normale Lage findet auch nicht sofort statt. Übrigens darf man
hier nicht übersehen, daß in den unteren Abschnitten des Pleura-
raums, und besonders in seinem ausgebauchten vor die Wirbelsäule
geschobenen paravertebralen Becessus auch nach der Thorakotomie
noch Erguß zurückbleibt und sich wieder ansammelt.
F. Hamburger hat in seiner schon erwähnten Arbeit von
den von mir in Breslau zur Erklärung des Phänomens angeführten ^
aus Erankenbeobachtung und Leichenversuch entwickelten Grund-
bedingungen desselben — Mediastinalverschiebung und Einschrän-
kung der Schwingungsmaße durch den an die Wirbelsäule reichen-
den Pleuraerguß — der letzteren seine besondere Aufmerksamkeit
zugewandt und sie für allein bestimmend erklärt. Es ergab sich
ihm, wie ich schon anführte (S. 203 Fig. 6, 8), daß in jedem Falle von
pleuritischem Erguß auf der kranken Seite neben der Wirbelsäule
eine Zone helleren Schalles zu finden war, während auf der gesunden
Seite eine paravertebrale Dämpfungszone auftrat, doch konnte er
nicht mit Sicherheit die D r e i e c k s f o r m herausperkutieren. Indem
er nun auf die Bedeutung der Flächenwirkung des Perkussions-
stoßes eingeht, die Theorie des Lungenschalls von Mazonn und
dessen Versuch der Dämpfung des Perkussionsschalles am Thorax
durch den Druck der in einiger Entfernung aufgelegten Hand an-
fuhrt, kommt er zu dem Ergebnis, daß die Bedeutung der Flächen-
Wirkung des Perkussionsstoßes eine große ist.^) Indem er Weil's
Auffassung anführt, nach welcher der Perkussionsschall bei starker
Perkussion deswegen lauter ist als bei schwacher, weil die Schwin-
gungen der perkutierten Stelle weiter in die Tiefe dringen und
dadurch die Schwingungsmasse eine größere wird, knüpft er
daran die Betrachtung, „daß der starke Perkussionsstoß auch des-
wegen einen lauteren Schall ergeben muß, weil er die Erschütterung
auch flilchenhaft ausdehnt und dadurch einen größeren Lungen-
bezirk zum Mitschwingen veranlaßt. Die Schwingungsmaße wird
also bei starker Perkussion ebenso nach der Fläche wie nach der
Tiefe vergrößert". Er fügt dann hinzu, daß seine Perkussions-
befunde (Dämpfungs- und Aufhellungszone) nur zu erheben sind
bei starker und mittelstarker, nicht bei leiser Perkussion.
1) Dieser Bebr einfacbe Versuch ist in der Tat sehr belehrend und beim
Unterricht unentbehrlich, wenn auch die Theorie Mazonn 's im allgemeinen nicht
annehmbar ist; der Versuch soll nur zeigen, wie durch Hemmung der perknssori-
sehen Erscbtttterung der Thoraxplatte Dämpfung erzeugt werden kann.
214 XII. Bauchpuss
Hamburger erwähnt aach, daß die erhobenen Befunde nur bei
der Untersuchung von Kindern gefunden wurden und daß zweifellos
beim Kinde die Flächenwirkung des Perkussionsstoßes sehr begün-
stigt ist durch die elastische, besonders schwingungsfähige Thorax-
platte. Hamburger erwähnt auch, daß sein Lehrer, Professor
Escherich, diese für die Beurteilung der Perkussionsbefunde
am Kinderthorax wichtige Tatsache schon lange klinisch verwerte.
In der Tat ist es sehr wichtig, diese Verhältnisse zu kennen
und zu berücksichtigen. Wenn ich das auf dem Arm der Mutter
sitzende Kind perkutiere, so weiß ich, daß das Anschmiegen der
einen Brustseite au die Mutter den Schall dämpfen kann und
ändere die Stellung zur Kontrolle; das ist ja längst bekannt,
wird aber nicht immer berücksichtigt. Die Ausführungen Ham-
burger's bringen die, wie mir scheint, in der Literatur wenig-
stens, etwas vernachlässigte Frage der Flächenwirkung der Per-
kussion wieder in Anregung. Es bhnt sich auch, sie experimentell
und durch Leichenversuche zu klären, und ich erwähnte schon,
daß meine Leichenversuche in dieser Richtung unvollständig sind
(S. 211).
Weil, den Hamburger citiert, hat übrigens die Flächen-
wirkung der Perkussionserschütterung auch gestreift (1. c. p. 48),
aber immer betont, daß die perkussorische Erschütterung haupt-
sächlich in der Richtung des Stoßes (I. c. p. 6) in die Tiefe dringt,
weniger in die Breite. Man wird daher, um Flächenwirkungen
zu erzielen, stärker perkutiereu müssen und aus der stärkeren
Perkussion Hamburger 's erklärt es sich auch, daß er die auf
prävalierende Flächen Wirkung beruhende paravertebrale band-
förmige Dämpfungszone^) und nicht das vorzugsweise bei
leiser Perkussion (geringere Flächenwirkung) hervortretende Drei-
eck fand.*) Nur dieses aber ist charakteristisch für die Summe
1) Ich fand die paravertebrale Dämpf angszone Harn burger 's stets breiter
als die Aufhellungszone, sowohl bei klinischer Untersuchung von Pleuraergüssen,
als beim Leichen versuch (s. Fig. 6, 8, 16].
2) Ich muß hier aber doch bemerken, daß das Dreiecke sich auch bei mittel-
starker Perkussion meist sehr gut nachweisen läßt; ich weiO ja auch nicht, wie
Grocco und die ihm nachfolgenden italienischen Beobachter perkutiert haben,
Angaben darüber habe ich nicht gefunden. Oft wird bei mir im Hospital nnd
in Hospitälern für Erwachsene seit meinem Vortrage auf dem Pirogof f-Kongrel^
das Phänomen von Kollegen mit Interesse verfolgt und ich glaube, daß nur die
wenigsten sehr leise perkutieren. Ich demonstriere mir und anderen auch immer
verscliiedene Perkussionsintensitäten, finde aber, daß die leiseste die schärfsten
Grenzen gibt und das ist für die Bestimmung der Dreieckform wichtig.
Paravertebrale Dämpfung anf der gesnnden Brastseite bei Pleuraergüssen. 215
der physikalischen Veränderungen, welche die Lungen Verdichtung,
selbst eine paravertebrale, von einem Plenraerguß unterscheiden,
and ans diesem Grunde ist, wie es die Erfahrung lehrt, das
Dämpfungsdreieck ein kardinales und zuverlässiges klinisches Zeichen
bei der Differenzierung beider Krankheitsgruppen.
Die soeben berührten Differenzen beleuchten zugleich die
Wirkungssphären der starken und leisen Perkussion.
Mein von Hause aus begrenztes Untersuchungsgebiet, gesunde und
ki'anke Kinder, hatte mich schon bald gelehrt den Wert der leisen
Perkussion zu schätzen und da bei ihr und am elastischen und
zarten Kinderthorax die palpatorische Empfindung, das Gefühl der
Besistenz, sich besonders geltend macht, so war bis zur unmittel-
baren Palpation nur ein Schritt Ich konnte daher meine in diesem
Sinne in meinem Beitrage zur physikalischen Untersuchung des
Herzens im Kindesalter (Gerhardts Handbuch der Kinderkrankh.
IV. 1878) und in meinem Vortrag auf der Badener Naturforscher-
versammlung (1879) über die Bestimmung der Herzfigur durch Pal-
pation und die Diagnose geringer Mengen perikardialer Exsudate
niedergelegten Erfahrungen schon wesentlich auf die Ergebnisse
leiser Perkussion und Palpation gründen. Ebstein gebührt das
Verdienst, die palpatorische tastende Perkussion, dus lautlose Ab-
tasten der Organe, die mittelbare und unmittelbare Tastperkussion
als Methode eingeführt und ausgebildet zu haben, ein Verdienst,
das nicht geschmälert wird durch die in seinem Buche über Tast-
perkussion von ihm gewürdigte Tatsache, daß das Resistenzgefühl
bei der Perkussion auch früher vielfach Beachtung gefunden hatte
und bei der Schallperkussion verwertet wurde. Aus einer klinisch
wichtigen Begleiterscheinung der Schallperkussion ist nun die Ab-
schätzung des Besistenzgefühles zu einer selbständigen Methode
geworden.
Die unmittelbare lautlose Tastperkussion, von mir
früher immer als Palpation bezeichnet, findet auch heute noch
Widerspruch. So teilt Goldscheider in seiner Abhandlung
über Herzperkossion (D. med. W. 1905, 2. März) die Ansicht
0. Kosenbach's, daß das Wesentliche bei der palpatorischen
Metli(Ode die Schallnuancen sind; er kann sich nicht vorstellen, daß
man durch die Rippen das Herz palpieren könne ^) und meint, es
möge hier Verwechselung von Gehörs- und Tastgefühlseindrücken
1) Man tastet und perkntiert ja auch in den Interkostalräumen.
216 ^n. Rauchfüss
Yorkommen. Das gebe ich gerne za und behaupte dennoch, daß
man gewöhnlich genaue Grenzbestimmungen tastend mit absolutem
Ausschluß des Gehörs machen kann. ^) Aber in praxi palpiere ich
(unmittelbar oder mittelbar) immer labil und wechsle leise Gehörs-
eindrücke mit Tasteindrücken, sie gehören in der Tat zu^mmen
und ergänzen sich; aber es ist doch prinzipiell wichtig, nachzu-
weisen, daß die Tasteindrücke allein genügen können ^), ja sie sind
1) Ich habe solche Demonstrationen so oft nnter Kontrolle Ton Kollegen
nnd Hörern gemacht, daß ich mich von jeder Autosuggestion frei fühle; ich will
ihre Möglichkeit nicht leugnen, aber man maß bestrebt sein sie aasznschließes
nnd kann das erreichen. Bei Gelegenheit meines Breslaner Vortrags wurde mir
ans der Universitäts-Kinderpoliklinik freundlichst ein Kind mit Pleuraergnfi zur
Verfügung gestellt, das ich nur nach ganz flüchtiger Untersuchung der Ver-
sammlung demonstrieren konnte. Ich zeichnete mittelstark, leise und tastend
perkutierend das resultierende paravertebrale Dämpfungsdreieck mit dem Dermo-
graphen auf den Brustkorb des Kindes und traf dann die Linien genau, lautlos
tastend bei gesclüossenen Augen und abgewandtem Gesicht und daran anschließend
auch bei kaum hörbarer Tastperknssion. Ich gestehe, daß ein solches Experiment
sehr gewagt ist. Denn es bedarf auch bei großer Übung, um bei lautloser Tast-
perkussion (Palpation) sich und die Methode nicht zu kompromittieren, großer
Ruhe und vollkommener Konzentration und das sind unsichere Voraussetzungen
nach einem längeren Vortrage in einer größeren Versammlung. Wäre es mir
aber nicht gelungen, so hätte ich immerhin nach der Sitzung die Bedingungen
gefunden, bei denen Mißlingen ausgeschlossen ist. Ich erwähnte oben, daß zur
eigenen Kontrolle in zweifelhaften Fällen leiseste Schallperkussion mit lautlosem
Tasten abgewechselt werden kann. Ebstein (Tastperkussion, S. 16) übt neben-
einander und abwechselnd die Tast- und die Schallperkussion aus, wenn er Zu-
hörer vor sich hat, die ja vom lautlosen Tasten nichts wahrnehmen können; ich
tue dasselbe, überzeuge aber die Zuhörer und anwesenden Kollegen von der Zu-
verlässigkeit der Methode hauptsächlich dadurch, daß die bei lautloser Tastr
perkussion gezogenen dermographischen Linien dann bei geschlossenen Augen
und abgewandtem Gesicht genau wiedergefcmden werden.
2) Unter anderem finde ich diese Tastkontrolle äußerst nützlich bei geringen
Dämpfungserscheinungen, welche durch leicht tympanitischen Schall für das Ge-
hör verdeckt oder zweifellhaft werden können; ein geübter Untersucher wird
vielleicht auch hier, in verschiedener Stärke und in verschiedenen Respirations-
phasen perktitierend, des Tastgeftthls entraten können, schneller und sicherer aber
kommt man zum Ziele, wenn man es pflegt und anwendet.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit, um dem Verdacht der Einseitigkeit zn
begegnen, anführen, daß ich mich keineswegs auch bei Kindern auf leiseste Per-
kussion und Abtasten bei der Untersuchung der Brostorgane absolut beschränke,
auch übe ich sowohl , mittelbare als unmittelbare Tastperkussion. Im Verlaufe
der Untersuchung muß mit Stärke und Art der Perkussion gewechselt werden,
bald . planmäßig, bald versuchsweise. Der beste Klavierspieler setzt sich nicht
an ein fremdes Instrument ohne zu prüfen wie es anschlägt, er spielt es durchs
ehe er sich produziert, und auch am eigenen Instrument macht er erst einige
Läufer, um sich zu prüfen. So ist es auch gewagt an einzelnen Stelleu oft nn-
ParaTertebrale Dämpfung auf der gesonden Brnstseite bei Pleuraergüssen. 217
inir zar Kritik und Eontrolle der hörbaren Perkussion absolut un-
entbehrlich. Praktisch — und auch bei theoretischen Betrach-
taogen — decken sich hörbare und lautlose (tastende) Perkussion;
ich denke dabei zunächst an die Grenzempfindung^en. In früherer
Zeit erschien es mir mei^wurdig, wie man bei leisester Perkussion
nnd beim perkutierenden Abtasten die Erschütterungen so weit
in die Tiefe fortpflanzen kann, daß Unterschiede in der Größe der
Schwingungsmaße noch zur Perzeption kommen, bis ich mich ge-
radezu empirisch, durch vieles Untersuchen gesunder Kinder, zur
Anschauung durchrang, daß es sich immer um die Grenzempfin-
dangen des Schalles und des Tastens handle und daß die Per-
zeption durch Übang und Konzentration sich steigern läßt. Die
sehr einfache aber treffende Überlegung W e i 1 's — unser Ohr faßt
leichter die Differenz zwischen Nicht&.und Etwas auf, also zwischen
mehr oder weniger laut — welche er freilich nur zur Stütze seines
Satzes anführt^ daß die schwache Perkussion zur Abgrenzung luft-
haltiger von luftleeren Organen, wenn beide wandständig sind^
den Vorzug verdiene. Aber diese Überlegung ist viel weiter
tilgend, wenn man sich vorstellt, daß die Einbuße an Tiefen-
wirkung bei der leisen Perkussion aufgewogen wird durch die Be-
schrankung der Diffusion in die Breite und die Einengung der
Grenze zwischen Nichts und Etwas, also für die Tast- und Schall-
perzeption nur eine scheinbare ist.
Völlig klar wurden mir aber alle diese Verhältnisse, als ich das
Werk von Karl von Vierordt, welchem ich die größten An-
regungen und Belehrungen verdanke, bald nach seinem Erscheinen
zu Gesichte bekam; ich meine sein posthumes, von seinem Sohne
Hermann Vierordt herausgegebenes Werk über: Die Schall-
nnd Tonstärke und das Schalleitungsvermögen der Körper, physi-
kalische und physiologische Untersuchungen. 1885. Wie mir scheint,
sind diese grundlegenden Untersuchungen noch nicht genügend ver-
wertet worden für die Fragen der physikalischen Untersuchungs-
methoden, welche akustische Erscheinungen zur Grundlage haben,
und ich glaube vielen Lesern meiner Arbeit einen Dienst zu er-
weisen, wenn ich einige für diese Fragen wesentliche Sätze hier
genfigend entkleideten Patienten ohne weiteres hernrnzuklopfen nnd für eine
befriedigende Unteranchung gewiß nicht zu nmgehen, erst die allgemeinen per-
knssorischen nnd palpatorischen Verhältnisse einer wenn anch raschen Prüfung
zn nnterwerfen. Sehr richtig sagt Ebstein (Tastperknssion p. 18): Mit einem
gewigsen Schändern sehe ich es immer an, wenn jemand mit dem Hammer nnd
dem PJessimeter bewaffnet, die Untersuchung sofort mit dem Beklopfen beginnt.
218 XU. Racchfcss
anführe. Indem K. v. V. die physiologische Empfindungsschwelle
als erstes Hilfsmittel für physiologische, insbesondere akustische
Intensitätsmessungen hinstellt, von den grundlegenden Arbeiten
E. H. Weber's und besonders Fechner's bei seinen Unter-
suchungen ausgehend, stellt er für das akustische Untersuchnngs-
gebiet die Verwendung der Reizschwelle als bequemes und
relativ zuverlässiges Hilfsmittel der Schallstärkemessung hin. Der
schwächsten Schallempfindung entspricht also ein bestimmtes, genau
definierbares, wenn auch vorerst bloß empirisches, zu jedweder
wissenschaftlichen und praktischen Verwendung aber brauchbares
Maß. Die Aufmerksamkeit kann bei diesen akustischen Experi-
menten viel besser auf die zu erwai-tende minimale Empfindmig
konzentriert werden, als das bei anderen Sinnesgebieten der Fall
ist; zu einer guten Beobachtung gehört also immer eine strenge
Konzentration der Aufmerksamkeit; man ertappt sich allerdings
bei der Erwartung der Empfindung dann und wann auf irgend
einer an ihrem Schwellenpunkt auftauchenden Vorstellung, Ver-
suche derart sind dann wohl in der Regel fehlerhaft. Was nun
weiter über Voraussetzungslosigkeit der Versuchsperson, Vexier-
versuche, Fehlerquellen, Zahl der negativen Fälle bei den Ver-
suchen folgt, ist ungemein lehrreich für den, der für die leise
Perkussion und lautlose Tastperkussion die Methode der eben
noch merklichen Empfindung verwertet. In bezug auf die
Auffindung des Schwellenwertes geht K. v. Vierordt immer
vom gut Übermerklichen aus und empfiehlt, nachdem man
der Grenze des Ebenmerklichen sich genähert und diese ungefShr
bestimmt hat, etwas weiter, d. h. ins Untermerkliche zu gehen,
was zur Sicherstellung des Schwellen punktes dient; daß
letztere kein Punkt ist, sondern eine gewisse Ausdehnung besitzt
versteht sich von selbst; gute Beobachtungen reduzieren aber die
„Ausdehnung" des Schwellenpunktes sehr wesentlich. Würde man
mit dem Unter merklichen beginnen, so ist der Zeitaufwand
meist ein größerer, bis die Schwelle erreicht ist. Was K. v. Vier-
ordt nun weiter über die Schwankungen der individuellen akusti-
schen Dynamie (individueller Schwellenwert der Empfindung), dL h.
der Unterschied^e, in der Bestimmung des Schwellenwertes an ver-
schiedene Personen oder an denselben zu verschiedenen Zeiten und
unter verschiedenen Umständen (Ermüdungserscheinungen u. dgl.)
ist an sich und auch für den Kliniker von großem Interesse.
Man könnte nun glauben, so subtile, exakte, rein wissenschaft-
liche Untersuchungen im Gebiete der Akustik, wie sie K. v. V. uns
Para?ertebr&le Dämpfung auf der gesanden Brnstseite bei Pleuraergfissen. 219
ToHvInty MUen wenig Beziehungen und kaum einen Wert für das
relativ grobe akustische Experiraent, irelches in der kliniscben
Perkussion enthalten ist. Wäre dem so, so hätte ich nicht gewagt,
soviel ans dem Buche zu zitieren. Ich tat es, weil mir beim
Stadium des Buches so manches durch ein exaktes Experiment
klar wurde, was sich mir empirisch im relativ groben Experiment
am Menschen ergeben hatte, wie z. B. das Vorgehen bei der Be-
stimmung des Schwellenwertes durch Ausgehen von Übermerklichem
und die weiteren sich daran knüpfenden eben angeführten Eautelen
und vor allem die Bewertung des Schwellenwertes der Empfindung,
^er Ebenhorbarkeit, die eine sicherere Abgrenzung gestattet, als alle
anderen Differenzen des mehr oder weniger lauten Schalls.
In B r e s 1 a u , bei Gelegenheit der Demonstration des an Pleura-
ergni leidenden Kindes, an dem ich die Grenze des Dämpfungs-
dreiecks durch leiseste Schallperkussion und lautlose Tastperkussion
bestimmte, faßte ich meinen Standpunkt in Kürze so zusammen:
„Der Widerspruch, in dem die von mir bevorzugte, auf Bestimmung
der Schwellenwerte des Ebenhörbaren und der Methode der eben
noch merklichen Empfindung (K. v. Vierordt) beruhende leiseste
Perkussion und Tastperkussion mit einer solchen Tiefenwirkung zu
stehen scheint, ist eben nur ein scheinbarer.^^
Die größten Erfolge, welche die leiseste und die Tastperkussion
gezeitigt, liegen zweifellos in der Herzperkussion, nachdem sie
durch die von Moritz inaugurierte orthodi agraphische Methode
eine feste Grundlage erhalten. Einen an eigener Erfahrung und
Auffassung reichen, dieses Thema gründlich behandelnden Über-
blick gibt die interessante Arbeit von Goldscheider über Herz-
perkussion (D. m. W. 1905, 2. März). G. fand mit der all er-
leisesten Perkussion (eine Bezeichnung, die ich der leisesten
Perkussion als noch prägnanter, voi*ziehe) die dem Orthodiagramm
entsprechenden Herzgrenzen am besten und faßt die Erklärung für
den Wert der allerleisesten Perkussion in den Ausdruck „S ch wellen -
wertperkussion^ zusammen. „Man klopfe so leise, daß man
über der ganzen Tiefe der Lunge eine eben merkliche Schallwahr-
nehmung hat (Schwellenwert); es soll Ruhe herrschen, sonst per-
kutiert man übermerklich. Stärkere Perkussion fördert die
transversale Ausbreitung umi trübt den Erfolg." Mit der Bezeich-
nung Schwellenwertperkussion ist in der Tat das Wesen der Sache
kurz und bündig ausgedrückt.
xni.
Aus dem Laboratorium der medizin. Klinik in Göttingen.
Stoffwechselnntersnchnngen bei experimenteller Anämie.
Von
Dr. Franz Samuely,
Assistent der Klinik.
Bei Gelegenheit von Untersuchungen über den Gehalt von
Aminosäuren im pathologischen Harn hatte ich in 2 Fällen von
pemiciöser Anämie GlycocoU aus dem Harn in einer Menge iso-
lieren können, die die Glycocollwerte der normalen Harne am ein
erhebliches Überstieg. Es steht die Frage zur Diskussion, ob das
vermehrte Auftreten dieser Säure der Ausdruck eines pathologi-
schen Prozesses ist, der mit der fortschreitenden Blutdestruktion
in direktem Zusammenhang steht oder nur die Teilerscheinung
einer allgemeinen Stoffwechselstörung ist. Im letzteren Falle
wäre das vermehrte Auftreten, homolog der Verminderung der
Blutelemente, die Folge der die Anämie erregenden nnbekannten
Noxe.
Aus der menschlichen Pathologie liegen bis jetzt keine bin-
denden Belege vor, die für die verschiedenen Formen der Anaemia
gravis eine Steigerung des Eiweißzerfalls und eine konstante ab-
norme Verteilung des Harnstickstoffs als Bild einer Stoffwechsel-
störung feststellen. Aminosäuren sind mit Sicherheit nur sub finem
vitae bei perniciöser Anämie gefunden. Für die Helminthenanämie,
die am eingehendsten von Rosenqvist (1) studiert ist, muß an-
genommen werden, daß die Anämie als solche ohne Richtung auf
den Eiweißzerfall ist, und daß, für den Fall Eiweißeinschmelzung
erfolgte, die toxischen Einflüsse und nicht die „anämischen^
die Sachlage beherrschen. Auch für die Verteilung des Stickstoffe
im Harn ergeben sich aus zahlreichen Untersuchungen (2) keine
erheblich von der Norm abweichenden Verhältnisse.
Trotz dieser wenig ermunternden Ergebnisse früherer Unter-
Stoff wechselnntersuchuiigen bei experimenteller Anämie. 221
8ucher schien es mir wichtig, dieser oben aufgeworfenen Frage ex-
perimentell näher zu treten. Der Versuch am Tier, das künstlich
anämisch gemacht oder unterhalten wird, gestattet eine Beobach-
tnng über lange Zeit und vielleicht ist die Inkonstanz der Befunde,
die sich aus den Stofifwechseluntersuchungen am anämischen Menschen
ergaben, darin begründet, daß die Objekte zu verschiedenen Zeiten
seit dem Bestehen der Krankheit und unter wechselnden Bedingungen
beobachtet worden sind.
Zur experimentellen Erzeugung von Anämien stehen die ver-
schiedensten Blut- oder Blutkörperchengifte zur Verfügung, die
aber ihre Wirkung anscheinend nicht nur auf die Stätten der
Blatbildung und die morphologischen Bestandteile des Blutes be-
schränken, sondern allgemein cellular toxische Einflüsse ausüben.
Nnn haben die anatomischen ITutersuchungen über die morpho-
logischen Veränderungen des Blutbildes bei pemiciösen Anämien
nnd toxisch experimentellen Anämien keine restlose Übereinstim-
mung beider Formen ergeben. Dennoch bestehen, wie auch Tall-
qvist(3) in seiner großen Monographie der „experimentellen Blut-
giftanämien zugibt", trotz solcher Verschiedenheiten, Parallelen.
Denn das Gemeinsame beider Anämien ist der unabhängig von der
Ätiologie fortschreitende Untergang von roten Blutkörperchen.
Bedenkt man ferner, daß die im Gefolge von schweren Anämien
am Menschen beobachteten parenchymatösen Organveränderungen
(Leberverfettung, Nierentrübung etc.) auch nicht mit Sicherheit
die Folge einer verminderten Blutversorgung sind, im Gegenteil
auch für die kryptogenetischen Anämien, wie dies für die Helminthen-
anämien festgestellt, eine Toxinwirkung höchst wahrscheinlich wird,
so ist ein Anknüpfungspunkt zwischen klinisch- und experimentell-
pathologischen Zustand nicht zu leugnen. Immerhin aber bin ich
mir wohl bewußt, daß die Resultate dieser Untersuchung der mensch-
lichen Pathologie nur probeweise zur Seite zu stellen sind.
Natürlich war ich bestrebt, das Bild der durch Pyrodin-
iDjektionen erzeugten Anämie dem etwa der pemiciösen Anämie
des Menschen möglichst ähnlich zu gestalten. Es mußten also die
klinischen Erscheinungen der chronischen Anämie im Vordergrund
stehen. Hierzu aber mußte die zur Erzeugung und zur Aufrecht-
erhaltnng dieses Zustandes notwendige Giftdosis quantitativ und
zeitlich so bemessen werden, daß das Gift keinen unmittelbaren
und dauernden deletären Einfluß auf die Funktion und den Bestand
der übrigen Organe ausübte. Daß es gelingt, einen solchen klini-
schen Zustand über lange Zeit mit mehr oder weniger gutem Ge-
222 Xni. Samubly
lingen aufrecht zu erhalten, haben zahlreiche Versuche von Tail-
qvist, zuletzt wieder von Sothmann und Mosse (4) n. a.
dargetan. Da ffir die vorliegenden Fragen der Bestand einer
chronischen Anämie im Vordergrund des Interesses steht, habe
ich die Veränderungen, die mit dem Beginn der Anämie und dem
akuten Zerfall von Blutkörperchen einhergehen, nicht in den Be-
reich der Stoffwechseluntersuchung gezogen.
Insofern sind diese Versuche auch nicht vergleichbar mit den
von Kolisch und v. Stejskal (5) mitgeteilten Stoffwechselunter-
suchungen bei akuter Blutphthise oder den Befunden, die Fraenkel(6)
nach Pyrodinvergiftung und K ü h n a u (7) nach Pyrogallolinjektionen
und darauf folgendem Blutzerfall wiedergeben.
Fraenkel teilt in einer nur 16 Tage dauernden Stickstoff-
bilanz das Verhalten der Stickstoffausscheidung nach akuter, bei-
nahe foudroyanter Pyrodinvergiftung mit, ohne Berücksichtiguüg
des Blutbefundes. Er konstatierte dabei 2 Perioden gesteigerter
Stickstoffausscheidung, d. h. Eiweißzerfalls, deren erste prompt auf
die Verabreichung der ersten Giftmengen erfolgt, um nach 2 Tagen
dem früheren N-Gleichgewicht wieder zu weichen. Der Autor sieht
in ihr eine auf die lebende Gewebssubstanz der verschiedenen
Organe unmittelbar ausgeübte Giftwirkung. Die zweite Periode
des Eiweißzerfalls wächst mit steigender Giftdosis (2,35 g in 9 Tagen)
und ist als Folge der blutdestruierenden Einwirkung der Vergiftung
anzusehen. Obgleich sich bei der Sektion der Versuchstiere keine
Verfettung der parenchymatösen großen Drüsen zeigte, bezieht
Fraenkel den gesteigerten Eiweißzerfall auf eine verminderte
Sauerstoffversorgung der Gewebe, bedingt durch den Zerfall der
roten Blutelemente.
Ohne auf die Deutung dieser Versuche einzugehen, ist klar^
daß hier über den Stoffwechsel bei Anämie gar nichts ausgesagt
ist, sondern nur ein toxikologischer Befund vorliegt.
Aus demselben obigen Grund übergehe ich auch die Arbeit
von S. K a m i n e r (8), bei der Stickstoff bilanzen nicht mitgeteilt
werden. Über eine Veränderung des Stoffwechsels im Gefolge
chronischer experimenteller Pyrodinanämie berichten andeutungs-
weise nur Rothmann und Mosse. Mosse (9) fand mikrochemisch
in den Leberzellen von Hunden, die nach 3 Monate dauernder
Pyrodinanämie eingegangen waren, gegen Farbstoffe eine partielle
Basophilie des Protoplasmas, die er im Sinne einer Säuerung des
Lebergewebes deutet, ohne sich über die Ursachen dieser Acidose
auszusprechen. Neuerdings hat Mosse dieselben histologischem
Stoffwechaelmitersiichungen bei experimenteller Anämie. 223
Bilder der Leberzellen durch Hanger und Urämie erzeugt, so daß
es fraglich ist, ob die vermeintliche Acidose die Folge einer Säue-
rung durch intermediäre Stoffwechselprodukte oder einer die Pyrodin-
vö^iftung begleitenden Niereninsufficienz ist In meinen Versuchen
war Gelegenheit, das Bestehen oder Nichtbestehen einer solchen,
etwa „anämischen" Acidose chemisch sicher zu stellen.
I.
Methodik und klinische Beobachtnngen.
Als Versuchstiere dienten 2 Hunde, die sich schon seit Wochen
im Stickstoffgleichgewicht befanden. Für die Wahl der Giftdosis
war entscheidend : in kürzester Zeit eine Anämie zu erzeugen. Nach
einem Mißerfolg habe ich von der Verabreichung kleiner Anfangs-
dosen nach dem Vorbild von Rothmann und Mosse abgesehen.
Wie diese Autoren und auch Tal Iq vi st feststellen konnten, be-
darf es bei diesem Vorgehen zur Unterhaltung der Anämie später
einer erheblichen Steigerung der Giftmengen, die in solcher Masse
verabreicht, die allgemeinen toxischen Erscheinungen in dem klini-
schen Verhalten der Tiere, und die geschädigte Funktion der drüsigen
Organe, vor allem der Niere, in den Vordergrund rücken. Es ge-
lang mir sehr wohl, durch große Anfangsdosen in kurzer Zeit die
gewünschte, schwere Anämie zu erzielen, die sich später mit
wechselnden, aber wesentlich kleineren, oft minimalen Dosen auf-
recht erhalten ließ. Es scheint bei dem Verhalten der Tiere gegen
Pjrrodin ein individuelles Moment mitzuspielen. Wenigstens scheiterte
ich bei einem dritten Hund mit der Unterhaltung des anämischen
Zustandes durch kleinere Dosen. Nicht unmöglich ist es, daß bei
der Schwerlöslichkeit des Pyrodins in Wasser, je nach den Be-
dingungen eine verschieden große Giftdosis in der Zeiteinheit den
Körper passiert. Wenigstens ließe sich so erklären, daß das klinische
Befinden der Tiere ein außerordentlich schwankendes ist, und daß
man oft beim Übergang zu kleineren Giftmengen eine Verschlechte-
rung des Allgemeinbefindens erlebt. Man ist also in der Dosierung
der minimal schädigenden, aber noch wirksamen Giftdosis in ge-
wissem Sinn auf den Zufall angewiesen, um einen Versuchshund
in einer für Stoffwechselversuche brauchbaren Form zu erhalten
(kein Erbrechen und keine Freßunlust, keine Durchfälle etc.). Bei
einiger Erfahrung, reichlicher Kontrolle und vor allem klinisch
sehr guter Beobachtung der Tiere, läßt sich das gewünschte Ziel
erreichen. Ich gestehe, daß ich, abgesehen von einer schlechten
224
XIII. Samukly
Erfahrung, darin vom Glück begünstigt war, insofern die Gift-
empfänglichkeit beider Hände individuell wenig schwankte.
Das Pyrodin (Acetyl- Phenylhydrazin) wurde in wässeriger,
leicht erwärmter 1 — 2®/o Lösung jeweils am Morgen nach der
Futteraufnahme injiziert. An Tagen, an denen Blutzählnngen ge-
macht wurden, erst nach der Zählung.
Bei beiden Tieren hatte sich in der 12. Woche des Yersachs ein
subkutaner Absceß gebildet, der nach Inzision ausheilte.
Die Blutzählungen erfolgten jeweils zur gleichen Tageszeit
frühmorgens mit den für die übliche Blutentnahme notwendigen
Kautelen. Die Untersuchung des Serums auf gelösten Blutfarbstoff
geschah sporadisch nach der von Tallqvist angegebenen Methode.
in Kapillarröhrchen unter Befeuchtung der Glaswandung mit ge-
rinnungshemmenden Substanzen, um nach Sedimentieren der Blut-
elemente, die spektroskopische Prüfung vorzunehmen.
Im Harn wurde auf Eiweiß, Zucker, Hämoglobin und Gallen-
farbstoflfe geprüft. Die Prüfung auf Blutfarbstoflfe geschieht in
sehr verdünnter Lösung durch Überführen des Hämoglobins in
Harnchromogen und spektroskopische Identifikation.
Im Folgenden ist tabellarisch eine Übersicht über das Ter-
halten der Blutelemente und den Gang, den die ganze Unter-
suchung genommen hat, für Hund I gegeben.
Tabelle I.
Hund I. 2 V« jähriger gesunder Kattler. der sehr wohl genährt ist.
Datum
CO ^
«'S
>
Anfan&^s-
ge wicht
der Woche
rote
weiße
Blntkörp. Blutkörp.
Tabellen
im Text
19 m.-
26,111.-
2. IV. -
8. IV. -
16. IV. -
22. IV.-
29. IV. -
7. V.-
12. V.-
21. V.-
29. V-
4.VI.-
ll.VL-
18. VI.-
29,
- 25. ni.
- l.IV.
- 7. IV.
-16. IV.
- 21. IV.
- 28. IV.
- 6. V.
-11. V.
-20. V.
-28. V.
- 3. VT.
- 10 VI.
- 17. VI.
-26. VI.
VI.
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
XIV.
22Pfd
22
22
21
21
21
21
21
21
21
21
21
21
21
20
n
n
7)
n
n
n
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n
«
4l0gr
370 „
105 „
320,
270 „
440 „
470 „
3^0 „
372
240
180
120
130
100
320
15
n
8422000
12100
8282000
12 246
6 870000
15400
3 962 000
19310
2160000
15100
2564000
23000
1412000
17 620
1814 000
19 600
3 612 000
2110000
2422 000
18000
3641000
117000
2 514 000
■—
1722000
16200
Exitns
0.8
i;6
1,8
0,7
0,45
0,85
0,27
0.17
0,5
0,7
1,2
0,8
0,6
II. Normal
m.
IV.
X. Phenylalanin
Vn. Alanin.
XI. PheDylalanin
IX. GljcocoU.
Vm. Alanin
Das Gewicht bezieht sich auf die Anfangstage der Woche, die
Zahl der roten Blutkörperchen auf die Endtage.
StoffwechselnntersnchuQgen bei experimenteller Anämie. 225
Bei Hand II gestalteten sich die VerbUtnisse bei etwas anders
verteilten Giftdosen ähnlich.
Wie ans der Tabelle ersichtlich, ließ sich der Versuch über
13 Wochen ausdehnen, d. h. vom 26. März bis 26. Juni. Die eigent-
liche chronische Anämie rechne ich vom 22. April ab. Die Ab-
nahme der roten Blutkörperchen ist schon in der dritten Woche
eiDe ganz erhebliche. Die Zahl hält sich dann innerhalb geringer
Schwankungen, um im Maximum bis zu 3641000 wieder zu steigen,
md das gerade am Ende jener Woche, bei der die Pyrodininjek-
tionen herabgesetzt werden mußten, da das klinische Verhalten zur
Vorsicht mahnte. Die Zahl der weißen Blutkörperchen ist im Zu-
nehmen, entsprechend allen älteren Beobachtungen, daß sieh bei der
Pyrodinanämie eine Leukocytose einstellt Der hohe Wert der
Periode Xn kann vielleicht mit der abscedierenden Eiterung in
Znsammenhang stehen.
Auf die mikroskopischen Befunde des morphologischen Blut-
bildes soll hier nicht eingegangen werden. Ich habe alle jene
Bilder beobachtet, die in erschöpfender Weise von Tallqvist,
Messe, Reckzeh (10) u. a. früher beschrieben sind. Kernhaltige
rote Blutkörper traten zuerst vereinzelt in Periode IV auf, zuletzt
waren deren konstant 3—4 im Gesichtsfeld zu finden. Desgleichen
wurden die mehrkemigen roten Blutkörperchen und solche mit
Xemteilungsflguren von Periode IX ab häufiger. Es sei für diese
Frage auf die Arbeiten der genannten Autoren verwiesen.
Wie femer aus Tabelle I ersichtlich, nahm der Hund besonders
in den ersten 4 Wochen an Gewicht beträchtlich ab, eine Er-
scheinung, die mit dem klinischen Bild und der Stofifwechselbilanz
im Einklang steht, und durch die toxische Eiweißeinschmelzung
und die akut veränderte Blutbeschaffenheit erklärt wird, später
finden sich Perioden, in denen der Hund nur unwesentlich an Ge-
wicht verliert, neben solchen absoluter Gewichtszunahme innerhalb
kleiner Zeitinterwalle.
Klinische Krankengeschichte.
25. März. Der Hand ist bei Beginn des Versuches ganz gesund.
26. — 30. März. Das Tier zeigt nach den ersten Injektionen keine
Veränderungen, am 4. Tag wird der Urin braun gefärbt, und läßt beim
Stehen ein braunea Sediment fallen, in dem nichts Morphologisches nach-
weisbar ist. Am Blut makroskopisch keine Verftnderungen.
2. — 8. April. Es wird im Urin am 6. April eine Spur von Blut-
farbstoff sacbgewiesen. Bei einer Zahl der roten Blutkörperchen von
4 272000 zugleich Spuren von Albumen. Im Wesen des Hundes keine
Veränderung.
Oentsches Archiv f. klin. Uedizin. 89. Bd. 15
226 Xin. Samuely
6. April. Beginnende Blässe der Schleimhäute angedeutet. Der
Urin ist tief braun, etwas dickflüssig.
9. April. Im Harn immer noch Blutfarbstoff. Albumen hat an
Menge zugenommen. Der Hund beginnt matt zu werden und liegt viel ;
Nahrungsaufnahme erfolgt aber quantitativ.
15. April. Die Schleimhäute sind seit 12. April erheblich abge-
bläßt, und zeigen eine grauschmutzige Färbung, an den Zahnrändern
leichte Blutung, kein Ikterus der Conjunctiva. Der Urin ist sehr dick-
^ flüssig, tiefbraun, reichlich Albumen. Hämoglobin -{-. Im Blut, in dem
schon seit 6. April die G-eldroUenbiidung verlangsamt ist, ist diese jetzt
ganz geschwunden. Blutkörperchen kömig degeneriert, hochgradige Pol-
kylocytose. Makroskopisch ist das Blut mißfarben, braunrot, gerinnt nur
langsam.
16. April. Harn. Va %o -^^^o^^i^* Der Hund ist sehr matt, und
sehr angegriffen, schläft viel, und frißt die gereichte Nahrung nur sehr
langsam.
17. April. Der Hund immer noch mitgenommen, aber lebhafter.
Die Nahrung wird ganz verweigert. Die Blässe hat zugenommen. Urin
weniger Albumen. Kein Hämoglobin.
21. April. Hund ist wieder ganz bei Kräften.- Nahrungsaufnahme
quantitativ. Im Urin ist seit 19 kein Albumen mehr.
25. April. Blutveränderung: Das typische Bild. Blut sehr hell
und blaß. Kräftezustand gut. Nahrungsaufnahme desgl. Es fallen leichte
Ohnmachtsanfälle auf, im Anschluß an Aufregung. (Nahen des Dieners.
Reichen des Futters.) Femer nach Anstreogung. (Springen auf einen
Stuhl.) In der Zwischenzeit aber lebhaft. Herzaktion sehr beschleunigt,
aber keine Herzgeräusche.
29. April. Extreme Blässe der Schleimhäute. Der Hund ist sehr
träge. Nahrungsaufnahme zögernd. Daher die Nahrung in kleinen Por-
tionen über den Tag verteilt. Urin immer noch braun, aber frei von
Blut. Auf Eiweiß ganz schwache Trübung mit Ferrocyankali-Essigsäure.
5. Mai. Der Hund schläft viel, frißt aber wieder spontan. Es be-
steht am linken Auge eine Conjunctivitis. Stärkerer Haarverlust.
7. Mai. Urin sehr dunkel, sirupartig. Blutbefund im Lauf der
ganzen Periode unverändert.
11. Mai. Der Hund wieder ganz mobil und lebendig. Im Urin
kein Albumen. Der Hund hält sich in diesem Zustand bis zum 17. MaL
18. Mai. Der Hund verweigert plötzlich die Nahrung, ohne objek-
tive Anzeichen einer Komplikation. Sonst lebhaft. Im Urin minimale
Menge von Albumen. Wird daher gewaltsam gefüttert.
22. Mai. Im Harn keine Spur von Albumen. Hund frißt wieder
spontan, aber langsam, daher mehrere BAtionen p. d.
24. Mai. Wieder spontane Nahrungsauftiahme auf einmal. Blässe
aller Schleimhäute exzessiv. Pigmentverlust an der Mundschleimhaut^
und Pigmentbildung an vorher blassen Stellen. Augenhintergmnd o. B»
5. Juni. Der Hund verweigert die Nahrung, hat Temperatur von
39,9. Es zeigt sich ein fluktuierender, subkutaner Absceß an der rechten
Bückenseite, der tief inzidiert und drainiert wird.
Stoff wechselimtersuchiingen bei experimenteller Anämie. 227
9. Juni. Der Absceß ist ganz ausgebeilt. Der Hund wieder leb-
haft und freßlustig. Im Urin eine Spur Albumen, kein Blut.
14. Juni. Der Hund ist weniger freßlustig, wird daber gewaltsam
geföttert. Keine Temperatursteigerung.
17. Juni. Allgemeinbefinden wie seitber, sebr apathisob, aber frißt
wieder spontan. Beim Oeben Nacbscbleifen der Hinterbeine. Wiederholt
wurden auch früber schon geringe ataktiscbe Bewegungen beim Laufen
(Stolpern, tlbereinandersetzen der Vorderbeine) beobachtet.
19. Juni. Erbrechen aus unbekannter Ursache. Nahrungsaufnahme
sehr gering. Der Hund säuft viel. Im Harn Albumen wieder flockig
fallbar.
22. Juni. Der Hund verweigert seit 20. die Nahrung, bei ge-
waltsamer Fütterung jedesmal Erbrechen. — Das Tier verfallt zusehends.
Es besteht eine Auftreibung des Leibes.
24. Juni. Zustand unverändert. Das Tier liegt auf der Seite. Es
besteht Durchfall.
26. Juni. Da eine Begeneration ausgeschlossen erscheint, wird der
Hund aus der Carotis verblutet, danach sofort die Sektion vorgenommen»
Bei Hund II wurde in den 10 Wochen Pyrodininjektionen aus-
gesetzt, und eine Regeneration der Blutverbältnisse abgewartet, was nach
20 Tagen der Fall war, danach das Tier in analoger Weise getötet.
Das hier beschriebene klinische Bild, das mit geringen Ab-
weichnngen bei dem Hnnd II sich ähnlich verhielt, gleicht dem-
jenigen, das Tallqvist in seiner Monographie in zahlreichen
Füllen beschreibt Entsprechend den großen Giftdosen der An-
fangszeit, hat es sich in den ersten 4 Wochen nm eine subakute
Intoxikation gehandelt, während in der Folgezeit das Allgemein-
befinden des Tieres von der Vergiftung direkt nur wenig beein-
flußt erschien. Auch das Verhalten des Harns, die Hämoglobinurie
und die Albuminurie zu Beginn , das Zurücktreten dieser Er-
scheinungen in der Folgezeit, sprechen durchaus für diese Deutung.
Der für die Stoflfwechselperiode gewünschte Zustand kann daher
als Folge der spezifischen Giftwirkung auf das Blut, mithin auf
die chronische Anämie des Organismus bezogen werden.
Einer gesonderten Besprechung bedarf noch die Albuminurie,
da sie geeignet ist, die Deutung der Stoffwechselbefunde als Folge
der Pyrodinanämie zu trüben. Nach den Protokollen von Tall-
qvist ist die Albuminurie durchaus keine konstante, oder dauernde
Erscheinung der Pyrodinvergiftung. In vereinzelten Fällen wurde
sie ganz vermißt. Mit dem längeren Bestehen der Anämie sehen
wir sie oftmals ganz verschwinden. Rothmann und Mosse
machen keine Angaben über das zeitliche Auftreten der Albumin-
urie, betonen aber in ihren Sektionsbefunden, im Gegensatz zu
Reckzeh das Bestehen einer hochgradigen parenchymatösen
15*
228 ^11- SAJttTXLT
Nephritis bei Erhaltensein der Glomemli. Es scheint, daß für
jenen Fall die Nephritis die Folge der gerade in den letzten Wochen
verabreichten sehr großen Giftmengen ist. In den vorliegenden
Fällen aber darf wohl den geringen Eiweißausscheidungen der
letzten Yersuchsperioden, die oft nur eben angedeutet waren, kein
größerer Einfluß auf die intramediären StofPwecbselprozesse und
Organfunktionen zugeschrieben werden. Bei dem gelinderen Ver-
lauf der Blutschädigung, bei der mehr vielleicht die Regeneration
der Blutelemente gehemmt und nicht die bestehenden Blutkörperchen
zerstört wurden, trat eben die Albuminurie zurück. In der An-
fangsperiode ist bei dem plötzlichen massenhaften Auftreten von
toxischen Zerfallsprodukten aus roten Blutkörperchen, eine akute
Schädigung der Niere durch solche Substanzen begreiflich.
In dieser ersten Periode beobachtete ich wie Zülzer (11) das
Auftreten von Eiweiß, das in seinen Reaktionen an Bence Jones'scbe
Albumosen erinnerte. Eine sichere Identifikation halte ich aber
nicht für erbracht.
Temperatursteigerungen wurden mit Ausnahme der einen Pe-
riode nie beobachtet.
Der sichere Nachweis von gelöstem Blutfarbstoff im Serum ist
mir nicht gelungen. Danach scheint es, daß der Zerfall der
roten Blutkörperchen nicht frei in der Blutbahn erfolgt, sondern
an Stellen, an denen das Gewebe den gelösten Blutfarbstoff sofort
aufnehmen kann. Es ist aber auch möglich, daß eine chemische
Spaltung des Hämoglobins erfolgt, etwa unter Herauslösung des
Eisens, die den Hämoglobinderivaten die färbende Eigenschaft
entzieht.
Hämoglobinurie wurde nur in den ersten beiden Wochen spo-
radisch beobachtet.
Der Harn beginnt sehr bald nach der Vergiftung eine dunkel-
braune Farbe anzunehmen. Diese besteht schon in dem frisch ent-
nommenen Urin, ohne sich bei Eontakt mit dem Luftsauerstoff
zu verstärken. Es mag sein, daß diese Farbe von reichlidi an-
gehäuften Zersetzungsprodukten, etwa des Urobilins herstammt
Bilirubin konnte nicht nachgewiesen werden. Da diese Farbe auch
noch nach dem Aussetzen der Giftinjektionen geraume Zeit be-
stehen bleibt, so ist eine Beziehung zu der Phenolgruppe des ein-
verleibten Giftes nicht wahrscheinlich.
Zucker wurde niemals im Harn gefunden. Dagegen zeigte es
sich im Lauf der Vergiftung, daß der Harn Fehling'sche Losung
sofort in der Kälte grün färbte. Dieses Verhalten ist aach dem
Stofifwechselnntersuchiingen bei experimenteller Anämie. 229
normaleii HUDdeharn eigen, aber nie in einem Maße, wie dies hier
der Fall war.
Sektionsprotokoll: Das subkutane Fettpolster ist vermindert.
Das Fett aller viszeralen Organe außerordentlich üppig vorhanden.
Erhebliche Blässe der inneren Organe, des Darmes und Herzmuskels.
Die Muskulatur nicht sonderlich blaß.
Die Herzmuskel blaß, vereinzelte subperikardiale Blutungen mit
Pigmentierung der Nachbarschaft. Ausgedehnte Tigrienmg durch Fett-
einlagenmg im Myokard und den Papiliarmuskeln.
Die alte Absceßhöhle ist ausgeheilt, nirgends perforiert.
Im Abdomen findet sich trübes Exsudat, mit flockigen BeimiBchungen«
Die Därme sind in der Gegend der Ooloniasceodenz verklebt, mit stellenweise
frischen Fibrinauflagerungen bedeckt; in der Oegend der rechten Flexur be-
steht ein dickes Konvolut von Darmschlingen, das vorsichtig gelöst wird.
Es zeigt sich etwa 5 cm unterhalb der Flexura asoendens ein Schnür-
liBgf an dem die Serosa ringsum gerötet ist. Von diesem Schnürring
aufwärts, reicht ein dicker, grünlichgelber Fibrinbelag, der die Nachbardärme
fixiert^ und der 2 cm etwa nach der Flexur wiederum scharf absetzt.
Beim Aufschneiden des Darmes zeigt sich die Mukosa in dem Darm
normal, mit Ausnahme der Stelle, die im Darmlumen genau mit der
ümgrenEiing durch den serösen Fibrinbelag, korrespondiert.
In den normalen Darmteilen nirgends Follikelsohwellung oder In**
jektion. Schleimhaut nicht atrophisch.
Im Bektum und Dickdarm keine Pigmentierungen sichtbar.
In der oben beschriebenen Begion ist die Mukosa fast ganz ge-
schwunden, so daß die Darmwand zumeist papierdttnn erscheint. Eine
Perforationestelle ist nirgends zu finden. Die Bänder dieser atrophischen
Darmwand setzen scharf gegen das gesunde ab, sind etwas erhoben und
gewulstet, am Band infiltriert; die von außen sichtbare Demarkation ist
auch innen durch einen roten Bing deutlich zu erkennen.
Eine Invagination oder Einschnürung ist nicht mehr zu konstatieren»
Im Mesenterium an dieser Stelle mißfarbige Trübung. Eine Thrombose
nirgends an konstatieren.
Die Leber ist weich, sehr vergrößert, von dunkel braunroter Farbe,
bei teigiger Konsistenz. Auf dem Durchschnitt das typische Bild der
Fettleber. Überall an Probeschnitten starke Eisenreaktion mit Ferro-
cyankalL Die Gallenblase mit dicker, zäher Qalle gefüllt. Keine In-
jektion der Gallenkapillaren.
Die Milz ist hochgradig vergrößert und stellt einen bis über die
Medianlinie reichenden, blau-schwarzen Tumor dar. Gewicht 172 g.
Länge 42 cm. Die Milz ist prall elastisch, auf dem Durchschnitt nicht
zerfließlich. Deutliche Schwellung der Follikel, die Trabekelzeichnung
tritt deutlich hervor, ebenfalls überall lebhafte Hämosiderinreaktion.
I>ie Nieren makroskopisch wenig verändert. 4 — 5 Bandinfarkte,
die blaB sind, also älteren Datums. Die Schnittfläche ist blaßgelb, in
der Oorticalis sind braun gef&rbte Streifen sichtbar. Eisenreaktion positiv.
Die Magenschleimhaut erscheint sehr dünn.
I>aB Knochenmark in beiden Femur von tief himbeerroter Farbe.
230
XUI. Samublt
Das Bild des roten Knochenmarks sehr weich und zerfließlich. Die
Spongiosa der Diaphysenteile ganz locker und erweicht.
Starke Eisenreaktion vorhanden. Nirgends im Knochenmark graa-
gelhe Stellen mehr vorhanden.
Blase: keine Cystitis.
Bückenmark blaß. Makroskopisch mit Sicherheit keine Degenera-
tionsherde festzustellen.
Als Todesursache oder causa eines drohenden Exitus bestand
eine Peritonitis, vermittelt dorch eine Atrophie der Darmwand, mit
sekundärer Durchwanderung von Entzfindungserregem ohne Per-
foration. Es ist wahrscheinlich, daß die Atrophie der Mukosa be-
dingt war, durch eine anämische (?) Invagination mit Abschnünmg
der blutversorgenden Gefäße. Anzeichen einer primären Mesaraica-
thrombose und sekundärer ischämischer Nekrose der Darmwand
bestehen nicht mit Sicherheit.
Es bleibt aber auch möglich, daß es sich um ein anämisches,
fortschreitendes Ulcus gehandelt hat. Nach der Beschaffenheit des
Exsudats und der Fibrinauflagerung, bestand der Prozeß etwa 5 Tage.
Anders verhielten sich die Organe bei dem erholten Hund n,
bei dem vor allem die Leber wesentlich kleiner war, und jeg-
licher Milztumor fehlte.
Ich füge hier als Vergleich die Rohgewichte der frischen fett-
frei präparierten Organe bei
Hund I
Hund n nach RegenenUion
des Blutes
Tiergewicht am Tage
des Exitus
Tiergewicht bei Beginn
des Versuches
22 „
Leber ohne Gallenblase
»
Milz
1»
Nieren
«
Herz ohne Vorhöfe
n
20 Pfd. 320 g
20 Pfd. 112 g
410
- . 703
n
n
22
115
- - 380
- - 128
86
70
79
60
68
IL
StoffwechselnntersuehungeD.
An Hund I wurde eine systematische N-Bilanz durchgeführt.
Hund IL der sich in ähnlichen anämischen Verhältnissen be-
fand, diente periodisch zu Ergänzungs- oder Kontrollversuchen.
1) über die mikroskopischen Befunde wird gesonderte Mitteilung erfolgcft-
Stoffwechselontersnchangen bei experimenteller Anämie. 231
Methodisches : Die sehr gut genährten Hunde befanden sich in
den üblichen Stoffwechselkäfigen. Der Harn wurde morgens und
abends mit dem Katheter entleert^ doch war später der Hund
dressiert, an bestimmtem Ort den Harn spontan, ohne Verluste, zu
lassen. An den Tagen der Fütterung wurde jedesmal, bisweilen
3 mal katheterisiert, eventuell wegen der Dickflüssigkeit des Urins
die Blase nachgespült und mit der Aspirationsflasche ausgehebert.
Eine Cystitis bestand nie. Der Eot wurde nicht abgetrennt, sondern
in den Perioden der spontanen Entleerung gesammelt, nach An-
«änem . getrocknet, und in einem aliquoten Teil der Stickstoff be-
stimmt.
Die Nahrung wurde morgens 9 Uhr und mittags 4 — ^j^b Uhr
gereicht Waren Anzeichen von Freßunlust vorhanden, so wurde
in wiederholten kleinen Partionen gefuttert. Weigerte der Hund
ans Gemchsabneigung die Aufnahme (Periode der Cystin- und
Phenylalaningabe), so wurde in Form von Klößen gewaltsam ge-
füttert, was ohne Erbrechen gut von statten ging.
Für beide Hunde bestand die Nahrung aus:
130 g Hackfleisch, 45 g N-freies Fett.
10 g Weizenstärke, 20 g Traubenzucker.
Diese Nahrung entsprach mit einer für den Versuch ausreichen-
Eonstanz = 4,28 — 4,31 g N. Das Fleisch, das anfangs für eine
größere Versuchsperiode geliefert wurde, wurde später aus der
gleichen Quelle frisch bezogen und war in seinem N-6ehalt von
4,03 g N — 4,11 g N außerordentlich gleichmäßig zusammengesetzt.
Die Gesamtnahrung entspricht einem Ealorienwert von etwa
659,5 Kalorien, d. h. pro Kilogramm Körpergewicht im Mittel
65,9 Kalorien.
Die Menge von nur 4,28 g Eiweiß-N erscheint für einen
solchen Versuch etwas klein, aber nur bei geringer N-Zufuhr waren
geringe Tagesschwankungen zu erwarten, und so Störungen inter-
mediärer Prozesse von jenen wirklich zu unterscheiden. Die Ver-
arbeitung des Harnes geschah unter peinlichst genauen Kautelen,
und unter Bedingungen, die für die ganze Versuchsreihe konstant
waren.
Der Harn erhielt durch Znsatz von 50 ccm Vio HCl immer die
gleiche Azidität und wurde im Meßgefäß immer auf 600 cm genau
aufgefüllt.
Der 6esamt-N-Qehalt wurde nach Kjeldahl in 5 ccm Harn
und Kot bestimmt.
232 xin. Samüelt
Die NH3 -Bestimmungen in 25 ccm Harn wurden nach der
Krüger-Reich-Schittenhelm'sclien (12) Methode in Doppel-
bestimmungen ausgeführt Die Methode hat mir bei guter KAhlang
der Destillationsvorlagen ganz vorzflgliche Eonstanz der Werte er-
geben. Die Verteilung des Stickstoffs in 5 ccm Harn wurde nach
der Methode von Pfaundler(18) bestimmt, unter strengem Ein-
halten der von Jack seh (14) hervorgehobenen Eautelen, und der
von Krüger und Schmidt angeführten Berechnungsmodifikation.
Die Phosphorwolframsäure (Merck, puriss. crystal.) war stickstoff-
frei, und fällte Harnstoff nicht in 2 ®/o Lösung. Da der Harn, der
unverdünnt etwa 200 — 300 ccm beträgt, in so großer Verdünnung
zur Untersuchung kam, fallen die Bedenken einer Ausfällung von
Harnstoff durch die Phosphorwolframsäure fort. Die zur quanti-
tativen Ausfällung des Harns notwendige Menge Phosphorwolfram-
lösung (Mischung nach Pfaundler's Vorschrift) wurde durch
vorheriges Austitrieren bestimmt. Auf die Bestimmung des Nieder-
schlagstickstoffes wurde nach anfänglicher Kontrolle des Filtrat-
Stickstoffes später verzichtet.
In den nachfolgenden Tabellen ist mit Harnstoff Stickstoff
diejenige Menge N bezeichnet, die nach Zersetzen des Phosphor-
wolframsäurefiltrates mit Phosphorsäure durch Magnesia usta und
Destillation austreibbar ist mit Aminosäurestickstoff, der
durch Phosphorsäure nicht abspaltbare N*Rest, berechnet aus der
Differenz des Gesamt-N im Phosphorwolframsäurefiltrat und dem
gefundenen Harnstoff-N.
Sämtliche ßeagentien waren auf N-Freiheit geprüft. Die in
allen Tabellen angeführten Werte beziehen sich auf den genau
24 stündigen Harn.
Die Bezeichnung der „Harnstoff" und „Aminosäurefraktion"
mit diesen Namen entspricht nicht genau ihrer exakten Zusammen-
setzung. Der Harnstoffstickstoff stellt etwas zu große Zahlen dar.
da erfahrungsgemäß von der der Aminosäurefraktion zugehörigen
Oxyproteinsäure durch die Behandlung mit Phosphorsäure nach
Pfaundler bis zu 40% und mehr ihres N-Gehaltes abgespalten
wird. Über die Beschränkung, die der Aminosäurefraktion gebührt,
siehe Seite 240. Da hier aber dauernd konstante Bedingungen pein-
lichst eingehalten wurden, liefern die folgenden Tabellen brauchbare
Vergleichswerte.
Die N-Mengen des Pyrodins (12 ^/^ N) wurden vernachlässigt
im Maximum wurden bei einmaliger Injektion nur 0,05 N ein-
verleibt.
Stoffwechselnntersnchnngen bei experimenteller Anämie.
2SB
Tabelle 11. Periode I.
Der Hvnd I zeigte in der yoraagehenden Normalperiode folgende Verteilnng des
N in 24 Stunden Harn.
Gehalt der roten Blutkörperchen zwischen 8 422 000 nnd 8 282 000.
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Datum
1
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Ges.-N de
Harns
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1
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3,96
0,176
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21.
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4,02
0,1921
3,3828
0,1880
1
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22.
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4,12
0,1960
3,4072
0,1524
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24.
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: 362
0,1823
3,2305
0,1638
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22 „ 292,
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25.
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0,1786
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1
1
3,0
2iiPfd.3bögr
N.-BUanz. — 0,24 g N.
Die Tabelle zeigt, da£ der Hund hinreichend im N-Gleich-
gewicht steht und im Verlauf von 7 Tagen 0,24 g N verloren hat.
In % des Gesamt-N ausgedrückt beträgt die N- Verteilung im Mittel
(NH8>N = 4,6 %, Hamstoff-N = 86,3 %, Aminos.-N = 4,4 %.
Für den Ammoniak zeigt sich die wiederholt, zuletzt von Schitten-
lielm bestätigte Konstanz des Faktors 100 Ges.-N :(NH,)N, bei
einem Schwanken der absoluten Werte. Dieser Faktor ist ein für
das Individuum wechselnder, der in den Versuchen von Schitten-
heim bei einem Tier 4,27, bei einem zweiten 4,69, im vorliegenden
Fall in dieser Periode mit großer Konstanz um 4,6 und 4,5 sich
hält. Die Menge Harnstoff entspricht den für diese Fraktion ge-
fundenen Normalwerten, und entspricht der geringen Menge zuge-
fthrten Fleisches.
Fftr die Werte der sogenannten Aminosäurefraktion im nor-
malen Hundeham gibt Pfaundler Zahlen von 2,4—4,8^0 ^^s
Ge8.-N an. Im vorliegenden Fall erscheint die Menge etwas groß
im Verhältnis zu der geringen zugeführten N-Menge. Die Tages-
BChwankungen dieser Fraktion sind angesichts der seit Wochen
schon konstanten Nahrung nur sehr geringe.
Im Harn dieser Normalperiode wurde versucht, die aromatischen
Substanzen der Oxysäuren zu bestimmen. Es gelang nicht aus
den Hamresten der ganzen Woche, die etwa 1300 unverdünntem
Harn entsprach, auch nur qualitativ (Eisenchloridreaktion, Millon-
sche Reaktion) solche Substanzen nach der Isolationsmethode von
Baumann zu bestimmen.
234 XIII. Samuel Y
An AUantoin schied der Hund am 22. März nnr Sparen ans^
am 24. und 25. konnte mit der Methode von Poduschka (16) eine
Menge von etwa 0,0741 im Tagesham gefunden werden, jedenfalls
nur eine geringe Menge.
In den folgenden 4 Wochen des durch Pyrodin hervorgerufenen
Blutkörperchenzerfalls unterblieb eine exakte N-Bilanz, wegen der
anfänglichen Albuminurie, der Freßunlust und der Schwierigkeit
eines quantitativen Hamsammelns. Einzelbestimmungen, wie die
Gewichtskontrolle beweisen eine der akuten Gewebs- und Blut-
schädigung parallelen Eiweißeinschmelzung.
Datum Ges.-N des Harns
27. März
4,605
28. „
3,822
3. April
5,861
7. „
10,203
9. „
7,961
12. „
8,330
14. „
6,017
19. „
4,726
20. „
4,195
• Gegen Ende dieser 4 Wochen hat der Hund einen Gewichts-
verlust von 640 g gehabt, bei einem Herabsinken seiner Blut-
körperchenzahl auf etwa 2 V2 Million. Zu Beginn der Periode VI
22.-28. April hat sich der Hund wieder mit seinem Nahrungs-N
von 4,2 g eingestellt, wie die folgende Tabelle zeigt.
Für die Deutung dieses Verhaltens liegt die Möglichkeit vor.
daß der Stoflfwechsel sich entweder den neuen Verhältnissen an-
gepaßt hat, und gegen die Giftwirkung resistent, ist^ oder aber er
ist von der veränderten Blutzusammensetzung, d. h. von dem wirk-
lichen Zustand der Anämie unbeeinflußt geblieben, und hat vorher,
den Zerfall der Blutelemente als N-Defizit abgesehen, nur unter
der Giftwirkung gelitten (s. Tab. HI u. IV).
Die Tabellen lehren, daß sich der Hund in der Tat bei der
hochgradigen Anämie im oder um das N-Gleichgewicht zu halten
vermag. In der Periode VI erfolgt, anscheinend zusammenfallend
mit einer Regeneration von Blutelementen eine Retention von Stick-
stoff, die aber in der folgenden Periode von einem erheblicheren
Defizit abgelöst wird. Es ist aber unmöglich zu entscheiden, ob
dieser Stickstoffverlust auf gesteigerten Zerfall von Körpereiweiß
als Folge der Anämie zu beziehen ist.
Stoffwechselantennchnngen bei experimenteller Anämie.
235
Tabelle IIL Periode VI.
Hnnd L BlntkOrperchen zwiachen 2160000— 2664000.
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4,28
4,1348
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0,1
23.
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0,2131
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24.
n
3,5414
0,1842
2,7980 0,2145 l
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21 „ 390„
0,05
26.
yi
3,9116
0,2073
3,0902 1 0,2837
» »
0,05
26.
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4,0772 , 0,2084
3,2057 0.2107 ,
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28.
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0,15
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29.96
27.1948
(
1,33
N-Büanz + 1,43 N.
I
n % des Gesamt-N
beträgt im Mittel (NH,)N = 5,21 %
(Or)N-79,5 %
Amino-N— 6,06 »/o
Tabelle IV. Periode Vli.
Hund I. Zahl der
Blutkörperchen im Minimum 1412000.
Datum
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2,3202
0,3256
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6.
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4,311
0,2586
3,3661
0,3535
52,0
0,91
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—
Sa. ■:
i§;96
30,508
1
1
■
i 2,13
N-Büanz. — 2,67.
In % des Gesamt-N im Mittel ergibt sich (NHs)N = 5,74 ^/o
(Ür)N = 79,38 \
Amino-N = 7,38%
Die weitere Bilanz wurde leider nicht ohne Unterbrechung,
sondern nur periodenweise durchgeführt. FQr die Beurteilung des
6es.-N-Stoffwechsel sind diese aber ausreichend. Da die späteren
Perioden zu Futterungsversuchen dienten, sind sie an d. Ort. an-
geführt. Zur Übersicht aber seien jetzt bereits die Mittelzahlen
jener Perioden zusammengestellt, die sich jeweils aus den Normal-
tagen ohne N-Superposition berechnen lassen.
236
Xin. SASfüBLY
Vergleiche hierzu Tabelle X, VII, XI, IX, VIII. Danach ergibt
sich, die obigen Tabellen beigestellt, für den Verlauf der Anämie
folgende Bilanz:
Tabelle V. Hund I.
Datam
o
MitteUahlen
aus Harn-N pro die
Bilanz
Ge8.-Ni(NH,)N
Nab-
(Ami- _-,-_„
(Ür)N- Doe.) "^ I
&
Gesamt ! tM
AntResch.
N
CA
19. IlL— 26. m.
22. IV.— 27. IV.
30. IV.— 6. V.
7. V.— 11. V
12. V.~-16. V.
24. V.-28. V.
29. V.— 2. VI.
10. VI.-U. VI.
I. 3,89 0,1891 3,4182
VI. '3,8749 , 0.2012 j 3.0313
Vn. '4,3580
VIII. '4,4127
IX. 4,1414
X. 4,2279
XL
XIII.
4,0255
4,2354
0.2522
0.2100
0,1875
0.2670
0,2557
0,2810
3,4133
0,1680
0,2463
0,3067
3,0895 0,2818
3,3341 0,3182
29.96
29,96
29,96
23,10
25.38
3,2599
2,9701
3.0268
3,0 ' 30.25 - 0,24
1,3 ! 28,3248 + 1,48
32,638 -2.67
22,2705 +0.83
28,4078 -2.08
+ 2,96
2,13
1,45
3,1
0,5071 23,10 3,2 26,0617
0,5414 24,14 2,81 25,835B - 1,29
0,6250 25,32 3,47 28,2377 1-2.917
Aus diesen Zahlen ist ersichtlich, daß entsprechend dem Auf-
und Absteigen des Gewichts, entsprechend dem beschriebenen
wechselnden Verhalten im Allgemeinbefinden eine erhebliche
Einschmelzung von Körpereiweiß bei Pyrodin-Anä-
mie nicht erfolgt. In diesem Punkt herrscht Übereinstimmung
mit den Erfahrungen der menschlichen Pathologie, die für die
schweren Anämien einen ähnlichen Wechsel von Besserung und
Verschlimmerung aufweisen kann. Ob derselbe mit Veränderungen
der Blutregeneration zusammenhängt, ist nicht zu entscheiden. Es
geht ferner aus den Zahlen hervor, daß der anämische Organismas
mit der Minimalmenge von 4 g N bei einem Kaloriengehalt von
69 Kalorien pro kg Körpergewicht seinen Stoffbedarf zu decken
vermag. Für den anämischen Menschen ist dieser Minimalwert
auf 4,02 g N bei 34 Kalor. pro kg experimentell bestimmt. In
einem Einzelversuch an Hund II konnte ich femer feststellen, daß
der anämische Hund bei solchen günstigen Perioden der N-Reten-
tion imstande ist, ganz beträchtliche N-Menge anzusetzen.
Bei der Betrachtung der absoluten Werte in Tabelle V lallt
ein Ansteigen der (NH3)N-Werte und der Amniosäurenfraktion auf.
Bei dieser Art der Berechnung macht es natürlich den Anschein,
als sei der Zuwachs z. B. der A.-Fraktion ein sprungweiser, z. B. von
Periode IX— X. In der Tat fällt, wie aus dem Krankenprotokoll
ersichtlich, gerade in die Zeit vom 17. April und 23. Mai eine Ve^
Schummerung des Befindens, in der sich vermutlich die Änderung
Stoffwechäelnntersnchangen bei experimenteller Anämie.
237
der Verhiltnisse vollzogen hat. Auch maß diese Art der Berech-
Dang, bei so knrxen Perioden immer zu spranghaften Besaltaten
fuhren. Doch sind die Differenzen von z. B. Periode VE, XI und
XIII so eklatante, daß an einer Veränderung der Situation kein
Zweifel sein kann.
Die Verhältnisse werden aus folgender Tabelle der Verteilung
in % des 6es.-Stick8toffs deutlicher. Da hier verschieden lange
Perioden vortiegeu, da femer nicht an allen Tagen, an denen 6es.-N
bestimmt, auch die N- Verteilung bestimmt wurde, so ist das Um-
rechnen obiger Mittelwerte in ^/o nicht statthaft. In der folgenden
Tabelle ist die N- Verteilung in ^^ des 6esamt-N so berechnet, daß
diese X- Verteilung erst för jeden Einzeltag berechnet wurde, an
denen die gesamte Bestimmung ausgeführt war, nnd daraus die
Mittelzahlen gewählt wurden.
Tabelle VI. Hund I.
Datam
1
1
Periode
• (NH,)N
(6r)N
(Aminosäuren)
N
19.
1 1 1 25.
III.
I.
4,67 •>;„
' 86,3 •/„
1
4,4 %
22.
IV. 27.
IV.
VI.
5,2 */o
79,5 •/„
6,06 «/o
30.
IV. 6.
V.
VII.
5,74 »A,
; 79,38 7o
7,38 «'o
7.
V.-ll.
V.
VIII.
• 80,1 o/o
6,77 7«
12.
V.-16.
V.
IX.
4,83%
, 79,7 •■„
8,00 %
24.
V.-28.
V.
X.
6,23 o/o
75,22 7o
11,87%
29.
V. 2.
VI.
XI.
6,2 »/«
73,8 •/„
13,1 %
10.
VL 14.
VI.
XIII.
6,68 «0
72,14 Vo
14,45 %
Die Tabelle lehrt zunächst, wie aus der Beurteilung der ab-
soluten N -Werte kaum Schlüsse zu ziehen sind, sondern immer der
prozentuelle Koeffizient herangezogen werden muß.
Die Tabelle lehrt ferner, daß bei peinlichstem Arbeiten und
Einhalten gleicher Bedingungen, die Verteilungsbestimmung nach
Pfaundler auch zu konstanten Resultaten ftthrt, ohne daß der
Niederscblagsstickstoff bestimmt wird. Denn die Summe der hier
bestimmten Fraktionen jeder einzelnen Periode gibt ein Resultat,
das nur um 1 % i^^b oben und unten schwankt. Aus der Konstanz
dieses Wertes geht auch hervor, daß die Menge Stickstoff, die den
Extraktivstoffen und den Purinderivaten angehört, im V e r 1 a u f der
chronischen Anämie nicht wesentlich verändert ist, wenn dasselbe auch
absolut genommen vielleicht durch Eiweißspuren etwas groß erscheint
Ganz wesentlich verändert hat sich nun im Verlauf der Anämie
238 XIIL Samübly
die prozentaelle Verteilung der einzelnen N-Fraktionen^ die speziell
für die Verminderung des Harnstoffes N und die Ver-
mehrung der Aminosäure N eine ganz eklatante ist
Eine gesonderte Besprechung ist hier am Platz.
Im Verlauf des Versuches hat sich eine Steigerung der ab-
soluten und relativen Ammoniakmengen eingestellt von 4,67 % auf
6,68 ^/o- Diese Steigerung ist mit Ausnahme der Periode IX
(12. Mai bis 16. Mai), in der ein Rückfall auf im Mittel 4,83%
eintritt, eine kontinuierliche. An sich ist die Vermehrung der
NHs-Ausscheidung bei konstanter Nahrung eine geringe, scheint aber
hier für das Verhalten der intermediären Stoffumsetzungen nicht
unwesentlich, nachdem in jüngster Zeit in einer langen Versuchs-
reihe von Schittenhelm und Eatzenstein der Parallelismns
der NHg-Ausscheidung mit der N-Zufuhr des Eiweiß oder der freien
Aminosäuren sicher gestellt ist.
Es handelt sich hier also um eine geringgradige, aber pro-
grediente Acidosis.
Eine solche Acidosis, die sich in dem Auftreten saurer Pro-
dukte und einer Zunahme der diese Substanzen neutralisierenden
NHg-Ausscheidung dokumentiert, kann hervorgerufen sein durch
2 Prozesse. Entweder es findet eine vermehrte Bildung von sauren
Produkten statt, die dem Organismus Alkali entziehen, so daß nach
Verarmung an fixem Alkali das NH, zur Neutralisation heran-
gezogen wird. Eine solche Möglichkeit ist nun hier gegeben, in-
sofern durch den reichlichen Zerfall roter Blutkörperchen das Blut
mit sauren Zerfallsprodukten überschwemmt wird, die, wie Kraus
auch nachgewiesen hat, den Abbauprodukten (17) des den Blut-
körperchen entstammenden Lecithins angehören. Bei der Pyrodin-
intoxikation dürfte die Menge solcher Körper keine geringe sein,
sie findet aber in dem hohen Koeffizienten von N : P2O5, d. h. einer
erwarteten Zunahme der Phosphorsäure, im Harn keinen Ausdruck.
Vergleiche hierzu Tabelle.
Diese Voraussetzung zutreffend, müßte der Alkaliverlust durch
Übersäuerung und die Nutzbarmachung des Ammoniaks als Sättigungs-
mittel, mit den Zeiten des größten Blutzerfalls zusammentreffen.
Es mag sein, daß diese postulierte NUg-Zunahme in den ersten
4 Wochen der akuten Intoxikationsanämie stattgehabt hat. Hier
liegen bei der chronischen Anämie für obige Deutung keine
Anhaltspunkte vor, da auch bei vorübergehender Zunahme der
roten Blutkörperchen eine fortdauernde Steigerung der relativen
NHg-Werte erfolgt.
StoffwechselnntersuchiiDgen bei experimenteller Anämie. 239
Viel wahrscheinlicher ist es, daß es sich hier um eine Säuerung
bandelt, die mit dem intermediären Eiweißstoffwechsel in Znsammen-
hang steht, oder bedingt ist durch eine partielle Schädigung des
Leberparenchyms. Bekanntlich entstehen beim Zerfall von Organ-
gewebe (Autolyse, Leberatrophie) organische und anorganische
Säaren, die durch das Ammoniak an Ort und Stelle neutralisiert
werden können, das gerade von den Leberzellen aus den zuge-
fahrten Aminosäuren oder Proteinsubstanzen durch Desamidierung
in Freiheit gesetzt wird. Nachdem nun Mosse in der Leber
mikroskopisch-histologisch eine solche partielle Säuerung aus der
Basophüie des Protoplasmas bei Pyrodintieren konstatiert hat, steht
dieser Deutung der chemisch festgestellten Acidosis keine große
Schwierigkeit gegenüber.
Trotzdem ist noch eine dritte Möglichkeit zu bedenken, auf
die Schittenhelm (18) hingewiesen hat. Der Autor ist der
Meinung, daß auch die der Leber zugeführten Abbauprodukte der
Proteine, speziell die Aminosäuren, nach Verlust ihrer NH^-Gerippe,
intermediär saure Eigenschaften entfalten können, und so eine
reaktive NHg-Steigerung bewirken. Intermediär in diesem Sinne
wäre die Zwischenstufe beim Übergang der Aminosäure in Harnstoff.
Übertragen wir diese letzte Betrachtung auf den vorliegenden
Fall, so wäre eine Verminderung der Hamstoffmengen zu erwarten
in dem Maße, als ein Teil des den Aminosäuren entstammenden
NHj der Oxydation zu Harnstoff entgangen ist.
Diese Verminderung ist in der Tat der Fall aber in einem so
extremen Maße, daß die Abnahme der Harnstoffwerte in keinem
Verhältnis steht zur NHg-Zunahme. Bei späteren (siehe S. 242)
Fütterungsversuchen mit Aminosäuren in den verschiedenen Peri-
oden der Anämie aber zeigte sich, daß der Ammoniakkoeffizient
100 N : (NH8)N an den Fütterungstagen mit dem Wert der jeweiligen
Vorperiode konstant blieb, und zwar so, daß z. B. in Perioden mit
Ges.-N : (NH8)N = 5,54 oder 6,23, nach N-Zulage in Form von
Aminosäuren diese Werte Ges.-N : (NH3)N = 5,5 bzw. 6,6 betrugen.
Es ist also anscheinend eine Beziehung zwischen dieser Acidose
nnd einem gestörten intermediären Abbau der Aminosäuren im Sinne
Schittenhelm 's nicht von der Hand zu weisen.
Noch schwieriger wird die Deutung der für (Ür)N und
(AminoS.)N in Tabelle VI gegebenen Zahlen. Hier ist eine fort-
schreitende Verschiebung zugunsten der Aminosäurefraktion un-
zweideutig, indem dieser Wert von 4,4 ®/o auf 14,45 ®/o ansteigt,
indes der Harnstoffwert bis auf 72 % herabsinkt. Die Verschiebung
240 XIU. Samitbly
der N- Verteilung erinnert hier durchaas an die Eiiahrungen aus der
menschlichen Pathologie. Ähnliche Veränderungen zugunsten der
Aminosäurefraktion wurden beobachtet von Pfaundler, Sjöquist,
V. Jacksch, Münzer (19) und vielen anderen bei Phosphorvergif-
tungen. (Pfaundler sah bei Phosphorvergiftung z. B. die Amino-
aäurenfraktion von 2,26—4,36 auf 5,13 — 7,01 % ansteigen) und solehen
Veränderungen, die eine Schädigung der Leber nach sich ziehen.
Bei verschiedenen Formen von Anämien kann ich bei Darcb-
sieht der Literatur keine wesentliche Steigerung der sog. Amino-
Säurefraktion finden. Die Werte liegen nach Untersuchungen von
V. Jacksch (20), Taylor (21) undHalpern(22) um 2,28%— 27,4%,
während als Normal werte nach Pfaundler und Krüger und
Schmidt 2,5—4,6-6,0% gelten müssen. Beine Aminosäuren,
Tyrosin und Leucin, als solche identifiziert, wurden nur sub finem
vitae gefunden (v. Noorden (23), Laache (24)) (für den Harn-
stoff bei schweren Anämien des Menschen wurden Werte von
normalen Größen gefunden). Den niedersten Wert teilt v. N oorden
mit 67,9—74,0 % des 6es.-N, und dies bei zwei fortgeschrittenen,
durch Ödeme komplizierten Fällen.
Daß bei meiner eiperimentellen toxischen Anämie die erheb-
liche Steigerung der (A.-) Fraktion und das Sinken der (Ür-) Fraktion,
etwa, ähnlich den extremen Fällen von v. N o o r d e n , ein Ausdruck
«iner bestehenden Inanition oder prämortaler Prozesse ist, er-
scheint wir unwahrscheinlich. Dagegen spricht das schon von der
6. Woche ab erkennbare Fortschreiten des Prozesses, und fenier
die rückschrittliche Veränderung zur Norm nach dem Aussetzen
der Intoxikation und dem Einsetzen der Blutregeneration (Versach
an Hund III). Die Verhältnisse aber nach Analogie der Phosphor-
vergiftung zu deuten, dazu liegt keine Veranlassung vor.
Zur Entscheidung der Frage fragt es sich nun, welche Sub-
fttanzen bedingen diesen Zuwachs der A.-Fraktion? Bekanntlich
gehören dieser Fraktion die durch Phosphorwolframsäure in großer
Verdünnung nicht fällbaren, und durch P^Os nicht zei'setzliehen
Substanzen an : i. w. Hippursäure, Kreatin, Indoxyl, Allantoin, Oxy-
proteinsäure und Monoaminosäuren. In diesem Gemisch kann z. B.
die Hippursäure an Menge die erste Stelle einnehmen.
Welche dieser Substanzen kann bei dem Pyrodintier für den
Zuwachs der A.-Fraktion verantworlich gemacht werden?
Obgleich ich auf eine Zunahme der Hippursäure nicht
geprüft habe, erscheint mir diese Möglichkeit unwahrscheinlich.
Man müßte dazu ein Entstehen aromatischer Substanzen in groier
Stoffwechselnntersnchnngen bei experimenteller Anämie. 241
MeDge voraussetzen, die zu Benzoesäure oxydiert, sich mit Olycocoll
paaren. Die Einschmelzung größerer Eiweifimengen als Quelle des
aromatischen Paarlings ist nicht durch einen im N-8toffwechsel er-
kenntlichen Eiweißzerfall begründet und zu einer Vermehrung des
Aminosäure N von 0,3 auf, 0,5 und 0,6 pro die auf Kosten von
Hippursäure, bedürfte es einer erheblichen Menge Hippursäure.
Immerhin bedarf die Frage einer Nachprüfung.
Eine Zunahme des Allantoins kommt nicht in Betracht, da
dasselbe nach Schöndorff (25), wie ich mich überzeugt habe,
beim Erhitzen mit Pbosphorsäure seinen Stickstoff quantitativ als
NHg abgibt. Insofern sind die Zahlen für (Ür)N noch zu groß.
Doch konnte ich mit der Methode von Poduschka keine Ver-
Yermehrung des Allantoins in späten Perioden finden.
Die Bestimmung geschah im Hinblick auf die Mitteilung von
Pohl (26), der nach Hydrazinsulfatintoxikationen eine ganz erheb-
liche Steigerung von Allantoin im Hundeharn fand und in dieser
Vergiftung eine ganz spezifische Stoffwechselstörung der Leber
annimmt.
Somit bleiben für die Betrachtung die Monoaminosänren und
die denselben nahe verwandte Oxyproteinsäure, die nach der Arbeit
von Abderhalden und Pregl(27) vermutlich identisch ist mit
dem von ihnen beschriebenen kolloidalen Körper, der sich durch
Säurehydrolyse noch in zahlreiche Monoaminsäuren spalten ließ.
Ausgehend von der eingangs mitgeteilten reichlichen Ausbeute
von GlycocoU aus dem Harn einer perniciösen Anämie, wurde der
Harn beider Pyrodintiere, in großen Mengen nach der Methode
von Fischer und Bergeil, auch mit der Modifikation von
Embden (starke Alkalescenz der Schüttelmischung) mit Naph-
Ibalinsulfochlorid in ßeaktion gebracht. Es ist mir nie gelungen,
aus den geringen' Mengen amorphen Rohprodukts die Gegenwart
einer freien oder aus unbekannter Bindung gelösten Aminosäure
mit Sicherheit festzustellen.^)
Ebenso blieb der Versuch erfolglos, als dem Hund II in der
7. Woche der chronischen Anämie 1 kg Pferdefleisch gegeben war,
1) In einer während der Drncklegnng dieses erschienenen Arbeit von E. Reiß,
Hofmeister's Beiträge VIII 8—10 332, die nnter Leitung von Embden ausgeführt
ist, spricht der Verfasser die ans normalem Handeharn, nach Fischer, Bergell,
Embden, isolierten Rohprodukte der Naphthalinsulfone als Aminosäuren Verbindung
^n. Ich kann dieser Auffassung, auch hier in der Deutung meiner Befunde am
Pyrodinhund, nicht beitreten, solange die Identifikation von Aminosäuren in diesen
Rohsubstanzen nicht erbracht ist.
Deatsches Archiv f. klin. Medizin. 89. Bd. 16
242 XIII. Samüely
in der Erwartung, etwa durch große Proteinzufuhr eine alimentäre
„Acidaminurie" zu erreichen.
Es bleibt also unbestimmt, ob bei der Pyrodinanämie wirklich
in Analogie der Phosphorvergiftung oder der progressen mensch-
lichen Anämien, Aminosäuren nnoxydiert in den Harn übergehen,
also auch nnoxydiert im Blute kreisen.
Die gefundenen niederen Werte des Hamstoff-N ließen sich
allein aus der Acidosis nicht erklären. Sie von einer vermin-
derten Oxydationskraft der Leber auf die tiefsten
Eiweißabbauprodukte abzuleiten, verbietet der negative Be-
fund einer Aminosäurenausscheidung im Harn. Dieser indirekte
Schluß ließ sich experimentell durch Fütterung mit Aminosäuren
in einen direkten Beweis verwandeln.
m.
Fütterung von Aminosäaren in verschiedenen Perioden.
In den verschiedenen Perioden wurde zu dem Nahrungstick-
stofF N in Form von i-Alanin, Glycocoll und i-Phenyl-
alanin superponiert
Bekanntlich geben bei der Verfutterung inaktiver Aminosäuren
Teile derselben in den Harn über, u. zw. scheidet der Organismus
die rechtsdrehende Komponente des Racems im Harn aus, indes die
linksdrehende als körpereigen und der natürlichen Form im Körper-
eiweiß adäquat, assimiliert oder oxydiert wird. Diese Selektion
geschieht beim Kaninchenorganismus annähernd quantitativ (Wohl-
gemut h (28)), indes für Hund und Mensch durch zahlreiche Ver-
suche festgestellt ist (Nencki (29), Salkowski (30), Abder-
halden (31), Stolte(32), R Hirsch (33), Embden(34), Reese
und Plaut (35), Sc bitten heim (36)), daß nur geringe Anteile
der körperfremden optischen Form ausgeschieden werden.
Die Bedingungen dieser Erscheinung, die Momente, die die
quantitativen Fragen des Übergangs der Säuren in den Harn be-
herrschen, sind noch nicht eindeutig festgestellt. Die Ansicht von
R Hirsch, daß der Übertritt der Aminosäuren eine ausschließ-
liche Eigenschaft des Hungertieres sei, ist widerlegt (Plaut und
Reese, Schittenhelm), inwieweit aber Ernährungszustände die
Erscheinung beeinflussen, ist noch nicht geklärt. Da femer die
Methode der Aminosäurenisolation nach Fischer und Bergeil (37)
keine quantitative ist, sondern nur Annäherungswerte gibt, so ist
auch ein Urteil über die Momente, die die Menge der \vieder-
erscheinenden Säure bestimmen, schwierig. Soviel steht aber fest
Stoifwechseinntersuchitngen bei experimenteller Anämie.
243
neben individuellen Bedingungen die Menge der ausgeschie-
denen Säure eine Funktion der zugefiihrten Menge ist, daß wir es
in gewissem Sinne beim Normalen nur mit einer alimentären ,,Acid-
aminnrie'' zu tun haben. Es ist also wahrscheinlich, daß es auch
hier eine „Assimilationsgrenze" für die Verwandlung der einge-
führten Substanz in Harnstoff gibt, und daß diese unter patho-
logischen Bedingungen nach unten verschoben sein kann. Ver-
wertbar für die Entscheidung einer verminderten Oxydation, wie
sie beim Diabetes für den Zucker besteht und hier beim Pyrodin-
tier, entsprechend der Zunahme der sog. Aminosäurefraktion, für
Ammosäuren vorderhand wahrscheinlich ist, sind nur große Inkre-
meDte der Aminosäuren im Harn, nach Eingabe der maximalen
Mengen, die der Normale noch eben bewältigen kann.
Das Kriterium far die aufgeworfene Frage ist das Verhalten
des NHg und vor allem des Harnstoffs nach Einverleibung der
Aminosäure, nachdem durch zahlreiche Arbeiten (Nencky, Sal-
kowski, Stolte, Abderhalden (38) und seine Schüler) der
nahezu quantitative Übergang von Aminosäuren-N in Hamstoff-N
festgestellt ist.
Eine ausfuhliche Besprechung der früheren Arbeiten zur Frage
des Übergangs von Aminosäuren in den Harn, bei denen der Nach-
weis solcher Säuren nicht direkt durch Identifikation, sondern durch
Zunahme der Aminosäurenfraktion gebracht wurde, findet sich bei
Ignatowski, Zeitschr. f. physioL Chemie 4237, auf die der Kürze
halber hier hingewiesen sei.
Tabelle VH. Periode IX.
Hund I. Zulage von i- Alanin. Rote Blutkörperchen im Maximum 3612000.
s
2
5
t
a
a
5^
M
&
M
*&
?
a
Kotmenge
N
Gewicht
r
s
Pyrodin
12. V.
13.
14.
15.
16.
4,28
8,20
4,28
4,1002
4,2860
7,6971
4,3124
4,0121
0,1793
0,2020
0,3748
0,1854
0,1923
1
3,2826, 0,3185
3,4718 0,3021
6,2616 0,7035
3,3637' 0,5114
3,2498 0,3342
] 45,0 0,64
109 2,46
)
Pfd. g
21 375
21 310
25,0 i- Alanin
= 3,92g N
0,02
0,02
0,1
0,05
Sa.
25,32
24,3078
3,10
1
Bilanz: — 2,08.
16*
244
Xni. Samuklt
Tabelle Vni. Periode XHI.
Hnud I. Zulage Ton i- Alanin. Zahl der roten BlntkOrperchen im Maxim. 2514O00L
»
5z;
49
b€
s
0
«s
&
0
P
o5^
Ä
§
^
1
0
1 «
O
o
0
B
4)
(3
•••
1
1
Pfd. g
10. VI.
4,28
4,0632 0,2720
2,9262
0,6602
'
21 30
0.1
11.
J2.
ak)
4,2632
7,8260
0,2647
0,4213
3,0697
5,8695
0,6405
0.9564
94,0 1,82
21 110
25,0i-A]ani]i
0.1
13.
4;28
4,6231
0.3121
3,2368
0,7122
14.
11
3,9922
0,2753
2,8745
0,5446
\66 im
21 75
0.S
15.
»'
(4,2120)
1
—
- 1/"' "' "
0,3
Sa.
25,3^
24,7677
3,47
BUanz: — 2,9177.
Tabelle IX. Periode XL
iHund I. Zulage von Olycocoll. Bote Blutkörperchen im Hinimon 2614000.
^4
^.
d)
s
0
'S
5?;
Harn
Ges -N
Ä
g
Ä
'TT 1 0
- ! 1
Kotmeng
N
•g
a>
Bemer-
kung
1
1 1
1
Pfd. g
29. V. 4,28 ! 3,9832 0,2549 2,9054
0,5178
1 44 0,6
21 180
0.1
30. „ 1 4,0966 0,2745 3,0485
0,5273
21 210
0,05
31.
8,02 I 7,5250 0.4668 6,1952
0,5417
J 92 2,21
20,0 Glycocoll
l.IV.
4,28 4,1200 0,2595 3.0405
0,5726
- 3,74 g N 0,1
2. 1 „ 3,9005 1 0,2340 2,8860
0,5382
20 138
0,1
Sa.
25,14
23,6253
2,81
Bilanz : — 1,29.
In Vo
des Ges.-N für die 3 Perioden aus den Mittelwerten der
Normalperioden und dem Fntterungstag ergibt sich:
Tabelle VII.
Tabelle Vin. Tabelle IX.
Alanin
Alanin
Glycocoll
% des Ges.-N
Normal
Fütterung
Normal Fütterung
Kormal
Fattermisr
(Ür)N
(NH8)N
(Amino)N
79,7
4,8
8,0
79,0
4,9
9,6
72,14
6,68
14,45
76,1
5,9
12,0
73,8
6,22
13,1
81,0
6,0
7.2
4
Ein Vergleich der Zahlen lehrt:
1. Die Menge des ausgeschiedenen „Aminosäuren-
Stickstoffs ist nicht proportional der zugeführten
Stoffwechselantersuchungen bei experimenteiler Anämie. 245«
solaten N-Menge in den verschiedenen Periodeni
der Anämie,
d. h. nicht die absolute N-Menge, sondern die
Form, in der das superponierte N gegeben wird,
beherrscht diese Ä-Fraktionsgröße.
2. Der Quotient (NH,)N in % des Gesamt-N bleibt
in der jeweiligen Periode der N-Menge der Nahrung
annähernd proportional, einerlei, ob die N-Zulage
als Aminosäure erfolgt,
d.h. die Acidosis, anch in dem fortgeschrittenen
Stadium der N-Alteration, ist in der Tat ab-
hängig von dem als freie Aminosäuren ein-
gegebenen Stickstoff.
3. Der Harnstoff-N steigt mit der Zufuhr von
Aminosäuren-N in den verschiedenen Perioden der
Anämie und ihrer abnormen N-Verteilung so an, wie
beim Normaltier,
d. h. der anämische Organismus hat eine unver-
änderte Fähigkeit, freie Aminosäuren in Harn-
stoff zu verwandeln.
4. Der anämische Organismus hat keine vermin-
derte Assimilationsfähigkeit für die rechtsdrehende
Form der verabreichten inaktiven Aminosäure.
Wesentlich deutlicher werden die Verhältnisse zur Detaillierung
von Punkt 3, wenn man die folgende Berechnung durchführt, Diesfr
hat natürlich nur orientierenden Wert, keinen absoluten, da die
Tagesschwankungen der N- Ausscheidung unberücksichtigt bleiben.
Berechnet man den Zuwachs aller N-Fraktionen vom voran-
gehenden Normaltag zum Fütterungtag, und rechnet den N-6ehalt
in Alanin um, so ergibt sich etwa:
für Tabelle VII.
1. Zuwachs der Nahrungs-N «= 3,92 N entspricht 25,0 g Alanin.
2. „ desGes.-N = 3,3111 „
3. „ „ UrN = 2,7898 „ „ 19,3 » n
4. „ , (NH3)N = 0,1728 „ „ 1,1 „ „
5. „ „ (Amino)N = 0,4014 „ „ 2,5 „ „
Summa 22,9 g Alanin.
Aus der Differenz von 1 und 2 = 0,61 N ergibt sich, die
folgenden Tage und Tagesschwanknngen außer acht gelassen, eine
246 XIII. Samübly
Menge von 4,0 Alanin, die erst später oder überhaupt nicht in den
Stoffwechsel eingetreten ist,
für Tabelle Vm.
1. Zuwachs der Nahrungs-N = 3,92 N entspricht 25,0 g Alanin.
2.
n
des Ges.-N
— 3,4628 „
3.
n
„ (Ür)N
— 2,7998 „
n
17,7«
r.
4.
n
„ (NH,)N
— 0,1566 „
n
1,0 „
V
5.
V
„ (Amino)N
— 0,3878 „
11
2,5 „
n
Summa 21,2 g Alanin.
Aus der Differenz von 1. und 2. = 0,46 N = 1,9 Alanin.
Die Übereinstimmung beider, in ihrer N- Verteilung sonst
verschiedenen Perioden, ist der einverleibten Aminosäure gegen-
über eine vollkommene. In Tabelle YITL ist nur die Ausnutzung
vom Darm aus eine verminderte. Nimmt man nun dies isolierte
Yerbalten gegen die Aminosäure für sich heraus, nimmt man etwa
an, daß der anämische Organismus in den verschiedenen progressiven
Zuständen seiner toxischen Anämie nur mit Aminosäuren, z. B.
dem Alanin als N-Quelle, ernährt sei, so ist, wenn man die obigen
absoluten Verteilungswerte des Zuwachsstickstoffs in ^o umrechnet,
bei beiden Perioden ein Verhalten der Stickstoffverteilung zu kon-
statieren, das in seinen (NH8)N- und (Ür)N- Werten dem des nor-
malen Tieres gleichkommt.
Ges.-N (NHg)N (tJr)N (Amino-S.)N.
Periode IX. Tabelle VIII. 100% 4,5% 80,5 11,5%
„ Xin. „ IX. „ 4,7% 84,5 10,0%
So sehr diese Berechnungen nur ganz approximativ und fehler-
haft sind, so sind sie doch geeignet, die Entscheidung über die
Frage: liegt bei dieser fortgeschrittenen Pyrodinanämie eine ver-
minderte Harnstoff bildung auf Kosten von Aminosäuren vor,
im negativen Sinn mit zu entscheiden.
Was hier für 2 Amniosäuren experimentell erwiesen ist, dürfte
für die Mehrzahl der Mono-Aminosäuren gelten. Es wäre wider-
sinnig, anzunehmen, daß die Desamidierung und Verwandlang
in Harnstoff nur für eine ganz bestimmte Aminosäure verloren
gegangen sei. Somit ist festgestellt : die hohe Aminosaurenfraktion
und geringen Harnstoffwerte der späten Pyrodin-Anämieperioden
1) Diese Art der Berechnung gestattet möglicherweise anch einen Schluß
über die Größenordnung in der normalerweise Aminosäurenstickstoff im Harn
erscheint, nach Eingabe solcher Säuren per os. Wichtig wäre diese Festst^llimg
vor allem für die aktiven Aminosäuren.
Stoffwecbselantersnchiingeu bei experimenteller Anämie. 247
lassen sich nicht durch eine verminderte Fähigkeit der Harnstoff-
bildang in der Leber erklären. Auch die Assimilationsgrenze für
racemische Aminosäuren ist nicht gegen die Norm herabgesetzt.
Bei der GlycocoUfütterung ließ sich weder direkt (NaphthalinsuKo-
chloridmethode) noch indirekt (Phosphorwolframsäuref&Uung) Glyco-
coU im Harn nachweisen. Dieser Befund steht im Widerspruch
mit den Mitteilungen von Krüger und Schmidt, die schon nach
Eingabe von 8 — 12 g Glycocoll per os, solches in der Steigerung
der A-Fraktion wiederfanden. Auch Salkowski konnte Glycocoll
nach relativ großer Eingabe (bis zu 25 g), allerdings beim Kaninchen
im Harn identifizieren. Hier liegt ein nahezu quantitativer Über-
gang des Glycocoll in Harnstoff vor. Worin dieser Widerspruch
begründet ist, ist vorerst unersichtlich.
An den Tagen der Alaninfütterung wurde reines Naphthalin-
sttlfalanin von Schp. 155® in der typischen Kristallform isoliert. Die
Ausbeute auf den Harn des Fütterungstages und des darauffolgen-
den eingerechnet, ergibt 3,23 g für Periode IX und 2,99 g für
Periode XIII. Also in der Periode mit gesteigerter (A-)Fraktion bei
gleicher Methodik eine geringere Menge. Im ersteren Fall entsprechen
3,23 Sulfon 0,969 g Alanin. Bedenkt man, daß diese Methode nach
Fischer und Bergeil im Harn etwa 55®/o der theoretischen Aus-
beute liefert, so entspricht dies etwa der indirekt bestimmten Menge
Alanin. Auch mit den Werten, die Plaut und Reese nach Fütte-
rung größerer Mengen Alanin am normalen Hund für wieder ausge-
schiedenes Alanin angeben, herrscht annähernde Übereinstimmung.
Der Baustoffwechsel des anämischen Pyrodintiers für Amino-
säuren scheint somit nicht pathologisch verändert Darf nun die
abnorme Steigerung der Aminosäurenfraktion als Ausdruck eines
gestörten Betriebsstoffwechsels angesehen werden?
Zu dieser Hypothese ist Annahme nötig, daß in der Tat
Nahrungseiweiß, einerlei in welcher Form es gereicht wird, am
eigentlichen Zellstoffwechsel nicht teilnimmt Ein Beweis hierfür
existiert z. Z. noch nicht Für die Aminosäurenfraktion ist aber durch
Landau erwiesen, daß die Größe derselben mit dem Grad eines
Stickstoffverlustes im Betriebsstoffwechsel nicht proportional ist.
Das vielmehr die Menge desselben nicht nur zu dem Gesamt-N
des Harns in einem einfachen Verhältnis steht, sondern auch zu
der Menge und der Natur des eingeführten Protein-Stickstoffes
in Relation steht Mit diesem Beweis aber ist diese N-Fraktion
sicher eine Funktion des Baustoffwechsels.
Da Casein eine andere Menge (Amino)N im Harn auftreten
248 XIII. Sahuslt
läßt, als Fleisch, Milch eine andere als gemischte Kost etc., so
darf man annehmen, daß gewisse Substanzen oder Grappen, die in
den verschiedenen Proteinen verschieden zahlreich sind, nnoxydiert
den Körper mit dem Harn verlassen. Zu diesen ist die Oxyprotein-
säure zu rechnen, die, Hhnlich wie die abiureten Spaltprodukte
bei der Darm Verdauung, zu der Klasse der „Polypeptide" ge-
hören. Da nun im vorliegenden Fall diese Fraktion bei konstanter
Fleischmenge im excessiven Zunehmen ist, so ist meines Erachtens
folgende Erklärung dieser Erscheinung nicht zu femliegend:
Für den normalen Organismus ist die Menge solcher ferment-
und oxydationsresistenter Körper anscheinend eine normale Größe^
als Funktion der zugeführten Nahrung einerseits, der celluki^en
Fermentwii'kungen andererseits. Beim pyrodinanämischen Organismus
aber ist nur die letztere Funktion geschädigt. Dies ist in 2 Rich-
tungen der Fall. Entweder:
Das pyrodinanämische Tier hat seine ungeschmälerte Fähigkeit
die letzten SpaltungsproduktiC der Proteine, die Aminosäuren^ zu KH^
und Harnstoff zu verwandeln, es hat aber die Fähigkeit, jene sicher in
den Kreislauf gelangenden höheren Aminosäurekomplexe abzubauen
und in der normalen Weise in Harnstoff zu verwandeln, eingebüßt.
Oder aber: Es ist nicht der fermentative Abbau der im Blut
in normaler Menge zirkulierenden Peptidsnbs tanzen herabgesetzt
sondern die fermentative Aufspaltung jener höheren Komplexe in
die letzten zur Harnstoffsynthese brauchbaren Bausteine, die Amino-
säuren. Trifft diese Anschauung zu — und ich hoffe dafür experi-
mentelle Beiträge zu liefern — , so kann die Schädigung, die
durch die chronische Anämie gesetzt wird, in den
Darm, sei es in das Lumen, sei es in die Darmwand,
verlegt werden. Diese etwas hypothetische Lokalisation ist um
so mehr gestattet, seitdem wir wissen, welche wichtige Rolle der
Darm spielt in der Vorbereitung der Proteinabkömmlinge für die
geregelte Verarbeitung durch den Leberchemismus.
IV.
In weiteren Versuchen habe ich speziell die Frage der Oxy-
dationsfähigkeit des anämischen Organismus experimentell
geprüft; hierzu schienen mir besonders das Verhalten eines aro-
matischen Eiweißabkömmlings, und eines schwefelhaltigen
Spaltproduktes geeignet.
Das Phenylalanin nimmt insofern bei den Stoffwechsel-
prozessen eine gesonderte Stellung ein, als uns weder der Wegy
Stoffwechselantersachangeii bei experimenteller Anämie.
24»
über den es abgebaut wird, noch die letzten Endprodukte, zu
denen es oxydiert wird, mit Sicherheit bekannt sind.
Bei Zufuhr von Tyrosin (Baas und Baumann (39)) ver-
mehrten sich weder das Phenol, noch die Hippursäure, noch die
itherschwefelsänre im Harn. Für das Phenylalanin kommt
Schotten (40) zu dem gleichen Ergebnis, so daß er eine totale
Oxydation zu CO, und HgO annimmt.
Eine sicher erkennbare Hamstoffvermehrung sahStolte nach
Einverleibung von Phenylalanin nicht, so daß ein großer Teil
Phenylalanin unverändert ausgeschieden wurde. Schlüsse
über den Modus des Abbaus liefern die Erfahrungen der Pathologie^
speziell der Alkaptonurie, bei der die Homogentisinsäure und Uro-
leucinsäure zur kontinuierlichen Ausscheidung gelangt, und deren
Entstehen so gedeutet wird, daß der normalerweise Ober die
Homogentisinsäure führende Abbau des Tyrosins und des Phenyl-
alanins an diesem Endprodukt stehen bleibt. Der Mechanismus
soll nach den jüngsten noch nicht widersprochenen Angaben von
Neubauer und Falta(41) etwa dieser sein:
Phenylalanin — NHj ==» Phenyl- a-Milchsäure -f- Og = üroleucinsäure
-|- Oj = Homogentisinsäure.
Meine eigenen, noch insofern lückenhaften Versuche, als ich
noch nicht über hinreichende Kontrollversuche am normalen Tier
verfüge, sind mit den älteren Angaben nun insofern nicht ver-
gleichbar, als ich in Periode VIII und X synthetisches, d. h. in-
aktives Phenylalanin verfüttert habe, bei dem der rechtsdrehende
Anteil etwa langsamer angreifbar war, oder unverändert den Or-
ganismus wieder verlassen konnte.
Tabelle X. Periode Vm.
Hand I. Zulage Ton i-Phenylalanin. Zahl der roten Blutkörperchen,
Minimum 1814000.
S
CS
SZ5
1
09
a
E
5^-
1
o
&
'S
1
a
o
7. V.
8.
9.
10.
11.
4,28 ' 3,9201 1 0,2156
3,8230 0,2026
ö«96
5,4992 0,3024
4,28 1 4,0872 ' 0,2247
3,1360; 0,2623
3,0966! 0,2676
3,9044
0,7698
71,2
0,92
21 Pfd. 380 g
n
21 „ 346,
0,01
!0,01
3,2288 0,2920
3,5210 ' 0,1972 2,8S72| 0,2253
84 l0,53
n
21
n
362
20g
Phenyl-
alanin
= 1,70 N
n I
0,5
10,2
Sa. 123,10,20,0500
1,42
Bilanz : 0,83.
250
XIII. 8A.HUBLY
Tabelle XL Periode X.
Desgleichen Hand I. Rote Blutkörperchen im Maximnm 2110000.
B
Q
iz;
?^.
«
13
5^
*Ä
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br
s
I3>
s
ja
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min
s
0
*Ä
«8
-^
M
&S
• a
tri
s
24. V.
25.
26.
27.
28.
4,28 , 4.5291 0,2841 1 3,7316^ 0,5290|l
„ \ 4,4öaS 0,2754 3,3223' 0,5343
5,98 5,9202 0,3917
4,28
4,3391 0,2694
3,6300 0,2394
4,0642 0,9472
402
2,2
3,2545] 0,5640 \ ..
2,7312,0,3982»
1,0
20 Pfd. 200 g
20 „ 212 ,
20 „ 232 „
'0.1
0,1
20g
Phenyl-
alanin
-l,7gN!0,l
Sa. 23,10 122,8617 1 | | ! 3,2 1 | i
Bilanz: — 2,96.
Das Phenylalanin zeigt in der Tat ein von den übrigen
Aminosäuren verschiedenes Verhalten, das in der 7o "Verteilung
des N an Normaltagen und Fütterungstagen deutlich ist
Tabelle X. Tabelle XL
%N
Normaltage ; Fütterungstage
Normal tage
Fütteningstage
75,22
6,23
11,87
70.1
6,6
16,0
Ur N 80,1 71,2
(NHa) N i 5,54 5,5
(Aminos.)N| 6,77 | 15,0
Während beim Alanin und Glycocoll eine deutliche Zunahme
der (Harnstoff-) N- Werte erkenntlich ist, besteht hier eine Abnahme
der relativen N -Werte, zugunsten einer ganz erheblichen Zu-
nahme der Aminosäurefraktion.
Betrachtet man die absoluten Zahlen in Tabelle X und XL
so besteht in der Tat nur ein unbedeutender Zuwachs des Harn-
stoffs N am Fütterungstag, der nicht die Hälfte des als Aminosäure
superponierten Stickstoffs beträgt. Es ist nicht möglich zu ent-
scheiden, ob dieser geringe Anteil nur der einen optischen Hälfte
des verabreichten Phenylalanins entstammt, indes die andere Racem-
hälfte die Steigerung der (Amino-)Fraktion bedingt. Ja ich wage
nicht einmal zu entscheiden, ob der geringe (Ür) N-Zuwachs über-
haupt direkt auf Kosten der verabreichten Aminosäure zu setzen
ist, d. h. ob Phenylalanin in Harnstoff übergegangen, solange mir
keine Kontrollzahlen vom normalen Tier zur Verfügung stehen.
Die unverändert in den Harn übergegangenen Anteile des
Phenylalanins konnten mit Naphthalinsulfochlorid gekuppelt als
Stoff wechseluntersiichangeii bei experimenteller Anämie. 251
d-Plieny]alanin identifiziert werden. Auf die Gegenwart dieser
Substanz ist auch die Hechtsdrehung des Harns vom 9. und
26. Mai zu beziehen. Aus dem Harn dieser 3 Tage wurde ins-
gesamt 5,92 g reines Naphthalinsulton des Phenylalanins isoliert.
Auf die Tagesmengen der betreffenden Tage, und in Phenylalanin
umgerechnet ergibt dies für Tabelle X 1,84 g, für Tabelle XI 1,45 g
reiner Aminosäure. Aus dem Zuwachs der Aminosäurefraktion in
beiden Tabellen ließe sich für den ersten Fall 2,8 g, für den zweiten
3,0 g Phenylalanin berechnen. Die Substanz des Naphthalinsulfons
kristallisierte, aus sehr viel heißem Wasser umkristallisiert, als
dicht verfilzte Masse kleiner Nädelchen, etwa wie Filtrierpapier-
faserstoft*, und schmolz bei 142 ^ Die Analyse der Substanz ergab:
0,1723 g Substanz gaben 0,0757 H^O und 0,4042 CO2.
berechnet gefunden
für C 64,23 % 63,99 \
„ H 4,79 «/o 4,88%
„ N 3,94^0 3,99% nach Kjeld ah 1.
Somit hat die reine Substanz vorgelegen. Dieselbe ist bisher
beim gesunden Tier noch nicht aus dem Harn nach Eingabe per
OS isoliert worden. Es muß unentschieden bleiben, ob hier ihr
alimentäres Auftreten in den beschriebenen Mengen der Ausdruck
einer verminderten Oxydationsfahigkeit des anämischen Organismus
ist, oder in den normalen Grenzen liegt. Es folgt aber daraus,
daß bei einer Einnahme von 20 g in aktivem Phenylalanin keine
quantitative Oxydation der Substanz erfolgt.
Bei beiden hier durchgeführten Versuchen zeigte sich ferner,
daß anscheinend auch intermediäre Substanzen, die dem aromatischen
Kern des Phenylalanins entstammten, ausgeschieden wurden. Der
frisch gelassene Harn an beiden Fütterungstagen, und zwar nur
an diesen, reduzierte stark Fehling'sche Lösung, gab Millon'sche
Heaktion, und mit verdünntem Eisenchlorid eine tief grüne, bis
grünblaue Färbung, die alsbald wieder verschwand. Nachdunkeln
des Harns beim Stehen an der Luft wurde nicht beobachtet. Diesen
qualitativen Beaktionen entsprechend, mußte eine Substanz der
Dioxyphenolreihe oder aromatischer Monooxykarbonsäuren im Harn
vorhanden sein, deren Quelle nur das verabreichte Phenylalanin
sein konnte. Somit folgt, daß unter den vorliegenden Bedingungen
bei Eingabe von i-Phenylalanin, in großer Menge, an
den anämischen Organismus, intermediäre, aroma-
tische Substanzen ausgeschieden wurden.
252
XlII. Samuelt
Die Identifikation dieses Körpers gelang in beiden Fällen
nicht, doch ließ sich per exclusionem ihre Zagehörigkeit feststellen.
Die Prüfung auf die äu Schwefelsäure gepaarten aromatischen
Substanzen (Phenole und Dioxyphenole, Brenzkatechin, flydrochinon)
ergab keine wesentliche Vermehrung derselben nach Verabreichang
von Phenylalanin am 10. Mai.
Tabelle XII
Hand I. Kote Blutkörperchen 2110000. Periode IX = 9. Woche der Anämie.
Datum
Gesamt- Gesamt- v-«*,«i c
Schwefel oxydierter S. '^««tral-fi>.
1
ither-
schwefel-
saurer S.
imTagesharn
8. V.
9.
10.
11.
0,4369 0,1497
0,5210 0,1050
0,5031 0,1854
0,5892 ; 0.1023
0,2872
0,3160
0,3177
0,3769
0,0168
0,0219
0,0219
0,0209
20,0 ff
Phenylalanin
Es folgt, daß kein durch Darmfäulnis, noch durch intermediäre
Bildung (Brenzkatechin) an Schwefelsäure gepaartes Phenol vorlag:
Die Substanz konnte aber an Glycuronsäure gepaart sein, um so
mehr, als der ursprüngliche Hara rechts drehte, ohne zu vergären.
Zur Entscheidung wurde an Hund II in der 8. Woche seiner schweren
Anämie neben am 16. Mai 20 g Phenylalanin 4,5 g Cystin verabreicht
um einer hinreichenden Menge des sauren Paarlings sicher za sein.
Der Hund befand sich wie Hund I mit 4,28 g N im Gleichgewicht.
Tabelle XIII. Hund IL
8. Woche der Anämie. Eote Blutkörperchen 2412000.
Datnm
Gesamt-
Schwefel
Oxydierter 8.
Neutral-S.
Äther-
schwefel-
saurer S.
14. V.
. 15.
16.
17.
0,4872
0,4762
0,9690
0,4972
0,2744
0,2425
0.6333
0,2126
0,2447
0,3367
0,0257
0,0276
0,0301
0,0252
i-PheDvl-
alanm 2O.O
Cystin. 4,6 gr
Hieraus folgt eine im Verhältnis zur gereichten Schwefel- und
Phenylalaninmenge unwesentliche Steigerung der an Säure gepaarten
Phenolmenge.
Auch direkt konnte nachgewiesen werden, daß die aromatische
Substanz mit den oben beschriebenen Reaktionen kein Dioxyphenol
war : Die gesamten Harnreste von Periode VIII und X, sowie die
Stoffwechselnntersnchmigen bei experimenteller Asämie. 253
Ton Hund n wurden nach Banmann auf aromatische Oxysäuren
verarbeitet. Die Säuren wurden in Äther aufgenommen und daraus
mit Sodalösung ausgeschüttelt. Der Ätherrnckstand, der die Phenole
enthalten mußte, erwies sich als frei von Hydrochinon und Brenz-
katechin. Die angesäuerte Lösung der Na-Salze (Sodalösung) wurde
mit Äther wieder aufgenommen und abde^tilliert. Der Rückstand
zeigte die obigen qualitativen Reaktionen in extremem Maß. Mit
Millon'schem Reagens setzte sich beim Stehen ein ziegelroter Nieder-
schlag ab. Bei der üblichen Trennung nach Bau mann mit
basischem Bleiacetat aus konzentrierter Lösung und Umsetzen der
Fällung mit ILS wurde ein Sirup gewonnen, der nur spärliche
EristaUnadeln nach geraumer Zeit aufwies. Die Ausbeute war
sehr spärlich. Mit Harn früherer Perioden und normaler Hunde
in gleicher Menge verarbeitet, wurde niemals eine Bleifällung in
wägbarer Menge gewonnen.
Aus dem Filtrat der Bleifällung hinterblieb ein Sirup mit
sichtbarer Neigung zum kristallisieren.
Beide Substanzen, die ohne Zweifel das eingegebene Phenyl-
alanin zur Muttersubstanz haben, gaben die Millon'sche Reaktion.
Nur die durch Bleiacetat nicht fällbare Substanz reduzierte
stark, schon in der Kälte, und färbte sich mit verdünntem FeCi^
grünblau. Reaktionen, die mit Sicherheit die Gegenwart von Homo-
gentisinsäure erwiesen (Verhalten gegen Alkali), fehlten.
Die Befunde, die ich in größerem Maßstab zu wiederholen be-
absichtige, lassen nur Vermutungen zu. Bei der Fäulnis von
Phenylalanin ist Phenyl essigsaure und Phenylpropion säure isoliert,
die im Harn bisher nicht gefunden wurden. Nicht unwahrschein-
lich ist es, daß ähnlich, wie das Tyrosin, das Phenylalanin inter-
mediär über den Weg der Oxyphenylessigsäure oder -Propionsäure
abgebaut wird und daß diese nach Phenylalaninfütterung er-
scheinenden Säuren der Reihe dieser Oxysäuren angehört.
Was die nicht mit Blei fällbare Substanz betrifft, so weisen
ihre Reaktionen auf die Dioxyphenylmilchsäure hin, die bei Alkap-
tonurie, mit der Uroleucinsäure identisch, zur Ausscheidung kommt
Jedenfalls aber handelt es sich bei beiden Substanzen um
inteimediäre Pi-odukte, nicht um solche der Darmfäulnis, da diese
wie die geringe Menge der Phenolschwefelsäuren zeigt, auf ein
Minimum im Versuch reduziert war.
Was die Verteilung des Schwefels betrifft, so wui-de diese nicht
systematisch verfolgt. Immerhin aber zeigt sich aus den vereinzelten
Bestimmungen, daß die Menge S in den verschiedenen Perioden
254
XIII. Samüsly
(siehe z. B. Tabelle XII u. XUI) bei konstanter Nahrung konstant
bleibt, daß die Verteilang des S zwischen oxydiertem und neutralem
Schwefel aber sich mit der Dauer der Anämie zugunsten des letz-
teren verschiebt Leider fehlen die Kontrollwerte der Normaltiere.
Doch ist sicherlich der Wert von oxydiertem S in **/o des Gesamt-S
von 50,92—55,92 bei Hund 11 = 8. Anämiewoche, und 34,27—36,85
bei Hund I. = 9. Woche (Tabelle XII u. XIII) ein abnorm niederer.
Um so mehr interessiert ein Ftitterungs versuch mit reinem Cystin
an Hund 11, da am normalen Hund nach Cystineingabe (Blum (42),
Samuely(43), wohl eine Zunahme der absoluten S-Menge, aber
keine wesentliche Verschiebung der S -Verteilung beobachtet
war. Auch war in solchen Versuchen am Hund kein alimentäres
Auftreten von unverändertem Cystin im Harn beobachtet, selbst
nach Eingabe bis 9,6 g Cystin. Hier war ein solches bei dem
hohen Wert des Neutral-S vielleicht zu erwarten, und damit ein
neuer Beweis für die verminderte Oxydationskraft auf anorganische
Substanz (Schwefel) zu erbringen.
Tabelle XIV. Hund IL
9. Anämiewoche. Rote BntkÖrperchen 2272000 im Tagfesharn.
Datnm
Gesaint-
Schwefel
Gesamt-
oxidierter S.
Neutral-S.
Ather-
schwefel-
saurer S.
20. V.
21. n
23. „
25. „
0,4876
0,4729
2,0962
0,6210
0,4898
0,2425
0,2553
0,9260
0,2922
0,2451
0,2176
1,1702
0,1971
0,0295
0,0276
0,0380
0,0289
0,0293
Oy still 12.0 g
— 3,1 192 g S
Das Tier vertrug die Fütterung der in 4 Portionen gereichten
Nahrung gut. Nephritische und sonstige toxische Störungen traten
nicht ein, wie Blum sie beschrieb. Am 23. traten Durchfälle aufi
vermutlich vermittelt durch die sich im Darm aus dem schwer lös-
lichen Cystin bildende Thioschwefelsäure, deren Na-Salze bekannt-
lich stark abführen. Der Harn konnte durch 2 maliges Katheteri-
sieren frei von Kotbeimischungnn gewonnen werden.
Aus dem Kot des Tieres konnten mit NH» und Fällen mit
Essigsäure 3,2 g Cystin wieder gewonnen werden.
Der Harn enthielt reichlich Thioschwefelsäure, die ich früher
nach Eingabe kleinerer Mengen Cystin vermißt hatte.
Es wird von Interesse sein, durch Versuche von Fütterung
mit a- oder /J-Thiomilchsäure die Ausscheidung von Thioschwefel-
Stoffwechselnntersnchnngen bei experimenteller Anämie. 255
s&ure zu prüfen. Es werden sich so Schlösse über den inter-
mediären Abbau des Cystins beim Hund ergeben.
Aus dem Zuwachs an S am Fütterungstag ergibt sich, daß
ungefähr 4 g Cystin den Organismus passiert haben. Die Ver-
teilung des Schwefels aber zeigt, daS dieser anämische Organismus
nicht imstande ist wie der normale, die zugeführte Schwefelmenge
in der gleichen Weise zu oxydieren, wie ein Normaltier. Hier zeigt
sich, daß der Faktor oxydierter S : 100 6esamt-S am Fütterungstag
44,18 gegen 50,22, 53,98, und 59,72 der Vor- und Nachtage beträgt,
d, h. ein beträchtlicher Zuwachs des Neutralschwefels erfolgt ist.
Daß ein Teil. dieses Neutralschwefels, wie dies bisher hypo-
thetisch angenommen wurde, aus unverändertem Cystin be-
steht, konnte durch den Nachweis von Cystin als Benzoyl-
verhindung nach Baumann (44) bewiesen werden. Dieser
Befand unterstützt den schon von der Verteilung des S abgleiteten
Schluß einer herabgesetzten Oxydationskraft.
Unter genauer Einhaltung der Konzentrationsvorschriften von
Baumann wurde aus dem Harn vom 22. und 23. insgesamt 320 ccm
einer Substanz isoliert, die N-haltig war und die Reaktion auf ab-
spaltbaren S ergab. Beim Behandeln mit konz. HNOg trat der Ge-
ruch nach Nitrobenzol auf
Aus dem gereinigten, schon kristallisierenden Natriumsalz des
Benzoylcystins wurde die freie Säure durch HCl aus Äther ge-
wonnen. Da ein konstanter Schmelzpunkt der Substanz nicht er*
zielt wurde (statt des richtigen Schmelzpunktes von 180 — 181, lag
er hier bei 177/178), wurde mit den trockenen Substanzen durch
Schmelzen mit Na^O^ (Spirituslicht als Wärmequelle) eine Schwefel-
bestimmung gemacht:
0,2561 g Subst. gaben 0,2583 BaSO,,
d. h. für CeHioN2S20,2CeH5CO,
gefunden % S 13,89,
berechnet % S 14,28.
Die orientierenden Bestimmungen der Phosphorsäure im
Harn der Anämietiere, ausgeführt in 50 ccm verdünntem Harn mit
der üblichen Titration mit Urannitrat, hat z. B. bei dem Hund I
schwankende Resultate ergeben, die, soweit sich beurteilen läßt,
nicht nachweisbar mit der verabreichten Giftdosis zusammenhängen.
Sieht man aber von den großen vereinzelten Schwankungen ab, so
bewegt sich die mittlere Ausscheidung für P2O5 im Harn zwischen
0,4 und 0,5 g.
256
Xin. Samuelt
Tabelle XV. Hund I.
Datum
Anämieperiode
vgl. Tab. I
PfOs im Tagesham
Datum
Periode
1
PfOft im
Tagefihftrn
22. III.
0,4160 g
12. V.
IX.
0,4207 g
25. IV.
VI
0,3860 „
15.
ji
0,5132 „
28.
«1
0,4080 „
16.
n
0,5195 ,
29.
'9
)1
0,4221 „
24.
X.
0,8257 .
30.
VII
0,3920 „
27.
TT
0,5025 ,
1. V.
n
0,6170 „
1. VI.
XL
0,4700 ,
3.
vm
0,5606 „
2.
n
0,4008 ,
5.
n
0,3847 „
7.
n
0,3660 ,
7.
n
0,4257 „
11.
Xll.
0,6160 ,
10.
n
1,0320 „
17.
n
0,5940 ,
11.
w
0,8196 „
Da die Menge des zagefilhrten Phosphors nicht bestimmt \?ar.
so ist eine Bilanz trotz der N-Konstanz der Nahrung nicht zulässig.
Jedenfalls aber scheidet das Tier nicht mit Fortdauer der Anämie
«teigende Mengen von P^O^ aus, wie dies für perniciöse Anämie und
Leukämie des Menschen festgestellt ist, wohl aber sind die absoluten
N
Mengen P2O5 außerordentlich geringe, wie dies aus dem Faktor ^-tt
im Harn hervorgeht. Für perniciöse Anämie des Menschen sind von
zahlreichen Autoren (45) in Bilanzen von 3 — 16 Tagen Werte
dieses Faktors von 3,2 im Minimum und 8,4 im Maximum gefanden
worden, in der Mehrzahl der Fälle aber liegt derselbe um die
normale Mittelzahl von 5,0 bis 6,0. Im vorliegenden Fall aber
N
bei annäherndem N-Gleichgewicht den
erreicht dieser Faktor
PoO
2^6
Wert von 9,9—10,2 im Mittel. Hieraus folgt aber, daß eine ver-
mehrte PjOR-Ausfiihr nicht erfolgt ist mit der Fortdauer der
Anämie, daß also die durch den Zerfall von lecithinhaltigen Blut-
Elementen freiwerdenden Phosphormengen retiniert oder nach irgend
«iner Richtung nutzbar gemacht werden. Nicht unmöglich ist aber
auch danach, daß mit dem Bestand der schweren Anämie eine
Blutkörperchenarmut durch fortdauernde Pyrodinvergiftung, nicht
ein Zerfall von Blutelementen und ein Abbau von Lecithinsnb-
stanzen, sondern nur die Hemmung einer erfolgenden Blutregene-
ration statthat.
Die vereinzelten Phosphorbestimmungen, die ich in der Periode
der akuten Blutdestruktion gemacht habe, beweisen, daß hier die
Phosphorausscheidung wohl steigt, aber nicht allein proportional
•der gleichzeitige N- Verlust zunimmt.
Stoff wechselnntersachnnj^en bei experimenteller Anämie.
257
For den Eisen Stoffwechsel ist in mehreren Bestimmungen
des gesamten Hameisens, auch in Perioden der akuten Blutzerstö-
rung festgestellt, daß die Menge dieses Eisens beim Pyrodintier
nicht gegen die Norm verändert ist, sondern sich mit den Werten
deckt, die in jüngster Zeit von Kobert(46a), Neumann und
Mayer (46b), Mein er tz (46 c) für den normalen Harn auch des
Menschen gefunden wurde.
Die Bestimmungen wurden nach der vorzüglichen Methode von
Neu mann (47) durchgeführt, die noch so kleine Mengen wie die
vorliegenden bei exaktem und geübtem Arbeiten zu bestimmen
erlaubt. Sämtliche Reagentien waren eisenfrei. Als Stative und
Gestelle kamen nur Holzsachen zur Verwendung. Der Harn des
Versuchstieres war mit dem Katheter entleert.
1
'abelle XVI. Hund
L
Datum
Anämie-
periode
Fe in mg
Datum
Anämie-
Periode
Fe in mg
24. in.
1.42
8. V.
VIIL
1,16
4. IV.
IL
1,21
11. n
n
1,84
17. n
V.
1,71
13. „
IX.
1,18
27. r>
VI.
1,36
23. „
X.
1,42
29. ,
VII.
0,99
3. VI.
XL
1,81
2. V.
»
1.20
15. „
xm.
1,06
Die Eisenmengen beziehen sich auf den 24-Stunden-Harn, in
dem sie direkt bestimmt sind.
Der Blutzerfall und der chronische anämische
Zustand führt also nicht zu einer gesteigerten Eisen-
ausscheidung im Harn.
Anders verhielten sich die Fe-Mengen im Kot ; da dieser nicht
abgegrenzt wurde, unterblieb die Verfolgung dieser Frage. Immer-
hin aber weisen Werte von der Größenordnung von 48—57 mg Fe
im Kot, in Anbetracht der sonst vorzüglichen Ausnutzung der
Nahrung auf eine gesteigerte Ausscheidung des Eisens durch den
Darm, sei es durch die Wege der Galle, sei es direkt im Sinne der
<}uincke'schen Lehren.
Auf p. 230 ist angegeben, wie sich die Organe des im Höhe-
punkt der Anämie erlegenen Tieres in ihrem Rohgewicht unter-
schieden von den Organen des Tieres (Hund II), das seinen Blut-
befund zur Norm regeneriert hatte.
Es mußte interessieren, ob sich die Gewichtsdifferenzen auf
4ie gesonderte Gewichtszu- oder -abnähme etwa einer der drei
^eneralkomponenten der Organe, Wasser, Trockensubstanz,
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 88. Bd. 17
258 XIII. Samcblt
Fett, bezog. Auch lag hier die Möglichkeit einer Vergleichs-
bestimmung zwischen Anämie- und Normaltier für die Verteilung
des Eisens in den verschiedenen Organen vor.
Durch die verdienstvollen Arbeiten von Rumpf und Denn-
stedt(48) besitzen wir ein großes Zahlenmaterial, das über die
prozentuelle Verteilung von Trockensubstanz, Fett, Wasser und
Salzen bei verschiedenen menschlichen Krankheiten Aufschluß gibt
Hier waren also die Werte der Pyrodinanämie zu vergleichen mit
jenen der perniziösen Anämie. Da konstante Werte für die
Verteilung dieser Substanzen in normalen Hundeorg^nen nicht vor-
liegen — für eine „Konstanz" müßten viel zahlreichere Bestim-
mungen durchgeführt sein, als dies bis jetzt geschehen ist — , so
ziehe ich als Vergleichswerte jene Zahlen herbei, die von Hund II
gewonnen sind. Dieser Hund zeigte in seinem ganzen Verhalten
das eines durchaus gesunden Tieres. Zeichen einer überstandenen
Krankheit ließen sich an ihm nicht finden.
Zar Methodik ist zu bemerken: Der Wassergebalt der Rohorgaoe^
wurde durch Trocknen kleiner Anteile bei 92 ^ und Stehen über Schwefel-
säure im Exsikkator bestimmt.
Zur Bestimmung der Trockensubstanz und Fettmenge wurde meist
die Hälfte der Bohorgane durch die Fieischhackmaschine geschickt. Die
Organe waren vorher fettfrei präpariert.
Der Brei wurde im gewogenen Glas gewogen, mit Alkohol bei B7 ^
unter Rühren mehrmals extrahiert, durch ein gewogenes, gewich tkoustantes
Soxlethfilter gegeben und mit Äther extrahiert, iither und Alkohol-
rückstand, zur Gewichtskonstanz getrocknet, sind als Fette gerechnet. \)
Das Filter mit Trockensubstanz wurde in dem zur Alkobolextraktion be-
nutzten Glase gewogen und daraus die Trockensubstanz gefunden.
In den so gewonnenen Trockensubstanzen wurde das Eisen mit der
Methode von Neuro an n und feuchter VeraschuDg bestimmt. Der Best
der Organe, zumeist die Hälfte, bei den kleineren Organen, wurde gat
gewässert, abermals auf fettfreie Trockensubstanz verarbeitet und in.
diesen vdederam Eisenbestimmungen gemacht. Diese gewässerten Organ-
teile sind außer mit dem Sektionsmesser mit keinem eisenhaltigen In»
strument in Berührung gekommen (s. Tab. XVII).
Für das B 1 u t ergibt sich aus Rubrik 1 auf Tabelle XVII ein
erheblicher Wasserzuwachs, durchaus im Einklang mit den Zahlen
von Rumpf und Dennstedt für die menschliche Anämie.
Desgleichen ergibt sich aus 2 für die Leber und Milz eine Zu-
nahme der Trockensubstanz des anämischen Organs gegenüber dem
Erholungstier. Es zeigt sich aber, daß diese Veränderung der einen
1) Diese Bezeichnung ist eine willkürliche, da im Extrakt auch die Chole-
stearine und Jecorine enthalten sind. Eine beabsichtigte Trennung dieser Snb-
stanzen scheiterte an den geringen Mengen.
Stoffwechselnntenachongen bei experimenteller Anämie.
259
Tabe
Ue XVII.
HttBd n. Xrl
lolung.
■
Bund I.
Anämie.
0 S
^ S
e OB
Trocken-
substanz !
1
[1. Blnt
79,68
—
88,31
—
—
2. Leber
79,40
14,31
6,38
74,01
19,70
6,08
Roh-
3. Milz
79,85
18,45
1,51
77,17
22,41
0,46 »)
Organe
4. Herz
82,35
9,9
7,64
70,10
15,84
13,86
5. Muskel 77,83
14,31
8,60
74,41
19,70
6,92 (Psoas.)
l6. Niere
87,17
12,11
0,72»)
. 80,99
16,12
3,71
1) Nicht bestimmt sondern durch Differenz berechnet.
GröBe nicht aasreicht, um etwa den Gewichtsunterschied der Roh-
leber bei Hund I gegen Hund 11 zu erklären. Hier muß schon
angenommen werden, daß alle 3 Faktoren in gleicher Weise an
dem Gewichtszuwachs beteiligt sind, und daß die relative Zu-
nahme der Trockensubstanz nur der Ausdruck des durch die
massenhafte Zellanhäufung bedingten Leber- und Milztumors ist
Alle jene Schlacken werden also bis auf einen geringen Bruchteil
bei der Erholung aus dem Organ wieder entfernt. Wie die spätere
Tabelle der Eisenwerte zeigt, bezieht sich diese Entfernung auch
zum Teil auf die anorganischen Substanzen.
Auffallend ist es, daß die Werte für Fett trotz der makro-
skopisch erkennbaren „Fettleber"-Diagnose relativ niedere sind,
and bei Anämie und Erholnngstier die gleichen bleiben. Es mag
sein, daß hier die Zeit der Erholung nicht ausreichend war, um
die Beseitigung der durch Degeneration bedingten Fette zu er-
möglichen. Immerhin erscheint der Befund bedeutungsvoll, da hier
das Vorhandensein von Fett in der Leber sicher nicht als Aus-
druck einer verminderten Zellfunktion oder Oxydationsfähigkeit
gelten kann. Ähnliche Verhältnisse bestehen für die Milz in bezug
der Mengen von Trockensubstanz.
Aus den Zahlen der Rubrik 4, 5, 6 folgt: Ein Wasserverlust
zugunsten einer Trockensubstanzzunahme in Herz und Muskel, eine
Wasserzunahme der Niere beim anämischen Tier.
Eine eklatante Zunahme des Fettgehaltes zeigt der anämische
Herzmuskel, die relativ die Fettmengen der Leber weit übersteigt.
Alle diese Werte lassen sich schwer mit jenen bei perniziöser
Anämie des Menschen vergleichen, denn auch Dennstedt und
Rumpf fanden für ihre Fälle von Anämie keine konstanten Werte,
sondern eine sehr heterogene Verteilung jener 3 Organkomponenten.
17*
260 xin. Samuklt
Z. B. zeigt einer ihrer Fälle (Fall Breuel) für Trockensubstanz
der Leber: 174,55 %o? der Niere: 121,40 %o, des Herzens: 128,34 \,
gegen einen zweiten Fall (Kr o gm an n) für die gleichen Organe:
Leber: 137,85 ^/oo, Niere: 160,96 %o, Herz: 175,06 %o-
Noch größere Differenzen zeigen diese beiden Fälle für den Fett-
gehalt: Leber: 44,43 7oo B- (gegen 29,35 7oo K.), Niere: 63,62 % B.
(29,93 %o K), Herz: 176,17 B. (45,54 K.).
Die obigen Werte des pyrodinanämischen Tieres gleichen noch
am ehesten den Zahlen, die jene Autoren beim Fall Breuel ge-
funden haben.
Die Verfolgung solcher Bestimmungen an Organismen, deren
Stoffwechsel künstlich beeinflußt ist, scheint mir furderhin nicht
ohne Bedeutung.
Immerhin geht aber aus meinen Zahlen hervor, daß durch den
Prozeß der künstlichen Anämie Verschiebungen innerhalb der Or-
gane vor sich gehen, die der Ausdruck einer trophischen Organ-
Störung sind, welche ihrerseits einen veränderten Stoffwechsel-
mechanismus sehr wohl bedingen kann.
Die folgenden Bestimmungen des Eisens in den Organen
des Anämietieres und Erholungstieres liefern einen Beitrag zu der
Frage, ob das in den Organen gebundene oder in irgend einer
Pigmentform im Laufe der Blutdestruktion aufgespeicherte Eisen
bei der Blutregeneration wieder mobil gemacht und verwertet wiri
Ich kann die^se Frage hier im positiven Sinne entscheiden, wie dies
für das Lebereisen bereits T a 1 1 q v i s t getan hat Natürlich bleibt
der feinere Zusammenhang unerklärt, da hier nur grobe Zahlen-
differenzen der Eisenwerte in den Organen herangezogen sind.
Tabelle XVIH.
Gefunden für 100 Teile fettfreie Trockensubstanz.
Hund I.
Anämie
Hnnd IL Erholnng:
Leber
0,3299 g Fe
0,3307 g Fe
Milz
0,4819 „ „
1 0,3892 „ „
Herz
0,0606 „ „
1 0,0808 „ „
Niere
0,2471 „ „
0,0691 „ „
Muskel
0,0287 „ „
0,0810 „ „
in 100 Teilen
frischem Blut
0,0192 „ „
1 0,0484 „ „
1) Der Kürze halber habe ich hier die analytischen Detailbelege fort^
lassen. Ich bemerke aber, daß ich hier, soweit es das Material gestattete (Leber.
StoffwechBelantersachangen bei experimenteller Anämie. 261
Zur Kontrolle habe ich bei der Leber und Milz, bei denen
mir hinreichend Material zur Verfdgung stand, auch Eisen bestim-
iDQDgen im feuchten Eohorgan gemacht und die gefundene Eisen-
menge auf die in Tabelle XVII gefundenen Trockensubstanzen
umgerechnet. Dabei ergab sich fiir Hund I in 100 Teilen Trocken-
substanz der Leber = 0,3241, der Milz 0,4790. Hund 11: Leber
0,3289, der Milz 0,3790.
Diese Werte zeigen für Hund II einen Eisengehalt des Blutes,
der den Werten, die z.B. von Abderhalden und Bunge (49)
far das Bluteisen im normalen Hund angegeben werden, entspricht,
so daß auch die chemische Zusammensetzung des Erholungsblutes
in dieser Hinsicht eine normale gewesen sein dürfte.
Die Zahlen für das Anämietier, verglichen mit Werten, die
Rumpf und Dennstedt für die pemiciöse Anämie des Menschen
mitteilen, gibt keine restlose Übereinstimmung, aber doch einige
Analogien z. B. für Leber und Milz und besonders die Niere. \)
Diese auf feuchter Substanz gefundenen Eisenwerte aber stellen
keine absoluten Werte dar. Einmal sind die Köhorgane keines-
wegs blutfrei, da die erforderliche Ausspülung der letzten Blutreste
aus dem verbluteten Tier unterblieb, zum anderen bleibt selbst
bei der Annahme eines konstanten Bruchteils Blut in jedem Organ
ein Fehler, der in der größeren Menge Bluteisens beim Erholungs-
tier begründet ist.
Ich hatte daher nach dem Vorbild von Tallqvist gleich-
zeitig einen Teil der Organe feiner verteilt, und durch Ausspülen
gegen laufendes Wasser von dem löslichen Eisen befreit. Die re-
sultierenden, grau-weiß verfärbten Gewebsstücke, an denen eine
grobe mechanische Läsion nicht stattgefunden hatte, wurden ge-
trocknet, und in der entfetteten Trockensubstanz analog wie früher
nach Neumann das Fe bestimmt. Im folgenden sind die Besul-
tate in 7o der Trockensubstanz ausgedrückt.
Milzj, die Mittelzahlen von Doppelbestimmnngen angegeben habe. Wo mir nur
wenig Analysenmaterial zur Verfügung stand (Herz, Niere) wurde bei den Titra-
tionen eine abgemessene Menge Fresenius'scher Lösung, auf welche die Thiosulfat-
Idsung eingestellt war, der Aschenlösung zugefügt, so daß die Zahlen für Dezi-
miUigramme Eisen noch sicher Anrecht auf Genauigkeit haben.
1) Abgesehen von den individueUen Verschiedenheiten, die die GröOe des
Eiaenwertes dieser Autoren in Anämieorganen des Menschen bedingen, scheint es
mir nach eigenen Bestimmungen sehr wahrscheinlich, daß auch die Menge des
aas therapeutischen Rücksichten angegebenen Eisens diese Werte erheblich be-
hemcht.
262 XIII. Samuelt
Tabelle XDL
In IGO Teilen Trockensubstanz (fettfrei) der g^ewässerten Org^ane;
Hand I. Anämie
Leber 0,2298 gr Fe.
Müz 0,3921 „ „
Herz 0,0602 „ „
Niere 0,1971 „ „
Muskel 0,0279 „ „
Hnnd 11. Erholnng
0,0721 gr Fe.
0,1892 „ „
da nicht hinreichend
Material
0,0592 gr Fe.
0,0772 „ „
Auch diese Zahlen stellen nicht mit Sicherheit das ge.saiDt«
organisch gebundene Eisen dar, da sicher bei der Behandlung durch
Auswässern neben löslichem Eisen auch morphologische Bestand-
teile und eisenhaltige Pigmentsubstanzen ausgeschwemmt sind.
Auch hat sich die Salzkonzentration der Organe mithin die Trocken-
substanz an sich verändert. Die Zahlen sind aber brauchbar als
Vergleichswerte.
Die Differenzen, die durch Subtraktion der entsprechenden Werte
von Tabelle XVIII— XIX resultieren und die für das „wasserlösliche'*
Eisen in Anrechnung zu setzen sind, sind zum Teil z. B. für Leber
und Milz ganz erhebliche. Beim Umrechnen desselben auf das feuchte
Organ, und bei der Annahme, daß dieses Fe alles auf Kosten von Blnt-
eisen zu setzen sei, würde sich eine in dem Rohorgan verbliebene Blut-
menge ergeben, die den direkt bestimmten Wassergehalt des Organes
übertreffen würde. Schon aus diesem Paradoxon erhellt, daß andere
eisenhaltige Substanzen dem Organ durch die Wässerung entzogen
sein müssen, die aller Wahrscheinlichkeit nach in der Tat wasser-
löslich sind. Eine zweite Möglichkeit zur Erklärung der großen
Differenzen wäre die, daß die Eisenmengen topographisch durchaas
ungleich auf das Organ verteilt sind, etwa dem Gefäßverlauf folgend,
reichlicher angehäuft sind, als an peripheren Teilen des Gewebes.
Das Anämietier hat also eine erhebliche Steigerang an orga-
nischem Eisen in Leber, Milz, Herz und Niere erfahren. Der Wert
des Lebereisens korrespondiert mit einem Wert, den Tallqvist
bei Pyrogallolanämie gefunden hat, und übertrifft die Zahlen, die
er bei chronischer Pyrodinanämie anführt. Wichtig ist auch die
erheblichti Ablagerung im Herzmuskel. Überraschend ist nur die
große Menge von Eisen in der Nierensubstanz. Sie beweist, in
Anbetracht der während der Anämie nicht gesteigerten Eisenaas-
scheidung im Harn eine Retention und Bindung von Eisen, wenn
Stoff wechselanteranchimgen bei experimeuteller Anämie. 263
man Dicht eine Verschleppang von freien oder etwa in Leukocyten
eingeschlossenen Hämosiderinkörnem annehmen will.
Vergleicht man mit diesen Befunden die Eisenwerte des Er-
holungstieres, so ist kein Zweifel, daß nicht nnr die Leber, sondern
auch die übrigen Organe, der quergestreifte Muskel ausge-
nommen, von dem in ihnen aufgespeigerten Eisen („Reserveeisen^)
zu Regenerationszwecken abgegeben haben.
Zu dem Normaleisengehalt, der für die Leber nach den Be-
stimmungen, z. B. von G 0 1 1 1 i e b (60) im Mittel 0,037 g in 100 Teilen
Trockensubstanz beträgt, ist die Leber bei der Kürze der Erholungs-
frist noch nicht zurückgekehrt; das gleiche gilt auch für die Niere,
deren Eisengehalt von 0,059% der Trockensubstanz die normalen
Verhältnisse noch weit übei-steigt. Auch der Fe-Gehalt der Milz,
die sich auch mikroskopisch sehr pigmentfrei erwies, übertrifft das
noimale bei weitem.
Es würde zu weit führen, die gefundenen Mengen von ange-
reichertem Eisen auf das Gesamtgewicht der Organe, und diese
wieder in Hämoglobiir umzurechnen, um etwa so jenen Bruchteil
Blutkörperchen zu bestimmen, der im Verlauf der ganzen Ver-
suchsreihe dem Untergang verfallen ist. Für das Kaninchen unter
besonderen Bedingungen hat Meinertz eine solche exakte Be-
stimmung durchgeführt. Jedenfalls aber geht auch aus meinen
Versuchen hervor, daß in den Organen, vornehmlich der Leber, ein
Reservoir vorhanden ist, um das für die Blutregeneration not-
wendige Eisen aufzuspeichern, und daß in der Tat mit der Er-
holung des Anämietieres zur Norm diese Depots in Angriff genommen
werden. Ich hoffe an solchen Versuchstieren zu entscheiden, ob
die direkte Einverleibung von Eisenpräparaten in löslicher oder
organischer Form geeignet ist, das Eisen jener Speicherungsorgane
bei der Blut- und Hämoglobinregeneration zu ersetzen.
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XIV.
Aus der II. mediz. Klinik der Königl. Charite.
Bemerkungen über den Nncleinstoffwechsel.
Von
Alfred Schittenhelm.
Der Nncleinstoffwechsel bat in den letzten Jahren eine beson-
ders gründliche Bearbeitung gefunden, welche nunmehr soweit ge-
diehen ist, daß man sich von den Vorgängen bei demselben ein
ziemlich genaues Bild machen kann. Wenn ich hier, obwohl gerade
in letzter Zeit mehrere Zusammenfassungen erschienen sind '), eine
Reihe von experimentellen Feststellungen rekapituliere, welche
bereits in jenen ausführlich vermerkt sind, so geschieht das vor
allem deshalb, weil meinen Betrachtungen andere Gesichtspunkte
zugrunde liegen sollen wie jenen, und weil ich zudem der Ansicht
bin, daß die Erkenntnisse des Nucleinstoffwechsels nicht häufig
genug erörtert werden können im Hinblick auf die mannigfachen
sich widerstreitenden Ansichten über pathologische Zustände des-
selben, vor aUem der Gicht, welche mit mehr oder weniger Recht,
oft genug auf Grund gänzlich einseitiger und mit unzureichenden
Mitteln ausgeführter Untersuchungen aufgestellt werden. Ich möchte
hier nur an die neueste Kionka'sche Gichttheorie ^) erinnern,
welche durch die Beweisführung von Abderhalden und Schitten-
1) Schittenhelm. A., 5. Kapitel von „Die Natur und Behandlung der Gichf
von W. Ebstein. Wiesbaden 1906 p. 132—147. — Die Purinkörper und ihre
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Bloch, B., Die Umwandlung der Purinkörper im Sängetierorganismus. Biochem.
Centralbl. 1906 Bd. 5 S. 561.
2) Kionka, H., Gljkokoll und Harnstoff in ihren Beziehungen zur Harn-
säure. Eine Theorie der Gicht. Zeitschr. f. exp. Path. u. Ther. 1905 Bd. 2 p. 17.
Bemerkangen über den NncIeiiiBtoffwechsel. 267
helm^X daß die ihr zngfnindeliegeiiden Untersuchungen Frey's^)
vollkommen unzutreffende Besultate ergaben, ein schnelles Ende
fand und andererseits der Falkenstein 'sehen *) Ansfahrungen ge-
denken, welche sich z. T. stützen auf Stoffwechseluntersuchungen,
die mit gänzlich unzureichender Versuchsanordnung und Methodik
ausgeführt sind und darum eine ernsthafte Beachtung nicht ver-
dienen. Auf die Beziehungen zwischen Theorie und Experiment
in bezug auf die Gicht werde ich demnächst an anderer Stelle
zurückkommen, weshalb ich hier auf ein näheres Eingehen darauf
verzichte.
Es steht jetzt absolut fest, daß der Nucleinstoffwechsel einen
ebenso abgeschlossenen Verlauf nimmt, wie z. B. der Eiweißstoff-
wechsel, wenigstens was seine wesentlichste Komponente, die Purin-
körper, anbelangt Wir wissen, daß die Harnsäure nur aus den
in den Nucleinen präformierten Pnrinbasen entstehen kann und
niemals aus andersartigen Quellen, wie den Aminosäuren des Ei-
weißes, der Tartronsäure, Dialursäure und ähnl. Von Purinbasen
kommen in Betracht die sog. Aminopurine, Adenin und Guanin,
denen höchstwahrscheinlich noch zwei weitere Körper, das 6 Amino-
2-8 Dioxypurin und das 2 Amino-6-8 Dioxjpurin zuzuzählen sind und
die Oxypurine, das Xanthin und das Hypoxanthin.
Der Übergang von Adenin in Harnsäure gestaltet sich dem-
nach folgendermaßen:
1. Adenin —Hypoxanthin — Xanthin— Harnsäure.
2. Adenin — (6 Amino-2 Oxypurin oder 6 Amino-8 Oxypurin) —
6 Amino-2-8 Dioxypurin — Harnsäure.
Analog verläuft der Übergang von Guanin zu Harnsäure:
1. Guanin— Xanthin— Harnsäure.
2. Guanin— 2 Amino-6-8 Dioxypurin — Harnsäure.
Man sieht hieraus, daß der Umsetzung von Aminopurinen in
Harnsäure zwei Wege zu Gebote stehen, je nachdem die Desami-
diemng zunächst und dann die Oxydation erfolgt oder umgekehrt
zunächst die Oxydation statthat und dann erst die Desamidierung.
1) Abderhalden, E. n. Schittenhelm^ A., BemerkaDgeu za den Ar-
beiten von Frey, Über die Rolle des OlykokoUs bei der Entstehang der Gicht.
Zeitachr. f. ezper. Path. u. Ther. 1905 Bd. 2 p. 431.
2) Frey, E., Das Krankheitobild Gicht nach Kionka's Theorie. Zeitschr.
f. exper. Path. u. Ther. 1905 Bd. 2 p. 36.
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8&ore und des Harnstoffs bei der Gicht. Berl. klin. Wochenschr. 1906 Nr. 8
p. 228-233.
268 XIV. SCHITTBNHSLX
Der erstere Weg ist zweifellos der gewöhnliche und läßt sich im
Experiment durch Verfütterung der Aminopnrine oder besser durch
Digerieren derselben mit Extrakten tierischer Organe in allen
seinen Etappen bequem verfolgen.^) Der zweite Weg ist der
weitaus seltenere; für das Adenin ist er sichergestellt durch Nico-
laier ^X welcher bei Ratten nach Injektion von Adeninlösong in
den Nieren das eine Glied der Kette, das 6 Amino-2-8 Dioxypurin,
welches Emil Fischer früher schon synthetisch dargestellt hatte,
sicher feststellen konnte, während das andere Glied, das 6 Amine-
2 Oxypurin oder 6 Amino-8 Oxypurin, noch nicht aufgefunden ist ob-
wohl es zweifellos beim Übergang von Adenin in 6 Amino-2-8 Dioxy-
purin entstehen muß; für das Guanin ist er durch Schittenhelm^
wahrscheinlich gemacht, welcher bei Digerierung von Guanin mit
Schweinemilzextrakt eine Substanz in geringer Menge isolieren
konnte, deren Eigenschaften und Analyse auf 2 Amino-6 8 Dioxy-
purin, ebenfalls von EmilFischer bereits synthetisch dargestellt,
stimmten.
