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Full text of "Deutsches Lesebuch"

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GESCHICHTE 


DER 


DEUTSCHEN  LITTERATUR. 


I 


i)EüT8cni:8  li:si:p>üch 


VON 


\V  I  L  II  K  L  M    W  V  C  Iv  1-:  W  N  A  (I  K  f.. 


VIERTER   TEIL.     ZWEITER   BAND. 


GESCHICHTE  DER  DEUTSCHEN  LlTTERATUß. 


IT.    BAINO. 


BASEL 

BENNO    SCHWABE. 
SCUWEIGIIADSKKISCME    VKRLAOSBUCIIUANDLUNO. 

MDCCCXCiV. 


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GESCHICHTE 

DER 

DEUTlSCHEN  littehatur 


EIN    HANDBUCH 


VON 


WILHELM   WACKERNAGEL. 


Zweite  Auflage 
Beu  bearbeitet  und  zu  Ende  geführt  von 

ERNST    MARTIN.  *», 


II.  BAIND. 


BASEL. 

BENNO    SCHWABE. 

SCHWEIGHAÜSERISCHE    VEBLAGSBUCHHANÜLÜNG. 

MDCCCXCIV. 


VORWORT. 


Indem  ich  die  Litteraturyeschkhte  W.  Wackerncujeh  bis  zum  Schlüsse 
führe,  erfülle  ich  ein  vor  mehr  cds  zwanzig  Jahren  gegebenes  Versprechen,  bei 
ivelcliem  ich  mir  allerdings  vorbehielt  andere,  bereits  angefangene  litter  arische 
Arbeiten  gleichzeitig  zu  besorgen.  Die  erste  Lieferung  des  II  Bandes  in 
der  neuen  Auflage  erschien  1885;  von  der  zweiten  an,  die  1889  veröffentlicht 
wurde  und  das  XVII  Jahrhundert  umfasste,  ivar  ich  auf  selbständige  Be- 
arbeitung angewiesen,  da  mir,  abgesehen  von  der  allgemeinen  Einleitung  zum 
XVII  Jahrhundert,  nur  ein  Collegienheft  Wackernagels  vorlag,  das  für  die 
spcetere,  so  umfangreiche  und  so  mannigfaltige  Litteratur  nicht  aus7-eichen  konnte: 
hat  doch  auch  für  die  ältere  Zeit  Wackernagel  seine  Vorlesungen  bei  der 
Drucklegung  völlig  umgearbeitet. 

Für  die  yieuere  Litteratur,  und  je  nceher  der  Gegenwart  um  so  mehr, 
schien  es  unstatthaft  die  Vollständigkeit  noch  lueiterhin  durchzuführen,  wie 
sie  bis  in  das  XVI  JaJu'hundert  erstrebt  ivorden  ist.  Eine  selbständige 
Kenntnis  der  gesummten  spceteren  Litteratur  zu  erlangen,  ist  schtver,  wenn 
nicht  überhaupt  nur  bis  zu  einem  gewissen  Masse  mceglich;  und  vielleicht 
noch  schwerer  ist  es  sie  übersichtlich  darzustellen.  Ich  habe  mich  hier  darauf 
beschränkt  die  Dichter  und  Schriftsteller  zu  behandeln,  ivelche  in  ihrer  Zeit 
angesehn  ivaren  und  auch  für  ims  noch  lüichtig  erscheinen  dürfen;  ich  habe 
aus  d^n  Schriften  über  sie  ausgewcehlt  was  eine  ncehere  Kenntnis  vermitteln 
kann;  ich  habe  in  allgemeinen  Übersichten  namentlich  die  Geschichte  der 
Sprache  und  Verskunst  im  Sinne  Wackernagels  tveiter  zu  führen  gesucht. 
Ich  hoffe  auf  diese  Weise  das  selbständige  Studium  der  einzelnen  Dichter, 
Gattungen  und  Formen  der  Poesie  doch  immer  erleichtert  zu  haben.  Aller- 
dings kann  ich  mir  nicht  verhehlen  dass  bei  einer  solchen  Austvahl  die  An- 
sichten über  das  Wünscheiisiverte  und  selbst  das  Notwendige  verschieden  aus- 
fallen können.     Wo  ich  gefehlt  habe,  mögen  die  Kenner  der  einzelnen  Gebiete 


VIII 


uarhsühfif/  Hrteileti:  ivird  dorh  (lach  anderrsrUs  in  Mouoiirttphion  selten  iw- 
merkt  was  Oesamtiüirstelhoif/en  für  das  Einzelne  Nems  geboten  Jmhen. 

Ich  habe  nicht  in  jedem  F(üle  nnyegeben,  was  ich  den  bibliofjrajiJiiscJien 
Ant/abe)t  Gmlekes  oder  den  Artikeln  der  ÄUf/emeinen  Deutschen  Biofjraphie 
verdanke.  Für  die  neueste  Zeit  ist  mir  Kürschners  Litter afurkaJender  meJir- 
fach  von  Nutzen  gewesen.  Überall  aber  war  es  mein  ernstes  Bestreben  die 
)nir  erreichbare  Litteratiir  selbst  kennen  zu  lernen. 

Dass  ich  die  Litterat urr/eschichte  bis  an  die  Gegenwart  heran  geführt 
und  nicht,  wie  es  sonst  meist  geschieht,  Gcethes  Tod,  einen  freilich  tiefen  Ein- 
schnitt, zum  Endziel  genommen  habe,  wcere  von  Wackernagel  wohl  nicht  ge- 
tadelt worden,  da  er  in  seinen  Vorlesungen  über  jenen  Zeitpunkt  Jiinaus  ging, 
auch  in  sei}iem  Lesebuch  voti  der  Litteiatur  seiner  eigenen  Zeit  noch  Proben 
gab.  Auf  dieses  Lesebuch  so  viel  als  moeglich  hinzuweisen  hielt  ich  für 
meine  P/tirJit :  sein  poetischer  Teil  ist  auch  von  spceteren  Werken  dieser  Art 
nicht  überboten  worden,  die  Prosaauswahl  hat  überliaupt  kein  Seitenstück  ge- 
funden. 

Es  mcegen  nun,  auch  abgesehen  von  der  niclir  oder  minder  umfassenden 
und  ausführlichen  Darstellung,  noch  manche  Verschiedenheiten  zwischen  der 
Geschichte  der  älteren  Litteratur,  wo  ich  Wackernagels  Grundlage  nur  zu  er- 
gänzen hatte,  und  meiner  selbständigen  Fortsetzung  obwalten,  um  dies  icohl 
schon  leusserlich  hervortreten  wird.  Li  den  Grundanschauungen  fühle  ich 
micJi,  gerade  in  Bezug  auf  die  Litteratur  unseres  Jahrhunderts,  eines  Sinnes 
mit  meinem  hochverdienten   Vorgänger. 

Strassburg,   Weihnachten  1893. 

Ernst  Martin. 


ÜBERSICHT  DES  INHALTES. 


Neuhochdeutsche  Zeit. 

§  91  G  r  u  n  d  z  ii  g  e :  Blüte  des  Dramas,  der  Prosa.  Bürger,  Gelehrte  als  Tneger  der  Litteratur. 
Lesen  überwiegt.  Schriftsprache.  Wendung  zur  Weltlitteratur.  Vergleich  der  Bau- 
kunst. Drei  Abschnitte:  I  das  XVI  und  XVII  Jahrh.  Luther  und  Opitz,  II  das 
XVIII  Jahrh.  Classicität,  III  Romantik  1. 

I.    ABSCHNITT. 

I  Abteilung:  Das  XVI  Jahrhundert. 

§  92  Allgemeines.  Buchdruckerkunst,  Studium  des  classischen  Altertums,  Reforma- 
tion.    Vorbereitungen.     M.  Luther  4. 

§  93  Sprache  der  sächsischen  Canzlei.  Schriftsprache.  Sprachlehren  und  Wörterbücher. 
Hochdeutsche  Hauptsprache.  Mundarten.  Grammatische  Eigenheiten  desXhd.:  Dehnung 
der  Stammsylben.  Diphthongierung  langer  Vocale,  Vereinfachung  von  Diphthongen, 
Consonanten  im  Auslaut  denen  im  Inlaut  angeglichen,  s  vor  Cons.  zu  seh,  im  In- 
und  Auslaut  mit  r-  vermischt.  Niederdeutsche  Einflüsse.  Ableitung  seltner,  Zu- 
sammensetzung häufiger.  Missverständliche  Umbildungen.  Schwache  Declination  und 
ablautende  Conjugation  verwirrt.  Metrik  nach  antikem  Muster  abgeändert.  Inter- 
punction.     Deutsche  (Mönchs-)  Schrift  8. 

§  94  Gelehrsamkeit.  Lateinische  Dichtung.  Fremdwörter,  Namen  latinisiert.  Italienische 
und  französische  Einflüsse.     Gebildete  und  Volk  geschieden  27. 

§  9.'j  Volkslied:  episch  und  lyrisch.  Fliegende  Blätter.  Liederbücher.  Gesellschafts- 
lieder. Formen  der  welschen  Ton-  und  Dichtkunst.  Die  Veifasser  nennen  sich. 
Sprecher  und  Singer,  durch  kaiserliche  Verbote  betroffen  .35. 

§  96  Poetische  Prosa  des  Volks.  Sprichwörter,  Esetsel,  Waidsprüche,  Sprüche  der 
Handwerksgesellen  42. 

§  97  Meistergesang  der  Handwerker.  Singschulen,  Tabulaturen,  Sammlungen.  Meister, 
wer  ein  bar  vortragen  konnte.  Künstlichkeit,  Lehrhaftigkeit.  Wechselwirkung  mit 
der  Volkspoesie  43. 

§  98  Hans  Sachs  verbindet  Volkstümlichkeit  und  die  neue  Bildung.  Meistergesänge, 
Sprüche  und  Gespraeche,  Fabeln  und  Parabeln.  Schwanke.  Spiele,  Tragcedien.  Be- 
sonders gut  die  Fastnachtspiele  48. 

§  99  Poesie   der  Gelehrten.     Epik.     Volkstümliche    Stoffe    seltner   als    geschichtliche. 
Zeitungen.     Reinike  Fuchs.     Thomas  Murner.    Fabeln:  Alberus,  B.  Waldis.    Rollen- 
hagen.    Geistliche  Epik:  Ringwaldt,  Andrese  55. 
§  100  Job.  Fi  schart:  erzaihlende   und  lehrhafte  Gedichte.     Komische  Epik.     Widmann: 
Peter  Leu,  Laz.  Sandrub,  Wolfh.  Spangenberg  66. 


X 

§  101  Sprir  hwört  e  r  ,  rriaiiipln,  Loberreiinp.     Rtetsel  (J.  Sommer)  75. 

§  10"J  MararoniHohe  Poesie:  FiHchart  u.  a.  7H. 

§  10."J  Kirchenlied:  verntummt  in  der  katlioüsolien  Kirche.  Luther«  eigne  und  uin- 
gedichtete  Lieder.  Spsetere  weniger  lyrisch.  Keformierte  hcHchriinken  sieh  bald  auf 
die  Psalmen:  P.  Melissas,  A.  Lobwasser  80. 

§  104  Weltliche  Lyrik  der  Gelehrten:  Theob.  Hock.  Studenten- und  Martinslieder. 
Franz.  Vorbihl:  Fiwchart  u.  a.  P.  Melissus  (Sonett).  Zincgref.  E.  Schwabe  von 
der  Heide:  accentuierender  Vers  81». 

§  105  Drama.  Das  geistliche  von  den  Protestanten  verlassen :  das  antike  Vorbild  nach- 
geahmt. Schuhuünuer  und  Geistliche  als  Dichter.  Besonders  in  der  Schweiz  gepflegt. 
Übersetzungen  aus  Terentius  u.  a.  Unterscheidung  von  Trag<rdie  und  Comoedie, 
Tragicocomii'dia.  Acte  und  Scenen.  Untergang  des  Fastnachtspieles.  Stoff  selten 
au«  heimischer  Sage,  öfters  au«  antiker.  Meist  aber  biblisch,  besonders  aus  dem 
A.  T.  Didaxia  und  Satire  eingemischt,  meist  kirchliche  (N.  Manuel).  Gesang  und 
Musik  wirkt  ein,  antiker  und  wälscher  Versbau  (P.  Rebhun).  Die  Aufführungen 
als  Staats- oder  Stadtaugelegenheit.  Junge  Bürger  als  Darsteller.  Komische  Elemente: 
Narren.  Spjeter  Schüler  in  lateinischen  Dramen  (N.  Frisclilin),  Meistersänger, 
Liebhaberge><ell8chaften.     Lesedramen  93. 

§  106  Das  englische  Schauspiel  wirkt  ein.  H.  Heinrich  Julius  von  Braunschweig. 
Jac.  Ayrer  d.  ä.  Possenspiele  und  Singspiele.  Englische  Comoedianten  und  deutsche 
Schauspielertruppen  106. 

§  107  Prosa,  durch  die  Gelehrten  gefördert.  Romane.  Übersetzungen.  Volksbücher: 
Faust,  Eulenspiegel,  Finkenritter,  Schildbürger.  G.  Wickram.  Novellensamm- 
lungen: Job.  Pauli,  H.  W.  Kirchhof  u.  a.     W.  Büttner  (Claus  Narr)  123. 

§  108  Geschichtsschreibung.  Lateinische:  Job.  Sleidanus,  Beatus  Rhenanus.  Deutsche 
besonders  in  der  Schweiz:  Aeg.  Tschudi.  Job.  Stumpf.  Seb.  Münster,  Seb.  Franck. 
M.  Quad,    Joh.  Thurnmayer.    Landeschroniken,    L^ljensbeschreibungen,    Reisen    131. 

§  109  Beredtsamkeit.     Predigt:  Luther,  Mathesins.     Fastnachtpredigten  137. 

§  110  Lehrhafte  Prosa.  Juristische:  Joh.  von  Schwartzenberg.  Übersetzungen.  Ge- 
sprsechlonn,  Briefform :  Luther.  Seb.  Franck.  Joh.  Arndt.  Jac.  Boehme.  Mathematik 
und  Naturwissenschaften :  Paracelsus,  Dürer  140. 

§  111  Sprichwörtersammlungen:  Joh.  Agricola,  Seb.  Franck;  Fried.  Petri,  Chph. 
Lehmann,  Joh.  Sommer,  Zincgref  146. 

§  112  Fisch arts  Prosaschriften  148. 

§  113  Rück-  und  Vor  blick.  Sieg  der  gelehrten  Litteratur  behonders  durch  die  Prosa. 
Die  Volkslieder  verklingen,  der  Meistergesang  verkümmert.  Gesungene  Dichtung  ist 
nur  noch  das  Kirchenlied.  Volksdramen  und  Volksbücher.  Die  letzten  Reste  der 
Volkspoesie.  152. 

n  Abteilung:  Das  XVII  Jahrhundert. 

§  114  Ausländerei:  Reisen,  Moden,  Sprachmengerei.  Gegenbestrebungen.  Sprachgesell- 
schaften :  Fruchtbringende  Gesellschaft  u.  a.  Wissenschaftlicher  Gebrauch  des 
Deutschen :  Ratichius,  Helvicus.  Sprachwissenschaftliche  Studien  :  Freher,  Goldast, 
Junius,  Resenius,  Morhof,  Leibniz,  Schilter,  Scherz.     157. 


XI 

§  115  Litte  ratur.  Teilnahme  der  Fürsten  uud  Frauen.  Dichterkroenungen.  Zurück- 
treten der  confessionellen  Streitigkeiten  und  der  lateinischen  Verse.  Galante  Dichtung. 
Übersetzerthsetigkeit.  Verachtung  der  Volkspoesie:  Pritschmeister.  Der  SOjsehrige 
Krieg  kein  Hemmnis  für  den  Aufschwung  der  Litteratur.  Deren  Sitz  Nordostdeutsch- 
land. Protestantischer  Sinn.  Luthers  Sprache  Richtschnur.  Mundartliche  Reime. 
Komische  Dialectpoesie.     162. 

§  116  Prosa  nachlässiger.  Schwerfälligkeit  des  Canzleistils.  Beredsamkeit  bei  Staats- 
bandlungen gepflegt,  sonst  nur  im  Roman  Sorgfalt  und  Eifer.    167. 

§  117  Lyrik  Hauptgattung  der  Poesie.  Trennt  sich  mehr  und  mehr  von  der  Musik. 
Poesie  Nebenbeschäftigung.  Unwirklichkeit  der  besungenen  Liebesverhältnisse. 
Dichtung  für  andere,  Entlehnung  und  Nachahmung,  antike  Mythologie  selbst  im 
geistlichen  Lied.  Diese  Gattung  von  allen  gepflegt.  Lehrhaftigkeit,  wenn  auch  als 
Arten  des  Lehrgedichts  fast  nur  Satire  und  Epigramm  gebraucht  werden.  Im  Epi- 
gramm Priamelform.     Gelegenheitsdichtung,  viel  gerügt  und  doch  geübt.     169. 

§  118  Epik  noch  in  Geschichtsliedern,  die  doch  wsehrend  des  Kriegs  zusehends  ab- 
nehmen. Sonst  kaum  gepflegt:  Fabel  ganz  selten.  Theorie  des  Epos ^  unklar. 
Epische  Versuche  (Hohenberg  u.  a.)  spgerlich  und  meist  Übersetzungen ;  blieben 
unbeachtet.     175. 

§  119  Drama  beliebt,  aber  roh,  vom  Ausland  abhängig.  Schauspielerdrama  übertrieben, 
miischt  Komik  auch  in  die  Tragoedie.  Puppentheater.  Dichterdrama,  geht  vielfach  in 
die  Oper  über.     SchulauflÜhrungen.     178. 

§  120  Gelehrsamkeit  auch  in  dem  theoretischen  Betrieb  der  Dichtung.  Poetik:  Opitz, 
Hanmann,  Buchner,  Titz ;  F.  Ludwig  von  Anhalt,  Schottelius,  Neumark ;  Zesen, 
(Bellin) ;  Harsdörfer.  Birken,  Omeis;  Sacer,  Weise;  Feind,  Hunold,  J.  G.  Neukirch. 
Litteraturgeschichte:  Morhof,  Neumeister.  Grammatik:  Schottel,  Boediker, 
Frisch,  Stieler.  Purismus.  Metrik:  Beachtung  des  Sprachaccents  beim  Versbau. 
Frühe  Verwechselung  des  Accents  mit  der  Quantität  der  alten  Sprachen.  Dactylen. 
Antike  Strophenformen  (Aisted.  Brandmüller).  Alexandriner.  Sonett  u.  ae.  Madrigal : 
Ziegler.  Bildverse,  Anagramme.  Allegorie,  Mythologie.  Anmerkungen  den  Gedichten 
beigegeben.  Die  Deutsche  Renaissancepoesie  geht  von  der  Nachahmung  der  Alten 
zu  der  der  Franzosen  über.     180. 

§  121  Opitz.  Leben.  Verdienste  um  die  Form.  Oden.  Lehrgedichte.  Im  Drama  nur 
Übersetzer.     Schgeferei  von  der  Nymphe  Hercynia.     197. 

§  122  Weckher lin.  Oden  im  Hofdienst  und  Liebeslieder.  Strassburger  Tannengesell- 
schaft: Freinsheim,  Rumpier,  Schneuber.  Schwaben  und  Schweiz:  Wieland,  Stettier, 
Traunsdorf,  Simler.     203. 

§  123  Spee:  Verskunst  vielleicht  aus  dem  Volkslied  geschöpft,  kirchliche  Zwecke.  Lau- 
rentius  von  Schnüflis.  Bälde:  Lateinische  Gedichte  hohen  Stils,  Rohheit  der  deutschen. 
Jesuitenpoesie.     209. 

§  124  Dichter  der  Fruchtbringenden  Gesellschaft:  Hübner,  Werder,  Buchner, 
Gueintz,  Schottelius.  Homburg,  Neumark.  Deutschgesinnte  Genossen- 
schaft: Zesen,  Lyrik  und  Roman,  (v.  Rosenthal.)  Schwanenorden:  Rist, 
Drama  und  Kirchenlied.     Hoevelen.     (Andere  Gesellschaften.)     213. 

§  125  Hirten-  und  Blumenorden  an  der  Pegnitz.  Schseferliche  Einkleidung.  Hars- 
dörfer, (Hellwig),  Klaj,  Birken,  Omeis,  Fürer.     223. 


XII 

§  12(>  Flpininji;,  (Meariut«.  SachHiwli-liniiiburgiMrlir  Sliidpnten- und  SoldatenpoPHie:  Finckelt- 
hau«,  Hifhiiip,  S<'hoch,  Schirnipr,  Schwiger.  (Der  RudolHtiedter  Dramatiker  Filidor.i 
(ireflinger,  Lund,  Voijjtliinder.     22M. 

§  127  Sihlesit'r:  ScultetUH,  SclierHer,  Tsthernin^',  Titz.  PreusHen  :  PlaviuB;  Dach,  Rohertin, 
Albert,  Kaltenbach,  Köling;  Kein]»e,  Konpebl,  Müllerin.  Brandenburg:  Peucker.    233. 

^  128  Geistliches  Lied:  «ubjertiv.  Kefonuirte:  Luise  Henriette  v.  Brandenburg  (n.  a. 
Fürstinnen.  Sibylle  Scbwarz  .  Neander.  Lutheraner:  Rinekart,  Hecnnann,  P.  Ger- 
hardt, J.  Franck,  B.  Schuiolcke.  Pietisten:  Zinzemlorf,  Spener,  Francke,  Freyling- 
hausen, Tereteegen.     Mystiker:  Knorr  von  Rosenroth.  Kulilmann.     238. 

§  120  Epigramm:  Löbers  Owenns.  Logau ;  Czepko.  Scheffler  =  Angelus  Silesius:  .T. 
Grob  =  Reinhold  v.  Freienthal.     244. 

§  l.'JO  Satire:  Anna  Owena  Hoyers;  Lauremberg:  Rachel.     24«. 

§  l."Jl  Satirische  Prosa:  Albertinus;  Moscherosch.  (Kindermann):  Schnppius;  U.  Megerle 
=  Abraham  a.  S.  Clara.  Bekämpfer  des  Volksaberglaubens:  Pnstorius,  Schmidt, 
Francisci.     Callenbach.     25L 

§  132  Tragoedie:  A.  Gryphius.     Lyrik,  Trauerspiel,  Lustspiel.     2.')6. 

§  133  Zweite  schlesische  Dichterschale:  Hofnmn  von  Hofmanswaldau,  Lohen- 
stein, Abschatz,  Mühlpforth,  Hallmann,  Haugwitz.     261. 

$  134  Roman:  Buchholtz,  Anton  Ulrich  v.  Brannschweig,  H.  A.  von  Ziegler  und  Klip- 
hauseu:  Happell,  Bohse  =  Talander.  Schelmenroman  nach  spanischem  Muster: 
Grimmelshaasen.     Robinsonade:  Insel  Felsenburg.     Reuters  Schelmuff'sky.     265. 

§  13.')  Ch.  Weise,  Lyrik,  Koman,  Schuldrama.  'Politische'  Nachahmungen.  Lyriker:  Ch. 
Gryphius,  Hunold  =  Menantes,  B.  Mencke.     270. 

§  136  Hofpoesie  im  französischen  Geschmack:  v.  Canitz,  B.  Neukirch:  Wernicke  und 
sein  Streit  mit  Postel  und  Hunold;  v.  Besser,  K(pnitr:  Heraeus.     274. 

§  137  Schausp  i  ele  r  dr  a  ma  naih  dem  Kriege  neubelebt.  Truppen:  Veiten.  (Hamburger 
Theaterstreit.)  Ausländische  Muster.  Oper  (Geller  und  Dedekind  in  Dresden,  Bressand 
in  Braunschweig).     Oratorium.    Jesuitendrama.    Volksschauspiel  in  der  Schweiz.    277. 

§  138  Wissenschaftliche  Prosa:  Leibniz,  Ch.  AVolff,  Thomasius.  Geschichtschreibung: 
Mascou,  Gundling.  Kirchengeschichte:  Arnold.  Erbauliche  Prosa:  von  Butschky, 
Scriver,  Spener;  Martin  von  Cochem.  Religioeser  Grundzug  der  Litteratur  auch  des 
17.  Jahrhunderts.     282. 

II.    ABSCHNITT. 

Das  XVIII  Jahrhundert. 

§  139  Richtung  des  Jahrhunderts  auf  Philosophie,  Aufklärung,  Befreiung  des  Ein- 
zelnen von  Kirche  und  Staat.  Nationalgefühl  und  Humanitfet.  Litterarische  Kritik. 
Lehren  und  Muster  des  Auslandes.  Letztes  Ziel:  Verschmelzung  der  Weltcultur  und 
der  deutschen  Volksart.  Abschnitte  um  1740,  1770,  It^OO,  durch  heftige  Kämpfe 
bezeichnet.     S.  287. 

§  140  He  imstätte  n  deutscher  Dichtung:  Universitaeten,  Akademien,  HiBfe.  Teil- 
nahme der  Frauen.  Dichtende  Offiziere,  Kaufleute,  Schauspieler.  Zeitschriften: 
moralische  Wochenschriften,  litterarische  Zeitschriften  und  Sammlungen.  Erneuerung 
der  altdeutschen  Dichtung.     293. 


XIII 

§  141  Sprache:  Laut-  und  Biegungsformen.  Gottsched,  Adelung.  Rechtschreibung:  Klop- 
stock.  Wortwalil  und  Satzbildung.  Dicbtersprache.  Gottscheds  Beschränkuno-  nach 
franzu'sischera  Muster.  Bodmer  und  Breitinger:  Machtwörter.  Klopstock,  Wieland. 
Lessing,  Herder,  Goethe,  Schiller.     Mundartliche  Dichtung.     303. 

§  142  Verskunst.  Prosaform  in  Dichtungen,  Wechsel  von  Prosa  und  Versen.  Irrtümliche 
Gleichsetzung  vou  Tonstärke  und  Länge.  Verwerfung  des  Reims.  Beseitiguno-  der 
Alexandriner.  Jambische  Trimeter.  Füntfüssige  Jamben.  Vierlüssler,  Hans  Sachsische 
Versart.  Trochseische  Achtfiissler.  Dactylus :  Hexameter,  Distichon.  Strophenformen. 
Kunst  der  Declamation.  Freie  Rhythmen.  Sonett.  Stanze.  Strophe  des  Volksliedes. 
Schwebende  Betonung.     309. 

§  143  Epik.  Religioftses,  historisches,  romantisches,  komisches  Epos.  Fabel  und  kleine 
Erzsehlung.  Parabel  und  Legende.  Idylle.  Romanze  und  Ballade.  Lieder  auf  Zeit- 
ereignisse.    Bardendichtung.     Roman  in  Prosa.     323. 

§  144  Lyrik.  Für  den  Gesang:  Kirchenlied,  Cantate,  Oratorium;  geselliges  Lied.  Ohne 
Musikbegleitung:  Lehrgedicht,  Landschaftsdichtung.  Lieder  mit  epigrammatischer 
Spitze;  spätere  volksliedniiBssig.     Ode,  Elegie,  Epistel,  Satire,  Epigramm.     329. 

§  145  Drama.  Das  Volksdraraa  wird  beseitigt,  das  Schuldrama  beschränkt.  Das  Schau- 
spielerdrama herrscht  bis  1730,  kämpft  bis  1770  mit  dem  Dichterdrama.  Hauswurst- 
komoedie,  Puppentheater.  Inhalt  und  Darstellungsweise  der  Schauspielerdramen.  Das 
regelmsssige  Drama  und  seine  Gattungen:  Tragiiedie,  Komredie,  Schseferspiel:  rührendes 
Lustspiel:  bürgerliches  Trauerspiel,  ernstes  Lustspiel;  Historien  nach  Shakespeares 
Art;  Jambentragoedie.     Oper:  Operette.     Bnchdrama.     334. 

§  146  Prosa  des  Verstandes.  Geschichtsschreibung  bleibt  zurück.  Autobiographie. 
Geschichte  der  Kunst.  Abhandelnde  Prosa.  Popularphilosophie.  Beredtsamkeit. 
Prediger:  Mosheim,  Jerusalem,  Spalding,  Reinhard.  Streitschriften.  Dialog.  Brief- 
form.    344. 

§  147  Neue  Aussichten:  Günther:  Brockes,  Hagedorn;  Drollinger,  Spreng,  Haller.     347. 

§  148  Gottsched.  Henrici,  Pietsch,  Frau  Gottsched,  Grimm,  Quistorp,  B.  E.  Krüger,  J.  Ch. 
Krüger,  Detharding,  Schrenaich,  Reichel,  Triller,  Schwabe.  Mylius.  Gottscheds 
Gegner:  Liscow,  Rost  i^Lamprecht).     356. 

§  149  Bodmer  und  Breitinger.     Sulzer.     368. 

§  150  Preussische  Dichterschule :  Baumgarten,  Meier,  Pyra,  Lange,  Gleim,  Uz,  Götz,  E.  Ch. 
V.  Kleist,  Ramler  (Ephraim  Kuh),  die  Karschi n.  —  Gessner.     375. 

§  151  Sachs  i  sehe  Dichterschule,  die  Bremer  Beiträge :  Geliert,  Rabeuer,  Zachariae,  Ebert, 
Giseke,  J.  A.  Gramer,  J.  E.  Schlegel,  J.  H.  und  J.  A.  Schlegel.  —  Kästner,  Lichtwer  387. 

§  152  Klopstock.     399. 

§  153  Wieland  (Sophie  la  Roche).     407. 

§  154  G.  E.  Lessing  (K.  Gi  Lessing,  Bode,  Klotz,  Reimarus).     414. 

§  155  Gleichzeitige  Dichtung.  Nachahmer  Hallers:  Withof,  Creuz;  Klopstocks :  Lavater, 
Gerstenberg.  Ossian  und  die  Bardendichtung :  Denis  (Mastalier\  Kretschmauu 
(Hartmana).  ^Nachahmer  Ramlers:  Willamov ;  Gleims :  J.  G.  Jacobi,  Michaelis, 
Klamer  Schmidt :  Wielands  :  Nicolay  ;  Gellerts  :  PfefFel ;  im  Drama  :  Weisse.  Sing- 
spiel: Schiebeier,  Eschenbnrg.  Tragcedie  :  Cronegk.  Lessiugs  Schüler:  Brawe,  Ayren- 
hoff.  Wielands  Xachfolger :  Thümmel,  Museus,  J.  G.  Müller.  Roman  :  Hermes, 
Hippel.     424. 


XIV 

§  1.%  Abhandelnde  Pro8a  »elbständiger :  Winckelinann.  LesHinj^«  Freunde:  Mendeln8ohn, 
Nirolai.  Abbt,  Garve,  Engel,  Liiiitenbeig.  Sonnenfei«,  BaHedow.  Iselin,  Hirzel, 
Zimmermann  (Knigge,  Bahrdt).     Sturz.     M(E«er.     Moser.     Haman.     Kant.     431>. 

§  If)?  Herder.     453. 

§  l.'>8  Claudius,  Bürger  (Raspe"),  Göckingk,  Bnic  (Dohm').  Göttinger  Dichterbund :  (J.  F. 
Huhn,  Schoenborn),   Voss,  die  Brüder  Stolberg,  Hülty,  .Miller,  Leisewitz.     462. 

§  159  Rheinischer  Litteraturkreis,  Stu  rm  und  Drang:  Schubart  (Wekhrlin,  Klein),  Maler 
Müller,  Lenz,  Klinger,  Wagner  (L.  Ph.  Hahn),  Jung-Stilling,  Schlosser,  Merck,  F.  H. 
Jacobi,  Heinse.     472. 

§  100  Go'the  (Knebel).     486. 

§  161  Schiller.     503. 

§  1G2  Lyrik  der  letzten  Jahrzehnte  vor  1800.  Idylle:  Bronner.  Dialectdichtung:  Hebel. 
Usteri,  Gruebel.  Kosegarten.  Landschat'tsdichtung :  Matthisson  (F.  Brun),  Salis-Seewis, 
(F.  A.  W.  Schmidt).  Seunie.  (iedankenlyrik  nach  Schillers  Vorbild  :  (Tiedge,  Elise 
V.  d.  Recke),  Hölderlin.  Nachahmer  Wielands:  Baggesen,  Falk,  AIxinger,  Blumauer. 
Kortüni,  Langbein.     Epigramm  :  Hang.     513. 

§  163  Drama.  Ritterdrama:  J.  Maier,  v.  Törring,  Babo,  v.  Soden  (Ziegler).  Bürgerliche« 
Schauspiel :  Brandes  (Goue),  Möller,  Stephanie,  v.  Gemmingen,  Grossmann.  Schroeder, 
IfHand,  Kotzebue.  Gotter.  Zauberposse :  Hensler.  Trago'die  nach  franzoesischem 
Muster:  CoUin.     522. 

§  164  Ritter-  und  Rjeuberroman:  Spiess,  Cramer,  Wächter,  Vulpius.  Familienroman:  La- 
fontaine. Humoristischer  Roman:  Jean  Paul  F.  Richter  (Benzel-Sternau,  E.  Wagner). 
Volksromau:  Pestalozzi.  Geschichtschreibung:  Job.  Müller.  Erdbeschreibung:  Forster. 
Kuustlehre  :  Moritz,  W^.  v.  Humboldt.     531. 

III.    ABSCHNITT. 

Das  XIX  Jahrhundert. 

§  165  Grundzug  des  19.  Jahrhunderts  das  Streben  nach  Bildung.  Historische  Neigungen. 
Politische  Bestrebungen.  Abschnitte:  I  Drittel:  Romantik.  II  Drittel:  Tendenz- 
poesie und  Realismus.  Das  Jahrhundert  erweitert  die  Teilnahme  an  der  Litteratur; 
ein  Schriftstellerstaud,  durch  die  Zeitungen  gestützt.  Gattungen:  Lyrik  nach  an- 
fänglicher Blüte  zurückgetreten.  Drama  manigfaltig,  durch  di"  Entfaltung  der  Oper 
beeinflusst.  Roman  und  Novelle  massenhaft  und  verschiedenartig  ausgeprägt.  Ge- 
schichtschreibung, Redekunst.     Sprache  und  Versbau.     539. 

§  166  Die  romantische  Schule  und  die  Philosophie  des  Idealismus:  Fichte, 
Schelling.  A.  W.  Schlegel  (Gries),  F.  Schlegel,  Bopp :  Schleiermacher.  Novalis, 
Albertini.     Tieck,  Solger,  AVackenroder,  Steffens,  Rumohr.     549. 

§  167  Die  jüngeren  Romantiker  und  die  Begründung  der  deutschen  Altertums- 
wissenschaft: Brentano.  Luise  Hensel.  Görres.  Arnim.  Bettina.  Savigny. 
J.  und  W.  Grimm.     Lachmann.     (v.  d.  Hagen.)    Schmeller.    Chland.    Lassberg.    567. 

§  168  Phantastisches  Drama.  H.  v.  Kleist.  Z.  Werner.  Klingemann.  Oehlen- 
schlaeger.     576. 

§  169  Patriotische  Schriften  und  Lieder.  Gentz.  E.  M.  Arndt.  Körner.  Stsgemanu. 
Schenkendoi-f.  Turner  und  Bui-schenschafter:    Jahn.  Brüder  Folien.    Massmauu.     583. 


XV 

§  170  Erzaehlende  Dichtung  nach  den  Freiheitskriegen  in  Versen:  Fouque. 
E.Schulze.  Pyrker;  i  n  P  rosa :  Hoffmann.  Clauren.  Zschokke.  Hegner.  Mosen- 
geil.     Tromlitz.     v.  d.  Velde.     Spindler.     Karoline  Pichler.     Immermann.     589. 

§  171  Bühnendichtung.  Schicksalstragcedie  :  Müllner.  Houwald.  Historische  Tragoedie : 
Uechtritz.  Raupach.  Berliner  Lustspiel:  Angely.  Blum,  Töpfer.  Auffenberg. 
Robert.  Beer.  Schenk.  Grillparzer.  Zedlitz.  Wiener  Lustspiel:  Castelli,  Bieuerle. 
Volksbühne:  Raimund.     Xestroy.     Dialectstücke :  Holtei.     Arnold.     Malss.     599. 

§'l72  Schwteb  ische  Dichterschule:  Uhland.  Kerner.  Schwab.  Hauff.  Waiblinger. 
Moericke.  Bauer.  Notter.  Mayer.  G.  und  P.  Pfizer.  Geistliche  Liederdichter : 
Knapp.  Gerok.  Ausserhalb  Schwabens :  Spitta.  Sturm.  Fabeldichter :  (Hey). 
Froehlich.  A.  von  Droste-Hülshoff.  Romanzen-  und  Balladendichter:  Seidl.  Vogel; 
Ebert.     Bube,     Bechstein.     Simrock.     Aug.  und  Ad.  Stoeber.     607. 

§  173  Fränkische  Dichter:  Rückert.  Platen.  Nachahmer:  K.  Ludwig  von  Bayern. 
Schefer.     v.  Sallet.     618. 

§  174  Norddeutsche  Lyriker:  Eichendorf.  W.  Müller.  Reinick.  Kopisch.  Chamisso. 
Gaudy.     Heine.     627. 

§  175  Wissenschaftliche  Prosa.  Die  üniversitaet  Berlin.  Philosophie:  Hegel. 
Herbart.  Schopenhauer.  Feuerbach.  Theologie:  Neander.  Strauss.  Geschichte: 
Niebuhr.  Raumer.  Ranke.  Dahlmann.  Philologie.  Naturwissenschaften :  A.  v. 
Humboldt.     Geographie:  Ritter.     637. 

§  176  Das  zweite  Drittel  des  Jahrhunderts  der  Politik  zugewandt.  Fürst  Pückler-Muskau. 
Varnhagen.  Rahel.  Saphir.  Börne.  Das  junge  Deutschland.  Wienbarg. 
Kühne.     Mundt.     Gutzkow.     Laube.   Rüge.   Prutz.    Gottschall.   .Julian  Schmidt.-  645. 

§  177  Politische  Lyriker.  Oesterreicher:  A.  Grün.  Lenau.  Beck.  Meissner.  Hart- 
mann.  Lorm.  Gilm.  Feuehtersleben.  Norddeutsche :  Glasbrenner.  Hoffmaun. 
Dingelstedt.  Herwegh.  Rheinische  Schule  :  Freiligrath.  Kinkel.  (Müller  von 
Koenigswinter.  Pfarrius.)  Geibel.  Conservative  Lyriker  :  Graf  Strachwitz.  v.  Red- 
witz.    Scherenberg.     654. 

§  178  Drama.  Krafttragoedie :  Grabbe.  Büchner.  Griepenkerl.  HebbeL  Weichere  Auf- 
fassung :  Mosenthal.  Halm.  Mosen.  0.  Ludwig.  Dramatisierung  von  Erzaehlungen : 
Birch-Pfeifer.     Lustspiel :  A.  Heiter.     Benedix.     Bauernfeld.     663. 

§  179  Prosaerzsehlung.  Historischer  Roman:  W.  Alexis.  H.  Koenig.  Schücking. 
Frauen :  M.  Paalzow.  A.  Schoppe.  L.  Mühlbach.  Hesekiel.  Litterarhistorischer 
Roman  :  H.  Kurz.  Geographischer  Roman  :  Sealsfield.  Seeroman  :  H.  Smidt.  Th. 
Mügge.  F.  Gerstäcker.  Socialer  Roman  :  v.  Sternberg.  Grtefin  Hahn-Hahn.  F.  Lewald. 
Willkomm.  Waldau.  Dorfgeschichte :  J.  Gotthelf.  Auerbach.  M.  Meyr.  J.  Rank. 
Jüdisches  Kleinleben  :  Kompert.  Protest.  Pfarrhaus:  0.  Wildermuth.  Soldatenlebeu : 
Hackländer.     Naturschilderung :  Stifter.     Sittenmalerei  :  B.  Goltz.     670. 

§  180  Die  Dichtung  von  1850 — 70  vom  Humor  beherrscht,  mit  Vorliebe  historischen  oder 
provinziellen  Stoffen  gewidmet.  Drama :  Freytag.  Putlitz.  Hersch.  Brachvogel. 
Wiehert.  Kruse.  Lindner.  Localposse :  Kaiisch.  Lyrik :  Kunstform  besondere 
im  Münchner  Dichterkreis  erstrebt.  Roquette ;  Heyse.  Hertz.  Leuthold.  Lingg. 
Bodenstedt.  Schack.  Hamerling.  Jordan.  Scheffel.  Dialectdichtung :  Corrodi. 
Groth.  Roman  und  Novelle:  Frauen:  Nathusius.  v.  FranQois.  Marlitt.  Landschaft- 
licher  Roman :    Raabe.     Hoefer.     Storm.      Reuter.     Keller.     Zeitroman :    Spielhagen. 


XV  t 

(ialpn.  (Triniiii.  Soldntcnroinaii  :  Wirkndp.  Wintcrfold.  WarhpnhuHPn.  Cultnr- 
liistoriHchc  Novelle:  Hiehl.  Trautinann.  HiHtoriHclier  Roman  der  Gelehrten: 
Eher«.  Da  Im.  67H. 
§  181  Wissenscliaftliche  Prosa  seit  1850.  Philosophie:  Ed.  v.  Hartmann.  Naturwissen- 
schaft: H.  V.  Heimholt/.  AeKthetik  :  v.  Viwcher.  fxertchiehte  der  Philosophie:  Ed.  Zeller, 
K.  Fischer.  Politische  (teschichte:  Momnisen.  (üesebrecht.  Droysen.  Häusscr.  v.Sybel. 
H.  V.  Treitschke.  Kriegsgeschiehte :  v.  Moltke.  Verfdssungsgeschiehte :  R.  v.  Gneist. 
Litteraturgeschiehte :  Gervinus  (Schlosser).    Wackernagcl.    Müllenhotf.     Scherer.    •>!>(>. 

(Die  eingeklainmert«'n  Namen  stehen  nnr  in  den   Anmerkungen.) 


BERICHTIGUNGEN. 


S.  75,  Anni.  36,  Zeile  10  v.  u.  anstatt  Agri- 
eola  §  111,  6  lies  Ackermann  t?  105,  45e. 

88,  A.  49  Z.  14  V.  n.  1.  Myllius. 

91,  Z.  1  V.  u.  lüge  hinter  Sonette  hinzu: 
die  freilich  in  der  Form  so  sehr  abweichen 
dass  sie  nur  für  das  Bekanutsein  des  Na- 
mens zeugen, 

97,  Z.  2  V.  u.  IGOl]  1.  1607. 

99,  A.  43  tilge  das  Fragezeichen. 

100,  Z.  3  V.  u.  23a]  1.  144. 

101,  Z.  2  V.  u.  .1.]  I.  Jörg. 

138,  Z.  2  V.  u.  streiche  Die  bcesen  Sieben 
ins  Teuffels  Karnöffehpiel  1Ö62:  dies  ist 
eine  Streitschrift  perscenlicher  Art. 

180,  Z.   13  Rang]  1.  Hang. 

199,  A.  10  Z.  4  V.  u.  1632]  1.  1642. 

206,  Z.  13  Freunden]  1.  Fremden. 

224,  A.  1  füge  hinzu :  Über  das  spätere 
Fortleben  des  Ordens  s.  Mönnich,  der  pe- 
gnesische  Blumenorden  1644 — 1844  (Fest- 
gabe zur  20Uj<ehrigen  Stiftungsfeier"),  Nürn- 
berg 1844. 

228,  Z.  16  Johann]  I.  Daniel. 

230,  a.  8,  Z.   1  J.  Amelung]  1.  F.  Amelung. 

232,  a.  21,  Z.  9  v.  u.  obersächsich]  1.  ober- 
sächsisch. 

244,  Z.  18  Jehua]  I.  Jehna. 


259,  A.  16  Z.  6  V.  u.  Gruhrauer]  I.  Guhrauer. 

284,  A.  13:  vgl.  §  147,  3. 

289,  Z.  9  raeumtcn]  1.  raeumte. 

323,  A.  120,  Z.  2  1756]  1.  1751. 

332,  A.  19  1.  J.  F.  Reichardt    aus  Koenigs- 

berg  geb.  1752. 
337,  A.  17  aufführten]  1.  aufführte. 
337,  A.  29,  Z.  5  Schendi]  1.  Schnudi. 
349,  A.  8,  Z.  6  V.  u.  Kür-^chers]  l.  Kürschners. 
354,  A.  39,  Z.  11  V.  u.  1783]  1.  1883. 
406,  Z.  19  Dicktkunst]  1.  Dichtkunst. 
415,  A.  5,  Z.  6  V.  n.  1.  G.  E.  L.  Leben. 
430,  A.  39,  Z.  2  v.  u.  Ranschoff]  1.  RansohofF. 
471,  Z.  6  stand]  1.  standen. 
478,  A.  41  Z.  3  V.  u.  Loves]  1.  Love's. 
488,  Z.  9  Bekanntschaft]  1.  Freundschaft. 
520,  Z.  6  V.  u.  1.    Mit  Heinrich  Voss,    dem 

Sohne  von    J.  H.  Voss    (vgl.  §  167,  13). 
527,  Z.  6  1784]  1.  1781  (,wie  S.  337). 
530,  Absatz  2  Heusler]  1.  Henslrk. 
532,  A.  2,  Z.  1 :    gest.  1795]   1.  gest.  1817. 
535.  Z.  1  tilge  die  Anführungszeichen. 
544,  A.  15,  Z.  2  v.  u.  1.  §  179,  27. 
577,  Z.  4  1.  1777. 
588,  A.  23,  Z.  4  v.  u.  1.  §  173,  8. 
616,  A.  48,  Z.  3  1.  Anm.  45. 
637,  Z.  6  1.  Franzosen. 


NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT. 

§  91- 
Auf  die  Epik  der  althochdeutschen,  die  Lyrik  der  mittelhochdeutschen  Jahr- 
hunderte ist  in  weitrer  Entwickelung  und  Vollendung  dessen,  was  schon  das 
ablaufende  Mittelalter  begonnen,  der  neuhochdeutsche  Zeitraum  mit  dem 
Drama  und  der  Prosa  gefolgt,  mit  dem  Drama,  das  als  dritte  und  letzte  Dich- 
tungsart den  Gegensatz  der  zwei  früheren  neu  vereinigt,  mit  der  Prosa,  die 
nun  auch  dem  Verstände  die  gerechte  Form  gewaehrt  und  übermächtig  selbst 
in  die  Bereiche  der  Einbildung  und  des  Gemüthes  dringt.  Der  althochdeut- 
schen Litteratur  hatte  das  Kloster,  der  mittelhochdeutschen,  bis  die  Adels- 
rechte erblassten,  der  Hof  das  Geprsege  gegeben:  die  neuhochdeutsche  auf 
dem  noch  breiter  ausgedehnten  Grund  einer  dritten  Stufe  ist  Schöpfung  und 
Eigenthum  der  Bürger,  der  Gelehrten  nsemlich  unter  diesen :  denn  nicht  mehr 
unmittelbar  aus  dem  frischen  Leben,  sondern  aus  einer  Gelehrsamkeit,  die 
dem  Leben  des  Volkes  meist  entfremdet  ist,  wächst  die  neuhochdeutsche 
Litteratur  hervor.  Darum  hat  die  Epik  untergehn,  darum  selbst  in  der  Lyrik- 
das  Singen  dem  Sagen,  ja  das  Sagen  überall  einem  taubstummen  Lesen,  dem 
Schreiben  und  dem  Drucken  weichen  müssen. 

Die  Sprache  des  althochdeutschen  Zeitraums  hatte  sich  noch  in  der 
ganzen  Mannigfaltigkeit  der  Mundarten  bewegen  dürfen,  der  mittelhochdeutsche 
dieselbe  zwar  nicht  getilgt,  aber  doch  bereits  auf  den  einen  Grundton  der 
Schwaebischen  Mundart  und  so  in  eine  Gesammtsprache  der  Hoefe  zu  einigen 
gesucht:  der  neuhochdeutsche  kennt  nur  noch  Eine  Sprache,  die  grundsätzlich 
allen  Einfluss  der  Mundarten  zurückweist,  die  im  Gegensatze  zu  den  Mund- 
arten des  täglichen  Lebens  die  Sprache  der  Litteratur,  der  Gelehrsamkeit, 
der  Bildung,  die  eine  Schriftsprache  ist.  Heimath  und  Gebiet  der  alten 
Hofsprache  war  das  obre  Deutschland,  und  daneben  fand  sich  das  niedere 
noch  im  Besitz  einer  eignen  Litteratur:  unser  Neuhochdeutsch  aber  rührt  vom 

Wackernagel,  Litter.  Geschichte.  H.  1 


2  NErirOOHDEUTSCIlK  ZEIT.        EINLEITUNG.  §  91 

OsTKX  her  aus  einem  bereits  entfreiiuleten,  nur  durch  Colonisution  mit  Deutsch- 
land wiederverbundenen  Lande,  aus  Böhmen ',  und  liat  von  da  aus  die  Jlerr- 
sclial't  über  oanz  DErTscnr.AXi),  auch  über  Niederdeutschland  angetreten. 
Der  Osten  und  Nordosten  ist  die  Wiege  und  lange  und  wiederholendlich  der 
Ilcrrschersitz  auch  der  neuhochdeutschen  Litteratur  gewesen. 

In  der  Sprache,  in  den  Triegern  der  Litteratur,  in  deren  Stoffen  und 
Arten  überall  ein  Fortschritt  zum  Umfassendsten  und  Allgemeinsten.  Wir 
gewahren  dasselbe,  wenn  wir  auf  die  Verhältnisse  zur  Yorzkit  und  zur 
Frkmok  unser  Auge  richten.  Schon  im  Mittelalter  hatte  sich  die  deutsche 
Litteratur  den  Folgen  ihrer  geschichtlichen  und  geograj)hischen  Stellung,  den 
Einwirkungen  des  antiken  Vorgangs  und  der  romanischen  Nachbarschaft  nicht 
entziehen  können:  aber  die  Geistlichen  begnügten  sich  noch  mit  dem  An- 
schluss  an  die  schmale  Lateingelehrsamkeit  der  Kirche,  die  Edlen  mit  dem, 
w;is  ihnen  die  ritterliche  Bildung  aus  Frankreich  brachte,  und  beidemal  gedieh 
die  Entlehnung  zur  vollkommenen  Aneignung.  Unsere  Litteratur  dagegen, 
geführt  von  all  der  reicheren  Gelehrsamkeit,  die  in  ihr  waltet,  getrieben  von 
dem  Drange  nach  aussen,  der  ein  alter  Hauptzug  des  germanischen  Lebens 
ist,  hat  sich  mit  immer  grocsserer  Dahingcbung  und  Selbstcntäusscrung  den 
Thaten  und  Gedanken  aller  Vorzeit  uud  Fremde  weit  aufgethan,  zuerst  und 
zumeist  des  classischeu  Alterthums,  dann  aber  auch  der  Welschen  insgesammt 
und  des  welschen  und  dos  eigenen  Mittelalters  und  des  Morgenlandes  bis  nach 
Indien  hin:  sie  ist,  zwar  noch  im  Gewände  der  deutschen  Sprache,  auf  dem 
Weg,  und  vielleicht  schon  nah  am  Ende  des  Wegs,  eine  Weltlitteratur 
zu  werden.  Freilich  fehlt  es  nicht  an  Gegenwirkungen,  wie  denn  die  Wieder- 
erweckung des  deutschen  Altert hunis  auch  auf  Dichtung  und  Sprache  bereits 
tiefgreifenden  Einfluss  geübt  hat.  Immerhin  hat  der  Fortgang  von  der 
Besonderheit  zur  Allgemeinheit,  von  der  Deutschheit  in  die  Welt  sich,  wie  in 
der  miausgesetzten  Blüthe  der  Lyrik  als  der  am  wenigsten  durch  Volksthüm- 
lichkeit  bedingten  Dichtungsart,  so  am  augenfälligsten  in  den  Formen  der 
Metrfk  wiedergespiegelt.  Auch  hier  bei  den  Diclitern  des  Mittelalters  noch 
das  Fremde  angeeignet  und  nicht  vielerlei  des  Fremden;  auch  hier  bei  den 
Neueren  eine  staets  wachsende  Fremdheit,  immer  andere  Formen  und  immer 
mehr  Verdienst  in  der  anschmiegendsten  Nachahmimg  gesucht.  Dem  sehnlich 
in  der  Sprache.  Dieser  sind,  imd  schon  bei  den  Gothen  ist  ihr  so  geschehen 
(§  9,  5),  mit  den  fremden  Begriffen  auch  der  Fremdworte  genug  von  jeher 

§   ^I.      1)  §  47.  7a.     Vgl.  Anz.  f.  d.  Alt.  III  IIG. 


§  91  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.    EINLEITUNG.  3 

zugeführt  worden,  zumal  latcinisclie,  griechische,  franzoesische,  und  überflüssige 
sowohl  als  unvermeidliche:  aber  wsehrend  das  Mittelalter  dergleichen  so  um- 
zubilden liebte,  dass  sie  deutscheren  Klang  und  einen  Anschein  deutschen 
Sinnes  empfiengen,  Isesst  sie  das  Neuhochdeutsche  moeglichst  unverändert  und 
hat  sogar  manches  Fremdwort  aus  früherer  Umgestaltung  und  Aneignung 
wieder  nseher  auf  die  fremde  Urform  zurückgebracht.^ 

Diess  Yerhalten  des  Deutschen  dem  Fremden  gegenüber  ist  nicht  auf  die 
Sprache  und  die  Kunst  der  Sprache  eingeschränkt:  wir  finden  es,  da  gleicher- 
massen  alles  Leben  solch  eine  Richtung  nimmt,  ebensowohl  zunsechst  in  der 
bildenden  Kunst,  in  der  Baukunst  namentlich.  Der  althochdeutschen  Litte- 
ratur  hatte  der  romanische,  der  mittelhochdeutschen  der  Spitzbogenstil  zur 
Seite  gestanden,  in  entsprechender  Art  jener  von  Rom  her,  dieser  aus  Frank- 
reich gekommen,  aber  vollendet  durch  deutsche  Kunst  mid  deutsch  geworden : 
mit  der  Renaissance  des  sechzehnten  Jahrhunderts  aber  ist  auch  für  die  Bau- 
kunst der  Rückschritt  in  die  echtere  Antike  versucht  und  von  da  an  noch 
mancher  Schritt  mehr  und  immer  weiter  in  die  Fremde  und  immer  dem  gleich 
wie  innerhalb  der  Litteratur  gethan  worden,  bis  endlich  unsere  Tage  dort  wie 
hier  alle  nur  moeglichen  Arten  und  Unarten  des  Stiles  versammelt  selm. 

Einem  Gemüth  voll  engerer  Yaterlandsliebe  moegen  solche  Wahrnehmungen 
schmerzlich  sein,  zumal  sie,  wie  tseglich  unter  den  Völkern  Schranke  um  Schranke 
vor  zauberhaften  Mitteln  des  Yerkehres  zusammenbricht,  teeglich  unabweisbarer 
sich  aufdrängen;  trostreich  aber  und  erhebend  für  den,  der  seinen  Blick  auf 
die  gesammte  Art  des  germanischen  Stammes,  der  ihn  weiter  vorwärts  in  die 
Geschichte  der  Menschheit  richtet  und  der  Yerheissung  des  göttUchen  Worts 
von  der  einen  Heerde  des  einen  Hirten  denkt:  ihm  ahnt  da  aus  der  alten 
noch  eine  neue  Herrlichkeit  des  deutschen  Yolkes. 

Eine  Gliederung  in  drei  ABScuxrrTE,  wie  innerhalb  der  früheren  Zeit- 
räume sich  gezeigt  hat,  gilt  auch,  und  mit  dem  nsemlichen  Yerhältnisse  der 
Glieder,  für  die  neuhochdeutsche  Zeit.  Zuerst  (ich  benenne  die  Zahlen  im 
Grossen)  das  sechzehnte  und  siebexzehnte  Jahbhundert,  das  Emporsteigen, 
die  Bereitung  und  Begründung:  im  sechzelmten  wird  das  Alte,  das  noch  vom 
Mittelhochdeutschen  her  vererbt  ist,  abgethan,  und  zugleich,  noch  mehr  aber 
und  entschiedner  im  siebzehnten,  gestaltet  sich  das  Neue;  das  sechzelmte  hat 
die    Kirchenbesserung,    das    siebzehnte    deren    unheilvollen   Rückschlag,    den 

2)  z.  B.  (lomus,  inhd.  ti(om,  nhd.  Dom;  Grreciia,  Kriech,  Grteclie;  viarti/r,  viartertere,  Mär- 
tyrer ;  tonuü,  don,   Ton. 


4  NEIH0('IÜ)EUTSC1IP:  ZKJT.  §  92 

dreissigjälmgoii  Krieg,  das  sechzclinte  Martin  Lithkh  als  den  Vater  der 
Sprache,  das  siobzelmte  Martin  Oimtz  als  deu  Vater  der  üiclitkunst.  Das 
At'HTZEHNTK  JAHRnrNDERT,  iiiit  don  Erregungen  des  siebenja'hrigen  Krieges, 
dann  von  aussen  her  der  franzcesischen  Staatsuniwäl/ung,  bringt  in  dem  kurzen 
Verlauf  seiner  Uiptelhadie  die  Blüte  und  die  Fülle  der  Classicitset,  bringt 
die  vollendete  Prosa,  die  vollendete  Dramatik,  ist  mit  grossen  und  den  groesten 
Namen  geschmückt,  mit  den  Namen  Kloi'stock,  Wikland,  Lf:.ssiN(i,  Hkhdkr, 
ScniLLKR  und  über  allen  Gcktuk.  Nach  solchem  Abschlüsse  des  Entwick- 
lungsganges, über  den  hinaus  kein  Fortschritt  gedenkbar  ist,  führt  das  nki'N- 
zKiiNTK  Jaiiriiundkrt  von  dem  Gipfel  wieder  hinab  zu  den  Rückschritten  der 
Ivomantik,  zu  der  neuen  von  dem  Befreiungskrieg  entzündeten  Flamme  der 
Vaterlandsbegeisterung,  zu  einem  halb  alexandrinischen,  lialb  byzantinischen 
(lewirre,  inmitten  dessen  jedoch  Ein  sicherer  Halt  und  das  Ziel  bereits  vor 
Augen  steht,  die  Gewissheit  der  nunmehr  anbrechenden  Weltlitteratur. 

In  der  Darstellung  der  mittelhochdeutschen  Zeit,  wo  zuerst  neben  der 
Poesie  eine  eigene  Prosa  und  neben  dem  Epos  Lyrik  und  Drama  mit  All- 
ma^lichkeit  sich  gebildet,  war  es  nothwendig,  die  Fülle  des  geschichtlichen 
Stoffs  nach  Massgabe  dieser  Verschiedenheit  der  Formen  anzuordnen.  Jetzt 
wird  dem  jelmlich  nur  noch  innerhalb  des  sechzehnten  Jahrhunderts  zu  ver- 
fahren sein,  als  desjenigen  Zeitabschnittes,  welcher  dem  Mittelalter  noch  die 
volle  Endsohaft,  der  Prosa  und  dem  Drama  die  letzte  Begründung  giebt;  von 
da  an  nicht  mehr:  von  da  an  bestehn  alle  Formen  der  Litteratur  in  gleich- 
msessiger  Geltung  und  sie  alle  werden  von  denselben  Zuständen  betroffen,  die 
verschiedensten  von  denselben  Personen  ausgeübt:  den  Wechsel  jener  und  die 
Thatenfolge  dieser  hat  die  Litteraturgeschichte  von  da  an  aufzufassen. 

ERSTER   ABSCHNITT. 

§  92. 
Dkr  ERSTE  Abschnitt  der  neuhochdeutschen  Litteraturgeschichte  zerfallt,  wie 
bereits  ist  angedeutet  worden,  wieder  in  zwei  Theile,  deren  vorderen  das  sech- 
zehnte Jahrhundert  mit  dem  ersten  Viertel  des  siebzehnten,  den  zweiten  die 
folgenden  zehn  bis  eilf  Jahrzehende  füllen.  Wir  treten  an  das  sechzehnte 
Jiihrhundert  heran. 

Unter  den  folgenschweren  Ereignissen,  die  Schlag  auf  Schlag  dem  Mittel- 
alter das  Ende  gegeben  und  eine  neue  Welt  geschaffen  haben,  gehopren  die- 


§  92  XVI  JAIIRH.         REFORMATION.  5 

jenigen,  die  den  wichtigeren  Tlieil,  das  Geistesleben,  trafen,  einzig  oder  doch 
hauptsächlich  der  Geschichte  Deutschlands  an,  die  Erfindung  der  Buchdkicker- 
KUNST,  dann  mit  deren  Hilfe,  gleich  nachdem  Italien  den  Beginn  gemacht, 
der  frische  Aufschwung  in  den  Studien  dkh  ct.as.sisciiex  Alterthums  (in 
Italien  selbst  und  in  Frankreich  haben  zuerst  Deutsche  die  erstehenden  Classiker 
gedruckt),  und  unterstützt  von  diesen  Studien  ^vie  von  jener  Kunst  der  Wieder- 
bau der  Kirche.^  Damit  ist  in  Dingen  des  Glaubens  und  des  Wissens  das 
Deutsche  Volk  der  siegreiche  Vorfechter  aller  übrigen  geworden,  und  waehrend 
sein  Kaiserthum  verfiel,  an  die  Spitze  eines  andern  desto  gi'oesseren  Reichs 
geti*eten,  eines  Weltreichs  im  Gebiet  des  Geistes.  Auf  die  deutsche  Litteratur 
aber  hat  nm*  eines  jener  Ereignisse  ganz  und  unmittelbar  und  sogleich  fördernd 
eingewirkt  und  für  sie  die  Grenze  zwisclien  Altem  und  Neuem  gerade  hier 
gezogen,  das  letzte  in  der  Reihe,  die  Reformation.  Der  Humanismus  und 
theilweis  selber  der  Buchdruck  übten  zuntechst  mid  für  läno*ere  Zeit  nur  einen 
Isehmenden,  hemmenden  und,  obwohl  bereits  von  älterem  Ursprünge,  doch 
nur  mittelbaren  Einfluss,  nur  insofern  sie  Bezug  auf  die  Kirchenbesserung 
hatten,  den  Weg  ihr  ebneten  und  Waffen  liehn:  die  Hauptsache  jetzt  war 
diese,  und  w\as  sie  gab,  bedeutungs-  und  entscheidungsvoll  genug  und  auch 
der  Litteratur  ein  Segen.  Sie,  indem  sie  den  grossen  Gedanken  eines  all- 
gemeinen Priesterthumes  frisch  erweckte,  baute  das  gesammte  Geistes-  und 
Sittenleben  auf  einen  neuen,  breiteren,  tieferen  Grund ;  sie  durch  Übersetzung 
der  heil.  Schrift  stellte  für  ganz  Deutschland  Eine  Sprache  hin;  sie  mit  dem 
Humanismus  brachte  die  Litteratur  an  die  Gelehrten;  sie  bereitete,  die  nieder- 
deutsche zugleich  verdrängend,  der  hochdeutschen  Litteratur,  deren  Hauptsitz 
bisher  im  Süden  des  Reichs  gewiesen,  neue  Sitze  im  Nordosten.  Denn  eben 
hier  schlug  die  Kirchenbesserung  ihre  Wm-zeln  fester  und  weiter,  wsehrend 
im  Süden  die  Übermacht  bei  der  alten  Kirche  blieb  oder  ihr  doch  seit  dem 
schmalkaldischen  Kriege  1546  konnte  wdeder  erzwimgen  werden.  Diess  und 
Andres  entfremdete  letzteren  auch  der  neuen  Litteratur  für  Jahrhunderte 
lang,  und  da  er  wieder  voll  eintrat  in  dieselbe,  geschah  das  wiederum  nur  durch 
Protestanten.  Gleichwohl  hat  der  Süden  und  hat  der  Katholicismus  sich  der 
Einwirkung  des  Neuen,  das  die  Reformation  gebracht,  weder  ganz  noch  dauer- 
haft erwehren  können  -,  wie  denn   überhaupt   die   ältere  Kirche  in  allen  den 

§  92.  1)  Zu  vergleichen,  wie  schon  Seb.  Brant  LB.  1.  1505  lg.  die  neuen  Irrlehren  und 
den  Biicherdruck  zusammenstellt.  2)  Naechstliegende  Beispiele  die  Verdeutschungen  des 
neuen  Test,  von  Hieronymus  Emser  (§  d'K  29)  1527  und  des  alten  u.  neuen  von  Johann 


6  NEUJ10C1U)EUT8CJ1E  ZEIT.         XYI  .lAIIIMI.  i^  'J2 

Liimlern,  wo  ucboii  ihr,  vielleicht  sogar  unterdrückt,  die  evangelische  besteht, 
sich  mehr  noch,  als  sie  weiss  und  will,  von  dieser  zu  eigen  macht.  80  voll- 
endet sich  dennoch  gemach  und  still  durch  das  allmächtige  Wehen  des  Geistes, 
was  die  berechnungsvolle  kaiserliche  fiewalt  und  der  unselige  Zwist  der  Evan- 
gelischen selbst  und  die  starre  Verknöcherung,  die  bald  auch  über  sie  kam, 
nicht  allsogleich  hat  vollenden  lassen. 

Es  war  aber  die  Reformation  kein  urplötzliches  Ereigniss,  ebenso  wenig 
der  mit  ihr  verbundene  Umschlag  der  Littcratur,  und  nicht  alles  Alte  ist  jen- 
seits liegen  geblieben,  nicht  alles  Diesseitige  neu.  Denn  die  bezeichnenden 
Eigenheiten  des  sechzehnten  und  noch  der  folgenden  Jahrlmnderte  treten  uns 
meist  schon  irgendwie  am  Ablaufe  der  mittelhochdeutschen  Zeit  entgegen:  da 
schon  in  Mystikern  und  Ketzern  die  Ahnung  und  Anbahnung  der  Reformation 
(§  90,  15  fgg.);  da  schon  Verdeutschungen  der  heil.  Schrift,  wenngleich  nicht 
aus  der  rechten  Quelle  (§  90,  7),  und  deutscher  Kirchengesang  (§  76)  und 
deutsche  Predigt  (§  88,  1.  89,  7  fgg.  90,  18  fgg.)  und  eine  Fülle  ander- 
weitiger Prosa  (§  87  fgg.)  und  mit  Eifer  geübt  das  Drama  (§  85  fg.);  da 
schon  die  Grundlegung  des  Neuhochdeutschen  (§  47,  7  fgg.);  endlich  schon 
da  in  Leben  und  Litteratur  die  vorwiegende  Geltung  des  dritten  Standes 
(§  44)  und  neben,  ja  über  dem  Adel  der  Geburt  der  neue  Geiehrtenadel,  dem 
namentlich  die  Einführung  des  Roemischen  Rechtes  sein  Ansehn  gab.^  Und 
umgekehrt  bestand  noch  im  sechzehnten  Jahrhundert  Manches  von  dem  weiter, 
was  schon  im  fünfzehnten  und  schon  früher  da  gewesen:  neben  der  Schrift- 
sprache wie  einst  nach  der  Sprache  der  Hoefe  einzelne  Mundarten  in  litte- 
rarischem Gebrauch  (§  47.  93,  5  fg.  98,  13  —  14);  litterarische  Thsetigkeit 
noch  im  Südwesten,  am  Rhein  und  in  der  Schweiz  (§  103,  45  fgg.  §  100. 
§  104,  9.  105,  10  fg.  108,  7.  §  112);  von  den  Arten  und  Formen  der  Litte- 
ratiu-  das  geistliche  und  das  Fastnachtsspiel  (§§  85  fg.  105),  das  Volkslied 
und  der  Meistergesang  (§§  49.  75  fg.  95.  97);  in  Volksliedern  ein  Versbau 
nach  Accenten,  im  Meistergesänge  nach  der  Sylbenzahl,  und  ebenso  in  aller 
unstrophischen,   in    epischer,    didactischer,    dramatischer  Dichtung  Verse    von 

DiETENBERGER  15:34.  die  wenig  geändert  nur  die  Lutherische  wiedergeben:  Panzers  Gesch. 
d.  rcemis'h-cathol.  deutschen  Bibelübersetzung,  Nürnb.  1781,  33  fgg.  u.  74  tgg. :  Clajus 
Lutherische  Grammatik  in  Schulen  der  Katholiken:  §  93.  19:  das  "Wörterbuch  des  Dasy- 
podias  §  93,  20  seit  1642  mit  geistlicher  Genehmigung  als  Dasypodius  catholicus.  3)  vgl. 
Sainte  Palayes  u.  Klübers  Ritterwesen  d.  Mittelalters  2.  320  fgg.  H.  Fitting.  Das  Castrense 
peculium.  Halle  1871,  S.  583  ff.  Geilers  Auslegung  über  d.  Narrenschitf  76,  7  (Basel  1574, 
286)   und  bei  Seb.  Brant  selbst  LB.  1,  1502  fg.  die  Zusammenstellung  der  Edelmanns-  und 


§  92  MITTELALTER  UND  XVI  JAHRH.  7 

acht  oder  neun  bloss  abgezaehltcn  Sylbcn^;  ferner  Sagendichtung  noch  von 
Koenig  Siegfried  und  von  Dietrich  von  Bern  (§  95,  1.  97,  34.  98,  29;  vgl. 
§  106,  29);  Prosaromane,  die  noch  auf  dem  Grund  der  Epik  standen  (§  90, 
224  fgg.  107,  3  fgg-);  epische  Gedichte  des  Mittelalters  selbst  und  didactische, 
ja  lyrische,  die  von  eben  daher  stammten,  als  gern  ergriffener,  wennschon 
auch  missverstandner  und  verderbter  Stoff  des  Lesens  und  des  Drückens  ^, 
und  bei  allem,  was  gedruckt  ward,  dieselbe  Liebhaberei  für  ausschmückende 
Holzschnitte  wie  ehedem  für  Malereien  als  Schmuck  der  geschriebenen  Bücher,** 
Jedoch,  was  von  den  litterarischen  Dingen  des  sechzehnten  Jahrhunderts 
schon  das  vierzehnte  und  fünfzehnte  besass,  war  alles  da  noch  unfertig  in  sich 
selbst  und  nur  ein  Anfang  gewesen:  die  Vollendung  war  dem  sechzehnten 
vorbehalten;  und  was  dem  sechzehnten  noch  verblieb  von  Dingen  des 
fünfzehnten,  war  wiederum  ein  schwindender  Rückstand,  den  jetzt  die  ver- 
änderte Stellung  des  Volks  zu  der  Litteratur  beseitigen,  den  die  Refor- 
mation als  Aberglauben  oder  die  Gelehrsamkeit  als  rohen  Ungeschmack  aus- 
tilgen sollte:  Grundes  genug  und  Noethigung  den  Beginn  der  neuhochdeutschen 
Litteraturgeschichte  mit  dem  sechzehnten  Jahrhundert,  mit  der  Reformation 
zu  machen. 

Der  Hauptname  der  gesammten  Reformationsgeschichte  und  somit  nicht 
allein  der  Zeitordnung  wegen  der  erste  Name  auch  in  der  Geschichte  der 
neuhochdeutschen  Litteratur  ist  Martin  Luther.'     Von  dem,  was  er  für   die 

der  Doctoreneitelkeit.  4)  §  48,  61  fgg.  Eiu  abweichendes  Spiel,  das  aber  auch  schon  um  1300 
seinen  Vorgang  hat  (§  48,  59;  auch  in  Fok  Collation  u.  anderwärts  s.  Anz.  f.  d.  Alt.  V  224), 
giebt  den  unstrophischen  Versen  bloss  6  oder  7  Sylben :  so  bei  HSachs  LB.  2,  65.  Nur  in  den 
Sprüchen  der  Sprecher  §  96  Anf.  und  öfters  in  Fastnachtsspielen  wie  denen  Manuels  §  105,  88  fg. 
noch  ein  roherer,  in  einzelnen  Versuchen  gelehrter  Dichter  schon  ein  regelrechterer  Rhythmus 
der  Accente:  §  104,  15.  105.  13.  Versuche  quantitativen  Versbaues  §  94,  30.  5)  Drucke 
und  theilweis  Umarbeitungen  von  Konrads  Engelhard  §  55,  107:  Albrechts  Ovid  §  56,  32; 
dem  s.  g.  Heldenbuche  §  63  Eing. :  des  Strickers  Amis  §  66,  5  (Zarncke  in  Haupts  Zeitschr. 
f.  Deutsches  Alterth.  9,  400):  dem  Kaleoberger  §  66,  6:  dem  Staufenberger  §  66,  56:  dem 
Theuerdank  §  67.  15.  99,  41;  dem  Freidank  §  79,  53;  der  Mohrinn  §  81,  81:  dem  Renner 
§  82,  17;  dem  Xarrenschiff  §  82  Schi.:  den  Liedern  Neidharts  §  72,  29.  6)  §  44,  8.  Die 
berühmtesten  Zeichner  für  dgl.  Holzschnitte  Hans  Scheuffelin  von  Nürdlingen  und  Hans 
ßURGKMAYR  von  Augsburg.  Die  Holzschnitte  zu  Albrechts  Ovid  von  dem  Umdichter 
Georg  Wickram  (§  107,  30)  selbst  gezeichnet:  Haupts  Zeitschr.  8,  399:  wie  früherhin  von 
SBrant  und  K.  Maximilian  zum  Narrenschitt'  und  zum  Theuerdank:  §  67,  15.  82,  23. 
7)  geb.  zu  Eisleben  1483,  gest.  ebd.  1546.  Die  älteste  unter  den  vielen  deutschen  Lebens- 
beschreibungen Chronica  des  Ehncirdigen  Herrn  Dr.  M.  L.  Wittenb.  1550:  die  von 
Mathesius  gepredigte   §    109,   3:    die  letzte    von    .Tul.   Köstlin,     2.  Aufl.  Elberfeld    1883. 


8  M-:rii()C'Hi)KrTS('nK  zeit.      xvi  jaiiiiii.  §  93 

Lyrik,  was  für  dio  rednerische  und  die  lohrliaftc  Prosa  gethaii,  wird  gelegener 
weiterhin  zu  liandeln  sein*:  hier  und  für  jetzt  genügt  es,  auf  die  Grundhige 
seiner  ganzen  roformatorisclien  Tha'tigkeit,  zugleich  die  Hauptgrundlage  unserer 
Sprache,  seine  YKRDEiT.scmNd  der  Bibkl,  hinzuweisen.  Sie  war  die  erste,  die 
nicht  mehr  bloss  auf  der  lateinischen  Übersetzung,  wie  die  alte  Kirche  sie 
anerkeimt,  beruhte:  sie  zuerst  gieng  auf  die  beiden  Ursprachen  zurück.  '•'  Ge- 
nug andre  sind  l)is  auf  den  heutigen  Tag  ihr  nachgefolgt,  bei  den  Fortschritten 
der  Philologie  und  der  Kritik  vielleicht  genauer  in  Einzelheiten,  in  den  grossen 
und  wosontiichen  Dingen  jedoch  keine  der  Lutherischen  gleich :  hier  sind 
Würde  und  Heiligkeit  über  das  Ganze  ausgegossen ;  hier  je  nach  dem  Stoffe 
wechselt  der  Redeton  zwischen  schlichter  Einfalt  und  körniger  Schärfe  und 
dem  Schwung  des  Dichters;  hier  einen  sich  Treue  gegen  den  alten  Wortlaut 
und  bewusste  Achtung  vor  der  Sprech-  und  Denk-  und  Empfindungsweise  des 
Lebens  mid  des  lloimathlandes.  '"  Die  erste  Arbeit  daran  hat  länger  denn  ein 
Jahrzehend  gewsehrt,  und  das  Werk  ist  nicht  sogleich  vollständig  in  Druck 
gekommen,  das  ganze  Neue  Testament  zuerst  1522,  Altes  und  Neues  zusam- 
men erst  1534  und  sieben  Jahre  spseter  eine  durchgreifende  Überarbeitung, 
zu  welcher  Melanehthon  und  andere  Freunde  geholfen  hatten;  die  letzte  Aus- 
gabe, die  Luther  selbst  noch  erlebt,  ist  die  von  1545.  " 

§  93. 
Die  Sprache,   deren  sich  Luther  bei   Übersetzung  der  Bibel  und  ebenso 
in  seinen  eigenen  Prosaschriften,  seinen  Briefen,  seinen  Liedern  bediente  ',  war 
nicht  die  ihm    angeborene   noch  sonst  eine  landschaftlich  beschränkte  Mund- 

8)  §  5»9,  32.  101,  9.  103,  10.  109,  2.  110,  13  fgg.  Gesammtausgaben  vou  Luthers  Werken, 
die  älteste  Wittenb.  1539—1559  (12  Theile  deutsch,  7  lateinisch),  neuere  v.  Walch,  24 
Theile  (nur  die  deutschen  Schriften  u.  einige  der  lateinischen  verdeutscht),  Halle  1737 — 53; 
die  zu  Erlangen  1826  fgg.  herausgegeben,  ist  noch  unvollendet.  Kritische  Gesammtausgabe 
von  Knake  begonnen,  Weimar  18H3  fgg.  9)  Die  Verdeutschung  der  sieben  Busspsalmen 
womit  Luther  im  J.  1517  sein  AVerk  begonnen,  schliesst  sich  noch  der  Vulgata,  schon  aber 
auch  der  Reuchlinischen  Uebersetzung  an.  10)  Rechenschaft  und  Erörterung  Luthers 
selbst  in  seinem  Seadbrief  vom  Dolmetschen  d.  heil.  Schrift,  Wittenb.  1530:  bei  Walch  21, 
316.  Erlanger  Ausg.  65,  102.  11)  Neuere  Wiederholungen  derselben  durch  Bindseil  u. 
Niemeyer,  Halle  1850  fgg.  u.  durch  Hopf,  Leipz.  1851.  Die  jüngste  Schrift  über  Luthers 
Bibelarbeit  von  Wilibald  Grimm,  kurzgefasste  Gesch.  der  lutherischen  Bibelübersetzung  bis 
zur  Gegenwart.  Jena  1884. 

§  93.  1)  Luthers  Verdienste  um  die  Ausbildung  der  hochd.  Schriftsprache  v.  Grotefend 
in  den  Abhandlungen  d.  Frankfurter  Gelehrtenvereins  für  deutsche  Sprache  1,  Frankf.  1818, 
24 — 152.     Seitdem  vom  Standpunkt    der   deutschen  Philologie  aus  behandelt  durch  E.  Opitz, 


§  93  MARTIN  LUTHER.        HPRACJIE.  9 

art:  er  crwcchlte,  damit  der  Süden  wie  der  Norden  ihn  verstehen  möchte, 
jenes  Deutsch,  das  von  Boehmcn  ausgegangen  schon  seit  dem  fünfzehnten 
Jahrhundert  in  den  Canzleien  der  Fürsten  uud  der  Städte  üblich  geworden  und 
so  überall  zu  öffentlicher  Geltung  gelangt,  das  schon  vor  ihm  die  gemeine 
Sprache  war  -,  dasselbe  Caxzleideuthch,  das  wiederum,  weil  er  es  beglaubigt 
und  geheiligt,  auch  neben  und  länger  denn  ein  Jahrhundert  nach  ihm  noch 
als  musterhaft  für  den  übrigen  Verkehr  des  Lebens  und  für  die  Litteratur  ist 
betrachtet  worden.^  Natürlich,  indem  nun  Luther  es  gebrauchte,  trat  der 
Obersächsische  Grund  wieder  stärker  hervor  ^,  und  die  Ycrsetzimg  mit  Nieder- 
deutschem, welcher  dieser  Mundart  eigen  ist,  musste  gerade  bei  ihm  und  un- 

Ueber  lUe  Sprache  Luthers,  Halle  lb69.  H.  Rückert,  Geschichte  der  nhd.  Schriftsprache, 
2.  Band,  Leipzig  1<S75.  E.  Wülcker,  Germ.  28,  191—214.  P.  Pietsch,  M.  Luther  und  die 
deutsche  Schriftsprache,  Breslau  1883.  K.  Burdach,  die  Einigung  der  nhd.  Schriftsprache, 
Habilitationsschrift  Halle  1884.  2)  Anni.  29.  §  47,  7  fgg.  Der  Unterricht  im  Deutschen 
V.  Rud.  V.  Raumer  20.  Der  Ausdruck  gemeines  Deutsch  ist  zuerst  1464  nachweisbar  (Anz.  f. 
d.  Alt.  VI.  316),  findet  sieh  dann  aber  auch  in  den  Drucken  der  vorlutherischen  Bibelübersetzung. 
Dass  sich  die  Lautverhältnisse  des  Xhd.  in  der  sächsischen  Canzlei  um  1470  einbürgern,  wäh- 
rend noch  später  Friedrich  der  "Weise  wie  Kaiser  Max  sieh  dialectischer  Formen  bedienen, 
zeigt  E.  Wülcker  in  der  Zeitschr.  des  Vereins  für  thür.  Geschichte  IX,  351  fg.  In  Luthers 
Schreibweise  tritt  um  1525  ein  näherer  Anschluss  an  die  Canzleisprache  ein:  Opitz  a.  a.  0. 
Luther  sagt  von  sich  selbst  Ich  liahe  kein  gewisse,  sonderliche,  eigene  Sxjraclie  im  Deutschen, 
sondern  brauche  der  gemeinen  Deutschen  tipniche,  das  mich  beide  Ober  vnd  Niderlender 
verstehen  mcegen.  Ich  rede  nach  der  Sechsischen  Cantzeley,  welcher  nachfolgen  alle  Fürsten 
vnd  K(enige  im  Deutschland.  Alle  Heichstedie,  Fürstenhcefe  schreiben  nach  der  Sechsisclien 
vnd  vnsers  Fürsten  Cantzeley.  Darumh  ists  auch  die  gemeinste  Deutsche  Spraclie.  Keiser 
Maximilian  vnd  Churfürst  Friderich,  Hertzog  zu  Sachsen  de.  Jmben  im  Rcemischen  Reich 
die  Deutschen  Sprachen  also  in  eine  geivisse  Sprache  gezogen  :  Tischreden  Cp.  70,  Eisleb. 
1566  Bl.  578.  Am  Hofe  Franz  i  die  Schreiben  deutscher  Fürsten  aus  ihrer  Mundartlich- 
keit zuerst  in  das  gemeine  Deutsch  übertragen:  Bartholds  Gesch.  d.  Fruchtbring.  Gesellseh.  9. 
3)  Anm.  16.  28.  §  97,  27.  LB.  3,  1,  768,  26.  Die  kaiserliche  Kanzlei  nennt  in  Augsburg 
noch  1578  als  Sprachmuster  Hieronymus  Wolf,  de  orthographia  Germanica  ac  potius  suevica 
nostrate ;  s.  Raumer  in  Pfeiffers  Germ.  1,  16U  ff.  Die  kaiserliehen  und  mehrerer  Fürsten 
und  Städte  Canzleien  und  das  Kammergericht  zu  Speier  :  Teutsche  Orthographey  v.  JoH. 
Rud.  Sattlek,  Basel  1610.  6.  (kincelleyen  (welche  die  rechten  lehrerinn  der  reinen  spräche 
sind)  Opitz  v.  d.  deutschen  Poeterey  1624,  LB.  3,  1,  631.  Die  communis  dialectus  der 
Deutschen  (unterschieden  von  der  Meissnerischen,  Rheinländischen,  Schwäbischen,  Schweize- 
rischen, Sächsischen  u.  Bairischen  Mundart)  stamme  von  den  Meissnern  und  werde  erlernt 
zu  Speier  und  am  kaiserlichen  Hofe :  Scioppii  Consultationes  de  scholarum  et  studiorum 
ratione  1626  in  Grotii  Dissertationes  de  studiis  instituendis,  Amsterod.  1645,  455.  Das 
beste  und  zierlichste  Deutsch  in  Speier:  Teutscher  Michel  1673.  Cp.  12.  4)  Daher  Mathe- 
sius  bei  ihm  auch  von  Meissnischer  Zunge  reden  konnte  (Historien  M.  Luthers,  Pred.  12): 


10  NKrilOCIIDErTSClli:  ZFIT.         XVI  JAHKII.  §  98 

bcwuast  ihm  selbst  dadurch  gcstoigort  worden,  dass  die  lleiinath  8(!incr  Jugend 
und  die  seines  männlichen  Wirkens,  Mansfeld  und  Witten! lerg,  beide  hart  an 
die  CJrenze  NiethTsachsens  rühren.  So  blieb  seine  Sprache  für  den  Süden 
des  lleiches  noch  eine  geraume  Zeit  fremdartig:  nicht  bloss,  dass  die  Katho- 
liken als  gegen  die  Sprache  der  KetzcM-ei  sich  dagegen  sträubten,  auch  die 
Uetormatoren  und  die  evangelischen  Dichter  der  Schweiz  und  ebenda  ein  Mann 
wie  Tschudi,  der  frei  von  Vorurtheilen  des  Bekenntnisses  war,  wussten  sich 
in  diese  Neuerung  nicht  zu  finden,  und  Zwingli  und  Tschudi  und  das  Jahr- 
hundert entlang  fast  alle  Schweizerischen  Dichter  blieben  bei  der  Mundart 
ihres  lleimathlandes  stehn,  und  die  Freunde  Zwingiis  gaben,  obwohl  Luther 
benützend,  ihrer  Kirche  die  Bibel  doch  iu  Züriclideutsch.  •'  Die  Abweichungen, 
bei  denen  gleichzeitig  z.  B.  auch  die  Schwaben  und  im  Selbstgefühl  älterer 
Anerkennung  namentlich  die  Augsburger®  noch  verharrten,  waren  von  minderem 
Belang:  diese  erledigten  sich  meist  durch  ein  bloss  orthographisches  Ab-  und 
Zutliun  (vgl,  Anm.  29),  da  namentlich  hier,  ich  erinnere  an  Nicolaus  von  Weil 
(§  47,  10.  90,  279),  die  Canzleien  auch  schon  vorgearbeitet  hatten.  Uebrigens 
hat  man  auch  da,  wo  man  Luthers  Sprachenachalimte,  zunächst  nur  die  Schreibweise 
angenommen  *^  *  ,  dann  aber  mehr  und  mehr  auch  den  mündlichen  Gebrauch. 
In  solcher  Art  hat  die  Nkuhociideut.schk  Sprache  den  Anfang  genommen. 
Eben  diese  Entstehungsart  aber  und  die  Zurückweisung,  die  sie  noch  in  einem 
nicht  unbeträchtlichen  Theile  des  Reiches  fand,  ist  der  ferneren  Entwickelung 
mehrfach  ein  Schade  gewesen. 

Meichsner,  sagen  auch  die  atislender,  wenn  sie  untern  leuten  cjewesen  u.  irs  landsnutnns 
vergessen,  reden  ein  gut  deutsch.  I>ru»ib  erwecket  der  Sone  Gottes  ein  deutschen  Sachsen, 
der  gewandert  war,  und  die  BihJien  Gottes  in  Meichsnisclie  zung  brachte.  Und  Konrad 
Gesner  in  der  Vorrede  zu  Maalers  Würterbuche  sunt  qui  tractui  circa  Lipsiam  elegantio- 
ri.'i  sermonis,  quo  Lutherus  etiam  lUiros  «mos  condiderit,  primae  deferant.  Vgl.  Anm.  34. 
5)  Mezger,  Gesch.  der  deutschen  Bibelübersetzung  in  der  schweizerisch-reformierten  Kirche, 
Basel  1876.  Gesammtausgabe  1531;  Luthers  Dank-  und  Verdanimungsbrief  auf  Zusendung 
einer  spaeteren  LB.  3.  1,  176.  Selbst  Kolross  Enehiridion  (Anm.  9)  in  der  Zürcher  Ausg. 
V.  lötU  mundartlich  umgeändert ;  ebenso  1545  die  Sprichwörtersammlung  Sebastian  Francks 
(§111,  7):  die  Deutschen  Sprichwörtersamml.  v.  Zacher  13.  6)  Eine  Priamel  des 
15/16  Jh.  verlangt  an  einem  schcenen  Weibe  die  red  dort  lier  von  Stoahen:  Eschenburgs 
Denkmseler  altdeutscher  Dichtkunst  39S.  Druik  von  Taulers  Predigten  15()S,  die  da  neu- 
lich corrigirt  ind  gezogen  seind  zuo  dem  iiierern  Tail  auf  guot  verstentlich  Augspurger 
sprach,  die  da  rnder  andern  Teutschen  Zungen  gemeiniglich  für  die  rer stentlichste  genom- 
men rnd  gehalten  wird.  Vgl.  §  97,  2.  6a)  Dies  zeigen  die  Reime  der  Dichter,  welche 
vielfach  ungenauer  scheinen,  als  sie  nach  der  wirklichen  Aussprache  waren.  Ueber  H. 
Sachs  s.  Carl  M.  G.  Frommann,  Versueh  einer  gramm.  Darstellung  der  Sprache  des  H.  .S., 


§  93  SPRACHLEllKEN  UND  WÖRTERBUECHER.  11 

Einmal  war  dieses  Deutsch  für  manchen,  der  es  gebrauclien,  der  auch 
nur  die  Bibel  lesen  wollte,  halb  unlebendig  und  fremd'  und  erst  zu 
erlernen,  eben  nur  eine  Schriftsprache.  Die  Gelelirsamkeit  ergriff  den 
willkommenen  Anlass,  und  es  hoben  um  solchen  Bedürfnissen  zu  begegnen  ® 
schon  bei  Lebzeiten  Luthers  die  Sprachlehren  an,  Bücher  der  Art,  die 
für  lebende  Sprachen  nirgend  ein  Heil  ist  ^  *.  Zwar  in  der  Mehrzahl 
beschränkten  sich  dieselben  unschoedlicher  auf  die  Regeln  des  Schreibens 
und  des  Lesens,  Ausserlichkeiten,  denen  schon  Steinhöwel  und  besonders 
Nicolaus  von  Weil  ihre  Aufmerksamkeit  gewidmet  (§  90,  278.  279):  so 
die  Bücher  von  Johanne«  Kolross  ^,  von  Fabian  Frangk  ^°,  von  Valentin 
IcKELSAMER*^  vou  SEBASTIAN  Helber  ^^  u.  a.  Hoehor  hinauf  jedoch,  ab- 
gesehen  von   Albert    Oelinger,    der    für  Ausländer  schrieb  ^^,    bis   an  die 

Nürnberg  1878.  1)  Der  Basler  Nachdruck  des  Neueu  Test.  1523  und  ihm  folgend  noch 
mehrere  andre  aus  Oberdeutschland  stellen  Luthers  ausslendige  wörtter  eigens  zusammen 
und  erklaeren  sie  auff  Viiser  hochteutsch  :  Zs.  f.  d.  Mundarten  4,  239.  6,  11.  Rückert  Nhd. 
Sehriftspr.  2,  94  fgg.  Durch  den  Gegensatz  geweckt  (vgl.  §  47,  5\  Anfmerksamkeit  auf 
die  Unterschiede  der  Mundarten  und  Bewusstsein  derselben :  Anm.  3.  28.  Raumers  Unter- 
richt im  Deutschen  11.  22  fg.  8)  Kolross  in  der  Vorrede  seines  Enchiridions  Anm.  9 
berichtet,  die  deutsche  Bibel  sei  jetzt  vielen  Alten  eine  Anreizung  ihre  Kinder  in  die  deutsche 
Schule  zu  schicken  und  sich  auch  selbst  noch  um  die  Kunst  des  deutschen  Schreibens  und 
Lesens,  namentlich  aber  der  Bibel,  zu  bemühen:  deshalb  auch  seine  Anweisungen  zum  Yer- 
ständniss  der  allegationes  und  concordantice  biblischer  Bücher.  Fabian  Frangk  aber  zielt 
vornehmlich  auf  die  Verwendbarkeit  in  Sachen  der  Canzlei  und  füllt  den  groesseren  Theil 
seines  Buches  Anm.  10  mit  Vorschriften  über  die  verschiedenen  BriefFormulare,  über  Titu- 
latur udgl.  8a)  Eine  Anzahl  dieser  Schriften  und  älterer,  welche  als  Vorstufen  gelten 
können,  sind  neu  gedruckt  bei  .Job.  Müller,  Quellenschriften  u.  Gesch.  des  deutschsprachlichen 
L'nterrichts  bis  zur  Mitte  des  16.  Jahrb.  Gotha  1882.  Der  erste  gedruckte  Versuch  einer 
systematischen  Anleitung  in  der  deutschen  Orthographie  ist  der  Schryfftspiegel,  Köln  1527  : 
Müller  382  fgg.  9)  Enchiridion.  Das  ist,  hantbüchlin  tütscher  Orthographi  u.  s.  w. 
Basel  1530;  Raumer  a.  a.  0.  9,  Müller  414;  in  Zürcher  Mundart  umgesetzt:  Anm.  5. 
Kolross  Teütsch  Lehermayster  zuo  Basel,  auch  Dichter  :  §  94,  31.  §  105,  76.  10)  Or- 
thographia.  Deutsch.  Lernt  recht  buchstäbig  deutsch  schreiben.  Wittenberg  1531 ;  Mag. 
Fdh.Yr&ügk  Bürger  zutn  Buntzlaw  in  Schlesien:  Raumer  7  fg.  Müller  388.  11)  Teutsclie 
Grammatica  Daraiiss  einer  von  jm  selbs  mag  lesen  lernen  u.  s.  w.  1.534 ;  ein  Vorläufer 
Die  rechte  weis  aicffs  kürzist  lesen  zu  lernen  scheint  1527  von  Luther  erwähnt  zu  werden. 
Ickelsamer  vielleicht  von  Rothenburg  a.  d.  Tauber,  dort  und  anderswo  Schulmeister  :  Raumer 
10  fgg.  K.  "Weigand  in  H.  Fechner,  Vier  seltene  Schriften  des  16.  Jahrb..  Berlin  1882. 
12)  Teutsclies  Sylldbierbuechlein,  Freib.  im  Uchtl.  1593:  Helber  Notar  zu  Freiburg  im 
Breisgau.  Vgl.  Anm.  29.  13)  Grammatica  seu  Institutio  Verce  Germanicce  linguce,  in 
qua  Etymologia,  Syntaxis  et  reliquce  partes  omnes  suo  ordine  breciter  tractantur.  In 
usum  juventutis  maxime  Gallicce  —  Strassb.  1573;  Oelinger  Notar  an  diesem  Orte,     Über 


12  NEUIKH'IinErTSCHE  ZEIT.        XVI  JAIIRH.  §  93 

Sprache  selbst  '*  gipng  Johaxxes  Clajis  '\  und  wie  er  nocli  cntschioilner, 
als  schon  Frangk  gethan  ""',  Grund  und  Gewffihrschaft  seiner  Kegeln  bei 
Luther  sucht  '"  und  seine  Grammatica  (Tormanicce  linc/uce  von  1578  an 
bis  zum  Beginne  des  achtzehnten  Jahrhunderts  in  weit  verbreitetem  Ge- 
brauche '",  im  (iebrauch  sogar  katholischer  Schulen  '"  geblieben  ist,  muss 
sie  als  die  eigentliche  Ahnherrin  all  der  s[)a^teren  Sprachlehren  angesehen 
werden.  Ausser  den  Sprachlehren  auch  in  WfiuTKRiUKCMKKx,  deren  erstes, 
von  Petrus  Dasvpodhs  1535  herausgegeben,  in  seiner  theilweis  nach  dem 
Sachinhalr  getroffenen  Anordnung  sich  noch  eng  an  mittelalterliche  Vor- 
gänge knüpft  -",  in  Wörterl)üchern  und  sonst  auf  mannigfache  Art  be- 
tha'tigten  sich  jene  Bedürfnisse  und  die  frisch  erweckte  Lust  an  ge- 
lehrter Betraclitung  und  Behandlung  der  eigenen  Sprache  ^\  in  den  Ver- 
suchen z.  B.  die  Bechtschreibung  zu  regeln,  die  mehrmals  im  Verfahren 
wechselnd  Johannes  Fischaut  und  auffälliger  als  er  Paulus  Melissus  machte^^, 
und  in  den  Ausdeutungen   von    Orts-    und  Volks-  und  Personennamen,   der- 

ihn  und  seinen  plagiatorischen  Doppelgäntcer  Laitrentius  Albertus  {Teutsch  Gram- 
nioticli',  Augsb.  ir>7;5)  Raumer  5U  t'gg.  Doch  liat  Laur.  Albertus  manches  eigene;  gutes 
besonders  über  Prosodie:  Höpt'ner  Ktformbestrebungen  IT).  l-l)  Hchon  Fraugk  hatte 
eine  eigentliche  Grammatik  des  Deutscheu  gewünscht:  ßaumer  11:  und  Paulus  Rebhux 
laut  der  Vorrede  zu  seiner  Susanna  v.  1544  (i?  105,  108)  eine  solche  verfasst,  aber  noch 
nicht  ganz  vollendet:  Gottscheds  Nceth.  Vorrath  ■/..  Gesch.  d.  deutschen  Dramat.  Dichtkunst 
1,  89.  Von  Melissus  IntroducUo  in  linguaiu  germfinicam  Anm.  22.  15)  Grammatica 
Germanicce  Ungute,  Leipz.  1078 :  Mag.  J.  C'lajus  geb.  zu  Herzberg  im  Meissnischen  1535, 
Schulmann  an  verschiedenen  Orten,  zuletzt  und  bis  zu  seinem  Tode  1Ö92  Prediger  in  Bende- 
leben bei  Frankenhausen  :  Raumer  18  t'gg.  Eckstein  ADB.  Von  seinen  antikgemessenen 
Versen  §  04.  30;  eiu  Spottgedicht  §  110.  3G.  16)  Frangk  bezeichnet  als  Muster  eines 
guteu  Deutsehen  Keystr  Maximilians  Omtzley  vnnd  (User  zeit  IJ.  Luthers  schreiben  :  Raumer  8. 
17)  daher  auch  auf  dem  Titel  weiter  Ex  BibUis  Lutheri  Genminicis  et  aliis  eius  libris 
coUecta.  Rebhun  hatte  seine  Grammatik  ebenfalls  vornehmlich  auf  Luthers  deutsche  Schriften 
gerichtet.  18)  Ausgaben  bis  1720:  meine  Geschichte  d.  deutschen  Hexameters  28.  19)  Zu 
dem  Zweck  Änderung  des  Titels  (ex  optimis  quibusque  autoribus  collecta),  AVeglassung  der 
Vorrede  udgl. :  Raumer  27  fgg.  20)  iJasypodius  deutsch  HcesUn  ?  Dictionarium  Latino- 
gernmnicum,  et  vice  versa  GermanicoUitinum,  zuerst  Strassb.  1535 :  Dasypodius  cathoUcus 
§  92,  2.  Naechst  ihm  Erasmus  Alberus,  Noviim  dictiomirii  genus,  Frankfurt  1.540 : 
JusuA  Maaler  Anm.  31  ;  Melissus  Anm.  22.  21)  Vgl.  §  110,  42.  Die  Ausgabe  Ot- 
trieds jedoch  durch  Matthias  Flacius,  Basel  1571.  ward  nur  um  kirchlicher,  nicht  um 
philologischer  Gründe  und  Zwecke  willen  unternommen.  22)  in  seinen  Psalmen  1572 : 
LB.  2.  201 :  er  habe  sich,  sagt  er  in  der  Vorrede,  dieser  Schreibung  schon  in  seiner  In- 
troductione  in  Unguam  germanicam  bedient  und  werde  sie  noch  in  Dictionario  germanico 
erhärten. 


§  93         HOCHDEUTSCH,  NIEDERDEUTSCH,  MUNDARTEN.  13 

gleichen  schon  Luthkr  selbst  -^,  zumal  aber  als  Lieblingsgeschäl't  wiederum 
Fischart  trieb  -*.  Hier  wie  dort  fehlte  es  freilich  an  Abenteuerlichkeiten  nicht: 
denn  der  Liebe  und  dem  Eifer  stand  kein  entsprechendes  Mass  von  Wissen 
und  Besonnenheit  zur  Seite.  ^^ 

Sodann  eine  zweite  Folge  der  Verhältnisse,  unter  denen  die  neue  Sprache 
hervorgetreten.  Anfänglich  zwar  befremdete  sie  die  Niedp:rsachsen,  selbst  die 
evangelischen,  in  gleichem  Masse  als  die  Schweizer,  und  es  war  nothwendig, 
Luthers  Bibel  und  Lieder  der  Lutherischen  Kirche  ihnen  zu  übersetzen  ^^, 
andre  gleich  in  ihrem  Deutsch  zu  dichten  ^^,  und  an  diese  kirchliche  Dichtung 
schloss  sich  ein  neuer  Aufschwung  der  niederdeutschen  Litteratur  überhaupt 
an  -^  *  :  allgemach  aber  erlagen  der  Widerstand  und  der  L^nterschied  vor  der 
Einheit  des  Glaubens,  vor  dem  geistigen  Übergewicht  der  hochdeutschen 
Litteratur,  das  längst  schon  bestehend  jetzt  sich  nur  vollendet  hatte,  vor  den 
niedersächsischen  Anklängen,  die  dem  Yerständniss  dieses  Hochdeutschen 
Erleichterung  gewsehrten,  und  auch  Niederdeutschland  gab  sich  der  Herrschaft 
desselben  hin  um  weder  mit  Ernst  noch  mit  Erfolg  sich  jemals  mehr  dawider 
aufzulehnen.  ^^     Bezeichnend  hiefür  ist,  wie   Thomas  Kaxtzow,  ein  Pommer, 

23)  Alüpiot  Nomina  liropria  Germanortim  ad  priscam  Etymologiam  restituta  per 
quendam  antiqiiitatis  studiosiim,  Wittenb.  1537:  unter  Luthers  Namea  zuerst  1559: 
Küstliu  2.  444.  24)  z.  B.  LB.  2,  243  fgg.  3,  1,  483  fg.  Vor  ihm  Beatus  Rhenanus, 
auch  Aventinus  (§  1U8,  2.  26  tgg,).  25)  Die  Vor-  und  Urgeschichte  Deutschlands  bloss 
der  Namendeutung  wegen  mit  allerlei  Fabeln  ausgefüllt,  Graiiier  und  Germanen  ohne  weiteres 
für  Ein  Volk  genommen,  aus  der  Uebereinstimmung  des  Griechischen  und  des  Deutschen 
deutscher  Ursprung  des  Griechischen  gefolgert  udgl.  Viel  verständiger  und  deshalb  richtiger 
als  Fischart  behandelt  die  Alterthümer  der  deutschen  Sprache  TsciiUDi  LB.  3,  1,  381  fgg 
26)  das  Neue  Test.  Wittenb.  1522,  die  ganze  Bibel  Lübeck  15:34  u.  s.  f.  bis  1621:  Kinder- 
lings  Gesch.  d.  Nieder-Sächs.  Sprache  396  fg.;  Lieder:  §  103,  8.  Agricolas  Sprichwörter 
§  111,  5;  Ringwaldts  Treuer  Eckard  §  99.  00.  Strizers  Schlemmer  §  105,  84.  27)  Lieder 
von  Vespasius  u.  a. :  §  103,  9.  Burkakd  Waldis  Drama  vom  Verlornen  Sohne  §  99,  43. 
27a)  Feststellung  des  niederdeutschen  Sprachschatzes  in  (Nathan  Chytr.i-:u.s)  Nomenciator 
Latinosaxon,icus,  Bostochn  1582.  28)  Kinderling  a.  a.  0.  375  fgg.  1621  ward  die  letzte 
niederdeutsche  Bibel,  1G30  das  letzte  niederd.  Gesangbuch  gedruckt.  Joir.  MiCR^?:nus  in 
seiner  Pommerischen  Chronica  1639  (Morhofens  Unterricht  v.  d.  Teutschen  Sprache  1718, 
438)  Wir  andern  Sachsenleute  luiben  nun  auch  an  unaerer  Muttersprache  einen  solchen 
Eekel  yeliabt,  das  unsre  Kinder  nicht  ein  Vater  unser,  wo  nicht  in  Hochteutscher  Sprache, 
beten,  und  tvir  keine  Pommerische  Predigt  fast  mehr  in  gantz  Pommern  Heeren  mcegen. 
Und  in  Hans  Wh.msen  Laurembergs  viertem  Scherzgedichte  (1654),  das  gleich  den 
übrigen  niederdeutsch  und  nicht  dem  Hochdeutschen  zu  Ehren  verfasst  ist,  sagt  gleichwohl 
der  Hochdeutsche  zu  dem  Xiedersachsen  ja  selbst  in  eurem  Land,  bey  euren  Ijandesleuten, 
in  allen  Cantzeleyn  (Anm.  3)  ist  unsre  Sprach  gemein,  ivas  Teutsch  geschrieben  irird,  mus 


14  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.  §  93 

die  Chronik  soines  Hoiinathlandcs  zuerst  (1582)  aucli  in  der  heimathliehen 
Mundart,  spa'tor  jodoeh  wiederum  Iiochdeutsoh  aufgesetzt  hat  (§  108,  32), 
wie  sich  der  niederdeutsche  Eilknsi'ie(jei<,  falls  niemlich  ein  solcher  je  be- 
standen, neben  seiner  hochdeutschen  Übertragung  fast  spurlos  hat  verlieren 
können  (§  107,  17).  Nun  erst  begann  der  ^amc  hochilcuf seh,  der  bisher  s.  v. 
a.  oberdeutsch,  also  nur  zum  Niederdeutschen  der  Gegensatz  gewesen  ^'\  in 
den  Gegensatz  des  Gebildeten  zum  Gemeinen  (§  100,  10.  12.  13),  der  herr- 
schenden Schriftsprache  ^",  zu  der  tiefer  liegenden  und  wandelbaren  Yolks- 
niundart  hinüber  zu  spielen.  "  Zugleich  aber  ward  nun  unausbleiblich,  dass 
die  hochdeutsche  Sprache  wachsenden  Einflüssen  der  niederdeutschen  offen 
stand  und  immer  mehr  und  noch  mehr  aus  dieser  in  sie  aufgenommen  ward, 
als  Luther  und  die  Seinen  schon  in  ihr  vorgefunden  oder  ihr  gebracht  hatten. 
Ein  Beispiel  die  Verkleinerung  mit  chen,  die  jetzt  zwar  die  allgemein  schrift- 
deutsche, eigentlich  aber  unhoclideutsch  ist,  die  auch  Luther  nur  in  Briefen, 
wo  er  sich  heimathlicher  gehn  laesst,  braucht,   während  er  in  der  Bibel  nur 

alles  Hochteutsch  sein,  in  Kirclien  m'rd  GOltn  Wort  in  unser  Sprach  gelehret,  in  Schulen, 
im  (rericht,  vird  nur  Hochteutsch  gehccret,  Kicr  eigen  Muttersprach  ist  bey  euch  seihst 
unuerth,  wer  öffentlich  drin  redt,  den  helt  man  nicht  gelehrt.  Bezeiclinend  für  das  Sinken 
des  Niederdeutschen  ist  der  Gebrauch  desselben  als  Bauernsprache  bei  den  norddeutschen 
Schauspieldichtern  seit  lö7H:  §  106,  12.  29)  s.  Aniu.  7.  Die  Deutschordenschronik  des 
Niculaus  V.  Jeroschin  v.  Pfeiffer  x.  Noch  auf  dem  Titel  von  Fischarts  Bienenkörbe  l.')?'.»  Nider 
Teutsch  —  gut  preyt  Frünckisch  hoch  Teutsch  und  in  Helbers  Sylbenbuechleiu(Anni.  12)31— 3.'i 
Viererlei  Teütsche  Sprachen  weiss  ich,  in  denen  man  Buecher  dru<:kt,  die  Cölniselte  oder 
Giilichische,  die  Siichsische,  die  Flämmisch  oder  Bral>antische,  vnd  die  Ober  oder  Hoch 
Teütsdie.  Vnsere  Gemeine  Hoch  Teütsclie  wirdt  auf  drei  weisen  gedruckt :  eine  möchten 
wir  nennen  die  Mitter  Teütsche,  die  andere  die  Donawisclie,  die  dritte  Hwchst  Beinische :  — 
Die  Drucker  so  der  Mittern  Teütschen  aussjjrach  als  vil  die  Diphthongen  ai,  ei,  au,  de. 
belangt,  lullten,  rerstee  ich  die  von  Meinz,  Speier,  Franckfurt,  Würtzburg,  Heidelberg, 
Nörnberg,  Strassburg,  Leipsig,  Erdfurt,  vnd  andere,  denen  auch  die  von  Cölen  volgen,  tcan 
sie  das  Ot/er  Teutsch  verfertigen.  Donawische  rerstee  ich  alle  in  den  Alt  Baierischen  vnd 
Sdtwebischen  Landen,  den  Bein  vnberuert.  —  Hoechst  Beinische  lestlich,  die  so  cor  iezigen 
jaren  gehalten  haben  im  Drucken  die  Sprach  der  Eidgenossen  oder  Schweitzer,  der  Wal- 
liser, vnd  etlicher  beigesessener  im  Stifft  Costantz,  Chur,  vnd  Basel.  Eine  andre  Bezeich- 
nung des  Gegensatzes  §  17,  2.  30)  Der  Ausdruck  Hauptsprache  erlangt  den  Sinn  der 
Gemeinsprache  den  Mundarten  gegenüber  erst  durch  Schotte!  1663;  vorher  bezieht  er  sich 
auf  die  für  das  Bibelstudium  wichtigsten  Sprachen:  Hebraeisch.  Griechisch  und  Latein: 
s.  Grimms  "\Vb.;  und  so  gebraucht  das  Wort  auch  F.  Frangk:  Müller  93.  Vgl.  §  128. 
31)  Sichtlich  schon  bei  Josaa  Maaler:  Die  Teutsch  spraach.  Alle  Wörter,  namen  vnd  arten 
zuo  reden  in  Hochteütscher  spraach  —  Dictionariu)n  germanicolatinum  norum.  Hoc  est , 
Lingua'  Tcutoniuc,  superioris  prasertim,  J'hesaurus  u.  s.  \v.    Zürich  l.'iiJl.    Nicht  das  Ober- 


§  93  SCHRIFTSPRACHE.       MUNDARTEN.  15 

mit  lein  verkleinert,  der  eigentlich  hochdeutschen,  aber  für  die  Schriftsprache 
jetzo  meist  veralteten,  mundartlichen,  dichterischen  Form.  ^^ 

Die  bisher  besprochene  Stellung  des  Neuhochdeutschen  zu  den  Mundar- 
ten hier  des  obern,  dort  des  niederen  Deutschlands  konnte  tiefer  gehend  und 
gründlicher  erst  im  achtzehnten  Jahrhundert  eine  Lmwendung  erfahren,  als 
die  Schweiz  und  dann  der  übrige  Süden  des  hochdeutschen  Sprachgebietes 
wieder  eingriff  in  die  Litteratur  und  so  eingriff,  dass  seitdem  mehr  als  ein 
grosser  Dichter  und  die  groesten  fast  alle  von  daher  gekommen  sind.  Seit- 
dem ist  die  Sprache  der  verdeutschten  heil.  Schrift  zwar  noch  der  Grundton 
für  die  feierliche  Redweise  des  evangelischen  Gottesdienstes  und  noch  die 
unverrückte  Grundlage  alles  Schriftdeutschen,  wie  ja  auch  dasselbe  Land,  in 
welchem  Luther  seine  Yerdeutschung  gearbeitet,  es  gewesen  ist,  das  Wieland, 
Goethe,  Herder,  Schiller  an  sich  zog,  und  es  hat  bei  ihrer  beherrschenden 
Ausbreitung  über  ganz  Deutschland  hin  sogar  manches  ihrer  Worte,  das  ei- 
gentlich nicht  hochdeutsch  ist,  bis  in  die  Yolksmundarten  des  Oberlandes 
dringen  können  ^^ :  dennoch  ist  über  jener  Grundlage  seitdem  eine  Erneuerung 
vorgegangen,  schnelleren  Schrittes  und  umfassender  als  je  zuvor :  wie  viel 
Worte  und  Wortformen  hat  die  Schriftsprache  seitdem  als  veraltet  fallen 
lassen,  wie  viele  statt  deren  neu  geschaffen,  und  was  am  wichtigsten  ist,  wie 
vielen  das  Bürgerrecht  gegeben,  deren  Heiinath  Mundarten  des  Südens  sind ! 
Bis  um  1750  mochte  immer  noch  mit  einigem  Rechte  das  Deutsch  der 
Meissner,  der  Obersachsen  sich  für  die  Richtschnur  alles  Hochdeutschen 
geben  ^*,  obwohl  bereits  die  Schlesischen  Dichter  des  siebzehnten  Jahrhun- 
derts (vgl.  §  115,  14)  mannigfach  von  dieser  Richtschnur  abgewichen  und 
Zweifel  an  deren  Verbindlichkeit  schon  damals  mit  Nachdruck  laut  geworden 

deutsch  von  Zürich  und  dennoch  Hochdeutsch,  nur  superior  prcesertim,  und  Deutsch  und 
Hochdeutsch  gleichbedeutend.  32)  Selbst  in  dem  Briefe  an  seinen  Sohn  Hans  neben 
einander  Soehnichen,  Hänsichen  und  Sahnlin,  Rmcklin,  Pferdlin:  LB.  3,  1,  171  fg.;  vgl. 
JGrimnis  Deutsche  Gramm.  3,  G79  fg.  Haupts  Zeitschr.  f.  Deutsches  Alterth.  7,  öfjG. 
33)  z.  ß.  hange,  fahlen,  hoffen,  kriegen  d.  i.  bekommen  (niederd.  krujen),  wehen  in  lehen 
und  weben  für  hochd.  iceihen,  Gerächt  für  Gerüfte  (vgl.  Haupts  Zeitschr.  2,  öö6),  fett  neben 
hochd.  feisst.  Vgl.  0.  J<euicke,  Ueber  die  niederdeutschen  Elemente  in  unserer  Schrift- 
sprache, Wriezen  18G9.  34)  Kaumer  a.  a.  0.  51:  prinms  obtinet  dialectus  Misnica,  quee 
Germanis  idem  eat,  quod  Grcecis  Attica,  Italis  Florentina,  Gallis  Aurelianensis,  Hii^panis 
Toletana  Scioppius  451 :  s.  Anm.  3.  4.  Noch  andere  Belege  s.  (Hildebrand)  Grenzboten 
1860  I  99  fgg.  Vgl.  ferner  Zesen,  Adriat.  Rosemund  S.  204  die  Meissner  welche  auch  die 
allerlihhlichst  und  reineste  Sprache  hahen.  Schon  eine  Priamel  des  lö  Jh.  in  Eschenburgs 
Denkiii.  417  in  Meissen  TeutxcJie  Sprach  gar  gut.    Daher  den  Franzosen  hon  Sa.ron  s.  v.  a. 


16  XElIHOriTDET'TSCIIE  ZEIT.        XVI  JATIRII.  §  93 

waren'':  seitdem  abei-  ist  auch  kein  Schein  des  Rechtes  mehr  vorhanden.'" 
Jetzt  ist  die  Schriftsprache,  und  was  ihr  die  Kegel  giebt,  weder  vorzugs- 
weise in  Obersachsen  noch  irgend  sonst  wo  im  Norden,  sie  ist  jetzt  nirgend 
melir  daheim,  weil  sie  es  überall  ist,  muss  überall  erst  gelernt  und  geübt  wer- 
den, kennt  für  ihre  Worte  und  Wendungen  kein  andres  Gesetz  mehr  als  den 
classisch  ausgebildeten  Gebrauch  und  für  die  Aussprache  keine  anderen 
Kegeln,  als  die  sich  in  der  geschichtlich  wohlbegründeten  Kechtschreibung 
erweisen. 

Die  landschaftlich  noch  erhaltenen  Überreste  des  Sprachzustandes,  wel- 
cher der  Schriftsprache  vorangegangen  war,  die  hochdeutschen  Mundarten  *', 
zu  denen  nun  auch  das  Obersächsische  wiederum  gebeert,  haben  seit  der  Ent- 
stehung jener  je  tiefer  und  tiefer  sinken  müssen.   Es  zehrt  zugleich  an  ihnen 

gut  Hochdeutsch.  35)  Scioppius  4.")1  findet  bei  den  Meissnern  Wdlil  die  besten  Worte 
und  Windungen,  aber  eine  lächerlich  schlechte  Aussprache.  Im  Teutschen  Miciiel  Cp.  11 
duhingegen  —  die  I^iptziyer  von  den  Meissnern,  und  aho  auch  andere  von  ihren  yroh- 
deutschredenden  Nachbarn  viel  Unzierden  an  sich  nehmen  müssen.  Stellen  aus  (Tranuna- 
tikern  des  17  Jh.  bei  Räumer  51.  54.  36)  Wenn  gleichwohl  noch  Gottsched,  wenn  noch 
Adelung  es  hat  wollen  geltend  machen,  so  können  das  beide  doch  nur,  indem  sie  die  Rede 
des  gebildeten  Dresdners  und  Leipzigers  von  der  des  niederen  Volks  dort  unterscheiden  und 
letzterer,  der  1806  gestorben  ist,  die  litt«rarische  Gewaehrschaft  der  guten  Sprache  bloss  bei 
den  Schriftsteilern  im  zweiten  Viertel  des  18  Jh.  findet:  Raumer  68.  71.  Auflehnung  der 
Zürcher  gegen  die  Spraehaumassungen  der  Gottsehedischen  Schule:  Sammlung  d.  Zürcheri- 
schen Streitschriften  2,  1753,  9  fgg.  Spott  der  Xenien  LB.  2,  1219.  37)  Geographische 
Übersicht  der  deutschen  Mundarten  in  Bernhardi.s  Sprachkarte  v.  Deutschland,  Kassel 
1843.  1849:  Berghaus,  Gotha  1852;  Kiepert,  Berlin  (vor  187U);  ein  besonders  tiefgreifendes 
Unternehmen,  aber  erst  in  den  Anfängen  begrifTen :  G.  Wencker,  Sprachatlas  von  Nord-  und 
Mitteldeutschland  I  1,  Strassburg  1881.  Bibliographische  Znsammensetzung  von  Trcemel: 
die  Litt.  d.  Deutschen  Mundarten,  Halle  1854:  K.  v.  Bahder.  Die  deutsche  Philologie  im 
Grundriss,  Paderborn  1883,  S.  160  fgg.  Proben  aus  allen  in  Germaniens  Völkerstimmen 
V.  Firmenich,  Berl.  1843 — 1853.  Unter  den  lexicalischen  u.  grammatischen  Einzelwerken 
ilie  vorzüglichsten  Stalders  Versuch  eines  Schweizerischen  Idiotikon.  Basel  u.  Aarau  180<j. 
1812  und  dessen  Landessprachen  der  Schweiz,  Aarau  1819:  J.  Staub  u.  L.  Tobler.  Schwei- 
zerisches Idiotikon,  Frauenfeld  1881  fgg.:  ferner  wegen  des  genaueren  Eingehens  auf  pho- 
netische Fragen:  Winteler,  Die  Kerenzer  Mundart,  Lpz.  u.  Heidelberg  1876,  Hunziker,  die 
Aarsauer  Wb..  Aarau  1877:  Schmeller.s  Mundarten  Baverns.  München  1821,  u.  dessen 
Bayerisches  Wörterbuch,  Stuttg.  u.  Tübingen  1827 — 1837,  2.  Aufl.  besorgt  von  Frommann 
1872—77:  Tobler.s  Appenzellischer  Sprachschatz,  Zürich  1837:  Weixhold  über  deutsche 
Dialectforschung:  die  Laut-  und  Wortbildung  und  die  Formen  d.  Schles.  Mundart,  Wienf 
IS.'iS.  Auf  niederdeutschem  Gebiet  ist  noch  immer  die  vorzüglichste  Gesammtdarstellung 
der  Versuch  eines  bremisch-niedersächsischen  Wörterbuchs,  Bremen  I — V,  1767 — 71;  mit 
Nachtrag  1869.     Eine  Sammelstelle  für  alle   diese  Forschungen  bot    Frommanns  Zeitschrift 


§  93  MUNDARTEN.  17 

der  Einfluss  des  Schriftdeutschen  (Anm.  33),  zugleich  erstarren  und  verar- 
men sie,  weil  ihnen  die  litterarische  Uebung  und  die  Pflege  im  Mund  der  Ge- 
bildeten fehlt.  So  besonders  die  nord-  und  mitteldeutschen,  die  der  Schriftsprache 
aehnlicher  sind  und  deshalb  mehr  von  der  Einwirkung  derselben  und  mehr 
von  der  sproeden  Zurückhaltung,  weil  diese  nun  leichter  ist,  zu  leiden  haben. 
Nicht  jedoch  so  im  Süden,  namentlich  nicht  so  in  der  Schweiz.  Hier  sind 
den  Mundarten,  selbst  der  Schriftsprache  gegenüber,  noch  mannigfache  Vor- 
züge des  "Wohllauts  und  des  Wortreichthumes  eigen  ^^:  hier  aber  ist  die 
Sprache  des  Yolks  auch  die  des  Lebens  Aller,  die  Schriftsprache  mehr  nur 
eben  die  der  Schrift,  und  zahlreiche  und  begabte  Dichter  bewsehren  und  stär- 
ken die  Befaehigung  der  ersteren  auch  für  den  litterarischen  Gebrauch :  ich 
nenne  Hebel  und  Usteri  und  Karl  Rudolf  Hagenbach  ^^  für  die  obere  Ala- 
mannische  ^^  '^ ,  Johann  Georg  Arnold  für  die  Elsässer  Mundart  '^^^  Karl 
Malss  für  die  am  Main  und  Mittelrhein  ^\  Sebastian  Sailer  für  Schwaben'*^ 
Franz  von  Kobell  für  die  Pfalz  und  Baiern  ^^,  Johann  Konrad  Gruebel 

Die  Deutschen  Mundarten  I— VI,  1854 — 59,  und  VII,  Halle  1877.  Unterschieden  von  den 
Mundarten  die  bloss  lexicalisch  abweichende  Sprechweise  einzelner  Berufe:  Bergmännisches 
Wörterbuch,  Chemnitz  1778;  die  Weidmanns-Sprache  v.  Behlen,  Leipz.  1828:  Wörterb.  der 
Spitzbuben-Sprache  v.  Grolmann  1,  Giessen  1822  u.  a.  Letztere  (vgl.  §  47,  4)  durch  ihre 
hebrseische  Mischung  verwandt  mit  dem  auf  der  Mundart  des  Mittelrheins  beruhenden  Juden- 
deutsch:  Belehrung  der  Jüdisch-Teutschen  Red-  u.  Schreib-Art  v.  Wagenseil,  Koenigsb.  1699. 
38)  Trefflichkeiten  der  südteütschen  Mund-Arten  v.  Radlof,  München  1811.  Die  Schwei- 
zerische Mundart  im  Verhältniss  zur  hochd.  Schriftsprache  (von  Moerikofer),  Frauenfeld 
1838.  Quarta  (dialectus)  Helvetica,  qua  quondam  omnes  fere  Alemanni,  hodie  Helvetii 
tantum  utuntur,  quam  haud  scio  an  omnium  superioris  Germaniae  copiomsimam  minimeque 
depravatam  rede  dixerim.  Homines  enim  suo  contenti,  et  Aularum  contemtores  (ex  quibus 
fere  Helvetiorum  respublicce  constant)  exteris  minus  misceri,  neque  de  lingua  polienda  et 
adscitis  p)eregrinis  vocibus  loquendique  generibus  exornanda  soliciti  esse  solent  Scioppius 
a.  a.  0.  452.  Und  dennoch  gerade  hier  ein  Hauptbeispiel  der  mundartlichen  Verarmung. 
Als  der  Schweizersprache  die  Litteratur  noch  voller  mit  gebeerte,  bei  Zwingli,  bei  Tschudi, 
besass  auch  sie  noch  das  erzsehlende  Imperfectum:  jetzt  mangelt  ihr  dieses  gänzlich,  und  sie 
muss  zur  Erzeehlung  das  Praesens  oder  das  Perfectum  brauchen.  39)  geb.  zu  Basel  1801, 
gest.  1874.  Unter  seinen  Gedichten,  Basel  2.  Aufl.  1863,  mehrere  in  der  heimathlichen 
Mundart.  39a)  Trenkle,  Die  alem.  Dichtung  seit  Hebel,  Tauberbischofsheim  1881. 
40)  Der  Pfingstmontag,  Lustspiel  in  Strassburger  Mundart,  Strassb.  1816.  Sammlung  der 
seitherigen  Dichtung  im  Elsässer  Schatzkästel,  Strassburg  1877.  41)  Die  Entführung 
od.  d.  alte  Bürger-Capitain,  ein  Frankfurter  Heroisch-Borjerlich  Lustspiel,  Frankf.  1820, 
u.  a.  42)  Vollständigste  Ausgabe:  Seb.  Sailers  sämmtl.  Schriften  im  schwaeb.  Dialekte 
V.  Hassler,  Ulm  1842.  Sailer  geb.  zu  Weissenhorn  1714,  gest.  in  dem  Kloster  Obermarch- 
thal  1777.  43)  Gedichte  in  hochd.,  oberbayrischer  u.  pfälzischer  Mundart  München 
Waokcmagel,  Litter.  Gegcliichte.  H.  ^ 


18  NEUlIOCUnEUTSCIlE  ZEIT.         XVI  JAIIKII.  §  93 

für  Nürnberg  *\  Ljnaz  Frikduicii  Castelm  *''  und  Johann  Gaiiuikl  Skiüi/" 
für  Oestcrrcich,  Karl  von  IIoltei  für  Sclilesicn  *''.  Der  Norden  hat  erat 
neuerdings  zwei  hervorragende  Vertreter  gefunden  in  dem  Dictmarsen  Clal's 
Orotii  *''  *  und  dem  Mecklenburger  Fkitz  Reuter.  *''  ^ 

Noch  ist  übrig  von  den  (iRAMMATiscuEN  Eioenheiten,  bis  zu  welchen  von 
Lutlier  an  ein  mehr  als  dreihundertja3hriger  Ent wickelungsgang  unsre  Schrift- 
sprache über  die  Gesetze  des  Mittelhochdeutschen  hinausgeführt  hat,  wenig- 
stens die  hauptsächlich  bezeichnenden  und  da,  wo  es  moeglich  ist,  auch  den 
schon  älteren  Ursprung  und  Beginn  derselben  anzugeben. 

Zuerst  im  Bereich  der  Lautlehre  die  Vocale.  Kurze  und  doch  betonte 
Sylben  kennt  das  Neuhochdeutsche  nicht  mehr:  überall  ist  die  Hebung  der 
Stimme  von  der  Dehnung  auch  eines  vormals  kurzen  Lautes  begleitet,  und 
CS  hat  z.  B.  das  alte  vatcr,  (/eben,  im,  böte.,  tugent^  hövisch,  lüge  sich  nun  in 
Väter,  geben,  ilim.  Böte,  Thgent,  hrefisch,  Lüge  verwandelt.  ^^  Die  obersäch- 
sische Mundart  ist  hiemit  schon  im  Mittelalter,  um  das  J.  1300  vorangegangen 
und  noch  früher  die  niederrheinische  (§  47,  1);  dem  entgegen  hält  hin  und 
wieder  die  alamannische  die  alten  Kürzen  noch  jetzo  fest.  *^  Auch  eines  der 
Mittel,  welche  jetzt  die  Dehnung  bezeichnen,  die  Einschaltung  eines  h,  z.  B. 
vwhr,  hat  den  mimittelbarcn  Anlass  schon  im  älteren  Obersächsischen,  das 
vor  auslautender  Liquida  den  Vocal,  der  in  jedem  solchen  Consonantcn  ent- 
halten ist  •''",  mit  eigener  Vernehmliclikeit  auszusprechen  und  vor  denselben, 
damit  kein  Hiatus  entstünde,  noch  ein  h  zu  setzen  liebte,  also  mehcr  statt 
m?r.  '•'  Durch  eben  jenen  Einfluss  der  Betonung  sind  um  eine  Stufe  weiter 
zwei  oder  drei  Vocalc   von  ursprünglicher  und  im  Alamannischen  jetzt  noch 

1839.  1841,  n.  a.  44)  Grübeis  sämmtl.  Werke,  Nürnb.  1835;  geb.  Nürnb.  1736,  gest. 
ebd.  1809.  45)  Gedichte  in  niederoesterreich.  Mundart,  Wien  1828.  46)  Flinserln, 
Wien  1828—1839.  47)  Schlesische  Gedichte,  Berlin  1830  uö.  47a)  Quickborn  1852  uö. 
47b)  Läuschen  und  Rimels  1853  uö.  Olle  Kamellen  18G0  uö.  48)  Seltener  dient  zur 
Verlängerung  betonter  Sylben  ein  andres  Mittel,  die  Verdoppelung  des  Consonanten,  die 
dem  Vocal  seine  Kürze  lässt,  z.  B.  Hammer,  Vetter,  Sitte,  mhd.  Immer,  vetere,  site,  und  so  noch 
öfter  bei  /»  und  /:  s.  Schmeller  Bayr.  Akad.  1835  S.  739.  Die  Dehnung  hebt  schon  im  13ten  Jh. 
und  da  nicht  bloss  nördlich  an:  JGrimms  Gramm.  1,  1822,  384.  417.  Lautphysiologisch 
erörtert  von  Kräuter  Beitr.  z.  Gesch.  d.  d.  Sp.  u.  Lit.  2,  561.  Paul  ebd.  9,  101.  49)  Noch 
häufiger  dergleichen  in  dem  Hochdeutsch  des  eigentlich  niedersächsischen  Sprachgebietes, 
hier  jedoch  nur  bei  einsylbigen  Worten  wie  Tag,  gib,  Hof  und  auch  bei  diesen  nicht 
durchweg.  50)  aus  welchem  auch  Dehnungen  wie  Harz,  Heerde,  Geburt  udgl.  sich  er- 
klseren.  51)  Wenn  t  anlautet,  h  zu  diesem  gesetzt:  thum ;  eben  dieses  th  auch  im  Aus- 
laut   nach   anlautender  liq. :   Muth.      Vormals  im  gleichen  Sinne    die    Verbindung  rh   und 


§  93  SPRACHE.        EIGENHEITEN  DER  LAUTE.  19 

geltender  Länge  dem  Neuhochdeutschen  zu  Diphthongen  geworden,  i  zu  c?, 
n  zu  au  und  dessen  Umlaut  iu  zu  äw,  so  dass  z.  B.  ivtde  (salix)  und  iveide 
(pascuum),  tühe  (columba)  und  touhe  (surdus)  nun  in  den  gleichen  Lauten  zu- 
sammentrefFen,  Weide  und  Taidje.  Doch  pflegt  die  Aussprache  des  Südens  '"^ 
und  ihr  folgend  theilweise  selbst  die  Schrift  den  zwiefachen  Ursprung  noch 
zu  unterscheiden:  Weide  oder  Waide  und  Weide,  täube  mid  Taube,  Traume 
und  Schäume.  Von  diesen  Diphthongierungen  hat  im  Mittelalter  das  Ober- 
sächsische  noch  nichts  gewusst,  wohl  aber  die  Mundart  Oesterreichs  und  der 
Steiermark  ^^:  diese  Eigenheit  hat  die  Canzleispracho  zuerst  in  der  Canzlei 
Ludwigs  des  Baiern  berührt  und  ist  in  der  der  luxemburgischen  Kaiser  durch 
gedrungen.  ^*  Wiederum  obersächsisch  ist  die  grade  entgegengesetzte  Ver- 
flachung dreier  ursprünglich  diphthongischen  Laute  in  einfach  lange,  des  uo 
in  «,  des  üe  in  w,  des  ie  in  i.  ^*  ^  Indess  nicht  bloss  die  südliche  Sprechart, 
auch  überall  die  Schreibung  bewahrt  noch  staets  die  alten  Diphthongen:  in 
den  Buchstaben  sind  trügen,  trugen,  fiel  immer  noch  das  mittelhochdeutsche 
trägen  u.  s.  f.  Nur  werden,  recht  zum  Beweise,  dass  der  alte  Laut  dennoch 
verloren  gegangen,  dieselben  Zeichen  auch  auf  solche  Vocale  überti-agcn,  die 
schon  von  je  her  einfach  sind,  wie  in  Trüg,  träglicli,  viel.  Diess  ie  für  i  schon 
im  Obersächsischen  des  Mittelalters.  Durch  solche  Verebnungen  der  Laute  hat 
das  Neuhochdeutsche  ein  besseres  Gleichmass  zwischen  AVurzel  und  Schluss- 
sylben  hergestellt,  als  im  Mittelhochdeutschen  vorhanden  gewesen,  wo  die 
schwachen  e  der  letztern  noch  auf  bewegtere  Diphthongen  folgten,  und  eben 
so  gewsehrt  die  Tonlosigkeit,  welcher  jetzt  die  in  e  lautenden  Schlusssylben 
sämmtlich  unterliegen,  mehr  Gleichmass  als  der  Ton,  den  sie  im  Mittel- 
hochdeutschen auch  noch  tragen  durften:  guter,  fügende,  badeten  erscheint  in 
sich  einhelliger  als  güoter,  fiiegmde,  badeten  (§  46.  S.  126).  Eine  Folge  der 
nun  überall  geltenden  Tonlosigkeit  ist  die  weite  Ausdehnung,  welche  das  Neu- 
hochdeutsche den  Tilgungen  des  e  giebt:  im  Mittelhochdeutschen  hat  es  nur 
noch  vellest  und  vellet  heissen  dürfen,  jetzt  aber  fällst  und  fällt.     Und  zwar 

ausser  Raht  und  Rath  auch  Rhat  geschrieben.  Beides  (auch  th  zunaechst  schon  in  ober- 
sächsischen Handschriften  des  Mittelalters)  dem  griech.  lat.  rh  und  th  nachgeahmt. 
52)  Schwaeb.  Wörterb.  v.  Schmid  582.  587.  53)  JGrimms  Gramm.  1,  1840,  201  fg 
Schilling  Programm  der  Realschule  von  Werdau  1878.  54)  Zwei  andre,  deren  hier  auch 
gelegentlich  mag  gedacht  werden,  auf  alamanuischem  Boden,  die  nicht  seltne  Vertauschung 
naemlich  der  schon  im  Mittelalter  langen  ä  gegen  6,  i.  B.  ane,  wäc,  hat,  nhd.  ohne,  Woge, 
Koth,  und  der  Umlaut  des  kurzen  a  in  ö  statt  e,  z.  B.  Jialja  helle  Hölle,  laskjan  leschen 
löschen:  diess   ö   eine  von  den  Eigensinnigkeiten  Weckherlins  LB.  2,  347  fgg.        54a)  K. 


20  -  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.  §  93 

i8t,  wreliicnd  seit  Opitz  am  Scliluss  der  Worte  mehr  nur  syncopiert  wird, 
da  im  sechzehnten  Jalirliundert  häufiger  apocopiert  und  gern  auch,  was  spcB- 
terhin  ganz  abgekommen,  das  e  der  Vorsylben  getilgt  worden  (bhüfeti,  hschciden^ 
ghorsam,  gimss  udgl.):  Kürzen  und  Härten,  in  denen  ein  Jliuipthinderniss  hig 
den  Versen  einen  geregelten  Rhythmus  und  ein  Hauptanlass  ihnen  lediglich 
eine  gewisse  Sylbenzahl  zu  geben  (§  94,  4.  §  121).  Unsre  oberdeutschen 
^lundarten  verbinden  die  Vocaltilgungen  der  spsßtcren  Jahrhunderte  mit  denen 
des  seclizehnten. 

Die  CoNsoxANTEX.  Die  durchgreifendste  Änderung  auf  diesem  Gebiete 
hat  ihren  Anfang  auch  schon  im  vierzehnten  Jahrhundert  und  zwar  durch 
den  ganzen  Bereich  des  Hochdeutschen  liin  genommen,  das  Festhalten  näm- 
lich der  Media»,  des  h,  des  7,  dann  auch  des  fZ,  im  Auslaut,  wie  der  Inlaut 
sie  gewfehrtc,  jdso  Loh,  sang,  liad  und  nicht  mehr  lop,  sanc,  rat.  Bei  6  und 
d  freilich  nur  eine  geänderte  Schreibung,  dem  gleicheren  Aussehn  verschiede- 
ner Formen  desselben  Worts  zu  Liebe  ^'',  da  für  das  Ohr  zwischen  loj)  und 
Loh,  rat  und  Rad  kaum  wird  zu  unterscheiden  sein;  nicht  so  bei  g:  denn 
sang  mit  k  zu  sprechen  ist  nur  landschaftliche  Art  und  Unart,  ebenso  nur 
landschaftlich  und  Einwirkung  des  Niederdeutschen  wie  Fliig  mit  eh.  Von 
dem  Wechsel  zwischen  v  und  /,  h  und  ch,  der  jenem  zwischen  Media  und 
Tenuis  gleich  geht,  hat  unser  Deutsch  das  einemal  gleichfalls  den  milderen 
Laut  am  Ende  wie  inmitten  der  Worte,  Reh  wie  Rehes,  nicht  mehr  rech  (nur 
wird  das  h  in  Reh  wiederum  bloss  geschrieben,  nicht  gesprochen),  das  andre- 
mal den  härteren  nun  auch  innerhalb,  Wolfes  wie  Wolf^  nicht  mehr  wolves, 
und  das  milde  v  ist  nur  noch  Mundarten  geblieben.  Andre  Abweichungen 
hier  betreffen  nicht  so  ganze  Classcn,  sondern  bloss  einzelne  Laute  und  Laut- 
verbindungen. So,  bereits  im  dreizehnton  Jahrhundert  und  zuerst  in  hoch- 
alamannischen  Landen  nachweisbar  '"''  ^ ,  auf  Anlass  der  schon  älteren  Ver- 
bindung sehr  der  Übergang  von  sl,  sm,  sn,  siv  in  das  breitere  schl,  sehn, 
sehn,  schio  und  ebenso  von  sj)  und  st.,  sobald  sie  anlauten  (für  den  Auslaut 
fehlt  das  bestimmende  Vorbild  eines  sehr  oder  schT).,  in  schp.,  seht,  die  letztern 
im  Mittelalter  auch  geschi-ieben  (§  47,  2),  im  Neuhochdeutschen  nicht  mehr : 
sp  und  st  dürfen  noch  Consonanten  nach  sich  haben,  Schplitter  aber  und 
schtrenge  wsere  ganz  so  unhaushälterisch,  wie  in  schtvül  das  Dehnungszeichen 

V.  Bahder.  Ueber  ein  vocalisches  Problem  des  Mitteldeutschen.  Leipz.  1880.  55)  Lob, 
Bad  wie  Lobes,  Rades.  Das  Festhalten  doppelter  Consonanten  auch  am  Schlüsse  (B(ill, 
Spott,  mhd.  bal  hnJJes,  spot  spottes)  hat  keinen  anderen  Sinn   noch  Werth.         55a)  Wein- 


§  93  SPRACHE.         EIGENHEITEN  DER  LAUTE.  21 

von  kühl  erscheint.  Der  Süden  durchweg  und  unter  Umständen  auch  nörd- 
liche Lande  geben  den  sp  und  st  den  breiteren  Laut  auch  am  Schlüsse, 
Niedersachsen  im  llochdeutschreden  den  schärferen  auch  im  Beginn  der  Worte 
diese  durch  Einfiuss  ihrer  Mundart,  die  kein  schp  und  seht,  die  aber  auch  kein 
schl  u.  s.  w.  kennt,  sondern  gleich  dem  Mittelhochdeutschen  nur  sp,  st,  sl. 
Eine  zweite,  auch  den  Ä-laut  betreffende  Änderung  laesst  ebenso  schon  bis 
in  das  dreizehnte  Jahrhundert  sich  zurückverfolgen :  ^^  ^  schon  da  erlosch  in 
der  Aussprache  der  alte  Unterschied,  der  vielleicht  ein  ganz  anderer  war,  als 
wir  jetzt  meinen  ^^,  zwischen  7,3;  und  ss  oder  auslautend  7^  und  s,  und  beider- 
lei Zeichen  galten  nur  noch  je  einem  und  demselben  Laute  (§  47.  S.  162) : 
seitdem  pflegte  innerhalb  S5,  am  Schluss  der  Worte  ss  gesetzt  zu  werden, 
grosse,  aber  grosz,  rosse,  aber  rosz  (vorher  gr67,e  grbi,^  rosse  ros),  und  diess 
für  das  Auge  nicht  unschickliche  Verfahren  ist  im  Gebrauch  geblieben,  bis 
erst  die  neuere  Sprachlehre  gemeint  hat  die  Einfachheit  durch  bald  diese, 
bald  jene  Erfindung  der  Willkür  verwirren  zu  müssen.  Die  Verschmelzung 
von  ?  und  ss  geht  durch  ganz  Hochdeutschland:  zumeist  der  fränkischen  Mundart 
eigen  ist  die  Ungewissheit  zwischen  s  und  ss:  auch  der  Art  Manches  nun  in 
der  Schriftsprache,  ss  für  s  wie  Geissei  aus  gisel  und  geisel,  noch  häufiger  s 
für  SS  oder  ss  wie  Kreis,  verweisen,  Loos,  Krehs,  Binse  udgl.  aus  Tirei^,  ver- 
teilen, lö'^,  Jcreh^,  hinz,.  Endlich  noch  mehrfache  und  nicht  seltene  Consonant- 
veränderungen,  die  vom  Niederdeutschen  her  in  das  Obersächsische,  in  die 
Canzlei-  und  Schriftsprache,  theilweis  sogar  bis  in  die  südlichen  Mundarten 
gelangt  sind,  h  für  c/i,  p  für  f  und  pf,  t  für  s,  d  (das  so  im  Anlaut  freilich 
auch  schon  alte  Art  des  Elsasses  ist)  für  t,  z,  B.  haclcen^  Block,  schleppen  d. 
h.  schleifen,  Stempel  d.  h.  stempfei,  Torf  d.  h.  stirb,  Docht  d.  h.  täht,  däm- 
mern d.  h.  timhern.  Dergleichen  besonders  unter  den  Ausdrücken  der  See- 
fahrt und  des  Handels:  natürlich,  da  Oberdeutschland  keine  Seefahrt  hat,  in 
den  Hsefen  des  Nordens  aber  die  Sprache  des  Volks  die  niederdeutsche  ist. 
Also  Rhede,  Bord,  Boot,  Flotte,  Tau,  Theer,  Hafen,  Stapel,  Fipe,  mcekeln, 
Wrack  u.  a.,  die  auf  Hochdeutsch  Beite,  Bort,  Boss,  Flosse,  Zaii,  Zäher, 
Uahe,  Staffel,  Pfeife,  mächein  und  Bach  lauten  wikden  und  lauten. 

Wir  gehn  von  Eigenheiten  der  Lautlehre  zu  denen  der  Wortlehre  und 
zunaechst  zur  Wortbildung  über. 


hold  Alem.  Gramm.  §  190.  55b)  Weinhold  ebd.  §  187.  188.  56)  JGrimm  (Deutsche 
Gramm.  1,  1822,  26.  496)  verneint  die  Übereinstimmung  des  goth.  und  niederländischen  z 
d.  h.   eines   erweichten  s  und   des  alt-  und  mittelhochd.  z  d.  h.  sz.     Wie  aber,   dass  noch 


22  NEUllOCUDELTöCllE  ZEIT.  §  93 

Die  Bofieliigung  der  Oermauisclicii  Spraclien  ihren  Worfschutz  immer 
noch  durch  neue  Bildungen  zu  meinen  liat  das  Neuhoclideutschc  wahrend 
seines  ganzen  Verlaufes  benutzt  und  dargethan. "  Weniger  zwar  auf  Wegen 
der  Ableitung:  hier  ist  die  ältere  Sprache,  hier  sind  auf  deren  Grunde  auch 
noch  die  Mundarten  maimigfaltiger,  die  neuere  aber  und  die  Sprache  der 
Bücher  hat  mehr  als  ein  altes  Bildungsmittcl  gänzlich  fallen  lassen  und  andre 
vermengt,  die  frülier  geschieden  waren.  ''^  Desto  schöpferischer  erweist  sich 
das  Neuhochdeutsche  in  ZrsAMMKXsETzuNfJEN,  schöpferischer  und  reicher  als 
schon  das  alte  und  mittlere  Hochdeutsch,  und  dazu  hat  ihr  bereits  in  den 
Anfängen  Luthei-,  dazu  im  sieljzehnten  Jahrhundert  ein  bewusstes  Dichterbe- 
dürfniss,  dazu  wieder  in  der  classischen  Zeit  des  achtzelmten  und  jetzt  beim 
Ilerandringcn  der  Weltliteratur  die  Antike  und  all  die  Fremde  sonst  durch 
Nachahnmng  und  Übersetzung  den  Anstoss  gegeben.  ^'  In  zwei  Stücken  aber 
ist  hier  eine  Abweichung  vom  Alteren  zu  bemerken,  in  dem  Aufgeben  des 
Bindelauts  bei  der  eigentlichen  Zusanmiensetzung  (z.  B.  geselleschaft  Gesell- 
schaft, schadchaft  schadhaft,  betehns  Bethaus)  und  in  der  männlichen  oder 
neutralen  Genitivform  weibliclier  Worte  bei  der  uneigentlichen,  z.  B.  weis- 
heitsvoll,  mhd.  w'isheite  vol:  letztere  wieder  schon  im  Obersächsischen  des 
vierzehnten  Jahrhmiderts.  *'*'  Neben  all  der  Fülle  von  Worten,  die  auf  sol- 
chen theilweis  neuen  Wegen  unableessig  zufliesst,  fehlt  es  allerdings  auch  nicht 
an  Missverständniss  und  Verderbniss  mancher  schon  in  früherer  Zeit  ge- 
schehenen Bildung:  Worten  wie  albern,  bieder,  Wimper,  vertheidigen  und 
Brosame,  Einrede,  iveissagen,  Witthum  ist  niclit  mehr  anzusehen,  den  ersteren, 
dass  sie  ursprimglich  zusammengesetzt,  den  letztern,  dass  sie  bloss  Ableitungen 
seien :  mhd.  alwcere,  biderhc,  icinthrä,  vertagedingen  und  hrosme,  einwte,  ivi-z/igcn, 
widem;  und  sonst  noch  zeigen  genug  erst  dann  den  rechten  und  überhaupt 
einen  Simi,  wenn  man  die  ältre  Gestalt  in's  Auge  fasst:  z.  B.  Beispiel,  er- 
eignen, Fastnacht,  Friedhof,  Geflügel,  Sündflut,  mhd.  und  theüweise  noch  einst 


Kolross  (Anm.  !•)  angiebt,  mit  sz  im  Auslaut,  z.  B.  hasz,  mosz  (mhd.  haz,  mos),  werde  ein 
ganx  sanft  und  lind  und  leise,  mit  ss  oder  ssz  im  Inlaut  (verdoppeltem  sz),  z.  B.  lassen  oder 
lasszen,  ein  weder  ganz  stark  noch  ganz  linde,  sondern  mittelmaessig  ausgesprochenes  s  be- 
zeichnet? 57)  Zeugniss  das  seit  1852  zu  Leipzig  erscheinende  Deutsche  Wörterbuch  von 
Jac.  Grimm  n.  "\Vilh.  Gkimm.  fortgesetzt  von  K.  Weigand.  K.  Hiidebrand,  JE.  Heyne,  M. 
Lexer.  .ö8)  Vgl.  Grimms  Gramm.  2,  403.  59)  Belege  all  der  äussersten  Kunst  und 
Kühnheit  in  den  Gedichten  Rückerts,  namentlich  dem  aus  Sanskritüberlieferung  geschöpften 
von  Nal  und  Damajanti  LB.  2,  1631.  60)  §  47,  9.  Von  Meusebach  und  JGrimm  bis 
in  das  16te  Jh.  zurück  verfolgt:  Zur  Recensiou  d.  deutschen  Grammatik,  hsggb.  v.  JGrimm, 


§  93   SPRACHE.    WORTBILDUNG  UND  WüRTBIEGUNG.    23 

im  Ncuhoclidcutsclieii  Mspel  (§  80,  1),  eröugen^  vasenaht  (§  86,  1),  vrltkof, 
gevügele,  sinvluot.  ^* 

Innerhalb  der  Wortbiegung  sodann  gilt  bei  der  Declination  zwar  immer 
noch  der  Unterschied  starker  und  schwacher  Formen,  aber  nicht  ohne  mehr- 
fache Verwirrung  und  Verarmung,  indem  hie  und  da  aus  einem  ursprünglich 
ableitenden  en  jetzt  ein  flectierendes,  eine  schwache  Flexionsendung  (bei  Ober- 
sachsen kommt  dergleichen  schon  um  1300  vor  ^^),  und  umgekehrt  aus  einem 
ursprünglich  flectierenden  en  jetzt  öfters  ein  ableitendes  geworden  ist :  Heide, 
Kette,  Waffe,  Grrahen^  Bogen,  Brunnen,  mhd.  heiden,  hetene,  wäfen,  grabe,  hoge, 
brunne;  indem  sodann  die  einsylbigcn  starken  Feminina  nur  noch  im  Pluralis 
den  Umlaut,  im  Singularis  aber  gar  keine  Flexion  mehr  haben:  gen.  dat. 
gleichfalls  Kraft,  mhd.  krefte;  indem  ferner  die  Feminina  mit  e  jetzt  den 
Singularis  alle  stark,  d.  h.  ohne  schwache,  aber  auch  ohne  sonst  welche  En- 
dung, den  Pluralis  alle  schwach  bilden :  Zunge  mhd.  schon  im  gen.  sg.  sungen^ 
Grube  auch  im  nom.  pl.  griiobe;  indem  endlich  auch  nicht  wenige,  die  con- 
sonantisch  auslauten  und  demgemsess  eigentlich  stark  sind,  mit  dem  Pluralis 
ebenso  in  die  schwache  Weise  übertreten:  TJiaf,  Burg,  pl.  TJiaten,  Burgen, 
mhd.  tcete,  bürge.  ®^  Aehnliches  in  der  Conjugation.  Nicht  allein,  dass  hier 
manche  Wörter  die  m*sprünglich  starken  Formen  gegen  schwache,  andre  die 
ursprünglich  schwachen  gegen  starke  Formen  vertauscht  und  nur  etwa  im 
Beginne  des  Zeitraums  das  Richtige  theilweis  noch  bewahrt  haben  (Beispiele 
jener  Änderung  bannen,  hauen,  heischen,  schmiegen,  waten,  der  letzteren  dingen, 
preisen,  weisen  ^*):  durch  Aufhebung  des  Rücklautes,  den  zwar  das  sechzehnte 
Jahrhundert  hie  und  da  noch  kennt  (setzen,  satzte,  setzte)^  ist  eine  Art  der 
schwachen  Verba  ganz  beseitigt,  zwei  Arten  der  starken  aber   sind   auf  An- 

Cassel  1826.  Gegen  diese  und  alle  zusammensetzenden  s  Jean  Paul:  Über  die  Zusammen- 
setzung d.  deutschen  Doppelwörter,  Stuttg.  1820.  (jl)  Zumeist  so  entstellt  die  zusammen- 
gesetzten Ortsnamen:  ausdeutende  Rückführung  solcher  auf  die  ursprüngliche  Gestalt  durch 
Alb.  Schott  über  den  Ursprung  d.  deutschen  Ortsnamen  zunsechst  um  Stuttgart,  Stuttg. 
1843;  Heinr.  Meyer,  die  Ortsnamen  d.  Kantons  Zürich,  Zur.  1849;  Oberhessische  Ortsnamen 
V.  Weigand,  Archiv  f.  Hess.  Gesch.  u.  Alterthumskunde  7  (1853),  239  fgg.  In  weiterem 
Umfang  verfolgt  diese  umdeutende  Entstellung  des  alten  Wortvorrathes  K.  G.  Andresen 
Die  deutsche  Volksetymologie,  4.  Aufl.,  Heilbronn  1883.  62)  räbe  aus  raben  LB.  1,  934, 
18.  "Wiederholung  und  Veranschaulichung  des  Weges,  auf  welchem  nach  JGrimm  (Gramm. 
1,  1822,  817)  die  schwache  Declination  überhaupt  entstanden  ist.  63)  Schriftsteller  des 
15.  16ten  Jh.  geben  den  so  flectierenden  Worten  mit  t  zuweilen  in  der  Einzahl  wirklich 
auch  ein  e,  z.  B.  Saate  LB.  2,  378,  1.  485,  4.  64)  Neigung  der  Mundarten  zu  Bewah- 
rung der  richtigen,  aber  auch  zu  unrichtiger  Ausdehnung  der  einen  oder  der  anderen  Form : 


24  NEUIIOCIIDEUTÖCIIE  ZEIT.  §  93 

lu88  einer  vorher  erwähnten  Lautvcrinischung  in  eins  geflossen:  da  es  jetzt 
meide  heisst  wie  scheide^  so  nun  auch  mied  wie  schied  und  fjcschieden  wie 
(jcmicdtni:  nihd.  mide  meit  (jemiten,  scheide  schiet  gescheiden.^'  Und  der  In- 
dicativus  des  starken  Prastcritums  nimmt  den  Ablaut  des  Singulari.s  auch  in 
die  Mehrzahl,  das  Praesens  conjunctivischc  Formen  schon  in  den  Indicativ 
lierübor:  mhd.  praes.  sg.  1  ind.  stirhe,  cj.  sterbe,  nhd.  beidemal  sterbe]  pl.  3 
ind.  stcrbent,  cj.  sterben,  nlid.  beidemal  sterben',  prset.  sg.  mhd.  nhd.  starp 
starb,  pl.  mhd.  stürben,  nhd.  wieder  starben.  Aber  Luther  sagt  und  Clajus^*^ 
lehrt  noch  stürben,  imd  oberländische  Mundarten  haben  den  rechten  Indica- 
tivus  der  Gegenwart  auch  jetzt  noch. 

Allerdings  eine  lange  Reihe  von  Verlusten,  von  Schwächungen  ehema- 
liger Kraft,  von  Yergrocberimgen  ehemaliger  Feinheit.  Besonderen  Schaden 
hat  dadurch  die  Rede  der  Dichter  erlitten:  denn  der  gänzliche  Untergang 
einiger  cousonantischen  und  mehrerer  diphthongischen  Laute,  das  Erlöschen 
der  meisten  schwächeren  Accente,  die  durchgehende  Länge  der  betonten  Syl- 
ben,  die  übliche  Kürzung  der  Flexionen  und  die  so  entstandene  Einsylbigkeit 
zahlreicher  Worte  uad  Wortformen,  der  verminderte  Gestalt-  und  Farben- 
wcchscl  in  Declination  und  Coujugation,  diess  alles  macht  es  den  Dichtern 
des  neuhochdeutschen  Zeitraumes  bis  zur  Unmceglichkeit  schwer,  ihre  Verse 
noch  mit  ebenso  einhelligem  Fluss  mannigfacher  Laute  und  Toene,  sie  noch 
ebenso  wohlkUngend  zu  bauen,  als  im  Mittelalter  selbst  den  geringeren  das 
mceglich  und  geläufig  war.  Aber  auch  die  Anschaulichkeit  der  Begriffe,  auch 
die  verständige  DeutUchkeit  hat  eingebüsst  durch  die  Abscliwächung  des  ety- 
mologischen Bewusstscins,  durch  den  häufigen  Maugel  aller  Flexion,  dui-ch 
den  Gleichlaut  von  Flexionen  der  verschiedensten  Bedeutung.  Dazu  noch 
mancher  Verlust  auch  im  Bereiche  der  Syntax,  die  viel  beschränktere  An- 
wendung z.  B.  des  eausalen  Genitivus  und  des  Accusativs  mit  dem  Infinitiv. 

Indess  für  all  diesen  Schaden  hat  die  Sprache  sich  Ersatz  verschafft. 
Dem  eigentlich  deutschen  Versbau  mag  die  Armuth  an  tieferen  Accenten  un- 
zutraeglich  sein:  um  so  leichter  ist  nun  die  Nachahmung  antiker  Maasse:  die 
zwei  Dactylen  edles  beengende  wseren  in  mittelhochdeutscher  Betonung  noch 
Antibacchien  gewesen."^  Und  wenn  der  Abgang  einfacher  Flexionen  und 
kürzerer  Constructionsweisen  öfter  als  vordem  die  Ncethigung  auferlegt  nach 

Beispiele  aus  den  Mundarten  Baierns  hei  Schmeller  a.  a.  0.  354.  368  fg.  65)  Clajus 
lehrt  noch  ausdrücklich  das  Iniperf.  schreib  schriehei>t  schreib  schrieben:  Räumer  a.  a.  0.  215. 
66)  sang  sangest  sang  sungen:  Kaumer  a.  a.  0.  67)  Daher  die  mittelalterliche  Schwie- 
rigkeit und  Unvollkommenheit  solcher  Nachahmungen:  §  4b,  21. 


§  93  SPRACHE.        SATZBAU.        SCHRIFT.  25 

anderweiriger  Auskunft  zu  greifen,  nach  Prsepositioncu,  nach  Adverbien,  nach 
Füge-  und  Für-  und  Hilfszeitwörtern,  nach  ganzen  Nebensätzen  statt  Eines 
Wortes,  so  haben  all  diese  Auskunftsmittel  zumal  in  den  Händen  der  Prosaiker 
und  nicht  ohne  wohlthaetige  Einwirkung  des  lateinischen  Musters  sich  zu 
einem  Maasse  von  Reichthum  und  Mannigfaltigkeit,  von  Feinheit  und  zugleich 
Gedankeustrcnge  und  es  hat  dadurch  der  Periodenbau  zu  einem  Maasse  der 
Kunst,  in  den  Canzleien  zwar  auch  zu  einem  Mass  schwerfälliger  Wcitläuftig- 
keit  sich  ausgebildet,  das  dem  Mittelalter  noch  fremd  gewesen  und  ihm  hat 
fremd  sein  müssen. 

Freilich  sind  zu  einem  nicht  geringen  Theile  diese  syntactischen  Vorzüge 
nur  dadurch  ermoeglicht  worden,  dass  unser  Neuhochdeutsch  eine  Sprache  des 
Schreibens  und  des  Lesens  ist,  dass  wir  nicht  mit  dem  Ohr  allein,  sondern 
mehr  mit  dem  Auge  gewohnt  sind  Anfang  und  Ende  und  die  ganze  Gliede- 
rung eines  Satzgefüges  zu  ermessen.  Und  nur  dem  Auge  kommt,  oft  als  das 
einzige  Mittel,  das  die  Deuthchkeit  noch  rettet,  jene  groessere  Mannigfaltigkeit 
der  Interpuxction  zu  Hilfe,  die  der  Humanismus  dem  früheren  Alterthum 
abgesehen  und  an  die  Stelle  der  einfachen  Unterscheidungspunkte  des  Mittel- 
alters gesetzt  hat^*,  und  nur  dem  Auge  jener  in  seinen  Anfängen  wie  pedan- 
tische Gebrauch  ^^,  nicht,  wie  das  Mittelalter  gethan,  bloss  etwa  die  Eigen- 
namen und  den  Beginn  neuer  Sätze  und  der  Yerse,  auch  nicht,  wie  hie  und 
da  im  sechzehnten  Jalu-hundert  noch  geschieht^",  nur  die  Hauptworte  eines 
Satzes,  moegen  dieselben  auch  Adjectiva  oder  Yerba  sein,  sondern  die  Sub- 
ätantiva  sämmtlich  und  nur  die  Substantiva  dui'ch  grosse  Anfangsbuchstaben 
zu  bezeichnen  und  hervorzuheben.'*^  * 

Endlich  mag,  da  es  sich  um  eine  Schriftsprache  handelt,  auch  noch  der 
8.  g.  Deutschen  Schrift,   einer  Festsetzung    ebenfalls  des  sechzehnten  Jahr- 

68)  Xur  seltener  haben  alt-  nnd  mittelhochdeutsche  Handschriften  neben  dem  blossen  Punkt 
auch  ein  V  und  im  Sinn  etwa  des  Semicolons  auch  ein  /  Die  reichere  Interpunction  der  neu- 
hochdeutschen Zeit  schon  für  Steinhöwel  ein  Gregenstand  der  Besprechung :  §  90,  278.  Vgl.  A, 
Bieling,  Das  Prineip  der  deutschen  Interpunction  nebst  einer  übersichtlichen  Darstellung  ihrer 
Geschichte,  Berlin  1880.  Den  Apostroph  auch  als  deutsches  Zeichen  einer  Elision  im  Verse  finde 
ich  zuerst  (oder  giebt  es  schon  frühere  Beispiele?)  in  Scheits  Grobianus  (§  100.  22)  und  von  Kon- 
rad Gesner  LB.  2,  195  fg.  gebraucht.  69)  In  der  Bibelausgabe  von  1545  (die  vorangegangnen 
hatten  nur  noch  kleine  Buchstaben  gehabt)  gaben  die  Freunde  Luthers,  die  sie  besorgten, 
der  Regel  nach  (die  Ausnahmen  sind  sehr  in  der  Minderzahl)  allen  Substantiven  grosse 
Anfangsbuchstaben  und  zwar  einen  lateinischen,  wo  der  Sinn  des  Wortes  ein  boeser,  einen 
deutschen  aber,  wo  derselbe  ein  giiter  und  so  das  Wort  mit  dem  oder  jenem  Ausdruck  zu 
lesen  sei.         70)  vgl.  z.  B.  die  Stücke  aus  Fischart  LB,  2  u,  3.        70a)    A.    Hagemann, 


26  NEUllUCllDEUTSCIIE  ZEIT.        XVI  JAJlUll.  §  93 

huiidcrts,  hier  gedacht  werden.  Das  lünfzclinte  hatte  mit  der  eckichten 
Münchsschrift,  iu  welche  die  altüberlieferte  rcemische  zuletzt  war  eutatellt 
worden,  deutsche  wie  lateinische  und  alle  Bücher  und  hatte  dieselben  in 
Deutschland  und  überall  so  gedruckt,  wo  die  einheimische  Bildung  sich  an 
die  Littcratur  und  die  Kirche  Roms  anschloss.  Als  aber,  zuerst  in  Italien, 
seit  Beginn  des  sechzehnten  Jahrhunderts  auch  in  Deutschland  die  neurannischc 
Schrift  aufkam,  ein  Versuch  von  der  mönchischen  Missgestalt  zu  scha'ueren 
Formen,  von  der  Mittelalterlichkeit  auch  hier  auf  den  antiken  Urs})rung  zu- 
rückzukehren, da  entschied  sich  der  Wettstreit  beider  Schriftarten  im  Allge- 
meinen und  allniffilich  so,  dass  man  für  lateinische  Bücher  fortan  bei  der 
neuen,  für  deutsche  bei  der  ältergewohnten,  also  immer  noch  einer  lateinischen 
Schriftart  blieb;  mit  gleicher  Vertheilung  stellte  sich  für  das  Bedürfniss  des 
schnelleren  Schreibens  neben  die  ältere  eine  neurocmische  Currentschrift.  Aber 
eigentlich  deutsche  Buchstaben  schienen  damit  so  wenig  aufgebracht  zu  sein  ^' 
und  waren  es  auch  in  der  That  so  wenig,  dass  noch  wahrend  des  sechzehnten 
Jahrhunderts  in  Deutschland  genug  lateinische,  in  Italien  und  Frankreich 
lateinischer  und  italienischer  und  franzocsischer  Bücher  genug  mit  dieser 
Mönchsschrift,  dass  umgekehrt  schon  zu  derselben  Zeit  auch  deutsche  mit  der 
nem-oomischen  gedruckt  wurden'-,  dass  eben  dieser  die  nsechsten  Verwandten 
der  Deutscheu,  die  Niederländer,  die  Engländer,  die  scandinavischen  Völker, 
sieh  bis  heut  bedient  haben,  dass  aber  die  Schrift,  welche  man  glaubt  die 
deutsche  nemien  zu  müssen,  sich  ebenso  wohl  im  Gebrauche  der  Böhmen, 
der  Litthauer  und  der  Esthen  findet.  Es  giebt  keine  Schrift,  die  uns  bloss 
eigen,  und  keine  lateinische,  die  von  der  deutschen  wesentlich  verschieden 
waere.^^ 

Die  Majuskeltheorie  der  Grammatiker  des  Xhd.,  Berlin  18.S1.  71)  vgl.  Tschudi  LB.  3 
1,  384.  72)  Ein  erdocht  falsch  history  etliclier  Prediger  miitich  1.509:  Panzers  Annalen 
d.  alt.  Deutschen  Litt.  1,  Zusätze  112;  Luthers  Auslegung  der  10  Gebote  und  des  Vater- 
unser, Basel  1523;  Di  Psalmen  Davids  von  Melissa  (t?  103,  56),  Heidelb.  1572  u.  a.:  vgl. 
Veesenmeyers  Beitriege  zu  d.  Culturgesch.  d.  deutschen  Spr.  1.  4.  Schon  1494  zu  Basel  die 
erste  Ausgabe  von  ßrants  Narrenschiflf  mit  einer  Mischung  beider  Schriften  gedruckt: 
Zarnckes  Ausg.  C  fg.  In  Italien  selbst  gehoeren  zwei  deutsche  Bücher  mit  zu  den  älteren 
Denkmaelern  der  neuroemischen  Schriftart,  der  Venetianische  Nachdruck  des  Deutschen  Kalen- 
darius  von  Hans  v.  Koenigsberg  1478  und  ein  Bologneser  Vocabularius  Italo-Teutonicus 
1479:  Tan^cer  1,  108  u.  Zusätze  42.  73)  Epigramm  von  Kästner  auf  Bodmers  Deutsche 
Verse  mit  lateinischen  Buchstaben  LB.  2,  923.  Vgl.  F.  Sönneken,  Das  deutsche  Schrift- 
wesen und  die  Notwendigkeit  seiner  Reform.  Mit  Abbildungen.  Bonn  und  Leipzig  1881. 
Die  Majuskeln  der  deutschen  Fracturschrift  haben  den  Stil  der  Barockzeit  angenommen. 


§  94  SCllULGELElIllSAMKEIT.  27 

§  94. 

Die  Betrachtung  der  neuhochdeutschen  Sprache  und  Schrift  hat  uns  bis 
auf  die  neuesten  Zeiten  herab,  zuletzt  aber  in  das  sechzehnte  Jahrhundert 
zurückgeführt.     Wii*  können  nunmehr  wieder  ganz  in  dasselbe  eintreten. 

Es  lag  in  der  Aufgabe  der  Reformation,  es  war  auch,  wie  das  nament- 
lich der  Eifer  zeigt,  womit  Luther  *  und  der  prceceptor  Germcmics,  Philipp 
Melanchtiign  ^,  sich  des  Schulwesens  annahmen,  die  Absicht  der  Reforma- 
toren, dass  ihr  Werk  dem  gesammten  und  vor  allem  dem  niedren  Yolke  zu 
Gute  keemc:  denn  auf  diesem,  zurückgesetzt  oder  darniedergedrückt  wie  es 
war,  lasteten  die  Unwissenheit  und  der  Aberglaube,  die  Stützen  der  alten 
Kirche,  mit  doppeltem  Gewicht.  Hätte  die  Aufgabe  erfüllt,  die  Absicht  voll- 
ständig können  erreicht  werden,  sicherlich  wsere  dann  auch  die  Litteratur  mit 
ganzer  Entschiedenheit  an  den  dritten  der  Stände  gelangt  und  hätte  den  bürger- 
lichen Character,  der  jetzt  an  der  Reihe  war,  angenommen  ohne  irgend  welche 
Verkürzung:  war  doch  jetzt,  wo  man  die  Buchdruckerkunst  besass.  Niemand, 
auch  der  Geringste  nicht,  von  der  Theilnahme  an  litterarischen  Dingen  aus- 
geschlossen. Aber  es  sollte  nicht  so  gehn:  die  grosse  Sache  nahm  schon  mit 
ihrem  Anfang  eine  Wendung,  durch  welche  die  Litteratur  für  jetzt  und  alle 
Zeit  in  einen  andern  imd  engeren  Weg  gelenkt  ward,  als  den  der  Ablauf  des 
Mittelalters  schien  eröffnet  zu  haben:  sie  wich  vom  Yolke;  nicht  der  gesaramte 
Büi-gerstand,  wie  einst  die  Poesie  der  Schmuck  jedes  Edlen  gewesen  war, 
kam  in  den  Besitz :  sie  ward  das  Yorrecht  der  Gelehrsamkeit,  sie  gieng, 
waehrend  einzelne  Gelehrte  adlichen  Standes  ^  den  Übergang  gleichsam  ver- 
mittelten, von  dem  Adel  der  Geburt  an  den  Gelehrtenadel  über.  Die  Schuld 
hieran  war  zum  Theil  beim  Yolke  selbst,  das  den  Aufschwung,  welcher  ihm 
sonst  bevorgestanden,  alsbald  wieder  verscherzte  durch  Ungebserdigkeit  imd 
Aufruhr  und  anderen  Missbrauch,  den  es  mit  der  neuen  Lehre  trieb  ^ ;  noch 
groessere  trugen  die  Obrigkeiten,  die  den  Untergang  der  Priesterherrschaft 
weniger  in  das  Beste  des  Yolkes  wendeten,  als  ihn  zu  unrechtlicher  Yermeh- 
rung  nun  ihres  Reichthums  und  ihrer  Macht  benutzten^;  zumeist  abertrugen 


§  94.  1)  An  den  chrtstl.  Adel  d.  Nation,  LB.  3, 1,  101  fgg.  An  die  Eathsherrn  aller  Stätte 
teutscJies  Landes,  das  sie  Christliche  schulen  auff'richten  und  halten  sollen,    Wittenb.  1524. 

2)  Philipp   Schwarzerd,  geb.    zu   Bretten    in    der   Pfalz    1497,    gest.    zu   Wittenberg   156Ü. 

3)  wie  Dietrich  von  Pleningen  §  108,  3.  109,  1.  110,  ö.  8.  Johann  von  Schwartzenberg  §  110, 
1.  4.  8.  9.  Ulrich  von  Hütten  Anra.  17.  4)  vgl.  Luther  icider  die  stürmenden  Bawren 
LB.  5,  1,  185.         5)  Dagegen  Capito  LB.  3,  1,  301. 


28  NEUllüClIDEUTÖClIE  ZEIT.        XVI  JAlllUI.  §  94 

diejenigen  Schuld,  die  in  der  neuen  Bewegung  zuvorderst  giengon  und  trieben 
und  leiteten,  die  Gelehrten,  die  llcforniatoron  selbst.  Demi  eigentlich  ganz 
deutsch  gesinnt  und  gebildet  und  ganz  ein  Mann  des  Volkes  war  unter  diesen 
einzig  LuTHKR,  freilich  er  der  Erste:  alle  die  andern  aber,  die  neben  und 
hinter  ihm  und  in  dem  gleichen  Werke  standen,  waren  durch  die  Art  ihres 
Wissens  der  Deutschheit,  dem  Volke,  der  Sprache  und  der  Litteratur  des 
Volkes  in  groesserni  oder  geringerem  Maasse  fremd  geworden.  So  nothwendig 
der  Reformation  die  Studien  des  classischen  Alterthums  waren,  sie  waren  der- 
selben gleichwohl  scha3dlich,  insofern  sie  zunächst  dem  deutschen  Volke  galt, 
diess  in  seiner  Gesammthcit  und  zumal  in  seinen  unteren  Schichten  heben 
und  halten  sollte.  Mochte  die  Begeisterung,  die  sie  weckten,  auch  nicht  alle 
bis  zu  80  bedenklichem  Uumass  führen  wie  einmal  den  Reformator  der 
Schweiz  '',  immer  waren  die  classischen  Studien  Ursache,  dass  einem  gesunden 
Leben  aus  sich  selbst  eins  nach  dem  andern  seiner  unentbehrlichsten  Beding- 
nisse entzogen  ward.  Nun  vollens  war  kein  Zweifel  mehr,  dass  nach  Roemischem 
Gesetz  und  durch  lateingelehrtc  Jmisten  Recht  zu  suchen  und  zu  sprechen 
sei  ^ ;  nun  mit  verstärktem  Bcwusstsein  ward  auf  Univcrsitseten  und  hoehcren 
Schulen  der  Gebrauch  schon  des  Mittelalters  festgehalten  allen  Unterricht 
lateinisch  zu  ertheilen  und  auf  die  lateinische  Bildung  zu  beziehn:  die  Sprache 
der  Heimath  als  Unterrichtssprache  fand  etwa  nur  in  den  niederen,  den  des- 
lialb  so  genannten  deutschen  Schulen  Duldung  ^;  des  Paracelsus  zu  Basel 
unternommene  Wagniss  auch  vor  Studenten  deutsch  zu  lesen  '•'  blieb  einstweilen, 
da  er  in  der  That  nur  aus  Unkenntniss  des  Lateinischen  dem  Deutschen  so 
den  Vorzug  emgeräumt,  ohne  Nachfolge,  und  all  die  älteren,  all  die  vielen 
erst  im  scchzelmtcu  Jahi-hmidert  gestifteten  Universita3ten  (zum  Thcil  wurden 
sie  erst  auf  Anstoss  der  Kirchenbesscrung  und  in  deren  Diensten  gestiftet  "^) 
waren  ebenso  viele  Pflanzstätten  nicht   bloss  des  Glaubens  und  der  Wissen- 


6)  der  in  seiner  an  K.  Franz  i  gerichteten  Christianae  fidei  expositio,  gedruckt  1536,  da  wo  er  all 
die  heiligen  nnd  grossen  Männer  aufzaehlt,  mit  welchen  der  Kcenig  in  dem  ewigen  Jenseits 
zusammentreffen  werde,  neben  Christo  und  den  Propheten  und  Aposteln  auch  Hercukm, 
Theseum,  Socratem,  Aristidem,  Äntigonum,  Numam,  Camillum,  Catoties,  Scipiones  nennt : 
Zuinglii  opera  ed.  Schuler  &  Schulthess  4,  65.  7)  Dagegen  Luther  LB.  3,  1,  104.  Wo 
aber  Hütten  wider  die  Juristen  eitert,  zielt  er  nur  auf  die  paebstischen  Canonisten.  8)  Ge- 
schichte des  Schulwesens  in  Basel  bis  z.  J.  löHD  v.  Fechter,  Basel  lb37,  lUi  fjg.  Der  Unter- 
richt im  Deutschen  v.  Kud.  v.  Raumer  3U.  9)  Paracelsus  in  Basel  von  Friedr.  Fischer : 
Beitraege  z.  vaterländ.  Gesch.  v.  d.  histor.  Gesellschaft  zu  Basel  5,  111.  130;  vgl.  §  HO,  40. 
10)  die  zu  Marburg  1527.     Koenigsberg  1544.     Jena  1558.     Helmstedt  1575.     GiessenJ1607. 


§  94  SCIIULGELEimSAMKEIT.  29 

Schaft,  sondern  auch  jener  Einseitigkeit  und  Beschränkung,  zu  welcher  nach 
Anfängen  voll  von  Groesse  und  Freiheit  der  Humanismus  je  mehr  und  mehr 
hinabsank,  und  der  blinden  Geringschätzung  alles  dessen,  was  Deutschland 
im  Gebiete  der  Littcratur  an  eigenen  Leistungen  und  an  eigner,  nur  noch 
unbenutzter  und  unentwickelter  Kraft  besass.  So  kam  es,  dass  vielleicht  die 
Meisten  von  denen,  welche  den  Dichter  in  sich  fühlten,  lieber  auf  Lateinisch 
dichteten;  dass  man  kaum  ein  andres  Dichten  als  auf  Lateinisch  anerkannte 
und  die  Kaiser,  seitdem  zuerst  Friedrich  in  den  gelehrten  Konrad  Geltes  mit 
dem  Lorbeer  gekroent,  die  gleiche  Ehre  von  sich  aus  oder  dui-ch  ihre  Pfalz- 
grafen gar  niemand  sonst  erwiesen,  als  wer  durch  lateinische  Yerse  sich  der- 
selben würdig  gemacht  hatte;  dass  dieses  Jahrhundert  recht  eigentlich  das 
Blütenalter  der  lateinischen  Dichtkunst  unter  den  Barbaren  ward:  ich  nenne 
aus  Yielen  nur  Jacob  Locher  (1471—1528),  Egbax  Hesse  (1488—1540), 
Georg  Sabinus  (1508—1560),  Petrus  Lotichius  (1528—1560),  Thomas 
Naogeorous  (1511  —  1563),  Nicodemus  Frischlin  (1547— 1590).'^  Und  nicht 
genug  an  den  eigenen  neuen  Schöpfungen  solcher,  auch  ursprünglich  deutsche 
Dichtung  übertrug  man  jetzt  in  die  fremde  Sprache  um  sie  damit  dem  ge- 
bildeten Ohr  anmuthiger  und  gleichsam  verständUcher  zu  machen,  Jacob 
Locher  schon  1497  das  Narrenschüf '-,  Heinrich  Bebel  (f  um  1516)  das 
Volkslied  Ich  stund  an  einem  Morgen  ^^  und  eine  Sprichwörtersammlung 
(§  101,  6),  Hartmann  Schopper  1566  den  Reineke  Fuchs  •%  Johannes 
Flitner  1620  Murners  Schelmenzunft  (§  99,  20),  Sixt  Birck  1537  seine 
eignen  Comoedien  von  Beel  und  von  der  keuschen  Susanna  (§  105,  142). 
Dergleichen  ist  noch  viel  mehr  ein  treffendes  Zeichen  der  Zeit  als  die  Über- 
setzungen, die  auch  zahlreich  genug  auf  dem  umgekehrten  "Weg  gegangen 
(§  99,  7.  105,  11  fgg.  107,  2).  Bis  hinein  in  den  engsten  Kreis  derer,  die 
mit  eigentlichem  Lebensberuf  sich  der  Erneuerung  der  deutschen  Kirche,  der 
geistigen  Befreiung  des  deutschen  Volkes  widmeten,  herrschte  diese  Ungewohn- 
heit  des  Deutschen  und  diese  Entwoehnung:  von  Melanchthon,  dem  nsechsten 
Freunde  Luthers,  giebt  es  nur  lateinische  Bücher  '^:  selbst  die  Grabrede  hat 


11)  Eine  Sammlung  lateinischer  Epiker,  Lyriker  and  Didactiker  aus  Deutschland  und  aus 
dieser  Zeit  die  6  Bände  der  Delüice  poetarum  Germanorum  huius  supenorisque  avi  illu- 
strium,  Frankf.  1612.  Dramatiker  §  105,  13ö.  Über  N.  Frischlin  s.  D.  F.  Strauss,  Leben  und 
Schriften  des  Dichters  und  Philologen  N.  F.  Frankfurt  a./M.  1856.  12)  §  82,  S.  380.  Zamckes 
Ausg.  vom  Narrensehiif  Seb.  Brants  380.  13)  in  elegischem  Mass  :  abgedruckt  hinter  seinen 
Facetiü  ;  das  deutsche  Lied  LB.  2,  15.  14)  Speculum  vit(C  aulicce.  De  ndmirahiU  f'allacin  et 
aatutiarnlpeculee  Beinil-efslihri  qiiatuor ,  Frankf.1574.  Schoppernoch  einmal  §  99,  45.     15)  Phil. 


30  NEUIIOCIIDEUTSCIIK  ZKIT.        XVI  JAIIIMI.  §  94 

er  dem  I )iihingcs(;hiecleiioii  auf  Latein  gohaltoii  "';  und  auch  IiLuicii  von 
llrTTKN  '^,  dessen  Ziel  es  doch  war,  die  Aufregung  über  die  Gelehrtenwelt 
hinaus  und  selbst  in  das  Staatsgebiet  zu  führen,  auch  er  hat  am  liebsten  und 
hat  all  sein  Bestes  Lateinisch  abgefasst  "*,  und  nur  deswegen  ist  auch  er  (von 
K.  Maximilian  /u  Augsburg  1517)  mit  dem  üichtorkranzo  gekroßnt  worden. 
Wie  viel  der  schoensten  Kraft,  die  der  Lyrik,  dem  IJrama,  der  geschichtlichen 
und  der  lehrenden  Prosa  hätte  zu  Gute  kommen  können,  ist  der  deutschen 
Litteratur  mit  all  dem  entzogen  worden!  lind  doch  vielleicht  ist  das  nicht 
einmal  zu  beklagen.  Denn  falls  diese  Lateiner  sich  gelegentlich  herbeiliessen 
auch  deutsch  zu  schreiben,  es  gelang  ihnen  nicht:  ihnen  fehlte  selbst  das 
deutsche  Denken  und  Empfinden.  So  Ulrich  von  Hütten,  als  er  gegen  Ende 
seines  Lebens,  wohl  einsehend,  dass  seine  Zwecke  dieses  Mittel  forderten  '^, 
der  deutschen  Abfassung  den  Vorzug  gab:  da  in  der  Klage  und  VERMAiiNi'iNß 
von  1520  die  härteste  Unbeholfenheit  der  dichterischen  Rede  ^^  und  in  der 
Prosa  der  Kla(;sciirift  von  1520  und  des  GESPR/EcimuEcnLEiNs  von  1521  -' 
nur  jenes  Übersetzerdeutsch  des  Jsicolaus  von  AVeil  (§  90,  277  fgg.)?  ein 
Deutsch,  hinter  welchem  ebenso  Wort  für  Wort  das  Lateinische  liegt  wie 
hinter  Gang  und  Haltung  der  ganzen  Gesprajchc  das  Muster  Lucians.  Auch 
Ulrich  Zwingli --  verrath,  zwar  minder  augenfällig  als  Hütten,  aber  noch 
deutlich  genug  und  sogar  in  seinen  rednerischen  und  den  auf  das  Staatsleben 
seines  Heimathlands  gerichteten  Schriften  ^',  dass  er  öfter  und  lieber  im  Latein 
sich  bewegt  hat:  doppolt  befremdlich  ist  es  hier  das  Toggenburger  und 
Zürcherdeutsch ,  das  in  den  classischen  Anstrich  hinübcrspielt.  Immerhin 
mochte  die  Zucht  und  LTebung,  in  welche  das  lange  verwahrloste  Deutsch  so 

Melanfhthonis  opera  ed.  Bretschneider  (&  Bindseil),  21  Bde,  Halle  1834—1854.  Was  man 
auf  Deutsch  von  ihm  hat  (s.  Deutsches  Wörterb.  von  Jae.  u.  Wilh.  Grimm  1,  LXXXi),  ist 
sttets  nur  L'bersetzung  Anderer.  16)  verdeutscht  durch  JoH.  Funck  :  Ein  Sermon  vher 
der  Leich  des  Ehruirdigen  Herrn  Dr.  M.  L.  1546.  17)  geb.  zu  Steckelberg  in  Hessen 
1488  und  nach  einem  durch  Unruhe  und  Unglück  abgekürzten  Leben  gest.  auf  der  Ufenau 
im  Zürcher  See  1523.  D.  F.  Strauss,  Ulrich  v.  Hütten.  Leipzig  1858.  II.  18)  Opera 
ed.  E.  Bücking  I— V  Suppl.  I.  II,  Lpz.  1859—70.  19)  LB.  3,  1,  226.  20)  U.  v.  Huttens 
Schriften  hg.  v.  Bücking  3,  475  fgg.  Auch  in  dem  Reiterliede  v.  1521,  das  Uhland  917 
unter  die  Volkslieder  aufgenommen  hat.  kommt  der  poetische  Griff  erst  mit  der  letzten 
Strophe.  21)  LB.  3,  1,  211.  225.  Gesprsechsform  §  99,  11.  22)  geb.  zu  Wildhaus 
im  Toggenbnrgischen  1484.  gest.  in  der  Schlacht  bei  Cappel  1531.  Lebensbeschr.  Ulr. 
Zwingiis  von  Hess,  mit  Anhang  von  L^steri,  Zürich  1811.  Mierikofer,  L'.  Z.  nach  den  ur- 
kundlichen Quellen,  II,  Lpz.  1867.  69.  Zwingiis  Werke  hsggb.  v.  Schüler  u.  Schult- 
HESS,   Zürich    1828   fgg.         23)    Predigt,   Scblussreden,   Vermahnung   an  die  Eidgenossen, 


§  94  SCnULGELEHRSAMKEIT.  31 

von  den  Gelehrten  der  Kirche  und  der  Kirchenbesserung  genommen  ward, 
in  manchem  Betracht  demselben  auch  heilsam  sein:  groeblicher  und  schaden- 
bringender  vcrgiengen  sich  an  ihm  die  Hechtsgelehrten,  sie  durch  zahllose 
Einmischung  überflüssiger  und  unverständlicher  Fremdworte  ^■*,  als  sollte 
selbst  in  der  Sprache  jede  Erinnerung  des  einheimischen  Rechts  vor  der  Über- 
macht des  roemischen  verschwinden :  ein  Beispiel,  das  bei  dem  massgebenden 
Ansehen  der  Canzleisprache  (§  93,  3)  auch  in  weitere  Kreise  hinein  und  lange 
noch  fortgewirkt  hat.-^  Jetzt  ward  denn  auch  Sitte,  dass  die  Gelehrten  und 
wer  gerne  gelehrt  erschien,  ihrer  deutsch  klingenden  Namen  sich  entschlugen, 
wenigstens  lateinische  Endung  daran  hängten  (z.  B.  Alherus,  Clajus,  Mathesius)^ 
noch  lieber  gänzlich  ins  Lateinische  oder  gar  ins  Griechische  sie  übersetzten: 
Luther  und  Zwingli  freilich  thaten  dieses  nicht  -^,  aber  doch  wie  schon  im 
Anfange  der  humanistischen  und  Reformationsbewegung  z.  B.  Meissel^  der  sich 
Celtes  nannte,  so  jetzo  Schivarserd,  Hausschein,  Kirchmeyer,  Köpfet,  Schnitter, 
Maaler  u,  a.  und  nannten  sich  dafür  auf  Griechisch  und  Lateinisch  Melan- 
chthon^  Oecotampadius,  Naogeorgus,  Capito,  Agricola,  Pictorius.'^^  Das  hat  so 
bis  in  das  siebzehnte  Jahrhundert  fortgedauert  '^^:  erst  da  verstand  und  be- 
zeichnete man  die  Schwäche,  die  darin  lag  ^'\  und  sie  verlor  sich  wieder  vor 
dem  Spott  und  der  besseren  Einsicht.  Endlich,  was  in  der  gleichen  Richtung 
gieng,  jetzt  wiu'den  auch  die  schon  im  Mittelalter  (§  48,  65  fgg.  78,  13.  81, 
37.  54.  §  90,  140)  angehobenen  Versuche  Deutsche  Verse  nach  antikem 
Maass  zu  bauen  öfter  und  ausgedehnter  und  mit  gelehrterem  Ernst  betrieben. 


Antwort  auf  Luthers  Bekenntniss :  LB.  3,  1,  233  fgg.  24)  gerügt  von  Tschudi  1.038 
LB.  3,  1,  386.  25)  Klage  des  Grammatikers  Lor.  Albert  1573  (§  93,  13)  über  Sprach- 
mengerei :  Reichards  Historie  d.  deutschen  Sprachkunst  41 ;  vgl.  Anm.  36.  26)  Nur  in 
der  Vor-  und  Nachrede  des  Baslerischen  Pindar  v.  1526  nennt  sich  Zwingli,  als  ob  das  eins 
mit  Zwilling  waere,  Geminius.  27)  Irre  führend  schon  für  die  Zeitgenossen  :  der  (Jher- 
setzer  eines  Dramas  von  Naogeorgus  verdeutscht  diesen  Namen  in  Kirchbauer,  ein  andrer 
eines  andern  gar  in  Neiibauer  :  Bücherschatz  d.  Deutschen  National-Litt.  141 ;  Grottscheds 
Vorrath  z.  Gesch.  d.  deutschen  Dramatischen  Dichtkunst  1,  86.  28)  Opitz  Opitius,  Schupp 
Schupimis,  Eacliel  Rachelius ;  Greif  Gryphius,  Neumann  Neander.  29)  Sittewalts 
zweites  Gesicht  (Strassb.  1650,  1,  52  fg.)  tveil  viele  junge  Narren,  tvann  sie  Jcatcm  das  Alpha 
Fitta  Gamma  lallen  können,  so  bald  jhre  Namen,  nicht  nur  mit  dem,  in  Lateinischer 
sprach  gebräiichliclien,  us  und  ins;  sondern  mit  ussiiis,  mit  igius,  mit  inus,  mit  anus,  vnd 
asinus,  mit  Griechisch  vnd  Hebräisch  verbrcemen  :  Es  will  keiner  mehr  Rosskopff  Jieissen, 
sondern  Hippocephalus,  keiner  tvill  mehr  Schneider  heissen  :  keiner  mehr  Schuster  :  keiner 
Weber,  keiner  Schmid;  sondern  Sartor,  Sutor,  Textor:  sondern  Sartorius,  Sutorius,  Tex- 
iorius;  Faber  und  Fahritius :  nicht  Schütz,  sondern  Sagittarius  de.     Aehnlich  Schupp  1, 


82  NEUHOCHDEUTSCH i:  ZEIT.        XVT  .TAHRTr.  §  94 

inimor  aber  mit  Ungelioerigkeit,  indem  man  bald  der  dcutsclion  Sprache  eine 
Mossung  nach  Längen  und  Kürzen  •'",  bald  den  antiken  Aversen  und  denen 
sogar,  deren  Sylbonzahl  docli  niclit  fest  steht,  dem  Hexameter  und  Pentameter, 
die  Beachtung  bloss  der  Sylbonzahl  aufnoßthigen  mochte  ^*,  indem  man  die 
fremdartig  schweren  Formen  der  alten  Lyrik,  die  als  einsame  Dichterübung 
noch  etwa  zu  ertragen  waren,  selbst  in  den  Gesang  der  Bühne  und  in  das 
Kirchenlied  einführte  (§  103,  40  fg.  105,  105),  indem  man  doch  wieder  nicht 
wagte  ganz  antik  zu  sein,  sondern  auch  neben  den  Längen  und  Kürzen  gerne 
den  deutschgewohnten  Reim  noch  bei  behielt.  ^- 

Aber  es  genügte  an  der  Schulgelehrsamkeit  noch  nicht:  auf  den  überall 
durchscheinenden  Grund,  den  sie  freiUch  bildete,  sollten  sich  noch  andere 
Fremdartigkeiten  legen.  Angehende  (lelehrtc  und  schon  damals  Künstler 
wurden  durch  ihre  Studien  nach  Italien  und  Frankreich  geführt  ^^,  und 
auch  gereifte  Männer  dieser  Stände  ^*  machten  um  sich  Weltkenn tniss  und 
grcßssere  Kenntuiss  des  eigenen  Berufes  zu  erwerben  die  Reise  gern.  Andere 
sahen,  da  jetzt  die  Erwerbung  der  Spanischen  Throne  für  das  Haus  Oester- 
reich  und  die  eifersüchtigen  Bestrebungen  Karls  v  imd  Franz  i  auch  in  das 
politische  Leben  eine  neue  und  weiter  gi-eifende  Regsamkeit  brachten,  in 
Diensten  des  Staates  jene  Fremde.  Dazu  der  staets  noch  lebhafte  Handels- 
verkehr mit  Itahen,  durch   den  nicht  bloss  Güter  des  Kaufmanns  über   die 


798  fg.  n.  Abraham  a  S.  Clara  im  Hui  und  Pfni  der  Welt,  Passau  1836,  199.  Vgl.  Jean 
Paul  LB.  3,  2,  908.  30)  Konrad  gesner  (§  110,  41)  LB.  2,  195  u.  Jon.  Clajits 
(.§  93,  15)  ebd.  207.  Über  des  letzteren  Theorie  s.  Höpfner  Reformbestrebungen  auf  dem 
Gebiete  der  deutschen  Dichtung  des  xvi  und  xvil  Jahrh.  Berlin  18Ü6  S.  17.  VgL  §  1<>2 
und  meine  Geschichte  d.  deutschen  Hexameters  u.  Pentam.,  Berlin  1831,  16  fgg.  Von  Paul 
Rebhuns  noch  halb  misslungener  Unternehmung  jambischen  und  trochaeischen  Rhythmus 
(denn  auch  für  diese  einfaeheren  Versarten  kennt  er  wie  Ciajus  nur  das  antike  Muster) 
durch  einen  Wechsel  betonter  und  unbetonter  Sylben  darzustellen  s.  unten  §  105,  111  fgg. 
In  ganzen  und  i^ubtilen  Jamben  dichtete  Seb.  Hornmold,  würteubergischer  Rat  (gest.  1637) 
einen  Psalter  1596,  gedruckt  1604:  Höpfner  18,  wo  dasselbe  Streben  bei  andern  würten- 
bergisehen  Dichtern  nachgewiesen  wird.  31)  Oden  von  Jon.  Kolross  (§  93,  9),  SiXT 
BiRCK  und  ZACHARiA.'i  RiCHTER  LB.  2,  133.  269  ;  Hexameter  u.  Disticha  von  Jon.  Fischart 
ebd.  235  fg. :  vgl.  die  Stelle  des  Gargantua  §  95,  29.  32)  All  die  eben  angeführten 
ausser  Gesner.  33)  Beispiele  Ulrich  v.  Hütten  in  Pavia  und  Bologna;  Bruno  und 
Basilius  Amerbach  in  Paris:  Beitrage  z.  vaterländ.  Geschichte  v.  d.  bist.  Gesellsch.  zu  Basel 
3,  149  fgg.;  Felix  Platter  in  Montpellier:  Thomas  PI.  u.  F.  Platter  v.  Boos  172  fgg.; 
Fischart  in  den  Niederlanden,  England,  Frankreich,  Italien:  Paulus  Melissus  und  JuL. 
WiLH.  Zincgref  §  104,  10.  13.  Klage  und  Spott  bereits  Seb.  Brants  Narrensch.  Cp.  92 
und  Geilers  üb.  d.  Narrensoh.,  Basel  1574,  245  fg.        34)  wie  Albrecht  Diirer  (§  110,  45), 


§  94  WELSCHLAND.         VOLK  UND  GELEimTE.  33 

Alpen  kamen;  mit  Frankreich  aber  ward  ein  Zusammenhang,  der  noch  tiefer 
gieng,  zuerst  durch  die  gemeinsame  Reformationsarbeit,  dann  durch  die  Flucht 
zahlreicher  franzoesischer  Protestanten  auf  deutschen  Boden  hergestellt.^^  Der 
Uebertritt  zur  calvinistischen  Confession,  zuerst  in  der  Pfalz  1562,  entschied.^''  * 
Die  Wirkung  von  all  dem  war,  dass  dem  schulmsessig  gelehrten  Hange  der 
Sprache  und  Litteratur  sich  noch  ein  italisenisch  -  franzoesischer  Zug  und 
Anflug  beigesellte,  dass  auch  von  daher  Fremdworte  in  das  Deutsch  gemengt  ^^ 
und  neben  den  antiken  auch  Formen  der  romanischen  Metrik  in  die  weltHche 
wie  in  die  geistliche  Dichtkunst,  in  die  Lyrik  wie  in  das  Drama  eingeführt 
wurden  (§  95,  29  fgg.  103,  56  fg.  104,  7  fgg.  105,  107  fgg.).  Zwar  die 
volle  Stärke  sollte  dieser  welsche  Einfluss  erst  im  siebzehnten  Jahi-hundert 
entwickeln  und  da  erst,  weehrend  er  jetzt  nur  mehr  im  Südwesten  waltete, 
ganz  Deutschland  bemeistern :  begonnen  aber  hat  er  schon  im  sechzehnten  und 
hat  bereits  hier  so  weit  und  fest  Platz  gegriffen,  dass  ein  ferneres  Wachs- 
thum  damit  begründet  war. 

Allerdings  waren  nicht  alle  Gelehrten  so  tief  in  der  Undeutschheit  be- 
fangen, wie  bisher  mit  absichtlicher  Schärfe  ist  gezeichnet  worden.  Nicht 
Luther  allein,  auch  ausser  ihm  noch  mancher  hat  eine  dem  entg-eorenoresetzte 
Gesimiung  bethsBtigt  oder  sie  doch  ausgesprochen,  Avextinus  (§  108,  26),  der 
beim  L'nterricht  in  der  lateinischen  Grammatik  von  der  Muttersprache  auszu- 
gohn  empfahl  ^^,  Tschudi  (§  108,  9),  der  die  Sprachmengerei  der  Canzeleien 
rügte  (Anm.  24.  36),  Melissus,  der  nach  der  Rückkehr  aus  welschen  Landen 
dem  Heimathlichen  doch  den  Vorzug  gab  vor  allem  Schein  der  Fremde  ^\ 
FiscHAET  (§§  100.  112),  der  die  Fülle  seines  Spottes  über  die  undeutsche  Na- 
mengebung  ergoss^^,  Rollexhagen,  der  um  seine  Unkunst  zu  entschuldigen 
es  sehnlich  wie  schon  lange  vor  ihm  Valentin  Boltz  *"  die  Art  des  Deutschen 


da  er  1506  nach  Venedig  und  Bologna  gieng ;  seine  von  daher  an  Wüibald  Pirkheimer  ge- 
schriebenen Briefe  in  den  Quellenschriften  zur  Kunstgeschichte  III  Wien  1872.  35)  Bar- 
tholds  Gesch.  d.  Fruchtbring.  Gesellschaft  11  fgg.  39  fgg.  Dessen  Deutschland  u.  die  Huge- 
notten, Bremen  1848.  .35a)  Höpfner  Reformbestrebungen  23  fgg.  Später  war  besonders  der 
Casseler  Hof  den  Einflüssen  des  Westens  geneigt.  36)  Auch  das  schon  von  Tschudi  Anm. 
24  gerügt,  und  bereits  1571  ein  Fremdwörterbuch  moeglich  und  noethig,  Simon  Rotes 
Deutscher  Dictionarius  d.  i.  Ausleger  schwerer  unbekannter  deutscher,  griechischer,  latei- 
nischer, hebraeischer,  welscher,  franzoesischer,  auch  anderer  Wörter,  so  nach  und  nach  in 
deutsche  Sprache  kommen  sind.  37)  in  seiner  Grammatica  v.  1.512 :  der  Unterricht  im 
Deutschen  v.  Rud.  v.  Raumer  ö  fg.  38)  LB.  2,  197.  39)  LB.  3,  1,  482  fgg.  Gegen 
die  Schrift  Witzeis  v.  d.  Taufnamen  der  Christen,  SVictor  1541.  40)  Zuschrift  der  Yer- 
Wacktmagel,  Litter.  Geschieht».  II.  3 


34  NEirilOCIlDKrTSClLE  ZEIT.        XVI  JAIIIUL  §  94 

nannte,  dass  er  sich  alles  Fremde  gefallen  lasse,  fremde  Sprachen  lerne,  die 
eigene  misMachte  und  versäume.  *'  Aber  auch  diese,  und  die  um  sehnlicher 
Äusserungen  willen  noch  neben  ihnen  zu  nennen  wahren,  standen  zu  dem, 
was  sie  so  verfochten,  mehr  nur  im  (irundsatz  als  überall  selber  mit  der 
Tliat.  Avontinus  und  Tsohudi  haben  einen  Theil  ihrer  Schriften  gleichwohl 
lateinisch  verfassen,  Aventinus  und  gelegentlich  Fischart  selbst  (§  100,  5)  haben 
sith  gleichwohl  undeutschc  Namen  geben  morgen,  und  wiederum  Fischart  und 
mit  ihm  KoUenhagen  hatten  den  Schulstaub  so  wenig  abgeschüttelt,  dass  auch 
sie,  nicht  besser  hierin  als  Andre,  mitten  in  deutsche  Dichtung  Namen  und 
Bezüge  der  antiken  Mythologie^-  und  Fischart  sogar  die  Etymologie  in  die- 
selbe zuliess  (§  93,  24).  Der  Grund  des  Übels  lag  tiefer,  und  es  hatte  sich 
zu  lange  und  zu  langsam  vorbereitet,  als  dass  ihm  selbst  die,  welche  es  er- 
kannten, festen  Widerstand  hätten  leisten  können:  denn  zuletzt  kam  Alles 
nur  von  jener  schon  längst  bis  auf  das  Mark  gedrungenen  Zerrüttung  der 
Kraft  und  Macht  des  deutschen  Volkes,  die  Fischart  anderswo  mit  so  edlem 
Zorne  beklagt.  *^ 

In  solcher  Ai-t  waren  die  Gelehrten  dem  übrigen  Volk  und  ward  das 
Volk  je  mehr  und  mehr  seinen  Gelehrten  entfremdet;  in  solcher  Art  sollte 
selbst  die  Kirchenbesserung  nm*  dazu  dienen,  dass  zwischen  dem  gemeinen 
Mann  und  dem  Gelehrtenadel  in  dem,  was  beide  an  Litteratur  erzeugten  und 
besassen,  die  Kluft  immer  tiefer  gerissen  ward. 

Zwar  schien  es,  als  wolle  sich  eine  verschmelzende  Ausgleichung  an- 
bahnen zwischen  der  neu  aufkommenden  gelehrten  Weise  und  der  schon  vom 
Mittelalter  ererbten  des  Volks.  Demi  allerdings  ward,  zum  Theil  vielleicht 
mit  bewusster  Absicht,  zum  groesseren  Theile  jedoch  unbewusst  und  absicht- 
los, und  es  ward  von  beiden  Seiten  aus  darauf  hingearbeitet,  von  den  Ge- 
lehrten, indem  sie  zu  dem  Bedürfniss,  zu  dem  Verstüudniss,  zu  den  Gewohn- 
heiten des  Volkes  sich  hinabliessen,  von  dem  Volke,  indem  es  die  Red-  und 
Dichtweise  der  Gelehrsamkeit  sich  anzueignen  und  die  welsche  Bildung  auch 
sich  zu  Nutze  zu  machen  suchte.  Aber  die  Verschmelzung  missglückte,  zu- 
meist wohl  durch  der  Gelehrten  Schuld,  und  die  Versuche  gegenseitiger  An- 


deutschung  des  Terenz  v.  1539:  §  105.  16.  41)  Zuschrift  des  Froschmiiuselers  v.  1566: 
§  99,  49.  42)  Fischart  LB.  2,  242  fgg.  RoUenhagen  §  99,  52.  Auch  das  Mittelalter 
hatte  mit  jeneu  Namen  gespielt :  aber  ihm,  weil  es  minder  gelehrt  war,  umkleideten  sich 
dieselben  mehr  mit  Fleisch  und  Blut  (§  43,  49):  konnte  es  doch  zur  Frau  Venus  noch  den 
frischen  Mythus  vom  Venusberg  erfinden:   §  80,  82.        4.3)  LB.  2,  219. 


§  95  VOLKSLIED.  35 

naeherung  und  Aiibcquemimg  hatten  zuletzt  ebeu  jenen  Ausgang,  dass  die 
Theilnahme  Aller  an  der  Litteratur  beseitigt  ward  und  die  Gelehrten  kraft 
ihrer  hoeheren  Stellung  im  Leben  und  vermoege  des  Übergewichtes  ihrer 
Bildung  allein  den  Platz  und  den  Besitz  behaupteten.  Die  ganze  Littera- 
turgeschichte  des  sechzehnten  Jahrhunderts  ist  lediglich  eine  Geschichte  des 
Zusammenwirkens  und  des  Gegeneinanderwirkens  dieser   beiden  Elemente. 

§  95. 
Wir  lassen  zuerst  ins  Auge,  was  für  die  Litteratur  das  Yolk  gethan,  und 
hier  vor  allem  die  eigenthümlichste  und  bezeichnendste  Form  seiner  Thsetig- 
keit,  das  Volkslied.  Lieder,  die  ihren  Stoff  aus  der  Sage,  zumal  aus  der 
allgemeinen  Heldensage  schöpften  oder  bemerkenswerthe  Ereignisse  der  Zeit- 
geschichte über  das  Land  hin  und  auf  die  Nachkommenschaft  bringen  sollten, 
EPISCHE  Lieder,  hatte  das  Volk  schon  seit  mehr  denn  einem  halben  Jahr- 
tausend gesungen  (§§  36.  49.  62),  und  auch  jetzt  noch  sang  es  deren,  hielt 
Sagenlieder,  die  sich  vom  Mittelalter  her  vererbten,  fest  ^  und  dichtete,  da 
innerer  und  äusserer  Krieg    und    der  Hass    der  Bekenntnisse    nur    zu  reich- 

§  95.  Die  wichtigsten  der  hier  einschlagenden  neueren  Sammlungen,  die  von  Arnim 
u.  Brentano,  von  Grörres  und  von  TJhlaxd,  schon  zu  §  75  namhaft  gemacht:  dazu  jetzt 
noch  die  von  Erk :  Deutscher  Liederhort,  Berl.  1853,  Mittler,  Deutsche  Volkslieder,  Frankf. 
a.  M.  1865,  Groedeke  u.  Tittmann,  Liederbuch  aus  dem  16.  Jahrb.,  Leipzig  1867.  Böhme, 
Altdeutsches  Liederbuch,  Leipzig  1877;  von  älteren  Drucken  weiterhin  Anm.  17.  19  fgg. ; 
von  haudschriftlicben  Aufzeichnungen  des  16  u.  17  Jh.  ühland  973  fg.,  Hotfmann  in  seinem 
u.  Scbades  Weimarischem  Jahrbuch  1854,  101  fgg.  (niederländ.  u.  hochd.)  und  desselben 
Monatschrift  von  u.  für  Schlesien  1829,  542  fgg.  Ausserdem  zu  vergleichen  der  erregte 
und  anregende  Aufsatz  Gr^ters  über  die  teutschen  Volksl.  u.  ihre  Musik  in  Haessleins 
und  seinem  Bragur  3.  Leipz.  1794,  207 — 284  und  das  Buch  von  Talvj  (Therese  Adolfine 
Luise  V.  Jakob,  verehelichter  Robinson),  Versuch  einer  geschichtl.  Characteristik  d.  Volks- 
lieder german.  Nationen,  Leipz.  1840:  insbesondere  auch  die  bereits  zu  §  75  angeführten 
Abhandlungen  von  Uhland  und  Müllenhoffs  Einleitung  zu  den  Sagen,  Märchen  u.  Liedern 
der  Herzogt.  Schleswig  Holstein  u.  Lauenburg,  Kiel  1845.  1)  Zeugnisse  über  Lieder  aus  der 
Heldensage  in  d.  Deutschen  Heldensage  v.  WGrimm  301  fgg.  Drucke  des  Hildebrandsliedes 
(§  62,  8)  bis  iu  das  17  Jh.  :  Uhland  1013  und  Die  beiden  ältesten  deutschen  Gedichte  durch 
d.  Br.  Grimm,  Cassel  1812,  53 ;  Hüdebrandston  eine  oft  wiederkehrende  Melodiebezeichnung. 
Auch  die  Lieder  vom  edlen  Moringer,  vom  Grafen  v.  Rom  und  vom  Tannhauser  bis  ins 
17  Jh.  gedruckt:  §  49,  13.  14.  16.  Gleichfalls  sagenhafter  Art  die  Lieder  vom  Schreiber 
im  Korb  (d.  h.  Virgilius :  §  66,  75;  Chronistenstelleu  über  diess  Lied  in  Canzlers  u.  Meiss- 
ners Quartalschrift  1784,  3,  2,  9):  Uhland  745;  vom  Eulenspiegel :  Lappenbergs  Uleuspiegel 
282  fgg. :  vom  Schlauratfenland :  LB.  2,  323 :  von  der  Vogelhochzeit :  Haupts  Zschr.  3,  37  ; 
Dichtungen  wie  die  letztern  hat    auch   Burkard    "Waldis    Esop    2,    27    vor    Augen    gehabt. 


36  NEUHOCilDEUTSCIIE  ZEIT.         XYI  JAiriUI.  §  95 

liehen  Anlass  boten,  frischo  Gesoliiohtsliedcr  in  Monge.  -  In  noch  grcrssorer, 
in  unorniossonor  Anzahl  aber  lyrische  Likukk,  rein  lyrische  sowohl  als  solche, 
in  denen  die  Lyrik  sieh  mit  einer  Ej»ik  von  ungeschielitlicher  und  unsagen- 
liafter  Art  vereinte,  Balladen,  wie  man  sie  nennen  mag,  in  groesserer  Anzalil 
und  mit  weit  überwiegendem  Werth  der  Erzeugnisse:  recht  ein  Beweis,  dass  man 
hier  noch  einem  nicher  gelegnen,  stärker  wirkenden  Anstoss  folgte:  die 
Lyrik  war  in  die  Volkspocsie  erst  gegen  den  Ablauf  dos  Mittelalters  einge- 
drungen (§  75).  Zumeist  also  Liobesliedor  ^  in  all  der  Mannigfaltigkeit,  deren 
diese  Gattung  fa^hig  ist:  auch  die  Balladen  erzählten  fast  nur  von  der  Liebe 
Lust  und  Leid  *,  und  die  Tagweisen,  die  von  dem  Scheiden  zweier  Geliebten 
bei  Tagesanbruch  und  auf  den  mahnenden  Ruf  und  Sang  des  Wächters  er- 
zählten, waren  Staats  Beiladen  ';  na3chst  dem  sodann  Trinklieder  •"',  eine 
Schöpfung  beinah  erst  dieser  späteren  Zeit:  das  Mittelalter  hatte  davon  noch 
kaum  gowusst  (§  75,  10.  18).  Den  epischen  aber  wie  den  lyrischen  Sang 
übte  alles  Yolk  und  überall,  bei  der  Arbeit  wie  zur  Erholung,  der  Jfeger  im 
"Wald,  der  Landmnnn  auf  dem  Felde'  und  der  Borgknapp  im  Schacht  *',  der 
Reiter  ^  und  der  Landsknecht  '"  vor  dem  Kampf  und   nach  dem  Siege  und 


2)  Viele  bei  Uhland  niid  sonst  zerstreut:  Reforraationslied  um  1524:  LB.  2,  .5;  auf  Sickingens 
Tod  1523:  LB.  2,6;  auf  die  Schlacht  bei  Pavia  1525  LB.  2,  8;  gegen  die  Evangelischen  in 
Hpts  Zschr.  S,  336.  339  (das  letzte  Parodie  eines  geistl.  Liedes);  gegen  H.  Heinrich  d. 
Jüngeren  v.  Braunschweig  1542  u.  45;  bei  v.  Liiiencron,  die  historischen  Lieder  der  Deutschen 
(IV  und  Nachtrag,  die  Töne  enthaltend,  Leipzig  1865—69)  Nr.  47fj  fgg.  513  b  fgg. ;  auf  den 
cestreichischen  Bauernkrieg  1597  in  Karajans  Frühlingsgabe  53  u.  a.  Gauze  Sammlungen 
von  Soi.TAU  :  Ein  Hundert  Deutsche  Histor.  Volkslieder,  Leipz.  1836.  Zweites  Hundert  hg. 
von  Hildebrand  1856:  KöRNKR:  Histor.  Volkslieder  aus  dem  16  u.  17  Jh.,  Stuttsr.  1840: 
RoCHHOLZ  :  Eidgenössische  Liederchronik,  Bern  1835 ;  und  vor  allem  die  ebengenannte  von 
Liiiencron,  die  bis  zum  J.  1554  reicht.  Zu  vgl.  Job.  Voigt  über  Pasquille,  Spottlieder  und 
Schnuehschriften  aus  der  ersten  Hälfte  des  16  Jh.  in  Raumers  Histor.  Taschenb.  1838,  321  fgg. 

3)  Buhllieder  :  vgl.  §  98,  10.  103.  21.  31.  LB.  2,  9  fgg.,  174  fgg.  4)  LB.  2,  169.  178; 
eine  scherzhafte,  die  fast  wie  eine  Auffrischung  von  Günthers  und  der  Brünhild  Abenteuer 
in  der  Brautnacht  (Nib.  588)  klingt,  ebd.  320.  5)  LB.  2,  15  (Bebeis  lat.  Übersetzung 
§94,  13)?  Uhland  161.  161.  190.  Ambraser  Liederb.  .5.3.  202.  232;  vgl.  §  75,  16.  Tagelied 
LB.  2.  169.  '2i^.  6)  LB.  2.  187  fgg.  ;  Herbstlieder  LB.  3,  1,  342 ;  Martinslieder  §  104,  6. 
7)  Hieher  der  Name  Grasliedlein,  Uhland  979,  Lieder,  die  besonders  geeignet  und  bestimmt 
waren  von  grasenden  Bauerndirnen  gesungen  zu  werden.  8)  Bergliedlein  §  103,  30; 
Tiergrii^dw  Ueder  §  97,  31 ;  Bergreien  Anm.  12.  23.  31.  37.  §  99,  6. 103,  28.  29.  9)  Reuter- 
hedlein  Uhl.  979.  §  103,  28.  30.  10)  LB.  2.  8  (auf  einen  Trommelmarsch  gedichtet).  191. 
Aventinus  Chron.  Frankf.  1566,  302.  Von  disen  Dingen  vnd  Saclien  allen  fteind  )wch  Hl 
alte  ieutsclte  Iteitnen  vnd  Mcistergcfieng  roiJmnden  in  rnsern  Stiften   rnd  KUe.ttern  :   denn 


§  95  ^  VOLKSLIED.  37 

Jüngliugc  und  Msedchou  Abends  im  Riug  und  die  Gassen  ab  ' '  und,  wenn 
der  Frühling  wiederkam,  zu  Tanz  und  Reigen  '-:  da  ertoenten  denn  auch 
Wettgesänge  des  Winters  und  des  Sommers  gleich  jenen,  die  einst  zur  Ent- 
stehung der  dramatischen  Dichtkunst  mitgewirkt.  ^^  Die  Ilauptlust  jedoch  war 
der  Liedersang  da,  wo  die  Geselligkeit  des  Mahles  einen  friedlich  frohen 
Kreis  vereinigt  hielt:  da  kamen  auch  andre  als  bloss  Trinklieder  vor  ^*  und 
auch  da  halbdramatische  Streitgedichte.  '"' 

Es  ist  aber  dem  Yoikslied  bei  all  seiner  Tiefe  und  Zartheit  und  Keck- 
heit und  Frische  dennoch  diejenige  Kunst  des  Vortrages  fremd,  die  Gehalt 
und  Form  in  festen  Einklang  mit  einander  brächte:  nur  selten  wird,  was  der 
Dichter  empfunden  oder  gedacht,  von  seinen  Worten  ganz  getroffen,  und  bald 
verweilt  die  Darstellung  über  Gebühr  bei  Nebendingen,  bald  und  noch  öfter 
springt  sie  ohne  Vermittelung  von  Hauptsache  zu  Hauptsache.  Auch  der 
Versbau,  so  einfach  er  ist,  ein  Wechsel  gehobener  und  gesenkter  Sylben, 
und  der  ebenso  einfache  Strophenbau '^  leiden  unter  der  Unbeholfenheit :  die 
Strophen  verlieren  oft  ilir  Gleichmass,  den  Senkungen  wird  eine  Überzahl  von 
Sylben  zugetheilt,  die  Reime  sind  ungenau  und  wild.  Da  zudem  die  Verbrei- 
tung und  Fortpflanzung  wesentlich  nur  von  Mund  zu  Mund  geschah  und  der 
Druck  auf  s.  g.  oifne  oder  fliegende  Blätter  imd  einzelne  Bogen  *^  meisten- 
theils  erst  dann  hinzutrat,  wenn  es  dort  zu  stocken  begann,  so  musste  der 
ganze  Weg  der  Überlieferung  durch  die  Länder  und  die  Zeiten  eine  fortlau- 
fende Reihe  von  Änderungen,  unabsichtlichen  imd  bewussten,  des  Missver- 
ständnisses und  der  Nachhilfe  sein,  und  es  wird  begreiflich,  wie  ims  oft  ein 
und  dasselbe  Lied  in  so  verschiednen  Gestalten  zugekommen  ist.  Was  dem 
Wechsel  und  der  Verderbniss  noch  am  wenigsten  ausgesetzt  sein  mochte, 
war  die  Melodie,  und  diese  hat  man  sich  überall  ebenso  einfach  und  kunst- 
los als  die  Strophenform  und  auch  insofern  kunstloser  zu  denken,  dass  der 
Gesang  bloss  einstimmig  war. 

solche  Lieder  allein  seincl  die  alte  teutsche  Chronica,  tvie  denn  bei  vns  noch  der  Lands- 
knecht  Brauch  ist,  die  ullweg  von  jren  Schlachten  ein  Lied  maclien.  11)  LB.  3,  1,  Sil. 
Gassenhauer  Uhl.  97iJ  u.  §  98,  lü.  103,  30  :  vgl.  gassatim  gehn,  Gassation,  Gassellied  Schmel- 
lers  Bair.  Wörterb.  2,  72  fg. ;  hauen  laufen  ebd.  130.  12)  Dass  die  bist.  Lieder  der 
Dietmarseben  zum  Tanze  gesungen  wurden,  zeigt  Müllenboff'  a.  a.  0.  xxxv.  In  Bergreien 
aber  Anm.  8  ist  Beie  überhaupt  nur  noch  s.  v.  a.  Lied.  13)  Uhland  23 ;  vgl.  §  83,  6. 
14)  Beispiel  die  trunkene  Litanei  in  Fiscbarts  (jargantua  Cp.  8.  15)  Buchsbaum  und  Fel- 
BiNGER  (Weide)  LB.  2,  11.  Säusack  u.  Stockfisch  Ambr.  Liederb.  182;  vgl.  §  83,  10  fgg. 
84,  2.5  fgg.  Auch  das  Lied  von  unraoeglichen  Dingen  LB.  2,  11  ist  sicherlich  mit  Wechsel 
der  Personen  vorgetragen  worden.        16)  LB.  2,  19  noch  in  alterthümlichster  Art  die  Nibe- 


38  NEUlIÜCllDEUTSCllE  ZEIT.         XYl  JAllKlI.  §  95 

Aber  diis  scchzclintc  Julirliundcrt  verbreitete  aucli  in  Deutschland  weiter, 
als  je  zuvor  geschehen,  die  Kunst  des  mehrstiminigon  Bingens,  und  nicht  bloss 
in  den  Capellen  der  Fürston,  auch  den  Bürgern  gefiel  die  gleichsam  neue 
Kunst.  "*  So  ergriff  sie  das  Volkslied,  und  namentlich  für  die  Lust  und  Uebung 
heiterer  Gesellschaft  wurden  die  einstimmigen  Weisen  zwei-  und  mehrstim- 
mig umgesetzt:  da  wurden  denn  auch  Sammlungen  ein  Bedürfniss,  die  eine 
grocssore  Zahl  von  Gesängen  und  dazu  die  Noten  ontliielten:  neben  die  fliegen- 
den Blätter  kamen  Liedkkiu  kciier.  '^  Iliemit  jedoch  war  der  Musik  dem 
Texte  gegenüber  eine  Bedeutung  eingeräumt,  die  ihr  das  echte  Volkslied 
nicht  vergönnte,  imd  wie  man  auf  dessen  einfache  Weisen  schon  nur  mit 
Spott  hinhcerte  -",  so  geriethen  auch  die  Worte  in  Vernachlässigung  und  in 
Vergessenheit  oft  bis  auf  die  Anfangsstrophen  '^\  und  man  trug,  da  der  kunst- 
reiche Gesang  ja  die  Hauptsache  war,  kein  Bedenken  demselben  neue  Worte 
unterzulegen  --  und  kein  Bedenken  unter  die  Volkslieder,  die  man  sang  und 
sammelte,  auch  solche  zu  mischen,  die  weder  in  Wort  noch  Weise  jemals  Volks- 
lieder gewesen  waren.  -^  Diese  Gesellschaftslieder,  wie  unsere  Zeit  sie 
treffend  benannt  hat  ^*,  hielten   zwar   noch  im  Ganzen  den  Gang  und  Klang 

lungenstrophe.  17)  Uhland  979  fg.  18)  Bergmanns  Anihraser  Liederbuch  ix  fg.  K. 
Maximilians  Geschütz  vor  Hoheukrsehen  1512  als  dessen  vierstimmige  canterei  dargestellt: 
Uhland  472.  Thomas  Elsbeths  Liedersammlung  1599  den  Bierbrauern  zu  Breslau  zugeeignet: 
HofFmanns  Gesellschaftslieder  xii.  19)  wie  die  Gassenhatcer  vnd  Eeutterliedlin  und  die 
GrasslicdliH :  Uhland  979 ;  W.  Schmeltzls  Sammlung  von  1544  :  Weiler  Annalen  2,  18 . 
ebenda  Abdruck  eines  LB.  von  1550  etwa;  Dedekinds  Tricinia  auf  trefliche  lustige  Texte 
gesetzt  1588 :  Docens  Miscellaneen  1,  257.  20)  So  wahrscheinlich  gemeint  der  Wettgesang 
von  Knckuck  und  Nachtigall  LB.  2,  185  (prosaische  Ausführung  3,  1,  605)  und  das  aus 
Volksliederanfängen  zusammengesetzte  Quodlibet  ebd.  22.  21)  Bei  Forster  (Anm.  22)  und 
anderswo  (s.  z.  B.  Docens  Mise.  1,  257.  259)  häufig  genug  nur  diese  abgedruckt.  Man  darf 
darin  keine  Abkürzung  sehn,  welche  das  Übrige  als  bekannt  voraussetze:  Förster  berichtet 
ausdrücklich,  wie  oft  er  sich  vergebens  bemüht  habe  noch  den  rechten  Text  seiner  Lieder 
zu  bekommen  :  das  Deutsche  Kirchenlied  v.  Phil.  Wackernagel  804.  22)  Hauptbeispiel 
die  fünftheilige  Nürnberger  Sammlung  von  Georg  Forster  1539  u.  s.  f. :  Uhland  978; 
Forster  bekennt  selbst  (Anm.  21\  er  gebe  seine  Lieder  nicht  der  Texte,  sondern  der  Com- 
positionen  halben  in  Druck,  und  so  habe  er.  wo  der  alte  Text  ihm  fehlte  oder  ihm  gar  zu 
ungereimt  erschien,  dafür  einen  neuen  gemacht.  Glanner,  dem  auch  in  seiner  Sammlung 
(München  1578")  die  Melodien  die  Hauptsache  sind,  will  sich  gern  gefallen  lassen,  dass  man 
dazu  andre  Texte  singe  als  die  von  ihm  gegebenen  :  Docen  2.58.  23)  So  beschaffen  die 
meisten  Liederbücher  des  Jahrhunderts :  Hauptbeispiel  das  zuerst  1578,  dann  1582  in  Frank- 
furt gedruckte,  unter  dem  Titel  Ambraser  Liederbuch  neu  hsggb.  von  Bergmann,  Stuttg. 
L.  V.  1845 ;  vgl.  Uhland  975.  Nsechst  dem  die  Nürnbergischen  Berglireyen  seit  etwa 
1530.     Uhland  976   fg. ;    neue   Ausg.   durch  Schade,   Weimar   1854.         24)  Die  deutschen 


§  95  GESELLSCIIAFTSLIEDER.  39 

der  Vülkslyrik  innc,  auf  die  sie  folgten-^:  zugleich  aber  griffen  sie  über  den- 
selben hinaus  nach  einer  mehr  gebildeten  und  gelehrten  Art,  nach  grcesserer 
Schärfe  und  Rundung  des  Ausdrucks  und  selbst  nach  dem  Zierrath  mytho- 
logischer Bezüge-'':  umschlossen  doch  die  Kreise,  für  die  und  in  denen  sie 
geschaffen  wurden,  leichtlich  alle  Abstufungen  des  Standes.  ^^  Und  noch  eine 
andre  Neuerung  begleitete  diesen  aufwärts  gerichteten  Zug  des  deutschen 
Volksüedes.  Es  war  das  Ausland,  es  waren  Frankreich  und  Italien,  von  de- 
nen her  der  Anstoss  zu  der  gesteigerten  Künstlichkeit  des  Gesanges  und 
überhaupt  zu  einem  Aufschwung  der  Musik,  auch  zur  Verdrängung  wiederum 
der  rohen  Blasegersethe  (§  75,  7)  durch  allerhand  feineres  Saitenspiel  nach 
Deutschland  kam  ^^;  durch  die  so  vielen,  die  auf  Reisen  dort  gewesen  ^®, 
noch  mehr  durch  Musiker  jener  Lande  selbst,  die  in  Deutschland  an  Hoefen 
und  in  Städten  weilten  ^°,  wurden  italiaenische  und  franzoesische  Lieder  ^'  und 
wurden  die  Formen  der  welschen  Ton-  und  Dichtkunst  nun  auch  hier  in 
Umlauf  gesetzt,  und  es  drangen  die  Gaillarden  und  Yillanellen  und  Canzo- 
netten  u.  s.  f.  mit  all  ihrer  fremdartigen  Zierlichkeit  bis  in  das  Gesellschafts- 
lied des  deutschen  Volkes  ein.  ^-     L"nd    so    mochte  es  denn  auch  mehr  vom 

Gesellschaftslieder  des  16  u.  17  Jh.  v.  Hoffmann  v.  Fallersleben,  Leipz.^,  1860.  25) 
Beispiel  das  Lied  LB.  2,  22.  welches  wohl  das  sprichwörtlich  gewordene  Bohnenlied 
sein  mag,  dessen  die  Reformations-  und  Litteratnrgeschichte  Berns  schon  im  J.  1522  gedenkt: 
S.  Niclaiis  Manuel  v.  örüneisen  211  fgg.  26)  Ambraser  Liederb.  xii.  27)  Felix 
Platter  mit  seiner  Laute  bei  pancheten  und  hnubaden  (auhaäe  Morgenständchen,  Taglied) 
thsetig :  Thomas  PI.  u.  Felix  PI.  v.  Boos  135.  Unter  den  Liedern  der  trunknen  Gesellschaft 
in  Fischarts  Gargantua  Cp.  8  und  unter  den  Martinsliedern  §  104,  6  auch  lateinisch  deutsche: 
LB.  2,  193  fgg.  322  fgg.  28)  Beispielshalb  m  vgl.,  was  Felix  Platter  134  fg.  von  seinen 
jugendlichen  und  spjeteren  Liebhabereien  und  Uebnngen  erzählt.  29)  §  94,  33.  Fischart 
wo  er  das  Pariser  Studentenleben  schildert,  Gargantua  Cp.  27  da  fieng  man  widerumb  an 
MusicJcartUch  zusingen,  auff  ziigestimten  Instrumenten  zuspüen,  quatuor,  triiim,  Mutetten, 
Vüanellen  de.  Cp.  28  machten  vnd  schrihen  inn  jJire  Schreihtceflin  etliche  kurtze  Epigram- 
mata  zu  Latin,  vnnd  vbersetzten  sie  darnach  inn  Eondeo  vnd  Ballade  gestalt  au/f'  Fran- 
tzasisch  oder  Teutsch,  Heimeten  vmb  die  uett,  dichteten  Lider,  auff  allerlei  melodei,  erfunden 
neue  bünd,  neue  däntz,  neue  sprüng,  neue  Passa  repassa,  neue  hoppeltäntz,  machten  neue 
Wissartische  Reimen  von  gemengten  trei  hüpffen  vnd  zwen  sehritten.  30)  Ambraser 
Liederb.  ix  fg.  Vgl.  das  Lieder-  u.  Componistenverzeichniss  in  Aufsess  Anzeiger  für  Kunde 
d.  deutschen  Vorzeit  1853,  30  fgg.  31)  Bicinia  Gallica  Latina  et  Germanica,  Wittenb. 
1545 :  Erasmus  Rotenbuchers  Bergkreyen :  Auff  zwo  stimmen  componirt,  sambt  etlichen 
dergleicJien  Franckreichischen  gesenglein,  Nürnb.  1551 :  Uhland  977.  Das  erste  Buoch  — 
ScJuener  Lautenstück,  von  artlichen  Fantaseyen,  lieblichen  Teütsehen,  FrantzoesiscJien  vnnd 
Italitenischen  Liedern  usw.  8trassb.  1572 :  Fischarts  Geistl.  Lieder  135.  Die  Sammlungen 
von   Lasso,  Mancjni  u.  Zacharia :  Docens  Mise.  1,  258  fg.         32)   Bernh.   Schmids    Zuey 


40  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XVI  JAHRII.  §  95 

welschen,  iils  von  dem  Einflüsse  des  Meistergesangs  herrühren,  wenn  hi  Lie- 
dern der  Art  der  Versbau  nacli  Acccnten  gelegentlich  mit  der  blossen  Syl- 
bcnzichlung  wechselte.  ^^  Es  konnte  nicht  fehlen,  diess  zwiefache  Emporstreben 
des  Volksgesanges,  hier  nach  dem  gelehrten,  dort  nach  dem  welschen  Vor- 
bild, musste  denselben  je  mehr  und  mehr  und  endlich  so  ganz  von  seiner 
Eigenart  abziehen,  dass  sein  Untergang  damit  eingeleitet  war.  Dem  arbeitete 
wohl  noch  eine  dritte  dem  echten  Volkslied  zuwiderlaufende  Neigung  vor, 
die  jetzt  immer  stärker  und  nicht  bloss,  wo  sie  eher  am  Platz  erscheint,  in 
der  Lyrik  der  Gcsellschaftslicder  ^*,  sondern  selbst  in  den  Liedern  geschicht- 
lichen Inhalts  und  vorzugsweis  gerade  in  diesen  hervortrat,  die  Neigung  den 
Namen  des  Verfassers  anzugeben  ^^  und  so  demselben  ein  Recht  zu  sichern, 
das  doch  allein  in  der  Kunstpoesie  und  nur  unter  gelehrten  Dichtern  von  Be- 
deutung war:  dazu  ward  dann  die  letzte  Strophe  verwendet,  der  Schluss  des 
Gedichts,  wohin  auch  sonst  diese  Zeit  die  Verfassernamen  zu  setzen  pflegte 
(§  98,  21).  Lieder,  Avclche  reiner  bei  der  Volksart  blieben,  unterliessen  je- 
doch all  dergleichen  Sclüussangaben  und  bezeichneten  hccchstens  Stund  oder 
Alter  oder  Ileimath  ihres  Dichters.  ^'"' 

Wo  aber  hat  man  die  ersten  Verfasser  der  Volkslieder,  wcmi  uns  kein 
Name  und  sonst  keine  Andeutung  sie  kenntlich  macht,  zu  suchen?  Unter  den 
Bergknappen  etwa,  die,  wemi  sie  des  eigentlichen  Geschäftes  müssig  giengcn, 
dann  auf  Erwerb  dui-ch  Saitenspiel  und  Gesang  das  Land  durchzogen  ^^,  noch 
mehr  vielleicht  unter  denen,  die  ganz  von  Berufs  wegen,  bald  wandernd,  bald 
im  ständigen  Dienst  eines  Füi-sten  oder   büi-gcrlich  angesessen,  hier  die   Er- 


Bücher  einer  neuen  künstl.  Tabulatur  auff'  Orgel  nid  Instrument,  Strassb.  1577.  Von  Jon. 
Hermann  Schein  (gest.  als  Cantor  zu  Leipzig  1630")  mehrere  Sammlungen  solcher  von 
ihm  selbst  gedichteten  und  componierten  Stücke,  z.  B.  Musica  Boscareccia,  Waldliederlein, 
vff  ItnhaniscJu?,  Villanellische  Invention,  Leipz.  1621.  Deutsche  Endecasi Ilaben  und  Strophen 
nach  Art  der  Terzinen  :  LB.  2,  319 ;  beide  Formen  aber  auch  bereits  in  einem  Gedichte 
von  1-449  nachgebildet :  Uhl.  -423.  33)  wie  schon  dort  bei  Uhland  423.  Zacharias  Samm- 
lung italisnischer  Canzonetten  mit  deutscher  bloss  die  Sylben  gleich  abzjehlenden  Übersetzung : 
Docens  Mise.  1,  259.  34)  Apiarius,  Steuerlin,  Helmbold,  Schnegas,  Hasler  u.  a.:  s. 
Anm.    32.  Docens   Mise.  1,  2.57  fgg.  Hoflfmanns  G^esellschl.  ix.  35)   Soltau  lxvii.  lxxi 

fg.  Körner  ix,  Liliencron  4,  615  fg.  im  Namen verzeiehniss.  36)  Soltau  Lxvi  fg.  LXix ; 
LB.  2,  17. 10  und  selbst  noch  in  dem  künstlichen  Liede  219,  5:  eines  goldschmids  tochter  Ambr. 
Liederb.  64.  37)  Fei.  Platter  136.  Daher  bezeichnet  der  Name  Bergreien,  Bergliedlein,  Berg- 
rische  Lieder  Anm.  y  nicht  eigentliche  Bergmannslieder  (es  gehn  unter  ihm  allerhand  ganz 
andre"),  sondern  überhaupt  nur  solche,  die  in  den  Bergstädten  (Uhl.  976,  Ambr.  Liederb.  36.  21!^,  das 
Lied  vom  Schreiber  im  Korb  Anm.  1)  und  nun  auf  der  Spielmannswanderung  auch  ausserhalb 


§  05         WELSCHE  FORMEN.        SINGER  UND  SPRECHER.  41 

gotzung  des  Volks  und  dessen  Lohn  mit  dichterischer  Rede  und  mit  Liedern 
suclitcn,  dort  mit  ihrer  Kunst  wie  vordem  die  Wappendichter  (§  67,  18  fgg. 
81,  21  u.  103)  Festlichkeiten  zu  Hof  und  Stadt  begleiteten,  unter  den 
Sprechern  und  Pritschenmeistern  und  voraus  den  Singern.  ^^  Die  Namen 
einiger  solcher  sind  uns  überliefert,  Gruenenwald  ^^,  Leonhard  Flexel  ^'^, 
Benedict  Edelpöck  *\  Wilhelm  Weber  •*-  u.  a.,  und  zugleich  Geschichten*^, 
in  denen  uns  diese  Fahrenden  und  Begehrenden  des  sechzehnten  und  sieb- 
zehnten Jahrhunderts,  wenn  nicht  als  unwürdige  Reimenschmiede,  dann  als 
Dichter  im  echtesten  Volkston  und  auf  dem  Grunde  des  Volksliedes,  aber 
auch  solche  üngebührlichkeitcn  ihrer  Lebensart  erscheinen,  dass  die  Verach- 
tung, die  gleich  den  Begehrenden  des  Mittelalters  sie  betraf**,  und  die  Ver- 
bote, die  Kaiser  Karl  v  und  Rudolf  ii  gegen  das  ganze  Gewerb    der  Singer 


derselben  gesungen  wurden.  Welschengeiger,  Scluilmeyer,  Leirer,  Bergreyer  LB.  3,  1,  466. 
38)  Die  Berufsnamen  der  Sprecher  und  der  Singer  schon  im  Mittelalter :  §  44,  17.  Singer 
ühland  9 ;  in  Joben  Spil  §  105,  39  ein  Sprecher,  der  dessen  Grastmgeler  sucht ;  Sprucli- 
sprecher :  Wagenseil  de  civit.  Noribergensi  466  fgg.  Abzeichen  der  Sprecher  ein  Stab,  das 
lotterlioh  genannt:  Müllenhoff  u.  Scherer  Denkm.  491,  zu  deren  Beispielen  aus  H.  Salats 
Verlornem  Sohn  1245.  2145  kommt.  Schmeller  B.  ^\'b.-  1.541.  Die  Sprecher  bei  Schützen- 
festen Fritschenmeister  genannt :  Uhland  vor  Fischarts  Orlückhaftem  Schiff  v.  Halling 
xxvin  fgg.  An  deren  Festspriiche  sich  mit  Satire  schliessend  der  Lohspruch  der  Schützen 
(auf  die  Aussreden  vnd  Fürwort  —  tcenn  sie  nit  vil  Trüffen)  von  dem  Zürcher  Hans 
Heinrich  Grob  1602  :  Haupts  Zeitschr.  für  Deutsches  Alterth.  7,  240  fgg.  39)  Singer 
am  Hofe  "Wilhelms  iv  von  Baiern  :  LB.  3,  1,  451  (1530  od.  1547).  40)  Pritschen meister 
zu  Augsburg  1555  fgg. :  Uhland  a.  a.  0.  xxviii.  Ebd.  liv  fg.  Ulrich  Ekthel  auch  von 
Augsburg  und  Hans  Son  zu  Kanstadt.  Ueber  die  Aarauer  Heinrich  und  Ulrich  Wirri 
s.  Bschtold,  Das  glückhafte  Schiff  von  Zürich  S.  1.  Ein  Gedicht  des  ersteren  Schnorrs 
Archiv  7,  363.  41)  Pritschenmeister  in  Diensten  der  K.  Maximilians  li  u.  Rudolfs  li : 
Weihnacht-Spiele  u.  Lieder  v.  Weinhold  18d.  42)  Spruchsprecher  zu  Nürnberg,  geb. 
1602,  gest.  1661 :  Wagenseil  a.  a.  0.  466.  489.  564  ;  Holstein  Z.  f.  d.  PhUol.  16,  165  fgg., 
über  Wilhelm  W.  und  seinen  Vater  Hans  W. :  vgl.  §  115,  2.  Auch  jener  Barbierer  Jacob 
Vogel  um  1620,  von  welchem  Xeumeister  in  seinem  Specimen  dissertationis  de  Poetis 
Germanicis  108  berichtet,  scheint  mit  der  Fülle  und  Ruhmredigkeit  seiner  geistl.  u.  welt- 
lichen, lehrhaften  u.  dramatischen  und  anderweitigen  Reimereien,  die  ihm.  ob  freilich  im 
Ernste  ?  selbst  den  Diohterkranz  zu  Wege  gebracht,  aus  dem  Sprechergewerb  hervorge- 
wachsen, wie  er  denn  auch  am  kursächsischen  Hofe  wirklich  einmal  eine  Stellung  der  Art 
bekleidet  hat.  Ein  gelehrtes  Gegenstück  zu  den  Festbeschreibungen  der  Pritschenmeister 
bietet  Jacob  Frischlins  HohenzoUerische  Hochzeit  1598,  3  Bücher,  die  beiden  letzten  wieder- 
holt von  Birlinger,  Freiburg  i.  B.  1860.  43)  LB.  3,  1,  451.  Uhlands  Volksl.  61Ö.  1025. 
Wagens.  467  fgg.  44)  Sprecher,  Singer,  Gaukler  u.  Schalksnarren  rechtlich  zusammen- 
gestellt :  Schmellers  Bair.  Wörterb.  3,  588.    Schlemmer  LB.  3,  1,  451;  Schelmenzunft,  Land- 


42  NEUHUUIIDEUTSCIIE  ZEIT.        XVI  JAHRH.  §  96 

und  der  Sprcclior  ausgehn  Hessen  * ',  uns  nicht  bclVcmden  dürfen.  Der  Volks- 
dichtung konnte  solch  ein  Missvcrhaltcn  derer,  die  iuniitten  des  Volkes  ihrer 
vorzugsweise  pHogtcn,  kein  Nutzen  sein. 