Im allgemeinen ist aber bei Mensch und Tier der erste Weg,
bei welchem als Zwischenstufen Xanthin resp. Hypoxanthin und
Xanthin entsteheu, der gebräuchlichste. Das geht daraus hervor,
l)Schittenhelm, A., Über die Harnsäurebildnng^ in Gewebsauszttgen.
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2) Nicolaier, A., Über die Umwandlung des Adenins im tierischen Orga-
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3) Schittenhelm, A. , Der Nudeinstoffwechsel und seine Fermente bei
Mensch und Tier. Zeitschr. f. physiol. Chemie 1905 Bd. 46 p. 354.
Bemerkungen über den Nnclein^stoffwechsel. 269
dafi man, abgesehen von den zwei angegebenen Fällen, weder bei der
Analyse der Porinkörper des Urins, noch derjenigen frischer und
autolysierter Organe, noch bei Digestionsversuchen unter Dnrch-
leitnng von Luftsauerstoff auf 6 Amino-2-8 Dioxypurin und auf
2Amino-6-8Dioxypurin gestoßen ist. Immer nur fanden sich neben
Adenin und Guanin die Oxypurine Xanthin und Hypoxanthin.
Wir müssen diese beiden Oxypurine als die natürlichen Zwischen-
glieder zwischen der Harnsäure und den Amiuopurinen ansehen.
Ob dieselben aber nur ein Produkt des intermediären Stoffwechsels
sind oder aber zu den Bausteinen des tierischen Organismus ge-
hören, ist noch nicht sicher entschieden. Wenn wir die frischen
Organe in toto auf die Qualität und Quantität der in ihnen ent-
haltenen Purinbasen untersuchen, so finden wir stets dasselbe Bild.
Im Laufe der Jahre habe ich zum Teil noch in Gemeinschaft mit
M. Krüger eine ganze Reihe von Organen nach dieser Hinsicht
verarbeitet und immer gefunden, daß zwar alle 4 Purinbasen vor-
handen sind, bei weitem die Hauptmenge aber stets Guanin und
Adenin ausmachen. So verhielt es sich bei der Leber, der Milz,
dem Pankreas, der Darmschleimhaut, der Lunge des Rindes, der
Milz des Schweines und Hundes, der Kalbsthymus und dem Darm
des Menschen. Damit stimmt überein, daß auch in den Trägem der
Purinbasen im tierischen Organismus, den Nncleinsäuren, die Oxy-
purine, wenn überhaupt immer nur in kleinen Mengen neben großen
Quantitäten Amiuopurinen gefunden wurden. Es ist dabei natürlich
zu bemerken, daß bei derartigen Untersuchungen die Organe stets
in absolut frischem Zustande sowohl zur direkten Verarbeitung als
auch zur Darstellung ihrer Nncleinsäuren genommen werden müssen,
da die in ihnen enthaltenen hochwirksamen (desamidierenden) Fer-
mente sowohl als auch eventuelle Fäulnis durch Umwandlung der
Aminopurine in Oxypurine sehr bald eine prozentuale Verschiebung
herbeiführen können.
Aus der Tatsache, daß stets im wesentlichen Adenin und
Guanin gefunden werden, geht m. E. hervor, daß nur diese
beiden Aminopurine reguläre Bausteine des tierischen
Organismus sind, während die Oxypurine bereits ein
Produkt des fortschreitenden Stoffwechsels dar-
stellen.
Übrigens finden wir dieselben Verhältnisse bei der Pflanze,
den Bakterien und Pilzen. Auch hier sind die Hauptbestandteile
Adenin und Guanin. Auch hier geht deren Umwandlung im Stoff-
wechsel über Xanthin und Hypoxanthin vor sich. Zur Bildung von
270 XIV. SCHITTBNHBUI
HarDSäore dagegen scheint es nicht zn kommen. Ich will hier nicht
näher auf diese interessanten Verhältnisse eingehen, sondern nur
erwähnen, daß es nach einem orientierenden Versuche zu gelingen
scheint, mit Preßsaft von Keimlingen, z. B. Lupinen^ eine Umwand-
lung von Ouanin in Xanthin herbeizuführen, also genau dasselbe,
was auch mit Preßsaft aus tierischen Organen infolge des Gehaltes
an desamidierendem Fermente erreicht werden kann.
Wir haben vom erwähnt, daß eine synthetische Bildung der
Harnsäure im Säugetierorganismus ausgeschlossen ist, wir können
aber nicht dasselbe von den Purinbasen behaupten. Diese können
im Tierkörper synthetisch entstehen. Dafür erbrachten die Ver-
suche von Mi es eher ^) und Kos sei') unumstößliche Beweise. Sie
entstehen aber offenbar auf diese Weise nicht unbeschränkt weiter,
sondern nur in dem Maße, als sie als Baumaterial für die Nucleine
benötigt werden und als Ersatz für die durch die Lebenspi-ozesse
aufgebrauchten Kern purine. Aus welchen Körpern sie dabei ent-
stehen, ist keineswegs sichergestellt. Es bestehen dafür mannig-
fache Möglichkeiten. Es dürfte aber keineswegs einfach sein, den
Beweis für eine bestimmte Vorstufe zu erbringen, da es nicht ge-
lingt, durch Zufuhr irgendwelcher Nahrungsbestandteile den Purin-
stoifwechsel willkürlich zu steigern, wenn nicht gleichzeitig Purin-
basen zugeführt werden, welche dann zu einem guten Teil als
Harnsäure zum Vorschein kommen.
Wenn wir mit der Nahrung Nucleine zuführen, so werden die-
selben vom Magensafte in keiner Weise verändert. Dies ist schon
eine alte Erfahrung, welche von Miescher und Hoppe-Seyler
bereits zur Gewinnung von Nueleinen benutzt wurde. Daß der
Magensaft in der Tat Nucleinsäure nicht zu verändern vermag, ist
neuerdings unter Verwendung von Pawlow'schem Hundemagensaft
einwandfrei durch Abderhalden und Schittenhelm^) be-
wiesen worden. Dieselben zeigten weiter, daß Thymonucleinsäure,
ohne eine tiefgreifende Spaltung unter Absprengung von Purin-
basen zu erleiden, vom natürlichen, durch Pawlow'sche Fistel ge-
wonnenen Pankreassaft doch eine derartige Veränderung erleidet,
daß sie aus ihrem koUoidalen Zustand in einen diffundiblen übergeht
In dieser Verfassung wird die Nucleinsäure im Darme resorbiert
1) Miescher, F., Physiol. ehem. UntersuchnDgen über die LachsmilcL
Arch. f. exp. Pathol. u. Pharmak. 1896 Bd. 37 p. 100 ff.
2) K 0 8 s e 1 , A., Weitere Beiträge znr Chemie des Zellkernes 1886 Bd. 10 p. 24a
3) Abderhalden, E. und Schittenhelm, A., Der Ab- und Aufban der
Nucleinsäureu im tierischen Organismus. Zeitschr. f. physiol. Chemie 1906 ßd. 47
p. 452.
Bemerkungen über den Nncleinstoff Wechsel. 271
Was hinter der Darmschleimhant mit der resorbierten Nuclein^
säore passiert, können wir nicht mit absoluter Bestimmtheit sagen.
Die Frage ist vor allem die: Wird sie zum Aufbau des Körper-
oncleins benutzt oder wird sie sofort vollkommen abgebaut und als
Harnstoff, Harnsäure etc. ausgeschieden?
Wir wissen nun, daß ein Extrakt der ganzen Darmwand, im
Gegensatz zu den Sekreten des Pankreas, eine hochwirksame Nuc-
lease enthält, welche die Nucleinsäure unter Abspaltung von Purin-
basen zerlegt^). Femer haben Versuche, welche ich soeben mit
demselben Eesultate wiederholte, ergeben, daß die Darmschleimhaut
das desamidierende Ferment sowohl wie die Xanthinoxydase ent*
hält und darum die Umwandlung der Purinbasen bis zur Harnsäure
bereits durchzuführen vermag^). Es ist also absolut möglich, daft
wenigstens ein Teil der Nahrungsnucleinsäure schon in der Darm-
wand bis zu niederen Stoffwechselprodukten abgebaut wird.
Andererseits aber ist es, in Analogie mit dem Eiweißstoffwechsel,
wie schon Abderhalden*) betonte, wahrscheinlich, daß die
Nahrungsnucleine vom Körper zum Aufbau ihrer eigenen Zell-
nadeine soweit wie möglich benutzt werden. Wir müssen darum
annehmen, daß die Nahrungsnucleine in der Darmwand soweit ala
nötig aufgespalten und nun aus den brauchbaren Teilstücken sei
es sofort, sei es an der endgültigen Baustelle die entsprechende
arteigene Nucleinsäure wieder aufgebaut wird, während die un-
brauchbaren Teilstücke sofort ausgeschieden werden. Es ist ja
klar, und die sogen, endogene Harnsäure bildet dafür Beweis-
material, daß ebenso wie bei dem Eiweißbestande des Körpers ein
beständiger Wechsel, ein Ersatz des minderwertigen, abgebrauchten
Eiweißes durch frisches, neu zusammengesetztes, vollwertiges statt-
hat, auch die Zellkerne und die darin enthaltenen Nucleine sich
dauernd ergänzen und neuaufbauen. Wie intensiv dieser Wechsel
sich g-estaltet, werden wir nicht so leicht erfahren können. Denn
unser einziges Kriterium für denselben bildet augenblicklich die
Verfolgung der Hamsäureausscheidung im Urin, welche aber für
1) Abderhalden, E. und Schittenhelm, A., Der Ab- und Aufbau der
NucieiiiBäuren im tierischen Organiamus. Zeitschr. f. physiol. Chemie 1906 Bd. 47
P-4o2.
2) Schittenhelm, A., Über die HarnRäurebildung und HarnsÄurezersetzung-
in den Auszügen der Kinderorgane. Zeitschr. f. physiol. Chemie 1905 Bd. 45-
p. 121 ff.
3) Abderhalden, E., Lehrbuch der physiol. Chemie, Berlin 1906. Ver-
lag ürban und Schwarzenberg, Berlin -Wien.
272 XIV. SCHITTBNHBLM
diese Zwecke absolut nicht exakt zu verwerten ist, da die Harn-
säure bekanntlich zu einem guten Teil weiter zersetzt und teilweise
als Harnstoff ausgeschieden wird und darum ein Stoffwechsel-
zwischenprodukt, aber keine Endstufe darstellt Ihre
Ausscheidungsgröße kann uns also nur einen höchst unvollkommenen
Einblick in das Getriebe des Zellkernlebens gestatten.
Wir nehmen also an, daß der Ersatz des Zellnucleins
einerseits durch die jeweils zugeführten Nahrungs-
nucleine statthat und andererseits durch synthe-
tische Vorgänge, deren genaue Kenntnis uns noch fehlt, der
volle Ersatz der im Stoffwechsel verbrauchten Zell-
nucleine zustande kommt. Der Zell- resp. Nucleinstoflfwechsel
ist also nach unserer Auffassung ein permanenter und reger.
Die Schlacken des verbrauchten Zellnucleins werden nun, ge-
nau wie die des überschüssigen Nahrungsnucleins, zu ihren Zwischen-
und Endprodukten, von denen wir die Oxypurine, Xanthin, Hjtw-
xanthin und die Harnsäure sowie den Harnstoff kennen, abgebaut.
Der Ort, wo dieser Abbau stattfindet, sind die Organe selbst Das
Blut hat nach meinen Untersuchungen, von denen ich hier einige
-anführen will, so gut wie keinen Anteil.
Vers. I. 0,15 g Hypoxanthin -(- 400 ccm frisches Binderblnt 3 Tage
lang unter Zasatz von Chloroform und Toluol und unter ständiger Luft-
durchleitung bei ca. 38^.
Es wurde keine Harnsäure erhalten, aber die Base zurückgewonnen.
Vers. II. 0,15 g Guanin in möglichst wenig Normalnatronlauge
gelöst -\- 400 ccm frisches Rinderblut genau so wie I.
Keine Harnsäure ; Base zurückerhalten.
Vers. III. 0,2 g Harnsäure in 5 ccm Norraalnatronlauge gelöst;
dazu werden 100 ccm frisches Blut direkt aus der Armvene eines ge-
sunden Menschen zufließen gelassen. Das Ganze bleibt unter Zusatz Ton
Thymol und Toluol 2 Tage bei 37 '^ im Brutschrank.
Wiedergewonnen 0,17 g Harnsäure.
Vers. IV genau so wie Vers. III.
Wiedergewonnen 0,16 g Harnsäure.
Kontrollversuche beweisen, daß der kleine Verlust an Harnsäure
absolut auf Kosten der methodischen Fehlerquellen zu setzen ist.
welche sich manchmal sogar noch höher gestalten können.
Es ist also erwiesen, daß für die Purinkörper und
speziell die Harnsäure das Blut nur als Transport-
mittel in Frage kommt, nicht aber als umsetzendes
Organ. Dieser Umstand ist von recht erheblicher Wichtigkeit.
Wir müssen also die Stätte der Umsetzung von im Stoff-
Bemerkaugen ttber des Nncleinstoffwechsel. 273
Wechsel frei werdeBden Pnrinen in die festen Organe
verlegen und dem Blute eine Beteiligung daran ab-
sprechen. Diese Lokalisation der Umsetzung von Purinkörpem
hat nun wiederum eine wesentliche Bedeutung dadurch, daß die
eiDzeluen Organe offenbar eine verschiedene Rolle im Purinstoff-
wechsel spielen. Im einen Organ, z. B. Darm, Milz, Lunge des
Hindes geht die Umsetzung bis zur Bamsänre, im anderen (z. B. Leber,
Niere, Muskel des Rindes) wird auch diese sofort weiterzersetzt.
Wieder andere vermögen nur die Umsetzung der Aminopurine in
Oxypnrine und durch die neuesten Untersuchungen liegt sogar die
Vermutung vor, daß bei gewissen Tierarten im einen Organ nur das
Guanin, im anderen nur das Adenin angegriffen wird, wodurch der
Stoffwechsel in dieser Hinsicht noch weit komplizierter werden würde.
Immerhin sind diese Fragen noch nicht endgfiltig gelöst und ins-
besondere fehlen noch Versuche mit menschlichen Organen, welche
jedoch zurzeit im Gange sindJ) Eines ist jedenfalls sicher, daß
nämlich die einzelnen Tiere recht erhebliche Verschiedenheiten be-
treffs der Verteilung ihrer Nucleinfermente in den Organen besitzen.
Die gebildete Harnsäure wird also zu einem beträchtlichen
Teil sofort wieder zei'stört und es ist recht wesentlich, daß das
Organ, dem die Ausscheidung der Blutharnsäure zukommt, nämlich
die Niere, scheinbar auch das intensivste Harnsäurezerstörungs-
vermögen besitzt Es kann also bei einer Insufficienz der
HarnsÄurezerstörung, z. B. in der Leber oder in den
Muskeln, wodurcb ein vermehrtes Kreisen von Harn-
säure im Blut veranlaßt sein köjinte, trotzdem eine
Vermehrung der ürinharnsäure fehlen, weil dieNiere
mit ihrer Fähigkeit, Harnsäure zu zerstören, ein-
springt. Jedenfalls darf niemals die Menge der Ürinharnsäure
ohne weiteres als Ausdruck der quantitativen Verhältnisse des
Purinstoffwecbsels innerhalb des Organismus genommen werden.
Es spielen da zu viele Möglichkeiten mit, die Harnsäure zu zer-
stören oder auch zurückzuhalten.
Ich möchte hier noch kurz erwähnen, daß häufig behauptet
wird, der Darm führe ebenfalls Harnsäure aus. Diese Auffassung
hat sich' breit gemacht vor allem durch eine Arbeit Galdi'a')
1) Dieselben , von Schittenhelmn. Schmid ausgeführt, liaben inzwischen
«tgeben, daß eine weitgehende Analogie mit den an tierischen Organen ersielten
Resultaten ▼orliegt.
2) Oaldi, F., Über die Alloxnrkörper im Stoffwechsel bei Lenkämie. Ärek.
i. exp. Path. n. Pharmak. 1908 Bd. 49 p. 213.
Dentsches Archiv für klin. Med. 89. Bd. 18
274 XIV. SCHITTEKHBLM
Es Wäre nun von großer Wichtigkeit, wenn der Darm tatsächlich
imstande wäre, Harnsäure zu eliminieren und unsere Untei*suchungen
über den Hamsäurestoffwechsel würden ungenau gewesen sein,
wenn sie, wie bisher stets, nur die Urinhamsäure und nicht auch
die Fäcesharnsäure in den Gesichtskreis gezogen hätten. Außer
der 6 a I d i 'sehen Arbeit erschienen noch mehrere andere,^) welche
ebenfalls in den Fäces Harnsäure nachgewiesen haben wollen, und
Bartoletti^) macht sogar zahlengemäße Angaben, wonach die
tägliche Harnsäurenmenge der Fäces beim Gesunden 22,04 mg,
beim Leukämiker 30,79 mg betrug, während der Gichtkranke 14,71
und 23 mg ausschied. Ich möchte hier mit voller Schärfe betonen,
daß alle diese Angaben falsch sind und nur erhalten werden
konnten dadurch, daß blindlings eine Methode angewandt wurde,
welche allerdings zur Hamsäurebestimmung gute Dienste leistet,
welche aber die Harnsäure vor allem in den Fäces mit ihren zahl-
losen Substanzen nicht in reinem Zustande liefert. Untersucht
man die aus den Fäces auf diese Weise erhaltenen Produkte, so
findet man, wenn nämlich eine Verunreinigung mit Urin absolut
ausgeschlossen wurde, zwar einen stickstoffhaltigen Niederschlag
(eiweißartige mitgefällte Körper oder Purinbasen), aber niemals
Harnsäure. Harnsäure kommt nur im embryonalen Darm vor (im
Mekonium) und auch da ist sie vielleicht durch verschlucktes
Fruchtwasser, welches ja infolge der Beimengung fötalen Urins
Harnsäure enthält, zu erklären. In den Fäces kommen nur Purin-
basen vor, welche aber auch nicht aus dem Organismus in den
Darm, wie z. B. das Eisen oder der Kalk, ausgeschieden werden,,
sondern Bestandteile darstellen der Sekrete, der abgeschilferten
Darmepithelien und vor allem der Bakterien.*) Wir können also
nach wie vor auf die Untersuchung der Fäces verzichten, wenn
nicht gerade schwer resorbierbare Purinbasen wie Guanin oder
Xanthin oder Harnsäure selbst oder große Menge von Nucleinen
1) Galdi, Fr., Über das konstante Vorkommen, die Menge und die Her*
kunft der Harnsäure in den Fäces der Gesunden. II Policlinico 1905 Soc. Med.
Fase. 3, 4 Anno XII. — - ßartoletti, C, Über die Ausscheidung der Harnsäure
und AUoxurbasen in den Fäces des Gesunden, des Gichtkranken und des Lieu-
kämischen. Riv. crit. di Clin. Med. 1905 Nr. 50/51 Dez. — Carletti, M., Hani*
Säureausscheidung im Kot Typhuskranker. II Morgagni Dez. 1905.
2) 1. c.
3) Vgl. meine ausführlichen Untersuchungen über die Purinbasen der
Fäces. Deutsches Arch. f. klin. Med, 1904 Bd. 81 p. 423—454. — Krüger, M.,.
und Schittenhelm, A., Die Pnrinkörper der menschlichen Fäces. Zeitschr. f.
physiol. Chemie 1902 Bd. 35 p. 153 und 1905 Bd. 45 p. 14.
Bemerkmigen ttber den Nacleinstoffwechsel. 275
gereicht werden, welche eben zum Teil unverändert den Darm
wieder verlassen können.
Daß in der Tat von einer Ausscheidung von Purinbasen in
die Fäces analog derjenigen im Urin nicht die Hede sein kann,
daftr ist ein Beweis die total andere Zusammensetzung des in den
Fäces und des im Urin gefundenen Basengemisches. Dieselbe
prägt sich darin aus, daß in den Fäces genau wie in den Organen
die Eauptmenge der Basen Guanin und Adenin sind, während im
Urin das Guanin gänzlich fehlt und wesentlich Xanthin und Hypo-
xanthin neben Adenin ausgeschieden werden. ^) Genau denselben
Befand kann man beim Leukämiekranken erheben, bei dem angeb-
lich eine vermehrte Basenmenge die Regel sein soll, was, wenn es
stimmt, wahrscheinlich auf eine verschlechterte Resorption, aber
niemals auf eine vermehrte Sekretion zurückzuführen ist.
Ich führe hier die Analyse von Fäces Leukämiekranker an:
1. Fat. A., Myelocytenleukämie. Fäces von 14 Tagen ge-
sammelt und nach Krüger und Schittenhelm verarbeitet
Gefunden: 1,7 g Guanin,
0,7 g Adenin,
0,17 g Xanthin,
0,14 g Hypoxathin.
Das Adenin wurde als Picrat von S. F. 282^ identifiziert; das
Xanthin als salpetei*saures Salz durch seine charakteristische
Kristallform (Häufchen von kleinen schweren Plättchen) ; das Hypo-
xanthin durch Nachweis seiner charakteristischen Kristallform als
Picrat und Nitrat, das Guanin als Sulfat.
2. Fat. F., Myelocytenleukämie. Fäces von 3 Tagen genau
wie bei 1.
Erhalten 0,65 g reines Guaninsulfat, welches folgende Analyse
gibt:
0,131 g gibt 0,074 g BaaSO^.
Verl. für (C5H5N50)2H2SO^ + 2H2O: 22,48 «/o H,SO,
Gef. 21,72% H^SO,.
Es lag also zweifellos Guanin vor.
An Adeninpicrat konnte 0,8 g isoliert werden, welches einen
Schmelzpunkt von 281® (unkorr.) hatte.
Im Filtrat nur relativ geringe Mengen von Basen (Xanthin
und Hypoxanthin), welche zur weiteren Identifikation nicht genügten.
Harnsäure wurde weder in Fall 1 noch in Fall 2 gefunden.
1) Vgl. Krüger, M., und Schittenhelm, A. I. Mitt. 1. c.
18*
276 XrV. ScHiTTXNBsuty Bemerkungen über den Nuetointtoffweehsei.
Die Befunde an den Fäces Leak&misclier stimmen also geoan
1it)erein mit den Befunden von Krfiger und Schittenhelm am
normalen Menschen. Mithin kann die behauptete Aus-
scheidung YonHarnsäuremit den F&ces als endgültig
abgetan betrachtet werden. Auch die Purinbasen der Fftces,
welche relativ recht große Mengen darstdlen, richten sich keineB-
wegs nach dem allgemeinen Nuddnstoffwechsel, sondern entspringen
rein lokalen Verhältnissen, wie ich sie frflher bereits ausführlich
beschrieb.
XV.
über Herzblock beim Menschen.
Von
Privatdozent Dr. £• Schreiber,
Obemzt ». d. Altitädt Knnkenhaas so. MAgdebnrg.
(Mit 4 Kurven.)
Seit einiger Zeit habe ich einen Fall von Herzblock in Be-
obachtung, dessen genauere Untersuchung mir beachtenswerte Er-
gebnisse geliefert zu haben scheint, die ich daher kurz mitteile:
Am 25. Juli d. J. wurde der 44jährige Maurer D. aus S. auf
meine Abteilung aufgenommen. Abgesehen von Masern in frühester
Kindheit und einer Knöchelfraktur im Jahre 1902 will Patient
keine anderen Krankheiten überstanden haben. Die Todesursache
seines Vaters ist unbekannt, eine Schwester ist geisteskrank, die
Mutter sowie die übrigen Geschwister und Frau sind gesund. Von
seinen 12 Kindern sind 5 im zartesten Alter angeblich an Krämpfen
gestorben und 1 tot geboren. Alkoholmißbrauch sowie geschlecht-
liche Infektion werden in Abrede gestellt, auch lassen sich syphi-
litische Zeichen nicht nachweisen.
Am 8. August 1905 zog sich D. durch einen Hammerschlag
eine Hautverletzung am linken inneren Knöchel zu. Die Verletzung
heilte unter entsprechender Behandlung in einigen Tagen glatt ab.
Am 10. Tage nach dem Unfall aber wurde er, während er im Bett
lag, kurz hintereinander zweimal bewußtlos, dann trat Erbrechen
und Durchfall auf. Am nächsten Tage merkte er, daß das Herz
langsamer schlug. Dem behandelnden Arzt, Herrn Dr. Kirch-
heim aus Elmen, gegenüber klagte er über lebhaftes Druckgef&hl
und Beängstigung. Damals wurde folgender Befund festgestellt
(Dnfallakten) :
Die Herzdämpfang ist nicht merklich vergrößert. Der Pols, welcher
stark gespannt, im übrigen aber regelmäßig nnd von gleicher Stärke ist,
sehlägt 18 — 20 — 24 mal in der Minute. Bei der Auskaltation hört man
278 XV. SCHRBIBM
reine, aber stark klappende Herztöne. Zwischen zwei deutlich hörbaren
Herztönen, denen ein Fnlsschlag entspricht, schiebt sich ein sehr leiser,
unreiner systolischer Herzton ein, dem bei genauester Prüfung keine wahr-
nehmbare Puls welle entspricht. Der Ton fehlte an den großen Halsgeftßen.
Zu den angegebenen Herzbeschwerden des Patienten gesellten sich
nach einigen Tagen Anfalle, die ich Oelegenheit hatte zu beobachten
und welche folgendermaßen verliefen:
Nachdem der Patient ein Gefühl von Beklemmung angegeben hatte, trat
plötzlich ein Stillstand des Herzens ein, der nach Prüfung mit der Uhr 20 bis
25 Sekunden dauerte, Herztöne waren nicht zu hören. Dabei verschwand der
bis dahin deutlich fühlbare Puls vollständig, der Patient wurde sehr blaß und
lag schlaff und bewegungslos da. Die Lider waren halb geschlossen, die Augen
nach oben gerollt. Plötzlich färbte sich das Gesicht auffallend rot, der Herz-
schlag kehrte wieder, der Patient, welcher angab, bewußtlos gewesen zu
sein, kam zum Bewußtsein zurück. Ich habe vier oder fünf solcher An-
fälle selber beobachtet. Dabei fehlten alle Zeichen von Herzschvrache,
auch bei erhöhter Inanspruchnahme des Herzens, beim Aufstehen, Herum-
gehen, ja bei direkten Anstrengungen traten keine besonderen Beschwerdco
und kein wesentliches Ansteigen der Pulsfrequenz ein. Irgend Anb
lokale Ursache für die Puls verlangsamung, etwa Druck von Tumoren asf
die Nerven des Herzens, lassen sich nicht nachweisen. DementspredMld
richtete sich die Behandlung, nachdem der Patient anfangs Jodkali w*
gebens genommen hatte, auf Hebung des Allgemeinzustandes durch £SsiMi|
Arsen, kräftige Diät, kalte Waschungen verbunden mit kräftigem IVol*
tieren der Haut, gymnastische, aktive und passive Bewegungen. Hier-
durch besserte sich das Befinden. Die Anfalle blieben fort, die Puls-
frequenz stieg im Jüittel bis auf 40, zeitweise 60 Schläge in der Minute.
In der letzten Zeit, wahrscheinlich durch psychische Erregung, welche
ihm die Frage der Anerkennung seines Leidens als Unfallsfolge verur-
sacht, hat sich sein Zustand merklich verschlechtert. Erwähnt möge
noch werden, daß die Untersuchung des Nervensystems eine deutliche
Erhöhung aller Beflexe ergibt; besonders die Muskulatur reagiert mit
sichtbaren Kontraktionen auf direktes Beklopfen. Der Konjunktivalreflex
allein ist stark herabgesetzt.
Die in dem Bericht geschilderten Anfälle haben sich seit jener
Zeit fast täglich wiederholt; dieselben sind von verschieden langer
Dauer, ihre Zahl schwankt bis zu 20 am Tage. Sie sind ver-
bunden mit sehr heftigem Schwindelgefühl, Kurzatmigkeit, Flimmern
vor den Augen und dem Gefühl von „fliegender" Hitze und von
Aussetzen des Herzschlages. Zeitweilig tritt auch Bewußtlosigkeit
ein, so daß er wiederholt hingefallen ist. Die Anfälle treten vor-
zugsweise am Tage auf, jedoch hat Patient sie auch nachts gehabt
Der Kranke ist von gutem Ernährungszustand, auffallend ist an
ihm ein starrer, ängstlicher Gesichtsausdruck sowie eine leichte
Protasio bulbi beiderseits. Das Herz ist in normalen Grenzen, wie
auch dieHöntgendurchleuchtung ergibt; der Spitzenstoß ist nicht fühl-
über He »block beim Henxcheii.
279
bar. Die HerztSne sind etwas dumpf, zeitweise hört man zwischen
den beiden Tönen einen leisen, anreinen Ton. ütrasystolen sind
mit Bestimmtheit aaszoachließep. Der Radialpuls war regelmäßig,
seine Frequenz schwankte zwischen 24—36 Schlägen in der Minute,
der Puls ist von nonnaler Füllung und Spannung. Im Liegen fiel
am Halse des Patienten eine lebhafte Veneopulsation auf, dieselbe
verschwindet aber sofort, wenn er sich aufrichtet. Man sieht dann
Bur eine mit dem Radialpuls korrespondierende Carotispulsation.
Die Höbe der Venenwellen ist eine sehr wechselnde (s. die Kurven).
In der Regel wurden 3 Venenwellen auf einen Radtalpuls gezählt,
vorübergehend jedoch anch 4 (s. Kurve 1).
Auch an der Carotis sind keine Geräusche hörbar. Bei leb-
hafterer Bewegung tritt kaum eine Beschleunigung des Pulses ein.
Die Radialis wie Temporaiis zeigen nur geringe Spuren von Arterio-
sklerose. Der BIntdmck betrug nach Gärtner morgens in der
Ruhelage 100 mm. Lungen wie Bauchorgane zeigen keinerlei
krankhafte Verändernngen ; seitens des Nervensystems bestanden^
abgesehen von einer leichten Steigerung der Reflexe, keine Er-
scheinungen. Der Urin wurde in normaler Menge entleert und
war frei von firemden Bestandteilen. Spätere Nachnntersnchungen
ergaben ständig denselben Befund.
Zur genauen Analyse der Herztätigkeit habe ich zu verscbie-
i» XV.
denen Zeiten PsUknrveQ anfj^enommen, di« ständig dasselbe Vtir-
halten zagten, wie die wiedei^eg'ebeneD. Die ArtArieDkorren siad
mit Enoll-Marey'schen Tromoieln and die Venenpiil»e nach
Vollitrd gezeichnet.
Die von der Jagolaris and Radi^ia resp. Carotis derselbeo
Seite gleichzeitig aofgeDommenen Kurven (1 a. 2) zeigen zanüchst
das bereits oben geschilderte Verhalten der Jognlarispnlsation. In
der Jngnlariskarve sehen wir zauäcbst eine Zacke c, die einer
durch die Carotis bedingten £rhebnng entspricht. Sie liegt etwas
TOT der Erhebung der Badialia, entsprechend dem weiteren Abstand
des Radialispnlses vom Herzen. In der Kurve 2 ent^rechen beide
Erbebangen c— C sich vollkommen. Der Zacke c folgen nan 3 oder
4 Zacken (a„ a, a). Nach der Karve 1 zu urteilen, könnte es
scheinen, als ob häufiger 4 Venenwellen anfeinander folgten als 3.
Das ist in der Tat nicht der Fall, ich habe nur diese Strecke der
Kurve aus besonderen Gr&nden gewählt (s. unten), um nicht zuviel
Kurven wiedergeben zu müssen.
Da Extrasystolen oder fiustrane Kontraktionen (Quincke-
Hochhans) mit Sicherheit besonders auch durch die Höntgen-
dorchlenchtung anszuschlieSen sind, so kJJnnte es sich in unserem
Fall nur um Herzbigemioie oder um sog. Herzbhwk handeln. Da
Fälle von wahrer Herzbigeminie noch nicht beobachtet worden sind.
80 war diese Annahme von vornherein unwahrscheinlich, mit Sicher-
heit aaszuBchliefien war sie aber durch die weiter unten zu er-
wähnende gleichzeitige Aufnahme der Tätigkeit des rechten und
linken Vorhofs (s. Kurve 3 n. 4). Diese Jugulariswellen. welche
in gleichen Intervallen aufeinander folgen, können nur darch die
Kontraktion des rechten Vorbofs bedingt sein, da sich eine Tri-
cuspidalinsafficienz and damit ein rückläufiger Venenpuls mit Sich^-
heit ansschliefien lie£. Daß von den Jugulariszacken die kurz vor
über Henblock beim Heiucheii. 281
der Zftcke c He^ieBde a jedesmal der der Eammersystole C voraof-
fdtendeD Vorbofayrtvle entspricht, geht schon mit ziemlicher Sicher-
heit aas der Enrve hMTor. da a^ auf C zd spät folgt. Roos, dem
ich mich Tollkommen ansdiUeAe, hat das in seiner Arbeit (2^itschr.
i Uin. Ued. Bd. 59 p. 201) noch eing:ehender aoseinandergesetzt
Dirau ergibt sich gleichzeitig, daS es sich anch in meinem Fall
vm eine veriangsamte tTberleitnng der Erregung vom Vorbof zur
Kammer handelt
In der Regel ist die auf eine Carotiszacke folgende Erhebung
die größte und die ihr folgenden sind kleiner. Daß dies jedoch
nicht immer der Fall ist, zeigt Kurve 1, in deren mittlerem Teil
sogar die zweite Zacke die hOhere ist Sind zwei höhere Zacken
da, so sind es immer nur die beiden ersten, nnd sie finden sich in
allen meinen Enrven nor dann, wenn 4 Jagulariswellen auf einen
Radialpnls kommen. Die erste höhere Welle kommt dadurch sn-
Stande, daß die sie bedingende Vorhofssystole noch in den Zeit-
raum des Verschlusses der Atrioventrikularklappe filllt, was sich
ohne weiteres daraus ergibt, daß ihr Beginn noch mit der Badialis-
erhebnng zusammeniäJlt Auf diese Weise läßt sich aber doch
wohl kaum die zweite hohe Zacke erklären. Vielleicht wird man
ftr die ungleiche Höhe der Venenpnlse anßer der angegebenen
Ursache noch eine Ungleichheit in der Stärke der Vorhofskontrak-
tibnen, der Widerstände in der .Tngnlaris sowie zeitweise stärkere
Fhllung der Vorhöfe heranziehen müssen.
Leider ließ sich in meinem Fall der Spitzenstoß nicht anf-
nehmen, so daß das zeitliche Verhalten der Kontraktionen der
282 XV. SCHBEIBER
beiden Vorhöfe zueinander nicht dadurch festgestellt werden konnte.
Daß die beiden Vorhöfe aber gleichzeitig arbeiten, glaubte ich zwar
schon daraus schließen zu können, daß sich gelegentlich in der
Carotiskurve neben der Haupterhebung C noch eine kleinere, zeit^
lieh etwas vor der Zacke a der Venenkurve liegende Erhebung t
fand. Diese kann nach Mackenzie nur durch die Kontraktion
des linken Vorhofes bedingt sein (siehe Kurve 2). Auch die Röntgen-
durchleuchtung ergab ein vollkommen synchrones Verhalten der
Vorhöfe einerseits und der Ventrikel andererseits.
Um jedoch diese synchrone Arbeit der Vorhöfe auch graphisch
darzustellen, wandte ich das von Minkowski (Deut. med. Wochen-
schr. Nr. 31 d. Js. p. 1248) angegebene Verfahren an. Kurve 3
zeigt nun in der Tat, daß jeder Erhebung der Jugulariswelle d. h.
jeder Kontraktion des rechten Vorhofes eine Erhebung in der vom
Ösophagus aufgenommenen Kurve d. Ii. einer Kontraktion des linken
Vorhofes genau entspricht. Die Kurve, die gewisse Ähnlichkeiten
mit der von Minkowski abgebildeten zweiten hat, zeigt bei s
einen sehr steilen Abfall, welcher der Zacke c C der Jugularis und
Radialis ein wenig voraufgeht, und offenbar der vollkommenen Ent-
leerung des linken Vorhofes entspricht. Bei jeder neuen Kon-
traktion des linken Vorhofes dagegen steigt die vom Ösophagus auf-
genommene Kurve etwas an, ein Beweis dafür, daß sich bis zur
nächsten, der Kammersystole gerade voraufgehenden Vorhofssystole
der linke Vorhof nicht vollkommen entleert, sondern immer mehr
mit Blut gefüllt wird. Hierdurch ist auch wiederum erwiesen, daß
die der kleinen Erhebung c vorausgehende Zacke a und nicht die
ihr folgende Zacke aj der Kammersystole C (Kurve 1) entspricht.
Damit ist wohl zum erstenmal gezeigt, daß die ziemlich einfach
auszuführende Minkowski 'sehe Methode auch praktisch für das
Studium des Herzblocks von Nutzen ist.
Es handelt sich also in meinem Fall um einen ausgesprochenen
Herzblock; dessen Zustandekommen heute wohl allgemein nach der
Entdeckung von H i s auf eine Schädigung des nach ihm benannten
Bündels zurückzuführen ist.
Bei der Gelegenheit möchte ich übrigens darauf hinweisen,
daß man sich durch die Ausschläge des Eegistrierapparates nicht
ohne weiteres zu der Annahme verleiten lassen dar^ daß der Gununi-
ballon an der richtigen Stelle liegt, man tut doch besser, sich in
jedem Fall durch Einführung einer Metallsonde im Röntgenlicht
von der Lage des linken Vorhofes zu überzeugen. Bei den ersten
Versuchen wollte ich das umgehen, ich erhielt dabei zwar auch
über Herzblock beim Menschen. 283
Änsscbläge, die aber, weil der Ballon oberhalb des Herzens lag
(Kurve 4) in umgekehrtem Sinne ausfielen, d. h. es entspricht, wie
das auch Kronecker und Meltzer angegeben haben, die Systole
einer Dilatation, die Diastole einer Kompression des Ballons oder
die Systole wird angezeigt durch ein Sinken des Schreibhebels und
die Diastole durch eine Erhebung desselben. Aber auch in dieser
Kurve entsprechen die systolischen Senkungen des linken Vorhofes
genau den systolischen Erhebungen des rechten Vorhofes.
Welche Ätiologie und welche krankhaften Veränderungen in
meinem Fall vorliegen, ist schwer zu entscheiden. Von der Hand
weisen läßt sich nicht, daß dabei eine gleich nach dem Unfall auf-
getretene Magendarmstörung eine Rolle spielt. Daß es sich nicht
um eine nervöse Erkrankung handelt, ist wohl dadurch erwiesen,
daß weder Arbeit noch eine Injektion von 0,001 Atropin irgend
einen nennenswerten Einfluß auf die Herztätigkeit auszuüben ver-
mochte.
Bei dem geringen, mir zur Verfügung stehenden Raum ver-
meide ich es, auf die experimentelle Begründung und Sympto-
matologie dieser Erkrankung einzugehen und verweise dabei auf
die neueren Arbeiten, besonders diejenige von Roos (1. c), Snyers
(23. Kongreß f. inn. Med. p. 251), Leuchtweis (Deut. Archiv f.
klin. Med. Bd. 86 H. 4, 5), Finkein bürg (ebenda). Erlanger
(Journ. of exper. med. Bd. VI p. 676 u. Bd. VII p. 8), G o u d i n i e r
(Albany med. annals 1906 Nr. 6), sowie auf die Arbeiten von T a war a,
der unter Aschoff gearbeitet hat (Fischer, Jena), sowie endlich
auf die Untersuchungen von Hering (Arch. f. Physiol. Bd. 107, 108).
XVI.
Aus der KönigL med. Universitätsklinik zn Oöttingen.
Zar Kenntnis der Arthrogryposis.
Von
Dr. Tintemann,
AMiflteni&ret.
(Mit 1 Karve.)
In neuerer Zeit hat man versucht, unter die Formen der Kinder-
tetanie ein bei Kindern in den ersten Lebensjahren selten beobach-
tetes Krankheitsbild einzureihen, welches früher als selbständige
Erkrankung aufgefaßt und unter dem Namen: Arthrogryposis zu-
erst von Niemeyer*) beschrieben wurde. Die Identiflzierang
beider Prozesse ist wohl kaum berechtigt. Vor allem hat die
Diagnose der Tetanie durch eine große Reihe ausführlicher und
eingehender Arbeiten in den letzten Jahrzehnten eine derartige
Exaktheit erlangt, die Tetanie ist durch dieselben ein so in sich
abgeschlossenes Ganze geworden, daß es möglich ist, von ihr die
Arthrogryposis scharf zu trennen.
Bevor ich auf die Diiferentialdiagnose zwischen beiden Krank-
heitsprozessen eingehe, will ich kurz einen im vorigen Jahre in
der Klinik beobachteten einschlägigen Fall in seinem Verlauf
schildern.
Am 19. November 1905 wurde der 9 Monate alte Knabe F, 0. in die
Medizinische Klinik aufgenommen mit der Diagnose Brechdurchfall. Du
Kind, außerehelicher Geburt, von angeblich gesunden Eltern Btammend,
ist mit der Flasche aufgezogen und vor zwei Tagen erkrankt mit Ei^
brechen und häufigen Durchfallen. Es ist ein gut genährter, sauber ge-
haltener Junge mit ausgesprochener Khachitis. Die Unterschenkel sind
stark gekrümmt, die Epiphysen der Extremitäten aufgetrieben. Die
große Fontanelle hat noch einen Durchmesser von 6 : 5 cm, das Hinter-
1) Spezielle Pathologie und Therapie.
Zur EenntBk Aer AitkragryposiB. 285
Iniqit iat feat. Ztim« nnd nieht vorlumdea. Anhaltepankte fBr
SjrfJülia fisäen neb uiehL Der Laib üt waic^, nicht Hifgetrieben. Die
liili iat nicht TergrtIBert, die BrvBtorgMM ohne patbologiMhea Befiind.
Am Tage der Anfnakme tritt mehrmale Erbrechen ein. Die Stuhle
und dünn, ttbrinAohend, tob grüner Farbe und narer Reaktion.
Bereit« am folgenden Tage lind nach DÜtregelnng nod einigen
Kilomalgaben die Danafiuiktiotien geordnet; der Stuhl iet gelb, breiig,
TOD normaler Beechaffenbeit. Erbrechen tritt ni<d)t mehr ein. Der Zu-
■tand bleibt nnverändert gnt bis anm 34. November. Machdem i^ an
dinem Tage daa EJnd bei der Horgenviaite noch gaMhen and nittereaebt
Iwtte, ohne irgend etwas Ao^aUendea so bemerken, — die Temperatur
betrug im Bektam gemeesen wie an den TOrbeigeheoden Tagen 37" — ,
werde ich nm 12 ühr mittags plötzboh aa ihm auf die Abteilnng ge-
rufen, da ea Krämpfe bekommen habe.
Die aofort vorgenommene TemperatarmeBsting ergab Fieber, über
d«a»eD Höhe und weiteren Verlauf die beigefügte Temperetn^lnuTe orien-
tieren mag.
Dae Kind liegt mit in den EUenbogen gebengten und an den Leib
gedrfickten Armen im Bett, die Handgelenke sind geatreckt, die Finger
Btebeu in tjrpiscber Oeburtshelferatellung.
Die Beine sind im Hüft> und Kniegelenk gebeugt, an den Leib ge-
H^en. Die TnB> und Zehengelenke werden aktiv &ei bewegt. Arme
und Beine erichainen unförmig verdickt, wie Ödematöe, die Haut darüber
itt prall geapaant, gÜliizend blünlich mannoriert, Dellen bleiben bei
Fingerdmck nicht stehen. Beim Betasten und Druck auf die Extremitäten
b^iant daa Kind za echreien. Die Kontraktaren ohne Anwendung
stärkerer Qewalt anaaugleicben gelingt nicht, bei einem Yeranch lebhafte
Schm erzXuSenuigen .
Di« Banchdeeken nnd hart und gespannt. Der Kopf wird meist
in den Hacken gehalten ; die Kopfbewegnngen sind absolut frei, — ebeneo
sind di« Oemohts- nnd vor allem die Kanmnskulatnr an dem FroaeS
nicht beteiligt.
Die P«iostiebneiiTeäexe der unteren Extremitäten sind nidit analöa-
286 XVI. TlNTKMANN
bar. Jede Erhöhung der mechaniBchen Erregbarkeit der Nerven nnd
Muskeln fehlt. Beklopfen des FaciaÜBstammes, Bestreichen der Gesiehts-
muskulatar, das Facialisphänomen in seinen verschiedenen Abstofangen,
ruft keine Muskelzuckungen in ihr hervor. Druck auf die groEen Nerven
und Gefäße der Extremitäten (Trousseau'sches Phänomen)- bewirkt
weder eine Steigerung der Kontrakturen (Arme) noch ruft er solche her-
vor (Zehen). Laryngospastische Anflälle fehlen, ebenso alle RemLssionen
in der Stärke der Kontrakturen.
Am folgenden Tage (25. November) hat sich die Handstellung in-
sofern geändert, als beide Hände jetzt krampfhaft zur Faust geschlossen
sind, wobei der Daumen nach innen geschlagen ist. Die Hände sind
gleichzeitig im Handgelenk stark flektiert, die Beine sind an den Leib
gesogen, namentlich im Kniegelenk extrem gebeugt. Die Füße stehen
in Spitzfußstellung , die Zehen unbeweglich, stark plantar-flektiert.
Die Kontrakturen, ohne die geringste Remission, sind nicht ausgleichbar.
Die Atmung ist beschleunigt, ungleichmäßig, oft von tiefen seufzerartigen
Inspirationen unterbrochen. Die Zunge wird jetzt dauernd zwischen den
Zähnen gehalten, erscheint etwas geschwollen. Der Kopf wird frei be-
wegt, in der Ruhelage gewöhnlich etwas in den Nacken gebeugt gebalten.
Das Kind schreit viel, namentlich beim Anfassen und Zurechtlegen.
Die Nahrungsaufnahme ist gut, der Stuhl von normaler Farbe und
Beschaffenheit.
Auch jetzt weder Facialis- noch Trousseau'sches Phänomen, keine
gesteigerte Reflexerregbarkeit.
In den folgenden Tagen bleibt der Zustand zunächst unverändert
Erscheinungen von selten des Magendarmkanals fehlen vollkommen. Die
Nahrungsaufnahme ist gut, das Kind nimmt ^/^ Pfd. an Gewicht zu. Irgend
ein pathologischer Befand in den inneren Organen kann nicht erhoben
werden.
Vom 28. November ab wird die Fauststellung der Hände weniger
krampfhaft. Der Bauch ist noch hart und gespannt.
Am 2. Dezember schwindet zunächst die Schwellung und das öde-
matöse Aussehen der oberen Extremitäten. Die Fauststellung der Hände
besteht noch, sie ist rechts weniger ausgesprochen als links. Der rechte
Zeigefinger kann aktiv ein wenig bewegt werden. Die Beugestellung der
Handgelenke ist vollkommen geschwunden. Die Kontrakturen der unteren
Extremitäten sind unverändert, ebenso die Schwellung derselben. Auch
jetzt weder Trousseau'sches noch Facialisphänomen. Keine Darmer-
scheinungen.
Am 4. Dezember treten unter Ansteigen der Temperatur wenige
Durchfälle auf, deren Farbe gelb ist nnd die auf Kalomel schnell
schwinden. (5. Dezember.) Eine Steigerung der Kontrakturen tritt
dabei nicht ein, dieselben gehen vielmehr langsam weiter zurück.
Am 9. Dezember werden die Hände und Arme langsam selbständig
bewegt, die Finger sind in der Ruhestellung noch leicht gekrümmt im
Gelenk zwischen Mittelhandknochen und Grundphalanx, der Daumen ist
vollkommen opponiert (Geburtshelferstellung). Die Ellenbogen werden
gebeugt, die Arme an den Leib gehalten.
Bei passiven schnelleren Bewegungen schreit das Kind lebhaft.
Zur Kenutnis der Arthrogryposis. 287
Die Beine sind Doch unbeweglich^ aber weniger stark flektiert im
Hüft- und Kniegelenk, die Zehen zur Planta gekrümmt. Die Schwellung*
der unteren Extremitäten ist gleichfalls geschwunden. Die Kontrakturen
sind jetzt ausgleichbar, kehren jedoch sofort wieder. Die Periosts ebne n-
reflexe sind auslösbar, aber nicht erhöht. Weder Trousseau'sches noch
Facialisphänomen, keine idiomuskulären Wülste.
In den nächsten Tagen gehen die noch bestehenden Kontrakturen
mehr und mehr zurück. Schm«rzäußerungen wie Schreien, beim An-
fassen, fehlen jetzt vollkommen. Am längsten hält sich die Plantarflexion
der Zehen.
Am 25. Dezember ist auch diese geschwunden. Zugleich kehrt
aach die Zunge in ihre normale Lage zurück. Die mechanische Erreg-
barkeit der Muskeln und Nerven ist auch jetzt nicht gesteigert. Nirgends
besteben Lähmungen.
Symptome von Seiten des Gehirnes fehlten während des ganzen Yer«
laufes der Krankheit. Der Urin, während des Höhestadiums mehrfach
antersucht, war stets frei von pathologischen Bestandteilen.
Das Körpergewicht nahm auch während der Fieberperiode zu.
Der Intellekt des Kindes ist, soweit erkennbar, gut entwickelt, es
greift nach vorgehaltenen Gegenständen, beginnt damit zu spielen, lacht»
ist sehr lebhaft. —
Wenn ich noch einmal kurz wiederholend den Verlauf des
Krankheitsbildes zusammenfasse, ergibt sich folgendes:
Kurze Zeit nach einer vollkommen abgeheilten Darmerkrankung
treten bei einem nicht ein Jahr alten, rhachitischen Kinde plötzlich
unter ganz akuter Temperatursteigerung ohne nachweisbare Organ-
erkrankung tonische Kontrakturen vorwiegend der Extremitäten
ein, die anscheinend sehr schmerzhaft und mit einer starken
Schwellung der Haut der betroffenen Glieder verbunden sind. Die-
selben bestehen ohne alle Intermissionen mehrere Tage lang, bilden
sich dann langsam unter Bückgang des Fiebers zurück, ohne Läh-
mungen zu hinterlassen. Dabei besteben niemals, auch auf der
Höhe der Krankheit nicht, erhöhte mechanische Erregbarkeit der
Muskeln und Nerven, nie laryngospastische Anfälle.
Wohin gehört nun dieses Krankheitsbild?
Von den für die Differentialdiagnose in Betracht kommenden
tonischen Krampfzuständen bei Kindern sind von vornherein fast
alle auszuschalten, die in einer Erkrankung des Gehirnes ihren
Ursprung haben. Meningitis, Hydrocephalus und auch Tumoren
(Solitärtnberkel) können unter Umständen ganz ähnliche Erschei-
nungen machen, doch finden sich bei ihnen allen dann mehr oder
minder ausgesprochene Symptome von seiten des direkt oder in-
direkt in Mitleidenschaft gezogenen nervösen Zentralorgan es, vor
allem die verschiedenen Zeichen des gesteigerten intrakraniellen
288 XVI. TlKTEMAKK
Drackes, die in der mitgeteilten Beobachtung, wie bereits betont
dauernd vollkommen fehlten. Bei der Little'sehen Krankheit ^), der
spastischen Oliederstarre der Säuglinge oder diplegischen Cerebr&I-
lähmung, die zudem in den meisten Fällen seit der Geburt besteht,
findet sich nie eine derartige Beugekontraktur der Oberarme and
Bände, die Reflexe sind hochgradig gesteigert und die Beine fast
stets hypereztendiert. Zudem bleiben, falls die spastische Starre
zurückgeht, ausnahmslos Lähmungen leichteren oder schwereren
Grades zurück.
Von den übrigen tonischen Krämpfen der Kinder ist wohl
neben der Tetanie nur noch der Tetanus zu berücksichtigen. Es
ist ja bekannt, daß bei ihm eine Eingangspforte für das Krank-
heitsgiffc nicht immer zu finden ist. Jedoch bietet auch hier die
DiiFerentialdiagnose keine Schwierigkeiten, da bei ihm die in erster
Beihe ergriffenen Muskelgruppen vollkommen andere sind. Gerade
die Hände, die hier vorzugsweise und zuerst in Mitleidenschaft
gezogen, bleiben beim Tetanus relativ frei, während Kau- und
Nackenmuskulatur, die hier frei waren, gerade beim Starrkrampf
das Typische des Krankheitsbildes ausmachen. Auch die bei ihm
so enorm gesteigerte Beflezerregbarkeit bietet ein Unterscheidongs-
roerkmal.
Eine eingehendere Berücksichtigung bedaif die Differential-
diagnose zur Tetanie der Kinder. Nach den Forschungsergebnissen
der letzten Jahrzehnte handelt es sich bei dieser Erkrankung an
intermittierende Krämpfe vorzugsweise der Extremitäten,
die mehrere Minuten, in seltenen Fällen bis über einen Tag
dauern und auslösbar, resp. zu steigern in ihrer Intensität sind
durch Druck auf die größeren Gefäßstränge der betroffenen Ex-
tremitäten (Trousseatt'scfaes Phänom). Dabei besteht auch in der
Zwischenzeit zwischen den einzelnen Anfällen erhöhte mecha-
nische (Facialisphänomen) und zugleich damit erhöhte elektrische
Erregbarkeit der peripheren Nerven und Muskeln. Die Reflexe
sind meist, aber nicht immer, gesteigert, die Körpertemperatur kaon
fieberhaft sein ; jedoch erreicht das Fieber gewöhnlich keinen hoben
Grad. In der Mehrzahl der Fälle von ausgebildeter Tetanie finden sich
neben den Krämpfen laryngospastiscbe Anfälle, von Loos~) ist so-
gar der Laryngospasmus als das sicherste und wichtigste diagnostische
Kennzeichen der Tetanie hingestellt worden.
1) Nothnagel, SpezieUe Pathologie und Therapie.
2) Deutsches Archiv fttr klinische Medizin Bd. 50.
Zur Kenntnis der Arthrogryposis. 289
Vergleichen wir damit das oben gegebene Krankheitsbild, so
haben wir bei beiden gemeinsam die Lokalisation der Krämpfe vor-
zugsweise in den Extremitäten, namentlich den Beginn in den
Händen, deren Stellung bei den schweren Tetanieformen auch aus
der als typisch angesehenen Geburtshelferstellung in die der oben
geschilderten Faust übergehen kann. Gemeinsam ist ihnen wohl
weiter das ätiologische Moment, die akute Intoxikation oder In-
fektion und die mit ihr zusammenhängende Temperatursteigerung.
Dagegen fehlen im Krq.nkheitsbilde gerade alle die charakteristischen
Symptome, auf die wir die Diagnose der Tetanie aufbauen, voll-
kommen : die anfallsfreien Intervalle, die Äuslösbarkeit der Krampf-
anfalle, die erhöhte mechanische Erregbarkeit, die laryngospasti-
schen Anfälle. Es handelt sich im Gegensatz zur Tetanie um eine
wochenlang andauernde tonische Starre der Extremitäten ohne alle
Zeichen einer irgendwie erhöhten (mechanischen) Erregbarkeit der
Muskeln und Nerven, einen Zustand, der sich in der modernen
Literatur anscheinend nur noch bei Strümpell) als selbständiges
Krankheitsbild unter dem Namen Arthrogryposis beschrieben findet
Die erste eingehende Abhandlung über diese Erkrankung
findet sich, wenn man von Steinheim 's kurzer Veröffentlichung
in Hecker's Annalen (1830), die jetzt allgemein als die erste Be-
schreibung der Tetanie angesehen wird, absieht, in Niemeyer 's
spezieller Pathologie und Therapie unter dem Namen der idio-
pathischen Krämpfe in den Muskeln der Extremitäten. Von dem-
selben Autor wurde später auch als Synonym die Bezeichnung
Arthrogryposis eingeführt. Dieselbe scheint eine weitere Ver-
breitung nie gefunden zu haben, einmal wohl, weil die wirklichen
Arthrogryposisfälle an und für sich selten sind, andererseis die
meisten von ihnen, nicht richtig gedeutet, zur Tetanie gerechnet
wurden. Schon in einer Veröffentlichung aus dem Jahre 1881 von
Koppe-) wurden dann Arthrogryposis und Tetanie als Synonyma
gebraucht, die dort beschriebenen Fälle gehören anscheinend zur
Tetanie.
In der Tat war eine exakte Möglichkeit, beide Krankheits-
bilder zu trennen, erst gegeben, als das abweichende Verhalten
der mechanischen Erregbarkeit der Muskeln und Nerven, die Be-
deutung des Facialis- und Trousseau'schen Phänomens, für die Dia-
gnose der Tetanie, erkannt war. Trotzdem machen auch weiterhin
1) Strümpell, Lehrbuch der speziellen Pathologie und Therapie. 13. Aufl.
in. Band.
1) Archiv für Kinderheilkunde 1881 Bd. II.
Deatscbes Archiv f. klin. Medizin. 89. Bd. 19
290 XVI. TiNTEMAKN
nur einzelne Autoren eine scharfe Sonderung zwischen beiden
Krankheitsbildern, ohne jedoch meist den Namen Arthrogryposis
zu gebrauchen. So beschreibt Henoch^) in seinen Vorlesungen
über Kinderkrankheiten die Affektion unter der auch schon früher
angewandten Bezeichnung der idiopathischen Kontrakturen. Die von
ihm gegebene Schilderung stimmt mit der Darstellung im Anfang
der Arbeit vollkommen überein. Als ätiologische Momente werden
Zahndurchbruch , Darmerkrankungen und Rhachitis angegeben.
Henoch erwähnt auch, daß diese Kontrakturen von der Tetanie,
zu der sie vielfach gerechnet würden, zu trennen seien, daß bei
ihnen das Trousseau'sche Phänomen stets negativ sei.
Ebenso betont Hoch singe r^) in einer im Jahre 1900 in der
Wiener klinischen Wochenschrift erschienenen Arbeit die Grund-
verschiedenheit „der kindlichen Dauerspasmen" von der Tetanie.
Allerdings stimmt er im übrigen in der Auffassung des ganzen
Krankheitsbildes mit Henoch und Strümpell nicht überein.
Er hält die Arthrogryposis nicht für eine selbständige Erkrankung,
sondern kommt auf Grund einer ganzen Reihe von Untersuchungen
über die von ihm Myotonie der Neugeborenen und jungen Säuglinge
genannte Affektion zu folgendem Ergebnis: Es besteht bei jedem
neugeborenen Kinde eine gewisse permanente Hypertonie der Ex-
tremitätenmuskulatur und zwar vor allem der Flexoren, deren Über-
wiegen als eine extrauterine Fortdauer der intrauterinen Frucht-
lialtung zu erklären ist. Im Verlauf der mannigfachen Säuglings-
erkrankungen kommt es zu einer pathologischen Steigerung dieser
normal vorhandenen, physiologischen Myotonie, deren Resultat ein
tonischer Krampfzustand der Extremitäten ist. Zwischen physio-
logischer und pathologischer Myotonie kommen alle Übergangs-
stufen vor. Die für die Tetanie charakteristische Übererregbarkeit
der Muskeln und Nerven fehlt dabei stets. Die Myotonie ist also
niemals ein primäres Leiden, doch kann sie als solches imponieren,
wenn die Spasmen im Vordergrunde des Krankheitsbildes stehen,
dasselbe beherrschen.
Diese Definition und Erklärung des Zustandekommens der
Kontrakturen hat etwas Bestechendes, ist jedoch, wie aus der ge-
schilderten Krankheitsgeschichte hervorgeht, jedenfalls nicht für
alle Fälle richtig. Und ich möchte gerade dieser Beobachtung des-
halb eine gewisse Bedeutung zumessen, weil das Kind bereits
1) Vorlesungen über Kinderkrankheiten 1889.
2) Wiener klinische Wochenschrift 1900 Nr. 7.
Zur Kenntnis der Arthrogryposis. 291
«inige Zeit vor Äusbrnch der Krämpfe sich in klinischer Beobachtung
nnd Überwachung befand, so daß derselbe unter unseren Augen
vor sich ging. Die vorausgehende Enteritis war, soweit sie über-
haupt der Diagnose zugängig, vollkommen abgelaufen, irgend eine
Organerkrankung nicht nachweisbar. Das Kind war gesund und
sollte entlassen werden. Da treten ganz akut in einem Moment
hohes Fieber und schmerzhafte mit Schwellung der Haut verbundene
Kontrakturen auf. Wir haben ein Bild vor uns, wie es fast nur
eine akute Infektion, die ja immerhin vom Darm ausgegangen sein
mag, schafft. Daß aber eine irgendwie schwerere Erkrankung des
Verdauungstraktus nicht vorgelegen haben kann, dafür spricht auch,
daß das Kind selbst während der fieberhaften Periode der Er-
krankung an Körpergewicht dauernd zunahm.
Eine sichere Entscheidung darüber, ob es sich wirklich um
eine Infektion oder Intoxikation handelt, läßt sich natürlich an der
Hand einer einzelnen Beobachtung nicht treffen, ebensowenig wie
darüber, wo diese Giftwirkung ihren Angriffspunkt hat. Die wenigen
bisher veröffentlichten Sektionsbefunde einwandsfreier Arthrogry-
posisfälle haben ein irgendwie sicheres Resultat nicht ergeben.
Meist ist der Sitz der Erkrankung in das Nervensystem verlegt
worden. Vereinzelt will man pathologische Veränderungen an den
Vorderhomzellen des Rückenmarkes gefunden haben und versucht
das Zustandekommen der Kontrakturen als Reizwirkung zu er-
klären ; in anderen Fällen ergab die Autopsie ein vollkommen nega-
tives Resultat in bezug auf das Nervensystem.
Muß denn überhaupt in diesem der Sitz der Erkrankung ge-
sucht werden? Der ganze Symptomenkomplex läßt eine andere
Deutung zu.
Das Auftreten der starken Schwellungen der Extremitäten zu-
gleich mit dem Fieber, bevor die Kontrakturen ihre stärkste Aus-
bildung erlangt haben, namentlich auch an den Beinen, kann nur
schwer durch eine Stauung infolge derselben erklärt werden. Be-
achten wir daneben die starke Schmerzhaftigkeit der befallenen Ex-
tremitäten bei Druck, den Beginn der Erkrankung in den Armen, die
Beteiligung, vor allem durch Schwellung, der fast nur aus muskulösen
Organen bestehenden Zunge, so haben wir ein Bild, wie es dem der
aknten Myositis entspricht, die ja eine fieberhafte Erkrankung, heute
als eine Infektionskrankheit aufgefaßt wird. Ob es sich tatsächlich
bei der Arthrogryposis um eine Erkrankung des Muskelapparates
handelt, können nur pathologisch-anatomische Untersuchungen an
letal verlaufenden Fällen der seltenen Erkrankung lehren.
19*
XVII.
Die Diphtherie als Volkssenche und ihre Bekämpfong.
Von
Professor Dr. Tjaden,
Geschäftsführer des Oesundheitsrats in Bremen.
In einer Arbeit, die es sich zur Aufgabe stellt, die Diphtherie
als Volksseuche und die Maßnahmen zu ihrer Zurttckdrängung zu
besprechen, ist zunächst die Vorfrage zu erörtern: spielt die Diph-
therie unter den weite Kreise befallenden Krankheiten noch eine
genügend wichtige KoUe, daß sie zu ihrer Bekämpfung besondere
Maßregeln erfordert oder ist das ärztliche Kustzeug so yollkommen
geworden, daß die Erkrankung für den einzelnen und damit die
Summe der Erkrankungen für die Allgemeinheit ihre Bedeutnnjr
verloren hat?
Daß die Diphtherie seit der Einführung des Heilserums ihres
Schreckens als Kinderwürgengel zum Teil entkleidet ist, darüber
ist die überwiegende Mehrheit der Praktiker sich einig. Die aas-
gedehnte und steigende Verwendung des Serums beweist das. Bei
unserer kritischen Zeitrichtung kann ein Heilmittel sich nicht
12 Jahre hindurch als eins der meistangewendeten halten, wenn
ihm nicht ein innerer Wert zukommt. Nicht so einig wie die
ärztlichen Praktiker sind die Statistiker. Immer wieder begegnet
man dem Hinweis, daß auch die früheren Epidemien nach der
Schwere der einzelnen Erkrankungen und nach der Zahl der Ge-
samterkrankungen weitgehende Schwankungen gezeigt hätten und
daß um die Mitte der neunziger Jahre aus irgendwelchen, nicht
näher zu bestimmenden Ursachen ein solcher Nachlaß auch in dem
Seuchenzuge eingetreten sei, welcher seit etwa Mitte des vorigen.
Jahrhunderts die Kulturnationen befallen hat. Für diese Anschauung
wird angeführt, daß die früheren Seuchenzüge ebenfalls jedesmal
eine etwa fünfzigjährige Dauer gezeigt hätten und dann erloschen
seien; am Schlüsse einer solchen fünfzigjährigen Seuchenperiode
Die Diphtherie als Volksseuche und ihre Bekämpfung. 293
befinde man sich zurzeit. Bei einem derartigen Analogieschluß
wird aber außer acht gelassen, daß einmal die Verkehrsverhält-
nisse ganz andere geworden sind als vor ein und zwei Jahrhunderten
und daß ferner die Zahl der in erster Linie empfanglichen Indi-
viduen, der Kinder, eine bei weitem größere ist als früher. Wenn
im 16., 17, und 18. Jahrhundert die Diphtherie in einer Landschaft
auftrat, so mußte sie im Laufe der Jahre hier eine weitgehende
Immunität unter der im großen und ganzen stabilen Bevölkerung
schaffen. Neue Infektionsstoflfe, virulentere Stämme wurden kaum
zugeführt; frisches, für die Seuche empfängliches Menschenmaterial
aus seuchefreien Gegenden kam ebenfalls nicht hinzu, weil ein Orts-
wechsel größerer Menschenmengen über weitere Strecken nicht
stattfand. Ebenso war der natürliche Zuwachs durch Geburten gering,
wenn auch vielleicht nicht relativ im Verhältnis zur Zahl der vor-
handenen Menschen, so doch jedenfalls absolut im Vergleich zur
Jetztzeit. Der Hinweis, daß wir uns am Ende eines fünfzigjährigen
Seuchenzuges befänden, weil frühere Epidemien eine ähnliche Zeit-
dauer gezeigt hätten, weil es zur inneren Natur der Diphtherie-
epidemien gehöre ungefähr nur solange zu dauern, steht daher
schon dadurch auf schwachen Füßen, daß die wesentlichsten Ver-
gleichsunterlagen nicht vergleichbar sind.
Es stehen uns aber auch einige Zahlen dafür zur Verfügung,
daß von einem spontanen Erlöschen nicht die Rede sein kann.
Freilich müssen sie mit aller Vorsicht gewertet und verwertet
werden. Aus den Erkrankungsziffern lassen sich selbst dort kaum
Schlußfolgerungen ziehen, wo die Meldepflicht seit Jahrzehnten be-
steht. Der Arzt kann nur solche Fälle melden, die ihm zur Be-
handlung zugeführt werden, das ist aber nur ein Bruchteil der
tatsächlichen Erkrankungen. Dieser Bruchfeil ist allerdings ein
steigender geworden, seitdem durch die Krankenversicherung und
die Einbeziehung der Familienangehörigen die Bezahlung des
Arztes für die einzelne Leistung seitens der Familien seltener
wrurde. Bei einer Anzahl Erkrankungen, die früher mit Haus-
mitteln oder gar nicht behandelt wurden, wird seit 20 Jahren in
zunehmendem Maße der Arzt herangezogen. Ein Vergleich der Er-
krankungsziffem für weiter zurückliegende Jahrzehnte wird damit
erschwert; ein Vergleich der letzten Jahre untereinander aber er-
leichtert
Weiter ist zu berücksichtigen, daß bei manchen Erkrankungen
selbst der Arzt ohne Heranziehung der bakteriologischen ünter-
suchungsmethoden nicht entscheiden kann, ob eine durch den
294 XVU. Tjadbn
Diphtheriebazillus hervorgerufene echte Diphtherie vorliegt oder
nicht Einfache, aber schwer einsetzende Halsentzündungen weitlea
als Diphtherie zur Anzeige gebracht, eine weit größere Zahl von
leicht verlaufenden, mit geringen und rasch verschwindenden Be-
lägen einhergehenden echten Diphtherieerkrankungen jedoch als
Halsentzündungen angesehen und nicht gemeldet. Auch hierin ist
in den letzten Jahren eine Besserung eingetreten in solchen Städten,
wo unentgeltlich arbeitende bakteriologische Laboratorien vorhanden
sind. Auf dem Lande freilich, in kleinen und mittleren Städten
geschieht die Heranziehung der bakteriologischen Untersuchung zur
Sicherung der Diagnose erst in geringem Grade. Die Bestrebungen
auf diesem Gebiete datieren mit wenigen Ausnahmen erst aus den
letzten Jahren. Selbst in Bremen, wo das hygienische Institut seit
dem Jahre 1894 sich in dieser Richtung bemüht, ist ein nennens-
werter Erfolg erst seit vier Jahren zu verzeichnen. In den beiden
Jahren 1904 und 1905 wurden hier allerdings von 852 bzw. 907
gemeldeten Diphtheriefallen bei 644 bzw. 791 auch die bakterio-
logische Bestätigung herbeigeführt.
Erkrankungszahlen, die aus den letzten Jahren und aus solchen
Städten stammen, in denen von der bakteriologischen Untersuchun^f
in größerem Maße Gebrauch gemacht wird, lassen sich daher eher
verwerten. Es seien deshalb die Zahlen für Bremen aus den letzten
vier Jahren hier angeführt.
Im Jahre 1902 kamen 450
1903 „ 470
1904 „ 852
1905 „ 907
Diphtheriefalle zur Kenntnis der Be-
hörden.
Die Bevölkerungsziffer hat in den vier Jahren keine solche
Vermehrung gezeigt, daß sich daraus die Zunahme der Erkrankungen
erklären ließe. Eine kleine Erhöhung der Erkrankungsmeldungen
ist jedoch dadurch bedingt, daß seit 1904 der Umgebung der
Kranken eine größere Aufmerksamkeit geschenkt wurde und dad
solche Fälle bei der Behörde als Diphtherie zur Meldung kamen,
bei denen virulente Diphtheriebazillen festgestellt werden konnten.
Die Zahl dieser Fälle betrug jährlich 50—60. Wenn man nun
diese auch von der Gesamtsumme abzieht, so ergibt sich doch eine
Erkrankungsziffer von etwa 1650 in den Jahren 1904 und 1905
gegen 930 in den Jahren 1902 und 1903. In Bremen hat also seit
zwei Jahren eine Steigerung in der Ausbreitung der Diphtherie
eingesetzt, die, nebenbei bemerkt, auch 1906 weiter dauert.
Die Diphtherie als Volksseache nnd ihre Bekämpfang. 29&
Aas anderen Großstädten steht mir ein so gut vergleichbares
Haterifld nicht znr Verfügung. Wünschenswert ist es, daß die in
den Großstädten immer mehr in Wirksamkeit tretenden Stadtärzte
der Frage der Diphtherieverbreitung unter den obigen Vorsichts-
maßregeln ihre Aufmerksamkeit zuwenden.
Eine bessere Unterlage für die Beurteilung des Epidemie-
Terlaufes der Diphtherie wird erhalten, wenn man von der Er-
krankungsziffer absieht und die Zahl der an Diphtherie Gestorbenen
zur Zahl der Gesamtbevölkerung in Vergleich bringt. Bei den
Sterbefallen ist die diagnostische Angabe auch in den früheren Jahren
als durchweg zutreffend anzusehen, man darf die Zahl der ge-
meldeten Todesfälle einerseits als durch Diphtherie bedingt, anderer-
seits als ziemlich alle Diphtherietodesfalle umfassend verwerten.
Für Bremen zeigt sich nun, daß in den neun Jahren 1885 bis
1893 einschließlich auf 100000 Lebende berechnet zusammen 353
Menschen an Diphtherie starben, in jedem Jahre also rund 40. In
den neun Jahren 1895—1903 einschließlich starben dagegen, wieder
auf 100000 Lebende berechnet, 147, d.h. jährlich 16 Personen (die
Schwankungen bewegten sich nur wenig über und unter dem Durch-
schnitt). Das Jahr 1894 ist bei der Berechnung ausgeschaltet, weil
in ihm die Serumbehandlung in der zweiten Hälfte einsetzte; seine
Verwertung würde die Zahl der Vorserumzeit verschlechtert haben.
In den beiden Jahren 1904 und 1905 betrug die Zahl der Todes-
ftUe wieder 59 bzw. 66, auf 100000 Lebende berechnet 31. Wie
erklärt sich diese Tatsache? Das spezifische Serum hat an Heil-
wert nichts eingebüßt, das beweisen tausendfache Beobach-
tungen am Krankenbette. Einzelne Ärzte sträuben sich zwar noch
gegen die Anwendung dieses Heilmittels und andere, die es be-
nutzen, zögern reichlich lange. Wenngleich auf diese Tatsachen
eine Anzahl von Todesfällen zurückzuführen sein dürfte, so kann
hierin jedoch eine Erklärung für die Steigerung gegen die Vor-
jahre nicht gefunden werden, weil die Verhältnisse in bezug auf
die Anwendung des Serums in den Jahren 1904 und 1905 mindestens
dieselben, wenn nicht bessere waren als in den Vorjahren. Der
Grund liegt vielmehr darin, daß neben der größeren Ausbreitung
der Diphtherie in den letzten Jahren der Charakter der einzelnen
Erkrankungen vielfach ein schwererer geworden ist als früher und
daß damit das Moment der Nichtanwendung oder verspäteten
Anwendung des Heilserums eine größere und verderblichere Be-
deutung gewonnen hat. Für Bremen läßt sich behaupten, daß die
Dipbtherieepidemie nicht im Abklingen begriffen ist, sondern daß
296 XVII. Tjadkn
sie Neigang zeigt, an Schwere der einzelnen Erkrankungen und
an Ausdehnung zuzunehmen. Ein gleiches scheint auch anderer-
wärts zu geschehen; der 36. Jahresbericht des Landes-Medizinal-
kollegiums über das Medizinalwesen im Königreich Sachsen auf das
Jahr 1904 sagt über Diphtherie: „Die Anzahl der durch die Diph-
therie erfolgten Todesfalle hat in den beiden letzten Jahren (1903
und 1904) eine nicht unerhebliche Vermehrung erfahren." „Hand
in Hand mit der Vermehrung der Erkrankungs- und Todesfälle an
Diphtherie ging auch eine Steigerung der Zahl und des Umfanges
der Epidemien, welche letztere überdem teilweise ziemlich bösartig
auftraten, sich oft recht lange hinzogen und bei den erkrankten
Kindern vielfach ernste Nachkrankheiten zur Folge hatten." In
Hamburg haben die Jahre 1902 und 1903 ebenfalls eine wesent-
liche Zunahme der Erkrankungen und der Todesfälle gezeigt
Mit einem spontanen Verschwinden der Diphtherie, wie früher
die großen Seuchenzüge der vergangenen Jahrhunderte erloschen
sind, ist vorläufig nicht zu rechnen.
Das Heilserum hat, soweit die Zahlen ein Urteil zulassen, zu
einer bemerkenswerten Herabsetzung der ErkrankungsziiFem nicht
geführt. Die Frage, ob eine solche überhaupt erwartet werden
darf, soll weiter unten erörtert werden.
Eine Minderung der Todesfälle ist erreicht worden, daran be-
steht kein Zweifel. Aber trotz der Wirksamkeit des Heilmittels
erliegen noch jahraus jahrein eine große Anzahl von Personen der
Diphtherie.
Die Ursache liegt darin, daß eine Beihe von Erkrankungs-
fallen mit Heilserum nicht behandelt werden, sei es, daß ein Arzt
überhaupt nicht hinzugezogen wird, sei es*, daß der Arzt ans
wissenschaftlichen oder anderen Gründen die Verwendung von
Serum und dergleichen Heilmitteln verwirft. Bei einer anderen
Zahl von Erkrankungen wird zwar Serum angewandt, aber zu
spät oder in zu kleinen Dosen. Es wird vielfach übersehen, daÄ
das Wesen der Diphtherie eine Vergiftung ist und daß infolge-
dessen die Wirkung des Gegengiftes versagen muß, wenn das Gift
nicht mehr frei kreist oder nur locker verankert ist, sondern be-
reits Zeit gehabt hat, lebenswichtige Zellkomplexe zu zerstören.
Aus gleichem Grunde führen zu kleine Gaben des Gegengiftes in
manchen Fällen nicht zur Lebenserhaltung des Erkrankten. Daß
Mengenbeziehungen zwischen Gift und Gegengift auch bei der
gegfenseitigen P'inwirkung im menschlichen Körper bestehen. . steht
Die Diphtherie als Yolkssenche nnd ihre Bekämpfung. 297
fest, wenngleich über die Art dieser Beziehungen die Meinungen
noch auseinandergehen.
Es gibt aber auch eine Anzahl von Erkrankungen, die so
stürmisch einsetzen, daß selbst bei relativ rascher Anwendung hoher
Seruradosen der Tod nicht verhindert werden kann. Die Ursache
liegt wahrscheinlich darin, daß die Infektion durch große Mengen
oder durch hochvirulente Stämme oder durch eine Verbindung
beider stattfand, oder daß es sich um Mischinfektionen mit Strepto-
oder Staphylokokken handelt. Die Relativität zwischen Erkrankung
und Serumanwendung kommt neben der Spezifität des Serums hier
ebenfalls zur Geltung.
Man wird für die nähere Zukunft nicht erwarten dürfen, daß
die Serumanwendung die Sterblichkeit in einer Weise herabsetzt,
welche Maßnahmen zur Verhütung der Erkrankung überflüssig
macht. Daß eine Krankheitsverhütung vom Standpunkte der ge-
samten Volkswohlfahrt selbst eine sichere Krankheitsheilung weit
überragt, bedarf nicht der Erörterung. Man würde also auch dann
noch die Pflicht haben, an eine Bekämpfung der Krankheitsver-
breitung heranzugehen, wenn die Zahl der Diphtherie- Todesfälle
eine geringe wäre. Das letztere trifft aber zurzeit nicht zu, starben
doch im Jahre 1903 im Deutschen Reiche noch 19402 Personen an
Diphtherie.
Die einleitend gestellte Frage, ob die Diphtherie trotz des
Heilserums unter den Volksseuchen noch eine so große Rolle spielt,
daß zu ihrer Bekämpfung besondere Maßnahmen erforderlich sind,
ist zu bejahen.
Gibt die Bejahung das Recht und die Pflicht zu Bekämpfungs-
maßnahmen, so können solche von sicherem Erfolge nur gekrönt
sein, wenn wir wissen, wo die Ursache, der Erreger der Krankheit
zu siiclien ist.
Als wissenschaftlich feststehende Grundlagen darf dabei an-
gesehen werden:
1. daß die Diphtherie eine ansteckende Krankheit ist,
2. daß sie durch den Löffler'schen Bazillus hervorgerufen
wird und
3. daß es niemals zu einer Diphtherie kommt, wenn nicht der
Löffler'sche Bazillus Gelegenheit gefunden hat. auf das
menschliche Gewebe einzuwirken.
Unter Anerkennung dieser drei Tatsachen ergibt sich sofort
die Fragestellung : Wo haben wir den Diphtheriebazillus zu suchen,
ist er ubiquitär, d. h. kommt er überall in der Natur vor, findet
298 XVII. Tjaden
er sich als Schmarotzer bei gesunden und kranken Menschen oder
findet er sich nur bei Erkrankten bzw. bei solchen Menschen,
welche zu Erkrankten oder Angesteckten in direkter Beziehung
stehen? Es ist einlenchtend, daß eine Verhütung der Aufnahme des
Diphtheriebazillus in den menschlichen Organismus nicht möglich
wird, wenn das Bakterium ein ständiger Gast unserer Umgebung
ist. Ist aber die Quelle der Ansteckung in letzter Linie immer
wieder ein Erkrankter, dann muß es gelingen, zunächst rein theo-
retisch gedacht, der Seuche Herr zu werden. Sucht man diese
theoretische Möglichkeit in die Praxis umzusetzen, so müssen die
Infektionsquellen möglichst vollständig und möglichst frühzeitig zur
Kenntnis gelangen und man muß imstande sein, sie so zu be-
handeln, daß sie für weitere Kreise eine Gefahr nicht mehr bilden.
Lassen sich beide Forderungen in genügender Weise erfüllen, dann
wird die absolute Ansteckungsmöglichkeit eine immer kleinere
werden; die Zahl der Erkrankungsfälle wird sich in absteigender
Linie bewegen.
Zur Frage der übiquität des Diphtheriebazillus hat in aus-
gesprochener Weise v. Behring Stellung genommen; in seiner in
der Coler'schen Bibliothek erschienenen Monographie über die
Diphtherie bejaht er die Übiquität. v. Behring stellt sich daher
auf den Standpunkt, daß es nicht viel Erfolg verspreche, durch
allgemein hygienische Maßnahmen, wie Isolierung, Desinfektion
und ähnliches die Verbreitung der Krankheit zu bekämpfen. Eigene
Untersuchungen über die Verbreitung des Diphtheriebazillus stehen
V.Behring anscheinend nicht zur Verfüguug, er benutzt die vor-
handenen Literaturangaben. Seine Schlußfolgerungen aus diesen
sind meines Erachtens nicht zutreffend, weil er einmal die Virulenz
der gefundenen Diphtheriebazillen für die Verbreitung der Ki-ank-
heit nicht genügend beachtet hat, und weil er zweitens die Ver-
hältnisse, in denen die untersuchten, angeblich gesunden Menschen
zueinander standen, nicht hinreichend berücksichtigte.
Die Frage, wie sich der sog. Pseudodiphtheriebazillus, der
avirulente Diphtheriebazillus und der virulente Diphtheriebazillus
morphologisch, kulturell und genetisch zueinander verhalten, kann
hier zunächst ausscheiden. Für die rein praktische Seite der Ver-
breitung der Krankheit kommt nur der virulente Diphtheriebazillus
in Betracht. Das ist festzuhalten. Ich habe weder in der Literatur
irgendwelche Belege finden können, noch sprechen die über Tausende
von Fällen sich erstreckenden Beobachtungen des Bremer hygienischen
Instituts und der Bremer Sanitätspolizei dafür, daß durch aviru-
Die Diphtherie als Volksseache nnd ihre Bekämpfung. 299
Jente oder Pseudodiphtheriebazillen eine üebertragung der Krank-
heit stattfindet. Inwieweit nnter dem Einflasse komplizierender
Infektionen von Masern und Scharlach ein Wiedererwachen der
teilweise geschwundenen Virulenz bei den Diphtheriebazillen möglich
ist, mag unentschieden bleiben. Einzelne Beobachtungen von B o u x
uDd Yersin lassen es nicht als ganz ausgeschlossen erscheinen,
daß es vorkommen kann. Aber selbst wenn diese Möglichkeit zu*
gegeben werden muß, dann hat die Richtigkeit des Satzes, daß der
virulente Diphtheriebazillus för die Verbreitung der Diphtherie
praktisch allein wichtig ist, wohl eine geringe Einschränkung ge-
fanden, ist aber nicht hinfällig; dafür ist schon die Zahl der
Komplikationen mit Masern und Scharlach im Vergleich zur Zahl
der reinen Diphtheriefalle zu klein.
Die in der Literatur gemachten Angaben über das Vorkommen
von Diphtheriebazillen bei anscheinend Gesunden sind also darauf-
hin nachzuprüfen, wieweit es sich um virulente Diphtheriebazilleu
gehandelt hat.
Als zweites Moment ist zu beachten, daß man nicht geschlossene
Gruppen von Menschen zur Untersuchung heranziehen darf, wenn
man sich Klarheit darüber verschaflFen will, wieweit die Diphtherie-
bazillen unter der Gesamtbevölkerung verbreitet sind. Wir wissen
einwandsfrei, daß jeder Diphtheriekranke einen Mittelpunkt bildet,
von dem aus je nach der Intensität des Verkehrs die Bazillen mehr
oder weniger weit auf die Umgebung tibergehen. Auch für an-
scheinend gesunde Bazillenträger trifft dies zu, sofern die Zahl
der bei ihnen vorhandenen Bakterien eine genügend große ist.
Zieht man nun die Insassen von Asylen, Pensionaten, Schulen,
Kasernen oder ähnlichen Instituten zur Untersuchung heran, in
denen gelegentlich Diphtheriefälle vorgekommen sind, so wird man
immer eine Anzahl von Menschen finden, bei denen noch die Über-
reste der stattgehabten Kontaktinfektion vorhanden sind. Die von
dem einzelnen Forscher festgestellte Zahl der Diphtheriebazillen-
träger ist dann selbstverständlich richtig, fehlerhaft wird die Sache
aber, sobald man die in geschlossenen Anstalten gefundenen Zahlen
auf die Gesamtbevölkerung überträgt. Wenn Aas er, um ein Bei-
spiel aus der Literatur zu wählen, in der Kavalleriekaseme zu
Christiania, in der sporadisch immer wieder Fälle von Diphtherie
auftraten, bei 17 von 89 anscheinend gesunden Kavalleristen viru-
lente Diphtheriebazillen fand, so beweist das durchaus nicht, daß
auch von der übrigen Bevölkerung Christian ias 19 Prozent Diph-
theriebazillen in ihren Bachenorganen mit sich führten.
300 XVII. Tjaden
Aber auch dann, wenn man Anstalten zur Untersuchung heran-
zieht, in denen akute Erkrankungen an klinischer Diphtherie nicht
zur Kenntnis gekommen sind, ist das gewonnene Ergebnis nur mit
großer Vorsicht zu verwerten. Zufällig latent verlaufene Fälle, die
klinisch nur leichte Erscheinungen mj^chten, können doch zur Ver-
breitung der Diphtherie führen und bei derartigen Untersuchungen
eine verhängnisvolle Rolle spielen. Es begegnet uns bei Haus-
epidemien nicht selten, daß bei genauem Zufragen in Familien,
die im Hause wohnen, aber an der Epidemie nicht beteiligt sind.
Kinder gefunden werden, welche einige Wochen vorher über Hals-
beschwerden klagten, und die bei der bakteriologischen Untersuchung
sich als die Träger virulenter Diphtheriebazillen ergaben.
Will man sich ein zutreffendes Urteil in diesen Fragen bilden,
so muß eine größere Anzahl von Menschen untersucht werden, die
unter sich keine Beziehungen haben; die Untersuchungen müssen
sich über einen längeren Zeitraum erstrecken und sie müssen
mit allen Hilfsmitteln der Diagnostik, auch Tierversuchen, an-
gestellt werden.
Prüft man von diesen Gesichtspunkten aus die Literaturangaben
über die Verbreitung virulenter Diphtheriebazillen unter der Ge-
samtbevölkerung, so zeigt sich, daß sie für eine Ubiquität in keiner
Weise beweisend sind.
In Bremen ist die Frage der Ubiquität ebenfalls geprüft worden.
Ein halbes Jahr lang wurde sämtlichen Kindern, welche wegen
nicht ansteckender Krankheiten in das Kinderkrankenhaus ver-
bracht werden sollten, sofort bei der Aufnahme der Hals ausge-
wischt. Die Entnahme des Untersuchungsstoffes geschah in allen
Fällen durch dieselbe gut geschulte Schwester. Bei keinem der
233 auf diese Weise geprüften Kinder fanden sich virulente oder
schwach virulente Diphtheriebazillen. Zur Kontrolle wurden zwei
Monate lang die in das chirurgische Krankenhaus Aufgenommenen
(fast ausschließlich Erwachsene) in gleicher Weise untersucht
Auch unter diesen 72 Kranken waren bei keinem infektionstüchtige
Diphtheriebazillen vorhanden.
In der zum Kinderkrankenhaus gehörenden Gruppe fanden
sich bei 42 Kindern Bakterien, die ihrem Aussehen, ihrem färbe-
rischen Verhalten und ihrem Wachstum nach alle Übergänge zeigten
von entfernter zu weitgehender Ähnlichkeit mit virulenten Diph-
theriebazillen.
Lange Formen mit positiver Neißerfärbung, lange Formen ohne
Die Diphtherie als Volkssenche und ihre Bekämpfung. 301
diese, mittelgroße Formen mit vereinzelter Neißerf&rbung , da-
zwischen wieder ganz kurze Formen, kurz alle Übergänge waren
auf den verschiedenen Platten vorhanden. Niemals aber ließ sich
selbst mit großen Dosen der Reinkulturen bei den Normalversuchs-
tieren (Meerschweinchen von 200— 250 g Gewicht) der Exitus oder
ein allgemeines Krankheitsbild auslösen. Es wurde kein Bedenken
getragen, die mit derartigen avirulenten Bakterien behafteten
Kinder auf die allgemeinen Säle zwischen die anderen Kinder zu
legen, und in keinem Falle haben sich bei den Bettnachbarn Hals-
erkrankungen eingestellt. In den Familien der 42 Kinder wurden
mit Hilfe der behandelnden Arzte Nachforschungen angestellt; in
einer Anzahl konnten mit mehr oder weniger großer Wahrschein-
lichkeit vorhergegangene Halsentzündungen bei den Kindern oder
ihren Familienangehörigen ermittelt werden.
Unter den 72 in das chirurgische Haus Eingelieferten hatten 6
in ihren Halsorganen Bakterien, von denen das gleiche gilt, wie
bei der anderen Gruppe beschrieben.
Das Ergebnis der Bremer Untersuchungen läßt sich also dahin
zusammenfassen, daß von 305 aus den verschiedensten Gegenden
der Stadt und ihrer Umgebung stammenden Personen, Erwachsenen
und Kindern, trotz sorgfaltigster Untersuchung keiner in seinen
Halsorganen Bakterien zeigte, die zur Verbreitung der Diphtherie
befähigt sind.
Hält man diesen Befund zusammen mit dem, was oben über
die Literaturangaben gesagt ist, so kommt man zu dem Ergebnis^
daß bei der Verbreitung der Diphtherie die sog. Ubiquität der
Diphtheriebazillen nicht mitwirkt, daß sie daher bei der Beurtei-
lung der Wirksamkeit allgemein hygienischer Maßnahmen aus-
zuscheiden hat.
Wird die Frage der Ubiquität venieint, so müssen die Quellen
ermittelt werden, aus denen die Krankheitserreger sich ergänzen,
von denen aus dem glimmenden Feuer stets von neuem soviel
Brennstoff zugeführt wird, daß es nicht erlischt.
Der klinisch schwer diphtheriekranke Mensch ist Träger des
Ansteckungsstoffes, das wissen wir; aber seine Rolle als direkter
Verbreiter der Seuche über weitere ßevölkerungskreise wird über-
schätzt. Solange er mehr oder weniger schwere Krankheitserschei-
nungen bietet, bedeutet er nur eine Gefahr für seine nächste Um-
gebung. Die Gefahr für die Allgemeinheit beginnt erst, wenn
die Krankheitserscheinungen abzuklingen beginnen oder erloschen
302 XVII. Tjadkn
sind und der gewohnte Verkehr nnd die gewohnte BeschäftigUDf
wieder aufgenommen wird.
Die Beseitigung der lokalen Krankheitssymptome im Halse und
das Verschwinden des subjektiyen Krankheitsgefühls geht nur bis
zu einem gewissen Grade parallel mit dem Erlöschen der Än-
steckungsfähigkeit.
Die wichtigsten Nachsymptonie, die Lähmungen, treten vielfach
erst auf, wenn die Diphtheriebazillen nicht mehr vorhanden sini
Auf der anderen Seite finden sich noch infektionstüchtige Diph-
theriebazillen bei einer Anzahl von Menschen, die vom klinischen
Standpunkt aus objektiv und subjektiv gesund geworden sind.
Über das Verharren der Diphtheriebazülen in den Rachen-
organen von Diphtherierekonvalescenten sind in Bremen während
der Jahre 1903, 1904 und 1905 folgende Beobachtungen gemacht
worden:
Positive Erstuntersuchungen wurden in den drei Jahren 1843
gemacht; davon konnten 1338 so lange wieder untersucht werden,
bis die Dipththeriebazillen verschwunden waren. Von dem ver-
bleibenden Rest, 505 = 26,5 7o> starben 85 = 4,5% der Gesamt-
summe, 420 = 22% entzogen sich den weiteren Untersuchungen.
Nebenbei sei bemerkt, daß der Prozentsatz dieser letzteren Personen
von Jahr zu Jahr geringer geworden ist. Im Jahre 1903 waren
es 31,5% der Gesamtsumme, 1904 23,5% und 1905 17,6%.
Bei den 1338 Wiederuntersuchten — die Erstuntersuchung
fand durchweg im Beginn oder kurz nach dem Beginn der klini-
schen Erscheinungen statt — waren die Diphtheriebazillen ver-
schwunden
bei 897 = 67 % nach 2 Wochen
V
1004 =
- 75 %
n
3
1109:
83,6 X
n
4
1192:
- 89,1 «/„
n
5
1248:
93,4 o/o
n
6
1297:
= 96,9 %
n
7
1303:
97,4 %
n
8
1329:
99,3 %
n
9
1331:
= 99,5 »/o
n
10
1336 =
- 99,9 7o
ri
11
1336 =
- 99,9 o/o
»
12
1337 =
- 99,95 «/o
n
14
1338 =
= 100 \
«
17
„ 1192 = 89,1 «/o „ 5 „
n
„ 1303 = 97,4% „ 8 „
„ lo29 = 99,o /q „ 9 „
n
n
„ 1337 = 99,93 »/o „ 14
„ 1338 = 100% „ 17
Die Diphtherie als Yolksaeache nnd ihre Bekämpfung. 303
Die in den einzelnen Jahren gewonnenen Zahlen stimmen gnt
untereinander überein nnd die Gesamtsumme ist groß genug, daß
man sie verwerten kann. Für die praktische Bekämpfung der
Diphtherie ergibt sich also, daß bei etwa % der Erkrankten die
Diphtheriebazillen in den ersten beiden Wochen wieder verschwinden,
daß Dach Ablauf von 3 Wochen sie noch vorhanden sind bei 25 ^/^
der Erkrankten, nach Ablauf von 5 Wochen bei 10 %. Die Ver-
minderung geht dann schrittweise weiter, einzelne Ausläufer haben
sich nach unseren Beobachtungen bis zu 17 Wochen gehalten.
Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, daß bei den Personen,
welche virulente Diphtheriebazillen lange Zeit in ihren Rachen-
organen beherbergen, die Zahl der Bazillen vielfach keine große
ist. Für die Verbreitungsmöglichkeit ist es aber ein Unterschied,
ob der Genesende in seinen Halsorganen Millionen von Krankheits-
keimen beherbergt oder ob es nur einzelne sind, die sich eben noch
mit unseren feinen technischen Hilfsmitteln nachweisen lassen. Des-
halb klingen die Literaturangaben, daß Diphtheriebazillen bei so
und so viel Personen noch so und so lange gefunden sind, für die
praktische Bekämpfung ungünstiger, als die Verhältnisse tatsäch-
lich sind.
Die vorstehenden Zahlen sind um ein Geringes günstiger als
die von Schell er aus Königsberg mitgeteilten; die Ursache der
Differenz wird später erörtert w^erden.
Wenn man das Bremer Material in die 3 Altersgruppen
1—5 Jahre, 6—14 Jahre und über 14 Jahre zerlegt, so ergeben
sich auffällige Unterschiede nicht. Nach Ablauf von 3 Wochen
waren die Bazillen in den einzelnen Gruppen noch vorhanden
bei 24,9®/», 24,8% und 25,2 **/o, es ist also eine weitgehende
Übereinstimmung vorhanden. Von diesem Zeitpunkte an fand
allerdings bei den Erwachsenen eine raschere Abnahme statt als
bei den Kindern. Nach Ablauf von 5 Wochen waren die Zahlen
7,1%, 8,3% und 2,6%; nach 6 Wochen 3,8%, 3,5% und 0,7%.
Bestätigt sich die raschere Abnahme bei Erwachsenen, so ist das
für die Durchfuhrung der Bekämpfungsmaßnahmen eine Erleich-
terung.
Neben den Diphtherierekonvaleszenten kommen als zweite Gruppe
die Hausgenossen der Erkrankten für die Verbreitung der Krankheit in
Betracht. Es ist oben schon darauf hingewiesen, das der Diphtherie-
kranke einen Mittelpunkt bildet, von dem aus die Keime je nach
der Intensität 4es Verkehrs mehr oder weniger weit ausgesät
304 XVII. Tjaden
werden. Die Flttgge'sche Tröpfcheninfektion spielt hier eine bc-
deutungsvolle Rolle.
In erster Linie sind es die nicht genügend isolierten Ge-
schwister, die Gelegenheit haben, von ihrem kranken Bruder oder
Schwester die Keime aufzunehmen und die sie tatsächlich auch
aufnehmen. In den Jahren 1904 und 1905 hatten wir Gelegenheit
469 solche anscheinend gesunde Geschwister zu untersuchen. Es
fanden sich 49 = 10,5 % behaftet mit virulenten Diphtheriebazillen,
115 = 25% löit diphtherieähnlichen, aber avirulenten Bazillen von
der Art, wie sie oben geschildert sind. Der Ausdruck „diphtherie-
ähnlich"^ soll hier und im folgenden nur der Einfachheit wegen
gebraucht werden, ohne etwas über die Herkunft der Bakterien
und ihren Zusammenhang mit Diphtheriebazillen zunächst zu prä-
judizieren.
Von 100 untersuchten Geschwistern erwiesen sich also
3550/ /1Ö% behaftet mit ansteckungstüchtigen Diphtheriebazillen,
' ^ l25% „ „ diphtherieähnlichen Bazillen,
64,5% frei von Diphtheriebazillen.
Mütter von diphtheriekranken Kindern wurden 97 untersucht,
davon waren:
114 = 14,5 % behaftet mit ansteckungstüchtigen Diphtherie-
bazjllen,
9 = 9,57o „ „ diphtherieähnlichen Bazillen.
74 = 76% waren frei.
Väter von diptheriekranken Kindern wurden 78 untersucht,
davon waren:
I6 = 7,7 7o behaftet mit ansteckungstüchtigen Diphtherie-
bazillen,
6 = 7,7 % „ „ diphtherieähnlichen Bazillen,
66 = 84,5 7o waren frei.
Sonstige Familien- oder Hausgenossen (Dienstpersonal, G«-
Schäftsgehilfen usw.) wurden 251 untersucht, davon waren:
17 = 2,8 % behaftet mit ansteckungstüchtigen Diphtherie-
bazillen,
42 = 16,2 % „ „ diphtherieähnlichen Bazillen,
202 = 81 % waren frei.
War eins der Eltern erkrankt, so fanden sich bei den Kindern
die Krankheitserreger wieder häufiger. 33 Kinder wurden unter-
sucht, deren Vater oder Mutter an Diphtherie litt, davon waren:
Die Diphtherie als Volksseache und ihre Bekämpfung. 305
[5 Kinder behaftet mit ansteckungstüchtigen Diphtherie-
39% I bazillen,
[8 „ „ „ diphtherieähnlichen Bazillen,
20 Kinder waren frei.
Für die Beurteilung der Übertragung der Ansteckungsstoffe
zwischen Ehegatten ist unser Zahlenmaterial zu klein, wir verfugen
nur über 7 Untersuchungen, sechsmal wurden keine Diphtheriebazillen
bei dem gesunden Ehegatten gefunden, einmal diphtherieähnliche.
Die vorstehenden Zahlen sind nach mancher Bichtung inter-
essant Sie zeigen die große Empfänglichkeit jugendlicher Indi-
viduen, die auch dann noch Diphtheriebazillen leicht aufnehmen,
wenn in den Häusern eine mehr oder weniger weitgehende Isolie-
rung der Kranken stattgefunden hat. Die relativ hohen Zahlen
bei den pflegenden Müttern erklären sich durch die nahe Be-
rührung, welche zwischen Mutter und Kind stattfindet und die
immer wieder von neuem Gelegenheit zur Übertragung gibt. Die
kleineren Zahlen bei den Vätern spiegeln die Familienbedingungen
wieder, die für den Vater das Krankenzimmer zu einem relativ
selteneren Aufenthaltsort machen. Die übrigen Haus- und Familien-
genossen müssen häufiger Gelegenheit finden, die Krankheitsstoffe
aufzunehmen; wir vermögen nicht zu entscheiden, ob hier die
direkte Übertragung mehr stattfindet oder ob nicht der indirekten
beim Kehren der Zimmer, Reinigen der Wäsche, Reinigen des
Eßgeschirrs, Machen der Betten u. dgl. eine größere Bedeutung
beizumessen ist. Die weiblichen Hausgenossen werden außerdem
vielfach die Mutter bei der Pflege der Kranken unterstützen. Die
Möglichkeit sich zu infizieren ist also unter den verschiedensten
Bedingungen genügend vorhanden. Die weiblichen Hausgenossen
liefern bei unseren Zahlen einen größeren Prozentsatz an Infizierten,
als die männlichen.
Recht häufig sind bei allen Gruppen die als diphtherieähnlich
bezeichneten Bazillen gefunden. Man geht nicht fehl wenn man
bei einem großen Teil von ihnen die Abstammung von virulenten
Diphtheriebazillen, die ihrerseits wieder von den Kranken her-
rührten, annimmt. Daß der Diphtheriebazillus auf der Schleimhaut
des Menschen nur einen Schmarotzer darstellt, wie jüngst Salus
behauptete, hat manches für sich. Es ist dann aber ein Schmarotzer,
der unter dem Einflüsse des menschlichen Gewebes seine gefahr-
lichste Eigenschaft, die Giftproduktion, am frühesten verliert und
diese Eigenschaft nicht wieder erliält, wenn er sie vollständig ein-
Deutscbes Archiv f. klin. Medizin. «B. Bd. 20
306 XVII. TjilDBN
gebäfit hat Änderaogen in der Körnchenfärbung, in der Form
des einzelnen Bazillus sowie in der Art des Wachstums auf den
verschiedenen Nährböden stellen weitere, später eintretende t)e-
generationserscheinungen dar, freilich alles von dem Standpunkte
aus, daß der Toxin bildende, neißerpositive, lange Bazillus, der znm
üppigen Gedeihen als elektiven Nährboden die Löfflerplatte ge-
braucht, das Torgeschrittenste Glied der ganzen Ginippe bildet.
In gleicher Weise, wie das Zurücksinken in die Unfähigkeit Toxin
zu bilden, eine konstante Eigenschaft des betreffenden Stammes
bleibt, so bleiben auch die anderen unter dem Einfluß des mensch-
lichen Gewebes angenommenen Eigenschaften konstant, wenn dieser
Einfluß aufhört. Im anderen Falle führt der Degenerationsprozeß
nach und nach zum völligen Verschwinden. Gelegentliche Um-
stände, wie chronische Katarrhe der Schleimhaut, vielleicht auch
Symbiose mit anderen Bakterien können den geschilderten Zer-
störungsprozeß auf irgend eine Weise zum Stillstand bringen.
Die einzelnen Glieder bieten in ihren ausgeprägtesten Formen
zwar deutliche und konstante Unterschiede, es sind aber überall
Übergänge vorhanden. Die weitauseinander gehenden Meinungen
über die Beziehungen der Xerosebazillen, der Pseudodiphtherie-
bazillen, der avirulenten Diphtheriebazillen zueinander legen dafür
ein beredtes Zeugnis ab. Die praktische Hygiene hat an wissen-
schaftlichen Erörterungen über den letzten Punkt kein großes In-
teresse, so lange sie sich für berechtigt halten darf, an dem Satze
festzuhalten, daß nur das giftbildende Glied infektiös ist und eine Re-
konstitution des einmal verloren gegangenen Giftbildungsvermögens
ausgeschlossen ist. Nach dem jetzigen Stande unseres Wissens hat
sie aber dieses Recht.
Wertet man von den vorstehenden Gesichtspunkten aus die
Befunde bei den Hausgenossen, so ergibt sich, daß Übertragungen
von Kranken auf die gesunde Umgebung häufig vorkommen, daß
aber in den meisten Fällen die Invasion mit einer raschen Zer-
störung der eingedrungenen Keime endet. Auf die häufig wieder-
holte Aufnahme einerseits und auf die verschiedene ^Widerstands-
fähigkeit einzelner Keime andererseits weist die Tatsache hin. daß
nicht selten auf den LöflFlerplatten Kolonien von virulenten und
avirulenten, von langen und kurzen Formen, von Bazillen mit aus-
gesprochener, kaum angedeuteter und fehlender Neißerförbung sich
nebeneinander finden.
Findet nun die Ausstreuung der Keime auf die Umgebung
statt, ohne daß es bei dieser zu Krankheitserscheinungen kommt?
Die Diphtherie als Volkssenche nnd ihre Bekämpfung. 307
Eine Antwort mit Zahlenangaben läßt sich auf die Frage nicht
geben. Die Menge der jedesmal übertragenen Bazillen, die Häufig-
keit der Übertragungen^ die Widerstandskraft der Bazillen gegen
die Einwirkung des menschlichen Gewebes schwankt von Fall zu
Fall ebenso wie die Höhe der Abwehrkräfte des befallenen Orga-
nismus. Das Ergebnis der gegenseitigen Einwirkung von einge-
drungenem Ansteckungsstoff und abwehrendem Körper muß daher
in der Gesamtsumme der Übertragungen alle Abstufungen zeigen
von schwerer Erkrankung des Menschen bis zum reaktionslosen
Verschwinden der Bakterien. Bei sorgfältigem Nachfragen und
genauer Untersuchung der Halsorgane findet man in der Tat auch
alle diese Übergänge. Neben schwerer oder leichter Erkrankung
mit diphtherischen Belägen sieht man einfache Schwellungen und
Auflockerungen der Schleimhaut der Halsorgane; daneben gehen
vielfach leichte und rasch vorübergehende subjektive Erscheinungen,
wie Kopfweh, Halsschmerzen und dergleichen einher. In manchen
Fällen ist es nur eine geringe Temperatursteigerung, die von der
stattgehabten Infektion Zeugnis ablegt. Auf der Rekonvalescenten-
abteilung der Scharlachstation des hiesigen Krankenhauses konnten
wiederholt hübsche Beobachtungen der letzten Art gemacht werden.
Die Kinder waren seither frei von Diphtheriebazillen; eine leichte
Temperatursteigerung veranlaßte den dirigierenden Arzt Hals-
abwische von sämtlichen Saalinsassen erneut bakteriologisch unter-
suchen zu lassen. Das Ergebnis war, daß sich bei allen Kindern
mit Temperatursteigerung virulente Diphtheriebazillen fanden, bei
den übrigen Kindern aber nicht. Die Infektionsquellen konnten
ermittelt werden und die sofort vorgenommene Injektion von Di-
phtherieheilserum beugte der Störung der Scharlachrekonvalescenz
bei den befallenen Kindern mit Erfolg vor.
In manchen Fällen werden auch die geschilderten leicht-sub-
jektiven und objektiven Symptome der Infektion nicht zur Ent-
wicklang kommen. Das Diphtherietoxin findet keine Gelegenheit
zur Einwirkung auf die menschlichen Zellen, sei es nun, weil die
giftproduzierenden Bakterien sofort zerstört werden oder sei es,
weil der befallene Körper über Gegengifte bereits verfügt, wenn
die Infektion geschieht. Die Untersuchungen von Wassermann,
Neißer und Kahnert haben dargetan, daß es eine Anzahl von
Menschen gibt, deren Blutserum bindende Eigenschaft für das
Diphtherietoxin besitzt. Ob es sich hierbei um eine erworbene
oder um eine ererbte Immunität oder um beides handelt, braucht
hier nicht weiter erörtert zu werden. Jedenfalls besteht die prak-
20*
308 XVII. Tjadbn
tisch wichtige Tatsache zu Recht, daß es eine Anzahl von Menschen
gibt, die über Infektionen mit Diphtheriebazillen glatt Herr werden
und zwar nicht allein in der Weise, daß sie giftfest sind, sondern
auch in der Richtung, daß ihr Körper die Fähigkeit besitzt, ein-
gedrungene Diphtheriebazillen rasch zu zerstören. Für die Ver-
breitung der Diphtherie sind solche Menschen ungefährlich.
Demgegenüber wissen wir aber auch, daß bei einer, an-
scheinend kleinen Anzahl von Menschen Giftfestigkeit vorhanden
ist, ohne daß die Diphtheriebazillen in ihrem Wachstum gehindert
werden. Es handelt sich um die sogenannten chronischen Di-
phtherien. Von den Rekonvalescenten, die noch Diphtheriebazillen-
träger sind, unterscheiden sie sich darin, daß das akute Infektions-
stadium entweder sehr weit zurückliegt oder kaum bemerkt worden
ist, vor allem aber dadurch, daß chronische Schleimhautkatanhe
in meist trockener Form vorhanden sind. In letzteren scheint die
wesentliche Ursache zu liegen. Die herabgesetzte Lebensenergie
der Schleimhaut hatte zu Bedingungen geführt, unter denen ent-
weder die anderwärts gebildeten AngriflFsstoffe auf die Bakterien
nicht mehr an diese herankommen, oder unter denen auch die
lokale Bildung solcher Stoffe unterbleibt, weil der durch die An-
wesenheit der Bakterien gesetzte Reiz nicht mehr als solcher
empfunden wird, oder weil auf den Reiz nicht mit einem Gegenreiz
geantwortet werden kann. Das Giftbildungsvermögen der Diphthe-
riebazillen ist in solchen Fällen vielfach erhalten; das produzierte
Gift schädigt aber den Körper nicht, zum Teil weil dieser Zeit
gehabt hat, sich anzupassen und genügend Gegengifte zu bilden,
zum Teil auch, weil die Resorption des Giftes durch die chronisch
veränderte Schleimhaut herabgesetzt sein mag. Die Infektiosität
für andere haben die Diphtheriebazillen aber nicht verloren. Das
zeigen die Beobachtungen von Neiße r, Büsing und anderen, in
denen Krankenhausschwestern, die mit chronischer Diphtherie be-
haftet waren, die Ursache immer wieder sporadisch auftretender
Erkrankungen in den Sälen bildeten.
Die vorstehend beschriebene Form der Diphtherie ist für die
Verbreitung recht geeignet; ihre Bedeutung für die Bekämpfung
der Diphtherie als Seuche ist aber trotzdem keine große, weU
sie selten vorkommt. Die Literaturangaben sind spärlich und
in Bremen haben wir, trotzdem diesen Dingen große Aufmerk-
samkeit geschenkt wird, in drei Jahren erst einen Fall beobachten
können.
Diphtherierekonvalescenten und anscheinend gesunde, aber in-
Die Diphtherie als Volkssenche and ihre Bekämpfung. 309
fizierte Haasgenossen der Erkrankten, in seltenen Fällen auch mit
chronischer Diphtherie Behaftete sind als die für weitere Kreise
gefahrlichen Verbreiter des Krankheitsstoffes anzusehen. Es handelt
sich also um eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen, die ihrer-
seits wieder auf akute Erkrankungsfälle hinweisen.
Wie weit kommen neben ihnen tote Gegenstände als Seuchen-
verbreiter in Frage?
Der Diphtheriekranke überträgt die Bakterien nicht bloß auf
seine lebende Umgebung, sondern auch auf die leblose. Das Bett, die
Wände und der Fußboden in der Nähe des Bettes werden mit aus-
gehustetem diphtheriebazillenhaltigem Schleim häufig verunreinigt,
auch das Eßgeschirr und dergleichen wird beschmutzt. Hierfür
läßt sich der direkte Nachweis führen. Auf dem Fußboden in
einem mit Diphtheriekranken belegten Zimmer des hiesigen Kinder-
krankenhauses gelang uns z. B. der Nachweis virulenter Diphtherie-
bazillen in der Nähe des Bettes. Einmal konnten wir avirulente,
aber im übrigen alle morphologischen Eigenschaften der Diphtherie-
bazillen zeigende Bakterien auch an dem Türgriff eines mit Diphthe-
riekranken belegten Krankenzimmers nachweisen, hier handelte es
sich also schon um eine Übertragung durch ein Verbindungsglied.
Der hohe Prozentsatz infizierter Hausgenossen, auf den oben schon
hingewiesen wurde, ist wohl durch diese indirekten Übertragungen
mit bedingt Man darf aber die Bedeutung derartiger Übertragungen
nicht überschätzen. Die Diphtheriebazillen sind zu hinfallige Ge-
bilde, als daß sie sich auf toten Gegenständen lange erhalten können.
Sind sie in größeren Schleimfetzen eingehüllt und werden sie vor
Austrocknung und vor Licht geschützt, so kann der Absterbetermin
auf Wochen und vielleicht auch auf einige Monate hinausgerückt
werden, aber das sind Ausnahmeverhältnisse. Jedenfalls haben
diejenigen Menschen, welche durch die toten Gegenstände des
Krankenzimmers infiziert werden können, durchweg ebensoviel, wenn
nicht mehr Gelegenheit, die Krankheitsstoffe von dem Kranken
direkt aufzunehmen.
Etwas anders liegen die Verhältnisse dort, wo die mit Di-
phtheriebazillen beladenen Gegenstände weiteren Kreisen zugeführt
werden. Daß die Diphtheriebazillen durch Milch von einer Zentral-
stelle aus einer Anzahl von sonst nicht miteinander in Beziehung
stehenden Menschen zugeführt wurden, dafür spricht mehr als eine
Beobachtung. Auch sonstige Nahrungsmittel können eine ähnliche
Rolle spielen. Gelegentlich ist der Krankheitsstoff durch Spielzeug
verschleppt worden. Die Sitte oder vielmehr Unsitte Spielzeug
310 XVIL Tjaden
aus Krankenzimmern später- an Kinderbewahranstalten und ähnlicbe
Anstalten zu verschenken, bedingt jedenfalls für die Empfanger
allerlei Gefahren.
Im großen und ganzen ist der zuletzt geschilderte Modus der
Verbreitung der Diphtherie nicht häufig, wenngleich nicht außer
acht gelassen werden darf, daß er unter Umständen explosions-
artig wirken kann.
Zieht man das Fazit aus den vorstehenden Darlegungen, so
ergibt sich, daß der ansteckungstiichtige Diphtheriebazillus nicht
ubiquitär ist, daß die Infektionsquelle dagegen die Diphtherie-
rekonvalescenten und die infizierte, aber nur leicht oder kaom
bemerkbar erkrankte Umgebung des Kranken bildet. Diesen
beiden Gruppen von Menschen gegenüber treten die an sog. chroni-
scher Diphtherie leidenden Personen und die toten Gegenstände in
der Bedeutung für die Verbreitung der Diphtherie zurück.
Die vorstehenden Sätze bieten eine genügende Unterlage, um
auf ihnen eine logische Bekämpfung der Diphtherie aufzubauen.
Sie stehen in gutem Einklänge mit dem, was wir auch von anderen
Seuchen wissen.
Die wesentlichste Aufgabe bei der Bekämpfung wird denmadi
zunächst sein, von möglichst vielen Erkrankungen Kenntnis zu
gewinnen, die Infektionsquellen aufzusuchen und hier festzustellen,
welchen Umfang die Verbreitung der Ansteckungsstoflfe angenommen
hat. Ohne eine ausgiebige Zuhilfenahme der bakteriologischen
Untersuchung wird man dabei nicht auskommen. Diese wird jedoch
den praktischen Ärzten, ohne deren Mithilfe und zwar interessierten
Mithilfe ein Erfolg schwer zu erreichen ist, in steigendem Maße
zur Verfügung gestellt. Die Zahl der öffentlichen Untersuchungs-
stellen nimmt zu und überall hat man eingesehen, daß ein Nutzen
für die Seuchenbekämpfung aus ihrer Tätigkeit nur dann heraus-
springt, wenn sie rasch und sicher arbeiten und wenn den Ärzten
durch ihre Inanspruchnahme Mühewaltung und Kosten nicht ent-
stehen. Es ist anzuerkennen, daß diesen Forderungen durchweg
genügt wird. Auch bei den Ärzten ringt sich die Erkenntnis
immer mehr durch, daß ihr eigenes Handeln desto sicherer wird,
je klarer sie die Ätiologie der von ihnen zu behandelnden Er-
krankung übersehen. Hier gehen die Interessen der öffentlichen
Seuchenbekämpfung und die Interessen des für seine Kranken be-
sorgten Arztes Hand in Hand. Es wird zwar noch einige Zeit
vergehen, bis das Bedürfnis nach ätiologischem Denken so weit
Allgemeingut der Ärzte geworden ist, daß sie in jedem Fall wo
Die Diphtherie als Volksseuche und ihre Bekämpfung. 311
Verdacht auf eine Infektionskrankheit vorliegt, die bakteriologi-
schen Untersuchungsstellen zu Hilfe nehmen, aber in dem letzten
Jahrzehnt hat sich nach dieser Richtung hin ein Umschwung voll-
zogen und der Umschwung kommt neben der Tuberkulosediagnostik
in erster Linie der Diphtheriediagnose zugute. Die Jahresberichte
der hygienischen Institute und der bakteriologischen Untersuchungs-
stellen beweisen das. Die hier liegenden Schwierigkeiten für die
Bekämpfung der Diphtherie durch hygienische Maßnahmen werden
also geringer werden.
Ähnlich steht es mit der Anzeigepflicht. Je mehr die Dia-
gnosenstellung erleichtert wird, desto zahlreicher kommen die
klinisch zweifelhaften, aber auf einer Infektion durch Diphtherie-
bazillen beruhenden Halserkrankungen als Diphtherie zur Meldung.
Man darf also auch hier annehmen, daß nach und nach die Zahl
der gemeldeten Diphtheriefälle den tatsächlich vorhandenen und
von Ärzten behandelten immer näher kommt, zumal der heran-
wachsenden Generation von Ärzten die Unterstützung der medizinal-
polizeilichen Tätigkeit der Behörden durch eine prompte Erfüllung
der Meldepflicht immer mehr als selbstverständlich erscheint.
Daß die soziale Gesetzgebung und der freiwillige Zusammen-
schluß von Familien zur leichteren Beschaffung ärztlicher Hilfe dazu
mitwirkt, eine größere Anzahl von Leichterkrankten dem Arzte
zuzuführen, ist oben schon betont. Trotz der zunehmenden Aus-
dehnung der Kurpfuscherei resultiert hieraus ein Gewinn «für die
Seuchenbekämpfung. Übrigens scheint die Behandlung akuter an-
steckender Krankheiten ein Gebiet zu sein, auf das sich Kurpfuscher
nur ungern wagen, zumal wenn sie wissen, daß die Medizinalpolizei
ihre Tätigkeit mit Aufmerksamkeit verfolgt.
Die Forderung, daß möglichst viele Erkrankungen zur Kennt-
nis der Behörden kommen, ist nach dem Gesagten keine utopische;
die Groß- und Mittelstädte sind es naturgemäß, die hier voran-
gehen, aber auch in die Kleinstädte und auf das platte Land
dringt immer mehr die Einsicht, daß an einer ansteckenden Krank-
heit nicht bloß der Befallene, sondern auch die Allgemeinheit ein
Interesse hat. Die verbesserte Gesetzgebung, zumal Preußens,
leistet hierbei gute Pionierarbeit. Sie gibt auch den beamteten
Ärzten die klare Stellung, von welcher aus sie auf die Erreichung
des Zieles hinarbeiten können. Die persönliche Einwirkung des
beamteten Arztes auf seine Kollegen ist zwar immer das wirk-
samere, aber auch hierbei ist es gelegentlich eine gute Unter-
stützung, wenn das allgemein gültige Gesetz und nicht bloß lokale
312 XVII. Tjade»
Verordnungen die Anzeigepflicht festlegt und damit diese als die
Grundlage für die weiteren Maßnahmen anerkennt.
Der weitere Schritt bei der Bekämpfung der Seuche ist die
Vorsorge, daß von den mit ansteckungstüchtigen Bazillen Behafteten
aus eine Weiterverbreitung nicht stattfindet. Auf den ersten Blick
erscheint die Durchfuhrung dieser Aufgabe unmöglich ; sie ist es
auch^ wenn man die Forderung dahin präzisiert, daß jeder Mensciu
bei dem die bakteriologische Untersuchung einige Diphtherie-
bazillen nachweist, so lange zu isolieren ist, bis dieser Nachweis
nicht mehr gelingt. So scharf braucht der Bogen nicht gespannt
zu werden, und doch läßt sich in der Praxis sehr viel erreichen.
Wenn man die größere Hälfte und noch mehr der Ansteckungs-
quellen und vor allem die am reichlichsten fließenden unschädlich
macht, so ist für die Allgemeinheit schon viel gewonnen. Die
Argumentation der Gegner von hygienischen Maßnahmen zur Be-
kämpfung der Diphtherie, daß ein Vorgehen nutzlos sei, weil man
nicht alles fassen könne, ist hier ebenso falsch, wie sie es bei der
Tuberkulose ist.
Daß die an schweren Erankheitssymptomen Leidenden isoliert
werden, ist eine Maßnahme, die man für selbstverständlich hält
und die man sich allgemein bemüht durchzuführen. In bezug auf
die Rekonvalescenten besteht bei Laien und auch bei Ärzten viel-
fach wenig Verständnis für die Tatsache, daß die Rekonvalescenten
noch gefahrlich für andere sein können, wenn sie sich subjektiv
wohl fühlen. Aufgabe der Ärzte wird es sein, hierin mit der Zeit
Wandel zu schaffen. Die den Rekonvalescenten gegenüber er-
griffenen medizinalpolizeilichen Maßnahmen wirken in gleicher
Richtung.
Wieweit sollen die letzteren gehen? Zu fordern ist, daß alle
Kinder bis zum Alter von 14 Jahren so lange isoliert bleiben, bis
sie in ihren Halsorganen virulente Diphtheriebazillen nicht mehr
beherbergen, und daß ferner alle Kinder vom Schulbesuch aus-
geschlossen werden, deren Familienangehörige oder Hausgenossen
Träger von virulenten Diphtheriebazillen sind. Wieweit der Kreis
der Hausgenossen zu fassen ist, mag im Einzelfalle der Entschei-
dung des beamteten Arztes üb*erlassen bleiben. Ein wirtschaft-
licher Schaden entsteht durch eine solche Maßnahme kaum. Gelegent-
lich werden die Eltern klagen, daß ihr Kind Gefahr läuft, nicht
versetzt zu werden und so ein halbes oder ein ganzes Jahr zu
verlieren. Die Gesundheit und das Leben der übrigen Schüler ist
demgegenüber aber soviel höher anzuschlagen, daß vernünftige
Die Diphtherie als Volkssenche und ihre Bekämpfang. 313
Eltern die Berechtigung der behördlichen Maßnahme immer ein-
sehen, wenn ihnen die entsprechende Aufklärung gegeben wird«
In manchen Fällen läßt sich auch för die nicht infektiösen Kinder
der Schulbesuch dadurch ermöglichen, daß sie entweder selbst oder
aber die Infektionsquelle aus dem Hause entfernt wird.
Die Isolierung braucht nicht immer so scharf durchgesetzt
za werden, daß man den Bazillenträger auf ein Zimmer be-
schränkt; ein Verkehr in der Wohnung, im eigenen Garten, auch
Spaziergänge außerhalb desselben unter Begleitung Erwachsener
können in vielen Fällen je nach Lage der Dinge gestattet werden,
ohne daß für die Allgemeinheit eine Gefahr entsteht, zumal wenn
man es mit einsichtigen Angehörigen zu tun hat. Begegnet man
Störrigkeit oder weitgehender Gleichgültigkeit, so läßt sich mit
einem Hinweis auf den § 327 des Strafgesetzbuchs noch mancherlei
erreichen.
Den Grundgedanken der vorstehend erörterten Maßnahmen
findet man schon in einzelnen behördlichen Verfügungen. So hat
das Großherzoglich Oldenburgische Staatsministerium, Departement
des Innern, unter dem 27. April 1906 gelegentlich des Anschlusses
des Herzogtums Oldenburg an das Bremer hygienische Institut an
die Ärzte ein Rundschreiben erlassen, in dem es heißt: „die bak-
teriologischen Untersuchungen bei Diphtherie müssen wiederholt
werden, auch nachdem die Krankheit anscheinend gehoben ist.
Schulkinder, welche an Diphtherie erkrankt gewesen sind, sollen
erst wieder zum Schulbesuch zugelassen werden, wenn sich in dem
Halsschleim keine infektiösen Bakterien mehr vorfinden."
Schwerer durchzuführen als bei den Kindern sind die Isolie-
rungsmaßregeln bei Erwachsenen. Aber einmal ist die Zahl der
Befallenen unter den Kindern viel höher als unter den Erwachsenen.
Von den in den Jahren 1903, 1904 und 1905 im Bremer hygieni-
schen Institut bis zum Verschwinden der Diphtheriebazillen unter-
suchten 1338 Personen befanden sich 469 im Alter von 1—5 Jahren,
600 im Alter von 6—14 Jahren und 269, also nur 20 % der Gesamt-
summe, im Alter von mehr als 14 Jahren. Oben wurde mitgeteilt»
daß von 1843 mit positivem Erfolge Erstuntersuchten 420 sich den
weiteren Untersuchungen entzogen hätten; man könnte nun den
Einwand machen, daß sich darunter besonders viel Erwachsene
befanden hätten, daß also die soeben angeführten 20 7o nur eine
Scheinsumme darstellen. Der Einwand trifft nicht zu. Der Prozent-
satz derjenigen, welche sich weiteren Untersuchungen entzogen
314 xvir. Tjaden
war in allen drei Gruppen fast gleich. Er betrug 24,5^0' 20,3 '*„
und 22,5%.
Zweitens verschwinden bei einem hohen Bruchteil der Rekon-
valescenten die Diphtheriebazillen rasch. Oben wurde schon darauf
hingewiesen, daß bei 75 %> der Untersuchten die Diphtheriebazillen
nach 3 Wochen nicht mehr nachweisbar waren. Unter der relativ
kleineren Zahl der Erwachsenen, die hier in Frage kommen, ist es
also wieder nur eine kleine Gruppe, die für längere Zeit als Di-
phtheriebazillenträger anzusprechen sind. Aber es ist nicht zu be-
streiten, daß unter dieser, wenn auch kleinen Gruppe immerhin
eine Anzahl von Menschen sich findet, für die ein Isoliergebot
eine große Unannehmlichkeit, ja eine schwere wirtschaftliche Schä-
digung bedeutet. In Bremen haben wir uns hier von Fall zu Fall
geholfen. Handelt es sich um Personen, die berufsmäßig mit Kindern
oder einer größeren Anzahl jugendlicher Individuen zusammen-
kommen und vor allem auf sie einzusprechen haben, dann ist die
Ausübung des Berufs untersagt oder modifiziert worden. Es kommen
nach unseren Erfahrungen gelegentlich in Frage Prediger, Lehrer.
Friseure, Pferdebahnschaffner, einzelne Gruppen von Postbeamten
und andere, dann solche Personen, die ein offenes Geschäft haben
oder bei der Herstellung von Lebensmitteln tätig sind. Der andern
größeren Gruppe, bei welcher die vorstehenden Voraussetzungen
nicht zutreffen, ist die weitere Ausübung ihres Berufes gestattet
worden. Solche Leute sind aber darauf hingewiesen, daß sie for
andere noch eine Gefahr bilden, sie werden angehalten, von jugend-
lichen Individuen fernzubleiben und den Mund mit einer desinfi-
zierenden Flüssigkeit häufig auszuspülen. Die Ratschläge werden
in manchen Fällen nicht beachtet werden, aber es gibt nach unseren
Erfahrungen eine nicht kleine Anzahl von Menschen, die gewissen-
haft genug sind, sie zu befolgen.
Bei einem derartigen Vorgehen läßt sich ohne größere Härten
sehr viel erreichen; es muß nur individualisierend gehandelt werden
und es darf nicht unteren Polizeibeamten überlassen bleiben, nach
einem starren, einmal festgelegten Schema Anordnungen zu treffen.
Geschieht das letztere, so kommen gelegentlich Widersinnigkeiten
vor, der Unwille der Bevölkerung wird erregt und man verliert
deren wertvolle Mithilfe.
Gegen die Durchführung der vorstehenden Maßnahmen läßt
sich geltend machen, daß die einmalige negative bakteriologische
Untersuchung noch keine Sicherheit gibt, daß die Diphtheriebazillen
aus den Halsorganen wirklich verschwunden sind und daß man mit
Die Diphtherie als Volkssenche und ihre Bekämpf ang. 315
der gewöhnlichen Art der Entnahme des UntersuchungsstofFes den
Aufenthalt der Diphtheriebazillen in der Nase zu wenig berück-
sichtigt. Theoretisch sind beide Einwände richtig, praktisch be-
deuten sie nicht viel. Wir haben in Bremen lange Zeit hindurch
auf den ersten negativen Befund nach etwa 14 Tagen eine weitere
Untersuchung folgen lassen und haben dann bei etwa 15 7o wieder
Diphtheriebazillen nachweisen können. Dieser Prozentsatz ist an
und fnr sich klein und dabei handelt es sich recht häufig um Fälle^
bei denen es nur nach mühsamem Suchen auf der Platte gelang,
einzelne Kolonien von Diphtheriebazillen aufzufinden. Menschen
bei denen die Diphtheriebazillen so spärlich sind, bedeuten für die
Allgemeinheit nur eine geringe Gefahr, selbst wenn man die Mög-
lichkeit gelten läßt, daß es bei ihnen wieder zu einer Vermehrung
der Krankheitserreger kommen kann, wenn aus irgendwelchen
anderen Gründen die körperliche Widerstandsfähigkeit eine Herab-
setzung erföhrt.
Den oben erwähnten Königsberger Zahlen sind anscheinend
häufiger wiederholte Untersuchungen der Kekonvalescenten zugrunde
gelegt.
Daß Diphtheriebazillen in den Buchten und Falten der viel
verschlungenen Nasenwege geschützte Aufenthaltsräume finden
kömien, ohne mit dem Schleim auf die Rachengegend hinabzusinken,
ist unbestreitbar. Aber derartiges Vorkommen ist selten und vor
allem bedeuten solche Fälle für die Weiterverbreitung der Krank-
heit kaum eine Gefahr, weil eben die Bazillen so schwer an die
Außenwelt gelangen. Das Wesentliche bei der Verbreitung durch
die sog- gesunden Bazillenträger sind die Schleimmengen, welche
der Mensch im Verkehr aus dem Munde von sich gibt und solange
dieser Schleim nicht mit Diphtheriebazillen behaftet ist, bietet sein
Produzent für die Umgebung nur eine geringe Gefahr, selbst wenn er
an anderen Körperstellen die Krankheitserreger beherbergt. Handelt
es sich um einen stärkeren, diphtheriebazillenhaltigen Ausfluß, der
die vorderen Nasenöflfnungen verläßt, so veranlaßt schon die all-
gemeine Eeinlichkeit die Mehrzahl der Menschen, einer Verstreuung
des Schleimes entgegenzuarbeiten. Das Symptom ist auch meistens
so belästigend, daß ärztliche Hilfe herangezogen wird.
Beiden Einwänden darf man meines Erachtens für die praktische
Bekämpfung der Diphtherie eine große Bedeutung nicht beimessen.
Vom Standpunkte des Laboratoriums aus sind sie berechtigt, aber
dieser Standpunkt basiert zu häufig vorwiegend auf qualitativen
Erwägungen, während das Quantitative zurücktritt. Letzteres ist
316 XVII. Tjaden
aber bei der praktischen Arbeit in der Bevölkerung, wie schon
mehrmals betont wurde, ebenso wesentlich, vielfach sogar aus-
schlaggebend.
Neben den Rekonvalescenten stehen die anscheinend oder sub-
jektiv ganz gesunden, mit ansteckungstüchtigen Diphtheriebazillen
behafteten Hausgenossen. In der Prophylaxe der Diphtherie sind
beide Gruppen gleich zu behandeln. Man kann darüber streiten,
ob solche Leute im gewöhnlichen Sinne als krank zu bezeichnen
sind ; die Frage kann auch juristisch von Bedeutung werden, wenn
sich Streitigkeiten über die Leistungspflicht der Krankenkassen
erheben, vom Standpunkte der Seuchenbekämpfung aus sind der-
artige Leute den klinisch Kranken oder krank gewesenen gleich
zu stellen. Der Begriff Kranksein ist viel zu schwer zu definieren,
als daß sich eine annähernd glatte Trennung durchfuhren ließe.
Die gesetzlichen Bestimmungen sollten deshalb, soweit sie sich mit
Verhütungsmaßregeln befassen, den Ausdruck „krank" ergänzen
durch den Zusatz ,.oder mit Ansteckungsstoffen behaftet". In
Bremen sind die infizierten Hausgenossen den Krankgewesenen
gleich behandelt, Schwierigkeiten haben sich dabei nicht ergeben.
An die Isoliemngsmaßregeln schließt sich als Schlußstein die
Desinfektion. Eine Zeitlang bildete sie mit der Anzeigepflicht die
wesentlichste Stütze der Bekämpfung, doch hat im Laufe der Jahre
mit der zunehmenden Erkenntnis der Bedeutung der genesenden
und genesenen Menschen als Seuchenverbreiter ihre Wertschätzung
eine Minderung erfahren und zwar mit Recht. Dem Endziele, die
vollständige oder annähernd vollständige Vernichtung der Krank-
heitserreger in einer Wohnung, wird nur zum Teil gedient, wenn
man das Krankenzimmer desinfiziert. Zwar werden sich hier, so-
lange offensichtliche Krankheitssymptome vorhanden sind und dö*
Kranke ans Bett gefesselt ist, die Diphtheriebazillen am zahl-
reichsten und am meisten geschützt, d. h. in Schleimfetzen einge-
hüllt, vorfinden. Eine wiederholte sorgfältige Reinigung des Bettes
und seiner nächsten Umgebung in dieser Periode ist daher geboten.
Eine schematische Desinfektion aber, die stattfindet, nachdem
der Arzt nach einfacher Besichtigung oder auch weitergehender
körperlicher Untersuchung den Kranken für genesen erklärte, wird
häufig von geringem praktischen Nutzen sein. Was hat es für
Zweck, mit dem ganzen Aufwand unserer modernen Desinfektions-
technik einzelne tote Gegenstände zu bearbeiten, wenn der stets
neue Krankheitserreger produzierende Mensch in der Wohnung
verbleibt und sie am Tage nach der Desinfektion wieder infiziert.
Die Diphtherie als Volksseuche und ihre Bekämpfung. 317
oder welcher Nutzen ist von der Desinfektion des Krankenzimmers
zu erwarten, wenn der Kranke während der Rekonvalescenz schon
acht oder vierzehn Tage Gelegenheit hatte, in den übrigen Wohn-
räumen die Diphtheriebazillen za verbreiten. Neben diesen Fällen,
in denen der Nutzen der schnlmäfiigen Desinfektion mehr als proble-
matisch ist, stehen allerdings andere, wo die Desinfektion vorteilhaft
und erforderlich ist. Es sind das jene, bei welchen der Kranke im
Beginn oder auf der Höhe der Krankheit stirbt oder während dieser
Zeit in ein Krankenhaus verbracht wird, wo also die Infektionsstoflfe
noch eng beisammen sind ; femer Fälle von sehr engen Verhältnissen
und dichtem Zusammenwohnen in einzelnen Räumen. In letzteren
ist schon die reinigende Nebenwirkung der Desinfektion von großem
Wert. Es soll deshalb die Desinfektion nicht ohne weiteres als
etwas Überflüssiges hingestellt werden, aber ihre schabloneumäßige,
zwangsweise Anwendung bedeutet in vielen Fällen eine unnötige
Belästigung der Bevölkerung und ein nutzloses Verpuffen von Kraft.
Der Anordnende — leider ist es nur selten der hygienisch ge-
schulte beamtete Arzt — sollte sich vor jeder Desinfektion fragen,
was erreichst du? und wird nicht durch eine gründliche Säuberung
der ganzen Wohnung ohne erhöhte Kostenaufwendung mehr er-
reicht, als wenn die Desinfektionsanstalt den Forraalinapparat in
Tätigkeit setzt? Bei einem solchen Vorgehen haben freilich poli-
zeiliche Anordnungen, welche Zwangsdesinfektion bei jeder Di-
phtherieerkrankung vorschreiben, keinen Platz mehr. Es ist Zeit,
daß man sich diese Dinge klar macht; je einfacher unsere Mittel
sind, mit welchen wir bei der Bekämpfung der Diphtherie arbeiten,
je logischer sie durch die jeweils bestehenden Verhältnisse in sich
begründet sind, desto mehr wird erreicht.
Im Anfang der Arbeit ist erwähnt, daß v. Behring die
Bekämpfung der Diphtherie mittels hygienischer Maßnahmen ver-
wirft, er erwartet größeren Nutzen von einer allgemeinen prophy-
laktischen Immunisierung mit Serum. Auch in der neueren Lite-
ratur werden Stimmen in gleicher Richtung laut, man weist auf
die Erfolge hin, welche in Krankenanstalten, Pensionaten usw. er-
zielt wurden. Daß die Erfolge erzielt sind, ist unbestreitbar, aber
die Verallgemeinerung ist hier ebenso verkehrt wie bei der Frage
der Ubiquität. Es wird übersehen, daß das Serum keine bakte-
rizide, sondern nur eine antitoxische Wirksamkeit hat, daß also die
für ihre Person geschützten aber infizierten Personen im freien
Verkehr nicht harmlos sind, ja daß sie gelegentlich eine recht
große Gefahr bedeuten können, weil sie ihre Eigenschaft als
318 XVn. Tjaden
Bazillenträger nicht kennen oder im Gefühl des subjektiven Wohl-
befindens unbeachtet lassen. In einer begrenzten Gruppe von Per-
sonen kann man jeden einzelnen impfen, man kann sämtliche Ge-
impfte beobachten und man kann dafür sorgen, daß ein Verkehr
nur untereinander, also unter Geschützten stattfindet. Das lädt
sich in der freien Praxis nicht durchführen. Dazu kommt, da&
der Impfschutz nur drei bis vier Wochen dauert; eine wieder-
holte Impfung schützt nicht immer weiter, weil bei manchen
Menschen die Injektion des Serums inzwischen die Bildung von
Gegenstofifen ausgelöst hat. So findet man gelegentlich nach Ab-
lauf des Impfschutzes ein promptem Einsetzen der Krankheit,
wenn die Gelegenheit, infiziert zu werden, weiter dauert; die
Krankheit verläuft dann manchmal schwerer und wird durch er-
neute Anwendung von Heilserum nicht in der gewohnten Weise
beeinflufit.
Eine allgemeine Verwendung wird die prophylaktische Serum-
anwendung vielleicht dann finden, wenn man auf dem von Wasser-
mann beschrittenen Wege weiter kommt, d. h. ein bakterizides
Serum anwendet, oder wenn der Nachweis gefuhrt wird, daß die
Diphtheriebazillen bei den mit antitoxischem Serum Behandelten
rasch ihre Virulenz verlieren oder zugrunde gehen. Es ist a priori
der Gedanke nicht von der Hand zu weisen, daß durch die Auf-
hebung der Giftwirkung der Diphtheriebazillen der befallene Orga-
nismus vor einer Herabsetzung seiner eigenen bakteriziden Fähig-
keiten geschützt wild und somit die eingedrungenen Feinde rasche
beseitigt. Unsere Beobachtungen haben jedoch bis jetzt keine
Anhaltspunkte dafür gegeben, daß man mit diesen Vorgäneren
rechnen darf.
Nicht eigentlich zum Zwecke der Krankheitsverhütüng, sondern
um der hohen Sterblichkeit entgegenzutreten, wendet man in Kairo
nach einer mündlichen Mitteilung des dortigen Sanitätsinspektors^
Dr. Dreyer, prophylaktische Impfungen mit hohen Serumdosen
an. Die Krankheit tritt durchweg schwer auf und die Wohn- und
sonstigen Verhältnisse unter den unteren Bevölkerungsklassen be-
dingen, daß mit ziemlicher Sicherheit weitere Todesfalle in der
Familie zu erwarten sind, wenn eines der Mitglieder gestorben
ist. Die Resultate des Vorgehens sollen befriedigende sein.
Die prophylaktische Serumimpfung ist ein gutes Hilfsmittel
zur Bekämpfung der Diphtherie in geschlossenen Anstalten und
unter ähnlichen Verhältnissen. Die allgemeine Verbreitung der
Diphtherie als Volksseuche zu verhindern ist sie zurzeit nicht an
Die Diphtherie als Volksseuche nnd ihre Bekämpfnug. 319
der Lage, ihre Anwendung macht daher hygienische Maßnahmen
nicht überflüssig.
Die vorstehend kurz geschilderten Tatsachen und Gedanken-
gänge dienen in Bremen seit etwa drei Jahren als Unterlagen für
eine systematische Bekämpfung der Diphtherie. Bei der Einführung
der entsprechenden Maßnahmen mußte man die Erfahrung machen^
daß für ihre innere Begründung und für den inneren Zusammen-
hang derselben bei der Bevölkerang und bei einem nicht geringen
Teil der Arzte nur geringes Verständnis vorhanden war. Es liegt
in dieser Erfahrung kein Vorwurf für Bremen, überall anderswo
wird es ebenso sein, man durfte es auch nicht anders erwarten.
Die grundlegenden Tatsachen sind zum Teil Feststellungen der
letzten Jahre, wenn auch auf dieses und jenes vorher schon hier
und da hingewiesen wurde. Außerdem waren Anzeigepflicht und
Sachendesinfektion lange genug als A und 0 der Seuchenbekämpfung
von Ärzten hingestellt worden, als daß nicht die Laienbehörden
und Bevölkerung von der Anschauung durchdrungen worden wären,
daß mit der Ausübung beider das Menschenmögliche geleistet sei.
Ist einmal unser jetziges erweitertes Wissen über die Art der
Verbreitung der Diphtherie in gleicher Weise Allgemeingut ge-
worden, so wird man in der Bekämpfung der Seuche weiter
kommen.
Um die Einführung der Maßnahmen zu erleichtem, wurde in
Bremen in der Weise vorgegangen, daß man die einzelnen ge-
meldeten Erkrankungsf&Ue in zwei Gruppen schied: Gruppe I, bei
welcher ein allgemeineres öffentliches Interesse vorliegt ; Gruppe H,
bei welcher das Interesse mehr lokaler Natur ist. Zur ersten
Gruppe werden die Fälle gezählt, bei denen ein gehäuftes Auf-
treten von Diphtherieerkrankungen in einer Familie festgestellt
wurde, femer einzelne Erkrankungen in Häusern, in denen offene
Ladengeschäfte, Wirtschaften und dergleichen vorhanden waren^
oder wo Lebensmittel hergestellt oder vertrieben wurden; dann
nahm man ein öffentliches Interesse an, wenn Lehrer oder Hebamme
in dem betreffenden Hause wohnen, oder wenn Hausgenossen sonst
berufsmäßig mit einer größeren Anzahl von jugendlichen Individuen
zusammenkommen. In diesen und ähnlichen Fällen werden sämtliche
Familienangehörige bakteriologisch untersucht, die Frage der Iso-
lierung der mit ansteckungstüchtigen Diphtheriebazillen Behafteten
wird geprüft, und eine Schlußdesinfektion des Krankenzimmers und
seines Inhaltes angeordnet. Der Fall gilt in bezug auf Schulverbot,
Beschäftigungsbeschränkung usw. erst als erledigt, wenn der bakterio-
320 XVII. Tjadkn
logische Nachweis des Freiseins von virulenten Diphtheriebazillen
bei sämtlichen Hausgenossen geführt ist. Für diesen Nachweis
steht das hygienische Institut zur Verfügung, die Entnahme von
Untersuchungsproben geschieht unentgeltlich durch den beamteten
Arzt, falls die betreffende Familie es nicht vorzieht, die Entnahme
durch den Hausarzt vornehmen zu lassen. Es sei nochmals betont,
daß bei allen Maßnahmen durchaus individualisierend vorgegangen
wird und daß in jedem Falle der medizinische Sachverständige
dieselben prüft.
In der zweiten Gruppe beschränkt man sich darauf, den Schul-
besuch für den Erkrankten und seine Geschwister so lange zu unter-
sagen, bis eine ärztliche Bescheinigung des Gesundseins sämtlicher
Kinder der betreffenden Familie beigebracht mrd. Daß ein der-
artiges Vorgehen eine wesentliche Lücke bedeutet, darüber ist
man sich klar. Aber man hat geglaubt, und wie die Erfahrung
gelehrt hat. mit Eecht, daß für all diese Maßnahmen der Boden
erst vorbereitet werden müsse, daß Schritt um Schritt vorzugehen
sei und daß ein zu plötzliches scharfes Anspannen des Bogens die
Gefahr des Zerreißens der Sehne bedinge. Das Endziel wird bei
dem Charakter der niedersächsischen Bevölkerung besser erreicht
wenn man ihm schrittweise zustrebt. Die Vervollständigung der
Maßnahmen wird nicht aus dem Auge verloren.
Die formale Erledigung geschieht in der Weise, daß nach Ein-
gang der Meldung für jede Erkrankung ein Aktenstück angelegt
wird, daß mit der Akte der untere Gesundheitsbeamte — em
Sanitätsgehilfe — sich an Ort und Stelle begibt, dort die nötigen
Personalien aufnimmt, die sonstigen Feststellungen macht und die
ersten Anordnungen trifft. Die Akte geht dann sofort an den
technischen Oberbeamten, den Geschäftsführer des Gesundheitsrats,
dieser prüft sie und veranlaßt eventuell weitere Ermittlungen
■ «
oder Änderungen der Maßnahmen. Die ünterbeamten sind jedoch
so gut geschult daß der Oberbeamte in den meisten Fällen nur sein
Visum zu unterschreiben braucht und daß seine Arbeitskraft durch
diese Tätigkeit wenig in Anspruch genommen wird. Nebenbei sei
bemerkt, daß in ähnlicher Weise auch bei den anderen anstecken-
den Erkrankungen gearbeitet wird.
Nach außen hin sichtbare Erfolge können bei der starken
Verbreitung der Diphtherie in Bremen zahlenmäßig in der kurzen
Zeit nicht zutage treten ; kein Kenner der einschlägigen Verhält-
nisse wird sie erwarten. Das ist jedoch schon erreicht, daß Be-
völkerung und Arzte von Jahr zu Jahr mehr Verständnis für die
Die Diphtherie als Volksseache und ihre Bekämpfung. 321
Berechtigung der Maßnahmen gewinnen nnd zu Mitarbeitern
werden und daß in einer nicht kleinen Anzahl von Fällen lokale
Anhättfangen von Erkrankungen rasch eingedämmt wurden. Der
beschrittene Weg ist durch die Natur der in Frage kommenden
Faktoren vorgezeichnet, die Maßnahmen sind logisch begründet,
sie müssen bei sachgemäßer und konsequenter Anwendung nach
und nach zum Ziele führen. Unentbehrlich ist dabei ein ver-
ständnisvolles enges Zusammenarbeiten der Verwaltungsbehörde
und des medizinischen Sachverständigen; ein solches besteht in
Bremen in ausgezeichnetster Weise.
Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 89. Bd. 21
xvni.
Aus der medizinischen Universitätsklinik zu Göttingen
(Direktor: Geheimrat Ebstein).
I.
Zwischenfälle bei der Thorakocentese, speziell über das
Wesen der albnminosen Expektoration.
Von
Privatdozent Dr. Waldvogel,
Oberarzt.
Tausende von Thoraxpunktionen werden in Deutschland jähr-
lich ausgeführt, aber unsere Literatur ist, zumal im Vergleich mit
der französischen, relativ arm in der Erwähnung und kritischen
Würdigung unangenehmer Zwischeniälle und es hat fast den An-
schein, als sei jetzt alles geschehen, um die Thorakocentese zu
einem durchaus harmlosen EingriiF zu machen. Auch aus unserer
Klinik berichtet Heißmeyer ^), daß fast sämtliche Punktionen
ohne störende Zwischenfillle verliefen, „nur einigemal mußte wegen
andauernden Hustens die Operation unterbrochen werden". Nun
hat uns aber gerade das Sommersemester 1905 überraschend davon
überzeugt, daß auch bei Innehaltung aller Vorsichtsmafiregeln eine
bedrohliche Blutung und die albuminöse Expektoration das Leben
der Punktierten schwer gefährden können und es drängt sich die
Frage auf, ob nicht ähnliche Vorkommnisse auch andei-swo ein-
treten und ob es dann nicht mehr als gerechtfertigt erscheint sie
der breiten ärztlichen Öffentlichkeit zu übergeben, zumal die Auf-
klärung der vorliegenden Verhältnisse durchaus noch lückenhaft ist
Relativ am einfachsten liegen die Dinge im ersten Fall, in dem
bei einem an schwerer Pneumonie leidenden Kinde der völlig lege
artis eingestochene Trokar die abnorm verlaufende Arteria inter-
costalis anstach, ohne daß die danach entstandene Blutung für den
eingetretenen exitus verantwortlich gemacht werden kann. Das
1) Gott. Diss. 1902.
I. Zwischenfälle bei der Thorakocentese etc. 323
wird durch die etwas eingehendere Beschreibung des Falles er-
härtet werden.
Bas 3jährige Kind E. A. soll vor 14 Tagen mit Haisdr üsen^
Longen- und Bippenfellentsündnng erkrankt sein. Es wird mit 156 Pulsen ,
gelb verfärbter Sklera und Haut am 27. Jani 1905 in die Klinik ge-
bracht. Kan findet eine Pneumonie des rechten Ober- und TJnterlappens,
eine geringe Yerlagerang des Herzens nach links, eine Vergrößerung der
lieber, eine Enteritis und Zeichen alter Rachitis. Das lange Bestehen
der Lungenersoheinungen, die starke Dyspnoe, die verstrichenen Inter-
kostalränme veranlassen am Aufnahmetage eine Probepunktion in der
Skipolarlinie, man erhält 60 ocm einer sehr trüben, mit viel Fibrin-
flocken untermischten Flüssigkeit durch Ansaugen mit der Spritze, bis
am Schluß etwas Blut sich beimischt. Am folgenden Tage findet man
Aach Infiltration der linken Lunge in geringem Umfang und entschließt
sich zur Wiederholung der Punktion rechts. Die Probepunktion ergibt
wieder Exsudat und man sticht 3 Finger breit rechts von der Wirbel-
säule, also bei dem kleinen Kinde etwa 1 cm innerhalb der Skapular-
linie im 7. Interkostalraum den Trokar ein. Es entleeren sich bei milder
Aspiration durch den Potain'schen Apparat 100 ccm derselben Flüssig-
keit wie am Tage zuvor und man hört sofort auf, als am Schluß reines
fiiat zu fließen scheint. Am Abend, die Punktion hatte mittags statt-
gefanden, ist das Kind munterer und verlangt zu trinken, antwortet auf
Fragen. Am Morgen des folgenden Tages, IV2 U^r» verschlechtert sich
der Puls schnell und der Exitus tritt ein. Die Autopsie (Prof. Borst) be-
ttätigte die klinische Diagnose und ich gebe hier den Befund nur so weit,
als er für die Punktion von Bedeutung ist. In der Umgebung der zuletzt
angelegten Punktionsöffnung, die genau am oberen Rande der 8. Rippe
liegt, ist das ganze umgebende Gewebe blutig infiltriert, im Pleuraraum
rechts befindet sich ein Blutkoagulum von der Q-röße des Schädels eines neu-
geborenen Kindes ; die Arterie wird frei präpariert, ihre Wandungen sind
dorchans normal — was ich gegenüber dem Befunde Naunyn's^) be-
tone, in dessen Fall die Arterie abnorm weit und ihre Wandung stark
atheromatös entartet war — sie läßt sich mit einem Pferdehaar eben
sondieren und man erkennt deutlich den dreieckigen durch den Trokar
gesetzten Defekt.
Es hat also ans der Arteria intercostalis eine ziemlich starke
Blntnng: stattgefunden, nachdem sie von dem eindringenden Trokar
angestochen war. Diese Blutungen müssen ja so ohne Ende sein,
weil das Gefäß sich infolge der Einbettang in starres Gewebe und
da 66 nur an einer Stelle defekt ist, ohne durchtrennt zu sein,
nicht zurückziehen kann. In diesem Falle ist die Blutung wohl
aber dadurch zum Stehen gekommen, daß die hart infiltrierte Lunge
nicht nachgab und so das schnell sich bildende Gerinnsel auf die
2) Kurzer Leitfaden fftr die Punktion der Pleura- und Peritonealergüsse
Straßburg 1881.
21*
324 XVIII. Waldvogel
Gef&ßwunde* drückte. Klinische Zeichen, welche ein chirurgisches
Eingreifen erforderlich gemacht hätten, hat die Blutung nicht er-
zeugt, es war, als ob das Kind sich erholte. Auch floß das Blut
vielleicht nicht sofort aus dem Oef&ßdefekt, sondern der Trokar
hat wohl die Öffnung verlegt und erst am Schluß der Punktion
erschien Blut, als die Lage der Kanüle geändert wurde oder
der Thoraxraum so hoch vollgelaufen war; auch nach der Ent-
fernung der Trokarhülse sickerte etwas Blut aus der Wunde.
aber das sind ja häufiger vorkommende Ereignisse und nichts iries
darauf hin, daß die Arteria intercostalis verletzt war. Wie konnte
man nun diese Arterie anstecken, da man doch gemäß der Lage
der Intercostalis am unteren Bande der Bippe am oberen ein-
gestochen hatte? Varietäten der A. intercostalis kommen nun vor,
doch habe ich bei Merkel^) nur die bemerkenswerte Angabe ge-
funden, daß eine A. intercostalis, schräg durch den Interkostalranm
steigend, zur nächsten, selbst zur zweitnächsten Bippe gelangen
kann. Es wäre nun doch auch, meine ich, denkbar, daß von den beiden
Zweigen derselben einmal der am oberen Band der Bippe ver-
laufende der stärkere ist und nicht der im Sulcus costalis liegende.
Jedenfalls handelte es sich in diesem Fall um einen recht beträcht-
lichen Ast der A. intercostalis, welcher am oberen Band der Rippe
verlief, wenn auch die Verhältnisse in dieser Bichtung anatomisch
nicht weiter verfolgt sind. Vielleicht wird man geltend machen,
daß zu weit nach hinten, zu nahe der Wirbelsäule punktiert ist
daß hier der schwächere Ast der Intercostalis noch mächtig war
nnd eine größere Blutung bei Verletzung eintreten konnte, denn
die Einstichstelle lag ein wenig einwärts von der Skapularlinie.
Gumprecht^) kommt nach einer Zusammenstellung der von den
Autoren angegebenen Punktionsstellen, unter denen ja die Schnlter-
blattlinie häufiger angegeben ist, zu dem Besultat, daß die Punktions-
stelle doch bis zu einem gewissen Grade in das Belieben des ein-
zelnen gestellt sei. Es wäre gesucht, an dieser Ansicht angesichts
dieses einen Mißgeschickes etwas ändern zu woUen, denn die Ab-
normität eines solchen Arterien Verlaufes, daß bei der Punktion am
oberen Band der Bippe eine größere Blutung auftritt, scheint außer-
ordentlich selten zu sein ; immerhin aber wird für die Wahl der
Einstichstelle nach außen von der Skapularlinie in Betracht kommen,
daß hier der am oberen Band der Bippe verlaufende Ast an Mächtig-
keit abgenommen hat.
1) Haudb. d. topographisch en Anatomie Bd. 2 1899.
2) Die Technik der spez. Ther. Jena 1906.
I. Zwischenfillle bei der Thorakocentese etc. 325
Sind die Verhältnisse in diesem ersten Zwischenfall bei Thorako-
centese noch relativ durchsichtig and war die Blutung an dem
traurigen Ausgang des Falles nicht schuld, so begeben wir uns mit
der Besprechung der expectoration albumineuse auf ein sehr «um-
strittenes Gebiet, dessen mangelhafte Aufklärung um so bedauer-
licher erscheinen mufi, als in unserem Fall dieses Ereignis den
letalen Ausgang herbeigeführt hat. Ich schildere ihn zuflächst kurz :
Die am 24. Mai 1905 in die Klinik aufgenommene M. H., 17 Jahre
alt, ist im letzten Kerbst schon einmal wegen Dilatatio cordis und Ver-
dacht auf Tuberknlose behandelt, im März 1905 wurde sie wegen Tuber-
kulose der Skapula operiert, seit 3 Wochen klagt sie wieder über Herz-
beschwerden. Bei der Aufnahme findet man ein linksseitiges Pleura-
exsudat vom bis zur 3. Rippe reichend. Herzresistenz nach rechts
verbreitert. Puls 160, kaum fühlbar, starke Dyspnoe. Man entleert so-
fort durch Punktion ein Liter stark bluthaltiger Flüssigkeit mit reichlich
Eiweiß und dem spez. Gew. 1018. Das Herz rückt nach der Punktion
wohl ein wenig nach links, aber seine Tätigkeit bleibt sohlecht. Schnell
bildet sich das Exsudat wieder bis zur früheren Höhe, am 31. Mai
wird wieder links ohne Aspiration punktiert, wieder entleert man 1 1
derselben stark blutigen Flüssigkeit. Das Herz rückt jetzt 1 cm nach
links, die Pulsfrequenz wird geringer und die Patientin erholt sich; es
wird ein schleimig eiteriges Sputum ohne Tuberkelbazillen ausgehustet,
die Dämpfung links reicht noch bis zum oberen Bande des Schulter-
blattes, ohne daß wesentliche Dyspnoe besteht. Die Herztätigkeit ist
aber andauernd schlecht und in der Zeit vom 8. — 16. Juli, nachdem
schon eine Zeitlang Staunngsharn bestand, wird auch die Stauung in
Leber, Milz, Magen intensiver, es entsteht Ascites und am 22. Juli ist
notiert, daß eine Däropfang mit abgeschwächtem Atemgeräuscb und
Stimmfremitus, mit vorgetriebenen Interkostalräumen auch rechts ent-
standen ist. Die Temperatur ist meist eine normale, nur ab und an
steigt sie abends bis auf subfebrile Werte, Tuberkelbazillen wurden nie
nachgewiesen, die Diazoreaktion war negativ. Während die Verhältnisse
in der linken Thoraxhälfte unverändert erscheinen, steigt das Exsudat
rechts deutlich an, die Pulsfrequenz ist meist 120 — 128, während in
den ersten Wochen 144 — 156 Pulse gezählt wurden. Am 17. August
werden nach Probepunktion ohne Aspiration l^/^ 1 einer nicht blutigen,
trüben, gelben Flüssigkeit aus der rechten Pleurahöhle entleert im Ver-
lauf Yon 15 Minuten, am Schluß beginnt die Patientin zu husten, ohne
daß zunächst Flüssigkeit expektoriert wird. Nach der Punktion wird
die Patientin aus der sitzenden Stellung etwas hintenüber gelehnt, doch
steigern sich dabei Husten und Atemnot stark, sie erhält 0,005 g Heroin,
aber es wird jetzt, ohne daß Heroin und Morphium einen Einfluß haben,
eine schaumige, leicht rot gefärbte Flüssigkeit unter fortwährendem Husten
expektoriert, die Cyanose steigert sich, der Puls wird schlechter, Pa-
tientin wird benommen und stirbt 12 Stunden nach der Punktion, in
den letzten 3 Stunden hört der Husten auf, es gelangt keine Flüssigkeit
mehr nach außen, Trachealrasseln stellt sich ein. Die Menge der aus-
326 XVIII. Waldtogkl
gehasteten Flüssigkeit beträgt 1'/« 1, sie ist leicht rot gefärbt, bildet im
Olase 3 Schiebten, eine obere schaumige, eine mittlere klare, eine ontere
mit langen Fäden. Das spez. Oew. der expektorierten Flüssigkeit betragt
1016, der Eiweißgehalt ist annähernd 2^0 (Gsbach). Ebenso betrigt
das spez. Gew. des entleerten Exsudats 1016 und der Eiweißgebalt 2^^,
mikroskopisch finden sich in letzterem Fibrin und vereinzelte Knndzellen.
Die Sektionsdiagnose lautete : Käsige Tuberkulose der Broncbal-
drüsen, Pleuritis sero-fibrinoea mit doppelseitigem pleuritischen Exsudat,
Atelektase der TJnterlappen beider Lungen, Pericarditis obliterans, Me-
diastinitis fibrinosa; Ascites, Stauungsleber, Stauungsmilz, StauungsniercD.
Beide Pleurahöhlen sind mit ca. 2 1 einer leicht getrübten, mit
spärlichen gröberen Flocken untermischten Flüssigkeit gefüllt, die Luogen
«ind nach hinten oben neben die Wirbelsäule zurückgesunken. Die
TJnterlappen beider Lungen sind luftleer, Ober- bzw. Hittellappen luft-
haltig, nirgends Infiltration. Saft- und Blutgehalt beiderseits nicht ver-
mehrt. Die Pleura visceralis beider Lungen ist getrübt, stellenweise tos
feinen fibrinösen Auflagerungen bedeckt. Von einer Verletzung der
Lunge ist nichts nachzuweisen.
Es ist ja nun in der Tat das Nächstliegende daran zu denken,
daß die seröse Expektoration ausgelöst wird durch das Ablassen
der Flüssigkeit und die damit gesetzten Dmckänderungen im
Thorax und man hat also nicht lange gezögert Fehler bei der
Punktion für die Entstehung dieser immerhin gefährlichen Kom-
plikation verantwortlich zu machen, so das zu schnelle Abfließen von
zu viel Flüssigkeit, zumal wenn aspiriert wird. Nun, mein Fall
gleicht dem von Scriba^) aus der RiegeFschen Klinik beschriebenen
darin völlig, daß l'/2 1 ohi^^ Aspiration entleert wurden. Für
meinen Fall ist noch hinzuzufügen, daß nach der Punktion noch
2 1 im Pleuraraum blieben (s. Sektionspi'otokoU) und daß das Ab-
fließen langsam geschah. Dieselben Verhältnisse, starke An-
füllung des Thorax, schlechte Herztätigkeit, langsames Abfließen
von 1 1 Flüssigkeit, die bei den ersten beiden Punktionen sogar
blutig war, lagen auch bei den ersten Malen vor. Eine Änderung
ist aber insofern eingetreten, als diesmal beide Lungen von Exsu-
daten gedrückt wurden. Das Exsudat hat beim letztenmal freilich
nur kurze Zeit auf der rechten Lunge gelastet, während bei den
ersten Punktionen die linke Thoraxhälfte stark angefüllt war.
Auch die Tätigkeit des rechten Ventrikels ist bei der letzten
Punktion schlechter gewesen als bei den ersten, es hatten sich
Stauungsorgane, Ascites entwickelt. Nicht die Technik, nicht die
Menge und die lange Beiastungszeit des Exsudats können also nach
unserem Fall für die Entstehung der albuminösen Expektoration
1) Deutsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 36 1885.
I. Zwischenfälle bei der Thorakocentese etc. 327
yerantwortlich gemacht werden. Vielleicht aber verdient die Be-
lastung beider Lungen neben der schlechten Funktion des rechten
Ventrikels als eines mitwirkenden Faktors mehr Beachtung als sie
bislang gefunden zu haben scheint.
A p p e 1 *) hat das Verdienst, die Krankengeschichten von 15
neueren Fällen aus der Literatur wiedergegeben zu haben, nach-
dem Terillon^) im Jahre 1872 über 21 Beobachtungen berichtet
hatte. Auch er stellt fest, daß die Aspiration nicht allein schuld
an dem Auftreten der serösen Expektoration sein kann, daß die
schnelle Absaugung wohl schon unzählige Male stattgefunden
baben dürfte und daß trotzdem die albuminöse Expektoration eine
Seltenheit ist. Aus den mitgeteilten Fällen ergibt sich nun auch
durchaus nicht, daß immer große Mengen von Flüssigkeit entleert
sind und ich glaube, es wird einmal an der Zeit sein zu betonen,
daß die Technik der Thorakocentese für das Entstehen einer
serösen Expektoration nicht verantwortlich gemacht werden kann,
und so das Gewissen manches Arztes zu entlasten.
Appel bemerkt daß Komplikationen von selten des Herzens
in 6 von den 36 Fällen hervorgehoben sind, in den anderen ist
über das Verhalten des Herzens nichts verzeichnet, vielleicht weil
keine Anomalien von selten dieses Organs vorlagen. Letzteren
Satz möchte ich nicht unbedingt unterschreiben, ich möchte glauben,
daß der Zustand der Herztätigkeit häufiger in Betracht kommen kann
und mehr Beachtung verdient. An der Hand meines Falles hatte
ich a]s mitwirkendes Moment die Intensität der Lungenbelastung
insofern ins Auge gefaßt, als dadurch die Wiederausdehnungsfahig-
keit der Lunge nach der Punktion und die Anfüllung mit Luft
verhindert wird. Das kann natürlich, außer wenn wie in meinem
FaU, beide Lungen durch Exsudat belastet sind, auch dadurch ge-
schehen, daß Bindegewebe in Lunge und Pleura dem Eindringen
der Luft Widerstand entgegensetzt Da ist es denn bemerkens-
wert, daß auch nach Appel, allerdings weniger für die Entstehung
als für den Ausgang, Residuen früher überstandener Pneumonien
und Pleuritiden, namentlich dicke Schwartenbildung, Schrumpfungen
der Lunge, Verwachsungen der Kostal- und Pulmonalpleura, Ver-
wachsungen letzterer mit dem Perikard von Bedeutung sind.
Gewiß werden also diese beiden klinisch festgestellten Momente,
schlechte Ausdehnungsfähigkeit der Lungen, Schwäche des rechten
Ventrikels, trotz aller Dürftigkeit der Beweisführung zu berück-
l) Annalen der städt. aUgem. Krankenhäuser zu München. München 1897.
2; De Texpectoration albuminense apres la thoracocenthöae. Paris 1872.
328 XVIII. Waldvogel
«
sichtigen sein, wenn wir an eine Erklärung des Phänomens der serösen
Expektoration herangehen wollen. Die wichtigste Frage aber, die auch
in den letzten Publikationen an den ihr gebührenden Platz gerückt
ist, wird stets bleiben : Was ist die expektorierte Flüssigkeit, woher
stammt sie ? Ich deduziere zunächst wieder von meinem Fall. Wir
erkennen aus den ja leider nicht genügend weit ausgeführten
Untersuchungen doch wohl mit ziemlicher Sicherheit, daß die
Flüssigkeit, welche den Pleuraraum erfüllte und die, welche aus-
gehustet wurde, identisch sind, das leicht blutige Aussehen der
letzteren wird an dieser Anschauung nichts ändern, eine plausible
Erklärung läßt sich dafür ja leicht finden. Spezifisches Gewicht
und Eiweißgehalt stimmten durchaus überein, der Schaum in der
obersten Schicht zeigt an, daß die expektorierte Flüssigkeit aus-
giebig mit Luft in Berührung getreten ist. Die expektorierte
Flüssigkeit muß aus der Pleurahöhle stammen; das ist ein keines-
wegs neuer Befund. Und selbst wenn die Flüssigkeiten nicht in
dieser auffallenden Weise übereinstimmen, so gibt es andererseits
genug Gründe, welche dagegen sprechen, daß die seröse Expektora-
tion auf Lungenödem beruht. Daß es eine auf entzündlichem
Wege entstandene Flüssigkeit sein muß, ist doch auch durch hohes
spezifisches Gewicht, beträchtlichen Eiweißgehalt und das Vorhanden-
sein von reichlichem Fibrin zu beweisen. Um gleich auf letzteres
einzugehen, so hat Scriba in seinem Fall in dem Hauptbronchus
der Lunge, welche von dem punktierten Exsudat belastet war, ein
das Lumen desselben vollständig ausfüllendes und sich in die
feineren Verzweigungen 2. und 3. Ordnung fortsetzendes, mit zahl-
reichen Luftblasen durchsetztes Fibringerinnsel gefunden, welches
sich nach oben bis an die Teilungsstelle erstreckte; dabei war
die Bronchialschleimhaut glatt und blaß. Nach meiner Ansicht
ist dieser Befund ein unzweideutiger Beweis dafür, daß dies Fibrin
nicht in der Lunge entstanden, sondern eingeschleppt ist, daß es
aus dem bei der Sektion noch in der Menge von 1 1 in der Pleura-
höhle vorhandenen entzündlichen Erguß mit dem spezifischen Ge-
wicht von 1015, welches aus der Pleura in die Bronchien dranf
abgesetzt ist und daß die expektorierte Flüssigkeit kein Lungen-
ödem war, denn so viel Fibrin enthält kein durch Stauung allein
hervorgerufenes Transsudat. Zellige Elemente waren in dem Ge-
rinnsel kaum zu finden, und Scriba nimmt aus diesem Grunde
an, daß das Bronchialgerinnsel nicht aus dem Pleuraexsudat stammt
Dem kann ich aus den angeführten Gründen nicht beistimmen,
sondern sehe in der Gegenwart dieses Bronchialgerinnsels einen
I. Zwischenfälle bei der Thorakocentese etc. 329
Beweis dafür, daß das Pleuraexsudat durch die Lungen getreten
ist. Dabei könnten die zelligen ungelösten Elemente in der Pleura-
höhle zurückgehalten sein, auch ist denkbar, daß das von Scriba
gefundene Exsudat wenig Zellen enthielt Wahrscheinlich sind bei
der Dreischichtigkeit des Sputums die am Boden befindlichen Ge-
rinnsel meist fibrinöser Natur, darauf müßte noch mehr an der
Hand farberischer Methoden geachtet werden. Im Fall VIII der
Appel'schen Zusammenstellung heißt es: ^beim Stehen bildete sich
leichte Wolke koagulierten Fibrins."
Aber selbst wenn wir von dem Fibrin als Beweismittel dafür, daß
bei intakter Bronchialschleimhaut und dem Mangel eines fibrinösen Ex-
sudats in den Alveolen die expektorierte Flüssigkeit aus dem Pleura-
raum stammen muß, absehen, stimmen denn die übrigen Eigenschaften
derselben mit dem Wesen eines Lungenödems zusammen? In dem Fall
Appel's zeigten Exsudat und Sputum in bezug auf Trockensubstanz
und N-Gehalt fast völlige Übereinstimmung, wir werden später er-
kennen, worauf die geringen Differenzen zurückgeführt werden können.
Im dritten der von A p p e 1 angezogenen Fälle war die ausgehustete
Flüssigkeit sehr ähnlich der aus der Pleurahöhle entleerten. Im vierten
der Appel'schen Zusammenstellung heißt es, die expektorierte Flüssig-
keit glich an Farbe völlig der durch die Punktion gewonnenen,
ebenso stimmte das spezifische Gewicht (1015) überein. In Fall VI
wird angegeben, daß das Sputum durch Kochen und Salpetersäure
massenhaften Niederschlag gibt. Im achten Fall ist notiert, die
ausgehustete Flüssigkeit sei wie die aspirierte grünlichgelb, serös,
sehr eiweißhaltig gewesen; das spezifische Gewicht war 1015. Im
Fall IX wird berichtet: „Morgens spuckte Patientin ihre Spuck-
schale halb voll von einer ganz dünnen, gelbgrünlichen Flüssigkeit,
welche genau das gleiche Aussehen hatte als die bei den Punktionen
entleerte Flüssigkeit." Eiweißgehalt und spezifisches Gewicht sind
in diesem einen Fall auffallend niedrig. Im Fall X war der Aus-
wurf in allem ähnlich Exsudat- oder Hydrocelenflüssigkeit, enthielt
Eiweiß. In Fall XI und XII war die ausgehustete zähe Flüssig-
keit ähnlich und ganz ähnlich der Punktionsflüssigkeit, im XIII. die
im Sputum enthaltene Eiweißmenge enorm, doppelt so viel als die
abgeflossene Exsudatflüssigkeit enthält (?); im XIV. bestand völlige
Identität zwischen der ausgeworfenen schaumigen Flüssigkeit und
der durch Punktion entleerten, im XV. gab der Auswurf einen
reichlichen Niederschlag. Zieht man nun noch in Betracht, daß
15 von den durch Appel zusammengestellten Fällen aus dem zweiten,
fünften, siebenten sich keine Angaben über spezifisches Gewicht,
330 XVIU. Waldvooei.
Aassehen, Eiweißgehalt entnehmen lassen, so versteht man eigentlich
nicht recht, wie die Anschauung, die bei der expectoration albumi-
neuse entleerte Flüssigkeit verdanke dem Lungenödem seine Ent-
stehung, sich so lange hat halten können, trotzdem alles darauf
hinwies, daß die expektorierte und die Ejxsudatflussigkeit gleiche
Eigenschaften besitzen. Ich will hier betonen, daß damit die
Mitwirkung einer ödematösen Durchtränkung des Lungengewebes
beim Entstehen der albuminösen Expektoration nicht ganz von der
Hand gewiesen zu werden braucht, aber nach den chemischen und
physikalischen Eigenschaften der ausgehusteten Flüssigkeit steht
sie ganz im Hindergrunde, erklärt höchstens, warum das Spatnm
gegenüber dem Exsudat etwas verdünnt erscheinen kann, wie das
bei genaueren chemischen Untersuchungen festgestellt ist Muß
denn nicht auch schon die tausendfältige Erfahrung, daß wir ein
akutestes Lungenödem auftreten sehen, ohne daß es zur serösen
Expektoration, d. h. zur J^ntleerung solch großer Mengen einer
mehrschichtigen, viele Eigenschaften einer entzündlichen tragenden
Flüssigkeit unter fortdauerndem quälenden Husten kommt, dazu
auffordern den Gedanken fallen zu lassen, es sei die expectoration
albumineuse allein durch Lungenödem bedingt? Mußte nicht min-
destens daneben ein das Bild des gewöhnlichen Lungenödems völlig
veränderndes Moment angenommen werden?
Wenn nun auch alles meiner Ansicht nach darauf hinzuweisen
schien, daß die ausgehustete Flüssigkeit im großen und ganzen
nichts anderes ist als das Exsudat der Pleurahöhle, so war ein-
mal offenbar die Schwierigkeit, den Weg, den diese Flüssigkeit
nahm, zu finden, mit schuld daran, daß der so naheliegenden Auf-
fassung von einer Entleerung der Pleuraflüssigkeit nach oben der
gebührende Platz eingeräumt wurde. Man suchte nach einem Loch
in der Lunge. Nun erleben wir so oft Verletzungen der Lunge bei
bestehendem Erguß, sei es bei der Punktion oder z. B. nach einer
Schußverletzung. Wir wissen, daß diese Offnungen schnell verlegt
werden und heilen, ohne daß jemals durch eine solche kleine Öff-
nung, wie sie der Trokar doch nur hervorruft, so schnell so viel
Flüssigkeit durchtritt, wie es bei der serösen Expektoration der
Fall ist. In jedem Augenblick könnte ein kleines Fibringerinnsel
die Öffnung schließen. Zudem würde zumal bei ausgiebigen Punk-
tionen, die ja für das Zustandekommen des uns hier interessierenden
Ereignisses angeschuldigt sind, das Niveau der zurückbleibenden
Flüssigkeit doch unterhalb der gesetzten Stichöffnung liegen, nur im
Liegen würde also Flüssigkeit hindurchtreten können. Man hat nun
I. Zwischenfälle bei der Thorakocentese etc. 331
aber doch nach dem Loch in der Lunge gesacht und hat es nicht ge-
iiinden. Scriba gibt an: „An der Oberfläche der Lunge ist weder bei
genauem Suchen, noch beim Aufblasen eine Verletzung zu entdecken
Auch in meinem Fall konnte ein Loch in der Lungenpleura nicht ge*
fanden werden; es könnte ja freilich so klein gewesen sein, daß
es nur beim Aufblasen der Lunge unter Wasser zu entdecken
war. Ich meine jedoch, daß diese beiden negativen Befunde zu-
sammen mit den eben wiedergegebenen Erwägungen genügen, den
Gedanken, daß die Pleuraflüssigkeit, wenn sie durch die Lunge
tretend die seröse Expektoration hervonuft, ein Loch der Lunge
dazu benutzt, als etwas absurd erscheinen zu lassen. Entsteht
nach Durchbruch einer Kaverne ein Seropneumothorax und kommu-
niziert die Kaverne mit einem Bronchus, so sind die günstigsten
Verhältnisse für einen Flüssigkeitsdurchtritt geschaffen und es müßte
in jedem solchen Falle zur albuminösen Expektoration kommen,
was ja bekanntlich nicht der Wirklichkeit entspricht. Überhaupt
wäre es doch damit nicht einfach abgetan, daß ein Loch in der
Lunge entsteht, sondern da die Flüssigkeit so schnell nach der
Punktion entleert wird, müßte die Öffnung mit einem Bronchus
in Verbindung stehen. Diese Forderung braucht aber nicht er-
hoben zu werden, wenn wir annehmen, daß das Exsudat durch die
ganze freie Oberfläche der belasteten Lunge schnell durchtritt. Auf
diesen Punkt komme ich später noch einmal.
Ist das nun möglich, ist es denkbar, daß in ganz kurzer Zeit
so viel Flüssigkeit, wie bei der serösen Expektoration entleert wird,
durch die, sagen wir einmal zunächst normale Pleura pulmonalis in
die Bronchien gelangen, resorbiert werden kann ? Daß sogar feste
Partikel den umgekehrten Weg in ganz kurzer Zeit zurücklegen,
haben uns frühere Untersucher und in letzter Zeit Grawitz^)
wieder gezeigt, der beobachtete, daß Kohlenstaub, Zinnober bei
Kaninchen in die Trachea gebracht, schon nach 24 Stunden in der
Pleura costalis wieder zu finden sind, wenn in Pleura und Lunge
normale Verhältnisse vorliegen. Grober^) hat eine ausgezeichnete
Studie über die Eesorptionskraft der gesunden und kranken Pleura
geliefert und viele Versuche mit intrapleuralen Injektionen an-
gestellt. Naturgemäß verfolgte er den unter normalen Verhält-
nissen bevorzugten Lymphweg anatomisch, auch kam es ihm weniger
darauf an, die Schnelligkeit, mit der die Resorption in der Pleura
1 r Berl. klin. Woch. 1897 Nr. 29.
2) Beitr. z. patbolog. Anat. n. allgem. Pathol. Bd. 30 1901.
332 XVIII. Waldvogel
vor sich gehen kann, in den Vordergrand zu stellen. Far unsere
Zwecke sind in den von ihm beigebrachten zahlreichen Yersuchs-
protokollen die im Pleuraraum befindlichen Flflssigkeitsmengen zu
klein, zudem müssen wir den uns durch unsere klinischen Be-
trachtungen gewiesenen Weg durch die Lunge ausnehmend berück-
sichtigen. Immerhin zeigt sein Versuch 12, wie schnell die Re-
sorption vom Pleuraraum aus bewerkstelligt werden kann. Es
wurden einem sehr großen Kaninchen unter allen Vorsichtsmat-
regeln 40 ccm Aqua dest. in die rechte Pleurahöhle injiziert,
15 Minuten später, nachdem das Tier kein Zeichen von Dyspnoe
geboten hatte, wird es getötet. Die Präparierung des Thorax
wird äußerer Umstände wegen erst 40 Minuten nach eingetretenem
Tode beendet. In der rechten Pleura finden sich 0,9 klare wasser-
helle Flüssigkeit, in der linken 1,0 ccm. Beide Lungen nicht atelek-
tatisch. Ich glaube, wir können aus diesem Versuch schließen,
daß annähernd 40 ccm in 15 Minuten glatt resorbiert sind, ohne
daß die Atembewegungen wesentlich beschleunigt waren.
Meine eigenen Versuche bestätigen das durchaus, es kam mir
ja vor allem darauf an zu erfahren, wie schnell im Pleuraraum
befindliche Flüssigkeit sich ohne spezielle Diflferenzierung der Wege
in den Lungen nachweisen läßt. Meine Versuche, mehr auf patho-
logische Verhältnisse gerichtet, bedurften daher auch nicht großer
Kautelen, sie erscheinen bei der einfachen Fragestellung vielleicht
zu einfach, geben aber über die Schnelligkeit der Resorption in
die Lunge hinein genügende Auskunft, zumal es Vorversuche
sind. Ich injizierte mittels 10 ccm fassender Spritze wässerigre
Eosinlösung. Die herausgenommenen Lungen wurden säuberlich
abgespült, erst mit Wasser, dann mit verdünntem Alkohol und
dann jede für sich in 50 ccm verdünnten Alkohol extrahiert; es
wurden nur 5 — 6 pfundige Kaninchen zu den Versuchen verwandt^
eingespritzt wurde die Eosinlösung in die rechte Thoraxhälfte.
Vers. 1. 100 ccm injiziert, Tod nach 2^/«, Stunden, starke Dyspnoe.
Zurückgewonnen 50 ccm. Alkoholau9zug aus der rechten Lunge mittel-
stark geförbt durch Eosin; aus der normalen nicht.
Vers. 2. 100 ccm injiziert, getötet nach ^/^ Stunde, zurück 25 ccm.
Alkoholische Eosinlösung dunkelrot; Alkoholauszug aus der normalen
Lunge farblos.
Vers. 3. 4 ccm 1 ^JQige Arg. nitr. -Lösung vor 24 Stunden injiziert
Eosinlösung 30 ccm eingespritzt. Tod in 5 Minuten. Nichts zurück-
gewonnen, fibrinöse Verklebungen. Alkoholisches Lungenextrakt stark
eosin haltig.
Vers. 4. 3 ccm 1 %ige Arg. nitr.-Lösung vor 14 Stunden injiziert.
L Zwischenfälle bei der Thorakocentese etc. 333
50 ccm EosinlÖBung eiDgespiitzt, Tötoog nach 30 Minuten, zurückgewonnen
25 ccm, viel Fibrin. Alkoholauszug schwach durch Eosin gefärbt.
Diese Vorversuche zeigen, daß bei gi'oßem Druck, auch wenn
reichlich frische Entzündungsprodukte vorhanden sind, die Auf-
nahme von Flüssigkeit ohne korpuskulare Elemente sehr schnell
vor sich gehen kann, ho daß die Aufnahme der Pleuraflüssigkeit
bei der expectoration albumineuse in den beobachteten Zeiträumen
durchaus nichts Wunderbares hat. Es bestanden in diesen Ver-
suchen keine Verletzungen der Lunge. Bei einem 5. Versuch injizierte
ich eine Flüssigkeit mit korpuskularen Elementen, eine l^^/oige
Lösung von essigsaurem Blei hatte kohlensaures Blei bei zwei-
tägigem Stehen an der Luft ausfallen lassen.
Vers. 5. Einem Kaninchenbock (6 Pfd. schwer) am 6. März 1906
2 ccm einer 0,5 ^/^igen Arg. nitr.-Lösung in die rechte Pleurahöhle injiziert,
danach keine Elrankheitssymptome. Am 8. März dasselbe mit demselben
Effekt. Am selben Tage 6^/^ Uhr 50 ccm einer 1 %igen Plnmbum aceticum-
Lösung injiziert, Dyspnoe, um 7 Uhr wieder 20 ccm, 7'/^ nochmals
20 ccm. Kompression der gesunden Thoraxbälfte 8 Uhr 20, danach.
Tod unter Erstickungszeichen. In der rechten Thoraxhälfte noch 20 ccm
blntig tingierter Flüssigkeit, rechte Lunge mit dicken weißen Belägen
fleckweise bedeckt. Ganz oberflächliche, kleine Einstichöffnnng der
Pleura. Lunge sinkt im Wasser unter, fühlt sich etwas kousistenter an.
Sorgsames Abspülen. Einlegen in Schwefelwasserstoffwasser, Alkohol-
zusatz, Einbettung in Paraffin. Mikroskopisch : Schwarze Schwefelblei-
massen ungleich verteilt, auch in der Wand einzelner Bronchien mittlerer
Dimension, viel in der der Alveolen, Epithel meist verloren, im freien
Lamen intakter Bronchien keine schwarzen Massen mit Sicherheit er-
kennbar.
So zeigten diese Vorversuche an Kaninchen, daß nicht allein
klare Lösungen, sondern auch trübe mit Bodensatz trotz des Vor-
handenseins von Produkten intensiver Entzündung ziemlich schnell
bis an die Oberfläche von Alveolen und Bronchien vordringen
können. Ich hatte für diese Versuche ziemlich viele Kaninchen
verwandt, sie gingen meist nach ziemlich kurzer Zeit an der intra-
pleuralen Injektion von Arg. nitr. zugrunde. Einmal wegen dieser
Empfindlichkeit, dann aber auch, weil die Injektionen bei ihnen nie
Husten auslösten, der für das Zustandekommen der serösen Ex-
pektoration von Bedeutung sein konnte, ging ich jetzt zu Ver-
suchen au Hunden über und zwar nach den Vorversuchen mit
dem bestimmten Vorsatz durch Erzeugung von Exsudaten in beiden
Pleurahöhlen und Auslösung großer Druckdifl'erenzen eine seröse Ex-
pektoration herbeizuführen. Gleich der erste Versuch gelang mir
in Erstaunen erregender Weise.
334 XVIII. Waldvoobl
Vers. 6. Einem kleinen Hände am 15. März 2 ccm 0,5%iger Argentom*
nitr.-Lösung in der rechten Pleurahöhle injiziert. Hasten, leichtes Un-
wohlsein, am 19. dasselbe links, kein Husten, 1 Tag Kranksein, dsmn
ganz gesund. Am 23. wieder rechts 2 ccm 0,5 ^If^iger Arg. nitr. -Lösung in
die rechte Pleurahöhle injiziert, kein Husten, kein ausgesprochenes Erank-
aein. Am 26. 60 ccm einer l^/^igen Bleinitratlösung durch Sohlaacli
und Kanüle ans Trichter einlaufen lassen. Höhe 65 cm, Trichterinhilt
45 ccm, Durchmesser 6,5 cm. Danach starke Schmerzen, Morpbiam-
injektion. Kranksein bei geringer Dyspnoe. Am 28. mit Prayazspritse
14 ccm ziemlich stark bluthaltiger seröser Flüssigkeit an verschiedenen
Stellen aus dem rechten Pleuraraum gezogen. Hund frißt nicht mehr.
Am 29. mit demselben Apparat 1 %ige Plumb. acetic- Lösung in die rechte
Thoraxhälfte laufen lassen. Es läuft zunächst schwer, man sticht an rer-
Bchiedenen Stellen ein, plötzlich schnellerer Abfluß. Aus dem Mtale
entleert sich unter Husten, schon nachdem etwa 20 — 30 ccm eingelaufen
sind, klare sanguinolente schaumige Flüssigkeit in großer Menge, Hund
gleich darauf tot. Sektion ergibt viel blutige Flüssigkeit in beiden Pleura-
höhlen, rechts springt sie beim Offnen des Thorax hervor, hier besteht
hinten an zirkumskripter Stelle eine Verwachsung und knotige, derbe
Infiltration des Lnngengewebes, die Verwachsung läßt sich unter Defekt-
setzen lösen. Beide Lungen an ihrer Oberfläche gerunzelt, rechte Lange
viel schwerer, auf dem Durchschnitt blaß, Odem nur in den unteren
Partien, ein oberflächliches Stichloch im ünterlappen. In Schwefel wasser-
Stoffwasser sofortige Schwarzfärbung der Durchschnittsflächen.
Ich war von dem Erfolg dieses ersten Versuchs außerordent-
lich überrascht und ging sofort daran, den Nachweis dafür, daß
wirklich die im Pleuraraum vorhandene Flüssigkeit aus der Trachea
gelaufen sei, auch mikroskopisch zu sichern. Die Schnitte vom
rechten Unterlappen wurden zum Teil unbehandelt, ferner nach
einstündigem Aufenthalt in Schwefelwasserstolfwasser und zum Teil
mit Hämatoxjiin gefärbt angesehen. Es ergab sich folgendes:
Pleura mit starken, zum großen Teil fibrinösen Auflagerungen be-
deckt, Lymphgefäße erweitert, besonders unter der Pleura, angefüllt mit
schwarzen Klumpen von Schwefelhlei und die Wandungen damit im-
prägniert bilden sie ein grobes Netzwerk. Die Alveolen sind mit Blut-
farbstoff enthaltender, durch die Alkoholhärtung geronnener Flüssigkeit
fast alle angefüllt, die blutige Tinktion ist ungleichmäßig verteilt, sehen
makroskopisch unterscheidet man stärker rot gefärbte Partien. Femer
fällt schon makroskopisch das Vorhandensein von größeren Hohlraumes
auf. Ebenso ist die Verteilung des Schwefelbleies nicht gleichmäßig.
In den Alveolen sind die Wände belegt mit den Schwefelbleiklümpchen
enthaltenden geronnenen Massen. Die nicht mit Exsudat gefüllten Al-
veolen sind zum Teil außerordentlich weit. In den Bronchien, auch in
den größten, ist das Epithel inkrustiert mit schwarzen Massen, die ein
feines Netzwerk von Schwefelblei aufweisenden G-erinnsel liegen im freien
Lumen eines großen Bronchus. Die Kernfärbung ist überall gelungen.
I, Zwischenfall« bei der Thorakocentese etc. 335
Es spricht also mikroskopisch für das Durchtreten der Pleura-
flüssigkeit in die Luftwege das Gerinnen der Flüssigkeit in Alveolen
und Bronchien durch Alkohol, der Blutgehalt dieser Flüssigkeit —
auch die Pleuraflüssigkeit war blutig — last not least das Schwefel-
blei in den Wandungen und im Lumen von Alveolen und Bronchien.
Dieser Versuch, so beweisend er für die Möglichkeit des Durchtrittes
eines Pleuraexsudates in die Luftwege ausfiel, ahmte die Verhält-
nisse bei der menschlichen expectoration albumineuse deswegen nicht
ganz nach, weil er zu schnell verlief, die Flüssigkeit in zu großen
Mengen durchtretend den Erstickungstod zu akut herbeiführte. In-
struktiver ist daher der zweite.
Vers. 7. Einem Affenpinscher am 29. März in die rechte Pleura-
höhle 2 ccm 0,5 ^/"^ ige Arg. nitr.-Lösung injiziert, danach Husten, am
2. April dasselbe links, danach kein Husten. Am 6. April rechts 2. In-
jektion, Hund danach munter, hustet bei Anstrengungen, beim Fressen,
Dicht nach der Einspritzung. Am 9. April läßt man in die rechte
Thoraxhälfte 80 ccm einer 1 ^/^igen Bleinitratlösung einlaufen (Trichter,
Schlauch und Kanüle wie im Vers. 6), Kurzatmigkeit, wenig Schmerz,
Hasten bei Nahrungsaufnahme. 11. April: Hund stark dyspnoisch,
Hastenanfalle. Bei 7 maliger Punktion der rechten Pleurahöhle mit
Pravazspritze bekommt man nur wenig stark bluthaltige Flüssigkeit.
13. April abends 7 Uhr Hund sehr widerstandsfähig, 80 ccm 1 %iger Blei-
acetatlösung laufen langsam in die rechte Thoraxhälfte, Kurzatmigkeit
and Husten wie vorher. 13. April nachmittags 5^^ XJhr Probepunk-
tionen rechts und links, links erhält man ganz wenig sanguinolente
Flüssigkeit, mikrosk. mäßig Leukocyten enthaltend. 14. April abends
7 Uhr 80 ccm Bleinitratlösung rechts einlaufen lassen, dabei starkes Tracheai-
rasseln, das aber gegen das Ende der Infusion abnimmt. Hund läuft
umher, hustet in der Nacht in lang dauernden schweren Anfällen wie
nie vorher, stirbt morgens 7*/^ Uhr. Beide Thoraxhälften sind angefüllt
mit stark blutiger Flüssigkeit, rechts 150 ccm, links 120, starke Ver-
wachsungen hinten rechts, Yerklebungen überall, auch links. Rechts stärkste
Auflagerungen, mehrere Stich kanäle mit oberflächlichen, blutigen Infar-
zierungen. Bei Eintauchen in Schwefelwasserstoffwasser in den großen
Bronchien rechts große schwarze Flecke, ganze Schnittfläche des rechten
Unterlappens schwarz. Mikroskopisch gleicht das Bild dieser Lunge im
ganzen dem der ersten, es fehlen die erweiterten Lymphgefäße, in den
mehr angefüllten Alveolen waren massenweise rote Blutkörperchen und
einzelne Leukocyten zu differenzieren.
Der dritte positive Versuch verlief folgendermaßen :
Einem Terrier am 5. Juni 2 ccm 0,5% ige AgNOjj-Lösung injiziert
in die rechte Thoraxhöhle, kurzer Hustenstoß, Erbrechen, keine Schmerzen.
Am 11. Juni dasselbe links, kein Husten, Erbrechen, Wohlbefinden.
14. Juni rechts 2 ccm der Höllensteinlösung intrapleural injiziert, da-
nach keine Erscheinungen; am 18. Juni wieder dasselbe links, frißt^
336 XVIIL Waldvogel
Wohlbefinden. Am 21. läßt man durch beschriebenen Trichter und
Schlauch 54 ccm einer 1 ^/^igen Bleinitratlösung einlaufen in die rechte
Pleurahöhle, Schmerzen mäßig, Erbrechen, Appetit nimmt ab. Am
25. Juni zog ich aus der rechten Pleurahöhle mit Pravazspritze 45 ccm
seröser, stark bluthaltiger, bald stark koagulierender Flüssigkeit, links
bekam ich nur wenige Tropfen. Am 26. abends 7 Uhr läßt man rechts
105 ccm einer 1 ^|^^igeu Lösung von essigsaurem Blei durch Trichter und
Schlauch einlaufen, Dyspnoe wird etwas stärker, kein Husten, gegen
9 Uhr werden mit 6 ccm fassender Punktionsspritze etwa 20 ccm rechts
wieder herausgezogen, stärkere Blutbeimischung hindert an der Fort-
setzung, kein Husten. Am 27. Juni mittags 12 Uhr sticht man die Kanüle
in den linken Pleuraraum, doch läuft aus dem mit 45 ccm 1 ^l^iger Lösung
von essigsaurem Blei gefällten Trichter nur ganz wenig unter Hosten-
stoßen ab, dann hört der Abfluß auf. Der bei den ganzen vorhergehenden
Prozeduren auf der rechten Seite nie aufgetretene, jetzt aber ausgelöste
Husten erweckte in mir sofort die Hoffnung, daß dieser VersDch ge-
lingen würde, ich stach die Kanüle in einen anderen Zwischenrippen«
räum, die Flüssigkeit aus dem Trichter floß langsam ab, die Luftröhre
füllte sich unter Husten, dann starkem Rasseln; nach 10 Minuten, so
lange dauerte das Einlaufen der Bleilösung, war der Hund erstickt und
blutige, schaumige Flüssigkeit lief aus dem Maul. Wir konnten sie auf-
fangen, ihre Menge betrug 10 ccm, ihr Blutgehalt stimmte makroskopiscb
völlig mit dem des Pleuraexsudats ans der linken Thoraxhälfte überein.
Der Eiweißgehalt der aus dem Maul gelaufenen Flüssigkeit betrug nach
Esbach bei einer Verdünnung auf das 11,5 fache 2,3 p. m., ganz den
gleichen Eiweißgehalt unter denselben Verhältnissen fand ich in der
Flüssigkeit aus der linken Pleurahöhle. Der Gefrierpunkt der beiden
Flüssigkeiten stimmte nicht überein, für die aus der Luftröhre gelaufene
war J = 0,38, für die der Pleurahöhle bei der Sektion entnommene 0,91.
Wir dürfen aus diesem Unterschied der molekularen Konzentration
wohl schließen, daß bei dem Durchfluß durch die Lungen Bleisalze zu-
lückbehalten sind. Nach Veraschung der aus dem Maule entleertei)
Flüssigkeit und Ausziehen der Asche mit Salpetersäure, entsteht bei
Natronlaugezusatz ein weißer Niederschlag, der im Überschuß löslich
ist. Aus dieser Lösung fällt Kaliumchromat gelben Niederschlag. Bei
Zusatz von Schwefelammon zur salpetersauren Lösung entsteht
Schwefelblei. Es war also in der aus den Luftwegen entleerten
Flüssigkeit mit Sicherheit Blei nachgewiesen. Bei der Autopsie
des Hundes enthielt die linke Pleurahöhle 170 ccm der blutigen
Flüssigkeit, es bestanden geringe leicht lösliche Verwachsungen,
die rechte Thoraxhälfte war sehr stark mit hämorrhagischem
Exsudat angefüllt, Verdickungen und Verwachsungen befanden sich
hier in großer Ausdehnung. Ich unterband Trachea und rechten
Bronchus doppelt und löste die linke Lunge mit Luftröhre und
Bronchus heraus. Der linke Unterlappen war voluminöser als der
I. Zwischenfall bei der Thorakocentese etc. 337
Oberlappen, stark schaumige Flüssigkeit haltend, beim Betasten
schwappend, sein Pleuraüberzug zeigte eine kleine Stich Verletzung,,
an die sich ein kleiner pulmonaler Bluterguß anschloß. Nach etwa
24 stündigem Aufenthalt des Präparats in Schwefelwasserstoff ent-
haltendem Alkohol waren die Schnittflächen des linken Unterlappens
schwarz, die abgebundene Trachea und der linke Bronchus ent-
hielten durchfühlbare Gerinnsel. Herr Prof Borst, dem ich bestens
danke, hatte die Freundlichkeit, das Präparat genau zu unter-
suchen, er schreibt:
Das zur Untersuchung überwiesene Präparat stellt die linke Lunge
eines Hundes dar, zusammenhängend mit den großen Bronchien und der
Trachea. Die Trachea, sowie der rechte Hauptbronchus, sind unter-
banden, eine blauschwärzliche Masse schimmert als Inhalt dieser Teile
durch. Der Oberlappen der linken Lunge zeig^ eine weißliche, mit
födigen Auflagerungen versehene Pleura, die nur an einigen Stellen
Bchwarzbräunlich verförbt ist. Der Oberlappen ist lufthaltig, der Unter-
läppen Yergrößert, die Pleura teils grauweißlich, teils diffus braunschwarz
verfärbt. Das Parenchym fühlt sich fest an und zeigt einen geringeren
Lnftgehalt als der Oberlappen. Auf dem Durchschnitt durch den letz-
teren zeigen die sämtlichen durchschnittenen Bronchien eine schwärzliche
Schleimbaut, außerdem sieht man zerstreute kleine schwärzliche Flecken
im Parenchym. Der Unterlappen zeigt bezüglich der Bronchien die-
selben Verhältnisse, aber die schwärzliche Fleckung des alveolären Paren-
ehyms ist hier viel stärker, die Flecken größer und vielfach konfluierend.
Im Bereich derselben erscheint das Lungenparenchym vielfach weniger
lufthaltig als dazwischen gelegene Stellen, welche eine annähernd nor-
male Farbe des Lungenparenchyms zeigen. Das ganze Präparat lag in
Alkohol.
Mikroskopische Präparate zeigen eine schwärzliche Imprägnation
der Alveolar- und Bronchial wände, ferner der Wandungen der Blutgefäße
und des Bindegewebes der Pleura. In den Alveolarwandungen sind es
vor allem die Kapillargefäße, welche die Imprägnierung mit schwarzen
Körnern zeigen. Dabei hat man allerdings den Eindruck, als ob die
schwarzen Kömer den Kapillaren aufgelagert waren, daneben kommen
aber auch Kapillaren reichlich vor, deren Wand einen diffusen schwarz-
bräunlichen Farbenton zeigt, ohne daß Körnchen vorhanden waren. Viel-
fach bilden die schwarzen Kömer durch Konfluenz rosenkranaartige, einem
verzweigten Korallenstock ähnliche Figuren. Auffallend sind schwarz-
gefärbte Zellen, welche frei im Lumen der Alveolen liegen. In den
Wandungen der Alveolen liegen häufig ganz schwarzgefärbte Kerne. Im
Bereich der schon bei der makroskopischen Betrachtung luftleer erscheinen-
den Stellen sind die Alveolen, Alveolargänge und Bronchiolen mit roten
Blutkörperchen ausgefüllt. Die Wandung kleinerer Gefäße und Bronchien
ist ebenfaUs an vielen Stellen diffus schwärzlichbraun gefärbt. Vielfach
haben die einzelnen Bindegewebsfibrillen den schwarzbraunen Farbenton
angenommen. In den großen Bronchien liegt dem Epithel innen ein oft
beträchtlich breiter schwarzer Saum auf. Soweit der Befund am unge-
Deattches AroUv für kUn. Medizin. 89. Bd. 22
338 XVm. Waldvogel
färbten Präparat des Unterlappens. An Präparaten, die mit essigsaurem
Alannkarmin getärbt waren und die den pigmentierten Teilen des Ober-
lappens entstammen, zeigt eich eine nur sehr geringe, hier mehr gelblich*
braune Pigmentierung der Alveolarwände, auch die Bronchien sind aus-
nahmslos pigmentiert und zwar liegt die größte Masse des Pigments wiederum
an der inneren Oberfläche der Bronchien wie ausgegossen. Das hier be-
findliche katarrhalische Sekret ist ganz braun gefärbt, jedoch finden sich
in der Bronchialschleimhaut selbst allerdings nur in sehr geringem Um-
fange Ablagerungen des Pigments. In der Pleura liegt das Pigment zum
größten Teil auf der Oberfläche, zum geringeren in den tieferen Schichten
des pleuralen Bindegewebes. Eine besondere Beziehung der Pigment-
ablagerung zu den Lymphgefäßen der Lunge und der Pleura laßt sich
nicht feststellen. Die Blutgefäßwände zeigen in den gefärbten Präparaten
des Oberlappens keine Imprägnation.
Sind nun auch die Wege, welche das Pleuraexsudat bei seinem
Durchtritt durch die Lunge genommen hat, durch die anatomischen
Untersuchungen noch nicht genügend klargestellt, so ist es doch
gelungen, durch diese Versuche eindeutig nachzuweisen, daß man
Pleuraflüssigkeit aus den oberen Luftwegen entleeren kann, und
wir sind daher berechtigt, in diesen Versuchen eine Bestätigung
der an der Hand der vorhergehenden klinischen Betrachtungen
gewonnenen Anschauung zu finden, daß bei der serösen Expekto-
ration der Patient sein Pleuraexsudat aushustet. Noch bemerkens-
werter aber erscheint es, daß in diesen Versuchen Verhältnisse nach-
geahmt sind, die nach unseren vorausgesandten klinischen Feststel-
lungen als die eine Expectoration albumineuse begünstigende Momente
angesehen werden müssen, nämlich vorwiegend die intensive Be-
lastung und schlechte Ausdehnungsfähigkeit der Lungen. Als weitere
mitwirkende Ursache haben wir früher die Schwäche des rechten
Ventrikels aufgeführt, es wird daher notwendig sein, bei der Fort-
setzung solcher Versuche auf diesen Faktor durch mikroskopische
Untersuchung des Herzens mehr Eücksicht zu nehmen. Immerhin
ist es durchaus wahrscheinlich, daß auch in meinen Tierversuchen
bei der starken AnfüUung der Pleurahöhlen und dem toxischen Einflufi
des Bleies das rechte Herz mangelhaft funktioniert hat Zudem ist
hervorzuheben, daß alle an Expektoration des Pleuraexsudats zugrunde
gegangenen Versuchstiere mehr oder weniger schwer krank waren
infolge der voraufgehenden Prozeduren, fast keine Nahrung zu sich
nahmen. Wir sehen also, daß eine Eeihe von Zuständen das Zustande-
kommen der serösen Expektoration begünstigen, was aber löst sie
aus? Ich habe schon in den Versuchsprotokollen hervorgehoben, daB
Hustenstöße die Szene eröffneten ; aber gegen den Husten als das
auslösende Moment wird sich einwenden lassen, daß er erst eine
I. Zwischenfall bei der Thorakocentese etc. 339
Folge des Übertritts der Pleuraflüssigkeit in die Alveolen sei und
man wird, da ich ja durch zufließende Flüssigkeit den Druck im
Pleuraraum in die Höhe trieb, diese Druckzunahme als die alleinige
Ursache des Übertritts von Pleuraexsudat in die Luftwege ansehen
wollen. Gegen diese Anschauung, die ja auch für die Pathologie
der menschlichen Expektoration nicht in Betracht käme, kann ich
nun Versuchsresultate anführen.
9. Vers. Junger Terrier. 21. April 2ccmO,5 %ige AgNOj -Lösung in
rechte Pleurahöhle, Wohlbefinden, 23. links daseelbe, Husten etwa 1 Tag,
dann Wohlbefinden. 26. April wie am 2L, Wohlbefinden. 29. 200 com
1 ^'q Bleinitratlösung laufen rechts glatt ein ; kein Husten ; Schmerzen.
30. Exitus langsam ohne Husten eintretend. In beiden Pleurahöhlen
keine Flüssigkeit, links nahe dem Herzen einige Yerklebungen. Die rechte
Lunge wird wie die aus den positiv verlaufenden Yersuchen in Alkohol
mit HgS gelegt, man sieht mikroskopisch nur große Bleischollen im
Bindegewebe.
10. Vers. Pinscher. 3. Mai rechts 75 ccm Bleinitratlösung (1 %) in
die rechte Pleurahöhle laufen lassen. Wohlbefinden, kein Husten. 5. Mai
rechts mit Pravazspritze ganz wenig sanguinolente Flüssigkeit gewonnen.
Hund frißt nicht. Links 90 ccm Bleinitrat einlaufen lassen, etwas Husten
danach. 7. Mai links mit Pravazspritze 8 mal angezogen, keine Flüssig-
keit gewonnen. Becbts 200 ccm Bleinitratlösung einlaufen lassen, Flüssig-
keit läuft zuerst nicbt^ dann schnell, dabei Husten, zunehmende Dyspnoe,
Tod nach ^/^ Stunde ohne jeden Husten. Kurz vor dem Tode oft mit
Pravazspritze angesogen rechts und links, rechts einige ccm hämorrhagi-
schen Exsudats erhalten.
11. Vers. Terrier. 25. Mai 60 ccm Pb(NOjj)g in rechte Pleura-
höhle laufen lassen, kein Husten, Erbrechen, Schmerz, Freßlust geringer.
29. Mai 90 ccm Bleilösung links einlaufen lassen, in den nächsten Tagen
starke Dyspnoe, Erbrechen nach der Nahrungsaufnahme. 2. Juni rechts
großer Weichteilbluterguß durch Plenrafistel, 50 ccm einlaufen lassen,
Husten, etwas schaumige Flüssigkeit entleert. 4. Juni langsamer Tod
an Erstickung.
Ans diesen ohne Aushusten des Plenraexsudates verlaufenen
Experimenten läßt sich also einmal schließen, daß das schnelle An-
steigen des intrapleuralen Druckes in meinen Versuchen den über-
tritt von der Pleura in die Luftwege nicht ausgelöst hat, 200 ccm
Flüssigkeit ließ ich auf einmal einfließen, während in den erfolg-
reich verlaufenen nie eine so starke Drucksteigerung herbeigeführt
wurde. Aber auch die plötzliche Senkung des Druckes in der
Pleurahöhle, die man, wie ich schon anführte, wohl mit Unrecht
vom klinischen Standpunkt als die Ursache der serösen Expekto-
ration angesehen hat, löste in meinen Versuchen keinen Übertritt von
Pleuraflüssigkeit in die Lunge aus. Sind nun auch in diesen resul-
22*
340 XVIir. Waldvogel
tatlos verliaufenden letzten Versuchen und in den zwei ersten
positiven die aus dem Pleuraraum abgesogenen Flüssigkeitsmengen
zu gering, um einen Zusammenbang zwischen schneller EntleeroDg
und expectoration albumineuse leugnen zu können, so verweise ich
doch besonders auf den dritten positiven Versuch (8), in dem ich
durch Absaugen von 45 ccm mit der Pravazspritze keine Expektoration
erzielte, während nach 2 Tagen durch Einlaufenlassen von 45 ccm
in die andere Thoraxhälfte der Exitus an albuminöser Expekto-
ration herbeigeführt wurde; die Flüssigkeit trat aber schon gleich
mit Beginn des Einlaufens in die Luftwege über. Es liegt ja so
nahe, zu glauben, daß dieselben Kräfte, welche bewirken, daß man
nach einfacher Probepunktion ein mäßiges Exsudat schnell ver-
schwinden sieht — ich selbst erinnere mich eines Falles, in dem ich
nach Flüssigkeit fördernder Probepunktion 24 Stunden später bei
einem Kinde mit dem Trokar kein Exsudat entleeren konnte und
eine Dämpfung, die bis zum unteren Winkel der Skapula reichte,
wesentlich aufgehellt fand — daß also diese Kräfte auch bei der
serösen Expektoration im Spiele sind, vorläufig aber ist es mir
nicht gelungen, sie durch Absaugen von Flüssigkeit aus der Pleura-
höhle zu erzeugen.
Sind wir also nicht ohne weiteres berechtigt den Wechsel der
Druckverhältnisse in der Pleurahöhle allein als auslösendes Moment
der expectoration albumineuse anzusehen, so kommen wir notgedruDgen
wieder auf den Husten zurück, der ja in meinen Tierversuchen im ße-
ginne des Übertrittes von Pleuraflüssigkeit in die Lunge stets auftrat
Nun ist aber auch im Versuch 10, der nicht mit Expektoration endete.
Husten notiert, ohne daß die Luftwege voll liefen. Diesen Versuch
hatte ich in der Absicht unternommen, zu zeigen, daß, wenn die
Bedingung der lange die Lungen belastenden Exsudate nicht eifollt
ist, auch der Husten die seröse Expektoration nicht zustande bringt
Das ist uns ja eine klinisch geläufige Tatsache, aber der Versuch
bleibt darum nicht minder instruktiv. Auch im 11. Versuch war
Husten beim Einlaufenlassen der Bleilösung in den Thoraxraum
bemerkbar, es wurde sogar etwas schaumige Flüssigkeit entJeeit
Der Versuch wäre daher auch wohl sicher positiv verlaufen, wenn
der Allgemeinzustand und der der Lungen entsprechend verändert
gewesen wären, doch folgen auch hier wie im Versuch 10 die ein-
zelnen Maßnahmen zu schnell aufeinander. Die Vorbehandlung mit
Argentum nitricum fiel aus, die Zeit von Beginn des Versuches bis
zum Exitus ist kurz ; also auch hier fehlt die Bedingung der langen
intensiven Lungenbelastung. Dieser Versuch ist wohl als ein
I. Zwischenfall bei der Thorakocentese etc. 341
Paradigma für die zur Genesung führenden Fälle von menschlicher
Expektoration anzusehen. Sind also diese Versuche nicht imstande
uns von der Annahme abzubringen, daß der Husten als auslösen-
des Moment für die seröse Expektoration in Betracht kommt, so
entsteht die Frage, „wie wirkt er?" Offenbar durch den starken
Druckwechsel in den Luftwegen selbst, dem die vom Flüssigkeits-
druck und durch toxische Ursachen unelastisch gewordene Lunge
nicht mehr folgen kann, so daß, wenn beim Sinken des Druckes
während des Hustens die Lunge nicht schnell folgt, das schwache
rechte Herz die Geföße nicht füllt, Flüssigkeit durch Überdruck im
Pleuraraum eingetrieben wird.
Ich glaube durch die klinischen Erwägungen, welche ergaben,
daß die ausgehustete Flüssigkeit wohl Pleuraexsudat ist, daß zum
Zustandekommen der serösen Expektoration langer intensiver Druck
auf die Lungen eventuell Schwäche des rechten Ventrikels not-
wendig sind, daß ein großer Teil der Erklärungsversuche für dies
immerhin seltene Phänomen der Kritik nicht standhalten, und durch
die Ergebnisse meiner Versuche, welche dartaten, daß sich Pleura-
flüssigkeit unter gewissen, den aus klinis(*.hen Beobachtungen ab-
geleiteten sehr ähnlichen, Bedingungen durch die Lunge aus den
oberen Luftwegen entleeren läßt, dem Verständnis vom Wesen der
expectoration albumineuse wesentlich näher gekommen zu sein. Dem
etwa zu erhebenden Einwand, daß man ja dann die Abnahme des
Exsudats in der Pleurahöhle hätte klinisch feststellen müssen, kann
ich wohl mit dem einfachen Hinweis auf die Schwierigkeiten solchen
Nachweises entgegentreten ; schon die Schwartenbildung, die Atelek-
tase der Lunge würden es unmöglich machen, das Verschwinden von
IV2— 2 1 Flüssigkeit in 24 Stunden z. B. aufzudecken. Für die
Verhütung der albuminösen Exspektoration kämen also Früh-
punktion, Unterdrückung des Hustens durch Verabreichung von
Narcoticis vor der Punktion und Excitation des Herzens in Be-
tracht, die letzten beiden Verfahren müßten auch bei der Behand-
lung versucht werden.
Aus der medizinischen Universitätsklinik za Göttingen
(Direktor Geheimrat Ebstein).
n.
Zur Pathogenese der Fettsucht
Von
Privatdozent Dr. Waldvogel^
Oberarzt.
Während die früheren Autoren, welche die Fettsucht zu ihrem
Studium machten, verschiedene Arten der Entstehung gelten ließen,
sich zunächst mehr stützend auf klinische Beobachtungen, hat
Ebstein^) uns, dem Pfade der normalen Physiologie zur allgemelDeu
Zellphysiologie folgend, nur einen Weg zur Erkenntnis der Entstehung
pathologischer Fettanhäufung gewiesen, den ins Protoplasma. Es
bedarf ja nun gewiß keiner weiteren Erörterung, daß damit nicht
alle bisher geltenden Anschauungen über die Ursachen der Adipositas
einfach beseitigt sind, daß aber, wenn wirklich die von Ebstein
zunächst mehr auf klinische und pathologisch-anatomische Tat-
sachen basierte Anschauung, daß „es sich bei der Fettleibigkeit um
eine krankhafte Beschaffenheit des lebendigen Eiweißmoleküls im
Sinne Pflüger's bzw. des Biogens Verworn's handelt, wodurch
eine regelrechte Verarbeitung des eingeführten Nährmaterials hini-
angehalten wird", durch exakte Stoffwechseluntersuchungen ge-
stützt wird, wir dann die mangelhafte Bewegung, die vermehrte
Nahrungsaufnahme, die Kastration, die Anämie mehr als die Krank-
heit auslösende Faktoren anzusehen haben, als daß wir sie allein
für die Anhäufung des Fettes verantwortlich machen. Gerade der
Umstand, daß bei einer Beihe von Menschen diese Faktoren un-
wirksam bleiben, muß uns ja darauf hinweisen, daß zu ihnen noch
ein unbestimmtes Etwas hinzukommen muß und dieses Unbekannte
muß in einer Hemmung der oxydierenden und reduzierenden Fähig-
1) Vererbbare celluläre Stoffwechselkrankheiten. Festschr. f. König. Stutt-
gart 1902.
Zar Pathogenese der Fettsucht. 343^
keiten des gesamten Zellkomplexes gegenüber den Fettsubstanzen
gesucht werden.
Wie kann nnn die pathologische Chemie diese vorläufig mehr
geahnte als exakt begründete Stoffwechselstörang beweisen, wie
hat sie es bislang versucht ? v. N o o r d e n ^) ist gegenüber Hirsch-
feld^) auf Grund sorgfältigster Gewichtsbestimmungen der Nahrung
und des Körpers zu dem Schluß gekommen, daß immerhin seltene
Beispiele gar keine andere Deutung zulassen, als daß die Zer-
setznngsenergie der Zellen geringer ist, als bei normalen Menschen.
Warum sind aber solche positiven Befunde so selten? Einmal
müssen solche Bestimmungen aber eine sehr lange Zeit ausgedehnt
werden und zweitens wirken während dieser laugen Zeitdauer so
mannigfache andere Faktoren, ich nenne nur den Wasserhaushalt,
mit^ daß der Nachweis einer verzögerten Zersetzung der stickstofi-
freien Bestandteile des Körpers sehr erschwert ist. Wie man
sehen wird, bin ich im Grunde genommen denselben Weg gegangen
und nur meine Modifikationen haben den Erfolg gewährleistet.
Der andere Weg, den die Stoffwechselchemie verfolgt hat, um
eine mangelhafte Leistung der gesamten Körperzellen bei der Fett-
leibigkeit zu erweisen, ist entschieden der aussichtslosere, so modern
er sein mag. Ich habe schon früher, als es sich um die Beant-
wortung der Frage handelte, ob beim Diabetes die durch die Eigen-
artigkeit der Acetonkörperausscheidung nahegelegte Oxydations-
störung sich durch Bespirationsversuche, durch eine Abnahme des
respiratorischen Quotienten, erweisen lasse, auf das Unzulängliche
dieses Verfahrens hingewiesen. Der respiratorische Quotient gibt
uns das Verhältnis zweier sehr variabler Faktoren an, die vor
allem beim Fettleibigen leicht beeinflußbar sind. Wir wissen, daß
bei stärkerer Fettablagerung der inspiratorischen Exkursion des
Zwerchfells Hindemisse gesetzt werden, daß die schwachen Muskeln
den Thorax bei der Inspiration nicht genügend erweitern, während
die passive Exspiration glatt vonstatten gehen kann. Was wird
die Folge sein? Es wird wenig 0 aufgenommen, aber genügend
abgegeben, das Defizit wird kleiner, die ausgeatmete COg-Menge
gleiche der des Gesunden, der respiratorische Quotient wächst also
und eine eventuell durch herabgesetzte COj -Produktion bewirkte
Abnahme desselben wird verschleiert. Ferner müssen wir bei Fett-
leibigen mit dem Faktor des Hämoglobinmangels rechnen, es wird
1) Die Fettsucht in Nothnagers Spez. Path. u. Ther. Wien 1900.
2) Über d. Nahmngsbedarf d. Fetüeibigen. Berl. Klinik. Heft 130 1899.
344 XVni. Waldvogel
in einer Zeiteinheit weniger 0 vom Blut gebunden, daher mehr
ausgeatmet, das 0-Defizit wird kleiner, der respiratorische Quotient
größer, eine reine Minderproduktion von COg wird verdeckt
Diese Fehler mögen an sich klein, kaum berechenbar sein, aber es
ist zu bedenken, daß bei der langsamen Entstehung der Fettsucht
mit kleinen Zahlen für die COg-Abnahme gerechnet werden muS.
Betrachten wir ferner die Einflüsse, welche die COg-Ausscheidang
modifizieren können, so wissen wir, daß bei reichlicher Kohlehydrat-
einverleibung der respiratorische Quotient über 1 steigen, in den
Zuständen dagegen, in denen der Mensch vom Fett lebt, auf 0,65
bis 0,50 sinken kann. Nun hat man, um den Einfluß der ErnähroDg
bei Feststellung des Quotienten auszuschalten, z. T. morgens im
nüchternen Zustande untersucht, J a q u e t und S w e n s o n ^) z. B.
12 Stunden nach der letzten sehr leichten Mahlzeit, die entweder
aus Suppe mit einem Stück Brot oder aus 2 Eiern mit Brot and
Milch bestand. Dann lebt der betreffende . Fettleibige natürlich
von seinem Fett, er ist in einer gewissen Inanition und das Auf-
treten von mehr /^-Oxybuttersäure, die zu CO^ und H,0 verbrannt
wird, kann eine Vermehrung der Kohlensäureausscheidung bewirken.
Eine Säuerung des Blutes erhöht die COg-Tension desselben, das
daher mehr Kohlensäure abgibt und wiederum eine Herabsetzung
der oxydativen Energie nicht erkennen läßt
Ich glaube, das sind Gründe genug gegen die Annahme, daß der
respiratorische Quotient uns bei Beantwortung der Frage nach der
Entstehung der Fettsucht wesentliche Dienste leisten könne. Es
können doch wahrscheinlich zudem in den Geweben über lange Zeit
sich hinziehende ganz geringfügige Störungen des An- und Abbaues
vor sich gehen, ohne daß die Atemluft Nachricht von ihnen gibt So
sind denn auch die Respirationsversuche von Magnus-Levy*) eme
Antwort schuldig geblieben, der Autor selbst aber würdigt den Wert
dieser Methode in richtiger Weise, wenn er trotzdem die Möglichkeit
einer konstitutionellen Fettleibigkeit zuläßt. Wenn nun auch
Jaquet und Swenson (1. c.) an der Hand von 0- und CO,-Be-
stimmungen der Atemluft zu dem Resultat gekommen sind, dal
fettleibige Individuen eine evidente Tendenz zur Ersparnis des
ihnen zugeführten Materials besitzen, welche groß genug ist um
ceteris paribus einen gewissen Fettansatz bei denselben zu er-
klären, so schien mir doch die ganze Frage wichtig genug, um sie
von einer ganz anderen Seite in Angriff zu nehmen.
1) Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 41 1900.
2} Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 33 1897.
II. Zur Pathogenese der Fettsucht. 345
Wenn uns die Stoflfwechselstörung bei der Adipositas auf ein
bestimmtes Organ gewiesen hätte, so hätte man die aseptische
Autolyse und zwar die retardierte, wie ich sie benutze, zur Be-
antwortung der Frage, ob bei der Fettsucht eine mangelhafte
Umsetzung des Fettes stattfindet, heranziehen können. Man hätte
fettsaure Salze z. B. mit dem sterilen Lebersaft eines normalen
ond eines fettleibigen Individuums im Eisschrank für einige Mo-
nate aufbewahrt und nach Unterschieden in der Fettbildung ge-
sucht resp. nach den verschiedenen Mengen von /S-Oxybuttersäure,
Acetessigsäure, Aceton die Abbaufähigkeit des gesunden Organs
und des vom Fettleibigen beurteilen können. So aber hat uns
Ebstein an das gesamte Protoplasma verwiesen und es galt die
za oxydierende Substanz möglichst schnell ins Blut überzuführen,
damit sie allen Zellen dargeboten wurde. Von einer direkten
Einspritzung ins Blut sah ich aus verschiedenen Gründen ab und
wählte die subkutane Injektion.
Unsere letzten Untersuchungen haben zu dem Ergebnis ge-
führt, daß die Acetonkörper den Fettsäuren ihren Ursprung ver-
danken, gleichviel ob sie aus Fett, Eiweiß oder Kohlehydraten
hervorgehen. Die niedrigste uns bekannte Oxydationsstufe der
Acetonkörper ist die /y-Oxybuttersäure, sie ist ein starker Aceton-
bildner, ihre Ungiftigkeit für den Menschen hatte ich^) erwiesen.
Wenn es mir also gelang mit den ja zu großer Vollkommenheit
entwickelten Bestimmungsmethoden des Acetons in Urin und Atem-
Ittft nach der Einverleibung eines nicht körperfremden inter-
mediären normalen Stoffwechselproduktes, das zur Fettbildung und
Fettzerstörung in so nahen Beziehungen steht, Unterschiede
zwischen fettleibigen und normalen Menschen aufzufinden, so
schien mir die Frage nach der Entstehung der Adipositas ein
Stück gefördert zu sein. Bei meinen Untersuchungen über die
ox3^dative Leistung des Diabetikers *) hatte mir die Injektion von
j^-oxj-buttersanrem Natron bereits verwertbare Resultate gegeben,
die später von Schwarz') vollkommen bestätigt sind. Ebstein
sagt daher in seiner neuesten Bearbeitung der Fettleibigkeit von
meinem Vorschlag, bei gesunden und fettleibigen Individuen die
/?-Oxybuttersäure, ein Produkt des menschlichen Fettstoffwechsels
1) Zentralbl. f. innere Med. 1898.
2} Die Acetonkörper. Stuttgart 1908 p. 236!.
3) Dentsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 76 1903.
4) Ebstein u. Schwalbe, Handb. d. prakt. Medizin 2. Anfl. 1906.
346
XVin. Waldvogel
unter möglichst gleichen Bedingungen einzuverleiben und za be-
stimmen, wieviel jodoformbildende Substanz danach ausgeschieden
wird, daß er vielleicht Beachtung verdient.
Ich habe bei Fettleibigen ohne auf die Entstehung der Krank-
heit Eücksicht zu nehmen und bei Gesunden 5 g /}-oxybuttei^ares
Natron, das ich mir aus Diabetikerharnen rein darstellte, in 100 ccm
sterilisierten Wassers gelöst unter die Brusthaut laufen lassen und
zwar ohne jegliche Regulierung der Diät, morgens 8 Uhr an dem
in den Tabellen mit einem * bezeichneten Tage, die Mahlzeiten
wurden stets zur selben Zeit eingenommen, die Körperbewepng
wurde geregelt. Die Bestimmungen des Acetons in der Atemlaft
wurden morgens 9*/j und nachmittags 4V2 Uhr vorgenommen, es
wurde Vs Stunde geatmet und die gefundenen Werte rechnete ich
auf 12 Stunden um, so daß die Bestimmungen am Morgen für
12 Stunden relativer Nüchternheit, die am Nachmittag für die
12 Stunden der Nahrungsaufnahme bestimmend war. Ich gebe zu-
nächst die an normal ernährten gesunden Menschen angestellten
Versuche.
1. W., Größe 1,77 m, Gew. 138 Pfd., Alter 33 Jahre.
Datum
des Urins
Aceton
der
Atemlaft
Gesamt-
Aceton
Bemerkungen
3. I.
4. I.
5. I.
6. I.*
7. I.
8. I.
6,8 mg:
0
6,8 mg:
6,6 „
0
6,6 ,
19,7 «
0
19,7 „
13,3 „
0
13,3 „
8,1 „
0
8,1 „
8,6 „
0
8,6 „
0,005 g Heroin per os
Temp. abends 5 Uhr 37,8»
Datum
2. S., Größe 1,65 m, Gew. 1,31 Pfd., Alter 28 Jahre.
Aceton
des Urins
der
Atemluft
Gesamt-
Aceton
Bemerkungen
24. I.
25. I.»
26. I.
27. I.
4,5 mg
3,2
2,0
1,2
n
n
16,8 mg
19,8 „
15,8 „
15,8
n
20,3 mg
23;0
17,8
17,0
1}
n
-ri«
Temp. morgens 36.9®, abends 37.4
37,0 „ 38.0
36,8 „ 37.3
36.7 « 36.8
n
3. K., Größe 1,69 m, Gew. 126 Pfd., Alter 41 Jahre.
, Aceton
^^^""^ .des Urins l'^^'i^f^"-
Gesamt-
Aceton
Bemerkungen
18. IV.
19. IV.
4,8 mg
9,0 „
19,8 mg I 24,6 mg
23,8 „ o2.8 „
II. Zur Pathogenese der Fettsncht.
347
(Fortsetzting.)
Datnm
des Urins
Aceton
der
Atemlttft
Gesamt-
Aceton
Bemerkungen
20. IV.
9,9 mg
21. IV.
8,1 n
22. IV.
6,8 „
S. IV.*
7,6 n
24. IV.
80 „
25. IV.
7.3 „
69,4 mg
36.6 ,
31.7 „
31.6 „
27.7 „
35,6 ,
69,3 mg
43,7 „
38.6 „
39,2 „
35.7 „
42,9 „
Temp. morgens 36,6 <>, abends 36,6»
36,6 „ 36,7
36,8 „ 37,4
36,8 „ 36,6
36,8 „ 36,7
n
n
n
n
n
n
n
Aus diesen Versachen am normalen Menschen ohne stärkeres
Fettpolster geht wieder hervor, daß bei gemischter Kost 5 g /?-oxy-
battersaures Natron glatt verbrannt werden, Schwarz (1. c.) hat
ja auch Gesunden 10 und 15 g per os gegeben, ohne daß /^-Oxy-
buttersäure oder Acetessigsäure im Harn auftraten oder das Aceton
im Urin vermehrt war. Hervorgehoben muß werden, daß ich stets
bei normalen Menschen durch die Subkutane Einverleibung des
/^-oxybuttersauren Natrons eine deutliche Temperatursteigerung bis
38^ ohne jede Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens erzeugte.
Die fehlende Störung des Allgemeinbefindens und die Einverleibung
per os sind vielleicht der Grund, weshalb Schwarz diese sehr
bemerkenswerte Erscheinung entgangen ist. Die Injektionsstelle
blieb vollkommen reaktionslos, der anfänglich geringe Schmerz
verlor sich bald, die Art der Lösung und die Technik der Infusion
garantierten völlige Asepsis. Ich habe regelmäßig nach der Ein-
verleibung des /J-oxybuttersauren Natrons im Urin auf ;J-Oxybutter-
säure und Acetessigsäure gefahndet, sie waren in den untersuchten
Fällen nicht vorhanden, konnten auch bei dem Fehlen jeder
Acetonvermehiung nicht vorhanden sein.
Betrachten wir jetzt, wie die subkutane Einverleibung von
5 g jJ-oxybuttersauren Natrons auf den AcetonstoflFwechsel der Fett-
leibigen gewirkt hat.
1. A. K, Dienstmädchen (10. Januar bis 19. Februar 1906), Grolle 1,57 m,
Gew. 151 Pfd., Alter 22 Jahre.
I
Datum
des Harns
Aceton
der
Atemluft
Gesamt-
Aceton
Bemerkungen
30.
31.
1.
2.
3.
4.
I.
2.8 mg
4,0 mg
6,8 mg
1.
2,3 ,
4,0 „
6,3 „
IT.
3,3 „
7,9 „
11,2 ,
11*
2.9 „
33,6 ,
36,6 „
II.
2,2 ,
4,0 „
6.2 „
11.
4,2 „
4,0 „
8,2 „
Temp. morgens 36,0 <>, abends 36,5 <>
n
n
n
Ti
n
»
7i
r
r
36,2
36,0
36,2
36.3
36,2
n
»
n
36,6
37,0
37,1
36,9
36,7
348
XVIII. Waldvogil
2. A. J., pr. Arzt, Größe 1,78, Gew. 188 Pfd., Alter 23 Jahre.
Datum
Aceton
des Harns
der
Atemluft
Gesamt-
Aceton
Bemerkungen
7. VIII.
8. YIIL*
9. VIII.
10. VIII.
13,0 mg
1.3,2 ,
10.6 „
9,7 „
0
Spuren
15,2 mg
1«,2 .
13,0 mg
13,2
25.8
28,9
n
n
0,03 M subkutan
3. S. S., Tischlermeistersfrau, (1.- 22. Mai 1906), Größe 1,61 m, Gew. 155 Pfi,
Alter 47 Jahre.
I
Datum
Aceton
des Harns
der
Atemluft
Gesamt-
Aceton
Bemerkungen
7. L
21..H mg
9.8 mg
31.8 mg
8. I.
4,2 n
12,1 ,
16.3 „
9. I.
8,6 „
13,9 „
22,4 „
10. I.
9,0 „
21,8 „
30,8 „
11. I.
9,7 „
21,6 „
31,3 „
12. I.
8.4 „
26,6 „
34,0 „
13. I.»
16,2 „
34,8 „
51,0 „
14. 1.
17,4 „
21.2 l
38.6 „
15. I.
10,0 „
19,6 „
29.6 „
16. I.
12,2 „
17,8 „
30,0 „
Vorher Fettdiät
Temp. morgens 36,5®, abends 37,2*
„ « 36,4 „ 37.3
36,2 „ 37,3
4. W. M., Lehrer, (2.— 14. April 1806), Größe 1,78 m. Gew. 196 Pfd.
Alter 21 Jahre.
Datum
Aceton
des Harns
der
Atemluft
Gesamt-
Aceton
4. II.
5. II.
6. II.
7. II.
8. IL*
9. IL
10. IL
8,0 mg
9,3
8.1
8,2
10,4
n
n
n
n
7,2
6,1
n
n
23,7 mg
11,9
11,9
11.9
23,7
n
n
31,7
37,5
»
n
n
31,7 mg
2i;2
20,0
20,1
34,1
38,9
43,6
n
r
n
Temp. morgens 36,3 <), abends 37,0«
17 n 36,1 „ 36,6
Viel süße Speise gegessen
Temp. morgens 36,0®, abends 36,6'
„ n 36,2 „ ^,9
„ _ 36,8 - 36,/
5. J. K., Schlossersfrau (8.-23. Juni 1906), Größe 1,59 m, Gew. 152 Pfi,
Alter 46 Jahre.
Datum
Aceton
des Harns
der
Atemlnft
Gesamt-
Aceton
Bemerkungen
12. VI. 2.3 mg 6,3 mg 1 8.6 mg
13. VL , 4,5 „ I 23,8 „ ? i 28,3 „ ?
n. ZoT Pathogenese der Fettsncht.
349
(FortBetzniiK.)
Datum
des Haras
Aceton
der
Atemlnft
Gesamt-
Aceton
Bemerkniigen
14. VI.
15. VI.
16. VI.
17. VI.
18. VI.»
3,8 mg
6.4 „
5.6 „
^•? "
6.4 „
4,1mg
8,2 „
0
8,2 „
7,9 mg
14,6 „
6,6 ,
10.2 „
14,6 „
19. VI.
20. VI.
6.5 „
5.6 „
19,8 „
19,8 „
26,3 „
2ö,4 „
Temp. morgens 36,8 o, abends 36,7^
„ „ 36,8 „ 36,7
» n 36>4 „ 36,9
Flüssigkeit läaft sehr langsam ein
Temp. morgens 36,6 <», abends 36,8^
p „ 36,6 „ 36,8
Die Acetonvermehrung nur in der Atemluft erschien mir bei
diesem letzten Versuch so gering, daß ich den ersten negativen Ver-
such bei einer Fettleibigen vor mir zu haben glaubte, als die /^-Oxy-
buttersänrebestimmung nach Teilens aus der Tagesmenge vom
Injektionstage mich belehrte, daß nur diese Fettleibige von den 4,1 g
der einverleibten Säure 0,13 g unverbrannt ausgeschieden hat und
erst am Tage darauf mit einer Vermehrung des Acetons in der
Atemluft reagierte, so daß sie also den besten Beweis für die ver-
langsamte Verbrennung der /^-Oxybuttersäure lieferte. Es wii'd mit
dem Modus der Einbringung der Säure zusammenhängen, daß die
Fettleibigen die größte Acetonvermehrung in der Atemluft auf-
wiesen. Mit diesen der Reihe nach positiv ausgefallenen Ver-
suchen schien mii* in genügender Weise dargetan zu sein, daß der
Fettleibige nicht imstande ist Fettsäuren, die in seinem inter-
mediären Stoffwechsel auftreten, mit der gleichen Intensität zu ver-
brennen wie der Gesunde.
Eine wesentliche Stütze für diese Annahme eines langsameren
Abbaus der dem Körperfett so nahestehenden Substanz finde ich
nun weiter vor allem auch darin, daß von den Fettleibigen niemand
die Einverleibung des /^-oxybuttersauren Natrons mit Fieber beant-
wortet hat, während die Temperatur bei normalen Menschen ohne
Störung des Allgemeinbefindens bis auf 38^ stieg. Bei Ausschluß
jeder bakteriellen Mitwirkung kann in diesem Unterschiede nur
ein langsamerer Ablauf der Verbrennungsprozesse für Fettsub-
stanzen erkannt werden. Er ist also bei Fettleibigen durch diese
Versuche auf zwei verschiedenen Wegen festgestellt. Ich kann
mich hier natürlich nicht auf weitere Diskussionen über die Be-
ziehungen der Fettsubstanzen zur Hyperthermie einlassen, will
aber daran erinnern, daß nach meinen Untersuchungen z. B. die
P-Ein Verleihung zu einem jähen Untergange der Lecithine führt
350 XVIII. Waldvogel, II. Zur Pathogenese der Fettsucht.
und aus dem Lecithin Fettsäuren entstehen. Auch fiir kurzdauernde
Chloroformnarkosen konnte ich inzwischen den rapiden Übergang
der Lecithine in Fettsäuren dartun. Die nahen Beziehungen der
Toxine von Infektionserregern zu den Lecithinen sind uns ja eine
geläufige Anschauung, was liegt da näher als anzunehmen, daß die
Toxine bei ihrer Giftwirkung auf das Protoplasma den schnellen
Abbau der Lecithine und damit das Auftreten von Zerfallsprodukten,
wie ich sie als Fettsäuren, Cholesterin und Neutralfette festgestellt
habe, im Blut herbeiführen und daß bei der Oxydation der Fett-
säuren die Hyperthermie entsteht? Ich bin mit dem Studium
dieser Vorgänge beschäftigt und glaubte in diesem Zusammenhang
ihrer Erwähnung tun zu müssen, auch wenn mit diesen Behauptungen
der Rahmen einer Hypothese nicht überschritten wird. Jedenfalls
muß es doch auffallen, daß der Fettleibige, bei dem ein langsamer
Abbau der /J-Oxybuttersäure jetzt festgestellt ist, nach der subku-
tanen Einverleibung dieser Säure nicht die Temperaturerhöhung
aufweist, die der normale Mensch in meinen Versuchen stets bekam.
Ehe wir nun diese verlangsamte Oxydation des Fettleibigen
für die /9-Oxy buttersäure als Grundlage benutzen, auf der wir die
Pathogenese der Fettsucht aufbauen, muß der Erwägung Kaum ge-
geben werden, daß diese mangelhafte Umsetzung der Fettsäure
aber auch als die Folge der Fettanhäufung in den Zellen ange-
sehen werden kann. Es wäre ja doch denkbar, daß durch die An-
wesenheit des Fettes in den Zellen deren Fett umsetzende Fermente
irgendwie geschädigt Tverden. Diesem Einwände entgegenzutreten
bin ich zurzeit nicht imstande, und es wird noch mancher Arbeit
bedürfen, ehe das Problem der Fettsucht und ihrer Entstehung ge-
löst ist; aber einen Schritt sind wir dem Ziele wohl näher ge-
kommen.
XIX.
über Perknssion nnd Anskoltation der Säuglinge und
Aber die Symptome der Lnngentnberknlose im ersten
Lebensjatire.
Von
Dr. Oskar Wyß, Prof.
Zürich.
Teurer Freund!
Als vor Monaten Deine Göttinger Schüler mich einluden bei
der auf Deinen 70. Geburtstag in Aussicht genommenen Festschrift
mitzuwirken, nahm ich die Offerte freudig an ; denn in den Jahren,
die wir zusammen im Allerheiligen-Hospital zu Breslau verlebten,
bist Du ja ebenso sehr mein Lehrer, wie Freund und Kollege ge-
wesen. Diese Überzeugung ist bis zum heutigen Tage von mir
nicht gewichen, obwohl unsere Lebenswege sich ganz wesentlich
verschieden gestaltet haben und ich leider selten die Freude hatte
Dich wiederzusehen.
Damals waren es insbesondere zwei Gebiete unserer Wissen-
schaft, die uns beide vereinten; einerseits der Sektionstisch und
Arbeiten im Gebiete der pathologischen Histologie, andererseits das
Krankenbett, zumal auf Deiner Abteilung, wo ich so gerne abends
nach 6 Uhr noch hinkam, um bei Dir so vieles Interessante zu
sehen, zu auskultieren und perkutieren und auch zu diskutieren.
Es war für mich eine lehrreiche Zeit und wichtig ganz besonders
deshalb, weil ich durch Dich hauptsächlich der Gefahr entging, der
internen Medizin entfremdet zu werden und gänzlich in die Ana-
tomie resp. pathologischen Anatomie als Lebensberuf hinein zu ge-
langen. Du bist für meine spätere Lebenstätigkeit entscheidend
geworden; Dir habe ich vieles zu verdanken.
Und doch, wirst Du mir vorwerfen, habe ich das von Dir mir
anvertraute Samenkorn schlecht gepflegt, weil ich gerade in dem
352 XIX. Wyss
Gebiete, in welchem ich Dir so viel verdanke, sozusagen, nichts
geschrieben, nichts publiziert habe.
Aber leider hatte ich von jeher wenig Sitzleder fürs Schreiben,
und das ist bei mir mit den sich mehrenden Altersjahren in noch
höherem Grade der Fall geworden, als früher. Gleichwohl ist das
Technische der physikalischen Untersuchung des Kranken, dem Du
so manche hochwichtige Neuerung zugefügt hast, auch von mir
nicht unberücksichtigt geblieben ; wenn freilich in anderer Richtung,
als es von Deiner Seite geschah. Äußere Umstände, Inkonstanz
meiner Tätigkeit und andere unvermeidliche Dinge waren wohl die
Ursache. Der Umstand jedoch, daß neuestens über die physikalische
Untersuchung kleinerer Kinder Angaben, ja sogar Abbildungen er-
schienen sind, die ich entschieden nicht als zeitgemäß gelten lassen
kann, lassen mich Dich einladen, mit mir in Gedanken eine Morgen-
visite im hiesigen Kinderspital zu machen und mit mir zu plaudern
in ähnlicher Weise, wie wir das vor vierzig Jahren getan haben.
Mit der früher üblichen Reihenfolge der verschiedenen Unt«r-
suchungsmethoden : 1. Inspektion, 2. Palpation, 3. Perkussion, 4. Aus-
kultation etc. habe ich längst insoweit gebrochen, als ich die Aus-
kultation in der Regel vor der Perkussion vornehme. Das geschieht
deshalb, weil das Schreien der Kinder regelmäßiger beim Per-
kutieren, als beim Auskultieren erfolgt; dann insbesondere, wenn
die Auskultation in, für Kinder, richtiger Weise geschieht Seit
langen Jahren benütze ich an Stelle des starren Stethoskops ein
binaurikuläres Schlauchstethoskop und ich könnte dieses beute
nicht mehr missen; weder für Erwachsene noch für das Kindes-
alter. Den englischen oder den holländischen binaurikulären Stetho-
skopen, deren Leitungsröhren ganz, oder nahezu ganz aus >letall
oder aus Leder hergestellt sind, ziehe ich ein mit zwei Gurami-
schläuchen versehenes Stethoskop vor, und lege einen Wert darauf^
daß dieses in allen seinen Teilen ein genügend großes Lumen, einen
genügend großen Querschnitt habe. Die „V^erfeinerung" auch der
gewöhnlichen harten Stethoskope in dem Sinne, daß das Lumen
mehr und mehr reduziert wird, — auf drei und weniger mm —
ist ein großer Fehler im Bau eines so wichtigen Instrumentes.
Unter allen meinen Stethoskopen von gewöhnlicher alter Form
finde ich, als das beste, ein ganz altes Berliner Stethoskop aus dem
Anfang der dreißiger Jahre, mit einem Lumen von 9 mm und einer
ÖiFnung des Schallrezipienten am peripheren Ende von 33 mm.
Wählt man statt des Holzzylinders ein flexibles Rohr resp. zwei
solche, ist der Gummischlauch praktisch das einfachste und daher
J
über Perkussion und Aiukultation der Säuglinge etc. 3Ö3
das beste. Er darf aber nicht za geringes Lumen haben, üveil
Eaatschuk die Schalleitung beeinträchtigt, ,,den Schall dämpft'^
Er maß femer ohne große Schwierigkeit ersetzt werden können^
weil der heutige Kautschuk des Handels nach relativ kurzer Zeit
brüchig wird; er darf nicht allzu dickwandig sein, weil er dann
za schwer wird; aber auch nicht zu dünnwandig, weil bei solchem
das Lumen sich leicht verlegt, der Schlauch „knickt".
Man kann das ganze Leitungsrohr, resp. beide Leitungsröhren,
die das binaurikuläre Stethoskop besitzt, je bloß aus einem Gummi-
schlauch von 3ö'-'40 cm Länge bestehen lassen. Aber ich ziehe
vor, daß nahe dem oberen (d. h. dem aurikulären) Ende ein bogen^
förmiges, möglichst dünnwandiges festes Rohr interkaliert sei —
ein in großem V^-Kreis gebogenes Winkelstück — , um unbehindert
im Gebrauche des Instrumentes zu sein, was weniger der Fall ist.
wenn man das obere Ende des Gummischlauches um ca. 90 ^ biegen
Hiaß, um das oberste Ende in horizontaler Eichtung in den Gehör-
gang einzuschieben.
Die Verbindung mit dem Ohr des Auskultierenden vermittelt
€ine der Weite des Gehörganges entsprechende Olive, resp. ein
zylindrischer Ansatz mit möglichst weitem zentralem Lumen, gut
gerundet, glatt. Mit dem Gummischlanch ist sie jederzeit leicht
vereinbar und wieder trennbar; auch sei sie ganz leicht, rasch und
sicher reinigungsfähig. Es ist angenehm, wenn der Ohransatz mit
dem Winkelstück durch einen, wenn auch ganz kurzen, aber etwas
beweglichen Gummischlauch verbunden ist. Das Material für die
Stethoskop-Ohrverbindung kann Metall, Glas, Hörn, Kautschuk oder
Elfenbein oder ein ähnlicher Stoff sein; ich ziehe Elfenbein allem
anderen vor. Um das Lumen überall möglichst weit zu erzielen,
insbesondere auch an den Verbindungsstellen mit dem Kautschuk-
schlauch, empfiehlt sich ein kurzes Metallrohr über das der Schlauch
geschoben wird, und das am peripheren Teil der Ohrolive einge-^
setzt ist. Doch kann der Schlauch auch über die außen sich etwas
verjüngende Olive gestülpt werden.
Einen besonderen Wert lege ich sodann auf die richtige Kon-
struktion des Schallrezipienten, der auf den Thorax aufgesetzt wird.
Dieser Schalltrichter besitzt bekanntlich bei den alten und neuen
8tethoskoi>en, den einfachen und binaurikulären, die verschiedensten
Formen. An alten Instrumenten hat er eine konische Gestalt:
wobei ich selbstverständlich nur die Form und Gestalt des Hohl-
raumes, nicht der Außenfläche berücksichtige; häufig, aber keines-
wegs immer, entspricht letztere (die Oberfläche) auch der Gestalt
Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 89. Bd. 23
364 XIX. Wyss
des Hohlraumes des Schallrezipienten. Bei den meisten Stethoskopen
ist die innere Oberfläche zwar konisch, richtiger glockenförmig.
Ein senkrechter Durchschnitt durch die Mitte des Schalltrichters
zeigt, dafi die Seitenwand des Schalltrichters oben konvex, weiter
unten konkav ist, also nach dem letzteren hin vorspringt Nar
selten habe ich einen Trichter gefunden, dessen innere Begrenzung
überall konkav war.
Schon vor langen Jahren besprach ich die Frage, ob diese
eben erwähnte Form sich physikalisch begründen lasse, mit unserem
Physiker am Polytechnikum, Herrn Prof. H. Weber. Dieser be-
stätigte mir die Unrichtigkeit dieser üblichen Konstruktion und
empfahl mir einen parabolisch ausgehöhlten Schalltrichter. Solche
ließ ich mir in der Folge in sehr verschiedener Größe herstellen, da ja
in Hinsicht der verschiedenen Wölbungen am Thorax abgemagerter
Individuen und zumal atrophischer Säuglinge an ein gut aufzusetzen-
des, nirgends kippen des Stethoskop die allerverschiedensten und keines-
wegs leicht zu erfüllenden Anforderungen gestellt werden müssen.
Ich gebe zu, daß es mir nicht gelungen ist für Erwachsene
und für abgemagerte Säuglinge ein für alle Fälle bestes Stetho-
skop herzustellen; aber das ist auch nicht zu verlangen, ^^lll
man das Säuglingsstethoskop für Erwachsene verwenden, so ma&
man sich nur bewußt sein, daß man jeweilen eben nur eine ganz
kleine Stelle, z. B. der Lunge, auskultieren kann; also erheblich
mehr Zeit und Geduld aufwenden muß, um zum gleichen Resultat
zu kommen, wie mit einem ums doppelte oder dreifache so großen
Schallrezipienten. Aber das ist mit jedem anderen Stethoskop
genau ebenso der Fall. Für die Auskultation des Herzens Er-
wachsener ist es entschieden unzweckmäßig einen allzu kleinen
Schallrezipienten aufzusetzen; eine gewisse, nicht zu kleine Di-
mension des Durchmessers ist vorzuziehen. Ich habe als Durch-
messer des kleineren Schalltrichters der auf die zu auskultierende
Stelle aufgesetzt wird 19—24 mm, des größeren 28—34 mm ge-
wählt und scheint es mir, daß man damit in der Praxis ganz gut
auskommt. Für Säuglinge verwende ich gerne einen großen Schall-
trichter von weniger als 20 mm.
Verbindet man den Schallrezipienten direkt mit den Schläuchen^
wird man am oberen Ende, das kuppeiförmig abschließt^ einen
möglichst weiten gabelförmig sich verteilenden Ansatz nötig haben :
auf jede der kurzen Röhren schiebt man einen Gummischlauch anf.
Von unten her kann behufs Gebrauches des kleineren Eezipienten
dieser einfach in den Schalltrichter eingeschoben werden. Der
über Perkussion und Ansknltation der Säuglinge etc. 35&
engere Schalltrichter beeinträchtigt etwas das Lumen des oberen
Schalltrichterendes; doch nicht in erheblichem Grade, sofern die
Dimensionen richtig sind.
Dieser kleinere Schalltrichter, der in Form und Gestalt an
einen großen Ohrtrichter (Spekulum) erinnert, kann verloren gehen
oder zerbrechen, und um dem Praktiker diesen Verdruß zu er*
sparen, ließ ich die beiden Schalltrichter in ein Stück vereinigen;
so daß auf der einen Seite der größere, auf der anderen Seite der
kleinere Schalltrichter vorhanden ist; der mittlere Teil ist mög-
lichst weit und so fest, daß man sowohl von der einen, wie auch
von der anderen Seite her das gabelig geteilte Verbindungsstück,
welches die Gummischläuche trägt, einschieben und fixieren kann,
je nachdem man den weiteren oder engeren Schalltrichter benutzen
will. Diese Anordnung scheint mir die praktischere zu sein. Dieses
Stethoskop ist solider; wenn richtig gearbeitet, ebenso gut wie
jenes vorher erwähnte. Für die besprochenen Teile scheint mir
gutes Hörn das beste Material zu sein, wohl auch Hartgummi; ob
Metall besser wäre, ist noch unentschieden.
Daß die Großzahl der Ärzte nicht schon längst von dem alten,
gewiß ehrwürdigen Laennec'schen, Traube'schen, Skoda'schen Stetho-
skop zurückgekommen ist und das binaurikuläre ausschließlich an-
wendet, kann ich nicht begreifen. Der wenigstens teilweise Ab-
schluß von femer herkommenden Geräuschen mußte längst schon
die Stadtärzte, die doch überall in hohem Grade bei ihrem Aus-
kultieren von den elektrischen Trams, den Autos und unzähligen
anderen lärmerzeugenden Dingen zu leiden haben, dazu fuhren,
ihre Aufmerksamkeit besser, ja ausschließlich auf die akustischen
Erscheinungen, die sie ja interessieren müssen, konzentrieren zu
können. Bei schreienden Kindern hört man allerdings das Geschrei
auch wenn beide Ohren durch die Schalloliven verstopft sind ; aber
man hört dafür alles, was man beurteilen will, doch viel besser,
als mit dem gewöhnlichen Stethoskop, ohne Abschluß nach außen.
Die Veränderungen des vesikulären Atmens in all seinen Nuancen,
Rassel- und Eeibegeräusche usw., sind viel deutlicher. Was man
unter Umständen nicht hört ist einzig: schwaches Bronchial-, zu-
mal Kompressionsatmen ; und danach muß man also, am öftersten
„hinten unten" oder in der Gegend der großen Bronchien oder in
der Supraspinata mit dem direkten Ohr suchen. Das hat aber auch
bei den kleinsten Kindern gar keine Schwierigkeiten. Bei Schwer-
kranken, Erwachsenen, die man nicht aufsetzen kann oder darf,
bei denen man nur in der Seitenlage die hintere Thoraxfläche
23*
356 XIX. Wrss
untersuchen kann^ ist das flexible Stethoskop für Arzt, Kranken
und Wartpersonal eine wahre Wohltat. Der Arzt kann bei jeder
Betthöhe, bei fast jeder Stellung des Bettes ohne Schwierigkeit
die Auskultation der ganzen Rückseite der Brust vornehmen; und auch
in der Rückenlage ist die Auskultation der ganzen Rückseite der
Brust vorzunehmmen, wenn der Kranke nur etwas von der einen
Seite emporgehoben, d. h. gedreht wird ; und auch in der Rückenlage
ist die Auskultation der unteren Thoraxpartien in der hinteren AiU-
larlinie und etwas hinten davon leicht und ohne Belästigung des
Patienten durchführbar und mag oft genügen, um eine Unterlappen-
Pneumonie, Pleuritis, Hypostase etc. auszuschließen.
Den Hauptvorteil des binaurikulären Schlauchstethoskops aber
genießt man bei der Untersuchung des Kinderthorax und das
um so mehr, je jünger die Kinder sind. Die Annehmlichkeit und
Sicherheit, die Stelle zu sehen, die man auskultiert, die Möglich-
keit rasch und sicher die ganze Oberfläche der Lunge des kleinen
Kindes, soweit letztere den Thorax berührt, methodisch auskultieren
zu können, ist nur bei diesem Instrumente gegeben. Axilla, seit-
liche Teile des Thorax können viel rascher und sicherer abgesucht,
„abgehorcht" werden, als in irgendwelcher anderen Weise. Im
ferneren kann jeglicher unangenehme oder schmerzhafte Druck mit
dem flexiblen Instrument leicht und vollständig vermieden werden,
nicht aber mit dem starren Instrument. Selten wird ein Kind
während der Durchführung der Untersuchung im ersteren Falle
zu weinen anfangen; sehr häufig im letzteren; denn der Druck,
den man mit dem harten Stethoskop auf den weichen Säuglings-
thorax beim doch notwendigen Andrucken des Ohres auf das
Stethoskop ausübt, ruft unendlich häufig Weinen hervor, auch beim
geduldigen, vernünftigen Kinde, weil eben der Druck schmerzhaft
ist, weil die rachitisch erkrankten Eippen beim Aufsetzen
schmerzen usw. Zugegeben, daß es Kinder gibt, die schon im
ersten Moment, da man mit dem binaurikulären Schlauchstetho-
skop sich ihnen nähert oder den Schalltrichter auf die Brust auf-
setzt, zu weinen anfangen. Das geschieht aber aus Furcht, nicht
aus Schmerz. Durch ein wenig freundliches Zureden^ Au&etzen
des Schalltrichters auf die Brust oder die Hand der Mutter oder
der Pflegerin, dann irgend einen Körperteil, Bauch^ Bein des
Kindes und dann wieder seines Thorax genügt, um die Angst des
Kindes vor dem fremden Gegenstand zu beseitigen. Bei etwas
gi'ößeren Kindern reicht meist schon die bloße „Erklärung" hin,
daß das ein Telephon sei, um ihre Furcht zu zerstreuen,. Die
über Perkussion nud Anskoltation der Sänglinge etc. 357
Unruhe des kleinen Kindes infolge der Untersuchnng kann nicht
entfernt so sicher durch Auflegen des Ohres direkt auf den zu
auskultierenden Teil vermieden werden, wie durch das binauri*
knläre Schlauchstethoskop. Eine rasche Annäherung des Kopfes
des Arztes an die hintere oder vordere Brustseite ruft ebenso leicht
Erschrecken und Weinen hervor, wie ein rasches Annähern eine»
fremden Gesichtes gegen ein kleines Kind überhaupt.
Es wurde mir vor langen Jahren schon der Einwurf von einem
Freunde gemacht, das Schlauchstethoskop gebe leicht zu Täuschungen
Veranlassung, indem Reiben der Schläuche an Kleidungs- usw.
Stacken Veranlassung gebe zu einer falschen Pleuritis-, Perikarditis-
nsw. Diagnose. Dieser Einwurf ist ganz sicher unbegründet. Viel
sicherer vermeidet man gedachte Irrtümer als bei anderen Instru-^
menten und insbesondere sicherer als bei der direkten Auskultation.
Nach kurzer Übung lernt man auch Reiben usw., von außerhalb
des Instrumentes herrührend, unterscheiden von dem Reiben, das
für uns von Bedeutung ist. Nötig ist, daß man die Schläuche
nicht zu lang und nicht zu kurz wählt. Beides ist nachteilig, so-
wohl zu große Kürze, als auch zu große Länge. Die Individualität^
Größe, Breite des Arztes spielen da eine Rolle.
Gerade für das Konstatieren des „Reibens^ ist dies Instrument
äußerst wertvoll und wie kein anderes geeignet, solches zu ent-
decken. Wie oft habe ich eine Pleuritis diaphragmatica sicher
diagnostizieren können, für die nur die vorhandenen Schmerzen
sprachen und wo ich nur an einer kleinen und versteckten Stelle
schließlich Reiben hörte. Ebenso Perikarditis. Einmal kam es
mir allerdings vor, daß ich bei einem kleinen Kinde, das an Pneu-
monie litt, bei etwas vergrößerter Herzdämpfung, besonders nach
rechts hin, aus einem sehr schwachen, kurzen Frottement am Herzen
eine fibrinöse Perikarditis diagnostizierte und dann nach erfolgtem
Tode bei der Sektion zu meiner großen Enttäuschung ganz glattes
normales, schön spiegelndes Pericardium parietale et viscerale fand.
Und doch hatte ich mich beim Auskultieren, trotz der 160 Herz-
kontraktionen in der Minute und der damit verbundenen großen
Kürze des Momentes, da man das Reiben hören konnte, nicht ge-
täuscht. Das Reiben war innerhalb des rechten Ventrikels ent-
standen, bedingt durch einen im rechten Ventrikel entstandenen
Thrombus von Haselnußgröße, mit zierlicher netzförmig rauher,
faltiger Oberfläche, welche, sich am Endokard der rechten Ventrikel-
vorderwand reibend, das typische systolische Reiben, wie eine Faser-
stoffauflagerung auf das Epikard, hervorgebracht hatte.
358 XIX. Wyss
Die Möglichkeit Reibgeräusche auch an nicht gewöhnlichen
Stellen bequemer und sicherer festzustellen, als mit dem harten
Stethoskop und mit dem direkten Ohr, veranlaßte mich im Laufe
der Zeit auch das Peritoneum häufig zu auskultieren and
zwar mit recht häufig positivem Erfolg. Bei Schmerzen in der
Gegend der Milz, der Leber, der Gallenblase, des großen Netzes usw.,
habe ich dank des Schlauchstethoskop-Gebrauches, häufig durch den
Nachweis von Reibegeräuschen über der Gallenblase, am linken
oder rechten Leberlappen, über der Milz usw. mit Sicherheit die
Anwesenheit einer lokalen Peritonitis, also einer Pericholecystitis,
Perihepatitis, Peripleuritis feststellen können. Aber auch bei aus-
gedehnterer Peritonitis, ausgehend nicht bloß von einem nahe unter
dem Zwerchfell liegenden Organe, sondern auch von solchen, die
vom Darm ausgingen (Appendicitis), bei tuberkulöser Peritonitis, ja
sogar bei Peritonitis, die von einem Tumor ovarii, z. B. bei einem
13 jährigen Kinde beobachtet, ausging, nachweisen können, ebenso
einst bei einem Nierentumor im kindlichen Alter.
Nun wirst Du mir, lieber Freund, einwenden, all das, was ich
Dir vorbringe, sei überwundener Standpunkt. Wer aus ßequemlich-
keitsrücksichten — weil sein Rücken nicht mehr so beweglich ist,
wie ehedem, weil er neben einem Kranken, der in einem hohen
Bett liegt, stehend, ob seiner Kleinheit, mit seinem Ohr. nicht bis
in die richtige Höhe über den Lungenspitzen gelangen kann, um
sie zu auskultieren, oder weil ihm, wenn der Patient in einem
modernen ganz niedrigen Bette liegt, beim starken Bücken Abs
„Blut in den Kopf schießt", ihm schwindlich wird — kurz, wer
sich nicht mehr oder überhaupt nicht allen äußeren Umständen und
Verhältnissen anschmiegen kann, um seine Krankenuntersuchnng
durchzuführen, der soll sich des bequemen Phonendoskopes bedienen,
das ja alle von mir geschilderten Vorzüge des binaurikulären
Schlauchstethoskopes besitzt, und dazu die Töne, Geräusche, die
wir studieren w^ollen, in viel stärkerer Weise wiedergibt, als es bei
dem Schlauchstethoskop der Fall ist.
Es ist das alles ja ganz richtig; aber dessen ungeachtet kann
ich nicht zugeben, daß ich dem Phonendoskop vor dem Schlaudi-
stethoskop den Vorzug geben möchte. Dieses letztere besitzt gegöi-
über jenem folgende Vorzüge:
1. Es ist leichter, welcher Umstand für ein Instrument,
das der Arzt immer mit sich haben muß, sehr wichtig ist Ein
binaurikuläres Schlauchstethoskop wiegt 76 g; ein Phonendoskop
mit Etui, ohne welches dasselbe für den Arzt nicht transportabel
über Perkussion und Auskultation der Säuglinge etc. 359
ist, soll das Instrument nicht Gefahr laufen beim Tragen beschädigt
zu werden, wiegt 374 g (die kleinere Sorte etwas weniger).
2. Das Schlauchstethoskop ist leicht und sicher desinfi-
zier bar. Beim Händewaschen gelangt es in toto oder doch der
jnit dem Kranken in Berührung gewesene Teil in SublimatlSsung
oder ein anderes für die Hände verwendetes Desinfiziens und nach-
her in Seifenwasser.
3. Das Aufsetzen des Schlauchstethoskop-Schalltrichters berührt
den zu untersuchenden Kranken niemals derart unangenehm, wie
das stark wärmeleitende metallene Phonendoskop.
4. Das Phonendoskop verändert in viel höherem Grade die
Auskultationsphänomene als das Schlauchstethoskop, das sie, im
Vergleiche mit dem direkten Ohr oder dem alten Stethoskop nur
verstärkt wiedergibt.
Auch in bezug auf die Technik der Perkussion hat sich
bei mir im Laufe der Jahre ein Wandel vollzogen. Einst benutztest
Du Hammer und Plessimeter, ich dagegen Finger auf Finger.
Allmählich habe ich mir, namentlich in den klinischen Unterrichts-
stunden, um nach Möglichkeit die Perkussionsunterschiede recht
laut und deutlich meinen Schülern vorweisen zu können, und dann
auch sonst beim Untersuchen, viel mehr als früher die Hammer-
Plessimeterperkussion , sowie auch die Hammer-Fingerperkussion
angewöhnt; immerhin ohne die Perkussion mit dem perkutierenden
Finger auf den Finger aufzugeben. Unsere Züricher Arzte und
Studierenden haben im wesentlichen seit Jahrzehnten die Finger-
Finger- und Finger-Plessimeterperkussion beibehalten.
Es ist selbstverständlich, daß der aus der medizin. Klinik
kommende Student, und nicht selten in höherem Grade noch die
Studentin, in der Kinderklinik mit derselben Wucht, mit welcher
der Brustkorb des erwachsenen Mannes perkutiert zu werden pflegt,
nun auch den Thorax des Säuglings bearbeitet. Regelmäßig be-
steht die Angewöhnung, den perkutierenden Finger nicht im Meta-
karpophalangealgelenk zu bewegen, sondern die Perkussion mit dem
Finger plus der ganzen Hand auszuführen, also die ganze Schwere
der Hand oder der Hand und des ganzen Vorderarmes mit, für die
Perkussion anzuwenden; ja nicht gar selten den ganzen Arm. Da-
durch wird der Thorax des Säuglings in der Regel so stark er-
schüttert, daß das Kindchen, auch wenn es vorher ganz artig war,
nun zu schreien anföngt.
Beim kleinen Kinde ist aber wegen seiner dünnen Brust-
wandangen, sowohl der Bippen, als auch der Muskulatur und des
360 XIX. Wtss
Fettpolsters wegen, die schwäcbste Perkussion die weitans beste.
Es ist nun, wie jeder an sich selbst erfahren kann, keineswegs
leicht von einem Tage zum anderen die einmal angelernte und ein-
geübte Methode des Perkutierens mit der ganzen Hand, oder Finger,
Hand nnd Vorderarm dahin zu modifizieren, daß bloß der Fingen
nicht auch die Hand und teilweise der ganze Vorderarm in Aktion
kommt. Den meisten Studierenden ist die genügende Einschränkung
der einmal angewöhnten Methode geradezu unmöglich. Ich habe
deshalb für die Perkussion der Säuglinge, sowie der Kinder in den
ersten Lebensjahren verschiedene Methoden anderer Art, als der
üblichen Fingerperkussion versucht.
So habe ich die alte Methode der immediaten Perkussion des
Thorax herbeigezogen, die, wenn sie ganz schwach angewendet
wird, auch von ganz kleinen Kindern gut und reaktionslos ertragen
wird, den Arzt und den Zuhörer befriedigen kann und das um so
mehr, wie Du ja hervorgehoben hast, die taktile Wahmehmaog
dabei eine sehr wertvolle Rolle spielt. Allerdings ist richtig, daJ
für Demonstrationszwecke, für den Unterricht, die hierbei wahrzu-
nehmenden Unterschiede nicht immer genügend laut sind. Diese
werden deutlicher, wenn man anstatt mit dem Ende des Nagel-
gliedes zu perkutieren, dazu die Volarfläche der Endphalanx ver-
wendet und wenn man, um jegliche Beteiligung des Vorderarme«
und der Hand auszuschließen, den perkutierenden Finger, z. 6. den
Zeigefinger auf die benachbarte V» ^^^^ Hälfte der Dorsalfläche
des Mittelfingers legt, fest aufdrückt und dann plötzlich nach innen
herunterschnellt nnd damit die zu untersuchende Stelle trifft, d. h.
immediat piBrkutiert. Will man die mediate Perkussion anwenden
und diese ist auch mir die gewöhnlich ausgeübte, trifft der herunter-
schnellende perkutierende Finger das Plessimeter oder den anf
den Thorax aufgelegten Finger Daß dabei der benachbarte
Mittelfinger eine rasche Bewegung nach oben — eine Rückstoß^
bewegung macht, ist ohne Belang. Bei dieser Ausführung hat man
es nach einiger Übung vollkommen in der Hand, eine ganz leise
oder kräftige, laute Perkussion auszuführen. Meines Erachtens
leistet dieses Verfahren entschieden viel mehr Vorteile, als die ge»
wohnlich geübte Perkussionsmetbode. Es sind nicht nur die
Quantitäts-(lntensitäts) Veränderungen des Schalles, sondern nament-
lich auch die Qualitätsveränderungen sehr schön nachweisbar. Diea
gilt in sehr hohem Grade für die TjTnpanie des Lungenschalles bei
der beginnenden oder der zentralen Pneumonie des Kindes ; ebenso
bei Katarrhalpneumonie, bei Tuberkulose. Gewiß kann dieses
über Perkussion und Anskaltation der Sftnglinge etc. 361
Symptom aach sehr gat durch schwache Hammerperkussion demon-
striert werden. Aber ich benutze sehr gerne, z. B. in der Klinik
beide Methoden neben- resp. nacheinander, um den jungen Arzt
daran zu gewöhnen, bei zweifelhaftem Befund und unsicherer
Diagnose kein Hilfsmittel unversucht zu lassen, das ihm über ein
anfänglich vielleicht zweifelhaft beurteilbares Symptom sicheres
Urteil verschafft und in ein Dunkel Licht bringen kann. Sich an-
gewöhnt zu haben zu kontrollieren, was man glaubt beobachtet zu
haben, ist für den jungen Arzt im höchsten Grade wertvoll. Bei
dieser Weise zu perkutieren, habe ich mir noch niemals eine
Schwiele oder gar zwei anperkutiert ; beim gewöhnlichen Klopfen
auf das Fingerende recht oft.
In den letzten Jahren haben mich die Symptome der Tuber-
kulose der Lungen bei Säuglingen und der Kinder in den
ersten Lebensjahren intensiv beschäftigt, da wo die Lungen-
erkrankung die wesentlichste hauptsächlichste Affektion darstellt.
Der Ansspruch Grancher's am letzten Tuberkulose-Kongi*eß in
Paris (Okt. 1905): „la tuberculose de l'enfant dans le premier an
est presque inconnue^', frappierte mich und konnte meinerseits nicht,
insbesondere nicht vom Standpunkt des pathologischen Anatomen,
eher für eine gewisse Anzahl von Fällen allenfalls hinsichtlich der
klinischen Diagnosen zugegeben werden. Daß auch ich in diesem
Lebensalter etwa ein Paar Fehldiagnosen hinsichtlich der Lungen-
tuberkulose im Säuglingsalter auf dem Gewissen habe, dessen war
ich mir bewußt und suchte ich daher mein Wissen in bezug auf
die Tuberkulose der Säuglingslungen besonders in den letzten
Jahren nach Möglichkeit zu vervollständigen. Ich erinnerte mich
eines Falles, in dem ich ein Infiltrat im Unterlappen angenommen
hatte, bei dem ich einen kindsfaustgroßen, freilich vollständig mit
Eiter gefällten Hohlraum bei der Autopsie fand. Ein anderes Mal
hatte ich im Oberlappen eine walnußgroße Kaverne nicht diagnosti-
ziert In jenem Falle fand ich im Inhalt des Hohlraums, der aus
Eiter bestand, weshalb ich denselben bei der Autopsie als einen
Lnngenabszeß auffaßte, enorme Mengen Tnberkelbazillen, die ich
aber erst „post mortem^ entdeckte. Auf der Suche nach den
Symptomen solcher Vorkommnisse „intra vitam*' begegnete mir vor
kurzem folgendes: Bei einem hektisch fiebernden % jährigen Kinde,
bei dem ich in Anbetracht des Fiebers, der Abmagerung, der
Hereditätsverhältnisse — auf welch letztere ich bezüglich der
Säaglingstuberkulose-Diagnose einen sehr großen Wert lege —
konnte ich immer nur eine leichte Dämpfung links zwischen Clavi-
362 XIX. Wyss
cula und 3. Rippe, beiderseits reichliche Rasselgeräusche, aber
trotz fleißigen Untersuchens niemals Konsonanzerscheinungen, ge-
schweige denn Kavernensymptome konstatieren. Plötzlich fand ich
^ines Morgens links oben eine ganz intensive, absolute Dämpfung
mit fehlendem Respirationsgeräusch. Am folgenden Morgen war
diese Dämpfung wieder vollständig verschwunden; nur die früher
dagewesene relative Dämpfung war noch vorhanden und es blieben
alle früheren Symptome auch fernerhin fortbestehen. Als nach
wenigen Wochen der Exitus erfolgt war, faiid ich an der betr.
Stelle im linken Oberlappen eine walnußgroße Kaverne, die offen-
bar in der Regel zur Zeit meiner Untersuchung leer gewesen war;
— sie kommunizierte mit den großen Bronchien; — an jenem
einzigen Morgen aber noch nicht sich entleert hatte. Tympanie,
Geräusch des gesprungenen Topfes haben für die Diagnose der
Kavernen bei Säuglingen geringeren Wert, als später, weil man
sie alltäglich bei ganz kleinen und besonders bei sehr abgemagerten
kleinen Kindern bei Zuständen| findet, wo die Lungen ganz anders
krank oder ganz normal sind.
Ich muß also die von vielen anderen Änsten und im yori^n
Jahre auch von Cruchet sehr hervorgehobene Tatsache kon-
statieren: daß im ersten und zweiten Lebensjahi'e sich die Tuber-
kulose nicht hauptsächlich in den Lungenspitzen lokalisiert; daß sie
häufig unter Symptomen beginnt, welche die Annahme einer Pneu-
monie oder Pleuritis mit Pneumonie oder Katarrhalpneumonie nahe
legen. Höhlenbildungen sind sehr viel seltener als beim Er-
wachsenen ; aber deren Diagnose ist sehr viel schwieriger als beim
Erwachsenen oder beim älteren Kinde, weil Symptome, die auf
Hohlräume bezogen werden können bei Pneumonie, Katarrhal-
pneumonie, Pleuritis, Tracheobronchialdrüsen-Erkrankungen vor-
kommen können und umgekehrt man bei nicht gar kleinen Hohl-
räumen alle kavernösen Symptome vermißt.
Es liegt mir ob, hier auch der von Grancher in Paris im
vorigen Jahr (Oktober 1905), gelegentlich des internationalen Tube^
kulose-Kongresses hervorgehobenen Ansichten über die frtthzeitige
Diagnose der Lungentuberkulose im allgemeinen und bei Kindeit
speziell zu erwähnen. Ich könnte sie auch ignorieren, weil aus
gelegentlichen Äußerungen dieses Gelehrten hervorgeht, daß er bei
seinem Expose nicht ganz kleine Kinder — im ersten und zweiten
Lebensjahre — sondern ältere im Auge hatte. Es ist ein großes
Verdienst Grancher 's wiederholt hervorgehoben zu haben, daJ
die Diagnose der Tuberkulose so frühzeitig als möglich gestellt
über Perkussion und Ansknltation der Sänglinge etc. 363
werden müsse; und zwar wenn immer möglich lange bevor die
^anze Reihenfolge der Symptome der Tuberkulose im 1. Stadium
der Autoren" sich nachweisen lasse, d. h. nicht erst dann, wenn
schon vorhanden sind:
] . Schwaches, rauhes oder sakkardiertes Inspirinm ; 2. Brou-
chialatmen; 3. Dämpfung; 4. verlängertes Exspirium;
5. trockene knackende Geräusche.
G rancher diagnostiziert schon dann Tuberkulose, wenn bei
mem Kinde mit etwas schwankender Gesundheit, blassem Aus-
sehen, leicht erhöhten Temperaturen, Abmagerung, an den Lungen
weiter nichts gefunden wird, als an einer lokalisierten Stelle, einer
Lungenspitze, aber permanent: rauhes Atmen, oder abgeschwächtes
Atmen; oder rauhes sakkadiertes Atmen und wenn an der genau
/symmetrischen Stelle der anderen Lunge dieses Symptom gänzlich
fehlt.
So gerne ich zugebe, daß bei Erwachsenen, bei Kindern jen-
seits des 3. und 4. Lebensjahres und insbesondere zwischen dem
8.— 20. Lebensjahre dieser geringe Symptomenkomplex genügt, um
die Diagnose zu stellen und dementsprechend therapeutisch zu
handeln, so möchte ich doch hervorheben, daß ich beim Säugling
aas diesen Erscheinungen allein die Diagnose auf Tuberkulose
nicht stellen möchte. Sehr gewöhnlich kommen die ganz kleinen
Kinder, bei denen man im Laufe der Beobachtung die Diagnose
Tuberkulose oder auch erst „post mortem" diese stellt, nur unter
der Erscheinung von Abmagerung, mangelhafter Ernährung, ge-
paart mit Anämie zur Behandlung. Ausnahmsweise ist der Er-
nähi-ungszustand solcher Kinder ganz gut. ja sie können sehr fett
sein« daneben aber anämisch. Solche Kinder husten zuweilen lange
absolut gar nichts ich habe solche Kinder fleißig und genau auf
die Lungen untersucht und keinen objektiven Befund nachweisen
können, zuweilen stellten sich ei-st in den letzten Tagen einige,
oder auch viele verbreitete Geräusche ein, und dann bald nachher
enomfie Durchsetzung der Lungen mit Tuberkeln. In anderen
Fällen findet man eine bald besser, bald schlechter umschriebene
Dämpfung vom oder hinten, oben oder unten, verändertes Vesi-
kuläratmen, verschärftes verlängertes Exspirium, oder abgeschwächtes
Atmen, man hört Rasselgeräusche oder auch nicht ; wenn diese trocken
und kurz sind, hat man wohl eher Grund an Tuberkulose zu denken,
als bei reichlichen und feuchten. Sind lange Zeit, Wochen hin-
durch, diese Symptome vorhanden, bestehen fe'brile oder subfebrile
Temperaturen, dann ist ja der Verdacht auf Tuberkulose sehr groß.
364 XIX. Wy88
aber die Diagnose ist nicht sicher. Allerdings ist sie für mid
nahezu sicher, wenn der kleine Patient ans einer tuberkulOseB
Familie stammt oder wo ein an „offener" Tuberkulose leidendes
Individuum sich findet; wenn von den Eltern eines oder beide,
wenn bei den Großeltern eines tuberkulös ist, war oder an Tuber-
kulose gestorben ist. Fehlen alle diese Anhaltspunkte, suche icb,
wie die hygienischen Verhältnisse waren unter denen der Patient
draußen lebte. In ärophoben Familien, die vor jedem Luftzug,
vor jeder Erkältung ihr Entsetzen äußern und kein offenes Fenster
dulden, ist die Tuberkulosediagnose immer sehr wahrscheinlich
zutreffend ; aber beweisend ist all das nicht.
Daß der Nachweis von Tuberkelbazillen im Sputum von
Säuglingen wenig Wert hat, weil solches Sputum sehr schwierig
und selten zu bekommen ist, habe ich nicht nötig Dir zu sagen
Auch die Schleimaspiration aus Nase und Pharynxraum, verläuft
häufig, ja meistens negativ. Nichts Besseres ist zu sagen von der
Sputumaspiration aus dem Magen des Säuglings und dem Nach-
weis von Tuberkelbazillen in diesem Schleim.
R. Cruchet^ (Bordeaux) . hat neuerdings, wie schon früher
Eossei (1895) darauf aufmerksam gemacht daß man in den Fäces
tuberkulöser Kinder unter Umständen Tuberkelbazillen nachweisen
könne und zwar am besten mit Hilfe des Straßburger' sehen
Verfahrens; d. h. durch doppeltes Zentrifugieren des Stuhls. Es
fand Cruchet bei 3 tuberkulösen Kindern im 3. Stadium der
Lungentuberkulose jedesmal Tuberkelbazillen im Stuhl; bei
3 Kindern im 2. Stadium der Lungentuberkulose einmal im Stuhl
TuberkelbazUlen; in 5 Fällen von Lungentuberkulose im 1. Sta-
dium fand er dagegen nie Tuberkelbazillen. Bei Fällen mit bloßem
Yerdacht auf Tuberkulose, d. h. bei frischer oder alter Pleuritis,
im letzteren Falle mit frischer Lungenerkrankung, bei Bronchial-
drösentuberkulose , bei Bronchieektasie fand er unter 6 Fällea
4 mal Tuberkelbazillen im Stuhl. Bei chronischer Peritonitis bei
2 Beobachtungen 2 mal Tuberkelbazillen, und zwai* das eine Mal
in sehr großer Menge.
Auch aus den weiteren Mitteilungen Dr. Cruchet's geht die
unzweifelhaft hohe Bedeutung des Vorkommens von Tuberkel-
bazillen in den Dejektionen kleiner Kinder für die Diagnose von
Lungenerkrankungen hervor. Er erzählt einen Fall, in dem an-
1) Cruchet, Congrös iuternational de la tuberculose, a Paris 2-7 Oct.
1905 IL 216.
über PerkoBsioii und Auskaltation der Säuglinge etc. 36d>
fißglich keine Tuberkelbazillen sich im Stuhl auffinden ließen und
die Lungen keine wesentlichen Veränderungen zeigten. Später
faDd man Tuberkelbazillen in den „Fäces'^^ ohne daß die Lungen
erheblichere Erkrankung erkennen ließen;' erst 3 Wochen später
gelang es hier Erweichungssymptome aufzufinden.
In einem anderen Falle, bei einem 3jährigen Einde mit
schwerer familiärer Belastung, wurden bei geringfügigen Lungen-
Veränderungen Tuberkelbazillen in den Dejektionen gefunden, die
mit der Besserung resp. Heilung des Patienten wieder verschwanden.
Das sind sehr anerkennenswei*te, weil sichere Resultate und vor
der Hand werde auch ich einen größeren Wert auf die Unter-
sachung der Stühle von der Lungentuberkulose verdächtigen Säug-
lingen und kleinen Kindern legen, als bisher. Momentan beobachte
ich einen solchen Fall. Ein 7 Monate altes Enäbchen, 2. Kind
einer von beiden Eltern her tuberkulös belasteten Familie, leidlich
gut genährt, aber sehr anämisch, seit 10 Tagen fiebernd, im
hinteren Teil des linken Oberlappens ein Infilt4:at, im oberen Teil
des linken ünterlappens zerstreute trockene ßhonchi. Stunden-
lange Untersuchung des festen Milchstuhls ergibt keine Tuberkel-
bazillen; dagegen enthielt die Punktionsflüssigkeit des Subdural-
raumes, die etwas getrübt und unter geringem Druck ausfloß,
Tuberkelbazillen. Die Punktion wurde gemacht 24 Stunden nach-
dem sich plötzlich schwere Symptome einer akuten Cerebrospinal-
meningitis eingestellt hatten: Genickstarre, Rigidität der ganzen
Bückenmuskulatur und derjenigen der Unterextremitäten, ge-
steigerte Patellarreflexe, beständige Zuckungen in den Armen, im
Gesicht, Strabismus divergens, Teilnahmlosigkeit, Puls 160, nega-
tiver Augenspiegelbefund. Exitus nach wenigen Tagen.
Immerhin ist die Untersuchung der Dejektionen auf spärliche
Tuberkelbazillen eine sehr mühsame, zeitraubende und auch an-
strengende Arbeit. Und das Nichtauffinden von Tuberkelbazillen
berechtigt nicht Tuberkulose mit Sicherheit auszuschließen. Es ist
daher unsere Aufgabe auch die übrigen diagnostischen Methoden
zu benutzen, die uns Aufschluß geben können.
Das Suchen nach Miliartuberkeln im Augenhintergrund e ist
bei Säuglingen wohl oft etwas erschwert; gibt nicht häufig positives
Eesultat und beweist, wenn negativ, nichts ; ist aber immerhin eine
rasch ausführbare Sache.
So sehr die Radioskopische und Radiographische
Untersuchung in bezug auf die genauere Lokalisation der Tracheal-
und Bronchialdrüsen-Tuberkulose wertvoll ist, so leistet sie für die
366 ^l^' Wyss, Über Perkussion und Auskultation der Säuglinge etc
Entdeckung von Herden in den Lungen des Säuglings kauni viel
mehr als eine sorgfältig vorgenommene physikalische Untersuchung;
doch fehlen mir diesbezügliche eigene Erfahrungen.
Innerhalb der ersten zwei Lebensjahre ist die diagnostische
Tuberkelinjektion in der Regel nicht so wertvoll, wie in
späteren Jahren, weil die Schwierigkeiten in Hinsicht auf die
Diagnose in dieser Zeit gewöhnlich fiebernde Kinder betriflFt, bei
denen die Beaktion auch aus anderen Gründen gewöhnlich nicht
gerne herbeigezogen wird. Ich halte das geringe Alter für einen
berechtigten Gegengrund gegen die Tuberkulininjektionen, und b^
nutze sie daher bei kleinen Kindern nur ganz selten, ja fast nie.
Über den Wert der Serumreaktion als diagnostisches Mittel
sind die Ansichten zurzeit noch nicht abgeklärt. Tomescu und
GraQOski in Bukarest habpn bei tuberkulösen Kindern, nach den
Mitteilungen im Oktober 1905 am Pariserkongreß günstige Er-
fahrungen gewonnen. Sie geben an: eine positive Reaktion be-
weise fast sicher eine tuberkulöse Affektion. Eine negative Re-
aktion gestatte nicht, die Möglichkeit einer tuberkulösen Affektion
in Abrede zu stellen. Beweisen die klinischen Symptome die An-
wesenheit einer Tuberkulose, so kann die Agglutination doch fehlen,
infolge des sehr schlechten Allgemeinzustandes oder wegen der
sehr weit fortgeschrittenen Erkrankung. Es würde die Seram-
reaktion somit besonders im ersten Beginn und bei geringfügigen,
unklaren, oder sparsamen Symptomen wertvoll sein; namentlich
dann, wenn die bakteriologische Untersuchung ein negatives Er-
gebnis lieferte. Auch hierüber fehlen mir eigene Studien.
Ich schließe diese Zeilen, die Dir nur sagen mögen, daß ich
gerne mit Da^k und alter Liebe Deines 70. Geburtstages gedacht
habe, und an dem Tage, wenn er da ist, denken werde. Du hast
Deine Lehrtätigkeit aufgegeben ; ich weiß, nicht deshalb, damit Da
Dich zur Ruhe setzest. Eine große schöne literarische Tätigkeit
hast Du noch unternommen, und ich werde mich freuen noch zu
vernehmen, daß Du, der trefflichste Lehrer der Göttinger Univer-
sität, dank Deiner medizinischen Werke der erfolgreichste Lehrer,
nicht bloß der Studierenden, sondern auch der Ärzte ganz Deutsch-
lands, ja der ganzen Welt sein wirst.
Herzlichen Gruß und Glückwunsch!
Dein alter Freund
0. W.
Zürich/Wollishofen, August 1906.
XX.
Wilhelm Ebstein's
Arbeiten aus den Jahren 1859—1906.
Zasammengestellt
von
Dr. med. Erich Ebstein,
YolontilrassisteBt »m KraBkenhaas 1. d. Isar (München).
I. Allgemeines.
Immimität — Makrobiotik — Volksemähruns (Aleuronat) — 19'ekrologe —
Beiseerixinerungen — Spesialistentum — Charlatanerie und
Kurpfuscher uaw.
1891. Über die Unempfängiichkeit (Immnnität) gegen Krankheiten. Natnrwiss.
Enndschan Nr. 23 p. 286—289.
1891. Über die Ennst^ das menschliche Leben zn verlängern. Verb, der Ges.
deutscher Natnrforscher und Ärzte I p 53—74.
1891. Über die Kunst, das menschliche Leben zu yerlängern. (Wiesbaden.)
1892. Über eiweißreiches Mehl nnd Brot als Mittel zur Aufbesserung der Volks-
emährung. (Wiesbaden.)
1892. Od the use of the vegetable albumen in the dietetic treatment of diabetes
mellitus. Vortrag gehalten in dem annual meeting der British med. asso-
ciation. Nottingham. Med. Chronicle 1892. September.
1893. De Faleuronat ou albumine y^götable. La medecine scientifique I Nr. 1
p. 3—7.
1893. Vorschriften zur Herstellung eiweißreichen Brotes im eigenen Hause.
Deutsche med. Wochenschr. Nr. 18 p. 413 — 415.
1895. Einige Bemerkungen über die Verwertung des PflanzeneiweiUes in der
ärztlichen Praxis. Zeitschrift für ärztliche Landpraxis IV. Nr. 1 p. 1 — 10.
1897. Entziehungs- und Mastkuren. Die Umschau Nr. 16.
1898. Wilhelm Marm6. Nekrolog. Arch. f. exp. Pathologie und Pharmakologie
Bd. 40 p. 147 fif.
1900. Reiseerinnerungen aus dem medizinischen Ungarn mit beu. Berücksichtigung
des n. internationalen Kongresses für Kinderschutz in Budapest. Deutsche
med. Wochenschrift Nr. 3 u. 5.
1900. Zun lOÜ. Geburtstage von Friedrich Wühler. D. med. Wochenschr.
Nr. 20.
368 ^X. Ebstein
1903. Carl Ewald Hasse. Nekrolog. Chronik der Georg- Augnst-UniversitSt zu
Göttingen f. d. Rechnungsjahr 1902 p. 6—11.
1903. Die Krankheiten und deren Heilung bei den Deutschen von den ältesten
Zeiten bis zum 16. Jahrhundert. Beilage zur allgem. Zeitung Nr. 191
yom 25. August.
1903. Rudolf Yirchow als Arzt mit bes. Rücksicht auf die innere Medizin.
Münchener med. Wochenschr. Nr. 44 und Verhandlungen der 75. Vers, i
Naturforscher und Ärzte II, 2. p. 33.
1903. Rudolf Yirchow als Arzt. (Stuttgart bei Enke.)
1904. Die Wissenschaft und Kunst des Arztes. Umschau Nr. 3.
1904. Das Spezialistentum in der ärztlichen Praxis. Nr. 11.
1904. Über Referenten, Rezensenten, Kritikaster und Kritiker. Umsehaa VlII
Nr. 24 p. 461-465 vom 11. Juni.
1905. Über Schiller. (Schiller im Urteil des 20. Jahrhunderts. Jena bei Coste-
noble p. 69.)
1905. Charlatanerie und Kurpfuscher im Deutschen Reich. Stuttgart bei Enke.
1906. Der medizinische Versuch mit besonderer Berücksichtigung der Viriaektion.
(Verlag von J. F. Bergmann.)
IL Geschichte der Medizin.
1899. Die Pest des Thukydides (Die Attische Seuche). Stuttgart.
1899. Nochmals die Pest des Thukydides. Deutsche med. Wochenschrift Nr. 36.
1899. Zur Geschichte des Englischen Schweißes. Virchow's Archiv Bd. 158
p. 188—198.
1900. Über das Vorkommen der Rachitis im Altertum. Janns, Juli-Aagn^
p. 332-337.
1900. Historische Notiz betreffs der Wachstumsverbältnisse des menschiickn
Herzens. Janus, August-September, p. 405 — 406.
1901. Die Medizin im Alten Testament. (Stuttgart.)
1901. Einige Notizen über die Galle als Heilmittel. Janns, März, p. 146.
1902. Die Krankheiten im Feldzuge gegen Ruliland. (Stuttgart.)
1902. Ob es sich bei der Pest des Thukydides um die Bubonenpest gebanddi
hat? Janus, Heft 1.
1902. Über das Alter der Bubonenpest. Janus, März.
1902. Über die Mitteilungen von Jacob Bontius, betreiE»id die Dysenterie aof
Java im 3. Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts. Janus VII.
1903. Carl von Linne als Arzt. Janus VIII.
1903. Die Medizin im Neuen Testament und im Talmud. (Stuttgart)
1906. Zur Geschichte der Windpocken und deren Verhältnis zu den Pockea.
Janus, XI, Mai- Juni.
1906. Die Krankheit des Kaisers Sigmund (1410—1437). Mttnch. med. Wocbea-
Schrift Nr. 25.
IIL Medizinischer Unterricht.
1889. Über die Entwicklung des klinischen Unterrichts an der Göttinger Hoch-
schule und die heutigen Aufgaben der med. Klinik. Klinisches Jahrboeh I
(für 1888) p. 67—109.
Wilhelm Ebstein*» Arbeiten ans den Jahren 1859—1906. ggg
1$1. Unsere Heilmethoden. Klin. Vorlesung zur Eröffnung der neuen med.
Klinik in Göttigen am 29. April. (Wiesbaden.)
1891. Die med. Klinik in Göttingen. Klin. Jahrbuch III. Band p. 5—16.
1900. Leben und Streben in der Innern Medizin. Klinische Vorlesung gehalten
am 9. November 1899. Stuttgart.
IT. Hygiein<>.
1901. Stadt- und Dorfhygieine. D. med. Wochenschr. Nr. 1 u. 2.
1902. Dorf- und Stadthygieine unter bes. Rücksichtnahme auf deren Wechsel-
beziehungen für Ärzte und für die mit der Wahrnehmung der Interessen
der öffentl. Gesundheitspflege betrauten Verwaltungsbeamten. (Stuttgart)
y. Physikalische Diagnostik.
1876. Zur Lehre von der Herzperkussion. Berl. klin. Wochenschr. Nr. 35
p. 501—503.
1880. Notiz, betreffend die Herzperkussion. D. Arch. f. kl. Med. Bd. 27 p. 392.
1894. Über die Bestimmung der Herzresistenz bei Menschen. Nach einem in der
Sektion f. innere Medizin des XI. Internat, mediz. Kongresses in Rom am
3. April gehaltenen Vortrage, welcher in den Atti deir XI Congresso
medico Vol. III. Med. intern, p. 179 (Torino 1894) abgedruckt ist; dann
Berl. kün. Wochenschr. Nr. 26 u. 27.
1894. Ein federnder Perkussionsfinger. Berl. klin. Wochenschr. Nr. 47 p.
ia59— 1060.
1901. Einige Bemerkungen zur Geschichte des Stethoskopes. D. Arch. f. kliiv
Med. Bd. 69 p. 488—502.
1901. Die Tastperkttssion. Stuttgart.
1902. Nochmals die Tastperkussion. D. med. Wochenschr. Nr. 39.
YI. Terdanmigskanal iind Bauchfell.
1859. [11. Juli.] De mutationibus microscopicis cocti crudique amyli fluide oris
tractati. Diss. inaug. physiolog. Berolini.
1864. Retiknlierte Hypertrophie der menschlichen Magenschleimhaut. Arch. von
Beichert und du Bois-Reymond p. 568—582.
1864. Die polypösen Geschwülste des Magens. Arch. f. Anat.^ Physiol. u. Wissen-
schaft!. Medizin p. 94—136.
1865. Über polypöse Geschwülste des Magens. Autoreferat in der Wiener med.-
chirurg. Rundschau VI. Jahrg. p. 374—376.
186Ö. Ein i*all yon primitivem Krebs des Colon transversum mit Fistelbildun^
zwischen Colon und Magen einerseits und Colon und IJeum andererseits.
• Wiener med. Presse VI. Jahrg. Nr. 41 p. 993—997 u. Nr. 42 p. 1022—1024.
1866. Ein. kasuistischer Beitrag zur Lehre von den Hernien. Wiener med. Presse
VI. Jahrg. Nr. 45 p. 1089—1091.
1866. Über die Komplikation der Trichinose mit dem korrosiven Magen- und
Puodenalgeschwür. Wiener med. Presse VII. Jahrg. Nr. 12 p. 305—307
und Nr. 13 p. 342-344.
1867. Einige Bemerkungen über die Komplikation der Trichinose mit Magen-
DeutochM Archiv f. klin. MediEin. 89. Bd. 24
370 XX. Ebstein
affektJonen, insbesondere dem korrosiyen Magen-D aodenalgeschwür. Yirchow'a
Archiv Bd. 40 p. 289—294.
1870. (mit Dr. v. Brunn.) Experimentelle Beiträge zur Physiologie der Magen-
drüsen. Pflüger's Archiv Bd. 3 p. 565—574.
1870. Beiträge zur Lehre vom Bau und den physiologischen Fnnktionen der sog.
Magenschleimdrttsen. Arch. f. mikroskop. Anatomie Bd. 6 p. 515—538.
1872. Über Veränderungen, welche die Magenschleimhaut durch die Einverleibong
von Alko*hol und Phosphor in den Magen erleidet. Virchow's Archiv Bd. 55
p. 469-480.
1872. (mit Grützner.) Über den Ort der Pepsinbildung im Magen. Pflflger's
Archiv Bd. 6. p. 1—19.
1874. Über Pepsinbildung im Magen. Pflüger's Archiv Bd. 8 p. 122—151.
1874. (mit Grützner.) Kritisches und Experimentelles Über die PylomsdraseL
Pflüger's Archiv Bd. 8 p. 617—623.
1874. Experimentelle Untersuchungen über das Zustandekommen von Blntextia-
vasaten in der Magenschleimhaut. Archiv f. experim. Pathologie Bd. 2
p. 183—195.
1875. Über den Magenkrebs. K. Volkmann^s Sammlung klin. Vorträge Nr. S7
p. 685-720. Leipzig.
1879. Über die Nichtschlußfähigkeit des Pylorus (Incontinentia pylori). Volk-
mann*s Sammlung klin. Vorträge Nr. 155. Leipzig.
1880. Einige Bemerkungen zur Lehre von der Nichtschlußfähigkeit des Pylons
(Incontinentia pylori). D. Arch. f. klin. Med. Bd. 26, p. 295—324.
1883. Ist bei der Perforationsperitonitis im Gefolge des korrosiven Magengeschwüres
Erbrechen vorhanden? Wiener med. Blätter Nr. 4, p. 93—98.
1885. Klinisches und Kritisches zur Lehre von der Perforationsperitonitis. Z. 1
klin. Med. Bd. 9 p. 209—244.
1895. Über die Loslösung eines Stückes der Pylorusschleimhaut mit der Magen-
sonde. Berl. klin. Wochenschr. Nr. 4 p. 69—73.
1895. Trauma und Magenerkrankungen mit bes. Eücksichtnahme auf das üofall-
versicherungsgesetz. D. Arch. t klin. Med. Bd. 54 p. 442 — 471.
1897. Peritonitisartiger Symptomenkomplex im Endstadium des Morbus AddisoniL
Deutsche med. Wochenschr. Nr. 46.
1897. Nephritis acuta als Komplikation der Gastroenteritis chronica. D. me^
Wochenschr. Nr. 24.
1900. Die diffusen Erkrankungen des Bauchfells. In : Ebstein-Schwalbe, Handbndi
der prakt. Medizin Bd. 2 p. 1043—1089, 2. AufL 1905 p. 469—504.
1901. Die Untersuchung des Mastdarms von außen und deren therapeutische Ver-
wendung. Nr. 30.
1901. Die chronische Stuhlverstopfung in der Theorie und Praxis. (Stuttgart)
1904. Einige Bemerkungen zur Behandlung der Hyperacidität des Magensaftes
D. med. Wochenschr. Nr. 48.
1905. Darmpflege und Darmschutz. Umschau. Nr. 48.
YII. Leber und Ikterus.
1867. Katarrh der makroskopisch sichtbaren feinen Gallengänge als Ünache des
Ikterus bei einer akuten Phosphorvergiftung, ein kasuistischer Beitrag cor
Wilhelm Ebstein's Arbeiten ans den Jahren 1859—1906. 371
Lehre vom katarrhalischen Ikterus. Arch. der Heilkunde VIII. Jahrg.
p. 506-517.
1868. Katarrh der makroskopisch sichtbaren, feinen Gallengänge als Ursache des
Ikterus bei einer akuten (höchst wahrscheinlich Phosphor-) Vergiftung.
2. Kasuistischer Beitrag zur Lehre vom katarrhalischen Ikterus. Arch.
der Heilkunde IX. Jahrg. p. 219—231.
1869. Ein Fall von akuter Phosphorvergiftung nebst Bemerkungen über den
Ikterus bei derselben. Arch. der Heilkunde X. Jahrg. p. 379—^92.
1875. (mit J. Müller.) — Über den Einfluß der Alkalien und Säuren auf das
Leberferment Berichte der deutschen ehem. Gesellschaft zu Berlin 8. Jahrg.
1900. Erkrankungen der Leber, der Gallenblase und der Gallengänge, sowie der
Phortader. In Ebstein - Schwalbe , Handbuch der prakt. Medizin Bd. 2
p. 924—1032; 2. Aufl. 1905 p. 371-460.
1903. Zur Etymologie des Wortes Gelbsucht und der dafür gebräuchlichen
Synonyme. D. med. Wochenschr. Nr. 6.
1904. Die Strangulationsmarke beim Spulwurm in ihrer diagnostischen Bedeutung.
D. Arch. f. klin. Med. Bd. 81 p. 543—550.
Tin. Pankreas.
1899. Primärer, latent verlaufender Pankreaskrebs mit sekundären, hochgradigste
Dyspnoe bedingenden Elrebslokalisationen. D. med. Wochenschr. Nr. 5
p. 71.
1900. Krankheiten des Pankreas. In Ebstein-Schwalbe, Handbuch der prakt.
Medizin Bd. 2 pag. 1032—1043; 2. Aufl. 1905 p. 460-^69.
IX. Stoffwechsel.
A. CyBtiniirie — Fentosiirie — Phosphaturie etc.
1875. (mit JuliusMüller.) Brenzkatechin in dem Urin eines Kindes. Yirchow's
Archiv Bd. 62 p. 554-560.
1875. (mit Julius Müller.) Einige Bemerkungen über die Beaktionen des
Brenzkatechin in bezug auf das Vorkommen desselben im menschlichen
Harn. Virchow's Archiv Bd. 65. p. 394-397.
1878. Ein Paar neue Fälle von Cystinurie. Deutsches Archiv für klin. Medizin
Bd- 23 p. 138—151.
1882. Ein Fall von Cystinurie. D. Arch. f. klin. Med. Bd. 30 p. 594—602.
1882. Über das Vorkommen von Magnesiumphosphat im Harn von Magenkranken.
D. Arch. f. klin. Med. Bd. 31 p. 203—205.
1892. Vorläufige Mitteilung über das Verhalten der Pentaglykosen (Pentosen) im
menschlichen Organismus. Centralblatt für die med. Wissenschaften Nr. 31.
1892. Einige Bemerkungen über das Verhalten der Pentaglycosen (Pentosen) im
menschlichen Organismus. Virchow's Archiv Bd. 129 p. 401—412.
1893. Notiz über das Verhalten der Pentaglykosen im menschlichen Organismus.
Virchow's Archiv Bd. 132 p. 368—369.
1893. Notiz über das Verhalten der Pentaglykosen (Pentosen) im menschlichen
Organismus. Virchow's Archiv Bd. 134 p. 361—363.
. 24»
372 XX. Ebstbin
B. Vererbbare zellalate Stoffwechselkrankheiten.
1898. Einige Mitteilungen über die Körperkonsdtntion und deren ßeäebtmgea
zu den sog. Konstitutionskrankheiten. Yerli. d. Ges. deutscher Natur-
forscher usw. Teil 11 p. 73—76.
1898. Über die Stellung der Fettleibigkeit, der Gicht und der Zuckerkrankheit
im nosologischen System. Deutsche med. Wochenschrift Nr. 44.
1901. Fettleibigkeit, Gicht und Zuckerkrankheit (mit Einschluß der Glukosurie).
In Ebstein - Schwalbe, Handbuch III 2. Stuttgart p. 549—740; 2. M.
1906 Bd. 4 p. 389-512.
1902. Vererbbare cellulare Stoffwechselkrankheiten. Sechs Briefe an einen Fresnd
[Franz König]. (Stuttgart.)
1. Fettleibigkeit.
1882. Die Fettleibigkeit (Korpulenz) und ihre Behandlung nach physiologischen
Grundsätzen (Wiesbaden); die 8. sehr vermehrte Auflage erschien 1901
Von Übersetzungen seien hier u. a. nur genannt: zwei russische von K.P.
Iwanow (St. Petersburg 1884) und eine (Moskau 1887 erschienene), zwei
englische von Emil H. Ho eher (New York -Washington 1884) und A. H.
Keane (London 1884), je eine französische von L. Culmann (Paris 1883),
dänische von J. Liisberg (Kopenhagen 1884) und schwedische von C.Eke-
roth (Stockholm o. J.) u. a.
1885. Über Wasserentziehung und anstrengende Muskelbewegungen bei Pettsmcht,
Fettherz, Kraftabnahme des Herzmuskels etc. Eine historiseh-kritiBche
Studie. (Wiesbaden.)
1885. Über die Behandlung der Fettleibigkeit (Korpulenz). Verb. d. Oongr. t
innere Med. p. 9 — 32.
1885. Fett- oder Kohlenhydrate? Zur Abwehr in der Frage „Die Fettleibigkeit
und ihre Behandlung". (Wiesbaden.)
1900. Zur Behandlung der Fettleibigkeit. Deutsche med. Wochenschrift Nr. 16 n. 17.
1901. Fettleibigkeit, v. Leyden's Deutsche Klinik Bd. 3 p. 98—129.
1902. Über die Behandlung der Fettleibigkeit. Die Heilkunde VI, Februar.
2. Gicht- und harnsaure Diathese.
1880. Beiträge zur Lelire von der Gicht. D. Arch. f. klin. Med. Bd. SP7 ^ 1-^L
1882. Über den gichtischen Prozeß. Verhandhmgen des Kongr. f. innere Med.
(Wiesbaden) p. 79-83.
1882. Die Natur und Behandlung der Gicht. Wiesbaden; die zweite stark ver-
mehrte Auflage erschien ebenda 1906 (458 Selten), die erste Auflage ist
übersetzt ins Französische von D. E. Chambard (Paris 1887) mit ISfi^
leitung von J. M. Charcot; englische Übersetzungen in „The Med. Press
and Clrcular" (Oct. 1884 — Dec. 1885) und J. E. Burton (Lendon 1886).
1883. Die Therapie der Gicht inkl. einer Beurteilung der Cantani'schen Therapie.
Vereinsblatt des deutschefi Arztevereinsbundes X, Januar p. 1 — 7.
1885. Das Regimen bei der Gicht. (Wiesbaden.)
1889. Die Natur und Behandlung der Gicht, 1 Referat. Verh. des vm. Kofügr.
f. innere Medizin. (Wiesbaden) VIII 121.
1889. Über die Gicht. Beri. klin. Wochenschr. Nr. 17—19.
1891. (mit Ölkers und Sprague.) Beiträge zur Lehre von der hsrtsaiiren
Diathese. (Wiesbaden.)
Wilhelm Ebstein's Arbeiten ans den Jahren 1859—1906. 373
IM. (ttit A. Nicolai er.) Über die künstliche Darstellnng Ton hamsanren
Salsen in der Form von Spbärolithen. Yirchow's Archiv Bd. 123 p. 373—376.
1191.] (mit Ch. Spragne.) BeitrSge snr Analyse gichtisohiMr Tophi. Tirchow^s
Archiv Bd. 125 p. 207—219.
IM. Znr Lehre von der gichtischen Neuritis. Deutsche med. Wochenschrift
Nr. 31 p. 489.
1888. Über die Bezeichnungen der sog. hamsanren Diathese Eur LeukAmie.
Virchow's Archiv Bd. 154 p. 349—362.
1WD. Über die Hänfigkeit der Gicht in Schweden in der MHte des 18. Jahr-
hnnderts. Janns^ Febmar-März p. 87—90.
1801. Einige Bemerkungen ttber die Bezeichnungen zwischen der Gicht und den
Steinkrankheiten. Die ärztliche Praxis Nr. 4 (auch separat erschienen).