§  96. 
Dio  Sprecher  pflegten,  wo  sie  in  ihrem  eigentlichen  Berufe  standen,  nur 
gesanglos  zu  reimen,  nicht  zu  singen':  obschon  demnach  nicht  in  Strophen 
gegliedert,  hielten  doch  ihre  Sprüche  den  Versbau  nach  Accenten,  der  sonst 
nur  noch  im  Volkslicde  galt,  und  so  in  echterer  Weise  die  alte  Form  der 
bloss  gesprochenen  Uedichte  fest;  nur  mitunter  ward  die  Vierzahl  der  Hebungen 
überschritten,  und  die  Rede  verlor  sich  aus  der  Poesie  zurück  in  die  Reim- 
prosa.^  Noch  entschiedncr  als  somit  diese  Gelcgcnhcitsreime  der  Sprecher 
lehren  uns  andre,  zum  Thcil  noch  bis  auf  den  heutigen  Tag  bestehende  Über- 
reste, dass  der  poetische  Drang  des  Volkes  niclit  überall  in  das  knappere 
Gewand  einer  voll  entsprechenden  Formgebung  sich  gefügt,  dass  es  ausser 
dem  Voiksgesang  auch  noch  eine  poetische  Prosa  des  Volkes  gegeben  habe. 
Nicht  zu  gedenken  der  Si'iucinvöuTEu  und  der  R.kthsel  (§  101.  111),  weil 
diese  schon  um  ihrer  Kürze  willen  der  Versform  weder  fähig  noch  bedürftig 
schienen "  %  waren  die  WaiüsprCche,  deren  früheste  Aufzeiclmungen  jetzt 
geschahen  ^,  zwar  dem  Inhalte  und  sonst  auch  ihrer  ganzen  Fassung  nach  echt 
dichterisch,  dichtcriscli  wie  das  Gewerbe  selbst,  dessen  freudiges  Thun  sie  von 
der  Morgendämmerung  an  durch  Wald  und  Flur  bis  zur  Beute  und  zur  spajtcn 
Heimkehr  begleiteten,  waren  sogar  Schritt  für  Schritt  ausgeschmückt  mit 
reimenden  Satzschlüssen  und  überdiess  mit  spricliwörtlichen  Schlagi'eimen  und 
Allitterationen  in  Fülle  und  waren  dennoch,  da  den  Reimabsätzen  alles  Mass 
und  Gleichmass  abgieng,  keine  Gedichte,  sondern  lediglich  «ereimte  Prosa. 
Und  ganz  in  Prosa,  gleichfalls  dichterisch  beseelter,  so  jedoch,  dass  nur  stellen- 

streicher,  Lotterbub  Uhl.  618 ;  nasse  Brüder  Wagens.  489.  Vgl.  §  44,  18.  4.5)  Wagea- 
seil  491.     Vgl.  §  97,  32. 

§  96.  1)  Wagenseil  de  civitate  Noribergensi  491.  2)  Wagenseil  467  fgg.  564  ig.  In 
gleicher  Form  die  Rffithselsprüche  iler  Singer  unter  Uhlands  Volksliedern  7.  9  und 
die.  wenn  nicht  aus  schon  früherer  Zeit,  doch  zum  mindesten  aus  dem  16  Jh.  her- 
rührende Bearbeitung  des  ^Vigalois  (§  60,  16.  1»0,  228;  hier  Wieduwilt  geheissen), 
die  der  Jude  Jose)  von  Witzenhausen  nicht  selber  verfasst  (Beneckes  Wigal.  xxx),  sondern 
nur  aus  einem  älteren  Buche  abgeschrieben  hat :  gedr.  in  Wagenseils  Belehrung  der 
Jüdisch-Teutschen  Red-  u.  Schreib-Art,  K^pnigsb.  1699.  und  hieraus  in  den  Erzehlungen  aus 
d.  Heldenalter  tcutscher  Nationen,  Danzig  178U,  .'57.'^ — 009.  2a)  Eine  Reihe  von  reimenden 
Fragen  scherzhaft  zusammengefügt  in  der  Klage  über  den  Niemand  LB.  2,  118.  3)  Altd. 
Wälder  d.  Br.  Grimm  3,  Frankf.  1816,  97  fgg.     Grsetcr   in  Haessleins  u.    seinem  Bragur  3, 


§  97  PROSA  DES  VOLKES.  43 

weis  sich  ein  schmückender  Glcichlaut  (§  40,  1.  3)  und  etwa  am  Schiuss 
eines  Ganzen  in  längerer  Folge  Heime  sich  darunter  mischen,  sind  die  Sprüche 
DER  Handwerksgesellen,  der  Schmiede  \  der  Bötticher  ^,  der  Siebmacher  ^ 
u.  8.  w.  abgefasst,  die  Reden,  wenn  ein  Lehrling  Geselle  wird  oder  ein  Gesell 
auf  der  Wanderschaft  das  Handwerk  grüsst,^  *  Moegen  auch  die  gedruckten 
Niedersetzungeu  " '',  die  es  von  der  letzteren  Art  der  Volksprosa  giebt,  bei 
weitem  nicht  bis  hinauf  in  das  sechzehnte  Jahrhundert  reichen,  der  Ursprung 
derselben  reicht  gewiss  und  zum  mindesten  so  weit:  war  jenes  Jahrhundert 
doch  das  Blütenalter  des  deutschen  Handwerks,  und  musste  gerade  damals 
wie  ein  Naturdrang  dazu  treiben,  dass  der  Geselle  noch  sein  Leben  und 
Wandern  mit  Poesie  umkleidete  und  die  Poesie  selbst  in  die  Prosa  brachte: 
die  ansässigen  Meister  brachten  lieber  Prosa  in  die  Poesie.' 

§  97. 
Denn  neben  dem  Volkslied  kam  innerhalb  der  unteren  Stände  noch  eine 
andre  Art  sangbarer  Dichtung  aus  dem  Mittelalter  in  die  neuere  Zeit  herüber 
um  gleichfalls  jetzt  zu  der  reichsten  Pflege  und  der  hoechsten  Fruchtbarkeit, 
aber  auch  in  der  Entwickelung  ihrer  Eigenheiten  so  bis  auf  die  äusserste 
Spitze  zu  gelangen,  dass  ein  Abbrechen  für  immer  gleichfalls  unumgänglich 
war,  der  Meistergesang  nsemlich,  diese  Dicht-  und  Singübung  nicht  jedoch 
des  gesammten  dritten  Standes,  sondern  bloss  der  Bürger,  der  Handw^erker, 
so  viel  deren  sich  hie  und  da  in  eigene  Singschulen  vereinigt  und  abgeschlossen 
hatten.  Wie  noch  viel  eifriger  und  ergiebiger  jetzt  als  schon  vordem  der 
Meistergesang  betrieben  worden,  zeigt  die  angewachsene  Zahl  dieser  Schulen 
(die  reichste  an  Mitgliedern  '  und  diejenige,  deren  Gebräuchen  auch  ausserhalb 
ein  massgebendes  Ansehen  eingeräumt  ward  -,  war  die  zu  Nürnberg),    zeigt 

Leipz.  179-i,  272  fgg.  K.  Köhler  "Weim.  Jb.  3,  329.  Wagner  in  seinem  Archiv  133  fgg.  wo  die 
Quellen  aufgeführt  werden.  4)  Altd.  Wald.  1,  Cassel  1813,  88  fgg.  5)  ebd.  100  fgg. 
6)  Bragur  3,  216  fgg.  6  a)  Vom  deutschen  Handwerksleben  in  Brauch,  Spruch  und  Lied, 
Weim.  Jb.  IV  (1856).  6b)  Frid.  Frisius,  der  vornehmsten  Künstler  und  Handwerker  Ceremo- 
nialpolitica,  Lpz.  1708.  7)  Freilich  Hans  Sachs  und  Puschmann  thaten  schon  auf  der  Wan- 
derschaft sich  zu  den  Meistersingern  :  LB.  2,  260.  23.  HSachs  v.  J.  L.  Hoffmann  17  fg. 
Heinr.  HoflPmanns  Spenden  z.  deutschen  Litteraturgesch.  2,  5. 

§  97.  Für  diesen  Paragr.  wiederum  zu  verweisen  auf  die  schon  früher  (§  71,  16.  20)  ge- 
nannten Arbeiten  von  Wagenseil  (Anm.  29),  Haessler,  Jac.  Grrimm  und  Büsching.  1)  Deren 
mehr  als  drittehalb  hundert:  Wagenseil  517.  2)  Adam  Puschmann  LB.  2,  261,  2  u. 
Büsching  170.  172.  Um  solchen  Rang  scheint  mit  Nürnberg  Augsburg  gewetteifert  zu 
haben  (Busch.  200.  vgl.  §  93,  6):    aber   Puschmann  hat  den  rechten  Grund   der  Singekunst 


44  NEUllOCIIDEUTöCllE  ZEIT.        XYl  JAllUll.  §  97 

ferner  ilie  erst  nun  und  nun  wiedcrholondlich  gcscliclicne  Aufzeichnung  der 
Tauulati'ren  (§  74,  IG)  -  *  und  die  Abfassung  dem  fielmliclier  Werke  über 
die  Regeln  der  Kunst ',  zeigen  endlicli  auch  die  Menge  und  die  luhaltsfülle 
der  SAMMLi'NfiEK,  die  man  jetzt  von  Meisterlicdern  der  Zeit  selbst  und  der 
früheren  Zeiten  machte.^  Mit  all  dem  aber  konnte  ein  Weg  nicht  in  die 
Kichtc  kommen,  der  vom  ersten  Beginn  an  zu  verkehrt  gewesen:  es  blieben 
die  alten  Schajden,  nur  ins  noch  wildere  gesteigert.  Die  Meistersänger  legten 
das  Gewicht  voraus  auf  die  Form,  und  doch  wie  arm  und  fahrlajssig  waren 
sie  selbst  hierin!  Zwar  konnte  bei  der  dem  zünftigen  Handwerk  nachgebil- 
deten Eim-ichtung  ihrer  Schulen  •'  (auch  bei  ihnen  gal)  es  eine  Taufe  der 
Lehrlinge  und  eine  Freiung  '^)  nur  der  ein  Meister  werden,  der  als  Meister- 
stück ein  Lied  oder,  wie  sie  es  nannten,  ein  Bar '  von  fehlerloser  und 
an  Wort  und  Weise  ganz  neuer  Form  den  Gesellschaftern  vortrug  *,  und 
überall  schien  eine  neue  Form  ein  so  verdienstliches  Werk,  dass  man  sie 
feierlich  unter  dem  Beistande  von  Gevattern  auf  den  Namen  ihres  Meisters 
und  noch  einen  schconen  Beinamen  taufte  '•':  gleichwohl  haben  nach  jener 
einen  ersten  Erfiudimg  nur  wenige  spseterhin  noch  andere  versucht:  selbst  von 
llans  Sachs  (§  98)  rühren  nur  13  neue  Toone  her.'^  Man  war  zufrieden  und 
konnte  auch  schon  damit  den  Preis,  die  Krone,  die  Elirenkctte,  den  Kranz  " 

in  Augsburg  umsonst  gesucht  und  erst  in  Nürnberg  ihn  gefunden :  Busch.  168.  2a)  vgl. 
auch  Schnorr  (Anm.  4)  S.  16.  Der  Nürnberger  Schuelzetel  von  HSachs  zu  einem  Meisterge- 
sang verarbeitet:  Hertel  (§  '.»8,  7)  S.  '2(J.  31.  Vgl.  auch  die  Schulkumt  Z.  f.  d.  Alt.  10.  309. 
3)  durch  Adam  Puschmann,  einen  Schuhmacher  aus  Görlitz,  geb.  Iö32,  gest.  zu  Breslau 
1600.  Über  ihn  und  seine  Werke  HHoönianns  Spenden  z.  deutschen  Litteraturgesch.  2, 
Leipz.  1844,  5  fgg.  Auszüge  aus  seinem  dreimal  (1071.  1584.  15%)  bearbeiteten  Bericht 
der  deutschen  Singekunst  bei  Büsching  16»i  fgg.  Ein  Meistergesang  von  ihm,  eiu  Lob-  u. 
Trauergedicht  auf  seinen  Lehrer  Hans  Sachs,  LB.  2,  2;');):  ein  Drama  §  105,  35.  4)  Der- 
gleichen auf  mehreren  Bibliotheken,  bloss  in  Dresden  24  Bände.  vdHagens  Minnesinger  4, 
907  b  u.  a.,  sieben  ganz  oder  fast  ausschliesslich  von  HSachs  geschriebene:  F.  Schnorr 
von  Carolsfeld,  Zur  Geschichte  des  deutschen  Meistergesangs,  Berlin  1872.  Buschmanns 
Sammlung  zu  Breslau:  HHoffm.  a.  a.  0.  15  fg.  5)  Wagenseil  533.  546  fgg.  Ein  im 
Namen  der  Schule  vorgetragenes  Lied  hiess  i'schulkunst  (Anm.  2a ) :  Hertel  versteht  darunter 
ein  Utbungsstück.  6)  Wagens.  547.  7)  Wagens.  500  fgg.  vgl.  oben  1,  465 :  der  Be- 
griffsentwicklung vergleicht  sich  die  von  swane  %  98,  19.  8)  Wagens.  533;  „Wer  die 
Tablatur  noch  nicht  recht  versteht,  wird  ein  Schuler;  der  alles  in  derselben  weiss,  ein 
Schul-Freund;  der  etliche  Thcen,  etwann  5.  oder  6.  fürsingt,  ein  Singer;  der  nach  andern 
Th(vnen  Lieder  macht,  ein  Tichter ;  der  einen  Thon  erfindet,  eiu  Meister;  alle  aber,  so  in 
der  Gesellschafft  eingeschrieben  seyn,  werden  Gcsellscliaffter  genennet."  9)  Wagens.  533. 
10)  HSachs   V.   JLHoffmann  24.        11)    Das   Theater    zu    Freiburg   v.    Schreiber    17    fgg. 


§  97  MEISTERGESANG.  45 

gewinnen,  wenn  man  nur  auf  den  Ton  eines  Anderen  neue  Worte  dichtete 
und  gut  sang,  auf  Toeno,  welclie  thcils  noch  aus  dem  Mittelalter  stammten, 
wie  die  vier  gekroßuten  oder  Ilaupttoene,  die  auch  mit  zum  Meisterstück  ge- 
hoerten  ^-,  theils  von  jüngerem  Ursprung  und  vielleicht  die  Erfindung  noch 
lebender  Zeitgenossen  waren:  so  haben  z.  B.  Hans  Sachs  und  Adam  Pusch- 
mann  einander  nachgesungen.'^  Und  allerdings  war  auch  diess  blosse  Nach- 
singen nicht  gerade  sttets  das  leichteste  Geschäft:  die  Grundform  aller  Strophen 
(die  Schule  sagte  auf  Deutsch  Gesäte)  war  die  Dreitheiligkeit  *"*:  aber  es  konnte 
gelten,  auf  diesem  Grund  ein  Gebäude  von  der  verwirrendsten  Buntheit  und 
einer  Yerszahl  aufzuführen,  die  über  30,  ja  gelegentlich  über  100  hinausgieng.'-* 
Solche  Schwierigkeiten  moegen  die  Unkunst,  die  neben  so  vieler  Kunst  sich 
in  den  Meistergesängen  findet,  wohl  erklaeren,  moegen  vielleicht  zur  Entschul- 
digung dienen  für  all  die  groben  Sprachfehler,  auf  welche  man  in  den  Tabu- 
laturen  sich  genoethigt  sah  Strafen  zu  setzen,  für  die  Laster,  und  wie  die 
übrigen  Yerwahrlosungen  des  Eeimes  hiessen,  die  man  gleichfalls  strafte  und 
doch  nicht  aufhob  ''^j  für  das  Abzahlen  der  Sylben  an  den  Fingern  '",  welches 
so  sehr  die  Grundlage  der  meisterlichen  Sangesübung  bildete  und  den  Rhyth- 
mus der  Accente  so  sehr  überwog,  dass  von  den  MerJcern  auch  die  Fehler 
und  die  Strafen  nach  gewissen  Sylbenzahlen  bemessen  '^  und  die  Accente  nun 
sogar  im  Reim  nicht  mehr  beachtet  wurden.'^  Aber  nicht  wohl  dürfte  es 
ebenso  zu  erklseren  und  durch  die  Erkleerung  zu  entschuldigen  sein,  wenn 
mehr  als  eine  Redweise,  die  gerade  echt  dichterisch  ist,    in  denselben  Tabu- 


AVagenseil  544  fg.  Büscliing  169.  Ein  Kranz  als  Preis  für  geloeste  Rsethsel  oder  für  den 
besten  Gesang  auch  in  der  Volksdichtung  des  16  u.  schon  des  15  Jh. :  Uhlands  Volkslieder 
7.  9.  LB.  3,  1,  341.  12)  die  langen  Toene  Heinrich  Miiglings  (§  74,  44),  Heinrich 
Fraiienlobs  (ebd.  8),  Ludwig  Marners  (§  71,  56)  u.  Regenbogens  (§  74,  39):  Wagens.  554  fgg, 
1.3)  LB.  2,  259.  263,  40.  14)  Zuweilen  ward  davon  abgewichen  durch  die  Anfügung 
noch  eines  vierten  den  Stollen  gleichen  Gliedes  hinter  den  Abgesang:  JGrimni  46.  Drei 
auch  die  Grundzahl  der  Gesatze:  Anm.  21.  l.ö)  Wagenseil  533  fgg.  16)  Wagens, 
526  fg.  529  fg.  Büsching  184  fg.  189  fg.  194.  17)  Wagens.  521.  vgl.  §  74,  17.  18) 
Busch.  181  fg.  193.  ,Was  die  Strafen  um  Sylben  anbelangt,  so  hatte  es  damit  diese  Be- 
wandnis  ,  dass  die  verschiedenen  Grade  der  Gesellschafter  eine  bestimmte  Anzahl  von  Syl- 
ben voraus  haben.  Wer  um  mehr  Sylben  gestraft  wurde,  als  er  voraus  hatte,  der  hatte 
sich  versungen:  d.  i.  er  durfte  sich  weder  Hoffnung  zum  Preiss  machen,  noch  auch  darauf, 
dass  er  durch  dergleichen  fehlerhaften  Gesang,  als  Probe  um  einen  hoehern  Grad  seinen 
Endzweck  erreichte.  Je  mehr  zeilichter  die  Gesätze  eines  Lieds  waren,  je  mehr  Sylben 
bekam  er  auch  voraus"  Bragur  3,  83  fg.  19)  So  bindet  z.  B.  Puschmann  LB.  2,  259 
Norembrifi :  gewififi,  261  Egiäy :  ie,  262  Augufiti :  hie,  Büclwr  :  ohngfehr,   263  hnndert :  vn- 


46  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XVI  JAIIKII.  §  97 

latuien  vorpa*nt  und  wenn  den  Licdorn  eigentlich  nie  ein  iNUAi/r  gegeben 
wird,  der  Liedern  ziemt:  iille  Lyrik  ist  vor  der  nüchternsten  Lehrhaftigkeit 
entwichen,  oder  es  wird  episclicn  Stoffen  -°  («ewalt  angetlian  mit  Formen, 
weiche  durch  l'berkunst  ihnen  unangemessen  und  durch  die  beliebte  Ein- 
schränkung auf  nur  drei  oder  fünf  oder  sieben  Strophen  ^'  ihnen  zu  eng  sind. 
Die  Lehrmaftiokeit,  sie  ergieng  sich  besonders  gern  auf  dem  religioeson 
Gebiete :  denn  es  hatte  die  Schulen  ein  loeblicher  Glaubensernst  ergriffen  ^'-, 
so  dass  nichts  Ungehoeriges  darin  lag,  wenn  die  Versammlungen  geistlicher 
Gesang  eröffnete  '''',  wenn  sie  des  Sonntags  und  in  Kirchen  gehalten  wurden  -* 
und  der  Singstuhl  neben  der  Kanzel  stand. '^•'  Und  es  war  zumeist  der  pro- 
testantische, gern  also  den  Zeitumständen  gemaess  ein  streithafter  Glaubens- 
ernst: die  Mehrzahl  der  Schulen  und  die  grcesseren  alle  fanden  sich  in  Städten 
dieses  Bekenntnisses  -'^,  in  Städten,  wo  das  Schulgesetz  als  Richtschnur  der 
Sprache  Luthers  Bibel '-"  und  papistische  Lehren  als  einen  Fehler  der  ärgsten 
Art  bezeichnen  dui-ftc.-"*  Damit  aber  nahm  der  Meistergesang,  wie  er  ur- 
sprünglich hinter  die  Lyrik  der  Edehi  als  deren  verschobenes  mid  verbleichtes 
Nachbild  eingetreten  war,  so  jetzo  ganz  eine  Richtung  an  die  Seite  der  Ge- 
lehrton hin:  wirklich  gesellten  sich  auch  zuweilen  Gelehrte  selbst  den  Schulen 
bei  -^,  und  es  kam  die  Eitelkeit  auf,  Heinrich  Frauenlob,  den  Anfänger  der 
Kunst,  und  Heinrich  von  Mügcln  zu  Doctoren  der  Theologie  zu  macheu 
(§  74,  32.  46),  und  die  Eitelkeit,  die  freilich  auch  übel  ausschlug,  des  Prunkens 

beschicert,  Summarum :  Sum,  2t34  Decembris  :  Hess,  siebemiy :  frostig.  20)  Wagenseil 
501  ;  Gedicht  von  den  12  ältesten  Meistern  (§  74,  22)  in  sieben  Strophen  und  ebenso  viel 
Toenen  der  Strassburger  Schule :  ebd.  504  fgg.  Vgl.  Anm.  34.  21)  Die  häufigste  Stro- 
phenzahl war  gleich  der  Zahl  der  Strophenglieder  (Anm.  14)  drei:  JGrimm  46  fg.  Fünf 
und  sieben  Erweiterungen  desselben  Grundverhältnisses:  vgl.  §  G9,  7.  Die  drei  zusammen- 
hangenden Lieder  Puschmanns  LB.  2,  259  sind  gedritt,  gefünft  und  gesiebent.  22)  Die 
zu  Freiburg  nannte  ihr  Hauptsingen  eine  christlich-geistliche  Singschule:  Schreiber  ä.  a. 
0.  15.  23)  Wagenseil  490.  24)  AVagens.  489.  540  fg.  Kunstgesch.  d.  RSt.  Augs- 
burg von  Paul  V.  Stetten,  Augsb.  1779,  528  fg.  Zu  Freiburg  in  Räumlichkeiten  des  Do- 
minicanerklosters: Schreiber  a.  a.  0.  25)  Wagens.  541.  26)  s.  die  Verzeichnisse  bei 
JGrimm  129  u.  Büsching  16<j.  Vgl.  auch  für  Oesterreich  Schröer  in  Bartschs  Germanist. 
Stud.  2,  206  fgg.  27)  Büsching  187.  Bibel  u.  Canzelei  (.§  93,  3)  ebd.  182  fg.  Wagens. 
525.  In  der  Nürnberger  Schule  hatte  der  älteste  Merker  Luthers  Bibel  vor  sich  um  jedes- 
mal Acht  zu  geben,  „ob  das  Lied  so  wohl  mit  dem  Inhalt  der  Schrift,  als  auch  des  Lutheri 
reinen  Worten  überein  komme"  Wagens.  544.  28)  Büsching  183.  29)  Zu  Freiburg, 
wo  die  Gesellschaft  zugleich  eine  Verbrüderung  für  Seelmesseu  war  und  deshalb  sogar 
Schwestern  zsehlte,  als  Mitglieder  auch  Doctoren  und  Priester:  Schreiber  16.  Anderswo 
dergleichen  seltener :  doch  zu  Augsburg  zwei  Kotare.  Gkoiuj  Danbeck  u.  Job.  Sprenger, 


§  97  MEISTERGESANG.  47 

mit  Latinittet.^"  Um  so  berechtigter  nun  erschien  die  ekle  Zurückweisung 
alles  dessen,  was  die  Poesie  der  Schule  mit  der  des  übrigen  niedern  Volkes 
hätte  in  Berührung  und  Vermischung  bringen  können  ^':  der  Lohn  dafür  war, 
dass  von  jenen  kaiserlichen  Verboten  gegen  die  Singer  und  Sprecher  die 
Meistersinger  ausgenommen  wurden.  ^^ 

So  nach  Grundsatz  und  Gesetz.  Dennoch  war  bei  den  Standes-  und 
Berufsverhältnissen,  in  welchen  meist  diese  Dichter  lebten,  nicht  ganz  zu 
verhindern,  dass  zwischen  dem  Meistergesang  und  der  Poesie  des  Volks  und 
des  öfiFentlicheren  Lebens  ein  Eiufluss  bald  auf  die  Form,  bald  auf  den  Inhalt 
hin  und  her  gieng.^^  Gelegentlich  streifte  das  Volkslied  an  Künsteleien  des 
Reims  und  des  Stropheubaues,  wie  die  Schule  sie  liebte;  andrerseits  behan- 
delten die  Meistersinger  Stoffe,  die  eigentlich  der  Sage  und  dem  Gesang  des 
Volks  zustanden,  in  Worms  z.  B.    mit  städtischem  Stolz    die  Geschichte  des 


angesehene  Meistersinger :  Biiscliing  201 ;  zu  Nürnberg  ein  Magister  und  Lehrer  am  Gjth- 
nasium,  Ambr.  3Letzger  :  Wagens.  547;  zu  Strassburg  um  1591  Peter  Pfort  Diaeon  zu 
Jung  S.  Peter  und  Pfarrer  JoH.  Zehenthoffer  :  vgl.  Martin  Die  Meistersinger  von  Str. 
1882  S.  15:  zu  Magdeburg  (tabriel  Rollenhagen  (Gfedertz  84).  Schriftstellerische  und 
anderweit  freundliche  Theilnahme  Casp.  Scheits  für  die  Singschale  zu  Worms  1561 
(Wackernagel  Fischart  1U6.  228)  sowie  Cyriacus  und  Wulfhart  Spangenbergs  um 
160()  für  die  zu  Strassburg  (§  100,  37.  105,  144)  und  später  Jon.  Christoph  Wagenseils 
für  die  zu  Nürnberg :  dessen  Buch  Von  Der  Meister-Singer  Holdseligen  Kunst  Anfang, 
Fortübung,  Nutzbarkeiten,  n.  Lehr-Sätzen:  de  civitate  Noribergensi,  Altd.  1697.  433  fgg. 
Geschenk  des  letzteren  an  die  Schule  545.  30)  Büsching  183  fg.  Wagens.  526.  .Sl) 
Wagens.  547.  555.  In  der  Singschule  verboten  Meizlieder  d.  h.  Herausforderungen  (§  74 
12a),  Possenlieder,  Bramberger  u.  Beryrische  Lieder  (Schreiber  18)  d.  h.  Lieder  wie  das 
vom  Brennenberger  (Uhlands  Volksl.  158  fgg.  vgl.  §  103.  28)  und  die  der  Bergknappen, 
die  Bergreihen:  §  95,  8.  37.  Eigeuthümlich  humoristisch  die  Badelieder:  mehrere  von 
HSachs  bei  Schnorr  S.  49  fgg.  32)  §  95,  45.  Auch  in  Baiern  1553  das  Ansingen  (Bettel- 
gesang vor  den  Häusern)  verboten,  aber  ausgenommen  die  jenen,  so  erbar  uneryerUch  «. 
niemand  cerletzliche  Meister gesany  singen:  Schmellers  Bair.  Wörterb.  8,  272.  33)  In 
dem  Ambraser  Liederbuch  §  95,  23  sind  unter  die  Volks-  u.  Gesellschaftslieder  auch  nicht 
wenig  Meistergesänge  eingereiht.  34)  WGrimms  Deutsche  Heldensage  320.  Andre  Bei- 
spiele Anm.  20;  die  Meistergesänge  von  Heinrich  d.  Loewen:  Grieters  Idunna  u.  Hermode 
1813,  Nr.  13 :  und  vom  Eulenspiegel :  Lappenbergs  Ulenspiegel  233  fg.  277  fg. :  so  wie  die 
Lügenmserchen  in  Haupts  Zeitschrift  f.  Deutsches  Alterth.  2,  563.  Seb.  Brants  Narrenschiff 
V.  Zarncke  455.  Ambraser  Liederbuch  176.  180  u.  das  Lied  ebd.  340,  das  wie  die  voran- 
gehenden Prosastücke  das  hinder  fürher  kehrt.  Ueber  Thierfabeln  bei  den  Meistersängern 
handelt  WGrimm  Abh.  der  Berl.  Akad.  1855.  Schnorr  19  fgg.  verzeichnet  die  'Schwaben- 
streiche' und  historischen  Stoffe  in  den  Dresdener  Hss.  In  der  Berliner  Hs.  4*  414  Bl.  455 
finden  sich  auch  Scherze  nach  Art  des  Ebich  LB.  1,  1420  und  Bl.  384  ein  Lied  Uie  stuhen 


48  NEUIIOCIIDEUTSCIIE  ZEIT.         XVJ  .lAIIUJI.  §  98 

hörnernen  Siegfried  '*,  und  die  Meistersinger  zu  Augsburg,  zu  Strassburg,  zu 
Freiburg  im  Breisgau  dichteten  und  führten  selbst  vor  allem  Volk  geistliche 
Spiele  auf  (§  105,  144).  Was  aber  der  Hauptbelcg  liier  ist,  aus  der  ersten, 
der  gesetzgebenden  Schule,  der  zu  Nürnberg,  gieng  ein  Mann  hervor,  den 
um  seines  fruchtbaren  Eifers  im  Meistergesango  willen  diese  Schule  noch  lange 
nachher  als  ihre  Zier  verehrt  hat  '''',  der  aber  noch  fruchtbarer  auf  andern 
der  Tabulatur  entzogenen  Gebieten  und  überhaupt  unter  allen  Dichtern  des 
Jahrhunderts  der  fruchtbarste,  der  gerühmteste  ^^  und  wirklich  auch  der  grocste 
darum  war,  weil  ungebrochen  von  der  Schulunart  in  ihm  die  Art  des  Volkes 
mit  ihrem  edelsten  Kern  und  Marke  wohnte. 

Hans  Sachs  ist  zu  Nürnberg  im  J.  1494  geboren  worden  und  hochbetagt 
gestorben  im  J.  157G;  sein  Vater  war  ein  Schneider,  er  selbst  ein  Schuster. 
Die  Schule  seiner  Jugend  gab  ihm  Anfänge  der  Gelehrsamkeit,  etwas  Latein  ' 
und  selber  Griechisch;  als  Gesell  durchwanderte  er  überall  hin  Deutschland; 
was  er  dort  erlernt,  aber  theilweis  wieder  vergessen  ^,  und  die  Anschauungen, 
die  er  hier  gewonnen  hatte,  suchte  er  sodann  sein  ganzes  Leben  entlang  mit 
unermüdlichem  Eifer  zu  ergänzen  und  fort  und  fort  zu  erweitern:  er  las  und 
war  belesen   wie   selbst  wenige   Gelelirte,   belesen   in    der    älteren  deutschen 

in  den  leutten  sas  der  wein  was  xcol  gemut  er  schencket  ein  den  külen  wirt  usw.  35) 
Auf  einer  der  vier  Tafeln,  die  zu  Ankündigung  eiuer  Singschule  ausgehängt  wurden,  Hans 
Sachsens  Bildniss:  Wagens.  ö42.  36)  Wo  z.  B.  Nicolaus  Herman  ir)<jU  des  litterarischen 
Reichthumes  seiner  Zeit  gedenkt,  ist  der  einzige,  den  er  namentlich  anführt  Hans  Sachs  : 
Phil.  Wackernagels  Deutsches  Kirchenlied  823;  und  Fischart  in  der  pros.  Vorrede  seines 
Eulenspiegels  nennt  unter  denen,  die  den  gleichen  Stoff  an  Hand  genommen,  neben  seinem 
Vetter  und  Lehrer  Caspar  Seheid  nur  wieder  ihn:  Belege  aus  Ayrer  §  lOJ,  26.  Sein  Ruhm 
und  Einfluss  als  Dramatiker  §  105,  2.  ürtheil  des  17  u.  18  .Th.  §  113,  8. 
§  .)8.  Lebensbeschreibungen  des  Dichters  mit  Aufziehlung  seiner  Werke  giebt  es  von 
ihm  selbst  (am  Schluss  des  5  Bands  der  Willerischcn  Ausg.)  und  von  seinem  jüngeren 
Freunde  Adam  Puschmann  (LB.  2,  259),  beide  in  Versen ;  spaetere  von  Ranisch,  Alten- 
burg 170;"),  und  von  J.  L.  Hoffjfaxn  :  H.  S.  Sein  Leben  und  Wirken  aus  seinen  Dich- 
tungen nachgewiesen,  Nürnb.  1847.  Einzeldrucke  Haus  Sachsischer  Gedichte  verzeichnet 
im  Bücherschatz  d.  Deutschen  Xational-Litt.,  Berl.  1S")4.  5.  6 ;  Gesammtausgaben  zu  Nürn- 
berg bei  Willer  1558  fgg.  (neugedruckt  Stuttgart  L.  V.  1870  fgg.)  u.  ebd.  bei  Lochner 
1570  fgg. ;  ein  Nachdruck  zu  Kempten  1612  fgg.  :  vgl.  Naumanns  Serapeum  4,  148  fg. 
Neuere  unvollständig  gebliebene  oder  nur  auf  eine  Auswahl  angelegte  Sammlungen  von 
Bertuch  (^§  113,  8),  üaesslein,  Büsching,  Becker,  Göz,  Güdeke  und  Tittmann  (Lpz.  1870  fg.) 
Sämmtliche  Fastnachtspiele:  Neudruck  von  Götze,  Halle  1880  fgg.  Ders.  zur  Textkritik: 
Sehnorrs  Arch.  7.  7  fgg.  8,  301  fgg.     Im  LB.  2,  62—126.         1)  LB.  2,  260,  12.        2)  Hoff- 


§  98  HANS  SACHS.  49 

Litteratur,  soweit  ihm  dieselbe  durch  Druckwerke,  und  in  den  Novellen 
Italiens  und  den  Geschichten  und  Gedichten  Roms  und  Griechenlands, 
soweit  ihm  diese  durch  Übersetzungen  leichter  zugänglich  wurden  •',  belesen 
vor  allem  und  mit  derjenigen  Erhebung  und  Bescligung  seines  Innern,  welche 
von  daher  fliessen  und  zuletzt  dem  Greise  der  beste  Trost  sein  musste  "*,  in 
der  neu  eröffneten  heiligen  Schrift.  So  wuchsen  der  Lust  des  Schaffens  und 
Gestaltens,  die  von  seinem  zwanzigsten  Jahr  an  ihn  erfüllte  und  erst  auf  der 
äusscrsten  Neige  seines  Lebens  nachliess  '',  stsets  neue  Stoffe  und  Gedanken 
zu,  und  die  Zahl  seiner  Dichtungen  ward  eine  beispiellose.  Einzig  an  Meister- 
gesängen (Lehrer  in  deren  Kunst  war  ihm  ein  älterer  Mitbürger,  der  Leinen- 
weber Leonhard  Nunnenbeck,  gewesen)  hatte  er  bis  zum  Jan.  1567,  wo  er 
all  seine  bisherige  Arbeit  zsehlto,  nicht  weniger  als  4275  verfasst  ^,  mit  dem 
vorwaltenden  Ernst  der  Sitte,  welcher  den  Schulen  von  je  her  eigen  war, 
und  mit  solchem  Eifer  für  die  evangelische  Erneuerung  des  Glaubens,  dass 
namentlich  der  Schule  von  Nürnberg  die  gleiche  Richtmig  nun  für  alle  Zeit 
eigen  blieb  (§  97,  27).  Doch  hat  er,  dem  Schulgebraucho  folgend,  seine 
Meistergesänge  fast  sämmtlich  ungedruckt  gelassen  ^  (sie  sollten  nur  Eigenthum 
der  Schule  sein,  die  zieren  und  erhalten)  und  in  den  Druck  nur  solche  Dich- 
tungen gegeben,  welche  die  Tabulatur  mit  ihren  Vorschriften  und  Verboten 
nicht  beschlug:  deren  aber  fanden  bei  jener  Zaehlung  sich  1981  vor,  und  es 
war  liiemit,  da  er  noch  drei  Jahre  länger  seine  Thsetigkeit  fortsetzte,  die 
Zahl  nicht  abgeschlossen.^ 

Erst  diese  andern  Gedichte,  wennschon  in  "Wahl  und  Behandluno-  der 
Stoffe  und  in  der  Formgebung  der  Einfluss  nicht  zu  verkennen  ist,  welchen 
hier  der  nsechstberührende  Vorgang  eines  älteren  Nürnbergers,  Hans  Folz, 
geübt  hat  ^,  zeigen  Hans  Sachs  in  seiner  ganzen  Eigenthümhchkeit,  der  ganzen 
Fülle  seiner  geschichtlichen  Bedeutung.  Demi  was  dieses  Jalu-hundert  bewegt 
und  sonst  dessen  Litteratur  nach  zwei  Seiten   hin  gespalten   hat,   der  Kampf 

manu  14  fg.  3)  Hoffm.  16.  Goedeke,  Lieder  von  H.  Sachs  S.  xxx.  Der  Dichter  giebt 
seine  Quellen  meist  selbst  an.  Insbesondere  sind  Steinhöwels  Uebersetzung  des  Aesop  und 
des  üecamerone  (§  90,  2G2.  269)  von  H.  Sachs  viel  benutzt  worden.  Verzeichniss  seiner 
Bibliothek :  Schnorrs  Arch.  7,  1  fg.  4)  LB.  2,  264,  18.  266,  13.  5)  LB.  2,  264. 
6)  LB.  2,  262,  27.  Doch  zählt  H.  Sachs  mehrmals  und  verschieden.  7)  Handschriften 
wie  die  §  97,  4  genannten  geben  namentlich  ihn  wieder;  den  Inhalt  der  von  ihm  selbst 
geschriebenen  hatte  er  selber  auch  zum  groesten  Theil  gedichtet.  Vgl.  F.  Ct.  W.  Hertel, 
Jäher  die  kürzlich  in  Zwickau  aufgefundenen  Hss.  von  H,  Sachs,  Zwickau  1854 ;  er  bemerkt 
dass  H.  Sachs  in  seinen  übrigen  Gedichten  die  Meistergesänge  vielfach  inhaltlich  wieder- 
gegeben hat.        8)  Hoffm.  184.         i))  Haupts  Zeitschr.  f.  Deutsches  Alterth.   8,  508;    vgl. 

Wackernagel,  Litter.  Geschiclite.  U.  4 


50  NEUII(X:iII)EUT8CIIE  ZEIT.         XVI  JAlIlill.  §  98 

zwischen  Schule  und  Leben,  zvNnschcn  (lelehrtcm  und  Volksm^cssigcra,  zwischen 
äusserer  fremdartiger  Angcwoehnung  und  angeborener  freier  Eigenart,  und  all 
die  Mannigfaltigkeit  von  alter  und  neuer  Diehtweise,  worin  der  Kampf  sich 
kundgiebt,  es  steht  hier  in  Eine  Porsccnlichkcit  zusammengeschlossen  da,  so 
jedoch,  dass  die  Eigenart,  das  Volksnnessige,  das  Lebendige  noch  ungebrochen 
den  Sieg  davon  tnugt,  und  obschon  ein  Stellvertreter  der  gcsammten  Litte- 
ratur,  Hans  Sachs  zu  allervorderst  doch  ein  Dichter  des  Volkes  bleibt.  Er 
ist  ein  Meistersinger:  aber  ihn  hindert  keine  sprcßde  Übcrhebung  auch  Gassen- 
hauer und  Buhlliedcr  d.  h.  Lieder  der  Liebe  '"  und  für  die  erneute  Kirche 
auch  geistliche  Lieder  und  Psalmen  ganz  im  Tone  des  Volks  "  zu  dichten. 
Er  weiss  dm'ch  Lesen  Vieles  und  ist  nicht  frei  von  der  Lust  seine  Gelehr- 
samkeit zur  Schau  zu  tragen:  aber  ebenso  viel,  wo  nicht  mehr  noch  Freude 
hat  er  an  den  Sagen  und  Märchen  und  sonst  Geschichten  der  Ilcimath,  deren 
Kunde  das  Leben  selbst  und  zumal  wohl  im  Beginn  seines  Lebens  die  Ge- 
sellenwanderschaft ihm  eingebracht.  Und  Singschule  und  Gelehrsamkeit  und 
sein  Antheil  an  den  Erneuerungskämpfen  der  Kirche  weisen  ihn  auf  das 
Lehrhaft-ernste  hin,  und  er  leistet  dem  auch  gern  und  genugsam  Folge :  aber 
noch  lieber  laesst  er  es  sich  wohl  sein  im  Scherz,  und  die  Unbefangenheit,  in 
welcher  das  Volk  mit  heiligen  Namen  und  Geschichten  und  mit  dem  Teufel 
spielt,  ist  bei  aller  Strenge  des  Glaubens  auch  ihm  unverkürzt  *-,  oder  es  sind 
Zwecke  des  Ernstes  selbst,  um  derentwillen  auch  er  diess  Spiel  treibt.'^  Denn 
das  ist  seine  eigenste  Art,  und  das  mildere  Greisenalter  hat  im  Gegensatz  zu 
der  Schärfe,  die   dem  Mann  und  dem  Jüngling  eher  noch   beliebte,  sie  erst 


Anra.  21;  HFolz  §  66,  57.  81,  34.  42.  86,  10  fg.  10)  Nehen  den  GasaenJuiwern  (§  95, 
11)  und  Bulliedern  nennt  er  selbst,  wo  er  seine  Gedichte  aufzaehlt,  auch  noch  Lieder  t'on 
Kriegs  geschrey,  also  wohl  geschichtliche :  vgl.  §  95,  2.  11)  in  Toenen  schlecht  vml  gnr 
gemein  sagt  er  selbst  von  diesen  geistlichen  wie  von  jenen  weltlichen  Gresängen;  unter  den 
geistlichen  auch  verenderte  d.  h.  aus  weltlichen  geistlich  und  aus  katholischen  evangelisch 
umgedichtete:  §  103,  25.  29.  Vgl.  die  Tageweise  LB.  2,  (il.  Der  Versbau  freilich  ein  durch- 
aus meistersingerischer.  Die  geistlichen  Lieder  (8)  und  die  Psalmen  (1.3)  nicht  in  der  Ge- 
sammtausgabe,  sondern  schon  1525  u.  1526  einzeln  gedruckt:  das  Deutsche  Kirchenlied  v. 
Phil.  Wackernagel  727.  733;  beide  ebd.  168  fgg.  u.  175  fgg.  wiederholt.  Die  ersten  Mei- 
sterlieder dichtete  übrigens  H.  Sachs  in  katholischem  Rinne.  12)  Beispiel  der  Schwank 
LB.  2,  102.  13)  Beispiel  das  Maercheu  von  Gott  und  den  Kindern  Evae,  welches  ihm  so 
lieb  gewesen,  dass  er  es  in  dem  eiuen  Jahre  1553  zweimal,  als  Spiel  und  als  Comoedie,  dra- 
matisiert (die  Comoedie  LB.  2,  74)  und  1558  noch  einmal  als  Schwank  erzaehlt  hat:  schon 
154G  hatte  er  ein  Meisterlied  darüber  gedichtet:  Gcedeke  Nr.  lUO.  Dasselbe  Maercheu  aus 
Seb.  Francks  Sprichwörtern  LB.  3,  1,  369.  Über  Hans  Sachsens  Quelle  {\&t.  Brief  Melanch- 


§  98  HANS  SACHS.  51 

recht  hervorgekehrt:  er  sieht  ohne  darum  je  von  dem  Grund  einer  tüchtigen 
Sittlichkeit  zu  weichen  (eher  von  dem,  was  uns  für  Anstand  gilt)  das  Leben 
gern  von  der  heiteren  Seite,  harmlos  oder  doch  mit  Lachen  an,  mit  Laune, 
mit  launigem  Spott.  Keich  an  Worten  und  geläufig  ist  sein  Reden  überall, 
und  Vers  und  Reim  machen  ihm  nirgend  und  um  so  weniger  Noth,  da  seine 
Sprache  mehr  Nürnbergcrisch  als  gemeindeutsch  ist  und  er  letzteres  mehr 
nur  schreibt  als  wirklich  spricht:  aber  nur  die  Plauderei  der  scherzhaften 
Dichtung  erweckt  Behagen,  in  ernsthafter  machen  die  vielen  Worte  eher  den 
Eindruck  einer  beschwerhchen  Weitläuftigkeit. 

Aus  all  dem  ergiebt  es  sich  von  selbst,  in  welche  Reihenfolge  des  Werthes 
die  verschiednen  Gedichtarten  zu  ordnen  seien,  auf  die  Hans  Sachs  ausser- 
halb der  Singschule  sich  gerichtet  hat.  Zu  unterst  (auch  was  er  in  Lob  und 
Trauer  auf  Luther  und  die  Reformation  geschrieben  ^\  gebeert  dahin)  möchten 
die  rein  lehrenden  und  diejenigen  Lehrdichtungen  stehn,  die  in  ein  Traum- 
gesicht oder  einen  Spaziergang  oder  dem  sehnlich  eingekleidet  ^^  oder  mit 
Hilfe  der  Personification  und  der  Allegorie  in  eine  Wechselrede  gebracht 
sind  '^,  die  Sprüche,  die  Gespr.eche,  beidemal  Formen  und  Namen  schon 
aus  älterer  Zeit  (§  77,  14.  81,  85  fgg.  84,  31  fgg.),  die  letzteren  noch  durch 
das  angesehene  Beispiel  Ulrichs  von  Hütten  frisch  empfohlen  (§  94,  21.  vgl. 
§  99,  11):  auf  das  deutlichste  diesem  folgend  und  ebenfalls  wieder  in  Sachen 
der  Kirchenbesserung  hat  sich  Hans  Sachs  sogar  auch  in  Abfassung  prosaischer 
Gesprseche  versucht,  die  sich  durch  Lebensti-eue,  Sprachgewandtheit  und 
massvolle  Gesinnung  auszeichnen.^^  Hceher  sodann,  weil  die  Lehre  von  Er- 
zsehlung  getragen  und  mehr  Raum  für  die  Komik  gegeben  ist,  die  Fabeln 
UND  Parabeln  '^,  und  wieder  über  diesen  die  rein  erzsehlenden  Gedichte, 
nicht  gerade  die  ernsten,  die  etwa  ihren  Stoff  aus  der  Geschichte  des  Alter- 
thums,  sondern  die  komischen,  die  s.  g.  Schwanke  ^%  die  am  liebsten  aus  den 
Volksüberlieferungen  der  Heimath  schöpfen. ^^  Zwar  macht  wie  in  den  Parabeln 
immer  auch  hier  den  Schluss   eine  lehrhafte  Nutzanwendung,   ebenso  unaus- 


thons  539)  und  anderweitige  Darstellungen  Jac.  Grimm  in  Haupts  Zeitsclir.  2,  257  fgg. 
Schnorr  im  Archiv  12,  177  fgg.  14)  Die  Wittembergisch  Nachtigal  1523  (in  der  Ge- 
saramtausgabe  allerdings  verkürzt  und  abgeschwächt).  Ein  Epitaphium  oder  klagred  ob 
der  leich  B.  Martini  Lutlieri  1546.  15)  Beispiel  der  Landsknecht  Spiegel  LB.  2,  65. 
16)  Hoffmann  123.  17)  Raniseh  82  fg.  Hoffm.  34.  Vier  Dialoge  des  H.  Sachs  (1524), 
hg.  V.  R.  Köhler,  Weimar  1858.  Ueber  drei  andere  später  verfasste  Goedeke  Lieder  s.  xxvi 
Anm.  18)  Beispiel,  zum  Theil  auch  jener  Gespraeehsform,  LB.  2,  118.  19)  Schtvank 
eigentl.  ein  Fechterstreich,  dann  ein   lustiger  Streich  und  die  Erzajhlung  davon.         20)  z.  B. 


52  NEUIIOCIIDEIITSCJIE  ZFJT.       XVI  .TAirilH.  §  98 

weichlich  als  (ausser  den  Meisicrliedern)  alle  (jicdichtc  Hans  Sachsens  ein 
Keim  auf  seinen  Namen  boscliliesst -' :  aber  die  Erzählung  selbst  leidet 
darunter  nidit;  die  Moral  am  Ende  scheint  dem  Dichter  nur  eben  schicklich, 
weil  sie  auch  Hans  Eolz  und  manchem  schon  früheren  Novellisten  des  Mittel- 
alters schicklich  geschienen  (§  80,  9). 

Endlich  zuoberst  das  Duama.--  Auf  dieses  führte  ihn  ein  unablrossiger 
und  mit  den  Jaluen  st^ets  anwachsender  Zug  mid  Trieb  '*^,  und  auch  auf  den 
andern  Gebieten  seines  Diclitens  arbeitete  er  mannigfach  nach  diesem  liin, 
durch  die  überall  gern  gebrauchte  Gesprächsform,  namentlieli  aber  in  den 
Strcitgedicliten,  den  von  ihm  so  genannten  Kamjßfgospra'chm,  bei  denen  öfters 
nur  der  Zufall  äusserer  Umstände  mag  entschieden  haben,  ob  er  nicht  auch 
sie  als  Dramen  bezeichnen  sollte.'*  Hier  denn,  von  der  Tabulatur  ganz  ab- 
gewendet, liegt  sein  Hauptgebiet  und  liier  vorzüglich,  sobald  man  nur  woniger 
darauf  achtet,  was  jetzt  schon  erreicht,  als  was  im  Drange  innerer  Noethigung 
mit  Eifer  erstrebt  worden,  seine  Bedeutung  für  unsre  Litteraturgeschichte. 
Er  war  unter  den  namhaften  Dichtern  seiner  Zeit  der  erste,  der  unser  Drama 
aus  der  Schmalheit  der  Stoffe  und  der  Kohheit  der  Form,  die  bisher  es  ein- 
geengt, auf  das  freiere  Feld  einer  Kunstübung  nach  antiker  Art  zu  versetzen 
suchte,  und  nicht  bloss  in  Nürnberg,  wo  ihm  Jacob  Ayrer  (§  106,  21)  und 
Georg  ^Iauricius  dci*  ältere  (§  105,  7)  folgten,  weit  über  die  Grenzen  der 
Vaterstadt  hinaus  hat  sein  Vorbild  cinflussreich  gewirkt  (§  105,  2).  Mehr  als 
sonst  jemand  gewahrt  uns  liiemit  Hans  Sachs  und  mehr  als  all  seine  übrigen 
Werke  gcwaehreu  seine  Dramen  uns  ein  Beispiel  von  dem  Bemühen  auch  der 
ungelehrtcn  Dichter  Theil  zu  nehmen  an  den  Erwerbnissen  der  neuen  Gelehr- 
samkeit und  sie  der  Litteratur  der  Heimath  anzueignen.  Von  ihm  ist  jenes 
Lustspiel  Reuchlins,  das  auf  gelelu-ter  Seite  eine  Vorverkündigung  des  dra- 
matischen Aufschwungs  war  ^^  und  mehr  als  ein  Drama  der  Antike  selbst  -" 
in  deutschen  Reimen  erneuert  worden:  bei  den  griechischen  mochte  ihm  latei- 

LB.  2,  102.  21)  Zu  vergleichen  der  stehende  Gediehtschluss  seines  Vorgängers  Spricht 
Hans  Folz  zNürmberg  bancirer  und  t?  95,  35 — 36.  22)  Kia  nach  den  Jahren  geordnetes 
Verzeichniss  der  Dramen  HSachsens  giebt  Gottsched  in  seinem  Noethigen  Vorrath  zur 
Gesch.  d.  deutschen  Dramat.  Dichtkunst,  Leipz.  1757,  47 — 112.  23)  Seine  rechte  Frucht- 
barkeit hier  begann  erst  nach  der  Glitte  seines  Lebens:  vgl.  Anm.  41.  24)  Den  Streit 
zwischen  Juppiter  vnd  Juno,  ob  Weiber  oder  Männer  zum  Hegiment  tüglicher  seyn  (1534), 
benennt  er  selber  zwiefach  Coniedia  oder  Kamjjfgesprcech.  Vgl.  §  105,  10.  25)  Die 
Scenica  Progymnasmata  §  8G,  23;  bei  HSachs  1531  Henno  betitelt,  nach  der  Hauptperson. 
26)  1531  der  Plutus  des  Aristuphanes  (.HS.  sa^t  Pluto),   154«  Plautus  Men^-CHMEn,  1.550 


§  98  liAJSH  SACHS.        DRAMA.  53 

nische,  bei  den  lateinisclicn  auch  ältere  deutsche  Übersetzung  helfen  -^;  noch 
im  J.  1563  die  letzte  seiner  Arbeiten  für  die  Bühne  ist  eine  Verdeutschung 
aus  Terenz  gewesen.  ^^  Angetrieben  von  solchen  Mustern  und  hier  zumal 
unterstützt  von  seiner  Belesenheit,  überschritt  er  nun  auch,  wo  er  freier  und 
eigener  schuf,  die  Schranken,  von  denen  bisher  der  Bereich  der  dramatischen 
Stoffe  war  umschlossen  worden  (§§  85.  86),  und  schöpfte  deren  von  all  den 
Seiten,  woher  sie  auch  seiner  Erzsehlung  und  der  Lehre  flössen,  aus  geist- 
licher und  weltlicher  Geschichte,  aus  Schwank  und  Sage  der  Heimat  ^^  und 
den  Novellen  der  Fremde,  Anfangs  mit  der  Vorliebe  frischer  Kenntniss  aus 
der  Geschichte  des  classischen  Altcrthumes  ^^  und  immer  gern  aus  allegorischer 
Erfindmig.  In  der  Art  und  Form  des  Dichtens  aber  fügte  er  sich  ebenso 
wohl  den  Schranken,  die  wiederum  das  antike  Muster  zog.  Zwar  schrieb 
auch  er  noch  geistliche  Spiele  wie  das  Mittelalter,  lieber  indess  um  neeher 
bei  der  weltlichen  Roman-  und  Heldenhaftigkeit  zu  bleiben  aus  dem  alten 
denn  aus  dem  neuen  Testament  oder  gar  der  Legende,  und  oft  genug  brauchte 
auch  er  noch  den  unterscheidungslosen  Namen  /Spi?,  die  bei  weitem  groessere 
Zahl  der  Stücke  jedoch  unterschied  er  mit  den  neuen  Worten  Tragcedia  und 
Commdia.  Und  hier,  wsehrend  die  bloss  so  genannten  Spiele  stsets  nur  ein- 
actig  waren,  hier  wie  in  den  geistlichen  Spielen  trennte  und  zsehlte  er  meistens 
Acte  ^^  ^,  gewoihnUch  gleich  den  Roemern  bis  auf  fünf,  und  hielt  ein  gebüh- 
rendes Mass  des  Umfangs  und  der  Menge  der  Personen  inne  ^^  und  liess, 
wennschon  die  Zwischenacte  wohl  Musik  ausfüllte  ^^,  doch  den  Gesang  in- 
mitten der  Gesprseche  fort,  so  das  die  Aufführung  noch  so  vieler  Acte  nie 
einen  ganzen  Tag,  geschweige  denn  wie  vormals  und  wie  noch  jetzt  bei 
manchem  Andern  deren  zwei  und  mehr  in  Anspruch  nahm.^^    Es  stehn  aber 

unter  dem  Titel  Jocaste  der  Koenig  Oedipus  des  Sophocles  oder  doch  von  diesem  Stück  der 
Inhalt.  27)  bei  den  Menaächmen,  wie  schon  die  deutsche  Namengebung  verrseth,  die 
Übersetzung  Albrechts  von  Eibe  §  86,  16;   vgl.  §  105,  11.  28)   des  Eunuchen  unter 

dem  Titel  Von  der  Bulerin  Thais.  29)  Der  Hörnen  Seyfrid  1557.  Hauptquelle  ein 
von  der  sonstigen  Überlieferung  abweichendes  Siegfriedslied;  die  Deutsche  Heldensage  v. 
Wilh.  Grimm  310  fg.  30)  Nach  den  zwei  Fastnachtsspielen  von  1517  u.  1518,  seinen 
frühesten  Stücken  (Anm.  39),  erst  1527  u.  1530  wiederum  Dramen  Lucretia  und  Virginia. 
30a)  Ueber  die  Bezeichnung  der  Actschlüsse  durch  Dreireim  s.  Rachel,  Dreireini  und  Eeim- 
brechung  im  Drama  des  H.S.  Freiberg  1870.  31)  Adam  Puschmann  in  der  Vorrede  zu 
seiner  Comcedie  v.  d.  Patriarchen  Jacob  (4:4:  Personen) :  HSaclis  habe  seine  Spiele  insgemein 
auf  8  bis  12  Personen  eingerichtet,  weshalb  er  auch  von  der  Bearbeitung  dieses  Stoffes  ab- 
gestanden: Heinr.  Hoff'manns  Spenden  zur  deutschen  Litteraturgesch.  2,  13.  32)  z.  B. 
LB.  2,  92,  41.  97,  7;  vgl.  §  105,   100  fgg.         33)  t?  85,  40.   105,  122.     Gedichtet  für  die 


54  NEUJlOUIlDKrTSClIE  ZEIT.         XVI  JAJIUII.  §  98 

dio  Tragcrilion  und  überhaupt  die  iiussorlicli  ernsteren  Spiele  an  Oodiclitwerth 
den  Comocdien  nach:  letztere  lagen  mehr  in  Hans  Sachsens  Eigenart  und 
vergönnten  seinem  dichterischen,  seinem  sittlichen,  selbst  seinem  rcligiocscn, 
evangelischon  Sinne  den  angemessncren  Ausdruck.^*  Und  dennoch  war  er 
auch  in  ihnen,  so  lange  er  leben  und  dichten  mochte,  stajts  beirrt  durch  die 
Neuheit  seiner  Neuerungen,  durch  das  Unvermoogen  den  Gegensatz  von  Tra- 
gocdic  und  Comcodie  tiefer  als  nur  in  Zufälligkeiten  des  Ausseren  aufzufassen  ^^, 
durch  die  Meinung,  jeglicher  Stoff,  der  in  Form  der  Erzählung  anzog,  sei 
alsbald  auch  tauglich  für  die  dramatische  Form,  durch  sein  Ungeschick  für 
diejenige  idealische  Durchdringung  eines  Stoffes  ^^,  worauf  allein  die  rechte 
Dramatisierung  und  die  Gliederung  der  Acte  sich  begründen  konnte.  Hans 
Sachs  kam  zu  früh,  war  bei  aller  Belesenheit  doch  zu  ungebildet,  hatte  in 
seinem  Drange  zu  wenig  Bewusstsein  von  dem  Mass  und  Ziel  der  eigenen 
Kraft  um  als  Tragoedicn-  und  selbst  als  Komoodiendichter,  was  er  wollte,  voll 
zu  thun,  um  das  deutsche  Drama  in  die  Fremde  des  antiken  Beispiels  hinzu- 
führen. Am  besten  daher  und  beinah  einzig  gelang  es  ihm,  wo  er  zugleich 
bei  der  Komik  und  dem  volksmajssig  und  heimatlich  gewohnten  stehen  blieb, 
im  Fastnachtsspiele,  dieser  altnürnbergischen  Dichtungsart,  die  vor  ihm 
Rosenblut  und  Folz  geübt  hatten  (§  86),  letzterer  auch  sonst  sein  Vorgänger 
(Aum.  9),  und  die  neben  ihm  und  sicherlich  ihm  nach  auch  Peter  Probst, 
ein  andrer  Meistersinger  Nürnbergs,  übte.^^  Hier  stand,  was  namentlich  im 
Tragoediendichten  ihu  behinderte,  sein  Mangel  an  lyrischer  Begabung,  ihm 
nicht  so  im  Wege:  hier  galt  es  schwankhaften  Stoff  und  Kürze  und  Ein- 
fachheit der  Ausführung;  Theilung  in  Acte  galt  hier  nicht.  Aber  gehoben, 
wie  er  durch  all  sein  Streben  war,  hob  er  sich  hier  auch  über  die  Niedrig- 
keiten vor  ihm  und  wusste  die  Komik  mit  Gedankengohalt  zu  füllen;  nicht 
selten  birgt  gerade  das  lauteste  Lachen  seiner  Laune  einen  Sinn  voll  eindring- 
lichsten Ernstes :  sein  Narrenschxeiden  ^'^j  so  mutli willig  es  blickt,  es  ist  eine 

Auflführnng  waren  alle  Dramen  HSachsens,  und  die  meisten  wurden  auch  aufgeführt,  in  und 
ausser  Nürnberg  (§  105,  2\  und  bei  den  meisten  bat  nach  seinem  eigenen  Bericht  (Anm. 
Anf.)  er  selber  spielen  helfen.  34)  Beispiel  die  ungleichen  Kinder  'Exje  Anm.  13 
mit  ihrer  von  Gott  selbst  gehaltenen  Kinderlehre  und  den  papistischen  Worten  Cains  und 
seiner  boesen  Brüder  LB.  2,  )S5  fgg.,  94  fg.  85)  Sonst  hätte  er  z.  B.  das  Maerchen  von 
den  Kindern  Evae,  so  wie  er  es  auffasst,  nicht  als  Comoedie  dramatisieren  können.  36) 
Abermals  Beispiel  die  Kinder  EviC,  die  gar  nicht  auf  den  eigentlichen  Sinn  des  Maerchens, 
sondern  für  allerlei  andre  religices-moralische  Nutzanwendung  (LB.  2,  100  fgg.)  gedichtet 
sind.  37)  Handschriftlich  sechs  Fastnachtsspiele  desselben  von  1553:  C-rottsched  a.  a.  0. 
34  fgg.         38)  von  1557:  LB.  2,  206.    Mitanstoss  der  gewaehlten  Formgebung  das  Narrenschiff 


§  üü  ^  GELEHRTE  EPIK  UND  DIDACTffi.  55 

ganze  Sittenlehre.  Fastnachtsspiele  ^'•'  beginnen  und  wiederum,  wenn  man  von 
jener  Übersetzmig  aus  Terenz  (Anm.  28)  absieht,  beschliessen  Fastnachtsspiele  ^" 
die  Reihe  seiner  Dramen. 

Sechsundvierzig  Jahre  lang,  von  1517  bis  1563,  hat  Hans  Sachs  und 
auch  so  noch  in  staunenswerther  Fülle  Dramatisches  gedichtet,  theils  Tra- 
goodien,  theils  Coma^dien,  theils  andre  Spiele,  Alles  in  Allem  208  ^M  das  Beste 
aber  von  all  dem  sind  die  Fastnachtsspiele,  ihrer  42,  ist  diejenige  Form  des 
Dramas,  die  bei  der  Richtung,  welche  schon  jetzt  und  mit  vollster  Entschieden- 
heit im  siebzehnten  Jahrhundert  die  Litteratur  einschlug,  dem  Untergange 
verfallen  musste. 

§  99. 
So  viel  und  mannigfach  rang  sich  das  Volk  und  rang  sich  ein  Dichter  aus 
dem  Yolkc  zui"  Gelehrsamkeit  empor:  nicht  mit  gleich  allgemeinem  und  grossem 
Eifer  kamen  von  oben  her  die  Gelehrten  dem  Yolk  entgegen.  Sie  konnten 
aber  auch  nicht  wohl:  denn  sie  hätten  sich  dabei  zu  vieler  wirklichen  oder 
vermeinten  Yortheile  und  beinah  einer  ganzen  Art  der  litterarischen  Dar- 
stellung, der  Prosali tteratur,  entschlagen  müssen.  Sprechen  wir  aber  zuerst 
von  der  Poesie  der  Gelehrten. 

Da  zeigt  sich  gleich  in  der  Epik,  welch  ein  Unterschied  zwischen  ihrer 
und  der  Volksart  waltete.  "Wo  sie  nicht,  wie  lieber  geschah  (§§  107.  108), 
der  prosaischen  Erzsehlung  den  Vorzug  gaben,  wo  sie  noch  dichten  mochten, 
waren  es  doch  keine  sangbaren  Lieder,  die  sie  dichteten;  Luther  freilich,  er 
allein,  hat  auch  das  gethan  ^ :  die  Anderen  schrieben  nm*,  damit  man  Isese,  in 


Sebastian  Brants  (LB.  116,  11;  vgl.  §  99,  16)  und  nseher  noch  die  Narrenbeschwoerung 
u.  der  Lutherische  Narr  v.  Murner  (§  99,  19.  27):  vgl.  Ausg.  des  letzteren  v.  Kurz  15  fgg. 
Verwandte  Gedanken  sehnlich  dargestellt  noch  anderswo  bei  HSachs,  im  Narrenfresser  u. 
im  Narrenbad  von  1530,  in  dem  Kram  der  Narrenkappen  v.  1566,  im  Narrenbrüter  v. 
1568:  SBrants  Narrensch.  v.  Zarncke  cxxx  fgg.  Nachahmungen  des  Narrenschneidens 
§  105,  2.  39)  DAS  HoFGSiXD  Veneris  1517  (vgl.  §  99,  59  u.  §  105,  72)  und  von  der 
Eigenschaft  der  Lieb  1518.  40)  der  Neydhardt  mit  dem  Feyhel  (vgl.  §  72,  29) 
und  Eulenspiegel  mit  dem  Beltzwaschen  (vgl.  §  97,  36.  107,  18),  beide  von  1562. 
41)  So  zsehlt  er  selbst  (Anm.  Anf.)  und  nach  ihm  Buschmann  LB.  2,  263 :  Gottsched  a.  a. 
0.  114  rechnet  nur  gerade  200  heraus.  Die  Mehrzahl  davon  fällt  erst  auf  seine  spaeteren 
Jahre  (Anm.  23),  auf  sein  59stes  z.  B.  (1553)  5  Tragoedien,  5  Comcedien  und  8  Fastnachts- 
spiele, zusammen  18,  und  wiederum  18  auf  sein  63stes  (1557),  naemlich  7  Trag.,  7  Com.  u. 
4  Fastnachtsspiele. 
§   99.      1)  in  dem  Lied  von  den  Märtyrern  zu  Brüssel  1523  LB.  2,  37. 


56  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XVI  JAHllH.  §  99 

der  liiofür  altgültigon  Form  (§  92,  4).  Noch  grocsscr  die  Abwcicliung  in 
Saclicn  des  lulialts.  Man  druckte  wohl  noch  und  erneuerte  für  den  Druck 
hie  und  da  ein  Epos  des  Mittelalters  (§  92,  4)  und  übersetzte  im  J.  1515 
aus  dem  Niederdeutschen  die  Teufelsgcschichten  vom  Bia'i)j:R  Kausch  ^:  aber 
Neues  und  Eignes  auf  diesem  Wege  schuf  man  kaum.  Mochten  auch  Einzelne 
wie  Burkard  Waldis  und  llollenhagen  die  Thiersage  und  das  ^[«rchen  noch 
in  Ehren  halten  und  benutzen^  und  1558  Gp:()R(;  Tiiym  den  spukhiiften  Lebens- 
lauf Theoduls  von  Walmoden  des  Unerschrockenen  aus  Überlieferungen  des 
Geschlechts  zusammenreimen  *:  das  Bedeutendste  hier,  woraus  das  Volk  immer 
noch  seine  Lieder  sang  (§  95,  1),  die  Heldensage,  war  für  die  Gelehrten  ein 
Gegenstand  bloss  der  gelehrten  Kenntnissnalimc  '•"  oder  der  Geringschätzung, 
des  Spottes  geworden.*'  Es  war  eben  die  Sagendichtung  des  classischen  Alter- 
thumes,  es  war  die  Geschichte,  mit  deren  Werthc  man  die  hcimathliche  Sage 
mass.  Die  llias  denn  und  die  yEneis,  ohne  doch  von  ihnen  befruchtet  zu 
werden,  oder  Geschichtsstofif  brachte  man  in  baare  Reime:  die  ersteren  beide 


2)  neu  lisggb.  v.  Endlicher  u.  Wolf,  Wien  1834 ;  darnach  in  Simrocks  Deutsch.  Volksb.  (j, 
3ö9 — 414.  Ausg.  d.  ältesten,  niederdeutsch.  Fassung  v.  Schade  im  Weim.  Jb.  V  i^biy.  3)  Waldis 
Anm.  42.  Rollenhagen  in  der  Vorrede  des  Froschiuäuselers  Was  auch  der  alten  detitsclien 
Heidenische  leer  gewesen,  vernimmet  man  aus  den  wunde rbarlichen  Hausmehrlein,  von  dem 
verachten  fronten  Aschenpössel,  vnd  seinen  stoltzen  spöttischen  Brüdern.  Vom  albern  vnd 
faulen  Heintzen,  vom  Eisern  Heinrich,  von  der  alten  Neydhartin  vnd  dergleichen.  Welche 
ohne  schrifft  jmmer  mündlich  aiiff  die  nachkommen  geerbet  tverden,  vnd  gemeinlich  dahin 
sehen,  dass  sie  Gottes  furcht,  fleiss  in  sacken,  Demut,  Gedult  vnd  gute  Hoffnung  leeren. 
Denn  die  aller  verachteste  Person  wird  gemeinlich  die  aller  beste.  4)  Georg  Tliym  (eigent- 
lich Klee)  aus  Zwickau,  ein  Schulmann,  gest.  zu  Wittenberg  1.561.  Sein  Thedel  Unvorferd 
V.  W.  zuerst  gedruckt  1558  zu  Magdeburg  und  zu  Strassburg.  Vgl.  Bücherschatz  der 
Deutschen  National-Litt.,  Berl.  1854,  114.  Auszüge  in  Guedeke,  Deutsche  Dichtung  1,  149  fgg. 
5)  Zeugnisse  in  Wilh.  Grimms  Deutscher  Heldensage  3U1  fgg.;  vgl.  §  100,  7.  6)  Joachim 
Abeklin  in  der  Vorrede  zu  seiner  Bibel  gsangs  wegss,  Zürich  1551  iPhil.  Wackernagels 
Deutsches  Kirchenlied  812)  der  Berner,  Ecken  aussfart,  Hertzog  Ernst,  der  Hürne  Süw- 
frid,  auch  andere  cnnützc,  langwirige  vnnd  heillose  lieder  vnnd  meistergsang.  Mathesius 
Vorrede  auf  Hermans  Historien  v.  d.  Sündflut  1563  (ebd.  820)  Ich  tadle  der  alten  Meister 
Gesenge  vnnd  Bergkreien  auch  nicht.  Denn  ich  liab  viel  sciuener  alier  Geticht,  darin  man 
gute  vnd  Christliche  Leut  spüret,  gesehen,  als  das  vom  Pellican,  von  der  Mühle  vnd  andere. 
Aber  was  leret  oder  wen  trcestet  der  alte  Hillebrandt  vnd  Riss  Sigenot  '^  Scheit  im  Grobianus 
1551,  J  ij  rw.,  wo  von  groben  Lügen  die  Kede  ist,  Erzelt  darbey  an  solchem  disch,  Syrenen, 
vieer Schwein,  vnd  wal fisch,  Von  Hertzog  Ernst  bewartem  schiff,  Wie  er  zu  dem  Carfunckel 
griff,  Vnd  wie  Signot  den  Berner  truog,  Vnd  wie  Wolff  Dietrich  würm  erschluog,  Vnd 
wies  sant  Brando)i  viel  gieng,  Dass  er  vier  wochen  in  eim  ring  In  einem  grossen  walfisch 


§  99  THOMAS  MURNEll.  57 

Johannes  Spreng  im  J.  1610';  Beispiele  des  letztem  die  Jahr  Blum,  eine 
Weltgeschichte  Matthias  Quads  vom  J.  1595  *,  Jacou  Ayrers  Bambergische 
Chronik  von  1599  '■•,  die  Strassburgische  eines  Ungenannten  von  1025  '°  u.  a.; 
und  falls  man  hoolier  strebte,  schien  dem  dichterischen  Bedürfnisse  voll  genügt, 
sobald  der  geschichtliche  Stoff  nur  mit  Allegorie  und  Mythologie  umsponnen 
war,  wie  in  dem  Lustgart  Neiver  Deuftscher  Poeteri  von  Matthias  IIoltz- 
WART  von  Harburg  d.  i.  Horburg  bei  Colmar  (Anm.  4G  u.  §  105,  43)  1568 
das  Lob  des  wirtenbergischen  Herzogshauses. 

Hicniit  ist  bereits  die  Richtung  auf  Lehrhaftigkeit  bezeichnet,  die  jetzt 
beinah  aller  Epik  der  Gelehrten  eigen  ist,  in  solchem  Mass  eigen,  dass  zwi- 
schen Erzsehlimg  und  Lehre  kaum  noch  eine  Grenze  besteht,  und  was  die 
Litteraturgeschichte  von  der  Epik  dieses  Jahrhunderts  zu  sagen  hat,  mit  sel- 
tenen Ausnahmen  auch  unter  dem  Namen  der  Didactik  könnte  gesagt  wer- 
den. Es  kam  das  von  der  schulmsessigen  Art,  welche  die  Gelehrsamkeit  jetzt 
hatte ;  es  ward  befestigt  durch  die  Nothwendigkeit,  dass  auch  die  Epik  irgend- 
wie Theil  nsehme  an  dem  Glaubeuskampf  und  an  den  Kämpfen,  die  derselbe  zu- 
gleich im  Staat  entzündete :  in  welch  unabsehbarer  Fülle  drängten  sich  jetzt, 
bald  verteidigend,  noch  öfter  angreifend,  und  gern  in  die  dramatisch  belebtere 
Gestalt  des  Gespraeches  gebracht  ^\  die  religices-politischen  Gelegenheitsge- 
dichte ^'^,  die  Zeitungen,  wie  man  sie  wohl  auch,  wenn  die  Erzsehlung  über- 
wog, benannte  ^^;  es  war  schon  begründet  in  den  letzten  Yorgängen  des  Mittel- 


fuor.  7)  gedr.  zu  Augsburg;  die  iEneis  auch  schon  Murner  1515:  Anm.  18;  die  Uäi/ssea 
Simon  Schaidenheisser,  Augsb.  1537.  8)  gedr.  o,  0.:  Büchersch.  90;  vgl.  §  108,  25. 
9)  hsggb.  V.  Joseph  Heller,  Bamb.  1838.  10)  durch  einen  Liehhaber  der  Teutschen 
Poetereij,  Strassb.  1625.  Der  Verfasser  hiess  Michael  Kleinlawel,  ein  Meistersänger: 
Strassb.  Stud.  1,  94.  11)  in  Poesie  u.  Prosa  eine  Lieblingsform  schon  des  Mittelalters 
(§  81,  90.  85,  1)  und  jetzt  den  Gelehrten  noch  durch  Lucian  em2)fohlen:  vgl.  §  94,  21.  98, 
16.  105,  10.  110,  12.  112,  2  u.  unten  Anm.  27.  12)  z.  B.  Nie.  Manuels  Klayreä  der 
armen  Götzen  von  1528  etwa:  bei  Bächtold  237  fgg.  vgl.  CG;  die  Gedichte  auf  H.  Heinrich 
den  Jüngern  v.  Braunschweig,  den  Feind  der  Reformation,  darunter  auch  vier  Gesprseche, 
deren  drei  Aus  de))i  Latein  jnns  Deudsch  geben :  Gcedeke  in  d.  Zeitschr.  d.  Histor.  Vereins 
f.  Niedersachsen  1850,  1 — 116,  diese  auch  bei  Schade  (s.  u.)  1,  99  fgg.  u.  a.  Eine  ganze 
Reihe  solcher  Dichtungen  verzeichnet  der  Bücherschatz  90 — 100;  vgl.  Joh.  Voigt  über  Pas- 
quille, Spottlieder  u.  Schmsehschrit'ten  aus  d.  ersten  Hälfte  d.  16  Jh.  in  Raumers  Histor. 
Taschenb.  1838,  321  fgg.  Die  meisten  hier  aufgeführten  beziehen  sich  auf  den  Schmalkald. 
Krieg  und  das  Interim  1548;  hervorzuheben  die  Dichtungen  des  Jon.  Scuradin  von  Reut- 
lingen: Liliencron  Hist.  Volksl.  Nr.  521.  522.  Alter  sind  die  von  0.  Schade  herausgegebenen 
Satiren  und  Pasquille  aus  der  Reformationszeit,  III,  Hannover  1856 — 58.  Vgl.  über  diese 
Zeit:   A.   Bauer,   Deutschland   in  den  J.  1517—1525.     Ulm  1872.         13)  Beispiele  Bücher- 


58  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XVI  JAHKJI.  §  09 

alters,  wo  der  Lehrhaftigkeit  in  aller  lia'hcren  Littcratur  die  Herrschaft  war 
gegeben  worden.  AV'ie  lange  und  wie  stark  die  raittelaltcrliclie  Didactik  noch 
herüber  in  die  neuere  Zeit  gewirkt  hat,  lajsst  uns  der  wiederholte  Druck 
mehr  als  eines  Gedichtes  der  Art  (§  92,  5)  und  Isesst  die  hochdeutsche  Über- 
tragung dos  Rkixikk  Prelis'^,  die  Allboliobtheit ''  dieses  in  Lehre  und  Spott 
hinübergespielten  Epos  uns  erkennen.  Vor  allen  aber  wirkte  jenes  Gedicht, 
das  zuniechst  an  der  Scheide  des  Überganges  stand,  das  Nauuknschikf  "^ : 
sein  EinHuss  namentlich  tränkte  Menschenalter  entlang  die  meiste  Didaxis 
der  Gelehrten  mit  einer  scharten  bitteren  verachtungsvollen  Satire:  der  gc- 
müthlich  harmlosere  Strafton  blieb  dem  Volksdichter  Nürnbergs  vorbehalten. 
In  Zeit  und  Art  der  Vermittler  zwischen  Brant  und  der  nachbranti- 
schen  Epik  mid  Didactik  und  überhaupt  zwischen  dem  alten  und  dem  neuen 
Jahrhundert  war  Thomas  Murnkh  '^,  geboren  in  Oberehnheim '^  *  1475,  ein 
unstet  umschwcitcnder  Mensch,  ein  Grosssprecher  mit  vielfachem  Können  und 
Wissen  '**,  Franciscaner,  Doctor  der  Theologie,  Licentiat  der  Rechte,  von  K. 
Maximilian  1506  als  Dichter  gekroent,  gestorben  in  der  Vaterstadt  1537  '*  *. 
Auf  Sebastian  Brant  schon  durch  seine  Heimat  hingewiesen,  ahmte  er  dessen 


schätz  92:  der  Hinchcnde  Both,  der  Post  Reuter^  der  Post  Bohte  ebd.  93.  Hierher  gehceren 
auch  einzelne  der  v.  Welle^r,  Stuttg.  1874,  Lit.  Ver.  119  hg.  Dichtungen  d.  16.  Jhs.  Vgl.  auch 
dessen  Bibliographie:  Die  ersten  deutsch.  Zeitungen,  Stuttg.  1872,  Lit.  Ver.  111.  Vgl. §  108,  6. 
14)  §  r)8,  11.  Verfasser  der  hochdeutschen  Übersetzung  v.  1544  Michael  Beuther:  Rein- 
hart  Fuchs  V.  Jac.  Grimm  CLXXViii.  15)  Mathesius  in  der  9  Predigt  v.  d.  Historien  D. 
M.  Luthers  Ich  liah  auch  gesellen,  dass  der  Doctor  den  SäcJisischen  ReinickefucJis  mit  zu 
Tische  getragen^  vnd  vher  Essen  drinnen  gelesen  hat.  Erasmns  Alberus  in  der  Vorrede 
seiner  49  Fabeln  Es  haben  auch  vor  dieser  Zeit  treffliche  Leut  durch  lieymen  treffliche 
Lehren  geben  icoUen,  Als  Doctor  ,'Sebustianus  Brant,  Herr  Freydanck,  Herr  Hans  von 
Schwartzburg,  Johann  Morssheim,  der  Schiceitzer,  der  Renner,  cnd  der  das  Memorial  der 
Tugend  gemacht  luit  (§  110,  9).  Aber  vnter  allen  hab  ich  nie  kein  feiner  noch  meisterlicJier 
Gedicht  gelesen  als  das  Buch  ron  Reineken,  welclies  ich  nit  geringer  achte,  dann  alle  Coniedien 
der  Alten.  Koilenhagcns  Vorrede  zum  Froschuiäuseler  das  gantze  Politische  Hoff  Regiment 
vnd  das  Roemische  I'abstthumb  ist  vnter  dem  Nahmen  Reinicken  Fuchses  vberauss  weisslich 
vnd  künstlich  beschrieben.  16)  §  82,  18  fgg.  Seb.  Brants  Xarrenschiff  v.  Zarncke  cxvi 
fgg.  Benutzang  des  Xarrenschifies  schon  im  uiederd.  Heineke :  Zarncke  in  Haupts  Zeitschr. 
9,  380.  Das  Narrenschiff  u.  HSachs:  §  98,  38.  17)  Nachrichten  v.  Th.  Murners  Leben 
n.  Schriften  v.  Waldau,  Nürnb.  1775 :  neuere  Untersuchungen  und  Darstellungen  von 
Roehrich  in  Niedners  Zeitschr.  für  d.  histor.  Theologie  1848,  587  fgg.  u.  Lappenberg  in  Dr. 
Th.  Murners  Uienspiegel  387  fgg.  17a)  Ch.  Schmidt  Hist.  litt,  de  V Alsace  2,  211. 
18)  Von  ihm  in  beiden  Sprachen  auch  zahlreiche  Schriften  theologischen  u.  juridischen  Inhalts 
(vgl.  §  110,    3)   und    1515    eine    gereimte   Übersetzung   von  Virgils  .iEneide.         18a)   Gyss, 


§  99  THOMAS  MURNER.  59 

Dichtung  dreimal  hinter  einander  nach,  in  geringerem  Umfang,  aber  ebenso 
bruchstückhaft  in  der  Vertheilung  unter  einzelne  Bilder  und  bildliche  Red- 
weisen, mit  der  Narrexbescuavcerung  ^^,  der  Sciielmenzunft  ^"  und  der 
Gäuciimatte  "^^  d.  h.  der  verliebten  Thoren  Wiese:  die  beiden  ersten  im  J. 
1512,  das  letzte  1519  herausgegeben,  alle  drei  jedoch  früher  und  auch  auf 
Latein  verfasst  ^^;  über  die  Narrenbeschwoerung  und  die  Schelmenzuuft  hat 
er  auch  wie  Geiler  über  das  Narrenschiff  (§  90,  77  fg.)  deutsch  gepredigt. 
Herber  und  derber  als  Seb.  Brant,  roher  in  der  Form  (die  Gäuchmatte 
mischt  sogar  Prosa  mit  den  Yersen),  plump,  wo  Brant  noch  witzig,  unsauber, 
wo  dieser  nur  noch  frei  gewesen  (auch  Eulenspiegel  ist  vielleicht  von  Murner 
zuerst  in  die  Litteratur  gebracht  worden:  §  107,  16),  wandte  er  hier  und  in 
noch  einigen  anderen  Werken  wie  der  Badexfaiirt  ^^  und  der  Mühle  von 
Schwixdelsheim  ^*  die  Satire  gern  und  kühn  und  gerecht  auch  gegen  die 
Geistlichkeit  imd  manchen  Missbrauch  der  alten  Kirche.  Kaum  jedoch  hatte 
gegen  eben  dieselben  Luther  sich  erhoben  ^^,  so  drang  auf  ihn  und  spseter 
auch  auf  Zwingli  und  Zwingiis  Freunde  der  Franciscaner  in  noch  wilderer 
Leidenschaft  ein  ^^,  am  heftigsten  1522  mit  einem  Gedichte  theilweis  in  dra- 

Histoire  d'Obernai  2,  429.  19)  in  Umarbeitung  neu  herausgegeben  von  Georg  "Wickram 
(§  107,  33)  Strassb.  1556:  hienacli  der  Abdruck  in  Scheibles  Kloster  4.  Stnttg.  1846,  615-880. 
Ausgabe  des  Originals  durch  Gcedeke,  Lpz.  1879.  Anstoss  zu  einem  Fastnachtsspiel  HSachsens 
§  98,  38.  20)  Neue  Ausgabe  (v.  AValdau,  nach  der  zu  Augsb.  1513  gedruckten  zweiten 
Bearbeitung)  Halle  1788;  Facsimiledruck  der  ersten  Fassung  durch  Scherer,  Berlin  1881. 
Lateinisch  von  Job.  Flitner,  Frankf.  1620:  Nehulo  nebulonum.  Dramatisiert  etwa  1540  (ob 
von  Jacob  Cammerlander  V  Zarnckes  Narrenschiff  CXLI):  Die  alt  vnd  new  Schelmen  Zunff't. 
Ebensolches  Namens  schon  1506  eine  ironisch  satirische  Schrift,  Der  Brueder  Orden  in  der 
Schelmenzunfft  (Strassb.),  Bearbeitung  der  Secta  Monopolii  seu  Congregutionis  bonorum 
Sociorum:  Panzers  Annalen  d.  alt.  d.  Litt.  1,  275.  21)  Im  Namen  übereinstimmend  mit 
einem  Fastnachtsspiele  Pamphilus  Gengenbachs  §  105.  72,  aber  eins  von  dem  andern  unab- 
hängig. Wiederabdruck  von  Murners  Geuchmatt  bei  Scheible  a.  a.  0.  8,  Stuttg.  1847, 
895—1122.  22)  Am  Schluss  der  Gäuchmatte  Kein  dütsch  hnoch  nie  gedichtet  ivas  Von 
mir  in  allem  mi/nen  leben,  Ich  dichts  latinisch  auch  do  neben.  23)  Ein  andechtig  geist- 
liche Badenfart  1514:  Ascetik  unter  dem  Bilde  all  der  Verrichtungen  eines  Bades.  Murner 
meinte,  dass  auch  darüber,  wie  von  ihm  selbst  über  seine  Narrenbeschwoerung,  könnte  ge- 
predigt werden :  gelert  vnd  vngelerten  nutzlich  zu  hredigen  vnd  zu  lesen.  24)  Die  Mülle 
von  Schwyndelssheim  vnd  Gredt  Müllerin  Jarzeyt  1515.  Neudruck  durch  Albrecht  in  den 
Strassburger  Studien  2,  1.  25)  Luthers  Sendschreiben  An  den  ChristlicJien  Adel  deutscher 
Nation  von  des  Christlichen  Standes  besserung  im  Juni  1520  erlassen  (LB.  3,  1,  85):  noch 
im  December  desselben  Jahres  Murner  An  den  Adel  tütscher  Nation  icider  Martinum 
Luther.  Luthers  Schrift  von  der  babylonischen  Gefangenschaft  der  Kirche  hatte  Murner 
noch  selbst  verdeutscht.        26)  Lied  Murners  von  d.  Untergänge  christl.  Glaubens  in  Uhlands 


60  NEUIIOCIIDEUTSCJIK  ZEIT.        XVI  JAUlill.  §  09 

matischcr  Form,  von  dem  [/rossen  Lutherischen  Narren  toie  indoctor 
Murner  heschtooren  hat,  einer  AViedcraufnalimc  also  der  Narrenlieschwoc- 
riing:  es  sollte  das  die  Erwiderung  sein  auf  den  KAit-^riiAXH,  ein  prosaisches 
Gcspriüch  von  unbekanntem  Verfasser,  auf  die  fünfzehn  Bi'ndesgenossen, 
eine  lleihe  Streitschriften  von  Johann  Eherlin -"  ■,  und  auf  andres,  das  zur 
Verteidigung  Luthers  gegen  Murnor  ergangen  war. "  Durch  solches  Ge- 
bahren  verscluildeto  Manier  den  bittersten  IJass  "'*,  und  wo  in  den  Händen 
der  Gegner  die  Macht  lag,  deren  Verfolgung;  ihm  blieb  den  ganzen  Verlauf 
des  Jahrhunderts  hindurch  ein  Angedenken  in  Huhn.  '•' 

Daim  aber  ward  auch  von  dem  Manne  der  Zeit,  von  Luther  selbst, 
dem  lehrhaften  Hang  auf  das  folgenreichste  Vorschub  geleistet  und  derselbe 
in  eine  gleichsam  neue  Bahn  gelenkt.  Durch  Steiuhöwels  Verdeutschung  war 
^sop,  w^ie  die  mehrmals  wiederholten  und  noch  erweiterten  Ausgaben  des 
sechzehnten  Jahrliunderts  es  bezeugen  (§  90,  262),  ein  besonders  vielge- 
lesenes Buch  geworden,  vielleicht  aber  nicht  sowohl  der  Fabeln  als  der  vor- 
angestellten Lebensbeschreibung  wegen:  letztere  traf  mit  einer  Neigung  des 
Volks  zusammen,  die  schon  früher  im  Amis,  im  Kalenberger  (§  66,  5.  6),  im 
Markolf  (§  81,  55),  in  dem  verfälschten  Neidhart  (§  72,  29)  sich  kundge- 
geben hafle  und  jetzt  im  Euleuspiegel  (§  107,  16)  und  sonst  noch  mannig- 
fach genug  (§  100,  31),  namentlich  auch  in  Drucken  Neidharts  und  des  Amis 
und  des  Kaleubergers  (§  92,  5)  sich  kund  gab,  mit  der  Freude  an  Weis- 
heit, die  sich  in  Schalksgebajrden,  an  Schlauheit,  die  sich  in  Tölpeleien  klei- 
det. Eben  daran  jedoch  nahm  Luther  Argerniss ;  er  empfahl  mit  Liebe  den 
lebendigsten  Gebrauch  der  Fabel  nach  Art  iEsops  imd  gebrauchte  ihrer  selbst 
auch  oft  und  gern^°:  aber  den  ^sop,  den  man  zu   lesen   pflegte,    wollte   er 

Volksliedern  Jt06.  26a)  B.  Riggenbach,  Job.  Eberlin  v.  Grünzburg,  Tüb.  1874.  27)  Th. 
Murners  Gedieht  v.  grossen  Lutherischen  Narren,  hsggb.  v.  Heinr.  Kurz,  Zürich  1848,  wo 
auch  1G3 — 102  ein  neuer  Abdruck  des  Karsthans.  28)  Novella,  eine  nach  dem  Lutherischen 
Narren  zu  Murners  Verspottung  erfundne  Gespenstergeschichte  (1.522):  Schcible  8,  675 — 705; 
Dramen  gegen  ihn  §  10.3,  löO.  29)  Murner  vergleichbar,  doch  namhafter  für  die  Ge- 
schichte der  Reformation  als  die  der  Litteratur  ist  Hieronymus  Emser  (geb.  Ulm  1477, 
gest.  Dresden  1527).  auch  er  zuerst  ein  Freund,  dann  ein  hämischer  Gegner  Luthers:  er 
begann  die  Wendung  gleichfalls  mit  einer  Schrift  Wüler  das  vnchristenliche  buch  Martini 
Liiters  an  den  Tetvtschen  Adel  aussya)igen.  Leipz.  1521.  Von  seinem  Diebstahl  an  dessen 
Bibelverdeutschung  §  92,  2,  Gedicht  von  ihm  Eyn  deutsche  Satyra  vnd  straffe  des  Eebruchs, 
vnnd  in  was  wurden  vml  erenn  der  Eelich  stand  vorczeiten  gehalten.  Leipz.  1505:  reichlich, 
so  dass  die  Lehre  von  der  ErziehJung  weit  überwogen  wird,  mit  Beispielen  durchflochten. 
Über  ihn  auch  Waldau:  Nachrichten  von  H.  Emsers  Leben  u.  Schriften,  Ansbach  1783. 
30)  3Iehrfaches  Zeugniss   in    einer  Predigt,  die  Johannes  Mathesius   selbst  über  eine  Fabel 


1 


§  99  FABELDIOIITUNG.  Gl 

beseitigt  wissen  und  legte  im  J.  1530^'  selber  Hand  an  ihn  zu  fegen;  nur  ist 
seine  der  Urschrift  gleich  prosaische  Verdeutschung  nicht  weit  über  den  Be- 
ginn und  bloss  eine  Probe  hinausgelangt.  ^-  llath  und  Beispiel  solch  eines 
Mannes  konnten,  was  die  Hauptsache  betraf  ^'■\  nicht  ohne  Wirkung  bleiben : 
auf  ihn  gestützt,  führte  Mathesius  die  Fabel  selbst  in  die  Predigt  (Anm.  22) 
und  führten  schon  vor  Mathesius  Andre  sie  wiederum  und  reichlicher,  als 
seit  langem  geschehen  (vgl.  §  81,  26  fgg.),  in  die  Dichtung  ein.  So  Hans 
Sachs,  der  Dichter  aus  dem  Volke  (§  98,  18),  so  noch  mehr  der  Gelehrten. 
Gleich  im  J.  1534  gab  Erasmus  Alberus  ^*  Etliche  Fabel  Esopi  verteilt  seht  vnnd 
ynn  Bhcymen  bracht,  spaeterhin  deren  eine  zweite,  noch  durch  eigene  Zuthat 
vergroßsserte  Sammlung  heraus  ^^;  1548  Burkard  Waldis  '^^  seinen  Esopus 
Gants  Neiv  gemacht;  1571  der  Augsburger  Daniel  Holtzman  unter  dem  Titel 
Spiegel  der  Natürlichen  Weysshait  die  95  Fabeln  des  Cyrillus.  -'^  Am  werth- 
losesten  schon  durch  grosse  Unselbständigkeit  der  letztere:  er  hat  nur  eine 
älti-e  Prosaverdeutschung  des  gleichen  Buches  ^^  in  Vers  und  Reim  ge- 
zwungen; desto  schätzbarer  die  zwei  andern,  zumal  Burkard  Waldis.    Beide 

(B.  (1.  Eichter  9)  und  mit  Benutzung  von  Fabeln,  darunter  auch  solchen,  die  er  aus  Luthers 
Mund  vernommen,  gehalten  hat,  der  neunten  in  seinen  Historien  D.  M.  Luthers  §  109,  4. 
31)  demselben,  wo  er  waehrend  des  Augsburger  Keichstages  zu  Koburg  war  und  in  verwandter 
Stimmung  auch  den  Reichstag  der  Voegel  schilderte:  LB.  3,  1,  169.  32)  Die  Vorrede 
dazu  mit  jeneu  Urtheilen  in  Lob  und  Tadel  LB.  3,  1,  193.  Sammlung  der  äsopischen 
Fabeln  von  Luther  u.  Mathesius  nebst  zahlreicheren  andern,  meist  eigenen  Verdeutschungen 
die  Hundert  Fabeln  aus  Esopo  von  Nathan  Chytr.eus,  Eostock  1571.  33)  Alberus 
und  Waldis  haben  beide  noch  das  Leben  -3?]sops  erztehlt,  aber  beide  verkürzt  und  ersterer 
mit  Tilgung  der  Unflätereien.  Waldis  benutzte  eine  von  Dorpius  in  Löwen  angelegte,  Lpz. 
1532  uö.  gedruckte  Sammlung  in  lat.  Prosa.  34)  ein  Wetterauer,  geb.  1500  und  als 
Generalsuperintendent  zu  Neubrandenburg  gest.  1553.  35)  Bas  buch  von  der  Tugent  vnd 
Wässheit,  nemlich  4ü  Fabeln,  der  mehrer  Tlieil  auss  Esopo  gezogen,  vnnd  mit  guten  Bheimen 
verkleret,  Frankf.  1550.  Die  frühere  Ausgabe  (gedr.  zu  Haganaw)  hatte  nur  17  Fabeln  ent- 
halten. Ein  Einzeldi-uck  der  42.  von  1537  in  Schnorrs  Archiv  6,  3.  36)  aus  Allendorf 
in  Hessen  und  hier  auch  (1544 — 1557?)  zuletzt  in  Abterode  Pfarrer,  ßurchard  Waldis  von 
GoEDEKE,  Hannov.  1852;  von  Buchenau,  Marburg  1858.  Spätere  Aufschlüsse,  besonders 
aus  Eiga,  sind  verwertet  von  Milchsack,  Halle  1881  und  in  Tittmanns  Ausgabe  des  Esopus 
Lpz.  1882.  Eine  Ausg.  des  Esopus  auch  von  H.  Kurz  Lpz.  1862.  37)  Denkmaeler  alt- 
deutscher Dichtkunst  v.  Escheuburg  365  fgg.  Er  habe,  sagt  Holtzman  (Eschenb.  378)  zwei- 
mal in  Esslingen  Schule  gehalten:  Eschenburg  legt  das  richtig  auf  Meistergesang  aus.  Die 
Einleitung  Holtzmans  ist  z.  Th.  aus  Alberus  entlehnt,  wie  Goedeke  bemerkt.  Die  Ausgabe 
von  1572  katholisch  gewendet.  38)  den  Spiegel  der  wyssheit,  der  im  .T.  1520  zu  Basel 
gedruckt  worden:  Eschenb.  a.  a.  0.  373;  eine  Übersetzung  schon  v.  1190  Das  buch  der 
Natürlichen   weisslieü    §   90,    260:    vgl.    Bücherschatz    d.    Deutschen    National-Litt.    125. 


62  NEUnOClIDEUTSCIIE  ZEIT.        XVI  JAJIRII.  §  99 

vereinigen  mit  Gelelirsamkeit  noch  Kenntniss  der  Welt  und  der  Menschen, 
Alberus,  der  liald  hier,  bald  dort  in  Deutschland  als  Prediger  gestanden, 
Waldis,  den  die  bunt  wechsehiden  Geschicke  seines  Lebens  als  Mönch  nacli 
Riga,  dann,  nachdem  er  evangelisch  geworden,  als  Zinngiesser  und  Han- 
delsmann über  Land  und  Meer  bis  an  den  Westrand  Europas,  zuletzt  als 
Prediger  noch  wieder  in  seine  Heimat  Hessen  geführt  haben.  Aber  Alberus 
missbraucht  die  Fülle  dessen,  was  er  weiss  und  kennt:  er  gerajth  erzaehlend 
und  lehrend  in  die  Breite  und  von  Abschweifung  in  Abschweifung.  Beide 
sind  mit  Eifer  Protestanten,  wie  es  denn  auch  von  Alberus  geistliche  Lieder 
und  von  Waldis  einen  deutschen  Psalter  giebt  (§  lOii,  .'{2.  39),  aber  Alberus 
ohne  Geschmack  und  Mass:  dieselbe  würdelose  Streithaftigkeit,  in  welcher 
er  den  Eulenspiegel  und  Alcoran  der  Barfüsser  geschrieben  ^^^  traegt  er  in 
diese  Fabeln  über,  und  eine  um  die  andre  wird  ihm  eine  Satire  gegen  den 
Papismus.  Beide  endlich  ti-achten  nach  heimischer  Anlehnung,  Alberus  ober- 
flächlicher, indem  er  die  einzelnen  Geschichts Vorgänge  an  benannte  Orte 
Deutsclüands,  zumal  Hessens  verlegt,  tiefer  gehend  Waldis.  Ihn  beseelt  eine 
ernste  und  warme  Liebe  des  Yaterlandes:  Zeugniss  dessen  wie  sein  Lobspruch 
der  Deutschen^"  und  wohl  auch  die  Erneuerung  des  Theuerdanks  ^ '  so  hier 
unter  den  Fabeln,  die  er  selber  dem  .Esop  erst  beigefügt  (namentlich  all 
die  hundert  des  letzten,  vierten  Buches*'^  sind  von  ihm),  diejenigen,  deren 
Stoff  harmlos  eine  Thiersage,  ein  Mferchen  der  Kinder,  ein  Schwank  des 
Volkes  ist.  *-  Zwar  in  solchen  besonders  erscheint  der  lehrhafte  Schluss  meist 
ungehcerig  mid  gezwungen :  aber  die  Erzsehlung  vorher  ist  gut,  und  überall 
zeichnen  sich  Waldis  Verse  vor  den  sonstigen  der  Zeit  durch  leichteren  Gang 
aus:  von  der  niederdeutschen  Dichtkunst,  in  die  er  mit  seinem  ersten  Werk, 
einem  in  Riga  1527  aufgeführten  Fastnachtsspiel  *^,  eingetreten,  hat  sein  Ohr 


39)  Uer  Bfirfüsser  Münche  Eidensjueijel  vnd  Alcoran,  Wittenb.  (1531);  mit  einer  Vorrede 
Luthers.  Verkehrte  Grundlage  der  Über  conformitatum  S.  Francisci  ad  ritam  Jesu  Christi 
von  Bartholomieus  v.  Pisa;  vgl.  §  107,  18.  110,  21.  40)  am  Schluss  einer  Reihe  von 
Bildern  der  deutscheu  Ktenige  und  Reimen  dazu,  Vrsprung  rnd  Herkutiien  der  zwöJff  ersten 
alten  Künig  vml  Fürsten  deutselier  Nation,  Nürnb.  1543.  Vgl.  §  100.  15.  41)  §  67,  15. 
Frankf.  1553:  Theuerdank  v.  Haltaus  47  fgg.  41a)  Drei  derselben  hatte  Waldis  schon 
1.543  veröffentlicht;  im  Anhang  zu  Ein  xrarhafftige  Historien  von  zweyen  Metrssen,  einer 
satirischen  Erzählung.  Aber  schon  in  Riga,  und  vermuthlich  vor  seiner  Gefangenschaft 
1536 — 1540  hatte  er  Fabeln  nach  Plsop  gedichtet.  Seine  Streitgedichte  gegen  H.  Heinrich 
von  Braunschweig  1542  sind  neugedruckt  Halle  1883.  42)  So  die  meisten  der  im  LB. 
2,  151  fgg.  mitgetheilten  Beispiele.         43)  vom  verlornen  Sohne,  Neudruck  von  Milchsack, 


§  99   FABELDICIITUNG.     ALBERUS,  WALDIS,  ROLLENIIAGEN.      63 

die  Empfindlichkeit  für  den  Rhythmus  erlernt,  dass  es  sich  ungern  bloss  mit 
Abzahlung  der  Sylben  begnügen  mag. 

Sebastian  Brant  und  Murner  hatten  ihre  Satire  stückweis  jener  an  Bilder, 
dieser  an  Bilder  und  sprichwörtliche  Redensarten  angeknüpft  (Anm.  19  fgg.): 
der  Fortgang  des  sechzehnten,  der  Beginn  des  siebzehnten  Jahrhunderts  hiel- 
ten die  ansprechende,  nun  auch  von  aussen  her  durch  Alciatus  ^^  empfohlene 
Verbindung  zweier  Darstellungsformen  fest,  und  jetzt  ward  der  Fabel  und 
Parabel  das  Sprichwort  und  lieber  noch  das  Bild,  der  Sinndichtung  das  Sinn- 
bild zum  Grunde  gelegt.  Haktmanx  Schöpfer  aus  Xeumarkt  in  der  Ober- 
pfalz, derselbe,  der  den  Reiueke  Fuchs  in  lateinische  Jamben  übertragen 
(§  94,  14),  hat  im  J.  1566  die  iEsopischen  Holzschnittbilder  des  Yergilius 
Solis  ^^,  1576  Matthias  Holtzwart  die  Emblemen  eines  andern  Meisters^''', 
1622  der  Zürcher  Johann  Heinrich  Rordorff  die  seines  Mitbürgers  Christoph 
Murer  *^,  bald  mit  kurzer  Erzaehlung  der  Fabeln  oder  Geschichten,  bald, 
wo  das  Bild  die  Erzsehlung  entbehi'Uch  machte,  bloss  mit  der  sittlichen  Aus- 
deutung und  Anwendung  begleitet,  Eucharius  Eyering  aber,  ein  Pfarrer  im 
Hildburghausischen  ^^,  in  drei  erst  nach  seinem  Tode  1601  bis  1604  gedruck- 
ten Bänden  eme  ganze  Proverbiorum  copia,  Etlicli  viel  Hundert  Lateinischer 
vnd  Teutscher  Sprichwörter  (die  letzteren  meistens  aus  Agricola  §  111,  6), 
mit  schnenen  Historien,  Apolofjis,  Fabeln  vnd  Gedichten  gelieret.  Dürr  und 
leblos  sie  alle  und  Eyering  das  noch  mehr  als  Schopper,  so  lebensvoll  auch 
an  sich  manch  guter  Schwank  ist,  den  jener  zur  Parabel  wendet. 

Den  vollendenden  Abschluss  fand  die  Fabeldichtung  der  Gelehrten,  der 
Geistlichen,  der  Schulmänner,  in  dem  grossen  Lehrepos  von  Georg  Rollen- 
hagen *^,  dem  Froschmeuseler,  der  schon  im  J.  1566  gedichtet,   aber  erst 

Balle  1881.  44)  Die  erste  Ausg.  der  Emblevmta  des  Ital.  Rechtsgelehrten  Andreas  Al- 
ciatus 1522?  1531  zu  Augsburg  gedruckt.  Liber  Emblematum  D.  Andrece  Alciati.  Kunst- 
buch Andrea  Alciati  von  Meyland  —  verteiitscht  —  durch  Jeremiam  Held  vo)i  Nördlingen, 
Frankf.  1566.  45)  Bragur  v.  Hiesslein  u.  Grraeter  3,  319  fgg.  46)  Bragur  3,  329  fgg. ; 
lateinisch;  über  die  deutseben  Beigaben  von  Fischart  1581  vgl.  §  100,  15.  47)  XL 
Emblemata  miscella  nova  —  Durch  Christoff'  Murern  v.  Zürych  inventiret  —  mit  JReymen 
erklceret  Durch  Joh.  Heinr.  Eordorffen,  Zürich  1622.  48)  Aus  den  Worten  3,  482 
dass  mich  Gott  Fast  funff'tzig  Jahr  geduldet  hat  —  zum  Diener  —  Des  Worts,  darumb 
ich  erst  gefangen  vom  Babstthumb,  vnd  durch  Gott  entgangen  pflegt  man  zu  schliessen, 
dass  Eyering  anfangs  noch  längere  Zeit  Katholik  gewesen  sei:  ich  kann  sie  nur  von 
Gefangenschaft  um  des  (rlaubens  willen  verstehn.  49)  geb.  1542  zu  Bernau  in  der 
Mark  Brandenburg,  gest.  als  Rector  zu  Magdeburg  1609.  Lebensbeschreibung  in  der 
Leichpredigt  von  Aarou  Burckhart  (^ Bragur  3,  434  fgg.)  und  von  Lütcke,  Berlin  1847.     Theil- 


G4  NEUJIOCIIDEUTSCIIE  ZEIT.        XVI  JAllIUI.  §  U9 

• 

1595  ist  iu  Druck  gogoben  worden.  ''' "  üiuiulliigo  dazu  war  die  Ilomerischo 
liatrachüinyomacliic;  den  Anstoss  dieselbe  in  gereimtes  Deutsch  und  Anlei- 
tung sie  in  der  Art  zu  übtMtragen,  dass  aus  ilem  kleinen  crzteldcnden  ein 
grosses  lehrendes  E\)us  und  ißcichsam  eine  Contra/ ad ur  der  Zeit  daraus  ward, 
gab  dem  Jüngling  ein  Lehrer  auf  der  Universiuct  zu  Wittenberg  ■'°:  unzwei- 
felhaft aber  hat  bei  solcher  Anleitung  wie  bei  der  Ausführung  sehr  mass- 
gebend noch  das  Vorbild  des  Ileineke  Fuchs,  den  Rollenhagen  hoch  rühmt 
(Anm.  15),  mitgewirkt.  Von  i)eiden  Mustern  "'"  ^  kommt  es  her,  dass  die 
Frösche  und  Mäuse,  und  was  noch  für  Tliierc  in  Krieg  und  Berathung  und 
sonst  auftreten,  Eigennamen  nacli  Art  der  menschlichen  tragen'^',  und  noch 
mehr  als  in  jenen  Mustern  handeln  und  reden  und  leben  sie  auch  nach 
Menschenart  •'-:  mit  Anmurh  täuscht  bald,  bald  enttäuscht  die  durcligehendc 
Mischung  der  Menschen-  und  der  Thiernatur.  Das  Gedicht  ist  gut,  wo  er- 
za)hlt,  und  gut,  wo  gelehrt  wird:  die  Erzaehlung  spricht  namentlich  an  durch 
idyllisch  heimliche  Behaglichkeit  und  harmlose  Laune,  eine  Tongebung,  die 
ihr  zunißchst  aus  den  Msercheu  des  Volks  zufliessen  mochte,  denen  Rollcn- 
hagen  nicht  sproede  fremd  war  (Anm.  3);  die  Lehre,  häufig  mit  Benutzung 
Freidanks  und  des  Renners,  durch  die  schlagende  Kürze  des  Sprichwortes 
und  der  Spruchweislieit.  ^^  Aber  Erzaehlung  und  Lehre,  eines  geht  zu  Grunde 
an  dem  andern.  So  eng  begrenzt  an  sich  der  epische  Stoff  ist,  zu  einem 
so  langen  Faden  (drei  Büchern ,  jedem  aus  mehreren  Theilen ,  jedem 
Theil  aus  zahlreichen  Capitelu)  ist  er  ausgesponnen,  weil  die  Lehrhaftigkeit 
ihn  dehnt  und  fort  und  fort  neue  Einschaltungen  den  Verlauf,  lehrende  Be- 
trachtungen die  Erzaehlung,  Märchen  und  Fabeln  von  aussen  hereingetragen  ^^ 
(.lie  Lehre  unterbrechen.  Iliedm-ch  ist  das  Ganze  viel  zu  gross  und  zu  bunt 
geworden,  als  dass  es  noch  ein  episches  Ganzes  bleiben  oder  sein  Dichter  auch 
nur  die  Einheit  eines  lehrhaften  Grundgedankens  hätte  behaupten  können. 


nähme  an  der  Dramendichtung  §  105,  31  u.  71.  49a)  Neue  Ausgabe  nach  der  16Ü8  er- 
schienenen von  Gißdeke  Lpz.  1876.  50)  Veit  Ortel,  der  156G  über  die  Batrachomyoniachie 
las:  ausführlicher  berichtet  in  der  prosaischen  Vorrede.  50a)  Doch  auch  Fischarts  Flceh- 
haz  1577  wirkte  auf  RolJenhagen  ein:  Wackernagel  Fisch.  113.  51)  Der  Dichter  selbst 
unterschreibt  seine  Zueignung  Marcus  HüpffinsshoUz  von  Meusebach,  der  jungen  Frosch 
Vor.^inyer  vnd  C<thneuser  im  alten  Mfisclienwigk.  52)  Selbst  von  der  Gelehrsamkeit,  wie 
sie  das  Menschenleben  jener  Zeit  durchdrang,  bleibt  die  Thierwelt  hier  nicht  unberührt: 
z.  B.  1,  1,  5  erzaihlt  Frosch  Buussback  die  Geschichte  des  Ulysses  u.  der  Circo:  als  ich,  da 
idi  noch  jünger  was,  eJiemals  auch  in  den  Bädiern  lass.  53)  z.  B.  LB.  2,  29G,  11  fgg. 
aus  Freidank  139, 19.  54)  Unter  d,  Probestücken  im  LB.  '2  rühren  d.  letzte,  298,  aus  Mathesius 
Fabelpredigt  Anm.  30,  also  mittelbar  von  Luther  her;  ebenso  II,  2,  7  Doctor  Sperlings  Rath. 


§  99  GELEHRTE  EPIK  UKD  DIDACTIK.  65 

Neben  der  Fabeldichtimg  kamen  aber  auch  andre  Auswüchse  des  lehr- 
haften Triebes  hervor,  die  sich  noch  weiter  in  die  Unsinnlichkeit  verzweig- 
ten, nielir  als  ein  Lehrgedicht,  das,  aller  poetischen  Einkleidung  baar,  nur 
durch  den  Reim  und  die  Absetzung  nach  der  Zahl  der  Sylben  sicli  von  der 
Prosa  schied,  wie  wenn  z.  B.  (ich  nenne  das  eine  Beispiel  um  seines  Stoffes, 
das  andre  auch  um  seines  Yerfassers  willen)  Martin  Agkicola  zur  Instrumen- 
talmusik '•''-'  imd  Nicolaus  Herman  Anweisung  gab,  wie  sich  ein  Hausvater  hal- 
ten solle  ^^;  und  mehr  als  eines,  dem  zwar  ein  Bezug  von  sinnUcher  Ai't, 
aber  nur  ein  leicht  und  flüchtig  berührender,  oder  zwar  ein  episches  Gewand, 
aber  das  fadenscheinig  düimc  einer  crfundnen  Allegorie  gegeben  war.  Bei- 
spiele dieser  Richtung  von  Ringwaldt  und  Andrese,  beiden  wiederum  Geist- 
lichen. Yen  Bartiiolom^eus  Ringwaldt,  Landpfarrer  zuletzt  in  der  Neumark 
Brandenburg^^,  der  auch  Dramen  (§  105,  85.  138),  auch  geistliche  Lieder  ge- 
dichtet hat  (§  103,  22),  seine  zwei  Hauptwerke,  die  lautere  Wahrheit  mit 
einer  Yorrede  von  1585,  aber  bereits  auf  das  J.  1588  Bezug  nehmend,  und 
die  christliche  Warnung  des  treuen  Eckard  von  1588^^,  jenes  ein  Lehr- 
buch der  Christlichkeit  und  der  Sitte  für  das  weltliche  Kriegerleben  und  der 
Tapferkeit  für  die  geistliche  Ritterschaft,  dieses  in  Form  einer  Yerzückung 
des  sagenhaften  Hüters  am  Yenusberge ''^  eine  Schilderung  von  Himmel  und 
Hölle  mit  daraus  fliessender  Ermahnimg.  Hier  wie  dort  der  Ernst  des  Glau- 
bens imd  die  Ki'aft  der  Einfalt,  aber  überall  Breite,  und  geringere  Befsehi- 
gung,  wo  es  im  Eckard  Bilder  des  Erhabnen  imd  des  Schrecklichen,  als  wo 
es  heftige  Strafrede  und  in  der  lauteren  Wahrheit  den  Ton  einer  kecken 
Kriegslust  gilt;  am  gelungensten  die  an  beiden  Orten  ein-  und  beigefügten 
Lieder,  zumal  die  in  der  Lauteren  Wahrheit,  die  sich  der  freiesten  frische- 
sten Art  der  Landsknechtdichtung  (§  95,  10)  an  die  Seite  stellen.  In  die 
Lehre  selbst  greift  etwas  dieses  lyrischen  Zuges  über:  sie  ordnet  sich  durch- 
weg in  strophenartige  Absätze,  meist  von  je  vier  Zeilen.     Wie  beliebt  seiner 

55)  Musica  instrumentalis  Deutsch,  Wittenb.  1.529;  ein  gleichbetitelter  Auszug  ebd.  1545. 
5G)  Oeconomia  Oder  hericht,  wie  sich  ein  Haussuatter  halten  söl,  Nürnb.  1561:  Verdeutschung 
eines  auch  Oeconomia  betitelten  lat.  "Werkes  von  Joh.  Mathesius  (§  103,  35);  Nie.  Herman 
§  103,  31.  57)  geb.  zu  Frankf.  a.  0.  1530,  gest.  als  Pfarrer  zu  Langfeld  wahrscheinlich 
1598.  Über  sein  Leben  und  seine  Werke  Heinr.  HofiPmanns  Spenden  zur  deutschen  Litte- 
raturgeschichte  2,  Leipz.  1844,  19 — 54.  58)  Proben  aus  dem  ersten  LB.  2,  271  fgg. 
59)  §  81,  82.  Auch  in  Dramen  wie  HSachsens  Hofgesinde  Veneris  1519,  dem  s.  g.  Etter 
Heini  §  105,  77  und  einem  Fastnachtsspiele  Wickrams  §  107,  34  die  Gestalt  des  treuen 
Eckard  benutzt.     Eckart  der  trete  als  Wortführer   einer  Prognostication  auf  1534:   Bücher- 

Waclcernagel,  Litter.  Geschichte,  II.  5 


66  NEUnOCllDIUITSCHE  ZEIT.        XVI  JAIIKII.  §  100 

Zeit  namentlich  der  Treue  Eckard,  vielleicht  grade  das  werthlosere  Gediclit, 
gewesen,  zeigt  die  uiederdeiitsclie  Übertragung,  die  1598  ein  Ungenannter, 
und  die  Dramatisierung,  die  im  J.  lüüO  Andukas  Hautmann  davon  gefertigt 
hat.*'"  Von  Johann  Valentin  Anduk.k''',  emem  Schwaben,  eine  Dichtung, 
die  hart  an  das  Ende  dieses  Zeitabschnittes,  um  das  J.  1015  lallt,  da  der 
Verfasser  noch  Diacouus  zu  Vaihingen  war,  unter  dem  Titel  die  Ciiristenhur«  "- 
eine  Geschichte  des  Ursprunges,  des  Wachsthums,  der  Bedrängnisse  und  wieder 
der  von  oben  gekommenen  Kcttungcn  der  Kirche  Christi,  eingekleidet  in  die 
Geschichte  einer  fern  auf  einer  lusel  des  Weltmeeres  gelegenen  8tadt,  eben 
der  Christenburg.  Wohl  athmct  auch  hier  jener  Sinn  der  Friedensbedürftig- 
keit und  der  den  Glauben  erst  vollendenden  Liebe,  durch  welchen  Andreas 
mitten  in  der  Erstarrung  und  der  gehässigen  Streitsucht,  deren  Unsegcn  jetzt 
den  Protestantismus  ergriffen  hatte,  ein  frühzeitiger  Vorgänger  des  Pietismus 
geworden  ist*'-':  aber  er  findet  hier  nicht  wie  doch  in  den  Liedern  des  Dich- 
ters  (§  103,  41)  den  innigen  Ausdruck  ticfbewogcer  Gemüthlichkeit,  es  sind 
vielmehr  wie  in  den  Sprüchen  (§  101,  10)  und  wie  dort,  wo  Andrese  auf 
Lateinisch  schreibt,  die  geistreich  spielenden  Griffe  des  Witzes,  in  denen  er 
sich  kund  giebt.  •'^ 

§  100. 

Noch  aber  ist  der  Hauptname  aus  dem  Gebiete  der  Epik  und  Didactik 

übrig,  der  Name  dessen,    der  hier  fruchtbarer  als   irgend  sonst  jemand  und 

in  Sinn  und  Ai't  seiner  Werke  ganz  von   den  Andern  verschieden,   der  von 

Seiten  der  Gelehrsamkeit  her  das  kunstvollere  Gegenbild    und  noch  reicher 

schätz  131.  Vgl.  ebd.  128  den  Mom  Veneris  durch  Ilenr.  Kornmannum,  Frankf.  1615. 
Ein  Vorläufer  des  treuen  Eckard  ist  die  Neice  Zeittung  so  Hans  Frommnn  mit  sich  aus 
der  hellen  nind  dem  himel  bracht  luit.  .  durch  B.  R.  Amberg  ir)82.  60)  Hoffmann  a.  a. 
0.  ^}'2.  vgl.  §  93,  2(3.  Ein  eigenes  Drama  Hartmanns  §  105,  H-l.  Von  der  Lauteren  Wahr- 
heit noch  im  J.  1700  eine  Umarbeitung:  Die  Teutsche  Warheit  —  durch  J.  W.  Brodtkorhen, 
Langensalz.  61)  geb.  158G  zu  Herrenberg,  gest.  als  Abt  von  Adelsberg  zu  Stuttgart  1651. 
Vgl.  .1.  V.  Andreae  u.  sein  Zeitalter  v.  Hossbach,  Berlin  1819.  62)  zuerst  Freiburg  1626 
u.  neu  herausgegeben  v.  Grue.veisen,  Leipz.  1836.  LB.  2,  339  fgg.  63)  In  solchem 
Sinn  auch  1611:  Stifter  oder  Erneurer  einer  geheimen  Verbindung,  von  welcher  er  namenlos 
selber  die  erste  rsethselhafte  Kunde  gegeben  zu  haben  scheint  in  der  Faitut  Fraternitatis 
E.  C.  od.  Entdeckung  d.  BrüderscJuxß  d.  kehl.  Ordens  d.  Bosen-Creutzes,  Frankf.  1615. 
Vgl.  §  107,  26;  Buhle  üb.  Urspr.  u.  Schicksale  d.  Ordens  d.  Rosenkreuzer,  Gott.  18»t3. 
64)  So  auch  in  der  umfangsärmeren,  aber  episch  belebteren  Schilderung  eines  rechtschaffenen 
Dieners  Gottes,  die  sich  bei  Herder,  der  überhaupt  das  Andenken  Andreies  erneuert  hat. 
wiederholt  findet  hinter  dem  49sten  Briefe,  das  Studium  d.  Theologie  betreffend.  Noch  andre 
und  minder  bedeutungsvolle  Lehrdichtungen  (v.  .1.  1612  an)  nennt  das  Verzeiehniss  aller   in 


§  100  FISCIIART.  67 

an  Toeneii  ein  Wiederhall  zu  Hans  Sachs  gewesen  ist,  der  Doctor  der  Rechte 
Johann  Fischart,  Ihn  macht  dem  Geschichtsforscher  schon  die  Ungewiss- 
lieit  anzieliend,  die  bei  dem  Stillschweigen  all  der  Andern  ^  über  seine  Lebens- 
umstände waltet  (man  kennt  wohl  Strassburg  als  seinen  Wohnort  längere  Jahre 
hindurch,  auch  als  seine  vermuthliche  Geburtsstadt  ^  * ,  aber  nicht  die  Zeit  der 
Geburt  noch  Zeit  und  Ort  seines  Todes  -),  so  wie  die  Schwierigkeit  ganz  zu  ermit- 

Druck  gekommenen  Lat.  u.  Teutschen  Schriften  des  Dr.  J.  V.  Andreae  v.  Burk,  Tübingen 
1793.     Lateinische  Dramen  Andreaes  §  106,  20.    . 

§  100.  Wackeruagel,  J.  Fisch art  von  Strassburg.  2.  Ansg.  Basel  1874.  Vgl,  Vilmar 
in  Erseh  u.  Gruber  Encyclop.  51  (I850j.  Fischarts  sämmtliche  Dichtungen  hg.  v.  H.  Kurtz 
III  Lpz.  186(3.  67.  Scherer,  Östr.  Gymn.-Zeitschr.  1867,  474.  Wendeler.  Fischartstudien  des 
Freiherrn  von  Meusebach,  Halle  1879.  Goedeke,  Einl.  zu  Fischarts  Dichtungen  Lpz.  1880. 
E.  Schmidt,  Allg.  D.  ßiogr.  1)  Bezeichnend,  wie  Jac.  Ayrer  im  Julius  Redivivus,  wo  er 
all  die  verdienten  Dichter  und  Gelehrten  Deutschlands  nennt,  zwar  Fischart  mit  aufzsehlt, 
aber  unter  den  Juristen,  neben  Zasius.  Zinegref,  schon  mit  Entstellung  des  Namens,  die  er 
jedoch  in  den  Apophthegmen  1628  berichtigt,  urtheilt  (Opicii  Poemata,  Strassb.  1624,  161) 
Jolum  Fiscliers,  genant  Mentzers,  Poemata,  soviel  mir  deren  vorkommen,  sein  zu  weitleuffig, 
hierein  (in  den  Anhange  Vnderschiedlicher  aussgesuchter  Getiehten  anderer  mehr  teutsclien 
Poeten)  zubringen,  auch  mehrtheils  nach  der  alten  Welt.  Doch  wehre  sein  glücfchaftes  Schiff 
von  Zürich,  an  Reichthumh  Poetischer  Geister,  artiger  Einfäll,  schoener  tvort,  vnd  merck- 
würdiger  Sprüchen  (auss  ivelchen  stücken  abzunehmen,  was  statliclies  dieser  nutnn  hette  leisten 
können,  wan  er  den  fleiss  mit  der  Natur  vermehlen,  vnd  nit  vielmehr  sich  an  dem,  ivie  es 
jhm  einfeltig  auss  der  Feder  geflossen,  hette  benügen  wollen)  gar  icohl  der  Roimiselien, 
Grichisclien,  ItalicBnisclien  vnd  Frantzoesischen  Poesy  an  die  Seiten,  wo  nicht  vorzusetzen, 
wann  jhm  nicht,  ivie  angedeut,  noch  etwas  weniges  fehlete,  welclten  Mangel  ich  jedoch  mehr 
der  rnachtsamen  geivohnheit  seiner  zeiten,  als  jhme  selbsten  zuschreibe,  vnd  möchte  er  mit 
gutem  fug  sagen:  Ich  Imb  das  mein  gethan,  so  vil  mir  Got  bescJiert:  Ein  ander  thue  das 
sein,  so  tvirdt  die  Kunst  gemehrt.  Aufrichtig  bewundert  J.  V.  Andreae  Fischart:  Hoss- 
bach 166.  Uhland  bei  Halling  Das  glückhaft  Schiff  xxv.  la)  Als  Argentoratensis 
wird  er  im  Doctorbuch  der  juridischen  Facultät  zu  Basel  1574  bezeichnet  (vgl.  auch 
Z.  f.  d.  A.  22,  252),  in  Büchereintraegen  von  1567  nennt  er  sich  du  Strasbourg;  dazu 
stimmen  in  seinen  Werken  die  Beinamen  (Anm.  5)  und  seine  Sprache.  Das  seinem  Namen 
meist  beigefügte  genant  Mentzer  soll  seine  Familie  von  anderen  des  Namens  F.  unterscheiden; 
wenn  er  im  Gargantua  von  1590  von  seinen  Mentzerischen  Landsleuten  spricht,  so  braucht 
dies  nur  ein  Scherz  zu  sein.  Um  seinen  Geburtsort  anzuzeigen  hätte  er  sich  nennen  müssen: 
J.  F.  von  Mainz.  Auf  jeden  Fall  brachte  F.  den  fruchtbaren  Haupttheil  seines  Lebens  mit  seinem 
Schwager,  dem  Buchdrucker  Jobin,  in  Strassburg  zu:  im  J.  1581,  als  er  seine  Verdeutschung 
des  franzoesischen  Buchs  von  Bodin  De  Magorum  Dcemonomania  zum  erstenmale  herausgab, 
war  er  Advocat  beim  Reichskammergericht  zu  Speier,  1586,  als  die  zweite  Ausg.  davon  er- 
schien, Amtmann  zu  Forbach  bei  Saarbrück.  Martini  1583  heirathete  er  eine  Tochter  des 
elsäss.  Chronisten  B.  Hertzog,  Amtmanns  in  Würth:  Müntz  Revue  d'Alsaee  1873,  S.  376. 
2)  Seine  erste  Druckschrift  (Anm.  8)  ist   von  1570,  die  letzte,    der  Catalogus  Catalogorum 


68  NEUIlOCIIDiyrTSCTlE  ZEIT.        XVI  JAlirJK  §  100 

toln,  wjis  alles  er  geschrieben  habe:  denn  wfchrend  Manclics  von  dem,  als  dessen 
Verfiusser  er  bezeugt  ist,  noch  nicht  wieder  ans  Liclit  gekommen'',  kommt  uner- 
wartet immer  anderes  neu  ans  Licht*,  und  es  vermehrt  die  Schwierigkeit,  dass 
er  geliebt  hat  seltner  seinen  Namen  voll  und  eigentlicli  zu  brauchen  als  mit 
blosser  Andeutung,  mit  l'bersetzung  und  allerlei  Umänderung  und  Tausch  des- 
selben ^  und  so  auch  mit  Erdichtung  von  Druckortnamen  ^  ein  schon  die  Zeit- 
genossen neckendes  Spiel  zu  treiben.  Es  hat  aber  Fischart  so  zahlreiches, 
er  hat  in  beiden  Formen,  der  poetisclien  wie  der  prosaischen,  auch  so  mannig- 
faltiges leisten  können,  weil  ein  seltener  Keichthuni  an  Geist  und  Kennt- 
nissen ihn  überall,  wo  er  nur  anrühren  mochte,  gleich  aus  dem  Vollen  schöpfen 
licss:  er  besass  ausser  der  auf  Ueisen  (§  94,  33)  erworbenen  Weltkenntniss 
clasaische  Gelehrsamkeit  und  Bekanntschaft  auch  mit  der  franzoesischen  (Anm. 
2.  12.  §  104,  7.  11.  112,  6.  12),  nicht  minder  jedoch  mit  der  altheimat- 
lichen Literatur"  mid  war  aus  demselben  Vaterlandssinne,  der  zwar  in  der 
Sprachforscliung  sich  mehr  eifrig  als  glücklich  erwies  (§  93,  24),  vertraut 
mit  allem  Eigenthume  des  Deutschen  Volkslebens:  für  die  Geschichte  der 
Sitte  im   sechzehnten  Jalu-hundort  öffnet   sich  bei   ihm   eine  Fundgrube,    die 


perpetuo  durabilis,  von  1590;  die  Ausgabe  des  Ehezuchtbiiehleins  (§  112,  2)  von  1591  be- 
zeichnet ihn  bereits  als  todt.  Eine  alte  Nachricht  meldet  von  ihm  viortuus  a°  1089  in  hieme 
d.  h.  1589  ciuf  1Ö90.  3)  Eine  Hanptstelle,  worin  Fisehart  eine  ganze  Reihe  seiner  Schriften 
selbst  verzeichnet,  im  Hin  vnd  Vor  Ritt  des  Gargantna:  die  meisten  davon  noch  immer 
verloren.  4)  Ein  Verzeichniss  des  bis  jetzt  bekannten  in  Wellers  neuen  Original-Poesien 
Job.  Fischarts,  Halle  1854,  2  fgg.  nnd  in  den  zu  Eingang  dieses  §  genannten  Schriften. 
ö)  Wackernagel  Fisch.  7  fgg.  J.  F.  M.  u.  J.  F.  G.  M.  d.  h.  JoJmn  Fischart  (Genannt) 
Mentzer  Ermahnung  an  die  Teutschen  Anm.  1.5,  Kinderzucht  Anm.  IB,  Landlust  Anm.  17, 
Eulenspiegel  Anm.  23  u.  Ehezuchtbüchlein  §  112,  2;  Ifgem  Gargantua  §  112,  10.  ebenda 
Im  Fischen  Gilts  Mischen,  Inn  Freuden  gedenck  mein,  Ir er  Fürstlichen  Gnaden  Mutwilliger ; 
Jin-e  Forente  Gignitur  Minerua  Emblemata  Anm.  15.  Hultrich  EUoposcleros  d.  h.  Jolmnnes 
Fisdüuirt  Fltehhatz  Anm.  25,  Podagr.  Trostbüchlein  §  112.  9  u.  Gargantua  hier  auch  Hart- 
tisch. Huldrich  Mlsart  Sonette  §  104,  11  u.  Reveille  ilatin  ebd.  14;  Wisart  LB.  2,  235, 
16.  238,  22.  35;  Wischhart  und  Guicciard  Bienenkorb  (§  112,  3).  Baj).  Guisart,  B.  G. 
Triuraphspruch  Anm.  12b;  Jesuwalt  Pickhart  Leg.  d,  Hütleins  Anm.  12,  Bienenkorb  und 
Brotkorb  §  112,  3.  Rezmm,  umgekehrt  aus  Menzer,  Floehhatz  u.  Practik  §  112,  4:  Man- 
sehr  LB.  2,  235,  16.  238.  21;  Ulrich  Mansehr  vom  Treübach  (d.  h.  Trihocusj  (WwVh.  SchiflF 
Anm.  27.  J.  Noiut  Trausdiiff  (d.  h.  Jolum  Fisclmrt)  von  Trühuchen  Erlustigung  Anm.  29. 
Und  dergleichen.  6)  Grensing  im  Gänsserich:  Gargantua  §  112,  11;  Lnufamien  hei 
Gnngn-olf  Suchnnch:  Legende  d.  Hütleins  Anm.  12;  Christiingen  bei  Ursino  Gottgmn  od. 
Gutwino  d.  i.  liernhard  Jobin:  Bienenkorb  u.  Brotkorb  §  112.  3.  7)  mit  der  Lyrik  des 
Volkes:  Hauptzeogniss  Cap.  8  des  Gargantua,  woraus  das  Lied  LB.  2,  194;  mit  der  Helden- 


§  100  FISCHART.  69 

nocli  auf  lange  hin  nicht  auszubeuten  ist.  Und  er  hat,  so  viele  auch, 
doch  nur  wenig  grosse,  meist  nur  kleinere  Schriften  verfasst,  weil  ein 
hastiger  Drang  des  Schaffens  ihn  immer  vorwärts,  zu  Andrem,  zu  Neuem 
trieb,  und  weil  der  Eichtung,  in  denen  er  die  Dinge  am  liebsten  an- 
geschaut, der  Laime,  dem  Spott,  dem  Humor,  der  Ironie,  ein  Verlauf  inner- 
halb weitgesteckter  Grenzen  niemals  zusagt.  Nicht  dass  der  Ernst  ihm  fremd 
gewesen  wajrc :  liegt  doch  in  der  Ironie  ein  bitterer,  im  Humor  der  heiligste 
Ernst ;  und  so,  wo  nicht  als  Gewand,  dann  doch  als  Kern  ist  er  allen  Büchern 
Fischarts  eigen,  zuvorderst  denen,  die  er  in  Sachen  des  evangelischen  Glau- 
bens verfasst  hat.  Dieser  war,  kaum  wieder  gewonnen,  gefsehrhcher  als  je 
bedroht  durch  den  neu  gestifteten  Jesuitenorden  und  dessen  Wii-ken  in  Kirche 
und  Staat :  einer  der  eifrigsten,  die  zur  Gegenwelu*  griffen,  war  Fischart,  er  mit 
jenen  Waffen  des  Spottes.  Hier  das  Gedicht,  sein  erstes,  so  viel  wir  wissen, 
der  Nachtrabe  von  1570*,  femer  gleich  von  1571  S.  Domixici  und  S.  Feaxcisci 
Leben  ^,  etwa  gleichzeitig  der  Barfuesser  Secten-  und  Kuttenstreit  '", 
die  Träume  des  schlafenden  Reiniken  Fuchs  1573  ^^  Gorc4oneum  Caput, 
der  Gorgonischen  Meduse  Kopf,  Malchopapo,  die  Grille  Krotestisch 
MÜL,  alle  diese  von  1577^'^,  die  Legende  und  Beschreibung  des  vier- 
eckichten  Huetleins    der  Jesuiten  von    1580  ^-.     Mehr    auf  die   politischen 

sage:  Belege  in  d.  Deutschen  Heldensage  v.  Wilh.  Grimm  311;  Bearbeitung  des  Staufen- 
bergers  Anm.  19.  8)  Nacht  JRab  oder  Nehelkrceli.  Von  dem  vberauss  Jesuwidrischen 
Geistlosen  schreiben  vnnd  leben  des  Hans  Jacobs  Gackeis,  der  sich  nennet  Rah  (Jac.  Rabe 
von  Ulm,  der  aus  der  evangel.  Kirche  in  die  katholische  zurück  u.  in  den  Jesuitenorden 
getreten  war) :  iJarinnen  darneben  von  der  Jesuicider  Nachtrabischem  wesen  vnd  stand 
u.  s.  w. :  0.  0.  LB.  2,  213  fgg.  9)  Von  S.  Dominici,  des  Predigennünchs,  vnd  S.  Fran- 
cisci  Barfüssers,  artlichem  Leben  vnd  grossen  Greioeln,  Dem  grawen  Bettelmünch,  F.  J. 
Nasen  zu  Ingelstat  dedicirt  —  von  J.  F.  Mentzern;  o.  0.  10)  o.  0.  u.  J.:  gekürzt  1577. 
11)  Unter  diesem  bezeichnenden  Namen  im  Gargantua  aufgeführt  (Anm.  3).  Ausdeutung  der 
eine  Thiertotenmesse  darstellenden  Steinbilder  im  Münster  zu  Strassburg.  Vgl.  Reinhart  Fuchs 
V.  Jac.  Grimm  ccxv.  ccxx.  Gegen  Fischart  1588  eine  andre  Ausdeutung  von  Joh.  Nass; 
Kurz  3.  -IM.  IIa)  Grundlage  wie  für  das  vorige  und  die  nächst  folgenden  Gedichte  ein 
im  Holzschnitt  beigegebenes  Bild.  Ebenso  knüpft  an  ein  heimatliches  Kunstwerk  an  die 
Eigentliche  Fürbildung  .  .  des  .  .  astronomischen  Vkwercks  zu  Strassburg  im 
Monster  1574.  Die  meisten  dieser  Gedichte  bei  Kurz,  die  Mühle  in  Schnorrs  Archiv  7,  311, 
wo  Wendeler  die  Bildergedichte  Fischarts  u.  a.  besprochen  hat;  s.  ebd.  12,  485.  12)  IHe 
wunderlichst  vnerhoirtest  Legend  vnd  Beschreibung  Des  abgeführten  Quartirten  Gevierten 
vnd  Viereckechten  Vierhörnigen  Hütleins  —  Etican  des  Schneiderknechts  F.  Nasen  gewesenen 
Meisterstücks  —  dwch  Jesuicalt  Pickart.  Zu  Grunde  liegt  La  legende  et  description  du 
Bonnet  sacre  Kurz  2,  xxxv. 


70  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XYI  JAIHUI.  §  100 

Kämpf'o  riclitet  sich  Reveillk  Matin  1575  **•  ,  der  Thumimispruch  zr  Eiirkn 
DEK  KÖNiuiNN  VON  Englanu  ncbst  dorn  Engelländischen  Grl'88  an  die 
LiKUKN  Spanier  1588  '^  ^  und  dioBAUENFAHUT  der  spanischen  Armada  1589 '- « ; 
endlich  die  Ermaxing  an  die  Bi-ndpäpstler  '^ ^  aus  dem  selben  Jahre.  Nicht 
80  mit  Laune  und  Spott  verschmolzen  tritt  sein  Ernst  seltener  hervor,  aber 
um  80  unvcrhüllter  dann  die  ganze  Tüchtigkeit  seiner  Gesinnung,  seine  Gläubig- 
keit, seine  Vaterlandsliebe.  Beispiel  (ich  lasse  überall  die  Prosaschrif'ten  sowie 
das  Lyrische  noch  für  speeterhin  '^  bei  Seite)  eine  Anzahl  kleinerer  Gedichte 
von  lehrhafter  Art,  das  Lon  der  Laute  von  1572  ",  die  Ermahnung  an  die 
lieben  Teutschen  1573  *\  die  Anmahnung  zu  christlicher  Kinderzucht 
1578  '^,  das  Lob  der  landlust  1579  *'  und  die  in  die  Ordentliche  Be- 
schreibung., (der)  ..Bündnuss  —  der  —  Statt  Zürich  Bern  und  Strassburg 
1588  aufgenommenen  Lobsprüche  auf  diese  Städte  und  ihre  Flüsse.  '' 

Mit  alle  dem  blieb  Fischart  noch  in  der  Reihe  der  gelehrten  Dichter 
stehn,  theils  schon  dem  Stoffe,  tlieils  wenigstens  der  Vortragsweise  nach : 
das  Lob  der  Landlust  z.  B.  nimmt  seinen  Ausgang  von  der  bekannten  Epode 
des  Horaz  Beattis  ille.  Doch  wie  er  eben  nicht  bloss  gelehrt,  wie  er  auch 
deutsch  gesinnt  und  gebildet  war,  so  hat  er  mit  andern  und  wirklich  den 
werthvolleren   seiner   Schriften,    er   als   der   erste   seit   Luther,   die    Schritte, 

l'2a)  Kurz  3,  73.  12b)  hinter  einer  Prosaerzählung  vom  Untergang  der  spanischen  Ar- 
mada: Kurz  3,  353.  12c')  Kurz  3,  331.  Aus  dem  VncalviniscU  Gegen  Ba(d)diiblein, 
womit  er  eine  Hohnschritt  über  das  Unglück  der  Calvin isten  in  Frankreich  zurück- 
wies. 12d)  Kurz  3,  377:  auf  die  Ermordung  Heinrichs  iii  von  Frankreich  bezüglich. 
13)  Lehrhafte  und  Romanenprosa  §  112:  geistliche  Lieder  §  103,  33:  weltliche  Lieder 
u.  Sonette  §  104,  7.  11.  14)  Ein  Artliches  loh  der  Lauten,  vorgedruckt  der  Strassb. 
Liedersammlung  §  95,  31.  15)  LB.  2,  219.  Einleitungsgedicht  zu  den  Eikones  duodecim 
primorum  Germanice  lieroum  (die  Reime  zu  den  Koenigsbildern  selbst  von  B.  Waldis: 
§  99,  40);  nach  der  Einzelausgabe  Strassb.  1573  das  Ganze  wiederholt  als  Anhang  zu  Holtz- 
warts  Embleniatum  Tijrocinia,  Strassb.  1581  (§  99,  46),  denen  Fischart  auch  eine  Prosa- 
vorrede beigegeben.  Von  Fischart  selbst  lehniiche  kurz  abgethane  Bildererklaerungen  in 
Reimen,  zu  den  Sacrorum  Bihliorum  Fiyuroe  von  Tob.  !Stimmer,  Basel  1576 :  Kurz  2,  273  fgg. 
Ja  sogar  die  Accuratm  Effigies  Pontificum  1573  hat  er  mit  Versen  versehn:  Kurz  3,  51  fgg. 
16)  beigegeben  dem  Strassb.  Catechismus  dieses  n.  späterer  Jahre;  nach  Drucken  von  1610 
u.  1616  neu  hsggb.  von  Vilmar  zur  Lit.  Joh.  Fischarts.  Marb.  1846,  10 — 16  u.  bei  Kurz 
3,  203.  Dagegen  ist,  wie  Scherer  gezeigt  hat,  das  Gedicht  Die  Gelehrten  die  Verkehrten, 
Kurz  2,  329,  nicht  von  Fischart  verfasst.  sondern  nur  mit  Zusätzen  verötfentlicht  worden, 
wenn  er  auch  mit  dem  darin  ausgesprochenen  Freisinn  übereinstimmen  mochte.  17)  Loh 
des  LandJusts,  Mayersmut  ind  lustigen  Feldthatcmanslehen  vor  Sebizius  7  Büchern  v.  dem 
Feldbau,  Strassb.  1579;  Kurz  3,  308.         18)  Kurz  3,  331. 


§  100  FISCHART.  71 

deren  das  strebende  Volk  schon  so  ^^ele  zu  seinen  üclchrten  liinauf  gethau, 
von  dieser  Seite  aus  erwidert  und  frisch  und  liebevoll  in  die  Art  des  Volkes, 
in  dessen  Geschichten,  in  dessen  Komik,  in  die  bewegenden  Gedanken  und 
Ereignisse  von  dessen  Leben  sich  versetzt.  ^^  Ihn  mochte  hierin  das  Bei- 
spiel eines  älteren  Verwandten  und  Lehrers  bestärken,  Caspar  Scheit  von 
Worms,  der  im  J.  1551  ein  aus  Sebastian  Brant  -^  geflossenes  lateinisches 
Gedicht,  eine  ironisch  verkehrte  Anweisung  zu  guter  Sitte,  den  Grohianus 
Friedrich  Dedekinds  '^\  heiter  imd  derb  in  deutsche  Verse  gebracht  -^  und  eben- 
solche Übertragung  für  die  Prosa  vom  Eulenspiegel  (§  107,  16)  beabsichtigt 
hatte.  Den  unausgeführten  Plan  des  Verstorbenen  nahm  Fischart  über  sich: 
sein  Eulenspiegel  Beimenstveiss  ^^  (so  hat  er  gleich  von  Anfang  an  diese 
Richtung  verfolgt)  gebeert  unter  seine  frühesten  Bücher.  ^*  Selbständiger  ein 
zweites  von  1573,  die  Flcehhatz  ^^,  die  allerdings  nicht  so  rein  erzsehlend  als 
der  Eulenspiegel  und  weder  von  Lehrhaftigkeit  noch  von  Gelehrsamkeit  frei 
ist :  die  Klagen  über  die  Verfolgung  durch  die  Weiber,  die  der  Floh  an  die  Mücke 
und  bis  vor  Jupiter  bringt,  die  Verantwortung  der  Angeklagten  und  als  Ent- 

19)  Von  ihm  auch  der  Staufenberger  fiir  den  Strassbiirger  Druck  von  1588  überarbeitet 
und  in  Eeimen  bevorwortet:  §  66,  56.  20)  Narrenschiif  Cap.   72   Von  groben  narren: 

Eyn  nuicer  lieyHg  heissst  Grobian  usw.  und  110  a  Von  discJies  vnzuclit  (vgl.  §  89,  41); 
auch  iu  Murners  Schelmenzunft  Cap.  22  dieser  Grobianus  oder  herr  Grobian  und  der 
h.  Grobian  bei  Wickram:  "Wackernagel  Fischart  111  Anm.  Daneben  ein  eignes,  aber 
auch  nicht  umfangreiches  Gedicht  von  W.  S.  1538,  Grobianus  Tischzucht.  21)  zu- 
erst 1549  in  zwei  Büchern  erschienen,  1552  mit  Benutzung  Scheits  zu  dreien  erweitert. 
Dedekind  aus  Neustadt  bei  Hannover:  als  Dramatiker  §  105,  82  u.  93.  22)  Grobianus, 
Von  groben  Sitten,  vncl  vnhafliclien  geberden  —  verteutschet  durch  Casparum  Scheidt  von 
Wormbs,  Worms;  unter  der  Vorrede  1551  und  wie  am  Schluss  des  Gedichtes  Scheit  (vgl. 
Anm.  23).  Neudruck  Halle  1882.  Ueber  andere  Werke  Scheidts  s.  Wackernagel  Fischart 
106  fgg.  Titelspruch  Liss  tvol  diss  buechlin  offt  vnd  vil,  Vnd  thuo  allzeit  das  widerspil. 
Überarbeitung  Grobianus  vnd  Grobiana  —  Durch  Wendelinum  HeUbachiutn  von  MüUberg, 
auss  Thüringen,  Frankf.  1.567.  Über  spätere  s.  die  Einleitung  von  Milchsack  zum  Neudruck. 
23)  Frankf.  o.  J.  In  der  pros.  Vorrede  mein  Ueber  Herr  Vätter  vnd  Preceptor  Caspar 
Scheid  seliger  gedechtnuss  (f  1565),  so  solcJie  fürJmbende  Matery  seinem  Grobiano  gleich- 
messig  zulmndJen  befunden,  aber  von  icegen  Schulgesclieff't  vnd  ernstlicherem  studieren  dar- 
uon  abgehalten.  —  Biss  letzlich  ich  als  ein  Junger  usw.  24)  Bücherschatz  9:  „erschien 
vor  der  Fastenmesse  von  1572,  in  mindestens  drei  drucken"  Job.  Fischarts  Geistl.  Lieder  135. 
25)  Flceh  Hatz,  Weiber  Tratz  Der  wunder  vnrichtige,  vnd  sjyot wichtige  Bechtshandel  der 
Floeh  mit  den  Weibern  usw.  Strassb.  Neudruck  Halle  1877.  Schon  in  der  erweiterten 
und  stark  veränderten  Ausgabe  von  1577,  welche  Kurz  2.  1  nach  der  wesentlichgleichen  von 
1578  wiedergibt,  berichtet  die  gereimte  Vorrede,,  jedermann  wolle  das  Buch  haben,  Haus 
für  Haus  prange  es  bei  andern  Büchern,    stehe  es  gleich  neben  dem  Catechismus.     Spaetere 


72  NEUUÜCIIDEUTSCIIE  ZEIT.        XVI  JAIIKII.  §  100 

scheid  tlio  Vcrurthoilung  des  Flohes  durch  den  Fla'hkanzlcr,  den  Dichter  selbst, 
alles  das  ist  zuletzt  nur  auf  die  Standesunzufriedenheit  der  Menschen  abge- 
zielt: denn  es  wird  dem  Floh  als  Selbstüberhebung  angerechnet,  dass  er  aus 
dem  Staub  an  den  Hund,  vom  Hund  an  die  Weiber  gehe.  Aber  die  Ausfüh- 
rung mit  der  übersprudelnden  Fülle  jeglicher  Komik,  mit  den  Zügen  und  Ge- 
schichten aus  dem  Alltagsleben,  die  reichlich  eingeflochten,  mit  den  Eigen- 
namen, die  darin  sämmtlichen  Flochen  gegeben  werden,  kurz,  das  Hüpfende 
und  Bcissendc,  das  die  ganze  Dichtung  selber  hat,  ist  im  echtesten  Sinn  und 
Geschmack  des  Volkes,  -^  Der  Froschmäuseier  (§  90,  49)  ist  um  gleichen 
Iluhm  zu  verdienen  schon  viel  zu  umständlich  angelegt,  und  Entwickelung 
der  Gelehrsamkeit  ist  in  ihm  durchaus,  Komik  nirgend  die  Absicht.  Endlich 
das  Gll'Ckhafte  Schiff  2^,  mit  welchem  Fischart  ungescheut  in  einen  Gebrauch 
eintrat,  dessen  Uebung  sonst  nicht  eben  geachteten  Dichtern,  den  Pritschen- 
meistern (§  95,  38. 44)  zufiel,  die  VerhcrrUchung  eines  Bürgerfestes.  Im  Sommer 
1576,  als  man  zu  Strassburg  ein  grosses  Scliiessen  hielt,  war  eine  Anzahl 
Zürcher  von  der  Dämmerung  bis  zum  Zwielicht  Eines  Tages  die  Wasser  hinab 
dorthin  gefahren  um  den  Bürgern  der  Stadt,  deren  Beitritt  zur  Eidgenossen- 
schaft man  wünschte,  darzuthun,  wie  nah,  wenn  es  gelte,  die  Schweiz  mit 
helfenden  Waffen  ihnen  sei.  -'^  Dieses  Fest  nun  und  diess  Ereigniss,  bald 
nachdem  sie  vor  sich  gegangen,  feiert  Fischart,  allerdings  mit  Benutzung  eines 
lateinischen  und  wohl  auch  deutscher  Gedichte,  die  in  Zürich  entstanden  waren  -*^ ; 
und  in  einem  Anhang  ein  inzwischen  erschienenes  Hohngcdicht  abweisend.  -'  An 
Gelehrsamkeit  fehlt  es  auch  hier  nicht:  sie  gibt  sich  kund  in  Mythologie  und 

Ausgaben  von  1610  ab  enthalten  an  der  Spitze  noch  Das  Lob  der  Mucken  nach  Lucian 
und  mitten  eingeschaltet  Des  Flohes  Zanck  vnd  Strauss  Gegen  der  stoUzen  Lauss :  beides 
nicht  von  Fischart,  "Wackernagel  Fisch.  115.  Ein  Stück  daraus  LB.  2.  223  fgg.  26)  Ein 
Volkslied  von  den  Weibern  u.  den  Floehen  als  Anhang  der  Flcehhatz,  im  Ambraser  Liederb. 
271  u.  a.  Schon  Lindener  lääS  kennt  es:  Wackeruagel  Fischart  100  Anui.  27)  Ausgaben 
ohne  J.  u.  Ort:  neuer  Druck  durch  Hallixg  mit  einem  einleitenden  Beitrage  v.  Uhland : 
Job.  Fischart's,  genannt  Mentzer,  Glückhaftes  Schiff  v.  Zürich.  Tübingen  1828.  Darnach  der 
Beginn  und  Schluss  im  LB.  2,  239.  Nachbildung  des  Originals  Sirassburg  1884.  Zinc- 
grefs  Urtheil  Anm.  1.  28)  Gleiches  war  schon  im  J.  1456  unternommen  worden:  diess- 
mal  brachten  die  Zürcher  als  Wahrzeichen  einen  Hirsebrei  noch  warm  nach  Strassburg. 
Zu  vgl.  Über  die  Reise  d.  Zürcher  Breytoptes  nach  Strassburg  (v.  King),  ßaireuth  1787,  und 
Der  warme  Hirsebrei  auf  d.  Freischiesseu  zu  Strassburg  v.  Maurer,  Zürich  1792;  Bsechtold 
in  den  Mittheil,  der  Antiquar.  Gesellschaft  in  Zürich  1880.  28a)  s.  Baeehtolds  Nach- 
weis. Das  lat.  die  Argo  Tigurimi  von  Eod,  Gualtherus.  29)  Notwendiger  Kehrab  Auf 
aines  VngeluebeUen  Neidigen  Scluindtichters  viuttciUiges  vnd  Ehrrüriges  Spottgedicht  Kurz 


§  100  KOMISCHE  EPIK.  73 

gar  Etymologie  (§  94,  42);  und  auch  hier  nicht  an  lolirhaftcr  Absicht:  aber 
sie  ist  zu  Einem  Gedanken  gesammelt  und  erhoben,  und  nicht  neben  der  Er- 
zajhlimg,  sondern  in  ihr,  sie  beseelend  und  gestaltend,  liegt  die  Idee,  wie  Be- 
harrlichkeit auch  das  scheinbar  unmoegliche  mcßglich  mache.  Der  Lohn  solches 
Aufschwunges  über  all  die  Andern  ist  da,  wo  die  Erzsehlung  über  die  blosse 
Aufzsehlmig  hinaus,  und  namentlich,  wo  sie  in  Schilderung  übergehen  kann, 
eine  lebensfrische  Kraft  der  Anschaulichkeit,  wie  sie  auch  den  Anderen  fremd, 
und  mehr  als  ein  Griff  so  nah  an  die  Meisterschaft,  als  jetzt  nur  irgend  schon 
gestattet  war. 

Der  Eulenspiegel  und  die  Flcehhatz  haben  auf  die  Mitlebendcn  und  noch 
auf  das  nsechste  Geschlecht  schon  deshalb  fortwirken  müssen,  weil  beide  Ge- 
dichte in  Stimmungen  einklangen,  die  bereits  vorhanden  waren,  und  sie  deren 
Ton  nur  hier  verstärkten,  dort  verfeinerten:  denn  auch,  wodurch  die  Flceh- 
hatz uns  befremden  mag,  diese  scherzende  und  spottende  Handhabung  der 
Thierwelt,  diess  wichtig  machende,  fast  veredelnde  Ergreifen  des  Geringen, 
ja  des  Widerwärtigen,  auch  das  stand  damals  gleich  den  Eulenspiegeleien 
und  zuletzt  aus  dem  gleichen  Grund  als  sie  nicht  allein  bei  dem  Yolke,  sondern 
um  der  Beispiele  willen,  welche  bereits  die  antike  Litteratur  und  jetzt  das 
Ausland  boten,  auch  bei  den  Gelehrten  wohl  in  Gunst.  ^^  Schon  im  J.  1560, 
eh  Fischart  den  Eulenspiegel  reimte,  hatte  Achilles  Jason  Widman  von  Hall 
in  Schwaben  die  Schalks-  und  Tölpelstreiche  eines  älteren  Stadtkindes,  Peter 
Leu,  zwar  in  der  Absicht  des  Ergötzens  (er  hob  mit  dem  Wort  an  Insipiens 
esto),  aber  mit  zu  grosser  Unbehilflichkeit  gedichtet  um  selbst  auch  witzig 
zu  sein  ^^:  nun  hinter  Fischart  kamen  mit  erhoehtem  Geschick  der  komischen 

2,  215  {gg.;  der  Schnmchspruch  selbst  213  igg.  30)  Vgl.  §  112,  8.  Fischart  spricht 
davon  selbst  am  Schlüsse  seiner  Dichtung  mit  Ausführlichkeit:  z.  B.  Wer  sieht  nicht  ivas 
für  selzam  streit  Vnsre  Frifmaler  malen  heut,  Da  sie  füren  zu  Feld  die  Katzen  Wider 
die  Hund,  Maus  vnd  die  Satzeit.  Wer  hat  die  Hasen  nicht  gesehen  Wie  Jceger  sie  am  Spiss 
vmtreJien.  Oder  ivie  wunderbar  die  Affen  Des  Buttenkrcemers  Kram  begaffen.  Vnd  andre 
Prillen  vtid  sonst  grillen  Damit  heut  fast  das  Land  erfüllen  Die  Prifmaler  vnd  Patronirer 
Die  Laspriftrager  vnd  Hausirer.  Im  J.  161'J  zu  Hanover  durch  Dornavius  ein  ganzes 
Sammelwerk  der  Art  herausgegeben,  Amphitheatrum  Sapientice  Socraticee  joco-serice  h.  e. 
encomia  et  commentationes  —  quibus  res  aut  pro  vilibus  aui  daintiosis  Imbitce  exornantur  : 
darin  auch  die  Flcehhatz  und  nebst  noch  anderen  deutschen  Büchern  das  von  des  Esels  Adel 
und  der  Sau  Triumph  §  107,  25.  31)  Zuerst  Frankfurt  o.  J.  (1557 — 59)  gedruckt,  neue 
Ausgabe  von  Schade  Weim.  Jb.  1S57.  Als  Todesjahr  Peter  Leus  gibt  der  Schluss  des  Ge- 
dichtes das  J.  149t)  und  eben  dieser  im  Acrostichon  den  Namen  des  Verfassers.  Auf  dem 
Titel  wird  P.  L.  als   der   ander  Kalenberger   bezeichnet,  in   zwei  Ausgaben   auch   mit  dem 


74  NEUIIOCIIDEUTSCJIIE  ZEIT.        XVI  JAilUlI.  §  100 

Erz.Thlung  Axorkas  Scikknwaldt,  der  eine  Erncuorun«;  der  alten  Legende 
vom  heil.  Christophorus  in  deutsche  Reime  brachte,  welche  mit  schwankhaf'ter 
Derbheit  begann  und  immer  aufwärts  steigend  mit  der  ernsten  Bedeutsamkeit 
des  Humors  endigt^-,  und  1618  Lazarus  Handrub,  der  seinem  jugendlichen 
Muthwillen  (er  war  noch  Student)  in  einer  Reihe  muntrer  Geschichten  Luft 
machte,  der  Gewohnheit  aber  moralischer  Nutzanwendungen  jedesmal  nur  in 
prosaischen  Zusatzworten,  nur  wie  zum  Spotte  Rechnmig  trug  ^•';  es  kam  auch, 
wie  der  Eulenspiegel  aus  Prosa  in  die  Reimform  übertragen  und  deshalb  am 
füglichsten  liier  mit  einzureihen,  im  J.  1588  die  Ge.sciiichtk  von  Dr.  Johann 
Fai'sten.  ^*  Der  Flcehhatz  aber  schloss  sich  in  Stoff  und  Sinn  einmal  der 
MücKENKRiKG  an,  ein  Krieg  der  Mücken  und  der  Ameisen,  mit  Aufgebimg 
des  macaronischen  Sprachengemisches  nachgedichtet  der  Moschea  Folengos 
von  Hans  Christoph  Fuchs  im  J.  1580  ^^;  dann,  dem  Beispiele  besser  und  ver- 
wandtschaftlicher folgend,  im  J.  1607  der  Gauss  K(enig  von  Wolfhart 
Si'ANGEXBERG  ^•',  Etil  K^irtzwcijUg  Gedicht^  von  der  Martins  Gauss:    Wie  sie 

Kalenberger  d.  Frankfui-ters  zusammengedruckt:  vgl.  §  66,  6.  Ueber  d.  Dichter,  dessen  wirkl. 
Vorname  Georg  war,  s.  auch  Schnorrs  Arch.  11,  318.  32)  Vom  Lehen,  Raisen,  Wanderschafften 
tmd  Zustand  des  grossen  S.  Christoffels,  1591;  ncugedr.  in  Deutsche  Dichtungen  v.  Nicodemus 
l'rischlin,  Stuttg.  L.  V.  1857.  N.  Frischlin,  auf  d.  Titel  als  Verf.  genannt,  kann  nurUeberarbeiter 
sein:  s.  Nebel,  Anz.  des  germ.  Mus.  1861,  348  fgg.  388  fgg.  33)  Delitice  Historicce  et 
Poeticce,  d.i.  Historische  rnd  Poetische  Ki(rtzweil.  Darinnen  allerhand  kitrtztceilige,  lustige 
vnd  artige  Historien,  scha:ne  anmutige  Poetische  Gedicht,  hcefjUche  Bossen  vnd  Schicenekc 
zu  Vertreibung  die  Maulliencliöley,  zur  erfrischung  dess  Geblüts  in  der  Aderlass  (vgl.  LB. 
3,  1,  441  u.  §  22,  3),  zu  erlustigung  dess  langiceiligcn  Bürschleins  (Gesellschaft  junger 
Leute)  heg  den  Collazen  vnd  Zechen,  dienende,  Beymenweise  verfasset  vnd  begriffen  seyn. 
—  Durch  iMzarum  Sandruh  (ein  westfielisch  klingender  Xame\  Philosophiee  et  TJieologice 
Studiosum,  der  l'oeterey  besondern  Liebhabern,  Frankf.  1618.  Neudruck  Halle  1878.  Vgl, 
§  107,  52.  34)  Nach  dem  Tübinger  Drucke  v.  1588  wederholt  in  Scheibles  Kloster  11, 
Stuttg.  1849,  1—211.  Die  Prosa  v.  1587  §  107,  14.  35)  §  102,  9.  Dieser  Name  erst 
so  vollständig  angegeben  in  dem  durch  Balthasar  Schnurr  besorgten  Strassburger  Drucke 
v.  1612:  in  den  früheren  (Schmalkalden  1.580,  Muckenthal  bei  AmeissJioffen  IGOO)  nur  unter 
der  gereimten  V'orrede  H.  C.  F.  Vgl.  über  das  Gedicht  die  Geschichte  d.  Macaron.  Poesie 
v.  Genthe  124  fgg. ;  eine  neue  Ausg.  von  demselben  Eisleb.  1833.  Von  jenem  Balthasar 
Schnurr  auch  Dramen,  Pseudoxtratiota  u.  Triumphus  CJiristi,  beide  1607:  Gottscheds  Vor- 
rath  z.  Gesch.  d.  d.  Dram.  Dichtk.  1,  163.  36)  durch  Lycostlienem  Psellionoros  Andro- 
pediacum  (Scherz  wie  Fischarts  EUoposcleros  oder  Pedanterei?),  Strassb.  1607.  Ueber  des 
Dichters  Lebensumstände  s.  Bossert  in  Schnorrs  Archiv  11,  319  und  Scherer  Strassb.  Stud. 
1,  374  fgg.  Um  1570  geb.  kam  er  1577  mit  seinem  Vater  Cyriacus  nach  Strassburg,  ward 
1591  zu  Tübingen  Magister,  lebte  z.  Str.  als  Corrector,  seit  1611  als  Pfarrer  zu  Buchenbach  in 
Franken,  u.  zwar  noch  1637.     Er  hat  noch  mehr  der  Art  geschrieben:  in  der  Vorred  heisst 


§  101  KOMISCHE  EPIK.  75 

zum  Krßnifj  erwehlet,  resigniret,  jhr  Testament  gemacht,  begraben,  in  Himmel 
vnd  an  das  Gestirn  kommen:  auch  was  jhr  für  ein  Lobspruch  vnd  lehr-Sermon 
gehalten  worden :  nicht  ohne  CTclolirsamkeit  aus  Geschichte  und  Naturgeschichte, 
satirisch  in  mannigfachen  Bezügen  auf  Staat  und  Kirche,  aber  volksmaessig 
harmlos  in  dem  Griff  den  LiebUngsvogel  der  deutschen  Gesellschaftslust  (§  104,  6) 
80  zu  dichterischen  und  durch  die  Erfindung  zu  koeniglichen,  ja  überirdischen 
Ehren  zu  erheben.  Ebenso  ironisch  gegen  die  katholischen  Legenden  feiern 
des  Dichters  Axbind-  oder  Fang  Brieffe  1611  eine  Anzahl  von  Namens- 
tagen. Es  ist  derselbe  Spangenberg,  der  auch  für  die  Bemühungen  der 
Meistersinger  ein  Herz  gehabt  hat  ^^ ;  in  die  Spuren  Fischarts  führte  ihn,  der 
zu  Mansfeld  geboren,  schon  sein  Aufenthaltsort  Strassburg. 

§  101. 
Wsehrend  mit  solchen  Gedichten  Fischart  und  die  Seinen  auf  eine  Epik 
mehr  in  Weise  des  Yolks  eingiengen,  auf  Erzsehlung,  welche  reiner  oder  ganz 
gereinigt  war  von  stoerender  Zweckhaftigkeit,  ward  dem  sehnlich  auch  eine 
voLKSM,EssiGE  DiDACTiK  uuu  vou  Gelehrten  geübt.  Die  Lehre  des  Volkes  ist 
das  Sprichwort  ;  auf  dessen  Grunde,  durch  Reimung,  durch  Nachbildung,  hatte 
sich  zumal  seit  Freidank  schon  im  Mittelalter  der  Spruch  entwickelt  (§  79, 

es  Weil  aber  rnder  andern,  auff  ein  zeit,  zier  Kurtziceil,  mir  durch  die  Phantasia  eingehen 
ward  zu  betrachten :  die  wunderbare  Art  der  Creaturen :  da  etliche  mit  sonderbahrer  Einig- 
keit, andere  hergegen  mit  vnversünlicJier  Zweytracht  vnd  tviederwertigkeit  mit  vnd  gegen 
einander  leben:  fieng  ich  an  zubeschreiben  die  Vrsach,  icarumb  die  Katzen  vnd  Mäuse  so 
feindtselig  wider  einander  seyen,  vnd  was  sie  für  schwere  Krieg  gegen  einander  geführet. 
Balt  gab  dieselbig  Materi  mir  anleitung,  aller  Thiere  Regiment  vnd  Kcenigreich  zubeschreiben  : 
vnd  befand  sich,  dass  in  denselben  auch  viel  änderung  vnnd  Zivytracht  sich  zugetragen :  daher 
die  Vierfüssigen  Thier  jren  Löwen  absetzten  vnd  den  Esel  zum  Kattiig  envehleten:  die 
Fisch  gleichfalls  den  Stockfisch,  dem  Delphiti :  das  Gew  ürm  den  Frosch  dem  Basilisken 
vorsetzten  vnd  fürzogen.  Wirklich  ist  nach  einem  Entwürfe  Spangenbergs  der  prosaische 
Eselkcenig  §  107,  25  verfasst  worden.  Dramen  von  ihm,  übersetzte  und  eigene,  §  10.5,  11  fgg. 
144.  Anch  von  .J.  A.  (Job.  Agricola?  §  111,  6)  ein  Scherzgedicht  die  BurckJutrts  vnd 
Martini  Gans:  veröffentl.  v.  Goedeke  imWeimar.  Jb.  VI,  35  fgg.;  durch  Johanne  m  Ol  or  in  um 
Variscum  (d,  i.  Job.  Sommer  §  101,  1.3),  aber  in  Prosa,  eine  Martins  Ganss,  Von  der 
Wunde rbarlicJien  Geburt,  Iceblichen  Leben,  vielfältigen  Gut  vnd  Wohlthaten.  Vnd  v.  d. 
vnschüldigen  Marter  vnd  Pein  der  Gänse  —  Allen  Mertensbrüdern  zu  Erlustigung  icoU 
nieinendt  geschrieben,  Magdeb.  1609.  37)  §  97,  29.  Im  J.  1598  schrieb  Wolfharts  Vater 
M.  Cyriac  Spangenberg  zu  Ehren  der  Meistersinger  in  Strassburg  ein  Buch  über  den  Meister- 
gesang Von  der  —  Kunst  der  Musica;  herausg.  Stuttg.  Lit.  Ver.  1861.  Durch  "VVolfhart 
Sp.  aber,  Lycostlienem  Psellionoros  Andropediacum,  ist  das  Lob  des  Meistergesanges  in  ein 
Drama,  die  Singschul  (Nürnb.  o.  J.),  gebracht  worden:  §  105,  144, 


76  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XVI  JAHJiH.  §  lül 

34  fgg.  81,  35  fgg.),  und  der  Freidank,  der  Cato,  der  Facctus,  der  Renner 
waren  immer  noch  vielgelesene,  gern  benutzte  Bücher  (§  02,  5.  09,  53):  so  ward 
denn  auch  bis  in  den  Beginn  des  siebzelmten  Jalirhunderts  eifrig  mit  Dich- 
tung immer  neuer  Sprüche  auf  eben  demselben  Grunde  fortgebaut  und  hie  ujid 
da  bald  ein  einzelner  auf  einen  Buchdeckel  oder  in  ein  Stammbuch  '  oder 
sonst  -  verloren  hingeschrieben,  bald,  damit  der  Sittlichkeit  und  der  Weis- 
heit und  der  Weltklugheit  eine  reichere  Quelle  des  Rathes  und  der  Abmah- 
nungen flösse,  ihrer  gleich  eine  Sammlung  angelegt,  handschriftlich  ^  oder  im 
Druck,  von  Benannten  wie  von  Unbenanuten.  ^  Jener  Art  die  Bücher  von 
JouANX  BrcüLER  1602,  Friedrich  Petri  1005,  Burghart  Gensschedel  1619, 
Julius  Wilhelm  Zincgref  1623,  Christoimi  Lehman  1630  ^;  dazu  das  älteste 
unter  allen,  mit  gelehrter  Übertragung  ms  Lateinische,  das  von  Heinrich  Bebel 
1508.  ^  Und  nach  wie  vor  gab  man  den  Sprüchen  gern  die  spannende  Form 
der  Priamel  '  und  flocht,  schärfend  und  schmückend  zugleich,  die  Priamel  wie 
den  gewoclmlichen  Spruch  gern  auch  in  länger  ausgedehnte  Lehrdichtungen  ein.  * 
Auf  das  zeitgemajsseste  aber  und  das  hoechste  Gebiet  der  Lehre,  das  religioese, 

§  101.  1)  Anm.  12.  Über  den  Gebrauch  der  Stammbücher  Heinr.  Hoffmanns  Spenden 
z.  deutschen  Litteraturgesch.  1,  Leipz.  1844,  27  fg.  2)  öfter  auf  Trinkgetässe;  auf  einen 
Brustpanzer:  Ambraser  Liederb.  142.  3)  Weimarer  Handschrift  v.  1537  (niederländ.  u. 
hochd.):  Hoffmann  in  seinem  u.  Schades  Weimarischem  Jahrbuch  1854,  129  fgg.;  Breslauer 
von  etwa  l(iU3  auf  der  Rhedigerschen  Bibliothek:  aus  dieser  die  Sprüche  LB.  2,  331.  An 
beiden  Orten  die  Sprüche  je  einem  voranstehenden  Liede  beigefügt:  auf  gleiche  Art  einzelne 
in  dem  Anibraser  Liederbuch  (§  95,  23)  u.  auf  fliegenden  Liederbogen.  4)  Loci  communes 
proverbidles  de  moribus,  carminibus  antiquis  conscripti  cum  interpretatione  Germanica, 
Basil.  1572.  Mit  Benutzung  derselben  Sammlung,  die  auch  für  Bebel  Anm.  6  Grundlage 
war:  Aufsess  Anzeiger  f.  Kunde  d.  deutschen  Vorzeit  1854,  269.  lieber  eine  niederdeutsche 
Sammlung  Ein  schccn  rimbakelin  o.  0.  u.  J.  (.Lübeck  von  154:8),  wiedergedruckt  als  Werldt- 
spröke  Hamborch  1574;  s.  Goedeke  Grundriss  113.  5)  Buchler,  Petri,  Gensschedel,  Lehman: 
Nachweisungen  und  Auszüge  in  Hoflmanns  Spenden  1,  LB.  2,  332  fgg.:  die  Reimsprüche  Zinc- 
grefs  (§  104,  13)  bei  seiner  Emblematum  ethico-politicorum  centuria,  Frankf.  1623.  In  den 
Sammlungen  von  Petri  u.  Lehmau  auch  Prosasprüehe :  §  111,  9  fg.  6)  §  94,  13.  Pro- 
verbia  germanica  coUecta  atque  in  latinum  truductu,  Strassb.  1508.  Neue  Ausgabe  von 
Suringar,  Leiden  1879.  Hauptgrundlage  eine  ältere  lateinisch-niederländische  Sammlung,  die 
Proverbia  communia,  neu  herausg.  in  Hoffmanns  Horcc  belgicm  9  (1854).  Ungefaehr  gleich- 
zeitig mit  Bebel,  lat.  u.  deutsch,  die  Protterbia  metrica  et  vulgariter  rytmisata  M.  Johannis 
Fabri  de  icerdea :  Hoffmann  im  AVeimarischen  Jahrb.  2,  1855,  183.  7)  Beispiel  LB.  3, 
1,  463.  Die  Priamelhandschriften  zu  Wolfenbüttel  u.  Stuttgart  §  81,  40  erst  im  16  Jh. 
aufgezeichnet:  letztere  Sammlung  in  abweichendem  Texte  (50  Sprüche)  auch  um  1550  ge- 
druckt: Die  hoeßUchen  Weydsprüch,  inn  Heimen  gcsteJt,  Bücherschatz  d.  Deutschen  National- 
Litt.,  Berl.  1854,  104.     Gleichzeitig  eine  andre  von  130  Sprüchen:  ebd.  105.        8)  §  99,  53. 


§  101  SPRUCH-  UND  RyETHSELDICHTUNG.  77 

das  evangoHsch-cliristliche,  suchte  den  Spruch  schon  Luther,  indem  er  bib- 
lische Grabreime  empfahl  und  deren  selbst  einige  Muster  gab  ^,  und  suchte  ihn 
wieder  Andrk.e  zu  versetzen:  dessen  Geistliche  Kurtziveil  von  1019  enthält 
ausser  Liedern  auch  der  Art  Reimsprüche,  den  in  Witz  gewandten  Ausdruck 
tiefer  und  ernster  Innigkeit  des  Glaubens  und  der  Liebe.  ^^ 

Ausser  den  Sitten-  imd  Glaubenssprüchen  fanden  zu  Ende  dieses  Zeit- 
abschnittes noch  zwei  Nebenarten  der  Spruchdichtung  Aufnahme  in  die  hoehere, 
die  gedruckte  Litteratur  und  Pflege  durch  gelehrte  Hände,  der  Leberreim  und 
das  Reethsel.  \Yas  den  Gebrauch  der  Leberreime  zuerst  veranlasst  und  was 
derselbe  ausser  der  geselligen  Reimübung  ursprünglich  noch  weiter  bedeutet 
habe,  möchte  jetzo  schwer  zu  ermitteln  sein  ^  ^ :  die  frühesten  Aufzeichnungen, 
ein  Wort  von  der  Leber  des  Hechtes  und  darauf  gereimt  ein  allgemeiner 
Erfahrungs-  oder  Lehi-satz,  gehceren  in  den  Anfang  des  siebzehnten  Jahrhunderts  ^- 
und  in  eben  diese  Zeit,  das  J.  1605,  die  erste  gedruckte  Sammlung  solcher, 
von  Huldrich  Therander  oder,  wie  der  Mann,  ein  Pfarrer  bei  Magdeburg, 
eigentlich  geheissen,  Johaxx  Sommer.  '^  Raethsel  (Anm.  8),  diese  der  Priamel 
zunächst  verwandte  Spruchart  (§  81,  41),  hatte  man  schon  hundert  Jahre 
früher  gesammelt  und  gedruckt  '*,  da  aber  nur  noch  zu  Kutzen  des  gemeinen 
Mannes,  und  meist  hatten  sie  damals  gleich  dem  Sprichworte  noch  die  Prosa- 
form (§  77,  5):  jetzt,  ermuthigt  durch  die  Aufmerksamkeit,  die  den  Ra^th- 
seln  des  Alterthumes   gewidmet  ward  ^^,    nahm   sich  ihrer   auch   die  Gelehr- 


Die  Priamel  LB.  1,  1385,  8,  die  sich  in  derselben  kürzeren  Fassung  noch  bei  Abraham  a 
SClara  findet.  Passauer  Ausg.  ö,  323,  von  Waldis  im  Esop  4,  93  zu  104  Zeilen  ausgedehnt. 
Auch  in  den  Waidsprüchen  §  96,  3  Priameln  wie  Kaethsel.  9)  Denn  reyme  oder  vers, 
machen  gute  sententz  oder  Sprichwort,  die  man  lieber  braucht,  denn  sonst  schlechte  rede 
Vorrede  zu  den  Begrsebnissgesängen  1542:  das  Deutsche  Kirchenlied  von  Phil.  AVackernagel 
803.  Vgl.  Köstlin  2,  517  fg.  10)  LB.  2,  343:  vgl.  §  99,  64.  11)  Oswald  v.  Wolken- 
stein 15,  2  spricht  unverständlich  von  der  steinernen  Leber  eines  Hechtes,  der  gnt  für  Un- 
glück sei.  Beziehung  auf  die  heilsame  Fischleber  in  der  Geschichte  des  Tobias?  12)  Stamm- 
buchsprüche und  Leberreime  aus  dem  ßeisetagebuch  eines  Schlesischen  Edelmannes  :  Hoifmauns 
Monatschrift  von  u.  für  Schlesien  1829,  231  fg.  LB.  2,  335.  13)  Ilepatologia  Hiero- 
glyphica  rhythmica,  Magdeb.  1605:  Hoffmanns  Monatschr.  IGO.  232  fg.  Seine  andren 
Schriftstellernamcn  Johannes  Sommerus  Cycnaeus  (d.  h.  aus  Zwickau)  §  105.  137  u.  Johannes 
Olorinus  Variscus  §  KX),  36.  106,  15.  HO,  29.  111,  11.  14)  Auszüge  aus  einer  Augs- 
burgischen Sammlung  jener  Zeit  in  Haupts  Zeitschr.  für  Deutsches  Alterthum  3,  27  fgg. 
Der  älteste  Druck  Strassburg  um  1505,  abgedruckt  von  Butsch  Str.  1876.  Andre  spätre 
Sammlungen  u.  Drucke  im  Bücherschatz  d.  Deutschen  National-Litt.  126  u.  in  Hoffmanns 
n.  Schades  Weim.  Jahrb.  2,  233.         15)  Job.  Reusners  .Enigmatugraphia,  Frankf.  1599  u.  a. 


78  NEUIIOCIIDEUTSCHE  ZEIT.         XVI  JAIIRIL  §  102 

Siimkoit  uiul  nahm  sich  derselbe  Oclchrtc  wie  der  Leberroime  auch  ihrer 
an:  Theraiidera  JEniymatoyraphia^  obschon  sie  der  Emplehluiig  bei  den 
Zünftigen  wegen  vorgiebt  aus  Lateinischen  (Quellen  geschöpft  zu  sein  '*,  tragt 
Deutsche  Kiethsel  zusammen  oder  wo  das  nicht,  bildet  sie  doch  deren  Haltung 
nach;  nur  sind  auch  jene  in  Vers  und  Reim  gesetzt,  und  neben  dem  Begriffs- 
rajthsel,  das  allein  dem  Volke  bekannt  gewesen,  macht  sich  bereits  das  ge- 
lehrtere Buchstabenrtethsel  geltend  '^;  die  Rajthselart  aber,  die  man  Fuacjen 
hiess,  die  als  Loesung  nicht  ein  unbekanntes  Subject  zu  gegebenen  Praedicaten, 
sondern  mit  neckendem  Witze  sonst  eine  Ergänzung  und  Erklajrung  und  eine 
so  nah  gelegne  forderten,  dass  der  Befragte  sie  eben  deshalb  schwerlich  fand, 
diese  gar  zu  volksmajssigen  und  unautiken  Scherze  liess  Therandor  unbenutzt 
bei  Seite:  heitre  Gesellscliaft  hat  sie  noch  lange  und  noch  bis  heut  benutzt.  '* 

§  102. 
Die  Vervollständigung  des  Bildes  der  gelehrten,  der  volksmfcssig  gelehrten 
Epik  und  Didacdk  verlangt,  dass  endlich  noch  einiger  llervorbringungen 
Erwähnung  geschehe,  die  dem  Sinn  und  Gehalte  nach  theils  zur  Spruchdich- 
tung,  theils  in  die  Nachfolge  der  Floehhatz  gehocren,  mit  ihrer  Form  aber 
einen  so  eigen thümlichen  Weg  einschlagen,  dass  hier  die  Undeutschheit  der 
Gelehrten  auf  das  Ausserste  getrieben  und  muthwiUig  sich  selber  zum  Ge- 
spötte  wird.  Der  im  Mittelalter  begonnene  und  nach  dem  Mittelalter  noch 
fortdauernde  Gebrauch  Hexameter  aus  lateinischen  und  deutschen  Worten  zu 
mischen  und  so  die  Last  des  Fremden  durch  Thcilung  gleichsam  zu  erleich- 
tern *  hatte  schon  um  das  J.  1500  zu  dem  weiteren  Spiele  geführt,  dass  man 
auch  den  deutschen  Worten  solches  Sprachgemenges  lateinische  Schlusssylben 
gab.  "     Aber  erst,   da  auch  hier  ein  Anstoss  vom  Auslande   kam,    ward   den 

16)  j^nigmatographia  rythmica.  Ein  iietvs  kiinstreiclies  Reetzelbuch  auss  den  herümhtesten 
rnnd  vortrefflichsten  Alten  vnd  Newen  Lateinischen  Scrihenten  mit  fleiss  zusam  gezogen, 
0.  J.  u.  0.  (Magdeb.  1600?):  vgl.  Hoffmanns  Monatschr.  160  fgg.  LB.  2,  336.  17)  Der- 
gleichen auch  hin  und  wieder  in  den  Spruehsammlungen,  so  der  von  Petri:  LB.  2,  338; 
dies  Rätsel  war  übrigens  schon  Luther  bekannt:  Köstliu  2,  5IH.  18)  Beispiele  und  Zeug- 
niss  aus  Paul  Fleming  in  Haupts  Zeitschr.  3,  27.  Nach  Schuppius  2,  228  fg.  waren  solche 
Fragen  auch  eine  der  bei  Depositionen  üblichen  Quälereien.  V"gl.  Schade  Weini.  Jahrb. 
1857  (S.  119  des  SA.). 

§  102.  Zu  diesem  Paragraphen  vgl.  Genthes  Gesch.  d.  Macaron.  Poesie,  Leipz.  1829. 
8ehade,  Fercula  micaronica  I.  II:  Weim.  .Jahrb.  1855.  56.  1)  §  48,  66  fg.  Geschichte 
d.  deutschen  Hexam.  u.  Pentameters  (auch  in  Wackernagels  Klein.  Schritten  II)  12  fgg.  31  fgg. 
2)  In  dem  Augsb.  Rtethseibuche  §  101,  14  Bl.  c  iij  vw.  Ein  frag,  welchs  das  best  an  den 
fischen  zuo  essen  sey.     Ant.  Sahiieus  in   federis   rujns  hechtilisqiie  in  leberis.     Carpeus  in 


§  102  MACARONISCIIE  POESIE.  79 

Deutschen  das  doch  selbstgefundne  Spiel  geläufiger:  er  kam,  seit  im  zweiten 
Jahrzeheud  des  Jahrhunderts  durch  ebensolche  Latinisierung  des  Itaiisenischen 
Teofilo  Folengo  die  s.  g.  maciirouische  Poesie  hingestellt  und  ihm  alsbald 
in  Frankreich  und  auf  Franzoesisch  Axtoxius  i>e  Arena  nachgedichtet  hatte. 
Nun  auch  häufiger  geübt  macaronische  Poesie  in  Deutschland:  im  J.  154G  ein 
kurzes  Schmahgedicht  auf  die  Verbündeten  von  Schmalkalden  ^ ;  bald  darauf 
in  komischen  Bcschwa;rungsformeln  bei  IL  Sachs  ^  *  ;  von  Fisciiart,  dem 
Folengos  Verse  bekannt  waren  ■*,  demselben  Fischart,  der  auch  versucht  hat 
ganz  auf  Deutsch  Hexameter  zu  machen  (§  94,  31),  zahlreiche  der  Art 
lateinisch-deutsche  Hexameter  in  seinem  Roman  Gargantua,  meist  arzneiliche 
Denksprüche,  der  Scliola  Salernitana  entnommen  und  wie  zur  Übersetzung  so 
verkehrt  ^ ;  von  einem  Ungenannten,  einem  Hamburger,  und  mehr  nieder-  als 
hochdeutsch,  das  macaronische  Gegenbild  der  Floehhatz,  die  1593  zuerst  ge- 
druckte Floia^',  kaum  viel  jünger  und  übermüthig  in  anderer  Weise,  in  ele- 
gischem Mass  ein  Abbild  des  Studentenlebens,  die  Delineatio  summoru7n  capitum 
lustitudinis  studenticce  ^;  und  so  vielleicht  noch  diess  und  jenes.  Recht 
häufig  und  geläufig  aber  und  so  wie  in  Italien  und  Frankreich  ist  diese  Misch- 
poesie doch  nie  bei  uns  geworden  ^ :  Andren  als  Fischart,  Alteren  als  Stu- 
denten mochte  sie  doch  meist  wie  eine  Lästerung  der  heifigen  Gelehrsamkeit 
erscheinen :  dass  sie  vor  allem  geschmacklos  und  eine  Entstellung  ebenso  wohl 
der  Muttersprache  war,  daran  stiess  man  sich  schwerlich.  Schon  1580  über- 
trug  Hans   Christoph   Fuchs    die   Moschea   Folengos    in    lediglich    deutsche 


zünglis  iss  alius  im  mittel  drommis.  Stocicfisch  in  blasijs  Tcrepsius  in  schwantzis  harha 
meülein  lecJcerbiss.  Denselben  Sprach,  nur  etwas  erweitert,  giebt  aus  einem  gleichzeitigen 
Bücherverzeichnisse  des  Klosters  Tegernsee  Schmeller  in  Naumanns  Serapeum  1841,  283. 
3)  Boehmer  in  Haupts  Zeitschrift  f.  Deutsches  Alterth.  6,  538.  An  dies  Gedicht  anschliessend 
ein  anderes  von  1548:  Schnorrs  Archiv  10,  485.  3a)  Schade  a.  a.  0.  4)  Gargantua 
Cp.  1  Merlin  Coccai  inn  seinen  Nuttelverssen.  Merlinus  Cocains  der  Dichtername  Folengos. 
5)  Gesch.  d.  d.  Hexam.  26  fg.  LB.  2,  235.  6)  Diese  erste  Ausg.  nachgewiesen  von 
Lessing  (CoUectaneen  2,  102):  der  Titel  derselben  Floia,  cortum  versicale,  de  flois  schivartibus, 
Ulis  deiriculis,  quce  omnes  fere  Minschos^  Nonnas,  Weibras,  Jungfras  etc.  behuppere,  et 
spitzibus  suis  schnaflis  steckere  et  bitere  solent;  autore  GripluAdo  KnickJcnackio  ex  Floilandia  ; 
neuer  Abdruck  bei  Genthe  333—838;  nach  einer  Ausg.  von  1689  bei  Schade.  Vgl.  auch 
Germ.  28,  117.  7)  Es  soll  noch  ältere  Drucke  als  den  von  1627  geben:  Gesch.  d.  d. 
Hexam.  36;  nach  einem  jüngeren  bei  Genthe  323—332.  8)  Der  vermuthlich  Deutsche, 
der  in  Lateinisch-Italienischem  Admirabiles  conclusioties  de  Casei  stupendis  laudibus  ge- 
dichtet hat  (Genthe  172),  wird  eben  auch  in  Italien  gelebt  haben,  wie  der  Aargauer  Janus 
C^ciLius  Frev,  Verfasser  des  liecitus  veritalnlis  super   terribili  Esmeuta  l^aysauorum  de 


80  NEUIIOCJ [DEUTSCHE  ZEIT.        XVI  JAIIIUl.  §  103 

Reime  '■',  und  das  sieb/olinto  Jalirli lindert  sah  theils  in  Erinnerungen  von  frülier 
her,  die  schon  zu  Bruchstücken  geworden  '",  theils  hie  und  da  noch  in  einzehien 
neuen,  sonst  nicht  unebnen  Versuchen  "  die  ganze  so  gelehrte  als  widerge- 
lehrte Spielerei  erlöschen. 

§  103. 
Wir  wenden  uns  von  der  Epik  und  Didactik  zu  der  Lyrik  der  (»e- 
lelirteii.  Hier  lallt  der  Menge,  dem  Gehalte,  der  Bedeutung  für  alle  Zeiten  nach 
das  Hauptgewicht  auf  den  geistlichen  Theil,  das  Kirchenlied.  Und  dabei 
kann  fast  nur  die  evangelische  Kirche  noch  in  rechten  Betracht  kommen. 
Die  KATHOLISCHE,  mit  so  schccnem  Eifer  da  auch  gerad  am  Endo  des  Mittel- 
alters (§  76,  42  fgg.)  für  den  deutschen  Gesang  der  Gemeinde  war  gearbeitet 
worden  (noch  um  das  J.  1500  machte  sich  in  solcher  Art  Johannes  Boschex- 
STEix  namhaft  '),  sobald  die  Keformation  kam,  trat  sie  erschrocken  wiederum 
zurück:  mit  seltnen  Ausnahmen  ^  fanden  ihre  Gelehrten  es  gerathener,  gegen- 
über den  Neuerungen   der  Ketzer  sich   auf  Sammlung   und  Behauptung   des 


RwlUo,  in  Frankreich  lebte:  Genthe  157  fg.  9)  §  lUO,  35.  Die  Vorrede  an  den  Leser 
beginnt  (Ausg.  1600)  Dieser  Krieg  ist  vor  vielen  JJiarn  An/'cDigs  von  eint  heschriehen  worn 
Der  sich  genant  Cocalium,  Mit  einer  art  der  Carminum,  Drinn  er  vermischt  Welsch  mit 
Ijatein  Wie  dieser  Verss  bey  vns  mag  seyn :  Hie  jacet  in  Dreckis  qui  modi)  Reuter  erat 
(vgl,  Gesch.  d.  d.  Hexana.  26).  Oder :  Hei  mihi  Strassburgum  quöd  non  qtieo  schauiiere 
turnum,  Cumque  bonis  quid  non  posstim  zechare  GeseUis.  10)  Dgl.  geben  öfters  die 
Facetiae  facetiarnni,  die  Nugte  venales,  Moscherosch,  Schuppius  u.  a.  11)  wie  den  drei 
Hochzeitgedichteu  Gesch.  d.  d.  Hexam.  34  fg. 

§  1(^3.  Hauptsammlungen  des  Stoffs  für  diesen  Paragr.  das  Deutsche  Kirchenlied  von 
M.  Luther  bis  auf  Nie.  Herman  u.  Ambr.  Blaurer  v.  K.  E.  P.  Wackernagel,  Stuttg.  1841, 
(im  folgenden  gemeint,  wo  keine  Bandzahl  angegeben  ist)  und  zu  5  Bdn.  erweiterte  Aus- 
gabe: das  Deutsche  Kirchenlied  von  der  ältesten  Zeit  bis  zu  Anfang  des  XVII.  Jahrhunderts. 
I — V.  Leipzig  1^64 — 77,  mit  Bibliographie  zur  Gesch.  des  deutschen  Kirchenlieds  im  XVI. 
Jahrh.  Frankfurt  a.  M.  1855:  Geistl.  Lieder  d.  EvangeL  Kirche  aus  d.  16  Jh.  v.  Miitzeli, 
Berlin  1855,  und  zur  Ergänzung  der  übrigen  Zeit  Aug.  Jak.  Rambachs  Anthologie  christl. 
Gesänge.  Altona  1816 — 1833.  Biographische  Nachrichten  in  "\Vetzei>s  Hymnopoeographia, 
Herrnstadt  1710 — 1728,  u.  a.  1)  Sein  bedeutendstes  Lied  Do  Jesus  an  dem  creutze  stuond 
(die  Sieben  Worte);  vgl.  Anm.  25.  Katholisch  auch  die  Lieder  von  Martin  Mvllius 
(Anm.  49)  Passio  Christi  1517  und  die  im  Hymnarius  Sigmundslust  1524  enthaltenen: 
Wackernagel  II  1103.  1107  fgg.  2)  Zuerst  Michael  Veh  oder  Vehe,  Stiftsprobst  zu 
Halle,  dessen  Gesangbüchlin  Gcystlicher  Lieder  v.  1537  (alter  u.  neuer,  letztere  meist  von 
Ca.si'AU  Ql'EUIIAMER,  Rathsmeister  der  Stadt)  Heinr.  Hoffuiann  wieder  herausgegeben, 
Hannov.  1853.  Über  die  spaeteren  Sammlungen  von  Jon.  Leisentrit  1567  u.  Dav.  Greg. 
Corner  1625  und  deren  Verhältniss  zu  der  Vehischen  ebd.  123  fgg.  126  fgg.     Crecelius  in 


§  103  LTRUi  DER  GELEHRTEN.         KIRCHENLIED.  81 

schon  altüberlieferten  zu  beschränken  ^,  oder  was  die  Priesterschaft  auf  La- 
teinisch sang,  dem  Volke  nur  in  prosaischem  Deutsch  zu  geben  *.  Folge  davon, 
dass  in  den  Gotteshäusern  der  Katholiken  der  Laiengesang  allmählich  zu 
der  früheren  Düi-ftigkeit  und  je  mehr  und  mehr  darauf  zurücksank,  womit 
er  vordem  begonnen,  auf  den  Gebrauch  bei  Bittgängen  und  sonst  nur  ausser- 
kirchlichem  Anlass.  ^  Die  Rei-ormation  aber  brach  gleich  mit  vollen  reichen 
Strccmen  des  deutschen  Kirchenliedes  herein ;  es  sollte  vor  ihm,  war  die  Ab- 
sicht, die  weltliche  Lp-ik  des  "Volkes  und  auch  die  der  Gelehrten  musste  einst- 
weilen vor  ihm  verstummen:  erst  nach  und  nach,  da  nieder  Beruhigung,  ja 
Gleichgültigkeit  Mancher  eingetreten  war  und  ein  leichterer  Sinn  wieder 
erlaubt  schien,  fand  auch  diese  neu  das  "Wort  (§  104).  So  verlangt  schon  aus 
Gründen  der  Zeitfolge  die  geistliche  Lyrik  ihre  Besprechung  vor  der  weltlichen. 
Das  evangelische  Kirchenlied  war  Lyrik  zwar  der  Gelehrten,  nicht 
des  Yolkes,  aber  für  das  Volk.  Denn  die  Reformatoren  und  die  Fortsetzer 
ihres  Werkes,  wohl  erkennend,  dass  mehr  als  in  dem  stummen  Lesen  und 
der  bloss  einmal  angehoerten  Predigt  eines  Einzelnen  erweckende  und  er- 
bauende Kraft  in  dem  voUtoenigen  Zusammensingen  der  Gemeinde  *^  und 
in  Liedern  Isege,  die  auch  daheim  und  über  der  Arbeit  der  Hände 
könnten  gesungen  werden',  waren  hier  in  mannigfacher  Weise  und  in 
hoßherem    Maasse   denn    anderswo   darauf  bedacht,   an   das  Volk  heran   und 

Wagners  Archiv  1,  337  fgg.  Bei  Leisentrit  auchi  protestantische  Lieder.  3)  So  Georg 
WiTZEL  oder  Wicelius  (vgl.  LB.  3,  1,  28):  Od«  Christiane,  Mainz  1541:  Psaltes  Ecclesia- 
sticus,  Köln  1550.  Vgl.  Wackern.  Bihliogr.  175.  234:  die  Vorreden  .571.  591.  Eine  Reihe 
katholischer  Lieder  aus  dem  16  u.  dem  Anfange  des  17  Jh.,  theils  nach  den  Sammlungen 
Witzeis,  Vehs  u.  s.  f.,  theils  von  fliegenden  Blättern,  in  den  Passionsblumen,  Augsb.  1844. 
Vgl.  Kehrein,  Katholische  Kirchenlieder,  iv  Würzhurg  1859—65.  Ueher  den  Gebrauch  der 
deutschen  Lieder  in  der  kath.  Kirche  s.  Bäumker,  D.  kath.  deutsche  Kirchenlied,  Freiburg 
1883  S.  8  fgg.  Später  waren  es  insbesonders  die  für  die  kath.  Kirche  wiedereroberten  Ge- 
biete, denen  man  deutsche  Lieder  zugestand.  4)  Dgl.  Übersetzungen  neben  den  deutschen 
Liedern  bei  Witzel  und  der  ganze  Inhalt  eines  Buches  von  Christoph  Flurheim  von 
Kitzingen,  Alle  Kirchengesang  vnd  gebet  des  gantzen  iars,  zuerst  Leipz,  1529:  Wackern. 
Bihliogr.  111.  5)  §  32,  6  fgg.  76,  3  fgg.  Wettgesang  der  einzelnen  Processionen  an  den 
Tagen  vor  Auffahrt  LB.  3,  1,  340.  6)  Wurstisens  Basler  Chronik  7,  18  unter  d.  .1.  1526 
Auff  Laurentij,  fiengen  der  Reformierten  Eeligions  verwandten  an  in  S.  Martins  Pfarr- 
kirchen Teutsche  Psalmen  zuosingen.  Dann  oh  man  icol  hieuor  zuo  Osteren  in  etlichen 
Kirchen  solches  fürgenommen,  also  das  viel  Leuten  vor  freuden  die  Augen  vher schössen, 
gleich   wie  vor  Zeiten  in  uiderbauunttig  der   Statt  Jerusalem  heschehen:   usw.  7)  der 

handtwercksgesell  ob  seiner  arheyt :  die  dienstmagt  oh  jrem  schisselwesclien :  der  acker 
rnd  rebmann  vff  seinem  acker :  vnd  die  muoter  dem  weinenden  Idnd  inn  der  wiegen:  Vor- 

WacVernagel,  Litter.  Geschichte.  II.  6 


82  NEÜIIOCHDEUTSCIIE  ZEIT.         XVI  JAHIIII.  §  103 

unter  das  Volk  zu  treten.  Gleich  eine  sonst  auffallende  Erscheinung  erklärt 
sich  hicdurch.  In  der  übrigen  Litteratur  erlosch  jetzo  das  Niederdeutsche 
vor  der  hochdeutschen  Bibel  und  Canzlei  (§  93):  den  Kirchenliedern  aber  ist 
noch  oft  genug  das  vertrautere  llausgowand  jener  Mundart  gegeben  worden, 
durch  ÜbersetzAing "  sowohl  als  sclion  bei  der  ersten  Abfassung.^ 

Der  Schöpfer  des  evangelischen  Kirchenlieds  der  Deutschen  ist  derselbe, 
der  auch  der  irdische  Begründer  der  evangelischen  Kirche  ist,  Martin 
LiTFiKR.*"  Er  hat  diese  geweihte  Waffe  als  der  erste  unter  allen  und  hat 
sie  gleich  im  Beginne  seines  grossen  Thuns  gebraucht:  schon  im  J.  1524 
Hess  er  ein  Gesangbüchlcin  drucken '\  das  jetzt  zwar  nur  acht  Lieder,  vier 
darunter  von  ihm  selbst,  enthielt,  aber  von  da  an  fast  jährlich  sich  erneuernd, 
zu  immer  grcesserera  Umfang  wachsen  sollte.'^  Dem  Dichter  und  Theologen 
kam  dabei  zu  Gute,  dass  ihm  ein  Tonkünstler  von  Beruf,  Johann  Walther, 
mit  Rath  und  That  zur  Seite  stand '^,  und  dass  er  selbst  ein  begeisterter 
Freund,  ein  geübter  Kenner  der  Tonkunst  war.'*  Eigner  Gedichte  hat  er 
80  nur  36  beigesteuert^^:  aber  schon  an  diesen  wenigen  lassen  sich  all  die 
verschiedenen  "Wege  nachweisen,  die  zum  Erwerb  eines  deutschen  Lieder- 
schatzes wie  einst  die  alte  so  jetzt  die  neue  Kirche  nahm,   Übersetzung    aus 


rede  zum  Gesangbuch  der  Catharina  Zellinn,  Strassb.  1534:  Wackern.  Bibliogr.  554.  .^-hn- 
liche  Zeugnisse  ebd.  609  fgg.  8)  Kin  gantz  schone  unde  seer  mitte  ghesangkhoek  1526 
0.  0.  mit  Vorrede  von  J.  (fehlerhaft  für  P.?)  Speratus:  Wack.  Bibl.  545:  Geystlike  Leder, 
spaeter  G.  L.  vnd  Psalmen  (Luthers  u.  a.)  von  Joachim  Shiter,  zuerst  Rostock  1531,  dann 
Magdeb.  1534  nö.  ebd.  127.  150.  166.  183.  341.  9)  Nye  ChristUke  Gesenge  vnde  Lede  — 
Dörch  Hermannum  Vespasiuvi ,  Predyger  tlio  Stade,  Lübeck  1571 :  Wackern.  Bibliogr. 
370;  vgl.  Anm.  30.  Johann  Freder,  Stettin  1576:  ebd.  390.  ü.  a.  Vgl.  Job.  Geffcken, 
Die  Hamburgischeu  niedersächsischen  Gesangbücher  des  16.  Jahrh.  Hamburg  1857.  10)  Aug. 
Jak.  Rambach  über  D.  M.  Luthers  Verdienst  um  den  Kirchengesang,  Hamb.  1813.  11)  Etlich 
CristJich  lider  Lobgeseng,  vnd  Psalm,  dem  rainen  icort  Gottes  gemess,  aiiss  der  hei/ligen 
schrifft,  durch  manclierley  Jwchgelerter  gemacht,  in  der  Kirchen  zuo  singen,  icie  es  dann 
zum  tayl  berayt  zuo  Wittenberg  in  uebung  ist,  Nürnb.  1524:  AV ackern.  49  fgg.  12)  Den 
Schluss  der  Bemühungen  Luthers  um  Feststellung  des  neuen  Kirchengesanges  macht  die  von 
Bapst  1545  zu  Leipzig  gedruckte  Sammlung  Geystliche  Lieder  (nun  deren  105):  Wackern. 
Bibl.  199  fgg.  583.  1.3)  Von  Walther  das  Geistl.  Gesangbüchlein  in  5  Stimmen  (zwei 
Tenore")  1524,  zu  welchem  Luther  die  Vorrede  geschrieben :  Wackern.  Bibl.  63  fg.  543.  Er 
selbst  auch  Liederdichter:  Anm.  29.  Vgl.  Holstein  in  Schnorrs  Archiv  12,  185  fgg. 
14)  Zeugniss  die  gereimte  Vorrhede  au/f  alle  gute  Gesangbüclier,  Fraio  Musica  LB.  2,  50, 
zuerst  gedruckt  1538  (Schnorrs  Archiv  12,  204),  und  eine  Stelle  der  Lebensbeschreibung 
Luthers  von  Ratzeberger:  Dr.  M.  Luthers  deutsche  Geistl.  Lieder  v.  Winterfeld,  Leipz.  1840, 
131  fg.     15)  Ausg.  v.  Phil.  Wackernagel:  M.  Luthers  geistl.  Lieder  mit  den  zu  seinen  Leb- 


§  103  KIRCHENLIED.  83 

dem  Lateinischen '®,  Auffrisclmng  und  Ändrung  schon  älterer  deutscher 
Lieder '',  geistliche  Verarbeitung  weltlichen  Volksgesanges '^,  selbständige  neue 
Dichtung,  nur  gegründet  auf  das  Wort  Gottes,  zumal  auf  das  heilige  Lied 
des  alten  Bundes,  die  Psalmen.'^  Unmittelbar  dem  Volk  am  nächsten  blieb 
Luther  da,  wo  er  von  Liedern,  geistlichen  oder  weltlichen,  ausgieng,  die  es 
schon  besass:  bei  jenen  mag  noch  der  Mann  seiner  armen  Jugendzeit  gedacht 
haben,  da  er  selbst  dergleichen  um  Almosen  vor  den  Häusern  sang^'';  die 
Umdichtung  der  letztern  sollte  nicht  die  Gesanglust  des  geraeinen  Mannes 
stoeren,  sollte  sie  veredeln,  sie  abziehn  von  der  Unsittlichkeit,  sie  nutzbar 
machen  füi-  den  Dienst  des  Herrn. ^^ 

Auf  eben  die  oder  jene  Art  also  verfuhren  denn  auch,  die  neben  Luther 
und  nach  ihm  Lieder  für  die  evangelische  Kirche  gedichtet  haben,  in  staets 
zunehmender  ZahP^,  gerade  wie  auch  die  Zahl  der  Gesangbücher,  die  bald 
hie,  bald  dort  in  Deutschland  neben  das  seinige  traten,  stsets  groesser  ward  2^; 
unter  den  Dichtern  werden  auch  Fürsten  genannt,  doch  sind  die  Lieder  nur 


Zeiten  gebrauch!.  Singweisen,  Stuttg.  1848.  Eine  Auswahl  LB.  2,  40.  16)  wie  des  Te 
deum  laudamus  LB.  2,  45.  17)  Erweiterung  der  altern  Verdeutschungen  des  Vetii  sancte 
Spiritus  u.  des  Media  vita  LB.  2,  43.  44;  andre  Beispiele  §  76,  61.  Auch  das  Osterlied 
LB.  2,  41  scheint  vorlutherischen  Ursprungs.  18)  Das  Weihnachtslied  LB.  2,  47,  dessen 
Melodie  auch  gleich  denen  zweier  andern  Lieder  dem  weltlichen  Gesänge  entlehnt  scheint 
(Winterfeld  a.  a.  0.  3),  beginnt  wie  das  weltliche  in  ühlands  Volksliedern  9;  dabei  zu  vgl., 
was  von  solchem  Weihnaohtscresancre  der  Kinder  im  katholischen  Frankenlande  Franck  er- 
zsehlt  LB.  3,  1,  337.  In  dem  Lied  v.  d.  heil,  christl.  Kirchen  LB.  2,  49  mag  die  ganze 
erste  Strophe  -weltlichen  Ursprunges  sein.  Das  Mittfastenlied  Ntm  treiben  wir  den  Tod 
hinaus  (Mserchen  d.  Br.  Grimm  2,  1819,  xxxv;  vgl.  LB.  3,  1,  339)  von  Mathesius  (Küstlin 
2,  685)  umgedichtet  in  Ein  Lied  für  die  Kinder,  damit  sie  zu  Mitterfasten  den  Pabst 
austreiben:  Nun  treiben  wir  den  Pabst  hinaus,  von  Luther  in  den  Druck  gegeben  1541: 
Wackern.  111  30.  19)  z.  B.  Ein  feste  Burg  ist  unser  Gott  LB.  2,  46  auf  Ps.  46;  ver- 

muthlich  1527  abgefasst  (Köstlin  2,  650).  Eine  Umarbeitung  am  Schlüsse  von  Andreaes 
Christenburg.  20)  vgl.  §  76,  36.  LB.  3,  1,  337.  Schmellers  Bair.  Wörterb.^  3,  272  fg. 
21)  Luthers  Vorrede  zu  Walthers  Gesangbüchlein  Anm.  13:  damit  die  Jugend  der  buol 
lieder  vnd  fleyschlichen  Gesenge  loss  tvürde:  Wackern.  543.  22)  Die  Hauptnamen  etwa 
Paulus  Speratus,  eigentlich  von  Spretten  (1484—1554),  der  schon  an  Luthers  erstem 
Gesangbüchlein  Anm.  11  Theil  gehabt,  NicoLAUS  Decius  (t  1541),  Erasmus  Alberus 
(Anm,  39),  Burkard  Waldis  (Anm.  32),  JusTUS  Jonas  (1493—1555),  Nicolaus  Her- 
MAN  (Anm.  34),  Wolfgang  Musculus,  deutsch  Meusslin  (1497—1563),  Johann  Mathesius 
(Anm.  35),  Paul  Eber  (1511—1569),  Nicolaus  Selnecker  (1532—1592),  Johann 
Fischart  (Anm.  33),  Bartholomäus  Ringwaldt  (Anm.  29.  §  99,  57),  Philipp  Nicolai 
(Anm.  27)  und  JoH.  Valentin  Andrej  (Anm.  41);  Hans  Sachs  §  98,  11.        23)  Ver- 


84  NEUIIOCIIDEUTSCIIE  ZEIT.         XVT  .TAIIRTI.  §  103 

in  ihrem  Namen  gcdiclitet.-*  Zwar  lateinische  oder  ältere  deutsche  Lieder 
sind  nur  selten  mehr  benützt  worden ''■'•:  von  solchen  hatte  Luther  das  Beste 
schon  dahin.  Desto  ergiebiger  floss  der  Übersetzung  eine  andere  Quelle,  der 
alte  Liederschatz  der  Bo-jimisciien  Brukukr:  aus  Auftrag  einer  deutsch  reden- 
den Gemeinde  derselben  brachte  im  J.  1531  deren  Pfarrer  Michael  Weisse, 
damit  zugleich  ein  Zeugniss  ihres  Glaubens  gegeben  würde,  das  Boehmische 
Cantional  in  deutsche  Reime  -*';  manche  dieser  Gesänge  giengen  alsbald  in 
den  Besitz  auch  der  Protestanten  Deutschlands  über.  ^^  *  Und  desto  häufiger 
baute  man  auf  den  Grund  des  weltlichen  Volksgesanges,  wandte  Formen  an, 
wie  der  sie  liebte,  Piiilipi'  Nicolai  z.  B.  die  Form  der  Tagweise,  des  Wäch- 
terlieds-', legte  seinen  Melodien  (wir  lernen  dieselben  oft  nur  auf  solchem 
Wege  kennen)  geistliche  Worte  unter -^,  gab  den  weltlichen  Worten,  bald 
mehr,  bald  kaum  obenhin  abändernd,  einen  geistlichen  Sinn^'-*:  in  der  Art 
besonders  fleissig  erwies  sich  IIexuicii  Ivnaust,  der  im  J.  1571  eine  ganze 
Sammlung  Gassenhaivcr  Reuter  vtul  Bergliedlin  Christlich  moraliter  vnnd  sitt- 

zeichniss  und  Beschreibung  bei  Wackern.  Bibliogr.  .57  fgg.  24)  Die  Namen  der  Mark- 
grafen von  Brandenburg-Kulnibach  Casimir  (1481—1.527),  Georg  (1484—1543),  sowie  der 
Königin  Maria  von  Ungarn  werden  durch  die  ersten  Silben  der  ihnen  zugeschriebenen  Lieder 
gebildet;  Wackern.  111,  116  fgg.  Dem  Markgrafen  Albrecht  (1522-1.557)  wird  allerdings 
ein  Lied,  aber  erst  1571  und  gewiss  mit  Unrecht  zugeschrieben.  25)  Unter  den  Beispielen  der 
ersteren  Art  auffallend,wieAlberus  noch  künstliche  Sequenzenformen  nachgebildet  hat:  Wackern. 
III,  890  fg.  Vgl.  LB.  2,  165.  Das  halblateinische  Lied  In  dulcijuhilo  %  76,  59.  61  von  Fischart 
(leun  ainfnltigen  zu  niiz  behmh  von  icort  zu  wort  Teutsch  gemacht:  dessen  Geistl.  Lieder 
19.  Mehrfache  Erneuerungen  des  Passionsliedes  von  Böschenstein  Anm.  1  und  evangelische 
Umdichtungen  des  alten  Liedes  der  SJacobspilger  (§  76,  33)  Wackern.  III,  .531  fgg.  Vgl. 
HSachs  §  98,  11.  26)  Die  Gemeinde  zu  Landskron  u.  Fulneck  in  Boehmen;  M.  Weisse 
aus  Neisse  in  Schlesien;  erster  und  echter  Druck  zum  Jtcngen  liuntzel  inn  Behmen,  später- 
hin Ulmer  Nachdrücke:  Wackern.  119.  1;52.  1.53;  AVeissens  Vorrede  u.  Schlussreime  .549. 
2()a)  Eine  Auswahl  dieser  Lieder  veröffentlichte  Katharina  Zell  1534;  Wackern.  Bibl.  .533. 
Eines  LB.  2,  125.  27)  LB.  2,  279.  281 :  vgl.  §  69,  43.  95,  5.  Phil.  Nicolai  geb.  im 
Waldeckischen  1556,  gest.  zu  Hamburg  1608;  sein  prosaischer  Frewdenspiegel  des  Ewigen 
I^hens,  welchem  jene  zwei  Lieder  und  noch  ein  drittes  angehängt,  zuerst  gedr.  Frankf. 
1599;  neue  Ausg.  v.  Mühlmann,  Halle  1854.  28)  Beispiel  der  geistliche  Buchsbaum  von 
Hans  Witzstat  v.  Wertheim  LB.  2,  13.  Vgl.  ebd.  15.  19.  174.  Eben  der  Art  die  Christ- 
liche Reutedieder  von  Philipp  von  Winnenberg  Strassburg  1582;  angeführt  von  Fischart 
im  Gargantua  1590  Cap.  2Q.  29)  Das  Frühlingslied  LB.  2,  17  geistlich  umgedichtet  von 
Joh.  AValther  (Anm.  13):  Ein  scluener  geistlicher  vnd  Christlicher  muer  Berckreyen,  Von 
dem  Jüngsten  tage  vnd  eicigem  Leben  1557  (Waokern.  III,  187)  u.  von  Knaust  ebd.  IV,  785. 
Dichten  doch  vnsere  Predicanten  geistliche  Lieder  von  einer  Wilden  Sau,  das  geistlich  wacker 
braun  Meidlin,  den  geistlichen  Felbinger,  drc.     Fischart  LB.  3,  1,  474.     Eine  Reihe  weit- 


§  103  KIRCHENLIED.  85 

lieh  verendert  drucken  liess.'*^  Alles  das  in  grcesster  Harmlosigkeit:  so  viel 
anstoessiges  und  den  Mutliwillen  reizendes  darin  für  ein  feineres  Gefühl 
(Fiscliart  Anm.  29)  auch  lag,  es  ward  meist  übersehen  ob  dem  guten  Zwecke 
mit  Hilfe  des  Alten  und  Allbekannten  das  bessere  Neue  um  so  leichter  in 
Umlauf  zu  bringen  und  das  weltliche  Volkslied  durch  sich  selber  auszm'otten.  ^' 
Am  zahlreichsten  aber  waren  diejenigen  Dichtungen,  die,  im  Übrigen  eigen, 
sich  naeher  imd  enger  oder  in  freierer  Weite  bloss  an  die  Bibel  und  die  bib- 
lische Glaubens-  imd  Sittenlehre  knüpften,  wie  die  Bearbeitung  der  Psalmen 
von  BuRKARD  Waldis^-,  die  Psalmen  und  Lieder  von  Johann  Fischart  ^^, 
die  Lieder  endlich  von  Nicolaus  Herman^*  und  Johann  Mathesius^^,  die 
nicht  bloss  den  Lebensverhältnissen  beider  gemsess  (der  erstere  war  Cantor, 
der  zweite  Pfarrer  der  Bergstadt  Joachimsthal)  gern  auf  das  Bergmannswesen 
Bezug  nehmen,  sondern  geflissentlich  auch  und  zunsechst  auf  die  stillere  An- 


licher  Lieder,  die  so  benützt  worden,  "Wackern.  (1841)  837  fgg.  Vgl.  HSachs  §  98,  11. 
30)  Wackern.  Bibliogr.  369:  die  Vorrede  642.  Darin  auch,  aber  ohne  das  Namenszeichen 
Knausts,  die  Umdichtung  LB.  2,  163.  GrJeichzeitig  giebt  von  Vespasius  niederd.  Liedern 
Anm.  9  die  Hälfte  Etlyke  der  besten  olden  Leder  Geistlich  vörandert,  doch  also,  dat  se 
nicht  allenen  ehre  geivandtlyke  Melodien,  sünder  ock  dath  meiste  deel,  ehre  Wort  heholden 
hebben:  Wackern.  Bibl.  370.  31)  da  mit,  fsehrt  der  Titel  von  Knansts  Sammlung  fort, 
die  bcese  ergerliche  weiss,  vnnütze  vnd  schampare  Liedlin,  auff  den  Gassen,  Felde,  Häusern, 
vnnd  andersswo,  zusingen,  mit  der  zeit  abgehen  möchte,  wann  mann  Christliche,  guote  nütze 
Texte  vnd  tcort  darunder  haben  köndte.  Vgl.  Vespasius  Vorrede  Wackern.  Bibl.  644  und 
die  Äusserungen  Andrer  über  die  teuffelisclien  buol  lieder  ebd.  584  fg.  601.  32)  §  99, 
36.  Der  Psalter  in  Newe  Gesangsiveise,  vnd  künstliche  Heimen  gebracht,  Frankf.  1553. 
Über  noch  andre  früher  und  spaeter  gedruckte  Psalmenverdeutschungen  Anm.  43.  52.  55.  56 
und  Goedekes  Burchard  Waldis  14  fg.:  Fischart  Gargantua  1582  Cp.  27  viit  etlichen  schcenen 
lobtvasserischen  (Anm.  57),  m/irotischen,  Mentzerischen  (33)  waldischeti  (32)  wisischen  (26) 
psalmen  vnd  lidern.  Melissus  (,56)  übergeht  er  absichtlich :  Hüpfner  Reformbestr.  28. 
33)  Theilweise  schon  1573  veröffentlicht  (Wackern.  IV  s.  VII);  vermehrt  in  dem  Strassb. 
Gesangbüchlin  v.  1576 :  neuer  Einzelabdruck  von  Below  u.  Zacher :  Job.  Fischart's  Geistl. 
Lieder  u.  Psalmen,  Berlin  1849.  Fischart  schliesst  sich  ebenso  an  die  franzcesischen  Psalmen 
an  wie  die  Anm.  56  und  57  genannten  Uebersetzer:  Wackern.  Fischart  125.  34)  gest. 
1561.  Die  Sontags  Euangelia  über  das  gantze  Jar  in  Gesenge  verfasset  für  die  Kinder 
vnd  Christliclien  Haussveter,  Wittenberg  1560;  Die  Historien  von  der  Sindfludt,  Joseph, 
Mose,  Helia,  Elisa,  vnd  der  Susanna,  sampt  etlicJien  Historien  aus  den  Euangelisten,  Auch 
etlicJie  Psalmen  vnd  Geistliclie  Lieder,  zu  lesen  vnd  zu  singen  in  Reyme  gefasset,  Für 
Christi.  Hausueter  vnd  jre  Kinder,  Wittenberg  1562:  Wackern.  Bibl.  303.  323.  Die  zwei 
Vorreden  der  Evangelien  (die  erste  von  Paul  Eber)  ebd.  608  fgg.,  der  Historien  (die  erste 
von  Mathesius)  612  fgg.  Lieder  v.  Herman  LB.  2,  167.  Ein  Lehrgedicht  Hermans  §  99,  56. 
35)  geh,  zu  Rochlitz  im  Meissnischen  1504,   gest.  1565.     Seins  Lieder   sind  nicht  in  einer 


8G  NEUIIOCJIÜEUTSCIIE  ZEIT.         XVI  JAlIJUl.  §  103 

tiiicht  eines   chiistlichcu  lluuscs  und   oft   für   den  betenden  Kindesmuud  be- 
rechnet sind.^® 

Einem  unbefangnen  Überblicke  der  ganzen  Masse,  aus  der  nur  cin- 
zchie  Ilauptnamen  niceglich  gewesen  ist  lienorzuheljcn,  können  bei  all  der 
GroDsse  und  Bedeutsamkeit  auch  die  mannigfachen  Mängel  nicht  cntgehn, 
welche  an  diesem  Theil  unsrcr  älteren  Dichtung  haften.  Zwar  Luthers  Lieder 
athmen  noch  eine  gesunde  Kraft  und  Freudigkeit  des  Glaubens,  verschmelzen 
kindliehe  Einfalt  mit  dem  lleldcnnmthe  des  in  Christo  erwachsenen  Mannes, 
haben  meist  die  migesuchte  Kunst  der  Volksart,  sind  nur  selten  getrübt  durch 
unlyrische  Lehrhaftigkeit.  Unter  den  vielen  aber,  die  neben  und  hinter  ihn 
getreten,  oft  zudringlich,  dass  er  selbst  darüber  klagen  musste^^,  wie  wenige 
kamen  ihm  nur  von  ferne  gleich,  wie  wenige,  wenn  auch  an  Fruchtbarkeit 
ihn  mancher  übertraf,  waren  Dichter  wie  er!^^  Darum  nun  bei  den  Andern 
anstatt  der  Lyrik  öfter  nur  Dogmatik,  bei  Era-smus  Alüerus  gcschmack-  und 
würdelos  und  lieblos  ein  zankender  Eifer  nicht  bloss  gegen  die  Papisten, 
sondern  auch  gegen  abw^eichende  Bekenntnissfarben  unter  den  Evangelischen 
selbst  ^^,  mit  Ablauf  des  Zeitalters  ein  Hang  allegorisch  zu  umschreiben  oder 
überschwängÜch,  wie  es  schon  die  Unart  der  alten  Kirche  gewesen,  mit  Bil- 
dern zu  spielen  ^^;  und  wenn  zu  eben  dieser  Zeit,  in  den  Liedern  Johann 
Valentin  Andreres,  wiederum  auch  wahre  Poesie  hervorbricht,  so  geschieht 
das  meistens  nur,  indem  die  ganze  bisherige  Anschauungsweise  gegen  eine 
neue,  die  allgemein  kirchliche  gegen  die  persoenliche,  das  Wir  gegen  das  Ich 
vertauscht  und  so  die  eigenthümliche  Lyrik  der  folgenden  Geschlechter  bereits 
jetzt  vorangeklungen  wird.*'  Diese  Dichter,  sie  wollten  dichten  für  das  Volk: 
aber  den  Ton  des  Volkes  ti-afen  nur  die  wenigsten,  nur  etwa  Ringwaldt 
noch,  Nicolaus  Herman  und  Johann  Mathesius  (Anm.  29.  34.  35);  fast  alle 
raussten  die  Gelehrsamkeit,  die  sie  auch  hier  nicht  verläugnen  konnten, 
büssen,  mit  dem  Unvermoegen  die  geistlichen  Umdichtungen  weltlicher  Lieder 

eigenen  Sammlung  erschienen.  Als  Prediger  u.  ßergwerksprediger  §  109,  3  fg.  36)  Vor- 
reden zu  d.  Evangelien  Wackern.  Bibl.  611.  zu  den  Historien  616.  37)  Vorrede  zu  dem 
Wittenberger  Gesangbuch  v.  1529:  Wackern.  Bibl.  547.  38)  Zugeständniss  Bucers  1545, 
dass  Luthers  Lieder  die  anderen  in  Kunst  vnd  geisüiclier  art  mercklich  fürtreffen:  Wackern. 
585.  Ein  rechter  Beleg  hiefür  die  dem  Inhalte  nach  verwandten  Lieder  von  Justus  Jonas 
u.  von  Luther,  jenes  1524,  diess  1527  gedichtet:  AVackern.  III,  42  u.  LB.  2,  46.  39)  Der- 
artige Streitlieder  Wackernagel  III,  892  fgg.  Über  Alberus  als  Fabeldichter  §  99,  34  fgg. 
40)  Beispiel  im  LB.  2  das  Lied  Nicolais  281.  41)  LB.  2,  344.  Auch  das  hier  folgende 
Lied  ist  zwar  nicht  ganz  von  dieser,  aber  sonst  bezeichnender  Art;  vgl.  §  99,  61  fgg.  101,  10, 


§  103  laRCHENLIED.  87 

eben  und  ohne  Argcrniss  zu  vollziehen,  mit  Einmischung  des  Lateinischen 
selbst  hier^^,  mit  allerlei  hartem  Ungeschick  in  Handhabung  der  Sprache  und 
des  Reims  und  des  Verses.  Denn  nicht  einmal  tür  die  Metrik  mochten  sie 
von  dem  Volk  nachgiebig  lernen,  und  darin  hat  selbst  Luther  und  schon  er 
gefehlt:  wo  keine  Weise  des  Volkes  festgehalten  ward,  dann  häufig  ein 
Sti-ophenbau  voll  meistersingerischer  Überkünstelimg,  und  überall,  und  selbst 
wo  man  Weisen  des  Volkes  festhielt,  dennoch  ein  Versbau  ohne  Rhythmus, 
einzig  nach  der  Zahl  der  Sylben.*^  Das  namentlich  ist  einem  längern  und 
ungetrübten  Bestände  dieser  Lieder  hinderlich  gewesen :  von  Opitz  an  musste 
jedem  zu  feinerer  Empfindlichkeit  gebildeten  Ohre  solch  ein  Dichterdeutsch 
unleidlich  klingen,  und  man  war  genoethigt,  was  man  nicht  lieber  ganz  fallen 
Hess,  so  umzuarbeiten,  dass  aus  dem  ungefsehren  Anklang  Reime  und  aus 
den  Zeilen  wirklich  Verse  würden.**  Die  Berechtigung  hiezu  war  keine  ge- 
ringere, als  schon  die  Dichter  der  Reformationszeit  selbst  gegenüber  älteren 
Liedern  besessen  und  ausgeübt. 