19011. Gicht. V. Leyden's Deutsche Klinik Bd. 3 p. 130—160.
1903. Obergutachten über die Frage, ob durch einen Unfall (Yerstauchung eines
Pufigeienkes) eine die firwerbsiffthigkeit beeinträchtigende yerschlimmervag
einer Veranlagung zur Gicht herbeigeführt worden ist. (Amtliche Nach-
riehten des Beichsversicherungsamte Nr. 8 p. 556—568, 1 Bd. Buchausgabe
p. 167.)
1904. Über die differentielle Diagnose der gichtischen Tophi der Ohrmuschel.
D. Archiv f. klin. Medizin Bd. 80 p. 91—97.
1904 (mit £. Bendix). Über das Schicksal der Purinkörper im tierischen Or-
ganismus. Virchow*s Archiv Bd. 178.
1904. Die Gicht des Chemikers Jacob Beraelins und anderer hervorragender
Mioner. Stuttgart (64 S. mit 1 Abb.).
1904. Über einen Fall von akuter tuberkulöser Bauchfellentzttndung bei einem
an primärer Gelenkgicht leidenden Kranken, zugleich ein Beitrag zur
Lehre von dem Nebeneinandervorkommen von Gicht und Tuberkulose. (L.
Bfauer's Beiträge zur Tuberkulose ü. Bd. 5. Heft.)
1904. WiUibald Pirckheimer's Gicht. Janus IX (November) p. 646-552.
8. Diabetes mellitus.
1881. Über Drasenepithelnekrosen beim Diabetes mellitus mit bes. Berücksich-
tigung des diabetischen Coma. D. Arch. f. klin. Medizin Bd. 28 p. 143 — 242.
1882. Weiteres über Diabetes mellitus, insbesondere über die Komplikation des-
selben mit Typhus abdominalis. D. Arch. f. klin. Medizin Bd. 30 p. 1—44.
1883. Das diätetische Regfimen beim Diabetes mellitus. Vereinsblatt des deutschen
Ärztevereinsbundes, Mai.
1807. Die Zuckerhamruhr, ihre Theorie und Praxis. (Wiesbaden.)
1892. Über die Lebensweise der Zuckerkranken, 2. Aufl. 1898, 3. Aufl. 1905.
1892. Zar Ernährung des Zuckerkranken. Verb. d. XI. Kongr. f. innere Medizin
p. 183—188.
1802. Znr Ernährung der Zuckerkranken. Deutsche med. Wochenschrift Nr. 19
p. 417—418.
1892. Zur L^re vom traumatischen Diabetes mellitus. Zugleich ein Beitrag zur
Lehre von den sog. traumatischen Neurosen. Berl. klin. Wochenschrift
Nr. 42 p. 1041—1043 und Nr. 43 p. 1079—1084.
1893. (mit Carl Schulze.) Über die Einwirkung der Kohlensäure auf die
dlastatifichen Fermente des Tierkörpers. Yirchow's Archiv Bd. 134
p. 475-500.
374 XX. Ebstkin
1895. Tranmatische Neurose and Diabetes mit bes. Berücksichtigung des Unfall-
versichemngsgesetzes. D. Arch. f. klin. Med. Bd. 54 p. 305—362.
1896. Des rapports entre le diabdte sncr^ et F^pilepsie. La Semaine Mediale
No. 23 p. 177—178.
1898. Beitrag znm respiratorischen Qasweohsel bei der Zuckerkrankheit Deutsche
med. Wochenschr. Nr. 7.
1898. Zur Lehre ron dem traumatischen Diabetes mellitus im Eindesalter. Die
ärztliche Praxis Nr. 18.
1899. Beiträge zur Lehre Ton der Lipämie, der Fettembolie und der Fettthrosh
böse bei der Zuckerkrankheit. Virchow^s Archiv Bd. 155 p. 571—686.
1899. Zur Lehre Tom traumatischen Diabetes mellitus. Die ärztliche Piaxis
Nr. 15.
1900. Diabetes mellitus, Unterleibskoliken und Oedeme in ihren Wechsel-
beziehungen. Z. f. klin. Med. Bd. 40.
1900. Die Toxintheorie des Diabetes mellitus. Deutsche med. Wochenschrift
Nr. 10 p. 170 f.
1904. Cheyne-Stokes'sches Atmen beim Goma diabeticum und Kußmaul's grofies
Atmen bei der Urämie. D. Arch. f. klin. Med. Bd. 80 p. 589—601.
X. Infektionskrankheiten.
1. Typhus abdominalis.
1869 [12. Juni.] Die Rezidive des Typhus. (Habilitationsschrift) Breslau.
1872. Sprach- und Koordinationsstörnng in Armen und Beinen infolge tod
Typhus abdominalis. D. Arch. f. klin. Med. Bd. 9. p. 528—531.
1885. Die Behandlung des Unterleibstyphus. 1885 (Wiesbaden).
1896. Initiale motorische Lähmung im Okulomotoriusgebiet und andere post^-
phöse Komplikationen bei einem Fall Ton Unterleibstyphus. Yirchov's
Archiv Bd. 145 p. 165—172.
1904. Einiges über Unterleibstyphus (Lokalisation des Typhusgiftes — Nephio-
tjrphus usw. Widal'sche Eeaktion — Antipyrese — Calomelbehandlnng —
Eehlkopfveränderungen beim Typhus). Die ärztliche Praxis Nr. 15.
2. Influenza.
1891. Einige Bemerkungen . über die sog. Nona. Berl. klin. Wochenschr. Kr. 41
p. 1005—1008.
1903. Über die Influenza. Münchener med. Wochenschr. Nr. 11 u. 12.
1903. Über das Wort „Influenza^ und seine med. Bedeutung. VirchoVs Archiv
Bd. 172 p. 520.
3. Chronisches Eückfallfieber.
1887. Das chronische Bückfallfieber, eine neue Infektionskrankheit BerL klii.
AVochenschr. Nr. 31 p. 565—568.
1887. Chronisches Bückfallsfieber. Eine neue Infektionskrankheit Zweite Mit-
teüung. Nr. 45 p. 837—842.
4. Diphtherie.
1869. Diphtheritis, eine Gefahr der rituellen Beschneidung. Archiv der Heil-
kunde X 393—399.
Wilhelm Ebstein's Arbeiten ans den Jahren 1869—1906. 375
5. Pocken.
1865. Über den fächerigen Ban der Pockenposteln. Yirchow's Archiv Bd. 34
p. 598—605.
1897. Znr Geschichte der Pockenimpfnng. Der ärztliche Praktiker X Nr. 1
(p. 2—11) nnd Nr. 2 (p. 32-43).
1903. Einige Bemerkungen zn der Geschichte der Eezidiye bei den Pocken.
Yirchow's Archiv Bd. 173 S. 575.
6. Maul- nnd Klauenseuche.
1896. Einige Mitteilungen über die durch das Maul- und Elauensenchengift beim
Menschen verursachten Krankheitserscheinungen. D. med. Wochenschr. 1896
Nr. 9 u. 10.
7. Zooparasitäre Tuberkulose.
1889. (mit A. Nicolai er.) Beiträge zur Lehre von der zooparasitären Tuber-
kulose. Virchow's Archiv Bd. 118 p. 432—445.
XI. Bespirationsorgane.
1876. Über den Husten. (^Yortrag.) Leipzig 1876.
1874—83. Krankheiten der Nase, des Kehlkopfs und der Luftröhre. Li: Yirchow-
Hirsch, Jahresberichte.
1890. Zur Lehre vom Krebs der Bronchien und der Lungen. D. med. Wochenschr.
Nr. 42.
1896. Lungenbrand infolge von primärem Lungenkrebs. Zeitschrift f. praktische
Ärzte Nr. 9 p. 271—278.
1900. Anfälle von Apnoe bei diphtherischer Lähmung. Genesung. D. med.
Wochenschr. Nr. 49.
1903. Über die Frührezidive bei der fibrinösen Lungenentzündung. Münchener
med. Wochenschr. Nr. 18.
1906. Über das Vorkommen von Blutgerinnseln im Auswurf. Arch. f. klin. Med.
Bd. 87 p. 509-519.
XII. Herz und Gefäße.
1866. Über einen sehr seltenen Fall von Insufficienz der Yalvula tricuspidalis,
bedingt durch eine angeborene hochgradige Mißbildung derselben. Arch.
von Beichert n. du Bois-Beymond (2. Heft) p. 238—254.
1869. Über drei seltene Fälle von Aneurysmen. Wiener med. Presse X. Jahrg.
Nr. 2^4.
1869. Znr Kasuistik der durch Aneurysmen der aufsteigenden Aorta bedingten
Stenose der Art. pulmonalis. D. Arch. f. klin. Med. Bd. 6 p. 281 — 283.
1874. Aneurysma einer unpaaren Art. cerebr. anterior. (Art. cerebr. anter.
communis.) D. Arch. t klin. Med. Bd. 12 p. 617—622.
1878. Über die auf größere Entfernung vom Kranken hörbaren Töne und Ge-
ränsche des Herzens und der Brustaorta. D. Arch. f. klin. Med. Bd. 22
p. 113—147.
1878 — 84. Krankheiten des Zirkulationsapparates. In: Yirchow-Hirsch, Jahres-
berichte.
376 ^SX EBSTBnr
1883. Über die Beziehnngen der SchwieLenbildjang im Herzen zn den Stönmgoi
seiner rhythmischen Tätigkeit. Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 6 p. 98— Ui
1892. Über die Diagnose beginnender Flüssigkeitsansammlnngen im HerzbeuteL
Virchow^s Archiv Bd. 130 p. 418-443.
1895. Angina pectoris neben Arthritis uratica nad Diabetes mellitus. Berl. kUn.
Wochenschr. Nr. 23—25.
1896. Znr Lehre von der hämorrhagischen Pericardiiis. D. Aroh. f. klin. Med.
Bd. 56 p. 509-527.
1899. Beiträge znr klinischen Geschichte der Endocarditis ulcerosa maligna. D.
Arch. f. klin. Med. Bd. 63 p. 217-265.
1899. Klinische Beiträge zur Lehre von der Hersarhythmie mit bes. Rücksicht
auf die Myocarditis fibrosa. D. Arch. f. klin. Med. Bd. 65 p. 81—128.
XIIL Blut
1889. Über die akute Leukämie und Pseudolenkämie. D. Arch. f. klin. Med. Bi 44
p. 343—396.
1894. Beiträge zur Lehre von der traumatischen Leukämie. D. med. Wochenachr.
Nr. 29 u. 30.
XIT. Nieren. Harnsteine.
1875. Nierenkrankheiten nebst den Affektionen der Nierenbecken und der üreteren.
In V. Ziemssen's spez. Pathologie und Therapie IX 2; 2. Aufl. 1878.
1878. Pyonephrose mit Ausscheidung von flüssigem Fett und Hämatoidinkristalien
durch den Harn. D. Arch. f. kl. Med. Bd. 23 p. 116—137.
1882. Krebs der Niere und Schilddrüse. D. Arch. f. klin. Med. Bd. 30 p. 3»
bis 406.
1882. Zur Lehre von den chronischen Katarrhen der Schleimhaut der Hamweg«
und der Cystenbildung in derselben, ü. Arch. f. klin. Med.. Bd. 31 p.63— 77.
1883. Beitrag zur Lehre von den Harnsteinen. Verb, des Kongr. f. innere Mediiiii
p. 175—179.
1884. Die Natur und Behandlung der Harnsteine. (Wiesbaden.)
1889. (mit A. N i c 0 1 a i e r.) Über die experimentelle Erzeugung von Harnsteinen.
Verb. d. VIII. Kongr. f. i. Med. (Wiesbaden.)
1 891 . (mit A. N i c 0 1 a i e r.) Über die experimentelle Erzeugung von Harnstcinai.
(Wiesbaden, bei Bergmann.)
1892. (mit A. Nicolai er.) Über die experimentelle Erzeugung von Schrompf-
nieren durch Oxalsäureoxamidfütterung. Verh. d. XL Kongr. f. innere Med.
(Wiesbaden) p. 518—522.
1896. (und A. Nicolai er.) Über die Ausscheidung der Harnsäure durch Äe
Nieren. Eine experimentelle Untersuchung. Virchow's Archiv Bd. 143
p. 337—368.
1899. Über die Lokalisation und einige Besonderheiten der Hautwassersucht ii
einem Falle von diffuser Nierenentzündung. Virchow's Archiv Bd. VA
p. 587—591.
1899. Über die Harnsteine bei Amphibien. Virchow's Archiv Bd. 158 p. 514—5^
1900. Zur Naturgeschichte der Harnsteine. Naturwiss. Rundschau Nr. 9.
WilheliD Ebgtein's Arbeiten aus den Jahren ldö9— 1906^ 3?7
XY. Nerreosystem.
1868. Fall Ton Grelumsarkoni bei einem 27« jährige» HSdehen. Arch. der Heil-
kunde IX. Jahrg. p. 439—443.
1872. Sclerofiis med. spinalis et oblongatae als Sektionsbefimd bei einem Falle
Ton Sprach- nnd Koordinationsstömng in Armen und Beinen infolge von
Typhns abdominalis. D. Arch. f. kl. Med. Bd. 10 p. 595 — 600.
1873. Über die Beziehungen des Diabetes insipidus (Polyurie) zu Eriätmkungen
des Nervensystems. D. Arch. f. kl. Med. Bd. 11 p. 344 — 374 .
1875. Über einen pathologisch-anatomischen Befund am Halssympathikus bei
halbseitigem Schweiß. Yirchow's Archiv Bd. 62 p. 436—437.
1883. Zur Ätiologie der akut sich entwickelnden Bauehtympanie Hysterischer.
Nenrolog. Centralbl. p. 25—31.
1895. Zur Lehre von den nervösen Störungen beim Herpes zotter mh besonderer
Berücksichtigung der dabei auftretenden Fadalislähmungen. Yirchow^s
Archiv Bd. 139 p. 50ö-63a
1897. Hiiiige Bemerkungen zur Lehre vom OhrenscliwindeL I>. Arch. f. klin.
Med. Bd. 56 p. 1—26.
1906. Ein Beitrag zur Lokaliaation an der GehirDoberfläehe. (KUaik für psy-
chische und nervöse Krankheiten, hg. von B. Sommer.)
1906. Myelitis aeuta (post influenzam?), Heilung. Ebenda.
1906. ;^ugd Bemerkungen zur Behandlung der syphiliüsefaen EArankungen des
Nervensystems. Ebenda.
XY. Muskels und Knochen.
1869. Angebomer Mangel der Portio stemo-coetalis pect, maior. und dea M. pect,
minor, dextr. nebst Yerkilmmening der Mamilla derselben Seite. D. Arch.
f: kl. Med. Bd. 6 p. 283-285.
1870. Großes Osteom der linken Kleinhinbemisphäre. Yirehow'a ArehiT Bd. 49
p. 145-164.
1870. Osteom des linken Hüftbeins und da MoBcahw psoas. Viiekow't Archiv
Bd. 61 p. 414-427.
XYIL Haut.
1863. Zur Ätiologie der Alopecia areata (Area Celsi). D. med. Wochenschr.
Nr. 53 p. 724.
188B. Denonstration eines Kranken mit symmetrisch lokalisierten oberflSchlichen
Hautentzftndungen und gleichzeitig auftretenden LShmungszustfinden auf
infektiöser (diphtherischer?) Basis. Berl. klin. Wochenschr. Nr. 27 p. 537—541.
1906l Zur Pathologie und Therapie der Sklerodermie im Kindesalter. D. med.
Wochenschr. Nr. 1 u. 2.
1903. Über akute umschriebene Hautentzfindungen auf angioneurotischer Basis.
Virchow's Archiv Bd. 174 S. 198—206.
190B. Über pockenverdftchtige Varizellen. Münch. med. Wochenschr. Nr. 19.
Xym. Yergiftiingen.
1893. Ein Fall von chronischer Bleivergiftung. Bd. 134 p. 541—552.
378 ^^- Ebstein, Wilhelm Ebstein's Arbeiten ans den Jahren 1859-1906.
XIX. Bildangsfehler.
1882. Über die Trichterbrust. D. Arch. f. klin. Med. Bd. 30 S. 411—428.
1883. Ein weiterer Fall von Trichterbrust. D. Arch. f. klin. Med, Bd. 33 p. 100-108.
1896. Vererbung* Ton Mißbildung der Finger und Zehen. Yirchow'B Archiv Bd. 143
p. 413-416.
1896. Eigentümlicher Krankheitsverlauf bei Uterus unicomis und Einzehdere.
Virchow's Archiv Bd. 145 p. 158—164.
XX. Therapie.
1869. Fr. Küchenmeister, Die therapeutische Anwendung des kalten Wassers bei
fieberhaften Krankheiten. (Referat.) Wiener med. Presse Nr. 14 p. 326 -S30.
1873. Über die Behandlung der Salivation mit Atropin. Berl. kl. Wochemchr.
X. Jahrg. Nr. 25 p. 291-292.
187B. (mit Julius Müller.) — Über die Behandlung der Zuckerhammhr mit
Karbolsäure. Berl. klin. Wochenschr. Nr. 49 p. 581—583.
.1875. (mit Julius Müller.) Weitere Mitteilungen über die Behandlung des
Diabetes mellitus mit Karbolsäure nebst Bemerkungen über die Anwendang
der Salicylaäure bei dieser Krankheit. Berl. klin. Wochenschr. Nr. 5 p. a3
bis 56.
1876. Zur Therapie des Diabetes mellitus, insbesondere über die Anwendung des
salicylsauren Natron bei demselben. Berl. klin. Wochenschrift Nr. 2i
p. 337-340.
1890. Mitteilungen über die auf der med. Klinik seither angestellten Versache
mit dem Koch'schen Heilmittel gegen Tuberkulose. D. med. Wochesachr.
Nr. 51.
1891. Bericht über die Wirksamkeit des Koch'schen Heilmittels gegen Tabe^
kulose. Klin. Jahrbuch. Ergänzungsband.
1891. Notiz, betreffend die therapeutische Anwendung des Piperazin. Berl. klin.
Wochenschr. Nr. 14 p. 341—342.
1899. Bemerkungen über die Behandlung der Fettleibigkeit mit SchüddrSsen-
Präparaten. Deutsche med. Wochenschr. Nr. 1.
1902. Über das Emodin und das Purgatin als Abführmittel. Therapie der (Gegen-
wart. Januar 1902.
1904. Exodin, ein neues Abführmittel. Deutsche med. Wochenschr. Nr. 1.
1905. Über die im Exodin (Schering) enthaltenen wirksamen ekkoprotischen Sub-
stanzen. D. med. Wochenschr. Nr. 2.
1905. Über die Behandlung der Abmagerung. Deutsche med. Wochenschrift Nr. 34
(auch abgedruckt in Schwalbe's Vorträgen über die praktische Thenpie
Heft 5. Leipzig.)
1905. Die Kneipp*sche Wasserkur, zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Hydro-
therapie. In den Beiträgen zur wissenschaftl. Medizin. Festschrift iv
. Feier des 80. Geburtstages von Geheimrat Dr. G. Mayer. Berlin be
Hirschwald.
1905. Noch einmal die Kneipp'sche Wasserkur. Deutsche med. Wochenschr. Nr. 26.
19Ö6. Eine Mitteilung über Bauchbinden. Deutsche med. Wochenschr. Nr. 24.
1 •
Nachtrag
zur Abhandlung von C. Rauchfaß:
Über die paravertebrale Dämpfung usw.
Zu p. 205. Den Wechsel in der Gestalt des Dreiecks bei veränderter
Lagerung beobachtete ich unlängst an einem 8jährigen Knaben; Ezsndat-
niyeau rechts am 8. Wirbel, Gipfel des linksseitigen Dreiecks am 9. Wirbel,
Basis 5 cm. Nach halbstündigem Liegen auf der rechten Seite hatte
sich die Basis um 1 cm verkürzt und nach 4 stündigem Liegen war das
Breieck vollkommen geschwunden, nur eine vertebrale Dämpfung hinter-
lassend. Die übrigens nicht sehr ausgesprochene Zone Hamburger 's
hatte sich nicht verändert. Es hatte sich also zweifellos der prall ge-
füllte, vor die Wirbelsäule nach links gerückte paravertebrale Pleura-
recessus durch die Brechtslagerung bedeutend entleert und das Zurück-
gehen des Dreiecks zeugt daher von seinem Konnex mit diesen Vor-
Yorgängen im hinteren Mediastinum, die Lage des Herzens hatte sich
nicht nachweisbar verändert; nach Ansteigen des Ergusses, Vergrößerung
des Dreiecks, Zunahme der Verlagerung des Herzens, ergibt die Wieder-
holung des Versuchs das gleiche. Sollte sich dieses Ergebnis als ein
konstantes herausstellen, was ans einer größeren Beihe von Beobachtungen
zu prüfen ist, dann hätte man eine wertvolle Vervollständigung der
differentiell-diagnostischen Bedeutung des Dreiecks gewonnen.
Die Abhandlung von Fr. v. Koranyi über den Perkussiousschall
der Wirbelsäule und dessen diagnostische Verwertung, nebst einer Be-
richtigung bezüglich des plenritischen (paravertebralen) Dreiecks (Zeitschr.
f. klin. Medizin 1906 LX 3. u. 4. H.) konnte ich leider nicht mehr in
meiner Arbeit berücksichtigen; K. gibt an, das Dreieck schon im Jahre
1897 im lY. Band des in ungarischer Sprache erschienenen Handb. d.
spez. Pathologie und Therapie p. 717 beschrieben und auf die Ver-
drängung des Mediastinum posticum zurückgeführt zu haben und zitiert
zugleich die auf das Dreieck bezüglichen Angaben aus seiner im XIII.
Bande der Bealencyklopädie von Eulenburg (3. Aufl.) erschienene
Abhandlung über Lungenkrankheiten (p. 656). Er fand die Erscheinung
in mehr als ^/g der Fälle und hält sie für brauchbar als Unterscheidungs-
merkmal von Langenhepatisation. Er fand die Dämpfung besonders im
mittleren Teile der hinteren Thoraxfläche ausgesprochen und die äußere
Dämpf ungsgrenze wellenförmig ; ich habe dies nie beobachtet.
380 Nachtrag zur Abhandlnng von G. Ranchfaß.
Nachtrag zu p. 215 u. f. Der 88. Band 1. — 8. Heft dieses AtcIutb
enthält eine Reihe sehr interessanter Abhandlangen yon Dietlen,
Moritz und Simons, welche ich leider erst nach Dmcklegong meiner
Arbeit zu Gesicht bekam; besonders nahe Beziehungen zum Inhalt memer
Arbeit fand ich in der Abhandlung von A. Simons über die SchweUen-
wertsperkussion an der Leiche. Ich möchte aus dem reichen und wert-
vollen Inhalt dieser Arbeit nur einen Hinweis hier noch aufnehmen, den
auf die im II. Jahrgang der Charitö-Annalen (1875) erschienene Arbeit
von C. A. Ewald über einige praktische Kunstgriffe bei Bestimmong
der relativen Herz- und Leberdämpfung. Auf p. 195 bespricht £. die
Schwierigkeiten, welchen man zuweilen (bei schwacher Inspiration, dickem
Fettpolster, starker Muskulatur, Meteorismus) bei der Ermittlung der
Lungenverschiebung gegen die Leber oder die linke und rechte Herz-
grenze begegnet. „Dann fuhrt oftmals noch ein Verfahren zum Ziel,
welches auf dem Gesetz der Schwellenwerte, dem psjchophysiachen Ge-
setze beruht. Bekanntlich ist der Reizzuwachs, welcher eine Empfindung
auslöst^ stets der schon v(Mrhandenen B.eizgrö6e proportional, d. h. je
stärker ein Reis ist, um so mehr muß er verstärkt werden, wenn eine
Verstärkung wahrgenommen werden soll, nnd die niedrigste übeihanpt
wahrnehmbare Beizstärke, der sogenannte Schwellenwert, muß, weil sie
■ich plötzlich aus dem Negativen ins t^ositive wendet, bei kleinster Beii-
stärke den größten Empfindungszuwachfl, nämlich den aus dem Ni^ftt in
Etwas, geben. ^ £. empfiehlt ganz leise Finger auf Finger sa perkntioren
und das Ohr in die Nähe der perkatierten Stelle zu bringen. Zweifellos
gebührt C. A. Ewald das Verdienst, die Bedentang des Schwellenverts
in die Perkussionslehre eingeführt zu haben.
XXI.
Alis der med. Abteilang des Augasta-Hospitals in KöId.
Einige Beobaehtnngen znr Lehre yom Kreislanf in der
Peripherie.
Von
M. Matthes
in Verbindung mit den Herrn
Dr. Qnenstedt, Dr. Gottsteln und Dr. Dabm.
(Mit 2 Abbildungen.)
Die Eesultate der hier zu beschreibenden Beobachtungen habe
ich bereits 1905 auf der Naturforscherversammlnng in Meran kurz
vorgetragen. Ich hätte für die ausführliche Publikation gern
noch neue Gesichtspunkte zur Erklärung der Befunde beigebracht.
Allein trotz weiterer mühseliger Experimente bin ich darin ohne
Erfolg geblieben. So mögen wenigstens die bisherigen Beobach-
tungen publiziert werden, weil sie einige neue, wenn auch nur
schwer eindeutig erklärbare Tatsachen ergeben haben und weil
ans ihnen der Stand unserer Kenntnisse auf diesem auch fär die
Therapie wichtigen Gebiete ersichtlich ist.
Ich bin von der Fragestellung ausgegangen: Gibt es in der
Peripherie selbständige Triebkräfte, die die Blutversorgung der
Organe unabhängig von der Herztätigkeit regeln oder kann man
eine solche Annahme ablehnen?
Bisher lehrt bekanntlich die Physiologie, daß die Blutdurch-
Strömung eines Organs abhängig ist von der Triebkraft des Herzens
und dem jeweiligen Kontraktionszustand des zuführenden Gefäßes,
wenn man die innere Reibung außer acht läßt. Jedenfalls ist nach
der heutigen Lehre die eigentliche Causa movens allein die Herz-
kontraktion ; die Kontraktion der Gefäße oder die Erschlaffung der-
selben reguliert nur den Widerstand der Blutbahn. Demgegenüber
haben von jeher namentlich die sich mit physikalischer Therapie
Deutsches Archiv f. klin. Medüsin. 89. Bd. 25
382 XXI. Matthbs
beschäftigenden Ärzte mehr oder minder klar die Vorsteilnog §[e-
nährt, da£ die Erweiterung der Blntbahn kein einfaches Nachlassen
einer vorhandenen Eontraktion, sondern, wie es gewöhnlich gesagt
wird^ ein aktiver Vorgang seL Denkt man darüber nach, worin
denn dieser aktive Vorgang bestehen könne, so ist es klar, dai
nur an eine Art Saugwlrkong gedacht werden kann.
Das würde dann allerdings eine selbständige, vom Herzen un-
abhängige Triebkraft sein. Man könnte diese VorsteUung dahin
präzisieren, daß die Kraft des Herzens die allgemeine Zirkulation
aufrecht erhält nnd daß aus dieser allgemeinen Zirkulation jedes
Organ die ihm jeweilig notwendige Blutmenge selbständig schöpft.
Diese Annahme einer Saugkraft in der Peripherie wird, soweit
ich sehe, bisher von der exakten Physiologie fast vollständig ab-
gelehnt. Sie hat aber neuerdings, namentlich durch die klinischei)
und experimentellen Beobachtungen Bier's und seiner Schäler.
wieder Bedeutung gewonnen. Bier hat bekanntlich für das Zn-
standekommen der Hyperämie nach Blutleere die Wirkung jedes
zentralen vasomotorischen Einflusses in Abrede gestellt. Er hat
ferner feststellen können, daß diese Hyperämie nicht in allen Or-
ganen gleichmäßig auftritt und endlich gezeigt daß den Gefallen
oder, wie er meint, den Geweben die Fähigkeit zugeschrieben wericD
muß, sich gegen venöses und arterielles Blut verschieden zu ver-
halten. In dem bekannten Versuch am Schwein zeigte Bier,
daß, wenn er das Tier vor Lösung der Esmarch'schen Binde
fast erstickte, in die blutleer gewesene Extremität nach Freigabe
der Zirkulation kein Tropfen des kohlensäureüberladenen Blutes
einlief. Dasselbe Gewebe, sagt Bier, welches arterielles Blut be-
gierig anlockt, wehrt sich mit Erfolg gegen den Zutritt des venöecn.
es vermag zwischen venösem und arteriellem Blute zu nnterscheideo.
Erwähnt mag femer hier die merkwürdige Beobachtung Ritter's.
eines Bier 'sehen Schülers, werden : Setzt man an einem ünteram
mittels Chloräthyl eine Hauterfrierung und wartet das AnftaneD
ab, so wird bekanntlich die erfroren gewesene Stelle hellrot hyper-
ämisch. Legt man nun am Oberarm eine Stauungsbinde ao, so
wird der ganze Arm dunkelblaurot, nur diese Stelle bleibt hellrot
Diese und ähnliche Beobachtungen lassen sich nun nach Bier
durch unsere bisherige Lehre vom Kreislauf nur schw^er erkl&rcn
und weisen auf eine Selbständigkeit der Gewebe hin. Bier spridrt
dann auch wiederholt von einem Anlocken des Blutes in die Ge-
webe und sucht die treibende Kraft im Stoffwechsel derselben, er
spricht auch einmal direkt von einer wie auch immer bediBgta
Einige Beobachtungen zur Lehre vom Kreislauf in der Peripherie. 383
Saugkraft der Gewebe fär arterielles Blut, aber er hat jedenfalls
seine Anschannngen nicht näher, etwa physikaliach. zu begründen
versucht
Deshalb erscheint es mir wichtig, die Fragestellung scharf zu
präzisieren. Gibt es überhaupt eine derartige Saugkraft nnd wo-
durch kann sie bedingt sein?
Ehe ich auf die Frage eingehe, möchte ich nur kurz aus der
älteren Literatur einige Beobachtungen anfahren, die den Bie lo-
schen Vorstellungen widersprechen.
So hat E. Hering in Leipzig, wie ich aus einer persönlichen
Mitteilung desselben weiß, schon vor vielen Jahren versucht, das
Blut der Vene direkt in die zugehörige Arterie zu leiten. Das
Resultat war eine Eontraktion der Arterie. Es wirkt danach also
venöses Blut einfach als Kontraktionsreiz auf die größeren Arterien
iiDd' man braucht noch nicht zu der Bier 'sehen Annahme zu greifen,
daß das Gewebe aiterielles und venöses Blut unterscheiden könne.
Femer hat sich Gaskell bereits 1877 mit der Frage beschäftigt,
ob etwa die bei der Muskelkontraktion entstehenden Zersetznngs-
produkte die st&rkere Durchblutung des Muskels während des
Tetanus und nach demselben verschulden. Gaskell glaubte diese
Annahme ablehnen zu müssen, weil eine Verstärkung des Induk-
tionsreizes während des Tetanus die stärkere Durchblutung sofoit
aufhebt und ebenso ein neuer fieiz nach Ablauf des Tetanus.
Die GaskelTschen Feststellungen bedürfen heute allerdings inso-
fern einer Modifikation, als die L n d w i g 'sehe Lehre, daß der Blut-
strom während des Tetanus beschleunigt sei, sich nach den neueren
Untersuchungen wohl kaum noch aufrecht erhalten läßt. Der Blut-
strom ist im Muskel nur während der Eontraktionspausen bei inter-
mittierender Beizung verstärkt im kontrahierten Muskel, in dem
die Gefäße zusammengedrückt werden, dagegen geringer (Literatur
bei Tschnewsky).
Doch nun zurück zu unserer Fragestellung und zwar wird die
erste Überlegung sein, kann man sich denn überhaupt theoretisch
die Möglichkeit einer Saugwirkung vorstellen? Zunächst ist da
zu sagen, daß die vasomotorischen Ealiberveränderungen der größeren
und kleineren arteriellen Gefäße unmöglich in dieser Art wirken
können, sondern nur durch einfache Veränderungen des Wider-
standes. Das habe ich namentlich Winternitz gegenüber wieder-
holt betonen müssen. Wir kennen (vgl. Exner) keine Muskeln
an den Arterien, die durch ihre Kontraktion das Gefäß erweitern,
25*
384 XXI. Matthrs
die Erweiterung ist vielmehr stets dui^ch Nachlaß der bestehenden
tonischen Kontraktion derselben bedingt.
Dagegen kann vielleicht die Elastizität der Arterie in be-
scheidenem Maße aktiv erweiternd wirken. Wir wissen ja. da&
eine durchschnittene Arterie klaift Wenn also an einer kontra-
liierten Arterie die Kontraktion nachläßt, so wird sie nicht nur
durch den zentralen Druck der andrängenden Blutwelle passiv er-
weitert sondern auch durch die vorher von der kontrahierenden
Kraft beanspruchte Elastizität aktiv geöffnet Es würde damit in
gleicher Weise eine Saugwirkung ausgeübt, wie sie etwa ein zu-
sammengedrückter Gummiballon oder ein Schwamm bedingt
Diese Saugwirkung wäre also als eine rein physikaliscb^ aber
nicht vital bedingte anzusehen. Ihr Inkrafttreten wäre nur die
indirekte Folge eines vitalen Vorganges, nämlich des Nachla^es
der Kontraktion der Gefäßmuskeln.
In einer ganz anderen Weise als in der Annahme einer Sang-
kraft wiU endlich Hasebroek in einer besonderen Tätigkeit der
Arterien eine periphere Unterstützung der Zirkulation sehen. Er
schreibt ihnen in seiner lesenswerten Arbeit, die allerdings fast
nur theoretische Erwägungen enthält, eine diastolisch-systolische
Propulsivkraft zu und stützt seine Ansichten namentlich dnrch
den Hinweis auf die bekannten rhythmischen Schwankungen der
Gefäße des Kaninchenohrs. Nun, wie dem auch sein mag, eine
echte Saugwirkung können die Arterien jedenfalls höchstens durch
ihre Elastizität ausüben, sonst sind sie ihrer ganzen Struktur nach
dazu nicht befähigt.
Es wäre demnächst zu fragen, ob bei den Kaliberverände-
rungen der Kapillaren etwa ansaugende Kräfte anzunehmen
wären.
Wir sind bisher über die Bedingungen des Kapillarkreislanfs
nur sehr mangelhaft unterrichtet Eine kritische Besprechung des
Bekannten haben vor 2 Jahren Stein ach und Kahn gegeben.
Es scheint mir aber vorläufig noch Ansicht gegen Ansicht zu stehen.
Die Strick er'sche Schule, als deren letzter Autor Biedl zu nennen
ist behauptet daß die Erweiterung einer Kapillare auf Kosten
ihrer Wandstärke erfolgen könne, daß sich also das Lumen ohne
gleichzeitige Änderung des Gesamtquerschnittes ändern könne.
Stein ach und Kahn dagegen verlegen die kontrahierende
Kraft in die, die Kapillaren umgebenden verästelten Kapillarwand-
zellen, die das Gefäß bei ihrer Kontraktion wie Faßreifen zusammen-
Einige Beobachtungen znr Lehre vom Kreislauf in der Peripherie. 385
pressen (Siegmund Mayer) sollen. Diese beiden Vorstellungen
sind natürlich prinzipiell verschieden. Die von Steinach und
Kahn würde die Kaliberschwanknngen der Kapillaren durchaus
in demselben Sinne wie die der Arterien zustande kommen lassen,
die Stricke r-BiedTsche dagegen in davon total verschiedener
Weise.
Für die letztere Ansicht spricht das Resultat einer Arbeit
von Henderson und Löwi: Über die Wirkung der Vasodilata-
torenreizung. Diese Autoren gipsten die freigelegte Speicheldrüse
eines Hundes ein und reizten dann die Chorda. Sie konstatierten,
daß trotzdem das Organ sich wegen der Eingipsung nicht ver-
größern konnte, doch auf Chordareizung die Blutdurchströmung
desselben stärker wurde. Sie kommen zu dem Schluß, daß bei
einer Vasodilatatorenreizung die Kapillaren nicht nur erweitert
werden in dem Sinne, daß ihr Gesamtdurchmesser wächst, sondern
auch wahrscheinlich dadurch, daß das Lumen sich bei gleich-
bleibendem Gesamtquerschnitt erweitert. Wie soll man sich nun
eine solche Erweiterung vorstellen? Unserer Ansicht nach ist
das nicht anders möglich und das ist auch die ursprünglich
Strick er 'sehe Auffassung, als daß die einzelnen Kapillarwand-
zellen dünner werden.
Nun darf man wohl ohne Frage die Gestaltsveränderungen
einer Kapillarwandzelle nicht in Parallele stellen mit der Kon-
traktion einer Muskelfaser der Arterie. Wir wissen über die Art
der Gestaltsveränderung nichts Sicheres, aber es steht der Vor-
stellung unseres Erachtens nichts im Wege, daß sie nach Art einer
amöboiden Bewegung vor sich geht. Dann aber und das ist scharf
zu betonen, würde nicht nur die Kontraktion zu einem mehr minder
dicken Körper sondern auch das Fließen in die Breite zu einer
mehr flachen Kuchenform mit einer Kraftentwicklung verbunden
sein können, ebenso wie eine Amöbe bei ihren Gestaltsverände-
rangen Kraft entwickelt. Denkt man sich nun ein Kapillarrohr
aus Zellen bestehend, die unter Kraftentwicklung in die Breite zu
ffieSen sich bestreben, so ist ganz klar, daß im Lumen ein nega^
tiver Druck oder wenn das Blut frei nachströmen kann, eine Saug-
wirkung entfaltet werden muß.
Wenn also die von Stricker, Biedl, Henderson und
Löwi vertretene Auffassung richtig ist, so erscheint die Annahme
einer peripher wirkenden Saugkraft theoretisch nicht unmöglich.
Direkt beweisen würde dieselbe ein Befand von Siaweillo.
386 XXL Mattubs
Derselbe will gefonden habeo, daß wenn man durch Keizang des N.
gloBBopharyngeus die Kapillaren der Froeohsunge erweitert, die Blat-
Strömung nicht nur von den Arterien, sondern auch von den Venen «»
gegen die Kapillaren hin erfolge. Die Arbeit war mir im Original
nicht zugänglich, ich citiere sie nach Nagel's Handbuch der Physiologie.
F. B. Hofmann, der das Kapitel des Handbuchs bearbeitet hat, ver-
hält sich etwas skeptisch dem Befunde Siaweillo's gegenüber.
Es warde nns, als wir an die Prttfttng dieser Frage heran-
traten^ nun sehr bald klar, daß weder die morphologische Beob-
achtung noch ähnliche Versachsanordnangen, wie die der erwähnten
Autoren zum Ziele f&hren konnten, sondern allein manometriscbe
Messungen, wenn man eine Sangwirkung sicher konstatieren oder
ausschließen wollte.
Dabei ergab sich die Schwierigkeit, daß man den durch die
Kontraktion des Herzens erzeugten positiven Blutdruck eliminieren
mußte.
Wir beschlossen daher zunächst die Verhältnisse an der Leiche
zu studieren und legten uns die Frage vor: Was ist denn über-
haupt der Inhalt einer Leichenarterie und unter welchem Drück
steht dieser Inhalt ? Wr hofften über diese Frage in der Literatur
ohne weiteres Auskunft zu finden, aber es scheinen systematische
Untersuchungen in dieser Hinsicht zu fehlen, namentlich steht aach
in Harwey's berühmter Abhandlung nichts darüber, als die
kurze Bemerkung, daß auch an der Leiche die Arterien nicht
immer leer seien, sondern Blut enthalten könnten.
Wir haben nun in den letzten Monaten systematisch auf dieses
Verhalten der Leicheuarterien geachtet und zwar wurde immer
die Cruralis unter möglichster Vermeidung von Verletzungen ihrer
Aste präpariert. Dann wurde eine mit einem Wassermanomekr
verbundene Kanüle eingestoßen und der Druck geprüft
In einigen Fällen wurde dann, nachdem die Cruralis unter-
bunden war, das Abdomen eröffnet und der Druck in der Aorta in
gleicher Weise geprüft Manchmal haben wir auch, nachdem vor-
her zentral und peripherwärts abgeklemmt war eine mit dem Mano-
meter verbundene Glaskanüle eingebunden und dann die periphere
Klemme geöffnet. Herrn Kollegen Jores, der mir die Leichen
zur Verfügung stellte, möchte ich hier dafür bestens danken.
' Ich lasse einen Teil der Protokolle folgen.
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Einige Beobachtungen zur Lehre vom Kreislauf in der Peripherie. 3B7
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Einigte Beobachtangen zar Lehre vom Kreislauf in der Peripherie. 389
Man sieht. aus dieser Zosammenstellungf, daß im allgemeinen
der Druck negativ ist, wenn die Arterie leer ist, positiv wenn sie
mit flfissigem Blute gefüllt ist, obwohl diese Regel nicht ganz
ohne Ausnahme ist. Bemerkt mag werden, daß die leeren Arterien
zwar meist ziemlich platt erscheinen, aber doch niemals ganz
kollabiert sind, wie etwa leere Venen, sie haben immer noch an-
scheinend etwas Lumen. Verschieden wurde der Druck an den
Gefäßen beider Seiten, wie aus den Tabellen hervorgeht, öfter
gefanden, gelegentlich sogar mit umgekehilem Vorzeichen wie
folgendes Beispiel beweist
Myocarditis
rechte
Cmralis
linke
Cmralis
+ 0,4
— 0,3
15Std. L. Ventrikel ^^^'^l^^'^
p.m schlaff Cnu-flüss.
^ Blut
1. Cruralis
leer.
In zwei Fällen wurde unmittelbar nach dem Tode der Druck
in der rechten Cruralis gemessen, dieselbe dann abgebunden und
nach einigen Stunden die Druckmessung links wiederholt, ohne daß
die Leiche bewegt war.
Tuberc. polm.
et Peritonitis
Pneumonie
rechte Cruralis -f- 8 nnmittelbar p. m.
linke „ — 0,4 14 Std. p. m.
rechte „ +9 unmittelbar p. m.
linke „ — 0,8 15 Std. p. m.
Dieses auffallige Eesultat veranlaßte uns zu einigen fort-
laufenden Beobachtungen. Es wurde die Kanüle unmittelbar
nach dem Tode in die Cruralis eingelegt und nicht wieder berührt,
die Arterie wurde vor Austrocknung geschützt.
1. Pneumonie: rechte Cmralis unmittelbar p. m.
5 Minuten später
20 „
1 Stunde ^
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2.
Sepsis : rechte Cruralis unmittelbar p. m.
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(Olaskanüle im
peripheren
Arterienende)
390
XXI. Matthjm
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5 Minaten später -^ 2,0
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4. Taberkulose: rechte Craralis unmittelbar p. m. +2,0
5 Minaten spftter + 2,6
5. Taberkulose:
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6. Versuch an einem großen
Hunde (dem eine Niere exstir-
piert war) Craralis
unmittelbar p.m. +1 ,0
Qef&ß ziemlich platt 10 Minaten später — 0,2
40 „ „ -0,8
in 10 Stunden auf — 0,2 absinkend.
Überblicken wir das beigebrachte Material, so ist dadurch ob-
streitig festgestellt, daß in einer Reihe von Fällen der Drack in
den Leichenarterien negativ und zwar bis zu 2,5 cm Wasser
minus sein kann. Unmittelbar nach dem Tode wurde dagegea
in allen Fällen der Druck positiv und zwar bis zu 10 cm Wasser
positiv gefunden.
Der positive Druck kann, wie aus dem Versuch am Hunde
hervorgeht, binnen 10 Minuten negativ werden. Der früheste
Termin, zu welchen an menschlichen Leichen der Druck negatir
gefunden wurde, war 4 Stunden nach dem Tode. Als besondei«
bemerkenswert ist hervorzuheben, daß bei den fortlaufenden Beob-
achtungen an menschlichen Leichen der Druck in den Arterien
während der ersten Stunden nach dem Tode anwuchs und zwsr
bis um 2 cm Wasser. Erwähnenswert scheint auch, daß die
Druckwerte so sehr verschieden ausfielen, die höchsten über 5 cm
Wasser wurden unmittelbar p. m. gefunden.
Was lehren nun diese Versuche ? Durch welche Kräfte können
<Ue beobachteten Druckschwankungen hervorgerufen sein?
Man mnß unseres Erachtens an drei Faktoren denken. Erstens
an die Schwerkraft des sich an den abhängigsten Partien der
Leiche ansammelnden Blutes, zweitens wäre namentlich fBr die
negativen Werte an eine von der Peripherie ausgeübte Saugkraft
Einige Beobachtuogeii zur Lehre vom Kreislauf in der Peripherie. 391
im Sinne Bier 's zu denken und endlich könnte die bisher all-
goiein angenommene agonale Kontraktion der Arterien, sowie ihr
%iehlaß in Frage kommen. Die negativen Werte wtirden sich
dum durch die bei der Kontraktion beanspruchte Elastizität der
Arterien erklären.
Für die erste Annahme der Wirkung der Schwerkraft mag
zBBäehst bemerkt werden, daß die Leichen alle flach auf dem
Kucken lagen und während der Beobachtung nicht bewegt wurden.
Dts ist unerläßliche Bedingung, denn sonst können, wie uns zu
diesem Zwecke angestellte Versuche lehrten, erhebliche Täuschungen
unterlaufen.
Versuch: Nephritiker 1 Va Stunden p. m. rechte Cruralis Druck
4- 5 cm. Keine Totenstarre. Durch Anheben des Beines läßt
sieh der Druck auf 20 cm und darüber treiben, beim Niederlegen
sinkt der Druck wieder ab und stellt sich, nachdem der Versuch
einige Male wiederholt war, auf + 0 bei gewöhnlicher Lage des
Beines. Durch Senken des Beines gelang es jedoch nichts einen
negaÜTen Druck zu erzeugen. In der Arterie war flüssiges Blut.
Es wäre damit die Wirkung der Schwerkraft erwiesen. Wir
kennen dieselbe ja auch am lebenden Organismus z. B. in den
Dmekschwankungen der Cerebrospinalflflssigkeit bei Lageverände-
nmgen, auf die man bei den Spinalpunktionen seit langem aufmerk-
sam geworden ist.
Nicht immer allerdings kommt diese Schwerkraft zur Geltung,
sie kann es wohl im wesentlichen nur, wenn flüssiges Blut in den
Qeftßen ist, aber selbst dann nicht immer, das mag folgendes Bei-
spiel erweisen.
Pneumonie. 3 Standen p. m.
rechte Femor. -{-7,0 linke Femor. -|-0,1 3 Standen p. m.
— 6,8 — 0,8 6 „ «
— 5,8 —0,4 14
Als nach 14 Stunden die Beine gehoben werden, steigt das
Manometer auf beiden Seiten kaum. Die Leichenstarre war zu
dieser Zeit ausgeprägt. Die Arterien waren auf beiden Seiten
nmd und enthielten flüssiges Blut.
Die zweite Annahme, die einer Saugwirkung im Sinne Bier 's,
glaabe ich für die Leiche ablehnen zu dürfen und zwar bestimmt
mach in erster Linie dafür die Beobachtung 4. Hier trat der
negative Druck erst nach vielen Stunden in die Erscheinung, nach-
dem in den ersten 3 Stunden ein positiver Druck vorhanden war.
Amth sonst wurde negativer Druck immer erst mehrere Stunden
392 XXL Matthes
Dach dem Tode — der früheste Termin an der menschlichen Leiche
war 4 Stunden p. m. — beobachtet. Es ist aber doch zum n^iii-
desten unwahrscheinlich, daß die Gewebe oder die Kapillaren erst
solange nach dem Tode saugen sollten. Auch scheint mir der
Umstand endlich, daß in der überwiegenden Anzahl von Leichen
(es sind noch etwa 20 Leichen mit positivem Druck nicht in die
Tabellen aufgenommen) der Druck eben positiv war, gegen die
Annahme zu sprechen, daß in der Peripherie gesangt wäre.
Nicht so sicher ablehnen läßt sich dagegen diese Annahme
für den Versuch VI am Hund, da hier der negative Druck schoa
nach 10 Minuten auftrat, ohne daß die Lage des Beines verända-t
wurde. Man könnte vielleicht sagen, daß beim natürlichen Tode
die Gewebe nicht sangen, daß aber beim gewaltsamen Tode, wo
die Gewebe noch lebenskräftig sind, die Möglichkeit der Annahme
einer Saugwirkung zugegeben werden muß.
Die dritte Meinung, daß die agonale Kontraktion der Arterie
die positiven Drucke und den postmortalen Druckzuwachs erkläre,
der Nachlaß der Kontraktion dagegen und damit die Wirkung dai*
vorher beanspruchten Elastizität die negativen Werte bedinge, hat
wohl zunächst die größte Wahrscheinlichkeit für sich und erklärt die
beobachteten Tatsachen am ungezwungensten. Allein es sind auch
ihr gegenüber gewisse Bedenken möglich. Einmal ist es sehr auf-
fällig, daß wir nie eine wirklich kontrahierte Arterie an der Leiche
gesehen haben. Entweder sind die Arterien blutgefüllt, dann sind
sie rund, oder aber sie sind leer, dann sind sie platt oder halb-
platt. Sie müßten doch aber, wenn sie kontrahiert wären, rund sein
Auch wird die Arterie des bis auf die Arterie und Vene ab-
getrennten Hundebeins platt und nicht rund, wenn man z^tral
dieselbe abklemmt.
Femer müßte immer, wenn die Elastizität der Arterie alleiB
den negativen Druck verschulden soll, die Eilfsannahme gemacht
werden, daß sie erst in Wirksamkeit träte, wenn das Blut in den
Kapillaren bereits geronnen sei. Denn sonst ist nicht einzusehen,
warum das Blut nicht nach der Richtung des negativen Druckes,
also aus den Kapillaren in die Arterien zurückströmen soUie.
Bleibt das Blut flüssig, so muß es eben durch besondere Kräfte
in dem Kapillan*aum zurückgehalten werden oder es müßten dem
Rückströmen Widerstände entgegenstehen, die der vorhandene
negative Druck nicht überwinden könnte. Z. B. die kapillare
Attraktion.
Das letztere ist aber unwahrscheinlich, weil wir tatsächlich
Einige Beobachtungen znr Lehre Tom Kreislauf in der Peripherie. 393
in dem einen Falle an einem vom Körper abgetrennten Hundebein
g^esehen haben, daß Blut aus der Arterie beim Heben des Beins
herauslief. Femer ist auch noch zu bedenken, daß der gefundene
negative Druck wahrscheinlich nicht dem anfanglich wirklich vor-
handen gewesenen entspricht. Die Arterie ist ja doch wohl sicher
nicht luftleer, sondern enthält voraussichtlich Gas. Ich habe zwar
dhs nicht untersucht, aber es läßt sich wohl annehmen, daß die
Arterie durch den negativen Druck entbundene Blutgase enthält.
Diese Entbindung von Blutgasen müßte selbstverständlich den
negativen Druck geringer erscheinen lassen als er wirklich ge-
wesen ist.
So sieht man, daß eine völlig einwandfreie Erklärung für die
beobachteten Tatsachen sich nicht geben läßt. Für am wahrschein-
lichsten halte ich, daß die agonale Eontraktion sowohl als die je-
weilige Lage des Körpers sie bedingen. Für unsere Fragestellung
aber mag genügen, daß man eine agonale Saugwirkung der Gewebe
im Sinne Bier 's mit großer Wahrscheinlichkeit ablehnen kann.
Wir wendeten uns nunmehr an den Tierversuch.
Da sich sehr bald herausstellte, daß die Erhaltung eines auch
geringen KoUateralkreislaufes die Arterien stets wieder füllte, so
wurde der Versuch folgendermaßen angeordnet. Ein Hundebein
wurde soweit amputiert, daß es nur noch durch Vene und Arterie
mit dem Körper zusammenhing, alsdann wurde in die Arterie eine
mit einem Manometer in Verbindung stehende T-Kanüle eingebunden,
nachdem die Arterie zentral und peripher abgeklemmt war. Es
wurde nach vollendetem Einbinden zunächst eine Abscisse ge-
schrieben, um den Nullpunkt zu bestimmen, dann wurde die Zirku-
lation freigegeben. Das Manometer schrieb dann also den Seiten-
dmck auf die Trommel. Nun wurde die Zirkulation zentral unter-
brochen. Die Kurve senkte sich mit einer Ausnahme stets nur
bis zur NuUpunktsabscisse oder blieb etwas darüber, ging aber
nicht tiefer, wie sie es doch hätte tun müssen, wenn in der Peri-
pherie gesaugt wäre. In einem Fall senkte sich die Kurve ca.
1—2 mm unter die Abscisse, ich möchte das aber, da ich es unter
einigen 20 Versuchen nur einmal sah, für einen Versuchsfehler
halten. Das Kesultat war auch nicht anders, wenn wir an den
amputierten Hundebeinen durch Senfteig eine ausgedehnte Hyper-
ämie erzeugten oder sie mit einer Esmarchbinde vorher blutleer
gelwfckelt hatten. Die Versuche waren sehr mühsam, sie wurden
in der verschiedensten Art angestellt, die Kanüle wurde teil-
394 XXI. Matthbs
weise z. B. auch schon vor der AmputaticMi eiDgebimdeiu dain
trat aber häufig, ehe die Amputation vollendet war, Gerinnung «hl
Nachdem wir &ber 20 Hunde geopfert hatten, haben wir diese T^-
suche als aussichtslos au^apegeben. Ich unterlasse deswegei die
Knrven abzubilden.
Da nun immerhin die Versuche am Tier mit fast völliger An-
putation eines Schenkels als recht gewaltsame, also unphysiologiscbe,
angesehen werden müssen, versuchten wir, ob wir nicht am uftver-
sehrt.en Organismus irgend eine Anordnung des Experiments finden
könnten, die eine ev. Saugwirkung sehen ließen.
Nach längerem Probieren und Überlegen schlug ich folgende
Anordnung ein, die im wesentlichen eine vergleichende Blntdrock-
messung an beiden Oberarmen ist.
Es wurden um beide Oberarme der Versuchsperson brdte
Kiva-Rocci'sche Manschetten gelegt und dieselben in üblicher Wäse
bis zum Verschwinden des Radialispulses aufgeblasen. Die gefan-
denen Druckwerte waren meist annähernd gleich oder doch aur
um wenige Millimeter verschieden. Nun wurde der Druck ab-
gelassen und dann der eine Arm bis zur Manschette mit einer
P^march'schen Binde blutleer gewickelt. Während die Esmarch-
binde noch lag, wurden nun beide Schläuche wieder aufgeblasen
und zwar mit einem Drucke, der den vorher bestimmten um etwa
30 mm übertraf, der also am Kontrollarm, so wollen wir den nieht
eingewickelten der Kürze wegen nennen, sicher den Puls miter-
drückte. Dann wurde die Gummibinde abgewickelt und nun langsam
der Druck in den Schläuchen erniediigt, bis zum Durchschlagen
der eraten Pulswelle.
Die Überlegung bei dieser Versuchsanordnnng war folgeide.
Dei' blutleere Arm müßte ja nach Bier saugen. Es würde also
in ihn das Blut nicht nur durch die Herzkraft hineingetrieben,
sondern auch aogesangt, müfite also schneller fließen als im KontroH-
arm oder, exakter gesagt, mit größerer Schnelligkeit, die durch
die Manschette verengte Stelle der Arterie passiei^n. Das kdnite
vielleicht sich dadurch ausdrücken, daß man verschieden \Af
Drucke auf beiden Seiten brauchen würde, um die Pulswelle am
Durchschlagen zu hindern.
Ich hatte erwartet, daß man an dem ev. saugenden Arm höhere
Werte finden würde, weil sich der +I^ruck auf der zentralen
Seite und der — Druck auf der peripheren Seite zum Trag^ Jes
in der Manschette befindlichen Druckes addieren müßte. AHein
die nähere Überlegung und die Aufklärung, die wir Physikern, vor
Einige Beobachtuugen zur Lehre vom Kreislauf in der Peripherie. 395
allem Herrn Geheimrat Winkelmann in Jena, verdanken, zeigten,
daß die Sachlage nicht so einfach ist. Voraussetzung ftr die
strombeschlennigende Wirkung der ev. Sau^raft ist, daß das
Lamen der Arterie nicht absolut durch den Manschettendradc
yersehlossen ist, denn sonst ist kein Strom da, den sie beschleu-
nigen kann. Im Gegenteil, es läßt sich erwarten, daß sie die
Arterie auf eine Strecke peripher der Manschette leer saugt oder,
ftüls diese schon durch die vorhergegangene Einwirkung mit der
Esmarchbinde entleert sein sollte, jedenfalls der Elastizität der
Arterie, die die leere Arterie zu 6ißien sich bestrebte, entgegen-
wirken mußte. Auf beide Weisen mttßte der Erfolg sein, daß die
Arterie nicht nur durch den Druck der Manschette verschlossen
wurde, sondern peripherwärts durch eine ev. Saugkraft eine Strecke
weit dieser Verschluß ausgedehnt würde, wie folgende, grob schema-
tische Zeichnung erläutert.
Fig. 1.
Ganz anders ist die Wirkung, wenn der Blutstrom nicht völlig
unterdrückt wird, wie dies bei der üblichen Druckmessung wohl
zutrifft.
Prof. Hoffm an n- Innsbruck, mit dem ich die Frage besprach,
hatte wenigstens die Ansicht, daß mit dem Verschwinden der Pnls-
welle in der Peripherie die Strömung in der Arterie nicht völlig
unterdrückt wäre, sondern daß schon ein gewisser Widerstand die
Pulswelle am Durchschlagen hindert eine Vorstellung, die uns ja
von den Kapillaren her geläufig ist. Besteht also noch eine Strö-
mung in der Arterie, dann wird eine periphere Saugkraft dieselbe
beschleunigen. Die von mir befragten Physiker ^waren nun der
Ansicht, daß für diese Strömungsbeschleunigung sich der zentrale
positive Druck und der periphere negative einfach im arithmeti-
396
XXI. Matthes
sehen Verhältnisse addieren müfiten. Dagegen triflR; das nicht ohne
weiteres für den Seitendruck der strömenden Flüssigkeit za, auf
dem der Manschettendmck lastet. Es läßt sich vielmehr w(^ ab-
nehmen, dafi die Flüssigkeit, wenn sie mit größerer Geschwindig-
keit durch die Stenose strömt, einen erhöhten Seitendni(d[ augüü,
aber dieser Seitendmck ist nicht im arithmetischen Verhältnis v(a
der Strömungsgeschwindigkeit abhängig.
Um nun die Richtigkeit dieser Annahme auch experimentell
zu prüfen, konstruierte ich mir ein Modell, dessen Einrichtung in
beistehender Zeichnung ersichtlich ist. Ein weites Glasrohr, das
mit einem seitlichen Ansatz versehen ist, wird auf beiden Ende»
mit Gummistopfen verschlossen, durch die Glasröhren gesteckt mL
Fig. 2
Beide Glasröhren sind im Lumen des weiten Rohres durch eineii
dünnwandigen, leicht komprimierbaren Gummischlauch verbondat
Das eine Glasrohr wird dann mit einer Mariotte'schen Flasche in
Verbindung gesetzt, das andere mit einem T-Rohr, dessen einer
Schenkel frei mündet, dessen anderer mit einem langen Gummi-
schlauch versehen, als Heber wirkt.
Läßt man nun bei abgeklemmtem Heber durch den Apparat
aus der Mariotte'schen Flasche Wasser laufen, so kann man den
Strom dadurch unterbrechen, daß man mittels eines Gebläses die
Einige Beobachtungen znr Lehre vom Ereislanf in der Peripherie. 397
weite Glasröhre unter Druck setzt und den komprimierbaren
Oommischlauch zudrückt. Saugt man gleichseitig mittels des
Hebers, so wird ein erheblicher höherer Druck gebraucht, um die
Strömung zu unterbrechen, als wenn das Wasser ohne Heberwirkung
frei ausströmt.
Damit ist erwiesen, daß eine Saugwirkung der Flüssigkeit
einen stärkeren Seitendruck verleiht.
An sich ist zwar klar, aber es mag. weil diese Überlegungen
etwas verwickelt sind, doch noch einmal hervorgehoben werden,
daß nur eine Saugkraft in der Peripherie an der durch die Man-
schette gesetzten Stenose den Blutstrom über das von der Herz-
kontraktion abhängige Maß zu beschleunigen vermag, nicht aber
ein einfaches Nachlassen einer vorher bestehenden Arterienkontrak-
tion. Die Saugkraft kann aber, wie wir auseinandersetzten, ent-
weder im Sinne B i e r 's angenommen werden oder in der Elastizität
der Arterien bez. des Gewebes gesucht werden, da der Arm ja
vorher durch die Binde stark komprimiert war.
Die Versuchsresultate wai^n verschiedenartig. In einer Seihe
von Fällen wurden erhebliche DruckdiiTerenzen an beiden Armen
beobachtet in anderen zeigten sich keine Unterschiede und zwar
verhielten sich nicht einmal dieselben Versuchspersonen immer
gleich.
Bemerkt mag werden, daß je ein Beobachter einen Arm kon-
trollierte, je ein Beobachter den Druckballon des Riva-Kocci be-
diente. In einigen Fällen wurden, um jede Suggestion auszuschließen,
als Pulsbeobachter Kollegen gebeten, die den Zweck der Versuche
und das zu erwartende Resultat in keiner Weise kannten.
Ich lasse einige Protokolle folgen und zwar zunächst die mit
Druckdüferenz, die ich als positiv ausgefallen bezeichnen möchte.
I. VersQchspenon Marx, gesund.
Rechter Arm gewickelt, linker Arm Kontrollarm.
Beobachter rechter Manometer Matthee, linker Gottstein.
Beobachter rechter Pals Pjof. Tilmann, linker Quenstedt.
Vor der Wicklnng:
Rechte 94, 96 mm Hg. Links 94, 97 mm Hg.
Die Esmarchbinde liegt 2 Minuten lang. Es wird auf beiden Armen
Druck von 120 mm Hg geaetst und allmählich erniedrigt.
Nach Abnahme der Binde :
ReehtB 86, 99, 150, 100 mm Hg. Links 95, 94, 98 mm Kg.
Bemerkt mag dabei werden, daß der eingewickelt gewesene
Devtacbes Archiv f. klin. Medisin. 89. Bd. 26
398 XXI. Matthks
Arm auch nach Abnahme der Wicklung zunächst leichenblaß bldH
ein sicheres Zeichen, daß der Manschettendruck genfigt hatte, m
die Zirkulation zu unterbrechen, sind dagegen nach EmiedrigoBg
des Manschettendrucks einige Pulse durchgeschlagen, so fing der
Arm an sich zu röten, läßt man die Zirkulation dann länger frei
so entwickelt sich die bekannte reaktive Hyperämie. Die Ab-
sperrung der Zirkulation wurde von manchen Personen bald, Ton
den meisten nach etwa 5 Minuten unangenehm empfunden, es
treten Gefühle von Kriebeln, die sich bis zum Schmerz steigen
konnten auf. In einigen Fällen ist wohl die Steigerung des all-
gemeinen Blutdruckes, die dann der Kontrollarm anzeigte, auf
diesen sensiblen Reiz zu beziehen. Im allgemeinen wurde darauf
gesehen, diese Nebenwirkung der Zirkulationsabsperrung zu yer-
meiden und dies gelingt, wenn man die Esmarchbinde nicht über
5 Minuten liegen läßt.
Die anfänglichen Werte wurden als Mittel von je drei Ab-
lesungen bestimmt. Nach der Wicklung konnten wegen der
raschen Änderung Mittelwerte nicht gewonnen werden.
Versuch U. Gesunder Mann (Laboratoriumsdiener).
Vor der Wicklung:
Versuchsarm 120 mm. Kontrollarm ebenso.
Nach Lösung der Binde :
Versuchsarm 107, nach 15 Pulsen 130, dann 165
Kontrollarm 125 125 125
Versuch III. (iresunder Medisinalpraktikant.
Vor der Wicklung:
Versuchsarm 110. Kontrollarm 112.
Nach Lösung der Binde:
Versuchsarm 100, allmählich bis auf 150 nteigend
Kontrollarm 112, 115.
Versuch IV. Gesunder Assistent.
Vor der AVicklung:
Versuchsarm 117. Kontrollarm 125.
Nach Lösung der Binde:
Versuchsarm 108, 112, 155, nach 5 Min. freier Zirkulation 109
Kontrollarm 125, 130, 135, 121
Versuch V. Gesunder Mann, derselbe wie bei Versuch I.
Vor der Wicklung :
Versuchsarm 90. Kontrollarm 1^2.
Nach Lösung der Binde :
Versuchsarm 81, 123, l53, 158, 146, nach 5 Min. freier Zirk. 92
, ,,. KQntroUarm 89, 95, 94, 94, , 88
r
Einige Beobachtungen zur Lehre vom Kreislauf in der Peripherie. 399
Versach VI. Assistent.
Vor der Wicklang:
Versachsann 120. Kontrollarm 120.
Nach Lösung der Binde:
Versuchsarm 123, 136, 148, 160, 148, 140
KontioUarm 115, 126, 124, 124, 127.
Es mögen diese Beispiele genügen, die ans einer größeren
Zahl beliebig herausgegriffen sind.
Ihnen stehen aber auch Fälle gegenüber, in denen entweder
überhaupt keine erhebliche Schwankung beobachtet werden konnte
oder doch nur eine anfangliche Senkung des Druckes am Versi(chs-
arm, aber keine spätere Steigerung über den Wert vor der
Wicklung.
Als Beispiele mögen angeführt werden:
Versuch VII. Gesunder Mann.
Vor der Wicklung:
Versuchsarm 135. Kontrollarm 140.
Nach Lösung der Binde:
Versuchsarm 120, 130, 130
Kontrollarm 141, 141, 140.
Versuch VIII. Dieselben Personen wie bei Versuch I und V.
Vor der Wicklung:
Versuchsarm 83. Kontrollarm 82.
Nach Lösung der Binde:
Versuchsarm 77, 80, 90, 90, 85
Kontrollarm 83.
Im ganzen wurden einige 100 Versuche angestellt, von denen
etwa ein Drittel positiv ausfiel. Einigermaßen konstant erwies
^ch bei fast allen Versuchen die anfängliche Drucksenknng am
Versuchsarm. Überblickt man die Versuche, so muß man sagen,
daß sie zu den eingangs gemachten theoretischen Erörterungen
wohl zu stimmen scheinen. Die anfangliche Drucksenkung wäre
dann dadurch zu erklären, daß eben durch eine Saugkraft in der
Peripherie die Arterie nicht nur an der Stelle der Manschette
komprimiert war, sondern noch ein Stück peripherwärts. Es muß
also dann, um die Passage zu öffnen, deshalb der Druck in der
Manschette stärker erniedrigt werden als am Kontrollarm.
Trotzdem erscheint es mir fraglich, ob diese scheinbar so plausible
Erklärung für die anfängliche Drncksenkung zutri£%. Versuchte ich
nämlich den Vorgang an dem oben beschriebenen ModeU nachzuahmen,
so gelang das nicht. Zwar wurde, wenn der Druck im weiten Blasrohr
so hoch gesteigert wurde, daß auch bei Heberwirkung Wasser nicht mehr
26*
400 XXT. Matthbs
aus der Mariotte'schen Flasche lief, in der Tat sowohl der komprimier-
bare Schlaach zusammengedrückt, als auch das zum Heber abf&hrende
Schlanchstück leer gesaugt. Allein wenn ich den Druck im weiten Giss-
rohr nun soweit erniedrigte, daß das Wasser eben zu strömen begann, so
ließ ein Abschluß der Heberwirkung, dieses Strömen wieder stocken. Ich
konnte also am Modellapparat die in den Versuchen beobachtete anfang-
liche Dmcksenkung durch Leersaugen eines Stückes in der Peripherie
nicht erhalten. Freilich kann daran der Umstand schuld sein, daß das
durch den Stopfen gehende Olasrohr, welches den Schlauch im Innen
des Modells mit dem abführenden verbindet, sich nicht komprimieren
läßt, sondern als luftverdünnter also saugender Baum wirkt.
. Ist dagegen die Passage wieder hergestellt, so würden die in
den positiven Fällen beobachteten Drucksteigerungen bis zu 50 mm
Hg eben ein Ausdruck der durch die Saugkraft gesetzten starken
Strombeschleunigung an der durch die Manschette stenosierten
Stelle sein, da diese Strombeschleunigung den Seitendruck Ter-
mehrt. Warum diese Blutdrucksteigerung in etwa zwei Drittel
der Fälle vermißt wurde, wäre nun weiter zu fragen? Das konnte
verschiedene Gründe haben. Einmal ist ja notorisch die sekundäre
Hyperämie nach Wicklung mit Esmarch'schen Binden durchaus
nicht immer stark ausgeprägt und im allgemeinen zeigten and
unsere negativen Fälle nach Freigabe der Zirkulation die Hyper-
ämie in nicht so starkem Maße wie die positiven, bei welchen
letzteren die Pulswelle auffallend groß und voll war. Dann aber
ist zu bedenken, daß, um die Strombeschleunigung zu finden,
der Zeitraum im Versuch beobachtet werden muß, indem der Ann
noch nicht sich mit Blut gefüllt hat, denn wenn der Arm nicht blut-
gefüllt ist. kann, so sollte man wenigsens meinen, die Saugkraft
nicht mehr zum Ausdruck kommen, sie ist schon verbraucht und
hat ihre Arbeit geleistet. Tatsächlich fanden wir auch, wenn die
Hyperämie bereits stark ausgeprägt war, gewöhnlich keine Dife-
renzen mehr, sondern eben nur anfangs, bevor der Arm sieh mit
Blut gefüllt hatte.
Damit würde übereinstimmen, daß es uns nie gelang, ii^gendwie
erhebliche Druckdifferenzen zu finden, wenn wir den Versachsam
durch ein Heißluftbad stark hyperämisch gemacht hatten.
Ich lasse zum Belege einige Protokolle folgen.
1. Gesundes Mädchen.
Vor der Erhitzung:
Versuchsarm 111. Kontrollarm 109.
Nach der Erhitzung von 30 Minuten :
Versnchsarm 90, 90, 96, 118, 96. Kontrollarm 98, 108, 111.
Einige Beobachtungen zar Lehre vom Kreislauf in der Peripherie. 401
2. Dieselbe Person.
Vor der Erhitzung:
Versuchsarm 109, 108. Kontrollarm 108, 105.
Nach der Erhitzung:
Versnchsarin 100, 104, 102, 102. Kontrollarm 98, 98, 104, 96.
B. Chronische Arthritis. Arm eine Stunde erhitzt.
Nach der Erhitzung:
Versuchsarm 120, 115, 120. Kontrollarm 110, 113, 115.
Es sind ca. 20 Versuche in dieser Art angestellt worden, die
Hyperämie des Versuchsarmes war stets eine beträchtliche. Die
beobachteten Differenzen gingen aber nie über 10 mm hinaus,
fallen also in den Rahmen der Versuchsfehler. Die mitgeteilten
Protokolle sind die mit den erheblichsten Differenzen, in den
meisten anderen Fällen waren gar keine Unterschiede vorhanden.
Die Versuche waren teils vorgenommen, nachdem der Arm aus
dem Heißluftbade entfernt war, teils aber wurde auch bestimmt,
während der Arm noch im Heißluftbade war, es mußte dann dei*
Beobachter seine eigene Hand gleichfalls in das Heißluftbad stecken.
Ebensowenig gelang es uns bei anderen Hyperämien z. B.
durch Senf oder bei der reaktiven Hyperämie nach Kälte sichere
Differenzen zu finden. Es sind allerdings mit diesen Arten der
Hyperämien nur wenige Versuche angestellt worden.
Es überraschte mich daher sehr, in der Literatur eine Angabe
zu finden, die doch zu beweisen scheint, daß Druckdifferenzen an
den Arterien beider Aime auch unter anderen Bedingungen als
bei der Entwicklung einer Hyperämie sich finden können. Buchner,
Fuchs und Megele beobachteten nämlich, daß Alkoholumschläge,
und zwar besonders solche mit normalem Propylalkohol, den Blut-
druck erhöhen. Sie haben gleichfalls die Methode der vergleichen-
den Blutdruckmessung gewählt und mit den damals üblichen
schmalen Riva-Rocci-Manschetten bestimmt. Sie teilen vier Be-
stimmungen mit, bei drei davon wurden Erhöhungen des Blut-
drucks zwischen 19 und 13 mm gefunden, bei einer dagegen ein
Unterschied von — 2.
Äthylalkoholumschläge geben weniger ausgesprochene Er-
höhungen. Einfache feuchtwarme Prießnitzumschläge differieren
bis zu höchstens 13 mm, die meiner Ansicht nach noch in den
Rahmen der Versuchsfehler fallen.
Buchner, Fuchs und Megele betonen ausdrücklich, daß
die Alkoholumschläge keine Hyperämie der Haut zur Folge hatten.
Sie halten dafür: „daß eine lokale Steigerung des Blutdruckes
402 XXI. Matthbs
nichts anderes als die Folge und der Ausdinick einer lokal er-
zeugten Erweiterung der arteriellen Gefäße sei, durch welche die
Widerstände für die Blutbewegung und damit die Verluste durch
Reibung vermindert wurden." Diese Ansicht scheint mir schon
deshalb nicht haltbar, weil ja die Riva-Bx)cci- Manschette über der
beeinflußten Stelle liegt, denn Buchner, Fuchs und Megele
haben den Arm nur vom Handgelenk bis zur Ellenbogenbeuge
eingewickelt. Über die Art und Weise, wie sie sich das Zustande-
kommen der Gefäßerweiterung denken, äußern sich Bu ebner.
Fuchs und Megele nicht. Ich habe aber schon oben darauf
hingewiesen, daß ein Nachlaß einer bestehenden Gefäßkontraktion
unmöglich den seitlichen Blutdruck an einer höher gelegenen
Stelle des Gefäßes steigern kann. Die Annahme, daß eine durch
Nachlaß der Kontraktion bedingte Gefaßerweiterung einen höheren
Seitendruck im zuführenden Gefäß zur Folge habe, wäre nur dann
möglich, wenn man annehmen wollte, daß ein Alkoholumschla^ am
Unterarm eine Erweiterung der Gefäße und Herabsetzung des
Widerstandes oberhalb der Manschette, also in der Brachialis bzw.
Subclavia hervorriefe.
Wir haben die Versuche B u c h n e r ' s , Fuchs' und Megele's
wiederholt und zwar genau nach ihrer Vorschrift auch mit normalem
Propylalkohol.
Ich lasse zwei Protokolle folgen.
1. Abgelaufene Appendicitis.
Vor dem Umschlag:
Versuchsarm 120, 119. Kontrollann 122, 120.
Nach dem Umschlag von 1 Stunde Dauer:
Versuchsann 120, 115, 117, 119
Kontrollarm 120, 117, 115, 115.
2. Akute Gastritis.
Vor dem Umschlag:
Versuchsarm 128. Kontrollarm 128.
Nach dem Umschlag:
Versuchsarm 132, 130, 126. Kontrollarm 118, 120, 115.
Die erste Beobachtung ergibt gar keine Wirkung des Tm-
schlages, die zweite läßt eine geringe Druckerhöhung am Versuchs-
arm, gegenüber dem Kontrollarm erkennen.
Wir sahen unter 6 Versuchen 4 mal keinerlei Wirkung, 2 mal
eine Steigerung, die 10 bis höchstens 15 mm Hg betrug auf der Seite
des Versuchsaimes. Die Ablesungen wurden in diesen Fällen in
der Weise vorgenommen, daß zwei Beobachter gleichzeitig am
Einige Beobachtungen zur Lehre vom Kreislauf in der Peripherie. 403
KontroUarm und Vergachsarm bestimmten, die Zahlen apfschrieben.
sich aber nicht mitteilten, dann wechselten die Beobachter die
Plätze und bestimmten den Druck aufs neue. Die gefundenen
Zahlen wurden erst nach Beendigung des Versuches verglichen, so
daß also gegenüber irgendwelcher Suggestion alle Maßnahmen ge-
troffen waren.
Wir können also die Feststellungen von Buch n er, Fuchs
und Idegele nur in beschränktem Maße bestätigen. Wir fanden
ebenso wie in den viel zahlreicheren Versuchen mit Esmarch'scher
Einwicklung in V^ der Fälle eine Blutdrucksteigerung am Ver-
sachsarm, nur war sie lange nicht so erheblich wie bei den
ersteren Versuchen und auch geringer als in den Versuchen von
Buchner, Fuchs und Megele. Wir fanden gleichfalls, daß
die Propylalkoholumschläge Hyperämie der Haut nicht oder nur
in geringerem Maße hervorrufen.
Unserer Ansicht nach sind diese letzteren Befunde ungemein
schwer zu erklären. Die Einwände gegen die Buchner'sche Er-
klärung sind oben schon ausgeführt, aber auch die Annahme einer
Saugwirkung hat, da die Blutdrucksteigerung auf dei* Versuchs-
seite längere Zeit anhielt, Schwierigkeiten. Man müßte dann schon
annehmen, daß immer wieder aufs neue angesaugt und das Blut
in die Peripherie weiter befördert würde, also etwa in dem Rahmen
der Hasebroek 'sehen Vorstellungen den Arterien eine Propulsiv-
kraft zuschreiben, denn da die Hyperämie der Haut fehlt, kann
man an die Hautkapillaren wohl kaum denken.
Zum Schlüsse rekapituliere ich kurz unsere Befunde:
1. In den Leichenarterien kann negativer Druck vorhanden
sein, derselbe ist wahrscheinlich Folge der Elastizität der Arterien
and auch von der jeweiligen Körperlage abhängig.
2. Nach Einwicklung mit einer Esmarchbinde kann der Blut-
druck am Versuchsarm erheblich gesteigert sein, gegenüber dem
de.s Kontrollarms.
3. Bei Wärmehyperämie sehen wir ein solches V^erhalten nicht.
4. Nach Propylalkoholumschlägen beobachteten wir in zwei
Fällen geringfügige Blutdrucksteigerungen am Versuchsarm.
Die Steigerung des Blutdrucks nach Blutleere legt die An-
nahme einer peripheren Saugwirkung nahe. Ob dieselbe als eine
Folge der Elastizität der vorher komprimierten Gefäße bzw. der
Gewebe anzusehen ist oder auf Tätigkeit der Kapillaren zu be-
ziehen ist, läßt sich nicht entscheiden. Wahrscheinlicher ist uns die
404 XXI. Matthbs, Einige Beobacht. z. Lehre vom Kreislauf in der Peripherie.
eratere Mögliclikeit Bei der Wärmehyperämie dagegen ergibt sieh
aii$ unseren Versuchen kein Anhalt für die Annahme einer peri-
pheren Saugkraft.
Literatur.
1. Bier, Hyperämie als HeilmiUel.
2. Gas kell, Lndwig's Arbeiten 187677 Bd. XI p. 45.
H. Tschuensky, Pflttger's Arch. 19U3 p. 289 Bd. 97.
4. Hasebroek, Dentsches Arch. fOr klin. Med. 1908 p. 3öO B. 77.
5. Steinach n. Kahn, Pflüger's Arch. 1908 Bd. 97 p. 105, dort auch die üterft
Literatur.
6. Henderson n. Löwi, Archiv für experim. 1905 B. 53 p. 49.
7. Bnchner, Fuchs n. Megele. Archiv für Hygiene 1901 Bd. 40 p. 347.
xxn.
Aus der medizinischen Klinik zu Tübingen.
Znr Genese der NiereHblntnngen bei Nephritis.
Von
Dr. Kusumoto
aus Osaka (Japan).
(Mit Tafel II).
Die Arbeit Askanazy's in der Zeitschrift für klinische
Medizin^) hat die Aufmerksamkeit wieder mehr auf die bei Ne-
phritiden nicht so selten auftretenden Hämaturien gelenkt. Die
Vorstellungen, die wir von ihrer Entstehungsweise haben, sind in
vielen Punkten noch sehr unklarer und hypothetischer Natur.
Der Anschauung J. IsraeTs, daß die Ursache der Blutungen
in akuten paroxysmalen Kongestionen der Nieren, in einer durch
die mit der Entzündung verbundenen Kreislaufstörungen hervor-
gerufenen arteriellen Fluxion bestehe, schließt sich auch Askanazy
an. Er bringt eine Anzahl von Krankengeschichten, unter welchen
sich Fälle finden, deren Vergleich mit einem hier beobachteten
Fall geeignet ist, auf einige bisher zu wenig beachtete Momente
hinzuweisen und auch für die Pathologie der renalen Hämophilie
von Interesse ist.
Die Krankengeschichte unseres Falles sei vorangestellt:
5 5 jähriger Mann, 4. April 1906 erstmals aufgenommen. Im No-
vember 1905 hatte er auf dem Abort eine linksseitige Hemiplegie er-
litten, deren Folgen ziemlich rasch zurückgingen. In den ersten Tagen
nach derselben trat ohne alle schmerzhaften Begleiterscheinungen Rot-
fi&rlNing des Urins und seitdem jeden 3. — 4. Tag Hämaturie auf. Keine
Gtennnsel im Urin, Miktion nicht behindert.
Befund : Besiduen der Hemiplegie sind nur noch in der Differenz
der Beflexe erkennbar. Herz: Dilatation nach beiden Seiten, Spitzen-
stoß nicht fühlbar, 2. Aortenton akzentuiert. Aktion regelmäßig, Puls
1) Band Ö8 S. 432. Profuse Hftniaturien und kolikartige Schmerzen bei
Nephritis
406 XXII. KüsuMOTo
sehr hart. Drahtpiils. Arterien eng, geBchlängelt, rigide (Brachiales
and Temporales). Druck 220 mm Siva-Rocoi. Urin : klar, sauer, spez.
Gewicht 1007. Menge 2—3000 ccm. Enthält spärlich Albumen (mit
Esbach nicht meßbar). Im Sediment reichlich Erythrocyten, vereinselte
hyaline Zylinder und Leukocyten. Retinitis albuminurica. Keine Ödeme.
Innerhalb der nächsten 10 Tage trat keine stärkere Hämaturie mehr
eiu, die Erythrooyten verschwanden jedoch nie ganz aus dem Sediment.
Die 2. Aufnahme erfolgte am 3. Mai 1906. Seit 25. April waren
wieder ohne jede Beschwerden erhebliche Blutungen aufgetreten.
Auch diesmal finden sich bei der Untersuchung keine blutige Färbung
des Urins und keine Gerinnsel. Im Sediment sehr zahlreiche Erythro-
cyten, im übrigen Befund unverändert.
Am 1 1 . Mai trat ein leichter apoplektischer Anfall auf, an den sieb
rasch urämische Erscheinungen, Erbrechen, Somnolenz, Cheyne-Stokes'scbe
Atmung anschlössen. Der Druck hielt sich auf Höhen von 200 — 220 mm.
Ödeme traten nicht auf, ebensowenig sonstige Stauungssymptome. Im
Urin nach dem apoplektischen Insult wieder für einige Tage reichlichere
Blutbeimengung. Am 21. Mai Tod.
Es bestand somit eine zweifellose intei*st.itielle Nephritis ood
mit ihr in Zusammenhang stehend Encephalomalacie und Retinitis
albuminurica, ferner erhebliche Arteriosklerose. Über den Ursprung
der Hämaturie konnte man im Zweifel sein. Der Allgemeinzustand
des Patienten, vor allem die enorme Dnicksteigerung verbot ein-
greifendere Untersuchung, wie Cystoskopie, Ureterenkatheterismus.
Als Sitz der Blutung konnte deshalb die Blase nicht mit Sicher-
heit ausgeschlossen werden und zwar um so weniger, als die ent-
leerten Erythrocytcn ein vollkommen frisches Aussehen hatten.
Für Nierensteine ergab die Anamnese, für Tumor die Untersuchung
keinen Anhalt. Wohl aber war daran zu denken, daß die in anderen
Gefäßgebieten nachweisbare, auf die Drucksteigerung zusammen mit
der Aiteriosklerose zurückzufühi^nde Neigung zu Hämorrhagien aucb
in der Niere vorläge und die Hämaturie verursache.
Die Obduktion (Prof. Dietrich) ergab nun: Chronische inter-
stitielle Nephritis (Schrumpfniere), konzentrische Hypertrophie des linken
Ventrikels, leichte Hypertrophie des rechten, Arteriosklerose der Coro-
nararterien, der Aorta abdominalis und der basalen Himgefaße. Alte
Erweichungsherde im linken Linsenkern und ein größerer jüngeren Datoms
im rechten.
Nieren: Kleiner als normal, rot, granuliert, lederartig hart. Auf
Durchschnitten keine Hämorrhagien erkennbar. Nierenbeckenschleimliaot
zeigt beiderseits mehrere bis erbsengroße Ekchymosen, erscheint im übrigen
nicht verändert, insbesondere sind weder Teleangiektasien, noch überhaupt
erweiterte G-efäße sichtbar.
Die Quelle der Nierenblutung war somit ohne Zweifel in dem
Nierenbecken zu suchen. Dies bestätigte die genaue makroskopische
Zar Genese der Nierenblutuiigen bei Nephritis. 407
und mikroskopische Durchmusterung der Nieren, welche nii'gends
Hämorrhagien aufwiesen. Die mikroskopische Untersuchung be-
schränkte sich nicht auf kleine Abschnitte der Nieren, sondern es
wurden von Herrn Takayasu große Flächenschnitte angefertigt
aus denen ersichtlich war, daß eine echte genuine Schrumpfniere
vorlag.
Sehr starke Bindegewebswacherang, mäßig viel verödete Qlomeruli,
alle Stadien des G-iomeralusuDtergaDgs, besonders bindegewebige Kapsel-
verdickung und Exsudatbildang in dem Kapselraum. Die Kanälchen-
epitbelien nur mäßig geschädigt. Nirgends in der Niere selbst ist
Hyperämie zu finden. Die größeren und kleineren Arterien zeigen starke
Endarteriitis. bezüglich des anatomischen Befundes am Nierenbecken
sei auf später verwiesen.
Askanazy bringt nun in seiner Arbeit 3 Fälle von Nieren-
beckenblutung (Nr. 4, 9, 10), die in vieler Hinsicht Parallelen
unseres Falles darstellen. Sie sind im übrigen die einzigen, bei
welchen auch der Obduktionsbefund vorliegt.
Allen dreien sind gemeinsam die Blutungen im Nierenbecken,
auf welche schon Naunyn^) als Ursache von Hämaturien bei
Nephritis hingewiesen hat. Auch in unserem Falle finden wir diese.
Askanazy kommt nun auf Grund des Materials der Königs-
berger medizinischen Klinik zu dem Schluß, daß sich Blutungen
auf der Nierenbeckenschleimhaut relativ oft, sicherlich in \'^ aller
Fälle finden. Zu ihrer Erklärung nimmt er wiederum die paroxys-
male arterielle Fluxion im Sinne J. I s r a e l's an, in einer gewissen
Anzahl von Fällen unterstützt durch entzündliche Zustände des
Nierenbeckens. Er vermutet, daß sich nephritische Prozesse zu-
weilen mit leichten, klinisch symptomlos verlaufenden Pyelitiden
komplizieren. Wahrscheinlich sind nach ihm außer diesen Haupt-
faktoren noch beteiligt der erhöhte Blutdruck und die bei Nephritis
nach Cohnheim und Li cht heim vorhandene Gefäßschädigung,
welche zu abnormer Durchlässigkeit der Gefäße fühii;.
Seine Vorstellung von dem Zustandekommen der Nierenbecken-
blatungen ist folgende: Entzündlich veränderte Nieren zeigen eine
grewisse Neigung zu Kongestionen, wodurch der bei Nephritis ohnehin
erhöhte arterielle Druck vorübergehend noch weiter gesteigert wird.
Dadurch kommt es infolge der veränderten Beschaffenheit der Gefäß-
wände, die eine abnorme Durchlässigkeit zur Folge hat. leicht zur
Diapedesis und zu Blutaustritten in das Gewebe. Er faßt die
1) Grenzgebiete 1900 Bd. V S. «48.
408 XXII. KusuiAoTO
Nierenbeckenecchymosen als Residuen voraofgegangener Kon-
gestionen auf.
Um nun ein einwandfreies Urteil über den Ausgangspunkt der
Nierenbeckenblutung in unserem Falle zu erhalten, wurden das
eine Nierenbecken von mir in ca. 200 Serienschnitte zerlegt und
nach van Gleson gefärbt.
Es finden sich im Bubmakösen Bindegewebe des Nierenbeckens drei
starke Blutextravasate. Ihre Verfolgung in den Serienschnitten führt bei
allen dreien auf Stellen znrück, wie sie Figur 1 n. 3 sehr deutlich wieder-
geben: Wir sehen in Figur 1 (Seibert Nr. 3 Oc. 0) ein keulenförmiges
kleines Blutgefäß mit dünner Wandung, mit Blut gefüllt. An seinem
verjüngten £nde ist die Wandung plötzlich unterbrochen und der Inhalt
des Gefäßes steht in direkter Kommunikation mit dem BlutextravasAt,
das bis dicht unter die Schleimhaut des Nierenbeckens reicht.
Zwei Gefäße von etwa demselben Kaliber und derselben Wanddicke
sind unterhalb der Blutung quer getroffen. Bechts unten sieht mao
einen ziemlich weiten Hohlraum, der mit Blut gefüllt ist und an mehreren
Stellen Andeutungen einer Gefäßwand aufweist. In seiner ümgebang
findet sich Ansammlung von Bundzellen. Das Epithel des Nierenbeckens
ist schlecht erhalten^ hier jedoch eine kleinzellige Infiltration, die nicht
durch den Bluterguß ihre Erklärung fände, nirgends sichtbar.
Figur 2 (Zeiß Oc. 3, Linse C) zeigt noch demonstrativere Ver-
hältnisse: In der Mitte sieht man ein längsgetroffenes Gefäß mit dünner
Wand, diese ist auf der unteren Seite mehrfach durchbrochen, hat ihr
Endothel an den Durchbruchsstellen verloren und kommuniziert frei mit
dem umgebenden Blutextravasat.
Es kann wohl kein Zweifel bestehen, daß diese Bilder Bap-
tnren von Gefäßen des Nierenbeckens darstellen.
Die Ursache der Hämaturie ist also in unserem Falle eine
Ruptur von kleinen Gefäßen im Nierenbecken. Damit
kommen wir in Widerspruch mit den Anschauungen Askanazy's,
der Diapedese als die Art des Blutaustritts betrachtet.
Weitere Differenzen ergeben sich, wenn man die rupturierten
Gefäße näher untersucht. Ihrem ganzen Aussehen nach mössea
sie als kleine Venen bezeichnet werden: es findet sich keine An-
deutung einer Muskularis und bei Weigert'scher Färbung auch
keine Elastika.
Heiner Schilderung nach verlegt Askanazy offenbar den Ort
der Blutung entweder in die kleinen Arterien oder in die Kapillaren.
Freilich spricht er sich nicht deutlich darüber aus. Venöse Stase
als Ursache lehnt er ab. Sicher ist ihm darin recht zu gebäJ,
auch unser Fall bietet außer diesen Venenrupturen und der ziem-
lich starken Füllung der nächstliegenden kleinen Nierenbecken-
veneu — besonders in der Niere selbst, ebenso wie in anderen Organen
Zur Genese der Nierenblntnngfen bei Nephritis. 409
nirgends das Bild der venösen Stauung, die stark genug wäre, um
Rupturen zu erzeugen. Dagegen spricht femer, daß die Blutung
erstmals zu einer Zeit auftrat, wo keinerlei Dekompensations-
erscheinungen bestanden.
Eine lokale entzfindliche Veränderung der Gef&Swand kann,
wie die Präparate zeigen, nicht in Frage kommen. Auch klinisch
bestanden keinerlei Erscheinungen einer Pyelitis. Es ist völlig
klar, daß man deshalb noch nicht das Recht hat, eine Veränderung
der Venen wand überhaupt abzulehnen. Schon Askanazy hat
auf die mit der Nephritis verbundene Alteration der Gefäßwand
hingewiesen und daß eine solche auch in unserem Falle existierte,
daffir spricht ja aufs deutlichste die ausgedehnte hämorrhagische
Retinitis. Bei dieser findet nun aber, wie mir von fachmännischer
Seite mitgeteilt wird, in der Tat eine Diapedese und keine Ruptur
statt. Dies war vielleicht der Grund, ein analoges Zustandekommen
bei den Nierenbeckenblutungen anzunehmen. Hier jedoch liegen
zweifellose Rupturen von Venen vor. Angesichts des Fehlens von
erheblichen lokalen Entzündungsei^cheinungen müssen wir uns also
fragen, welche besonderen Momente für die Entstehung der Zer-
reißungen vorgelegen haben können. Eine durch die Entzündung
bedingte arterielle Fluxion als Ursache zu beschuldigen, hat seine
großen Bedenken. Wäre eine solche allein imstande, unter den
gegebenen Bedingungen Rupturen zu erzeugen, so müßte die Hämat-
urie ein viel konstanteres Symptom bei Nephritis sein, als sie es
in Wirklichkeit ist. Zudem hören wir in der Anamnese nicht das
Geringste von Koliken. Direkt gegen eine durch die Entzündung
verursachte arterielle Fluxion spricht aber der Zeitpunkt des Ein-
setzens der Blutung.
Unmittelbar im Anschluß an den ersten apoplektischen Insult.
der bei der Defäkation stattfand, tritt die Hämaturie erstmals auf.
Eine arterielle Fluxion wird also abzulehnen sein.
Die Entstehung der Venenrupturen kann man sich auf zweierlei
Weise denken : einmal durch die in der Niere infolge des Pressens
bei der Defakation eintretende venöse Stauung. Unerklärt bliebe
dann freilich, warum nicht auch in anderen mehr disponierten Ge-
tUfigebieten, z. B. den Plexus hämorrhoidales gleichzeitig Rupturen
eintreten. Zudem zeigt die experimentelle Erfahrung, daß beim
Pressen wohl eine kurzdauernde geringe Vergrößerung des Nieren-
Tolnms eintritt, dieser folgt jedoch sofort eine starke Kontraktion.
Deshalb ist vielleicht noch an eine andere Möglichkeit zu
denken: Mit dem Pressen bei der Defäkation ist eine Steigerung
410 XXII. KusüMOTo
des arteriellen Drucks verbunden. Dieser war bei unserem Pa-
tienten aber schon vorher enorm gesteigert. Ebenso finden sich
in den 3 oben citierten Fällen Askanazy's unzweideutige Hin-
weise darauf, da£ auch bei ihnen Drucksteigerung bestanden hatt«.
Soweit der klinbche Befand nicht zu diesem Urteil berechtigt, läßt
sich sicherer Anhalt ans dem Obdaktionsresultat gewinnen. Wir wissen
ja, daß jede längerdauemde Dracksteigerung zu einer Hypertrophie des
linken tind oft auch des rechten Ventrikels führt.
Bei Fall 4 sagt das autoptische Protokoll: Kerz besonders links
stark hypertrophisch und dilatiert.
In Fall 9 machen schon die Akzentuation des 2. Aortentons und
die starke Spannung des Pulses erhöhten Druck wahrscheinlich, sicher-
gestellt wird er durch die gefundene isolierte Hypertrophie des lisken
Ventrikels.
Dieselbe Angabe, geringe Dilatation und Hypertrophile der linken
Kammer weist auch für den Fall 10 nach, daß Drucksteigerung be-
standen hat.
Nun wissen wir, daß jede Steigerung des AUgemeindrueks
mit einer Kontraktion der Nierengefäße verbunden ist Die
Kontraktilität der Nierengefäße wird jedoch, wie die experi-
mentellen Untersuchungen von Schlayer und Hedinger\) bei
akuter toxischer Nephritis zeigten, bei stärkerer Grefäßschädigung
sehr erheblich beeinträchtigt, so daß die Niere sich gegen eine
Erhöhung des Allgemeindruckes nicht mehr zu schützen vermag
und passiv vollgepumpt wird. Es erscheint nicht ausgeschlossen,
daß diese Bedingungen auch bei der Schrumpfniere eintreten
können. Wissen wir doch, in wie hohem Grade bei ihr die Xieren-
gefäße beteiligt sind.
Das Versagen der Kontraktionsfähigkeit wird um so plausibler,
als ja bei diesen Fällen schon vorher erhöhter Druck besteht
Tritt zu diesem noch eine weitere Steigerung, wie in unserem
Falle durch Pressen, so hat das geschädigte Nierengefaßsystem
einen enormen Druck auszuhalten.
Daß unter diesen Bedingungen zusammen mit der gleichzeitigen
Steigerung des Venendrucks durch vermehrtes Überfließen von
Blut aus den Arterien und andererseits Rfickstauung infolge
Fressens eine Venenruptur zustande kommt, würde begreiflich er-
scheinen. Die Tatsache, daß gerade die Venen des Nierenbeckens
so oft von der Ruptur betroffen werden, könnte wohl in Be
Ziehungen zu den Verhältnissen des Gewebsdruckes gebracht,
werden, der in der Niere überhaupt und im speziellen in einer
1) Verh. d. Kongr. f. innere Med. 1906.
Deulsphes Arrhiv E Uinisdie Medizin 89.Bd.
s:'--^
•■-j-J^i'
Fi«, i
brl.ig vu;l F.C.WVojel :r, I.d[i<ifl
Znr Genese der Nierenblutungen bei Nephritis. 411
Niere von lederartiger Harte, wie in unserem Falle, beträchtlich
b6her sein dürfte, als im Nierenbecken und dadurch einem Zer-
reißen der Venen mehr Widerstand entgegensetzt.
Ob die bei unserem Patienten vorhandene Arteriosklerose eine
Rolle bei diesen Vorgängen spielt, läßt sich nicht entscheiden. Es
wäre wohl daran zu denken, daß sie ein mitwirkendes Moment
ist, da ja pulsatorische Druckschwankungen unter ihrem Einfluß
hoher ausfallen, als im normalen Gefäßsystem. Andererseits ist
aber bei hochgradiger Arteriosklerose das Überfließen des Blutes
in die Kapillaren erschwert, so daß eine Vermutung über ihren
Anteil unmöglich wird.
Die oben entwickelte Vorstellung über die Genese der Niereu-
beckenblutungen vermag uns nun nicht nur die Koinzidenz des
apoplektischen Insultes und des Auftretens der Hämaturie zu er-
klären, sondern würde auch die wohlbekannte Tatsache, daß solche
Hämaturien bei Nephritis sich häufig an Heben von schweren
Lasten und ähnliche, mit Drucksteigerung und venöser Stauung
im Abdomen verbundene Tätigkeiten anschließen, in befriedigender
Weise deuten.
Vielleicht finden auch durch die Annahme einer passiven
Cberfullung der Niere die Beobachtungen Israels, die ihn zur
Annahme einer arteriellen Fluxion führten, eine einfache Aus-
legung: Israel sah in einem während der supponierten paroxys-
malen Fluxion operierten Falle die Niere im Zustand intensivster
Kongestion und Spannung. Es ist klar, daß diese ebensowohl
durch passive Überfüllung, wie durch aktive arterielle Fluxion
entstehen könnte.
Keineswegs ist es möglich, etwa alle Nierenblutungen bei
Nephritis auf die geschilderte Art erklären zu wollen, sondern es
sei nochmals betont, daß ich nur diejenigen Fälle von Nephritis
im Auge habe, bei denen die Prämisse der Drucksteigerung be-
steht. Nachdrücklich aber möchte ich darauf hinweisen, daß bei
allen Hämaturien bei Nephritis dem Verhalten des Gefäßsystems
und des Druckes eine sehr viel größere Aufmerksamkeit zu
schenken sein dürfte, als dies von der Mehrzahl der Bearbeiter
dieses Themas geschehen ist. Ich glaube berechtigt zu sein, diese
Forderung auch auf das Gebiet der renalen Hämophilie aus-
zudehnen.
Bei der Durchsicht der Literatur über renale Hämophilie ist
es sehr auffällig, wie wenig Zustand des Herzens, der Gefäße und
Verhalten des Druckes von vielen berücksichtigt werden. Meist
412 XXII. KusüMOTo, Zur Genese der Nierenbliitungen bei Nephritis.
wird die anatomische Diagnose als absolut beweisend betrachtet. ^
Diese sttttzt sich aber h&nfig nur auf ein kleines probeexzidiertes
Stückchen. Unsere Erfahrungen an großen Schnitten haben
haben uns gelehrt, welchen Täuschungen man auf solche Weise
unterliegen kann. Nun sind von mehreren Seiten (Sabatier.
Wulff u. a.) bei angeblich renaler Hämophilie resp. essentieller
Nierenblutung in der Niere deutliche, wenn auch geringfügige
interstitielle Veränderungen gefunden worden, trotzdem
lehnen die Autoren einen Zusammenhang ab, indem sie diese fir
bedeutungslos erklären oder auf das Fehlen klinischer Symptone
seitens des Urins hinweisen. Daß aber letztere bei der intersti-
tiellen Nephritis gänzlich im Stiche lassen können, ist eine heute
wohlbekannte Tatsache. Über die Dignität der GlomöHlBs-
verödungen und der interstitiellen Prozesse gibt uns jedoch das
Verhalten des Druckes den sichersten Aufschluß und ein beiBsAe
selbstverständliches Verlangen scheint es, daß bei einer Blutung
auch der Zustand der Gefäße in Betracht gezogen wird.
Es liegt mir ferne, die Existenz einer renalen Hämophilie resp.
angioneurotischen Hämaturie leugnen zu wollen, dafär spricht der
bekannte Kl em per er 'sehe Fall zu deutlich, andererseits dürfte
es aber kein zu weitgehendes Postulat sein, daß nicht nur der
anatomische Befund und der Urin beröcksichtigt werdoi,
sondern nicht minder genau auch auf Herz, Gefäße, Druck
und Augenhintergrund geachtet wird.
Herrn Prof Dr. Bomberg spreche ich für die freundliehe
Anregung und Herrn Stabsarzt Dr. Schlayer für die Unter-
stützung bei dieser Arbeit meinen herzlichsten Dank ans.
xxm.
Aus der medizinischen KliniJc der Universität Tübingen.
Vorstand: Prof. Dr. E. Komb erg.
Über das Verhalten der Hamsänre nnd Pnrinbasen im
Urin und Blnt bei Eontgenbestrahlungen.
Von
Dr. Paul Linser and Dr. Konrad Slek,
Privatdozenten in Tübingen.
Die eiektive Einwirkung der Röntgenstrahlen auf die Leuko-
cyten des Blutes und der Organe ist eine solch merkwürdige Er-
scheinung, daß man sich nicht mit der Feststellung des rein zahlen-
mäßigen und morphologischen Verhaltens derselben im Blut und
iu den Organen begnügen konnte. Es ergab sich unmittelbar die
Forderung, nach Folgeerscheinungen ihres Untergangs und nach
dessen Einwirkungen auf den Stoffwechsel des Organismus zu
forschen. Für die Beurteilung dieser Vorgänge scheint ein wich-
tiges Moment die Feststellung der Hamsäureausfuhr aus dem Körper
zu sein, allerdings nur unter gewissen Voraussetzungen: Wir wissen,
daß dieselbe nicht bloß von der Menge der im Organismus unter-
gegangenen Körperzellen, den sog. endogenen Purinen, beeinflußt
wird, sondern in sehr wesentlichem Grade auch von den von außen,
in der Nahrung zugefuhrten Nucleinen, dem exogenen Purinanteil
abhängig ist. Schwankungen in der Menge der Hamsäureausfuhr
sind daher an und für sich noch kein Beweis für eine Änderung
im Zerfall gewisser Körpersubstanzen. Erst wenn man den
Einfluß der exogenen (Nahrungs-)Nucleine durch ent-
sprechende Ernährung ausschaltet, bekommt man eine
Konstante in der Harnsäureausscheidung, von der aus
man anf den jeweiligen Grad des Zellzerfalls im Körper des Unter-
suchten schließen kann.
Dieser Hauptforderung der möglichsten Ausschließung der exo-
genen Nucleine sind die Forscher, die bisher den Einfluß der
DttutsoheB Archiv f. klin. Medizin. 89. Bd. 27
414 XXIII. Linser u. Sick
Röntgenstrahlen auf den Organismus an den Veränderungen der
Hamsäureausfuhr zu messen suchten, fast ausnahmslos nur sehr
unvollkommen nachgekommen. Nicht als ob dies völlig übersehen
worden wäre. Da die Untersuchungen fast ausschließlich an mehr
oder weniger schwerkranken Leukämikem angestellt wurden, so war
es eben unmöglich, eine konstante, möglichst nucleinfreie Kost
längere Zeit zu geben.
Dazu kommt noch ein zweiter Mißstand : Bei Leukämiekranken
ist es selbst unter der Voraussetzung einer solchen Kost nach unseren
bisherigen Untersuchungen nicht möglich, eine solche Konstante in
der Hamsäureausfuhr zu erhalten wie beim Normalen. Dies lehrt
ein kurzer Überblick über die z. Z. vorliegenden ein wandsfreien
Stoffwechseluntersuchungen bei den verschiedenen Formen der
Leukämien. Dabei treten häufig, scheinbar regellos, Störungen in
der Purinausfuhr auf, die auch mit anderen Erscheinungen der
Krankheit (Schwankungen der Leukocytenzahl, Größe der N-Ans-
Scheidung, des Eiweißzerfalles) oft in gar keinem Einklang stehen,
so daß sie vorerst noch völlig unerklärt sind. Die Untersuchung
von Leukämikern auf ihre Purinausscheidung nach Röntgenbestrah-
lungen scheint uns daher vorerst ganz ungeeignet zu sein zur
Klärung der Frage nach der Einwirkung der Röntgenstrahlen auf
den Organismus.
Als notwendige Voraussetzung eines besseren Verständnisses
der physiologischen \\ irkung der Röntgenstrahlen schien uns viel-
mehr die Untersuchung der Purinauscheidung bei In-
dividuen mit normalem Blutbefund und ebensolchen,
günstigen Stoffwechselverhältnissen zu dienen. Gelegen-
heit dazu boten die Röntgenbestrahlungen von Leuten mit aus-
gedehnter Psoriasis vulgaris, mit Lupus und ähnlichen Hautkrank-
heiten. Sämtliche hatten normalen oder wenigstens von diesem
quantitativ wenig abweichenden Blutbefund. Auch ist nach den
auf Stoffwechseluntersuchungen gegründeten Erfahrungen der Der-
matologen eine tiefergreifende Ernährungsstörung bei diesen Krank-
heiten auszuschließen. ^)
Ij Die Literatur über die Einwirkung der Röntgenstrahlen auf Blut und
blutbildende Organe ist in den zahlreichen Arbeiten der jüngsten Zeit, die akh
mit dieser Frage beschäftigten, mehrfach zusammengesteUt. Wir glauben daher
auf eine nochmalige Besprechung der bisher erschienenen Publikationen im etn-
zelnen verzichten zu sollen. Wir verweisen besonders auf die Stoffwech8elu]lte^
suchungen enthaltenden Arbeiten von
Verhalt der Hamsäare u. Parinbasen im Urin n. Blut bei Röntgenbestrahl. 415
Über die Versachsanordnnngen ist einiges vorauszuschicken.
Es ist schon oben darauf hingewiesen worden, daß es äußerst zweck-
mäßig ist, die exogenen Purinquellen während der Bestrahlungsperiode
völlig auszuschalten. Dies ist ohne große Schwierigkeiten möglich. Unsere
Versuchspersonen erhielten eine annähernd nucleinfreie Kost, die wir nach
den Angaben von Mohr und Kauf mann ^) folgendermaßen gestalteten:
1—2 1 Milch, 80—100 g Reis, 4 Bier, 50 g Butter, 250—400 g
Brot, 15 g B4>hrzucker.
Diese Nahrungsmittel konnten in der Zusammenstellung und Zu-
bereitung so variiert werden, daß den Patienten diese konstante Diät
kaum überdrässig wurde. Ihrem Kalorien wert nach war sie mehr als
ausreichend. Begonnen wurde mit dieser Diät 4 Tage vor dem Anfang
der Bestrahlungen. Methylierte Purinderivate (CofiPein, Theobromin)
wurden vermieden.
Die Kranken hielten sich ruhig, um die durch Muskelanstrengung
verursachte Purinvermehrung möglichst auszuschalten.
Wesentlich verschieden von den sonst gebräuchlichen war die Me-
thode, die wir bei der Bestrahlung der Versuchspersonen inne hielten.
£& wurden in Anlehnung an früher veröffentlichte Tierexperimente von
Jjinser u. Helber^) stundenlang (4 — 8 Stunden) dauernde Bestrah-
lungen durchgeführt. Diese wären wegen der Gefahr schwerer Haut-
läsionen undurchführbar gewesen, wenn wir nicht die Bohre in einer Ent-
fernung von 100 — 150 cm über der Mitte des Leibes des zu bestrahlenden
Individium, das auf einem Ruhebett lag, angebracht hätten an Stelle der
üblichen Milzbestrahlungen von kurzer Dauer in einer Entfernung von
20 — 30 cm. Da nach den Befunden in der eben citierten Arbeit die
Beeinflussung des Blutbildes nicht an die Müzbestrahlung geknüpft ist,
so konnte man gleichzeitig die therapeutischen Indikationen für die Haut-
krankheiten befriedigen und die Veränderungen des Blutbildes und des
PunnkÖrperstoffwechsels beobachten. Kopf und Genitalien waren durch
Bleiblech geschützt, die Augen außerdem durch eine Bleiglasbrille. Von
einem bestimmten Härtegrad der fi.öhren konnte bei Bestrahlungen von
4 — 8 Stunden natürlich nicht die Bede sein. Es wurden primär ganz
weiche Bohren angewandt, die während der Bestrahlung erhebliche Härte-
Lossen u. Morawitz, Deutsches Arch. f. klin. Med. Bd. 83 p. 288 1905.
Königer, DeuUches Arch. f. klin. Med. Bd. 87 p.31 1906.
Eosenberger, Münch. med. Wochenschr. 1906 Nr. 5.
Hosenstern, Münch. med. Wochenschr. 1906 Nr. 21 u. 22.
Einen Überblick über den heatigen Stand der Frage nach der Herkunft und
Aiuscheidung der PurinkOrper geben:
Wiener, Ergebnisse der Physiol. Bd. II 1903.
Burian, Mediz. Kün. 1906 Nr. 5 u. 1906 Nr. 19—21.
Schittenhelm, Zentralbl. f. Stoffwechselkrankh. 1905.
Bloch, Biochem. Zentralblatt 1906 Nr. 12 u. 13.
A. Magnus-LeTy in von Noorden's Handb. d. Pathol. d. Stoffwechsels 1906,
1) Deutsches Arch. f. klin. Med. Bd. 74 p. 146 1902.
2) Deutsches Arch. f. klin. Med. Bd. 75 p. 479 1906.
27*
416
XXIII. LiKBBR n. SiCK
grade annahmen , so daß sie häufig gewechselt werden maßten. Der
langdauemde Betrieb der Röhren wurde ermöglicht durch Verwendung
'2 gesonderter Wehneltunterbrecher, die abwechslungsweise eingeschaltet
wurden, damit keine zu starke Erwärmung der Schwefelsäure eintrit
Die gewöhnlich vorhandene Stromstärke wechselte zwischen 2 u. 4 Am-
pere. Bemerkt sei noch, daß bei diesen länger dauernden BestrahlungeD
eine merklich geringere Intensität der Strahlenwirkung beobachtet wni^e,
wenn ein Induktorium von nur 25 cm Funkenlänge, statt eines solohen
von 50 cm, das wir zuletzt ausschließlich verwendeten und mit dem die
mitgeteilten Experimente angestellt worden sind, in Benutzung war. Eb
ist unseres Wissens darauf bisher noch nicht hingewiesen worden. AUein
der Unterschied ist eklatant und es ist um so notwendiger, dies su be-
tonen^ als vielleicht eine Anzahl von differierenden Versuchsresultaten der
Autoren auf dem Unterschied in der Leistungsfähigkeit ihrer Apparate
beruhte. Eine eindeutige Erklärung dieses Faktums zu geben sind wir
nicht imstande, möglicherweise tritt in den kleinen Induktorien rascher
Erhitzung und mangelhafte Isolation der Windungen ein.
Die Bestimmung der Harnsäure- und Purinbasenausscheidung geschah
nach der von Thierfelder akzeptierten Methode von Schmid and
Krüger^); daneben wurde der Gesamtstickstoff in Urin und Fäces nach
Kjeldal ermittelt. Eine Bestimmung der Purinkörper in den Fäces
erschien nicht notwendig, da ja die Menge der Purinbasen im Kot nach
Krüger und Schittenhelm^) nur wenig mit dem eigentlichen Pnm-
Stoffwechsel in Beziehung tritt und die Harnsäure nach Schittenbelm
sogar bei Leukämie nie nachweisbar war.
Tab. I. Gl., Franz, 21 Jahre, Lupus vulgaris.
Kost: 21 Milch, 100 g Reis, 2 Eier, 50 g Butter, 250 g Brot.
Vorperiode.
Datum
Ge-
wicht
Jes_
Urin-
N g
Fäces-
Ng
Gesamt-
Ng
Harn-
säure-
Ng
Basen- Lenko-
N g cytöiahl
1905
22. XII.
23.
24.
25.
26.
72 ' t 16,30
I ( 16,30
' t 17,98
' 1 \ 17,98
72.2 ! 18,53
9,85
1,92
pro die
18,22
18,22
19,90
19,90
20,45
! / 0,131
\ 0,131
! ( 0,145
I \ 0,145
' 0,145
0,026
0,026
0.026
Besj;rahlung9periode (24 Std. Bestrahlung) tagl. 6 Std.
27. XII.
28.
29.
30.
1
i 18,02
\ 18,02
r 18,91
\ 18,91
8,12
2,03
pro die
20,05 ; i 0,292
20,05 \ 0,292
20,94 , ( 0,330
20,94 V 0-330
/ 0,030
) 0,030
I 0,030
{ 0,030
Nach Beendigung der Bestrahlung Aderlaß 150 ccm.
1) Vgl. Hoppe-Seyler-Thierfelder 7. Aufl. p. 435 19(ö.
2) Zeitschrift für phys. Chem. Bd. 39 S. 199 1903.
9150
BiOO
Verhalt, der Harnsäure u. Parinbasen im Urin u. Blnt bei Röntgenbestrahl. 417
Nachperiode.
Datum
Ge- j
wicht
Urin- I Fäces- | Gesamt-
N g ' N g _ N g
Lenko-
cytensahl
31. XII.
1906
1. I.
2.
3.
4.
72,5
i
\
i
19,78
19,78
19,41
19,41
17,92
11.10
2,22
pro die
22,00 j
0.376
22,00
21.63
21,63
20,14
l 0,376
( 0,343
0,343
l 0,343
1
( 0,05
\0,05
10,1
0,054
0,041
0.041
041
6650
7700
Blutbefnnd (Leukocyten).
Datnm
Gesamt-
zahl
Gr. Monon.
Überffangs-
zeUen
Eosinoph. Mastzellen
28. XII.
31.
4. I.
9150
6650
7700
25 «0
20%
^ IQ
3%
6»/,
8-/.
/O
I
Tab. II. F., Wilhelm, 23 Jahre, Pityrias. lichenoid, chron.
Kost : 2 1 Milch, 100 g Reis, 2 Eier, 50 g Bntter. 250 g Brot.
Vorperiode.
0,286
0,286
0,252
0,252
0,252
( 0,022
' 0,022
i 0,022 ; 8100
Bestrahlungsperiode (24 Std. Bestrahlung tägl. 6 Std.\
19.
20.
21.
22.
xn.
75,0
19,14
19.14
19,45
19,45
I
6,94
1,74
pro die
20,88
20,88
21,19
21,19
0,273
0,273
0,412
0,412
0,035
0,085
0,051
0,051
6100
23. XII.
24.
25.
26.
27.
Nachperiode.
74,7
( 20,73
> 20,73
( 21,41
\ 21,41
21,02
1 8,74
1,75
pro die
22,48
22,48
23,16
23,16
22,77
i 0,520
( 0,520
( 0,544
0,544
1 0,544
( 0,075
\ 0,075
1 0,077
< 0,077
1 0,077
5300
9700
Blutbefund (Leukocyten).
Datum
Gesamt-
zahl
r„«»«i.« Ör. Monon.
Polynncl. ^l^^- fbergang.-
Eosinoph. Mastzellen
18. xn.
23.
27.
8100
5300
9700
66»/„
51«/«
42-'/„
22%
29%,
6»/„
4»/„
17»/«
16 "/o
l'/o
418
XXIII. LiNSKR n. SiCK
Tab. III. R., Anton, 22 Jahre, PsoriaslB. vulgär.
Kost: IVt I Milch, 200 g Reis, 2 Eier, 50 g Batter, 200 g Brot
Vorperiode.
Datum
Ge-
wicht
ürin-
N g
Fäces-
1
Gesamt-
N g
Ham-
s&ure-
y g
Basen- Lenko-
N g cytenaüü
1906
15. IL
16.
17.
18.
19. IL
20.
21.
22.
23. IL
24.
25.
26.
63,1
14,36
14,36
16,21
16,21
8.28
2,07
pro die
16,43
16,43
18,28
18,28
0,182
0,182
0,147
0.147
0,023
0,023
0,023
0.023
Bestrahlungsperiode (20 Std., täglich 5 Stunden).
/
^
16,37
16,37
{ 17,60
\ 17,00
6,74
1,69
pro die
I 0,021
,021
Nach Abschluß der Bestrahlung Aderlafi 250 com.
18.06 i / 0,150
18,06 \ 0,150
19.19 / 0,198
19,19 i \ 0,198
0,021
I 0,021
lo,r
63,4
Nach Periode.
17,86 / 5,97 19,35 ( 0,235
17,86 I 19,35 \ 0,235
17,98 1 1,49 19,47 | / 0,177
17,98 l pro die 19,47 ! \ 0,177
0,(B2
0,032
0,032
0,032
8100
7400
6500
8900
Tab. IV. W., Karl, 19 Jahr, Pseudoleukämie (Morbus Mikulicz?;
Kost: 1 1 Milch, 100 g Reis, 4 Eier, 50g Butter, 250 g Brot
Vorperiode.
Lenko-
cytennhl
1905
27. XIL
28.
29.
30.
31.
1906
1. L
2. L
3.
4.
5.
6.
51,0
13,41
r 13,75
\ 13,75
/ 13,18
\ 13,18
13,44
14,62
/ 14,96
I \ 14,96
! 14,39
1,21 14,39
I
pro die 14,65
{
0,127
0,127
0,127
0.141
0,141
0,082
r 0,032
0,032
l 0.(^
0,015 1140Ü
Bestrahluugsperiode (24 Std. Bestrahlung tägl. 6 Std.j.
8,60
51,5
/ 14,48
\ 14,48
( 15,34
^ 15,34
15,52
1,72
pro die
16,20
16,20
17,06
17,06
17,24
( 0,125
\ 0,125
/ 0,237
\ 0,237
0,244
i 0,020
\ 0,020
/ 0,034
\ 0,034
o;o3i
0800
Nach der Bestrahlungsperiode Aderlaß 150 ccm.
Verhalt, der Harnsäure a. Purmbaseu im Urin n. Blnt bei Röntgenbestrahl. 419
Nacbperiode.
Datnm
Ge-
wicht
k£
Ürin-
N g
Fäces-
N g
15,77
15,23
15,23
15.50
15.50
J^
1,46
pro die
Gesamt-
N g
I Harn-
, sänre-
Basen-
N g
I
75;^
0,034
r 0,047
l 0,047
Lenko-
cyten
7. I.
8.
9.
10.
11.
12.
52,0
i
\
/
l
\
17,23
17,23
16,69
16,69
16,6^
16,69
{
0,279
0,279
t 0,214
l 0,214
/ 0,242
\ 0,242
8200
Blutbefnnd.
Datum
^T^"- iPolynucL ^^^
zahl
Gr. Monon.
Übergangs-
zeTlen
Eosinoph. > Mastzellen
1. I.
7.
12.
11400
8200
56,0% 16,0%
76,50/^ 10,5%
60,1% 28,3%
20,50/0
6,2%
4,4%
7,0%
5,8%
6,20/,
1%
1%
Tab. V. K., Johann, 56 Jahr, Pruritus (Mycosis fnngoid.?)
Kost: ^'t 1 Milch, 100g Reis, 2 Eier, 50 g Butter 250 g Brot.
Vorperiode.
Datum
Ge-
wicht
Jes_
Urin- Fäces-
g
I
N g
Gesamt-
N g
Harn-
säure-
Basen- j Leuko-
N g cytenzahl
2. II.
3.
4.
5.
6.
68,5
V
13,04
13,84
13,84
13,51
13,51
6,14
1,2:^
pro die
14,27
15,07
15,07
14,74
14.74
0,182 ' — 10000
( 0,140 I t 0.021
\ 0,140 ; ^ 0,021 ,
i 0,117 I ( 0,012 I
\ 0,117 I 1 0,012 9000
Bestrahlungsperiode (24 Std. Bestrahlung, tägl. 5 Std.).
8.
9.
10.
n.
11. n.
12.
13.
14.
68,2
14,92
14,92
14.67
14,67
14,26
14,26
13,61
13,61
( 5.78 16,37 i 0,194 i 0,036
) 16,37 \ 0,194 ( 0,036
I 1,45 16,12 / 0,198 , —
l pro die 16,12 ( 0,198 ' -
Nachperiode.
6.18 15,81
15,81
1,55 15,16
pro die 15,16
0,229
0,029
0,218
0.218
0,039
0,039
0,048
0,048
Blntbefund (Leukocyten).
5950
7750
Datum
^^^iPolynucl. I^y-Pi-
Gr. monon.
Übergangs- < Eosinoph.
Zeilen 1
Mastzellen
6. I.
11.
14.
9000
5950
7750
ob ,0
70%
72»/o
H2%
21 ";o
22%
4%
- ;0
6%
3'",,
1%
420 XXIII. LiK8£R n. SicK
Aus den mitgeteilten Versuchsreihen geht mit Deatlichkeit
hervor, daß in allen Fällen auch bei blutgesunden Indi-
viduen durch Röntgenbestrahlung eine erhebliche
Herabsetzung der Lenkocytenzahl, im Zusammenbau^
damit eine Steigerung der gesamten Stickstoffaas-
scheidung, eine Vermehrung der Harnsäure und der
Basen im Urin stattfindet. Zwei analoge Beobachtungen am
gesunden Menschen, die wir Bloch*) und Eosenstern^) ver-
danken, hatten keine sehr deutlichen Resultate ergeben. Die Stick-
stoffwerte der Harnsäure wie die der Basen waren im allgemeinen
auf das 2 -3 fache der Vorperiode gesteigert. Gewöhnlich schlössen
sich die höchsten Ausscheidungsgrößen an das Ende der Bestrah-
lungsperiode an und die Steigerung blieb bis an das Ende der
Nachperiode. Der Quotient Harnsäure-N : Ges.-N hob sich meist
auf ungefähr das Doppelte. Die vermehrte Purinkörperausscheidang
hielt noch nach Absclxluß der Bestrahlungszeit auffallend lange an.
so daß die Nachperiode länger ausgedehnt werden mußte. Das
Allgemeinbefinden der Kranken litt keineswegs während der Be-
strahlungsperiode; spezielle Aufmerksamkeit wurde auf die Nieren-
tätigkeit gerichtet: es konnten niemals abnorme Urinbe^tandteile
nachgewiesen werden. Eine weitere Fortsetzung der Bestrahlongeo
schien uns nicht ratsam und dem Interesse der Patienten zuwider-
laufend, obwohl Hautläsionen bei dieser Art von Bestrahlung nicht
einmal spurweise angedeutet waren. Die Mehrzahl aller Beobachter
führt ja das Absinken der Purinwerte des Harns nach langer Be-
strahlung auf eine Verödung des blutbildenden Gewebes zurück
Da das Auftreten einer solchen auch beim Blutgesunden immerhin
möglich ist und ein schädigender Einfluß auf die Gesundheit der
Patienten denkbar wäre, wollten wir diese Eventualität von vorn-
herein ausschalten.
Da eine allzu lauge Fortsetzung des Stoffwechselversnches beim
Menschen auch in Anbetracht der für längere Zeit einförmigen
Kost nicht tunlich erschien, waren häufig, wie schon angedeutet
bei Abschluß der Nachperiode die Werte fiir Harnsäure und Purin-
basen noch über die normalen Werte der Vorperiode gesteigert.
Wir ergänzten deshalb die mitgeteilten Versuche durch ein Ex-
periment am Hunde. Nach 50 stündiger Bestrahlung fiel bei
diesem die Lenkocytenzahl auf ungefähr die Hälfte (von 7600 auf
1 ) Arch. f. klin. Med. Bd. 83 S. o2() I90ö.
2) Münch. med. Woch. 1906 Nr. 21 u. 22.
Verhalt, der Harnsänre n. Puriiibasen im Urin n. Blnt bei Röntgenbestrahl. 421
3600). Der Harnsäarestickstoff stieg (2tägige Perioden) von 0,09 g
auf 0,285 g. Von diesem Höhepunkte an, der anmittelbar nach der
Bestrahlung erreicht wurde, gii^gen die Harnsäurewerte wieder
langsam in einem Zeitraum von ca. 16 Tagen auf die Norm zurück.
Tab. VI. Männlicher Rattenfänger.
Kost: 600 g Milch. 300g Brot, öOOg Wasser.
Vorperiode.
Datum
Ge-
wicht
ürin-
N g
Fäoes-
N g
Ge- Harn- g^
samt- säure '^S^ "
! N g N g ^ «
Leuko-
cyten Bemerkungen
zahl 1
1905.
1
1
1
14. u. 15. V.
6,7
12,38
1 3,12
12,90
0,087 r 0,020
6800
16. n. 17.
14,22
14,74 ' 0,101 {0,020
1
18. n. 19.
13,06
] 0,52
l pro die
13,57 0,081 10,020' 7600
i
1 !
I
testrahlungs]
Periode (50 Std. Bestrahlung).
20. u. 21.V.
15,04
4,22
15,74
0,138 0,036
22. n. 23.
15,36
16,06
0,129 0,036
24. n. 25.
17,91
0,70
18,61
0,197 0,036 Albumen in geringer
pro die
Menfi^e, wenige Zyßnd.
Reichl. Epithelien und
1
Leukocyten.
' 1
Nacbperiode.
26. n. 27. V.
6.1
17,43
7,57
18,06 0,285^ 0,031
28. u. 29.
15,67
16,30 0,242 0,0311 3600
30. n. 31.
14,23
14,86 0,266. 0,031.
1. u. 2. VI.
15,81
16,44
0,2a3 0,025
3. n. 4.
14,46
0,63
15,09
0,174 0,025
5. n. 6.
15,75
pro die
16,38
0.194 0,025' 5900 Spur Albumen, ganz
vereinzelte Zylinder.
7. u. 8. VI.
5,6
16,07
16.64
0,128 0,018
■
9. n. 10.
15,28
6,88
15,85
0,107 0,018
11. n. 12.
1
13,70
14,27
0,0911 0,018
13. XL. 14.
14,54
15,11
0,109 0,018
15. n. 16.
1
15,44
0,57
16,01
0,082
17. n. 18.
5,9
15,92
pro die
16,49
0,064
1
8300
Kein Eiweiß, keine
.
1 ! ' Zylinder.
Blntbefund.
Datnm
' Gel
z
lamt-
ahl
Lympho-
cyten
Gr. Mouon.
Überarangs-
zellen
Polynud. ' Eosinoph. Mastzellen
1
19. V.
■M.
29.
16. VI.
7600
3600
8300
19»/,
11%
12%
16%
6%
2%
2%
4%
66%
81%
79%
74%
7%
&%
6%
5%
2%
1%
1 %
1%
Weitere klinüche Bemerkungen erfordern die mitgeteilten Beob-
htnngen wohl nicht. Die Leukooytenzählungen wurden natürlich unter
422
XXIII. LiNSEB tt. SiCK
deD nötigen Kautelen (ähnliche Tageszeit, ähnlicher YerdaaungssuBUnd)
vorgenommen unter Verwendung der Breuer'schen Kammer. Oanz vn-
verkennbar war die Lymphopenie, welche bei Beginn der Beetrahlnng
auftrat. Zu Fall 6 sei noch erwähnt, daß er diagnostisch nicht völlig
klar war. Es bestanden bei dem 17 jährigen jungen Menschen multiple
Lymphdrüsenschwellungen (Hals, Nacken, vor dem Stemum, Azillae,
Leistenbeugen, Kniekehlen), weiterhin waren die lymphatischen Apparate
im Rachen, die Follikel der Kehlkopfscbleimhaut, der Oonjunctiva, die
Drüsen am Lungenhilus (Röntgenbild) hyperplastisch. Sehr auffallend
war eine beträchtliche Schwellung beider Parotiden, während die Oland.
submaxill. und subling. nicht sicher vergrößert waren, ebensowenig die
Tränendrüsen. Man konnte daher das Krankheitsbild nicht ohne weiteres
als Mikulicz^sche Erkrankung definieren, da die sonst so charakteristische
Tränendrüsenschwellung fehlte. Vielleicht bestand bei dem Kranken
eine besonders starke Durchsetzung der Ohrspeicheldrüsen mit lymphati-
schem Gewebe, das ja stets in derselben inselförmig gefunden wird, and
dieses Gewebe hatte sich an der allgemeinen Lymphdrüsenschwellnng be-
teiligt. Eine Probeexcision aus der Oonjunctiva hatte histologisch BUder
ergeben, die an Tuberkulose erinnerten, aber der Tierversuch erwies sich
als negativ. Man wird demnach mit der größten Wahrscheinlichkeit eine
pseudoleukämische Erkrankung annehmen müssen, die bei der Röntgen-
behandlung merkliche Besserung zeigte. Die Parottsschwellung nahm
sehr deutlich ab, aber die Lymphdrüsenschwellungen waren nicht auf
die Dauer zu beseitigen, wenn auch die Drüsen weicher blieben. Nach
\'^ Jahr waren übrigens die Lymphdrüsen nicht wieder von neuem
angeschwollen. Auch das Allgemeinbefinden ließ nichts zu wünschen
übrig.
Im Anschluß an diese Versuche an ganz oder im wesentlichen
blutgesunden Individuen soll noch eines Kranken mit lymphatischer
Leukämie Erwähnung getan werden, der zur selben Zeit Bestrah-
lungen in ähnlicher Weise unterworfen wurde. Die Mitteilung
dürfte dadurch berechtigt sein, daß im ganzen seltener lymphatische
Leukämien bestrahlt und auf die Reaktion ihres Erankheitsverlattit^
auf Eöntgenbehandlung untersucht worden sind ^), vgl. Tab. VH.
Tab. VII. H., Alexander, Ö6 Jahre, Chron. lymphat. Leukämie.
Kost : 2 1 Milch, 80 g Reis, 4 Eier, 50 g Butter, 400 g Brot, 15 g Zucker.
Vorperiode.
Datum
Ge-
wicht
Jel.
Urin- I Fäces-
N g ; N g
Ge-
samt-
N' 8
Hf™- I Basen-
saure v «
y g I ^ g
Lenke- 1 Stunden-
cyten- bestiah-
zahl I lung
8. I.
9.
10.
11.
56 / 14,84
a4.84
55,5 / 14,1
.\ 14,1
9,99
2,47
pro die
i 17,31
/ 0,118
l 17,31 i\ 0,118
U6.Ö7 (0,09
\ 16,57 .;\ 0,09
i 0,042 150 000
/ 0,041
l
1) Vgl. Curschmann u. Gaupp, Mllnch. med. Wochenschr. 1905 Nr.aO
n. Rosenstern. 1. c. Fall III; Joachim u. Kurpjuweit, Münch. med. W.
1904 Nr. 49.
Verhalt, der Harnsäure u. Pnriubasen im Urin u. Blut bei Röntgeubestrahl. 423
I. Bestrahlungsperiode.
Datum
Ge-
wicht
■ k?
Urin-
N g
Fäces
N g
Ge-
samtr
N g
Harn-
säure-
Basen-
N g
Leuko-
cyten-
zahl
Stunden
Bestrah-
lung
12. I.
r 14,22 if
16,8
0,081
r 0,042
241000
3
13.
\ 14,22 ,
16,8
0,084
6
14.
r20,4
22,98
0,14
^0,07
225000
8
15.
\20,4
22,98
0,14
\
6
16.
1 16,46
31,006
19,04
0,133
1 0,043
275000
o
17.
56,8
1 16,46 i
S
19,04
0,133
\
3
18.
/ 17,34
17,34
2,58
19,92
0,158
(0,051
118000
3
pro die
19.
19,92
0,158
1
4
20.
17.34
j
19,92
0,165
/ 0,049 115 000
21.
1 17,34
19,92
0,165
\ 160000
22.
ri7,07
19,75
0,182
/ 0,047
23.
1
\ 17,07
^
19,75
0,182
^ ,
Nachperiode.
24. I.
25.
26.
27.
57,5
(19,68
\ 19,68
(19,4
19.4
16,426
21,73
21,73
21,45
21,45
r 0,175
( 0,175
i 0,145
0,145
/ 0,051
l
j 0,077
\
230000
n. Bestrahlungsperiode.
28. I.
29.
30.
31.
1(17,17
!/ 16,23
\ 16,23
pro die
2,053
1
19,22 /0,16 10,098
140000
19,22 \0,16 ,\
18.28 ^0,142 ,r 0,038
160000
18,28 > 0.142 i
1. — 19. IL Pneumonie des recht. Unterlappens.
sistiert, gemischte Diät.
r 0,108 i -
20. n.
21.
'22.
•23.
56,5
i 12,96
\ 12,96
/ 13,44
1 13,44
> 0,108
r 0,125
\ 0,125
Stoffwechsel versuch
160000
Blutbefund.
Datum
Erythro- \ Lymphoc.
cyten .kleine große
Monon. r>«i i\r„^i/. Mast
Zellen °^^'- ; ^^^^ noph.
Hämo-
Zer-
zelien «^'o»»^
8. I. 1600000,69% I 4»/o
21. 1680000 84 ">/o , 9%
0,50/.
1,2»/,
1"/. 0,5%! -
2% 0,8%, -
26»/.
10
3«;
450/0
Es handelte sich um eine chronisch verlaufende Erkrankung bei
einem 56 jährigen Manne, der zur Zeit, "^j^ Jahr nach der Beobachtungs-
periode, noch lebt, aber schwach und bettlägerig ist. Neb^n dem charak-
teristischen Blutbefund der Lympbämie und einer großen Anzahl von
Hiebt mehr klassitizierbaren Zerfallszellen (Zahl der weißen Zellen 150000
bis 275 000) waren als deutliche Zeichen der Erkrankung ein gewaltiger
424 XXUI. LiNSBR n. Sick
Milztumor der bis über die Medianlinie reichte, and Lymphome am Kais
und in den ObersohiüsBelbeingruben leicht nachzuweisen. Die bei unter
Durchführung purinarmer Diät längere Zeit (15 Tage) durchgeföhrten
Bestrahlungen führten zu einer nicht einwandfreien Verminderuiig der
Leukocytenzahlen, die schon an abd für sich stark schwankten, hatten
aber auf das Allgemeinbefinden der Kranken keinen günstigen Einfluß
obwohl das Gewicht noch anstieg. Es zeigte sich zunehmendes Schwache-
gefühl und große Müdigkeit, Verdauungsstörungen. Kurz nach Abschluß
der ersten Bestrahlungsperiode trat eine glücklicherweise günstig ver-
laufende TJnterlappenpneumozue rechts ein, aber auch na<^ deren Ablauf
war der Patient noch so labil, daß eine Wiederaufnahme der Bestrahlung
nicht angängig erschien.
Zunächst konnte bei diesem Kranken festgestellt werden, daß
die Auscheidung der Purinkörper für gewöhnlich keinje abnorm
hohen Werte — wie meist bei der lymphatischen Leukämie*) —
repräsentierte. A\'ährend der Bestrahlung stieg die Purinkörper-
menge im Urin zusammen mit Vermehrung des Stickstoffzerfalls
langsam an^ ein dauerndes Absinken derselben trat nicht oder
nicht mehr auf. Eine Verkleinerung der Milz war unverkenabar.
aber nach Aussetzen der Bestrahlungen ging dieser Effekt rasch
verloren. Man darf wohl die Erfahrungen an diesem Kranken in
dem Sinne verwerten, daß mit der Röntgenbestrahlung bei lympha-
tischer Leukämie noch vorsichtiger als bei der myeloiden vor-
gegangen werden muß.
Ist demnach unter normalen wie pathologischen Bedingungen
eine Einwirkung der Röntgenstrahlen auf das Blut, die zu ver-
mehrtem Zerfall der farblosen Blutzellen führt, mit allen Konse-
quenzen für den Stoffwechsel erwiesen, so erhebt sich die weitere
Frage, in welcher Art im einzelnen die Einwirkung der Sü-aUen
auf jene Zellen gedacht werden muß. Der eine von uns *) hat auf
Grund seiner Tierversuche einen toxischen Körper snpponiert, ier
in gelöstem Zustand zirkulierend die Zerstörung der Leukocyten
bewirkt.
Neuerdings ist von Klieneberger und Zöppr i t z *) auf Grund
eingehender Untersuchungen über die Einwirkung des Serums be-
strahlter Leukämiker auf menschliche Leukocyten in vitro und auf
solche im Kreislauf von Tieren die Notwendigkeit und die Berechtigung
der Annahme eines Röntgenleukotoxins im Sinn der Immunitätslehre
bestritten worden. Demgegenüber ist in erster Linie zu bemerkau
1) Vgl. von Noorden, Handb. der Pathol. d. Stoffwechsels 1906.
2) Liuser u. Helber. Deutsch. Arch. f. klin. Med. as S. 489 1905.
3) Münch. med. Wocbenschr. 1906 Nr. 18 ii. 19.
Verhalt, der Hamsänre u. Parinbasen im Urin u. Bint bei Röntgenbestrahl. 42Ö
da6 wir unsererseits in dem Röntgenleukotoxin keineswegs einen
KSrper zn erkennen glauben, der in seinen Eigenschaften mit den
dnrch entsprechende Vorbehandlung mit Lenkocyten einer anderen
Spezies zu gewinnenden Cytolysinen für farblose Blutzellen iden-
tifiziert werden kann. Wenn auch gewisse ähnliche Eigenschaften :
die Schädigung durch Erhitzen, die freilich sehr variable aber
meist eintretende Selbstimmunisierung Veranlassung dazu geben,
eisige Analogien aufzustellen, so sind doch der Verschiedenheiten
za viele, um bei den verhältnismäßig wenig ausgedehnten Beob-
achtungsmaterial eine nähere Beziehung zwischen beiden Körpern
zu behaupten. Ganz besonders scheint uns die andersartige Ent-
stehung dies zu verbieten. Zwar entsprechen die Leukotoxine
Metschnikoff's wie andere Cytolysine auch nicht in allen Be-
ziehungen dem Verhalten der Bakteriolysine und Hämolysine und
damit den nach Ehrlich daraus abgeleiteten theoretischen An-
forderungen (wir erinnern nur an die geringe Spezifität dieser
Körper); so daß etwas abweichende Eigenschaften nicht ohne
weiteres jede Beziehung beseitigen werden. Allein sehr schwer-
wiegend bleibt die genetische Verschiedenheit.
Sobald man aber sich vor die Frage stellt, in welcher Weise
die Wirkung der Röntgenstrahlen auf das Blut nach dem bisherigen
Tatsachenmaterial am besten erklärt werden kann, so wird man
zur Annahme eines löslichen im Blute kreisenden
toxischen Körpers greifen müssen. Diese Annahme recht-
fertigt sich durch das lange Anhalten der Leukopenie und des
Nttcleinzerfalls nach Aussetzen der Bestrahlung, durch die „Inku-
bation" der Strahlenwirkung, sowie durch den Einfluß des Röntgen-
serums zum mindesten auf artgleiche Individuen. Die Berechtigung,
den Ausdruck Leukotoxine mit der näheren Bestimmung Röntgen-
leukotoxine zu gebrauchen, leitet sich einerseits aus der spezifischen
Wirkung des fraglichen Körpers auf die farblosen Blutzellen und
Ihre Bildungsstätten ab, andererseits aus der immunisierenden
Wirkung. Denn viel enger als durch die Antikörper bildende
Eigenschaft und die zellschädigende Wirkung kann der Ausdruck
Toxin zur Zeit begrifflich nicht umgrenzt werden. Erst wenn wir
klarere Vorstellung von der eigentümlichen Wirkung der Röntgen-
strahlen auf bestimmte Zellgruppen besitzen werden, dürfte es Zeit
sein, an die Revision der einstweilen gebrauchten Bezeichnungen
2m gehen.
Die bereits erwähnte Tatsache, daß die vermehrte Purinkörper-
ausscheidung noch längere Zeit nach Abschluß der Bestrahlung
426
XXIII. LiNSBK U. SiCK
anhält, ist unseres Erachtens für die in Frage stehenden Anschau-
ungen von besonderer Bedeutung. Bei Fütterung mit nucleinreicher
Nahrung fällt nämlich die Purinausscheidung sofort (1—2 Tage)
nach dem Aufhören der Zufuhr ^) ; hier findet aber ein sehr lang-
sames Abklingen der Erscheinung statt: Ein zum Zellzerfall fah-
render Faktor wirkt also offenbar noch längere Zeit nach. Daß
dies auch fär den Menschen zutrifft, ergaben zwei Versuche, die
Patienten mit Lupus vulgaris und Psoriasis betrafen. Sie wurden
natürlich unter allen Kautelen und mit Einwilligung der be-
treffenden ausgeführt (s. Tab. Vni u. IX).
Tab. VIII. W., Katharine 31 Jahre. Lup. vulgär.
Kost: 2 1 Milch, 60 g Reis, 50 g Butter, 200 g Brot.
Vorperiode.
Datum
Ge-
wicht
kg
Urin- Fäces- ^^I
Ng Ng «7*^-
Harn-
säure
N g
Basen-
N g
Leuko-
cyten-
zahl
1905 '
1
•
28. XII. 58,0
16,75
7,71
18,68
0,214
- -
29.
16,18
1
18,11
0,219
f 0,020
30.
16,45
] 1,93 18,38
0,169
0,020
12200
31.
16,56
iprodie 18,49
0,148
10,020
Injektion von 60 ccm Röntg.-Serum (von
Fall I).
4 Std. nach der , „ „ 6ö00
^ n n n n r> n fvjU
1906
1
1. I.
18,94 / 10,26
20,65
0,487
(0,035
2.
18,47
20,18
0,261
\ 0,035
11900
Aderlafi 200
1
ccm s. Blnt-
I
analysai
3. / 17,03
18,74
r 0.292
(0,048
12800
4. \ 17,03
18,74
\ 0:292
\ 0,048
5. r 16,20
1,71
17,91
/ 0,174
/ —
6. 58,1 \ 16,20
pro die
17,91
\ 0,174 ( -
(
Blntbefund (Leukocyten).
T^ ♦ Gesamt- , t> , i ^ Lympho- , ^" ^<>^®"-
^**^°^ zahl Polynucl.| -^yP^ ^^eSt^^'"
Eosinoph
. Mast»Uen
30. Xn. 05.. 12 200
610/n ' 28% 40/«
ö\
! 1%
2. I.
06.1 11
900
n\
20%
! 2
0/
/o
2»/.
■ 2»/,
Nach einer entsprechenden Bestrahlungsperiode, in der die
Leukocytenzahl des Bestrahlten eine deutliche Verminderung er-
fahren hatte, wurde durch Venenpunktion ca. 150 ccm Blut ent-
1) Vgl. Bloch, I.e. S. 502 ff.
Verbalt. der Harnsäure n. Pnrinbasen im Urin u. Blnt bei Röntgenbestrahl. 427
Tab. IX. F., Johann, 42 Jahre, Psoriasis vulgaris.
Kost: l'/o l Milch, 200 g Reis, 2 Eier, 50 g Butter 100 g Brot.
Vorperiode.
Datum
Ge-
wicht
kg
Urin- i Fäcea-
N g ! N g
Ge-
samt-
N g
Harn-
säure
N g
Basen- ' Leuko-
N g cytenzahl
21. n.
22.
23.
23. n.
24.11. ;
2o.
25. ;
26. ;
27. '
67,5
15,91
16,73
16,40
/ 5,22 ' ( 17,65
1 118,47
1,74 1(18.14
pro die
( 0,161
0,161
0,161
r 0,01 8
0,018
0,018
8600
8900
5100
vor der In-
jektion.
8 Std. nach
d. Inj.
' I ■ I
Abends 4 Uhr Injektion von 80 com Röntg. -Serum von Fall IV.
67,4
ij 17,02
\ 17,02
r 16,24
\ 16,24
16,57
7,42
18,52
I 17,74
1,5 1 17,74
[pro die' 18,07
18,52 r 0,288
\ 0,288
(0,243
^0.243
i 0,243
r 0,027
1 0.027
r 0,033
I 0,033
(0,033
5600
7500
9600
9000
8400
12 Std. nach
der Injekt
Blutbefund (Leukocjten).
Datum
Gesamt- poi-.n„^i Lympho-
Gr. Monon.
Übergangs- ; Eosinoph.
Zellen '
Mastzellen
22. n.
24.
8900
5600
64%
74<>/o
24«
16<>/
'0
10
3%
67o
5%
1%
2%
Qommeii. Daraus konnte durch sofortiges sorgfaltiges Ausschleudern
60—80 ccm Serum gewonnen werden. Diese Menge wurde nun
auf Bluttemperatur erwärmt und dann einem zweiten an der gleichen
Krankheit leidenden intravenös injiziert. Der Erfolg entsprach
ganz unseren früheren mit Böntgenserum gemachten Erfahrungen:
Die Leukocytenzahlen sanken innerhalb von 4 Stunden nach den
Injektionen von 12 200 auf 6500 resp. von 8600 auf 5100, um nach
2 — 3 Tagen wieder die frühere Höhe zu erreichen. Dabei ver-
schob sich auch das Blutbild wieder in typischer Weise zu Un-
gunsten der Lymphocyten, die von 28 auf 21 ®/o resp. von 24 auf
16®/o fielen. Hand in Hand mit diesen Zahlen gingen auch die
Hamsäurewerte, die sofort auf das Doppelte und Dreifache nach
den Injektionen anstiegen. Die Basenausscheidung vermehrte sich
in geringerem Grade. Auch hier hielt der Einfluß der Injektion
von fiöntgenserum mehrere Tage an, die Harnsäuremenge ging
langsam wieder zur Norm zurück.
Wir haben unsere Versuche über den Einfluß von Röntgen-
semm auch an Tieren, Hunden und Kaninchen in beträchtlicher
Anzahl wiederholt, dasselbe: Wir fanden stets einen deutlichen
428 XXIII. LiNSBR Tl. SiCK
Abfall der Leukocytenwerte bei den injizierten Tieren nach den
Injektionen.
Zur Theorie der Röntgenstrahlenwirkung auf den lebenden
Organismus sind unter dem Titel ^Beiträge zur Frage der Ein-
wirkung der Röntgenstrahlen auf das Blut^ von Benjamin.
y. Reuß, Slaka und Schwarz^) eine Anzahl von Versuchen
an Kaninchen veröffentlicht worden, die uns hier z. T. interessieren.
Durch Leukocytenzählungen, die alsbald nach den Bestrahlungen
begannen und 2 stündlich in den ersten 24 Stunden wiederholt
wurden, fanden sie nach kurzdauernden Bestrahlungen eine Hjper-
leukocytose im Blut unter gleichzeitiger Lymphopenie. Sie fuhren
dies zurück „auf das Auftreten eines Stoffes, demgegenüber sich
die polynucleären Leukocyten chemotaktisch positiv verhalten."
Unsere früheren Untersuchungen ergaben ähnliches; den Grund
dafür möchten wir aber nicht in einem hypothetischen chemotakti-
schen Stoff suchen, sondern in der durch den Leukocytenzerfall
entstehenden Harnsäure im Blute. Wenn man den Versuch,
mit dem obige Autoren den „direkten Beweis" für das Vorhanden-
sein dieses fraglichen Stoffes erbringen wollten, in der Weise
wiederholt, daß man Glasröhrchen mit normalem Kaninchensenun
und mit ebensolchem, dem künstlich Spuren von Harnsäure zu-
gesetzt sind, in die Kaninchenbauchhöhle versenkt, so findet man
nach 12—24 Stunden die Röhrchen mit normalem Serum vöIKg
klar, die mit Harnsäureserum aber stark getrübt von eingewanderten
Leukocyten wieder.
Dieselben Autoren suchten dann noch festzustellen, daß die Ein-
wirkung der Röntgenstrahlen auf das zirkulierende Blut völlig ver-
schieden sei von der^auf die blutbildenden Organe, indem sie den Blut-
befund von in toto bestrahlten Kaninchen, mit solchen von Kaninchen,
deren Ohren isoliert röntgenisiert waren, verglichen. Allein dieser Ver-
such ist keineswegs beweisend. Denn jeder, der mit Kaninchenohren
experimentiert hat, weiß, daß dieselben (schon aus thermischen
Gründen) viel zu blutarm sind, als daß von deren Beeinflussung eine
wesentliche Wirkung auf das gesamte Blut zu erwarten wäre. Dazu
ist die Reproduktionsfähigkeit der blutbildenden Organe viel zu groß.
Aber schon nach Bestrahlungen von etwas größeren, blutreicheren
Körperteilen z. B. des Kopfes beim Hunde erhält man dieselben
Erscheinungen im Allgemeinblut wie bei Totalbestrahl nngen, man
muß allerdings die Bestrahlungen dann entsprechend verlängern.
1) Wien. klin. Wochensohr. 1906 Nr. 26.
Verhalt, der Harnsäure n. Pnrinbasen im Urin u. Blut bei Böntgenbestrahl. 429
Gerade beim Kopf kann die Beeinflussung des blutbildenden
Knochenmarks im Verhältnis zur Gesamtmenge desselben kaum
wesentlich ins Gewicht fallen.
Unsere bisherigen Untersuchungen hatten ergeben, daß nach
Röntgenbestrahlungen die Leukocytenzahl im Blute sinkt unter
gleichzeitigem Anstieg der Hamsäurezahlen im Urin. Das gleiche
war nach Injektion von ßöntgenserum der Fall. Es lag nahe,
nun auch festzustellen, ob schon im Blute eine Vermehrung
der Harnsäure nach den Bestrahlungen nachweisbar war.
Die Harnsäure kommt ja im normalen Blute anerkanntermaßen
vor, wenn auch häufig nur in Spuren^), in größeren Mengen wäh-
rend der Resolution pneumonischer Exsudate, bei Arthritis urica,
bei Nephritis und besonders bei Leukämie.') War nun nach Ein-
wirkung der Röntgenstrahlen keine Vermehrung der Harnsäure
im Blut zu finden, so mußte man bei Steigerung der Harnsäure-
aasfahr eine Verminderung der normalen Harnsäurezersetzung an-
nehmen, d. h. eine Ausschaltung des uricoljrtischen Ferments, das
sonst ein Teil der gebildeten Harnsäure gleich wieder abbaut.
Wir haben zu dem Ende bei nicht bestrahlten blutgesunden Indi-
viduen, sowie bei bestrahlten Psoriatikem und Leukämiekranken
die Harnsäure des Blutes teils nach der Methode von Schitten-
helm'), teils nach der von Petren*) festgestellt. Entnommen
wurde das Blut wie gewöhnlich durch Punktion der Ven. mediana
in der Menge von 200—300 ccm. Das Blut wurde sofort in die
essigsaure bzw. schwefelsaure Lösung gebracht, unter Ruckfluß-
kühler gekocht, abfiltriert und der Rückstand 2 — 3 mal ausgelaugt.
Die Fällung im Filtrat geschah wieder nach Schmid-Krügerfs.
Tabelle X und XI).
Der Unterschied zwischen dem Hamsäuregehalt des Blutes
von Bestrahlten und Nichtbestrahlten ist deutlich. Am höchsten
ist die Zahl bei dem Leukämiekranken. Auch die Injektion von
„Eöntgenserum" ergab bei Patientin W. (Tab. X, 6) eine relativ
hohe Harnsäurezahl im Blut. Wenn man diese Zahlen auf die
Gtesamtblutmenge umrechnet und die Menge der im Harn aus-
geschiedenen Harnsäure damit vergleicht, so kann man jedenfalls
1) Vgl. Hammarsten, Lehrb. der physiol. Chemie 1904 S. 492.
2) Vgl. Magnus-Levy, Virch. Arch. 152 S. 107 1898 und Kongr. f. inn.
Med. 1898, sowie Y.Jak seh, Über die klin. Bedeutung des Vorkommens von
Hams&nre und Xanthinbasen im Blute, Exsudaten und Transsudaten. Berlin 1891.
3) Vgl. Inaug.-Dis». v. E. Ritter, Göttingen 1905.
4) Arch. f. eiper. Pathol. Bd. 41 S. 265 1898.
Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 89. Bd. 28
430
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Verhalt, der Harnsäure n. Pnrinbasen im Urin n. Blut bei Rl^ntgenbestrahl. 431
von einer Abschwächung der Uricolyse in den meisten Fällen nicht
reden. Wir müssen somit eine primäre Steigerung der Harn-
sanreprodaktion annehmen.
Wenn wir nochmals kurz unsere Ansichten über die Wir-
kung der Böntgenstrahlen auf das Blut und die blutbildenden Organe
wiederholen dürfen, so wollten wir die frühere einseitige Anschauung,
daß nur die blutbildenden Organe in wesentlichem Maße
der Einwirkung der Röntgenstrahlen unterliegen, dadurch eniv^eitern,
daß wir diesen Einfluß auf sämtliche weiße Blutzellen,
im Blut, wie in ihren Bildungsstätten, ausdehnten.
Bei diesen Untersuchungen kamen wir auf rein empirischem Wege
zn der Annahme eines leukotoxischen Stoffes, der durch
den Zerfall der farblosen Blutzellen entsteht. Diese Annahme be-
stätigte sich uns bisher in zahlreichen Versuchen an blutgesunden
Individuen. Soviel wir sehen, sind bisher keine experimentell be-
gründeten, zwingenden Gegenbeweise erbracht worden. Mit der
Annahme dieser Anschauung scheint uns aber der ganze Streit,
ob die Leukopenien nach Röntgenbestrahlungen mehr Wirkungen
auf das Blut oder auf die Blutbildungsstätten bedeuten, gegen-
standslos. Wir persönlich sehen es als das Natürlichste an, daß
die zerstörende Wirkung der Röntgenstrahlen eben-
so die Leukocyten im Blut wie das leukocytäre Ge-
webe in den Organen trifft und zwar aus physikalischen
Gründen elftere früher und in stärkerem Maße. Ob an der
Dauerwirkung der Bestrahlung mehr die direkte Beein-
flussung der blutbildenden Organe durch die Strahlen
beteiligt ist oder gelöste die Leukocyten spezifisch
schädigende Körper, wird experimentell nicht ohne weiteres
zu entscheiden sein.
Anni. bei der Korrektur: Nach Abschluß vorstehender Arbeit erschienen
in Band X Heft H der Fortschritte auf dem Gebiet der Röntgenstrahlen „£xperi-
menteUe Untersnchnngen über die Einwirkung der Röntgenstrahlen auf tierisches
Oewebe" von Krause und Ziegler. Es ist darin die Ansicht ausgesprochen
wordeil, dafi die Annahme von Linser u. Halber, es entstehe bei der Röntgen-
bestrahlung ein toxischer, Leukocyten zerstörender Körper durch Klieneberger
n. Zöppritz widerlegt sei. Dies beruht aber auf einer irrtümlichen Auffassung
der Arbeit der letzteren Autoren, die sich nicht generell gegen eine derartige
Erklärung der weiteren Bestrahlnngsfolgen ausgesprochen haben. Wir sind im
Gegenteil durch neuere Beobachtungen von uns und von anderer Seite z. 6. durch
das Übergreifen der Veränderungen auf Föten bei Bestrahlung peripherer Körper-
teile Ton Muttertieren, in der prinzipiellen Richtigkeit der Voraussetzung von
Rönt^nlenkotoxinen bestärkt worden.
28*
XXIV.
Klinische Beiträge zur Physiolc^e des sympathischen
Nerrensystems.*)
Von
Dr. L. B. Müller,
Oberarzt der inneren Abteilnn^ des städtischen Krank enhaases in Aagsbnrg.
Im Gegensatz zu den klaren und reichen Ergebnissen der Er-
forschung des Gehirns und des Eflckenmarks sind unsere Eennt-
nisse vom sympathischen Nervensystem recht spärlich und wenig
befriedigend. Schon die beschreibende Anatomie hat bei seiner
Darstellung einen schweren Stand, denn der Verlauf der Fasern
und die Lage und die Form und Größe der Ganglien und der
Plexus sind ungemein wechselnd. So entspringen die weißen Kami
communicantes bald vom Spinalnerven selbst, bald aber von dessen
vorderer und hinterer Wurzel. Das eine Mal ziehen sie nur zu
dem segmentär entsprechenden Ganglion des Grenzstranges, ein
andermal bilden sie auch Kommunikationen mit dem hoher oben
und nächst tiefer gelegenen NeiTenknötchen. Die Rami commani-
cantes grisei, welche aus den vertebralen Ganglien hervorgehen,
mischen sich bald den peripherischen Nerven wieder bei und ent-
ziehen sich dadurch dem weiteren Studium. Und somit kommt es.
daß wir über den Verlauf der vasomotorischen, der schweiß-
erregenden und der pilomotorischen Bahnen noch gar nicht unter-
richtet sind. Die prävertebralen Ganglien, wie das Ganglion
stellatum, coeliacum usw. variieren in ihrer Gestalt und Umfang,
im Ort und in der Anzahl der Anastomosen derart, daß längst
verzichtet wird, sie genauer zu beschreiben. Der Anatom be-
schränkt sich darauf, die einzelnen Geflechte, wie den Plexns
caroticus, cardiacus, mesentericus, renalis, hypogastricus, spermaticus
zu nennen. Eine eingehendere Schilderung der von diesen Ge-
flechten ausgehenden Fasern ist aber unmöglich. Sie ist schon
1) Eine kurze Zusammenfassung vorliegender Erörterungen wurde aof den
Kongreß für innere Medizin 1906 in München vorgetragen.
J
Klin. Beiträge zur Physiologie des sympathischen Nervensystems. 433
deshalb ausgeschlossen, da die Fasern vielfach Verbindungen mit
peripherischen Nerven, wie mit dem Glossopharyngens, mit dem
Vagus, dem Nerv, erigens eingehen und dort nicht weiter verfolgt
werden können, so daß keine reinliche Trennung zwischen dem
spinalen und dem sympathischen Nervensystem durchgeführt
werden kann.
Für die nachstehenden Erörterungen ist es von Wichtigkeit,
darauf hinzuweisen, daß der sympathische Grenzstrang nicht im
Grehirn entspringt, daß er vielmehr ein völlig selbständiges Ge-
bilde ist, welches lediglich durch die weißen Verbindungsäste mit
dem Rückenmark in Kommunikation steht. Mit den Gefäßen, ins-
besondere mit der Carotis interna und deren Verzweigungen ziehen
aber Greflechte des Sympathikus in das Gehirn ein. Wichtig ist
auch die Tatsache, daß es ein autonomes bulbäres System
gibt, dessen präcelluläre Fasern aus den Gehimnerven entspringen
und daß eine Anzahl von Ganglien, wie das Ganglion sphenopala-
tinum , oticum, submaxillare ihrem Bau nach ganz als sympathische
Ganglien aufzufassen sind.
Bei diesen unentwirrbaren anatomischen Verhältnissen ist es
kein Wunder, daß die Physiologie des sympathischen Nerven-
systems wenig leistet. Ihre positiven Ergebnisse auf diesem Ge-
biete sind gering. Wenige Tatsachen, wie die Erweiterung der
Pupille, die Beschleunigung des Herzschlages, die Vasokonstriktion,
Hyperhidrose und die Anregung der Speicheldrüsensekretion sind
als Folgeerscheinung von Reizung der sympathischen Nerven sicher-
gestellt Die eigentlichen Funktionen der großen und weit-
verzweigten zahlreichen Geflechte in der Brusthöhle und der Bauch-
höhle sind noch gänzlich unerforscht.^) Von dem nervösen Mecha-
nismus, der zur Ausstoßung des Sekretes der Geschlechtsdrüsen
fährt, können wir uns kaum eine Vorstellung machen.
So ist es zu verstehen, daß die Neurologie es ängstlich
vermeidet, sich auf das Gebiet des vegetativen Nervensystems zu
begeben, und daß es mit der pathologischen Anatomie und
mit der Pathologie des Sympathikus ganz kläglich bestellt ist.
Abgesehen von der Schilderung des Symptomenkomplexes, der sich
1) Die Funktion und Bedeutung der Splanchnici und des Plexus coeliacus
ist schon deshalb schwierig zu studieren, da ihre Resektion keine nachweisliche
und dauernde Störungen in der Tätigkeit des Darmes oder der Nieren zur Folge
hat (Untersuchungen von Vogt und Popielski citiert nach Schultz, das
aympath. Nervensystem im Handb. d. Physiologie des Menschen. Brauuschweig,
Friedr. Vieweg 1906).
434 XXIV. MüLLBR
bei DurchtreimuDg des Halssympathikus einstellt und abgesehe»
von der Darstellung einiger vasomotorischen Neurosen, wie der
Ray n au duschen Krankheit ist tatsächlich nichts Positives über
Erkrankungen des Sympathikus in den neurologischen Lehrbüchera
zu finden.
Die folgenden Erörterungen sollen nun einen bescheidenen
Versuch darstellen, von klinischer Seite einen Stollen in das
unbebaute Gebiet der Physiologie und Pathologie des Sympathikus
einzutreiben. Und zwar war es mir hauptsächlich darum zu tan^
die Abhängigkeit des sogenannten autonomen Nervensystems von
den cerebrospinalen Zentralorganeu zu studieren. Wenn auch
unsere inneren Organe, wie das Herz *), der Magen *), der Darm
die Nieren, die Blase und die Gebärmutter^) selbständig arbeiten und
abgetrennt von den Nerven ohne erkennbare Störung weiter funk-
tionieren, so besteht doch eine gewisse Beeinflußbarkeit ihrer Tätig-
keit von den Vorgängen in dem Gehirn und Rückenmark, und diese
soll Gegenstand der Untersuchungen sein.
Besonders häufig werden die Magenfunktionen und das
Fttllungsbedürfnis des Magens von geistigen Vorgängen be-
einträchtigt. Bei Verstimmungen und beim Kummer leidet in
erster Linie der Appetit. In krassen Fällen ist es dem Be-
■
troffenen nicht mehr möglich, „einen Bissen hinunter zu bringen",
„die Kehle ist ihm wie zugeschnürt". Daß der Magen auch in
seiner motorischen Fähigkeit bei psychischer Verstimmung ge-
stört werden kann, wurde mir durch die Beobachtung eines älteren
Arztes bestätigt:
Ein junges, völlig gesundes, nicht hysterisches Mädchen, bekooiint
im Anschluß daran, daß ein Kleid für den beabsichtigten Besuch einer
Geselligkeit nicht rechtzeitig fertiggestellt war, einen ^Magenkrampfs.
Bei der Untersuchung zeigte sich die Magengegend nicht nur dmck-
empfindUchy sondern auch stark vorgetrieben. Dabei haben weder
früher noch später je Magenbeschwerden bestanden.
Auch die Angaben einer 35 jährigen Hauptmannsfrau E. F., bei
welcher sich jeder Verdruß und jede, Borge „auf den Magen legt'',
sprechen dafür, daß augenscheinlich unter seelischen Verstimmungen die
1) Friedenthal hat beim Hunde alle extracardialen Nerven entfernt ohne
daß solche Tiere eine wesentliche Abweichung von der Norm boten, nnr ihre
Ausdauer war herabgesetzt.
2) Pawlow wies nach, daß der von allen Nerven abgetrennte Magen ooeb
gute Verdanungskraft und gute Entleeruugsfähigkeit hatte.
3) Goltz konnte feststellen, daß eine Hündin, deren unterster Kackenmark^-
abschnitt mit zehn unteren Nervenwurzelpaaren entfernt worden war, noch spon-
tan lebende Junge gebären konnte. Pflügers Archiv Bd. 63.
Klin. Beiträge zur Physiologie des sympathischen Nerveusystems. 435
EnÜeernngBföhigkeit des Magens leiden kann. Die betreffende Dame
bat dann die Empfindung als ob die Speisen im Magen liegen bleiben
würden. Jede weitere Nahrongszufahr bedingt Zunahme der Beschwerden.
Ebenso führen hier stärkere gemütliche Erregungen fast jedesmal zu
Magenschmerzen, deren Dauer je nach dem Grade und der Dauer
der psychischen Depression zwischen einer halben Stunde und mehreren
Tagen schwanken kann. Auch in diesem Falle liegt weder Hysterie
noch Neurasthenie vor, wohl aber handelt es sich um eine sehr lebhaft
empfindende Frau, deren Vasomotoren durch Stimmungen leicht erreg-
bar sind.
Hin und wieder trifft man auf Leute, die bei psychischen
£motionen an Luftaufstoßen aus dem Magen leiden. Diese
haben dann, wenn sie in besonders peinliche Situationen kommen,
ein unangenehmes Gefühl von Druck und Völle in der Magengrube
und in der Herzgegend, das sich erst löst, wenn zahlreiche Luft-
emptionen aus dem Magen stattgefunden haben.
Nicht selten führen lebhafte seelische Vorgänge zu anti-
peristaltischen Bewegungen des Magens. So muß ein
bekannter bayrischer Herrenreiter bei großen Hennen jedesmal,
bevor er in den Sattel steigt, sich erbrechen. Ein junges Mädchen,
deren Bräutigam das Verlöbnis gelöst hatte, weinte vor Gram
mehrere Tage und mußte alle aufgenommene Speise wieder er-
brechen. In der Sprechstunde konsultierte mich ein Eegierungs-
beamter, der auf jede stärkere Erregung, mag sie trauriger
Art, wie die Erkrankung eines Familienangehörigen oder freu-
diger Art, wie die Kenntnis einer Beförderung, sein, mit Würgen
und Brechreiz reagiert. Befindet sich im Magen Inhalt, so wird
dieser wieder zutage befördert; ist der Magen leer, so wird
lediglich Schleim produziert. Bisweilen ist der Würgreiz so stark,
daß der Schleim schließlich mit Blut untermengt ist.
Bei neuropathischen, insbesondere bei hysterischen Individuen,
ist das Erbrechen auf größere seelische Eindrücke hin gar nicht
selten. Ein Dienstmädchen, welches im Herbst 1905 auf der
inneren Abteilung des städtischen Krankenhauses Augsburg gelegen
hat, war angeblich von ihrer Dienstherrschaft gezwungen worden,
verdorbenen Käse zu essen. Sie glaubte, daß von dieser Nahrung
noch Reste im Magen verblieben seien und erbrach von da ab
jede zngefuhrte Speise. Es ist kein Zweifel, daß es sich hierbei
am hysterisches Erbrechen handelte, aber schließlich ist jedes
hysterische Erbrechen psychogener Natur und somit hierher ge-
hörig. Meines Erachtens steht es sicher, daß das bei angeblich
magenkranken Mädchen so häufig sich einstellende gewohnheits-
436 XXIV. MÜLLKR
mäßige Erbrechen, welches sich vielfach an die Nahrungsauäiahme
anschließt und ohne vorhergehende Nausea erfolgt, in der Mehrzahl
der Fälle auf krankhafte Vorstellungen zurückzuführen ist. leb
bezweifle auch nicht, daß ein guter Teil der unter der Diagnose
„nervöse Dyspepsie^' ^) beschriebenen Magenerkrankungen in letzter
Linie durch Einwirkungen der Psyche und der Stimmungen auf die
Magenfunktionen bedingt ist.
Wie störend die auf psychische Erregungen hin sich eiu-
steUenden Darmentleerungen sein können, mag folgende
Schilderung beweisen.
X. Y., eine 44jährige Dame, bietet keine Zeichen von Hysterie,
Neurasthenie oder neuropathischer Veranlagung, sie ist körperlich yollig
gesund, doch besteht eine Neigung zu Diarrhöen. TTnabhängig von diesen
zuweilen auftretenden katarrhalischen Darmerkrankungen stellt sich nun
bei lebhafter seelischer Erregung häufig unwiderstehlicher Stuhldrang ein.
Dies ist besonders dann der Fall, wenn die betre£fende Dame sich in
Gesellschaft oder sonst in einer Situation befindet, in welcher ein «Ver-
schwinden^ unangenehme Störung und Aufsehen erregen wurde. Meist
geht ein Gefühl der absoluten Sättigung, des Zusammenschnürens des
Halses und der Unmöglichkeit, noch einen Bissen „hinunterzubringoi^,
vorher. Beim Alleinsein oder bei der Möglichkeit, ohne Aufsehen lu
erregen, sich zu entfernen, tritt niemals so plötzlicher und sich so
schmerzhaft geltend machender Stuhldrang ein.
Hierher einschlägige Beispiele wird jeder Arzt aus seiner
Klientel, ja jeder Laie aus seinem Bekanntenkreise zu erzählen
wissen. Bekannt ist, daß besonders im jugendlichen Alter
seelische Erregungen zur Defäkation drängen. Die Redensart „vor
Angst in die Hosen machen" ist sicherlich der Erfahrung bei den
Kindern entnommen. Eine drastische Bestätigung wurde mir jungst
erzählt :
Ein Junge wurde vom Hauseigentümer betroffen, als er unbefagt
die Hausglocke in Bewegung setzte. Ein strenges Verhör nach seinem
und seines Vaters Namen und Wohnung führte zum Abblassen des Ge-
sichtes und zum Schlottern der Glieder; als dann noch üble Grerftche
aus den Kleidern aufstiegen, ließ man den kleinen Sünder mitleidig und
ohne Strafe laufen.
Manchmal scheint nur die freudige Erregung zu Diarrhöen zo
1) Der von Rosenbnsch (Berl. klinische Wochenschrift 1897) eing^fihite
Ausdruck „Emotionsdyspepsie" charakterisiert die Ätiologie solcher Magenstönmgen
besser als das Wort „nerTös''. Mit dem Worte „nervös'' wird von Laien und
von Ärzten Unfug getrieben. Gewöhnlich soll mit ihm ausgedrückt wo^en, daß
keine organische Erkrankung hinter den „nervösen" Störungen st-eckt; meist
würde der Ausdnick „nervös" besser durch den Ausdruck „psychogen" ersetzt
werden.
Klin. Beiträge zur Physiologie des sympathischen Nervensystems. 437
fiSbren; so tritt bei einem älteren Kollegen, der nebenher leidenschaft-
lieher Jäger ist, fast jedesmal nach Erlegang eines Behbockes unbezwing-
barer Stahldrang auf, der ihn nötigt „abseits zu treten^. Depressive
Zustände, Arger und Verdruß haben dagegen in diesem Falle keine Ein-
wirkung auf die Darmperistaltik.
Daß die Angst bei recht vielen Individueti, ja auch bei Er-
wachsenen zum DeÄkationszwang führt, erfahren wir von den
Kriegsveteranen, die uns berichten, daß vor Schlachten, insbeson-
dere am Anfang eines Krieges, die Soldaten reihenweise austreten
mußten.')
Schließlich ist die Frage zu entscheiden, ob es sich bei diesen
Emotionsdiarrhöen lediglich um beschleunigte Peristaltik oder
am eine unter nervösen Einflüssen zustande kommende seröse
Sekretion in das Darmlumen handelt. Wahrscheinlich wirken oft
beide Faktoren zusammen. Durch vielfache klinische Erfahrung
ist es sichergestellt daß die echte Colica mucosa bei Leuten,
die dazu Veranlagung haben, durch seelische Erregungen ausgelöst
werden kann.
Bisweilen bedingen psychische Emotionen lediglich sensible
Reizei*scheinungen in den Därmen.
So berichtet ein 3 2 jähriger Kaufmann, der mich wegen neurastheni-
scher Sexualbeschwerden konsultierte, daß er in peinlichen Situationen
ein schmerzhaftes Kribbeln in den Gedärmen verspüre. Ein solches stelle
sich z. B. jedesmal ein, wenn er unvermutet zu seinem Chef gerufen
werde.
Nicht nur die Magen- und Darmfunktionen, auch die Niere
und die Blase können in ihrer Tätigkeit durch j)sychische Vor-
gänge beeinflußt werden.
Aufregung und gespannte Erwartung bedingen bei recht vielen
Menschen Harndrang und Zwang zu häufigen Entleerungen (P o Ila-
kur ie).^) Dieser Zwang ist unter Umständen recht quälend, bei
Kindern führt er nicht selten zur ungewollten Urinentleerung, aber
auch bei Erwachsenen kann er sich mit „elementarer Gewalt"
geltend machen. So klagte mir eine Dame, die Mutter mehrerer
Kinder darüber, daß der bei Erregungen sich einstellende Drang
1) Daß die Bauchschttsse im letzten Bnrenkriege Terhältnismäßig gutartig
verliefen*, wurde von kriegschimrgischer Seite darauf zurückgeführt, daß der
Dann vor einer Schlacht immer gehörig entleert wurde.
2) Auch affektlose Eindrücke können zum Harndrang führen. So schreibt
Shakespeare im „Kaufmann von Venedig" (4. Aufzug 1. Scene) „Es gibt Leute
welche, wenn die Sackpfeife durch die Nase singt, vor Anreiz den Urin nicht bei
»ch halten können.''
438 XXIV. MÜLLKR
zur Harnentleerung unüberwindlich wäre. Besteht keine Mö^ch-
keit, ihm nachzugeben, so kommt es zum Benässen der Wäsche.^)
Zweifellos führen aber Gemütsbewegungen nicht nur zur
Pollakurie, sondern auch zur Polyurie. Diese Überzeugung,
welche ich durch. Beobachtungen am eigenen Körper gewonnen
habe, wurde mii* auch durch die Erzählung eines jungen Kollegen
bestätigt.
Dieser wurde eines Tages nach TiBoh, nachdem er seine gewohnte
Mittagsmahlzeit nnd die gewohnte Flüssigkeitsmenge za sich genommen
hatte, gegen sein Erwarten und wie er glaubte, ungenügend vorbereitet»
auf nachmittags 5 Uhr zum Examen geladen. Die dadurch bedingte
Erregung führte zu einer großen Harnflut. Die ürinmengen wurden zwar
nicht quantitativ exakt gemessen, doch waren sie in diesen NachmittagB-
stunden weit reichlicher als sonst um diese Tageszeit.
Dahingestellt möchte ich es lassen, ob die seelischen Erregungen
durch das sympathische System direkt auf das Nierenepithel
anregend wirken, oder ob vielleicht eine lebhaftere Herztätigkeit
und eine Veränderung in der Innervation der Vasomotoren, die
mit einer Erhöhung des Blutdrucks einhergeht, zu stärkerer Diurese
führen.
Fälle von psychischer Anurie habe ich in einer früheren
Arbeit gelegentlich der Besprechung der Innervation der Blase
schon erwähnt.*) Solche Leute sind nicht imstande, in Gegenwart
anderer Personen Harn zu lassen. Öflfentliche Bedüifnisanstahen
können von ihnen nur benützt werden, wenn niemand zugegen ist.
Ähnliche Beobachtungen kann häufig der Arzt in der Sprech-
stunde machen. Das Gefühl der Scham oder des Beeinträchtigt-
seins last also hier die willkürliche Innervation nicht soweit vor-
dringen, um den Reflexvorgang, der zur Ausstoßung des Harnes
führt, auszulösen. Die Kontraktion der Blase ist ja durch unseren
Willen nicht direkt zu beeinflussen; es kann, wie ich I.e. aus-
geführt habe, lediglich der ganze Beflexvorgang, der zur Hara-
ausstoßung führt (Öffnung des Sphinkter, Kontraktion des Detmsorsi
ausgelöst werden. Die Wege, bzw. die Nervenbahnen, auf denen
1) Der Harndrang bei der Erwartung von etwas Unangenehmem ist kein
Vorrecht der Menschen. Ein kleiner weiblicher Dackel, der, völlig stubenrein,
längere Jahre mein Lebensgefährte war, kauerte sich bei Furcht vor Strafe auf
den Boden nnd ließ auch im Zimmer Harn von sich gehen. Eine hierher fpe-
hörige Beobachtung konnte ich auch jüngst bei einer Antomobilfahrt machen.
Die in einem Hohlweg angetroffenen und erschreckt vor dem Wagen flüchtenden
Kühe entleerten während des Laufens ihre Blase.
2) Klinische und experimentelle Studien über die Innervation der Blase, des
Mastdarms und des Genitalapparates. D. Zeitschr. f. Nervenheilkunde Bd. 21.
Klin. Beiträge znr Physiologie des sympathischen Nerveusystems. 439
dies geschieht und der ganze Mechanismus der Auslösung sind
uns noch durchaus unbekannt.
Beobachtungen von echter Reflexanurie werden nach
operativen Verletzungen einer Niere oder nach Einklemmung eines
Steines im Harnleiter gemacht. Auf solche sensible Störungen
stellt zuweilen auch die andere Niere ihre Funktion vollkommen
ein. „Es gibt dafür keine andere Erklärung, als daß ein auf die
sensiblen Nerven der einen Niere oder des Harnleiters ausgeübter
Reiz reflektorisch die Vasokonstriktoren der anderen Niere erregt
und somit hochgradige Anämie derselben mit Unterdrückung der
Funktion erzeugt')
Im Volksmund finden die Beziehungen zwischen Ärger, Neid
und Gelbsucht häufig Ausdruck „Sich die Gelbsucht an den
Leib ärgern", „gelb vor Neid", sind Redewendungen, die gang und
gäbe sind. Ich hatte stets die Vermutung, daß diesem Sprach-
gebrauche eine Verwechslung zwischen anämischer Gesichtsfarbe
und ikterischer Färbung zugrunde liege. Und daß beim Ärger die
Wangen durch Vasokonstriktion abblassen, wird ja von keiner
Seite bestritten. Ferner wäre daran zu denken, ob nicht Ursache
und Wirkung verwechselt werden, ob es nicht statt „vor Ärger
gelb" wegen Gelbsucht ärgerlich heißen sollte. Denn auch das ist
zuzugeben, daß nicht leicht eine körperliche Störung die Stimmung
so ungünstig beeinflußt wie der Ikterus. Nun wurde ich aber
darauf aufmerksam gemacht, daß tatsächlich Beobachtungen be-
stehen, welche den ursächlichen Zusammenhang zwischen Ärger
and Gelbsucht erweisen. Ich wandte mich brieflich an den mir
genannten Herrn und erhielt von ihm^, einem nun in Ruhestand
lebenden Offizier, folgenden Bescheid:
^Anf Vermehrung der Gallenstauang, — daß es sich um eine solche
handelt, sagt mir jedesmal der Druck an der Stelle der Gallenblase und
die hellere Färbung des Stuhlganges — wirken hauptsächlich zwei Dinge
ein : feuchtes Wetter un d Gemütsbewegung. Noch mehr wie das
Wetter wirkt aber der Ärger auf die gelbe Farbe ein : Die Wirkungen
des Argers sind deshalb lästiger, weil sie einen Circulus yitiosus erzeugen.
Arger erzeugt Gelbsucht^ und diese vermehrt den Anlaß zum Ärger, die
Reizbarkeit. Daß aber nicht nur Ärger, sondern jede, selbst freudige
Gemütsbewegung, wenn sie nur heftig ist, einen Einfluß auf die Gallen-
absonderung ausübt, steht für mich außer Zweifel." Wegen dieses
I^idens hat der genannte Herr schon vielfach Ärzte, n. a. Frericbs,
1) Küster, Die chirnri^ischen Krankheiten der Nieren. Deutsche Chirnrgie
Lieferung 52 b p. 55.
440 XXrV. Müller
C. Gerhard konsultiert, doch ohne wesentlichen Erfolg, immer und
immer wieder wird durch heftige Gemfitshewegnngen, ganz besonders
durch Arger, Gelbsucht bedingt.
Eine ähnliche Beobachtung bringt Kheinboldt^):
Bei einer 50 jährigen Frau stellt sich nach schweren seelischen Er-
regungen Gelbfärbung der Haut und der Sklera ein; zugleich wird der
Urin dunkelbraun und der Stuhl tonartig. Mit dem Ikterus ist dann jedes-
mal leichte Glykosurie verbunden.
In der „Klinik der Leberkrankheiten** von Frerichs*) ist
dem „Ikterus nach Gemütsbewegungen" ein • eigenes Kapitel ein-
geräumt. Frerichs schreibt dort: „Seit Cl. Bernard den Be-
weis führte, daß durch Verletzung des 4. Himventrikels ein Über-
gang des in der Leber gebildeten Zuckers in den Harn veranlafit
werden könne, hat die Ansicht, nach welcher Störung der Inner-
vation unter Umständen Gelbsucht bedinge, nichts Auffallendes."
Die Erklärung des Zustandekommens der Gallenstauung biekt
m. E. doch rechte Schwierigkeiten. Sollen Schwankungen in der
Blutversorgung der Leber dafür verantwortlich gemacht werden,
oder kommt es infolge eines Schreckens oder einer andersartigen
schweren seelischen Erregung zur Verengerung des Lumens der
Gallengänge? Leider werden diese Fragen der exakten Forschung
wohl für immer unzugänglich bleiben. Es erübrigt nur, auf Analogien
wie auf die mangelnde Magenresorption oder auf die transitorische
Glykosurie nach psychischen Erschütterungen (v. N o o r d e n ')) hin-
zuweisen.
Daß seelische Erregungen zu unzeitig sich einstellenden Men*
struationsblutungen 'führen können, gilt den Gynäkologen
für erwiesen.*)
1) Über Ikterus und Diabetes auf nervöser Grundlage. Manch, med. Wochai-
scbr. 1904 Nr. 36.
2) Frerichs bringt aus der französischen iateratur einige Beispiele tod
psychischem Ikterus. Von 2 jungen Leuten, welche in Streit gerieten and den
Degen zogen, wurde der eine plötzlich gelb, so daß der andere, erschrocken über
diese Veränderung der Farbe, die Waffe sinken ließ. Ein Abb6 wurde, als ein
toller Hund auf ihn losstürmte, plötzlich ikterisch. „Wenn man auch Angäbet
dieser Art in Zweifel zu ziehen geneigt sein mag, so bleiben doch zahlreiche Er-
fahrungen übrig, welche den Beweis liefern, daß der Ikterus unter solchen Ver-
hältnissen in viel kürzerer Zeit sich ausbildet als es nach Unterbindung des
Ductus choledochus zu geschehen pflegt." Braunschweig, Friedr. Vieweg und
Sohn, 2. Aufl. 1861.
3) Die Zuckerkrankheit und ihre Behandlung. Berlin 1901 p. 20.
4) Vgl. D e 1 i u s (Hannover). Der Einfluß cerebraler Momente auf die Men-
Klin. Beiträge zar Physiologie des sympathischen Nervensystems. 441
Anch mir klagte jüngst die erschreckte Matter eines plötzlich
an Miserere erkrankten Schülers, daß sich infolge der Aufregung
die Periode außer der Zeit eingestellt habe. Nach WinckeP)
unterliegt es ferner keinem Zweifel, daß heftiger Schreck, starke
Aufregung, große Angst, besonders wenn derartige Einwirkungen
länger dauern, zu einem Fortbleiben der Periode Anlaß geben
können. Tritt z. B. ein Affekt während der Menses ein, so hören
diese oft augenblicklich auf.')
Eine regelrechte Revolution im sympathischen Nervensystem
tritt manchmal während der Menstruation auf:
Bei einer jungen Frau, die keine Zeichen von Nervosität oder Hysterie
bietet, konnte ich mich davon überzeugen, daß in den ersten Stunden
nach dem Auftreten von Blut hochgradige Blfisse des Gesichts besteht.
Dabei wird über heftige ünterleibskrämpfe geklagt. Ist vorher Nahrung
anfgenommen worden, so wird diese erbrochen; bei nüchternem Magen
stellt sich heftiges Würgen ein. Dazu gesellt sich dann starker Stuhl-
drang, der erst nach mehreren, in rascher Folge eintretenden Entleerungen
nachläßt.
Durch den physiologischen Vorgang, der zur Abstoßung der
Gebärmutterschleimhaut und zu Eontraktionen des Uterus führt,
werden also hier Störungen in der Innervation fast des ganzen
sympathischen Geflechtes bedingt, die stärkste Abblassung des
Gesichts, Erbrechen und Darmkoliken zur Folge haben.
Mit dem Eintritt des Klimakteriums werden besonders lebhafte
Vorgänge im vasomotorischen Nervensystem ausgelöst. Kaum eine
Frau wird in dieser Zeit von den „Wallungen", die recht pein-
licher Natur sein können, verschont bleiben. Einen weiteren Be-
'struation und die Behandlnng von Menstmationsstörungen durch hypnotische Sug-
gestion. Referat im Zentralbl. für Gynäkologie 1900 Nr. 43.
Die Behauptung Forei's (D. Hypnotism., Stuttgart, Ferd. Enke 1895) und
Bern hei m's (Neue Stud. üb. Hypnotism., Suggest. u. Psychotherapie. Leipzig
and Wien, Deuticke 1892), das Auftreten der Menstruation sei durch Hynotismus
zn beeinflussen, scheint mir, obgleich die Autoren mehrere Fälle von erfolgreicher
Behandlnng von Metrorhagien durch Hypnose mitteilen, sehr mit Vorsicht auf-
zunehmen zu sein. Die Analogieschlüsse mit der Heilung der Obstipation durch
Suggestion sind nicht zutreffend, da hier auch willkürliche Faktoren wie die An-
wendung der Bauchpresse in Betracht kommen. Sätze wie ,, mittelst der Sug-
g-estion werfen wir eine kräftige Innervationswelle vom Gehirn aus auf die an
automatische Tätigkeit gewohnte Bahn und der Erfolg ist da'' (Forel) klingen
wohl recht schön. Ihre Richtigkeit wird aber kaum zu beweisen sein.
1) Lehrbuch der Frauenkrankheiten.
2) Ein Fall von psychischer Amenorrhoe nach heftigem Schreck bei der
Todesnachricht des Vaters wird von C. Gebhard in dem Kapitel „Die Men-
struation" (Handbuch der Gynäkologie von I. Veit) angeführt.
442 XXIV. Müller
weis für die lebhaften Beziehungen, die zwischen den Vorgängen
innerer Organe und dem Seelenleben bestehen, liefern die psychi-
schen Störungen, die sich nicht selten in den Wechseljahren ein-
stellen ; nur ist hier das Verhältnis von Ursache und Wirkung m
anderes als in den bisher besprochenen Fällen ; nicht seelische Er-
regungen rufen Störungen in den körperlichen Funktionen hervor,
vielmehr bedingen umgekehrt körperliche Ausfallserscheinungen
psychische Alterationen.
Daß starke seelische Depression zur Sekretion der Tränen-
drüsen führt, ist eine Tatsache, die uns so geläufig ist, daß wir
sie als selbstverständlich hinnehmen und gar nicht mehr über sie
nachzudenken pflegen. Die Innervationsverhältnisse der Glandulae
lacrymales sind zwar noch nicht sicher geklärt ^), doch steht fest
daß der Sympathikus sich auch an der Nervenversorgung der
Tränendrüsen beteiligt. Der eigentliche Zweck dieser Drüsen ist
zweifellos, die Oberfläche des Auges feucht zu erhalten und
Fremdkörper, welche in den Konjunktivalsack gelangten, heraus-
zuschwemmen. Bei stärkeren psychischen Emotionen (beim Schmen
und bekanntlich auch bei der Freude) kommt es nun zu einer
Sekretausstoßung der Tränendrüsen, die recht reichlich und an-
haltend sein kann.'*) Meist ist das Weinen auch mit einer Er-
weiterung der Hautgefäße des Gesichts (Rötung) und mit einer
stärkeren Sekretion von Seiten der Nasenschleimhaut verbunden,
doch läßt sich nicht leicht entscheiden, inwieweit das beim Weinen
sich einstellende schleimig-seröse Produkt der Nase durch den
Abfluß der Tränen in den Nasenraum bedingt ist. Diejenigen In-
dividuen, bei welchen sich schon aus verhältnismäßig geringfügige
Anlasse Tränen einstellen, sind meist auch vasomotorisch leicht
erregbar, d. h. bei ihnen springen die seelischen Vorgänge leicht
auf das sympathische Nervensystem über. In diese Kategorie ge-
hören vor allem die Kinder und die Frauen. Doch gibt es be-
1) So schreibt 0. Weiß im Handbnch der Physiologie de« Menschen 3. Bd.
2. Hälfte (Kapitel: Schntzapparate des Auges): „Über die Ursache der Trfinen-
absonderung beim Weinen ist nichts Näheres bekannt" und „über die Herkunft
der Nervenfasern, welche die Tränendrüse sekretorisch versorgen, kann man
gegenwärtig kein sicheres Urteil fällen."
2) In einer Studie „Vom Weinen" weist F. W. Hagen (Psychologische
Untersuchungen. Braunschweig, Vieweg und Sohn 1847) darauf hin, daß weniger
die eigentliche Traurigkeit als die Wehmut dem Weinen zugrunde liegt Da-
neben kann aber auch der Zorn, die Empfindung der Kränkung und des Unver*
mögens, ferner das Mitleid und das Gefühl des Erhabenen ,. empfindsame" Menschen
zum Weinen bringen.
Klin. Beiträge zur Physiologie des sympathischen NerTensystems. 443
kanntlich auch Männer, die „leicht zu Tränen gerührt*' sind. Und
zwar brauchen es nicht immer Stimmungen zu sein, die zur Sekre-
tion der Tränen f&hren; so wurde mir erzählt, daß einem Herrn
die hellen Tränen über die Wangen rinnen, wenn er ein ent-
zündetes Auge sieht, oder wenn er sieht, daß jemand durch einen
Fremdkörper im Auge belästigt wird. Ja schon die Beobachtung,
daß jemand sich die Augen reibt, genügt, ihm Tränen zu entlocken,
ein Umstand, der häufig su Scherzen benutzt wird. Wenn also
auch die Tätigkeit der Tränendrüse unserer Willkür völlig ent-
zogen ist, so kann sie doch von unseren Stimmungen und Affekten
beeinflußt werden. Das letztgebrachte Beispiel beweist, daß auch
affektlose Vorstellungen imstande sind, Tränensekretion auszulösen.
Auch die Nasenschleimhaut kann unter der Einwirkung
psychischer Momente in Schwellung und in Sekretion geraten.
Ein Spezialar2t für Nasen- und Kehlkopfkrankheiten berichtete mir
einen Fall, in welchem jedesmal post coitum nervöser Schnupfen auftrat.^)
Hierher gehören die Angaben, welche mir eine 36 jährige, magere, leidend
aassehende Dame machte, die seit vielen Jahren an bronchialem Asthma
leidet. Die Anfalle von Schweratmigkeit, welche jedesmal mit Niesen
anfangen und dann in Stockschnupfen und Dyspnoe Übergehen, setzen
häufig spontan ohne nachweisliche Ursache ein; ganz regelmäßig kommt
es zu solchen einige Zeit (3 — 4 Stunden) nach schwerer Sorge, Angst
oder Schrecken. Ärger und Verdruß und auch seelischer Schmerz äußern
sich dagegen lediglich durch Schnupfen. Nach anfanglichem Kribbelu
und einleitendem Niesen stellt sich wässerige Sekretion ein, die so stark
werden kann, daß in kurzer Zeit 3 — 4 Taschentücher „zum Auswinden*'
feucht sind. Nach 20 — 30 Minuten läßt dieser Katarrh dann wieder
nach. Depressive seelische Erregungen manifestieren sich bei dieser
Dame, die angeblich selten weint, also nicht durch Sekretion der Tränen-
drüsen, sondern durch die Tätigkeit der Drüsen in der Nasenschleimhaut.
Die Dame „weint durch die Nase^.
Daß die Speicheldrüsen schon auf Vorstellungen und auf
<5erüche hin ihr Sekret abscheiden, ist eine Beobachtung, die in
1) Ähnliche Beobachtungen scheinen auch andererseits schon gemacht worden
2SU sein, so schreibt N a g e l in der Physiolog. der mftnul. Geschlechtsorgane (Handb.
d. Physiol. d. Menschen. Brannschweig liK)6): „Das schwellkörperartige Gewebe
mancher Partien der Nasenschleimhaut beteiligt sich, wie es scheint, häufig an
den An- und Abschwellungsvorgängen in den Genitalorganen. '^
Beziehungen zwischen der Nasenschleimhaut und den Genitalorganen des
'Weibes werden von den Gynäkologen allgemein angenommen. (Nasale Therapie
bei Dysmenorrhoe!) Amann konnte bei Laparotomien feststellen, daß Reizung
der Nasenschleimhaut Kontraktion der gekreuzten Uterushälfte und des Ligamen-
mm rotnndum zur Folge hatte. Siehe 0. Roith, Zur Innervation des
ITterus. M onatschr, f . Geburtsk. u. GynÄk. Bd. 25.
444 XXIV. MüLuw
gebräuchlichen Redewendongeii zum Ausdruck kommt. Bei starken
seelischen Erregungen soll es aber zur Sistierung der Speichel-
sekretion kommen. Auf dieser Annahme beruht die Erklänmg
einer angeblich besonders treffenden Art von Gottesgericht, des
Kauordale s.^) Bei zahlreichen Naturvölkern, wie bei den Makas-
sareU; den Waswaheli und den Birmanen wird den VerdächtigeB
aufgetragen, eine Handvoll Eeis zu kauen und möglichst rasch
hinunterzuschlucken. Dem Schuldigen versagt die Speichelsekretion
und er muß schließlich den Reis wieder trocken ausspeien.
Der häufig gebrauchte Ausdruck ,,Angstschweiß^ ist ein
Beleg dafür, daß zwischen Angstzuständen und Schweißabsonderang
Beziehungen angenommen werden. Es ist aber nicht allein die
Angst; jede Art von seelischer Erregung kann bei Leuten, die
dazu geneigt sind, den Schweiß hervortreten lassen. Meist sind
es allerdings unangenehme psychische Empfindungen und gewisse
Spannungs- und Erwartungszustände, die dazu f&hren. DiejenigeB
Stimmungen, die mit fertigen Ereignissen zusammenhängen, wie
der Schmerz oder die Freude, scheinen dagegen nicht auf die
Schweißzentren *) einzuwirken. Die Schweißabsonderung geht
durchaus nicht immer mit einer Hyperämie der Haut parallel.
Auch auf einer blassen Stirne und auf anämischen Hohlhänden
kann es zum Angstschweiß, zum kalten Schweiß, kommen.
Der Einfluß von Vorgängen in der Psyche auf der Hautober-
fläche äußert sich unter Umständen auch im Auftreten der Cutis
1) Dr. A. Hell w ig. Das Kanordal. Sammler (Beilage znr Angsbnrirär
Abendzeitung) Nr. 18/1906.
2) Bisher wurde fast allgemein angenommen, datt das Schweißzentrum in
das verlängerte Mark zu lokalisieren sei. Noch niemand war aber imstande, den
Ort des Schweißzentrums in der Medulla oblongata genauer zu bestimmen oder
auch nur strikte Beweise für diese Behauptung zu erbringen. Die Beobachtung,
daß bei Querschnittserkrankungen des Kilckenmarkes die gelähmten KGrpertdk
stärker erwärmt noch sehr wohl in Schweiß geraten können, gibt Anhaltspunkte
für das Bestehen von Schweißzentren auch außerhalb der Schädelkapsel. Diese
müssen in engster Beziehung zu den Fasern stehen, welche die Wärmeempfindimg
leiten. Erhöhte Außentemperatur oder vermehrte Muskelanstrengung, welche die
Temperatur im Körperinnem steigert, regen die Schweißsekretion an, um dnitfa
stärkere Wärmeabgabe einen Ausgleich zu schaffen. Dazu bedarf es aber nicht
eines hypothetischen Wärme- und Schweißzentrums im verlängerten Marke. Das
kann durch solche Zentren im Rückenmark und durch Nebenstationen im sym-
pathischen Nervensystem auch geschehen. Viele Erscheinungen, wie der lokale
Schweißausbruch, dort wo die Hitze iin Heißluftapparat einwirkt, weis^i auf
eine selbständige Wärmeregulation der einzelnen Segmente hin.
Klin. Beiträge zur Physiologie des sympathischen Nervensystems. 445
anserlna. Nicht nur Angst- und Schreckzttstände führen dazu,
daß uns „die Haare zu Berg stehen^, auch bei ergreifenden, be-
geisternden und besonders mächtigen Eindrücken entfaltet der
Sympathikus seine pilomotorische Wirkung, es „erschaudert uns
die Haut". Ja einfache akustische Reize, wie schrille hohe Töne,
das Zähneknirschen, selbst nur die Vorstellung von solchen Ge-
räuschen können zu peinlichen Empfindungen an der äußeren Be-
deckung f&hren, die mit Frösteln einhergehen. Zweifellos sind
diese Sensationen durch die Tätigkeit des Erectores pilorum be-
dingt Die Eontraktion der glatten Haarbalgmuskulatur ver-
ursacht ein stärkeres Vortreten der Follikel Da derselbe Vor-
gang auch bei Frosteinwirkung auf die Haut zustande kommt, so
ist es begreiflich, daß auch bei der reflektorisch auftretenden
„Gänsehaut'' Empfindungen von „Gruseln", „Kaltüberlaufen" oder
von „Schaudern" geäußert werden. Nicht selten beschränkt sich
die Eälteempfindung auf einen Hautstreifen entlang der Wirbel-
säule. ^) Die Körpertemperatur scheint ganz unabhängig von Ge-
matsbewegungen zu sein. Nur bei Rekonvalescenten von schweren
Erkrankungen (Typhus) sieht man bei sorgfältiger Messung nach
Besuchen oder nach Verdruß Temperatursteigerungen. Tuberkulöse
Kranke, deren Körperwärme durch körperliche Bewegungen so leicht
zu erhöhen ist, zeigen nach meinen Erfahrungen niemals emotionelle
Temperaturbeeinflussung.
Ganz besonders fein reagiert der Füllnngsgrad unserer
Hautgefäße auf die seelischen Vorgänge, und zwar ist diese
Reaktion der Vasomotoren je nach der Qualität des Affektes eine
verschiedenartige: bei der Freude kommt es zur Rötung
der Wangen, bei der Scham zur fleckigen Hyperämie des ganzen
Gesichts und der vorderen Brustpartien; der Zorn kann zur An-
ffillong des venösen Teiles der Kapillaren führen, so daß das Gesicht
„puterrot" wird. Die depressiven Stimmungen, wie die Angst,
die Sorge, der Ärger, bedingen eine Vasokonstriktion und
können das Gesicht leichenblaß erscheinen lassen.^)
1) Ein Analogon g^ben Reüsversache des Sympathikas bei Tieren (Katee,
Himd, Affe, Igel). Bei diesen tritt ein pilomotorischer Effekt nur in dem band-
artigen Streifen, der dem sensiblen Verbreitungsgebiet des Ramus dorsalis der
Spinalnerven entspricht und der entlang der Wirbelsäule verläuft, zutage. Die Haut
der Extremitäten scheint bei diesen Tieren der Pilomotoren ganz zu entbehren.
2) Auch das Zentrum für die Vasomotoren wird bekanntlich in die Medulla
oblongata lokalisiert und muß sich dort mit vielen anderen hypothetischen Zen-
tren, um deren Lokalisation man verlegen ist, in den recht beschränkten Platz
teilen. So vermutet man im verlängerten Marke ein Krampfzentrum (Kuß maul).
Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 89. Bd. 29
446 XXIV. MULLKR
Durch eine gi^oße Anzahl von Untersuchungen mit dem Ple-
thysmographen konnte Lehmann^) darlegen, daß die angenehmen
Erregungen wie die Freude jedesmal und bei jedem Individaam
eine Erweiterung des Armvolumens und eine Zunahme der GroBe
des Pulses im Gefolge haben , während schmerzliche seelische Emp-
findungen den umgekehrten Effekt bedingen.
Die Projektion der Stimmungen auf die Vasomotoren ist keine
Erscheinung, die sich erst beim erwachsenen denkenden Menschen
einstellt, schon in den ersten Lebenswochen überzieht sieb das
Gesichtchen eines Kindes, das vielleicht im Trinken gestört wird
oder sonst sich unangenehm berührt fühlt, mit Zomesröte.
Zu den vasomotorischen Erscheinungen möchte ich auch die
Störungen in der Herztätigkeit rechnen, die sich im Gefolge
von seelischen Erregungen einstellen. Die Beziehungen zwischen
unseren psychischen Empfindungen und dem Herzen sind so all-
gemein, daß im Volksmunde das Herz als Sitz der Seele ange-
sprochen wird. Die Einwirkung von Stimmungen auf die Herz-
tätigkeit ist recht verschiedenartig, bald führen sie lediglich znr
Beschleunigung und zum Fühlbarwerden des Herzschlags, zam
Herzklopfen, bald aber auch zur Arhytmie und zur Empfindung
ein Temperaturzentrnm, ein solches für die Schweißsekretion, für die Spetchelr
nnd Tränensekretion. Ferner Zentren für die Atmungsinnerration nnd Hen-
innervation, für die Magen- nnd Darmbewegungen, für den Brechakt, fOr des
Ganmenreflex, den Würgreflex, den Schlingakt, die Sangbewegnngen, für da^
Niesen nnd für das Husten, für den Lidschluß und für die Zuckerverbrennimg.
und dabei ist in der Medulla oblongata, abgesehen von der Olive und von der
Substantia reticularis jedes Fasersystem und jede Ganglienzellengmppe in ihrer
Funktion erkannt. Man wird sich wohl entschließen müssen, etwas weniger n
zentralisieren und dem Rückenmark, insbesondere aber dem sympathischen Nenra-
System einschließlich des autonomen bulbären Systems (Ganglion sphenopalatumm,
oticum, submaxillare) mehr Selbständigkeit zuzumuten. In neuester Zeit wende»
sich auch manche Physiologen gegen die Sucht zu lokalisieren, so vermutet
Langendorff (Physiologie des Rücken- und Kopfmarkes in NagePs Handbnefa
d. Phys.), daß das Atemzentrum nicht auf den Noeud vital beschränkt ist md
kein anatomisch einheitliches, eng begrenztes Gebilde ist, er glaubt vielm^.
daß die vom Kopfmark isolierten spinalen Ursprungszellen des ZwerchfeUs usd
der Rippenheber automatisch tätig sein können. Ebensowenig ist der buib&K
Sitz eines hypothetischen Vasomotorenzentrums zu erweisen. Vielmehr ist aDzn-
nehmen, daß sich dieses auch auf das Rückenmark und die sympatiiischen
Ganglien erstreckt. Ausgesprochen segmentär begrenzte vasomotorifcbs
Störungen (hochgradige Marmorierung) konnte ich in 2 Fällen beobachten. (Über
eine angeborene, seltene Hautveränderung, Münch. med. Wochenschr. 1903 Nr. 2Sk\
1) Snr les Concomitants Physiologiques des Etats psychiques. Acadäoi^
Royale des Sciences et des Lettres de Danemark Extrait du Bulletin de Tann^ 190&
Klin. Beiträge zur Physiologie des sympathischen Nervensystems. 447
eines schmerzhaften Gefühles in der Herzgegend. Früher
schon habe ich daranf hingewiesen ^), daß die Geföße des Herzens
vermutlich ein ähnliches Verhalten zeigen wie die des Gesichts,
daß somit die frohen Stimmungen zu einer Erweiterung der Koronar-
gefäße, zu einer lebhafteren Tätigkeit des Herzens und zum Gefühl
der behaglichen Völle fuhren. Redewendungen wie „das Herz
hüpft vor Freude", „aus vollem Herzen", „warm ums Herz", „wes
das Herz voll ist usw." würden das bestätigen. Die unangenehmen
Empfindungen wie Sorgen, Ärger, Kummer und Angst würden dann
eine Vasokonstriktion der Kranzgefäße und damit Herzschmerzen
und Arhythmie zur Folge haben (das Herz „krampft" sich*)).
Bei dem Kapitel über den Einfluß der seelischen Vorgänge
und Stimmungen auf die Vasomotoren ist auch das Zustande-
kommen der Erektion zu besprechen. Die Steifung des Gliedes
ist bekanntlich unserer Willkür nicht direkt unterworfen. Nur auf
dem Umwege der erotischen Vorstellungen kann dieses vaso-
motorische Phänomen ausgelöst werden. Depressive Zustände wirken
hemmend, gehobene Stimmung hat dagegen fördernden Einfluß. Von
wesentlicher Bedeutung für die psychische Innervation der Erektion
sind sinnliche Eindrücke, mögen sie nun durch den Olefaktorius,
den Optikus oder durch die Berührungsempfindung perzipiert werden.
Ob im Großhirne ein eigentliches Zentrum für die Erektion und
für die Geschlechtsfunktionen überhaupt besteht, ist sehr fraglich,
1) L. B. Müller, Über die Beziehnngen von seelischen Empfindungen zu
Herzfftörangen. Münchner med. Wochenschr. 1906 Nr. 1.
2) Lehmann (1. c.) glaubt durch seine Versuche mit dem Plethysmographen
und durch PnlBregistrierungen nachgewiesen zu haben, daß die seelischen Stim-
mungen, die eine Hemmung bedeuten (Ärger,' Verdruß, Sorge, Angst) stets mit
einer Herzbeschleunigung einhergehen, während die Emotionen, welche den
Oedankenablauf fördern wie die Freude jedesmal eine Verminderung der
Pulsfrequenz zur Folge haben. Lehmann bringt auch eine Deutung für
diese Beobachtungen. Ein Prozeß, der im Gehirn Hemmung bedingt, wird auch
-die Innervation des Vagus hemmen und damit eine Beschleunigung der Herz-
tätigkeit im Gefolge haben. Umgekehrt bedingt jede Bahnung, jede Erleichte-
rung des Ablaufes der nervösen Prozesse eine stärkere Erregung des Vagus und
•diese läuft auf eine Hemmung der Herztätigkeit hinaus. Die Nützlichkeit dieser
[Einrichtungen ist nach Lehmann einleuchtend: jede Hemmung geht einher mit
einem Verbrauche der Energie ; die lebhaftere Herztätigkeit erleichtert den Stoff-
^«rechsel im Gehirn und den Ersatz der Spannkraft. Daß aber die Anregung der
Htntsirkalation hauptsächlich dem Gehirn und nicht auch dem übrigen Körper
.zu gute kommt, wird durch Vasokonstriktion der peripherischen Gefäße gewähr-
leistet. Lehmann schließt seine Darlegungen mit dem Satze: Les modiflcations
•de circulation, qui accompagnent les divers etats psychiques, sont des reaction»
»tiles qui assurent Tint^grite des eentres nervenx en fonction.
29*
448 XXIV. MCllär
jedenfalls können z. Z. keine beweisenden Anhaltspunkte dafar bei-
gebracht werden. Die Bahnen, auf welchen vom Gehirn aus die
Anregungen zur Erektion kaudalwärts geleitet werden, sind noch
durchaus unbekannt. Nur daf^r sind Anhaltspunkte zu gewinoen.
daß sie verhältnismäßig hoch (im oberen oder mittleren Brusttefle)
das Rückenmark verlassen^) und von dort aus im sympathisdien
System zum Becken ziehen. Sicherlich kann die Steifong des
Gliedes auch durch örtliche Reize und durch den Fullungszustand
der Geschlechtsdrüsen bedingt werden. Daß dieser FullungsznstaBd
ferner fördernd auf das Zustandekommen von erotischen Wünschen,
d. h. auf das Bewußtwerden der Geschlechtslust wirkt, ist auch
nicht zu bezweifeln.
Auf die Ausstoßung des Sekretes der Geschlechtsdrüsen
haben Vorstellungen und Stimmungen allein im wachen Zustand
keinen auslösenden Einfluß. Wohl aber können im Schlafe Träosie
und unter pathologischen Verhältnissen (krankhafte Erregbarkeit)
Vorstellungen und sinnliche Eindrücke den Reflex der Ejaknlati<m
zur Folge haben. Unter allen Umständen, im. Wachen wie im
Schlafen^ verursacht die Entleerung des Samens im Zentralorgan
die Empfindung höchster Wollust. Doch fehlt uns noch völlig dn^
neurologische Verständnis für den Orgasmus. Wir wissen nicht,
wie es kommt, daß ein V^organg wie die Ausstoßung eines Drösen-
Sekretes so intensive wollüstige Empfindungen auslöst, die iur
Momente alle anderen psychischen Vorgänge zurückdrängen. Ja
wir haben keine Vorstellungen davon, auf welchen Bahnen diese
Empfindungen cerebralwärts geleitet werden. Die sensiblen Faser-
systeme des Rückenmarks, welche die Berührungsempfindnng. den
Schmerz oder die Tiefenempfindungen in unseren Muskeln leitat,
kommen wohl kaum in Betracht. Andere zentripetal leitende
Nervenbahnen stehen aber nicht zur Verfügung. Sicherlich springt
die Erregung auf das sympathische Nervensystem über und hat
dort eine Einwirkung auf die Vasomotoren und auf die Inner-
vation der Schweißdrüsen. Aber auch auf das psychomotorische
Gebiet erstreckt sich die Wirkung, so ist die Atmung während des
Orgasmus beschleunigt und die Streckmuskulatur der Beine wird
stark angespannt. Das Bewußtwerden des höchsten Grades von
Wollust bei der Entleerung des Produktes der Geschlechtsdrüsen
mag als ein Anzeichen für die lebhaften Beziehungen, die zwischen
1) Vgl. L. H. Müller, Klinische und experimentelle Stadien über die^
Iniieryation der Blase, des Mastdarmes und des Genitalapparates. Deutsche Zeit-
sehr. f. Neryenheilkunde Bd. XXI.
Klio. Beiträge znr Physiologie des sympathischen Nervensystems. 449
der Funktion innerer Organe und dem Empfindungsleben bestehen,
dienen. Ein weiterer Hinweis auf diese liegt in dem regen Be-
dürfnis des erwachsenen Individuums nach Geschlechtsverkehr, in
dem Geschlechtstrieb.
Der Erörterung der Triebe, die teils die Fortpflanzung (Ge-
schlechtstrieb, Mutterliebe), teils die Selbsterhaltnng des Indivi-
duums (Hunger, Durst) zur Aufgabe haben, geht die Physiologie
und Neurologie sorgfältig aus dem Wege. Tatsächlich sind diese
Empfindungen auch schwer zu analysieren; wir wissen nicht, wo
sie im Körper entstehen, wie sie zum Gehirn geleitet und an
welcher Stelle sie dort perzipiert werden.
Bei dem Trieb, der uns mit großer Mächtigkeit zur Erhal-
tung der Art antreibt, kommen sicherlich nicht nur nervöse
Momente in Betracht. Wir müssen uns vielmehr vorstellen, daß
ähnlich wie bei der Schilddräse eine innere Sekretion, eine
Saffcbeimischung stattfindet, die in den Pubertätsjahren die Ent-
wicklung der körperlichen Charakteristika des betrefi'enden Ge-
schlechts (Barthaare bzw. Mammae usw.) zur Folge hat und später-
hin die Geschlechtslnst als solche bedingt. Die stärkere Anfnllung
der männlichen Geschlechtsdrüsen und der Vorgang der Ausstoßung
des Eies aus dem Ovarium verursachen augenscheinlich durch eine
Steigerung der inneren Sekretion eine Zunahme des Geschlechts-
triebes. Wo freilich im Gehirne diese Beimischung zum Blute
empfanden wird und wo somit im Gehirne uns der Geschlechtstrieb
zum Bewußtsein kommt, läßt sich zurzeit noch nicht entscheiden.
^^och schwieriger ist die Deutung derjenigen Triebe, welche
die Erhaltung des Individuums sichern, des Hungers und des
Durstes. Eine Lokalisation dieser Empfindungen, die bekanntlich
quälend wie ein Schmerz sein können, in der Hinrinde ist von
keiner Seite noch versucht worden. *) Ja es ist fraglich, ob die
Hirnrinde zum Entstehen dieser Triebe notwendig ist. Kinder,
deren Großhirn durch hochgradigen Hydrocephalus so gut wie aus-
geschaltet ist, haben das Bedürfnis, Nahrung aufzunehmen % ebenso
der Organismus des einzelligen Tieres, dem noch kein entwickeltes
. 1) Auch bei Lokalisation des Hnngren hat die MeduUa oblongata wieder
iierhalteii rnttfleen, so schreibt Siegel: [rjy'ie Erkrankungen des Magens". Noth-
nagePs spes. Pathol. n. Therap. Bd. XVI) „Bekanntlich nimmt man an, daß das
Hvngergeftthl seinen Sitz in der MednUa oblongata habe."
2) Sternberg n. Latzko berichten in der D. Zeitschr. f. Nervenheilk.
Jßd. 24 von einem Kinde, dessen Medulla nur bis zum Locus caernlens entwickelt
'^'ar. daß es durch Saugbewegnngen Nahrung zu sich genommen habe.
450 XXIV. Müller
Nervensystem zur Verfugung steht. Wo wird nun der Hunger
ausgelöst? Kommt er gleichmäßig im ganzen Körper, also auch
in unseren Extremitäten zustande, handelt es sich also um Zellen-
hunger und bringt es uns das Gehirn zum Bewußtsein, daß eine
solche Empfindung, die ihm vielleicht durch die Fasern, welche die
Tiefensensibilität vermitteln, zugeleitet wird, als Hunger aufgefaßt
werden muß? Oder kömmt es in einzelnen Organen bei gewissen
Zuständen zum Auftreten dieses Triebes? Es liegt nahe, den
Füllungsgrad des Magens für die Empfindung des Hungers oder
der Sättigung verantwortlich zu machen. *) Doch ist leicht zu er-
weisen, daß auch bei reichlicher Zufuhr von wenig nahrhafter Kost,
wie von Gemüse, noch Hunger empfunden werden kann, und daS
umgekehrt ein leerer Magen noch durchaus nicht die Empfindung
des Hungers auslöst.-) So ist das Frühstück schon nach IV2 Stunden
aus dem Magen entfernt, das Bedürfnis zu neuerlicher Nahrungs-
aufnahme stellt sich aber meist erst nach einigen Stunden wieder
ein. Anderenteils steht sicher, daß wir beim Hunger ein Gefühl
der Leere in die Magengegend lokalisieren. Aber der Kranke,
dessen Magen durch Operation entfernt wurde, empfindet Hunger;
ebenso frißt der Hund, dessen Magen von sämtlichen Nerven los-
gelöst wurde, wie vordem weiter. Man könnte nun vielleicht an-
nehmen, daß der Füllungsgrad der Därme diese Empfindung be-
dingen kann, doch auch diese Vermutung ist leicht zu widerlegen.
Für das Wahrscheinlichste halte ich es, daß ein gewisser Mangel
des Blutes an frischen Nahrungsstoffen das Gefühl des Hungers
auslöst. *) Doch wäre dann noch zu entscheiden, wo dieser Mangel
empfunden wird. Vielleicht besteht im Gehirn eine Stelle, die uns
das Fehlen von leicht abzugebendem Nährmaterial im Blute meldet,
ähnlich wie ein Zentrum im verlängerten Marke uns die ungenügende
Oxydation anzeigt.
1) Oppenheim (Lehrbuch der Nervenkrankh. Berlin 1905) acheint sich dieser
Auffassung hinzuneigen, wenn er mitteilt , daß „bei Erkrankungen des Vagvs
Verlust des Hungers und des Durstgefuhls beschrieben wurde".
2) Ein Gegenbeweis für die Auffassung, daß der FttUungszustand des Magens
für das Zustandekommen des Hungers ausschlaggebend ist, kann auch durch die
Beobachtung erbracht werden, daß beim Unwohlsein, auch wenn dieses nicht auf
eine Magenstörung zurückzuführen ist, das Bedürfnis nach Nahrungsanfnahoe
meistens völlig daniederliegt. Auch die Tatsache, daß quälender Hunger durch
Nährklysmen gestillt oder gemindert werden kann, spricht dagegen, daß der
Füllungszustand des Magens für das Entstehen des Hungers ausschlaggebend ist
3) Für diese Auffassung würde der Umstand sprechen, daß nach starker
körperlicher Arbeit, also nach größerem Verbrauche von Verbrennangsstoffen de»
Blutes das Nahrungsbedürfnis bälder und in lebhafterer Weise sich geltend macht.
Klin. Beiträge zur Physiologie des sympathischen Nervensystems. 451
Vom Hunger, der schlechtweg einem Bedürfnis nach Nahrnngs-
aofiiahme entspricht, ist der Appetit als der Ausdruck einer be-
stimmten Richtung des NahrungsbedOrfnisses zu unterscheiden.^)
Der Appetit stellt ein feines Empfinden für das, was dem Körper
noch an Nahmngsstoffen fehlt, dar. Bei freier Wahl wird der
Mensch sich immer eine Kost aussuchen, die ungefähr den von den
Physiologen bestimmten Zahlen über das tägliche Bedürfnis des
Körpers an Eiweiß, Fett und Kohlehydraten entspricht. Wird nun
unser Gehirn vom Magen aus darüber instruiert, welche Nahrung
und welche Mengen von dieser dem Organismus zu seinem besten
Gedeihen noch nottun, oder besteht irgendwo eine Einrichtung (ein
Zentrum?) zur Beurteilung dessen, was dem Blute noch zur rich-
tigen Zusammensetzung fehlt? Die Tierversuche Pawlow's^)
lehren, daß beim Ansichtigwerden oder beim Riechen einer Nahrung
die Speichel- und Magendrüsen nicht nur in Tätigkeit treten,
sondern daß die Menge und die Art des ausgeschiedenen Ver-
dauungssaftes sich schon genau nach der Qualität der vorliegenden
Speise richtet. Der komplizierte Mechanismus dieses nervösen Vor-
ganges ist nur in dem allerersten Teil erklärlich. Man kann sich
vorstellen, daß der Geruch durch den Olefaktorius dem Riech-
zentrum') zugeleitet wird und daß von dort unbewußte Erinne-
nmgsassoziationen ausgelöst werden. Der weitere Verlauf der
Innervation, welcher dazu fuhrt, daß der Magensaft gerade in der
für die vorgehaltene Speise zweckmäßigen Quantität und Qualität
abgeschieden wird, ist noch ganz unbekannt Ja, es ist zurzeit
noch nicht zu entscheiden, ob die feine Auswahl der zur Verdauung
notwendigen Zusammensetzung des Magensaftes unbewußt schon
1) So kann noch Appetit nach einer bestimmten Speise z. B. anf eine Tasse
Kaffee bestehen, wenn der Hunger durch eine reichliche Mahlzeit gestillt ist.
2) Wird dem Versuchshunde Milch gezeigt, so scheidet sich weniger Magen-
saft ans als beim Anblick oder beim Geruch von Fleisch oder Brot. Der Milch-
saft enthält dann auch prozentualisch weniger Pepsin als der Fleisch- und Brot-
saft. Ftlhrt man unter Umgehung der psychischen Erregung und des Eßaktes
Nahrung durch eine Magenfistel direkt in den Magen, so ist die Arbeit der Drüsen
qualitativ und quantitativ wesentlich geringer. Diese letzteren Beobachtungen
veranlaßten Pawiow, den Appetit fttr die Kraft der Verdauung sehr hoch ein-
KQBchätzen („Appetit ist Saft"^).
3) Der Gernchsinn und der Geschmacksinn spielen gegenüber den anderen
Sinnesqnalitäten in der Auslösung der Triebe eine besonders große Rolle. Bei
den Tieren, deren Triebleben viel lebhafter entwickelt ist als das des Über-
leitenden Menschen, ist auch das Geruchsvermögen wesentlich feiner ausgebildet.
Der Oeschmacksnerr steht auch anatomisch in engen Beziehungen mit dem sym-
pathischen Nervensystem und dadurch mit den vegetativen Funktionen.
452 XXIV. MÜLLEH
im Geh im getroffen wird. ^) Das eine scheint nach den Unter-
such angen Pawlow's sicher zn stehen, daß die Magenschleimhaot
durch den Nervus vagus zur Ausscheidung des ,, psychischen'' Magen-
saftes angeregt wird. Bei Durchschneidung beider Vagi hat das
Vorzeigen von Nahrung keinen Erfolg mehr auf die Magenschleim-
haut; doch läßt sich bei den reichlichen VerbindungsSsten, die
zwischen den beiden nebeneinanderliegenden Nerven Vagus und
dem Grenzstrang des Sympathikus einerseits und dem Vagus und
dem Glossopharyngeus (Ganglion petrosum und Ganglion jugulare)
andererseits bestehen, nicht behaupten, daß die Erregungen, welche
den Vagus zur Auslösung der Magensaftsekretion durchströmen,
alle diesem Nerven schon bei seinem Austritt aus der MednUa
oblongata zukommen. Es ist kaum recht glaubhaft daß der ver-
hältnismäßig dünne 10. Gehimnerv so viele verschiedene Quali-
täten von nervösen Erregungen in sich beherbergen kann; ja es
ist wahrscheinlich, daß ihm, der ja schon den Schlundkopf und
den Kehlkopf zu innervieren hat, der ferner Herz- und Lungenäste
abgibt, die Fasern für den Magen und für den Darm erst in seinem
weiteren Verlauf durch die Anastomosen mit dem Sympathikus und
mit dem Glossopharyngeus zugemischt werden.
Die neurologische Deutung des Durstes bietet dieselben
Schwierigkeiten wie die des Hungers. Der Füllungsgrad des
Magens oder des Darmes kommt für die Empfindung des Durst-
gefühls sicher nicht in Betracht. Viel eher wäre noch der Feuch-
tigkeitsgrad der Mund- und Rachenschleimhaut verantwoiUich zn
machen. Doch kann sicherlich bei gut durchgefeuchteter Mund-
schleimhaut qualvoller Durst bestehen und ebenso kann unter Um-
ständen bei ausgetrocknetem Munde kein Bedürfnis zur Wasser-
aufnähme vorliegen. Es erscheint mir auch für die Erklärung des
Durstes die Annahme wohl möglich, daß irgendwo an einer be-
stimmten Stelle im Körper oder im Gehirn der mangelnde Wasser-
gehalt des Blutes empfunden wird. Die Polydipsie (Diabetes in-
sipidus), die manchmal als Folge von syphilitischen Gehirnerkran-
kungen beobachtet wird, würde für eine Reizung des hypothetischen
Zentrums im Gehirn sprechen. Allerdings hat die Pathologie noch
niemals von Beobachtungen berichtet, welche die Ausschaltung eines
solchen Zentrums vermuten lassen könnte. Mit dem Schlagwort,
1) Eine Bestätigung dieser Annahme könnte man darin sehen^ dafi dem
Verdau ungsakt ein Erinnerungsvermögen zur Verfügung steht, so reagiert er
beim Versuch der Zufuhr von Speisen, die ihm einmal schlecht bekommen siad.
mit einer durch den Willen nicht zu überwindenden völligen Appetitlosigkeit.
Klin. Beiträge zur Physiologie des sympathischen Nervensystems. 453
daß der Durst eine Allgemeinempfindang sei, d.h. daß alle
Zellen des Körpers gleichmäßig anter dem Wassermangel leiden
(Zellendorst) und daß nns eben dieses Flüssigkeitsbedürfhis zam
Bewußtsein komme, ist f&r die Erklärung der Dnrstempfindong
nicht viel geleistet, denn es ist dann immer wieder zu entscheiden,
durch welche Nerven diese Empfindung dem Gehirn zugeleitet und
durch welche Zellgruppen im Gehirn sie unserem Bewußtsein über-
mittelt werden. Denn auch im Gehirn müssen bestimmte Zell-
gruppen das Bedürfnis nach Wasser- oder nach Nahrungsaufnahme
dem Bewußtsein übermitteln, da es nicht anzunehmen ist, daß die
Ganglienzellen des psychomotorischen Systems oder der Sinnes-
empfindungen auch der Durstempfindung dienen.
Darauf ist aber ganz besonders hinzuweisen, in welch
hohem Grade die Triebe vom körperlichen und gei-
stigen Wohlbefinden abhängen. Ist das Gesundheitsgeffihl
in irgend einer Weise gestört, so liegen auch die triebartigen Emp-
findungen wie der Hunger und die Geschlechtslust danieder, ja
jede unangenehme seelische Erregung, wie der Ärger ^), die Furcht,
der Schrecken, die Verstimmung haben ebenso wie ekelerregende
Eindrücke und körperliche Krankheit und Fieber einen lähmenden
Einfluß auf Appetenz und Libido coeundi.
Mit den hier gepflogenen Erörterungen wollte ich darauf hin-
weisen, daß die Beziehungen zwischen dem Gehirn und den inneren
Organen viel lebhafter sind, als dies bisher von den Physiologen
and Neurologen angenommen wurde, ja daß die Affekte unter Um-
ständen recht peinliche Störungen in den Funktionen des Magens,
des Darmes, der Blase, des Herzens und der Vasomotoren auslösen
können. Durch welche Nervenbahnen wird nun dieser Einfluß be-
tätigt? Da der sympathische Grenzstrang nicht im Gehirn ent-
^ringt, sondern lediglich durch die Bami communicantes mit dem
Rückenmark in Verbindung steht, so muß gefolgert werden, daß
bei den Affekten, welche die Tätigkeit der Gefäße der Schweiß-
1) A. Bickel (Experimentelle Untersuchnngen über den EinflaO von Af-
fekten anf die Mageusaftsekretion, Dentsche med. Wochenschr. 1905 Nr. 46) wies
-dnrch Tierrersnche nach, daß Ärger die Magensaftsekretion fast momentan nnter-
lyrechen kann. Ein Magenfistelhand sonderte, in der Verdauung begriffen, sobald
ihm eine Katze Torgehalten wurde, bedeutend weniger Magensaft ab. Durch
«tarke Affekte werden, wie B. weiterhin experimentell erweisen konnte, die ner-
rOsen Apparate des Magens so nachdrücklich und anhaltend verstimmt, daß die
mit der späteren Aufnahme der Speisen Hand in Hand gehenden nervösen Er-
reiran^n nicht mehr genügen, um die normale Saftbildung auszulösen.
454 XXIV. Müller
drüsen oder der Bauchorgane beeinträchtigen, die dazu notwendigen
nervösen Impulse aus dem Gehirn durch das Bückenmark in
das sympathische Nervensystem und so nach dem Körper gelangen.
Auch die vasomotorischen Erregungen der Gesichtshaut können
nicht direkt vom Gehirn aus auf die Gefäße überspringen, sie
müssen zuerst den Weg durch das Halsmark ^) in das obere Bras^
mark, die Kami communicantes und den Halssympathikns ein-
schlagen, um schließlich von dort erst in die Geflechte, welche die
Gefäße umspinnen, zu gelangen.
Können wir uns schon keine klaren Vorstellungen darüber
machen, welcher nervöse Vorgang im Gehirn den Affekten ent-
spricht, so ist es naturgemäß ganz ausgeschlossen, zu entscheiden^
welche Bahnen im Gehirn und Eflckenmark zur Übertragung der
seelischen Erregung auf das sympathische Nervensystem in An-
spruch genommen werden. In erster Linie wäre daran zu denken,
ob nicht den einzelnen Organen, wie dem Darme, der Niere oder
dem System der Piloerektoren im Rtickenmarke bestimmte
Fasergruppen entsprechen würden. Die Rückenmarkspathologie
gibt uns für eine solche Annahme keine Anhaltspunkte. Wissen
wir doch nicht einmal sicher, ob in der Medulla spinalis vaso-
motorische Fasern und solche, welche die Schweißsekretion an-
regen, verlaufen, geschweige denn, daß wir sie lokalisieren könnten.
Wenn nun für die Beeinflussung der Tätigkeit innerer Organe
durch Gemütsbewegungen kein bestimmtes Fasersystem verant-
wortlich gemacht werden kann, so ist die Möglichkeit zu erörtern,
daß es dazu gar keiner besonderen Bahnen bedürfe und daß durch
die Affekte die nervöse Erregbarkeit im allgemeinen in typischer
Weise „gestimmt" würde. Die Allgemeinempfindungen wie die Lust
die Sorge oder der Schreck würden dann eine quantitative oder quali-
tative Veränderung der tierischen Elektrizität bedingen, auf welche
die perzipierenden Organe des Sympathikus, die Ursprungszellen der
Rami communicantes im Rückenmark, in ihrer Weise reagieren.
Für diese Erklärung, welche als Folgen der Affekte eine Ver-
änderung in der gesamten Leitungsfähigkeit, eine Er-
schwerung oder Erleichterung des Ablaufes der nervösen Erregungen
annimmt, können Vorgänge, die sich in dem unserem Willen unter-
worfenen cerebrospinalen Nervensystem abspielen, zur Stütze bei-
gebracht werden. Dort verlaufen bei Lustgefühlen alle Inner-
vationen rascher als sonst: die Assoziationen kommen schneller zn-
Stande, der Redefluß ist munterer, die motorischen Äußerungen sind
1) Den Wurzeln des Cervikalmarkes entspringen keine Rami communicantes.
Klin. Beiträge zur Physiologie des sympathischen Nervensystems. 455
lebhafter, im Ausdruck des Gesichtes äußert sich der stärkere
Tonus der Muskulatur. Dehnt sich eine solche erhöhte Erregbar-
keit auch auf das vegetative Nervensystem aus, so sind die den Lust-
empfindungen entsprechenden körperlichen Symptome, wie die lebhafte
Gesichtsfarbe, die kräftigere Herztätigkeit, die Vermehrung der
Appetenz, die Zunahme der Geschlechtslust usw. wohl zu erklären.
Finden unsere Intentionen und Wünsche Widerstreben, so
treten Unlustempfindungen: Ärger, Gram und Schmerz auf.
Die dadurch ausgelöste depressive Stimmung geht mit einer Hem-
mung der nervösen Vorgänge einher: die geistige Arbeit ist er-
schwert, der Ablauf der motorischen Äußerungen verlangsamt; der
Tonus der Muskeln ist herabgesetzt Diese Veränderung des
Innervationsprozesses betrifft auch das „autonome^ System und
beeinflußt dort die Tätigkeit des Herzens, der Vasomotoren, des
Verdauungs- und des Geschlechtsapparates. So wirkt der seelische
Schmerz, die Wehmut, einmal auf die Innervation der gesamten
Muskulatur, der Körper bricht zusammen, der Kopf wird vornüber
geneigt, der Gesichtsausdruck ist hängend, die Lippen zittern;
andererseits stellt sich auch eine Sekretion der wesentlich vom
sympathischen Nervensystem versorgten Tränendrüsen ein.
Besonders eklatant ist aber die Einwirkung der Spannungs-
zustände, der Furcht, der Angst und der Sorge auf die vege-
tativen Funktionen. Unter ihrem Einfluß treten all die oben be-
schriebenen Erscheinungen, wie die Polyurie und Polakurie, Durch-
falle, Erbrechen, Herzklopfen, Schweißausbruch, (^'utis anserina am
lebhaftesten auf. Der Zustand der gespannten, peinlichen Er-
wartung muß also eine Veränderung im Ablauf der nervösen Vor-
gänge bewirken, die auf den Sympathikus übergreifend besonders
leicht zu Störungen in dem normalen Ablauf der Organfunktionen
fahrt. Die gemeinschaftliche Beeinträchtigung des sympathi-
schen und des psychomotorischen Nervensystems dokumentiert am
deutlichsten der Schreck. Dieser bedingt nicht nur durch die kon-
striktorische Wirkung der Vasomotoren ein Zurückweichen des Blutes
aus der Hautoberfläche, Beschleunigung der Herztätigkeit, Erregung
der Piloerektoren, der Schreck kann auch „in die Glieder fahren"
und diese „lähmen" oder „Zittern" und ..Beben" verursachen.^)
1) Der Auffassung, daß seelische Emotionen nie die Freude oder der Schmerz,
clie Angst und der Schreck nur dann zustande und zum Bewußtsein kommen,
wenn sie körperliche Erscheinungen im Gefolge hahen, ist aber entschieden ent-
i^egrenzu treten. Die letzteren sind doch immer als etwas Sekundäres aufzufassen.
Zntreifend mag aber sein, daß Individuen, bei denen die Affekte sich nicht oder
nur wenig äußern, auch weniger Stimmungsschwankungen unterworfen sind.
456 XXIV. Müller, Klin. Beitr. zur Physiol. des sympathischen Nerveosystams.
Für die verschiedenen Zustände, in welche unser Nervensystem
durch die Lust- und Unlustempfindungen versetzt wird, bedient
sich die Sprache des Wortes „Stimmungen". Dieser Ausdruck
seheint auch wirklich den dabei sich abspielenden physiologischen
Vorgang am besten zu charakterisieren. Ähnlich nun, wie von
vielen Saiten nur diejenige auf einen Ton anklingt, welche anf
diesen gestimmt ist oder wie der Empfangsapparat bei der draht-
losen Telegraphie nur durch eine bestimmte Wellenart der Elek-
trizität angesprochen wird, so stalle ich mir vor, wird auch vom
sympathischen Nervensystem immer nur eine bestimmte Gmppe
von Zellen durch diese oder jene das ganze Nervensystem durch-
zitternde Stimmung betroffen. So führt der Schmerz zur Sekretion
der Tränendrüsen, die Scham zur fleckigen Rötung des Gesichtes,
die Furcht zur Cutis anserina. Dabei kommen aber individuelle
Eigenarten sehr wesentlich mit in Betracht. Bei dem einen be-
dingt jede Erregung starke Schweißsekretion, bei dem anderen
„schlägt" sie sich auf den Magen oder auf den Dann. Dieser
reagiert auf Angstzustände mit Harndrang, jener mit Tachykardie
oder Arhytmia cordis. Stets aber sind diejenigen Persönlich-
keiten, welche in solcher Weise auf Affekte reagieren, auch vaso-
motorisch leicht erregbar.
Durch die neueren physiologischen Forschungen erfahren
wir, daß unsere inneren Organe, wie das Herz, der Magen und der
Darm, die Nieren, die Ureteren und die Gebärmutter, die Kraft
und die Anregung zur Arbeit in sich haben und daß sie auch dann,
wenn sie von allen nervösen Verbindungen abgeschnitten sind, in
einer für die Aufrechterhaltung des Lebensprozesses völlig ge-
nügenden Weise weiterarbeiten.
Von klinischer Seite muß aber daraufhingewiesen werden, daS
lebhafte, wenn auch unbewußte Beziehungen zwischen diesen Oi*ganen
und dem Zentralnervensystem bestehen, ja daß stärkere psychische
Vorgänge, wie sie unsere Affekte darstellen, auf ihre Tätigkeit eine
größere Beeinträchtigung ausüben als auf die unserem Willen direkt
zugänglichen Funktionen, auf das psychomotorische System.
Sagt uns ja schon der Name „Sympathikus", daß dieses Nerven-
system dazu berufen ist, den Körper an den seelischen Bewegungen
mitleiden, ovuna&siv, zu lassen.
7 I 7
XXV.
Aus der medizin. Klinik za Kiel (Prof. Quincke).
Beitrtge znr Patiiologie des Blntdrneks.
Von
Dr. Kfllbs,
Assistenzarzt der Klinik.
(Mit 3 Kurven.)
Im folgenden möchte ich einige Elrankengeschichten wieder-
geben, die klinisch wichtige Symptome verschiedener
Art darboten, speziell Blutdrucksteigernngen und
-Senkungen. Sie dürften einen Baustein liefern zu der jungen
in den letzten Jahren sich immer mehr entwickelnden Wissenschaft
der Blutdruckmessung, zu den Gefäßkrisen und ihren
klinischen Symptomen. Die Blutdruckmessungen wurden mit
dem Riva Rocci'schen Apparat und einer 16 cm breiten Binde aus-
geführt.
I. C. L., 23 jähriger Arbeiter — früher stets gesund — erkrankte
wenige Wochen vor der Aufnahme an Kreuzschmerzen. Ein tastbarer
Lokalbefand wurde bei der näheren Untersuchung nicht gefunden, auch
keine sichere Spitzenaffektion : doch sah man eine Erkrankung tuber-
kulöser Natur klinisch ftir das Wahrscheinlichste an. 6 Wochen später
konstant klingendes Bassein über der rechten Spitze; abendliche Tempe-
raturen bis 39 ^. Wenige Tage darauf heftige Kopfsohmerzen, Erbrechen,
zunehmende Nackensteifigkeit; Patient zeitweise benommen. Die Be-
nommenheit hält in den nächsten Tagen dauernd an, der Puls ist weich,
regelmäßig 60, der Blutdruck subnormal um 90 — 100. Mehrere Ver-
suche, eine Lumbalpunktion zur weiteren Festigung der Diagnose Me-
ningitis vorzunehmen, scheiterten, da Patient stets erhebliche Abwehr-
bewegungen machte. Der Blutdruck beträgt bei der Abendvisite des
3. Oktober 96 mm Hg; der Puls ist weich, regelmäßig 72; die Atmung regel-
mäßig, etwas beschleunigt 28. Ca. 2 Minuten später — beim Abnehmen
des Schlauches — setzt die Atmung aus, das Gesicht des Patienten
wird stark cyanotisch, der Puls ist kräftig, sehr stark gespannt. Der
sofort gemessene Blutdruck beträgt 222; Pulsfrequenz 126. Noch-
458
XXV. Kti
malige Messung des Blutdrucks. Ergebnis dasselbe. Patient wird sofort
in den Ätmungsstuhl (Boghe&n')} gebracht. Dies ist bekanntlich (s. b.
Bogheaa) ein bequemer gepolsterter Lehnstuhl, unter den ein Elektro-
motor eingebaut ist. Mit Hilfe von 3 Pelotten, die vom Motor an-
getrieben werden, kann eine rhythmische Kompression des Thorax —
nach Sohneiligkeit und Inteni^iUit modifizierbar — ausgeführt werden.
Kurve 1. Fall I.
acuema
■ BlutdrucK H P
Pulszahl ^H '
el«ktr.''Stnig».- ^H Jt
Stuhl ^H I
'BlDtdrnck Puls
[ Starte Cjauose des Gesichts, Atmung*-
' stillstand. Fiüs mittelkrifti«. iUrl
gespannt. Popilleneng.nicbtrei^e-
I reno. Reflexe fehlen.
' In den elektrischen AlniuBsistiU.
KUnstl. Atmung auBer Betrieb.
I (Fat. bleibt sitzen). Atmung eriolft
I nicht spontnn. Puls: Anfangs mUi:
gespannt, nimmt allmlnlich «e
Spannung zn. Starke Cjannse.
1] Boghean. Demonstration eines Respirationsapparates auf mascbinellw
Wege. Verbandl. d. XVII. Kongr. t. innere Med. 1899 und Berl. kün. Wochfn-
Bchrift 190t p. 1216. — Einfluß mascliin. Thoraskompression bei der Bebandliuif
der Dyapnoe der Lungen- und Herzkrankeu. Berl, kün. Woebenscbr. 1904 S. 1101
Beitrfige zur Pathologie des Blntdracks.
459
Zeit
Blutdruck
At-
mmig
7 ühr 30 Min.
8
S
8
8
8
8
n
40 r
42
44
46
60
65
71
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02
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10
15
20
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8 . 26 „
8 « 28 „
8 « 32 ,
8 n 40 „
8 „ 45 „
8 „ 47 „
8 „ 60 ^
— 128
120
90
88
132
128
78
112
78
40
78
78
68
60
40
100
100
122
122
144
120
124
48
100
88
120
120
9
8
16
8
10
8
10
124 —
Atmungsstahl wieder in Betrieb.
Oyanose Terschwindet allmählich.
Gesichtsfarbe blaß, Lippen rot. Herz-
töne rein.
Atmnngsstnhl ab. Patient atmet spon-
tan, tief und gleichmäßig 8 mal in
1 Minute. Atmung wi^ allmäh-
lich schneller und weniger tief. Fre-
quenz 16.
»
Stark zunehmende Cyanose. Atmung
unregelmäßig , sehr oberflächlich.
Puls sehr klein.
Atmunffsstuhl an. Cyanose geringer;
Terschwindet allmählich. Puls : kräf-
tiger.
Atmungsstuhl ab. Atmet spontan
8 mal in der Minute; Puls mittel-
kräftig, regelmäßig.
Trotzdem Patient spontan tief und
regelmäßig atmet, wieder zuneh-
mende Cyanose der Lippen. Puls
kleiner, beschleunigter.
Atmungsstuhl an.
Cyanose geringer. Puls wird kräf-
tiger.
Atmnngsstuhl ab.
Atmet spontan.
Cyanose.
Starke Cvanose, Pupillen sehr weit.
Puls klein, unregelmäßig; ca. 48.
Atmung sistiert.
Atmungsstuhl an.
Cyanose geringer, sofort Puls mittel-
kräftig regelmäßig 100.
Zur Druckmessung Stuhl für 1 Min.
außer Betrieb. Atmuuj^ sistiert. So-
fort Cyanose, Puls weicher ; kleiner.
Zur Druckmessung Stuhl ab für 1 Min.
Atmungsstillstand.
— Atmungsstuhl ab.
— Atmnngsstillstand. Rasch zunehmende
Cyanose. Puls klein weich, wird
stark unregelmäßig, mehrere Se-
kunden aussetzend (8 Uhr 45 Min.j
— ! Blutdruck kaum meßbar.
— . Atmungsstuhl an.
460
XXV. KÜLBB
Zeit
8 Uhr oö Min.
9 n 10 ,
9 „ ib „
—
120
9 „ 25 , 1
68
120
9 n 30 „
48
100
9
36
ö » 45 „
Pak mittelkräftifi:, rogelmftßig.
Cyanose geringer.
Da trotz mechan. Atmnng Cjanoie
rasch znnimmt und Pnu imre|«l-
mftOig, Sanerstoff. (Pak m £i-
spiriam, wenn Atmnn^tahl aktir
komprimiert, kr&ftig; im Inspirnun
aossetsend).
Cyauose fast verschwunden. Gesiebt
rot, Puls mittelkräftig 120.
Blutdruck sinkt. Pols wird klmer.
Blutdruck kaum meßbar. Pols sehr
klein, unregelmäßig flackernd. Starke
Cyanose des Gesicots.
Atmungsstuhl ab. Puls eben fühlbar,
sehr unregelmäßig. Herztöne kiS^
bar.
Puls nicht mehr ftthlbar. Keine Herz-
töne zu hören. Die Cyanose des
Gesichts hat sich in den letzten
10 Minuten etwas verloren. Ge-
sichtsfarbe blaß; doch noch stark
cyanotisch verfärbte Lippen.
Die Sektion (Prof. Dohle) ergab: Meningitis tuberculosa, Tober-
kulose der Dura, Atrophie der Bulbi olfactori; Innenfläche der Dura;
glatt, glänzend. Arachnoidea: zart durchscheinend, an einzelnen SteUen
leicht kömig-getrübt (in der Umgebung der Gefäße der Zentralwindung).
"Windungen stark abgeplattet, Furchen verstrichen, Balken gewölbt
Hirnsubstanz scheckig gerötet. Ventrikel weit, enthalten ca. 40 ocm
Flüssigkeit. Himsubstanz weich, etwas ödematös. Durchschnitt durch
die großen Hirnganglien ohne Besonderheiten. Kleinhirn weich, blaE.
Arachnoidea leicht sulzig infiltriert nach hinten bis zur Pons und Me-
dulla.
Geringe Miliartuberkulose der Lunge, haselnußgroßer Käseknoten
des linken Unterlappens, Residuen von Pleuritis daselbst.
Durch eine Kombination verschiedener günstiger Umstände
war es möglich, das nach dem ersten Versagen der Atmung fast
3 Stunden andauernde Wechselspiel in der Funktion von Zirkulation
und Respiration zu beobachten.
Besonderes Interesse verdient, wie die Tabelle wiedergibt,
das Verhalten des Blutdrucks. Während bis zum 3. Oktober
subnormale Werte vorlagen, Werte, wie man sie bei fieberhafter
Allgemeinerkrankung in diesem Alter oft sehen kann, steigt der
Druck rapide nach dem Aufhören der Atmung auf
Beiträge znr Pathologie des Blutdrucks. 461
einen anßerge Wohnlichen Grad. Der Puls* — vorher eher
weich — fShlt sich stark gespannt an nnd wird freqnent Unter
künstlicher Atmung nimmt die Spannung. des Pulses etwas ab, der
Blutdruck fallt auf fast normale Werte. Als der Atmungsstuhl
um 7 Uhr 20 Min. außer Betrieb gesetzt wird, schnellt aber noch-
mals der Druck empor, um kurz darauf nach längerer känstlicher
Respiration wieder zu fallen und zugleich mit dem Einsetzen einiBr
spontanen regelmäßigen Atmung sich um 80—120 zu bewegen. Von
jetzt ab sinkt der Druck allmählich bis auf eben noch meßbare
Größen: mit kui*zen Remissionen, die jedesmal mit dem Aussetzen
des Atmungsstuhles zusammenfallen. Die Qualität des Pulses war
so ausgesprochen fühlbar, daß Wechsel in der Druckhöbe stets
vorher erkannt wurden; die Frequenz war trotz der starken
Gefäßspannung anfangs auffällig hoch.
Neben den Druckdifferenzen ist beachtenswert, daß es gelang,
durch künstliche Atmung eine spontane, regelmäßige tiefe Re-
spiration nach 40 Minuten wieder in Gang zu bringen.
Es handelt sich im wesentlichen also um eine Atmungs-
lähmung. Von den verschiedenen Momenten, welche einen
Atmungsstillstand* herbeiführen können, kämen hier in Betracht
lokale Veränderungen an Lungen und Pleura oder Störungen in
der Tätigkeit des Atmungszentrums. Gegen die erste Ursache
spricht, daß vor dem Tode keine Dyspnoe vorhanden war und daß
bei der Sektion eine nur mäßige Miliartuberkulose der Lungen
gefunden wurde. Wahrscheinlicher ist es, eine durch
zentrale Einflüsse bedingte primäre Atmungslähmung
anzunehmen.
Als auslösendes Moment könnten nun neben Erhöhungen
4es Himdrucks im allgemeinen lokale tuberkulöse Veränderungen
in der Medulla, eine das Atmungszentrum schädigende toxische
Noxe anderer Art oder lokale vasomotorische Störungen ange-
schuldigt werden. Eine Intoxikation allgemeiner Art bestand zwar,
aber die Tatsache, daß die Lähmung der Atmung zugleich mit
einer Reizung des Vasomotorenzentrums einherging, macht es un-
wahrscheinlich, den primären Stillstand der Atmung als Intoxi-
kationserscheinung aufzufassen. Welche der anderen Möglichkeiten
hier das primäre Symptom ausgelöst haben, ist schwer zu ent-
scheiden. Nicht ausgeschlossen ist nach den klinischen Erschei-
nangen und nach dem Sektionsbefund eine Erhöhung des Ge-
hirndrucks. Wenn hierbei eine Lähmung der Atmung zugleich
mit einer Pulsbeschleunigung eintrat, so entspricht dies den experi-
Deateches .\rohiv f. klln. Medizin. M. Bd. ^
462 XXV. KüLBs
mentell erzeugten Hirndruckssymptomen. Nauilyn und Schreiber^)
sahen initialen Respirationsstillstand mit Blutdruckerhöhnng bei
künstlich erzeugtem Hirndruck, Deucher') erlöschende Bespira-
tion als primum moriens mit einem kleinen, beschleunigten, an-
regelmäßigen Puls und einem sinkenden Blutdruck. Er sagt:
nAm meifiten fällt der unterschied yod Puls und Atmung in die
Augen, wenn bei Eintritt der Gehimlähmung der Pols ganz plözlich von
einer Verlangsamnng in eine Beschlennignng omschlägt; da wird die
Respiration oberflächlich und noch seltener, bis sie früher als das Herz
stillsteht. Der Tod ist also primär veranlaßt durch die
stockende Respiration. Künstliche Respiration, die bei Fall 12
angewandt wurde, aber leider nur 3 Minuten lang, brachte sofortige
Besserung von Puls und Blutdruck. Ebenso der Versuch 14, daß das
Tier immer noch zu retten ist, solange nur noch Respiration vor-
handen ist."^
Wahrscheinlicher ist es, eine durch lokale, viel-
leicht tuberkulöse Prozesse, vielleicht vasomotorische Vorgänge be-
dingte Lähmung des Atmungszentrums und des herz-
hemmenden Vaguszentrums anzunehmen. Durch die mecha-
nische Ventilation und Zirkulation in den Lungen und die Ad-
regung der Herztätigkeit (Massage des Herzens) wurde die
Störung in der Tätigkeit des Atmungszentrums beseitigt. Die
jedenfalls durch Vermittlung COg-reichen Blutes bedingte Reizung
des Gefäßnervenzentrums erklärt das starke reflektorische Empor-
schnellen des Blutdrucks und die gleichzeitige Pulsfrequenz-
erhöhung (analog der Erregung dieses Zentrums und der Blut-
druckerhöhnng bei der experimentell erzeugten Erstickung). Eine
histologische Untersuchung hätte vielleicht mikroskopisch nach-
weisbare Lokalursachen aufgedeckt. Da Veränderungen in den
Atembewegungen nicht allein von dem in der MeduUa oblongata
liegenden Zentrum, sondern auch, wie experimentell gezeigt wurde,
durch Reizung der Großhirnrinde (U n v e r r i c h t *)), durch Reizung
verschiedener zentripetal verlaufender Nerven beeinflußt werden
können (z. B. Boruttau*)), hätte nur eine ausgedehnte Unter-
suchung ein bestimmtes Resultat geliefert, andererseits ist es a priori
1) Naunyn u. »Schreiber, Über Gehimdrnck. Leipzig, Vogel 1881.
2) D e u c h e r , Experimentelles zur Lehre vom Gehimdrack. Leipng, Hirsch-
feld 1892.
8) Unverricht, Experim. Untersuchungen über die Innervation der At«m-
bewefifungen. Verhandl. d. VII. Kongr. f. inn. Med. 1888.
4) Boruttau. Innervation der Atmung. Ergebnisse der Physiologie von
Asher u. Spiro I, 2 p. 403.
Beiträge zur Pathologie des Blntdrucks. 453
nicht unwahrscheinlich, dafi histologische Veränderungen überhaupt
nicht vorhanden waren, da im Tode auftretende vorflbergehende
Erscheinungen vorlagen.
Besonders interessant scheint mir, daß nach kurzer Anwendung
des Atmungsstuhls (7 Uhr 20 Min.) der Blutdruck erheblich abfiel,
dieser Abfall aber noch nicht mit einer Auslösung spontaner Re-
spiration einherging und der Blutdruck beim Aussetzen der mecha-
nischen Atmung wieder rapide auf 200 anstieg. Wenn bei dem
zweiten Atmungsstillstande 8 Uhr 20 Min. nicht wieder Blutdruck-
steigemngen auftraten, so spricht das nicht gegen die erwähnte
Annahme. In diesem Moment, IV^ Stunde nach den ersten Er-
scheinungen, lagen offenbar (schon durch die Veränderung der
Hautzirkulation kenntlich) ganz andere allgemeine Zirkulations-
bedingungen vor.
Veranlaßt wurde die sofortige Benutzung künstlicher At-
mung in diesem Falle durch folgende kurz vorher in der Klinik
gemachte Beobachtung.
Ein 24 jähriger Arbeiter, der längere Zeit Zeichen eines Klein-
hirntuniorB geboten hatte, starb unter folgenden Symptomen: Er wurde
plötzlich blaß, die Atmung setzte aus, dagegen war der Puls noch deut-
lich fühlbar, klein, wenig beschleunigt. Der hinzugerufene Arzt machte
aofort manuelle künstliche Atmung, da der Puls immer noch deut-
licli zu fühlen war, obschon seit dem Aussetzen der Atmung über
5 Minuten vergangen waren. Der Puls besserte sich anfangs, war
mittelkräftig, begann aber nach 5 Minuten kleiner zu werden und sistierte
nach 10 Minuten, also fast ^/^ Stunde nach dem Atmungsstillstande.
Sine spontane Atmung war nicht erfolgt. Die Sektion ergab neben
einem Hydrocephalus internus — der Lumbaidruck betrug 2 Tage vor
dem Tode 140 — einen großen, den erweiterten IV. Ventrikel aus-
fallenden Tumor mit zipfelförmigen Verlängerungen durch das Foramen
Magendi; normale Lungenbefunde außer einer Spitzenschwiele rechts.
Offenbar war hier das Atmungszentrum lokal gelähmt
worden. Daß es nicht möglich gewesen war, eine spontane Eespiration
wieder auszulösen, dürfte vielleicht auf die von vasomotorischen
JBinflüssen unabhängige lokale solide Kompression des Atmungs-
zentmms, vielleicht auf die unzureichende Mechanik der künstlichen
Atmung zurückzufuhren sein. Immerhin ist es interessant, daß auch
unter künstlicher Atmung noch 15 Minuten lang ein zeitweise
guter Puls zu fühlen war. Beide Fälle zeigen, daß das
Aufhören von grob nachweisbaren Lebenserschei-
nungen oft unter ganz besonderen Symptomen vor
sich gehen kann.
Wird das eine der lebenswichtigen Zentren gelähmt, so wirkt
30*
464 XXV. KuLBs
dies nicht UDmittelbar tödlich auch anf das andere, sondern es
werden in diesem sogar Vorgänge ausgelöst, die znr Kompensation
des Ausfalls geeignet sind.
Eine andere Beobachtung, die ttber die Wirkung künst-
licher Atmung auf intrathorakal ausgelöste Gefäßkrisen
Aufschluß gibt, ist folgende:
n. Am 8. Mai 1905 wird ein 4 7 jähriger Masohinenbaaer , der
starker Potator war, aufgenommen mit ziehenden anfallsweise
auftretenden Schmerzen in der Brust. Die Untersuchung er-
gab ein diastolisches (Geräusch über der Herzbasis bei einer mfißig Ter-
größerten Hensdämpfnng einen ziemlich stark schnellenden regelm&ßigtti
Puls.
In den ersten Tagen traten nur vorübergehende Anfalle auf Ton
kaum 1 Minute Dauer. Ende Mai wurde ziemlich regelmäßig Imal
täglich, besonders abends ein Anfall ausgelöst, der ganz plötzlich ein-
setzte, anscheinend sehr heftige subjektive Beschwerden machte und all-
mählich in ca. 5 Minuten abklang. Während des Anfalls war die Pak-
frequenz etwas gesteigert. Die Dauer dieser Anfalle wurde allmählich
größer und Anfang Juni beobachtete ich Anfälle, die mit anscheinend
außerordentlich heftigen subjektiven Beschwerden mehr ab 30 Minuten
anhielten. Das Verhalten des Blutdrucks war nun sehr charak-
teristisch. Im Anfang schnellte der Blutdruck — der regelmäßig 2 und
mehrere Male täglich gemessen wurde und zumeist Werte um 124 biß
132 zeigte — plötzlich in die Höhe. 180—200 mm Hg waren stets
vorkommende G-rößen, allmählich sank der Druck dann auf den Normal-
wert ab, oft vorübergehend subnormale Zahlen zeigend und immer wenn
sich die Kurve der Norm näherte, waren die .subjektiven Beschwerden
des Patienten verschwunden. Der Puls war im Anfall stets regelmäßig,
zeigte geringe Erhöhungen seiner Frequenz, aber stets eine erhebliche
schon mit dem Finger abzuschätzende Zunahme seiner Spannung. Gra-
phisch bot die Pulskurve keinerlei Abweichungen von der in der an-
fallsfreien Zeit geschriebenen.
Die Atmung war im Beginn des Anfalls stets tief und ungleich-
mäßig, oft mit herabgesetzter Frequenz 8 — 12 in 1 Minute, im Ab-
klingen der Beschwerden zumeist etwas frequenter wie normal und regel-
mäßig.
Subjektive Beschwerden hatte Patient, wie schon erwähnt
stets sehr heftige ; er bezeichnete sie bald als ziehende Schmerzen in den
Armen und in der Brust; bald als Herzklopfen und dumpfe Schmerzen
in der Nacken- und Kaumuskulatur.
Die Haut der Brust, der Arme und des Kopfes föhlte sich beim
Beginn des Anfalls stets auffällig kalt an. Zugleich mit dem Nachlassen
der Schmerzen stellte sich oft Schweißausbruch ein.
Patient verließ Ende Juli aus äußeren Gründen das Krankenhuu
und starb mehrere Monate später an Herzinsufficienz mit Hydrops Anastfka.
Die Obduktion konnte nicht gemacht werden.
Von den verschiedenen therapeutischen Maßnahmen (heiße
Beiträge mr Pathologie des Blntdnicka. 4{g5
foßbäder, heiße Kompresse □ auf Brust und Hucken, Eisblase; innerlich:
Ifizt. nitroaa, Theobromin, Morphium) hatte deo gUnatigsten, zeitweise
ttberrEtsohenden Erfolg die kttnstlicbe Atmung im Boghean' sehen
A tmungsstabl. Die snbjektiveo Besohwerden Terscbwtuideii Kiemlich
B«bnell, ZQgleiob fiel der Blutdrock. Die prophylaktische Anwendniig
methodlsoher Atmungsäb nagen 3 mal täglich nützte nichte. Hierbei sab
icb meliTere Male, daS ein Anfall in dem Augenblicke ausgelöst wurde,
als Patient den Stahl verließ. Durch Wiederaufnahme der künstlicben
Atmung konnte der Anfall jedesmal kupiert werden. Später (Ende
Juli) veraagte oft auah die prompte Wirkung der künstlioben Atmung
teilweise iuBofem als die Anfalle im Stuhl anfangs heftiger wurden und
erat nach 30— 60 Minuten langsam abklangen. Versncbe, den Boßbacb-
schen AtmtmgsBtabl uodStrümpell'schen Lungenkompressor zu verwenden,
hatten anfangs, als die Anfalle noch wenige Uinnten dauerten, einen ge-
ringen Erfolg, später war diese Art der Unterstützung der Atmung ganz
wirkungslos. Ans den zahlreichen in den An&llen vorgeuommenen Blut-
druck- und FalsniesBungen möchte ich außer den Kurven 3 von ver-
schieden langer Zeitdauer mit verschiedenen subjektiven Beschwerden an-
gefBJireQ. Die Knrve 3 zeigt die Wirkung der künstlichen Atmung
im Boghean-Atmungsstubl.
Kurve 2. Fall II.
*. Juni abttuda ViS tlhr Anr»!!.
Kurve 3. Fall II.
Ml; B— IHin, iiwb BegiDii iu Bugb. AtmuiiessCuhl.
äcbema: s. Kurve l.
466
XXV. El'lb.s
Druck
1
Puls
1
Resp.
18. Mai abends 6 Uhr stenokard. Aufall
176 '
96
2 Minuten später
156
94
4 „
133 '
88
7 r
112 1
80
subjektiv beschwerdefrei.
1
29. Mai abends 7 Uhr Anfall. Bei Beginn
des
•
«
Anfalls
188
100
Nach 2 Minuten
176
120
n 5 .
178
92
beginnender Schweittausbruch.
1
Nach 9 Minuten
162
84
r 13 „
142
80
angenehmes Gefühl von Wärme in beiden
,
Armen. Starker Schweißausbruch.
'
Nach 17 Minuten
122
84
n 20 „
126
84
5. Juli Anfall abends 8 % Uhr beginnend
mit
I
Schmerzen im Arm (Druck V» Stunde vorher
gemessen 128 ; ca. 2 Min. nach Beginn d. Anfalls
188 '
102
20
1
tief, unregehD
Nach 4 Minuten
176
96
20
. 7 „
. 182
88
nnregelm.
r " n
168 '
88
16
n 12 „
156
92
16
beginnender Schweiß.
Nach 16 Minuten
158
88
n 19 r
148
88
16
« 23 „
148 1
88
keine Schmerzen, noch ger. Beklemmung.
1
/
Nach 30 Minuten
146
80
. 32 „
140 1
80
vollkommen beschwerdefrei.
Nach 40 Minuten
138 .
80
16
r. 45
122
80
regelmäßige
Es handelt sich also um Anfälle von Angina pectoris
bei einer Aorteninsufficienz, die regelmäßig den in der
anfallsfreien Zeit fast normalen Blutdruck um 60—80 mmHg
erhöhen. Die Anfälle setzen mit heftigen subjektiren
Beschwerden ein und gehen mit spastischen Veränderungen in
bestimmten peripheren Gefäßgebieten einher ; eine wesentliche Ver-
änderung in der Herztätigkeit läßt sich im Anfall nicht nach-
weisen. Besonders bemerkenswert scheint mir zu sein, daß es
durch künstliche Atmung (mechanische Kompression des Thorax)
gelingt, die Schmerzen relativ schnell zu lindem und den Blat^
druck zugleich zum Sinken zu bringen. Gewöhnlich war der Patient
schon beschwerdefrei, wenn der Blutdruck auf 140—130 mm Hg
J
Beiträge zur Pathologie des Blatdracks. 467
abgefallen war. Im Gegensatz zu Lander-Brnnton, Mackenzie'),
die in dem Gefäßphänomen das primäre, in den kardialen Erschei-
nungen das sekundäre Moment sehen, und zu Albutt, Morison.
Orlandi, Neußer, welche die Blutdrucksteigerung als Folge-
erscheinung des Schmerzes auftassen, glaubt PaP), daß durch
Koordination der Erscheinungen in den peripheren und Herzgefaßen
der Symptomenkomplex sich erklärt und daß der den Erscheinungen
zugrunde liegende Reiz entweder durch die anatomischen Verhält-
nisse in den Coronargefäßen bedingt ist oder von einer anderen
extrakardialen Stelle ausgeht und reflektorisch die Ei*scheinungen
herbeiführt oder aber in den Ganglionsapparaten direkt ausgelöst
wird.
Da im vorliegenden Falle eine Obduktion nicht gemacht werden
konnte, sind positive Unterlagen f&r den Ausgangspunkt der Schmerzen
nicht vorhanden. Aber die Tatsache, daß sich bei dem früher sehr
stark dem Alkohol ergebenen Mann ganz allmählich eine Aorten-
insufficienz entwickelte, läßt daran denken, daß diese auf
Grund arteriosklerotischer Veränderungen in der
Aorta ascendens sich ausbildete. Ob dabei auch Veränderungen
im Herzen selbst vorhanden gewesen sind oder der Fall denen
zuzurechnen ist, die bei intakten Coronargefäßen nur eine End-
arteriitis im Anfangsteile der Aorta oder eine Erkrankung der
Aortenklappen selbst zeigen (Pal, 1. c. p. 38), vermag ich natürlich
nicht zu sagen. Der öftere Beginn des Anfalls im linken Arm
mit ziehenden Schmerzen, die objektiv deutlich nachweisbare
kältere Haut der oberen Extremitäten und der Brust sprechen
eigentlich sehr für die Annahme spastischer schmerz-
hafter Kontraktion in den Gebieten der vom'Aorten-
bogen ausgehenden größeren Gefäße. Eine so exakte
Trennung von Drucksteigerung und Schmerz, wie sie z. B G e i s -
böck'^) in einem Falle sah, war hier nicht ausführbar. Betonen
möchte ich, daß zugleich mit dem Nachlassen der subjektiven Be-
schwerden und dem Fallen des Blutdrucks oft unter Schweiß-
ausbruch eine normale Hauttemperatur sich wieder einstellte
und daß Veränderungen im Cardiogramm und Sphygmogramm nicht
festgestellt werden konnten. Ich glaube daher, daß die Span-
1] Mackensie, Die Lehre vom Pals; Frankfurt 1904. (Übersetzt von Dr.
A. Deatsch.)
2) Pal, GefiLOkrisen; Leipzig, Hirzel 190ö s. p. 41.
3) GeisbÖck, Die Bedeutung der Bhitdmckmessnng für die Praxis. Deut.
Arch. f. klin. Med. 1905 Bd. 83 p. 385.
468 XXV. KüLBs
nung in verschiedenen Gefäßgebieten hier die Schmerz-
anfälle nnd Dracksteigerungen ausgelöst haben. Die
geringen Erscheinungen von Seiten des Herzens kann
man sich durch die Einschaltung von Widerständen
allein erklären. Die mechanische Atmung wirkte be-
sonders durch Herzmassage und Überwindung der
peripheren zirkulatorischen Störungen.
Möglich ist allerdings auch ein primärer, mit Schmerz ein-
hergehender Spasmus in den Coronararterien, dem sekundär
reflektorische Kontraktionen peripherer Oefäßgebiete folgen, die
ihrerseits eine vermehrte Herztätigkeit bedingen. In diesem Falle
würde die Druckerhöhung eine Selbsthilfe des Organismus be-
deuteuy eine Hilfe, um durch die spastischen Verengerungen in
peripheren Oefäßgebieten einen zentral erhöhten Druck herbeizu-
führen und damit eine Aufhebung der Widerstände in den Coronar-
gefäßen, eine Beseitigung der Anämie und der Schmerzen und eine
bessere Ernährung des Herzmuskels. Man könnte daran denken,
daß diese reflektorischen Vorgänge vermittelt werden durch ein im
Herzen liegendes G^fäßnervenzentrum, wie Kronecker *),-) es
beim Hunde nachgewiesen hat.
Gegen die Annahme einer primären Arteriosklerose spricht
nicht, daß der Druck in der anfallsfreien Zeit fast normale Werte
hatte. Abgesehen davon, daß ich fttr sklerotische Veränderungeo
im peripheren Gefäßsystem keine tastbare Unterlage hatte, ist
ja auch durch S a w a d a*) und D u n i n^) bewiesen, daß Arteriosklerose
ohne wesentliche Drucksteigerung verlaufen kann.
lil. Daß die Gefäßkrisen bei Arteriosklerose and Angina
pectoris nicht immer mit Druckerhöhang einhergehen, sondern erheb-
liche Erniedrigangen des Blutdrucks vorkommen können
(v. Basch^), Pal")) sah ich auch in einem Falle bei einem 56jährigen
Arbeiter der wegen ziemlich akut auftretender Herzinsufficienz mit
Ödemen, myokarditischen Symptomen und Zeichen von chronischer Ne-
phritis hier aufgenommeu wurde. Der Patient hatte stets einen Bist-
1) Kronecker, Über Störungen in der Koordination des Herzkan)me^
Schlages. Zeitschr. f. Biologie, N. F. 1896 p. 529.
2) Barbara, Ein Gefft£nervenzentnim im Hundehensen. Zeitschr. f. Bioloin^
N. F. 1898 p. 253.
3] Sawada, Blutdruckmessungen bei Arteriosklerose. Deutsche niediz.
Wochenschr. 1904 Nr. 12.
4) Dunin f Der Blntdruck im Verlaufe der Arteriosklerose. Zeitschr. f. klin.
Med. Bd. 54.
5) V. Basch, Die Herzkrankheit bei Arteriosklerose. Berlin 1901.
6) Pal, I.e. p. 51 u. 80.
Beiträge zur Pathologie des Blutdrucks.
469
dmek um 180 — 200, bekam 10 Wochen nach der Aufnahme stenokardi-
sche Anfille. die er subjektiv als Schauergefiihl in der Brust empfand,
die objektiv mit einer geringen Pulsbeschleunigung und stets mit einem
fallen des Blutdrucks bis auf 140, 3 mal sogar bis auf 96 bzw. 100 ein-
hergingen. Irgendwelche Erscheinungen von seiten der Hautgefäße
konnten im Anfall hier nicht beobachtet werden.
Ähnliche prompte Wirkungen des Boghean'schen Atmungs-
stahies me im Fall II beobachtete ich in einem Falle von typi-
schem Asthma bronchiale.
IV. Am 10. Juli 1905 wurde ein 38 jähriger. Heiaer wegen an-
fallsweise auftretender Atemnoik und Husten in die Klinik aufgenommen.
Wellige Stunden später typischer Anfall von Asthma bronchiale mit hoch-
gradiger Dyspnoe und einem von 118 auf 200 erhöhten Blutdruck. Der
Anfall verlor sich im Laufe der Nacht. Als am Abend des 11. Juli
ein neuer Anfall auftrat, wurde Patient in den Boghean'schen Atmnngs-
stohl gesetzt, die subjektiven Beschwerden verloren sich nach 15 Minuten,
der Blutdruck sank von 180 auf 100 ab. Am 3. Tage begann abends
10 Uhr wiederum ein typischer Anfall, der sich, da absichtlich keine
therapeutische Beeinflussung stattfand, gegen 5 Uhr morgens verlor. Als
am 13. April Abends ein Anfall auftrat, gelang es auch jetzt durch
meohanische Atmung im Stuhl den Patienten in 20 Minuten vollkommen
beachwerdefrei zu machen. Er schlief kurze Zeit darauf ein, nachdem
er ziemlich reichlich schleimiges zähes Sekret entleert hatte. Am Abend
des 14. Juli konnte durch prophylaktische Atmung die Auslösung eines
Anfalls verhindert werden. Leider verließ der Patient aus äußeren
Gründen das Krankenhaus am folgenden Tage.
Druck
Puls
Resp.
Temp.«
10. fruit
118
84
24
' 37,4
abends 10 Uhr Anfall
200
84
32
11. Juli
•
morgens
120
76
28
' 36.8
abends
116
72
32
' 37;2
7,11 Uhr Anfall
180
92
44
in den Atmnngsstuhl 10 Uhr 55 Min.
11 Uhr 15 Min.
100
72
22
12. Jnli
' •
morgens
112
84
32
1 36,8
abends
120
80
32
1 37,5
10 Uhr Anfall
170
96
44
IS. Juli
morgens
120
68
32
36,8
abends
122
60
24
1 37,3
abends 9 Uhr Anfall
200
92
52
in den Atmnngsstuhl 9 Uhr 5 Min.
n ab 9 „ 30 „
118
84
24
14. Juli
morgens
100
64
20
35,5
abends
116
72
20
37.0
8 bis 8 Uhr 20 Min. und 9 bis 9 Uhr
20 Min. prophylaktische Atmung.
470 XXV. KüLBs
Wie in dem vorigen Falle gelingt es auch hier, akute Blut -
drucksteigerung durch mechanische Atmung zu be-
seitigen. MuBte man oben spastische Eontraktionen peripherer
Gefäße annehmen auf Grund organischer Erkrankungen der Aorten-
wand, so drängt sich hier ganz notwendig die Vermutung auf, dat
Spasmen in der Bronchial- und Gefäßmuskulatur (Einthoven)
diese Drucksteigerungen verursachen, sie wurden teils durch Herz-
massage, teils durch Lungengymnastik gehoben. In jedem FaQe
liegen Gefäßkrisen vor, die — wie PaP) sagt — man auch bei
dem sog. Bronchialasthma als sehr naheliegend annehmen muß. Sie
decken sich mit den Beobachtungen von Langerhans, der Blut-
drucksteigerungen bei Asthmatikern nach Beseitigung der Dyspnoe
schwinden sah, und mit den von Hensen^) bei Asthma bronchiale
beschriebenen Drucksteigerungen bis 185 mm (schmale Binde).
Langerhans') überwindet in seinen Fällen die Dyspnoe durch
Atmungsübungen mit einem besonderen, der Inspiration dienenden
Apparat. Eine Erklärung für die Drucksteigerung gibt er nicht
an. Hensen erklärt die Drucksteigerung durch die Einwirkung
der Atmung auf den Druck, durch die „ähnlich wie bei der Larynx-
stenose notwendig forcierten, aber erfolglosen Inspirationen^. Er
fiihrt verschiedene Beispiele an, um die drucksteigemde Wirkung
der Dyspnoe zu beweisen und spricht diese Drucksteigerung als
eine zweckmäßige Selbsthilfe des Organismus an. Er sagt: „Zwar
wird, da die dyspnoische Drucksteigerung durch Verengerung der
Gefäßbahn und Erhöhung der Widerstände zust^pde kommt im
allgemeinen der Blutzufluß zur Peripherie abnehmen oder zum min-
desten nicht zunehmen. Aber dank dem erhöhten Druck können
die lebenswichtigen Organe, vor allem die MeduUa oblongata and
das Herz, besser versorgt werden, solange sich ihre Gefaßbahn
nicht auch verengert. So können sie längere Zeit allerdings auf
Kosten schlechter Ernährung anderer minder wichtiger Teile ihre
Funktion versehen, indem die schlechtere Blutbeschaffenheit darch
reichere Zufuhr kompensiert wird. Die Art, wie sie zustande
kommt ist klar, nämlich durch Reizung des Vasomotorenzentrums
der MeduUa oblongata".
Ich bin der Ansicht daß die Blutdruckerhöhung in
1) Pal, I.e. p. 46.
2) Hensen, Beiträge zur Physiologie u. Pathologie d. Blutdrucks, Deutsch.
Arch. f. klin. Med. Bd. 67 H. 5 u. 6.
3)E. Langerhans, Die Behandlung chron. Lungenkranken mit mech.
Atmungsühungen. Zeitschr. f. physikal. n. diät. Ther. Bd. II.
Beiträge znr Pathologie des Blntdrncks. 471
erster Linie eine Folge lokaler, auf das Gefäßgebiet der
Lunge wirkender Reize ist, daß Beizungen des Vasomotoren-
zentrums in der Medulla und direkte Einflüsse der Atmung viel-
leicht hier und da, aber immer erst in zweiter Linie in Betracht
kommen.
Es ist nicht zu verwundern, daß nicht in allen Fällen
von Asthma bronchiale eine solche günstige Wirkung
mechanischer Atmung erzielt wird, da ja erfahrungsgemäß
verschiedene Momente beim Zustandekommen der Anfälle tätig
dnd und verschiedene Regulationseinrichtungen eine Drucksteigerung
verhindern können (A. FränkeP), Rosenbach*)). So sah ich
auch bei 2 Patienten mit typischen Anfällen von Asthma bronchiale
(V u. VI) folgendes:
Die Anfälle, die gewöhnlich 1 — 2 mal täglich besonders nachts auf-
traten, dauerten 1 bis mehrere Stunden und gingen mit Expektoration
reichlicher Sohleimmengen (oft Bronchialausgüssen) einher. Der Druck
betrug in der anfallsfreien Zeit 96 — 116, war im Anfall stets bis auf
132 — 160 erhöht. In beiden Fällen konnte der Druck durch mechanische
Atmung auf normale Werte herabgesetzt werden, aber diese Druck-
yerminderung dauerte ebenso wie die Besserung der subjektiven Be-
schwerden nur kurze Zeit. Nach wenigen Minuten wurde die Dyspnoe
wieder erheblicher, der Druck stieg wieder an; offenbar ging hier die
Besserung der Zirkulation nicht mit einer Beseitigung des (den Keiz-
zustand auslösenden) Sekretes in den Bronchien einher. Fiir diese An-
nahme spricht, daß ich keine vermehrte Expektoration nach Anwendung
des Atmungsstuhles sah.
Zu den dyspnoischen Blutdrucksteigerungen rechnet
Hensen auch die hohen Druckwerte, welche vorkommen bei
Eyphoskoliotischen, „die ja auch zu den leicht dyspnoisch
werdenden Menschen gehören".
YU. Außerordentlich wechselnde akute Blutdruckschwankungen, die
ich bei einem 40jährigen kyphoskoHotischen Schneider sah, möchte ich
«n dieser Stelle anfuhren. Der kleine, sehr kräftig ge haute Mann suchte
die Klinik auf hauptsächlich wegen Kopfschmerzen. Die Schmerzen
stellten sich vor mehreren Monaten ein, anfangs anfallsweise, seit kurzer
Zeit immerfort, bald heftiger, bald geringer. "Wir fanden: Eine starke
Kyphoskoliose der Brustwirbelsäule , Herzvergrößerung , Albuminurie,
stark hyperämisohe Stauungspapillen beiderseits; keine Temperatur-
erhöhung; Bespiration 24 — 40. Patient bekam anfallsweise auftretende
1] Rosenbacb, Experiment Untersuch, über die Einwirkung von Ranm-
beschränkung in der Pleurahöhle auf den Kreislauf. Virchow's Archiv Bd. 10&.
2) A. Fränkel, Znr Pathologie des Bronchialasthmas. Zeitschr. f. klin.
Med. Bd. XXXV und Müncb. med. Woch. 1900 Nr. 17.
472
XXV. KCLBS
halbseitige Kopfschmerzen, jedesmal mit sehr hohen Blatdraoluteigerangeii
und starb 11 Tage nach der Au&ahme.
Die Sektion ergab: Starke Plethora mit Hyperämie aller Organe,
vergrößertes und hypertrophisches Herz, ganz geringe fettige Fleokong
der Aorta, erhebliches Odem und Hyperämie des Oehims, keine Schrmnpf-
nieren.
Resp. Temp.
11« JttU Aufnahme^)
abends (heftige Kopfschmerzen)
12. Jnlt
morgens (Kopfschmerzen geringer)
abends ^ sehr heftig,
Gesicht cyanotisch
13. Joli
morgens (Schmerzen sehr gering)
abends
14. Juli
morgens (sehr wenig Schmerzen)
abends
15. Joll
morgens
abends
1«. JnU
morgens (Kopfschmerzen i. d. Nacht
heftiger werdend)
abends (Kopfschm. nehmen weiter zu)
17. Juli
morgens (starke Cyanose, sehr heftige
Kopfschmerzen)
abends (Kopfschmerz, etw. vermindert)
18. JnU
morgens (nachts gut geschlafen,
Kopfschmerzen gering)
abends (ganz leichte Schmerzen)
10. Juli
morgens (beschwerdefrei)
abends
20. Juli
morgens (beschwerdefrei)
abends 6 Uhr (seit 4 Uhr zunehm.
Kopfschmerz.)
abends 10 Uhr (Kopfschmerz, nehmen
zu, sind sehr intensiv, leichte Cy-
anose)
21. Jnll
Stirbt heute morgen 6 Uhr unter
starker Cyanose und den Zeichen
der Herzinsufficienz.
über
290
210
236
löO
170
165
155
löO
172
192
208
220
180
182
142
146
144
160
198
über
290
186
88
96
80
100
104
100
100
88
100
88
72
92
124
116
92
100
104
84
88
36
32
24
24
28
28
28
28
24
40
32
16
28
28
28
28
32
36
28
24
37,6
36,7
38,4
36,6
37.2
36.8
36;8
36,5
37.0
36,6
37,2
36,4
36.6
36,^
37.4
37,0
863
36.8
36,&
1) Dieser Fall ist der einzige noch
gemessene.
mit einer schmalen 9 ccm breiten Binde
Beiträge zur Pathologie dea Blutdrucks. 473
Die anfallsweise auftretenden Kopfschmerzen
gingen also stets mit Blutdrncksteigerungen und oft er-
heblicher Cyanose, also mit vasomotorischen Störungen
einher. Der Puls ffihlte sich während der Attacke stets stark ge-
spannt an, war aber regelmäßig, in seiner Frequenz oft et^yas
herabgesetzt. Außer einem stark paukenden Ton an der Spitze
wai«n keine besonderen Erscheinungen von Seiten de^ Herzens
nachweisbar. Der geringe Eiweißgehalt des Urins nahm im An-
fall nicht zu.
Auch hier ist das primäre auslösende Moment der Druck-
Steigerungen schwer herauszufinden. Jedenfalls wurden die Stö-
rungen vom Herzen ausgelöst und waren die Stauungs-
erscheinungen in allen Organen Folgen einer ver-
änderten Herzfunktion; die Gehirnstauung vermit-
telte vielleicht zum Zweck der Regulation den peri-
pheren Spasmus. Cerebrale Erkrankungen können ja Anfälle
paroxymaler Hochspannung machen. (Pal, 1. c. p. 255).
Die wenige Standen vor dem Tode, zugleich mit starker Oyanose
auftretende erhebliche Dmoksteigemng erinnert an den Fall I.
Es bestanden keine Schrumpfnieren , keine Arteriosklerose, auch
keine im Anfall sich steigernden katarrhalischen Erscheinungen von
Seiten der Bronchien mit Dyspnoe.
Daß akute Herzinsufficienzen, auch wenn sie mit
Lungenödem und Stauungserscheinungen der parench}'-
matösen Organe einhergehen, von erheblicher Druckstei-
gerung begleitet sein können, dafür folgendes Beispiel:
YIU. Ein 86 jähriger Arbeiter, der schon hänfiger wegen Bron-
chitis nnd Emphysems in der Klinik behandelt war, wnrde am 18. Ok-
tober 1904 eingeliefert.
Er gab an, nachmittags bei besonders anstrengender körperlicher
Arbeit (Kohlenanfladen) plötalich sehr knrzloftig geworden su sein and
Blnt aosgehnstet zu haben. Der Aufnahmebefand lautete: Starke Oya-
nose und Dyspnoe, reichliche Expektoration eines schleimig blutigen
.Sputums, diffuses Hasseln über beiden Lungen; palpable stark druck-
empfindliche Leber. Besonders nach rechts ziemlich stark verbreiterte
relative Herzdämpfung, paukender erster Ton über der Spitze. Stark
gespannter Puls, 124. Blutdruck 182. Unter Sauerstoff und Kampfer
Abfallen des Druckes in der Nacht auf 160. Dyspnoe geringer. Ge-
ringes blutig schaumiges Sputum bestand am folgenden Morgen noch;
verlor sich aber im Laufe des Tages.
Der Blutdruck betrug am Morgen des 18. Oktober 118, am
Abend 100 und bewegte sich in den folgenden Tagen um 100 — 110.
I>er Pols war am Morgen des 18. mitteikrfiftig, gleichmäßig gespannt 98,
die Frequenz am Abend 82, in den nächsten Tagen um 60 — 80. Die Herz-
474
XXV. KüLBS
dämpfimg wurde deutlich nachweisbar kleiner. Die subjektiven Be-
schwerden verlören sich schon am Tage nach der Aufnahme.
Druck
Puls
Besp. I Temp
17. Oktober
18. Oktober
19. Oktober
20. Oktober
21. Oktober:
g enden Tagen
ruck um 110,
aboMls 10 Uhr 182
vorm. 2 „ 160
abends 8 „ 100
morgens 106
abends 110
morgens 100
abends HO
heute und in den fol- ;
normale Temperatur, i
Puls um 60 bis 80. |
124
50
100
98
50
82
40
72
36
68
34 1
72
24
78
26
38,8
37,8
38,0
37,0
37,8
37.5
37;8
Vorliegendes Krankheitsbild wurde als eine akute Herz-
insufficienz aufgefaßt, die auf der Basis eines Emphysems
und einer chronischen Bronchitis sich plötzlich bei körptt^
lieber Überanstrengung entwickelte. Bemerkenswert durfte der
Fall hauptsächlich deswegen sein, weil trotz einer erheblichen In-
sufficienz, besonders des rechten Ventrikels ein erhöhter Blutdruck
bestand, der zugleich mit der Besserung der Herzaktion unter
starkem Schweißausbruch auf normale Werte abfiel. Die Deutung
dieses Falles ist besonders schwierig. Vielleicht kommt außer Ge-
fäßkrise eine kompensatorische Mehrarbeit des linken Ventrikels in
Fi'age.
Von Mensen^) und später von Naumann-) wurde auf das
Zusammentreffen von Lungenblutungen und hohen
Blutdruckwerten aufmerksam gemacht. Bei einer Reihe von
Hämoptoen auf tuberkulöser Basis (IX) habe ich den
Druck bestimmt, aber nur in 2 von 11 Fällen Druck-
erhöhungen gefunden; in 7 Fällen hatte der Druck subnormale
Werte. Welche Momente bei der Beurteilung dieser verschiedenen
Ergebnisse berücksichtigt werden müssen, ist mir noch nicht ganz
klar; ich glaube, daß die Messungen deswegen Differenzen zeigen,
weil die Patienten gewöhnlich erst einige Stunden nach Beginn
der Hämoptoe aufgenommen werden und in dieser Zeit bereits die
kritischen Geßlßveränderungen abgelaufen sind. Vielleicht spiele
psychische Einflüsse auch mit hinein (vgl. Hensen, Lc. p. 30).
Über den Einfluß heftiger Schmerzen auf die
1) Hensen, 1. c. p. 63.
2) Naumann, Zur Prophylaxe nnd Therapie der Lungenblatongen. Bentscbe
ÄnRte-Zeitung 19ao Heft 9.
Beiträge zur Pathologie des Blutdrucks. 476
Spannung des Gefäßsystems hat Traube^) bereits 1867
Beobachtungen gemacht. PaP) sieht die bei Nephrolithiasis and
Cholelithiasis auftretenden Gefößkrisen als typische durch den
Schmerz bedingte Drucksteigernngen an.
Ich beobachtete in 2 Fällen (X und XI), in denen heftige Schmensen
in der Nierengegend mit XJrinbeschwerden und Abatoßang von reich-
lichen Nierenepithelien, Leukocyten und Erythrocyten einhergingen, daß
der nm 110 — 120 liegende Normaldruck während der Anfalle bis 140,
152, 160 sich steigerte. Die Anfalle waren von heftigen Schmerzen be-
gleitet, die Pulsfrequenz im Anfall nicht erhöht, die erhöhte Spannung
atets dentlich ffthlbar ; Tasomotorische sieht- oder ffiblbare Veränderungen
von Seiten der Haut fehlten.
Mit einer mittleren Drucksteigerung einhergehende Kopf-
schmerzen und Schwindelanfälle, die sich mit Nachlassen
des Drucks verloren, sah ich bei einer 62 jährigen Frau, die seit
4 Jahren allmählich zunehmende Kopfschmerzen zu haben angab.
XII. Bei der in sehr gutem Emährungszustande stehenden Frau
fanden sich: diffus verdickte Badialarterien, stark gespannter Puls,
klappender zweiter Aortenton, eiweiBfreier Urin. Unter Bettruhe und
•Todnatrium fiel der Druck in 5 Tagen von 160 auf 142, 132, 114.
Die Kopfschmerzen verloren sich vollkommen. Während der weiteren
8 tägigen Beobachtung bewegte sich der Druck um 110 — 127. Patientin
war dauernd vollkommen beschwerdefrei und erklärte, sich seit Jahren
nicht so wohl gefühlt zu haben.
Anscheinend handelt es sich hier um Gefäßkrisen im Bereiche
der Großhirnrinde, die zu Reizungen und Kopfschmerzen führten
und reflektorische Drucksteigerungen hervorriefen. Ich erwähnte
bereits, daß Sawada nur bei einem sehr geringen Prozentsatz
von unkomplizierter Arteriosklerose wesentliche Drucksteigerungen
beobachtete. Auch hier war der Druck in der schmerzfreien Zeit
nicht über 127 gesteigert.
Nach chronischem Tabak- oder Alkoholmißbrauch kommen zu-
gleich mit subjektiven Beschwerden Blutdrucksteigerungen vor, die
bei körperlicher Ruhe nach kürzerer oder längerer Zeit abfallen
CKülbs^)). In einer neueren Arbeit behandelt Kochmann*), '^j
1) Traube, Gesammelte Beiträge Berlin 1878 Bd. III.
2) Pal, I.e. p.212.
3) Külbs, Zur Pathologie des Blutdrucks. Münch. med. Wochenschr. 1904
Nr. 42 und Deutsches Arch. f. klin. Med. Bd. 84.
4) Kochmann, Exper. Beitr. zur Wirkung des Alkohols auf den Blut
kreislauf des Menschen. Archiv internation. de Fharmacodynamie et de Therapie
Vol. XV 1905.
d) Kochmann, Die Einwirkung des Alkohols auf das WarmblUterherz.
Archiv internation. de Fharmacodynamie et de Therapie Vol. XIII 1904.
476
XXV. KÜLBS
unter eingehender Berflcksichtignng der Litei*atur auf Omnd vou
experimentellen Untersuchungen am Menschen und am
Tier die Wirkung des Alkohols auf den Blutkreislaaf.
Er fand, daß es bei passender Dosierung möglich ist, durch Alkohol
eine Blutdrucksteigerung beim Menschen hervorzurufen, und dafi
die bisher in der Litemtur vorkommenden widersprechenden Mei-
nungen sich zwanglos aus den verschiedenen Alkoholgaben erklären
lassen, welche bei den Versuchen gegeben wurden. Da, wie auch
Eochmann betont, die Untersuchungen über diesen Oegenstaad
noch relativ spärlich sind, f&hre ich eine Beobachtung an, die aas
verschiedenen Gründen einiges Interesse verdient.
XIII. Ein 16jfthriger Knecht wird am Abend des 16. September be-
trunken in die Klinik eingeliefert. Er taumelt stark beim Gehen, redet
immerfort; ist nicht orientiert. Der Puls ist regelmäßig, yoU, weich,
80; der Spitzenstoß in der Mammillarlinie deutlich fühlbar; der I. Tod
über der Herzspitze unrein, dnmpf, die absolute und relative Hen-
dämpfnng deutlich nach links verbreitert. Urin ohne Eiweiß; subnormale
Temperatur 35,3. Blutdruck 78. Respiration unregelmäßig, 16.
Patient schläft ca. 2 Stunden nach der Aufnahme ein, ist am Morgen
des 17. September bei Bewußtsein und gibt an, daß er im Laufe des
vorigen Nachmittags fast ^/^ Liter Schnaps getrunken habe.
Er trinke gewöhnlich 1 — 2 Flaschen Bier und rauche 2 Zigaretten. Der
Blutdruck war inzwischen zugleich mit der Temperatur auf normale
Werte gestiegen, der Puls war von mittlerer Spannung, die Atmung
regelmäßig.
Druck
Puls
Besp.
1
Tenp.
Nachmittag:
16. September^ Uhr
•
t
78
80
, 16 unreeelm.
35^
12 „
98
80
16 .
35^
Vormittag :
17. September 2 Uhr
98
80
16 n
So^O
6 „
88
16
36,2
8 „
124
80
, 16
37,8
Nachmittag:
17. September 2 Uhr
6 .
122
80
72
16
14
37,4
37,4
Diese Beobachtung zeigt, daß anter Umständen eine so erheb-
liche Druckverminderung eintreten kann, wie man sie sonst
nur ausnahmsweise sieht. (Z. B. sah ich ähnliche Druck-
emiedrigungen bei perniziöser Anämie.) Hensen^), der allerdisg^^
mit einer schmalen Binde arbeitete, sagt, daß Werte unter 95 min
1) Hensen, 1. c. p. 35.
Beiträge zur Pathologie des Blutdracks. 477
(die ungefähr 75 mm der breiten Binde entsprechen) schon für eine
schlechte Prog^nose sprechen.
Da Eochmann erwähnt, daß bei seinen Versuchspersonen
der Druck im Laufe des Versuches sank, wenn die Person ein-
schlief, muS ich hervorheben, daß im vorliegenden Fall Patient
nicht schlief, sondern immerfort redete; trotzdem stieg der Druck
nicht über 78 bei mehnnaligen Messungen. Im Schlaf regu-
lierte sich dann allmählich der Druck, d.h. er stieg langsam
an und erreichte am folgenden Morgen den — wie auch eine Nach-
untersuchung ergab — Normalwert 120. (Schon vor dem Er-
scheinen der Kochmann'schen Arbeit machte zufälligerweise ein
Assistent der hiesigen Klinik, Herr Dr. Hose mann, die Beobach-
tung, daß im Schlaf der Druck unter den normalen
Durchschnittswert sinkt. Ich habe auf diese vielleicht ganz
wichtige Erscheinung hin bei 11 Patienten den Druck des Nachts
bestimmt und ihn mit dem Normaldruck der Betreffenden ver-
glichen. Vorläufig fand ich in allen Fällen eine um 10 mm Hg
schwankende Herabsetzung des Drucks.) Die ziemlich erhebliche
snbnormale Temperatur könnte daran denken lassen, daß
neben der Alkoholwirkung noch besondere wärmeentziehende Fak-
toren hier in Betracht kämen und die Erniedrigung des Blutdrucks
mit herbeigeführt hätten. Nach der Anamnese und eingezogenen
Erkundigungen ist dies aber unwahrscheinlich und so muß ich vor-
liegende Beobachtung den nur auf Alkoholintoxikation beruhenden
subnormalen Körpertemperaturen anreihen (Glaser^), Janssen ^)).
Wenn unsere Kenntnisse über den Ablauf der vasomotorischen
En-egungen nach Alkohol spärlich sind und es daher berechtigt
sein mag, Einzelbeobachtungen wiederzugeben, so dürften auch die
nach akutem Tabakmißbrauch auftretenden Gefilßkrisen und Herz-
symptome folgenden Falles von Interesse sein.
XIV. C. B., 23 jähriger Schweizer, wird am 28. Mai 1905 abends
im Wagen in die Klinik gebracht, und macht folgende Angaben.
Am 28. Mai morgens 9 Uhr hatte er plötzlich bei der Arbeit Frost
und darauf Hitze ; er wurde schwindlig und vorübergehend bewußüos.
£r legte sich ins Bett, bekam heftigen Schweißausbrach und war nach
lO Uinuten beschwerdefreL Um 12 Uhr versuchte er aufzustehen, doch
ein zweiter „Anfall^ (Hitzegefühl, Zittern in allen Gliedern) hinderten
ihn daran. 5 Minuten später trat wieder heftiger Schweiß auf, dann
1) 0 las er. Über das Vorkommen and Ursachen abnorm niedriger Körper-
temperaturen. Diss. Bern 1878.
2) Janssen, Über snbnormale Körpertemperatnren. Deutsches Archiv f.
klin. Med. Bd. 53.
Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 89. Bd. 31
478 XXV. KüLBs
war er beschwerdeirei. Drei weitere Anfälle derselben Art folgten im
Laufe des Nachmittags um 3, 5 und 7 TJhr; der letzte Anfall setsete
mit starkem Brechreiz ein. Ein hinzugerufener Arzt ordnete die Über-
fuhruDg in die Klinik an, da er des Pulses und Erbrechens wegen an
die Möglichkeit einer beginnenden Meningitis dachte.
Als der Patient aufgenommen wurde, war er vollkommen bei Be*
wußtsein. Die Kerzdämpfung war etwas nach links verbreitert. Über
der Spitze hörte man im Liegen ein leises systolisches Geräusch, im
Stehen einen unreinen 1. Ton. Die Herzaktion war ganz regelmäßig,
(keine Extrasystolen oder frustrane Kontraktionen). Der Puls fühlte sich
mittelkräftig an, war ziemlich weich, regelmäßig, 32. Der Blutdrack
betrug 88, die Atmung war regelmäßig (16), die Sehnenreflexe träge.
Patient schlief in der Nacht ziemlich gut, die Pulsfrequenz stieg all-
mählich auf 96, der Blutdi^ick auf 98. Am Nachmittag wurde eine
Pulsanalyse vorgenommen, dabei zeigte sich, daß der Puls nach köiper*
liehen Anstrengungen leicht irregulär wurde und zugleich der 1. Tod
über der Kerzspitze sehr unrein sich anhörte. Am nächsten Tage war
der Blutdruck normal, der Puls auch nach körperlichen Anstrengungen
regelmäßig, von mittlerer Fülle und Spannung, die Herztöne mittellant
und rein.
Patient wurde 4 Tage darauf geheilt entlassen.
Er gab am Tage nach der Aufnahme auf Befragen an, daß er seit
3 — 4 Wochen täglich ca. 25 Zigaretten geraucht habe, be-
sonders auch des Morgens nüchtern und stets „durch die Lunge^.
Druck
Pulszahl
1
Temp.
28. Mai 8 Uhr abends
88
32
37,5
12 Uhr
88
32
37,3
29. Mai morgens
98
96
37.4
abends
98
84
37,5
30. Mai morgens
122
i 72
37.2
abends
122
84
37.5
31. Mai
116
72
37.1
122
60
37,4
1. Juni
112
64
37,0
118
72
37:2
Es handelt sich also auch hier um akut subnormale Blut-
druckwerte, die mit einer auffälligen PulsyerlangsamuBg bei
vollkommen regelmäßiger Herzaktion einhergingen und sich all-
mählich ausglichen. Störungen der Herztätigkeit, insbesondere
Pulsfrequenzerhöhungen und Arhythmien sieht man ja bei Eaachern
nicht selten. Hier hat ofl'enbar der T a b a k unter der besonders
ungünstigen Aufnahmeform (die Bronchialschleimhaut re-
sorbiert bekanntlich sehr gut und schnell) keine Reizung,
sondern akute Herzschwäche, Störung der Inner-
vation des Gefäßsystems, insbesondere auch der Haut^faße
und des Gehirns hervorgerufen.
j
Beiträge zur Pathologie des Blutdrucks. 479
Es dürfte in diesem wie in dem vorigen Falle die Blutdruck-
senkung so aufzufassen sein, daß durch die akute heftige Ein-
wirkung der Gifte eine Herabsetzung des Tonus der
Gefäße erzielt wurde, die in beiden Fällen mit Herzschwäche
und Cerebralerscheinungen einherging. Es sind also depressori-
sche Krisen im Sinne von Pal^), bei denen ich die Wirkungen
auf das Herz als sekundär ansehen möchte.
Für den Alkohol ist auch experimentell beim Tier bewiesen,
daß größere Dosen eine deutlich lähmende Wirkung auf die Vaso-
motoren und auf das Herz ausüben (Koch mann*), Loeb^) u.a.).
Die Tatsache, daß kleinere Alkoholgaben beim Tier eine deutliche
Steigerung der Herzarbeit (Loeb), eine nicht unerhebliche Blut-
drucksteigerung (Kochmann) auslösen, ist vielleicht — wenn
weitere modifizierte experimentelle Untersuchungen dasselbe Re-
sultat haben — eine Stütze für die Auffassung der erwähnten
toxischen Angiospasmen nach längerem Alkoholmißbrauch.
Wie des näheren diese Drucksteigerung beim Menschen zu-
stande kommt, ob hier, wie Kochmann annimmt, durch Erweite-
rung der peripheren Gefäße und Vasokonstriktion im Gebiete des
Abdominalsympathikus, kann ich vor der Hand nicht sicher ent-
scheiden.
Den seinerzeit von mir beschriebenen Fällen könnte ich noch
einige neue anreihen; indessen bieten sie im allgemeinen dieselben
Symptome und denselben Befund dar. Hinweisen möchte ich nur
darauf, daß in den letzten Beobachtungen dieser Art die Druck-
erniedrigung fast stets mit ziemlich erheblichem Schweiß-
aasbruch vor sich ging; ein Symptom, das vielleicht weitere
Aufmerksamkeit verdient und einige Bedeutung bei Störungen in
der Gefäßinnervation hat. Groß^) undHensen sahen bei Urämie
nach Anregung der Schweißsekretion durch Fol. Jab., Pilocarpin
oder Schwitzbett den Blutdruck oft erheblich sinken.
Dauernde Blutdruckerhöhungen bei jungen Leuten sah ich vor
kurzem zum erstenmal. 4 Fälle, die sich anscheinend in einem
permanenten Zustand erhöhter Gefäßspannung be-
fanden, ohne daß man für die Einschaltung eines Widerstandes
1) Pal, I.e. S. 49.
2) Koch mann, 1. c.
3) Loeb, Die Wirkung des Alkohols auf das Wannblüterherz. Archiv für
exp. Pathol. u. Pharmak. Bd. 51 S. 459.
4) A. Groß. Zur Kenntnis d. pathol. Blntdmckändemngen nach Beobach-
tang'en von weil. Dr. H e n s e n. D. Arch. f. klin. Med. Bd. LXXIV S. 315.
31*
480 XX\>KüLB8
in den peripheren Kreislauf einen Anhaltspunkt hatte, fahre ich
daher der Seltenheit wegen knrz an.
XV. Der erste Patient war ein 18 jähriger Maarerlehrling, der
4 Monate vor der Aufnahme wegen allgemeiner Mattigkeit imd
Stichen in der linken Brust seine Arbeit vorfibergehend am-
setzen mußfce. Nach einigen Kuhetagen war er beschwerdefrei und wieder
erwerbsfähig, bekam aber wenige Tage darauf, als er einen schweren
Kasten mit Kalk trug, plötzlich heftiges Herzklopfen und Kurzlnftig-
keit. Er lag einige Tage zu Bett, bekam später nach geringen An*
strengungen sogleich Herzklopfen, war bei ruhigem Verhalten beschwerdefrei.
Er wurde von seinem Arzt wegen Herzschwäche ins Krankenhaus geschickt
Die Untersuchung ergab bei dem großen, sehr kräftig gebaaten
muskulösen Mann einen stark hebenden außerhalb der Mammillarlinie
liegenden Spitzenstoß, eine ziemlich breite absolnte und relative Heiz-
dämpfung; einen dumpfen ersten Ton über der Spitze, klappende zweite
Arterientone. Der Puls war leicht irregulär, etwas schnellend; ziemlicb
stark grespannt. Der Blutdruck betrag 143. Die Irregularitäten des
Pulses steigerten sich nach körperlichen Anstrengungen, der Blutdruck
stieg nach 12 maligem Stuhlsteigen bis auf 170, einmal sogar bis auf
210, die Pulsfrequenz bis 124, um in 2 — 5' zur Norm zurückzukehren.
Nach wenigen Tagen absoluter Ruhe waren die subjektiven Beschwerden
verschwunden, der Puls regelmäßig, um 70 — 80. Die weitere Behand-
lung mit Kohlensäurebädem, Stroph., Mixt, nitrosa hatten auf den Blut-
druck keinen Einfluß, er hielt sich um 140 — 152. Als Patient 6 Wochen
später entlassen vnirde, konnte er mäßige körperliche Anstrengungen ohne
Beschwerden ausführen. Der Puls war regelmäßig, die Herztöne waren
rein, die Dämpfung ergab perkussorisch und orthodiagraphisch dieselben
Maße wie die bei der Aufnahme.
XVI. Der zweite Fall betrifft einen 24 jahrigen Tischler, der angsb
schon seit einigen Jahren bei körperlichen Anstrengrangen das GefaU
von Herzklopfen zu haben, zeitweise verbunden mit Stichen in der
Herzgegend. Da sich die Beschwerden vor einem Monat verschlimmerten,
konsultierte er einen Arzt, der ihm Krankenhausaufnahme anriet. Pst.
hat seit 5 Jahren viel Rad gefahren, nicht regfelmäßig aber zumeist
große Touren Sonntags. Er wurde vom Militärdienst befreit
wegen Herzfehlers.
Bei dem mittelgroßen, sehr kräftig gebauten Patienten fand sich ein
bis 2 cm außerhalb der Mammillarlinie reichender stark hebender Spitzen-
stoß, die absolute und relative Herzdämpfung etwas verbreitert
paukender erster Ton über der Spitze, klappende zweite ArterientSiie.
Der Puls war kräftig, ziemlich stark gespannt, vielleicht etwas schneUend:
die Arterienwand auffällig dickwandig; der Blutdruck bewegte sich an
140 — 154. Pulsanalysen, im Sinne von Rümpft) ausgeführt, ergaben
keine Insufficienzerscheinungen von Seiten des Herzens. Die Beschwerden
verschwanden bei Bettruhe, der Blutdruck hatte, auch nachdem Patient
aufttand, Werte von 140 — 150. Der Mann wurde gebessert nadi
14tägiger Behandlung entlassen.
1) Th. Rumpf , Die Behandl. der Herzneurosen. D. m. Wochschr. 1904 Nr. 68.
Beiträge zur Pathologie des Blutdrucks. 481
XVn. Ein dritter jedenfalls auch hierher gehöriger Fall:
Ein 22jähriger Schlosser, sehr kraftig entwickelt, wird wegen einer
kronpösen ünterlappenpneumonie in die Klinik aufgenommen. Der Herz-
spitsenstoß war in der Mammillarlinie eben fühlbar, der 1. Ton über
der Spitze etwas paukend, die Dämpfung yielleicht etwas breit. Der
Falz fühlte sich mittelkräftig, etwas weich an. Der Blutdruck bewegte
sicB um 110 — 116. B Tage nach der Aufnahme trat ein kritischer
Temperaturabfall, vorübergehend ein etwas niedriger Blutdruck (104) ein,
2 Tage später bewegte sich derselbe um 122 — 1B6, um in der weiteren
BekouTaleBcenz dauernd Werte von IBO — 1B8 zu zeigen. Die Unter-
suchung des Herzens in dieser Zeit ergab einen deutlich fühlbaren
in der Mammillarlinie liegenden Spitzenstoß, einen stark paukenden 1. Ton
und einen stark klappenden 2. Pulmonalton. Patient gab auf Befragen
an, daß er in den letzten Jahren viel Bad gefahren habe; zeitweise be-
sonders an Sonntagen diesen Sport forciert habe, mit anstrengenden
Touren von 10 Stunden. Subjektive Beschwerden hatte er vor seiner
jetzigen Elrankheit nicht gehabt. Mehrere Pulsanalysen ergaben, trotz-
dem Patient Bekonvalescent nach Pneumonie war, eine gute Akkommo-
dationsfähigkeit des Herzens. Eine Nachuntersuchung B Monate nach
der Entlassung zeigte noch immer erhöhten Blutdruck (1B8) und dieselben
Herzerscheinungen wie vorher.
XYin. Am 10. Juli 1905 wurde ein 27 jähriger Bauarbeiter auf-
genommen mit folgender Anamnese:
Er war bis zum Jahre 1900 Heizer, fuhr zur See und hatte zeit-
weise sehr anstrengende körperliche Arbeiten bei großer Hitze zu ver-
richten. Irgendwelche Beschwerden von seifen des Herzens waren nicht
vorhanden. Vom Militär wurde er, nachdem er 1 Jahr bei der Werft-
division gedient hatte, wegen Herzbeschwerden als untauglich
entlassen. Seit 190B arbeitet er als Bauarbeiter (aus Familienrücksichten
g»b er seinen früheren Beruf auf) und war bis vor 8 Tagen beschwerdefrei.