Was  von  dem  evangelischen  Kirchenlied  des  sechzehnten  Jahrhunderts 
und  der  ersten  Jahrzehende  des  siebzehnten  bisher  ist  gesagt  worden,  gilt 
alles  lediglich  der  lutherischen  Kirche.  Nicht  so  der  reformierten.  In 
dieser  hat  die  Fülle  eigenen  Gesanges,  mit  der  allerdings  auch  sie  begann, 
nur  zu  bald  wiederum  gestockt.  Ihr  fehlte  schon  ein  Beispiel  des  Stifters, 
wie  Luther  den  Seinen  es  gegeben:  den  mühsam  künstlich  gereimten  Liedern 
Ulrich  Zwinglis  *"^  wohnte  nichts  befruchtendes  inne.  Einige  wohl  von  seinem 
Bekenntnisse,  theils  auch  Schweizer,  theils  anders  woher  aus  dem  Süden  des 
Reiches,  wetteiferten  glücklich  mit  den  Lutheranern,  vor  allen  einer,  den 
Kraft  und  Frische  und  in  Gehalt  und  Form  eine  regsame  Vielseitigkeit  aus- 
zeichnen, Ambrosius  Blarer,  ein  Constanzer,  zuletzt  und  bis  zu  seinem  Tode 
1564  Praedicant  in  der  Schweiz,  im  Thm-gau,  in  Winterthur.*"  Aber  die 
Reihe  derer,  denen  er  voranstand,  war  weder  gross  an  Zahl  noch  lang  von 
Dauer*';   Hindernisse  von  aussen  wie   von  innen  hemmten  das  Wirken  und 

42)  Nicolai  LB.  2,  279.  281.  Der  Schluss  des  ersten  Liedes  wiederholt  den  Anfang  eines 
schon  mittelalterlichen,  aber  auch  jetzt  noch  viel  gesungenen,  welches  durchweg  beide 
Sprachen  mischt:  vgl.  Anm.  25.  43)  Ein  durch  musicalische  Bildung  erweckter  Zug  nach 
rhythmischem  Versbau  in  dem  Psalter  des  Schweidnitzer  Cantors  Joachim  Sartorius  1591: 
8.  Heinr.  HofiFmanns  Spenden  z.  deutschen  Litteraturgesch,  2,  219  fgg.  44)  Den  ersten 
Vorgang  solcher  Besserungen  wagten  Justus  Gesenius  u.  David  Dennike  in  dem  Hannoeve- 
rischen  Liederbuch  von  1647:  §  117,  13.  45)  LB.  2,  51.  46)  Blaurer  ist  die  der 
schwäbischen  Aussprache  gemsesse  Namensform;  Lieder  von  ihm  LB.  2,  127;  alte  Nachrichten 
über  sein  Leben    und   Sterben   Wackern.   Bibl.   619   fgg.        47)   Unter  ihnen  WoLFGANfx 


88  NEUIIOCIIDEUTSCIIE  ZEIT.        XVI  JAHIIII.  §  1ü:5 

kürzten  dessen  Verlauf.  Dort  der  Widerwille  des  andern  Bekenntnisses*'' 
und,  du  die  Schweizer  und  mit  ihnen  meist  auch  Blarer  bei  der  Mundart 
blieben,  sprachliche  EnttVcmdung;  hier  ausser  der  Unkunst  im  Dichten,  die 
sie  mit  den  Lutherischen  thcilten,  ein  noch  viel  grccsserer  Hang  zur  Über- 
kuust:  mochten  doch,  wichrcnd  in  der  gleichen  Richtung  Jene  nur  selten  und 
sich  beschränkend  giengcn,*'  zu  Basel  Jouanneh  Kor.Ross,  Sixt  Birck  u.  a., 
ireilicli  unvollkommen  genug,  geistlichen  Gesang  auf  schwierige  Maassc  der 
antiken  Lyrik  dichten.  •''"  Womit  aber  die  reformierte  Kirche  sich  selbst  zu 
allermeist  in  den  Weg  trat:  nachdem  Anfangs  und  Jahrzehende  lang  auch  sie 
in  aller  nur  vergönnten  Mannigfaltigkeit  und  so  in  Freiheit  sich  bewegt  hatte, 
dass  sie  neidlos  aucli  Dichtungen  Lutlicrs  und  der  Seinen  in  lebendigen  Volks- 
gebrauclr''  und  in  die  Liederbücher  aufnahm,''^  zog  sie  allgemach  immer 
mehr  sich  auf  den  Psalmensan«  zurück,'*  räumte  anderem  immer  weniger 
Geltung  ein,  ja  Hess  zuletzt  den  andern  gänzlich  verklingen.^*  Denn  recht 
im  Gegensatze  zu  joner  Umdichtung  weltlicher  Lieder  und  Liederweisen,  die 
den  Lutheranern  geläufig  und  bei  den  Reformierten  z.  B.  auch  von  Blarer  war 
geübt  worden,'^^  wollten  diese  nur  noch  solchen  Gesang,  der  einzig  auf  die  I 
Schrift  gegründet,  das  reine  Wort  Gottes,  von  menschlichem  Zuthun  ma'g- 
lichst  wenig  berührt  wa^re.     Bestimmend  und  entscheidend  wirkte  zu  dieser 

Capito  d.  b.  Köpfel  (1478—1541)  §  94,  5.  Johannes  Zwick  Anni.  52  und  Ambrosius 
Brnder  Thomas  Blarer.  48)  Luther  selbst  wird  mit  dem  Titelspruche  der  Wittenberger 
Liedersammlung  v.  1543  Viel  falsclwr  Meister  itzt  Lieder  tickten  usw.  (Wackern.  Bibl.  187) 
zunaechst  kaum  andre  als  die  Reformierten  meinen.  49)  Nachbildung  der  sapphischen 
Ode  von  Zacharias  Richter,  einem  Schlesier  um  1600  (HofFmanns  Spenden  2,  213),  LB. 
2,  269;  vgl.  §  94,  31  fg.  Ältre  Versuche  der  Art  schon  in  der  älteren  Kirche  von  Mar- 
TiNUS  Mylius  zu  Ulm:  LB.  1,  1511  fgg.  50)  Sapphische  und  asclepiadische  Oden  LB. 
2,  133  fgg.;  vgl.  §  94,  31  fg.  105,  105.  Sapphische  Strophen  noch  von  anderen:  Hüpfner 
Reformbestrebungen  S.  9  fg.  Vgl.  105,  30.  Theoretisch  handelt  hierüber  Clajus  in 
seiner   Gramm.    (§    93,    15,    vgl.    94,    30)    de    ratione    canninum   nova.  51)    A\'eisen 

und  Worte  derselben  oft  genug  in  den  Schauspielen  der  Schweiz  §  105,  99  fgg.  52)  Bei- 
spiel das  Zürcher  Gresangbuch  von  Johannes  Zwick  in  Constanz  (Gsangbuechle  von  vil  scJuetien 
Psalmen  vnd  geistlichen  liedern)  seit  1536  (oder  1537):  Wackern.  Bibl.  140.  555.  53)  wie 
eben  derselbe  z.  B.  in  Basel  der  erste  Beginn  alles  deutschen  Gesangs  in  der  Kirche  gewesen 
war:  Anm.  6.  Auf  reformierter  Seite  schon  1538  Der  gantz  Psalter  Davids  —  in  Gsang- 
tceyss  —  Durch  Jacoben  Dachser  zu  Augsburg:  Wackern.  148  fg.  54)  Vgl.  die  histor. 

Entwicklung  d.  Psalmengesangs  in  unserer  reformirten  Kirche  v.  Sarasin  in  den  Beitr.  z. 
Vaterland.  Gesch.,  hsggb.  v.  d.  histor.  Geseilsch.  zu  Basel  4,  1850,  299  fgg.  und  das  Neu- 
jahrstück d.  Musik-Gesellschaft  in  Zürich  1855  (Der  zürcherische  Kirchengesang  seit  der 
Reformation),  11  fgg.        55)  LB.  2,  131. 


§  104  KIRCHENLIED.     WELTLICHE  LYRIK  DER  GELEHRTEN.     89 

"Wendung  das  Beispiel  der  Reformierten  Frankreichs  und  namentlich  der 
Schatz  an  schoenen  Weisen  mit,  die  Goudimel  den  Psalmen  Marots  und  Bezas 
gegeben  hatte.  Darum  wurden  auch  von  zwei  Dichtern  Psalmenverdeut- 
schungen gefertigt,  die  eine  im  J.  1572,  die  andre  zuerst  1573  gedruckt,  die 
sich  um  auf  die  franzoesischon  Weisen  zu  gehn  genau  an  die  Vers-  und 
Strophcnformen  der  Franzosen  und  so  überhaupt  an  den  Wortlaut  von  deren 
Übersetzung,  nicht  an  die  Urschrift  noch  an  Luther  hielten,  mit  all  dem  Un- 
geschick, das  dem  Zwange  vorgeschricbner  und  so  ungewohnter  Maasse  wie 
hier  des  vers  commun  noch  folgen  musste,  die  Verdeutschungen  von  Paulus 
Melissus^*'  und  von  Ambrosius  Lobwasser.  ^^  Letzterer  gehoerte  selbst  zu 
der  Lutherischen  Kirche :  sein  Werk  aber,  wie  er  dieser  dadurch  verdächtig 
geworden,  hat  sich  die  reformierte  dankbar  angeeignet  und  lange  und  noch 
bis  auf  neuere  Zeit  in  Deutschland  und  der  Schweiz  alle  Gesangerbauung  nur 
aus  ihm  geschöpft.  Es  wird,  wenn  man  die  Psalmen  Lobwassers  mit  denen 
vergleicht,  die  vor  ihm  Luther  und  Burkard  Waldis,  nach  ihm  Fischart  und 
Sartorius  u.  a.  gedichtet  haben  (Anm.  19.  32.  33.  43),  wohl  begreiflich,  wie 
unter  den  Reformierten  an  ihrem  überwiegenden  oder  gar  ausschliesslichen 
Gebrauch  aller  Trieb  und  Beruf  zu  fernerer  eigener  Kirchendichtung  auf  lange 
hinaus  hat  erlahmen  müssen. 

§  104. 
Das  Bedürfniss  der  Zeit  und  der  Zug  der  Litteratur  nahmen  noch  bis 
weit  nach  der  Mitte  des  sechzehnten  Jahrhunderts  alle  lyi-ische  Dichtkraft  der 
Gelehrten,  soweit  dieselben  des  Deutschen  imd  nicht  lieber  allein  des  Latei- 
nischen Freund  und  Meister  waren  (§  94,  11),  für  das  Kirchenlied  in  An- 
spruch: die  weltliche  Lyrik,  so  wenig  dem  Volk  auch  fremd  und  so  reich  bei 
diesem  (§  95),  Pflege  von  gelehrter  Hand  sollte  sie  erst  mit  dem  letzten 
Viertel  des  Jahrhunderts  finden,  und  langsam  unter  solcher  Pflege  hervorge- 
trieben, ihre  Blüte  erst  um  Jahrzehende  speeter  aufgehn  (§§  117.  121).  Es 
stand  aber  diese  weltliche  Lyrik    der  Gelehrten  zu  der  des  Volkes  nicht 

56)  Di  Psalmen  Davids  In  Teutische  gesangreymen,  nach  Französischer  melodeien  uont 
sylben  art,  mit  sonderlichem  fleise  gebracht  von  Melisso,  Heidelb.  1572.  Nur  die  ersten 
50  Psalmen;  der  37ste  (Terzinen)  LB.  2,  201.  Weltl.  Lieder  v.  Melissas  §  104,  14. 
Seine  Orthographie  §  93,  22.  57)  geb.  zu  Schneeherg  1515.  gest.  zu  Koenigsberg  1585; 
Dr.  d.  Kechte.  Der  Psalter  dess  Kcenigl.  Propheten  Davids,  In  deutsche  reijmen  versten- 
diglieh  vnd  deutlich  gebracht,  gedr.  Leipzig  1573,  die  gereimte  AVidmung  an  Markgr.  Ai- 
brecht  aber  schon  von  1565.  L.  auch  im  J.  1583  Übersetzer  der  lat.  Tragoedie  Buchanans 
von  der  Enthauptung  Johannis:  Gottscheds  NfBthigerVorrath  y..  Gesch.  d.  deutschen  Dram. 
Dichtkunst  1757,  120, 


00  NEUIIOCIIDEUTSCIIE  ZEIT.        XVI  JAIIKlf.  §  104 

in  demselben  Verliilltniss  der  Herablassung  und  Anbequemung  wie  die  geist- 
liche; 08  geschah  auch  nicht  wie  hier  gegen  Absicht,  wenn  sie  des  rechten 
Weges  zum  Volk  dennoch  verfehlte:  bewusst  und  nur  um  der  eigenen  Uebung 
willen  trieb  sie  ein  Spiel  mit  Fremdartigkeiten,  die  den  Gelehrten  selbst  noch 
etwas  neues  und  so  dem  Volke  dopi)elt  unnütz  waren.  Nehmen  wir  Theo- 
BALU  ITcKCK,  einen  Pfälzer,  mit  den  etwas  hart  geschmiedeten  Liedern  seines 
Scho'iioi  JBlumenfddcs  von  IGOl  '  und  das  Lied  von  den  Hansestädten  aus, 
das  auf  einfache  Sangweise,  den  Ernst  in  sittigen  Scherz  und  die  Lehre  in 
die  schlagenden  "Worte  der  Spritehweisheit  kleidend,  im  J.  1606  der  Hansische 
Syndicus  Johannes  Doman  gedichtet  hat,"  so  bleiben  uns  als  Beispiele  volks- 
majssiger  Lyrik  der  Gelehrten  nur  etwa  noch  die  Sti-dentenlieuer,  Lieder, 
wie  diese  dem  Volke  nur  noch  halb  entwachsene,  ja  gelegentlich  zu  dessen 
tiefsten  Schichten  hinabsinkende  Jugend  sie  bei  Gelagen  ''  oder  beim  fahren- 
den Bettel  *  und  liier  wie  dort  gern  mit  heiterer  Einmischung  des  gelehrt  oder 
kirchlich  klingenden  Lateines  sang  ^,  und  die  Martinslieder,  die  in  eben- 
solcher Mischung  der  Sprachen  und  trunkener  Lust  und  scheinbarer  Feierlich- 
keit eine  Messe  parodierten  um  die  Festgans  und  den  Festwein  zu  verherr- 
lichen.^ Sonst  aber  lenkten  die  Gelehrten  ihre  Lyrik  nach  dem  welschen, 
dem  italienischen  und  melu-  noch  dem  kranz(esischen  Vorbild,  nach  einer 
Seite  hin,  auf  die  zwar  auch  das  Gesellschaftslied  sich  neigte  (§  95,  25  fgg.), 
in  solcher  Art  jedoch,  dass  letzteres  weit  überholt  ward  und  nicht  folgen 
konnte.  Das  Gesellschaftslied  war  eben  als  Lied,  war  durch  neue  Künste 
der  musicalischen  Formgebung,  die  ihm  hier  sich  boten,  in  die  welsche 
Richtung  gebracht  worden;    auch  den  Gelehrten   kamen,   durch  Übersetzung 

§  104.  1)  Auf  dein  Titel  mit  Buchstabenumstellung  Othehlaä  Oeckh;  geb.  1573.  Über 
ihn  und  seine  Gedichte  Heinr.  Hoffmann  in  Prutz  Litt.  bist.  Taschenbuch  1845,  401  fgg. 
Höpfner  Reformbestrebungen  32  fgg.  zeigt  das  Moderne  in  Hoecks  Stropheuformen.  2)  Mor- 
hofens  Unterricht  von  der  deutschen  Sprache  u.  Poesie  1682.  Im  J.  1606:  Lappenberg  in  d. 
Zeitschr.  d.  Ver.  f.  hamburg.  Geschichte  2,  454.  Im  Tlwn  des  Rolands:  vgl.  §  106,  47.  Über 
Joh.  Doman  aus  Osualjrück.  Syndicus  von  Stralsund  und  der  Hanse,  gest.  1618,  s.  ausser 
Lappenb.  a.  a.  0.  Bartholds  Gesch.  v.  Rügen  u.  Pommern.  4,  2,  448  fgg.  3)  LB.  2,  175. 
187.  192  fgg.  4)  LB.  2,  322.  5)  Vgl.  §  75,  12.  13.  Auch  die  lat.  deutschen  Lieder 
gegen  die  Evangelischen  in  Haupts  Zeitschr.  f.  Deutsches  Alterth.  8,  337  fg.  mcegen  Studenten- 
dichtung sein.  6)  LB.  2,  321;  andre  bei  H.  Hoffmann  In  dulci  jubilo,  Hannover  1854, 
103  fg.  und  neben  ganz  deutschen  in  der  Sammlung  Simrocks:  Martinslieder  durch  Anserinum 
Gänserich,  Bonn  o.  J.:  vgl.  §  75,  12.  Von  der  Martinsfeier  LB.  3,  1,  342.  Sonstige  Dichtung 
u.  Prosa  von  der  Gans  §  100,  36.  Die  Predigten  über  die  Martinsgans  durch  Melchiorem 
de  Fabris  1597   sind  ernsthaft;    wohl  auch  die  von  Michael  Saxen  1597,  Bücherschatz  der 


§  104  WELTLICHE  LYRIK  DER  GELEHRTEN.  91 

und  durch  Nachahmung,  Formen  wie  des  geistlichen  so  des  weltlichen  Gesanges 
von  da  her  zu:  für  den  geistlichen  ist  zu  erinnern  an  Lobwasser  und  Melissus 
(§  103,  56  fg.),  für  den  weltlichen  Johannes  FisciiART  zu  nennen',  vielleicht 
auch,  die  jüngere  Zeitgenossen  und  ungefsBhr  Landsleute  Fischarts  gewesen, 
Peter  Denaisius  ®  und  Isaac  Habrecht.^  Wohl  zu  beachten,  mit  Ausnahme 
Lobwassers  lauter  Dichter  in  Elsass  und  der  Pfalz,  Nachbaren  Frankreichs, 
Reformierte,  und  so  auf  das  franzoesische  Muster  fast  alle  zwiefach  hingewiesen. 
Aber  nicht  mit  dem  Volke  gemein  und  recht  die  Gelehrsamkeit  bezeichnend 
waren  Entlehnungen,  die  nun  auch  die  Lyrik  zu  einer  Sache  bloss  des 
Schreibens  und  Drückens  und  Lesens  machten,  die  Einführung  des  unsang- 
baren Sonettes  namentlich   durch   Paulus  Melissus  ^°   und  wiederum  durch 

Deutschen  National-Litt.  26.  Parodien  von  Predigt  und  Messe  §  109,  7  fgg.  7)  §§  100. 
112.  Tanzlied  von  der  Ehe  in  dem  Ton  des  AUemant  d'Amour  Tanz,  das  Fischart  in  seinem 
Ehezuchtbüchlein  1578  und  daraus  Kurz  2,  281  fgg.  mittheilt.  Vgl.  §  95,  29.  8)  geb. 
zu  Strassb.  1560,  gest.  zu  Heidelb.  1610.  Vgl.  Wackern.  Fischart  124  fgg.  Erhalten  von 
ihm  nur  ein  Hochzeitlied  in  deutsch  einfacher  Strophenform:  M.  Opicii  Teutsche  Poemata, 
Strassb.  1624,  166  fgg.  Neudruck  Halle  1879;  und  ein  Streitgedicht  in  Reimpaaren,  drey 
Jesuwiten  Latein,  v.  1607:  die  Deutschen  Sprich wörtersamml.  v.  Zacher  45  fgg.  Die  Art 
jedoch,  wie  seine  Gedichte  von  Melch.  Adam  (Vitse  Germanorum  ICtorum,  Heidelb.  1620, 
445)  gelobt  werden,  leesst  auf  Nachahmung  der  Welschen  als  die  sonst  vorwaltende  Eigen- 
schaft schliessen:  Fuit  peritus  linguarum  Gallicce,  Italicce,  Anglich,  x^rceter  Latinam  —  In 
vernacula  elegantissimce  vence  poeta,  docuitqice  ipse  sico  exemplo  linguam  Germanicam  nullavi 
omnino  ciiltus  elegantiam  respuere,  modo  excolatur.  —  Sed  nos  hunc  unum,  si  nullus  aliics 
esset,  Omnibus  Italis  Gallisque  opponere  non  duhitamus:  tanta  facilitate,  tanta  felicitate, 
tanta  sermonis  jmritate  ac  leporihus  usus  est  in  vernaculis  carminibus  concinnandis. 
9)  Arzt  zu  Strassburg  u.  daselbst  gest.  1633:  auch  von  ihm  nur  Ein  Gedicht,  ein  Epigramm, 
hinter  dem  Opitz  v.  1624,  S.  162.  Moscherosch  im  6ten  Gesichte  Sittewalds  Th.  1  (Soldaten- 
Leben)  der  redlicher  vnd  vmb  miser  Teutsche  Sprach  hochverdiente  Budolff  Weckerlein 
(welcJier,  icie  auch  Herr  D.  Isaac  Habrecht  vnd  andere  so  ich  anderer  Orten  nennen  werde, 
lange  Zeit  vor  dem,  sonst  alzeit  lohwürdigen  Herren  Opitzen,  die  teutsclie  Sprach  mit  zier- 
licher eygenfindiger  Eeymen-Kunst  Jierrlich  gemacht  haben).  10)  Eigentlich  Schede, 
Melissus  nach  dem  Namen  seiner  Mutter  Ottilie  Melisse;  geboren  zu  Meirichstadt  in  Franken 
1539,  von  Kaiser  Ferdinand  zum  Dichter  geki'oent  (denn  er  dichtete  auch  lateinisch)  und 
geadelt,  auf  Reisen  in  Italien,  Frankreich  n.  England,  gest.  zu  Heidelb.  1602.  0.  Taubert, 
Paul  Schede,  Torgau  1864.  Die  Überreste  seiner  weltlichen  Dichtung  geben  Opicii  Poe- 
mata, Strassb.  1624,  in  demselben  Anhang,  der  auch  Denaisius,  Habrecht  u.  Zincgref  enthält. 
Daraus  Eiusdem  Sonnet  LB.  2,  200.  Vereinzelt  im  Zeitgange  steht  das  Sonett  Zuo  dem 
Bastardischen  Cliristenthumb,  das  Christoph  Wirsung  von  Augsburg  (§  105,  151)  seiner 
Übersetzung  der  Apologi  Bernhardini  Ochini  1556  vorangestellt  hat:  LB.  2,  197.  Vgl. 
Schnorrs  Arch.  9, 4  fgg.  Welti,  Gesch.  d.  Sonettes  in  d.  deutsch.  Dichtung,  Lpz.  1884,  verzeichnet 
»och  Sonette  a.  d.  Juliana  (§  107, 9),  ferner  i.  d.  Lobspruoh  auf  Zürich  v.  Huldrich  Frcelich  1586 


92  NEUIIOCIIDEUTSCIIE  ZEIT.        XVI  JAIIRII.  §  104 

Fischart  ",  und  verbunden  hicmit,  da  man  im  Sonette  zuntechet  den  Franzosen 
nachgiong  und  diese  den  Jlondcoasyllabus  desselben  gegen  den  Alexandriner 
zu  vertauschen  pflegten  '"^j  die  Einführung  auch  des  unsti'ophischen  Alexan- 
driners, die  als  llauptname  und  erst  gegen  Ende  des  Zeitabschnittes  gleichfalls 
ein  Plalzer,  Julius  Wilhelm  Zinccjkef,  vertritt.*^  Von  solcher  gesanglosen 
Lyrik  möchte  auch  auf  manches,  was  diese  Gelehrten  sonst  eher  in  deutscher 
als  in  welscher  Art  geschrieben  haben,  das  richtige  Licht  fallen:  es  wird 
wahrscheinlich,  dass  Melissus  und  Zincgrefs  strophische  Lieder  ebenso  wenig 
alle  noch  für  den  Gesang  seien  berechnet  gewesen.'*  Wie  aber  mit  den 
Alexandrinern  ein  Ton  zuerst  angeschlagen  war,  der  Jahrhunderte  lang  noch 
weiter  klingen  und  Alles  überklingen  sollte  (§  121),  so  zeigen  sich  auch, 
nicht  schon  bei  Melissus,  aber  nach  ihm  bei  Erxst  Schwabe  von  der  Heyde  '^ 
und  noch  entschiedner  bei  Zincgref,  entschiedner  auch  und  vollkommener  bei 
diesem,  als  wir  es  schon  bei  Waldis  und  Sartorius  wahrgenommen  haben 
(§  99,  43.  103,  43)  und  weiter  bei  Rebhun  gewahren  werden  (§  105,  113), 
die  Anfänge  des  accentuicrenden,  nicht  mehr  allein  die  Sylben  zsehlendcu 
Versbaus,  dessen  Feststellung  für  immer  dem  dritten  Jahrzehend  des  sieben- 

u.  iu  H.  RuD.  ILi:BMANNS  Gespraech  zwischen  Niesen  u.  Stockhorn,  Bern  1605,  sowie  inj.  V.  An- 
•Ireaes  Geist).  Kurzweil  (§  101, 10).  11)  Off'enlkhs  Ausschreiben  der  vbeJhefriedigten  Stand  in 
Frankreich,  Ans  d.  Franz.  öw  Teutsch  gepracht  durch  Emericum  Ijchtisium,  o.  0.  u.  J.: 
EtlicJi  Sonet.  Hiddrich  Wisart  (§  KX),  ö).  Kurz  3,  78  fgg.  Im  Gargantua  Cp.  16  auch 
Rundreimen  d.  h.  ein  Rondeau :  vgl.  §  i»5,  29.  12)  Die  Sonette  von  Melissus,  Zincgref 
u.  Schwabe  Anm.  lö  in  Alexandrinern,  die  von  Ochinus  u.  Fischart  in  achtsylbigen  Versen, 
den  älter  gewohnten  für  unsangbare  Dichtung.  13)  geb.  zu  Heidelb.  Iö91;  Reisen  in 
Frankreich,  England  und  den  Niederlanden;  gest.  zu  S.  Goar  1635.  Sein  Verhältniss  zu 
Opitz  §  121;  seine  Reimsprüche  u.  Apophthegmata  §  101,  5  u.  111,  12;  seine  Schulpossen 
§  115,  8.  Die  Vermanung  zur  Dapff'erJceit  in  Alexandr.  LB.  2,  365  gedichtet  1622  waehrend 
der  Belagerung  Heidelbergs  u.  zuerst  gedruckt  1624:  Anm.  10;  einzeln  unter  dem  Titel 
Soididen  Lob  1625  u.  Frankf.  1632.  Ein  älterer  und  roherer  Versuch  die  mehr  als  2000 
Verse  befassende  Dichtung  eines  Ungenannten,  Historische  Eeimenn  Vonn  dem  Ungereimten 
Reichstage  A.  1613 :  Bücherschatz  der  Deutschen  Nat.  Litt.,  Berlin  1854,  160.  14)  Von 
Melissus  wohl  das  zweite  im  LB.  2,  199,  schwerlich  aber  das  erste,  und  sicherlich  keines 
der  Gedichte  Fischarts  in  der  ihm  eigenthümlichen  vierzeiligen  Strophe  mit  überschlagenden 
Reimen  wie  das  Reveille  Matin  von  1575  (Huldrich  Wisart)  u.  a. :  Vilmar  zur  Lit.  Joh. 
Fischarts,  Marburg  1846,  4.  8.  15)  Verfasser  einer  1616  gedruckten  Gedichtsammlung, 
die  aber  schon  1624  nicht  mehr  aufzutreiben  war:  H.  Hoffmanns  Spenden  zur  deatschen 
Litteraturgesch.  2,  66  fg.:  Einzelnes  daraus  (Sonett,  Alexandriner,  vers  communs)  in  Opitzens 
Aristarch  angeführt:  LB.  2,  363.  Aus  eben  desselben  Worten  Quod  et  Schwabius  docet  et 
observat  (Arist.  Cp.  7)  und  tcie  auch  Ernst  Schwabe  in  seinem  Büchlein  erinnert  (LB.  3, 
1,  63t»)  geht  hervor,  dass  den  Gedichten  Erörterungen  über  die  Verskunst  beigefügt,  gewesen. 


§  105  DRAMA.        ANTIKE.  93 

zehnten  Jahrhunderts  vorbehalten  war  (§  121).  Der  welsche  Versbau  konnte 
darauf  nicht  führen,  wohl  aber  der  Sinn  für  groessero  Kunstmajssigkeit  der 
Form,  der  überhaupt  in  der  Betrachtung  und  Nachbildung  der  ausländischen 
Muster  geweckt  und  geschärft  ward  und  so  diesen  Einen  Vorzug  der  heimath- 
lichen  Volksdichtweise  nicht  länger  verkennen  Hess. 

§  105. 
Von  den  zwei  Formen,  welche  das  deutsche  Drama  des  Mittelalters  in 
und  aus  sich  selbst  entwickelt  hatte,  dem  geistlichen  und  dem  Fastnachts- 
spiele (§§  85.  86),  sank  mit  der  Reformation  zumal  das  erstere  aus  der  Litte- 
ratur  dahin  um  nur  tief  unten  im  katholischen  Volk  ein  dunkles  unwirksames 
Leben  fort  zu  fristen  (§  113,  12  fgg.):  die  Protestanten,  auch  hier  nun  die 
Herrn,  mussten  es  begreiflicher  Weise  fallen  lassen,  und  nur  zu  seltenster 
Ausnahme  ward  auch  bei  ihnen  dergleichen  noch  gedichtet  '.  Man  knüpfte 
vielmehr  fortführend  an  den  Umschwung  an,  den  aus  einer  fremden  Vorzeit, 
von  der  Antike  her  erregt,  die  letzten  Jahrzehende  des  Mittelalters  gebracht 
oder  doch  bereitet  hatten  (§  86,  15  fgg.).  So  schon  in  seinem  Hans  Sachs 
das  aufwärts  strebende  Volk  (§  98) :  wie  viel  mehr  so,  und  nicht  ohne  jenen 
Dichter  des  Volkes  auch  zu  kennen  und  zu  nützen  ^,  die  Gelehrten.  ^  Nicht 
bloss  aber  Bürger  von  Gelehrsamkeit  und  Gelehrte  von  mehr  weltlicher  Art,  wie 

§  lOo.  Hilfsmittel  für  diesen  Theil  der  Litteraturgescliichte,  wennschon  nur  ein  Bücher- 
verzeichniss  und  weder  vollständig  noch  überall  zuverlaessig,  ist  Gottscheds  Noethiger  Vor- 
rath  zur  Geschichte  d.  deutschen  Dramatischen  Dichtkunst,  Leipz.  1757.  176.Ö:  dazu  Freies- 
lebens Kleine  Nachlese,  Leipz.  1760.  Vielfache  Ergänzung  und  Berichtigung  gewaehrt  der 
Bücherschatz  d.  Deutschen  National-Litt.,  Berlin  1854,  139 — 148.  Ferner  Goedeke  Grundriss, 
Weller  Annalen  2,  246  fg.  Vgl.  auch  die  Artikel  in  der  Allg.  D.  Biogr.  von  Scherer  u.  a. 
1)  Ein  kurtzes  Osterspil  zuo  Bern  durch  Jung  gsellen  ghandlet,  vff  dem  Bontag  Quasimodo 
nach  Ostern,  Im  1552.  Jar,  Bern  1552 ;  von  Hans  von  Rlte  Anm.  44  a.  89.  Aber  doch 
nur  der  Name  und  die  Form  (kurz  und  ohne  Acte),  nicht  ein  Inhalt  nach  Art  der  alten 
Osterspiele:  denn  letzteren  giebt  die  Offenb.  .Joh.  Cp.  4  u.  5.  Auch  auf  kathol.  Seite  erklaert 
Macropedius  im  Prolog  des  Lazarus  1541:  er  würde  nicht  wagen  Christi  Leben  und  Leiden 
auf  die  Bühne  zu  bringen,  lllos  tarnen  non  arguit  qui  ea  scriptitant,  si  quo  legantur,  non 
agantur  scriptitant.  2)  HSachs  (§  98  Anf.)  berichtet  selbst,  man  habe  sich  seine  Dramen 
auch  in  andern  nahen  und  fernen  Städten  zu  verschaffen  gesucht:  Der  verlorne  Sohn  1582 
zu  S.  Gallen,  Tobias  und  das  Opfer  Isaacs  noch  1602  zu  Basel  gespielt:  Anra.  146;  Darius 
u.  seine  jüd.  Kümmerlinge  von  den  Meistersingern  zu  Strassburg,  Venus  u.  Pallas  für  eine 
Schulaufführung  umgearbeitet:  Anm.  144  u.  136.  Vgl.  §  97,  36.  3)  Merkenswerthe  Worte 
Boltzens  in  seiner  Vorrede  zum  Terenz  (Anm.  16),  wie  unrecht,  wie  unchristlich  es  sei,  die 
Kunst  der  Heiden  zu  verachten  und  ungenutzt  zu  lassen:  Gottsch.  1,  81.  Ludw.  Aug. 
Burckhardts  Gesch.  der  dram.  Kunst  zu  Basel   in   den  Beitraegen   der   histor.  Gesellsch.  zur 


94  NEmiOCIIDEÜTSCIIE  ZEIT.        XVI  JAIIRII.  §  105 

in  Zürich  der  Glasmaler  Josias  Murcr  und  dor  Wundarzt  Jacob  Ruoff  *  erwiesen 
sich  in  solcher  Uebung  thaitig,  sondern,  in  Zahl  und  Fruchtbarkeit  selbst  noch 
überwiegend,  auch  Scmulmännkr,  auch  Okistijche,  wie  zu  Basel  und  Augs- 
burg SixT  BiRCK  * » ,  zu  Tübingen  und  Basel  Valentin  Boltz  ^  zu  Dessau 
Joachim  Oroff*"',  zu  Nürnberg  Georg  Mauricius  der  ältere":  sie  fühlten  neben 
eigenem  Drang  und  der  Lust  der  Übrigen  noch  durch  einige  Worte,  die  zu 
Gunsten  des  Dramas  Luther  gesagt  ^,  sich  wieder  beruhigt,  wenn  Andern  und 
ihnen  selbst  Bedenken  kamen,  ja  mochten  sich  dadurch  sogar  aufgefordert 
fühlen.  ^  Und  tha^tig  und  fruchtbar  gieng  die  Uebung  durch  das  ganze  prote- 
stantische Deutschland,  noch  unterstützt  durch  die  sonst  auch  waltende  Neigung 
zur  Gesprächsform  '**;  wenn  aber  anderen  Theilen  des  Reiches  einer  voran- 
stand, dann  auf  Grund  eines  Lebens  voll  freierer  Öffentlichkeit  die  Schweiz  '"  * 
(vgl.  Anm.  117  fgg.)  Dem  auch  entsprechend  waren  es  zumal  hier  Männer 
aus  dem  Volk  und  Ungelehrte,  die  Dramen  dichteten,  in  dem  übrigen  Deutsch- 
land eher  nur  Gelehrte. 

Der  Ubersetzun«kn,  wie  durch  solche  bereits  im  fünfzehnten  Jahrhundert 
die  Einwirkung  des  antiken  Dramas  war  vermittelt  worden,  wuchs  im  sech- 
zehnten und  durch  den  Fleiss  Wolfhart  Spangenbergs  (§  100,  36)  zu  Beginn 

Gesch.  Basels  1839,  193.  4)  JMurer  geb.  1530,  gest.  1.581:  über  ihn  als  Maler  Füsslis 
Kiinstlerlexicon.  Rueff  aus  dem  Rheinthal,  gest.  in  Zürich  1558;  über  sein  Leben  und  seine 
Werke  (10  Dramen)  Kottinger  vor  der  Ausgabe  des  Etter  Heini  (Anm.  77)  xxiv  fgg. 
4a)  S.  B.  latinisiert  Xystus  Betulehiü  oder  Betulms,  geb.  1500  zu  Augsburg,  war  1530 — 36 
Rector  zu  Basel,  dann  bis  zu  seinem  Tode  1554  in  Augsburg.  5)  von  Rufach;  1539 
(Vorrede  zum  Terenz  Anm.  16)  Diaconus  zu  Tübingen,  vom  folgenden  Jahrzehend  Prediger 
am  Spital  zu  Basel.  6)  aus  Zwickau,  um  1545  Schulmeister  zu  Dessau.  Vgl.  Scherer, 
Deutsche  Studien  III,  Wien  1878,  S.  11  fgg.  7)  geb.  zu  Nürnberg  1539  und  ebenda  ge- 
storben als  Rector  1610.  8)  in  den  Vorreden  auff  das  Buch  Judith  u.  miffs  Buch  Tobte. 
Dort  Vnd  mag  sein,  das  sie  solch  Geticht  gespielet  liaben,  icie  man  hey  rns  die  Passio 
spielet,  vnd  ander  Heilige  geschieht.  Da  mit  sie  jr  Volck  vnd  die  Jiigent  lereten,  als  in 
einem  gemeinen  Bilde  oder  Spiel,  Gott  vertrawen,  from  sein,  vnd  alle  hülffe  vnd  trost  von 
Gott  hoffen  u.  s.  w.:  hier  Jsts  aber  ein  Geticht,  so  ists  icarlich  auch  ein  recht,  schcen, 
heilsam,  nützlich  Geticht  vnd  Spiel,  eines  geistreichen  Poeten.  Vnd  ist  zuuermuthen,  das 
solcher  scha-ner  Geticht  vnd  Spiel,  bey  den  Juden  viel  gewest  sind,  darin  sie  sich  auff  jre 
Feste  t'nd  Sabbath  geübt,  vnd  der  Jugent  also  mit  Inst,  Gottes  wort  V7id  werck  eingebildet 
haben.  9)  Abdruck  jener  Stellen  Luthers  in  Rebhuns  Zuschrift  der  Susanna  Anm.  108: 
zu  vgl.  was  1590  Cvriacus  Spangenberg  in  der  Zuschrift  seiner  aus  Luc.  11,  14  geschöpften 
Comopdie  sagt:  Gottsch.  1,  124.  Luthers  Weihnachtslied  LB.  2,  47  von  Martin  Hammer 
1608  in  eine  fünfactige  Comoedie  gebracht.  10)  §  99,  11.  Prosagespraeche  in  wirkliche 
Dramen  umgewandelt:  §  106,  14.  110,  12;  bei  HSachs  Comedia  oder  Kampfgesprcech  §  98, 
24.        10a)  E.  Weller,  Das  alte  Volkstheater  der  Schweiz.     Frauenfeld  1863. 


§  105  DRAMA.        FORM.  95 

des  siebzehnten  eine  stsets  groessere  i\jizahl  nach  und  machte  jenen  Boden 
immerfort  breiter  und  fester  und  treibender,  Übersetzungen  Anfangs  noch  des 
Plautus  "  und  Terenz  ^-,  speetcr  auch  aus  Euripides  '^,  aus  Hophocles  *■*,  aus 
Aristophanes  *^;  wenn  man  den  Terenz  des  Valentin  Boltz,  des  Johannes 
A(;ricola,  des  Wolfgang  Rateciiius  und  Anderer  ausnimmt,  die  eben  wie 
Albrecht  von  Eibe  und  Hans  Nythart  um  genauer  zu  sein  und  den  armen 
Schülerlein  zu  Gute  die  Prosa  vorgezogen  ^*^,  sämmtlich  in  Reimversen  und 
somit  nah  genug  dem,  was  in  der  Heimath  selbst  altüblich  war.  Aber  der 
eigenen  Uebung  war  alles  das  mehr  nur  Reiz  als  Vorbild :  denn  die  Nachbildung 
missglückte.  "Wohl  lernte  man  auch  liier  die  Unterscheidungsnamen  Tragcedie 
und  CoMCEDiE  brauchen,  die  Namen,  wsehrend  man  doch  über  den  Unterschied 
des  Wesens  beider  so  im  Unklaren  blieb,  dass  man  auch  vieles  Comoedie 
nannte,  was  Tragoedie,  und  Tragoedie,  was  Comoedie  war  (vgl.  Anm.  90),  dass 
in  dem  Misch  wort  Tragicocomcedia  ^''  ein  willkommener  Ausweg  benutzt,  dass 
oft  auch  die  alte  Benennung  Sinei  um  ihrer  Zwiedeutigkeit  willen  noch  fest- 
gehalten ward.  ^*    Und  man  befliss  sich  den  Tragoedien,  den  Comcedien,  den 


11)  Aulularia  durch  Joach.  Greff  v.  Zwickau,  Magdeb.  1535;  Mensechmi  durch  Jonas  Bitner, 
Strassburg  1570  (verwerfendes  TJrthei]  über  HSachsens  schon  in  der  Namengebung  gar  zu 
deutsche  Verdeutschung  §  98,  27 :  Gottsch.  2,  226) ;  Captivi  durch  Mart.  Havneccium  1582 ; 
Amphitruo   durch   Wolfh.    Spangenberg,   Strassb.   1608.  12)  Andria   u.  Eunuchus  von 

Heinr.  Ham,  Magdeb.  1535;  Eunuchus  von  JosuA  Loxer  1586;  der  ganze  Terenz  durch 
JOH.  Episcopium  V.  Würzburg,  Frankf.  1568:  Bücherschatz  der  Deutschen  National-Litt., 
Berlin  1854,  139;  u.  Mich.  lyiELSTER  v.  Zittau,  Magdeb.  1623.  Vgl.  0.  Francke,  Terenz 
und  die  lat.  Schulcomcedie  in  Deutschland.  Weimar  1877.  13)  Iphigenia  in  Aulis  durch 
Mich.  Babst  1584;  Hecuba  durch  Wolfh.  Spangenberg,  Strassb.  1605.  14)  Aiax  Lorarius 
durch  Wolfh.  Spangenberg,  Strassb.  1608 :  mit  etlichen  artigen  Zusätzen,  Erweiterungen  um 
die  Aufführung  prächtiger  und  bunter  zu  gestalten,  wie  sie  insbesondere  für  das  Strassburger 
Schultheater  (Anm.  133a)  nachweisbar  sind.  15)  Nubes  durch  Isaac  Froereisen  von 
Strassburg,  Strassb.  1613.  16)  §  86,  16.  17.  Boltzens  Terenz  zuerst  gedruckt  Tübingen 
1539/40:  Bücherschatz  139;  ein  Auszug  aus  der  Zuschrift  und  ein  Probestück  bei  Gottsched 
1,  81  fg.  Von  Johannes  Agricola  (§  111,  6)  1544  und  von  Stephanus  Kiccius  1603  die 
Andria:  Gottsched  2,  206.  241  fg.  Und  wieder  der  ganze  Terenz  von  Wolfg.  Ratichius 
(§  114,  8):  Publii  Terentii  Sechs  Frewäen-Spiel,  Koethen  1620;  und  Johannes  Ehenius  1627. 
17)  z.  B.  Calixtus  und  Meliboea  Anm.  151  heisst  in  der  Ausg.  v.  1534  ain  traurige  Comedi, 
80  von  den  Latinisclien  Tragicocomcedia  geplant  tnrt:  Büchersch.  139;  in  der  Vorrede  zu 
Holtzwarts  Saul  Anm.  43  gegenwürtige  Comitragediam  oder  Tragicomediam,  wie  man  tcill; 
Anm.  40.  65.  136  u.  §  106,  3.  18)  Schauspiel  (§  83,  4)  finde  ich  auf  dem  Titel  eines 
Dramas  nur  einmal  (Tragedi  oder  schaicspiel,  der  Kau  ff  man  —  durch  Thomam  Kirchmeier : 
Büchersehatz  141),  sonst  aber  öfters  gebraucht,  von  Luther  Cor.  1,  4,  9.  Hebr.  10,  33,  von 


96  NEUIIOCIIDEÜTSCHE  ZEIT.        XYT  JAlIKir.  §  105 

Spielen  einen  reicher  bewegten  Wechsel  der  Personen  und  der  Pireignisse  zu 
geben,  als  die  Dramen  des  Mittelalters  in  ihrer  Gradlinigkcit  besessen  hatten: 
wirklich  Composition  jedoch  ward  so  wenig  dabei  erreicht,  dass  auch  die 
Einthoilung  in  Acte,  die  nun  allgemein  beliebte  (meist  waren  wie  bei  den 
Alten  deren  fünf),  und  wiederum  die  der  Acte  in  Scenkn  '^  nur  auf  Zufall 
oder  Willkür  beruhte  und  es  bald  noethig,  bald  doch  nicht  überflüssig  schien,  J 
ein  Argument,  wie  es  bei  Plautus  nur  die  Bücher  hatten,  dem  Spiel  auf  der 
Bühne  selber  als  Prolog,  ja  gelegentlich  jedem  einzelnen  Acte  sein  Argument 
•vorauszuschicken.  Diess  Streben  nach  grcesserer  Fülle  und  Kunst  in  antiker  m 
Art  war  denn  auch  Ursache,  dass  vor  der  Comoedic  das  Fastxaciitssfikl  je  ■ 
mehr  und  mehr  weichen  musstc -",  weil  es  zu  roh  einfach  war;  nicht  minder 
verurtheilte  es  um  seines  Leichtsinnes  -^  und  schon  um  seiner  Verbindung 
willen  mit  den  übrigen  Fastnachtslustbarkciten  ^-  der  Ernst  der  Zeit,  der  noch 
ernstere  Sinn  der  Dichter  und  ihr  Mangel  an  Ertindungsgabe.  Überhaupt,  so 
sehr  unter  den  geläufigen  antiken  Mustern  das  Komische  vorwog  (vielleicht 
nur  daher  jener  Missbrauch  des  Worts  Comedi),  den  Dramatikern  des  sech- 
zehnten Jahrhunderts  war  die  reine  und  unbefangene  Komik  fremd,  und  nur 
solche  schien  gestattet  und  zu  entschuldigen  -^,  die  geschmacklos  mitten  im 
Ernst  dem  Gelächter  der  Menge  (Anm.  129  fgg.)  oder  die  einem  ernsten 
Zweck  als  Waffe  diente  (Anm.  74  fgg.  88  fgg.).  Hier  zumal  tritt  der  Unter- 
schied der  gelehrten  Dramatik  und  der  volksmajssigen  des  Meistersingers  von 

Manuel  bei  Grüneisen  433,  von  einem  Ungenannten  bei  Gottsched  1,  73,  von  StumpfiF  LB. 
3,  1,  413,  38  u.  a.  Das  Wort  Lustspiel  bereits  1536  und  1537,  aber  schwerlich  schon  als 
Gattungsname  gemeint:  Ein  Lustsjnel  rnd  vast  ehrliche  Kurtziceih  von  Veneris  vnd  PaUadis 
Gezenck  Wittenb.  1536:  Gottsched  1,  75;  Ein  lustspiel,  der  iceyber  Reichstag  genant,  auss 
den  CoUoquiis  Erasmi  genumnien,  Nürnb.  1537:  Biicherschatz  141.  Ebenso  Freudenspiel 
bei  Christoph  Lehman  in  Hoffmanns  Spenden  zur  deutschen  Litteraturgesch.  1,  72  u.  noch 
bei  Paul  Gerhardt,  Langbecker  652.  19)  Für  Actus  auch  auf  Deutsch  Wirckung  Anm. 
153;  Uebung  in  Bultzens  Terenz;  Aussfahrt  Gottsch.  1,  86;  Theil  167;  am  öftesten  Handel, 
z.  B.  ebd.  71t.  8.5,  Pauli  Bekehrung  Anm.  64,  der  AVeit  Spiegel  Anm.  78.  Für  Scena  in 
jenem  Terenz  Uüttin  u.  Gottsch.  86  Gesprmch.  20)  HSachs  u.  Ayrer  abgerechnet  (,§  1*8 
u.  106)  ist  in  der  Art  und  unter  dem  Namen  des  Fastnachtsspieles  nur  hoechst  wenig  mehr 
gedichtet  worden:  einige  Beispiele  im  weitern  Verlaufe  oben  und  §  107,  34.  48;  andre  von 
1.590,  1605,  1606,  1613  und  1623  b.  Gottsch.  1,  126.  157.  158.  182   und  im  Büchersch.  147. 

21)  In  Murers  Babylon  Anm.  49  der  Herold  des  ersten  Tags  Doch  ists  nit  ein  lychtfertig 
spil  icie  man  dann  nebt  zur  Fassnacht  vil  Es  ist  ouch  nit  druinb  gsähen  an  das  man  drinn 
schmähe  unjb  ald  man  Aid  das  man  drinn  veracht  frömbd  lüt.     Fastnachtspredigten  §  109,  7. 

22)  Schilderung  derselben  von  Seb.  Franck  LB.  3,  1,  338  fg.;  ein  Fassnacht  Beyen  in 
Uhlands  Volksliedern  636.         23)  vgl.  was  Ambuosius  Pafe  1605  i.  d.  Vorrede  seines  Jonas 


§  105  DRAMA.        STOFFE.  97 

Nürnberg  recht  vor  Augen :  Hans  Sachsen  war  die  Komik  sichthch  das  Liebste 
und  an  seinem  Dichten  auch  das  Beste  (§  98,  34  fgg.)^  und  eigentlich  er  blieb 
auf  dem  Wege,  den  zu  Ende  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  die  Gelelu'samkeit 
eröffnet  hatte  (§  86,  15  fgg.). 

Bei  solchem  Sinn  musste  im  Drama  die  Wahl  und  Handhabung  der 
Stoffe  sehnlich  ausfallen  wie  in  der  Epik  (§  99).  Selten  nur  griff  man  nach 
dem,  was  die  Romanendichtung  oder  was  Geschichte  und  Sage  der  Heimath 
boten:  von  jener  Art  die  Uistoria  Magelonce  (§  107,  7),  das  Dichtwerk  eines 
Studenten  1539,  und  Mac4eloxa,  Octavianus  und  die  Sieben  weisen  Meister 
(§  107,  6.  90,  249)  von  Sebastian  Wild  (Anm.  144),  und  Georg  Pondos 
Historia  Walthers  1590,  Georg  Mauricius  des  altern  Comoedia  von  Graff 
Waltlier  von  Saluts  und  Crriselden  (§  90,  268  fg.)  1606;  von  dieser  der 
Wilhelm  Tell,  wie  er  kurz  und  ärmer  an  Kunst  und  noch  ohne  Actein- 
theilung  in  Uri  ^^  und  weiter  ausgeführt  von  Jacob  Rueff  1545  in  Zürich  ist 
gespielt  worden  ^%  der  Berchtoldus  redivivus''^  und,  gedichtet  von  Xico- 
DEMUS  Frischlin,  gehalten  zu  Stuttgart  1579,  Fraw  Wendelgart.^'  Noch 
seltener  ward,  wie  im  J.  1533  die  Lucretia  von  dem  Reformator  Heinrich 
BuLLiNGER  2^,  1578  Bamonis  und  Pythice  Bruederschaft  von  Franz 
Omich,  Schulmeister  zu  Güstrow,  1584  die  Histori  vom  Kampff  mvischen  den 
Roemeren  und  denen  von  Alba,  1599  die  Zerstcerung  der  Stadt  Troja  von 
Georg  Gotthart  -^^ ,  einem  Solothurner,  1596  Scipio  Affricanus  von  Christoph 
Murer  2*^;  1601  Pyramus  und  TJiisbe  ^^  ^  von  S.  Israel  (Anm.  52),  aus  der 
Geschichte  und  Poesie  des  Alterthumes  geschöpft.     Um  so  häufiger  dagegen 

sagt,  Gottsch.  1,  156,  24)  Ein  hypsch  spyl  gehalten  zu  Vry  in  der  Eydgnoschafft,  von 
dem  frommen  rnd  ersten  Eydgnossen  Wilhelm  Thell  genannt,  Zürich  o.  J.  Neudruck  Basel 
1874  von  W.  Vischer:  vgl.  dessen  Sage  von  der  Befreiung  der  "Waldstädte,  Leipzig  1867. 
25)  Ein  hüpsch  vnd  lustig  Spyl  —  von  Wilh.  Thellen,  neu  hsggb.  von  Friedrich  ilayer, 
Pforzheim  1843,  26)  Berchtoldus  Bedivivus.  D.  i.  Ein  schcene  —  Comoedien,  Von  Er- 
hawung  der  lobl.  Statt  Bern  —  Anfänglich  beschrieben  durch  einen  besonders  Liebhabern 
alter  Historien,  vnd  der  Poesi:  Jetzo  aber  vbersehen  —  Durch  Joh.  Gasbarum  Myri- 
ctsum,  1630  (Bern):  Berthold  v  von  Zaehringen,  Gründer  Berns  gegen  1200.  Die  ältere 
Dichtung  wohl  die  handschriftlich  zu  Bern  erhaltene  von  Michael  Stettler  1609 :  Mones 
Schauspiele  des  Mittelalters  2,  Karlsruhe  1846,  423;  wo  auch  eine  Tragicouwsdia  vom  Ur- 
sprung loblicher  Eidgnoschafft  1605  (nach  Weiler  Volksth.  109);  vgl.  §  108,  13.  27)  gedr. 
zuerst  Tübingen  1580,  neuer  Abdruck  der  Ausg.  von  1589  in  den  Deutschen  Dichtungen 
Frischlins  (§  100,  32) ;  Inhalt  die  Geschichte  von  Udalrich  u.  Wendelgart  in  d.  Deutschen 
Sagen  d.  Br.  Grimm  2,  258  fgg.  28)  Weller  Volksth.  23.  Druck,  allerdings  ohne  den 
Namen  des  Verf.  Basel  1533.  28a)  Dr.  zu  Bern  und  Freiburg:  Weller  Volksth.  234  igg. 
28b)  Sohn  des  Josias:  Weiler  Volksth.  210.  28c)  aufgeführt  zu  Münster  im  Gregorieutbal 
Wackernagel,  Litter.  Geschichte.  IL  7 


98  NEIIII()(JJI1)EUTS(!IIE  ZEIT.         XVI  JAllKJI.  §  IO5J 

luul  in  unabsehbarer  Menge  aus  der  heil.  Schrift:  ein  Merkmal,  dcsgleicher 
wohl  auf  keinem  Littcraturgebicte  sonst  begegnet,  von  der  holien  Bedeutung,! 
die  der  (Jlaul)ens-  und  Kirehenfrage  noch  über  aller  classischen  üelelirsamkeit 
eingeräumt  worden.  Zumeist  aus  der  heiligen  Schrift  des  alten,  nicht  so  des 
neuen  Bundes:  damit  ward  entschiedener  von  dem  bisherigen,  dem  katholischen 
"Weg  des  geistlichen  Spieles  abgelenkt,  und  allerdings  auch  lag  in  dem  alten 
Testament  ein  gro'sserer  Kcichthum  an  Stoffen  vor,  die  bühnengerecht  er- 
scheinen durften.  Z.  B.  also  Adam  lnd  IIeva  1550  von  Jacob  Rleff  ^''*  und 
1573  von  Geor(}  Roll  zu  Koünigsberg  (Anm,  147);  Nok  1540  von  Hans  von 
Rute  -^";  Abraham  gleichfalls  von  Rueff  und  1502  von  Herman  IIaberer  zu 
Lenzburg  ^'',  1500  von  Georg  Rolleniiagen  ^*;  Immolatio  Isaac  1544 
durch  Hieronymum  Zieglerum  Rottenhurgcnsem^'^'^   Isaac    und   Rebecca 

1539  von  Hans  Tirolf  zu  Cala  (Anm.  112),  1559  durch  Fetrum  Frce- 
torium^'^  und  1569  von  Thomas  Brunner,  einem  Oestreichcr;  Jacob  1534 
zu  Magdebm-g  ^\  1560  von  Brunner,  1580  von  Adam  Pusciimann  zu  Bres- 
lau ^•\  1586  von  Gp:org  G(ebel  (Anm.  146);  Abraham,  Isaac  und  Jacob 
(doch  nur  das  erste  Stück  erhalten)  1540  von  Joachim  Grefe  von  Zwickau 
und  vor  ihm  schon  von  einem  andern  ^^;  Joseph  1538  von  Hans  von  Rute  ^'^  * 

1540  in  Zürich  ^^  und  von  Thiebold  Gart  zu  Schlettstadt  ^^  *  ,  1571  von 
Bartholom.kus  Leschke  zu  Laubau  in  der  Lausitz,  1593  von  Johannes 
Schlayss  (Anm.  145),  1603  von  Andrea.s  Gasmann  zu  Rochlitz  ^^;  Ruth  von 
N.  Frischlin  ^^  * ;  IIiob,  dessen  Quelle  ja  selbst  schon  beinah  ein  Drama  ist, 
1535  wiederum  von  Jacob  Rueff ^^''  und  1585  wiederum  in  Zürich^*,  1603 

HJ04,  gedr.  zu  Basel,  3.  Aufl.  1616:  Gaedertz  Gab.  Kollenhagen  S.  97.  29)  Fast  textlich, 
onet  was  die  adion  zuotragen  heisst  es  auf  dem  Titel.  Neue  Ausg.  von  Kottinger,  Quedlin- 
burg u.  Leipz.  lS4y.  Wühl  eins  u.  dasselbe  mit  der  Comedi  von  Erschaffung  der  Welt, 
die  auch  1550  in  Zürich  sei  gespielt  worden:  Memorabilia  Tigurina  von  Hans  Heinrich 
Bluntschli,   Zürich    1742,    96.  29a)    Weller    Volksth.    71.  30)    gedr.    Zürich    1562. 

31)  gedr.  Hildesheim  1603:  Bücherschatz  143.     Ein  zweites  Drama  Anm.  71.  Vgl.  §99,  49. 

32)  Büchersch.  142.  33)  Büchersch.  143.  34)  Büchersch.  140.  Nach  einem  Acrosti- 
chon  sind  Georg  Major  und  .Joachim  Greif  die  Verf.  35)  §  97,  3.  Ausführlicher  über 
dieses  erst  l.')92  zu  Görlitz  gedruckte  Drama  Gottsched  1,  127  fgg.  u.  HoflFmanns  Spenden 
z.  deutschen  Litteraturgeschichte  2,  8  fgg.  36)  Gottsched  1,  84.  Vgl.  die  Abhandlung 
Scherers  Anm.  6.  36a)  Weller  Volksth.  63.  Noch  andre  deutsche  und  die  lat.  Dramen 
von  Joseph  führt  Scherer  auf:  D.  Stud.  3.  29.  37)  Ein  hüpsch  nüices  Spil  von  Josephen, 
Zürich  1540.  37a)  Strassb.  1.540.  Neudruck  Strassb.  1880;  Erich  Schmidt  zeigt  hier  die 
Benutzung  Ovids.  38)  Gottsched  1,  166.  38a)  nach  der  Hs.  gedruckt  in  Frischlins 
D.  D.  (§  100,  32).  38b)  Züricher  Druck:  Wellers  Volksth.  147.  39)  Joben  Spil  — 
Gespili  dxrch  ein  Ehrsamme  Burgerscliaff't  einer  lobl.  Statt  Zürich,  Basel  1585. 


§  105  DRAMA.        STOFFE.  99 

von  Joanne  Bertesio  ^^]  das  goldene  Kalb  Aarons  1573  von  Heinrich 
R.«TEL  zu  Sagan;  Josua  1579  von  Rudolf  Sciimid  zu  Lenzburg  ^':  Gedkon 
1540  von  Hans  von  Rute  ^^;  Samuel  und  Saul  1551  von  W.  Schmeltzl  ^^  * ; 
Saul  1571  von  Matthias  Holtzwart  zu  Basel  "^^I  Oelung  Dauidis  1554 
von  Valentin  Boltz  1554  zu  Basel  '^\  David  und  Goliath  1555  zu  Bern 
von  Hans  von  Rute  '**  ^ ,  1545  von  W.  Schmeltzl  **  ^  ,  1606  durch  Georgium 
31aiiriciu7n  den  Eltern,  1572  David  und  Michal  von  Johann  Teckler 
und  David  und  Salomo  von  Christian  Berthold,  Stadtschreiber  zu  Lübben; 
Absolom  1565  von  Josias  Murer  in  Zürich  *^  und  1603  von  Heinrich  Rsetel; 
Belagerung  der  Stadt  Samarice  1603  durch  Zachariam  Poleiim, 
Stadtschreiber  zu  Frankenstein  in  Schlesien;  Judith  *^ '^  1536  durch  Joachim 
Greff  von  Zwickau,  1542  durch  W.  Schmeltzl  *^  \  1559  durch  Sixt  Birck 
von  Augsburg  (Anm.  28) ;  Tobias,  da  dieser  Stoff  ja  gleich  der  Judith  durch 
Luther  selbst  empfohlen  war  (Anm.  8),  oftmals,  1539  von  Johann  Ackermann 
zu  Zwickau*-^  '^^  nach  ihm  zu  Colmar  von  Georg  Wickram  *^  ^  (Anm.  122.  §  107, 
33),  1569  von  dem  schon  genannten  Thomas  Brunner,  1605  als  Umarbeitung 
eines  altern  Stückes  durch  Johann  Yetzeler  zu  Schaffhausen  ^^,  1617  durch 
Georg  Gotthart  zu  Solothurn  (28a)  ^\  u.  a.;  Hester  1537  von  Valten  Voith  zu 
Magdeburg  "^^  ^  ,  1567  zu  Zürich  *''  ^  ebenso  wie  Zorobabel  *^  1575,  Belcege- 
rung  der  Statt  Bahylon  1560^^,  diese  drei  wiederum  von  Josias  Murer; 
der    Hofteufel    (Daniel    in    der    Loewengrube)    1544    durch    Johannem 

40)  Trmjicomcedia,  gedr.  Jena  1603:  Bücherscli.  146.  41)  Ein  niliv  Wunäerharliche  Spils 
tiebung,  vss  dem  Buoch  Josuce  fürnemlich  zogen,  wie  die  Kinder  Issrael  trocfcens  fuoss  durch 
den  fürt  Jordans  zogen  usw.  Nüwlich  durch  Burger  der  Statt  Lentzhurg  gespilt,  1579  o.  0. 
42)  lyie  Hystori  tvie  der  Herr  durch  Gedeons  hand  sin  volck  von  mier  finden  gioalt  wunder- 
harlich  ericesset  hab  —  zuo  Bern  durch  die  Jungen  burger  gespilt,  Bern  1540.  42a)  Wiener 
Dr.  Neudruck  Wien  1883.  43)  Vorrede  Mathias  Holtzivart,  St.  (Stadtschreiber?)  zuo 
Raiypoltzwiler :  vgl.  §  99,  10 — 11.  Basel,  nicht  Gabel,  wie  Grottsched  2,  230  angiebt.  Holtz- 
wart benutzt  Boltz  (Anm.  44):  Weller  Volksth.  39  fgg.  44)  gedruckt  Basel  1554. 
44a)  Berner  Druck;  Hans  v.  Rute  Anm.  1.  89.  44b)  Weller  Ann.  2,  247.  45)  Ab- 
solom Ein  Spyl  von  einer  jungen  Burgerschafft  zuo  Zürych  —  gespült  —  vnd  gemacht 
durch  Josen  Murer  Burgern  Zürych,  Zur.  1565.  45a)  Vgl.  über  diesen  Stoff  Scherer 
D.  Stud.  3,  43.  45b)  Goedeke  Gr.  1165.  45c)  Neudruck  der  Dramen  Ackermanns  und 
Voiths  von  Holstein  Stuttg.  L.  V.  1884.  45d)  Wickrams  Tobias,  1551  gedruckt,  ward 
1578  zu  Heidelberg  nach  einer  Bearbeitung  durch  den  Steinmetzen  Heinrich  Schmid  aus 
Meissen,  1580  zu  S.  Gallen  gespielt  und  gedruckt:  Goedeke  Gr.  S.  370.  46)  gedr.  Lindau  1605. 
47)  Büchersch.  148.  47a)  Holstein  in  Schnorrs  Archiv  10,  147  fgg.  Ebd.  u.  12,  46  noch 
andere  Behandlungen  des  Stoffs.  Vgl.  Anm.  45c.  47b)  Weller  Volksth.  19G.  103.  48)  Zoro- 
babel Ein  nüw  Spyl  von  dem  mal,  welches  Künig  Darius  sinen  Landtsfürsten  vnd  Hof- 
lüten   zuorichtet  —  Anno  1575.     Durch  Josen  Murer:  Zürcher  Druck   o.  J.        49)  gedr. 


100  NEUIIOCIIDEUTSCHE  ZEIT.        XVI  JAHUll.  §  105 

Chryscum;  endlicli,  viollcicht  unter  allcu  Geschichten  die  beliebteste,  weil 
sie  mit  manchem  sonst  der  Bibel  weit  entlegnen  Schwanke  zusammentraf  •'", 
Susanna  •'"  *  1532  von  Sixt  Birck '•',  vor  1535  ohne  Namen  des  Dichters  und 
des  Ortes''",  1535  von  Paulus  Rebiiun  (Anm.  108),  1552  durch  Jaspar 
VON  Gennep^''',  1559  durch  Leoniiard  Stöckel  ''<= ,  Schulmeister  zu  Bart- 
fold  in  Ihigarn,  1565  von  Jacob  Punckelin  "'''^ ,  1566  von  Conrad  Graff  '•  * , 
1003  durch  Samuel  Israel  von  Strassburg,  Schul-  und  Kirchendiener  zu 
Münster  in  S.  Gregorionthal  ^",  1604  von  Andreas  Calagius,  einem  Breslauer, 
1605  von  Georg  Pondo  zu  Berlin,  1609  von  Joachim  Leseberg,  Prediger  zu 
Wunstorf  im  llorzogthum  Braunschweig  (§  106,  13),  u.  a.  m.  Aus  dem 
neuen  Testament  aber  und  dem  Leben  Christi  am  häufigsten  Spiele  von  dessen 
Geburt,  Weiiinachtsspiele  :  denn  überall  knüpfte  sich  an  diese  Zeit,  durch 
Verkleidung  imd  Umzug  bereits  halbdramatisch,  altherkömmlich  und  aucli  von 
der  Erneuerung  der  Kirche  nicht  ausgetilgt,  heiter  und  bedeutsam  so  mancher- 
lei Festübung  zumal  der  Jugend  an  ^^,  dass  auch  evangelische  Dramatiker  dem 
Reiz  eines  solchen  Stoffs  nicht  widerstehen  konnten  noch  katholische  Dichter 
dem  Reiz  auch  die  vollere  feinere  Kunst  des  Dramas  auf  ihn  anzuwenden. 
Wir  haben  dergleichen  Weihnachtsspiele  '"^  von  Knust  zu  Berlin  1540,  Jacob 
Rueff  1552,  Jacob  Funckelin  zu  Biel  1553  ^",  Sebastian  Wild  zu  Augsburg  (Anm. 
23a)  und  Johannes  Leon  zu  Erfurt  ^^,  Ambrosius  Pape  zu  Magdeburg  1582  ■"', 
Christoph  Lasius  zu  Spandau  1586,  Georg  Pondo  1589  (Anm.  147),  Johannes 
CuNO  zu  Calbe  1595,  Georg  Mauricius  dem  altern  1606,  Martin  Hammer  1608 

Zürich  1560.  50)  Auch  im  Mittelalter  schon  bearbeitet:  §  85,  76;  und  jetzt  auch  lat. 
von  Nicod.  Frischlin  Anm.  135;  vgl.  §  106,  4.  50a)  Pilger  Z.  f.  d.  Philol.  9,  129  fgg. 
51)  ron  Sixt  Birck  von  Augspurg,  schuolmeyster  zuo  mindern  Basel,  öffentlich  inn  Mindren 
Baxel,  durch  die  jungen  Bürger  gehalten,  Basel  1532.  Vgl.  Anm.  120. 123.  142.  51a)  Zwei 
Ausgaben,  eine  Nürnberger  u.  eine  Magdeburger.  511))  Cölner  Druck:  Goedeke  Gr.  318. 
51*')  Wittenberger  Druck.  Stückel  schliesst  sich  an  S.  Birck  an.  51d)  Germ.  14,  412, 
wo  über  F.s  Leben  und  Werke  urkundliche  Nachweise.  öle)  Prediger  zu  Duderstadt. 
Eislebener  Druck:  Goedeke  Gr.  S.  330.  52)  gedruckt  Basel  1607.  Israel  hält  sich  an 
das  lat,  Drama  Frischlius,  ebenso  Calagius.  53)  vgl.  §  83,  23  fgg.  85,  65  fgg,  LB.  3,  1, 
337  fgg.  Weihnacht-Spiele  u.  Lieder  auss  Süddeutschland  u.  Schlesien  v.  Weinhold,  Graz 
1853.  54)  Den  groesseren  Theil  derselben  verzeichnet  bereits  Weinhold  a.  a.  0,  173  fgg, 
55)  Ein  Geistlich  Spyl  von  der  Empfengknuss  vnd  Geburt  Jesu  Christi  —  Gedicht  durch 
Jacob  Funckelin  Anno  1553.  vnd  gespilt  durch  die  Jxigend  zuo  Biel  vffs  Nüw  Jnr,  gedr. 
Zürich,  56)  Wild  Gottsch,  2,  224.  Tragcedia  Die  Histori  von  der  Götlichen  Offenbarung 
des  tvaren  Messie  —  den  Weisen  auss  Morgenlandt  gescliehen.  Auch  tvie  Her  ödes  die  rn- 
schuldigen  Kindlein  Imhe  tcedten  lassen  —  Durch  Johannem  Leon  Ohrdruuiensem  zu  Er- 
ffurt  Schulmeister  zu  ,S.  Michml,  Frankf.  1566.        57)  Bücherschatz  143.     Desselben  Jonas 


I 


§  105  DRAMA.        STOFFE.  101 

(Anm.  9),  Johannes  Seger  zu  Greifswalde  1613;  dazu  aus  der  katholischen 
Kirche  eines  von  Benedict  EdelpÖck  ''-  und  vier  von  einem  nicht  benannten 
Baiern. ^'^  Sonst  aber  nur  wenig  evangelische  und  neutestamentliche  Geschichte, 
wie  etwa  dev  Jesus  chiodecennis  1610  von  Joachim  Leseberg '^^ ;  Johannes 
DER  Täufer  1545  von  Johannes  Krue(4inger  "^  1549  zu  Solothurn  ^^  und 
1588  von  Johannes  Sanders,  Pfarrer  zu  Adenstedt  bei  Peine;  die  Hochzeit 
zu  Cana  1538  von  Paul  Rebhun  (Anm.  109);  Lazarus  1545  von  Joachim 
Greff  '^^  *,  1552  von  Jacob  Rueff  und  im  gleichen  Jahre  von  Jacob  Funckelin  ^'^• 
Zacheus  von  GrefF^^'^;  Stephanus  1589  von  Zach.  Zahn  aus  Northeim  und 
1592  von  Melchior  Neukirch  in  Braunschweig  ^^^  ;  1546  Pauli  Bekehrung 
von  Valentin  Boltz  ''^;  1593  zu  Kauf  heuern  die  ganze  Apostelgeschichte  von 
Johannes  Brummer  ^'•;  1573  von  Philipp  Agricola  von  Eisleben  das  jüngste 
Gericht  *'^,  Geschichte  der  Zukunft  also.  Am  seltensten,  was  einst  der 
Hauptinhalt  der  geistlichen  Spiele  gewesen  (§  85,  44  fgg.  73),  das  Leiden: 
diess  auch  von  Rueff  ^^  ^ ;  oder  die  gantse  Historia  vnsers  Herrn:  diese 
(die  Geschichte  des  alten  Testamentes  und  die  der  Kirche  bis  auf  Luther  mit 
einbegriffen)  von  Bartholomäus  Krueger,  Stadtschreiber  zu  Trebbin,  1580.*^^ 
Eher  noch  Dramatisierung  von  Gleichnissreden  Christi,  derer  vom  Weingarten 
des  Herrn  1539  durch  Jacob  Rueff '^^,  vom  verlornen  Sohne ''^  ^  1527  durch 
B.  Waldis  (§  99,  43),  1535  durch  J.  Binder  (Anm.  107),  1536  durch  Johann 
Ackermann   (45  c),    1537   durch  Hans   Salat  ^^  ^  ,    1540    durch    Jörg   Wick- 

Anm.  23.  149.  58)  §  95,  41;  abgedruckt  bei  Weinliold  193  fgg.  59)  Auszüge  bei 
Weinhold  175  fgg.  60)  gedr.  Helmstädt:  Büchersch.  146.  61)  gedr.  Zwickau:  Büchersch. 
142.  62)  Büclierschatz  143;  vom  Probst  Job.  Aal:  Weller  Volksth.  219.  62a)  iiacb 
dem  Latein  des  Job.  Sapidus,  Strassb.  1.539:  Scherer  D.  Stud.  3,  55.  63)  Ein  trostlieh 
besserlich  Spyl  —  vom  Lazaro  —  durch  die  Jugend  ziio  Biel  offenlich  (jespilt,  gedr.  Zürich. 
63a)  Scherer  D.  Stud.  3,  56.  Zwickauer  Druck  1546:  Action  auf  das  18.  und  19.  Cap. 
Lucce:  Goedeke  Grundr.  1163.  63b)  Goedeke  Roemolt  (Anm.  80a).  64)  Basler  Druck 
1.546;  vgl.  Anm.  117.  121.  123.  65)  aus  Hoya,  Rector  zu  Kaufbeuern ;  Tragico-Comcedia 
actapostolica,  d.  i.  die  Historie  d.  heil.  Aposteln-Geschichten,  Laugingen  1593:  Deutsches 
Museum    1776,    752.  66)   Büchersehatz    143.  66a)    1545:    Weller    Volksth.    162. 

67)  Bücherschatz  143.  Abdruck  in  Tittmanns  Schausp.  2,  7  fgg.  Von  1580  auch  Kruegers 
Weltliches  Spiel  von  den  bäurischen  Richtern  und  dem  Landsknecht.  Neudruck  von  Bolte, 
Lpz.  1884.  Krüger  auch  Prosaist:  §  107,  19.  68)  handschriftlich  zu  SGallen:  Mones 
Schauspiele  d.  Mittelalters  2,  419  fgg.  G.  Scherer,  S.  Galler  Hss.  1859,  S.  68.  68a)  Hol- 
stein, Das  Drama  vom  verlornen  Sohn,  Geestemünde  1880.  Ueber  die  sich  hier  anschlies- 
senden Comcedien  vom  Studentenleben  s.  Erich  Schmidt  Leipz.  1880.  Im  16.  Jahrh.  nur 
lateinisch  abgefasst  beginnen  sie  mit  den  Studentes  von  Christoph  Stummel,  Frankf.  a.  d.  0. 
1549.     Vgl.    ferner  Anm.  137.         68b)  Basel, o.  J.     Neudruck  v.  Bächtold  Einsiedeln  1881. 


IU2  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XYl  JAllUH.  §  105 

mm  ""^  "= ,  1544  durch  Andreas  Scliarpfcncckcr  "^^  *  ,  1545  durch  Wolfganj; 
SchmoltzP^ « ,  1556  durch  H.  Sachs  (2),  1580  durch  Nicohius  Kialcben ««  ^ 
1590  durch  Clu-istian  Sehern  ^^  «  ,  1603  durch  Ludwig  llollo  ''*  ^  u.  a.  vom  reicmkn 
Mann  und  armen  Lazarus  1529  und  1540  in  Zürich  *',  1543  durch  Johannes 
Krüginger '",  1550  durch  J.  Funckelin  "°*  und  1590  durch  Joachim  Lonemasn 
zu  Magdeburg  "';  vom  Ko'uig  der  seinem  Sohn  Hochzeit  machte  ''*  von  J.  Rasser 
zu  Ensisheim  1574. 

Denn  Lehrgeschichten  wie  diese  lagen  der  didactischcn  und  wie  die  zwei 
vorletzten  der  satirischen  Auffassung  von  selbst  schon  vor  der  Hand;  Didaxis 
aber  und  Satire,  die  Vorliebe  der  Zeit,  walteten  überhaupt  im  Drama  so, 
dass  man  häufig  und  gern  auch  echt  geschichtlichen  Stoff  in  Allegorie  mochte 
verflicssen  lassen  und  dessen  Darstellung,  wo  sich  nur  Anlass  bot,  und  oft 
genug  auch  ohne  ^\jihiss  mit  Sittenmalcrei  voll  spöttischer  Bezüglichkeit  durch- 
tlechten  mochte.  Und  nicht  wenige  Dramen  dienten  eigens  und  einzig  der 
Lehre,  der  Satire,  der  Sittenmalerei.  Sogar  Fastnachtsspiele  gicngen  nicht 
bloss  auf  satirische  Schilderung,  wie  im  Beginn  dieses  Zeitabschnittes  die 
Gauchmatte  von  Pamphilus  Gengenbach,  einem  Basler  ^'-,  und  kurz  vor  dem 
Ende  das  Fastnachtsspiel  des  Mciningers  Johannes  Steurlein  vom  Dienst- 

68c)  zu  Colmar  gespielt  und  gedruckt.  68d)  Nürnberger  Druck.  Seh.,  Caplan  zu  Winds- 
heiin,  zog  Ackermann  aus.  68e)  "Wiener  Druck:  Weller  Ann.  2,  36ö.  Von  ihm  noch 
andre  Gleichnisse  dramatisiert :  ebd.  247.  68f)  Asotus  zu  Salzwedel  gespielt:  Magdeburger 
Druck  15S6.  Nach  Macropedius.  68g)  "Wittenberg  1.599.  68h)  Hollonius,  Freimut: 
zu  Alten  Stettin  gedr.  69)  Hans  Heinr.  Bluntschli  Anm.  29.  "Weller  Volksth.  134.  Vgl. 
auch  Anm.  107.  70)  Zwickauer  Druck:  Büchersch.  142:  vgl.  Anm.  111.  70a)  Berner 
Druck.  Eingeschaltet  ist  ein  klein  spiß,  dem  Bychen  Mann  vber  Tisch  gespilet,  ein  Strytt 
Veneris  vnd  Palladis :  abgedr.  bei  Tittmann,  Schauspiele  ans  dem  Ki.  Jahrh.  Leipz.  1868. 
71)  übersehen  und  bevorwortet  von  Georg  Rollenhagen  (Anm.  31):  Gottsched  1.  124. 
Büchersch.  148.  71a)  Basel  1074:  Goed,  Gr.  32G.  72)  in  den  zwei  ersten  Jahrzehendeu 
des  16.  Jh.  Drucker  seiner  eignen  und  der  Bücher  Andrer.  Ausgabe  seiner  "W^erke  von 
Gcedeke  1856.  Von  ihm  auch  o.  0.  u.  J.  ein  Todtenfresser :  Anm.  88;  ein  erschrockenliche 
histonj  V.  fünff  schnoeden  Juden  —  jm  Spceten  thon  gesungen;  Der  welsch  Fluss,  ein  ge- 
schichtliches Gelegenheitsgedicht  (1513\  eingekleidet  mit  Benutzung  des  Kartenspiels;  bist. 
Lieder  auf  Schlachten  von  1.509  und  1513;  ein  Liber  Vagatorum,  Urareimung  eines  zu 
Anfang  des  16.  Jahrh.  mehrmals,  1528  mit  einer  Vorrede  von  Luther  gedrückten  Buches: 
HofiFmann  Weim.  Jahrb.  4,  65  fgg.  Auch  bei  Gengenbach  ein  vocahnlaris  rotwelsch  (§  47,  4). 
Eine  Practica:  §  112,  5;  1514  der  bundtschuoch  (gereimte  Vorrede,  Prosaerzaehlung.  Lied 
im  speten  thon).  U.  a.  Auch  die  gouchnuxt,  so  gespilt  ist  worden,  durch  etUch  geschickt 
Burger  einer  löblichen  stat  Basel.  Wider  den  Eebruch  vnd  die  sünd  der  vnküscheit,  ist 
0.  0.  u.  J.:  Gottsch.  1,  52  setzt  sie  in  das  J.  1519,  weil  sie  ein  Auszug  aus  Murners  Geuchraatt 
(§99,  21)  scheine:  sie  stimmt  jedoch  mit  derselben  nur  im  Namen,  im  Inhalt  eher  mit  HSachsens 


§  105  DRAMA.        STOFFE.  103 

GESINDE  ^^,  sogar  sie  gicugeu  aucli  auf  Belehrung  voll  ununiwundeuen  Ernstes 
aus,  wie  noch  einmal  von  Gengenbach  die  zehn  Alter  "^  und  der  Xolluard^^: 
viel  eher  noch  durfte  und  musste  man  die  neugelernten,  die  gelehrteren  und 
kunst-  und  anspruchsvolleren  Formen  der  Komoedie  und  der  Tragoedie  brauchen 
um  in  ernstem  oder  spöttischem  und  öfter  noch  bunt  in  beiderlei  Gewände 
Lehren  des  Glaubens  und  der  Sitte  und  der  politischen  Weisheit  vorzutragen. 
Beispiel  die  fünf  Betrachtungen  zur  Busse  von  Johannes  Kolross  1532 
zu  Basel  "^,  Mnndiis^^  ^  1537  von  Joachim  Greff,  Wohl-  und  Übelstand 
DER  Eidgenossenschaft  1542  von  Jacob  Rueff'',  der  Welt  Spiegel  1550 
von  Valentin  Boltz  ^^,  Weisheit  und  Narrheit  um  1550  von  Leonhard 
Freyssleben  ''^,  der  jungen  Knaben  Spiegel  1554  von  G.  Wickram  '^^  ^  ,  der 
jungen  Mannen  Spiegel  1560  von  Josias  Murer  ^^^   Von  dem  Laster   der 

Fastnachtsspiel  vom  Hofgesinde  Veneris  1517  überein.  Nach  Goedeke,  Gengenbach  xxi  ward 
sie  151G  aufgeführt.  73)  Ein  Tcürtzweüigs  Fassnacht  Spiel,  vom  faulen,  eigensinnischen 
Dienstgesinde  —  Durch  Johann.  Steurlein  den  Eltern,  P.  L.  CcBsareum,  Schleusingen 
1610;  die  gereimte  Widmung  Datum  zu  Bleynungen.  Docen  Miscell.  1,  259  führt  an 
Epithalamia,  durch  J.  Steurlinum,  Stadtschreibern  zu  Wasingen,  1587.  74)  Die  X 
alter  diser  icelt,  gespielt  zu  Basel  1500  (wahrscheinlich  fehlerhafte  Angabe  für  1515);  Druck 
0.  0.  u.  J.  Bis  in  das  17  Jh.  oft  wiedergedruckt  u.  dabei  umgeändert;  1517  gespielt  und 
1519  gedruckt  zu  Memmingen:  Panzers  Annalen  d.  alt.  d.  Litt.  1,  431;  1531  gespilt,  geniert 
vnd  gebessert  zu  Colmar  und  gedr.  zu  Strassburg  1534:  Büchersch.  139.  Vielleicht  von  G. 
Wickram,  der  1537  zu  Colmar  ein  Fastnachtspiel  vom  Narrengiessen  aufführte,  gedr.  Strassb. 
1538.  75)  Der  Nollhart  Diss  sint  die prophetien  sancti  Methodij  vnd  Nollhardi,  gespielt 
zu  Basel  1517,  Dr.  o.  0.  u.  J.:  Umarbeitung  Der  alt  vnd  neio  Bruder  Nolhard,  Strassb. 
bei  Cammerlander  um  1540:  Büchersch.  140.  Von  der  überaus  einfach  dramatischen  Form 
dieses  und  des  vorigen  Spieles  in  Haupts  Zeitschr.  für  Deutsches  Alterth.  9,  313.  Aehnlich 
das  Fastnachtspiel  vom  treuen  Eckhart,  das  G.  Wickram  1538  drucken  Hess.  76)  Eyn 
scJuen  Spil  von  Fänfferley  bet  rächt  missen  den  menschen  zuor  Buoss  reytzende,  durch 
Joannem  Kolrossen,  —  vff  den  ersten  Sontag  nach  Ostern  1532  öffentlich  zuo  Basel  ge- 
halten, Basel  1532;  vgl.  Anm.  105,  Kolross  §  93,  8.  Ueber  ein  ähnliches  Spiel  von  Lien- 
hard  Culman,  Wie  ein  sünder  zuor  Buoss  hekärt  toird,  Nürnberg  1539,  s.  Goedeke  Homulus 
219.  76a)  Stofflich  verwandt  (Geschichte  von  Vater  Sohn  u.  Esel)  ist  die  Tragedi  Seb. 
Wilds  1*0»  dem  Doctor :  Tittmanu  Schausp.  I,  1868.  77)  In  Verbindung  mit  einem  altern 
sehnlichen  Stück  von  ungenanntem  Verfasser  unter  dem  Titel  Etter  Heini  hsggb.  v.  Kottinger, 
Quedliub.  u.  Leipz.  1847.  Vgl.  Weller  Volksth.  159.  78)  Der  icelt  Spiegel  Gespilt  von 
einer  Burgerscliaffl  der  ivglberuempten  fryhstatt  Basel  1550,  Basel  1551.  LB.  2,  135. 
79)  Zarncke   a.  a.  0.   cxxix   fg.  79a)  Strassburger  Druck:   Scherer    QF  21,  40.    Be- 

nutzt in  Jacob  Schertwegs  2'rag.  von  einem  verlornen  Sohne,  zu  Ölten  gespielt  1579. 
Baseler  Druck:  Holstein  (Anm.  68a)  S.  47,  von  G.  Pondo  im  Speculum  puerorum  1596: 
QF.  21,  50  und  von  Ayrer.  80)  Ein  nüio  spyl,  darinn  wirt  angezeigt  —  wie  durch  bcese 
gsellschafft  der  man  verfuert  an  hättelstah,   ouch  etwan  vmb  leyb  vnd  laben  gebracht  wirt, 


1U4  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XVI  JAHKH.  §  105 

lloffart  1564  von  Jon.  R(kmoldt  *®  * ,  uie  Narrensciiule  um  1570  von 
Johannes  Heri'ort  ^',  Ein  christlich  Spiel  von  der  Kinderzncld  1573  von  Joh. 
Ilasser  ^'  »  ,  der  christliche  Ritter  1570  von  Friedrich  Deüekind  **,  die 
Glücktvünschmig  zum  erneuerten  Bund  zwischen  Zürich  und  Bern  1584  von 
Jon.  Haller  *^  * ,  das  geistliche  Malefizreciit  1587  von  Joachim  Arentsek 
zu  Halbei-stadt  ^%  der  Deutsche  Schlemmer  1584  von  Johann  Strizer  zu 
Lübeck  ***,  die  Comoedia  von  den  gottesvergessenen  Doppel-  d.  h.  Würfel- 
Spielern  1590  von  Thomas  Birck  *^  * ,  Spcciilnm  mundi  1590  von  Bak- 
THOLOM.Krs  RiNfavALDT  ®^,  CoMCPdia  von  dem  Schiihvesen  1606  von  Georg 
Mauricius,  Christiani  hominis  sors  et  fortnna  1612  von  Ambrosius  Papc 
und  im  gleichen  Jahr  und  von  eben  demselben  Mundus  immundus. 

Zumeist  aber  bewegte  dieses  Jahrhundert  in  lehrhafter  und  satirischer 
Weise  der  Streit  der  Kirchenbesserung,  und  wie  man  um  seinetwillen  jetzt 
die  Frau  Jutta  wieder  hervorzog  (§  85,  79),  wie  man  bei  eigner  Dramatisie- 
rung geschichtlichen  Stoffen  gern  einen  Bezug  eben  dorthin  gab  imd  die  Stoffe 
schon  in  dem  Bezug  erwählte,  z.  B.  Sixt  Birck  im  J.  1535  die  Geschichte 
vom  Bel  zu  Babel  ^^   Jacob  Rueff  die  von  Paulina   und  den  Priestern  der 


zuo  Zürych  f/eJuilten,  Zürcher  Dr.  80a)  Goedeke  in  der  Zs.  des  bist.  Ver.  f.  Niedersachseu, 
Hannover  18ö5  S.  293  fgg.  Zum  Stoff  vergl.  der  blosse  Kaiser  §  66,  21.  81)  In  weiterer 
Ausführung  unt.  d.  Namen  Valentin  Apelles,  Rectors  z.  Freiberg,  gedr.  Frankf.  a.  0.  1578: 
Zarncke  cxxviii  fg.  81a)  zu  Bern  gespielt  1573:  Weller  Volksth.  103.  82)  Aus  dem 
Brief  an  d.  Eph.  6;  agiret  vml  augiret  zu  Braunschueig  1604.  Durch  M.  Joh.  Bech- 
manum:  Büchersch.  144  (vgl.  §  106,  13).  Handschrift  zu  Bern:  Mones  Schauspiele  des 
Mittelalters  2,  412  fgg.  Auch  hier  wie  in  70a  ist  ein  khn  spyl  eingeschaltet,  das  bei  einem 
Gastmahle  statt  findet  und  das  Urteil  Salomos  behandelt.  Dedekind  schon  §  100,  21.  Vgl. 
den  lat.  Miles  christinnus  von  Com.  Laurimanus  aus  Utrecht.  Antw.  1565.  82a)  Baseler 
Druck:  Weller  Volksth.  104.  83)  Standgericht  über  Adam  als  Stellvertreter  der  ganzen 
sündigen  Menschheit:  dabei  Gott  Vater  und  Sohn  als  Oberster  u.  Hauptmann,  der  heil.  Geist 
als  Fürsprech  des  Beklagten:  Auszug  in  vdHagens  Germania  3,  Berlin  1839,  150  fgg. 
Glaubenslehre  und  Drama  in  Processform:  vgl.  §  85,  63.  84)  Ursprünglich  niederdeutsch 
Be  (lüdesche  ScMüitier :  Goedekes  Homulus  und  Hecastus.  Hannover  1865,  Hier  ist  die  ganze 
Filiation  dieser  Allegorie  von  den  drei  Freunden,  unter  denen  nur  einer  treu  bleibt,  durch 
die  erzählende  und  dramatische  Litteratur  hin  verfolgt.  Der  Homulus  des  Petrus  Diesthemius 
wurde  vom  Kölner  Buchdrucker  Jasper  von  Gennep  übersetzt,  1539  aufgeführt,  1.540  gedr. 
Neudruck  Viersen  1873.  Die  meisten  deutschen  Dramen  schlössen  sich  an  den  Hecastus  des 
Macropedius  1538  an:  s.  Anm.  13«.  139.  84a)  Holstein  in  der  Z.  f.  d.  Philol.  16,  71: 
hier  auch  Näheres  über  den  Ehespiegel  von  Th.  Birck  1598:  Sievers  Beitr.  10,  199  über 
ein  verlornes  Spiel  von  ihm.  den  Hexenspiegel.  85)  Heinr.  Hoffmanns  Spenden  z.  deutschen 
Litteraturgeschichte  2,  47.  52.  Vgl.  §  99,  57.  86)  Ein  lierUche  Tragedi  wider  die  Ab- 
götter y,  Basel  1535;  der  Verfasser  hier  nicht  genannt,  wohl  aber  in  der  Erweiterung,  Angs- 


II 


§  105  DKAMA.        STOFFE.  105 

Isis  ^',  so  dichtete  mau  denn  auch  Drameu  genug  und  wieder  hier  auch  Fast- 
nachtsspiele, die  einzig  und  unmittelbar  und  gerades  Wegs  diese  Richtung 
nahmen,  deren  Inhalt  zum  Angriff  gegen  die  alte  Kirche  erfunden  oder  zur 
Verherrlichung  der  neuen  aus  deren  Geschichte  geschöpft  und  etwa  noch  in 
Allegorie  gewendet  war.  Voran,  mit  all  der  Keckheit,  deren  diese  Dichtart 
nur  faehig  ist,  eine  Hauptwaffe  in  der  Reformation  von  Bern,  die  Fastnachts- 
spiele des  Venners  der  Stadt,  Nicolaus  Manuel,  von  1522  und  1530  *^  und 
ihnen  sehnlich,  nur  mit  noch  wilderem  Versbau,  eines  von  Hans  von  Rute 
1532  ^^.  Ebenfalls  der  ersten  Reformationszeit  gehört  das  niederdeutsche 
Fastnachtsspiel  von  Claivs  Bur  an.^^  ^  Ferner,  im  J.  1524  erfunden  und  1530  vor 
Karl  V  vielleicht  wirklich  aufgeführt,  eine  stumme,  nur  durch  Gebserden  spre- 
chende Comoedie,  das  Spiel  im  kceniglichen  Saale  zu  Paris  ^° ;  1537  Johan- 
nes Huss  von  JoH.  Agricola  ^\  etwa  1542  der  neue  deutsche  Bileamsesel  '•*^, 

bürg  1539;  vgl.  auch  Anm.  142.  87)  Etter  Heini  v.  Kottinger  xxvL  88)  Nie.  Manuel 
geb.  1484,  gest.  1530.  Über  ihn  Grueneisen:  Niclaus  M.  Leben  u.  Werke  eines  Malers  u. 
Dichters,  Kriegers,  Staatsmannes  u.  Reformators  im  16.  Jh.,  Stuttg.  u.  Tüb.  1837  und  die 
Ausgabe  von  Bächtold,  Frauenfeld  1878:  über  seinen  Todtentanz  (Bilder  und  Reime)  auch 
Haupts  Zeitschr.  f.  Deutsches  Alterth.  9,  349  fgg. ;  Klagrede  d.  armen  (jötzen  §  99,  12 ; 
Prosaschriften  von  ihm  §  109,  9  fg.  110,  12.  Seine  Fastnachtsspiele  vom  Pabst  und  seineu 
Priesterschaft,  von  dem  Unterschiede  zwischen  dem  Pabst  und  Jesu  Christo 
LB.  2,  55  fgg.  (beide  gespielt  1522)  u.  ein  Chorgericht  d.  h.  Ehegericht  (1530).  Das  erste 
hiess,  weil  es  von  der  Eintrieglichkeit  der  Seelmessen  für  die  Pfaffen  ausgeht,  auch  der 
Todtenfresser :  Glrüneisen  91;  von  Gengenbach  Anm.  72  gleichfalls  eine  Klage  über  die 
Todtenfresser:  Goedeke  P.  G.  153.  Das  letzte  (als  Spiel  des  15  Jh.  auch  gedruckt  bei  Keller 
2,  861  fgg.)  braucht  in  evangelischem  Sinn  einen  alten  Lieblingsstoff  der  Fastnachtsspiele, 
Klage  einer  Bauerndirne  wegen  Eheversprechens.  Dazu  kommen  bei  Bächtold  der  112  fgg. 
zuerst  veröffentlichte  Ablasskrsemer  1525  und,  1526  gedruckt,  Barbali,  ein  Gespr?pch,  in 
welchem  sich  ein  Msedchen  gegen  das  Kloster  wehrt.  89)  Ein  Fassnachtspil  den  vrsprung, 
Juiltung,  vnd  das  End  heyder,  Heydnischer,  vnd  Bcepstlicher  Abgötteryen  aUenMicIi  ver- 
glychende,  zuo  Bern  im  öcJitland  durch  die  jungen  Burger  gehallten,  Basel  1532.  Vgl. 
Anm.  1.  89a)  hg.  von  A.  Hcefer,  Greifswald  1850.  Vor  der  Reformation  ein  politisches 
Fastnachtspiel  de  schere  klodt  1520  dem  Bisehof  von  Hildesheim  zu  Ehren  gespielt:  Ausg. 
in    den    mittelniederdeutschen    Fastnaehtspielen    von    Seelmann,    Norden   und  Leipzig    1885. 

90)  Auf  den  Titeln  dreier  in  demselben  J.  1524  erschienenen  Drucke  hier  ein  Tragedia 
oder  S2)iU,  dort  Eyn  Comedia  genannt:  Panzers  Ann.  2,  320;  vgl.  Anm.  17.  Neuer  Ab- 
druck mit  Einleitung  von  Grüneisen  in  Illgens  Zeitschr.  für  die  histor.  Theologie  1838,  1, 
156  fgg.     S.  168  die  Vermuthung,   ursprünglich   sei  das  Spiel  lateinisch  abgefasst  gewesen. 

91)  Gottsch.   1,    75   fg.    Ueber   den  Verfasser  s.   Kawerau   in   Schnorrs  Archiv  10,   6  fgg. 

92)  Wie  die  schcen  Germania  durch  arge  list  vnd  zauberey  ist  zur  Bcepst  Eselin  trans- 
formirt  worden  usw.  Gottsched  1,  54  setzt  dieses  Drama  wegen  der  Schlussreime  Manes 
Hutteni  an  die  Teutschen  um  1522  an  (Hütten  f  1523) ;  um  1542  u.  als  Arbeit  Cammerlanders 


10«)  NEl  IIÜCIIDEUTÖCJIE  ZEIT.        XVI  JAlIUll.  §  105 

1593  Maunthis  von  IFciiir.  Eckstorni '•'-'' ,  159t>  der  Tapista  conver- 
sus  von  Friedrich  Dedekind '•'^,  1600  das  Curriculuni  vitcn  Luthcri 
von  Andreas  Hahtmann '",  1G17  endlich  smn  Jubel  Jahr  vnd  Frewden  Fest 
der  erneuten  Kirche  die  Tetzelocramia,  dass  ist  eine  lustige  Comoßdie  von 
Jühan  Tetzcls  Ahlasslram,  von  IIeinricii  Kiklmanx  '''  und  mit  wüster  Vcr- 
ha'hnung  des  ärgerlichen  MöncJilebens  die  Tragicocomoidia  vom  Yisitator  Crui), 
deren  Verfasser  sich  Pamphiliis  Münigsfeind  nennt.'-"'  Leider  fehlte  auch 
dieser  streithaften  Dramatik  die  noch  sclilimmere  Schattenseite  nicht,  die  Ge- 
hässigkeit der  Lutheraner  und  selbst  eines  Mannes  wie  Martin  Rinckart  auch 
gegen  das  reformierte  Bekenntniss  und  gegen  die  nur  mild  vertraglichen:  in 
solchem  Sinne  1592  ukk  Calvinische  Post-Reuter,  1593  Lutherus  redivivus 
durch  Zachariam  liivandrum  zu  Bischofswerda,    1613   von  Riiickart   der 

ElSLEBISClIE    christliche  RiTTER.'''^ 

So  ward  auf  die  Wahl  der  Stoffe  der  bestimmende  IlaupteinHuss  von  der 
kirchlichen  Bewegung  ausgeübt:  die  Gelehrsamkeit  wirkte  mehr  nur  auf  die 
Formgebung,  auf  die  des  Ganzen  und  bis  in  die  Einzelheiten.  Mit  den  Fort- 
schritten, welche  Gesang  und  Musik  überall  und  namentlich  im  Gebrauch  der 
Kirche  machten  (§  95,  28  fgg.  §  103),  und  bei  der  Verbindung,  die  von  Alters 
her  zwischen  dem  Kirchenlied  und  dem  auf  der  Bühne  bestand  (§  85,  35), 
hatte  aucli  hier  eine  reichere  Fülle  und  groessere  Kunstgerechtigkeit  solcher 
Einmischungen  Platz  gegriffen:  nicht  bloss  wie  etwa  vordem  zu  Beginn  des 
Stückes  ^^  ward  musiciert,  nicht  bloss  zum  Schlüsse  desselben  ein  geistliches 
Lied  von  Allen  angestimmt  ^^  und  zwischen  hinein  nur  hie  und  da  von  Choeren 

§  99.  20),  der  allerdings  nicht  genannt  ist,  Zarncke  in  SBrants  Narrenschitf  CXLI.  Ueber 
die  von  Zarncke  geltend  geniaclite  Interjection  Uan  s.  Grimm  Wb.  und  Goedeke  P.  Gengen- 
bach 608  fgg.;  hier  8.  310  fgg.  Abdruck.  Das  Beiwort  ncio  möchte  auf  I'mdichtuug  eines 
äitern  Stückes  schliessen  lassen.  92a)  Goetleke,  R(Pmoldt  (Anm.  80a).  93)  Biichersch. 
145.  94)  demselben,  der  Ringwaldts  Treuen  Eckard  in  dramatische  Form  gebracht  hat: 
§  99,  GO,  95)  Bücherschatz  147.  96)  den  Druckort  Strichnaicer,  typis  daustralihus, 
SHintibus  Conradi  von  der  Leiter,  sub  siyno  pendentis  cucuUigeri;  Zuschrift  an  die  Esauiten; 
als  Schlussgesang  eine  Parodie  des  Liedes  Nun  hmst  iitis  den  Leib  begraben  (das  Deutsche 
Kirchenlied  von  Phil.  Wackernagel  292  =  III  332  fg.):  Gottsched  1,  175  fg.  97)  Gottsch. 
1,  1<J8  fgg.  Neudruck  Halle  1883.  Die  Allegorie  mit  den  drei  ungleichen  Brüdern  Pseudo- 
Petrus in  Wälschland,  Martin  in  Eisleben  und  Johann  (d.  i.  Calvin)  in  der  Schweiz  ein 
unduldsam  verengtes  Seitenbild  jener  von  den  drei  Ringen  §  79,  49:  Grundlage  die  Gesta 
Rom.  45.  98)  Haupts  Zeitschr.  9,  329.  99)  Christ  ist  erstanden:  Osterspiel  Hansens 
von  Räte  Anm.  1;  vgl.  §  85,  35.  Den  vatter  dort  oben  (das  D.  Kirchenl.  v.  Ph.  "Wacker- 
nagel 287.  III  321)  und  Te  deum  hiudamus:  Boltzens  Weltspiegel  Anm.  78.  Erhalt  vns 
Herr  bei/  deinem  wort  (Kirchenl.  149.  111  2G :  von  Luther,  wie  die  im  Folgenden  angeführten 


ij  105  DRAMA.         8T0FFE.        VEKSBAU.  107 

oder  Einzelnen  gesungen:  jetzt  liebte  man  es,  den  Öchluss  iiuch  mit  Musik- 
lärm  '"'',  lind  jetzt,  wo  man  Acte  theilte,  auch  das  Ende  schon  jedes  Actes, 
wie  bereits  Reuchlin  gethan  (§  86,  23),  mit  Gesang  zu  bezeichnen  ^^^  und 
Gesang  des  Ernstes  '"^  und  des  Scherzes  ^"^  und  Musik  ^"*  in  entsprechend 
groosserer  H.äufigkeit  auch  der  Handlung  selber  einzuflechten.  Hier  denn  fand 
die  Gelehrsamkeit  sich  zu  zeigen  Anlass:  wie  in  das  Kirchenlied,  so  drängte 
sie  mit  antiker  Vers-  und  Stropiienmessung  sich  auch  in  den  Chorgesang 
der  Bühne  ein:  Beispiele  aus  den  Jahren  1532,  1535  und  1562  die  Dramen 
von  Kolross,  Birck  und  Haberer.  ^"^^  Noch  weiter  und  durchgreifender  und 
zugleich  in  nachahmender  Richtung  auf  den  wÄlschen  Versbau  hin  (§  94, 
36)  verfolgte  seit  1535  diesen  Weg  der  metrischen  Neuerungen  namentlich 
Paulus  Rebiiun,  von  Geburt  vermuthlich  ein  Berliner,  an  vcrschicdnen  Orten 
Lehrer  und  zuletzt  in  Ölsnitz  Geistlicher. ^"^  Schon  Georg  Blnder  in  einer 
Verdeutschung  des  Acolastus  von  1535  ^^'^  hatte  den  Misslaut  des  acht-  oder 
neunsylbigen  Gesprsechsverses  stellenweis  gegen  viersylbig  abgezsehlte  umge- 
tauscht: Rebhiin  in  der  Susanna  von  1535  ^°^  und  der  Hochzeit  zu  Cana  von 
1538  '"^  sowie  in  der  bloss  dialogischen  Klage  des  armen  Mannes  von 
1540  *^^  brachte,  Scene  für  Scene,  Abschnitt  für  Abschnitt  wechselnd,  eine  noch 
groessere  Mannigfaltigkeit  der  Maasse,  und  was  eine  Vorahnung,  wenngleich  keine 

Lieder):  Kathsclilag  P.  Paulus  iii  Anm.  149.  100)  Das  in  wechselnder  Form  wieder- 
kehrende Schlusswort  Spillüt,  blast  uff  (oder  schlanä  uff)!  wir  ivend  darvon.  101)  Davids 
OElung  von  Boltz  Anm.  44,  Schluss  des  6  Actes  ein  Lobgesang,  Im  Thon  Nun  fröuwt 
euch  lieben  Christen  gmeyn  (Kirchenl.  129.  III  5).  102)  Boltzens  Weltspiegel  im  6  Act 
das  Jacobs  Med  §  103,  25;  Schmids  Josua  Anm.  41  im  4  Act  ein  Klag  Med  Israelis  vber 
den  verlierst  zuo  Aj.  Inn  der  ivyss,  Vss  tieffer  noht  schry  ich  zuo  dir  (Kirchenl.  131.  III  7). 
103)  Rathschlag  P.  Paulus  in  im  1  Act  lateinische  Messgesänge;  in  Boltzeus  Weltspiegel 
Act  1  die  Parodie  Ins  tüffels  nammen  faren  wir  (§  76,  18).  104)  Beispiel  Brummers 
Apostelgesch.  Anm.  6.5.  105)  §  94,  ;32.  103,  50.  Haberers  Abraham  Anm.  30:  Beginn 
ein  vierstimmiger  Gesang  in  meistersingerischer  Form  ;  Schluss  des  1  Actes  Komm  schöpffer 
heiliger  geist  (Kirchenl.  138.  III  15);  des  2ten  ein  Gesang  in  der  melodia  Ingenium  quon- 
dam  fuerat  (deutsche  Reimhexameter);  des  3ten  in  der  meJody,  Vitamque  faciiint  beatiorem; 
des  4ten  in  deutschen  sapph.  Strophen;  des  oten  in  meistersingerischen.  106)  Von  Eeb- 
huns  nicht  vollendeter  oder  verlorener  deutschen  Grammatik  §  93,  14.  107)  Acolastus  — 
vertütscht  (vgl.  Anm.  135)  rund  gehalten  zuo  Zürich,  Zürcher  Druck;  nach  ihm  Josias 
Murer  in  seiner  Belagerung  der  St.  Babylon  Anm.  49  u.  im  Jungmannen  Spiegel  80;  sowie 
Joh.  Aal  im  Johannes  62;  Jon.  Wagner  in  den  hsl.  zu  Solothurn  vorhandenen  S.  Moriz 
und  S.  Urs:  Weller  Volksth.  229,  Gotthart  228a.  Auch  in  Wickrams  verl.  Sohn:  68c. 
108)  Erster  Druck  Zwickau  1536;  auffs  neiv  gemehret  vnd  gebessert  ebd.  1544.  Neudruck 
Stuttg.  Lit.  Ver.  1859;  auch  bei  Tittmann  Schauspiele  des  16  Jahrh.  109)  Neudruck 
Stuttg.  1859.        110)  Friedländers  Vorrede  zu  d.  Drama  Georg  Pondos  Anm.  147  S.  viii  fg. 


10«  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XVI  JAIIKII.  §  105 

Yorbcrcirung  der  sptetcren  "NVioderlicrstellungon  auf  diesem  Gebiete  war  (denii 
unmittelbar  Nachfolge  und  Zusammenhang  erweist  sich  nirgend  '"),  er  gab 
allen  Versen,  auch  denen,  wie  sie  bisher  allein  geherrscht,  auch  den  eilfsyl- 
bigen,  den  vers  communs,  die  er  aus  Frankreich  holte  ''^,  seiner  Absicht  nach 
und  meist  auch  wirklich  in  der  Ausführung  einen  geregelten  Rhythmus,  baute 
sie,  nicht  immer  freilich  ohne  die  Härten  des  Zwanges,  aus  Jamben  und 
Trocha?en  auf."^  Nur  begründete  er,  wiederum  wenigstens  seiner  Absicht 
und  dem  Bcwusstsein  nach,  selbst  diese  einfachen  Maasse  nicht  auf  die  alte 
und  volksmaessige  Uebung  Deutschlands,  sondern  auf  die  Regel  der  Antike, 
meinte  damit  narh  der  Lateiner  Art  zu  gchn."*  So  litt,  wenn  es  die  Dicht- 
kunst der  Heimath  galt,  auch  das  gesundeste  Auge  an  Weitsichtigkeit.  Und 
das  gebrach  gerade  ihm  sonst  nicht:  zumal  die  Susanna  mit  ihren  fest  und 
rund  gebildeten  Charactcren,  mit  ihren  Griffen  keck  ins  Leben  hinein  und 
mancher  Feinheit  voll  Gemüthes  weist  eine  ungewoehnliche  Begabung  auf. 

Das  Kirchenlied,  obschon  allem  Volke  bestimmt,  musste  sich  dennoch  von 
der  Gelehrsamkeit  seiner  Dichter  ganz  durchdringen  lassen  (§  103,  42.  49  fg.): 
das  Drama,  obschon  von  der  Gelehrsamkeit  so  mannigfach  berührt  und  durchweg 
umgestaltet,  sollte  damit  dem  Volke  doch  nicht  entrückt  sein.  Denn  nicht 
bloss  die  Fastnachtsspiele  wurden  in  dessen  Eigenthum  gedichtet:  auch  die 
übrigen  Dramen,  und  eigentlich  erst  diese  recht,  waren  zumeist  eine  Sache 
der  vollsten  Öffentlichkeit  imd  der  Theilnahme  Aller.  Jene  wurden  staets  nur 
von  Wenigen  und  in  der  Regel  wohl  auch  nur  vor  kleinerer  Zuschauerschaft, 
in  Häusern,  in  Wirthshäusern  ^^^,  seltner  wie  die  von  Gengenbach  und  Manuel 
auf  offener  Gasse  gehalten  '**^:  an  der  Auffuehruxg  dieser  ^^^  pflegten  von  der 

111)  Vielmehr  klagt  Rebhun  vor  der  Susanna  v.  1544  über  Tadel,  den  seine  neuen  Verse, 
und  unbefugte  Abänderung,  welche  dieselben  hätten  erleiden  müssen,  und  Krüginger  in 
seinem  Lazarus  (Anm.  70).  in  der  Bearbeitung  wenigstens  von  1.555  (Gottsch.  2,  211  fgg.), 
mischt  zwar  auch  viersylbige,  achtsylbige,  elfsylbige,  zwölfsylbige  Verse,  aber  nicht  mit 
solcher   Regelung    des    Wechsels    und    so ,    dass    er    eben    wieder    nur    die   Sylben   zsehlt. 

112)  Johann  TyrolflFs  (Anm.  33)  nach  Xaogeorgus  gedichtetes  Spiel  vom  Antichristischen 
Pabstthum  1538,  zu  welchem  Rebhun  eine  belobende  Vorrede  geschrieben,  ist  ganz  in  vers 
communs  verfas.st:  Gottsch.  1,  79  fg.  113)  Mit  jedem  Wechsel  ist  das  Mass  in  —  und 
V  darüber  gedruckt.  114)  Vorrede  zur  Klage  des  armen  Mannes.  Doch  s.  auch  Höpfner, 
Reformbestreb.  13,  3t3.  115)  So  im  Mittelalter:  §  Sfj,  12;  so  Gebrauch  bei  Hans  Sachs: 
LB.  2,  106.  35.  116)  In  Gengenbachs  Gauohmatte  Anm.  72  ladet  der  Hofmeister  der  Frau 
Venus  alles  umstehende  Volk,  jung  und  alt.  arm  und  reich  usf.  zu  seiner  Herrinn  ein;  aehnlich 
in  Manuels  Chorgericht  Anm.  88  von  den  zahllosen  Narren  ringsumher  und  bis  auf  die  Dächer. 
Für  eben  dessen  Spiel  vom  Pabst  u.  Christo,  worin  nur  ein  Aufzug  von  Gesprsech  begleitet 
wird,  war  schon  durch  diesen  Inhalt  die  Aufführung  auf  der  Gasse  gefordert.         117)  Reich 


§  105  DRAMA.        YERSBAU.        AUFFUEHRüNG.  109 

Obrigkeit  herab,  die  mit  Geld  und  sonstiger  Fürsorge  half  "^  stufenweis, 
massenweis  Alle  und  in  der  ganz  andren  Ai-t,  die  daraus  weiter  folgte,  mit- 
zuwirken. Das  Spiel  ward  eine  Angelegenheit  des  Staates  oder  der  Stadt: 
darum  auch  sprach  ein  Herold,  und  öfters  ihrer  mehr  als  einer,  angethan, 
wie  ihn  die  Holzschnittbilder  der  alten  Drucke  zeigen,  mit  Wappenschild  und 
Wappenfarben,  die  Eröffnungs-  und  die  Schlussrede  und  trug  in  jener  etwa 
das  Argument  (Anm.  19 — 20),  in  dieser  eine  Ausdeutung  und  Anwendung 
des  Ganzen  vor:  da  doppelt  passlich,  wo  schon  im  Ganzen  poUtische  Bezüg- 
lichkeiten walteten  wie  bei  Gengenbach,  bei  Rueff,  bei  Boltz  und  anderen 
Dichtern  namentlich  der  Schweiz:  derselbe  Zug,  von  dem  in  der  Schweiz  auch 
die  heimathliche  Geschichtsschreibung  und  Geschichtsdichtung  besonders  ist 
gefördert  worden  (§  108,  7).  Es  geschah  aber  die  Aufführung  durch  die  ge- 
sammte  dessen  fsehige,  besonders  also  durch  die  jüngere  Bürgerschaft  ^^^;  auch 
die  Weiberrollen  wurden  dabei  von  Männern  gespielt  ^"-*',  wohl  aus  Schick- 
lichkeitsgefühl,  nur  dass  man  die  so  verkleideten  und  vor  denselben  manches 
sagen  und  thun  Hess,  womit  wirkliche  Weiber  eher  wseren  verschont  worden. 
Den  Dichtenden  nun  lag  ob,  mceglichst  vielen  eine  Stelle  wo  nicht  im 
Gespr£ecli  und  in  der  Handlung  selbst,  doch  wenigstens  auf  der  Bülme 
und  so  Gelegenheit  zu  anständiger  Mummerei  zu  geben:  es  kam  zu  Stücken 
mit  mehr  als  hundert  redenden  und  einer  noch  viel  groesseren  Menge 
stummer  Personen.'-^  Das  musste  die  Handlung  weitläuftig  machen,  den 
an  lebensvollen  Zügen  zur  Kenntniss  dieses  Theiles  der  alten  Dramatik  ein  Abschnitt 
in  der  Lebensbeschreibung  Felix  Platters  von  Basel:  Thomas  Platter  u.  Felix  Platter  von 
Fechter,  Basel  1840,  122—124:  (Neudruck  v.  Boos  S.  143  fgg.).  Josias  Simlers  lobpreisender 
Bericht  über  das  Basler  Spiel  von  der  Bekehrung  Pauli  (Änm.  46):  Neujahrsblatt  des  Waisen- 
hauses in  Zürich  1855,  6.  118)  .Schlussrede  des  Joben  Spils  Anm.  39  Hiemit  frommen, 
tcysen  Herren  Banckend  wir  üch  aller  eeren  Die  jr  vns  hand  fhuon  heicysen  Darumh  u-ir 
üch  billich  prysen  Kein  kosten  Jmnd  jr  üch  duren  Ion  Was  wir  üch  hauend  hand  jr  ge- 
thon  Vil  wyns  geschenckt  zuo  eer  der  weit  Gmeinen  kosten  auch  mit  barem  gelt  Vssgerichtet, 
geschettckt  hundert  pfund.  Gleicher  Dank  in  der  Zueignung  des  Tobias  Anm.  46.  Greif 
in  der  Vorr.  zu  Abraham  1540  rühmt,  dass  Kurfürst  Joh.  Friedrich  die  Kosten  mehrerer 
Tragcedien  getragen  und  die  Actoren  beschenkt  habe:  Tittmann  Schauspiele  1,  xxxviii. 
Der  Stadtrath  zu  Freibnrg  fügte  den  Geldunterstützungen  sogar  noch  Thurmstrafe  für  die 
bei,  Avelche  die  Proben  versäumten:  das  Theater  zu  Freiburg  von  Heinr.  Schreiber  21. 
119)  Angaben  der  Art  auf  den  Titeln  beinah  aller  Drucke:  öfters  auch  dem  Per- 
sonenverzeichniss  die  Namen  der  Spieler  beigesetzt.  120)  Belege  in  den  Personen-  und 
Spielerverzeichnissen:  Felix  Platter  in  einem  Schulspiel  (Anm.  133)  ein  Gratia,  Zwingerus 
die  Paiche,  Scalerus  die  Hippocrif^is:  a.  a.  0.  122.  Doch  scheint  ebd.  berichtet  zu  sein,  dass 
einmal  die  Susanna  auch  von  einem  Maedchen  gespielt  worden,  und  vom  Mitspielen  solcher 
in  einem   andren   Stücke  wird    123  bestimmt   berichtet.     Vgl.  Anm.  147.         121)    z.  B.  in 


110  NEUHOCllDEUTSClll-:  ZEIT.         XVI  JAllJUL  §  105 

Fortaclnitt  der  Thatcn  und  der  Roden  lionimon,  und  so  ward  nicht  selten  die 
classische  Zahl  der  Acte  weit  überschiitton  und  für  die  Aufführung  noch  ein 
zweiter  Tag  in  Ansprucli  genommen.'--  Alles  das,  abgesehen  von  der  Thei- 
lung  in  Acte,  wie  schon  im  Mittelalter  (§  85,  17  tgg.  86,  13);  ebenso,  was 
allein  solch  eine  Spiolermongc  moeglich  machte  und  zugleich  eine  Folge  der- 
selben war,  das  Sj>i(>l  unter  freiem  Himmel,  in  weit  off'encn  Jläumen,  mit  ein- 
fachster Bülinenzurüstung  und  Maschinerie.'-^  Du  liarten  und  schauten  den 
Ifuudorten  Tausende  zu,  und  jene  wie  diese  mocliten  der  Lust  um  so  ehei' 
sich  ergeben,  da  sie  immer  noch  eine  seltnere,  vielleiclit  nur  jährlich  einmal 
wiederkehronde  und  man  auch  jetzt  noch  gewohnt  war  das  Spiel  nur  auf  Tage 
der  festlichen  Flusse  und  sonst  schon  frcehlicher  Stimmung  anzuberaumen,  auf 
Sonntage  '-*,  auf  Tilge  nah  an  den  hohen  Festen  der  Kirche  '^■',  auf  Neu- 
jahr '-*'  und  sogar  Tragoidien  auf  die  Fastnacht.'-^ 

In  solcher  Art  war  an  den  dramatischen  Uebungen  das  ganze  Volk,  auch 
die  Masse  der  Ungelehrten,  ein  jeder  irgendwie  betheiligt:  dieser  Masse  denn 
zu  Lieb   geschah    Ijereits  in   der  Dichtung    manches,   was  sonst  die  Dichter 

RueflPs  Adam  und  Heva  (Anm.  20)  106,  in  Boltzens  Weltspiegel  (Anui.  78)  löS  Personen, 
alle  redend;  in  Joli.  Kassers  Comcedie  aus  Evang.  Matth.  21  u.  22  (Anm.  71a)  deren  162:  in 
Pauli  Bekehrung  auch  von  ßoltz  (Anm.  64)  nur  78,  aber  (Aufführung  zu  Basel)  Der  Rudolf 
Fry  war  luiuptman,  Jiatt  by  100  hurger,  alle  seiner  färb  angethon,  under  seim  fenUn :  Fei. 
Platter  122;  in  Holtzwarts  Saul  (Anm.  43)  110  redende  et  mutarum  quan  appellant  drdtcr 
200.  122)  z.  ß.  Gedeon  Anm.  42.  Goliath  Anm.  44  a,  Adam  u.  Heva,  Weltspiegel,  Saul, 
Tobias  Anm.  46.  Wickrams  Tobias  von  zwei  Tagen  auf  einen  abgekürzt:  Gottsched  2,  220. 
In  der  Zerstoerung  Trojas  von  Georg  Gotthart  am  ersten  Tage  9,  am  zweiten  12  Acte.  Vgl. 
Anm.  153.  123)  Susanna  gespielt  zu  Basel  auf  dem  Fischmarkt:  Die  brüge  (Bühne)  war 
uf  dem  hrunnen,  u.  war  ein  zintiener  kästen,  darin  die  Susanna  sich  teesehet,  doselbst  am 
hrunnen  gemacht.  Ebenda  auf  dem  Kornmarkt  Pauli  Bekehrung:  der  Balthasar  Han  war 
der  hergott  in  eim  runden  himmel:  der  hieng  oben  am  pfaicen  (Haus),  dorus  der  strol 
schoss,  ein  fürige  racketen,  so  dem  Saulo,  alss  er  vom  ross  fiel,  die  hosen  anzündet.  — 
Ln  himmel  macht  man  den  donner  mit  fassen,  so  vol  stein  umgedriben  ivaren :  Fei.  Platter 
122.  124)  z.  B.  Rebhuns  Susanna  Anm.  108  zu  Kahla  am  Sonntage  Invocavit  153;'). 
125)  nach  Ostern:  Fünfferley  betrachtnusse  Anm.  76;  Osterspiel  Anm.  1;  Zorobabel  Anm. 
48  in  Zürich  nach  Osteren  1575  u.  a.  Pfingstmontag:  Rueff's  Weingarten  und  Brummers 
Apostelgeschichte  Anm.  65  u.  68.  W^eihnachtsspiele  Anm.  54  fgg.  126)  Das  ältere  Spiel 
von  Wohl-  u.  Übelstand  der  Eidgenossenschaft  Anm.  77:  Binders  Acolastus  Anm.  107  Be- 
schluss  Das  schenckt  man  üch  zum  guoten  jar;  Funckelins  Empfängniss  und  Geburt  Christi 
Anm.  55.  Am  Innsbrucker  Hofe  zum  Sonnenwendfeuer,  das  dem  Neujahrsfeste  gegenüber- 
liegt, 1583  der  Raub  der  Proserpina  gespielt:  Freiesleben  15  fg.  127)  Nicht  bloss  Apelles 
Narrenschtd  zur  Fastnacht  (Comcedie  in  Acten,  kein  s.  Fastnachtsspiel)  Anm.  81,  sondern 
auch  ToHiA.s  KoBER.s  Idea  Militis  rere  (Ivisfiani,   Tragoedia  usw.  1607    und   ein  geistlich 


f 


§  105  DKAMA.         AUFFUETIRTTNG.  111 

• 

oder  (locli  die  meisten  unter  ihnen  vielleicht  anders  gemacht  hätten.  So  die 
Vorsorge  für  mancherlei  Schaugepränge,  für  bunte  lärmende  Aufzüge  zu  Fuss 
und  Ross  (Anm.  121)  und  Aehnliches;  so  auch  die  durchweg  geltende  Ver- 
letzung des  Costüms,  die  allerdings  mit  jedem  Schritte,  den  sie  weiter  ab 
von  den  eigenthümlichen  Formen  des  antiken  oder  alttestamentlichen  Lebens 
that,  der  Fassungskraft  und  der  Fassungslust  des  Volkes  den  fremden  Stoff 
nseher  brachte,  und  hiemit  verbunden  die  Belebung  der  Fremdheit  und  des 
Ernstes  durch  Scenen  voll  launig  heimathlicher  Sittenschilderung  ^-^,  durch 
die  mit  Hass  und  Grausen  untermengte  Komik  jener  Nebenpersonen,  die  ebenso 
schon  das  Mittelalter  gebraucht  hatte,  der  Aerzte,  der  Juden,  der  Teufel  *-^, 
und  durch  die  bald  harmlosen,  bald  bitteren  Spässe  noch  einer  anderen,  die 
erst  jetzt  in  Gebrauch  *^°  und  besonders  als  Prolog  imd  Epilog  neben,  ja  vor 
den  Herold,  ja  gänzlich  an  dessen  Platz  zu  stehen  kam  ^^\  des  Narren. '-^^ 
In  ihm  personificierte  sich,  unbewusst  den  Dichtern  selbst  und  noch  sehr  un- 
genügend, die  humoristisch-ironische  Weltanschauung,  so  dass  ihm  in  ernster 
Dramatik  eigentlich  mit  noch  groesserem  Recht  eine  Stelle  ward  als  neben 
den  Scherzen  der  Komoedie  und  des  Fastnachtsspieles, 


Fastuachtspiel  vom  Joseph  1610:  Gottsched  1, 160.  166.  Vgl.  Anm.  74  fgg.  128)  Bircks 
und  Rehhuns  Susauna  Anm.  51.  108  (Kinderscenen),  Ackermanns  Verlorener  Sohn  Anm.  68, 
.loben  Spiel  Anm.  39,  Wickrams  Tobias,  vom  reicheu  Mann  u.  armen  Lazarus  Anm.  69  u.  a. 
129)  §  85,  '2 — 4.  Juden  u.  Arzt  z.  B.  in  Pauli  Bekehrung  und  der  jungen  Mannen  Spiegel 
Anm.  64  u.  80.  Teufel  oft  und  wo  auch  nur  ein  entfernter  Anlass  und  mit  breiter  Aus- 
führung wiederholter  Gesprseche:  z.  B.  Gottsched  1,  138.  159.  161.  167  fg.;  zu  vgl.  Ein 
lüstig  (jesprech  der  Teuff'el  vnd  etlicher  Kriegsleute,  Von  der  flucht  des  grossen  Scharrhansen 
H.  Heinrichs  v.  Brunschtcig  1542:  Goedeke  in  der  Zeitschr.  d.  Histor.  Vereins  f.  Nieder- 
sachsen 1850,  91.  Den  Berchtoldus  redivivus  Anm.  26  eröffnen  sogar  schon  als  Vorredner 
Claus  Narr,  Lucifer  und  Herold,  den  Absolom  Anm.  45  Lucifer,  Moloch,  Narr  u.  Herold. 
Namen  der  Teufel  wie  im  Mittelalter:  z.  B.  in  Rueffs  Wohl-  u.  Übelstand  d.  Eidgenossenseh. 
Anm.  77  Luzifer,  Sathan,  Beizebock,  Bell,  Eunzifal,  in  der  Belagerung  Babylons  Anm.  49 
Lucifer,  Satan,  Ästharoth,  Beel,  Beltzihoch,  Milcom;  Buntzifal  neben  Sathan  auch  im 
Joben  Spiel.  Vgl.  §  106,  32.  130)  Doch  kann  bereits  1560  im  Beginn  von  der  jungen 
Mannen  Spiegel  Anm.  80  der  Narr  sagen  Es  ist  ein  alt  harkomner  sitt  den  Jan  ich  yetz 
ouch  gältten  Das  givonlich  louffend  narren  mit  in  spylen  von  ye  loältten  —  Zuo  dem  nmn 
mir  den  fortantz  lat  vor  allen  disen  possen;  in  einem  handschriftlichen  Stücke  zu  Bern  es 
ist  ein  sprichivort  allgemein,  das  Teein  spil  ienen  sig  so  klein,  in  dem  nit  ein  narr  muesse 
gyn:  Mones  Schauspiele  d,  Mittelalters  2,  415.  131)  z.  B.  Anm.  129;  in  der  Magelone 
Anm.  23^ — 24  werden  Vor-  u.  Schlussrede  nur  von  dem  Morio  gesprochen.  132)  Unsre 
Redensart  der  Narr  im  Spiele  sein.  Mit  eignem  Namen  im  Beichtholdus  Anm.  129  u.  im 
Zorobabel   Anm.   48   Claus  Narr   (vgl.  §  107,  52),   in   der  Welt   Spiegel  Anm.  78   Heiny 


112  NEUIIOCllDEHTSCIIE  ZEIT.        XVI  JAirRTI.  §  105 

Dio  bisherige  Scliildcrung  hat  uns  im  Drama,  melir  als  selbst  in  dem 
lieiligon  Gesang  des  Kirchenliedes,  die  Lust  und  Freudigkeit  des  Volks  und 
die  Hingebung  seiner  Gelehrten  zu  fruchtbarer  Wechselwirkung  vereint  gezeigt. 
Aber  es  stand  nicht  überall,  nicht  immer,  nicht  für  die  Dauer  so :  auch  diese 
Dichtart  sollte  der  Beeinträchtigung  durch  Übergriffe  der  Gelehrsamkeit  und 
durch  die  Engheit  der  Gelehrten  nicht  entgehen.  Schon  der  Ablauf  des 
Mittelalters  hatte  das  Drama,  zu  dessen  Aufführungen  man  seit  langem  ge- 
wohnt war  auch  Schuelkr  zu  verwenden  (§  85,  11.  12),  unter  die  Schul- 
übungen selbst  mit  aufgenommen  (§  8G,  22.  23) :  das  dauerte  jetzt  so  fort  und 
setzte  sich  noch  immer  fester  *'^,  zuerst  nur  in  den  evangelischen,  bald  durch 
Nachahmung  auch  in  den  Jesuitenschulen;  ststs  mehr  fand  man  diesen  "Weg 
besonders  geeignet  um  die  Jugend  zu  einem  volleren  und  leicht  geläufigen 
Gebrauch  der  Sprachen  des  Alterthumes  heranzuziehn.'^^*  Denn  immer  noch 
waren  es  meist  und  der  Regel  nach  latkinisciie  und  nun  sogar  grieciiisciik 
DuAMKN  ^^\  die  man  von  den  Knaben  und  Jünglingen  der  hoeheren  imd  der 
hohen  Schulanstalten  spielen  liess,  und  namhafte,  darunter  auch  mit  Dichter- 
kraft begabte  Gelehrte,  ein  Thomas  Naogeorgus,  ein  Nicodemus  Frischlin, 
ein  Caspar  Bruelow,  machten  es  sich  um  dieses  Zweckes  willen  zur  Ange- 
legenheit, den  Schatz  der  altroemischen  Überlieferung  noch  um  manch  neues j 
Erzeugniss  zu  vermehren,  das  auch  biblischen,  heimathlichen,  allegorisch  er-^ 
fundenen  Stoff  in  die  classische  Sprache  und  Kunstform  brachte.'^''     Zwar  kam 

Wunderfitz,  1553  u.  1573  in  einem  Fastnachtssp.  von  Peter  Probst  und  in  Rolls  Comoedie 
vom  Falle  Adams  schon  Hans  Wurst  (Gottsch.  1,  35.  118):  oder  ist  es  beidemal  nur  der 
Name  eines  Fressers  {WtirstJians  bei  HSachs:  Schmellers  Bair.  Wörterb.  4,  158),  in  welchem 
Sinn  auch  Luther  1541  den  dicken  Herzog  Heinrich  ii  von  Braunschweig-AVolfenbüttel  einen 
Hans  Worst  betitelt  hat?  Ein  Wursthänsel  in  den  englischen  Spielen  neben  dem  Jan: 
Cohn  Shakespeare  in  (iermany  LX ;  doch  dies  wie  es  scheint  ein  dürrer  Narr.  Vgl.  §  106, 
37.  Vgl.  hierzu  u.  zu  den  vorhergehenden  Anm.  Weinhold  in  Gosches  Jahrbuch  für  Litte- 
raturgeschichtc  1,  1  fgg.  133)  Beispiele  von  der  Univ.  u.  dem  Gymnasium  zu  Basel  bei 
Burckhardt  in  d.  Beitrsegen  z.  Gesch.  Basels  1839,  197  fgg.  133a)  Das  lat.  Schuldrama 
des  16.  Jahrh.  erhielt  seine  höchste  Ausbildung  in  den  Niederlanden  durch  Gnaphaeus,  Crocus 
und  Macropedius:  s.  die  Anm.  135.  Ihre  Werke  haben  selbst  das  deutsche  Volksschau- 
spiel beeinflusst.  In  Deutsehland  war  die  academische  Bühne  zu  Strassburg,  welche  1538 
mit  dem  Anabion  (Lazarus)  von  Sapidus  eröffnet  wurde,  besonders  berühmt.  Die  Auffüh- 
rungen fanden  (wie  auch  in  Magdeburg)  zur  Messezeit  statt.  Vgl.  Jundt  im  Programm  des 
protest.  Gymu.  Strassburg  1881.  134)  Zu  Zürich  1531  Aristophanes  Plutus:  Grüneisens 
Manuel  41 ;  1535  sagt  Georg  Binder  in  der  Vorrede  zu  seiner  Verdeutschung  des  Acolastus 
Anm.  107  Ich  hab  mm  etwan  vil  iaren  hie  Zürich  mit  viinen  knaben  vil  der  Latinischen 
vml  Griechischfn  comcedicn  Terentij  vnä  Aristnphanis  gespylt ;  1598  zu  Strassburg  Euripideaj 
Medea   nel>st  ClioM'en  IMndars:    Bücherschatz  145.  185)  Mehrere   Einzeldrucke   der  Art 


§  105  DRAMA.        SCHULSPIEL.  113 

mitunter  wohl  auch  ein  deutsches  Stück  7Aiv  Aufführung  durch  Schüler  *^*', 
und  eins  und  das  andre  jener  neulateinischen  wurden  verdeutscht  *^^,  die 
besseren  oder  mehr  ansprechenden  sogar  wiederholendlich  '^^,  und  wurden  auch 
so  von  Schülern  *^"  und  so  nun  auch  von  Ungelehrten  gespielt  ^^":  aber  damit 
war  das  Übel  nicht  vergütet,  geschweige  beseitigt,  dass  die  Latin  itset  auch  hier 
und  hier  besonders  der  deutschen  Dichtkunst  gerade  die  Fsehigsten  und  Ge- 
bildetsten entzog,  dass  neben  dem  Lateinischen  das  deutsche  Drama  in  Ver- 
achtung und  Zurücksetzung  gerieth  '^'  (meinte  man  doch  deutschen  Gedichten 


verzeichnet  im  Bücherseh.  138;  eine  Sammlung  10  lateinischer  Dramen  (darunter  Acolastti^ 
h.  e.  historia  de  filio  prodigo  von  Gulielmus  Gnapheus,  Pammachius  von  Naogeorgus,  He- 
cnstus  von  Georgius  Macropedius  d.  i.  Langeveld)  gedruckt  zu  Basel  1540:  Comcedi(B  ac 
tragcedicc  aliquot  ex  novo  et  vetere  testamento  desiimptce  —  Adiunximus  xnmterea  äziafi 
lejndtssimas  conicedias,  mores  corruptissimi  secuU  elegant issime  depingentes.  Naogeoi'gus 
und  Nicod.  Frischlin  §  94,  11.  136)  Ein  Lustspiel  vnnd  vast  ehrliche  Kurtsweile  v. 
Veneris  vnd  Palladis  gesenck  —  Durch  einen  vleissigen  ehrliebenden  Studenten  gemeiner 
jugent  zu  gut  verfasset  (Umarbeitung  einer  Comoedie  HSaehsens),  Wittenb.  1536 :  Bücher- 
schatz 142;  Rechtfertigung  der  Jugend  zu  Bartfeld  in  Ungarn  1559,  dass  sie  die  Susanna 
deutsch  auiführe,  nicht  lateinisch:  Gotisch.  2,  219:  in  Magdeburg  spielte  man  erst  eine  lat. 
Comoedie,  dann  eine  deutsche  erst  auf  dem  Rathause  vor  dem  Rate,  hierauf  unter  freiem 
Himmel  vor  allem  Volke:  Goedeke  Grundr.  306  nach  einer  Nachricht  von  1561;  1544  u.  1621 
Spiele  der  Lateinerknaben  auf  dem  Münsterhof  in  Zürich:  Memorabilia  Tigurina  v.  Hans 
Heinr.  Bluntschli  96;  1603  zu  Rochlitz  Josephus  Tragicomieus  von  Andreas  Gasmann: 
Gottsch.  1,  166:  1597  bei  den  Jesuiten  zu  München  S.  Michael:  Freiesleben  19;  1611  bei 
denen  zu  Dillingen  *S'.  Udalricus :  Büchersehatz  147.  137)  z.B.  Cornelius  relegatus,  lat. 
V.  Albertus  Wichgremus  und  so  gespielt  zu  Rostock  1600,  deutsch  v.  Joh.  Sommerus  Cycnceus 
(§  101,  13):  Gottsch.  1,  158;  Naogeorgs  Jeremias  1608  von  Wolf  hart  Spangenberg  (Anm. 
11):  Bücherseh.  146.  Zuweilen  von  den  Verfassern  selber  übersetzt:  Beispiele  von  Mart. 
Hatneccius  u.  Tobias  Kober  Gottsched  119  und  161.  Der  erstere,  Rector,  zuletzt  zu 
Grimma,  schrieb  einen  Almansor,  deutsch  1582  (aus  welchem  H.  RuD.  Klauber  seinen 
Almansor,  Basel  1590,  entnahm),  u.  Hans  Pfriem  od.  Meister  KecJcs  1582  (lat.  Hansoframea 
oder  Momoscopus  1581),  auf  Grund  von  Volksmierchen  und  volksthümlich  derb,  Neudruck 
des  letzteren  Stücks,  Halle  1882.  188)  Naogeorgs  Pammachius:  Bücherseh.  141.  Gott- 
sched 1,  72.  79.  2,  200;  desselben  Kaufmann:  Bücherseh.  141.  145.  Gottsch.  85;  beide  Stücke 
reformatorisch.  Langevelds  Hecastus:  Gottsch.  96.  115.  123.  Frischlins  Rebecca:  Gottsch. 
123.  Bücherseh.  147;  desselben  Phasma  fGres/c/ti  von  mancherley  Ketzereyen):  Gottsch.  137. 
163;  und  Julius  redivivus:  ebd.  143.  Bücherseh.  144.  Daniel  Cramers  Plagium  (Sachs. 
Prinzenraub)  durch  Barthol.  Ringwaldt  (§  99,  57)  u.  Joh.  Sommer :  Bücherseh.  144.  Gottsch. 
157.  139)  Hecastus  zu  Nürnberg  1549:  Gottsch.  1,  96;  vgl.  Terenzens  Hecyra  ebd.  65 
und  die  deutschen  Vor-  u.  Beschlussreden  zu  Sophoeles  Aiax  Lorarius  und  Euripides  Medea: 
Gottsched  165.  Bücherschatz  145.  140)  Acolastus  —  rertütscht  vnnd  gehalten  suo  Zürich 
von  Georg  Binder,  Zürich  1535.  141)  Jos.  Murers  Prologus  zu  der  jungen  Mannen  Spiegel 
WacTcernagel,  Litter.  Geachiclite.  II.  " 


114  NEUIIOCIIDEIITSCIIE  ZEIT.         XYT  JAIIRII.  §  105 

auch  dieser  Art  den  recliten  Wortli  und  Ooljrauch  erst  dann  zu  gehen,  wenn 
man  sie  in  Latein  übertrüge  '"'-),  dass  endlich  die  Einschriliikung  auf  Scliüler 
und  Schulfeste  und  die  lliiunilichkcitcn  der  Schule  '"  ein  Vorbild  ward  auch 
anderweit  die  Auttulirung  cijizuschriinken,  auf  das  Spiel  etwa  bloss  der 
MKisTKKSiN(iKU  eines  Orts  "'  oder  einer  schon  Comcodianten  lehnlichen  Likh- 
uABERüE8ELL8CHAi''T  '^^  uod,  was  Ajifaugs  nur  bei  Fastnachtsspielen  gescliehen 

löljU  Anm.  80  beginnt  Hoch,  wohjeleert,  fürnemen,  frommen  darum  wir  also  grüst  Juir 
kommen  Hat  rnn  verursacht  das  alein  ivyl  man  von  alter  har  in  gmein  Eerlicher  spilen 
Rieh  hrucht  hat  vnd  sonders  hie  in  diser  statt  Als  wir  von  alten  ril  Itand  ghcert  nun  aher 
sinds  rmcerd  zerstart  Wi/ls  nit  lieissen  Commcdien  old  Latinisch  Thragedirn  Man  spricht 
die  Jugend  ueht  sich  drinn  das  ist  auch  vnser  aller  sinn  Latin  hat  vnser  keinr  gstudiert 
wir  sind  nit  also  gschivind  vnd  gfiert  Das  wir  latinsch  Commedien  dichten  drutnb  wir  vns 
nach  dem  TütscJien  richten  Wir  bgtcrend  auch  hierinn  zuo  leeren  vnd  so  mans  vns  gleych 
thuot  i-^rkeeren  So  sinds  im  grund  grad  söllich  lüt  die  vff  den  künsten  haltend  7iiit  usw. 
Doch  ist  die  Nameugcbung  der  autikon  Comujdie  und  das  ganze  Gedicht  dem  Aeoiastus 
nachgebildet.  142)  Die  Susanna  von  Sixt  Birck  1532  deutsch  (Anm.  51),  1537  lat.  ge- 
dichtet: Susanna,  comoedia  tragica,  per  Xystum  Betuleium  Augustanum,  Augsb.  1537;  Beel, 
Eine  Geistliche  Comico-Tragn'dia,  Erstlich  aus  dem  teutschen  Exemplar  Xysti  lietuleii  (vgl. 
Anm.  8G)  in  die  lat.  Sprach  vertiert  vnd  Kilf)  inn  Gymnasio  Ulmensi  publice  agiert,  ]\'un- 
mehr  aber  widerumb  inn  teutsche  JReymen  vberlegt  durch  Joan.  Cunr.  Merckium,  Ulm  IG  15: 
Büchersch.  147.  143)  Doch  gieng  z.  B.  in  Basel  (Fei.  Platter  122  fg.)  dem  Spiele  der 
Gymnasiasten  und  Studenten  ein  Umzug  durch  die  Stadt  voraus,  der  sie  den  Eltern  und 
Freunden  uud  allem  Volk  bereits  in  der  Verkleidung  ihrer  Rollen  zeigte,  eine  ^^roccs-s  gleich 
der  mittelalterl.  processio  ludi  §  85,  IG.  144)  so  zu  Augsburg,  wo  im  .1.  1510  Kolross 
fünf  Betrachtungen  Anm.  7G  den  Anfang  machten :  Kunstgesch.  d.  RSt.  Augsburg  v.  Paul 
V.  Stetten,  Augsb.  1779,  530:  Vermuthung  Gottst^heds  2,  224.  dass  der  Sebastian  Wilu 
zu  Augsburg,  der  1566  schon  in  zweiter  Ausgabe  zwülf  Dramen  drucken  lassen,  ein  Meister- 
sänger gewesen  ;  zu  Nördlingen,  wo  meist  Dramen  von  HSachs  aufgeführt  wurden:  s.  Schnorrs 
Arch.  13,  34  fgg. :  zu  Freiburg  im  Breisgau:  d.  Theater  zu  Freiburg  v.  Heinr.  Schreiber 
21;  zu  Strassburg,  wo  1598  die  Meistersinger  HSachsens  Comcedie  von  Darius  und  seineu 
drei  jüd.  Kämmerlingen  vermehrten  u.  besserten  und  die  Geschichte  u.  das  Lob  der  Sitig- 
schul  von  Lycosthenes  Psellionoros  in  gestalt  einer  Comcedi  und  wohl  für  das  Spiel  der  zu- 
nsechst  gefeierten  seihst  allegorisiert  und  das  Gericht  Salomonis  von  demselben  als  Oimcedische 
Singschul  gedichtet  ward:  Gottsched  1,  174.  186  fgg.  §  100,  37.  Zeugnisse  über  dram. 
Aufiührungen  der  Meistersinger  im  17  Jahrh.  s.  Strassb.  Stnd.  1,  92  fgg.  Für  sie  dichtete 
Wolfh.  Spangenberg  seine  Comoedieu  Wie  gewunnen  so  zerrunnen  und  Glückstcechsel,  uud 
seine  tragwdische  Vorbildung  Mammons  Sold,  alle  gedr.  Nürnb.  1613.  Von  Nürnberg  selbst, 
wo  doch  HSachs  u.  Peter  Probst  die  Meistersinger  auch  Dramen  dichteten  (§  98,  37),  wird 
dergleichen  nicht  erztehlt.  145)  Laut  der  Vorrede  zu  dem  Joseph,  welchen  1593  Job. 
Schlayss  nach  einer  deutschen  Comu^die  v.  Christian  Zyrl  und  einer  lateinischen  v.  Aegidius 
Hunnius  zusammengedichtet,  hatten  ein  Hans  Pfister  und  eine  ehrbare  Gesellschaft  zu  Tü- 
bingen   schon    öfters    deutsche  Comu'dien    gehalten    uud    waren  dabei  vom  Rath  unterstützt 


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§  105  DRAMA.        DRUCK.  115 

war  (§  86,  12),    auf   den  engeren  Zuschauerkreis,   den    ein  Fest  im  Haus 
eines  Bürgers  ''*''  oder  ein  Hoffest  ^"  sammelte. 

Die  Abwendung  vom  Leben,  die  schon  in  solchem  Ausschluss  des  ge- 
summt mit-Nvirkenden  Volkes  lag,  erscheint  aber  auf  das  Ausserste  getrieben, 
wenn  dramatische  Gedichte  nicht  allein,  wie  die  vorher  genannten  meist,  nach 
dem  Spiele,  damit  man  sie  mm  auch  lesen  ^*^,  und  auch  nicht  deshalb  gedruckt 
wurden,  damit  man  sie  nun  spielen  möchte  '*^,  sondern  wenn  mit  dem  Drucken 
einzig  das  Lesen  ^•'''*,  mit  dem  Dichten  einzig  das  Drucken  bezweckt  und  darum 
ein  Drama  gleich  auch  so  gedichtet  ward,  dass  die  Auffühi'ung  sogar  unmoeg- 

worden.  146)  Beiträge  z.  Gesch.  Basels  201:  Rebhuns  Hochzeitspiel  auff  die  Hochzeit 
zu  Cana  Galilea  gestellet  1538;  J.  Murers  Bester  Anm.  47  a;  Ch.  Murers  Scipio  28b;  Brunners 
Rebecca  und  Tobias  1569;  die  Fahrt  Jacobs  v.  Georg  Goebel  (Budissin  1586)  Comcediemceise 
auf  Hochzeiten  vnd  sonst  zu  spielen  gestellet ;  ein  Berner  Hochzeitspiel  von  1606  bei  Gott- 
sched 1,  158.  Auch  HSachsens  Plutus  1531,  wie  der  Prologus  zeigt,  vor  einer  Abendgesell- 
schaft aufgeführt.  Eben  desselben  Tobias  u.  Opfer  Isaacs  zu  Basel  1602  auf  Anlass  einer 
Hochzeit,  aber  durch  Schüler  u.  in  einem  Schulgebäude :  Büchersch.  146.  Beitraege  z.  Gesch. 
Basels  200.  147)  Anm.  126.  Georg  Rolls  Comoedia  vom  Falle  Adams  u.  Evas  1573  auf 
dem  Schlosse  zu  Koenigsberg,  die  wahrscheinlich  von  Georg  Pondo  gedichtete  Comcßdie  v. 
d.  Geburt  des  Herren  Christi  (hsggb.  v.  FrietUänder,  Berl.  1839)  1589  am  Berliner  Hof  ge- 
spielt: die  Darstellenden  Knaben  und  Msedchen  des  kurfürstl.  Hauses  selbst  und  von  adlichem 
und  bürgerlichem  Stande.  Msedchen:  hier  durfte  deren  Auftreten  (Anm.  120)  weniger  stossen. 
148)  wie  z.  B.  Rebhun  auf  den  Titel  seiner  Susanna  Anm.  108  setzte  gantz  lustig  vnd 
fruchtharlich  zu  lesen.  149)  .Joachim  Greffs  Abraham,  Isaac  u.  Jacob  Anm.  36  zu  spielen 
vnd  zu  lesen  trcestlich ;  die  Vorrede  zu  dem  Radtschlag  JDes  allerheiligsten  Vaters  Bapsts 
Pauli  des  Dritten,  Mit  dem  Collegio  Cardinalium,  wie  das  angesatzte  Conciliimi  zuo  Trient 
fürzunemen  sey,  Anno  1545  (o.  0.)  setzt  die  Aufführung  nur  als  moeglich :  Aber  für  dieses 
alles  zumal,  Imben  vnd  brauclien  wir  einen  Ort,  als  vnser  Kirclien,  Theatrum  oder  Pro- 
scenium,  wo  es  einem  jedem  am  gelegensten  vnd  bequemisten  ist  zu  agieren;  die  Comoedie 
n.  die  sechs  Fastnachtsspiele  des  Meistersingers  Peter  Probst  zu  Nürnberg  1553  zum  Lesen 
and  zum  Spielen  geschrieben:  Gottsched  1,  34:  ebenso  Joh.  Leons  Weihnachtsspiel  Anm.  .56 
noch  ohne  Aufführung,  aber  für  eine  solche  gedruckt ;  Heinrich  Rsetels  goldnes  Kalb  1573 
trcestlich,  nützlich  vnd  lustig  zu  lesen  vnd  öffentlich  zu  spielen;  im  Jonas  rhythmicus 
durch  Ambrosium  Papen  1605  die  Geschichte  so  ausgeführt,  das  sie  ohn  Zweiffei  mit 
Lust  vnd  Nutz  gelesen  vnd  agiret  tverden  kann:  Gottsched  155.  150)  wie  bei  dem  CoN- 
CILIUM  und  dem  Reichstag,  beiden  von  Utz  Eckstein  gegen  Murner  u.  die  Murnerischen 
gedichtet  (§  99,  28),  neu  gedruckt  in  Scheibles  Kloster  8,  705-826.  827—892,  vgl.  auch 
Weller  Volksth.  112,  wo  noch  zwei  andere  Dialoge  von  Eckstein;  bei  Freysslebens  Spiel 
V.  d.  Weisheit  u.  Narrheit  Anm.  79,  auf  dessen  Titel  der  Keim  Kauff  o  Leser  dise  suchen. 
Du  wirst  drinn  lernen  vnd  lachen;  gewiss  auch  bei  den  meisten  Dramen,  die  man  aus  dem 
Latein  verdeutschte:  insbesondere  wo  sie  Schulaufführungen  den  des  Lateins  Unkundigen 
verständlich  machen  wollten,  wie  in  Strassburg  die  Uebersetzungen  von  Isaac  Froereysen, 
Wolfh.  Spangenberg  u.  a.  (,Anm.  11  fgg.).     Uebrigens  wurden  deutsche  Argumenta  oft  bei 


110  NETlIOrTIDETTSrilE  ZEIT.        XVI  JATIRIT.  §  106 

lieh  gewesen  wjpic:  ein  Beispiel  horoits  aus  dem  J.  l.")2()  die  Trarjedia  von 
CaliTstns  und  Mclibia  '•'"',  deren  Verfasser,  Christoi-ii  Wik.sin(s  von  Augs- 
burg (§  104,  10),  aus  der  Ciespia^chfurm  einer  spanisch-italia'nischen  Novelle  '-'S 
die  er,  zwar  mit  Freiheit,  nur  verdeutschte,  eine  Reihe  von  21  Acten  "^^,  ein 
Drama  und  keines  gemacht  hat. 

§  106. 

Wie  eifrig  nach  all  der  bislierigen  Darstellung  das  sechzehnte  Jahrhundert  1 
um  dus  Drama  sich  bemühte,  die  Bemühung  musste  auf  diesen  Wegen  er- 
folglos bleiben,  da  Hans  Sachs  zu  ungelehrt  dafür  und  zu  einseitig  in  seiner 
Begabung,  die  ]\[olirzahl  der  Anderen  aber  unbegabt  und  zu  gelehrt  und  so, 
was  beide  erreichten,  nur  eine  unfruchtbare  Bastardmischung  aus  Heimischem 
und  Fremdem  war;  sie  w^ere  überall  erfolglos  geblieben,  wenn  nicht  ein  gün- 
stiges Geschick,  desgleichen  noch  einmal  im  achtzehnten  Jahrhundert  sich  er- 
eignen sollte  (§  145),  die  Einwirkung  eines  Volkes  gebracht  hätte,  welches 
durch  Gleichzeitigkeit  und  Bluts-  und  Sinnesverwandtschaft  nseher  stand. 
Noch  um  Jahrzehende,  ehe  dieser  Zeitabschnitt  zu  Ende  gieng,  trat  auch  (las 
Englische  Schauspiel  und  trat  die  Schauspieldichtung  Shakspeares  und  seiner 
älteren  Zeitgenossen  in  den  deutschen  Gesichtskreis.'  Erster  Beleg  hievon 
(wir  lassen  andre  bedeutungslosere  und  minder  sichere  Spuren  -  bei  Seite), 
ein  Beleg  schon  aus  den  Jahren  1593  und  1594,  sind  die  Dramen  des  Her- 1 
zogs  Heinrich  Julius  von  Braunschweig.  ^  Stand  und  Bildung  wiesen  sonst 
auch  diesen  Dichter  auf  die  Dichtart  der  Gelehrten  hin,  auf  biblische  Stoffe, 
wie  es   denn   auch   von   ihm   eine  Susanna    giebt  ^,   und    auf  Benutzung  des] 

der  Auiführung  in  die  lat.  Stücke  aufgenommen.         151)  Biichersch.  1.39.     Vgl.  auch  Scherer] 
QF.  21,  13  fg.         152)  einer  ital.  Übersetzung  der  Celestina  des  Spaniers  Rodrigo  Cota.  der- 
selben, die  Caspar  Barth  1625  unter  dem  Titel  Ponioboscodidascnlus  in  Latein  gebracht  hat. 
1.58)  oder,  wie  er  sagt,   Wirckungen :  Anm.  19. 

§  10().  1)  Eine  Darstellung  des  Englischen  Schauspiehvesens  jener  Zeit  in  Baudissins 
AVerke:  Benj.  Johnson  und  seine  Schule.  Leipz.  1836.  Ueber  seinen  Einfluss  auf  Deutsch- 
land s.  A.  Cohn,  Shakespeare  in  Germany,  London  186.5.  Meissner,  Die  englischen  Comoe- 
dianten  in  Oesterreich,  "Wien  1884.  2)  wie  den  Zusammenhang  von  Zacharias  Lieb- 
HOLDS  Kaufmann  von  Padua  1596  mit  dem  novellenhaften  Theile  von  Shakspeares  Cym- 
beline.  Wesentlich  die  gleiche  Geschichte  schon  in  deutscher  Poesie  u.  Prosa  des  18  und 
des  15  Jh.:  §  66,  30.  90,  272.  3)  geb.  l.')64,  gest.  1613.  Neue  Ausgabe  seiner  Schau-, 
spiele  von  Holland  Stuttg.  Lit.  Ver.  1855.  Hier  auch  ein  früher  ungedrucktes  Stück  Der  \ 
Fleitichmver.  Von  den  übrigen  nenn  Stücken  führen  den  Namen  Tragcedia  3,  Tragicn 
Comcedifi  (§  105.  47)  2,  Vommha  4.  Ueber  das  Theater  des  Herzogs  s.  auch  H.  Grimm, 
Fünfzehn  Essays  N.  F.  142.         4)  Tragica  Vonuedia  von  der  Sumnna,  in  doppelter  Fassung,! 


§   106  DRxVMA.         EKGLlöCllES  SCHAUSPIEL.  117 

Tercnz.'^  Aber  eben  derselbe  (und  noch  von  anderen  Fürsten  der  Zeit  wird 
das  bericlitet)  hatte  an  seinem  Hof  Schauspieler  aus  England  ^ :  daher  bei 
ihm  nun  auch  Stoffe  tlieils  von  Englischem  Ursprung  ^,  theils  doch  den  eng- 
lischen ähnlicher  als  den  gewohnten  deutsclien  ^  und  überall,  in  Tragoedien 
und  Comoedien,  eine  Behandlungsweise,  wie  sie  allein  den  Engländern  abzu- 
sehen war,  die  Anlage  nicht  ohne  Kunst,  die  Charactere  mannigfaltig  und 
körperhaft  und  einer  darunter,  der  stsetig  wiederkehrt,  der  Tölpel  und  Schalk 
JoHAN  BousET  ^,  dazu  dessen  Reden  stsets  in  niederdeutscher  und  öfters  sonst 
auch  die  der  geringeren  Personen  in  der  oder  jener  anderen  Mundart  ^^  und 
alle  Rode  in  Prosa,  da  die  Englischen  Schauspieler,  denen  doch  wohl  die 
Aufführung  oblag,  die  Stücke  ihrer  Heimath  auch  nur  in  so  bequemere  Form 
übertragen  hatten J^  Jener  Sprachenwechsel  war  zuweilen  schon  vor  dem 
Herzoge  ^^  und  ist  noch  häufiger  nach  ihm  versucht  worden  ^^,  bezeichnend, 
weil  es  fast  immer  nur  Niederdeutsch   ist,    das    so    sich    einmischt,   für   die 

beide  1593,  die  spätere  Auffs  new  Tcürtzer  verfasset.  Susannen  Anderer  §  105,  50  fgg. 
Der  Herzog  legte  die  Frischlins  zu  Grunde.  5)  Daher  bei  ihm  Personennamen  wie  Davus, 
Dromo,  Thraso,  Pamphilus,  Sosia,  Plirygia.  6)  Heinrich  Julius   und  ihm  gleichzeitig 

Landgraf  Moritz  von  Hessen  und  schon  vor  ihnen  Friedrich  ii  v.  Dännemark  (1559 — 1588) 
nach  Thomas  Heywoods  Apology  Ibr  Actors  1612:  Magazin  f.  d.  Litter.  d.  Auslandes,  Berlin 
1841,  73;  Lynker,  Gesch.  d.  Theaters  in  Cassel  18G5;  spseter,  um  1614,  Johann  Siegmund 
V.  Brandenburg:  Tiecks  Deutsches  Theater  1,  xxiv.  Doch  zogen  eben  diese  Comoedianten 
auch  an  fremden  Hcefen  und  in  auswärtigen  Städten  umher:  s.  Anm.  49.  7)  In  der 
Ehebrecherin  1593  der  gleiche  Schwank  von  einem  sich  selbst  zum  Hahnrei  machenden  Ehe- 
maune  (Gallichorcca),  den  Shakspeare  für  die  Lustigen  Weiber  von  Windsor  benützt  hat 
(Fallstatf  u.  Ford).  Zu  der  Comoedia  Von  einem  Edelmann,  Welcher  einem  Abt  Drey 
Fragen  auff'yegeben,  1594,  konnte  den  Stoff  jene  englische  Ballade  gewahren,  die  Bürger 
nachgedichtet  (LB.  2,  977):  doch  gieng  derselbe  längst  auch  schon  in  Deutschland  um  (LB. 
3,  1,  75  u.  a.)  und  war  bereits  im  15  Jh.  dramatisiert  worden :  §  86,  10.  8)  Beispiel  die 
Comoedia  von  Vincentio  Ladislao  Sacrapa  von  Mantua  1594,  einem  pedantisch  hochredenden 
und  aufschneidenden  Junker,  wie  dgl.  öfters  bei  Shakspeare.  J))  auch  Boussett  u.  Bouschet: 
englisch  bossed  bucklicht?  Ayrer  sagt  Posset:  engl,  posset  Molkenbier?  Oder  aus  franz. 
Poncet  Däumling,  der  als  Tom  Ponce  auch  in  England  bekannt  ist?  vgl.  Anm.  38.  Der 
herzogl.  braunschweigische  Komiker  Sackville  nannte  sich  auch  Johann  Bouset:  Meissner 
S.  31.  10)  meissuisch,  thüringisch,  schwsebisch  u.  a.  Nur  in  dem  Abt,  wo  aber  der 
Schalk  auch  Hauptperson  ist  (Anm.  7),  spricht  er  ebenfalls  hochdeutsch.  11)  Zu  schliessen 
aus  der  Prosaform  der  Stücke,  welche  die  wandernden  englischen  Conicjedianten  spielten: 
Anm.  18.  12)  1578  in  Omichs  Dämon  und  Pythias,  1586  in  der  Fahrt  Jacobs  von  Goebel, 
1589  in  dem  Berliner  Weihnachtsspiel  und  im  Speculam  imerorum  v.  Pondo.  13)  von 
JoH.  CuNO  in  der  Geburt  und  Offenbarung  Christi  1595,  von  Bertesius  im  fliob  1603,  von 
Job,  Bechmann  im  Miles  christianus  1604  (Goedeke,  Roemoldt),  von  Joachim  Burmeister 


118  NErilOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVI  JAIIKII.  §  lOß 

Stellung  tief  unten,  die  man  jetzt  dem  letzteren  nur  noch  gönnte  (§  93,  27  fgg.). 
Befremdlicher  war  und  blieb  die  Prosa  '\  und  es  geschah,  dass  Stücke  des 
Herzogs  in  den  üblichen  Keimvers  umgearbeitet  wurden  '':  die  Vornehmheit 
des  Verfassers  schreckte  davon  nicht  ab:  die  Zeit  ahnte  dieselbe  vielleicht 
oft  gar  nicht  "',  da  er  geflissenthch  seinen  Namen  in  ra^thsolhafte  Umschrei- 
bungen barg.''  Stärker  jedoch  als  durch  ihn,  dessen  Streben  von  solchen 
Eingriffen  nur  konnte  benachtheiligt  werden,  w^irkte  das  neue  Vorbild,  seit 
von  England  aus  und  über  die  Niederlande  (eine  Truppe  im  Gefolge  Leicesters 
1585)  zu  den  wenigen  stehenden  nun  auch  wandernde  Schauspieltruppen,  die 
8.  g.  Englischen  Com^dianten,  gekommen  waren  um  ganz  Deutschland  zu 
durchziehn  und  bald  an  Hoefen,  bald  in  Städten  ''*  ihre  in  Prosa  verdeutschten 
Dramen,  mitunter  auch  Singspiele  aufzuführen  '* :  es  geschah  das  um  dieselbe 

in  dem  Geoifenbarten  Christus  160.5,  von  einem  unbekannten  in  der  Tragoeäia  von  einem 
ungerechten  Richter  1608  (zu  Magdeburg,  wo  auch  die  meisten  anderen  Stücke  dieser  Art), 
von  Joachim  Lesebekg  in  der  Susanna  1609,  von  Angelius  LoHRUERii  Liga  d.  i.  Gabriel 
Rollenhagen  (Gsdertz  G.  R.  Leipzig  1881),  der  dabei  den  ganz  niederdeutschen  Isaac  von 
ScHLUE  (Rostock  1606?)  benutzte,  in  den  Amantes  amentes  161tt.  von  Nie.  Loccius  im 
Verlornen  Sohn,  Lüneburg  1^9  (Gcedeke  Rcemoidt),  von  Martin  Rinckart  im  Eislebischen 
Ritter  und  in  dem  Monetarius  seditiosus  (der  Müntzerische  Bcmrenkrieg)  1625  u.  a. ;  die 
Comcedia  de  nuptiali  contractu  Israel  durch  Joh.  Btitovium  1600  liat  ein  niederd.  Zwi- 
schenspiel: Büohersehatz  146;  über  hamburgische  Zwischenspiele,  freilich  aus  spseterer  Zeit 
s.  Gsedertz  Das  niederdeutsche  Drama,  Berlin  1884.  In  den  Zwischenspielen  von  Andreres 
(Anm.  20)  sonst  lateinischem  Turbo  1616  das  bunteste  Sprachgemenge,  selbst  Polnisch  und 
Zigeunerdeutsch.  14)  Vor  dem  Herzoge,  da  Übersetzungen  wie  die  des  Terenz  §  105,  16 
und  nur  zum  Lesen  bestimmte  Prosagesprseche  (.§  110,  12)  hier  nicht  in  Betracht  kommen, 
in  Prosatbrm  nur  das  Innsbrucker  Spiel  vom  Raube  der  Proserpina  1583 :  §  105,  126.  Nach 
ihm  das  Weihnachtsspiel  von  .Job.  Seger  1613,  wo  sich  jedoch  nur  einzelne  Prosastellen 
unter  die  Verse  mischen.  Vgl.  Anm.  89.  15)  der  Vincentius  Ladislaus  durch  Eliam 
Herliciuin  1601  (Satrapa  statt  Sacrapa),  die  Ehebrecherinn  1605  durch  Joh.  Olorinum 
Variscum  d.  h.  Joh.  Sommer:  §  101,  13;  beide  bei  Holland  S.  555  fgg.  16)  Joh.  Sommer 
wusste  den  Verfasser  wohl,  da  er  angiebt,  dass  die  Ehebrecherinn  auf  dem  Schlosse  zu  Wolfen- 
büttel sei  in  prosa  agiret  worden.  17)  HIBALDEHA,  HIBELDEHA  d.  i.  Henricus 
Julius  Brunsvicensis  Atque  (Et)  Luneeburgensis  Dux  Episcopatus  Halberstadensis  Antistes 
(oder  Episcopuii  HAlberstadetisis) ;  dem  entsprechend  zu  deuten  auch  HIDBELAHE,  HIE- 
HADBEL,  HIDBELEPIHAL,  HIDBELEPIHALA.  17a)  Besonders  wichtig  Frank- 
furt: E.  Mentzel  Geschichte  der  Schauspielkunst  in  Frankfurt  a.  M.  1882,  Hier  agieren 
sie  1593  englisch,  1604  zu  Nördlingen  deutsch:  Schnorrs  Archiv  11,  62.5.  18)  Deutsches 
Theater  v.  Teeck,  Berlin  1817,  1,  xxiii  fgg.  Shakspeares  erstes  Erscheinen  auf  d.  Bühnen 
Deutschlands  v.  E.  A.  Hagen,  Kcenigsb.  1832,  9  fgg.  Sammlung  der  Prosadramen  Engelische 
Coniedien  vnd  Tragödien  —  Sampt  dem  Piclelhering,  zuerst  1620;  Liebeskampff'  od.  Ander 
Tlieil  der  Engelischen  Comoedien  vnd   Tragcedien  1630:  vgl.  Anm.  49.    Auswahl  bei  Titt- 


§  106  DRAMA.        JACOB  AYRER.  119 

Zeit  schon,  in  welche  die  Stücke  des  Herzogs  fallen.  ^^  Alsogleich  ward  noch 
mehr  als  ein  Dichter  sonst  von  den  Eagclländern  berührt  und  angeregt:  so 
Johann  Valentin  Andrere  ■^'',  so  namentlich  Jacob  Ayker  der  ältere.^  ^  Dieser, 
der  im  J.  1605  ^^,  nachdem  er  für  das  Drama  vielleicht  nur  ein  Jahrzehend 
lang  thsetig  gewesen  '^^^  zu  Nürnberg  gestorben  ist,  mag  zwar  in  Vielem  nur 
als  der  Nachfolger  seines  Landsmannes  Hans  Sachs  erscheinen,  wie  er  denn 
auch,  obschon  in  seinem  spa?teren  Leben  Procurator  und  Notar  zu  Bamberg'^* 
und  Nürnberg,  kaum  viel  gelehrter  war  als  Sachs  ^^ :  anfangs  hatte  auch  ihn 
ein  geringeres  Gewerb,  ein  Eisenkram,  gensehrt.  Er  hat  genug  in  der  alt- 
nürnbergischen  und  Hans  Sachsens  Art,  den  er  hoch  verehrte  -^,  ja  umarbei- 

mann,  Die  Schausp.  der  Engl.  Komödianten  in  Deutschland,  Lpz.  1880.  Ein  Spiel  in  Reim- 
versen, das  sicherlich  eben  hieher  zu  ziehen,  bei  Keller  in  den  Fastnachtspielen  aus  dem 
15  Jh.,  Stuttg.  18.53.  2,  1013—1020:  ein  Singspiel,  der  Eolandt,  ebd.  1021—1025;  vgl. 
Anm.  47.  Eine  rohe  Prosabearbeitung  von  Shakespeare's  Romeo  und  Julie  ist  abgedruckt 
bei  Cohn  305  fgg.  (dies  Spiel  wohl  das  1604  in  Nördlingen  gespielte)  ;  eine  solche  des  Kauf- 
manns von  Venedig  {'Der  Jucl  von  V.)  bei  Meissner  131.  In  der  Sammlung  von  1620  ist 
dagegen  die  Comoedie  von  Sidonia  und  Theagenes  eine  Prosaaufloesung  von  Gab.  RoUenhagens 
Amantes  avientes:  R.  Koehler  Jb.  der  Shakespeare-Gesellschaft  i  408  fgg.  19)  Denn  bei 
Ayrer,  der  zum  mindesten  1595  zu  dichten  begonnen  (Anm.  23 1,  zeigt  sich  der  Engl.  Ein- 
fluss  schon  durchweg.  20)  Ihn  bestimmte  zur  Abfassung  zweier  lat.  Dramen  Esther  und 
Hyaeinthus  AnfjUcorum  histrionum  cemulatio:  Andreaes  Dichtungen  (v.  Sonntag),  Leipz.  1786, 
XXXII.  Andreie  Anm.  13.  §99,61.  21)  Jakob  Ayrer  von  Schmitt,  Marb.  1851.  Samm- 
lung seiner  Dramen  Ojms  Thmatricum.  Dreissig  Aussbündtige  schcene  Comedien  vnd  Tra- 
gedien —  Sampt  noch  andern  Sechs  vnd  dreissig  —  Fassnacht  oder  Possen  Spilen,  Nürnb. 
1618;  die  Fastnachtspiele  mit  besondrer  Blätterzsehlung  u.  der  Jahrszahl  1610.  Von  einer 
Handschrift  zu  Dresden  Heibig  in  dem  Literarhist.  Taschenbuch  von  Prutz  1847,  442  fgg. 
Abdruck  der  Dramen  Stuttgart  Lit.  Ver.  1864.  65.  22)  Heibig  in  den  Blättern  f.  Literar. 
Unterhaltung,  Leipz.  1847,  J^'r.  328.  23)  Die  früheste  unter  den  Jahrszahlen  der  Dresdner 
flandschr.  ist  1.595:  Heibig  bei  Prutz  443.  Trotz  dem  so  viele  Dramen:  ausser  den  30  u. 
36  des  Druckes  verspricht  dessen  Vorrede  noch  einen  zweiten  Theil  von  andern  viertzig 
scIuPAien  lustigen  Comedien  Geistlich  vnd  Weltlich;  drei  nicht  in  das  02}us  iheatricum  auf- 
genommene zu  Dresden:  Heibig  a.  a.  0.  443.  Indess  Ayrer  dichtete  schnell:  zu  einigen 
seiner  Singspiele  hat  er  nur  je  einen  Tag  gebraucht:  Heibig  444.  24)  In  Erinnerung 
daran,  wo  nicht  dort  selbst  gedichtet  die  neunactige  Tragedia,  Vnd  gantze  Histori  von  er- 
bauung  vnd  anTcunfft  der  Stadt  vnd  Stiffts  Bamberg  sowie  die  gereimte  Chronik  §  99,  9. 
25)  Beispiel  die  rohe  Entstellung  der  antiken  Eigennamen.  Auch  dadurch  unterschieden 
von  dem  jüngeren  Jacob  Ayrer,  Doctor  der  Rechte,  Advocat  zu  Nürnberg;  von  diesem  in 
Prosa  1597  Historischer  Processus  Juris,  in  welcliem  sich  Lticifer  vber  Jesum  —  beklaget; 
nach  Jacobus  de  Teramo:  vgl.  §  90,  11.  26)  Im  Julius  Redivivus  Com.  107  b  Vnd  ist 
in  diser  Stadt  auch  icorn  Hans  Sachss  der  Teutsch  Poet  geborn  Der  alle  andre  übertrifft 
Hat  hinderlassen   seiner  schrifft  Fun  ff  Büclier  Teutscher  Reimen  vol  Wer  dise  list  dem 


120  NFAIHOCIIDKITSUIIK  ZEIT.         XVI  JAHRH.  §  10(5 

tend    nach  Hans  Sachs ",   hat   Fastnaclitsspielo    und    biblisclic  -'*    und    antike 
Stoffe  und  Stoffe  der  deutschen  Epik  ^•'  und  auch  er  mit  Übersetzung  aus  dem 
Lateinischen  gedichtet  ^°  und  Alles  8o,  dass  er  an  Witz,  an  Gomüth,  an  Sitte, 
an  Geläufigkeit  der  Rede  hinter  dem  Vorgänger  weit  zurückbleibt:   wie   un- 
ziemlich, dass  er  in  einem  Possenspiel  *'  selbst  Jesum,  wie  ärmlich  eintoonig, 
dass  er  in  beinah  alle  Tragoedien  und  Comoedien  der  Teufel  einen  oder  meh- 
rere setzt!  ^^    Jedoch  ebenso   weit   steht  wieder   er   voraus   durch   gereifterej 
Kunst  der  Characteristik  und  dramatischer  Entwickclung,     Und  diese  verdankt' 
er,    der  minder  in  sich  selbst  begabte,    dem  Beispiel,    das   die  Engelländer  ^^ 
brachten,   um   so  unzweifelhafter,   da  auch    sonst  dessen  Einwirkung  auf  das 
mannigfachste  sich   kund   giebt.^^*    Nicht   dass,   wie  der  Herzog  von  Braun- 
schweig, irgendwo  auch  er  in  Prosa  dichtete:  Gewohnheit  oder  richtiges  Ge- 
fühl la3sst  ihn  die  alte  Versform  beibehalten,  und  theilweis  zeigt  er  in  deren^ 
Handhabung  eine  bei  Hans  Sachs  noch  seltnere  Geschicklichkeit  -'^i  aber  auch 
er  bearbeitet  Stoffe  aus  England    und  benützt  Englische  Dramen  ^'^ ;   auch  er 
braucht  die  Einmischung  niederdeutscher  Rede  als  Mittel  der  Komik  ^'^;  auch! 
er   mischt,   wie   die   englischen   Comocdiantcn   ihren   Piclcclhering  ^^,   sogar    in 
Tragccdien  die  lustige  Person,   den  Jahn  ^"^,    und  leesst  denselben,  wenn  auch 

gfallens  ivol ;  in  dem  Process  wider  der  Koeniginn  Podagra  Tyrannei  Fastnsp.  38  fgg.  eii 
Hauptredner  Hans  Sachs.  27)  Heibig  a.  a.  0.  443.  28)  Heibig  a.  a.  0.  u.  Anm.  23J 
29)  Die  als  drei  Theile  zusammengestellten  Dramen  Vom  Hueg  Dietericlien,  Von  dem  Keiser ' 
Ottnit  und  Vom  Wolff  Dietericlien;  vgl.  Anm.  41  u.  §  107,  18.  80)  Julius  Mediticus,  j.. 
auss  Nicodemo  Fri^chlino ;  von  Gottsched  im  Vorrath  1,  121  durch  Vermengung  mit  der  ^| 
älteren  Verdeutschung  Jacob  Frischlins  (§  105,  138.  Biichersch.  144)  fälschlich  in  das  J. 
1585  gesetzt.  31)  der  Baur  mit  seim  Gefatter  Todt :  auf  Grund  des  Volksmaerchens. 
32)  Auch  bei  ihm  i.  d.  Comedia  v.  d.  schoenen  Sidea  d.  Teufelname  B.uncifal%  105, 129.  Vgl.  d. 
Zauberer  Runcifax  im  Königssohn  v.  England:  Tittm.Schausp.  d.  engl.  Kom.S.  Llllu.  Creizenach, 
Faast  75.  33)  deren  Auftreten  zu  Nürnb.  1597  bezeugt  ist:  Meissner  32.  33a)  Ayrers 
Sidea  stimmt  mehrfach  mit  Shakespeares  Sturm;  seine  Phoenicia  mit  Viel  Lärm  um  nichts. 
Ueber  andere  englische  Stücke,  welche  als  Quellen  Ayrers  in  Betracht  kommen,  s.  Tittmann 
in  den  Schausp.  aus  dem  16.  Jh.  2.  129  fgg.  34)  Die  Reimbrechung  durch  Personen- 
wechsel (§  85,  37)  bei  ihm  gleichmaessiger  u.  sichtlich  grundsätzlicher  als  bei  HSachs  (vgl. 
über  diesen  Rachel,  Reimbrechung  u.  Dreireim  im  Drama  des  fl.  Sachs  u.  andrer  gleichzei- 
tiger Dramatiker,  Progr.  Freiberg  1870):  bei  ihm  auch,  was  HSachs  nicht  kennt,  Brechung 
durch  Personenwechsel  mitten  im  Verse.  Wohl  ebenfalls  engl.  Einfluss:  vgl.  den  Roland 
in  Kellers  Fastnachtsp.  2.  1021.  35)  Tieck  a.  a.  0.  xviii  fgg.  36)  Es  spricht  so  im] 
Julius  Rediv.  AUeprex  der  Sophoisch  Krcemer.  37)  Anm.  18.  Engl,  to  pickle  einsahen'. 
ein  magrer  Narr  und  Hans  Wurst  §  105,  132  ein  feister?  Wohl  eher  nach  der  Lieblings- 
speise des  niederländischen  Volkes  genannt,  wie  Jean  potage  u.  ä.         38)  Jahn  oder  JannA 


§  106  DRAMA.         SCHAUSPIELER.  121 

nur  als  Buten  oder  Diener,  mit  Wort  und  That  einen  gewissen  Antheil  nehmen 
an  dem  Verlaut'  der  Ereignisse,  wsehrend  der  Narr  der  bisherigen  deutschen 
Bühne  mehr  nur  seitwärts  darein,  gleichsam  nur  in  Randbemerkungen  '-^'^  und 
hooher  hinauf  etwa  als  Prolog  und  Epilog  hat  mitreden  dürfen'*";  in  Possen- 
spielen ist  Jahn  sogar  öfters  die  Hauptperson:  dann  aber  kommt  an  dessen 
Statt  wohl  auch  ein  anderer  Name  vor/'  Selbst  eine  oder  zwei  neue  Arten 
des  Dramas  schafft  Ayrer  den  Engelländern  nach:  mit  der  Auffühi-img  an 
keine  bestimmte  Zeit  gebunden,  für  keine  Gelegenheiten  dichtend,  da  er, 
anders  als  jener  Herzog  (Anm.  16),  zunächst  nur  für  das  Lesen  schreibt  und 
die  Aufführung  nur  als  Mceglichkeit  annimmt  *'■*,  bezeichnet  er  seine  Fastnachts- 
spiele zugleich  mit  einem  allgemeineren  und  bis  dahin  imgebrauchten  Namen 
als  Possenspiele  ^^ ;  einen  Theil  aber  dieser  Possen-  oder  Fastnachtsspiele  hat 
er,  hinausgehend  über  die  blosse  Einflechtung  von  Musik  und  Gesang,  die 
ihm    auch    geläufig    ist,     wie   all    den    Früheren  ^* ,     als    Singspiele    abge- 

in  dieser  Form  zwar  niederländisch,  die  Person  aber  selbst  wiederholendJich  als  eine  ur- 
sprünglich englische  bezeichnet:  der  Engellendisch  Narr  udgl.  Dazu  noch  mancherlei  Bei- 
namen, besonders  Clam  oder  Klan  (Process  wider  der  Kceniginn  Podagra  Tyrannei)  d.  h. 
engl,  down,  und  Posset,  dieser  fast  nur  in  Possenspielen  und  vielleicht  mit  Bezug  hierauf 
aus  Bosset  Anm.  9  verändert.  Einmal,  im  Servius  Tullius,  heisst  der  Narr  auch  Jodel  (nach 
dem  Franzoesischen?  vgl.  Jodelet  in  Molieres  Preeieuses  ridicules),  im  Julius  Kediv.  und  in 
Valentinus  u.  Ursus  TL  1  Lcerlein.  Dies  nach  DWb.  von  Lorenz  abgeleitet;  aber  doch 
wohl  unter  Einfluss  von  Lauer  (hlrej  Schalk.  Vgl.  LB.  25,  26  (bei  Murner)  lürlis  Tand. 
39)  In  dem  Deutschen  Schlemmer  von  Joh.  Stricerius  §  10.5,  84  sind  wirklich  auch  die  Neben- 
reden des  Narren  (in  Prosa)  theilweis  an  den  Rand  gedruckt.  40)  §  105,  131.  Auch  bei 
Ayrer  spricht  zuweilen  den  Prolog  nicht  der  Ehrnholt,  sondern  Jahn  der  Engellendische 
Narr.  41)  In  einem  der  vorzüglichsten  Fastnachtsspiele  LB.  2,  301,  dessen  Stoif  sichtlich 
aus  einem  Mserchen  des  Volks  entnommen,  heisst  der  einfeltig  Narr,  der  die  Hauptperson, 
Fritz  Dolla;  in  einem  andern,  der  vberivunden  Eifferer  (Eifersüchtige),  wird  es  frei  gestellt, 
ob  man  die  Hauptperson  wolle  als  Jahn  erscheinen  lassen :  Maritus  (oh  man  tvillj  in  gestalt 
eines  Englendisclun  Jahnns  geht  ein.  42)  Auf  dem  Titel  des  Opus  Thaeatr.  Sjnhveiss 
verfasset,  das  nmn  alles  Persa^nlich  agirn  Tcan  und  in  der  Vorrede  nicht  allein  zu  Lesen 
so  anmutig  vnd  lieblich,  —  sondern  auch  alles  nach  dem  Leben  angestellt  vnd  dahin  ge- 
richtet, das  mans  (gleichsam  aiiff  die  neue  EngliscJie  manier  vnd  art)  alles  Perscenlich 
Agirn  vnd  Spilen  kan.  43)  Anm.  21.  Bosse,  Poss  Knabe,  geringer  Knecht:  Schmellers 
Bair.  Wörterb.'  1,  298;  wunderliche,  lustige,  fratzenhafte  Figur:  Frisch  Teutsch-Lat.  Wörter- 
Buch  2.  66.  Unsre  Redensarten  einen  Possen  spielen  u.  Possen  reissen:  letzteres  (reissen 
eigentlich  s.  v.  a.  zeichnen)  ungefaehr  wie  imnnlin  machen  LB.  1,  150.5,  16;  bossen  reissen 
schon  z.  B.  Murner  im  Luth.  Narren  S.  156  und  Rollenhagen  LB.  2,  288,  24;  bei  Ayrer 
im  Kaiser  Maehumet  Jahn  der  Narr  oder  Possen reisser.  44)  §  105,  99  fgg.  Bald  sind 
die  Lieder  nebst  den  Weisen  vorgeschrieben,  Weisen  bekannter  Volks-  od.  Gesellschaftslieder: 
z,  B.  im  Theseus  Es   steht  ein  Linden  in  jenem  Thal   und  im  Fastusp.  vom  Hoüeben  Es 


122  NEUIIOCIIDEUTSCIIE  ZEIT.         XYI  JAlliill.  §  106 

fasst  ^'',  zwar  noch  ohne  jcgliclion  Wechsel  verschiedener  Formen,  mit  steeter 
Wiederliolung  (denn  so  eben  hielten  es  die  Engelländer  *'^')  einer  und  derselben 
bald  englischen  *",  bald  deutschen  Weise.^" 

Wie  etwa  sonst  noch  die  Deut-^chc  Schauspieldichtung  durch  die  Eng- 
lischen Comojdiantcn  umgestimmt  worden,  lajsst  sich,  da  begreiflich  das  Meiste 
der  vergänglichen  Schrift  überlassen  blieb,  aus  dieser  Zeit  selber  nicht  mehr 
zeigen.  Doch  weiss  man,  dass  die  Kunstwanderungen  jener  Fremden  noch 
das  ganze  siebzehnte  Jahrhundert  entlang  gedauert  '*'•'  und  so  staets  nachhaltiger 
und  zuletzt  entscheidend  den  Anstoss  gegeben  haben,  durch  welchen  die  Auf- 
i'iihriuigsweise,  die  bisher  gegolten,  und  damit  die  bisherige  Stellung  des 
Deutschen  Dramas  zu  dem  Volk  und  in  der  Litteratur  und  mit  der  Stellung 
das  Wesen  desselben  für  alle  Folgezeit  umgeändert  ward.  Denn  ihrem  Bei- 
spiele nach  bildeten  schon  mit  dem  ersten  Beginn  des  Jahrhunderts  sich  auch 
Deutsche  Schauspieltruppen  "":  es  konnte  dieser  hoehcr  gehenden  Abzweigung 

gierigen  zwo  Gespiehi  gut  wol  vber  ein  breite  Heiden  (in  den  2  Brüd.  aus  Syracus  ein  Lied 
im  Rosenton  HSaehsens):  bald,  aber  seltner,  wird  die  Wahl  des  Gesanges  freigegeben:  z.  B. 
am  Schluss  der  Trag.  v.  Erbauung  d.  Stifts  Bamberg  Zu  mercken  die  Gesänger,  tcelcJie  ip.n 
diae  Trayedi  gehoeren,  sollen  Jnen  die  Spielleut  doch  also  dass  sie  der  MaPri  gleich  seindt, 
selbst  darein  machen,  oder  machen  lassen,  mich  solchen  Tarnen  vnd  Melodeyen  die  sie  können. 
45)  Singets  Sjnl  d.  h.  singendes  Spiel,  wie  im  Gegensatze  dazu  die  Vorrede  von  Bedenten 
Spilen  spricht.  Das  Fastnsp.  Von  dem  Engelländischen  Jann  Posset  wie  er  sich  in  seinem 
Dienst  verhcdten  kommt  in  beiden  Formen,  redend  und  singend,  vor.  46)  Tieck  a.  a.  0. 
xviil  fg.  u.  XXIX.  Älteres  deutsches  Beispiel  die  Marieuklage  §  85,  36.  47)  Heibig  bei  Prutz 
a.  a.  ü.  443  fg.  Öfters  namentlich  Im  Thon :  Wie  man  den  Engelendischen  Roland  singt 
(auch  Doman  §  104.  2  im  Thon  des  Rolands):  gemeint  ist  wohl  das  Singspiel  Anm.  18,  das 
aber  die  Strophe  noch  vierzeilig,  mit  blossen  Einschnitten,  nicht  wie  Ayrer  und  Doman  acht- 
ze.ilig  mit  überschlagenden  neuen  Reimen  zeigt;  in  beiden  Formen  trifft  dieselbe  metrisch 
iiberein  mit  dem  Hildebrandston  §  63,  35.  64,  30.  Roland  ist  (Fastnsp.  Anm.  45)  dess 
Janen  Vatter,  48)  z.  B.  von  einem  ungerechten  Juristen//«  thon:  Lieb  haben  steht  eim 
jeden  frey,  der  Wittenbergische  Magister  Im  TJwn  wie  man  den  Billatliey  o  Narr  dummel 
dich  singt.  49)  So  kamen,  um  Beispiele  von  den  äussersten  Enden  Deutschlands  zusam- 
menzustellen, im  Jahr  1605  englische  Comoedianten  bis  nach  Koenigsberg:  Cohn  Lxxx:  1607 
nach  Graz:  Meissner  74:  und  an  den  österreichischen  Hoefen  trafen  sie  mit  den  italienischen 
Comoedianten  zusammen,  die  schon  1568  am  Hofe  Max  ii  erwähnt  werden:  Meissner  190. 
Um  1620  verscheuchte  sie  der  Krieg.  Nach  diesem  erschienen  sie  wieder.  1651  bis  1654  kamen 
sie  nach  Basel:  L.  A.  Burckhardt  in  d.  Beiträgen  d.  Hist.  Gesellsch.  z.  Gesch.  Basels  1839, 
204.  167U  erschien  zu  Frankfurt  Schau-Bühne  Englischer  u.  Franzoesischer  Comoedianten 
(Mehreres  darin  aus  der  Sammlung  Anm.  18),  und  in  den  Vermischten  Gedichten  von  Ab- 
schatz  (gest.  1699)  sagt  Der  verkleidete  Comoediant  S.  118  Ich  der  Comcediant  bin  Edel  zu 
erkennen  Vnd  darff'  mayich  Iwhes  Hauss  der  Anglen  Vätter  nemien.  50)  In  Basel  z.  B. 
traten   solche  schon  1602  und  1604    und   gleichzeitig   mit   letzteren   auch  Schauspieler  aus 


§  107  PROSA  DER  GELEHRTEN.        ROMANE.  123 

des  alten  Standes  der  Spielleute  (§  44,  17  fgg.  95,  38  fgg.)  nur  beförderlich 
sein,  dass  gleichzeirig  von  der  Geistlichkeit  her  sich  Bedenken  regten  gegen 
das  Comoedienspiel  einer  ehrbaren  Bürgerjugend. ^^  Schon  die  Aufführungen 
durch  Liebhaber,  durch  Schüler,  durch  die  Meistersinger  eines  Ortes  hatten 
die  Mitwirkung  des  Volks  an  seinen  Dramen  mannigfach  eingeschränkt 
(§  105,  133.  144  fg.):  mit  der  Entstehung  eines  eigenen  Schauspielerstandes 
ward  dieselbe  ganz  beseitigt,  dafür  aber  ward  nun  besser,  ward  häufiger  und 
an  mehr  Orten  und  mit  einem  reicheren  Wechsel  verschiedner  Erzeugnisse 
gespielt  und  so  der  Wegfall  äusserer  Theilnehmung  durch  erhoehte  Theilnahmc 
des  Sinns  und  Verständnisses,  durch  allgemeinere  Anregung  und  Bildung 
schoen  vergütet. 

§  107. 
Gehen  wir  jetzt  zu  der  Prosa  über.  Vieles,  ja  das  Meiste  von  dem,  was  der 
Poesie  der  Gelehrten  Abbruch  that,  konnte  in  eben  deren  Hand  der  Prosa 
nur  zu  Gute  kommen.  War  doch  die  Prosa,  wsehrend  das  Volk  sich  an  ihr 
nur  wenig  zu  betheiligen  vermochte  (§  96)  und  hier  eher  nur  empfieng  als 
gab  und  mitwirkte,  die  naturgemaesseste  Ausdrucksform  für  die  Gelehrten, 
die  naturgemaesseste  auch  für  den  ernst  lehrhaften  Geist  der  Zeit,  dem  Dich- 
tung eines  war  mit  Lüge.^  Und  wenn  dem  Dichten  durch  schiefe  Anwendung 
der  Antike  die  Gelehrsamkeit,  wenn  durch  Schmselerung  der  lebensvolleren 
ÜberUeferungswege  vielleicht  auch  der  Buchdruck  ihm  ein  Schade  war,  bei 
der  Prosa  war  jener  Einfluss  desto  besser  an  seinem  Ort  (stsets  sich  häufende 
Übersetzungen  classischer  Schriftsteller  "^  dienten  zu  stsets  wirksamerer  Vermittc- 
lung),  und  der  Buchdruck  förderte  jedenfalls  hier  mehr  als  einst  das  Schreiben. 
Zu  alle  dem  kam  noch,  dass  auf  keinem  Gebiete  der  Mann  des  Jahrhunderts 
mit  so  leuchtenden  Beispielen  voranstand  als  eben  hier,  hier  mit  seiner  ver- 
deutschten Bibel,  seinen  Lehrschriften,  seinen  Briefen,  seinen  Predigten.  So 
brach  denn  jetzt  zumal  für  die  Prosa  und  durch  die  Prosa  ein  neues  Zeit- 

j  alter  mit  frischer  Blüte  und  fruchtbar  an,  nachdem  das  Mittelalter  nur  schon 

j  die  Triebe  dazu  angesetzt :  in  der  Poesie  ward  mehr  durch  Abdorren  erst  für 

ispsetere  Triebe  der  Platz  bereitet. 

I . 

;  Frankreich  auf:    Burckhardt  a.  a.  0.  203.  51)  Bedencken   von  Comoedien  oder  Spihn, 

Zürich  1624. 

§  107.  1)  Lügen  und  Gedichte  zusammen-  (Daniel  2,  9),  tcar  geschieht  u.  falsch  gedieht 
i'inander  entgegengestellt  (LB.  2,  242.  22);  Mahrlein  ?.r,Qog  Luc.  24.  11.  2)  Roman  unten 
Anm.  11:   Geschichtswerke  §  108,  3;   rednerische  und  Lehrschriften   §  109,  1.    HO,  4.  46. 


124  NEUIIOCIIDFATSCIIE  ZEIT.         XVI  JAlIIMf.  §  107 

Der  Zusimimonhiing  mit  den  Anfängen  schon  im  Mitlohiltcr  zeigt  sich 
vor  allem  in  derjonigon  der  erz.kmlkndkx  Prosa,  die  nach  Gehalt  und  Simi 
das  Ciegenliild  zu  der  volksmaissigen  Epik  der  Gelehrten  (§  100)  war,  in  den 
Koiiiaueu  imd  Novellen.^*  Die  Komaxk,  die  bereits  das  fünfzehnte  Jahr- 
hundert hervorgebracht  (§  00,  224  fgg.))  erhielt  das  sechzehnte  durch  wieder- 
holten Druck  noch  beständig  in  Umlauf  '  und  mehrte  zugleich  deren  Zahl 
nach  derselben  Richtung  hin,  in  der  man  doi-t  gegangen,  und  auf  denselben 
Wegen.  Ubeksetzingex  also  zumeist  franzcEsischcr  Helden-  und  Liebes- 
geschichten, des  Olivier  und  Artus  durch  Wilhelm  Ziely^*,  des  Fiera- 
BRAS  *,  der  Haimonskinder  '',  des  Kaisers  Octavianu.s  durch  Wim.  Saltzmann  ^, 
der  schocnen  Magelona  durch  M.  Veit  Warbeck  ^  und  des  Hohlspiegels,  in 
welclien  mau  die  entschwindende  Ritterlichkeit  zuletzt  noch  aufgefangen,  des 
Amauis  ^ ;  daran  anschliessend  auch  schon  Die  Schuftereien  von  der  schmim 
Jidiana.^  Aus  dem  Itahaniischcn  der  märchenhafte  Reiseroman  von  den  drei 
K(ENi«.ss(EiixEN  VON  Serendh'pe  ^^  durch  Johann  Wetzel  ;  aus  dem  Latcini-j 
sehen,  hinter  dem  dann  wieder  das  Griechische  des  Heliodorus  lag,  dii 
ul^thiopica  historia  durch  Johann  von  Zschorn."  Beinah  alle  diese  mij 
andern  a?hnlicheu  Büchern,  auch  solchen,  die  schon  im  Jahrhundert  vorhei 
entstanden  waren,  fasste  im  J.  1587  das  Buch  der  Liebe  zusammen  (§  90,' 
224.  vgl.  §  108,  46);  ihrer  einige  gehn  bis  auf  heut  als  Volksbuecher  um.'^ 

112,  2.  2a)  Vgl.  F.  Bobertag,  Geschichte  des  Romans  und  der  ihm  verwandten  Dich- 
tungs-Gattungen in  Deutschland,  i  1,  Breslau  1876  und  dazu  W.  Scherer,  Die  Anfänge  des 
deutschen  Prosaromans  und  Jörg  Wickram  von  Colraar,  Str.  1877  (QF.  21).  3)  Über 
den  Wieduuilt,  eine  Umarbeitung  des  Wigoleis  §  90,  228  in  Reimprosa,  s.  §  96,  2. 
3a)  gedr.  Basel  1521  zusammen  mit  Valentin  und  Orsus  von  demselben  Uebersetzer:  §  9U, 
226.  4)  Siemern  1533.  5)  Hertzog  Ai/mont  von  Vordons  Süne,  Siemern  1535.  Ab- 
weichend davon  das  noch  jetzt  gangbare  Volksbuch  (erster  Druck  Köln  1604?),  eine  Über- 
setzung aus  dem  Niederländischen:  vdHagens  Grundriss  zur  Geschichte  d.  Deutschen  Poesie 
174.  539.  Ebd.  175  über  einen  durch  Conrad  Egenberger  von  Wertheim  aus  dem  Däni- 
schen (V)  übersetzten  Ogikr,  Frankf.  1571.  (j)  Strassburg  1535.  7)  Augsburg  1.536: 
Bücherschatz  der  Deutschen  National-Litt.  111.  Derselbe  Stoff  in  der  historia  von  Phyloconiu 
und  Eugenia,  durch  Peter  Wernher  übersetzt,  Nürnberg  1515:  Weller  Ann.  2,  311. 
8)  Das  I — XIII  Buch  erschienen  Frankfurt  1569 — 75,  das  xiv — xxiv  zu  Mümpelgart  159(1 
bis  1594.  Das  i  wiederabgedruckt  von  Keller,  Stuttgart  1857  (,Lit.  Ver.  40).  Vgl.  QF. 
21,  64  fgg.  Das  vi  Buch  von  Fischart  übersetzt :  §  112,  10.  9)  In  demselben  Verlag 
zu  Mümpelgart  erschienen  1595,  nach  Nie.  de  Montreux  übersetzt:  Höpfner,  Reformbestre 
bungen  S.  31.  10)  Basel  1583:  Altd.  Wälder  d.  Br.  Grimm  3.  100.  Goedeke  Grundr^ 
S.  379.  11)  Strassb.  1559:  Büchersch.  112.  Im  Buch  der  Liebe  nach  den  Helden  b€ 
titelt  Von  Theugene  vnd  Charidia.        12)  Sammlung  Die  deutschen  Volksbücher  von  Hii\\ 


§  107  ROMANE.  125 

So  denn  auch  und  mit  noch  groesserer  Berechtigung  die  meisten  der  Romane, 
die  aus  dem  Boden  der  Heimath  selbst  erwachsen  sind,  deutsche  Sagen  er- 
zählen oder  Legende  mit  deutscher  Anknüpfung  oder  schwankhaftc  Geschich- 
ten aus  dem  Leben  und  in  der  Licblingsart  des  Volkes,  Kaiskr  Friedrich  i, 
wie  er  Jerusalem  erobert  und  zuletzt,  dass  niemand  weiss  wohin,  verloren 
geht'^;  in  mehrfacher  Abfassung,  der  ältesten  von  1587,  der  Schwarzkünstler 
Johannes  Faust  '*;  von  Chrysostomus  Diidul^^^us,  einem  Westfalen,  der  ewig 
wandernde  Jude  Aiiasverus '■'' ;  ferner  der  Eulenspiegel  ^''',  aus  niedersächsi- 
scher Überlieferung,  wohl  auch  nach  einer  niedersächsischen  Urschrift  '^  ver- 
fasst  vielleicht  von  Thomas  Murner  (§  99,  17),  zuerst  nachweisbar  im  J.  1515 
und  seitdem  zu  unzsehlichen  Malen  wieder  gedruckt,  das  namhafteste  und  ge- 
lesenste  unter  allen  diesen  Büchern,  weil  in  seinem  Helden  noch  reicher  und 
bunter  als  einst  im  Morolt  und  im  Markolf  (§  81,  55.  Ol),  im  Pfaffen  Amis 
(§  66,  5),  im  Kalenberger  (§  66,  6),  in  dem  falschen  Neidhart  (§  72,  29. 
98,  40)  sich  die  Freude  des  Yolks  an  tölpischer  Schalkheit  und  schalkhafter 

ROCK,  Frankf.  1845  fgg.     Über  dieselben  Görres:  Die  teutschen  Volksb.,  Heidelberg  1807. 

13)  1519  zu  Landshut  u.  zu  Augsburg;  nach  letzterem  Drucke  wiederholt  durch  Pfeiffer  in 
Haupts  Zeitschr,  für  Deutsches  Alterthum  5,  253—267.  Vielleicht  nur  um  dieser  Sage  des 
Volks  die  wahre  Geschichte  entgegenzustellen  gab  gleich  1520  zu  Strassburg  JoH.  Adelphus, 
Stadtarzt  in  Schaff  hausen,  seinen  Barbarossa  heraus :  Schmidt  Hist.  litt,  de  l'Als.  2,  404 ;  vgl.  144. 

14)  Frankf.  1587  von  einem  Ungenannten :  danach  die  Reime  von  1588  §  100,  34  und  im 
gleichen  Jahre  zu  Lübeck  eine  niederd.  Uebersetzung ;  1599  zu  Hamburg  durch  Georg 
Rudolf  Widmann,  einen  Schwaben  (nebst  einer  Frankfurter  Ausgabe  von  1587,  wieder 
abgedruckt  in  Scheibles  Dr.  Job.  Faust,  Stuttg.  184G,  die  editio  princeps  wiederholt  von 
Kühne  Zerbst  1868  und  in  den  Neudrucken  Halle  1878);  Umarbeitung  der  letzteren  durch 
Joli.  Nie.  PfUzerum^  Nürnberg  1674  (neuer  Abdruck  von  Keller,  Tübingen  1880,  Lit.  Ver. 
146):  hierauf  durch  Kürzungen  beruhend  das  jetzige  Volksbuch.  Vgl.  die  Sage  v.  Dr.  Faust, 
untersucht  v.  Düntzer  (Scheibles  Schatzgräber  1)  Stiittg.  1846,  83  tgg.  und  die  Litteratur 
der  Faustsage  von  Peter,  Leipz.  1851.  Die  spieteren  Volksdramen  von  F.,  welche  seit  1746 
auch  als  Puppenspiele  aufgeführt  worden,  sind  aus  der  englischen  Tragoedie  von  Marlowe 
entnommen,  welche  schon  1608  zu  Graz  durch  englische  Comoedianten  aufgeführt  wurde: 
vgl.  W.  Creizenach,  Versuch  einer  Gesch.  des  Volksschauspiels  vom  Doctor  Faust,  Halle 
1878;  und  Meissner  (zu  §  106)  S.  78.  15)  Die  ältesten  Drucke  vom  J.  1602,  Leipzig 
und  Bautzen;  der  Name  Dudulseus  zuerst  in  einer  Ausgabe  von  1617.  Vgl.  Grässe,  Der 
Tannhäuser  und  Ewige  Jude,  2.  Aufl.  Dresden  1861.  16)  Dr.  Thomas  Murners  Ulen- 
spiegel,  hsggb.  von  Lappenberg,  Leipzig  1854.  Eine  Kölner  Ausg.  von  Servais  Kruffter 
erschien  facsimiliert  bei  Asher,  Berlin  1865.  17)  In  einer  Kölner  Ausgabe  von  1.539 
wird  1483  als  das  Jahr  angegeben,  in  welchem  der  niederdeutsche  Verf.  schrieb:  Lappenberg 
170.  347.  In  der  von  Lappenberg  abgedruckten  hochdeutschen  Ausg.  von  1519  wird  1500 
als  Abfassungszeit  genannt.     Das  Zeugnis  für  Murners  Autorschaft  s.  Lappenberg  385.     Jac. 


126  NEUnOCITDEUTSCHE  ZEIT.        XVI  JATTRTI.  §  107 

Weislicit  personificiert  getuiidcii  hat,  von  Fiscliait  in  Reime  '*  wie  von  einem 
Andern  der  Faust  und  aus  lioclidcutsclier  Sprache  alsbald  in  die  niederrhei- 
nische, die  niederländisclio,  die  franza?sische,  die  englische,  die  polnische,  die 
lateinische  sogar  gebracht;  a^hnlich  dem  Eulcuspiogel  Hans  Clawert,  aehnlich 
mit  Absicht  schon  in  der  Führung  seines  Lebens  selbst,  wie  Bartiiolom.«us 
KRrK(;KR  diess  besclirieben '^ ;  der  Finkeniuttku  sodann,  ein  überbietender 
Hohn  gegen  die  Lügen  der  Vielgereisten  -"  und  so  ein  Nach-  und  Widerklang 
der  Lügennuercheu,  die  öftei-s  im  Mittelalter  waren  gedichtet  worden  und  deren 
auch  jetzt  das  Volk  und  die  Meistorsclmle  noch  manches  sang  ^',  grossartig 
genug  in  seinem  phantastisch  scherzenden  Übermuthe  um  wohl  an  Fischart 
erinnern  zu  dürfen,  aber  zu  alt  für  diesen,  schon  um  das  J.  15G0  gedruckt--; 
die  ScuiLDiuJKüEU  oder  das  Lalknhucii  -',  eine  Erzaihlung,  die  anschaulich 
macht,  wie  sehr  die  Weisheit  sich  zu  hüten  habe,  dass  sie  nicht  in  Thorlieit, 
und  der  spielende  Schein,  dass  er  nicht  in  Ernst  umschlage ;  der  Esklkcknuj  •* 
endlich,  im  J.  1G17  nach  einem  Entwürfe  Wolf  hart  Spangenbergs  ^•'  und  dui-ch- 


Grimm,  Deutsches  Wörterlt.  1,  Lxxni,  nimmt  einen  gleichzeitig  von  Murner  und  von  Pauli 
(Anm.  37)  benützten  niederd.  Text  an;  vgl.  Lappeub.  378  fg.  18)  §  100,  23.  Eine  Nach- 
ahmung das  Buch  des  Alberus  §  99,  39.  das  den  heil.  Franciscus  zu  einem  Eulenspiegel, 
seine  Thaten  und  Wunder  zu  Eulenspiegeleien  macht.  Volkslied  §  95,  1;  Meisterlieder 
§  97,  34;  Dramen  HSachsens  §  9ö,  40  und  Jae.  Ayrers  (§  lOG,  21):  singents  Spil,  von  dem 
EulenJijtigeh  mit  dem  Kauffmann  vnd  Pfei/f'enmacher ;  von  dem  ersteren  auch  ein  Schwank 
Eidenspiegels  Disputation  mit  einem  Bischof}'  ob  dem  BriUenmachen  :  Willers  Ausg.  2,  4,  GU. 
19)  Hans  Clauerts  Werckliche  Historien,  Berlin  lö87.  Neudruck  Halle  1882.  Niederd. 
Übersetzung:  Lappenberg  a.  a.  0.  383.  Ein  Drama  Krügers  §  105,  G7.  20)  Scheit  im 
Grobianus  1051,  1  rw.  Der  weit  gewandert  vnd  der  alt  Die  liegen  beide  mit  geivalt.  Schon 
im  Ackermann  von  Böhmen  Cap.  xvii.  21)  §  06,  50  fgg.  95,  1.  97,  34.  Auf  ihrem 
Grunde  aueh  das  Fastnachtsspiel  bei  Keller  1,  91  fgg.  C.  Müller-Fraureath,  Die  deutschen 
Lügendichtungeu  bis  auf  Münchhauseu,  Halle  1881.  22)  zu  Strassburg:  HHoffmann  iu  Auf- 
sess  Anzeiger  f.  Kunde  d.  deutschen  Mittelalters  1833,  74  fg.  Beziehungen  Fischarts  auf  den 
Finkenritter,  doch  nicht  als  auf  ein  eigenes  Werk:  ebd.  130.  23)  Schildbürger,  durch 
M.  Aleph  Beth  Gimel,  Misnopotamia  1597  usf.:  Laienbuch  1G14,  o.  0,  Auf  alemannischej 
Heimat  weisen  ketschen,  ankenluifelin  ua.  hin,  auf  einen  kathol.  Verf.  die  Marienverehrunj 
Cap.  21.  Die  Geschichten  werden  schon  früher  in  Schwaben  u.  Elsass  erzählt,  bei  Bebet  u.  a. 
Auch  in  der  Zimmerischen  Chronik  1,  301  fgg.  Die  Schildbürger  erschienen  als  Witzen- 
bürger und  um  noch  zwei  Bücher  vermehrt  in  dem  Grillenvkrtreiber  durch  Conradum 
Agyrtam  von  Bellemont,  Frankf.  1G03:  Büchersch.  IIG.  JGrimm  im  Deutschen  Wörterb. 
1,  xci.  24)  Durch  Adolph  Rosen  von  Creutzheim,  Ballenstedt;  das  Abfassungsjahr  in 
der  Vorrede.  25)  §  KH),  30.  Auch  die  Vorrede  des  Eselkoenigs  berichtet,  dass  hiezu  der 
Dichter  des  Ganskcenigs  die  Collectanea,  Disposition  vnd  aussführliclie  entwerß'ung  (so  all- 
bereit Anno  1608  auffs  Papier  gebracht   gewesen)  hinderlassen :   auss   ivelchem  dann  diese 


II 


I 


§  107  ROMANE.  127 

weg  mit  Benutzung  des  lleinike  Fuchs  geschrieben,  ein  Thierroman  also,  aber 
satirisch  gegen  allerlei  und  alles-":  gleichzeitig,  im  J.  1621,  mochte  den  Don 
QuixoTK  wohl  auch  der  satirische  Bezug  zur  Übersetzung  ^',  die  Feinheit  und 
Bemessenheit  aber  der  Satire  kaum  in  groessere  Gunst  empfehlen.-^ 

Das  Volksmsessige,  das  mit  Ausnahme  etwa  nur  des  letzten  all  die  ge- 
nannten Bücher  und  Büchlein  haben,  wennschon  man  als  deren  Verfasser  stsets 
Gelehrte  erkennt,  liegt  in  dem  Stoffe,  der  überall  von  epischer  Art  und  Her- 
kunft, in  der  Darstellungsweise,  die  vielleicht  nur  beim  Eselkoenig  aus  zu 
starkem  Bewusstsein  der  Ironie  etwas  nüchtern  breit  ist,  liegt  bei  der  Mehr- 
zahl in  dem  Mangel  der  Yerfassernamen  -'',  liegt  in  der  Wandelbarkeit  durch 
Umarbeitung  und  Fortsetzung,  die  eben  wie  bei  den  Yolkshedern  (§  95,  17) 
oft  auch  hier  gegolten  hat.  Darum  sind  die  Romane  minder  volksmeessig,  die 
wir  von  Georg  Wickram  von  Colmar,  Stadtschreiber  zu  Burgheim  im  Breis- 
gau 1554  bis  1556  ^^  haben,  Gabriotto  vxd  Reiniiart  ^°  ^  1551,  der  jun«ex 
Knaben  Spiegel  1554,  der  irr  reitende  Pilger  und  der  von  guten  und 
ECKSEN  Nachbarn  1556,  endlich  der  Goldfaden  1557  ^' :  denn  so  gern  sonst 
dieser  nur  zu  viel  schreibende  Mann  sich  an  Überliefertes  und  Fremdes  leimte, 


Beschreibung,  ohne  Abbruch  oder  zusatz,  ist  verfertigt  worden.  Erfimler  der  Geschiohte 
jedofh  nicht  Spangenberg:  s.  JGrimms  Reinhart  Fuchs  Llil.  ccxv.  Anstoss  zur  Veröffent- 
lichung des  Buchs  Avar  dem  Verf.  laut  seiner  Vorrede  der  Wetteifer  mit  einem  andren  Von 
dess  Esels  Adel  Vnd  der  Saw  Triumph  durch  Gripimngno  Fahro-MirandA  1617  (§  lOU,  30). 
Ueber  den  hier  gemeinten  G.  F.  üklESSKRSCHMiDT  (§  110,  28)  s.  Wackern.  Fischart  117;  über 
seine  ital.  Quelle  Scherer  QF.  21,  37;  ebenda  14  auch  über  einen  Roman  Brissonetus  von 
ihm  mit  einer  Vorrede  von  1559  (?).  26)  In  dem  Stücke  LB.  3,  1,  605  auch  gegen  die 
kabbalistische  Weisheit,  die  von  den  Rosenkreuzern  (,§  99,  63)  schon  damals  geübt  oder  doch 
ihnen  Schuld  gegeben  ward.  27)  Ritterliche  Thaten  dess  tvunderseltzamen  Abentheicers 
Don   Kichote   de   la    Mantscha  —  durch   Fahsch  Basteln   von    der  Sohle,   Koethen  1621. 

28)  Indess  sind  noch  1648  und  1669  wiederholte  Ausgaben  gedruckt  worden  :  Büchersch.  135. 

29)  Murner  nennt  sich  selbst  als  Verfasser  des  Eulenspiegels  nicht,  und  Rose  v.  Creutzheim 
(vgl.  Anm.  26)  ist  schwerlich  ein  wirklicher  Name.  30)  1554  unterzeichnet  er  noch  zu 
Colmar  die  Vorrede  des  Knabenspiegels,  1555  uennt  ihn  das  als  Neujahrsgeschenk  übersandte 
Rollwagenbüchlein  Anm.  47  Stadtschreiber  zu  Burgheim.  Freilich  auch  1555  noch  bezeich- 
net er  sich  auf  dem  Titel  eines  1551  verfassten  gereimten  Gespräches  wider  die  Trunkenheit 
(Bücherscliatz  7)  als  Tichter  vnd  Bürger  zu  Colnuir.  Vgl.  über  Wickram  insbes.  Q,F.  21, 
35  fgg.  30a)  Unter  diesem  Titel  im  Buch  der  Liebe;  Wickram  selbst  nannte  seinen  Ro- 
man Ein  scJuxne  History  von  sorglichem  anfang  vnd  aussgang  der  brinnenden  Liebe  usw. 
31)  Alle  diese  Romane  sind  zu  Strassburg  erschienen;  ebenso  der  vermutlich  auch  von 
Wickram  bearbeitete  Bitter  Galmy  vss  Schottenland  zuerst  1539;  vgl.  über  diesen  E.  Schmidt 
in  Schnorrs  Archiv  8,  346  fgg. 


128  NEUHOOIIDEUTSCllE  ZEIT.         XVI  JAIIRH.  §  107 

mit  Erneuerung  '-'  oder  mit  Überarbeitung  "'',  jene  scheinen  docli  lediglich  von 
ihm  selbst  erfunden  •'*,  aber  der  Goldfaden  iiündestens  gut  erfunden  und  auch 
gut  erzsehlt.^'  Noch  weiter  von  den  Romanen  aller  And«Mn  entfernt,  ja  eigent- 
lich vereinzelt  sich  Jgmann  Fischart:  von  ihm  erst  spseter  (§  112). 