Außergewöhnlich schwere Arbeit machten ihm stechende Schmerzen in
der linken Brust und Herzklopfen. Er mußte stundenweise ausruhen,
füUte sich schwach und müde und kam zur Beobachtung ins Kranken-
bsoB. Er ist kein Trinker, raucht nicht, fahrt nicht Bad.
Der objektive Befuird ergab bei dem großen kräftigen gut ge-
nährten Mann einen paukenden 1. Ton über der Spitze, eine etwas ver-
breiterte Herzdämpfung, zeitweise Irregularitäten des Pulses, leicht ver-
dickte Wände der peripheren Gef&ße ; Blutdruck 166, Puls 80, normale
Temperatur; keine Ödeme, Urin ohne Eiweiß. Unter Bettruhe, Tinct.
Stropbant. verloren sich die Beschwerden fast ganz, der Blutdruck fiel etwas
ab, bewegt sich um 142 — 156, der Puls war stets regelmäßig, über der
Herzspitze hörte man zumeist einen leicht unreinen 1. Ton, der Puls war
regelmäßig, 60 — 80. Auf Wunsch wurde er am 1 7. Juli gebessert entlassen.
Diese vier konstanten Hochdrückspannungen bei
kräftigen jungen Leuten von 18 — 27 Jahren finde ich
beachtenswert. Bei allen können körperliche Überanstrengungen
(bei zweien forciertes Badfahren) als sicheres ätiologisches Moment
angesehen werden. Tabak- oder Alkoholmißbrauch, Zeichen von
482 XXV. KüLBs
Nervosität bestanden nicht. Bei allen findet sich eine deutliche
Hypertrophie des Herzens, ein erhöhter Druck im peri-
pheren Gefäßsystem, keine oder nur zeitweilige Insuffieienz-
erscheinungen nach körperlichen Anstrengungen. Die vorüber-
gehenden leichten Irregularitäten im ersten Falle sind jedenfalls
durch nervöse Einflüsse bedingt fV^eränderung in der Reizleitung?)
und nicht als Symptome von Myokarditis aufzufassen. Es liegen
also Hochdruckspannungen vor, die konstant sind, durch
spastische Veränderungen nicht erklärt werden können, sondern
jedenfalls durch eine dauernde Mehrarbeit des Herzens
bedingt sind und unterhalten werden. Zu den oft — nicht
immer (Hoff mann ^)) — bei Neurosis cordis vorkommenden Druck-
steigerungen (H 0 c h li a n s *)) rechne ich obige Fälle nicl^t. In zwei
Fällen waren die Gefäßwände leicht verdickt, so daß man an die
von Eomberg^) als Arteriosklerose jugendlicher Per-
sonen bezeichnete Gefäßanomalie denken konnte. S a w a d a *), der
unter Romberg 8 Patienten dieser Art untersuchte, fand aller-
dings nur 3 mal eine geringe Druckerhöhung bis 131 mm Hg.
Daß anstrengende körperliche Arbeit, insbesondere Bergsteigen
und Radfahren ungünstig auf die Tätigkeit des Herzens und des
Gefäßsystems einwirken kann, ist eine schon lange bekannte Er-
fahrung. In neuerer Zeit haben Beyer^) und Moritz •) den
spezifisch schädlichen Einfiuß des Radfahrens, Beck^) den des
Bergsteigens auf das Herz besonders betont.
Für die Beurteilung der schädlichen Wirkungen zieht Beyer die
WachBtums Verhältnisse des Herzens und Gefäßsystems heran und die Tst-
sache, daß das Herz des heranreifenden Menschen unter einem verhältnis-
mäßig höheren Druck, langsamer und mit einem größeren Kraftaufwand
als das kindliche Herz arbeitet. Beyer hält eine Übung wie das Bad-
fahren in den Entwicklungsjahren des Menschen für sehr schädlich bei
unvorsichtiger Ausfuhrung dieses Sportes. Herzhypertrophien, nervosa
Herzstörungen, zeitweise auch akute Herzerweiterungen sind die natur-
1) A. Ho ff mann, Pathol. u. Therap. d. Herzneurosen. Wiesbaden, Berg-
mann, 1901 S. 207.
2) Hochhaus, Über funktionelle Herzkrankheiten. 72. NaturforscherTers.
Aachen.
3) Romberg, Krankheiten d. Kreislaufsorgane. Ebstein-Schwalbe's Hand-
buch der prakt. Medizin Bd. I S. 755.
4) Sawada, Blutdruckmessungen bei Arteriosklerose. Deutsche medizin.
Wochenschr. Nr. 12, 1904 S. 425.
5) Beyer. Der EinfluU d. Radfahrens auf das Herz. Münch. med. Wochen-
schrift 1905 Nr. 30 u. 31.
6) Moritz, Verhandl. d. XXIII. Kongr. f. innere Medizin 1906.
7) Beck, Touristik und Herz. Wiener med. Wochenschrift 1906 Nr. 6 n, 7.
Beiträge zur Pathologie des Blutdrucks. 483
liehen Folgen des unzweckmäßig betriebenen Rad&hrens und begründen
den großen Prozentsatz von jungen Leuten, die wegen „Radfahrherzene"
nicht militärdienstfahig sind.
Es liegt sehr nahe anzanehmeD, daß bei den vorliegenden Fällen
von Hochdruckspannung die körperlichen Überanstrengungen in erster
Linie eine Mehrarbeit und Hypertrophie des Herzens bedingen, später
aber, wenn der schädliche Einfluß fortdauert, notwendigerweise in
der Peripherie eine Verdickung der Gefäßwand herbeiführen. Wenn
man bedenkt, daß nach einmaliger größerer körperlicher Anstrengung
oft nicht unerhebliche Blutdrucksteigerungen sich geltend machen
(Rieder und v. Maximowitsch^), Masing*), Geisböck u. a.)
und daß dei* jugendliche Arbeiter das Maß der ihm zuträglichen
Anstrengung und das Gefühl der Ermüdung sicher weniger abzu-
schätzen vermag, wie der ältere, so ist es wohl verständlich, daß
durch dauerndes Unterhalten der erhöhten Spannung sich Zustände
wie die oben beschriebenen herausbilden.
Bei einem der vorigen Fälle streifte ich die Blutdruckverände-
rungen bei Pneumonie. Die bisher über Blutdruck bei Pneu-
monie gemachten Beobachtungen (Hensen^), Neu*), Geis-
böck*) u. a.) haben ergeben, daß der Druck im allgemeinen ein
ungesetzmäßiges Verhalten zeigt. Geisböck faßt seine Unter-
suchungen über 12 Fälle dahin zusammen, daß im allgemeinen bei
leichten Fällen der Druck unbeeinflußt oder mäßig gesteigert ist, bei
schwereren Fällen niedrig, bei Komplikationen (z. B. Pleuritis) erhöht.
Ich sah unter mehr als 20 hier beobachteten Pneumonien im
allgemeinen bei Leuten im mittleren Lebensalter, wenn keine be-
sonderen Komplikationen vorhanden waren, den Blutdruck vom
Beginn ab und besonders während der Krisis erniedrigt. Auf-
gefallen ist mir aber, daß die Pneumonie der Potatoren stets, wenn
sie einen günstigen Ausgang nahm, mit einem erhöhten Druck (im
IVIittel ca. 130) einherging. War der Druck bei der Aufnahme
und bei vorhandenem Delirium niedrig (um 80—100), so hat sich
die Stellung einei- ungünstigen Prognose noch immer gerechtfertigt.
1) nieder u. v. Maximo witsch, Untersuch, über die durch Muskel-
arbeit und Flüssigkeitsaufnahme bedingte Blutdruckschwankung. Deutsches Arch.
f. kUn. Med. Bd. 46.
2) Masing, Über das Verhalten des jungen und des bejahrten Menschen
bei Muskelarbeit. Deutsches Arch. f. klin. Med. Bd. 74.
-3) Hensen, 1. c. p. 492.
4) Neu, Experim. u. klin. Blntdruckuntersucbungen mit (iärtner's Tono-
meter. Inaug.-Dlssert. Heidelberg 1902.
5) Geisböck, 1. c. p. 367.
484 XXV. KÜLB9, Beiträge zur Pathologie des Blntdrucks.
Wenn die Deliranten die Krise überstanden hatten, so bewegte
sich in der Bekonvalescenz entweder der Druck allmählich zu der
höheren, für die Betreffenden normalen Mittellage, oder er war für
längere Zeit leicht erniedrigt, nm sich nach Wochen anf die er-
höhte Normalspannung einzustellen. Die nicht immer erkennbare
Größe der Infektion, der Einfluß von Medikamenten, die individaell
sehr verschiedene Keaktionsfähigkeit des Gefäßsystems und des
Herzens, Komplil^ationen mancherlei Art, wie Pleuritis, Schmerzen,
psychische Momente, dürften aber eine Beurteilung der Blutdniek-
verhältnisse sehr erschweren.
Nicht uninteressant dürften folgende zwei Beobachtungen über
Druckveränderung bei Gheyne-Stokes'schem Atmen sein (bei
V. Ziemssen, Naturf.-Vers. 1895 und Hensen, 1. c. p. 44 erwähnt).
Im I. 'Falle (XIX) (40 jähriger Mann, tuberkalöse Meniogitifi) stieg
der Dmck in der Atempause von 70 anf 90. Die Differenz wurde
mehrere Tage hindurch beobachtet. (Der Lumbaidruck erhöhte sieb ii
der Pause um 10 mm H^O.)
Fall II (XX) betraf einen 40 jährigen Mann, der mit Myokarditis
eingeliefert wurde, mehrere Tage später einen Lnngeninfarkt, Pleuraergoß
und Cheyne-Stokes'sches Atmen bekam. Hier fiel der Druck in der Atem-
pause von 110 — 124 auf 112 — 90 (der Druck in der Pleura stieg in der
Pause um 6 — 10 cm, während der Lumbaidruck um 50 — 70 mm sank).
Den Mitteldruck, den ich in fast allen beschriebenen Fällen nach
der Straß burger 'sehen Methode bestimmte, habe ich vorläufig hier
nicht berücksichtigt, besonders deswegen nicht, weil die von mir bei
normalen Menschen gefundenen Differenzen awischen systolischem und
diastolischem Druck durchschnittlich viel geringer waren wie 8trs£-
b u r g e r ^) sie angibt (ca. 20 mm Hg), und weil ich bei manchen Fälkn
zeitweise ein mir vorläufig nicht erklärliches inkonstantes und oft in
kurzer Zeit, oft bei derselben Messung in wenigen Minuten wechselndes
Verhalten des Blutdruckquotienten sah.
Vorliegende Gefäßkrisen mit ihren klinischen Symptomen haben
vielleicht ein Interesse für den, der sich mit Blntdruckwerten und
-Veränderungen einige Zeit beschäftigt hat. Ich gebe zu, daß
manchen der beschriebenen Tatsachen neben den nachweisbaren
noch andere Momente zugrunde liegen können und daß Einwände
verschiedener Art im speziellen Falle möglich sind. Vielleicht
werden sie aber dazu beitragen, die sicheren Grundwerte,
die wir mit der relativ bequemen Technik bereits erreicht haben,
weiter zu stützen und unsere Einblicke in die Wissenschaft der
Blutbewegung, des Druckes und der Widerstände zu vertiefen.
Ij Straß burger, Ein Verfahren zur Messung des diastol. Blutdrucks und
seine Bedeutung f. d. Klinik. Zeitschr. f. klin. Medizin. Bd. 54 jk ö. q. 6.
XXVI.
Aus der medizin. Ünivers.-Klinik Breslau.
(Greheimrat Prof. Dr. v. Strümpell.)
Beiträge znr Kenntnis des Kochsalzstoffwechsels.
Von
Dr. A. Bittoi*f und Priv.-Doz. Dr. G. Joehniann,
Assistenten der KUnik.
(Mit 2 Kurven.)
Dem Kochsalzstoffwechsel der Nierenkranken ist in neuerer
Zeit eine erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt worden. Wenn auch
sein hohes theoretisches Interesse und seine Wichtigkeit für Fragen
der Nierenphysiologie anerkannt werden muß, so scheint uns seine
kli&ische Bedeutung oft überschätzt worden zu sein. Auf die aus-
gedehnte Literatur brauchen wir wohl nicht einzugehen, da der
eine von uns ^) erst kürzlich sie zusammenstellte und aus jüngster
Zeit in v. Noorden's*) Handbuch eine sorgfältige kritische Sich-
tung derselben vorliegt.
Auf Anregung des Herrn Geheimrat v. Strümpell haben
wir eine Nachprüfung der bisherigen Angaben um so lieber vor-
genommen, als die bisherigen Untersuchungsergebnisse trotz der
erheblichsten Differenzen zu weitgehenden theoretischen und prak-
tischen Folgerungen Veranlassung gegeben haben. Wir glaubten
aber nur dann vielleicht etwas tiefer in das Verständnis des Koch-
»salzhaushaltes eindringen zu können, wenn wir uns nicht auf die
Beobachtungen bei Nierenkranken beschränkten, sondern vor allem
bei Herzkranken und akuten exsudativen und fibrinösen Entzün-
dungen Versuche anstellten.
Ij Jochmann, Mediz. Klinik 1906, 1, 2.
2) T. Noorden, Handbuch der Pathologfie des Stoffwechsels, 2. Aufl. 1906
Bd. I.
486 XXVI. Bittorf u. Jochmann
Methode: Die Patienten wurden bei Bettruhe und meist bei
Milch (ev. Zulagen von Semmel, Zwieback, Butter), seltener bei
Suppenkost gehalten. Täglich wurde Flüssigkeitsein- und -ausfahr
und Chlorgehalt von Kost und Harn bestimmt. An einzelnen Tagen
wurde nun 10—15 g NaCl zugelegt, ev. auch die Zulage 2—3 Tage
gegeben. Bei Kranken mit Ödemen oder Exsudaten wurde mög-
lichst vor und nach der NaCl-Zulage deren Kochsalzgehalt bestimmt.
Verschiedene Medikamente (Digitalis, Coffein, Diuretin, Theocin und
Jodkali) wurden in ihrem Einfluß auf die Ausscheidung geprüft.
Ebenso wurde in einzelnen Fällen die ev. Beeinflussung durch
Schwitzen und Aufstehen untersucht.
Beobachtungen:
I. Akute fieberhafte Erkrankungen (Pneumonie, Pleuritis).
Die Retention des Chlors in vielen fieberhaften Krankheiten
ist bekannt, ihre Ursache ist noch nicht völlig geklärt.
Der typischste Vertreter dieser Krankheitsgruppe ist die fibri-
nöse Pneumonie, bei der nicht nur das Nahrungschlor, sondern
nach einzelnen Angaben sogar erhebliche NaCl-Zulagen bis nach
der Krise zurückgehalten werden. Die folgende Beobachtung mag
dies bestätigen.
1. Fall. 34 jähriger Gastwirt, W. M. Vor 3 Jahren ^Leher-
ieiden^. Vor 4 Tagen Schüttelfroet, Stiche in Brust and Baach.
Atemnot, Hüsteln, blutiger Auswurf. Starker Trinker. Aufnahme
25. Mai, Tod 4. Juni.
Status praesens. 25. Mai. Cyanose, Blässe, starke Dyspnoe,
Schwäche. Herz etwas vergrößert. Mäßige Arteriosklerose. Pneu-
monische Infiltration des rechten Unterlappens, daneben
kleines Exsudat. Keine Ödeme. Spuren Eiweiß.
25. Mai. Probepunktion : etwas sanguinolentes Exsudat. Nachmittags
beginnendes Delirium tremens. 26. — 27. Delirium tremens. 27. Probe-
punktion negativ.
28. Meningitiscbe Erscheinungen. 29. Lumbalpunktion: 320 bis
340 mm Druck, klar. 2. — 3. Juni. Meningitiscbe Erscheinungen ver-
schwunden. Keine Darmstörungen. 4. Tod durch Herzschwäche. Pneu-
monie verlauf (vgl. Tab. I): 26. — 27. teilweise Lösung des Unter-
lappensi doch erfolgt sofort neue Anschoppung am nächsten Tag (unterster
Teil des Oberlappens rechts). 29. ünterlappenlösung. 1. Anschoppung
des Mittellappens. Unter- und Oberlappen noch nicht völlig gelöst.
Sektion: Pneumonie des Mittel-, Unter- und teilweise Oberlappens
rechts. Herz dilatiert. Fibrinöse umschriebene Meningitis. Stauungs-
nieren.
Beiträge rar Kenntnis des Kodualzsto&wechsels.
487
Tabelle I.
Modler, Wilhelm, 34 Jahre. Pnenm. cronp. Del. trem. Mening. serosa.
'
Harn
Versuch
Krankheit«-
Datum
Menge
spez.
Gewicht
NaCl
Gesamt-
NaCl
(NaCl-Zuf.)
verlauf
24. 25. V.
1010
1022
0,04
0,404
Genießt
wenig
Pneumonie.
25. 26.
1460
1022,5
0,02
0,29
J7
Delirien.
26.-27.
1130
1021
0,17
1,929
n
Beginnende
Lösung.
27. 28.
1300!
1022
0,19
2,56
+ 15 g NaCl
Neue An-
schoppung.
28.-29.
960!
1023
1
0,23
2,27
+ 15g NaCl
Mening.
29.-30.
1260!
bedeut. >
1022
1
0,7
8,82
viel >
Kein NaCl
Beginnende
Lösung.
:^0. 3L
850
1021 ,
0,78
6,63
)i
Lösung.
31. 1. VL
1870
1020
0,7
13,09
n
j*
1. 2.
1780
1020
0,52
9,26
n
\ Neue An-
2. 3. 1
2620!
1009,5
0,12
3,14
n
/ schoppung.
3.-4.
520
1016 1
0,39
2,03
.
4 Uhr nachts
Besprechung des 1. Falles: In den ersten Tagen (auf
der Höhe der Pneumonie) ist die prozentuale und gesamte Chlor-
ausscheidung ganz außerordentlich niedrig. Als sich die Pneumonie
am 27. umschrieben löste, tritt eine deutliche Steigerung der Harn-
chloride ein. Obgleich nun innerhalb 48 Stunden 30 g NaCl zu-
gelegt werden, steigt die Ausfuhr nicht wesentlich. Die Hani-
menge schwankt etwas, zuerst etwas Vermehrung, dann Verminde-
rung. Als am 29. die Lösung des Unterlappens eintritt, steigt
Flnssigkeits- und prozentuale und gesamte Eochsalzausfuhr ganz
bedeutend (trotz der Entwicklung einer Meningitis serosa). Durch
neue Anschoppung sinkt sofort die Chlorausscheidung stark herab,
während die Harnllut noch weiter steigt. Erst am 3. — 4. sinkt die
Hamabscheidung unter Steigerung der prozentualen NaCl-Zahl.
Leider kann eine genaue Bilanz des Wasser- und Kochsalz-
sto£Fwechsels nicht gezogen werden, da es unmöglich war, die meist
^eringenEinnahmenzu kontrollieren. Jedenfalls bestätigt sich
aber erstens die Chlorretention während der Pneumonie
and die vermehrte Ausfuhr mit der Lösung, zweitens die
Unmöglichkeit durch Chlorzulage die Chlorausschei-
dung wesentlich zu beeinflussen.
Diese Tatsachen sprechen wohl dafür, daß das pneumonische
Exsudat eine gewisse Affinität zum Chlor hat Nun hat zwar
488 XXVI. BiTTOBF o. Jochmann
V. Terray das pDeumonische Exsudat sehr chlorreich gefunden,
jedoch enthielt es bedeutend weniger NaCl, als retinieit worden
war. Er nimmt darum an, daß der grOfite Teil des Chlors infolge
Wasserretention zurückgehalten wird. Hiergegen spricht in unserem
Falle das Steigen der Harnflut bis zum 3. Juni bei
gleichzeitigem Sinken der Ghlorausscheidung bei er-
neuter Anschoppung. Es muß also bei der Pneumonie die
Affinität der Gewebe (Exsudat?) zum Chlor größer
sein, als die zum Wasser oder als die zwischen Wasser
und Chlor, so daß nach Anschoppung noch Wasser, aber nicht
mehr Chlor abgegeben wird.
Wenig untersucht sind bisher die entzündlich exsudativen
Erkrankungen des Brustfells. Ihr Verhalten nament-
lich gegen vermehrte Eochsalzzufuhr und ev. therapeutische Ein-
griffe ist noch selten geprüft, so daß folgende Beobachtung aus-
führlich mitgeteilt sei.
2. Fall. Anna S., 25 Jahre. Seit ^/^ Jahre Hasten, Nacht-
schweiße, Durchfalle. Seit 8 Tagen Fieber, Kurzatmigkeit, Hüsteb.
Status: 13. Februar (bei der Aufnahme): Zarte, blasse Frau.
Ziemlich großes, linksseitiges Pleuraexsudat. Üleeröse
doppelseitige Spitzenerkrankung. Beichlich Sputum und Tuberkelbazälen.
Fieber dauernd zwischen 38,5 und 39,5 ^. Neigung zu dünnen St&hlen.
Exsudat bleibt bis 25. Februar unverändert, scheint dann
bis 1. März etwas zu sinken. Von da bis zur EnUassimg
(10. März) weiterer Rückgang unter Schwartenbildung. Lnn^enerkran»
knng ist weiter fortgeschritten (s. Tab. II).
Besprechung des 2. Falles: Die Ausscheidung des Koch-
salzes schwankt in den ersten Tagen. Ob die Betention des Koch-
salzes am 1. Tage Folge der Erschöpfung der Kranken und Störung
der Zirkulation durch anstrengende Bahnfahrt ist, ist nicht zu
entscheiden. Die vermehrte Chlorausfuhr in den nächsten Tagen
kann wieder ihrerseits durch die Besserung bei Bettruhe, vielleicht
aber auch durch Anregung der Pleuratätigkeit durch die Probe-
punktion erklärt werden (vgl. unten). Ähnlich verhält sich die
Wasserbilanz. Am 17.— 19. tritt Gleichgewicht ein. Von 15 g
NaCl-Znlage, die nun 3 Tage lang täglich gegeben wird, wird am
1. Tage (trotz Durchfalls!) der größte Teil im Harn ausgeschieden.
Am 2. Tage erscheint fast alles und am 3. Tage sogar mehr als
eingenommen im Harn. Am Ende der Yersuchstage sind von 75^4 g
nur etwa 8 g noch nicht durch die Nieren ausgeschieden. 4 g er-
scheinen noch am nächsten Tage, während die letzten 4 g wtfhl
mit dem Durchfall ausgeschieden sind.
Beitrüge zur Kenntnis des Kochsalzstoffwechsels.
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490 XXVI. BlTTOHF U. JOCHMANN
Während der Chlorzulage, diese sogar überdaaernd^ besteht
geringe Vermehrung der Harnmenge (ohne entsprechend vermehrte
Aufnahme).
Nach vorübergehendem Gleichgewicht (23.-24.) tritt erneutes
Schwanken der Chlorausscheidung ein. 3 Tage lang dauernde Be-
handlung mit D iure t in führt neben Durchfallen zu geringer
Erhöhung der Harnmenge, läßt aber die XaCl-Ausschei-
düng unbeeinflußt.
Das Exsudat hat am 14. Februar 0,508% NaCl, am 21. Fe-
bruar 0,31 %. Trotz Zulage von 30 g XaCl in den letzten 48
Stunden vor der 2. Punktion ist also eine Chlorverminderung ein-
getreten, die nicht auf Wasserzunahme beruhen kann, da das Ex-
sudat nicht gestiegen, vielmehr die Wasserausfuhr vermehrt ist.
Dies und die Vermehrung des Hamchlors nach der 1. Probepunk-
tion (15'. — 18.) spricht für eine durch sie verursachte (vorwiegende
NaCl-)Resorption. ^)
Am 26. Februar ist der Chlorgehalt des Exsudats 0,465 *o.
Dies erklärt wohl das Schwanken der Harnchlormenge. Ursache
dieser NaCl-Zunahme sind wohl Wasserresorptionsvorgänge (Ab-
nahme des Exsudats, Steigen der Harnmenge).
Es veranlaßt in diesem Falle also weder die fieberhafte
tuberkulöse Erkrankung an sich, noch das Bestehen
eines erheblichen (nicht in Heilung begriffenen) Ex-
sudats eine Chlorrretention. Es besteht nicht einmal
verzögerte Ausscheidung des zugelegten Kochsalzes.'
In mehreren anderen Fällen tuberkulöser, exsudativer
Pleuritis konnten wir die Befunde Rumpfs bestätigen, der bei
peritonealen Ergüssen ohne Nephritis häufig viel höhere
Chlorwerte traf als bei nephritischen Ödemen. Wir
fanden gleichzeitig den Chlorgehalt fast völlig unabhängig vom
spezifischen Gewichte und Eiweißgehalte des Exsudats, z. B. :
0,6 «/o NaCl, 1009 spez. Gew., 6 ^^ Eiweiß,
0,62% NaCl, 1008,5 „ „ 2,8 7oo Eiweiß,
dagegen 0,5 «/o ^'aCl 1017 „ „ 3,5% Eiweiß.
II. Herzkrankheiten.
Nach denselben Gesichtspunkten wurde eine größere Reihe
Herakranker (dekompensierter und kompensierter) untersucht.
1) In einem 2. Falle stieg ebenfaUs nach der Punktion nicht nur prozentuale und
gesamte Harnchlormenge, sondern auch die Harnmenge auf fast das Doppelte. Ito
darf dies wohl als Ausdruck erhöhter Pleuratätigkeit durch den Eingriff betrachtoi.
j
Beiträge zur Kenntnis des Kochsalzstoffwechsels.
491
3. Fall. Hermann V., 38 Jahre, schon wiederholt in der Klinik
wegen dekompensierten Herzfehlers behandelt, leidet wieder seit 4 Tagen
an geschwollenen Beinen, seit einem Tage an Anschwellung des Leibes.
Status bei der Aufnahme. 22. Januar. Cyanose, Dyspnoe; Herz
vergprößert und dilatiert, Mitralstenose und -insufficienz. Puls
unregelmäßig, klein. Ascites, ziemlich beträchtliche Ödeme der
Ober- and Unterschenkel; Stauungsleber und -niere.
22. Januar. Bettruhe, Milch. 23. Januar. 7 g NaCl-ZuIage. Ge-
ringe Mengen Odem durch Punktion gewonnen. Vom 24. Januar an
0,3 Digit. und 3,0 Diuretin. Vom 25. — 26. Januar deutliche Abnahme
der Ödeme, Ascites unverändert (Tab. III a).
Nach Schwund der Ödeme und des Ascites bei leidlicher Kompen-
sation (bei Digit. und Diuret.) wird vom 19. — 24. Februar nochmals
eine Prüfung der Ausscheidung vorgenommen. (Wegen Weigerung trotz
Wohlbefindens abgebrochen.) (Tab. Illb S. 493.)- Eine genaue Kontrolle
der Nahrung war in diesem Falle leider unmöglich.
Tabelle ITIa.
Voll and, Hermann, 38 Jahre. Vitium cordis decomp. Hydrops. Ascites.
I. Versuchsreihe.
Datum
Harn
I
spez. NaCl ^e- Ei-
Menge _ ^. samt- weiß
Gew. , % , NaCl
p. M.
Ödeme:
NaCl
0/ Therapie
/o
Bemerkungen
Verlauf
22.-23. I.
370
1025
1,32
; 4,88
0,75
0.65
23. 24.
415
1027
1,63
i 6,75
0,26
24. 25.
760
1025
1,5
11,45
Spur
MUch,
Bettruhe
-f-7 NaCl
-NaCl
-U 0,3 Dig.
3,0 Diur.
Starke
Ödeme.
Ascites.
25.-26. 1175 1017 ' 1,16 113,6
Ödeme
viel gering.,
Ascites
uverändert.
Besprechung des 3. Falles: Am 1. Tage finden wir bei
einfacher Bettruhe eine für Milchkost völlig ausreichende NaCl-
Ansscheidung, die bei den geringen Urinmengen nur durch eine
sehr hochprozentuale Ausfuhr ermöglicht wird und zwar trotz
einer durch Stauung stark geschädigten Niere und starker
Hydropsie.
Am nächsten Tag werden 7 g NaCl zugelegt. Trotz nur
geringer Steigerung der Hammenge sinkt die Eiweißmenge
erheblich, während gleichzeitig prozentuale und gesamte Koch-
salzausscheidung recht beträchtlich zunimmt. Freilich
XXVI. BiTTOBF n. JOCBMANN
bleibt wohl der größere Teil des NaCl retiniert ohne Zu-
nahme der Ödeme.
Anf Digitalis nnd Diaretin erfolgt nun in den nächsten
Tagen Zunahme der Harn- und Chloransscheidnng nster
Sinken der Ödeme.
Der Chlorgehalt der Ödeme ist ein sehr erheblicher.
Trotzdem läßt sich durch Kochaalzznlage eine Steigerang
der Ausfuhr erreichen und durch Besserung der Zirkula-
tion die Ausschwemmung in kurzer Zeit erzielen. Den
Verlanf der Ansscheidnng zeigt Knrve 1.
Als nun leidliche Kompensa-
KuiTc 1. tion eintritt, entfernt Patient reich-
liche retinierte EochS8lzmengen(I9.bis
22. Febr.). Auf Chlorzulage schei-
det er jetzt am selben Tage
(22.-23.) wohl das ganze zuge-
führte NaCl wieder ans unter
erheblicher Steigerung der pro-
zentualen Konzentration und
deutlicher Vermehrung des Harn-
wassers. Die Wasser- und Chlorflai
hält auch am nächsten Tage trotz
gleichzeitiger Durchfalle noch an. Die
Steigerung der Hammenge nimmt so-
gar am 24. und 26. noch zu.
Wir sehen also in der jetzigen
Periode nicht nur eine außerordent-
lich schnelle Ausscheidung der
Kochsalzznlage, sondern sich an-
schließend eine Mehrausschwem-
mung von Kochsalz. Wir können
also Mobr's Befund bei Nieren-
kranken, daSNaCl sogarNaCl-
treibend wirken kann, auch bei
Herzkrankenbestätigen. Außer-
dem finden wir in dieser Periode eine
ausgesprochene Unabhängigkeit
von Kochsalz- nnd Wasserausscheidung von einander. Die
Wasserausfuhr schleppt der Kochsalzausfubr nach, wie
Knrve '2 besonders deutlich zeigt.
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4. Fall. Paal F., 62 Jahre, hatte schon einmal wegen Adipontai,
Emphysem und Bronchitis in der Klinik gelegen. JetEt sind seit etwa
5 Wochen die Beine leicht angeschwollen ; Kunsatmigkeit, Husten, Sjreuz-
schmerzen haben zugenommen. Potator.
Status beider Aufnahme 21. Juni.
Fettleibigkeit , Emphysem, Bron-
chitis. Leichte Verbreiterung des
Herzens nach links, schwache
Aktion. Odem der Unterschen-
kel mittleren Orades. Vergrößerte
Leber. Stauungsalbuminurie.
Bei Bettruhe, Milch, Jodkali
schwinden bei gleichzeitigem Durch-
fall vom 23. — 25. Juni die Ödeme,
unter starker Oe wichtsabnahme. 29. Juni
Durchfall. Urin vom 2. Juli an dauernd
frei von Eiweiß (s. Tab. IV).
Besprechung: Allein durch
Bettruhe, Jodkali und Milch-
diät wird hier eine stark ver-
mehrte Chlor aus Scheidung
erzielt und zwar anfangs ohne
stärkere Diurese. Vom 23. — 25.
werden durch starke Durchfälle
die Ausscheidungsverhältnisse ge-
trübt. Am 26. sind die Ödeme
fast vei-schwunden und ein Chlor-
gleichgewicht eingetreten. Auf-
stehen führt vorübergehend
am 27.-28. zu Chlorretention,
die am nächsten Tage aber
durch Zunahme des Hamchloi^s
trotz gleichzeitiger Durchfalle be-
seitigt wird.
Die folgenden 2 H erzkranken
sollen zusammen betrachtet werden,
weil bei beiden hochgradige
allgemeine Hydropsieu be-
standen, die bis zum Tode fast Wasserausfnhr in ccm
unbeeinflußt durch Medika- ^ NaCl-Zulage
mente anhielten. Die Sektion ergab neben dem Herzleiden in
einem Falle nur chronische Stauungsniere, im 2. Falle arterioskle-
rotische Schi-umpfniere.
5. Fall. Fritz 8ch., 32 Jalire. 1899 Gelenkrheumatismus, danach
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19.-20. — 21. — 22.— B
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Beiträge zar Kenntnis des Kochsaisstoffwechsels. 495
Hersfehier. Februar 1906 angeblich Nierenentzündung und Ödeme, bald
verschwunden. Juni 1906 auf einer Beise erkrankt (Del. tremens ?),
wird in ein Krankenhans gebracht, von wo er ^m 10. Juli in die Klinik
kam. Seit einigen Tagen (?) starke Schwellung erst der Beine, dann
Hände und Gesicht. Potator!
Auf nahmebefund 10. Juli. Dyspnoe, Gyanose, hochgra-
digste allgemeine Ödeme, Ascites. Ozaena. Stauungskatarrh
der Lunge. Herzvergrößerung nach rechts und links, Arhythmie,
s^rstolisches und diastolisches Geräusch. Unregelmäßiger, leidlich gespannter
Puls. Lebervergrößerung? Urin: eiweißhaltig, hyaline, granulierte, epi-
thelbesetzte Zylinder, vereinzelte Blutkörperchen. Psychisch abnorm.
Zunächst geringe Besserung, Abnahme der Ödeme und des Gewichts.
Dann zeitweises Schwanken, schließlich Zunahme; darum 30. Juli Ödem-
punktion (2 Liter). Keine Besserung. 5. August Tod nach weiterer
Zunahme der Ödeme und Dyspnoe.
Sektion: Herz vergrößert und dilatiert: Mitralstenose; Myokar-
ditis; Pericarditis adhaes. Endaortitis ather. Stauungslungen. Pleura-
verwachsungen. Stauung in: Darm, Leber, Milz, Nieren. Ödem der
Pia mater. (Nierenrinde teil weis verfettet) (s. Tab. Y).
Besprechung der 5. Beobachtung: Wie in den vorher-
gehenden Fällen nimmt zunächst mit Besserung der Herz-
tätigkeit Chlor- und Wasserausfuhr zu, und zwar unter
erheblicher Steigerung der schon anfänglich hohen pro-
zentualen NaCl-Konzentration.
Am 14. ist aber der Höhepunkt der Elimination schon über-
schritten. Trotzdem wiid wohl noch mehr ausgeschieden als ein-
genommen, da sowohl Durchfälle eintreten, als auch die NaCl-Zulage
vollständig ausgebrochen wird, so daß deren Einfluß auf die Aus-
fahr leider nicht feststellbar war.
T h e 0 c i n , dem man eine besonders starke chlortreibende Wir-
kung zuschreibt, bewirkt nur vorübergehend eine vermehrte
Ausscheidung und verhindert schließlich nicht, daß eine völlige
Anorie eintritt. Dieselbe vorübergehende Wirkung sehen wir
nun bei Strophantus und anderen Herzmitteln.
Schließlich war die weitere Untersuchung wegen starker Durch-
falle und Untersichlassen unmöglich.
Die Ödeme hatten bei 1006 spez. Gewicht, l,6®/oo Eiweiß
und 0,48^/0 NaCl.
Die nächste Beobachtung kann vielleicht anschließend zur Er-
klärung dieses Falles mitgeteilt und besprochen werden.
6. Fall. 73jährige Frau Z. Vor einem halben Jahre Magen-
Darmkatarrh. Atembeklemmangen. Später Schwellang der Beine, stärkere
Atemnot. Zeitweis heftige Dyspnoeanfälle mit Angstgefühl. Starke
Trinkerin!
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24. Febroar. Dyspnoe. Rechts-
seitige Longentaberknlose
(Dämpfung y fast bronchiales
Atmen). Staunngskatarrh.
Links mäßiger Hydrothorax.
Stark hypertrophi-
sches und dilatiertes
Herz. Keine Geräusche.
1. Aortenton unrein. ICäßige
periphere Arteriosklerose.
Puls: regolär, angedeutet celer.
Blutdruck 155—145 RR.
Ascites? Milzy Leber ver-
größert? Spuren von Ei-
weiß, einzelne hyaline und
granulierte Zylinder. Star-
kes Odem der Beine,
Arme, Bauchhaut. Ge-
dunsenes Gesicht.
Anfangs Anfälle von
Asthma cardiale. Zunahme
der Ödeme am 1. und 2.
Tage. Am 26. Februar Ödem-
punktion (100 ccm). 28. Febr.
Ödem etwas geringer, ebenso
Hydrothorax. Nahrungsauf-
nsJime gering. 1. März.
Ödeme haben bisher noch
etwas abgenommen, um nun-
mehr wieder zu steigen.
Später deutliche Leberver-
größerung , kleiner Ascites.
Diurese gering. Ödeme
zeigen nur geringe
Schwankungen. Zeitweis
Durchfälle. Puls dauernd
regelmäßig. Bei unveränder-
tem Befunde Tod am 6. Mai.
Sektion: Glatter Zungen-
grund, Tensillennarben. In
der rechten Lungenspitze wal-
nußgroße Kaverne , rechter
Oberlappen leicht induriert.
Hypertrophisches dila-
tiertes Herz. Klappen
gesund. Myocarditis gra-
vis. Schwerste Arterio-
sklerose der Kranzarterien
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498 XXVI. BtTTORF n. Jochmann
und Aorta. Arteriosklerotische Schrumpfniere. Staooogs-
railz und Leber (s. Tab. VI S. 497).
Besprechung: Die vorliegende Kombination von Herz-
»chwäche mit arteriosklerotischer Schrumpfniere hatte bei absolut
erhöhtem, aber relativ zn niedrigem Blutdruck zu Herzinsuffi-
cienzödemen geführt. Da Patientin sich weigerte^ konnten nur
einige Tage Versuche über den Einfluß von Herzmitteln an-
gestellt werden.
Es steigt, wie bei 5., z u e r s t Hammenge, prozentuale (nicht
völlig gleichmäßig) und gesamte NaCl-Ausscheidung, wenig dorch
den Durchfall am 27.-28. beeinflußt. Vom 28. Februar bis
1. März sinken alle 3 Faktoren und es gelingt von da ab nicht
wieder, die Diurese zu steigern. Der Einfluß vermehrter Chlor-
zufiihr konnte wegen Weigerung des Patienten nicht geprüft werden.
Die Ödemflüssigkeit enthielt 0,67 ^/o NaCl.
Trotz des klinisch vollkommen gleichmäßigen Verhaltens der
Ödeme bei beiden Kranken zeigen die Ergüsse doch recht
erhebliche Differenzen des Chlorgehaltes. Diese Tat-
sache scheint uns sehr wesentlich gegen die Wichtigkeit der
primären Chlorretention für die wassersüchtige Ansammlung
zu sprechen, zumal sich in beiden Fällen vorübergehend recht hohe
prozentuale und gesamte NaCl- Ausscheidung erzielen ließ. Vielmehr
ist in solchen Fällen auf das Verhalten der Gefäße (Arterio-
sklerose, Alkoholismus) bei Erklärungsversuchen der eigenartigen
Ödeme Rücksicht zu nehmen^), abgesehen von dem in allen
Fällen sichtbaren Abhängigkeitsverhältnis der NaCl-
und Wasserausscheidung von der Zirkulation.
UI. Nierenkrankheiten.
A. Akute Nephritis.
Leider stand uns kein Fall sich entwickelnder Nephritis, nüt
noch zunehmenden Ödemen zur Verfügung; denn gerade für solche
Fälle fehlen noch größere Untersuchungsreihen. Dagegen konnten
wir eine akute hämorrhagische Nephritis (Fall 7), die
8 Tage vor der Aufnahme in die Klinik akut mit Schwellung der
Beine eingesetzt hatte, untersuchen.
Status (bei der Aufnahme) 13. Mai. 28 jähriger blasser Mano.
leicht gedunsenes Gesicht. Ziemlich hochgradige Ödeme
der Unterschenkel. Allgemeine Drüsenschweliung. Papel (?) am Präputiom.
1) Vielleicht bilden sich auch bei länger bestehenden Ödemen Gewebsrer-
ändemngen ans, die ihrerseits ungünstig für die Eesorption der Flüssigkeit sind.
Beiträge zur Kenntnis des Kochsalzstoffwechsels. 4^
Herz: nicht vergrößert. 2. Aortenton akzentuiert. Blut-
druck (R.-K.) 1 67— 1 70. U r i n 7,5 0/^^ Eiweiß ; sehr reichliche Zylinder
aller Art, reichliche Blutkörperchen.
Bei Bettruhe und Diät sinken die Ödeme bis 15. mittags.
Vom 15. — 17. 30 g NaCl zugelegt. 17. Mai Ödeme verschwun-
den. Formelemente sicher spärlicher als früher. Tabelle VII a.
Patient bleibt dauernd frei von Ödemen, fählt sich wohl. Eiweiß-
gehalt und Harnmenge fast konstant. Stark hämorrhagisch.
24. Mai. Blutdruck (R.-R.) 150. Steigt bis 30. Mai wieder
auf 145 (Gärtner!).
Vom 26.— 1. Juni 2. Versuchsreihe: Tabelle Vllb.
Am 7. Juni bei annähernd unverändertem Befund entlassen.
In den ersten Tagen erhebliche Chlormehrausschei-
dung bei guter Dinrese und bei ziemlich hoher prozentualer
Konzentration. Keine Körpergewichtsabnahme, ob-
wohl die Ödeme zurückgehen (stärkere Hydrämie und Ge-
websdurchtränkung ?).
Trotz Ödemen werden in 2 Tagen je 15 g NaCl zuge-
legt; darauf 1. enormeHarnflut ohne entsprechend vermehrte
Flüssigkeitszufuhr (bes. 15. — 16.); 2. fast yöllige Ausfuhr in
. beiden Tagen der gesamten Kochsalzeinfuhr; 3. Sinkendes
Gewichts um 1,5 kg; 4, Schwund der Ödeme. Dabei wird nicht
nur die gesamte, sondern auch die prozentuale NaCl- Ausfuhr
gesteigert! Nach Absetzen der Chlorzulage weitere Harn-
flut (bis 20.) und erheblich vermehrte Chlorausfuhr, die
aber eher absinkt als die Harnflut.
Bis 20. Mai ist dadurch weitere Gewichtsabnahme um 2,3 kg
erfolgt, die nur auf Abnahme der Hydrämie (und Gewebsdurchträn-
kungj beruhen kann, da seit 17. Ödeme nicht mehr bestehen!
Jedenfalls kann bei akuter, schwerer hämorrhagi-
scher Nephritis enorme gesamte und prozentuale
Chlorausscheidung geleistet werden (ohne daß Heilung ein-
tritt, wie der spätere Verlauf zeigt !). Vermehrte Chlorzufuhr
kann vermehrte und beschleunigte NaCl-Ausfuhr ver-
anlassen, kann schnellen Schwund der Ödeme und der hydra-
ulischen Plethora herbeiführen. Harnflut und Chlor-
ausscheidung gehen nicht völlig parallel.
Wir können also Mohr 's u. a. Angabe über die chlor trei-
ben de Wirkung des Kochsalzes bestätigen und im Gegen-
satz zu Strauß u. a. sogar eine diuretische Wirkung des
Na Ol feststellen. Die Strauß' sehen Befunde, Annahmen und For-
derungen, scheinen demnach keine so allgemeine Berechtigung zu
haben, wie er für sie fordert.
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Beiträge znr Kenntnis des Kochsalzstoff wechseis. 501
Das zeigt auch der überraschende Verlauf der 2. Versuchsreihe.
Patient ist inzwischen gebessert. Er befindet sich in einem
Kompensationsstadium, dementsprechend auch vom 26. — 29. im Chlor-
gleichgewicht (trotz chlorreicherer Nahrung.)
Bei 15 g NaCI-Zulage sinkt die Harnmenge unbedeu-
tend (etwa 360 ccm), die prozentuale und gesamte Kochsalz-
ausscheidung bleibt fast unbeeinflußt. Über 16 g NaCl
bleiben an diesem Tage retiniert. Arn nächsten Tage wird
das zurückgehaltene Wasser völlig ausgeschieden.
Die NaCl-Ausfuhr ist am 2. und 3. Tage etwas vermehrt,
aber nach 3X24 Stunden ist noch über % des zurückgehaltenen
Chlors nicht ausgeschieden. Also außerordentlich verlang-
samte Chlorausfuhr!
Die vorher schwerer geschädigte Niere ist (trotz bestehender
Ödeme) der Zulage vollkommen gewachsen, die gebesserte N i e r e m i t
ungestörter Wasserausscheidung (ohne Ödeme) vermag
Chlorgleichgewicht bei mittleren Mengen zu halten,
vermehrte Zufuhr vermag sie nicht zu bewältigen. Die
Unabhängigkeit der Wasseransscheidung von der Chlor-
retention zeigt sich auch darin, daß 16 g retinierten Chlors
nicht 350 ccm, sondern 2 — 3 1 zurückgehaltenen Wassers ent-
sprechen würde.
B. Subakute und chronische parenchymatöse
Nephritis.
Die bisherigen, z. T. widersprechenden Angaben konnten wir
in einigen Fällen nachprüfen und erweitem.
8. Fall. Joseph F., 29 Jahre, vom 9. — 31. Juli beobachtet.
Febraar 1906 plötzlich mit Schüttelfrost, Erbrechen, Kopfschmerz, all-
gemeiner Schwellung und am 3. Tage Halsschmerzen erkrankt.
Ins Krankenhaus gebracht verschwanden Fieber und Schwellung bald;
dagegen blieben zeitweise Kopf- und Nierenschmerzen. Urin soll anfangs
7 ^/qq, später 3 ^/^^ Eiweiß enthalten haben. Vom Krankenbaus am
9. Juli in die Klinik verlegt.
Status: Oeduusenes Gesicht, leichtes Lidödem. Herz:
nicht vergrößert nachweisbar. 1. Ton dumpf. 2. Aortenton leicht accentuiert.
Arterienwand: verdickt. Urin: 4 ^/^^ Eiweiß; reichlich Zylinder
aller Art, rote und weiße Blutkörperchen. Keine Ödeme. Blut-
druck: erhöht, anfangs 200, später 182 R.-R.
Während der Beobachtung keine Veränderung; nur Harn zwei-
mal etwas hämorrhagisch. Stuhlgang täglich. Harnformelemente durch
NaCl-Zulage nicht vermehrt (Tab. VIII).
502
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Körper- und Nierenbefimd im wesentlicheu stets gleich.
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Beiträge znr Kenntnis des Kochsalzstoffwechsels. 503
Besprechung: Nach vorübergehender vermehrter NaCl-Aus-
scheidung in den ersten Tagen (Folge chlorreicher Kost außerhalb
der B[linik) tritt 11. — 13. etwa Gleichgewicht ein.
Vom 14. früh bis 14. abends erhält Pat 19 g NaCl und
scheidet vom 13. abends bis 14. abends 18 g aus. Wasserausfnhr
deutlich gesteigert. Prozentuale Kochsalzabscheidung fast auf das
3 fache gestiegen! Am nächsten Tage sowohl vermehrte Wasser-
wie Kochsalzausscheidnng. Es besteht also eine außerordent-
lich gute Aussscheidungskraft derNiere für NaCl und
Wasser.
Am 15.— 16. erhält er wiederum 10 g NaCl zugelegt.
Darauf erfolgt bei gesteigerter Wassereinfuhr vermehrte Harnmenge,
aber keine Steigerung der prozentualen Kochsalz-
ausfnhr. So bleiben jetzt immerhin fast 4 g retiniert, die in
den nächsten 24 Stunden bei tatsächlicher Harnflut ausgeschieden
werden. Auch in den nächsten Tagen besteht noch etwas vermehrte
Kochsalzaussclieidung. In diesem Versuche finden wir also gute
Wasserausscheidung, etwas weniger gute Kochsalz-
•ausscheidung! Körpergewicht wenig beeinflußt.
19.— 20. etwa Chlorgleichgewicht. 21. früh bis abends 10 g
NaCI- Zulage. Die Wasserausscheidung ist kaum beeinflußt,
jedenfalls keine wesentliche Retention (vgl. Gewicht). Dagegen
erscheint nicht die Hälfte des Chlors im Urin. Erst am 4. Tage
^ind die letzten R e s t e des Kochsalzes bei täglich etwa normalen
Harnmengen ausgeschieden. Erst am 24. — 25. stellt sich
<Jhlorgleichgewicht ein.
Ohne daß eine Ursache nachweisbar wäre, sehen wir hier
nacheinander erst sehr gute, dann noch normale, schließ-
lich schlechte Chloransscheidung auftreten. Einen ver-
zögernden Einfluß des Schwitzens können wir wohl nicht annehmen,
da vom 22.-24. ohne Schwitzen auch keine vermehrte Ausscheidung
erfolgt. Die Wasserabgabe ist dagegen immer ungestört.
Interessant ist das merkwürdig konstante Einhalten der pro-
zentualen Chlorausscheidung vom 16.— 27. Juli trotz veränderter
>5ufuhr.
9. Fall. Richard K., 28 Jahre. Anfang 1906 Lues; Schmierkar.
April 1906 plötzlich Schwellung der Beine. Im Krankenhaus
wurde Nierenentzündung feetgestellt. Ende Juni aus dem Krankenhaus
in die Hautklinik (2 Quecksilbersp ritzen !) und von dort am 5. Juli in
die medizinische Klinik verlegt. Eiweifigehalt soll von 2 — 26 ^,'^q, Harn-
in enge von 1 — 3^2 1 geschwankt haben.
504
XXVI. BiTTORP n. JOCHMAMK
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Beiträge zur Kenntnis des Kochsalzstoffwechsels. 505
Status 5. Juli. Blasser Haan, frei von ÖdemeD bis auf
Prapntiani, wo aber alte Phimosennarbe besteht. Schwellung fast sämtlicher
Lymphdrüsen. Milz palpabel. Herz: nicht vergrößert. Blut-
druck: 146 — 150 B.-B. Urin: 4®/Q^EiweiB, sehr reichliche Zylinder
«11er Art, wenig rote und weiße Blutkörperchen.
Stuhlgang regelmäßig. Bis zur Entlassung am 31. Juli
iceinerlei Änderung (s. Tab. IX S. 504).
Besprechung des Falles: Anfangs besteht dentlich vermehrte
Chloransscheidung, bedingt wohl durch Übergang von chlorreicher
za chlorarmer Kost. 9. — 10. Zulage von 15 g NaCl. Mäßiges,
aber deutliches Absinken der Hammenge! Chlormenge: prozentual
zwar dentlich, insgesamt aber wenig vermehrt, so daß über 11 g
retiniert werden. Die Eochsalzretention ist viel erheblicher als
die des Wassers, dementsprechend steigt das Körpergewicht nur
um 500 g (nicht um etwa 1500 g).
Am nächsten Tag steigt nun nicht nur Hammenge, sondem noch
stärker die prozentuale und gesamte NaCl- Ausscheidung, so daß an
diesem Tage ein recht erheblicher Teil des Zurückgehaltenen aus-
geführt wird. In den nächsten Tagen sehen wir nun weiter
die chlortreibende Wirkung der vermehrten Zufuhr.
Es besteht also nur etwas verlangsamte Eochsalzaus-
scheidung bei leidlich gutem Wasserhaushalt, von dem
sich namentlich am 10. — 11. die Chlorausfuhr unabhängig zeigt.
Am 14. — 15. wird 0,3 Digitalis gegeben: es steigt die
Wasserausfuhr, die prozentuale NaCl-Konzentration bleibt unbe-
einflußt. Die Hammenge ist auch noch am nächsten Tage ver-
mehrt, während die Chlorausscheidung sinkt.
1,5 Jo'dkali täglich bleibt ohne Einfluß auf das Chlor-
gleichgewicht.
Nochmalige Kochsalzzulage führt zwar sofort zu er-
heblicher prozentualer und gesamter NaCl-Ausfuhr, trotzdem
besteht recht erhebliche Retention. Obgleich nun auch in
den nächsten Tagen die Chlorausscheidung vermehrt ist, bleiben
doch nach 3 X 24 Stunden noch 5,6 g NaCl im Körper zurück.
Die Wasserausfuhr steigt jetzt langsamer als die pro-
zentuale Salzausfuhr (beginnt erst nach 24 Stunden), hält aber
länger an.
Beim 2. Versuche also schlechte Chlorausscheiduug
bei gutem, nur etwas verlangsamtem Wasserabscheidungs-
vermögen, deutlii^he Unabhängigkeit von Salz- und
Wasserausfuhr (starke NaCl - Betention ohne entsprechende
Wasserbindung).
506 XXVI. BiTTOBF U. JOCHMAKX
C. Chronisch interstitielle Nephritis.
Zunächst sei ein in seiner Stellang unsicherer Fall besprochen.
10. Fall. Georg £., 26 Jahre. Viel augenleidend (hereditir
syphilitisch?). Wiederholte Augenoperationen. Dabei vor 2 Jahren
ids zufälliger Nebenbefund Nephritis festgestellt. Kommt jetzt
nach einer Operation aus der Augenklinik. Früher Schmierkaren.
Status 5. April 1906. Gedunsenes Gesicht. Keine Ödeme.
Kleiner Kniegelenkserguß links. Hutchinson'sche Zähne. Angen :
Iridectomie, Kataraktextraktion , gelbe Atrophie der Sehnerven (Prof.
Heine).
Herz: Akzentuation des 2. Aorten tones, sonst ohne Befand. Urin:
klar, wenig Sediment, spärHche Leukocyten und hyaline Zylinder;
bei anfangs geringen Mengen 3,2 ^'^^ Eiweiß. Später größere
Harnmengeu: 2000—2500; 1010 — 1015 spez. Gewicht; etwa 1%
£iweiß. Sediment unverändert. Gesicht noch gedunsen. In diesem
Zustand 11. — 19. Mai Versuche.
Später Iridocyclitis Inetica, gleichzeitig etwas vermehrte Eiweiß-
abscheidung. Auf Sajodin Besserung, allerdings unter etwas EiweiB-
vermehrung. Darauf submaxillare Drüsen akut geschwollen. Dann Wohl-
befinden, weniger Eiweiß. Vorübergehende urämische Erscheinungen.
Endlich Anfang August mit guter Diurese und wenig Eiweiß entkssen
(8. Tab. X S. 507).
Besprechung: Als nach Chlorgleichgewicht vom 14.— 16.
30 g NaCl zugelegt werden, sinkt am 14. die Harnmenge
beträchtlich, trotz vermehrter Wassei^afhahme, und steigt
am 15. und 16. ziemlich erheblich bei verminderter Zufuhr.
Die prozentuale NaCl-Ausfuhr steigt zwar sofort
jedoch erst am 2. und 3. Tage zu erheblicher Konzentration. So
bleibt in den ersten 24 Stunden ein erheblicher Teil des Salzes
im Körper. Am 2. Tage wird nicht nur die annähernd 20 g be-
tragende Na('l-Zufuhr, sondern auch noch fast 1 g mehr aus*
geschieden und 24 Stunden nach Beendigung des Ver-
suches ist alles Kochsalz entfernt Das Körpergewicht
steigt während des Versuches und sinkt nach Eintritt des Chlor-
gleichgewichts (17. — 18.) wieder.
Es besteht also anfangs verlangsamte, dann vollkommen
normale rhlorauscheidung bei gleichsinnigem Wasser-
haushalt, trotzdem zeigen prozentuale Kochsalzausschei-
dung und Harnmengen doch nicht gleichartiges Verhalten.
11. Fall. 31 jähriger Robert Seh. Diplegia spastic. (GebortB-
trauma? EncephaJitis). Vor 10 Jahren Bleikolik. Vor 1 Jalm
Retin. album. Vor 3 Wochen starke Schwellung der Beine, die adi
bald besserte. Kopfschmerz.
Beiträge znr Kenntnis des KochsalzstoiTwechsels.
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508 XXVI. BiTTOBF n. Jochmanm
Status 11. Jani. Diplegia spastic . Herz: hypertrophisch (?) . Hoch-
gradige Blutdrucksteigerung (165 GSrtner). Periphere Arterio-
sklerose. Keine Ödeme. Keine Retinitis. Harn: 2®/^^ Eiwtaß:
Blutkörperchen, spärliche hyaline Zylinder.
Während 17tägiger Beobachtung sinkt £i weißmenge auf 0,4
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Sonst unverändert. Obstipation (s. Tab. XI S. 507).
Besprechung des Falles. Auf kochsalzarme Eost erfolgt
zunächst reichliche Mehrausscheidung von NaCl, die sich am 3. Tage
dem Gleichgewicht nähert.
Nach 15 g Zulage 1. erhebliches Absinken der
Wasserausfuhr für 48 Stunden, 2. beträchtliches Steigen
prozentualer und gesamter Salzmenge am selben und
folgenden Tage. Die am Versuchstage noch zurflckbehaltenen Chlor-
reste werden am folgenden Tage ausgeschieden. An den nächsten
Tagen besteht noch vermehrte Cfalorausschwemmung. Erst nach
48 Stunden tritt geringe Harnvermehrung ein.
Es zeigt dieser Fall also vollkommen gegensätzliches
Verhalten von NaCl- und Wasserabgabe.
12. Fall. Beim 19 jährigen Arthur B. wurde vor einem Jahre
zufallig Nierenentzündung festgestellt. £r begab sich damals in ein
Krankenhaas, von wo er nach mehreren Monaten gebessert entlassen
wurde. Nie Ödeme. Potator. Wegen Schmerzen in der Nieren-
gegend kommt er am 30. Juni in die Klinik.
Aufnahmebefund: Kräftiger Mann, frei von Ödemen. Leichte
doppelseitige Spitzenaffektion. Herz: nach links vergrößert.
Musikalisches systolisches Geräusch. 2. Aortenton klingend, akzentuiert.
Arterienwand verdickt. Blutdruck: vermehrt (160 R.-B.).
Harn: eiweißhaltig, verhältnismäßig reichlich hyaline und grann-
lierte Zylinder. Menge, je nach Flüssigkeitszufuhr, 1 — 3 1.
Verlauf: ohne wesentliche Veränderung, frei von subjektiven Be-
schwerden am 23. Juli entlassen (s. Tab. XII S. 509).
Besprechung: In der Vorperiode überschüssige Kochsalz-
abgabe bei schwankender Wassermenge und proz. Konzentration.
Nach 10 g NaCl-Zulage: der vermehrten Wasseraufnahme
entsprechende Harnvermehrung, Steigerung der ges. und proz. Salz-
ausscheidung. So wird an diesem Tage schon die gesamte
Zufuhr (bes. da Durchfall eintritt) ausgeschieden. Am nächsten
Tage anhaltende Harnvermehrung und überschüssige Chlorelimi-
nation.
Chlorgleichgewicht wird in diesem Falle während der Versuchs-
dauer überhaupt nicht wieder en-eicht.
Der 13. Fall betrifft einen 47jährigen Arteriosklerotiker, Franz B.
Er war schon einmal in diesem Jahre wegen Nierenentzündung im Kranken-
Beiträge anr Kenntnk des KochaabsitoffwechgeU.
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51Ö XXVI. BiTTORP u. Jochmann
haus behaudelt. Keine Ödeme. Kommt wegen Kopfschmerzen in
die Klinik. Trinker.
Aufnahmebefund 19. Mai. Arteriosklerotiker. Leichte Spitzen-
affektion. Keine Ödeme. Herz: hypertrophisch und dilatiert. Puls
mäßig gespannt. Urin: 0,4 ^/^^ Eiweiß. Spärliche hyaline und granu-
lierte Zylinder, einzelne Zellen. Keine Ödeme.
28. Mai. Herz kleiner. Urin: Spuren Eiweiß, spärliche
hyaline Zylinder.
30. Mai. Blutdruck: 135 (Gärtner!).
ßis zur Entlassung, 9. Juni, steigt der Blutdruck. Urin: dauernd
Spuren Eiweiß (s. Tab. XIII).
Besprechung: Schnell eintretendes Chlorgleichgewicht in
der Vorperiode. Im Versuche werden in 2 X 24 Stunden 30 g NaCI
zugelegt. Darauf erfolgt erhebliche Wasser- und Chlorretention am
1. Tage, am 2. Tage normale Hammengen, jedoch ohne annähernd
ausreichende Chlorausscheidung. Es bleiben etwa 18 g NaCl in
2 Tagen retiniert, dagegen nur einige 100 ccm Wasser.
Am 3. Tage steigt die vom 1. Tage an erhöhte prozen-
tuale Salzausgabe noch w^eiter, so daß bei normalen Urin-
mengen etwa die Hälfte des zurückgehaltenen Kochsalzes im Harn
erscheint. Der ßest bleibt im Körper, denn am 29. tritt Chlor-
gleiChgewicht ein. Dies wird ebensowenig wie die Harnmenge
durch Digitalis beeinflußt. Es liegt hier also anscheinend
eine stärkere Schädigung der Wasser- und etwas ge-
ringere der Chlorausfuhr vor.
Schließlich sei kurz ein Fall von arteriosklerotischer
Nephritis mit urämischen Erscheinungen und Herz-
schwäche erwähnt, der nur wenige Tage untersucht werden
konnte.
Fall 14. Hermann B., 55 Jahre. Wiederholt krank. Seit 1 Jabre
kurzatmig bei Anstrengung; Druck in der Herzgegend. In letzter Zeit
Zunahme der Beschwerden, abends Füße geschwollen, Kopfschmerz.
Status 22. Mai : Cyanose, Dyspnoe. Adipositas. Unterschenkel-
ödem. Stduungdbronchitis. Hypertrophie und Dilatation des
Herzens. Zentrale und periphere starke Arteriosklerose. Blut-
druck: 220 R.-R. Puls regelmäßig, beschleunigt. Urin 0,5 %<> Ei-
weiß, spärliche hyaline Zylinder.
Bis 25. Mai etwas Besserung. 25. — 29. Versuch. 28. u. 29. Ver-
schlechterung, Blutdruck 190 — 195 (Gärtner!), Erbrechen.
Am 31. Mai starke Depression. Auf Wunsch entlassen (s. Tab. XIV).
Besprechung des Falles: Wir begegnen hier demselben
Verhalten wie früher bei Herzkranken, mit Besserung der
Zirkulation tritt Steigen der Diurese und der Chlor-
ausscheidung ein.
Beiträge znr Kenntnis des Kochsalzstoffwechsels.
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Die geringe Chlor-
retention am letzten
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Bohne's für das Ein-
treten von Urämie ver-
antwortlich zu machen,
sondern sie ist abhängig
von der Verschlechterung
der Zirkulation (Sinken
der Hammenge, der proz.
und ges. NaCl- Ausschei-
dung, Steigen des spez.
Gewichts).
Trotz der in jedem
Falle (bes. bei Nieren-
kranken) vorhandenen
Eigenheiten dürften wohl
eine ßeihe allge-
meiner Schlüsse
aus unseren Beobach-
tungen berechtigt sein.
1. Auf der Höhe der
Pneumonie kann durch
vermehrte Chlorzufuhr
keine Steigerung der
Ausfuhr erzielt werden.
Die Ursache der NaCl-
Retention liegt nicht in
primärer Wasserreten-
tion, sondern in den
Eigenschaften der Ge-
webe und des pneumoni-
schen Exsudats, wie das
Verhältnis der Wasser-
zur Chlorausscheidung in
unserem Falle lehit.
2. Bei exsudativen
Entzündungen (Pleu-
ritis) kann im akuten
Stadium die Chloraus-
scheidung normal sein.
33*
512 XXVI. BiTTOäF B. JOGHHAim
. Selbst vermehrte NaCl-Zufuhr braucht nicht zur Retention zu fähren.
Sie kann vielmehr diuretisch wirken. Probepunktion kann die
Resorption des Kochsalzes aus dem Exsudat anregen, während
Dinretin nur auf die Wasserausscheidung wirkt
3. Bei Herzkranken ist die Wasser- und Chlorausfuhr allem
abhängig von der Zirkulation. Die Ausfuhr beider Stoffe kann
aber unabhängig voneinander stattfinden. NaCl> Zulage brancht
auch bei gleichzeitigen Ödemen nicht zur Wasserretention zu fuhren:
vielmehr kann Eochsalzzufuhr chlor- und wassertreibend wirken.
4. Der Chlorgehalt von nicht nephritischen Exsudaten,
Transsudaten und Ödemen ist häufig erheblich höher als
von Ödemen Nierenkranker.
5. Die Stauungsniere vermag hohe prozentuale und gesamte
Chlorausscheidung zu bewältigen.
6. Nierenkranke mit Herzinsufficienz verhalten sich
wie dekompensierte Herzkranke.
7. Bei den übrigen Nierenkranken sind die Verhältnisse
wechselnd. Meist konnten wir gute Chlorausscheidung feststellen.
Die Chlorausfuhr erwies sich in den meisten Fällen, oft in weit-
gehendster Weise, unabhängig von der Wasserausscheidung.
Bei akuter Nephritis mit Ödemen konnten wir durch
Chlorzulage vermehrte Kochsalz- und Wasserausfuhr herbeifuhren.
Kurz darauf sahen wir b e i demselben Kranken ohne Ödeme
verlangsamte NaCl- bei guter Wasserausscheidung.
Bei chronischer parenchymatöser Nephritis sahen
wir bald sehr gute, bald gute, nur selten verlangsamte Kochsalz-
ausscheidüng bei normaler Wasserelimination. Auch hier konnten
wir einmal chlortreibende Wirkung der Kochsalzzulage feststellen.
Bei chronisch-interstitieller Nephritis sahen wir
ebenfalls meist gute Kochsalzausscheidung.
In einzelnen Fällen bestand allein verschlechterte Wa^er-
ausfnhr bei guter Kochsalzdiurese oder Störung der Wasser- und
Kochsalzausfuhr.
9. Aus dem Chlorausscheidungsvermögen der Xiere
läßt sich kein Schluß auf die Schwere und Art der
Nierenkrankheit ziehen.
10. Die primäre Kochsalzretention als Ursache der
Ödeme scheint uns nicht erwiesen, vielmehr sprechen
viele unserer Befunde gegen diese Anschauung. Wahr-
scheinlich bilden Gefäßveränderungen meist die Grundlage für die
Entwicklung der Ödeme. Eine wichtige Rolle spielen Gefäßverän-
I
Beiträge znr Kenntnis des Kochsalzstoflfwechsels. 513
derungen sicher bei gewissen chronischeD, hochgradigen, durch
therapeutische Maßnahmen schwer zu beeinflussenden Ödemen Herz-
und Nierenkranker.
11. Schädigungen als Folge der Eochsalzzula^e
haben wir nicht gesehen.
12. Die moderne Forderung der salzarmen Nahrung,
i^oweit sie nur auf das angeblich gesetzmäßig (oder häuiig) ver-
mindeile Salzansscheiduogsverroögen der Niere Rücksicht nimmt,
ist nach unseren Untersuchuagen meist durchaus unberechtigt, viel-
leicht sogar mitunter unrichtig. Versteht man aber unter salz-
armer Kost eine möglichst schonende Nahrung (reichlich Fett und
Kohlehydrate, wenig Eiweiß und reizende Substanzen mit dadurch
verminderter Wasserzufuhr), so können wir darin nur einen neuen
2)amen für eine alte Sache sehen.
XXVII.
Ans der medizinischen Klinik zn Breslau
(Dir. Geh. Med.-Rat Prof. Dr. v. Strümpell).
Tabes dorsalis, Erkrankangen der Zirknlationsoi^ne
nnd Syphilis.
Von
Marine-Stabsarzt Dr. Max Bogge,
kommandiert sar Klinik
und
Privatdozent Dr. Eduard Müller -Breslau.
Obwohl das Zusammentreffen von Tabes dorsalis mit Er-
krankungen der Zirkulationsorgane, insbesondere mit Aorten-
aneurysma und Aorteninsufficienz, viel erörtert und hinreichend
bekannt ist, scheint es doch, daß Häufigkeit und klini-
sche Bedeutung dieser Kombination noch erheblich unter-
schätzt werden. Zunächst ist es eine bemerkenswerte, aber
wenig beachtete Tatsache, daß meist eine der beiden Er-
krankungen das Symptomenbild völlig beherrscht
So kommt es wohl, daß die Tabes oder die Herz- bzw. Gefaß-
erkrankung, je nachdem der Patient den Internen oder den Neoro-
logen aufsucht, leicht der Beobachtung entgeht. Findet man z. B.
als genügende Grundlage der subjektiven Beschwerden sinnfällige
Zeichen einer Aorteninsufficienz, so bedarf es besonderer Aufimerk-
samkeit, um eine gleichzeitige beginnende bzw. rudimentäre Tabes
nicht zu übersehen, die sich vielleicht nur objektiv durch die
Lichtstarre der entrundeten und differenten Pupillen und durch
Aufhebung der Achillessehnenreflexe verrät. Wenn andererseits
im Rahmen eines ausgesprochenen Krankheitsbildes von Tabes
dorsalis die subjektiven Symptome von selten des Herzens haw.
der Gefäße nur geringfügig sind oder gar, wie das z. B. gar nicht
selten selbst bei schwerer Aorteninsufficienz vorkommen kann, lange
Zeit völlig fehlen, so ist eine genaue perkussorische und auskulta-
torische Untersuchung der Brustorgane nötig, um das komplizierende
Tabes dorsalis, Erkrankungen der Zirknlationsorgane und Syphilis. 515
Herz- bzw. Gefäßleiden rechtzeitig zu erkennen. In Fällen von
Tabes mit Aortenaneurysma können sogar die üblichen physikali-
schen Untersuchungsmethoden versagen, so daß erst die Durch-
leuchtung des Brustkorbes mit Köntgenstrahlen darüber Aufschluß
gibt. Aus denselben Gründen müssen auch die Statistiken der
pathologisch-anatomischen Institute über diese Kombination mit
großen Fehlerquellen rechnen. Wenn der klinische Beobachter bei
Erkrankungen des Gefäßapparates die Diagnose der gleichzeitigen
rudimentären Tabes nicht gestellt hat, so unterbleibt eben ge-
wöhnlich die ErötFnung des Wirbelkanals; außerdem wird für den
Nachweis einer beginnenden HiDterstrangerkrankung das bloße
Auge oft kaum genügen. Wir zweifeln deshalb kaum, daß man
überall, wo man auf die Wechselbeziehungen zwischen Tabes
dorsalis und organischen Erkrankungen der Ereislauforgane in
jedem einzelnen Fall von Herz- bzw. Gefäßerkrankung einerseits
und Hinterstrangdegeneration andererseits genauer achtet, eine
überraschende Häufigkeit des ZusammentreflFens finden wird. Wir
haben z.B. im Wintersemester 1905/06 allein in der
Mäunerpoliklinik unter 22 neu zugehenden Fällen
von Tabes dorsalis 8mal — also in über ^/g der Gesamt-
zahl — deutliche Kennzeichen einesorganischen Herz -
oder Gefäßleidens feststellen können. Wir wollen zugeben,
daß dieser Prozentsatz im allgemeinen zu hoch ist; vielleicht haben
hier zufällige Momente eine Rolle gespielt. An der Hand unseres
ge.samten klinischen Materials müssen wir aber die Häufigkeit
des Zusammentreffens tabischer Symptome mit aus-
gesprochenen organischen Herzfehlern bzw. Aorten-
erkrankungen auf mindestens 10% veranschlagen.
Schon aus dieser Häufigkeit erhellt die klinische Bedeutung der
genannten Kombination. Sie spricht sicherlich nicht für einen
zufälligen, sondern mehr für einen tieferen, ursäch-
lichen Zusammenhang, d.h. für die Entstehung auf der ge-
meinsamen Grundlage gleicher Schädlichkeiten. Die klinische Be-
deutung dieses Zusammentrelfens erschöpft sich nun keineswegs
in Wertvollen Fingerzeigen für die Pathogenese; sie liegt auch
darin, daß solche Kombinationen nicht nur rein symptomatologisch,
sondern auch prognostisch und therapeutisch und damit „praktisch^
wichtig sind (s. u.). Wir sind deshalb der Aufforderung unseres
Chefs, das große Material unserer Klinik in dieser Hinsicht zu
sichten, gerne gefolgt und berichten hiermit über eine Reihe aus-
erwählter Fälle sowie über einige Schlußfolgerungen, die sich
Ö16
XXVII. ROGOB n. MüLLXB
daraus ergeben. Gleich im voraus möchten wir bemerken, da£ ans
langatmige Auseinandersetzungen über die beißumstrittene und noch
immer ungeU)Ste Frage nach den Beziehungen der Syphilis zu
beiden Erkrankungen durchaus ferne liegen. Wir beschranken
uns darauf, auf eine Eeihe klinischer Gesichtspunkte hinzu-
weisen, die sich beim Überblick über unser Material wohl jeder-
mann aufdrängen.
Das Material, auf das mr uns stützen, besteht aus 24 aiig-
erwählten Fillen, die wir zum größten Teil selbst gesehen and
untersucht haben. Die Zahl dieser Beobachtungen würde sich
I '*^
LaQfendei _i ! &: c
Nr.
Alter
Initiftlerscheinnng^en
Be-
1
o
I
00 ^
von selten
g 2 .5 1 des Zirku-
Nä-g^;!^ lations-
„•ä«!2 ^1 Apparates
von Seiten des
Nervensystems
ara Zirknlationsappant
1. C. B.
m. 39 J.
37 J.
Lanzinierende \ Herz nach links nnd obei
Schmerzen, Blasen- verbreitert; hebender Spitzes- <
störang^en. stoß: Pnlsns celer et «Utos.
Lautes diastoL AorteB^^
jr&usch.
Diag.: Aortenio^nffi
cieuz.
2. J. Seh. im.
35 J. 24 J.
I
I
^Maffenkrftmpfe", Herz mach <^n o. Ma
später lanzinierende' verbreitert: stark bebender
Schmerzen, zuletzt Spitzenstoß : Polsns celer d
ErschweniDg der altna.
Stuhl- und Ham-| Dfimpfnng über ob. ^ta^
entleerung. >nnm: diMelbst zwei laateG^
r&usche.
Diag.: Aorteninsnffi*
cienzu. Stenose; Aorten-
auenryama (auch röaitgeB»-
logisch).
3. A. Sk.
m.U2 J.
27 J.
Seit kurzem
Herzklopfen.
Seit 15 Jahren
„Kopfkrftmpfe'* und
„Nervositit** ; seit
kurzem „Magen-
krämpfe''.
4. G. H.
m.
34 J.
33 J.
Seit Vs ^^^^ Seit IJahr Magen-
Herzklopfen, kriisen : seit Vi J^r
Blasenoeschwerden.
Cor magnnm; benehkULf
regeim. Aktion ; nureiiiK'*
Aort.-Ton ; lebhaftes Pi
der recht. Subdavia
Dämpfung : Arterienri]
Pulsus cder et altns.
Diag.: Aortenaneu-
rysma (auch riintgeauJogi^«
Veitreit. Hendaai
leises diaatol. Aorteni
B5ntgendnrchleucbtanx^
verbreiterten AortenmAl
Diag.: Aorteuskleroi
u. Aorteninsufficieit
i
Tabes dorsalis, Erkrankungen der Zirknlationsorgane und Syphilis. 517
wesentlich erhöhen, wenn wir einmal bei älteren Tabeskranken
die gleichzeitige Arteriosklerose und dann auch leichtere Verände-
rungen am Gef&ßapparat (wie unreine oder klappende Töne) sowie
gewisse vielleicht funktionelle Störungen, wie reine, aber dauernde
Pulsbeschleunigungen berücksichtigt hätten.
Um eine gute Übersicht zu ermöglichen, geben wir zunächst
unser Material in Form der nachstehenden Tabelle wieder; auf
einzelne Fälle, die eine besondere Berücksichtigung verdienen,
kommen wir späterhin ausführlicher zurück.
nd
am Nervensystem
Lues
Sonstige
Schädlich-
keiten
Besonder-
heiten
Lichtstarre, differente Pu-
len; fehlende Sehnenreflexe
den Beinen : Hypotonie ;
mberg +: Rumpf anästhe-
n.
Verzogene lichtstarre Pu-
len. Fehlende Patellar-
i AchUlessehnenreflexe.
Rektnmstenose.
Rechte Pupille lichtstarr,
ke fast lichtstarr . 1. ) r. £r-
shene Patellarrefl. Leichte
^senstömnfifen. Tabischer
ttfnß beiders.
Rechte Pupille > linke:
ie lichtstarr, die linke ent^
idet. Gesteigerte Patellar-
. Hypotonie! Romberg -[-;
Q Babinski, keine paralyt.
aptome.
Mit 24 Jahren
Geschwür am
Penis. Keine
Hg-Knr. Frau
1 Abort.
Als Kind
Typhus (?).
Kein Ge-
lenkrheuma-
tismus.
Mit 20 Jahr. Vor-
hanti^eschwür
(kein Ausschlag?)
3 — 4 Jahre später
eine Hg-Knr.
Frau steril.
Kein Ge-
lenkrheuma-
tismus.
Mit 22 Jahren
Lues; 1 Hg-Kur.
Frau 2 Aborte.
Kein Ge-
lenkrheuma-
tismus.
Mit 20 Jahren
Ulcus am Penis;
keine spez. Kur.
N i e Gelenk-
rheumatis-
mus.
Bis zuletzt
guter Berg-
steiger.
518
XXVII. RoaoB n. Müller
Geschlecht
z Zt. der
klinischen
Beobacht. ^
bei Krank- »
heits- '^
beginn ;
Initialer schein nn gen
Be-
Laufende
Nr.
von Seiten
des Zirku- ▼<>» ««i^en des
lations- Nervensystems
apparates '
am Zirkulationsappanit
5. 0. W.
m.
36 J. 35 J.
1
Seit 'U Jatr
Herzklopfen.
Seit Vt Jahr Blasen- Beschleunigte fierzaküo&>
störangen. unreiner I. Ton an der Spitze:
auffallend rigide Radiiltrte-
rien!
' Diag.: Arteriosklerose
mit Beteiligung de»
Herzens.
6. H. Seh. m.
41 J.
41 J. Seit «Wochen
Atembe-
schwerden.
Großes Herz! ZweiAortei-
Igeräusche (diastol. > sjstoL-.
Diag.: Aorteninsnffi-
cienz — Stenose.
7. W. M.
m.
27 J.
ö. £. Li.
w. 43 J.
27 J. { Seit kurzem
Stechen in
. Brust und
Rücken,
I Husten und
Auswurf.
33 J. ! SeitIO J.
Herzbe-
schwerden.
i Seit 1 Jahr „zie-
ihende*' Beinschmer-
|zen. Gürtelgefühl.
jBlasenst^rungen.
{Starke Vergeßlich-
keit, leichte Gemüts-
erregbarkeit.
II. Aortentom akzeatmen:
unregelmäßige Henaktkn;
PulsQS celer.
ROntgendurchlencht : o. IL
Diag. Myokarditis.
l
I Herz nach links verbreiL;!
hebender Spitzenstoß; akiCBL]
IL Aort.-Ton. Voller ^\
spannter Puls (ohne AlbniLj
im Urin).
Diag.: Aortenskleros<
1
9. G. Seh.
m. 49 J.
46 J.
Großes Herz (aoch
genologisch) und Aortn^
tation. Leise Töne, m
mäßige Aktion; kleiner
seit 2 Jahren Im-:systol. Spitzengeränscb. ^
potenz. I Diag.: Myokarditl
cyl. Erweiterung *<
iBrustaorta.
j Seit 3 Jahren
I Brust- und Bücken-
' schmerzen, wieder
holt Doppeltsehen ;
10. Fr. B.
m. ' 35 J.
36 J.
Vor 1 Monat im Großes Herz. Laatcs
Anschluß an schwere stol. und leises systol. A«
körperl. Arbeit all- geräusch. I^dlsns oder,
mählich zunehmende Diag.: Aorteninsul
Schwäche der links- cienz und Stenose,
seiti^en Extrem, mitj
A meisenkriebeln u i
Sprachstörung bei
freiem Sensorium.
Tabes dorsaiis, Erkrankungen der Zirknlationsorgane und Syphilis. 519
fnnd
1
i iSnilRtiarA
am Nervensystem
an den ttbrigen
Organen
Lues 1 Schädlich-
keiten
Besonder-
heiten
1
Lichtstarre Papillen. Er-
loschene Patellar- nnd Achill.-
Befiexe. Romberg +.
(
1
Mit 23 Jahren
Geschwür am
Penis.
Potus und
Rauchen
negiert.
Rechte Papille > linke;
Patellarrefl. erloschen; Hypo-
tonie. 1
Mit 25 Jahr. Lnes. Vor 8 Jahren
Frau 2 Aborte. Gelenk-
rhenma-
tismns.
Rechte Pupille > liuke;
rechte reagiert träger auf
Licht als linke. Stark ge-
steigerte Patellar- und Achill.-
Refiexe, dabei Hypotonie ! Leb-
hafte Bauch deckenreflexe.
Alte Unterschenkel' Mit 22 Jahr. Lues. ,
geschw ursnarben
links.
Rechte Pupille > linke; Narbe im linken 2 mal verheirat.
beide völlig lichtstarr und Gaumenbogen.
hst konverirenzstarr. Blasen-
störuDgen. Trotz starker Bein-
hypotouie sehr lebhafte Patell.-
tmd Achill. -Reflexe. Kälte-
byperästhesie an Unterschen-
keln und Füßen.
Gürtelgeftthl usw.
Psychische Veränderungen.
In der 1. Ehe
1 Frühgeburt,
2 Aborte. In der
2. Ehe 2 Aborte.
Kein normaler
Partus. Haut-
ausschlag wäh-
rend 1. Ehe.
Mit 18 Jahr.
Typhus.
Vor 6 Jahren
einige Zeit
starker
PotlLS.
1. Mann tu-
berkulös,
starb an
Meningitis.
2. Mann
leidet an
Rheumatis-
mus.Nervöse
Belastung
(auch
Geistes-
krankheit).
Neurasthen. Allgemeinzu-
tand. L. auf Licht träge reag.
i^pille > als rechte. Schwache
'atellar- und Achill. -Reflexe.
Ma.senst5rungen. Fleckweise
Cnmpfhyp.- bzw. -anästhesien.
mrtelgefühl.
Leukoplakie im
Nacken. Bohnen-
große harte indolente
Drüsen in Leisten-
beugen. Kleinere
Drüsen in d. Ellen-
beugen und Achsel-
höhlen. Thrombose
der Ven. crural. sin.
Beiderseits infiltrie-
rend. Prozeß in den
Lungenspitzen; stär-
kerer Hilusschatten
rechts.
Mit 37 Jahren
Lues ; damals
1. Schmierkur;
2. mit 48 Jahren,
Mit 19 Jahr.
Ulcus moUe,
mit 24 Jahr.
Gonorrhöe.
Früher
starker
Raucher u.
Potator.
Hefl.. Pnpillenstarre ; L>r.
amretentioo. L. spastische
arese inkl. Facialis (Throm-
520
XXVII. BoooE a. MüUiBR
Alter
Laufende
Nr.
C N Co ^^ »
• IM a\ •>.«
Initialerscheinnngeii
Be
von Seiten
des Zirkn-
lations-
apparates
von selten des
NerTensystems
am Zirkidatioosapparat
11. J. H. Im. 37 J.
I
34 J. , Seit 1 Jahr ' Seit 3 Jahr. ^Bein-
Gefühl, „daß schmerzen", Gürtel-
das Herz
stärker ar-
beitet".
eefühl, Kopfweh,
BlasenstÖrnngen,
Unsicherheit beim
Gehen.
Großes Hurz: stark be-
bender 8pitzenstoU. Lames
systol. n. leises diastol. Aorten-
geräusch (auch über ob. Ster-
nnm). Polsns celer; rigide
Arterien.
Diag.: Aortensklerost
[mit AorteninHufficieDE
n. Arteriosklerose.
12. G. M. ' ra. 48 J. 38 J.
Seit 2 Jahren! Seit 10 Jahren Großes Herz, namentl. Back
Herzklopfen, rhenroat. Glieder- Hnks; stark heb. Spitzeistoli.
Kurzatmig- schmerzen, seit Vs Über ob. Stemum zwei Ge-
keit, zeit- Jahr Gürtelgeftthl. rausche. RGntj^n: breiter
Aortenscbatten.
Dias^.: Aortensklerose
mit Dilatation d. Aorta.
Aorteninsnfficienz und
Stenose.
weise An-
schwellung
der Beine.
13. H. B. I w. 46 J.
45 J.
Seit 1 Jahr
Herzklopfen,
Atemnot,
Beinödeme.
Seit 1 Jahre Blitz-
schmerzen, Unsicher
heit beim Grehen,
Parästhesien, Seh-
schwäche links ,
Doppeltsehen.
14, K F. m. 55 J.
15. A. B.
Sehr großes Herz. Übcrf
Aorta u. ob. Stemum kvizai
syatoi. u. langgezogenes dia*
stoliscbes Gerftusch.
Autopt. Diag:.: Aortu-
sklerose, Aorteuinsaf-
ficienz u. Stenose. Cir-
cumskript Aortenanes-
rysma. Degeneratioadi-
po8. gravis mj^ocardii.
Vor 25 Jahr. Blitz- Herz namentl. nach fisb
schmerzen in dengroß; stark heb. SpItzenMii
Beinen; seit d. ZeitjÜber Aorta zwei Gefftuelie-
r. Pup. > linke und iPulsns celer etaltus: freqoaCL
r. Ptosis. Seit 4 J. Rigide Hadialarterien.
wesentL Verschlech-j Diag.: Aorteninssf-
terung, Schwäche^.ficienz u. Stenose. Ar*
unsicherer Gang, terio Sklerose.
Parästhesien, Gürtel-
Sefühl, Blasen- und!
[astdarmstCrungen, '
Doppeltsehen. j
m.
42 J. 25 J.
Seit 5 Jahren Seit ca. 17 Jahren
Brennen in i rheumatoide Schmer-
zen bei Witterungs-
wechsel ; seit 2 Jahr.
Rückenschmerzen,
seit kurzem Geh-
störungen und Ham-
beschwerden.
der Brust
und Kurz-
atmigkeit.
Großes Herz. Laote
stol. Aorteogerausch, di
I. Ton. Pnlsus celer.
Diag.: Aorteninssfj
ficienz.
Tabes dorsalis, Erkranktmgen der Zirkulationsorgane und Syphilis. 521
fnnd
am Nervennystem
an den übrigen
Organen
Lnes
Sonstige
Sehädlich-
keiten
BesMider-
heiten
ment. Geschwürs-
Enge, sehr träge reagier.
Pupillen. Erloschene Patell.-
uia Achill. - Reflexe. Rom-
berg +. Deutliche Bein-, narben. Große, derbe
leichte Armataxie. Anästhet' Leber.
Rnmpfflecke.
Am linken Unter-
Mit 22 Jahren Starker
sehenkei brann pig- selbstfaeilendes Raucher;
Geschwür am nie Gelenk-
Penis j rheuma-
tismus.
Pupillen entrundet, r. < 1.,
lichtstarr. Optikusatrophie bei-
ders. Fehlende Sehnenreflexe
an den Beinen. Leichte Ex-
tremitatenataxie.
Mit 22 Jahren N i e Gelenk-
Ulcus am Penis; rheuma-
keine Hg-Kur. tismus.
Frau 1 Totgeburt,
8 Kinder, die
größtentls. einen
Hautaasschlag
hatten, keine
gestorben.
Sehr enge, lichtstarre Pu-
pillen. Links Optikusatrophie.
Komberg ->-. Starke Bein-
ataxie ; taumelnder Gang. Nur
lediter Patellarreflex noch
auslösbar. Grobe Sensibilität«-
Störungen.
Hydrothorax.
I 2 Aborte im ;
3. Monat (mit ,
1^27 u. 29 Jahren).'
Bechte Pupille > linke;
beide lichtstarr ; schlechte Kon-
Tergenzreaktion. Rechts Pto-
sis und Intemusparese. Feh-
lende Sehnenrefl. and. Beinen.
Hochgradige Ataxie ; grobe
Xnrpnndnngsstörungen. Harn-
nnd Scnhlinkontinenz.
Lichtstarre Pupillen. Feh- Große, etwas der bei ?
lende Patellarreflexe. Gürtel- Leber. Zuletzt leicht. Mit 22 Jahren
Isthi
hl; umschriebene Byper-
hesien.
Ödeme und Spuren Schanker und
von Albumen. I 1. operierter
Bubo.
Mit 18 Jahr
Tripper.
Als Soldat
Tripper.
522
XXYII. RoooB n. Müllbr
T
Laufende ^
Alter
Initialersch einungen
Nr.
pS * :ä •« CS ' ^0^ Seiten '
. 'S I 2 2 .5 . des Zirkn- von selten des
.*£ .2 ^ K^ s bt lations- Nervensystems
apparates
Be-
Nfl
•r* •^ .o
ja
am Zirknlationsapparat
16. E.Sch.l w. I 53 J. 40 J. Seit mehreren
Jahren Herz-
klopfen,
Kurzatmig-
keit, später
Stenokardi-
sche Anfälle.
Seit 13 Jahren Par
ästhesien, später Un-
sicherheit in den
Reinen , ,.Blasen-
krämpfe", Blitz-
schmerzen.
Diagnose: AortenaDen-
r y s m a ; röntgenologisch erbelh
liche sackartige Ausbuchtveg
des Aortenhogens; außerdem
Aortensklerose. Aortei-
iusufficienz; großes Herz.
17. A. H. ! m. 58 J. 54 J.
iVor 4 Jahren
während des
Gelenkrheu-
matismus
Herzklopfen
und Bflcken-
schmerzen ;
' seit 1 Jahr
wieder die-
selben Be-
schwerden
u. Ödeme. .
Sehr großes Berz fbes.]M£k
rechts) ; stark hebend. Spitzen-
stoß; leises systol. Geraasch:
.Puls klein, unregelm. Rüntgei-
befund: K. seitl. von Aorta
lim oberen Teil großer scbaif-
be^euzt. pulsierend. Schatte!:
bei schräger Darchleachtin^
hier nach vom circumskripte
pechschwarze Prominenz.
Diag.: Myokarditis:
Aneurysma d. Art. anv-
n3rma;" Aortensklerose:
Mitralstenose?
18. E. Sp., w. ; 37 J. 22 J.
Vor 15 Jahr, rheu-
matoide Schmerzen;
vor 5 Jahr, schmerz-
lose Anschwellung
des 1. Kniegelenks
ohne Bewegungs-
behinderuu^ ; seit]
2 Jahren Gedächtnis- '
abnähme. Parästhe-
sien. Gürtelgefühl :
Abnahme des Seh-
vermögens. Doppelt-
sehen. Magenkrisen ?;
Lautes systol. Geräa9(Ji%ber
oberem Sternum: laut kl^
pend. IL Aortenton: LSpit«i-
ton unrein.
Diag.: Aorten Skle-
rose.
19.K.Sch.'w.i48 J. 41 J.
N i e Herz- | Seit 7 Jahren lan-
beschwerden.'zinierende Schmer-
zen ; später Parästhe-
sien, Gürtelffefühl,
Schwäche und Un-
sicherheit in den
Beinen ; seit einigen
Monaten kann Pat
weder gehen noch
stehen.
Großes Herz <besoB4efi
nach rechts); diastol. Aom-
geräusch; uhregelmäCI. Hea*
aktion; rigide Arterien.
Diag.: A r terioskle-'
rose und Aorteninstf-
ficienz: Mitralstenosef
20. B. S.
m.i 47 J. 30 J."
Seit 17 Jahren | Herzdämpfung nach
Magenk risen (?), die , verbreitert : leises diasto'
vor ca. 8 Jahren ver-l Aortengeräusch. Regelm
schwanden; seitdem kräftiger Puls.
Parästhesien und Diag.: Aorteninsa
Gefühl von Völle u. ficienz.
Schwere im Leib, i
Tabes dorsalis, Erkranknngeii der Zirknlationsorgane nnd Syphilis. 523
fnnd
am Nervensystem
an den übrigen
Organen
Lnes
Sonstige
Schädlich-
keiten
Besonder-
heiten
Linke Papille > rechte ; bei; Varicen an den
gnter Konvergenzreaktion die Unterschenkeln,
erstere Hchtstarr, die letztere |
träge reagierend. An- bzw.
liypästhet. Zonen am Rumpfe;'
lanzinierende Schmerzen, Bla-
sen-Mast darmstörang ; erhalt. I I
Sehnenreflexe. Bomberg +. , t
Beil. Pnpillenstarre links;; Leichter allgem.i ?
rechts sehr träge Lichtre- Hydrops; starke , Frau 1 Abort
aktion: Patellarreflexe fehlen; Beinödeme; Ge- i
Romberg positiv ; leichte Bein-|sicht8cyanose.
ataxie.
jln den 90er Tuberkulose
I Jahren „Ge- in der
schwur" am
rechten
Unter-
schenkel.
I
Vor 4 Jahren
Gelenk-
rheuma-
tismus
(28 Wochen).
I
Familie.
Ungleiche Pupillen; Abdu-,
ieusparese rechts: Liehtstarre
rechts; fehlende Patellarrefl. ;
tcsgesprochene Bein-, leichte
üniataxie: Hypotonie; Bom-|
lerg positiv; grobe Empfin-,
lungsstfirnngen : Harnverhal-
nng ; Demenz ; Silbenstolperu;
Pab. Artropathie des linken
Kniegelenks. .
Diag. Taboparalyse.
V
1 Abort
Mit 22 Jahr.
Typhus ab-
dominalis
Mutter und
1 Schwester
an Apoplexie
verstorben.
Rechte Pupille entrundet. Anämie; Lippen- 1
eide licht-, die rechte auchcyanose^ harte Drü-,
Mivergenzstarr. Hochgradige, sen am Hals und in
einataxie und Hypotonie.! den Achselhöhlen. |
oinpf-, Hyp- bzw. Anästhe-
bn. Grobe £rapfindungs-| '
iSnuigen an den Beinen ; feh- |
nde Sehnenreflexe. '
Pat. war
„Siebeu-
monatä-
kind."
Rechte Pupille weit (Iri- Drüsen in Achsel- Mit 17 Jahren
Jitomie. Comealtrübungen : und Leistenbeugen. Ulcus penis.
ich Scharlach!) Linke Pu-' Unterschenk elnar- (Jodkalibehand-
[Je eng, lichtstarr. Fehlende ben. Große, leicht lung).
itellarreflexe. Gürtelförmige druckempfindliche
impfanästhesie. Leber.
I
Mehrmals
Pneumonie.
Nie Gelenk-
' rheuma-
tismus.
Schwere
körperliche
Arbeit
524
XXVII. RoooE n. MOlleb
•»^
ja
Laufende
M
ja
Nr.
4?
o
Alter
'«.S'*?' S 4, s
"o «3 . qa "2 a
Initial er sc h ei niingen
Yon Seiten
des Zirka-
lations-
apparates
B^
Yon Seiten des
Nervensystems
am Zirknlationsapptnt
21. J. L.
Vor 2 Jahren
Herz-
Rchmerzen,
Lnftmangel,
Beinödeme.
Parftsthesien an Herz groB (besonders neh
Händen und Füßen.!links\ hebend. Spitsensniii
Höhe der 3. Rippe diunL
Geränsch- Pnlsns oder et il-
tns; deutl. Kapillarpok
Diag.: ÄorteniDiif-
ficienz.
I
22. ß. Kr. w. 47 J. ' 37 J.
Vor 10 Jahren be-
ginnende Unsicher-
heit beim Gehen,
Blitzschmerzen; vor
4 Jahren 8 Wochen
lang plötzlich auf-
tretende rechtsseit.
Armlähmnng; vor
8 Jahren plötzlich
ebenfalls mehrere
, Wochen dauernde
Lähmung des linken
I Armes. Vor 1 Jahre
r. Ptosis. (Lähmungs-
erscheinungen auf
Jodkali schnell
•zurückgehend!) Zu-
letzt Gürtelgeftthl,
Blasenbeschwerden.
Etwas vergröfierte Heu-
dämpf ung; Dämpfuo^ »k
über ob. Stemom; hekeir
jlktus; unreiner I. AorteiM.
ILAortenton. akzentuiertkih
gend. Sehr rigide CaroDki
rechte beträchtlich erweioft
Röntgen: stark Tör^prii-
gender Arcus aortae; desl
Pulsation des 1. Rande».
Diag.: Aortenaneu-
rysma; aneurysmat. Er-
weiterung der rechi«!
Carotis; ArtcrioskU-
rose.
23. J. St. w. 43 J. I 39
J. iVor 4 Jahren
Stiche in d.
linken Brust-
seite; Kopf-
schmerzen,
häufiges Auf-
stoßen, ge-
lej?entl. Er-
brechen.
Darauf Besse-
rung. Vor
3 Jahren
häufige Be-
klemmungs-
gefühle auf
der Brust,
zuletzt stär-
kere Kurz-
atmigkeit.
Etwas später lanzi- Grottes Herz. Uber.\rttt
nierende Schmerzen, langgezogenes diastoL n
darauf Gürtel- leises systol. Geräusci ^w-
schmerzen. nale Dämpfung. RöBti;«i:
Mächtige VerbreiteniDg *»
Mittelschattens, besond. saA
rechts.
, Diag.: AorteniasH'
Ificienz; zylind. Aortfi*
aneurysma.
I
Tabes dorsalis, Erkrankungen der Zirknlationsorgane nnd Syphilis. 525
ind
am Nervensystem
an den übrigen
Organen
Sonstige !
Schädlich- i
I
keiten '
Besonder-
heiten
Lichtstarre Papillen.
Kleine , harte
Achseldrüsen. Starke
Beinvaricen.
Deutliche Bein- , leichte
xmataxie. Eomberg positiv,
ichtstanre Pupillen. Fehlende
ehnenreflexe an den Beinen,
ensibilitätsstörungen.
Myoma uteri.
1 Abort; keine
Kinder.
Rechte Pupille weiter als, Wanderniere rechts.
nke, beide lichtstarr. Grobe Enteroptose.
Impfindungsstörungen , auch'
eckweise am Eumpfe. Achill.-
leflexe fehlen, ebenso der
nke Patellarreflex. Parästhe-
ien. Singultus. Neuropathi-
eher Allgemeinzustand.
1 Totgeburt.
Mit 11 Jahr.
Typhus.
N i e Gelenk-
rheuma-
tismus.
Mit 22 Jahr.
Tripper.
Reichlicher
Alkohol-
genuli.
Mann plötz-
lich an Herz-
schlag ge-
storben.
Mit 15 Jahr.
Typhus.
Deatsches Archiv f. kliii. Medizin. 89. Bd.
34
524
XXVII. ROGGB n. MüLLBR
Lanfende
Nt.
4^
.£3
Xi
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Alter
« S -^
M
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Initialerscheinung^en
von Seiten
des Zirku-
lations-
apparates
Be-
von selten des
Nervensystems
am Zirknlationsappant
21. J. L.
m.
42 J.
40 J.
Vor 2 Jahren
Herz-
Rchmerzen,
Lnftmangel,
BeinMeme.
Parftsthesien an
Händeji und FUßen.
Herz groß (besonders mcb
links), hebend. Spitzenstofi; m
Höhe der 3. Rippe duätoL
Geräusch. Pulsua oeler et al-
tns; deutl. Kapiliarpnls.
Diag.: Aorteninsof-
ficienz.
22. ß. Kr. w.
47 J.
37 J.
23. J. St. ! w. 1 43 J.
Vor 10 Jahren be-
ginnende Unsicher-
heit beim Gehen,
Blitzschmerzen; vor
4 Jahren 8 Wochen
lang plötzlich auf-
tretende rechtBseit.
Armlähmnng; vor
3 Jahren plötzlich
ebenfalls mehrere
Wochen dauernde
Lähmung des linken
Armes. Vor 1 Jahre
r. Ptosis. (Lähmungs-
erscheinungen auf
Jodkali schnell
zurückgehend!) Zu-
letzt Gürtelgefühl,
Blasenbeschwerden.
Etwas vergrößerte H«-
dämpf ung; Dämpfung aati
über ob. Stemnm: hebeste
Iktus; unreiner I. Aorteow,
II. Aorten ton, akzentmert.kint-
gend. Sehr rigide Caroudoi,
rechte beträchtlich erweitert
Röntgen: stark Torspria-
gender Arcus aortae; dcntl
Pulsation des 1. Randes.
Diag.: Aortenaneu-
rysma: aneurysmat Er-
weiterung der rechte!
Carotis; Arterioikl«-
rose.
39 J.
Vor 4 Jahren
Stiche in d.
linken Brust-
seite; Kopf-
schmerzen.
häufiges Auf-
stoßen, ge-
lesfeutl. Er-
brechen.
Darauf Besse-
rung. Vor
3 Jahren
häufige Be-
klemmungs-
gefühle auf
der Brust,
zuletzt stär-
kere Kurz-
atmigkeit.
Etwas später lanzi-
nierende Schmerzen,
darauf Gürtel-
schmerzen.
Großes Herz. Cb» A««
langgezogenes diastol w
leises systol. Geräusch- S»
nale Dämpfung. Rösue«
Mächtige Verbreiterniig i|
Mittelschattens, besond. M
rechts. ,
Diag.: Aorteninsttf*
ificienz; zylind. Aortei
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Tabes dorsalis, Erkrankungen der Zirknlationsorgane und Syphilis. 525
fand
am Nervensystem
an den übrigen
Organen
Sonstige
Schädlich-
keiten
Besonder-
heiten
Lichtstarre Papillen.
• Kleine , harte
I Achseldrüsen. Starke
Beinvaricen.
Deutliche Bein- , leichte
Armataxie. Homberg positiv.
Licfatstarre Papillen. Fehlende
Sehnenreilexe an den Beinen.
Sensibilitätsstörnngen.
Mvoma uteri.
1 Abort; keine
Kinder.
Hechte Pupille weiter als, Wanderniere rechts.
iBke, beide lichtstarr. Grobe Enteroptose.
Bmpfindnngsstorungen , auch
leck weise am Bumpfe. Achill.-
Keflexe fehlen, ebenso der,
inke Patellarreflex. Parästhe-
ien. Singultus. Nenropathi-<
«her Allgemeinzustand. |
V
1 Totgeburt.
Mit 11 Jahr.
Typhus.
N i e Gelenk-
rheuma-
tismus.
Mit 22 Jahr.
Tripper.
Reichlicher
Alkohol-
genuü.
Mann plötz-
lich an Herz-
schlag ge-
storben.
Mit 15 Jahr.
Typhus.
Deatsches Archiv f. klin. Medizin. 89. Bd.
34
526
XXVII. RoooE u. Müller
Laufende <
Nr.
Alter
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I I :a ^ 'Ä »^
Initialerscheinungen
Be-
von Seiten
des Zirkn-
lations-
apparates
von Seiten des
Nervensystems
am Zirknlationsappanc
24. J. Fr. m. 61 J. 1 61 J. Etwa 5 Monate vor, Kein wesentlicher perkns-
dem Tode aus schein- sorischer Herzbefund, aber
bar voller Gesund- autoptisch,
heit heraus Schlag- Aortenaneurysma,
anfall mit rechts-
seitiger Lähmung,
Doppelsehen, rechts.
Taubheit , Schling-
beschwerd., Zwangs-
weinen. Nach vor-
übergehender Besse-
rung neuer Schlag-
anfal] ; außerdem
Kopfweh, blitzartige
Crelenkschra erzen,
Blasenstörungen.
Die Ergebnisse dieser tabellarischen Übersicht lassen sich
nun hinsichtlich des objektiven Befundes an den Kreislauforganen
dahin zusammenfassen, daß weitaus die häufigste Er-
krankung, die sich mit Tabes dorsalis verband,
ein Aortenfehler, und zwar die Aorteninsufficienz
bzw. Aorteninsufficienz-Stenose, war. Die Kombination
von Tabes und Aortenklappenfehlern fand sich in fast % der
Gesamtzahl aller Fälle (15 : 24). Dies entspricht durchaus früheren
Literaturangaben, die stets von neuem das besonders häufige Zu-
sammentreffen gerade dieses Klappenfehlers mit der Hinterstrang-
erkrankung betonen. Becht groß ist auch die Zahl der Aorten-
aneurysmen in unserer Statistik; sie überschreitet Vs s^l'^^
Fälle (9). Bemerkenswert ist, daß sich die letzteren niemals isoliert
fanden, sondern stets in Verbindung mit anderweitigen schweren
Erkrankungen des Gefäßapparates und zwar gewöhnlich mit der
eben erwähnten Aorteninsufficienz. Meist lagen keine sackförmige,
sondern mehr spindelförmige Erweiterungen vor nach Art jener
stärkeren Dilatationen, wie man sie so häufig gerade bei Schluß-
unfähigkeit der Aortenklappen auf der Grundlage einer sog. Aorten-
sklerose findet. In einzelnen Fällen handelt es sich um aneu-
rysmatische Erweiterungen der Carotis bzw. Ano-
nym a, sowie um die klinischen Erscheinungen einer reinen Myo-
karditis und um erhebliche Arteriosklerose in fast
noch jugendlichem Alter (27 bzw. 35 Jahre).
Tabes dorsalis, Erkrankangen der Zirkulationsorgane und Syphilis. 527
fnnd
am Narren System
an den übrigen
Organen
Lues
Sonstige
Schädlich-
keiten
Besonder-
heiten
Symptomenkomplex einer
anfänglich rechtsseit., dann
4oppelseit. Briiekenaffektion.
Pupillen diflFerent, r. > l, eng;
bei erhaltener Konvergenz-
reakt. TöUig licht starr. Feh-
lende Achillessehnen reflexe,
ichwache Patellarreflexe. Lan-
linierende Schmerzen in den
Beinen.
Anamnestisch
nicht nachweis-
bar, autoptisch
anscheinend
syphilitische Er-
krankung der
Basilararterie.
Sehr bedeutsam ist der Befund, daß diese schweren organi-
schen Erkrankungen der Zirkulationsorgane nur in etwas über der
Hälfte der Fälle (58,3%) sich durch wesentliche subjektive Be-
schwerden (namentlich Herzklopfen, Beklemmung und Dyspnoe)
äußerten; in dem großen Eest der Fälle T^ar der Herz-
fehler geradezu „latent". Ein beweiskräftiges Beispiel ist
u. a. der 2. Fall unserer Tabelle. Hier klagte der 35 jährige Mann
nur über ,, Magenkrämpfe", lanzinierende Schmerzen sowie Blasen-
xind Mastdarmstörungen, während er trotz einer ausgeprägten
Aorteninsufficienzstenose und eines Aortenaneurysmas keinerlei
Herzbeschwerden hatte, ja sogar noch zur Zeit der Untersuchung
^in guter Bergsteiger war. In diesem Nachweis der überaus
häufigen „Latenz" der Herzbeschwerden trotz erheblicher organi-
scher Erkrankung des Gefäßapparates liegt u. E. eine dringende
Mahnung, in allen Fällen von Tabes dorsalis, auch beim
Fehlen entsprechender subjektiver Krankheits-
-erscheinungen, dem Zustand des Herzens vollste
Aufmerksamkeit zu schenken und im Zweifelsfall
-eine Röntgendurchleuchtung vorzunehmen. Das völlige
Zurücktreten von Herzerscheinungen in sehr zahlreichen Fällen
von Tabes dorsalis mit gleichzeitiger schwerer Erkrankung des
-Gefäßapparates erklärt sich wohl großenteils daraus, daß das
Nervenleiden mit besonderer Vorliebe gerade mit der Aorten-
insufficienz zusammentriJFt, demjenigen Klappenfehler also, der er-
34*
528 XXVII. RoQGB n. Müller
fahrungsgemäß oft lange Zeit völlig latent bleiben, aber anderer-
seits auch plötzlich zu bedrohlichen Krankheitserscheinungen, ja
zum raschen Exitus führen kann.
Es liegt deshalb der Gedanke nahe, daß die gelegentlicheu
plötzlichen Todesfälle im Verlauf der Tabes dorsalis
meist weniger mit dem angeblichen Versagen degenerierender bnl-
bärer Zentren, als vielmehr mit einer plötzlichen Herzinsufficienz.
bei komplizierender Muskel- oder Klappenerkranknng und vielleicht
sogar mit der Ruptur eines Aneurysmas in Beziehung stehen. Die
vorherrschende Bedeutung rein nervöser Ursachen wird in solchen
Fällen jedenfalls schwer zu beweisen sein; möglich ist es aller-
dings, daß ein Versagen des organisch erkrankten Herzens bei
komplizierender tabischer Erkrankung nervöser Zentren um so
leichter eintritt.
Andererseits sehen wir in dem Nachweis der überraschenden
Häufigkeit organischer Herz- und Gefäßerkrankungen bei der Tabes
dorsalis einen genügenden Beweis für die Anschauung, daß man
dann, wenn sich im Verlauf derselben subjektive Krankheits-
erscheinungen von Seiten der Kreislauforgane bemerkbar machen,
auch beim Fehlen sinnfälliger objektiver Veränderungen in
erster Linie nicht an rein nervöse Ursachen, sondern
an eine gleichzeitige „organische'* Grundlage, d. h. an
ein beginnendes organisches Herz- und Gefäßleiden zu denken hat.
Die allergrößte Vorsicht ist z. B. sicherlich geboten bei der An-
nahme einer sogenannten tabischen Herzkrise bzw. der nervösen
Angina pectoris. Heftige Herzschmerzen, namentlich in Form von
anfallsweise und mit schwerem Beklemmungsgefühl auftretenden
Beschwerden, konnten wir übrigens selbst in unseren Fällen mit
Aortensklerose und Aorteninsufficienz nur selten nachweisen; zudem
war manchmal bei unbestimmten Brustschmerzen nicht mit voller
Sicherheit zu entscheiden, ob dieselben mehr durch die Hen-
erkrankung oder durch das Nervenleiden bedingt waren. Es scheint
also, daß die echte Angina pectoris bei jenen Erkrankungen der
Aorta und deren Klappen, die sich mit Tabes verbinden, keineswegs
häufig ist.
Was nun weiter die möglichen Entstehungsursachen der
organischen Erkrankungen des Zirkulationsapparates bei Tabes
dorsalis betrifl't, so lehrt ein Blick auf jene Rubrik, die über den
anamnestischen Nachweis von Lues und der dafür sprechenden
Anhaltspunkte berichtet, daß eine frühere Syphilis in der Vor-
geschichte unserer Fälle auffällig häufig nachweisbar ist; in
Tabes dorsaliS; Erkrankungen der Zirkulationsorgane und Syphilis. 529
fl Fällen müssen wir sie mit Sicherheit und in 10
anderen mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen.
Wir fanden die Syphilis also in ungefähr V.., der Gesamt-
zahl, mithin in einem Prozentsatz (79,15%), der den meisten
guten Statistiken über die Häufigkeit der Syphilis bei Tabes
-dorsalis entspricht. Daß der von uns gefundene Prozentsatz wolil
noch zu niedrig ist und sich demgemäß der Gedanke an die ätio-
logische Bedeutung der Lues in allen Fällen aufdrängen kann,
hängt sicherlich mit den bekannten Schwierigkeiten des anam-
nestischen Syphilisnachweises zusammen. Vielleicht hat es auch in
unseren Fällen hier und da an der nötigen Sorgfalt bei der Er-
hebung der Vorgeschichte gefehlt; außerdem fanden wir aber, und
<las ist viel wichtiger, den alten Satz bestätigt, daß auch wahr-
heitsliebende Patienten über eine tatsächlich vorhandene Ansteckung,
sowie über deren nächste Folgezustände keinerlei Aufschluß geben
konnten. So konnten wir auch bei sämtlichen Kranken weiblichen
'Geschlechts in keinem einzigen Fall den Zeitpunkt einer sjphili-
tischen Infektion genauer festlegen (Sitz des Primäraifekts an ver-
borgenen Stellen, wie in der Tiefe der Vagina usw.I). Ein be-
tsonders klares Beispiel für die Schwierigkeit des Syphilisnachweises
ist ferner der letzte Fall der Statistik. Hier vermochte der in
seinen Angaben sonst durchaus zuverlässige Mann trotz eindring-
lichen und wiederholten Befragens gerade nach dieser Richtung hin
über eine frühere geschlechtliche Ansteckung nichts auszusagen, ob-
wohl späterhin das Bindeglied zwischen der Tabes dorsalis und dem
Aortenaneurysma in Form einer syphilitischen Erkrankung von
Himgefäßen autoptisch gefunden wurde. Andererseits müssen wir
auch zugeben, daß in vielen Fällen unserer Statistik der Nachweis
der früheren Syphilis nicht mit einwandsfreier voller Bestimmt-
]ieit zu führen war, sondert sich stützte auf das Vorhandensein
früherer verdächtiger Geschwüre an den Genitalien, gehäufte Fehl-
lind Totgeburten, sowie andere die Diagnose „Lues" wahrscheinlich
machende Befunde an den übrigen Organen, wie suspekte Unter-
schenkelgeschwüre, Narben im Gaumen, Rektumstenose, Leukoderm-
flecke, multiple ürüsenschwellungen u. dgl. \\'enn man sich aber
daran erinnert, wie oft selbst in Fällen von sicherer tertiärer Lues
die Anamnese nur dieselben eben genannten Anhaltspunkte ergibt
und sogar gelegentlich ganz im Stiche läßt, so wird man darin
nichts Auffälliges finden.
Die vorwiegende ursächliche Bedeutung der Syphilis, die
nach unserer tabellarischen Übersicht als wichtigste gemein-
530 XXVII. ROGGB U. MCLLBR
same, d. h. sowohl für die Entstehung der Tabes als
auch des Herz- und Gefäßleidens vorwiegend verant-
wortliche Schädlichkeit ohne Zweifel in Betracht kommt
konnte dann in Frage gestellt werden, wenn sich in der Mehrzahl
der Fälle noch andere und erfahrungsgemäß für die Entwicklung-
organischer Erkrankungen der Kreislauforgane bedeutsame Momente
gefunden hätten. Das ist aber nicht der Fall ! Der akute Gelenk-
rheumatismus z. B., auf den wir namentlich im Hinblick auf
die Aorteninsufficienz besonders achteten, fand sich in den Vor-
geschichten nur 2 mal (Fall 6 und 17), und dabei einmal in Ver-
bindung mit einer eingestandenen Syphilis und das andere Mal bei
einem Manne, in dessen Vorgeschichte man bei dem Abort seiner
Frau wenigstens ein auf Lues verdächtiges Moment erblicken könnte.
Eine scheinbar größere Häufigkeit des Gelenkrheumatismus kann
bei der Kombination von Tabes und Herzfehler dadurch vorgetäuscht
werden, daß viele Kranke geneigt sind, ihre tabischen Schmerzen
als Rheumatismus bzw. Gelenkrheumatismus zu bezeichnen.
Da sich andere akute Infektionskrankheiten wie
Typhus abdominalis in unseren Vorgeschichten keineswegs mit
größerer Häufigkeit finden, als es dem Durchschnitt bei sonstigen
Erkrankungen entspricht, kommen als ursächlich bedeutsame Schäd-
lichkeiten für die Entwicklung des Herz- bzw. Gefäßleidens nach
unserer Tabelle nur noch langdauernde schwere körper-
liche Arbeit sowie Alkohol- und Nikotinabnsus in Be-
tracht. Dagegen kann man aber die Tatsache verwerten, daß
sich bei unserem gesamten klinischen Tabesmaterial
das weibliche Geschlecht an der Zahl aller Fälle mit
gleichzeitigen organischen Erkrankungen des Gefaß-
apparates mit einer mindestens gleichgroßen, wenn
nicht sogar höheren Prozentzahl beteiligt als das
männliche. Wir fanden nämlich unter den 24 in obiger Tabelle
aufgeführten Fällen 7 weibliche Kranke, also 29,2 ^o, während
unter 180 reinen Tabesfällen aus unserer Klinik 43 d. h. 23,9%
Frauen waren.
Daß auch höheres zur Arteriosklerose führendes Lebens-
alter für die Entwicklung der Aortensklerose bzw. Aortenklappen-
fehler an sich allein bei der Mehrzahl unserer Kranker keine große
Eolle spielen kann, geht daraus hervor, daß das Durchschnittsalter
der Fälle unserer Statistik im Beginn der ersten subjektive»
Krankheitserscheinungen 36,4 und bei der ersten UntersachuDg
43,5 J a h r e betrug. Letztere Zahlen stehen im Einklang mit dem
Tabes doi*salis, Erkrankungen der Zirkniationsorgane und Syphilis. 531
Befund Bittorf's/) der unter 54 Fällen von Aortensklerose ein
Durchschnittsalter von 55,6 Jahren berechnete, während die Gruppe
seiner Fälle, die mit Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit Lues in
der Anamnese bot, ein um ein Jahrzehnt geringeres Durchschnitts-
alter besaß.
Alles drängt also zu der Annahme, daß wir in einer früheren
Syphilis nicht nur die wesentlichste Ursache der Tabes, sondern
auch des Herz- und Gefäßleidens erblicken müssen.
Hier bleibt noch die Frage zu erörtern nach dem zeit-
lichen Zwischenraum zwischen syphilitischer Infek-
tion und dem ersten Beginn der subjektiven Krank-
heitserscheinungen. Derselbe schwankte bei den zu dieser
Berechnung verwertbaren Fällen zwischen 3 und 20 Jahren und
betrug durchschnittlich 11,3 Jahre. Bei einem Vergleich zwischen
83 reinen Tabesfällen und unseren 24 mit organischen Herz- bzw.
Gefäßleiden zeigte es sich ferner, daß zwischen dem Durchschnitts-
alter beider Gruppen zur Zeit der ersten klinischen Untersuchung
kein wesentlicher Unterschied bestand. Letzteres mag im wesent-
lichen darauf beruhen, daß die ersten deutlichen Krank-
heitserscheinungen von Seiten der Kreislauforgane
sich in unseren Fällen von zeitlich genauer bestimm-
barer geschlechtlicher Infektion durchschnittlich
4^2 Jahre später einstellten als die subjektiven tabi-
schen Frühsymptome. Die Ursache dieses Unterschiedes liegt
vielleicht weniger in dem späteren Beginn des der Erkrankung
der Kreislauforgane zugrunde liegenden pathologisch-anatomischen
Prozesses als darin, daß der letztere bei Aortensklerose bzw. Aorten-
insufficienz bis zur Auslösung subjektiver Beschwerden im allge-
meinen einen höheren Grad erreichen wird als bei Sitz im Rücken-
mark mit seinen für umschriebene und genauer bekannte nervöse
Funktionen so bedeutsamen Stranggebieten.
Was die nervösen Vorläufererscheinungen in unseren Fällen
von Tabes mit organischen Herz- und Gefäßleiden anlangt, so ent-
sprechen sie im großen und ganzen durchaus den bekannten sub-
jektiven Frühsymptomen der Hinterstrangerkrankung.
Ein näheres Eingehen darauf erübrigt sich deshalb. Das Gleiche
gilt für die objektiven tabischen Krankheitserscheinungen. Hier
verdienen nur 2 Tatsachen einer besonderen Erwähnung, einerseits
die vielfach ganz rudimentäre Entwicklung der Tabes
l) Archiv f. klin. Medizin Bd. 81 p. 96.
532 XXVII. ROOGE U. MÜLLEB
und andererseits das eigenartigfe Verhalten der Sehnen-
reflexe in manchen f'rühfällen dieses Nervenleidens, In
derselben Weise, wie sich häufig die gleichzeitige und schon er*
hebliche organische Erkrankung des Gefäßapparates nui* durch
objektive Kennzeichen verrät, fehlen andererseits auch nach unseren
Erfahrungen in vielen Fällen von hervorstechender postsyphiliti-
scher Herz- und Aortenerkrankung subjektive Rückenmarks-
symptome völlig, so daß der Nachweis der komplizierenden Tabes
dorsalis nur durch gewisse pathognomische objektive Kenn-
zeichen zu führen ist (Lichtstarre der entrundeten und oft ver-
schieden weiten Pupillen etc.!). Viel weniger konstant als die
lichtstarren Pupillen war in solchen Fällen die Aufhebung oder
die deutliche Abschwächung der Patellar- und Achillessehnenreflexe.
\\'ir haben sogar in unseren Fällen einige Male, ebenso wie gar
nicht selten bei anderen Kranken, die wegen irgend welcher Be-
schwerden von Seiten der Lungen, Nieren usw. zur Untei-suchung
kamen und gewissermaßen als Nebenbefund eine ganz beginnende
Hinterstrangerkrankung darboten, nicht eine Aufhebung bzw. Ab-
schwächung noch ein normales Verhalten, sondern vielmehr eine
entschieden krankhafte Steigerung der Sehnen-
reflexe an den unteren P^xtremitäten feststellen können.
Manchmal ist es allerdings schwer zu entscheiden, ob diese fieflex-
steigerung mit einer reinen Tabes oder mit einer progressiven
Paralyse bzw. mit einer postsyphilitischen kombinierten Erkrankung
der Hinter- und Seitenstränge in Zusammenhang steht. In den
von uns als Tabes aufgefaßten Fällen aber fehlten trotz genauer
Untersuchung paralytische Krankheitserscheinungen und Seiten-
Strangsymptome gänzlich. Die Steigerung der Sehnenreflexe gin?
u. a. nicht einher mit Paresen, nicht mit dem feinsten Reagens auf
eine Schädigung der Pyramidenbahn — dem Babinski'schen Zehen-
phänomen — und nicht mit einer Zunahme des Spannungszustandes
der Muskulatur. Wir fanden im Gegenteil in solchen beweis-
kräftigen Fällen von beginnender Tabes mit anfänglicher Steige-
rung der Sehnenreflexe eine ausgesprochene Hypotonie. Diese
yielleicht vielen^) bekannte, aber bisher nur ungenügend betonte
Tatsache entspricht durchaus der Erfahrung der pathologischen
Physiologie, daß beim Untergang eines Organs dem allmählichen
Erlöschen der Funktion oft eine vorübergehende Steigerung voi-an-
1) Vgl. Petzsche, Zur Kenutnis der Tabes dorsalis und ihrer symptoma-
tologischen Entwicklung. luaug.-Dissertat. Leipzig, März 1903.
Tabes dorsalis. Erkrankangen der Zirknlationsorgaue und Syphilis. 533
geht. Die beiderseitige Steigerung des Patellarsehnenreflexes bei
der Tabes wurde von Petzsche unter 200 Fällen in 13% ^^^
Gesamtzahl gefunden. In fast allen diesen Beobachtungen handelte
es sich, im Einklang mit unseren Erfahrungen um eine Tabes in
den ersten Anfängen. Bei Petzsche findet sich auch ein gutes
Beispiel dafür, daß diese initiale Lebhaftigkeit des Patellarsehnen-
reflexes allmählich in eine Abschwächung und endlich in Verlust
übergeht. Vielleicht noch häufiger als an den unteren Extremi-
täten läßt sich nach unseren Beobachtungen an den oberen die
dem Verlust der Sehnenreflexe vorangehende Steigerung nach-
weisen.
Bemerkenswert ist vielleicht noch unser Befund, daß sich in
2 Fällen der Statistik nicht eine reine Tabes, sondeni eine sog.
Taboparalyse mit der organischen Erkrankung des Gefäßapparates
verband. Darüber, ob bei reiner Paralyse diese Komplikation eine
gleiche oder wenigstens ähnliche EoUe spielt wie bei der isolierten
Tabes, besitzen wir keine Erfahrung.
Hinsichtlich der prognostischen und therapeutischen
Gesichtspunkte in solchen Fällen von Tabes dorsalis mit orga-
nischen Erkrankungen der Zirkulationsorgane können wir uns kurz
fassen. Daß sich die durchschnittliche Krankheitsdauer des Rücken-
marksleidens durch diese gelegentlich sehr ernste Komplikation
wesentlich abkürzt, ist ohne weiteres klar. Was die Therapie be-
trifft, so ist vielleicht bei organischen Herz- und Gefäßleiden, die
sich mit der oft ganz rudimentären Tabes verbinden, im allgemeinen
eine antisyphilitische Kur angezeigt, besonders dann, wenn die In-
fektion noch nicht sehr lange zurückliegt und wenn zuvor gar
keine oder nur eine ungenügende Behandlung stattgefunden hat.
Einen Nutzen von Quecksilber und Jodkalium werden wir natür-
lich am ehesten dann erwarten können, wenn wir die gerade einer
Diagnose zugänglichen Frühstadien vor uns haben und zwar nament-
lich solche, die sich durch subjektive Störungen noch gar nicht
verraten und gewissermaßen einen zufälligen Nebenbefund eines
Vitium cordis oder einer anderen Erkrankung darstellen. Zum
Jodkali werden wir uns um so leichter entschließen, als es das-
jenige Mittel ist. welches vielleicht nicht nur die Tabes, sondern
auch die postsyphilitische Aortensklerose günstig beeinflussen kann.
Dieser Standpunkt läßt sich auch deshalb vertreten, weil in allen
yon uns mitgeteilten Fällen, in denen mit Sicherheit
oder hoher Wahrscheinlichkeit Syphilis anzunehmen
war, eine genügende Behandlung der letzteren nicht
534 XXVII. RoGOB u. Müller
stattgefunden bat. Endlich ist die relative Häufigkeit der
Kombination von Tabes mit den oft latenten organischen Erkran-
kungen des Zirkulationsapparates ein Fingerzeig dafür, daß man
bei der zweifellos vielfach erfolgreichen Übungstherapie, auch beim
Fehlen entsprechender subjektiver Störungen, dem Zustand des
Herzens genügende Aufmerksamkeit schenken muß.
Wir müssen nun noch auf eine sehr bemerkenswerte
und eigenartige Verlaufsform, die wir bei der Kombina-
tion von Tabes dorsalis und organischen Herz- und Gefäßleiden
beobachteten, näher eingehen. Gelegentlich kann es nämlich vor-
kommen, daß nicht nur die Tabes dorsalis oder die sieh
damit verbindende Erkrankung des Zirkulations-
apparates, sondern beide Affektionen für das sub-
jektive Empfinden zunächst geradezu latent sind und
erst auf dem Umweg über alarmierende cerebrale
Erscheinungen zur klinischen Feststellung gelangen.
Diese Hirnsymptome, die sich selbstverständlich auch erst nach-
träglich entwickeln können (vgL Fall 22) entstehen gewöhnlich
dadurch, daß entweder die gleichzeitige und meist wohl syphi-
litische Erkrankung der Gehirngefäße zu Thrombosen der letz-
teren führt, oder dadurch, daß sich an den erkrankten Aorten-
klappen Gerinnsel bilden und durch Verschleppung in das Gehirn
embolische Gefäßverstopfungen und Gewebserweichungen bedingen.
Wir verfügen über 2 einschlägige und sehr instruktive Be-
obachtungen, von denen namentlich die letztere auch noch in anderer
Hinsicht eine genauere Besprechung verdient.
Im ersten Fall handelt es sich um einen 35 jährigen Eisenbahn-
arbeiter Fr. B. (Fall 10), der 9 Tage vor der Aufnahme in die Kliuik
mitten aus scheinbarer Gesundheit heraus im Anschluß an schwere kör-
perliche Arbeit ein Gefühl von Schwere und Ameisenkriebeln in den
linksseitigen Extremitäten bekam. Diese Beschwerden nahmen bei völlig
freiem Sensorium ganz allmählich zu, so daß der Kranke nach einigen
Tagen den rechten Arm fast gar nicht mehr bewegen konnte; außerdem
entwickelte sich langsam auch noch eine leichte Sprachstörung. Die
Untersuchung in der Klinik fand eine Aorteninsufficienz, eine rudimen-
täre Tabes und endlich eine frische linksseitige cerebrale Parese (Inkl.
Facialis).
Im zweiten Falle erkrankte ein bis dahin angeblich stets gesunder
und syphilitisch nicht infizierter 61 jähriger Mann ganz plötzlich mit
einem „ Schlag anf all" (rechtsseitige Lähmung einschließlich des Gesichts,
gleichseitige Taubheit, geringe Sprach-, Schling- und Blaseustöruogei],
Zwangs weinen). Nach vorübergehender Besserung stellte sich ein neuer
Anfall ein , der zu stärkerer Erschwerung des Schling- und Sprach-
Tabes dorsalis, Erkrankungen der Zirkulationsorgane und Syphilis. 535
Vermögens führte; außerdem traten heftiges Kopfweh, starkes Schwindel-
gefuhl und Blitzschmerzen in den Extremitäten auf.
Bei der ersten Untersuchung in der Klinik fand sich neben nystagraus-
artigen Zuckungen und völliger Lichtstarre der ungleich weiten Pupillen
eine rechtsseitige Facialislähmung (inkl. Stirnast), gleichseitige nervöse
Taubheit und Sensibilitätsstörungen im Trigeminusgebiet sowie Zwangs-
weinen. Ein Überbleibsel der früheren ebenfalls rechtsseitigen Extre-
mität eqlähmnng waren nur noch eine leichte Handparese und die Ab-
schwächung bzw. Aufhebung des Bauchdecken- und Kremasterreflexes
derselben Seite. Außerdem waren bei sehr schwachen Patellarreflexen und
ausgesprochenen Sensibilitätsstörungen an der Beinen beide Achillessehnen-
reflexe aufgehoben und bei stärkstem Romberg'schen Phänomen Gehen
und Stehen auch mit offenen Augen außerordentlich unsicher. Deutliche
Zeichen einer Herzerkrankung oder einer erheblichen Sklerose der fühl-
baren Arterien waren nicht nachweisbar.
Im weiteren Krankheitsverlauf waren die Hauptklagen des Kranken
neben hartnäckigem, oft mehr rechtsseitigen Reißen und Ziehen im Kopf
anfallsweise auftretende quälende Schmerzen zuerst im rechten, später im
linken Trigeminusgebiet, sowie doppelseitige lanzinierende Beinschmerzen;
weiterhin kam (neben nervöser Gebörsstörung auch auf der linken Seite)
in der letzten Zeit ein eigenartiger kurzdauernder Anfall zur Beobachtung:
Nach rechtsseitigen Parästbesieen entwickelte sich plötzlich bei freiem
Bewußtsein, aber bei Aufhebung des motorischen Sprach Vermögens eine
gleichseitige zuerst schlaffe dann spastische, bald aber wieder vorüber-
gehende Extremitätenlähmung mit Deviation der Zunge nach derselben
Seite. Nach mehrfacher Wiederholung des Anfalls blieb zuletzt die rechts-
seitige Lähmung mit Beteiligung der Zunge bestehen; endlich wurde
neben einer Blickparese nach links die Sprache explosiv, polternd, etwas
skandierend.
Nach etwa 5 monatlicher Krankheitsdauer erfolgte im Anschluß an
einen neuen Anfall der Tod im Coma.
Die genaueren Einzelheiten des Untersuchungsbefundes und Krankheits-
verlaufes sind folgende:
J. Fr., 61 Jahre alter Handelsmann aus Breslau; Aufnahme in die
medizin. Klinik am 28. Oktober 1905; *{- daselbst am 5. Dezember 1905.
Vorgeschichte: Familienanamnese belanglos. Geschlechtliche An-
steckung wird trotz eindringlichen und wiederholten Befragens und trotz
sonst durchaus zuverlässiger Angaben in Abrede gestellt (von seinen
7 Kindern aus erster Ehe sind jedoch 4 in den ersten Lebensjahren ge-
storben. Als Soldat wurde er wegen Bruchleiden entlassen. In seiner
früheren Stellung als Gastwirt hat er mehrmals täglich Schnaps getrunken ;
jahrelanger starker Alkoholmißbrauch wird jedoch nicht zugegeben. Keine
erheblichen Traumen.
Der Kranke war stets gesund bis zum 12. Juli 1905. Damals
erkrankte er ganz plötzlich mit einem Schlaganfall. Er fühlte während
der Arbeit eine aufsteigende Hitze im Kopfe und verlor dann für mehrere
Standen die Besinnung. Nach Aufhellung des Bewußtseins bemerkte er
eine Lähmung der rechten Seite, einschließlich des Ge-
536 XXVII. ItoaoB a. Müllbr
fiichts. WähreDd die Sprache dabei nur wenig gestört war, bestanden
Doppelsehen, rechtsseitige Taubheit und mäßige Schliug-
störuügen, sowie eine leichte Blasenstörung derart, daß er häufiger
Urin entleeren und dabei stärker pressen mußte. Außerdem machte sich
einen abnorme Neigung zum Weinen bei jeder Kleinigkeit, auch wenn
ihm nicht traurig zu Mute war, geltend (kein Zwang^lachen).
Nach 6 — 8 wöchentlicher Bettruhe waren die Lähmungserscheinungen
im Bereiche der Extremitäten allmählich wieder so gebessert, daß er
stundeo weise seinem Berufe als Händler nachgehen konnte. Vor 3—4
Wochen jedoch stellte sich ein neuer Anfall ein. Bei leichter Bewußt-
seinstrübung zeigte sich, daß das Schlingen bei starkem Speichelfluß erbeblich
erschwert und die Sprache auffällig verändert war. £r konnte alle Gegen-
stände richtig bezeichnen und benennen, mußte aber länger drücken, ehe
er die Worte aussprechen konnte. Jetzt klagte er noch über heftige
Kopf>chnierzen, besonders in der Stirngegend, starkes Schwind elgeföhl
bei allen Körperbewegungen, über zeitweise, blitzartige Schmerzen von
1 — 2 Minuten Dauer in den Gelenken und außerdem über Blasen-
störungen derart, daß er nur stehen, aber sehr ausgiebige Entleerungen
habe, fester pressen müßte und mitunter auch Harnträufeln habe.
Die Untersuchung findet bei dem mittelgroßen Mann von kraf-
tigem Knochenbau und gutem Ernährungszustand (70 kg) eine von lokalen
Atrophien freie Muskulatur. Feine erheblichen psychischen Störungen,
trotzdem ausgesprochenes und auch subjektiv als krankhaft empfundenes
Zwangsweinen.
Kopf: Blasse Gesichtsfarbe ; Stirnrunzeln rechts weniger ausgeprägt,
Nasolabialfalte auf derselben Seite verstrichen; beim Zähnezeigen die
Asymmetrie besonders deutlich ; Pfeifen sehr erschwert.
Augen: Hechte Lidspalte viel weiter als die linke; im lateralen
Abschnitt des rechten Unterlides ist die entzündlich gerötete CoDJunctiva
palpebrae teilweise ektropioniert. Das rechte Auge kann nicht ganz ge-
schlossen werden und ist gegen passiven Widerstand sehr leicht zu ÖfiTneo.
Sensibilität von Conjunotiva und Cornea rechts deutlich herabgesetzt;
demgemäß sehr abgeschwächter Cornealreflex. Beim Blick nach rechts
und oben nystagmusartige Zuckungen. Z. Z. keine Doppelbilder: Pa-
pillen different (r / 1), eng und bei erhaltener Konvergenzreaküon völlig
lichtstarr. Augenhintergrund frei, Sehvermögen gut.
Gehör auf dem rechten Ohr völlig aufgehoben; hört das Ticken
der Uhr auch bei Knochenleitung nicht, dabei beständige Ohrgeräusche
rechts (rausendes Wasser). Hachen und Tonsillen leicht gerötet; Gaumen
symmetrisch; Gaumenbewegungen gut; lebhafter Würgereflex. Kaumusku-
latur kräftig.
Trigeminus: Berührungsempflndung und vor allem Schmerz-
empfindung rechterseits und besonders im Stirnast stark herabgesetzt.
Rumpf: Thorax sehr gut gebaut, Langen gesund. Die Herz-
dämpfung nicht nachweisbar vergrößert, Spitzenstoß nicht sichtbar und
fühlbar, Aktion regelmäßig« die Töne leise, aber rein. Der E&dialpuls
beiderseits gleich, mäßige Füllung und Spannung; keine sklerotisch ge-
schlängelten Arterien.
Tabes dorsaUs, Erkrankungen der Zirknlationsorgane und Syphilis. 537
Das fettreiche Abdomen leicht aufgetrieben. Leber und Milz
nicht pa]pabe]. Die Baachdeckenreflexe beiderseits deutlich, aber rechts
etwas schwächer. Kremasterreflexe nur links auslösbar, rechts fehlend.
Extremitäten: Aktive Beweglichkeit der Arme beiderseits gut.
Nur der Händedruck rechts etwas schwächer. Feinere Fingerbewegungen
werden jedoch prompt ausgeführt. Kein Tremor, keine Ataxie, Sehnen-
reflexe an den Armen vorhanden, rechts etwas lebhaft.
Beine: Keine Paresen, keine deutliche Ataxie, Achillessefanenreflexe
fehlen, Patellarsehnenreflexe beiderseits sehr schwach, Foßsohlenreflexe
wegen starken Kitzelgefühls beiderseits nicht recht zu beurteilen.
Gehen und Stehen: Stehen mit geschlossenen Füßen unsicher,
der Kranke balanziert dabei mit den Armen, bei Augenschluß stärkstes
Kombergsches Phänomen, dann ohne Unterstützung möglich, jedoch
breitspurig, mit den Armen balanzierend, sehr unsicher. Bei schnellerem
Gehen und Kehrtwendungen stärkere Schwankungen. Tiefensensihilität
höchstens an den Zehen abgestumpft. Die Schmerzeropfindung und in
geringerem Grade auch die Temperaturempfindung au beiden Beinen von
etwa der Mitte der Oberschenkel abwärts stark herabgesetzt (die Be-
rührungsempfindung jedoch nur an der Außenseite des rechten Ober-
schenkels ?).
Weiterer Verlauf: I.November. Klagen über bald mehr diffuse^
bald mehr rechtsseitige Kopfschmerzen von reißendem, ziehendem Charakter.
Jodkalium
6. November. Die wachsenden Kopfschmerzen sehr hartnäckig.
10. November. Trotz des Fehlens von Syphilis in der Anamnese
Beginn einer Schmierkur.
13. November. Äußerst heftige, plötzlich einsetzende Blitzschmerzen
in der rechten Ferse, die nach 1 Minute Dauer aufhören.
18. November. Lanzinierende Schmerzen bald im rechten, bald im
bald im linken Bein. Sehr heftige, anfallsweise auftretende, rechtsseitige
Gesichtsschmerzen, die z. Zt. die Hauptlage des Patienten bilden.
23. November. Plötzlich ein rasch vorübergehender Anfall von
Atemnot mit starkem Angstgefühl ohne erklärenden Befund an inneren
Organen. Schluckstörungen.
24. November. Der Kranke gibt heute an, auch auf dem linken
Ohre schlecht zu hören (hört hier das Ticken der Uhr nur in Entfernung
von einigen Centimeter- von der Ohrmuschel. Knochenleitung stark beein-
trächtigt. Außerdem seit heute äußeret heftige Schmerzen, besonders in
der linken Gesichtshälfte, die er fortwährend schmerzhaft verzieht. In den
Liippen Gefühl von Ameisenlaufen.
29. November. Ziemlich starke Gewichtsabnahme, Gingivitis, Schmier-
knr unterbrochen, dreimal Erbrechen.
30. November. Hente eine eigentümliche, durch den Abteilungsarzt
beobachtete Attaque. Der Patient sitzt mit verzerrtem Gesicht und
allen Zeichen der Angst im Bette und vermag nicht zu sprechen. Er
bringt nur unter Schluchzen unartikulierte Laute hervor. Mit dem linken
Arm bemüht er sich fortwährend den anscheinend jetzt völlig gelähmten
rechten von der Unterlage zu erheben. Rechter Arm und Bein sind bei
Verschlimmerung der schon zuvor bestehenden gleichzeitigen Facialisparese
538 XXVII. RoGGE u. Müller
anfänglich schlaff gelähmt, bald aber wieder deutlich hypertonisch. Die
Sehuenreäexe sind am rechten Arm stark gesteigert. Handklonus. Die
Zunge weicht nach rechts ab. Nach höchstens 10 Minuten Dauer ver-
schwindet die rechtsseitige Extremitätenlähmung, so daß Arme und Beine
aktiv recht gut bewegt werden können. Auch die Sprachstörung ist
wieder fast verschwunden, nur die Zunge weicht noch mehr nach rechts
ab. Der Kranke erzählt jetzt, daß der Znstand mit einem Gefiihl von
Kribbeln und Ameisenlaufen in der rechten Lippenhälfte begonnen hat
und daß nach einem eigentümlichen Gefühl in den gleichseitigen Extre-
mitäten die oben beschriebene Lähmung einsetzte.
1. Dezember. In der heutigen Nacht und am frühen Morgen drei
weitere Anfölle von rechtsseitiger Lähmung ohne BewuBtseinstrübnng
und relativ kurzer Dauer.
4. Dezember. Am Nachmittag ein neuer Insult, dessen Folgen noch
jetzt in Form einer rechtsseitigen Hemiplegie und starker Deviation der
Zunge nach der gelähmten Seite nachweisbar sind. Auch die Sprache
ist wieder stärker erschwert (jedoch sensorisch ungestört) ; sie ist jetzt
eigentümlich explosiv, polternd und etwas skandierend (oft überschnap-
pend). Blick nach links beschränkt, besonders auf dem linken Auge.
Facialisparese rechts besonders im Stirnast ausgeprägt.
Nachmittag 3 Uhr ein neuer Anfall ; spastische ExtremitätenlähmuDg
rechts, zunehmende Benommenheit, Trismus, Trachealrasseln, Tod am
folgenden Tage in Coma.
Trotz des scheinbar mehrdeutigen Untersuchungsbefundes
konnte die klinische Diagnose im vorliegenden Falle insofern
keine besonderen Schwierigkeiten machen, als die Annahme, daß
eine Kombination von Tabes dorsalis mit einer orga-
nischen Hirnerkrankung von bulbärem Sitz vorlag, hin-
reichend zu begründen war. Für eine Tabes sprachen vor allem
die reflektorische Lichtstarre der ungleich weiten Pupillen bei er-
haltener Konvergenzreaktion, die Aufhebung bzw^ Abschwächung
der Achillessehnen- und Patellarreflexe, die Sensibilitätsstörun^en
an den Beinen, und nicht zuletzt die tj^pischen lanzinierenden
Extremitätenschmerzen. Auf eine komplizierende Erkrankung bul-
bärer Hirngebiete ließ schon der initiale apoplektiforme Anfall
schließen, der zu einer vorübergehenden halbseitigen Lähmung mit
Beteiligung des Facialis (inkl. Stirnastes) und des Acusticus sowie
zu Sprach- und Schlingstörung und endlich zu Zwangsweinen gefuhrt
hatte. Trotzdem war die Deutung des komplizierenden Hirnbefundes
bei der ersten Untersuchung schwierig. Das Zusammentreffen einer
radikulären Facialislähmung, einer Acusticus- und Trigeminus-
läsiou mit den Überbleibseln einer cerebralen, gleichzeitig und
apoplektiform entstandenen einseitigen Lähmung war zwar ein ge-
nügender Beweis für die Annahme einer vorherrschenden BeteiU-
Tabes dorsalis, Erkrankungen der Zirkulationsorgane und Syphilis. 539
gung der Brackengegend an dem Krankheitsprozeß; genauerer Sitz
und Eigenart des letzteren waren jedoch mit voller Sicherheit kaum
zu bestimmen. Bei den innigen Beziehungen der Tabes zur Syphilis
lag es allerdings nahe, als pathologisch anatomische Grundlage des
cerebralen Leidens eine Hirnlues anzunehmen. Es war dabei in
ei-ster Linie an eine syphilitische Erkrankung der Arteria
basilaris oder an eine syphilitische Basilarmeningitis
bzw. an ein „bulbäres" Gumma zu denken. Die Annahme
einer meningealen bzw. gummösen Erkrankung im rechten Klein-
hirnbrückenwinkel schien um so mehr berechtigt, als sich eine
nervöse rechtsseitige Taubheit mit gleichseitiger radikulärer Facialis-
lähmung und Störung im Trigeminusgebiet verband. Für eine Er-
krankung dieser benachbarten Wurzeln ließen sich auch die quälen-
den Gesichtsschmerzen — Beizerscheinungen in dem erkrankten
Ti'igeminus — verwerten. Dieser Auffassung widersprach zunächst
die Tatsache, daß sich die Extremitätenparese auf derselben Seite
wie die radikuläre Hirnnervenlähmung befand. Bei der Kreuzung
der Pyramidenbahnen mußte man natürlich erwarten, daß der
Prozeß im Bereich des genannten rechtsseitigen Wurzelgebietes vor
allem vorwiegend die gleichseitige Brückenhälfte schädigt und da-
durch eine gekreuzte PMremitätenlähmung hervorruft. Diese
Schwierigkeit war allerdings dadurch zu umgehen, daß man zur
Erklärung des Symptomenbildes zwei oder mehrere Herde heranzog.
Die Hirnsyphilis führt ja so häufig zur Multiplizität der Herde.
Dieser Erklärungsversuch scheiterte aber daran, daß die gleich-
seitige Hirnnerven- und Extremitätenparese auch gleichzeitig
und apoplektiform eintrat und damit auf einen ursächlich bedeut-
samen Erkrankungssitz hinwies. Dadurch gewann die Diagnose
einer Gefäßerkrankung im Ausbreitungsgebiet der Arteria basilaris
an Wahrscheinlichkeit, zumal sich die syphilitische Arteriitis mit
Vorliebe an dieser Stelle lokalisiert. Die mehrfache Wiederholung
des apoplektiformen Anfalls, bis sich die anfänglich vorübergehende
Hemiplegie während eines Insults festsetzte, wies nicht auf Blutung
oder Embolie, sondern vielmehr auf eine Zirkulationsstörung hin.
wie sie so häufig gerade bei syphilitischen Gefäßerkrankungen
durch Verengerung und allmählichem Verschluß des Lumens vor-
kommt. Das typische Bild einer thrombotischen Erweichung nur
in der rechten Ponshälfte müßte aber wiederum eine alternierende
Hemiplegie sein. Das gleichzeitige plötzliche Einsetzen einer
gleichseitigen radikulären Leitungsunterbrechung im Acusticus,
Trigeminus und Facialis und einer cerebralen Extremitätenlähmung
540 XXVII. RooGE n. Müller
war aber von dem Standpunkt aus zwaujarlos zu erklären, daß der
Sitz der Zirkulationsstörung in die Arteria basilaris selbst ver-
lebt wurde. Dabei kann es wohl leicht vorkommen, daß die Blut-
versorgung in mehreren kleineren nach beiden Seiten abgehenden
pontinen Ästen gleichzeitig leidet und eine doppelseitige Eniäh-
rungsstörung in keineswegs notwendig symmetrischen Brücken-
abschnitten zur Folge hat. Mit dieser Auffassung war gut in Ein-
klang zu bringen die Tatsache, daß sich im weiteren Krankheits-
verlauf das Symptomenbild einer doppelseitigen Bruckenerkrankung
mehr und mehr ausprägte : zu der rechtsseitigen Aflfektion des Trige-
minus und Acusticus trat eine linksseitige und endlich entwickelte
sich eine assoziierte Blicklähmung nach links, eine Erscheinung, die
als charakteristisch für eine Erkrankung des gleichseitigen Brücken-
markes gilt. Immerhin mahnten die Seltenheit stabil bleibender
Gehörsstörungen bei reinen Brückenherden und die qualvollen
neuralgischen Gesichtsschmerzen daran, daß neben einer doppel-
seitigen auf Zirkulationsstörung in der Arteria basilaris beruhenden
Brückenerkrankung vielleicht doch noch meningeale bzw. gummöse
Veränderungen an den Austrittsstelleu dieser Hirnnervenwurzehi
vorhanden waren. An diese Möglichkeit war schon deshalb zu
denken, weil die einzelnen Erscheinungsformen der Hirns}T>hilis
gar nicht selten gleichzeitig nebeneinander bestehen.
Die am 5. Dezember 1905 vorgenommene Autopsie ergab nmi
makroskopisch folgendes ^): Aneurysma partis ascendentis
aortae; Arteriosclerosis gravis aortae; Endarteriitis obliterans
arteriae basilaris cerebri (Arteriitis gummosa?); En-
cephalomalacia flava pontis et cerebelli; Pachymenlngitis
externa ossificans; Hyperostosis calvariae; Sntura frontalis persistans;
Degeneratio grisea funiculi poster. medullae spinalis:
Embolia arteriae pulmonalis dextrae; Oedema lob! inferioris utriasque;
Bronchitis; Empbysema; Atrophia fusca bepatis ; Hydrocele duplex levis.
Im einzelnen ist aus dem Sektionsprotokoll folgendes hervorzu-
heben :
Zirkulationsapparat: Herzbeutel etwas groß; linker Ventrikel
dilatiert, Wand hypertrophisch ; Papillarmuskeln hier und da fleckig weii^
verfärbt; die Segel der Mitralklappe stellenweise verdickt; Aafangsteil
der Aorta stark ausgebuchtet; die Intima zeigt hier an einzelnen Stellen
eine Verdickung, im übrigen zeigt die Aorta eine plateauartige Erbebung
der Intima.
1) Herrn Geheimrat Prof. Dr. Ponfick, Direktor der pathol. anatom. In-
stituts, sind wir für Überlassung von Gebim- und Rückenmark zur näheren
Untersuchung, sowie für Durchsicht einiger einschlägiger Gefäßpräparate zu
groUem Dank verpflichtet.
Tabes dorsalis, Erkranknngen der Zirknlationsorgfane nnd Syphilis. 541
Xervensystem: Schädeldach mit Dara fest verwachsen; die er*
lialtene Frontalnaht setzt weiter nach rechts an die Coronarnaht an als
die Sagittalnaht. Schädeldach sehr dick und schwer. Wandstärke . am
Hinterhaupt 1 cm, seitlich und vorn 7 mm. Weiche Hirnhäute an der
Konvexität leicht weißlich verdickt. Arterien an der Basis im ganzen
2art und ziemlich stark mit Blut gefüllt, nur die Basilaris ist
-enorm verdickt, etwa bleistiftdick. Diese Verdickung
ist bedingt durch eine starke, gelbweiße, nirgends ver-
kalkte, gummiähnlich aussehende Wucherung, die
namentlich die linke Seite der Wand einnimmt; der noch
passierbare Kanal hat kaum die Dicke einer Stricknadel.
Die A. auditiva interna und die A. cerebelli inf. ant. sind in ihrem
Anfangsteil in gleicher Weise verändert. Der Pens erscheint im ganzen
weich, am stärksten links in der Oegend des Crns cerebelli ad pontem.
An der unteren Fläche des Kleinhirns, und zwar im oberen Drittel, je
«ine flache gelbe Delle in der Rindensubstaoz, etwa vom Umfang einer
Erbse. Am Rückenmark sind die Häute ohne wesentliche Verände-
«mngen; auf dem Querschnitt erscheinen die Goirschen Stränge grau.
Der mikroskopische Befund war am Rückenmark, Medulla
•obiongata, Pons und Gefäßen (Weigert'sche Markscheidenfärbung, Eisenhäma-
ioxylin-van Oieson) im wesentlichen folgender:
Unteres Lendenmark: Bei leidlich gut erhaltenen ventralen Strang-
feldem und intaktem Dorsomedialbündel ausgesprochene Degeneration der
^Bandelettes externes^, die hinteren Wurzeln deutlich gelichtet, dieLissauer-
sche Randzone aufgehellt und in geringem Maße an den hinteren äußeren
Feldern auch die peripheren Zonen unterhalb der am ganzen Rückenmarks-
nmfang, namentlich aber hinten und seitlich, etwas verdickten Meningen.
Oberes Lendenmark: Bei mäßiger Verdickung der Pia (haupt-
:sächlich im dorsalen Abschnitt) deutliche Verdünnung und beginnende
graue Verfärbung der hinteren Wurzeln. Typische symmetrische De-
generation der seitlichen Felder. GoU'sche Stränge in geringerem Grade
<legeneriert. Gut erhalten die Gegend des Dorsomedialbündels und des
ventralen Hinterstrangfeldes. Starke Lichtung der in die noch nicht
■aasgesprochen atrophischen Hinterhömer einstrahlenden Fasern.
Mittleres Brustmark: Deutliche symmetrische Degeneration
der Goll'schen Stränge und der seitlichen Felder; auch die hinteren
äußeren Felder in mäßigem Grade gelichtet. Leichte Randdegeneration
des Rückenmarks unterhalb der verdickten und namentlich stellenweise
{besonders um die Gefäße herum) zellig infiltrierten Meniux. Adventitia
der kleineren Rücken marksgef äße ehenfalls leicht verdickt und von Zellen
mit gut tingiertem großem Kern und äußerst spärlichem annähernd poly-
gonal* oder angedeutet spindelförmig gestaltetem Protoplasma durchsetzt.