Von  Novellen  gab  es,  worauf  immerfort  durch  Wiederdruck  der  älteren 
und  durch  Fertigung  neuer  Überset/Amgen  schon  das  Beispiel  Boccaccios  und 
sonst  der  Itaiia^ner  wies '",  immerfort  ganze,  oft  sehr  umfassende  Samm- 
LrxcEx:  desto  kleiner  waren  meistens  die  Novellen  selbst;  viele  darunter 
dürfte  man  auch  ihres  Inhaltes  wegen  ebenso  wohl  Anecdoten  heissen.  Hier 
steht,  nicht  bloss  der  Zeit  nach,  an  der  Spitze  Johanxes  Pauli  •*^,  den  die 
Litteraturgcschichte  auch  unter  jenen  zu  nennen  hat,  durch  welche  die  Predigt- 
werke Geilers  uns  sind  überliefert  worden  ■'*^,  von  Geburt  ein  Jude,  aber  Fran- 
ciscanermönch  und  in  den  Jahren,  da  er  sein  grosses  Novellenbuch  Schimpf 
und  Ernst  d.  h.  Scherz  und  Ernst  •''' *  zusammenstellte,  1518  und  19  (ge- 
druckt ward  es  zuerst  1522),  Losemeistor  in  seinem  Ordenshause  zu  Thann 
im  Elsass.  Sichtliches  Vorbild  sind  ihm  die  Gesta  liomanorwn  (§  90,  140) 
gewesen,  mit  denen  er  auch,  wo  er  nicht  aus  dem  Munde  der  Leute  schöpft, 
den  Bereich  und  die  Art  seiner  schriftlichen  (Quellen  ^^  theilt :  auch  seine  Ge- 
schichten haben  oft  nur  symbolischen  und  selbst  die  scherzhaften  einen  Werth 

32)  der  Metamorphosen  Ovids  von  Albrecht  von  Halberstadt  (§  56,  32);  die  Bilder 
dazu  von  ihm  selbst  gezeichnet :  §  92 .  .ö.  6.  Des  Lateins  unkundig  kann  Georg 
W.  nicht  der  Gregorius  AVickram  sein ,  der  Die  biedier  Vincentii  Obsopei :  Vonn 
der  Kunst  zu  tn'ncken,  Freihurg  1537.  übersetzt  hat.  33)  der  Narrenbeschwoerung 
Murners  §  99,  19,  aber  nicht  des  Brantischen  Narrenschiflfs :  Zarncke  cxxxix.  Ihm 
selber  sein  Spiel  Tobias  durch  einen  Andern  umgearbeitet,  von  zwei  Tagen  abgekürzt  auf 
einen:  §  lOö,  122.  Über  "W.  als  Dramatiker  s.  §  105,  ■15d.  75.  79a.  34)  Eine  Geschichte, 
die  so  ganz  im  Bürgerleben  sich  bewegt  wie  die  von  guten  und  boesen  Nachbarn,  konnte 
schwerlich  aus  älterer  Zeit  herrühren.  Den  Inhalt  des  Knabenspiegels  vergleicht  mit  Er- 
lebtem Eine  warhaff'tige  History  von  einem  vnyerahtenen  Son,  in  ein  Dialogum  gestellt. 
Strassb.  o.  .1.  35)  wieder  hsggb.  von  Brentano,  Heidelberg  1809.  'S(i)  Altere  Über- 
setzungen Boccaccios  (Cento  norelle)  und  aus  Boccaccio  §  90,  266  fgg. ;  neuere  v.  1519  usf. : 
Canzlers  o.  Meissners  Quartalschrift  2,  3,  2,  33  fg.  Bücherschatz  118;  einzelne  seiner  Novellen 
in  Egenolffs  Schertz  mit  der  Warheyt  (Anm.  41),  alle  lOO  dem  Frankfurter  Pauli  v.  1583 
angehängt.  Mehrere  von  M.  Montanas  (Anm.  49)  übersetzt  oder  dramatisiert:  QF.  21,  12. 
23.  37)  Über  den  Barfüsser  .Job.  Pauli  und  das  von  ihm  verfasste  Volksbuch  Schimpf  u. 
Ernst  V.  Veith,  AVien  1839.     Vgl.  auch  Stoeber  Alsatia  1856  S.  415  fg.  38)  Evangeli- 

buch 1515,  die  Etneis  1516,  die  Brösamlin  1517  und  die  Predigten  über  das  Narrenschitf 
1520:  §  90,  78.  Eigene  Predigten  von  Pauli,  gehalten  1-493  und  94:  Bartsch  Alemannia 
11,  136.         38a)  Neue  Ausg.  von  Oesterley,  Stuttgart  1866,  Lit.  Ver.  85.         39)  Lappen-j 


§  107  NOVELLEN.  129 

der  ernsten  Lehre  ^°;  nur  erzwingt  er  die  Symbolik  niclit  und  drängt  die  Lehre 
nicht  auf.  Diess  natürlich  unbefangene  Wesen,  verbunden  mit  ebenso  schlichter 
Geläufigkeit  der  Darstellung,  hat  dem  Buch  einen  langen  Bestand  in  zahlreich 
wiederholten  Drucken  gesichert,  die  allerdings  fast  ebenso  viel  Umänderungen 
der  echten  Form  durch  Zusätze  und  noch  mehr  durch  Kürzung  sind.*^  Pauli 
hatte  noch  als  Katholik  und  mit  der  Scheu  eines,  der  selbst  ein  Geistlicher 
war,  geschrieben :  durch  die  lleformation  ward  auch  hier  der  alten  Geistlich- 
keit gegenüber  die  Komik  entfesselt:  es  gefiel  von  deren  Unsitten,  es  gefiel 
nun  (eine  Wirkung  zugleich  jener  italisenischen  Muster  ^^)  je  mehr  und  mehr 
von  Unsitte  überhaupt  und  von  schvvankhafter  Thorheit  und,  je  weiter  die 
Reformation  im  Rücken  lag,  selbst  ohne  Sitte  und  anstandslos  und  ernstlos 
zu  erzaehlen:  kein  halb  Jahrhundert  nach  dem  Auftreten  Paulis,  und  es  gab 
trotz  dem,  dass  er  so  eifrig,  dass  auch  die  Gesta  Bomanorum  imd,  ihnen 
verwandt,  die  Sieben  weisen  Meister  immer  noch  gelesen  wurden  *^,  doch 
als  frisches  Erzeugniss  beinahe  nur  noch  komische,  beinahe  nur  noch  unsaubere 
Novellen.  Da  wurden  die  Facetice,  die  der  Tübinger  Professor  Heinrich 
Bebel  bereits  im  J.  1508  *^  und  schon  er  besonders  zum  Hohne  der  Pfaffen 
herausgegeben,  als  GeschwencJc  verdeutscht*^,  mid  Bebel  folgend  kehrte 
zumeist  nach  eben  dieser  Seite  hin  Hans  Wilhelm  Kirchhof  die  Geschichten 
seines  Wendunmuth '*'';  jener  Wickram  aber  in  seinem  Rollwagenbuechlein  *', 


bergs  Ulenspiegel  364  fg.  Im  J.  1538  erschienen  Die  alten  Rcemer ,  eine  protestantische 
Überarbeitung  der  Gesta  Romanorum  mit  Hinzufiigung  der  Sieben  weisen  Meister  (§  9U, 
250):  Brants  Narrenschiff  v.  Zarncke  CXLI.  40)  Beispiel  die  im  LB.  3,  1,  75  ausgehobenen 
Stücke.  41)  Ein  ausführlich  besprechendes  Verzeichniss  bei  Lappenberg  a.  a.  0.  365  fgg. 
Der  Schertz  mit  der  Warheyt  bei  Egenolff  in  Frankf.  L550  ist  eine  ganz  neue  eigene 
Sammlung,  für  welche  Pauli  nur  auch  benützt  worden:  Lappeuberg  376.  Bücherschatz  118. 
42)  Die  um  Ernst  und  Sittenreinheit  bemühten  Novellen  Giraldis  kamen  zu  spset  und  wurden 
noch  spseter,  erst  1614,  übersetzt:  Bücherschatz  120.  43)  §  90,  140.  249  fg.  Dyocletianus 
Leben  von  Keller  41.  Bücherschatz  117  fg.  44)  in  seinen  Opusculis  novis,  Strassburg. 
Erste  Einzelausgabe  Margarite  facetiarum  ebd.  1509.  Bebel  schon  früher  genannt  §  94,  13. 
Ein  Vorgänger,  ebenfalls  ein  Schwabe,  war  §  90  nach  Anni.  263  zu  nennen:  Augustin 
Tünger,  der  1486  Facetice  für  Eberhard  von  Würtenberg  schrieb  und  verdeutschte:  Ausgabe 
von  Keller  Tübingen  1874,  Lit.  Ver.  118.  45)  1558:  Bücherscli.  118.  46)  Frankfurt 
1563:  Büchersch.  119.  Um  3  neue  Theile  vermehrt  1602.  Neudruck  von  Oesterlcy,  Tübingen 
1869,  Lit.  Ver.  95—99.  Zur  Lebensgeschichte  Kirchhoffs,  der  uls  Landsknecht  weitumher- 
gekommen  war  und  spaeter  in  hessischen  Diensten  stand,  zuletzt  als  Burggraf  von  Spaugeu- 
berg  s.  auch  Dithmar,  Aus  und  über  H.  W.  Kirchhoff,  Marburg  1867.  Progr.  47)  Proben 
und  zur  Erkiaerung  des  Namens  der  ganze  Titel  nach  der  ersten  Ausg.  v.  1555  LB.  3,  1, 
441.     Neue  Ausgabe  von  Kurz,    Leipzig  1865.     Das  Jahr  darauf  konnte  derselbe  Wickram 

Wackernagel,  Litter,  Geschichte.  II.  9 


lao  NEUIIOCIlDErTSCHE  ZEIT.         XVI  .TAH  1(11.  §  107, 

Jacoh  Frky  mit  der  Gartknokseli.sciiaft  *",  Martinu8  Montanus  mit  dem] 
Wecjkurzkr  *',  Vai.kntin  Schumann  mit  dem  Nachthukchlein  ^'',  Mjchakl 
LiNDNER  mit  dem  Katziporis  ^',  all  diese  weichen  auch  sonst  keiner  Plump- 
heit, keiner  l'nreinheit  aus,  sobald  sie  nur  zum  Gelächter  oder  anderswie 
nocli  kitzelt,  und  selbst  der  Mansfeldische  Pfarrer  Wolf(!AN(;  Buttnkr,  der 
die  Splisse  sammelt,  welche  Claus  Narr  gemacht  '-,  verfahrt  dabei  niclit 
gerad  immer  wa>hlorisch.  Der  grossen  Menge  missfielen  dergleichen  Bücher 
nicht :  sind  sie  doch  nur  durch  deren  Fleiss  im  Lesen  solch  eine  Seltenheit 
für  uns  geworden;  auch  niclit  den  andren  Gelehrten  allen  und  selbst  solchen 
niiht,  die  lieber  auf  Lateinisch  schrieben :  Bebeis  Facetice  haben  da  Nachfolge 
gefunden,  die  zahlreich  genug  ist'*';  auch  Fischart  mochte  darüber  noch  mit 
Nachsicht  urtheilen.''^  Mancher  indess,  der  strenger,  vielleicht  auch  nur  enger 
als  Fischart  dachte,  darunter  auch  Rollenhagen,  dem  doch  das  lündermaerchen 
kein  Anstoss  war  ^\  von  diesen  Novellen  wandte  er  sich  mit  sittlicher  Ent- 
rüstung ab.°^ 

zum  Zwecke  strenger  Sittenbelehrung  eine  Sammlung  von  ganz  andern  Geschichten,  selbst 
aus  der  Bibel,  drucken  lassen,  Die  Siben  Hau})tlaster,  Strassb.:  Büchersch.  7.  48)  Purste 
Ausgabe  1556:  Büchersch.  119.  .Tac.  Frey  Stadtschreiber  zu  Maursmünster  im  Elsass:  auch 
Verfasser  eines  B'astnachtsspieles:  Gottscheds  Vorrath  2,  190  und  zweier  ernster  Stücke  von 
Abraham  und  Lazarus.  49)  Montanus  ein  Strassburger:  von  ihm  (vgl.  Anm.  36)  auch 
zu  Strassb.  um  1560  ein  zweiter  Theil  der  Gartengesellschaft:  Büchersch.  119.  Der  Weg- 
kürzer 1565  zu  Frankf.  als  dritter,  die  Gartengesellschaft  als  zweiter  Theil  mit  dem  Roll- 
wagenbüchlein zusammengedruckt.  50)  zti  Nacht  )uich  dem  Essen,  oder  au  ff  Weg  vud 
Stmssen,  zu  lesen  —  mancherlei/  gute  Bossen,  darunder  f'ünff  grober  Zotten  1559;  Valien 
Schumann  Schriftgiesser  v.  Leipzig:  Büchersch.  119.  Bobertag  in  Schnorrs  Arch,  6,  129. 
51)  0.  0.  15.58.  Zusammen  mit  dem  ebenfalls  von  Lindner  verfassten  Rastbüchlein  1.558, 
neu   herausgegeben  von  Lichtenstein,    Tübingen  1883.    Lit.  Ver.  163.  52)  als  Narr  am 

Kursächs.  Hofe  1486 — 1532;  Büttners  Buch  zuerst  Eislebeu  1572:  Lappenbergs  Ulenspiegel 
382.  Hinter  jedem  Geschichtlein  eine  gereimte  Lehre,  wie  auch  bei  Kirchhof  und  wie  schon 
früher  in  den  Gestis  Romanoram  und  der  Leipz.  Novellensammlung  §  90,  140.  251:  umge- 
kehrt Prosalehre  hinter  Reimen  bei  Sandrub  §  100,  33.  Claus  Narr  im  Drama  §  105,  132 ; 
von  Jac.  Ayrer  §  106,  21  ein  singets  Spil,  von  etliclien  närrisclien  Reden  des  Claus  Narr n ; 
von    HSachs    schon    1560   Drey    Schicencke    Claus    Narren:   Willers    Ausgabe   2,    4,    128. 

53)  Schon  1524  und  29  von  dem  Strassburger  Otmar  Nachtigall  (Luscinius)  Joci  u.  Sen'a 
jocique  (vgl.  Schnorrs  Archiv  11,  1  fgg.),  von  Johannes  Gast,  einem  Breisacher,  Geistlichem 
zu  Basel,  Conrivales  sermones  1548,  weiterhin  die  Facetice  Nicod.  Frischlins,  die  Faceticc 
faceiiarum  1600,    die  Joci  atque  seria  der  zwei  Melander  Otto  und  Dionysius  1611  u.  s.  f. 

54)  LB.  3,  1,  476.  55)  §  99,  3.  Gute  Freunde  haben  laut  der  Vorrede  gemeint,  sein 
Gedicht  solt  etwas  mehr  Nutzen  scluiffen,  denn  rnser  weitberümter  Landtmann  Eulenspiegel 
oder  auch  andere  schand-Bücher,  der  Pfaff  von  Kaienberg,  Kazij>orus,  Rollwagen  de 
56)  Midi  1  leset  jetzunder.    rnd  sivd   srhr  gemein,    balt    in  aller  Händen,   so    da   schreiben 


§  108  GESCHICHTSSCHREIBUNG.  131 

§  108. 
Einen  grcesseren  als  die  Ronianenprosa  und  wahrhaft  einen  grossen  Fort- 
schritt, den  grcEstcn  vielleicht,  der  überhaupt  der  Litteratur  des  sechzehnten 
Jahrhunderts  vergönnt  gewesen,  machte  jetzt  über  die  schmalen  Vorgänge  des 
Mittelalters  (§  90,  141  fgg.)  hinaus  die  Prosa  der  Geschichtsschreibung. 
Welch  besserer  Grund  aber  war  auch  einer  solchen  jetzt  bereitet:  in  der 
Gegenwart  rings  ein  gross  bewegtes  Leben,  ein  Kampf  religioeser  und  politi- 
scher Gedanken,  eine  Staatskimst,  deren  Tragweite  über  die  Welt  hin  gieng ; 
aus  dem  Alterthum  gerade  hier  die  untrüglichsten  Muster,  und  geübt  in  den 
Studien  des  Alterthumes  Forschung  und  Kritik,  Zwar  manchen  Gelehrten 
verlockten  eben  diese  Muster  auch  Geschichte  auf  Latein  zu  schreiben:  ich 
nenne  Johannes  Sleidamis,  den  mit  Recht  berühmtesten  ',  und  JBeatiis 
Bhenanus,  der  auch  Rühmens  werth  ist-;  andre  aber  bemühten  sich  Csesar 
und  Salust  und  Livius  und  Tacitus  und  Suetonius,  Herodot  und  Thucydides 
und  Xenophon  und  Plutarch  ihrem  Volk  durch  Übersetzung  nah  zu  bringen  ^, 
und  viel  mehr  noch  waren  derer,  die  eine  ehrgeizige  oder  wehmuthsvolle 
Vaterlandsliebe  *  und  die  wachsende  Theilnahme  Aller,  selbst  der  Geringsten 
an  den  Händeln  der  Welt  ^  (Zeugniss  hievon  die  erst  einzeln  ausfliegenden, 
zuletzt   regelmsessig   wiederkehrenden   Zeitungen  ^)   zu   deutscher  Erzeehlung 

vnnä  lesen  können,  viel  vnnütze,  vnzüclitige,  vnd  garstige  Bücher,  als  da  sind  der  Eulen- 
spiegel, Schimpff'  rnd  Ernst,  Rolleu-agen,  Gartengesellschafft,  Cento  Novella  usw. :  Burgliart 
Genssehedels  Vorrede  zu  seiner  Ethiea  Christiana  Eythmica  1619  in  HHoffmanns  Spenden 
z.  deutschen  Litteraturgesch.  1,  21:  die  ärgerlichen,  schandbare  vnnd  schcsdUche  Bücher  vom 
Eulenspiegel,  Marcolpho,  Katzibori,  Pfaffen  vom  Kaienberg  vnd  dergleichen :  Vorrede  zum 
Eselkoenig. 

§  108.  1)  eigentl.  Philippson,  aus  Schieiden  in  der  Grafschaft  Manderscheid,  von  1542 
bis  zu  seinem  Tode  1556  in  Strassburg ;  sein  Hauptwerk  die  Commentarii  de  statu  religionis 
et  reipublicce  Carolo  V  Ccesare  1555.  2)  eigentl.  Bilde,  aus  Rheinau  im  Elsass;  Herum 
Germanicarum  l.  III  1531.  3)  Livius  Ivo  Wittig,  Mainz  1505,  in  freier  Bearbeitung; 
Caesar  M.  Ringmaxn  PmLESius,  Strassburg  1.507:  Salust  Dietrich  von  Pleningen  (110, 
5),  ein  Freund  des  grossen  Johann  von  Dalberg,  Bischofs  v.  "Worms,  gedr.  zu  Landshut 
1515;  Tacitus  Jacob  Micyllus,  Mainz  1535;  Suetonius  Jag.  Polychorius  Strassb.  1536; 
Herodot  aus  dem  Lat.  Hieronymus  Boner,  Stadtschultheiss  von  Colmar,  Augsb.  1535,  aus 
dem  Griech.  Georg  Schwartzkopff,  Frankfurt  1593 ;  Thucydides,  Xenophon  u.  Phitarchus 
gleichfalls  Boner,  Augsburg  1533,  ebd.  1540  und  1534.  Und  so  fort.  4)  Vaterländischer 
Sinn  bei  allen,  mit  Stolz  bei  Quad  Anm.  25,  mit  Klage  über  den  Neid  und  Hass  d.  Fremden 
nnd  die  schweigsame  Selbstmissachtung  der  Deutschen  bei  Reissner  Anm.  37.  5)  ver- 
spottet in  Murners  Sehelmenzunft  Cp.  25  Von  Reichstätten  reden.  ö)  Vgl.  Gesch.  des 
deutschen  Journalismus  von  Prutz  1,   Hannover  1845.     Zeitung   ursprünglich  Name  einer 


132  NEUllOCJIDEUTSCHK  ZEIT.        XVI  JAIIUII.  8  108 

1 

der  Woltliiiiidol,  der  Ocschiclite  der  "Welt,  der  Geschichte  der  llciniath  trieb. 
Mit  Werken  letzterer  Art  stand  aus  dem  gleichen  Grunde  wie  schon  im 
Mittelalter  und  wie  ebenda  mit  der  l'Hoge  des  geschichtlichen  Liedes  (§  90, 
162)  und  jetzt  mit  einer  öftcntlichoren  Auffassung  des  Dramas (§  105,  118 — IIU) 
allen  Theilen  des  Reiches  die  Slhwkiz  voran.  Hier  eine  Fülle  örtlich  be- 
schränkter, kleinst^iatischer  Geschiciitsschreibung  ',  litterarisch  freilich  meistens 
werthlos,  werthvoll  dem  Gelehrten  zumal  durch  ihre  Berichte  über  die  Jlefor- 
mationsarbeit  ** :  aber  es  überragt  die  Fülle  mehr  als  einer  mit  hcpherer  Be- 
deutung, vor  allen  jener,  der  zuerst  und  f'üi'  immer  den  Grund  der  iSchweizer- 
geschichte  gelogt,  der  überall  zuerst  es  verstanden  hat  die  geschichtliche 
Darstellung  auf"  Forschung,  auf  Kritik  zu  bauen  und  dennoch  anschaulich 
darzustellen,  den  Stofl"  der  Erzsehlung  mit  Blicken  politischer  Weisheit  zu 
durchleuchten  und  dennoch  zu  crzaehlen,  Aegidius  Tschlüi,  ein  Glarner,  geb. 
1505,  gest.  1572,  ein  Mann,  in  dessen  Lebensführung  auch  (er  war  Land- 
ammann seiner  Heimath)  staatsmännischer  Sinn  sich  mit  dem  Geiste  der 
Freiheit  und  dem  Ernst  der  Wahrhaftigkeit  vereinte  '' :  von  ihm  ausser  zahl- 
reichen, auch  lateinischen,  auch  kleineren  Werken,  unter  denen  die  Bhetia 
von  1538.  auszuzeichnen  *",  als  sein  Hauptwerk  die  Schweizer  Chronik,  fort- 
geführt   bis    zum  J.  1570."     Au   Tschudi    zuna^chst    reihen    sich   Christian 

jeden,  vielleicht  auch  (§  99,  13)  dichterisch  abgefassten  Verkündung  einer  Neuigkeit  aus  der 
Ferne  u.  Fremde.  Yerzeichniss  solcher  kleineren  Druckschriften  prosaischer  Form  in  dem 
Bücherschatz  d.  Deutschen  National-Litteratur  41  fg.  128.  131  t'g.  Handschriftliche  regel- 
maessig  an  Staatsmänner  eingesendet:  Schmellers  Bair.  AVörterb.  4,  293:  an  die  Fugger  in 
Augsburg:  Sickel  in  Hoffm.  u.  Schades  Weimarisch.  Jahrb.  1,  344  fgg.  Die  älteste  Zeitung 
in  dem  jetzigen  Sinn  des  Wortes  die  von  Joh.  Carolus  in  Strassburg  hg.  Relation  aller  f'ür- 
nemmen  Historien:  J.  0.  Opel,  Die  Anlange  der  deutschen  Zeitungspresse  16U9 — 1650  im 
Archiv  f.  Gesch.  des  deutschen  Buchhandels  III,  Leij)zig  1Ö79.  7)  s.  Gottlieb  Eman.  v. 

Hallers  Bibliothek  der  Schweizer -Geschichte,  Bern  1785 — 88.  Egb.  Frid.  v.  Mülinen,  Pro- 
dromus  einer  schweizer.  Historiographie,  Bern  1874.  8)  So  nameutlich  Valerius  Ans- 
HEi.MS,  genannt  Rüd.  Berner  Chronik,  hsggb.  v.  Stierlin,  Bern  1825 — 33,  und  die  (.Zürcher) 
Reformationsgeschichte  v.  Heinu.  Bullinger.  hsggb.  v.  Hottinger  u.  Voegeli,  Frauenfeld 
1838 — 40.  9)  Egid.  Tschudis  Leben  und  Schriften  von  Ildephons  Fuchs,  SGallen  1805, 
und  Blumer  im  Jb.  des  bist.  Vereins  des  C.  Glarus  1870.  74,  10)  Probe  im  LB.  3,  1, 
381.  11)  aber  leider  nur  bis  zum  J.  1470  gedruckt:  Chronicon  Helveticum,  hsggb.  von 
.]oh.  Rud.  Iseliu,  Basel  1734.  Proben  LB.  3,  1,  389;  das  erste  Stück  hauptsächlich  nach 
dem  Liede  LB.  1,  1285.  JosiAS  Simler  von  Zürich,  dem  Tschudi  eine  lateinische  Bearbei- 
tung des  Werkes  übertragen,  hat  nach  Vereitelung  dieses  Vorhabens  selbst  auf  Lateinisch 
ein  geschichtliches  und  staatsrechtliches  Buch  de  Repuhlica  Helvetiorum  abgefasst,  Zürich 
1576:  eine  Verdeut-schung  davon  erschien  bereits  im  gleichen  .lahre:  Xeujahrsbl.  d.  Waisen- 


§  108  GESCIIICIIT8SCIIREIBUNG.  13'3 

WuRSTisEN,  der  ciuc  Basier  Chronik  '^,  und  Michakl  Stettlek,  der  spacter- 
liin  gleichfalls  Helvetische  Annalen  geschrieben  hat  '^,  jener,  ob  zwar  auf  ge- 
ringerem Gebiete,  nicht  geringer  an  Gabe  des  Erzählens  und  an  Gelehrten- 
treue: war  er  doch  auch  von  denen,  die  jetzt  in  der  Sammlung  der  älteren 
Geschichtsquellen  Deutschlands  einen  dankenswerthen  Anfang  machten.'^  Fast 
alle  diese  Schweizer  Chronisten  und  die  früheren  darunter  alle  haben  je  ihrer 
Landesmundart  sich  bedient:  ein  Gemisch  von  schweizerischem  und  hohem 
Deutsch  brauchte  Johannes  Stumpfe,  den  erst  sein  speeteres  Leben  zum 
Schweizer  gemacht  hatte  '•^:  seine  Beschreibung  der  Eidgenossenschaft  von 
1546  giebt,  nachdem  nur  der  Eingang  rein  historisch  gehalten  ist,  den  übrigen 
Stoff  in  topographischer  Zersplitterung  ^'^ ;  in  einem  andren,  nicht  die  Schweiz 
berührenden  Buche,  Keyser  Heinrijchs  des  vierdten  Historia  von  1556,  beein- 
trächtigt gegenpsebstischer  Eifer  die  Auffassung,  selbst  die  Darstellung.'^  So 
gehoerte  auch  Sebastian  Mijnster,  der  im  J.  1544  gleichfalls  ein  halb  ge- 
schichtliches, halb  geographisches  Werk,  aber  von  weiter  gedehntem  Bereiche, 
eine  Cosmographie,  und  er  mit  besserm  Geschicke  verfasst  hat  '*,  auch  er  ge- 
hoerte der  Schweiz  nur  durch  sein  Leben  und  Lebensende,  nicht  von  Geburt 
an.''-'  Das  andre  Deutschland  kann  dem  Tschudi  der  Schweiz  nur  Einen  an 
die  Seite,  darf  aber  diesen  einen  zugleich  hoch  über  Stumpff  und  Münster 
stellen,  Sebastian  Franck,  einen  Schwaben  von  Donauwörth,  geb.  1499  oder 
1500,  Verfasser  im  J.  1531  des  Zeitbuches,  einer  Weltgeschichte,  der  ersten 
auf  Deutsch,  die  nicht   bloss  übersetzt  war  -",    1534  des  Weltbuches,   einer 

hauses  in  Zürich  1855,  16.  24:.  12)  Basel  1580.  "Wurstisen  geb.  zu  Basel  1544:,  gest.  1588. 
13)  Ännales  oder  Beschreibung  der  vornehmsten  Geschichten,  so  sich  in  Helvetia  zugetragen 
haben,  Bern  1626.  Stettier  geb.  zu  Bern  um  1580,  gest.  1642;  auch  Verf.  eines  Dramas 
aus  der  Berner  Geschichte:  §  105,  26.  14)  Germanise  historici  illustres  ed.  Chr.  Ursti- 
sius,  Frankf.  1585.  15)  geb.  zu  Bruchsal  1500,  Pfarrer  im  Zürichbiet,  dann  auch  Bürger 
von  Zürich,  gest.  1.566.  16)  Gemeiner  lohlicher  Eyäcjnos^chafft  Stetten,  Landen  vnd 
Völckeren  C'hronickwirdiger  thaaten  beschreybuny,  Zürich:  als  Eingang  eine  bis  1308  rei- 
chende Gesammtgeschichte,  dann  Beschreibung  und  stückweis  die  Geschichte  der  einzelnen 
Länder  u.  s.  f.  Ein  Auszug  die  Sehwytzer  Chronica  von  1554.  17)  Probe  im  LB.  3, 
1,  411.  Aehnliches  Werk  eines  Elsässers,  der  Barbarossa  v.  Adelphus,  §  107,  13.  18)  LB. 
3,  1,  399  der  Abschnitt  von  den  neihven  Inseln  (America):  in  gewandter  Verbindung  Ent- 
deckungsgeschichte und  Beschreibung.  19)  geboren  zu  Ingelheim  1489,  von  1529  bis  zu 
seinem   Tode    1.552    Professor    in    Basel.  20)    Chronica,    Zeythuch   vnd  geschychthihel, 

Strassb. :  im  J.  1536  (Druck  o.  0.)  von  ihm  selbst  am  so  viel  weiter  geführt.  Ältre,  aber 
übersetzte  Weltgeschichten  nach  Rolfink  und  von  Alt  nach  Schedel  §  90,  188.  189.  Auf 
Anlass  der  letzteren  bemerkt  Panzer,  Ann.  d.  alt,  d.  Litt.  1,  206,  „dass  sich  der  beruffene 
Sebast.  Franck  in  seiner  Chronica  oder  Zeitbuch,  dieser  deutschen  Übersetzung  wohl  bedient, 


i:J4  NEUIIOCIIDEUTSCJIE  ZEIT.        XVI  JAlUlli.  §  lOH 

Bcaclircil)un;]f  iiiich  der  gcsaniniton  Welt  -',  1538  der  Germania ",  eines 
«ausgctulirtercn  Gcgcnbildcs  zu  dem  unsterbliclien  Werk  des  grossen  Koüniers. 
Ein  Politiker  wie  Tsehudi  ist  Franck  allerdings  nicht:  aber  er  hat  vor  Tschudi 
voraus  einen  drängenden  Zug  der  religiocs-sittlichen,  der  philosophischen  Be- 
trachtung, der  ihn  auch  den  Gedanken,  die  in  der  Geschichte  walten,  nach- 
gehn  heisst:  darum  Ifcsst  er  jenen  Johannes  Cakio,  der  gleich  auf  ihn  ebenfalls 
eine  Weltgeschichte,  nur  gar  zu  vorwiegend  mit  chronologischer  Handhabung 
geschrieben  -^,  noch  weiter  hinter  sich;  er  hat  voraus  vor  Stumpff  und  Münster, 
deren  letzterer  bloss  die  Nachbildung  versuchen  kann,  den  tief  blickenden, 
streithaft  scharfen  Geist,  welchem  es  wichtiger  ist  das  Volk  als  bloss  das 
Land  zu  schildern  und  ein  Bedürfniss,  auch  alle  Gebrechen  eines  Volks  un<l 
die  eines  jeden  Standes  bloss  zu  legen.  Wir  werden  diesen  seltenen  Mann, 
der  nach  vielen  Unruhen  und  Wechseln  des  innern  wie  des  äusseren  Lebens 
um  das  J.  1543  zu  Basel  gestorben  ist  ^^,  mit  noch  andren,  nicht  minder  be- 
deutsamen Erzeugnissen  wieder  unter  den  lehrhaften  Prosaikern  treffen  (§  110, 
25  fgg.  111,  7).  Ausser  Franck  ist  als  ein  solcher,  der  auch  noch  versucht 
hat  einen  Geschichtsstoff  grcesseren  Umfanges  zu  bewältigen  und  ihn  in  der 
Gesinnung  wenigstens,  in  der  Begeisterung  auch  bewältigt  hat,  Matthias  Quad 
zu  nennen:  er  hat  unter  dem  Titel  Teutschcr  Nation  Herliglceit  im  J. 
1609  eine  aussführliche  heschreihnng  des  gegemvertigen,  alten  vnd  vhralten 
Standes  Germanice  ent werfen. ^^  All  die  Übrigen  beschränken  sich  landschaft- 
lich enger  oder  auf  eine  Stadt,  einen  kürzeren  Zeitraum,  eine  einzelne  Per- 
son; nur  Johannes  Thi-rnmayer  von  Abensberg  oder  Aventimis-^  weiss 
noch  den  Anfängen   seiner  Bairischen  Chronik   von    1533 -'  Bezüge  auf  die 

und  aus  derselben  vieles  wörtlich   abgeschrieben   habe."  21)  Probstücke  LB.  3,  1,  31f>. 

22)  Hanpttitel  der  zweiten  Ausg.,  1539  o.  0.;  der  ersten  zu  Augsb.  Chronica.  Des  gantzen 
Teutsclien  lands,  dller  Teutschen  Völcker  Herkommen  usw.  23)  Chronica,  Wittenb.  1532. 
Von  Melanchthon,  der  das  Buch  seinen  Geschichtsvortraegen  zum  Grunde  legte,  Chronicon 
Cftrionis  latine  expositum  et   auctum,  Wittenb.  1558—65.  24)  Nachlese  zu  S.  Franks 

Leben  und  Schriften  von  Am  Ende,  Nürnb.  1796.  Vgl.  H.  Bischof.  Seb.  Franck  und  die 
deutsche  Geschichtschreibung,  Tübingen  1857.  C.  H.  Hase,  Seb.  Franck  von  Word,  der 
Schwarmgeist,  Lpz.  1869.  Anfang  einer  ausführlichen  Lebensgeschichte  von  Weinkauff  in 
Birlingors  Alemannia  5.  131.  6,  49.  7,  1  fgg.  25)  Köln  1609.  Von  ihm  auch  eine  kurze 
Weltgeschichte  in  Reimen :  §  99,  8.  26)  geb.  U77,  gest.  zu  Regensburg  1534.  In  dem 
einen  Privilegium  des  Auszugs  von  1522  maister  Ham  Türmayr  genant  Auentinus. 
27)  Zuerst  nur  lateinisch  Annales  JBoiorum;  ein  deutscher  Auszug  gedr.  zu  Nürnb.  1522: 
Bayrischer  Chronicon:  im  Latein  nun  verfertigt:  vnd  in  Syhen  Piiecher  getailt  ein  kurzer 
auszug;  deutsche  Bearbeitung  des  ganzen  Werkes   vollendet   1533,   aber  gedruckt  erst  1566 


§  108  GESCHICHTSSCHREIBUNG.  135 

Gesammtgcscliichtc  des  groesscren  ViiteiUmdes  zu  geben  ^^,  freilich  indem  er 
auch  genug  der  Fabehi  braucht  um  in  der  Urzeit  die  Lücken  der  Forschung 
auszufüllen:  naschst  dem  Abte  Tritheim  ^'^  hat  namentlich  er  diesen  wohl- 
meinenden Leichtsinn  (Eifer  für  die  Ehren  Deutschlands  verführte  dazu  ^") 
noch  in  das  ganze  Jahrhundert  weiter  fortverpflanzt. -'^  Von  Thomas  Kantzow 
sodann  eine  Pommerische  ^-,  von  Lucas  David  eine  Preussische  ^^,  von  Johann 
ScHicKFUss  eine  Schlesische  ^^,  von  Friedrich  Zorn  eine  Wormser  ^^  '^ ,  von 
Leonhard  Widmann  eine  Regensburger  ^^  ^  ,  von  Christoph  Lehman  eine 
Speirische  Chronik  ^'^ :  letztere  aus  dem  J.  1612  und  sie  zumal  eine  fleissvolle, 
für  die  Städtegeschichte  des  Mittelalters  noch  jetzt  ausgiebige  Arbeit,  aber  zu 
viel  mit  Lehrhaftigkeit,  mit  politischen  Abschweifungen  untermischt  und  schon 
in  dem  beschwerlichen  Stil  der  Canzleien,  der  bald  noch  allgemeiner  herrschen 
sollte  (§  116,  4),  geschrieben:  der  Yerfasser  war  eben  selbst  von  der  Canzlei 
und  als  Schriftsteller  sonst  auch  in  lehrhafter  Weise  thsetig  (§  101,  5.  111, 
10).  Ferner  eine  Zimmerische  Chronik,  voller  Sagen  und  Schwanke  ^■''^ ,  eine 
Lebensgeschichte  Wilwolts  von  Schaumburg  ^^  ^  ,  von  Zacharias  Theobald  eine 
Historie  des  llussitenkrieges  ^^,  von  Adam  Reissner  das  Leben  der  Herren 
Georg  und  Caspar  von  Frundsberg  ^^  und  hieran  sich  schliessend  die  Erzeeh- 
lungen    die  Götz  von  Berlichingen  ^^,    die    Ser.    Schertlin    von   Burten- 

(Probe  LB.  3,  1,  311)  wie  die  lat.  Annales  erst  1554.  Kritische  Ausg.  v.  Lexer,  München 
1882  fgg.  28)  Er  hatte  auch  zu  einer  eigenen  Germania  illustrata  vorgearbeitet;  das 
erste  Buch  derselben  durch  Casparum  BruscJdum  deutsch  hsggb. :  Chronica  von  vrsprumj, 
herkomen  vnd  thaten  der  vhralten  Teutschen,  Nürnb.  1541.  29)  Compendium  siue  Ere- 
uiarium  primi  voluminis  annalium  sive  historiarum,  de  origine  regum  et  gentis  Francorum, 
Mainz  1515.  30)  Aventinus  für  die  Ehre  der  Muttersprache :  §  94,  37.  Auch  gegen  das 
Latinisieren  der  Gelehrtennamen  (§  94,  27 — 29)  eiferte  er:  bei  Lexer  I,  S.  15.  31)  Bei- 
spiel im  LB.  Fischart  2,  243  fgg.;  vgl.  §  93,  24.  32)  zuerst,  etwa  1536,  niederdeutsch, 
dann  hochdeutsch  ausgearbeitet  (vgl.  §  93,  28—29):  die  niederd.  Abfassung  hsggb.  von 
Boehmer,  Stettin  1842  ;  die  erste  hochd.  v.  Medem,  Anclam  1841 ;  die  sog.  Pomerania,  herausg. 
von  Kosegarten,  Greifswald  1816  ist  eine  Umarbeitung  von  fremder  Hand.  Kantzow  gest. 
zu  Stettin  1542.  33)  nicht  vollständig,  abgebrochen  durch  den  Tod  des  Verfassers  zu 
Koenigsberg  1583;  hsggb.  v.  Hennig  u.  Schütz,  Koenigsb.  1812—1817.  34)  Leipz.  1625. 
34a)  Hg.  V.  Arnold,  Stuttg.  1857,  Lit.  Ver.  43.  Verfasst  1570.  34b)  Städtechron.  XV, 
1878.  35)  Proben  LB.  3,  1,  545.         35a)  Herausg.  von  Barack,  Stuttg.  1868.  69,  Lit. 

Ver.  91—94;  und  Freiburg  1881.  82.  Verfasst  von  Graf  Frohen  Christoph  v.  Zimmern 
und  seinem  Secretär  Hans  Müller  1564 — 66.  35b)  Hg.  von  Keller,  Stuttg.  1858,  Lit.  Ver. 
50.     Handschrift  von  1507.  36)  Wittenb.  1610  und  um  zwei  Bücher  vermehrt  Nürnb. 

1621;  Theobald,  aus  Schlackenwalde  in  Boehmen,  gest.  1627.  37)  Historia  Herrn  Georgen 
vnd  Herrn  Casparn   von  Frundsberf/,    Vatters  vnd  Sons,   Frankf.  15(j8.  38)  als  alter 


136  NEUHOCIinErTSrilE  ZEIT.       XVI  JAIIKII.  §  1U8 

BACH  ^^ ' ,  die  Bartholom.kus  Sastrow  ^'"' ,  die  Hans  von  Sciiweinichen '•*, 
die  Thomas  und  Fef.ix  Platter  ^"  jeder  von  seinem  Lebenslaufe  selbst  ver- 
fiisst  hat:  all  das  reclite  Zeichen  und  Zeugnisse  dieser  Zeit,  die  Frundsberge 
und  Götz  und  Sclnvciniohcn  \\\c  in  andrer  Weise  lluttcn  (§  94,  17)  und  Pleningen 
und  Schwartzenberg  (§  HO,  1  fgg.)  für  die  Ausgänge  des  alten  Adels,  die 
Sastrow  und  Platter  für  das  Aufkommen  des  gelehrten  Bürgerthumes.  Auto- 
biographischer Art  und  schon  deshalb  mit  zu  der  Geschichtsschreibung  zu 
stellen  sind  endlich  auch  die  Reisebeschreibungkn,  Berichte  insbesondere  über 
Pilgerzüge,  die  nach  dem  gelobten  Land  unternommen  worden,  in  Leben  und 
Schrift  eine  Fortsetzung  schon  mittelalterlicher  Sitte  (§  90,  175  fgg.).  Die 
Frühesten  jetzt,  von  1519,  sind  Ritter  Ludwig  Tschudi  von  Glarus  ^'^ »  und 
Hans  Stockar,  ein  Schaffhauser  ^ ' :  Spatere  Johann  Helffrich  ",  Melchior 
VON  Seidlitz  *^,  Leonhard  Rauwolf  *\  Ulrich  Krafft  " ' ,  Samuel 
KiECHEL  **^ ,  Michael  Heberer  *'''  und  noch  mancher  sonst:  Siegmund  Feier- 
abend zu  Frankfurt,  derselbe  Buchhändler,  dem  wir  die  Romanensammlung 
das  Buch  der  Liebe  (§  107,  11  —  12)  verdanken,  hat  auch  solcher  Reisen  eine 
ganze  Sammlung,  das  Reyssbiich  des  heyligcn  Lands,  schon  im  J.  1584  heraus- 
geben können,  darin  mehrere  der  so  eben  aufgezahlten,  die  vorher  schon 
einzeln  gedruckt  warcn.**^  In  Südamerika  erlebte  Abenteuer  erzählen  N. 
Federmann  und  H.  Stade. *^  * 

Mann:  gest.  zu  Hornberg  1562:  erste  Ausg.  Xürnb.  1731.  38a)  herausg.  von  O.  Schün- 
huth,  Münster  1!S58.  38b)  herausg.  von  Mohnike,  Greifswald  18'23.  24.  HI.  39)  Lieben, 
Lnst  und  Leben  der  Deutschen  des  16  Jh.  in  den  Begebenheiten  des  schles.  Ritters  H.  v. 
Schw.  (bis  1602,  gest.  1616),  hsggb.  von  Büsching,  Breslau  1820—23,  von  Oesterley,  Bres- 
lau 1878.  40)  Thomas  Platter  u.  Felix  PI.  zwei  Autobiographien,  hssg.  v.  Fechter,  Basel 
1840,  von  Boos,  Leipzig  1878.  Die  des  Vaters  (gest.  1.582)  von  1.572,  des  Sohnes  (gest. 
1614)  von  1612.  40a)  gedruckt  Rorschach  1606:  Titns  Tobler,  Bibliographia  geogr. 
Palaestin«    Leipzig    1867.  41)    Heimfahrt    von    Jerusalem    Hans    Stockars   (hsggb.    von 

]N[anrer-Constant\  Schaffh.  1839.  42)  Bericht  von  der  Beis  mich  Hierusalem   u.  s.  w. 

Leipz.  1578.  43)  Gründl.  Beschreibung  d.   WaUfart  nach  d.  heil.  Lande,  Basel  1576. 

44)  Leonharti  liauwolfen  AigentlicJie  beschreibung  der  Eniss,  so  er  vor  diser  zeit  gegen 
Auff'gang  —  selbs  lolbracht.  Laugingen  1.582.  44a)  Reisen  und  Gefangenschaft  (in  Tri- 
poH  1574—77.  beschrieben  1616,  von  Hassler,  8tuttg.  1861,  Lit.  Ver.  61.  44b)  Hg.  von 
Hassler.  Stuttg.  1866.  Lit.  Ver.  86  (Kiechel  reiste  im  Orient  1.585—81».  45)  Servitus 
uEgyptiaca,  Heidelb.  1610.  46)  die  von  Heltfrich,  Seydlitz  undRauwolI;  ebenda  Daniel 
Ecklins  v.  Aarau  Reise  1552,  von  welcher  zu  Basel  1576  ein  Einzeldruck  erschienen  war. 
46a)  Des  ersteren  Reisen  in  Venezuela  1529  fgg.  erschienen  als  Indianische  Hvstoria 
(Hagenau)  1577,  des  letzteren  Bericht  über  seine  Gefangenschaft  in  Brasilien  bis  1555, 
Frankfurt  1556.     Neue  Ausg.  von  Klüpfel,  Stuttg.  18.59,  Lit.  Ver.  47. 


I 


i^  109  BEREDSAMKEIT.  137 

§  109. 
Wahrend  auf  die  erzaehlende  Prosa  Luther  nur  in  su  fern,  als  er  das 
allgemein  anregende  und  massgebende  Muster  der  neuen  Sprachschöpfung 
war,  nur  mittelbar  Einfluss  üben  konnte  (denn  es  gab  der  Art  kaum  anderes 
von  ihm  als  nur  die  geschichtlichen  Theile  der  Bibelübersetzung),  hat  er  auf 
die  rednerische  und  die  lehrhafte  desto  tiefer  greifend  und  hier  ganz  unmittel- 
bar, hier  durch  reichstes,  schoenstes,  eigenstes  Beispiel  eingewirkt.  Einmal 
also  durch  Beispiele  der  Beredsamkeit,  das  heisst,  da  man  jetzt  für  die 
Heimath  selbst  ^  nur  die  eine  Anwendung  noch  kannte,  der  Predigt.  Zwar 
die  feinere  Kunst  und  die  Kunstgriffe  der  Redner  des  Alterthumes  waren 
Luther  fremd:  sie  wseren  zu  kleinlich  gewesen  für  den  tiefen  Grund,  aus  dem 
zuerst  er  wieder  schöpfte,  für  das  hohe  Ziel,  zu  welchem  er  als  der  erste 
wieder  hinwies;  und  ebenso  fremd  die  halb  phantastischen,  lialb  überverstän- 
digen Funde,  in  denen  gegenüber  der  geistigen  und  gemüthlichen  Verdumpfung 
der  mittelalterlichen  Kirche  die  Predigt  der  Mystiker  ausgeklungen  war  (§  90, 
53  fgg.  73  fgg.):  er  besass  dafür  zu  viel  Klarheit  der  wissenschaftlichen  Er- 
kenntniss  und  zugleich  der  Glaubenseinfalt,  war  zu  sehr  ein  Mann  des  Volkes 
und  seiner  Aufgabe  gegen  das  Volk  sich  zu  wohl  bewusst.  Daher  denn  in 
seinen  Predigten  überall  nm*  die  grossen  und  einfachen,  aber  eben  durch  die 
Einfachheit  wirksamsten  Mittel  der  Redekunst.-  Von  den  Predigten  der  Mit- 
arbeiter und  naechsten  Nachfolger  Luthers  ist  so  weniges  und  in  seltenen 
Einzeldrucken  verstreut  auf  uns  gekommen,  dass  nicht  zur  Genüge  zu  beur- 
theilen  ist,  ob  sie  hier  doch  volksmsessiger  und  mehr  ihrem  Führer  gleich 
verfahren  seien  als  im  Kirchenliedc  (§  103,  38  fgg.):  aber  es  darf  das  aus 
den  Erfolgen,  die  auch  sie  gehabt  und  wüe  auch  sie  der  Gemeinden  immer 
mehr  gestiftet  und  befestigt  haben,  wohl  mit  Gewissheit  geschlossen  werden: 
fehlte  doch  selbst  nicht,  wie  wir  an  mehr  als  einem  Beispiele  sehen,  jene 
schwärmerische  Beredsamkeit,  die  hin  und  wieder  das  Volk  bis  zu  religioesem 
und  politischem  Wahnwitz  entzünden  konnte.  Und  von  einem  der  würdigsten 
und  vertrautesten  Schüler  haben  wir  wie  von  dem  Meister  selbst  mehrere 
ganze  vielumfassende  Predigtsammlungen,    die  uns  ersetzen   moegen,    was  bei 

§  109.  1)  Übersetzung  von  Plinius  Panegyricus  durch  Dietrich  von  Pleningen:  Gay 
Pliny  des  andern  lobsagung,  Landsh.  1515.  2)  Als  Beispiel  im  LB.  3,  1,  197  seine  letzte 
Predigt,  in  der  er  wie  aus  Ahnung  des  nahen  Abscheidens  noch  die  Summe  seiner  Lehre 
und  seines  Lebens  zieht  und  noch  einmal,  nur  das  Hauptsächliche  hervorhebend,  den 
Kampf  gegen  das  Pabstthum  aulnimmt.  Einzeldrucke  von  Predigten  Luthers  verzeichnet 
im  Büchersch.  der  Deutschen  National-Litt.  26  fgg. ;  die  erste  Sammlung  die  Kirclienimtüle, 


138  NEUIKH'IIDEUTSCIIP]  ZEIT.        XVI  JAIIlill.  §  lOi) 

den  anderen  abgeht,  von  Joiiannks  MATiiEsirs.  CJlcicli  seinen  Liedern  (§  lO.'J, 
35),  nur  nicht  wie  diese  bloss  gelegentlich,  sondern  gun/-  und  einzig  knüpfen 
die  Predigten  seiner  Brn/postilla  oder  Sarcjda  ^  an  das  IJerufshiben  der  Ge- 
meinde an,  bei  der  er  gedient  hat,  der  Stadt  Joachiiiisthal:  ein  Werk  auch 
für  die  Sprachtorschung  von  Wiclitigkcit,  nach  dem  Freiberger  Stadtrecht 
(§  90,  13)  das  erste,  das  uns  die  Jveiclifhümor  der  deutschen  Bergmanns- 
sprache in  lebendigem  Zusammenhang  verwendet  zeigt.  Zugleich  aber  durch 
geschichtlichen  Wcrth  anziehend  sind  die  siebzehn  Predigten,  in  denen  Ma- 
thesius  das  Leben  und  Wirken  seines  geliebten  Lehrers  zum  Gegenstand  der 
ErzRihlung  und  erbaulichen  Betrachtung  macht.*  Mit  der  Kirche  Zwinolis 
und  der  Seinigen,  die  wir  schon  an  Werth  und  dauerhafter  Fruchtbarkeit 
der  Liederdiclitung  haben  der  Lutherischen  nachstehen  sehn  (§  103,  45  fgg.), 
scheint  es  sich  ebenso  in  Betreff  der  Predigt  verhalten  zu  haben:  gleich  Zwingli 
selbst  '•*  hat  nicht  jenes  Strcemende,  mit  sich  fort  reissende  der  Beredsamkeit, 
auch  hier  vielmehr  etwas  gelehrt  beschwerliches,  das  die  Eingänglichkeit  ver- 
kürzen musste.  Und  so  wird  es  nicht  bloss  aus  hinderlichen  Verhältnissen 
der  Politik  zu  erklären  sein,  dass  die  Kirchenbesserung  in  der  Schweiz  viel 
weniger  dui'chgegriffen  und  überwältigend  gewirkt  hat  als  in  andern  Theilen 
des  lieiches.  Emtiuss  aber  auf  die  Beredsamkeit  des  evangelischen  Nordens 
konnte  die  Schweiz  schon  deshalb  nicht  üben  noch  selbst  auch  hebenden  und 
belobenden  Einfluss  von  daher  in  reicherem  Mass  erfahren,  weil  sie  auch  hier 
durch  Festhalten  an  der  heimathlich  gewohnten  Art  des  Sprechens  sich  von 
all  den  Erspriesslichkeiten  einer  litterarischen  Wechselwirkung  ausschloss 
(§  93,  5). 

Zwischen  Ernst  und  Scherz  mitten  inne  steht  eine  Anzahl  von  theologi- 
schen Abhandlungen  protestantischer  Geistlichen,  welche  einzelne  Laster  und 
Unsitten  der  Zeit  als  Teufel  schildern.  So  zuerst  der  Hosenteufel  von  An- 
dreas Musculus  1556,  spajter  von  Cyr.  Spangenberg  der  Jagteufel  1560 
und  Die  bcesen  Sielen  ins  Teufel  Karnöffelspiel  1562.  Eine  ganze  Sammlung 
solcher  Schriften  erschien  als  Theatrum  diabolorum  1569.^* 

Wittenb.  1527:  besorgt  hatte  sie  Stephan  Roth  (Köstlin  2,  löS)  wie  Cruciger  die  von  1543. 
3)  Die  erste  derselben  LB.  3,  1.  417.        4)  Historien  von  —  Dr.  Martini  LutJiers,  An- 
f'anfj,  l.chr,  Lehen  vnd  Sterben  —  ditrch  den  alten  Herrn  M.  Mathe-s^ium  gestellt,    Niirnb.' 
l.')66:  Bücherschatz  d.  Deutschen  Xational-Litt.  34.     Neue  Ausgabe  von  Rust,  Berlin  1841.  j 
Ausserdem  noch  25  Predigten  über  die  Historia  Vnsers  lieben  Herren  vnd  Heylands  Jesu] 
Christi    (Nürnberg   1572),    54    über    die  Sündflut  (Diluvium   Mathesii,    Leipzig  1587)  u.  a. 
5)  Beispiel  LB.  3,  1,  233:  vgl.  §  94,  22.         5a)  Die  Schrift  v.  Musculus  erschien  zu  Frank-' 
fürt  a.  d.  0.,  die  Spangenbergs  zu  Eisleben,  das  l'lieatram  Frankf.  a.  M,     Hierin  auch   der 


§  109  BEREDSAMKEIT.  139 

Doch  noch  wcitergeliendes  wurde  gcw<agfc.  Wir  haben  das  Fastnachts- 
spiel als  eine  der  Waffen  im  Glaubensstreit  (§  105,  88  fg.)  und  schon  früher 
die  spöttische  Nachäffung  der  Predigt  als  eine  Fastnachtslustbarkeit  kennen 
lernen  ^ :  auch  im  sechzehnten  Jahrhundert  ward  dieser  frevelhafte  Scherz, 
die  rednerische  Mischung  deutscher,  mit  Reimen  durchflochtener  Spässe  und 
lateinischer,  die  wie  Bibelstellen  klangen  (vgl.  §  44,  33),  und  ward  wohl  jetzt 
noch  häufiger  geübt,  da  sichtlich  der  Spott  zuerst  und  zumeist  auf  die  alte 
Kirche  gemünzt  und  seine  Wendung  gegen  alles  Kirchliche  und  Geheiligte 
und  Ernste  überhaupt  nur  ein  weiterer  Schritt  war.  Denn  nicht  nur  die 
Predigt  der  Kirche  ward  durch  Fastnachtspredtgten  ',  auch  andre  von  deren 
Redehandlungen  wurden  so  in  Lächerlichkeit  gezogen  '^,  und  in  gleich  paro- 
discher  Weise  verfasste  Nicolaus  Manuel,  jener  Dichter  scharf  gegenpsebstischer 
Fastnachtsspiele  (§  105,  88)  einen  letzten  Willen  der  Messe  ^:  freihch  hat 
eben  derselbe  durch  den  Muthwillen  seiner  Laune  sich  auch  verleiten  lassen 
das  Evangelium  vom  Leiden  und  Sterben  unsers  Herrn  auf  den  Wein  zu 
parodieren.^''  Die  Hauptanlässe,  für  welche  dergleichen  Scherze  verfasst  und 
bei  welchen  sie  vorgetragen  wurden,  mochten  Trinkgelage  zur  Fastnachts- 
und zu  anderen  Zeiten  sein  ^\  wie  ja  die  Lieder,  die  man  bei  den  Martins- 
schmäusen  sang,  ebenso  parodisch  an-  und  auszuklingen  pflegten  (§  104,  6), 
und  Trinkgelage  namentlich  der  Studenten  *-:  zwischen  den  quodlibetischen 
Redübungen  der  hohen  Schulen  '^  und  den  Fastnachtspredigten  und  trunkenen 
Hofteufel  von  Chryseus  (§  105  S.  99),  welcher  doch  durch  dramatische  Form  und  biblischen 
Inhalt   in    einen    anderen  Zusammenhang  gehört.  6)  §  8G,  2.     Ein  Fastnachtsspiel  bei 

Keller  2,  613  mit  solcher  Parodie  beginnend.  7)  Ein  KurtziocUige  Fas&nacht-Predig  von 
Dr.  Schtoarmen  zu  Hummelsliagen,  auff'  Grillenberg  vnd  Lappenech:  neue  Abdrücke  in 
Grffiters  Idunna  u.  Hermode  1813,  42  fgg.  u.  durch  Karajan,  Wien  1851.  Eyn  härtziveylig 
Predige,  die  vns  heschreyht  Dr.  Schmossmann,  am  vier  vnd  zweintzigsten  kappenzipffell : 
neuer  Abdruck  durch  Haupt  u.  a.  Leipz.  1819.  Beide  Stücke  bereits  im  J.  1589  vorhanden 
und  beliebt:  Schraossm.  5.  Eben  der  Art  wohl  auch  die  Freyharts  Predigt  1550  u.  s.  f.: 
Bücherschatz  105,  Lachmanns  Walther  v.  d.  Vogelw.  200;  und  aehnlich  noch  unsre  Kinder- 
predigten §  113,  11.  8)  Vaterunser,  Taufe,  Benedicite  aus  der  Papisten  Handbucchlein 
(schon  früher  als  15(J3)  in  Phil.  Waekernagels  Deutschem  Kirchenlied  G92  fgg.  zum  Theil 
in  Reimen,  wie  ebenda  in  bekannter  Gesangweise  der  Barfuesser  Mönch  Zehen  Gebott. 
Gebetparodien  des  17  .Jh.  §  113,  4.  9)  Grüneisen  433  fgg.  bei  Bschtold  232.  10)  LB. 
3,  1,  269.  Noch  augenfälliger  ist  die  Parodie  in  einem  etwas  älteren  Stücke  gleichen  In- 
haltes, das  Manuel  scheint  gekannt  und  benutzt  zu  haben:  Haupts  Zeitsehr.  für  Deutsches 
Alterth.  3,  27.  11)  Die  trunkene  Mette  (Reimprosa) :  HBofFmann  In  duki  jubilo  100  fgg. 
Auch  in  der  Überschrift  des  8  Cap.  von  Fischarts  Gargantua  die  TruncJcen  Litanei. 
12)  Auf  dem  Titel  von  Dr.  Schwärmen  Ist  lustig  zu  gebrauchen  bey  dem  Deponiren,  Hoblen 
vnd  Hanssien.         13)  Zarucke  in  Haupts  Zeitsehr.  9,  119  fgg. 


140  NEL'IIOCIIDEITSCIIE  ZEIT.        XYI  JAIIKH.  §  110 

Metten  war  dem  Sinn  und  Wesen  nacli  zuletzt  kein  Unterschied,  nur  dass 
jene  ötfentlicher,  feierlicher,  ausl'ülirlicher  und  f^anz  in  Latein  und  gcwiehltercm 
Latein  gehalten  wurden. 

§  110. 
Dass  im  seclizeimten  Jahrhundert  neben  der  rednerischen  auch  die  lehr- 
hafte Prosa  und  sie  zu  noch  reicherer  Fülle,  zu  einem  noch  höheren  CJrade 
der  Ausbilduug  sich  entwickelt  hat,  war  das  Ergebniss  eines  Zusammenwirkens 
von  allen  Seiten  her  und  auf  den  einen  erhochten  Mittelpunkt  hin,  den  Luther 
einnalyn.  Der  Gebrauch  des  Deutschen  als  der  öffentlichen,  der  Staats-  unij 
Gerichtssprache  (§  90,  05  fgg.)  ward  neu  befestigt  und  besttetigt  für  immer, 
als  auf  dem  Reichstage  zu  Augsburg  K.  Karl  v  die  Bekenntnissschrift  der 
Evangelischen  nicht  lateinisch,  sondern  deutsch  verlesen  liess  und  eben  der- 
selbe zwei  Jahre  nachher,  im  J.  1532,  die  peinliche  Gerichtsordnung,  die  zu- 
erst der  Freiherr  Johann  von  Schwartzenberg  entworfen  hatte,  zum  Reichs- 
gesetz erhob  ' :  damit  war  zugleich  von  Reichs  wegen  eingeleitet,  was  ohnediess 
in  Folge  der  Kirchenbesscrung  geschehen  nuisste,  dass  allmajlich  die  Canzlei- 
sprache  auch  des  niederen  Deutschlands  hochdeutsch  ward.-  Leider  nur 
trübte  sich  diese  Sprache  der  Canzleien  überall,  weil  ja  Roemisches  Recht  nun 
allgemein  war,  durch  zahlreiche  Fremdworte  (§  94,  24),  und  Pedanterei  ge- 
wophnte  sie  an  die  beschwerlichste  Weitläuftigkeit  (§  108,  35.  116,  4);  so 
war  auch  die  Übersetzung,  die  im  J.  1519  Thomas  Mirner  von  Justinians 
Institutionen  fertigte  ^,  und  war  das  Ansehen,  worin  noch  lange  der  Klagspiegel 
und  der  Laienspiegel  (§  90,  131  fg.)  standen,  der  deutschen  Rechtsprosa 
mehr  ein  Verderb  als  Nutzen.  Nicht  so  die  Übersetzungen,  die  es  von 
anderen  Lehrscliriften  der  Classiker  und  ihnen  nach  der  italia^nischen  Hu- 
manisten gab,  Ciceros  und  Lucians,  Petrarcas,  Poggius  und  Beroaldus  wiederum 
durch  jenen  Schwartzenberg  ^,  durch  Dietrich  von  Pleningen,  den  wir  sonst 
schon  als  Yerdeutscher  kennen  ',  durch  Adam  Wernher  von  Themar  *,  durch 

§  110.  1)  Die  peinl.  Gerichtsordoung  K.  Karls  v  nebst  der  Bamberger  und  Brandenburger 
Halsgerichtsordnung,  hsggb.  von  Zöpfl.  Heidelberg  1842.  Vgl.  Herrmann,  Job.  Freih.  v. 
Schwarzenberg,  Leipz.  1841;  Schwarzenbergs  Briefe  nebst  dessen  Leben  und  Schriften  von 
Strobel,  Altorf  1773.  Geb.  1463,  gest.  1528.  Vgl.  Anni.  4.  8.  i».  2)  §  93,  28.  Kinder- 
ling  a.  a.  O.  393  fgg.  3)  Lappenbergs  Ulenspiegel  4(X)  fgg.;  vgl.  §  99.  18.         4)  seit 

1522  Cicero  de  senect.,  de  amic,  de  oftic,  Tuscul.;  zusammen  unter  dem  Titel  der  Teütsch 
Cicero  Augsb.  1534.  Eigentlich  Übersetzer  war  Schwartzenbergs  Caplan  Hans  Neuser:  er 
selbst  hat  darauf  die  Arbeit  nur  in  geläufiger  Deutsch  zu  bringen  gesucht.  5)  §  108,  3. 
109,  1.  Von  klaffern.  —  Zicay  puechlein  das  ain  Lucianus  vnml  das  ander  Poijgius  he- 
schriben  haben,  Landshut  1516.         6)  Eyn  neuae  yetentscht  Buechleyn,  inhaUende  —  Ciagen 


§  110  LEIIRHAFTE  PROSA.  141 

Jacob  Fru-:linkint  ^ :  hier  mussto  schon  um  des  Inhaltes  willen  auch  die  Form 
befruchtend  wirken,  und  wie  viel  daran  gleich  die  Übersetzer  selbst  gelernt, 
zeigen  andre  dem  sehnliche  Schriften,  die  Pleningen  und  Schwartzenberg  ver- 
fasst  haben  ohne  zu  übersetzen  '^,  letzterer  deren  auch  zum  Theil  in  Reimen.'' 
Sehn  wir  dann  Schwartzenberg  mit  noch  einem  Büclilein  "^  in  die  kirchliche 
Bewegung,  sehn  wir  den  groesten  der  adlichen  Humanisten  Deutschlands, 
Ulrich  von  Hütten,  in  eben  dieselbe  zuerst  auf  lateinisch,  dann  mit  Selbst- 
übersetzung und  zuletzt  gleich  auf  deutsch  eingreifen  (§  94,  19.  21),  sehen 
wir,  welch  eine  Flut  lehrhafter,  ernster,  spöttischer  Gelegenheitsschriften  die 
Flut  der  Ereignisse  in  Kirche  und  Staat  mit  sich  geführt  ^',  Schriften  wider 
den  Türken  und  den  Pabst,  gegen  Murner  und  für  Luther  (§  99,  27),  und 
wie  gern  man  diesen,  Hütten  voran,  die  Form  des  Lucianischen  GESPR.i<:cns 
gegeben  hat  ^^:  so  liegt  uns  vor  Augen  die  ganze  reiche  Wechselwirkung  da, 
in  welcher  das  Studium  der  Antike  und  die  Reformation  und  der  neue  Auf- 
schwung der  deutschen  Lehrprosa  gestanden.  Über  all  dem  aber  fest  und 
hoch  hebt  Luthek  sich  empor,  hier  fast  allein  so  reich  als  die  Andern  zu- 
sammen, reich  und  mannigfaltig:  denn  obschon  seine  Lehrschrifteu  sich  einzig 
auf  die  Gottesgelahrtheit  und  die  Kirchenbesserung  beziehn,  so  durchlaufen 
sie  innerhalb  dieser  Grenzen  all  die  Vortragsweisen,  welche  da  nur  moeghch 
sind,  von  der  kindlich  einfachen  des  Catechismus  '^  und  des  verdeutschten 
Aesop  (§  99,  32)  bis  zu  der  leidenschaftlich  bewegten  imd  schwungvollen, 
wo  das  Lehrhafte  in  das  Rednerische  übergeht:  diess  z.  B.  in  den  Ermahnungen 
gegen  den  Bauernaufruhr  ^^5  mitten  iune  liegen,  um  auch  dafüi*  nur  haupt- 
sächlich bezeichnendes  zu  nennen,  die  schlichten  und  dennoch  wissenschaftlich 
immer  werthvollen  Vorreden  zu  den  einzelnen  Büchern  der  heil.  Schrift  und 

der  Synlichkeit  vnä  des  Schmertzen  —  Antwurt  der  Vernunfft  (Petrarca),  Oppenheim  1516: 
Biicherschatz  der  Deutschen   Xational-Litt.   19.  7)  Bedefürung  dreier  gebrüder,    Eym 

Weinsau ffers,  Hurers  vnd  Spielers  nach  Beroaldus,  Xainz  1535;  vgl.  Anni.  25.  8)  PJe- 
ningen  ein  anntwort  uuff  zico  fragen:  — ■  wie  es  zukomm,  das  sich  tvenig  menschen  jrs 
Stands  benuegen  lassent,  —  tvie  es  Zugang  das  ivenig  leutt  —  das  wäre  gut  erkennen, 
Landsh.  1516.  Schwartzenberg  Der  Zudrincker  vnd  Prasser  Gesatze  Ordenung  vnd  In- 
struction, Oppenh.  (1512):  ironisch  wie  spteterhin  der  ürobianus  §  100,  21  fg.  9)  ^[cmorial 
der  Tugent,  Kummer  Trost   u.   a.;  hinter  dem  deutschen  Cicero.  10)  Beschwerung  der 

alten  Teufelischen  schlangen  mit  dem  Götlidien  wort  1.525.  11)  Verzeichniss  im  Bücher- 
schatze 20.  ;34:  fgg.  12)  §  99,  11.  Beispiel  von  Manuel  (§  105,  88)  Ain  klegliche  Bot- 
schafft dem  Bapst  zu  komen  1528:  Grüueisen  422  fgg..  Bächt.  21G;  umgearbeitet  in  dni- 
matische  Form  u.  Reim:  Cfrüneisen  225  fgg.  Bucht,  clxxxv  ;  vgl.  §  105,  10.  13)  Eyn  bett- 
buchlin  1522:  LB.  3,  1,  179.     Deudsch  Catechismus  Wittenb.   1529.         14)  n^der  die  stür- 


142 


NEÜirOCIIDETTTSCITE  ZEIT.        XVI  .TAIIRir. 


8  in) 


die  orl)aulii'hcn  Aualop^ungon,  mit  dcnon  er  einige  derselben  bogleitet  hat.''' 
Die  Form  aber,  deren  er  für  seine  Iclirliaften  Mittheihmgen  sich  am  häufigsten 
und  liebsten  bedient,  ist  die  des  ürikkes.'*"'  Und  wiederum  innerhalb  dieser 
einen  Form  welche  Mannigfaltigkeit  der  Toeno  je  nach  der  Sache,  der  es  gilt, 
nach  der  Person,  an  die  er  sclireibt,  nach  der  Stimmung,  die  gerade  ihn  selbst  be- 
herrscht, väterlich  kindlich  seinem  Sohne  '',  harmlos  scherzend  der  (iattinn 
und  den  Freunden  gegenüber  '^,  wissenschaftlich  mit  den  Gelehrten,  und  vor 
Volk  und  Fürsten  selbst  mit  fürstlicher  i^Iajestoet.'-'  Zum  Theil  sind  diese 
Briefe,  weil  sie  öffontUche  Sendschreiben  waren,  gleich  von  Luther  selbst  dem 
Druck  übergeben  worden:  aber  auch  die  bloss  geschriebenen  übten  dennoch 
die  eindringlichste  Wirkung  aus :  sie  wirkten  wie  auf  den  Kreis,  der  ihn  in 
häuslicher  YertrauHchkcit  umgab,  die  weisen  und  heiteren,  auch  durch  Er- 
zählung lehrenden  Reden,  die  er  bei  Tische  führte,  die  Tischreden,  die  erst 
die  Yerehrung  des  jüngeren  Geschloclites  vcröffentliclit  luit.^''  Neben  Luthers 
Lelirstil  treten  alle  die  zurück,  die  sonst  in  dem  gleichen  Werk  ihm  zur 
Seite  und  beigestanden,  Euasmus  Albekus  z.  B.  mit  der  masslosen  Leiden- 
schaftlichkeit seiner  Streitlust'-'  und  hier  auch  Ulrich  Zwixgli,  dem  weder, 
wo  er  einfach  sein  sollte,  die  Einfachheit  noch  anderswo  der  erhabnere  Schwung 
gelingt '-'-,  den  in  seiner  eigenen  Kirche  durch  deutschere  Kraft  und  Schärfe 
des  Wortes  Wolfgan«  Köpeel  leichtlicli  übertroffen. -^  Unter  denen,  die  der 
Reformation  sich  entgegengestellt  haben,  ist  einzig  Berthold,  Biscliof  von 
Chiemsee,  um  der  Redlichkeit  und  des  wissenschaftlichen  Ernstes,  womit  er 
den  Widerspruch  gefülu-t,  und  der  alterthümlichen  Schlichtheit  und  Härte 
seiner  Sprache    willen  ^*,    in    noch    hoeherem  Grad   aber  und  von  Seiten  des 

metulen  Rniren  1525:  LB.  185.  15)  Ps.  36  LB.  144.  16)  Luthers  Briefe  und  Send- 
schreiben, gesammelt  v.  de  Wette,  Berl.  18"25— 27  ;  eine  Auswahl,  meist  genauer  den  Ur- 
schriften folgend,  LB.  85.  Seitdem  Naehtrjege  zu  de  Wette  durch  Seidemann,  Lutherbriefe 
1859,  und  Burckhardt,  Luthers  Briefwechsel,  Lpz.  186<J.  Eine  Ausgabe  mit  Anmerkungen 
von  Enders,  Frankf.  a.  M.  I  1884.  17)  LB.  371.  18)  LB.  1G9.  178.  19)  LB.  85. 
145.  IGl.  20)  Tischreden  od.  Colloquia  Dr.  M.  L.    (von  JoH.  Aurifaber)   Eisleben 

1.566;  neue  Ausg.  von  Förstemann,  Leipz.  1844  fgg.  Aurifaber  hat  die  Tischreden  nach 
Rubriken  geordnet,  die  ursprünglichen  Aufzeichnungen  sind  noch  vorhanden:  Küstlin  2,  487. 
676.  21)  §  99,  39.  103,  39.  Der  Form  wegen  (Anm.  12)  hervorzuheben  Ein  Dialogm 
oder  Gesprach  etlicher  Personen  vom  Interim.  Item  vom  Krieg  des  Endtchrists  zu  Bom 
—  Item  von  den  Zeychen  des  Jüngsten  tags  1548.  22)  Beispiele  der  theologischen  und 
theologisch-polemischen  u.  politischen  Lehre  LB.  3,  1,  239.  251.  263.  Vgl.  §  94,  23.  103, 
45.  109,  5.  23)  LB.  301:   vgl.   S  94,  5.     Wolfgang  Küpfel  oder  Köpfli.   lat.  W.  Capito 

oder  auch  mit  Beziehung  auf  den  Stand  seines  Vaters  W.  Fabricius  C.  geb.  zu  Hagenau 
1478,  gest.  zu  Stra.ssburg  1541.         24)  Tewtsche  Theologey,  München  1528;  neue  Ausg.  von 


§  110  LEHRHAFTE  PROSA.  143 

Stils  gleich  neben  Luther  ist  Sebastian  Fkanck  hervorzulieben.  Auch  Luther 
kannte  und  ehrte  die  altdeutschen  Mystiker :  hat  doch  er  das  schoene  Büchlein 
von  der  Deutscheu  Theologie  zuerst  drucken  lassen  (§  90,  50),  wie  zugleich 
die  von  ihm  erhobne  Bewegung  sichtlich  der  Anstoss  gewesen  ist,  dass  auch 
die  Ausgaben  Taulers  nun  sich  hcäuften  (§  90,  37.  39);  und  die  Kenntniss 
kam  ihm  wohl  zu  Statten:  er  machte  die  reichere  Befajhigimg  zum  Ausdruck 
des  Abstracten,  die  der  Sprache  durch  die  Mystiker  anerzogen  worden  (90, 
17 — 18),  für  die  Predigt  und  mehr  noch  für  die  lehrhaften  Schriften  sich 
auch  nutzbar.  Ebenso  Franck,  und  sein  schon  an  der  Geschichtsschreibung 
und  sonst  ^'^  mannigfach  geübter  Stil  hat  sich  noch  um  ein  grosses  philosophi- 
scher ausgebildet.  Er  aber  ward  von  der  Mystik  des  Mittelalters,  ward  von 
der  Philosophie  des  Alterthumes  ^^  auch  in  die  pantheistischen  Irrungen  beider, 
ward  von  dem  unruhigen  Drang  und  dem  selbstgenügsamen  Reichthum  seines 
Geistes  auf  Wege  verleitet,  wo  zwischen  Tiefsinn  imd  Frevel  jede  Grenze 
schwand,  und  es  kam,  dass  ihn,  der  anfangs  mit  Luther  gewirkt,  die  neue 
wie  die  alte  Kirche  als  Ketzer  zurückwies.  Seine  Hauptschriften  in  solcher 
Art  der  Philosophie,  der  Religionsphilosophie  sind  die  Par  adoxa^  aller  in 
Got  Philosophierenden  Christen  rechte  Götliche  Philosophei  vnd  Teütsche  Theo- 
logei  (nicht  ohne  Absicht  eignete  Franck  nun  sich  wie  schon  vor  ihm  jener 
Bischof  Berthold  die  altgeehrte  Benennung  zu),  und  an  bekannte  Stellen  des 
ersten  Corintherbriefes  angeknüpft  das  Loh  des  Thorechten  Göttlichen  Worts, 
das  er  einer  Verdeutschung  von  Erasmus  Lobe  der  Thorheit  und  Agrippas 
Lob  des  Esels  beigefügt  ^^ ;  noch  eine  dritte  wird  uns  spseter  entgegentreten 
(§111,7). 

Des  Erasmus  Encomion,  das  Lob  des  thoerichten  Gotteswortes,  damit  war 
zugleich  ein  Versuch  gemacht  die  Satire  auch  in  die  Prosa  und  in  die  Satire 
den  hoeheren  Humor,  die  feinere  Ironie  zu  bringen,  ein  Versuch,  der  jedoch 
nur  spaerliche  und  tief  abfallende  Nachfolge  fand,  an  der  Sapiens  Stultitia 
z.  B.,  die  Georg  Friedrich  Messerschmid  aus  dem  Italifenischen  übertrug  -'', 
und  der  Ethograx^hia  Mundi  Johannes  Sommers  -'',    die    zuerst  mit  weit- 

Reithmeier,  ebd.  1853:  Proben  LB.  3,  1,  273.  25)  §  108,  20  fgg.  Seine  Declamntion 
—  eins  Sauffers,  Hurers  vnd  Spilers,  Nürnb.  1531,  nach  demselben  Dialog  des  Beroaldus, 
den  Froslinkint  Anm.  7  verdeutscht  hat.  2C)  in  diese  Richtung  seiner  .Studien  gehcprt 
das  Buch  Sihen  iveisen  in  Greciu,  Frankfurt  o.  J.  27)  Die  erste  Ausg.  der  Paradoxa  zu 
Ulm  0.  J.:  die  erste  mit  Jahrszahl  ebd.  1033.  Morie  Encomion  o.  0.  u.  J.  (^Neudruck  von 
Götzinger,  Lpz.  1881);  ein  Abschnitt  aus  dem  Lob  d.  güttl.  Wortes  LB.  3,  1,  343.  28)  des 
Antonius  Maria  Spelta,  Strassb.  1615.         29)  Magdeb.  1609;  auch  liier  Johannas  Olorinus 


144  NEUIIOCIIDEUTSCHE  ZEfT.        XVI  JAIIRII.  §  110 

gi'oifcnder  Frische  ungelegt,  schon  vom  zweiten  Thcii  an  sich  ia  den  wohl- 
teilen Spott  über  das  andre  Geschlecht  verengte.^"  Einstweilen  zog  die  Satire 
noch  die  Gedichtform  und  bald  den  unverliüllteren  Durchblick  der  ernsten 
Hintergedanken,  wie  das  Narrenschiti'  und  der  Reinike  Fuchs  es  lehrte,  bald 
die  derbere  Handhabung  in  Art  des  Grobianus  und  der  Eulenspiegeleien  vor 
(§  99,  14  fgg.  und  29—30.  100,  20  fgg.). 

In  Lutlier  und  Franck,  dem  Wortführer  der  göttlichen  Weisheit  und 
dem  der  thau-iciit  gewordeneu  menschlichen,  hatte  sich  etwa  der  Gegensatz 
von  Tauler  und  Eckard  (§  90,  18  fgg.  35  fgg.)  erneut:  er  sollte  noch  einmal 
beim  Übergang  aus  dem  sechzehnten  in  das  siebzehnte  Jahrhundert  wieder- 
kehren in  Arndt  und  Bochme.  Johannes  Arndt  ^',  der  im  niedersächsischen 
Norden  gewesen  ist  was  in  Schwaben  Andre«  (§  99,  61),  der  aber  deshalb 
auch  von  den  im  Formelzwang  erstarrten  Gliedern  der  Kirche  verketzert 
worden  wie  Andrese  und  weiterliin  Spener  ^-,  Ai'ndt  wirkt  heute  noch  durch 
seine  Erbauungsschriften,  die  ältesten,  deren  die  evangelische  Kirche  braucht, 
zumal  durch  seine  vier  Buecher  vom  wahren  Ohristenthim  ^^,  die  der  tief- 
sten Gedanken  voll  im  Gewände  der  Einfalt  und  dichterisch  in  dem  der 
Prosa  sind  ^*,  und  wii'kt  durch  sie  nicht  allein  in  tausend  Häusern  und  Herzen 
Deutschlands  fort:  fast  alle  Sprachen,  die  eine  Litteratur  besitzen,  besitzen 
auch  Übertragungen  jener  Schriften  Arndts.  Ihm  gegenüber  Jacob  B^hme, 
den  eine  Zeit,  die  nichts  mehr  von  Sebastian  Franck  und  noch  nichts  von 
den  Mystikern  des  Mittelalters  wusste,  Phüosophiis  Teutonicus  genannt  hat,  in 
der  Meinung  ihn  damit  als  den  ersten  Philosophen  zu  bezeichnen,  welcher 
deutsch  geschrieben,  Schuhmacher  zu  Görlitz  und  daselbst  gestorben  im  J. 
1024.^^  Schon  in  Paracelsus  (Anm.  40)  halte  sich  abenteuerlich  die  Ahnung 
von  göttlichen  Geheimkräfteu  der  Natur  geregt:  ihr  verzerrter  Ausdruck,  ver- 


Vuriscus  genannt:  vgl.  §  101,  13.  30)  p.  II  Malus  Midier,  p.  III  Impenoi<us  Midier. 
31)  geb.  zu  Ballenstädt  l.")55,  gest.  als  Superintendent  zu  Celle  1621;  vgl.  H.  L.  Perta  de 
Joh.  Arndtio  eiusque  libris  qui  inscribuntur  de  vero  christianismo.  Hanov.  1852.  32)  Arndt 
sogar  verdächtigt,  dass  er  ein  Weigelianer  sei:  vgl.  Anm.  37.  33)  Frankf.  seil  1G05: 
Stiieke  daraus  LB.  3.  1,  r)07 :  Pauadiesgärtlein,  Leipzig  1G12:  hier  auch  einige  Reim- 
gebete. Ausserdem  von  Arndt  mehrere  Predigtsammlungen  aus  den  J.  1615  fgg.  Sämmt- 
liche  Geistreiche  Schriffteo,  Leipz.  u.  Görlitz  1734—36.  34)  Mehrere  Gebetlieder  Paul 
(Tfrhardts  aus  dem  Paradiesgärtlein  geschöpft:  Langbeckers  Ausgabe  555  fgg.  30)  geb. 
zu  Alt-Seidenberg  bei  Görlitz  1575.  Vgl.  .Tue.  Ba^hme,  ein  biographischer  Denkstein  von 
Fouque.  Greiz  1831.  Jac.  Bu-hmes  Leben  u.  Lehre  von  WuUen,  Stuttg.  1836.  Hamberger, 
Die  Lehre  J.  Böhmes,  München  1844.     Vgl.  auch  N.  Lausitzisches  Magazin  xxxui.  Görlitz 


§  110  LEHRHAFTE  PROSA.  145 

geblich  der  Spott  aller  Besonnenen ^'^,  war  die  Kunst  der  Goldmacher;  und 
schon  in  Valentin  Weigei.  hatten  Paracelsus  Einfluss  und  der  der  Mystiker 
sich  dahin  geeinigt,  dass  die  Erkenntniss  seiner  seihst  die  Erkenntniss  Gottes, 
auch  die  Schöpfung  Gott,  die  Kirche  mit  ihren  Hauptlehren  im  Irrthum  sei  ^^: 
mit  Jacob  Boohme,  einem  Anhänger  Weigels,  fand  dieses  Streben  fern  ab  von 
der  Offenbarung  durch  eigene  Spcculation  das  Verhältniss  zwischen  Gott  und 
Menschen  und  Natur  zu  ergründen  für  seine  Zeit  die  Yollendung  (ein  spseteres 
Zeitalter  hat  darin  einen  willkommenen  Yorgang  erkannt)  und  durch  eine 
Fülle  von  Schriften  nun  erst  den  rechten  Eintritt  auch  in  die  Litteratur  und 
die  litterarische  Wirkung.^*  Aber  selbst  die  bedeutendsten  dieser  Schriften, 
wie  gleich  die  älteste,  Aurora  oder  die  Morgenrcetiie  im  Aufgang  von  1612 
und  speeter,  von  1623,  das  Mysterium  magnum^^^  zeigen  warnend  auch 
den  tiefsten  Anschauungen  den  Aberwitz,  z.  B.  den  der  Goldmacherei,  un- 
trennbar beigemischt,  zeigen  uns,  da  dem  Denken  Boehmes  nicht  bloss  der 
geoffenbarte  Grund,  sondern  auch  die  Grundlage  wissenschaftlicher  Bildung 
fehlte,  meist  Grübelei  anstatt  des  Denkens  oder  spiegeln  jene  Schwärmerei 
zurück,  die  ihn  bis  zu  vermeintlichen  Gesichtseingebungen  verzücken  konnte. 
Und  wohl  ist  die  Sprache  nicht  imgewandt,  je  an  seinem  Ort  bald  von  hohem 
Schwünge,  bald  lieblich  bis  zur  Kindlichkeit,  und  manche  der  philosophischen 
Wortschöpfungen  ist  mit  ebenso  viel  Glück  als  Kühnheit  unternommen:  indess 
gerade  hier  fehlt  es  auch  an  schlimmen  Verstoessen  nicht,  welche  die  Unge- 
lehrsamkeit  und  die  beständige  Verwechselung  von  Begriff  und  Sinnbild  ver- 
schuldet. 

Neben  der  lehrhaften  Prosa  des  Staats  und  des  Rechtes  und  der  in  jedem 
Betracht  weit    überwiegenden    der  Theologie   und   der  Philosophie   ward   die 

DER    mathematischen    UND    DER   NATURWISSENSCHAFTEN    jotzt    UUr   WCnig    nOch 

geübt.  Denn  was  über  Natur-  und  Heilkunde  Philippus  Aureolus  Theo- 
PHRASTüS  Paracelsus  Bombastus  ab  Hohenheim   auf  Deutsch  geschrieben  *•*, 

1857.  36)  z.  B.  des  Grammatikers  Job.  Clajus  (§  93,  15):  Althumistica,  B.  i.  Ein  tvun- 
derharliche,  seltzame  vnd  bewerte  Kirnst,  Auss  Mist  ötc.  Gold  zu  machen,  Amberg  1586 
(in  Reimen);  und  Rollenhagens  im  Froschmäuseier  B.  1,  Th.  2,  Cp.  15 — 17;  vgl.  §  107,  26. 
37)  Weigel  geb.  zu  Grossenbain  in  Sacbsen  1533,  gest.  als  Pfarrer  zu  Zscbopau  1588:  seine 
Schriften  meistens  erst  lange  nach  seinem  Tode  zu  iSleustadt  (Magdeburg)  gedruckt:  Kirch- 
und  Hauspostül  über  die  Evangelien  1611;.  Captura  aurea,  Der  güldene  Gry  ff,  d.  i.  An- 
leitung alle  Dinge  ohne  Irrthum  zu  erkennen  1618  u.  a.  38)  Frühere  Sammlungen  der 
Werke  Boehmes  von  Betke,  Amsterd.  1675;  von  Gichtel,  ebd.  1682:  darnach  zu  Hamburg 
1715  und  1730;  die  neueste  y.  Schiebler,  Leipz.  1831—1813.  39)  Aus  beiden  LB.  3,  1, 
571  und  587.  40)  geb.  auf  dem  Hohen  Nest  bei  Eiusiedeln  1493,  nach  weit  und  wild 
Wackernagel,  Litter.  Geschichte.  II.  1'^ 


141J  NEUIIOCII DEUTSCHE  ZEIT.         XVI  JAJIKII.  §  111 

derselbe,  der  auch,  weil  das  Latein  ilini  unitoqiiem  war,  als  der  erate  unter 
allen  academischen  Lehrern  öft'c^ntlich  auf  Deutsch  vorgetragen  hat  (§  94,  9), 
schlsegt  eben  meistens,  und  -wo  die  Begeisterung  seinen  Stil  aus  der  Trocken- 
heit und  rnbeholfenheit  erhebt,  da  immer  in  jene  theosophische  Richtung 
ein;  Koxuad  Gksner  aber,  der  aligclohrtc  Zürcher",  so  lebhaft  seine  Theil- 
nahme  selbst  für  eine  gelehrte  Behandlung  der  Deutschen  Sprache  *^,  so  rege 
sein  Sinn  auch  für  das  Yolksmfessigc  im  Deutschen  war  *^,  sein  grosses  natur- 
goschichtliclies  ^Ye^k,  die  Ilistoria  cmimalium  seit  1550,  hat  doch  gleich  all 
den  vielen  kleineren  er  selber  nur  lateiniscli  abgcfasst,  und  die  deutsche  Ab- 
fassung stammt  von  anderen  nicht  so  namhaften  Männern."  Nur  Aijuikciit 
Dürer  *'  iiat  es  verstanden  auch  einigen  Arbeiten  aus  dem  üebiete  der  an- 
gewandten Mathematik  eine  scharf  umrissene  und,  so  weit  hier  Schoenheit 
moeglich  war,  nicht  unschoene  Gestalt  zu  geben.'**' 

§  111. 
Wir  haben  bei  der  lehrliaften  Dichtung  gesehn,  wie  theils  um  das  eigene 
Wissen  aufzufrischen,  tlieils  um  doch  in  etwelcher  Verbindung  mit  dem  Volk 
zu  bleiben  die  Gelehrten  aus  dessen  Spruchweisheit  geschöpft,  wie  sie  Sprich- 
wörter und  Raethsel  des  Volks  in  Reime  gebracht  und  neue  Sprüche  denselben 
nachgereimt  haben  (§  99,  38.  53.  §  101).     Das  entsprechende  Verhältniss  und 

uiDschweifeiidem  Leben  gest.  zu  Salzburg  1541.  Vgl.  Lessings  Paracelsns,  sein  Leben  und 
Denken,  Berlin  1839,  u.  Paracelsus  in  Basel  v.  Fiseber  in  d.  Beitrsegen  z,  vaterländ.  Gesch., 
hsggb.  von  der  bistor.  Gesellscb.  zu  Basel  5,  1854,  109  fgg.  Seine  Scbriften  in  deutscber 
Spracbe  gesammelt  zu  Basel  1589—9]  und  zu  Strassb.  1603.  41)  geb.  1516,  gest.  1565. 
Conr.  Gessner  v.  Jon.  Hanuart,  Wintertbur  1824.  42)  Vorrede  zu  Maalers  Würterbucbe 
§  93,  81;  Bemühungen  um  die  von  Gassar  beabsicbtigte  Ausgabe  Otfrieds:  Hanhart  204 
igg.  Hoffmanns  Fundgruben  1,  39  fg.;  antik  gemessene  deutsche  Verse  §  94.  30.  4.^)  In 
der  Hhtoria  animalium  öfters  deutsche  Sprichwörter  aus  der  Thierwelt  angeführt:  Hanh.  130. 
44)  VogeJbuoch,  durch  HuodolffHeüssIin,  Zürich  1557:  Thierbuoch,  durch  Cuonraf 
Forer  ebd.  1563;  Fischbuoch,  durch  denselben  ebd.  auch  1563.  Spster  ein  fehnliches  Ge- 
sammtwerk,  das  die  Wissenschaft  in  die  Erbauung  und  ungefaehr  wieder  auf  den  Weg  des 
alten  Physiologus  §  88,  19  hinüberlenkt,  von  Hermann  Heinrich  Frey,  Pfarrer  zu  Schwein- 
t'urt:  'Ix9voßtßXia,  Biblisch  Fischbuch,  Leipz.  1594,  &riooßißkia,  Bibl.  Thierbuch  u.  'OQyt9oßißki«, 
Bibl.  Vogelbuch.  ebd.  1595.  45)  zu  Nürnberg  geb.  1471,  gest.  1528.  Seine  Briefe,  das 
Tagebuch  seiner  Niederländ.  Reise  u.  andre  Aufzeichnungen  in  Campes  Reliquien  v.  A.  D., 
Nürnb.  1828  (§  94,  34).  46)  Vnderweysnny  der  Messung  mit  dem  Zirckel  rnd  RicMscheyt 
in  Linien,  Ebnen  vnd  gantzen  Corporen,  Nürnb.  1525;  Etliche  Vnderricht  zu  Befestigung 
der  Stett,  Schloss  vnd  Flecken  ebd.  1527;  Vier  Bächer  von  menschliclier  Proportion  1528: 
dieses  das  Hauptwerk.  Zu  Nürnberg  auch  die  erste  Verdeutschung  des  Vitruvius  durch 
G  ualtherum  Rivitim  1548.  Erwähnung  verdienen  noch  die  Strassbnrger  Heinr.  Vogtherr, 
dessen  Kunsthuch  1538,  u.  Daniel  Specklin.  dessen  Architectura  v.  Vestungen  1589  erschien. 


§111  SPRICHWÖRTER  UND  SPRÜCHE.  147 

Verfahren  kehrt  in  der  prosaischen  Lehrart  wieder.  Der  gedruckten  Reethsel- 
sammluugcn  ist  bereits  Erwsehnung  geschelien  (§  101,  14):  noch  öfter  wurden, 
da  vom  Ilunianismus  her  ein  Buch  wie  des  Erasmus  Ädagia  ^  Vorbild  und 
Anstoss  gab,  da  Bücher  der  Art  aus  dem  Alterthume  selbst  vor  Händen 
lagen  ^,  da  auch  die  Gelehrten  nicht  dem  Eindrucke  sich  zu  entziehn  ver- 
mochten, wie  treffende  Weisheit  das  deutsche  Sprichwort  (§  110,  43),  wie  viel 
mit  der  Weisheit  des  classischen  Alterthums  zusammentreffendes  es  enthalte  ^, 
noch  öfters  wurden  in  unveränderter  Prosaform  Sprichwörtersainmlungeu 
angelegt  "*  und  gern  auch  gleich,  wie  Erasmus  mit  seinen  Adagien  dort  gc- 
than,  die  Sprichwörter  nach  Ursprung  und  Sinn  und  Anwendung  gedeutet. 
So,  damit  ich  nur  die  wichtigsten  Belege  nenne,  im  J.  1529  (vor  1534  auch 
niederdeutsch  ^),  von  Johannes  Agricola,  einem  Landsmanne  Luthers  '^,  aus- 
führlich erläutert;  im  J.  1541  in  weit  groesserer  Zahl,  so  dass  derselbe  Ge- 
danke durch  eine  Reihe  von  Sprichwörtern  belegt  wird,  von  Sebastian 
Franck,  den  wir  kennen,  der  sßhnlich  dem  Sprichwort  schon  aus  eigenem  Sinn 
und  Tiefsinn  die  Paradoxa  geschrieben';  im  J.  1548,  mit  der  Franckischen 

§  111.  Litteratur  der  Sprichwörter  v.  Nopitsch,  Nürnberg  1822.  Die  Deutschen  Sprich- 
wörtersammlungeu  v.  Zacher,  Leipz.  1852.  1)  Erste  Ausg.  zu  Paris  1500.  Vgl.  Surin- 
gar,  Erasmus  over  nederlandsche  spreekiooorden,  Utrecht  1873,  wo  auch  Litteraturübersicht 
über   die   deutschen   Sprichwörtersammlungen,  2)  und   den  Parcemiographen  verwandt, 

solche  wie  der  alten  Weisen  Exempelsprüch  §  90,  261,  wie  Seb.  Francks  Siben  tceisen  in 
Grecia  §  110,  26,  wie  Plutarchi  von  Cheronea  vnd  anderer  Jcurts  weise  vnd  hoeffliche  Spruch 
durch  Heinrich  von  Eppendorff  vss  dem  Latin  in  Teutsch  verdollmetscht,  Strassb.  1534. 
3)  Germanicorum  adagiorum  cum  Latinis  et  Gr<ecis  collatorum  centuria?  septem  von  Eberh. 
Tappius,  Strassburg  1539 ;  Adagia  sive  Sententiie  proverbiales  Grsecse,  Latinae,  Germanicae, 
Strassb.  1596;  u.  a.  4)  Eine  solche  von  Luther  ist  handschriftlich  erhalten:  Köstlin  2, 
444.  673;  eine  von  H.  Friedrich  Wilhelm  von  Weimar  gedr.  zu  Annaburg  1577,  theil- 
weis  nur  Register  einer  verlorenen  Sammlung  mit  Auslegungen :  HHofFmanns  Spenden  zur 
deutschen  Litteraturgesch.  1,  149.  Zacher  a.  a.  0.  14.  5)  zu  Magdeburg:  F.  Latendorf, 
Agricola's  Sprichwörter,  ihr  hochdeutscher  Ursprung  und  ihr  Einfluss  auf  die  deutschen  und 
niederländischen  Sammler,  Schwerin  1862.  Das  hochdeutsche  Original  war  betitelt  Brey- 
hundert  Gemeyner  Sprichivorter,  Haganaiv  1529.  Das  Ander  teil . .  hat  funffthalb  hundert 
newer  tvörtter  1529.  Beide  Theile  zusammen  1534.  Nach  vielen  Ausgaben  die  letzte  (749 
Sprw.)  Wittenb.  1592.  Daneben  eine  Sammlung  Agricolas  von  500  .  .  Neiver  .  .  Sprich- 
loörter,  Augsburg  1548:  Anz.  d.  germ.  Mus.  1865,  388.  1866,  207.  1878,  180.  6)  eigentl. 
Schnitter?  geb.  zu  Eisleben  1492,  gest.  als  Hofprediger  zu  Berlin  1566;  seine  Verdeutschung 
der  Andria  des  Terenz  §  105,  16;  seine  Tragoedie  von  Huss  ebd.  91.  Vgl.  Agricolas  Schriften 
von  Kordes,  Altona  1817.  7)  §  110,  27.     F.  Latendorf,   Seb,  Francks   erste   namenlose 

Sprich wörtersaramlung  vom  J.  1532  in  getreuem  Abdruck,  Poesneck  1876,  schreibt  ihm  auch 
diese  Sammlung   zu,    welche   in   der  Auswahl   sich  eng  an  Agricola  anschliesst.    Von  dem 


148  NEÜJlOClIDKüTSCin«:  ZEIT.         XVI  .lAllKII.  §   ll'J 

Arbeit  oft  verwechselt,  von  einem  Uiibokannten.'*  Andre  mischten  dem,  \v;i> 
sie  sammelten,  Naclibildungen,  den  Spricliwörtorn,  die  das  Volk  gcwfehrtc, 
volksmiessig  sclbstvert'asste  Prosasprüclie  bei:  dergleichen  Bücher  von  Frikk- 
Ricn  Pktui  '•'  und  Christoi-m  Lkiimax  '",  die  auch  Reimsprüclie,  von  Johannes 
SoMMKR,  der  auch  Rrethsel  und  Leberreime  gedichtet  hat.''  Ein  Werk  end- 
lich von  der  Schlussgrcnzo  dieses  Zeitabschnittes  hält  in  einer  Weise,  die 
nach  den  bisherigen  Vorgängen,  nach  dem  Vorgang  namentlich  der  Tisch- 
reden Luthers  (§  110,  20)  nahe  genug  lag,  die  Mitte  zwischen  den  Sprich- 
wortsammlungeu  und  den  früher  erwa;hnten  Hammlungen  geschichtlicher  und 
romanhafter  Auecdoten  (§  107,  46  fgg.)i  f?er  Tcutschen  Scharpf sinnige 
hinge  Sprach  oder  die  Apophthegmata  von  Jur.irs  Wilhelm  Zincgref  '*: 
Anecdoten  meist  aus  Deutschland,  deren  Kern  und  Schärfe  aber  nicht  ein 
überraschendes  Ereigniss,  sondern  eine  sinnreiche  spruchartige  Rede,  in  denen 
das  llauptstück  auch  die  Spruchweisheit  ist,  aber  eine  andre  als  die  unter 
dem  Volk  umlaufende  und  jedesmal  getragen  und  körpcrliclier  gemacht  durch 
die  Cfrundlage  einer  kurzen  Erzwhlung  und  durch  geschichtliche  Namengebung. 

]Iiemit   waere   die   Darstellung  der  Prosa   des  sechzehnten  Jahrhunderts 

beendigt,  wenn  nicht   ein  Name  noch  fehlte,    der  ims  schon  bei  der  Poesie 

mehrfach  als   einer   der  bedeutendsten  und  gleich  hoch  bedeutend  mit  Hans 

Sachs  entgegengetreten  (§  100.   102,  5.  103,  33.  114,  7)  und  der  auch  in  der 

Prosa   der  bedeutendsten  einer,  gewiss   der  bedeutendste  naechst  Luther  ist. 

Er  ist  das  aber   durch   seine    fruchtbare  vielseitige  vielgestaltige  Thsetigkeit 

zugleich  in  den  verschiedensten  Arten  der  Prosa  und  durch  die  eigenthümliche 

überragenden  Werth  des  Franokischen  Buches  Wilh.  Grimm  in  Vridankes  Bescheidenheit 
cix.      Stücke  daraus  LB.  3.  1,  o<j7.     Vgl.  §  93,  5.  8)  Fast  ganz   wie  das  Franckische 

Buch  betitelt,  Sprichtcörter,  Schcene,  Weise  Khwgreden,  und  von  demselben  EgenolfF  zu 
Franckfnrt  gedruckt,  der  jenes  gedruckt  hatte.  Öfter  wiederholt  bis  1615:  Latendorf  (Anm. 
7)  S.  292  fgg.  Ueber  die  Quellen  (Agricola  und  Franck)  s.  C.  Schulze  in  Herrigs  Archiv 
f.  d.  Stud.  d.  neueren  Sprachen  1S62,  153  fgg.  9)  Der  Teutschen  Weissheit,  Das  ist  — 
Sprudle  vnd  Sprichivörter  in  schcenen  Reimen  oder  schlecht  ohne  Beim,  Hamburg  1605: 
vgl.  §  101,  5.  10)  Florilegium  politicum,  o.  0.  1630:  Einordnung  des  Stoffs  unter  locos 
communes  nach  Art  der  spaeteren  Bearbeitungen  von  Erasmns  Adagien.  Der  Titel  nach 
Jan  Groters  llorilegium  Ethico-poUticinn.  Frankf.  1610.  Vgl.  §  101,  5.  108,  35.  11)  Joh. 
Olorini  Varisci  Faroemiologia  Germanica,  Magdeb.  1606;  vgl.  §  101,  13.  16.  12)  Strass- 
burg  1626;  ein  zweiter  Theil  ebd.  1631.  Apophthegtntita  als  Nebenname  zuerst  ebd.  1628; 
als  vorangestellter  Hauptname  auf  dem  von  Jon.  Leonh.  Weidxer  hinzugefügten  dritten 
Theile  der  Leidner  Ausgabe  1644.  Noch  ein  4  u.  öter  Theil  Amsterdam  1655.  Über  Zinc- 
gref §  101,  13. 


§112  FISCHART.  149 

Verbindung,  die  in  ihm  auch  hier  die  gelehrte  und  die  volksmsessige  Richtung 
eingehn:  Umstände,  um  derentwillen  er  besser  so  zu  vereinzehi  und  durch 
eine  Stellung  ans  Ende  der  gesammten  Übersicht  auszuzeichnen  ist.  Als 
Redner  freiUch  (er  war  kein  Theologe)  hat  sich  Johann  Fischart  keinen 
Namen  gemacht  und  ebenso  wenig  durch  geschichtliche  Schriften  \  wohl  aber 
als  Verfasser  einer  reichen  und  mannigfaltig  bunten  Reihe  von  Erzeugnissen 
der  lehrenden  und  der  romanhaft  erztehlenden  Art.  In  der  Poesie  sowohl 
des  Ernstes  als  des  Scherzes  Meister,  ist  er  das  auch  und  noch  mehr  im  Ge- 
wand solcher  Prosa.  Hier  giebt  es  von  ihm  (ich  nenne  wieder  nur  die  haupt- 
sächlichen Werke  imd  wiederhole  das  schon  früher  (§  100,  3)  gesagte,  dass  man 
nicht  wenige  seiner  Bücher  einstweilen  bloss  dem  Namen  nach  kennt  und  bei 
manchem  seine  Verfasserschaft  noch  Zweifeln  unterliegt),  es  giebt  hier  aus  dem 
J.  1578,  in  der  schlichtesten  Ausdrucksweise  des  sittHchen  und  des  religioesen 
Sinnes  lehrend,  das  Philosophisch  Ehzuchthüchlin  sammt  der  Kinder 
Zucht,  beides  nach  Plutarch,  aber  frei  und  mit  Vermehrung  -,  recht  eigentlich 
verdeutscht  und  in  Anwendbarkeit  auf  die  Verhältnisse  des  christlichen  Lebens 
übertragen.  Ferner  eine  Schrift  nach  Art  einiger  früher  schon  genannten 
dichterischen  (§  100,  8  fgg.),  eine  scharfe  und  heftige  Satire  gegen  die  psebst- 
liche  Kirche,  namentlich  gegen  deren  neu  erstandene  Vorfechter  die  Jesuiten, 
der  BinenJcorh  Des  Heyl.  Boemischen  Imenschivarms  von  1579  (das 
Ehezuchtbüchlein  war  nur  aus  dem  Jahre  vorher),  auch  das  der  Arbeit  eines 
Andern,  eines  Niederländers,  frei  nachgebildet.^     Aber  das  rechte  Gebiet  des 

§  112.  1)  Weder  äussere  noch  innere  Merkmale  weisen  darauf  hin,  dass  in  den  zeitge- 
schichtlichen Schriften  über  die  franzoesischen  und  die  englisch-spanischen  Händel  (Vilmar 
z.  Litt.  Joh.  Fischarts  2.  22  u.  oben  §  100,  12  b  fgg.)  noch  etwas  andres  ausser  den  begleitenden 
Gedichten  von  Fischart  sei.  Als  Jurist  übersetzte  er  ein  Werk  über  Hexen  von  dem  Fran- 
zosen Bodin,  De  magorum  dcemonomania,  Strassb.  1581.  Vgl.  ferner  Anm.  10.  2)  auch 
um  ein  Gespraicli  (§  99,  11)  von  Klag  des  Ehestands :  dies  aus  den  Colloquns  des  Erasmus. 
Stücke  aus  diesen  Zusätzen  LB.  3,  1,  501.  3)  des  Philipp  Marnix  v.  S.  Aldegonde.  Vgl. 
Th.  Kessemeier,  Progr.  Bremen  1877.  Als  Druckort  wird  Christiingen,  Fischart  selbst 
Jesuicalt  Pickhart  genannt  (§  100,  5.  6),  dies  mit  Beziehung  auf  den  alten  Gebrauch  die 
Waldenser  und  die  Boehmischen  Brüder  Picarden  zu  nennen  (s.  du  Gange  v.  Picardia  und 
Phil.  Wackernagels  Deutsches  Kirchenlied  749):  im  Vorstoss  dise  Waldensische  vnd  Piek- 
hartische Bienen.  Aber  Der  Heylig  Brotkorb  Der  H.  BoemiscJien  Reliquien  (nach  einer 
Schrift  Calvins),  Christiingen  1580  u.  s.  f.  ist  nicht  von  Fischart:  von  diesem  (Jesuicalt 
Pickhart)  nur  ein  beigegebnes  kurzes  Gedicht,  das  Übrige  von  Jacob  Eysenberg,  mit  dessen 
Namen  auch  die  Vorrede  unterzeichnet  ist,  und  Wiederholung  eines  schon  1557  zu  Witten- 
berg gedruckten  Buches.  Nur  auf  die  Absicht  solches  Neudruckes  also  zielen  die  Anfüh- 
rungen und  Ankündigungen  von  Jesuwalt  Pickharts  H.  Brotkorb    im  Bienenkorb  54  b  und 


150  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XVI  JAlIKIl.  §  112 

Mannes  war  die  Komik,  die  harmlos  lacht  und  einen  froolilichen  Scherz  nach 
alter  "Weise  des  Volkes  liebt  und  übt,  und  war  noch  über  die  Komik  und 
über  den  blossen  Spott  der  Satire  hinaus  der  gehobnere  Humor  und  dem 
verbunden  die  Ironie.  Von  Komik  übersprudelnd  und  echt  volksm{e88ig  in 
der  Komik  ein  Büchlein  aus  dem  J.  1Ö72,  Aller  Fractich  Grossmtiottcr*, 
das  den  Unfug,  den  abergläubisch  oder  betrügerisch  die  s.  g.  Practiken,  die 
Kalender,  mit  Vorhersagungen  trieben'",  in  muthwilligen  Scherz  zog*^:  eben 
solch  eine  Parodie  war  schon  1540  die  Lassfafel  vnd  Practica  des  Doctor 
Grillen  gewcseu  ",  nur  diese  nicht  so  giündlich  ausgeführt,  aber  damit  man 
lache,  tief  im  Schmutz.  Komisch  und  humoristisch  und  ironisch  zugleich  das 
Podagrammisch  Trostbüchlin  vom  J.  1577,  ein  Buch,  der  Neigung  einer 
Zeit  entsprechend,  in  der  Erasmus  auch  ein  Lob  der  Thorheit,  andre  das 
Lob  des  Esels  und  der  Sau,  und  Fischarts  eigener  Neigung,  der  ja  auch  die 
Floehhatz  geschrieben  ^:  hier  sind  es  zwei  Schutz-  und  Lobreden  des  Poda- 
gras,  die  er  aus  fremdem  Latein  Fischartisch  bearbeitet  einfülu:t.^  Endlich 
sein  vornehmstes,  auch  sein  berühmtestes  Werk,  recht  der  Inbegriff  seiner  be- 
zeichnendsten Eigenthümlichkeiten,  ein  Roman  '^,  der  zuerst  1575  und  von 
da  wiederholendlich  bis  in  das  siebzehnte  Jahrhundert  ist  gedruckt  und  dabei 
immer  in  etwas,  schon  von  Fischart  selber  ist  geändert  worden,  die  Geschicht- 

161  a  (Ausg.  von  1581),  aus  welchen  Halling  im  Gliiekh.  Schiff  33.  G2  u.  a.  auf  Fischart 
als  den  Verfasser  des  Granzen  geschlossen  haben.  4)  Neudruck  Halle  1876.  Proben  LB. 
3,  1,  459.  5)  vgl.  LB.  3,  1,  749  fgg.  Eine  ganze  Reihe  solcher  Practiken  verzeichnet 
im  Büchersch.  der  Deutschen  National-Litt.  130  fg.;  ältere  von  Folz  und  Gengenbach  führt 
Keller  an,  Fastnachtsp.  3,  1272.  1325.  6)  Anstoss  dazu,  aber  nicht  Vorbild  die  Profjno- 
stication  pantagrueUne  in  den  Oeuvres  de  Rabelais  1553.  Rabelais  wird  in  der  dritten, 
sehr  vermehrten  Wiederholung  1574  ausgebeutet  und  genannt,  ebenso  eine  latein.  Prognostica 
von  Jacob  Henrichmann  1508,  die  in  Wackernagels  Fischart  131  fgg.  wiederabgedruckt  ist. 
Ueber  eine  dritte  Quelle,  die  in  einer  Practica  von  Job.  Nas  vorliegt  (Goedeke  Pamphilus 
Gengenbach  S.  415  fgg.)  s.  ebenda  S.  67  Anm.  7)  Neuer  Abdruck  Leipz.  1854.  8)  §  KX). 
30.  107,  25.  110,  27.  Fischart  selbst  in  den  Schlussreimen  der  Floehhatz  beruft  sich  zuerst 
auf  antike  Muster  wie  die  Schutz-  und  Lobreden  des  Fiebers  von  Phavorinus,  der  Schma- 
rotzerei von  Lucian,  der  Kahlheit  von  Sjnesius,  dann  auf  neuere  und  ihm  gleichzeitige  Als 
Porciiim,  den  Saupoeten  Der  weisst  toie  Schicein  ainander  toeden,  Vnd  Erasmum  von  Eoter- 
dam  So  rümt  der  Thorhait  grosen  stamm,  Agrippa  auch  von  Nettershaim  Lehrt  icie  schcen 
sich  der  Esel  zäum,  Vnd  das  er  nicht  sei  faul  vnd  trccg  Sonder  hedachtsmn  auf  dem  nceg 
usf.  9)  Die  Zuschrift  An  alle  Podagramsgedultige  vnd  Zipperlinschuldige  LB.  3,  1,  491. 
10)  Der  Bücherschatz  11  legt  ihm  wegen  eines  mit  J.  F.  G.  M.  (vgl.  §  100,  5)  unterschrie- 
benen Einleilungsgedichtes  auch  die  Verdeutschung  des  Ixmenius  (der  Hysminia  des  Eu- 
stathius)  von  Joh.  Chr.  Artopeo  (d.  h.  Becker)  bei:  vgl.  Anm.  1.     So  hat  er  auch  das  vi  Buch 


§  112  FISCHART.  151 

Schrift  oder  wie  es  seit  1582  hiess  ^\  GeschichtMitterung^  Von  Thaten  vnd 
Bähten  der  HeMen  vnd  Herren  Grandgusier,  Gargantoa  vnd  Pantagruel.  Zwar 
ist  auch  dieser  Gargaxtua,  die  noch  unvollendete  Geschichte  eines  Riesen- 
geschleclits,  keine  ganz  eigene  neue  Schöpfung:  Fischart  hat  nur  das  erste 
Buch  eines  franzoesischen  Romans,  des  Gargantua  und  Pantagruel  von  Franz 
Rabelais  ^^,  inn  einen  Teutschen  Model  vergossen,  aber  eben  in  einen  deutschen 
und  in  seinen  Model;  er  hat  jene  Urschrift,  wie  gleichfalls  der  Titel  sagt, 
bloss  vngefwrlich  obenhin  vher  oder  drunder  gesetzt,  nur  dass  sie  zu  weiteren 
kecken  Yariationcn  ihm  das  Thema  lieh.  Schon  bei  Rabelais,  der  die  Gruud- 
züge  seines  Buchs  einer  sagenhaften  Überlieferung  Südfrankreichs  abgesehn  '^, 
hatte  der  Humor  die  Formgebung  bis  in  alle  Einzelheiten  hinein  durchdrungen 
und  in  neuen  Worten  und  AVendungen  schon  da  so  kühn  mit  der  Sprache 
geschaltet,  als  dieselbe  nur  irgend  zuliess,  und  etwas  mehr  noch,  als  sie  zu- 
liess;  Latein  und  Griechisch  mussten  mit  aushelfen:  dem  deutschen  Bearbeiter 
bot  sich  eine  Sprache  von  unendlich  grcesserer  Bildsamkeit  und  reicherer 
Fülle  eigener  Mittel  dar,  und  er  verstand  das  zu  nützen:  mit  solch  einem 
Fluss  gebräuchlicher  und  ungebräuchlicher,  mit  solchem  Übermuth,  solcher 
Unerschöpflichkeit  im  Erfinden  neuer  Ausdrücke  ist  weder  vor  noch  nach 
diesem  ein  deutsches  Buch,  ist  überhaupt  wohl  in  keiner  Sprache  je  ein  Buch 
geschrieben  worden.  Und  in  allen  Tcenen  der  Laune,  des  Spottes,  des  Humors, 
der  Ironie  und  stsets  so  harmlos  und  unmittelbar  spielt  das  Gemüth  des 
Deutschen,  dass  niemand  bei  ihm,  wie  doch  bei  Rabelais  geschieht,  sich  wird 
gedrungen  fühlen  auf  didactischen  und  satirischen  Sinn  und  Zweck  zu  rathen: 
ihm  ist,  ob  auch  manches  der  Art  in  einzelnen  Theilen  liegen  moege,  doch 
das  Ganze  nur  ein  grossartig  ergötzliches  Bild  strotzender  Riesenkraft  und 
Sinnlichkeit.  Überall  sieht  man  den  vielseitig  durchgebildeten,  den  theologisch 
und  philologisch  und  historisch  gelehrten  und  bis  ins  Herz  für  diese  Dinge 
bewegten  Mann:  aber  auch  das  ganze  geistige  Besitzthum  des  Volkes,  alle 
Lieder,  alle  Sprichwörter,  alle  Schwanke  und  Scherze  und  Gebräuche  der 
Heimath  sind  ihm  lebensvoll  gegenwärtig  '*,  und  jedesmal,  wo  es  am  passlich- 

d.  Amadis  1072  übersetzt:  §  107,  8.  11)  Nach  dies.  Ausg.  d.  Probestücke  LB.  2.  235  u.  3, 1,  471. 
12)  Rabelais  geb.  1483,  gest.  1553 :  Gargantua  1535,  Pantagruel  1537  usf.  Gelbcke,  J.  F.  u.  Rabe- 
lais Gargautua,  Progr.  St.  Petersburg  1874.  Die  10  ersten  Capitel  v,  Rabelais  mit  d.  entsprechen- 
den bei  Fisch,  vergleicht  L.  Ganghofer,  J.  Fisch,  u.  seine  Verdeutschung  d.  Rabelais,  München 
1881.  "Wie  die  Practick  sich  an  Rabelais  anlehnte,  so  ist  dessen  Gargantua  2,  7  die  Grundlage  für 
Fischarts  Catalogus  CataJogorum  1590.  13)  Jac.  Grimms  Deutsche.  Mythologie  509.  14)  Bei- 
spiele vor  andern  das  8te  Cap.  mit  den  Spässen  und  Gesängen  einer  Zechbruderschaft  und 
das  25ste  mit  dem  Verzeichniss  der  Kinder-  und  Gesellschaftsspiele. 


152  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XVI  JAHRH.  §  113 

8ten  ist,  (1.  h.  wo  es  am  überraschendsten  zutrifft,  weiss  er  sie  vor  zu  bringen. 
AUorclings  macht  diese  bunt  wechselnde  Häufung  der  Bezüge  ^lic  Lesung  des 
Buchs  beschwerlich;  schon  zu  Fischarts  Zeiten  mochte  nicht  allen  alles  ver- 
ständlich sein:  wie  viel  weniger  uns,  die  wir  inmitten  eines  ganz  veränderten 
Lebens  stehn.  Weim  irgend  ein  älteres  Buch,  so  bedarf  dieses  der  Erklärung; 
eine  rechte  Erkherung  aber  würde  erst  ganz  gewahren  lassen,  welch  ein  Schatz 
der  Kenntuiss  deutscher  Sittengeschichte  wie  durchweg  bei  Fischart  so  beson- 
ders hier  verborgen,  hier  noch  zu  heben  ist. 

§  113. 
Die  Betrachtung  der  deutschen  Litteratur  des  sechzehnten  und  im  ersten 

Viertel  des  siebenzehnten  Jahrhunderts  ist  geschlossen.  Sie  hat  uns  das  un- 
ausgesetzte Spiel  zweier  sich  gegenüberstehenden  Kräfte,  die  theils  feindselig 
einander  zuwider,  theils  wie  im  Wetteifer  zusammenN\irkten,  einen  Kampf 
zwischen  Altem  und  Neuem,  zwischen  Volksmassigkeit  und  Gelehrsamkeit 
gezeigt.  Das  Schlussergebniss  dieses  Kampfes  haben  wir  an  Einzelheiten  schon 
zur  Genüge  wahrgenommen,  so  auch,  dass  dessen  nsechste  und  weiti*e  Folgen 
sich  mit  andeuteten:  fassen  wir  jetzt  beide  in  eineu  Rück-  und  Yorblick 
kurz  zusammen. 

Der  Vortheil  im  Kampf  war  zu  überwiegend  auf  Seiten  der  Gelehrten, 
schon  darum,  weil  sie  Neues  und  Fremdes  brachten,  das  Volk  aber  nur  Altes 
und  Alteinheimisches  besass;  dai'um  ferner,  weil  sie  sich  auf  eine  Bildung 
stützten,  deren  Gehalt  oder  deren  äussere  Formen,  selbst  pedantisch  missver- 
standen und  missbraucht,  doch  eine  unwiderstehliche  Kraft  ausübten,  die  Bil- 
dung des  classischeu  Alterthumes  und  bald  auch  die  modern  franzoesische ; 
endlich  darum,  weil  sie  eine  ganze  Art  der  Litteratur,  die  volle  und  die  ge- 
rade jetzt  bedeutsamere  Hälfte  derselben,  die  Prosa,  als  ihr  "Werk  und  ihr 
Eigenthum  zum  Voraus  hatten.  Zwar  Hessen  sich  die  Gelehrten  hie  und  da 
entgegenkommend  zu  dem  Volk  hinab :  aber  es  geschah  das  mehr  nur  aus 
besondi-er  Neigung  Einzelner,  als  dass  es  im  Sinne  der  gelehrten  Litteratur 
überhaupt  gelegen  hätte.  Desto  nachgiebiger  und  durchweg  nachgiebiger  er- 
wies sich  von  der  anderen  Seite  her  das  Volk,  nachgiebig,  indem  es  Eigen- 
thümlichkeit  auf  Eigenthümlichkeit  zum  Opfer  brachte,  nachgiebig,  indem  es 
dafür  je  mehi*  und  mehr  sich  in  die  Denk-  und  Sprechweise  der  Gelehrten 
hineinzubilden  suchte.  Unter  solchen  Umständen  war  kein  anderer  Ausgang 
raoeglich,  als  dass  alle  Volksmsessigkeit  von  der  Gelehrsamkeit  erdrückt,  und 
eben  wie  diess  Jahrhundert  mit  Aufstellung  einer  neuen  Sprache  begonnen 
hatte,  so  im  Verlauf    desselben    auch    die    alterthümlichen  Bestandtheile   der 


§  113  RÜCK-  UND  VÜKBLICK.  153 

Litteratur  immer  mehr  auF  die  Seite  geschoben  und  endlich  ganz  beseitigt 
wm-den.  Im  sechzehnten  Jahrhmidert  besass  noch  das  Volk  eine  Fülle  eigener 
alter  Lieder  und  mehrte  den  Besitz  noch  stsets  durch  Ilinzudichtung  neuer: 
durch  den  Zug  aber,  den  es  selber  nahm,  nach  dem  Gelehrten  und  dem 
AVelschen  ward  seine  Lyrik  und  Epik  abgeleitet:  von  da  ab  ist,  was  noch  in 
dem  alten  Bette  floss,  mit  jedem  Gescblcchte  mehr  versiegt,  eines  der  über- 
kommenen Lieder  nach  dem  andcpn  verklungen  vor  der  Missachtung  und  dem 
Spott  der  Gebildeten  ',  vor  dem  Ärgerniss  der  kirchlich  strengen  ^,  bald  auch 
vor  der  eigenen  Scham,  manches  nur  gerettet,  indem  es  aus  dem  allgemeinen 
Gebrauche  sich  in  landschaftliche  und  mundartliche  Beschränkung  zurückge- 
zogen ^,  und  kaum  dass  in  spseterer  Zeit,  dass  jetzt  noch  neue  Lieder  aus 
dem  Munde  des  Volks  hervorgegangen  sind  und  gehn  :  Gesänge,  wie  noch  hie 
und  da  waehrend  des  dreissigjtehrigen  Krieges  *  und  spaeter  zu  Ehren  des 
Prinzen  Eugen  ■'  entstanden  sind  ''  ^ ,  wie  etwa  hie  und  da  noch  das  Landvolk 
kurz  und  bruchstückartig  zum  Tanz  erfindet  ^,  zerstreuen  sich  nun  durch  Zeit 
imd  Raum  in  ebenso  grosser  Seltenheit,  als  die  früheren  Jahrhunderte  der- 
gleichen überall  und  in  Menge  geschaffen  haben.  Sodann,  was  an  sich  unbe- 
dauerlich, aber  gleichfalls  ein  geschichtliches  Zeichen  ist,  auch  die  andre, 
künstlichere  Art  der  Volksdichtung,  der  Meistergesang,  kam  mit  Ausgange 
dieses  Zeitraums  ab,  und  der  Name  Hans  Sachsens,  des  Stolzes  der  Sing- 
schulen, ward  zum  Sprichwort,  wo  man  eine  recht  alberne  Poeterei  bezeichnen 

§  113.  1)  Beispiel  Schuppius  in  dem  Schlusswort  des  Ungeschickten  Kedners  (Schriften 
1,  868),  zugleich  Nachrieht  über  eine  unbekannte  Volksliedersamralung  noch  dieser  spaeten 
Zeit.  2)  Mit  dem  17  Jh.  war  schon  ein  gutes  Theil  von  dem  erreicht,  was  die  reforma- 
torischen Dichter  des  16ten  bezweckt  hatten  (§  103,  21.  31),  Verdrängung  des  weltlichen 
Gesangs  durch  geistlichen:  das  sechzehnte  hatte  zu  dem  Ende  weltliche  Lieder  und  Weisen 
geistlich  umgedichtet  (§  103,  18.  28  fgg.  55):  im  17ten  ward  um  ein  Lied  unter  alles  Volk 
zu  bringen  schon  der  umgekehrte  Weg  genommen  (Wellers  Lieder  des  dreissigjiehr.  Krieges, 
Basel  1855,  vi).  Paul  Gerhardt  bezeichnete,  was  er  auf  alte  Volksweisen  schrieb,  nicht  mehr 
mit  deren  echten  eigenen,  sondern  mit  den  Anfangsworten  andrer  gleichfalls  geistlicher  Lieder, 
und  bis  auf  neuere  Zeiten  hat  das  Landvolk  der  evangelischen  Schweiz  auch  in  weltlichster 
Lustbarkeit  kaum  andre  Gesänge  anzustimmen  gewnsst  als  die  Psalmen  seiner  Kirche.  So 
singen  noch  jetzt  die  Bergleute  des  böhmischen  Erzgebirges  im  Wirthshause  protestantische 
Kirchenlieder.  .3)  Die  Sammlungen  mundartlicher  Volkslieder  verzeichnet  Trcemel,  die  Litt, 
der  Deutschen  Mundarten,  Halle  1H54.  K.  v.  Bahder,  Die  deutsche  Philol.  §  137.  4)  Der  weltl. 
Umdichtung  geistl.  Lieder  u.  Liederweisen  schliessen  sich,  nnr  frevelhaft,  die  Gebetparodien  an: 
Weller  121.  263;  vgl.  §  109, 8.  .5)  Das  bekannteste  derselben  in  krit.  Bearbeitung  bei  Soltau  .527. 
5a)  Volkslieder  aus  spaeteren  Kriegszeiten  sammelte  F.  W.  v.  Ditfurth;  die  v.  17.56—1871 
Berlin  1871.  72.  6)  Schleifer  in  Schwaben:  Grseters  Bragur  3,  229  fgg.  Schnitterhüpflein 
in  Baiern:    Schraellers  Bair.  Wörterb.  3,   499  fg.    Rundas   im  Vogtlande:    Dunger,   R.  und 


154  NECHÜCIIDEUTSCIIE  ZEIT.        XVI  JAlUill.  §  113 

wollte  "^ :  erst  Goptlic  hat  ihn  wieder  zu  Ehren  hergestellt.*  Zwar  blieben  an 
dem  und  jenem  Orte  noch  länger  Schulen  bestehn,  vne  zum  Verdrusse  der 
Schulen  auch  das  Oewerb  der  Si-uki-uek  noch  fortbestand'':  aber  man  spürte 
sie  nicht  und  wusste  nichts  von  ihnen  und  sie  selber  kaum  von  sich  '" :  man 
hat  im  J.  1839  durch  die  Zeitungen  vernehmen  müssen,  dass  die  Singschule 
zu  Ulm  sich  förmlich  aufgelöst  habe,  um  zu  vornehmen,  dass  dort  noch  eine 
solche  gewesen  sei."  Als  die  letzte  und  zaheste  erhielt  sich  die  zu  Mem- 
niingen  "''  bis  1852.  Mit  dem  Yolksliede,  mit  dem  Meistergesang  ist  aus  der 
Poesie  überhaupt  auch  alles  Sixoex  verschwunden:  Poesie  und  Musik  sind 
seitdem  zwei  getrennte  Künste,  und  letztere  tritt  immer  nur  gelegentlich  und 
nur  nachtrieglich  hinzu;  so  viel  auch  die  Lyriker  noch  von  ihrem  Saitenspiele 
reden,  es  ist  blosse  Redensart,  und  wenn  ein  Epiker  beginnt  Ich  singe,  so 
wiu'de  er  der  "Wahrheit  doch  gemsesser  sagen  Ich  schreibe.  Unabweisbar  ge- 
beert der  Gesang  nur  noch  zum  Kirchenliede:  hier  hat  sich  denn  auch,  ge- 
tragen durch  das  übereinstimmende  und  mitererbte  Verfahren  der  musicalischen 
Composition,  der  dreitheilige  Strophenbau  erhalten,  wsehrend  die  übrige,  von 
der  Musik  abgelooste  Lyrik  denselben  vergessen  und  verloren  hat.  Unter- 
gegangen ist  endlich  auch  an  der  Kunst  und  Unkunst  der  Gelehrten  und  an 
sonstiger  erst  von  aussen  lierzugeführter  Bildung  das  volksmsessige  Drama, 
das  Drama,  wie  es  vordem  ein  Spiel  des  Volkes  selbst  zu  seiner  Erbauung 
oder  Belustigung  gewesen;  nur  hin  und  wieder  und  namentlich  unter  den 
Katholiken  hat  sich  in  Städten  noch  für  längere  Zeit  ^^  die  Aufführung  geist- 

Keimsprüche  aus  dem  V.  Plauen  1876.  7)  Die  Art,  wie  Hoffmannswaldau  1679  (Vor- 
rede zu  den  Deutschen  tTbersetzungen  und  Gedichten)  ihn  noch  lobt,  verrseth  den  Wider- 
spruch gegen  die  abschätzigen  Urtheile  Anderer ;  diese  aber  vertritt  Wernicke,  der  in  seinem 
Hans  Sachs  v.  1703  seinen  Gegner  Postel  (Steipo)  von  HSachsen  zum  Nachfolger  in  der 
Pritschmeisterei  ernennen  Issst.  Und  in  solcher  Betrachtungsweise  waren  selbst  die  Kritiker 
von  Zürich  noch  befangen:  Samml.  der  Zürcherischen  Streitschriften  1753.  1,  132.  2,  52. 
8)  durch  sein  Gedicht  HSachsens  poet.  Sendung  (vgl.  Dichtung  u.  Wahrheit  B.  18  Auf.) 
und  Wieland  durch  sein  Nachwort  dazu  im  Aprilheft  des  Deutschen  Mercurs  von  1776. 
Gleich  darauf  die  Proben  aus  HS.  Werken  von  Bertuch,  Weimar  1778.  Vgl.  Koberstein  zu 
u.  über  Goethes  Gedicht  HSachsens  poet.  Sendung  in  Hoffmanns  u.  Schades  Weimarischem 
Jahrb.  1,  299  fgg.        9)  Wagenseil   an    den  §  95,    38  fgg.    96,  1  fg.   angeführten    Stellen. 

10)  Von    dem  Erlöschen    der   Hauptschule,    der    zu  Nürnberg,   Haesslein    im  Bragur  3,  98. 

11)  Nachricht  von  deren  Bestand  im  J.  1792  bei  Htesslein  a.  a.  0.  107  tg.  IIa)  Schnorr 
(§  97,  4)  S.  24.  12)  Luzerner  Handschriften  von  Passions-  und  Osterspielen  des  16  Jh.: 
Mones  Schauspiele  des  Mittelalters  2,  420  fgg.  Vier  geistl.  Spiele  d.  17.  Jh.  für  Charfreitag 
u.  Fronleichnamsfest  (zu  Ürdingen)  von  Reix,  Crefeld  1853.  Passionsspiel  in  Böhmen  bei 
Keichenberg   bis  Ende  des   vorigen  Jhs. :   Mitth,  d.  Ver.  f.  Gesch.  d.  Deutschen  in  Böhmen 


§113  RÜCK-  UND  VORBLICK.  155 

lieber,  auf  dem  offenen  Lande  die  Aufführung  von  geistlichen  und  von  Fast- 
nachtsspielen selbst  bis  beute  '^,  da  jedocb  meist  in  solcher  Art  erhalten,  dass 
nicht  sowohl  Überreste  des  Dramas,  wie  das  sechzehnte  Jahrhundert  es  bereits 
ausgebildet,  dass  vielmehr  die  früheren  Anfänge  desselben  hier  noch  unent- 
wickelt vor  Augen  stehn;  voji  den  Festumzügen  der  Schuljugend,  die  nun 
auch  schon  seit  mehr  denn  hundert  Jahren  aberkannt  sind,  gilt  das  gleiche.''* 
Jene  Spiele  der  Bauerschaften  aber  hat  in  ihrer  Abgelegenheit  von  der  Welt 
die  neueste  Zeit  gleichsam  erst  entdecken  müssen.^' 

So  denn  ist,  nachdem  das  beginnende  sechzehnte  Jahrhundert  noch  eine 
Litteratur  des  Volkes  angetreten,  auf  das  Zeitalter  des  dreissigjsehrigen  Krieges 
und  wie  viel  mehr  noch  auf  die  weiter  folgende  Zeit  ledigHch  eine  Litteratur 
der  Gelehrten,  dieses  neuen,  allerdings  aus  dem  Volk  emporgewachsenen  Adels 
gekommen.  Das  Volk  aber,  welches  unterhalb  stehen  bleibt,  hat  keinerlei 
Mitwirkung  mehr  an  der  Litteratur;  es  giebt  nichts  dazu  von  sich  aus: 
es  singt,  und  noch  mehr,  es  liest  nur,  was  ihm  von  oben  gegeben  wird,  und 
das  einzige,  was  es  neben  den  verhallenden  Liedern  und  neben  den  dichteri- 
schen Prosareden  (§  96)  und  den  Rsethseln  und  den  Sprichwörtern  noch  als 
ein  minder  verkümmertes  Eigenthum  inne  hat,  sind  die  Volksbuecher,  jene 
alteinfachen,  zum  Theil  noch  aus  dem  sechzehnten  Jahrhundert,  zum  Theil 
aus  noch  früherer  Zeit  herrührenden  Ritter-  und  Liebes-  und  Scherzgeschichten, 

XII,  16.  Ebd.  XVIII,  306  fgg.  Joacliimsthaler  Christspiele  und  Ansinglieder.  Passionsspiel 
bei  S.  Stephan  in  Wien:  Z.  f.  d.  Philol.  6,  146  fgg.  Geistliches  Volksschauspiel  im  Seh warz- 
wald  (1654):  Germ.  12,  206  fgg.  Zuckmanteler  Passionsspiel:  Germ.  13,  486.  Lambacher 
Passionssp.  (vor  1593;:  Progr.  Linz  1883.  Von  den  Zünften  in  Freiburg  i.  B.  die  Passion  durch 
Umzug  u.  Spiel  dargestellt:  Texte  von  1599  u.  1604:  Zeitsch.  der  Gesellsch.  f.  Geschichtskunde, 
III,  Freiburg  i.  B.  1874.  Für  den  Text  v.  1604  die  Passion  von  Jac.  B-uef  1545  (§  105,  4) 
benutzt:  Hartmann  (Anm.  13)  S.  247  fgg.  Vgl.  §  85,  72.  13)  Das  Passionsschauspiel  in 
Oberammergau  von  Devriekt,  Leipz.  1851.  A.  Hartmann,  Das  Oberamm.  Passion.sspiel  in 
seiner  ältesten  Gestalt,  Lpz.  1880,  zeigt  die  Zusammensetzung  aus  einem  Augsburger  Passions- 
spiel des  15.  Jh.  und  dem  von  Seb.  Wild  (§  105,  144).  Weihnachts-Spiele  und  Lieder  anss 
Süddeutschland  und  Schlesien  von  Weinhold,  Graez  1853.  Geissteidigen  in  Tirol  am  un- 
sinnigen Donnerstag :  Pichler  über  d.  Drama  des  Mittelalters  in  Tirol  72.  Fastnachtschimmel 
und  Leutausspielen  in  Baiern :  Schmellers  Bair.  Würterb.  3,  363.  561.  Vgl.  §  86,  5.  6. 
14)  Umzug  u.  kirchl.  Handlung  der  Schüler  am  S.  Xicolaustage :  LB.  3,  1,  343;  am  Tage 
S.  Gregorius:  Märchen  der  Br.  Grimm  2,  1819,  xxxii  fg.  Schmeller  a.  a.  0.  2,  82.  107. 
Dabei  hatte  ein  als  Bischof  verkleideter  Knabe  eine  Predigt,  gewcehnlich  in  Reimen,  vorzu- 
tragen :  Nachlass  hievon,  zugleich  anklingend  au  die  Fastnachtspredigten  des  16  Jh.  (§  109,  7). 
unsre  Kinderpredigten,  ein  Spiel  mit  verdorbenem  Latein,  mit  halbbiblisehen  Namen  und 
Geschichten,  mit  Kettenreimen:    das  deutsche  Kinderbuch   von  Simrock  74  fgg.         15)  Die 


156 


NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT. 


XVH  JAIIKll. 


8 


113 


die  der  gcmciue  Mann  sich  an  den  Ecken  der  Stnissen  und  auf  Julirmärkten 
kauft.  Ursprünglich  sind  insgcsammt  auch  sie  von  (Jelehrten  verf'asst  und 
lange  durch  alle  Stände  hin  gelesen  worden:  jetzt  dienen  sie  der  Gelehrsam- 
keit nur  noch  als  Gegenstand  des  Saminclns  und  der  wissenschaftlichen  Be- 
trachtung, sie  und  ebenso  die  Lieder,  die  Sprichwörter,  die  Ktethsel  "^ :  ein 
Merkmal  zugleich,  wie  fern  und  fremde  den  Gelehrten  das  Volk  geworden 
und  wie  auch  diess  letzte  Gut  des  Volkes  schon  im  Begriff  ist  aus  dem  Leben 
zuiück  zu  weichen. 


ersten  Naohriohten  über  die  Passionsspiele  v.  Oberammergau  brachte  Oken  im  Volksfreund 
1830:    Dubbers,  Das  oberamni.  Passionssp.    Frankf.  a.  M.  1872.  16)  Sammlungen    und 

sonstige  Behandlung  der  Volkslieder  §  95  Anf.  Die  Volksbücher  und  mit  ihnen  die  Sprich- 
wörter und  die  Raethsel  gesanmielt  von  Simrock:  die  deutschen  Volksbücher,  Frankf.  1845 
fgg.  (B.  5  Sprichw.,  B.  7  Riethsel).  Umfassende  und  ([uellenmässig  belegte  Sammlung  der 
Sprichwörter:  K.  F.  W.  Wander.  Deutsches  Sprichwörterlexicou,  V,  Leipzig  18G7  — HU.  Über 
die  Volksbücher  Görues:  Die  teutschen  Volksbücher,  Heidelb.  1807.  Über  die  Sprichwörter 
Sailkr:  die  Weisheit  auf  der  Gasse,  Augsb.  1810;  vgl.  §  111  Anf. 


DAS  SIEBZEHNTE  JAHRHUNDERT. 

§  114. 

Mit  dem  zweiten  Yiertel  des  siebzehnten  Jahrhunderts  beginnt ,  um 
noch  die  Anfangsjahrzehnte  des  achtzehnten  in  sich  zu  schliessen,  ein  zweiter 
Theil  in  dem  ersten  Zeitabschnitte  der  neuhochdeutschen  Litteratur.  Wir 
nennen  denselben  in  Kürze  das  siebzehnte  Jahrhundert. 

Nach  all  den  Beziehungen  zu  dem  Ausland  in  Süden  und  Westen,  die 
das  sechzehnte  Jahrhundert  aufgebracht  (§  94,  10  fgg.),  hatte  sich  schon, 
als  das  siebzehnte  eintrat,  das  Leben  der  Deutschen,  von  den  Höfen  bis  zu 
den  unteren  Ständen  hinab,  ganz  mit  Ausländerei  durchdrungen.  Schon 
damals,  nicht  erst  in  Folge  des  dreissigj^hrigen  Krieges.  Allerdings  hat 
dieser  das  Übel  noch  verstärkt  und  tiefer  befestigt  und  weiter  ausgedehnt: 
dass  aber  Deutschland  so,  wie  mit  ihm  geschah,  dem  Eindränge  aller  Nach- 
barvölker blossgelegt  und  zuletzt  die  zertretene  Beute  aller,  der  Bundes- 
genossen wie  der  Feinde  ward,  das  war  nur  möglich,  weil  man  schon  vorher 
sich  selber  aufgegeben,  weil  man  schon  längere  Zeit  sich  gewöhnt  hatte  auf 
alle  Fragen  des  wissenschaftlichen,  des  litterarischen,  des  geselligen  Lebens 
die  Antwort  am  liebsten  bei  den  Fremden,  in  den  religiösen  und  politischen 
Parteikämpfen  die  Unterstützung  des  Auslandes  nachzusuchen.  Augenfällige 
Merkmale  solches  Zugs  in  die  Fremde  und  der  Abhängigkeit  von  ihr  waren 
den  Zeitgenossen  selbst  die  Reisen,^  die  nun  unter  jungen  Edelleuten  und 
Gelehrten  immer  häufiger,  und  deren  Ziel  neben  Frankreich  und  Italien  nun 
seit  der  engeren  Verbindung,  welche  die  Geschicke  Friedrichs  V.  von  der 
Pfalz  mit  Engelland  geknüpft,   und  durch  den  neuen  Glanz  der  Hochschule 

§   114.     1)  Opitz  im  Aristarchus,  Bodm.  75;    Fleming  D.  Ged.  S.  202   Was  gilt  hei  uns 
ein  Mann    der    nicht   gereiset    hat?    Philanders  v.  Sittewald  Th.  2.  andres  Gesicht  Hanss 
hienüher ,    Ganss  herüber;   Logau  Sinngedichte.    Zugabe  während    des   Druckes   229.  230: 
Wackernagel,  Litter.  Geschiebte.  H.  11 


158  NEITirOCIIDEUTSCIIE  ZEIT.         XVII  JAIIRH.  §  114 

zu  Loydcn,  auch  England  und  die  Nioderlando  wurden,  und  waren  die  Modkn 
in  der  Tracht,  die  man  aus  der  Fremde  nach  der  Heimat  holte.-  Das  augen- 
talligste  aber  und  augenfällig  aucli  für  uns  noch,  weil  dieses  Merkmal  noch 
immer  litterarisch  beurkundet  vor  uns  liegt,  ist  die  Si'Uaciimp:ngeuki,  die  Un- 
sitte der  Gelehrten,  wenn  sie  überhaupt  zum  Deutschen  sich  bequemen  moch- 
ten, es  dann  ganz  zu  durchflechten  mit  Lateinischem  und  Griechischem,  die 
Unsitte  der  Hof-  und  Kriegsleute  ebenso  mit  FranzoDsischcm,  mit  Italienischem, 
mit  Spanischem  zu  prunken.  Und  das  war  nicht  erst  nach  dem  Kriege  ein 
Gegenstand  der  Klage  und  des  Spottes,^  das  war  schon  während,*  ja  vor 
demselben  in  vollem  Schwange,^  das  gleich  jenen  Reisen,  die  mit  dazu  wirk- 

Abraliam  a  S.  Clara  LB.  3,    1,    910  u.  a.  2)  Alamodo  Monsters  (Lied  von  1628,    in 

Strassburg  gedichtet,  wo  das  Unwesen  zuerst  hervortrat) :  Opel-Cohn.  Der  3()j.  Krieg,  N.  87  ; 
AUmodischer  Jahnnarck  von  l(i29,  AlmnodiscJie  Iluhelbanck,  Augsburg  1G30  (Heyses  Bücher- 
schatz), Ein  Newes  AUomodisches  Lied  von  1G31  :  Birlinger  Alem.  9,  ö5.  53.  PhilandersTh.  2, 
erstes  Ge^'n^ht  Ala  Mode  Kehrauss ;  Logau  LB.  2.  472.  2G.  479.  12.  482,  27.  484,  18.  48G,  1; 
Lauremberg  II  Schertz-Gedichte  Van  allemodischer  Kleder  Dracht.  Abr.  a  S.  Clara  a.  a.  o. 
Freilich  Harsdürfer  Gespr.  sp.  1,  95  meint  dass  die  Gegner  jeder  Kleiderveränderung 
Beltz  von  Ziegenfellen  oder  Feigenblätter  nach  Adams  erster  Kleidung  tragen  sollten.  S. 
Erich  Schmidt,  Der  Kampf  gegen  die  Mode,  in  Charakteristiken  (1888)  8.  (J3  fgg.  3)  Lau- 
remberg III  Schertz-Ciedichte  Van  allemodisclier  Sjjrake  und  Titeln;  Logau  LB.  408,  21; 
Rachel  VIII  Satire;  Simplicissimus  2,  1083  ff.:  Neukirchs  Vorrede  zu  Hoffmauswaldaus 
und  andrer  Deutschen  Gedichten  1.  Wir  leben  auch  zugleich  zu  einer  Zeit,  da  die  Deut- 
schen fast  nicht  mehr  Deutsche  seyn ;  da,  die  ausländischen  Spraclien  den  Vorzug  haben, 
und  es  eben  so  schimpß'lich  ist,  deutsch  zu  reden,  als  einen  schiceitzerischen  Latz  oder 
Wams  zu  tragen.  4)  Der  Kampf  gegen    die  Fremdwörter    entbrennt  besonders  heftig 

um  1040.     Moscheroschs  Ala  Mode  Kehrauss  enthält  das  Datum  des  21.  Juni   1041;  dariu 
ein  Stück  aus  Ein  new  Klaglied ,    Teutsche  Michel  genannt ,    wider   alle    Sprachrerderber 
(Angspurg  o.  J.") :  s.  Weimar.  .lahrb.  2.  200.     1642  erschien  (von  Rist,  der  schon   im  Klag- 
gedicht auf  Opitz  1640  gegen  Fremdwörter  geeifert)  Baptistae  Armati  ratis  thalosi  ('rr  holsati) 
Rettung  der  Edlen  TeutscJien  Hauptsprache  gegen    die  Sprachmengerei    der  Soldaten    und 
Adligen ;  1043  Der  Vnartig  Teutsclier  Sprachrerderber  von  unbekanntem  Verfasser,  der  die 
gleiche  Neigung  bei   Kaufleuten  und  Studierten   nachweist;    eine  Schrift,    die  mehrmals  um- 
gearbeitet, als  Neice  aussgeputzte  Sprachposaun  an  die  Vnartigen  Teutschen  Sprachver der- 
ber 1648  gedruckt  wurde  und  noch  1650  zu  Cölu  in  Jo.  Cocay  Teutscher  Labyrinth.  Sampt 
einem  Poetischen  Lusthringer  und  Teutsclien  Sprachverderber  erschien.     Aus  dem  Jahre  1648 
stammt  auch  die  zu  Frankfurt  gedruckte  Welie-klag  Dess  alten  Teutsclien  Michels  Vber  die 
^\^ /    Ällamodisclie  Sprachverderber.     Vgl.  auch  §  116,  3.     Hauptbeispiel  der  Sprachmengerei  das 
\    /  \^Austspiel  Horribiücribrifax,  das  Audr.  Gryphius  zwar  für  die  Veröffentlichung  frühestens  \vcl 
/  \M  J.  1648  vollendet  hat,  das  er  jedoch  selbst  als  eine  „Torheitseiner  Jugend"  bezeichnet  (geb.  1616): 
•i:v\    in  diesem  ein  Gelehrter,  Sempronius,  der  mit  griechischen  und  lateinischen  Brocken,  ein  Kriegs- 
.       mann,  Daradiridatumtarides,  der  mit  franzoesischen,  ein  andrer,  Horribiücribrifax,  der  mit  ita- 
"^     lienischen  um  sich  wirft.         5)  Latein  und  Frauza^sisch  in  den  Liedern  von  Nicolaus  Zaugius 


.vv 


§114  FRUCHTBRINGT:NDE  GESELLSCHAFT.  159 

ten ,  hatte  seinen  Anfang  schon  im  sechzehnten  Jahrhundert  genommen 
(§  94,  24  fgg.  33  fgg.). 

Zum  Glücke  jedoch  waren  nicht  aUe  Gelehrten  so  geschmacklos  ge- 
lehrt und  so  undeutsch,  noch  gaben  sich  alle  Fürsten  und  Staats-  und  Kriegs- 
männer so  gedankcn-  und  gewissenlos  der  Fremde  hin.  Ja  es  konnte  gerade 
jetzt  die  deutsche  Litteratur  einen  neuen  Aufschwung  nehmen,  dessen  Wir- 
kung bis  auf  den  heutigen  Tag  sich  fort  erstreckt,  und  diese  Erneuerung, 
so  grossen  Einfluss  auch  die  Litteratur  des  Auslandes  auf  sie  übte,  so  gewiss 
geschah  sie  doch  nur  aus  übermächtigen  Regungen  der  Vaterlandsliebe  und 
war  in  ihren  Anfängen  wesentlich  als  eine  Gegenwehr  gegen  die  Ausländerei 
in  Sitte  und  Sprache  gemeint.  Und  das  Hauptergebniss  dieser  Bestrebungen, 
die  Reinheit  der  dichterischen  Sprache  kam  auch  der  nächsten  Folgezeit  zu 
Gute,  als  das  politische  Übergewicht  Frankreichs  mehr  und  mehr  hervortrat,*^ 
als  das  Vorbild  des  glänzenden  und  leichtfertigen  Hofes  von  Yersailles  die 
meisten  deutschen  Fürsten  blendete  und  verlockte, '  und  selbst  unter  den 
Schriftstellern  sich  die  Überzeugung  verbreitete  dass  es  hauptsächlich  darauf 
ankomme  in  deutscher  Sprache  und  Dichtung  das  zu  leisten  was  dem 
franzoesischen  Muster  entsprach.^  Auch  riefen  jetzt  die  herabsetzenden  Ur- 
theile  der  Franzosen  über  die  Geistlosigkeit  der  Deutschen,  wie  namentlich 
das  des  Jesuiten  Bouhours,'^  zornige  Abwehr  hervor. 

Schon  im  Jahre  1617,  dem  Jahre  vor  Beginn  des  grossen  Krieges, 
ward  zu  Weimar  von  einigen  Fürsten  des  Anhaltischen  und  des  Weimari- 
schen Hauses  und  einer  Anzahl  Adliger  (einer  derselben,  Caspar  von  Teut- 
LEBEN,  hatte  zuerst  die  Sache  angeregt)  ein  Verein  gegründet,    der  sich  die 

1611:  Hoffmanns  deutsche  Gesellschaftslieder  X.  45;  in  dem  Weihnachtsspiele  von  Job. 
Seger  1613  (Reden  der  Teufel):  Gottscheds  Vorrath  1,  172.  Tadel  und  Parodie  in  Opitzens 
Aristarchus  1617  und  dessen  Poeterei  1624,    Bodm.  76  tgg.  u.  36.  6)  Vom  Münster- 

schen  und  dem  pyrenseischen  Frieden  an  rechnet  Leibniz,  Ünvorgreifl.  Ged.  26,  die  Zeit. 
in  welcher  das  deutsche  Nationalgefiihl  sich  schwächer  und  stumpfer  gegen  die  Anerkennung 
der  fremden  Ü^berlegenheit  wehrte.  Leibnitz  seihst  geisselt  auch  dichterisch  die  Nachahmer 
der  Franzosen  und  kündigt  den  Grossen  die  für  sie  besonders  unheilvolle  Verbreitung  dieser 
Vorliebe  im  deutschen  Volke  an.  7)  Für   einige  protestantische,  insbesondere  für  den 

preussischen  Hof  waren  die  Kefugies,  welche  die  Aufhebung  des  Edicts  von  Nantes  168.5 
nach  Deutschland  führte,    die  Vermittler   der  neueren  französischen  Bildung.  8j  Chr. 

Weise,  Curiöse  Gedanken  von  deutschen  Versen  S.  135  will  freilich  selbst  in  Versen  die 
franzoesischen  AVörter,  welche  von  den  Deutschen  gleichsam  in  ihr  Bürgerrecht  genom- 
men worden,  als  affection,  courage,  servtteur,  nicht  ganz  ausmerzen:  aber  ei-  nimmt  selbst 
diese  Freiheit  hauptsächlich  für  die  Prosa  in  Anspruch.     Vgl.  §  116.  2.  9)  Entreti'ens 


160  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XVH  JAHllH.  §  114 

AutVcchtcrhaltiing  von  Sitte  und  Zucht,  vorzüf^lich  aber  die  Pflege  der  deut- 
schen Sprache  und  deren  Bewahrung  vor  ausländischem  Verdorbniss  zur  Auf- 
gabe setzte,  die  Fruchtbringende  Gesellschaft  oder  der  Palmenorukn.'*' 
Nach  Tcutleben  das  erste  Oberhaupt  war  Fürst  Luüwkj  von  Anhalt  (§115,  1  fg.), 
und  so  sind  auch  die  folgenden  stets  fürstliche  Personen,  sind  bis  zum  An- 
fange des  achtzehnten  Jalirliunderts ,  wo  er  wiederum  verlosch,  zahlreiche 
Edelleute  und  Gelehrte  bürgerlichen  Standes  seine  Mitglieder  gewesen.  Sol- 
ches Ansehen  und  das  Beispiel  des  Eifers,  womit  jener  Aufgabe  nachgelebt 
ward,  reizten  zum  Wetteifer,  und  die  weiteren  Jahrzelinte  sahen  noch  melir 
Verbindungen  der  Art  stiften,"  die  geschichtlich  zum  Theil  nicht  minder  be- 
deutsam geworden,  zum  Theil  auch  ohne  Spur  und  Dauer  vorbei  gegangen 
sind,  die  Aufrichtige  Tannexoesellsciiakt  16.33  (§  122),  die  Teutscii- 
GRsiNNTE  Genos.sensciiaft  1643  (§  124),  der  Blumenorden  an  »er  Pegnitz 
1644  (§  125),  der  Sciiwanenorden  an  der  Elbe  1658  (§  124),  der  letzt- 
genannte zugleich  ausdrücklich  als  „ Pflanzgarten "  für  den  Palmenordcn  be- 
stimmt: eigentlich  aber  waren  diesem  gegenüber  or  und  die  andern  alle  nur 
eben  so  viel  Aussonderungen  der  Verkehrtheit. 

Zugleich  mit  jener  fürstlichen  Fürsorge  und  gewiss  nicht  ohne  Wechsel- 
wirkung mit  derselben  ward  von  Seiten  der  Schulmänner,  der  Gelehrten  her 
auch  für  die  grammatischen  Studien  des  Deutschen,  für  dessen  schulmäs- 
sigen  wie  den  hoeheren  wissenschaftlichen  Betrieb  eine  neue  Zeit  erüff*net. 
Wolkgang  Ratichius,  ein  Holsteiner,  und  mit  ihm  Christoph  Helvicus,-  ein 
Hesse,  der  erstere  im  Jahre  1635,  der  letztere  schon  1617  gestorben,  wirk- 
ten begeistert  eifrig  darauf  hin ,  dass  alle  Schulbildung  mit  Unterricht  im 
Deutschen  und  auf  Deutsch  begonnen  würde :  Bestrebungen ,  die  einen  vor- 
züglichen Gönner  in  dem  genannten  Fürsten  von  Anhalt  und  vorzüglichen 
Beifall  an  eben  dem  Ort  erlangten,  der  die  Geburtsstätto  des  Palmenordens 
war.'-'     So   sah   denn   auch  das  Ende   des  Jahrhunderts  die  Einführung  der 

d'Ariste  et  d'Eugene,  Paris  1671.  10)  Älteres  Hauptwerk  Neu-Sprosaenäer  Pahnhnttm 

—  von  dein  Sproxscnrlen  (Georg  Neumark),  Nürnberg  1G68;  vorher  Der  Teittsehe  Palmen- 
baum D.  t.  Lohschrift  von  der  Fruchtbringenden  GeseVscJiaft  .  .  .  durch  den  Unrerdroxftenen 
(C.  Ct.  V.  Hille),  Nürnberg  1647.  lu  neuerer  Zeit  die  Geschichte  der  Fruchtbringenden 
Gesellschaft  von  Barthold,  Berlin  1848.  G.  Krause,  Der  Fruchtbringenden  Gesellschaft  ältester 
Erzschrein.  Leipzig  1855.  Bei  Logau,  der  selbst  auch  ein  Mitglied  war,  mehr  als  ein  schöner 
Spruch  über  das  Wesen  und  AVirken  des  Vereins:  Deutscher  Sinn-Getichte  Drey  Tausend  2, 
2,  26.  3,  13.  3,  6.   18.  11)  Die  8prachgpsellschaften   des  siebzehnten  .Jahrhunderts  von 

Otto  Schulz.  Berlin  1824.  H.  Schultz,  Die  Bestrebungen  der  Sprachgesellschaften  des  17.  .Jhs. 
für  Reinigung  der  deutschen  Sprache.    Göttiugen  1888.         12)  Der  Unterricht  im  Deutschen 


§  114  ALTDEUTSCHE  STUDIEN.  161 

deutschen  Sprache  in  die  Vorlesungen  der  Universitäten  (§  138).'^  Und 
jetzt,  wo  nicht  zuerst,  doch  bewusster  und  wissenschaftlicher,  als  dergleichen 
das  sechzehnte  Jahrhundert  schon  versucht  (§  93),  wiesen  Männer  wie  Mar- 
QUARD  Freher, '^  wic  Melchior  Goldast  von  Haiminsfeld,*'^  wie  Martin 
Opitz,'*"'  wie  nach  diesen  allen  und  groesser  als  sie  Franz  Junius'^  die  deut- 
schen Studien  auf  den  strengeren  Weg  der  Geschichtlichkeit,  auf  die  Alter- 
thümer  der  eigenen  wie  der  verwandten  Sprachen  des  germanischen  Stammes, 
und  wiesen  dieselben  um  so  erfolgreicher  darauf  hin ,  ^^  da  man  ihr  Beispiel 
schon  um  der  andern  Verdieoste  willen  achtete,  die  sie  als  Gelehrte,  oder 
wie  Opitz  als  der  vorderste  Dichter  der  Zeit  sich  erworben  hatten;  mit  Junius 
Namen  sind  die  ersten  Drucke  des  altehrwürdigsten  aller  germanischen  Sprach- 
denkmseler  bezeichnet,  der  Bibelübersetzung  Yulfilas  (§  8)  und  jener  Dich- 
tungen, die  zuerst  er  dem  Angelsachsen  Caedmon  zugeschrieben.^^  Zu  glei- 
cher Zeit  mit  der  Vulfilaausgabe  von  Junius  traten  auch  die  wichtigsten 
Quellen  der  nordischen  Mythologie  ans  Licht :  die  Edda  von  Snorri  und 
Stücke  aus  den  eddischen  Liedern ,  beides  durch  Peter  Johann  Resenius 
herausgegeben.     Für  Deutschland    wurden   auch   diese  Studien    durch  Daniel 

von  Eud.  V.  Kaumer  34— 40.  Henisch  1616,  Grrimin  Wb.  1 ,  xxu.  Wissenschaftlich  bedeuten- 
der als  die  beiden  genannten  ist  ihr  zeitweiliger  Mitarbeiter,  der  Naturforscher  Joachim 
JUNGIUS:  s.  Guhraaer,  J.  J.  1850.  Ave-Lallemant,  Des  J.  J.  Briefwechsel,  Lübeck  1863. 
Ders.  Das  Leben  des  J.  J.  Breslau  1882.  13)  Helwichs  Schwiegersohn  Schuppius  verlangt 

den  Gebrauch  der  deutschen  Sprache  auch  in  der  Wissenschaft :  Der  Teutsche  Lehrmeister 
LB.  761  fgg.,  insbesondere  S.  771.  779.  Die  Forderung  das  Deutsche  für  die  Wissenschaft 
auszubilden  vertritt  später  namentlich  Leibniz  LB.  3,  1,  996  fgg.  14)  Geb.  zu  Augsb. 

1565,  gest.  zu  Heidelb.  1614.  Seine  Ausgabe  Willirams  (§  38)  Worms  1631.  S.  über  ihn 
und  die  folgenden  Namen  Rud.  v.  Eaumer,  Gesch.  d.  german.  Philologie  vorzugsweise  in 
Deutschland  (München  1870).  15)  Geb.  1576   zu   Espen   bei  Bischofszell    im  Thurgau, 

gest.  zu  Giessen  1635.  Ausgabe  Tirols,  des  Winsbecken  und  der  Winsbeckinn  (§  77,  8.  11) 
in  den  Paraenetici  veteres,  Insulae  (Lindau)  1604;  ebenda  sowie  in  seiner  Ausgabe  des 
Valerianus  Cimelensis  episcopus  1601  und  in  der  Replicatio  pro  imperio  1611  noch  zahl- 
reiche Einzelanführungen  aus  der  grossen,  damals  wie  jetzt  wieder  in  Heidelberg  befind- 
lichen Liederhandschrift  §  70,  25.  16)  §  121.  Ausg.  des  Annoliedes  (§  55,  56)  Dantisci 
1639.  Und  schon  im  Aristarchus  1618  und  in  der  Poeterei  1624  mehrfache  Benutzung  des 
von  Goldast  mitgetheilten.  17)  Eigentlich  Du  Jon,  von  französischer  Herkunft,  geb.  zu 

Heidelberg  1589,  gest.  zu  Windsor  1677.  Über  sein  Leben  und  Wirken  Jac.  Grimm  vor 
der  Hymnorum  vet.  eccl.  interpretatio  theot.    Gottingae   1830.  18)  Theilnahme   für  die 

neuen  Studien,  bewährt  durch  häufige  Anführung  altdeutscher  Gedichtstelleu,  nicht  blos  in 
deutschen  Schriften,  wie  bei  Moscherosch  §  131  (vgl.  v.  d.  Hagens  Minnes.  4,  896),  sondern 
selbst  in  Arbeiten  der  classischen  Philologie,  wie  Taubmanns  Ausg.  vom  Culex  des  Virgil, 
Wittenb.  1609.         19)  Ulphilas  zu  Dordrecht  1665,  Caedmon  zu  Amsterdam  1655  gedruckt. 


1G2  NEUIIUCIIDEUTSCIIE  ZEIT.         XVII  JAIIUII.  §  115 

George  Morliof  (§  120)  nutzbar  gemacht,  wajhrend  die  auch  hier  eingreifende 
Thajtigkeit  Leibnizens  (§  138)  durch  dessen  8ecretajr  Johann  Georg  Eckhart 
fortgesetzt  ward.^°  Mehr  compilierendcr  Art  waren  die  Arbeiten  von  Jo- 
hannes  ScHiLTEU    in    Strassburg    und    seines    Nachfolgers    Johann    GEOR(i 

SCHEIIZ.*' 

§  IIa- 
Aber  man  begnügte  sich  nicht  so  mit  der  blossen  Gesinnung  und  dem 
Wollen  und  der  Wissenschaft  des  Deutschen :  unmittelbar  zu  wirksamer  Ab- 
wehr stellte  sich  dem  droliendcn  Verderben  die  Litteratur  selbst  entgegen. 
Sie  vermochte  es  bei  dem  Halt  und  dem  breiten  Grunde,  den  ihr  jene  Ge- 
sellschaften ,  voraus  der  Palmenordcn,  boten.  So  weit  deren  Verzweigung 
reichte,  und  sie  verzweigten  sich  überall  hin  ,  so  weit  auch  die  Theilnahme 
an  der  Litteratur  und  der  Anstoss  sie  zu  üben.  Und  wie  da  Schriftsteller 
bürgerlichen  Standes  mit  Edellcuten,  ja  mit  Fürsten  sich  vereinten,'  wie  durch 
solche  Vereinigung  Edclleute  und  selbst  Fürsten,  z.  B.  gleich  jener  Ludwig 
VON  Anhalt  und  eines  der  ersten  Glieder  des  Palmcnordens,  Dietrich  von  dem 
Werder,  veranlasst  wurden,  sich  auch  litterarisch  zu  versuchen,^  so  fanden 
im  Urtheile  der  Welt  und  im  Selbstgefühl  auch  die  bürgerlichen  Schriftsteller 
wiederum  diejenige  Hebung,  welche  bei  angewachsener  Häufigkeit  die  aka- 
demischen Titel  nicht  mehr  gewähi-en  konnten,  und  nun  auch  deutsche  Dich- 
ter eine  Auszeichnung ,  die  vordem  bloss  lateinischen  zu  Theil  geworden 
(§  94);  auch  solche  wurden  jetzt  gekrönt,^  bis  freilich  diese  Ehre  sich  gleich- 
falls abnützte,*  und  auch  litterarische  Verdienste  nicht  selten  mit  dem  Adels- 


20)  Historia  studii  etymologiei  linguae  Germanicae  hactenus  impensi,  Hannover  1711. 
Die  Vorarbeiten  von  Leibniz  gab  Eekhart  heraus  als  Leibnitii  CoUectanea  Etymologien 
illußtrationi  linguarum  veteris  Celticae,  Germanicae,  Gallicae  aliarumque  inservientia.  Hann. 
1717.     Vgl.  Neff,    Leibniz    als   Sprachforscher   und  Etymologe ,    Heidelberg   1871    (Progr.). 

21)  Thesaurus  Antiquitatum  Teutonicarum  III  fol.  Ulm  1726 — 28.  Schilter,  zu  Pegau  in 
Sachsen  geb.  1632,  starb  zu  Strassburg  1705;  Scherz  zu  Strassburg  geboren  1678,  starb 
ebenda  1754. 

§  115.  1)  Auf  einen  Vorschlag,  die  Fruchtbringende  Gesellschaft  in  einen  adligen  Ritter- 
orden zu  verwandeln,  antwortet  Ludwig  1648 :  'das  von  anfang  her  uml  noch,  bis  nun  in 
das  ein  und  dreyssigste  Jhar  in  der  geselschaft  wöl  erwogen  und  betrachtet  gewesen  das 
von  wegen  der  f regen  künste  wissenscJiaft  die  gelehrten  auch  edel,  sowol  als  die  erfarnen 
in   Waffen   gelmlten   werden  können   (Krause   Erzschr.  98).  2)  Von  f.  Ludwig  Fran- 

cisci  Petrarchae  Sechs  Triumphi  oder  Siegesprachten  in  deutsclie  Reime  über  gesetzet,  Koethen 
1643;    V.  d.  AVerder  §  124.  3)  Im  J.  1647,    indessen    wol  nur  zu  Scherz   und  Hohn, 

selbst  der  Nürnbergische  Sprecher  Wilh.  Weber:  "VVagenseil  de  Civitate  Noribergensi  564; 
vgl.  §  95,  42  über  den  Barbier  Vogel.  4)  Logau  2,  5,  43   Einen  zum  Poeten  krönen 


§115  LITTERATUR.  163 

briefe  bekräftigt/'  Und  noch  insofern  erwuchs  der  Litteratur  von  jenen  Ge- 
sellschaften her  eine  höhere  und  freiere  Stellung,  dass,  weil  hie  und  da  auch 
Frauen  der  Zutritt  offen  stand/'  nun  wieder  auch  Frauen,  bürgerliche,  edle, 
fürstliche,  häufiger  als  seit  langem  an  der  Litteratur  sich  betheiligen  mochten '' 
und  so  dies  Jahrhundert  gelegentlich  selbst  Dichterinnen  mit  dem  Lorbeer- 
kranze des  Kaisers  schmücken  sah.^  Durch  all  das  ward  der  ganzen  Schrift- 
stellerei  ein  verändertes  Gepräge  aufgedrückt:  die  Geistlichen  und  Schul- 
männer machten  nicht  länger  so  wie  bisher  die  Mehrzahl  aus  (erstere  waren 
schon  durch  die  Abneigung  der  Zeit  gegen  die  confessionellen  Streitigkeiten 
in  der  Litteratur  eingeschränkt),^  und  gerne  nahm,  mit  bewusster  und  aus- 
gesprochener Verachtung  dessen,  was  pedantisch  war  oder  schien, ^*^  die  Ge- 
lehrsamkeit einen  weltmännischen  Zug:    wofür   in    den  Jahrzehnten   um   das 


Hält  man  heute  für  verhöhnen.  Klage  Rachels  über  die  Vergexidung  dieser  Ehre  und  die 
daher  fliessende  Geringschätzung  der  Dichter  :  Sat.  8,  lU-i  fgg.  Ähnlich  Schupp  LB.  3,  1, 
786.  791.  5)  Das   erste  Beispiel  Opitz  §  121.  6)  In  den  Blumenorden:    Herdegens 

Histor.  Nachricht  254  u.  a.;  in  die  Teutschgesinnte  Genossenschaft,  und  hier  sogar  Frauen 
als  Vorsteherinnen  der  Zünfte,  in  die  sie  getheilt  war:  Reichards  Historie  der  deutschen 
Sprachkunst  157.  Darauf  «hnliche  Gunst  vom  Palmenorden  eingeräumt:  Neumark  179  fg. 
Dagegen  sagt  Candorin  im  Zimberswan :  Beständigkeit  halber  bestehet  der  Stvan-Orden  aus 
lauter  Manspersonen.  Auch  dass  dieser  Orden  auf  die  Gelehrsamkeit  besonders  hielt, 
schloss  die  Frauen   fast    aus.  7)  Beispiele  in   Morhofens   Unterricht    v.    d.    teutschen 

Sprache  und  Poesie  1718,  398  fgg.;  auch  im  Verlauf  unserer  Darstellung  deren  manches, 
zumal  bei  geistlicher  Dichtung.  Eine  ältere  Aufzählung  von  Zesen  LB.  2,  508  20  fgg. 
Später  von  Georg  Chn.  Lehms,  Teutschlands  galante  Poetinnen  .  .  nebst  einem  Anhang 
ausländischer  Dames.  Fkf.  a.  M.  1715.  Pischon ,  Antheil  der  Frauen  an  der  Dicht- 
kunst des  17.  Jahrb.  vdHagen  Germ.  8,  104.  8)  Herdegen  333.  337.  347  fg.  Noch 
1738  wurde  Sidonie  Zäunemann  in  Erfurt  von  der  Universität  Göttingen  zur  gekrönten 
Dichterin  ernannt  wie  kurz  vorher  eine  Frau  von  Ziegler  durch  die  Universität  Wittenberg 
die  gleiche  Ehre  erhielt  (Weimar.  Jahrb.  3,  445).  9)  Ludwig  von  Anhalt,  selbst  ein 
Reformierter,  schreibt  1647:  'Es  ist  bisher  noch  keiner  mit  dem  nahmen  eines  Calvinisten, 
sondern  als  ein  guter  Christ  in  die  geselschaft  auf  und  eingenommen  worden,  wird  auch 
hinfüro  mit  dem  Rottischen  Nahmen  keiner  eingenommen  iverden  (Krause,  Erzschr.  90). 
1646 :  'Herr  Johannes  Valentinus  Andreae,  kan ,  iviewol  dergleichen  geistliclie  noch  nicht 
in  die  Fruchtbringende  geselscJmft  gekommen,  auf  gescheltenes  ansuchen,  gar  wol  einge- 
nommen werden.  Weil  aus  seinen  erbaulichen  Schriften,  die  er  bisher  ausgelassen,  so  viel 
zu  sehen  und  zu  spüren,  das  er  sonder  Zioeiffel  einen  verträglichen  Geselschafter  in  brüder- 
licher Christlicher  liebe  geben  wird.'  (Ebenda  207).  Vgl.  Logau  LB.  2,  473,  38  fgg.  Die 
Stücke  83  und  84  in  Opel-Cohn,  30jähr.  Krieg  zeigen  die  Verbreitung  solcher  Gedanken 
im  Volk  (ersteres  ein  Strassburger  Druck,  Verf.  vermuthlich  Gottlieb  Dachtier  nach  S.  483  fgg.). 
10)  In  diesem  Sinne  bereits  die  Schulbossen,  ein  spätestens  im  J.  1624  verfasstes  Büchlein 


104  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVK  JAHRH.  §  115 

J.  1700  der  Ausdruck  galant  uUgomcin  üblich  ward."  Daher  auch  die  all- 
iniUiliclie  Abiiahmc  der  lateinischen  Dichtung,  welcher  anfänglich  auch  die 
Vertreter  der  neuen  deutschen  Litteratur  noch  einen  guten  Thcil  ihrer  Kraft 
gewidmet  hatten.'^  Eben  dieser  weltmännische  Zug  musste  jedoch,  da  ihm 
eine  Bildung  nach  moderner  Art  allein  entsprach,  den  Einflüssen  der  Fremde, 
denen  man  die  Litteratur  zu  verschlicssen  dachte,  das  Thor  wiederum  auf- 
thun,  und  immer  weiter  und  weiter  aufthmi,  und  so  geht  von  der  Stiftung 
des  Palmenordcna,  bei  der  man  Gebräuche  mid  Sinnbilder  nach  dem  Muster 
der  Crusca  zu  Florenz  einführte,'^  uud  von  den  Stiftern  und  ersten  Gliedern 
an,  die  selbst,  was  sie  dichteten,  nur  aus  dem  Italienischen  zu  verdeutschen 
wussten  (Anm.  2  und  §  118,  5),  es  geht  von  da  an  durch  das  ganze  Jahr- 
hundert gleichwie  der  eigentliche  Grund  aller  deutschen  Schriftübuug ,  eine 
nie  ermüdende  Lust  und  Fruchtbarkeit  des  Übersetzens,  zumal  aus  den  Ita- 
lienern imd  Franzosen,'^  und  ein  Streben,  das,  so  lange  ihm  die  sittliche 
Kraft  noch  innewohnt,  der  Achtung  und  fast  der  Bewunderung  werth  ist, 
den  Zwiespalt  zwischen  deutscher  Gesinnung,  deutscher  Sprache  und  welschem 
Stoffe ,  welscher  Form  ausgleichend  zu  verquicken.  Freilich  die  alte  volks- 
thüniliche  Dichtung  versank  für  dies  Jahrhundert  in  immer  tiefere  Verachtung 
und  Vergessenheit  (§  113);  ihre  letzten,  entarteten  Tra}ger,  die  Pritschen- 
meister,   deren  die  wenigen  vom  Kriege  verschont  gebliebenen  Volkslustbar- 


Zincgrefs  (§  104,  13):  die  deutschen  Sprichwörtersamnilungen  v.  Zacher  38  fgg.  Harsdörfer 
schreibt  an  Ludwig  von  Anhalt  1647  über  Schneuber  in  Strassburg:  Er  ist  Lehrer  der 
poeterei/  daselbst,  ein  hochgelehrter  Mann  und  kein  Schulfiichs.  Von  gemeinen  Schulpossen 
spricht  Hofmanswaldau  Vorr.  zu  seinen  Gedichten.  11)  M.  v.  Waldberg,  Die  galante  Lyrik 
QF.  56  (Strassburg  1885).  12)  Opitz,  Fleming,  Buchner,  Gryphius,  Lauremberg  u.  s.  w.: 
selbst  noch  Leibniz.  Dass  manche  meinten,  'es  sey  eine  schlechte  Sache  mit  der  teutsclien 
Poeterey;  man  solle  lateinische  Verse  dafür  machen,  berichtet  Rist,  Rettung  der  Teutschen 
Hauptsprache.     Vgl.  Birken  Dichtkunst  Vorr.  §  2:i.  13)  Wie  in    der  Accademia  della 

Crusca  (seit  1582)  hatte  jedes  Mitglied  des  Palmenordens  seinen  Gesellschaftsnamen  nebst 
Sinnbild  und  Wahlspruch:  Caspar  v.  Teutleben  z.  B.  zu  allernächst  nachahmend  {crusca 
Kleie)  hiess  der  Mehlreiclie,  sein  Bild  war  ein  in  den  Mahlkasten  sich  entleerender  AVeizen- 
sack,  dazu  das  Wort  Hierin  ftndt  siclis ;  Fürst  Ludwig  der  Nährende  führte  ein  Weizen- 
brot und  den  Spruch  Nichts  bessers.  Vgl.  Barthold  lü8  fgg.  —  L'ordre  de  la  Palme  d'or: 
Barth.    115.  139.  144.     H.  Schultz  (§  114,    11)  S.  19.  14)  Opitz  Poeterey  cap.  VlII : 

Eine  guete  art  der  vbung  aber  ist,  das  tcir  vns  siteweilen  auss  den  Griechischen  vnd  Lateinischen 
Poeten  etwas  zue  vbcr setzen  vornemen :  dadurch  denn  die  eigcnschaft  vnd  glantz  der  Wör- 
ter, die  menge  der  figuren,  vnd  das  vermögen  auch  dergleichen  zue  erfinden  zue  wege  ge- 
bracht wird.  Krause  Erzschrein  S.  31  'weill  bey  der  Fruchtbringenden  gesellsclmft  woll 
hergebracht  das  von  ihren  gliedern  zu  auffnehmung  vnd  enveitterung  unserer  Deutschen  land- 


§115  LITTERATUR.  1G5 

kcitcn,  Schützenfeste  u.  a.  niclit  entrathen  konnten,  wurden  für  die  neue  Ge- 
lehrtenpoesie das  Ziel  des  Abscheus  und  des  Holmes.'^ 

In  solcher  Art  denn  und  für  solchen  Fortgang  durch  ein  Zusammen- 
strömen vaterländischer  und  wachsender  fremder  Einflüsse  und  gleich  als 
Ansatz  einer  Litteratur  der  Welt,  ist  mit  dem  zweiten  Viertel  des  siebzehnten 
Jahrhunderts  die  neuhochdeutsche  Litteratur  begonnen  worden;  das  sech- 
zehnte hatte  nur  erst  die  Sprache  begonnen ,  in  Dingen  der  Litteratur  aber 
wesentlich  bloss  die  alten  Rückstände  weggeräumt  und  so  das  Feld  für  ein 
neues  vorbereitet.  Es  traf  mithin  dieser  Aufschwung  gerade  in  die  Zeit  des 
UKE ISSIG j.EHRiGEN  Krieges,  ungolähmt  dadurch,  wie  oft  auch  und  wie  schmerz- 
liche Klage  über  all  die  Schrecken  ergieng :  vielmehr,  so  lange  derselbe  noch 
ein  Kampf  um  den  Glauben  war,  hielten  sich  die  Schriftsteller  dessen  be- 
wusst,  dass  sie  mit  einzustehen  hätten  für  den  Glauben,  und  als  er  ein  Kampf 
ward  um  den  Bestand  und  die  Ehre  Deutschlands,  als  beide  mehr  und  mehr 
darniedersanken,  da  ward  es  ihnen  Pflicht,  wenigstens  das  Deutschland  der 
Sprache  und  der  Litteratur  zu  retten.  So  erwies  sich  auch  damals  die  Un- 
wahrheit des  alten  Spruches  inter  arma  silent  mnsae:  wohl  aber  begann  da- 
mals zuerst  die  Wahrheit  eines  anderen  neueren  von  den  verschiedenen 
Grenzen  des  staatlichen  und  des  schriftstellerischen  Deutschlands.'^  Und 
sogar,  wo  vielleicht  die  zerwühltesten  Striche  des  grossen  Kriegsschauplatzes 
lagen,  wo  es  am  roethesten  war  von  Blut  und  Brand,  gerade  da  am  lautesten 
singend  erhub  sich  in  die  noch  freie   friedliche  Luft   die  Lerche  der  Dicht- 

vnd  Muttersprache,  entweder  etwas  in  derselben  von  neuen  verfasset  und  gesehrieben,  oder 
aus  andern  sprachen  vbergesetzet  wirdt' :  deshalb  schickt  F.  Ludwig  einem  Mitglied  ein 
bestimmtes  Buch  zum  Übersetzen  zu.  Leibniz  Unvorgr.  Ged.  60.  Doch  war  Andr.  Gryphius 
(§  132)  grundsätzlich  dagegen,  in  der  Vorrede  zu  dem  Schwärmenden  Schäfer:  Ich,  der  ander- 
werts  zu  derogleichen  Übersetzungen  wenig  belieben  trage  (angesehen  sie  mir  nicht  minder 
Zeit  hinweg  nehmen,  und  mehr  Mühe  bringen,  als  wann  ich  ettvas  aus  eigner  Erfindung 
aufsetzte);  und  auch  Hofmanswaldau  verschmähte  in  reiferen  Jahren  (Vorrede  zu  den  Hel- 
denbriefen §  133)  diese  „dienstbare  Arbeit".  15)  Über  die  Pritschenraeister  schelten 
Buchner,  Tscherning  Bedenken  S.  37,  Zesen  Heliconische  Hechel,  Sacer  (§  120,  32).  Hof- 
manswaldau Vorrede  zu  seinen  Gedichten;  vgl.  auch  W.  Scherffer  S.  665  von  dem  ungelieuren 
Joch  der  alten  Fritsch-JReimen ;  Schirmer  Auf  einen  Pritzscher ;  Gryphius  P.  Squentz  3.  Auf- 
zug; Menantes,  Der  thörichte  Pritschmeister,  Ein  Lustspiel  1704.  Daher  auch  die  Ver- 
achtung des  Hans  Sachs,  den  man  für  einen  Vertreter  dieser  Pritschmeisterpoesie  hielt.  §  113,  7. 
16)  Schillers  Xenion  (53  bei  Boa»-Ma\tznhn)  Deutschkmd i'  Aber  wo  liegt  es'^  Ich  tveiss  das 
Land  nicht  zu  finden.  Wo  das  gelehrte  beginnt,  hört  das  politische  auf.  Daher  auch  das 
Weltbürgerthum,  welches  in  Leibniz  sich  mit  deutschem  Nationalgefühl  verbindet,  in  andern, 
wie  dem  Polyhistor  Conring  zu  Helmstadt,  sich  zu  vaterlandsfeindlichem  Wirken  im  Solde  Lud- 


16Ö  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVH  JAHRH.  §  115 

kunst.  Im  sechzehnten  Jahrhundert  hatten  die  südwesthchen  Lande,  die 
Schweiz,  der  Oberrlicin,  an  der  Littoratur  noch  reichlich  mitgewirkt  und  der 
Oberrhein  schon  damals  unter  welschem  Einfluss  (§  104):  jetzt  aber  wendete, 
an  die  oberrheinischen  Vorgänge  nur  durch  den  ersten  Anstoss  der  Bewegung 
angeknüpft  (§  122),  das  litterarische  Leben  sich  ausschliesslich  dem  Nord- 
osTKX  zu ;  —  der  Süden  verstummte,  auch  der  evangelische  Süden,  wie  der 
katholische  schon  der  Reformation  gegenüber  verstummt  war ,  auch  die 
Schweiz,  um  erst  nach  langem  wieder,  erst  nachdem  der  westfälische 
Frieden  ihre  thatsächliche  Trennung  von  dem  Reiche  zu  einer  rechtlichen 
gemacht,  und  auch  da  zuerst  nur  mit  schüchtern  einzelnen  Versuchen  die 
alte  Volkseinheit  dennoch  kund  zu  thun;  —  dem  Nordosten,  d.  h.  zugleich 
dem  Muttersitze  der  Kirchenbesserung  und  der  mit  ihr  verbundenen  neuen 
Sprachschöpfung. '^  Damit  war  entscheidend  für  immer  der  prote-stantische 
Sinn  der  neuhochdeutschen  Litteratur,  und  in  ihr  und  durch  sie  die  Herr- 
schaft der  Sprache  Luthers  festgestellt.  Mochten  auch,  was  letzteren  Punkt 
betrifft,  bewusst  oder  unbewusst  noch  landschaftliche  Abweichungen  von  der 
eng  obersächsischen  Art  mit  unterlaufen,''*  wie  selbst  bei  dem  ersten  Dichter 
der  Zeit,  bei  Opitz,  uns  dergleichen  entgegentritt,'^  mochte  sich  auch  der 
überlieferte  Wortvorrath,  sei  es  durch  dichterische  Neubildung  (vgl.  §  120), 
sei  es  selbst  durch  Entlehnung  aus  Mundarten,  noch  so  reichlich  mehren, 
jene  Grundlage  blieb  dennoch  fortan  unverrückt  und  ward  an  Oder  und 
Elbe,  an  Pleisse  und  Pegnitz  gleich  grundsätzlich  beachtet.  Alles  wirkte 
zusammen ,  um  jetzt  zu  vollenden,  was  Bibel  und  Kirche  schon  im  vorigen 
Jahrhundert  begründet  hatten,    die  Übung   je   der   besten  Schriftsteller,    der 

wigs  XIV  verirrt.  17)  Gottsched  bemerkte  Spraohkunst^  (1749)  S.  46:  Der  Sitz  der  dcut- 
scJien  Gelehrsamkeit  ist  seit  der  Glauhensr einig ung  nach  Obersachsen  gewandert.  Nicht  icenig 
luxt  auch  der  aus  Frankfurt  am  Main  grösstentheils  nach  Leipzig  gezogene  BücherJuindel 
dazu  beigetragen.  (Socin.   Stbriftsprache    und  Dialecte  S.  375).  18)  Ausstellungen  schon 

des  17.  Jahrhunderts  am  Obersächsischen,  die  jedoch  nicht  sowohl  der  Sprache  als  nur  der 
Aussprache  gelten.    §  93,  35.  19)  Z.  B.  die  Reimbindung  solcher  Worte  wie  können, 

gönnen  (gesprochen  kinnen ,  ginnen)  und  sinnen,  rinnen  LB.  2.  386.  10.  395,  13.  398,  9. 
402,  10.  403,  10.  die  den  schlesischen  Dichtern  überhaupt,  und  nach  Opitzens  Vorgang  auch 
anderen,  wie  Fleming  (ebd.  435,  34)  unanstössig  ist.  Vgl.  AVeinhold  M.  Opitz.  Kiel  1862 
S.  31  Anm.  24.  Opitzens  Freiheit  tadelt  Buchner  in  seinem  Wegweiser:  Schottel  vertheidigt 
sie.  Titz  nimmt  sie  auch  für  sich  in  Anspruch.  Tscherning  Unvorgr.  Bed.  82  verweist  die 
Tadler  Opitzens  auf  Flemmings  Reim  kreucht  :  steigt  u.  a.  Harsdörffer  Trichter  1650  8.  3b 
erinnert  daran,  dass  auch  bei  den  Griechen  ein  jeglicher  Poet  nach  seiner  Mundart  geschrieben. 
Ausdrücklich  bemerkt  Logau  in  der  Vorrede  zu  seiner  groesseren  Sammlung,  dass  die  En- 
dungen der  Reime  zusammenstimmen  nur  nach  unserer  Mundart,  wo  sie  geschrieben.     Noch 


§  116  SPRACHE  LUTHERS.     PROSA.  167 

Einfluss,  der  von  ihnen  aus,  vermittelt  dui'ch  jene  Gesellschaften,  weiter  in 
alle  Kreise  auch  des  weltlichen  Lebens  gieng,  die  Lehre  endlich  der  Gram- 
matiker, welche  nun,  voran  Ratichius,^"  einmüthig  die  Sprache  Luthers  oder 
wesentlich  in  gleichem  Sinn  und  nur  mit  anderem  Ausdruck  das  Obersäch- 
sisclie  als  die  einzige  Richtschnur  des  Deutschen  anerkannten.^^  Selbst  der 
Gebrauch  der  Mundart  zu  scherzhaften  Dichtungen--  bestätigt  durch  den  darin 
ersichtlichen  Zweck  komisch  zu  wirken  nur  die  alleinige  Giltigkeit  der  Schrift- 
sprache; ebenso  wie  das  Studium  der  Mundarten  bei  Grammatikern  wie 
Schottel  (§  120),  gerade  die  Regel  der  Schriftsprache  festzustellen  half. 

§  116. 
Ganz  aber  und  eigentlich  gilt ,  was  von  der  Litteratur  des  sieb- 
zehnten Jahrhunderts  ist  gesagt  worden,  nur  von  der  Poesie  derselben, 
nicht  so  von  der  Prosa.  Diese  war  schon  räumlich  weiter  ausgedehnt  und 
es  nahmen  an  ihr,  wenn  auch  nicht  die  Schweiz,  doch  z.  B.  das  Elsass  und 
sonst  die  oberrheinischen  Lande  theil:  wohl  eine  weitere  Yersamung  der 
Blüthe,  zu  der  im  vorigen  Jahrhundert  die  Prosa  gerade  hier,  voraus  durch 
Fischart  gediehen  war  (§  112).  Im  übrigen  aber  kehrte  sich  das  Verhält- 
niss,  das  zwischen  Poesie  und  Prosa  damals  bestanden,  jetzt  völlig  um.  Das 
sechzehnte  Jahrhundert  hatte  reichlich  eben  so  viel  Prosa  als  Poesie ,  wo 
nicht  der  ersteren  noch  mehr  gehabt;  jedenfalls  lag  auf  dieser  Seite  der 
Litteratur  der  Vorzug  einer  höheren  Entwicklung.  Jetzt  dagegen,  und  es 
sollte  so  von  jetzt  bis  um  die  Mitte  des  achtzehnten  Jahrhunderts  bleiben, 
trat  die  Prosa  wiederum  zurück:  die  Mehrzahl  der  Talente  und  die  grösseren 
Talente  und  die  grössere  Fruchtbarkeit  fielen  der  Dichtkunst  zu,  und  die 
Prosa  theilte  keineswegs  all  deren  Fortschritte :  hier  wich  die  Sprachmengerei, 
da  willenlos  träge  Gewöhnung^   und   selber  Grundsatz   sie   behauptete,^  dem 

Canitz  reimt  kömmt  :  bestimmt.  20)  §  114,  8.     Raumer  a.  a.  0.  39.  21)  Raumer 

44.  45.  49.  54.  57:  vgl.  §  93,  34.  22)  Weckherlins  derbes  schwäbisches  Lied  bei  einem 
fürstlichen  Aufzug  (1618)  ist  Bauern  in  den  Mund  gelegt :  Gödekes  Auswahl  S.  327.  Ähn- 
liches für  Altenbnrg  von  Schoch  gedichtet  (Hundert  Lieder.  1660  S.  54):  in  Schlesien  von 
Scherffer  S.  581.  Ganz  besonders  aber  in  Niederdeutschland,  vgl.  Lauremberg  §  130,  und 
die  im  Anhang  der  Ausgabe  von  Lappenberg  mitgetheilten  Hochzeitsgedichte:  denn  gerade 
bei  solchen  Gelegenheiten  war  die  Mundart  beliebt.  Hchwiger  Liebesgrillen  mischt  hambur- 
gische Dialectproben  ein.  Über  das  Niederdeutsche  im  Drama  s.  die  §  137,  29  angeführten 
Schriften  von  Gaedertz.  Gryphius,  Die  geliebte  Dornrose,  gebraucht  die  schlesische  Mundart: 
Moscherosch  Gesichte,  Ander  Teil,  bietet  elsässische  und  lothringische  Proben. 
§   116.        1)  Vgl.  Leibnitz  LB.  3,  1,  997.  2)  Z.  B.  Morhofens  Unterricht  v.  d.  teut- 

schen  Spr.  u.  Poesie  597  fgg.  (Ausg.  1718)  Lateinische   und  Frantzoesische  Wörter  haben 


1G8  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVU  JAHRH.  §  IIG 

besseren  Streben  nicht  so  allgomeiii ,  und  weehrend  die  Dichter  Sorgfalt  auf 
den  Stil  zu  verwenden  pflegten  und  gern  ausgiongen  auf  leichte  Gefälligkeit, 
hielten  die  Prosaiker  meist  auch  die  grceste  Nachlässigkeit  für  gestattet,  oder 
übertrugen  auf  alles  die  steife  schleppende  Darstellung,  die  in  den  Caxzeleien 
sich  gebildet  hatte:  denn  das  Deutsch  der  Canzleien,  so  unnütz  und  ohne 
Mass  auch  gerade  dieses  mit  Fremdem  versetzt  ward,^  galt  von  Alters  her 
noch  immer  als  mustergebend.*  An  solcher  Schwerfälligkeit,  solcher  Un- 
deutschheit  der  Sprechweise  gieng  namentlich,  die  so  schoen  begonnen  (§  108), 
die  GEscmcHTsscHREiHrNVi  aufs  neu  zu  Grunde :  kein  Werk  derart  von  irgend 
welcher  höheren  Vollendung  lässt  sich  bis  an  den  Ausgang  dieses  Zeitab- 
schnittes namhaft  machen;  es  gieng  daran  auch  zu  Grunde  die  Beredsamkeit, 
die  geistliche  sowohl ,  die  sich  ebenfalls  schon  so  hoch  erschwungen  hatte 
(§  109),  als  die  weltliche,  auf  die  man,  wie  es  scheint,  zuerst  jetzt  verfiel: 
es  ward  an  den  Hoefen  Sitte  feierlich  öffentliche  Handlungen,  Bundesgesuche 
und  Vertrage  und  Brautwerbungen  wie  Leichenbegängnisse  unter  Abhaltung 
wohl  ausgearbeiteter  Staatsreden   zu    vollziehen.^     Zumeist   aber   dahin    sank 

in  einem  ernstluiften  carmine  und  in  einer  abgemessenen  rede  keinen  platz.  In  Discoursen 
(welches  Wort  auch  durch  kein  Teutsches  recht  aussgedrücket  icerden  kan)  in  Brieffen,  in 
politischen  Schrifften,  wird  man  gezwungen,  dieselben  zu  gebraucJien,  denn  es  kan  bissiceilen 
viel  nachdencklicher  dadurch  gegeben  icerden  u.  8.  f.  3)  Vgl.  §  94,  24.  "Weckherlins 
Erklärung  an  einige  canzleihenen  1G15  (Güdeke.  Auswahl  Xr.  fJl):  insbes.  Str.  2  Ihr  mischet 
teutsch,  welsch  und  latein,  doch  keines  rein,  weil  eure  kunst  ihr  nicht  gern  wolt  verhehlen, 
vnd  sprechet  mir  zu  weiser  schmach  dass  ich  Verderb  die  deutsche  sprach  weil  fremde  wort 
ich  nicht,  ivie  ihr,  mag  quälen.  Dies  gemischte  Kanzleideutsch  wird  von  Maximilian  von 
Baiern  1624  noch  misstallig  bemerkt:  Bartholds  Fruchtbr.  Gesellschaft  62:  dagegen  sagt 
gerade  in  Bezug  aui'  Fürstlielie  Cantzleyen  Moscherosch  im  Ala  mode  Kehrauss  (ISittewald 
Th.  2,  Gesicht  1):  Die  Herschafften  )neynen  nicht  dass  ein  Diener  was  wisse  oder  gelernt 
Juibe ,  wan  er  seine  Schrifften  nicht  dergestalt  mit  Wälschen  und  Lateinischen  Wörtern 
ziere  vnd  schmücke.  Vnd  geschieht  offt,  dass  ein  gut  Gesell,  der  sich  dess  puren  Teutschen 
gehraucht,  vnd  solcher  vnteutschen  Beden  sich  mit  allem  fleiss  müssiget  vnd  enthaltet,  für 
einen  vnverständigen  Esel  gescholten,  oder  wohl  gar  abgeschafft ,  vnd  an  seinem  Glück  loird 
verkürtzet.  4)  §  93.  3:  Canzeleistil  des  Stadtschreibers  von  Speier  Lehman  1612.  §  108, 
35.  5)  Bei  Schuppius  an  verschiedenen  Orten  mehr  als   ein   Teutscher  Cicero  der  Art 

genannt,  z.  B.  LB.  3,  1,  774.  Zwei  Kanzler  in  Königsberg,  jeder  als  preussischer  Cicno 
bezeichnet:  N.  Preusg.  Prov.  Bl.  1853  S.  293.  Seiner  Zeit  der  berühmteste  Veit  Ludwig 
V.  Seckendorf.  in  Diensten  zuerst  sächsischer  Herzoge,  dann  des  Kurfürsten  von  Branden- 
burg, gest.  1692:  Deutsche  Reden  (44)  Leipz.  1686.  1691.  Zwölfbändiges  Sammelwerk  von 
Lünig:  Reden  grosser  Herren,  vornehmer  Minister  und  berühmter  Männer,  Leipzig  1719  fgg. 
Ein  Muster  im  Kleinen  bietet  die  Friedensrede,  welche  Diederich  von  dem  Werder  durch 
seinen  fünfzehnjährigen  Sohn  Paris  1639  zu  Cüthen  und  anderswo  halten  Hess:  Wittkowski 
D.  V.  d.  W.  126. 


§  117  LYRIK.  169 

die  LEiiRiiAFTp;  Prosa;  sie  ward  am  wenigsten  auch  geübt:  hier  kam,  und 
das  war  zuletzt  besser  als  die  sonst  beliebte  Sprachenmischung,  der  Gebrauch 
der  allgemeinen  Gelehrtensprache  wieder  zur  Oberhand,  oder  man  zog  dem 
Deutschen  die  neue  Sprache  der  Welt,  die  franzcesische  vor  :  Hauptbeispiel 
Leibniz  (§  138).  Wo  allein  noch  Fruchtbarkeit  und  eine  fort  und  fort  sich 
steigernde  herrschte,  wo  auch  dem  Eifer  nicht  ganz  die  Erfolge  fehlten,  das 
war  der  Roman,  die  Art  der  Prosa,  die  ihrem  Wesen  nach  unmittelbar  an 
die  Dichtkunst  grenzt :  hier,  aber  hier  allein  auch,  kam  man  hinaus  über  die 
Vorgänger  des  sechzehnten  Jahrhunderts.  Zwar,  was  den  Stil  betrifft,  stand 
der  Roman  fast  durchweg  hinter  der  gebundenen  Dichtung,  und  hier  zumal 
Hess  man  sich  gern  nachlässig  gehn:  sonst  jedoch  hat  diese  Prosa  in  leben- 
diger Weise  Schritt  gehalten  mit  all  den  Entwicklungen,  welche  die  Poesie 
und  welche  das  ganze  Geschmacks-  und  Sittenleben  der  Zeit  durchlief.  Deshalb 
wird  die  weitere  Darstellung  wohl  von  ihr  noch  öfters ,  von  der  lehrhaften, 
der  rednerischen,  der  geschichthchen  nur  wenig  mehr  zu  handeln  haben. 

§  117. 
Auf  der  Poesie  also  liegt,  wie  für  die  mittelhochdeutschen  Jahrhunderte, 
so  für  dies  zweite  der  neuhochdeutschen  Zeit  das  Hauptgewicht.  Hier  aber 
nahm,  aus  mehr  als  einem  Grunde,  den  vordersten  Rang  die  Lyrik  ein. 
Weniger  weil  etwa  noch  die  Verbindung  mit  der  Musik  sie  belebt  und  dem 
Leben  empfohlen  hätte:  diese  Verbindung  ward  ausserhalb  des  Kirchenliedes 
je  länger  je  mehr  aufgehoben  (§  104,  10),  überall  anderswo  galt  der  Gesang 
fast  nur  noch  als  eine  MögUchkeit,  als  ein  Zufall,'  und  Schreiben  und  Lesen 

§  117.  1)  Die  Lyrica  oder  getichte  die  man  zur  Music  sonderlich  gebrauchen  Jean 
Opitz  LB.  3,  1,  627;  vgl.  639.  Auch  sind  Odeu  von  Opitz.  Rist  u.  a.,  z.  Th.  auf  die  Me- 
lodien beliebter  französischer  oder  niederländischer  Lieder  gedichtet ,  nach  glaubwürdigen 
Zeugnissen  wirklich  gesungen  worden:  §  121,  18.  Selbstverständlich  gilt  dies  auch  von 
dramatischen  Stücken,  bei  denen  zuweilen  auch  die  Begleitung  bemerkt  wird:  W.  Scherffer 
Buch  II  Meijen- Sarabande  .  .  mit  Musik.  B.  V.  Corydon  und  Lesbia  Vermälimg  .  .  zur 
Viol  di  Gamba  dargebracht.  Zu  den  Liedern  von  Rist,  Neumark,  Zesen  u.  a.  sind  die  Noten 
mit  abgedruckt;  bei  Lund  und  Brehme  wird  gelegentlich  eine  Weise  angegeben,  nach  welcher 
das  Lied  zu  singen  sei.  Die  für  die  Sangeslust  insbesonders  der  akademischen  Jugend  be- 
stimmten Liederbücher  des  17.  .Jahrh.  nehmen  zu  den  vereinzelt  noch  weiter  eeführteu  alten 
Volksliedern  solche  der  Kuustdichter  auf.  So  liat  in  Tugendhaff'ter  Jungfrauen  und 
Jungengesellen  Zeit-Vertreiber  D.  i.  Neilvermehrtes  .  .  Weltliehes  Liederbüchlein,  o.  0.  u.  J. 
Meusebach  im  Exemplar  der  Berliner  Bibliothek  Lieder  f(dgender  Dichter  vermerkt:  Opitz 
(.§  121),  Rist,  Gabriel  Voigtländer,  Schoch,  Schein,  Göring,  Schirmer,  Greflinger,  Albert, 
Fleming,  Hass.  Schwieger.  Zesen  ,  s.  Hayn  im  Serapeum  1870.  S.  195  fgg.     In  Cocay  Teilt- 


170  NEIIIIOCÜDEUTSCIIE  ZEIT.         XVII  JAHItll.  §  117 

war  jetzt  der  Weg  zur  Mitthoiliing  uiul  Wi(ulcrscliöpfunf;  eines  Liedes,' 
Sondern  weil  es  die  Lyrik  war,  die  schon  im  scch/chnten  Jahrhundert  mit 
der  jetzt  herrschenden  Mischung  deutscher  und  fremder  Dichtweise  den  An- 
fang gemacht  (§  95,  104);  weil  die  Dichter  des  Südwestens,  aus  deren  Boden 
jetzt  die  Kunst  dem  Nordosten  zuwuclis,  eben  auch  Lyriker  gewesen  waren 
(§  104,  7  fgg.)j  weil  diese  Diclitart  mit  ihren  leichteren,  schneller  vorühcr- 
gchendon  llervorbringungen  am  ehesten  geeignet  schien ,  bloss  der  Lust  und 
Erholung  zu  dienen  und  Stunden  gelegentlicher  Müsse  auszufüllen:  die  bes- 
seren Dichter  aber  wollten  ihre  Kunstübung  nur  so  betrachtet ,  so  betrieben 
wissen  f  weil  endlich  in  ihr  mehr  als  in  den  andern  Arten  das  Dichten  sich 
ablöst  von  der  Aussenwelt,  weil  in  sie  das  Gemüth  sich  gleichsam  aus  der 
Wirklichkeit  hinaus  zu  flüchten  vermag,  weil  sie  am  wenigsten  durch  Yolks- 
thümlichkeit  bedingt  ist,  weil  sich  in  ihr  der  Mensch  für  sich  allein  und  so 
auch  nur  das  allgemein  Menschliche  in  ihr  ausspricht.  Und  grade  solch  ein 
Dichten  ward  gefordert  und  gefördert  von  einem  Zeitalter  wie  diesem,  wo 
die  Wirklichkeit  in  der  That  nichts  Fesselndes  besass  und  den  Dichtern  der 
letzte  Halt  des  Volkslebens  unter  den  Füssen  morsch  zusammenbrach;^  schon 


scher  Labyrinth  .  .  sampt  einem  Poetischen  Lustbrinf/er ,  Köln  16.50.  begegnen  Gedichte 
von  Opitz  und  Fleming.  Im  Venusgärtlein,  Hamburg  IG.öt»,  finilen  «leh  Lieder  von  Rist 
und  (irefliuger,  in  Gantz  'neuer  Hans  Guck  in  die  Welt,  D.  i.  Neuvennehrte  weltliche  Lust- 
Kammer,  0.  0.  u.  J.,  solche  von  Rist  und  Opitz:  und  eben  diese  werden  ihrer  Melodien 
wegen  angeführt:  Gesechste  Tugend-  und  Laster-Eose  oder  Jungfräulicher  Zeitvertreiber., 
von  Constans  Holdlieb,  1G65  Nürnberg.  Dass  die  kunstmüssigen  Lieder  ins  Volk  drangen, 
bezeugt  auch  Schoch  Vorr.  xu  Hundert  Schäfer-Lieder ,  mit  besonderem  Bezug  auf  Finckelt- 
haus  und  Schirmer:  s.  die  Stelle  in  "NValdberg,  Deutsche  Renaissancelyrik  (Berlin  1888)  S.  41. 
Zur  Verbreitung  dienten  insbesonders  auch  die  Einzeldrucke  dieser  Lieder,  von  denen  Mense- 
bach  a.  a.  0.  mehrere  anführt.  Vgl.  auch  Opitz  §  121,  18.  Von  der  Gewöhnung  ohne  Rück- 
sicht auf  die  Musik  und  von  der  Beschwerlichkeit  mit  Rücksicht  auf  sie  zu  dichten  spricht 
des  breiteren  Morhof  in  seinem  Unterricht  von  der  teutschen  Sprache  und  Poesie  cp.  15. 
2)  Vgl.  die    Überschriften  Weckherlins    und    Zincgrefs    LB.  2,    352.    365.  3)  Weise 

Curiüse  Gedanken  von  Deutschen  Versen  (1692)  II  S.  13  Also  mrd  die  Poeterey  eestimirt, 
wenn  der  Mann  etwas  anders  darneben  hat,  davon  er  sich  bey  Mitteln  und  bey  Eespect 
erfüllten  kann,  was  an  dem  Beispiel  verschiedener  Dichter  nachgewiesen  wird.  Lohenstein 
sagt,  wer  nur  Poesie  treibe,  sei  dem  zu  vergleichen ,  der  ein  Kleid  nur  von  Spitzen  trage. 
Die  in  der  Poesie  gross  zu  werden  gedenken,  meint  1697  Neukirch  in  der  Vorrede  zu 
Hoffmanswaldaus  und  andrer  Deutschen  Gedichten  1 ,  müssen  entweder  selbst  mittel,  oder 
doch  auskömtnlichen  unterhalt,  7ind  zum  wenigsten  bey  ihren  amtsgeschäfften  die  freylieit 
haben,  dass  sie  drey  oder  vier  stunden  des  tages  verschwenden  dürffen.  Daher  tragen  die 
Gedichtsammlunoren  um  17(X)  vielfach  Titel  wie  Nebenstunden,  Luststunden  u.  ä.  Wald- 
berg  QF.  56.  18.  4)  Der  Krieg  sei  der  deutschen  Poesie  günstig  gewesen,  weil  inmitten 


§  117  LYRIK.  171 

damals  galt,  was  ein  späteres  Wort'^  den  Deutschen  angerathcn,  sich  freier 
zu  Menschen  zu  bilden,  da  zur  Nation  sich  zu  bilden  nicht  melir  vergönnt 
sei.  Wenn  aber  auch  nicht  dieses  höher  menschlichen  Strebens,  so  waren 
die  Dichter  sich  dessen  doch  ganz  wohl  bewusst,  dass  ihre  Lieder  nichts  als 
ein  Spiel  mit  Unwirklichkeiten ,  nur  eine  gelehrte  oder  künstlerische  Übung 
im  Erfinden,  dass  die  Namen  nur  Namen,  die  Worte  nur  Worte,  die  Em- 
pfindungen ohne  Eigenheit  und  Wahrheit  wären.®  Daher  die  Möglichkeit, 
auch  auf  Bestellung  anderer  zu  dichten; '  daher  ein  Hauptverdienst  in  all 
den  Kunstgriffen  des  Redeschmuckes,  namentlich  in  der  Verzierung  mit  Bei- 
wörtern gesucht  ^  und    kein  Unrecht   in    der  Entlehnung  solches   Schmuckes 

seiner  Glut  und  Verwüstung  hochbegabte  Gemüther  in  deren  Ausbildung  Ruhe  gesucht  und 
gefunden  hätten :  Schreiben  Dilherrs  an  Harsdürfer  vom  Jahre  164G  hinter  dessen  Poetischem 
Trichter  1.  Verlust  von  Gedichten  gelegentlich  der  Verwüstungen  des  Krieges  beklagen 
Weckherliu,  Rist,  Logau.  5)  Goethe,    Hempels  Ausg.  3,  253.  ö)  Opitz  selber  in 

der  Zuschrift  seiner  Gedichtsammlung  1625:  Sie  wissen  nicht,  und  wollen  nicht  tvissen, 
dass  in  solcJien  Gedichten  oft  eines  geredet,  und  ein  anders  verstanden  tvird,  ja  dass  ihm 
ein  Poet  die  Sprache  und  sich  zu  üben  wohl  etwas  vornimmt,  welches  er  in  seinem  Gemüthe 
niemals  meinet;  ivie  denn  Asterie,  Flavia ,  Vandala  und  dergleichen  Namen  in  diesen 
meinen  Büchern  nichts  als  Namen  sind,  und  so  wenig  für  xvahr  sollen  azifgenommen  wer- 
den, so  wenig  als  glaublich  ist,  dass  der  Göttliche  Julius  Scaliger  so  viel  Lesbien,  CrispilJen, 
Ädamantien,  Telesillen,  Pasicompsen,  und  wie  sie  alle  heissen,  geliebet  als  gepriesen  habe. 
Freilich  gerade  bei  Opitz  geben  Überlieferung  und  eignes  Zeugniss  in  den  Gedichten  Anlass, 
an  wirkliche  Personen  zu  denken  :  Palm  Beiträge  135.  Borinski  Poetik  der  Renaissance  S.  72. 
Fleming  besingt  dieselbe  Geliebte  unter  verschiedenen  Namen.  Schwieger  Liebesgrillen  Vorr. 
zum  II.  Theil  'Denn  ich  bezeuge  es  vor  jedermann  dass  kein  eintziges  Lied  darunter  zu 
finden,  icelches  ich  für  mich  einer  eintzigen  Jungfrau  zu  gefallen  verfertiget.'  Schirmer 
Vorr.  zu  deu  Rosengepüscheu.  Am  ersten  glaubt  mau  der  Versicherung  von  Rist  Musa 
teutonica  S.  131.  Scaligers  Lesbien  und  Opitius  Vandalen  .  .  ivelche  Nymplien  doch  nichts 
als  blosse  Namen  sein  .  .  .  also  auch  wenn  ich  der  AmaryUis,  Charitin,  Silvia  u.  a.  gedenke. 
Rist  bezieht  später  (1G4G)  die  Liebeslieder  auf  die  Ehe:  v.  "VValdberg,  Renaissancelyrik  S.  80- 
Weckherlin  an  Veyras  .  .  eutschuldigt  Trink-  und  freche  Liebeslieder:  Gedenck  doch  du 
mein  Veyras,  nicht,  dass,  wan  ich  von  dem  tvein  auch  dicht,  ich  so  gern  sei  bei  dem  tvein- 
schenken  .  .  So  glaub  ich  dass  es  auch  gnug  sei,  tvan  der  poet  ohn  heuchelei  ein  from  vnd 
keusches  leben  führet ,  obschon  bisweilen  sein  gesang  mit  frecher  sprach  und  geilem  klang 
die  ohren  üppiglich   berühret  (Güdekes  Auswahl  S.  118).  7)  Klage  Opitzens   über  zu- 

dringliche Ncethigungen  solcher  Art,  Poeterey  cp.  3 :  Dieser  begehret  ein  I/ied  auf  eines 
andern  Weib ,  jenem  hat  von  des  Nachbarn  Magd  geträumet ,  einen  andern  hat  die  ver- 
meinte Buhlschaft  einmal  freundlich  angelaclit;  — ja  des  närrischen  Ansucliens  ist  kein  Ende. 
8)  Lehie  Opitzens,  Poet.  cp.  ü.  Von  der  Zubereitung  vnd  Zier  der  Worte.  Titz  II  B. 
V  Cap.  Gleich  wie  ein  köstlicher  Edelstein  einen  Ring,  also  zieren  die  Epitheta  die  Poetische 
Mede;  ttnd  wird  aus  rechtem  Gebrauch  derselben  ein  guter  Poete  nicht  minder,  als  aus  den 


172  NEUJIOCIIDEKTSCIIE  ZEIT.  XVII  JAIIRII.  §  117 

aus  den  alten,''  kein  Unrecht  in  dem  gehäuften  Oebriiuch  von  Namen  und 
IJczügen  der  antiken  Mytliologie.'"  Das  war  theilwcis  freilicli  schon  im  vori- 
gen Jahrluindert  so  gehalten  worden  (§  94,  42);  ebenso  hielten  es  die  jetzt 
näheren  Muster  Frankreichs,  Italiens  und  der  Niederlande,  und  der  auch 
hinter  diesen  als  der  vornehmste  Antrieb  zu  dem  allen  stand,  lloratius. " 
Der  Mangel  an  wahrhafter  Kunst  und  gar  an  sittlichem  Gehalte,  in  den  auf 
solchen  Wegen  die  Poesie  nothwendig  und  nicht  allein  bei  den  minder  be- 
gabten Dichtern  gerieth,  mochte  für  ernstere  Oemüther  wohl  ein  Argorniss 
sein:  aber  nur  Wenige  nahmen  es  so  ernst  damit.'-  Und  wenn  dieser 
Mangel  auch  zunächst  nur  der  wkltlichen  Lyrik  eigen  ist,  welch  unerfreu- 
liches, welch  erschreckendes  Licht  fällt  gleichwohl  von  da  aus  auf  die  «eist- 
L[ciie!  Das  siebzehnte  Jahrhundert  war  auf  letzterem  Gebiet  fruchtbarer  als 
je  eine  frühere  oder  si)ätere  Zeit:  '^  es  gibt  einzelne  (so  all  die  groesten 
hier  '^),  die  nur  geistliche,  sehr  wenige  jedoch ,  die  nur  weltliche  Gedichte 
verfasst  haben,  und  sogar  solche,  die  in  den  weltUclien  vor  keiner  Unzucht 
scheuten,  hielten  sich  wie  um  der  Vollständigkeit  willen  verbunden,  gelegent- 
lich auch  geistliche  zu  verfassen.'''  Da  liegt,  bei  diesen  wenigstens,  der 
Argwohn  nahe,  dass  auch  die  religiösen  Empfindungen  bloss  erfunden,  dass 
auch  hier  die  Namen  blosse  Namen,    dass  auch  in  den  geistlichen  Gedichten 

Klawen  ein  Letc,  erkandt.  Letzterer  Ausdruck  auch  bei  Harsdüifer:  BoriuHki  199.  9)  Auch 
dies  von  Opitz  ausdrücklich  empfohlen.  Poet.  cp.  8.  Vgl.  v.  AValdberg  Renaissancelyrik 
Cap.  IV.  worin  die  gleiche  Missachtung  des  fremden  Eigenthumes  auch  den  Neueren  gegen- 
über uachgcwiesen  ist.  10)  Rechtfertigung  Opitzens:  Poet.  cp.  3.  11)  Albert  Lehnerdt, 
Die  deutsche  Dichtung  des  17.  u.  18.  Jahrh.  in  ihren  Beziehungen  zu  Horaz.  Königsberg 
1882.  (Progr.)  Dennoch,  und  obwohl  Opitz  als  ein  hauptsächliches  Mittel  zur  Bildung  für 
die  deutsche  Poesie  das  Übersetzen  aus  griechischen  und  lateinischen  Dichtern  bezeichnet 
(§  115.  10),  Horatii  Vier  Bücher  Odarum  erst  16ÖG  (das  I.  schon  lfj43)  von  Joh.  Bohemus^ 
in  Teutsche  Poesie  übersetzet,  gedruckt  zu  Dresden.  Auf  griechische  Quellen,  die  An- 
thologie und  die  griechischen  Romane  weist  v.  Waldberg  hin ,  Renaissancelyrik  S.  142  fg. 
12)  Hauptzeugnisse  —  die  freilich  z.Th.  auf  das  spanische  Original  zurückgehn  — bei  Moscherosch 
im  5.  und  6.  Gesichte  Sittewalds,  Th.  1,  Letztes  Gericht  und  Hollen-Kinder,  dort  gegen  den 
Missbrauch  der  Mythologie,  hier  gegen  die  anderweitigen  Untugenden,  welche  die  Poeten 
(er  trifft  deren  viel  tausend  in  einem  Pferch  der  Hölle)  von  den  Wälschen  Völckern  ab- 
leJinwn,  und  im  4.  der  niederdeutschen  Scherzgedichte  Laurembergs  van  Almodiscluir  Poesie 
und  Hymen.     Vgl.  §  120,  95.  13)  Vgl.  den  2.-^.  Theil   von  Rambachs  Anthologie 

christlicher  Gesänge,  Altena  und  Leipzig  1817  fgg.  Schon  in  diesem  Jahrhundert  um- 
fassende Gesangbücher  zusammengestellt,  zu  Berlin  1G44  von  dem  Buchdrucker  Christian 
Runge  (Praxis  pietatis  melica),  zu  Hanover  von  JuSTUS  Ge.senius  und  David  Dennius 
(§  103,  44).    1704  von  Anastasius  Fkeylinghaiisen  (§  128,    19).  14)  Voraus  Paul 

Gerhard  und  Benjamin  Schmolck  §  128.         15)  Z.  B.  Hofmannswaldau  §  133.  LB.  600. 


AI 


§  117  DIDAKTIK.  173 


I 
I 


Manches  nur  der  Übung  wegen  und  ohne  die  Ilerzensmeinung  des  Dichters 
gesagt  sei.  Hat  doch  sogar  hier  der  Unfug  mythologischer  Verzierung  sich 
eindrängen  können.  ^'^ 

So  erhielt  die  Lyrik  und  solch  eine  Lyrik  im  siebenzehnten  Jahrhundert 
den  Platz  vor  allem  übrigen  Dichten,  und  diese  Stellung  und  zugleich  dieser 
Charakter  sind  ihr  von  da  an  für  lange  Zeit,  und  soviel  die  litterarisclie 
Menge  betrifft,  fast  bis  auf  den  heutigen  Tag  geblieben.  Denn  die  Umstände, 
welche  damals  zuerst  die  Poesie  in  solch  eine  freie  Schwebe  ausserhalb  des 
Lebens  setzten,  haben  mit  dem  siebzehnten  Jahrhundert  nicht  ihre  Endschaft 
erreicht.  Zwei  Eigenheiten  indess  unterscheiden  jene  beginnende  neuhoch- 
deutsche Lyrik  merklich  genug  von  der  der  späteren  Zeitabschnitte, 

Einmal  die  Lehrhaftigkeit.  Im  sechzehnten  Jahrhundert,  wo  die  ge- 
lehrten Dichter  noch  häufig  und  gern  erzählten  und  lange  Zeit  keine  anderen 
Lieder  dichteten  als  geistKche  (§  103.  104),  war  noch  die  Lehrhaftigkeit 
theils  mit  der  Epik,  theils  nur  mit  dem  KirchenHed  verschmolzen:  jetzt,  wo 
die  Gelehrsamkeit  der  Dichtenden  nicht  geringer  und  der  Ernst  der  Zeit  noch 
mahnender,  wo  Lyrik  die  vor  allen  geltende  Dichtart  und  die  weltliche  Lyrik 
zu  neuem  Reichthum  aufgegangen  war,  jetzt  durchdrang  der  lehrhafte  Geist 
auch  diese,  um  die  Herrschaft  in  ihr  mit  der  Tändelei  unwirklicher  Empfin- 
dungen zu  theilen:  wenn  früherhin  die  Grenze  zwischen  Epik  und  Didaktik 
schwer  zu  finden  gewesen  (§  99),  so  jetzt  zwischen  Lyrik  und  Didaktik. 
Und  auch  hierin  walteten  Grundsatz  und  Bewusstsein  ^^  und  wirkte  neben 
eigenem  innerem  Zug  das  Beispiel  von  aussen ,  von  Frankreich ,  von  den 
Niederlanden  her.  Nur  selten  mehr  kam  (und  wer  möchte  das  bedauern?) 
die  reine  Didaktik  auf;  geschah  es  aber,  dann  ergriff  sie  gern  die  Beziehung 
auf  die  Wirklichkeiten  des  Lebens,  die  der  Lyrik  abging,  so  jedoch,  wie  es 
sich  jetzt  am  nächsten  bot  und  fast  einzig  mögUch  war,  strafend,  spottend, 
als  Satire,  als  satirisches  Epigramm:  die  fremden  Vorbilder,  die  hier  so 
wenig  fehlen  durften  als  anderswo,  waren  Juvenal  und  Martial,  von  den  neue- 
ren der  enghsche  Lateiner  Owen,^^  in  spseterer  Zeit  dann  hoefisch  zahmer 
der  Franzose  Boileau.     Das  Epigramm   der  Satire    aber    duldete   neben    sich 

16)  Namentlich  in  die  Hymnen,  wie  nach  Dan.  Heinsius  Vorgange  Opitz  sie  in  Deutschland 
aufgebracht  (§  121).  Auch  dieses  weiss  Opitz  in  der  Vorrede  zu  Dan.  Heinsen  Lobgesang 
Jesu  Christi  1624  zu  rechtfertigen ,  mit  Worten ,  die  aus  einer  Anmerkung  des  letzteren 
entnommen  sind.  17)  Opitz  LB.  3,  1,  627     Bie  Lyrica  erfodern  zueßderst  ein  freyes 

lustiges  geinüte ,  vnd  wollen  mit  schönen  Sprüchen  vnd  lehren  häuffig  geziehret  sein. 
18)  John  Owen,    lat.  Audoenus,   gest.  1622:    Epigrammatum    libri  X,    Lond.  1612.     Erste 

IL) 
.,„w..v 6-., „w .    ...  - 


174  NEUIIOCIIDEUTSCIIE  ZEIT.         XVH  JAÜUIL  §  117 

auch  noch  das  unsatirischc,  da  wiederum  Rom  und  Frankreich  auch  hievon,'" 
und  sogar  das  Morgenland  seine  Muster  zeigte;*"  so  gedeckt,  konnte  sich 
theilweise  selbst  die  nur  halb  gelehrte  ,  halb  volksmajssigo  Si'rl'cuuiciituno, 
an  der  das  sechzehnte  Jalirliuudert  seine  Freude  gehabt  (§  101),  und  konnte 
zumal  durch  solche ,  die  etwa  jetzt  auch  lieber  auf  die  Wege  des  Volkes 
traten,  sogar  die  Phiamel  sich  noch  in  dieses  siebzehnte  fort  verpflanzen.-' 

Die  andere  Eigenheit,  welche  die  neue  Lyrik  bezeichnet,  nicht  unvor- 
bereitet, da  schon  mit  Ablauf  des  sechzehnten  Jahrhunderts  dergleichen  ge- 
schehen war,^-  ist  die  Neigung  der  Dichter,  ihre  Empfindungen  und  Betrach- 
tungen an  einen  Anlass  des  sie  zunächst  berührenden  Lebens,  an  die  Ver- 
mahlung etwa  eines  Freundes  oder  Gönners,  eine  Kindtaufe,  ein  Begräbniss 
anzuknüpfen,  kurz  die  Gelegenheitsdichtung.''^  Es  scheint  dieser  Hang  in 
Widerspruch  zu  stehen  mit  der  vorher  ausgesprochenen  Ilüge  der  Beziehungs- 
losigkeit,  der  Ablösung  von  den  wirklichen  und  wahren  Dingen.  Aber  es 
scheint  nur  so.  Wirklichkeit  auch  für  weitere  Leser  hatte  die  besungene 
Gelegenheit  nur  selten,  ja  nur  selten  auch  für  das  Gemüth  des  Besingenden 
schon:  denn  eben  hier  ward  oft,  und  je  tiefer  ein  Dichter  stand,  je  tiefer 
hinab  die  Kunst  wieder  sank,  desto  öfter  nur  auf  Bestellung  oder  sonst  wie 
nur  um  den  Lohn  gedichtet.  ^^  Deshalb  und  weil  zum  Gelegenheitsdichtcn 
gelegentlich  Jeder  sich  berufen  glaubte,  gerade  hier  die  verschwimmendste 
Allgemeinheit,  der  hohlste  Prunk,    kühle  Redensarten  oder  Rohheit  für  Em- 


Verdeutöcliung  Rosarium,  d.  i.  Rosengarten —  durch  Ber  nhar  dum  Nicaeum  Ancu- 
manum,  Emden  1641:  spätere  und  bekanntere  die  von  Valentin  Loeber,  einem  Erfurter 
(geb.1620,  gest.  1685):  zuerst  Epigrammatum  Oiveni  Drey  Bücher .  Hamb.  1651,  in  weiteren  Aus- 
gaben vermehrt.  19)  Die  von  Opitz  verdeutschten  Disticha  Catos  (vgl.  §  79,  12)  und 
Tetrastioha  oder  Vier-Verse  des  Herrn  von  Pibrac:  sein  Florilegium  variorum  epigram- 
matum entlehnt  Satirisches  und  Unsatirisches  aus  Griechen  und  aus  alten  und  neuen  La- 
teinern. 20)  Persianischer  Rosenthal,  deutsch  nach  Saadi  von  Adam  Olearuis  (§  126,  7) 
Schleswig  1654.  21)  §  101 ,  5.  Von  Moscherosch  §  131  und  Abraham  a.  S.  Clara  ebd. 
häufig  Priameln.  altüberlieferte  und  vielleicht  auch  neue,  angebracht.  Priameln  bei  Logau 
§  129.  22)  Die  Epithalamia  L.  Steurlins  1587 :  Docens  Miscellanea  1,  259  :  Ringwaldts 
(§  99,  57)  1592:  Spenden  z.  deutschen  Litteraturgesch.  v.  Hoffmann  2,  53;  und  manches  bei 
den  oberrheinischen  Lyrikern  um  1600  §  104,  7  fgg.  23)  Solehe  der  Hauptinhalt  der 
Gedichtsammlungen,  die  man  Wähler  nannte:  vgl.  Opitz  LB.  3.  1,  627.  24)  Candoria 
Deutscher  Zimber  Swan  (§  124)  S.  222  verlangt  sogar,  um  die  uugelehrten  Mitbewerber 
auszuschliessen :  Von  Rechtsteegen  sollte  billig  eine  Obrigkeit  drüber  halten ,  das  sonsten 
Nimands  als  ntir  ein  Gekröneter  dazu  befreiter  Käiserl.  Poet  oder  der  Lorber-Krone  ge- 
würdigter auf  Hochzeit,  Namensfeier,  Freudenfest,  Trauerfälltn,   Leichbegängnis  und  dgl. 


§  118  EPIK.  175 


D 


pfindung.  Alles  das  von  beinahe  allen  des  Zeitalters  selbst  erkannt  und 
häufig  genug  und  scharf  genug  getadelt,  ^^  aber  umsonst  gegenüber  dem  herr- 
schenden Drang  und  ohne  Wirkung,  da  auch  die  meisten  der  Tadelnden 
selbst  ihm  nachgaben.  Die  fahrenden  Dichter  des  Mittelalters  hatten  gleich- 
falls auf  blosse  Gelegenheiten  viel  gesungen  und  gesagt  und  oft  auch  sie 
bloss  um  der  Gunst  und  der  Belohnung  willen  (§  67,  18  fgg.  69,  27  fgg, 
71,  49  fgg.):  aber  jedesmal  war  es  eine  Gelegenheit  von  höherer,  wahrhaft 
geschichtlicher  Bedeutung,  die  sie  zu  ergreifen,  oder  doch  eine  lebensvollere, 
wahrhaftere  Bezüglichkeit ,  in  der  sie  das  Ergi-iffene  auszuführen  wussten. 
Die  gelehrten  Dichter  des  siebzehnten  Jahrhunderts,  indem  nun  auch  sie 
dergleichen  schrieben,  verfehlten  die  alte  Spur,  sie  eben  als  Gelehrte,  eben 
als  Dichter  des  siebzehnten  Jahrhunderts:  innerer  Trieb  und  die  äusseren 
Zustände  entrückten  sie  dem  Leben,  und  ihrem  Dichten  gebrach,  was  allein 
die  Gelegenheit  dichterisch  fruchtbar  machen  konnte,  der  epische  Gehalt. 

§  118. 
Die  Epik  selbst,  dieser  sinnliche  Gegensatz  der  alles  vergeistigenden 
j Lyrik,  lag  jetzo,  wsehrend  von  dem  Volke  wohl  noch  Geschichtslieder  neu 
gesungen  (§  113,  4)  und  für  das  Volk  denen  sehnliche  Zeitgedichte,  Zei- 
tung&ii^  wie  man  stets  noch  sagte  (vgl.  §  108,  6),  bald  in  unsangbarer,  bald 
und  noch  öfter  jetzt  in  sangbarer  Form  geschrieben  ^  und  ihm  von  den  Zei- 
tungs-  oder  Avisensängern  vorgetragen  wurden, ^  die  Epik  selbst  lag  bei  den 
Gelehrten  ganz  darnieder:  fast  alle  Dichtkraft  ward  von  der  Lyrik  angezogen, 

Dichtesachen  nuiche  und  drükken  lihsse.  25)  Von  Opitz  bis  herab  auf  Cauitz:  vgl.  die 

Stellensammlung  Zur  Gesch.  d.  sehles.  Gelegenheitsdichterei  in  Hoflmanns  Monatsschr.  von 
und  für  Schlesien  477  fgg.,  Laurembergs  viertes  Scherzgedicht,  Schuppius  LB.  3,  1,  782 
und  Canitz  ebenda  2,  626  fgg. 

§   118.  1)  Vgl.  meine  Einleitung  zu  Wellers  Liedern  des  dreissigj ährigen  Krieges.  Basel 

1855.  Das  vorzüglichste  unter  den  unsangbaren  Zeitgedichten  dieser  Sammlung  noch  aus 
dem  Beginn  des  grossen  Krieges,  der  Prager  Hof  koch  S.  62.  Spätere  Sammlungen:  Der 
dreissigjährige  Krieg.  Eine  Sammlung  von  historischen  Gedichten  und  Prosadarstellungen, 
hg.  V.  J.  Opel  und  A.  Cohn.  Halle  1862.  Die  historisch -politischen  Lieder  des  Süjährigen 
Krieges,  gesammelt  von  F.  K.  v.  Ditfurth,  hg.  von  Bartsch,  Heidelberg  1882.  In  der  weit 
geringeren  Zahl  und  Bedeutung  der  Lieder  nach  der  Schlacht  bei  Lützen  zeigt  sich  zugleich 
die  Abnahme  der  gesammten  Volkskraft  nach  dieser  Zeit,  sowie  in  den  hühnischen  Gebet- 
parodien (Mährisches  Vaterunser  Weller  61,  s.  auch  121.  205.  227.  261)  die  zunehmende  Ver- 
rohung. Nicht  unbeliebt  ist  unter  den  nicht  gesungenen  Stücken  die  dramatische  Form,  welche 
auch  in  Prosa  erscheint  (Opel-Cohn  Picket-Spiel  Nr.  76)  und  in  dieser  bis  Ende  des  Jahrhunderts 
wiederkehrt:  Kartenspiel  1689.  2)  Noch  1695  in  Christian  Weises  Verfolgtem  Lateiner 


170  NEUnOCIIDEUTÖCJIE  ZEIT.         XVll  JAHRII.  §  118 

und  was  daneben  von  epischer  Begabung  noch  übrig  blieb,  das  wählte,  eben 
wie  jetzt  die  Völker  des  Abendlandes  thatcn,  lieber  die  Form  des  Romans, 
wo  sich  alles  erfinden  liess  und  die  Darstellung  sich  bequem  auch  innerhalb 
der  alltäglichsten  Personen  und  Ereignisse  bewegen  konnte.  Selbst  die 
Fabel,  so  reichlich  und  schön  sie  noch  im  sechzehnten  Jahrhundert  gepflegt 
worden  (§  99,  30  fgg.)»  so  lehrhaft  sonst  man  auch  jetzt  gestimmt  war,  wich 
bei  der  Ohnmacht  für  die  Epik  jetzt  zurück,  um  nur  selten  und  nur  scheu 
und  halb  in  parabelartiger  Poesie  und  Prosa  wiederum  vorzutreten.  Nicht 
dass  es  unter  den  Dichtern,  die  ja  alle  den  Yirgil,  deren  mancher  wohl  auch 
die  Heldengedichte  Italiens  gelesen ,  an  Versuchen  gemangelt  hätte ,  Ei'O- 
i'OEiEN  auch  auf  deutscli  zu  fertigen :  aber  wie  sich  die  Zeit  über  deren 
Wesen  in  merkenswerther  Unklarheit  der  Theorie  befiind,^  so  ging  sie  auch 
bei  aller  Ausübung  bald  so,  bald  anders  fehl.  Bald  liess  die  Gelehrsamkeit 
in  der  antiken,  die  Belesenheit  in  der  modern  ausländischen  Litteratur  nach 
fremden  und  fremdgearteten  Stoffen*  und  zuerst  nur  mit  linkischer  Über- 
setzung danach  greifen;^  bald  erneuerte  man  wohl  altheimatliche  Dichtungen, 

(Comoedien  Probe  322)  konimen  die  Zeitungssänger  und  bei  ebendemselben  (LB.  3,  1,  833  fgg.) 
ein  Avisen-Sünger  und  Zeitungsschreiber  vor;  ja  zu  Hamburg  noch  1746 — 48  eine  Zeitung 
in  Versen,  Poetisclie  Zeitungen  und  Poetische  Neuigkeiten  betitelt:  Lappenberg  in  der 
Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Hamburg.  (Teschichte  2,  491.  3)  Opitz  LB.  3,  1.  G20  kann  als 

Heroische  getichte  beispielsweise  Virgils  Georgica  und  seine  eigenen  Trostgetichte  in  Wieder- 
Wertigkeit  des  Krieges  nennen :  Burkard  Mencke  aber  in  seiner  Unterredung  von  der  deut- 
schen Poesie  (hinter  dem  4.  Theile  der  Gedichte  Philanders  v.  d.  Linde)  lässt  sich  S.  145 
bedünken.  ma)i  könnte  tcoJil  einen  Unterschied  zwiscfien  einem  Epico  und  Heroico  carmine 
machen,  so  dass  nmn  diejenigen  Gedichte  unter  die  heroischen  brächte,  welche  zu  Ehren 
eines  Helden,  Fürsten  oder  hohen  Ministri  verfertiget  worden.  Er  meint  wohl  Gedichte 
wie  die  beschreibenden  der  Hofpoeten  §  136,  12.  4)  Lucretia  von  TlTZ  §  127  gedruckt  zu 
Danzig:  die  unvergnügte  Proserpina  von  dem  Freiherrn  Wolf  Helmhard  v.  Hohenberg, 
Regensb.  1661 ;  Cleopatra,  Sophonisbe  u.  a.  in  dem  Poetisch-historischen  Lustgarten,  Erfurt 
1666,   von  Neumark  §  124.  5)  Du  Bartas  La  Vocation  Oder  .  .  der  Beruff  und  die 

Altvtcter,  Cöthen  1619;  wiederholt  in  Die  ander  Woche  1622  (1627).  Die  erste  Woche 
1631  (neue  Aufl.  1661).  Alles  von  Tob.  Hübner:  s.  §  124,  6.  Eine  Gesammtausgabe  der 
beiden  Wochen  erschien  1640  von  den  Freunden  des  Dichters  verbessert.  Auch  die  Vranie 
u.  a.  von  Bartas  hat  Hübner  übersetzt :  Die  Himmlische  Musa  .  .  Cöthen  1623 :  Krause, 
Ludwig  V.  Anhalt  3.  63  fgg.  Tasso :  Glücklicher  Heerzug  in  das  Heylig  iMndt,  Oder  Das 
erlösete  Jerusalem,  Frankf.  1626;  die  2.  Ausg.  ebd.  1651  (Gottfried,  Oder  Erlösetes  J.) 
nennt  als  Übersetzer  DiEDERicn  VON  DEM  Werder  §  124.  Von  demselben  Die  Historia 
vom  rasenden  Roland  (Ariosto).  Leipz.  1636.  Später,  1668.  von  Michael  Schirmek  Virgils 
Aeneide,  1700  von  Postel  §  137,  29  unter  dem  Titel  Die  listige  Juno  das  14.  Buch  der 
Ilias.  1727  von  B.  Neukirch  Fenelons  Teleniach  in  deutsche  Verse  übertragen:    §  136,  4. 


§  118  EPIK.  177 

aber  nur  solche,  die  bereits  cinklangen  in  den  beliebten  Ton  der  Lehre  und 
Satire;^  bald  nahm  man  Helden  und  Thaten  der  nächstliegenden,  der  noch 
kaum  vergangenen  Geschichte  des  Vaterlandes ,  ^  bald  wieder  aus  dessen 
grauer  Vorzeit,^  bald  auch  aus  den  Überlieferungen  des  alten  Bundes  ;'•'  aber 
die  gute  Wahl  verdarb  bei  den  Einen  an  dem  Drang,  auch  das  Vaterlän- 
dische und  Zeitgeschichtliche  in  die  mythologische  Allegorie  zu  spielen ,  bei 
den  anderen  an  der  romanhaften  Willkür,  die  sich  für  Erfindung  gab,  bei 
allen  an  der  wieder  unaustreibbaren  Lehrsucht.  Und  so  blieben  all  die  Ver- 
suche doch  erfolglos  und  gingen  selbst  an  einer  Zeit  fast  unbemerkt  vor- 
über, die  sonst  mit  überschwänglichem  Lobe  nicht  zurückhielt. ''^  Wie  aber 
hätten  sie  auch  gelingen  können  ?  da  es  an  der  Hauptsache  gebrach,  an  dem 
Grund  und  Boden  eines  starken  und  freudigen  Volksthumes,  der  die  Epik 
tragen,  an  der  vollen  und  unmittelbaren  Wechselwirkung  zwischen  Leben 
und  Kunst,  der  sie  hätte  nähren  und  gross  ziehen  können:  Hindernisse,  vor 
denen  auch  in  der  Folgezeit  nie  mehr  eine  deutsche  Epik  vermocht  hat  auf- 
zukommen, ausser  etwa  der  idylhschen,  deren  Gesichtskreis  von  selbstgefälli- 
ger Häuslichkeit  begrenzt,  in  der  die  Erzählung  herabgestimmt  ist  zu  Schil- 
derungen nur  aus  so  engem  Leben.  Dass  aber  das  echte,  das  höhere  Epos 
dem  Berufe  der  neuhochdeutschen  Dichtkunst  entzogen  sei,  dass  es  derselben 
schon  im  siebenzehnten  Jahrhundert  entzogen  gewesen,  das  haben  dessen 
grcessere  Dichter  sämmtlich  wohl  erkannt  und  durch  Enthaltung,  Opitz  auch 
mit  ausgesprochenem  Grundsatz,'^  Hofmanswaldau  sogar  mit  Vernichtung 
eines  früheren  Versuchs  bethsetigt.^^ 

6)  Ein  ungenannter  Zesenianer  Beineke  Fuchs,  Kost.  1650:  vgl.  Grimms  Reinhart 
Fuchs  CLXXIX  und  Reinke  de  vos  hg.  v.  F.  Prien,  S.  XIX.  XLVIII;  Matthaeus 
ScHULTES  den  Theuerdank,  Ulm  1679  :    Theuerdank  v.  Haltaus  59  fgg.  7)  Ber  Held 

von  Mitternacht  (Gustav  Adolph)  von  JoH.  Sebastian  Wieland  ,  Heilbronn  1633 ;  Teut- 
scher  Tugentspigel  oder  Gesang  von  dem  Stammen  und  Tliaten  dess  Alten  (germanischen) 
und  Newen  Teutschen  Hercules  (Bernhard  v.  Weimar)  von  Jon.  Fkeinsheim,  dem  Er- 
gänzer des  Livius  und  des  Curtius,  Strassb.  1639,  vgl.  §  122:  Der  dreissigjährige  Krieg 
von   Georg   Greflinger   (§  126)  1657.  8)   Ber   Hahspurgische   Ottohert  (ersonnener 

Ahnherr  des  Hauses  Hahsburg)  von  Wolf  Helmhard  von  Hohenberg,  Erfurt  1664;  der 
grosse  Wittekind  von  Postel,  gedichtet  bis  1701,  gedruckt  erst  1724  zu  Hamburg. 
9)  Neumarks  Sieghafter  David  (D.  u.  Goliath),  Jena  1655;  König  David  von  Juda  von  H. 
Anton  Ulrich  v.  Braunschweig,  1712  eingeschaltet  in  die  2.  Ausgabe  von  dessen 
Octavia  §  134.  10)  Zwar  von  Fleming  LB.  2,  456  ein  Ruhmsonett  an  Dietrich  v.  d.  Werder : 
aber  Opitz  in  seiner  an  denselben  gerichteten  Zuschrift  der  Poet.  Wälder  1637  rühmt  ihn 
um  alles  mögliche  sonst,  nur  von  dem  deutschen  Tasso  und  Ariosto  schweigt  er.  11)  LB. 
3,    1,   624.  12)  So  wird   zu  verbinden  sein,   was  Hofmanswaldau  in  der  Vorrede  zu 


178  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVH  JAHRH.  §  119 

§  119- 
Und  80  kommen  wir  immer  -wieder  auf  die  Lyrik  als  die  bevorzugte 
Dichtart  zurück:  bcvorzujL,^t  was  die  Häufigkeit  der  Ausübung  und  ebenso 
was  den  Werth  der  Erzeugnisse  betrifft.  Noch  ist  aber  eine  Dichtart  übrig, 
und  gerade  diejenige,  die  wir  früherhin  als  das  eigentlich  bezeichnende  Werk 
und  Eigenthum,  deren  Ausbildung  wir  als  die  besondere  Aufgabe  der  neu- 
hochdeutschen Litteratur  haben  kennen  lernen:  das  Drnnia.  Und  auch  schon 
dem  siebenzehnten  Jahrhundert  fehlte  diese  Dichtart'  nicht:  wie  das  in  allen 
Beziehungen  die  Grundlage  und  den  Grundriss  der  gesammten  neuhoch- 
deutschen Litteratur  gegeben  hat,  so  auch  in  dieser.  Aber  hier  zumal  bloss 
eine  Grundlage.  Das  Theater  war  bei  Hoch  und  Nieder  beliebt,  für  das 
Theater  thatig  waren  viele  Dichter,  bekannte  und  unbekannte,  aber  nur 
wenige  Talente  von  Bedeutung,  und  auch  diese  wenigen  haben  bei  weitem 
nicht  so  viel  für  das  Theater  geleistet,  als  andere  und  theilweise  auch  sie 
selbst  für  die  Lyrik.  Die  Erklaerungsgründe  liegen  nahe.  Das  Drama  ist 
eine  untrennbare  Verschmelzung  von  Epik  und  Lyrik,  und  hier  zumal,  wo 
Vergangenes  vergegenwärtigt  werden  soll,  wird  die  sinnlichste,  lebendigste 
Wirklichkeit  der  Gestaltung  gefordert.  Gerade  an  der  Epik  und  gerade  an 
dem  Leben  der  Wirklichkeit  fehlte  es  den  Dichtern  dieser  Tage,  und  darum 
auch  den  meisten  Dramen  dieser  Tage  an  Kunst  der  Composition  und  der 
Characteristik:  namentlich  in  der  Tragoedic;  in  der  Comcßdie,  die  es  mehr 
mit  groesseren  Menschengattungen  als  mit  einem  Individuum  zu  thun  hat, 
war  deshalb  auch  die  Characteristik  weniger  schwer.  Dann  schadete  auch 
dem  Drama,  dass  die  Beseitigung  des  Volksschauspiels  des  sechzehnten  Jahr- 
hunderts allen  Fortschritt  und  Zusammenhang  einer  geschichtlichen  und  or- 
ganischen Entwickelung  aufgehoben  hatte;  so  konnte  die  Weiterbildung,  die 
man  jetzt  erstrebte,  nicht  auf  heimatlich  vorhandener  Grundlage  vor  sich 
gehen:  man  hatte  dabei  nichts  als  die  eben  erst  eingebürgerte  englische  Co- 
moedie  (§  106),  sonst  aber  musste  man  wie  von  vorn  beginnen  und  war,  wie 

seinen  deutschen  Übersetzungen  und  Gedichten  von  der  Vernichtung  eines  jedoch  nicht 
weiter  bezeichneten  früheren  Werkes  und  was  Neunieister  (Specimen  dissertationis  de  Poetis 
Germanicis  56)  von  einem  epos  de  hello  Germanico  berichtet,  welches  H.  auch  einmal  ver- 
fasst,  aber  den  Flammen  übergeben  habe. 

§   119.  1)  Vgl.  das  schon  §  10.")  angeführte  Buch  von  Gottsched;  ferner  "NV.  A.  Passow, 

Das  deutsche  Drama  im  17.  Jahrhundert,  Meiningen  1H47,  und  die  betreffenden  Abschnitte 
in  Ed.  Devrient.  Gesch.  d.  deutschen  Schauspielkunst,  V,  Leipzig  1848 — 74.  Rnd.  Genee, 
Lehr-  und  AVanderjahre  des  deutschen  Schauspiels,  Berlin  1882,  Kob.  Prölss.  Geschichte  d. 


§  119  DRAMA.  179 

man  einmal  nichts  aus  sich  selbst  beginnen  konnte,  gcnoothigt,  in  alle  Vor- 
zeit und  Fremde  nach  Anlchnungspunktcn  umher  zu  greifen;  in  die  alte 
"Welt,  wo  man  dem  Geschmack  dieser  blutigen  Zeit  gemäss  mit  besonderer 
Vorliebe  Seneca  den  Tragiker  wtehlte  ,  in  die  moderne  ,  nach  den  Nieder- 
landen, nach  Italien,  nach  Frankreich,  wo  jetzt  gerade  mit  Corneille  die  sog. 
goldene  Zeit  begann. 

Es  bewegte  sich  aber  das  Drama  dieser  Zeit  noch  in  zwei  ganz  ver- 
schiedenen Richtungen,  deren  eine,  alterthümlich  und  noch  mehr  volksgemsess, 
weniger  vom  Ausland  abhängig  war  und  eben  deshalb  späterhin  auch  noch 
verweht  werden  sollte,  um  der  andern  das  Gebiet  allein  zu  überlassen:  man 
kann  jene  mit  nicht  unpasslicher  Benennung  das  Schauspieleedrama,  diese 
das  Dichterdrama  nennen.  Die  Dramen  naemlich  der  ersteren  Art  -  gingen 
entweder  aus  einzelnen  Schauspielgesellschaften  als  deren  mehr  oder  minder 
gemeinsame  Schöpfung  hervor,  oder  waren,  wenn  auch  ein  einzelner,  ausser- 
halb stehender  Schriftsteller  sie  verfasst,  immer  doch  dem  nachhelfenden 
Weiterdichten  der  Schauspieler,  der  Improvisation  u.  dgl.  anheimgegeben; 
ihre  Form  war  Prosa  oder  verwilderte  Verse ,  oder  beide  wechselnd  ,  viel- 
leicht mit  eingelegten  Gesangsstücken;  ihre  Sprache  gelegentlich  den  Volks- 
mundarten genaehert.  Schon  in  dieser  Art  und  Form  zeigen  sie  sich  als  eine 
Fortsetzung  des  Schauspiels  der  englischen  Comoedianten ;  sie  folgen  diesem 
auch  in  der  Einmischung  komischer  Scenen  und  stehender  komischer  Figuren 
selbst  in  die  Tragoedie.  Daneben  bestand  auch  eine  förmHche  Trennung  der 
Tragik  und  der  Komik,  indem  man  groesseren  ernstlichen  Dramen  noch  ein 
kleineres  Possenspiel  folgen  liess,  eine  Nachcomoßdie,  in  derselben  Art  wie 
die  Griechen  der  Tragcedie  noch  ein  Satyrdrama  beigaben:  jenes  ernste 
Schauspiel  hiess  dann  Adlon  oder  Hauptaction ,  Haupt-  und  Sfaatsaction.^ 
Für  die  Hauptaction  entnahm  man  den  Stoff  aus  der  Bibel,  der  Geschichte 
älterer  und  neuerer  Zeit ,  auch  aus  Romanen ,  zuweilen  war  es  eine  Nach- 
bildung nach  Dramen  des  Auslands;  für  das  Possenspiel  genügte  die  freie 
eigene  Erfindung,  oft  waren  es  nur  blosse  Entwürfe,  die  aus  dem  Stegreif 
durchgeführt  wurden.  In  beiden  Arten  des  Schauspielerdramas  entsprach 
Anlage  und  Ausführung  dem  grossartigen  Stil  der  alten  Holzschnitte :  es  war 
mehr  abgesehen  auf  die  Ereignisse  als  die  Charaktere,  weshalb  auch  starke 
Übertreibung  erlaubt  schien ;  es  war  alles  berechnet  auf  Rührung  und  Lachen 
des   grossen  Haufens.     Die    Steifheit ,    die    Übertreibung    der   Darstellenden 

dram.  Litteratur  und  Kunst  in  Deutschland  I,  Lpz.  1883.       2)  Vgl.  hierüber  §  137.       3)  Doch 


180  NEUllOCIJDEUTHCllE  ZEIT.  XVll  JAlllUI.  §  120 

niiichtcn  es  mo-glicli,  dass  maucbc  Stücke  auch  auf  das  ruppcnthcatcr  über- 
gingen, 80  zumal  Doctor  Faust.' 

Dem  gegenüber  trat  das  Diciiterdrama  mit  allen  Ansprüchen  hoclierer 
Kunstmiessigkeit  auf:  seltener  in  der  Form  des  Lustspiels,  welches  zu  germg 
und  niedrig  schien,  lieber  in  der  des  Grossen  und  0 rossartigen,  des  erhaben 
Schrecklichen,  des  Trauerspiels.  Und  dies  in  streng  gebundenen  Versen. 
Es  dehnte  sein  Stoffgebiet  so  weit  aus  wie  das  ernstere  Schauspielerdrama, 
suchte  aber  dies  zu  übertreffen  durch  Verwickelung  der  Intrigue,  durch  Cha- 
ractcristik :  nur  waren  die  Empfindungen,  denen  sie  Ausdruck  gab,  zu  über- 
trieben, zu  allgemein  in  der  Weise  der  damaligen  Lyrik.  Diese  machte  sich 
noch  eigens  geltend  durch  Chorgesänge,  Reigen,  durch  Gesänge,  die  man 
Persouiticationen  in  den  Mund  legte.  Darin  folgte  man  Seneca,  aber  auch 
dem  Vorgang  des  Auslands.^  Der  allgemeine  lyrische  Rang  und  sonst  der 
Geschmack  der  Zeit  führte  auch  die  Ope)\,  das  Singspiel  und  dessen  geist- 
liche Nebenart,  das  Oratorium  aus  Italien  ein.  Hier  konnte  man  Stück  für 
Stück  Alles  in  Lyrik  aufgehen  lassen.  Die  Oper  bewegte  sich  in  der  Mytho- 
logie und  im  Schajferleben,  wie  man  sich  dies  in  der  alten  Welt  dachte,  oder 
in  ersomiener  Allegorie,  auf  beiderlei  Weise  geeignet  zur  Gelegenheitsdichtung. 
Der  Prunk  des  Costüms  und  der  Decoration,  die  Wunder  der  Maschinerie 
machten  sie  zur  Lieblingsbelustigung  der  Hoefe,  aber  auch  einzelner  reicher 
Handelsstädte.  In  den  hoeheren ,  den  hcefischen  und  gelehrten  Kreisen  war 
überhaupt  die  Zuschauerschaft  des  Dichterdramas  zu  suchen ;  das  Schauspieler- 
drama wendete  sich  an  das  niedere  Volk,  wozu  Wochen-  und  Jahrmärkte 
die  Gelegenheit  darboten.  Gelegentlich,  wenn  die  Verbindungen  des  Dich- 
ters es  mit  sich  brachten,  gaben  auch  Schulfeste  Anlass  zu  Auffühi'ungen,  die 
insofern  sich  an  die  Schauspielerdramen  anschlössen,  als  die  Gymnasiasten  bei 
ihren  Spielen  nach  Umständen  improvisiren  durften.  Aber  mehr  und  mehr 
musste  das  Schauspielerdrama  zurückweichen ,  und  Lessing  konnte  von  ihm 
reden,  wie  von  Verlorenem  und  Vergangenem. 

§  120- 
All  die  bisher  aufgeführten  Characterzüge  der  Litteratur  des  siebzehn- 
ten Jahrhunderts,  sollen  sie  in  einer  einzigen,  alles  umfassenden  und  begrün- 
denden Eigenheit  zusammengefasst  werden,  so  kann  dies  nur  die  Oelehrsam- 
keit  sein,  trotz  der  weltmännischen  Bildung  mancher  Dichter,  trotz  der  Volks- 
ist dieser  letztere  Ausdruck  erst  im  18.  Jahrh.  nachgewiesen.  4)  W.  Creizenach,  Versuch 
einer  Gesch.  des  Volksschauspiels   von   Doctor   Faust ,    Halle  1878.  5)  Hier  war  ins- 


§  120  POETIK.    METRIK.     RHETORIK.  181 

msessigkcit,  die  eben  noch  im  Schauspielerdrama  sich  kund  gab.  Nur  weil 
in  dem  littcrarischen  Kampf  des  sechzehnten  Jahrhunderts  die  Gelehrsamkeit 
das  Feld  behauptet  hatte,  trat  jetzt  im  siebzehnten  solch  eine  Abloesung  der 
Poesie  von  der  "Wirklichkeit,  solche  Liebe  zur  Lehrhaftigkeit,  solche  Hin- 
neigung zu  fremden  Mustern  und  sonst  der  mannigfaltigsten  Fremdartigkeit, 
und  neben  einander  Sprachmengerei  und  eine  oft  bis  zum  Eigensinn  getrie- 
bene Reinheit  der  Sprache.  Eben  daher  endhch  auch,  um  noch  den  letzten 
Characterzug  beizufügen ,  das  theoretische  Bewusstsein ,  mit  welchem  man 
jetzo  dichtete.  Im  sechzehnten  Jahrhundert,  als  die  neue  Sprache  hingestellt 
ward,  trat  die  Gelehrsamkeit  gleich  mit  Grammatiken  hinzu;  jetzt  im  sieb- 
zehnten, da  eine  neue  Litteratur  hervortrat,  war  man  auch  sogleich  mit  der 
Belehrung  zur  Hand,  die  dazu  taugte,  mit  Poetik  und  Metrik  und  Rhe- 
torik. Und  wie  all  die  wesentlichen  Eigenheiten ,  mit  denen  jetzt  die  neu- 
hochdeutsche Litteratur  sich  entwickelte,  derselben  seitdem  verblieben  sind, 
so  auch  dieser  Bund  der  Übung  mit  der  Theorie.  Eine  unverkümmerte 
Unmittelbarkeit  des  Schaffens  ist  seitdem  keinem  Schriftsteller  mehr  vergönnt 
gewesen;  selbst  das  Genie  hält  es  für  seine  Pflicht,  sich  von  allem  Thun  und 
Lassen  der  Kunst,  die  es  ausübt,  theoretisch  Rechenschaft  zu  geben,  und 
mehr  als  einer  hat  es  bloss  durch  Einsicht  in  die  Theorie  und  geschickte 
Handhabung  derselben  bis  zum  Anschein  des  Talents  gebracht. 

Im  siebzehnten  Jahrhundert  bereits  ist  die  Zahl  der  Schriften  über  die 
Dichtkunst  eine  sehr  grosse  und  es  lässt  sich  auch  in  ihnen  der  Entwicklungs- 
gang der  Litteratur  verfolgen,^  um  so  mehr  als  die  meisten  Verfasser  dieser 
Schriften  zugleich  aus  ihren  eigenen  Gedichten  Beispiele  für  ihre  Lehren  ent- 
nommen haben. 

Schon  Opitz  hat  damit  den  Anfang  gemacht  und  eben  hierdurch  sein 
Ansehn  wesentlich  begründet.  Seine  lateinische  Abhandlung  ÄristarcJms^ 
1617  (oder  1618)  wendet  sich  im  allgemeinen  gegen  die  Verächter  der  deut- 
schen Sprache  und  Dichtung,  gibt  aber  doch  schon  einzelne  Vorschriften  für 
den  deutschen  Dichter.     Eingehender  entwickelte  Opitz   seine  Grundsätze   in 

besondere,  das  niederländisclie  Drama  massgebend.     Schon  Opitz  in  der  Vorrede  An  den  Leser 
in  der  Strassburger  Ausgabe  von  1624  führt  die  Dramen  von  Hooft,  Bredero,  Coster  an. 
§   120.  1)  Em.  G rucker ,    Hist.   des   doctrines  litteraires  et   esthctiques  en  Allemagne 

(Opitz,  Leibnits,  Gottsched,  Les  Siiisses),  Paris  1883.  üründlicber  und  umfassender  :  Karl 
Borinski,  Die  Poetik  der  Renaissanfe  und  die  Anfänge  der  litterarischen  Kritik  in  Deutsch- 
land, Berlin  1886.  2)  Aristarchus  siie  de  contemptu  linguae  Teutonicae  o.  J.  Neu- 
druck mit  Erläuterungen  von  AVitkowski,  M.  0.  Aristarchus  .  .  und  Buch  v.  d.  D.  Poeterey, 


182  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XYH  JAIIKH.  §  120 

(1cm  Buche  Vo7i  der  deutschen  Poefcrcy  1G24,^  welches  dann  1634  u.  5.  mit 
dem  Nebentitcl  Prosodia  Germanica  wiederholt  worden  ist,  von  1645  ab  mit 
gelehrten  Anmerkungen  von  Enocii  Hanmann  ^  vermehrt.  In  fünf  Tagen 
geschrieben  gibt  die  deutsche  Poetcrcy  in  den  ersten  fünf  Abschnitten  nur  kurze 
und  z.  Th.  obcrfläcldiche  Bemerkungen  über  Wesen  und  Wcrth  der  Dicht.- 
kunst  und  über  ihre  recht  willkürlich  ausgewsDhlten  und  aneinander  gereihten 
Gattungen.  Hier  benutzt  Opitz  fast  durchweg  und  z.  Th.  wörtlich  die  fran- 
zocsischen  Dichter  der  sogen.  Pleiade,  insbesonders  Ronsard '"  und  du  Bellay,*' 
welche  ihrerseits  wieder  auf  Scaliger  ^  zurückgehn:  auch  diesen  nennt  Opitz 
und  von  anderen  sonst  noch  Vida'*  und  Heinsius.^  Wichtiger  und  z.  Th. 
von  wahrhaft  grundlegender  Bedeutung  sind  die  in  den  letzten  drei  Ab- 
schnitten niedergelegten  stilistischen  und  metrischen  Vorschriften  von  Opitz. 
Für  diese  nennt  er  öfters  im  Aristarchus,  aber  auch  in  der  Poeterey  als  seinen 
Vorgänger  Ernst  Schwabe  von  der  Heydk  ,  dessen  Büchlein  jedoch  nicht 
erhalten  ist. '° 

Was  Opitz  kurz  und  flüchtig  angedeutet,  dessen  gründliche  Ausführung 

Lpz.  1888.  Über  die  Zeit  des  Erscheinens  s.  S.  21.  Citirt  wird  im  A.  eine  im  Sept.  1617 
erschienene  Abhandlung:  Opitz  verlies»  Beuthen,  den  Druckort,  im  Frühjahr  1618.  3)  Bres- 
lauer Druck.  Hauptstelleu  LB.  3,  619  fgg.  Neudruck  des  Ganzen  Halle  1876;  mit  Erläu- 
terungen von  Witkowski ,  s.  Anm.  1.  4)  E.  H.  war  geb.  1622  zu  Leipzig  und  starb 
als  Superintendent  zu  Rochlitz  1680.  Beziehungen  zu  dem  Strassburger  Kreis  zeigt  Wit- 
kowski S.  69.  S.  92  der  Ausgabe  von  1690  werden  citiert  Nib.  2106.  3.  4.  2107,  2.  3. 
73,  1.  2:  ein  gothischer  Poet  soll  vor  des  grossen  Carols  Zeiten  in  diesem  Gedicht  von  dem 
Gothen  König  Theodor  oder  Theodoricus  Veronensis  gesungen  haben.  Offenbar  schöpfte 
Hanman  aus  Lazius,  de  gentium  alic^uot  migrationibus.  5)  Die  Benutzung  des  Ronsard 
bemerkt  schon  der  erste  Biograph  Opitzens,  Colerus.  Neuerdings  haben  sich  mit  dieser 
Abhängigkeit  unseres  Dichters  besonders  eingehend  beschäftigt:  Strehlke,  M.Opitz,  Leipzig 
1856.  Zöllner,  Deutsches  Museum  1865.  S.  255  fgg.  V.  Beränek.  M.  Opitz  in  seinem  Ver- 
hältniss  zu  Scaliger  und  Ronsard.  Jahresbericht  der  Staatsoberrealschule  im  III.  Bezirke, 
Wien  1883.  0.  Fritsch,  M.  Opitzens  Buch  von  der  deutschen  Poeterei,  Leipziger  Diss., 
Halle  1884.  Sievers  P.  u.  B.  Beitr.  10,  205.  Chn.  W.  Berghoeffer,  M.  0.  Buch  von  der  d.  P., 
Frankfurt  a.  M.  1888.  6)  Grucker  a.  a.  0.  S.  152.  Fritsch  P.  u.  B.  Beitr.  10,  591.  Dagegen 
scheinen  die  Übereinstimmungen  mit  einer  Einleitung  von  Du  Bartas  zur  Ausgabe  seiner 
Werke  von  Simon  Goulard  de  Senlis,  welche  Sievers  (Anm.  5)  hervorhebt,  die  Benutzung 
dieser  Quelle  noch  nicht  zu  beweisen.  Vgl.  Witkowski  S.  43,  welcher  auch  die  Benutzung 
Bellays  leugnet.  7)  Julius  Caesar  Scaliger  lebte  von  1484  bis  1558.  Seine  Poetices 
libri  Septem  wurden  zu  Genf  1561  u.  ü.  gedruckt.  8)  Vida.  Bischof  von  Albano.  Poeti- 
corum  libri  III  Cremona  1520.  9)  D.  Heinsius  (1580 — 1655)  De  Tragoediae  constitu- 
tione, Leyden  1611.  Auch  die  Vorrede  des  Scriverius  zu  Heinsius  Gedichten  1615  benutzt 
Opitz,  s.  Muth  u.  Witkowski.         10)  Nach  einer  Randnotiz  in  der  1.  Ausg.  des  Aristarch 


§  120  POETIK.  183 

dui-fte  man  von  den  Professoren  der  lateinischen  Poesie  an  den  Universitgeten 
und  hoßheren  Schulen  erwarten.  Und  so  setzte  man  grosse  Hoffnungen  ins- 
besondere auf  eine  Anleitung  von  August  Buchner  in  Wittenberg  (mit  dem 
Gesellschaftsnamen  der  Genossene  in  der  Fruchtbringenden  Gesellschaft),  die 
jedoch  erst  aus  dessen  Nachlass  veröffentlicht  ward. '  ^  Metrik  und  poetischen 
Stil  behandelte  klar  und  verständig  Johann  Petek  Titz  '^  Zwey  Bücher  von 
der  Kunst  hochdeutsche  Verse  un^  Lieder  zu  mac/je?^  (Danzig  1642);  waehrend 
Andreas  Tscherning  '^  TJnvorgreifßiches  Bedcnclcen  über  etliche  misshräuche  in 
der  deutschen  Schreib-  und  Sprachhunst  insonderheit  der  edlen  Foeterey  (Lü- 
beck 1659)  sich  mehr  über  einzelne  streitige  Wörter  und  Wortformen  aus- 
spricht. 

Dass  sich  auch  solche,  die  der  Lehrberuf  nicht  eben  zur  Ausbildung 
der  poetischen  Theorie  veranlasste ,  dieser  Aufgabe  zuwandten ,  dazu  gaben 
insbesondere  die  Sprach gesellschaften  Gelegenheit.  In  der  Fruchtbringenden 
Gesellschaft  hatte  Ludwig  von  Anhalt  schon  1639  eine  Anleitung  zu  der 
Deutschen  ReimeJcunst  in  Strophen  mit  angehängten  Mustern    der  Dichtungs- 

(Hoffmanns  Spenden  2,  66)  und  W.  Scherffer  Gedichte  S.  279  war  Schwabes  Buch  1616 
erschienen;  als  Druckort  nennt  Rist  in  seiner  3Iusa  Teutonica  Frankfurt  (a.  0.).  Vgl. 
§  104,  15.  Aber  eine  wirkliche  Bekanntschaft  mit  demselben  ist  bei  keinem  andern  Zeit- 
genossen als  bei  Opitz  nachzuweisen;  schon  Zincgref  hatte  nur  davon  gehört.  Rumpier 
Vorr.  zu  dem  Ersten  Gebüsch  S.  11  behauptet,  dass  das  Buch  nie  gedruckt  worden  sei:  er 
gibt  Danzig  als  Aufenthaltsort  Schwabes  an.  Zesen  in  Bellins  Sendeschreiben  (1647)  will 
in  einem  sonderbahren  Büchlein  die  uhralten  Heldenyesänge,  des  Ernst  Schicahens  von  der 
Heiden  überaus  schöne  und  fast  ganz  vollkommene,  wieivohl  sehr  alte  (jetichte,  und  anderer 
davon  auch  H.  Buchner  schreibet,  ans  Tageliecht  bringen:  diese  Ausgabe  Zesens  ist  jedoch 
nicht   erschienen.     Vgl.  auch  Schütze  Schnorrs  Arch.  14,    244  fgg.  11)  Buchner,  geb. 

zu  Dresden  1591  ,  starb  als  Prof.  in  "Wittenberg  1661 :  W.  Buchner,  A.  B..  sein  Leben  und 
Wirken.  Hannover  1863.  Seine  Poetik  erschien  als  Kurzer  Wegweiser  zur  Deutschen  Ticht- 
kunst  in  unrechtmässiger  Ausgabe  durch  G.  Gözen ,  Jena  1663;  in  rechtmässiger  durch 
Praetorius:  Anleitung  zur  deutschen  Poeterey,  Wittenberg  1665,  Der  Poet  ebd.  1665.  Bei 
Göz  ist  niemals  von  einer  früheren  Ausgabe  die  Rede.  Die  zahlreichen  Verweisungen  auf 
Buchners  Poetik,  welche  man  schon  lange  vor  1663  findet,  können  sich  auf  Abschriften 
seines  Entwurfs  oder  auf  Nachschriften  nach  seinen  Vorträgen  beziehen.  Dies  wird  auch 
durch  die  Verschiedenheit  der  Titel,  unter  denen  sie  citiert  wird,  wahrscheinlich:  vgl. 
hierüber  auch  W.  Buchner  S.  66.  Trotzdem  setzen  manche  eine  Ausgabe  der  Poetik 
Buchners  auf  1642  an  (dass  sie  vorher  noch  nicht  ausgegangen  w»r.  sagt  Titz  ausdrücklich); 
allein  selbst  Borinski.  der  diese  Meinung  ebenfalls  S.  133  ausspricht,  bemerkt,  dass  Gözes 
Ausgabe  Hefte  voraussetzt,  welche  zwischen  1632  und  1634  und  zwar  nach  Dictat  geschrieben 
waren.  12)  Titz   bevorwortete    auch  Gottfried   von   Peschwitz  Jüngst- Erbauter  Hoch- 

teutscher  Parnass ,    Das   ist    Anmuthige    Formeln    u.  s.  w.     Jena    1663.  13)  Auch 


184  NEUJlüClIDEUTSCJIE  ZEIT.         XVII  JAIIKII.  §  120 

formen  vcrfasst.'*  Dann  trat  neben  Büchner,  der  in  der  Gesellschaft  als 
vorzüglichster  Kenner  der  deutschen  Metrik  galt,  der  Grammatiker  Justus 
Georg  Schottelius  '^  {der  Suchende  in  der  Fruchtbringenden  Gesellschaft 
genannt),  dessen  Teutsche  Vers-  oder  Jlcimlctinst,  zu  "Wolfenbüttel  1045  er- 
schienen ,  insbesondere  die  grammatische  Grundlage  der  Poetik  behandelte. 
Als  ein  Vertreter  der  Fruchtbringenden  Gesellschaft  mag  auch  auf  dem  Ge- 
biete der  Poetik  Georg  Neumark  "*  gelten  ,  welcher  Poetische  Tafeln  (Jena 
1667)  verfassfe  und  in  der  tabellarischen  Form  bereits  die  äusserliche  Auf- 
fassung dieser  spateren  Zeit  erkennen  lässt. 

Eigenartiger,  aber  auch  grcosseren  Irrungen  verf\illen,  waren  die  theo- 
retischen Vei-suche  der  anderen  Gesellschaften.  Am  kecksten  ging  Philipp 
Zesen  (§  124)  vor,  der  Stifter  der  tcutschgesimiteu  Genossenschaft,  der  seine 
Schreibfertigkeit,  seine  ebenso  begeisterte  als  geistig  beschränkte  Hingabe 
an  litterarische  Bestrebungen  auch  der  Poetik ,  insbesondere  ihrem  formellen 
Theile  zuwandte.  Sein  Deutscher  Helikon ,  der  auch  ein  Reimwörterbuch 
enthielt,  erschien  Wittenberg  1640  und  in  einer  Reihe  weiterer  Auflagen," 
denen  sich  noch  mehrere  Erläuterungsschriften  '^  anschlössen.  Zesens  Über- 
treibung der  Sprachreinheit,  die  sich  auch  in  einer  vielfach  unverständlichen 
Verdeutschung  der  Kunstausdrücke  '^  äusserte,  seine  orthographischen  Neue- 
rungen,^" seine  masslose  Anpreisung  ganz  nebensächlicher  Verdienste  um  die 
Form  zogen  ihm  frühzeitig  den  Tadel  der  Verständigen  und  immer  aufs  Neue 
den  Spott  der  Lachlustigen  zu.^^     Andererseits  fehlte  es  ihm  allerdings  auch 

Tscherning  gab  eine  Deutsche  Schatzkammer  von  schönen  und  poetischen  redensarten  u.  s.  w. 
bei.  14)  Krause,  Erzschrein  219.     Gedruckt  zu  Cüthen  1640.  15)  Geb.  zu  Eimbeck 

1612,  seit  1638  zu  "Wolfenbüttel  in  ansehnlichen  Ämtern,  gest.  1676.  Schottet  gebraucht 
mehrfach  die  Ausdrücke  der  Meistersänger:   Borinski  165.  16)  Geb.  1621  zu  Langen- 

salza ,  nach  längerem  bedrängtem  Wandern  in  Norddeutschland ,  wo  er  sich  in  Hamburg, 
in  Königsberg  (als  Studierender)  und  in  Danzig  aulhielt,  seit  1652  in  Weimar  als  Sekretär, 
gest.  1681.  Nach  der  AUg.  D.  Biogr.  wären  seine  Poetischen  Tafeln  schon  Thorn  1649 
erschienen.  17)  2.  Aufl.  AVittenberg  1641,    3.  1649.  4.  Jena  1656.  18)  Scala 

Heliconis  Teutonici,  Amsterdam  1643.  Deutsch-InteiniscJie  Leiter  zum  hochdeutschen  Helicon, 
Jena  1656.  Hochdeutsche  Heliconische  IlecJiel  oder  des  Hosenmohnds  zweite  Woche,  Ham- 
burg 1668.  Dazu  kommen  einzelne  Erörterungen  in  Zesens  „Sendeschreiben",  welche  z.  Th. 
in  der  Samm.lung  von  Bellin,  Hamb.  1647  sich  finden,  theils  für  sich  (o.  0.  1664)  erschienen 
sind;  sowie  mehrere  Abschnitte  der  mehr  grammatischen  Arbeiten  Zesens:  Anm.  43. 
19)  Im  Helicon*  1.  171  wird  z.  B.  der  jambische  Trimeter  bezeichnet  als  der  dreihändige 
fohtändige  Steigende.  Auf  die  Mahnung  Dietrichs  v.  d.  Werder  hat  Zesen  denn  auch  dem 
Helicon  einen  erklärenden  Anzeiger  seiner  Verdeutschungen  vorausgeschickt.  20)  S.  Anm.  54. 
21)  Ein   Brief  Ludwigs  von  Anhalt  bei  Krause,   Erzschrein  424.     Andere  Äusserungen  s. 


I 


§  120  POETIK.  185 

nicht  an  blinden  Anbetern  und  Nachbetern,^-  und  selbst  von  berufener  Seite 
ward  das  Richtige  in  seinen  Ansichten  spater  anerkannt.-^ 

Klüger  und  massvoller  zeigten  sich  die  Theoretiker  des  Blumenordens 
an  der  Pegnitz  in  ihren  formellen  Bestimmungen ;  wsehrend  sie  zugleich  die 
Gattungen  der  Poesie  über  die  von  Opitz  gezogenen  Grenzen  hinaus  zu  er- 
weitern suchten.  Georg  Puilipp  Harsdcerfer  (s.  §  125)  schliesst  sich  in 
den  Grundlagen  an  Schottel  an :  sein  Poetischer  Trichter,  Die  Teutsche  Dichf- 
und  Reimkunst  ohne  Behuf  der  Lateinischen  Sprache,  in  VI  Stunden  eimu- 
giessen  erschien  Nürnberg  1647,-*  ein  II.  Theil  1648,  ein  III.  1653.  Im 
II.  werden  namentlich  die  Schauspiele  eingehender  als  sonst  behandelt  und 
dem  Hirtenspiel,^^  einer  bei  der  Nürnberger  Dichterschule  besonders  beliebten 
Gattung,  ein  eigener  Abschnitt  gewidmet.  Der  III.  enthält  ein  alphabetisches 
Verzeichniss  von  Poetischen  Beschreibungen,  verblümten  Reden  und  Tiunstzier- 
lichen  Ausbildungen.-^  Erbauliche  Zwecke  bevorzugt  Siegmund  von  Birken 
(§  125),  der  zu  Nürnberg  1679  eine  Teutsche  Rede-Und-  und  Dichthinst, 
oder  Tcurtze  Anweisung  zur  Teutschen  Poesy  erscheinen  Hess.-''  Endlich  ver- 
fasste   Magnus    Daniel  Omeis  ^^    eine    Gründliche    Anleitung   zur    Teutschen 

Anm.  32  und  §  130  (Rachel).   §  135,    20  (Weise).  22)   Insbesondere    vertrat  Johann 

Bellin  (geb.  in  Pommern  1618,  gest.  1660  als  Rektor  zu  Wismar)  Zesens  Ansiebten. 
23)  So  von  Leibnitz  Unvorgreifl.  Gedanken  §  65.  Eccard  Eist.  stud.  etym.  p.  233.  24)  Neue 
Aufl.  1650.  Eine  mebr  der  Sprache  und  ihrer  Geschichte  zugewandte  Schrift  ist  Harsdörfers 
Specimen  philologifxe  germanicae,  Nürnberg  1646.  25)  Harsdörfer  XII.  Stund  S.  99  über- 
setzt es  durch  Satyra,  unterscheidet  sie  aber  von  den  Strafgedichten,  so  das»  er  mit  der  erstem 
Art  wohl  Satyrspiele  meint.  Von  ihr  trennt  er  auch  die  undramatischen  Hirtengedichte.  Die 
Hirtenspiele  waren  durch  die  Italiener  besonders  ausgebildet  worden,  welche  sich  nach  Hars- 
dörfers Bericht  viel  darauf  zu  Gute  thaten  ;  ihre  spätere  Beliebtheit  erklärt  sich  aus  der  Un- 
natur des  Hoflebens,  welches  hier  unter  der  Maske  der  Unschuld  und  Einfalt  bald  den  Fürsten 
zu  schmeicheln,  bald  ihnen  sinnliche  Lust  zu  gewähren  suchte.  Die  Unbestimmtheit  der  Kunst- 
form zeigt  sich  auch  in  der  Mannigfaltigkeit  der  Namen:  Tassos  Amintas  wird  in  einer  Über- 
setzung als  „Wald-Gedichte"  bezeichnet,  Gottsched  Vorrath  195;  Guarinis  Pastor  fido  eine 
Tragicocomoedia  193.  Tragi  Comoedia  216:  ersterer  Name  begegnet  auch  für  eine  deutsche 
Nachahmung  195;  Hirtenspiel  261,  (ScÄä/ez-s/yzeZ  265  und  Freiesleben  Nachlese  92;  Schäfferey 
F.  43 ;  Pastoral  263 :  Pastorella  Gottsch.  272,  Pastorell  47,  Pastourelle  F.  65.  Auch  die 
„  Wirtschaften"  der  Höfe.  Maskeraden  mit  dramatischen  Einlagen,  schliessen  sich  an.  26)  Dgl. 
nach  dem  Muster  der  für  die  lat.  Poesie  üblichen  eingerichtete  Aerarien  wurden  w^ie  die  Reim- 
lexica  für  die  Praxis  viel  benutzt  und  von  andern  nachgeahmt.     Anm.  12.  13.  27)  Wie 

Harsdörfer,  so  bezeichnete  sich  auch  Birken  auf  dem  Titel  nur  als  ein  Mitglied  der  Frucht- 
bringenden Gesellschaft,  Birken  mit  Beifügung  seines  Gesellschaftsnamens:  der  Envachsene. 
Seine  Regeln  erläuterte  er  mit  Geistlichen  Exempeln;  angehängt  ist  das  Schauspiel  Psyche 
und  ein  Schäfergedicht  Der  Norische  Föhns.         28)  Geb.  1646  zu  Nürnberg.  1674  Prof.  zu 


186  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVH  JAHRH.  §  120 

accuraten  Beim-  und  DichtJcunsf,  Nürnberg  1704,  worin  bereits  die  verwand- 
ten Schriften  von  Morhof  und  Weise  (Anm.  37)  stark  benutzt  sind. 

Denn  die  llegelstrengc  und  Wcrthschätzung  der  äusserlichen  Sorgfalt 
und  Zierlichkeit  der  älteren  Dichter  liatte  inzwischen  Gegner  gefunden,  welche 
einer  einfacheren,  lässigeren  Uehandlung  das  Wort  redeten.  Wie  schon  Val. 
Andreae  sich  die  Freiheit  der  rasch  hingeworfenen  Dichtung  gewahrt  hatte,-'' 
wie  überhaupt  die  südwestdeutschen  Dichter  gegen  die  genaue  Beobachtung 
der  Regeln  von  Opitz  sicli  gesträubt  (§  122),  so  trat  nun  der  Künstelei  von 
Zesen  u.  a.  gegenüber  vielfach  eine  Wendung  zum  Natürlichen,  selbst  zum 
Prosaischen  hervor.  Ihr  liehen  Lauremberg  (§  IBO),  dann  Johann  Balthasar 
Schupp  (§  131)  kräftige  Worte.  ^°  Auch  die  Comoüdie  bemächtigte  sich  des 
dankbaren  Stoffes,  welchen  die  geistlose,  aber  eingebildete  Gelehrtendichtung 
darbot."  Gegen  Ueberkunst  und  gegen  Unkunst,  die  er  in  der  Person  Hans 
Wursts  zusammenfasste ,  wandte  sich  unter  dem  Namen  Hartmann  Reinhold 
der  Frankfurter  Gottfried  Friedrich  Sacer^'  mit  der  durchweg  ironischen 
Schrift  Reime  dich  oder  ich  fresse  dich.,  Nordhausen  1G73.  Der  Ilauptgegner 
aber  aller  Yerstiegenhcit  war  Christian  Weise  (§  135),  dessen  Curiöse  Ge- 
dmiken  von  Deutschen  Versen  Leipzig  1692  erschienen.  Weise  hat  über  seine 
Behandlung  des  Dramas,  der  von  ihm  hauptsächlich  gepflegten  Gattung,  sich 
spaeter    noch    gelegentlich    ausgesprochen ,  ^^  wie    nach    ihm    Barthold    Feind 

Altdorf,  gest.  1708.  Seine  Poetik,  welche  als  Anhang  eine  Deutsehe  Mythologie,  d.  h.  eine  alpha- 
betisch geordnete  Darstellung  der  antiken  (iottheiten  bietet,  erschien  in  2.  Aufl.  1712.  29)  LB.  2. 
343.  30)  Schuppe  sagt  in  der  Vorrede  zu  seinen  Morgen- und  Abendliedern,  Schriften  S.  935: 
„Ob  das  Wörtlein  und,  die,  das,  der,  ihr  und  dergleidten,  kurtz  oder  lang  seyn, 
daran  ist  nur  und  allen  3Iuscquetirern  in  Stade  und  Breuien  wenig  gelegen.  Welclier  Rom. 
Käyser ,  ja  welcher  Apostel  hat  ein  Gesetz  gehen,  dass  man  einer  Sylben  halben,  dem 
Opitio  zu  Gefallen,  solle  einen  guten  Gedancken.  einen  guten  Einfall  fahren  lassen?" 
31)  Der  Pedantische  Irrthum  Des  überwitzigen  doch  sehr  betrogetien  Schulfuchses  .  .  Rappers- 
weil  1673:    s.  R.  Köhler,    Kunst  über  aUe  Künste,  Berlin  1864,  S.  XXVI.  32)  Diesen 

Verfasser-Namen  gibt  die  Schrift  Unvorgreißiches  Bedenken  über  die  Schriften  der  bekann- 
testen Poeten  hochdeutsclier  Sprache  von  M.  E.  C.  P.  C.  Königsberg  1681  an,  welche  man 
gewöhnlich  Martin  (von)  Kenipe  zusehreibt,  die  aber  vielleicht  Michael  Kohngehl  angehört; 
während  Morhof  u.  a.  Joh.  Riemer,  den  Verfasser  einer  Lustigen  Ehetor ica ,  Merseburg 
1681,  hinter  dem  Pseudonym  gesucht  hatten.  Sacer  war  geb.  zu  Naumburg  1635,  starb 
als  Kanimerconsulent  zu  Braunschweig  1699.  Gegen  Sacer  hatte  sich  Zesen  schon  1668  ge- 
wandt, s.  §  124,  31.  Dass  Rist  dem  Pseudonymus  wie  Sacer  als  poetisches  Muster  gilt,  ist 
nicht  zu  übersehen.  Der  Nebentitel  von  „Eeim^e  dich  oder  ich  fresse  dich" :  Antipericata- 
metanaparbeugedamphirribificationes  poeticae  ist  einem  Scherze  Schupps  au  der  in  Anm.  30 
erwähnten  Stelle  abgeborgt,  während  doch  der  Verfasser  sonst  auf  Schupp  stichelt.  33)  In 


§  120  POETIK.     LITTE  RATURGESCIIICHTE.  187 

(§  137,  28)  in  der  Vorrede  zu  seinen  Deutschen  Gedichten  (Stade  1708) 
seine  GedancJcen  von  der  Opera  niederlegte. 

Die  Regeln  der  Hofpoesie,  wie  sie  sich  unter  dem  Einfluss  der  franzoe- 
sischen  Dichter  unter  Ludwig  XIV.  gestaltet  hatte,  fasste  Hunold  (§  135,  2G) 
zusammen  in  der  unter  dem  Namen  Menantes  verfassten,  auf  einem  Heft  von 
Erdmann  Neumeister  beruhenden  Schrift  Die  allerneueste  Art  zur  reinen  und 
galanten  Poesie  zu  gelangen  (Hamburg  1717);  wsehrend  Johann  George 
Neukircii  mehr  der  studierenden  Jugend  zu  dienen  suchte  durch  seine  An- 
fangs-Gründe zur  'Reinen  Teutschen  Poesie  Jtsiger  Zeit  (Halle  1724).^* 

Schon  war  aber  damals  die  Zahl  der  Dichter  seit  Opitz  so  gross  und 
ihre  Verschiedenheit  so  deutlich  geworden,  dass  das  Bedürfniss  einer  Lit- 
teraturgeschichte  hervortrat.  Hatten  schon  früher  ^^  einzelne  Dichter  selbst 
mit  Wohlgefallen  ihre  Schar  gemustert,  so  ward  nunmehr  der  Versuch  einer 
Abschätzung  der  Verdienste  der  Einzelnen  gemacht.  Im  Zusammenhang 
nicht  nur  mit  der  älteren  deutschen  Dichtung,^*'  sondern  der  gesammten  Lit- 
teratur  der  Renaissance  beurtheilte  sie  Daniel  George  Morhof^'   in  seinem 


der  Vorrede  zur  Comödieu  Probe,  Leipz.  1695 :  De  interpretatione  dramatica.  34)  Kaum 

verdieneu  Erwaehming  elende  Machwerke  wie  Erdmann  Uhseüs  Wolinformirter  Poet  100- 
rinnen  die  poetischen  Kunstgriffe  .  .  durch  Frag  und  Antwort  .  .  erkläret  %oerden,  Leipzig 
1715  u.  a.  35)    Zesen    in    der    Lustinne  1645:    s.  LB.  2,  .505  fgg.     Inf  Ehreukrantz 

1644  (§  114,  4),  S.  193  werden  genannt:    Opitz,  v.  d.  "Werder,   Ristius,  Lohausen,  Plavius 
Caesius,  Tscherning,  Freinshemius,  Buchnerus,  Bucholtz,  Böhm,  Seladon,  Weckerlin,  Lundius 
Fleming,  Brem,  Rumpier,  Schneuher.     Eine  stattliche  Anzahl  führt  W.  Scherffer  Geist-  und 
weltliche   Gedichte   (1652),    S.    664    auf:    Apeües,    Augspurger,    Albinus,    Arnold;    Barth 
Buchner,  Bachmann,  Bundschuh,    Brehme,    Betulius,    Buchholtz ,    Böhme,  Beling,  Blümel 
Bert;    Dache;  Frensheim,    Flämming,    Finckeltaus,    Fischer,    Finx;  Gräblinger,  Gryphius 
Gweintz,  Greflinger,  Grumnier ;  Hannemann,  Hübner,  Harssdörfer,  Hartman,  Heerman,  Hom- 
burg, Hund,  Held,  Hentsche ;  Köler,  Klajus,  Knaust,  Kutler,  Kaldenbach,  Kirstenius;  Lond, 
Lucius,  Löber;    Moscherosch,  Milag,  Möller;    Olearius,  Ortlob;    Plavius,   Peuker,  Petermau 
Rist,    Rümpler,    Rinkart;    Schotteliu,    Scholl,    Schneider,    Schlutter,    Schmied,    Schneuher 
Simmler,  Schoch,  Schultz;    Tschernig,  Titz,    Tülsuer;    Wekkerlin,  Winkler;    Vogel;   Zepko 
Zese,  Zigler.     Opitz  war  vorher  genannt;  Logau  fehlt  merkwürdigerweise,  da  er  doch  den- 
selben   Herzögen    von    Brieg    diente   wie    Schertfer.      ScherfFers    Liste    scheint    übrigens    die 
etwas  kürzere  von  Harsdörfer  Specimen  195  zu  Grunde  gelegt    zu   haben ,  wo   jedoch    noch 
Dietrich  von  dem  Werder  und  Scherffer  von  ScherfTenberg  dazu  kommen  und  anstatt  Köler 
—  Kellner,  anstatt  SchöU  —  Schill  genannt  werden.  36)  Als  einen  Vorgänger  in  der 

Übersicht  über  die  verschiedenen  Zeiträume  der  deutschen  Litteraturgeschichte  nennt  Morhof 
S.  254  Kakl  Ortlob  ,  welcher  (Wittenberg  1654)  eine  Dissertation  de  variis  germa- 
nicae  poeseos   aetatibus   geschrieben;    s.  darüber   Gottsch.  ßeitr.  1,    280.  37)  Geb.  zu 


188  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVH  JAHRH.  §  120 

Unterricht  von  der  Teiitschcn  Sprache  und  Poesie  (Kiel  1682).  Dagegen  be- 
schränkte sich  auf  ein  alphabetisches  Register  mit  kritischen  Bemerkungen 
die  an  sich  reichhaltige  Aufzfchlung  von  M.  N.  E.  d.  h.  Erümann  Neu- 
meister ^*  Spccimen  disscrtationis  .  .  de  j)0'ttis  Germanicis  hujus  smculi 
pr(ücipuis  1706. 

Es  knüpfte  aber  die  Poetik,  so  weit  sie  sich  mit  der  äusseren  Form 
befasste,  nothwcndiger  Weise  an  die  Grammatik  an:  war  doch  die  Rein- 
haltung und  Ausbildung  der  Sprache  noch  mehr  der  ausgesprochene  Zweck 
der  litterarisclien  Gesellschaften  als  die  dichterische  Production.  Der  Stolz 
auf  die  uralte  Heldoisprachc  war  in  mitten  des  Jammers  und  der  Schmach 
ein  letzter  Trost. ^^  Mit  übertreibender  Bewunderung  wies  man  hin  auf  ihre 
Vorzüge ,  ihre  IJildsamkeit  und  Ausdrucksfahigkeit.^'^  Man  wünschte  die 
deutsche  Sprache  auf  den  Universitäten  als  Unterrichtsgegensland  eingeführt 
zu  sehn.^'  Ihrem  Studium  widmete  sich  neben  dem  wissenschaftlichen  Ernst 
auch  die  dichterische  Begeisterung.*-  Yor  allem  war  Zesen*'  in  diesem 
Sinne  thsetig,  der  alles  Fremde  aus  Wort-  und  Schreibgebrauch  zu  verdrängen 
suchte,  aber  freilich  durch  die  Willkür  und  Geschmacklosigkeit  der  von  ihm 


"Wismar  1639,  seit  1665  Prof.  in  Kiel,  gest.  auf  einer  Reise  zu  Lübeck  1691.  Sein  Unter- 
richt ward  in  vermehrter  Aufl.  Lübeck  u.  Frankfurt  1702  (nach  welcher  hier  citiert  ist) 
und  nochmals'  1718  abgedruckt.  38)  Geb.  zu  Uechtritz  bei  Weissenfeis  1671,  seit  1704 

Prediger  am  Hofe  von  Weissenfeis.  1715  zu  Hamburg,  starb  17.56.  Eine  Übersicht  der 
Dichter  in  dieser  späteren  Zeit  gibt  auch  Omeis  S.  .56  fg.  39)  Viel  verhandelt  wurde 

über  die  Frage,  ob  die  deutsche  Sprache  wie  alle  andern  eine  Tochter  der  hebräischen  sei 
oder  ob  sie,  wie  dies  für  die  cimbrische,  d.  h.  niederländische  Goropius  Becanus,  andere 
für  die  schwedische  behauptet  hatten,  vielmehr  als  der  Ursprache  am  nächsten  stehend  zu 
gelten  habe.  In  Krauses  Erzschrein  241  fgg.  verhandeln  Gueinz,  Rector  zu  Halle,  und 
Schottel.  dessen  deutschthümelnden  Ansichten  Ludwig  von  Anhalt  beitritt,  über  diese  Frage : 
beide  Parteien  haben  Recht,  wenn  sie  die  Etymologien  der  Gegner  ablehnen.  Später  be- 
zeichnet Morhof  S.  6  das  Deutsche  als  Schwestersprache  des  Hebräischen.  40)  Nament- 
lich der  onomatopoetische  Reichthum  wird  gern  hervorgehoben:  von  Schottel,  ausführliche 
Arbeit  S.  62  fgg..  von  Harssdörfer .  Gespr.  Sp.  3,  288:  von  W.  Scherffer.  der  z.  B.  den 
Lärm  des  Vieh-  und  Gefiügelhofs  schildert  (S.  137):  das  wiegern,  das  hölken ,  das  blöken, 
das  tadern,  das  quitsclien,  das  zitschen,  das  pipeti ,  das  schnadern.  Feiner  ist  das  Lob 
Logaus  LB.  2,  482,  7,  der  ebd.  476,  29.  39  die  Herzlichkeit  der  deutschen  Sprache  preist. 
Gegen  das  Nachahmen  der  Thierstimmen  u.  s.  w.  wendet  sich  Morhof  S.  595  fg. 
41)  Harsdörfer  Specimen  philologiae  germanicae  p.  95.  42)  Elias  Caspar  Reichards 
Versuch  einer  Historie  der  deutschen  Sprachkunst.  Hamburg  1747.  R.  v.  Raumer  Gesch. 
d.  germ.  Philologie,  S.  70  fgg.  185  fgg.  H.  Rückert  Gesch.  der  nhd.  Schriftsprache  (Leipzig 
1875).  2,  283  fgg.             43)  So  schon  in  :   Hooch-Deutsclie  Spraa-chiibung,    Hamburg  1643. 


§  120  SPRACHLEHRE.  189 

vertretenen  Sache  mehr  schadete.  Wissenschaftliche  Vertiefung  dagegen  er- 
strebte Schotte!,  insbesondere  **  durch  seine  Ausführliche  Arbeit  von  der  Teut- 
schen  Hauhtsprache  (Braunscliweig  1663):  gestützt  auf  eine  reiche  Kcnntniss 
vor  allem  der  niederdeutschen  Dialecte  unternahm  er  das  Gresetzmsessigo  der 
Schriftsprache  festzustellen  und  durchzuführen.  Von  den  zahlreichen  practi- 
schon  Grammatiken  erlangte  die  von  Johann  BacDiKER,"*''  Grundsätze  der 
deutschen  Sprachen  (Cöln  a.  d.  Spree  1690)  ein  dauerndes  Ansehn  und  er- 
hcehtere  Brauchbarkeit  in  der  durch  Jon.  Leonhard  Frisch*'^  Verbesserten  Auf- 
lage Berhn  1723.  Frisch  selbst  erwarb  sich  hervorragendes  Verdienst  durch 
sein  Teutsch-Lateinisches  Wörter-Buch^  Berlin  1741,  welchem  seine  reiche 
Kenntniss  der  deutschen  Mundarten  und  der  Nachbarsprachen  sowie  die 
Heranziehung  der  älteren  Schriftdenkmseler  einen  Werth  gegeben  hat,  der 
in  Bezug  auf  die  Kunstwörter,  d.  h.  die  in  einzelnen  Gewerben  und  Hand- 
werken üblichen  Ausdrücke,  noch  heute  besteht.'*^  Dagegen  gehalten  tritt 
weit  zurück  Der  teutschen  Sprache  Stammbaum  und  Fortwachs  oder  teutscher 
Sprachschats  von  dem  Spaten  (Caspar  Stieler), ^''  Nürnberg  1691. 


dann  in  seinem  Bosenmänd,  Hamburg  1651  und  in  zahlreichen,  seinen  poetischen  Schriften 
sowie  seineu  Sendeschreibeu  eingeflochteuen  Bemerkungen.  Bellin  (Anm.  17)  u.  a.  such- 
ten die  Ansichten  ihres  Meisters  zu  verbreiten.  Rumpier  war  unabhängig  von  Zesen 
auf  ähnliche   Gedanken  gekommen.  44)    Schottel   sammelt  darin    auch   die   deutschen 

Eigennamen  und  Sprichwörter.  Eine  Teutsche  Sprachkunst  hatte  er  schon  1641  zu  Braun- 
schweig, und  wiederholt  1651  erscheinen  lassen.  Seinen  Ansichten  von  der  geschichtlichen 
Entwicklung  der  Sprache,  die  nur  durch  Nachlässigkeit,  Klügelei  und  Streit  von  ihrem 
Ursprung  abgewichen  sei,  gab  er  Ausdruck  in  einer  Art  Roman :  Horrendiim  Bellum  gram- 
maticale  Teutonum  antiquissinium,  Braunschweig  1673,  der  Nachahmung  einer  lateinischen 
Schrift  von  Joh.  Spangenberg,  Bellum  grammaticale  (zwischen  Amo  und  Poeta)  iterum  ed. 
Schneider,  Güttingen  1887.  —  Gleichzeitig  mit  Schotteis  Sprachkunst  erschien  von  Chn. 
Gueinz,  dem  Ordnenden:  Deutsclier  Sprachlehre  Entwurf,  Cüthen  1641,  eine  von  Fürst 
Ludwig  durchgesehene  Arbeit :  Krause  Erzschr.  S.  258  fgg.  Gueintz  betonte  den  usua, 
Schottel  die  ratio;  jener  behauptete  den  Vorrang  der  meissuischen  Mundart,  dieser  bestritt 
ihn.  45)  Geb.   in    Pommern   1641 ,    gest.   als   Rector   des    cülnischen   Gymnasiums   zu 

Berlin  1695.  46)  Geb.    zu  Sulzbach   in    der    Oberpfalz    1666,    nach    längeren   "Wande- 

rungen seit  1698  am  Gymn.  zum  grauen  Kloster  in  Berlin  thätig,  gest.  1743.  47)  Frisch 
entsprach  hiermit  einer  damals  noch  nicht  veröffentlichten  Forderung  von  Leibnitz:  Un- 
vorgreifl.  Ged.  33.  48)  Stieler  war  zu  Erfurt  geb.  1632  und  starb  daselbst  nach  einem 

wechselvoUeu  Leben  1707.  Seine  Arbeit  erfüllte  einen  alten  Wunsch  der  Fruchtbringenden 
Gesellschaft,  welcher  er  als  der  Spate  angehörte:  vgl.  die  Verhandlungen  über  ein  deutsches 
Wörterbuch  von  Fürst  Ludwig,  Schottel,  Harsdörfer  u.  a.  in  Krause  Erzschr.  S.  12  fg., 
387  fgg.     Ihnen  galt  das  unvollendet  gebliebene  Wörterbuch  von  Georg  Henisch.    Teutsche 

Wackernagel,  Litter.  Geschichte,  II.  13 


190  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVH  JAHRH.  §  120 

Die  erste  Anforderung  an  die  Sprache  der  Dichtung  war  die  Reinheit, 
welche  insbesondere  durch  das  Eindringen  der  Fremdwörter  gefährdet  war 
(§114,  3  fgg).  Indem  man  diese,  soweit  sie  nur  für  deutsche  Wörter 
und  Wendungen  eintraten,  zu  vermeiden  suchte,*^  überschritt  man  freilich 
oft  das  Ziel  und  unternahm  es  auch  die  längst  eingebürgerten  Lehnwörter, 
oder  wie  man  sie  damals  nannte,  Bastiird Wörter''"  auszumerzen  und  dafür 
deutsche  einzusetzen,  welche  zum  Theil  der  älteren  Sprache,^'  seltener  den 
Mundarten  entlehnt,  meistens  aber  neugebildet  wurden:^-  das  letzte  geschah 
fast  stets  durch  Zusammensetzung,  welche  nothwendig  eine  gewisse  Schwer- 
fälligkeit und  Weitläufigkeit  mit  sich  brachte  und  dadurch  der  ganzen  Be- 
strebung nach  Reinheit  Missfallen  und  Widerspruch  zuzog.  Darin  aber  kam 
man  überein,  dass  Fremdwörter  und  besonders  Namen  ihre  fremde  Endung 
mit  der  deutschen  vertauschen  und  durch  Annahme  deutscher  Buchstaben 
sich  auch  äusserlich  der  deutschen  Umgebung  einfügen  sollten.^' 

Sodann  aber  ward  die  Richtigkeit  der  Rede  verlangt,  zunächst  die  der 
Schreibung,  Auch  hier  fehlte  es  nicht  an  Übereifrigen,  welche  theils  die 
Schreibung  der  Aussprache  noch  enger  anzuschlicssen  theils  auch  hier  un- 
deutsche Buchstaben,  wofür  man  c  (i  v  y  x  erklaerte,  zu  beseitigen  versuch- 
ten.^* Wenn  auch  dies  keinen  Erfolg  hatte,  so  setzte  sich  doch  mehr  und 
mehr  die  Forderung  durch,  dass  mundartliche  Formen  ^^  nicht  mehr  geduldet 


Sprach  und  Weissheit  (der  letztere  Ausdruck  weist  auf  die  darin  gesammelten  Sprich- 
wörter), 1  Augsburg  IGIG  ,  als  Muster.  49)  Auch  darin  folgte  man  dem  Ausland.  In 
Frankreich  hatte  Henri  Estienne  1579  über  den  nouveau  langage  italianize  geschrieben. 
Die  Crusca  (§  115,  9)  hatte  der  Fruchtbringenden  Gesellschaft  das  Vorbild  der  Sprachreini- 
gung gegeben.  In  Holland  waren  der  Historiker  Hooft,  der  Mathematiker  Stevin  in  gleichem 
Sinne  vorgegangen:  dem  erstem  gehört  z.  B.  die  Neubildung  Stadhonchr  für  Lieutenant  an, 
die  als  Statthalter  ins  Deutsche  überging.  50)  Wolff.  Purismus  Gl.  51)  Hier  ist 
besonders  Harsdörfer  zu  nennen,  welcher  im  Specitnen  philologiae  gemumicae  den  Ausdruck 
Witdod,  welchen  er  als  Philosoph  deutete,  wieder  erneuern  und  daneben  Wortdod  =  Phi- 
lolog  aufbringen  wollte.  Auch  Runipler  versucht  ähnliches.  Vor  allem  aber  zeigen  Zesens 
Wortdeutungen  und  Ableitungen  den  kindlichen  Zustand  des  deutschen  Sprachverständnisses. 
Sein  lebenslang  vorbereitetes  Stammbuch,  d.  h.  Verzeichniss  der  Stämme,  würde  ein  wahrhaft 
abschreckendes  Buch  geworden  sein.  Wie  sehr  ihm  durch  sein  Leben  in  der  Fremde  das 
Sprachgefühl  verloren  ging,  zeigt  die  Form  deszu,  welche  er  anstatt  desto  gebrauchte. 
52)  Vgl.  die  Liste  bei  Wolff  Purismus  130  fgg.,  doch  s.  auch  Schultz  Sprachgesellschaften, 
S.  37.  Rumpier  will  Kirche  und  Schule  durch  Bet-  und  Lehrhaus  verdeutschen.  53)  Opitz 
Poet.  cap.  VI.  54)  Am  weitesten  ging  hierin  Zesen,  von  dessen  Orthographie,  mit  welcher 
er  übrigens  wechselte.  LB.  2.  505  auch  eine  Probe  gibt.         55)  Opitz  stellte  in  einem  Brief 


§  120  VERSKUNST.  191 

werden,  Wortverstümmelungen  oder  Worterweiterungen  des  Verses  und  Reimes 
wegen  '"^  unerlaubt  sein  sollten.  Doch  wird  Hiatus '"''  vermieden,  indem  ein 
scliwaches  e  im  Auslaut  vor  vocalischem  Anlaut  getilgt  und  an  seine  Stelle 
ein  Apostroph  gesetzt  wird.  Von  besonderer  Wichtigkeit,  weil  dadurch  ein 
uraltes  Grundgesetz  der  deutschen  Sprache  auch  im  Versbau  wieder  zur 
Geltung  gebracht  wird,  ist  die  Forderung,  dass  die  Verse  entweder  jambisch 
oder  trochaisch  sein  sollen  d.  h.  dass  hoeher  betonte  Silben  mit  minder  be- 
tonten abwechseln  und  dass  aus  dem  Accent  der  Sprache  selbst  dieser  Unter- 
schied bestimmt  werden  soll.^^  Seit  Opitz  ist  die  Regel  nur  von  wenigen 
zurückgebUebenen  Dichtern  vernachlässigt  worden:  ausgesprochen^^  und  mehr 
oder  minder  streng  befolgt  hatten  andre  sie  schon  vor  ihm,  wie  sie  auch 
unabhängig  von  ihm  in  seiner  Zeit  angewandt  wurde.  ^°  Opitz  selbst  beruft 
sich  für  ihre  Anwendung  an  der  männlichen  Csesur  auf  Tobias  Hühner.*^' 
Für  die  weitere  Entwicklung  der  Theorie  aber  ward   der  Gebrauch  des  an- 

an  Venator  die  Regel  auf:  Veluti  ego  Silesiaca  dialecto  non  utor,  ita  neque  vestra  Älsatica 
uti  te  posse  imto.  Est  quoddam  quasi  Atticum  apud  Graecos  genus,  quod  LuÜ  cranum 
vodtare  per  me  potes :  hoc  nisi  sequaris,  erres  necesse  est :  Tscheruings  Uuvorgr.  Bedenken 
S.  40.  Dieser  Gebrauch  der  üblichen  Schriftsprache  schloss  nicht  ganz  aus,  dass  die  Reim- 
bindung eine  mundartliche  Aussprache  voraussetzte:  §  115,  19.  Opitz  verwirft  sogar  von 
seinem  Standpunkt  als  Schlesier  aus  Reime  wie  entgegen  :  pflegen ;  lehret  :  bescheret :  Poeterey 
cap.  7  (LB.  3,  1,  629),  die  anderwärts  wieder  keinen  Anstoss  erregten.  Vgl.  E.  Heilborn,  Die 
E-Reime  bei  Opitz:  Paul  u.  Braune  Beitr.  13,  567  fgg.  56)  LB.  3,  1,  630  fgg.  Opitz 
rechnet  hierher  auch  aus  Melissus  Eoi  Boesslein,  wo  vielmehr  unflectiertes  attributives  Ad- 
jectivum  vorliegt.  Dagegen  werden  Syncopen  und  Apocopen  von  süddeutschen  Theoretikern 
in  Schutz  genommen,  wie  z.  B.  von  JoH.  Ludwig  Prascu,  Gründliche  Anzeige  von  Für- 
trefßichkeit  und  Verbesserung  Teutscher  Poesie,   Regensbuig  1680  S.  15.  57)  LB.  8, 

1,  629,  mit  Berufung  auf  E.  Schwabe.  Vgl.  Scherer  Über  den  Hiatus  in  der  neueren  deut- 
schen Metrik  (Abhandl.  zu  Ehren  Th.  Mommsens  1884).  Opitz  dehnt  übrigens  die  Regel, 
wohl  durch  die  lateinische  und  romanische  Metrik  verführt,  auch  auf  die  Stellung  vor  h 
aus;  ebenso  Schottel,  wenigstens  als  Freiheit.  Über  den  ältesten  Gebrauch  des  Apostrophs 
8.  §  93,  68.  58)  LB.  3,  1,  634.     Opitz  erkennt  den  Unterschied  zwischen  der  deutscheu 

und  der  antiken  Metrik  ganz  richtig :  nicht  zwar  das  wir  auff'  art  der  grieclien  und  lateiner 
eine  gewisse  grosse  der  silben  (wir  würden  sagen :  länge)  können  in  acht  nehtiien.  59)  So 
in  der  Grammatik  des  Clajus  (§  93,  15.  94,  30).  Opitz  scheint  das  Gesetz  von  den  Nieder- 
ländern übernommen  zu  haben ,  wo  Abraham  van  der  Myle  es  1612  klar  gelehrt  hatte ,  s. 
die  Stelle  in  Hanmanns  Anmerkungen  zur  Prosodie  von  Opitz  (1690)  S.  82  fg.  66)  Von 
Rebhun  u.  a.  (§  94,  30.  105,  113).  Neben  Opitz  hat  F.  v.  Spee  den  Tonwechsel  genau 
beobachtet.  61)  Poeterey  Cap.  VII  wie  auch  ein  vornehmer  Mann,   der  des  Herren 

von  Bartas  Wochen  in  unsere  Sprache  übersetzt  hat,  erinnert.  Hübner  in  der  Vorrede  zu 
Die  andere  Woche  (1622)  sagt,    es   sei  nüthig,    dass  I.  allezeit   die  sechste  Sylbe  in  jedem 


192  NEUIIOCIIDEIITSCIIE  ZEIT.         XVII  JAIIIÜI.  §  120 

tikeii  Ausdrucks  für  den  Vcrsfuss  vcrliiingnissvoll ,  indom  sehr  bald"*  und 
Itist  allgemein  versucht  wurde  die  Verschiedenheit  der  deutschen  Betonung 
mit  den  (iuantitaDtsverhiiltnissen  der  antiken  Metrik  in  volle  Übereinstimmung 
zu  bringen:  dabei  musste  nothwendiger  Weise  die  Beurtheilung  der  Silben, 
welche  bald  kurz  bald  lang  gebraucht  wurden,  unlösbare  Schwierigkeiten 
verursachen,  •"'•*  sobald  man  nicht  auf  das  Touverhältniss  zu  den  näclistfolgen- 
den  Rücksicht  nahm. 

Die  Wörter  mit  zwei  unbetonten  Silben  hinter  einer  betonten  mussten 
die  Frage  nahe  legen,  ob  die  deutsche  Dichtung  nicht  auch  wie  die  antike 
dactylische  Versfüsse  gebrauchen  solle.  Da  sie  in  der  romanischen  ausge- 
schlossen waren,  so  waren  Opitz,  ^*  Ludwig  von  Anhalt *"'''  u.  a.  gegen  ihre 
Anwendung;  Büchner*^''  hielt  sie  für  Gedichte,  die  gesungen  oder  von  Musik 
begleitet  werden  sollten,  vorzüglich  geeignet,  und  andere,  insbesondere  Zesen 
und  die  Mitglieder  des  Pegnitzordcns  folgten  ihm  nach,  wobei  vielfach  das 
Versmass  selbst  in  Verbindung  mit  scliallnachahmenden  Wörtern  den  Ein- 
druck eines  recht  lebhaften  Gefühls  zu  machen  bestimmt  war.*^' 

Die  Spaltung  der  Ansichten  ging  noch  tiefer:  auch  der  Gebrauch  an- 
tiker Vers-  und  Stropheuformen  ward  bald  empfohlen  und  geübt,    bald   ver- 


Verss  oder  Reim  den  Abschnitt  oder  CcBSur  macht  und  helt,  derowegen  allein  masculinte 
terminationis,  das  ist,  enttveder  ein  einsylhig  ivort  seyn  oder  den  Accent  in  der  letzten 
Sylhe  haben   muss.  62)  Schotte!  (1645)   spricht  bereits   nur    von   langen   und    kurzen 

Silben  ohne  Rücksicht  auf  die  deutsche  Betonung  zu  nehmen.  Dagegen  sagt  Büchner 
richtig:  Die  Silben  seind  entweder  lang  oder  kicrtz,  welche  ihre  Beschaff'enJieit  in  unserer 
Teutschen  Poeterey  bloss  und  allein  aus  dem  thone  oder  ausrede  ermessen  wird  (Wegweisei- 
S.  115).  63)  Daher   spricht  Schotte!   von    drei  Arten    der  Wortzeit:    längere   kürzere 

mittlere:  und  andere  folgen  ihm  darin  nach.  64)  Poet.  VIII  (LB.  3,  634,  38).  Danach 
soll  der  Dactylus  zuexceilen  d.  h.  wohl  in  der  Caesur  der  jambischen  Verse  geduldet  werden. 

65)  Krause  Erzschreiu  218.  Doch  vgl.  231;  1643  schreibt  Ludwig  an  Harsdörfer  (ebd.  327) 
Hey  der  .  .  Jambisclien  Heldenart  wird  nochmals  guter  wolmeinung  erinnert,  das  keine 
Dactili  darinnen  mögen  gemischet  werden :  In  den  Dactilischen  und  Anai)estischen 
reimen   aber    mögen  sie  herummer  hüpfen   und  springen  wie  sie  kömien  und   vermögen. 

66)  Erzschrein  231  and  das  vorausgehende  Muster.  Nach  Buchner  nannte  Zesen  die  Dac- 
tylen  die  Buchner -Art.  Doch  gebrauchen  er  uud  andere  noch  eine  Menge  sonätiger  Be- 
zeichnungen: Schotte!  langgekürzt  (so  auch  Harsdörfer)  oder  abspringend;  Zesen  Helicon 
(1G5Ü)  46  der  rollende,  der  Färtige,  die  Dattel-  oder  Pahnen-art.  Ebenso  haben  auch  die 
anapaestischen  Versfüsse  mancherlei  Namen  erhalten  :  unter  ihnen  hält  Titz  C.  IX  die 
jambisch  anfangenden  für  die  angenehmsten.  67)  Auch  hierin  überschritten  insbesondere 
Zesen  einerseits,  anderseits  die  Pegnitzschäfer  jedes  Mass:  für  letztere  s.  LB.  509.  517. 
Doch  ermahnt  Harsdörfer  (Poet.  Tr.  !V  Stund)  diese  neuerfundenen  Reimgebünde  nur  zu 


I 


§  120  VERS-  UND  STROPHENFORMEN.  193 

pönt  oder  doch  beschränkt.  Im  ersteren  Fall  trat,  wenn  schon  seltener  mehr, 
das  Bestreben  wieder  hervor  auch  die  Gesetze  des  antiken  Versbaus  über 
Positionsliinge  u.  a.  zu  beobachten. ^^  Bemcrkenswerth  ist  für  die  Nicht- 
beachtung, welche  die  Zeit  allen  Versuchen  in  antiken  Versmasseu  entgegen- 
brachte, dass  auch  die  letzten  unter  ihnen  glauben  etwas  ganz  neues  auf  die 
Bahn  zu  bringen.'^''  Dadurch  dass  man  auch  in  antiken  Strophenforraen  den 
Reim  meistens  für  nothwendig  hielt,  ^"^  schuf  man  sich  weitere  Schwierig- 
keiten,'''  und  verletzte  überdies  das  Gefühl  der  strengeren  Kenner  der  latei- 
nischen Dichtung,  welche  die  leoninischen  Hexameter  des  Mittelalters  als 
Knüttelverse  verwarfen.  ^^  Etwas  günstiger  zeigte  sich  die  neue  Kunstdichtung 
den  Strophenformen  des  Alterthums,  insbesondere  der  sapphischen''^  und  der 
pindarischen:  begreiflich  da  die  franzoesischen  Dichter  sich  ebenfalls  dieser 
Formen  bedient  hatten,  freilich  mit  Abänderungen,  welche  sie  in  das  son- 
stige System  der  silbenzsehlenden  und  reimenden  Poesie  einordneten.  Auch 
hierin  folgten  die  Deutschen:  die  pindarische  Ode,  wie  Opitz  und  schon 
Weckherlin  und  noch  andere  sie  bauten,  hat  mit  dem  Vorbild  nur  die  Ein- 


Beschreihung  lustiger  Händel  zu  gehrauchen,  zur  Aufmunterung  und  zu  Lohgedichten  und 
Reimliedern,  keineswegs  aher  zu  traurigen  Erzehlungen,  Lehrgedichten  u.  dgl.  68)  So 

hatten  es  Clajus  u.  a.  gehalten  (§  94,  30)  und  so  hielten  es  im  17.  Jahrhundert  Emmeram 
Eisenbeck  mit  einer  reimlosen  Bearbeitung  des  CIV  Psalms,  Regensburg  1617  ua. : 
s.  Wackernagel  Gesch.  des  deutschen  Hexameters  und  Pentameters,  Kl.  Sehr.  2,  47  fgg. 
Zu  den  hier  aufgeführten  Namen  kommen  noch  JOH.  Heinrich  Alsted  ,  Theologe  zu 
Herborn,  von  welchem  Zesen,  Leiter  zum  Helicon  (Jena  1656)  S.  9  den  Anfang  des  Vater- 
unsers in  Hexametern  mittheilt,  und  der  Baseler  Johannes  Brandmüller,  geb.  1593,  gest. 
als  Pfarrer  zu  Mülhausen  i.  E.  1664,  mit  zwei  Gratulationsgedichten  zu  Baseler  Universitäts- 
feierlichkeiten 1621  und  1624:  s.  Vierteljahrsschrift  für  neuere  Litt.-Gesch.  I  S.  98  fgg. 
69)  So  noch  Karl  Gustav  Herseus  (§  136),  der  eine  gereimte  Elegie  zur  Geburtstagsfeier 
Kaiser  Karls  VI  1713  betitelt  als  Versuch  einer  neuen  teutschen  Reimart.  Hier  ist  Hexa- 
meter wie  Pentameter  nach  dem  deutschen  Accent  gebaut,  und  so  haben  auch  die  verstän- 
digen Vorgänger  es  gehalten:  S.v.  Birken,  Rede-  Bind-  und  Dichtkunst  S.  30,  Chr.  Weise, 
Curiöse  Gedanken  S.  436  fgg.,  welcher  übrigens  diese  Dichtart  als  lateinische  Pedanterey 
verwirft.  Morhof,  Unterricht  (1702)  S.  483  citiert  einen  sonst  unbekannten  Dichter,  der 
Opitz  in  Distichen  gepriesen.  70)  Eisenbeck,  Alsted,  Brandmüller,  Morhof  reimen  die 

Hexameter,  Pentameter  u.  s.  w.  nicht.  71)  Das  bemerkt  Weise  a.  a.  0.  72)  Schottel 
Vers-  oder  Reimkunst  II  2;  Zesen  Scala  Heliconis  (1643)  S.  7:  Leoninus  dicitur  Latinis 
Rophalicus  gerin.  Knittelversch ;  er  nennt  diese  Reime  auch  Knittelhardos,  Knittelversche, 
Pritzschmeisterverse.  Hier  ist  bereits  die  Übertragung  des  Namens  Knittelverse  auf  die 
volksmässigen  vierhebigen  Reimpaare  vorhanden.  Vgl.  auch  Schupp  LB.  3,  1,  793  unge- 
reimbte  Verse  und  Knüppelhardussen.        73)  Opitz  Poeterey  Cap.  VIII  (LB.  3,   1,  641) 


194  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVII  JAIIKII.  §  120 

thoilung  iu  Strophe,  Gogenstroplic  und  Epodos'^  gemeinsam,  wird  aber  aus 
jambischen  und  trochaischen  gereimten  Zeilen  zusammengesetzt.  Nur  für  die 
aus  Horaz  bekannten  Odentbrmen  ward  gelegentlich  der  Reim  bei  Seite  ge- 
lassen.'-^ 

Die  Stelle  des  antiken  Hexameters  als  heroisches,  des  Distichons  als 
elegisches  Mass  nalmi  nach  der  Lehre  der  Franzosen  der  Alexandriner  paar- 
weise oder  überschlagend  gereimt  ein.''*'  Und  so  ward  denn  dieser  franzö- 
sische, allerdings  auch  bei  den  Niederländern  eingebürgerte  Vers  in  Deutsch- 
land durch  Opitz,  wenn  auch  nicht  zuerst  eingeführt, '^  so  doch  für  erzfch- 
lende,  betrachtende  und  selbst  dramatische  Gedichte  zu  einer  ganz  überwie- 
genden Anwendung  gebracht,  welche  über  ein  Jahrhundert  lang  dauern  sollte. 
Nur  empfahl  Opitz  —  offenbar  um  die  Eintoenigkeit  des  Versmasses  zu  mil- 
dern —  das  Übergreifeh  des  Satzes  in  das  folgende  Reimpaar.'^  Neben  dem 
Alexandriner  behielt  der  fünffüssigc  Jambus  mit  männlichem  oder  weiblichem 
Reime  '  ^  eine  gewisse  Geltung,  die  sich  auf  den  Gebrauch  der  vers  commwis 
bei  den  Franzosen  stützte.  *° 

Diese  beiden  Versarten  wurden  auch  zu  abgeschlossenen  Strophenformen 
verbunden,  zum  Quatrain,^'  zum  Sixain,**^  und  vor  allem  zum  vierzehnzeiligen 
Sonett.^'  Gerade  in  der  letztgenannten  Form  haben  die  nach  Würde  und 
Kraft  des  Ausdrucks  strebenden  Dichter  jenes  Jahrhunderts  z.  Tb.  Vorzüg- 
liches geleistet.^* 


hält  es  mit  Ronsard,  nach  welchem  die  sapphische  Ode  nur  mit  Musikbegleitung  angenehm 
sein  könne.  74)  Als  deutsche  Namen  sind  Satz,  Gegensatz  und  Zusatz,  Nachsatz  oder 
Nachgesang  besonders  beliebt.  75)  S.  Wackernagel  Kl.  Sehr.  2,  53.  Brandmüller  reimt 
seine  Trochaeen,  Jamben,  anacreontischen ,  aristophanischen,  phalaeciscben  Verse,  dagegen 
nicht  die  sapphischen.  aklepiadeischen,  alcaischen  Strophen  und  die  Hexameter,  auch  wenn 
letztere  mit  anderen  Versen  verbunden  sind.  76)  Opitz   Poet.  VII   (LB.   3,    1,   635). 

77)  Schon  vor  ihm  hatten  Hübner,  Melissus,  Zincgref  und,  von  Opitz  selbst  angeführt,  E. 
Schwabe  von  der  Heyde  den  Alexandriner  gebraucht:  §  104,  12.  13.  15.  78)  Poeterey 
VII  LB.  636.  79)  Opitz  kennt  noch  die  Bezeichnung  der  Meistersänger:  stumpfe  und 
klingende  Reime  (Syllaben) :  Vorrede  zu  den  Psalmen  (Ausg.  von  1690:  S.  12).  80)  Poet. 
VII.  LB.  637.  81)  Opitz  nennt  sie  auch  vierversichte  Getichte :  Poet.  VII  (LB.  639). 
82)  Opitz  betitelt  ein  Gedicht  dieser  Art,  in  welchem  sich  die  Schlusswörter  in  allen  6 
Strophen,  aber  in  anderer  Stellung  wiederholen,  als  Sechstine  (LB.  2,  398);  Rumpier 
nennt  ein   solches    Sexerung.   Weckherlin    Sechster   oder    Stände.  83)  H.  Welti.    Ge- 

schichte des  Sonettes  in  der  deutschen  Dichtung,  Leipzig  1884.  Nach  holländischem  Muster 
übersetzte  man  den  Namen  mit  Klinggedicht  {so  schon  Opitz),  Klinggesang,  Klingreim. 
84)  Insbesondere  Weckherlin,  Opitz,  Flemming  LB.  2,  451,  welcher  auch  viermal  gehobene 


§  120  VERSKÜNSTELEIEN.  195 

Je  mehr  indessen  ein  tändelndes  Spiel  an  die  Stelle  des  Ernstes  trat, 
desto  mehr  drangen  auch  freiere,  aus  verschieden  langen  Yersen  zusammen- 
gesetzte Dichtungsformen  ein.  So  das  franzoesische  Rondeau,  das  schon 
Fischart  gekannt  ^^  (§  95,  29),  und  mit  noch  weiterer  Verbreitung,  das  ita- 
lienische Madrigal,  welches  Caspar  Ziegler  ^^  1653  mit  ausdrücklicher  Be- 
rufung auf  die  Vorliebe  der  Musiker  für  die  Composition  dieser  Gedichte 
empfahl.  ^^  Aus  dem  Franzcesischen  entlehnte  man  auch  das  Echo  oder  den 
Widerruf,  wozu  schon  Opitz  Beispiele  und  Anleitung  gibt.^® 

"Wie  hier  das  Ohr,  so  ward  auch  die  Schaulust  zu  reizen  versucht  und 
eine  schon  bei  den  Alexandrinern,  dann  in  der  Mönchspoesie  des  Mittelalters 
wohl  bekannte  Gattung,  die  der  Bildverse  neu  gepflegt. ^^  Selbst  SchotteP*' 
gibt  Muster  für  Gedichte  in  der  Form  eines  Eies,  einer  Pyramide,  eines 
Kreuzes;  dann  haben  die  Pegnitzschsefer  sich  auch  an  diesen  Kunststücken 
besonders  erfreut.^ ^  Eine  Künstelei  verwandter  Art  ist  das  Anagramm,  wel- 
ches Opitz  im  Aristarchus  ziemlich  ausführlich  behandelt,  das  sich  aber  auch 
sonst  vielen  Beifalls  erfreute.  Indem  hier  in  den  zufälligen  Buchstaben  des 
Namens  eine  besondere  Beziehung  auf  den  Traßger  gesucht  ward,  schloss  sich 
das  Anagramm  an  die  emblematische  Dichtung  an,  die  schon  im  vorher- 
gehenden Jahrhundert  ^^  mehrfach  geübt  worden  war,  aber  auch  jetzt  in  der 
Ausdeutung  von  Wappen  und  sehnlichen  Abzeichen  noch  immer  Pflege  fand. 
War  doch  die  Illustration  schon  damals  als  ein  besonderer  Vortheil  dem  über- 
sättigten Leser  gegenüber  geschätzt.  ^^ 

Verse  zum  Sonett  verbindet:  450.  Zesen  hat  auch  hier  seine  kecken  Neuerungen  geübt 
(§  124),  die  zum  Theil  selbst  von  Gryphius  nachgeahmt  werden.  85)  Ein  wüster  Ricnd- 
reim  Geschichtklitt.  XVI.  Ueber  die  Bingelreime ,  welche  gJeichen  anfang  und  gleichen 
ausgang  haben  s.  Schottel  Ausf.  Arbeit  S.  948,  wo  insbesondere  ein  Eundum  von  Zesen. 
Dieser  Name  der  poetischen  Form  begegnet  schon  bei  Weckherlin.  Der  wiederkehrende 
Vers  ist  nur  ein   Halbvers.  86)   Ziegler  war  geboren  zu  Leipzig  1621,  und  starb  als 

Professor  der  Rechte  zu  Wittenberg  169U.  87)    Von  den  Madrigalen ,    Leipzig  165.3, 

vermehrt  "Wittenberg  1685.  Ein  Madrigal  sei  ein  kurzes  und  nachdenkliches  Gedicht,  ein 
Epigramma,  ein  unausgearbeiteter  Syllogismus,  dessen  Hauptconclusion  allezeit  aus  den 
letzten  zwei  Eeimen,  auch  wohl  aus  der  letzten  Zeile  zu  erscheinen  habe.  Die  Silbenzahl 
der  5 — 15  Zeilen  sei  zwischen  7  und  11,  ein  bis  drei  Verse  könnten  ohne  Reim  bleiben. 
88)  Poet.  V  (LB.  626).  89)   Scaliger  Poet.  II  cap.  25   gibt  zwei    Beispiele  von  Zeilen, 

die  in  ihrer  Zusammensetzung  die  Eiform  ergeben ;    vgl.  Borinski  44.  90)  Vers-  oder 

Reimkunst  III  cap.  XL  Weise  Cur.  Ged.  II  109  verwirft  die  Bilderverse,  die  er  mit  der 
madrigalischen  Art  in  Verbindung  setzt.  91)  LB.  2,  513  Abbildung  des  zweispitzigen 
Parnasses  von  Harsdörfer.  92)  §  99,  44  fgg.  Über  die  Sinnbilder  als  Gegenstand  der 
Dichtkunst  s.  Birken  (Anm.  27)  S.  213  fgg.  93)  Harsdörfer  P.  Tr.  III  S.  108  'Mancher 


196  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVH  JAIÜÜI.  §  12ü 

Dio  Allegorie,  einem  wesentlich  verstandcsmaessig  dichtenden  Zeitalter 
vorzüglich  angemessen,  bediente  sich  mit  Vorliebe  der  antiken  Mythologie. 
Den  Anstoss,  welchen  diese  fremden  Namen  christlicher  Gesinnung  und  deut- 
schem Stolz  gaben,^^  suchte  man  durch  den  Hinweis  auf  ihre  rein  allego- 
rische Bedeutung  zu  mildern  "'•  oder  selbst  durch  neuerfundene  Verdeutschungen 
zu  vermeiden.'-"^ 

Die  Dichter  selbst  aber  waren  geradezu  stolz  darauf,  dass  sie  im  Ge- 
brauche minder  bekannter  mythologischer  Namen  und  Erzählungen  ihre  Ge- 
lehrsamkeit zeigen  konnten.  Diesem  Zwecke  ebenso  wie  dem  Nachweis  der 
von  ihnen  entlehnten  Tlätze  (§  117,  9)  galten  die  Anmerkimgen,  mit  welchen 
sie  ihre  Gedichte  mehrmals  ausgestattet  haben,^^  ganz  in  der  Weise  wie  man 
Werke  des  classischen  Alterthums  herauszugeben  pflegte. 

Nachahmung  der  Alten,  das  war  die  volle  Absicht  der  neu  anhebenden 
deutschen  Dichtung,  die  sich  an  die  lateinische  Renaissancepoesie '•'^  und  an 
die  gleiche  Richtung  bei  den  Nachbarnationen,  vor  allem  an  Ronsards  Lehre 
und  Muster  anschUessen  konnte.  Dass  eine  gehobene,  lebhafte  Ausdrucks- 
weise ,    eine    sorgfältige ,    kunstvolle  Form    als    sinnfälligste  Kennzeichen  der 


blätterte  lang  in  einem  Buch:  so  bald  er  aber  ein  Figur  sihet,  hält  er  still  und  lieget,  was 
beygeschrieben  ist.'  94)  §  117,  12.  95)  Opitz  Poet.  III  Die  mihmen  der  Heidnischen 
Götter  hetreffendt ,  deren  sich  die  stattlichsten  Christlichen  Poeten  ohne  Verletzung  jhrer 
religion  jederzeit  gebraucht  luiben,  angesehen  das  hierunter  gemeiniglich  die  Allmacht 
Gottes,  tcelcher  die  ersten  menschen  nach  den  sonderlichen  wirckungcn  seiner  unbegreiffliclien 
Maiestet  tnterschiedene  namen  gegeben,  als  das  sie  wie  Maximus  Tyrius  meldet,  durch 
Minerven  die  Vorsichtigkeit ,  durch  den  Apollo  die  Sonne,  durch  den  Neptunus  die  Lufft 
welche  die  Erde  vnnd  Meer  durchstreichet ;  zue  zeiten  aber  vorneme  Leute,  die  wie  Cicero 
im  anderen  buche  von  den  Gesetzen  saget,  vmb  jhres  Verdienstes  willen  in  den  Himmel 
berufen  sein,  zue  zeiten  was  anders  angedeutet  wird,  ist  allbereit  hin  vnd  wieder  so  viel 
bericht  davon  gescheiten,  das  es  tceiterer  aussführung  ho/f entlich  nicht  wird  von  nöthen 
sein.  Ahnlieh  in  der  Vorrede  zur  Übersetzung  des  Lobgesanges  Jesu  Christi  von  Hein- 
sius.  Ueber  Spätere  s.  HofFmann  Spenden  2,  S7 .  Tittmann  Nürnb.  Dichterschule  IG  fgg. 
Koberstein  Grundriss  §  188,  3.  96)  Hier  fand  Zesen  ein  fruchtbares  Feld  für  seine  puristischen 
Neigungen :  s.  den  Anhang  zu  seiner  Rosemund  (1645)  und  die  Probe  LB.  2,  506.  Venus 
wird  durch  Lustinne,  Libinne,  Lachmund  oder  Schauminne  bezeichnet,  was  freilich  ohne 
ein  mythologisches  "Wörterbuch  kaum  verständlich  war.  In  Bellins  Sendeschreiben  Nr.  20 
erklärt  Zesen,  dass  die  alten  Gütternamen  zu  sehr  nach  dem  Heidenthume  stinken.  Auch 
Harsdörfer  möchte  Venus  durch  Minne  oder  Freia  übersetzen:  s.  Wolff,  Purismus  S.  74 
(§  114,  4).  97)  Hauptbeispiel  Opitz  §  121,  30.  Er  folgt  darin  allerdings  nur  Heinsius, 
welcher  seinen  Lobgesang  Jesu  Christi  selbst  commentiert  hatte.  98)  Lotichius  (§  94,  11) 
wird  von  Opitz  als  Fürst  aller  deutschen  Poeten  bezeichnet:  Vorr.  zum  Feldleben  (§  121,  23). 


§  121  OPITZ.  197 

wahren  Poesie  angesehn  wurden,  entsprach  dem  Ernste  der  deutschen  Geistes- 
und Gemüthsanlage.  Erst  das  Gefühl  der  Schwäche,  das  in  und  nach  dem 
grossen  Kriege  sich  in  steigendem  Masse  geltend  machte,  führte  einerseits  zu 
Versuchen  mit  Übertreibung  und  roher  Sinnlichkeit  nach  italienischem  Vor- 
bild neue  Reizungen  hervorzurufen,  andererseits  und  überwiegend  zu  Ein- 
fiichheit,  Nüchternheit  und  Zierlichkeit,  zum  Prosastil  auch  in  der  Poesie,"^ 
nach  dem  Vorbild  der  mehr  und  mehr  national  sich  entwickelnden  classischen 
Dichtung  der  Franzosen. 

§  121. 
Die  im  Aristarchus  1617  angekündigte,  im  Buche  von  der  deutschen 
Poeterei  1624  theoretisch  begründete  Neugestaltung  der  deutschen  Poesie 
suchte  Opitz  als  Dichter  auch  durchzuführen.  In  der  That  ward  er  bald  so 
gut  wie  ausnahmslos  als  erster  aller  deutschen  Dichter  angesehn ;  ^  die  Muse 
der  neuen  Dichtung  ward  als  Opitzinne  gepriesen,  dichten  hiess  opitsieren.'^ 
Noch  ein  Jahrhundert  spseter  ward  er  als  Vater  der  deutschen  Dichthmst 
gefeiert.^  Und  doch  zeigt  er  als  Dichter  nur  wenig  Gemüth  und  Phantasie ; 
Gelehrsamkeit  und  Formensinn  ist  sein  Hauptverdienst.  Er  ist  wesentlich 
Nachahmer  und  meist  sogar  Übersetzer.^     Aber  er  genügte  seiner  Zeit.  Dazu 

99)  Noch  Ronsard  Pref.  de  la  Franc,  fol.  5  sagt  Le  style  2^>'0saique  est  ennemy  capital  de 
l'eloquence  poetique:  Harsdürfer  Trichter  III.  (37. 

§   121.  1)  Buchner  nennt  ihn  1624  Phcenix  der  teutschen  Poeten,  Hübner  Fürst  und 

Adler  deutscher  Poeten,  Dietrich  von  dem  Werder  1626  Fürst  aller  t.  P.;  Tscherning 
Deutscher  Gred.  Früling  S.  153  Opitz  —  o  du  Fürst  und  Phoenix  der  Poeten  die  Deutsch- 
land hat  erzeugt.  M.  Rinckart,  Summarischer  Discurs  und  Durch-Gang  von  Teutschen 
Versen,  Fusstritten  vnd  vornehmsten  Eeimarten ,  Lpz.  1645  sagt  bey  unserem  obersten 
Poeten  Fürsten  Opitien.  Der  wiederbringer  Teutscher  Sprach  der  hochgelehrte  Opitz  sagt 
der  Sprachverderber  von  1643.  Vgl.  Fleming  LB.  2,  457.  Logau  479,  9.  Zesen  507,  1. 
Eine  Anzahl  von  lobenden  Stellen  gesammelt  bei  Tscherning  u.  Peschwitz  (§  120,  12.  13). 
Rex  Genmmicorum  poetarum  nennt  ihn  Grotius:  ReifFerscheid  Quellen  (Anm.  5)  S.  574. 
2)  Opitzieren:  Tscherning,  Sonnet.  W.  Scherffer:  s.  die  §  127,  2  angeführte  Diss.  von 
Drechsler  S.  15.  Prasch  S.  72  Von  dem  Wort  Opitzieren,  icelches  iemand  brauchet.  'Opitzi- 
niren Greflinger  Z.  f.  d.  A.  28  Anz.  122.  3)  Parentem  Poetarum  Germanicorum  vulgo 
appellare  solent :  Neumeister  Diss.  Gottsched,  Lob  und  Gedächtnissrede  auf  den  Vater  der 
deutschen  Dichtkunst.  M.  0.  von  Boberfeld,  Leipzig  1739.  Doch  erheben  die  Schweizer 
Kunstrichter  den  Anspruch,  als  Verfasser  des  Sittenmalers  (1721)  sich  des  in  Verachtung 
liegenden  Ruhmes  von  Opitz  zuerst  mit  vollem  Ernst  und  critischer  Einsicht  angenommen 
zu  haben:  Der  gemisshandelte  Opitz  in  der  Trillerschen  Ausfertigung  seiner  Gedichte  (1747) 
S.  4.  In  der  That  bemerkt  die  Vorrede  zu  Morhofs  Unterricht  (1702).  Opitz  werde  fast 
von  wenigen  mehr  gelesen.         4)  Deshalb  wollte  der  niederländische  Dichter  Vondel  Opitz 


198  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVII  JAHKII.  §  121 

kam,  du8s  er  auch  persocnlich  die  Würde  des  Dichters  durch  kluge  Benutzung 
der  überaus  schwierigen  Zeitverhiiltnisse  zu  wahren  und  zu  heben  verstand. 
Geboren^  war  Martin  Opitz  am  23.  December  1597  zu  Bunzlau. 
Dort  und  in  Breslau,  zuletzt  auf  dem  akademischen  Gymnasium  zu  Beuthen 
vorgebildet,  bezog  er  1618  die  Universität  zu  Frankfurt  a.  0.,  die  er  1619  mit 
Heidelberg  vertauschte.  Hier  im  Verkehr  mit  Gelehrten  und  Hofbeamten, 
mit  jüngeren  gleichgesinnten  Freunden,  verlebte  er  schcene  Tage,  so  lange 
Friedrich  von  der  Pfalz  in  Prag  noch  nicht  ernstlich  gefaehrdet  war.  Beim 
Nahen  der  Spanier  im  October  1620  floh  Opitz  nach  Holland,  wo  er  sein 
Vorbild  Daniel  Heinsius®  persocnlich  kennen  lernte,  und  hielt  sich  dann  eine 
Zeit  lang  bei  einem  Freunde  in  Jütland  auf.  Nach  Schlesien  zurückgekehrt, 
nahm  er  1622  eine  Schulstellc  in  Siebenbürgen  an,  verliess  sie  aber  schon 
1623.  Aus  unsicherer  Lage  trat  er  1626  in  die  Dienste  des  fanatischen 
Burggrafen  Karl  Ilannibal  von  Dohna,  in  dessen  Begleitung  er  schon  1625 
nach  Wien  gekommen  und  hier  zum  Poeten  gekroont  ^  worden  war.  1627 
ward  er  geadelt  (von  Boberfeld).  Nun  ward  er  auch  1629  in  die  Frucht- 
bringende Gesellschaft  als  der  Gelcroente  aufgenommen ,  wsehrend  er  1625 
vergeblich  versucht  hatte  sich  ihr  zu  naehern.^     1630  besuchte  er  Paris,    wo 

nicht  als  Dichter  gelten  lassen  :  Harsdürfer  in  der  Vorrede  zu  den  Sonntagsandachten ;  W. 
ScherflFer  S.  279.  5)  Ueber  die  Schriften  zur  Biographie  Opitzens  s.  H.  Palm,  Beitrsege 
zur  Gesch.  der  deutschen  Litt,  des  XVI  und  XVII  Jhs.  Breslau  1877.  Aus  unmittel- 
barer Kenntniss  schöpfte  sein  Freund  und  Heimatsgenosse,  der  gleichfalls  dichterisch  thätige 
Christoph  Koler  (Colerus)  in  seiner  Laudatio,  welche  1G39  zu  Breslau  an  Opitzens  Namenstag 
gehalten,  aber  erst  1665  gedruckt  wurde.  Diese  u.  a.  Quellen  verarbeitete  K.  G.  Lindner 
in  der  Umständlichen  Nachricht  von  M.  0.,  Hirschfeld  1740.  —  Sammlungen  von  Briefen 
von  und  an  Opitz  sind  herausgegeben  worden  von  Jasky,  Danzig  1670,  von  L.  Geiger, 
Mittheilungen  aus  Hss.  Leipzig  1876  und  in  Schnorrs  Archiv  V  316 — 370,  von  Witkowski 
Z.  f.  deutsche  Philol.  21,  16  fgg.  163  fgg.  Vgl.  auch  A.  Reifierscheid,  Quellen  z.  Gesch.  d. 
geistigen  Lebens  wsehrend  des  17.  Jhs.  I.  Heilbronn  1889.  6)  Von  Heinsius  hatte  Opitz  ver- 
mothlich  durch  seinen  Freund  Kirchner  Naeheres  erfahren:  s.  Palm  S.  144.  186.  Über  das 
Verhältniss  von  M.  Opitz  zu  Dan.  Heinsius  s.  die  Diss.  von  B.  Muth,  Lpz.  1872.  Die  ersten 
grösseren  Gedichte,  die  Opitz  veröffentlichte,  der  Lobgesang  Jesu  Christi,  Görlitz  1621,  und 
Hymnus  oder  Lobgesang  Bacchi,  Liegnitz  1622  sind  Übersetzungen  aus  Heinsius;  auch 
einige  Liebeslieder  sind  diesem  abgeborgt,  z.  Th.  mit  Veränderung  des  Versmasses.  Opitz 
sagt  zu  Heinsius  (LB.  2,  377,  20)  er  bekenne  'Dass  Ewre  Poesie  der  meinen  Mutter  sey.*  Spaeter 
hebt  er  dies  Verhältnis  allerdings  nicht  ebenso  hervor.  7)  Krause  Erzschrein  S.  351.     P. 

Flemming  hg.  v.  Lappenberg  S.  132.  ReifFerscheid  Nr.  170.  8)  Sein  Gegner  war  Tobias 
Hühner,  der  seine  eigenen  Verdienste  um  die  neue  Verskunst  (§  120,  61,  s.  auch  den  Tadel  Anm. 
28)  in  der  Poeterey  von  Opitz  nicht  genug  anerkannt  sah  ,  wohl  auch  es  übel  nahm,  dass 


§  121  OPITZ.  199 

er  Hugo  Grotius  naehcr  trat,  aber  mit  Erstaunen  und  Missbilligung  bemerkte, 
dass  die  von  ihm  verehrten  und  nachgeahmten  franzoesischeu  Dichter  des 
sechzehnten  Jahrhunderts  bereits  durch  ein  jüngeres  Geschlecht  um  alles  An- 
sehn gebracht  worden  waren. ^  Die  Wendung  des  Krieges  seit  1630  riss  auch 
Opitz  mit  sich  fort.  Wahrend  er  bis  dahin,  allerdings  ohne  selbst  überzu- 
treten, den  Bestrebungen  Dohnas  Schlesien  zur  katholischen  Kirche  zurück- 
zuführen, in  jeder  Weise  gedient,^"  und  selbst  des  Jesuiten  Becanus 
Manuale  controversiarum ,  eine  Streitschrift  zu  jenem  Zwecke,  ins  Deutsche 
übertragen  hatte,''  trat  er  nunmehr,  nachdem  Dohna  1633  in  Prag  gestorben, 
in  protestantische  und  selbst  in  schwedische  Dienste.  Vor  den  zurückkehren- 
den Kaiserlichen  floh  er  1635  nach  Thorn,  dann  nach  Danzig,  und  fand  hier 
endlich  1637  als  Historiograph  des  Königs  Viadislaus  von  Polen  eine  aus- 
kömmliche und  angesehene  Stellung.  Doch  schon  am  17.  August  1639  raffte 
ihn  die  Pest  hinweg.'^ 

Von  seiner  dichterischen  Aufgabe  hatte  Opitz  von  Anfang  an  mit  Be- 
geisterung gesprochen  '^  und  gegenüber  der  Gleichgiltigkeit ,  ja  Verachtung, 
in  welche  die  deutsche  Dichtung  bei  den  meisten  Zeitgenossen  gefallen  war, 
eine  Wärme  und  Zuversicht  gezeigt,  die  auf  gleichgestimmte  Gemüther  hin- 
reissend wirkte.  Wie  Heinsius  in  den  Niederlanden,  wies  auch  er  auf  die 
gleichzeitigen  dichterischen  Leistungen  der  romanischen  Nationen  hin,  denen 
gleichzukommen  auch  die  deutsche  Sprache  faehig  sei.  Zum  Beweise  hierfür 
berief  er  sich  auf  die  von  Goldast  ans  Licht  gezogenen  Gedichte  der  Minne- 
sänger (§  114,  10.  11).  Was  der  deutschen  Dichtung  der  Gegenwart  haupt- 
sächlich fehle,  sei  die  sorgfältige  Bemühung  um  Regelrichtigkeit.  Seinen 
Gedichten  suchte  er  vor  allem  diesen  Vorzug  zu  geben,  und  zwar  bei  fort- 
schreitender Erkenntniss  in  immer  hcßherem  Masse.     Die  älteren  arbeitete  er 


Opitz  srhon  im  Aristarchus  einige  Verse  aus  Bartas  unzweifelhaft  besser  als  H.  selbst  über- 
setzt hatte.  Für  Opitz  wirkte  ausser  Buchner.  der  selbst  der  Gesellschaft  damals  noch  nicht 
angehoerte,  besonders  D.  v.  d.  Werder.  9)  An  Zincgref  (Poet.  Wälder  I  Buch:  Ausg. 

1644  S.  29):  Hier  seh'  ich' s  zu  Pariss,  da  Botisard  nicht  Poete  Mehr  heisset  tvie  vorhin,  da 
Bellay  betteln  geht,  Da  Bartas  unklar  ist,  da  Marot  nicht  versteht,  Was  recht  Französisch 
sey,  da  Jodel,  da  Baif,  Nicht  also  reine  sind  icie  jetzt  der  newe  Grieff  Vnd  Hofemuster 
ivil.  10)  Dass  dieser  Dienst  Opitz  in  strengeren  Kreisen  verdacht  wurde,  zeigt  (Rist), 
Rettung  der  deutschen  Hauptsprache  (1632)  II  Brief:  Viele  schmshen  0.  er  sey  fast  keiner 
Religion  zugethan  gewesen.  11)  Die  Übersetzung  erschien   im  Druck  Frankfurt  1631, 

doch  ohne  den  Namen  des  Uebersetzers.  12)  Einen  Bericht  über  seinen  Tod  s.  Weim. 

Jb.  2,  203.         13)  Vgl.  auch  LB.  387,  freilich  wieder  ein  aus  Ronsard  entlehntes  Gedicht. 


200  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVII  JAIIIUI.  §  121 

dcmgcmeess  vim '^  und  sein  Beispiel  veranlasste  auch  andere  Zeitgenossen'^ 
ihm  darin  zu  folgen. 

Um  80  mehr  war  er  ungehalten,"'  als  Zincgi-ef  1624  die  Gedichte,  welche 
er  in  Heidelberg  und  spa3tcr  ihm  mitgethoilt  hatte,  in  der  älteren  Form  ver- 
öffentlichte, und  noch  dazu  Dichtungen,  meist  geringen  Werthes,  aus  ihrem 
Freundeskreise  beifügte  (§  104,  .S).  Dieser  Ausgabe  setzte  er  eine  eigene, 
verbesserte  und  neugeordnete  Sammlung  1625  entgegen,  welcher  mit  bestän- 
diger Vermehrung  des  Inhalts,  aber  auch  mit  Woglassung  älterer  Gedichte 
noch  melu'cre  Ausgaben  folgten.*' 

Jene  frühsten  Gedichte  waren  grosscntheils  lyrischer  Art,  Oden,  wie 
Opitz  nach  Ronsards  Vorgang  die  Lieder  nannte.  Den  Inhalt  bildeten  Liebes- 
verhältnisse, wobei  der  Dichter  als  Schaefcr  auftrat.  Diese  Lieder  verbreiteten 
sich  rasch  und  wurden  nach  den  meist  franzocsischcn  Melodien  viel  gesungen; '® 
noch  in  weit  spaterer  Zeit  begegnen  sie  in  den  Liederbüchern ,  '^  und  selbst 

14)  S.  die  Varianten  zu  den  im  LB.  mitgetheilten  Stücken:  darunter  allerdings  auch  solche, 
welche  aus  politischen  Gründen  verändert  worden  sind  :  LB.  375.  15)  Heermann  :  Ger- 
vinus  3,  271.  W.  Spangenberg:  Scherer  im  Anz.  f.  deutsches  Alterthum  1,  195.  Auch 
Tob.  Hübner  schloss  sich  in  der  Bearbeitung  der  Ersten  Woche  des  Du  Bartas  1631  naeher 
an  das  System  von  Opitz  an:  Witkowski.  Werder  S.  13.  J.V.  Andrea:  Koch  Kirchenlied 
S.  165.    Witkowski  Opitz  Arist.  S.  65.     Reifferscheid  Nr.  240.  16)    Poeterei  Cap.  V. 

Übrigens  hatte  Opitz  dieser  Sammlung  sogar  eine  Vorrede  beigegeben,  so  das«  er  früher 
damit  einverstanden  gewesen  sein  muss.     S.  auch    Reifferscheid    S.  770  fg.  17)  Acht 

Bücher  Deutscher  Poematum.  Breslau  1625.  Wiederholt  ebd.  1629,  (Nachdruck  o.  0. 
1637)  Breslau  1638.  1639:  Danzig  1641:  (Frankfurt  a.  M.  1644:  Titelauflage  der 
von  1639):  Amsterdam  1645.  46:  Breslau  J690.  Neue  Ausgaben:  von  B(odmer)  und 
B(reitinger)  Zürich  1745  (nur  Bd.  I  erschienen);  von  Triller,  IV  Bde.,  Frankfurt  a.  M. 
1746.  Auch  diese  Ausgaben  sind  nicht  vollständig  und  nicht  correct.  Auswahl  von 
Tittmann.  Leipzig  1869.  Verzeichniss  der  Ausgaben:  Hoffmann  von  Fallersleben ,  M. 
0.  V.  B.  Leipzig  1858:  Bibliographie  der  Einzeldrucke  von  üesterley :  Centralblatt  für 
Bibliothekswesen  2,    383  (1885).  18)  Opitz   in   einem  Briefe    an    Colerus   aus   Breslau 

1628:  Palm  162.  Reifferscheid  Nr.  259.  Danach  müssen  auch  Einzeldrucke  dieser  Lieder 
auf  den  Strassen  verkauft  worden  sein.  19)  'Ich  empfinde  fast  ein  Grawen  steht  in  Jo. 
Cocay  Teutsehes  Labyrinth  sampt  einem  Poetischen  Lusthringer ,  Cöln  1650,  S.  60  und  in 
Tugendhaffter  Jungfrauen  und  Jungengesellen  Zeitvertreiber  .  .  .  durch  Hilarium  Lustig  von 
Freuden  Thal  (o.  0.  u.  J.).  wo  auch  'Jetzt  blicken  durch  des  Himmels  Saaf,  'Wer  sich  auf 
Muhm  begiebet,'  und  'Wohl  dem  der  fern  von  hohen  Dingen.  Ferner  findet  sich  Coridon  der 
gieng  betrübet  in  Gantz  neuer  Hans  guck  in  die  Welt  d.  i.  Neuvermehrte  weltlicJie  Lust- 
Kammer  (0.  0.  u.  J.).  In  Venusgä rtlein,  Hamburg  1659  werden  wenigstens  die  Anfänge 
der  Lieder  von  Opitz  angeführt:  S.  180  Im  Thun :  Wal  dem  der  weit  von  holten  Din- 
gen u.  a.    Dasselbe   in  'Gesechste  Tugend-  und  Laster-Rose  oder  Jungfräulicher  Zeitver- 


§  121  OriTZ.  201 

Parodien  bezeugen  ihre  Beliebtheit.-"  Audi  ihrem  Inhalte  nach  sind  diese 
Oden  oft  entlehnt,^'  was  der  Dichter  nicht  immer  angibt.  Das  Gleiche  gilt 
auch  von  den  Gedichten  in  künstlicheren  Formen,  insbesondere  den  Sonnetten, 
und  ebenso  von  den  Epigrammen, 

Selbst  in  die  entlehnten  Gedichte  legt  jedoch  Opitz  gern  perscenHche 
Beziehungen  und  diese  beherrschen  überhaupt  seine  Poesie  zum  guten  Theil. 
Trotz  der  Verachtung,  mit  welcher  er  von  den  Gelegenheitsgedichten  spricht 
(§  117,  7),  widmet  er  frohen  und  traurigen  Lebensereignissen  Anderer  seine 
Dichtung  und  sucht  durch  Gedichte,  sowie  auch  durch  die  Widmung  seiner 
groesseren  Arbeiten  die  Gunst  der  Vornehmen  und  Gelehrten  zu  gewinnen. 
Die  für  seine  Freunde  bestimmten  Dichtungen  zeigen  oft  eine  Herzlichkeit 
und  Innigkeit, ^^  welche  seinen  Liebesgedichten  fehlt.  Den  Grossen  gegenüber 
ist  er  zu  jeder  Schmeichelei  bereit,  wie  dies  freilich  von  der  Renaissance- 
poesie in  der  lateinischen  und  in  den  Landessprachen  überhaupt  gilt,  nur 
dass  der  Stolz  der  Dichter  sich  in  dem  oft  wiederholten  Gedanken  äussert, 
dass  sie  allein  Unsterblichkeit  des  Namens  gewaehren  können.  Das  zu  seiner 
Zeit  berühmte  Gedicht,  mit  welchem  Opitz  die  Gunst  des  Koenigs  Vladislaus 
gewann,  hat  wenigstens  durch  den  Preis  fürsthcher  Friedensliebe  einen  wür- 
digen Gedanken  ausgeführt.  In  demselben  Sinne  verherrlichen  mehrere  Lehr- 
gedichte das  Landleben,  wonach  Ki'ieg  und  Hofgetriebe  die  Sehnsucht  nur 
erhoehten.  So  das  Loh  des  FelcUlebms -^  1623,  worin  Opitz  Fischarts  Be- 
arbeitung einer  horazischen  Ode  umgestaltet;  -*  und  zwei  Gedichte  auf  die 
Landgüter  seiner  Gönner,  Zlatna  in  Siebenbürgen  1623  und  Vielgut  in 
Schlesien  1629.  Tiefere  Erregung  und  mannhafte  Entschlossenheit  zur  Ab- 
wehr der  unter  dem  Vorwand  der  Religion   versuchten  Knechtung-"*  athmen 

treiher  .  .  von  Constaus  Holdlieb,  Nürnberg  1665.  20)  'Ich  empfinde  fast  ein  Grawen 

parodiert  von  Klaj  :  LB.  516.  von  Fleming,  von  Birken  (Dichtkunst  S.  122),  von  Schirmer 
und  Finkelthaus,  Lustige  Lieder :  —  Dass  ich,  Liebe,  für  und  für  Bin  gewesen  eigen  dir. 
Es  ist  Zeit  einmal  zu  Schemen,  Was  doch  meine  Bücher  machen  u.  s.  w.  Witzigei-  sagt 
Schii-mer  Holla,  Junger,  geh  und  frage,  ivo  das  schönste  Buch  mag  seyn,  Lass  den  Opitz 
binden  ein;  auch  von  Albert  und  Dach  (Oettingen  QF.  49,  55)  sind  Parodien  vorhanden. 
Harsdörfer  (Jotham  2)  parodiert  Wohl  dem  der  fern  von  holten  Dingen  =  W,  d.  d.  iceit 
von  grossen  Stätten;  dasselbe  Lied  bei  Finkelthaus  'Wohl  dem  der  tracht  nach  hohen 
Dingen  :  Gödeke  D.  D.  S.  303.  Die  geistliche  Umarbeitung  eines  Opitzischen  Liedes  ver- 
zeichnet Koch,  Gesch.  des  Kirchenlieds  3,  132.  Vgl.  Waldberg  Renaissaucepoesie  S.  217  fgg. 
21)  So  ist  auch  das  beliebte  Lied  Ich  empfinde  fast  ein  Grauen  nur  die  Bearbeitung  einer  Ode  von 
Ronsard.  Auch  über  diese  Entlehnungen  vgl.  die  zu  §  120,  5  augeführten  Schriften  und  K.Wein- 
hold,  M.  0.  von  B.  Kiel  1862  S.  24  fgg.  22)  LB.  386.  400.  401.  23)  In  Zinegrefs  Sammlung 
Lust  des  Feldbaivs.       24)  Opitz  in  Zachers  Zeitschrift  4.  477.      25)  Die  gleiche  Stimmung  in 


202  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVU  JAHRH.  §  121 

die  Trost (jedicläe  in  WiderwerUgheit  des  Krieges,  1621  in  Jütland  vcrfasst, 
aber  erst  1633  veröffentlicht.*''  In  scharfem  Gegensatz  dazu  verhoehnt  Opitz 
in  den  Landes  Martis,  1628,  die  feige  Geduld  seiner  Landes-  und  Glaubens- 
genossen'^ durch  ein  ironisches  Lob  des  Esels.  Die  gezwungene  Laune  dieses 
dem  Grafen  Dohna  gewidmeten  Gedichts  vcrräth  sich  auch  in  dem  Schwulst"*' 
und  gelehrten  Prunk,  durch  den  es  an  die  aus  Heinsius  übersetzten  Hymnen" 
erinnert.  Anmerkungen  erläutern,  ebenfalls  nach  diesem  Vorbild,  den  Text; 
ebenso  den  des  Vesuvius,  1633,  einer  Nachahmung  eines  antiken  Gedichtes 
Aetna,^^  wie  schon  früher  den  des  ebenfalls  beschreibenden  Gedichtes  Zlatna. 
Ebenso  trocken  sind  die  moralischen  Lehren  in  den  von  Opitz  übersetzten 
Disticha  Cat&nis  1629  und  den  Vierversen  des  Pibrac  1634.  Sie  sind  wie 
alle  Lehrgedichte  und  viele  der  Gelegenheitsgedichte  in  Alexandrinern  abge- 
fasst.  Ebenso  melirere  geistUche  Gedichte:  von  Opitz  selbst  gedichtet,  und 
nicht  ohne  Innigkeit,  die  durch  den  einfachen  Ausdruck  nur  gewinnt,  der 
Lohgesang  über  den  freudenreichen  Geburtstag  Jesu  Christi  1624;  von  ihm 
nur  übersetzt  das  Gedicht  Fow  der  Warheit  der  Christlichen  Religion  1631, 
nach  Hugo  Grotius ;  und  aus  biblischen  Quellen  geschöpft  die  Klagelieder 
Jeremia  1626  und  Jonas  1628.  Dagegen  sind  die  Episteln  des  gantzen 
Jahres  1624  und  die  Psalmen  1637  auf  franzoesische  Melodien  und  Salomons 
Hohes  Liedt  1627  ebenfalls  in  freieren  Formen  verfasst. 


dem  Liede  LB.  403.  26)  Auch  verschwieg  der   erste  Druck  den  Xamen  des  Dichters, 

obschon  er  in  der  Poeterei  cap.  V  Proben  als  seine  Verse  bezeichnet  hatte.  Stücke  aus  der 
Dichtung  LB.  388.  27)  Auch  ein  frivoles  Epigramm  auf  den  Fall  Magdeburgs  bezeugt 
die  politische  Ansicht  des  Dichters  zu  dieser  Zeit :  Neumeister  Diss.  76.  Reifferscheid  Nr.  434. 

28)  Oben  Anm.  G.  Im  Hymnus  auf  Bacchus  sollte  nach  Scaligers  Vorgang  (Poet.  VI.  4:  p.  721 
der  Ausg.  von  1607),  den  auch  Ronsard  befolgt  hatte,  die  bacchische  Begeisterung  durch  die 
gehäuften  Zusammensetzungen  ausgedrückt  werden.  Darüber  spricht  Opitz  Poet.  VI, 
und  mahnt  das  nomen  verbale  hinten  zu  setzen  gegen  den  lat.  u.  franz.  Gebrauch,  den 
namentlich  auch  Tob.  Hübner  nachgeahmt  hatte:  z.  B.  dontie-mort  hringetodt  vom  Apfel 
des   Paradieses.     Das  Kunststück    ward    nachgeahmt    z.  B.    von    Fleming,     Schirmer    u.  a. 

29)  Eine  gehobene  gewählte  Sprache  nach  dem  Muster  der  antiken  und  der  Renaissance- 
poesie gehörte  zu  den  Anforderungen ,  welche  Opitz  an  die  neue  deutsche  Dichtung  stellte. 
Er  selbst  ist  freilich  nicht  ganz  frei  von  gemeinen  Ausdrücken  und  Bildern  :  so  im  Vesuvius 
Die  graice  Trete  verreckt;  an  Vldrichen  von  Holstein  du  nimbst  auch  eine  Striegel,  Die 
Pullas  hat  geschärfft.  Vgl.  LB.  379,  35.  390,  29.  Über  seine  dialectischen  Reime 
8.  §  115,  19.  80)  Von  Lucilius  dem  jüngeren.  Das  Interesse  für  diese  antiquarischen 
und  naturwissenschaftlichen  Erörterungen  —  zu  denen  freilich  die  poetische  Form  wenig 
passt  —  war  durch  vulcanische  Ausbrüche  des  vorhergehenden  Jahres  neu  geweckt  worden. 


II 


§  122  OPITZ.     WECKHERLIN.  203 

Nur  als  Übersetzer,  aber  so  dass  er  die  eingemischteu  lyrischen  Stücke 
der  antiken  Originale  in  jambische  oder  trochäische  Strophen  verwandelte, 
betrat  Opitz  das  Gebiet  des  Dramas:  er  übertrug  die  Trojanerinnen  des  Se- 
neca  1G25,  die  Antigene  des  Sophocles  1636  und  entnahm  dem  Italienischen 
die  Texte  zu  den  Opern  Dafne  1627  und  Judith  1635;  Dafne,  von  dem  be- 
rühmten Heinrich  Schütz  neu  componiert  und  1627  zu  einer  Vermashlung 
am  kursächsischen  Hofe  aufgeführt,  war  die  erste  Oper  in  Deutschland. 

Mit  Prosa  verbanden  sich  lyrische  Stücke  in  der  Schcefferei/  von  der 
Nimfen  Hercinia  1630,  in  welcher  Opitz  und  seine  Freunde  Buchner,  Nüssler 
und  Venator  als  Schaefer  auftreten,  dann  von  der  Nymphe  in  das  Innere  des 
Riesengebirges  geführt  und  über  allerlei  Naturwunder  sowie  über  die  Ge- 
schichte des  Hauses  Schaffgotsch  unterrichtet  werden.  Als  Vorbild  dienten 
die  unter  dem  Titel  Ärcadia  erschienenen  Schseferromane,  von  denen  die  des 
Sidney  von  Opitz  auf  Grund  einer  1629  erschienenen  Übersetzung  durch 
Vdlenünum  Theocrittim  von  Hirschherg,  1638  bearbeitet  wurde.  So  hatte  er 
auch  Barclays  Argenis,  einen  politisch  allegorischen  Roman  1626  verdeutscht. 

Gelehrsamkeit  überwog  bei  Opitz  mehr  und  mehr  die  dichterische 
Thaetigkeit.  Eine  früh  begonnene  Alterthumskunde  von  Siebenbürgen,  Dada 
antiqua,  gedachte  er  insbesondere  nach  den  dort  gesammelten  Inschriften 
auszuführen;  doch  hinderte  der  frühe  Tod  die  Vollendung  des  Werkes.  Dagegen 
erwarb  er  sich  durch  die  Ausgabe  des  Lobgedichts  auf  den  h.  Anno  (§  55,  56; 
114,  11)  ein  bleibendes  Verdienst  um  die  Geschichte  unserer  alten  Litteratur. 

§  122. 

Das  von  Opitz  aufgestellte  Gesetz  und  Muster  der  neuen  Kunstdichtung 
fand  überall  Anerkennung :  nur  ganz  vereinzelt  und  nur  bedingt  ward  Wider- 
spruch erhoben.  Opitz  selbst  schien  mehr  und  mehr  zu  vergessen,  dass  er 
nur  ausgesprochen  hatte,  was  vielen  im  Sinne  lag,  dass  er  eine  Bahn,  die 
auch  andere  betreten  hatten ,  gegangen  und  freilich  zuerst  bis  an  das  Ziel 
gelangt  war.  Begreiflich  dass  einer  jener  älteren  Dichter ,  der  zudem  an 
poetischer  Kraft  Opitz  entschieden  überragte,  sich  sein  Recht  als  Vorgänger 
wahrte,  wenn  er  auch  mit  Unrecht  die  strengere  Regelmsessigkeit  des  Vers- 
baus als  zu  weitgehende  Forderung  abzulehnen  suchte.  Dieser  Dichter  war 
Georg  Rudolf  Weckherlin,^  oder  Rudolf  W.  Denn  auch  in  der  Sprache 
hatte  er  allerhand  eigensinnige  Grillen.^ 

§   122.  1)  Naclidem  Eschenburg  uad  Herder  (dieser  im  D.  Mus.  1779)  auf  Weckherlin 

hingewiesen,   gab  C.  P.  Conz  1803  Nachrichten  von  dem  Leben  und  den  Schriften  R.    W. 


204  NEUIIOCIIDEUTSCIIE  ZEIT.  XVII  JAIIRII.  §  122 

Weckherliu  war  geboren  zu  Stuttgart  1584,  studierte  Jurisprudenz  und 
war  seit  1604  vielfacli  auf  Reisen,  meistens  im  Dienste  des  wirtembergischen 
Hofes.  Die  in  Frankreich  und  England,  von  wo  er  1613  heimkehrte,  er- 
worbene Hprachkenntnis  verschaffte  ihm  gegen  1616  eine  Stelle  als  Secretilr 
und  Dollmetscher  zu  Stuttgart,  und  als  durch  die  Vertreibung  Friedrichs  von 
der  Pfalz  aus  Boehmen  die  andern  protestantischen  Iloefe  des  Südwestens  mit 
betroffen  wurden,  eine  ähnliche  Verwendung  in  England.  Nachdem  er  hier 
verschiedenen  Ministern,  dann,  nach  vergeblicher  Bemühung  um  schwedische 
Auftrage  1641,  von  1648  ab  dem  Parlament  als  Unterstaatssecretär  für  den  diplo- 
matischen Verkehr  gedient,  ward  er  1650  durch  Milton  ersetzt  und  starb  1658. 

Seine  frühsten  Gedichte  feiern  pfälzische ,  wirtembergische  ,  badische 
Fürsten,  vor  allem  die  jugendlich  schccne  und  lebenslustige  Kurfürstin  Elisa- 
beth, deren  Kindern  er  noch  in  England  Treue  erwies.  Mit  Beschreibungen 
von  Stuttgarter  Hoffesten  trat  er  1616  und  1618  in  die  Öffentlichkeit ; »  1618 
und  1619  folgten  seine  Oden  und  Gesänge/  Erst  1641  gab  er  eine  großssere 
Sammlung  heraus:  Geistliche  und  tveltliche  GedicMe,  die  1648  überarbeitet 
und  vermehrt  nochmals  erschien.^ 

Jene  Hofgedichte,  Cartele  und  Erklaerungen  von  Aufzügen  und  Balleten, 
ahmen  fremde,  besonders  franzoesische  Vorbilder  nach,  die  nur  selten,  etwa 
für  den  Ausdruck  des  Stolzes  auf  die  deutsche  Ritterschaft,  hceheren  Schwung 
zuliessen.  Die  Oden,  in  der  von  Ronsard  aufgebrachten  pindarischen  Form, 
zeigen  die  Verehrung  des  Dichters  für  die  Grossen  seiner  Heimat, **  vor  allem 


Ludwigsburg  1803.  Von  spseteren  Arbeiten  sind  besonders  E.  Höpfner,  G.  R.  Weckherlins 
Oden  und  Gesänge.  Berlin  1865  und  Z.  f.  D.  Philol.  1,  350;  ferner  die  Auswahl  der  Ge- 
dichte von  Gödeke  Lpz.  1873  zu  nennen.  Die  in  den  englischen  State  papers  enthaltenen 
Notizen  über  W.  stellt  F.  Althaus  zusammen:  AUg.  Zeitung  25.  26.  Mai  1888.  Briefe  auch  bei 
Reifferscheid  511  fgg.  2)  §93.54:  AV's  Orthographie  gibt  viellaih  die  schwäbische  Mundart 
wieder:  seine  Syntax  ist  durch  die  antike  beeinflusst,  z.  B.  in  ihren  Satzverkürzungen  :  wendend 
mein,  fliehend  dein  Gesicht  Göd.  S.  213  :  Anglicismen  weist  Höpfner  Oden  Anm.  60  nach.  Den 
Fremden  zu  Liebe,  die  sich  über  die  Consonantenhäufung  im  Deutschen  beklagten,  vermied  "NV. 
die  Syncope  von  gesaget,  gemachet :  Höpfner  S.  10  nach  der  Vorrede  zur  Ausgabe  von  1641. 
Dagegen  hat  er  die  süddeutsche  Apocope  von  Lieh  u.  ä.,  die  auch  in  Norddeutschlaud  an 
den  Höfen  beliebt  war  (s.  Dietrich  v.  d.  Werder  bei  Witkowski  S.  71),  ohne  Bedenken 
gebraucht.  3)  Triumf  Ke^cUch  hey  der  F.  Kindtauf  zu  Stutgart  gehalten.     Auch  von 

W.  für  Kurfürstin  Elisabeth  ins  englische  übersetzt :  Triumphall  sheics  sei  forth  lately  at 
Stuttgart.  Kurze  Beschreibung  dess  zu  Stutgarten  bei  der  F.  Kindtauf  und  Hochzeit 
jüngst  geluiltenen  Freivdeti-Fests  1618.  —  Beschreibung  und  Abriss  des  jüngst  zu  St.  ge- 
haltenen F.  Balletlis.  1618.  4)  Die  beiden  Bücher  der  Oden  und  Gesänge  sind  auch  zu 
Stuttgart    erschienen.  5)   Druckort    beider    Ausgaben    Amsterdam.  6)    LB.    347. 


§  122  WECKIIERLIN.  205 

für  die  fürstlichen  Frauen.  Volle  Empfindung  geben  die  Gesänge  zu  er- 
kennen, welche  unter  dem  Namen  Myrta  Weckherlins  sptetere  Frau "  feiern 
und  die  ganze  Stufenfolge  der  Leidenschaft,  von  der  hoffnungslosen  Sehn- 
suclit  bis  zu  völliger  gegenseitiger  Hingabe  beider  vor  Augen  führen.  Der 
tiefgefühlte  Nachruf,  den  der  Dichter  spteter  ihr  widmet,  zeigt,  dass  so  lange 
sie  lebte,  das  Glück  der  1616  geschlossenen  Ehe  dauerte.^ 

Anthcil  des  Herzens  bekunden  auch  die  Dichtungen,  welche  sich  auf 
den  grossen  Krieg  beziehen  und  bald  sich  an  die  Soldaten  wenden  oder  das 
deutsche  Yolk  aufrufen,^  bald  die  protestantischen  Führer  verherrlichen.  Der 
Heldentod  Gustav  Adolfs  wird  als  eine  Apotheose  ganz  in  antiker,  mytho- 
logisierender Weise  dargestellt;  ^^  jeder  naehere  Bezug  auf  die  wirklichen 
Verhältnisse  ist  vermieden ,  ja  die  vorausgeschickte  Einleitung  ist  von  recht 
trockenen,  allgemeinen  Erwsegungen  durchzogen. 

Und  so  steht  bei  W.  auch  sonst  der  hochstrebenden  Auffassung,  der 
gewsehlten  Ausdrucksweise  gelegentlich  starke  Derbheit  und  Natürlichkeit 
gegenüber.  In  einem  Hochzeitsliede  '^  malt  er  den  Liebestaumel,  in  späteren 
Gedichten  die  Trunkenheit  ungescheut  bis  ins  Einzelne.  Seine  Epigramme, 
z.  Th.  deutlich  gegen  bestimmte  Personen  gerichtet,  sind  voller  Schärfe.  Dem 
Hofleben  gegenüber  äussert  er  sich  frühzeitig  ironisch  und  absprechend. 

Viele  seiner  Gedanken  sind  entlehnt,  die  der  Liebesgedichte  aus  Pe- 
trarcha,  die  der  ernsten  z.  Th.  aus  englischen  Quellen  ^^  oder  aus  franzoe- 
sischen,^*  z.  Th.  aus  antiken,^*  endlich  auch  aus  deutscher  Volksüberlieferung. ^^ 
Überall  aber  gilt,  dass  er  auf  seine  Weis  übersetzte  oder  vielmehr  bearbeitete, 
dass  er  z.  B.  die  Schilderungen  des  Horaz  in  moderne  Lebensverhältnisse 
übertrug. 

Seine  Vers-  und  Strophenformen  sind  fast  durchaus  die  der  Renaissance- 


7)  Der  wirkliche  Name  hatte  neun  Buchstaben.  Hüpfner  vermuthet,  dass  Myrta  Elizabeth 
Dudley  geheissen  habe  und  eine  Hofdame  der  Kurfürstiu  Elisabeth  gewesen  sei.  Sie  war  auf  jeden 
Fall  eine  Engländerin  und  gehörte  den  Hofkieisen  au;  der  Dichter  legt  ihr,  Orüdeke  S.  103, 
das  Lob  würtembergischer  Prinzessinnen    in  den  Mund:    sie  lebte  also  damals    in  Stuttgart. 

8)  Crüd.  S.  254.  Dies  Gedicht  ist  ein  doppelter  Sechster  oder  Stände,  mit  dem  letzteren 
Namen    scheint   "VYeckherlin    ungesungene    Strophen    von    4,    6.    8    Zeilen    zu    bezeichnen. 

9)  LB.  3Ö2.  354.  10)  LB.  355.  11)  Im  Anhang  zu  Zincgrefs  Ausgabe  von 
M.  Opicii  Teutsche  Poemata,  Strassburg  1624  S.  198.  12)  So  das  Kennzaiclien  eines 
Glickseligen  Lebens  LB.  351  aus  Wotton's  Character  of  a  llappy  lAfe.  Vgl.  über  diese 
englischen  Quellen  Herders  Brief  VIII  (Werke  in  40  Bdn.,  25,  391)  und  Hüpfner  S.  7. 
13)  Aus  Ronsard :  Hüpfner  S.  27.         14)  Für  die  Epigramme  vgl.  Hüpfner  S.  25.         15)  Höpf- 

Wackern.igel,  Litter.  Gescbichte.  II.  14 


20G  NEUIIOCIIDEUTSCTIE  ZEIT.         XVII  JAHRII.  ß  122 

pocsie,  besonders  der  franzoesischen.  Den  Alexandriner  wandte  er  schon  1G18 
au,  in  einigen  Gedichten  "*  in  stropliischer  Verbindung,  wie  sie  sonst  nur  beim 
Sonett  üblich  war.  Aber  mit  dieser  Anpassung  an  die  fremde  Verskunst 
ging  ihm  wie  andern  das  Gefühl  für  den  deutschen  Versbau,  wie  es  Opitz 
wieder  in  seine  Rechte  eingesetzt  hat,  um  so  meiir  verloren,  als  er  in  spic- 
terer  Zeit  namentlich  viel  mit  Fremden ,  wenn  aucli  der  deutschen  Spraclie 
kundigen,  aucli  über  litterarischc  Fragen  verhandelte.  Wohl  begrüsstc  er 
Opitz  auf  Grund  vermuthlich  einer  Zusendung  von  dessen  geistlichen  Ge- 
dichten, mit  vollem  Lobe ;  '^  auch  verbesserte  er  seine  Gedichte  vielfach  nach 
der  neuen  Weise.  Aber  er  verwahrte  sich  doch  '^  gegen  eine  allgemeine 
Durchführung  dieser  Regeln,  denen  zu  Folge  viele  mehrsilbige  und  zusammen- 
gesetzte Wörter  ganz  aus  der  Dichtung  ausscheiden  müssten,  und  erinnerte 
daran,  dass  er  schon  um  1610  durch  seine  Gedichte  den  Freunden  der  deut- 
schen Sprache  Reichthum  und  Zierlichkeit  vor  Augen  gelegt  habe.'" 

Dieses  Verdienst  Weckherlins  wurde  auch  von  andern  hochgehalten 
und  Opitz  gegenüber  wieder  in  Erinnerung  gebracht.-"  Es  war  ein  Kreis 
von  protestantischen  Gelehrten  und  Dichtern  in  Strassburg,  welche  vielleicht 
durch  Weckherlins  Beziehungen  zum  Gefolge  Bernhards  von  Weimar-'  mit 
dem  Dichter  selbst  nseher  bekannt  wurden.  Jüngere  Angehoerige  dieses 
Kreises--   stifteten    1633    die    Aufrichtige  Gesellschaft  von  der  Tannen, 

ner   S.  24.  16)  Güdeke  S.  62.  206.  17)  LB.  355.  18)  Aus   der    Vorrede    der 

Ausgaben  von  1641  uud  1648  bei  Höpfner  S.  16  Anm.  Die  Analogie  der  englischen 
und  niederländischen  Sprache  will  er  nicht  gelten  lassen.  Auch  Herder  a.  o.  0.  findet 
Weckherlins  freie  Behandlung  des  Verses  angenehmer  als  die  einto'nig  scandierende. 
19)  Hüpfiier  S.  6.  W.  spricht  auch  von  Jugendgedichtcu .  darunter  Bearbeitungen  der 
Erzählungen  Ovids,  die  ihm  theils  auf  Reisen  verloren  gegangen,  theils  im  Krieg  vernichtet 
worden  seien.  20)  Moscherosch,  Soldatenleben  (Ausg.  von  1650  S.  655):  der  redliclier 

vnd  vmh  unser  Teutschc  Sj^rach  hochverdienter  Eodolff'  Weckerlein,  tcelcher  wie  auch  Herr 
Isaac  Hahrecht,  lange  Zeit  vor  dem  sonst  ewig  lohtcürdigcn  Herrn  Opizen,  die  teutscJie  Sjirach 
mit  zierlicher  eygenfindiger  Reymen-Kunst  herrlich  gemacht  haben.  (Schill)  Der  teutschen 
Sprach  Ehrenkrantz  rühmt  Weckherlin  S.  118.  193.  Rumpler  sagt  im  Vorwort  zu  den  Eeim- 
getichten:  G.  B.  W.  hat  ein  grosses  stuck  amm  eiss  gebrocJten,  als  er  imm  IGlSten  jar  die  2. 
hitclier  seiner  Oden  tmd  gesänge  zu  Stutgarten  ausgehen  lossen ;  derer  lesung  nachmals 
dem  Martin  Opitzen  (zur  nachfolge)  gar  icol  bekommen.  21)  Herzog  Bernhard  hatte 

zur  Seite  den  Oberst  SchafFalitzki  von  Mukodell,  der  von  Weckherlin  schon  vor  1618,  von 
Rumpler  und  Schneuber  nach  1640  gefeiert  worden  ist:  Höpfner  S.  5.  Allerdings  war 
Weckherlin  schon  in  der  Strassburger  Sammlung  Zincgrefs  reichlich  vertreten  uud  konnte  auch 
hierdurch  dem  Strassburger  Kreise  im  Gedächtnis  erhalten  werden  ;  daraufweist  bei  Moscherosch 
(vorige  Anm.)  die  Zusammenstellung  AVeckheilins  mit  Habrecht.  Perscenlich  aber  kannte 
selbst  Zincgrefs  Freund  Berncgger  Weckherlin  nicht:  Reifferscheid  Quellen  Nr.  124.       22)  Als 


§  122  AUPRICIITIGE  TANNENGESELLSCHAFT.  207 

die  jedoch  von  Anfang  an  sich  auf  wenige  Mitglieder  beschränkte ''^•'  und  sich 
bakl  aufgelcest  zu  haben  scheint,  auf  jeden  Fall  keine  Spuren  ihrer  Vereins- 
thaitigkeit  hinterlassen  hat.  Aus  diesem  Kreise  ging  jedoch  Johann  Freins- 
licini  *^  hervor,  der  als  Philologe  sich  weithin  berühmt  gemacht  hat.  Nach 
der  Eroberung  Breisachs  durch  Herzog  Bernhard  dichtete  er  TeutscJier  Tti- 
gentspiegel  oder  Gesang  von  dem  Stammen  und  Thaten  dess  Alten  und  Neiven 
Tentsclien  Hercides,'^'^  worin  er  von  mythologischer  und  altdeutscher  Gelehrsam- 
keit zuletzt  zu  trockener  Zeitgeschichte  übergeht,  in  gut  gebauten  Alexandrinern, 
in  schlichter  Sprache  mit  einigen  meistersängerischen  Freiheiten.-*^  Durch 
seine  Dichtung  allein  machte  sich  Jesaias  Eumpleh-^  von  Leweniialt  be- 
kannt, von  welchem  ein  Erstes  gehüsch  seiner  Beim-getichte  1647  erschien,''^" 
der  aber  schon  ein  Loh  der  Buchdrucherey  1640,-'-'  und  noch  1660  ein  Ehren- 
geticht  auf  Joh.  Freinsheimers  Ahleihen  ^"  herausgab.  Seine  ernste  ,  vater- 
ländische,   christliche  Gesinnung  äussert   sich  in  etwas  harter  Form;^'  seine 

Mitglied  der  Gesellschaft  lässt  sich  nachweisen,  ausser  Rumpler,  nur  ein  Student  Thiederich, 
der  1634  ermordet  wurde:  Rompler,  Reimgetichte  S.  75.  Diesen  beiden  Namen  gesellt 
Boeder  (ehd.  230)  noch  Lucius,  der  ebenfalls  1634  starb,  und  Freinsheim  bei.  Schneuber, 
den  Grödeke  Grrundriss  III  S.  5  u.  a.  als  Stifter  nennen,  ward  erst  im  Herbst  1634  immatriculiert. 
Dass  Moscherosch  der  Gesellschaft  angehörte,  ist  ganz  unbezeugt:  auch  war  er  1633  nicht  in 
Strassburg.     Befreundet  war  er  allerdings  mit  Rumpler.  23)    Rompier,  Vorr.  zu  den 

Beimgetichten ;  Schneuber  Teutscher  Getichten  Änderer  Theyl  (1656)  S.  7 ;  Zesen,  Bosentahl 
(1669)  S.  14  Nicht  lange  darnach  erhub  sich  auch  die  Neunständige  Ilänseschaft :  welche 
in  geheim,  tmd  gleichesfals  wie  die  Strashurgische,  unter  ihren  neun  Hänsegliedern  gehliehen ; 
von  denen  der  Färtige  noch  allein  im  lehen.  Dunkel  spricht  Schneuber  2,  298,  von  der  neuen 
Rosengesellschaf't,  wie  die  gerade  Tanne  zuerst  sich  gefreut  habe  als  eine  Böse  sie  umivunden, 
wie  diese  aber  zu  üppig  geworden  bald  welken  zu  toollen  scheine.  24)  Geb.  zu  Ulm  1608, 
Professor  zu  Upsala  1642 — 50,  später  zu  Heidelberg,  gest.  1660  (§  118,  7).  25)  Strass- 
burg 1639.  Die  hübsche  Titelzeichnung  rührt  von  Rumpler  her,  der  auch  zu  Moscheroschs 
Gesichten  in  der  echten  Ausgabe  das  Titelkupfer  gezeichnet  hat.  26)  Der  Heide,   ihr 

iverdt,  fürm  =  vor  dem.  27)  Bumpler  schreibt  er  sich  selbst  und  macht  scherzhafte  Wort- 
spiele auf  diesen  Namen ;  vielleicht  eben  deswegen  nennen  ihn  aiide v e  Bompler  und  schreibt 
er  sich  selbst  so  auf  dem  Titel  seiner  Reimgetichte  und  später.  Er  war  aus  (AViener-)  Neustadt, 
wie  aus  seinem  Immatriculationseintrag  (Strassburg,  jur.  Fac.  23.  Sept.  1628)  hervorgeht. 
Geburtsjahr,  sowie  Ort  und  Zeit  seines  Todes  sind  unbekannt.  Den  Ausbruch  des  30jährigen 
Kriegs  erlebte  er  als  Kind;  ein  Neujahrsgedicht  1627  scheint  das  älteste  uns  erhaltene.  Den  Sohn 
Schaffalitzkis  (Anm.  21)  begleitete  er  1641  nach  Paris  und  erwtehnt  auch  dass  er  mit  Herzögen 
von  Wirtemberg-Montbelgard  gereist  sei.  28)  Druckort  sämmtlicher  Schriften  ist  Strass- 
burg. 29)  Erweitert  auch  in  den  Reimgetichten.  30)  Strassburger  Bibl.  31)  Auch  er 
hat  eine  Sechstine  Sexerung  S.  16,  eine  Ode  mit  Kher,  Widerkher  und  Letzgesang  S.  83, 
eine  andere  mit   den   sriechischeu   Namen    der  Theile  S.  28.  beide  am  Schluss  von  Gedichten 


208  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVH  JAHRH.  §  122 

puristischen  Neigungen  verbinden  ihn  mit  Zesen.'-  Noch  geringer  an  \Verth, 
wesentlich  Gelegonheitspoesie  ist  der  Inhalt  der  Gedichte  Johann  Matthias 
SciiNEiiJERs ^'  164-4,  denen  Teiäscher  Gedichten  Anderer  Theiß  1656  folgte; 
doch  ward  er  in  die  Fruchtbringende  Gesellschaft  aufgenommen  (§  115,  10). 
Wie  schwer  es  manchen  süddeutschen  Dichtern  fiel  sich  der  neuen 
Verskunst  anzuscliliessen,  zeigt  Jon.  Sebastian  Wieland,^''  der  1626  eine  be- 
schreibende Dichtung  auf  die  Stadt  Urach,  und  1633  zu  Gustav  Adolfs  Ehren 
Der  Held  von  Mitternacht'^''  erscheinen  liess.  Obschon  er  Opitzens  Arbeit 
d.  li.  doch  die  Poeterei  schon  zur  Hand  hatte,  als  er  die  erstere  Dichtung 
schrieb,  hatte  er  die  Handgriffe  nicht  gleich  ersehen;  und  selbst  die  zweite, 
obgleich  metrisch  genauer,  wird  dem  doch  mit  Liebe  behandelten  Gegen- 
stände durch  trockene  Aufzahlung  der  einzelnen  Thaten  und  Tugenden  des 
Koenigs  nicht  gerecht.^''  Von  Opitz  völlig  absehend  hat  in  Bern  1642  An- 
TiioNi  Stettler^^  nochmals  les  Qiiatrains  du  Sieur  de  Pihrac  übersetzt,  in 
den  vers  comniims  des  vorgedruckten  Originals.  Noch  kunstloser  sind  die 
Epigramme  des  oestcrreichischen  Exulanten  J.  IL  v.  Traunsuork  ,  welche 
ebenfalls  zu  Bern  1642  erschienen,-''*  in  denen  jedoch  die  Volksthümlichkeit 
des  Inhalts,  die  Biederkeit  der  Gesinnung  erfreulich  wirkt.     Erst  der  Züricher 


in  Alexamlrinern.  endlich  auch  Sonette  und  gebraucht  Dactylen.  32)  Etlidier  der  .  .  Deutsch- 
gesinnten Genossensduift  Mitglieder  . .  Sendeschreiben,  zusavimengeläsen  . .  durch  J.  Bellinen 
(l(j47)  N.  13:  Zesen  schreibt  aus  Utrecht  8  Mertz  1645.  Rumpier  steuert  Lobgedichte  auch  zu 
deu  Werken  Harsdörfers  sowie  zu  Schills  Ehrenkrantz  bei  und  feiert  Kists  Dichterkro'nung. 

33)  (ieb.  zu  Mülheim  i.  B.  Prof.  der  Poesie  zu  Strassburg  1642 — 1G65.  Auch  er  hat  Oden  mit 
Satz,  Gegensatz,  Nachklang  oder  Abgesang  oder  Nachlied.  Seinen  beideu  zu  Strassburg  erschie- 
nenen Sammlungen  sind  lateinische  Gedichte  beigegeben.  An  Job.  Val.  Andreaj  richtet  sich  1,  51. 

34)  Wieland  war  1621  Pfarrer  zu  Colstetten  auf  der  Alp:  Gödeke  Grdr.  242.  35)  Dies 
Gedicht  (§  118,  7)  mit  newen  teutsclien  Versen  nach  Art  der  frantzösischen  .  .  beschrieben  war 
zu  Heylbronn  gedruckt;  Urach  zu  Tübingen.  36)  Dies  gilt  freilich  auch  von  den  zahl- 
reichen anderen  Gedichten  auf  Gustav  Adolf,  von  denen  ülivarius  (=  Olearius)  Sieges-  und 
Triumffsfahne  G.  A.  Leipzig  1633,  in  Alexandrinern,  neben  Gedichten  von  Fleming  und 
Weckherliu  Auszeichnung  verdient.  Vor  dem  Tod  des  Königs  ist  gedichtet  Der  Mitternacht 
Stern  .  .  1632  o.  0.  akrostichisch  im  Thon  Wie  schoßn  leticht  uns  der  Morgenstern ;  und 
ein  nicht  zur  Auftührun«;  trekommenes  Drama  Schwedische  Comödia,  worüber  Mentzel.  Gesch. 
d.  Schauspielkunst  in  Fkf.  a.  M.  S.  70  Xißheres  augibt.  37)  Berliner  Bibl.  38)  J- 
H.  V.  V.  Z.  D.  G.  L.  H.  V.  F.  L.  G.  A.  Erstes  tausend  deutscher  weltlicher  Poematum 
von  allerJutnd  täglich  fürfallender  Materia,  vntid  Handlungen,  numclierley  Sprichwörtern 
und  Gleichnussen.  (Strassburger  Bibl.)  Es  folgen  noch  zwei  andere  Tausende:  8()0<)  hat 
der  Vir.  fertig.  I  293  Manclier  nimbts  mit  schöfln  j  Vnd  gibts  wider  mit  löfln.'  Hans 
Sachs   und  Claus  Narr  sind    dem  Vfr.   bekannt.     Ein    Beispiel    seiner  Verskuust :    III   303 


I 


§  123  KATHOLISCHE  DICHTER.  209 

Johann  Wilhelm  Simler  ^■''  brachte  durch  seine  Tcutsche  Gedichte  1648  die 
opitzischen  Kegeln  auch  für  die  Scliweiz  in  Geltung;  doch  fehlte  es  hier  über- 
haupt an  dichterischem  Nachwüchse. 

§  123. 

Wenn  nicht  vor  Opitz,  so  doch  unabhängig  von  ihm  war  das  neue 
Versgesetz  von  einem  andern  Dichter  durchgeführt  und  selbst  verfeinert  * 
worden:  von  dem  Jesuiten  Friedrich  von  Spee,'-  dessen  Tndsnachtigall  iedoch 
erst  1649,  nach  seinem  Tode  gedruckt  erschien.^  In  der  Vorrede  gibt  der 
Dichter  auch  seine  metrischen  Grundsätze  an.  Wie  Opitz  erkennt^  er  im 
Deutschen  nur  jambische  und  trochaische  Verse  an;  die  Quantität  sei  vom 
Accent  genommen,  so  dass  die  Silbe,  auf  welche  in  gemeiner  Aussprache  der 
Accent  falle,  für  lang  gerechnet  werde,  die  anderen  für  kurz;  es  gebe  Aus- 
nahmen, in  denen  aber  das  Ohr  nicht  verletzt  werden  dürfe.  Wa^hrend  nun 
Opitz  von  der  holländischen  Dichtung  aus  auf  das  Gesetz  aufmerksam  ge- 
worden war,  beruft  sich  Spee  auf  die  lateinischen,  nach  dem  Accent  gebau- 
ten Hymnen  ,  von  denen  er  Fange  Ungua  gloriosi  als  Muster  eines  trochai- 
schen  Verses  anführt ;  vielleicht  hat  aber  auch  das  Volkslied  des  Niederrheins 
ihm  Anleitung  gegeben.  Auf  jeden  Fall  waren  die  von  ihm  gebrauchten 
jambischen  Strophenformen  grossentheils  sowohl  in  der  Hymnenpoesie  -^  als 
im  gesungenen  Volkslied  ^  bekannt;  auch  das  Spiel  mit  Binnen-,  Schlag-  und 
Kehrreimen,  das  Spee  liebt,  findet  sich  hier  wie  dort.  An  das  erzsehlende 
Volkslied  erinnert  deutlich  der  Poetisch  Gesang  von  Francisco  Xavier,  worin 
der  Missionar  als  furchtloser  Held  dargestellt  wird.     Dass  Spee  seine  Lieder 


Dass  sich  neun  Schicdbn  an  eim  hasn  gricJit.  39)  (Jeb.  vor  1611,  gest.  1672  als  Prediger. 
8eine  Sprache  ist  mundartlicli  gefärbt. 

§   123.  1)  In  der   sorgfältigen  Auswahl   der   einsilbigen  Wörter   für  Hebung  und  für 

Senkung.  2)  tfeb.  zu  Kaiserswerth  1.591,  trat  er  1610  in  den  Orden  ein,  und  starb  als 

Opfer  der  Krankenpflege  an  der  Pest  zu  Trier  1635.  3)  Druckort  Cöln,  wo  noch  weitere 
Auflagen  bis  1709.  Durch  H.  von  Wessenberg,  F.  v.  Schlegel,  Brentano  u.  a.  wurden  erst 
einzelne  Gedichte,  dann  die  ganze  Sammlung  erneut.  Ausgabe  nach  dem  Autograph  des 
Dichters  von  1634  (Strassburger  Bibl.)  von  (j.  Balke.  Leipzig  1879.  In  der  Vorrede  ist  auch  die 
sonstige  Litteratur  über  Spee  angeführt,  worunter  0.  Hülscher,  Progr.  d.  Kealgymn.  zu 
Düsseldorf  1871,  mit  Familiennachrichten.     LB.  409.  4)  Das  Folgende    nach  der  ein- 

facheren   Darstellung    im    Strassburger    Msc.  5)    S.    Balke   XLII.  6)    Von   Spes 

51  Liedern  sind  36  jambisch;  15  (LB.  I.  III)  im  Hildebrandston:  4  in  dem  des  Bohnen- 
lieds LB.  21  :  15  (LB.  II  mit  Refrain)  haben  dieselbe  Strophenform,  aber  ohne  Binnenreim. 


210  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVH  JAHUH.  §  123 

für  ilcn  Gesang  diclitcte  gclit  aus  der  Beigabc  der  Melodien  hervor.'  Volks- 
thüinliclier  als  bei  Opitz  ist  aucli  in  Specs  Gedichten  die  Sprache  behandelt: 
er  scheut  sicli  nicht  verkürzte  Wortformcn  *  und  selbst  mundartliche  Aus- 
drücke '••  zu  gebrauchen.  Alle  diese  Freiheiten  hat  der  Dichter  gewiss  wohl 
überlogt,  wie  er  auch  sorgsam  an  seinen  Versen  gefeilt  und  der  ganzen 
Sammlung  eine  Anordnung  gegeben  hat,  welche  von  allgemeinen  Betrach- 
tungen über  die  Liebe  zu  Gott  zur  Schilderung  der  Passion  und  zuletzt  des 
Frohnleichnamsfestes  hinführt.  Mit  Vorliebe  bedient  sich  Spee  der  Ein- 
kleidung in  Ilirtonlieder  und  Hirtengesprajche,  wie  er  denn  auch  die  Sicclides 
Miisce  als  die  seinigen  bezeichnet.  Christus  selbst ,  der  gute  Hirt ,  heisst 
nun  Daphnis,  dessen  Martertod  von  Dämon  und  llalton  beklagt  wird,'"  wie 
sie  schon  vorher  zusammen  Gottes  Güte  gepriesen  haben.  Diesem  Preise 
dient  die  Schilderung  der  Natur,  welche  zart  beseelt  "  erscheint,  und  deren 
wunderbare  Gesetznifessigkcit  unter  anderem  am  Treiben  der  Bienen  ''^  mit 
tändelnder  Nachahmung  der  Naturlautc  vorgeführt  wird.  Auch  wo  Erza^hlung 
folgt,  liebt  der  Dichter  von  Naturschilderung  auszugehn,  wie  das  alte  Volks- 
lied. Nur  ist  bei  ihm  alles  ins  Weiche  ,  Kleine  ,  Kindliche  ,  Süssliche  ge- 
wendet und  es  werden  der  Thrsenen,  der  Verzückungen  zu  viel.'^  An  der 
subjectiven  Wahrheit  der  Auffassung  ist  nicht  zu  zweifeln.  Der  Dichter, 
schon  ganz  auf  Unterwerfung  unter  das  religiöse  Gebot ,  auf  den  Frieden 
gerichtet,  mochte  inmitten  der  furchtbaren  Wuth  des  Krieges  diesen  nur  in 
seinem  Glauben  finden.'*  Dazu  auch  andere  anzuleiten  sang  er  seine  Lieder 
trotz  der  NacJitigaU,  dazu  schrieb  er  auch  in  Prosa  sein  Giildnes  Tiigetidhuch^ 
welches  ebenfalls  zu  Cöln  1649  gedruckt  ward:  '^  hier  zeigt  sich  die  bei  den 

Die  trochaischen  haben  allerdings  ihr  Vorbild  nur  in  der  lat.  Hyninendichtung.  7)  Im 

Druck.     Im  Msc.  zu  Trier  ist  der  Platz  dafür  freigelassen.  8)  Kalte   Wind   halt   ein! 

Auch  die  Inclination :  Erklingens  LB.  409,  18  und  die  Nachsetzung  des  Pronomens :  den 
Farben  sein,  der  Haiton  mein ,  sind  gegen  die  grammatisch  strenge  Regel  von  Opitz. 
9)  Geit  =  geht,  gähn  und  gon  =  gehn ;  näulich  =  mit  Mühe,  wer  Bogen  =  icelcher 
Bogen.  Daher  hätte  auch  LB.  412,  39  staicre  ^^  starke,  heftige  nicht  verändert  werden 
sollen,    zumal    das    "Wort    öfters    bei    Spee    wiederkehrt.  10)    LB.  424.  11)  Der 

melancholische  Eindruck  des  Mondscheins,  die  Flügel  der  Winde,  die  als  Thränengüsse  auf- 
gefassten  Quellen.  Die  ganze  Natur  empfindet  Dankbarkeit  gegen  den  Schöpfer.  Schrecken 
und  Abscheu  über  das  an  Christus  verübte  Verbrechen.  12)  LB.  416.  13)  Ganz 

fehlt    es   auch    nicht   an    Missgriff'en :    Balke    S.    L.  14)    Der   Confessionsstreitigkeiten 

gedenkt  er  nur  in  N.  51,  wo  er  vom  Spott  der  Ketzer  über  das  Fronleichnamsfest  spricht. 
15)  Mehrere  Auflagen  bis  1749,  1829  von  Brentano  erneuert,  dann  noch  1850.  Wie  die 
Trutznachtigall  ward  das  G.  Tugendbuch  ins  Lateinische  und  Tschechische  übersetzt.    In  das 


§  123  KATHOLISCHE  DICHTER.  211 

Jesuiten  so  fein  ausgebildete  Rhetorik  und  ihre  Methode,  durch  die  vom 
Beichtkinde  verlangten  Seufzer  u.  a.  Rührung  hervorzurufen,  in  herkömm- 
licher Weise,  wenn  auch  bei  Spee  das  Gelernte  zur  eigenen  Natur  geworden 
sein  mag.  Einen  unvergesslichen  Beweis  innerer  Freiheit  hat  er  doch  ge- 
geben ,  indem  er  die  Hexenprocesse  durch  eine  freilich  ohne  seinen  Namen 
zu  Rinteln  1631  erschienene  Schrift  Caidio  criminalis^^  bekämpfte:  als  Beicht- 
vater hatte  er  in  Bamberg  1627  und  1628  über  zweihundert  dieser  Schlacht- 
opfer zum  Tode  vorbereitet  und  sich  von  ihrer  aller  Unschuld  überzeugen 
müssen. 

Der  von  Spee  angeschlagene  Ton  begegnet  spaeter,  nur  so  dass  die  poe- 
tische Naturbeseelung  in  pantheistische  Gedanken  umschlsegt ,  bei  Angelus 
Silesius  (§  129);  auch  protestantische  Kirchenlieder  klingen,  wohl  ohne  dass 
die  Verfasser  von  Spee  wussten,  an  seine  Weise  an.  Die  katholische  Dich- 
tung zeigt  seinen  Einfluss  noch  spseter,  aber  freilich  in  Werken  von  weit 
geringerem  Werthe.  Von  dem  Kapuziner  Laurentius  von  Schnüffis  ^"^  er- 
schien zu  Constanz  1682  Mirantisches  Flötleiiiy  oder  geistliche  ScMfferey,  in 
■welcher  Christus,  under  dem  Namen  Daphnis,  die  in  dem  Sünden-Schlaff  ver- 
tiefte Seel  Clorinda  .  .  aufertvecU  .  .  Noch  mehrere  aehnhche  Werke  folg- 
ten,'^ darunter  auch  Mirantische  Wunderspiel  der  Welt,  1701,  worin  die 
Schilderung  der  üblichen  Spiele  an  Harsdörfer,  die  geisthche  Deutung  an 
mittelalterliche  Werke  wie  das  Goldne  Spiel  von  Ingold  (§  90,  74)  erinnert. 
Rücksicht  auf  Andere  beherrscht  wieder  den  geisthchen  Schriftsteller,  wseh- 
rend  Spee  aus  innerem  Triebe  dichtete.  Die  Strophenformen  bei  Laurentius 
sind  dieselben  wie  bei  Spee;  Noten  sind  beigegeben  und  Bilder  sollen  den 
Reiz  der  Lesewerke  noch  erhoehn.  Laurentius  war  erst  nach  einem  sehr 
weltlichen  Hofleben  ins  Kloster  getreten,  mehr  des  bisherigen  Treibens  müde 
als  aus  Herzensdrang. 


Tugendbuch   sind  Lieder  aus  der  Trutznachtigall   aufgenommen,  z.  Th.    in  älterer  Fassung. 

16)  Schon  1632  folgten  zwei  Nachdrucke;  später  Übersetzungen  ins  Deutsche,  Holländische 
und    Französische.      Der  Name    des  Verf.    ward  erst   durch  Leibnitz    allgemeiner    bekannt. 

17)  Eigentlich  Johann  Martin,  welchen  Namen  er  in  Mirant  umsetzte.  Geb.  zu  Schnifis  in 
Vorarlberg  1633,  war  er  Schauspieler  am  Hofe  zu  Innsbruck,  trat  1665  ins  Kloster  und 
starb  in  Constanz  1702.     Seine  Bekehrung  erzählt  er  allegorisch  in  Philotheus,  Wien  1678. 

18)  Mirantische  Wald-ScMlhney,  Constanz  1688,  Mirantische  Mault rummel,  ebd.  1690, 
Mirantische  Mayenpfeijf,  Dillingen  1692,  Futer  über  die  M.  Maultrummel,  Const.  1699, 
Marianische   Einöd ,    Sieben   Hauptschmerzen.     Auch   die    Vielfarbige   HimvieU-Tulipan, 


212  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVU  JAHiai.  §  123 

Diigcgou  stellt  dem  Dichter  Spcc  sein  Ordensbruder  Jacoi»  Bälde  '" 
allerdings  würdig  zur  Seite,  und  wie  jener  den  religiocsen,  so  gab  er  den 
politischen  Ideen  der  (iegenrcformation  überzeugten  kunstvollen  Ausdruck. 
Dem  stolzen  Herrschergefühl,  den  zuversichtlichen  Siegeslioffnungen  ist  es 
ganz  angemessen ,  dass  der  Dichter  Sprache  und  metrische  Formen  der  roe- 
mischen  Dichter  aus  der  Imperatorenzeit  gebraucht.^**  Er  feiert  die  katho- 
lischen Fürsten  und  Führer,  Tilly,  Pappenheim,  vor  allen  seinen  Kurfürsten 
Maximilian.'-'  Er  klagt  über  den  Umschwung  des  Krieges,  auch  über  die 
Verwüstung  seiner  elsa3ssischen  Heimat  und  warnt  die  Deutschen  vor  dem 
Nachäffen  franzcosischer  Sprache  und  Sitte."  Zahlreiche  persocnliche  Bezie- 
hungen verbirgt  er  hinter  ersonnenen  oder  dem  Alterthum  entlehnten  Namen. 
Für  NaturschcDnheit  ist  er  empfänglich ,  waehrend  er  in  seinen  zahlreichen 
Gedichten  auf  die  Jungfrau  Maria  mehr  Pracht  als  Gefühl  zeigt,  wie  er  auch 
als  dramatischer  Dichter  nach  Senecas  Muster  bei  den  Ordensfesten  wirkte 
und  selbst  als  Historiker^^  tha?tig  war.  Gegen  diese  Leistungen  sticht  jedoch 
das  Wenige  scharf  ab  was  er  deutsch  gedichtet:  nicht  bloss  sein  Agathyrsus 
Tentsch^  München  1647,  worin  er  gegenüber  den  Spöttereien  über  die  Mage- 
ren, zu  denen  er  auch  zsehlte,  die  Leiden  der  Feisten  schadenfroh  und  derb 
ausmalt.  Auch  in  seinem  Ehrenpräss  Marice  1688  wirkt  die  bairisch  ge- 
färbte Sprache ,  der  unbeholfne  Yersbau  den  Absichten  des  Dichters  ent- 
gegen.-*    Und  dies  gilt  nun   auch   von    den  meisten  gleichzeitigen  oder  spae- 


5.  Aufl.  Einsiedeln    1753,    wird    ihm    in   der   ADB.   zugeschrieben.  19)  (ieb.  löO-i  zu 

Ensisheim.  als  Ingolstadter  «Student  1G24  in  den  Orden  eingetreten,  gest.  1668  als  Hof- 
prediger zu  Neuburg  an  der  Donau.  G.  Westerniayer,  Jacobus  Bälde,  sein  Leben  und  seine 
Werke.  München  1868.  20)    Seine  Lyrica,   zuerst  München  1643  gesammelt,  umfassen 

4  Bücher  Oden  und  ein  Buch  Epodon.  wie  bei  Horaz.  Eine  Gesammtausgabe  seiner  Poemata 
erschien  zuerst  Cöln  166U;  eine  vervollständigte  München  1730.  Vieles,  insbesondere  von 
seinen  Prosaschriften,  kam  nicht  in  den  Druck.  21)  Die  zeitgenössische  Polemik  Baldes 

abstreifend,  hat  zuerst  wieder  Herder  in  der  Terpsichore  1795  den  Dichter  durch  eine  Über- 
setzung ausgewsehlter  Oden  bekannt  gemacht  und  seinen  stoischen,  weltbürgerlichen  Sinn, 
seine  erhabene,  reichgeschmückte  Ausdrucksweise  gepriesen.  Seitdem  folgten  zahlreiche 
L'bersetzungen :  von  Xeubig.  München  1828;  Aigner.  Augsburg  1831:  Knapp.  Christoterpe 
1848;  Schroth  und  Schleich,  Renaissance,  München  1870.  Zu  seiner  Zeit  haben  die  Nürn- 
berger Dichter,  aber  auch  Gryphius.  einiges  übersetzt.  22)  Dies  thut  übrigens  auch 
Laurentius  a  Schnüfis.  der  Philanders  Schriften  kennt.  23)  E.  X.  v.  AVegele.  Gesch.  d. 
deutschen  Historiographie  S.  388.  24)  Jo.  Ulr.  Erhard  übertrug  Baldes  Gedicht  als 
Eeformierter  Ehrenpreis  auf  Christus,  Stuttgart  1674  (Herder).  Sein  eigenes  lat.  Poema 
de    vanitate   mundi  versetzte  (ebenso   wie    den  Agathyrsus)   der  Dichter   in  das   Teutsch: 


§  124  DICPITER  DER  SPRACIIGESELLSCIIAFTEN.  213 

teren  Dichtungen  in  deutscher  Sprache,  -welche  von  seinen  Ordensgenossen 
herrühren:  im  J.  1731  hat  ein  Gegner  des  Ordens,  O.  Litzel  unter  dem 
Namen  Megalissus  eine  Sammlung  von  Proben  der  Jesuitenpoesie**  veranstaltet, 
die  seine  Behauptung  in  der  Schrift  Der  Undeutsche  KatholiJc,  dass  die  Poesie 
seit  Opitz  durchaus  protestantisch  sei,  wenigstens  bei  den  Zeitgenossen  recht- 
fertigte. 

§  124. 

Wsehrend  im  Süden  Deutschlands  die  Versuche  in  der  neuen  Dicht- 
kunst vereinzelt  auftraten  und  eine  dauernde  Nachwirkung  nicht  hatten,  brei- 
tete sich  im  mittleren  und  in  Norddeutschland  das  strengere  Gesetz  der  poe- 
tischen Form  rasch  und  weithin  aus.  Die  Sprachgesellschaften  riefen  einen 
wahren  Wetteifer  in  der  Erzeugung  von  Gedichten,  die  ihm  genügen  sollten, 
hervor.  Leider  stand  mit  der  Menge  der  Gedichte  ihre  Treiüichkeit  durch- 
aus nicht  im  Verhältniss.  Der  patriotische  Eifer,  welcher  den  Adel  trieb, 
konnte  eine  wirklich  dichterische  Anlage  nicht  ersetzen;  und  die  Professoren 
der  Poesie,  die  bisher  von  Amtswegen  lateinische  Gedichte  für  ihre  Körper- 
schaften verfasst  hatten  und  nun  auch  mit  deutschen  ihren  Verpflichtungen 
nachkamen,  lieferten  zwar  correcte  Arbeiten,  aber  keineswegs  Dichtwerke  von 
wirklichem  Werthe.  Einzelne  Schwärmer  brachten  vollends  durch  sinnlose 
Wagnisse  und  hohles  Selbstlob  die  gelehrte  Dichtung  beinahe  in  dieselbe 
Missachtung,  welche  die  volksthümhche  schon  längst  getroffen  hatte. ' 

Unter  den  Sprachgesellschaften   hatte  die   groesste  Wirkung  die  älteste, 


Warheit ,  gesungen  von  der  Eitelkeit  der  Welt.  Diesen  und  den  andern  strophischen 
Gedichten  steht  ein  Wiegengesang  auf  eine  bairische  Prinzessin  (Westermayer  205)  mit  noch 
weniger  gelungenen  Alexandrinern  zur  Seite.  Heftigste  Polemik  athmet  das  ebenfalls  zuerst 
lat.  gedichtete  Ein  neues  geistliches  Lied  von  einer  ivilden  Sau,  icodurch  der  abtrünnige 
Blartin  Luther  abgebildet.  Mit  Musiknoten  1717.  In  diesem  wie  in  den  anderen  satirischen 
deutschen    Gedichten    mischt    sich    viel   Latein    ein.  25)  Frankfurt  und  Leipzig  1731. 

Vgl.  auch  die  Bemerkung,  die  Leibnitz  einem  Jesuiten  gegenüber  1715  macht:  neque  enim 
emendatio  patriae  poeseos,  quam  inde  ab  anno  trigesimo  superioris  seculi  imigna  Germa)iiae 
pars  amplexa  est,  in  collegia  x>atruin  societatis  Jesu,  quod  sciam,  penetravit.  Guhrauer, 
Leibnitz'  Deutsche  Schriften  1,  60  Anm. 

§   124.  1)    Einigermassen    bezeichnend    hiefür    ist  die   weitverbreitete  Form   Versehe, 

welche  sich  sogar  in  Xeumarks  Neusprossendem  Palmbaum  in  den  vorausgeschickten  Ehren- 
gedichten für  diese  gebraucht  findet.  Noch  Heinrich  von  Kleist  musste  den  Hohn  dieser 
Form  im  3Iunde  seiner  Verwandten  spüren,  als  seine  Dichterplsene  gescheitert  waren.  Sie 
stammt  aus  dem  Niederdeutschen,  s.  Lauremberg  4,  112.  244.  256.  375.  Vgl.  noch  verschte 
(=  machte  Verse)  im  Keim  auf  herschte :  "Wernike  H.  Sachs.    VerscJiweise  hat  ohne  schlimmen 


214  NEUIIOCIIDEUTSCIIE  ZEIT.         XYll  JAIUül.  §  12-i 

zugleich  (las  Muster  der  übrigen.  So  lange  Ludwig  von  Anhalt  die  Frucht- 
BRiN<;EXbK  Gesell.schaft  leitete,  sah  sie  sich  zwar  durch  die  Zeitumstände 
gena?thigt,  einige  Feldherrn  und  Staatsmänner  des  SOjahrigcn  Krieges  aufzu- 
nehmen, welche,  zumal  wenn  sie  fremden  Nationen  angeliojrten,  für  deutsche 
Sprache  und  Litteratur  kaum  ein  Verständniss  haben  konnten;  aber  sie 
strebte  doch  danach  auch  die  besten  Dichter  sich  zu  verbinden  und  durch 
Ausbildung  von  Sprachrogel  und  Verskunst  eine  Aufgabe  von  hoher  Bedeu- 
tung zu  Icpscn.  Unter  Ludwigs  Nachfolger ,  Wilhelm  von  Weimar ,  dem 
Schmackhaften  {l()bl—lC)V)2)^  trat  mehr  und  mehr  eine  äusserliche  Auffassung 
des  Gesellschaftszwecks  hervor:  die  Fruchtbringende  Gesellschaft  ward  zum 
Palmenorden,  man  nahm  mit  Yorliebe  hochstehende  Perscenlichkeiten  auf^ 
und  feierte  die  Aufnahmen  mit  vielem  Gepränge;  die  dichterische  Thjetigkeit 
der  Gesellschaft  war  wenig  angesehnen  Beamten ,  so  dem  Erzschreinhalter 
Neumark  überlassen.  Der  dritte  Vorstand  der  Gesellschaft,  Herzog  August 
von  Sachsen  zu  Halle,  der  Wohlgcrathene  (1667  —  1680)  brachte  die  Zahl 
der  Mitglieder,  die  unter  Ludwig  527,  unter  Wilhelm  789  betragen  hatte, 
auf  890.*  Nach  seinem  Tode  blieb  die  Gesellschaft  ohne  Oberhaupt  und 
folglich  ohne  weitere  Wirksamkeit.^ 

Schon  unter  Ludwig  hatten  die  meisten  Mitglieder,  die  durch  die  Ge- 
sellschaft zur  Schriftstellerei  veranlasst  wurden,  sich  mit  dem  Übersetzen  be- 
gnügt oder  doch  groessere  Werke  nur  auf  diese  Weise  verfasst:  so  Ludwig 
selbst  (§  115,  2),  so  Tobias  Hüebner  der  Nütjshare  und  Dietrich  von  dem 
Werder^  der  Vielgekörnte  (§  118,  5).  Doch  zeigte  der  Fürst  sich  in  den 
zahlreichen  lieimgesetzen  für  die  Mitglieder  seiner  Gesellschaft  und  in  anderen 
Gedichten  für  deren  Zwecke  (§  120,  1-4)  mit  selbständiger  Erfindung;  Hüeb- 
ner dichtete   für  Ritterspiele   bei  Hoffesten,    u.  a.    beim   Empfang    der   Kur- 


Nebensinn   V.    Löber.  2)  €'ber   das  Geschlecht-   und  Wappenbuch  der  Fruchtbr.  Ges. 

unter  Herzog   Wilhelm  s.  Weim.  Jb.  3,   119  fg.  3)  Neumark,  Neusprossender  Palmbaum 

8.  34  zfehlt  auf:  Ein  König,  drei  Kurfürsten.  4ft  Herzoge  u.  s.  w.  Auch  der  grosse  Kurfürst 
war  Mitglied  und  wenigstens  in  der  Keinhaltung  der  deutschen  Sprache  eifrig:  Dünger  Wb. 
der  Verdeutschungen.  S.  32  fg.  4)  Verzeichnis«  der  ersten  806  in  Neuraarks  Palmbaum, 

der  übrigen   in  Amarantes   (Herdegen)  Hirten-    und  Blumenorden  S.  855  fg.  5)    Eine 

Klage  über  diesen  Ausgang  in  einer  Vorrede  von  1706  bei  Gottsched  Not.  Vorrath. 
276.  6)  Über  beide  s.  G.  Witkowski.  Diederich  von  dem  Werder.  Leipzig  1887.  Tobias 
Hüebner.  Hofmeister  zu  Bernburg,  lebte  1578 — 1636:  Werder  1584  geb.  zu  Werdershausen, 
am  Mauritianum  zu  Cassel  erzogen,  lebte  bis  1628  in  hessischen,  später  in  anhaltinischen 
Diensten  und  starb  1657.  Zu  seinen  Übersetzungen  gehört  auch  die  des  geschichtsallegerischen 


§  124  FRUCHTBRINGENDE  GESELLSCHAFT.  215 

fürstin  Elisabeth  in  Heidelberg  1613;'  Werder  hat  eine  Anzahl  religioescr 
Gedichte  z.  Th.  in  künstlichen  Formen  verfasst.^  Von  den  gelehrten  Mit- 
gUedern  der  Gesellschaft  zu  Ludwigs  Zeit  galt  —  abgesehen  von  Opitz  — 
Buchner,  der  Genossene  als  vortrefflicher  Dichter.^  Allein  Geschmack  und 
Sorgfalt,  wie  er  als  Lehrer  und  Beurtheilcr  anderer  sie  gezeigt  (§  120,  11), 
und  selbst  eine  gewisse  Kühnheit,  wovon  seine  Anwendung  und  Vertheidiguug 
des  Dactylus  zeugt ,  entschädigen  nicht  für  den  unwichtigen  Inhalt  der  Ge- 
legenheitsgedichte und  die  überkommenen  Gedanken  der  geistlichen  Dich- 
tungen.'" In  ziemlich  platten  Alexandrinern  dichtete  Christian  Gueintz,'' 
der  Ordnende  (§  120,  44)  ein  Loh  der  DrucJcerey-Kunst  auff  das  Jubelfest, 
Halle  1640,'-  ein  damals  mehrfach  behandelter'^  Gegenstand.  In  demselben 
Jahr  erschien  von  J.  G.  Schottelius  (§  120,  15)  Lamentatio  Germanice  ex- 
spiranfis ,  Der  mmmehr  hinsterbenden  Nymphen  Germanice  elendeste  Todes- 
Mage,  '^  in  kräftigem,  etwas  rauhem  Tone,  gleichfalls  in  Alexandrinern. 

Die  spaeteren  Dichter  der  Fruchtbringenden  Gesellschaft  zeigen  bereits 
den  Einfluss  anderer  Meister,  insbesondere  auf  lyrischem  Gebiet.  So  schliesst 
sich  Ernst  Christoph  Homburg  '^  eng  an  Opitz  an,  dessen  Liebesoden  im 
Schsefercostüm  er  in  seiner  Schimpff-  und  Ernsthafften  Clio  '^  1638  vielfach 
parodiert.  Daneben  stehn  einerseits  Studentenlicder  ausgelassener  Art,  and- 
rerseits Übersetzungen  aus  dem  Niederländischen,  wie  denn  der  Dichter  spseter 

Prosaroraans  Dianea  von  Loredano.  Nürnberg  1644.  7)  AVitkowski  S.  5.  8)  Ebd. 

114.  Insbesondei-e  hat  er  Krieg  und  Sieg  Christi  gesungen  in  100  Sonnetten,  Da  in  jedem 
Verse  die  heyden  Wörter  Krieg  und  Sieg  tvenigstens  einmal  befindlich  sein:  eine  Spielerei, 
die  dem  Italienischen  abgesehn  ist.  Die  Sammlung  erschien  Wittenberg  1631.  Die 
Busspsalraen  mit  einem  Klagelied  über  Magdeburgs  Zerstoerung.  Leipzig  1632.  Über  ein 
gefühlvolles  Trauergedicht  auf  seine  erste  Gattin  Selbsteigene  Gottselige  Thränen ,  Halle 
1625:    vgl.  Weim.  Jb.  2,  211.  9)   Sogar  P.  Fleming   sagt  (Jenaer  Ausg.   1651  S.  189 

Nach  Herrn  Opitzens  seinem  Versterben) :  Ist  Buchner  nur  nicht  todt ,  so  lebet  Opitz 
noch.  10)  Buchners  Nachtmahl  des  Herrn,  Wittenberg  1628,  ist  wiederabgedruckt  im 

Weim.  Jb.  2,  1  ff.,  wo  auch  das  Ballet  bei  Churfürst  Johann  Georg  II  Beylager,  1638  zu  Gotha 
gehalten  nach  der  Hs.  Sonst  nur  Gelegenheitsgedichte  in  Einzeldrucken.  H)  Geb.  1592, 
starb  als  Rector  zu  Halle  1650.  12)  Krause,  Ludwig  v.  Anhalt  3, 153.  13)  Von 

Rumpier  und  Schneuber  in  Strassburg  (§  122,  29),  von  Tscherning  in  Breslau,  D.  Ged.  Früling 
S.  132.  Zesen,  Gebundene  Lob-Rede  von  der  .  .  Buchdrückerei/,  Hamburg  1642.  14)  Druckort 
Braunschweig.  Merkwürdige  Reimfreiheiten:  getroffen:  aussruff'en,  und  besonders  in  Ver- 
nachlässigung des  Umlauts:  gebuhlet:  gefühlet,  Kugel:  Zügel.  15)  Geb.  zu  Mühla  bei 
Eisenach  1605.  Rechtsconsulent  in  Naumburg,  starb  1681.  In  des  Fruchtb.  Ges.  der  Keusche. 
16)  0.  0.  mit  den  Vornamen  Erasmi  Chnjsophili.  2.  Aufl.  in  2  Theilen,  Jena  1642.  Das 
Lied  Kinder   viüssen  jetzo   sagen ^    obgleich  Gelegenheitsgedicht,    ist    in   Cocay    Teutscher 


216  NEUIIÜCHDEUTÖCIIE  ZEIT.         XYII  JAllUll.  §  124 

Cats'  Selbstrcit  '^  übersetzt  hat.  Eine  Trayico-Comcedia  von  der  verliebten 
Schäffhnn  Dnlcimunda  1643  criiinort  an  die  Nürnberger  Schule.  Spajtcr 
sandte  sicli  Homburg  der  ernsteren  Dichtung  zu,  und  liess  üeistliclic  Lieder 
1658  und  1659  mit  den  Melodien  erscheinen.  Ein  Thüringer  wie  Homburg 
und  ebenso  auf  die  musicalisclie  Composition  seiner  Gedichte  bedacht  und 
sogar  selbst  dafür  thwtig  war  sein  Freund  G.  Neumark  (§  120,  16)  der  Spros- 
sende. Schwere  Jugendschicksalc  führten  ihn  frühe  zur  geistlichen  Dichtung, 
und  sein  Lied  Wer  nur  den  liehen  Gott  lässt  tvalten  ist  der  Dank  für  Er- 
rettung aus  bedrängter  Lage.'^  Auch  er  ging  von  der  Schaeferpocsie  aus 
und  trat  zuerst  mit  einem  Schacfergcdicht  Betrüht-verliehter  doch  endlich  hoch- 
erfreuter lliirte  Filamon  tvegen  seiner  .  .  Belli/lora,  Hamburg  1640"*  hervor. 
1651  zu  Danzig  folgten  mehrere  Gedichte,  die  Neumark  meist  aus  Cats  ver- 
hüchdeutscht  hatte :  Sofonisbe,  Kleopatra,  Fryne  Bozene,  letzteres  wieder  eine 
Schöpferin  feiernd.'-'*  Seine  lyrischen  Gedichte  vereinigte  er  in  Poetisch-  und 
Musikalisches  Lustwäldchcn  Hamburg  1652;-'  auch  hier  ist  die  schaeferische 
Verkleidung  besonders  stark  vertreten.  In  spfeteren  Jahren  wandte  sich  Neu- 
mark mehr  und  mehr  der  geistlichen  Dichtung  zu." 

Mitglied  der  Fruchtbringenden  Gesellschaft  war  auch  Philipp  Zesen  als 
der  Wohlsetsende;  aber  er  suchte  sich  ein  eigenes  Feld  für  seine  Rührigkeit 
und  Neuerungssucht,  indem  er  die  Deutschgesinnte  Genossenschaft  zu  Ham- 
burg 1643  begründetet^     Er  wusste  zur  Theilnahme  auch  angesehene  Schrift- 


Lahtjrinth  S.  65  wieder  zu  finden.  17)  Nürnberg  1(M7.  18)  Weim.  Jb.  3.  176  fl'. 

Die  Erzählung,  wonach  der  Dichter  seine  Viola  di  Gamba  (Cello),  die  er  versetzt  und  nach 
unvemmtheter  Unterstützung  wieder  eingelöst  hatte,  mit  diesem  Liede  wieder  als  die  seinige 
begrüsste.  findet  sich  zuerst  bei  Herdegen  (Amarantes)  Gesch.  des  Blumenordens.  Neumark 
spielte  das  Instrument  meisterhaft  und  hat  sich  auf  dem  Titel  des  Lustioäldchcns  damit 
abbilden    lassen.  19)    Wiederholt   Königsberg    1648.  20)    Spater   zusammen    mit 

Der  Sieghafte  David  u.  a.  im  Poetisch  -  Historischer  Lustgarten,  Frankfurt  1666. 
21)  AViederholt  in  Fortgepflanzter  Musikalisch- PoetiscJier  Lustwald  Jena  1657.  22)  Des 
Siirossenden  unterschiedliche  .  .  Lieder,  Weimar  1675.  23)   Über   Stiftung   und   Ein- 

richtung beriihtet  Z.  in  Das  hochdeutsche  helikonische  üosentahl,  Amsterdam  1669:  Der 
deutschge^inneten  Genossenschaft  erste  zwo  Zünfte,  Hamburg  1676:  Das  hochdeutsche 
lAlientlial,  Amst.  1679;  Des  Hochteutschen  Nägleinthals  Vorbericht,  Hamb.  1687;  Der 
Teutschgesinnten  Genosse nsclmft  Zunft-  und  Geschlechtstmmen,  Wittenberg  1685,  vermehrt 
ebd.  1705.  Der  Name  der  Genossenschaft  wird  übrigens  schon  1647  in  der  Sammlung 
Etlicher  Sendeschreiben  durch  Bellin  (Hamburg)  erwsehnt.  Die  Anwendung  des  Wortes 
Zunft  auf  die  einzelnen  Zweige  der  Gesellschaft  lässt  schon  das  Deutschthümelnde  und 
zngleich    unbewusst   Meistersingerische  an   Zesens    Bestrebungen    erkennen :    die    Wahl    der 


§  124  DEUTSCHGESINNTE  GENOSSENSCHAFT.  217 

steller  wie  Harsdörfer  und  Moscherosch,  selbst  den  Niederländer  Joost  van 
Vondcl  zu  gewinnen,  aber  sie  gaben  nur  ihren  Namen  dazu,  ohne  für  die 
Gesellschaft  etwas  zu  leisten.  Was  die  Genossenschaft  als  solche  hervor- 
brachte, trug  den  geistigen  Stempel  ihres  Begründers,  schloss  sich  an  seine 
Eigenthümlichkcit  eng  an.  So  wiederholten  die  meisten  Anhänger  Zesens  vor 
allem  die  puristischen  Neigungen,  die  auch  in  der  Rechtschreibung  sich  kund 
geben  (§  120,  43);  so  ahmten  sie  auch  seine  hüpfenden  Versmasso,  seine 
Klangspiele  nach.  Freilich  hinter  diesen  Äusserlichkeiten ,  die  durch  Kühn- 
heit und  Künstlichkeit  zuerst  blenden  mochten,  war  auch  bei  ihrem  Meister 
ein  fester  Kern  nicht  vorhanden;  seine  Eitelkeit  verletzte,  seine  Wandelbar- 
keit-* machte  an  ihm  irre  und  so  musste  er  es  vielfach  erleben,  dass  sich 
anfängliche  Gunst  bald  in  Abneigung  wandelte,-''  dass  anstatt  der  Yerehrung, 
die  er  zuerst  genossen,  bittrer  Hohn  ihm  entgegentrat.  Die  Gutmüthigkeit, 
mit  welcher  er  diesen  fast  durchweg  ertrug,'-*^  die  Sanftmuth,  welche  er  auch 
in  einem  dürftigen  Alter  bewies,  gewannen  dann  wieder  das  Mitleid,  und 
insbesondere  die  Frauen  haben  für  seine  treuen,  wenn  auch  oft  geschmack- 
losen Huldigungen  ihm  durch  Zuneigung  und  Fürsprache  gelohnt.-^     So  hat 

Blumeunameu  für  die  Zünfte,  ihre  Abgreuzung  nach  den  Zahlen  81.  49,  25  das  Spielerische 
seines  Treibens.  24)  Ho  verleugnete  er  mehrere  seiner  Verdeutschungen  von  Lehnwörtern, 
die  er  im  Anhang  zur  Roseniunde  gebraucht  hatte  (S.  367)  in  der  Heliconischen  Hechel  (S.  100) : 
Wolff  Purismus  86.  Nur  der  Ausdruck  Windfang  für  Mantel  wurde  ihm  allerdings  wohl 
mit  Unrecht  vorgerückt:  er  ist  rothwelsch:  s.  die  Verzeichnisse  bei  Moscherosch  und  W. 
Scherffer.  Übrigens  gab  Zesen  schon  in  der  Behandlung  seines  eigenea  Namens  Anlass  zu  Klage  : 
er  nennt  sich  nicht  nur  wie  sein  Vater  Csesius  oder  Coesius,  sondern  auch  Zese,  Zesien.  und 
mit  Übersetzung  auch  des  Vornamens:  Der  Blaue  Ritter,  Bitterhold  von  Blauen,  MarJwld ; 
auch  von  Fürstenau,  mit  Verdeutschuntr  des  Namens  seiner  Heimat.  .Sein  (iesellschaftsuame 
in  der  Deutschgesinnten  Grenossenschaft  ist  der  Fürtige.  25)  Ein  Beispiel  bietet  das  Ver- 
hältuiss  zu  Ludwig  von  Anhalt.  1648  in  die  Fruchtbr.  Ges.  aufgenommen,  zeigt  Zesen  sich 
wenig  ehrerbietig  gegen  deren  Oberhaupt  und  behauptet  u.  a.,  dass  nur  Gelehrte,  besonders 
Kritiker  das  Praedikat  Durchlaucht  wie  lat.  Illustris  führen  dürften.  Schliesslich  verwarnt 
ihn  Ludwig,  seine  neuerungssüchtigen  Schriften  ja  nicht  unter  dem  Namen  der  Gesellschaft 
herauszugeben.  Krause  Erzschrein  S.  413  fgg.  Beachtung  verdient  auch,  dass  in  Neumarks 
Palmbaum  andere  Gesellschaften,  aber  nicht  die  von  Zesen  gestiftete,  genannt  werden. 
26)  Nur  gegen  Rists  Anfeindungen  wehrt  er  sich  im  Sendeschreiben  an  den  Kreuztragenden 
1664  und  etwas  heftiger  gegen  Sacer:  jener  undeutsche  Nahmlteilige  Naumhurger  in  der 
Helikon.     Hechel  1668.  27)    In  seiner  Jugend    hatte  er  eine   besondere  Verehrerin  an 

Dorothea  Eleonora  von  Rosenthal,  welche  zu  Breslau  1641  PoetiscJie  Gedanken  an  einen 
der  deutsclien  Poesie  sonderbahren  Beförderer  erscheinen  liess.  Sie  kannte  Z.  damals  seit  163.0. 
Da  sie  mit  ihrer  Freundin  von  Hohenthal  in  den  nächsten  Jahren  in  England  und  den 
Niederlanden   lebte,    so  vermuthete  M.  Gebhardt    in    einer  Diss.    Strassb.   1889  dass    sie  das 


218  NEUliOClIDEUTSOJU!:  ZEIT.         XVli  JAIÜill.  §  124 

08  ihm  in  seinem  unstaiten,  meist  in  den  Niederlanden  zugebrachten  Leben, •'^ 
wenigstens  an  äusserlichen  Ehren  nicht  gefehlt.'''-'  Auch  gelang  es  ihm  durch 
eine  ausserordcntliciie  Fruchtbarkeit^"  immer  von  neuem  Erstaunen  zu  erregen, 
so  sehr  auch  bei  naOierer  Betrachtung  die  rein  auf  den  Brodorwerb  gestellte 
Veranlassung  zu  manchen  Arbeiten,  insbesondere  den  Übersetzungen,  ersicht- 
lich wird.*' 

Als  Dichter  ging  Zesen  aus  von  den  Anleitungen,  die  er  auf  der  Schule 
bei  Gueintz,  auf  der  Universitajt  bei  Büchner  erhalten  hatte:  der  von  den 
letzteren  empfohlene  Dactylus  ist  durch  Zesen  besonders  viel  in  Anwendung 
gebracht  worden.  Er  dichtet  auch  dactylische  Sonette,^-  und  verschnörkelt 
diese  Kunstform  sonst  durch  die  Einführung  des  Echos  u.  a.  Erweiterungen, 
wie  er  mit  Verkennung  des  Grundbaus,  auch  die  Verbindung  der  8.  Zeile 
mit  den  folgenden  nicht  nur  übt,  sondern  auch  empfiehlt.'^  Dieselbe  Neigung 
durch  äussere  Mittel  des  Reims  und  Versmasses  zu  wirken  beherrscht  auch 
sonst  Zesens  Lyrik:  der  Gedanke  und  Ausdruck  wird  ihm  fast  gleichgiltig.-'* 

Urbild  der  Adriatischen  Rosemund  sei.  SpsEter  haben  sich  besonders  anhaltinische  und 
holsteinische  Fürstinnen  Zesens  angenommen.  28)  Oeb.  als  Predigerssohn  zu  Priorau  bei 
Dessau  1719,  kam  er  ltj42  nach  den  Niederlanden,  und  blieb,  von  häufigen  Reisen  abgesebu. 
hier  bis  1083.  Erstarb  in  Hamburg  Ui89.  29)  Itjä^  njeherte  ersieh  in  Regensburg  dem 
kaiserlichen  Hofe  und  ward  geadelt,  worauf  er  sich  Filipp  oon  Zesen  oder  Ccegius  a  Zesen 
nannte,  zuerst  auf  Büchertiteln  1657:  doch  unterschreibt  er  bereits  die  FrühlingsJust  lti42 
F.  von  Zesen.  30)  Ein    Verzeichniss  seiner  Schriften  lieferte    der  Dringende    (Ph.  v. 

Bährenstät')  1072.  ein  vermehrtes  der  Stützende  (Gabler')  Speyer  1G87.  Es  sind  89  gedruckte, 
49  uugedruckte  oder  noch  unfertige.  Diese  grosse  Zahl  soll  zugleich  widerlegen  was  man 
sieh  in  Deutschland  erzaehlte.  dass  Zesen  in  Holland  Correctordienste  thue:  wie  hätte  er 
dann  Zeit  zur  Schriftstellerei  gefunden.  31)  Zu  den  Übersetzungen   gehören   Schriften 

über  Kriegsbaukunst,  Anweisungen  zum  Zeichnen  und  Malen,  geographische  Werke  über 
Afrika.  Amerika  u.  s.  w.  Ferner  ein  Theil  der  Romane  Zesens.  Ohne  litterarischen  Werth 
sind  auch  die  historischen  uud  philologischen  Arbeiten  Zesens:  sein  Leo  Belgicus ,  eine 
Schilderung  der  vereinigten  Niederlande  1600.  auch  ins  Deutsche  übertragen,  Nürnberg  1670: 
Die  rerschnuehete,  doch  wieder  erhöhete  Majestät  d.  i.  Karls  II  Königs  v.  England  Wunder- 
geschicht,  Amst.  1061:  seine  Beschreibung  der  Stadt  Amsterdam.  1664:  seine  Moralin 
Horatiana,  Amst.  1656:  Der  erdichteten  Heidnischen  Gottheiten  Herkunft  und  Begäbnüsse, 
Nürnb.  1688.  Diese  Werke  sind  zugleich  grüsstentheils  mit  Bildern  geziert.  Bemerkenswerth 
für  Zesens  religiöse  Überzeugung  ist :  Des  Geistlichen  Standes  Urteile  wider  den  Gewissens- 
zwang in  Glaubenssaclien  und  Des  Weltliclien  Standes  Handlungen  und  Urteile  tcider  den 
Gewissenszwang  u.  s.  w..  beide  Amst.  1665.  32)  Vgl.  Welti,  (iesch.  d.  Sonatts  S.  91  fgg. 
33)  Helicou  III  1641.  Er  beruft  sich  auf  die  Eigenschaft  des  Sonetts,  dass  es  ein  Sinngedicht. 
und    kein    Gesang    sei.  34)    Ein    Muster    von   Geschmacklosigkeit    ist  die  Reimceisse 

Uertzogin  (Anm.   36).    worin  Überschwänglichkeit   und  Plattheit    in    Schmeicheleien    wett- 


§  124  PHILIPP  VON  ZESEN.  219 

Er  begann  und  schloss  mit  religioesen  Liedern, ^^  von  denen  jedocli  keines  in 
den  GeniGindegebraucli  übergegangen  ist,  so  wenig  wie  die  weltlichen  Liebes- 
lieder '"  Zesens  sich  in  den  Liederbüchern  seiner  Zeit  wieder  finden.  War- 
mes Ileimatsgefühl  beseelt  sein  Priorau  oder  Loh  des  Vaterlandes,  Amsterdam 
1680,^^  nur  dass  der  Schmuck  der  Gelehrsamkeit  allzu  gehäuft  erscheint  und 
durch  Noten  erläutert  werden  muss.  Das  eigenthümlichste  Werk  Zesens  ist 
sein  Roman  Adriatische  Eosemund,  Amsterdam  1645,^*  worin  Öelbsterlebtes 
mit  schaei'erischen  Phantasien  und  gelehrten  Gesprächen  verquickt  ist  und 
vielfach  Gedichte  sich  einmischen.  Hauptgegenstand  ist  eine  nicht  unerwie- 
derte,  aber  wegen  Religionsverschiedenheit  aussichtslose  Liebe.  Die  übrigen 
Romane  Zesens  aus  der  früheren  Zeit  sind  aus  dem  Franzoesischeu  übersetzt: ^^ 
Die  Traurige  jedoch  Fr ölich- Aussgehende  Historia  von  Lysandern  und  Kalisten, 
Leyden  1644;  Ibrahims  .  .  und  Isahellen  Wunder-Geschichte,  Amsterdam  1645; 
Die  Afrikanische  Sofonishe^  Amsterdam  1647.  Dagegen  kehrte  er  zu  eigner 
Erfindung  zurück  und  zwar  zur  Ausschmückung  biblischer  Geschichte  in 
Assenat  (und  Joseph),  Amst.  1670;^°  Simson,  Nürnberg  1679.^'     Ein  kurzer, 

eifei'u.  Seltsam  betitelt  ist  auch  Zeseus  Heimsalaht  welchen  hei  dem  KröhnungsmaJile  des  .  . 
Dicht Dieisters  .  .  Hilfen  .  .  aufsetzte  der  Färtig -Wohlsetzende  (Amst.  1G81).  Die  Vergleiche 
des  Süssen  mit  Zucker  und  Zimmt  u.  s.  w.  beginneu  schon  bei  ihm:  und  wo  einmal  ein 
Wort  zum  Reim   passt.   wird  es   ohne    weiteres  Bedenken   gebraucht.  35)  Melpomene 

Oder  Trauer-  und  Klagegedichte  Vber  das  ..  Leiden  ..  Christi,  Halle  1638:  Kindliche 
Klio  .  .  auf  die  Geburtsnacht  .  .  Jesuleins,  Hamburg  1641 ;  Gekreutzigter  Liebsflaminen  oder 
Geistliclier  Gedichte  Vorschmack,  Hamburg  1653:  Geistliche  Seelenlust,  Amst.  1657: 
Frauenzimmer-Gebeht-Buch,  Amst.  1657  u.  ü.     Drei  Danklieder  1685.  3ü)   Als  Samm- 

lungen sind  hervorzuheben:  Frühlings-Lust  oder  Lob-  und  Liebeslieder,  Hamburg  1642; 
Poetischer  Rosenwülder  Vorschmack,  Hamburg  1642 :  Frühlingslust  ebd.  1642  u.  ü. ;  Dich- 
terisclie  Jugendflammen,  ebd.  1651:  Schöne  Ilamburgerin,  1668:  Die  Eeimveisse  Hertzogin, 
1668;  die  beiden  letztern  auch  in  Dichterisclies  Rosen-  imd  Lilientahl,  Hamburg  1670. 
37)  In  trochäischen  Tetrametern  mit  Pause  in   der  Caesur    und   Eeimwechsel.  38)  Im 

Anhang  auch  die  Lustinne,  worüber  §  120,  35.  Wiederholt  1664  und  1666.  Mit  Rosemund 
und  Ibrahim  1645  beginnt  Zesen  seine  orthographischen  und  puristischen  Schrullen  zu 
zeigen;  doch  ist  die  zweite  Ausgabe  des  letzteren,  Zweibrücken  1675,  und  die  späteren 
Romane  davon  wieder  frei.  Inhaltsaugaben  und  Proben  der  Romane  Zesens  bei  Cholevius, 
Die  bedeutendsten    deutschen  Romane  des    17.  Jhs.,  Leipz.  1866.  39)    Der  erste  nach 

Daudiguier,  die  zwei  andern  nach  der  Scudery.  40)  Er  nennt  Assenat  eine  Heilige  Stahts- 
Lieh-  und  Tjebensgeschicht  und  begründet  dies  Beiwort,  wie  er  auch  auf  die  gelehrten  Quellen 
hinweist,  aus  denen  er  schöpft.  Einen  Moses,  den  er  neben  Simson  ankündigt,  scheint  er 
nicht  ausgeführt  zu  haben.  41)  Simson  ist  der  einzige  Roman  Zesens,  von  dem  keine 

weitere  Auflage  erschien.  Die  Abschweifungen  dieses  Romans  sind  keineswegs  durch  Palla- 
vicinis  Samsou.  den  v.  Stubenberg  Nürnberg  1657  übersetzt  hatte,  veranlasst,  wie  Cholevius 


220  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVH  JAHRH.  §  124 

fast  zerhaektor  Satzbau,  die  Iläiilung  gleichbcdcutcnilor  Ausdrücke,  endlich 
wenigstens  im  Simson  die  überniffissigc  Fülle  von  unnützen  Episoden  zeigt 
auc'li  jetzt  wieder  die  Übertreibung,  die  Zesen  nun  einmal  nicht  vermeiden 
konnte.^'- 

Mit  Zesen  anninglich  befreundet,^^  dann  aber  sein  unerbittlicher  Gegner 
war  der  Stifter  des  Schwancnordens ,  Joiiannks  Rist.^*  In  der  That  waren 
beide  Naturen  grundverschieden,  trotz  einiger  Übereinstimmungen  äusserliclier 
Art.  Gemeinsam  war  beiden  die  Leichtigkeit,  Menge  und  Vielseitigkeit  der 
Schriftstellerei ,  die  hohe  Werthschätzung  der  dichterischen  Form;  auch  in 
ihrer  Rührigkeit,  ihrem  Streben  nacli  äusseren  p]hren  begegnen  sie  sich.  Aber 
der  musicalischen  Stimmung  Zescns  steht  die  plastische  Anschauung  llists 
gegenüber;  wsehrend  jener  schwärmt  und  tändelt,  gibt  Rist  die  Wirklichkeit 
fest  und  derb  wieder;  den  kecken  Neuerungen  des  ersteren  setzt  Rist  das 
Herkömmliche  entgegen.  Das  dürftige ,  umherschweifende  Litteratenleben 
Zesens  durfte  der  gutgestellte  Pfarrherr  von  Wedel  bemitleidenswerth  und 
deshalb  auch  verächtlich  finden ,  weil  Zesen  gleichzeitig  die  groessten  An- 
sprüche erhob.  Aber  Rist  verbreitete  noch  überdies  Nachrichten  über  Zesen, 
welche  sonst  unbezeugt  und  bei  dessen  kindlich  gutmüthigem  Wesen  un- 
glaubhaft sind.*^  Hier  ist  die  Heftigkeit,  mit  welcher  Rist  auch  sonst  über 
Neider  und  Verleumder  klagt,  nur  allzu  deutlich.'*'' 

Die  erste  Dichtungsgattung,  mit  der  sich  Rist  beschäftigt  und  in  welcher 
er  auch  wohl  seine  beste  Kraft  gezeigt  hat,  ist  das  Drama.  Und  zwar  ver- 
mischt er  meist  mit  der  Allegorie  des  ernsten  Schauspiels  die  ihm  vortrefflich 
gelingende  Komik  der  Volksbühne,  wie  sie,  ähnlich  den  niederländischen  Kluch- 
ten,  auch  in  Hamburg  lebendig  gewesen  sein  muss.  Von  über  30  Stücken, 
die  Rist  verfasst  hatte,  sind  nur  fünf  erhalten.*"     Den  Gegenstand  von  vier  Dra- 

S.  104  vermutete.  42)    Die  Orthographie   und  ebenso    die  Wortwahl  kehrt   in  diesen 

spsetereu  Publikationen  zum  Herkömmlichen  zurück.  43)  Rist  lobt  Zesens  grammatische 
Verdienste  (in  der  Spraachühung  1643)  und  wiederholt  dies  Gedicht  im  Poet.  Schauplatz 
1G4G  S.  47;  Zesen  besucht  ihn  29.  Juni  1648  in  AV^edel:  Hansen,  Rist  S.  137.  Bei  diesem 
Anlass  hat  vielleicht  Zesen  nach  seinem  meissnischen  Sprachgefühl,  für  welches  sehn 
und  stehn  nicht  reimten,  einen  Ristschen  Vers  corrigiert:  hieraus  leitet  Z.  im  Sende- 
schreiben (Anm.  26)  das  ganze  Zerwürfniss  ab.  44)  (Jeb.  1607  zu  üttensen  bei  Hamburg. 
1635  Pfarrer  zu  Wedel  a.  d.  Elbe.  gest.  1667.  Theodor  Hansen,  J.  Rist  und  seine  Zeit. 
Halle  1872.  Auswahl  seiner  Dichtungen  von  Gödeke  und  Götze,  Leipz.  188.5.  45)  Zesen 
sei  16.55  in  Reval  wegen  eines  Pasquills  gefänglich  eingezogen  worden  und  habe  in  Lebens- 
gefahr gestanden.  46)  Im  Vorbericht  zum  Friedejauchzenden  Deutschland  deutet  er 
auf  seine  geistlichen  Mitbrüder  als  seine  Verfolger  hin  :  Hansen,  Rist  S.  113.         47)  Gaedertz. 


§  124  RIST.  221 

men  bilden  die  Kriegszeiten,  die  Rist  durchlebte  und  mit  scharfer  Beobach- 
tung insbesondere  ihres  Einflusses  auf  den  Bauernstand  darstellte  ,  so  dass 
diese  Bilder  sich  denen  von  Moschcrosch  und  Grimmeishausen  (§  131.  134) 
wohl  an  die  Seite  stellen  können.  Schon  1630  gab  er  unter  fremdem  Namen 
heraus  Jrenaromachia,  worin  die  Feindschaft  zwischen  Bauern  und  Soldaten 
mit  nur  zu  schrecklicher  Lebenswahrheit  geschildert  ist.^'^  1634  folgte  sein 
Perseus ,  die  Geschichte  des  macedonischen  Kcenigs  ,  untermischt  mit  einer 
spasshaften  Werbescene,  welche  an  Shakesperes  K.  Heinrich  IV  wenigstens 
erinnert.*^  1647  veranlasste  der  Wunsch  einer  comoediespielenden  Studenten- 
gesellschaft aus  Koenigsberg  unter  der  Leitung  von  Andreas  Gärtner  Rist  zur 
Abfassung  des  Schauspiels  Das  Friede  ivünschende  Deutschland^  dem  1653 
Das  Friede  jauchzende  Deutschland  folgte.^"  Beide  Stücke  mischen  unter  die 
Prosa ,  welche  Rist  der  Schauspieler  wegen  vorzog ,  Lieder  und  komische 
Zwischenspiele.^^  In  den  letzteren  tritt  beidemale  Sausewind  auf,  aber  im 
ersten  Stück  nur  als  Yerkörperung  der  nach  soldatischen  Sitten  lüstern  ge- 
wordenen academischen  Jugend,  im  zweiten  dagegen  als  deutliche  Carricatur 
Zesens.  ^^     Das  letzte   Drama  Rists   ist   die   Depositio   Cornuti    Typographici 

Das    niederdeutsclie  Di-ama,    Berliu    1884    S.  34    fgg.  48)  Abdruck   von  Gißdertz,    im 

Jahrbuch  des  Ver.  f.  nd.  Spi-achforschung  VII  (1881)  S.  100  fgg.  zugleich  mit  eiuer  Um- 
setzung in  die  volksthümlichen  vierhebigeii  Verse,  welche  Erasmus  Pfeiffer  als  Pseudo- 
atratiotae  (o.  0.)  1631  erscheiueu  liess.  Ebd.  134  Proben  einer  Umsetzung  in  den  schlesischen 
Bauerndialect,  Breslau  o.  J.  und  S.  135  der  Nachweis,  dass  in  dem  Drama  eines  ungenannten 
Verfassei-s  Eatio  Status  oder  der  itziger  Älamodesierender  rechter  Staats  Teufel  o.  0.  1688 
u.  ö.  Ilists  Stücke  stark  ausgebeutet  worden  sind.  Über  die  Aufführung  der  Irenaromachia 
8.  Walther  im  Correspondenzbl.  des  nd.  Ver.  VIII,  1883,  S.  m.  Gsedertz  Drama  S.  237. 
49)  Als  Tragoedia  gedruckt  zu  Hamburg;  aufgeführt  zu  Heide.  Das  Zwischenspiel  wieder- 
holt von  Gsedertz.  Jb.  a.  a.  0.  50)  Das  erstere  Stück,  zu  Hambui-g  aufgeführt  und  gedi-uckt, 
ist  oft  wiederholt  worden;  das  letztere,  ausser  in  Hamburg,  nur  noch  iu  Nürnberg  gedruckt, 
ebeufalls  1653.  Aufführungen  iu  Frankfurt  macht  Mentzel,  Gesch.  d.  Theaters  in  Fkf. 
S.  70  wahrscheinlich.     Neudruck  beider   von  M.  Schletterer,   Augsburg    1864.  51)  Im 

zweiten  Stück  ist  überaus  bemerkenswerth  die  Abneigung,  mit  welcher  die  Bauern  den 
Friedensschluss  vernehmen:  jetzt  werden  sie  wieder  auf  Geistlichkeit  und  Obrigkeit  zu  hören 
haben  und  können  das  Räuberleben,  in  welchem  sie  den  Soldaten  nacheifern,  nicht  fort- 
führen. Die  Schilderung  des  Bauei-nfestes  ist  so  lebendig  wie  nur  ein  Bild  von  Ostade  oder 
Teniers.  52)   Herr  Eeuierhold  von  der   blauen   Wiese  (Schletterer    S.  174)   wird   mit 

Sausewind  verglichen :  gemeint  ist  Ritterhold  von  Blauen,  wie  sich  Zesen  iü  ier  Auf-trahgs- 
schriß  zur  Bosemund  nennt.  Sausewinds  Geliebte  heisst  Rosemund,  sie  soll  eine  Wäscherin 
sein,  sehnlich  wie  man  von  Zesens  Liebschaften  auf  der  Universität  erzsehlte.  Ein  Plagriat 
wird  dem  Sausewind  vorgeworfen:  Schletterer  S.  138.  Die  Art,  wie  Sausewind  als  Schaefer 
wegen  Schafdiebstahls  Prügel  erhält,    erinnert  au  eiu  Stück  von  Scher  1638,  der  sonst  Eist 

Wackernagel,  Litter.  Geschichte.  U.  15 


222  NEUIIOCHnRUTSCriR  ZEIT.        XVI 1  JAIIKII.  §  124 

165"),    oine    in  Verse    gcbraclite  DarstoUung   der  Buclidruckcrgebräuche   bei 
der  Jlrnonnung  des  Lehrlings  /Aim  (Jesellen.*^ 

Während  jedocli  Kists  Dramen  schon  wegen  der  niederdeutschen 
Sprache  ihrer  besten  Scenen  nur  eine  beschränkte  Wirkung  hatten,  gewannen 
ihm  seine  lyrisclien  Gedichte,  obschon  weniger  eigenthümUch  ,  einen  Ruhm, 
der  nur  durch  den  Opitzens  überboten  ward.  Seine  Liebeslieder,  die  in  der 
Mtisa  tcutonica,  Hamburg  1084,'*^  m  Poetischer  Lustgarte,  Hamburg  1G88,  Des 
Daphnis  aus  Cimhrien  Galathee  1642,  erschienen  waren,  fanden  ihren  Weg  in 
die  Liedcrbüclipr  jener  Zeit:""^  der  Dichter  selbst,  in  der  spjeteren  Sammlung 
Poetischer  Schauplatz,  Hamburg  1G4G,  wünschte  freilich  alle  diese  Verse  ins 
Feuer  geworfen  zu  sehn.  Er  wandte  sich  früh  und  allma?hlich  immer  mehr  der 
geistlichen  Liederdichtung  zu,  und  errang  durcli  Fruchtbarkeit  •'^'  und  Glätte  sich 
auch  auf  diesem  Gebiete  eine  vorzügliche  Stelle ,  wenn  auch  nur  gerarte  die 
ältesten  als  wirkUch  ausgezeichnet  galten  und  gelten  durften;"  darunter  das 
vielgerühmte  0  Eimglceit,  du  Donner  wort.  ■''^  Geistlicher  Malinung  dienen  auch 
die  auf  bestimmte  Veranlassungen  verfassten  Schriften:  Holstein,  vergiss  es 
nicht,  die  Schilderung  eines  verderblichen  Sturmes,  Hamburg  1648,  und  eine 
Reihe  von  Gedichten  auf  den  Frieden. ^^  Zahlreiche  Gelegenheitsgedichte 
vereinigt  Rists  Neuer  Teutscher  Parnass,  Lüneburg  1652:""  Parnass  nannte 
der  Dichter  einen  schattigen  Hügel  mit  schoener  Aussicht  bei  Wedel  a.  d. 
Elbe.  In  den  letzten  Jahren  wandte  sich  Rist  der  Prosa  zu  und  verfasste 
eine  Anzahl  Erörterungen   über  Das  allercdelste  Nass  der  gantzen   Welt  (die 


benutzte,  nach  (jaedertz  Xtl.  Drama  S.  54.  s.  u.  zu  Lauremberg:  aber  auih  an  den  Berger 
Extravagant  von  Corneille.  53)  o.  0.  (Lüneburg),  wiederholt  Frankfurt  1677 :  abgedruckt 
Akad.  Blätter  1,  387  fgg.  441  fgg.  und  Lüneburg  1886.  Aucb  in  diesem  Stück  sind  nieder- 
deutsche Kiemente.  54)  Wiederholt  1637  und  1640.  Darin  auch  Pindarische  Oden 
aus  persoMilichen  Anlässen.  Einzelne  Lieder  feiern  die  Siege  der  protestantischen  Partei. 
55)  S.  zu  §  117.  1.  Eiu  von  Herder  ausgezeichnetes  Lied  s.  LB.  521.  56)  Die  geistlichen 
Lieder  hebt  Hansen,  .1.  Rist  besonders  heraus:  er  ztehlt  S.  308  mindestens  634.  Hansen  unter- 
scheidet folgende  Sammlungen :  Himmlische  Lieder,  Lüneburg  1641.  42 ;  Neue  himmh'scJie 
Lieder,  Lüneburg  1651:  SabbathiscJie  Seelenlust,  ebd.  1651:  Alltägliche  Hausmusik,  1654; 
Musikalische  Festandachten,  1655:  Musik.  Katechistnusandachten,  1656:  Seelengespräche, 
165S:  Musikalische  Kreuz-  Trost-  Lob-  und  Dankschule,  1659:  Musikalisches  Seelen- 
pnradies,  1660.  62;  Passionsandachten,  1664.  57)  In  Himlisclier  Lieder  erstes  Zehn, 
Lüneburg  1641,  steht  das  Lied  LB.  528,  die  Ausführung  eines  Liedes  in  der  kath.  Samm- 
lung von  Corner  1631:  (jödeke  und  Götze  S.  215.  58)  LB.  525:  aus  der  dritten  Dekade. 
Lüneburg  1642.  59)  So  schon  1640  Krieges  und  Friedensspiegcl ,  Hamburg  1640.  Die 
Soldaten  werden  auch  hier  als  Sprachverderber  gescholten:  vgl.  §  114,  4.  60)  Wiederholt 


§  125  ELBSCIIWANENORDEN.  223 

Dinte),  Hamburg  1663®'  u.  ä. ,  was  wesentlich  persccnliches  Interesse  hat. 
Diese  letzten  Zeiten  waren  durch  neuen  Kj-ieg  (zwischen  Schweden  und 
Dänemark)  und  andere  unglückliche  Umstände  dem  Dichter  schwer  gewor- 
den: ihn  trcesteten  die  Ehren,  welche  er  früher  errungen,  1647  die  Aufnahme 
in  die  Fruchtbringende  Gesellschaft  als  der  Rüstige ,  etwas  spseter  die  Er- 
nennung zum  Comes  Palatinus ,  der  selbst  Dichterkrocnungcn  vornehmen 
konnte.*^'  Yon  dieser  Ehre  entnahm  er  den  Anlass  sich  in  dem  von  ihm 
lOoS''-^  gestifteten  Elbschwanenordeu  als  Pulatin  zu  bezeichnen.  Die  übrigen 
Mitglieder  des  Ordens  konnten  sich  ihm  nur  von  fern  vergleichen;  die  llaupt- 
schrift  über  den  Orden :  Deutscher  Zimhersivan  von  Candorin  (Konrad  von 
Hcevelen)  1662  stoesst  durch  ihre  theilweise  an  Zesen  sich  anschliessende, 
theilweise  selbständig  verdrehte  Orthographie  ebenso  ab  wie  durch  ihr  Ge- 
schimpfe auf  die  Missgünstigen.  Mit  Rists  Tod  scheint  der  Orden  erloschen 
zu  sein;  besser  bewtehrte  sich  Zesens  Deutschgesinnte  Genossenschaft,  wenig- 
stens ward  noch  zu  Anfang  des  18.  Jhs.  ein  Verzeichniss  ihrer  Mitglieder*'^ 
ausgegeben. 

§  125. 