Unteres Halsmark: Deutliche symmetrische Degeneration der
*6oll'schen Stränge sowie der seitlichen Felder in den Burdach'schen :
I>ie hinteren äußeren Felder nnd die eintretenden hinteren Wurzeln nur
wenig verändert. Meningen — hinten mehr — verdickt und namentlich
in den äußeren Schichten zellig infiltriert. Leichte Randdegeneration
des Rückenmarks unterhalb der Meningen, auch längs des Sulcus anterior
.am Randbezirk der Pyramidenvorderstränge. Zentralkanal obliteriert. -
Deutsches Archiv f. klin. Medizin 89. Bd. 35
542 XXVII. RoGGE u. Müller
Beginu der Halsanschwellung: Schon makroskopisch dicht
hinter dem Zentralkanal eine dreieckige mindesten»
2 mm im größten Durchmesser betragende Hohle sichtbar,
deren Basis nach vorn und deren Spitze nach hinten gelegen ist. Die
ungleich langen Katheten bilden an der Spitze einen rechten Winkd»
Zentralkanal hier verdoppelt; der vordere ist obliteriert, der hintere hat
auf eine kurze Strecke ein kleines Lumen , das mit schönen
Ependymzellen lückenlos ausgekleidet ist. Dicht hinter letzterem die
genannte Höhle, die eine breite bindegewebige Innenausklei-
dung und um diese einen dicken gliösen £.ing zeigt. Die hintere
Hälfte des Septura medianum posterius ist auf einzelnen Querschnitten
nicht ganz geschlossen; das „Septum*^ entspricht also hier noch einem
,,Sulcus**. Auf anderen Querschnitten zeigt sich ein richtiges Septum
auch in der dorsalen Hälfte in Form eines schmalen Bindegewebsbandes,
das zu beiden Seiten von einem Gliasaum bekleidet ist. Auf den ein*
zelnen Querschnitten überwiegt bald der bindegewebige, bald der gliöse
Teil des Septum posterius. Der bindegewebige Abschnitt dringt aber
bandförmig überall nur etwas über die Hälfte des ganzen Septum ein,
in seiner Verlängerung sieht man dann, namentlich bei starker Ver-
größerung einen schmalen Gliastreifen, der von Zeit zu Zeit den Quer-
schnitt kleinster Gefäße in seiner Fasermasse erkennen laßt und sieb
endlich in dem dicken Gliaring des oben beschriebenen Hohlraums ver-
liert. Zahlreiche Gliazellen liegen in den peripheren Abschnitten dieses
gliösen Binges.
Oberes Halsmark: Zentralkanal obliteriert; Goirsche Strange
deutlich degeneriert; seitliche Felder mäßig gelichtet. Hintere äußere
Felder und ventrale Hinterstrangpartien leidlich gut. Die Meningen
zeigen, hauptsächlich um die Gefäße herum, eine starke zellige Infiltration.
Unterhalb der überall, aber an manchen Stellen stärker verdickten
weichen Bücken mar kshaut, namentlich im Bereich der Hinter- und
Seitenstränge, mäßige Banddegeneration des Bückenmarks. Die menin-
geale Zellinfiltration geht auch auf das Epineurium der hinteren Wurzeln
über und dringt in geringerem Grade auch in das Perineurium ein. Die
zellige Infiltration zeigt an einzelnen Stellen umschriebene rundliche oder
längsovale Herde. Die Zellinfiltration um die Gefäße betrifft auch die Venen.
Medulla oblongata (in Höhe des 10. und 12. Kerns) Fibrae
arcuatae ventrales und die von ihnen umzogenen Pyramiden, ebenso wie
die mediale Schleife, Hypoglossuskem usw. ohne wesentliche Veränderung;
auch die spinale Trigeminus- und Glossopharyngeuswurzel an dieser Stelle
gut. Die Meningen sind hier kaum verdickt, dagegen wieder stark
zellig infiltriert. Die Adventitia der kleinen meningealen (^efaße ver-
dickt und von Granulatiouselementen durchsetzt. Am Boden des IV. Ven-
trikels das Bild der Ependymitis granularis (kleine halbktigelige
bzw. warzenförmig vorspringende Erhebungen, deren Inneres starke Zeil-
anbäufung zeigt, während zwischen ihnen das Ependym noch leidlich gut
und stellenweise völlig intakt erscheint). Oberhalb des einen Vaguskera^
liegt an der Basis eines solches gewucherten Ependymknotens ein kleiner
rundlicher Hohlraum, der rings von wohlgebildeten Ependymzellen lücken-
los ausgekleidet ist. Auch dicht unterhalb der Pyramidenkreuzung ist.
Tabes dorsalis, Erkrankungeu der Zirknlationsorgaue und Syphilis. 543
von den Meningen abgesehen, die Substanz der Med. obl. im wesent-
lichen normal.
Pons: Ein Querschnitt durch die Brücke in Höhe des Abducens-
kerns zeigt, daß der Pons im ganzen, namentlich aber im Fußteil ziem-
lich groß, d. h. anscheinend ödematös geschwollen ist, und daß der Fuß-
teil selbst sich im Markscheidenbilde auffallend schlecht färbt im Gegen-
satz zu der im ganzen gut tingierten Haubengegend. Rechterseits
erkennt man (schon mit bloßem Auge) einen etwas über linsengroßen,
auf dem Querschnitt annähernd ovalen älteren Erweichungsherd.
Derselbe liegt lateral, etwa in Höhe der medialen Schleife und unter-
bricht den Anfangsteil des Austrittsschenkels des rechten N. facialis;
z. T. nimmt er auch den hier gelegenen Kernabschnitt und die Qegend
der spinalen Quintuswurzel ein. Dieser Erweichungsherd rückt gegen
den Brückenanfang zu etwas mehr ventral und medial gegen die Raphe
und nimmt hier, unter Yerschonung der Pyramide, einen Teil der me-
dialen Schleife ein. Im Brückenanfang befindet sich noch ein weiterer
älterer etwa ebenso großer rechtsseitiger Erweichungs-
herd, der in der Nähe des Facialiskerns gelegen ist und die benach-
barte spinale Trigeminuswurzel sowie einen großen Teil der angrenzenden
Acusticusfasem einnimmt. Weiter findet sich eine mäßige Lepto-
meningitis mit auffällig starker zelliger Infiltration. Diese
Zellen haben einen lebhaft gefärbten, großen, bläschenförmigen Kern,
der nicht selten ein deutliches Kemkörperchen erkennen läßt und in
derselben Weise wie beim Rückenmark von nur spärlichem schwer zu
erkennendem Protoplasma umgeben ist. Die Zellen sind auch hier von
teils spindelförmiger, teils mehr polygonaler Gestalt. Um die Gefäße
herum häufen sich diese Granulationselemente außerordentlich an, so daß
sie an einzelnen Stellen geradezu mächtige Nester bilden. Diese Zell-
infiltration mit mäßiger allgemeiner, aber an einzelnen Stellen stärkerer
Verdickung der Pia setzt sich auch auf die austretenden Himner\'en-
wurzeln in Form einer Epineuritis fort. Die Granulationselemente
dringen sogar auch in mäßigem Grade in das Perineurium ein. — Im
Bereich des schlecht gefärbten Brückenfußes finden sich beiderseits die
J^ichen einer beginnenden mehr oder minder allgemeinen ischämischen
Erweichung (Odem der Neuroglia, Markscheidenquellung, Yakuolenbildung,
f^ettkörnchenzellen, Myelintropfen u. dgl.). Die in die Substanz des
Srückenfußes eintretenden GeHlße sind großenteils thrombosiert, während
die Venen prall gefüllt sind.
Arteria basilaris cerebri: Ein Querschnitt durch das etwa
bleistiftdicke Gefäß zeigt die enorme Wandverdickung bei sehr ver-
kleinerten Lumen. Diese Verdickung ist jedoch keineswegs gleichmäßig,
sondern links wesentlich stärker als rechts, am geringsten aber im dor-
salen aneurysmatisch leicht ausgebuchteten Abschnitt; dem letzteren ist
— gewissermaßen zwischen die stark verdickten Partien eingekeilt —
ein schon makroskopisch erkennbarer, geschichteter z. B. aber erweichter
Thrombus (mit außerordentlich zahlreichen Fettkörnchenzellen im Innern)
aufgelagert. Die enorme Wandverdickung ist im wesentlichen bedingt
durch eine außerordentlich starke Intimawucherung, doch sind auch Media
und Adventitia deutlich verändert. Die Adventitia ist namentlich rechter-
35*
544 XXVII. KoooE u. Müller
aeits verdickt und yon masBenhaften GranulationBelementen der oben be-
schriebenen Art durchsetzt. Die Zellanhäufungen sind auch hier um die
kleinen adventitiellen Ghefäße herum sehr intensiv; einselne der letzteren
sind thrombosiert. Die Media färbt sich auffallend rot (van Gieson):
sie ist teilweise sehr kemarm und an einzelnen Stellen, namentlich dorsal,
deutlich atrophisch. In dem an die Media angrenzenden Teil der Inttma-
Wucherung sieht man in dem homogenen und fast kernlosen Gewebe hier
and da einzelne Hohlräume bzw. eine Vacuolenbildung. Dazwischen
findet man Rest« kleinerer Blutungen. Der innere, an das Geflßlnmen
grenzende Teil der Intima besteht aus dichterem, zellreicherem und von
Höhlen freiem Gewebe. Yon atheromatösen Geschwüren ist an der Ober-
fläche nichts zu erkennen. Bei Elasticafarbung (Weigert) zeigt die ge-
wucherte Intima der Art. basilaris in ihren einzelnen Schichten nur
spärliche aufgelockerte Überreste von Elasticaringen.
Arteria cerebelli inferior: Hier fallt neben einer mäßigen
Intimawncherung vor allem eine sehr erhebliche Verdickung der Adven-
titia mit Zellanhäufung in derselben auf. Die kleinsten adventitiellen
Gefäße zeigen an vielen Stellen eine ganz enorme Verdickung ihrer
Wandung, die im wesentlichen auf ilechnung einer das Lumen mehr und
mehr einengenden Intimawucherung kommt. An einzelnen Gefaßchen ist
ein Lumen kaum mehr zu erkennen. Bei der Elasticafarbung sieht man,
daß die elastischen Fasern in der Art. cereb. inf. stark vermehrt, z. T.
aber unregelmäßig angeordnet sind ; es ist hier zur Bildung mehrfacher, z. T.
aufgelockerter Elasticaringe (sekundäre Elasticae) gekommen : der äußerste,
dichteste Elasticaring erscheint an einzelnen Stellen wie zerrissen.
Schnitte von den kleinen Großhirnarterien lassen nur eine
mäßige Intimaverdickung erkennen.
Abgesehen von den oben erwähnten Herden im Kleinhirn fand
sich im Cerebrum nichts Besonderes.
Die Zusammenfassung des pathologisch-anatomischen Befundes
ergibt, daß es sich in diesem Fall im wesentlichen um
das Zusammentreffen eines Aortenaneurysmas, einer
Tabes dorsalis und einer mit größter Wahrscheinlich-
keitais sj'philitisch aufzufassenden Gefäßerkrankung
(insbesondere der Arteria basilaris cerebri) handelt.
Die Eückenmarksveränderungen sind dreierlei Art,
insofern wir das typische anatomische Bild einer mäßig weit fort-
geschrittenen Tabes, dann eine leichte, relativ frische Lepto-
meningitis und endlich im Beginn der Halsanschwellung eine
abnorme Höhlenbildung feststellen konnten.
Für eine echte Tabes spricht die beiderseits sj'mmetrische
Degeneration der seitlichen Felder („Bandelettes externes**), die
Erkrankung der GolFschen Stränge bei noch gut erhaltenem Dorso-
medialbündel und ventralen Hinterstrangfeldern sowie bei relativer
Verschonung der hinteren äußeren Felder, außerdem die Verdünnung
und Aufhellung der hinteren Wurzeln. Damit steht auch im Ein-
Tabes dorsalis, Erkrankungen der Zirknlationsorgane nnd Syphilis. 545
klang die besondere Intensität des Prozesses im Brust- und oberen
Lendenmark.
Die Höhlenbildung im Beginn der Halsanschwellung steht wohl
weder mit der Tabes noch mit einer Syphilis in direktem Zusammen-
hang. Obgleich sich der Zentralkanal an dieser Stelle abnorm ver-
hält, scheint es uns kaum angängig, die oben genauer geschilderte
Hohle als eine einfache Ausst&lpung bzw. als eine Abschnürung
desselben aufzufassen. Wir neigen vielmehr angesichts der Tat-
sache, daß das Septum median um posterius in seiner Verlängerung
sich direkt in die Wandung der Höhle fortsetzt, zu der Annahme,
daß hier vielleicht als Ausdruck einer Entwicklungs-
störung eine abnorme Bildung beim Schluß der hin-
teren Längsspalte (Sept. post) vorliegt. Für diese An-
schauung läßt sich vielleicht auch die breite bindegewebige innere
Auskleidung dec Hohlraumes verwerten.
Die Leptomeningitis spinalis endlich könnte eine reine Begleit-
erscheinung der Tabes darstellen. Man findet ja sehr häufig bei
diesem Rückenmarksleiden Verdickungen der weichen Häute, die
sich ebenso wie in unserem Falle nicht nur auf den hinteren Ab-
schnitt der Medulla spinalis beschränken. Immerhin weist die
starke Zellinfiltration auf einen relativ frischen entzündlichen
Prozeß hin und die Eigenart und Anordnung dieser zelligen Ele-
mente im Verein mit der Gefäßerkrankung vielleicht sogar auf eine
syphilitische Erkrankung der weichen Häute. Die Zellen entsprechen
keineswegs Leukocyten, wie sie bei Entzündungen in das umliegende
Gewebe aus den Gefäßen einwandern. Es sind vielmehr teils an-
gedeutet spindelförmige teils mehr polygonale kleine Gebilde mit
großem sich intensiv färbenden bläschenförmigem Kern und nur
außerordentlich spärlichem schwer erkennbarem Protoplasma. Nach
V. Bechterew*) bilden zwar diese „Granulationselemente" keines-
wegs eine Besonderheit des syphilitischen Prozesses; trotzdem
treten sie aber bei syphilitischen Affektionen mit Vorliebe in großen
Mengen und in Gestalt von Anhäufungen auf, während die Leuko-
cyten dabei ganz zurücktreten. Tatsächlich fanden wir die ge-
schilderten Zellen in unserem Falle nicht nur in auffälliger Zahl,
sondern auch in Form umschriebener Nester. Ein sicherer Beweis
dafür, daß die Veränderungen in den Meningen als syphilitische
anzusprechen sind, läßt sich jedoch beim Fehlen typischer Gummen
nicht erbringen ; andererseits fällt für diese Auffassung die Eigen-
1) Die Syphilis des Zentralnervensystems im Handbuch der pathol. Anato-
mie des Nervensystems. S. Karger, Berlin.
546 XXVII. RoGGE u. Müller, Tabea^dors.^ Erkrank, d. Zirknlationsorg. u. SyphilU.
art der Gefäßerkrankung sehr in die Wagschale, die im großen
und ganzen den bei Lues beschriebenen Arterienerkrankungen bzn*.
der syphilitischen Kndarteriitis obliterans entspricht. Jedenfalls
weicht das histologische Bild, wie eine Durchsicht unseres oben
niedergelegten Befundes lehrt, ganz erheblich von dem einer ge-
wölinlichen Arteriosklerose bzw. Atheromatose ab.
Die Arteriitis obliterans der Art. basilaris cerebri
hatte man durch starke Intimawucherung und Gerinnselbildong
allmählich zu einer derartigen Einengung des Gefäßlumens geführt^
daß nach mehrfachen apoplektiformen Attacken, die im wesentlichen
der Ausdruck vorübergehender stärkerer Zirkulationsstörungen
waren, sich zuletzt eine Thrombose von Brückenästen mit sekun-
därer Erweichung, namentlich im Brückenfuß, entwickelte. Das
Zurückbleiben einer radikulären Leitungsunterbrechung im rechten
Nervus facialis, acusticus und trigeminus nach dem ersten Anfall
im Krankheitsbeginn wird erklärt durch die oben beschriebenen,
älteren, kleinen Erweichungsherde. Inwieweit die Peri- und Epi-
neuritis der Hirnnerven als Teilerscheinung der Leptomeningitis
die Wurzelsymptome mitbeeinflußt hat, muß unentschieden bleiben.
Jedenfalls deuten die beiderseitigen qualvollen Trigeminusschmerzen
und die schwere und dauernde rechtsseitige Acusticusaffektion auf
eine gleichzeitige Wurzelschädigung hin. Bei der Verlaufsweise
der zentralen akustischen Fasern sind ja schwere, residuäre Gehör-
störungen bei reinen Brückenherden selten.
Die abnorme, wohl kongenitale Höhlenbildung im Halsmark
hat, wie so häufig, keine Erscheinungen gemacht. Man könnte
vielleicht in dieser Entwicklungsstörung im Verein mit der oben
geschilderten Anomalie der Stirnnaht den Hinweis auf einen „Locus
minoris resistent iae** für die späteren syphilitischen resp. past-
syphilitischen Veränderungen am Zentralnervensystem erblicken.
Daß das autoptisch nachgewiesene Aortenaneur}*sma der klini-
schen Untersuchung entging, beruht darauf, daß es symptomlos war
und bei dem auch objektiv negativen Befunde eine Röntgendurch-
leuchtung leider unterblieb.
Dieser Fall ist nicht nur ein gutes Beispiel für das Zusammen-
treffen von Tabes und Gefäßerkrankung auf der gemeinsamen
Grundlage einer Syphilis; er lehrt auch, daß man selbst dann die
Kombination des Nervenleidens mit einer schweren Aortenerkrankung
übersehen kann, wenn man genau darauf achtet — ein weiterer
Beweis dafür, daß wir die Häufigkeit des Zusammentreffens eher
unter- als überschätzen.
XXVIII.
Aus der inneren Abteilung des Stadtkrankenhanses in Posen.
Über das Hydrocephalusstadinm der epidemischen
Genickstarre.
Von
Werner Schultz,
Erstem Assistenzarzt (früher Greifswald >.
(Mit 2 Abbildungen.)
Die Beobachtungen, welche der vorliegenden Mitteilung zu-
grunde liegen, sind an den Fällen einer im Frühjahr dieses Jahres
im Abklingen begriflfenen hiesigen Epidemie gemacht worden. Die
bakteriologische Verfolgung derselben lag in den Händen des Kgl.
Hygienischen Institutes und ihre Ergebnisse sind bereits veröfiFent-
licht.^) Es handelt sich in allen Fällen, in denen wir ein posi-
tives bakteriologisches Ergebnis hatten, um eine Infektion mit Me-
ningokokken.
Wenn wir unser Interesse gerade dem Stadium hydrocephalicum
besonders zuwandten, so geschah es deshalb, weil dieses hier in
«inem besondere hohen Prozentsatz der Fälle zur Todesursache
wurde und wegen seiner langen Dauer und schwierigen Pflege die
Aufmerksamkeit und das Verlangen nach einem wirksamen thera-
peutischen EingriflF immer wieder wachrief.
Auf Anregung von Herrn Geh. Rat Pauly unternahm ich
insbesondere eine Reihe von Hirnpunktionen, deren Ergebnisse den
wesentlichen Punkt dieser Arbeit bilden. In einigen Fällen ver-
wandten wir Kolle-Wassermann'sches Serum, das wir der Liebens-
würdigkeit von Herrn Prof. Wassermann verdanken. Ab-
schließende Ergebnisse über dieses sind wir jedoch jetzt noch nicht
in der Lage mitzuteilen.
Die klinische Symptomatologie ist an anderen Orten, insbeson-
dere neuerdings bei Göppert, eingehend behandelt, so daß eine
kurze Skizzierung genügen möge.
1) Klin. Jahrbuch Bd. 17 S. 96.
Ö48
SXVIII. SCHL-LI
Die Zeichen der beginnendeD Hydrocephalatentwicklang sind bä
einigen EUndem sehr deutlich und zwar faesonderB in Bolchen Fällen, wo
das Kind anscheinend einer blübeoden RekonvsleBcenz entgegen geht.
Stürmiache Fieber erschein ungeu, Delirien usw. sind vorüber. Das Kind
ist ganz oder ftonähemd fieberfrei, es sitzt ira'Bett nnd spielt, antwortet
vernünftig auf alle Fragen, zeigt Interesse für aeiue Umgebung und
freut sich auf den Besuch seiner Angehörigen. Dos erste Zeichen dqd
der lanf^sam kaum merklich sich einatetlenden Störung ist eine altmShlicb
beginnende und sich ateigernde TeilnabniBtoaigkeit des Kindes; es hat
keine Lust zu spielen, aititt nicht gern, liegt lieber. Das Kind, du
vorher aauber war, laßt nnter sich. Ea liegt meist auf einer Seite, atarrt
vor sich hin, die Angen weit auf, so daB oberhalb der Iris Sklera sichtbar
wird, wie bei Basedowkranken. Daa Aussehen dea Kindes r erfüllt
„. . etwas, die rarben sind
° nicht mehr so frisch.
Komplizierte Fragen be-
antwortet es nicht mehr.
Im weiteren Verlauf dann
sind die Äußerungen des
Kindes anf ein Mindest-
maß rednzierL Es ant-
wortet „Guten Tag-
weiter nichts. Ab und
zu ruft es „Trinken",
„Hilch". Es bat dabei
Neigung sich stunden-
lang die Nagel abm-
kanen, in dar Nase her-
um znboh reu, oder si<^b
die trockene juckend«
Haut zu kratzen. Für
ein vorgehaltenes Spiel-
zeug hat es offenbar
kein Interesse. Dagegen
nimmt es ein StBckchen
Cakea oder Apfelsin«
in die Hand und ^gt
gierig an zu kanea. War
das Kind schon vorher
einigermaßen geaSttigt,
so verliert nach einigen
Bissen auch das Stock-
chen Cakes ^ein Inter-
esse nnd das Kind liegt
wieder fast regungslos
mit dem angebUscnen
Stück in der Fanat -da.
Ab und zu tritt jetzt Erbrechen anf, das in diesem Stadium meist
als cerebrales gedeutet werden mnU, denn die Yerdanungafunktioo des
über Aus fifdroceplialnsstadiam der epidemiacheu Genickstarre. 549
Kindes pflegt bei diesem Zustande wochenlang ganz oder annähernd
intakt zubleiben. Im Laofe der Zeit verändert sich das Bild nur inso-
fern, dall trotz nogestörter Nah rungiaoüi ahme der ErnährungszuBtand des
Kindes intensiv leidet. Das Kind magert ab, die Haut wird trooken
nnd faltig, Bampf und Extremitäten werden zum SchluB fast akelettiert.
In diesem letzten Stadiam hören auch die letzten einfachen Reaktionen
des Kindes in Gestalt von Antworten und Aoarafen, Znnire ausstecken
UBw. auf nnd die einsige kämtlicb hervorgebrachte Lebensregung ist die,
datS es schreit, wenn man es aufhebt oder kneift. Die Haltung des
nunmehr skelettartig abgemagerten Kindes, ist stereotyp geworden, der
Kopf ist weit nach hinten herübergezogen. Arme und Beine sind in
Kontrakt» rstellungea fixiert.
Fig. 2.
In anderen Fällen ist ein derartiger trberpang aus der scheinbar
guten Rekonvalescenz in das Stadinm hydrocephaHcum nicht in
der gleichen Weise verfolgbar. Schon in die Fiebeiperiode hinein
drängen sich die beginnenden Symptome des Hydrocephalus, so daß
ein freies Intervall nicht zustande kommt. Durch die Ausbildung
des Stadium hydrocephalicnm wird die Krankheit oft bis in den
4. Monat in die Länge gezogen.
Der Symptomen komplex, welchen wir im Stadium hydrocepha-
Hcum vor uns sehen, ist in er-ster Linie durch den längere Zeit
hindurch wiederholt vermehrten Flttssigkeitsdruck im Gehirn
bedingt. Die Schädigung, welche das Rückenmark etwa erfährt
steht dieser gegenüber jedenfalls im Hintergrund.
Man konnte den Verdacht haben, dall die sehr auffallende Ab-
magerang, welche in den meisten Fällen ziemlich rasch von statten geht,
auf eine Schädigung des peripheren motorischen Neurons zuriiok zuführen
sei. Indessen spricht die Beobachtung dagegen. Im Falle Czcslaus N.
konnte ich bei intensiver Abmagerung des Kindes noch am 110. Krank-
heitsitage (3 Tage vor dem Exitus) beide Fatellarrefiexe auslösen.
X. peroneus nnd N. tibialis ant, waren galvanisch und faradisoh in
normalen Grenzen erregbar bei normaler Zuckungsformcl. Der Typus
der Zackung war vielleicht nicht ganz so prompt wie heim gesunden.
550 XXVIII. Schultz
Fibrilläre Zuckungen kamen in keinem der Fälle zur Beobachtung.
Es ist anzunehmen ; daß abgesehen von Emährungseinflüssen in erster
Linie ein nicht naher charakterisierbarer Einfluß des erkrankten GroB-
hims daneben der Ausfall der motorischen Impulse die wesentliche Ur-
sache sowohl der Abmagerung wie der späten Kontrakturzustände ist
Bei der Bekämpfung des Hydrocephalus inteiiius des Gehirns
sind wir nun mangels genügender Orientierung über die Kommuni-
kationsverhältnisse keineswegs sicher, ob wir diesen günstig be-
einflussen, falls es uns gelingt, im Bereiche der spinalen Lepto-
meuinx durch die Lumbalpunktion eine Druckherabsetzung zu
schaffen. Göppert untersuchte in einer Reihe von Hydrocephalus-
fällen die Funktion der Ventrikelöflfnungen an der Leiche derart,
daß er gefärbte Gelatine oder dünnes Methylenblau ohne EröflEhung
der Schädelkapsel in den Seitenventrikel injizierte und gleichzeitig
den spinalen Duralsack öftnete. Die Flüssigkeit ergoß sich meist
schnell zur Öffnung in der Lendengegend heraus. Nach Erstarrung
der Gelatine bekam man Aufschlüsse über die Flüssigkeitsverteilung
und Göppert wurde, wie er angibt, häufig vor der Annahme ge-
schützt, daß ein völliger Abschluß des vierten Ventrikels bestände.
Er unterscheidet 3 Gruppen von Hydrocephali nach dem Verhalten
der Ventrikelauslässe:
1. Fälle mit völligem Verschluß sämtlicher Ausführwege (4 mal i.
2. Fälle mit verschlossenem For. Magendii, aber kompensatori-
scher Entwicklung der Foramina Luschkae (7 mal).
3. Fälle ohne organisches Stromhindemis (15 mal).
Für die ersten Fälle ergibt sich ohne weiteres, daß die Lumbal-
punktion wohl vorübergehend den Druck im Ventrikelbinnenraum
vermindern kann, daß aber der Hydrocephalus an sich nicht ver-
mindert, vielleicht gesteigert wird, weil Gehimmasse der Occipital-
gegend der Druckverminderung folgend nach dem For. magnum zu
ausweicht. Diese Fälle sind nach Göppert in der Minderzahl,
aber Göppert 's eigene Ausführungen weisen darauf hin, daß der
Leichenbefund sich nicht stets mit dem Verhalten am Lebenden
deckt. Im Falle Georg F. findet er 10 Tage vor dem Tode einen
Anfangsdruck von 2 cm im Lumbaisack, der sich beim Aufsetzen
nicht vermehrte, während die Ventrikelpunktion einen Druck von
7 cm über der Stirn des Kindes ergab — ein Befund, den Göppert.
wenn vielleicht auch nicht ganz zwingend, als Beweis für das Fehlen
der Kommunikation ansieht. Die Sektion erwies völliges Freisein
des For. magendii.
Über das Hydrocephalnsstadium der epidemischen Genickstarre. 551
Es fuhrt dieses Verhalten zur Annahme eines während des
Lebens bestehenden Ventrikelverschlusses, derart, daß die dila-
tierten Hinterhömer des Gehirns das Kleinhirn von oben und seit-
lich gegen die Medulla drücken und die Abflüsse versperren. Kurz
gesagt: wir haben eine Garantie für die wirkliche Bekämpfung
des Hydrocephalus nur dann, wenn wir an den Ventrikel selbst
herangehen.
Den später zu gebenden Ausführungen über die Hirnpunktion
seien zur vergleichenden Orientierung einige Bemerkungen über
die Lumbalpunktion vorangeschickt.
Lumbalpunktion.
Was die Lumbalpunktion bei der Genickstarre betrifft, so ist
ihre Bedeutung zunächst in erster Linie eine diagnostische. Es
gelingt in allen akuten Fällen, falls man nicht etwa den Beginn
der Untersuchung des Lumbaipunkt at es hinausschiebt, was bei der
Labilität des Meningokokkus zu vermeiden ist, einen positiven
Bakterienbefnnd zu erheben. In der Regel läßt sich schon aus
dem makroskopischen Aussehen der Lumbaiflüssigkeit die Diagnose
stellen. Die gewonnene Flüssigkeit sieht schwach milchig getrübt
ans. Die mikroskopische Untersuchung des Triacidpräparates ergab
in frischen Fällen das Vorhandensein von massenhaft gut erhal-
tenen neutrophilen und eosinophilen polynukleären Leukocyten,
daneben Endothelzellen, keine oder nur ganz vereinzelte Lympho-
cvten.
Im weiteren Krankheitsverlauf verändert sich das cytologische
Bild sehr rasch. In etwas fortgeschrittenen Fällen zeigen die
Leukocyten Zerfallserscheinungen des Protoplasmas und der Granu-
lierung Abblassen der Kerne oder man sieht nur noch massenhafte
undeutliche Zelltrümmer. In späten Stadien kann die Lumbal-
ilässigkeit annähernd klar sein. In einigen akuten Fällen erhält
man neben der milchig getrübten Lumbaiflüssigkeit eine etwa
bohnengrofie dicke Eiterflocke. Das Auftreten dieses geballten
Eitei^ wird darauf zurückzuführen sein, daß man bei der Punktion
die eiterig infiltrierten Maschen der Leptomeninx der Cauda equina
verletzt hat. Aus der Zufälligkeit der Entstehung dieses Befundes
ergibt sich, daß derselbe keine besonderen Schlüsse auf die Schwere
der Erkrankung erlaubt. Wir sahen auch solche Fälle in Ge-
nesung übergehen und es ist anzunehmen, daß in allen nicht ge-
rade foudrovant verlaufenden Fällen eine mehrere Millimeter dicke
552
XXVIII. Schultz
eiterige Infiltration der Leptomeninx auf große Strecken hin Ätatt-
findet.
Über den therapeutischen Nutzen der Lumbalpunktion kann
man sich kurz fassen, soweit dies das akute Stadium betrifft. Sehr
häufig beobachtet man, daß die Kranken sofort angeben, eine deut-
liche Erleichterung der Kopfschmerzen unmittelbar im AnschluS
an die Punktion zu verspüren, so daß es indiziert ist, an der Hand
der Beobachtung des symptomatischen Erfolges wiederholt kleine
Mengen (20 — 30 ccm) zu entleeren. Weit schwieriger gestaltet
sich die Frage für das Stadium hydrocephalicum.
Unter anderen ist es Lenhartz gelungen, in einigen Fällen
Kinder durch wiederholte Lumbalpunktionen über das Hydro-
cephalusstadium hinweg zu bringen. Auch wir verfugen über einen
Fall, in welchem das Versinken in die drohende Apathie durch
wiederholte Lumbalpunktionen zeitweise hintangehalten wurde,
allerdings ohne daß es uns gelungen ist, den schließlichen un-
glücklichen Ausgang zu verhindern.
Die nähereu Daten sind in der folgenden Tabelle aufgestellt
Czeslaus N. Lumbalpunktionen im Stadium hydrocephalicum.
Datum
Krank-
heitstag
Menge und
Beschaffenheit
Druck in
mm
Wasser
Erfolg
1.
10. VI. 06.
53.
10 ccm
klar
250 280
Deutliche Besserung für IS
Ta^e. Gut geschlafen. Sea-
sonum freier. NahrnDg?-
aufnahme besser. Xackea-
starre geringer.
2. 13. „ „
56.
19 ccm
190 210
Geringfügige Besserung de?
A Ugemein Verhaltens.
3. 15. „ „
1
1
58.
24 ccm
leicht getrübt
230 310
Kein deutlicher Erfolg.
4. 18. „ „
61.
21 ccm
leicht getrübt
470
Kind weint
do.
Kopfschmerzen, unruhige
Nacht.
o. 23. „ „
66.
21 ccm
leicht getrübt
290
Gut vertragen kein deutlicher
Erfolg.
6.
26. „ .
69.
3 ccm
? gering
Schädliche Folgen der Lumbalpunktion sieht man im Stadium
hydrocephalicum im allgemeinen nicht, abgesehen davon, daß ge-
legentlich Kopfschmerzen auftreten, insbesondere dann, wenn man
den Druck rasch und unter die Norm herabsetzt
über das Hydrocephalasstadinm der epidemischen Genickstarre. 553
Einmal wurde eine ziemlich abandante bis in die Gegend des
Halsmarkes reichende Subdaral}>lutung verursacht.
Es handelt sich um den zweijährigen Erich V., hei welchem in einem
desolaten Zustand einen Tag ante exitnm die Punktion vorgenommen
wurde. In diesem Falle hatten sich am gleichen Tage vor der Punktion
Zeichen einer hämorrhagischen Diathese eingestellt. Der Stumpf war mit
massenhaften Petechien bedeckt. Ein Strich mit dem Perknssionshammer-
stiel färbte sich petechial (hämorrhagischer Dermographismos!). Außerhalb
des Körpers gerann das Blut im Beagenzglas ziemlich rasch.
Für den Ausgang des ganz desolaten Falles fiel die Blutung nicht
wesentlich ins Gewicht.
Hirnpunktion.
Der Versuch unter wiederholten Punktionen das Stadium h}^dro-
cephalicum schließlich zum Stillstand und eventuell zur Heilung
kommen zu sehen, ist deshalb berechtigt, weil die ursächlichen
Momente, welche den Hydrocephalus herbeiführen, eine spontane
Heilungstendenz zeigen. Man sieht, daß bereits deutlich ausge-
bildete Hydrocephaluserscheinungen wieder zurückgehen. (Siehe
unseren Fall Josefa B. im Anfang.)
Technik der Hirnpunktion. ^)
Am einfachsten macht sich die Technik bei kleinen Kindern
mit offenen Fontanellen. Man kann hier am vorderen Band der
großen Fontanelle etwa 2 cm von der Mittellinie mit einer gewöhn-
lichen Lumbalpunktionsnadel durch Haut, Dura und Gehirnsubstanz
direkt in den Ventrikelraum gelangen. Es pflegt dann die Ventrikel-
flüssigkeit unter Druck hervorzusprudeln. Man kann so viel Flüssig-
keit ablassen, als sich spontan entleert, und verschließt die Punk-
tionsöffnung mit Gazebausch und Heftpflaster, oder einfach einem
Stückchen englischen Pflaster. Bei älteren Kindern bedienten wir
uns nach dem Vorgang von Ernst Neißer eines elektrischen
Bohrers, mit dem man durch Haut und Knochen bis auf die Dura
bohil, wobei man deutlich fühlt, wenn die Vitrea durchdrungen
ist. Die Dura selbst wird dann mit der Punktionsnadel durch-
stochen. Als Punktionsort wählten wir mit A. Kocher nach seiner
Technik zur Injektion von Tetanusantitoxin in die Seitenventrikel
f Zentralblatt f. Chirurgie 1899, Nr. 22) eine Stelle 2^j.--3 cm bzw.
2 — 2,5 cm in unseren Fällen bei Kindern lateral vom Bregma, d. h.
der Vereinigungsstelle von Kranz- und Pfeilnaht. Die Tiefe bis zu
1) Die Ergebnisse der Hirnpnnktionen Bind tabellarisch zusammen gefaüt.
554
XXVIII. ScHrLTZ
der man eindringt beträgt etwa 3—5 cm. Im allgemeinen wurde
nicht aspiriert. Geschah dies ausnahmsweise (mit Hilfe der kleinen
Spritze des E. Neißer'schen Bestecks), so wurden üble Zufälle dabei
nicht beobachtet. Narkose war nie erforderlich.
Josefa K.
Datum
3
od
-ö •
g d Hirn-
i='i£^ druck bei
«^ « I Horizon-
gg-^ tallage
;^PQ
in mm
Erfolg
1. Hirnpnnktion im Sta- 1. V.
dium hydrocephalic.
52 30 ccm —
klar
Deutliche Bessenmg am
Tage der Punktion.
Sensorinm klarer, bes-
serer Appetit, ruhiger
Schlaf.
2.
2.
V.
53
20 ccm
Ohne Erfolg.
3.
19.
V.
70 32 ccm 320-340
klar
do.
4. Hirn- und Lumbal-
])uuktion
22.
V.
73 60 ccm 170—310
(beim
Schreien)
Geringfitgige Be>*e-
rung.
5-
28.
V.
79 . ? 210 Ohne Erfolg.
Wladislaus M.
1. Hirupunktiou
30.
IV.
nicht
festzu-
stellen
34 ccm
klar
Besseres AllgemeinTer-
halten. Nachlassen
der spastischen Kon-
trakturen.
n
2.
V.
n
30 ccm
Kind trinkt besser.
Spät. Erampfzusund.
Exitus.
Sofie B.
Datum
Krank-
heits-
tag
Menge und
Beschaffenheit
Erfolg
1. Hirnpunktion ' 11. V.
I
I
2. Hirn- und Lum- 1. VI.
balpunktion <
23 - 23 ccm klar
44 24 ccm
spurweise ge-
trübt
Erbrechen vorBber-
gehend beseitigt.
Eine Nacht ruhigerer
Schlaf und Verringt-
rnng der Nacken-
starre.
1. Hirnpuuktion
24. VI.
Alfred R.
76 I 40 ccm klar
Gut vertragen.. Keine
wesentliche Ände-
rung des Zustandes.
über das Hydrocephalusstadium der epidemischen Genickstarre. 555
1
Datum
Krank-
heits-
tag
Menge und i „ , ,
^ . - . . Erfolg
Beschaffenheit '
1
9
Uimpnnktion n.
Lumbalpunktion
26. IV.
! 78. 30—35 ccm klar
5 ccm leicht
getrübt
Ohne Einfluß.
3.
Hirupunktion
1. V.
' 83. , 25 ccm klar
1
do.
4.
1
12. V.
\ 94. i43-44 ccm klar do.
Marianne C.
Himpunktion
25. V.
nicht fest-
zustellen.
1
15 ccm klar
Vorübergehende Besei-
tigung von Krampf-
zuständen.
Als sicher ist anzunehmen, daß es im Stadium bydrocephalicum
der Genickstarre möglich ist, den Himdrack durch Lumbalpunktion
herabzusetzen.
Bei Kindern mit offenen Fontanellen kann man sich hiervon durch
die einfache Betastung vor und nach der Lumbalpunktion überzeugen.
Im Falle Josefa K. haben wir dies Verhalten bei gleichzeitiger
Hirn- und Lumbalpunktion durch successives Ablassen von Lumbal-
fl&ssigkeit und parallel gehende Hirndruckmessung zahlenmäßig
verfolgt.
Josefa K. Hirn- und Lumbalpunktion. 22. Mai 1906.
Das Kind liegt in horizontaler Lage. Die zuerst ausgeführte Him-
punktion ergibt 170 mm Druck, gemessen von der Einstichstelle; beim
Schreien steigt derselbe bis 310 mm. Alsdann Lumbalpunktion:
Druck zunächst 130 mm, beim Schreien ebenfalls 310 mm. Nachdem
sich die Niveaus in beiden Steigrohren nach dem Gesetz der kommuni-
zierenden Röhren gleich eingestellt haben, wird abwechselnd das Kopf-
ende und das Beckenende des Kindes erhoben: stets stellt sich in beiden
Steigrohren nach kurzer Zeit ein horizontales Niveau her, soweit genau
als es mit einem daneben gehaltenen Maßstab abgeschätzt werden kann.
Nachdem sich bei Wiederherstellung der horizontalen Lage ein
Druck von 210 mm auf beiden Seiten hergestellt hat, wird das Lumbai-
steigrohr abgenommen. Alsdann wird successive LumbalÜüssigkeit in
abgemessenen Portionen abgelassen und der jeweils entsprechende Hirn-
druck festgestellt:
Man erhält nach Ablassen von Null ccm Lumbalflüssigkeit Himdruck (H)
r
» 12 „
M von weitereren 8 ccm
10 .
6 »
2
3
«
n
n
H
H
H
H
H
H
H
H
210 mm
135 „
105 .,
65 ,,
60 ^
55 „
40 .,
30 ^
556 , XXVIII. Schultz
Somit ist der Hirndruck nach Ablassen von im ganzen 43 ccm
Lumbalflüssigkeit von 210 mm Anfangsdruck auf 30 am Schluß gesunken.
Die Lumbalpunktionswunde wird jetzt geschlossen. Nachem sich
wieder ein Hirndruck von 55 mm hergestellt hat, fließen aus der Hirn-
punktionsnadel nach Entfernung des Steigrohrs noch 17 ccm spontan ab,
«o daß im ganzen 60 ccm Cerebrospinalfiüssigkeit entleert sind.
28. Mai 1906. Hirn- und Lumbalpunktion.
Das Kind befindet sich in horizontaler Lage Das Kind ist so ge-
lagert, daß die Hirnpunktionsöffnung etwas tiefer liegt als die Lumbal-
punktionsstelle. Der Hirndruck beträgt 210 mm, der Lumbaidruck
105 mm. Durch successives Erheben des Beckenendes erhält man einen
Himdruck von 240 mm, während der gleichzeitig bestehende Lumbaidruck
"90 mm beträgt. Nach Wiederherstellung der horizontalen Lage findet
beim Erheben des Kopfendes das Umgekehrte statt : Der Hirndruck föllt
und der Lumbaidruck steigt.
Ablassen von Lumbalflüssigkeit bewirkt progressives Sinken des
Hirndrucks.
In diesem Fall zeigen Hirn- und Lumbalflüssigkeit eine deutliche
Farbendifferenz. Während die Ventrikelflüssigkeit minimal getrübt fast
wasserhell aussieht, zeigt die ebenfalls klare Lumbalflüssigkeit einen hell
gelb-braunen Ton, der offenbar von verändertem Blutfarbstoff als Resi-
duum einer früheren Punktion herrührt.
Nach diesem Befund muß man wohl annehmen, daß trotz be-
hinderter Kommunikation zwischen Ventrikelbinnenraum und Spinal-
ilüssigkeit ein Druckausgleich durch Inanspruchnahme der Elastizität
der trennenden Gehirnsubstanz möglich ist, und daß dieser durch
Lumbalpunktion gewonnene Erfolg in vielen Fällen ein Scheinerfolg
ist. Der Hirndruck wird zwar vermindert, der Hydrocephalus aber
durch ein Nachgeben der Hirnsubstanz vermehrt. Es ergibt
sich hieraus eine Überlegenheit der Hirnpunktion über die Lumbal-
punktion, an der wir festhalten müssen, solange wir nicht in
der Lage sind, den Hydrocephalus anders als mechanisch zu be-
kämpfen.
Als ungünstiges Ereignis müssen wir eine intraveutiikul&re
Blutung aus der Ventrikeldecke bei einem bei der Aufnahme elf
Monate alten Kinde verzeichnen. Das nähere besagt das Protokoll
{siehe unten).
Kurz zusammengefaßt läßt sich nach meinen Beobachtungen
folgendes sagen:
Es wurde durch die Hirnpunktion in nicht allzu
vorgeschrittenen Stadien eine Aufhellung des Sen-
soriums, Besserung des Appetites, Aufhören von
Krampfzuständen, Schlaflosigkeit und Erbrechen
erreicht, jedoch alles nur vorübergehend — in samt-
über das Hydrocephalnsstadinm der epidemischen Genickstarre. 557
liehen Fällen konnte der schließliche Exitus lethalis
nicht verhindert werden. Nichtsdestoweniger kann
man nur raten, in allen nicht zu vorgeschrittenen
Fällen die Hirnpunktion zu versuchen, weil die Er-
fahrung zeigt, daß ein Aufschub jedenfalls erzielt
wird, und andererseits zu hoffen ist, daß ein solcher
in geeigneten Fällen genügt, um die vorhandene
Heilungstendenz zur Geltung kommen zu lassen und
das gefährliche Stadium zu überwinden.
Im Anhange lasse ich die Krankengeschichten meiner Fälle
nebst Obduktionsbefunden folgen. Die letzteren verdanke ich
Herrn Professor Busse.
Anhang.
Josef a K., 5 Jahre alt.
Anamnese: Das Kind ist seit 11. März 1906 krank. Beginn mit Er-
brechen, Kopf- und Genickschmerzen.
Status bei der Aufnahme : Im Gesicht Herpes labialis. Nackenstarre,
Opisthotonus, Leib eingezogen, Lungen und Herz ohne Besonderheiten.
Sensorium frei. Höchste Tagestemperatur 38,3 rektal.
Die Temperaturkurve ergibt in den nächsten Tagen ein unregelmäßig
remittierendes Fieber, das bis 39, auch 40^ steigt. Am 17. März werden
4 ccm Wassermann'sches Serum injiziert. Der Allgemeineindruck des
Kindes ist kein schwerer, die Nahrungsaufnahme ist gut. Am 31. wird
die Seruminjektion wiederholt (5 ccm).
Li den ersten Apriltagen ist das Kind trotz des fortbestehenden
Fiebers munter, sitzt oft auf, und spielt im Bett. Die Nahrungsaufnahme
ist fortgesetzt gut. Ganz allmählich bahnt sich eine Verschlechterung an.
3. April. Leichte Nackenstarre, Kernig negativ, Arme und Beine
frei beweglich. Händedruck beiderseits kräftig. Beide Pupillen sind
mittelweit. Die Fatellarreflexe sind beiderseits vorhanden. Klagt etwas
ftiber Kopfschmerzen.
24. April. Das Kind ist benommen. Es antwortet nicht, steckt auf
Anrufen die Zunge nieht heraus. Wälzt sich unruhig hin und her. In
•der Stellung der Augen besteht Neigung zur Inkongruenz. Nackenstarre
ist vorhanden. Von diesem anscheinenden Übergang in ein chronisches
■Stadium hydrocephalicum erholt sich das Kind. Die Benommenheit ver-
liert sich. Es ist zunächst noch apathisch. Antwortet jedoch. Weiterhin
(18. April) wird das Sensorium völlig frei, und das Kind antwortet in
Jebhafter Weise. Fieber tritt in dieser und in der Folgezeit nur in ein-
zelnen geringen Schüben auf.
Die Besserung hält jedoch nicht lange an. Am 21. April ist das
Kind weniger munter, es erbricht zweimal. Die Augen sind abnorm weit
geöffnet. Naokenstarre besteht.
25. April. Leichte Benommenheit hält an. Das Kind spricht wenig.
^ Guten Tag" beantwortet es in einer gewissen Apatliie zehnmal hinter-
.« inander.
Deutsches Archiv fttr klin. Med. 89. Bd. 36
558 XXVIII. Schultz
30. April. Benommen. Teilnahmslos. Anfall von krampfartigem
Opisthotonus mit £rhrechen.
1 . Mai. Mittags I Uhr Himpnnktion. (Positiver Meningokokkenbefand !)
Es werden 30 ccm klare Flüssigkeit entleert. Keine Narkose. SchmerzänEe-
rang geringfügig. Nachmittags ist das Kind etwas munterer. ESs trinkt
Ißt Apfelsinenstücke. Der Effekt ist kein sehr starker, aber durchaus deut-
licher. Das Kind antwortet auf Fragen ^ was vorher nicht oder nur
zögernd der Fall war. Abends erbricht es, die reichlich genossenen Apfel-
sinenstücke. In der Nacht schläft es ruhiger als in den Nächten vorher.
Am 2. Mai ist es wieder völlig teilnahmslos. Antwortet nicht. Gibt
nicht die Hand. Weint bei Prüfung der Nackenstarre. Nachmittags
5 Uhr zweite Hirnpunktion: Es werden 20 ccm aspiriert. Die Apathie
besteht nach der Punktion fort. (Fig. 1 vom 3. Mai 1906.) ')
In der Folgezeit tritt nach geringer spontaner Besserung eine weitere
Verschlechterung ein. Häufiges Erbrechen. Krämpfe. Meistens liegt das
Kind regungslos mit geöffneten Augen in einer stereotyp gewordeneu
Haltung apathisch da.
19. Mai. 5 ^/^ Uhr nachmittags dritte Hirnpunktion. Es werden
32 ccm wasserklare Cerebrospinalflüssigkeit entleert. Der Druck betragt
320 — 340 mm. Nach der Punktion besteht die Nackenstarre fort, des-
gleichen die weite Öffnung der Augen. Keine Änderung des Znstandes.
22. Mai. Hirn- und Lumbalpunktion. Es werden 60 ccm entleert.
Nach der Punktion einmal „Mama^ gerufen, vorher seit Wochen kein
Wort. Mit gutem Appetit ein Ei gegessen und Milch getrunken.
23. Mai. Liegt regungslos wie vorher.
Vom 25. Mai ab wird das Kind nebenher täglich einmal warm ge-
badet. Krämpfe. Erbrechen bestehen fort.
28. Mai. Fünfte Hirnpunktion mit Lumbalpunktion (Näheres siehe
unten). Kein Effekt.
Das Kind wird immer elender. Krämpfe, Erbrechen Nystagmus.
6. Juni. Exitus nachts 12 »/^ Uhr.
Sektion: Im Bereiche des Htimhirns 7 Punktionslöcher im Schädel.
Die Windungen des Großhirns sind stark abgeplattet, die GrefaBe
wenig mit Blut gefüllt, an der Konvexität kein Eiter. Das Gehirn hat
eine schwappende Konsistenz. Beim Dnrchschneiden des Hypophysenstieles
entleert sich leicht getrübte Flüssigkeit. Nach der Herausnahme des
Gehirns sieht man in der Umgebung der Oblongata und des Pons sowie
namentlich an der Basis des Kleinhirns gelben Eiter, der sich mit dem
Messer in den Maschen der Pia hin und her schieben läßt, aber nirgends
abzustreichen ist. Beim Eröffnen der Ventrikel entleert sich viel Flüssig-
keit, die im ganzen leicht getrübt, noch zahlreiche Fibrinflocken enthält
und mit der bereits entleerten Ventrikelflüssigkeit zusammen 260 ccm mißt.
An der Vorderseite des Kückenmarks, im Brustteil, an seiner Rücken-
seite besonders im Lendenteil findet sich noch deutlich wahrnehmbar
Eiteransammlung in der Pia.
Die Sektion der übrigen Höhlen ergibt keine besonderen patholo-
gischen Veränderungen.
1) Die Abbildungen verdanke ich Herrn Assistenzarzt Dr. Erwin Schmidt.
über das Hydrocephalusstadium der epidemischen Genickstarre. 559
WladiBlaus M., 11 Monate. Aufgenommen am 23. März 1906.
Anamnese nicht erhältlich.
Die hei der Aufnahme des leidlich genährten Kindes heohachteten
Symptome sind: Nackenstarre, Opisthotonus, Vortreihung der großen
Fontanelle, gesteigerte Patellarreflexe. Untersuchung des Lumhalpnnktates
ergiht positiven Meningokokkenbefnnd.
In der Folgezeit besteht ein Fieber, das sich remittierend um 38
und 39 ^ bewegt, und bis zum Exitus des Kindes anhält.
5. April. Nackenstarre und Opisthotonus vorhanden. Beine an-
gezogen. Bauchdecken angespannt. Die große Fontanelle ist offen, in
ihrem Bereiche prall elastische Vorwölbung der Haut. Die Patellar-
reflexe sind lebhaft.
Auf den Lungen rechts hinten unten mäßige Dämpfung und fein
blasiges Hasseln.
In der Folgezeit verschlechtert sich der Znstand des Kindes lang-
sam. Die Nackenstarre hält an. Zuweilen tritt Erbrechen auf.
21. April. Das Kind sieht sehr elend aus, schwitzt stark am Kopf
die Arme werden krampfhaft gebeugt gehalten, mit geballten Fäusten.
Beim Auslösen der Patellarreflexe erfolgt rechts ein klonisches Zittern
des Beines. Die Augen sind weit geöffnet. Oberhalb der Iris ist beider-
seits Sklera sichtbar.
24. April. Ahnlicher Znstand wie am 21. April. Arme und Beine
jetzt deutlich hypertonisch. Letztere werden gerade steif ausgestreckt
gehalten. Die Patellarreflexe sind gesteigert.
Am 25. April tritt eine weitere Verschlechterung des Zustandes
ein, die durch eine Pneumonie beider Unterlappen, rechts auch zum Teil
des Oberlappens bedingt ist.
Die schwere Komplikation wird trotz des schweren Allgemein-
zustandes überstanden.
Da allem Anschein nach jetzt ein Hydrocephalus besteht, und ein
Andauern des äußerst elenden Zustandes des Kindes seinen nahen Exitus
befürchten läßt, wird am 30. April mittags 1^/^ eine erste Hirnpunktion
beider Seitenventrikel vorgenommen. Es werden im ganzen 34 ccm klare
Cerebrospinalflüssigkeit gewonnen. Es wird direkt durch die große Fon-
tanelle an deren vorderen Rand 2 — 3 cm von der Mittellinie ohne Durch-
bohrung des Knochens punktiert.
Die vorher straff festgespannte Fontanelle wird weich.
Nachmittags sieht das Kind munterer aus, stöhnt nicht mehr, trinkt
reichlich. Die spastischen Kontrakturen haben in ihrer Intensität merk-
lich nachgelassen.
2. Mai. Nachdem sich die Steifigkeit der Arme und Beine wieder-
hergestellt hat, wird nachmittags 5 ^'2 ^^^ ®^°® erneute Himpunktion
geuEiacht. Es entleeren sich 30 ccm spontan. Nach der Punktion trinkt
das Kind besser als vorher.
3. Mai. Mittags gegen 12 Uhr tritt ziemlich plötzlich in einem
krampfartigen Zustand der Exitus ein.
Sektion: Knabenleiche in mäßigem Ernährungszustand. Bauch
sehr stark aufgetrieben. Füße in Spitzfußstellung, die Zehen nach der
36*
560 XXVni. Schultz
Sohle hin umgebogen, die Hände und Finger sind stark gebengt. Der
Kopf zeigt einen verhältnismäßig großen Schädelteil. Die Augen liegen
sehr tief in den Höhlen, die Stirn springt stark vor.
Auf der Scheitelgegend befindet sich beiderseits eine durch Verband
geschlossene Punktionswunde. Der Verband ist auf der rechten Seite
blutig durchtränkt, auf der linken trocken. Auf der rechten Seite be*
findet sich eine etwa talergroße Blutung unier der Haut.
Die Fontanellen sind weit offen. In dem hinteren Teil des linken
Scheitelbeines findet man mehrere häutige Stellen. Beim Ablösen des
Schädeldaches zeigt sich auf der rechten Konvexität zwischen Dura und
Pia ein Blutgerinnsel. Dasselbe stammt aus einer Vene des Stimlappens :
die Punktion ist gerade durch eine Furche hindurchgegangen. £s tritt
hier aus dem Stichkanal ein kleines Blutkoagulum hervor. Auch auf der
anderen Seite ist die Punktion durch die entsprechende Furche hindurch-
gegangen. Bei Herausnahme des Oehims erweist sich die Pia mater im
vorderen Teile von einer weißlichen rahmigen Hasse durchsetzt. An der
Basis finden sich unterhalb des Kleinhirns und um das verlängerte Mark
herum Ansammlungen von dickem Eiter, der sich als Delle an der Basis
des Kleinhirns abgedrückt hat. In dem Ventrikel befinden sich teäls
klare Flüssigkeit, teils sulzige bräunliche Blntmassen. Im ganzen lassen
sich aus den Ventrikeln 200 ccm entleeren.
Im rechten Ventrikel befindet sich ein noch dunkleres Blutgerinnsel
von Taubeneigröße. Das Ependym ist im ganzen verdickt, und mit
Eiter und blutigen Massen besonders im hinteren Teil belegt. Die
Stichkanäle für die Punktion sind auch an der Decke der Seitenventrikel
bemerkbar. Der eine wird aufgeschnitten und enthält Blut. Der Boden
des Ventrikels ist unverletzt, so daß die Blutung durch die Vene zweifel-
los von oben her erfolgt ist.
Sofie B., 4 Jahre alt. Aufgenommen 31. April 1906.
Anamnese: Das Kind ist am 19. April 1906 mit Erbrechen,
Fieber, Kopfschmerzen und großer Unruhe plötzlich erkrankt.
Status: Das Elind ist dem Alter entsprechend groß; von gniem
Ernährungszustände. Es sieht etwas blaß aus. Es kann stehen, wenn
es auf die Beine gestellt wird. Deutliche Nackenstarre. Kein Herpes,
kein Exanthem. Zunge weißlich belegt. Hachenteile gerötet. Beider-
seits Über erbsengroße Submaxillardrüsen. Innere Organe ohne beson-
deren Befund. Pupillen und Patellarreflexis vorhanden. Lumbalpunktion
ergibt stark eiterige Lumbaiflüssigkeit. Temperatur 38,0 ^\
In der Folgezeit besteht ein unregelmäßiges remittierendes Fieber,
das bis zum 3. Mai anhält und dann einer Periode von etwa normalen
Temperaturen mit einzelnen schubartigen Fiebersteigerungen weidit.
Schon in der ersten Fieberperiode entwickeln sich unmerklich die ersten
Hydrocephalusersch einungen.
1. Mai. Nackenstarre besteht fort. Kernig negativ. Das Kind
schläft viel. Spielt nicht. Die Augenbewegungen sind allerseits frei.
5. Mai. Der Kopf ist stark hintenübergezogen. Die Augen sind
weit geöffnet, geradeaus gerichtet. Es gelingt nicht das Kind za ver-
über das Hydrocephalusstadinm der epidemischen Genickstarre. 561
anlaasen, mit den Augen dem vorgehaltenen Finger zu folgen. Die Zunge
wird auf Verlangen auBgeetreckt.
7. Hai. Tief benommen. Schläft viel. Läßt unter sich. Trinkt
wenig. Liegt meist ganz still, oder macht automatische Bewegungen
mit dem rechten Arm und dem linken Bein. Nackenstarre besteht fort.
(Hydrooephalus !)
Seit dem 2. Mai häufig erbrochen.
11. Mai. Abends 6 XJhr. Hirnpunktion. Es werden 23 com klare
Flüssigkeit entleert. (Positiver Meningokokkenbefund.) In der Nacht schläft
das Kind ruhig. Kein Erbrechen.
12. Mai. Starke Nackenstarre wie vorher. Teilnahmslos. Rhyth-
mische seitliche Augenbewegungen. Andeutung von Gheyne-Stokes'schem
Phänomen. ( Einziger Erfolg der Himpunktion vorübergehend fehlendes
Erbrechen).
16. Mai. Teilnahmslos. Läßt unter sich. Antwortet nicht. Knirscht
mit den Zähnen. Trinkt wenn man ihm anbietet.
19. Mai. Erfolglose Himpunktion 5^/« Uhr nachmittags. Es wird
kein Liquor entleert.
In der Folgezeit ständig dasselbe Bild: Häufig Zähneknirschen, Er-
brechen.
31. Mai. Nackenstarre besteht fort. Ausgebildete Kontrakturen.
Arme gestreckt vom Rumpf weg gehalten, rechte Hand in Beuge- und
Abdnktions-, linke in Flexionskontraktur. Beine in den Knieen gebeugt.
1. Juni. Hirn- und Lumbalpunktion. 24 ccm spurweise getrübte
Flflssigkeit werden entleert.
2. Juni. In der Nacht länger und ruhiger geschlafen als vorher.
Morgens Nackenstarre etwas geringer. Nachmittag Benommenheit, Zähne-
knirschen, Erbrechen wie vorher. Sehr geringer Effekt der Punktion.
5. Juni. Nachts 12^ 1^ Exitus. Sektion verweigert.
Alfred R., 3 Jahre alt.
Anamnese: Das Kind ist am 9. Februar erkrankt. Beginn mit
hohem Fieber, Durchfall und Erbrechen. Einige Tage vor der Auf-
nahme stellt sich Nackenstarre ein. Bei der Aufnahme am 18. Februar
besteht leichte Nackensteifigkeit. Das Sensorium ist frei. Die Tempe-
ratur ist normal. Im übrigen keine Besonderheiten. Die Untersuchung
des Nasenrachenschleims ergibt Meningokokken.
In der Folgezeit tritt ein unregelmäßiges remittierendes oder inter-
mittierendes Fieber auf, das am Ende der 4. Krankheitswoche normalen
bzw. subfebrilen Temperaturen Platz macht. Vom 44. bis zum 72. Krank-
heitstag verläuft dann wieder eine Fieberperiode deren höchste Spitzen
sich 89 Orad nähern. Die Schlußperiode zeigt normale bzw. subfebrile
Temperaturen mit einzelnen vorübergebenden eintägigen Spitzen.
In der Zeit vom 13. — 21. März machen sich die ersten Anzeichen
des beginnenden Stadium hydrocephalicum bemerkbar. Bei relativ
niedrigen Temperaturen bestehen Nackenstarre, Opisthotonus, vorüber-
gehend besteht Benommenheit.
24. März. Nachts wieder Steigerung auf 39 ^. Erbrechen. Nystagmus»
Bei der Übernahme in den ersten Apriltageu fand ich ein völlig
562 XXVIII. Schultz
ausgebildetes Stadium hydrocephalicum vor. Das Kind war äußerst
mager. Liegt fast völlig regungslos da, mit Kaokenstarre und Opistho-
tonus. Erst auf heftiges Kneifen reagiert es mit Stöhnen.
Die Beine sind an den Leib gezogen. Ihrer Streckung setzt sich
Widerstand entgegen. Von Seiten der inneren Organe liegen keine
Störungen vor. Im auffallenden Qegensatz zu der guten Nahrungsauf-
nahme — das Kind trinkt begierig aus der Milchflasche zurzeit 21^ 1
pro Tag — steht schon jetzt die zunehmende intensive Abmagerung!'
Am 14. April. Das Kind liegt mit Nackenstarre regungslos b
derselben Haltung wie vorher. Die nähere Prüfung der Kontraktion^-
stellung der Beine ergibt keine eigentliche Hypertonie, vielmehr gelingt
die Herstellung der Streckstellung zunächst ohne Widerstand, erst weiter-
hin macht sich eine Hemmung geltend, die offenbar auf die Yerkürsung
der Antagonisten infolge der langen gleichmäßig beibehaltenen Ruhe-
stellung zurückzuführen ist. Die Fatellarreflexe fehlen beiderseits. Be-
züglich der Arme läßt sich dasselbe feststellen wie an den Beinen.
Auch hier keine Hypertonie, sondern Muskel widerstand durch Anta-
gonisten Verkürzung. Die Pupülenreaktion ist beiderseits vorhanden.
Zu einem offenbar schon vorgerückten Zeitpunkt des Stadium hydro-
cephalicum wird am 24. April mittags ll^s ^^^ erste VentrikelpunktioD
2^/2 c^ rechts von der Yereinigungsstelle von Kranz- und Pfeilnaht
vorgenommen.
Die Nadel dringt 34 mm tief ein. Es werden unter Druck 40 com
wasserklare Flüssigkeit entleert.
Eine wesentliche Änderung im Verhalten des Kindes tritt nicht auf,
es schläft in der folgenden Nacht ruhig, es trinkt reichlich wie vorher.
26. April mittags 12^/^ Uhr zweite Hirnpunktion.
Auf der rechten Seite 2 cm von der Mittellinie vom Punkte des
Zusammentreffens der Kranz- und Pfeilnaht.
Es werden 30 — 35 ccm wasserklarer Yentrikelinhalt entleert.
Im Anschluß hieran wird lumbal - punktiert und es werden 5 ccm
ganz leicht getrübte Lumbaiflüssigkeit gewonnen. Abends läuft unter
dem Verband noch etwas Gerebrospinalflüssigkeit aus der letzten Him-
punktionsstelle in das Kopfkissen. Äußeres Verhalten unverändert.
28. April. Augenuntersuchung ergibt beiderseits Neuritis optica,
verwaschene Papillengrenzen, rechts stärker als links.
1. Mai mittags 1^/2 Uhr dritte Hirnpunktion. 25 ccm klare Flüssig-
keit entleert. Kein Effekt. (Fig. 2 vom 3. Mai 1906.)
Vom 5. Mai ab tritt durch hinzutretende Durchfälle eine weitere
Verschlechterung ein. Das Kind ist so völlig apathisch, daß es auch
auf die offenbar sehr schmerzhafte gewaltsame passive Überwindung der
Kontrakturstellung der Arme und Beine, Hände und Füße nicht eiamal
mit Schreieil reagiert.
12. Mai. Vierte Hirnpunktion.
Entleerung von 43 — 44 ccm klare Flüssigkeit.
Die Dekubitusgefahr ist bei dem äußerst abgemagerten Kinde so
groß, daß das Kind täglich wiederholt auf die andere Seite gelegt werden
muß, weil die rasch eintretende Kötang und Verdünnung der Haut Ge-
schwürsbildung fürchten läßt. In die Hände, welche geballt gehalten
über das Hydrocephalusstadiam der epidemischen Genickstarre. 563
werden, sind Wattebäusche gelegt, um zu verhindern, daß sich die Nägel
in das Fleisch hineinbohren.
Am 16. Mai ll^/^ vormittags, also dem 98. Krankheitstag tritt
unter Trachealrasseln der Exitus ein.
Sektion (Auszug): Schädelumfang 48 cm. Das dünne Schädel-
dach zeigt in Yerheiiung begriffene Punktionsöffnungen. Die Dura ist
stark gespannt. Die Gyri sind abgeplattet. Die Piagefäße wenig gefüllt.
Kein Eiter. Beim Durchschneiden des Hypophysenstieles sprudelt klare
Flüssigkeit heraus. Das Gehirn schwappt. Es werden 320 ccm Ven-
trikelflüssigkeit gemessen. Das Ependym der Ventrikel ist verdickt, es
spannt sich im Hinterhom, wo der Schnitt nicht gleich bis in die Ven-
trikel gefuhrt wurde, membranartig an. Am Bückenmark sind die Ge-
fäße der Pia noch leicht injiziert.
Der Fall kann als Beleg dafür dienen, wie intensiv im Stadium
liydrocephalicum die Neigung zu Neuproduktionen von Cerebrospinal-
flüssigkeit ist. Gleichzeitig weist er uns darauf hin, daß in späteren
Stadien die Aussichten auch auf eine nur vorübergehende Besserung
des Zustandes durch einzelne Himpunktionen äußerst gering sind,
und daß wir, falls wir eingreifen wollen, den EingriflF nicht allzu-
lange hinausschieben dürfen.
Andererseits beweist er eine gewisse Resistenz des Gehirns
gegenüber der Infektion von außen, die bei dem elenden AUgemein-
zustand bemerkenswert ist.
Marianna C, 7 Monate alt.
Anamnese: Das Kind soll seit 14 Wochen krank sein, an Er-
brechen und Krämpfen gelitten haben.
Status: Welk aussehendes schlecht ernährtes Kind, im KoUaps-
zustand. Nase und Extremitäten kühl, Haut schilfernd, trocken. Keine
Nackenstarre. Patellarreflexe auslösbar. Lungen ohne Dämpfung und
Rasseln. Herzdämpfung nicht vergrößert. Töne rein. Abdomen weich,
nicht eingezogen. Lumbalpunktion ergibt wenige ccm schwach trübe
Lumbaiflüssigkeit, in der ein Meningokokkennachweis nicht gelingt. Sub-
normale Temperaturen (um 36 %
20. Mai. Keine Augenhintergrundsveränderungen. Cheyne-Stokes-
sches Atmen.
3L Mai. Hände, Nase, Ohr kühl wie vorher. Die gestern noch
straff gespannte Fontanelle ist eingesunken. Eigentümliche wechselnde
KrampfsteUungen der Hände und Finger, am ehesten noch athetotischen
vergleichbar.
25. Mai. Abends 8^/2 IJhr Himpunktion. 15 ccm klar spontan
enÜeert. Die vorher straff gespannte Fontanelle ist danach eingesunken,
!Es wird ein Kompressionsverband um den Kopf angelegt.
26. Mai. Das Kind schlief gut. Es scheint mehr Buhe zu haben,
es schläft viel, während es vorher auch nachts die Augen meist offen
hielt und die Finger und Händchen bewegte.
Abends Zustand wie vor der Punktion. Augen meist geöfinet.
^
564 XX VIII. Schultz, Üb. d. Hydrocephalofistadinm d. epidem. Genickstarre.
Eigentümliche wechselnde Krampfsteliimgen der Hände und Finger wie
vorher.
28. Mai. Nahrungsaufhahme seit geetem sohlechter, schluckt schlecht.
29. Mai. Sehr elend, Kopf verband entfernt. Große Fontanelle
eher eingesunken. Links Papille und Lidspalte weiter als rechts.
30. Mai. Exitus abends 6 Uhr.
Literatur.
F. Göppert. Zur Kenntnis der Meningitis cerebrospinalis epidemica mit be-
sonderer Berücksichtigung des Kindesalters. Klinisches Jahrbach Bd. XV.
Heft Sj 1906 (s. dort weitere Literatnrangaben).
Lenhartz, Zur Behandlang der epidemischen Genickstarre. Mttnch. med.
Wochenschr. 1906. Nr. 62.
Kocher, Albert« Über eine einfache Trepanationsmethode fttr intracerebrale In-
jektionen. Zentralblatt f. Ohirargie Nr. 22 1899.
XXIX.
Ans der ffledizinischen Klinik zu Leipzig.
(Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Curschmann.)
Der Einfluß des Banchens auf den Kreislauf.
Von
Medizinalpraktikant Erich Hesse.
Die Wirkungen, welche der Tabakgenafl auf den menschlichen
Organismas ansttbt, sind sehr verschiedenartige. Während der eine
dem Rauchen einen beruhigenden Einfluß zuschreibt, bema^ken
andere eine Anregung, noch andere werden unzweifelhaft direkt
erregt, und schließlich gibt es gegen Tabak intoleraute Individuen,,
bei denen schon der geringste Tabakgenuß Übelkeit auslöst Von
Vielen wird trotzdem völlige Unschädlichkeit des gewohnheits-
mäßigen Tabaksgenusses behauptet. Als Beispiel vermag wohl
jeder Leute anzuführen, die ohne erkennbare Schädigung Jahr-
zehnte hindurch bis ins hohe Greisenalter große Mengen, oft auch
schweren Tabaks konsumiert haben. Demgegenüber sieht man
zahlreiche Patienten, deren verschiedenartige Leiden, ob mit Recht
oder Unrecht, sei vorläufig dahingestellt, auf den Tabakgenuß zu-
r&ckgeffihrt werden. Ganz besonders sind es Störungen des Nerven-
systems, vor allem aber auch des Zirkulationssystems, welche durch
den Tabak hervorgerufen werden sollen.
Ich habe, um festzustellen, ob überhaupt eine unmittelbare
Wirkung des Rauchens auf den Kreislauf nachzuweisen ist, und
welcher Art diese ist, auf Veranlassung von Herrn Prof. Päßler^
damaligen 1. Assistenten des Herrn Geheimen Medizinalrat Cursch-
mann in der Leipziger medizinischen Klinik eine Reihe diesbezüg-
licher Versuche angestellt.
Diese Versuche erstreckten sich auf die Beobachtung des Blut-
drackes und der Pulsfrequenz vor, während und nach dem Rauchen.
Die Untersuchten waren teils Studenten, teils Patienten der Klinik^
566 XXIX. Hesse
ihr Alter schwankte zwischen 20 und 57 Jahren. Femer habe
ich sowohl Gewohnheitsraucher wie auch Nichtraucher zur Unte^
suchung verwandt, ein Umstand, der mir besonders wertvoll er-
schien. Sämtliche Messungen wurden vorgenommen in Bückenlage,
die die zu Untersuchenden von Beginn der 1. Messung vor dem
Bauchen bis zur letzten Messung nach Schluß des Rauchens bei-
behalten mußten. Es wurde außerdem streng darauf gehalten,
daß während der Messungen seitens der betreffenden Leute jedes
Sprechen vermieden wurde, um etwa durch die Unterhaltung ein-
tretende psychische Einfltisse, die das Resultat beeinträchtigen
könnten, möglichst auszuschalten. Endlich WTirde in jedem ein-
zelnen Falle registriert, wann die Leute die letzte Mahlzeit ein-
genommen hatten und welcher Art diese war, weil bekanntermaßen
nach Nahrungsaufnahme eine Steigerung des Blutdruckes eintritt.
Zur Verwendung kam eine leichte Brasilzigan^e, doch wurden
auch einige Untersuchungen mit Habannaimporten und mit der
Dr. K i ß 1 i n gesehen „nikotinfreien" Zigarre vorgenommen.
Gemessen habe ich palpatorisch mit dem Sphygmomanometer
von Riva-Rocci mit der später von v. Recklinghausen an-
gegebenen breiten Manschette, und zwar den rechten Radialpuls.
Es wurde sowohl der systolische als auch der diastolische Druck
bestimmt und der Quotient nach Strasburger berechnet.
Die nachfolgende Tabelle steUt die von mir gefundenen Re-
sultate dar (s. S. 568—571).
Wie aus der Tabelle deutlich ersichtlich, ist in sämtlichen
Fällen ein Einfluß des Rauchens auf das Herz, bzw. den Kreislauf
zu konstatieren. Freilich ist die Art der Wirkung eine sehr mannig-
faltige.
In der Mehrzahl der Untersuchungen finden wir, daß die Folge
des Rauchens eine Erhöhung der Pulsfrequenz ist, die Hand in
Hand geht mit einer teilweise recht erheblichen Steigerung des
Blutdrucks. Es ist dies der Fall bei Versuch 3, 5, 7, 9, 11, li
14, 15, 16, 17, 18, 20, 21, 22, 23, 24, 25.
Eine reine Steigerung des Blutdrucks ohne Erhöhung der
Pulsfrequenz finden wir in 5 Fällen (1, 2, 4, 13, 19).
Schließlich zeigen 3 Versuche (6, 8, 10) eine geringe Abnahme
des Blutdrucks. Allerdings ist in diesen 3 Fällen die Pulsfrequenz
zum Teil nicht unwesentlich gestiegen.
Was nun die Blutdrucksteigerung anbelangt, so müssen wir
sie nach verschiedenen Gesichtspunkten näher betrachten. Zunächst
sehen wir, daß ihre Höhe sehi' großen Schwankungen unterliegt.
Der Einfluß des Banchens anf den Kreislauf. 567
Während sie im Maximum 36 mm erreicht (3), beträgt sie bei
Versuch 7 nur 3 mm. Dazwischen finden wir alle möglichen Ab-
stufungen. Vorzüglich betrifft die Drucksteigerung den systolischen
Blutdruck, denn als Maximum der diastolischen Drucksteigerung
steht Versuch 3 mit 29 mm da; sämtliche anderen Werte für die
diastolische Drucksteigerung bleiben hinter diesem Maximum wesent-
lich zurück, ihre durchschnittliche Höhe beträgt nur etwa 7 mm. —
Jedenfalls geht die Steigerung ziemlich bald nach dem Beginn des
Kauchens vor sich, da meistens schon nach der ersten Zigarre der
Hauptanstieg erreicht ist und nach der zweiten nur noch ein ge-
ringeres Steigen erfolgt. Dieser Umstand wird uns einigermaßen
verständlich durch die Tatsache, daß die Steigerung des Blutdrucks
überhaupt nicht lange anhält, sondern bald nach dem Aufhören des
Rauchens wieder zurückgeht Versuche 16, 22, 23, 24, 25 zeigen
uns, daß bereits 20 Minuten nach Schluß des Rauchens diastolischer
wie systolischer Druck gefallen sind, und zwar auf eine Höhe, die
unter dem vor dem Versuch gefundenen Werte steht. Dieser Ab-
fall ist noch nach 40 Minuten zu konstatieren und erst nach Ab-
lauf einer Stunde beginnt der Druck allmählich steigend sich wieder
dem ursprünglichen zu nähern (16, 24). Auffallend ist, daß bei dem
Abfall der Quotient fast durchweg steigende Tendenz hat. Wenn
bei Versuchen 1, 9, 12, 13, 24, 25 ein vorzeitiges Fallen oder ein
völliges Fehlen des Anstieges zu vermerken ist, so dürfte dies als
ein Übergang zu dem Stadium des sinkenden Druckes aufzufassen
sein. Ich werde weiter unten versuchen, aus diesem Sinken Schlüsse
zu ziehen.
Über die großen individuellen Schwankungen, denen der Ein-
fluß des Rauchens auf den Blutdruck unterliegt, bestimmte Schlüsse
zu ziehen, ist vielleicht bei der relativ geringen Zahl von 25 Ver-
suchen etwas gewagt, doch neige ich zu der Ansicht, daß das Alter
entschieden mitspricht. Die weitaus größten Steigerungen finden
sich bei Versuchen 1, 2, 3, 4, 5, bei denen es sich um Leute
zwischen dem 45. und dem 57. Lebensjahre handelt, während die
Steigerungswerte bei den in den zwanziger Jahren stehenden Leuten
erheblich niedriger sind. Der jugendliche Organismus scheint sich
eben den schädlichen Einflüssen weitaus besser anpassen zu können.
Sicherlich sind aber auch gewisse Organerkrankungen imstande,
den Einfluß auf den Blutdruck zu beeinträchtigen. So glaube ich.
daß bei Patient Schott (1, 2, 4), der ein Emphysem der Lunge
hatte, dieses zum Teil die sehr hohen Steigerungen mit bedingt
hat. Berücksichtigt werden muß endlich noch, ob das Individuum
568
XXIX. Hb88E
^■w
Name und
Alter
1
Oh Kaucher
Status Tor dem Rauchen:
Nr.
Systol.
iJruck
Diastol.
Druck
Quotient
Puls-
frequenz
Art des Rauchens
1.
Schott, 57 J.
Starker
Bancber.
148
127
0,14
1
66
1
Nach
1 leichten Zigarre.
Nach
2 leichten Ziganen
1
(ohne Pause).
2.
Schott, 57 J.
(am nächsten
Tag).
Starker
Raucher.
126
114
0,16
72
1
Nach
1 leichten Zigarre.
Nach
2 leichten Ziganeii
(ohne Panse).
3.
Zimmermann
Mäßig stark.
115
91
0,21
76
Nach
55 J.
Baucher.
1 leichten Zigarre,
Nach
2 leichten Zigairen
(ohne Paa^l.
4.
Schott, 57 J.
SUrker
Kaucher.
133
114
0,14
84
Nach
1 leichten Zigmt-
Nach
2 leichten Zigarres.
5.
Kreutzfeld,
45 J.
Mäßig stark.
Raucher.
88
68
0,22
108
Nach
1 leichten Zigtire.
Nach
2 leichten Zigarrai.
6.
1
Ck)nradi, 23 J.
Schwacher
Raucher.
106
87
0,19
68
Nach
1 leichten Zigaire.
Nach
2 leichten ZigarreiL
7.
Fiedler, 24 J.
Schwacher
Raucher.
104
82
0,21
64
Nach
2 leichten Zigarroi.
Thalacker,
Nichtraucher.
104
80
0,23
68
Nach
23 J.
7
2 leichten ZigaiTSL
Jäger, 24 J.
Nichtraucher.
102
85
0,17
76
Nach
1 leichten Zigarre.
10.
Strobel, 26 J.
Nichtraucher.
100
74
0,26
62
Nach ^
2 leichten Zigams.
n.
Strohel, 25 J.
Nichtraucher.
102
84
0,18
60
Nach
1 schweren Zigam.
Nach
2 schweren Zigarrei.
12.
Conradi, 23 J.
Schwacher
Raucher.
114
84
0,26
64
Nach
1 schweren Zigarre.
NacB
2 schweren Zigami.
13.
Hunger, 31 J.
Sehr starker
Raucher.
103
82
0,20
80
Nach
IV» leicht. Zigan»
Nach
3 leichten Zifftrra.
14.
Thiele, 26 J.
Sehr starker
Raucher.
90
74
0,18
1
96
Nach
IV« leicht Zigarräu
Nach
3 leichten Ziginra.
Der Einfluß des Ranehens auf den Kreialanf.
669
Status nach dem Rauchen:
Sysftolischer
Druck
Diastolischer
Druck
Quotient
Pulsfrequenz
Bemerkungen
167
124
0,26
66
Emphysematiker.
IL Aortenton nach dem Bauchen
175
127
0,28
*
64
etwas accentuiert.
152
120
0,21
72
Emphysematiker.
II. Aortenton nach dem Rauchen
154
122
0,21
74
leicht accentuiert.
135
96
0,29
84
Trigeminusneuralgie.
351
120
0,21
82
152
117
1 0,23
76
Emphysematiker.
Vor 45 Minuten Mittaghrot.
163
122
0,2ö
80
117
87
1
0,26
112
Neurasthenie.
—
1
Vor 46 Minuten Mittagbrot.
108
85
0,21
72
106
82
0,24
76
107
86
1
0,20
78
98
77
0,21
76
107
83
0,22
80
97
76
0,22
78
Nach dem Rauchen Übelkeit.
114
92
0,19
66
Nach dem Rauchen Übelkeit,
Erbrechen.
107
86
0,19
60
125
101
0,19
66
130
104
0,20
64
105
82
0,22
80
110
80
0,27
80
100
77
0,23
100
Lungenkatarrh.
106
84
■ 0,21
1
100
570
XXIX. Hesse
mT
Name und
Alter
Ob Raucher
Status vor dem Rauchen:
^^.
Systol.
Druck
Diastol.
Druck
Quotient
Puls-
frequenz
Art des Bauchens:
15.
Kunze, 20 J.
Mäßig stark.
Bancher.
87
76
0,13
76
Nach
IV* leicht Zigarren
16.
Hunger, 31 J.
Sehr starker
Raucher.
95
77
0,19
70
Nach
1 leichten ZigHrre.
Nach
3 leichten ZigarreiL
17.
Thiele, 26 J.
Sehr starker
Raucher.
87
72
0,17
88
Nach
1 leichten Zigarre.
Nach
2 leichten Zigarra.
18.
Thiele, 26 J.
Sehr starker
Raucher.
87
72
0,17
92
Nach
2 leichten ZigarreiL
19.
Hunger, 31 J.
Sehr starker
Raucher.
90
73
0,19
76
Nach
2 leichten ZiganeiL
20.
Kunze, 20 J.
Mäüig stark.
Raucher.
112
87
0,22
86
Nach
1 leichten Zigarrt.
Nach
2 leichten Zigarren,
21.
Thiele, 26 J.
Sehr starker
Raucher.
90
73
0,19
92
Nach
1 leichten Zigarre.
Nach
2 leichten Zigams.
22.
Kunze, 20 J.
Mäßig stark.
Raucher.
113
87
0,23
80
Nach
1 Habanna-ImporL
Nach
2 Habanna-Import
•23.
Hunger, 31 J.
Sehr starker
Raucher.
109
88
0,19
72
Nach
1 Habanna-Impoit
Nach
2 Habanna-Import
24.
Hunger, 31 J.
Sehr starker
Raucher.
105
86
0,18
72
Nach
1 nikotlnfreieD Z.
Nach
2 nikotinfreiea Z.
25.
Kunze, 20 J.
Mäßig stark.
Raucher.
105
86
0,18
74
Nach
1 nikotinfreien Z.
Nach
2 nikotinfreien Z.
Der Einfluß des Rauchens auf den Kreislauf.
571
Status nach dem Ranchen:
Systolischer
Druck
Diastolischer
Druck
Quotient
Pulsfrequenz
Bemerkungen
114
88
0,23
100
30 Min. nach
Aufhören des
Rauchens
Pnls 76
Lungenkatarrh.
Nach dem Rauchen Kopf-
schmerzen.
105
107
^) 103
*i 108
87
88
') 86
»)88
0,17
0,18
') 0,16
«) 0,18
76
80
») 76
«) 76
^) 15 Minuten nach dem
Rauchen.
•) 60 Minuten nach dem
Rauchen.
94
97
'4
76
0,21
0,22
98
100
Lungenkatarrh.
II. Aortenton nach dem Rauchen
leicht accentniert.
97
1
77
1
0,21
98
30 lüin. nach
dem Ranchen
Puls 86
Lungenkatarrh.
104
87
0,16
76
Lungenkatarrh.
117
124
») 112
93 ^
94
>) 94
0,20
0.24
') o;i6
88
88
») 76
Lungenkatarrh.
') 30 Minuten uach dem
Rauchen.
97
81
017
92
Lungenkatarrh.
97
81 '
1
0,17
98
118
124
«) 108
«} 106
98
102
*) 87
2) 86
1
0,17
0,18
') 0,19
«} 0.19
84
88
») 82
«) 72
Lungenkatarrh.
^) 20 Minuten nach dem
Rauchen.
') 40 Minuten nach dem
Rauchen.
114
116
')
10f>
•)
100
•)
103
107
118
')
100
*)
97
')
96
*)
103
113
113
h
106
*)
95
95
0,17
95
0,18
») 85
') 0,19
«) 80
•) 0,20
*) 83
») 0,19
89
0,17
91
0,23
>) 86
') 0,14
«) 78
, «) 0,19
») 75
•) 0,22
*) 83
*) 0,19
92
0,19
92
0,19
») 85
1 0,20
•) 75
h 0,21
')
82
84
76
«) 80
») 74
74
74
>) 78
«) 70
«) 70
*) 70
76
82
J) 76
*) 68
^) 20 Minuten nach dem
Rauchen.
') 40 Minuten nach dem
Rauchen.
') 60 Minuten nach dem
Rauchen.
*} 15 Minuten nach dem
Rauchen.
*) 30 Minuten nach dem
Rauchen.
*) 40 Minuten nach dem
Rauchen.
*) 60 Minuten nach dem
Rauchen.
^) 20 Minuten nach dem
Rauchen.
•) 40 Minuten nach dem
Rauchen.
572 XXIX. Hesse
Oewohnheitsraucher oder Nichtraucher ist. Man sollte eigentlich
annehmen, daß beim Nichtraucher der Einfluß auf den Ei^islauf
sich als besonders starke Blutdruckerhöhung geltend macht, doch
zeigen die Versuche 6, 7, 8, 9, 10, bei denen es sich um Nicht-
raucher, bzw. schwache Eaucher handelt, das Gegenteil, eine yiel
geringere Steigerung, teilweise sogar eine Abnahme des Blut-
drucks. Jedenfalls wären gerade in dieser Beziehung weitere
Forschungen sehr wertvoll.
Ähnlich wie auf den Blutdruck finden wir die Einwirkung des
Rauchens auf die Pulsfrequenz. Fast durchweg findet sich eine
Steigerung der Pulszahl, die in Vei-such 15 ihr Maximum mit 24
erreicht, im einzelnen aber die größten Verschiedenheiten aufweist
So finden wir in Versuch 13 und 19 überhaupt keine ErhöhuDg
der Pulzahl, in Versuch 1, namentlich aber 4, ein Zurückgehen
derselben.
Auch auf die Pulsfrequenz scheint das Rauchen seinen Einfloß
ziemlich schnell geltend zu machen, denn der Hauptanstieg erfolgt
auch hier sehr schnell nach Beginn, meist schon nach einer Zigarre,
während nach der zweiten Zigarre teilweise ein Stillstand, in
3 Fällen (3, 11, 12) ein Rückgang zu bemerken ist. Nach Be-
endigung des Rauchens fallt dann die vorher gestiegene Pulszahl
rasch ab und erreicht nach 20—40 Minuten meist wieder den ur-
sprünglichen Wert, in anderen Fällen sinkt sie unter die Norm,
um sich bald darauf steigend ihr wieder zu nähern.
Um auf die individuellen Verschiedenheiten des Einflusses anf
die Pulsfrequenz näher einzugehen, speziell um Schlüsse zu ziehen.
wie weit Alter und etwa vorhandene Krankheiten mit in Betracht
kommen, halte ich das vorliegende Material für zu wenig aus-
giebig, in bezug auf die Verschiedenheiten, welche durch Gewöh-
nung an den Tabak bedingt sind, glaube ich sicher, daß beim
Nichtraucher eine stärkere Pulsbeschleunigung eintritt. Das Maxi-
mum von 24 ist zwar bei einem Raucher (Versuch 15) gefunden
worden, doch glaube ich, daß dies Resultat nicht unbedingt maß-
gebend ist, da der Betreffende, infolge unnatürlich schnellen Rauchens
wahrscheinlich, Kopfschmerzen bekam. Selbst diesen Fall mit ein-
gerechnet findet sich aber durchschnittlich beim Gewohnheitsraudier
eine Pulsbeschleunigung von etwa 6,7, der beim Nichtraucher eine
solche von 9,6 gegenübersteht. Es ist dies ein Umstand, der ja
auch durch die tägliche Erfahrung bekräftigt wird.
Endlich möchte ich noch erwähnen, daß ich in 3 Fällen nach
dem Rauchen eine leichte Accentuation des 2. Aortentones Änd,
Der Einfloß des Kaucheiis auf den Kreislanf. 573
die vorher nicht bestand. Eine gleiche Beobachtung bestätigte
mir Paeßler, der bei einem vorher völlig gesunden Herzen nach
Grenuß einer Anzahl Importen starke Accentuation des 2. Aorten-
tones fand, die nach 2 Tagen völlig geschwunden war.
Was hat nun die Blutdrucksteigerung und die Pulsbeschleu-
nigung für eine Bedeutung für den Organismus?
Um eine vollständige Analyse der Funktionsänderungen geben
zu können, reichen die gewonnenen Unterlagen natürlich nicht aus^
da eine vollständig genaue Untersuchung des Kreislaufs ja nur
im Tierexperiment möglich ist. Einiges läßt sich aber doch ent-'
nehmen.
Als Wichtigstes erscheint, daß weitaus in den meisten Fällen
jedenfalls keine Schwächung, sondern eine Art Stimulation des
Kreislaufs zu konstatieren ist, da in allen den Fällen, wo entweder
reine Drucksteigerung oder Drucksteigerung mit Erhöhung der
Pulsfrequenz vorhanden war, ein Erregungszustand im Kreislauf
ohne weiteres angenommen werden darf. Demgegenüber müssen
die geringfügigen Blutdrucksenkungen zunächst als Ausnahme gelten.
Es ist übrigens nicht unbedingt aus einer Blutdrucksenkung auf
eine Schwächung des Kreislaufs zu schließen, zumal in den 3 Ver-
suchen, bei denen Blutdrucksenkung gefunden wurde, eine erheb-
liche Erhöhung der Pulsfrequenz zu verzeichnen war.
Wenn man die Frage zu lösen versucht, an welchem Teile des
Kreislaufs die Tabaksgifte angreifen, so läßt die klinische Be-
obachtung darüber nur Vermutungen zu. Die außerordentlich
häufig gefundene Pulsbeschleunigung dürfte wohl kaum auf einer
Vaguslähmung beruhen, da sie außerordentlich rasch auftritt. Sie
scheint also eine Reizerscheinung zu sein, über deren Ursprung im
Nervensystem oder am Herzmuskel selbst ein Urteil nicht gegeben
werden kann.
Da wir die Pulsbeschleunigung als Reizsymptom auffassen,
liegt die Vermutung nahe, daß die Blutdrucksteigerung in vielen
Fällen nur eine Folge dieser Pulsbeschleunigung ist. Gewiß wird
die Pttlsbeschleunigung, wo sie vorhanden ist, auch einen Teil der
Blutdrucksteigerung bedingen. Wir dürfen aber nicht vergessen,
daß auch Fälle von Drucksteigerung ohne Pulsbeschleunigung be-
obachtet wurden. Vielleicht wird die Drucksteigerung bedingt
durch eine Kombination von Gefäßkontraktion und von stärkerer
Berzarbeit. Der Umstand, daß die systolische Steigerung eine
größere ist wie die diastolische, spricht für einen erhöhten Arbeits-
a.ufwand des Herzens, da eine reine Gefäßkoutraktion ja eigentlich
Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 89. Bd. 37
574 XXIX. Hesse
gleichmäßig steigernd sowohl auf systolischen wie diastolischen
Druck wirken sollte; die Beobachtung wiederum, daß nach Auf-
hören der Tabakraucheinwirkung der Blutdruck rasch sinkt teil-
weise sogar unter die Norm, wobei der Quotient ansteigt, läßt die
Vermutung aufkommen, daß es sich um eine sekundäre Erweite-
rung, eine Erschlaffung der vorher infolge der Tabakrauchgifte
kontrahieiiien Gefäße handelt. Die allgemeine physiologische Er-
fahrung steht auf Seiten letzterer Ansicht, da die Wirkung ein-
fach gesteigerter Herzkontraktion auf den Blutdruck in der Regel
durch Gef&ßerweiterung kompensiert wird. Eine genaue Analyse
würde vielleicht möglich sein, wenn man die Systolendauer bei
Rauchversuchen messen würde.
Da wir eine Reizwirkung wohl unzweifelhaft annehmen müssen,
so müssen wir ohne weiteres zugeben, daß der Kreislauf, wenigstens
bei intoleranten Personen, eine Schädigung sehr wohl erfahren
kann, und zwar ergibt sich aus dem Vorhandensein der Blutdruck-
steigerung die Folge, daß erstens das Herz angestrengt werden
muß, und daß zweitens die Arterien eine stärkere Abnutzung er-
fahren können.
Praktische Schlußfolgerungen: Aus den Beobachtungen ergibt
sich im wesentlichen eine Steigerung der allgemeinen klinischen
Erfahrungen: wir werden den Tabak verbieten, 1. wo wir das Herz
schonen wollen, also bei allen Zuständen von Herzschwäche und
bei allen Zuständen besonderer Inanspruchnahme des Herzens
(Herzfehler, Schrumpfniere, Emphysem, Kyphoskoliose), 2. wo wir
der Abnutzung der Arterien vorbeugen wollen, 3. w^o Blutdruck-
steigerungen unmittelbare Gefahr bedingen, z. B. bei drohenden
Apoplexien. Wir können aber auch einen Schritt weiter gehen.
Überall dort, wo sich bei der Beobachtung des Kreislaufs während
des Rauchens eine besonders leichte Erregbarkeit, also eine stärkere
Intoleranz gegen den Tabakgenuß zeigt, müssen wir prophylaktisch
ebenfalls warnen.
Immerhin beweist aber die Erfahrung des täglichen Lebens,
daß oft die ältesten Leute von Jugend an leidenschaftliche Raucher
sind, ohne je dadurch ernstere Schädigungen ihrer Gesundheit er-
litten zu haben, daß die Wirkungen des Tabakrauches individoell
sehr verschieden sind, und daß das Rauchen, in mäßigem Grade
und unter Anwendung nicht gar zu schwerer Tabaksorten betrieben,
in seiner Schädlichkeit in keinem allzu großen Mißverhältnis steht
zu dem Genuß, den es dem Raucher darbietet.
Der Einfluß des Rauchens auf den Kreislauf. 575
Literatur«
Loebisch, Eiilenburj^^'s Bealencyclopädie Bd. 24.
Tranbe. a) Medizinische Zentralzeitnng XXXI 1861; b) Gesammelte Beitrftg^e
zur Pathologie und Therapie I Bd. Berlin 1871.
Winterberg, Archiv für exper. Pathol. und Pharmakol. Bd. 43.
Lohde, Ober chronische TabakTerjnftung. Leipzig 1902.
Habermann, Hoppe-Seyler'sche Zeitschrift für phjs. Chemie. Bd. 33 1901.
Triqnet, Lecons clini(^ues sur les maladies de Foreille p. 103 Paris 1863.
Ladreit de Larrachi^re, Einfluß des Banchens auf die Entstehung von
Ohrenkrankheiten und Taubheit. Annales des malades de Toreille 1878 Nr. 4.
GeisbGck. Die praktische Bedeutung der Blutdruckmessung. Verhandl. des
Kongr. für innere Medizin in Leipzig April 1904 p. 97.
Strasburger, Ein Verfahren zur Messung des diastolischen Blutdrucks und
seine Bedeutung für die Klinik. Verhandlungen des Kongresses für innere
Medizin in Leipzig. April 1904, p. 113.
27'
XXX.
Aus der medizinischen Universitätsklinik Bonn.
Direktor: Geheimrat Prof. Dr. Schnitze.
Blnt nnd Knochenmark nach Ausfall der
SchilddrOsenfnnktion.
Eine klinisch-experimentelle Studie.
Von
Privatdozent Dr. Esser,
Assistenzarzt an der Klinik.
Vor etwa 2 Jahren kamen in hiesiger medizinischer Klinik
2 Fälle von Myxödem zur Beobachtung und Behandlung, von
denen der eine einen 37 jährigen Mann, der andere ein 10 monat-
liches Kind betraf. Bei beiden besserte sich der Zustand unter
der eingeleiteten Schilddrüsentherapie schnell;^) die verschiedenen
Krankheitserscheinungen gingen zurück und sind bis heute bei fort-^
gesetzter spezifischer Behandlung fast völlig geschwunden.
Besonderes Interesse hatten für mich unter den einzelnen
Symptomen, auf deren Schilderung ich hier unter Hinweis auf die
über die Fälle handelnde Dissertation von Herrn 0. Hartoch ver-
zichte, die Blutveränderungen.
In quantitativer Beziehung bestanden sie in einer Vermin-
derung des Hämoglobingehaltes und der roten Blutkörperchen bei
einer Vermehrung der weißen Blutkörperchen. In qualitativer
Beziehung äußerten sie sich neben geringen Veränderungen
der roten Blutkörperchen (Makro-, Mikro-, Poikilocy ten • Pessar-
formen) in einer Verschiebung der als normal geltenden Verhältnis-
zahlen zwischen der multinucleären resp. polymorphkernigen und
der mononucleären Form der weißen Blutkörperchen und in dem
Auftreten von Zellen letzterer Art, die im normalen Blutbild fehlen.
1) Das Kiud wurde von mir zu Beginn der Behandlung und einen Monat
später bedeutend gebessert in der Niederrheinischen Gesellschaft für Natur- nod
Heilkunde vorgestellt.
Blut und Knochenmark nach Ausfall der Schilddrüsenfunktion. 577
Bei dem Kinde zeigten sich diese Veränderungen, auf die ich
gleich ausfuhrlicher zu sprechen komme, in viel stärkerem Grade
als bei dem Erwachsenen.
In der hämatologischen Literatur fand ich über diese Befunde
keine Angaben.
In den das Myxödem resp. die Erkrankungen der Schilddrüse
behandelnden Monographien von Ewald ^) und v. Eiseisberg ^)
wird kurz auf die oben angeführten, namentlich nach Thyreoid-
ektomien von verschiedenen Seiten beobachteten, quantitativen Blut-
veränderungen (Verminderung des Hämoglobins und der roten
Blutkörperchen bei einer Vermehrung der weißen Blutkörperchen)
hingewiesen. Noch kürzer wird dieser Veränderungen in der zu-
sammenfassenden Darstellung über die Pathologie der Schilddrüse
von T h 0 r e 1 *) gedacht und schließlich wird in der monographischen
Arbeit von Buschan*) über das Myxödem und in der auch diese
Krankheit berücksichtigenden Monographie von Weygandt,*)
betitelt „Der heutige Stand der Lehre vom Kretinismus" nur der
Verminderung des Hämoglobins und der Anzahl der roten Blut-
körperchen nach Ausfall der Schilddrüsenfunktion mit wenigen Worten
Erwähnung getan.
Es stützen sich diese mehr oder weniger kurzen Angaben auf
Untersuchungsresultate verschiedener Forscher, die der Blutunter-
suchung bei thyi-eoidektomierten Menschen resp. Tieren ihre be-
sondere Aufmerksamkeit schenkten. Die ersten Blutuntersuchungen
wurden von Kocher*) an 17 thyreoidektomierten Menschen ge-
macht. Es folgen Arbeiten, die durch Tierexperimente gewonnene
Besultate enthalten, und von denen ich besonders die von For-
manek und Haskovec') hervorhebe, da in dieser auch die bis
1; Ewald, Die Erkrankungen der Schilddrüse. Myxödem und Kretinismus.
Nothnagel's spez. Pathol. u. Therapie Bd. XXII p. 19 u. 167.
2) V. Eiseisberg, Die Krankheiten der Schilddrüse. Deutsche Chirurgie
Bd. XXXVIII p. 21 u. 24.
3) T h 0 r e 1 , Ergebnisse der allgem. Pathol. und pathol. Anatomie VII. Jahrg.
1900/1901 p. 187.
4) Buschau, Enlenburg's Eealencjklopädie Bd. XVI p. 301.
5) Weygandt, Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der
Nerven- und Geisteskrankheiten. Herausgegeben von Hoche. Verlag von Marhold,
1904 Bd. IV Heft ßp p. 12 u. 14.
6) Kocher, Über Kropf exstirpation und ihre Folgen. Archiv für klin.
C^hirurgie 1S8S Bd. XXn p. 281.
7) Formanek und Haskovec, Beitrag zur Lehre über die Funktion der
Schilddrüse. Wien 1896. Verlag von Holder.
578 XXX. Esser
zum Jahre 1896 erschienene, die Frage der Blutverändemng nach
Ausfall der Schilddrüsenfunktion behandelnde Literatur eing'ehend
berücksichtigt ist. Formanek und Haskovec studierten selbst
bei 15 thyreoidektomierten Hunden speziell die Blutverhältnisse
und kamen zu Ergebnissen, von denen ich folgende hier wieder-
geben will:
1. „In der thyreopriven Kachexie findet eine systematische
Abnahme der Zahl der roten Blutkörperchen statt Zugleich
erscheinen im Blute Mikrocyten und die Zahl der Leukocyten
nimmt zu.
2. Der Trockenrttckstand des Blutes, sowie die Menge des
Eisens, resp. Hämoglobins ist kleiner als de norma.
3. Geht der Hund in einem tetanischen Anfalle zugrunde oder
befindet sich derselbe in dem tetanischen Zustande, so nimmt die
Zahl der roten Blutkörperchen, sowie auch der Trockenruckstand
und Eisengehalt des Blutes nicht ab ; ja man beobachtet sogar eine
Steigerung, was durch das Dichterwerden des Blutes infolge von
Krämpfen bedingt ist, wie parallele Kontrollversuche mit Strychnin
beweisen.
4. Die Schilddrüse ist ein an der Hämatopoese beteiligtes
Organ."
Ohne auf Hypothesen dieser und anderer Autoren über die
eventuelle Bedeutung der Blutstörungen zum Zustandekommen
weiterer Erscheinungen nach Schilddrüsenverlust näher einzugehen^
muß ich noch einige Arbeiten erwähnen, in denen bei an Myxödem
erkrankten Menschen oder bei thyreoidektomierten Tieren auch auf
qualitative Blutveränderungen, insbesondere auf die Zahlenverhält-
nisse der einzelnen Arten weißer Blutkörperchen Rücksicht ge-
nommen ist.
Zuerst verdient hier der von Mendel^) beschriebene Fall von
Myxödem Erwähnung, bei dem Ehrlich die Untersuchung des
Blutes vorgenommen und folgendes festgestellt hatte:
Das Blut leicht anämisch, die roten Blutkörperchen sind etwa»
kleiner als sonst, im übrigen von gutem Farbgehalt, entsprechend einem
leichten Grade von Anämie. Es besteht keine Leukocytose.
Die Zählung der weißen Blutkörperchen ergibt einen gegen die
Norm etwas niedrigeren Prozentgehalt der polynucleären Zellen, wahrend
dementsprechend der Prozentgehalt der Lymphocyten eine Erhöhung er*
fahren hat.
1) Mendel. Ein Fall von Myxödem. Deutsche med. Wochenschr. 1883 p. 25.
Blut und Knochenmark nach Ausfall der Schilddrüseufunktiou. 579
Die eoBiDophilen Zellen entsprechen wohl noch den obersten Zahlen
der Norm. Die Mastsellen sind nicht vermehrt.
Ubergangsform 2,6 ^/^
eosinophile Zellen 3.4 ^/^
Mastzellen 0,2 ^/^
polynucleäre Zellen 58,8 7^
Lymphzellen 35,0 ®/^
Im Anschluß hieran führe ich weiterhin den Blutbefund an,
den Leichtenstern*) bei einem Myxoedema operativum (Exstir-
pation einer Struma) erhob. Bei mäßig herabgesetztem Hämoglobin-
gehalt bestand eine Leukocytose mit Vermehrung der Lymphocyten.
Es fanden sich:
1. mononucleäre, kleine Lymphocyten 28%
2. mononucleäre große Zellen mit runden, ovalen einfach ein-
gekerbten Kernen, „Übergangsformen" 12®'o
3. polynucleäre Zellen und solche mit vielfach gewundener
Kemfigur 58%
4. eosinophile Zellen 1 ®/,,
Schießlich muß ich noch kurz auf zwei Arbeiten jüngeren
Datums eingehen, die sich mit den uns interessierenden Blutver-
änderungen beschäftigen; eine klinische von v. Korczynski'-)
und eine experimentelle von K i s h i. ^} Ersterer hebt auf Grund
mehrfacher in einem Falle von Myxödem bei einer 41jährigen
Frau vorgenommenen Blutuntersuchungen vor allem hervor, daß die
roten Blutkörperchen, wie schon früher von Kraepelin^j be-
schrieben worden war, abnorm vergrößert waren, also eine sog.
Megalocythämie bestand, die erst abnahm als durch Schilddrüsen-
darreichung eine entschiedene Besserung sämtlicher Myxödemerschei-
nungen eintrat.
Kinmal fanden sich neben Mikro- und Poikilocyten und meta-
chromatisch gefärbten roten Blutkörperchen, deren Menge v. Ko-
czynski von dem Grade der jeweilig bestehenden Anämie abhängig
sein läßt, 34%, ein anderes Mal sogar bis 62% Megalocyten.
1) Leichte ustern. Ein mittels Schilddraseninjektion und Fütterung- er-
folgreich behandelter Fall von Myxödema operationem. Deutsche med. Wochenschr.
1893 p. 1300.
2) V. Korczynski, Einige Bemerkungen über das Myxödem. Wiener
med. Presse 1898 Nr. 36 n. 37 p. 1424/25, referiert im ( 'entralblatt für innere
Medizin 1899 p. 1168.
8) Kishi, Beiträge zur Physiologie der Schilddi-Üse. Virchow's Archiv
Bd. 176 p. 260.
4) Kraepelin. Über Myxödem. Deutsches Archiv für klin. Medizin Bd. 49
p. 595.
Ö80 XXX. ESSBB
Ferner fand er die Lymphocyten in der Mehrzahl und die eosino-
philen Zellen so stark vermehrt, daß sie fast ^4 der gesamten
weißen Blutkörperchen ausmachten, und schließlich eine große
Menge von Myelocyten.
So oft die eingeleitete Schilddrüsentherapie auf längere Zeit
unterbrochen wurde, nahmen die Lymphocyten, die eosinophilen
Zellen und die Myelocyten an Zahl wieder erheblich zu.
Kishi machte seine Blutuntersuchungen an 2 thyreoidekto-
mierten Katzen, einem Hunde und einem Affen. Die erste Katze
bekam tetanische Anfälle und starb am 13. Tage. Blutuntersuch-
ungen wurden während eines Anfalles und 2 Stunden vor dem Tode
gemacht. Die zweite Katze starb plötzlich 2 Tage nach der Ope-
ration; eine Blutuntersuchung war während der Operation und
eine andere während des Sterbens des Tieres gemacht worden.
Das Blut des Hundes wurde zum ersten Male 6 Monate nach der
Operation untersucht und das des Affen schließlich nachdem teta-
nische Anfälle bei ihm aufgetreten waren.
Ich möchte den Untersuchungsresultaten Kishi 's, die darin
bestehen, daß der Hämoglobingehalt und die Anzahl der roten
Blutkörperchen nach der Schilddrüsenexstirpation herabgesetzt, die
der w^eißen (ausgenommen bei dem Affen) spez. der multinuclearen
vermehrt war, keine besondere Bedeutung zumessen, da abgesehen
davon, daß die Blutuntersuchungen meist nur kurze Zeit nach der
Operation vorgenommen worden, bei dieser gewisse Kautelen unbe-
achtet blieben zur Verhütung einer unabhängig von gestörter
Schilddrüsenfunktion auftretenden Tetanie. Gleich werde ich hier-
auf näher zu sprechen kommen, wenn ich zu den Ergebnissen eigener
tierexperimenteller Untersuchungen übergehe.
Zunächst möchte ich kurz die genaueren Blutbefunde bei den
von mir beobachteten Myxödemfällen mitteilen.
Bei dem 37 jährigen Manne wurde mit der Hämoglobinskala von
Tallquist und dem nenen Hämometer von Sahli zu Beginn der
fipez. Behandlung ein Hämoglobingehalt von 90 festgestellt. Eine
Zählung der roten und weißen Blutkörperchen wurde leider nicht vor-
genommen.
In dem nach May-Grünwald gefärbten Blutpräparat fanden sich
unter den roten Blutkörperchen viele Makro-, Mikro- und PoiküocyteD,
femer zahlreiche Pessarformen, und die weißen Blutkörperchen waren in
folgendem Verhältnis vorhanden:
58 ^/f, multinucleäre, resp. polymorphkernige, nentrophile Leukocyteo,
1,5 "/o eosinophile polymorphkernige Leukocyten.
0,5 ^/o basophile polymorphkernige Leukocyten.
40 ®/q mononucleäre Zellen.
Blut und Knochenmark nach Ausfall der Schilddrttsenfnnktiou. 581
unter den weifien Blutkörperchen waren 18 \, also etwa die Hälfte
•der mononucleären Form, Lymphocyten, Zellen ungefähr von der Größe
normaler roter Blutkörperchen mit einem chromatinreichen Kern und
sehr schmalem, hasophilem Protoplasmasaum.
Etwa 10 'Yq waren doppelt bis dreifach so groß, enthielten einen
großen, blaß gefärbten Kern mit breitem, schwach basophilem Proto-
plasma. Der meist mehr oval gestaltete Kern zeigte bei manchen Ein-
kerbungen und ihr Protoplasma hier und da eine Andeutung von neu-
trophiler Granulation. Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir diese Zellen
als die von Ehrlich^) beschriebenen großen mononucleären Leukocyten
und sog. tJbergangsformen deuten.
Die übrig bleibenden mononucleären weißen Blutkörperchen schwankten
in ihrer Größe zwischen der eines Lymphocyten und der eines großen
mononucleären Leukocyten. Ihr großer, , ziemlich blaß gefärbter, mehr
oder weniger rundlich gestalteter Kern werde in den meisten von einem
schmalen, sich stellenweise unregelmäßig vorbuchtenden, ziemlich stark
basophilen Protoplasma umgeben, das in einzelnen Zellen einen mehr
oder weniger rötlichen Schimmer hatte und hier und da auch äußerst
spärliche, feinste, neutrophile Granulationen erkennen ließ. Bei einzelnen
war der Protoplasmasaum breiter und dunkler gefärbt, von dem sich der
kleinere Kern nur schwer abgrenzen ließ.
Bei der großen Verwirrung, die in bezug auf die Bezeichnung
verschiedener Arten von weißen Blutkörperchen herrscht, ist es
schwierig, die letztbeschriebenen Zellarten unter bestimmte Kate-
gorien unterzubringen.
Jedenfalls halte ich sie für Ejiocheumarkszellen, und zwar nur
zum kleineren Teil für ausgebildete Myelocyten, zum größeren Teil
für identisch mit den von Nägeli^) beschriebenen Myeloblasten
und den von Türk^) als lymphoide Markzellen bezeichneten Zellen.
Die mit dem breiteren, stärkeren basophilen Protoplasma und
kleineren Kern würde den von Ttirk (1. c. S. 368) beschriebenen
Reizungsformen entsprechen.
Bei einer etwa ^/^ Jahr nach Beginn der Behandlung vorgenommenen
Blntuntersnchung fehlten die letzgenannten Zellen (lymphoide Markzelleu
und Keizungsformen) völlig. Das mikroskopische Blutbild war bei einem
Häraoglobingehalt von 100 und einer Anzahl von 4 800 000 roten und
-6500 weißen Blutkörperchen als ein normales zu bezeichnen.
Es fanden sich :
72^^'^ mnltinucleäre, resp. polymorphkernige, neutrophile Leukocyten,
3 ^Iq eosinophile polymorphkernige Leukocyten,
20 *^/^, Lymphocyten,
1) Ehrlich, Nothnagers spez. Pathol. u. Therapie Bd. VIII Abt. I p. 49.
2) Nägel i. Über rotes Knochenmark und Myeloblasten. Deutsche med.
Wochenschr. 1900 p. 287.
8) Türk, Vorlesungen über klinische Hämatologie 1904 I.Teil p. 364.
582 XXX. Esser
4,5 ®/q große monouncleäre Leukocyten und Übergangsformen,
0,5 ^/^ basophil gekörnte Mastzellen.
Weit erheblicher als bei dem Erwachsenen waren die Blut-
veränderungen bei dem an Myxödem erkrankten Kinde, was von
vornherein nicht verwunderlich erscheint, da wir wissen, daß über-
haupt im frühesten Kindesalter namentlich das Leukocytenbild bei
selbst geringen Anlässen weit stärkere Veränderungen erleidet, ak
beim Erwachsenen.
Meinen Untersuchungsresultaten bei dem kranken Kinde schicke
ich voran, daß von mir bei mehreren gleichaltrigen, normalen
Kindern mit dem Hämometer von Sahli und der Hämoglobin-
skala von Tallquist ein Hämoglobingehalt von 70 — 80 gefunden
wurde bei durchschnittlich 5000000 roten und 10000 weißen Blut-
körperchen (im wesentlichen übereinstimmend mit den neuesten An-
gaben von Perl inj) gestützt auf Untersuchungen mit dem Hämo-
meter von Fleischl-Miescher). Bezüglich der Zahlenverhältnisse der
einzelnen Arten der weißen Blutkörperchen liegen Angaben in der
Arbeit von Carstanjen^) vor. Für das Alter von 6 — 12 Monaten
fand letzterer Autor als Durchschnittszahlen:
40,84% polynucleäre Leukocyten,
49,21 **;, Lymphocyten,
8,25 % Ubergangsformen,
0,94 ^/o große mononucleäre Leukocyten,
0,76% eosinophile Zellen.
Bei dem an Myxödem erkrankten Kinde fand ich nun vor der Ein-
leitung der spezifischen Behandlung 55% Hämoglobin, 3160000 rote
und 1 6 500 weiße Blutkörperchen. Unter den roten BlutkörpercfaeD
fanden sich Mikro- und Makrocyten, ferner Poikilocyten und Pessarformeo.
Doch waren diese Veränderungen nur geringgradig, insbesondere die
Makrocyten nicht auffallend zahlreich.
Erheblich verändert war das Leukocytenbild.
Eine Zählung der einzelnen Arten in dem nach May-Orünwald
gefärbten Trockenpräparat ergab zunächst
I^^Iq multinucleäre, resp. polymorphkernige, neutropbile Leukocyten,
2 ^Iq eosinophile polymorphkernige Leukocyten,
und 79 ^If^ mononucleäre Zellen.
Unter letzteren hatte ca. die Hälfte, von allen weißen Blutkörper-
1) Perl in, Beitrag zur Kenntnis der physiolog. Grenzen des HfimoglolnB-
gehaltes und der Zahl der roten Blutkörperchen im Kindesalter. .Jahrbncfa ftr
Kinderlieilk. Bd. 58 p. 568.
2) Carstanjen, Wie verhalten sich die prozentiscben Verhältnisse der
verschiedenen Formen der weißen Blutkörperchen beim Menschen unter normaleii
Umständen? Jahrbuch für Kinder^eilk. Bd. 52 p. 335.
Blnt nnd Knochenmark nach Ansfall der Schilddrüsenfnnktion. 583
eben etwa 38®/^, die Cfaarakteristica der Lymphocyten. Etwa 23 ^/^ sind
als große mononacleäre Leakocyten oder Übergangsformen aufzufasaen und
die übrig bleibenden 1 9 ^/^ möchte icb wieder die meisten als lymphoide
Markzellen einscbließlicb einiger Heizungsformen deuten, nur ein kleiner
Teil ist als ausgesprochene Myelocyten anzusprechen. Nach ungefähr
5 wöchentlicher spez. Behandlung (es wurden wie im ersten Falle die
Tbyreodintabletten von Merck gereicht) hatte sich das Blutbild erheblich
verändert. Der Hämoglobingehalt betrug 80 %, die Anzahl der roten
Blutkörperchen 3 760000 und die der weißen 21000.
Die abnormen Formen der roten Blutkörperchen waren seltener
geworden und eine Zählung der verschiedenen weißen Blutkörperchen
ergab:
41 ®'q multinucleäre, resp. polymorphkernige neutrophile Leukocyten,
4 ^/^ eosinophile polymorphkernige Leukocyten,
und 55 ^/^ mononucleäre Zellen.
Die mononucleären Zellen zerfielen in 34 ^/j, Lymphocyten, 12^'/^
große mononucleäre Leukocyten und Übergangsformen und 9 ^/^ lymphoide
Markzellen mit einigen Reizungsformen und Myelocyten.
Drei Wochen später traten bei dem Kinde Krankheitserscheinungen
auf (Thyreodinintoxikation ?), die in Durchfall und Erbrechen mit starker
Gewichtsabnahme und leichten Temperatnrsteigerungen bestanden.
Eine Blntuntersuchung ergab zunächst eine auffallende Leukopenie.
Die Anzahl der weißen Blutkörperchen betrug nur 1100, die Anzahl der
roten 3 750 000 bei einem Hämoglobingehalt von 85%. Dabei waren
die multinncleären neutrophilen Leukocyten bis auf 19% gesunken, die
Lymphocyten betrugen nur 14%, die eosinophilen 1^5% und die großen
mononucleären Leukocyten und Übergangsformen hatten bis 49,5 %, die
lyniphoiden Markzellen bis 16 % zugenommen.
Nach Aussetzen des • Thyreodins schwanden die letzgenannten
Krankbeitserscheinungen schnell, dann wurde die spez. Medikation in
vorsichtiger Weise wieder aufgenommen und ohne weitere Störung fort-
gesetzt. Bei einer in jüngster Zeit vorgenommenen Blutuntersuchung
betrug die Anzahl der roten Blutkörperchen 3 930 000 und die der weißen
9600 bei einem Hämoglobin gehalt von 80.
Das Verhältnis der einzelnen Arten der weißen Blutkörperchen war
folgendes :
39 % multinucleäre, resp. polymorphkernige neutrophile Leukocyten,
2 % eosinophile polymorphkernige Leakocyten,
47 %, Lymphocyten.
10,5% mononucleäre Leukocyten und Übergangsformen,
1,5% lymphoide Markzellen.
Es hatte sich also das mikroskopische Blutbild unter der Schild-
drüsenbehandlung dem für Kinder desselben Alters als normal geltenden
sehr genähert.
Fasse ich nun nochmals kurz meine am Blute von zwei an
3fyxödem erkrankten Menschen erhobenen Befunde zusammen, so
Konnte ich teils Bekanntes, aber zu wenig Beachtetes (Terminderung
des Hämoglobins und der in ihrer Gestalt wenig veränderten roten
o84 XXX. EssBR
Blutkörperchen bei einer Vermehrung des weißen Blutkörperchen,
und zwar namentlich der mononucleären Formen) bestätigen, noch
^ine bisher nicht beachtete Veränderung konstatieren. Sie besteht
in dem Auftreten besonderer Formen mononucleärer Zellen, die im
normalen Blutbild fehlen und nach neueren Anschauungen als an-
<lifferenzierte oder mangelhaft differenzierte Enochenmarkszellen an-
zusprechen sind. Von theoretischem wie auch praktischem Inter-
esse ist dann ferner die Tatsache, daß diese Zellen bei erfolgreicher
spezifischer Behandlung schwinden und den im Blute in der Norm
vorkommenden, polymorphkeringen, granulierten Leukocj'ten Platz
machen.
Zu einer eventuellen Erklärung dieser Befunde, der auch vom
allgemeinen hämatologischen Standpunkte aus eine Bedeutung zu-
kommen mußte, erschien es angebracht, das Tierexperiment heran-
zuziehen und hierbei ganz besonderes Augenmerk dem Knoehenniaik
zuzuwenden.
Erst neuerdings, nachdem meine Versuche schon abgeschlossen
waren und ich in der Niederrhein. Gesellschaft für Natur- und
Heilkunde (siehe auch die schon erwähnte Dissertation von Hartoch
über deren Hauptresultate Mitteilung gemacht hatte, erschien eine
Arbeit von Dieterle,^) in der im Anschluß an die ausführliche
Schilderung des klinischen und pathologisch-anatomischen BeAindes
eines Kindes mit kongenitalem Myxödem (über den Blutbefund findet
sich keine Angabe), über den Enochenmarksbefund bei einer Katze
berichtet wird, die am 3. Lebenstage thyreoidektomiert wui-de und
sm 7. Tag unter tetanischen Erscheinungen zugrunde ging. Er
fand bei vollkommen normalem Epiphysenknorpel an der Ossifikations-
linie einen deutlichen queren Streifen von osteoidem, teils schon
in echten Knochen übergehendem Gewebe und eine starke An-
häufung von großen knochenähnlichen Zellen in den primitiven
Markräumen. „Man gewinnt den Eindruck, als ob sich die Osteo-
blasten an der Ossifikationslinie anstauten, weil keine neneo
Knorpelgebiete eröffnet werden."
Dieterle nimmt eine schwere Schädigung der Markzellen an
und weiter heißt es bei ihm: „interessant und für weitere Unter-
suchungen überaus wichtig erscheint jedenfalls die Tatsache, daf
sich beim Myxödem eine sehr nahe Beziehung zwischen Blutbildnnf
und Knochenwachstum offenbart, die vielleicht auch unter physio
logischen Verhältnissen eine größere Rolle spielt als wir vwlittfig
wissen."
1) Dieterle, Die Athyreosis etc. Virch. Arch. Bd. 184 p. ö6.
Blnt und Knochenmark nach Aosfall der Schilddrüsenfunktion. 58&
Außer diesen, wie gesagt nach Abschluß meiner Versuche ver-
öffentlichten Angaben Dieterle's, habe ich nirgendwo etwa»
über Knochenmarksbefunde nach den doch in Unzahl ausgeführten
Thyreoidektomien finden können.^)
Aus der Beschreibung, die Dieterle über das Knochenmark
des Myxödemkindes gibt, hebe ich hervor, daß es in den Röhren-
knochen namentlich gegen die Ossifikationsgrenze hin durch seinen
reichen Fettgehalt auffiel, während sich gegen die Diaphysenmitte
hin ein mehr lymphoides Mark fand. Die Markräume sahen wie
verödet aus, das splenoide Mark war zellarm, seltener waren freie
i-ote Blutkörperchen und Hämatoblasten und Riesenzellen äußerst
spärlich. Neben Myelocyten waren am meisten einkernige Leuko-
cyten und granulierte eosinophile Zellen mit kleinen gut tingierten
Kernen vertreten, und die Osteoblasten bildeten nirgends epithel-
ähnliche Beläge, sondern zeigten Spindelform.
In den Rippen war dagegen das Mark sehr zellreich und ohne
Fetttropfen.
Von älteren Angaben muß ich noch die Aschoff 's*) erwähnen/
der bei einem halbjährigen Kinde mit angeborenem Schilddriisen-
mangel das Knochenmark des Oberschenkels lymphoid fand, und
schließlich die von Langhans ^) über das Knochenmark bei
Kretinen. Bei einem kindlichen Kretinen fand er nur in der
Clavicula Knochenmark, das teilweise den kindlichen Charakter
hatte, in den verschiedenen Extremitätenknochen überall Fettmark.
Auch bei erwachsenen Kretinen war in den Epiphysen Fettmark,
doch fand sich in 2 Fällen in der Diaphyse zellreiches Mark und
in einem derselben, eine 45jährige weibliche Person betreflend,.
waren ,,zwischen den Fettzellen noch so viel Markzellen, Riesen-
zellen und weite Blutkapillaren, daß schon makroskopisch das
Mark dadurch eine rötliche Farbe gewann". Ohne weitere Berück-
idebtigung dieses letzterwähnten Befundes macht Langhans be-
sonders auf den bei dem Kinde erhobenen aufmerksam und spricht
die Meinung aus, daß dieser „zum ersten Male etwas Licht auf die
anämischen Zustände werfe, welche den Kretinen wie den Thyreo-
1) Anm. b. d. Korrekt.: Kraus (Verhandl. des 23. Kongr. für innere Medizin
p. 48) spricht von Knochenmarkspräparaten von entschilddrüsteu Hunden in denen
fast ansschließlich kleine und große Lymphocyten das Gesamtbild beherrschten.
2) Aschoff, Über einen Fall von angeborenem Schilddrtisenmangel. Vor-
trag, gehalten in der Mediz. Gesellschaft in Göttingen. Refer. Deutsche med.
Wochenschr. 1899. Vereinsbeil. p. 203.
3) Langhans, Anatomische Beiträge zur Kenntnis der Kretinen. Vircb»
Archiv Bd. 149 p. 173.
586 XXX. EssEB
priven charakterisieren''. Doch sagt er weiter: „In einem Kropf-
lande ist es besonders schwierig und bedarf es eines besonders
großen Materials, am die Beziehung der Schilddrüse zur Blatbildong
klar zu legen."
Von anderer Seite sind über diese fragliche Beziehung der
Schilddrüse zur Blntbildung nur Hypothesen aufgestellt worden, die
ich hier nicht alle wiedergeben will. Zum Teil sind sie in der
schon zitierten Arbeit von Formanek und Haskovec aufge-
führt, und ich will mich hier darauf beschränken^ zu erwähnen.
daß zunächst Kocher, der ja zuerst auf die Anämie bei Strum-
ektomierten hinwies, diese als Folge einer ungenügenden Sauerstoff-
zufahr auffaßte, die durch eine nach Kropfexstirpation sich aus-
bildende Verengerung der Trachea bedingt sein solL Femer haben
andere (z. B. B r u n s ^)) die Schilddrüse als ein direkt bei der Blut-
bildung beteiligtes Organ angesehen und Zesas-) der Schilddrüse
eine gleiche Rolle zugesprochen wie der Milz, weil er dieses Oi^an
im Gegensatz zu den Angaben anderer Experimentatoren (z. B.
Hofmeister^) und Lanz*)) und auch, wie ich gleich hier be-
merken will, im Gegensatz zu meinen eigenen Uutersuchungs-
resultaten, nach Schilddrüsenexstirpation stets vergrößert fand.
Schließlich ist in der von mir schon zitierten neueren Arbeit von
Kishi (S. 307) die Ansicht ausgesprochen, daß „bei den thyreoidekto-
mierten Tieren im Blut durch den Stoffwechsel eine Substanz ent-
stehe, die die roten Blutkörperchen zersetzt und gleichzeitig an den
Blutgefäßwänden Schaden anrichte, femer durch Chemotaxis eine
Vermehrung der Leukocyten im Blute hervorrufe".
Ich wende mich nun meinen eigenen Untersuchungsresultaten
zu, die bei thyreoidektomierten Hunden und Kaninchen gewonnen
wurden.
Als Versuchstiere wählte ich ausschließlich junge Tiere, da ich er-
warten durfte, daß sich bei solchen die ewentuellen Blut- und Knochen-
marks Veränderungen am dentlichBten ausbilden würden, abgesehen daToo*
daß die schon früher bei jungen Tieren noch Wegfall der Schilddrosen-
funktion beobachteten Wachstumsstörungen als äußeres Zeichen für den
1) Bruns, Über den gegen war tijiren Stand der Kropf behandlang. Sammlnng
klin. Vorträge. Chirurgie Nr. 244. 1884. p. 2067.
2) Zesas, Über den physiolog. Zusammenhang zwischen Milz und Schild-
drüse. Arch. f. klin. Chirurgie 1884 p. 267.
3) Hofmeister, Experimentelle Untersuchongen über die Folgen des
Schilddrttsenverlustes. Beiträge zur klin. Chirurgie Bd. 11. 1894. p. 441.
4) Lanz, Zu der Schilddrüsenfrage. Sammlung klin. Vorträge. Chinugif
Nr. 98. 1894. p. 44.
Blut und Knochenmark nach Ausfall der Schilddrüsenfunktion. 587
Erfolg der Operation gelten konnten. Zu Kontrolltieren, bei denen ich
zu gleicher Zeit wie bei den Veraucbstieren Blutuntersucbungen vomabni,
und die zur (Jntersucbuug des Knochenmarks mit den Versuchstieren
oder kurz nach deren spontan erfolgten Tode getötet wurden, nahm ich
Tiere desselben Wurfes, die natürlich in gleicher Weise wie die Yersuchs-
tiere gepflegt und ernährt wurden. ^)
Anfangs erging es mir nun ebenso, wie den meisten meiner
Voruntersucher: Die Hunde gingen meist in einigen Tagen nach
der Thyreoidektomie unter den Erscheinungen der Tetanie zugrunde,
während die operierten Kaninchen am Leben blieben. Erst als
ich den Glandulae parathjTeoideae Beachtung schenkte, konnte ich
auch beim Hunde das Auftreten von Tetanie mit folgendem Exitus
nach der Operation vermeiden. Bekanntlich sind diese erst im
Jahre 1880 von Sandström^ entdeckten Glandulae parathyreoideae,
von Kohn^j wegen ihres Aufbaues aus epitheloiden Zellbalken
Epithelkörperchen genannt, bei den Säugetieren in einer Anzahl
von 4, je 2 an jeder Seite, vorhanden, haben aber bei verschiedenen
Tieren eine verschiedene Lage.
Es kann nicht in meiner Absicht liegen, hier näher auf diese
interessanten, in den letzten Jahren erst genauer studierten Organe
einzugehen. Einzelheiten finden sich in der sehr lesenswerten Ab-
handlung von Biedl^) über „Innere Sekretion" und in der Arbeit
von Benjamins,*) in denen auch die einschlägige Literatur an-
gegeben ist*)
Beim Menschen liegen der Außen- und Hinterfläche der Schild-
drüse auf jeder Seite 2 dieser Gebilde an (siehe die Abbildung bei
Eiseisberg 1. c. S. 18 und bei Biedl 1. c. S. 15); bei einer Reihe
anderer Säuger findet sich auf jeder Seite eine Parathyreoidea
1) AHe Operationen wurden von meinem chirurgischen KoUegen, Privatdoz.
Herrn Dr. Schmieden ausgeführt, wofür ich ihm noch an dieser Stelle meinen
besten Dank ausspreche. Die Heilung der Wunden erfolgte in allen Fällen in
knrzer Zeit ohne Störung.
2) Sandström, Über eine neue Drüse beim Menschen und bei verschie-
denen Säugetieren. Refer. im Jahresber. von Virchow u. Hirsch.
3) Kohn, Studien über die Schilddrüse. Arch. f. mikroskop. Anatomie Bd. 44
p. 366 und Bd. 48 p. 398.
4) Biedl. Innere Sekretion. Vorlesungen. Verlag von Urban u. Schwarzen-
beig 1S04.
5) Benjamins, Über die Glandulae parathyreoideae. Zieglers Beiträge
Bd. 31 p. 143.
6) Bei der Korrektur kann ich femer nur kurz auf die Vorträge von Kraus
n. Kocher, „Über die Pathologie der Schilddrüse", auf dem 23. Kongreli für
innere Medizin und auf eine Arbeit von Krdheim. „Tetania parathyreopriva" in
den Mitteil, aus d. Grenzgebieten etc. Bd. XVI S. 632, hinweisen.
588 ^^^- ^s^^K
innerhalb und eine außerhalb der Thyreoidea (von K o h n als inneres
und äußeres Epithelkörperchen bezeichnet).
Was speziell die von mir gewählten Versuchstiere angeht, so
verlieren beim Kaninfthen die äußeren Epithelkörperchen jede Be-
ziehung zur Schilddrüse und wandern bis zur Carotis hinunter,
während beim Hunde die äußeren Epithelkörperchen dem obei-en
Pole der Schilddrüse dicht anliegen und oft förmlich in sie ein-
geteilt sind.
Von diesen entwicklungsgeschichtlich und anatomisch selb-
ständigen Organen müssen wir dank neuerer experimenteller Unter-
suchungen eine Funktion annehmen, die von der der Schilddrüse
verschieden und deren Ausfall gerade für das Auftreten einer
Tetanie verantwortlich zu machen ist (Gley,^) Moussu,V
Vassale und Generali).*)
In jüngerer Zeit hat auch P i n e 1 e s ^) den Zusammenhang der
Epithelkörperchen mit der Tetanie beim Menschen betont und sich
wegen der Beziehung zwischen menschlicher und tierischer Tetanie
daflir ausgesprochen, daß auch allen Formen der idiopathischen
Tetanie (bei Arbeitern, Kindern, Schwangeren, Magenkranken)
analog der Tetania strumipriva dieselbe pathologisch-physiologische
Basis zugrunde liegt: die Insufficienz der Epithelkörperchen.
Schließlich weise ich noch auf eine Mitteilung von Callum*)
hin, der bei einem alten, an Magenektasie und Tetanie leidenden
Manne (Tod während eines Tetanieanfalles) in großen Epithel-
körperchen eine reichliche Entwicklung von Mitosen fand, wohin-
gegen er solche bei ungefähr 50 Fällen aus jedem Alter, die aus ver-
schiedenen Ursachen tödlich verlaufen waren, außer bei einem Falle
von chronischer Nephritis mit Urämie nicht zu finden vermochte.
1) Gley, Contribution ä l'etude des eifets de la tbyreoidectomie chez le
chien. Nonvelies recherches snr les effets de la thyreoidectomie chez le lapin.
Arch. de physiol. 1892 p. 81 u. p. 664.
2) Moussu, Recherches snr les fonctions thyroidienne et parathyroidienne.
These de Paris 1897.
3) Vassale und Generali, Mitteilung: über die Wirkung der Exstir-
pation der Gland. parathyreoideae. Refer. Münch. med. Wochenschr. 1897 p. 872,
4) Pineles, Zur Physiologie und Pathologie der Schilddrüse und der
Epithelkörper beim Menschen. Vortrag. Refer. MUnch. med. Wochenschr. 1901
p. 1180. — Klinische und experimentelle Beiträge zur Physiologie der Schild-
drüse und der Epithelkörperchen. Mitteil, aus d. Grenzgeb. d. Medizin u. Chirurgie
Bd. 14. 1905. p. 120. — Zur Pathogenese der Tetanie. Deutsches Archiv f. klin.
Med. Bd. 85. 1905. p. 491.
5) Callulm, Die Beziehung der ParathyreoiddrUsen zu Tetanie. Centralbl.
f. allgem. Pathol. und pathol. Anatomie 1905 p. 386.
Blut und Knochenmark nach Ausfall der Schilddrüsenfunktion. 5g9
Demnach wird man beim Hunde ohne Berücksichtigung der
Epithelkörper bei einer Thyreoidektomie fast stets auf das dem
oberen Schilddrtisenpol dicht anliegende oder häufig sogar in ihm
eingekeilte größere Epithelkörperchen mitentfernen und Tetanie bei
dem Tiere erwarten können, während man beim Kaninchen die voll-
ständige Thyreoidectomie vornehmen kann, ohne das entfernter
liegende äußere Epithelkörperchen zu berühren.
Bei jungen Hunden hält es nur äußerst schwer, die Schilddrüse
vollkommen zu entfernen, ohne wenigstens eine stärkere Alteration
der äußeren Epithelkörperchen befürchten zu müssen.
Herr Kollege Schmieden ging daher auf meine Veranlassung
bei den jungen Hunden so vor, daß er auf einer Seite ungeachtet
des äußeren Epithelkörperchens die Schilddrüse vollständig entfernte
und auf der anderen Seite von dem oberen Pol, im ganzen etwa V*
eines Schilddrüsenlappens, stehen ließ. Auch bei diesem Verfahren
bekamen zwei Tiere eine allerdings nur kurz dauernde Tetanie,
wohl wegen einer durch die Operation erfolgten vorübergehenden
Schädigung der im und am oberen Schilddrüsenpol liegenden
inneren und äußeren Epithelkörperchen. Andererseits riskierte ich
bei diesem Vorgehen, daß durch Zurücklassung des auch nur spär-
lichen Schilddrüsenrestes, von dem aus bekanntlich bald eine Eege-
neration ausgehen kann, ev. die Folgen, einer völligen Schild-
drüsenexstirpation ausbleiben würden. Meine Ergebnisse sprechen
aber dafür, daß diese Sorge unnütz war. So blieben z. B. alle
Versuchstiere, zwei allerdings erst etwa einen Monat nach der
Operation, gegenüber den Kontrolltieren erheblich im Wachstum
zurück mit Ausnahme eines einzigen Hundes, wofür die Obduktion
desselben eine befriedigende Erklärung gab. Es fand sich bei ihm
eise sog. accessorische Schilddrüse oberhalb des Heinzens, über hasel-
nnßgroß, die offenbar die Funktion des existirpierten Schilddrüsen-
g-ewebes vollauf übernommen hatte.
Eb stützen sich meine Ergebnisse auf üntersachungen, die an
7 Hunde- und an 4 Kaninchenserien gewonnen wurden mit 28 Versuchs-
tieren. Die während des Lebens der Tiere vorgenommenen Blutunter-
sixchmigen bestanden in Hämoglobinbestimmangen nach Sahli und nach
rFfillquist, teils kontrolliert mit dem Hämometer von Fleischl-
mr i 6 s c h e r. Ferner wurden Zählungen der roten und weißen Blut-
körperchen in der Thoma-Zeiß'schen resp. der Türkischen Zählkammer
vorgenommen und schließlich Trockenpräparate studiert, die nach May-
O-rünwald resp. mit Ehrliches Triacid gefärbt waren.
Bei der mikroskopischen Untersuchung der Bluttrockenpräparate
fskxiden sowohl die quantitativen als auch die qualitativen Verhältnisse
Deatschea Archiv f. klio. Medizin. 89. Bd. 38
590 XXX. Esser
der einzelnen Blutkörperchenarten, insbesondere der weißen, Berück-
sichtigung.
Da sich bei den verschiedenen Serien die im wesentlichen stets
gleichen Veränderungen zeigten, beschränke ich mich auf die
Wiedergabe der Tabellen der ersten Hunde- und der ersten Ka-
ninchenserie (s. Tab. S. 591).
Die Tabellen zeigen zunächst in Übereinstimmung mit den
Resultaten früherer Experimentatoren, daß nach der Thjreoid-
ektomie sowohl beim Hunde me auch beim Kaninchen unter Vermin-
derung des Hämoglobingehaltes und der Anzahl der roten Blut-
körperchen die weißen zunehmen, und bekunden ferner die von mir
neu festgestellte Tatsache, daß unter den weißen Blutkörperchen
wie in dem geschilderten Blutbild der Myxödemkranken neben
einer Vermehrung der großen mononucleären Leukocyten noch
andere mononucleäre Formen in größerer Menge auftreten, die im
Blute der Kontrolltiere fehlen oder nur vereinzelt vorkommen. Be-
sonders in den mit E h r 1 i c h 's Triacid gefärbten Präparaten zeigten
diese Zellen alle Charakteristika, die Türk (1. c.) bei dieser Fär-
bung von den lymphoiden Markzellen angibt: Ein schmaler Proto-
plasmasaum umgibt in einem schmutzig graubräunlichen oder rot-
bräunlichen Tone gefärbt den großen, graubläulich gefärbten.
länglich ovalen oder auch vollkommen runden Kern, der meist ein
oder mehrere hellere Kernkörperchen enthält, und hier und da
findet man im Protoplasma einzelner dieser Zellen einige Granula,
die ihre Verwandtschaft mit Myelocyten dokumentieren. Letztere
finden sich ganz vereinzelt auch in ausgebildeter Form.
Die roten Blutkörperchen zeigten bei den thyreoidectomierten
Tieren gegenüber denen der Kontrolltiere nur geringe Abweichungen
von der Norm : es fanden sich vereinzelte Mikro-, Makro- und Poikilo-
cyten. Im allgemeinen waren die roten Blutkörperchen der Ver-
suchstiere etwas schwächer tingiert; hier und da fand sich eine
deutlich polychromatophile Zelle.
Nach diesen klinischen Befunden schien die anatomische Unter-
suchung des Knochenmarks von besonderem Interesse.
Zu diesem Zwecke ging ich folgendermaßen vor:
Alle Versuchstiere wurden entweder knrz nach ihrem spontan er-
folgten Tode (2 Hunde) oder sofort nachdem Bie durch Nackenschlag
oder doppelseitigen Pneumothorax getötet worden waren, wie die gleidi-
zeitig getöteten, zugehörigen Vergleich stiere obduziert.
Ein Femur wurde mitten quer durchgesägt, eine Hälfte io eiiieii
Schraubstock geklemmt und von dem aus der Diaphyse hervorqueUenden
Marke Deckglasabstrichpräparate gemacht, die teils meist mit EhrlicKh'fi
Blut und Knochenmark nach Ausfall der Schilddrttsenfnnktion.
591
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592 XXX. EssBR
Triacid, teils nach May-Orünwald gefärbt wurden. Aas der anderen
Hälfte worden nach vorsichtiger Längsspaltong Elnochenmarkswürfe)
herausgeschnitten und teils in 4proz. Formalin, teils in Zenker'scher
Lösung fixiert.
Der andere Femur wurde nach 3 wöchentlicher Fixation in 4proz.
Formalin in Haug^scher Flüssigkeit (Aoid. nitr. pur. 30,0, Alcoh. absol.
700,0, Aqu. dest. 300,0, Natr. chlor. 2,5) entkalkt. Die Einbettung
erfolgte in Celloidin resp. Paraffin, und gefärbt wurden die Schnitte,
und zwar die von Versuchs- und Vergleichstier gleichzeitig ev. auf dem-
selben Objektträger, mit Hämatoxylin-Eosin , mit Methylgrun-Pyronin
(Pappenheim) und nach der neuerdings von Schridde') angegebenen
Methode zur Darstellung der verschiedenen Granula. Schließlich verfuhr
ich zur Isolierung einzelner aus den Celloidinschnitten nach dem von
Arnold^) angegebenen Verfahren, indem ich dünne, gefärbte Schnitte
in Nelkenöl aufhellte und dabei eine Auflösung des Gelloidins bewirkte.
Die in Kanadabalsam eingebetteten Schnitte zerfallen dann bei leichtem
Druck auf das Deckglas.
Die übrigen Extremitätenknochen wurden meist nur einer makrosko-
pischen Untersuchung unterzogen.
Bei der makroskopischen Betrachtung ergaben sich nun schon
auffallende Unterschiede zwischen dem Knochenmark der Versuchs*
tiere und dem der Kontrolltiere, und zwar sowohl bei den Hunden
wie auch bei den Kaninchen.
Das Knochenmark der thyreoidektomierten Tiere
ist infolge größeren Blutreichtums dunkler rot ge*
färbt und weicher (oft fast zerfließend) als das der
Vergleichstiere.
Auch bei der mikroskopischen Untersuchung fanden sich erheb-
liche Unterschiede zwischen dem Knochenmark der Versuchstiere
und der vom selben Wurf stammenden Vergleichstiere.
Die Betrachtung der von der Diaphyse des Femurs angelegten
Schnitte ergibt vorab zur Bestätigung des makroskopischen Befundes
sowohl im Mark der thyreoidektomierten Kaninchen wie auch der Hunde
einen erheblichen Blutreichtum. Inbetreff der Beschaffenheit der einzelnen
roten Blutkörperchen findet sich zwischen thyreoidektomierten und nicht
thyreoidektomierten Tieren kein wesentlicher Unterschied, insbesondere
kein merkbarer Zahlen unterschied — genauere zahlenmäßige Bestimmungen
konnten in dem äußerst zellreichen Gewebe nicht gemacht werden — in
den kernhaltigen roten Blutkörperchen.
Die Riesenzellen sind in dem Knochenmark der thyreoidektomierten
Tiere spärlicher und kernärmer.
1) Schridde, Die Darstellung der Leukocytenkürnelungeu im Gewebe.
Zentralbl. f. allgemein. Pathol. u. pathol. Anatomie 1905 p. 769.
2) Arnold, Zur Morphologie und Biologie des Knochenmarks. Tirch. Are).
Bd. 140 p. 146.
Blut and Knochenmark nach Ausfall der Schilddrüsenfunktion. 593
Viel auffallender ist aber die Differenz in der Anzahl der normalen
Myelocyten, die in dem Knochenmark der Versuchstiere sehr zurück-
treten vor Zellen mit kleinerem^ mehr oder weniger rundlich gestaltetem,
meist dunkler tingiertem Kern und vielfach breiterem Protoplasmasaum.
In dem Kerne vieler dieser Zellen kann man deutlich wenigstens 1, oft
2 Kemkörperohen erkennen. Der Protoplasmasaum ist bei einer großen
Anzahl dieser Zellen basophil und frei von Qranulation, bei anderen ist
«ine deutliche Kdrnelung nachweisbar, und zwar meist neutrophile bei
•einzelnen auch eosinophile, die um den Kern weniger ausgeprägt ist
•als in der Peripherie der Zellen, bei wieder anderen ist die neutrophile
Körnelung eben angedeutet. Auch an Schnitten von Tieren, die bald
<etwa 8 Tage) nach der Tfayreoidektomie getötet worden waren, erschienen
diese angegebenen Unterschiede gegenüber den Befunden bei den Kon-
trolltieren schon unverkennbar.
Meiner Ansicht nach handelt es sich bei den eben beschriebenen
Zellen um Vorstadien der reifen Myelocyten, spez. um die als
lymphoide Markzellen beschriebene Formen. Doch bin ich mir be-
wußt, daß meine bisherigen Untersuchungen noch nicht genügen,
bei dem komplizierten Bau eines Organs, wie es das Knochenmark
ist, etwas Entscheidendes auszusagen ; jedenfalls verspricht aber das
Studium der geschilderten Veränderungen spez. für die Genese der
aus dem Knochenmark stammenden weißen Blutelemente weitere
Aufklärung zu bringen.
Auch eine Reihe anderer interessanter Fragen knüpfen sich
an meine Befunde, von denen ich einige, die mich weiter beschäftigen
T\^erden, zum Schlüsse andeuten will:
Wie verhält sich das, sagen wir mit Nägeli myeloblastisch,
jedenfalls aber hauptsächlich leukoblastisch erkrankte resp. ver-
änderte Knochenmark der thyreoidektomierten Tiere, wenn sie von
«iner Infektionskrankheit befallen sind, bei der die polymorphkernigen
Zellen vermehrt aufzutreten pflegen? Wie nach Röntgenlichtbe-
strahlung, bei der ja neueren Untersuchungsergebnissen gemäß
namentlich das leukoblastische Gewebe des Knochenmarks Schaden
leidet?
XXXI.
Paroxysmale Tachykardie.
Von
E. Schmoll,
San FruicLBco.
(Mit 14 Kurven.)
Die Pathogenese der paroxysmalen Tachykardie ist trotz den
eingehenden Untersuchungen von Hoff mann (1) und Macken-
zie (2) in tiefes Dunkel gehüllt. Ho ff mann (1) beobachtete in
seinen Fällen eine Verdoppelung oder Vervierfachung der Puls-
frequenz und suchte dieses eigentümliche Verhalten durch folgende
Annahme zu erklären : Während der normalen Pulsfrequenz werden
mehr Eeize gebildet als es der Anzahl der Pulsationen nach er-
scheinen möchte; allein das Herz ist nicht imstande jeden Beiz
mit einer Kontraktion zu beantworten und erst jeder zweite oder
vierte Reiz kommt zur Wirkung. Der tachykardische Anfall wurde
dann einfach in einer Erhöhung der Anspmchsfähigkeit des Herzens
bestehen, das jeden Reiz mit einer Kontraktion beantworten wörde.
Mackenzie (2) betrachtete die Tachykardie als bedingt durch
eine Anhäufung von Extrasystolen.
Die Entscheidung zwischen diesen zwei Ansichten kann nur
durch die gleichzeitige Aufnahme des Venenpulses geliefert werden,
wie auch schon Wenckebach (3) in seiner Monographie über
Herzarrythmie hervorhob. Die Beobachtung zweier Fälle von \>si-
oxysmaler Tachykardie, in welchen die Analyse des Venenpulses
Aufschluß erteilte über den Ursprung des tachykardischen Anfalles,
erlaubt mir in dieser Frage Stellung zu nehmen.
Fall I. C. M.) 50 Jahre alt, hat schon während der letzteo
10 Jahre an Anfallen von paroxysmaler Tachykardie gelitten. Tor
12 Jahren warde er, während er seinem Geschäft nachging, plötzlicfa
schwindlig, fiel um und wurde nach dem Spital verbracht, wo er un-
gefähr 6 Monate lang behandelt wurde; schon zu dieser Zeit glidien
Parosyfluiale Tachykardie. 59Ö
seine tachykftrdiacben AnflÜle TollkommeQ den Jetzigea. Yor 6 Jahren
wiederholten sich seine paroxystiachen Anfälle r seither treten sie aaf,
sobald Patient verrocbt schwerere Arbeit zu verrichten oder wenn er
sich in ftlkoholischen Exzessen verleiten laßt. Seit dem Erdbeben var
Patient genötigt ichwere körperliche Arbeit zu verrichten ; damit setzten
anch seine Attacken wieder ein und nötigten den Patienten das 8pi''al
aofsnsncben. Während der Attacken erreicht die Pulsfrequenz eine Höbe
von 150 — 300 in der Hinute, während der normalen Pnlsperioden be-
wegt aicb die Schlagzahl zwischen 60 — 70. Patient ist imstande seine
Attacken dnrcb forcierte Inspiration oder Vorneiib erb engen zu konpieren ;
jedoch beginnt eine neue nach wenigen Augenblicken.
Während der Attacken ist der Puls regelmäßig; in den Tagen
zwisohea den Anfällen beobachtet man wahrend der langsamen Palsfolge
in dem sonst regelmSBigen Rhythmus vereinzelte Intermissionen.
Ein genaueres Studium der Pulsverliältnisse und de» ßh.vtli-
muswechsels ei^bt die folgenden Befunde.
Kurve 1, aufgenommen während des langsamen Herzrhythmus,
zeigt die charakteristischen Wellen eines schwachen anriknlären
Venenpulses- Die Welle a entspricht der Vorhofswelle, c der Ca-
rotiswelle, während die ventrikuläre Welle v an dieser Kurve nicht
ausgeprägt ist Der Pulä ist regelmäßig 72 in der Minute. Im
scharfen Gegensatz dazu steht die während des Anfalles aufge-
nommene Kurve 2. Der vorher sehr schwache Puls ist nun sehr
Knrve 1. Kurve 2,
Stark geworden und hat die Form des Kammervenenpnlses ange-
nommen. Die gleichzeitig aufgenommene Oarutiskurve zeigt, dall
der Beginn der Venenwellen mit der arteriellen Pulswelle zu-
sammenfällt; die Venenwelle selbst bestellt aus zwei kleineren
Wellen, wie wir sie in dem normalen Kammervenenpulse immer
finden. Am Ende des pai'oxystischen Anfalles wechselt auch der
Charakter des Venenpulses; der Kammer venen puls verwandelt sich
in einen normalen Vorhofspuls mit ausgeprägter Vorhofswelle.
Die Erklärung dieses auffallenden, schon von Mackenzie
geschilderten Verhaltens wird geliefert in der während des normalen
Herzrhythmus erhaltenen Kurve 3. Man bemerkt liier vereinzelte
596 XXXI. ScHMOtL
Unregelmäßigkeiten in dem sonst regelmäßig schlagenden Herzen,
die anzweifelhaft auf Extrasystolen zaräckzufObren sind. Das
Fehlen der Vorhofswelle während dieser Extrasehläge (Kurve 3i
beweist klar, daß keine Vorhofaextrasystole der Kammerextrasystole
vorangeht: mit anderen Worten: die Extrasystole entsteht nnter-
halb des V'orhofs entweder in der Kammer selbst oder in dem
His'schen Bündel. Kammerextrasystolen können zwei Fonnen an-
nehmen: entweder folgt auf die Extrasystole eine Pause, welche
dauert bis die nächste normale Systole wieder eintritt, also voll-
ständig kompensierend ist, oder die Extrasystole ist interpoliert
zwischen zwei normalen Pulsschlägen ohne irgend weiche Störung
des ursprünglichen Rhythmus. Eine Ausmessung unserer Kurren
ergibt, daß keine dieser Bedingungen auf unseren Fall zntrlttt: die
Ursprungsstätte dieser Rxtiiisystoleu liegt also im His'schen
Bündel. Diese Annahme wird gestützt durch Kurven, welche
mehrere Tage später erhalten wurden. Die darin anfgezeichneten
Extrasystolen besitzen zum großen Teile Vovhofewellen (Kurve i}.