Am   längsten   aber    dauerte    der  Hirten-    und  Blnmenorden    an  der 

Pegnitz,'  der  mit  zeitgemaessen  Wandlungen  sich  als  litterarische  Gesellschaft 

bis  zur  Gegenwart  erhalten  hat.     Diese  Dauer  erklsert  sich  daraus,  dass  der 

Orden  wesentlich  die  dichterischen  Bestrebungen  der  Patrizier  und  Gelehrten 

1657  und  Copenliageu  1668.  61)  U.  ö.     Feruer:  Das  aller  edelste  Lehen  (Landlebeu), 

1663;  Bie  aller  edelste  Thorheit,  1664;  Die  alleredelste  Belustigimg,  1666;  Die  aller- 
edelste  Erfindung,  1667;  Die  alleredelste  Zeitverkürzung,  1668.  Diese  Sehriftstellerei  wurde 
fortgesetzt  von  Er.  Francis«  (§  131);  die  ganze  Sammlung  von  12  Mouatsgespraechen  erschien 
als  Recreations-Jahr,  Fkf.  und  Augsburg  1703:  Hansen  S.  150.  62)  Ein  von  ihm  aus- 
gestelltes Diplom  von  1663,  bei  Hansen  178  igg.  63)  Walther,  Anz.  z.  Zeitsch.  f.  d.  Alt.  28, 
108.  Raehse  im  Neudruck  von  Schwiegers  Geharnschte  Venus  S.  X.  Walther  erinnert  daran, 
dass  schon  1652  die 'Elbschsefer'  verbunden  waren,  nach  Rists  Andeutungen.  64)  Witten- 
berg 1705.  Von  den  übrigen  li  tte  ra  ri  sehen  Gres  e  lisch  aften  des  17.  Jahrhunderts 
ist  keine  durch  namhafte  Leistungen  bekanntgeworden:  die  Liliengesellschaft  in  Thüringen: 
Barthold,  Gesch.  d.  Fr.  Ges.  S.  275,  der  belorbeerte  Taubenorden,  für  den  PauUini  1692  ein 
Programm  veröffentlichte,  nach  welchem  es  übrigens  mehr  auf  Geschichtsforschung  abgesehen 
war;  der  Leopoldenorden  in  Dresden,  der  1695  gestiftet  werden  sollte,  aber  nach  Weichmann, 
Poesie  der  Niedersachsen,  II.  Bd.  Vorrede,  nicht  das  geringste  geleistet  hat  u.  s.  w. 
§   1ä5.  1)  Über  die  äussere  Geschichte  des  Ordens  s.  Historisclie  Nachricht  von  dess 

löblichen  Hirten-  und  Blumen-Ordens  an  der  Pegnitz  Anfang  und  Fortgang  biss  auf  das 
durch  Göttl.  Güte  erreichte  Hunderste  Jahr  .  .  von  .  .  Amarantes  (Johann  Herdegen),  Nürn- 
berg 1744.     Die  dichterischen  Leistungen  des  Ordens  bespricht  Julius  Tittmann.  Die  Nürn- 


224  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVH  JAHllH.  §  125 

Nürnbergs  /usiimmenfiisste,  wenn  schon  besonders  in  seiner  ersten  Blüthezeit 
aucli  ausländische  MitgHcder  sicli  iinschk)ssen.'''  Die  alte  Reichsstadt  und  die 
ihr  angehörige  Universitiet  Altdorf'  pflegten  diese  Bestrebungen  mit  demselben 
pietaitvoUen,  wenn  auch  beschränkten  Sinne,  vermcrgc  deren  auch  die  Kunst 
der  Meistersinger  und  selbst  die  der  Spruchsprecher  sich  hier  bis  zu  völligem 
Absterben  aus  Altersschwäclie  fortpfianzten/'  Die  politische  Stellung  Nürn- 
bergs prffigte  sich  in  dem  vermittelnden  Geiste  aus,  welcher  der  Dichtung 
der  Pegnitzschajfer  eigen  war:  sie  lehnt  sich  an  die  schlesisch-mitteldeutsche 
Schule  an,  steht  aber  auch  mit  der  süddeutschen,  selbst  der  katholischen 
Poesie*  in  Zusammenhang.  Und  mehr  als  dies  sonst  geschehen  war,  tritt 
hier  von  den  Mustern  der  Rcnaissancepoesie  die  italienische  und  selbst  die 
spanische  in  den  Vordergrund.  Daher  die  schon  im  Namen  der  Gesellschaft 
ausgedrückte  Bevorzugung  der  Schäferpoesie.^  Nur  dass  noch  offener  als 
anderwärts  die  rein  allegorische  Auffassung  der  Schaiferdichtung  ausgespro- 
chen wird,®  dass  politische  und  religiöse  Gedanken  sich  in  dies  Kleid  hüllen. 
Der  tändelnden  Auffassung  entsprach  die  Form:  die  Vorliebe  für  Klang- 
wirkungen, für  dactylische  Versmasse.  Stilistisch  suchte  man  durch  auffallende 
Neubildungen  und  durch  gehäufte  Gegensätze  zu  wirken ,  wodurch  freilich 
gerade  das  Gegenteil  von  einfacher  Natürlichkeit  erzielt  ward.  Es  begreift 
sich  aber  diese  Vorliebe  für  die  sch»ferliclie  Einkleidung  aus  der  Sehnsucht 
nach  dem  Frieden  ,  aus  der  Abwendung  von  den  Bildern  der  Verwüstung, 
welche  die  Wirklichkeit  dem  Auge  darbot.''  Auch  die  Geselligkeit  der 
Peffnitzschfefer  nahm  Formen  der  Schaeferwelt  an:  ein  Poetenwäldchen  bei 
Nürnberg  und  etwas  weiter  entfernt  ein  Irrhain  mit  mancherlei  Sinnbildern 
und  Erinnerungen  auch  an  die  verstorbenen  Mitglieder  wurden  für  die  Zu- 
sammenkünfte oder  für  einsame  Betrachtungen  aufgesucht.^     Ebenso  ward  die 


berger  Dichterscbule.    Harsdörfer,  Klaj,  Birken.  Göttingen  1847.  2)  Harsdürfers  Freunde 

Schottel  und  Rist  gehörten  dem  Orden  an:  spaeter  namentlich  mehrere  Ostpreussen. 
3)  §  97.  113,  10;  95.  42.  113,  9.  4)  Nachahmung  Spes  bei  Harsdörfer  in  einem  Liede 

auf  die  Bienen:  Beziehungen  zu  Bälde  (Anm.  33)  und  andererseits  Benutzung  durch  Lau- 
rentius  a  Schnüffis:  §  123.  5)    Ebenso  in  der   poetischen  Theorie  der  Pegnitzschaefer : 

§  120,  25.  6)  Harsdörfer  wendet  sich  gegen  den  Vorwurf,  dass  die  Hirten  dergleichen 
Unterredungen  nicht  führen,  ja  solche  zu  verstehen  nicht  fähig  seien:  er  antwortet  (Vorrede 
zu  Diana  =  Pegnitzschaefergedicht  am  4.  Blatt):  Durch  die  Hirten  oder  Schäfer  werden 
verstanden  die  Poeten,  durch  ihre  Schafe  die  Bücher  und  durch  derselben  Wolle  ihre 
Gedichte,  durch  die  Scliafhunde  ihre  vom  wichtigen  Studiren  müssige  Stunden.  1)  Hais- 
dörfer, Vorr.   zur  Diaua.  8)    S.    hierüber    Herdegeus    Bericht    und    die    beigegebenen 


§  125  NÜRNBERGER  DICHTER.  225 

Stiftung  des  Ordens  schsoferlich  ausgeschmückt:  die  zwei  Begründer  Hars- 
dörfer  und  Klaj  wollten  für  ein  Hochzeitsfest  mit  Gedichten  gewetteifert,  und 
als  die  Schiedsrichterin  Fama  den  Kranz  nicht  hatte  vergeben  wollen,  jeder 
eine  Blume  daraus  gezogen,  die  andern  aber  für  die  sich  ihnen  zum  Yereine 
anschliessenden  Dichter  vorbehalten  haben.  Ihre  Dichter-  und  Schsefernamen 
entlehnten  sie  zunächst  der  Arcadia  von  Sidney :  hier  erscheint  ein  Hirt 
Clajus,  den  natürlich  Klaj  auf  sich  bezog,  wsehrend  Harsdörfer  den  Busenfreund 
des  Clajus,  Strefon,  vorstellte.  So  verfassten  beide  Dichter  gemeinsam  ihr 
Pegnesisches  SchcefergedicM,  in  den  Berinorgischen  Gefilden;^  und  diese  an  die 
Hercynia  von  Opitz  erinnernde  Form  gemeinsam  verfasster  Hirtengedichte 
wiederholt  sich  noch  öfter  als  Ausdruck  für  die  Gesellschaftsangelegenhoiten.^" 
Mit  dem  gemeinschafthchen  Grundzug  vertrug  sich  indessen  die  Eigen- 
thümlichkeit  der  einzelnen  Mitglieder,  welche  erst  spseter  einer  gleichma^ssigen 
Frömmigkeit  und  Formglätte  nachstrebten.  Den  eigentlichen  Stifter  und  das 
erste  Oberhaupt  der  Gesellschaft  zeichnete  eine  freiere  Stellung  und  Bildung 
aus :  auch  die  Menge  und  Mannigfaltigkeit  seiner  Schriften  gibt  ihm  eine 
groessere  Bedeutung.  Georg  Philipp  Harsdcerfer  ,  aus  altem  Nürnberger 
Geschlecht  1607  geboren,  hatte  1626—1631  Frankreich,  England,  Holland 
und  Italien  bereist  und  war  seit  1637  als  angesehener  Beamter  in  seiner 
Vaterstadt  thätig  bis  zu  seinem  Tode  1658.  Yon  seinen  Schriften  über  die 
Theorie  und  Geschichte  der  Sprache  und  Dichtung  ist  schon  die  Rede  ge- 
wesen.'^ Auch  seine  Übersetzungen  können  hier  nur  kurz  berührt  werden: 
die  der  Diana  des  Monte-Major ,'-  ferner  die  moralischen  Erzsehlungen  aus 
dem  Franzoesischen  und  Englischen  u.  a.  Meist  aber  verarbeitete  er  fremde 
Erfindungen  zu  Sammlungen,  welche  die  neue  und  ausländische  Bildung  in 
Deutschland  einführen  sollten:  insbesondere  zu  seinen  Frauenzimmer  Gespräch- 
spielen   1641 — 49.^^     Italienischen   Vorbildern    nachgeahmt,^*    enthielt    dies 

Abbildungen.  9)  Nürnberg  1644.  10)  Fortsetzung  der  Pegnitz-Scliäferey  .  .  durch 

Floridan  und  Klujus  .  .  Nürnberg  1645;  hier  wird  die  Stiftung  des  Ordens  erzEehlt.  Ferner 
vcn  Montano  (Johann  Hellwig)  Die  Nymphe  Noris  in  Ziveyen  Tagzeiten  dargestellt, 
Nürnb.  1650,  mit  Beiträgen  auch  von  Birken,  dessen  Pegnesis  (1  9  Hirtengedichte, 
II  8  ebensolcher    enthaltend)    1673.  79    erschien.  11)   §  120,   24.  12)    Nürnberg 

1646  u.  ö.  Er  benutzte  dabei  eine  aeltere,  aber  nicht  vollständige  Übersetzung  des  Freiherrn 
von  Kuefstein.  Herdegen,  S.  70,  schreibt  Harsdörfer  auch  eine  1634  erschienene  Übersetzung 
der  Dianea  des  Loredano  zu,  was  wohl  nur  eine  Verwechselung  mit  der  Diedrichs  v.  d. 
Werder  (§  124,   6)    sein   kann:    Bobertag,    Gesch.    d.   Rom.    2,  93.  13)  Nürnberg,   in 

8Theilen.  Von  der  Beliebtheit  des  Werks  zeugt  u.  a.  das  Lob  Schuppes  im  Freund  in  der  Noth 
(Neudruck  S.  56).  14)  Gsp.   III  93,     Namentlich   hatte   üirolamo  Bargagli   in   einem 


220  NEUIIOCIIDEUTÖCIIE  ZEIT.         XYll  JAIllül.  §  125 

]Iiiui)t\vt>rk  lliirsilürfcrs  eine  uncmlliclic  Fülle  von  Spielen,  aber  auch  sonst  aller- 
luind  Lcsenswünligcs^  i.  O.  300  Absdinittc  mit  zahlreichen  Zugaben.'''  Auch 
die  Ausstattung  mit  vielen  Bildern  war  ganz  im  Geschmack  der  Zeit.  Eigen- 
tlühnlich  und  nicht  unglücklich  durchgeführt  ist  die  dialogische  Einkleidung, 
indem  sechs  Personen  von  verschiedenem,  aber  durcliaus  gutem  Stande,  drei 
von  jedem  Cieschlccht,  sich  zusammenfinden  und  zum  Zeitvertreib  einander 
belehren,  Anecdoteu  erzaililcn,  lla3thsel  aufgeben  u.  s.  w.  Alle  diese  Unter- 
haltungen werden  als  Spiele  aufgefasst,  und  so  erhielt  der  Verfasser  mit 
gutem  Grund  in  der  Fruchtbringenden  Gesellschaft  den  Beinamen  des 
Spiclmden.  Doch  fehlt  in  diesen  Spielen  und  überhaupt  in  Harsdörfers 
Schriften  nicht  der  Bezug  auf  das  Geistliche,  das  Biblische.  So  war  schon 
dem  YI.  Thcil  eine  lleihe  von  Andachtsyemüläen  beigegeben,  Betrachtungen 
an  Vignetten  angeknüpft.  Spaeter  hat  Ifarsdörfer  Hertzheivegliche  Sonntags- 
andachtcn^^  nach  den  Evangelien-  und  Episteltcxtcn  verfasst  und  noch  1656 
Hundert  Andachtxgcmälde  folgen  lassen.  Selbst  die  Fabel  und  Parabel  - 
welche  er  als  fast  der  Einzige  in  diesem  Jahrhundert,  noch  dazu  in  prosai- 
scher Form  pflegte,  —  hat  er  an  biblische  Namen  geknüpft  in  seiner  Sammlung 
Nathan  und  Jotham^  auf  welche  als  Beigabe  unter  Simsons  Namen  zweimal 
hundert  Rsethsel  in  gereimten  Vierzeilen  folgen.'^ 

Mehr  als  Harsdörfer  gebrauchte  Johann  Klaj  die  dramatische  Form, 
die  er  indessen  eigenthümlich  gestaltete,  so  dass  gewissermassen  die  Urform 
des  griechischen  Dramas  bei  ihm  wiederkehrt:  heilige  Geschichten  werden 
so  vorgetragen ,  dass  der  Dichter  selbst  abwechselnd  erzajhlt  und  die  Em- 
pfindungen der  von  ihm  dargestellten  Personen  ausspricht.  Die  Formen  einer 
bewegten  Lyrik  Icesen  einander  ab,  auch  Prosa  mischt  sich  ein.  Klaj  trug 
diese  Dichtungen  selbst  in  der  Kirche  nach  gcendigtem  Gottesdienste  vor, 
wobei  er  in  einigen  Stücken  auch  Sänger  und  Musiker  als  Chccre  mitwirken 


Dialogo  de'  giuochi,  Venedig  1581  eine  fehnliche  Sammlung  veranstaltet  (Tittmann  S.  22). 
Eine  franz(rsis(he  3Iaison  des  Jeus  erschien  erst  1G43.  15)  Im  2.  Theil  findet  sich  dem 

Franzcesischen  nachgeahmt  Bas  Schauspiel  Teutscher  Spricluvörter.  Hier  und  anderwärts 
bekundet  Harsdörfer  seine  Kenntniss  deutscher  Volkslitteratur :  er  citiert  den  Finkenritter 
und  die  Lalenburger,  auch  Fischarts  Verdeutschung  des  Erkenne  dich  selbst  (2,  315). 
Hauptsächlich  aus  spanischer  Quelle  (Lope  de  Vega,  Tittmann  Wi)  stammt  dagegen  Melisa 
oder  der  Gleichniss  Freudenspiel ,  Beigabe  zum  III.  Theil.  Auf  italienische  Art  gesetzet 
ist  das  Geistliclie  Waldgedicht  oder  Freudenspiel  genannt  Seelcuig,  Gespr.  sp.  IV,  eine 
Allegorie  auf  die  Versuchungen  der  Welt.  Nach  englischem  Muster  dramatisierte  er  die 
Redekunst,  Gesp.  sp.  V.  16)  11.  Nürnberg  16-49.  1652.  17)   II.  Nürnberg  1650. 


§  125  HAKSDÖEFEK.     lO^AJ.     BIRKEN.  227 

licss.  Derartig  sind  sein  WeijJmacht-Lied^^'^  seine  Aufferstehung  Jesu  Christi^^^ 
seine  Ilöllm-  und  Himmelfahrt  J.  Christi^  nebcnst  darauf  erfolgter  Sichtbarer 
Ausgiessung  Gottes  des  Heiligen  Geistes ,  -"  der  Leidende  Christus  in  einem 
Trauerspiele  vor  gestellet  ^- '  Herodes  der  Kindermörder  Nach  Art  eines  Trauer- 
spieles ausgehildet^--  Engel-  und  Drachenstreit. ^"^  Die  Feste,  welche  in  Nürn- 
berg beim  völligen  Abscliluss  des  westphselischen  Friedens  stattfanden,  gaben 
Klaj  Anlass  zu  seinem  Schtvedischen  Fried-  und  Freudenmahl.,-*  zu  dem  Ge- 
burtstag des  Friedens  und  zur  Irene,  einer  Beschreibung  der  einzelnen  Feier- 
lichkeiten.-'^ Er  starb  1656  als  Pfarrer  zu  Kitzingen;  geb.  zu  Meissen  1616, 
hatte  er  1644  in  Nürnberg  eine  Zuflucht  gefunden,  wo  Harsdörfer  ihn,  den 
Schüler  Buchners,  freundlich  aufnahm  und  empfahl. 

Ebenso  war  der  dritte  Hauptdichter  unter  den  Pegnitzschajfern,  der 
1662  ihr  zweiter  Vorsteher  ward,  nicht  in  Nürnberg  selbst  geboren:  Sieg- 
mund VON  BiKKEN,  wie  er  sich  nannte,  seitdem  er  1654  von  Ferdinand  III. 
geadelt  worden  war.  Sein  Vater,  Betulius,  war  Pfarrer  zu  Wildenstein  in 
Bcehmen  gewesen,  1629  aber  mit  dem  dreijsehrigen  Sohne  nach  Nürnberg 
geflohen.  1645  ward  der  jugendliche  Dichter  als  Floridan  in  den  Blumen- 
orden aufgenommen;  bald  darauf  boten  die  Friedensfeste  ihm  noch  mehr  als 
Klaj  Gelegenheit,  sich  durch  Aufführungen  im  Geschmack  der  Zeit  Bewun- 
derer und  Gönner  zu  verschaffen.  Sein  Schauspiel  Teutscher  Kriegs  Ab-  und 
Friedens  Einzug  ward  1650  durch  junge  Patrizier  vor  den  kaiserlichen  und 
schwedischen  Bevollmächtigten  aufgeführt ;  die  äusseren  Umstände  erzsehlt 
der  Dichter  in  seiner  Geschichtsschrift:  Die  Friederfreuete  Teutonie.-^  Auch 
das  Heldenspiel  Margenis  wird  1651  vorgestellt."  Spaeter  hat  Birken  be- 
sonders Hoffesthchkeiten  durch  solche  Stücke  verherrlicht:  so  durch  das 
Singspiel  Sophia  *^  eine  brandenburg-sächsische  Vermsehlung.  In  allen  diesen 
Fällen  wusste  der  Dichter  durch  pomphafte  Schmeichelei  sich  die  Gunst  der 
Grossen  zu  gewinnen.  Schon  1648  war  er  durch  Harsdörfer  empfohlen  neben 
Schottel    bei  der  Erziehung    der  jungen  Herzöge  von  Braunschweig-Wolfen- 

1651.  Daraus  LB.  512.  18)  Nürnberg  1644.  1650  folgte  ein  Freudengedichte  der  selig- 
machenden Geburt  J.  C.  zu  Ehren  gesungen.  19)  Ebd.  1644.  20)  Ebd.  1644. 
21)  Ebd.  1645.  Nach  Hugo  Grotius.  22)  Ebd.  1615,  nach  Heinsius.  23)  Ebd.  1645. 
Dieses  Stück  wurde  1662  zu  Altenburg  durch  den  Rector  Christian  Funcke  für  eine 
Aufführung  bearbeitet:  Gottsched,  Not.  Vorr.  1,  213;  Nachlese  S.  34.  24)  Nürn- 
berg 1649.  25)  Beide  letzteren  erschienen  Nürnberg  1650;  mit  Abbildungen. 
26)  Nürnberg  1652:  Schauspiel.  Ist  auch  aufgenommen  in  Teutschlands  Krieges -Beschluss 
und  Friedenskuss  (1650).             27)  Gedr.  Nürnberg  1671».            28)  Bayreuth  1662.  Gleich- 


228  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVll  JA1[IUI.  §  120 

biittcl  tlut'tig  gewesen:  diesen  widmete  er  später  seine  Guclfis  oder  Is^idcr- 
sächsischer  Lorheer liayn}'^  Ebenso  schmückte  er  die  Genealogie  der  säclisi- 
schen  Fürsten  aus  in  dem  Chur-  und  Fürstlichen  Sächsischen  HeldensaaV 
Ganz  besondere  Sorgfalt  aber  verwendete  er  auf  den  Spiegel  der  Ehren  des 
Erzhauses  Oesierreich^  Nürnberg  1G68,  wobei  er  eine  von  Job.  Jac.  Fugger 
1555  verfasste  Arbeit  zu  Grunde  legte,  aber  nach  den  Anweisungen  des 
Wiener  Hofes  vielfache  Rücksichten  zu  nehmen  hatte.  ^'  Neben  diesen  groes- 
seren  Werken  war  Birken  als  Übersetzer-*-  und  als  Liederdichter  vielfach 
thaetig.  In  seinen  Liedern  hatte  er  anfänglich  einen  freieren  Ton  angeschla- 
gen, schränkte  sich  aber  mehr  und  mehr  auf  eine  zugleich  fromme  ^^  und 
prunkvolle  Lyrik  ein.  Es  war  bezeichnend,  dass  der  Pegnitzer  Orden  zu- 
gleich mit  seinem  Antritt  der  Vorsteherschaft  das  bisherige  Sinnbild  der 
PansfloDte  mit  der  Passionsblume  vertauschte.  Auch  Birkens  Tod  1681  än- 
derte in  dieser  Richtung  des  Ordens  nichts ;  nur  kam  allerdings  der  Schwulst 
und  die  Vorliebe  für  bewegte  Versmasse  in  Abnahme,  als  die  spsetercn  Vor- 
steher Johann  Daniel  Omeis  "  (Dämon)  und  Christoph  Fürer  von  Haimen- 
DORF  (Lilidor)  die  Lehren  Morhofs  und  Weises  und  das  Vorbild  der  fran- 
zoesischen  Classiker  ^•'  mit  der  Bewunderung  der  zweiten  schlcsischen  Dichter- 
schule zu  verbinden  suchten.  Fürer  (1665—1732),  der  die  höchste  Stelle 
im  Nürnberger  Freistaat  bekleidete,  gab  hier  noch  einmal  dem  Dichternamen 
äusseren  Glanz,  blieb  jedoch  bei  Übersetzung  und  matter  Nachahmung  frem- 
der Muster  stehn.^^ 

§  126. 

Die  Sprachgesellschaften  vereinigten  nur  einen  Thcil  der  Dichter  der 
Zeit,  andere  und  gerade  einige  der  besten  standen  für  sich,  und  nur  in  inne- 
rem Zusammenhang  schlössen  sich  ihnen  Nachahmer  und  Schüler  an.     Opitz 


zeitig  liess  er  ein  Ballet  der  Natur  aufführen,  worin  die  vier  Elemente  u.  ä.  allegorische 
Figuren  auftraten.  29)  Nürnberg  1669.     Prosaschrift  ebenso   wie  die    nächstgenannten 

historischen  Werke.  30)  Nürnberg  1677.  31)  Der  historische  Werth  dieser  Arbeit  Birkens 
ist  daher  auch  sehr  gering,  und  schon  wahrend  der  Entstehung  des  "Werkes  durch  den  Wiener 
Bibliothekar  Lambecius  absprechend  beurtheilt  worden.  Vorausgegangen  war  Birkens  Ost- 
ländischer  Lorheerliayn,  1657.  32)  Ho  übersetzte  er,  Nürnberg  1658,  Baldes  De  abusu 
Tabaci  unter  dem  Titel:  Die  truckene  Trunkenheit,  und  Androfilo,  ein  Schauspiel  des 
.Jesuiten  Masenius,  Lüneburg  1656.  33)  Vgl.  über  seine  Poetik  §  120,  27.  34)  Über 
dessen  Poetik  s.  §  120,  2.S;  wo  auch  über  seine  Lebensverhältnisse.  35)  Fürer  über- 
setzte aus Boileau  und  Corneille;  daneben  allerdings  noch  italienische  Singspiele.  36)  Ver- 
mischter Gedichte  Kranz,  1682;  Gästliche  Vesta  und  irdische  Floia,  1702;  Pomona  oder 
auff/esammelte  Früchte  der  Einsamkeit,  1726. 


§  126  FLEMING.  229 

galt  auch  diesen  Dichtern  als  ihrer  aller  Führer,  wenn  schon  das,  was  er 
geleistet  hatte,  auch  anderen  erreichbar  schien.  Opitz  ist  namentlich  von  dem 
Dichter  '  hoch  gepriesen  worden ,  dessen  poetischer  Wcrth  den  Zeitgenossen 
bereits  fülilbar,*  von  Spaetern^  mit  Recht  über  den  seines  Meisters  erhoben 
worden  ist.  Paul  Fleming*  war  geboren  1609  zu  Hartenstein  im  Voigt- 
lande, wurde  auf  der  Schule  zu  Mitweida,  dann  zu  Leipzig  mit  lateinischer 
Verskunst  vertraut,^  auch  musikalisch  insbesondere  durch  Hermann  Schein 
(§  95,  32)  gebildet,  und  studierte  an  dem  letztgenannten  Orte  Medicin,  bis 
die  Verwüstungen  des  Krieges  ihm  die  Heimath  verleideten.  Er  ergriff  die 
Gelegenheit,  eine  holsteinische  Gesandtschaft  erst  1634  nach  Moskau,  dann 
1636 — 1639  nach  Persien  zu  begleiten.  Mit  zerrütteter  Gesundheit  heim- 
gekehrt, erwarb  er  noch  1640  zu  Leiden  den  Doctorgrad,  starb  aber  bereits 
am  2.  April  d.  J.  zu  Hamburg.  Die  russisch-persische  Reise  ist  auch  sonst 
litterarisch  bedeutsam  geworden,  indem  sie  einem  andern  gelehrten  Begleiter, 
Adam  Olearius,  Anlass  gab  zu  einer  der  bessern  Prosaschriften  dieser  Zeit, 
zur  Beschreibung  der  newen  orientalischen  Heise  ^  und  zugleich  zur  Verdeut- 
schung einer  morgenländischen  Dichtung:  Persianischer  Rosenthal  .  .  von  .  . 
Schich  Saadi.^  Für  Fleming  ward  die  Reise  die  reichste  Blüthezeit  seines 
Dichtens.  Er  gewann  auf  der  Rückkehr  in  Reval  die  Liebe  einer  Braut, 
von  deren  älterer  Schwester  er  schon  1635  eine  Zusage  erhalten,  aber  durch 
die  weitere  Fortsetzung  der  Reise  wider  ihren  Wunsch  verloren  hatte;  auch 
das  zweite,  festere  Band  zerriss  der  frühe  Tod  des  Dichters.^  Mit  diesen 
Liebesverhältnissen  zusammen  spiegeln  sich  in  seinen  Gedichten  die  mannig- 
fachen Freundschaftsbeziehungen  zu  den  Reisebegleitern ,  die  bald  heiter 
glänzenden,    bald   furchtbaren    und   schmerzlichen  Eindrücke   der  Fahrt.     In 

§   126.  1)  Vgl.  die  Totenklage  Flemings  auf  Opitz  LB.  457.  2)  Das  beweist  die 

Zahl  der  Auflagen,  welche  Flemings  Gedichte  erfuhren.  3)  Von  Morhof  insbesondere. 

4)  Diese  Namensform  ist  akrostichisch  bezeugt;  daneben  und  zwar  in  den  älteren  Einzel- 
drucken nennt  sich  der  Dichter  Flemming.  5)  Die  lateinischen  Gedichte  sind  zu 
Flemings  Lebzeiten  nur  theilweise  und  in  Einzeldrucken  erschienen ,  gesammelt  sind  sie 
herausgegeben  worden  von  J.  M.  Lappenberg,  Stuttgart  1863  (Lit.  Ver.  LXXIII).  Lappenberg 
hat  auch  die  deutschen  Gedichte  herausgegeben:  Stuttg.  1865  (Lit.  Ver.  LXXXIL  LXXXIII). 
Eine  Auswahl  der  letzteren  von  Tittmann,  Leipzig  1870.  Die  Überlieferung  der  deutschen 
Gedichte  Flemings  behandelt  eine  Greifswalder  Dissertation  von  A.  Bornemann,  1882. 
6)  Schleswig  1617,  Vermehrt:  Beschreibung  der  moshotoitischen  und  persianischen  Beise, 
1656  u.  ö.  Auszüge  LB.  3,  669.  7)  Schleswig  1654  (§  117,  20).  Darin  Locmans  Fabeln. 
Ein  Gedicht  von  Olearius  §  122,36.  8)  Die  Beziehungen  der  Lieder  Flemings  auf  die  unter 
mannigfachen  Namen  gefeierten  Schwestern  (Elsabe,  Basile,  Basilene,  Salvie,  Balthie  u,  s.  w. 


230  NEUllOCllDEUTSClIE  ZEIT.         XYll  JAllKll.  §  126 

Folge  porsönliclicr  Erfahrungen  und  der  Gcscliicke  des  Vaterlandes"  ward 
der  Dichter,  welcher  alle  idealen  Güter,  Freundschaft  und  Liebe,  Kunst  und 
Ruhm  freudig  zu  geniessen  angelegt  war,  mit  Schwennuth  erfüllt,  so  sehr  er 
auch  diese  Stimmung  durch  den  Preis  froehlicher  Gelage,'"  mclir  noch  durch 
das  Bewusstsem  seines  Dichterwerthes  "  und  durcli  festes  Gottvertrauen  zu 
überwinden  strebte.  Das  kurz  vor  der  Heise  1633  gedichtete  Lied  In  allen 
mcincti  Thaten  Lass  ich  den  Höchsten  rathen  '^  spricht  dies  Gottvertrauen  in 
allgemein  gültiger  Weise  aus.  Flemings  Gedichte  sind  meistens  Gelegenheits- 
gedichte, weshalb  schon  in  den  einzelnen  Abthcilungen  seiner  Sammlung'" 
die  Glückwünschungen,  Ilochzeits-  und  Begräbnissgedichte  vorwiegen;  aber 
die  Wahrlieit  und  die  Lebhaftigkeit  seines  Gefühls,  der  leichte  Fluss,  die 
reine  Sprache  verleihen  ihnen  den  vollen  Werth  der  lyrischen  Dichtung.  Vor 
allem  war  Fleming  Meister  in  der  Handhabung  derjenigen  Form,  welche 
ihrem  ganzen  Wesen  nach  das  Lyrische  mit  dem  Epigrammatischen  ver- 
einigt, des  Sonetts.  Von  groesserem  Umfange  ist  ein  Ilochzeitsgedicht,'*  in 
welchem  er,  durch  die  Hercynie  von  Opitz  verführt,  Poesie  und  Prosa  zu 
einer  Schwfcrei  verbindet.  Eine  Margenis  '-^  nach  dem  Muster  von  Barclays 
Argenis,  als  allegorischen  Roman  über  die  deutsche  Geschichte  seiner  Zeit 
zu  schreiben,  beabsiclitigte  er  1633,  liess  jedoch  dies  Werk  spseter  fallen. 

An  Fleming  schloss  sich  eine  Reihe  jüngerer  Dichter  an,  welche  wie 
er  als  Studenten  Liebes-  und  Zechlieder  dichteten,  und  darin  die  von  ihm 
gezogenen  Grenzen  wohl  auch  überschritten.  Es  waren  grossentheils  Lands- 
leute und  die  Universitaet  Leipzig  hatte  sie  zusammengeführt;  z.  Th.  auch 
trafen  sie  mit  Fleming  in  Hamburg  zusammen.  Hamburg  war  eine  der  we- 
nigen Städte  Deutschlands,  die  durch  den  Krieg  nicht  litten;  vielmehr  nahm 
die  Stadt,  durch  Flüchtlinge  aus  den  Niederlanden  und  dem  Innern  Deutsch- 
lands, insbesondere  aus  Magdeburg,  damals  einen  neuen  Aufschwung.  Der 
blühende  Handel  brachte  Wohlleben  und  Genusssucht  mit  sich ;  aber  auch 
edlere  Freuden  wurden  geschätzt  und  Hamburg  hat  von  dieser  Zeit  an  lange 
als  ein  Sitz  der  Dichtung  gegolten.  Hier  w^echselte  Fleming  bei  der  Rückkehr 
von   der    grossen  Reise  Sonette    mit  Gotfried  Finckelthaus  "^  aus    Lützen. 

und  Anna  Amnie  Aglaja  Anemone  Koril<»)  erläutert  Lappenberg :  vgl.  auch  J.  Amelang.  Baltische 
Monatsschrift.  1881  S.  361  fgg.  9)  LB.  2,  442.  445.  10)  In  diesem  Ton  auch  ein  ausge- 
lassenes Hochzeitsgedicht.  Die  licfländische  Schneegräfin,  Lappenb.  8.  '.>4.  11)  Vgl.  die 
drei  Tage  vor  dem  Tod  gedichtete  (irabschrift.  LB.  2.  4.5S.  12)  LB.  447.  13)  Nach 
seinem  Tode,  aber  in  der  von  ihm  selbst  bestimmten  Anordnung  erschienen  seine  Teutschen 
Poemata,    zuerst    Lübeck    (1642),    dann    Jena    1651    u.    ö.  14)    Lappenberg    S.    72. 

15)  Lappenberg  8.  354.         16)  8.  Pröhle,  Feldgarben.  Leipzig  1859,  wo  auch  ein  frommer 


§  126  SÄCHSISCHE  LIEDERDICHTER.  231 

1640  veröffentlichte  Finckclthaus  seine  Deutshe  Gesänge  (Hamburg  o.  J.), 
welche  wankelmüthige  Liebe  und  treue  Freundschaft  preisen,  und  1044  seine 
Deutsche  Lieder  unter  dem  Namen  Greger  Federfechters  zu  Lützen,  endlich 
1645  u.  ö.  unter  den  Anfangsbuchstaben  seines  Namens  G.  F.  Lustige  Lieder. 
Schon  1638  hatte  er  Geistliche  Andachten  im  Anschluss  an  Salomons  Hohes  Lied 
erscheinen  lassen.  Ein  Leipziger  war  sein  Freund  Cukistian  Breiime,'^  der 
nach  kurzem  Kriegsdienst  um  1640  nach  Dresden  an  die  Bibliothek  kam, 
1657  hier  Bürgermeister  wurde  und  1667  starb.  Von  ihm  erschienen  1637 
Allerhand  Lustige,  Traurige  und  nach  Gelegenheit  der  Zeit  vorgekommene 
Gedichte  mit  den  Melodien;  1647  Die  Vier  Tage  einer  neuen  und  lustigen 
Schäferey  von  der  schoenen  Coelinden  und  deren  .  .  Schäfer  Corimho.  Den 
gleichen  leichten  Ton  schlug  Johann  Georg  Schock  aus  Leipzig  "^  an,  wel- 
cher mehr  als  durch  seine  Lieder  (gesammelt  als  Neu-erhaueter  Poetischer 
Lust-  und  Blumengarten  von  hundert  Schüfer-,  Hirten-^  Liebes-  und  Tugend- 
liedern .  .  J200  Sonneten  .  .  400  DenJcsprüchen.  Leipzig  1660)  sich  durch 
seine  Comoedia  vom  Studentenlehen  1651  bekannt  gemacht  hat. '^  Liebeslieder 
mit  schäferlicher  Yerkleidung  dichtete  auch  David  Schiemer  aus  Freiberg 
(geb.  um  1623,  gest.  nach  1682).  Sein  erstes  (bis  viertes)  Rosengepüsche  erschien 
1650  u.  ö.  und  (um  ein  neues  Buch:  erstes  bis  fünftes  JRosengepüsche)  ver- 
mehret 1657;  seine  Poetische  Pautengepüsche  1663.  Schirmer  folgt  ausländi- 
scher Mode,  indem  er  auch  Madrigale-"  dichtete.  Als  kurfürstlicher  Biblio- 
thekar zu  Dresden  seit  1656,  hatte  er  neben  andern  höfischen  Gelegenheits- 
gedichten auch  allegorische  Ballete  zu  erfinden.  Schirmer  gebeerte  der 
Gesellschaft  Zesens  (§  124)  an;  ebenso  Jacob  Schwiger  aus  Altena,  dieser 
als  der  Flüchtige.  Seine  Liebesgrillen ^  z.  Th.  nach  dem  Niederländischen, 
nach  Cats  und  Westerbaen,  mit  eingemischten  Brocken  des  hamburgischen 
Dialects,  erschienen  mit  den  Melodien  1654;  in  anderen  Gedichten  überwiegt 
fast  der  Hohn  die  Zärtlichkeit;  so  in  der  Sammlung  Die  Geharnschte  Venus 

Lohspruch  des  ivunderbaren  Heilbrunnens  zu  Hornhausen  (Dresden  1646),  und  Schnorrs 
Archiv  3,  66  fgg.     Schoch,  Sonnete  S.  134,  betrauert  seinen  frühen  Tod.  17)  Bei  ihm 

tritt  die  Schilderung  der  Studentengelage  noch  stärker  als  sonst  hervor ;  auch  sprachlich  ist 
er  sehr  nachlässig.  Von  seinem  spseteren  Ansehn  zeugt  ein  Hochzeitslied  von  Tscherning, 
Deutscher  Gedichte  Frühling,  8.  348,  in  pindarischer  Odenform.  Auch  mit  Klaj  war  er 
befreundet.  18)  1666  nennt   er  sich  Amtmann    zu  Westerburg,    1688  unterzeichnet    er 

zu  Braunschweig  als  herzoglicher  Diener.  19)  Erich  Schmidt,  Verh.  der  Trierer  Philo- 

logenvers. 1879.  Nach  Ovid  Metam.  IV  ist  Schochs  Poetischer  Weyrauch-Baum  und  Sonnen- 
blume, Leipz.  1656,  gedichtet.  20)  LB.  521).  Über  die  Gattung  und  deren  Empfehlung 


232  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XYH  JAHlül.  §  126 

von  FUidor  dem  Dorfcrer  1600.^'  In  Hamburg,  wo  Finckclthaus  und 
Schwigor  eine  Zeit  lang  lebten,  fand  auch  der  aus  seiner  Hciniath  bei  Regens- 
burg durch  den  Krieg  vertriebene  Georc  Greflinukr  ^'^  nach  längerem  Uin- 
hei-schwcifcn  seinen  Autenthalt  (1646  bis  etwa  1677)  und  erhielt  durch  Rist 
den  Dichterkranz  sowie  Aufnahme  in  den  Elbschwanenordcn.  Eine  Danzigcr 
Geliebte  Flora  feierte  Greflinger  in  Seladons  Beständige  Liehe^  Fkf.  a.  M.  1644; 
seine  Weltliche  Lieder  erschienen  ebd.  1651  ;  seine  Poetische  Rosen  und 
Dürner,  Hülsen  und  Körner,  Hamburg  1655.  In  dieser  Lyrik  macht  sich 
ein  volksthümlicher  Humor  glücklich  geltend.  In  trockenem  Annalcnstil 
schilderte  Greflinger ,  der  wahrscheinlich  unter  Bernhard  von  Weimar  ge- 
fochten hatte ,  Der  Deidschcn  Dreyssigjähriger  Krieg  u.  d.  N.  Celadon  von 
der  Donau,  1657,  und  betrieb  auch  sonst  in  Poesie  und  Prosa  historische 
Berichterstattung,^^  ebenso  wie  er  als  Übersetzer  fruchtbar  war.  Hier  ist 
Die  Sinnreiche  Tragicocomwdia  genant  Cid,  1650,  als  erste  Spur  von  Cor- 
neilles  Eindringen  nach  Deutschland  hervorzuheben.-'  —  Waren  die  genann- 
ten  Dichter   dieses    Hamburger    Kreises   meist   Fremde ,    so   kam  ihrer   Art 


durch  C.  Ziegler,  s.  §  120,  87.  21)   Neudruck  mit  Biographie  von  Th.  Raehse,    Halle 

INSS.  Schwieger  oder  8chwiger  (die  Schreibung  der  Namen  wechselt  in  dieser  Zeit  auch 
sonst)  hatte  1650  die  Universität  Wittenberg  bezogen,  war  1GÜ7  dänischer  Soldat,  1659  zu 
Glückstadt  beamtet.  Nach  einer  Notiz  von  Waldau  starb  er  1666.  Auf  jeden  Fall  ist  er 
verschieden  von  dem  FlLlDOR,  der  für  den  Rudolstädter  Hof  Trauer-  Lust-  und  Mischfjnele 
gedichtet  hat,  die  zu  Jena  1665  und  Ivudoistadt  1667  erschienen:  Der  Vermeinte  Printz 
(eine  Princessin),  nach  Pallavicini;  Er)ielinde  oder  die  viermahl  Braut;  Die  Wittekinden 
(Singespiel;  Schwarzburger  Stammsage);  Der  Betrogene  Betrug,  nach  Scarrons  Eoman 
Comique:  Bnsilene  (mit  Benutzung  von  Guarinis  Pastor  fido);  wozu  wohl  auch  das  ohne 
Verfassernamen  überlieferte  Mischspiel  Die  erfreuete  Unschuld,  1664,  gehöi't.  Dazu  kommen 
noch  Zwischenspiele:  Sfaramutza  u.  a.  komische  Personen  treten  auch  in  den  ernsten 
Partien  auf.  S.  hierüber  K.  T.  Pabst,  Jacob  Schwieger  als  Dramatiker  in  den  Blättern  f.  lit. 
Unterhaltung  1847,  S.  1074  fgg.  Die  Identität  der  beiden  Filidore  bezweifeln  mit  Recht 
Passow  (§  119,  1)  und  Gödeke.  Die  Sprache  des  Rudolstädter  Dichters  ist  thüringisch- 
obersäohsich :  verzwatzschien  (verzweifeln),  geschurigelt  (geniert),  einig  (einzig),  Gott  geh  als 
Concessivpartikel  wie  Weise  und  oberdeutsche  Dichter,  aber  niemals  niederdeutsche  den 
Ausdruck  gebrauchen.  Ein  Lied,  von  Filidor  an  seine  Flavia  gerichtet,  findet  sich  in 
Schochs  Weyrauchbaum  und  Sonnenblume,  und  bezeugt  die  Beliebtheit  des  Namens. 
Weckherlin  nennt  sich  selbst  Filodor.  22)  AV.  v.  Oettingen  QF.  49,  Strassburg  1882. 

Walther.  Anz.  zur  Z.  f.  d.  A.  28,  73.     Bolte,  ebd.  31,  103.  23)  Er  gab  eine  Zeitung. 

Nordischer  Mercur,  heraus.  24)  Auch  ein  Stück  von  Lope  de  Vega,   Verwirrter  Hof 

oder  König  Carl,  übertrug  er  und  zwar  in  Prosa  1652.  Selbständig,  aber  ungeschickt 
dramatisierte  er   Ferrando   Dorinde ,   Zweyer   hochverliebtgewesenen  Personen  erbärmliches 


§  127  HAMBURGER  DICIITERKREIS.  233 

doch  auch  im  Norden  die  gleiche  Stimmung  entgegen ,  wofür  Zacharias 
LuND  aus  dorn  Schieswig'schen  ein  Beispiel  gibt.  1G08  geboren,  studierte 
er  in  Wittenberg  bei  Buchner,  promovierte  1647  zu  Kopenhagen  und  starb 
hier  als  k.  dänischer  Secretär  1667.  Von  ihm  erschienen  Allerhand  artige 
Deutsche  Gedichte^  Lpz.  1636,  worin  manches  aus  dem  niederländischen  und 
franzoesischen,  so  nach  Du  Bellay,  übertragen  ist;  auch  aus  seiner  Schäferi- 
schen Comosdie  die  Dieroniene  theilt  er  hier  Choere  und  Duette  mit.  Lund, 
der  als  lateinischer  Dichter  noch  mehr  Anerkennung  gefunden  hatte,  ahmt 
Fleming  nach  und  feiert  Opitz,  welcher  sonst  von  den  jugendlich  übermüthi- 
gen  Dichtern  des  sächsischen  Dichterkreises  wohl  benutzt,  aber  auch  paro- 
diert •'"  wird.  Noch  nseher  an  Greflingers  Art  ^"^  tritt  Gabriel  Voigtländer 
heran,  welcher  schon  gealtert  als  Hoftrompeter  in  dänischen  Diensten  zu 
Soröe  1642  seine  auf  itahenische,  franzcesische,  englische  und  deutsche  Me- 
lodien verfassten  Gedichte  als  Erster  Theil  Allerhand  Oden  und  Lieder  sam- 
melte; von  seiner  derben  Art  gibt  insbesondere  ein  vielgesungenes '"  Lied  auf 
Lex  Ars  Mars  Zeugniss. 

§  127. 

Im  Nordosten  Deutschlands ,  in  Schlesien  und  am  Strande  der  Ostsee 
ward  Opitz  nicht  nur  als  erster  deutscher  Dichter  verehrt:  seine  Landsleute 
in  der  Heimath  und  soweit  sie  nach  auswärts  kamen ,  hielten  strenger  an 
seinem  Muster  fest,  als  dies  von  anderen  geschehen  war.  Der  Eindruck,  den 
seine  Schriften  machten,  wurde  durch  die  perscenliche  Bekanntschaft  verstärkt, 
als  Opitz  selbst  seine  letzten  Lebensjahre  in  Danzig  zubrachte  und  von  hier 
aus  auch  Koenigsberg  besuchte.  Es  waren  überdies  die  Dichter  des  Nord- 
ostens grossentheils  gereifte  Männer  mit  zuweilen  sehr  trüben  Lebenserfah- 
rungen, und  mancher  von  ihnen  hatte  als  Lehrer  der  Dichtkunst  vor  allem 
deren  Würde  zu  wahren.  So  steht  der  Ernst  dieser  Dichter  in  vollem 
Gegensatz  zu  der  oft  ausgelassenen  Lebenslust  der  sächsischen  Nachahmer 
Flemings,  der  Vertreter  der  Studenten-  und  Soldatenpoesie. 

In  Schlesien  überwog  der  schmerzliche  Eindruck ,  welchen  die  Ver- 
wüstung des  Landes,  die  Unterdrückung  der  Evangelischen  machen  musste. 
Trost  gewährte  eine  ergebungsbereite  Frömmigkeit,    und   religioese  Betrach- 


Ende.     Fkfurt  1644,   mit  Benutzung  seiner    eigenen  Liebesgeschichte.  25)  §  121,  20. 

Schoch  stellt  Buchner  und  Schirmer  über  Opitz,  wie  freilich  auch  Zesen  über  diesen  hinaus 
zu  kommen  glaubte.  26)  S.  den  Excurs  v.  Oettingen  QF.  49,  45.  27)  Vgl.  auch 

QF.  5G.  90. 


234  NEUIIOCIIDEUTSCIIE  ZEIT.         XYII  J.VIlKir.  §  127 

tung  ward  der  vornehmste  Inhalt  der  Dichtung.  Insurcrn  diese  IJetraclitung 
im  Epigramm  sich  in  einzehie  Gedanken  .lufloeste,  wird  sie  spsetcrhin  im 
Zusammenhang  zu  besprechen  sein  (§  129).  Erzjchlend,  aber  mit  allzureich- 
lichcr  p]inmischung  mytliologischcr  Gelehrsamkeit  bietet  sie  Andreas  Scul- 
TKTis  aus  Bunzlau ,  dessen  Gedichte  von  Lessing  wieder  hervorgezogen 
worden  sind:'  die  Oesterliche  Triumph  Posaimc  ^  Breslau  1642,  sein  Bliit- 
scliwitzender  und  Todringender  Jesu  (ebd.  o.  J.).  Neigung  zur  Entfaltung 
seiner  Gelehrsamkeit  zeigt  auch  "Wencel  Scherffer  von  Scherffenstein," 
nur  dass  sie  bei  ihm  in  einem  humoristischen  Gedicht  besonders  hervortritt, 
in  De^'  Götter  und  Göttinnen  Hochzeitslieder,  welche  in  Geist-  und  Weltliche 
Gedichte  Erster  Thcil,  Brieg  1652,  ein  Buch  ausmachen.  Der  Gebrauch  der 
Dactylen,  das  Nachahmen  der  Thierstimmen  ^  zeigen  den  Dichter  unter  dem 
Einfluss  der  Nürnberger  Dicliterschule,  wie  auch  die  Bearbeitung  von  Dede- 
kinds  Grobianus  in  Alexandrinern,  womit  Scherffer  1640  seine  Thaetigkeit 
begann,  sich  an  ältere,  volksthümUchere  Art  anlehnt.  Mehrere  Gelegenheits- 
gedichte haben  Musikbegleitung;  *  der  Dichter  selbst  war  Organist  im  Dienste 
der  Herzöge  von  Brieg.  Geboren  zu  Leobschütz  vor  dem  Beginn  des  dreissig- 
joehrigen  Kriegs,  dessen  Greuel  er  lebendig  schildert,  starb  er  1574.'^ 

Andre  Schlesier  verliessen  die  Heimath.  Von  seinem  Verwandten  Opitz 
selbst  empfohlen,  kam  der  zu  Bunzlau  1611  geborene  Andreas  Tsciierning 
nach  Rostock  zu  Peter  Lam-emberg,'''  als  dessen  Nachfolger  in  der  Professur 
der  Poesie  (seit  1644)  er  1659  starb.  Tscherning  bemüht  sich  um  Reinheit  der 
Sprache;  als  Dichter  versucht  er  auch  andere  antike  Yersmasse  als  die  von 
Opitz  gebrauchten,  alcaische,  glyconeische,  ithyphallische,  phalecische  Oden. 
Fast  ausschliesslich  Gelegenheitsgedichte  ^  ohne  neue  Gedanken  erwarben 
seine  Dichtungen  nur  durch  die  Sorgfalt  der  Form  ihr  Ansehn.  Sie  sind 
gesammelt  als  Deutscher  Gedichte  Friding  ^  Breslau  1642,  und  Vortrab  des 
Sommers,  Rostock  1655.  Groessere  Selbständigkeit  besitzt  Johann  Peter 
TiTz,**  der  ebenfalls  aus  Schlesien  ausgewandert,  in  Danzig  die  Professur  der 


§   12/.  1)    Gedichte    von    A.    S..    aufgefunden    von    Lessing,    Braunschweig    1771 

(Lachmaun-Maltzahn  8.  353),  wozu  Nachlesen  geliefert  haben  .Jachniann ,  Breslau  1774, 
Schultz,  ebd.  1783.  Hoffmann  v.  Fall..  Wcim.  .Ib.  3,  224.  Scultetus,  der  1639  nach  Breslau 
tyif  das  Gymnasium  kam,    scheint    früh    gestorben    zu   sein.  2)  Paul  Drechsler,  Diss. 

Breslau  1886.  3)  §  120,  40.  4)  §  117.  1.  5)  Weim.  Jb.  3.  175.  6)  Dem 

Bruder  des  Dichters  §  130.  7)   Ein  Lob  der  Buchdruckerey.  Breslau  1640.     Vgl.  auch 

§  120,  13.  8J  §  120,  12.  Küpke,  in  Hageus  Germ.  10,  205  fgg.     L.  H.  Fischer,  J.  P. 


§  127  SCHLESIER  UND  PREUSSEN.  235 

Poesie  bekleidete.  Neben  seinen  meist  nüchtern-correcten  Gelegenheits-  und 
geistlichen  Gedichten^  versuchte  er  sich  doch  auch  auf  epischem  Gebiete  mit 
seiner  Lucretia  (1642  oder  bald  nachher  s.  §  118,  4);  in  Knemons  Smdschreihen 
an  Bhodope  nach  Cats,  1647,  dichtete  er  die  erste  deutsche  lleroide.  Ein 
älterer  Danziger  Dichter  ist  Johann  Plavius,  dessen  Trawr-  und  Trewgedichtc 
Danziff  1630  erschienen."'  Unter  ihnen  findet  sich  ausser  Oden  und  Sonetten 
auch  eine  Coiiranfe  oder  Drähetanz^  als  Text  zu  einem  Tanzlied,  wie  sie  in 
Preusscn  nach  polnischer  Art  üblich  waren  und  von  den  Koenigsbergor  Dich- 
tern, auch  von  Neumark ,  als  er  in  Preussen  lebte ,  zu  Hochzeiten  vielfach 
gedichtet  worden  sind. 

Der  Koenigsberger  Dichterkreis  ist  durch  Freundschaft  und  gemeinsame 
Richtung  eng  verbunden.  Als  sein  vorzüglichster  Vertreter  galt  schon  zu 
seinen  Lebzeiten  Simon  Dach,''  Geboren  1605  zu  Memel,  hatte  er  seit  1633 
eine  Schulstelle,  seit  1640  die  Professur  der  Poesie  an  der  Universitaet  inne, 
und  starb  nach  längerem  Siechthum  1659.  Die  Dürftigkeit  und  Unsicherheit 
der  Besoldung  zwang  den  Dichter ,  sich  in  bezahlten  Gelegenheitsgedichten 
zu  erschöpfen.  Die  Gedichte  für  die  brandenburgischen  Kurfürsten,  von 
denen  Friedrich  Wilhelm  in  einem  neeheren  persoenlichen  •  Yerhältnisse  zum 
Dichter  stand,  fasste  die  nach  S.  Dachs  Tod  veranstaltete  Sammlung  Clmr- 
hrandenhurgische  Rose,  Adler,  Löiv  und  Scepter  (Koenigsberg  1696)  zusam- 
men.'- In  diese  Sammlung  wurden  auch  zwei  Festspiele  aufgenommen,  von 
denen  das  eine ,  Prussiarchus  oder  Sorbuisa  die  Vertreibung  der  Barbarei 
aus  Preussen  durch  die  Stiftung  der  Universitset  Koenigsberg  feiert  und  zu 
deren  hundertjsehrigem  Jubelfest  1644  aufgeführt  worden  ist,  waehrend  das 
andere,  Cleomedes^  1635  vor  dem  Kcenig  Wladislaus  dargestellt,  ebenso  alle- 
gorisch Polens  Bedrängniss  und  Sieg  verherrlicht.     Weit  hoeheren  Werth  hat 


Titz'  Deutsche  Gediclite,  Halle  1888.  Vgl.  EUinger  in  Zs.  f.  d.  Philol.  21  ,  309  fgg. 
9)  Unter  den  ersteren  ist  aucli  ein  Hochzeitslied  für  Simon  Dach  1641.  10)    Berliner 

Bibl.  Das  älteste  Gedicht  scheint  das  Epitaph  eines  Danzigers,  1626,  zu  sein.  Plavius 
wird  von  Tscherning  im  Unvorgreifl.  Bedenken  über  Schreib-  und  Sprachkunst ,  S. 
55.  81.  115  genannt,  und  ein  Gedicht  von  ihm  in  Harsdörfers  Gesprsechsp.  II  243  ver- 
ändert wiedergegeben.  8acer  tadelte  seine  volksthümlichen  Deminutive :  QF.  56,  104. 
11)  Die  zahlreichen  älteren  Arbeiten  über  S.  Dach  sind  durch  Oesterleys  Ausgabe, 
Tübingen  1876  (Lit.  Ver.  130)  überholt  worden.  Oesterley  hat  auch  eine  Auswahl, 
Leipzig  1876.  und  eine  andere,  welche  zugleich  Dachs  Freunde  umfasst,  Berlin  und 
Stuttgart    0.    J.    (Kürschners   Nat.    Bibl.)  veröffentlicht.  12)    Hierin    auch    das    LB. 

460    wiederholte    Lied,    in    welchem   sich    des    Dichters    Dürftigkeit,    sein  Vertrauen    und 


236  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVH  JAHRII.  §  127 

S.  Dachs  Lyrik:  seine  Lieder''  sprechen  die  Frömmigkeit,  welche  aus  kum- 
mervoller Lage  sich  mit  Zuversicht  dem  Jenseits  zuwendet ,  die  Freude  an 
der  Natur,  und  vor  allem  das  Glück  herzlicher  Freundschalt  innig  und  in 
einfach  schoencn  Formen  aus.  J)ach  durfte  sagen,  dass  Preussen  die  Kunst 
der  deutschen  Reime  erst  von  ihm  gelernt  habe.'*  Die  Hochzeitslieder,  be- 
sonders die  älteren,  zeigen ,  dass  er  auch  zu  scherzen  verstand :  einmal  ge- 
brauchte er  für  einen  solchen  Anlass  auch  die  Mundart:  in  Anke  van  Tharau^ 
das  spteter  durch  Herder  wieder  hervorgehoben  worden  ist.  Im  leichten  Bau 
der  Strophen  bewaehrt  sich  Dachs  musicalische  Bildung ,  die  er  im  Verein 
mit  den  Freunden  pflegte.'-'  Unter  diesen  war  zugleich  sein  einflussreicher 
Gönner,  der  kurfürstliche  Oberhofsecretär  Kouert  Kobkutin,  welcher  16ü0 
zu  Saalfeld  i.  Pr.  geboren,  vielfach  durch  Reisen  gebildet,'*'  1G48  starb.  Von 
seinen  Liedern,  die  eine  sanfte  Schwermuth  athmen,  sind  mehrere  aus  dem 
Holländischen  Dirk  Camphuysens  übersetzt.  Für  die  Musik  war  der  Mittel- 
punkt des  Freundekreises  Heinrich  Albert,'^  geboren  zu  Lobenstein  im 
Voigtlaud  1604,  in  Dresden  durch  seinen  Oheim  Heinrich  Schütz,  den  Com- 
pouisten  von  Opitzens  Opern,  mit  der  italienischen  concertierenden ,  auf  An- 
schluss  des  Rhythmus  an  die  wechselnde  Stimmung  und  auf  Verzierung  des 
Gesanges  ausgehenden  Musik  bekanntgeworden,  und  von  1630  bis  zu  seinem 
Tode  1651  Organist  in  Königsberg.  Er  sammelte  die  Lieder  der  Freunde 
und  verwandter  Dichter,  darunter  auch  Opitz,  in  seinen  Arien.,  welche  mit 
den  Melodien  in  acht  Theilen  zu  Königsberg  1638 — 1650  erschienen.'®  1641 
hatte  Albert  als  Musicalische  Kürbshütte,  Welche  vns  erinnert  Menschlicher 
Hinfälligkeit  die  Verse  componiert ,  welche  er  nach  damaliger  Sitte  ''■•  sich 
und  seinen  Freunden  zu  Ehren  in  seinem  Garten  auf  zwölf  Kürbisse,  jeder 
für  einen  Freund,  geschrieben  hatte.  Die  Freunde  trugen  überdies  Schaefer- 
namen,  die  z.  Th.  aus  ihren  Eigennamen  durch  Buchstaben  Versetzung  gebildet 


seine  Bescheidenheit  wahrhaft  rührend  kundgeben.         13)  Proben  LB.  459  fgg.  14)  LB. 

465,  12.  15)  Von  seiner  Geige  spricht  er  LB.  466,  11;  sie  begleitete  ihn  auch  auf  Reisen. 
16)  S.  hierüber  die  zahlreichen  Briefe  in  A.  Reifferscheids  Quellen  z.  Gesch.  d.  geistigen 
Lebens  m  Deutschland  während  des  17.  Jhs.  (Heilbronn  1889),  zumal  S.  129  fgg.  17)  Oder 
wie  er  sich  lateinisch  nannte  Henricus  Alberti ;  vgl.  Daniel  Caspar  (von  Lobenstein),  der  sich 
lateinisch  D.  Caspari  schrieb.  18)  Wiederholt  als:  I.  Geistliche  Lieder,  Leipzig  1657; 

II.  Weltliche  Lieder,  Brieg  1657.  Neudruck  der  Lieder,  Halle  1883,  (Gedichte  des  Königsberger 
Dichterkreises,  aus  H.  Alberts  Arien  und  musikalischer  Kürbshütte  hg.  v.  L.  H.  Fischer); 
einiger  Melodien  durch  Roh.  Eituer,  Halle  1884.  19)  Tittmanu.  Nürnb.  Dichterschule, 

S.  65,  nach   Pejjnes.     Hirteusfedicht   S.   27  fsjof.    uud    Nathan    und    Jotham  I.   Nr.  LVIII. 


§  127  KÖNIGSBERGER  DICHTER.  237 

waren :  so  hiess  Simon  Dach  Chasmindo  o.  ä. ,  Robertin  Berrinto ,  Albert 
Bamon^  Christoph  Kaltenbach  Seladon  oder  Lycahas.  Der  letztgenannte 
Dichter,  1613  zu  Schlichen  geboren,  ging  1G56  als  Professor  der  Dichtkunst 
und  Beredsamkeit  von  Koenigsberg  nach  Tübingen  und  starb  hier  1698. 
Seine  Hirtengedichte  erschienen  zu  Koenigsberg  1648,  seine  Deutsche  Sappho 
1651.  Schliessen  sich  schon  die  Gedichte  dieser  Freunde  an  Dachs  Vorbild 
innig  an ,  so  gilt  dies  auch  von  dessen  Nachfolger  auf  dem  Koenigsberger 
Lehrstuhl  der  Poesie,  Johann  Röling,  der  zu  Lütkenburg  in  Holstein  1634 
geboren,  mit  Morhof  befreundet  war,  und  1679  starb.  Sein  Teutscher  Odm 
Sonderiahres  Buch  von  geistlichen  Sachen.,  Koenigsberg  1672,  geht  indessen 
auf  die  einzelnen  Thatsachen  im  Leben  Jesu  und  andere  Gegenstände  kirch- 
licher Betrachtung  weit  nseher  ein  als  Dach  und  seine  Freunde  dies  gethan.^'' 
Auch  er  dichtete  Brauttänze. ^^ 

In  der  zweiten  Hälfte  des  siebzehnten  Jahrhunderts  suchte  man  auch 
in  Koenigsberg  den  Anschluss  an  die  grcesseren  Sprachgesellschaften.  Allen 
vier  Gesellschaften  gebeerte  Birkens  Freund  Martin  Kempe  an,  welcher  1637 
geboren,  als  kurfürstl.  brandenburgischer  Historiograph  1682  starb.--  Seine 
Gedichte  sammelte  er  als  Poetische  Lustgedanclien.^^  Dem  wachsenden  Zweifel 
der  Zeitgenossen  gegenüber  suchte  er  den  Werth  der  Dichtkunst  zu  erweisen.^* 
Für  die  Bühne  bearbeitete  er  nach  Lope  de  Yega  die  Geschichte  vom  ge- 
zwungenen JPrinsen  Turhino.  Zahlreicher  sind  die  dramatischen  "Werke  von 
Michael  Küngehl,  geb.  zu  Kreuzburg  i.  Pr.  1646,  als  Bürgermeister  zu 
Koenigsberg  gest.  1710.  Er  behandelte  mehrere  Shakespere'sche  Stoffe,  die 
ihm  jedoch  nur  durch  die  englischen  Komoedianten  bekannt  geworden  sein 
können :  -^  Viel  Lärm  um  Nichts  in  Die  vom  Tode  eriveclde  Phönisia.,  Koenigs- 
berg o.  J.  und  Cymbeline  ^^  in  Der  TJnschtddig-beschiddigten  Innocentien 
Unschidd;  auch  das  Mischspiel  Die  unvergleichlich  schöne  Prinzessin  Andro- 
meda  1695   beruht   auf  fremdem,    1675    zu  Ansbach    aufgeführten  Vorbild. 


CXXXI.  20)  Auszug   von  Oesterley    in  der  Anm.  11  citierten  Sammlung    (Kürschners 

Nat.  Bibl.).  21)  Oesterley  in  Schnorrs  Archiv  8, 173  fgg.  22)  So  Herdegen  S.  288.  Gödeke 
Grundr.2  III  272  weist  auf  eine  andere  Quelle  hin,  wonach  er  1642 — 1683  lebte.  In  der  That 
erscheint  er  noch  in  den  Ehrengedichten  zu  Kongehls  Belustigung  1683.  23)  Jena  1665. 
Darin  auch  ein  Gesprächspiel  und  andere  Anklänge  an  die  Nürnberger  Dichter.  24)  Eine 
kritische  Schrift,  die  bald  ihm  bald  Kongehl  zugeschrieben  wird,  s.  §  120,  32.  25)  Genee, 
Gesch.  der  Shakespeare'schen  Dramen  in  Deutschland,  Leipz.  1870  S.  185  fgg.  Übrigens  hat 
Kongehl  diese  Gegenstände  nicht  unwürdig,  vielmehr  lebendig  und  kräftig  behandelt. 
26)  Doch  steht  Kongehls  Dichtung  vielmehr  in  einem  näheren  Verhältniss  zur  Novelle  des 

Wackernagel,  Litter.  Geschichte,  II.  •  16 


238  NEUIIOCITDEUTSCIIE  ZEIT.         XVII  JATIRH.  §  128 

Die  ersten  beiden  und  seine  lyrische  Gedichte  sind  gesammelt  in  Eines  vor- 
trefflichen Poeten  Geist-  und  Weltliche  Gedichte.,  Stettin  1715;  eine  frühere 
Sammlung  der  Lieder  hatte  er,  olme  sich  zu  nennen,  als  Belustigung  bei  der 
Unlust,  Stettin  1G83,  II.  Theil ,  Kgsb.  o.  J.  veröffentlicht  und  1700  eine 
Reihe  von  Lobsprüchen  auf  zahlreiche  geschichtliche  rersccnlichkeiten  als 
Siegprangender  Lorbeer- Ilaijn  zusammengefasst.  Diese  und  die  zahlreichen 
Gelegenheitsgedichte  habön  minderes  Ansehn  erlangt  als  einige  geistliche 
Lieder,  welche  er  unter  dem  Namen  Prutetiio  zu  den  Liederbüchern  der 
Peffnitzschäfer  beisteuerte.  Unter  diesem  Namen  schrieb  er  auch  einen 
Roman  in  Prosa  und  Yerscn,  Surbosia  (Umstellung  aus  Borussia),  geschichts- 
massiges  Heldengedicht,  Nürnberg  1676. 

Auf  Gelcgenheitsdichtung  beschränkte  sich  die  Dichterin  Gertrud  Möl- 
lerin aus  Kcenigsberg ,  welche  1641  geboren ,  als  Wittwe  eines  Professors 
der  Medicin  1705  starb;  doch  hat  sie  in  Simon  Dachs  Weise,  nur  mit  scherz- 
hafter Absicht,  auch  die  Liebesdichtung  in  der  Mundart  gepflegt.-^  Eben 
dies  gilt  auch  von  einem  älteren,  aus  Schlesien  nach  Brandenburg  gewander- 
ten Dichter,  Nicolaus  Peucker:^^  1640 — 1675  dichterisch  thaetig ,  hat  er 
den  Grossen  Kurfürsten  verherrlicht  und  Familienfeste  von  Freunden  be- 
sungen, wobei  ihm  S.  Dach  und  Rist  als  Vorbilder  galten,  aber  auch  Klang- 
spiele in  Scherffers  Art  (Anm.  3)  gefielen. 

§  128. 

Die  Aufzaehlung  der  verschiedenen  Schulen  der  weltlichen  Lyrik  hat 
fast  überall  auch  des  geistlichen  Liedes  gedenken  müssen,  dessen  Pflege  in 
diesem  Jahrhundert  für  jeden  Dichter  etwas  selbstverständliches  war.  Unter 
den  schon  genannten  Dichtern  sind  einige,  die  auch  auf  diesem  Gebiete  mit 
zu  den  hervorragenden  gehoeren,  wie  Rist  und  Dach;  von  anderen  wie  Fle- 
ming und  Neumark  sind  einzelne  Lieder  durchaus  volksthümlich  geworden; 
andere  endlich  haben  wenigstens  durch  die  grosse  Zahl  ihrer  geistlichen 
Lieder  sich  auch  hier  Berücksichtigung  verdient.^    Ausser  den  bisher  ange- 


Boccaccio  2,  9.     Vgl.  auch  §  106,  2.  27)  Jahrbuch  für  niederdeutsche  Sprachforschung 

XII,  141.  28)    Aus  Jauer  gebürtig,  Stadtrichter  zu  Cöln   a.  d.   Spree.     Auswahl  aus 

seiner  Wolklingenden    Paucke  (Berlin    1702),    von    Ellinger,    in    den  Berliner  Neudrucken 
I  3  (1888). 

§   128.  1)  So  namentlich   die  Nürnberger  Dichter;    ihre  geistlichen  Lieder  sammelte 

Joh.  Michael  Dilherr,  Pfarrer  zu  Nürnberg,  geb.  1604  gest.  1669 :  Nürnberger  Gesangbuch, 


§  128  GEISTLICHES  LIED.  239 

führten  Dichtern  gibt  es  jedoch  noch  andere,  die  sich  ganz  auf  geistliche 
Lieder  beschränkt  haben,  und  wie  ihre  Zahl  eine  sehr  grosse  ist,  so  ist  auch 
die  Bedeutung  dieses  Litteraturzweiges  für  jene  Zeit  sehr  erheblich.'  Die 
furchtbare  Noth,  die  der  lange,  alles  verwüstende  Krieg  mit  sich  brachte, 
wandte  die  Herzen  dem  religioesen  Tröste  zu.  Das  geistliche  Lied  führte 
diejenigen ,  welche  aus  rcligioisen  Gründen  kämpften ,  in  die  Schlacht ;  ^  es 
hielt  die  Unterdrückten  aufrecht  und  zusammen.  Oft  ist  es  Ausdruck  nicht 
nur  einer  persoenHchen  Stimmung,^  sondern  selbst  einer  einmaligen  Lebens- 
erfahrung :  ^  aber  die  Stärke  des  Gefühls,  welche  hieraus  entspringt,  verbindet 
sich  mit  der  allgemein  christlichen  Auffassung  so  glücklich ,  dass  gerade 
Lieder  dieser  Art  zu  den  beliebtesten  Kirchenliedern  geworden  sind.  Über- 
haupt leistet  die  Zeit  auf  diesem  Feld  ihr  Bestes,  und  sie  hat  für  die  Folge 
eine  dauernde  Quelle  der  Erbauung  fliessen  lassen.^  Hier  machte  sich  auch 
die  verbesserte  Form  der  neuen  Kunstpoesie  am  glücklichsten  geltend.  War 
schon  früher  mit  Rücksicht  auf  das  Gefühl  des  Yolkes  das  Betonungsgesetz 
im  geistlichen  Liede  mehr  als  sonst  beobachtet  worden,  so  durfte  seit  Opitz 
hierin  keine  Rohheit  mehr  hervortreten;  und  die  von  ihm  erstrebte  Richtig- 
keit der  Sprachformen,  Reinheit  der  Reime,  Sorgfalt  der  Wortwahl  drang 
bald  durch,  wsehrend  die  Ausschreitung  seiner  Nachfolger,  ihre  Tändelei  mit 
Sprach-  und  Versformen  von  dem  gesunden  Gefühl  der  besseren  Dichter  und 
der  Gemeinde  zurückgewiesen  wurde.  Die  Dichter  gehörten  auch  nicht  wie 
sonst  überwiegend  dem  Gelehrtenstande  an;  am  geistlichen  Liede  betheiligten 


1653,  und  weit  umfänglicher :  Geistliche  Psalmen,  Nürnberg  1656.  Vgl.  Ed.  Em.  Koch, 
Gesch.    d.    Kirchenlieds    und   Kirchengesangs,    3.  Bd.,    Stuttgart  1867,  S.  515.  2)  Jul. 

Mützell,  Geistliche  Lieder  der  evangelischen  Kirche  aus  dem  17.  und  der  ersten  Hälfte  des 
18.  Jhs.,  von  Dichtern  aus  Schlesien  und  den  umliegenden  Landschaften  verfasst.  I  (und 
einziger)  Bd.  Braunschweig   1858.  3)    Verzage  nicht,   o   Häuflein  klein!    das   Lied, 

welches  Gustav  Adolf  vor  der  Schlacht  bei  Lützen  singen  liess,  ist  von  JoH.  Michael 
Altenburg  (1584 — 1640)  gedichtet  worden.  4)  Daher,  wie  schon  §  103,   41  bemerkt 

ist,  das  Überwiegen  des  ich  in  den  geistlichen  Liedern  dieses  Zeitraumes,  gegenüber  dem 
toir  des  16.  Jahrhunderts.  5)  Eine  missbräuchliche  Übertreibung  dieser  Richtung  ist  es 
wenn  nur  gedachte,  und  oft  in  der  Wirklichkeit  kaum  vorkommende  Lebenslagen  von  den 
Dichtern  geistlicher  Lieder  ins  Auge  gefasst  werden,  wie  dies  namentlich  Rist  gethan: 
8.  Koch,  a.  a.  0.  219.  ÜT)rigens  hat  die  Sage  mehrere  Anlässe  zu  berühmten  geistlichen 
Liedern  erst  erdichtet:  so  bei  Neumark  §  124,  15;  bei  P.Gerhardt,  Anm.  13.  6)  Hier 

sei  nur  an  Winckebnann  erinnert,  der,  als  er  aus  äusserlichen  Gründen  sein  evangelisches 
Bekenntniss  aufgegeben  hatte,  doch  auch  spaeter  noch  in  seinem  Gesangbuch  Erhebung  und 


240  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVH  JAIIRII.  §  128 

8ich  auch  der  Adel,  auch  die  Fürsten,^  und  die  Frauen  *  haben  ebenso  diesen 
Zweig  der  Dichtung  ganz  besonders  mit  ergriffen. 

Dieses  neue  Erblühn  des  geistlichen  Liedes  erstreckte  sich  nicht  nur 
auf  das  lutherische  Bekcnntniss;  auch  die  Keformicrtcn  wurden  wieder  zur 
Theilnahmc  angezogen,''  nachdem  sie  längere  Zeit  hindurch  ausschliesslich 
Bearbeitungen  der  Psalmen  gesungen  hatten  (§  103).  Eine  der  ersten  Stim- 
men aus  dieser  Kirche  ist  die  der  Kurfürstin  Luise  Henriette  von  Bran- 
DEXiRRG,  Tochter  des  edlen  Friedrich  Heinrich  von  Oranien  und  Gemahlin 
des  Grossen  Kurfürsten,  geb.  1627,  gest.  1667.  Sie  hat  zu  einer  Sammlung'" 
von  Runge  (§  117,  13)  einige  Lieder  beigesteuert,  darunter  Jesus,  meine 
Zuversicht.  Zahlreicher  sind  die  Dichtungen  von  Joachim  Neander,^'  geb. 
1650  zu  Bremen  und  ebendaselbst  als  Prediger  gestorben  1680.  Aber  die 
volle  Pflege  fand  das  gcistUche  Lied  doch  nur  innerhalb  der  lutherischen 
Kirche.  Yon  den  vielen  Namen  der  Dichter  können  nur  einige  herausgeho- 
ben werden.  Noch  in  die  ältere  Zeit  zurück  reicht  Martin  Kinckart,  geb. 
1586  zu  Eilenburg,  und  hier  auch  gestorben  als  Prediger  16-49,  dessen  con- 
fessiouell  engherzige  Dramen  bereits  §  105,  97  besprochen  worden  sind. 
Spater  wandte  sich  Rinckart  der  neuen  Verskunst  zu  und  suchte  auch  seiner- 
seits Regeln  für  diese  aufzustellen  (§  121,  1).  Von  ihm  rührt  das  bereits 
16-45  gedichtete  Friedenslied  her:  Nun  danJcet  alle  Gott.  Wie  Rinckart,  so 
ging  auch  Johannes  Heermann  '^  (geb.  zu  Räuden  in  Niederschlesien  1585, 
Pfarrer  zu  Koben  ,  gest.  1647  zu  Polnisch  Lissa)  erst  allmaehlich  zur  stren- 
geren Form  über,  welche  er  namentlich  in  den  Sammlungen  Exercitium  Pie- 
tatis  und  Bevoti  Musica  Carclis  ^  beide  Breslau  1630  erschienen,  genau  zu 
beobachten  strebte.  Die  schweren  Schicksale,  die  er  wsehrend  des  Krieges 
erfuhr,  wandten  seine  Gedanken  mit  Vorliebe  auf  das  Leiden  Christi.  Mit 
vollkommener  Freiheit  und  Sicherheit  bewegt  sich  innerhalb  der  neuen  Kunst 
Paul  Gerhardt,'^  dessen  Lieder   in    der  That   als  Kleinod  und  Krone  alles 

Befriedigung  fand:    Justi,  Winckelmann    1,  68.  7)  Wilhelm  II  von  Weimar,    Anton 

Ulrii-b  von  Braunschweig -Wolfenbüttel  u.  a.  8)  Ausser  Luise  Henriette  von  Brandenburg 
sind  von  fürstlichen  Dichterinnen  Anna  Sophia,  Landgräfin  von  Hessen  -  Darmstadt, 
LuD.i':.MiLiA  Elisabethe  und  -.Emilia  Juli  an  a  von  Schwarzburg:  von  anderen  Sibylle 
Schwarz  aus  Greifswald  (1621 — 1638)  und  freilich  sectierisch:  Anna  Owena  Hoyer  (§  130) 
hervorzuheben.  9)  Selbst  für  die  katholische  Kirche  ward   gerade   in  dieser  Zeit  der 

Gebrauch  deutscher  (und  selbst  evangelischer)  Lieder  zugestanden;  namentlich  in  neueroberten 
Landen:  vgl.  §  103,  3.  Neugedichtete  geistliche  Lieder  der  Katholiken,  s.  §  123  und  129. 
10)  D.  M.  Luthers  «.  a.  .  .  .  Geistliche  Lieder  und  Pmltnen,  Berlin  1653.  11)  LB.  565. 
12)   LB.  405.  13)    LB.  547.     Das   Lied    Befiehl   du  deine   Wege,    LB.  553,   ist   vor 


§  128  PAUL  GERHARDT.  241 

evangelischen  Kirchengesanges  zu  bezeiclincn  sind.  Geboren  zu  Gräfen- 
hainichen  in  Sachsen  1607,  1651  Geisthcher  zu  Mittenwalde  in  Brandenburg, 
dann  zu  Berlin,  ward  er  1666  abgesetzt,  als  er  einen  Befehl  des  Kurfürsten, 
die  Kanzelstreitigkciten  zwischen  Lutheranern  und  Reformierten  zu  unter- 
lassen, nicht  als  bindend  anerkennen  wollte ,  obschon  er  selbst  sich  als  Pre- 
diger ebenso  wie  als  Dichter  jeder  Feindseligkeit  gegen  Andersgläubige  ent- 
halten hatte;  1668  nach  Lübben  berufen,  starb  er  hier  1676.  Seine  Lieder 
erschienen  zuerst  gesammelt  1667.^^  Vielleicht  ist  keines  mit  der  Absicht 
kirchlichen  Gebrauches  gedichtet ,  alle  geben  den  unmittelbaren  Ausdruck 
eigener  und  augenblicklicher  Empfindung  und  Erfahrung:  das  hat  aber  ihren 
dichterischen  Werth  nur  erhoeht,  weil  es  ihnen  den  Ton  der  reinen  Lyrik 
gab,  und  die  kirchliche  Brauchbarkeit  nicht  verkürzt;  denn  des  Dichters 
Denken  und  Empfinden  ist  eben  ein  rein  evangelisches  und  deshalb  auch 
ein  kirchliches,  ist  allen  Gliedern  der  Kirche  verständlich,  für  alle  so  wie  für 
ihn  selbst  erweckend  und  erhebend,  tröstend  und  kräftigend.  Paul  Gerhardt 
ist  ein  zum  zweitenmal  dichtender  Luther :  dieselbe  Kindeseinfalt ,  dieselbe 
Ileldenkraft  des  Glaubens,  jetzt  aber  angethan  mit  all  der  Meisterschaft  der 
Darstellung,  all  dem  Fluss  und  dem  Wohllaut  der  Rede,  die  dem  16.  Jahr- 
hundert noch  fremd  gewesen,  die  erst  die  Errungenschaft  des  17.  Jahrhun- 
derts waren,  und  nur  wenig  berührt  von  dessen  Geschmacksfehlern ;  e  r  kann 
sagen,  was  er  empfindet  und  was  ihn  begeistert,  und  kann  es  in  stets  wech- 
selnder Mannigfaltigkeit  der  Toene  jedesmal  so  sagen,  wie  es  angemessen  ist, 
liebKch  oder  gewaltig,  gelinde  oder  mit  strenger  Kraft,  kindlich  spielend  oder 
männlich  ernst,  immer  aber  auf  dem  unverrückbaren  Grund  des  Bibelglau- 
bens. So  sind  denn  auch  die  Psalmen  und  andere  biblische  Stücke  die 
Hauptquelle  gewesen,  aus  denen  er  schöpfte ;  doch  hat  er  daneben  lateinische 
Hymnen  bearbeitet. ^^  Neben  Gerhardt  tritt  wohl  zurück,  was  gleichzeitig 
von  geistlichen  Liedern   gedichtet   ward;    doch   verdient  wegen    der  Beherr- 

Gerhardts  Absetzung  verfasst,  mit  welcher  es  die  Sage  m  Verbindung  brachte.  14)  P.  G. 
Geistliche  Andachten,  bestellend  in  120  Liedern,  Berlin,  bei  Eunge,  in  dessen  Praxis  pietatis 
melica  die  einzelnen  Lieder  schon  vorher  aufgenommen  worden  waren.  Historisch-kritische 
Ausgabe  von  J.  F.  Bachmann,  Berlin  1866.  Andere  von  Ph.  Wackernagel,  zuletzt  Gütersloh 
1876,  von  Gödeke,  Leipz.  1877.  15)  LB.  647  0  Haupt  voll  Blut  und  Wunden;  ebd. 

das  lateinische  Vorbild  Bernhards  von  Clairvaux.  Wenn  Bäumker  in  dem  §  103,  3  citierten 
Buch  S.  5  darauf  hinweist,  das«  die  Melodie  zu  Gerhardts  Lied  dieselbe  ist,  wie  die  des  alten 
Liebesliedes  3Iein  Gmüth  ist  mir  verwirret,  Das  macht  ein  Jungfrau  zart,  so  ist  nicht 
zu  übersehn,  dass  diese  Melodie  schon  vorher  zu  einem  Geistlichen  Liede  gebraucht  worden 


242  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVH  JAHIUI.  §  128 

schling  der  Form  und  der  Kraft  dos  Ausdrucks,  die  sich  an  Gcrluirdts  Weise 
anschlicsst,  wenigstens  Johann  Franck  '*  noch  ausgezeichnet  zu  werden.  J^ret 
spjct^r  erwarb  sich  fast  gleiche  Beliebtheit  wie  Gerhardt  der  mit  einer  fast 
zehnmal  grocsscren  Zahl  von  Liedern  auf  diesem  Felde  thajtige  Benjamin 
ScHMOLCKE."  Geb.  im  Herzogthum  Liegnitz  1G72,  Pfarrer  zu  Schweidnitz, 
starb  er  1737.  Dem  Druck,  der  auf  seinen  Glaubensgenossen  in  Schlesien 
lastete,  begegnet  er  mit  inniger  Treue  des  Bekenntnisses,  zuweilen  mit  helden- 
müthigcm  Sclnvung.  Er  dichtet  für  die  Erbauung  in  Kirche  und  Haus,  ein- 
fach und  volksniffissig ,  nur  zuweilen  durch  allzu  grosse  Bibelgelehrsamkeit 
lästig,  zumal  wo  das  Anbringen  versteckter  Namen  und  Bezüge  sich  wieder- 
holt. Doch  sind  sowohl  die  kleineren  Sammlungen,  in  denen  Schmolckes 
Lieder  zuerst  erschienen,  als  die  spaiteren  umfassenden'*  zu  grocsster  Ver- 
breitung und  dauernder  Beliebtheit  gelangt.  In  Schmolckes  Zeit  war  die 
Liederdichtung  schon  grosscntheils  beeinflusst  durch  den  von  Spener  (§  138) 
begründeten  Pietismus,  welcher  die  Glaubenslehre  und  ihre  confessionell  ver- 
schiedenen Fassungen  hinter  das  christliche  Gefühl  und  dessen  Bethajtigung 
im  taeglichen  Leben  zurücktreten  Hess.  Freilich  nahm  gerade  im  Lied  diese 
Ixichtung  mit  Vorliebe  die  Sündhaftigkeit  der  Menschen  und  das  Verdienst 
des  Versoehnungstodes  Christi  zum  Gegenstand :  das  frohe  Gottvertrauen,  der 
unschuldige  Genuss  der  Naturschoenheit ,  wie  sie  besonders  bei  P.  Gerhardt 
80  wolüthuend  hervortraten,  mussten  dem  Ausdruck  der  Zerknirschung  und 
dem  bald  rohen,  bald  tändelnden  Ausmalen  der  Leiden  Jesu  weichen.  Von 
der  zuletzt  genannten  Geschmacklosigkeit  ist  selbst  derjenige  nicht  frei  zu 
sprechen,  der  Spenei-s  Bestrebungen  ganz  in  das  wirkliche  Leben  einzuführen 
und  einen  kirchlich  gesellschaftlichen  Zustand  nach  Art  der  ersten  Christen- 
gemeinden wiederherzustellen  suchte:  Nicolaus  Ludwig  Graf  von  Zinzen- 
DORF,  geb.  zu  Dresden  1700,  gestorben  als  Bischof  der  von  ihm  gestifteten 
Brüdergemeinde  zu  Herrenhut  1760.'^     Bewundernswerth    ist   an    ihm   auch 


war,  8.  die  Anführnng  im  LB.  16)  Geb.   zu  Guben  1618,    Bürgermeister  daselbst   und 

Landesältester,  gest.  1677.  Seine  Teutsche  Gedichte  erschienen  1672  und  1674.  ein  Theil  als 
Geistliches  Sion  bezeichnet,  der  andere  als  Irdischer  Helicon ,  letzterer  schwülstig  und 
wertlos.  Über  Francks  Leben  s.  bes.  Jentsch  in  Neues  Lausitzisches  Magazin  LIII,  Görliz 
1877  S.  I  fgg.  17)  Hoffmann,  Spenden  z.  Litgesch.  2.  18)  Sämmtliehe  Trost-  und 

Geistreiche  Schrifften  II,  Tübingen  1740.  1744.  Die  Titel  mehrerer  kleinerer  Sammlungen 
sind  LB.  637  zu  den  daraus  entnommenen  Stücken  angeführt.  19)    Leben    des  Herrn 

N.  L.  Grafen  von  Zinzendorf .  .  beschrieben  von  A.  G.  Spangenberg  1772 — 74.  Varnhagen 
V.  Ense,  Biogr.  Denkra.  V.  Bernhard  Becker.  Zinzendorf  im  Verhältniss  zu  Philosophie  und 


§  128  SCHMOLCKE.    ZLNZENDORF.  243 

seine  litterarische  Fruchtbarkeit :  obschon  von  Jugend  auf  und  besonders  seit- 
dem er  1724  Herrenhut  gegründet,  unablässig  durch  Studien  und  durch 
äusserliche  Bemühungen  für  seine  Zwecke,  durch  Briefwechsel,  durch  Reisen 
bis  nach  America  in  Anspruch  genommen,  war  er  dennoch  auch  als  Schrift- 
steller in  beiden  Formen,  Poesie  und  Prosa  beständig  in  Thsetigkeit,  sowohl 
innerhalb  der  Gemeinde  als  ausserhalb,  um  deren  Sache  gegen  die  vielen 
Angriffe,  die  er  und  sie  erfahren  mussten,  durchzufechten.  Seinem  reichen 
Geiste  standen  zarte  Empfindung  und  majestsetischer  Schwung  gleichermassen 
zu  Gebote ,  lyrisch  -"  und  rednerisch.  Aber  die  Eilfertigkeit  hat  ihm  doch 
geschadet:  er  hat  vieles  improvisieren  müssen,  dann  auch  Andres  ebenso 
leicht  hingeworfen,  so  dass  der  Darstellung  fast  überall  die  vollendete,  ganz 
befriedigende  Durchbildung  fehlt  und  oft  die  groessten  Dinge  mit  allen  Nach- 
lässigkeiten und  selbst  in  den  Barbarismen  der  alltseghchen  Redeweise  aus- 
gedrückt werden.  So  kommt  es  auch ,  dass  er  in  seinen  Liedern  die  von 
Mystikern  und  Pietisten  übernommenen  Bilder  und  Wendungen  bis  zm*  Ein- 
toenigkeit  wiederholt  hat.  Reiner  und  weniger  in  diesen  Ausserlichkeiten 
befangen  sind  die  Lieder  ,  die  von  den  eigentlichen  Pietisten ,  von  Spener 
selbst,  von  August  Hermann  Francke,  dem  Begründer  des  Hallischen  Waisen- 
hauses, von  Johann  Anastasius  Freylinghausen  ^^  u.  a.  gedichtet  worden 
sind.  Der  reformierten  Kirche  angehoerig  vertritt  diese  pietistische  Richtung 
der  freilich  in  das  neechste  Jahrhundert  tief  hineinreichende  Gerhard  Ter- 
steegen,"  geb.  zu  Mors  1697,  Bandweber  zu  Mülheim  a.  d.  Ruhr,  und 
hier  gestorben  1769.  In  seinen  Liedern  ^^  tritt  neben  der  grossen  Tiefe  und 
Innigkeit  des  Denkens  und  Empfindens  bald  viel  Unbeholfenheit,  bald  wieder 
Künstelei  der  Form  hervor,  eines  wie  das  andere,  weil  es  ihm  an  tieferer 
wissenschaftlicher  und  htterarischer  Bildung  gebrach. 

Doch  das  mystische  Spiel  mit  der  Liebe  zwischen  Seele  und  Christus 
als  ihrem  Bräutigam,  welches  in  den  pietistischen  Liedern  vielfach  geschmack- 
los und  eintcenig  erscheint,   und   uns   noch   in  den  Dichtungen  des  Angelus 

Kirclientlium  seiner  Zeit,  Lpz.  1886.  20)  Zinzendorfs  Lieder  reichen  bis  1713  zurück; 

sie  finden  sieh  grossenteils  in  der  Sammlung  Geistlicher  und  lieblicJier  Lieder,  Lpz.  1725. 
Nicht  ganz  treu  sind  sie  wiedergegeben  in  Des  Gr.  Z.  Geistliche  Gedichte,  gesammelt  und 
gesichtet  von  Alb.  Knapp,  Stuttgart  1845.     Proben  LB.  683.  21)  Sein  Gesangbuch  ist 

§   117,    13    erwsehnt.  22)   K.    Barthel,    Tersteegens    Leben,    Bielefeld    1852.     Gerh. 

Kerlen,   G.  T.,   2.  Aufl.   Mülheim    1853.  23)   LB.    687.     Geistliches  Blumengärtlein 

Inniger  Seelen  oder  kurtze  Schlussreimen,  Betrachtungen  tmd  Lieder,  erschienen  zuerst  1729. 
Der  Name  der  Schlussreime  erinnert  an  Angelus  Silesius  (§  129),  welchem  Tersteegen  in  der 


244  NEUIIOCIIDEUTSCIIE  ZEIT.         XVII  JAlllUI.  §  129 

Silcsius  (§  129)  begegnen  wird,  sollte  sich  mit  noch  einer  noch  weniger  volks- 
majssigcn  Gelehrsamkeit  verbinden ,  mit  den  Träumen  der  Goldmiicherei, 
wie  sie  schon  J.  Btrhme  in  seine  mystische  Philosophie  aufgenommen  hatte. 
In  die  geistliche  Poesie  führte  sie  ein  Christian  Knorh  von  Rosenrotii, 
welcher  zu  Altrauden  in  Schlesien  1636  geboren,  convertierte  und  als  pfalz- 
gra?flichcr  Beamter  zu  Sulzbach  1689  starb.  Sein  Neuer  Helicon  mit  seinen 
Neun  Musen ^  d.  i.  Geistliche  Sittenlieder ^  Nürnberg  1684,  benützt  Bocthius 
und  lateinische  Hymnen  des  Mittelalters,  aber  auch  altdeutsche  und  hollän- 
dische Dichtungen;  angehängt  ist  ein  Geistliches  Lustspiel:  Die  Vermahlung 
Christi  mit  der  Seelen.'^*  Wie  aber  die  Mystik  überhaupt  auf  einer  gefaßhr- 
lichen  Grenzlinie  schwebt,  so  hat  es  auch  damals  an  solchen  nicht  gefehlt, 
die  von  ihr  aus  in  den  Abgrund  schwärmerischer  Wahnwitzigkeit  stürzten. 
So  jener  Quirinus  Kuhlmann  ,  der  sich  für  einen  Sohn  des  Sohnes  Gottes 
hielt  und  als  Kwnig  aller  Koenige  eine  neue  geistliche  Monarchie,  das  Kuhl- 
mannthum,  stiften  wollte.  Geboren  zu  Breslau  1651,  ward  er  nach  mancher- 
lei Irrfahrten  lebendig  verbrannt  zu  Moskau  1689.  Seine  zahlreichen  pro- 
saischen und  poetischen  Schriften  zeigen  die  wachsende  Verrücktheit  seines 
schwärmerischen  Ilochmuthes :  Himmlische  LiehesJcüsse  (Jehua  1671),  Neu 
begeisterter  (Jakob)  Böhme^  Leydcn  1674,  vorzüglich  aber  sein  Kühlpsalter ^ 
Amsterdam  1684 — 1688,  bei  dessen  Lesung  man  auf  seinen  Verstand  Acht 
haben  muss. 

§  129. 
Eine  zweite  Dichtungsgattung,  welche  dem  Geiste  des  siebzehnten  Jahr- 
hunderts vorzüglich  entsprach  und  vielfach,  zum  Theil  in  ausgezeichneter 
Weise  gepflegt  wurde,  war  das  Epigramm.  In  dieser  kurzen  Form  war  am 
leichtesten  den  strengen  Forderungen  der  neuen  Kunstpoesie  Genüge  zu  thun; 
die  vorwiegend  verständige  Auffassung  der  Zeit  fand  an  dem  Witze,  der 
hier  glänzte ,  ein  besonderes  Gefallen.  Kurz  und  treffend  gewichtige  Ge- 
danken auszusprechen  war  man  auch  in  den  zahlreichen  Devisen  und  AVahl- 
sprüchen  '  bestrebt  und  die  Lust  an  überraschender  Verbindung  von  Gegen- 
sätzen, welche  sich  selbst  in  der  lyrischen  und  erzählenden  Dichtung  kund 
that,  konnte  in  der  Epigrammendichtung  ihre  volle  Befriedigung  finden.  Da- 

That  Vieles  nachgeahmt  hat.  24)  Zur  Vermsehlung  Leopolds  I.  hatte  er  ein  Chemisches 
Prachtspiel  Coniugmm  Plurbi  et  Palladis  (1677)  verfasst. 

§    129.  1)    Hierfür  gibt  besonders  Harsdürfer    in    seinen    Gespraechsspielen  Beispiele. 

Auch  seine  Andachtsgeraähle,  kurze  Erläuterungen  von  Vignetten  mit  Devisen,    übertragen 


§  129  EPIGRAMM.  245 

her  begegnen  auch  in  zahh'eichen  Sammlungen  besonders  lyrischer  Gedichte 
Anhänge  mit  Epigrammen:  schon  Opitz  war  damit  hervorgetreten,  Fleming 
und  andere  folgten  ihm  nach.  Opitz  war  auch  hier  nur  Übersetzer,  und  so 
griff  man  auch  sonst  nach  den  Mustern  der  Ausländer,  selbst  orientalische 
Sprüche ,  wie  die  dos  Kalifen  Ali ,  wurden  verdeutscht.^  Ganz  besonderen 
Beifall  fanden  die  lateinischen  Epigramme  des  Engländers  Owen.  Nachdem 
schon  J.  P.  Titz  ein  deutsches  Florilegium  daraus  veranstaltet,  gab  Valentin 
LÖBER^  zu  Hamburg  1653  die  ganze  Sammlung  als  Teutschredender  Owmus 
wieder.  Löbcr  wünschte  zu  zeigen,  dass  die  deutsche  Sprache  die  angenehme 
Kürze  der  roemischen  wett  machen  könnte;  auch  lehnt  er  sich  gern  an 
deutsche  Sprichwörter  an.  Diese  Neigung  theilt  auch  der  Epigrammen- 
dichter, welcher  die  selbständige  Erfindung  auf  diesem  Gebiet  besonders 
glücklich  vertritt,  und  dessen  bleibender  Werth  mit  Recht  von  Lessing*  her- 
vorgehoben worden  ist,  wsehrend  der  Dichter  den  Zeitgenossen  wenig  bekannt, 
und  frühzeitig  so  gut  wie  vergessen  war.  Friedrich  von  Logau  war  ge- 
boren bei  Nimptscli  in  Schlesien  1604,  lebte  als  Canzleirath  am  Hofe  zu 
Brieg,  von  1654  an  zu  Liegnitz  und  starb  hier  1655.  Groessere  lehrende 
und  beschreibende  Gedichte,  wie  Opitz  sie  verfasste,  hat  man  nicht  von  ihm: 
mit  Tact  und  Glück  beschränkte  er  sich  auf  die  ihm  gemsesse  Dichtart  des 
Epigramms ,  oder  wie  er  nach  Zesens  Vorgang  es  nannte,  des  Sinngedichts. 
Daher  ward  er  1648  als  Der  Verldeinernde  in  die  Fruchtbringende  Gesell- 
schaft aufgenommen.  Eine  erste  Sammlung^  erschien  zu  Breslau  1638  unter 
dem  Titel  Zwei  hundert  teutscher  Eeimensprüche  Salomons  von  Golmv;  eine 
weit  umfangreichere  ebenda  1654  als  Scdonions  von  Golaw  deutscher  Sinn- 
getichte  drei  Tausend,  mit  den  Zugaben  sind  es  mehr  als  3500.  Schöpfte 
Logau  seine  Gedanken  fast  ausschliesslich  aus  sich  selbst,  so  gibt  er  auch 
meist  eignen  Erfahrungen  und  Stimmungen  Ausdruck:  zur  Vielseitigkeit  be- 
fsehigte  ihn  seine  Kenntniss  des  Hof-  und  Weltlcbens ;  seine  Tiefe  liegt  in 
seinem  deutschen  Gemüth,  seiner  deutschen  Tüchtigkeit  in  Dingen  des  Glau- 


diese  Neigung  nur  auf  das  geistliche  Gebiet  (§12.5,16).  2)  Von  A.  Tscherning:  Centuria 
Epigrammatum  (1641).  Auch  die  persischen  Dichtungen  des  Saadi,  welche  Olearius  ver- 
deutschte (§  126,  7)  enthalten  viel  Epigrammatisches.  3)  §  117,  18.  4)  Litteratur- 
briefe  36  und  43  fg.  F.  v.  L.  Sinngedichte:  zwölf  Bücher.  Mit  Anmerkungen  über  die 
Sprache  des  Dichters  hg.  v.  C.  W.  Ramler  und  G.  E.  Lessing,  Lpz.  1759.  5)  Neue 
kritische  Ausgabe  der  Werke  Logaus:  F.  v.  Logau,  Sämmtliche  Sinngedichte,  herausg.  von 
G.  Eituer,  Lit.  Ver.  CXIII,  Tübingen  1872.     Von  demselben  Herausgeber  eine  Auswahl  in 


24G  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVII  JAIllUI.  §  129 

bcns  und  der  Sitte.  Seiner  von  confcssioncller  Engherzigkeit  freien "  Religio- 
sitaet  gab  er  darin  ebenso  Ausdruck,  wie  der  Anliänglichkeit  an  seinen  fürst- 
lichen Herrn,  der  Verehrung  für  seine  Fürstin.  Auch  sonst  fehlt  es  nicht 
an  anmuthigcm  Preise  der  Frauen,  Aber  ebenso  stark  tritt  der  Tadel  hervor: 
obschon  durch  sein  Amt  auf  die  Gunst  des  Hofes  angewiesen,  spricht  er 
doch  unverhohlen  seine  Abneigung  gegen  die  hocfischen  Ränke,  seine  Vor- 
liebe für  den  Landbau  aus,  dessen  Verwüstung  durch  den  Krieg,  dessen 
Nioderhaltung  durch  die  Steuern  er  bitter  beklagt.  Noch  schärfer  trifft  sein 
Spott  die  moralische  Verderbniss,  die  der  Krieg  mit  sich  brachte,  der  Friede 
durch  die  nunmehr  unwiderstehlich  vordringende  franzcesische  Mode  nur  be- 
festigte. Indem  Logaus  grccssere  Sammlung  genau  nach  der  Zeitfolge  der 
Abfassung  geordnet  ist,  gibt  sie  ein  anschauUches  Bild  der  politischen  und 
litterarischen  Zustände  in  ihrer  Entwicklung,  soweit  diese  den  Dichter  selbst 
berührte.  Die  von  Opitz  festgestellten  Versregeln  beobachtete  er,  wenn  er 
sich  auch  gegen  übertriebene  Genaiugkeit  aussprach.  ^  Neben  dem  Ale- 
xandriner gebrauchte  er  auch  kürzere  Verse;  indem  er  gerade  hierin 
priamelhafte  Anreihung  der  Satzglieder  verwandte,  knüpfte  er  wieder  an 
die  ältere  Spruchdichtung  des  Volkes  an.  Enger  als  Logau  schloss  sich 
an  Opitz  Daniel  von  Czei'Kü  und  Reigersfeld,^  geb.  1G05  zu  Koschwitz 
im  Fürstenthum  Liegnitz ,  1629  Exulant,  seit  1631  aber  in  Schweidnitz, 
begütert  und  angesehn,  gest.  in  Wohlau  1660.  Seine  Gedichte  sind 
grossentheils  noch  nicht  gedruckt  ,^  die  gedruckten  z.  Th.  Gelegenheits- 
gedichte,  wie  selbst  sein  Drama  Pierie  1636,^*'  das  erste  nach  den  von 
Opitz  empfohlenen  Lehren  gedichtete ,  mit  Choeren  imd  eingemischten 
Dialectscenen.  Czepkos  Bede  aus  seinem  Grabe  veröffentlichte  Gryphius,  der 
sich  seinen  Schwager  nennt,  in  den  KirchhofsgedanJcen.  Das  Sententioese  in 
Czepkos  Dichtart  wies  ihn  auf  die  epigrammatische  Form,  und  diese  hat  er  selbst 
Liebesgedichten  gegeben.  Er  nennt  seine  Gedichte  in  dieser  Form  Einfälle  ohne 
Nachdenken,  nach  Art  der  griechischen  Epigramme.  1655  dichtete  er  Sexcenta 
monosticha  sapientum,  welche  seine  Neigung  zur  Mystik  erkennen  lassen.'^    So 

den  Deutschen  Dichtern  des  17.  Jhs.,  3.  Bd.  Lpz.  1870.  LB.  465.  6)  LB.  473,  38.  7)  2, 
8,  70  .  .  Das  lang  für  kurtz,  für  lang  Das  kurtz,  das  glaub  ich  wol,  zu  Zeiten  schlich  und 
sprang  .  Zu  Zeiten  satzt'  ich  icas  im  Kummer,  was  in  Eile  .  .  .  Wann  nur  der  Sinn  recht 
fällt,  100  nur  die  Meimmg  recht,  So  sey  der  Sinn  der  Herr,  so  sei  der  Beim  der  Knecht. 
8)  Vgl.  über  ihn  besonders:  Hoffmann,  Weim.  Jb.  2,  283  fg.  Palm,  Beiträge  z.  Gesch.  d. 
d.  Litt.,  Breslau  1877  S.  261  fg.  ReifFerscheid  Quellen  S.  764.  9)  Der  Nachläse  befindet 
sich  in  Breslau.  10)  Vgl.  Palm,  Schles.  Prov.  Bl.  1867.  11)  Darauf  wies  zuerst  hin 


§  129  LOGAU.     SCHEFFLER.  247 

bereitet  er  auf  den  mystischen  Epigrammatiker  vor,  dessen  Ruhm  durch  F. 
V.  Schlegel  erneuert  und  seitdem  viel  gepriesen  worden  ist.  Angelas  Silesitis 
ist  der  Dichtername ,  den  sich  Johann  Scueffler  '^  zulegte ,  auch  er  ein 
Schlesier,  geb.  zu  Breslau  1G24;  auch  er  ursprüngUch  Protestant.  Allein 
durch  Abraham  von  Franckenberg /^  dem  auch  Czepko  befreundet  war, 
wurde  er  zur  Mystik  geführt  und  trat  1653  zur  kathoHschen  Kirche ,  in 
welcher  er  göttliche  Beschaulichkeit  nicht  wie  dort  geschmseht  und  verfolgt, 
sondern  gefördert  zu  sehn  glaubte.  Er  starb  1677  im  Mathiasstift  zu  Bres- 
lau, nachdem  er  in  einer  Reihe  von  Streitschriften  ^*  seine  früheren  Glaubens- 
genossen heftig  bekämpft  hatte.  So  sehr  dieser  Fanatismus  mit  dem  pan- 
theistischeu  Quietismus  des  Angelus  Silesius  in  Widerspruch  zu  stehn  scheint,^'' 
80  ist  doch  auch  in  seiner  poetischen  Entwicklung  ein  verwandter  Zug  nach- 
zuweisen. Zuerst  mit  jugendlichen  Gelegenheitsgedichten  '^  neben  A.  Scultetus 
(§  127)  aufgetreten,  liess  er  seine  beiden  Hauptwerke  1657  erscheinen:  Hei- 
lige Seelen-Lust  oder  geistliche  Ilirtenlieder  der  in  ihren  Jesum  verliehten 
Psyche  (Breslau)  und  Geistreiche  Sinn-  und  Schlussreime  (Wien) ,  letztere 
nochmals  als  CheruMnischer  Wandersmann  und  um  ein  sechstes  Buch  ver- 
mehrt, Glatz  1674.^^  Die  Lieder  zeichnen  sich  unter  den  mystischen  Jesus- 
liedern des  ganzen  Zeitraums  durch  Zartheit  und  Feuer  der  Empfindung, 
durch  Reinheit  und  Fluss  der  Form  aus  und  sie  sind  namentlich  durch  die 
Pietisten  auch  in  die  protestantischen  ^^  Gesangbücher  gekommen.  Eigen- 
thümlicher  noch  ist  der  Cherubinische  Wandersmann :  ^^  eine  Reihe  von  Reim- 
sprüchen in  meist  paarweise  verbundenen  Alexandrinern  mit  Überschriften, 
ohne  System,    vielmehr  wohl  so  geordnet,    wie  sie  dem  Dichter  in  den  Sinn 

Kahlert  in  der  Anm.  12  genannten  Schrift,  S.  56.  12)  Über  sein  Leben  s.  besonders 

August  Kahlert,  Angelus  Silesius,  Breslau  1853 :  wozu  Lindemann,  A.  S.  (J.  Seh.)  Freiburg 
1876,  Einiges  nachträgt.  13)  Franckenberg  hat  für  die  Sammlung  der  "Werke  J.  Böhmes 
von  Betke  (§  110,  38)  das  Material  vorbereitet.  14)  Er  hat  sie  in  seiner  Ecdesiologia, 

Neisse   und    Glatz    1677    gesammelt.  15)    Dieser    Widerspruch    hat   Anlass    gegeben 

dass  W.  Schrader,  A.  S.  und  seine  Mystik,  Halle  1853,  Angelus  und  Scheffler  für  zwei 
verschiedene  Personen  hat  erklären  wollen.  16)  Hierüber  s.  Hoffmann  v.  Fallersleben, 

Weim.  Jb.  1,  267  fgg.  17)  Von   den   späteren  Ausgaben   des  Ch.  W.  empfiehlt  sich 

die  Sulzba'ch  1829  (oder  nach  dem  Exemplar  der  Strassburger  Bibliothek,  München  1827) 
erschienene,  weniger  die  in  der  Gesammtausgabe  der  poet.  Werke  von  Rosenthal,  Regensburg 
1862  befindliche.     Aus   der  Seelenlust   und    dem    Ch.  W.  Proben  LB.  533.  18)  Vgl. 

auch  §  128,  23.  Das  Marienlied  LB.  538  vertritt  allerdings  den  katholischen  Standpunkt. 
19)  Den  Beinamen  erklärt  die  Vorrede  zur  2.  Ausgabe:  Wenn  du  (Leser)  bald  ivie  ein 
Seraphin  von  himtnlischer  Liebe  brennest,  bald  wie  ein  Clierubin  mit  unvenvandten  Augen 


248  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVH  JAHKH.  §  130 

kamen,  l'ührcn  die  Lehre  aus,  dass  der  Mensch  zu  Gott  komme,  ja  Gott 
selbst  werde  ,  wenn  er  nur  seinen  Eigenwillen  völlig  aufgebe.  Auch  hier 
wieder  eine  wunderbare  Beherrschung  der  Sprache,  die  kühnsten  Gedanken 
in  einfachem,  durchsichtigem  Ausdruck.  Angelus  erneuert  die  Sätze  Meister 
Eckharts,  den  er  indessen  nur  unter  Taulers  Namen  kennt,  weil  in  dessen 
Predigten  die  Tractatc  jenes  Aufnahme  gefunden  hatten. ■'''  In  der  spscteren 
Ausgabe  sucht  Angelus  das  kirchlich  Anstössige  hinweg  zu  erklären.  Zu- 
gleich wendet  er  sich  mit  der  Sinnlichen  Betrachtung  der  vier  letzten  Dinge^^ 
an  die  niedrigen  Gemüter  ^"^'^  bei  denen  er  durch  Schilderungen  und  Vor- 
stellungen Eindruck  machen  will,  welche  er  früher  weit  von  sich  gewiesen 
hatte.  Von  dem  hohen  Fluge  in  das  Gebiet  der  Theosophie  kehrte  das 
Epigramm  wieder  zu  weltlichen  Beobachtungen  zurück.  Recht  derb  tritt  es 
auf  bei  dem  Schweizer  Johann  Gkou  ,  w^elcher  1643  zu  Enzcnschwyl  im 
Canton  St.  Gallen  geboren ,  nach  Kriegsdiensten  und  Reisen  in  angesehner 
Stellung  zu  Herisau  1697  starb.  Seine  Dichterische  Vcrsuchgahe  .  .  in  Teut- 
schen  und  Lateinischen  Aufschriften ,  Wie  auch  etlichen  Stinimgedichtcn  und 
Liedcren  erschien  Basel  1678;"  ein  unter  dem  Namen  Reinholds  von  Freicn- 
tahl  veröffentlichtes  Poetisches  Spazierwüldlein^  bestehend  in  vielerhand  Ehren- 
Lchr-  Scherz-  und  Sfrafgedichte^i  1700.  Indem  der  Dichter  besonders  die 
schlechten  Gelcgcnheitsdichter,  die  Pritschtneistcr  verspottet,  führt  er  zu  der 
litterarischen  Kritik  über,  welche  in  Wernikes  Epigrammen,  etwa  gleichzeitig 
mit  der  zuletzt  genannten  Sammlung  hervortreten  sollte  (§  136). 

§  130. 
Nach  der  Poetik  des  17.  Jahrhunderts*  war  mit  dem  Epigramm  innig 
verwandt  die  Satire ,  so  wenig  in  der  wirklichen  Dichtung  dieser  Zeit  das 
satirische  Epigramm  vor  dem  betrachtenden  den  Vorrang  besitzt.  Die  Kunst- 
poesie hat  ihr  Augenmerk  auf  das  Schoene,  das  Erhabene  oder  Liebliche 
gerichtet;  für  das  Characteristische  fehlt  ihr  leicht  der  scharfe  treffende  Aus- 
druck. Wo  sich  Spott  und  Hohn  vollauf  geltend  machen  wollen,  da  waehlen 
sie  entweder  die  prosaische  Form  (§  131)  oder  sie  greifen  zur  Mundart,  die 
auch  vor  dem  Gemeinen,  wenn  es  nur  Eindruck  macht,    nicht  zurückscheut. 

Gott  anschauest.  20)  Franz  Kern,  J.  Schefflers  Cherubinischer  Wandersmann.  Lpz.  186G. 
21)  Schweidnitz  1675.  doch  muss  schon  früher  eine  Ausgabe  erschienen  sein.  Die  zu  Glatz 
1689  erschienene  ändert  nngeschirkt  Sinnreiche  Betrachtung :  Kahlert  S.  73.  22)  Linde- 
mann  S.  162.  23)  Daraus  die  Proben  LB.  601  fgg. 

§   130.  1)  Opitz,  Poeterey  V  sagt,   dass  die  Satyra  ein  lang  Epigramma,  vnd  das 


§  130  SATIRE.  249 

Besonders  lieftig  äussert  sich  in  dieser  Weise  eine  Frau,  die  durch  religioose 
Sectirerei  sich  in  Gegensatz  gegen  ihre  ganze  Umgebung  setzte.  Anna 
OwENA  HoYERS,'^  gcb.  1584  zu  Coldenbüttel  in  Schleswig,  verlor  im  Hader 
mit  der  Geistlichkeit  ihr  Vermoegen  und  starb  1655  in  Schweden,  wo  sie 
1632  den  Schutz  der  Kcenigin  gefunden  hatte.  Ihre  Gedichte,  1650  zu 
Amsterdam  erschienen,  sind  kunstlos,  aber  kräftig  in  ihrer  rehgioescn  Zuver- 
sicht. Gegen  ihre  geistlichen  Gegner  richtete  sie  1630  Be  denische  Dörp- 
Pape,  die  derbe  Schilderung  eines  Bauerngelags,  an  welchem  die  Dorfpfarrer 
selbst  Theil  nehmen.'  Massvoller,  milder,  spasshafter  ist  die  Ironie  des  vor- 
züglichsten Satirikers,  den  dies  Jahrhundert  und  den  Niederdeutschland  her- 
vorgebracht hat.  Johann  Lauremberg  war  geboren  1590  zu  Rostock  und 
starb  als  Professor  der  Mathematik  zu  Soröe  in  Dsenemark  1658.  Mit  nieder- 
deutscher Dichtung  trat  er  zuerst  1634  hervor,  indem  er  in  zwei  bei  einer 
fürsthchen  Hochzeit  aufgeführte  Comoedien^  plattdeutsche  Bauernscenen  ein- 
schaltete. Weit  verbreitetes  Ansehn  gewannen  dagegen  Laurembergs  vier 
Satiren ,  Veer  Scherte  Gedichte ,  welche  zuerst  1652  erschienen,  öfter,  seit 
1700  als  De  veer  olde  heröhmede  Schertz- Gedichte  wiederholt  worden  sind.'* 
Die  drei  ersten  beschäftigen  sich  mit  den  Thorheiten  der  Mode,  welche  im 
II.  Gedichte  noch  besonders  an  der  Kleidertracht,  im  III.  an  Sprache  und 
Titeln  aufgezeigt  werden.  Einem  sehnlichen  Gegenstand  hatte  Lauremberg 
schon  1630  eine  lateinische  Satyra  gewidmet  ,'^  dem  verderbhchen  Einfluss, 
welchen  die  franzoesische  Sitte  auf  die  akademische  Jugend  ausübte.  In  den 
niederdeutschen  Gedichten  tritt  natürlich  die  Komik  handgreiflicher  auf  und 
spricht  auch  das  Anstoessigste  offen  aus  :  nur  dass  dui'ch  schalkhafte  Über- 
treibung, durch  sorglose,  oft  überraschende  Folge  der  Gedanken  die  Laune 
des  Dichters    sich    kundgibt    und   dem  Leser  mittheilt.     Es  fehlt  auch  nicht 

Epigramma    eine    kurtze   Satyra   ist.  2)  Erich    Schmidt,    Charakteristiken,    S.   85 

fgg.  3)    Abdruck    von    Paul    Schütze:     Zeitschrift  f.    schleswig-holstein.    Geschichte 

1885,  243  fgg.  Die  Form  ist  strophisch:  die  Reden  der  Personen  selbst  werden  wieder- 
gegeben, 4)  Gedruckt  im  Triumphus  nuptialis,  1648.  Die  plattdeutschen  Scenen 
sind  wiederholt  worden  im  Jahrbuch  für  niederdeutsche  Sprachforschung  für  1877 
(Bremen  1878)  S.  91  fgg.  Jahrg.  1887  (1888)  S.  45  fgg.  5)  Kritische  Ausgabe  von 
J.  M.  Lappenberg,  Lit.  Ver.  LVIII,  Stuttg.  1861;  Neudruck  mit  Einleitung,  Anmerkungen 
und  Glossar  von  W.  Braune.  Halle  1879.  Hier  ist  auch  auf  die  Vorgänger  in  der  sprach- 
lichen Erklaerung,  E.  Müller  (Cöthen  1870)  und  Fr.  Latendorf,  Germ.  19  und  21,  sowie 
Rostock  1875,  Bezug  genommen.  Auf  dem  Titel  der  Originalausgabe  bezeichnet  sich  der 
Dichter  als  Hans  WiUmsen  L.  Rost,,  wobei  Willmsen  auf  den  Vornamen  seines  Vaters 
Wilhelm  hinweist,  Rost,  als  Rostochiensis  zu  ergänzen  ist.  6)  Bei  Lappenberg  S.  79. 


250  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVII  JAIIRII.  §  130 

an  Äusserungen  des  Geniütlis,  insbesondere  wenn  der  Dichter  sich  wchmüthig 
der  Jugendzeit  erinnert.  Für  die  Litteraturgeschichte  von  besonderer  Wich- 
tigkeit ist  die  vierte  Satire,  welche  den  bettelhaften  Gelegcnheitspoeten  schil- 
dert und  den  Gebrauch  des  Niederdeutschen  rechtfertigt/  mit  welchem  zu- 
gleich die  nachlässige  Versbildung  —  Alexandriner  vermischt  mit  alterthüm- 
lichen  vierhebigen  Versen  —  nahe  zusammenhängt.  Laurcmberg  schloas  sich 
damit  an  die  ältere  mundartliche  Dichtung  an,  er  reizte  auch  zur  Nach- 
ahmung: namentlich  für  Ilochzeitsgedichte  blieb  diese  Form  weit  häufiger 
in  Gebrauch,  als  es  jetzt  moeglich  ist  dies  nachzuweisen.^  Für  die  eigent- 
liche Satire  jedoch  wich  auch  in  diesem  Betracht  der  gefeiertste  Nachfolger 
Laurembergs  von  ihm  ab :  Joachim  Rachel,  1618  zu  Lunden  in  Ditmarschen 
geboren,  gestorben  1669  als  Rector  der  Domschule  zu  Schleswig.^  Er  be- 
gründete die  kunstmajssige,  gelehrte,  hochdeutsche  Satire,  deren  Wesen  er 
in  der  letzten  seiner  acht  Satiren, '°  Der  Poet,  auseinandersetzte.  Gleich- 
ma^ssig  verwirft  er  die  ungelehrte  Dichtung  wie  die  puristischen  Umschrei- 
bungen Zesens;  gegen  die  dichtenden  Frauen  eifert  er  ebenso  wie  der  von 
ihm  gepriesene  Rist.  Die  Frauen  zu  schmaehlen  oder  doch  nur  bedingt  zu 
loben  ist  der  Zweck  seiner  drei  ersten  Satiren,  welche  als  Hochzeitsgedichte 
vorgetragen  worden  sind.  Tritt  schon  in  diesen  Gedichten  die  gelehrte  An- 
spielung anspruchsvoll  hervor,  so  hat  er  geradezu  aus  Juvenal  und  Persius 
den  Stoff  für  die  IV. — VI.  Satire'^  entnommen.  Am  meisten  Lebenswahrheit 
besitzt  die  VII.  Der  Freund,  worin  das  akademische  Leben,  für  jene  Zeit 
der  einzige  Zufluchtsort  einer  glücklichen,  oft  freilich  missbrauchten  Freiheit, 
treffend,  wenn  auch  nüchtern  geschildert  ist.  Noch  kühler,  noch  mehr  nach 
fremdem  Vorbild  gestaltete  sich  die  Satire    um  die  Wende  des  Jahrhunderts 


7)  In  der  That  ist  eine  hochdeutsche  Übersetzung  der  Scherzgedichte  von  Constantin 
Christian  Dedekixd  in  Dresden  1654.  der  dabei  Zesensche  Grundsätze  befolgte,  übel 
genug  gerathen.  Eine  dänische  Übersetzung  war  schon  1652  dem  Original  unmittelbar 
gefolgt.  8)  ifehrere  Stücke,   zwei    älter  als  Laurembergs  Scherzgedichte,    hat  Lappen- 

berg  als    zweiten    Anhang    seiner    Ausgabe    wieder    abgedruckt.  9)    S.    zuletzt    Aug. 

Sach ,  J.  R.  ein  Dichter  und  Schulmann  des  17.  Jhs. ,  Schleswig  1869.  Hier  auch  ein 
Hochzeitslied  in  der    Mundart  von   R.,    welches   lange   erhalten  blieb.  10)  Die  ersten 

sechs  erschienen  als  Tetitsche  Satyrische  Gedichte,  zuerst  Frankfurt  1664 ;  die  beiden  letzten 
Kopenhagen  1666.  Eine  Gesammtausgabe ,  Stralson  1668 ,  fügte  zwei  untergeschobene 
Satiren  hinzu,  von  denen  die  eine,  Jungfern-Anatomie  ihre  etwas  bedenklichen  Scherze 
z.  Th.    Leipziger  Dichtern    (§  126)    entlehnt.  H)    Die    IV,  'Kinder Zucht"   ist  LB.  569 

wieder  abgedruckt. 


§  131  SATIRISCHE  PROSA.  251 

in  den  Händen  der  Hofdichter,    von  denen  Canitz  die  erste  Stelle  behauptet 

(§  136). 

§  131- 
Die  satirische  Prosa  des  siebzehnten  Jahrhunderts,    welche  einen  viel 

breiteren  Raum  einnimmt  als  die  Satire  in  Gedichtform,  vereinigt  Erzsehlung 
und  Betrachtung,  so  dass  man  oft  zweifelhaft  sein  kann,  ob  ihre  Werke  als 
Romane,  Novellen,  Anecdotensammlungen  zu  bezeichnen  sind  oder  als  Abhand- 
lungen und  namentlich  Predigten.  Denn  als  letztere  sind  sie  allerdings  viel- 
fach vorgetragen  worden,  und  es  soll  nur  ein  Anpassen  an  das  Unterhaltungs- 
bedürfniss  der  Zuhcerer  und  Leser  sein ,  wenn  der  Sittenlehrer  durch 
Geschichten  oft  komischer  Art  Aufmerksamkeit  auch  für  seine  ernsten 
Mahnungen  zu  gewinnen  sucht.  Diese  eigenthümlich  gemischte  Litteratur- 
gattung  übernahmen  die  Deutschen  vom  Ausland,  von  den  Spaniern,  welche 
ebenso  Ernst  und  Komik  zu  verbinden  suchten.  In  Deutschland  ward  eine 
grosse  Anzahl  solcher  Schriften  in  freier  Übersetzung  und  Bearbeitung  be- 
kannt durch  Aegidius  Albeetinus,^  der  zu  Deventer  1560  geboren,  1620 
als  fürstlicher  Secretär  in  München  starb  und  zuerst  1594  mit  dieser  Schrift- 
stellerei  hervortrat.  Unter  seinen  Gewsehrsmännern  nimmt  der  Hofprediger 
Karls  V.,  Antonius  de  Guevara  eine  der  ersten  Stellen  ein.  Aber  auch  den 
von  Spaniern  aufgebrachten  Schelmenroman  führte  Albertinus  durch  eine 
solche  Bearbeitung  in  Deutschland  ein  (§  134).  Schrieb  Albertinus  im  Sinne 
der  Jesuiten  und  selbst  in  der  Form  ungelehrt  und  mundartlich,  so  knüpfte 
ein  anderer,  von  den  Zeitgenossen  hochangesehner  Schriftsteller  an  ein  spa- 
nisches Vorbild  an,  um  deutsche  Gesinnung  zu  verbreiten  und  in  den  Stür- 
men der  Zeit  aufrecht  zu  halten.  Johann  Michael  Moscherosch  war  ge- 
boren zu  Wilstädt  gegenüber  von  Strassburg  1601  ,  stand  seit  1626  als 
Erzieher  oder  Amtmann  im  Dienste  vornehmer  Herren  in  Lothringen,  lebte 
von  1642  bis  1656  als  Beamter  meist  in  Strassburg,  spseter  in  Hanau  und 
Cassel,  und  starb  1669  auf  einer  Reise  zu  "Worms. ^  Moscherosch  stammte 
selbst    aus    Spanien ,    seine  Mutter    aus  Daenemark;    zum    guten   Deutschen 

§  131.  1)  Verzeicliniss  von  51  Schriften  in  Aeg.  Albertinus,  Lucifers  Königreich  und  Seelen- 
gejaidt  hg.  v.  R.  Freih.  v.  Liliencron.  Berlin  und  Stuttgart  o.  J.  (Kürschners  Xat.  Litt.).  2)  Die 
in  der  Leichenpredigt  von  Meigener,  Frankf.  a.  M.  1669  gegebenen  Notizen  vervollständigte  z.  Th. 
aus  Familienpapieren  H.  Dittmar  in  einer  Ausgabe  der  Gesichte,  Berlin  1830;  s.  auch  die  Allg. 
D.  Biogr.  (Muncker).  C.  A.  Scholtze,  Phil,  v.  Sittewald,  Progr.  Chemnitz  1877.  Briefe  von  M. 
sind  bei  Wirth  (Anm.  7)  und  in  Zs.  f.  d.  Philol.  21,  184  sowie  in  Reifferscheids  Quellen  ver- 
öffentlicht.   Über  eine  Art  Tagebuch  mit  dem  Titel  Patientia  s.  Herrigs  Archiv  1854  S.  353. 


252  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVTI  JAHRH.  §  131 

machte  ihn  seine  protestantische  Überzeugung.  Von  den  Greueln  des  Kriegs 
selbst  schmerzlich  berührt,  wollte  er  vor  allem  durch  fromme,  deutsche  Ju- 
genderziehung für  die  Zukunft  wirken.  Zunäclist  für  seine  eigenen  Kinder 
bestimmte  er  seine  Insomnis  cnra  parentum^  Christliches  Vurmächtniss  oder 
Schuldige  Vorsorg  eines  freuen  Vatters,  Strassburg  1643:^  er  hatte  es  unter 
beständiger  Todesgefahr  als  Amtmann  zu  Vinstingen  1641  verfasst.  Gleich- 
zeitig^ arbeitete  er  die  Schriften  aus,  welche  ihn  erst  berühmt  gemacht''  und 
ihm  1645  die  Aufnahme  in  die  Fruchtbringende  Gesellschaft  als  der  Träu- 
mende verschafft  haben,  seine  Wunderliche  und  ivarhajfüge  Gesichte  Phi- 
landeis  von  Sifteivald,^  d.  i.  Straff-Schrifften  H.  M.  Mosrherosch,  zuerst  mit 
dem  Titel  Visiones  de  Don  de  Quevcdo,  nach  dem  spanischen  Original,  wel- 
ches Moscherosch  indessen  erst  durch  eine  franzoesische  Übersetzung  kennen 
gelernt  hatte.  ^  Zuerst  einzeln  erschienen,  wurden  die  ersten  sieben  sptetestcns 
1642  gesammelt,  und  allmählich  mit  sieben  selbsterfundenen  vermehrt  bis 
1650.^^  Inzwischen  waren  Nachdrucke  z.  Th.  mit  unechten  Gesichten  auf- 
getreten, welche  Räuber-  und  Gespenstergeschichten  mit  politischen  Betrach- 
tungen vermengten  und  selbst  in  ihrer  ungelchrten  Darstcllungsweisc  von 
Moscheroschs  Schreibart  abwichen.  Denn  selbst  die  seinem  Vorbild  ent- 
nommenen Gesichte  hatte  er  mit  zahlreichen  Zusätzen,  namentlich  mit  dich- 
terischen Belegstellen  ^  aus  der  roemischen  und  den  modernen  Litteraturen 
aufgeputzt;  und  durchweg  auf  persoenliche  Erlebnisse  bezogen.'**  Noch  mehr 
ist  dies  letztere  der  Fall   in  den  selbsterfundenen  Gesichten,    von  denen  ins- 


3)  Wiederholt  1647,  1653  und  1678.  Bearbeitung  von  Dittniar,  Frankfurt  1833.  Vgl.  auch 
Max  Nickels,  H.  M.  Moscheroch  als  Pädagog.  Diss.  Leipzig  1883.  Mehrere  andere  Schriften 
von  Moscherosch  beziehen  sich  auf  adlige  Ei-ziehung.  4)  In  den  Gesichten  finden  sich 

die  Data  1640  (Todtenheer),  1641  (Ala  Mode  Kehrauss  und  Podagram").  1642  (Soldatenleben). 
In  Ala  Mode  Kehrauss  sagt  M.,  er  habe  die  (resichte  nach  Quevedo  2  Jahre  früher  geschrieben, 
also  1639.  5)  Unbedeutend  sind  die  lateinischen  Epigramme,    gesammelt  Frankf.  1665, 

und  die  deutschen  Gelegenheitsgedichte,  worüber  Erich  Schmidt,  Zs.  f.  d.  A.  23,  71  fgg. 
Moscherosch  war  mit  Rumpier  befreundet  (§  122,  26)  und  suchte  Weckherlins  Verdienste 
um  die  deutsche  Dichtung  gegen  Opitz'  Ruhm  geltend  zu  machen  (§  122.  21).  An  Zincgrefs 
Apophthegmeu  hatte  er  mitgearbeitet.  Über  deu  ihm  zugeschriebenen  Sprachverderber  s. 
§  114,  4.  6)  Durch  Buchstabenversetzung  für  Wilstädt.  7)  Durch  die   Visions  . . 

par  le  siettr  de  /a  Gen^sfe  1633  u.  ö. ;  das  Original  (1631)  hatte  den  Titel  ÄMf/Io.s.  Joh.  Wirth, 
Moscheroschs  Gesichte  Ph.  v.  S.  Verhältniss  der  Ausgaben  zu  einander  und  zur  Quelle. 
Erlangen  1887  (Diss.).  SeufFert  Anz.  f.  d.  Alt.  XIV,  96.  8)  Letzte  Ausgabe  1677.  9)  Deren 
Ungenauigkeit  rügt  Bobertag  in  der  Vorrede  zu  seiner  Auswahl  (^Kürschners  Xat.  Litt.)  S.  XLX. 
Eine  neue  Ausgabe  der  Gesichte  war  von  Dittmar  begonnen  worden  (Anra.  2).         10)  Vgl.  LB. 


§  131  MOSCIIEROSCIL     SCHUPPIUS.  253 

besondere  das  Soldatenlehen  ein  furchtbares  Bild  der  Ausschreitungen  des 
Krieges  gibt,  waehrcnd  Alumode  Kehrauss  die  Entartung  der  Deutschen  und 
ihre  Nachäfferei  fremder  Thorheiten  verspottet.''  Vor  allem  die  Gedanken 
der  letztgenannten  Satire  haben  weiter  gewirkt,  auch  bei  den  katholischen 
Sclu'iftstellern.  '^  Hoffnungsfreudiger ,  lebenskräftiger  ist  das  Streben  eines 
wenig  jüngeren  Satirikers,  der  freilich  auch  Gleichschweres  nicht  erlebt  hatte. 
Johann  Balthasar  Schuppius '^  war  geboren  zu  Giessen  1610,  war  in  Mar- 
burg Professor  1635 — 1646,  dann  hessischer  Hofprediger,  hielt  1648  die  erste 
Friedenspredigt  zu  Münster,  und  lebte  1649 — 1661  als  Prediger  zu  Hamburg.** 
Diese  letzte  Stellung  gab  ihm  Yeranlassung,  mit  deutschen  Schriften  hervor- 
zutreten, welche  zu  Hanau  1663  gesammelt  erschienen;  '^  darunter  die  ein- 
zige vollständig  von  ihm  herausgegebene  Predigt:  Gedenic  daran  Hamburg, 
1656.'^  Seine  auf  das  wirkliche  Leben  gerichtete,  ebenso  ungescheut  Laster 
und  Missbrauch  strafende,  als  durch  Erzaehlungen,  meist  von  selbst  Erlebtem, 
gewürzte  Predigtweise  zog  ihm  die  Feindseligkeit  seiner  Amtsgenossen  zu; 
mit  den  Universitatsprofessoren  verdarb  er  es  durch  seine  Hinweise  auf  die 
Übelstände  der  akademischen  Einrichtungen.  Gegen  die  Anklagen,  welche 
laut  wurden,   wehrte  er  sich  in  freilich  rücksichtsloser  Weise.'''     Erfreulicher 

651  fgg.  11)  Als  Richter  erscheinen  hier  altdeutsche  Helden :  Hermann,  Ariovist  u.  a., 

welche  auf  Schloss  Geroldseck  im  AVasichen  verborgen  fortleben.  Damit  ist  die  Ruine  bei 
Zabern  gemeint;  aber  zugleich  an  das  gleichnamige  Schloss  bei  Vinstingen  an  der  Saar 
gedacht,  da  die  Aussicht   auf  diesen  Fluss    öfters   erwaehnt  wird.  12)  Vgl.  Schnüffis 

§  123,  22  und  unten  Anni.  19;  über  Abraham  a  S.  Clara  s.  Karajan  S.  113;  über  AVeise, 
§  135,  8.  Balthasar  Kindermann,  der  unter  dem  Namen  Kurandor  in  Rists  Orden 
aufgenommen  ward,  geb.  1636  zu  Zittau,  gest.  als  Prediger  zu  Magdebui-g  1706,  gab  1651 
den  Schoristen-Teufel  heraus,  welcher  in  zwei  Gesichten  die  Höllenqualen  schildert,  die  den 
Verfechtern  des  Pennalismus  drohen.  13)  Deutsch  nannte  er  sich.  Schup2^e  und  Schupp: 
Schriften   (1663)    S.  592.  609.  14)    Alexander  Vial,    J.  B.  S.  ein  A'orläufer    Speners, 

Mainz  1857.  Ernst  Oelze,  B.  S.  Ein  Beitrag  zur  Gesch.  des  christl.  Lebens  in  der  ersten 
Hälfte  des  17.  Jhs.,  Hamburg  (Vorwort  von  1862).  K.  E.  Bloch,  J.  B.  S.  (Progr.)  Berlin 
1863.  M.  Weicker,  J.  B.  S.  in  seinem  Verhältniss  zur  Pädagogik  des  17.  Jhs.  (Progr.), 
Weissenfels  1874.     C.  Hentschel,  J.  B.  S.  (Progr.)  Döbeln  1876.  15)  Neue  Auflagen  zu 

Fraulvfurt  a.  M.,  die  letzte  1719.  Inzwischen  waren  aus  dem  Nachlass  von  seinen  Soehuen  noch 
mehrere,  aber  minderwerthige  Schriften  herausgegeben  worden;  in  die  Schriften  nahmen  sie 
den  Fahulhnnss  auf,  eine  AViederholung  der  §  99,  30  angeführten  Predigt  des  Mathesius,  um  damit 
die  Vorwürfe  gegen  Schuppes  Predigtweise  durch  das  Beispiel  Luthers  zu  widerlegen.  16)  LB. 
3,  697.  Neudruck  des  Tractats  Z)er  jPrewnfZ  in  der  Not,  nach  der  ersten  Ausgabe  1657,  Halle 
1878.  Der  Tractat  ist  für  einen  zur  Üniversittet  ziehenden  Sohu  bestimmt.  Eiuzelue  Tractate 
Schuppes  sind  in  das  Holländische  und  Dänische  (Schriften  S.  645)  übersetzt  worden.         17)  LB. 

Wackernagel,  Litter.  Gescliichte.  II.  1« 


254  NEUJIOGIIDEUTSCIIE  ZEIT.  XVII  JAIIKII.  §  131 

sind  die  allgcmoinen  Betrachtungen  über  deutsche  Dichtung  und  Bildung,  die 
cv  im  Teiitschen  Lehrmeister,  einem  angeblichen  Gespraich  zwischen  Antenor 
(dies  war  sein  Schriftstcllernamc)  und  Diiphnis  aus  Oimbrien  (Rist)  vortrug.'** 
Er  verwirft  ebenso  die  Sprachmcngerei  wie  den  übertriebenen  Purismus ;  er 
wünscht  deutschen  Unterricht  und  Unterricht  im  Deutschen  auch  für  die 
Universitäten,  wie  schon  sein  Schwiegervater  Ilclvicus  (§  114,  13).  Er  be- 
ruft sich  auf  Müschcrosch,'-'  nennt  aber  als  Vorbild  besonders  den  Italiener 
Trajanus  Boccalini  und  dessen  Uckitiones  ex  Famas.so.  Schuppes  Schrift- 
stellerei  ward  dann  von  Christian  Weise  (§  135)  und  weniger  der  Form 
nach  als  in  Bezug  auf  das  erstrebte  Ziel,  von  Thomasius  (§  138)  fortgesetzt. 
Am  najchstcn  aber  tritt  zu  Schuppius  ein  katholischer  Prediger  heran ,  der 
Augustiner  Abraham  a  S.  Clara.  So  der  Ordensname;  sein  bürgerlicher  war 
Uluech  Meoerle  oder  Megeulin.  Geboren  zu  Krecnhcinstetten  bei  Mess- 
kirch 1G44,  trat  er  1662  ins  Kloster  und  wirkte  mit  allseitigem  Bcifalle  als 
Prediger  zu  Wien  (1682—1689  zu  Graz)  bis  zu  seinem  Tode  1709.''"  Seine 
Predigten  gab  er  zuerst  auf  besonderen  Anlass  in  den  Druck:  1673  Astria- 
CKS  Austriacus,  auf  den  Markgrafen  Leopold,  dann  mehrere  auf  die  Pest  des 
J.  1679  bezügliche  (MercJcs  Wiemi  1679 ,  Lösch  Wienn  1680  u.  a.) ,  die 
Anmahnuug  zum  Türkenkrieg  (Auff<,  ft«//',  ihr  Christen!  1683),^'  woraus 
Schiller  für  die  Kapuzinerpredigt  in  Wallensteins  Lager  geschöpft  hat ,  die 
Empfehlung  des  Wallfahrtsortes  Taxa  in  Bayern,  wo  Abraham  als  Prediger 
gewirkt  hatte  (Gack,  Gaclc,  GacJc,  Gack  a  Ga  Einer  Wimderseltzamen  Hennen 
München  1685).  Eine  Sammlung  solcher  Predigten  erschien  Salzburg  1684 
u.  ö.  unter  dem  Titel  Beimh  dich  oder  ich  liss  dich.  Von  den  spicteren 
Schriften,  die  theilweise  noch  aus  seinem  Nachlasse  herausgegeben  worden 
sind,--   nimmt  Judas  der  Erzschelm.,-'^  zu  Salzburg  1686 — 1695  in  vier  Bän- 


73;")  fgg.  Auch  die  Abschweifuugen  und  Wiederholungen  der  Tractate  Schuppes  sind  nicht 
zu  loben.  Ein  Beispiel  für  die  letzteren  s.  Anni.  27.  18)  LB.  761  fgg.  19)  LB.  79L 
20)  Th.  (t.  V.  Karajan,  Abraham  a  Sancta  Clara,  Wien  18(j7  :  dazu  Scherer,  Zs.  f.  österr. 
Gynin.  1867  S.  49  fgg.  Vorträge  und  Aufsätze  (Berlin  1874),  S.  147  fgg.  Zs.  f.  d.  Alt.  21  Anz. 
279  fgg.  Lauchert  in  Birlingers  Alem.  XVII.  77  fgg.  21)  LB.  891  fgg.  Wiener  Neudrucke  1, 
Wien  1883.  22)  Aus  dem  Nachlasse  stammen  :  Ab r nimmt scJies  Besehet desiien,  Vi'ien  und 

Brunn  1717,  AbrahnmiscJie  Lauherhütt,  Wien  und  Nürnberg  1721 — 23.  Ahraliamisclies  Geluib 
dich  tpohl,  Nürnbcig  1729.  Unecht  ist  3Iercuriah's  oder  Wintergrün,  Nürnberg  1733,  und  ohne 
Giund  Abraham  zugeschrieben  Centifolium  StuHorum,  Wien  1709.  Eine  Ausgabe  sämmtlicher 
Schriften  erschien  Passau  und  Lindau  1835 — .54  in  21  Bdn.  23)  LB.  910.     Eine  Auswahl 

von  Bobertag,  Berlin  u.  Stuttgart  (Kürschners  Nat.  Litt.  40).     Inhaltsausgabe  bei  Hugo  Mareta, 


§  131  ABRAHAM  A  S.  CLARA.  255 

den  erschienen,  insofern  eine  besondere  Stellung  ein,  als  das  legendenhaft 
ausgeschmückte  -^  Leben  des  verrätherischen  Apostels  den  Anlass  gibt ,  alle 
möglichen  Laster  und  Thorbeiten  zu  besprechen.  Denn  auf  die  Moral  ist 
das  Absehn  des  Predigers  gerichtet;  wo  er  Glaubenslehre  vorträgt,  wie  in 
seiner,  allerdings  lateinisch  geschriebenen ,  (rrammatica  religiosa  (Salzburg 
1691)  erscheint  er  trocken  und  unselbständig.  Als  Prediger  will  er,  und 
bierin  hat  der  Leichtsinn  seiner  Zuhcererschaft  ihn  wohl  in  zunehmendem 
Masse  bestärkt,  vor  Allem  durch  Erregung  von  Neugier  und  Lachlust  wirken. 
Nicht  als  ob  ihm  der  sittliche  Zweck  verloren  gegangen  waere,  an  Wahr- 
heitsliebe,^"^ an  Freimuth,  auch  dem  Hofe  gegenüber,  dessen  Prediger  er  doch 
war,  steht  er  Schuppius  gleich,  dessen  Eigenheit  auch  sonst  durch  die  seinige 
nur  überboten  wird.  Auch  dieser  hatte  schon,  und  in  bedenklicher  Weise, 
zu  überraschen  gesucht;  ^"^  auch  dieser  hatte  schon  die  evangelische  Ge- 
schichte mit  den  Farben  der  Gegenwart  und  zwar  stark  satirisch  auszumalen 
gewagt  ,2^  und  sonst  vom  Hundertsten  ins  Tausendste  kommend ,  Anecdoten 
und ,  wiewohl  selten ,  Sprichwörter  oder  andere  Yolksüberlieferungen  einge- 
flochten. Aber  wenn  wir  Schuppius  glauben  dürfen,  dass  er  sich  in  wirklich 
gehalteuen  Predigten  weniger  habe  gehn  lassen  als  in  den  daraus  herge- 
stellten Tractaten,-^  so  scheint  Abraham  vielmehr  im  Druck  manches  Wagniss 
der  freien  Rede  unterdrückt  zu  haben. -^  Auch  so  noch  sind  Abrahams 
Schriften  nicht  mit  Unrecht  fast  als  Unterhaltungsbücher  angesehen  worden. 
Dazu  macht  sie  namentlich  das  Überwiegen  des  volksthümlichen  Gehalts: 
selbst  die  geistlich  gelehrten  Geschichten  und  Legenden  führen  wesentlich 
auf  die  mittelalterliche  Überlieferung  zurück.  Abrahams  glänzende  Gabe  zu 
erzsehlen  verbindet  sich  mit  scharfer  Beobachtung  des  wirklichen  Lebens, 
dessen  Bilder  er  zugleich  durch  witzige  Übertreibung  spasshaft  zu  verzerren 
weiss.  Noch  eigenthümlicher  zeigt  sich  sein  Witz  im  Wortspiel,  welches 
geradezu  für  seinen  Stil  bezeichnend,  zuweilen  gesucht  erscheint,  aber  durch 


Über  J.  (1.  Erzschelm  (Progr.)  Wien  1875.  24)  Nach  Jacobus  a  Voragine.     tibrigens 

ist  die  Entstehung  des  Judas  aus  wirklich  gehaltenen  Predigten  noch  vielfach  zu  bemerken: 
mitten  in  einem  Capitel  beofegnen  Schlusswendungen.  wie:  für  diesmal  sei  es  srenusr  u.  a. 
25)  LB.  924.  26)  Schuppius  .Schriften  599.  Er  wünschte  seineu  Zuhörern  zum  Dank  für  ihre 
Liebe,  dass  sie  zur  Hölle  fahren  möchten  —  nach  einer  Pause  füffte  er  hinzu  —  um  dort 
die  Qualen  der  Verdammten  zu  sehen.  27)  Vgl.  die  Geschichte  Johannis  des  Täufers: 

im  Freund  in  der  Noth,  Sehr.  242  fj'or.  und  wiederholt  in  der  Ahcjenöth igten  Ehren rettun<r. 
ebd.  (J5G.  28)  Schriften  583.  29)  Vgl.  die  Predigtbruchstücke  in  Reimb  dich  oder 

ich  liss  dich  zu  Anfang,  welche  noch  dazu  den  Landptarreru  für  die  Exordia  ihrer  Predigten 


256  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVII  JAIIRII.  §  132 

die  schnelle  Folge  immer  wieder  überrascht.  Ihm  stand  eine  —  besonders 
für  einen  Fremden  —  erstaunliche  Kcnntniss  der  "Wiener  Mundart  /u  Ge- 
bote; auch  deren  Gebrauch  wird  in  den  gedruckten  Schriften  nur  eine  Ab- 
schwiichung  erfahren  haben. 

Diese  Eigenschaften  machen  die  Werke  Abrahams  in  weit  hcoherem 
Grade  als  die  seiner  Vorgänger  in  der  satirischen  Schreibart  zu  einer  Fund- 
grube für  Volkssitte  und  Volksglauben  in  jener  Zeit,  Das  Interesse  des  Ge- 
lehrten für  die  volksthümliche  Überlieferung  und  besonders  für  den  Aber- 
glauben, an  welchem  die  durch  den  Krieg  aufgeregte  Phantasie  des  Volkes 
sich  weidete,  tritt  auch  sonst  hervor,  nur  dass  weder  Eigenthümlichkcit  der 
Form,  noch  selbständige  Gedanken  diesen  Schriftstellern  litterarhistorischen 
Werth  verschaffen.  Johannes  Pr.ktorius  (1630 — 80),  als  Magister  an  der 
Universitait  Leipzig  lehrend,  bekämpfte  in  zahlreichen  Schriften^"  (Dmnono- 
lotjia  Bubinzalii  iSilesii,  Leipzig  1662,  Fhüosophia  Cohts  oder  Pfy,  lose  vieh 
der  Weiher,  u.  a.)  den  Volksaberglauben,  wahrend  er  selbst  in  allem  ge- 
lehrten Wahne  befangen  war;  ihm  folgte  der  Zwickauer  Apotheker  Johann 
EuHARi)  Schmidt  (1660 — 1722)  mit  der  Gestriegelten  Rockaiphilosophic 
(Chemnitz  1705),^'  Verwandten  Schlages  und  trotzdem  von  den  Zeitgenossen 
vielfach  als  liistorische  Quellen  benützt  sind  viele  Schriften  des  Büchermachers 
Erasmus  Francisci '^  (geb.  zu  Lübeck  1627,  gest.  zu  Nürnberg  1694):  der 
höllische  Proteus  u.  a,  Bittere  Satiren  in  loser  dramatischer  Form  schrieb 
der  Jesuit  Franz  Callenbach,^^  an  dessen  Büchern  jedoch  die  Titel  Wiirmatia, 
Wurmland  1714,  Qicasi  sive  Mundus  Quasificatus  u.  a.  das  Witzigste  sind. 

§  132. 

Dem  Zorn  und  dem  Jammer,  welchen  die  wilde  Verwüstung  des  langen 
Krieges  hervorriefen,  sollte  es  auch  an  dem  hoechsten  Ausdruck  nicht  fehlen, 
zu  dem  die  Dichtung  fsehig  war:  auch  die  TragOBdie  fand  in  dieser  Zeit 
ihre  Pflege  durch  einen  hochbegabten  Dichter.  Andreas  Gryphius  ist  schon 
von  Elias  Schlegel  *  mit  Shakesperc  verglichen  worden,  in  dessen  Todesjahr 
er  geboren  ward,  wie  er  hundert  Jahre  nach  dessen  Geburt  starb.  Aller- 
dings hat  Gryphius  von  Shakesperc  nur  einen  Lustspielstoff,  und  auch  diesen 
nicht  unvermittelt,  übernommen;  sein  eigentliches  Muster  auf  dramatischem 
Gebiet  war  der  Niederländer  Joost  van  den  Vondel.^     Allein  diesem  Dichter 

empfohlen  werden.  30)  S.  Zarncke  in  der  Allg.  D,  Biogr.  31)  Archiv  f.  Litt, 

gesch.  1870,  S,  105  fgg.  490.  32)  ^Vill,  Xürubergisches  Gelehrtenlexicon  I  462.  V  346. 
Über  Francisci  als  Fortsetzer  von  Rist  s.  §  124,  61.  33)  Lebensumstände  unbekannt. 

§    132.  1)    In  Gottscheds    Krit.  Beitr.  VII  (1744).  2)  R.  A.  Kollewj^n,    Über 


§   132  ANDKEAS  GRYPHIUS.  257 

gegenüber,  dessen  Dramen  grossentheils  von  politiscli-religioosen  Absichten 
eingegeben  sind,  zeigt  Grypliius  eine  freiere  Auffassung  der  menschlichen 
VerhiUtnisse,  die  ihn  zugleich  befa^higte,  wie  Shakespere  auch  die  heitere 
Seite  seiner  Kunst  hei-vorzukehren.  Nur  sind  es  erst  die  spateren  Jahre, 
in  denen  Gryphius  sich  den  überaus  trüben  Eindrücken  seiner  Jugendzeit 
entzog.  Geboren  1616  zu  Grossglogau ,  ^  verlor  er  beide  Eltern  früh  und 
erlebte  heranwachsend  die  Bedrückung  seiner  Glaubensgenossen ,  die  Ver- 
heerung seiner  Ileimath.  Erst  1636  fand  er  als  Erzieher  im  Hause  des 
Kammerfiscals  Schcenborn  einen  freundUcheren  Aufenthalt.  Nach  dessen  Tod 
suchte  er,  über  Danzig,  die  Niederlande  auf,  wo  er  von  1638  bis  16-44  ler- 
nend und  lehrend  der  Universitset  Leyden  angehoerte.  Als  Reisebegleiter 
begüterter  Jünglinge  sah  er  Frankreich  und  Italien ,  verlebte ,  litterarisch 
thsetig,  ein  Jahr  in  Strassburg  und  kehrte  1647  über  Holland  in  die  Heimath 
zm-ück.  Eine  glückliche  Ehe  und,  seit  1650,  die  amtliche  Thajtigkeit  als 
Syndicus  des  Fürstenthums  Glogau,  befriedigten  ihn:  mitten  in  einer  Sitzung 
raffte  ihn  1664  ein  Schlaganfall  hinweg.  Als  Dichter^  war  er,  abgesehn  von 
lateinischen  Gedichten,^  zuerst  hervorgetreten  mit  Son-  und  Feyertags  Son- 
neten^^  Leyden  1639:  die  Anwendung  dieser  Form  auf  religioese  Gegenstände, 
bei  welcher  Gryphius  zugleich  durch  die  Innigkeit  seiner  Überzeugung  und 
durch  die  scharfe  Auspreegung  des  lutherischen  Dogmas  Eindruck  machen 
konnte,  fand  vielfach  Nachahmung.  Auch  für  persoenliche  Erfahrungen  und 
Stimmungen  wandte  er  noch  spseter  das  Sonett  an ,  seit  1643  mit  Abwei- 
chungen von  der  einfachen,  durch  Opitz  aufgekommenen  Form,  welche  sich 
an  Zesens  Vorbild  anschlössen.^     Frommen  Gedanken  dient  ferner   bei   ihm 


den  Einfluss  des  hoUäudisclien  Dramas  auf  Andreas  Grypliius,  Amersfoort  und  Heilbronn 
0.  J.  (1880).  3)  Cliristliclier  Lebenslauf  von  B.  S.  v.  Stoscli  1665,  Leubscheri  Sclieäiasma 
de  claris  Grypliiis,  Brigae  1702.  Seine  Familie  stammte  aus  Thüringen  und  liiess  eigentlich 
von  Greif.  4)  Die  erste  grössere  Sammlung  erschien,  mit  fremden  Zuthaten.  Frankf.  a.  M. 
1650  und  Strassburg  1652;  eine  gereinigte,  Breslau  1657;  dann  nochmals  1663;  am  voll- 
ständigsten ist  die  von  dem  Sohne  des  Dichters,  Christian  Gryphius,  Breslau  und  Leipzig 
1698  herausgegebene.  Neuerdings  hat  H.  Palm  die  Lustspiele  im  Lit.  Ver.  138  (1878), 
die  Trauerspiele  ebd.  162  (1882)  und  die  lyrischen  Gedichte  ebd.  171  (1884)  wieder  abgedruckt; 
sowie  eine  Auswahl  in  Kürschners  Nat.  Litt.  Bd.  29  herausgegeben;  aus  den  dramatischen 
Dichtungen  war  eine  solche  von  Tittmann  veranstaltet  worden :  Lpz.  1870.  5)  Heroäis 

furiae  et  Bacheiis  lachnjmae,  1634,  Auszug  von  F.  W.  Jahn ,  Halle  1883  (Progr.).  Dem 
Senate  von  Venedig  überreichte  er  1646  sein  Olivetum,  eine  Leidensgeschichte  Christi, 
übersetzt   von    Strehlke,    Weimar    1862.  6)  Neudruck  von  Welti,  Halle  1883.     Vgl. 

ebendesselben  Geschichte    des    Sonettes  in   der  deutschen  Dichtung,  S.  99  fgg.  7)  Vgl. 


258  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVH  JAHIIH.  §  132 

die  Ode,  die  er  bald  als  pindarischc  mit  Satz,  Gegensatz  und  Zusatz  aus- 
führt, bald  in  volksthümlich  sangbarer  Strophe  dichtet."  Die  mit  Vorliebe 
behandelten  Vorstellungen  von  der  Vergänglichkeit  und  Eitelkeit  aller  irdi- 
schen Güter  finden  ihren  stärksten  Ausdruck  in  den  Kirchhofsgedanken  1650: 
die  Bilder  der  Verwesung  erscheinen  hier  gehäuft  und  bis  in  die  grauen- 
haftesten Einzelheiten  durchgeführt.''  Dass  Gryphius  auch  als  Lyriker  freund- 
lichere Gedanken  auszusprechen  wusste,  zeigen  seine  Gelegenheitsgedichte, 
namentlich  die  Hochzeitsliedcr.  Weniger  gelingt  ihm  der  Ton  der  Satire  in 
drei  Schcrtsgedichtcn,  da  er  z.  B.  falsche  Freundschaft  nur  mit  ernstem  Tadel 
zu  schildern  weiss.  Auch  seine  Epigramme  oder  Beischrifften  sind  mehr 
herb  als  witzig.  Alles  Lyrische  tritt  jedoch  zurück  hinter  die  Bedeutung, 
die  Gryphius  sich  als  Dramatiker  erworben  hat.  Er  begann  mit  Über- 
setzungen, auf  tragischem  Gebiete  mit  den  Gibeonitern  '"  von  Vondel,  worin 
der  Untergang  der  Soehne  Sauls  dargestellt  war ,  und  mit  der  Märtyrer- 
geschichte  der  h.  Felicitas  von  dem  Jesuiten  Causinus;"  von  Lustspielen  hat 
er  in  der  Jugendzeit  die  Seugamme  oder  Untreues  Hausgesinde  aus  dem  Ita- 
lienischen,'- und  noch  1603  Der  schwermendc  Schäffer  nach  Thomas  Corneille 
bearbeitet:  das  letztgenannte  Stück  auf  besonderen  "Wunsch,  trotz  der  Ab- 
neigung gegen  Ubersetzerarbeit,  die  sich  allmajhlich  bei  dem  Dichter  geltend 
machte  (§  115,  15).  In  der  That  hat  Gryphius  als  Übersetzer  sich  oft  durch 
seine  fremden  Vorbilder  zu  undeutschen  Ausdrücken  und  Wendungen  ver- 
führen lassen,  und  namentlich  aus  dem  Holländischen  ist  ihm  manches  der- 
artige auch  noch  bis  in  spsetere  Zeit  geblieben.'^  Ebenso  hat  der  antike 
Tragiker,  den  die  Renaissancedichter  als  Muster  ansahen,  hat  Seneca  auf  den 
Stil  auch  unseres  Dichters  eingewirkt,  und  namentlich  eine  übertrieben  ab- 
gekürzte Redeweise  bei  diesem  verschuldet.'*  Im  übrigen  bestimmte  Vondels 
Nachahmung  des  Seneca  auch  Gryphius:  in  der  Eintheilung  der  Tragoedien 
in  Abhandlungen,  d.  h.  Acte  (nicht  in  Scenen,  ausser  im  Leo,  wo  die  Ab- 
handlungen  noch   in  Eingänge    zerfallen) ,    in    der  Trennung  der  Acte  durch 

unter   den  Proben  LB.  2.  485  fgg.  besonders  Nr.  VII.  8)  LB.  XI  und  XII.     In  einer 

Art  alräisfher  Strophen  ist  Xr.  XIII  verfasst  mit  Reimen.  9)  Angehängt    sind  Über- 

setzungen whnlieher  lat.  Stücke  von  Bälde  und  Czepkos  Rede  aus  seinem  Grabe  (§  129). 
10)  Vondels  Stüek  hiess  De  Gebroeders ;  Gryphius  übersetzte  nach  der  ersten  Ausgabe  von 
1(3;W;  seine  Arbeit  erschien  erst   1698  im  Druck.  11)  Zuerst  1657  veröffentlicht.  16.58 

zu  Breslau  von  Schülern  aufgeführt.  12)  Gedruckt  zuerst  1663  wie  das  folgende  Stück. 

18)  So  bUckt  =  ist,  wird  offenbar,  holl.  blijkt ;  ausdagen,  'vor  Gericht  fordern',  holl. 
uitdaghen.     Vgl.  auch  Palm.    Lit.  Ver.    162    S.  729.  14)    Palm.    Sonderausgabe    der 


§  132  ANDREAS  GRYPHIUS.  259 

Chocrc  oder  Rcycn,  in  wclclien  oft  allegorische  Personen  auftreten  und  mit 
lyrischen  Gesängen  '-'  in  Versen  von  unregelmassig  wechselndem  Umfange  die 
sonstgebrauchten  Alexandriner  unterbi'echen,  endlich  in  der  Beobachtung  der 
Einheit  der  Zeit,  nicht  des  Ortes.  Auch  das  hat  Gryphius  mit  seinen  Yor- 
bildern  gemein ,  dass  weder  eine  lebenswahre  Characteristik  noch  eine  fort- 
schreitende Entwickelung ,  sondern  pathetische  Reden  sein  Hauptaugenmerk 
bilden.  Dabei  gelingen  ihm  die  elegischen  Klagen  noch  besser  als  die  oft 
über  alles  Mass  hinausgehenden  Prahlreden.  Zu  solchen  gab  ihm  sein  erstes 
selbständiges  Trauerspiel  Leo  Armenius  ^^  vielfach  Gelegenheit,  ein  Stück  aus 
der  byzantinischen  Geschichte,  welches  gewissermassen  zu  Wallensteins  Schick- 
sal im  Gegensätze  steht:  der  Kaiser  will  seinen  übermächtigen  und  Verrath 
sinnenden  Feldherrn  beseitigen,  verschiebt  jedoch  die  Hinrichtung  und  wird 
selbst  ermordet.  Ausdrücklich  bemerkt  der  Dichter,  dass  er  die  den  Alten 
unbekannte  Meinung  nicht  theile,  dass  kein  Trauerspiel  sonder  Liehe  tmd 
Buhlerey  vollkommen  sein  könnte.  ^^  Eine  Märtyrergcschichte  aus  der  Zeit 
des  Dichters  enthält  Catharina  von  Georgien  oder  Bewährete  Beständlrjlceit,^^ 
worin  die  christliche  Fürstin  als  Gefangene  des  Perserschachs  Abbas  lieber 
den  Tod  unter  den  furchtbarsten  Qualen  erleidet,  als  dass  sie  seiner  Liebe 
nachgäbe  und  zugleich  ihre  Religion  verleugnete.  Wie  liier  die  himmlische 
Liebe  den  Tod  überwindet,  so  meint  der  Dichter,  zeige  sein  Trauerspiel 
Cardenio  und  Gelinde  oder  Vnglücldicli  Verlilete  ''■'  den  Sieg  des  Todes  über 
die  irdische  Liebe.  Der  Stoff,  den  Arnim  und  Immermann  der  Erneuung 
werth  fanden,  lässt  das  Stück  als  Vorläufer  des  bürgerlichen  Trauerspiels 
und  des  Schauspiels  in  engerem  Sinne  erscheinen:  es  sind  bürgerliche 
Kreise,  in  denen  es  spielt,  und  es  endet  wenigstens  nicht  blutig.  Zu  seinem 
alten  tragischen  Ideal,  zur  Verherrlichung  standhaften  Leidens  kehrte  Gry- 
phius zurück  in  Carolus  Stuardus  oder  Ermordete  Majestät,  welches  unmittel- 
bar nach  dessen  Hinrichtung  verfasst ,    der  in  Deutschland  und  den  Nieder- 

Dornrose  S.  21  fgg.  15)  Beispiele  LB.  2,  499  fgg.  16)  Zuerst  1650  erschienen;  eine 
holländische  Übersetzung  von  Leeuw,  welche  auf  dem  Theater  zu  Amsterdam  aufgeführt  und 
1659  gedruckt  wurde,  erwshnt  Kollewyn  p.  18.  Über  eine  Aufführung  des  L.  A.  in  Leipzig, 
die  Leibniz  als  Knabe  gesehen,  s.  Gruhrauer  Leibniz'  Deutsche  Schriften  1,  'oO.  17)  Er  stichelt 
dabei  auf  Corneilles  Polyeucte.  18)  Zuerst  1657  erschienen:  1665  zu  Halle  bei  einem  Schulfest 
aufgeführt:  s.  Jahn  in  der  Anra.  5  angeführten  Schrift.  19)  Den  Gegenstand  erzsehlte  Gryphius 
seinen  Freunden  in  Amsterdam  1647:  das  Stück  erschien  zuerst  1657.  Eine  offenbar  verwandte 
Erzählung  hat  Boxbcrger  in  Schnorrs  Archiv  12.  219  nachgewiesen:  Harsdörfer.  Schauplatz 
jämmerlicher  Mordgeschichte,  Hamburg  1649  X.  XXXVI.  Bei  Gryphius  tritt  viel  Gespensterspuk 


2G0  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVH  JAllRH.  §  132 

landen  allgemeinen  Entrüstung  "Worte  lieh,-"  und  in  GrossmütliKjcr  licchts- 
Gclchrtcr  oder  sterbender  Aemiliiis  Paulus  Fapinianus  KJöO,-'  mit  starker 
Benutzung  von  Vondels  Palamedes.  Inzwischen  hatte  der  Dichter,  auch  der 
eigenen  Befriedigung  durch  Ehe  und  Amt  Ausdruck  gebend ,  für  froDhlicho 
Feste  des  Landes  mehrere  Stücke  verfasst,  ([q.q  Freudetispiel  Majuma  1653" 
und  das  Lust-  und  Gesangspid  Piastus^''-^  wohl  16G0,  endlich  gleichfalls  16GÜ 
sein  mit  Benutzung  von  Quinault  verfasstes  Gesangsp'd  Vcrlihtes  Gespetiste, 
welches  Act  um  Act  im  Wechsel  mit  dem  Schertsspil  Die  Gclihte  Dornrose 
zur  Aufführung  kam.  Insbesondere  das  letztgenannte  Scherzspiel  ist  merk- 
würdig, einmal  wogen  des  fast  durcligängigcn  (Jobrauchs  der  schlesischen 
Mundart,  sodann  wegen  der  wenn  auch  überaus  freien  und  geistreichen  Be- 
nutzung von  Vondels  Leuwendalers.  Ebenso,  wenn  auch  nicht  mit  gleichem 
Glück,  versuchte  sich  Gryphius  an  einem  Shakcspereschen  Stoffe,  der  lUipcl- 
comcedie  im  Sommernachtstraum,  welche  mehr  oder  weniger  selbständig  in 
England,  den  Niederlanden  und  Deutschland'^*  von  Comocdianten  aufgeführt 
worden  war,  aber  hier  auch  schon  vor  Gryphius  einen  gelehrten  Bearbeiter-^ 
gefunden  hatte.  Gry})hius  hat  durch  sein  Stück  Ahsurda  cotnica  oder  Herr 
Peter  Squents ,    Schimpfspiel ^    den   Stoff   neu    belebt.-*^     Es    erschien   zuerst 

hinzu:  er  theilte  den  Gespensterglauben  seiner  Zeit.  20)  Zuerst  1657  gedruckt  und  in  dieser 
Fassung  wiederholt  bei  Tittniann:  narh  der  Restauration  umgearbeitet  1663,  wobei  unter  den 
neu  benutzten  Quellen  auch  ein  AVerk  Zesens  (§  124,  31)  erscheint.  Eine  Auöiihrung  der  ersteren 
Fassung  durch  Comüdiauten  zu  Wiudsheim  am  Main  1650  vermutbet  Tittmann,  S.  XXXVI, 
wohl  irrig.  Vgl.  auch  Mentzel,  Das  Frankfurter  Theater,  S.  76.  Schon  bei  Gryphius  findet 
die  Enthauptung  auf  der  Bühne  statt.  21)  1660  zu  Breslau  von  den  Schülern  aufgeführt; 
1738  zu  Speyer:  Schnorrs  Arch.  15,  222:  eine  Aufführung  zu  St.  Gallen  durch  die  junge 
Burgerschaft  1680  führt  Gödeke  an.  Von  Veiten  1690  aufgeführt:  Heine  S.  36  (§  137). 
Heine  gibt  in  Zs.  f.  d.  Philol.  21.  280  Auszüge  aus  einer  i'rosabearbeitung  des  Papinianus, 
welche  dem  Repertoire  der  Wandertruppen  angehörte,  und  in  einer  Abschrift  von  1710 
vorliegt.  22)  Zuerst  1657  gedruckt.     Inhaltsangabe  dieses  und  der  anderen  Lustspiele 

bei  H.  Hitzigrath,  A.  G.  als  Lustspieldichter,  Wittenberg  (Progr.)  1885.  23)  Zuerst 

1608  gedruckt.  24)  Vgl.  KoUewyn   S.  45  und    schon  in  Schnorrs  Archiv   9,  445  fgg. 

über  die  niederländische  Kluchtiglie  Tragoedie:  of  den  Hartoog  von  Fierlepon,  von  Grams- 
berghen,  welche  1650  zu  Amsterdam  aufgeführt  wurde;  die  englische  und  eine  Hamburger 
Comödie,  über  welche  Schupp  und  Rist  berichten,  untersucht  nteher  F.  Burg  in  der  Zs.  f. 
d.  Alt.  25,  130  fgg.  25)  Gryphius  nennt  Daniel  Schwenter  Prof.  zu  Altdorf,  gest.  1636. 

Doch  wird  erst  Gryphius  die  satyrischen  Bezüge  auf  Hans  Sachs  und  die  Meistersinger 
eingewoben  haben,  welche  Meyer  v.  Waldeck,  Vierteljsch.  f.  Litt.-Gesch.  1,  195  nachweist. 
26)  Eine  holländische  Übersetzung  von  Leeuw  1669:  KoUewyn  S.  45:  weitere  Bearbeitung 
durch  Chn.  Weise  §  135,  21.     Über  eine  zu  Landshut  1756    gedruckte  Verschmelzung   des 


§  133  ZWEITE  SCIILESISCIIE  DICIITERSCHULE.  2G1 

1657/^  scheint  aber  schon  um  1G48  entstanden  zu  sein,  zugleich  mit  Ilorri- 
hilicribrifax  Tenfsch,'^^  einem  Nachkömmling  des  Miles  Gloriosus,  den  der  Dich- 
ter aber  zugleich  als  alamodischen  Sprachverderber  gezeichnet  und  mit  einem 
Gegenstück,  einem  pedantischen  Schulmeister  zusammen  auf  das  reichlichste 
aus  seinen  eigenen  Sprachkenntnissen  ausgestattet  hat  (§  114,  4).  So  die 
veröffentlichten  Werke ;  von  andern  ist  uns  nur  kurze  Nachricht  zugekommen. 
Bedenken  wir  indessen  die  in  dem  Erhaltenen  bezeugte  Fruchtbarkeit  und 
Vielseitigkeit  des  Dichters,  auch  dass  er  theilweise  Vorzügliches  geleistet  hat, 
so  stellt  Gryphius  allerdings  einen  geschichtlichen  Höhepunct  dar,  und  es 
war  eine  gerechte  Anerkennung  der  Zeitgenossen,  wenn  die  Fruchtbringende 
Gesellschaft  ihn  1662  als  den  Unsterblichen  aufnahm. 

§  133. 
Mit  Gryphius  perscenlich  befreundet  folgten  ihm  als  Dichter  mehrere 
Landsleute,  deren  Dichtart  jedoch  der  seinigen  sich  nur  in  äusserlichen  Dingen 
anschloss,  im  Grunde  jedoch  entgegensetzte.  Mit  Unrecht  ist  daher  Gryphius 
zuweilen  mit  ihnen  zusammen  zur  zweiten  schlesisehen  Dichterschule  ge- 
rechnet worden.  Diese  ahmt  den  Italienern  nach,  wie  vor  ihr  der  Nürnberger 
Dichterverein.  Sie  strebt  in  Folge  dessen  nach  jener  witzelnden  Ausdrucks- 
weise, welche  die  Italiener  mit  ihren  concetti  ausgebildet  hatten,  Wendungen, 
in  welchen  bildliche  und  eigentliche  Bedeutung  der  W^örter  best<ändig  wech- 
selten, und  dadurch  überraschende  Satzverbindungen  moeglich  wurden.*  Sie 
wandte  sich  an  die  Sinnlichkeit ,  meist  mit  lüsternen  Schilderungen ,  aber 
auch  mit  grässlichcn  Marterscenen.  Besonders  die  erstere,  mit  wahrer  Scham- 
losigkeit verfolgte  Richtung  ist  kennzeichnend  für  diese  Schule,  ja  für  die 
ganze  Zeit.  Denn  es  war  diese  Lüsternheit,  ja  dieses  Prahlen  mit  Sitten- 
losigkeit  ein  Bestandtheil  jener  fremden,  zumal  franzoesischen  Mode,  wie  sie 
nach  der  Mitte  des  Jahrhunderts  vor  allem  an  den  Hoefen ,  wo  man  das 
Beispiel  Ludwigs  XIV.  vor  Augen  hatte,  sich  ausbreitete;  doch  auch  die 
Gelehrten  glaubten  auf  den  leichtfertigen  Ton  der  Unterhaitimg  vor  den  Hof- 
leuten eingehn   zu  müssen.-     In  die  Dichtung   diesen  leichtfertigen  Ton  ein- 


P.  Squpntz  mit  Faust  s.  Erich  Schmidt.    Zs.  f.  d.  A.  26,  244  fgg.  27)  Neudruck  von 

W.  Braune,  Halle  1877.  28)  Erster  Druck  wohl  von  1663.     Neudruck  Halle  1877. 

§   loo.  1)  Als  ein  Beispiel  diene  der  Anfang  der  aus  Lohensteins  Arminius  ausgehobenen 

Stelle  LB.  3,  863.  2)  Leibnitz  nahm  Theil  an  der  Bewunderung,  welche  ein  lüsternes 

Gedicht  von  Besser,  Die  Ruhestat  der  Liebe  oder  die  Schoss  der  Geliebten  selbst  bei  fürstlichen 
Frauen  fand.  s.  "Weim.  Jb.  3.  116.     Vgl.  auch  die  von  Wagenseil,  De  dvitati  Noribergensi 


262  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVII  JAlIiai.  §  133 

zuführen,  dazu  ward  allerdings  das  eine  Haupt  der  zweiten  schlcsischcn 
ISchulc,  CiiuisTiAN  HoKMAN  VON  HoFMANswALDAr,'^  aucli  durcli  eigene  Nei- 
gung getrieben:  dass  er  sich  der  Bedenklichkcit  seines  Unternehmens  bewusst 
war,  geht  daraus  liervor,  dass  er  seine  Gedichte  erst  spset  und  um  unbe- 
fugten Herausgebern  entgegenzutreten  erscheinen  licss,*  und  auch  dann  noch 
nur  einen  Theil ;  das  Übrige  ward  erst  nach  seinem  Tod  und  mit  noch 
schlimmem,  ebenso  geist-  als  zuchtlosen  Nachahmungen  zusammen  veröffent- 
licht.'^ Ilofmanswaldaus  Hauptwerk  sind  die  Heldcnhriefe ^^  womit  er  zuerst 
Ovids  Hcroiden  in  deutscher  Dichtung  nachahmte:'  Liebespaare,  meist  aus 
der  deutscheu  Sage  und  Geschichte,  wechseln  Briefe,  welclic  fast  alle  schon 
durch  die  zu  Grunde  liegenden  Verhältnisse  etwas  Anstocssiges  haben.*  Der 
Dichter  selbst  freilich  bewahrte  den  Huf  eines  rechtlichen,  humanen  Ehren- 
mannes. Geboren  1617  zu  Breslau,  in  Danzig  um  1637  in  Verkehr  mit 
Opitz,  dann  durch  Reisen  gebildet,  starb  er  1679  als  Rathsprseses  seiner 
Vaterstadt.  Ihm  nahe  befreundet  war  Daniel  Carper,  seit  1670  von  Lohen- 
stein. Geboren  1635,  lebte  dieser  von  1657  an  bis  zu  seinem  Tode  1683 
in  Breslau ,  zuletzt  als  Protosyndicus  der  Stadt."  Rührig  und  erstaunlich 
gelehrt  zeigt  er  sich  auch  als  Dichter;  er  sucht  bewusst  die  Vorzüge  zu  ver- 
binden, welche  seine  Zeit  an  Gryphius  und  Hofmanswaldau  bewunderte,  die 
liebliche  Schreibart  des  einen  mit  der  erhabenen  des  andern,    und  beide  zu 

(1697)  S.  458  berichtete  Unterredung  mit  der  Scudery.  3)  Die  Orthographie  des  Namens 
schwankt.  Hauptquelle  für  das  Leben  des  Dichters  ist  die  Lobrede  seines  Freundes  Lohenstein, 
die  den  Gedichten  Hofmanswaldaus  beigegeben  ist.  Vgl.  ferner  Palm  ADB.  und  K.  Friebe, 
Diss.  Greifswald  1886.  4)  C.  H.  v.  H.,  Deutsche  Übersetzungen  und  Gedichte,  Breslau 

1670.  Darin  die  Dramen:  Der  getreue  Schäfer,  von  Guarini  und  der  sterbende  Socrates,  von 
Theophile  (nach  Pia  tos  Phaedon).  Die  Proben  aus  den  geistlichen  Oden  LB.  2,  687  zeigen 
Hofmanswaldaus  verständigen,  massvollen  Sinn;  aber  auch  seine  Lieblingsausdrücke  C««an- 
Zuckr.r,  Atnbra-Ktichen  u.  ä.  Grössere  Stücke  aus  Hofmanswaldau,  Lohenstein  u.  a. 
schlesischen  Dichtern  bei  Bobcrtag  (Kürschners  Nat.  Litt.  36).  5)  Herrn  von  Hofmans- 

waldau und  andrer  Deutschen  auserlesener  und  bissher  ungedruckter  Gedichte  I.  Theil, 
Leipzig  1695  u.  ö.  Herausgeber  war  B.  Neukirch  (§  136);  die  Sammlung  gedieh  bis  zum 
VII.  Band,  1727.  6)  Eine  schwedische  Übersetzung  führt  Palm  a.  a.  0.  an.  Nachfolger 
fand  H.  bei  Lohenstein.  Mühlpfort  und  H.  A.  v.  Ziegler.  Heldenliebe  der  Schrift  A.  u.  N.  T. 
1691.  Lächerlicherweise  beginnt  hier  dieser  Briefwechsel  mit  Adam  und  Eva.  7)  Doch 
8.  Titz§127.  8)  Z.  B.  Tibald  und  Lettice  van  Hort  stellen  Heinrich  von  Braunschweig- 
Wolfenbüttel ,  Luthers  Feind,  und  Eva  von  Trott  vor.  Eine  Deutung  der  Namen  gibt 
Neumeister  im  Specimen   (§  120.  38).  9)    Ein  Lebenslauf  ist   den  Schriften   seit  1685 

beigegeben.  Vgl.  neuerdings  besonders  Conrad  Müller,  Beitrag  zum  Leben  des  Dichters 
D.  C.  v.  L.,  Breslau  1882  (Weinhold,  Germauist.  Abh.  I)  und  Erich  Schmidt  in  der  AUg. 


§  133  HOFMxVNSWALDAU.    LOHENSTEIN.  263 

übertreffen  durcli  das  Sinnreiche,  welches  er  im  bildlichen  Ausdrucke  fand."^ 
Sein  dichterisches  Gefühl  dagegen  ward  völlig  von  der  Gelehrsamkeit  erstickt. 
Daher  sind  auch  seine  lyrischen  Gedichte'^  die  schwächsten:  selbst  ein 
Trauergedicht  auf  den  Tod  seiner  Mutter  1652  '-  ist  kalt  und  steif  bei  allem 
Prunk.  Die  Yorliebe  für  das  Gr.ässliche  beherrscht  nun  völlig  Lohensteins 
Trauerspiele:  nur  diese  Gattung  des  Dramas  hat  er  versucht,  schon  darin 
von  seinem  Vorgänger  Gryphius  verschieden.  Dessen  Wagnisse  auf  der  tra- 
gischen Bühne  überbietet  er  allerdings:  wenn  Gryphius  Mord  und  Hinrich- 
tung auf  der  Bühne  darstellte,  so  lässt  Lohenstein  grausam  foltern;  ja  er 
führt  sogar  Nothzucht  und  Blutschande  fast  vor  die  Augen  der  Zuschauer. 
Es  ist  unbegreiflich ,  aber  sicher ,  dass  einige  dieser  Stücke  bei  Breslauer 
Schulfesten  zur  Darstellung  gekommen  sind.^^  Freilich  der  Bombast  und  die 
gelehrten  Anspielungen,'*  die  selbst  im  Munde  der  Frauen  und  sogar  in  den 
leidenschaftlichsten  Auftritten  sich  finden,  lassen  die  sinnliche  "Wirkung  immer 
wieder  erkalten.  Gelehrten  Ursprungs  sind  auch  die  nach  Gryphius,  aber 
wieder  mit  Masslosigkeit,  eingeschalteten  Geistererscheinungen  und  die  beson- 
ders in  den  Reyen  beliebten  Verkörperungen  unwirklicher  oder  doch  un- 
perscenlicher  Dinge. '^  Lohenstein  will,  wie  er  sagt,  grausamste  Laster  und 
schreckliche  Strafen  darstellen.  Zwei  Gebiete  liefern  die  Stoffe  dazu:  die 
roemische  Kaiserzeit  und  die  türkische  Geschichte  der  neueren  Zeit.  Letz- 
terer gehoert  zumal  Ibrahim  Sultan  an,  1673  zur  Feier  einer  kaiserlichen 
Vermaehlung  gedichtet,  und  die  1653  zuerst  erschienene  Jugendarbeit,  Ibra- 
him, spseter  als  Ibrahim  Bassa  von  jenem  Stück  unterschieden.'^  Dem  andern 
Kreise  entnommen  sind  Cleopatra  1661  und  umgearbeitet'^  1680,  Agrippina 
und  Epicharis  1665,  endlich  1680  Sophonisbe.  In  dieser  spseteren  Zeit,  durch 
Gicht  gepeinigt,  fand  Lohenstein  eine  andere  litterarische  Gattung  noch  be- 
quemer zur  Entfaltung  seiner  Gelehrsamkeit,  den  Roman.  Er  begann  den 
Arminius,'^  in  welchem   er   die    deutsche  Urzeit   mit    den  fernst  abgelegenen 

D.  Biogr.  10)    Daher    der    starke    Gebrauch   malender  Beiwörter,    und  noch  mehr  der 

zusammengesetzter  Wörter.  Vgl.  auch  W.  A.  Passow,  D.  C.  v.  L.,  Seine  Trauerspiele  und 
seine  Sprache.  Meiningen    1852.  11)  Sie   sind   seit  1680  den  Trauerspielen  beigegeben 

als  Blumen;  und  wieder  in  einzelnen  Abtheilungen  als  Rosen,  Hyacinthen,  Himmelsschlüssel 
u.  a.  12)  Müller  S.  28  fgg.  13)    Aug.   Kerckhoffs,  D.  C.  v.  L.  Trauerspiele  mit 

besonderer  Berücksichtigung  der  Cleopatra.  Paderborn  1877  S.  18.  19.  14)  Ausführliche 
Anmerkungen  dienen  zur  Erläuterung.  15)  Vgl.  LB.  2,  59:3  fgg.  16)  Ibrahim  Bassa  liegt 
der  von  Zesen  (§  124,  39)  übersetzte  Konian  der  Scudery  zu  Grunde,  nur  mit  tragisch  abge- 
ändertem Ausgang.        17)  Darüber  s.  Kerckhofi's  und  Müller.       18)  Grossmüthiger  Feldherr  A. 


264  NEUIIOCIIDEUTSCTIE  ZEIT.         XVJI  JAIIRII.  §  133 

Erzielilungs-  und  Belelirungsstoffcn  ''  und  mit  adlij^cn  Niuncn  au8  der  Gegen- 
wart ausfüllte:  der  Iloman  erscliien,  von  andern  vollendet,  1081).-°  Wahl 
und  Behandlung  des  Gegenstandes  bezeugen  einen  vaterländischen  Sinn,  den 
ein  Freund  und  Verehrer  l^ohensteins ,  der  Freiherr  Hans  Ass.maxn  von 
AnscHATZ  (geb.  1G46  zu  Würbitz  in  Schlesien,  gest.  als  Landesdeputierter 
zu  Liegnitz  1699)  auch  als  Lyriker  aussprach:  der  Zorn  über  die  franzoesi- 
schcn  llaubkriege  Hess  ihn,  der,  wie  so  viele  Schlesier  dieser  Zeit,  in  Strass- 
burg  studiert  hatte,  zu  den  Watleu  rufen.  Einfach  wie  dies  Gefühl  gibt  sich 
auch  die  Frömmigkeit  des  bescheidenen  Dichters  kund,  der  selbst  nur  eine 
Übersetzung  des  Pastor  Fido  drucken  Hess.*'  An  Ilofmanswaldau  schlicsst 
sich  dagegen  Heinrich  Mihi.i'foiitii  an,  ein  Breslaucr  (1639 — 1681),  der 
freilich  über  Gelegenheitsdichtung  nicht  viel  hinauskam.*'^  Groesseres  wagte, 
aber  unglücklich,  Johann  Christian  Hallmann  aus  Breslau  (geb.  nach  1640, 
gest.  1704)."  Selbst  Schauspieler,  schrieb  er  mehrere  Dramen,^*  z.  Th.  nach 
dem  Italienischen  (Adelheid  und,  in  Prosa,  Eraclius),  auch  Pastorellen  (Adonis 
und  llosibella),  worin  er  auch  Scaramuza,  einen  lustigen  Diener  auftreten 
lässt.  An  die  Jesuitcndramen  —  Hallmann  convertierte  —  erinnern  die 
Märtyrerin  Sophia  und  Thcodoricus  Veroncnsis.  Die  Sprache  geht  noch  über 
Lohensteins  Schwulst  hinaus."  Verständiger,  aber  auch  matter  ist  die  dra- 
matische Dichtung  von  August  Adolf  von  IIaugwitz  (geb.  zu  Übigau  in 
der  Obeiiausitz  1645,  gest.  ebenda  1706).  Mit  dem  Dresdener  Theater  in 
Verbindung  stehend,  verfasste  er  Maria  Stuarda ,  -^  Soliman  und  das  Ballet 
Flora  nach  dem  Franzoesischen  :    alles  vereinigt  im  Frodromus  poeticus  oder 

oder  Hermann.     LB.  3,  863  fgg.  19)  Selbst  die  chinesische  Geschichte,  die  Bereitung 

des  Thees  u.  ä.  wird  eingeschaltet.  20)  Druckort  Leipzig.     Neue  Auflage  1731,  4  Bde., 

mit  über  3(X)0  Quart-Seiten.  Die  Gleichnisse  und  Prachtausdrücke  sammelte  J.  C.  Männling, 
Arminius  enucleatus,  StargardI708,  und  Lohensteinius  sententiosus,  Breslau  1710.  21)  Chr. 
Gryphius  sammelte  die  Übersetzungen  und  Gedichte  von  A.  v.  A.  Leipzig  und  Breslau  17U4. 
LB.  2,  607.  22)    Teutsclie  Gedichte,    Breslau  1686,    II.   Theil    1687.     Vgl.    Kahlert, 

Weim.  Jb.  2,  304  fgg.  23)  ADB.  (Erich  Schmidt).  24)  Einzeldrucke  seit  1667. 

Die  Sammlung  'Trauer-,  Freuden-  und  Scliäffer-Spiele  ist  nach  1673  erschienen,  da  Adonis 
die  Vermifihlung  K.  Leopolds  feierte.  Über  die  Beliebtheit  dieser  opernhaften  Stücke  8. 
C.  Müller,    Lohenstein  S.  91.  25)    In    Schlesische    Adlers  Flügel,    einer    Eeihe    von 

Regentenhildern.  heisst  es  von  K.  Johann  von  Böhmen :  Der  Klugheit  schlauer  Molch  und 
Demantfester  Spiegel  Sind  AncJcer  eines  BeicJis  j  die  niem/ils  gehen  ein;  Es  kann  kein 
Donnerkeil  zermalmen  diese  Biegel:  Ja  hierdurch  kann  ein  Mensch  der  Letten  Meister  seyn. 
26)  Nach  einer  Erzählung  von  E.  Erancisci.  Auch  einen  Wallenstein  hat  er  gedichtet, 
welcher  zwar  nicht  gedruckt,  aber  öfter  aufgeführt  worden  ist  (§  137,  20). 


§  134  ROMAN.  265 

poetischer  Vortrab  1684.     Andre  Anhänger  Loliensteins  wandten  sich  spseter 
seinen  Gegnern  zu,    so  Christian  Gryphius  und  Benjamin  Neukirch  (§  136). 

§  134. 
Lohensteins  Arminius  bildet  einen  Itoehepunct  in  der  Entwickelung  des 
Roiiiaus  waehrend  des  17.  Jahrhunderts.^  Diese  Gattung  der  Kunstprosa 
schloss  sich  eng  an  das  Vorbild  des  Auslands  an,  wenn  schon  ihre  Anfiingc, 
und  zwar  auch  die  einer  selbständigen  Bearbeitung,  bis  in  das  16.  Jalu'- 
hundert  zurückreichen  (§  107).  Noch  Opitz  trat  auch  auf  diesem  Gebiete 
nur  als  Übersetzer  auf  (§  121,  Schluss)  und  ebenso  waren  die  zahlreichen 
Mitglieder  der  Fruchtbringenden  Gesellschaft,  welche  Romane  schrieben,  so 
gut  wie  ausschliesslich  mit  der  Verdeutschung  fremder  Werke  beschäftigt.^ 
Von  den  italienischen,  spanischen  und  franzoesischen  Romanen,  welche  in 
Deutschland  auf  diese  Weise  bekannt  wurden,  übten  namentlich  die  letzt- 
genannten eine  tiefe  und  immer  melu*  zunehmende  Wirkung:  die  hier  ausgebil- 
dete heroisch-galante  Richtung  regte  zur  selbständigen  Nachahmimg  an.  Zesen, 
der  erste  Übersetzer  von  Romanen  der  Scudery  und  de  Gerzans  ^  hat  aller- 
dings in  seinem  Originalroman  Rosemund  sich  noch  mehr  durch  die  früher 
behebte  Schsefererzsehlung *  bestimmen  lassen:  nicht  nur,  dass  die  verlassene 
Geliebte  sich  als  Schseferin  verkleidet,  auch  dass  offenbar  Selbsterlebtes  und 
Selbstempfundenes  die  Grundlage  der  Erzsehlung  bilden  ,  weist  auf  dieses 
Vorbild  zurück.  Aber  die  biblischen  Romane  Zesens,  Assenat  und  Simson, 
sind  durchaus  Liebesgeschichten,  die  in  hohen  Kreisen  spielen  und  in 
denen  das  hcefische  Leben  der  Zeitgenossen  sich  spiegeln  sollte.  An  aus- 
schmückender Gelehrsamkeit  Hess  es  schon  Zesen  nicht  fehlen,  und  in  diesem 
Sinne  gingen  Andere  noch  weiter.     Zunaechst  Andreas  Heinrich  Buchholz 


§   ld4.  1)  L.  Cholevius,  Die  bedeutendsten    deutschen  Romane    des  17.  Jlis.,   Leipzig 

186G.  F.  Bobertag,  Greschichte  des  Romans  und  der  ihm  verwandten  Dielitungsgattungeu 
in  Deutschland,  I.  Abth.  Bis  zum  Anfange  des  18.  Jhs.  Breslau  1876  —  Berlin  1884. 
2)  Besonders  fruchtbar  war  der  Unglückselige  in  der  Fruchtbringenden  Gesellschaft,  d.  h. 
der  östreichische  Freiherr  Jon.  Wilh.  von  Stuisenberg  (1631 — 1688):  er  übersetzte  mehrere 
Romane  von  Marini,  u.  a.  Printz  Kalloandro  1656,  den  Samson  von  Pallaviciui  1657.  die 
Clelia  von  der  Scudery  1664,  die  Eromena  von  Biondi  1667.  3)  Ibrahim  und  Sophonisbe 
(§  124,  39).  4)    Eine  der  frühesten  Schäfergeschichten,    welche    zugleich    wie    Zesens 

Rosemund  eine  wirkliche  Liebesgeschichte  allegorisch  darzustellen  angibt,  ist  Jüngst  erbauete 
Schäff'erey  Oder  keusche  Liebes- Beschreibung  Von  der  Verliebten  Nimfen  Amoena  Vnd  dem 
Lobivürdigen  Schäffer  Amandus  .  .  von  A.  S.  D.  D.,  Leipzig  1632.  Unter  der  Vorrede 
nennt  er  sich  Gr.  C.  V.  Gr.  A.  S.  D.  D.  sonst  Schindschersitzky  geheissen.     Zahlreiche  Citate 


206  NEUII0CIII)EI'TSC1[E  ZEIT.         XVII  JAIIKII.  §  134 

(geb.  1007  zu  Schoeningeu  im  Braunsohwcigi.schen,  Professor  zu  Rinteln  und 
Superintendent  zu  Braunscbweig,  hier  gest.  1671),  dessen  unifiinglichc  Ro- 
mane Dcx  christlichen  teutschen  Grossfiirstcn  Herkules  und  der  hcehmischeii 
Jimiiglichen  Fräulein  Valiska  Wundergeschichte  1059,  und  Der  .  .  Fürsten 
Jlerkuliscus  und  Herkidadisla  .  .  Wundergeschichte  1665  erschienen.''  Unter 
dem  Bilde  der  germanischeu  Urzeit  war  hier  —  noch  eine  Nachwirkung  des 
politisoh-allegorischon  Romans,  wie  ihn  die  von  Opitz  übersetzte  Argenis  vertrat 
—  der  dreissigjichrige  Krieg  dargestellt,  und  ausführliche  Erörterungen  ins- 
besondere über  die  streitigen  Glaubensfragen  eingemischt ;  es  sollton  diese 
Romane  zu  der  Leichtfertigkeit  des  noch  immer  gelesenen  Amadis  den  vollen 
Gegensatz  bilden.  Mehr  das  Lehrreiche  der  Beschreibungen  äusserer  huefi- 
scher  Formen  hatte  der  von  politischem  wie  litterarischem  Ehrgeiz  erfüllte 
Herzog  Anton  Ulrich  von  BRAUNsciiwEiG-LiJNEBURG  im  Auge,  der  Schüler 
Schotteis  und  Birkens,  in  der  Fruchtbringenden  Gesellschaft  der  Siegprangende, 
geb.  1033,  gest.  1714.  Er  veröffentlichte  zu  Nürnberg  1009 — 73  Die  Durch- 
leuchtige Syrerinn  Äramena,  welche  in  der  Zeit  des  Patriarchen  Jacob  gelebt 
haben  sollte,  und  Die  JRccmische  Octavia  (Xeros  Gattin)  1677.  Dem  Herzog 
schienen  die  Romane  überhaupt  wahre  Adels-  und  Hofschulen,  und  dass  Reden 
und  Briefe,  zumal  aus  solcher  Feder,  als  Muster  angesehen  wurden,  begreift 
sich  ebenso  wie  die  Lust  den  hier  verhüllt  erzajhlten  Vorgängen  nachzuspüren. 
Am  meisten  Beifall  imter  den  Romanen  der  Zeit  fiind  jedoch  Die  Asiatische 
Banise  oder  Das  Blutige  doch  muthige  Pegu ,  der  zuerst  in  Leipzig  1689 
erschienene  Roman  Heinrich  Anselms  von  Ziegler  ind  Kliphalsen  (geb. 
1653  zu  Radmcritz  in  der  Oberlausitz,  gest.  zu  Liebertwolkwitz  bei  Leipzig 
1697;  vgl.  §  133,  0):  und  die  Geschlossenheit  des  Plans,  die  schwungvolle 
Sprache,  das  Interesse  an  dem  noch  immer  wundervollen  Orient  und  seiner  gleich- 
zeitigen Geschichte  rechtfertigen  diese  Vorliebe  der  Zeitgenossen.  Gerade  diese 
letztgenannte  Eigenschaft  lockte  Nachahmer  an,  welche  im  Gegensatze  zu  den 
bisher  genannten  Verfassern,  durchgängig,  wie  auch  liohenstein,  angesehenen, 
ja  hochgestellten  Männern ,  das  Romanschreiben  als  ein  Gewerbe  ansahen, 
und  ebenso  fruchtbar  waren  als  jene  auf  um*  wenige  grosse  Werke  bedacht. 
Politische  und  geographische  Kenntnisse  verwerthete  Eberhardt  Gierner 
Hai'I'ell  (geb.  1648  zu  Marburg,  gest.  zu  Hamburg  1690)  in  seinen  Romanen 
Der  Asiatische  Onoganiho,  darin  Der  jetzt  regierende  grosse  Sinesische  Kayser 

aus  Opitz.         5)  Druckort  beider  Romaue  Brauusehweig.         6)  So  Cliu.  Huuold  (§135,27), 
dessen  Satirisclur  Eoman,  Hamburg  1705,  seiue  Eutfernung  aus  dieser  .Stadt  herbeiführte; 


§  134  HOFROMAN.     SCJIELMENROMAN.  267 

XuncJiius  als  ein  unibscJnvei ff  ender  Ritter  vorgesteUd.  .  1673,  Der  Europceische 
Toroan  (Türkischer  Roman)  1676  u.  s.  w.;  nur  dass  der  Academische  Roman, 
Ulm  1690,  bereits  mit  der  Schilderung  einheimischer,  lockrer  Sitten  begann. 
Auf  dieser  Bahn  folgte  u.  d.  N.  TaZawrfer  August  Bohse  (geb.  zu  Halle  1661, 
Schriftsteller  in  Hambui'g  und  Jena,  gest.  als  Professor  zu  Liegnitz  1730),  dessen 
Liehescahinet  der  Damen  1685  eine  lange  Reihe  verwandter,  zum  Theil  in 
ferne  Zeiten  und  Länder  verlegter  Erzeehlungen  eröffnete:  Ärsinoe  1700  u.  a.'^ 
Diese  spseteren  Romane,  welche  planlos  Abenteuer  von  zuweilen  anstcessiger 
Art  häuften,  berührten  sich  ihrem  Grundzuge  nach  mit  einer  Abzweigung, 
welche  bereits  im  Ausland  neben  den  ursprünglichen,  idealistischen  Roman 
getreten  war,  mit  dem  Schelmenroman.  In  Spanien  vsrar  zuerst  der  gevvoehn- 
lichen  Übertreibung  der  Romane  gegenüber  mit  Glück  versucht  worden,  an- 
statt des  hoefisch-ritterlichen  Lebens  das  der  niedrigsten  Stände,  und  zwar 
aus  dem  Gesichtspuncte  eben  dieser  Stände  zu  schildern :  neben  dem  Thron- 
saal und  Lustgehölz  sollte  Gesindestube  und  Landstrasse  den  Schauplatz  des 
Romans  abgeben.  Ein  Muster  dieser  Romanart,  den  Guzman  de  Alfarache  von 
Mateo  Aleman  hatte  Aegidius  Albertinus  (§  131,  1)  1615  als  Der  Landstörtzcr 
Gusman  von  Alfarche  oder  Picaro  genannt  überarbeitend  verdeutscht;  Niclas 
Ulenhart  die  Perle  dieser  Dichtung,  Lazarillo  de  Tormes,  Augsburg  1617 
deutsch  erscheinen  lassen.  Eine  wahrhaft  werthvolle  Fortbildung  fand  der 
Schelmenroman  in  Deutschland  durch  Johann  Jacob  Christoffel  von 
Grimmelshausen.  Er  verwebt  in  seinem  Hauptwerke ,  dem  Abenteuerlichen 
Simplicissimus ,  mit  entlehnten^  und  erfundenen  Zügen  offenbar  eigene  Er- 
fahrungen in  Fülle,  so  dass  die  Geschichte  seines  Helden  grossentheils  sein 
eigenes  Leben  wiedergeben  muss.  Dies  ist  um  so  wichtiger,  als  er  in  seinen 
Schriften  sich  vielfach  als  Verfasser  hinter  falschen  und  wechselnden  Namen 
verborgen  hat.^     Sicher  ist,    dass  er  zu   Gelnhausen^   gegen   1625    geboren, 

JoH.  Leonhard  Rost  (aus  Nürnbei-g  1688—1727),  der  unter  dem  Pseudonym  'Meletaon 
sehrieb.  Die  unsittliche  Richtung  dieser  Romane  rechtfertigte  die  Bedenken,  welche  gegen 
den  Roman  überhaupt  geltend  gemacht  wurden,  namentlich  von  GtOTTHARD  Heidegger, 
Mythoscopia  Bomantiea  oder  Discours  von  den  so  genannten  Romans,  Zürich  1698. 
7)  Selbst  das  Schlusscapitel,  LB.  3,  807  fgg.,  ist  aus  Guevara  nach  der  tTbersetzung  des  Alber- 
tinus entnommen.  Auf  ein  franzoesisches  Vorbild,  Francion  von  Sorel,  hat  Bobertag,  Gesch. 
d.  Rom.  2,  65  fgg.  hingewiesen.  8)  Er  nennt  sich  German  Schleifheim  von   Sulsfort, 

Samuel  Greiffenson  von  Hirschfeld  u.  s.  w.  wobei  meist  durch  Buchstabenversetzung  sich 
der  wahre  Name  ergibt.  Dies  Nameuspiel,  wegen  dessen  G.  sich  selbst  einen  Proteus  nennt, 
erinnert  an  Fischart.  Erst  Echtermeyer  1838  und  Passow  1847  haben  den  wahren  Sach- 
verhalt aufgeklärt.  9)  Nachweis  der  Familie  G.  daselbst:   Duncker  Zs.  f.    hess.   Gesch. 


268  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVII  JAIllüI.  §  134 

seit  dem  zehnten  Jahr  am  Krieg  und  seinen  Wecliselflillen  Theil  nahm  und 
nach  weiten  Reisen  spätestens  l(iG7  bischöflich  Strassburgischer  Amtmann"' 
zu  Uenclicn  ward  und  hier  107G  starb.  Als  Schriftsteller  trat  er  seit  1659 
mit  satirischen  Schriften"  in  Moscheroschs  Art  und  mit  ernsten  Romanen '- 
hervor.  Sein  Hauptwerk,  der  Simplicissimus,  erschien  16G8  und  öfters 
wiederholt;  '^  es  schlössen  sich  ihm  1670  zwei  Seitenstückc  an:  Trutz-Simiücx 
oder  .  .  Landsturtzerin  Courasche  und  Der  seltsame  Springinsfeld^  und  nocli 
spa}tere  Schriften  {Das  ivunderliche  Vogel-Nest  1672  u.  a.)  lassen  die  Per- 
sonen des  Hauptromans  wieder  auftreten.'^  Dieser  zeichnet  sich,  nicht  nur 
vor  den  Fortsetzungen  und  Nachahmungen,  durch  die  anschauliche  Schilde- 
rung der  Kriegszeit  aus,  wobei  dem  Laster-  und  Grausenhaften  nur  um  so 
wirkungsvoller  heitere  Bilder  zur  Seite  treten ,  wie  das  liebliche  Idyll  der 
Kindheit  des  Helden;'^  auch  dessen  Charactereutwicklung  wird  meisterhaft 
durchgeführt.  Dies  reiche  Lebensbild  umspielt  und  berührt  überdies  eine 
phantastische  Zauber-  und  Gespensterwelt.  Vielfache  Nachahmungen  "^  be- 
zeugen die  BeUebtheit  des  Romans.  Im  sechsten  Buche  des  Simplicissimus 
war  nebst  anderen  Reisen  auch  eine  in  die  Südsee   geschildert,    bei  welcher 


1882  S.  385  fgg.  10)  Es  ist  wahrsclieinlich,  dass  er  vom  Protestantismus  zur  katliolischeu 
Kirche  übertrat.  Eine  als  Beweis  dafür  öfters  angeführte  Schrift:  Simplicii  Angeregte  Ur- 
sachen, warum  er  nicht  katholisch  werden  könnte,  von  Bonamicus  in  einem  Gespräch 
widerlegt,  gehört  jedoch  J.  Scheffler  au,  in  dessen  Ecclesiologia  sie  als  XYII.  Tractätlein 
gedruckt  ist.  11)  Der  fliegende  Wandersmann  nach  den  Mond,  zunächst  nach  frau- 

z(jpsischer  Vorlage;  Traum-Geschicht  von  Dir  und  Mir,  166Ü:  Schwartz  und  Weiss  oder 
der  satyriscJie  Pilgram,  16G6.  12)  Exempel  der  unveränderlichen  Vorsehung  Gottes  .  .  . 
Histori  vom  keuschen  Joseph,  o.  0.  u.  J.  (1667?)  u.  ö.  Auch  die  Geschichte  von  Josephs  Diener 
Musai  ist  beiffeffeben.  Wegen  der  Coneurreuz  mit  Zesens  Assenat  gerieth  G.  mit  diesem 
iu  Streit;  Zesens  Neuerungen  bekämpfte  er  noch  in  Simplicissimi  Fralerey  und  Gepräng 
mit  seinem  Teutsclien  Micliel  (1673).  Spaetere  Romane  sind:  Dietwalts  und  Amelinden  anmuthigc 
Liebs-  und  Leidsbeschreibung,  Nürnberg  1670  und  Proonmus  und  Lympida,  o.  0.  1672. 
13)  Von  der  Ausgabe  1668  ist  uur  ein  Nachdruck  (B)  aus  dem  J.  1669  erhalten:  aus  dem  glei- 
chen Jahre  stammt  eine  echte  Ausgabe  (A).  worin  die  mundartlich  gefärbte  Sprache  der  ersten 
nach  den  allgemeinen  Regeln  umgestaltet  und  ein  6.  Buch  als  Continuatio  hinzugekommen 
ist.  Neudrucke  haben  wir  (abgesehen  von  mehreren  Bearbeitungen)  von  Keller,  Lit.  Ver. 
XXXIII.  XXXIV,  1854,  wozu  in  Bd.  LXV.  LXVI,  1862  noch  andre  Schriften  Grimmeis- 
hausens kommen;  von  Heinrich  Kurz,  Leipzig  1863,  4  Bde.;  von  Tittmanu,  Leipzig  1874; 
von  Kögel,  Halle  (Neudr.)  1880;  von  Bobertag,  in  Kürschners  Nat.  Litt.  14)  Gesammelt 
erschienen  die  simplicianischen  Schriften  Nürnberg  1683  u.  ö.  Dieser  Druckort  ist  wohl^l 
auch  der  der  früheren  Ausgaben  .  und  nicht  das  hierin  öfter  genannte  Mompelgart. 
15)   LB.  3,  705.  16)  Ungarischer  Simplicissimus  1683,    Neudruck  Leipzig  1854  u.   a. 


il 


§  134  SCHELMENROMAN.  269 

das  Schiff  scheitert  und  der  Held  auf  einsamer  Insel  sein  Leben  zu  be- 
schliessen  gedenkt.  Diese  Vorstellung,  mehrfach  in  der  Litteratur  der  Zeit 
behandelt,  fand  ihren  glücklichsten  Ausdruck  in  Robinson  Crusoe  von  Daniel 
Defoe  1719,'^  wovon  schon  1720  eine  deutsche  Übersetzung  erschien.  Unter 
den  vielfachen  Versuchen,  denselben  Gedanken  für  deutsche  Loser  neu  zu 
gestalten,  verdient  Auszeichnung  ein  Roman,  dessen  Verfasser  Johann  Gott- 
fried Schnabel  sich  als  Schriftsteller  Gisander  nannte,  seinen  Lebensverhält- 
nissen nach  aber  wenig  bekannt  ist:  die  Insel  Felsenhurg :  ^^  hier  ist  es  ein 
kleiner  Friedensstaat,  der  zuletzt  aus  den  auf  die  einsame  Insel  Verschlagenen 
sich  bildet.  Doch  neben  dem  sehnsüchtigen  Vergnügen,  mit  welchem  solche 
Erzeehlungen  aufgenommen  wurden,  regte  sich  der  Spott,  welcher  an  das  alte 
Sprichwort  von  den  Lügen  der  Weitgewanderten  (§  107,  20)  anknüpfte. 
Mit  wirklich  genialer  Darstellungskraft  gezeichnet,  tritt  ein  solcher  Auf- 
schneider auf  im  ScJielmu/fsl.y  von  Christian  Reuter.'^  Es  verschlägt  wenig, 
dass  dieser  mit  Reise-  und  Liebesabenteuern  renommierende,  beständig  flu- 
chende Landfahrer  ursprünglich  eine  bestimmte  Person  hatte  darstellen  sollen, 
den  Angehcerigen  einer  Leipziger  Familie,  welche  der  Dichter  als  Student 
auch  dramatisch  gezeichnet  hatte:  Uhonnete  Femme  Oder  die  Ehrliche  Frau 
SU  Pfesiwe  (1695),  La  maladie  et  la  mort  de  VhonnPte  Femme:  das  ist:  Der 
ehrlichen  Frau  Schlampampe  Krankheit  und  Tod  1696  u.  a.  Mit  derselben 
burlesken  Komik  zeichnete  er  einen  herabgekommenen  Adligen  und  seine 
Umgebung  in  Graf  Ehrenfried  ^^  (1700).  Vor  den  rechtlichen  Folgen  seiner 
Pasquille  ward  Reuter  durch  hohe  Gönner  beschützt;  geb.  zu  Kutten  bei 
Zörbitz  1665 ,  erscheint  er  zuletzt  als  Fest-  und  Passionsdichter  thsetig 
(§  137,  33)  zu  Berlin  1703—12.2' 


17)  H.  Hettner,  Robinson  und  die  Robinsonaden,  Berlin  1854.  18)   Wunderliche  Fata 

einiger  Seefahrer,  absonderlich  Alberti  Julii  eines  geborenen  Sachsens  . .  Nordbauseu  1731  bis 
43.  Schnabel  war  zu  dieser  Zeit  gräflicher  Hofagent  zu  Stollberg.  Erneuerung  von  Tieck, 
Breslau  1827;  s.  A.  Stern,  im  Histor.  Tascheubuch,  Lpz.  1880  und  Ph.  Strauch,  Rundschau 
1888.  19)  Zwei  Ausgaben  von  1696,  die  eine  etwas  gleichmässiger  im  Stil,  aber  weniger 
ursprünglich,  wozu  noch  ein  anderer  Theil  1647;  Neudrucke  von  Schullerus  Halle  1885. 
Vorher  oft  als  Volksbuch  gedruckt.  20)  Tb.  Hermann    in    Prutz  Deutsches   Museum 

5,  2,  660  fgg.  (1855):    s.  Vierteljsch.    f.  Litt.-Gesch.    1,  283.  21)  Leben  und  schrift- 

stellerische Thätigkeit  Reuters  hat  Zarncke  aufgedeckt:  Abb.  der  sächs.  Ges.  d.  Wiss.  1884. 
Ebd.  Berichte  1887,  44.  253.  306.  Vgl.  Minor  Cl.  g.  A.  1885  und  Creizenach  in  Schnorrs 
Arch.  13,  434  fgg.  Ellinger,  Ch.  Reuter  und  seine  Komödien,  Zs.  f.  d.  Philol.  20,  290 
fgg.  Ellinger  hat  auch  drei  Singspiele  Reuters  wiederholt:  Berliner  Neudrucke  I,  3  (B.  1888). 

Wackernagol,  Litter.  Geechicbte.  II.  18 


270  NEUIIOUIIDEUTSCIIE  ZEIT.         XVII  JAIUill.  §  135 

§  135. 
Ging  die  zweite  schlcsische  Dichterschule  mit  ilircm  Schwulst  und  ihrer 
gesucht  geistreichen  Ausdrucksweise  über  alles  Mass  hinaus,  so  fand  gleich- 
zeitig ein  ebenso  übertriebenes  Streben  nach  Einfachheit  und  Natürlichkeit 
seinen  Vertreter  in  Ciiuistian  Weisk.  '  Jene  suchte  auf  die  vornehmen 
Kreise  zu  wirken ,  Weises  Schriftstcllcrthaitigkeit  ging  so  gut  wie  ganz  auf 
in  der  Sorge  für  die  Schule.  Geboren  zu  Zittau  1G42,  ward  er  1G70  Pro- 
fessor in  "NVcisscnfels ,  1G78  Rector  in  der  Vaterstadt  und  starb  hier  1708. 
Weise  ist  auf  allen  Gebieten  der  schoenon  Littoratur  thwtig  gewesen  und  hat 
eine  grosse  Fruchtbarkeit  bewiesen;  aber  diese  Vielseitigkeit  und  Leichtigkeit 
war  bedingt  durch  den  niedrigen  Begriff,  welchen  er  von  der  Dichtkunst 
hatte,-  und  durch  die  Bcschriinkung  auf  den  nächsten  Zweck ,  den  er  im 
einzelnen  Falle  verfolgte.  Die  Poeterei  ist  ihm  eine  Dienerin  der  Bered- 
samkeit :  ^  die  Beschäftigung  mit  ihr  soll  den  künftigen  liedner  schon  der  Reime 
wegen  noethigen,  mit  dem  Ausdruck  zu  wechseln.  Andrerseits  sollte  beim 
Versemachen  durchaus  nur  erlaubt  sein,  was  die  gebildete  Prosa  auch  zuliess; 
kühne  Wortstellungen  waren  verpcent.  So  erschien  ihm  die  Dichtkunst  auch 
als  lernbar  und  nicht  eben  schwierig:  schon  auf  der  Universittet  in  Leipzig 
gab  er  darin  Unterricht,*  wie  er  selbst  damals  für  Andere  zahlreiche  Gedichte 
verfasste.  Diese  sind  denn  auch  z.  Th.  in  seine  erste  Sammlung  überge- 
gangen, die  als  Der  grünenden  Jugend  Ueberßüssige  Gedancken^  Leipzig  1668 
u.  ö.  erschien.'^  Den  etwas  leichtfertigen,  oft  volksmaessigen  Ton  der  Lieder 
seiner  früheren  Zeit  suchte  er  als  Schulmann  durch  Der  grünenden  Jugend 
Notlmendige  GedancJceti  1675  und  durch  Reiffe  GedancJcen,  Leipzig  1683,  in 
Vergessenheit  zu  bringen;  allein  diese  Erzeugnisse  der  Gclogenheitspocsie 
waren  ebenso  werthlos  als  Weises  geistliche  Gedichte ,  die  theilweise  erst 
nach  seinem  Tod  veröffentlicht  wurden/'  Es  war  eben  für  Weise  die  Prosa 
eine  weit  angemessenere  Form  und  zu  deren  kunstmaessiger  Behandlung  hat 
er  ebenfalls  Anleitung  gegeben.''     Allein  seine  ganze  Kraft    entfaltete  er  erst 

§   135.  1)  H.  Palm,   Beiträge   zur  Gesch.  d.  d.  Lit.  S.  1  fgg.     L.   Fulda,    die  Gegner 

der  zweiten  schlesischen  Schule    in  Kürschner  Nat.  Litt.   Bd.  39.  2)  Er   meinte  dabei 

freilich  die  deutsche  Dichtung  seiner  Zeit;  die  classischen  Dichter  Vergil  u.  s.  w.  sieht  er  ganz 
anders  an  :  Vorr.  zu  den  Überflüssigen  Gedancken.  3)  Curiöse  Gedanken  von  Deutschen 

Versen  II  IG.  Ähnliche  Anschauunffen  vertritt  Weise  schon  1675  in  den  Anmerkungen 
zu  den  Nothweudigen  Gedancken.  4)  Eine  Probe  seines  Unterrichts  Cur.  Ged.  II  86  fgg. 
5)  Ein  II.  Theil  folgte  1674.  6)  Gottergebene  Gedanken   1703;    Tugendlieder  1719; 

Trost-  und  Sterbe- Andachten  und  Buss-  und  Zeitandachten,  beide  1720.         7)  Politischer 


§  135  WEISE.  271 

in  der  volksmsessigen  Behandlung  der  Prosa,  wozu  ihm  Erza^hhing  und  Drama 
Gelegenheit  boten.  In  Moscheroschs  ^  Art  und  mehrfach  nach  dessen  An- 
deutungen schrieb  er  Romane ,  in  welchen  die  moralische  Betrachtung ,  die 
Gespraeche  den  oft  dürftigen  und  nüchternen  Erzsehlungsstoff  weit  überwiegen: 
Die  drey  Hauptverderher  in  Deutschland  1671  (gemeint  sind  das  Theologen- 
gezänk, das  als  Machiavellismus  bezeichnete  Streben  Aller  über  ihren  Stand 
hinaus  und  das  Modewesen),  Die  drey  ärgsten  Ertz-Narren,  Leipzig  1672,** 
Die  drey  Mügstcn  Leute,  ebd.  1675,^"  Der  politische  Näschcr  o.  J.  (dann 
1676).  Zum  letztgenannten  Werke  bekannte  er  sich  in  den  spaeteren  Auf- 
lagen als  Verfasser,  waehrend  er  sich  in  dem  1671  veröffentlichten  Siegmimd 
Gleichviel ,  in  den  beiden  folgenden  Catharimis  Civilis  genannt  hatte.  Weit 
vorzüglicher  als  diese  Romane  sind  jedoch  die  dramatischen  Arbeiten  Weises.'^ 
Mit  wenigen  Ausnahmen  {Die  trinmpihierende  Keuschheit,^'^  Die  hetriihte  und 
getröstete  Galathee,^^  dies  ein  Singspiel  und  das  einzige  in  Versen  abgefasste 
Stück  Weises,  Die  beschützte  Unschidd,  Lustspiel  vom  dreifachen  Glücke,  eine 
Verherrlichung  Leipzigs;  endlich  die  Komplimentier comödie  ^*)  sind  seine  sämmt- 
lichen  Stücke  für  die  Schulbühne  geschrieben.  Weise  fand  in  Zittau  die 
auch  anderwärts  übliche  Sitte  vor ,  dass  die  Schuljugend  alljsehrhch  Proben 
ihrer  Geschicklichkeit  in  den  Sprachen  durch  Aufführung  von  Schauspielen 
abzulegen  hatte.  ^^  Weise  füllte  die  dazu  bestimmten  drei  Tage  mit  eigenen, 
und  durchaus  deutschen  Schauspielen  aus:  am  ersten  Tag  ward  ein  biblischer, 
am  zweiten  ein  historischer  Stoff  behandelt;  den  dritten  nahmen  erfundene 
und  mehr  scherzhafte  Gegenstände  ein,  wobei  zuweilen  zwei  Stücke  Act  für 
Act  mit  einander  wechselten.'^  Die  biblischen  Stücke,  durchweg  dem  alten 
Testament  entnommen  (ein  zwölfjsehriger  Jesus  ist  nicht  aufgeführt  worden) 
versetzen  in  der  naiven  Weise  des  alten  Volksdramas  Verhältnisse  der  Gegen- 
wart in  die  Patriarchenzeit :  '^  Esaus  Geschichte  gibt  Gelegenheit,  die  Jagd- 
Redner.  Leipzig  1677  u.  ö.  Curieuse  Gedankeu  von  deutschen  Briefen,  Leipzig  1693. 
8)  Auch  Grininielshausen  kennt  er,  nennt  aber  dessen  Simplicissimus  einen  Salbader:  Vorr. 
zu  den  Ertznarren.  Vou  der  reichen  Phantasie  Grrimnielshausens  ist  allerdings  bei  "Weise 
Nichts    zu    finden.  9)  Neudruck    Halle  1878.  10)  Eine  Probe   daraus  LB.  3,  853. 

II)  E.  W.  H.  Koruemann,  Ch.  W.  als  Dramatiker,  Diss.  Marburg  1853.  Glass,  Ch.  W.'s 
Verdienste  um  die  Entwickelung  des  deutschen  Dramas,  Progr.  Bautzen  1876.  12)  Ein 

modernisiertes  .Josephsdrama,  erschienen  in  den  Überflüssigen  Gedanken  1668.  13)  Dies 

und  die  nächsten  drei  siiid  in  den  Überfi.  Ged.  II  1674  erschienen.  14)  Anhang  zum 

Politischen    Redner  1677.  15)  Über    einen  Vorgänger  Weises,    den    Zittauer    Rector 

Christian  Keimann  s.  das  Progr.  von  H.  J.  Kämmel,  Zittau  1856.  16)   Vgl.  Gryphius, 

Verliebtes    Gespenst   und   Dornrose    (§  132).  17)  Vielleicht   gab    dies  Anlass  zu  den 


272  NEUlIOCIinElIT.SCriE  ZEIT.        XVII  JAIIRII.  §  135 

rechte  des  Adels  darzulegen  und  die  liauern,  welche  bei  Weise  überhaupt 
schlocht  wegkommen,  in  ihrer  Feigheit,  Dummheit  und  Falschheit  vorzu- 
führen. Auch  tragische  Stoffe,  wie  Jephthas  Tochtermord,  kamen  zur  Dar- 
stellung ,  und  zwar  nach  Weises  Grundsatz  ,  durch  achnoUon  Wechsel  zu 
überraschen,  so  dass  unmittelbar  auf  die  schrecklichsten  Scenen  lustige  Spässe 
des  Pickeihrerings  folgten.  Denn  diese  Figur  übernahm  er  aus  dem  Schau- 
spielerdrama, und  machte  sie  Anfimgs  zum  Ausdruck  der  allgemeinen  satiri- 
schen Auffiissung,  wajhrend  er  sie  spa3ter  mehr  und  mehr  in  die  Handlung 
selbst  verflocht.  Die  historischen  Dramen  Weises  sind  meistens  Intrigucn- 
stücke  aus  der  Neuzeit :  Emporkömmlinge,  wie  der  Marschall  d'Ancre,  Biron, 
Olivarez,  andrerseits  Masaniello,  werden  gestürzt  und  so  auch  hier  der  Ju- 
gend die  Vorsicht  eingeprägt,  die  Weise  als  Ilaupteigenschaft  des  Politicus, 
des  auch  von  Schupp  wie  von  Thomasius  empfohlenen  Vorbildes  der  Lebens- 
führung, ansah.  Zugleich  geben  diese  wie  die  biblischen  Stücke  reiche  Ge- 
legenheit, Nebenpersonen  anzubringen,  und  es  sollten  ja  alle  Schüler  mit- 
wirken, wo  moDglich  mit  Berücksichtigung  ihrer  Gaben,  ja  selbst  der  Stellung 
ihrer  Eltern.  Am  besten  sind  Weise  die  rein  komischen  Nachspiele  gelungen, 
in  denen  seine  lebhafte ,  lustige  Gemüthsart,  seine  scharfe  Beobachtung  des 
Volkslebens  und  der  Volksrede  ^^  ganz  zur  Geltung  kommen ,  in  denen  er 
endlich  auch  am  meisten  das  Schauspielerdrama,  dessen  niederländische  und 
niederdeutsche  Vertreter  er  rühmt,  als  Vorbild  und  Stoffsammlung  benutzen 
konnte.  Auf  diesem  Wege  kamen  ihm  wohl  auch  classische  Lustspiele  des 
Auslandes  zu:  Molieres  Precieiises  ridicules  benutzte  er  im  Verfolgten  La- 
teiner^^^  Shakesperes  Taming  of  the  Shrew  in  der  Koimdia  von  der  bösen 
Catharinc^^  Dagegen  entnahm  er  von  Gryphius  das  Muster  des  Peter  Squentz 
zu  seinem  Lustigen  Nachspiel  von  Tobias  und  der  Schwalbe."^  ^  Vollkommen 
frei  dichtete  er  die  Ztveyfache  Foetensunft  zur  Verspottung  Zesens  und  der 
poetischen  Gesellschaften  überhaupt.^-     Indem  nun  Weise    stets  neue  Stücke 

Angriffen  der  CTeistlichkeit,  wegen  deren  Weise  die  Schulaufführungen  von  1689  ab  zunächst 
ganz  ausfallen  liess  und  später  nur  unregelmässig  wiederholte.  18)  Er  überlässt  den 

Aufführenden  den  nächsten  Anschluss  an  die  Mundart  zu  suchen.  In  der  beschützten  Unschuld 
sind  die  Dialectscenen  in  der  Mundart  selbst  geschrieben.  Die  kräftigen  Ausdrücke  sind 
wohl  der  Grund  gewesen,  dessentwegen  Leibniz,  Unvorgr.  Ged.  112,  Weises  Sprache  als 
etwas  schmutzig  bezeichnete.  Doch  wagt  allerdings  Weise  auch  in  den  Sachen  seinen  Zu- 
schauern starke  Dinge  zu  bieten.  19)  Mit  Esau  und  Jacob  zusammen  als  Komoedien- 
Probe.  Lpz.  IGOG.  20)  Zuerst  veröffentlicht  von  Fulda,  s.  o.  Anm.  1.  Vgl.  auch  Von 
dem  Träumenden  Bauern  am  Hofe  Phüippi  Boni  in  Burgundien  mit  dem  Shakespere'schen 
Vorspiel  zu  Taming  of  tlie  Shrew.        21)  LB.  3,  827.         22)  Auch  die  Namen  der  Feinde 


§  135  WEISE.     GALANTE  LYRIK.  273 

für  sein  Schulthcater  schrieb  (nur  eines  hat  er  wiederholt  aufführen  lassen), 
kam  er  bis  zur  Zahl  von  55  Dramen,  die  er  nur  zum  Theil  und  dann  oft 
im  Anhang  zu  andern  Schriften  in  den  Druck  brachte  ,  ^^  zum  andern  aber 
handschriftlich  hinterliess.-*  Leider  vererbte  sich  die  geringe  "VVerthschätzung, 
die  er  selbst  für  seine  Schauspiele  hatte,  auf  die  Folgezeit,  um  so  mehr  als 
durch  Gottsched  der  franzoesischc  Geschmack  ausschliesslich  herrschend  ward, 
dem  das  Yolksthümlichdeutsche  an  Weise  durchaus  widerstrebte;  und  so  hat 
erst  Lessing  ^^  wieder  auf  Weises  Verdienste  hinweisen  müssen.  Weit  mehr 
reizten  —  und  verführten  —  Weises  Romane  und  seine  lyrischen  Gedichte 
zur  Nachahmung.  Insbesondere  mit  dem  von  ihm  gern  gebrauchten  Namen 
des  Politicus  ward  ein  arger  Missbrauch  getrieben:  von  J.  Riemer  allein 
erschienen  Der  Politische  Maulaffe  1679,  Die  Politische  Colica  1680,  Der 
Politische  Stochfisch  1681  u.  ä.  und  von  Anderen  noch  andere  Thorheiten 
dieser  Art.  Weises  Lieder  aber  erzeugten  der  bisherigen  Übersticgenheit 
gegenüber  eine  wahre  Fluth  von  Nachahmungen,  die  nur  durch  Reim  und 
Rhythmus  sich  von  der  Prosa  unterschieden.  Mit  den  Anforderungen  an 
Gedanken  und  Ausdruck  sank  selbst  der  Begriff  von  der  Würde  der  Kunst, 
und  es  konnten  Lieder  auf  die  Genussmittel,  auf  Tabak,  Kaffee,  Bier  und 
selbst  Kümmelsuppe  sich  in  die  Öffentlichkeit  wagen. -^  Waren  doch  die 
zahlreichen  Gelegenheitsgedichte,  mit  denen  Christian  Gryphius  (1649 — 1706, 
Rector  zu  Breslau),  der  Sohn  des  Andreas,  seine  Poetischen  Wälder  1698 
füllte,   die  unter  dem  Namen  Menantes  von  Christian  Friedrich  Hunold,^' 


Schuppes  sind  darin  benützt.  Gedruckt  im  Anhang  zu  den  Reifen  Gedanken.  Gegen  Zesen 
richtet  sich  auch  in  den  Ertznarren  Cap.  XI  und  Überflüss.  Ged.  10,  12.  23)  S.  Anm. 