Diese Extrasystolen sind als atrioventikuläre dadurch charak-
terisiert, daß in ihnen die Zeit a — c gegenäber den normalen Pals-
schlägen stark verkürzt ist (Kurve 4i. Während diese Zeit in den
normalen Systolen 0,2 beträgt, ist sie während der Extrasdiläge
auf 0,1 Sek. verkürzt, ein Verhalten, das nach den Ausfühnrngen
von Hering (4) als charakteristisch für atrioventrikuläre Eb:tra-
systolen betrachtet werden muß. Je nach der exakten Lokalisation
der Ursprungsstätte des Extrareizes wird sich entweder Vorhof
ParoifBinale Tachykardie. 597
und Kammer gleichzeitig (Kurve 31 znsammfinziehen ; oder die Vor-
hofssystole wird vor der Kamtoersystole stattfindeu, wobei die Zeit
a — c notwendigerweise abgekürzt ist iKurve 4); oder die Vorhof-
fcontraktion folgt der Kammerkontraktion nach.
Der Übergang vom Vorhofvenenpuls zum Kammervenenpuls
wird unserem Verständnisse näher gerückt durch die Betrachtung
des Venenpulses während der Extrasystolen. Wie schon oben be-
merkt, fehlt in der Venenkurve jegliches Anzeichen einer Vorhofs-
welle, da sich Kammer und Vorhof gleichzeitig zusammenziehen.
Die Venenkurve besteht also nur aus den beiden Wellen, die wir
auch während des paroxystischen Anfalles ausgeprägt finden. Wh
können den paroxystischen Anfall somit auffassen als bedingt durch
eine Häufung von atrioventriknlareu Extrasystolen: eine Ansicht,
die schon seit längerer Zeit von Mackenzie vertreten wird. Die
Kegetmäfiigkeit der Piilsperioden spricht nicht gehen ihren extra-
systolischen Ursprung: rhythmische Extrasystolen sind schon öfteis
beschrieben worden, besonders typisch von Gerhardt (5) und
Pan (6).
DieVergl eichung der Puls- Kmve h.
zahlen während and unmittel-
bar nach dem Anfall beweist
•ebenfalls, daß kein Zusammen-
hang besteht zwischen dem
paroxystischen und dem nor-
malen Rhythmus. Während
des Anfalles beträgt die Daner
von 2 Systolen 0,75 Sek. ent-
sprechend einer Pulsfrequenz
von 160, während des normalen
Rhythmus 0,H2 Sek. einer Puls-
li-eqnenz von 73 entsprechend iKurve 5i. In dem gleichen Falle
beobachtete ich übrigens Anfälle von Herzjagen, in welchen eine
annähernde Verdoppelung der Frequenz stattfand.
Entsprechend dem atrioventrikalären Ursprung der Extrasystolen
wird der Extraschlag in den meisten Fällen von einer nicht voll-
ständig kompensierenden Pause gefolgt. In den meisten Fällen
jedoch ist die Verlängerung der postextrasystolischen Diastole sehr
gering und bei einzelnen Schlägen fehlt sogar jegliche kompen-
satorische Verlängerung, so daß der nächste Pnlsschlag nach der
Extrasystole im noraialen Intervall erfolgt Diese Erhaltung der
physiologischen Reizperiode soll nach den Untersuchungen von
Ksgelmaun [7] auf deu venösen Sinus als Ui-sprangsstätte der
Kxtrasystoleit hinweisen, was jedoch in nnsei-em Falle durch die
gleichzeitige Aufnahme des Venenpulses ausgeschlossen ei-scheint
Fall II. Die P&tieiitia, 66 Jahre ftlt, bot die Encheinungen eiaer
ÄdipoBitBs dolorosa dar, welche auch die IntelUgenz erheblich geachiricht
hatte, so daß anamneatisch keioe Angaben Aber ihr Herzleiden erhalten
werden konnten. Während eines Ifingoren SpitalanfentbalteB war ea mir
möglich eine größere Ansabl von Anfüllen za beobachten und graphiach
zn regiBtrieren. Die Dan er der AnfUIe wechselte zwischen wenigen
Minnten nud mehreren Tagen ; sie begannen plötzlich und endeten ebenso
plötslich wie sie begonnen hatten. Während der Anfölle selbst traten
Perioden auf mit langsamem und unregelmäßigem FdIb, der jedoch nach
kurzer Dauer in den regelmäßigen tachykardischen Rhythmus untachlng.
Die während des tachykardischen Aufalles erhaltene Venen-
kurve 6 zeigt die. H normalen ^\'ellen des Venenpnises a, c und v.
Alle 3 Wellen erfolgen in absolut gleichmäßigem Rhythmus. Aaßer-
oi-dentlich häufig trat nun wählend des tachycardischen Rhythmus
ein typischer Pulsus alternans auf (Knrve 7 und S). Wir wissen
seit den bekannten Untersuchungen von Wenckebach. daß wir
diese Pulsform als charakteristisch für eine SchädiffUBg der Köu-
Kurve 7.
traktilität des Herzens ansehen dürfen. iJiese findet bekannüich
ihren Ausdruck in dei- Höhe der Pulswelle, da das Herz jeden
Heiz mit einer Maximalkontraktion beantwortet. Eine .Schädigung
der Kontraktilität zeigt -sich nun zuerst in einer Verkleinerung der
Pulshölie: daneben verläuft die schwächere Systole in kürzerer
Paroxysmale Tachykardie. 599
Zeit, was bei rhythmisch schlagendem Herzen natürlich zu einer
Verlängerung der Diastole fuhren mnß. Wenn nun in einem solchen
Herzen mit geschädigter Eontraktilität ein Reiz etwas verfrüht
auftritt (die Herzaktion ist ja nie genau rhythmisch), so erfolgt
dadurch eine Verkürzung der Diastole, welche diesem verfrühten
Keiz vorangeht ; in der kurzen Ruhepause hat das Herz sich nicht
genügend erholt; eine schwache verkürzte Systole wird erfolgen.
Die nachfolgende Diastole ist nun infolge der verkürzten Systole
verlängert und infolge der verlängerten Ruhepause erfolgt eine
starke Eontraktion, die nun naturgemäß zu einer Verkürzung der
Diastole führen muß und dadurch zu einer schwachen Eontraktion ;
so wiederholt sich die Alternation der starken und schwachen
Systolen während längerer Perioden. Diese experimentell von
Engelmann (8) und Hoff mann (9) gefundenen Verhältnisse
werden sehr hübsch illustriert durch die in unserem Falle erhaltenen
Eurven. Die Ausmessung derselben ergibt die folgenden Verhält*
nisse (die Zahlen sind mm, eine Umrechnung derselben in Zeit-
werte wird dadurch ermöglicht, daß in jeder Eurve angegeben ist,
wie viele mm 0,2 Sek. entsprechen). In Eurve 7 beträgt die Dauer
einer Doppelkontraktion 11,5 — 12 mm. Starke und schwache Eon-
traktion dauern beide gleich lang 5,75 — 6 mm. Die Systole des
schwächeren Pulsschlages dauert 2,5, des stärkeren 3 mm. Die
Diastole vor dem schwächeren Pulsschlage dauert 3,0 diejenige vor
dem stärkeren 3,5 mm. In Eurve 8 ergeben sich die folgenden
Maße : Systole des stärkeren Pulses 3 mm, Systole des schwächeren
2 mm. Die Diastole vor dem schwächeren Pulse dauert 3, vor dem
stärkeren 4 mm.
Neben der Alteniierung der Ventrikel bemerken wir in den
Eurven eine deutliche Alternierung der Vorhöfe, es entspricht je-
doch der schwächeren Ventrikelkontraktion eine starke Vorhofswelle
während die schwache Vorhofswelle der stärkeren Ventrikelwelle,
entspricht. In anderen nicht reproduzierten Eurven erfolgten Vor-
hofs- und Ventrikelalternation gleichphasig.
Vorhofsalternation ist. soweit mir bekannt, bisher nur von
Volhard (10) beschrieben worden in einer Arbeit, in welcher er
die Verkürzung der schwächeren Pulsperiode als notwendig für die
Diagnose eines richtigen Pulsus alternans betrachtet und in welcher
er die Fälle mit unverkürztem, schwächeren zweiten Puls als durch
Extrasystolen verursacht erklärt. Die Verspätung der zweiten
Pnlswelle bei rhythmischer Herzaktion ist seiner Ansicht nach be-
dingt durch eine Verlängerung der Anspannnngszeit und die Extra-
«00
XXXI. SCHMO.
Terepfttung der zweiten schw&cheren Palswelle. In Knrve 7 und 8
sind sowohl a als c leicht verspätet, stärker in der ans anderen
Gründen reproduzierten Kurve 9. In anderen nicht reproduzierten
Kurven fehlt jedoch eine Verspätung der zweiten Pulswelle voll-
ständig, so daS diese Yerspätnng nicht als unbedingt notwendig
fttr eine nchtige Altemation aufgefaßt werden kann : eine Anschau-
ung die auch Uering{4) in seinem Referat auf dem letzten EongreG
fQr innere Jtfedizin vertritt.
In Knrve H erfolgt an der mit einem Sterne bezeichneten
Stelle die zweite Kontraktion verfrüht, wie sich aus einer Ausmessni^
der Knrve ergibt. Dadnrch erfolgt eine äußerst schwache Kontraktion
und die nächste Diastole ist entsprechend verlängert. Die nächst-
folgende Systole wird dadnrch sehr verstärkt und verlängert; die
nächstfolgende Diastole ist somit stark verkürzt, so daß der Ven-
trikel nicht genügende Kraft entwickelt, um bei der nächsten Kon-
traktion die Aortenklappen zu öffnen; die Ventrikelwellß fSJlt ans
und nur die Vorhofswelle zeigt die Anwesenheit des rhythmischen
Eeizes an.
Kurve 9 zeigt den Übergang von einer Alteniierung mit fehlen-
der Ventrikelwelle zu einer Altemierung mit allmäbUch stärker
werdender Kammerkontraktion, bis schließlich ein r^i^lmftßiger
tachykardischer Rhythmus sich entwickelt.
Eine zweite neben dieser Allorhythmie bestehende Unregel-
mäßigkeit ist dargestellt in Knrve 10. Es schlägt hier das Herz
in einem regelmäßigen langsamen Ehythmns, welcher jedoch an
mehi'eren Stellen unteib rochen wird von einer vorzeitigen Systole.
Diese wird von einer Pause gefolgt, deren Dauer gleich ist den
Intervall zwischen zwei Vorhofssystolen während des i-egelmäßigen
Paroxysmale Tachykardie. 601
Rhythmus. Mit anderen Worten : wir haben es zu tun mit Extra-
Systolen, die zu keiner kompensatorischen Pause führen.
Das Auftreten dieser Extrasystolen wird offenbar noch dadurch
kompliziert, daß sich der Ventrikel während der Diastole nur un-
vollständig: erholt. Sehr oft zeigt die Venenkurve nur eine isolierte
Vorhofswelle, während die c- und v-Welle vollständig fehlen. Daß
in diesen Intermissionen dennoch eine Ventrikelkontraktion stattfand,,
ließ sich leicht durch die Auskultation nachweisen (eine Spitzen-
stoßkurve konnte leider nicht erhalten werden). Während der
Pause am Pulse ließen sich oft zwei paukende Töne über dem
Herzen nachweisen, die deutlich verfrüht auftraten. In anderen
Fällen, wenn die c-Welle vollständig fehlte, erfolgte nur ein pauken-
der Ton, wie man dies in abortiven Systolen oft hört Diese Schall-
erscheinung war vollständig verschieden von den dumpfen Vorhofs-
tönen, wie wan sie während eines richtigen Herzblocks wahrnimmt.
Das Auftreten einer Reihe solcher abortiver Extrasystolen ist
dargestellt in den Kurven 11 und 12. Beide zeigen die Konstanz
des physiologischen Rhythmus, das Fehlen jeglicher kompensatorischen
Pause und eine auffallende Regelmäßigkeit im Auftreten der Extra-
reize. Die Venenkurve gewinnt dadurch eine große Aehnlichkeit
mit deijenigen, welche man bei Ventrikelausfall verursacht durch
Leitungsstörung erhält
Diese Ähnlichkeit wird noch dadurch erhöht, daß auch die
Überleitungszeit durch die Extrasystolen beeinflußt wird. Es ist
aus Kurve 13 leicht ersichtlich, daß die Zeit zwischen a und c,
welche wir bekanntlich als Maß der Überleitungsgeschwindigkeit
benutzen, in der Extrasystole stark verkürzt ist. Während in den
normalen Systolen die Überleitungszeit 0,2 Sek. beträgt, ist sie
während der Extrasystole auf 0,05 Sek. abgekürzt Auch in der
nächsten Systole ist a— c noch auf 0,1 Sek. verkürzt und erreicht
erst in der zweitnächsten Systole den normalen Wert
Die Verkürzung der Überleitungszeit weist wie im vorher-
gehenden Falle auf das atrioventrikuläre Bündel als Ursprungsort
für die Extrasystole, das konstante Fehlen der kompensatorischen
Pause auf den venösen Sinus. Da wir im Falle 1 gesehen haben
daß bei atrioventrikulären Extrasystolen eine kompensatorische
Pause fehlen kann, so möchte ich auch in diesem Falle die Ur-
sprungsstätte der Extrasystolen nach dem Atrioventrikularbündel
verlegen, bin aber nicht imstande den venösen Sinus als Entstehungs-
ort auszuschließen. Die Verkürzung von a--^c in der nächstfolgen-
den Welle ist wohl dadurch zu erklären, daß die besonders starke
XXXI. Sthholl
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Herzkontraktion die Pulsnelle rascher dnrcli das arterielle Rolir
forttreibt.
Der Übergang eines laugsameß Rhythmus in einen tachykar-
dischen Rhrthmiis wird sehr hübsch illustriert durch die Kurve 14;
das gehäufte Auftreten der beschriebenen Extrasystolen führt liier
zum Auftreten des tachykardischen Anfalles.
Kurve 14.
Die Analyse der Venenkurven unserer Fälle von paroxysmaler
Tachykardie zeigt also, daß der Aufall bedingt sein kann dnrcli
das Auftreten von Extrasystolen, die von dem Atrioventrikular-
böndel auszugehen scheinen.
Literatur.
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XXXIl.
Aus der medizinischen Klinik in Gießen
(Geh.-Rat Prof. Dr. Moritz).
Über Herzvergrößerung infolge Eadfahrens.
Von
Dr. Schleifer, Oberarzt im I.-R. Nr. 30,
kommand. zar medisinisehen Klinik.
(Mit 4 Abbildungen.)
Gelegentliche Beobachtungen über Herzvergrößerungen bei
Radfahrern haben mich veranlaßt, der Frage systematisch nach-
zugehen, ob hier ein kausaler Zusammenhang anzunehmen sei und
nicht etwa nur Zufälligkeiten vorlägen.
Untersuchungen über abnorme Größenverhältnisse des Herzens,
auch solche geringen Grades, können auf orthodiagraphischem Wege
nunmehr mit Aussicht auf Erfolg vorgenommen werden, seitdem
durch die Beobachtungen von Dietlen^) aus der Moritz'schen
Klinik eine genügend sichere Unterlage hinsichtlich der Normalwerte
geschaffen worden ist. Die vnchtigsten hier in Betracht kommen-
den Tatsachen sind folgende:
Die Herzgröße ist abhängig von der Körpergröße, sie wächst
mit dieser. Das wesentlich bestimmende Moment hierbei ist aber
nicht allein und nicht einmal hauptsächlich die Längenentwicklung
des Körpers, sondern seine Massenentwicklung, wie sie im Körper-
gewicht zum Ausdruck kommt. Diese geht ja im allgemeinen mit
der Längenentwicklung Hand in Hand. Wo dies aber im Einzel-
fall nicht zutrifft, wo bei einer bestimmten Körperlänge ein abnorm
großes oder abnorm kleines Körpergewicht sich findet, da weicht
auch die Herzgröße entsprechend nach oben oder unten ab.
Fernere nicht unwichtige Einflüsse auf die Herzgröße sind im
Alter und im Geschlecht gelegen. Noch nicht ausgewachsene „halb-
1) Deutsches Arch. f. klin. Med. 88. Bd.
über HerzyergT^ßerang infolge Radfahrens. 605
wiichsige" Individuen ^) haben, im Vergleich mit gleich großen und
schweren erwachsenen Personen, etwas kleinere Herzen, während
bejahrte Individuen physiologisch eine mäßige Zunahme der Herz-
größe, besonders im linken Abschnitt, aufweisen. Kleiner ist ferner
•das Herz der weiblichen Individuen im Vergleich mit gleich großen
und schweren männlichen Personen.
Das Untersuchungsmaterial, das ich benutzt habe, umfaßt unter
Ausschluß weiblicher Personen, fast ausschließlich erwachsene
Jugendliche Individuen, so daß für dasselbe von den angeführten
Beziehungen nur die der Herzgröße zur Körpergröße und zum
Körpergewicht in Betracht kommen.
Es handelt sich bei meiner Untersuchung um gesunde Männer, zu-
meist ¥on 20 — 30 Jahren, deren Kehrzahl (61) Soldaten im Beginne des
•ersten Dienstjahres waren. Die übrigen (24) waren zum größten Teil
Patienten der Medizinischen Klinik. Bei der Auswahl der Leute war
maßgebend, daß primär weder ein Klappenfehler oder sonstige Herz-
^törungen bestanden, auf welche sekundär eine Herzvergrößerung hätte
4>ezogen werden können, noch daß herzschädigende Krankheiten zur Zeit
oder früher vorhanden waren. Leute, die eine schwere Infektionskrank-
heit überstanden hatten, Nepbritiker, Potatoren, Arteriosklerotiker, anä-
mische und fettleibige Personen wurden ausgeschlossen.
Nach der Dauer der Badfabrzeit wurde das ganze Material in drei
'Gruppen geteilt, von denen die erste die Personen umfaßt, welche über
-3 (bis 15) Jahre ^) eifrig Rad gefahren haben. Die zweite enthält solche,
•die erst 1 — 3 Jahre radeln, den Sport aber ebenfalls intensiv betrieben
haben. Bei beiden Kategorien handelt es sich nur um geübte Badfahrer,
-die neben dienstlichen und berufliehen Fahrten auch noch privatim oft
große, anstrengende Touren, häufig unter ungünstigen Wege- und Witte-
nuigsverhältnissen und, wie fast alle angaben, ohne auf Ermüdung und
Radfafarerhygiene viel zu achten, gemacht hatten. Eine 3. Oruppe endlich
enthält noch einige Leute, die hier und da einmal, während weniger
Monate, auf dem Bad gesessen hatten und keine besonderen Leistungen
hinter sich haben. Es wurden nur solche Leute berücksichtigt, die
,präcise Angaben in dieser Hinsicht machten und an deren Objektivität
nicht gezweifelt zu werden brauchte. Zum großen Teile bandelte es sich
4im intelligente Personen, die der Frage Interesse entgegenbrachten.
Sämtliche Herzaufnahmen wurden mit dem Moritz 'sehen Horizontal-
orthodiagraphen angefertigt und zwar während ruhiger Bespiration bei ex-
spiratoriscbem Zwerchfellstande in der diastolischen Herzphase. Von
Jedem einzelnen Falle wurden mehrere Aufnahmen gemacht; bei einem
Teile übernahm Herr Dr. Dietlen Kontrollbestimmungen. An der
Herzsilhouette, d. h. der orthodiagrapfaisch festgestellten größten Herz-
ansdehnung in frontaler Ebene, wurde nach dem von Moritz angegebenen
1) Das eigentliche Kindesalter ist hier nicht mit berttcksichtigt, über dessen
Verbältnisse ausgedehntere Ermittinngen noch nicht vorliegen.
2) S. Tabelle I.
Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 89. Bd. 39
606 XXXII. SCHIKFFEB
Maßverfahren ^) die TransversaldimenBion (Tr) = Summe des Medianabstandes
rechts und links (Mr -|- Ml), der Längsdurchmesser L und mit Hilfe des
Planimeters die Herzoberfläche (0) bestimmt (s. Fig. 1).
Nach diesen Ausmessungen sind nun die Herzen der Radfahrer
mit den entsprechenden Normalwerten zu vergleichen. Man kann
hier verschiedene Wege gehen. Man kann zunächst das Herz jedes
einzelnen Individuums an dem Mittelwerte, der für das Normalherz
eines ebenso großen, resp. ebenso schweren Menschen gilt, messen.
Eine solche Gegenüberstellung ist unter Zugrundelegung sowohl
der Körpergröße als des Körpergewichtes als Index der Vergleich-
barkeit in beistehender Tabelle I und II gegeben (s. S. 607 — 612).
Eine derartige Vergleichung der einzelnen Individuen, wie sie
hier vorgenommen wurde, brauchte natürlich noch nicht in jedem
Falle ein gesetzmäßiges Verhalten hervortreten zu lassen, da hier
individuelle Zufälligkeiten nicht auszuschließen sind. Um so be-
achtenswerter ist es, daß sich schon bei dieser Art des Vergleiches
bei den Eadfahrern so gut wie ausnahmslos ein überschreiten der
normalen Herzwerte herausstellt. Und zwar ist dies sowohl der
Fall, wenn man die zum Vergleich herangezogene normale Herz-
größe aus der Größenklasse (Rubrik A), wie wenn man sie aus der
Gewichtsklasse (Rubrik B) hernimmt, der der Untersuchte angehört.
Wenn also in dieser Weise schon für jeden einzelnen Fall eine
bemerkenswerte Abweichung von der Norm immer nach der gleichen
Richtung zu verzeichnen ist, so ist doch die absolute Differenz
manchmal nur eine kleine und vielleicht zufällige. Dagegen ist die
Abweichung, welche die mittlere Herzgröße der Radfahrer insge-
samt von der mittleren normalen Herzgröße zeigt, recht erheblich.
Eine solche Gegenüberstellung schließt Zufälligkeiten schon weit
mehr aus.
Ich gebe in Tabelle III — VI die entsprechenden Zahlen und zwar
wieder sowohl nach Größenklassen, wie nach Gewichtsklassen ge-
ordnet (s. S. 613). Auch sind die Radfahrer in 2 Gruppen getrennt,
nämlich eine solche die über 3 Jahre (Gruppe I) und eine solche^ die
nur bis 3 Jahre geradelt hat (Gruppe 11). Außer den Mittelwerten haben
in die Tabellen IH und IV auch die Minimal- und die Maximal-
werte der Herzen sowohl der Radfahrer als der Dietlen'schen
Normalpersonen Aufnahme gefunden. Die Tabellen geben uns ein-
deutige Aufschlüsse. Die Mittelwerte der Radfahrerherzen stehen
ausnahmslos erheblich über den Mittelwerten sonstiger Herzen^
1) Deutsches Arch. für klin. Med. Bd. 82 ö. 1,
über Herzvergrößerung infolge Radfahrens.
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über Herzvergröfiemng infolge Radfahrens.
613
M
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CS
§
Tabelle IIL
1. Grnppe (Badfahrzeit über 3 Jahre).
Größenklasse
155-164
cm
5; 165—175
cm
175-185
cm
mm.
mitt.
max.
min.
mitt.
max.
min.
mitt.
max.
Radf.-
Herz
!
Nor.
mal«
Herz
Tr.
cm
12.7
(+ 1,7)
L%9
(+ 1,0)
14,6
(+0,1)
13,1
(+ 1,8)
14,0
(+Ö,9)
14,9
(-0,4)
13,7
(+0,6)
14.7
(+0,9)
15,2
(+0,2)
11,0
12,9
14,5
11,3
13,1
15,3
13,1
13,8
15,0
Radf.-
Herz
Nor-
mal-
Herz
L.
cm
14,2
(+ 1,9)
153
(+ 1,3)
16,2
(+0,9)
14,3
(+ 1,8)
15,7
(+ 1,5)
16,4
(+Ö,5)
15,8
(+2,4)
16.3
(+M)
17,2
(+ 1,0)
12,3
14,0
15,3
12,5
14,2
15,9
13,4
14,9
16,2
Radf.-
Herz
Nor.
mal-
Herz
0.
qcm
Prozent.
Vergröße-
rung d. 0.,
des
Radf.-H.
121
(+24)
131
(+20)
145
(+1Ö)
124
(+28)
140
(+23)
155,6
(+17,5)
136
(+26)
148
(+17)
162
(+13)
97
111
130
96
117
138
111
131
149
+ 24,7
+ 18
+ 11,5
+ 29
+ 20
+ 12,7
+ 22,5
+ 13
+ 8,7
Tabelle IV.
2. Gruppe (Radfahrzeit 1—3 Jahre).
Größenklasse
155—164
cm
1
165—174
cm
175-183
cm
min.
mitt.
max.
min.
mitt.
max.
min.
mitt.
max.
Radi-
Herz
Nor-
mal-
Herz
Tr.
cm
12,2
(+1,2)
13,8
(+ 0,9)
14,9
(+0,4)
13,1
(+1,8)
14,0
(+ 0,9 )
14.6
(+0,7^
13,7
(+ 0,6)
14,2
(+0,4)
14,9
(-0,1)
11,0
12,9
14,5
11,3
13,1
15,3
13,1
13,8
15,0
Radf.-
Nor-
mal-
Herz I Herz
L.
cm
14,0
(+ 1,7)
14,9
(+Ö,9)
16,0
(+0,7)
14,8
(+2,3)
15,4
(+ 1,2)
15,7
(-0,2)
15,4
(+2,0)
16,0
(+1,1)
16,8
(+0,6)
12,3
14,0
15,3
12,5
14,2
15,9
13,4
14,9
16,2
Radf.-
Herz
Nor-
mal-
Herz
0.
qcm
Prozent.
Vergröße-
rung d. 0.
des
Radf.-H.
115
(+18)
125
(+14)
136
(+6)
125
(+29)
136
(+19)
145
(+7)
135
(+24)
139
(+8)
142
(-7)
97
111
130
96
117
138
111
131
149
+ 18,6
+ 12,6
+ 4.6
+ 30
+ 16,2
+ 5
+ 21,«
+ 6
-4.7
614
XXXII. SCHIBFFER
Tabelle V.
1. Gmppe (Radfahrzeit ttber ä Jahre).
Gewichts-
Radf..'
Herz
Normal-
Herz
Radf - Normal-
Herz H«rz
Radf.- j Normal-
Herz Herz
Prozent.
klasse
' kg
Vergröße-
rung d. 0.
Tr.
L.
0.
ccm
ccm
qcm
55-59
13,9 1 12,9
15,3
14,0
131 112
+ 17,0
(+1,0) '
(+1,3) ,
(+19)
60 64
14,0 13.1
15,4
14,1
136 , 114
+ 19,3
(+0,9)
(+1,3)
(+22) ,
65- 69
14,2 1 13.2
15,7
14,5
139
118
+ 17,8
(+ 1,0)
(+ 1,2)
(+21)
70 74
14,6
(+1,2)
13,4
16,6
(+ 1,8)
14,8
151
(+29)
122
+ 23.7
Die eingeklammerten Zahlen sind die Differenz der absol. Messangswerte der
einzelnen Radfahrer gegenüber den Normal werten gleich schwerer Menschen.
Tabelle VI.
2.' Gruppe (Radfahrzeit 1 — ^3 Jahre).
Gewichts-
Radf.-
Herz
Normal-
Herz
Radf- ! Normal-
Herz 1 Herz
Radf- ! Normal-
Herz 1 Herz
Prozent.
klasse
1
I
Vergrölte-
nmgd.0.
Tr.
L.
0.
kg
ccm
ccm
qcm
50—54
13.7 12,4
14.6
13,5
115
104
+ 10.5
(+1,3)
(+1,1)
(+11)
55-59
13,8 12,9
15,0 14,0
126
112
4-12,5
(+0,9)
(+1,0)
(+14)
60-64
13,9
(+0,8)
13,1
15,2 14,1
(+1,1)
129
(+15)
114
+ 13,0
65 69
14,1
13,2
15,6 , 14.5
130
118
+ 14.5
(+0,9)
(+ 1,1)
'
(+17)
Sehr belehrend ist ferner der Vergleich der kleinsten Herzen der
Eadfahrer mit den kleinsten Herzen sonstiger Personen. Hier ist
das überwiegen der Herzgröße der Radfahrer bei weitem am deut-
lichsten. Mit anderen Worten, das Radfahren läßt besonders niedrige
Herzmaße nicht zu.
Anders ist es mit den Maximalwerten, die für die Herzen von
Radfahrern und von sonstigen Personen gefunden worden sind.
Wenn auch hier die Radfahrerherzen fast konstant die Herzen
nicht radfahrender Personen an Größe übertreflfen, so ist doch der
Unterschied lange nicht so groß wie bei den kleinsten Herzen. Es
gibt eben bei den nicht radfahren den Personen eine ziemlich er-
hebliche Spielbreite der Herzgröße vom Durchschnitt nicht nur nach
unten, sondern auch nach oben hin.
Über Herzvergrößerung infolge Radfahrens. gl5
Die letzte Rubrik in den Tabellen III bis VI weist die pro-
zentische Zunahme der Herzoberfläche gegenüber dem entsprechen-
den Normalherz auf.')
Man sieht aus dieser Rubrik wie der Größentibersclmß der
Radfahrerherzen von dem kleinsten zum Durchschnitts- und größten
Herz hin regelmäßig stufenweise abnimmt.
Man muß sich, um ganz vorsichtig zu Werke zu gehen, nun
noch die Frage vorlegen, ob nicht die Di etlen' sehen Normal werte
in sofern doch keine ganz zutreffenden Vergleichs werte für Rad-
fahrer darstellen, als sie eventuell zu viele Menschen umfassen, die
köi-perlich nur wenig tätig waren. Denn wenn das Radfahren zur
Herzvergrößerung führen soll, so kann doch nur die große Muskel-
leistung daran schuld sein. Man müßte also die Radfahrer mindestens
mit körperlich ganz rüstigen und der Mehrzahl nach einen körper-
lich anstrengenden Beruf ausübenden Menschen vergleichen, um ein-
wandsfrei eine spezielle Radfahrerwirkung darzutun.
Es sind nun unter den von Dietlen für die f>mittlung der
normalen Herzwerte benutzten Männern auch 55 Soldaten, also in
bezug auf Gesamtkonstitution und Ausbildung der Körpermuskulatui-
den nicht geringen Anforderungen des Militärdienstes entsprechende
Leute, enthalten. Eine Ausrechnung der Herzmittelwerte bloß für
diese Soldaten ergibt indessen nur ganz unbedeutend höhere Werte.
Als sie aus der Gesamtzahl der von Dietlen untersuchten Männer
resultieren, so daß auch dieser ausgesuchten Menschengruppe gegen-
über das Radfahrerherz einen Größenüberschuß deutlichst bewahrt.
Tabelle VII und VIII geben eine Gegenüberstellung der Mittelwerte
der Radfahrer- und der Soldaten-Herzen, aus der dies hervorgeht.
1) Wenn auch die Herzoberfläcbe nur dadurch za gewinnen ist, daß die
direkt orthodiagraphisch bestimmten rechten und linken Herzgrenzen oben und
unten durch eine konstruierte Linie miteinander verbunden werden, so ist doch
wie Moritz dargelegt hat und wie übrigens auch ein Blick auf ein gutes Ortho-
<liagramm lehrt, diese Konstruktion sicher genug um zuverlässige Yergleichs-
werte zu bekommen. Diese Flächenweite haben die große Bequem lichkeit, daß
sie die Summe der in Betracht kommenden linearen Abmessungen des Herzens
in einem einzigen Werte zusammenfassen. Es ist ans diesem Grunde der Über-
sichtlichkeit und bequemen Handhabung wegen in vorliegender Arbeit von dem
Herzoberflächen wert viel Gebrauch gemacht. Die Überlegungen, die sich an die
Betrachtung der Oberflächenwerte knüpfen, gelten aber ebenso auch für die direkt
bestimmten linearen Abmessungen der Orthodiagramme, deren Abweichung von
der Norm immer gleichsinnig und proportional der Abweichung ist, die die Ober-
fläche aufweist.
616
XXXII. SCHIBFPER
Tabelle VII.
155—164
165-174
175—183
-^19
+ 17.5
-f- 12.0
15,3 14,3
15,7 I 14,4
16,2 ! 15,3
1) Diese Rabrik enthält die Mittelwerte der Radfahrerherzen (1. Gmppei.
2) Diese Rabrik enthält die Mittelwerte gleich großer Soldaten (Dietlen's).
Tabelle VIIL
Größen-
klasse
cm
Radf.. Sold.-
Herz») Herz«)
Tr.
cm
Radf.- Sold.-
Hcrz Herz
Radf.- Sold.-
Herz Herz
0.
qcm
Prozent.
Vergröße-
rung d. 0.
L.
cm
155 164
165—174
175—183
13,8 13,1
14,0 13,3
14,2 13,9
14,9
15,4
16,0
14,1
14,4
15,3
125 110
136 119
139 1 132
+ 13,6
-^14.3
5.3
1) Diese Rabrik enthält die Mittelwerte der Radfahrerherzen (2. Gmppei.
2) Diese Rabrik enthält die Mittelwerte gleich großer Soldaten (Dietlen's).
Aber noch eine weitere Frage drängt sich bei genauerer Über-
legung auf. Wenn das Radfahren als Muskelanstrengung fdr eine
Herzvergrößerung so sehr in Frage kommen soll, so ist auch anzu-
nehmen, daß Unterschiede in der Herzgröße zwischen mehr und
weniger anstrengenden Berufsarten bestehen werden und es könnte
der Zufall es gewollt haben, daß gerade unter den Radfahrern
viele Vertreter schwerer Berufe sich befunden hätten. Das große
Herz der Radfahrer wäre dann vielleicht nicht auf das Radfahren,
sondern auf die anstrengende Berufstätigkeit zu beziehen. Auch
könnten bei den Radfahrern ja, trotz der Vorsicht, die bei ihrer
Auswahl beobachtet wurde (siehe oben), sonstige schädigende Ein-
flüsse auf das Herz wirksam gewesen sein, so daß sie vielleicht,
schon bevor sie den Radfahrersport begannen, große Herzen hatten.
Um diesem Einwurf gerecht zu werden, ist folgendes festzustellen.
Finden sich so erhebliche Vergrößerungen über das Mittel, wie sie
bei den Radfahrerherzen beobachtet wurden, auch bei sonstigen
Personen, die noch als „gesund" gelten können? Läßt sich, falls
dies der Fall ist, bei diesen Personen ein Einfluß des Berufes auf
die Herzgröße wahrscheinlich machen ? Und wiederum, wenn auch
f'ber Herz?ergrößerung infolge Radfahreus. 617
ilies zutriltl, ist bei den schweren Berafsarten ein starker Größen-
überschu£ des Herzens in gleicher Häufigkeit wie bei den Kad-
fahrem zu finden oder bestehen hier Unterschiede?
Als „erhebliche" Vergrößerung des Herzens sollen Zunahmen
der Herzoberfläche um 25 qcm und mehr über den Mittelwert hinaus
bezeichnet werden.
Schwankungen in dieser Größe kommen nun unter den Normal-
personen D i e 1 1 e n ' s nicht vor. Es findet sich bei dem D i e 1 1 e n -
sehen Material unter 179 Personen nur einmal eine Überschreitung
des Mittels um 21 qcm, einmal eine solche um 18 qcm, im übrigen
nur solche um 13 qcm und weniger. Von den 179 männlichen
Personen D i e 1 1 e n ' s haben im ganzen 63 = 35 % ^ine größere
Herzobei*fläche als der Durchschnitt sie darstellt, und zwar ist die
Überschreitung im Mittel nur 5,0 qcm.
Anders ist es schon, wenn ich die gleichen Beziehungen für
73 frisch eingestellte Soldaten, die von mir ohne Auswahl und zu
anderen Zwecken untersucht wurden, feststelle. Hier hatten 3
Leute = 4 ^j^ der Gesamtzahl eine Vergrößerung der Herzfläche um
25 qcm und mehr (bis 36 qcm) über das Mittel des Normalherzens
hinaus, also das, was wir eine „erhebliche" Vergrößerung nennen
wollten. 50 Leute von den 73 = 68 ®/o überschritten überhaupt das
Mittel und zwar im Durchschnitt um 10,8 qcm.
Wie sind demgegenüber nun die Verhältnisse bei den Rad-
fahrern? Hier hatten von 35 Leuten der ersten Gruppe, die
3 Jahre und mehr geradelt hatten, 13 Mann = 37% eine er-
hebliche Überschreitung der Herzoberfläche überdas
Mittel hinaus um 25 qcm und mehr (bis 35 qcm). Das
Mittel überhaupt wurde von allen, also von 100 ®/o der Eadfahrer.
überschritten und zwar im Durchschnitt um 22 qcm.
Die analogen Zahlen für die Radfahrer der Gruppe II (Rad-
fahrer von 1 bis 3 Jahren) sind folgende:
Gesamtzahl der Leute 36. Davon überschritten 3 = 9% den
normalen Oberflächendurchschnitt des Herzens erheblich, d. h. um
25 qcm und mehr. Überhaupt überschreiten sie den Durchschnitt
aber wieder alle, also in 100% der Fälle und zwar im Mittel um
14 qcm.
Hieraus geht also klar hervor, daß die Radfahrer in viel
größerer Zahl und in viel höherem Maße Herzvergrößerungen haben
als andere Personen, die im übrigen, nach Alter, Geschlecht und
funktioneller Leistungsfähigkeit ihnen vergleichbar sind.
Wie steht es nun mit dem etwaigen Einfluß des Berufes auf
618 XXXII. SCHIEFPER
diese Verhältnisse, auf dessen Möglichkeit wir oben schon hinge-
wiesen haben?
Als «jSchwere** Berufsarten, die bei meinem Material vertreten
sind, bezeichne ich folgende: Metzger, Schlosser, Bahn-Strecken-
arbeiter, Zimmerleute, Landwirte, Maurer, Pflasterer, Steinmetzen.
Küfer, Holzhauer, Bäcker, Müller und Tagelöhner, während die
„leichteren" Berufe durch Fabrikarbeiter, Kürschner, Kaufleute.
Weißbinder, Schreiner, Buchdrucker, Knechte, Techniker, Friseure,
Dachdecker, Stuckateure, Hausburschen, Gerber, Former, Leder-
arbeiter, L^hrmacher und ähnliche vertreten sind.
Von den oben erwähnten 73 ohne Auswahl zur Untersuchung
herangezogenen Soldaten, die nicht Radfahrer waren, hatten 41 einen
derartig schweren Benif. Unter diesen im Beruf also körperlich
angestrengten Personen fanden wir nun 2 Leute, welche eine „er-
hebliche" Vergrößerung des Herzens im oben angegebenen Sinne,
d. h. ein Plus der Herzoberfläche von 25 qcm und mehr über das
Mittel hinaus hatten. Unter den leichteren Berufen (32 Leute) war
eine solche Abweichung nur einmal vertreten. Noch deutlicher wird
der Einfluß der Berufsarbeit auf die Herzgröße aus dem Umstand,
daß das durchschnittliche Plus der Herzoberfläche über den Dietlen-
schen Xormalwert bei den Arbeitern mit schwerem Beruf 12,7 qcni,
bei denen mit leichterem Beruf dagegen nur 8,3 qcm beträgt.
Es darf also als erwiesen gelten, daß anstrengende Beinifs-
arbeit in der Tat zu einer gewissen Herzvergrößerung führt. Wenn
nun diese Einflüsse, was ja freilich ein höchst merkwürdiger Zufall
wäre, bei den Radfahrern in ganz ungewöhnlicher Weise dominierten,
so daß überhaupt nicht das Badein, sondern eben die Berufsarbeit
für die Herzvergrößerung verantwortlich zu machen wäre, so müßte
sich hier auch herausstellen, daß die „erheblichen" Herzvergröße-
rungen ganz vorwiegend auf Seite der schweren Berufe lägen und
daß vor allem die durchschnittliche Herzvergrößerung bei den
schweren Berufsarten eine deutlich größere als bei den leichten wäre.
Das ist nun nicht der Fall.
Es sind unter den 35 Radfahrern der Gruppe I (die über 3
bis 15 Jahre radeln) 7 Fälle „erheblicher" Herzvergrößerung (siehe
oben) bei den schweren Berufsarten (14 Leute) und 6 Fälle bei
den leichten Berufsarten (21 Leute). Das Durchschnittsplus der
Herzoberfläche über das normale Mittel ist bei beiden Kategorien
nahezu gleich, nämlich bei den schweren Berufsarten 23 qcm und
bei den leichten 21 qcm.
Bei Gruppe II (1 — 3jährige Radfahrzeit) findet sich „erheb-
über Herzvergrößerung infolge Kadfahrens. 619
liehe" Herzvergrößerung (im obigen Sinne) bei den schweren Be-
rufen (19 Leute) 2 mal, bei den leichten Berufen (17 Leute) 1 mal.
Die durchschnittliche Herzvergrößerung beträgt bei den schweren
Berufen 14 qcm, bei den leichten 13,6 qcm, also bei beiden Kate-
gorien gleich. Es ist mithin bei den Radfahrern der Unterschied,
welcher sonst in der Herzgröße bei Angehörigen schwerer und
leichter Berufe besteht, verwischt.
Es beschränkt sich aber der Einfluß des Radfahrens nicht
etwa in allen Fällen nur darauf, hier ausgleichend zu wirken, so
daß ein körperlich leichter Beruf plus Radfahrsport für das Herz
immer nur die gewöhnliche Dignität eines körperlich schweren Be-
rufes gewänne, sondern es treibt das Radfahren die Herzvergröße-
rung unter Umständen weiter, als es ein schwerer Beruf zu tun
pflegt. Fanden wir doch, daß die schweren Berufe durchschnittlich
ein Oberflächenplus des Herzens über das normale Mittel hinaus
von 12,5 qcm hatten, während das Plus bei den langjährigen Rad-
fahrern (Gruppe I) durchschnittlich 22 qcm betrug. Ja es ergibt
sich aus meinem Untersuchungsmaterial ein fast regelmäßiges stufen-
weises Anwachsen des Größen Überschusses des Herzens über die
Norm mit der Zahl der Radfahrjahre.
Ein letzter Beweis für den Einfluß des Radfahrens auf die
Herzgröße scheint mir schließlich noch e contrario, nämlich aus
der Tatsache gewonnen werden zu können, daß bei 14 von mir
untersuchten Leuten, die erst kurze Zeit, einige Monate, geradelt
hatten (Gruppe HI, Tabelle IX) irgendwie erhebliche und vor allem
regelmäßige Herzvergrößerungen fehlten (s. Tab. S. 620).
Klinisch bemerkenswert erscheint mir, daß bei einer größeren Zahl
der Radfahrer sich am Herzen, an der Spitze und nach der Basis hin,
systolische Geräusche fanden und zwar am meisten bei der Gruppe I,
(Fahrzeit 3 und mehr Jahre), weniger bei Gruppe II (Fahrzeit 1 — 3 Jahre),
am wenigsten bei Gruppe III (Fahrzeit nur kurz, einige Monate). Es
scheint mir wahrscheinlich, daß das Auftreten dieser Geräusche mit der
durch das Radfahren bedingten Herzvergrößerung zusammenhängt (funk-
tionelle Mitralinsufficienz), wenngleich ein strenger Beweis hierfür nicht
2U erbringen ist. Ich betone übrigens, daß die oben gemachten Aus-
führungen über das Maß der Herzvergrößerung auch zutreffend bleiben,,
wenn man die Leute mit Herzgeräuschen ausschaltet, so daß der Ein-
wurf, meine Resultate beruhten auf der Mitverwendung von Leuten, die
von vornherein eine Mitralinsufficienz gehabt hätten, nicht stichhaltig ist
(s. Tab. X p. 621). Bei 56 von unseren 71 Radfahrern, also in der über-
wiegenden Zahl, fand sich Accentuierung oder Spaltung des 2. Pulraonal-
tones, bei 16 eine Accentuierung auch des 2. Aortentones. Bei 10 der
Hadfahrer bestand mäßige Arhythmie des Pulses. Nur bei einem Drittel
620
XXXII. ScHIKrFKB
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über Herzvergrößerung infolge Radfahren».
621
der Leute war der Spitsenstoß innerhalb der Mammillarlinie, bei den
übrigen in oder außerhalb derselben. Dabei war er oft verbreitert und
hebend.. In einem Falle, langjähriges Mitglied eines Radfahrervereins, be-
stand ein deutlicher Herzbuckel (Fall Nr. 34 Tab. I). Nur 5 von den
Radfahrern gaben subjektive Beschwerden (Neigung zu Herzklopfen,
Stiche in der Herzgegend, Kurzatmigkeit) an.
Tabelle X
enthält einen Auszug aus Tabelle I ohne die Leute, welche Herzgeräusche haben.
1. Gruppe (über 3 Jahre). 2. Gruppe (1—3 Jahre).
Die Rubrik A enthält die Differenzen
der absoluten Messnngswerte d. Herz-
oberfläche des einzelnen Radfahrers
gegenüber der Mittelwerte d. Normal-
oberfläche eines gleichgroßen Menschen.
Die Rubrik B eines gleichschweren
Menschen.
Durchschnittl. Über-
schreitung d. Normal-
oberfläche = 22 qcm
Durchschnittl. Über-
schreitung d. Normal-
oberfläche = 13 qcm
Umstehende Abbildungen (Fig. 1—3) sind Beispiele geringer,
noiittlerer und erheblicher Vergrößerung von Radfahrerherzen. Die
für den betreflfenden Fall gültige Norm ist jeweils in das Ortho-
diagramm eingezeichnet, die schraffierte Zone stellt die Vergröße-
rung dar.
Die durch meine Untersuchung, wie ich glaube, einwandsfrei
nachgewiesene Herzvergrößerung durch das Radfahren reiht sich
den Erfahrungen an, die man über die bedeutende Herzgröße bei
Deutsches Archiv f. klin. Medizin. H9. Bd. 40
622
XXXII. SCHIBFFBR
Tieren mit großer Muskelleistung (Gemse, Reh. Rennpferde,
Vögel) hat.')
Fi^. 1. (Vgl. Tab. VI, Nr. 47.)
M = Mittellinie. L = Längsdurchmesser. ml = Median abstand links, mr = Me-
dianabstand rechts. Die Summe der Medianabatände (mr + ml) ist der im Text
als Transyersaldimension (Tr.) bezeichnete Wert. Zr = Zwerchfellstand rechts.
ZI '-^= Zwerchfellstand links, II, III nsw. = II. III. Ripiie.
(Verkleinerung V«)
Fig. 2. (Vgl. Tabelle IV, Nr. 60.)
(Verkleinerung \'8.j
1) Bollinger, Festschr. für Pettenkofer, München 1893. — Bergmann.
i.'ber die GröCe der Herzen bei Menschen und Tieren. Diss. München ISßL —
Friedberger u. Fröhner, Spez. Pathol. u. Therapie der Haustiere, 4. Aufl.
i^tuttgart 1896. I. — Parrot, Sprengel's Zoolog. Jahrb. 7 1883 p. 496.
Tiber Herzvergrößenmg infolge Radfahrens.
623
Fig. 3. (Vgl. Tab. I Nr. 26.)
(Verkleinerung VsO
Eine besonders weitgehende Analogie erblicken wir in unserer
Beobachtung mit den experimentellen Erfahrungen von Külbs,
der bei Hunden, die er lange im Tretrad laufen ließ, erhebliche
Herzvergrößerungen erzielte.^)
Die Frage, ob es sich bei der V^ergrößerung der Radfahrer-
lierzen um bloße Hypertrophie oder auch um Dilatation, also um
Vergrößerung der Herzhöhlen handle, glaube ich im letzteren Sinne
beantworten zu müssen, wobei ich mich in Übereinstimmung mit
der Ansicht von HeiTU Professor Moritz befinde. Es eracheint an
sich schon nicht vorstellbar, daß überhaupt eine Zunahme der ge-
samten Muskelmasse des Herzens möglich sei, ohne daß auch die
Herzhöhlen wachsen! Denn da bei der Hypertrophie die Dicke
der einzelnen Muskelfasern zunimmt, so müssen alle, auch die
innersten, an die Herzhöhlen angrenzenden Muskelschichten größere
Flächenräume beanspruchen, d. h. es muß die Zirkumferenz der
Höhlen zunehmen. Ein anderes wäre es, wenn ausschließlich eine
Apposition neuer Muskelfasern stattfände, die ja dann nur nach
bestimmten Richtungen, z. B. nach außen geschehen könnte, ohne
-daß an der Grenzschicht der Herzhöhlen etwas geändert zu werden
brauchte. Wir glauben aber, daß, wenigstens in den Fällen erheb-
licherer Herzvergrößerung bei unseren Radfahrern, über diese mit
1) Kttlbs, Arch. f. experim. Path. u. Ther. Bd. 55 p. 288.
40*
624
XXXTI. SCHIKFFEB
dem Muskelwachstum an sich notwendig verknüpfte Lumenver-
größernng des Herzens hinaus noch eine Dilatation des Organs ein-
getreten sei. Denn wenn dies nicht der Fall wäre, würde man zo
der Annahme ganz ungeheuerlicher Wanddicken der Ventrikel
kommen müssen (siehe z. B. Fig. 3), wie man sie selbst nicht bei
den Fällen stärkster Hypertrophie des Herzens z. B. bei chronischer
Nephritis findet.
Die Herzvergrößerung bei den Badfahrern kommt offenbar ganz
allmählich zustande. Es ergibt sich dies aus unserer Beobachtung^
daß Leute ; die erst kurze Zeit radeln, sie noch nicht haben und
daß Leute mit einer Radfahrzeit von 3 und mehr Jahren sie wieder
in höherem Maße als solche haben, die erst 1 bis 3 Jahre radeln.
Daß einmalige Badfahranstrengungen, auch wenn sie erheblich sind^
nicht zu nachweisbaren Veränderungen der Herzgröße fuhren, bat
Moritz^) hervorgehoben. Ich habe auch noch einmal solche Ver-
suche mit gleichem negativem Resultate angestellt.
Fig. 4.
Fahrt von 40 km in fast 2 Stunden. Gleich nach dem Absteigen angefertigt.
(Schlechte Witterungs- und Wegeverhältnisse.)
o o
Vor der Fahrt.
Nach der Fahrt.
OL =^ unterer Rand der
rechts
r Clavicula. Pap. = Papille. Zw. F. r. =
. II R. = II. Rippe. (Verkleinerung ^|o.)
Zwerchfellstand
Wie Fig. 4 zeigt, findet im Anschluß an die ßadfahranstrengung
nur ein Tiefertreten des Herzens mit dem Zwerchfell statt (Volumen
1) Münch. med. Woch. 1902 Nr. 1 und 1903 Nr. 31 und 1905 Nr. 15. Siebe
auch die Arbeiten von de la Camp (Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 51 p. 1). Lenn-
hoff u. Levy-Dorn (D. med. W. 1905 Nr. 22) und Hoffmann (20. Kongr.
f. innere Medizin), die ebenfalls bei einmaliger Körperanstrengung keine Herz-
vergrölierung auftreten sahen.
über Herzvergrößernng infolge Hadfahrens. 625
pulmonum auctum)> worauf Moritz schon hingewiesen hat. Die
Herzgröße ändert sich nachweisbar nicht. Ein 2. Versuch an
einem anderen Individuum ergab das gleiche Resultat.
Es dürfte sich bei der Herzvergrößerung durch Anstrengung
demnach nur um Summation kleinster Wirkungen handeln.
Wie hoch eine etwaige pathologische Bedeutung der Herzver-
größerungen durch Radfahren einzuschätzen ist, läßt sich nicht
kurzweg angeben. Die Anstrengungen des Militärdienstes haben
die von mir untersuchten Rekruten, die Radfahrer waren, bisher
(Beobachtungszeit 1 ^4 Jahr) ohne jede Störung vertragen. Bei
einigen derselben , die bei der Einstellung leichtere Herzarry thmie
(Pulsintermissionen usw.) hatten, ist diese sogar zumeist im Verlaufe
des Militärdienstes verschwunden.
Wenn zurzeit also selbst wesentlich vergrößerte Radfahrer-
herzen zweifellos funktionell völlig leistungsfähig, wahrscheinlich
zum Teil sogar leistungsfähiger als andere sein können, so kann
man sich doch bei ihnen für die Zukunft gewisser Bedenken nicht
entschlagen. Im allgemeinen geht die klinische Auffassung doch
wohl dahin, daß vergrößerte Herzen später mehr gefährdet sind
als normal große, daß sie vielleicht an sich schon den Keim zu
späterer Schwäche in sich tragen. Man sieht ja gelegentlich auch
Leute mit Herzstörungen und sogar mit Herzinsufficienz, in deren
Anamnese außer früherem intensivem Radfahren Schädlichkeiten
für das Herz sich nicht auffinden lassen. Einem intensiven Rad-
fahrsport kann also auch bei von vornherein gesunden Herzen
nicht das Wort geredet werden. Daß noch größere Vorsicht bei
nicht ganz intaktem Herzen am Platze ist, ist hiernach selbst-
verständlich.
xxxin.
Kleinere und kasniBtigche Mitteilnagen.
1.
Aus der inneren Abteilang des Krankenbaases Bethanien sa Berlin
(Ding. Arzt Prof. Dr. Zinn).
Thrombenbildung am durchgängigen
Ductus arteriosus (Botalli).
Von
Dr. 0. Wftgener.
(Mit Tafel m.)
Bndartenitische Prozesse mit späterer Thrombenbildung am offen
gebliebenen Ductus arteriosus sind meist sekundärer Natur und ent-
standen im Anschluß an frische entzündliche Erkrankungen der Herz-
klappen. Eine kurze Zusammenstellung dieser Fälle findet sich in den
Arbeiten von Wagener^) und Hart^), der selbst zwei neue, höchst
interessante Fälle mitteilt, bei denen eine ulceröse Endokarditis der
Aortenklappen durch den offenen Ductus Botalli hinduroh auf die Lungen-
arterie übergegriffen hatte. Aber auch primäre Thrombenbildung am
offenen Ductus arteriosus, ohne gleichzeitige Erkrankung der Herzklappen^
ist in wenigen Fällen, die weiter unten kurz besprochen werden sollen,
beobachtet worden. Zwei derartige Fälle wurden von mir kurz hinter-
einander im Krankenhause Bethanien seziert; bei dem einen saß ein
großer Thrombus an der Aortenraündung, bei dem anderen an der Pul-
monalmündung des Ductus arteriosus; dieser hatte sich losgerissen und
durch Verschleppung in einen Pulmonalarterienast plötzlichen Tod des
Kindes hervorgerufen.
Klinischer Verlauf und Sektion sbef und waren in kurzen Zügen
folgende :
Fall I. Der 7 Monate alte Knabe 0. B. war vom 13. August 1904 an
wegen Lungenentzündung and Darmkatarrh im Krankenhause in Behandlung mid
1) Wagen er, Beitrag zur Pathologie des Ductus arteriosus Botalli. Deutsch,
Archiv für klin. Medizin 1903 Bd. 79.
2) Hart, Beiträge zur Pathologie des Gefäßsystems 11. Ulceröse Endokar-
ditis mit Beteiligung des offenen Ductus Botalli. Virchow's Archiv 177. Bd. 1904
p, 218.
Wagener, Thrombenbildnng am Dnctns Botalli. 627
starb hier am 23, Die Temperatnren waren an einzelnen Tagen abends bis 38^
gekommen.
Die Sektion, die am Tage des Todes vorgenommen wurde, ergab als Todes-
ursache eine Lungenentzündung. Derbe pneumonische Infiltrate saißen in beiden
Unterlappen, besonders im rechten. An einzelnen Stellen zeigten sich schmierige
Zerfallsherde, die offenbar durch Aspiration von Mageninhalt entstanden waren.
Das Herz zeigte keine besonderen pathologischen Veränderungen, die Klappen
waren zart, das Foramen ovale war geschlossen, die Einmüudunfifsstelle des Ductus
arteriosus im linken Pulmonalast war durch eine kleine Grube gekennzeichnet,
der Ductus selbst hier obliteriert. Aus der Aortenmündung (Figur 1) des Ductus
arteriosus hing ein granrötlicfaer, derber, ziemlich glatter Thrombus von 1 cm
Breite 2 cm weit die Aorta hinab, von deren Wand er sich leicht etwas abheben
lieO, wobei festgestellt werden konnte, daß die Aortenwand unter dem Thrombu»
völlig normale Beschaffenheit zeigte. Wie weit der Thrombus in den Ductus^
Botalli, dessen Aortenmündung oben durch den bekannten ilachen Wall gekenn-
zeichnet wurde, hineinreichte, wurde nicht festgestellt, da durch ein Aufschneiden
des Ductus Botalli die Schönheit des seltenen Präparates sehr gelitten hätte.
Jedenfalls war der Gang in seinem pulmonalen Teile völlig obliteriert, und in
seinem nach der Aorta zu gelegenen Teile war, nach der Dicke des Ganges zu
urteilen, höchstens ein für feine Sonde durchgängiges Kanälchen zu erwarten. Die
Aorta zeigte oberhalb und unterhalb dieser Stelle keine Besonderheiten, besonders
waren im peripheren Arteriengebiet keine Embolien nachzuweisen. Auch die
Sektion der übrigen Organe brachte nichts Besonderes, der Kopf wurde nicht seziert.
Fall II. Das 2 Monate alte Mädchen F. B. wurde am 22. August ins-
Krankenhaus aufgenommen mit der Angabe der Eltern, daß seit 5 Tagen Er*
brechen und Durchfall bestände. Es handelte sich um ein kleines, blasses Kind
mit noch leidlich gutem Fettpolster. Herz und Lungen boten keinen besonderen
Befund, ein mäßiger Durchfall war schon nach wenigen Tagen verschwunden,
Appetit und Allgemeineindruck waren jetzt recht gut. Am 25. abends stieg die
Temperatur, ohne daß dafür ein Grund aufzufinden war, auf 38,6*. Am nächsten
Morgen wurde das Kindchen, nachdem es noch um 5 Uhr seine Flasche getrunken
hatte, um ^,'2 6 Uhr tot in seinem Bettchen aufgefunden. Interessant ist die An-
^he der Mutter, daß ihr vor einem Jahre ein kleines Kindchen in gleicher
Weise plötzlich gestorben war, ohne daß es vorher erkrankt gewesen wäre.
Die Sektion, die am 27. von mir vorgenommen wurde, deckte die Todes-
ursache auf. die klinisch nur vermutungsweise auf plötzlichen Verschluß eines-
wichtigen Gefäßes an Herz, Lungen oder Gehirn gestellt werden konnte. Es
handelte sich um fulminante Embolie der linken Pulmonalarteri&
durch einen Thrombus, der sich an der Pulmonalmündung de»
Ductus arteriosus gebildet hatte. (Figur 2.) Im einzelnen war der
Sektionsbefund kurz folgender: Lufthaltige, rosarote Lungen. Gut kontrahiertes-
Herz von blaßbrauner Farbe. Im linken Vorhof etwas dunkles, flüssiges und ge-
ronnenes Blut. Zarte Klappen. Linsengroße, flache, rötliche Wucherung an der
Pulmonalmündung des Ductus Botalli. Dieser selbst für feine Sonde durchgängig
und bis in die Wucherung hinein zu sondieren. Großer Embolus in der linken
Lun^enarterie, besonders den Ast für den Unterlappen verstopfend. Uebrige
Sektion, vor allem große Arterien, Venen und Ductus thoracicus ohne besonderen
Befund.
Zum Unterschied von der sekundären Tbrombenbildung am Ductua
arteriosus, die nur im höheren Alter vorzukommen scheint, sind isolierte
Thromben ohne gleichzeitige Erkrankung der Herzklappen nur bei Kindern
im ersten Lebensjahr beobachtet worden. Es erklärt sich dies daraus^
daß bei den wenigen der in diese Kategorie gehörenden Fälle der Throm-
bus in Aorta und Pnlmonalis eine direkte Fortsetzung eines im noch
nicht geschlossenen Ductus arteriosus steckenden Thrombus war. Eine
verzögerte Involution aber findet sich im ersten Lebensjahre noch ver-
hältnismäßig häufig, meist in der Art^ daß der Gang in ganzer Länge
oder nur teilweise vom Aorten- oder Pulmonalostium für eine feine Sonde
628 XXXIir. 1. Wagener.
durchgängig ist. Für gewöhnlicb bleibt diese „retardierte Involntion''
ohne weitere Folgen ffXr die Gesundheit des Kindes; in anderen Fällen
aber kann sieh in diesem engen Gange ein Thrombus bilden, der durch
Apposition bis weit in die Aorta und Pulmonalis hinein wachsen kann.
Die Entstehung eines Thrombus soll bei elenden Kindern, die an starken
Durchfällen leiden und eine ungenügende Blutzirkulation haben, häufiger
vorkommen; es würde sich also in diesen Fällen um eine sogenannte
marantische Thrombose handeln. Immerhin gehört aber eine Thrombose
des Ductus zu den selteneren Sektionsbefunden, und Fälle, wie die beiden
oben beschriebenen, sind in der Literatur nur sehr spärlich zu finden.
Ihre Veröffentlichung reicht fast bei allen viele Jahrzehnte zurück, in
eine Zeit, wo durch die grundlegenden Arbeiten Virchow's über
Thrombose und Embolie die Aufmerksamkeit besonders auf diese Fragen
gerichtet war. In chronologischer Reihenfolge will ich aus der Literatur
diese Fälle kurz anführen, zuerst die, bei denen die Thrombenbildung
auf die Aorta übergegriffen hatte.
Den ersten Fidl beschrieb Bochdalek.^)
Bei einem 22 Tage alten Knaben, der an Lnngeueutzündnng starb und in
den ersten Lebenstagen mäßige cyanotische Färbung des Gesichtes, der Hände
und der Füße darge^ten hatte, fand sich der Ductus Botalli gegen die Lungen-
arterie hin schon geschrumpft und zusammengezogen, der Aortenteil aber war
ebenso wie die Aorta in dieser Oegend durch emen derben Thrombus Tölli^ aus-
gefüllt und obturiert. Der Aortenthrombus hing mit dem im Ductus innig zu-
sammen, so, „als ob der eine nur die Fortsetzung des anderen wäre''. Die ober-
und unterhalb dieser Stelle abgehenden Arterien zeigten keine Veränderungen des
Lumens, woran wohl nur die kurze Daner der Ooliteration der Aorta Schuld
war. Embolien wurden nicht nachgewiesen.
Bei einem ganz jungen Kinde fand Yirchow^) 1846 ein Aneu-
rysma des Ductus arteriosus Botalli und dies mit einem Thrombus ge-
füllt, dessen spitzes Ende in die Aorta hervorragte — wie weit aber,
ist nicht angegeben.
Aus Bokitansky's Institut, der selbst die hervorragendsten
Arbeiten auf diesem Gebiete gebracht hatte, veröffentlichte Klob') einen
auch in klinischer Beziehung sehr interessanten Fall.
Bei einem 8 Tage alten Kind war der gleichmäßig weite Ductus Botalli von
einem Thrombus angefüllt, der am Aorten-Ostinm plötzlich mit einer „förmlichen
Bruchfläche" aufhörte. Im Gebiete der Mesaraica superior ließen sich zahlreiche
Embolien nachweisen.
Kl ob nimmt an, daß ein größeres Thrombusstück abgebrochen,
fortgeschwemmt und in die Mesaraica hineingetrieben, „dort aber noch
in so viele kleinere Stücke, namentlich an den vorspringenden Winkeln
der Teilungsstellen zerschellt sei, daß eine Menge kleiner Embolien zu-
stande kam".
1) Bochdalek, Beitrag zur patfa. Anatomie der Obliteration der Aorta
infolge fötaler Involution des Ductus arteriosus Botalli, Vierteljahrschrift für
die praktische Heilkunde Prag, 2. Jahrgang 1845, 4. Bd. p. 160.
2) Virchow, Gesammelte Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medizin.
1856, p. 595.
3) KI ob, Thrombosis duetns Botalli. Zeitschrift der Kais. Königl. GeseUschaft
der Ärzte zu Wien 1859, 15. Jahrgang, Neue Folge. 2. Jahrgang, p. 4.
Thrombenbilduug am Ductus Botalli. 629
Fraglich ist es bei einem Falle von Rauchfoß^), ob hier der
Thrombus in der Aorta, der allerdings an der Insertionsstelle des normal
involvierten Ductus arteriosus begann, wirklich früher mit einem Throm-
bus in ihm in Verbindung gestanden hat. Auch weiter unten fand sich
an der Wand der Aorta eine zweite Gerinnselbildung, eine marantische
Thrombose.
Wrany^) fand bei einem 6 Tage alten Säugling einen Embolus
in der Art. coronaria ventriculi, „welcher durch Ausschluß ' einer jeden
anderen Quelle auf den weit offenen, geschlftngelten und an der Innen-
:fiäche aufgelockerten Ductus bezogen werden mußte^.
Große Ähnlichkeit mit dem Fall von Bochdalek hat der zweite
der von Lüttich ^) beschriebenen Fälle.
Auch hier war bei einem 14tägigen Knaben, der an Marasmus gestorben
war, die Aorta bis 3cm unterhalb der Insertion des Dnetus durch einen festen
Thrombus, der sich in den aneurysmatisch erweiterten Ductus Botalli fortsetzte,
völlig verschlossen. Auch hier begann etwas weiter nach unten in der Aorta,
wie ih dem Falle von Bauchfnß, ein zweiter Thrombus, der sich bis in die
Arteriae iliacae fortsetzte.
Die Unterbrechnng des Thrombus in beiden Fällen in Höhe der
€. und 7. Interkostalarterie hält Lüttich als durch Zwerchfellkontrak-
tionen bedingt.
Den letzten der hierher gehörigen Fälle bat vor kurzem Grüner^)
aus dem Ben da 'sehen Institut veröffentlicht.
Bei einem 1 ^4 Monate alten Kinde, das zahlreiche Zeichen der Lues congenita
bot, fand sich an der Aorten-Einmündungsstelle des in der Mitte aneurysmatisch
erweiterten Ductus ein fester Thrombus, der nach dem Ductus hin in direkter
Verbindung mit einem frischen reichen Gerinnsel stand, während er sich als
Parietalthrombns weit in die Aorta hinaberstreckte, um hier schließlich frei in
das Lumen hineinragend zu enden.
In der Arteria coeliaca fand sich ein Embolus, der sich vom Aortenthrombus
losgerissen hatte. Eine eingehende mikroskopische Untersuchung ergab, daß der
älteste Teil des großen Thrombus an der Grenze von Ductus arteriosus und Aorta
war, dann folgte dem Alter nach der Parietalthrombns der Aorta und als jüngster
«ndlich der Teil im Ductus selbst.
Besonders interessant ist es, daß in diesem Falle der Beginn der
Thrombenbildung an der Grenze von Aorta und Ductus stattgefunden
hat, und daß nicht, wie in allen anderen Fällen, der Ausgang von einem
irerinnsel im Lumen des Ductus genommen ist. In diesem Punkte
gleicht dieser Fall sehr dem zweiten der von mir oben beschriebenen,
wo sich nur am Pulmonalende des Ductus die Thrombenmassen fanden,
1) Bauchfnß. Zur Kasuistik der Gefäß verschließungeu. Virchow's Archiv
1860 18. Bd. p. 537.
2) Wrany , Der Ductus arteriosus Botalli in seinen physiologischen und patho-
logischen Verhältnissen. Österreich. Jahrbuch für Pädiatrik, Jahrgang 1871 1. Bd.
p. 1.
3) Lüttich, Zwei praktisch wichtige Gefäßanomalieu. Archiv der Heilkunde,
71. Jahrgang 1876, p. 70.
4) Grüner, Über einen Fall von Aneurysma des Ductus arteriosus Botalli
mit Parietalthrombns der Aorta. Inaug.-Dissertation, Freiburg 1904.
6ä0 XXXIII. 1. Wagener, Thrombenbiidoiig am Dnctus Boulli.
wfihrend der I>actus selbst für eine feine Sonde bis in den Thrombus
hinein frei durchgängig war.
Eine derartige amschriebene Thron^benbildang am Aorten* oder
Palmonalende des Ductus kann meiner Ansicht nach, wenn sie klein
bleibt, durch spätere Organisation zu Scheidewänden an diesen Stellen
führen, die völlig die Aorta von der Pulmonalis trennen, bis vielleicht
später einmal diese Wand wieder einreißt und eine Wiedereröffnnng des
Dnctus stattfindet. Für diese letzte Möglichkeit habe ich in meiner
früheren Arbeit (1. c.) den Beweis bringen können.
Isolierte Thromben au einem Ende des Ductus oder an beiden hat
Kanchfuß^ in 3 Fällen (Fall 6, 6 und 7) beschrieben.
Noch seltener als Thrombenbildung in der Aorta ist eine solche in
der Arteria pulmonalis, in die der Thrombus vom Ductus art^riosus aus
hineingewachsen ist. Außer meinem Fall scheint nur noch ein einziger
gleicher in der Literatur vorzuliegen. Er ist in der eben ziterten Arbeit
von Rauohfnß als Fall 2 beschrieben. Das lOtägige Kind scheint
einem von der Kabelwunde ausgehenden Erysipel erlegen zu sein, oder
Embolien in die linke Lungenarterie, in der ein reitender Thrombus auf
dem Sporn zweier Oeföße zweiter Ordnung, die zum linken Oberlappen
führten, nachgewiesen wurde. Als Ausgangsstelle dieses Embolus w&r
mit Sicherheit ein Thrombus im Ductus Botalli anzusprechen, der mit
einer deutlichen Bruchfläche in das Lumen der Arteria pulmonalis
hineinragte.
Zum Schluß sei noch auf Fall 1 in der gleichen Arbeit von Kauch-
fuß hingewiesen, wo bei einem 2 Wochen alten Mädchen Ektasie und
Thrombose des Ductus arteriosus Botalli mit fortgesetzter Thrombose
der Arteria pulmonalis dextra(!) und verengernder Thrombose im Arcus
aortae gefunden wurde. Hiervon ausgehend fanden sich Embolien in
beiden öefäßbezirken, im Lungenkreislauf im Gebiete des oberen Astes
der Arteria pulmonalis dextra, im Körperkreislauf in der Arteria renalis
deztra.
Wenn sich auch aus der Darlegung der oben mitgeteilten Befunde
keine neuen Gesichtspunkte für die Frage der Thrombenbildung im oder
am Ductus arteriosus ergeben haben, so dürfen meine Fälle doch schon
vom rein pathologisch-anatomischen Standpunkte aus deswegen einiges
Interesse beanspruchen, weil sie in reinster Form Beweisstücke dafür
bieten, daß schon in so jugendlichem Alter Embolien statthaben können
und zwar von Orten aus, die überhaupt -am seltensten zu Thrombose und
Erabolie Veranlassung geben. Es sind dies die Gefaßgebiete, die sowohl
beim Körper- als heim Lungenkreislauf periplier vom Herzen liefen.
Besonders für die Pulmonalis ist dies ein sehr seltenes Ereignis. Vom
klinischen Standpunkte aus hätten sich, wenn sich in Fall 1 der Aorten-
thrombus losgerissen und die peripheren Arterieugebiete verstopft hätte,
dieselben diagnostischen Schwierigkeiten ergeben, wie dies im 2. Fall
wirklich eingetreten war, der einen seltenen Beitrag zu dem Kapitel der
plötzlichen Todesfälle im jugendlichen Alter liefert.
1) Rauchfnß, Über Thrombose des Dnctus arteriosus Bot^illi. VirchowV
Archiv 1859 17. Bd. p, 376.
Deutsches Ardiiv t. klinische Mcdiiin 89. B
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XXXIII. 2. Wiehern, Fall von sog. esBentieller Wassersucht. 631
Erklärung der Abbildungen auf Tafel III.
Figur 1. Brnstorgane des 7 Monate alten Kindes von hinten gesehen. Großer
Thrombus aus der Aortenmündung des Ductus arteriosus (Botalli) in die Aorta
hinabhäugend. Lungen und Herz halbschematisch angedeutet.
Figur 2. Brnstorgane des 2 Monate alten Kindes. Rechter Ventrikel und
Arteria pulmonalis bis in den Ast für die linke, nach oben geschlagene, Lunge
aufgeschnitten und stark ausgebreitet. Im Ast für den Unterlappen der linken
Lunge ein zylindrischer Thrombus. Thromben bildung an der Einroündungsstelle
des Ductus arteriosus im Anfange des Unken Pulmonalarterienastes durch höckrige
Wucherung gekennzeichnet. Etwas rechts und unterhalb der.<%elben Abgang des
rechtes Astes der Pulmonalarterie. Quer abgeschnittene Herzspitze mit sichtbarem
linken und rechten Ventrikel.
2.
Ans der medizin. Klinik zu Leipzig
(Direktor: Geh.-Eat Prof. Dr. Curschmann).
Über einen Fall von sog. „essentieller Wassersucht''.
Von
Dr. med. Heinrieh Wiehern,
Assistenten der Klinik.
Die „essentielle Wassersucht^ oder das „allgemeine idiopathische
Ödem** ist wohl die seltenste von allen Formen allgemeiner Wassersucht^
die wir am Krankenbett beobachten. Seitdem Wagner (27) die Auf-
merksamkeit auf dieses eigenartige Krankheitsbild gelenkt hat, finden
wir zwar in der Literatur wiederholt Veröffentlichungen darüber; doch
die Zahl der heschriebenen Fälle ist immerhin noch so gering, daß ein
weiterer Beitrag, wie ihn die folgenden Zeilen liefern sollen, nicht un-
willkommen erscheinen mag. Eine ziemlich vollständige Übersicht über
die bisherigen Beobachtungen haben schon Par8chau(17) und S t a e -
h e 1 i n (22) gegeben ; wir können uns deshalb hier unter Hinweis auf ihre
Arbeiten mit einer kurzen zusammenfassenden Schilderung des Krankheits-
bildes begnügen.
Im Gegensatz zu Wagner'8(27) Annahme, daß bei Kindern essen-
tielle Wasaersucbt ungleich bäufiger sei, als bei Erwachsenen, ist diese
Krankheit bei letzteren entschieden Öfter beschrieben worden. Sie begann
faet in allen Fällen — einerlei, welche Altersstufe betroffen war — mit
einer Schwellung des Gesichts oder der Füße, und das Odem breitete
sich von dort allmählich über den ganzen Körper aus. Die Kranken er-
hielten dadurch ein blasses, gedunsenes Aussehen, wie wir es sonst nicht
selten bei schweren Nephritikern wahrnehmen können. Die Haut zeigte
eine weiche, teigige Konsistenz, so daß die Fiogereindrücke eine Zeit-
lang stehen blieben. Mehrere Male dehnte sich das Ödem auch auf die
Schleimhäute aus und führte dann zuweilen zu schweren Stenosen des
Kehlkopfs. Ebenso wurden nicht selten Ergüsse in die großen, serösen
ICörperhöblen nachgewiesen. Die Herztätigkeit blieb ungestört, die
ICörperwärme verhielt sich normal oder sogar etwas subnormal, und das
632 XXXIII. 2. Wiehern.
Allgemeinbefinden pflegte — wenigstens bei den Erwachsenen — kaum
beeinträchtigt zu sein, wenn auch einzelne Kranke über reißende Schmerzen
in den Gliedern, meist in den Gelenken, klagten. Der Urin wurde in
spärJ icher Menge ausgeschieden und war stets frei von Eiweiß und anderen
pathologischen Bestandteilen. Als Komplikationen traten zu der Krankheit
am häufigsten Darmkatarrh oder Bronchitis hinzu. Nach dem weiteren
Verlauf und Ausgang trennt Staehelin (22) die bisher besschriebenen
Beobachtungen in zwei Gruppen, nämlich:
1. „akute Fälle, die nach einigen Tagen bis Wochen in Genesung
übergehen*" und 2. „chronische Fälle, die Wochen bis Monate, selbst
Jahre lang krank sind und nicht immer gesund werden, bisweilen tödlich
endigen " .
Während er selbst einen dieser chronischen Fälle mit letalem Aoa-
Rfti^g geschildert hat, gehört die folgende, aus unserer Klinik stammende
Beobachtung zur ersten Gruppe, und die Krankengeschichte mag^ daher
kurz vried ergegeben werden:
Krankengeschichte.
27 jähr. stud. jur. gibt an, von gesunden Eltern za stammen und früher nie
ki'ank gewesen zu sein. Während der Schuljahre war er eifriger Turner. Seit
etwa 8—14 Tagen fühlt er in beiden Beinen reiOende und ziehende Schmerzen,
die sich aber am Tage vor der Aufnahme schon gebessert haben. Außerdem
glaubt er zeitweilig eine gering:e Anschwellung der Füße bemerkt zu haben. Vor
Beginn der Krankheit hat Patient etwa 2 \\^chen hindurch starke alkoholiiiche
Exzesse (Bier) begangen und in dieser Zeit wegen Appetitmangei nur sehr weni^
Nahrung zu sich genommen.
Bei der Aufnahme in die Klinik am 11. Februar 1906 ergibt sich folgender
Befund :
Mittelgroßer, kräftiger, gut genährter, junger Maim mit etwas bleicher Ge-
sichtsfarbe. Körpertemperatur, Atmung und Puls sind normal, das Körpergewicht
beträgt 70,0 kg. An den inneren Organen ist nichts Pathologisches nachweisbar:
es besteht nur ein mäUiges Volumen pulmonum auctum. Das Crefäitsjstem zeigt
völlig normale Verhältnisse. An den Beinen ist weder eine Schwellung der Ge-
lenke, noch ein Ödem nachweisbar; ebenso bestehen keine Erscheinungen von
Ischias. Die Muskulatur der Oberschenkel und Waden ist etwas druckempfindlich.
Am Nervensystem ist nichts Bemerkenswertes aufzufinden. — Es wird leichte
Massage und Einreibung der Beine mit Spirit. camphoratns verordnet.
Nachdem der Kranke dann einige Tage aufgestanden und völlig beschwerde-
frei war, klagt er etwa vom 16. Februar an wieder über zeitweilig anftretendf
ziehende Schmerzen in den Beinen, besonders in den Waden nnd Fußen ; doch ist
bei wiederholter Untersuchung nichts Abnormes zu linden.
Vom 11. Tage nach der Aufnahme (21. Februar) an meint Patient zuweilen
tagsüber eine leichte Anschwellung der Füße zu bemerken, während iene Schmerzen
unverändert fortbestehen. Er wird wiederholt genau auf Knöchelödem und Ge-
lenkschwellungen untersucht, jedoch stets mit negativem Ergebnis. So wird auch
noch am Abend des 23. Februar das Fehlen irgendAvelcher Ödeme festgesteUt.
Das Körpergewicht beträgt 2 Tage vorher 72,5 kg, war also in 10 Tagen am
2.5 kg gestiegen.
Am Morgen des 24. Februar läßt sich, obgleich der Kranke das Bett noch
nicht verlassen hat, eine deutliche ödematöse Anschwellung der Knöchelgegeoil
beider Füße und ebenso ein be^nendes Odem der Faßrücken nachweisen. I>i<f
früher angegebenen Schmerzen smd geringer geworden, nnd das AllgemeinbefindeB
ist gut.
Es wird strenge Bettruhe angeordnet und von allen therapeutischen MtiJ-
regeln abgesehen.
Der Harn, der bis dahin jeden 2. Tag untersucht worden war, zeigte nie-
mals pathologische Bestandteile und hatte ein spezifisches Gewicht von 1090 bid
Fall von sog. essentieller Wassersucht.
638
3024. Es fiel schon in den letzten Tagen vor der Feststellung des Knöchelöd^s
auf, daß die Urinmenge ziemlieh gering war; doch wird sie erst von jetzt ab
genau bestimmt. Die beigegebene Tabelle gibt die Mengen der Flüssigkeits-
aufnahme und die Gesamtmenge des innerhalb 24 Stunden ausgeschiedenen Harns,
sowie sein spezifisches Gewicht bis wenige Tage vor der Entlassung an. Der
Urin wird natürlich täglich chemisch und mikroskopisch genau untersucht.
Tab
eile.
' Gesamtmenge (ccm)
Spezif. Gewicht
m
Tag
der Flüssigkeits-
Aufnahme
des Urins
des Urins
24. IL
1600
300
1030
25. II.
1700
300
1028
26. II.
1700
400
1022
27. IL
1600
500
1020
28. IL
1700 1
1000
1018
1. IIL
1900 1
1500
1014
2. III.
1900
2300
1010
3. IIL
1900
3000
1010
4. III.
1900 '
4000
1011
ö. IIL
191 iO 1
3600
1010
6. IIL
1900
3200
1011
7. III.
18Ü0 1
3000
1010
8. III.
1900
2500
1010
9. m.
1800
2200
1014
10. IIL
1800
2200
1013
11. III.
1700
1
2000
1014
Das Ödem nimmt am folgenden Tage (25. Februar) weiter zu und erstreckt
sich morgens auf beide Oberschenkel ; am Abend sieht schon die Haut des ganzen
Körpers leicht gedunsen und blaß aus, was besonders am Gesicht auffällt und
dem Kranken das Aussehen eines schweren Nephritikers verleiht. Der Blut-
befund ergibt an diesem Tage 3H40000 rote, 5000 weiße Blutkörperchen und
82 % Hämoglobin ; in den Ausstrichpräparaten zeigt das Blut normale Beschaffen-
heit. Seine Trockensubstanz, die nach der von Stintzing (23) und Gum-
precht angegebenen Methode bestimmt wurde, beträgt 19,59 \, sein spezifisches
Gewicht \041 und sein Gefrierpunkt — 0,59 o. Die Messung des Blutdruckes
(Riva-Rocci) ergibt 130 mm Hg.
Bis ..zum 28. Februar — also während der nächsten 3 Tage — vermehrt
sich das Ödem, wodurch trotz verminderter Nahrungsaufnahme das Körpergewicht
auf 73.5 kg erhöht wird, und führt besonders zu einer erheblichen Schwellung
der tiefer gelegenen Rückenteile. Die Haut läßt sich nirgends in Falten ab-
heben und hat eine teigige Beschaffenheit, so daß der Fingereindruck überall
deutliche Dellen hinterläßt. Das Ödem ist an den Händen am schwächsten aus-
srebildet und an den Schleimhäuten überhaupt nicht nachweisbar; ebenso fehlen
Ergüsse in die Pleura- und Peritonealhöhle. Der Leib ist etwas meteoristisch
aufgetrieben; sonst ergeben die inneren Organe abgesehen von einer ganz ge-
ringen Anschwellung der Leber durchaus normalen Befund.
Während bisher die Urinmengen sehr gering waren, setzt von nun an eine
schnell zunehmende Diurese (vgl. Tabelle!) ein, die am 4. März ihren Höhepunkt
mit einer Ausscheidung von 4 Liter Urin erreicht, um dann allmählich auf nor-
male Mengen herabzufallen. Das Allgemeinbefinden ist während dieser Zeit gut,
ja besser, als zu Beginn der Krankheit.
Infolge der starken Flüssigkeitsausscheidung sinkt das Körpergewicht be-
deutend herab und zwar in den nächsten 4 Tagen (bis zum 4. März) um 4,5 kg
und in den folgenden 3 sogar um weitere 6,4 kg; es beträgt daher am 7. März
634 XXXIII. 2. Wiehern.
nur noch 62,6 kg. Gleichzeitig nehmen die Ödeme jeden Tag* beträchtlich ab.
Zuerst gebt die Schwellung an den Extremitäten und den vorderen Teilen de;«
Rumpfes znrilck^ dann verliert auch das Gesieht sein gedunsenes Aussehen, und
zuletzt versehwindet das dem an den abhängigen Teilen das Rückens, so dafi
am 7. März auch hier der Fingereindruck nicht mehr sichtbar bleibt Am 5. März
beträgt die Trockensubstanz des Blutes 19,76%, während das speziflsehe Gericht
wieder 1047 ist.
In den folgenden Tagen geht das Körpergewicht noch bis auf 59 kg zurück.
Neue deme oder andere pathologische Erscheinungen treten nicht auf; der
Kranke, der sich dauernd sehr wonl fühlt, erhält e^as frischere Gesichtsfarbe,
ermüdet aber beim Aufstehen und Spazierengehen noch leicht. Am 15. März
wird er deshalb noch schonung;8bedürftig, aber sonst geheilt entlassen.
Während des ganzen Verlaufes der Krankheit konnten im Urin trotz An-
wendung mehrerer Proben niemals Spuren von Eiweiß, femer mikroskopiseh keine
Zylinder und überhaupt niemals irgendwelche pathologische Best-andt^ile nach-
gewiesen werden. Der Gefrierpunkt des Blutes wurde am Tage vor der Ent-
lassung bei —0,57** gefunden.
Die Körperwärme hielt sich dauernd zwischen 36 und 37®, die Pulsfrequenz
stieg kaum jemals über 90 Schläge in der Minute, und nur die Atmung war auf
dem Höhepunkt der Krankheit (27. Februar bis 3. März) etwas beschleunigt, .««o
daü sie etwa 25—30 Atemzüge in der Minute betrug.
In der Beobachtnngszeit traten, wie von angenärztlicher Seite festgestellt
wurde, am Rande der Papille beider Augen rechts eine, links zwei kleine, zarte.
flammenartige Blutungen auf, die ihrer Lage nach als durch Ödem entstanden
aufgefaiit werden können, zumal am übrigen Körper keine Geföß Veränderungen
vorhanden waren.
Wenn auch nach diesem Krankheitsberichte die Diagnose einer sog. essen-
tiellen Wassersucht kaum mehr zweifelhaft sein kann, so mögen doch die
differentialdiagnostisch in Betracht kommenden Krankheiten wenigstens kurz
erwähnt und ihre Annahme mit einigen Worten widerlegt werden. Gegen die
häufigste Ursache allgemeiner Ödeme, nämlich gegen eine Herz- oder Nieren -
erkrankung, sprach der völlig normale Befund am Herzen und das dauemdf
Fehlen von Eiweiß und anderen pathologischen Bestandteilen im Urin. Wenn
es auch im Verlaufe einer chronischen, interstitiellen Nephritis vorkommen kann.
daß zeitweise kein Eiweiß im Urin auftritt, so wurde in unserem Falle doch der
Gedanke an dieses Leiden durch den akuten Verlauf der Krankheit, das gntf
Allgemeinbefinden und das Fehlen irgendwelcher Folgeerscheinungen am Herzen
und Gefäßsystem hinfällig. Es mangelte auch jede Begründung dafür, die Wasser-
sucht unseres Patienten nur als Begleiterscheinung einer anderen Krankheit, z. B.
einer Anämie, Trichinosis oder Polymyositis acuta^ aufzufassen.
Ferner fehlten die typischen Symptome eines Morbus Basedowii, bei dem ja
zuweilen ausgebreitete Ödeme beobachtet worden sind. An der Schilddrüse konnte,
wie nachträglich hervorgehoben werden mag, nichts Abnormes gefunden werden,
so daß abgesehen von anderen Gegenständen schon dadurch auch ein Myxödem
auszuschließen war. Ebenso wurde die Vermutung, daß es sich um das aUerdins»
nur sehr selten beschriebene, ödematöse Stadium einer Sklerodermie huidcin
könnte, durch den schnellen Rückgang der Erscheinungen und die weiche Kon-
sistenz der ödematöeen Haut widerlegt. Viel näher lag im Beginn der Krankheit
jedoch die Annahme einer Urticaria, eines angioneurotischen Odem?:
oder eines sog. Oedema fugax; doch vertrug sie sich nicht mit dem mehr-
tägigen, fast unveränderten Bestehen und mit der gleichmäßigen Ausbreitung
des Ödems über den ganzen Körper. Es blieben also schließlich bei der Diffe-
rentialdiagnose nur noch entzündliche Hauterkrankungen übrig. So war eine
Verwechslung mit. .einer Dermatitis möglich; auch treten ja manchmal nach
einem Erysipel Ödeme der Haut auf, die aber wohl schwerlich eine solche Aus-
dehnung, wie das Ödem in unserem Falle, erreichen. Vor allem waren jedoch
weder vor Beginn, noch im Verlauf der Krankheit jemals entzündliche Erschei-
nungen an der Körperoberfiäche Avahrzunehmen ; die Haut zeigte viebndir stets
eine glatte, blasse Beschaffenheit und nirgends eine Rötung oder Schmerzhaflig^
keit, die den Gedanken an eine Entzündung aufkommen ließ.
Fall von sog. essentieller Wassersacht. 63Ö
Die „allgemeine esBontielle Wassersucht" , deren Annahme bei un-
serem Kranken somit wohl berechtig^ erscheint, ist wegen ihrer großen
Seltenheit praktisch von ziemlich geringer Bedeutung, zumal sie häufig
ohne therapeutische Maßnahmen glücklich zu verlaufen scheint, in den
übrigen Fällen aber meist durch eine Behandlung in ihrem ungrünstigeren
Ausgange überhaupt nicht zu beeinflussen war. Dagegen bietet sie theo-
retisch um so größeres Interesse, und die Frage nach ihrer Ursache und
ihrem Wesen, die eng mit der Frage nach der Entstehung des Odems
überhaupt zusammenhängt, verdient im Anschluß an unsere Beobachtung
eine kurze Besprechung. Dabei wird zuerst über die auf diese Frage
gerichteten, klinischen Untersuchungen an den bisher verö£Fentlichten
Fällen, ferner über die wenigen, vorliegenden Sektionsergebnisse, darauf
über einige der essentiellen Wassersucht anscheinend verwandte Krankheits-
zustände und endlich über verschiedene experimentelle Studien zu be-
richten sein.
£ine große Schwierigkeit für die genaue klinische Beobachtung der
essentiellen Wassersucht liegt darin, daß der Patient sehr häufig die
Krankheit im Beginn gar nicht bemerkt oder sie wenigstens nicht be*
achtet, weil das subjektive Befinden nur selten und sehr wenig gestört
zu sein pflegt. Die Anamnese läßt daher oft im Zweifel darüber, wann
die ersten Frscheinnngen aufgetreten sind und was mit dem Zustande in
ursächlichen Zusammenhang gebracht werden kann. Welche Rolle die
Heredität in der Ätiologie spielt, läßt sich nach den bisherigen Beob-
achtungen noch nicht beurteilen. Es mag nur erwähnt werden, daß
08ler(15) 11 Fälle in 5 Generationen derselben Familie auftreten sah.
Als Entstehungsursache der Krankheit wird ziemlich regelmäßig in der
Anamnese eine Erkältung oder Durchnässung angegeben; doch scheint
sie meist nicht über das Latenmaß der Erkältung, wie Wagner (37)
sagt, hinauszugehen. Immerhin weist aber der endemische Hydrops, der
bei dem Heere Karls V. in Tunis durch Trinken kalten Wassers nach
langem Dursten auftrat (Eulenburg (5),) wohl auf eine solche Ätiologie
hin, und sie scheint auch durch neuere Beobachtungen französischer
Militärärzte, die in Algier nach kalten Biwaknächten Hydrops entstehen
und durch Anwendung von Wärme bald wieder verschwinden sahen
(Talma (25)), bestätigt zu werden. Tschirkoff (26) hält diese Ur-
sache jedoch für zweifelhaft und glaubt die meisten Fälle essentieller
Wassersucht auf Syphilis zurückführen zu können; dafür sprechen
allerdings neben der Anamnese und dem Befunde bei einigen seiner
Kranken die von ihm berichteten, mehrfachen Heilerfolge durch eine
i^necksilberkur und Joddarreichung. — Die beiden angeführten Ursachen,
Erkältung und Lues, kommen bei unserem Patienten wohl nicht in Be-
tracht; doch ist seine Angabe, daß er kurz vor dem Eintritt der ersten
Beschwerden sich etwa 14 Tage hindurch einem sehr reichlichen Bier*
genuß bei gleichzeitiger, geringer Nahrungsaufnahme ergeben hat, in
ätiologischer Beziehung sicher beachtenswert. Wenn auch zwischen jenen
^Exzessen und dem ersten Nachweis von Ödemen in der Klinik ein fast
3 wöchentlicher Zwischenraum Hegt, so ist es doch möglich, daß schon
früher eine vorübergehende, hydropische Schwellung der Füsse aufge-
treten war, wie sie der Kranke ja auch bemerkt zu haben glaubt.
636 XXXni. 2. Wiehern.
Selbst wenn nun ein Patient, wie es in unserem Falle vielleicht ge-
schehen ist, seinen Krankheitsssustand von An&ng an beachtet und früh-
zeitig den Arzt aufsnchti so ist es doch für diesen schwierig, den Befund
sofort richtig zu deuten und sich dadurch der Seltenheit des Falles be-
wußt zu werden. Deshalb ist es auch erklärlich, daß es bisher kaum
eingehende klinische Üntemichungen an Fällen von essentieller Wasser-
sucht gibt, zumal da nicht einmal immer die Möglichkeit dazu vorhanden
gewesen sein wird.
Es erscheint vor allem wünschenswert, genauen Aufschluß über die
Flüssigkeitszufuhr und die Harnausscheidung neben gleichzeitiger Kontrolle
des Körpergewichts zu erhalten. Während darüber bei den bisherigen
Beobachtungen gewöhnlich nähere Angaben fehlen, konnten wir bei un-
serem Kranken, solange die Ödeme noch zunahmen, trotz reichlicher
Flüssigkeitsaufnahme nur sehr geringe Hammengen feststellen. Dagegen
setzte mit der Abnahme der Ödeme gleichzeitig eine ansteigende, reich-
liche Diurese ein. Bei den Fällen von längerer Dauer scheint die Urin-
ausBcheidung ebenfalls während des ganzen Verlaufes gering gewesen zu
sein, was für die alleinige Abhängigkeit des Hydrops von der Nieren-
funktion sprechen könnte. Denn bei einem Fortbestehen der Ödeme trotz
reichlicher Dinrese würde die Annahme einer Niereninsufficienz bei der
essentiellen Wassersucht natürlich sehr zweifelhaft werden.
Bemerkenswert ist es daher auch, daß bei unserem ICranken der
Gefrierpunkt des Blutes während der Zunahme der Ödeme — 0,59^,
später aber nach Ablauf der Erscheinungen — 0,57^ betrug. Nach den
Angaben C a s p e r's (2) und K i c h t e r's ist es dadurch sehr wahrscheinlich
geworden, daß anfangs die Leistungsfähigkeit der Nieren stark herab-
gesetzt war, später aber wieder normal wurde ; doch ist ja der Wert der
Blutkryoskopie in neuester Zeit von Rovsing (20) sehr in Zweifel ge-
zogen und diese Methode zur Prüfung der Nierentätigkeit sogar als
eine der unsichersten bezeichnet worden. Wir müssen uns daher mit
der Feststellung begnügen, daß die molekulare Konzentration des Blutes
bei unserem Kranken während des Bestehens der Ödeme höher war. als
nach ihrem Verschwinden, und glauben einstweilen aus dieser Tatsache
noch keinen sicheren Schluß auf die Funktion der Nieren ziehen zu
können.
Während nun über den Gefrierpunkt des Blutes bei der essentiellen
Wassersucht bisher keine Mitteilungen zum Vergleiche mit unserem
Befunde vorliegen, wurde das Blut der Kranken auch von anderen schon
auf die Zahl und Beschaffenheit der Blutkörperchen und auf den Hämo-
globingehalt untersucht. Die von Tschirkoff (26) in zwei Fällen er-
hobenen Blutbefunde sind allerdings kaum verwertbar, weil er über die
auffallige Vermehrung der Leukocyten und den beträchtlichen Unterschied
zwischen der Zahl der roten Blutkörperchen und dem Hämoglobingehalt
bei ihnen mit Stillschweigen hinweggeht. Wagner (27) sah aber b^
einem 14 monatlichen Knaben mit essentieller Wassersucht im Blute ein-
zelne MikrO' und Poikilocyten und gibt bei einem anderen Falle, der
ein chlorotisches Mädchen betraf, den gleichen Befund, sowie einen stark
verminderten Hämoglobingehalt (bis 10^/^) neben einer Vermehrung der
weißen Blutkörperchen an. Eine Hyperleukocytose fand auch Stäche-
Fall von sog. essentieller Wassersucht. 637
liii(22) bei seinem Falle, indem er einmal 10000, das zweite Mal 12000
Leukocyten zählte; im Gegensatz dazu war die Menge der roten Blut-
körperchen und der Hämoglobingehalt etwa auf die Hälfte der Norm
herabgesetzt. Diese Erscheinung war bei unserem Falle viel geringer
ausgesprochen, doch zeigte sich auch hier die Zahl der Erythrocyten und
•der Gehalt an Hämoglobin vermindert, die Menge der Leukocyten aber
nicht, wie in den anderen Fällen, vermehrt. Stae hei in (22) bestimmte
.auch noch die Trockensubstanz des Blutes und fand 18,47 ^/^ bei einem
spezifischen Gewicht von 1045 ; unsere Werte waren etwas höher und be-
trugen für die Trockensubstanz anfangs 19,59^/0, später 19,76% für
•das spezif. Gewicht bei beiden Untersuchungen 1047. Immerhin bedeuten
auch diese Zahlen eine Herabsetzung gegenüber dem normalen Blute,
bei dem die Trockensubstanz auf 21,0 — 22,5% (Biernacki(l)], das
spe^f. Gewicht auf 1055 — 1060 (Grawitz (7)) angegeben wird. Es darf
daraus wohl für beide Fälle der nicht unwichtige SchluB gezogen werden,
•daß eine Hydrämie vorhanden war.
Über die Beschaffenheit der hydropischen Flüssigkeit selbst
ist bei der essentiellen Wassersucht noch wenig bekannt. Mazzotti
hatte nach Parschau's (16) Angabe Gelegenheit, bei einem Falle die
Flüssigkeit der Bauchhöhle, des Pleuraraums und des Unterhautzell-
gewebes zu untersuchen. Die Ascitesflüssigkeit war bald durchsichtig,
bald undurchsichtig, aber immer zitronengelb und überzog sich beim
-Stehenlassen mit einer weißen, später gelblichen Membran. Das spezif.
Gewicht betrug 1010, der Eiweißgehalt 1,28 ^/f^, und die mikroskopische
Untersuchung fiel negativ aus. Die aus der Pleurahöhle und dem TJnter-
hautzellgewebe stammende Flüssigkeit zeigte etwas hellere, aber auch
zitronengelbe Farbe und meist durchsichtige, klare Beschaffenheit; in ihr
fanden sich große, vieleckige Zellen mit wenig granuliertem Protoplasma,
die für endotheliale Zellen gehalten werden konnten. Nach diesen An-
gaben handelte es sich also wohl um Transsudate und nicht um Exsu-
date. Im Gegensatz dazu läßt die von Talma (25) erwähnte üoter-
sachung der Bauchflüssigkeit eines an „Hydrops inflammatorius generalis
chronicus^' leidenden 9 jährigen Knaben eher an einen entzündlichen Ur-
sprung des Ascites denken. Die Flüssigkeit wurde nämlich von Ham-
burger (8) stark lymphtreibend gefunden und enthielt das von ihm
sogenannte „Bacterium lymphagogon**. Auf die Bedeutung dieses eigen-
artigen Befundes werden wir noch kurz zurückkommen.
Von therapeutischen Maßregeln muß uns vor allem die Art der
Wirksamkeit diuretischer Mittel interessieren, die ja gerade in
neuerer Zeit bei der Ni'phritis eingehender studiert worden ist. In den
schnell verlaufenden Fällen essentieller Wassersucht, wozu auch der un-
sere gehört, war meist keine Gelegenheit dazu vorhanden, Diuretica anzu-
wenden, weil auch ohne sie die Ödeme sehr bald abnahmen. In den
chronischen Fällen aber ist der Versuch, die hydropischen Erscheinungen
medikamentös zu beeinflussen, wiederholt gemacht worden. AVagner (27)
.glaubt bei einem Erwachsenen den Rückgang der Ödeme durch Verab-
reichung von Digitalis und Kali aceticum gesehen zu haben, wobei aber
vielleicht auch ein zutälliges Zunammentreffen vorgelegen haben mag. Denn
im Staehelin 'sehen (22) Falle waren verschiedene Diuretika und an-
Deutsches Archiv f. kliii. Medizin. 89. Bd. 41
638 XXXIII. 2. Wiehern.
dere Kittel ganz erfolglos, und nur durch Schwitsprozednren und gleich-
zeitige Injektion von Pilokarpin wurde eine mäßige Abnahme des Hydrop»
erzielt. Ahnliche Mißerfolge einer medikamentösen Behandlung sind auch
von anderen berichtet worden, während die günstige Wirkung der
Quecksilberkur und Verabfolgung von Jod in den Tschirkoff 'schen(26>
Fällen schon hervorgehoben wurde.
Leider sind also die Ergebnisse der klinischen Untersuchung und
Therapie noch recht mangelhaft; dennoch muß auf sie um so größerer
Wert gelegt werden, weil die pathologisch anatomische Unter-
suchung der tödlich verlaufenen Fälle unsere Kenntnis über das Wesen
der Krankheit kaum gefordert bat. In zwei von Wagner (27) beschrie-
benen Fällen, die beide Kinder betrafen, wurde nämlich bei der Sektion
gar keine Ursache für die Entstehung der Ödeme gefanden. Die Nieren
waren völlig normal; nur bei mikroskopischer Betrachtung wiesen sie in,
einem Falle einzelne hyaline Zylinder in den Sammelröhren auf. Bei
demselben Kinde wurde noch eine offenbar durch die zuletzt aufgetretene
Herzschwäche entstandene Thrombose der kleineren Hautvenen und eine
eigenartige, aber nicht sehr ausgebreitete, entzündliche Veränderung des
Unterbantfettgewebes nachgewiesen. In einem dritten Falle ergab die
Obduktion eine Degeneration des Herzmuskels, und es erscheint daher
fraglich, ob dieser Fall auch als essentielle Wassersucht gedeutet werden
darf. Außer diesen Beobachtungen liegt nur noch eine Mitteilung Stae-
helin's(22) über einen Sektionsbefand vor; bei einer 51jährigen Frau
fand er neben einem starken Odem der Haut, des subkutanen Binde-
gewebes, der Hirnhäute und des Kehlkopfs nur eine leichte bräunliche
Verfärbung des Herzmuskels, die aber die Entstehung des Hydrops nicht
erklären konnte. Als Nebenbefund wurden noch einzelne broncbopneu-
monische Herde in den Lungen, einige hämorrhagische Erosionen des
Magens und follikuläre Dünndarmgeschwüre, sowie eine geringe cystische
und hyperplastische Struma nachgewiesen. Die Nieren zeigten, abgesehen
von einer leichten Schwellung des Epithels in den Tubuli conto rti, keine
Veränderung. Somit deckte auch bei diesem Falle der Sektionsbefand
die Ursache der Ödeme nicht auf.
Es liegt daher wegen der unbefriedigenden Ergebnisse der patho-
logisch-anatomischen Untersuchung nahe, durch Vergleich mit anderen,,
der essentiellen Wassersucht klinisch ähnlichen Zuständen, nach einer
Erklärung der Ödeme zu suchen. Dazu können hier einige der bei der
Differeiitialdiagnose schon genannten Krankheiten aufgeführt werden : unter
ihnen kommt aber die Grappe der sog. akuten angioneurotischen Ödeme
am meisten in Betracht. Bei diesen handelt es sich ja um plötzlich ent-
stehende, umschriebene Ödeme der Haut oder auch gewisser Schleimhäute,
die zuweilen unter heftigen Allgemeinerscheinungen, meist aber ohne
erhebliche Beschwerden einsetzen und nach wenigen Stunden wieder zu
verschwinden pflegen ; sie scheinen außerdem mit Vorliebe dasselbe Indi-
viduum Öfter zu befallen und treten dabei gewöhnlich an der gleichen
Körperstelle auf. Wenn nun offenbar auch für die essentielle Wasser^
sucht ein zweimaliges Rezidiv bei einem Kinde von Wagner (27) be~
obachtet worden ist, so muß man doch gegenüber jenen Zuständen hervor-
heben, daß die sog. essentielle Wassersucht sich auf die ganze Korpei^
Fall von sog. essentieller Wassersucht. 639
Oberfläche erstreckt nnd im Gegensatz zu jenen außer einem allmählichen
Beginn einen viel längeren und zwar mindestens mehrtägigen Verlauf
nimmt. Es fehlt ihr also gerade das für jene Ödeme charakteristische,
plötzliche Auftreten und Verschwinden, die Beschränkung auf umschriebene
Hautbezirke und der springende Charakter; daher erscheint es doch sehr
fraglich, ob für beide Erkrankungen die gleiche oder auch nur eine ähn-
liche Ursache anzunehmen ist. Ebenso gewagt wäre es ja, die durch
GeflLßverschluß oder im Bereich eines gelähmten Nerven entstandenen
Ödeme ohne weiteres zum Vergleich mit der essentiellen Wassersucht
heranzuziehen. Dagegen mag es wohl gerechtfertigt erscheinen, an dieser
Stelle kurz auf ein anderes eigenartiges Leiden hinzuweisen, das im all-
gemeinen als „essentieller Höhlenhydrops^' bezeichnet zu werden pflegt.
Bekanntlich sind mehrere Falle beschrieben, bei denen sich meist ohne
nennenswerte Beschwerden allmählich ein seröser Erguß in der Bauch-
höhle ansammelte, für den weder eine Stauung im Pfortadergebiete, noch
eine Erkrankung des Peritoneum als Ursache angeschuldigt werden konnte.
Einige dieser Fälle (Quincke (18), Küßner(lO)), standen, soweit sie
weibliche Personen betrafen, zweifellos in Beziehung zu gewissen sexuellen
Vorgängen (Menstruation, Klimakterium), andere aber scheinen durch
plötzliche Abkühlung des überhitzten Körpers verursacht zu sein, so daß
auf sie sogar die Bezeichnung „rheumatische Peritonitis^ angewandt wird
(!Rehn(19). Diese Entstehung erinnert an einzelne Beobachtungen von
essentieller Wassersucht, bei denen, wie erwähnt, ebenfalls eine Er-
kältung als Ursache angeschuldigt wurde, und zwar ist der Vergleich
um so berechtigter, als diese Krankheit zuweilen auch mit Ergüssen in
die serösen Körperhöhlen verbunden ist. Wenn wir daher auch vielleicht
in dem essentiellen Höblenhydrops einen dem allgemeinen, idiopathischen
Ödem verwandten Zustand erblicken dürfen, so steht dem letztgenannten
Leiden doch wohl noch eine andere Erkrankung, nämlich die „einfache
Scharlach Wassersucht" (Quincke 17) näher; die Ähnlichkeit dieser beiden
Krankheiten ist ja unverkennbar, und sie dürfen vielleicht als ganz
gleichartige Zustände betrachtet werden, obgleich in der Anamnese der
bisher beobachteten Fälle von essentieller Wassersucht eine kurz vorher-
gegangene, akute Infektionskrankheit gerade fehlt. Es soll übrigens nicht
unterlassen werden, an eine Beobachtung Litte ns (11) zu erinnern, bei
der im Anschluß an Scharlach ein allgemeiner Hydrops ohne klinisch
nachweisbare Erscheinungen von Nephritis auftrat, die Sektion aber eine
schwere, hämorrhagische Entzündung der Niere aufdeckte. Denn damit
ist sicherlich nicht nur für die nach Scharlach entstehenden Fälle von
Hydrops, sondern auch gerade für die essentielle Wassersucht beim Aus-
schluß einer Nierenerkrankung wegen Fehlens des dabei sonst beobachteten,
pathologischen Harnbefundes große Vorsicht geboten.
Wie die vergleichende Betrachtung mit den genannten Krankheits-
bildern hauptsächlich neue Gesichtspunkte über die Genese und das Wesen
der essentiellen Wassersucht bringen soll, so dient ein kurzer Hinweis
auf einige grundlegende experimentelle Ergebnisse über die Ent-
stehung des Ödems dem gleichen Zweck. Cohnheim (3) und Licht-
heim haben nämlich im Gegensatz zu früheren Anschauungen bewiesen,
daß eine Hydi'ämie an und für sich noch nicht zu (jdemen führen muß,
41*
€40 XXXm. 2. Wiehern.
und Cohnheim (4) nahm daher noch eine gesteigerte DurchläsBigk^t
<der Kapillaren als erforderlich an. Magnus (12) konnte nnn bei Tieren,
bei denen er durch Infusion von Kochsalzlösung eine hydrämische Plethora
erzengte, nachweisen, daß eine Beihe von Giften (Arsen, Chloroform,
-Chloralbydrat, Äther) offenbar die zur Entstehung des Ödems notwendige
Schädigung der Kapillareudothelien bewirkten. Damit stehen übrigens
49pätere Versuche Gärtner 's (6), der durch sehr langsame Infusion von
Kochsalzlösung Ödeme hervorrief, nicht in Widerspruch, denn Cohnheim
hatte schon betont, daß eine lange Dauer der Hydrämie an sich (xefaß-
wandschädigung hervorrufen kann. In Übereinstimmung mit jenen Yer-
Suchsergebnissen nimmt bekanntlich Senator bei der Nephritis toxische
Substanzen im Blute an, die zuerst die Glomeruli der Nieren, dann aber
unabhängig davon die Kapillarwandungen schädigen. Magnus glaubt
Jedoch nicht, daß mit Hydrämie und (^fäßwandschädignng alle Ursachen
der nephritischen Ödeme erschöpft sein müssen, sondern daß vielleicht
auch die Abnahme der Gewebsspannung das Auftreten von Anaaarca
begünstigen kann. So wäre es ja denkbar, daß sich in den Geweben
Stoffe ansammeln, die eine Abnahme der Elastizität durch Erzeugung
«ines hohen osmotischen Drucks und Wasserretention bedingen. Gerade
die neuere experimentelle Forschung am Krankenbett hat die Aufmerk-
samkeit auf diese Möglichkeit gelenkt. So sieht Strauß (24) auf Grund
seiner Stoffwechsel versuche die Kochsalzretention als Ursache der nephri-
tischen Ödeme an ; jedenfalls zeigen aber auch die Untersuchungen anderer
{v. Koziczkowsky(9), Mohr (14) usw.), daß bei Nierenerkranknngen
die verschiedenen Urinbestandteile einzeln im Körper zurückgehalten
werden können und ihre Ausscheidung also voneinander viel unabhängiger
ist, als man bisher angenommen hat.
Forschen wir nun auf Grund dieser experimentellen Arbeiten, sowie
unserer klinischen und pathologisch-anatomischen Erfahrungen nach der
Ursache und dem'Wesen der essentiellen Wassersucht,
so werden wir den primären Sitz der Ursache in drei verschiedenen
Organen suchen können, nämlich im Blut, im Zentralnervensystem oder in
der Niere.
Da in zwei Fällen dieser Erkrankung eine Hydrämie nachgewi^en
wurde, liegt es nahe, den Ursprung des Leidens in einer Veränderung
des Blutes zu vermuten. Wenn nun Gärtner (6) auch, wie schon
erwähnt wurde, bei Tieren durch längeres Bestehen einer Hydrämie tat-
sächlich subkutane Ödeme hervorgerufen hat, so ist doch zu beachten,
daß es sich bei diesen Versuchen stets um eine hydrämische Plethora
handelte. Ein solcher Zustand ist aber bei jenen an essentieller Wasser-
sucht Erkrankten nicht festgestellt worden, sondern nur eine einlache
Hydrämie. Gegen die Auffassung, daß diese aliein die Krankheitsor-
sache war, sprach sogar in unserem Falle sicher das Fortbesteben der
Hydrämie (mit einer Trockensubstanz des Blutes von 19,76®/^) tiotz des
Verschwindens der Ödeme. Auf Grund der von Magnus (12) ange-
stellten Experimente hätten wir daher noch das Vorhandensein gewisser,
im Blute kreisender GiftstofiFe anzunehmen, und Hamburger's (8) Xaeb-
weis einer lymphtrei^endeo Substanz in der Bauchflüssigkeit jenes Koabeu
wird diese Vermutung bestärken. Sein interessanter Befund einea
Fall von sog. essentieller Wasseraucht. 641
„Bacterinm lymphagogon** legt gleichzeitig den Gedanken nahe, daß e»
sich bei der uns hier beschäftigenden Krankheit vielleicht nm eine durch»
solche Mikroorganismen bedingte Infektion handeln könne, wofür ja das
früher beobachtete, endemische Auftreten der Erkrankung ein weiterer
Beleg wäre. Darüber wird uns voraussichtlich eine sorgfältige, bakte-
riologische Untersuchung des Blutes und der hydropischen Flüssigkeit in
künftigen Fällen Gewißheit verschaffen können.
Von Tschirkoff (26) ist die Vermutung ausgesprochen worden,,
daß der essentiellen Wassersucht eine luetische Erkrankung des Ge-
fäßzentrums im Kopfmark zugrunde läge. Die Annahme einer AfTektion
dieses Gefäßzentrums, die wohl nicht immer syphilitisch sein muß, ent-
spricht ja bei der allgemeinen Ausbreitung des Hydrops über den ganzem
Körper jener anderen Auffassung, daß es sich bei den angioneurotischen
Ödemen um eine örtliche Alteration von Gefaßnerven handelt. Gerade
mit Rücksicht auf die im Gebiete eines gelähmten Nerven vorkommenden
Ödeme gewinnt -eine solche Hypothese an Wahrscheinlichkeit. Wissen
wir doch auch, daß Verletzungen des Kleinhirns, der Brücke und dea
verlängerten Markes oder Krankheitsvorgänge in ihren klinisch gleichsam
das Gegenteil der essentiellen Wassersucht, nämlich einen Diabetes insi-
pidus, der nach E. Meyer's(13) Untersuchungen als primäre Polyurie
zu betrachten ist, erzeugen können. Ob allerdings eine solche Gegen-
überstellung der beiden Krankheiten überhaupt gerechtfertigt ist, entzieht
sich vorläufig unserer Beurteilung.
Dazu wird vorerst noch die Frage zu beantworten sein, ob bei der
essentiellen Wassersucht nicht etwa eine primär durch die Nieren be-
dingte Wasserretention vorliegt. Im Hinblick auf die Litten 'sehe (ll)
Beobachtung einer einfachen Scharlach Wassersucht trotz schwerer Nieren-
erkrankung ist es zunächst sehr wertvoU, daß in 3 Fällen von essentieller
Wassersucht das Fehlen anatomischer Nierenveränderungpn durch die
Sektion sichergestellt ist. Damit ist aber natürlich noch nicht ausge-
schlossen, daß die Funktion der Niere gestört war, und, nm darüber
Klarheit zu erlangen, sind vor allem genaue Tabellen über die Flüssig-
keitszufuhr und die täglichen Urinmengen notwendig, damit die Ab-
hängigkeit der Ödeme von der Harnausscheidung festgestellt wird. Femer
werden in dieser Richtung die zar Prüfung der Nierentätigkeit geeigneten
Methoden, wie sie Bovsing (20) in der Urinkryoskopie und in der
leichter auszuführenden Hamstoffbestimmung erblickt, wichtige Aufschlüsse
liefern können. Gleichzeitig öffnet sich hier aber noch ein weites Feld
für andere klinische Untersuchungen, da die osmotischen Verhältnisse
des Blutes und der an den verschiedenen Körperstellen angesammelten,,
hydropischen Flüssigkeit noch gänzlich unbekannt sind. So erscheint es
auch sehr wünschenswert, durch genaue Versuche über den Salzstoff-
wechsel bei den essentiellen Wassersucht näheres zu erfahren, wie unsere
ÜLenntnisse darüber bei der Nephritis durch Strauß (24), v. Kozicz-
kowsky (9), Mohr (14) u. a. trotz mancher widersprechender Resultate
-wesentlich erweitert sind. Endlich wäre dabei noch der Einfluß diure-
tischer Mittel auf das Ausscheidungsvermögen der Niere zu studieren,
^wozu freilich nur die chronischen Fälle Gelegenheit bieten werden. Wegen
der großen Seltenheit der Krankheit würden aber auch schon gleichartige
642 XXXIII. 2. Wichern, Essentielle WasBersucht.
Untersuchungen bei der einfachen Scharlachwassersuchti beim essentiellen
Höhlenhydrops und allen verwandten Zuständen manche Unklarheiten
beseitigen und zugleich Aufschluß darüber bringen, ob überhaupt ein
prinzipieller Unterschied zwischen diesen Krankheiten und der essentiellen
Wassersucht besteht, was einstweilen wohl noch als zweifelhaft angesehen
werden muß.
Literatur.
1. Bieruacki. Volkmann's Samml. klin. Vorträge. Neue Folge Nr. 306 1901.
2. Jasper und Bichter, Fanktiondle Nierendia^g^nostik. Berlin 1901.
3. Cohnheim und Licht heim, Fber Hvdrämie und hydr. Ödem. Virch.
Arch. Bd. LXIX 1877.
4. Cohnheim, Vorles über allgem. Path. U. Aufl. 1882.
6. Eulenburg, Real-Encvklopädie der ges. Heilk. Bd. XI p. 130 1896.
6. (rärtner, Über die Beziehungen von Nierenerkrankun^n und Ödemen.
Wiener med. Presse 1883 p. 671 n. 702.
7. Grawitz, Klinische Pathologie des Blutes. Berlin 1896.
8. Hamburger, Osmotischer Druck und lonenlehre. Wiesbaden 1904 p. 69.
9. T. Koziczkowsky, Zeitschr. f. kün. Med. Bd. 51 p. 287.
10. Küßner, Berliner klin. Wochenschr. 1889 p. 341.
11. Litten, Beiträge zur Lehre von der Scarlatina. Charite-Annalen Bd. VII
p. 109.
12. Magnus, Die Entstehung der Hautödeme bei experiment. hydräm. Plethora.
Arch. f. exp. Path. u. Pharmak. Bd. 42 p. 250.
13. E. Meyer, Über Diabetes insipidus und andere Polyurien. D. Arch. f. kl.
Med. Bd. 83 p. 1.
14. Mohr, Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 51 p. 338.
15. Osler, cit. bei Parschau. •
16. Par sc hau,. Über Hydrops essentialis, Inaug.-Diss. Erlangen 1895.
17. Quincke, Über einfache Scharlachwassersucht. Berl. klin. Wochenschr. 1882
p. 409.
18. Derselbe, ('her Ascites. D. Arch. f. klin. Med. Bd. 30 p. 569.
19. Rehn, Gerhardts Handbuch der Kinderkrankheiten Bd. IV Abt. 2 p. 255.
20. Rovsing, Arch. f. klin. Chirurgie Bd. 75 p. 867.
21. Senator, Erkrankung der Niere. Nothnagel's Spez. Pathol. u. Therapie.
Wien 1896.
22. Staehelin, Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 49 p. 461.
23. Stintzing und Gumprecht, D. Arch. f. klin. Med. Bd. 53 p. 267.
24. StrauÜ, Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 47 p. 337.
25. Talma, Über Hydrops inflamm atorius. Zeitschr. f. kl. Med. Bd. 27 p. 4.
26. Tschirkoff, Oedemes vasomoteurs sans albuminurie. Revue de Medecine
XV p. 625.
27. Wagner. Die sog. essentielle Wassersucht. D. Arch. f. klin. Med. Bd. 41
p. 509.
XXXIII. 3. Mann u. Schmaus, Landry'sche Paralyse. 643
3.
Aus dem KÖnigl. Garnisonlazarett München.
Ein Beitrag zur Kenntnis der unter dem Bilde des
Landry'schen Symptomenkomplexes verlaufenden
Krankheitsfälle.
Von
Oberarzt Dr. Mann.
Histologischer Teil.
Von
weiland Prof. Dr. Hans Sehmaus.
(Mit Tafel IV).
In den ^Lubarsch-Ostertag'schen Ergebnissen der Allgemeinen Patho-
logie und pathologischen Anatomie des Menschen und der Tiere" IX. Jahr-
gang I. Abtig. 1904 hat weiland Prof. Hans Schmaus die bis zu diesem
Zeitpunkte yeröffentlichten pathologisch -anatomischen Untersuchungs-
befunde bei Krankheitsfällen, welche unter dem klinischen Bilde der
^Landry'schen Paralyse^ verliefen, zusammengestellt und einer eingehenden
Würdigung unterzogen.
Aus dem umfassenden, erschöpfenden E«ferate läßt sich ersehen,
daß entgegen der zuerst von y. L e y d e n vertretenen Anschauung, wonach
dem klinischen Krankheitsbilde der Landry'scben Paralyse anatomisch
im wesentlichen eine Polyneuritis zugrunde liege, doch auch die alte
Duchenne'sche Auffassung der Landry'schen Paralyse als Poliomyelitis
acuta wieder Anhänger gefunden hat, welche auf Grund ihrer Beob-
achtungs- und TJntersuchungsergebnisse dieser letzteren beipflichten (Klebs,
T. Reusz, Mönckeberg, Schmaus).^)
Wenn ich den von mir beobachteten Krankheitsfall der Öffentlichkeit
übergebe, so möchte ich betonen, daß ich denselben, obwohl er sich ohne
großen Zwang unter die Diagnose Landry'sche Paralyse einreihen ließe,
von vornherein als akute ausgebreitete Myelitis unter dem klinischen
Bilde der Landry'schen Paralyse angesehen wissen wollte.
Ich bin mir wohl bewußt, daß die bei dem Krankheitsfalle beob-
achtete Lähmung des Muse, detrusor der Harnblase in das von Landry
beschriebene und allgemein als feststehend acceptierte klinische Krankheits-
bild strenggenommen nicht hineinpaßt: trotzdem glaube ich, wie aus
nachstehendem hervorgehen dürfte, berechtigt zu sein, von einem Landry-
«chen Symptomen komplexe sprechen zu dürfen.
Die Erkrankung betraf einen Einjährig-Freiwilligen H. W., welcher während
der Herbstübungen 1905 zur Dienstleistung bei einem Proviantamte in W. be-
ordert war und dort am 1. September 190o unter allgemeinem schweren Krank-
1) Citiert nach Schmaus in Lubarsch-Ostertag^s Ergebnissen IX. Jahrg.
I. Abteil. 1904.
644 XXXin. 3. Mann o« Schmans.
heitsgefUhl mit äußerst heftigen Kopf- und Leibschmerzen erkrankte, was ihn
veraniaßte, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Eine Ursache seiner Er-
krankung Termochte W. nicht anzugeben: dem Genüsse einiger Birnen, welche
er am Abend des vorhergehenden Tages gegessen hatte, glaubte er selbst nicht
die Schuld an seiner Erkrankung beimessen zu müssen.
Am 2. Tage seiner Erkrankung (3. September 1905) wurde W. auf Ver-
anlassung seines behandelnden Arztes in das städtische Krankenhaus zu W.
überführt.
Dort bot sich nach Bericht des städtischen Krankenhausarztes bei der Auf-
nahme folgendes Krankheitsbild: W. kla^e noch über leicht« Kopfschmerzen,
außerdem über Schwerbeweglirhkeit des linken Beines und Gefühl der Schwere
im rechten Beine. Das Bewußtsein des Kranken war in keiner Weise getrubt.
Der Kopf war nach allen möglichen Eichtnngen frei beweglich: die Wirbelsäule
war nirgends druckempfindlich. Die Pupillen waren mittel weit und reagierten
prompt >auf Lichteiufall. Das linke Bein konnte im Kniegelenke gebeugt und
gestreckt, aber als ganzes von der Unterlage nicht abgehoben werden. Der
Patellarrefiex war beiderseits aufgehoben.
Die Untersuchung der Lungen ergab keinen krankhaften Befund, die Herz-
tätigkeit war beschleunigt. Die Körpertemperatur betrug 37,6 **.
Gegen Abend desselben Tages hatte sich der Zustand des Kranken ent-
schieden verschlimmei-t. Das linke Bein war völlig gelähmt, das rechte schwer
beweglich: auch beide Arme waren „kraftlos"" geworden und konnten in den
Schnltergelenken nur mit Mühe bewegt werden. Da der Harn nicht spontan
gelassen werden konnte, mußte derselbe mittels Katheter entleert werden. Der
Harn war eiweißfrei. Abendtemperatur 37,8 •.
Am 4. September 1905 konnte sich der Kranke ohne fremde Hilfe im Bette
weder aufsetzen noch umdrehen. Die Harnblase muüte wieder mittels Katheter
entleert werden. Beide Beine waren nunmehr völlig gelähmt, beide Arme nament'
lieh der rechte im Schultergelenk noch schwerer beweglich als am Abend vorher.
Mit "der Wahrscheinlichkeitsdiagnose Myelitis cervic»lis wurde der Kranke
sodann ins hiesige Gamisonlazarett überführt, wo er am Abend des 4. September
1905 eintraf. Die Abendtemperatur betrug 40,2^, die Pulszahl 116, die Zahl der
Atemzüge 38 in der Minute.
Hier schilderte der Kranke, welcher bei vollem Bewußtsein war, den bis-
herigen Verlauf seiner Krankheit entsprechend dem soeben angegebenen Inhalte
des später erholten Krankheitsberichtes vom Krankenhause zu W. Er gab Poch
an, daß er aus gesunder Familie stamme. Den übermäßigen Genuß von Alkt^oi
und geschlechtliche Ansteckung verneinte er.
W. äußerte keinerlei Schmerzen und klagte nur über das unangenehme
Gefühl, als stecke ihm ein Fremdkörper im Halse; er meinte, seine Sprache sei
anders als sonst und er atme schwerer.
Der erhobene Untersuchungsbefund war folgender:
(Besicht gerötet; die oberen Augenlider scheinen etwas schlaff zu sein: die
Pupillen sind eng, aber von gleicher Weite. Die Beaktion derselben auf Licht-
einfall (Kerzenlicht) ist linkerseits träge, rechterseits aufgehoben. Die Znnge ist
belegt und wird gerade herausgestreckt, die Zungenspitze rollt sich dabei nach
unten ein. Das Gaumensegel ist frei beweglich. Das Kinn kann nicht ganz der
Brust genähert werden und es besteht anscheinend geringe Nackensteifigkeit.
Die Wirbelsäule ist in ihrem ganzen Verlaufe nirgends druckempfindlich.
Ein Aufsetzen oder auch nur Umdrehen im Bette ist dem Kranken ohne
fremde Hilfe nicht möglich. Der Bauch ist etwas vorgewölbt aber nicht empfiad-
lich bei der Abtastung. Die Harnblase ist gefüllt. Harnentleerung ist spontan
nicht möglich.
Beide Beine sind vollständig gelähmt. Die rechtsseitige Schultermuskulatur,.
die Beuge- und Streckmuskeln am rechten Oberarm, sowie die Beuger der Hand
am Vorderann sind ebenfalls gelähmt: die Strecker der rechten Hand und die
Handmuskelu selbst sind gebrauchsfähig. An der linken oberen Gliedmaße snid
die Schultermuskeln völlig gelähmt, die Arm- und Handmuskeln sind frei.
Eine Prüfung des Empfindungsvermögens der Haut für alle Qualitäten
(leise Berührung, spitz und stumpf, kalt und warm) ergibt, daß dasselbe allent-
halben erhalten ist; auch eine Verlangsamung der Empfindung, Hyperästhesien
Laudry'sche Paralyse. 645
oder ParSsthesien sind nicht feststellbar. Die tiefe Sensibilität und das Gefühl
ffir die Lage im Baume sind nicht gestört.
Die Fußsohlen-; Kremaster-, Bauchdecken- und Pat«llarsehuenreflexe sind
nicht auslösbar.
Eine elektrische Untersuchung der gelähmten Muskeln hat nicht mehr statt-
gefunden.
Die Untersuchung des Herzens und der Lungen ergibt keine Besonderheiten.
Herztätigkeit und Atmung sind, wie schon erwähnt, beschleunigt.
Die Leber und die Milz sind nachweisbar nicht vergrößert. In dem mittel»
Katheter entleerten Harn ist weder Eiweiß noch Zucker nachweisbar.
Am Vormittag des 5. September 1905 war das Krankheitsbild das gleich»
wie am vorhergehenden Tage. Körpertemperatur 39,2®, Pulszahl 116, Atemzüge
36 in der Minute. Keine Klage über irgendwelche Schmerzen. Harnentleerung
durch Katheter.
Gegen 1 Uhr mittags stellte sich Atemnot ein; da der Kranke nicht im-
stande war durch leichte HnstenstÖße im Bachen angesammelten Schleim heraus-
zabefördem, mußte derselbe manuell entfernt werden. Es stellten sich Arti-
knlationsstörungen ein; der Kranke klagte über Sausen im linken Ohre und gab
an, auf diesem Ohre nichts mehr zu hören. Die Ausführung künstlicher Atmung
durch Zusammendrücken der unteren Brustkorbteile bewirkte bei der sichtlich
zunehmenden Atemnot vorübergehende Erleichterung.
Eine später vorgenommene Einspritzung von Kampferöl war, wie zu er-
warten, ohne Erfolg. Beabsichtigte Anwendung von Sauerstoffinhalationen kamen
nicht mehr zur Ausführung.
Gegen 5 Uhr nachmittags wurde bei zunehmender Cyanose des Gesichts die
Atmung immer oberflächlicher und mühsamer; die Muse, scaleni schienen allein
die Atmung zu besorgen. Das Bewußtsein, das bis dahin erhalten war, begann
zu sehwinden ; der Kranke redete verwirrt und unverständlich und reagierte nicht
mehr auf Anrufen.
Unter immer kleiner werdenden Atemexkursionen des Brustkorbes trat um
5 Uhr 40 bei hochgradiger Cyanose der Tod ein. Wenige Minuten vor Eintritt
des Todes war die Herztätigkeit auffallend kräftig, regelmäßig und von einer
Schlagzahl von 74 in der Minute.
Wenn ich den geschilderten Krankbeite verlauf noch einmal kurz
znsammenfaBse, so begann die Krankheit unter anfangs leichtem Fieber
mit Allgemeinbeschwerden, bestehend in heftigen Kopf- und Leibschmerzen
und allgemeinem schweren Krankheitsgefühl. Nach Schwinden dieser
stellte sich unter sunehmendem Fieber eine rasch fortschreitende Lähmung
der willkürlichen Muskulatur ein, welche mit Lähmung der Beine begann
und weiterhin die Bauch- und Kumpfmusknlatur, die Muskeln der Schul-
tem und teilweise auch der Arme und das Zwerchfell befiel; daneben
bestand von Anfang an Lähmung des Muse, detrusor der Harnblase und
in den letzten Stunden des Lebens auch Bulbärsymptome. Die Sehnen-
nnd Hautreflexe im Bereich der gelähmten Muskeln waren aufgehoben ,
eine Störung der Sensibilität war nicht nachweisbar ; insbesondere wurde
von dem Kranken über keinerlei Schmerzen geklagt.
Das Fehlen dieser zuletzt genannten Symptome und das Vorhanden-
sein der erwähnten Störung der Harnblasen funktion ließen den Oedanken
an eine Polyneuritis acuta, die ja bei der Diagnosen Stellung in Frage
kommen konnte, fallen und deuteten unzweifelhaft auf eine akute ausge-
breitete Erkriuikung des Rückenmarks hin.
IHese Auffassung wurde auch durch die von weiland Prof. Hans
Schmaus noch ausgetührte histologische Untersuchung des Rückenmarks
bestätigt.
Aus dem Obduktionsbefund sei hervorgehoben, daß eine mäßige Vergrößerung
646 XXXIII. 3. Mann u. Schmaos.
der Milz festgefltellt wurde. (Gewicht der Milz 200 g.) Sofort nach Heransnahme
des Rückenmarks nnd nach Eröffnung des Duralsackes sah dasselbe fi^uollea
ans; an verschiedenen Stellen waren <)uerverlaufende Wülste wahrzunehmen, so
daß es den Eindruck machte, als sei die Pia mater zu enge füf das von ihr nm-
schlossene Mark. Bei Querschnitten quoll das stark durchfeuchtete Mark vor nnd
ließ zahlreiche rasch zerfließende Blutpnnkte erkennen. Graue und weiße Substanz
waren gut zu unterscheiden.
Den nun folgenden speziellen makroskopischen und histologischen
Befand am ßückenmarke gebe ich wörtlich so wieder, wie er mir von
weiland Prof. S oh maus, der noch eine gemeinsame Veröffentlich ang des
Falles mit mir beabsichtigt hatte, übermittelt wurde:
„An dem in Formol fixierten Rückenmarke zeigen Querschnitte durch
den Halsteil, besonders im Bereiche der grauen Substanz und den anliegenden
Partien der weißen Markmasse in ziemlich reichlicher Anzahl kleine, punktförmige,
offenbar auf sogenannte Kapillarapoplexien zurückzuführende Blutungen ; am
reichlichsten sind dieselben im Bereich der grauen VorderhJSmer. Die normale
Querschnittszeichnung des Rückenmarks ist im übrigen gut erkennbar; auch die
Meuinffen lassen für das bloße Auffe keine wesentliche Veränderung: erkennen.
Mikroskopischer Befund: Derselbe ergibt eine starke zellige Infiltration
des Rückenmarks besonders in den VorderhÖmem, am stärksten wiederum im
Oervikalmark. aber auch in den tieferen Abschnitten der Medulla bis zum Lenden-
mark herab. Die Infiltratzellen zeigen weitaus zum größten Teil ausgesprochen
fragmentierte Kerne von der Beschaffenheit der Lenkocvtenkeme und meistens
eine rundliche Gestalt. Obwohl die Infiltration sehr dicht ist, lassen sich dodi
an vielen Stellen besonders starke Zellanhäufungen in der Umgebung der Blnt-
fefäße erkennen; da auch die adventitiellen und perivaskulären älume an soldien
teilen stark mit Zellen angefüllt sind, so erscheinen jene Zellanhäufnngen als
weitere Ausbreitung sogenannter perivaskulärer Infiltrate. Innerhalb der genannten
Räume finden sich teils mehrkemige, resp. polymorphkernige Leukocyten, teüs
kleine lymphocytenartige, einkernige Rundzellen, teils ^öUere, teils rundlidie,
teils längliche Formen mit verschiedenem Kern, der aber im allgemeinen von dem
der Gliazellen sich durch einen größeren Gehalt an Chromatinkömchen unter-
scheidet. Manche der Zellen sind mit Ausläufern versehen. Typische Plasma-
zellen im Sinne von Marschalko sind (Formolhärtnng !) nicht nachweis-
bar. Unter den im Nervengewebe liegenden Zellen finden sich ebenfalls ver-
schiedene Formen: Neben solchen, welche vollkommen dem Typus fragmentiert-
kemiger Leukocyten entsprechen, liegen andere, die ebenfalls fragmentierte oder
in Fragmentierung begriffene Kerne aufweisen, welche aber nach der Gestalt des
Zellkörpers viel eher als Gliazellen anzusprechen sind; die Zellkörper sind nicht
rund und scharf nach allen Seiten abgegrenzt, sondern weisen faserige Ausläufer
in mehrfacher Zahl auf, die auch selbst wieder verzweigt sein können und mit
ihren feinen Verästelungen sich zwischen die benachbarten Nervenfasern hinein-
erstrecken ; bei entsprechender Tinktion sind am Rand solcher protoplasmfttisch^
Ausläufer scharf gefärbte Fasern erkennbar, die offenbar Weigert 'sehen Glia-
fasern entsprechen. Die Kerne dieser — meist sehr feinkörnig strukturierten —
Zellen sind im ganzen meist etwas größer als die der Leukocyten ; häufig zeigen
sie sehr deutliche, an mit Toluidinblau und Eosin tingierten Präparaten ineta-
chromatisch gefärbte Nucleoli; das Chromatin bildet eine sehr feinkörnige ziemlich
dichte Masse, welche das Kerninnere gleichmäßig durchsetzt und an der Kem-
membran feine Kömchenreihen bildet. Von einfachen, rundlichen oder leiclit ge-
strekten Kernen mit glatter Wand bis zu leicht eingekerbten, tiefer eingeschnürten
und fast geteilten Kernen finden sich alle Übergänge.
Aber auch von Leukocyten sind solche Formen keineswegs immer mit
Sicherheit zu unterscheiden, weil sich auch Zellen finden, die nach Größe und
Struktur des Zellkörpers Gliazellen gleichen, aber abgerundet erscheinen, keine
Auslänfer mehr erkennen lassen und anscheinend wie auch die Zelleiber vieler
Leukocyten mehr oder weniger vakuolisiert sind. Auch in der weißen Substanz
zeigen viele Gliaelemente ähnliche Veränderungen (Anschwellung) wie jene der
grauen Substanz.
Landry'sche Paralyse. 647
Die Ganglienzellen sind großenteils erhalten, jedoch im Zustande feinkörniger
Tigrolyse.
Die 2iellen des Zentralkanals sind in Wucherung, sein Lumen ist an den
meisten Stellen ohliteriert; die umgehenden periependymären Zellen vermehrt, in
ihren Kernen von ähnlicher Beschaffenheit wie die Gliazellen.
Die weichen Häute zeigen im Sulcns anterior starke Infiltration um die
Blutgefäße herum, von ähnlichem Charakter wie die perivaskulären Infiltrate der
grauen Suhstanz.
Im ührigen findet sich an ihnen auch mikroskopisch keine besondere Ver-
änderung.
Die Osmierung von Formol-Gefrierschnitten ergibt ebenso wie die W e i g e r f sehe
Markscheidenförbung ein negatives Resultat, es läßt sich weder eine mit Osmium-
säure färbbare Substanz, noch eine Läsion der Markscheiden nachweisen; auch
mit Scharlach behandelte Gefrierschnitte lassen kein Fett nachweisen.
Der mikroskopische Befund ergibt also als wesentlichstes Resultat eine
starke kleinzellige Infiltration besonders der grauen Substanz der Vorderhömer;
die Infiltration ist auf Ansammlung von fra^entiertkemigen Wanderzellen zum
Teil aber auch auf Gliaelemente zurttckzuftlhren, wobei anscheinend ebenfalls
Fragmentierung von Kernen vorkommt. Die Infiltration ist nicht auf vorher-
gehendes Zugrundegehen von Nervenparenchym zurückzuführen, wenigstens lassen
sich Degenerationsprozesse nicht in demselben nachweisen."
Greifen wir aus vorstehender Krankengeschichte und dem patho-
logisch-anatomischen Befunde nochmals das Wichtigste heraus, so lag hier
ein Elrankheitsfall vor^ bei dem nach einleitenden Allgemeinbeschwerden
unter zunehmendem Fieber eine aufsteigende, schlaffe, schmerzlose
Lähmung der willkürlichen Muskulatur und des Muse, detrusor der Harn-
blase eintrat. Bewußtsein und Sensibilität waren nicht gestört.
Histologisch ist eine starke kleinzellige (perivaskuläre) Infiltration
besonders der Yorderhömer des Bückenmarks festgestellt worden. Auf-
fallende Degenerationszeichen an den großenteils gut erhaltenen Gbtnglien-
zellen und der weißen Markmasse fehlen.
Angesichts dieser Tatsachen und mit Bücksicht auf die bei der
Obduktion gefundene Milzschwellung unterliegt es wohl keinem Zweifel,
daß man es im vorliegenden Falle mit einer akuten infektiösen Polio-
myelitis zu tun hat, welche unter dem klinischen Bilde des Landry'schen
Symptomenkomplexes verlaufen ist.
Die beobachtete Lähmung der Harnblase ist wohl aus dem anatomi-
schen Befunde erklärbar, wenn man sich der Annahme nicht verschließt,
daß motorische Centren des glatten Muse, detrusor im Sakralmarke denselben
Schädigungen ausgesetzt waren, wie diejenigen der quergestreiften Musku-
latur in höher gelegenen Bückenmarksabschnitten. Vielleicht ist der
Krankheitsfall mit der anatomischen Grundlage einer Poliomyelitis ge-
eignet, die Annahme motorischer, ¥dllkürlicher Centren des Muse, de-
trusor vesicae in der grauen Substanz des Bückenmarkes wesentlich zu
stützen.
Die Ätiologie der Erkrankung ist unbekannt geblieben. Das Bücken-
mark selbst wurde bakteriologisch nicht untersucht. Eine vor Eröffnung
des Wirbelkanals ausgeführte sterile Punktion desselben ergab 10 com
klare, gelbliche Flüssigkeit, deren bakteriologische Untersuchung negativ
ausfiel.
Vermutlich ist die Ursache dieser schweren Erkrankung der grauen
Substanz des Bückenmarks in der Einwirkung toxischer Stoffe anbekannter
648
XXXIII. 3. Mann u. Schmaus, Landry'sche Paralyse.
Herkunft zu suchen, welche ihren schädlichen EinfluB in ausgewählter
Weise im Yerhreitungsgebiet der Art. apinal-anterior ausübten und zu
einer echten primären exsudatir-infiltrativen Entzündung vornehmlich der
grauen Yorderhörner führten.
Die dem Krankheitsprozeß im Kückenmark vorausgehenden Allgemein-
beschwerden — heftige Kopf- und Leibschmerzen — deuten vielleicht
darauf hin, die Quelle der Infektion im Magen-Darmkanal zu vermuten ^
wenngleich bei der Obduktion im Darme keinerlei auffallende patholo-
gische Veränderungen nachzuweisen waren.
\
Erklirnng der Figuren auf Tafel IT.
Figiir 1. Schnitt durch das Halsmark. Vorderhompartie mit Gefäßclurch-
schnitten und Inliltrationaherden. Vergrößerung: Zeiß Okular II. Objektiv AA.
Flgar 2. Schnitt durch das HalHmark. Gegend der grauen Kommissur:
Zellenwucherung um den Zentralkanal herum und schief durchschnittener Ast der
Arteria sulcocommissuralis mit starker perivaskulärer Infiltration. Vergrölierung::
Zeiß Okular U. Objektiv AA.
Figur 3. Schief durchnittener Ast der Arteria sulco-commissurali!» bei
stärkerer Vergrößerung. Vergrößerung: Zeiß Okular n. Objektiv DD.
Figur 4. Färbung nach Weieert. Lupenvergrößerung.
Figur 5. Partie aus dem rechten Vorderhorn des Halsmarkes. Gefäßdurch-
schnitt mit perivaskulärer Infiltration und große Vorderhorn ganglienzellen.
Deutsches Archiv f. klin. Medizin.
VerUg von F. C
Fig. 3.
/. Vogel In Ldpilg.
Druck von Rkhird Hihn (H. O(lo) In Leipzig.
XXXIV.
Besprechungen.
1.
Naunyn, Der Diabetes melitus. 2. Aufl. Wien. Holder 1906.
Das klassische Werk der zweiten Hälfte des vergangenen Jahr-
hunderts über den Diabetes ist in zweiter Auflage erschienen. Es faßt
in der Tat, wie kein anderes, den Stand unserer Kenntnisse zusammen,
die Vereinigung von Schärfe wie Umfang der Beobachtung mit Oröße der Auf-
fassung hebt es über alle anderen Darstellungen des Diabetes weit hinaus.
Die Jünger der Frerichs'schen Schule haben in Deutschland die natur-
wissenschaftliche Auffassung der inneren Medizin vertreten und gelehrt
und darin — man darf das wohl sagen -^- ihre vornehmste Aufgabe ge-
sehen. Es ist ein sonderbares Geschick, daß der Meister der Schule in
seinem Alter den Diabetes darstellte und daß der Meister der Jünger
dieser großen Familie von Gelehrten auch Forschungen über den Diabetes
zu seiner Lebensarbeit machte und diese schließlich mit der vorliegenden
wundervollen Monographie krönte. Durch beide Bearbeitungen zieht sich als
roter Faden die Zugrundelegung der Physiologie und Chemie. Aber nicht nur
im einzelnen sondern selbst im großen : Welcher Unterschied der Auffassung
zwischen beiden Werken ! So wie die Auffassung der Biologie im Sinne einer
exakten Wissenschaft den Weg vom Einfachen zum Komplizierten durch-
machte, so auch die Darstellung der Krankheitslehre als eines Teils der
Biologie. Die klinische Pathologie mußte die gleichen schweren Erfah-
rungen machen. Das, was man früher für relativ klar und einfach hielt,
hat sich als enprm kompliziert herausgestellt. Am Krankenbett tritt die
außerordentliche Variabilität und Variation der Krankheitsursachen sowie
die große Verschiedenheit der individuellen Organisation maßgebend her-
vor. Somit ist die Gewinnung allgemeiner theoretischer Vorstellungen
für die Pathologie zur Zeit schwieriger als je.
Die neue Auflage des N au nyn' sehen Buches bringt die alten be-
kannten Erfahrungen über den Diabetes genau so wie die Ergebnisse
der neuesten Forschungen, es berücksichtigt ebenso die Beobachtungen
des Krankenbettes wie die Resultate des Tierversuches. Nicht neben-
einander steht das Verschiedene, sondern es ist ineinander verbunden zu
einem großen Bau. In ihm wird der Physiologe ebenso wohnen wie
der Arzt seinen Platz hat. Die allgemeinen Störungen des Stoffwechsels
der Kohlehydrate werden mit der gleichen Liebe und der gleichen Meister-
schaft behandelt wie die speziellsten Fragen der Krankenbeurteilung und
Krankenbehandlung. Gerade dieses Werk möchte ich jedem Arzt zum
eindringlichem Studium empfehlen. Er wird den Diabetes, seine Er-
kennung, Beurteilung und Behandlung daraus wirklich lernen können,
soweit das überhaupt aus einem Buche möglich ist. Aber mehr noch
als das: er wird gleichzeitig die moderne theoretische Auffassung der
Krankheiten kennen lernen.
650 XXXIV. Besprechungen.
Die physiologiBch-cbemisohe Einleitung sowie der Znckemacliweis
iflt von Herrn Dr. Baer, Naunyn's langjährigen Assistenten verfaßt.
Krehl.
2.
Lenhartz, Jahrbücher der Hamburgischen Staatskranken-
anstalten. Bd. X. Jahrgang 1905. Hamburg und Leipzig.
Leopold Voß, 1906.
Der zwingende Eindruck, den man bei der Durchsicht der statisti-
schen Berichte so großer und erstklassischer Krankenhäaser erhält, wie
es die Hamburger sind, ist der des Staunens über die Fülle des Kranken-
materials, das sich dort den Ärzten bietet. Es muß schwer halten, über
ein solches Riesenmaterial die Übersicht nicht zu verlieren. Wem es
aber gelingt, der hat eine beneidenswerte Gelegenheit, nicht nur «seine
individuelle Erfahrung zu bereichern, sondern auch an klinischen Fragen
in großem Stile mitzuarbeiten. Daß esLenhartz versteht, seine große
Aufgabe zu meistern, dafür ist dieser neue Band der Hamburgischen
Jahrbücher ein besonders beredter Zeuge. Abgesehen von den inter-
essanten krankenstatistischen Zusammenstellungen bringt er eine Beihe
äußerst lesenswerter, klinisch wichtiger Abhandlungen, zumeist aus Ge-
bieten, auf denen Lenhartz in origineller Weise neue Wege ein-
geschlagen hat. So tritt er auf Grund einer großen Beobachtungsreihe
nochmals warm für seine neue Diätkur bei Ulcus ventriculi ein, die be-
kanntlich auch bei frisch blutenden Fällen von vornherein oder sehr bald
auf eine kalorisch hochwertigere eiweißreiche (geschlagene rohe Eier,
rohes Hackfleisch) und dabei wenig voluminöse Kost (Beschränkung der
Milch) hinausläuft. Die Frage der Vorzüge dieser Diät vor der Ziemßen-
Leube'schen Milchdiät untersteht noch der Diskussion. Aber sicherlich
müssen die Gründe, die der Autor zugunsten seiner Diät anfuhrt und
die er mit der Erfahrung an nicht weniger als 150 Fällen manifest
blutender Magengeschwüre stützt, zu einer allgemeinen Nachprüfung
seiner Methode Veranlassung geben. Bekannt sind auch die Ver-
dienste von Lenhartz um die Ausbildung der Lungenchirurgie, ins-
besondere um die operative Behandlung der Lungengangrän. Er läßt
durch seinen Sekundärarzt Kießling über die imponierende Zahl von
75 selbstoperierten Fällen berichten. Die Operationserfolge sind besser
als sie die meisten sonstigen Operateure aufzuweisen haben. Otten
teilt die Erfahrungen über 700 Fälle von Chlorose der Lenhartz-
schen Abteilung mit, aus denen ich besonders die Beobachtungen über
die relativ seltene Komplikation mit peripherer oder cerebraler (Sinus)
Venenthrombose, sowie die therapeutischen Erfolge der von Lenhartz
hier zuerst gemachten Lumbalpunktionen hervorheben will. Auch die
Aufsätze von Berger über diagnostische Sonderung echter Cholerafälle
von choteraäbnlichen, von Reye über Fälle septischer Endokarditis und
von Zipperling über infektiöse Wirbelentzündung (aus dem pathol.
Institut von Eug. Fraenkel) sind sehr bemerkenswert. In Summa ein
trefifliches Zeugnis des energischen Zuges und wissenschaftlichen Geistes
der an den Hamburgischen Anstalten herrscht. Moritz.
Verzeichnis der bei der Redaktion eingegangenen Böcher.
(Besprechung vorbehalten.)
Arrhenins, Immunochemie, Anwendungen der physikal. Chemie auf
die Lehre von den physiologifichen AntiJcÖrpem. Aus dem Eng-
lischen übersetzt von A. Finkelstein. 203 S. 1907, Leipzigs
Akadem. YerlagsgesellBchaft.
Bardeleben, Sanitätsrat, Chefarzt des Augusta-Hospitals in Bochum^
Erfahrungen über Cholecystektomie und Cholecystenterostomie
nach 286 Oallensteinlaparotomien. Mit 1 Tafel, 131 S. 4 Mk.
1906, G. Fischer, Jena.
Birnbaum, Privatdoz., Assistent an der TJnivers.-Frauenklinik, Göttingen ^
Das Koch'sche Tuberkulin in der Gynäkologie und Geburtshilfe.
131 S. 3 Mk. 1907, Berlin, J. Springer.
Grober, a. o. Prof. in Jena, Einführung in die Versicherungsmedizio.
178 S. 3,60 Mk. Jena 1907, G. Fischer.
Hasebroek, Dirig. Arzt des mediko-mechan. Zanderinstituts in Ham-
burg, Die Zander'sche mechanische Heilgymnastik und ihre An-
wendung bei inneren Krankheiten. Wiesbaden 1907, J. F. Berg-
mann.
Hayek, Assist, am pharmakol. Institut Innsbruck, Die Unverträglich-
keit der Arzneimittel, eine systematische Zusammenstellung un-
verträglicher Kombinationen der Arzneimittel. 265 S. 5,80 Mk.
Wien, Manz'sche Uni versitäts* Buchhandlung.
Hönck, Hamburg, Über die Holle des Sympathikus bei der Erkrankung
des Wurmfortsatzes. 180 S. 4 Mk. 1907, Jena, G. Fischer.
Höttger, Genußmitttel — Genußgifte? Umfrage bei Ärzten über
Kaffee u. Tee. 98 S. 1 Mk. Berlin, E. Staude.
Hoth's Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte auf dem
Gebiet des Militärsanitätswesens im Jahre 1905. 210 S. 5 Mk.
Berlin 1906, S. Mittler u. Sohn.
J. Schwalbe, Prof., Berlin, Therapeutische Technik für die ärztliche
Praxis, ein Handbuch für Arzte u. Studierende. 1. Halbband.
(Schluß Anfang 1907 erscheinend.) 352 S. Leipzig 1906,
G. Thieme.
Stern, a. o. Prof., Dir. d. med. Univ.-Poliklinik Breslau, Über trauma-
tische Entstehung innerer Krankheiten, Klinische Studien mit
Berücksichtigung der Unfall-Begutachtung. 2. AuH. 1. Heft^
Infektionskrankheiten, Krankheiten der K reislauf organe. 156 S.
3,50 Mk. 1907, Jena, G. Fischer.
652 VerzeicbniB der bei der Redaktion eingegangenen Bücher.
Wesen er, Prof., Oberarzt des städt. Krankenh. in Aachen. Lehrbach
der medizinisch-klinischen Diagnostik. 2. Aufl. 680 8. 18 Mk.
geb. 1907, Berlin, Jol. Springer.
Wolff, Sanitätsrat, Arzt in Berlin, Die Lehre von der Krebskrankheit
von den ältesten Zeiten bis zar .Gegenwart. 747 S. mit 52 Fi^.
im Text. 20 Mk. 1907, G. Fischer, Jena.
Zanietowski, Die Kondensatormethode. Heft 6 der zwanglosen Ab-
handlungen aus dem Gebiet der Elektrotherapie u. Itadiologie.
96 S. 2.80 Mk. Leipzig 1906, Ambrosius Barth.
Ziegler, Privatdozent, Assist, der mediz. Klinik in Breslau, Experi-
mentelle u. klin. Untersuchungen über die Histogenese d. myeloi-
den Leukämie. 125 8. 4,50 Mk. 1906. Jena, G. Fischer.
Zuelzer, Chemische u. mikroskopische Diagnostik, eine prakt. Ein-
fuhrung für Studierende und Arzte. Mit 109 Abbild. 256 8.
9 Mk. 1906, 'Leipzig, Ambrosius Barth.
Zweig, Spezialarzt in Wien, Die Therapie der Magen- u. Darmkrank-
heiten. 402 8. 10 Mk. 1907. Urban u. Schwarzenberg.
Druck von Lippert A Co. (G. Pätz'sche Bachdr.). Naambocg tS,
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