12.  13.  14.  19.  22.  Sonst  erschienen  (s.  Fulda  S.  XXX):  Der  gestürzte  Markgraf  von  Ancre, 
Zittau  1679.  Jephthas  Tochtermord  1680.  Bäuerischer  Machiavellus,  Lpz.  1681.  Opferung 
Isaaks,  Zittau  1682.  Zittauisches  Theatrum,  Dresden  (1683):  Jakobs  Heirath;  Masaniello; 
Tobias.  Neue  Jugendlust  Fkf.  und  Lpz.  1684:  Der  verfolgte  David;  Argenis;  Verkehrte 
Welt.  Lust  und  Nutz  der  spielenden  Jugend,  Dresden  und  Lpz.  (1690):  Der  keusche  Joseph; 
Die  unvergnügte  Seele;  Der  betrogene  Betrug.  Der  freimüthige  und  höfliche  Eedner,  Lpz. 
1693 :  Naboths  Weinberg ;  Marschall  Biron  ;  Politischer  Quacksalber.  Die  betrübten  und 
wiederum  vergnügten  Nachbarskinder  1699.  Neue  Proben  von  der  vertrauten  Redenskunst, 
Dresden  und  Lpz.  1700:  Olivarez;  König  Wenzel;  Niederländischer  Bauer.  Curieuser  Körbel- 
macher, Görlitz  1705.  Ungleich  und  gleich  gepaarte  Liebesalliance ,  Görlitz  1708. 
24)  Einiges  ist  auch  ganz  verloren.  25)  Brief  an  seinen  Bruder  Karl,   vom  14.  Juli 

1773.  26)  LB.  2,  681  von  Daniel  Stoppe,  aus  Hirschberg  (1697—1747),  Der  Parnass 

im  Sattler,  1735.  Freilich  auch  Canitz  dichtete  ein  Lob  des  Tobacks,  LB.  2,  619;  über  andere 
B.  Weim.  Jb.  2,  243.    QF.  56,  91.         27)  Geb.  1680  zu  Wandersieben  bei  Gotha,  1700  bis 


274  NEUIIOCUÜEUTÖCJIE  ZEIT.         XYIl  JAIllüI.  §  130 

die  uiitor  dorn  Namen  Philandcr  von  der  Linde  von  dem  Leipziger  Professor 
Jon.  IJi  KCKnAui)  Mkncke  (§  1.58,  l:{)  1705  heniusgegebcncn,  endlich  die  von 
Morliof  seinem  Unterricht  von  der  Tcutschen  Spraclic  und  Poesie  (§  120,  37) 
beigefügten,  alle  gleich  iidialtsleer,  gleich  beschränkt  auf  die  Ausfüllung  gc- 
waOmlicher,  anspruclisloser  Formen.  Es  fehlte  eben  diesen  deutschen  Nach- 
ahmungen der  franzoosischen  galanten  Poesie  an  dem  geselligen  Zwecke, 
welchem  diese  in  den  Pariser  Salons,  in  dem  Hotel  de  Rambouillet  u.  a. 
gedient  hatte  und  welcher  allein  ihre  prosaische  Ausdrucksweise,  ihre  Be- 
schränkung auf  Sonett,  Äladrigal,  Epistel  und  {ohiiliche  kleine  Gedichtformen, 
endlich    ihren   spielenden ,    nur    auf   sinnreiche    Schlüsse    berechneten    Inhalt 

rechtfertigte.'^^ 

§  136. 
Mit  der  Wendung  der  gelehrten  Dichter  zur  Einfachheit  und  Nüchtern- 
heit kam  die  Gcschmacksentwickelung  in  den  Jlof kreisen,  zunaechst  den 
braudcnburgisch-preussischen  überein,  welche  sich  an  die  damals  ihr  classisches 
Zeitalter  durclilebende  franzocsische  Litteratur  anzuschUessen  suchte.  Die  Ver- 
ständigkeit und  leichte  Anmuth  der  franzoesischen  Dichter ,  insbesondere 
Boilcaus,  fand  einen  bewundernden  Nachahmer  an  dem  Freiherrn  Friedrich 
Rudolf  Ludwig  von  Canitz  (geboren  zu  Berlin  1654,  vielfach  diplomatisch 
thfctig ,  gest.  1699).  Seine  Satiren,  so  weit  sie  nicht  Übersetzungen  sind, 
richten  sich  gegen  das  Hofleben;  aber  auch  Von  der  Poesie  handelt  er  und 
schilt  die  feile,  sinnlos  übertreibende  Gelegenheitsdichtung,  lässt  übrigens  die 
schlesischen  Dichter  noch  gelten.'  Noch  mehr  Bewunderung  erregte  seine 
Trauorode  auf  den  Tod  seiner  ersten  Gattin,  und  es  fehlt  allerdings  den 
tiefgefühlten  Gedanken  dieser  Ode  nur  an  Verbindung  und  Einheitlichkeit.- 
Wenn  Canitz  als  vornehmer  Hofmann  seine  Unzufriedenheit  mit  den  littera- 
rischen Zuständen  massvoll  aussprach,  so  hatte  dagegen  Benjamin  Neukirch 
Anlass  genug  erhalten ,    die  Verachtung ,    in  welche  die  Dichtung  mehr  und 

1706  als  Litterat  in  Hamburg,  starb  1721  in  Halle.  Von  ihm  erschienen:  Die  Edle  Be- 
mühungen müssiger  Stunden  in  Galanten  .  .  Gedichten,  Hamburg  1702,  II  Bde.  1704; 
Theatralische,  Galante  und  Geistliche  Gedichte,  ebd.  1706:  Akademische  Nebenstunden, 
Halle  1713.  Über  ihn  vgl.  §  136;  über  seine  Poetik  s.  §  120:  seine  Romane  134,  6;  seine 
Opern    137.  31.  28)  Von  Waldberg  QF.  56. 

§  136.  1)  LB.  2,  626,  7  fgg.  2)  Erst  nach  seinem  Tode  erschienen  die  Gedichte,  von 
Joachim  Lange  gesammelt,  als  Neben-Stunden  unterschiedener  Gedichte,  Berlin  1700;  besser, 
aber  etwas  willkürlich  behandelt,  gab  sie  J.  U.  König,  Berlin  1727  heraus,  mit  einer  Lebens- 
beschreibung.    Danach   eine    Biographie    von    Varnhagen.     Vgl.    auch    die  Sammlung   von 


§  136  IIOFDICHTUNG.  275 

mehr  fiel,  bitter  zu  beklagen.  Geboren  zu  Reinke  im  Glogau'schen  1665, 
suchte  er  vergeblich  seit  1696  in  Berlin,  als  Lehrer  von  Adeligen,  zuletzt 
an  der  Ritteracademic  sein  Auskommen  zu  finden:  erst  die  Berufunjr  als 
Prinzenerzieher  nach  Ansbach  1718  verschaffte  ihm  einen  sorgenfreien  Lebens- 
abend. Er  starb  1729.  Als  Dichter  begann  er  mit  der  Nachahmung  seiner 
berühmten  Landsleute:  er  gab  Lohensteins  Arminius  und  Hofmanswaldaus 
Gedichte  heraus  (§  133,  5.  20).  In  Berlin  jedoch  ging  er  zur  Gelegenheits- 
dichtung im  franzocsischen  Stile  über,  leistete  aber  sein  Bestes  in  Satiren 
meist  dialogischer  Form,  die  erst  weit  spseter  erschienen.^  Zuletzt  brachte 
er  in  Ansbach  Fenolons  Telemach  in  deutsche  Alexandriner.^  Eindrucksvoller 
jedoch  als  die  stille  Abkehr  von  Canitz  und  die  Absage  des  wenig  beachteten 
Neukirch  war  der  Angriff  auf  das  Ansehn  der  herrschenden  Dichterschule, 
der  von  dem  Epigrammatisten  Christian  Wernicke  ausging.  Er  war  ge- 
boren zu  Elbing  1661  ,  -^  hatte  in  England  vergebHch  diplomatische  Dienste 
gesucht,  war  1708 — 1723  daenischer  Resident  in  Paris  und  starb  zu  Kopen- 
hagen 1725.®  1697  veröffentlichte  er  überschriße  oder  Epigramme^  Weil 
er  darin  die  Spielereien  der  Pegnitzer  und  die  Überschwänglichkeiten  der 
Schlesier  verspottet  hatte,  verghch  ihn  Postel,  der  in  Lohensteins  Manier  für 
die  Hamburger  Oper  dichtete ,  mit  dem  Hasen ,  der  auf  dem  Grabe  des 
Loewen  herumspringe.  Als  Antwort  Wernickes  erschien:  Ein  Heldengedicht 
Hans  Sachs  genannt  (§  113,  7).  Jetzt  mischte  sich  Hunold  in  den  Streit, 
worauf  Wernicke  ihn  wegen  eines  Epigramms  auf  den  Koenig  von  Spanien 
in  seinen  eben  damals  (1702)  erscheinenden  Gedichten  denuncierte.  Hunold 
liess  noch  rechtzeitig  das  Blatt  Umdrucken  und  richtete  nun  1704  gegen 
Wernicke  eine  ganze  Komoedie:  Der  ThöricUe  Pritschmeister^  Oder  Schtver- 
mende  Poete,  worin  er  den  Gegner  als  Wecknarr  und  Narrweck  ^  auftreten 
liess.     So  wenig  dieser  Ausgang  für  Wernicke  vortheilhaft  war,  so  thut  dies 


Fulda  in  Kürschners  Nat.  Litt.  .39    (zugleich   für  Neukirch  und  "Wernicke).  3)  Zuerst 

im  Anhang  zu  Haukes  Wehlichen  Gedichten.  Dresden  und  Leipzig  1727.  Eine  Auswahl  aus 
den  grossentheils  ungedruckten  Gedichten  veranstaltete  Gottsched,  Eegenshurg  1744,  und 
fügte  eine  Lebensbeschreibung  bei.  4)  Begebenheiten  des  Prinzen  von  Itluiha,  Anspach 

1727 — 39.  5)  Neubaur:  Altpreuss.  Monatsschrift,  XXV  (1888).  Hier  ist  auch  ein  zu  Elbing 
1678  erschienenes  Lob-Gedicht  Über  die  Gnadenvolle  Geburt  Christi  von  Christian  Wernigke 
abgedruckt.  6)  Jul.  Elias,  Ch.  W.,  München  1888  (Diss.).  7)  Zu  Amsterdam;  die 

späteren  Auflagen  1701  und  1704  (Poetischer  Versuch)  erschienen  zu  Hamburg.  Wiederholt 
von  Bodmer,  Zürich  1749:  Auswahl  mit  Correcturen  von  Eamier  Lpz.  1780.  LB.  2,  629. 
8)  Diese  Namensverdrehungen  haben  dazu  geführt,  dass  man  dem  Dichter  oft  die  Namensform 


276  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XVII  JAHRIl.  §  13G 

seinem  dichterischen  Verdienste  doch  keinen  Eintrag:  seine  Epigramme  sind 
mannigfaltig,  witzig,  nur  nicht  immer  leicht  verständlich,  selbst  nicht  mit 
Hilfe  der  beigefügten  Erläuterungen.  Der  hier  verfochtcnc  franzoesischo  Oe- 
schmack  aber  durchdrang  mehr  und  mehr  die  Hofpoesie,  die  zunjechst  der 
Kurländer  Johann  von  Besser  am  preussischen  Hofe  vertrat.  Oeboren  zu 
Frauenberg  1654,  hatte  er  nicht  zum  wenigsten  durch  äussere  Vorzüge  sich 
Gunst  und  Ansehn  verschafft;  er  ward  Obcrceremonienmeister  erst  bei  KoDnig 
Friedrich  I.,  dann  nach  dessen  Tode  in  Dresden,  wo  er  1729  starb.^  Hier 
folgte  ihm,  gewandter  und  vielseitiger,  Johann  Ulrich  Kcenkj  (geb.  zu  Ess- 
lingen 1688,  gest.  1744).  Schon  1711  in  Hamburg  als  Operndichter'"  thactig, 
ward  er  spaetor  am  sächsischen  Hofe  mit  der  Anordnung  und  Beschreibung 
der  Festlichkeiten  beauftragt,  wobei  er  anstatt  der  bisherigen  Fritschmeister- 
tracht"  einen  rocmischen  Heroldsrock  erhielt.  Auch  hier  dichtete  er  für  die 
Bühne :  Die  verlcelirte  Welt  u.  ä.  Selbst  zu  einem  epischen  Gedichte  schwang 
er  sich  auf:  August  im  Lager,  wovon  jedoch  nur  der  erste  Gesang,  die  Ein- 
holung des  preussischen  Koenigs  zum  Mancever,  1731  erschien:  '^  eine  ganz 
äusscrliche  Schilderung  eines  militserischen  Schauspiels.  Es  begreift  sich, 
dass  er  den  Muth  zur  Vollendung  verlor:  war  doch  Besser  auch  bei  einem 
würdigeren  Gegenstande,  einem  epischen  Gedicht  auf  den  Grossen  Kurfürsten 
nicht  über  den  Anfang  hinaus  gekommen.  Noch  weniger  bedeuten  die  für 
den  Wiener  Hof  verfassten  Gedichte  '^  von  Karl  Gustav  Heraeus,  der  1671 
zu  Stockholm  geboren,  convertierte  und  in  Wien  die  Aufsicht  über  die  Kunst- 
sammlungen erhielt.  Er  starb  1730.  An  den  Hoefen  war  eben  der  Gebrauch 
des  Franzoesischen  noch  immer  im  Fortschreiten  begriffen  '^  und  wo  sich  noch 


"Warnecke  o.  ä.  gegeben  hat.  9)    Schrifften ,    Leipzig    1711,    und    in    einer   Ausgabe 

von  König,  mit  Lebensbeschreibung,  J732.  Danach  eine  Biographie  von  Varnhagen. 
10)  Carl  V,  Diana,  Heraclius,  Der  getreue  Betrug  (heroisches  Schäfer-Spiel),  Die  gekrönte 
Tugend.  Fredegunda,   Alceste,    Heinrich  der  Vogler  u.  a.  11)  In  den  Dressdnischen 

Carnevals- Ergötzlichkeiten  hatte  er  auch  über  einige  Königliche  Schiessen  Poetische  Einfälle 
zu  liefern,   gerade  wie   die  bisherigen  Pritschmeister.  12)    Des  Herrn  von  Königs  (er 

ward  wie  Besser  geadelt)  Gedichte,  Dresden  1745,  von  Kost  herausgegeben.  13)  Gedichte 
und  lateinische  Inschriften,  Nürnberg  1721.  Über  einen  Versuch  mit  antiken  Formen 
8.  §  120,  69.  14)    Ein  ergötzliches  Zeugniss    dafür   legen   die  Schriften    des  Deutsch- 

Fran^os  Jean  Cretien  Toucement  ab ,  welche  zu  Leipzig  bei  JoH.  Christian  Troemer, 
dem  Verfasser,  erschienen  (1731  u.  ö.,  meist  mit  Bildern)  und  in  gelungener  Parodie  der 
Hofdichtung  Vorgänge  der  Dresdener,  Potsdamer  u.  8.  w.  Hoefe  beschrieben,  wobei  die  Sprache 
der  durch  die  Hopfe  nach  Deutschland  gezogenen  Franzosen  nachgeahmt  ist. 


§  137  SCHAUSriELERDRAMA.  277 

Widerstreben  zeigte,    wie  am  Hofe  Friedrich  Wilhelms  I.  von  Preussen,    da 
kam  es  wenigstens  nicht  der  deutschen  Dichtung  zu  Gute. 

§  137. 

Bereits  ist  verschiedentlich  bei  Besprechung  der  dramatischen  Dichter 
auch  auf  das  gleichzeitige  Schauspielerdrama  hingewiesen  worden:  aus  diesem 
hatten  jene  wenigstens  einige  Lustspiel stofFe  entlehnt/  und  selbst  in  der  Tra- 
gcedie  erklsert  sich  die  ungescheute  Vorführung  der  blutigsten  Scenen  daraus, 
dass  die  Zuschauer  vom  Schauspielerdrama  her  ^  an  dergleichen  gewoehnt 
waren.  Andrerseits  aber  waren  auch  Dramen  der  gelehrten  Dichter  in  das 
Repertoire  der  Schauspielertruppen  übergegangen ,  ^  ja  für  dieses  gedichtet 
worden.^  Einzelne  gelehrte  Dichter  waren  selbst  Schauspieler,  wie  Hallmann 
(§  133,  23),  der  sich  doch  über  die  Darstellung  durch  herumziehende  Truppen 
verächtlich  genug  ausspricht.  In  der  That  hatte  das  Schauspielerdrama  an 
sich  etwas  hcechst  Unsicheres  und  Ungleiches:  so  verbreitet  es  war  und  so 
gewiss  es  bei  irgend  günstigen  Verhältnissen  sich  einstellte,  so  wandelbar  war 
es  nicht  nur  in  seinen  Leistungen,  sondern  auch  in  seinen  Formen,  welche 
sich  immer  neu  der  Vorliebe  der  Zuschauer  anzupassen  suchten.  Vollends 
für  eine  htterarische  Feststellung  der  aufgeführten  Stücke  war  man  nicht 
besorgt,  sondern  eher,  um  Wettbewerb  auszuschliessen,  ihr  abgeneigt.^  Es 
ist  daher  die  Entwickelung  des  Schauspielerdramas  nur  aus  einer  Fülle  von 
einzelnen  Nachrichten  zu  gewinnen,  welche  oft  nur  ungenaue  Titel  der  Stücke 
darbieten,  sicher  aber  nur  eine  lückenhafte  Übersicht  gewaehren.^ 

Die  Noth  des  dreissigjsehrigen  Krieges  unterbrach  auch  den  Fortbestand 
der  bereits  vielfach  zur  Gewoehnung  gewordenen  Schauspiele:   die  Behoerden 


§  137.  1)  Koügehl  §  130,  25.  26.  Grypliiiis  §  132,  24.  Weise  §  135, 19.  20.  2)  Übrigens 
hatte  schon  vor  den  englischen  Komödianten  das  Volksschauspiel  des  16.  Jhs.  Ähnliches 
geboten:  die  Enthauptung  Johannes  des  Täufers  z.  B.  fand  auf  der  Bühne  statt;  und  in 
Kassers  Spiel  Von  dem  Könige,  der  seinem  Sohn  Hochzeit  machte  (§  105,  71  a),  wird  ein 
jüdischer  Rebell  von  den  Römern  auf  das  grausamste  hingerichtet:  das  Herz  wird  ihm  aus- 
geschnitten und  um  den  Mund  geschlagen  —  gerade  wie  man  in  Wirklichkeit  Justiz  übte. 
3)  Gryphius  §  132,  20.  21.    Weise,  Masaniello.     Haugwitz  §  133,  26.  4)  Rist  (124,  50). 

5)  Daher  auch  die  zufällig  gesammelten  und  herausgegebenen  Stücke  (§  106,  18  und  49) 
sehr  nachlässig  und  incorrect  sind.  6)  Für  einzelne  Städte  liegen  Sammlungen  solcher 

Nachrichten  vor:  für  Berlin  von  C.  M.  Plümicke  1781,  A.  E.  Brachvogel  1877:  für  Dresden 
von  M.  Fürstenau,  Zur  Gesch.  der  Musik  und  des  Theaters  am  Hofe  zu  D.  II  1861.  62 
für  Frankfurt  von  E.  Mentzel,  Gesch.  d.  Schauspielkunst  in  F.  1882;  für  Hamburg  von 
J.  F.  Schütze,  Hamburg  1794;  für  Leipzig  von  (Blümner)  1818;  für  Nürnberg  von  J.  E. 
Hysel  1863;  für  Trag  von  0.  Teuber  1883;  für  Wien  von  J.  E.  Schlager,  Wiener  Skizzen  aus 


278  NEUllüCIlDEL'TSCllE  ZEIT.         XYII  JAlIKll.  §  137 

verweigerten  die  Erlaiibniss  zu  solchen  Lustbarkeiten,'  die  Verarmung  be- 
nahm die  Mittel  dazu.  Unmittelbar  nachher  aber  tauchen  die  Schauspieler- 
truj)i)on  um  so  zahlreicher  wieder  auf,  und  es  ward  auf  dauernde  Einrich- 
tungen für  ihre  Vorstellungen  Bedacht  genommen.  Wa^hrend  man  früher 
meist  mit  Räumen  für  Ballspiel  und  mit  Feclithäusern  sich  begnügt  hatte, 
welche  das  Spielen  nur  bei  Tageslicht  gestatteten,  wurden  allmsDhlich  eigene 
Häuser  mit  Abendbcleuchtung  hergestellt: "  auch  die  bisherige,  von  England 
und  den  Niederlanden  übernommene  Bühne  mit  einem  durch  Vorhänge  ver- 
schliessbaren  Mittelraum '  ward  nach  franzccsischem  Muster  durch  einen  tiefen 
llaum  mit  wechselnden  Coulissen  ersetzt."^  Kostüme  und  ^Faschinen '•  wurden 
namentlich  für  die  Oper  mit  groosster  Pracht  und  Kunst  hergestellt.  Selbst- 
verständlich steigerten  sich  nun  auch  die  Ansprüche  an  die  Leistungen  der 
Schauspieler.  Aber  freilich,  sie  gingen  wesentlich  auf  äusserliche  Dinge, 
insbesondere  wo  Gesang  und  Musik  begleitete:  das  Wort  des  Dichters  ward 
mehr  und  mehr  als  nebensächlich  angesehn.  Immerhin  hatte  der  Schau- 
spielerberuf an  Reiz  gewonnen  und  vor  allem  die  Studenten  '^  gingen  von 
ihren  academischen  Aufführungen  nicht  ungern  in  das  AVanderleben  der 
Schauspielertruppen  über ,  in  welchen  sie  nun  freilich  oft  genug  noch  mit 
Springern  und  Seiltänzern,  auch  mit  Scharlatanen  und  Zahnbrechern  zusam- 
men zu  leben  und  nach  dem  Geschmacke  der  Zeit  den  Hanswurst  als  wich- 
tigste Person  anzuerkennen  hatten.  Als  nun  sich  auch  Frauen  den  Komoo- 
diantentruppen  anschlössen  '^  und  ihnen  freilich  eine  hoehere  Kunstleistung 
erst  in  vollem  Umfange  moeghch  machten,  mehrten  sich  die  schon  früher'* 
laut  gewordenen  Bedenken  gegen  die  sittliche  Berechtigung  der  Schauspiele: 
insbesondere  die  pietistisch  gesinnte  Geistlichkeit  suchte  die  Schauspieler  durch 
kirchliche  Strafen    zu    schrecken.'-^     Allein    noch    schlimmer  wirkte    auf  den 

dem  Mittelalter  N.  F.  1839,  und  in  den  Berichten  der  Wiener  Akademie  18.51  7)  Zu 

Berlin  1623  und  1G20:  CTcnee,  Lehr-  und  Wanderjahre  S.  283;  zu  Frankfurt  e.  Mentzel  68, 
zu  Strassburg  1626:  Strassh.  Stud.  1.  94.  8)  Dresden  1664.  Augsburg  1665,  Nürnberg 

1668.  9)  So  noch  bei  Hallmann    in    dem  seinen  Gedichten    beigegebenen  Theaterbild. 

10)  Vgl.  das  Bild  der   Dresdener   Bühne    bei    Fürstenau.  11)    Eine  Flugmaschine    in 

Frankfurt  1651  eingeführt:   Mentzel  75.  12)  §  124,  50  (Rist).     Caspar  von  Zimmern 

hatte  1660  hauptsächlich  Studiosen  in  seiner  Truppe:  Plüniicke.  Theatergeschichte  von  Berlin 
S.  .50.  Das  gleiche  ist  von  Veiten  anzunehmen.  13)  Dies  scheint  zuerst  bei  der  Truppe 
des  Joris  .Jolifous  geschehn  zu  sein,  der  1653  in  Basel  anofab,  dass  bei  ihm  auch  rechte 
Weibsbilder  mitwirkten.  Auch  Magister  Veiten  brachte  seine  Frau  und  andere  Schau- 
spielerinnen auf  die  Bühne.  14)  §  106,  51.  15)  So  ward  in  Berlin  und  in  Hamburg, 
wo    er   starb,    dem    Magister   Veiten    das    Abendmahl    verweigert.      Über    den  Hamburger 


§  137  SCHAUSPIELERDRAMA.  279 

Fortbcstand  der  deutschen  Truppen  die  immer  stärker  hervortretende  Be- 
vorzugung der  fremden  Schauspieler,  von  denen  die  franzoisischen  gegen 
Ende  des  Jahrhunderts  nicht  nur  mit  wohlgeübter  Darstellungsweisc,  sondern 
auch  mit  einem  nationalen  Kunstdrama  auftraten.  So  war  es  denn  fast  eine 
vorübergehende  Episode  zu  nennen ,  dass  Magister  Johannes  Velten  '^  von 
1668  bis  zu  seinem  Tode  1692  sich  in  Gunst  und  Ansehn  behauptete,  wenn 
auch  die  von  ihm  gegen  1682  erworbene  Berechtigung,  seine  Truppe  als 
Chursächsische  Komoediantengesellschaft  zu  bezeichnen,  schon  früher  und  auch 
spsßter  noch  andern  zu  Thcil  geworden  ist  und  sehnliche  Titel  sonst  vielfach 
begegnen.  Übrigens  hatte  Yelten  einen  bedenklichen  Schritt  gethan,  indem 
er  die  Improvisation  bei  seinen  Schauspielern  begünstigte  und  ihnen  somit 
nicht  nur  den  Vortrag,  sondern  auch  die  Erfindung  des  Textes  zumuthete. 
Begünstigt  wurde  dieser  Schritt  dadurch,  dass  bei  den  englischen  Komoedian- 
ten  bereits  die  Prosaform  üblich  war:  jetzt  wurden  selbst  in  Yerse  geschrie- 
bene Dichtungen  von  den   Schauspielern  in  Prosa  aufgelöst.  ^^ 

Es  waren  aber  die  von  Veiten  aufgeführten  Stücke  '^  z.  Th.  noch  aus 
biblischen  Stoffen  hergestellt,  wie  Adam  und  Eva,  oder  aus  behebten  Ro- 
manen, ^^  wie  Amadis,  oder  aus  der  Geschichte,  wie  Wallenstein. ^**  Meist 
aber  waren  es  die  beliebtesten  Stücke  der  ausländischen  Bühne,  die  Sliakes- 
peres-^  und  Vondels,^^  selbst  Calderons,-^  zu  denen  seit  1690  auch  die  Mo- 
Theaterstreit,  welcher  durch  die  Theatromania  des  Predigers  Anton  Reiser  1681  entzündet 
wurde,  s.  GefFckeu,  Zeitsch.  f.  Hamhurg.  Gesch.  3  (1851)  und  über  die  ganze  Entwickehing 
dieser  Gegensätze  Stäudlin.  Gesch.  der  Vorstellungen  von  der  Sittlichkeit  des  Schaupiels, 
Gott.  1823.  16)  C.  Heine,  J.  V.  Diss.  Halle  1887.     Veiten  war  geboren  zu  Halle  1640. 

17)  Ganz  im  Gegensatz  gegen  früher  :  §  106,  15.  18)  Vgl.  Heine  17  fgg.     Ein  anderes 

Verzeichniss  von  Schauspielen,  welches  in  Nürnberg  um  1710  aufgezeichnet  ist,  hat  Meissner 
im  Jahrbuch  der  Shakespeare-Gesellschaft,  XIX  (1884)  S.  142  fgg.  abgedruckt  und  erläutert. 

19)  Aus  einem  Roman  stammte  wohl  auch  Der  verirte  Soldat  oder  des  Glücks  Prohirstein, 
hg.  von  P.  V.  Radics,    Agram  1865;    vgl.  Bolte  in  der  Zs.  f.  d.  Phil.  19  (1887)  S.  86  fgg. 

20)  Vermuthlich  der  von  Haugwitz  (§  133,  26).  21)  Shakesperes  Taming  of  the  Shretv  ist 
als  Kunst  über  alle  Künste  Ein  bös  Weib  gut  zu  machen,  bearbeitet  und  zu  Rapperschweyl  (?) 

1672  gedruckt  worden:  neu  hg.  von  R.  Köhler,  Berlin  1864.  Von  dem  Bearbeiter  rühren 
noch  her  :  Der  Pedantische  Irrthum  Des  überioitzigen  doch  sehr  betrogenen  Schiüfuclises . . . 

1673  (§  120,  31),  und  Alamodisch  Technologisches  Interim  Oder  Des  Ungeistlichen  Geistlichen 
Statistisch  Scheinheiliges  Schaffskleid  .  .  .  1675.  Den  drei  Stücken  ist  je  ein  singendes 
Possefispiel  angehängt.  Ausser  von  Shakespere  gingen  auch  von  Kyd,  Marlowe,  Massinger 
Stücke  in  das  Repertoire  der  Schauspielertruppen  des  17.  Jhs.  über.  22)  Vondels  Maria 
Stuart  ward  von  Chr.  Kormart  übersetzt,  Halle  1672.  Nach  Jan  Vos  ist  wohl  die  Tragicomödie 
von  Jason    und  Medea    bearbeitet:    Creizenach    im  Sitzungsbericht  der  sächs.  Ges.  d.  Wiss. 


280  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XYH  JAIIIÜl.  §  137 

liore'schcn  Komoodion  hinzukamen."  Nur  hatten  diese  Stücke  sich  grosscn- 
theils  schon  früher  den  Bedürfnissen  der  deutschen  Bühne  anpassen  müssen 
und  waren  die  tragischen  durch  blutige  Sccnen  erweitert,*-'  und  zugleich 
durch  die  Einmischung  des  Hanswursts  mit  komischen  Elementen  versetzt 
worden.  Zu  dessen  älteren  Namen  (§  106,  37  fg.)  kamen  noch  die  der 
italienischen  Commedia  delV  Arte  entlehnten  Scaramutz  und  Polichinell,  da- 
neben auch  Curtisan." 

Wie  für  die  possenhaften  Zuthaten,  so  ward  Italien  auch  für  die  musi- 
kalische Behandlung  der  Bühnenstücke  mehr  und  mehr  das  Vorbild.  An- 
fangs begnügte  man  sich  noch  meist  mit  Schaferspiclcn,  Pastorellen,  ging 
aber  dann  mit  raschen  Schritten  zur  Ausbildung  der  Oper  vor,  welche  Ohr 
und  Auge  durch  alle  sinnlichen  Reize  zu  fesseln  suchte  und  dem  Dichter 
nur  einen  sehr  bescheidenen  Antheil  gönnte.  Neben  den  Hcefen,  unter  denen 
sich  Dresden,"  aber  auch  kleinere,  wie  Braunschweig  ^^  und  Weissenfels -" 
besonders  eifrig  der  Oper  annahmen,  war  es  Hamburg, '°  wo  diese  Kunst- 
gattung zu  einer  wahren  Blüthezeit  gelangte.  Der  spaetere  Rathsherr,  Li- 
centiat  Gerhard  Schott,  sorgte  1678  für  Erbauung  eines  besonderen  Hauses 
und  für  eine  Ausstattung ,  welche  sich  auch  an  die  schwierigsten  Aufgaben, 
Darstellung  eines  Seesturmes  u.  ä.  wagen  durfte.  Musikalische  Kräfte  ersten 
Ranges,  wie  der  melodienreiche  Reinhard  Keiser  verbanden  sich  mit  einer 
Anzahl  eifriger  Dichter^'  zur  Herstellung    der  Opern.     Biblische  Stoffe,    wie 

18b6  S.  107.  Ausserdem  wurden  zahlreiche  holländische  Kluchtspiele  übernommen. 
23)  Das  Leben  ein  Traum ,  Die  Tochter  der  Luft  (Semiramis)  und  Eifersucht  das  grüßte 
Scheusal,  welche  jedoch  durch  niederländische  Vermittelung  nach  Deutschland  gekommen 
waren.     Heine,  S.  34  und  35.  24)   Eine   vollständige  Übersetzung    Moliere's  erschien 

zu  Nürnberg  von  1694  ab  als  Histrio  Galliens,  Comico  Satyr icus  sine  Exemplo.  Schon 
in  der  Schaubühne  engl,  und  franzoes.  Komödianten  (§  106,  49)  waren  mehrere  Stücke  er- 
schienen, aber  in  sehr  schlechter  Bearbeitung.  25)  Ein  Beispiel  bietet  der  Polyeuctus, 
den  Mag.  Christophorus  Kormart ,  meist  aus  dem  Frantzösisdien  chs  H.  Corneille  ver- 
deutscht zu  Leipzig  1669  aufFühren  und  drucken  Hess.  26)  Cortisan:  Schlager,  Wiener 
Skizzen  S.  331  fgg.  Hier  =  fahrender  Schüler  (S.  334).  27)  Von  den  Dresdener  Hof- 
dichtern ist  Schirmer  schon  genannt  §  126,  20:  andere  sind  Ernst  Geller  und  Con.stantin 
Christian  Dedekind,  dessen  Neue  Geistliclie  Schauspiele  hekuehmet  zur  Music  1670 
erschienen.  28)  Hier  war  unter  dem  prachtliebenden  Anton  Ulrich  F.  C.  Bressand  mit 
der  Übersetzung  franzopsischer  Trauerspiele  (Rodogune  von  Corneille  1691,  Athalia  von 
Racine  1694  u.  a.)  und  der  Abfassung  von  Opern  beschäftigt:  Porus  1693,  Penelope,  Circe, 
Jason,  Jtalanta,  Der  getreue  Treu-Bruch  1705.  29)  Gottsched,  Nöth.  Vorrath  S.  249.  250. 
30)  E.  0.  Lindner,  Die  erste  stehende  Deutsche  Oper,  Berlin  1855.  31)  Lucas  von 
Bostel,    Christian  Heinrich  Postel,    Christian  Hunold  (§  136,  26),    Barthold  Feind,    Ulrich 


§  137  OPER.     JESUITENDRAMA.  281 

Adam  und  Eva,  womit  das  Untemelimcn  eröffnet  wurde,  wechselten  mit 
mythologischen,  historische,  wie  Cara  Mustapha  oder  Belagerung  von  Wien, 
mit  satirischen  Schilderungen  Hamburgs,  wobei  oft  Sccnen  in  niederdeutscher 
Mundart  eingelegt  wurden.^-  Diese  letztgenannten  Sittenschilderungen  zeigen 
bereits  das  Sinken  des  Geschmackes,  welches  seit  Anfang  des  18.  Jahrhun- 
derts die  Theilnahme  an  der  Oper  allmaehlich  erlöschen  Hess.  1704  zweigte 
sich  auch  von  der  geistlichen  Oper  das  Oratorium  '^  ab,  das  aus  dem  Theater 
in  die  Kirche  überging  und  eine  eigene,  durch  Händeis  und  Bachs  Compo- 
sitionen  bis  in  die  Gegenwart  wirksame  Kunstgattung  bildete. 

Was  die  Oper  an  Pracht  geleistet  hatte,  fand  gleichzeitig  sein  Gegen- 
stück in  der  Jesuitenkomoedie ,  welche  in  Wien  und  München  auch  auf  den 
Besuch  des  Hofes  rechnen  durfte.  Für  die  deutsche  Litteratur  ist  die  Je- 
suitenkomoßdie  schon  deshalb  von  geringer  Bedeutung,  weil  sie  meistens 
lateinisch  abgefasst  war;^*  nur  in  den  Stoffen  berührte  sie  sich  allerdings  ins- 
besondere mit  einzelnen  Richtungen  des  Schauspielerdramas, ^^  weehrend  der 
Gebrauch  der  Allegorie  in  ihr  noch  weiter  als  irgendwo  sonst  getrieben 
wurde. ^^ 

Vereinzelt  erhielt  sich  endlich  in  der  Schweiz  das  alte  Volksschauspiel: 
die  junge  Bürgerschaft  von  St.  Gallen  führte  1653  Des  Hertzogen  Carln 
von  Burgimd  .  .  Krieg  mit  gemeiner  Eidgenossenschaft  auf,  ein  Schauspiel, 
das  der  Notar  Josua  Wetter  gedichtet  hatte  und  mit  einem  andern  von 
dem  Horatier  und  Ciiriatier-Kampf  1663  herausgab. ^^ 


Künig  (§  136,  10.  11).  32)  Vgl.  K.  Th.  Gaedertz,    Nd.   Jahrb.   VIII,    115   und   Das 

niederdeutsche  Drama  von  den  Anfangen  bis  zur  Franzosenzeit,  Berlin  1884  (Das  niederd. 
Schauspiel  Bd.  I),  S.  77  fgg.  33)    C.  H.  Bitter.    Beiträge    zur  Gesch.  d.  Oratoriums, 

Berlin  1872.  Über  die  Entwickelung  der  Passionstexte  von  den  aus  den  evangelischen 
Berichten  zusammengestellten  Stücken  zu  den  opermässigen  und  wieder  zu  den  einfacheren 
nnd  schriftgemässeren ,  wie  sie  Ch.  Reuter  1708  und  spteter  Brockes  vertreten,  s.  Zarncke, 
Ber.  der  sächs.  Ges.  d.  Wiss.  1887  S.  306  fgg.  34)  Nach  dem  Muster  der  von  Joh.  Sturm 
in  Strassburg  eingerichteten  akademischen  Bühne.  35)  S.  das  von  Meissner  besprochene 
Verzeichniss  (Anm.  18)  N.  110.  Durch  die  Jesuiten  sollen  auch  die  spanischen  Dramen 
Calderons  und  Lope  de  Vegas  nach  Deutschland  gebracht  worden  sein:  Teuber,  Prager 
Theater  S.  15.  36)  Vgl.  den  Bericht  von  Teuber,  S.  29  fgg.  über  eine  1644  aufgeführte 
Maria  Stuart;  über  eine  1659  zu  Wien  agierte  Pietas  victrix  sive  Fl.  Constantimis  M. 
de  Maxentio  tyranno  Victor:  Schlager,  AViener  Skizzen  S.  235.  818.  Dasselbe  gilt  von  dem 
§  125,  32  angeführten  Stück  Androfdo.  37)  Gottsched,  Not.  Vorr.  2,  251.  Über  andre 
Reste  des  Volksdramas  im  17.  Jh.  s.  §  113,  12  fgg. 


282  NEUnOCIIDEUTSClIE  ZEIT.         XVII  JAHRII.  §  138 

§  138. 
Es  erübrigt  noch,  einen  Blick  auf  die  ernste  Prosa  des  17.  Jahrhunderts 
zu  werfen,  da  der  satirischen  und  des  Romans  bereits  gedacht  worden  ist. 
Die  wissenschaftliche  Litteratur  in  deutscher  Sprache  ist  in  dieser  Zeit 
nicht  eben  umfangreich,  da  die  lateinische  hier  ihren  ganzen  Vorrang  behaup- 
tete, ja  die  Gelehrten  in  der  weltbürgerlichen  Stellung,  die  sie  ihnen  gab, 
einen  Ersatz  für  die  Wirkung  auf  ihr  Volk  suchten.  Wo  es  darauf  ankam, 
wissenschaftliche  Fragen  den  Hof-  und  Adelskreisen  n»her  zu  bringen,  drängte 
sich  daneben  auch  das  Franzoesische  ein.  Dies  gilt  nun  ganz  besonders  von 
demjenigen  Gelehrten ,  der  nicht  nur  mehr  als  irgend  ein  Deutscher  jenes 
Jahrhunderts,  ja  als  irgend  ein  Zeitgenosse  auf  allen  Gebieten  der  Wissen- 
schaft heimisch  und  mit  Erfolg  thaetig  war,  sondern  überhaupt  zuerst  und 
sogleich  glänzend  die  deutsche  Nation  in  die  Entwickelung  der  neueren 
Philosophie  einführte,  innerhalb  deren  ihr  eine  so  grosse  Zukunft  bestimmt 
war.  Gottfried  Wiluelm  Leibxiz  war  geboren  zu  Leipzig  1646,  verweilte 
in  kurmainzischen  Diensten  zu  Paris  1672 — 1676,  besuchte  auch  England, 
Holland  und  spseter  Italien  ,  wo  er  überall  mit  den  grcessten  Gelehrten  in 
nahe  Beziehung  trat;  1676  als  Bibliothekar  nach  Hannover  berufen,  starb 
er  hier  1716.'  Seine  Schriften  sind  zum  guten  Theil  erst  nach  seinem  Tod 
erschienen  und  eine  vollständige  Sammlung  ist  noch  nicht  vorhanden.'  Unter 
den  deutschen  ^  ragen  besonders  zwei  hervor ,  welche  zugleich  seine  Vater- 
landsliebe, seinen  Gedankenreich thum  und  seine  klare,  reine  Ausdrucksweise 
erkennen  lassen:  die  um  1680  geschriebene  Ermahnung  an  die  Teutschc 
ihren  Verstand  und  Sprache  hesser  su  Üben,*  und,  wohl  1697  aufgesetzt, 
Unvor greif ßiche  Gedancken  betreffend  die  Ausübung  und  Verbesserung  der 
deutschen  Sprache.''     Die  erstere  Schrift    urtheilt   scharf  ab    über  die  gleich- 


§  138.  1)  über  Leibniz' Leben  hatte  namentlich  sein  Sekretär  Eckhart  naehere  Nachrichten, 
welche  zuerst  von  Murr,  Nürnberg  1779  veröffentlicht,  aber  schon  von  Fontenelle  im  Eloge  de 
L.  1717  benutzt  wurden.  Auch  eine  Autobiographie  ist  bei  Pertz  und  Klopp  (s.  Anm.  2)  ab- 
gedruckt. Die  Litteratur  über  L.  hat  Windelband  bei  Ersch  u.  Gruber  knapp  zusammengefasst. 
2)  Erschienen  sind  Sammlungen  von  Raspe  Amsterdam  1765,  Dutens  Genf  17G8,  Pertz  Han- 
nover 1843  fgg..  0.  Klopp  Hann.  1864 — 85.  3)  Sammlung  von  G.  E.  Guhrauer  II,  Berlin 
1838.  40.  Vgl.  auch  Anm.  4.  4)  Hg.  von  C.  L.  Grotefend,  Hannover  1846.  5)  LB.  3, 
993  fgg.  (mit  einigen  Auslassungen).  Zuerst  veröffentlichte  sie  Eckhart  1717;  kritische 
Ausgabe  mit  Benutzung  einer  Handschrift  von  Aug.  Schmarsow  QF.  23,  Strassburg  1877. 
Über  die  Abfassungszeit  s.  L.  Neff,  Durlach  1880  (Progr.),  wo  auch  die  Abhängigkeit 
Leibnizens    von  Schottelius,    die   Schmarsow  behauptet    hatte,    bestritten  wird.     Vgl.  auch 


§  138  LEIBNIZ.  283 

zeitige  deutsche  Litteratur;^  die  andere  mahnt  zum  Gebrauch  des  Deutschen 
in  der  Wissenschaft ,  und  fasst  zuna^chst  die  zur  genauen  Kenntnias  der 
Sprache  noch  fehlenden  Hilfsmittel  ins  Auge.  Die  Ermahnumj  zielt  auf  die 
Errichtung  einer  deutschgesinnten  Gesellschaft;  spaeter  sucht  Leibniz  mehr  auf 
die  Hoefe  zu  wirken  ^  und  sie  zur  Stiftung  von  Academien  und  wissenschaftlichen 
Gesellschaften  zu  bewegen.®  Für  die  erste  Kcenigin  von  Preussen,  Sophie 
Charlotte,  schrieb  er  seine  Theodicee^^  welche,  obschon  franzoesisch  abgefaast, 
den  Grundzug  seiner  Philosophie,  den  Optimismus  weit  und  auf  lange  hinaus 
verbreitet  hat.  Er  schloss  sich  damit  an  die  religicesen  Überzeugungen  seiner 
Zeit  an,  die  er  selbst  durchaus  theilte,  hat  aber  gerade  durch  den  Versuch 
einer  philosophischen  Rechtfertigung  des  Glaubens  die  Grundlage  für  die 
Aufklaerung  des  18.  Jahrhunderts  gelegt.  Das  gesammte  philosophische 
System  Leibnizens  aber  ward  Gemeingut  der  nsechstfolgenden  Zeit  erst  durch 
Christian  Wolff.  Geboren  zu  Breslau  1679  ward  er  als  Professor  zu  Halle 
von  den  Pietisten  vertrieben  1723,  wirkte  dann  aber  wieder  liier  von  1740 
ab  in  hohen  Ehren  —  er  ward  wie  Leibniz  zum  Reichsfreiherrn  ernannt  — 
bis  zu  seinem  Tode  1754.  Er  fasste  die  Ideen  seines  Vorgängers  zusammen 
und  trug  sie  in  lateinischen  und  (bis  1726)  kürzer  in  deutschen  Schriften 
vor,  klar  und  breit,  mit  allzu  genauem  Anschluss  an  die  mathematische 
Methode/^  Lebhafter,  aber  mehr  sprungweise  wirkte  im  Sinne  der  Auf- 
klaerung Christian  Thomasius  "  (geb.  zu  Leipzig  1655,  gest.  als  Professor 
der  Rechte  zu  Halle  1728).  Sein  an  die  Franzosen  anknüpfender  Kampf 
gegen  die  Vorurtheile  der  Pedanterie  und  gegen  den  Glaubenszwang  veran- 
lasste seine  Vertreibung   von    der  Leipziger  Universitset  1690:    hier   hatte  er 


§  114,  20.  6)   Wolte  Gott  es  icere  jedes  Mahl  unter  zehn  solcher  fliegenden  Papiere 

(vjie  sie  die  halbjährigen  Messen  lierfürh ringen)  eines,  so  ein  Frembder  ohne  Lachen,  ein 
Patriot  ohne  Zorn  lesen  könne  (S.  15).  Unter  andern  nennt  Leibniz  auch  "Weise  mit  Tadel, 
vgl.  Guhrauer  2,  401  und  §  135,  18.  Schon  hinsichtlich  des  Purismus  standen  sie  auf  ver- 
schiedenem Standpunkt.  Die  alte  deutsche  Sprache,  insbesondere  die  in  Luthers  Bibel,  erhebt 
Leibniz  hoch;  ja  er  ist  fast  der  Meimmg,  dass  loeiland  ein  trunckener  alter  Teutsclier  in 
Reden  und  Schreiben  mehr  Verstand  spüren  lassen  als  anjezo  ein  nüchterner  französischer 
Äffe  thtin  wird  (Erm.  S.  21).  7)  Selbst  die  LB.  3,  977  fgg.  abgedruckten  Erörterungen  wenden 
sich  an  vornehme  Personen,  welche  L.  für  die  Wissenschaften  gewinnen  will.  8)  Diese 

Absicht  gelang  ihm  zu  Berlin  1700 ;  aber  auch  in  Dresden,  Wien.  Petersburg  war  L,  in 
gleichem  Sinne  thätig.  9)  Zuerst  erschienen  Amsterdam  1710.  10)  Beispiele  LB.  3, 1025 
aus  Vernün/f'tige  Gedancken  von  Gott,  der  Welt  und  der  Seele  des  Menschen,  zuerst  Fkf.  und 
Lpz.  1719.  11)  "Würdigung   seiner  "V^erdienste  um   die    deutsche   Litteratur    von  B.  A. 


284  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVH  JAIIIUI.  §  138 

zuerst  1688  deutsche  Vorlesungen  gelialten  und  die  erste  kritische  Zeitschrift 
in  deutscher  Sprache,  d'iQ  3to)iats- Gespräche  ^'^  1689  und  1090  herausgegeben. 
Erst  kurz  vorher  war,  ebenfalls  in  Leipzig,  eine  gelehrte  Zeitschrift,  aber  in 
lateinischer  Sprache,  die  Acta  Ernditorum  begründet'-'  und  damit  für  den 
wissenschaftlichen  Verkehr  eine  neue,  wirkungsvolle  Form  geschaffen  worden.'* 

Auch  Leibniz  betheiligte  sich  an  den  Acta  ^  wie  er  auch  die  frühere 
Art,  auf  die  Zeitgenossen  durch  Flugschriften  einzuwirken  benutzt  hatte; 
wesentlich  zu  Vermittelungsvorschlfegen  zwischen  den  politisch-religioesen  Par- 
teien der  Zeit.'-'  Weit  grossartiger  jedoch  ist,  was  er  für  die  geschichtliche 
Aufhellung  der  politischen  Vergangenheit  Deutschlands  gethan  hat,'*  nur  dass 
er  auf  diesem  Feld  sich  des  Deutschen  nicht  bediente.  So  erwarb  sich  hier, 
nach  den  Anfangen  des  10,  Jahrhunderts,  Johann  Jacob  Ma.scou  (aus  Danzig, 
geb.  1689,  gest.  1761  als  Professor  zu  Leipzig)  mit  seiner  Geschichte  der 
Tetdschcn"  1726  das  Verdienst,  zuerst  ein  grosses  historisches  Werk  in  der 
Muttersprache,  gelehrt  und  verständlich  zugleich,  darzubieten.  Sein  stilisti- 
sches Verdienst  tritt  noch  klarer  hervor,  wenn  man  damit  andere  historische 
Werke  der  Zeit  vergleicht,  wie  etwa  von  Nicolaus  IIieronymus  Gundlinü 
den  Academischen  Discours  über  .  .  Pufendorjfs  Einleitung  zu  der  Historie  '* 
(1737). 

Weit  besseres  leistete  bereits  die  Kirchengeschichte  ,  die  freilich  die 
damals  wichtigsten  Fragen  berührte.  Vorzüglich  die  1699  zu  Frankfurt  a.  M. 
erschienene  Unparfheyische  Kirchen-  und  Ketzerhistorie  von  Gottfried  Ar- 
nold '^  (geb.  zu  Annaberg  1666,  nach  mancherlei  Kämpfen  gest.  als  Prediger 
zu  Perleberg  1714)  machte  durch  Gelehrsamkeit  und  durch  die  völlige  Ab- 
wendung von  der  orthodoxen  Auffassung  den  tiefsten  Eindruck  :  -"  mit  Spener 


Wagner,  Berlin   1872  (Progr.).  12)  Der  ursprüngliche  Titel   war  Schertz-  und  Ernfit- 

haffter  Vernünff'tiger  und  Einfältiger  Gedancken  .  .  Erster  Monath.  13)  Von  Burkhard 
Mencke  (§  136) ;  über  ihn  vgl.  Rieh.  Treitschke,  Lpz.  1842.  14)  R.  E.  Prutz,  Gesch.  des 
deutschen  .Journalismus  I,  Hannover  1845,  S.  275  fgg.  15)  Die  von  Edm.  Pfleiderer, 

L.  als  Patriot.  Staatsmann  und  Bildungstraeger.  Lpz.  1870,  L.  zugeschriebenen  Staatsschriften 
sind  als  ihm  fremd  nachgewiesen  worden  von  Bresslau,  Zs.  f.  preuss.  Gesch.  und  Landes- 
kunde 1870  S.  317  fgg.  16)  F.  X.  v.  Wegele,  Gesch.  der  deutschen  Historiographie, 
München  und  Lpz.  1885  (Gesch.  d.  AViss.  in  Deutschland  20).  S.  G19  fgg.  17)  LB. 
1047.  Der  I.  Band  geht  bis  zum  Anfang  der  fränkischen  Monarchie,  der  IL  (Leipz.  1737) 
bis  zu  Abgang  der  merowingischen  Kipuige.  18)  Eine  Probe  LB.  3,  1058.  19)  G.  A. 
Sein  Leben  und  seine  Bedeutung  für  Kirche  und  Theologie,  von  F.  Dibelius,  Berlin  1873. 
20)  Noch  Goethe  Dichtung  und  Wahrheit,  VIII.  Buch,  schildert  den  Einfluss  dieser  Leetüre 


I 


§  138  HISTORISCHE  UND  ERBAULICHE  PROSA.  285 

und  Thomasius  in  Verkehr ,  ging  Arnold  aus  von  der  Mystik ,  die  er  auch 
in  Abhandlungen'"'  und  Liedern"  zum  Ausdruck  brachte. 

An  erbaulicher  Prosa  ist  auch  sonst  die  Zeit  reich  und  reich  selbst 
an  werthvollen  Schriften  dieser  Art.  Rein  und  flicssend  schreibt  Samuel 
VON  BuTscHKY,  geb.  zu  Breslau  1612,  gest.  als  kaiserlicher  Rath  1G78.  Er 
trat  zur  katholischen  Kirche  über,  beschränkt  sich  aber  in  seinen  Schriften  -^ 
auf  allgemein  religicese  oder  philosophische  Gleichnissreden  oder  Betrachtun- 
gen, z.  Th.  im  Anschluss  an  Seneca.  Von  Vorgängen  und  Verhältnissen  des 
gewoehnlichen  Lebens  und  der  Natur  gehen  die  frommen  Gedanken  aus, 
welche  Christian  Scriver  ,  geb.  zu  Rendsburg  1629,  gest.  zu  Quedlinburg 
1693,  in  auf  lange  hinaus  vielgelesenen  Erbauungsbüchern  niedergelegt  hat, 
dem  Seelenscliatz^  eigentlich  einer  Predigtsammlung,  und  namenthch  in  Gott- 
holds  Zufälligen  Andachten  ^^  1671.  Auf  das  Leben  selbst  und  seine  sittlich- 
religioese  Neugestaltung  zielen  die  Mahnungen,  welche  Philipp  Jacob  Spener" 
aufgesetzt  hat.  Geboren  zu  Rappoltstein  im  Elsass  1635,  hat  er  als  Prediger 
zu  Strassburg,  Frankfurt  a.  M.,  Dresden  und  Berlin,  wo  er  1705  starb,  den 
groessten  Einfluss  auf  die  Gemüther  geübt  und  den  bisher  starr  festgehaltenen 
äusserlichen  Unterschied  der  Bekenntnisse  zu  verschmelzen  vermocht.  An 
diese  Erweichung  des  Gefühls  sollte  auch  das  anknüpfen,  was  das  18.  Jahr- 
hundert für  die  Neugestaltung  der  deutschen  Poesie  gethan  hat. 

Auch  auf  katholischer  Seite  fehlt  es  dem  17.  Jahrhundert  nicht  an 
Erbauungsbüchern,  welche  z.  Th.  bis  in  unsere  Zeit  sich  erhalten  haben.  So 
hat  derKapuzinerMARTiN  VON  Cochem  (geb.  um  1630,  gest.  zu  Bruchsal  1712) 
durch  zahlreiche  Volksschriften  gewirkt ,  von  denen  einige ,  wie  das  Lehen 
Christi,  zuerst  1689,  und  die  vier  letzten  Dinge,  mit  stärkster  Ausmalung 
aller  schrecklichen  und  mitleiderregenden  Bilder,  andere,  wie  sein  Auserlesenes 
History-Buch  1693,  die  Legenden  der  Heiligen  1705,  mit  lieblicheren  Scenen-^ 
Gefühl  und  Einbildungskraft  zu  erregen  vermochten. 

auf  seine  Jugendzeit.  21)  LB.  3,  929  eine  Probe  aus  seiner  mystischen  Schrift  Bas  Ge- 
heimniss  der  göttlichen  Sophia  oder   Weissheit.  22)  Gesammelt  von  Knapp,   Stuttgart 

1845.  23)  Euthymia  16.57,  A.  L.  Senecce  Flores  1661,  Fünfhundert  Sinnen-  Geist-  und 

Lehr-Eeiche  Beden  1666,  Pathmos  1677,  Wohlbebauter  Rosenthal  1679.  Auszüge  in  Hoff- 
manns Spenden  z.  d.  Litt.-Gesch.  1,  85.  Butschkys  eigentliümliclie  Keclitsclireibung  zweigt  sich 
von  der  Zesens  ab.  24)  Daraus  LB.  3,  815.  Der  Name  Gotthold  und  vieles  andre  erinnert 
an  die  Parabeln  in  Harsdörfers  Jotham  (2,  XI  fgg.  LX).  25)    AV.  Hossbach,    Ph.   J. 

Spener  und  seine  Zeit.  2.  Aufl.  Bei'lin  1853.  Stücke  aus  Speners  Theologische  Bedencken, 
Halle  1700 — 1702,  LB.  3,  943  fgg.  26)  Aus  dem  Historybuch  sind  besonders  die  Geschichten 
von  Griseldis  Hirlanda  und  Genovefa  durchaus  volksthümlich  geworden. 

Wackernagel,  Litter.  Geschichte.  H.  J9 


286  NEUHOCJIDEUTSCHE  ZEIT.        XVII  JAIIRII.  §  138 

So  zeigt  sich  iiocli  in  den  "Werken  aus  dem  Schlus3  unseres  Zeit- 
absclinitts  der  religiocsc  Grundzug,  welcher  als  breiter  und  tiefer  Strom  die 
Litteratur  des  16.  Jahrhunderts  getragen,  im  siebzehnten  aber  in  Folge  der 
confessioucllen  Spaltung  seine  Kraft  bereits  eingebüsst  hatte.  Die  von  der 
Religion  geräumte  beherrschende  Stellung  innerhalb  der  nationalen  Bildung 
nahm  mehr  und  mclir  die  Philosophie  ein  und  sie  bestimmte  auf  dem  Hoeho- 
punct  zu  Ende  des  18.  Jalirliunderts  das  geistige  Leben  unseres  Volkes.  Für 
die  Litteratur  war  dies  ein  Vortheil :  das  Streben  nach  Schoenheit,  das  in  der 
Renaissancedichtung  nur  äusserliche  Befriedigung  gefunden  hatte,  konnte  sich 
nunmehr  als  allein  berechtigte  Forderung  der  Kunst  geltend  machen  und 
behaupten.  Doch  zu  diesem  Ziele  führte  erst  ein  weiter,  an  Mühen  und 
Kämpfen  reicher  Weg. 


DAS  ACHTZEHNTE  JAHRHUNDERT. 

§  139. 
Das  achtzehnte  Jahrhundert  nannte  sich  mit  Stolz  das  philosophische,'  das 
Jahrhundert  der  Aufklaerung.^  Für  Deutschland  trifft  der  erstere  Xamc 
insofern  nicht  ganz  zu,  als  die  bedeutendsten  Schriftwerke  seiner  Philosophen 
entweder  vorausgegangen  waren,  wie  die  von  Leibnitz,  oder  erst  gegen  Schluss 
des  Jahrhunderts  hervortraten,  wie  die  Kants  und  seiner  ersten  Nachfolger, 
denen  sich  in  das  neunzehnte  Jahrhundert  hinein  noch  eine  weitere  Ent- 
wickelung  der  deutschen  Philosophie  anschloss.  Wohl  aber  war  auch  Deutsch- 
land in  diesem  Jahrhundert  beherrscht  von  dem  Streben  nach  einer  verstandes- 
msessigen  Behandlung  nicht  nur  der  Gegenstände  der  Erkenntnis,  sondern 
auch  der  Lebensfragen,  nach  einem  freien  Denken  und  einer  dem  entsprechen- 
den Gestaltung  der  seusseren  Yerhältnisse.  Dies  unter  Philosophie  zu  verstehn 
hatte  man  vom  Auslande,  insbesondere  von  den  Franzosen  gelernt:^  franzce- 
sische  Schriftsteller  wie  Voltaire  (1694—1778)  und  in  noch  weit  stärkerem 
Grade  Rousseau  (1712 — 1778)  wirkten  auch  auf  das  deutsche  Geistesleben 
bestimmend  ein,  jener  mehr  auf  die  Vornehmen,  denen  er  mit  beissendem 
Spotte  die  kirchlichen  Überlieferungen  verächtlich  machte,  dieser  auf  die 
gelehrten  Stände,  die  er  durch  seine  begeisterte  Anpreisung  des  Natur- 
zustandes mit  sich  fortriss. 


§  139.  1)  Wie  beliebt  das  Wort  philosophisch  war,  dafür  nur  als  Beispiele  LB.  3,  4(5,  30 
(Haller).  50,  22  (Rabener).  87,  18  (Moser)  u.  a.  Nach  Abbt  und  Herder  ist  Philosophie 
die  eigentlich  deutsche  Nationalwissenschaft:  Haym,  Herder  1,  112.  Herder,  Auch  eine 
Philosophie  der  Geschichte  S.  18  'Unser  .Jahrhundert  hat  sich  den  Namen  Philosophie 
mit  Scheide  Wasser  vor  die  Stirn  gezeichnet'.  Vgl.  auch  Brinkmann  an  Klopstock:  Briefe 
an  K.,  hg.  von  Lappenberg  S.  394.  Den  Sinn  des  Wortes  zeigt  z.  B.  'der  philo- 
sophische Bauer'  von  Hirzel  (§  156):  wir  würden  sagen  'der  rationelle  Landwirt'. 
2)  Kant,  'Was  ist  Autklsrung  ?'  Berliner  Monatsschrift  1784.  Justus  Moeser  aber 
spricht  einmal   nicht   ohne  Ironie  von  dem  'Jahrhundert  der  Menschenliebe'.  3)    Her- 

mann   Hettner,    Litteraturgeschichte    des    18.    Jahrhunderts.     Braunschweig   1856—70,   VI. 

WackerDagel,  Litter.  Geschichte.  II.  20 


288  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XVUI  JAHRH.  §  189 

So  zeigte  sich  auch  in  Dcutschhiiid  das  Jahiliundcrt  feindselig  gegen 
das  Ansehn  aller  Überlieferung  und  bemüht  von  dem  voraussetzungslosen 
Denken  allein  Rechte  und  Vorschriften  abzuleiten.  Vor  Allem  hatte  darunter 
die  Macht  der  Religion,  hatten  insbesondere  die  kircldichen  Einrichtungen 
zu  leiden.^  Die  Schranken  der  christlichen  Confessionen  suchte  man  zu  be- 
seitigen;-' ja  über  das  Christentum  hinaus  wurden  die  bis  dahin  völlig  ab- 
gesonderten und  rechtlich  unterdrückten  Juden  zur  Teilnahme  wenigstens  am 
geistigen  Leben  heran  gezogen,  wozu  bei  ihnen  selbst  die  Lust  sich  erst  ver- 
einzelt zeigte.^  Am  meisten  wurde  die  katholische  Kirche  durch  den  Geist 
der  Zeit  erschüttert:  galten  ihr  doch  hauptsächlich  die  Angriffe  der  franzcß- 
sischen  Philosophon  und  ihre  thaetigsten  und  rücksichtslosesten  Vorkämpfer 
wurden  durch  die  Aufhebung  des  Jesuitenordens  1778  beseitigt.  Wo  in  den 
katholischen  Teilen  Deutschlands  sich  die  Teilnahme  an  der  Litteratur- 
bewegung  zeigte,"  trat  auch  die  Gleichgiltigkeit,  wenn  nicht  Feindseligkeit 
gegen  die  bisherigen  kirchlichen  Einrichtungen  hervor.  Doch  auch  die  pro- 
testantischen Kirchen  Hessen  mehr  und  mehr  an  die  Stelle  der  Dogmen  die 
Gebote  der  Nächstenliebe  treten,  wie  sie  der  Pietismus  früher  schon  hervor- 
gehoben hatte:  der  Rationalismus  gab  dem  Zweifel  mehr  und  mehr  Raum; 
die  Moral,  ja  die  Nützlichkeitsrücksicht  wurde  für  die  Predigt  massgebend. 
An  Kämpfen  und  an  Rückschlaegen  fehlte  es  allerdings  nicht;  und  die  Kriege 
Friedrichs  des  Grossen  waren  noch  vielfach  confessionell   aufgefasst  worden,** 

4)  Heinrich  Geizer,  Die  deutsche  poetische  Litteratur  seit  Klopstock  und  Lessing.  Leipzig 
1841.'  (Die  neuere  deutsche  Nationallitteratur  nach  ihren  ethischen  und  religiösen  Gesichts- 
puncteu),  Leipzig  1847—49.'  I  1858.  5)  AVie  sehr  mau  zunächst  Rücksicht  auf  andere 

Confessionen  nahm,  dann  glaubte  dass  diese  selbst  darauf  nicht  mehr  Anspruch  machen 
würden,  davon  gibt  ein  besonders  deutliches  Zeugnis  die  Anmerkung  Klopstocks  zu  Messias 
XVIII  655.  6)  Gumpertz  durch  Gottsched  1745  unterstüzt:  Danzel  333.  Besonders  \Var 

Lessiug  für  die  Judeubefreiung  thaetig;  aber  auch  Klopstock  redet  ihnen  bei  Joseph  II 
das  Wort.  Mendelssohn  war  ihr  erster  deutscher  Schriftsteller  von  Bedeutung;  seine  Über- 
setzung des  Alten  Testaments  1780  fgg.  machte  die  Glaubensgenossen  mit  der  deutschen  Littera- 
tursprache  vertrauter.  Gegen  Mendelssohns  Jerusalem  1783  richtete  Hamann  Golgatha  und 
Scheblimini:  doch  lobtauch  er  Lessings  Nathan.  Dohm.  Über  die  bürgerliche  Stellung  der  Juden 
1781.  Vgl.  auch  £.  Kuh  §  150.  G8.  7)  Die  Universitsteu  Erfurt,  Würzburg,  Freiburg  gingen 
in   diesen  Bestrebungen    voran.  8)    So   im  Elsass    und    in    der  Schweiz:    Strassburger 

Studien  2,  485.  486:  Briefe  der  Schweizer  an  Gleini  354.  Selbst  in  Sachsen  dachte  man  so. 
Die  geistlichen  Morgenlieder  der  Soldaten  Friedrichs  veranlassten  Kleist  zur  Dichtung  seiner 
'Hymne'.  Vgl.  auch 'Unterhaltungen  mit  Friedrich  dem  Grossen,  Memoiren  und  Tagebücher 
von  H.  de  Catt",  hg.  v.  R.  Koser,  Leipzig  1885,  S.  435.  Ein  alter  Soldat  des  Regiments 
Anhalt  erwidert  1760,  als  der  K«]enig  ihn  und  seine  Kameraden  lobt:  'Wie  hätten  wir  nicht 


•I 


II 


§  i;}9  GRUNDZUG  DER  AUFKLÄRUNG.  289 

80  dass  erst  sein  endgiltiger  Sieg  auch  für  die  bisherige  Feindschaft  der 
Kirchen  den  Frieden  brachte. 

Eben  diese  pohtischen  Ereignisse  führten  nun  auch  in  Wechselwirkung 
mit  der  philosophischen  Geistesstroeraung  dazu  die  bisherigen  Staats  Ver- 
hältnisse aufzulcesen  und  abzuändern.-^  Der  Zusammenhang  des  deutschen 
Reichs,  schon  gelockert  durch  die  Kriege  Bayerns,  dann  Preusseus  gegen 
Oesterreich,  wurde  am  Schlüsse  des  Jahrhunderts  durch  die  franzoBsischen 
Revolutionskriege ,  dann  durch  Napoleons  Siege  völlig  gesprengt.  Innerhalb 
der  einzelnen  Staaten  raeumten  Friedrich  der  Grosse  seit  seinem  Regierungs- 
antritt 1740  mit  den  altüberlieferten  Zuständen  vielfach  auf;  ihm  folgte  mit 
noch  tiefer  einschneidenden  Reformen  Joseph  II,  der  sie  freilich  vor  seinem 
Tode  (1790)  grossenteils  zurücknehmen  musste.  Die  härtesten  Rechtsein- 
richtungen wurden  beseitigt,'"  die  bisher  schroff  aufrecht  erhaltenen  Unter- 
schiede der  Stände  ausgeglichen.  Diesem  letzteren  Z\vecke  dienten  nament- 
lich auch  die  geheimen  Gesellschaften,  die  gegen  das  Ende  des  Jahrhunderts 
bedeutenden  Umfang  und  Einfluss  erhielten.  Für  das  Volk,  für  die  Unter- 
drückten zu  wirken,  ward  der  Ehrgeiz  auch  der  Vornehmen   und  Gelehrten. 

Dem  Nationalgefühl  war  freilich  mit  diesen  Veränderungen  noch 
keine  Befriedigung  gewsehrt.  Wenn  auch  Friedrichs  des  Grossen  Erfolge, 
namentlich  dem  Übermut  der  Franzosen  gegenüber  als  deutsche  Siege  er- 
schienen, so  stiess  doch  wieder  seine  Vorliebe  für  eben  diese  Franzosen  und 
nicht  w^eniger  seine  Strenge  gegen  die  Unterthanen  die  meisten  Deutschen  ab. 
Freilich  auch  die  auf  Joseph  II  übertragenen  Hoffnungen  wurden  getteuscht.  So 
blieb  jenes  Weltbürgertum,''  zu  dem  sich  Leibnitz  schon  bekannt  hatte,  der 
Trost  unserer  edelsten  Geister.  Sie  begrüssten  die  franzoesische  Revolution  als 
Befreiung  der  Menschheit,  und  selbst  als  sie  sich  greuelvoll  entwickelte  und 
verheerend  auch  Deutschlands  Gränzen  erst  überschritt,  dann  mehr  und  mehr  ein- 
engte, fehlte  es  nicht  an  Stimmen,  welche  schadenfroh  ihr  zujubelten.'-  Unter- 
dessen Hess  die  Menge  des  Volkes,  welche  mit  ihrer  Liebe  nie  über  die  Gränzen  der 
einzelnen  Staaten  hinausgegangen  war,'^  stumpfsinnig  Alles  über  sich  ergehen. 

brav  seiu  sollen:  wir  haben  uns  ja  für  die  Religion,  für  Sie  und  das  Vaterland  geschlagen.' 
9)  K.  Biedermann.  Deutschland  im  18.  Jahrhundert.  Leipzig  1854—80,  IV.  10)  Die  Folter: 

die  Todesstrafe  für  Kindermürderinnen;  die  Leibeigenschaft:  alle  diese  Überlieferungen 
werden   auch  durch  die  poetische  Litteratur   bekämpft.  11)  Die  Hamburger  Wochen- 

schrift 'der  Patriot'  1724  (§  140,  33)  zeigte  auf  dem  Titel  den  Kopf  des  Sokrates  mit  der  Über- 
schrift Tosmopolites  oder  zu  Teutsch :  deT  Weltbürger'.  12)  So  besonders  in  den  ehemals 
geistlichen  Herrschaften  und  den  Keichsstadteu.  13)  Ja  auch  als  ünterthauen  fremder 
Herrscher  hatten  selbst  deutsche  Dichter  sich  wenigstens  gerühmt:  Gerstenberg  als  Diene,  Pfeffel 


200  NEUIIoniDElTTSCnE  ZEIT.         XVIII  JA  KIM  F.  §  13!) 

Bei  der  anschoinonden  Unmocglichkeit ,  die  politischen  Verhältnisse 
Deutschlands  von  innen  heraus  umzugestalten,  hielten  die  liesten  fest  an  der 
lluniauitset.  Der  Einzelne  sollte  um  so  freier  seine  eigene  Bildung  vollen- 
den, je  weniger  er  durch  confessionelle,  staatliche,  ja  nationale  Pflichten  in 
Anspruch  genommen  war.'*  Alle  Völker,  alle  Bekenntnisse  sollten  sich  in 
rein  menschlicher  Gesinnung  zusammen  finden,  so  wie  man  glaubte,  dass  die 
Natur  überall  die  gleichen  Anlagen,  die  gleichen  Rechte  verliehen  habe.''^ 
Jeder  fühlte  sich  auf  sich  gestellt  und  berechtigt  auch  seine  Angelegenheiten 
selbst  zu  ordnen;  nsechstdem  aber  ward  die  Familie  weit  wichtiger  als  was 
das  Herkommen  in  Staat  und  Kirche  forderte.  Das  Herz  ward  der  Gesetz- 
geber des  Thuns  und  Lassens,  Empfindsamkeit  sein  Stolz.  Daher  die  vielen 
Selbstbekenntnisse  dieses  Zeitraums,'"  die  wie  Kousseaus  Confesaions  (von 
1781  ab)  auch  die  innersten  Empfindungen,  die  geheimsten  Triebfedern  eigner 
Thaten  zu  enthüllen  suchten.  Daher  die  innigen  Freundschaften,  die  Besuche 
und  Briefe,  welche  auch  ferner  stehende  verbanden.  Und  mit  Recht  suchte 
man,  gleichfalls  nach  Rousseau  {Emile  1762)  die  Erziehung  zunaech.st  des 
Einzelnen  auf  die  Bildung  des  Charakters,  auf  die  Entwickelung  des  Willens 
zu  bauen  und  sah  in  der  Erziehung  eine  der  wichtigsten  Aufgaben,'"  die 
auch  für  das  niedere  Volk  '^  auf  das  ernstlichste  in  Angriff  zu  nehmen  sei. 

Der  Grundzug  des  Zeitalters  und  seine  Entwickelung  spiegelt  sich  in 
der  Litteratur  genau  wider:  bot  sie  doch  hauptsächlich  die  Mittel  dar, 
durch  welche  die  gewünschten  Verbesserungen  herbeigeführt  werden  sollten. 
Auch  für  die  Litteratur  ward,  und  zu  ihrem  grossen  Gewinn,  die  Prüfung 
aller  Überlieferung  auf  ihre  verstandesgema>sse  Berechtigung  hin  eine  drin- 
gende und  beständig  wiederholte  Forderung.  Kritik  ward  das  Losungswort, 
welches  in  freilich  erst  allmaehlich  wachsender  Stärke  der  Bedeutung  immer 
wiederkehrt.'-*     Sie   hat   die  hervorbringende  Thfetig^eit   mehrmals  nicht  nur 

als  Franzose,  Kosegarten  als  Schwede  in  Poiiiniern.  Die  Hannoveraner  waren  besonders  stolz 
auf  ihre  Verbindung  mit  England.  14)  Sibillers  Ankündigung  der  Hören  scbliesst  Alles 

aus,  was  auf  Staat,  Kirche  und  Verfassung  Bezug  bat.  Vgl.  auch  ilie  Abhandlung  von  W.  v. 
Humboldt  §  164,  22.  15)  Daher  die  Begeisterung  für  die  wilden  V^ölker,  das  Interesse 

für  die  Reisebeschreibungen.  16)  S.  u.  a.  Jung-Stilling,  Voss,  Moritz,  Brandes,  Bronuer: 

mit  dem    weitesten    Gesichtskreis  G(rthe.  17)    Das    Carolinum    in    Braunschweig,    das 

Fhilanthrupin  in  Dessau,  die  Anstalten  von  Pfetfel  in  Colniar,  von  Salis  in  Marschlins,  von 
Salzmann    in  Schnepfenthal.  18)   In  der  Mark  war    hiefür    der  Freiherr   von   Rochow 

thietig  (Teutscher  Merkur  1778),  besonders  aber  Pestalozzi  in  der  Schweiz  (§  1641 
19)  (nittscheds  'Critische  Beytra;ge'  u.  a.  Besonders  die  Schweizer  gebrauchen  das  Wort 
mit  Vorliebe:   Boilmer  dichtet  sogar   critische  Lobgedichte'  und  ruft  darin  die  Gottin  Critica, 


I 


§  13!)  KRITIK  IN   DER  LITTERATUR.  201 

geleitet,  sondern  angeregt.^"  Ihr  ist  es  zum  guten  Teil  zu  verdanken,  dass 
die  Litteraturgeschichte  dieses  Jahrhunderts  keinen  Rückgang  aufweist,  wie 
noch  in  seinem  Anfang  Gottsched  und  seine  Gegner  auf  Opitz  zurückgreifen 
mussten,  dass  sie  vielmehr  mit  immer  kühneren  Schritten  aufsteigend  zuletzt 
auf  den  Gipfel  der  Vollendung  gelangte,  welclien  zu  erreichen  unserer  Dichtung 
bis  jetzt  überhaupt  bestimmt  war. 

Auch  die  Kritik  stand  allerdings  unter  dem  Einfluss  der  Lebren  und 
Muster  des  Auslandes,  teilweise  auch  der  Vergangenheit.  Nur  zeigte 
sich  in  deren  Wahl  und  Würdigung  ein  bestcändiges  Wachsen  des  deutschen 
Geistes.  Waren  es  anfangs  die  franzoesischen  Classiker,  die  man  eng  an- 
schliessend nachahmte,-^ ^  so  traten  frühzeitig  englische  Vorbilder^'-^  daneben, 
zunsechst  noch  solche,  die  gleichfalls  sich  an  die  Franzosen  anlehnten.-^  Neuerer 
in  der  französischen  Litteratur  und  mehr  noch  englische  Dichtungen  aus 
älterer  Zeit  führten  weiter  und  zu  freierer  Nachbildung.  Gleichzeitig  bahnte 
sich  auch  ein  tieferes  Verständnis  der  griechischen  und  roemischen  Kunst  und 
Kunstlehre  an.^*  Homer  trat  über  Vergil  und  dessen  neuere  Nachahmer,"^ 
Sophokles  und  Shakespeare  wurden  an  die  Stelle  von  Corneille  und  Racine 
gesetzt.     Die  franzoesischen  Kunstvorschriften  erwiesen  sich  als  missverstanden 


an.  Wie  hoch  denkt  Lessing  von  der  Kritik  im  Bekenntnis  am  Schluss  der  Dramaturgie! 
Und  wie  gross  erscheint  das  Wort  in  Kants  drei  Hauptwerken !  Zu  Grunde  liegt  übrigens 
der  Gebrauch  des  Ausdrucks  in  Bayles  Dictionnaire  critique.  20)  Wie  sehr  die  Zeit- 

genossen davon  überzeugt  waren,  moegen  zwei  Stellen  aus  Hallers  Tagebuch  (§  147,  39) 
beweisen.  1748  (1,  40)  sagt  er  'Wir  sind  versichert,  die  Künste  und  die  Poesie  sind  eben 
vorzüglich  darum  in  Deutschland  noch  minder  hoch  als  in  den  angränzenden  Landen  gestiegen, 
weil  man  mit  dem  mittelm»ssigen  so  viel  Geduld  gehabt  und  seine  Hochachtung  zu  leicht 
gegeben  hat.'  1777  (2,  189)  'Ohne  die  Kritik  wird  keine  Nation  jemals  das  Übergewicht 
in  Werken  des  Witzes  erhalten.  Und  es  ist  sehr  wahrscheinlich  dass  die  wenige  Aufnahme 
der  Dichtkunst  in  den  hundert  nach  Opizen  verflossenen  Jahren  den  Mangel  der  wahren 
Kritik  zur   vornehmsten    Ursache    habe.'  21)   Diese  hielt  von  Neuem  den   Deutschen 

vor  um  sie  zur  Bescheidenheit  zu  mahnen,  Eleazar  Mauvillon,  Sprachlehrer  zu  Leipzig,  in 
seinen  Lettres  frawjaises  et  germaniques  1740,  wogegen  sich  Schwabe  in  den  Belustigungen 
des  Verstandes  und  AVitzes  1,  282  wandte,  wahrend  Bodmer  die  Briefe  durch  Übersetzung 
noch    verbreitete.  22)    Auf   solche    wies    Voltaire  hin:    Lettres  Anglaises  ou  Lettres 

phüosophiques  1730.  Schon  vorher  hatte  in  der  Schweiz  Muralt  in  seinen  Lettres  sur  les 
Anglais  et  les  Frangais  1725  die  Engländer  vorgezogen;  ihm  folgte  Haller.  28)  Addison, 

Pope,  Thomson.  Vgl.  M.  Koch  in  den  Verhandlungen  der  Philologenversammlung  zu  Gör- 
litz 1890.  24)  Dazu  wirkte  wesentlich  mit  das  Studium  der  bildenden  Kunst  (Winckel- 
mann  §  156).  25)  Noch  Haller  setzte  Vergil  über  Homer,  freilich  aus  Gründen  der 
Sittlichkeit  (^Tagebuch  1,  263).     Sulzer  fand  sogar  Pope  dichterischer  als  Homer  (ebd.  2,  43). 


292  NICUJIOCHDELTSCIIH  ZEIT.        XVIII  JAIIUII.  §  130 

und  un/.uliinglicli.-"  Der  Sinn  für  Poesie  wurde  als  eine  gemeinsame  (Jiibo 
aller  Nationen  erkannt  und  die  Sclurnheit  auch  der  kunstlosen,  nicht  von  der 
Regel,  sondern  von  der  Begeisterung  beherrschten  Dichtung  empfunden.  Es 
trat  der  Gegensatz  der  Naturpoosie,'-'  der  Volkspoesie  zur  Kunstpoesio  des 
Einzelnen  an  das  rechte  Licht:  als  Aufgabe  des  modernen,  des  deutsclien 
l^ichtcrs  erschien  es  Natur  und  Kunst  zu  verbinden ,  sein  eigenes  Denken 
und  Dichten  mit  dem  des  Volkes  in  Einklang  zu  bringen.  Aus  dieser 
Verschmelzung  der  Weltcultur  und  der  deutschen  Volksart  gingen 
Werke  von  wahrer  Vollendung,  von  hoechstem  Wert  für  alle  Zeiten  und 
nicht  nur  für  die  deutsche  Nation  hervor.  Ja  es  zeigt  sich  die  Anerkennung 
dieser  Fortschritte  schon  im  achtzehnten  Jahrhundert  darin,  dass  nach  einigen 
misslungenen  Versuchen  -^  doch  die  bisherigen  Träger  der  Weltlitteratur,  die 
Franzosen"  und  Engländer,^"  zur  Beachtung  der  deutschen  Dichter  veran- 
lasst werden  konnten  und  die  kleineren  germanischen  Nationen,  die  Holländer^' 
und  Nordländer,^-  geradezu  deren  Nachahmer  geworden  sind. 

Die  allmsehliche  Entwickelung  der  deutschen  Litteratur  im  achtzehnten 
Jahrhundert  lässt  doch  gewisse  Abschnitte  erkennen,  innerhalb  deren  die 
neujrewonnenen  Anschauungen  sich  entfaltet  und  wirksam  erwiesen  haben. 
Der   erste   Abschnitt,    bis    1740,    zeigt   ein   bewusstes,    ernstes   Streben    die 

26)  Die  Xachahmung  der  franzoesischen  Muster  bekämpfte  selbst  ein  Franzose,  Premontval. 
Über  die  Gallicomanie,  Berliner  Akad.  1759,    übersetzt  in  Herders  Humanitsetsbriefen    110. 

27)  Über  die  allmsebliche  Würdigung  des  Volksliedes  s.  Erich  Schmidt,  Charakteristiken 
S_  2.S4.  28)  Gottsched  entlockte  Voltaire  einige  hipfliche  Wendungen  (§  148,  12): 
Bodmer  Hess  ohne  Erfolg  Hallers  und  Klopstocks  Dichtungen  in  das  Franzoesische  über- 
setzen (§  122,  41V  Der  Curator  der  preussischen  Universitäten,  J.  F.  von  Bielfeld  schrieb 
(anonym)  Progr'es  des  AUemands  dans  les  sciences,  les  heiles  lettres  et  les  Ärts,  Amsterdam 
17.Ö2.  Sturz  bemerkte  jedoch  1768  dass  die  Franzosen  mit  deutscher  Litteratur  wenig 
bekannt  seien.  29)  Auf  diese  wirkten  besonders  die  Deutschen  in  Paris:  Melchior 
Grimm  (§  14U,  13.  148,  48),  Michael  Huber  (§  150,  84),  Franz  Leuchsenring  (§  160,  4.5), 
alle  im  Kreise  Diderots  lebend;  von  Franzosen  waren  Marraontel,  Dorat.  Chamfort,  Chalier 
(von  diesem  Theatre  AUemand  1770^  als  Übersetzer  thfetig.  Ein  Jotcrnal  iCtranger 
erschien  zu  Paris  1754—62 :  Leuchsenrings  Journal  de  lecture  1775 — 79.  vgl.  zuletzt 
Schnorrs  Arch.  XIV.  143.  Am  meisten  wurden  begreiflicher  Weise  die  deutschen  Prosa- 
werke gewürdigt:  Gessners  Idyllen,  Goethes  Werther.  Vgl.  Ch.  Joret,  Des  rnpports 
inteUectuels  et  litteraires  entre  la  France  et  l'AUemagne.  Paris  1884;  Th.  Süpfle,  Geschichte 
des  deutschen  Kultureinflusses  auf  Frankreich,  I.  II  1,  Gotha  1886.  88.  Für  Italien  8,{ 
Th.  Thiemann.  Deutsche  Kultur  und  Litteratur  des  18.  Jahrhunderts  im  Lichte  der  zeit- 
genössischen italienischen  Kritik,  Oppelu  1886.  30)  In  England  ward  erst  Bürger! 
durch  W.  Scott  u.  a.  eingeführt:  §  158.  28.  81)  Vgl.  CG.  Kakebeen,  De  invloed 
der   duitsche    ktteren    op    de  Xederlandsclie .    Culemborg  1888.  32)    Baggesen  §  162. 


§  139  ABSCHNITTE.  293 

deutsche  Litfcratur  von  ihren  schlimmsten  Auswüchsen  zu  befreien,  sie  neu 
zu  pflanzen,  zusammen  zu  halten  und  in  beständiger  Yergleichung  mit  den 
angesehensten  Mustern  des  Auslandes  weiter  zu  führen.  Der  zweite  Ab- 
schnitt, bis  1770,  kann  füglich  als  das  Zeitalter  Friedrichs  des  Grossen  be- 
zeichnet werden,  dessen  grosse  Kriege  in  diese  Zeit  fallen:  der  Geist  seiner 
Regententhsetigkeit  und  selbst  seiner  persoenlichen  Neigungen  herrscht  auch 
in  der  Litteratur  dieser  Zeit,  Verstand  und  Willensstärke,  hohe  Begeisterung 
und  doch  wieder  ein  Spiel  mit  weichen  Gedanken  und  zierlichen  Formen. ^^ 
Der  dritte  Abschnitt,  bis  zum  Ende  des  Jahrhunderts  und  noch  etwas 
darüber  hinaus,  eine  Zeit  des  langen  Friedens,  dann  des  auswärtigen  Krieges, 
wendet  sich  vom  Staate  so  ab  wie  der  vorhergehende  von  der  Kirche  und 
strebt  nach  der  Erfüllung  der  rein  menschlichen  Ideale,  welche  in  den  Kunst- 
formen der  Griechen,  in  der  Eigenart  des  deutschen  Yolksgeistes  gesucht 
und  gefunden  werden.  Diese  Abschnitte  sind  von  einander  getrennt  durch 
heftige  Kämpfe,  zu  denen  allerdings  verschiedene  Anlässe  führten.  Den 
ersten  Abschnitt  beschloss  die  Entzweiung  der  bis  dahin  einträchtigen  Führer 
der  Litteratur,  welche  deren  bisherigen  Anhänger  freiere,  eigene  "Wege  be- 
treten liess,  ja  durch  die  Anstoessigkeit  des  Haders  dazu  veranlasste.  Tiefere 
Gründe  und  ein  weniger  persoenlich ,  aber  sachlich  um  so  heftiger  geführter 
Kampf  war  es,  der  um  1770  die  Jugend  von  der  älteren  Generation  schied. 
Aus  der  Beseitigung  der  bisherigen,  franzoesischen  Regeln  ging  das  Bestreben 
hervor,  alle  Regeln  abzuwerfen  und  die  scheinbare  Gesetzlosigkeit  der  älteren, 
der  volkstümlichen  Dichtung  nachzuahmen:  erst  eine  tiefere  Auffassung  lehrte 
hier  die  innere  Gebundenheit  bei  seusserlicher  Freiheit  zu  verstehen  imd  der 
Kunstdichtung  selbst  wieder  anzueignen.  Mit  einem  heftigen  Kampfe,  zu 
welchem  sich  die  beiden  Hseupter  unserer  Dichtung  verbündeten,  um  die 
zurückgebliebenen  Vertreter  überwundener  Vorstufen  zu  verdrängen,^*  endigte 
auch  beinahe  das  Jahrhundert:  fortan  blieb  wenigstens  für  die  kritische 
Beurteilung  das  Mass  der  hcechsten  Leistungen  fest  und  immer  wieder  leicht 
zur  Geltung  zu  bringen. 

§  140. 
Indem   so   die    Litteratur  des   achtzehnten   Jahrhunderts    an    Wert   und 
I  mfang  beständig  zunahm,   war   sie  freilich  bei  jedem  Fortschritte  der  Auf- 
lassung derer,    auf  die  sie  wirken  wollte,    voraus  und   musste  diese  erst  an 

ilo)  Auch  das  Interesse  des  Auslands  für  deutsche  Litteratur  in  dieser  Zeit  (Anni.  28.  29) 
knüpft   zum   guten  Teil  an  Friedrich   und   seine  Landesangehcerigen  an.  34)    Goethes 

und  Schillers  Xenien  1796. 


294  NEUIIOCllüEUTöCJlE  ZEIT.         XYllI  JAlllüI.  §  UO 

sich  ziclin  und  nacli  sich  zichn.  Noch  lange  warcn  nur  einzelne  Kreise  ihr 
gewonnen,  die  Menge  auch  in  den  mittleren  und  hocheron  Ständen  blieb  von 
den  alten  Vorurteilen,  vor  allem  den  confessionellen  befangen.  Daher  nah- 
men die  katholischen  Teile  Deutschlands  erst  im  letzten  Drittel  des  Jahr- 
hunderts Anteil  an  der  neuen  Littcraturbewegung;  aber  auch  in  den  pro- 
testantischen gewann  sie  nur  langsam  eine  breitere  Bahn,  obschon  hier 
teilweise  an  eine  ältere  littcrarische  Thaetigkeit  angeknüpft  werden  konnte. 
So  in  Sachsen  und  in  Hamburg.'  Dazu  kam  von  Anfang  des  Jahrhunderts 
an  die  Schweiz,'-  insbesondere  Zürich.  Die  Richtung  der  schweizerischen 
Schriftsteller  fand  Aufnahme  und  weitere  Pflege  in  Ilallc'^  und  Berlin,  während 
die  sächsischen  Diclitcr  zum  Teil  nach  Braunschweig*  und  Kopenhagen^ 
übersiedelten.  Halberstadt  ward  durch  Gleims  [)ersa'nliche  Bemühungen^  Js^'gcn 
1770  zum  Sammelplatz  jüngerer  Dichter,  während  gleichzeitig  die  Universitaet 
Göttingen  und  andererseits  Frankfurt  und  der  Überrhein  je  einen  Kreis  von 
Jünglingen  vereinigten,  welche  gemeinsame  litterarische  Ziele  verfolgten.  Bald 
darauf  aber  nahm  Weimar  unter  Herzog  Karl  August  den  anerkannten  Vor- 
rang unter  den  Heimstätten  deutscher  Dichtung  ein,  als  Wieland, 
Goethe,  Herder,  Schiller  und  eine  Anzahl  geringerer  Kräfte  sich  dort  zu- 
sammen fanden. 

Dem  gelehrten  Grundzug  aller  neueren  Litteratur  entsprechend  waren 
die  Universitseten  mehrmals  und  gleich  zuerst  die  Ausgangspuncte  der 
neuen  Litteraturbewegungen.  So  pedantisch  auch  waehrend  des  ganzen  Jahr- 
hunderts die  Lehrform,  schon  wegen  des  noch  immer  für  vornehmer  gehal- 
tenen Gebrauches  der  lateinischen  Sprache''*  war  und  bleiben  musste,  so  lange 

§  140.  1)  F.  AVehl,  Hamburgs  Litteraturleben  des  18.  Jahrhunderts,  Leipzig  1856,  jetzt 
nifht    mehr  ausreichend.  2)  J.  C.  Mopiikofer,    Die  schweizeiisehe  Litteratur  des  acht- 

zehnten Jahrhunderts,  Leipzig  1861.    J.  Bschtold,  Geschichte  der  deutscheu  Litteratur  in  der 
Schweiz,    Fraueufeld    1892.      Auch    in    litterarischer   Hinsicht    verbanden   sich    die    bisher, 
thseticren  Kreise  zu  der  'Patriotischen  Gesellschaft',    welche  in  Schinznach    zuerst    1762    zu-j 
sammen   trat.  8)    W.   Kawerau,    Aus    Halles    Litteraturleben,    Halle   1888;    ders.  Aua 

Magdeburgs  Vergangenheit.  Halle  1886.  4)  Schiller,  Braunschweigs   schoene  Litteratur! 

in  den  Jahren  1745  bis  1800,  Wolfenbiittel  1845.  5)   Hier  befanden  sich  1763  Klopstock,| 

J.  A.  Gramer,  Funck,  Resewitz,  J.  H.  Schlegel:  J.  E.  Schlegel  war  zuerst,  1743,  hier  ein- 
getroffen. 6)  Gleims  Verhalten  stand  nicht  allein.  AVolthietig  gegen  jüngere  DichterJ 
hatte  sich  si-hon  Hagedorn  erwiesen,  den  Kabener  (Hagedorns  Werke  5,  71)  'einen  liebreicheal 
Vormund  der  witzigen  und  notleidenden  Köpfe  in  Sachsen'  nennt:  Bodmer  nahm  Klopstock,J 
dann  Wieland  gastfreundlich  auf.  Kleist  unterstützte  Ramler,  Nicolai,  Voss;  F.  Jacobi  undj 
GoBthe  thaten  viel  für  ihre  litterarischen  Freunde.  6a)  Haller  bedauert  die  Abschaffung] 


§  140  HEIMSTÄTTEN  ÜER  DICHTUNG.  295 

die  Einpraegung  von  massenhaften  Kenntnissen  als  Hauptsache  galt;  so  roh 
ferner  auch  das  Leben  der  Studenten  noch  im  Allgemeinen  sich  darstellte/ 
so  war  doch  hier  am  ersten  noch  der  Boden  für  dichterische  Bestrebungen 
empfänglich,  sei  es  dass  wie  früher  die  Professoren,  sei  es  dass  Studierende 
selbst  im  Verein  sich  um  deren  Pflege  bemühten.  Ersteres  geschah  nament- 
lich da,  wo  zum  Teil  im  Anschluss  an  frühere  Dichtergesellschaften  (§  124) 
sich  litterarische  Vereine  bildeten.^  Für  dichterische  Vereine  Jüngerer  waren 
Leipzig,  spseter  Göttingen  mit  seinen  neuzeitlicheren  Formen  (die  Universitset 
war  erst  1737  gegründet  worden)  und  mit  seinem  frischeren  Geiste  günstig; 
zuletzt,  und  freilich  ganz  am  Wendepunct  des  Jahrhunderts,  nahm  Jena  den 
ersten  Rang  ein,  wo  die  Philosophie  Kants  zuerst  vor  einem  groesseren  und 
aus  allen  Gegenden  Deutschlands  zusammengestrcßmten  Hcererkreise  vorge- 
tragen wurde  und  sofort  eine  Reihe  von  Weiterbildungen  erfuhr. 

Es  tauchte  wiederholt  der  Gedanke  auf  die  Pflege  der  deutschen 
Sprache  und  Litteratur  durch  eine  Akademie  nach  dem  Muster  der  fran- 
zoesischeu  gefördert  zu  sehn:  allein  die  Berliner  Akademie  besann  sich  erst 
nach  dem  Tode  Friedrichs  11  auf  diese  ihr  von  Leibnitz  gestellte  Aufgabe,^ 
und  die  Versuche  Gottscheds  1749  und  Klopstocks '°  gegen  1770  in  Wien 
die  Stiftung  einer  Akademie  anzuregen  schlugen  ebenso  fehl  als  ein  ähnlicher 
Vorschlag  Herders  1787  bei  dem  Markgrafen  Karl  Friedrich  von  Baden*' 
unausgeführt  blieb. 

Denn  die  Hoefe  waren  mit  wenigen  Ausnahmen  noch  weniger  als 
früher  geneigt  die  deutsche  Dichtung  zu  unterstützen:  ging  doch  von  ihnen 
hauptsächlich  der  freiHch  auch  bis  weit  in  die  bürgerliche  Gesellschaft  *^  ver- 


des  Lateinischen  als  Gelehrtensprache:  Tagebuch  2,  186.  Dagegen  tritt  wie  Klopstock  so 
auch  Herder  begeistert  für  die  Muttersprache  ein  und  setzt  schon  1764  das  Latein  herab: 
Haym,  Herder  1,  25  fgg.  7)  Dichterisch  ward  das  Studentenleben,  freilich  sehr  ver- 

schieden, behandelt  in  Pyras  Bibliotartarus,  in  Zacharises  Renommisten,  in  Goethes  Faust, 
in  Kortums  Kandidat  Jobs;  die  Wirklichkeit  gibt  am  derbsten  Laukhard  gegen  Ende  des 
Jahrhunderts  wieder.  8)  Vgl.  §  148,  9.  9)  Von  K.  Ph.  Moritz  (§  164)  erschienen  1793 

'Beitraege  zur  deutschen  Sprachkenutniss,  vorgelesen  in  der  königl.  Akademie,  1.  Sammlung'; 
auch  von  anderen  Mitgliedern  Aufsätze  von  geringem  Belang.  10)  §  148.  Danzel,  Gottsched 

306,  vgl.  auch  ebd.  315  (Dresden)  §  152,  .56.  11)  Haym,  Herder  2,  487.     'Ideen  zum 

ersten  patriotischen  Institut  für  den  Gemeiugeist'  d.  h.  für  Sprache  Geschichte  und  thietige 
Philosophie:  in  Suphans  Ausg.  16,  6U0  aus  Herders  Adrastea  wiederholt.  12)  Von  der 

Geselligkeit  in  Hannover  schreibt  Zimmermann  1769  (bei  Bodemann  S.  .57)  'Kein  anderes 
Wort  wird  gesprochen  als  franzfüsisch,  auf  franzcesisch  wird  coquettirt,  auf  franza-sisch  wird 
gescherzt,  und  auf  franzoesisch  geküsst'.  F.  C.  Gramer,  Klopstock  in  Briefen  an  Tellow  1,  94  sagt 


296 


NEUIIOCIIDEUTSaiE  ZEIT. 


XVllI  JAIIKII. 


§  140 


breitete  Gebraucli  dos  Franzcpsischcn  für  allen  feineren  Verkehr  aus.'*''  Wohl 
bestand  zu  Anfang  des  Jahrhunderts  noch  die  Anstellung  von  Ilofdichtcrn 
an  manchen  Hafen  (§  l'i<>),  aber  die  alte  Autfassung,  welche  in  ihnen  nur 
einen  Teil,  und  einen  sehr  nebensächlichen,  des  Hofgesindes  sah,  machte 
eine  weitere  Entwickelung  der  deutschon  Diclitung  von  ihnen  aus  unmopglich. 
Erst  als  hochherzige  Fürsten  Dicliter  ohne  solche  persccnliche  VcrpHichtungcn 
an  sich  zogen  und  unterstützten,  wie  Friedrich  V  von  Dänemark  Klopstock 
berief,  war  die  Würde  der  Dichter  gewahrt,  ja  in  den  Augen  der  Zeit- 
genossen hoch  erhoben.  Am  vorteilhaftesten  für  die  schoene  Litteratur  ge- 
stalteten sich  die  Verhältnisse,  wenn  die  Fürsten  dichterisch  begabte  Männer 
als  Beamte  in  ihrem  Jiande  anstellten,  wie  Herzog  Karl  von  Braunschweig 
an  das  von  ihm  1746  gestiftete  Carolinum  Berufungen  in  diesem  Sinne  er- 
gehen Hess,  spaeter  Lessing  zum  Bibliothekar  in  Wolfenbüttel  ernannte;  wie 
selbst  ein  Landesherr  von  so  geringen  Mitteln  wie  Graf  Wilhelm  von  Lippc- 
Öchaumburg  erst  Abbt,  dann  Herder  zu  sich  berief;  und  wie  spater  Karl 
August  die  ersten  öchriftsteilcr  der  Nation  um  sich  versammelte:  das  Amt 
Hess  sie  unabhängig  erscheinen  und  gestattete  doch  ein  wahrhaftes  Freundes- 
verhältnis zwischen  Fürst  und  Dichter.'^ 

Mit  tiefem  Schmerze  empfanden  es  alle  Freunde  der  deutschen  Dich- 
tung, dass  der  groesste  Fürst  des  Jahrhunderts,  dass  Friedrich  H  sich  nicht 
nur  kalt,  sondern  selbst  ungerecht  gegen  die  deutschen  Dichter  erwies,'^ 
Die   begeisterten  Lobgedichte   seiner  Landeskinder   lohnte   er  karg    und  ver- 


1777  'In  vielen  der  feinen  Societaeten  in  Hamburg  ist  unsere  arme  Frau  Muttersprache  gänzlich 
proscribiert,  es  gibt  junge  Herren  die  auch  ihre  Namen  auf  franzoesisch  aussprechen.'  Ins- 
besondere wurde  auch  der  briefliche  Verkehr  vielfach,  z.  B.  von  Haller,  so  gut  wie  aus- 
schliesslich franzoesisch  geführt:  wogegen  Gottsched  eiferte  §  148,  14.  Er  fragt  Grit.  Beytr. 
IV.  .093  'Ist  es  nicht  Thorheit  dass  man  die  Aufnamen  [Addresse]  eines  Briefes  ohne  Unter- 
schied auf  franzoesisch  verfertiget?'  Vgl.  G.  Steinhausen,  Geschichte  des  deutschen  Briefes, 
Berlin  1889.  91.  2.  29  fgg.  13)  Ausser  dem  Berliner  Hof  unter  Friedrich  II  war  der 

zu  Gotha  besonders  franzu'sigch:  für  ihn  zunächst  berichtete  Melchior  Grimm  (§  148,  48)  über 
die  neuen  litterarischen  Erscheinungen  in  Paris:  Correspondance  litteraire,  poUtique,  critique, 
addressee  ä  un  souverain  d' Allemag ne  par  Grimm  et  Diderot,  Paris  1812.  1813.  StippUment 
1814.  Neue  Ausgabe  1829.  Auch  der  Hof  zu  Kassel  war  unter  Landgraf  Friedrich  II  1760—85 
fanz  franzoesisch:  Lynker  Geschichte  des  Theaters  und  der  Musik  in  Kassel  hg.  v.  Köhler, 
Kassel  1865.  14)  Das  erhabenste  Denkmal  dieser  Verbindung  ist  die  Fürstengruft  in 

Weimar,  wo  Karl  August  und  Luise  .'on  Sachsen-Weimar  neben  Goethe  und  Schiller  rnhn. 
15)  H.  Pröhle.  Friedrich  der  Grosse  und  die  deutsche  Litteratur^  Berlin  1878.  G.  Krause, 
Friedrich  der  Grosse  und  die  deutsche  Poesie,  Halle  1884.     A.  Berger,  Friedrich  der  Grosse 


§  140  VERHALTEN  DER  IICEFE.  297 

letzend;  er  wollte  Lessing  iu  Berlin  nicht  halten,  er  vorwarf  Groethes  Erst- 
lingsdichtung.  Seine  Schrift  de  la  litterature  Ällpuiandc  1780'*'  rief  freilich 
Widerspruch  genug  hervor;  '^  aber  erst  der  Nachfolger  Friedrichs  suchte, 
nun  schon  zu  spaet,  wenigstens  den  einheimischen  Dichtern  Genugthuung 
zu  geben. 

Auch  Joseph  II  tauschte  die  Hoffnungen  der  deutschen  Schriftsteller.  Vor 
allem  geriet  die  um  1770  begonnene  Berufung  deutscher  Gelehrten  nach  Wien 
bald  ins  Stocken,  zum  Teil  durch  ihr  eigenes  Verschulden,  weit  mehr  aber 
durch  die  confessionellen  Vorurteile  seiner  Umgebung.  So  war  es  denn  auch 
nur  eine  kurze  Gunst,  welche  die  Kurfürsten  Karl  Theodor  von  der  Pfalz  um 
1775  und  Friedrich  Carl  Joseph  von  Mainz '^  um  1786  der  deutschen  Litte- 
ratur  erwiesen:  jener  ward  durch  seine  Übersiedelung  nach  München  1778, 
dieser  durch  die  franzcesische  Invasion  1792  auf  andere  Bahnen  gedrängt. 

Die  Dichter  traten  den  Hoefen  gerade  in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahr- 
hunderts vielfach  dadurch  nseher  dass  sie  den  Adel  erhielten'^  und  so  der 
übrigen  Hofgesellschaft  auch  seusserlich  gleich  gestellt  wurden.  Innerlich  war 
eine  enge  Verbindung  schon  durch  die  lebhafte  Teilnahme  hergestellt  wor- 
den, w^elche  die  Frauen  jetzt  wieder  der  Dichtung  und  den  Dichtern  zu- 
wandten. Von  den  Fürstinnen  war  es  namentlich  Karl  Augusts  Mutter, 
Anna  Amalia,'-"  eine  braunschweigische  Prinzessin,  welche  ebenso  einsichtsvoll 
als  liebenswürdig  solche  Gunst  übte.  Aber  auch  sonst  haben  damals  vor- 
zügliche Frauen  des  Adels  oder  der  bürgerlichen  Kreise  die  Trseger  der 
Litteratur   durch  Verständnis   und    Begeisterung   für   ihre  Werke  gefördert^' 

nnd  die  deutsche  Litteratur,  Bonn  1890.  16)  Neudruck  durch  L.  Geiger  in  Seufferts  Lit. 

denkm.  16,  Heilbronn  1883.  Vgl.  Suphan.  Friedrichs  des  Grossen  Schrift  über  die  deutsche 
Litteratur,  Berlin  1888.  17)  Gegenschriften  von  Jerusalem,  3Iceser  (§  156),  Leo  Gomperz, 

Lettre  sur  la  langue  et  la  lüterature  Alhmande  relative  ä  Vouvrage  De  la  litterature  Allemande 
(Danzig  1781),  die  einzige  welche  Friedrich  beachtete.  Goethe  gedachte  zu  erwidern,  gab 
aber  den  Plan  auf.  Sein  Urteil  von  1782  steht  in  den  Briefen  von  und  an  Merck  S.  258. 
Klopstocks  Ode  gegen  Friedrichs  Schrift  §  152,  41.  18)  Schon  unter  Emmerich  .Joseph 

war  wenigstens  an  der  Erfurter  Uni  versitset Einiges  für  deutsche  Schriftsteller  geschehen:  spseter 
hatte  der  Coadjutor  Karl  von  Dalberg  in  Erfurt  Schiller  viel  Freundlichkeit  erwiesen:  Boxberger, 
Erfurts  Stellung  zu  unserer  classischen  Litteraturperiode,  Erfurt  1869.  19)  Haller  (dieser 

freilich  mehr  wegen  wissenschaftlicher  Verdienste),  Gcethe,  Herder,  Schiller,  und  zahlreiche 
andere  Schriftsteller,  Dohm,  Göckingk,  Hippel.  Klinger,  Kotzebue,  Matthisson,  J.  Müller, 
Nicolay,  Sonnenfels;  zum  Spasse  Kurz  §  145,  28.  Bürger  dichtete  dagegen  ein  stolzes  Epi- 
gramm 'Auf  das  Adeln  der  Gelehrten'.  20)  Sie  war  eine  Nichte  Friedrichs  des  Grossen; 
seine  Schwester,  die  Koenigin  Ulrike  Louise  von  Schweden  verehrte  Haller,  welcher  ihr  1762 
die  9.  Auflage  seiner  Gedichte  widmete.  21)   Schon  die  Moralischen  Wochenschriften 


298  NEUJlOCIlDErTSCJIK  ZEIT.         XVIII  JAIIKII.  §  140 

und  sind  in  diesen  Werken  selbst  durch  anziehende  Bilder  solcher  Verhält- 
nisse verewigt  worden.  Auch  au  dichtenden  Frauen  fehlte  es  nicht ,  doch 
sinil  sie  grossentcils  durch  ihre  Verbindung  mit  den  Schriftstellern  zu  dieser 
litterarischen  Bethatigung  gekommen.'-- 

Schon  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  hatte  sich  übrigens  der  Kreis 
der  Dichter  dadurch  erweitert,  dass  AngohoDrigc  des  Kriegerstandes '^' 
und  Kaufleute'-*  sich  an  der  Litteratur  beteiligton.  Es  war  Berlin,  wo 
diese  neuen  Elemente  des  Schriftstcllcrstandes  zucr.st  hervortraten  und  Lossing 
hat  sie  besonders  gefördert.  Die  schriftstellerische  Tluctigkcit  des  Buch- 
händlers Nicolai,  dem  sich  spater  Andere-^  anschlössen,  hat  auf  die  Aus- 
breitung der  Litteratur  einen  unbestreitbaren  Einfluss  gehabt:  schon  die  Be- 
schränkung des  mit  dem  Wachsen  der  Litteratur  ebenfalls  anwachsenden 
Nachdruckes-''  konnte  durch  diese  Verbindung  um  so  leichter  durchgeführt 
werden. 

Noch  ein  Stand  wurde  zur  littcrarischcn  Mitarbeit  herangezogen,  der 
dazu  schon  durch  seinen  künstlerischen  Beruf  manchen  Vorteil  mitbrachte. 
Schauspieler  begannen  auch  selbst  Schauspiele  zu  dichten,  nicht  nur  für 
die  Aufführung,  denn  das  war  ja  schon  bei  den  Schauspiclerdramen  der 
Fall  gewesen,  soudern  für  den  Druck.  Es  war  dies  die  Folge  der  raschen 
Entwickelung,  welche  zu   dieser  Zeit  das  Theater  von  der  niedrigsten  Stufe 

(Anm.  34)  sind  besonders  darauf  bedacht  den  Frauen  zu  gefallen  und  auf  ihre  Erziehung 
einzuwirken.  22)   Die  Frauen    Gottscheds,   Langes,    Klopstocks,   Vvnu.  La    Roche,    die 

Schwestern  Stolberg,  Frau  von  Stein,  Schillers  Schwaegerin  Karoline  u.  a.  Dagegen 
waren  die  Neuberin  und  die  Karschin  selbständig  zu  ihrer  dichterischen  Thaetigkeit  ge- 
kommen. 23)  Ch.  E.  V.  Kleist,  der  allerdings  1745  noch  schreiben  musste  'Unter  Offizieren 
ist  es  eine  Art  Schande  ein  Dichter  zu  sein'  (Sauers  Ausg.  2,  22).  Spieter  kam  v.  Knebel 
dazu,    auch  Blankenburg;  auswärts  Gerstenberg,  Ayrenhoff.  24)  Nicolai,  Mendelssohn. 

25)    Bode    in    Hamburg,   Campe  in   Braunschweig,    Bertuch    in    Weimar.  26)    Über 

die  bedeutendsten  Nachdruckfirmen  lim  1775  s.  K.  Buchner,  Wieland  und  die  Weidmannsche 
Buchhandlung,  Berlin  1871  S.  8  fgg.     Es  sind  besonders  Geschäfte  in  Reutlingen,  Schwabach, 
Karlsruhe,    Bamberg:    früher    war   selbst   Leipzig   beteiligt,    spteter    noch    Wien   und   Prag. 
Dagegen  suchten  die  Schriftsteller  sich  durch  Selbstverlag  auf  Prsenumeration  zu   schützen,! 
meist  mit  schlechtem  Erfolg:    so  erschien  Lessings  Dramaturgie,    Goethes  Götz;    Klopstocka 
Gelehrtenrepublik  hatte  eine  grosse  Zahl  von  Subscribenten,  verdarb  aber  die  Stimmung  dea 
Publicums.     Auch   Wieland   verlor  viel  Geld   durch   eine  'Buchhandlung  der  Gelehrten'  inl 
Dessau.    Vgl.  Herder  in  Suphans  Ausgabe  12.  401.  447.     Doch  erschien  noch  die  Odyssee  von 
Voss  auf  diese  Weise.     Bürger    veröffentlichte   einen  'Vorschlag  dem  Büchernachdruck  zaj 
steuern'  im  D.  Museum  1777  S.  435.    Juristisch  erörterte  die  Frage  Pütter,  Über  den  Bücher- 
nachdruck    1774.     Kant  folgte    1784:   'Von  der  Unrechtmaessitckeit   des   Büchernachdrucks'.j 


I 


§  140         ERWEITERUNG  DER  SCIIRTPTSTELLERKREISE.  299 

zur  Kunstvollcndung  empor  führte. ^^  Hatte  Gottsched  den  Anspruch  der 
gelehrten  Dichtung  auf  die  Bühne  zur  Geltung  gebracht,  so  machten  J.  E. 
Schlegel  in  Kopenhagen  und  für  Deutschland  massgebend  Lessing  in  Ham- 
burg^** geltend,  wie  notwendig  es  sei,  die  Principalschaft  bei  den  Truppen 
zu  beseitigen  und  die  geschäftliche  Seite  des  Unternehmens  von  der  künst- 
lerischen zu  trennen.  Der  Gedanke  des  deutschen  National theaters  ward 
seit  1767  in  verschiedenen  Staedteu  mit  verschiedenem  Erfolge  zur  Ausführung 
gebracht,  auch  die  lioefe,  zunsechst  die  zu  Gotha  und  Weimar,^'*"  nahmen 
deutsche  Schauspielertruppen  in  ihre  Dienste.  Diese  Neuerungen  vollendeten, 
was  die  Achtung  vor  den  steigenden  Kunstleistungen  und  was  das  ernste 
Streben  der  Einzelnen  nach  edler  Haltung  im  bürgerlichen  Leben  und  in  der 
Geselligkeit^^  angebahnt  hatte.  Der  Schauspieler  erschien  in  der  Gesellschaft 
völlig  gleich  berechtigt,  ja  durch  poesievolle  Darstellungen  seines  Standes^" 
noch  besonders  gehoben.  Dass  die  Schauspieler  nun  auch  zum  Schauspiel- 
dichten sich  entschlossen,  war  zugleich  durch  das  immer  wachsende  Bedürfnis 
der  Bühnen  nach  neuen  Stücken  veranlasst. 

Wenn  durch  die  Errichtung  stehender  Bühnen  die  Wirkung  der  neu 
gehobenen  Dichtkunst  eine  wahrhaft  volkstümliche  wurde,  so  diente,  und 
zwar  von  Anfang  an,  noch  ein  anderes  Mittel  zur  Verstärkung  des  Einflusses, 
den  die  Litteratur  auf  immer  weitere  Kreise  übte :  die  Bildung  immer 
neuer,  immer  besserer  Zeitschriften. 

Yon  diesen  überschritten  den  engeren  Kreis  der  Gelehrten,  an  welchen 
sich  noch  die  Monatsgesprseche  von  Thomasius^'  gerichtet  hatten,  zuerst  die 
moralischen  Wochenschriften  nach  dem  Vorbild  des  englischen  Tatter 
und  SjJectator.^^     Die   ersten   eng  anschliessenden   Nachahmungen    erschienen 

Aber  noch  Jean  Paul  hatte  'Sieben  Worte'  gegen  den  Naehdruck  zu  richten.  27)  Vgl. 

im  Einzelnen  §  14ij.  28)  Die  Hamburger  Unternehmung  war  allerdings  durch  Loewen 

und  Andere  ins  Werk  gesetzt  worden.  28a)  Hier  bestand  schon  1757—58  eine  Truppe 

unter  Leituntr  und  auf  Kosten  des  Hofes:  Wähle,  Das  Weimarer  Hoftheater  unter  Goethes 
Leitung  .S.  10.  29)    Schon  die  Veltheimin,  dann  die  Neuberin  hatten  das  Zeugnis  einer 

anstündigen  Lebenshaltung  sich  erworben:  über  letztere  s.  Mentzel,  Theater  in  Frankfurt 
S.  169.  Dann  war  Ekhof  mit  den  Bürgern  in  Hamburg,  Schrueder  auch  mit  dem  Adel  in 
Hannover   in    nächste  Verbindung   getreten.  30)  Vor   allem   durch    Goethes    Wilhelm 

Meister.  Aber  schon  dass  die  Selbstbiographien  dieser  Zeit  (§  139,  16)  zum  grossen  Teil 
von  Schauspielern  herrühren,  zeigt  die  Neugierde  der  Leser  für  ihre  Schicksale.  Vgl.  auch 
Schropders  Leben  und  die  Mitteilungen  der  Caroline  Schultze  (§  160,  68).  31)  §  138,  12. 

32)  Von  Steele  und  Addison  herausgegeben:  The  Tatler  1709—11,  The  Spectator  1111— 12; 
es  folgte  The  Guardian  1713.     Auch  ins  Deutsche  übersetzt,  der  letztgenannte  als  'Der  ge- 


300  NEUIIOCIIÜEIJTSCIIE  ZEIT.         XVIII  JAIIUII.  §  140 

in  llanil)urg:^''  der  Vcrniinftler  1713 — 14,  und  andere,  darunter  besonders 
eingreifend,  aber  auch  vielfach  angcgiiffen  'Der  Patriot'  1724  — 2(J.  Inzwisclien 
waren  andere  Städte  nachgefolgt,'^  zuna^chst  Zürich,  wo  1721  'Die  Discourse 
der  Maler'  von  Bodnier  erscliienen,  später  namentlich  Leipzig,  wo  Gottsched 
1725  Die  vernünftigen  Tadlerinnen',  1727  den  Biedermann'  herausgab. 
Schon  frühzeitig  miscliten  sich  religiuise,  besonders  pietistische  oder  aufkla)- 
rungsfreundliche  Absichton  in  die  Moral  der  Wochenschriften;  auch  gemein- 
nützige Zwecke  wurden  erstrebt,  öfters  naturwissenschaftliche  Belehrung 
erteilt.  Den  niedrigen  littcrarischen  Standpunct,  den  die  meisten  Wochen- 
schriften einnahmen,  machte  vor  allem  Lessing  klar;^''  er  übte  an  dem 
'Nordischen  Aufscher''  von  J.  A.  Cramer  ein  einigcrmassen  abschreckendes 
Strafgericht  aus.^*"'  Die  Thaten  Friedrichs  des  Grossen  weckten  auch  im 
Bürgerstand  die  Teilnahme  an  den  politischen  Ereignissen  und  so  entzogen 
die  politischen  Zeitungen-^"  den  moralischen  den  Boden,  namentlich  indem 
sie  durch  ihre  Beigaben  den  Inhalt  jener  in  sich  aufnahmen. 

Unter  den  Gegenständen ,  welche  die  moralischen  Wochenscliriften  be- 
handelten, fand  die  Litteratur  der  Zeit  ihre  naturgemsesse  Stelle;  frühzeitig 
loeste  sich  aber  dieser  Teil  ab  und  erfuhr  eine  selbständige  Pflege,  Bereits 
die  'Discourse  der  Maler'  richteten  auf  den  litterarischen  Geschmack  und 


treue  Hofmeister'  1725,  und  von  der  Gottschediu  1745,  wie  sie  auch  1739  den  'Zuschauer' 
übersetzt  hatte.  33)  Karl  Jacoby,  Die  ersten  moralischen  AVoeheuschriften  Hamburgs, 

Progr.  des  Wilhelnisgymnasium,  Hamburg  1888.  34)  Verzeichnis  von  Beck  in  Gottscheds 

Zeitschrift  üas  Neueste  aus  der  aumuthigeu  (ielehrsamkeit'  1761  8.  829  fgg.  Allgemeines 
Sachregister  über  die  wichtigsten  deutschen  Zeit-  und  AVochenschriften,  Leipzig  1790.  Vgl. 
Ernst  Milberg,  Die  deutscheu  moralischen  Wochenschriften  des  18.  Jhs.  Leipziger  Disa. 
Meissen  o.  J.  Auch  die  Nachbarlitteraturen  zieht  herbei  Max  Kawczynski,  .Studien  zur  Litte- 
raturgeschichtc  des  XVlll.  .Ihs.    Moralische  Zeitschriften,  Leipzig  1880.  35)  Vorrede  zu 

den  Schrifteu  von  Mylius  (1754):  Lachni,  Maltzahn  4,  48t).  Auch  Abbt  (Litteraturb riefe  XIV, 
227—330),  dann  Herder  in  den  Fragmeuten  1766  (Suphans  Ausg.  1,  211.  2.  325)  und 
J.  Müpser  (sämtliche  Werke  3,  86)  urteilen  über  die  moralischen  Wochenschrifteu  ab. 
obgleich  der  letztere  gerade  eine  verwandte,  freilich  tiefere  und  selbständigere  Art  von 
Schriften  verfasst  hat.  36)  Briefe  die  neueste  Litteratur  betreffend.  48 — 51.     Lessiugs 

Kritik  fand  eine  schwache  Erwiderung  aus  dem  Kreise  Klopstocks  durch  Gerstenbergs 
'Briefe  über  Merkwürdigkeiten  der  Litteratur'  im  Zusatz  zur  Fortsetzung  des  12.  Briefes. 
37)  Eine  ältere  Art  von  politischen  Zeitschriften,  wozu  Fontenelle  das  Muster  gegeben,  waren 
die  anecdotenreichen  'Gespneche  im  Reiilie  der  Todten'.  von  Fassmaun.  dem  früheren  Hofnarren 
Friedrich  \\  ilheliiis  l.  Von  den  spietercu  politischen  Publicatiuueu  wurden  besonders  ein- 
flussreich der  'Briefwechsel  meist  statistischen  Inhalts',  den  der  Göttinger  Professor  August 
Ludwig   Schlüezer    vou    1774    an    herausgab,    1782 — 93    mit    dem    Titel  '.Staatsanzeiger'. 


§  140  .  ZEITSCHRIFTEN.  301 

desse;i  Verbesserung  ihr  liauptsächliches  Augeuinerk;  spaeter  wusste  Gott- 
sched namentlich  durcli  Zeitschriften  ^^  seine  Ansichten  über  Sprache  und 
Litteratur  zu  verbreiten.  Eine  unparteiische  Haltung  suchten  die  'Göttinger 
gelehrten  Anzeigen'  zu  behaupten,  welche  Haller  1747 — 53  leitete.^^  Eine 
tiefere  Auffassung  der  litterarischen  Kritik  vertraten  die  von  Lessing  be- 
gründeten Briefe  die  neueste  Litteratur  betreffend',  Berlin  1759 — 65,  hinter 
denen  freilich  die  von  seineu  Freunden  herauso-cgebenen  Zeitschriften,  die 
vermittelnde  'Bibliothek  der  schoenen  Wissenschaften  und  der  freyen  Künste',"*" 
und  die  'Allgemeine  deutsche  Bibliotheky  das  Organ  der  flachen  Auf- 
klaerung,  an  Kraft  und  Bedeutung  weit  zurückbliebeu.  Die  neuen  Forde- 
rungen der  Sturm-  und  Draugzeit  machten  sich  geltend  durch  die  'Briefe 
über  Merkwürdigkeiten  der  Litteratur',  welche  Gerstenborg  1766  zu  Schles- 
wig herausgab,  und  noch  stärker  durch  die  'Frankfurter  Gelehrten  Anzeigen' 
im  Jahre  1772,  als  sie  Schlosser  mit  Merck  leitete.^-  Eine  kritische  Zeit- 
schrift im  Geiste  der  Kantischen  Philosophie,  an  welcher  Schiller  mitarbeitete, 
war  die  'Allgemeine  Litteraturzeitung',  welche  seit  1785  zu  Jena  heraus- 
gegeben wurde.  ^^ 

Neben  den  kritischen  Organen  bildeten  sich  andere  Zeitschriften,  welche 
besonders  kleinere  Litteraturwerke  der  Lesewelt  zuführen  wollten.  Von  den 
älteren  Sammlungen  dieser  Art  erlangten  besondere  Bedeutung  die  'Neuen 
Beytraege  zum  Vergnügen  des  Verstandes  und  Witzes',  Bremen  und  Leipzig 
1744—59  (§  151,1).  Speeter  begründete  Wieland  nach  dem  Muster  des 
Merciire  de  France  den  'Teutschen  Mercur',  Weimar  1773 — 89,  mit  einer 
Fortsetzung  'Neuer  teutscher  Mercur'  1790 — 1810.^"*     Jüngeren  Bestrebungen 

38)  Beytraege  zur  Critisclien  Historie  der  ileutscheu  Sprache,  Poesie  uud  Beredtsainkeit, 
Leipzig  1732 — 44,  VIII.  Neuer  Büchersaal  der  schoeueu  Wisseuschafteu  uud  l'reieu 
Küuste,  Lpz.  1745—54.     Das  Neueste    aus    der   aumuthigeu  Gelehrsamkeit,    Lpz.  1751 — 62. 

39)  Begründet  wareu  sie  1745.  Haller  schrieb  über  1200  Artikel,  grcesstenteils 
freilich  über  fachwisseuschaftliche  Schriften;  seiu  Programm  im  Tagebuch  (1787)  1,  30  fgg. 

40)  Leipzig  1757—65,  zuerst  von  Nicolai  und  Meudelssohu,  dann  seit  der  Begi'üuduug 
der  Litteraturbriefe  von  Chr.  F.  Weisse  redigiert,  welcher  auch  eine  Fortsetzung  'Neue 
Bibi.  d.  seh.  W.  u.  d.  f.  K.',  Leipzig  1765—1806  besorgte.  41)  Von  Nicolai  heraus- 
gegeben, Berlin  und  Stettin  1765 — 92,  fortgesetzt  als  'Neue  AUg.  deutsche  Bibliothek',  Kiel 
1793-1800,  Berlin  und  Stettin  1801—6.  Dazu  das  Eegister  von  Parthey,  Berlin  1842. 
42)  Noch  schonungsloser  urteilten  L.  A.  Unzer  und  .Jacob  Mauvillou  in  den  'Briefen  Über 
den  Werth  einiger  deutscher  Dichter  und  über  andere  Gegenstände  den  Geschmack  uud  die 
schcene  Litteratur  betreffend",  Lemgo  1771.  72,  II.  43)  Von  Schütz  uud  dem  Juristen 
Hufeland.      Vgl.  §   160,    102.               44)    Dazu   Repertorium    von    Burkhardt,    Jena    1873. 


302  NEUHOCIII)p]UTSCIIR  ZEIT.         XVIII  JAIIRII.  §  140 

und  Tiilcntcn  diente  als  Vereinigungspuiict  Boies  und  Dohms  Deutsches 
Museum',  Leipzig  1770 — 88,  fortgesetzt  bis  171)1.  Die  Reihe  beschloss  mit 
den  groüsston  Absichten,  aber  nicht  mit  entsprechender  Aufnahme  Schillers 
Zeitschrift  'Die  Hören',  Tübingen  1795 — 97. 

Günstiger  als  diesen  meist  monatlichen  Zeitschriften  war  die  Teilnahme 
der  Leser  für  kleine ,  jährliche  Sammlungon  meist  lyrischer  Diclitungon, 
welche  dem  zu  Paris  seit  1765  erscheinenden  Ahnanac  des  Muses  sich  an- 
schlössen. 1770  trat  in  Göttingen  der  Musenalmanach  (oder  poetische  Blumen- 
lese)' hervor,  von  Boie,  anfangs  mit  Gotter  zusammen,  besorgt;  welchen  von 
1775  ab  in  Göttingen  Göckingk,  später  bis  1794  Bürger,  dann  Reinhard 
bis  1802  weiter  führten,  wa^hrcnd  Voss  ihn  gleichzeitig  in  Hamburg  1775 
bis  1800  fortsetzte.  Andere  Musenalmanache  erschienen  zu  derselben  Zeit  in 
Leipzig,  Frankfurt,  Weimar,  Wien,  Nürnberg,  Stuttgart,  Salzburg,  Berlin, 
Mannheim  und  an  anderen  Orten:  der  von  Schiller  herausgegebene  1795  bis 
1800.  Daneben  wa3hlten  andere  Herausgeber  andere  Namen:  G,  Jacobi, 
welcher  1774 — 76  eine  Tris',  nach  dem  Muster  des  Journal  des  Dames  von 
Dorat,  für  die  Frauen  veröffentlichte,  Hess  von  1795  ab  ein  'Taschenbuch' 
erscheinen,  dem  er  1803 — 13  wieder  den  Namen  'Iris'  gab. 

Dienten  diese  Zeitschriften  der  lyrischen  Dichtung  als  Sammelpuncte, 
so  entstanden  Sammlungen  von  Theaterstücken  mehr  auf  zufällige 
Weise,  indem  die  Texte  der  zur  Auffülirung  kommenden  Stücke  vereinigt 
wurden,  meist  in  unrechtmaessigen  Nachdrucken.*''  Zwar  Gottsched  stellte 
noch  eine  solche  Sammlung  planmaessig  her:  Deutsche  Schaubühne,  nach 
den  Regeln  der  alten  Griechen  und  Rcemer  eingerichtet',  Leipzig  1740—45,  VI; 
auch  hier  wie  spgeter  misclien  sich  Übersetzungen  unter  die  deutschen  Original- 
stücke ein. 

Sammlungen  von  poetischen  Stücken  wurden  aber  nicht  nur  zum  Ver- 
gnügen der  Leser,  sondern  auch  für  den  Unterricht  bestimmt,  als  Muster  für 
die  einzelnen  Gattungen  und  Stilarten :  so  von  Eschenburg  eine  Beispiel- 
sammlung  zur  Theorie  und  Litteratur  der  schoenen  Wissenschaften',  Berlin 
und  Stettin  1788-95,  VIH. 

Auch  weiter  rückwärts  richtete  sich  der  Blick  der  Kunstlehre,  und  was 
die  frühere  Zeit  kaum  zu  confessionellcn  oder  nationalen  Zwecken  versucht, 
dann  allmählich  mit  gelehrtem  Eifer  für  die  Geschichte  der  Sprache  und 
Litteratur  unternommen  hatte,  das  sollte  nunmehr  der  Poesie  der  Gegenwart  zu 


45)    Die    von    1760 — 83    erschienenen    Sammlungen    zsehlt    Nicolai    auf,    Rei8e    II    586. 


II 


§  141  SPRACTIFORMEN.  303 

Gute  geschehn  und  die  ältere  Dichtung  zur  Bereicherung  und  Berichtigung 
der  neueren  beitragen.  So  zogen  die  Schweizer  und  Gottscheds  Anliänger 
im  Wetteifer  Opitz  wieder  hervor,  so  veröffentlichte  Lessing  Logau  und 
Scultetus,^''  so  wusste  namentlich  Herder  älteren  deutschen  Dichtern  und 
selbst  dem  lateinischschreibenden  Bälde  neuen  Reiz  zu  verleihn.  Bis  in  das 
Mittelalter  zurück  griff  Bodmer/'  und  seine  Ausgabe  der  Minnesinger  hat 
besonders  Gleim  und  den  Göttinger  Bund  zu  Nachbildungen  angereizt,  auch 
für  die  Erneuerung  manches  alten  Wortes  den  Anlass  geboten.*^ 

§141. 
Mit  der  gewaltigen  und  immer  reicheren  Entfaltung  der  Litteratur, 
zumal  der  poetischen,  stand  auch  die  Entwickelung  der  deutschen  Sprache 
des  achtzehnten  Jahrhunderts  in  innigem  Zusammenhang.  Dieser  Fortschritt 
ist  freilich  aeusserlich  nicht  ebenso  augenfälHg  bezeugt.  Die  Laut-  und 
Biegungsformen,  wie  sie  bei  den  meisten  und  angesehensten  Schriftstellern 
in  Schrift  und  Druck  erschienen,  blieben  von  Anfang  bis  zu  Ende  des  Jahr- 
hunderts wesentlich  die  gleichen:  beruhten  sie  doch  fast  ganz  auf  den  Fest- 
setzungen der  Grammatiker  des  siebzehnten  Jahrhunderts,'  welche  ihrerseits 
die  mit  Luthers  Schriftgebrauch  am  naechsten  übereinstimmende  Rede-  und 
Schreibweise  der  gelehrten  Kreise  Kursachsens  und  der  nsechstgelegenen 
Gegenden  Mittel-  und  Norddeutschlands  zur  Richtschnur  genommen  hatten. 
Diese  Überlieferungen  fasste  mit  Geschick  und  Gewicht  Gottsched  zusammen, 
dessen  'grammatisches  Hauptwerk  'Grundlegung  zu  einer  deutschen  Sprach- 
kunst' seit  1748  wiederholt  erschien.^  Er  begründete  den  alten  Anspruch 
Meissens^  das  beste  Deutsch  zu  sprechen  damit  dass,  bei  dem  Mangel  eines 
das  ganze  Reich,  wie  in  Frankreich,  beherrschenden  Hofes,  dem  Hofe,  dessen 
Hauptstadt  am  meisten  in  der  Mitte  Deutschlands  liege,  das  Recht  zustehe 
über  die  Sprachrichtigkeit  zu  bestimmen.  Den  früheren  deutschen  Gramma- 
tikern entgegen  entschied  er  sich  da,  wo  Luthers  Gebrauch  von  der  seit- 
herigen Entwickelung  verlassen  worden  war,  für  die  letztere  und  setzte  inso- 
fern allerdings  die  Lehre  mit  dem  Leben  in  eine  bessere  Übereinstimmung, 
Einzelne   etymologische   Spielereien*  beeinträchtigten   den   Erfolg  Gottscheds 


46)  §  129,  4.     127,  1.  47)  §  149,  41  fgg.  48)   Noch  kühner   als  Bodmer  beab- 

sichtigte Moeser  nach  einem  Briefe  an  Gleim  1756  alle  deutschen  Gredichte  bis  1.000  heraus- 
zugeben: Abekens  Ausgabe  1,35.     Vgl.  ebd.  auch  3,  236  'ein  westfelisches  Minnelied'. 
§141.      1)  §  120,  42.  2)  §  148,  26.  3)  §  93,  34.  4)  Er  schrieb 'Kuäbel- 

bart',  weil  es  von  'Knabe'  komme,  'schmäuchelu',  weil  von  Vhmaucheu'.     Darüber  habeu  sich 
Wackernagel,  1/iUer.  Geschichte.  1\.  21 


•{04  NEUITOCHDEUTSCPrE  ZEIT.         XVTir  .lATTRir.  §  141 

nicht.  Seine  Lehre  fand  ihre  Fortsetzung  durcli  Joiia.nn  Ciiuiktoi'h  Adki-inm;. 
welcher  wie  Gottsched  selbst  aus  dem  preussischen  Staate  nach  Sachsen  ge- 
kommen war  und  hier  als  unparteiischer  Lobredner  der  obersächsiachen  Spracii«- 
besondere  Anerkennung  fand,  aber  auch,  wie  Gottsched,  seine  Lehrbücher 
auf  preussischen  Schulen  einfüliren  konnte.  Gottsched  hatte  schon  auf  dir 
Litteratur  in  Österreich  einzuwirken  gewusst,'  wenn  auch  erat  Gellerts 
Schriften  hier  der  völligen  Annahme  des  obersächsischen  Sprachgebrauches 
den  Weg  bahnten.  Vergeblich  sträubte  sich  gegen  Gottscheds  Sprachregelii 
der  Pater  ArousTix  Dornbllitii  ,^  dessen  Ohservationes  zu  Augsburg  17.").") 
erschienen:  auch  die  mundartlichen  Abweichungen  vom  Obersächsischen, 
denen  die  alte  Überlieferung  zur  Seite  stand, ^  mussten  weichen.  Bayern 
widerstrebte  noch  länger,'"  aber  seit  der  Vereinigung  mit  der  Pfalz  1778 
ohne  Aussicht  auf  dauernden  Erfolg. 

Ebenso  wenig  konnten  Neuerungen  in  der  seusserlichen  Sprachform,  in 
der  Rechtschreibung,  gegen  das  wohl  berechtigte  Streben  nach  einem 
Festhalten  des  Überkommenen  und  des  allgemein  Angenommenen  durch- 
dringen :  selbst  Klopstocks  angesehener  Name  ' '  war  unvermoegend  sie  ein- 
zuführen; ihm  trat  Hamanns'-  gewichtiges  Wort  entgegen. 


seiue  süddeutschen  Geguer  schon  histig  gemacht.  5)  Geboren  zu  Spantekow  1732,  seit 

17<j3  in  Leipzig,  gest.  als  Obeibibliothekar  zu  Dresden   18(Xi.  6)  'Deutsche  Spfachlehre', 

Berlin  1781.  Seine  Schrift  'Über  den  deutschen  Styl*  erschien  Leipzig  1785.  Sein  Haupt- 
werk aber  war  der  'Versuch  eines  vollständigen  grammatisch-kritischen  Wörterbuches  der 
Hochdeutschen  Mundart*,  Leipzig  1774—86,  V.    2.  Aufl.  Leipzig  1793—1801,  IV.  7)  Er 

lobte  in  dem  Biichersaal  1747  die  'Kaiserliche  deutsche  Grammatik'  von  J.  B.  v.  Autesperg, 
welche  jedoch  den  in  Osterreich  überlieferten  Gebrauch  neben  dem  übersächsischen  gestatten 
wollte,   8.  Socin,    Schriftsprache   und  Dialecte   im  Deutschen,  Heilbronn    1888  S.    431  fgg. 

8)  Benedictiner   in   Gengenbach  bei    Offenburg.     Der   lange    Titel    seiner    Schrift  beginnt: 
'Ohservationes    oder   gründliche   Anmerkungen  über  die   Art   und   Weise    eine   gute    Lber-, 
Setzung  besonders  in   die  teutsche  Sprach  zu  machen'.     Vgl.  hierüber  Burdach  in  den  Ver- 
handlungen der  37.  Philologenversammlung,    Leipzig  1885.  S.   169  fg.  Dornblüth   geht   auf 
die  Acten  des  Reichskammergerichts  zu  Speier  gegen  Ende    des  17.  Jahrhunderts    zurück. 

9)  So  die  1.  Person  ich  brich.  Der  auch  daran  ersichtliche  Wegfall  des  unbetonten  e  wurde 
von  Dornblüth  ebenso  für  Knah,  Nam  verlangt.  10)  Über  Bayern  s.  Gottsched  Crit.  Beytr. 
IV,  264  fgg.  mit  Bezug  auf  den  Parnassus  boicus.  11)  'Über  Sprache  und  Dichtkunst, 
Fragmente.'  Hamburg  1779  (§  152).  Seine  Vorschlage  gingen  auf  eine  Lautschreibung 
(dt,  ör,  fon,  tr),  welche  der  Name  Zesens  auch  damals  noch  lächerlich  machte.  Schon  Bodmers 
Gebrauch  des  y  für  ü:  Zyrich  hatte  nur  misfallen.  Dagegen  gelang  es  Voss  das  y  für  «' 
zu  verbannen.  12)  'Zwey  Scherflein  zur  neuesten  deutschen  Litteratur',  o.  0.  1780.  Ha- 
manns Apologie  des  Buchstaben  H,  gegen   Damm  gerichtet,   hatte    Kant  besonders  gelobt: 


§  141  ENTWICKELUNG  DES  STILES.  305 

Ganz  anders  aber  stand  es  mit  Gottscheds  Bemühungen  in  den  wich- 
tigeren Fragen  des  Stils,  in  der  Entscheidung  über  die  Wortwahl  und 
über  die  Satzbildung.  Hier  zeigte  sich  bei  ihm  und  wieder  bei  Adelung 
eine  Beschränktheit  und  Anmassung,  welche  mit  Kecht  bei  den  bedeutendsten 
Schriftstellern  nur  Widerspruch,  ja  Hohn  hervorrief.  Gottsched  wollte  gerade 
hier  das  Muster  der  Franzosen  als  massgebend  liinstellen;  er  wollte,  wie  die 
Academie  franraise,  eine  einheitliche,  reine,  aber  auch  breite  und  leichte 
Sprache  für  die  gesammte  Litteratur  festsetzen.  Er  übersah  völlig,  dass  in 
Frankreich  der  Geist  der  Nation  einer  solchen  Gleichmajssigkeit  zustrebte  und 
im  geselligen  Verkehr,  auch  des  Hofes  und  der  Gelehrten,  ebenso  wie  in  der 
Dichtung  den  ihm  angemessenen  Grundzug  des  Feinen,  Klaren,  Zierlichen 
bereits  ausgebildet  hatte,  wsehrend  in  Deutschland  die  Ilofkreise  franzoesisch 
sprachen,  die  Gelehrten  lateinisch  schrieben  und  die  Dichtung  kaum  anfing 
sich  aus  Dürftigkeit  und  Yerachtung  zu  erheben.  Yon  den  lebendigen  Kräften 
der  deutschen  Dichtung,  die  noch  schlummerten,  wusste  er  nichts,  und  als  sie 
sich  regten,  erkannte  er  sie  nicht.  Wie  die  franzcesische  Sprache,  so  sollte 
nach  ihm  auch  die  deutsche  dieselbe  sein  für  Poesie  wie  für  Prosa ;  sie  sollte 
nur  die  Wörter  und  Wendungen  gebrauchen,  welche  man  in  den  gebildeten 
Kreisen  Leipzigs  kannte  und  welche  die  in  seiner  Jugend  gelesenen  Dichter 
gebraucht  hatten.  Alles  Landschaftliche  war  ihm  gemein,  alles  Altertüm- 
liche veraltet,^*  alles  nach  fremden  Sprachen  neu  gebildete'^  oder  aus  der 
eigenen  Sprachschöpfung  des  Dichters  hervorgegangene  eine  verwerfliche 
Neuerung.  In  diesem  Sinne  urteilte  er  und  liess  er  seine  Schüler  über  die 
Dichter  aburteilen,'^  Und  noch  Adelung  urteilte  so:  an  der  Sprache,*^ 
wie  sie  in  den  Schriften  der  Bremer  Beitrseger  vorlag,  hielt  er  fest,  auch 
als  Goethe  und  Schiller  schon  ihre  Meisterwerke  hatten  erscheinen  lassen. 

Anfangs  erschienen  Gottscheds  Forderungen  den  Zeitgenossen  nicht  un- 
berechtigt. Die  Dichter  ausserhalb  Sachsens  liessen  sich  ihre  Werke  von 
* ■ — — 

Gildenieister  2,  299.  13)  'Wonne  ist  ein  altes  ausgemustertes  Wort'  sagt  der  Gottsehe- 

dianer,  welcher  das  'Gesprsech  Günthers  im  Eeiche  der  Todten*  geschrieben  hat  (§  147,  1) 
H.   166.  14)    So    verfolgte    er   den   Gebrauch   der   Participien  oder,    wie  er  sie  nannte, 

Mittelwörter';  wer  sie  gebrauchte,  hiess  bei  ihm  ein  Participianer:  Sprachkunst,  Haupt- 
stück V.  Vgl.  dagegen  Breitinger,  Grit.  Dichtkunst  II.  S.  147  fgg.  Haller:  Frey  (§  147,  39) 
S.   83.  15)  Vgl.    namentlich    Schoenaichs   Schrift  §    148,   62   fgg.     Nichts   ist  jedoch 

lehrreicher  als  der  Versuch  der  Frau  Gottsched  einer  Ode  Klopstocks  eine  andere  entgegen 
zu  Stelleu,  welche  denselben  Inhalt,  aber  nach  Gottscheds  Regeln  ausdrücken  soll.  s.  Löbell, 
Die  Entwicklung   der   deutscheu    Poesie    1,  209.  IG)  Er  verwarf  z.  B.  'beginnen'  und 


306  NEUIIOCHDFJTTSCirE  ZEIT.        XYITI  .TATIRTT.  §  141 

Freunden  aus  Mittcldoutschliind  durchsolin:  so  Hagedorn  und  Haller.''  Selbst 
Bodmer  fügte  sich  zuerst  den  sprachlichen  Zurechtweisungen  Gottscheds,  bis 
ihm  die  Geduld  riss  und  er  nunmehr  die  Ansprüche  der  Sprache  Ober- 
deutschlands '^»  auf  die  litterarischc  Verwendung  treffender  Ausdrücke,  denen 
die  obersiichsische  nur  Umschreibungen  entgegenstellen  konnte ,  mit  Ent- 
schiedenheit geltend  machte.  Breitinger  gab  diesen  Ansprüchen  noch  eine 
bestimmtere  Fassung:  er  nannte  diese  sinnlichen  Bezeichnungen  abstracter 
Dinge  Machtwörter.'"  Den  volkstümlichen  Gebrauch  stützte  er  durch  die 
älteren  Schriftsteller  und  empfahl  diese  mit  dem  Augenmerk  auf  solche 
Wörter  und  Wendungen  durchzugehn  und  auszuziehn.  Insbesondere  wies  er 
auch  wieder  auf  Luthers  Bibelsprache  als  Sprachquelle  hin."  Zur  Bereiche- 
rung der  Sprache  sei  die  beste  Gelegenheit  durch  die  Übersetzung'-"  aus 
fremden  Sprachen  geboten,  welche  die  Wahl  genau  entsprechender  Ausdrücke 
zur  Pflicht  mache.  Gegenüber  der  Notwendigkeit  die  verschiedenen  Begriffe 
genau  wiederzugeben  gestand  er  der  Rücksicht  auf  Wohlstand  und  Wohllaut 
nach  franzoDsischer  Art  wenig  Wert  zu. 

Was  die  Schweizer  wünschten ,  leistete  Klopstock.  Er  bildete  mit 
grossartiger  Kühnheit  eine  neue  Sprache  der  Dichtung,-'  wobei  er  für  den 
biblischen  Gegenstand  seines  Hauptwerks  natürlich  der  Bibel  Luthers  sich 
zumeist  anschloss,  daneben  aber,  und  aus  ebenso  nahe  liegenden  Gründen  in 
den  Oden  ganz  besonders  die  classischen  Sprachen  mit  dem  Reiclitum  ihrer 
Wortbildung,  der  Freiheit  ihrer  Satzgestaltung  und  ihrer  Wortfolge  wieder- 
zugeben suchte.      Seine   Prosa    lehnte    sich  in    körniger    Kürze    an   Tacitus 


gestattete  nur  'anfangen'.  17)  §  147,  33.  42.    Aber  an  Bodmer  schreibt  Hagedorn  1747  bei 

Eschenburg  5,  94  'Unser  Ekel  für  Wörter,  welche  älter  sind  als  unsere  Ammen,  ist  eine  der 
schlechtesten  Nachahmungen  der  Franzosen'.  17a)    Verständige  Einwendungen  gegen 

Provinzialwürter  machte  ein  Brief  J.  E.  Schlegels  an  Bodmer:  Schnorrs  Archiv  XIV,  48. 
18)  Wie  'einen  bestehn',  'sich  an  etwas  weiden'.  Auch  'frommen,  Fug'  u.  a.  verteidigte  er  und 
die  Übersetzung  'Misston*  für  Dissonanz.    S.  Grit.  Dichtkunst  IL  Cap.  ±  19)  Ebd.  II  S.  71. 

20)  Ebd.  II.  Cap.  4.  21)  Christoph  AVüi-fl,  Über  Klopstocks  poetische  Sprache  mit  beson- 

derer Berücksichtigung  ihres  Wortreichtums,  Jahresbericht  des  ObergA-mnasiums  in  Brunn 
1883—85,  Herrigs  Archiv  64,  271—340.  G.5,  251—320.  A.  W.  Schlegel  nannte  Klopstock  einen 
grammatischen  Poeten  und  einen  poetischen  Grammatiker.  Charakteristisch  ist  Klopstocks 
"Vorliebe  für  Verbalzusammensetzungen  mit  Adverbien,  aber  auch 'die  Verbindung  intransitiver 
Verba  mit  einem  Object:  'Gelindere  Lüfte  umflossen  sein  Antlitz'  wird  von  Schcenaich  als  etwas 
Neues  bezeichnet:  'es  flamm'  Anbetung  der  Sabbath!'  erregte  bei  Nicolai  Anstoss  (vgl.  Lessing 
Litt.  Brief  19).  Andere  aufl'allende  Wendungen  siud:  'zürnt  ihn  weiser'  d.  h.  macht  ihn  durch 
Zürnen  weiser  (Ode  au  (.Tleini):  'atmender  trinkt'  d.  h.  trinkt  mit  stärkerem  Atemholen  (Rhein- 


§  141  DICIITERSrRACIIE.  307 

an;  vcräclitlich  sprach  er-'-  von  den  Ileiligcrocmischcrcichdeutschernations- 
perloden'.  Die  Entscheidung  über  das  was  in  der  Sprache  erlaubt  und  ge- 
lobt werden  sollte,  wies  er  den  guten  Schriftstellern  zu.^^  Hierin  traf  er  mit 
"NVieland  zusammen,  der  im  Teutschen  Mercur  1782^*  Adelungs  Beschränkung 
des  guten  Deutsch  auf  Sachsen  und  die  Schriftsteller  von  1740 — 60  zurück- 
wies. Immerhin  befragte  Wieland  Adelungs  Wörterbuch  auf  das  fleissigstc "'' 
und  feilte  seine  Schriften  bei  wiederholten  Ausgaben  auf  das  sorgfältigste 
nach.-®  In  seinen  Briefen  hatte  er  wie  kaum  ein  anderer  die  Unart  fremde 
Sprachbrocken  einzumischen. 

Dass  Gottscheds  Ansehn  auch  auf  dem  Gebiete'  der  Sprachreinigkeit 
bei  den  Schriftstellern  geschwunden  war,  hatte  Lessing  bewirkt,-^  welcher, 
selbst  ein  geborener  Obersachse,  den  Schweizern  beistimmte  und  für  die 
Wortbildung  eine  gewisse  Freiheit  verlangte  und  übte.^*  Ganz  besonders 
aber  ward  Lessings  Prosastil  wichtig,  indem  er  sich  der  gesprochenen  Rede  so 
nahe  hielt  als  moeglich,  und,  allerdings  nach  franzoesischem  Muster,  seine  Sätze 
scharf  zuspitzte,  insbesondere  in  geteilten  Sätzen  die  hauptsächlichen  Wörter 
durch  Wiederholung  der  nebensächUchen  eindringlich  hervorhob.  Ihn  ergänzte 
Herder,  welcher  seine  tiefe  Erregung  durch  Ausrufungen,  durch  unvollendete 
Sätze  auch  dem  Leser  mitteilte.^^  Wenn  Hamann  für  die  Idiotismen  der 
Landschaften  eingetreten  war,  so  machten  die  an  Herder  sich  anschliessenden 

wein);  'der  gesungenste  Ton'  u.  a.  22)  Grammatische  Gespraeche  1, 107.  23)  Ebd.  77 

'Sprachgebrauch.  Bey  der  sehr  kleinen  Anzahl  von  Skribenten,  die  Dauer  versprechen,  lebe  ich 
eigentlich.  .  .  Doch  besuche  ich  auch  wohl  diesen  und  jenen  Redner.  Auf  den  Kanzleyen, 
weist  du  wohl,  hat  mein  Vetter  Regensburger  das  grosse  Wort;  und  wir  beyden  stehen 
nicht  sonderlich   zusammen'.  24)     Ueber    die   Frage   Was    ist   Hochdeutsch?'    in   der 

36bändigen  Ausgabe  der  sämmtl.  Werke  33,  343  fgg.  25)  Büttiger  in  Raumers  bist. 

Taschenbuch  1839  S.  383  Anm.  26)  Dies  hebt  Goethe  in  seiner  Gedächtnisrede  hervor: 

LB.   3,   601.  27)  Der   Litteraturbrief  65   beschäftigt   sich    mit   Gottscheds  'Kern  der 

deutschen  Sprachkunst'  und  den  'Anmerkungen'  dazu  von  J.  M.  Heinze,  Göttingen  u.  Leipzig 
1759.  28)  Vgl.  Lehmann,  Forschungen  über  Lessings  Sprache,  Braunschweig  1875.   Doch 

irrte  Lessing,  als  er  1768  glaubte  das  Wort  'empfindsam'  erst  zu  schaffen  um  das  englische 
sentimental  wieder  geben  zu  können  (s.  die  Stelle  bei  Erich  Schmidt,  Richardson,  Rousseau 
und  Goethe  S.  .324  fg.):  'Ein  empfindsames  Herz'  findet  sich  schon  1757  in  den  Briefen  der 
Frau  Gottsched  3,  55  (§  148,  44).  Freilich  hat  Lessing  dem  Wort  seinen  spöttischen  Beige- 
schmack gegeben.  Umgekehrt  ist  Menschlichkeit  vor  Herder  eine  Hinweisuug  auf  menschliche 
Schwäche,  seit  Herder  hat  es  die  edlere  Bedeutung  der  Menschenfreundlichkeit  erhalten: 
erstere  stammt  aus  der  theologischen  Anschauung,  letztere  aus  der  Übersetzung  des  lat. 
humanitas.  29)  E.  Naumann,  Über  Herders  Stil.  Progr.  Berlin  1884;  über  das  Lautliche" 

und  die  Wortbildung  s.  Th.  Längin,  Die  Sprache  des  jungen  Herder  in  ihrem  Verhältnis 


308  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVHI  JAHKH.  §  141 

jungen  Dichter^"  von  dieser  Erlaubnis  reichlichen  Gebraucli  und  riefen  da- 
durch freilich  den  Spott  Nicolais  hervor.  Cioothe,  der  als  Leipziger  Student 
sich  seine  Frankfurter  Gleichnisse  und  Sjjrichwörter  hatte  verweisen  lassen 
müssen,^'  schloss  sich  doch  mehr  und  mehr  an  die  gewählteste  Schriftsprache 
an^-  und  wusste  ihr  nur  durch  feinste  Beobachtung  aller  Stilunterschiede  einen 
Reichtum  und  eine  Geschmeidigkeit  zu  geben  wie  kein  anderer  Dichter  es 
vermocht  hatte.  Auch  ihm  leuchtete  Luthers  Sprache  vor,-'^  aber  auch  andere 
Schriftsteller  des  sechzehnten  Jahrhunderts  nennt  er  als  seine  Fundgruben.^* 
Daneben  eignete  er  sich  die  von  Klopstock  eingeführte  Wortstellung  und 
"Wortverweudung  der  classischen  Sprachen  an.^**  Spwter  wirkte  Voss  auf 
ihn,  welcher  die  homerische  Fülle  und  Biegsamkeit  der  Sprache  nachzubilden 
suchte,  aber  auch  eifrig  die  altdeutschen  Sprachdenkniielcr  dafür  durch- 
forschte.^^ Schiller^"  schloss  sich  an  Kants  Sonderung  der  Wortbedeutungen 
an;  er  gab  seiner  Sprache  den  Glanz,  welcher  seine  erhabenen  Gedanken 
recht  zu  kleiden  vermochte.  Er  durfte  ^^  zu  den  Dichterlingen  seiner  Zeit 
von  der  gebildeten  Sprache  reden,  die  für  dich  dichtet  und  denkt'.  Und 
diese  Sprache  auch  in  ihrer  Lautform  immer  mehr  zu  befestigen  und  zu  ver- 
breiten, hat  die  Bühne  nicht  wenig  beigetragen,  welche  notwendig  auf  eine 
gleichmaessige  Aussprache  hin  wirken  muss.^® 

Mit  der  Ausbildung  der  Schriftsprache  zur  Sprache  der  Litteratur  und 
der  guten  Gesellschaft  war  aber  auch  die  MoDglichkeit  gegeben,  den  Mund- 
arten wieder  ein  bescheidenes  Dasein  in  der  Dichtung  zu  gestatten.  Der 
volksmaessige  Gebrauch  der  mundartlichen  Poesie  war  auch  im  Druck  nie 
ganz  geschwunden;  so  bei  den  Nürnbciger  Neujahrswünschen,  welche  Grüber^-* 

zur  Srhriftsprache,  Freiburger  Diss.  Tauberbischofsheim  1891.  30)  H.  Claudius;   Maler 

Müller,   Lenz,    Wagner.  31)   Dichtung  und   Wahrheit    II,   Buch   VI.      Vgl.   über   die 

Sprache  des  jungen  Goethe  (bis  1776  etwa)  Burdach  in  dem  Anm.  8  angeführten  Vortrag. 
Goethes  Aussprache  zeigte  noch  spseter  seine  Herkunft  aus  dem  Keich;  er  scheint  Vaiter 
gesagt  zu  haben  (Gesprseche  hg.  v.  Biedermann  VIII,  .344).  32)  So  ersetzte  er  (vielleicht  von 

Moritz  in  Italien  berathen)  ili  der  Iphig.  1325  das  früher  gebrauchte  einig  durch  einzig. 
33)  V.  Hehn.  Ga-the  und  die  Sprache  der  Bibel,  GiRthejahrbuch  VIII.  181  fgg.  34)  (iciler 

an  der  in  Anm.  31  genannten  Stelle.  34a)  C.  Olbrich.  Guethes  Sprache  und  die  Antike, 

Leipzig  1891:  und  überhaupt:  J.  0'.  A.  Lehmann.  G(Pthe8  Sprache  und  ihr  Geist,  Berlin  18r32. 

35)  Nicht  aber  mit  Glück,  wie  die  Anführungen  in  seiner  'Zeitmessung'  zeigen.  Mit  seinen 
Göttinger    Freunden    hatte    er    u.    a.    das    AVort    'Minne'    wieder    zu    Ansehn     gebracht, 

36)  Schillers  schwäbische  Aussprache  wird  durch  seine  .Jugendreime  wie  Menschen:  wünschen 
genugsam  bezeugt.  37)  LB.  2,  1217-,  41.  38)  Vgl.  Zs.  f.  deutsche  Philol.  24,  223 
und  Goethe  bei  Eckermann  5.  Mai  1824.  Auch  die  Mannheimer  Bühne  fühlte  1777  dies 
Bedürfnis:  s.  bei  Erich  Schmidt.  Lessing  S.  8(>3  die  Äusserung  Stengels.  39)  §  162,  13; 


§  142  MUNDARTEN   LITTERARISCH  VERWENDET.  309 

nachgeahmt  hat.  McBgen  hier  ungclchrte  Verfasser  thsetig  gewesen  sein,  in 
der  Regel  waren  es  Gelehrte,  welche  die  Mundart  dichterisch  behandelten  und 
zwar  wohl  durchweg  zu  komischen  Zwecken.  So  der  derb  witzige  Sebastian 
Sailer,^"  welcher  1714  zu  Weissenhorn  bei  Ulm  geboren,  als  Pra3monstraten8er 
zu  Obermarchthal  1777  starb.  Gelehrte  dichteten  auch  in  Strassburger 
Mundart  die  sogenannten  Fraubasengesprseche,*'  von  denen  das  älteste  in 
einem  llochzeitsgedicht  von  1687  vorliegt.*^  Vor  allem  aber  war  Nieder- 
deutschland, besonders  Hamburg,  auch  Braunschweig, *^  für  plattdeutsche  Poesie 
empfänglich.  In  Hamburg  war  selbst  auf  der  Bühne  das  Niederdeutsche  be- 
liebt:^* der  Bookesbeutel  oder  der  Hamburger  Schlendrian'  von  dem-  Buch- 
halter Heinrich  Borkenstein  wurde  1741 — 64  aufgeführt;*^  und  noch  Ekhof 
und  Borchers  glänzten  in  solchen  Rollen. 

Von  Niederdeutschland  ging  auch  der  Versuch  aus  die  Mundart  für 
die  Dichtung  der  Empfindung  zu  verwenden.*^  Joh.  IL  Voss  schloss  sich 
damit  in  seinen  Idyllen  völlig  an  sein  Vorbild  Theocrit  an.  In  Süddeutsch- 
land folgte  Hebel ,  in  der  Schweiz  Usteri ;  *^  und  wenigstens  der  erstere  hat 
auch  über  seinen  landschaftlichen  Kreis  hinaus  dankbare  Aufnahme  gefunden. 

§  142. 

Die  Fortbildung  der  Sprache,  insbesondere  der  dichterischen,  stand  in 
Wechselbeziehung  zu  den  mannigfaltigen  und  eindringlichen  Bemühungen  des 
achtzehnten  Jahrhunderts  um  Verbesserung  der  deutschen  Verskunst.  Nicht 
nur  die  eigenen  Gedichte  unterzog  man  vielfach  einer  wiederholten  Bearbei- 
tung von  metrischen  Gesichtspuncten  aus ;  ^  auch  die  Verse  anderer  und  nicht 
bloss  befreundeter  Dichter  wurden  verbessert  herausgegeben:  so  von  Ramler 
die  Werke    vieler    Zeitgenossen,^    von   Voss    die    nachgelassenen  Dichtungen 

8.  die  Allg.  Deutsche  Biogr,  9,  786.  40)  Seine  Dichtungen  wurden  zuerst  1819  gedruckt, 

dann  von  Hassler  zu  Ulm  o.  .J.  (1842)  herausgegeben.  Ein  Stück  aus  'Schöpfung  und 
Sündenfair  hatte  Gottsched  mit  Abscheu  in  der  Vorrede  zu  seinen  'Beobachtungen  über 
den  Gebrauch  und  Missbrauch  vieler  deutscher  Wörter  u.  Redensarten',  Strassburg  und  Leipzig 
1758,  veröffentlicht.  41)  F.  W.   Bergmann,   Strassburger  Volksgesprseche,   Str.  1873. 

42)  J.  Froelich,  Les  joies  du  mariage,  caquets  rinies  en  dialecte  strasbourgeois,  Paris  1889. 
4.S)  §  147,  15.  44)  K.  Theod.  Gtedertz,  'Das  niederdeutsche  Drama  von  den  Anfängen 

bis  zur  Franzosenzeit',  Berlin  1884.  Vgl.  auch  .J.  Ch.  Krüger  §  148,  55  und  selbst  Frau 
Gottsched  ebd.,  46.  45)  Gedruckt  zu  Frankfurt  u.  Leipzig  1742  uö.  46)  §  158,  51. 

47)  §  162,  2  fgg. 

§  142.  1)  Klopstock  ersetzte  die  schweren  Silben  an  2.  und  3.  Stelle  im  Dactylus 
später  durch  leichtere:  E.  Schmidt  QF.  39,  46.  Ebenso  verbessert  Schiller  den  'Spaziergang  : 
LB.  2,  1203.  2)  Über  Ramler  und  Hagedorn  s,  Eschenburgs  Ausg.  4,  102  fgg.     Pick 


310  NEUIIOCJIDEUTSCJIE  ZEIT.        XVIII  JAIIKII.  §  142 

seines  Freundes  llölty.^     Glcim    glaubte    sogar    den    in  Prosa  geschriebenen 
Philotas  von  Lessing  erst  in  Verse  umsetzen  zu  sollen,  und  das  etwas  ironische  M 
Lob  Lcssings  hinderte   ihn  nicht    ebenso  mit   Adams  Tod'  von  Klupstock  zu 
verfahren.^     Kamler    sah    wohl    Sal.  Uessner   als    seinen  Schüler  an,    dessen 
Prosa  er  ohne  weiteres  versificiercn  dürfte."' 

Diesen  Bemühungen  stand  allerdings  auf  der  anderen  Seite  das  He- 
strebcn  gegenüber  den  Zwang  des  Verses  gänzlich  abzuschütteln  und  dadurch 
erst  die  volle  Natürlichkeit  insbesondere  für  die  Bühne  zu  gewinnen.  Schon 
Gottsched  wies  dem  Lustspiel  die  Prosaform  zu  und  seine  Schüler  verhan- 
delten darüber.®  Dann  war  Lessing  dieser  Ansicht  besonders  zugethan:  nicht 
nur  seine  Dramen,  sogar  die  Trauerspiele,  schrieb  er  grossenteils  i^  Prosa, 
er  kleidete  auch  die  Fabel  nach  dem  Muster  der  a)sopischcn  und  selbst  die 
Ode  in  diese  Form.  Früher  war  bereits  im  komischen  und  satirischen  Epos 
das  Gleiche  geschehn,^  imd  diesem  Vorgang  folgte  Thümmel  mit  vielem 
Beifalle  nach;  ernsthaft  gebrauchte  Gessner  in  seinen  Idyllen  die  Prosaform. 
Auf  das  Drama  wirkte  Lcssings  Beispiel  so  durchgreifend,  dass  viele  in  Verse 
geschriebene  Theaterstücke  für  die  Aufführung'  in  Prosa  umgeschrieben  wur- 
den, weil  die  Schauspieler  sie  nur  so  spielen  wollten.** 

Eine  zierliche  Nachlässigkeit  sollte  es  sein,  wenn  nach  franzoesischen 
Vorbildern,^  Verse  und  Prosa  in  demselben  Stücke,  ja  selbst  in  demselben 
Satze  wechselten;"'  besonders  der  Epistel  gab  man  gern  diesen  Schmuck; 
nicht  selten  hseufte  man  auch  die  Reime." 

Wo  man  aber  sein  Absehen  auf  eine  strengere  Verskunst  richtete,  zeigte 
sich  mehr  ein  unsicheres  Gefühl,  als  eine  klare  und  bis  ins  Einzelne  drin- 
gende Einsicht.     Diejenigen,   welche  die   Regeln    des  Versbaues   zu  lehren 

Herrigs  Archiv  73,  241.  Die  Schweizer  erklserten  sich  gegen  'das  ewige  Ausbuzzen'. 
Vgl.  über  die  Urteile  der  Zeitgenossen  Weilen  zu  den  Schleswiger  Litteraturbriefen  S.  LXI. 
3)  Voss  verteidigte  auch  das  Verfahren  von  Kamler:  Über  Götz  und  Ramler,  kritische 
Briefe,  Mannheim  1809.  4)  Philotas,  Berlin  1760.  Adams  Tod  ebd.  1766.     Vgl.  Danzels 

Lessing  1,  -440.   So  wurde  auch  Kleists  Seneca  in  Alexandriner  gebracht:  Sauers  Kleist  1,  271. 

5)  Sal.  Gessners  Auserlesene  Idyllen  in  Verse  gebracht,  Berlin  1787,  Der  erste  Schiffer  1789. 

6)  Elias  Schlegel  und  Straube:  Grit.  Beytr.  6,  466.  624.  7.  287.  Vgl.  Antoniewicz  zu 
Schlegels  asth.  und  dramaturg.  Schriften  S.  XXIIF  fgg.  7)  §  143,  10.  8)  Schlegels 
Canut  und  der  Triumph  der  guten  Frauen:  E.  Wolff  S.  133.  172;  Goethes  Mitschuldige, 
Schillers  Don  Carlos  u.  a.  9)  Gresset  u.  a.  Auch  Friedrich  II.  10)  So  Gleim 
schon  1746;  Uz,  dann  J.  G.  Jacobi;  Ebert  und  Giseke,  Wieland,  'Grazien';  Gerstenberg  Tände- 
leyen';  Thümmel  'Reisen'.  11)  Bremer  Beytr.  *  II  175.  245.  Ad.  Schlegel  zu  Batteux  II  559 
Anm.     Gegen  die  mit  Hexametern  vermischte  Prosa  sprach  sich  Mendelssohn  aus:  Bibl.  d. 


§  142  VEKSKUNST.     THEORIE.  311 

unternahmen,  suchten  allerdings  die  aeusserliche  und  dürftige  Art  der  Anwei- 
sungen aus  dem  vorhergehenden  Jahrhundert  zu  vertiefen;  allein  durch  den 
allzu  engen  Anschluss  an  die  Vorschriften  der  antiken  Metrik  geriet  man  meist 
auf  Irrwege,  welche  zuletzt  doch  wieder  zu  Unsicherheit  und  Willkür  führten. 
Vor  allem  blieb  die  Verwechselung  der  antiken  Länge  und  der  deutschen 
Tonstärke  *^  so  ziemlich  allgemein.  Zwar  Avies  Breitinger  '^  darauf  hin,  dass 
im  deutschen  Versbau  der  Accent  wohl  in  Betracht  komme,  'da  notwendig 
auf  gewissen  Plätzen  ein  hoher,  auf  anderen  ein  niederer'*  gesetzt  wird',  dass 
dagegen  'die  Wahl  derjenigen  Arten  Thones,  welcher  von  dem  langen  oder 
kurtzen  Zeitmass  der  Sylben  entsteht',  dem  Verse  mit  der  Prosa  gemein  sei. 
Auch  Elias  Schlegel '"'  unterscheidet  noch  die  metrische  Grundlage  der  latei- 
nisch-griechischen und  der  deutschen  Poesie.  Aber  Gottsched  wandte  ohne 
weiteres  die  antiken  Bezeichnungen  der  langen  und  kurzen  Silben  auf  die 
deutschen  Accentunterschiede  an,'*'  und  musste  deshalb  annehmen  dass  in 
Hinsicht  auf  die  Zeitdauer  fast  alle  einsilbigen  Wörter  im  Deutschen  eine 
ungewisse  Natur  hätten.''  Auch  Klopstock'^  und  selbst  noch  Voss  nahmen 
jedes  Wort  für  sich  nach  der  Art  der  antiken  Metrik  und  suchten  nur 
innerhalb  des  einzelnen  Wortes  die  Silben  gegenseitig  abzuschätzen.  Die 
'Zeitmessung  der  deutschen  Sprache'  von  Voss,  Kcenigsberg  1802,  suchte  das 
in  Regeln  zu  bringen,  was  der  Dichter  bei  seinen  eigenen  Versen  beobachtet 
hatte  und  Goethe  pries  sein  unsterbliches  Verdienst  um  die  deutsche  Rhythmik, 
die   er  aus   so  manchen  schwankenden  Versuchen  einer  für  den  Künstler  so 

schoenen  Wiss.  III,  1.  12)  §  120,  62  fgg.     Zu  dieser  Verwechselung  trug  die  schon  im 

16.  Jh.  ühliche  Wiedergabe  des  Touunterschiedes  durch  die  prosodischen  Zeichen  —  ^  gewiss 
Vieles  bei.  13)  Critische  Dichtkunst  2,  438  fgg.  14)  S.  440  bezeichnet  er  diesen  als 

leise,  meint  also  mit  dem  hohen  die  laute,  starke  Aussprache.  Übrigens  empfiehlt  Breitinger 
zuletzt  die  franzcesischen  und  italienischen  Versarten,  worin  nur  an  den  Abschnitten  die  Accente 
notwendig  geregelt  sein  müssten.  15)  In  einem  Briefe  an  Bodraer,  bei  Antoniewicz  (§151, 

62)  p.  CXLII.  16)  In  der  Tonmessung,  welche  er  der  deutschen  Sprachkunst  als  IV  Teil 

beigab,  sagt  er  S.  471  der  Ausgabe  von  1748  'Haus:  wie  es  in  Rath/wM.s'  kurz  war,  so  kann  es 
in  ÄiMSwirth  lang  sein'.    (Ebenso  noch  1762  S.  591.)  17)  Vom  Tonmasse  der  einsylbigen 

Wörter  schrieb  schon  Behrendt  in  Gottscheds  Grit.  Beytr.  V  48  fgg.  18)  Doch  will  Klop- 

stock  1756  die  Kürzen  d.  h.  die  nicht  hochtonigen  Silben  nicht  völlig  gleich  setzen,  sondern  2 
oder  3  Arten  unterscheiden:  bei  Back  und  Spindler  (§  151,  17)  .3,  9.  Ganz  besonders  vermisst 
er  im  Deutschen  den  Spoudeus,  der  eben  nur  durch  Zusammensetzungen  wie  z.  B.  Wortschall 
gebildet  werden  könne;  er  dichtet  daher  eine  sehnsüchtige  Ode  an  'Sponda'.  Denselben 
Mangel  bemerkt  Ramler,  Einleitung  in  die  schoenen  Wissenschaften  nach  Batteux,  Leipzig 
1760,  1,  165.  Dagegen  bemerkt  Ad.  Schlegel,  Einschränkung  der  schcjenen  Künste  (§  151,  78)* 
1772   S.    532    dass    oft    verschiedene    Arten    zu    scandieren    mceglich    seien ,    dass    von    in 


312  NEUIIUCIIDELTSGIIE  ZEIT.         XVIII  JAllKlI.  §  142 

erwünschten  (.icwisshcit  und  Festigkeit  entgegen  hebe.'-'  Goethe  hatte  jedoch 
schon  früher  die  richtigeren  Ansichten  iiuf  sich  wirken  lassen,  welche  K.  Phil. 
Moritz  in  seinem  Versuch  einer  deutschen  Prosodie',  Berlin  178t},  auseinander 
gesetzt  hatte.  Moritz  widersprach  mit  Recht-"  jener  üleichsctzung  der  Grund- 
lagen der  antiken  und  der  deutschen  Verskunst  und  führte  das  Tonverhältnih. 
der  Silben  zueinander  auf  ihren  logischen  Werth  zurück  so  dass  auch  die 
einsilbigen  Wörter  je  nach  ihrem  Verhältnisse  zu  den  folgenden  nach  festen 
Kegeln-'  als  über-  oder  untergeordnet  erschienen. 

Zur  genaueren  Bestimmung  des  Verhältnisses  zwischen  den  einzelnen 
Silben  zwang  vor  allem  die  allmählich  zunehmende  Mannigfaltigkeit  der 
Muster  für  die  dichterischen  Formen.  An  die  Stelle  der  in  den  vier  ersten 
Jahrzehnten  fast  allein  giltigen  franzoesischcn  Vers-  und  Strophenarten  traten 
im  zweiten  Abschnitt  unseres  Zeitraumes  die  antiken;  im  dritten  kamen  die 
volkstümlichen  hinzu,  welche  man  teils  der  englischen  Dichtung,  teils  der 
eigenen  älteren  entlehnte.  Ganz  besonders  äusserte  sich  das  neue  Bestreben 
zu  Anfang  der  zweiten  Periode  in  der  Verwerfung  des  Reims,  den  man 
bisher  als  ein  Haupterfordernis  und  als  das  erste  Kennzeichen  der  Poesie 
angesehen  hatte.--  Man  konnte  sich  dabei  auf  Stimmen  des  Auslandes-^ 
berufen,  welche  den  Reim  für  entbehrlich  und  hemmend  erklsßrt  hatten; 
aber  schon  vor  diesen  hatten  zuntechst  einige  in  der  Schweiz  lebende 
Dichter^*  sich  erst  gegen  den  Zwang,  dann  auch  gegen  die  Schcenheit  des 
Reimes   ausgesprochen;    ihnen   folgten   die    hallischen  Dichter,"^^  spaeter  Klop- 

ertcente  von  Jubeln  allerdings  kurz,  aber  iu  auf  von  dem  Schlachtfehl  lang  erscheine. 
19)  In  der  Anzeige  (§  158,  57),  welche  freilich  darauf  berechnet  war  Voss  ganz  für  Jena 
Zugewinnen.  20)  S.  123.  21)  S.  143  'Nach  dem  Substantivura    und  Adjectivum 

folgt  in  prusodischer  Rücksicht  zunächst  das  Verbuni.  nach  dem  Verbum  die  Interjection. 
dann  das  Adverbium,  das  Hilfsverbum,  die  Konjunction.  das  Pronomen,  die  Praeposition. 
endlich  der  Artikel.  Diesem  sind  nur  die  Vorsilben  mit  schwachem  e  untergeordnet.'  Es 
ist  beachtenswert  dass  diese  Ordnung  der  von  Rieger  (Z.  f.  deutsche  Philol.  7.  1  fgg.)  für  die 
allitterierende    Dichtung    aufgestellten    grossenteils   entspricht.  22)   Über    die    Zweifel 

von  Weise  s.  Borinski,   Poetik  der  Renaissance    S.   337  fg,  23)  So  führte  Breitinger 

Crit,  Dichtk.  2.  4G1  Scipio  Maffei  an,  der  1736  das  erste  Buch  der  Ilias  in  italienische 
reimfreie  elfsilbige  Verse  übersetzt  hatte;  Hagedorn  in  einem  Briefe  an  Lange  1746  in 
Eschenbnrgs  Ausgabe  5.  154  eine  franzcesische  Schrift  von  1737.  nicht  ohne  Ironie,  da  er  wie 
Haller  an  den  Reimen  festhielt.  Ramler,  Einleitung  in  die  schoenen  Wiss.  I.  162  sprach  sich 
gegen  den  Reim  aus  in  Auschluss  an  .S.  Mard:  s.  auch  Ad.  Schlegel.  Einschränkung  II  540  fgg. 
24)  Bodmer  hatte  bereits  1722  eine  Stelle  aus  Boileaus  Art  poetique  in  reimlose  Alexandriner 
übertragen:  Disc.  d.  M.  II  Th.  V  Disc;  vgl.  \ll  Disc.  Drollinger  LB.  2,  662  nennt  den 
Reim  den  Feind  von  Gerst  und  Witz."  Vgl.  auch  Spreng  bei  Drollinger  1.  212.  25)  Lange 


§  142  KAMPF  UM  DEN  REIM.     ALEXANDRINER.  313 

stock; ^®  und  die  von  ihm  kühn  und  stolz  als  Muster  aufgestellten  antiken  Vers- 
und  Strophenmasse  konnten  nicht  gut  anders  als  reimlos  nachgebildet  werden. 
Freilich  fand  der  Reim  nicht  nur  in  Gottsched -^^  einen  übereifrigen  Vertei- 
diger; auch  Lessing"'-*  entschied  sich  für  die  Beibehaltung  des  Reimes  im 
Verse.^"  Und  wenigstens  für  die  Lyrik  machte  Moritz^'  mit  Recht  geltend 
dass  der  Reim  ein  Bedürfnis  des  Ohres  sei,  seitdem  Gesang  und  Poesie  ge- 
trennt sei:  nur  durch  ihn  werde  das  in  gleicher  Ordnung  Wiederkehrende 
bemerkbar.  Er  hätte  auch  vom  Reime  bemerken  können,  was  er  dem  deut- 
schen Versbau  nachsagt ,  dass  er  nicht  Silben,  sondern  Ideen  gegen  einander 
abmesse:  indem  der  Reim  im  Deutschen  nicht  Beugungssilben,  sondern 
Stammsilben  einander  entgegenstellt,  ist  er  zwar  schwieriger,'''  aber  auch 
wirkungsvoller  als  der  romanische. 

Immerhin  wurde  wenigstens  eine  Art  von  Reimversen  durch  die  Feinde 
des  Reimes  so  gut  wie  völlig  beseitigt,  die  bis  dahin  nach  franzoesischem 
Muster  in  den  grossen  Dichtungsgattungen,  der  epischen  und  der  dramati- 
schen allgemein  gebraucht  worden  war:  der  Alexandriner.  Bodmer^^  und 
DroUinger^*  schilderten  in  abschreckenden  Zügen  den  ebenso  langen  als  steifen 
Vers,  der  durch  die  Csesur  in  der  Mitte  eine  lähmende  Gleichmtessigkeit 
seiner  kurzen  Abschnitte  erhalte;  und  mit  Recht  bemerkte  Breitinger^'  dass 
der  streng  gebaute  Alexandriner  umsonst  dem  romanischen,  dessen  Tonverhält- 
nisse nur  am  Schlüsse  der  Abschnitte  gebunden  seien,  gleich  zu  kommen  suche. '^ 

und  Pyra  §  150,  11.  Ihr  Ästhetiker  Meier  nannte  in  der  Vorrede  zu  Langes  'horatzischen 
Oden'  1746  den  Keim  geradezu  etwas  hässliches.  2ß)  In    der   Ode    von  Klopstock    an 

Voss  1782  wird  der  Reim  gescholten  als  'lermender  Trommelschlag,  lermend  und  lermend 
mit   Gleichgetoene'.  28)    Anfänglich    war    auch   Gottsched   für    reimfreie  Verse   nach 

antiken  Massen  eingetreten:  LB.  2,  731.  Crit.  Dichtk.  1731  S.  311.  29)  1751  im  April- 

hefte des  Neuesten  aus  dem  Reiche  des  Witzes  (L.-M.  3,  212):  ausführlicher  in  einem 
Briefe,  welcher  jedoch  dem  Dichter  die  Wahl  lässt,  ob  er  reimen  will  oder  nicht  (3.  31U; 
\^\.  313,  379).  Lessino-s  liberalere  Ansicht  ward  dann  auch  von  Nicolai  und  Ramler  ver- 
treten.  30)  Ein  Nachklang  dieser  Fehde  über  den  Reim  ist   in  Herders   86.  Humani- 

taetsbrief  die  Äusserung:  'Den  Reim  lasse  ich  unserer  Poesie  nicht  nehmen!'  31)  Proso- 

die  S.  94.  32)  Dass  italienische  und  franzoesische  Reime  leichter    als  deutsche   fallen, 

bemerkt  Bodmer  Disc.  2.  VII.  33)  Kritische  Lohgedichte  und  Elegien  1747  S.  14,  in 

einem  Gedichte  von  1733.  34)  LB.  2.  662.  35)  Crit.  Dichtk.  Th.  2,  S.  435  fgg. 

Er  beruft  sich  auf  Lamotte.  36)  Noch  spa;ter  und  eingehender  verwirft  den  Alexandriner 

Home,  Grundsätze  der  Kritik,  übersetzt  von  Meinhard  2,  466:  'der  Alexandriner  vereinigt 
die  Mängel  des  Hexameters  und  des  gereimten  fünffüssigen  Jambus  ohne  ihre  eigentümlichen 
Schoenheiten  :  der  «Sclaverei  des  Reims  und  der  Regel  des  vollen  Schlusses  zu  Ende  jedes 
Cupletts   unterworfen,    ist  er  noch   besonders   durch  die  Einförmigkeit  der  Pausen  und  der 


314  NEUIlOClIDEUTöCllE  ZEIT.        XVllI  JAJIIUI.  §  142 

Indessen  gebrauchen''^  noch  Lessing ^"^  und  selbst  Gathc ''■'  den  Alexandriner; 
Klopstock  und  Wioland  aber  nicht  mehr  und  ebenso  wenig  Herder  und  Schiller. 

Reimlose  Alexandriner  wurden  nur  vereinzelt  versucht;*''  ebenso,  wenn 
aucli  hjeufiger,  und  durch  das  antike  Vorbild  auch  spajter  empfohlen,  die 
nahverwandten  jambischen  Trimeter  mit  der  Cacsur  im  dritten  Fusse  und 
ohne  Reim.  J.  E.  Schlegel*'  rühmte  1740  diese  Vorsart  wegen  der  bestän- 
digen Abwechselung  zwischen  der  weiblichen  Ca?8ur  und  dem  männlichen 
Versschluss;  Lessing'-  folgte  und  Ramler,  der  die  Trimeter  bereits  1757  em- 
pfahl und  seit  1773  in  einigen  Singspielen  anwendete;  endlich  Goethe  in  der 
für  den  Faust  1800  gedichteten  Helena,  und  Schiller  in  einigen  Teilen  der 
Jungfrau  von  Orleans.*^  Anapfeste  erschienen  seit  Ramler  in  den  jambischen 
Versarten  wohl  gestattet,  nur  dass  er  selbst  sie  von  den  Verseingängen 
ausschloss. 

Das  beliebteste  Metrum  für  das  Drama  in  Versen  und  hier  der  Ersatz 
für  den  Alexandriner  ward  der  fünffüssige  Jambus,  den  vor  allem  das 
Vorbild  Shakespeares  und  schon  vor  ihm  und  für  andere  Gattungen  das 
Miltons  empfahlen."  Gereimt  und  mit  stumpfer  Csesur  hinter  der  zweiten 
Hebung  war  dies  Versmass  durch  die  wns  communs  der  Franzosen  längst 
bekannt  geworden  und  hatte  vielfache  Anwendung  gefunden.  Die  reimlose 
Art,  den  englischen  JiJnnk  verse,  hatten  Miltons  Übersetzer  schon  im  17.  Jahr- 
hundert beibehalten.*^     Gottsched*^  tadelte  freilich  die  freie  Ctesur,  gab  seinen 

Accente  unangeuehm.  37)   Für    das  komisehe  Epos  blieb  der  Alexandriner  ganz   mit 

Recht  beliebt:  bei  Uz,  Zachariaj  u.  a.  Haller  empfiehlt  ihn  aber  noch  für  das  ernste  Lehr- 
gedicht. 38)  Im  dramatischen  Fragment  Henzi  und  in  didaktischen  Gedichten.  Im 
Drama  verwendet  ihn  Cronegk.  zu  Epitaphien  Kant  noch  1782:  Hartensteins  Ausg.  VIII 
S.  605  fgg.  39)  in  den  Mitschuldigen.  Vgl.  Bartsch  Goethejahrbuch  I.  40)  Von 
Veit  Ludwig  von  Seckendorf  in  der  Übersetzung  von  Lncans  Pharsalia  1695:  s.  Gottscheds 
Sprachkuust^  S.  511.  Dann  gebraucht  Pyra  im  Tempel  der  Dichtkunst  abwechselnd  männliche 
und  weibliche  Alexandriner  ohne  Reim.  41)  Werke  3,  87  fgg.  Proben,  die  er  selbst  ver- 
fasst  hatte,  ebd.  2,  621  fgg.  42)  Giangir.  43)  Act  2,  Sc.  6—8.  Über  Goethe 
s.  Harnack.  Vierteljschr.  f.  Lit.-gesch.  V  113  fgg.  44)  F.  Zarncke.  Über  den  fünffüssigen 
Jambus  mit  besonderer  Rücksicht  auf  seine  Behandlung  durch  Lessing,  Schiller  und  Goethe, 
I  Abth.  Festschrift  der  Universität  Leipzig  1865.  Sauer  QF.  30,  128  fgg.  und  Sitzungsberichte 
der  Wiener  Akad.  XC  625  (1878)  'Ueber  den  fünffüssigen  Jambus  vor  Lessings  Nathan'. 
45)  Theodor  Haake  und  Ernst  Gottl.  von  Berge;  'Das  verlustigte  Paradies'  von  dem  letzteren 
erschien  Zerbst  1682:  s.  Eschenburg  im  D.  Mus.  1784,  2.  512  fgg.  Cantzler  und  Meissners 
Quartalschrift  2  Jahrg.  3,  1,  76.  Bolte  in  der  Zs.  f.  vgl.  Litteraturgesch.  u.  Renaissancelitt. 
1,  426  führt  noch  das  1618  von  dem  Kasseler  Arzt  Rhenanus  aus  dem  Englischen  übersetzte 
Drama  Lingua  an.    worin   zuerst  deutsche  blank-verse   vorkommen.             46)  Grit.  Dichtk. 


§  142  FÜNFFÜSSIGE   JAMBEN.  315 

eigenen  Versen  dieser  Art  durchaus  klingenden  Ausgang  und  vermied  das 
Enjambement,  die  Yersverschränkung,  welche  durcli  den  Satzanfang  kurz  vor 
dem  Versscliluss  oder  durch  den  Satzschluss  kurz  nach  dem  Yersanfang  ent- 
steht. Ganz  im  Gegensatz  dazu  gestattete  sich  Bodmer*"  nicht  nur  wie  schon 
früher  Drollinger  die  freiere  Csesur  nach  itaHenischcr  Art,  sondern  auch  den 
Wechsel  zwisclicn  stumpfem  und  klingendem  Versausgang;  ja  er  mischte  be- 
reits einzelne  längere  Zeilen  ein.  Kleist  verwendete  bald  die  strenger  bald 
die  freier  gebauten  Fünffüssler  in  seinen  ErzsehUmgen.  Besondere  Belehrung 
über  die  englischen  Verse  gewährte  J.  N.  Meinhards  Übersetzung  der  Ele- 
ments of  criticimi  von  11.  Ilome.'*'*  Herder  pries  die  fünffüssigen  Jamben 
1768  an  in  den  Fragmenten  zur  deutschen  Litteratur^^  und  wünschte  das 
Mass  das  deutsche  nennen  zu  können,  vor  allem  in  der  Tragödie.  Auch  hier 
waren  bereits  eine  Anzahl  Versuche  gemacht  worden:  so  schon  von  J.  El. 
Schlegel,"*^'^  von  J.  F.  von  Cronegk^"  und  J.  W.  von  Brawe,'"'  und  freier 
von  Joh.  Heinr.  Schlegel  in  einer  Bearbeitung  von  Schauspielen  Thomsons, 
die  1758 — 64  erschien.  Noch  weniger  streng  behandelte  Wieland  den  Vers 
in  seinem  1758  in  der  Schweiz  aufgeführten  und  gedruckten  Trauerspiel 
Lady  Johanna  Gray.  Christian  Felix  Weisse  ''^  u.  a. ,  selbst  Klopstock  mit 
seinem  Salomo  1704  folgten.  Aber  erst  Lessings^^  Nathan  1779  gab  zu 
Herders  Lehre  das  wirksame  Beispiel ,  dem  vor  allem  Goethe  ^*  in  Iphigenie 
und  Tasso,    Schiller   seit  Don  Carlos    nachfolgten.     Immerhin    ward  Lessings 


1742  S.  408.     D.  Spraclik.  1748  S.  517  fgg.  47)  Übersetzung  von  Erzjjehlungen  nach 

Thomson  1745,  hinter  Langes  und  Pyras  Freundschaftlichen  Liedern  (§  150,  11).  Wieland 
in  seinen  Erztehlungen  1752  war  etwas  strenger.  48)  Txrundsätze  der  Critik,  aus  dem 

Englischen',  Leipzig  1763  —  66:  2,  423  fgg.  49)    Diese  Bemerkungen    wurden    erst   in" 

der  2.  Aufl.  eingeschaltet,  s.  Sämmtl.  Werke  bei  Suphan  2,  36  fgg.  49a)    In  der    an- 

gefangenen Übersetzung  der  'Braut  in  Trauer'  von  Congreve,  die  zuerst  1762  in  den  Werken 
2,  579  erschien,  mit  eigentümlichem  Wechsel  zwischen  stumpfen  und  klingenden  Ausgängen. 
50)  'Der  ehrliche  Mann  der  sich  schämt  es  zu  seyn\  1765  gedruckt,  mit  durchaus  klingenden 
Schlüssen.  51)  Brutus,   zuerst  gedruckt  1768,    mit  durchaus  stumpfen  Schlüssen.     Bei 

der  einzigen  Aufführung,  zu  Wien  1770,  stoerte  ganz  besonders  der  Vers:  QP.  30,  78- 
5'2)  Weisses  Befreiung  von  Theben,  1764  erschienen,  hatte  durchaus  männlichen  Ausgang ; 
Rein  Atreus,  1766,  auch  weiblichen.  Dies  war  das  erste  in  Deutschland  aufgeführte  .Janiben- 
stück;  es  kam  1767  in  Leipzig  auf  die  Bühne:  Minor  bei  Kürschner  72  S.  XVIII  (für  die 
Schweiz  s.  oben).  53)  Lessing  hatte  allerdings  schon  1758,  iniKleonnis  u.  a.  Fragmenten 

den  blank-verse  mit  Anschluss  au  das  Epos  angewandt:  s.  E.  Schmidt,  Lessing  343.  351. 
Wie  verbreitet  iudess  1778  der  Wunsch  nach  dem  Metrum  war.  zeigt  das  Beispiel  Kleius 
in  Mannheim:  QF.  40,  65.  54)  Er  wollte  schon  1765  den  blanTc-i-erse  in  seinem  Belsazar 

gebrauchen,    nach   El.   Schlegels    Beispiel   und   dein  Rat   der   meisten  Kritiker:   Der   junge 


310  NKi:iI()('III)ElITSOfIE  ZEIT.         XVIII  JAIIIIU.  §  142 

Beh;in«llun«;sweis(',  wclclie  nainontlicli  durch  Enjiiiiiboinents  die  Versabsetzun«»; 
beständig  duiThlirach,  weniger  von  den  Spffiteron  nachgealinit,  als  die  Shakes- 
peares. Diesem  folgend  beschloss  Schiller*'*  öCtors  die  Secnen  mit  Heimen. 
Auch  er  unterbrach  mit  Doppelsenkungon  und  mit  schwebender  Betonung 
gern  die  regelnuessige  Scansion.  CJa'the  aber  gab  seinem  Füntfüssler  durch 
das  streng  festgehaltene  Mass,  durch  das  Ausklingen  des  Verses  mit  seltenem 
Enjambement  die  edle  Haltung,  welche  sonst  dem  antlkeu  Trimeter  eigen 
war.  Er  wandte  ihn  auch  gereimt  in  lyrischen  Formen,  vor  allem  in  der 
Stanze,  mit  feinster  Kunst  an  und  wusste  hier  den  ruhigen  Fluss  des  italieni- 
schen Vorbildes  völlig  wieder  zu  geben. 

Eine  leichtere  Anmut  erscheint  in  den  dreimal  gehobenen  jambischen 
Versen  mit  klingendem,  reimlosen  Ausgang,  welche  besonders  in  den  ana- 
kreontischen  Liedcheu  und  Episteln  zur  Anwendung  kamen. 

Dagegen  griff  der  parweise  gereimte  jambische  Vierfüssler  auf  eine 
volkstümliche,  seit  Opitz  verschmähte  Versart  zurück,  auf  die  Hans  Sach- 
sische, die  noch  Gottsched''®  als  Knittelverse  gescholten.  Scherzhaft  gerade 
gegen  Gottsched  von  Kost'^  gebrauclit,  wurde  sie  von  Goethe  von  neuem  zu 
Ehren  gebracht  und  für  Dichtungen  aller  Art  im  Tone  des  alten  Meisters 
verwandt:'"^  seine  Freunde''^  folgten  ihm  und  hielten  zugleich  mit  ihm  auch 
allerlei  Freiheiten  des  Reimes,  des  Versbaues  und  selbst  der  Sprache  für 
dieser  Versart  angemessen. 

In  solchen  Gedichten,  zumal  denen  betrachtenden  Inhalts  vermischt 
Goethe  auch  die  Vierfüssler  mit  längern  Zeilen ,  wie  er  es  auch  im  Drama, 
besonders  im  Faust  gethan  hat.  Die  gleiche  Freiheit  war  den  Dichtern,  die 
sich  an  franzoesische  Muster  anschlössen,  schon  längst  durch  deren  rers  lihteti 
oder  ini'ynliers  bekannt.  Im  Drama  erhielt  sich  diese  madrigalische  Ab- 
wechselung für  das  Singspiel,  auch  für  die  Cantate.  In  der  Fabel  war 
Lafontaines  Vorbild  auch  metrisch  massgebend.  Schon  weit  früher  aber  war  die 
Mischung  von  Zeilen  verschiedenen  Umfangs  von  Brockes,  auch  von  Hagedorn*'" 


Gcethe  1.  10.  55)  s.  Ed.  ßelling.  Die  Metrik  Schillers,  Breslau  1883.  56)  CTottsthed 

Grit.  Uichtk.  '(^1742)  S.  623:  'Knittelverse.  alttVäukisi-he  aohtsylbige  gestümpelte  Reime.' 
Breitiuger  Grit.  Dichtk.  467  fgg.  zieht  sie  wenigstens  dem  Alexandriner  vur.  57)  §  148, 

76.     Schon  Ganitz  bediente  sich  des  Versmasses  zu   solchen  Zwecken.  58)   So    in   den 

um  177;')  entstandenen  Stücken  .Neu  eröfl'netes  moralisch-politisches  Puppenspiel' u.  a.;  insbe- 
sondere aber  in  'Hans  Sachsens  poetische  Sendung':  spaeter  fallen  die  Parabeln  und  Legenden 
LB.  1123.  59)   W'ieland   in  der  Titanomachie    1775;    Schiller    in   Wallensteins   Lager. 

()0)    Hagedorn    findet    sie  geschickt   für  Übersetzungen    aus  Horaz.   wie   er    in    der   Vorrede 


Ji 


§  142     SONSTIGE  JAMBISCHE  UND  TROCIIAISCHE  MASSE.         317 
in  Anweiuluno;  o-ebracht  worden.    Dann  liebte  Wieland  besonders  seine  leichten 


*o    o 


Erzaehlungen'^'  in  diese  Form  zu  kleiden,  und  bildete  auch  seine  Oftave 
rinie'^'-  mit  wechselnder  Zeilenlänge  und  Reimverbindung :  zuerst  in  Idris  und 
Zenide  1767. 

Den  jambischen  Yersfüssen  gegenüber  treten  die  trochaischen  sehr  zurück : 
vergeblich  empi'ahl  Gottsched  die  trochaischen  Achttussler'*-'  als  prächtig 
und  majestaitisch  sonderlich  für  Heldengedichte ;  auch  die  VierfÜssler  wurden 
nur  in  anakreontischer  Dichtung'''*  und  zwar  reimlos  angewendet,  ausserdem, 
dem  spanischen  Original  folgend,  von  Herder  im  Cid,  mit  einem  stumpfen 
Verse  am  Ende  jedes  Absatzes.  Fünffüssige  Trochseen  begegnen  in  Herders 
Cid^^  und  in  seinen  Legenden;'*'^  früher  schon  hatte  Goethe  sie  wohl  nach 
dem  Serbischen  ''^  gebraucht  und  mit  vorzüglicher  Kunst  ausgebildet. 

Dass  in  lyrischen  Gedichten  nach  volkstümlicher  Art  der  Auftact  bald 
eintrat  bald  nicht,  und  somit  jambische  und  trochaische  Zeilen  sich  mischten, 
hängt  zusammen  mit  der  Freiheit  des  gesungenen  Yolksliedes  auch  im  inne- 
ren Verse  doppelte  Senkung  zu  gebrauchen:  ja  nach  diesem  Muster  hat 
Goethe  sogar  dreifache  Senkung^*  sich  gestattet. 

In  ganz  anderem  Sinne  ward  gegen  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  der 
Versuch  gemacht  die  Doppelsenkung  in  unserer  Poesie  einzubürgern :  sie  sollte 
dazu  dienen  den  Dactylus  m  Versen  nach  antiker  Weise  herzustellen.  Hatte 
man  früher  schon  ziemlich  kunstlos  diese  fremden  und  unserer  Sprache 
weniger  angemessenen  Versarten  nachgeahmt,^*  so  sollte  nun  gerade  mit  der 
Aneignung  dieser  Masse  der  Gipfel  nationaler  Verskuust  errungen  sein.  Zwar 
Gottsched,  der  zuerst  dactyhsche  Hexameter  und  Pentameter  deutsch  nach- 
zubilden gelehrt  hatte,'**  nahm,  mit  den  Leistungen  Anderer  unzufrieden  und 
mehr  noch  über  ihre  Verschweigung  seines  Verdienstes  erbittert,    seine  Em- 


zu  seiueu  Oden  uad  Liedern  auseinander  setzt:  Eschenburgs  Ausg  3,  XXV.  (jl)  Komische 

Erzffililuugen  1762;  doch  auch  schon  sein  Antiovid  1752.  62)  Ihm   folgte  Schiller    in 

den  Übersetzungen  aus  Vergils  Aneis  1792.  mit  besonderer  Begründung  im  Vorwort. 
63)  Mit  "Wechsel  des  Ausgangs  zwischen  Cijesur  und  Schluss:  Sprachk.  527  fgg.  Allerdings 
Schoenaich  gehorchte  dem  Meister  und  Frau  Gottsched  übersetzte  Popes  Lockenraub  in  dieser 
Form.  64)  Gottsched  übersetzte  so  zuerst  einige  Oden  Auakreons:  dann  Götz  und  L^z 

den  ganzen  Anakreou  1746.  Auch  Gleim  und  Hagedorn  bedienten  sich  dieser  Versart  in 
eigenen  Dichtungen.  65)  LB.  1U7U,  5.  66)  LB.  1048,  35.    1056,  20.  67)    Dei' 

Klaggesang  der  edlen  Frauen  des  Asan  Aga,  von  Goethe  übersetzt,  erschien  in  Herders 
Volksliedern   1778.  68)   Im   Zigeunerlied   von   1772.    z.  B.   Da  rüttelten    sie  sich,  da 

schüttelten  sie  sich.  69)  §  120,  68.  70)  Crit.  Dichtk.  '311.     Vgl.  namentlich  die 


318  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XVHI  .lAHKH.  §  142 

pfeliluiifT  dieser  Versarten  zurück.''  Aber  die  nach  Mannipjfaltigkeit  nnd 
Lel)liaftigkoit  der  Form  strobendeu  Jjyriker,'-  /uiuechsf  die  des  halliscli- 
preussisclien  Dichterkroises,  liessen  sich  die  dactylischcn  Masse,  und  so  auch 
die  Hexameter  und  Pentameter  nicht  nehmen.  Zuna^chst  wurde  in  lyrischen 
Stroplieu  eine  Zusammcnsot/ung  von  Yerslussen  gewajj^t,  welche  als  dactylisdir 
Hexameter  mit  einer  Yorschlagsilhe  autgef'asst  werden  konnte:  so  von  Uz  in 
einer  1748  gedruckten  Frühlingsode"''  von  vierzeiligen  Strophen;  ihm  folgte 
bald  eil.  Ewald  von  Kleist,  sowohl  mit  Oden"'  als  auch  mit  dem  Lehrgedicht 
der  Früling';  auch  aus  dem  Leipziger  Kreise  schlössen  sich  J.  A.  Schlegel, 
Giseke  u.  a.  an.  Den  entscheidenden  Schritt  zur  Aneignung  des  antiken 
Hexameters  für  das  deutsche  Epos ^^  that  Klopstock  mit  dem  1748  erschei- 
nenden Anfang  seines  Messias.  Klopstock  setzte  auch  theoretisch  die  Vor- 
züge des  deutschen  Hexameters""  auseinander,  den  er  durch  ausgeklügelte 
Gründe  selbst  über  den  homerischen  erheben  zu  können  meinte.""  Vergebens 
dass  einsichtige  Kenner  sich  gegen  den  Hexameter  erklfertcn:  Hagedorn '~ 
wenigstens   mit    kühler   Zurückhaltung,    Haller""   mit    gewichtigen    Gründen, 

§  120.  G8  angeführte  Schrift  Wackernagels.  71)  Noch  schlimmer  ist  dass  er  17:Y)  den 

Hexametern    wenigstens  Reime   zu   geben   auffordert:    Wackeruagel   8.  67.  72)   Ubei 

die  Mo'gliclikeit  des  deutschen  Hexameters  correspoudieren  1742  Budmer  und  Koenig:  Danzei 
Lessing  1,  393.  73)  §  150,   35.     Uz  selbst  fasste  sie  anders  auf:  'Es  besteht  dieselbe 

aus  zwei  .Jamben,  einem  Anapaisten,  wenn  man  genau  reden  will,  abermals  zwei  .Jamben 
und  einer  kurzen,  überbleibenden  Silbe.  Der  zweite  Vers  ist  zusammengesetzt  aus  zwei 
.Jamben  und  zwei  Anapiesten":  Seuä'erts  Lit.  denkm.  33,  IV.  74)  In  den  Werken  17G0 

1,  12  fgff.  befindet  sich  eine  Ode  an  Herrn  Rittmeister  Adler,  welche  1739  datiert  ist: 
aber  Sauer  Kleist  S.  48  nimmt  das  J.  1745  als  das  der  Entstehung  an  und  Nachahmung 
der  Ode  von  Uz.     Übrigens    ist  Kleist    weniger   genau   wie   l'z.  75)  Den    Hexameter 

auch  als  dramatisches  Versmass  zu  gebrauchen,  diese  (Tcschmacklosigkeit  war  Bodmer  vor- 
behalten, von  dem  1754  'der  erkannte  Joseph'  und  '<ler  keusche  .Joseph',  beide  freilich  aus 
epischen  Dichtungen  dramatisiert  erschienen.  76)  Von  der  Nachahmung  des  griechischen 

Silbenmasses  im  Deutschen:  dem  Messias  1756  beigegeben;  Sprachwiss.  Seh.  3,  1  fgg. 
77)  Sprachwiss.  ScJir.  2,  68.    Er  fand  selbst  im  Heliand  Hexameter,  ebd.  108.  78)  Eschen- 

burgs  Ausg.  5,  64.  79)  Haller  hg.  v.  Hirzel  S.  400  in  der  1772  verfassten  Vergleichunir 

seiner  Dichtung  mit  der  Hagedorns:  'Mir  kommt  es  immer  vor,  wenn  man  Hexameter  machen 
wollte,  wie  sie  gemeiniglich  sind,  so  waere  die  Arbeit  zu  leicht,  und  leichte  Arbeit  ist  auch 
in  der  Poesie  schlecht.  "Wollte  man  aber  die  Harmonie  beibehalten  und  auch  richtige  Füsse 
von  langen  und  kurzen  Silben  abwechseln  lassen,  wie  Hr.  Uz  und  v.  Kleist  .  .  gethan  haben 
80  wa^re  die  mechanische  Arbeit  sehr  schwer.  Und  einmal  fehlt  dem  deutschen  Hexameter 
der  Spondeus  und  die  einsylbigen  Wörter  sind  zu  haeufig*.  —  Auch  J.  A.  Schlegel  im  Anhang 
zu  seiner  Übersetzung  des  Batteux  (1759)  bezweifelte  dass  die  Hexameter  im  Deutscheu 
nachzubilden  seien.     Ramler  erklärte  jeden    Hexameter   für    fehlerhaft,    der   sich    auf  mehr 


I 


§  142  DACTYLISCIIE  HEXAMETER.  319 

Lessiug  durch  stillschweigenden  Nichtgebrauch,  Bürger^"  mit  unsicherer, 
Heinse'*'  mit  entschiedener  Ablehnung:  Bürger  ward  sogar  umgestimmt  und 
übersetzte  die  llias  nicht,  wie  er  Anfangs  gewollt,  in  fünffüssigen  Jamben, 
sondern  in  Hexametern.  Und  doch  war  Klopstocks  Hexameter  nicht  einmal 
das,  was  er  bei  genauerem  Anschluss  an  die  antike  Kunst, '^^  vor  allem  mit 
Beobachtung  der  Regeln  über  die  Csesur  hätte  sein  können;  auch  die  ein- 
zelnen Hexameter  verkettete  er  durch  Enjambements.^^  Für  solche  Nach- 
lässigkeit konnte  die  soi-gfältige  Vermeidung  des  Hiatus  und  die  gesuchte 
Künstlichkeit,  mit  welcher  durch  Spondeen  Feierliches  oder  Schreckliches 
ausgedrückt  wurde  oder  der  Abbruch  des  unvollendeten  Verses  einen  Still- 
stand der  Erzielilung  bezeichnen  sollte,^^^  nicht  entschsedigen.  Noch  weiter 
ging  Job.  H.  Voss  in  diesen  Künsten,^'  doch  bemühte  er  sich  in  den  Cee- 
suren  *"'  und  selbst  in  der  Abwtegung  der  für  die  Doppelsenkung  geeigneten 
Silben  dem  antiken  Vorbild  nseher  zu  kommen.*"  Allerdings  musste  sich 
dafür  die  Sprache  manches  gefallen  lassen.**  Freier  bewegte  sich  Goethe,*^ 
namentlich  indem  er  den  deutschen  Trochseus  anstatt  des  Dactylus  zuliess: 
genug  wenn  nur  der  Leser  gezwungen  wurde  sechs  Mal  im  Verse  die  Stimme 

als  eine  Art  scandiereu  lasse:  J.  A.  Schlegel,  Batteux  2,  583  Anm.  80)  T.  Meix-ur  177G, 

4,46.  Klopstoek  erwiderte  iu  deu  Fragmenteii  über  Sprache  und  Dichtkimst  1779,  Sprach- 
wiss.  Sehr.  2.  91  fgg.     'üeher    den    deutscheu   Hexameter.'  81)    1783   verwirft  Heiuse 

deu  Homer  von  Voss  wegen  der  Hexameter:  Briefe  zwischen  Grleim,  Heinse  u.  Müller 
2,  495.  82)  Wie  uuschceu  sind  Verse  wie  Messias  V  187  'Vor  deu  Augen  Israels,  vor 

dem  Antlitz  der  Rcemer'!  Diserese  hinter  dem  2.  und  4.  Fusse  haben  im  VIII  Buch  (LB.  819) 
die  Verse  127.  175.  256.  258.  288.  366.  399.  490.  519.  Dactyleu  wie  IV  534  'Antlitz  war\  XIV 
145  'Botschaft  zu'  siml  Zuugenprobeu;  vgl.  ferner  V  295  'die  schrecklichere  der  Christen', 
319  'des  Weltgerichts  Wagschäl  hält'.  Ganz  abscheulich  sind  Hexameter  Zacharia^s,  wie 
Verlorn.  Par.  IV  'Obgleich  der  Koeuig  des  Himmels  auf  deinen  Fittigen  fähret'.  Wieland 
folgte  mit  seinen  Jugenddichtuugen  Klopstoek  auch  in  den  Fehlern  nach.  83)  Dagegen 

sprach  sich  Haller  in  den  (rött.  gel.  Anz.  1771  aus  (Tagebuch  1,  352):  'freilich  sind  wir 
noch  immer  in  G-edanken,  ein  Vers  müsse  nicht  mit  einem  Worte  abgebrochen  werden,  das 
zu  nahe  mit  dem  ersten  Worte  des  folgenden  zusammeuhäno-t'.  Voss  verlangte  deu  Zu- 
sanimenfall  der  rhythmischen  und  der  Satzperiodea.  84)  Messias  V  325,  von  Wieland 

nachgeahmt:  SeuffertLit.  deukm.  6,  VII.  85)  Er  verwendet  auch  den  sonst  vermiedenen 

Amphibrachys  zur  Malerei  iu  dem  bekanuteu  Verse  'Hui'tig  mit  Donnergepolter  entrollte 
der  tückische  Marmor'  Od.  11,  598.  86)  An  Stolberg:  Briefe  3,  38  Aum.  87)  Noch 

genauer  gab  F.  A.  Wolf  in  den  freilich  nur  kurzen  Proben  seiner  Übersetzung  der  llias  jeden 
einzelnen  Fuss  wieder.  S.  Aug.  Schmits,  De  hexametri  Germanici  historia,  Diss.  Boun  1862, 
welcher  Klopstoek  und  die  Naclifolger  bis  auf  Schiller  behandelt.  88)  Zahlreiche  Filisionen; 

Bildung  von   Spondeen  durch  künstliclie  Zusammensetzung.  89)   Übei-  den   Zwang  den 

die  Regeln  von  Voss  auf  Clcethe  ausübten  s.  Heliu  (tuithejahrbuch  6,  179.    1808  urteilte  er  über 
Wackernagel,  Litter.  Goscbichte  II,  22 


320  NEiniO(liri)EUTS0IIH  ZFJT.         XVIII  .TAIIUIl.  §   1  !_' 

mehr  als  bei  den  folgoiulen  ciu  oder  zwei  Silben  zu  erheben;  doch  ist  auch 
bei  ihm  «'in  mehrt'acher  Unterschied  ilor  Zeiten  und  der  J)iclitarten'"'  zu 
booliaciiten.  Zieiidicli  frei  ist  auch  Herder,  dessen  lilumcn  aus  der  griechi- 
schen Anthoioj^ie  1780  den  epigrammatischen  Gebrauch  des  antiken  Disti- 
chons bei  uns  einführten.  Schiller  gebrauchte  diese  Formen  nur  1795-98, 
und  iiess  sich  von  Voss  zu  grcesserer  Strenge   bestimmen. 

Setzt  nun  schon  der  deutsche  Hexameter  und  Pentameter  einen  Leser 
mit  claasischer  Bildung'"  voraus,  so  gelia>rt  Kenntnis  des  Horaz  dazu,  die 
Strophenformen  richtig  zu  fassen,  welche  den  antikem  Diclitern  nachge- 
bildet worden  sind.  Audi  diese  wurden  von  Klopstock  zuerst  in  Deutsch- 
land eingebürgert'-''  und  zugleich  theoretisch  empfohlen.'-*^  llamler  wetteiferte 
dann  mit  Klopst(jck  in  horazischeu  Stroplien,'-*^  Herder  gebrauchte  sie  mit 
voller  Kunst,  ebenso  Voss.  Vortrefflich  hat  llöklerhn  diese  Formen  benutzt. 
Dagegen  versuchte  sich  Goethe  nur  einmal ''■'  in  der  antiken  Odeuform,  ebenso 
Schiller.^''  Lessing,  Wieland,  Bürger  liaben  sich  ihrer  gänzlich  entlialten.  In 
der  Tliat  fällt  es  oft  überaus  schwer  bei  sinngemtessem  Vortrag  dieser  Oden 
zugleich  den  Rhythmus  durchklingen  zu  lassen:  es  ward  eine  Kunst  der 
Declamation  noetig,  welche  allerdings  Klopstock'*^  und  llamler  sorgfältig 
übten.  Die  über  den  Text  gedruckten  Schemata  waren  nur  ein  unzulängliclier 
Notbehelf.  Noch  weit  mehr  aber  gilt  diese  Unsicherheit  für  die  völlig  neu 
gebildeten  Odenformen,  in  denen  sich  die  Elemente  der  antiken  künstlich 
mischten. '^^ 

— ■ i ' ^Li«  I  

Voss:  'für  lauter  Prosodie  ist  ihm  die  Poesie  ganz  entschwunden'.  !)0)  Nachlässiger  ist  der 

Versbau  im  Reineke  Fuchs,  strenger  in  Hermann  und  Durotiiea.  Die  frühsten  Hexameter  Uck- 
thes  gehii'ren  seiner  Leipziger  Zeit,  dem.J.  IKi;")  an:  Der  junge  (Id-tlie  1,  11,  in  einer  Schihlerung 
(.TOttscheds  in  Klopstock- Hüdmerischeu  Wendungen.  91)  Kleist  riet  daher  auch  des  Lateins 

unkundigen  Lesern  seinen  Frühling  wie  Prosa  zu  lesen:  Sauer  Kleist  1,  138.  92)  Versuche 

aus  dem  Anfang  des  17.  .Jahrhunderts:  §  120,  68.  7.ö.  93)  Vor  dem  Messias  von  17.ÖG: 

Sprachwiss.  Sehr.  1.  14  fgg.  94-)  Doch  l)ezweift'lte  er  17lj:i  dass  diese  lyrischen  Versmasse 

bei  uns  ihr  (rlück  machen  würden:  zu  Batteux  1,  183.  95)   In  asklepiadeischer  .Strophen- 

art: 'Mahomets  Nachthymne',  1774  gedichtet,  zuerst  gedruckt  in  Schölls 'Briefe  u.  Aufsätze  von 
Utpthe'  S.    läl.  96)  'Der  Abend"  1776.  97)  §  152,2!».     Auch  GcBthe  pflegte  diese 

Kunst,  doch  mehr  mit  der  Absicht  den  Inhalt  zur  (ieltung  zu  bringen.  Insbesondere  war 
sein  V^ortratr  komischer  Stücke  unübertrefflich.  98)  Die  Probe  lässt  sich   leicht  an  den 

Strophen  uiacbeu,  die  dem  XX.  (iesang  des  Messias  eingetiochten  sind.  .Moritz,  Versuch 
einer  deutschen  Prosodie  bemerkt  S.  105  fgg.  ganz  richtig  dass  die  Klopstocksche  Ode 'Wenn 
der  Schimmer  von  dem  Monde  nun  herab  iu  die  Wälder  sich  ergiesst'  anstatt  '-' ^  —  ^^j^^  —  ^j 
^^ — //^^  —  ^/^^-r  auch  als  eine  Folge  kurzer  Trochaien  gelesen  werden  könnte.  Voss 
hat    in   einem   Dithvrambus   von   ISO«»  sotrar  vier  Kürzen   (unbetonte  Silben)  hintereinander 


§  142       ODEN   IN  STROPHEN  UND  IN  FREIEN  VERSEN.  321 

Von  hier  aus  ist  nur  ein  Schritt  zur  völligen  Aufloesung  des  rhythmi- 
schen Bandes,  zur  freien  Folge  von  Versen  verschiedener  Art,  meist  jedoch 
von  kurzem  Umfang,  wie  mau  damals  ja  auch  die  pindarischen  Oden  ab- 
teilte."^ Auch  diese  Form  hat  Klo[)stock  1754  eingeführt'"*^  und  für  hohe 
Begeisterung  besonders  geeignet  gefunden:  er  teilte  diese  Gedichte  in  vier- 
zeilige  Abschnitte. '"'  Andere'"-^  folgten  ihm  nach  ohne  diese  Abteilung  zu 
beobachten:  vor  allem  Goethe,  dessen  Hymnen,'"^  in  kurzen  Zeilen  mit  zwei 
oder  drei  Hebungen  dahinrolleud  die  tiefste  Erregung  wiederspiegeln.  Auch 
in  die  Dramen  nahm  er  sie  hinüber,  gewissermassen  als  Ersatz  der  griechi- 
schen Chorgesänge. '*'^  Dass  die  Form  sich  besonders  zur  musicalischen  Com- 
position  eignete,  hatten  Lessing  und  Horder  "^''  bemerkt. 

Neben  den  antiken  Strophenformen  erhielten  sich  diejenigen,  welche 
bereits  früher  der  Poesie  des  Auslandes,  insbesondere  der  franzcesischen  ent- 
lehnt worden  waren,  ebenso  wie  die  noch  älteren,  im  Kirchenlied  erhaltenen, 
dreiteiligen.'"^'  Von  den  ersteren  wurde  das  Sonett  seltener:  '"^  Gottsched 
fand  es  zu  schwierig ;  '"^  Andere  spotteten  über  die  unnütze  Mühe ;  '"^  die 
Verehrer  der  reimlosen  Verse  mussten  das  Sonett  erst  recht  verwerfen.  Erst 
seit  den  sechziger  Jahren  brachten  norddeutsche  Lyriker  das  Sonett  wieder 
auf:  meist  erotisch  und  mit  Anschluss  an  italienische  Muster.^'"   Dann  pflegte 

gesetzt:  LB.  1020,  37;  denu  so  ist  z.  B.  1021,  4  'schäumenderen  Pokal'  zu  lesen.  Vgl.  die 
Vorrede  zu  LB.  2,  p.  XVL  99)  Vgl.  A.  Goldbeck-Loewe,    Zur  Geschichte  der  freien 

Verse  in  der  deutscheu  Dichtung  von  Klopstock  bis  Cjcethe,  Diss.  Kiel  1891.  Den  nicht 
seltenen  Adouius  hat  zuerst  Mylius  stichisch  augewendet:  Lessing  L.-M.  4,  487.  100) 'Die 

Genesung.'  101)   'Die  Frühlingsfeier':   LB.    859.  102)    von   Creuz    LB.    921,    die 

Brüder  Stolberg  ebd.  99Ü,  Herder  1042,  Schubart  1163.  1170,  Maler  Müller  u.  a.  103)  LB. 

1095  fgg.  104)  So    in   der  Iphigenie.  105)  Litteraturbrief  51;   Fragmente  1.  72. 

106)  Unter  diesen  war  besonders  beliebt,  auch  für  nicht  geistlichen  aber  doch  ernsten  Inhalt, 
eine  von  10  viermal  gehobenen  Zeilen,  welche  Günther  für  sein  Lied  auf  Prinz  Eugen 
gebrauchte:  §  147,  5;  vgl.  Hagedorn  ebd.  Anm.  28.  Mit  Vertauschung  der  männlichen  und 
weiblichen  Ausgänge  gleicht  ihr  diejenige  DroUingers  §  147,  37  iind  die  E.  Schlegels  §  151, 
47.  Eine  ganz  sehnliche,  worin  jedoch  die  Schweifreime  den  gekreuzten  vorangehen,  gebrauchten 
J.  E.  Schlegel  5,  148  uö.  J.  A.  Gramer;  Crouegk  2,  198;  auch  G«the  in  der  Hüllenfahrt 
Christi:  Der  junge  GcEthe  1,  79.  107)  Wie  Canitz,  Besser,  Kfßnig,  B.  Mencke  gebrauchten 

es  allerdings  noch  Günther,  Brockes,  DroUinger.  Vgl.  die  Schrift  von  Welti  §  120.  83;  eine 
Samnüung  veranstaltete  F.  Rassmann  Sonette  der  Deutschen,  Braunschweig  1817,  III.  welcher 
auch    die    deutschen   Triolette    gesammelt    hat.  108)    Grit.    Dichtk.    (1730)    487    fgg. 

109)  Hageilorn  beschliesst  die  Fabel  'der  Berg  und  der  Poet'  mit  den  Worten:  'Allein  gebt 
Acht,  was  k(mimt  heraus?  Hier  ein  Sonett,  dort  eine  Maus'.  Oft  variiert  wird  ein  scherz- 
haftes Sonett,  in  welchem  so  lange  über  Schwierigkeiten  geklagt  wird  bis  das  Werk  unver- 
mutet fertig  ist:  nach  Voiture.  der  es  wieder  spanischen  Dichtern  abgesehn.  110)  Jon. 


322  NEIJHOCHDEIITSCITE  ZEIT.        XVIII  .IAH KU.  §  142 

Bürger  um  17.S!)  diese  Form,  und  gab  ihr  ebenfalls  besonders  Liebes- 
tändelei zum  Inhalt.'"  Ihm  schloss  sich,  ausser  A.  W.  Schlegel,  der  spteter 
das  Sonett  auf  das  feinsto  auszubilden  und  es  zur  lyrisch-didactisehen  Lieb- 
lingsform zu  erheben  suchte,  von  älteren  Dichtern  besonders  Joli.  Arnold 
Ebert  ""  an.  Freilich  dem  überschwäiiglichen  Preise  der  Romantiker  gegen- 
über verwarfen  viele  Angeho'rige  der  alten  Schule"^  das  Sonett;  aber  Go^the 
liess  sich  umstimmen  und  feierte  eines  seiner  sparten  Liebesvcrhältni.sse '" 
durch   Sonette. 

Wie  im  Scmett  die  ältere  Willkür  und  Nachlässigkeit  in  der  Nach- 
ahmung eines  südlichen  Vorbildes  einer  strengeren,  kunstgema^sseren  Behand- 
lung wich,  so  geschah  es  auch  mit  der  Stanze,  der  achtzeiligen,  dreireimigen 
Erza^hlungsstrophe.  Der  freieren  Nachbildung  Wiolands,"''  dem  spteter  aller- 
dings noch  Scliillcr""  sich  anschloss,  setzte  Heinse  seine  genau  in  elfsilbigen 
Zeilen  und  mit  dreimal  gekreuzten  Reimen  abgefassten  Offare  rinie  entgegen;  "^ 
und  dies  Beispiel  wirkte  auf  Goethe,  dessen  Zueignung'  ursprünglich  die  gauz 
in  dieser  Form  geplante  Erzsehlung  'Die  Geheimnisse'  eröffnen  sollte."" 

Der  freiere  Versbau  hatte  inzwischen  eine  angemessenere  Stelle  gefun- 
den in  den  Nachahmungen  des  strophischen,  gesungenen  Volksliedes, 
welches  in  Herder  einen  ebenso  feinsinnigen  als  begeisterten  Lobredner  fand. 
Diese  Würdigung  des  Volksliedes  ging  von  England  aus,  wo  der  Spectator 
das  alte  Lied  von  Chevy -Chase  auch  in  seiner  Form  als  Muster  hingestellt 
hatte:  diese  Strophe  von  vier  abwechselnd  viermal  und  dreimal  gehobenen 
Jamben  ahmte  Klopstock  1749  in  einem  ursprünglich  Friedrich  dem  Grossen 
geltenden  Liede,"^  dann  Gleim   in   den   Kriegsliederu   des   Grenadiers   nach, 

AVestermann,  geb.  1742  zu  Geismar,  gest.  zu  Bremen  1784:  'Die  allerneuesten  Sonuetten', 
Bremeu  1765 — 67,  die  meisten  in  Alexandrinern,  und  über  mythologische  Stoffe  aus  Ovid. 
Dann  D.  Schiebeier  (§  155,  74):  'Auserlesene  Gediclite"  hg.  von  Eschenburg  1773  S.  175. 
Ganz  besonders  aber  Klamer  Eberhard  Karl  Schmidt,  dessen  Sonette  im  T.  Mercur  1776, 
April  u.  Sept.  erschienen  (§  155,  51).  111)  Doch  vgl.  §  15S,  97.  112)   §   151,  36: 

seine  Sonette  erschienen  im  Musenalmanach  von  Voss  für  1794.  113)  Herder  Adrastea 

1803;  .1.  Paul,  Vorschule  der  Ästhetik  18U4:  Voss  im  Morgeublatt  1808,  vgl.  LB.  1023.  27 
fgg.;  .T.  Baggesen  'Der  Karfunkel-  oder  Klingklingelalmanach  auf  1810'.  Doch  dieser  Sonetteu- 
krieg  von  1803 — 1809  gehoert  mehr  der  folgenden  Zeit  an.  114)  Minna  Herzlieb  1807: 

§  160,  96.  Früher  fällt  u.  a.  das  schcene  Sonett  'Natur  und  Kunst'  in  dem  Vorspiel  'Was  wir 
bringen' 1802.  115)  Anm.  62.  116)  Anm.  63.  117)  Anhang  zu  Laidion  1774; 

allerdings  noch  mit  abwechselnd  stumpfen  und  klingenden  Schlüssen.  Gleichzeitig  wurde  in 
Übersetzungen  italienischer  Dichtungen  durch  Werthes  (T.  Mercur  1774  2,  293  fgg.)  die 
ursprüngliche  Form  völlig  beibehalten.  118)   LB.   1124.  §  160,  64.  119)  §  152,  42. 


§  143    SONETTE,  STANZEN.  VOLKSLIEDSTROPHEN.      323 

und  zahlreiche  Andere'-"  folgten.  Weitere  Strophenformen  des  englischen 
Volksliedes  wurden  durch  Percy's  Rcllques  1 764  bekannt  und  fanden  eben- 
falls Nachahmer  in  Deutschland;  Herders  Sammlung  der  ' Volkslieder'  1778 
vermehrte  noch  die  Zahl  der  Vorbilder. 

Die  Freiheiten  des  Volkshcdes,  welches  Senkungen  doppelt  setzte  oder 
auch  ganz  ausUess  und  ebenso  den  Auftact  behandelte,  abgekürzte  oder  sonst 
ungewcehnliche  Wortformen  gebrauchte,  wurden  gelegentlich  auch  in  das 
Lied*-'  der  Kunstdichter  übertragen  und  selbst  in  das  Drama  mit  volkstüm- 
licher Sprache  und  Versart.'"  Die  Kunstdichtung  dagegen  gestattet  sich 
gern  Tonversetzung,  welche  durch  schwebende  Betonung  wieder  ausge- 
glichen wird,  wenn  die  nsechste  darauf  folgende  Silbe  weder  inhaltlich  noch 
lautlich  gegen  das  leichte  Hervorheben  einer  an  sich  schwachen  Silbe 
widerstrebt.'-^ 

§  143. 

Unter  den  Dichtgattungen  galt  nach  den  Lehren  der  Renaissance'  die 
Epik  als  die  hoechste  und  Versuche  darin  mit  den  berühmtesten  Mustern 
des  Altertums  und  des  Auslandes  zu  wetteifern  erneuerten  sich  das  ganze 
achtzehnte  Jahrhundert  hindurch.  Dass  das  wahre  volkstümliche  Epos 
überall  unter  Verhältnissen  entstanden  war,  welche  der  Neuzeit  und  ihrer 
Kultur  durchaus  fern  lagen,  lernte  man  erst  gegen  Ende  dieses  Zeitraums 
einsehn.^  Von  den  verschiedenen  Wegen  das  Ideal  des  Epos,  wie  es  der 
Zeit  vorschwebte,  zu  verwirklichen  führte  am  weitesten  die  Verherrlichung 
der  heiligen  Geschichte,  das  religicese  Epos  nach  Miltons  Vorbild.^     Klop- 


120)  Weisse,  Gerstenberg,  beide  1762;  Lavater  1767:  Gessner  im  Lied  eines  Schweizers  an 
sein  bewaffnetes  Mädchen  war  schon  1756  vorangegangen:  §  150,  24.  78.  121)  So  singt 

Goethe  'Ich  hab"  mein'  Sach'  auf  nichts  gestellt";  Freiheiten  die  in  einem  ernsten  Gedicht  mit 
Sprechton  kaum  zu  finden  sein  dürften.  122)  Goethes  Faust  reimt  Gebetbuch  :  Geruch 

u.  a.  und  im  Zauberspruch:  Trauben  trsegtder  Weinstück,  Hörner  der  Ziegenbock.  Schiller  in 
Wallensteius  Lager  hat  zahlreiche  Doppelsenkungen.  123)  Vgl.  bei  Schiller:  das  fürchtbare 

Geschlecht  der  Nacht;  die  Feldflasche  noch  geh  ich  drein.     Eine  Ausnahme  ist  im  Prolog  zur 
Jungfrau  von  Orleans,  3  Auftritt:  'Sind  friedliche  Landleute'.  Vgl.  Assmus,  Die  äussere  Form 
neuhochdeutscher  Dichtkunst,  Leipzig  1882  S.  167;  Z.  f.  deutsche  Philol.  23,  367. 
§    143.      1)   Gottsched   Grit.  Dichtk.    1,    137.      Klopstocks  Abschiedsrede  von  Schulpforta 
§  152,  2.  2)  F.  A.  Wolf,  Prolegoviena  ad  Homerum,  1795.  Herder.  'Homer  ein  Günstling 

der  Zeit',  zuerst  in  den  Hören  1795.  Auf  die  andersgearteten  Bildungsverhältnisse  der  home- 
rischen Zeit  hatte  Blackwell  hingewiesen,  dessen  Untersuchung  über  das  Leben  und  die 
Schriften    Homers    von  Voss    übersetzt    worden    war,    Leipzig  1776.  3)   Gegen  dieses 

wie  gegen  die  biblische  Komcedie  wandte  Gottsched  ein  dass  dadurch  die  heilige  Geschichte 


:}24  NEUIIOCMIDEUTSCHE   ZEIT.         XVIII  JAIIKII.  §  143 

Stocks  Messias  gab  den  edelsten  Genuitcrn  eine  Zeit  lang  das  Gefühl  der 
hocchsten  Befriedigung.  So  selbständig  übrigens  der  junge  Dichter  den  Plan 
getasst  hatte,  so  war  ihm  doch  schon  Bodiner  mit  dem  (irundriss  eines  epi- 
schen Gedichtes  von  dem  geretteten  Xoah'  zuvor  gekommen;^  nach  dem  Er- 
scheinen des  Messias  schloss  sich  ßodmer  auch  in  der  Form  eng  an  dies 
Vorbild  an  und  führte  Wieland  zu  eben  solcher  Nachahmung.  Allein  diese 
und  andere,''  noch  mehr  misslungene  Versuche  trugen  nur  dazu  bei  das 
religicpse  Epos  in  Missachtung  zu  bringen,  welches  selbst  in  Klojtstocks  Hand 
den  ursprünglichen  Hotinungen  nicht  entsprochen  hatte  und  durch  Lavater 
vergeblich  mit  Hervorhebung  der  frommen  Absichten  über  die  poetischen 
erneuert  worden  war.'' 

Das  rein  historische  Epos,  wozu  jene  Zeit  das  Muster  in  Voltaires 
Henriade  sah,  hatte  gleich  Anfangs  Gottsched  im  Kampfe  gegen  Klopstock 
als  das  allein  berechtigte  hinzustellen  versucht  und  die  Machwerke  seines 
Schülers  Schoeuaich^  als  treffliche  Proben  dieser  Dichtart  gepriesen.  Auch 
J.  E.  Schlegel  begann  1742  ein  Heldengedicht  in  Alexandrinern  auf  Hein- 
rich den  Loewen.  Wieland  gab  1759  seinem  ebenfalls  unvollendeten  'Cyrus' 
Beziehungen  auf  Friedrich  den  Grossen;  Gh.  E.  v.  Kleist  legte  gleichzeitig 
in  Cissides  und  Faches'  die  heldenmütige  Begeisterung  des  prcussischen 
Heeres;  Friedrich  den  Grossen,  dann  Gustav  Adolf  gedachte  auch  Schiller 
um  1790  episch  zu  verherrlichen.  In  voller  Abwendung  von  der  Gegenwart 
und  von  der  vaterländischen  Geschichte  unternahm  es  dagegen  Goethe  die 
Ilias  durch  eine  'Achilleis"  fortzusetzen.  Und  doch  hatte  er  in  Hermann  und 
Dorothea"  einer  Idylle  auf  zeitgeschichtlichem  Grunde  wenigstens  den  Hinter- 
grund des  grossen  Epos  zu  verleihen  gewusst. 

Mehrere  der  genannten  Werke  und  noch  andere  bezeugten  schon  da- 
durch dass  sie  unvollendet  blieben,  die  Schwierigkeit,  welche  der  Nachahmung 
des  antiken  und  des  neueren,  religioesen  Epos  anhaftete.  Auch  eine  andere 
Art  des  neueren  Epos,  das  romantische  des  Ariost,  wurde  zwar  von  Wie- 
land und  seinen  Nachahmern'^  angebaut,  aber  nur  von  ihm  und  nur  im  Oberon 
zu  anerkannter  Trefflichkeit  gebracht. 


in    den  Verdacht    der    Fabeln    gebracht    werde:    Grit.    Beytr.   7.    582.  4)    §  149.  -.'T. 

fi)    §  148.  64.  b)    §  15.").     Doch  liess  noch  1810  (j.  A.  v.  Hale.m  ein  hexametrisches 

Gedicht  Jesus  der  Stifter  des  Gottesreiches'  zu  Hannover  erscheinen,  welches  im  Gegen- 
satz zu  Mystik  und  Wunderglauben  den  Gegenstand  durchaus  menschlich  und  historisch 
darstellte:  G.  .Jansen,"  Aus  vergangenen  Tagen,  Oldenburgs  litterarische  und  gesell- 
schaftliche Zustände,    1877.  8.  198,  7)    §   148,  GO.  til.  8)  §  153.    162.    lU.   41. 


§  143  EPOS.     FABEL.  325 

Noch  mehr  stellte  sich  dem  ernsten  Epos  das  komische  entgegen, 
welches  vielfach  geradezu  als  Parodie  auftrat.  Auch  hierfür  bot  das  Ausland 
Muster  in  Boileaus  Liiirin  und,  noch  beliebter,  und  überdies  der  Zeit  nach 
noch  naeher,  in  Pope's  Rai)e  of  ihe  lock.^  In  Deutschland  trat  im  Anschluss 
an  Pope  zuerst  Rost"'  hervor,  dessen  'Tänzerin'  1741  allerdings  in  Prosa 
abgefasst  war;^'  bald  folgten  Pyra  mit  dem  Bibliotartarus ''  und  Zacharia;, 
von  dessen  teils  in  Alexandrinern,  teils  in  Hexametern  abgefassten  komi- 
schen Epopoeen  der  Renommist'  1744  am  frischesten  sich  erhielt.  Zahlreiche 
Dichtwerke  dieser  Art,  von  denen  jedoch  viele  im  Entwürfe  oder  im  Anfange 
stecken  blieben,  lockte  der  Dichterkrieg  zwischen  Leipzig  und  Zürich  hervor.  '^ 
Wiederum  mehr  allgemeiner  Art,  auf  gewisse  Stände  bezüglich,  zeigt  sich 
die  Satire  in  der  Prosaerzaehlung 'Wilbelmine' von  Thümmel  1764.  Auch  den 
Gegenstand  der  alten  epischen  Musterdichtungen  verspotteten  Michaelis  und 
Blumauer,  welche  beide  die  Aeneis  travestierten.^*  Goethe  erneuerte  1794 
in  Reineke  Fuchs  das  alte  deutsche  Tierepos  und  seine  Satire  gegen  den 
gesammten  Weltlauf. 

Damit  schloss  zugleich  in  gewisser  Weise  die  Pflege  einer  kleineren 
Gattung  von  poetischen  Erzeehlungen,  die  Fabel.  Sie  war  eine  Lieblings- 
gattung des  achtzehnten  Jahrhunderts  bis  über  seine  Mitte  hinaus  gewesen: 
nur  dass  sie  vielfach  mit  der  kleinen  Erzsehlung  zusammen  geworfen 
wurde.'"'  Schon  die  Theorie  wandte  ihr  ein  vorzüghches  Augenmerk  zu: 
Breitinger  erklserte  sie  für  die  vollkommenste  Dichtart.  Die  Muster  des 
Auslandes,  unter  den  Franzosen  ^**  besonders  das  Lafontaines,  wirkten  mächtig 
ein.  So  leisteten  auf  diesem  Gebiete  namentlich^'  Hagedorn,  Geliert,  Licht- 
wer,  PfefFel  Yorzügliches.  Lessing  führte  auch  hier  Lehre  und  Leistung 
weiter:  seine  knappen  Prosafabeln,  1759,  schlössen  sich  nseher  an  Aesop  an, 
übertrafen   aber   an   geistreichem  Bezug    auf   die    gleichzeitigen  Verhältnisse, 

9)   Übersetzt  von   Frau    Gottsched.   Lpz.  1744.  10)   Bodmer  gibt  Rost   als  Verfasser 

an:  'Die  DroUingersche  Muse'  V.  201  fgg.  Ebenso  Kleist  1753:  bei  Sauer  2,  225:  dieser 
weist    in    der  Anmerkung    vielmehr    auf   Lamprecht    hin  (§  148,  73).  11)    Zu  Berlin 

erschienen:  wieder  abgedruckt  in  Ch.  H.  Schmid  Anthologie  der  Deutschen,  Frankf.  u. 
Lpz.  1770,  2.  12)  §  150,   11.  13)  §  148,  65.  66.  153,  8.  14)   §  155,  50. 

162,  44.  15)    Wolrad    Eigenbrodt,    Hagedorn    und    die    Erzshlung    in    Reimversen, 

Berlin  1884.  Von  der  ungeschickten  Behandlung  der  Fabel  in  älterer  Zeit  gibt  ein  Beispiel 
der  'Auszug  aus  Aesopi  Fabeln'  von  J.  F.  Riederer,  Coburg  1717.  worüber  Weichmann, 
Poesie  der  Xiedersachsen  3,  12  fgg.    Xaeheres   mitteilt.  16)    Eine  Übersicht  der  fran- 

zoesischen  Fabeldichter,  soweit  sie  für  Pfeff'el  in  Betracht  kommen,  bietet  PoU,  Strassb. 
Stud.    3.  17)    Eigentümlich    sind    die    wenigen    Fabeln    Hallers :    meist    Prosaerzsh- 


320  NEUHOCIIDEUTSCIIK   /KIT.         XVJIJ  JAJIKll.  §  143 

besonders  die  litterarisclion,  iillo  Mifl)cwerber. "*  Wie  Lcsslug  gern  ältere 
Fabeln  unidirhtete,  so  erweiterte  Herder  die  antiken  Mytlien  in  seinen  Para- 
niytliien,  einer  Abart  der  Parabeln.'''  Ebenso  erneuerte  Herder  die  Jje- 
gendendichtung,    worin  ihm  Kosegarten  und  Andere  folgten. 

Feiertc  Parabel  und  Legende  die  erhabene  Schopnheit  der  Religion,  so 
fand,  mit  noch  weit  reicherer  Entfaltung,  die  Unschuld  der  ursprünglichen 
Natur  ihre  Darstellung  in  der  Idylle.  Noch  Gottsched  fasstc  sie  wie  die 
Dichter  des  siebzehnten  Jahrhunderts  als  Schafergcdicht,*®  und  seine  Zeit- 
genossen, wie  Kost,  glaubten  auch  schlüjifrige  Scenen  mit  diesem  Namen  be- 
schocnigen  zu  dürfen.  Eine  ganz  iileale  Schaferwelt  schilderte  Kleist  in 
Versen,  öal.  Gessner  in  einer  gehobenen  Prosa:  diesem  eiferte  namentlich 
8eb.  Bronner  mit  Fischeridyllcn  nach.  Von  den  griechischen  Scenen,  bei 
welchen  er  die  Faunen  Arkadiens  besonders  im  Auge  gehabt  hatte,  ging 
Maler  Müller  zur  derben  deutschon,  pfälzischen  Natur  über.  Poetische  Form 
und  das  griechische  Muster  Theocrits,  aber  nach  seiner  niederdeutschen  Hei- 
mat übertragen,  brachte  Joh.  Heinrich  Voss  wieder  zur  Geltung:  und  nicht 
bloss  die  Bauern,  auch  die  Landgeistlicheu  wusste  er  idyllisch  darzustellen. 
Führte  er  für  ersterc,  nach  Theocrits  Beispiel,  die  Mundart  in  die  Litteratur' 
ein,  so  fand  dieser  Vorgang  in  Hebel  eine  noch  glücklichere  Fortsetzung. 

Für  Fabel  und  Idylle  hatte  die  Kunstdichtung  von  jeher  kleinere  Ge- 
dichte bevorzugt;  allma^hlich  lernte  man  aus  der  Volkspoesie  auch  das  erza^h- 
lende  Lied  ernsten,  rührenden  Inhaltes  kennen^'  und  begann  es  nachzubilden. 
Zunächst  regte  sich  noch  der  hochmütige  Spott  der  Gebildeten,  und  die 
liomanze,  wie  sie  nach  dem  Franzccsischen  des  Moncrif  zuerst  von  Gleim 
1756  wiedergegeben  wurde,  sollte  anfänglich  nur  Parodie  der  Bänkelsänger- 
gedichte sein,  wozu  sowohl  Liebesgeschichten  der  Gegenwart  als  antike  oder 

liing.    dann    die    Moral    in  Versen:    Hirzels    Ausg.  8.   1<^8.  18)    §  lö4,    22,   wo   anch 

Bodmers  Streitschrift  gegen  Lessing  angeführt  ist.  Einen  neuen  Reiz  suchte  Wiihuuov 
der    Fabel    durch    dialogische   Einkleidung  zu  geben  :    §  15.5.  38.  19)    §  157,  40.  41. 

20)  Gottscheds  Empfehlung  des  Natürlichen  verspottete  J.  Ad.  Schlegel  §  151,  77:  sjia;ter 
besprach  er  die  ganze  Gattung  recht  unklar  in  seinem  Batteux,  Einschränkung.  3.  Aufl. 
Lpz.  1770  11  345  'Von  dem  eigentlichen  Gegenstande  der  Schaiferpoesie':  er  unterscheidet 
davon  die  Landgedichte  d.  h.  solche,  die  das  Landleben  schildern.  Dass  die  bisherige  Vor- 
stellung nach  1770  zu  veralten  begann,  zeigen  die  'Idyllen  der  Deutschen',  Frankf.  u.  Leipzig 
1774.  75,  worin  es  heisst  dass  die  eigentliche  Zeit  dieser  Dichtung  vorüber  sei.  Vgl.  über 
die  ganze  Gattung  und  ihre  Geschichte  0.  Netoliczka,  Schieferdichtung  und  Poetik  im  18.  Jh. 
Vierteljschr.  iL  1—89.  21)  Hagedorn  im  Vorbericht  zu  den  Oden  und  Liedern  1747 

gedenkt  neben  den  lappischen,  kosakischeu,   skandinavischen,   amerikanischen  Liedern  auch 


I 


§  143  IDYLLE.    ROMANZE.     BARDENDICHTUNG.  327 

deutsche  Sage  den  Stoff  geben  mussten.-"  Erst  Percy's^''  Reli/iues  of  ancient 
Enfilish  poeiry,  1765,  gaben  eine  Avürdigere  Vorstellung  von  der  Balladen- 
poes ie,^^  welche  namentlich  Herder  ausführte  und  verbreitete.""  Bürger, 
welcher  früher  und  spaeter  der  älteren  Auffassung  sich  anschloss,  gab  doch 
durch  seine  Lenore'  177-4  das  erste  und  wirkungsvollste  Muster  einer  dich- 
terischen Erzffihluno^  im  Volkston  und  mit  volkstümlichem  Inhalt. -^^  Von 
den  zahlreichen  Nachahmungen,-^^  mit  denen  sich  freilich  allerdings  wieder 
komische  Versuche  mischten,-'*  hoben  sich  die  von  Goethe  und  Schiller  wett- 
eifernd im  Balladenjahre  1797  gedichteten  glänzend  ab:  sie  zogen  auch  die 
Sagen  des  classischen  Altertums  in  den  Bereich  der  Romanzendichtung  und 
fanden  in  Schillers  Behandlung  Gelegenheit  zu  edlen  Lehren.  In  der  Weise 
des  alten  Epos  zum  Cyclus  vereinigt  erschienen  die  Romanzen  vom  Cid  in 
Herders  Bearbeitung  1803. 

Noch  mehr  lyrischen  Charakter  tragen  die  unmittelbar  an  Zeitereig- 
nisse sich  anschliessenden  Lieder,  welche  Gleim  ebenfalls  einführte :  in  ihnen 
erscheinen  die  älteren  geschichtlichen  Volkslieder  kunstmajssig  nachgebildet. 
Gleims  Kriegslieder  eines  preussischen  Grenadiers  1759  regten  vielfach  zur 
Nachahmung  an.^'-'  Mehrere  dieser  Nachahmer  kleideten  ihre  Helden  in 
Tracht  und  Sitte  der  germanischen  und  besonders  der  nordischen  Vorwelt 
mit  mancherlei  ertrseumten  Zügen:  dazu  gab  Gerstenbergs  Gedicht  eines 
Skalden  1766  den  Anstoss,  Klopstock  folgte  und  rasch  erhob  sich,  rasch 
verstummte  aber  auch  wieder  die  'Bardendichtung',  welche  durch 
Macphersons  Ossian  1765  noch  eine  besonders  düstere  Färbung  erhalten 
hatte.  ^« 


der  spanischen  Romanzen  und  englischen  Balladen.  22)  Gleim  §  150.    Zacharite  §  151. 

34.  Schiebeier  §  1.55.  74.  Raspe  §  158.  24.  Hölty  §  1.58,  66.  Auch  in  Weisses  Singspielen 
'Der  lustige  Schuster'  ua.  ist  Romanze  eine  gesungene  Gespenstergeschichte.  J.  F.  Lcewen. 
dessen  Romanzen  1762  erschienen,  wird  von  Grüner  in  Thümmels  Leben  S.  23  der  erste 
glückliche  Romanzendichter  genannt.  Vgl.  P.  Holzhausen,  Die  Ballade  und  Romanze  bis 
zu  ihrer  Ausbildung  dun-h  Bürger:  Zs.  f.  deutsche  Philol.  1.5,  120  fgg.  297  fgg.  2'6)  Seine 

Sammlung  ist  aus  der  Handschrift  herausgegeben  worden :  ' Bishop  Percy's  Folio  Munu- 
script  ed.  hy  Haies  and  FumicaU,  London  1868.  24)   Der  Unterschied  der   Ballade 

und  der  Romanze  ist  ein  schwankender:  erstere  ahmt  mehr  das  nordische  Volkslied  nach, 
hat  düsteren  Inhalt,  liebt  Freiheiten  in  Versmass  und  Reim;  die  Romanze  hält  sich  an  die 
spanische    Dichtung,    verherrlicht    besonders    den    Ritterdienst.  25)    §    157.    33.    34. 

26)  !;.  1.58,  26  fgg.  27)  Von  den  Brüdern  Stolberg,  Jung-Stilling.   Maler  Müller  u.  a. 

28)  Namentlich    wurden    die    Gedichte    dieser  Art    von   Langbein    beliebt:    §   162,    47    fg. 

29)  §  150,  24.  30)  155,  13.  10—35.    Eug.  Ehrmann,  Die  bardische  Lyrik  im  18.  Jahr^ 


328  I^EüllOCllDEUTSCliE  ZEIT.        XYlIl  JAllKlI.  §  143 

Loestc  sich  in  der  Uoman/.e  imil  Ballade  die  orza^blende  Dichtung  in 
kleine  lyrische  Gedichte  auf,  so  warf  auf  der  anderen  Seite  die  kunstvolle 
ErzH'hluni,'  auch  erfundener  Geschichten  von  groesserer  Ausdehnung  das  Ge- 
wand der  Verse  ab:  an  die  Stelle  des  Epos  trat  der  Roman.  Die  umfäng- 
lichen, aber  formlosen  Schriften  dieser  Art  aus  dem  17.  Jahrhundert  wurden 
noch  lange  gelesen.".  Die  Kunstgattung  des  Romans,  welche  auf  psycholo- 
gische Wahrheit  und  auf  dramatische  Spannung  ausgeht,  entwickelte  sich  aus 
der  Sittenschilderung  der  moralischen  Wochenschriften.  Aber  Deutschland 
übernahm  gleich  das  Ergebnis  dieser  in  England  vollzogenen  Umgestaltung. 
Richardsons  Romane  wurden  von  Geliert,  Hermes  u.  a.  nachgeahmt.  Wie 
in  England  dem  sentimentalen  Roman  der  frivole,  dann  der  humoristische 
entgegen  trat ,  so  übernahm  es  Wieland  in  Deutschland  die  Schwärmerei  zu 
enttäuschen:  nur  dass  Fielding,  Smollct,  Sterne  englische  Zustände  und 
Sitten  geschildert  hatten,  wtelirend  Wicland  seine  Helden  im  griechischen 
Altertum  oder  sonst  auf  südlichem  Schauplatze  ihre  Schicksale  erleben 
Hess. '2  Rousseaus  Roman  'La  nouvelle  HrloUe'  1761  gab  neue  Anregung:"' 
ihr  entsprang  Goethes  Werther,  der  erste  deutsche  Roman,  welcher  der 
Wcitlitteratur  angehcert.  Heinse  brachte  die  Kunst  als  glücklich  gewaehlten 
Stoff  in  den  Roman ;  aber  w«?hrcnd  er  diese  Verbindung  nur  a?usserlich  her- 
stellte ,  wusste  Goethe  in  Wilhelm  Meister  die  innerste  Entwickelung  des 
Künstlers  mit  seinen  Lebcnsschicksalen  zu  verflechten.  Endlich  suchte  der 
deutsche  humoristische  Roman,  wie  Hippel  und  vor  allen  Jean  Paul  ihn  aus- 
bildeten ,  den  tiefsten  Ernst  und  das  weichste  Gefühl  mit  ausgelassenem 
Scherze  zu  verbinden.  Daneben  ward  das  erwachte  Lesebedürfnis  der  grossen 
Menge  durch  die  Ritter-  und  Ra?uberromane ,  die  sich  an  Dramen  Goethes 
und  Schillers  anhängten,  immer  von  neuem  gereizt  und  befriedigt. 


hundert.  Halle  1892.  31)  Über  diese  s.  §  134.  Hercules  von  Buchholz  ist  das  Lieblings- 

huch  der  schoenen  Seele  im  W.  Meister  d.  h.  des  Frl.  von  Klettcnberg  (§  160,  17).  Jung- 
Stilling  las  um  1760  die  asiatische  Banise,  Hercules  u.  a.:  s.  Lebensgeschichte  S.  176  fgg.: 
Kosegarten  um  177»!  ebenfalls  die  asiatische  Banise:  Franck  S.  21:  Matthisson  die  Octavia 
des  He?zogs  Anton  Ulrich  von  ßraunschweig:  Erinnerungen.  Wiener  Ausgabe  1815,  4,  213. 
Zahlreich  waren  auch  die  üppigen  Abeuteurergeschichten,  welche  den  Vorteil  allerdings  vor 
den  spseteren  Romanen  voraus  hatten  dass  der  Leser  den  Ausgang  in  keiner  Weise  vor- 
anssehn  konnte:  so  K.  v.  H.,  'Der  im  Irrgarten  der  Liebe  herumtaumelnde  Cavalier', 
Warnnngsstadt    1746    u.    a.  32)    An    Wieland,    dessen  Agathon  Lessing   gelobt    hatte 

(,§  151.  22\  knüpfte  von  Blankenburg  an.  Versuch  über  den  Roman',  (ohne  den  Namen  des 
Verf.)  Leipzig  und  Liegnitz  1774:  Entwickelung  der  Charactere  war  seir.e  Hauptforderung. 
33)  Erich  .Schmidt,  Richardson,  Rousseau  und  Goethe,  Jena  1875. 


§  144  ROMAK.     LYRIK.  329 

§  144. 

Mehr  als  der  epischen  Dichtung  war  es  der  Lyrik  unserer  Dichter  im 
achtzehnten  Jahrhundert  gegeben,  das  Ilcechste  zu  leisten:  die  Wahrheit  und 
AVärme  des  Gefühls,  die  Gedankentiefe,  welche  vor  allen  Goethe  und  Schiller 
in  ihre  lyrischen  Gedichte  gelegt  haben,  sichert  diesen  für  alle  Zeiten  den 
Ruhm  der  deutschen  Yolksseele  den  treusten  Ausdruck  zu  verleihn.  Eben 
jene  Subjectivitaet  des  Urteilens  und  Empfindens,  jene  Abgeschlossenheit  des 
Privatlebens,  welche  der  ganzen  Zeit  eigen  sind,  musstc  den  Boden  für  eine  solche 
Dichtart  besonders  günstig  zubereiten.  Freilich  dauerte  es  lange  bis  die 
vielfach  hohle  und  rein  auf  Richtigkeit  und  Zierlichkeit  der  Form  gerichtete 
Lyrik  des  vorhergehenden  Jahrhunderts  und  besonders  seiner  letzten  Jahr- 
zehnte sich  so  glücklich  umgestaltete.  Erst  gegen  die  Mitte  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  überwand  das  wahrhafte  und  nun  oft  überschwänghche  Gefühl 
die  kalte,  auf  äussere  Zwecke  bedachte  Fest-  und  Gelegenheitspoesie,  die  so 
oft  auf  Bestellung,  'in  fremdem  Namen'  geübt  worden  war  und  gerade  deshalb 
auf  Nachsicht  Anspruch  zu  haben  glaubte.^  Nur  zu  lange  erhielt  sich  auch 
der  Gebrauch  erträumte  Yerhältnisse ,  etwa  der  Liebe, -^  zu  besingen;  und 
üppige  Schilderungen  sollten  dann  als  reine  Spiele  der  Phantasie  entschuldigt 
sein.  Und  ein  guter  Teil  von  dem  lyrischen  Reichtum  dieser  Zeit  fällt 
den  Nachahmungen  zu,  welche  die  einem  Dichter  gelungenen  Gedanken  und 
Wendungen  vervielfältigten  und  eben  hierdurch  verblassen  und  sich  abschwä- 
chen Hessen.  Dazu  kamen  die  mannigfaltigen  Einflüsse  des  Auslandes  und 
des  Altertumes,  in  Folge  deren  die  Lyrik  dieser  Zeit  zwar  ein  überaus 
reiches,  aber  auch  buntes  und  verwirrendes  Bild  darbietet. 

Ein  Hauptunterschied  ward  allerdings  dadurch  hervorgerufen  dass  ein 
Teil  der  lyrischen  Gedichte  für  den  Gesang  bestimmt  war  oder  doch 
dafür  bestimmt  zu  sein  vorgab.  Dies  gilt  ganz  besonders  von  der  geistlichen 
Lyrik,  welche  sich  meist  in  den  Formen  des  alten  Kirchenliedes  fort- 
bildete und  eine  durch  seusseren  L'mfang  noch  immer  ansehnliche  Pflege  fand,^ 

§  144.  1)  Bei  Herders  Tod  sprach  Goethe  den  Wunsch  aus  dass  die  Trauerdichtung, 
mit  welcher  man  Klopstock  noch  gefeiert  habe,  stumm  bleiben  möchte:  Groethejahrbuch  7,  298. 

2)  Noch  Lessing  spricht  so  von  seinen  Liebesliedern  seinem  Vater  gegenüber:  IJanzel 
Lessing  1,  121.  Ähnliches  bei  (xleini  und  Jacobi.  Ch.  Fei.  Weisse  richtet  1778  'an  die 
Muse'  die  Worte:  'Verzeih,  wenn  ich  zu  schwach  gespielet!  Die  Lie])e  fordert  unser  Herz: 
Das  Wenigste  hab'  ich  gefühlet!  Das  Meiste  sang  ich  bloss  aus  Scherz  .  .  Ich  sang  vom 
süssen    Saft    der    Reben    und    Wasser    trank   ich    oft    dazu'.      Lindner    (Anm.    13)    S.    90. 

3)  Aug.    Jac.    Rambach,    Anthologie    christlicher   tjesänge,   Bd.    4—6,  Altona    und    Leipzig 


330  NEUIIUCJIUEUTÖCJIE  ZEIT.         XYJII  .lAlllill.  §  144 

ja  sich  über  die  Griinzon  der  prütestantischcu  I^ekcnntiiissc  mich  in  die  katho- 
lische Kircho  der  Aufkla3rungszcit  verpflaiute.*  Innerhalb  der  evangelischen 
Kirohenliederdichtung  trat  bald  nach  der  Mitte  des  Jahrhunderts  dem  bis- 
herigen, entweder  dürr  dogmatischen  oder  überschwänglich  pietistischen-*  Grund- 
zuge gegenüber  eine  Umwandlung  ein,  welche  durch  die  Teilnahme  der 
angesehensten  Lyriker  veranlasst  war:  Geliert  und  Klopstock  gaben  auch  dem 
Kirchenlied  das  Gepränge  des  Jahrhunderts.  Jener  verband  mit  Innigkeit 
und  Einfachheit  einen  klaren,  fliessenden  Ausdruck;  dieser  übertrug  auch  in 
die  geistliche  Dichtung  seine  Begeisterung,  IVeilich  auch  seine  ungewoühnlichc 
und  für  die  meisten  Kirchenbesuchcr  unverständliche  Redeweise.  Selbst  durch 
Einführung  eines  Wechsels  zwischen  Chor  und  Gemeinde  suchte  Klopstock 
diesen  Teil  des  Gottesdienstes  zu  beleben  uud  zu  erhoeheu.  Für  die  Folge- 
zeit ward  freilich  Gellerts  Richtung,  die  so  ganz  den  aufgeklicrten  Bürger- 
stand ansprach,  die  massgebende:  unter  den  Liederdichtern  des  Rationalismus 
vertrat  August  Hermaxk  Niemkyer"  am  würdigsten  diese  Richtung,  wäh- 
rend sie  sonst  vielfach  in  das  Platte  und  Gemeinnützliche  ausartete.^  Be- 
zeichnend und  bedauerlich  ist  es  namentlich  dass  in  dieser  Zeit  die  Abände- 
rung älterer  Lieder  aus  Gründen  nicht  nur  der  Sprache  uud  Verskunst, 
sondern  selbst  des  dogmatischen  Lihalts  beliebt  wurde:  Klopstock*' gab  selbst 

1822— .3.3.  Ed.  Emil  Koch,  fTeschichte  des  Kirchenliedes  und  Kirchengesanges  der  christlichen, 
insbesondere  der  deutschen  evangelischen  Kirche,  3.  Aufl.  Bd.  4 — 6,  Stuttgart  1868 — 69. 
4)  Koch  4,  196.  5,  187.  6,  541.  Sr-hon  1773  erschienen  von  dem  Exjesuiten  F.  X.  Riedel 
(1737 — 75):  'Lieder  der  Kirche  aus  den  roemischen  Tagzeiten  uud  Messbuch  übersetzt';  1777 
zu  Landshut  von  Joh.  Franz  Seraphim  von  Kohlbrenner  Der  geistliche  Gesang  zum 
Gottesdienst  in  der  roemisch-katholischen  Kirche'.  Vgl.  auch  Ernst  X.  Turin,  Sammlung 
geistlicher  Lieder;  Mainz  1778.  Denis  dichtete  1779  fgg.  deutsche  Gedichte  für  den  Kirchen- 
gesang: Hofmann-AVellenhof  S.  55:  ebenso  Ignaz  Feller  zu  Freiburg  i.  B.  Hier  vert'asste 
G.  Jacobi  Lieder  auf  katholische  Feiertage.  Etwas  sp;eter  fallen  die  geistlichen  Lieder  von 
Ignaz  Heinhich  vox  Wes.senberg,  geb.  1774  zu  Dresden,  Verwalter  des  Bistums  Constanz, 
spseter  bis  1827   des  Erzbistums  Freiburg,    gest.    1860  zu   Constanz.  5)   Vgl.  §  128. 

Unter  den  pietistischen  Dichtern  ist  noch  besonders  Carl  Heinrich  von  Bugatzky 
(1690 — 1774)  hervorzuheben.  Den  pietistischcn  Zug  vertraten  die  sog.  Ccethener  Lieder, 
welche  erst  stückweise  gedruckt,  seit  1736  gesammelt  erschienen:  Koch  4,  433.  Gegen  ihre 
arienhaften  weichlichen  Melodien  mit  ihrem  tänzelnden  Trippeltact  eifert  Herder,  Briefe  über 
das  Studium  der  Theologie  1780.     Koch  .5,  383.  6)  Geb.  1754  zu  Halle,  starb  Niemeyer 

ebenda  1828  als  Director  der  Waisenliausanstalten,  Professor  und  Kanzler  der  Universitaet. 
Seine  'Auswahl  einiger  vorzüglichen  neueren  geistlichen  Lieder  zum  Privatgebrauch'  erschien 
1782,  sein  'Gesangbuch  für  hcphere  Schulen  und  Erziehungsanstalten'  1785.  7)  Eambach 

6,  IV  führt  Lieder  an  über  die  Schutzblattern,  über  Schonung  der  Ba-ume,  Gespenster- 
furcht u.  ä.  8)  Im  Anhang  zu  seinen  geistlichen  Liedern  17.58.    So  fasste  J.  A.  Gramer 


§  144  KIRCHENLIED.  331 

das  Beispiel,  am  schlimmsten  ging  Basedow^  vor;  Herder'"  trat  zuerst  wieder 
öffentlicii  für  das  Reclit  der  alten  Dichtung  ein. 

Geliert  und  Klopstock  dichteten  vielfach  auf  ältere  Choralmelodien; 
aber  es  fehlte  auch  damals  durchaus  nicht  an  neuen  Compositionen  insbeson- 
dere für  die  geistlichen  Dichtwerke  groesseren  Umfanges  und  von  wechselnder 
Strophenform,  für  die  Cantate  und  das  Oratorium.  Wirkten  doch  (ieorg 
Heinrich  ][ändel  (1685  —  1759),  Joh.  Sebastian  Bach  (1085  —  1750),  Carl 
Heinrich  Graun  (1701  —  1759),  Joh.  Adam  lliller  (1728  —  1804)  in  diesem 
Jahrhundert,  das  freilich,  wie  die  angefülu-ten  Namen  zeigen,  einen  Über- 
gang der  Musik  vom  Grossen  und  Strengen  bis  zum  Gefälligen  und  Leichten" 
sich  vollziehen  sah.  Und  so  bildeten  auch  die  Dichter  gerade  diese  mehr 
dramatischen  Gattungen  der  geistlichen  Lyrik  jetzt  aus:  Brockes,  Ramler, 
Herder  sind  auf  diesem  Felde  neben  geringeren  Namen  '^  zu  nennen. 

Auch  die  weltliche  Liederdichtung  ward  mehr  und  mehr  wneder  der 
Verbindung  mit  der  Musik  zugeführt,  freilich  anfänglich  auf  einö  so  künstliche 
Weise,  dass  nur  ausgebildete  Sänger  ihr  genügen  konnten.'-'  Leipzig  und 
Hamburg  gingen  voran:  dort  wurden  u.  a.  Günthers'^  und  Gottscheds,'^  hier 
Hagedorns'"  Lieder  componiert.     Berlin  folgte,  wo  Ramler '^  auch  für  solche 


z.  B.  deu  Anfang  des  Lutberliedes  nun  iu  folgende  Form:  'Ein  starker  Schutz  ist  unser 
Gott!  Auf  ihn  steht  unser  Hoffen'  Koch  Kircheul.  6,  217  fgg.  9)  Uuiversalgesangbuch  zur 

geselligen  und  unaüst<jBssigen  Erbauung  auch  für  solche  Christen,  welche  verschiedenen  Glaubens 
sind,  Berlin  und  Altona  1767.  10)  Vorrede  zur  1.  Ausgabe  des  Weimariscbeu  Gesaugbuchs 

1778:  Koch  6,  255.  Schon  1767  hatte  Kästner  in  einem  Briefe  an  Weisse  (Kästners  Werke 
4,  74)  sich  gegen  diese  Abänderungen  ausgesproclien.  Falk,  Neueste  Sammlung  kleiner  Satiren, 
Berlin  1804  S.  243,  bringt  'verbaUliornen'  in  Verbindung  mit  dem  Namen  des  Geueralsuper- 
iuteudenten  Ballhorn,  welcher  die  alten  Gesangbücher  verbessert,  die  neuen  eincfefülirt  und 
den  Arm  der  weltlichen  Regierung  dazu  in  Anspruch  genommen  habe.  In  der  That  ent- 
standen Unruhen  über  die  neuen  Gesangbücher  in  Berlin  1780,  iu  Würtemberg  1791 :  Koch 
6,  243.     252.  11)  Bezeichnend  ist  dass  Hermes  die  in    seinen  lloman  'Sophiens  Reise' 

(§  155,  90)  eingeschalteten  geistlichen  Lieder  z.  Th.  auf  Operettenarien  Hillers  dichtete. 
1'2)  Munter  in  Gotha  1761,  Patzke  in  Magdeburg  1766,  Niemeyer  in  Halle  1777:  Koch 
Kirchenl.  6,  296.     ;3.52.     371.  13)  Ernst  Otto  Lindner,  Gesch.  d.  deutschen  Liedes  im 

18.  .Jahrhundert,  hg.  v.  L.  Erk,  Leipzig   1871.  14)  Sperontes  Singende   Muse    an    der 

Pleisse  1736.  15)  Sammlung  versidiiedener  und  auserlesener  Oden,  I— IV.  Halle  1737 — 43 

(comp,  von  .1.  F.  Graife).  16)  Sammlung  Neuer  Oden  und  Lieder,  Hamburg  1742,  II 

(comp,  von  Görner).  Auch  der  Refrain,  den  Hagedorn  in  seinen  Liedern,  meist  zu  scherz- 
hafter Wirkung,  verwendet,  ist  ursprüuglicli  durch  die  Rücksicht  auf  den  Gesang  bedingt. 
17)  Oden  mit  Melodien,  Berlin  1753.  .55,  IL  Besonders  siml  es  Gedichte  von  Gleim 
und   Lessiug,    welche   (iraun,    Ouanz,    Ph.  E.  Bach  u.  a.  componieit    haben.     1756    folgten 


332  NEUIIOCIIDKIJTSCJIE  ZEIT.         XVIII  JAIllMI.  §  144 

Pflefi^o  (los  Kunstgosnngs  sorgte.  Klopstocks  Odcnsclivviing  regte  Glucks  Com 
position  an."*  Aber  gegen  1770  waiulte  sich  wie  die  Diclitung  so  auch  die 
Tonsetzuiig  dem  Vorijild  des  VoIksHedes  /u,  und  nun  erat  entstanden  Ijieder 
für  den  geselligen  (Jesang,  welche  eine  luBhere  Kenntnis  der  Musik  und 
Begleitung  des  Klaviers  nicht  voraus  setzt<Mi. ''  Die  komische  Oper  oder  viel- 
mehr das  Singspiel  trugen  gewaltig  zur  Verbreitung  dieses  geselligen  Ge- 
sanges bei.'-"  Wie  engherzig  und  beschränkt  indessen  auch  noch  zu  Ende 
des  Jahrhunderts  der  ({esohmack  des  Mittelstandes  diese  Lieder  aufnahm, 
zeijrt  namentlich  das  Mildheimische  Liederbuch.-'  Schiller  suchte  daher  auch 
für  die  Freimaurerlieder  dem  IMattcMi  der  gewöhnlichen  Gesänge  gegenüber 
einen  hoeheren  Schwung  durch  Beziehungen  auf  antike  Sagen  zu  gewinnen. 
AVeit  umfänglicher  ist  jedoch  die  Lyrik,  welche  ohne  Rücksicht  auf 
den  Gesang  entstand.  War  doch  das  Lehrgedicht,  das  durch  seinen  sub- 
jectiven  Inhalt  ebenfalls  hierher  gebeert,  noch  für  die  erste  Hälfte  des  Jahr- 
hunderts eine  durchaus  angesehene  Gattung,  bis  Lessing--  zeigte  dass  dabei 
sowohl  der  philosophische  Gegenstand  als  die  poetische  Form  zu  kurz  ksemen. 
Für  die  ältere  Zeit  ist  indessen  zu  bedenken  dass  die  poefische  Form  für 
Betrachtungen  und  Auseinandersetzungen  über  festhetische  Gegenstände  durch 
den  Gebrauch  der  Classiker  bei  den  Roemern  und  Franzosen  durchaus  ge- 
rechtfertigt  erschien.  Nicht  minder  unpoetisch  war  die  dcu  Engländern  vor- 
zugsweise nachgeahmte  ausführliche  Naturbeschreibung,  wie  man  ebenfalls  von 
Lessing-*  lernte;  und  doch  kehrte  sie  in  kürzeren  Formen  und  mit  llervor- 
hebunrr  der  Gefühle  des  Betrachtenden  in  der  Landschaftsdichtung  von 
Voss,  Mathisson  u.  a.  wieder.     Doch  selbst  Lessing  zahlte  der  Zeit  und  seiner 


'Berlinische  Oden  und  Lieder',  zu  Leipzig,  comp,  von   F.   \V.  Marpurg.  18)   Kine  Com- 

pusitiou  der  Frühen  Gntber'  erschien  im  Musenalmanach  1775  (s.  Schmid  (iluck  S.  '2iiH). 
'Oden    von    Klopstock    mit    Melodien'   (von    Neefe)   erschienen    Lpz.    1770.  19)  Ausser 

Neefe  nennt  Liuduer  S.  122  noch  Joh.  Andre  aus  Offeubach,  geb.  1741,  den  Freund 
(xii'thes;  .].  A.  P.  Schulz  aus  Lüneburg,  geb.  1747,  der  mit  Voss  befreundet  war:  F.  F. 
Reinhardt  aus  Koenigsberg,  geb.  1751,  der  auch  als  .Schrittsteller  sich  bethietigte.  Mozart 
hat  ebenfalls  manches  Lied  dieser  Zeit  componiert  und  (xcethes  'Veilchen'  ward  nach  seiner 
Melodie  in  den  Lustspielen  zu  Ende  des  Jahrhunderts    viel   gesungen.  20)  §  155,    73. 

Vgl.  Hott'mann  von  Fallersleben.  Unsere  volkstümlichen  Lieder,  o.  Autl.  Leipzig  1869. 
H.  R.  Fcrber.  'Die  Gesellschafts-  und  Volkslieder  in  Hamburg  an  der  Wende  des  vorigen 
.Jahrhunderts'  in  K.  Koppmann,  Aus  Hamburgs  Vergangenheit.  Hamburg  und  Leipzig 
1885,  S.  27—75.  21)  .\uHagen  bis  1837.     Gesammelt    von    Rud.    Zach.    Becker,  geb. 

zu    Erfurt    1759,    gest.    zu    <intha    1822.  22)    In    der    mit    Mendelssohn    gemeinsam 

verfassten    Schrift    'Pope    ein    Metaphysiker  ?'    1751:    i?    154.    iS.  2.3)    Im    Laocoon. 


§  144         GESELLIGES  LIED.     LEHRGEDICHT.     EPISTEL.  333 

Geistesart  den  Zoll  insofern  als  er  das  kurze  Lied  mit  besonderer  Vorliebe 
in  epigrammatische  Spitzen  auslaufen  Hess,  wozu  allerdings  die  franz<je- 
sische  CJuüison  ihn  wie  Andere,  wie  schon  Hagedorn ■''*  verleiten  konnte. 
Erst  Herder  wies  darauf  hin'-'"  dass  der  Hauptvorzug  des  Liedes  nicht  in 
Glanz  und  Politur  bestehe,  dass  sein  Wesen  nicht  Gemälde,  sondern  (Jesang 
sei  und  somit  die  Weise,  der  melodische  Gang  der  Leidenschaft  oder  Em- 
pfindung seine  Yollkommenheit  ausmache. 

Die  einzelnen  Gattungen  der  Lyrik  wurden  mit  Vorliebe  nach  dem 
Schema  der  antiken  Poetik  benannt,  wovon  nur  die  neu  aufgekommenen 
ausgeschlossen  waren,  wie  die  llonianze  oder  Ballade,  und,  schon  früher  be- 
kannt, die  Cautate  weltlichen  Inhalts,  die  auch  als  Serenate  bezeichnet  wurde. 
Selbst  das  sangbare  Lied  erhielt  anfänglich  vielfach  den  Namen  der  Ode;-'' 
doch  beschränkte  man  seit  der  Nachahmung  der  antiken  Formen  die  Be- 
zeichnung als  Ode  auf  die  in  diesen  Formen  verfassten  Gedichte.  Für  diese 
Art  von  Oden  galt  meist,  und  auch  bei  Klopstock  in  seiner  früheren  Zeit,"^ 
Horaz  als  das  erschöpfende  Muster.  Nur  den  Hymnus  nahm  Klopstock  aus, 
womit  theils  die  in  freien  Rhythmen  abgefasste  Ode,  theils  nach  dem  Vor- 
bilde der  homerischen  Hymnen  Dichtungen  in  Hexametern  gemeint  waren; 
erstere  erhielten  den  Namen  des  Dithyrambus ,  den  man  freilich  aus  dem 
Altertum  fast  ohne  die  in  dieser  Form  gedichteten  Werke  überkommen 
hatte.  Man  sah  bei  dem  Namen  des  Hymnus  natürlich  auch  ab  von  den 
kleinen  Gedichten  in  kurzen  Zeilen,  die  als  anakreontisch  bezeichnet  zuerst 
von  den  franzoesischen  Formen  zu.  den  antiken  übergeführt  hatten. 

Der  Begeisteruno- ,  mit  welcher  die  Ode  und  die  ihr  verwandten  Gat- 
tungen  Religion,  Vaterland,  Freundschaft,  Liebe  feierten,  trat  auf  der  einen 
Seite  die  sanfte  Wehmut,  auf  der  anderen  der  witzige  Spott  zur  Seite.  Jene 
fand  ihren  Ausdruck  in  der  Elegie,  nur  dass  nach  antikem  Gebrauch  auch 
die  ruhige  Betrachtung  in  ihr  Ausdruck  fand.-^  Für  diese  war  auch  die 
Epistel  bestimmt,  welche  allerdings  namentlich  persoenliche  Verhältnisse 
berührte.  Zur  Epistel  trat  in  der  Sturm-  und  Drangzeit  eine  Abart,  die 
MüHnee,^^  frei  in  der  Form,  meist  dem  Spotte  gewidmet,  dem  sonst  die 
Satire   diente.     Insofern    sich   die  Satire   in    die  Parodie  des  Epos  kleidete, 


24)  Hagedorn    im    Vorbericht   zu    deu    Odeu   1747.  25)    Vorrede  zu  deu  Volksüederu 

1778  II,    S.  33.  26)  Oben  Amii.  15-17.  27)  Bei  Baek  und  Spindler  4,  40  fg. 

28)  Die  Bezeiidiuuugeu  siud  nicht  fest:  Schillers  'Elegie'  erhielt  spteter  deu  Titel  'der 
Spaziergang".  (juPthes  'Alexis  und  Dora'  ersohieu  zuerst  als  Idylle,  wurde  dann  aber  uuter 
die  Elegien  gestellt.  29)  §  159,  75. 


334  NEIIIIOCIIDFJITSCHI-:  ZEIT.         XVIII  .TAIllMI.  §  Uf) 

war  sie  bereits  beim  komischen  Epos  an/iifülircii.  Weit  vorzügliclier  als  die 
breit  ausgeführten  satirischen  Uichtungen  der  älteren  Zeit  gehingen  die  kur/- 
gel'assten,  epigrammatisciien.  Während  Lessing  noch  nach  Martials  Vor- 
bild und  vielt'ach  mit  Bonut/ung  älterer  Sinngedicjite  seinen  Witz  in  dieser 
Form  spielen  liess,  ebenso  wie  vor  ihm  Kästner  und  nach  ihm  llaug,  eröffnete 
Herder  eine  weitere  Bahn  mit  dem  Hinweis  auf  die  gedankenreichen  Ej)i- 
gramine  iler  griechischen  Anthologie,  welclie  auch  der  EmpHndung  und  Be- 
trachtung llaum  gewichren,  Guithe  und  Schiller  legten  ebenso  in  die  DisticInMi- 
form  Herders  ihre  reiche  Jjebenserfahrung,  ihre  reife  Kunstansicht;  benutzten 
aber  auch  Martials  Xenien'  als  Muster  für  die  litterarische  Satire,  welche 
dem  Fortwirken  und  Fortwuchern  veralteter  Kunstrichtungen  ein  Ende  be- 
reiten sollte. 

§  145. 
Den  kräftigsten  Aufschwung  brachte  das  achtzehnte  Jalirhundert  für 
das  Dniiii«!,'  welches  jetzt  von  dürftigen,  verächtlichen  Anfängen  zu  den 
herrlichsten  Leistungen  fortschritt.  Der  ausgleichende,  rationalistische  Zug 
der  Zeit  musste  freilich  die  Reste  des  Volksdramas  beseitigen  oder  doch 
in  die  letzten  Winkel  zurückdrängen:  polizeiliche  Verbote  folgten  sich  in  den 
verschiedenen  Ländern.^     Auch   das   Schuldrama^  fiel  den  neuen  psedago- 

§  l4i).  1)  Zur  Litteratur  der  Bühupiigesfhipbte  vgl.  §  119. 1.  Hinzuzufügen  ist  für  das  18. 
.Jahrhundert:  Witz,  V^ersueli  einer  (xesehichte  <ler  theatralischen  Autführungen  in  Augsburg, 
187G:  Kub.  Prcjelss,  (iesch.  d.  Hoftbeaters  zu  Dresden,  lÖ7ö:  II.  Müller,  Chronik  des  k.  Hof- 
theaters  zu  Hannover.  1876;  .J.  Peth,  (leseh.  d.  Theaters  u.  der  Musik  in  Mainz,  187i); 
A.  l'iebler.  Chronik  d.  grossherzogl.  Hof-  und  Xationaltheaters  zu  Mannheim,  1879; 
M.  Martersteii;,  Die  ProtoeoUe  des  Mannheimer  Xationaltheaters  unter  Dalberj^  1781 — 89.  1889: 
F.  (irandaur.  Chronik  des  Hof-  und  Xationaltheaters  zu  Münthen,  1878:  H.  Laube,  Das  Burg- 
theater. Leipzig  I8t)8:  Dennerlein,  (Teschiehte  des  Würzburger  Theaters,  1803.  2)  1739  in 
Preussen:  HotFmann  von  Fallerslebeu,  Gesch.  d.  deutsehen  Kirchenliedes,  3.  Aufl.  1861  S.  429. 
1751  in  Österreich:  .Jacob  Zeidler,  Die  Schauspieltbietigkeit  der  Schüler  und  Studenten  Wiens, 
Progr.  OberhoUabrunu  1888.  1777  in  Salzburg:  Wagner.  Das  Volksscbauspiel  in  Salzburg, 
1882,  S.  13  fgg.  3)  Verbote  der  Schulautführungen  in  Preussen  1718.  in  Sachsen  1787. 
in  Graz  1760:  Peinlich,  Gesch.  d.  Grazer  Gymn.  1871  S.  43.  Für  ganz  Österreich  1768: 
Zeidler  S.  43.  Gottsched  hatte,  im  .\uschluss  an  ein  Programm  des  Annaberger  Rectors 
Richter,  die  Scbulcomoedie  noch  empfohlen:  Crit.  Beytr.  7.  572.  Schulaufführungen  ia 
protestantischen  (hegenden  während  des  18.  .Jahrhunderts  verzeichnet  Heiland.  Über  die 
dramatischen  Autfübrungeu  im  Gymnasium  zn  Weimar,  Programm  1858.  In  dem  theater- 
liebeudeu  Hamburg  blühte  die  Schulconifpdie  auch  im  18.  .Jahrhundert,  s.  Emil  Riedel, 
Schuldrama  und  Theater,  bei  K.  Koppmauu.  Aus  Hamburgs  Vergangenheit,  Hamburg  und 
Leipzig    1885  S.   185—251.     Selbst    in    Halle    trat    unter    Friedri.h    11    eine  Xachblüte  ein: 


I 


§  145  DRAMA.  335 

gischen  Ansichten  vielfach  zum  Opfer,  nach  welchen  es  geradezu  als  Anleitung 
zur  Verstellung  galt.  Die  prunkcndste  Entfaltung  dieses  Zweiges  der  dra- 
matischen Kunst  in  den  Jesuitenschulcn  ^  wurde  mit  diesen  selbst  unterdrückt. 

Zur  Beseitigung  des  Volks-  und  Schuldramas  wirkte  ausser  dem  Stre- 
ben nach  feinerer  Kunst  auch  die  religioese  Aufkiaerung  insofern  mit,  als  ihr 
die  dort  stattfindende  Darstellung  der  heiligen  Geschichte  anstcessig  erschien. 
Dagegen  schwächte  sich  die  kirchliche  Verurteilung  des  Schauspiels''  immer 
mehr  ab  und  der  Versuch  des  als  Gegner  der  Aufklaßrung  bekannten  Haupt- 
pastors Goeze  in  Hamburg  seinen  Amtsbruder  Joh.  Ludwig  Schlosser'''  wegen 
seiner  Beteiligung  an  der  Schauspieldichtung  1769  zur  Verurteilung  zu  brin- 
gen schlug  fehl. 

Dieser  Streit  fiel  in  den  zweiten  Wendepunct  der  Geschichte  des  Dramas 
im  achtzehnten  Jahrhundert,  in  die  Zeit,  als  das  Dichterdrama  endgiltig  den 
Sieg^  davon  trug  über  das  meist  ungedruckt  gebliebene  Schauspieler- 
drama. Das  zweite  Drittel  des  Jahrhunderts  war  von  dem  Kampfe  beider 
Gattungen  erfüllt;  wsehrend  des  ersten  hatte  das  Schauspielerdrama  ausschliess- 
lich geherrscht.     Freilich   war  diese  Herrschaft  zugleich  die   tiefste  Erniedri- 

Kawerau,  Aus  Halles  Litteraturlebeu  S.  13.  Liaduer,  Rector  zu  Riga,  veröfFeutlichte  einen 
'Beytrag  zu  Schulhaudiungeu'  Koeuigsberg  1762,  worüber  die  Litteraturbriefe  XII  204  f'gg. 
abspracbeu;  Herder  (Supbau  2,  311)  enipfabl  vielmebr  'jugendliche  Dramen'.  Pfeffel  verfasste 
'üraniatiscbe  Kinderspiele',  Strassburg  1769;  Engel  schrieb  1769  'Der  dankbare  Sohn',  als 
ein  Schauspiel  für  Kinder.  4)    Über   Jesuitendranien  in  Wien  s.  Nicolai  Reise  4,  560 

fgg.,  wo  die  gedruckte  Inhaltsangabe  eines  solchen  Stückes  'Abraham  und  Isaac'  1725,  mit- 
geteilt ist.  Über  solche  in  München  handelt  K.  Trautmann,  Italienische  Schauspieler  am 
bayrischen  Hof:  Münchener  Jahrbuch  1887.  5)  Gegen  den  Hambui'ger  Geistlichen  Joh. 

Jos.  Winkler  schrieb  die  Witwe  des  Schauspieluuternehmers  Veiten:  'Zeugniss  der  Wahrheit 
vor  die  Schauspiele  oder  Comoedien',  eine  Schrift,  welche  1711  von  der  Mecklenburgischen 
Schauspielergesellschaft  und  1722  von  der  Hoffmannschen  wieder  herausgegeben  wurde: 
Löwen  (Anm.  7.)  S.  17.  Der  Theaterdichter  Schuchs,  Üblich,  starb  1753  in  Frankfurt 
ohne  Absolution  zu  erhalten;  er  schrieb  vor  seinem  Ende  'die  Beichte  eines  christlichen 
Koniüidianten  an  Gott',  s.  Mentzel  S.  234.  6)  Geb.  1738,  gest.  als  Pastor  zu  Bergedorf 

1815.  Er  hatte  als  Student  mittelmässige  Schauspiele  gedichtet,  welche  1766  aufgeführt, 
1768  ohne  seinen  Namen  gedruckt  wurden:  'Der  Zweikampf,  die  Maskerade'.  GcBzes  Haupt- 
schrift hiess:  'Theologische  Untersuchung  der  Sittlichkeit  der  heutigen  deutschen  Schaubühne', 
Hamburg  1770.  Vgl  J.  Geft'cken,  Zs.  des  Vereins  f.  hamb.  Gesch.  3  (1851)  S.  56-77  und 
Erich  Schmidt,  Lessing  2,  127  fgg.  7)  Damals  ei'schienen  auch  die  ersten  historischen 

Arbeiten  über  das  deutsche  Theater:  'Die  Geschichte  des  deutschen  Theaters'  in  Joh.  Frid. 
LoBweus  Schriften  4  (1766),  1—76;  1775  die  'Chronologie  des  deutschen  Theaters  (o.  0.  von 
Christian  Heinrich  Schmid).  Spaetere  geschichtliche  Notizen  brachte  der  Gothaische  'Theater- 
kaleuder'  von  1775—1800  herausg.  von  Heinrich  Gottfrid  Reichard,  und  desselben  Theater- 
Wackernagel,  Litter,  Geschichte.  II,  23 


33G  NEUIIOCIIDEUTSCIIE  ZEIT.        XVIII  JAIlKli.  §  UiL 

gung.  Die  einzelnen  Truppen  zogen  in  Deutschland  umher,  wo  überdies 
noch  recht  wenige  Süedte  *  sich  ihnen  öffneten,  wtehrend  die  Hoeie  so  gut  wie 
durchweg  franzoesische  und  italienische  Schauspieler,  Sänger  und  Tänzer  Ix- 
vorzugten."'  Dass  sie  auch  Skandinavien,  Polen  und  Ilussland '"  besuchten, 
war  ebenso  wenig  eine  volle  Entschanligung,  als  dass  die  Lager  und  Winter- 
quartiere der  Heere  in  den  grossen  Kriegen  sie  zuliessen. 

Neben  der  Truppe  Vcltens,  welche  bis  1712  noch  von  dessen  Wittwe  " 
geführt  wurde,  aber  viele  der  besten  Kräfte  an  andere  verlor,  liatte  sich  be- 
sonders die  des  Mecklenburgischen  Ilofkomo^dianten  Elensohn  Geltung  ver- 
schafft, dessen  schcjene  und  ränkesüchtige  Wittwe  (er  starb  1708)  erst  einen 
Harlekin  Ilaack,  dann  den  Schausj)ieler  K.  L.  Hoffmann  heiratete.  Als  bald 
nach  ihrem  Tode  (1725)  sich  die  Truppe  aufheste,  erwarb  sich  1727  das 
Ehepaar  Neuber  das  sächsische  Privileg.  In  Leipzig  trat  die  Neuberin '-  mit 
Gottsched  in  Verbindung  und  begann  die  Aufführung  regelmsessiger  Stücke 
nach  franza^sischem  Muster.'^  Mit  der  feierlichen  Verbannung'^  des  Harlekins 
vom  Theater,  1737,  sollte  der  entscheidende  Schritt  gethan  sein.  Zwar  die 
Neuberin  selbst  nahm  spteter  die  Rolle,  nur  in  einem  weissen  Gewände  an- 
statt des  buntsehäckigen,  und  mit  dem  Namen  Hänsclien,  wieder  auf.  Lessing  '* 
nahm  noch  1767  den  Hanswurst  in  Schutz,  wie  vorher,  1761,  J.  Moeser"'  für 

Journal  1777—1784.  8)    Hauptsächlich    Hamburg    und    Leipzig;    selbst    in    Frankfurt 

spielte    mau    nicht   alle   .lahre.  9)  In    Berlin    hielt  Friedrich  II  nur  eine  frauzcesiscbe 

Schauspielertruppe,  ebenso  stand  es  in  AVien  bis  1772,  in  Mannheim  bis  177b.  in  Kassel  bis 
178.").  in   München  fast  das  ganze  .lahrliuudert  hindurch.  10)  Stockholm.  Dauzig,  Riga 

und  Petersburg  wurden  hauptsächlich  besucht.  11)  Sie  wird  auch  Veltheimiu.  Velthemin 

genannt.  12)  Caroline  N.  war  geb.  1697  zu  Reicheubach  in  Sachsen,  Tochter  des  Advocaten 
Weisseuborn  in  Zwickau,  welchem  sie  1717  entfloh  um  mit  dem  Studenten  Neuber  zur 
Bühue  zu  gehu.  Thatkräftig,  keck  und  hübsch,  auch  dichterisch  gewandt,  stieg  sie  waehreud 
der  dreissiger  .Jahre,  sank  im  Ui^chsteu  .Jahrzehnt  herab,  und  starb  in  kümmerlichen  Verhält- 
nissen 1760  zu  I^aubegast  bei  Dresden.  Vgl.  .J.  F.  von  Reden  -  Esbeck,  C.  Xeuber  und 
ihre  Zeitgenossen,    Leipzig  1881.  13)  Zuerst   führte   sie    1728  Pradous    Regulus    nach 

der  Übersetzung  von  Kuenig  auf;  nach  einer  Oper  von  Kcenig  bearbeitete  Koch  'Sancio  und 
Senilde",  und  dies  Stück  brachte  sie  1741  auf  ihre  Bühne:  Liewen  4.  2;").  Reden-Esbeck  262. 
Übrigens  zeitfteu  sich  irleiche  Bestrebuuifen  unabhäntfii;  von  (iottsched  und  der  Neuberin 
schon  in  Strassburg,  wo  Frau  Professor  Linck  Corneilles  'Polyeuctes'  1727  hatte  erscheinen 
und  1730  auch  im  Privatkreise  hatte  autführen  lassen:  hierauf  bezieht  sich  die  missverständ- 
liche Angabe  in  Danzels  (Gottsched  S.  266:  s.  .Jahrbuch  des  Vogesendubs  VII,  117. 
14)  Vielverbreitet  ist  der  Irrtum  dass  Harlekin  sogar  verbrannt  worden  sei:  Anlass  dazu 
mochte  der  Ausdruck  Autodafe  bieten,  den  Lo'wens  (Jesch.  d.  Th.  S.  28  für  das  Neubersche 
'Vorspiel'  gebraucht.  15)  Hamburg.     Dram.    18  Stück.     Auch  sah  Lessing  in  Breslau 

namentlich   die  Vorstellungen   Schurhs   als  Hanswurst    sehr  gern.  J6)  'Harlekin   oder 


1 


§  145  SCHAUSPIFXKUNST.  337 

ihn  eingetreten  war.  Aber  das  Publicum  wollte  wenigstens  die  ernsten  Stücke 
von  dieser  stoerenden  Unterbrechung  befreit  wissen,*^  Dem  Beispiel  der  Neu- 
berin  folgten  mit  Aufführung  regelmsessiger  Stücke  an  Stelle  der  Haupt-  und 
Staatsactionen' '*  besonders  die  Truppe  Schoenemanns ,  welche  seit  1740  sich 
bildete,  spseter  unter  Kochs  Leitung  stand,  und  die  seit  1751  von  Ackermann 
geleitete.  Hier  trat  der  erste  grosse  Schauspieler  Deutschlands  hervor,  Konrad 
Ekhof,'^  mit  welchem  wenigstens  in  Bezug  auf  die  Declamation  eine  eigentüm- 
lich deutsche,  auf  Wahrheit  und  Natur  gerichtete  Schauspielkunst  ihren  An- 
fang nahm.^*^  1767  war  er  eine  Zierde  des  Nationaltheaters  zu  Hamburg, 
und  wenn  auch  dies  Unternehmen  keinen  Bestand  hatte,  die  Truppe  vielmehr 
wieder  unter  der  Führung  des  einen  Unternehmers,  des  früheren  Kaufmanns 
Seyler  in  Deutschland  umherzog,  so  ward  doch  in  Weimar,  wohin  sie  1771 
wanderte,  und  seit  1774  in  Gotha,  ein  nseheres  Verhältnis  zu  den  kleinen 
Hoefen  angeknüpft,  welches  auch  die  Einwirkung  des  jüngeren  Dichterge- 
schlechtes mit  sich  brachte.  Noch  mehr  fand  diese  in  Mannheim  statt,  wo 
Wolfgang  Heribert  von  Dalberg  das  Nationaltheater  1779  einrichtete.  In 
Hamburg  leitete  Friedrich  Ludwig  Schrcßder  1771 — 98  das  Theater;  nur  1781 
bis  1785  gehoerte  er  der  deutschen  Bühne  zu  Wien  an,  welche  1776  zum 
Nationaltheater  erklsert  worden  war.  In  Berlin  geschah  dies  1787;  hier  stand 
1796 — 1814  Aug.  Wilh.  Iffland  dem  Theater  vor,  auch  er  wie  Schrceder 
zugleich  als  Schauspieldichter  thaetig.-*'*  So  war  der  Yorwurf,  der  auf  diesen 
beiden  Hauptstaedten  Deutschlands  lastete,  dass  sie  am  längsten^'  die  Hans- 
wurstkomoedie  gepflegt  hatten,  ehrenvoll  gesühnt. 

In  Wien  hatte  der  deutsche  Harlekin  sich  an  dem  italienischen  lieran- 
gebildet'-'   und  von   hier  aus   beherrschte    diese  Figur  das  deutsche  Theater; 

Vertbeidiguug  des  Grrotesk-Komisehen.'  Doch  dachte  Moeser  dabei  mehr  an  das  italienische 
Urbild  als  au  die  deutsche  Nachahmung.  17)  Vgl.  was  J.  El.  Schlegel  1743  über  den 

Ulysses  von  Dr.  Ludwig,  deu  die  Truppe  des  mit  der  Neuberiu  um  das  sächs.  Privileg 
streitenden  Harlekins  Müller  autführten,  in  einem  Briefe  au  Hagedorn  erziehlt:  in  Eschenburcs 
Ausg.  von  Hagedorns  Werken  5,  287.  18)  Deu  Ausdruck    bezeichnet  Gottsched    uoch 

1725,  indem  er  von  'sogenannten  Haupt-  uud  Staatsactiouen'  spricht,  als  ungewüphulich: 
Heine,  Der  unglückseelige  Todesfall  Caroli  XII,   Halle  1888  S.  IV.  19)   Geb.  1720  zu 

Hamburg,  gest.  zu  Gotha  1775,  s.  H.  Uhde  in  Gottschalls  N.  Plutarch,  Bd.  4,  Lpz.  1876. 
Auch  niedrigkomische  RoUeu  in  plattdeutscher  Sprache  spielteer  vortrefflich  u.  bearbeitete  dafür 
selbst  mehrere  frauzo?sische  Stücke:  Gißdertz,    D.  niederd.  Drama  200  fgg.  20)  L.  SchrcP- 

derbei  Meyer,  Schroeders  Leben  S.  145.  20  a)  §  163,  19  fgg.  21)  Unter  Friedrich 

Wilhelm  I  war  Eckenberg  'der  starke  Mann",  später  der  Hanswurst  Sehueh  (gest.  1764)  Haupt- 
inhaber der  Berliner  deutseheu  Bühne  gewesen.  1766  ward  in  Berliu  von  Döbbelin  der 
Hanswurst  abgeschafft:  Gothaer  Theaterkai.  1780  p.  89.  22)  Über  die  Gedichte  des  Wiener 


338  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVHI  JAHKH.  §  145 

der  Hanswurst,  vorher  mehr  in  den  lustigen  'Nachspielen'  zu  den  'Haupt- 
actionen'  thaetig,  ward  selbst  in  den  tragischen  Stücken  die  ständige,  wenn 
auch  in  unztehligen  Verwandlungen  auftretende  Hauptperson,  wie  sein  Dar- 
steller meist  auch  in  der  Truppe  die  Directorstelle  bekleidete.  Der  erste 
Schauspieler,  der  die  deutsche  HarlekinroUe  geschaffen  hatte,  war  Joski'II 
Anton  Stuanitzky:^-'  1706  nach  Wien  gekommen,  nahm  er  für  seine  lächer- 
liche Kollo  den  Salzburger  Bauern  zum  Muster,  dessen  grüner,  spitzer  Hut 
sein  Abzeichen  wurde.  So  stellt  er  sich  dar  in  der  als  Neujahrsgabe  er- 
schienenen Schrift  Lustige  Reyss-Beschreibung  aus  Saltzburg  in  verschiedene 
Länder'.'-*  Eine  Sammlung  der  Scenen,  die  er  spielte  und  welche  er  meist 
dem  Thmtre  Italien  des  Gherardi  entnahm,  veröffentHchte  er  1711  als  Olla 
potrida  des  durchgetriebenen  Fuchsnmndr,'- '  auch  für  die  norddeutschen  Harle- 
kinaden eine  vielbenutzte  Fundgrube."''  Eine  Anzahl  der  von  Stranitzky 
aufgeführten  Staatsactionen  sind  wenigstens  handschriftlich,  meist  aus  dem 
J.  1724,  erhalten.-' 

Stranitzky  hatte  noch  vor  seinem  Tode  (1727)  Gotfried  Prehauser  zum 
Gehilfen  angenommen,    der  sich  wiederum   spseter  mit  Joseph  Felix  Kurz-* 


Hauswuräts  berichtete  Sonnenfels,  Briefe  über  die  Wiener  Schaubühne,  Wien  1768,  Nr.  52 
(Wiener  Neudrucke  7,  312  fgg.).  23)  Die  Richtigkeit  der  über  seine  Lebensgeschichte  von 

Nicolai  Reise  4,  566  fgg.  gegebenen  Notizen  bezweifelt  R.  M.  Werner:  Der  Wiener  Hanswurst  II 
(Wiener  Neudrucke  1886).  Nach  Nicolai  sollte  er  1676  zu  Schweidnitz  geboren  und  als  Leip- 
ziger Student  zur  Veltenschen  Truppe  gegangen  sein.  24)  o.  0.  u.  J.  mehmials  wieder- 
holt (spaeter  von  Prehauser)  und  mit  Fortsetzungen  versehn:  AViener  Neudr.  6,  Wien  1883. 
Die  Form  ist  Reiraprosa;  der  Inhalt  schöpft  z.  T.  aus  Volksscherzen,  wie  der  Geschichte 
vom  Schlaraffenland,  z.  T.  kehrt  er  spaeter  bei  Münchhausen  wieder.  Auf  Salzburg  weist 
Stranitzky  auch  in  seinen  Staatsactionen  hin:  Weiss  (^Anm.  27):  aus  den  dortigen  Volksspielen 
entnahm  er  den  Gegenspieler  zum  Hanswurst,  den  Riepel  =  Knecht  Ruprecht.  25)  Öfter» 
wiederholt;  neuerdings  in  den  Wiener  Neudrucken  10.  Wien  1886;  in  der  Einleitung  hat 
R.  M.  Werner  das  Verhältnis  zur  angegebenen  Quelle  und  zu  Abraham  a  S.  Clara  genauer 
auseinander  gesetzt.  Die  Benutzung  von  Reuters  Graf  Ehrenfried  (§  134,  20,  vgl.  auch 
Zarncke  in  der  Sachs.  Ges.  1888.  1889.  1)  erweist  Ellinger  Z.  f.  d.  Ph.  20,  314.  26)  Gott- 
sched Grit.  Dichtkunst,  3.  Aufl.  1742  S.  739.  27)  Auszüglich  mitgeteilt,  die  15.  'Die 
glorreiche  Marter  Joannes  von  Nepomuck'  vollständig,  in  Karl  Weiss,  Die  Wiener  Haupt- 
und  Staatsactionen,  Wien  1854.  Allerdings  scheint  gerade  das  abgedruckt«  Stück  einen 
geistlichen  Verfasser  zu  haben;  die  Rolle  des  Hanswursts  hat  hier  ein  'verwirrter  Jurist 
und  Favorit  des  Königs',  Babra  genannt.  Auf  ein  Jesuitenstück  weist  auch  der  ange- 
häugte Epilogus  von  den  5  Sinnen'.  P^ine  Aufführung  durch  die  Wandertruppe  Reibe- 
hauds  in  Leipzig  hat  Ad.  Schlegel  im  Auge,  Vom  Natürlichen  in  Schaefergedichten  (§  151, 
77)  S.  12  fgg.           28)  aus  Wien,  spteter  im  Scherze  vom  Kaiser  geadelt,  lebte  1715 — 1784. 


§  145  HANSWURSTKOMÖDIE.  339 

verband.  Dieser  erfand  die  Figur  des  dummspitzbübischen  Bernardon,  welche 
er  mit  einer  erstaunlichen  Fruchtbarkeit  der  Mache  in  immer  neuen  Ver- 
hältnissen auftreten  Hess,  obschon  auch  hier  die  Elemente  der  Posse:  Singen, 
Prügeln,  Fliegen  auf  Maschinen  und  andere  Kunststücke  sich  beständig  wieder- 
holten. Lange  kämpfte  so  die  Wiener  Ilarlekinade  gegen  die  regelmaessigen 
Stücke,  auch  mit  Parodien,  wie  Trinzessin  Pumphia  und  der  tyrannische  Tartar- 
Kuükan'.-'-'  Aber  als  Prehauser  1769  starb,  ward  auch  in  Wien  der  Hanswurst 
auf  Nebenbühnen  verdrängt ;  auf  diesen  hat  er  als  Kasperle  ■'°  allerdings  noch 
auf  lange  hinaus  sich  erhalten.  Für  die  vom  Hofe  unterstützten  Bühnen 
ward  nun  das  Extemporieren^'  untersagt,  welches,  der  italienischen  Komoedie 
abgesehen,  den  Spsessen  des  Hanswursts  eine  grosse  Lebendigkeit  verliehen, 
aber  freilich  auch  zu  den  frechsten  Ausfällen  und  den  unflsetigsten  Zoten 
Gelegenheit  geboten  hatte. 

Wie  das  Kasperletheater  besonders  als  Marionettenspiel  fortbestand  und 
fortbesteht,^^  so  war  schon  zu  Anfang  des  achtzehnten  Jahrhunderts,  auch 
bei  Stranitzky,  der  Wechsel  zwischen  den  Holzpuppen  und  den  lebenden 
Personen  sehr  gewoehnlich,  für  die  Schauspieler  freilich  wenig  ehrenvoll. 
Wichtig  ist,  dass  auf  diese  Weise  sich  manche  Stücke  jener  Zeit  als  Puppen- 
komoedien  handschrifthch  erhalten  haben, ^^  um  so  mehr  als  schon  aus  Neid 
gegen  die   anderen  Gesellschaften  die  Schauspieler  ihre  Dramen  nicht  in  den 

29)  0.  J.  Wiener  Neudrucke  Nr.  2  (Wien  1883).  Ebenda  Nr.  4  eine  Antwort  auf  die  Angriffe 
von  Sonnenfels:  'Der  auf  den  Parnass  versetzte  grüne  Hut'  (wohl  nach  Nadal,  Arlequin  au 
Parnasse  1732,  s.  Haller  in  Hirzels  Ausg.  S.  87],  von  Chr.  G.  Klemm  1767,  der  vorher  gegen 
den  Hanswurst  geschrieben  hatte.  Ein  anderer  Wiener  Dichter  derHanswurstkomoedie  ist  Hafner, 
dessen  'Megäre',  'f^vakathel'  und  'Schendi'  auch  spteter  noch  wiederholt  wurden,  der  sich 
aber  auch  in   der    Charakterkomoedie    (Die    bürgerliche  Dame,   der   Furchtsame)  versuchte. 

30)  Diesen  Namen  brachte  um  1780  der  Komiker  Laroche  auf:  Meyer,  Schroeders  Leben  S.  359. 

31)  Eine  ganze  Vorstellung  aus  dem  Stegreif,  die  bei  glücklicher  Laune  überaus  geistreich 
und  packend  ausfiel,  schildert  Meyer,  Schroeders  Leben  (zum  J.  1773)  S.  242.  Vgl.  auch 
Goethes  Wilhelm  Meister  II,  9.  Noch  jetzt  in  Italien  üblich,  wo  ein  solches  improvisiertes 
Stück,  gewöhnlich  als  Nachspiel  gegeben,  farsa  heisst.  32)  In  Strassburg  als  'Bibbel- 
spiel':  Arnold  Pfingstmontag  1,  2  und  s.  Ludwig,  Str.  vor  hundert  Jahren  (1888)  S.  157. 
320;  jetzt  als  Kölner  Hennesge.  Über  Berliner  Puppentheater  s.  Carl  Engel,  Deutsche 
Puppenkomoedien  2,  VIII.  33)  Deutsche  Puppenkomoedien ,  hg.  v.  Carl  Engel  I — X, 
Oldenburg  1875—90.  Vgl.  auch  Anm.  37.  Nach  solchen  Drucken  spielen  gegenwärtig 
manche  Wandertruppen:  so  führte  eine  Truppe,  über  welche  auch  H.  Hansjacob,  Dürre 
Blätter,  Heidelberg  1890,  II  S.  89  spricht,  am  22.  Juni  1890  in  Sesenheim  Genofeva  auf. 
Nach  den  Auffuhrungeu  eines  Puppenspielers  in  Niederoesterreich  haben  R.  Kralik  und 
J,  Winter  Deutsche  Puppenspiele   herausgegeben,  Wien  1885.     Dazu  vgl.   Z.  f.  d.  A.   31, 


340  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XYIII  JAIIKH.  §  145 

Druck"  brachten;  ja  auch  für  sich  oft  nur  die  notwendig  feststehenden  Texte 
zu  den  gesungenen  Partien^''  aufzeichneten. 

Immerhin  ist  es  mnnglich  aus  den  verschiedenen  Überlieferungen  sich 
ein  Bild  von  Inhalt  und  Darstcllungswcise  der  Schauspielerdrarnen  zu 
machen.'"'  Die  Gegenstände  waren  grosscntoils  schon  im  17.  Jahrhundert 
auf  die  Bühne  gebracht  worden,  mussten  sich  aber  einer  beständig,  nament- 
lich in  den  komischeu  Teilen,  wechselnden  Behandlung  unterziehen  lassen. 
So  wurde  das  Volksschauspicl  von  Faust,  welches  auf  Marlowes  Tragödie 
beruhte,  jetzt  mit  ilanswurstsccnen  durchsetzt,  die  grell  von  dem  Ernste  der 
Grundlage  abstachcn.^^  Von  älteren  l)iblischen  Stücken  wurde  Adam  und 
Eva  noch  1734  zu  Strassburg  aufgeführt,^ '^  Abels  Tod  zu  Frankfurt  nöü.''" 
Dem  Dichterdrama  des  siebzehnten  Jahrhunderts  gebeert  der  Papinianus  von 
Gryphius  an,  welcher  1710  von  llasskerl  überarbeitet  wurde  und  noch  1745 
zur  Aufführung  kommen  sollte.*"  Die  meisten  Stoffe  stammen  indessen  aus 
den  romanischen  Litteraturen ,  von  denen  die  spanische"  meist  durch  das 
holländische  Theater  vermittelt  wurde,  welches  auch  seinerseits  mehrere  Lust- 

Anz.  53  i'gg.  34)  Gf-druckt  werden  allerdings  längere  Anzeigen:  so  die  Inhaltsangaben 

von:  'Der  eiserne  König',  Hamburg  1719,  s.  Heine,  Wanderbühne  (Anni.  .%)  S.  ö!». 
35)  Von  Kurz  selbst  gesammelte  'Teutsche  Arien'  sind  auf  der  Wiener  Hofbibliothek  vor- 
handen: Proben  in  Devrients  Gesch.  der  deutschen  Schauspielkunst  1,  43.5  fgg. ;  von  Erich 
Schmidt,  Zs.  f.  d.  A.  25,  288;  Gcethejahrbuch  3,  321.  36)  Carl  Heine,  Das  Schauspiel 

der  deutschen  Wanderbühne  vor  Gottsched.     Halle  188i(.  37)  S.  die  zu  §  107,   14  an- 

geführte Schrift  von  W.  Creizenach.  Die  ältere  Fassung  ist  vollständig  nur  in  einem  Ulmer 
Puppenspiel  erhalten  (Scheible,  Kloster  5  Bd,  S.  783  fgg.),  die  jüngere  mit  dem  Wiener 
Dialekt  in  einem  Augsburger  (ebd.  818  fgg.).  Von  den  erhaltenen  Programmen  ist  beson- 
ders wichtig  das  zur  Faustaufführung  von  Kurz  in  Frankfurt  1767:  Mentzel  294.  511. 
Eine  Berliner  Fassung  ist  abgedruckt  von  Lübke  Zs.  f.  d.  A.  31,  105  fgg.,  eine  AN'iener  bei 
Kralik  und  Winter  (Anm.  .33);  eine  auf  dem  Plagwitzer  Sommertheater  vor  kurzem  noch 
aufgeführte  von  A.  Tille,  als  10.  Bändchen  der  Deutschen  Puppenkomcedien,  Oldenburg 
u.  Leipzig  o.  J.  Einen  modernisierten  Text,  worin  Faust  nach  Amerika  reiste,  sah  der  Schreiber 
dieser  Zeilen  zu  Eisenach  18.56,  zu  Kehl  1892.  Die  z.  T.  aus  den  Arien  zum  Volksschauspiel 
hervorgegangenen  Lieder  von  Faust  stellt  A.  Tille  zusammen:  Die  deutschen  Volkslieder 
von  Faust,  Halle  1890.  38)  Jahrbuch  des  Vogesenclubs  7,  118.  39)  Mentzel  476. 

40)  C.  Heine  Zs.  f.  deutsche  Philol.  21,  280  fgg.  Die  Hanswurstrolle  spielt  hier  Trnraeus, 
ein  im  Gehirn  verrückter  liechtsgelehrter  (vgl.  Anm.  27).  41)  S.  ausser  der   in  Anm. 

.36  angeführten  Schrift  von  C.  Heine  auch  dessen  Aufsatz  X'alderon  im  Spielverzeichnisse 
der  deutschen  Wandertruppen':  Zs.  f.  vgl.  Litteraturgesch.  u.  Renaissancelitt.  2,  165  fgg. 
395  fgg.  Auf  das  Italienische  weisen  in  Stranitzkys  Staatsactionen  (Anm.  2.5)  die  Namens- 
formen l'oante  =^  Toas ;  Pelifonte;  lAdoJpho  u.  a.  Italienisch  sind  auch  z.  T.  die  Titel  der 
in  Frankfurt   1741    von  Wallerotti   aufgeführten   Stücke,   welche  F.  A.  Nuth  'componierte': 


§  145  SCIIAUSPIELERDRAMA.  341 

spiele^'-  für  die  deutsche  Bülmc  lieferte.  Neu  entstanden  sind  im  ersten 
Drittel  des  Jahrhunderts  sicher  solche  Stücke,  welche  geschichtliche  Ereig- 
nisse und  Personen  jener  Zeit  feierten,  und  meist  die  in  Gespraechform  abge- 
fassten  politischen  Monatsscliriften*^  mit  wörtlicher  Wiederholung  benutzten: 
die  Belagerung  von  Belgrad,  der  Tod  Karls  XII  von  Schweden  1718,^^ 
'Glück-  und  Unglücksprobe  des  .  .  Fürsten  von  Mentzikoff',  ein  Stück  dessen 
Aufführung  in  Berlin  1731  einem  Marionettenspieler  verboten  wurde,^^  die 
Empoerung  von  Corsica  gegen  Genua  unter  Theodor  von  Neuhof,  1741  in 
Frankfurt  aufgeführt*''  u.  a.  Für  die  Eilfertigkeit  der  Mache,  mit  welcher 
überhaupt  die  Stücke  der  Wanderbühne  hergestellt  wurden,  zeugt  dass  von 
einem  Schauspieler,  Wezell,  überliefert  ist,  er  habe  in  zwei  Nächten  eine 
Komoedie  machen  können.*^ 

Gewisse  Züge  der  Behandlung  kehren  oft  wieder:  das  Grässliche  wird 
gchfeuft;  Mord  und  Selbstmord,  Geistererscheinungen,  Zaubereien  und  aben- 
teuerhche  Verwandlungen  werden  vorgeführt;  Herrschsucht  und  Wollust,  aber 
auch  Grossmut  und  treue  Liebe  treten  stark  aufgetragen  auf  die  Bühne ;  dem 
Hofgetriebe  steht  die  Schseferwelt  gegenüber;  Belauschungen  und  Verklei- 
dungen sind  heeufige  Mittel  den  Fortschritt  der  Handlung  herbeizuführen.  An 
Seelenconflicten  fehlt  es  nicht,  aber  die  schliessliche  Entwickelung  meidet  die 
tragische  Consequenz :  zuletzt  entscheidet  der  Zufall.  Alles  wird  verdeutHcht 
und  erklsert,  alles  auf  die  Bühne  gebracht,  selbst  Schlachten  und  Belagerun- 
gen. Man  sucht  mit  Pracht  und  Lärm  zu  wirken,  greift  im  Notfall  aber 
auch  zu  den  dürftigsten  Mitteln.    Den  Scenenwechsel  ermoeglicht  der  Zwischen- 


Mentzel  S.  439  fgg.  42)  Creizenach,   Sachs.    Ges.   d.   Wiss.   1886  S.  111.    Der  Titel 

'Die  närrische  Wette  oder  der  geizige  Gerhard'  beruht  auf  einem  Missverständnis  des  holl. 
gieraard  Geizhals.  Andere  holländische  Lustspiele  führt  die  Chronol.  d.  dt.  Theaters  S.  125 
und  127  aus  dem  J.  1746  auf.  Nicolai  Keise  4,  618  spricht  von  den  Klüjten  =  holl.  Kluchten, 
wie  man  in  seiner  Jugendzeit  die  auswendig  gelernten  Partien  in  den  sonst  extemporierten 
Stücken  genannt  habe.  43)  So  wurden  die  'Gesprgeche  im  Reiche  derer  Todten  ausgebeutet, 

welche  David  Fassmann  (geb.  1683,  gest.  1744;  von  1726  bis  1731  Hofnarr  Friedrich  Wilhelms  I) 
1718—1740  herausgab  (vgl.  §  140,  87):  s.  C.  Heine  Unglückseeliger  Todesfall  Caroli  XII, 
Halle  1888.  Heine  schlsegt  für  die  so  entstandenen  Stücke  den  Namen  'biographische  Dramen' 
vor.  44)  Karl  der  Zwölfte  vor  Friedrichshall,  hg.  v.  Heinrich  Lindner,  Dessau  1845, 

nach  einer  Hs.  aus  dem  J.  1724  von  der  Hand  Kohlhards,  welcher  der  Haack-Hoffmannschen, 
spseter  der  Neuberschen  Truppe  angehoerte,  herausg.  v.  Heine  (Anm.  43).  Loewea  (Anm.  7) 
nennt  S.  22  als  Dichter  Joh.  Georg  Ludovici,  den  auch  Nicolai,  Reise  4,  566  als  fruchtbaren 
Schauspielverfasser  anführt  und  dessen  Entwürfe  Lessing  aus  dem  Nachlass  der  Neuberin 
besessen  haben  soll.  Noch  1741  wurde  das  Stück  in  Frankfurt  gespielt:  Mentzel  492. 
45)  Plümicke,  Theatergeschichte  von  Berlin  S.  109.  46)  Mentzel  455.  47)  Lcewen 


342  NEUnOCIIDEUT>SCllE  ZEIT.        XVIII  JAIIUII.  §  145 

Vorhang  vor  einem  Mittclraum,  in  welchem  die  Ilandhmg  im  Gemach  od'r 
mit  Ausblick  auf  die  Ferne  vor  sich  geht.*'*  Zur  leichteren  Darötellburkeit 
trägt  die  Prosa  bei,  in  welche  auch  ursprünglich  gereimte  Stücke,  wie  Pa- 
pinianus,  aufgelöst  sind;  nur  besonders  erhabene  Stellen  sind  gereimt  und  in 
Alexandrinern  abgefasst;  auch  die  Abgänge  sind  zuweilen  durch  Keimverse 
ausgezeichnet.  Die  Si)rac]ic  ist  durchweg  —  und  im  Contraste  hierzu  lag  zum 
Teil  die  lächerliche  Wirkung  der  eingemischten  niedrigen  Komik  in  den  ilans- 
wurstscenen  —  überaus  schwülstig,  im  Stil  der  zweiten  schlesischen  Dichter- 
schule gehalten.*"' 

Auch  von  dieser  Seite  her  musste  das  Schauspielerdrama  Gottscheds 
Widerwillen  erregen,  der  das  regelmässige  Drama  nach  franzcesischem 
Muster  auf  die  deutsche  Bühne  zu  bringen  und  ihm  hier  auch  die  Allein- 
herrschaft zu  gewinnen  suchte.  Dass  die  Schauspieler  sich  allmiehlich  diesen 
Bestrebungen  anschlössen,  ist  bereits  angedeutet  worden;  wie  die  Dichter  ihr 
Augenmerk  der  Bühne  mehr  und  mehr  zuwandten  und  dem  Kunstdrama 
seine  Geltung  verschafften,  wird  die  Litteraturgeschichte  unter  den  einzelnen 
Namen  auszuführen  haben.  Nur  über  die  verschiedenen  Gattungen  des 
Dichterdramas  und  ihre  wachsende  Mannigfaltigkeit  ist  hier  noch  zu  handeln. 

Das  franzoesische  Theater  der  classischen  Zeit,  welches  Gottsched  als 
unübertrettiich  und  als  durchaus  massgebend  ansah,  kannte  nur  die  Tragocdie, 
die  Komcedie  und,  mehr  als  Nebengattung,  das  Schgeferspiel.  Für  die  Tra- 
goedie  suchte  Gottsched  durch  Übersetzung,  dann  durch  freiere  Bearbeitung, 
endlich  durch  Originalarbeit  zu  sorgen;  selbständiger  pflegte  seine  Frau  die 
Komcedie,  für  welche  ihr  ausser  Moliere  und  den  mehr  gleichzeitigen  Fran- 
zosen, Destouches  und  Marivaux,  auch  der  Da?ne  Ilolberg  mit  derberer  Komik 
Muster  und  Motive  darbot.  Das  erste  deutsche  Schteferspiel,  das  auf  die 
Bühne  kam,  war  von  Rost  verfasst:^"  Gottsched  und  seine  Frau  beteiligten 
sich  auch  an  dieser  Dichtungsart  und  die  letztere  vertrat  auch  als  Über- 
setzerin die  comedie  lannotjante'^^  in  Deutschland.  Der  eigentliche  Dichter 
des  rührenden  Lustspiels  war   indessen  Geliert:    er  schrieb  zu  ihrer  Empfeh- 

S.  22.     Ein  Stück  von  ihm,  Tamerlan,  wird  zum  J.  1725  angeführt.  48)  Danach    ist 

§  1U7.  H  einzuschränken.  Noch  in  Lessings  Sara  Sampson  1,  8  heisst  es:  'Der  mittlere 
Vorhang  wird  aufgezogen.  Mellefonts  Zimmer'  (vorher  Saali.  Vgl.  auch  das  'geteilte 
Theater'  in  Girthes  Mitschuldigen  2,  1.  49)  In  den  'biographischen  Dramen'  (^Anui.  4.3) 

tritt  auch  der.  damals  nicht  weniger  hochtrabende,  Zeitungsstil  dazwischen:  z.  B.  im  Karl 
XII  die  Erzählung  des  Ktenigs   von  seiner  Abkunft  und  Jugendzeit.  50)  §  148,  22. 

51)  §  148.     Gottsched  selbst  nannte  diese   allerdings  eine  Zwitter-Gattung,   s.   Antoniewicz, 


§  145  GATTUJSGEN  DES  DICHTERDRAMAÖ.  343 

lang  das  Programm  de  comaidia  commovente  1751.  Lessing  übersetzte  es; 
allein  wie  schon  J.  E.  Schlegel  nicht  nur  als  Dichter  weit  über  seine  Vor- 
gänger im  Drama  hinausgeschritten  war,  sondern  auch  die  Theorie  durch 
Empfehlung  des  Lustspiels  in  Yersen  erweitert  hatte,  so  fügte  Lessing,  und 
mit  dem  groessten  Erfolge,  neue  Gattungen  und  neue,  wirkliche  Meisterstücke 
zu  dem  bisherigen  Bestände  der  deutschen  Bühne.  Im  Anschluss  an  das 
englische  Theater  führte  er  das  bürgerliche  Trauerspiel  bei  uns  ein,  eröffnete 
es  durch  Sarah  Sampson  1755  und  gab  ihm  in  Emilia  Galotti  ein  bleibendes 
Muster;  der  Lehre  und  dem  Beispiel  Diderots  folgend  begründete  er  in 
Deutschland  das  ernste  Lustspiel  mit  Minna  von  Barnhelm  1767.  Endlich 
stellte  er  in  Nathan  dem  Weisen  1779  das  erste  Schauspiel  in  Jamben  auf, 
und  brachte  so  die  Form  zur  Geltung,  welche  seitdem  für  den  hohen  Stil 
des  deutschen  Dramas  beibehalten  wurde.  Diese  Form  entnahm  er  Shake- 
speare :  und  auf  diesen  Dichter  und  seine  uns  Deutschen  am  meisten  zusagende 
Behandlung  des  Schauspiels  hatte  er  in  der  Hamburger  Dramaturgie  1767 
hingewiesen,  indem  er  gleichzeitig  dem  franzcesischen  Theater,  insbesonders 
dem  Voltaires  die  Mustergiltigkeit  siegreich'''^  abstritt. 

Die  Abwerfung  der  franzoesischen  Regeln  führte  aber  weiter  und  weiter : 
man  sah  in  Shakespeares  Stücken  Historien  ohne  Zeit-  und  Ortseinheit;  man 
verlangte  die  seusserste  Naturwahrheit,  die  Darstellung  der  heftigsten  Leiden- 
schaft, die  Vorführung  des  Erschütternden  in  Leid  und  Lust.  Gerstenbergs 
Ugolino  1769  und  weit  kräftiger  Goethes  Götz  1773  eröffneten  diese  Bahn, 
welche  durch  Schillers  Rseuber  1782  eine  neue  Erweiterung  erfuhr.  Aber 
die  Dramen  der  Sturm-  und  Drangzeit  gingen  grossenteils  über  das  Auf- 
führbare hinaus;  die  polternden  Ritter-  und  Rseuberstücke  ebenso  wie  die 
weichherzigen  Familiengemselde,  welche  von  bühnenkundigeren  Dichtern  ver- 
fasst  jenen  bald  nachfolgten,  konnten  wohl  die  Zuschauer  blenden  und  rüh- 
ren, aber  eine  dauernde  Befriedigung  hceherer  Ansprüche  nicht  geben.  Erst 
Goethes  Iphigenie  verband  mit  griechischer  Einfachheit  und  Ruhe  deutsches 
Gemüt;  dann  gab  Schiller  von  Wallenstein  1798  an  seinen  dramatischen 
Meisterwerken  ebenso  die  Versform,  die  edelste  Haltung  wie  den  reichsten 
Gedankengehalt.  Gleichzeitig  übertrugen  die  beiden  Dichter  ihre  strengen 
Ansichten  auch  auf    das  Weimarer  Hoftheater,    welches   1791  — 1817  unter 


Schlegels  Schriften  LIV.  52)  Die  Fürsten  Hessen  sich   freilich   ihre  Vorliehe  für  das 

franzoesische    Theater    nicht    nehmen:    nicht   bloss   Friedrich    II,  sondern    auch   Joseph  II 

■j  (Meyer,  Schrueder  S.  376)  und  seihst  Karl  August  hielten   am    dassischen  Stil  der  Franzosen 


344  NEUlIUCilDEUTSClIE  ZEIT.        XVIII  JAIJKU.  §  14ü 

Gcrthcs  Leitung  sich  boftind.  Die  Schauspieler  standen  hier  wirkHch  ganz 
dem  Dichter  /u  Befehl:'^  ihr  Verhältnis  war  jetzt  dem  zu  Anfang  des 
Jaluluindorts  bestehenden  völlig  entgegengesetzt. 

Das  Schauspielerdrama  dos  aclitzehnten  Jalirhunderts  hatte  von  dem 
des  vorhergehenden  auch  die  Oper  übernommen,  diese  aber  bald  ganz  auf 
die  itjdienischen  und  franza»si sehen  Texte  bescliränkt.  Auch  so  ging  die 
deutsche  Oper  bald  dem  Untergange  zu:  1741  wurde  zum  letzten  Male  eine 
deutsche  Oper,  Atalante,  in  Danzig  aufgeführt.  Allein  Gottsched""*  trium- 
phierte zu  früh:  die  Operette ^^  drang  von  England  aus  auch  in  Deutschland 
ein  und  Weisses  Singspiel  Der  Teufel  ist  los' brachte  sie  1752  zuerst  wieder 
auf  die  Bühne,  welche  das  gesungene  oder  vielmehr  mit  Liedern  durchfloch- 
tene  Drama  bis  in  die  siebziger  Jahre  hinein  beherrschte.^*^  Freilich  erst  die 
zunächst  mit  italienischem  Texte  versehenen  Opern  Mozarts  haben  der  Oper 
auch  auf  dem  deutschen  Theater  einen  ebenbürtigen  Platz  neben  dem  hohen 
Drama  gesichert. 

Vereinigten  sicli  in  der  Oper  alle  Künste  um  den  Zuschauer  hinzu- 
reissen,  so  fehlte  es  auch  nicht  an  Dramen,  welche  von  vorn  herein  auf  die 
Aufführung  verzichtend  allein  dem  Leser  gefallen  wollten.  Dies  gilt  vor  allem 
von  der  eigentümlichen  Gattung,  in  welcher  Klopstock  urdeutschen  Inhalt  in 
eine  selbsterfundcnc  Form  kleidete,  dem  Bardiet,  wofür  er  1767  mit  seiner 
Hermannsschlacht  das  erste  Beispiel  gab,  nachdem  er  schon  1757  den  Tod 
Adams  dramatisch,  aber  nicht  für  die  Bühne  behandelt  hatte.  Mehr  eignete 
sich  das  Buchdrama  für  die  litterarische  Satire:"  und  vor  allem  der  junge 
Gopthe  hat  es  in  diesem  Sinne  geistreich  verwendet,  ja  gelegentlich  auch  in 
phantastischer  Weise  zur  Aufführung  gebracht. 

§  146. 

Von  der  Prosa,  so  weit  sie  nur  ein  nachlässigeres  Gewand  für  die  sonst 
in  Verse  gekleideten  Äusserungen  des  Gefühls  und  der  Einbildungskraft  war, 

fest:  vgl.  §  160.  03.  53)  (joethe  führte  sogar  den  Gebrauch  der  Masken  für   die  Auf- 

führung antiker  Stücke  und  ihrer  Narhahraungen  ein.  Vgl.  darüber  0.  Franrke.  Über 
Gfpthes  Versuch  zu  Anfang  unseres  Jahrhunderts  die  roemischen  Komiker  Plautus  und  Terenz 
auf  der  weiniarischen  Bühne  heimisch  zu  machen:  Zs.  f.  vgl.  Litt.-gesch.  und  Renaissance- 
litteratur,  1,  91    fgg.  54)    Noetiger  Vorrat   S.  314.  55)    Ronsseans  Operette,  Le 

fJcvin  du  viUcuje  hatte  die  Gattung  in  Frankreich  rasch  beliebt  gemacht.  56)  Köster, 

Das  lyrische  Drama:  Preuss.  .Jahrbücher  1801  August  S.  188  fgg.  57)  Der   politischen 

Satire  im  patriotischen  Sinne  dienten  eine  Reihe  von  Stücken,  die  1706 — 9  erschienen  waren 
und  von  Gottsched  Noet.  Vorr.  S.  277—282  verzeichnet  sind:  'Eröffnetes  Schauspiel  von  dem 
verdienten  Fall  des  Herzogs  von  Anjou"  u.  s.  w.     Sie    wurden   sicherlich  nicht  aufgeführt. 


§  146  PROSA.  345 

ist  bereits  die  Kode  gewesen:  das  achtzehnte  Jahrhundert  hatte  ja  nicht  nur 
im  Roman  der  erzselilenden  Dichtkunst  eine  beständig  wachsende  Kunstgattung 
zur  Seite  gestellt  und  im  Drama  die  volle  Natürlichkeit  nur  in  Prosa  zu  er- 
reichen geglaubt;  selbst  auf  dem  Gebiet  der  kleineren  Poesie  waren  Oden, 
Idyllen,  Fabeln  in  Prosa  verfasst  worden.  Die  Prosa  des  Verstandes  erhielt 
daneben  nicht  weniger  sorgfältige  Pflege  und  erfolgreiche  Ausbildung.  Zwar 
die  erza?hlende  Prosa  der  Geschichtschreibung  blieb  noch  zurück,  da  das 
Zeitalter  überhaupt  den  historischen  Studien  wenig  geneigt  war,'  des  politi- 
schen Sinnes  crmangelte  und  mit  gutem  Grunde  von  den  überlieferten  Staats- 
verhältnissen sich  nicht  angezogen  fühlte.  Erst  gegen  Ende  des  Jahrhunderts 
trat  der  trockenen  Gelehrsamkeit,  welche  besonders  an  der  Universitset  Göt- 
tingen den  Betrieb  der  geschichtlichen  Forschung  übernommen  hatte,  die 
geschmackvolle  Behandlung  zur  Seite.  Herder  ging  voran,  welcher  mit  um- 
fassender Weite  des  historischen  Blickes,  mit  philosophischer  Vertiefung  der 
Grundanschauungen  die  Weltgeschichte  an  die  Entwickelung  der  Natur  an- 
knüpfte. Schiller  bewsehrte  sich  auch  in  seinen  historischen  Schriften  als 
Meister  des  Stils.  Endlich  fasste  Johannes  Müller  Forschung  und  Darstellung 
zusammen  mit  eigentümlicher,  seitdem  überholter  Kunst.  Und  auch  ihm  war 
die  Quellenkritik  sogar  zuwider;  als  Hauptsache  galt  ihm  die  Ermittelung  der 
Grundzüge  eines  jeden  Zeitalters  und  ihre  eindringliche  Zusammenfassung. 

Vortreffliches  leistete  die  Autobiographie:  die  Erlebnisse  so  vieler  Männer, 
die  sich  zum  Teil  aus  den  engen  Verhältnissen  jener  Zeit  zur  Selbständig- 
keit heraufgearbeitet  haben,  liegen,  mit  Offenheit  und  Ausführlichkeit  erzsehlt, 
uns  vor.^  Die  Krone  dieser  Schilderungen  ist  Goethes  Dichtung  und  Wahr- 
heit, worin  zugleich  eine  Litteraturgeschichte  bis  zum  letzten  Viertel  des 
Jahrhunderts  geboten  ist:  ihre  Entwickelung  hat  er  bei  aller  Ruhe  und  Klar- 
heit des  Alters  doch  mit  vollster  Frische  und  Anmut  ausgeführt.  Wie  hier 
die  Geschichte  der  Dichtung,  so  hatte  weit  früher  die  Geschichte  der  Kunst 

§  146.  1)  Mendelssohn  z.  B.  sagt  (Werke  1,  1.5)  'Was  nur  den  Namen  CTCschichte 
hat,  Naturgeschichte,  Erdgeschichte,  Staatsgeschichte,  gelehrte  Geschichte  hat  mir  nie  in 
den  Kopf  kommen  wollen'.  Für  Goethe  sind  die  mephistophelischen  Neckereien  be- 
zeichnend, womit  er  dem  Historiker  Luden  auf  den  Zahn  fühlt:  Gfjethes  Gespr.  hg. 
v.  Biedermann  2.  79  fgg.  Vgl.  auch  bei  Eckermann  15.  Oet.  1825.  Die  Zeitschriften 
-ind  bis  auf  Schillers  Hören  gegen  Geschichtschreibung  gleichgiltig :  vgl.  Minor,  Weisse 
•'506;  Weinhold,  Boie  27.3.  Mangel  an  historischem  Sinn  spricht  sich  selbst  in  den 
historischen  Tragoedien  der  Stürmer  und  Dränger  aus,  worin  die  bestimmten  Beziehungen 
abgestreift  sind  :  Rieger  Klinger  1,  89.  2)  §  139,  l»i, 


34C  NEUJlOCIIUEUTSCilE  ZEIT.        XVIII  JAllIül.  §  UU 

I 

des  Altertums  in  Winckelmann  einen  Oeschichtschreiber  von  grossartiger  Auf-  I 

tUssung  und  eindrucksvoller  Darstellung  gefunden. 

Die  philosophische  Richtung  auf  die  Ableitung  der  Einzelheiten  aus 
tieferen  Grund/.ügen,  welche  sich  auch  in  solchen  historisclicn  Werken  kund 
gibt,  rausste  uaturgomiess  sich  besonders  günstig  für  die  abhandelnde  Prosa 
erweisen.  In  der  That  ist  gerade  auf  diesem  Gebiet  eine  reiche  Entfaltung, 
ein  gewaltiger  Fortschritt  ersichtlich.  Vor  allem  wurde  die  Kritik  und  Theorie 
der  Kunst  fast  das  ganze  Jahrhundert  hindurch  mit  wachsendem  Erfolge 
gepflegt,  von  den  Anfängen  der  Leipziger  und  Züricher  bis  zu  den  Meister-  _ 
werken  Lessiugs,  Herders,  Schillers.  Nicht  weniger  bemühte  man  sich  um  ™ 
die  Fragen  der  Sittlichkeit  und  der  Metaphysik.  Die  Popularphilosophio 
versuchte  es  immer  von  neuem  und  vielfach  glücklich  die  moralischen  An- 
schauungen der  Zeit  umzugestalten  und  durch  die  AufkUerung  des  Verstandes 
auch  auf  das  Gefühl  zu  wirken.  Eine  völlige  Umwälzung  aller  bisherigen 
Ansichten  über  die  tiefsten  Fragen  brachte  zuletzt  Kant  hervor. 

Dadurch  wurde  besonders  die  Theologie  betroffen.  Und  doch  war  sie 
es,  welche  allein  wirklich  zu  allem  Volke  sprach,*  welche  auch  die  unteren 
Stände  durch  die  Rede  zu  gewinnen  und  zu  lenken  vermochte.  Abgeselm 
vom  Universitsetskatheder,  auf  \velchem  doch  Gelehrsamkeit  noch  hoeher  ge- 
schätzt war,  gab  nur  die  Kanzel  Gelegenheit  Beredtsamkeit  zu  entfalten. 
Auch  fehlte  es  nicht  an  berühmten  Namen  von  Predigern,  wobei  wiederum 
vielfach  die  Übereinstimmung  mit  dem  Wesen  des  Jahrhunderts,  mit  der 
theologischen  Maessigung  und  der  philosophischen  Aufklai'rung  den  Ruhm  be- 
gründen half  So  gleich  bei  dem  Theologen,  den  man  als  den  ersten  deut- 
schen Prosaisten  anerkannte,*  bei  Johaxn  Lorenz  Mosheim;  so  bei  Johann 
Friedrich  Wilhelm  Jerusalem,  dem  Leiter  des  Carolinums  in  Braunschweig;^ 
so  bei  Johann  Joachim  Spalding*"'  und  anderen  Predigern  in  BerUn.  Selbst 
Herder  brachte  wenigstens  die  Ruhe,  Klarheit  und  Einfachheit  auf  die  Kanzel,^  wo- 
von er  sich  in  seinen  Abhandlungen  entfernte.  Noch  zu  Ende  des  Jahr- 
hunderts erwarb   sich  Franz  Volkmar  Reinhard^  in  Dresden  gerade  durch 

3)  Darauf  weist  mit  Recht  Hippel  Selbstbiographie  299:     'Die  Prediger  sind  die  Einzigen, 
die  zum  Volke    reden'.  4)  §  148,  6.     Geb.  1694  zu  Lübeck,    starb    Mosheim  1755  zu 

Göttingen  als  Kanzler   der  Universitset   seit  1747,   nachdem  er   von  1723   an    in  Helmstädt 
die   letzte    Zierde   dieser    Hochschule   gewesen  war.  5)  §  139,  4.     Geb.  zu    Osnabrück 

17(X>,  gest.    1789.  6)   Sein   Verdienst    um   die   Vereinfachung    des    Predigtstils    rühmt 

Herders    Kalligone,    von    Kunst    und    Kunstrichtern,   Suphans    Ausg.  22.    162.     Geb.   1714 
zu  Triebsees,  gest.  1804.  7)  §  157,   18.  19.  8)    Geb.   1753  zu  Vohenstrauss    im 


§  147      GATTUNGEN  UND  FORMEN  DER  PROSA.       347 

die  philosophische  Bildung,  welche  er  seinen  Predigten  zur  Grundlage  gab, 
eine  weitreichende  Anerkennung. 

Die  Form  der  Rede  an  persoenlich  gedachte  Zuhoerer  gab  man  gern 
auch  den  abhandelnden  Schriften,  vor  allem  den  Streitschriften,  und  die 
litterarische  Kritik  bot  vielfach  Anlass  das  Für  und  Wieder  so  zu  erörtern. 
Geradezu  die  Fassung  des  Dialogs  in  solchen  Abhandlungen  zu  gebrauchen, 
war  nicht  üblich:  doch  zeigte  sie  sich  besonders  geeignet,  schwierige  und 
schliessHch  zweifelhafte  Entscheidungen  dem  Leser  zuzuweisen;  daher  kleidete 
wohl  Lessing  z.  B.  seine  Freimaurergesprteche  'Ernst  und  Falk'  1778  und 
1780  so  ein;  Klopstock  und  Moritz  hielten  es  für  vorteilhaft  grammatische 
und  metrische  Fragen  so  abzuhandeln.^ 

Weit  behebter  war  die  Briefform.  Wie  der  Roman  nach  englischem 
Muster  gern  die  Gelegenheit  ergriff  die  innersten  Seelenstimmungen  und  Be- 
wegungen in  dieser  Form  sich  selbst  schildern  zu  lassen,  so  war  sie  auch 
geeignet  bald  einen  Gegner  scharf  ins  Auge  zu  fassen  oder  einen  bestimmten 
Standpunct  zu  berücksichtigen  (und  in  diesem  Sinne  hat  namentlich  Lessing 
meisterhaft  sich  ihrer  bedient),  bald  auch  einen  freieren  Gang  der  Unter- 
suchung einzuschlagen  und  dem  Leser  durch  kürzere  Abschnitte  schwierige 
Fragen  leichter  fasslich  zu  machen:  so  schrieb  Herder  seine  Humanittets- 
briefe,  Schiller  seine  Briefe  über  die  testhetische  Erziehung  des  Menschen. 
Es  stand  aber  diese  schriftstellerische  Briefform  in  innigem  Zusammenhang 
mit  dem  Wert,  welchen  man  damals  überhaupt  auf  briefliche  Mitteilungen 
legte '*^  und  welchen  man  durch  sorgfältige  Vorbereitung  zu  erhoehen  suchte.  ^^ 

§  147. 

Nach    diesen   Umblicken    über    die    allgemeinen   Verhältnisse    und    die 

Gattungen  der  Litteratur  kann  ihre  Entwickelung  im  Einzelnen  au  den  Persoen- 

lichkeiten  der  Dichter  und  Schriftsteller  aufgezeigt  werden.     Viele  der  dem 

vorhergehenden  Jahrhundert    zugeteilten  Dichter  lebten   und    wirkten   in  das 


Sulzbacbischen,  war  er  seit  1777  au  der  Universitaet  Wittenberg  thsetig,  1791 — 1812  als 
Oberhofprediger  in  Dresden.  Eine  Predigt,  welche  auf  das  achtzehnte  Jahrhundert  einen 
Rückblick  wirft,  LB.   3,    1009.  9)  Schiller   empfand    vielleicht    das  Uupassliche   dieser 

Form,  als  er  den  Gedanken  au  ein  Gesprsech  'Kallias\  worin  er  1793  seine  Ästhetik  dar- 
legen wollte,  wieder  aufgab.  10)  Vgl.  G.  Steinhausen,  Geschichte  des  deutscheu  Briefes, 
Berlin  1889.  1890,  11.  11)  Wenn  Goethe  seine  Strassburger  Briefe,  z.  B.  seinen  ersten 
Brief  an  Friederike  zunsechst  im  Concept  aufsetzte,  so  kann  dies  Gewöhnung  au  die  Leipziger 
Lehre  Gellerts  gewesen  sein;  aber  auch  F.  H.  Jacobi  schrieb  au  Goethe  auf  diese  umständliche 
Weise. 


4 


348  NEUHOCIIDHUTSCFIE  ZEIT.         XVIIl  JAlllill.  §  147 

iiclit/ehnte   liiiiein;    aber  sie  sind   schon   frühor  besprochen   worden,   weil  sie 
keinen  Fortschritt  erkennen  lassen,  weil  sie  die  Weise  des  17.  Jahrlmnderta 
nur  fortsetzen  oder  vielmelir  ihren  goriuj^en  Gehalt  völhg  zu  erscliöpfen   und 
gegen  die  Dichtung  last  nur  Überdruss  und  Veraciitung  zu  erwecken  scheinen. 
Neue,  sch(enere  Aussicliten   eröffnet  zuerst  ein  Dichter,  der  freilich  derj 
übrrkoninienen,  der  allgemeinen  Art  zu  dichten  anhängt  und  an  dessen  Schick- 
sal die  Ungunst  der  Zeit  sich  besonders  wirksam  erweist:  Johann  ChkistianJ 
Güntjikk',  geb.  zu  Striegau  IG!);"),  gestorben  als  Student  der  Medicin  zu  Jena] 
172:^.     Früh,  auf  der  Schule"  zu  Schweidnit/.,  erwarb  ihm  sein  Talent  dunst  1 
und   Ijiebe;  den  Verw(ehnten  riss  auf  der  Universitait  zu  Wittenberg,  die  er 
171.")  bezogen,  die  Hoheit  des  Studentenlebens  hinab;  in  Leipzig  vom  Professor 
Burkiiard  Menke  (§  135)^  wieder   gehoben,    verscherzte  er  1719  die  freilich 
bedenkliche  Aussicht  Hofdichter  in  Dresden  zu  werden;^  seitdem  irrte  er  durch 
sein   Vaterland,   oft  drückender   Not  preisgegeben,   vom   eigenen    V^ater   hart 
abgewiesen,    bis   das   letzte    Aufraffen    ihn    nur    dem    frühen  Tode    zuführte. 
Wie  dieser,  so  erinnert  auch   seine  Dichtergabe  an  Flemming.     Günther  ist 
Lyriker;  die  Gelegenlieitsdichtung,  oft    im  Namen  eines  andern"  geübt,  ist  sein 
Gebiet,  dem  er  jedoch  wie  Flemming  die  ganze  Kraft  seines  Gemütes  zuwendet. 


§  147.  1)  Die  Quellen  für  Günthers  Lebensgeschichte  fliessen  spaet  und  trüb.  Eine  1732 
zu  Si'hweiduit/,  eisihieueue,  'J.  Ch.  Günthers  curieuse  und  merkwürdige  Lebens-  und  Keise- 
beschreibung'  in  Versen  istunächt:  Beytr.  zur  i-rit.  Hist.  der  deutschen  Spr.  1  247  fgg.  Unter 
dem  Namen  Carl  Ehrenfried  Siebrand  schrieb  der  Arzt  Chr.  E.  Steinbach  'J.  Ch.  Günther« 
.  .  Leben  u.  .Schrifl'teu.  gedruckt  in  Schlesien'  [Breslau]  17.'}8,  au«  pers<f ulicher  Kenutuis, 
aber  ungenau  und  mit  selbstischen  Nebenabsichten.  Hu-huisch  und  grub,  ohne  Neues  zu 
bieten,  erwiderte  ein  Gottschedianer  (vermutlich  Steinauer:  Litzmann  Liscow  S.  104)  in 
'Gespräche  zwischen  J.  Ch.  Günthern  .  .  .  in  dem  Reiche  der  Todten  und  einem  Ungenauntea 
in  dem  Reiche  der  Lebendigen'  1739.  Neuerdings  schrieben  Hüffmann  v.  Fallersieben 
in  den  Spenden  zur  deutschen  Litteraturgeschichte  IL  115  fgg.  und  U.  Koquette,  Stuttgart 
IbtiO,  das  Leben  des  Dichters.  M.  Kalbeck  verütfeutlichte  Neue  Beitrage  zur  Biographie, 
Lpz.  1879;  B.  Litzmann  schrieb  Zur  Textkritik  u.  Biographie  Günthers,  Frf.  a.  M.  1880. 
Dilettantisch  ist:  G.  K.  Wittig,  Neue  Entdeckungen  zur  Biographie  G's.,  Striegau  1881. 
2)  Eine  beim  Abgang  von  Schweidnitz  1715  aufgeführte  Schulkomaidie  Constantin  behandelt 
die  Geschichte  der  Atheuais-Eudocia  in  Lohcnsteius  Weise,  aber  mit  komischen  Zwischen- 
seenen  offenbar  nach  dem  Muster  des  .Jesuitendramas.  Gottsched  tadelt  das  Stück  heftig: 
Crit.  Beytr.  IV.  184  fg.  3)  «^  138,  13  sollte  es  heisseu:  Begründet  von  Otto  Mencke,  1682, 

fortgesetzt  von  seinem  Sohu  Burkhard  Mencke  (§  135).  4)  Die  durch  die  'Gespräche  im 

Reiche  der  Todten'  aufgebrachte  Auecdote.  Ulrich  Kcpuig  (,§  13(i)  habe  Günther  vor  der 
Audienz  betrunken  macheu  lassen  und  so  diesen  Nebenbuhler  beseitigt,  ist  eine  boshaft« 
Erfindung:  in  einem  zu  Lauban  um  1720  verfassten  Gedicht  (Kalbeck  S.  47  fg.)  freut  sicll 
Günther  dass  Koenig,  'ein  Mann   von  Geist  und  Grund'  die  Stelle  erhalten  habe  und  nicht 


i 


§  147  GÜNTHER.  349 

Seine  Formen  sind  die  der  Reimverse,  der  überlieferten  und  oft  sangbaren 
Strophen,  die  er  jedoch  mit  wunderbarer  Leichtigkeit  und  Anmut  handhabt; 
seine  Sprache  ist  rein  und  schlicht,  nur  durch  wenige  Allegorien,  durch 
Vergleiche  und  Anspielungen  auf  antike  Dichtungen  gehoben.  Was  ihn  von 
der  gleichzeitigen  Hofdichtung  glänzend  unterscheidet,  ist  einerseits  die  Kraft 
der  Empfindung,  andererseits  die  scharfe  Beobachtung  und  ungescheute  Ein- 
flechtung  von  Zügen  des  wirklichen  Lebens.  Der  leidenschaftliche  Ausdruck 
des  Jubels  über  glückliche  Liebe,  der  Trauer  über  erfahrene  Untreue  und 
Erbarmungslosigkeit,  der  Reue  über  seine  eigene  Verschuldung  steht  ihm  ebenso 
zu  Gebote  wie  der  übermütige,  bittre  Spott,  der  sich  besonders  gegen  die 
ihm  feindhch  gesinnten  Geistlichen  wendet,  und  die  Sprache  des  jugendlichen 
Frohsinns,"'  selbst  des  Leichtsinns.  Auch  der  Versuch  groessere  Gegenstände 
zu  besingen,  den  er  mit  seiner  Ode  'Auf  den  zwischen  Ihro  Roem.  Kayserl. 
Majestaet  und  der  Pforte  (zu  Passarowitz)  1718  abgeschlossenen  Frieden'^  unter- 
nahm, zeigte  Begeisterung  und  lebhafte  Einbildungskraft,  nur  dass  auch  bei 
Prinz  Eugen  der  arme  Dichter  vergebens  auf  Lohn  hoffte.  Sein  Stolz  blieb 
ungebrochen'  und  die  Muse  war  seine  Troesterin  auch  im  Elend.  Seine 
Dichtung^  wirkte  besonders  unter  den  Studenten  fort,  und  in  Leipzig  eiferte 
ihr  noch  der  junge  Goethe  nach.^ 

Zu  Günthers  Schicksal  stellten  schon  die  Zeitgenossen  in  den  schärfsten 
Gegensatz  das  eines  Hamburger  Dichters,  der  ihnen  zugleich  den  lange  be- 
haupteten Dichterruhm  Schlesiens  auf  den  Norden  zu  übertragen  schien. '° 
In  der  That  führte  Barthold  Heinrich  Brookes  ''  ein  durch  Glück  und  Klug- 
heit gleich  begünstigtes  Leben:'^  geb.  zu  Hamburg  1680,  in  Halle,   Genf  und 

der  Wasserdichter,  'der  mich  vorhin  verschnitt".  5)  Übersetzung  des  Gaudeamus  igitur 

LB.  2,  G77.  Dagegen  'Als  er  sich  seiner  ehemaligen  Jugendjahre  mit  Schmerzen  erinnerte' 
678.  6)  LB.  2,  665.     Gottscheds  Urteil  s.  §  142,  1.     Elias  Schlegel  sagt:  'Der  Ton  in 

welchem  Günther  sprach:  Eugen  ist  fort,  ihr  Musen  nach!  Hat  mich  auf  den  Parnass  gerissen': 
AusiT.  von  1766  IV  S.  18U:  und  er  führt  öfters  Stelleu  aus  Günthers  Gedichten  an. 
7)   LB.   676.  8)    Eine   Ausgabe   der   Gedichte  Günthers,  vou  Gottfried  Fessel  ziemlich 

leichtfertig  besorgt,  erschien  zuerst  Frankfuit  u.  Leipzig  1724  mit  mehrmaligen  Fortsetzungen 
1725.  1727.  1735,  uud  öfters  wiederholt,  s.  die  in  Aum.  1  genannte  Schrift  von  Litzmann, 
welcher  auch  bei  Reclam  in  Leipzig  o.  J.  eine  kritische  Auswahl  herausgegeben  hat;  eine 
andere  von  Tittmann,  Lpz.  1874:  von  Fulda  in  Kürschers  Nat.  litt.  38  (o.  .1.).  9)  Merk- 

würdiger Weise  lebt  eiu  Gedicht  Günthers,  durch  das  Volkslied  fortgeführt,  in  Hautls  Sol- 
datenlied Morgenrot'  zum  guten  Teil  noch  jetzt  weiter:  Litzmann  Zur  Textkritik  S.  30. 
10)  So  Günther  selbst  1718:  s.  Weichmann,  Poesie  der  Niedersachsen  3,  Vorbericht;  Vor- 
rede zu  Günthers  Gedichten  ^1726.  11)  Auch  Brokes  oder  Brooks  geschrieben:  das 
0  ist  laug.             1*2)  Seine  selbstverfasste   Lebensgeschichte   ist  vollständig  abgedruckt    in 


350  NEUHOCIIDEUTSCITE   ZEIT.         XVIII  JAIIRII.  §  147 

Leiden  und  sonst  auf  Reisen  vorgebildet,  1720  Senator  geworden  und  seitdem 
sowohl  als  Diplomat  wie  als  Amtmann  th.'ctig,  starb  er  1747;  vor  allem  steht 
seine  lleiratsgeschichte,  ausgesprochenermasscn  auf  Reichtum  gerichtet,  ai)er 
zu  glückliolier  Ehe  führend,  Günthers  wechsclvoUon,  und  doch  mit  der  Leiden- 
schaft des  Herzens  erfüllten  Liebeserlobnissen  schroff  gegenüber.  Ganz  ver- 
schieden von  Günthers  Dicliterart  und  docli  nicht  ohne  nachhaltige  Wirkunjj 
war  die  von  Brockes  gepflegte  Gattung  der  Poesie.  Zuerst  durch  ein  viel- 
cuinponiertes  Passionsoratorium  'Der  für  die  Sünde  der  Welt  gemarterte  und 
sterbende  Jesus'  1712  bekannt  geworden,  liess  er  1715  eine  Übersetzung  nach 
Marino  Verdeutschter  Betlehemitischer  Kindermord'  erscheinen,  worin  er  sich 
noch  als  Anhänger  des  schwülstigen  Stiles  der  zweiten  schlesischen  DichterscJmle 
zeigte.  Dies  Gedicht  hatte  er  in  der  Teutschen  Gesellschaft'-'  vorgetragen, 
in  welcher  er  sich  mit  Ka^nig  und  den  Gelehrten  llichey, '^  Fabricius,  Joh. 
Hühner  u.  a.  1715 — 1718  zusammenfand,  wie  er  auch  1716  — 1748  mit 
Einigen  von  ihnen  die  Patriotische  Gesellschaft  bildete,  die  den  'Patrioten' 
(§  140,  33)  herausgab.  Die  Gedichte  dieses  Kreises,  meist  Gelegenheitsge- 
dichte, erschienen  mit  verwandten  zusammen  in  der  Sammlung  von  C.  F. 
Weichmann,  Poesie  der  Niedersachsen'  in  sechs  Bänden'^  zu  Hamburg  1725 
bis  1738.  Das  Hauptwerk  von  Brockes  war  sein  'Irdisches  Vergnügen  in  Crott 
bestehend  in  physicalisch-  und  moralischen  Gedichten','''  eine  Reihe  von  Natur- 
betrachtungen in  wechselnden,  oft  freien  Versen,  welche  meist  von  geringen 
Gegenständen  ausgehend,  zuweilen  aber  auch  von  einem  durch  die  Malerei " 
geweckten  Sinn  für  landschaftliehe  Schoenheit  beseelt,'-  überall  auf  den  Preis 
Gottes  in  aufgeklaertem  Sinne '^  hinführten.     Der  erste  Teil,  1721,  erlebte  eine 

der  Zs.  des  Vereins  für  haniburgische  Geschichte  II  (1847)  S.  167  fgg.  Vgl.  ferner  das 
hamb.  Schriftstellerlexikon  und  Alois  Brandl,  B.  H.  Brockes,  Innsbruck  1878.  13)   Über 

diese  Gesellschaft  s.  Petersen.  Zs.  f.  hamburg.  Geschidite  II  533  fgg.  14)  Die  Gedichte 

Richeys,  welcher  sich  als  Dialectforscher  durch  sein  Idioticon  Hamburgense  1743  noch 
mehr  verdient  gemacht  hat,    erschienen  1764  gesammelt.  lö)   Band  IV — VI  sind  von 

J.  P.  Kohl  herausgegeben.  Es  sind  zusammen  nicht  weniger  als  68  Dichter  und  Dichte- 
rinnen vertreten;  einige  mit  plattdeutschen  Gedichten,  so  Brockes  1,  138  fgg.  Für  den 
Mangel  an  Anteil  des  Gemüts  ist  es  ebenso  bezeichnend,  wenn  hier  eine  Anzahl  fremder 
Herrscher  angesungen  werden,  die  Koenige  von  Schweden,  Dajnemark,  England  sowie  russische 
Grossfürsten,  als  wenn  Brockes  ein  Trostgedicht  seiner  Freunde  auf  den  Tod  eines  seiner  Kinder 
mit  Beibehaltung  der  Reimwörter,  also  in  bouts-rimes  beantwortet:  2,  248.  16)  Probett 

LB.    649  fgg.     Auswahl    von   Fulda   in  Kürschners  Nationalbibl.   39.  17)  Brockes  war 

besonders  mit  dem  holländischen  Maler  Mieris  befreundet.  18)  Die  Naturbilder  wurdett 

zuweilen  glücklich  unterbrochen  durch  Einführuuir  der  Kinder  des  Dichters:  Brockes  war 
ein  trefflicher  Familienvater.  19)  Brockes  benutzte  besonders  Scriver  (§  138,  24):  s.  Brandl 


§  147  BROCKES.  HAGEDORN.  351 

Anzahl  von  Auflagen  und  erwarb  dem  Dicliter  Rulim  und  Hofgunst;  der 
neunte,  1748  erschienen,  verfehlte  alle  Wirkung:  der  Dichter  hatte  sich  aus- 
geschrieben und  die  persoenliche  Eitelkeit  trat  mit  Nüchternheit,^**  ja  Gredanken- 
iosigkeit  gepart  zu  Tage.  ^'Noch  zuletzt  wandte  sich  Brocke«  wieder  der 
Übersetzerthsetigkeit  zu,  jetzt  mit  Bevorzugung  der  Engländer:  Popes  Versuch 
vom  Menschen  1740,  und  besonders  Thomsons  Jahreszeiten,  1745  verdeutscht, 
haben  für  diese  Zeit  gewiss  als  Muster  gelten  dürfen.  Aber  die  Sprache  in 
den  Dichtungen  von  Brockes  erschien  frühzeitig  durch  Neubildungen^"  wie 
durch  mundartliche  Färbung^-'  entstellt,  durch  Breite  und  Trivialität-^*  ermüdend. 
So  war  es  ein  Freundesdienst,  wenn  Hagedorn  aus  den  ersten  fünf  Teilen 
des  Irdischen  Vergnügens  in  Gott'  einen  'Auszug  der  vornehmsten  Gedichte', 
Hamburg  1738,  herstellte.^^  Wie  Brockes  das  ehrbare  kluge  thaetige  Hamburg 
vertrat,  so  Hagedorn  das  Wohlleben  und  die  freie  Bildung,  worin  sich  besonders 
die  dort  zahlreich  anwesende  Diplomatie  auszeichnete.  Sohn  eines  dsenischen 
Conferenzrates,  war  Friedrich  von  Hagedorn^"  1708  in  Hamburg  geboren, 
1729 — 31  in  London  als  Privatsecretser  des  dsenischen  Gesandten  beschäftigt, 
spaeter  bis  zu  seinem  Tode  1754  in  Hamburg  als  Secretser  der  englischen 
Court  d.  h.  Handelsgesellschaft,  in  einer  Stellung  die  ihm  viel  Müsse  und 
Freiheit  Hess.  Seine  aus  Geldrücksichten  geschlossene  Ehe  gewsehrte  ihm 
kein  glückliches  Familienleben.  Um  so  mehr  gab  er  sich  einer  behaglichen 
Geselligkeit  hin  und  einem  geschmackvollen,  tiefeindringenden  Litteratur- 
studium.  Sein  Liebling  war  Horaz,  dessen  Gedichte  er  vielfach  mit  Einmi- 
schung heimatlicher  Züge  nachahmte.  Den  franzoesischen  Lyrikern  und  den 
englischen  Moralphilosophen  der  Zeit  entlehnte  er  Formen  und  Gedanken,  worauf 
in  Anmerkungen  zu  seinen  Gedichten  hinzuweisen   er  fast  als  Pflicht  ansah. 

S.  46.  20)  Schou  früher  hatte  er  auch  die  vier  Elemente,  die  fiiaf  Siune  u.  se.  besungen. 

21)  Kleine  Künste,  wie  ilie  Nachahmung  des  Nachtigallschlags,  die  Schilderung  des  Wohl- 
geruchs einer  Nelke  durch  Ricchpausen  nach  jeder  Silbe  können  dafür  nicht  entschiedigeu. 
Beispiele    der    Lautmalerei    bei   Brockes   bringt  lobend   vor   Breitinger   Grit.  Dichtk.  :i,   2ü. 

22)  Besonders  viele  Zusammensetzungen  mit  be  — :  beblühmt,  bebüscht,  beblättert,  beschtvitzt, 
beschuppt  usw.  23)  Kein  Spierclien  Gras,  Spiegel  mit  Fulgen  von  Silber  \\.  a.  Keime 
wie  um  :  Stimm.  24)  derselbe,  derjenige  u.  se.  Flickwörter.  25)  Dass  Hagedorn 
die  Schwächen  der  Dichtung  von  Brockes  kannte ,  hat  er  durch  gelungene  Parodien  be- 
wiesen: Eschenburgs  Ausgabe  4,  115.  Noch  feindlicher  urteilte  K(jenig  übei'  Brockes,  den 
er  im  Bunde  mit  Bodmer  1725  in  einem  'Boberfeldischen  Journal'  bekämpfen  wollte:  Brandl 
S.  135  If.  26)  Lebensgeschichte  von  Eschenburg  in  der  Ausgabe  der  Poetischen  Werke, 
Hamburg  18U0  V,  Bd.  IV;  im  V.  der  Briefwechsel  Hagedorns.  Vgl.  ferner  K.  Schmitt  im 
Jahrbuch  f.  deutsche  Litt.-Cxesch.  von  A.  Heuneuberger  1.  Meiningen  1855  und  H.Schuster 

Wackernagel,  Litter.  Geschichte.  II.  24 


352  NEUHOCllüEUTSCHE  ZEIT.         XVIII  JAlllUl.  §  147 

Frühzeitig,  schon  als  zwölf jti'hiiger  hatte  er  seine  Gelegenheitsgedichte  drucken 
sehn;  dann  sich  an  Wcichnuiuns  Siuniniung  beteiligt.  Von  der  Universitiet 
Jena  zurückgekehrt,  verötfentlichre  er  1729  den  Versuch  einiger  Gedichte 
oder  Erlesene  Proben  l'oetischer  NebenstundcnV^  teils  Satiren  nach  Rachels 
Vorbild,  in  denen  er  die  Fehler  der  feinen  Gesellschaft  rügt  und  durch  den 
Hinweis  auf  die  Einfachheit  der  LamUeute  zu  beschaiinen  sucht,  teils  Oden, 
unter  ihnen  Der  Wein',  eine  in  Form  und  Erfindung-'*  an  Günthers  Ode  auf 
Prinz  Eugen  sich  anschliessende  Dichtung,  welche  er  spaeter  überarbeitet  und 
stark  verkürzt  liat.-^  Dann  eröffnete  er  1788  mit  einem  Versuch  in  poetischen 
Fabeln  und  Erza'hlungen'  eine  neue,  erfolgreiche  Bahn;  noch  andere  Gedichte 
dieser  Art  fügte  er  der  1750  erschienenen  Sammlung  Moralische  Gedichte' 
bei.  Lafontaine  war  hier  sein  Vi>rbild,'"  dem  er  mit  der  Ausmalung  von  Einzel- 
heiten, mit  der  oft  strophischen  Form,  mit  der  kühlen,  verstandesmiessigen 
Moral  folgte;  auch  die  Erziehlungen,'^'  zu  denen  teilweise  auch  Bocaccio  den 
Stoff  gewa^hrte,  tragen  nur  der  sinnlichen  Liebe  Recliuung,  gehn  aber  nicht 
auf  die  Erregung  der  Lüsternheit  aus  und  sind  im  Ausdruck  durchaus  unan- 
stoessig.  Ahnliche  Richtung  auf  das  Zierliche,  Muntere,  Leichtfertige  zeigen 
die  Oden  und  Lieder',  zuerst  mit  den  Musiknoten  erschienen,  dann  in  fünf 
Bücher  gesammelt  1747.^*  Sangbar  und  durchaus  correct  in  der  Sprache*' 
gaben  sie  der  Liederdichtung  der  Folgezeit  ein  vielfach  nachgeahmtes  Muster. 
Zugleich  wandte  der  Preis  der  offenen,  auf  Gleichstellung  beruhenden  Freund- 
schaft, welcher  der  Dichter  auch  in  der  Widmung  der  einzelnen  Gedichte  an 


Diss.  Lpz.  1882.  27)  Neudruck  von  Sauer :  Deutsche  Litteraturdenkniale  des  18.  Jahr- 

hunderts 10,  Heilbionu   1883.  28j  Schatteu  aus  deu  Rtj-uierkriegeu,    Haus  und  (irete. 

LB.  2,  694  fgg.  29)  Die    dichterische  Entwickeluug  Hagedurns    ist    an  der  Hand  der 

vou  ihm  selbst  beigefügteu  Entstehuugsjalirc  leicht  zu  verfolgen.  30)  S.  die  zu  §  143, 

15  angeführte  Schrift  von  W.  Eigenbroilt.  31)    Dass    in    der    berühmtesten    Johannes 

der  Seifensieder'  anstatt  des  savetier  bei  Lafontaine  auftritt,  ist  wohl  nicht  als  ein  Miss- 
verstiindnis  zu  erklären  (wie  allerdings  bei  Ch.  H.  Schmid :  Minor.  Weisse  40.3),  in  Folge 
dessen  Hagedorn  einen  snvonnier  untergeschoben  hätte:  Hagedorn  führt  die  gleiche  Erzäh- 
lung von  dem  Schuster  bei  ßurkard  AValdis  an.  So  verdankt  Johann  sein  Handwerk  wohl 
dem    bequemen    Keim    auf    Lieder    und    tvieder.  32)  Öfters  wiederholt,    auch    in    der 

Gesamtausgabe  in  3  Bänden.  Hamliurtc  l?.')?.  Die  an!;ehäno:tc  AbhautUung  vou  la  Nautt 
über  die  Lieder  der  (rriechen,  von  Ebert  übersetzt,  ward,  wie  Herder  sagt,  dassisch  fSf 
die  Deutschen :  Suphaus  Ausg.  XXV^II,  S.  187  Anm.  33)  Schon   1727  sagt  Hagedort 

l^Escheuburgs  Ausg.  ö.  14):  'Ich  habe  mich  insonderheit  bemüht,  in  dem  Ausdruck  keinen 
obersächsischeu  Ohre  ekel  zu  werden,  und  daher  um  irewisser  zu  »jehn,  dies  Oiedicht  vo» 
einem  Schlesier  censieren  lassen*.  Merkwürdiger  Weise  hat  er  sogar  oberdeutsche  ProviB- 
zialismeu  seinen  Bauern  beigelegt;  fielt.  Schätz} e :  s.  Eschenburg  8.  149:  lassl  mich  ungeheU 


§  147  HAGEDORN.     DROLLINGER.  353 

seine  Freunde  Ausdruck  gab,  die  Verehrung  der  Jüngeren  ihm  vorzüglich 
in  der  Zeit  zu,  als  der  Streit  zwischen  Leipzig  und  Zürich  eine  unparteiische 
Stellung  als   besonderen  Dankes  wert  erscheinen  Hess. 

In  vieler  Hinsicht,  durch  die  gleiche  Strenge  in  der  Beurteilung  der  eigenen 
frühereu  Dichtungen,  in  der  ablehnenden,  aber  nicht  absprechenden  Haltung 
den  späteren  Neuerungen  gegenüber  stellte  sich  Hagedorn  zur  Seite  ein  Dichter, 
welcher  sonst  zu  ihm  einen  bedeutsamen  Gegensatz  bildete  und  diesen  Gegen- 
satz wie  jene  Übereinstimmung  auch  ausdrücklich  anerkannt  hat.^^  Der 
Munterkeit  und  Zierlichkeit  Hagedorns  gegenüber  steht  die  Empfindungstiefe, 
die  Schwermut,  der  Ernst  Hallers.  Spseter  wiederholte  sich  dieser  Gegensatz 
auf  höherer  Stufe:  er  trennt  Klopstock  und  Wieland,  ja  auch  Goethe  und 
Schiller.  In  Haller  war  diese  Geistesrichtuug  verbunden  mit  Eigenschaften 
der  Form,  die  sich  teilweise  aus  eeusseren  Umständen,  insbesondere  aus  seiner 
schweizerischen  Herkunft  erklaeren.  Die  Schweiz  war  politisch  seit  lange  von 
Deutschland  getrennt;  seit  dem  dreissigjiehrigen  Kriege  hatte  sie  auch  an  dem 
Geistesleben,  insbesondere  au  der  Poesie  Deutschlands  wenig  Anteil  ge- 
nommen. Die  erste  Wiederanknüpfung  fand  an  der  Gränze,  in  Basel  statt, 
wo  ein  dem  badischen  Laude  zugehoeriger  Dichter  hervortrat  und  mit  seiner, 
dem  schweizerischen  Wesen  verwandten  Dichtung  eine  weitere  Fortsetzung 
und  Ausbildung  dieser  Dichtuugsart  in  der  Schweiz  selbst  hervorrief.  Karl 
Friedrich:  Drollinger ''^  war  1688  zu  Durlach  geboren,  verweilte  aber  seit 
1703  erst  als  Student,  dann  als  badischer  Archivbeamter  in  Basel  bis  zu 
seinem  Tode  1742.  Seine  Gedichte,  soweit  er  sie  nicht  selbst  vernichtet  hatte, 
erschienen  erst  1743,  mit  einer  Gediichtnissrede  seines  Schülers  J.  J.  Spreng 
(Prediger  und  Professor  zu  Basel,  1699  —  1768),  der  ebenfalls  und  zwar  mit 
geistlichen  Liedern  sich  versuchte,  und  für  die  Baseler  Mundart'*''  gesammelt 
hat  wie  DroUinger  die  altdeutsche  Sprache  in  den  Urkunden  studierte. 
r)rollinger  bearbeitet  noch  Psalmen  und  dichtet  Sonette,  aber  er  preist  Boileau 
iiul  übersetzt  Pope;  er  ahmt  Brockes  nach,  mit  welchem  er  auch  in  Brief- 
verkehr stand;  aber  er  wffihlt  hoehere,  metaphysische  Gegenstände  für  seine 
Lehrgedichte:  'Lob  der  Gottheit,  Über  die  Unsterblichkeit  der  Seele,"  Über 
lie  göttliche  Fürsehung'.      Am   selbstständigsten   ist  er  in  formellen  Dingen: 

'•.  82.     Über    spsetere    Correctureu    von    Ramler:    s.  Eschenburg  4,   102.  34)  Haller 

itiau8g.  von  Hirzel,    S.  397:    ein  Brief  au  Freiherrn   von  Cremniingen    1772.  35)  W. 

Aackernagel,  DroUinger,  Akail.  Festrede,  Basel  1841  (Kl.  Sehr.  2,  428  fgg.).     Th.  Löhleia, 
»roUinger,   Progr.  d.  Gymn.  Karlsruhe  1873.  36)    Idioticon   Rauracum   s.  Ad.  Socin 

II  Birlingers  Alemannia  15.  185  fgg.  37)  LB.  2.   657.     Alle  diese  Oden  in  derselben 


354  NEUTIOORDEUTSniE   ZEIT.         XYIII  JAIIKII.  §  147 

er  zuerst  lehnte  sich  ausdrücklich  gegen  den  Reim,  gegen  den  Alexandriner^' 
auf  (§  142,  24). 

Drollingers  Einfluss  erfuhr  Alhrk.cht  von  IIali.rr,'*^  als  er  1728  in 
Basel  lebte.  Geb.  1708  zu  Bern,  hatte  er  1728 — 28  in  Tübingen  und  Leiden 
studiert,  und  Xorddeutschland,  England,  Frankreich  bereist.  Nachdem  er  sich 
1729  in  seiner  Vaterstadt  als  Arzt  niedergelassen,  folgte  er  1736  einem  Rufe 
nach  Göttingen,  wo  er  der  neubegründeten  Universitaet  wesentlich  ihren  Glanz 
verlieh  und  sich  insbesondere  als  Anatom  und  Physiologe  einen  Weltruf^" 
erwarb.  Trotzdem  ergriff  er  1753  die  Gelegenheit  in  seine  Heimat  zurück- 
zukehren; nach  unermüdlicher,  vielseitiger,  zuletzt  auch  voll  anerkannter 
Thwtigkcit  starb  er  zu  Bern  1777.  Neben  seinen  zahl-  und  umfangreichen 
Fachschriften,^'  seiner  ebenso  ausgedehnten  kritischen  Schriftstellerei,  besonders 
in  den  Göttinger  gelehrten  Anzeigen  (§  140,  39)  erscheint  Hallers  Dichtung 
zwar  an  Umfang  gering,  aber  an  Wert  und  Wirkung  nicht  minder  ausge- 
zeichnet. Seine  Jugendversuche  hatte  er  selbst  grossenteils,  als  durch  den 
Lohensteinischen  Geschmack  allzu  verdorben,  unterdrückt;  seine  spaeteren 
Gedichte   suchte  er  in  Sprache  und  Versbau  beständig  nachzubessern,*^    un( 

lOzeiligen  Strophe.  38)  LB.  2,  662    'über  die  Tyrannei    der    deutschen  Dichtkunst'. 

Doch  lobt  Drollinger  noch  Gottsched,    der    ihn    1733    in    die   'Deutsche  Gesellschaft'  aufge- 
nommen hatte.  39)  Schon  1755  erschien  in  Zürich:  'Das  Leben  des  Herrn  von  Haller' 
von  .1.  G.  Zimmermann,  wozu  Haller  selbst  das  Material  geliefert  hatte:    nach  »einem  Tode 
(von    G.   Heinzmann    herausgegeben)  'A.  v.  Hallers    Tagebuch    seiner    Beobachtungen    über 
Schriftsteller    und    an    sich    selbst,    zur  Karakteristik    der  Philosophie    und  Religion  diese« 
Mannes',  II  Bern  1787.  grossenteils  Auszüge  aus   den  Gütt.  gel.  Anz. ,    aber  auch  ein  noch 
nicht  wieder  aufgefundenes  religitpses  Tagebuch  von  1766  ab.    Zum  hundertjährigen  Todes- 
tag erschien  'A.  v.  H..   Denkschrift',    Bern    1877    (von   Blösch,    Hirzel,    Fischer,    Valentin. 
Bachmann);  1879  A.  v.  H.  und  seine  Bedeutung  für  die  deutsche  Litteratnr  von  Ad.  Frey, 
Leipzig:    1882  A.  v.  Hallers  Gedichte,    herausg.  u.  eingeleitet   von   L.  Hirzel,    Frauenfeld: 
ferner    Hallers  Reisetagebücher    mit    einem  Gedicht  vou  1721,    hg.  von    L.  Hirzel,    Leipzig 
1783;  Ed.  Bodemann,  Von  und  über  Hallcr.  üngedruckte  Briefe  und  Gedichte  (aus  Zimmer- 
manns   Nachlass),    Hannover    1885.  40)  Neben    der  englisch  -  hannoverischen  Regie- 
runtr  war  es  besonders  Friedrich   der  Grosse,    welcher  zweimal  Haller  für  seinen  Staat  n 
crewinnen    suchte:    1749    an    die  Akademie    der  Wissenschaften    zu    Berlin,    und    1755   ab 
Kanzler   der   Uuiversitst   Halle.     1749    ward    Haller    geadelt.  41)  Auch    hier    wei« 
er  allgemeine  und  fruchtbare  Gedanken  einzuflechten :  so  über  den  Wert  der  Hypothesen  I^ 
3,  2,  25  fgg.            42)  S.  die  Varianten  zu  den  Stücken  im  LB.  2,  714  und  vgl.  W.  Hon* 
Die  EntWickelung  der  Sprache  Hallers.  Progr.  Bielitz  1890:  Käslin  Freiburger  Diss.  1896 
Haller   benutzte  zu  iliesen  Berichtigungen  den  Rat   des  hannoverischen  Leibarztes  Werlhof 
dessen  Gedichte  er  selbst  1749  herausgab.    In  der  Handhabung  fremder  Sprachen,  insbesondW" 
des  Franzcpsischen  und  Lateinischen  zeijjt  Haller  übriffens  eine  staunenswerte  Gewandtheit 


§  147  HALLER.  355 

zugleich  seinen  immer  strenger  gewordenen  sittlichen  und  religioesen**  Ansichten 
gemsess  umzugestalten.  80  trtegt  die  erste,  ohne  den  Namen  des  Dichters 
erschienene  Ausgabe,  der  Versuch  Schweizerischer  Gedichten',  Bern  1732, 
vielfach  ein  anderes  Gepraege  als  die  letzte  von  ihm  besorgte,^^  die  elfte  1777. 
Doch  legt  Haller  die  Tiefe  und  Fülle  seiner  Gedanken,  die  Kraft  und  Kürze 
seines  Ausdrucks  auch  in  die  Dichtung  über  die  eigensten  Angelegenheiten: 
in  die  Gedichte  auf  Lebensereignisse,  auf  Freunde*''  und  auf  die  Gattin, 
die  er  als  Doris  **  umwarb,  die  er  in  zweien  seiner  spseteren  *^  Gedichte,  als 
sie  kurz  nach  der  Ankunft  in  Göttiugen  gestorben  war,  unter  ihrem  Namen 
Marianne  rührend  beklagte.  Innig  spricht  der  jugendliche  Dichter  seine 
Sehnsucht  nach  dem  Vaterlande  *"*  aus;  die  schweren  Schweden,  an  denen  die 
Republik  Bern,  wesentlich  unter  dem  Einfluss  Frankreichs  krankte,  deckt  er 
durch  kräftige  Satiren  auf:  Die  verdorbenen  Sitten,  Der  Mann  nach  der  Weif. 
Noch  ernster  wird  der  Dichter  da,  wo  er  im  Lehrgedicht  die  tiefsten  Fragen 
der  Sitten-  und  Glaubenslehre  dichterisch  erörtert:  Über  den  Ursprung  des 
Übels,  Über  die  Ewigkeit'.*^  Am  gewinnendsten  vereinigt  sich  Vaterlands- 
liebe, Lob  der  einfachen  Sitten  und  die  auch  im  Einzelnen  kenntnisreich 
verweilende  Schilderung  einer  grossartigen  Natur  in  dem  1729  verfassten 
Gedicht  Die  Alpen'.-^"  Ward  hier  Hallers  Wirkung  spaiter  durch  Rousseau 
noch  überboten,  der  die  Naturschocnheiten  der  Schweiz  und  die  Vorzüge  des 
Naturlcbens  in  die  Wcltlittcratur  einführte,  so  wandte  sich  Haller  im  Alter  als 
Staatsmann  wie  als  Schriftsteller  gegen  Rousseaus  übertreibende  Lehren:  auch  er 
griff  zur  Form  des  Romans  um  in  Usong'  1771  die  unumschränkten  Herrscher 
seiner  Zeit  in  der  beliebten  morgenländischen  Einkleidung  zu  belehren  und 
zu  ermahnen,^'  in  'Alfred,  Koenig  der  Angelsachsen'  1773  das  von  ihm  hoch- 

Franzcjesische  Gedichte  hat  er  wie  Hagedorn  der  ersten  Ausgabe  seiner  Dichtwerke  beige- 
geben. 43)  Durchaus  protestantisch  gesinnt  bekämpft  er  in  den  'Gedanken  über  Ver- 
nunft, Aberglauben  und  l'nglauben"  gleichraaessig  die  Jesuiten  wie  die  franzoesischen  Auf- 
klarer,  von  denen  er  spueter  namentlich  Voltaire  selbst  durch  persoenliche  Berührung  kennen 
lernte.  44)  Eine  12.  Ausgabe,  von  J.  R.  Wyss  besorgt,  erschien  Bern  1828.  Neben 
den  Originalausgaben  gibt  es  zahlreiche  Nachdrucke  und  Übersetzungen.  45)  An 
Gesellschaften  zur  Pflecre  der  deutschen  Litteratnr  nahm  Haller  in  Bern  und  in  Güttintcen 
Teil.  46)  Die  Offenheit  und  Innigkeit,  mit  welcher  der  Dichter  hier  auch  die  Gefühle 
der  Braut  auszusprechen  wagte,  wurde  von  La  Mettrie  frech  umgedeutet  in  der  Art  de  jouir, 
wie  dieser  Schützling  Friedrichs  des  Gr.  auch  sonst  Haller.  sogar  mit  erlogenen  Angaben, 
zu  sich  herab  zu  ziehen  suchte.  47)  In  die  spaeteren  .lahre  fallen  namentlich  auch  die 
erat  durch  Bodemanns  Schrift  lAnm.  'iVd]  bekannt  gewordenen  Gedichte.  48)  1726  s. 
LB.  aaO.            49)  LB.  2,    723.             50)  LB.  715.              51)  Als    ursprünglich    zur    Ein- 


350  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XVHl  JAHIHI.  §  14 

golmltcnc  vcrfassiingsma'ssige  K(rnigtum  Englands  darzustellen,  endlich  in 
Fabius  und  Cato'  1774  der  heimischen  Jlepublik  seine  aristokratische  Auf- 
fassung ein/upnegen.  Um  so  strenger  kehrte  er  diese  politischen  Ai)sichton 
hervor,  je  mehr  ihm  die  Zeit  sich  in  Gefühlsweichheit  und  Zügellosigkeit 
aufzuld'sen  schien:  ihn  selbst  traf  dieser  Zug  der  Zeit  insofern,  als  sie  seinen 
bis  dahin  beständig  gestiegenen  Ruhm  rasch  verbleichen  und  zurücktreten  Hess.-''* 

§  148. 
"Wenn  das  achtzehnte  Jahrhundert  auf  seinem  H(ehopuncte  Hagedorn 
und  Ilullcr  als  die  Urheber  eines  neuen  Aufschwungs  der  Dichtung  nannte, 
so  kennzeichnet  es  den  ersten,  der  sich  zum  Führer  einer  umfassenden  littc- 
rarischen  Kritik  aufwarf,  dass  er  gerade  gegen  diese  beiden  kleinlich  und 
ungerecht  verfuhr;'  und  diesem  Verhalten  entsprach  auch  völlig  seine  bUnde, 
mit  allen  Mitteln  geführte  Bekämpfung  alles  dessen,  was  die  nächste  Zeit 
von  Fortschritten  der  Dichtung  brachte.  So  erkla3rt  es  sich  dass  das  Ver- 
dienst, welches  Johann  Christoimi  Gottsched  sich  immerhin  um  die  deutsche 
Litteratur  erworben  hat,  gerade  von  den  Besten  unter  seinen  Zeitgenossen 
als  ein  geringes  und  zweifelhaftes  bezeichnet  wurde  und  durch  den  von  ihm 
gestifteten  Schaden  völlig  aufgewogen  zu  sein  schien.  Das  Geschick,  mit 
welchem  er  die  litterarischen  Bedürfnisse  der  Zeit  erkannte,  und  die  That- 
kraft ,   die   er  zu  ihrer  Befriedigung   entfaltete ,   standen   zugleich  im   Dienste 


flprhtring    in   diesen  Roman    bestimmt    bezeichnet  Haller  seine  'Briefe  über  die  wichtigsten 
Wahrheiten  der  Offenbarung".  Bern  1772.  52)   Herabsetzende  Urteile  über  Hallers  letzte 

Schriften  von  Nicolai,  Wieland,  Herder  s.  bei  Hirzel  p.  CDXLVIII  fgg.  Doch  setzte  G<¥the 
noch  seinem  Götz  Worte  aus  Usong  vor:  für  Fausts  unbefriedigten  Wissensdurst  hätte  er 
in  seiner  Zeit  kaum  ein  treff'enderes  Beispiel  finden  können  als  Haller.  Spster  wendet  er 
sich  freilich  scharf  gegen  den  Dualismus  in  Hauers  entsagenden  Worten:  'In's  Innre  der 
Natur  dringt  kein  erschaffner  Geist,  Zu  glücklich  wenn  sie  noch  die  seussre  Schale  weist". 
(Die  Falschheit  der  menschlichen  Tugenden  V.  289  fg.)  Am  meisten  wirkte  Haller  auf 
Schiller  ein;  und  dessen  Einwand  gegen  das  Trauergedicht  auf  Marianne  (Über  naive  und 
sentimentalische  Dichtung)  lasst  Haller  ebenso  nur  als  den  besten  und  berühmtesten  Ver- 
treter einer  unvollkommenen  Dichtweise  ins  Auge  wie  Lessings  Tadel  der  schildernden 
Poesie  im  Laocoon  nur  aus  diesem  Grunde  die  'Alpen'  zum  Beispiel  wählt. 
§  14S.  1)  Die  Befehdung  Hallers  durch  Gottsched  und  seine  Anhänger  fasst  Hirzel  in 
der  Ausgabe  Hallers  S.  399  zusammen;  er  zeigt  S.  CXCV  dass  Haller  Gottscheds  Zorn  sich 
zuniechst  dadurch  zuzog,  dass  er  seine  Göttinger  Freunde  verteidigte,  als  (iottscheds  Fran, 
ohne  sich  zu  nennen,  sie  angegriffen  hatte.  Hagedorn  wird  als  Fabeldichter  von  Gottsched 
hinter  Stoppe  und  Triller  zurückgesetzt:  s.  Eschenburgs  Ausgabe  4,  55.  Auch  Günther» 
Ode  auf  Prinz  Eugen  kritisiert  Gottsched  eingehend:  Grit.  Beytr.  Y  63  fgg.  Bezeichnend 
ist  es,    wie   er   die    Einmischung   von   Hans  und  Grete  in  diese  Ode  tadelt:    ebd.  IV  189; 


1 


§  148  GOTTSCHED.  357 

seiner  Eitelkeit  und  Herrschsucht;  er  erreichte  auch  zunaechst  sein  Ziel,  und 
zeigte  sich  dann  gleichgiltig  gegen  den  Hass  und  Hohn,  dem  er  in  steigendem 
Masse  verfiel,  als  die  von  ihm  gegen  seine  Vorgänger  geübte  Kritik  ihn  selbst 
immer  stärker  und  schärfer  traf.  Leipzig,  das  durch  die  altberühmte  Uni- 
versitset  und  durch  den  anwachsenden  Buchhandel  als  Centrum  der  Litteratur 
gerade  damals  gelten  durfte,  bot  ihm  den  günstigen  Boden  für  seine  Bestre- 
bungen Sprache,  Litteratur  und  Theater  nach  einheitlicher  Regel  zu  gestalten 
und  zu  leiten:  er  fand  dabei  anfänglich  um  so  mehr  Beifall,  als  er  kein 
Obersachse  von  Geburt  war  und  somit  ohne  Vorurteil  den  Vorzug  seiner 
neuen  Heimat  zu  behaupten  schien.  In  Judithenkirch  bei  Königsberg  1700 
geboren,-  hatte  er  auf  dieser  Universita?t  studiert  und  gedachte  hier  auch 
als  Lehrer  aufzutreten,  als  er  wegen  seiner  stattlichen  Körpergrossse  in 
Gefahr  kam  den  Zwangswerbungen  Friedrich  Wilhelms  I  anheim  zu  fallen. 
1724  nach  Leipzig  geflüchtet  und  von  B.  Mencke  (§  147,  3)  freundlich  auf- 
genommen, ward  er  1730  Professor,^  1739  Rector  und  bekleidete  diese  Würde 
noch  viermal;  er  starb  1766.  Seine  Stellung  benutzte  er  rücksichtslos  zur 
Gewinnung  von  litterarischen  Gehilfen.^  Die  von  Mencke  geleitete  Görlitzer 
Gesellschaft,  die  sich  seit  1717  die  deutschübende ^  poetische  nannte,  suchte 
er  als  ihr  Senior  seit  1726  durch  auswärtige  Verbindungen'''  und  durch  An- 
kündigung hoher  Ziele  nach  dem  Muster  der  franzocsischen  Akademie  zu 
heben;  als  aber  die  Mitglieder  sich  ihm  nicht  durchaus  willfährig  zeigten,^ 
gründete  er  eigene  Vereine,"^   denen  sich   in  Koenigsberg,    Greifswald,    Jena, 


2)  In  vorzüglicher  Weise  ergänzt  die  litterarischen  Nachrichten  der  älteren  Zeit  aus  dem 
umfangreichen  brieflichen  Xachlass  Th.  W.  Danzel,  Gottsched  und  seine  Zeit,  Leipzig  1848. 
Vgl.  ferner  ,Joh.  Criieger,  J.  C.  (Gottsched  und  die  Schweizer  J.  J.  Bodmer  u.  J.  J.  Brei- 
tinger  in  Kürschners  Nationallitteratur  i'2.  M.  Koch,  Gottsched  und  die  Reform  der  deut- 
schen Litt,  im  18.  .Jh.  Hamburg  188(j.  3)  Damals  war  sein  Fürsprecher  in  Dresden 
der  Hofpoet  LTlrich  Koenig,  den  er  selbst  durch  ein  Geldangebot  zu  gewinnen  suchte;  aber 
schon  17.30  verfeindete  sich  Gottsched  mit  ihm  durch  die  Bekämpfung  der  Oper  und  liess 
ihn  in  den  'Gesprtechen  Günthers  im  Reiche  der  Todten'  (§  147,  3)  mit  Schmutz  über- 
schütten, ja  auf  das  ärgste  verleumden.  4)  In  der  schärfsten  Weise  rügen  diese  Aus- 
beutung Jüngerer  Zachariae  und  Lessing  1755  (s.  Lessing  von  Lachmann-Maltzahn  5,  37). 
5)  Nicht  bloss  in  diesem  Namen  zeigt  sich  der  Einfluss  der  Hamburger  Gesellschaft  von 
Brockes  (§  147.  1.3):  s.  Danzel  S.  80.  6)  Insbesondere  gewann  er  .Alosheim  (_§  146,  4) 
zu  ihrem  Prsesidenten:  auch  DroUinger  und  Haller  wurden  zu  Mitgliedern  ernannt.  Die 
Schriften  der  Gesellschaft  erschienen,  II,  Leipzig  1730.  1734;  die  Oden  der  deutschen  Gesell- 
schaft 1738:  Grit.  Beytr.  V  .340.  7)  Gottsched  wollte  Steinbach,  den  Biographen  Gün- 
thers [%  147,  1)  ausschliessen  lassen.  8)  1752  die  (Tesellscbaft  der  freien  Künste  auf 
Grundlage  einer  freien  Rednergesellschaft:  Danzel  113.     Die  Critischen  Beytraege  (,§140,38) 


358  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XVHI  .lAllUH.  §  148 

Göttinü;on,  ja  selbst  in  Hern  verwandte  öesellscliaftcin '^  anschlössen.  Vergeb- 
lich jedoch  waren  seine  Henuihuns^en  in  Dresden  nnd  Wien  die  Gunst  der 
n(rfe  zu  gewiinien  und  an  letzterem  Orte,  wohin  er  1741)  reiste,  die  Grün- 
dung einer  Akademie  zu  voranlassen.  Friedrich  der  Grosse  fasste  bei  pcr- 
scrnlichem  Verkehr  mit  Gottsched  in  Leipzig  1757  eine  ungünstige  Meinung 
von  ihm.'"  Dass  Gottsched  sich  an  die  franzcEsischcn  Schrit'tstoller,  insbeson- 
dere an  Fontenelle "  und  Voltaire'-  wandte,  ohne  freilich  von  ihnen  mehr 
als  kahle  Coniplimentc  zu  erhalten,  entsprach  dem  Grundzug  seiner  eigenen 
Thjetigkeit.  Denn  diese  bezweckte  durchaus  die  Correctheit,  die  Uegelrichtig- 
keit,  wobei  ihm,  wie  schon  Thomasius  ' '  (§  13«)  die  Franzosen  durchaus  als 
Muster  vor  Augen  standen:  deren  litterarische  Leistungen  in  deutscher  Sprache'* 
wiederzugeben,  zuna?chst  durch  Übertragungen,  dann  auch  durch  freiere 
Nachahmungen,  das  war  die  Aufgabe,  die  er  sich  und  die  er  der  deutschen 
Littcratur  stellte.  Wie  die  Uuimer  die  Griechen  benutzten,  so  und  freilich 
auch  mit  kleinen  Freiheiten,''  sollte  man  in  Deutschland  die  franzoesischcn 
Vorbilder  sich  aneignen.  Die  Nachahmung  der  Natur  '"  nannte  er  mit  Be- 
rufung auf  Aristoteles  den  obersten  Grundsatz  der  Kunst;  die  Wahrscheinlich- 
keit   der  Fabel,    die  Klarheit    der    Darstellung    ging    ihm    über  Alles.     Die 

erschienen  anfänglieh  1732  al«  ' he ra ungesehen  von  ettliehen  Mitgliedern  der  deut«ehen  Gesell- 
schaff in  Leipzig',  vom  VI  Band  an,  1739.  'hg.  von  einigen  Liebhahern  der  dentschen 
Litteratur'.  9)  Eine  kurze  Übersicht  dieser  (lesellschaften   in  den  Nachträgen  zu  Hulzers 

Theorie    S.    56.  10)    Krause.    Friedrich    der    (Ir.  u.  die    deutsche    Poesie  (§  140.    l.ö) 

S.  24  fgg.  Friedrich  hatte  Gottsched  in  einem  franz.  Gedicht  als  cygne  Saxon  angeredet, 
übertrug  jedoch  spaeter  dies  Gedicht  auf  Geliert.  Anders  urteilte  Gottsched  selbst  über  sein 
Verhältnis  zu  Friedrich  in  einem  Brief  an  Prof.  Flottwell  in  Ktpnigsberg  (Krause  87  fgg.). 
Vgl.  auch    Briefe    der    Frau    Gottsched  3,  36  (1757):    3,  103  (,1758).  11)  Fontenelles 

Schriften  übersetzte  (iottsched .  Leipzig  172G  uö.  Zuletzt  als  'Auserlesene  Schriften  des 
Hrn.  v.  F.'  1751.  12)  Voltaire  besuchte  Gottsched  in  Leipzig  1753:  s.  Danzel  S.  338. 

13)  Vgl.  Grit.  Beytr.  3.  348  fgg.  14)    Denn   den   Gebrauch    des  Französischen   selbst 

bekämpfte  er:  seine  Braut  ging  auf  seine  Mahnungen  hin  von  franziesischen  Briefen,  die 
damals  allein  für  fein  und  anständig  galten,  zu  deutschen  über:  Briefe  der  Frau  (iottsched 
1,  68.  Auch  Friedrich  dem  Grossen  gegenüber  suchte  er  die  deutsche  Sprache  und  IJtte- 
ratur    zu    verteidigen,    doch    ohne  Geschmack    und    daher    auch    ohne  Erfolg.  15)  So 

ersetzte  er  in  den  Tragiedien  die  Anrede  Vous  durch  das  würdige  Du  der  Alten;  und 
suchte  auch  sonst  raceglichst  gegen  Anachronismen  und  für  das  mehr  historische  Costüm  zu 
wirken.    Vgl.  Crit.  Dichtk.  Hl  Cap.  X  §  30  und  Mylius  Crit.  Beytr.  VIII  30.  16)   Über 

Gottscheds  Kunstlehre  s.  F.  Braitmaier,  Die  poetische  Theorie  Gottscheds  und  der  Schweizer, 
Progr.  Tübingen  1879  und  desselben  Geschichte  der  Poetischen  Theorie  und  Kritik  vo« 
den  Diskursen  der  Maler  bis  auf  Lessing,  Frauenfeld  1889,  I :  Fz.  Servaes.  Die  Poetik  Gott- 


§  148  GOTTSCHEDS  LEHRE.  359 

Hebung  der  Sittlichkeit,  die  freilich  für  ihn  wesentlich  mit  eeusserem  Anstand 
zusammenfiel,  sollte  der  Zweck  der  Kunst  sein.  So  war  denn  auch  die 
Philosophie  Wolfs,  über  den  er  gelegentlich  wohl  auch  auf  Leibnitz  zurück- 
griff,  der  Ausgangspunct  seiner  eigenen  wissenschaftlichen  Arbeiten,*^  durch 
welche  er  selbst  auf  die  Hoefe,  sogar  auf  Friedrich  Wilhelm  I  in  dessen 
letzten  Tagen  einwirkte.'**  Dieselbe  breite  Darstellung,  dieselbe  rein  verstän- 
dige Auffassungsweise,  wie  sie  Gottsched  als  Schüler  Wolfs  in  der  Philosophie 
sich  angeeignet  hatte,  sollte  nun  auch  für  seine  littorarische  Reform  mass- 
gebend sein.  Poesie  schien  ihm  geradezu  erlernbar,  ja  bei  sorgfältiger  An- 
eignung der  Regeln  gar  nicht  schwierig. '**  Durch  die  Anwendung  seiner 
Regeln,  auch  wenn  er  diese  einfach  den  Franzosen  entlehnte,  hat  er  sich 
allerdings  insofern  verdient  gemacht,  als  er  die  Nachlässigkeit,-''  den  Schmutz, 
den  Schwulst  und  die  Spielerei,^'  die  sich  bis  dahin,  besonders  in  der  Ge- 
legenheitsdichtung, hatten  breit  machen  dürfen,  unerbittlich  verfolgte  und  ver- 
trieb. Die  letzten  Ausläufer  der  schlesischen '-•^  Dichtung,  die  Hanke,  Stoppe 
u.  a.  und  in  Leipzig  der  Nachfolger  Reuters  in  der  bürgerlichen  Komoedie, 
Picander,-^^  wurden  glücklich  beseitigt;  vor  allem  aber  ward  dem  Schauspieler- 
drama mit  der  Verbannung  des  Hanswursts  das  beständig  zum  Gemeinen 
herabziehende  Element  genommen  (§  145,  14).     Diesen  Kämpfen  dienten  die 

seheds    und    der    Schweizer,    Strassburg    1887    (,QF.  60).  17)  Erste    Gründe    der    ge- 

sammten  Weltweisheit  1734.  Die  Theodicee  von  Leibnitz  übersetzte  Uottsched  1744.  Auch 
eine  Übersetzung  des  Wörterbuchs  von  Bayle  besorgte  er,  Leipzig  1741 — 44,  suchte  aber 
durch  Zusätze  die  Kühnheiten  des  Freidenkers    abzuschwächen.  18)  Danzel  S.  44  fgg. 

Bei    dieser  Vertretung    der  Wolfschen  Philosophie    hatte  CTOttsched    zum   wärmsten  Gönner 
(  den  ehemaligen  koenigl.  polnischen  Staatsminister  von  Manteiitfel,  deu  Begründer  der  Gesell- 
schaft   der  Alethophilen:    durch    ihn    wurde    er    in    seineu  Leipziger  Anfängen    gegen    die 
Feindschaft    der    am  Hofe    mächtigen  Orthodoxen  erfolgreich    beschützt.  19)  Vgl.  be- 

sonders die  Vorrede  zur  3.  Autl.  der  Critischen  Dichtkunst  1742 ,  in  welcher  Gottsched 
seinen  Züricher  Concurrenten  vorhielt  dass  mau  aus  ihrem  Werke  nicht  lerne  Gedichte  zu 
machen.  Noch  weitherziger  als  sonst  fasst  er  seine  Anforderungen  in  der  'Anleitung  wie 
ein  Frauenzimmer  Gedichte  verfertigen  könne'  (Vernünftige  Tadlerinnen  1 ,  12  s.  QF.  60, 
153).  20)    Auch   schlechte    Übersetzer   züchtigte   er:    Grit.  Beytr.  4,  518.  21)  So 

eiferte  er  gegen  Anagrarame,  Akrostichen,  Bilder-  und  Leberreime  :  Gedichte  2,  554.  Grit. 
Dichtkunst    am    Schluss.  22)  Über    die  Empfindlichkeit    der   Schlesier    gegen  Tadel  s. 

Grit,  Beytr.  4,  186.  Stoppe  (§  136,  26)  demütigte  sich  allerdings  vor  Gottsched :  Danzel 
85  uö.  23)  Schriftstellername  von  Christian  Friedrich  Henrici,  der,  1700  geboren, 

als  Steuerbeamter  in  Leipzig  1764  starb.  Seine  'Teutschen  Schauspiele  bestehend  in  dem 
academischen  Schlendrian,  Erztsäutier  und  der  Weiber-Probe'  erschienen  Berlin,  Frankfurt 
und  Hamburg  1726;  seine  'Ernst-Schertzhatfte   und  Satyrische  Gedichte',   IV,   Leipzig  1727 


360  NEUIIOCHDFAJTSCIIE  ZEIT.        XVIII  JAHIIH.  §  1  ! 

kritischen  Zoitschrifton,  mit  tlenen  Gottsched  seit  1725  (^  140,  34)  hervortrat, 
zuerst  in  der  popula?ren  Form  der  raoralischon  Wochenschriften,  von  1732  ab 
(§  140,  38)  mit  gelehrt  kritischen  Zeitschriften.  Was  hier,  meist  mit  An- 
knüpfung an  ältere  und  neuere  Bücher  im  Einzelnen  erörtert  wurde,  fi^^ir 
Gottsched  systematisch  in  seinen  Lehrbüchern  zusammen,  von  denen  stinu 
Redekunst"-*  zuerst  1728,  der  Versuch  einer  kritischen  Dichtkunst"^^  173'». 
die  Grundlegung  zu  einer  deutschen  Sprachkunst' -*^  1748  erscliienen.  Wii 
diese  Werke  sich  durch  Verständlichkeit,  aber  auch  durch  Seichtigkeit  zu- 
na?chst  grossen  Beifall  erwarben,  auch  besonders  da  wo  die  Schulen"-^  noi  li 
zurückgeblieben  waren,  die  Verbreitung  der  Schriftsprache  und  die  AnpassuiiL^ 
der  Dichtungsfonnon  an  die  franztcsischen  Muster  förderten,  ist  schon  früJK  i 
(§  141,  2  fgg.)  auseinander  gesetzt  worden.  Den  Lehren  über  die  Dicht- 
kunst sollten  vor  allem  Gottscheds  eigene  Dichtungen  entsprechen.  Dass  er 
iu  seinen  Lehrbüchern  die  Beispiele,  wenigstens  anfangs,  seinen  eigenen  Werken 
entnahm,  geschah  im  Anschluss  an  die  älteren  Schriften  dieser  Art;'^'*  in  der 
That  glaubte  er  aber  auch  selbst,  vor  allem  iu  der  Lyrik  alles  zu  leisten, 
was  von  einer  Ode,  einem  Lehrgedicht,  einem  poetischen  Sendschreiben  zu 
verlangen  war.  Er  schloss  sich  den  llofpoeten  an,'-"*  von  deneu  der  Kcjenigs- 
berger  Johann  Valentin  Piktscii  sein  Lehrer'"  gewesen  war,  nur  dass  er 
den  Lohensteinischeu  Schwulst"  auch  dieser  Vorbilder  sorgfältig  vermied. 
Historische  und  mythische  Namen  von  Klang  sollten  ein  Gedicht  heben, 
wsehrend  sonst  Gottsched  sich  an  die  bare  Wirklichkeit  hielt,^'  ja  an  niedrige 

bis  37.     Über  erstere  s.  Srhlenther.    Frau   Gottsched    102  fgg.  24)  u.  d.  T.  'Grundriw 

zu  finer  vernunftgemsessen  Redekunst".  Hannover  1728;  die  ö.  Auflage,  'Ausführliche  Rede- 
kunst". Leipzig  1759.  25)  4.  Aufl.  Leipzig  1751.  26)  5.  Aufl.  Leipzig  1762. 
6:  177fi.  27)  Für  die  Schulen  veranstaltete  (jottsched  selbst  noch  besondere  Auszüge: 
Kern  der  deutschen  Sprachkunsf.  Lpz.  1753  uö.  'Vorübungen  der  Beredtsamkeit".  1754  uö. 
'Akademische  Redekunst'  1759.  'Vorübungen  der  lateinischen  und  deutschen  Üichtkunst'. 
1756  uü.  Dem  Ausland  wurden  Gottscheds  Schriften  z.  T.  durch  Übersetzungen  ins  Fran- 
zoesische  u.  a.  Sprachen  zugänglich  gemacht.  28)  Vgl.  Grit.  Beytr.  7.  671  und  t?  120. 
S.  löl.  29)  Wie  diese  dichtet  er  auch  in  fremdem  Namen"  und  gegen  Bezahlung. 
30)  Pietsch  lebte  1690  —  1733.  Pietschs  'Gesamiete  Poetische  Schriöten'  gab  (Gottsched  Lpz.  172f 
heraus:  aus  dem  Nachlas»  vermehrt  wiederholte  sie  Joh.  George  Bok.  Ko^nigsberg  1740 
Vgl.  Grit.  Beytr.  7.  131 ,  wo  wegen  der  Zusammensetzung  eines  bruchstückweise  vorgefun- 
denen Gedichtes  auf  Karl  VI  Bok  von  Gottsched  der  Aristarch'  genannt  wird,  'der  di< 
llias  des  preussischen  Homers"  in  Ordnung  brachte.  31)  In  der  Ode  auf  Eugens  ToJ 
1736  gesteht  Gottsched  selbst  dass  er  'den  Geschichten  nach  gereimet".  Seine  Frau  singi 
er  trocken  und  prosaisch  an:  Seitdem  ein  ehiich  Band  uns  beyderseits  verbindet".  Un- 
mittelbar   daneben    stehn    allerdings    überspannte   Wendungen    der    Schäferpoesie    und   de 


§  148  GOTTSCHEDS  DICHTUNG.  361 

Dinge  ungescheut  erinnerte.-'*  Die  Gedichte,  1736  und  1751  erschienen,  sind 
teilweise  nach  den  Rangverliältnissen  der  gefeierten  Personen  geordnet.''^ 
Von  eigentlich  epischer  Dichtung  hat  er  nur,  und  zwar  lauge  vor  1736,  ein 
komisches  Epos  vom  harten  Bücherkrieg'  angefangen,  diese  Dichtungsart  aber 
in  Ernst  und  Parodie  speeter  seinen  Schülern  überlassen.^*  Auch  die  Send- 
schreiben sind  schmeichlerische  Gelegenheitspoesie.  Die  Lehrgedichte  behan- 
deln prosaische  Gegenstände,  die  rechte  Art  zu  predigen  u.  ob.  Als  Gesänge 
sind  strophische  Lieder  bezeichnet.  Auch  Cantaten  und  Serenaden  hatte  er 
gedichtet,  sogar  eine  Oper  'Diana'  nach  Fontenelles  Endymion'  für  ein  Hof- 
fest wenigstens  angefangen:  doch  liess  er  sich  daran  ungern  erinnern,  da  er 
die  Oper  überhaupt  als  Dichtungsgattung  zu  beseitigen  sich  je  länger  je  mehr 
beeiferte. ^^  Als  Dichtung  sollte  nur  das  gesprochene  Drama  gelten,  die  Tra- 
goedie,  die  Komcßdie  und  das  Schteferspiel  nach  frauzoesischem  Muster.  Gott- 
sched sammelte  die  eigenen  und  die  Werke  seiner  Schule  unter  dem  Titel 
'Die  deutsche  Schaubühne  nach  den  Regeln  und  Exempeln  der  Alten',  Leipzig 
1740 — 45,  in  sechs  Bänden.^"  Schon  1732  war  sein  Sterbender  Cato'  er- 
schienen, den  er  als  sein  eigenes  Werk  bezeichnete,  weil  er  die  Sterbescene  des 
Helden  aus  Addisons  Cato,  das  übrige  Stück,  worin  Csesar  als  Liebhaber  der 
Tochter  Catos  auftritt,  aus  dem  Franzoesischen  von  Deschamps  entnommen 
hatte. ^^  Obschon  vielfach  von  der  Neuberschen  Truppe  u.  a.  aufgeführt, 
konnte  das  Stück  doch  ebenso  wenig  Wert  und  Dauer  beanspruchen  als  die 
anderen  Trauerspiele  Gottscheds,  'Die  parisische  Bluthochzeit' ^'^  und  Agis', 
die  von  der  überlieferten  Geschichte  nur  soweit  abwichen  als  es  die   Regeln 

Odenstilps.     S.  QF.  60,  53.  32)  In  piner  Ode   sagt  er:     Ich  wartete,    mein    Herzog, 

nur  Bis  die  gebraurlate  Brunnenrur  Dir  neuen  Math  und  Geist  gegeben';  ja  an  .Soheyb 
(2,  54)  sfhildert    er    sogar    eingebend   die  Wirkung   des  Karlsbader   Wassers.  33)    Im 

ersten  Buche  alle  auf  hohe  Häupter  und  türstliche  Personen,  alle  auf  grsefliche,  adliche 
und  solche  die  ihnen  gleichkommen  im  zweiten,  alle  freundschaftliche  und  vertraulichere 
Lieder  im  dritten'.     Lessing  spottet  darüber  Lm.-M.  3,    L51   (1751).  34)  Doch  gab  er 

[diesen  vielfach  die  (jedanken  und  vermittelte  den  Druck  ihrer  Satiren:  Waniek  Pyra 
S.  1-l'J.  35)    Schon    in    den    Schriften    der    deutschen    Gesellschaft   2,    552    war   eine 

Abhandlung  von  St.  Evremont  gegen  die  Oper  übersetzt  worden;  ein  Lustspiel  von  dem- 
selben Autor  und  desselben  Sinnes  hatte  Gottsched  als  'Die  Opern'  in  der  'deutschen  Schau- 
bühne' wiederholt.  Im  'Nöthigen  Vorrath'  'Anm.  40)  1,  314  hatte  er  zum  .1.  1741  trium- 
phierend die  letzte  Auffuhrung  einer  deutschen  Oper  verzeichnet:  um  so  schmerzlicher  war 

lihm   ihr  Wiederaufleben    als    komische  Oper   (§  145,   55).  36)  Wiederholt    1746 — 50. 

37)    Eingehend    untersucht    diese    Zusammensetzung    Bodmer,    Sammlung    crit.    Schriften. 

IVIII    Stück :    'Sinnliche    Erzichlung    von    der    mechanischen    Verfertigung    des    deutschen 

lOriginal-Stückes    von    Cato'.  38)    Die    Anmerkungen    citieren    Thuanus    als    Quelle. 


362  NEUIIOrilDEUTSCHE  ZEIT.         XYIII  JAlIltH.  §  I4b 

erforderten,  uinl  ;ils  sein  niiiites,  verworrenes  Sclia'ferspiel  Atalante'.^"  Von 
1753  ab  entsaj^te  Guttscbed  jeder  Beziehung  zum  Theater  und  erwarb  sich 
noeli  ein  wirklielics  Verdienst  um  die  Geschichte  unseres  Dramas:  sein 
Nüthiger  Yorrath  zur  Geschichte  der  deutschen  dramatischen  Dichtkunst", 
Leipzig  1757  *"  ist  ein  Zeugnis  seines  Fleisses  und  seiner  Yaterhindsliebe.^' 
Mit  Gottsched  teilte  seine  Frau  die  Arbeit  wie  den  anfänglichen  Iluhni; 
seinen  immer  rascheren  Sturz  empfand  sie  melir  als  er,  dessen  Beschränkt- 
heit sich  jeder  Belehrung  verschloss.  Geb.  zu  Danzig  1713,  war  Luisk 
AuEFXJUNDE  Victoria  Ki'lmi's'-  seit  ihrer  Heirat  1735  an  der  gelehrten 
(«aleerc'  thwtig,^"  bis  ihr  Tod  1762  ein  kinderloses,  durch  Kränklichkeit  und 
dui-ch  das  allgemeine  Kriegselend  verdüstertes  Leben  beschloss.^*  Und  doch 
war  sie  eine  heiter  verständige  Natur  und  besass  Neigung  wie  Fadiigkeit  zur 
scherzenden  Dichtung.  Bei  der  litterarischen  Arbeitsteilung  hatte  ihr  daher 
Gottsched  das  Lustspiel  zugewiesen,  und  ihre  Übersetzungen  aus  dem  Fran- 
zocsischeu  sind  ebenso  wie  ihre  sell)ständigercn  Nachahmungen  auf  der  Ham- 
burger Bühne  noch  zu  Lcssings  Zeit  aufgeführt  worden.'''  Schon  1736  hatte 
sie,  ohne  ihren  Namen,  das  Lustspiel  eines  franza^sischen  Jesuiten  als  die 
Pietisterey  im  Fischbeiurock  oder  die  doctormtessige  Frau'  bearbeitet  und  die 

31))  F.  Kühle,  Das  dputHcbe  Schaeterspiel  des  Ib.  Jalirlumderts  I,  Halle  1885.  DieH  Stüek  ward 
auih  in  Srliulpn  und  17.50  oder  17.51  in  Wirn  sogar  von  df-n  kaiserlichen  Kindern  aufgeführt. 
'Hier'  (im  Schaeferspiel)  'herschet  die  Tugend  allein":  Crit.  Beytr.  7,  .581.  Gottscheds  Verlangen 
dass  die  .Schsefergedichte  so  natürlich  als  mipglieh  sein  sollten,  verhoehnt  die  §  151.  77  an- 
geführte Sehrift  von  J.  Adolf  Schlegel  und  Bodnier.  40)  Ein  II  Theil  oder  Nachlege 
erschien  17tj5.  mit  Anhang  von  Freyesleben .  Bibliothekar  in  Gotha  (s.  §  105  Anm.». 
41)  Von  den  sonstigen  Bemühungen  (Gottscheds  um  die  ältere  Litteratur  ist  noch  hervor- 
zuheben: Hinrichs  von  Alkmar  Keineke  der  Fuchs,  nach  der  Ausgabe  von  1498  ins  Hoch- 
deutsche übersetzt  und  mit  einer  Abhandlung  versehn',  Lpz.  1752.  Neudruck  von  A.  Bieling, 
Halle  1886.  42)  Ihre  Lebensgeschichte  schrieb  Gottsched  selbst:  'Der  Frau  L.  A.  V. 
Gottschedin  ircb.  K.  sämtliche  kleinere  Gedichte  nebst  dem  von  vielen  vornehmen  Standes- 
personen. Gönnern  und  Freunden  beyderlei  Geschlechts  Ihr  gestifteten  Ehrenmaale',  Lpz.  1763. 
Litterarhistorisch  ist  sie  gewürdigt  worden  von  Paul  Schienther,  Frau  Gottsched  und  die 
bürgerliche  Komoedie,  Berlin  1886.  43)  Ausser  der  Beteiligung  an  den  Zeitschriften 
Gottscheds  hat  sie  namentlich  a\ich  die  (xeschichte  der  franz.  Akademie  übersetzt,  Lpz.  1749 
bis  1757.  Vgl.  auch  §  140.  }V2.  44)  Die  von  üorothee  Henriette  von  Runckel  heraus- 
gegebenen 'Briefe  der  Frau  L.  A.  V.  Gottsched',  III,  Dresden  1771.  geben  ihrer  Geistes- 
und Gemütsart  anziehenden,  oft  auch  rührenden  Ausdruck.  Als  ihren  Lieblingsdichter 
nennt  sie  den  von  ihrem  Mann  bekämpften  Haller.  Die  Mitgliedschaft  in  der  deutschen 
Gesellschaft  hatte  sie  abgelehnt,  um  nicht  den  unweiblichen  Ehrgeiz  zu  zeigen,  den  sie  der 
gekrtenten  Dichterin  Marianne  von  Ziegler  i§  115.  8i  Schuld  gab:  Br.  1.  '21.  2.  225.  Die 
'deutsche  Sappho'  nannte  man  sie  am  Hof  zu  Zerbst:  ebd.  2.  252.    3,  30.  45)  Drama- 


§  148  FRAU  GOTTSCHED.     SEINE  SCHÜLER.  363 

Satire  auf  den  Jansenismus  gegen  die  Pietisten  ihrer  Heimat,  sogar  mit 
Einflechtung  mundartlicher  Scenen  gerichtet.^*^  Andere  Komoedien  nach  Me- 
liere, Destouches  u.  a.  ('Der  Menschenfeind'  nach  Le  Misanthrope ;  'das  Ge- 
spenst mit  der  TrummeP,  ursprünglich  ein  Stück  von  Addison  The  drummer; 
'der  Verschwender';  'der  poetische  Dorfjunker')  hatte  sie  zu  Gottscheds 
'Schaubühne'  beigesteuert  und  durch  deutsche  Eigennamen,  durch  Aufloesung 
in  Prosa  sowie  durch  die  Einteilung  in  5  Acte  seiner  Lehre  angepasst. 
Spteter  beteiligte  sie  sich  mit  der  Übersetzung  der  Cenie  von  der  Frau 
von  Graffigny  (Wien  1753)  an  der  Einführung  dos  rührenden  Ijustspiels  in 
Deutschland,  Die  selbständigeren  Lustspiele  der  Frau  Gottsched  wollen 
Mängel  der  Zeit,  welche  ihr  persoenlich  naeher  getreten  waren,  lächerlich 
machen:  so  die  'Ungleiche  Heirath'  mit  Benutzung  von  Molieres  Oeorcfes 
Dandin^  die  Hausfranzoesin  oder  die  Mamsell',  dem  Jecm  de  France  des 
Dsenen  Holberg  nachgeahmt,  'das  Testament',  teilweise  dem  Malade  Imaginaire 
nachgebildet.  Dies  letzte  Stück  erkannte  auch  Lessing  als  einen  Fortschritt 
an,  waehrend  er  sonst  über  Frau  Gottsched  wie  über  ihn  selbst  absprach. 
Dem  litterarischen  Kampfe  gegen  die  Nachäflfer  des  Pindar  und  Persius'*^ 
diente  ihr  Lustspiel  der  Witzling',  womit  die  Schaubühne'  abgeschlossen 
wurde.  Auch  in  der  Tragoßdie  versuchte  sich  Frau  Gottsched  mit  'Panthea', 
nach  der  Cyropsedie ;  dagegen  bezeichnete  sie  ein  allegorisches  Festspiel  der 
beste  Fürsf  als  durch  Rücksicht  auf  den  Anhaltischen  Hof  ihr  abgedrungen. 
Neben  der  'geschickten  Freundin'  Gottscheds  sind  auch  andere  Schau- 
spieldichter als  seine  Schüler  aufgetreten,  von  denen  jedoch  nur  Elias  Schlegel, 
welcher  frühzeitig  auf  eigenen  Bahnen  fortschritt,  Tüchtiges  leistete.  Das 
erkannten  die  Übrigen  auch  dadurch  an  dass  sie  nach  der  Universitsetszeit 
ihre  dichterische  Thsetigkeit  wieder  aufgaben.  So  Friedrich  Melchior 
Grimm, ^"^  welcher  1741  sogar  noch  von  der  Schule  her  ein  Trauerspiel 
'Banise'  einsandte  ,*^  das  Gottsched  in  seine  Schaubühne  aufnahm ;  Grimm 
hat,  von  1749  bis  1792  in  Paris  verweilend  und  mit  Rousseau  und  anderen 
Schriftstellern  in  nahem  Yerkehr,  die  Hoefo  von  Gotha,  Berlin,  Petersburg 
über  die  Entwickelung  der  franzoesischen  Litteratur  auf  dem  Laufenden  er- 
halten (§  140,  13).     Sein    Schriftchen    über    die    italienische  Oper    1753    ist 

turgie,    26.  Stück.  46)  Wieder  abgedruckt    Strassburg    1841.     Derbe    Ausdrücke    wie 

hier  gestattet  sich  Frau  (jottsched  auch   sonst .    was  ihr  vorgehalten  wurde .    als  ihr  Gatte 
das  Singspiel  Weisses  als  unzüchtig   anklagte:   Minor,  Weisse  155.  386.  47)  Gemeint 

sind   die   Bremer   Beitrsger  (§  151):    8.  Rentsch,   J.  E.  Schlegel   S.  22.  48)    Geboren 

in  Regensburg  1723,  gest.  in  Gotha  1807.  49)  Danzel  Gottsched  .343  fgg. 


364  NEUiroriTDEIITSCnE  ZEIT.         XYIII  JAIIKIf.  §  148 

sofort  von  Fniu  (Jottsclied  zur  Vorwendung  in  d(!rn  Streit  gegen  Weisses 
Operette  Der  Teufel  ist  los'  (Anni.  TH)  verdeutscht  worden:  'Der  kleine 
Prophet  von  Bd-iiniischbroda'.  Nelien  Trago'dien  (Aurelius)  lieferte  für  Uott- 
scheds  'Sciiuubühne''  auch  Konuedit*n,  sogar  nach  Gottscheds  Entwürfen, ^^ 
TiiKODOR  Johann  Quiktori':'''  Der  Bock  im  Processe'  mit  Benutzung  von 
Kacines  PUiidpiits,  original  der  Ilypochondrist'  und  die  Austern',  letzteres 
eine  rohe  Studenteiifopperei  im  Weinhause.  Benjamin  Ephraim  KrÜger  aus 
Danzig''-^  verfasste  für  die  'Sciiaubühnc'  ein  Trauerspiel  'Mahomed  IV';  ein 
anderes,  Frau  Gottsched,  seiner  Landsmännin  gewidmetes  'Viticliab  und  Dank- 
wart, die  alemannischen  Brüder\  174t)  erschienen,  verpHanzte  zuerst  die  neue 
Tragopdie  in  Gottscheds  Sinne  nach  Wien,  wo  es  1747  bei  der  Eröffnung 
der  neuen  Bühne  aufgeführt  wurde.  '^  Dagegen  dichtete  von  Gottsched  unab- 
hängig ein  Namengenosse  des  letztgenannten ,  Johann  Christian  Krüger,''^ 
als  Schauspieler  mehrere  Komödien,  teils  Satiren  auf  die  Geistlichkeit,  teils 
harmlose  Kleinigkeiten;  nur  im  Niedrigkomischen,  besonders  in  der  Verwen- 
dung der  niederdeutschen  Mundart  lobte  ihn  Lessing;''-'  so  hatte  er  nament- 
lich seine  Übersetzungen  aus  Marivaux''"  für  das  Hamburger  Theater  unter 
Ekhof  angepasst.  Diese  zeitgenössische  franzoesische  Komoedie,  auf  munteren, 
etwas  breiten  Dialog  gerichtet,  entsprach  am  besten  dem  Geschmack  des 
deutschen  Publicums;  für  derbere  Komik  bot  Ilolberg  eine  Fundgrube,  aus 
welcher  besonders  Georg  Aigust  Detiiarding  schöpfte.^ ^ 

Noch  weniger  als  im  Drama  gelang  es  Gottsched  in  dem  Meisterstücke 
des  menschlichen  Witzes,  in  der  Epopoee  Werke  von  Bedeutung  hervorzu- 
rufen; und  gerade  hier  verleitete  ihn  der  Unmut  über  den  raschen  und 
grossen  Erfolg  Klopstocks  das  Machwerk  eines  seiner  Schüler  mit  der  lächer- 
lichsten   Übertreibung     auszuzeichnen. '"'      Er    kroente     1752    den    Freiherrn 

50)  Danzel  Gottsched  140.  51)    Oeb.  zu  Rostock  1722.  um  1767  im  Rate  zu   Wismar 

thaetig.  52)  Dau/el  lioMscbed  166.  53)  Laube,  Buigtheater  S.  9.  Sonueuleis  Briefe 
über  die  Wieuer  Scbaubilbue.    Nicolai,  Reise  4,  570.  54)  t^eb.  zu  Berlin  1722,  gest.  zu 

Hambursr  17.Ö0.  Seine  Jugendarbeit  'Die  Geistlichen  auf  dem  Lande'  1743  ward  confisciert : 
'Die  Candidaten  oder  die  Mittel  zu  einem  Amte  zu  gelangen',  ein  Rührstück,  ward  1748  zuerst 
aufgeführt.  Am  längsten  blieb  Herzog  Michel'  beliebt,  ein  Lustspiel  uadi  einer  Erziühiung 
von  .1.  A.  Schlegel,  wel«hes  noch  Gu'the  als  Leipziger  Student  bei  Sthu'nkopfs  autl'ülirie. 
55)  Dramaturgie  St.  28  und  83.  Vgl.  Gwdertz,  Da»  niederdeutsche  Drama  (Berlin  1883) 
S.  192  fgg.  5G)  Hannover  1747.  49.  57)  'Deutschfranzos',  'Bramarbas'  und  'poli- 

tischer Kanneugiesser'  in  tiottscheds  Srhaubüliue.  Detharding,  geb.  zu  Rostock  1717.  starb 
1786   in  Lübeck  als  Syndicus   des  Domcapitels.  58)   Wenn  Gottsched   die  'Thcresiade', 

ein  Ehrengedicht  von  Franz  Christoph  von  Scheyb,    Wien  1746,    lobte,    so  bewog  ihn 


§  148  STREITSCT[RIFTEN  FÜR  GOTTSCHED.  365 

Christoi'ei  Otto  von  Sciuenatch,^^  dessen  'Beldengedicht  Hermann  oder  das 
betreyte  Deutschland'  er  herausgegeben  hatte :  *'"  eine  schwache  Nachahmung 
der  Henriade,  worin  die  Lücken  der  geschichtlichen  Kenntnis  mit  Hofintri- 
guen  und  Prahlereien  ausgefüllt  waren."'  Der  junge  Freiherr  Hess  sich  ver- 
leiten als  Schildknappe  Gottscheds  in  den  litterarischen  Kampf  einzugreifen 
und  die  Neuerungen  der  Schweizer  und  Klopstocks  in  einem  unifängUclien 
Werke  *"'^  nach  Art  des  Dktionnaire  neolorjique  von  P.  F.  G.  Desfontaines 
(1726)  zu  verspotten:  neben  einigen  treffenden  Rügen "'^  legte  er  nur  seine 
und  seines  Meisters  Beschränktheit  an  den  Tag.*^^  In  einigen  weiteren  Streit- 
schriften rieb  er  sich  noch  besonders  an  Lessing  (Gnissel),  bot  aber  vielmehr 
dem  übermächtigen  Witze  dieses  Gegners  Stoff  zu  den  lustigsten  Entgegnungen. 
Gerade  diese  Streitschriften  der  Anhänger  Gottscheds  (er  selbst  Iseugnete 
sogar  seinen  Anteil  an  der  Ästhetik  Schoenaichs  ab*^^)  brachten  ihn  völlig 
um  sein  Ansehn.  Neben  Schcenaich  waren  besonders  Reichel  durch  eine 
'Bodmerias'  (1755)  und  vorher  schon  D.  W.  Triller'^''  durch  seinen  'Wurm- 
samen' (1751)   in   diesem  Sinne    thaetig.     Als   Herausgeber   von  Zeitschriften 


dazu,  wie  dieser  selbst  fühlte  (Danzel  301),  meiir  die  Berechuung  auf  den  Eiufluss,  deu 
Scheyb  als  Sekretier  der  uiederoesterreichischeu  Landschaft  in  deu  Wieuer  Huf  kreisen  besass. 

59)  (Jeb.  zu  Auititz  in  der  Niederlausitz  1723,  als  Majuratsherr  daselbst  gest.  1807.  Nach 
kurzem    Kriegsdienst    lebte    er    damals    in    drückeuder    Abhängigkeit     bei    seinem    Vater. 

60)  Leipzig  1751;  neue  Aufl.  1753.  61)  Ein  zu  Berlin  1757  herausgegebenes  Heldenge- 
dicht .Scha'uaichs  'Heinrich  der  Vogler  oder  die  gedämpften  Hunueu'  blieb  ebenso  wirkungs- 
los wie  vorher  sein  Versuch  in  der  tragischen  Dichtkunst,  Breslau  1754.  62)  Die 
ganze  Ästhetik  in  einer  Nuss  oder  neologisches  Wörterbuch  .  .  .  Alles  aus  den  Accenten 
der  heiligen  Männer  und  Barden  zusammengetragen  und  den  groesten  Wortschöpflern  unter 
denselben  aus  dunkler  Ferne  o-eheilig-et  von  einijfen  demüthioen  Verehrern  der  sehraffischeu 
Dichtkunst',  (Breslau)  1754.  63)  Besonders  Bodmer  gab  mit  Idiotismen  wie  'gefölgig', 
mit  Wortbildungen  wte  'ambrosialisch'  oder  mit  Einmischung  mo<leruer  Begrifl'e  in  die 
Schilderung  der  Urzeit:  'durch  optische  Parallaxen  wusst'  er  aus  Luftcrystall  teleskopische 
Glajser  zu  schleifen'  Ofrund  zum  Spott.  64)  So  tadelt  Schoenaich  'aus  Freundes  Hän- 
den", wofür  er  'des  Freundes'  verlaugt;  'Abhang',  'tu  iler  ersten  Entfaltung  der  sanft  angehen- 
den Blüte':  'einsame  Nächte'.  Mit  Klopstock  wirft  er  Zernitz  und  Ch.  Niu.  Naumann 
zusammen,  welch  letzterer  in  seinem  'Nimrod,  ein  Heldengedicht  in  24  Büchern',  Fkf.  u. 
Lpz.  1752  eine  unwillkürliche  Parodie  des  Messias  geliefert  hatte.  Haller  muss  sich  selbst 
die  inzwischen  beseitijjten  schweizerischen  Ausdrücke  seiner  ersten  Auflassen  vorhalten 
lassen.  Der  streitbare  Ästhetiker  bekämpft  weiterhin  "Wielaud,  (Tleim.  selbst  iTcllert,  'der 
so  gern  lobet  um  wieder  gelobet  zu  werden'.  65)  Danzel,  (rottsched  382.  66)  1695 
bis  1782,  Arzt  wie  Keichel.  Seine  'Aesopische  Fabeln',  Hamburg  1740.  seine  Ausgabe  des 
Opitz  verfielen  der  Kritik  der  Schweizer.     Sein  'Sächsischer  Prinzeuraiib'  1743,  ist  natürlich 


360  NEUIIOCIIDEUTSClIi:   ZF.IT.         XVIII  JAHRir.  ß  14S 

vertraten  ebenso  unglücklich  dio  Tiu-tei  Gottsclieds  Johann  Joachim  Schwabk,"' 
mit  den  lielusti'^ungon  des  Veratandes  und  Witzes',  1741 — 45,  VIII,  und 
Chkistlou  Mylii'8,'''*  der  in  seinen  liällisciien  ßeniüliungon  /,ur  Aufnaiinie 
der  Critik'  174.'i — 47  llaller  auf  elende  Art  verhoehnte,  dann  von  diesem 
unterstützt  eine  naturwisacnschattlichc  Reise  nach  Amerika  antrat,  aber  schon 
in  London  1754  starb. 

Vergeblich  aber  suchte  Gottsched  einen  Satiriker  für  sicli  zu  gewinnen,''' 
der  die  Waffe  der  l'ersittiage  mit  Meisterschaft  führte  und  zuletzt  gegen 
Gottsched  selbst  wendete.  Christian  Luüwk;  Liscow,'**  geb.  1701  zu  Witten- 
burg  in  ^Iccklenburg-Schwerin,  hatte  in  Rostock  und  Jena  studiert,  dann  als 
Lehrer  und  spseter  in  diplomatischer  Verwendung  Frankreich  und  England 
bereist,  trat  1741  in  die  Dienste  des  Grafen  Brühl,  lebte  aber,  nachdem  er 
1749  auf  1750  wegen  unvorsichtiger  Äusserungen  über  dessen  Politik  in 
Untersuchungshaft  gewesen  war,  zurückgezogen  auf  einem  Gute  seiner  Frau 
bis  1700.  Um  17H0  in  Lübeck  verweilend,  auch  mit  dem  Hamburger  Kreise 
Hagedorns  befreundet,  wandte  er  seine  an  Boileau  geschulte,  aber  auch  an 
eigenen  Erfindungen  reiche"'  Laune  gegen  litterarische  Streber  und  Prahler, 
einen  Magister  Sivers  zu  Lübeck,  einen  Professor  Philippi  in  Halle,  und  mit 
tiefei'en  Absichten''^  gegen  den  orthodoxen  Theologen  Mantzel  in  Rostock: 
die  anonym  oder  pseudonym  erschienenen  Schriften  vereinigte  er  ebenso  ohne 
sich  zu  nennen  1739  als  'Sammlung  Satyrischer  und  Ernsthaffter  Schriften', 
darunter  auch  die   1730    herausgegebene  zusammenfassende  'Die  Vortrefflich- 

ziigleich  Familit'iilieldeulied  (Crit.  Beytr.  8,  535).  67)  Geb.  zu  Magdeburg  1714,   gest. 

als  Professor  und  Bibliothekar  zu  Leipzig  1784.  Pseudonym  schrieb  er  gegen  die  Schweizer: 
'Neuer  critischer  Sack-  Schreib-  und  Taschenalmanach  auf  1744'  (Lpz.  1743)  und  'Vollein- 
geschanktes  Tintenfässl',  Kutfstein  1745.  68)  Geb.  zu  Reichenbach   in  der  Oberlausitz 

1722.  Lebensbeschreibung  von  Kästuer  1755  (s.  dessen  Schriften,  Berlin  1741,  3,  156  fgg.). 
Mylius  Vermischte  Schriften  gab  sein  Freund  Lessing  heraus.  Berlin  1754  (die  Vorrefle  s. 
Lachm.-Maltz.    4.    47il    fgg.).  69)  Ironischer  Ablehnungsbrief   Liscows    von    1735    bei 

üanzel,  Gottsched  2.35.  70)  K.  G.  Heibig,  C.  L.  Liscow,  Dresden  u.  Lpz.  1844.  G.  C. 

F.  Lisch.  Liscows  Leben.  Schwerin  1845:  diesen  Mitteilungen  ans  den  Acten  folgte  .1. 
Classen,  Über  C.  L.  Liscows  Leben  und  Schriften,  Lübeck  1846;  mit  neuem  Material  B. 
Litzmann.  C.  L.  Liscow  in  seiner  litterarischen  Laufbahn.  Hamburg  und  Leipzig  1883. 
71)  Vortrettiich  erweist  er  z.  B.  dass  die  Gegenschrift  des  von  ihm  angegritteneu  Philippi 
gar  nicht  von  diesem  herrühren  könne,  gibt  weiterhin  sogar  einen  in  aller  Form  ausge- 
stellten Bericht  über  dessen  Tod,  nnd  hält  diese  Nachricht  mit  scheinbar  ernsten  Beweis- 
gründen aufrecht,  als  Philippi  protestiert.  72)  Den  freisinnigen,  durch  Bayle  bestimm- 
ten Staudpunct  Liscows  zeigt  noch  deutlicher  die  an  einen  Lübecker  Freund  gerichtete 
ironische  Warnungsschrift  'Über   die  Unnöthigkeit   der  guten  Werke  zur  Seligkeit',  welche 


§   148  GOTTSCHEDS  FEINDE  :  LISCOW,  ROST.  367 

keit  und  Notwendigkeit  der  elenden  Scribenten  gründlich  erwiesen'.  In 
Dresden  trat  er  mit  dem  llofdichter  Koenig  in  nahe  Verbindung  und  richtete 
gegen  Gottsched  die  Vorrede  zu  dem  von  Heinecken  übersetzten  Dionysius 
Longinus  Yom  Erhabenen  (2,  Aufl.  1742),  worin  er  die  Schweizer  versichert 
dass  ihr  Gegner  kein  Recht  habe  im  Namen  der  'herrschenden  Diclitor'  in 
Deutschland  zu  reden. 

Noch  ärger  ward  Gottsched  von  Dresden  aus  durch  seinen  ehemahgen 
Günstling  Johann  Christoph  Rost  verhöhnt,  1717  zu  Leipzig  geboren,  1742 
durch  Gottscheds  Yermittelung  Redacteur  der  Spenerschen  Zeitung  in  Berlin,'^'' 
siedelte  er  noch  in  demselben  Jahre  nach  Dresden  über,  wo  Kcenig  ihn  zum 
Eingreifen  in  den  Streit  Gottscheds  und  der  Neuberin  veranlasste.  Diese 
hatte  bei  der  Rückkehr  von  Petersburg  1741  die  Schoenemannsche  Truppe 
in  Gottscheds  Gunst  vorgefunden  und  rächte  sich ,  indem  sie  in  einem  Vor- 
spiel 'der  allerkostbarste  Schatz'  Gottsched  selbst  als  'Tadler'  im  Sternenge- 
wand, mit  Fledermausflügeln  auf  die  Bühne  brachte.'*  Vergeblich  suchte 
Gottsched  die  Auff'ührung  zu  hintertreiben;  der  Minister  Graf  Brühl  befahl 
die  Aufhebung  des  Verbots,  und  Rost  erzaehlte  in  einer  Satire  das  Vorspiel' 
mit  komischem  Ernste  das  Ereignis.''''  Noch  spseter,  als  1753  Gottsched 
gegen  Weisses  Oper  'Der  Teufel  ist  los'  einzuschreiten  versucht  hatte,' "^^  richtete 
Rost  gegen  ihn  ein  Gedicht  in  Knittelversen  'Der  Teufel.  An  Herrn  G. 
Kunstrichter  der  Leipziger  Schaubühne,  Utopien  1755',  welches  dem  Ver- 
folgten bei  einer  Reise  auf  jeder  Station  eingehändigt  wurde  und  welches 
Gottsched,  als  er  sich  bei  Graf  Brühl  beschwerte,  diesem  selbst,  in  Rosts 
Gegenwart  vorlesen  musste  ohne  Genugthuung  zu  erhalten.  Rost,  welcher 
1765  starb,'"  hatte  sein  leichtes  Talent  mehrfach  zu  selbständigen  Neuerun- 
gen verwendet:  nicht  nur,  indem  er  in  seinen  Satiren  den  Knittelvers 
(§  142,  57)  wieder  in  die  "tiitteratur  einführte;  auch  die  komische  Epopöe 
hatte  er,  allerdings  noch  in  Frosaform,  mit  der  'Tänzerin'  eröff'uet  (§  143,  10). 
Als  'Versuch  von   Schsefergedicliten  und  anderen   poetischen  Ausarbeitungen' 

erst  Lpz.  1803  herausgegeben  worden  ist.  73)  Sein  Vorgänger  war  J.  F.  Lamprecht, 

geb.  zu  Hamburg  1707,  gest.  zu  Berlin  1744,  auch  er  ein  abtrünniger  Gottsehediauer. 
74)  Reden-Esbeck,  C.  Neuber  S.  2B9  fgg.  Bald  darauf  verspottete  sie  Gottscheds  Forde- 
rung historischer  Treue  im  Costüme.  indem  sie  als  Nachspiel  einen  Act  des  Cato  in  rcemi- 
scher  Tracht  parodierend  auifübren  liess.  75)  Mehrmals,  besonders  auch  in  der  Schweiz 

gedruckt,  zuletzt  in  den  Vermischten  Gedichten  von  Herrn  J.  C.  Rost",  die  Chr.  H.  Schmid 
1769  herausgab.  76)   Vgl.  über    diesen    Streit  Minor,    Weisse  144  tgg.  und    dazu    im 

Anhang    das    umfängliche  Verzeichuis    der    gewechselten    Streitschriften.  77)  Chr.  H. 

Wackernagfl,  f.itter.  Gescbichte  H.  25 


368  NEUTIOCHDEUTSCIIE   ZEIT.        XYTTT  .TAHRIf.  §  149 

Hess  er  (Berlin)  1742  sohlüptVigo  Erzivhlungen  mir  ironischer  Moral  im  Ue- 
schmacke  Liitbntaines  und  (ireeourts  (Ms<heinen;  darin  aucli  Ein  Scha^fer- 
spiel",  welches  die  Neuberin   1741   aufgeführt   hatte/" 

§  149. 

Gottsched  konnte  durch  die  von  Dresden  aus,  unter  dem  Schutze  eines 
allmächtigen  Ministers  gegen  ihn  gericliteten  Angritte  der  Satiriker  zwar 
lächerlich  gemacht  werden,  aber  sein  Ansehn  bei  den  ernsten  Freunden  der 
Dichtung  hätten  sie  wohl  nicht  zu  erschüttern  vermocht.  Dies  war  vielmehr 
das  Werk  der  offenen,  gründlichen  Gegner,  welche  seinem  Autoritätsglauben 
die  Lust  zu  reformieren,  seiner  zusammengeborgten  Lehrweisheit  tüchtige 
Gelehrsamkeit  und  selbständiges  Denken,  seiner  ränkevollen  Beeinflussung 
der  zeitgenössischen  J^itteratur  Freimut,  ja  Grobheit  entgegensetzten.  Hatte 
er  hotten  dürfen  in  Deutschland  jeden  Widerstand  durch  seine  weitverzweig- 
ten Verbindungen  unter  den  Gelehrten  und  an  den  Hoefen  zu  besiegen ,  so 
erstand  ihm  in  der  republikanischen  Schweiz  die  unerbittliche  und  überlegene 
Feindschaft  zweier  Kunstrichter,  die  mit  ihm  etwa  gleichalterig  und  Anfangs 
ihm  zuvorgekommen  waren,  die  er  erst  nachgealimt,  dann  in  seine  Bundes- 
geuossenschaft  aufgenommen ,  zuletzt  aber  hatte  hochmütig  schulmeistern 
wollen.  Nachdem  sie  eine  Zeit  lang  seine  sprachlichen  Verbesserungen  sich 
hatten  gefallen  lassen  (§  141,  17),  brachte  sein  Verhalten  gegen  eine  ihrer 
litterarischen  l'nternehmungen,  welche  er  als  Concurrenzarbeit  bezeichnete 
und  zu  unterdrücken  versuchte,  einen  tieferen  Gegensatz  an  den  Tag,  dessen 
Unvertra'glichkeit  sich  rasch  offenbarte,  so  dass  der  Streit  erst  mit  dem  Sturze 
seiner  Ileri-schaft  ein  Ende  fond.  Freilich  auch  der  Ftuhm  seiner  beiden 
Züricher  Gegner  überlebte  diesen  Sturz  nicht  lange:  sie  hatten  nur  die  Bahn 
gebrochen  für  groessere  Kunstrichtei-  und  Kunstlehrer,  und  was  der  eine  von 
ihnen  noch  spaeter  von  eigener  Dichtung  erscheinen  Hess,  fand  hoechstens  bei 
den  ihm  persoenlich  Nahestehenden,  und  auch  bei  diesen  meist  nur  auf  eine 
kurze  Zeit  Beifall, 

Johann  Jacob  Boümer,'  geboren  zu  Greifensee  bei  Zürich  1698,  war 
nach  vergeblich  ihm  auferlegter  kaufmännischer  Lehrzeit  in  Oberitalien  1719 

Schinid,  Necrolug  U  iBeiliu  178ö)  425  fgg.  78)   Redeu-Esbeck  264:  damals  wurde  es 

'Der  versteckte  Hammer  betiteh:  bei  spseteren  Aufführuugeu  als  'Die  gelernte  Liebe*. 
§    149.      1)    Über    Bodmers    Leben    vgl.    uameutlich    .Joh.   Joe.    Hottingeri    Acroama    de 
Jo.  Jac.  Bodmero,   Turici  1783,    wo    auch    seiue  Schriften    schon   aufgezifhlt  sind:    ferner 
Morikofer,   Die  Schweizerische    Litteratur   des  18.  .Jahrhunderts.    Leipzig  1861,   8.  72 — 247 
und   Biechtold.   Gesch.  der  dt.  Lit.  in  d.  Schweiz  524—687.     Briefe    au  Bodmer  s.  in    dem 


§  149  .  BODMER  UND  BREITINGER.  369 

nach  Zürich  zurückgekehrt,  erhielt  hier  1725  eine  Lehrstelle  für  schweizerische 
Geschichte,-  die  er  bis  1775  bekleidete,  und  starb  1782.  Als  Gelehrter 
bedeutender  und  besonders  durch  philologische  Leistungen  um  die  Bibelkritik^ 
verdient,  war  Johann  Jacou  Breitingkr  ebenfalls  am  Gymnasium  in  Zürich 
angestellt;  geb.  1701  starb  er  1776.  Bodmer,  lebhaft  und  unermüdlich 
anregend,  ehrbegierig  und  spottlustig,  auch  in  der  Wahl  seiner  litterarischen 
AVaffen  nicht  immer  gewissenhaft,*  fand  in  Breitinger  einen  treuen  und  sorgsam 
überlegenden  Verbündeten,  der  durch  philosophische  Begründung  das  aus 
unmittelbarem  Gefühle  hervorgegangene  Urteil  seines  Freundes  zu  stützen 
vermochte.  Frühzeitig  traten  sie  hervor:  in  Verbindung  mir  anderen  Jugeud- 
genossen  Hessen  sie  1721 — 23  'Die  Discourse  der  Mahlern""  erscheinen,  eine 
Nachahmung  des  englischen  Spectator^^  die  nur  im  letzten  Band  einer  groesseren 
Freiheit  Raum  gibt."  Eigen  jedoch  ist  ihnen  der  Vorzug,  welcher  dem  Verstand 
vor   der  Einbildungskraft  zugesprochen  wird,^   die  Rechtfertigung  der  Satire, 

letzten  vou  ihm  selbst  besorgten  Buche  'Literarische  Pamphlete.  Aus  der  Schweiz', 
Z.  1781:  und  in  'Briefe  berühmter  und  edler  Deutschen  an  Bodmer'.  hg.  v.  G.  F.  Stteudlin, 
Stuttgart  1794.  Briefe  von  und  an  Bodmer  bei  Hagedorn  iu  Eschenburgs  Ausgabe  5: 
seine  Briefe  an  Gleim  in  Briefe  der  Schweizer  .  .  .  hg.  v.  W.  Körte ,  Zürich  lb04. 
S.  auch  Bodmers  (literarisches)  Tagebuch  hg.  von  .J.  Baechtold  iu  der  .Jubilieumsschrift  der 
allgemeinen  geschichtsforschenden  Gesellschaft  der  Schweiz  1891 :  seine  'Persoenlichen 
Anekdoten',    hg.  von  Th.  Vetter.    Züricher    Taschenbuch    1892.  2)    Eine   'Helvetische 

Bibliothek'  liess  er  Zürich  1735 — 44  erscheinen .  'Historische  u.  critische  Beytrsge  zur 
Historie  der  Eydgenossen',  Z.  1739.  Seine  freimütige  Geschichte  der  Schweiz  im  18.  Jahr- 
hundert wurde  nicht  zum  Drucke  befördert.  3)  Ausgabe  der  Septuaginta  1730 — 82. 
4)  Er  trat  vielfach  anonym  oder  pseudonym  auf.  Auf  Sch(pnaichs  Angrifie  antwortete  er 
mit  Parodien  auf  dessen  Dichtungen.  Eine  Zweideutigkeit ,  welche  wider  besseres  Wissen 
Gottsched  als  einen  Corrector  erscheinen  liess,  der  sein  eignes  Lob  in  ein  fremdes  Werk 
eingesetzt  hätte,  rügt  Ba^chtold,  Vier  kritische  Gedichte  Bodmers  S.  XXXVII.  Auch  auf 
diese  Unarten  mag  sich  Goethes  Wort  beziehn  (Dichtung  und  Wahrheit,  VII  Buch)  dass 
Bodmer  zeitlebens  ein  Kind  geblieben  sei.  5)  4  Bde.,  der  IV.  mit  dem  Titel  'Die 
Mahler  oder :  Discourse  Vou  den  Sitten  der  Menschen.  Der  vierde  und  letzte  Theil'.  Ver- 
besserte Auflage:  'Die  Mahler  der  Sitten',  2  Bde.,  Z.  1746.  Neudruck  von  Th.  Vetter 
(Frauenfeld  1891),  der  auch  die  Vorarbeiten  der  Herausgeber  veröffentlicht  hat:  'Chronick 
der  Gesellschaft  der  Mahler'  1721—22,  Frauenfeld  1887.  6)  Dies  spricht  schon  die 
AVidmung  aus  'An  den  Erlauchten  Zuschauer  der  Engeländischen  Nation'.  Im  Einzelnen 
ist  die  Benutzung  dieses  Vorbildes ,  von  dem  zuniechst  nur  die  franzcpsische  Übersetzung 
den  Bearbeitern  vorlag,  untersucht  worden  von  Th.  Vetter,  Der  Spectator  als  Quelle  der 
'Discurse  der  Maler',  Frauenfeld  1887.  7)  Auch  der  Stil,  der  sich  anfänglich  zwischen 
Curialien  und  Fremdwörtern  unbehilflich  hindurchwindet,  wird  zusehends  freier  und  cor- 
recter.             8)  Wie  Gottsched,    so    schliessen    sich    auch    ilie  Züricher  an  den  Philosophen 


370  NEnilorilDEUTRCIIE   ZEIT.         XVITI  JAIlRir.  §  149 

die  Ycrworfung  dos  liurloskon,  und,  mif  ilirnr  ornstoron  Ric]itunj2:  zusammon- 
hilngcnd,  das  grosse  Gewicht,  das  auf"  die  Eiv-ielumg,  iuich  :iuf  die  der  Ma'dclieu 
gelegt  wird.  Für  die  deutsclie  Littcratur  ward  es  überdies  lolgenreich,  daas 
die  englischen  Ansichten  üher  Poesie  und  Kritik  von  den  Mahlern"  auf  die 
deutschen  Dichter  übertragen,  dass  falsclier  Prunk  und  Wortspielsucht  ge- 
tadelt und  deshalb  Opitz"'  als  der  einzige  Musterdichtcr  verkündigt  wurde. 
Auch  die  Empfehlung  der  reimlosen  Verse  (§  142,  23  fg.)  und  das  der  Fabel, 
zumal  der  selbsterfundenen '"  nach  Lamottes  Vorgang  gespendete  Lob  sind  für 
die  spsetere  Entwickelung  nicht  nur  der  Züricdier  Freunde  bedeutsam  geworden. 

Im  Spectator  hatte  Addison  Miltons  poetische  Verdienste  gepriesen:  in 
dessen  Dichtung  fand  Bodmer  sein  eignes  Ideal.  Eine  Übersetzung  in  Prosa, 
Johann  Miltons  Verlust  des  Paradieses',  liess  er  zuerst  1732,  und  noch  öfters," 
mit  stets  erneuter  Verbesserung  der  Sprache  und  des  Stiles  erscheinen.  Die 
Verteidigung'-  der  Originaldichtung  gegen  die  Voltaire  nachgesprochenen 
Vorwürfe  Gottscheds  eröffnete  1740  den  grossen  Litteraturstreit  zwischen  Zürich 
und  Leipzig.''' 

Doch  das  Hauptwerk  der  schweizerischen  Kritik,  welches  Gottscheds 
Feindseligkeit   im  vollsten  Masse  hervorrief,  aber  auch,  schon  durcli  den  Ver- 


Wolf an.  9)  Vgl.  §  121,    3.     Eiue    sorgsame  Ausgabe    des  Dichters,    1745   begouneu. 

ward  durch  die  weit  schlechtere  von  Triller,  Fraukf.  a.  M.  1746  verdrängt.  Auch  die  Ge- 
dichte von  Cauitz  gab  Bodmer  heraus  1737.  und  die  vou  Wernike  s.  §  136,  7.  10)  Neue 
Crit.  Briefe  {Z.  174;»)  S.  185  (XXII):  'Alle  meine  Freunde  haben  eine  grosse  Hochachtuuir 
für  ihren  Mitbürger  Hermann  Axels.  Vornehmlich  schätzen  sie  ihn  darum  hoch,  dass  er 
seine  Fabeln  nicht  findet,  sondern  erfindet'.  11)  1742.     1754  und  von  nnn  an  mit  dem 

Titel    Verlohrues  Paradies'.     176i).  1780.  12)    Critische  Abhamlliing  von  dem  Wunder- 

baren in  der  Poesie  uud  dessen  Verbindung  mit  dem  Wahischcinlichen  in  einer  Verteidi- 
gung des  CTediehtes  J.  Milton  von  dem  verlohrnen  Paradiese;  der  beigefügt  ist  Joseph  Ad- 
disons Abhaudlunir  vou  den  Schirnheiten  in  demselben  Gedichte',  Zürich  1740.  - —  Bodmer 
bewegt  sich  übrigens  meist   in  den  theologischen  Fragen,  die  hier  anknüpfen.  13)  Die 

wichtigsten  Streitschriften  der  Züricher  sind  vereinigt  in  der  'Sammlung  Critischer.  Poe- 
tischer und  anderer  geistvoller  Schriften  zur  Verbesserung  des  Urteils  und  des  Witzes  in 
den  Werken  der  AVohlredenheit  und  der  Poesie',  Z.  1741 — 44,  12  Stücke;  wiederholt  (von 
Wieland)  'Sammlung  der  Zürcherischen  Streitschriften'  .  .  Z.  1753  in  3  Bdn.  Im  Einzelnen 
haben  diese  Stücke,  welche  sich  vielfach  mit  Gottscheds  Schülern  u.  Freunden,  Triller  u.  a. 
beschäftigen,  jetzt  grossenteils  kein  Interesse  mehr.  Immerhin  ist  die  Art,  wie  1742  Gott- 
scheds Vorrede  zur  3.  Auflage  seiner  Dichtkunst  samt  <len  von  ihm  beigebrachten  Zu- 
stimmungszeugnisseu  aus  der  Schweiz  (^Bern  u.  Basel)  abgeführt  wird,  ebenso  lustig  als 
tapfer.  Von  den  spaetereu  Darstellungen  des  Streites  ist  die  von  Manso  im  VIII  Band 
der  'Charactere    der  vornehmsten  Dichter   aller  Nationen  (^Xachtriege  zu  Sulzers  Allgemeiner 


ll 


§  149  LEHRE  DER  ZÜRICHER.  371 

gleich  mit  dem  Scinigen,  seinem  Anselm  am  meisten  Eintrag  gethan  hat,  war 
J.  J.  Breitingers  'Critische  Dichtkunst  worinnen  die  Poetische  Mahlerey  in  Absicht 
auf  die  Erfindung  im  Grunde  untersuchet  und  mit  Beyspielen  aus  den  berühm- 
testen Alten  und  Neuern  erläutert  wird',  Zürich  und  Leipzig  1740.'*  Breitinger 
schloss  sich  besonders  an  Dubos  an,  der  seinerseits  von  den  Engländern  beein- 
flusst  Rcflexions  critiques  sur  Ja  poesie  et  sur  la  j^^inture  (Paris  1715) 
geschrieben  und  in  Deutschland  bereits  durch  den  mit  den  Schweizern  ver- 
bündeten U.  Kcenig  '^  eingeführt  worden  war.  Mochte  Gottsched  hcchnend  darauf 
hinweisen  "'  dass  bei  Breitinger  nicht  wie  bei  ihm  Vorschriften  zu  finden  seien, 
wie  man  diese  oder  jene  Art  von  Gedichten  zu  verfertigen  habe:  die  Absicht 
Breitingers  war  vielmehr  eine  feste  Grundlage  für  die  Kritik  zu  schaffen,  die 
Wirkungen  der  Dichtung  zu  erforschen  und  daraus  die  Anforderungen  an  den 
Dichter  abzuleiten.  Die  Leidenschaft,  die  Begeisterung  mache  den  Dichter, 
der  allerdings  von  der  Wirklichkeit  ausgehe,  aber  die  verschiedenen  Erschei- 
nungen derselben  Sache  verbinde  und  diese  selbst  von  dem  Zufälligen  scheide: " 
so  stelle  der  Dichter  eine  'mcegliche  Welt'  dar.  Die  Schoenheit  aber  bestehe 
in  der  Verbindung  des  Wahren  und  des  Neuen;  und  stets  neu  sei  das  Wunder- 
bare, welches  nur  zugleich  wahrscheinlich  sein  müsse.'''  Da  ihm  nun  die 
Besserung  des  Willens  als  der  eigentliche  Zweck  der  Dichtung  erschien,'^ 
so  gab  er  derjenigen  Dichtungsart  den  Vorzug,  die  er  'ein  lehrreiches  Wunder- 
bares' nannte,  der  eesopischen  Fabel. ^" 

Besser  als  in  dieser  Lehre  von  den  Gattungen  ward  Breitinger  in 
einzelnen  Betrachtungen  über  Darstellungs-  und  Ausdrucksweise  der  hoeheren 
Dichtart  gerecht.  Auf  Homer  bezieht  sich  auch  wesentlich  die  ebenfalls 
1740  erschienene  'Critische  Abhandlung  von  der  Natur,  den  Absichten  und 
dem  Gebrauche  der  Gleichnisse'.^  Dagegen  lenkt  Bodmers  Schrift  'Critische 
Betrachtungen  über  die  Poetischen  Gemaihlde  der  Dichter',  Zürich  1741,  den 
Blick  wieder  auf  die  gleichzeitigen  Dichter,  indem  sie  eine  bereits  1727 
erschienene  Arbeit  Ton  dem  Einfluss  und  dem  Gebrauche  der  Einbildungs- 
kraft' nur  umfassender  wiederholt. 

Theorie  der  schoenen  Künste)'  Lpz.  1806  besonders  hervorzuheben.  14)  LB.  3,  "2,  1  fgg., 
wo  13,  37  die  Aufzsehlung  der  benutzten  Kunstsehriftsteller.  15)  'Von  dem  guten  Ge- 

schmack in  der  Dicht-  und  Redekunst'  im  Anhang  zu  seiner  Ausgabe  der  Canitzischen  Ge- 
dichte 1727  (§  1.36,  -2).  Vgl.  Braitmaier  S.  57  fgg.  16)  in  der  Vorrede  zur  3.  AitA. 
seiner  Dichtkunst  (s.  Anm.  13).  17)  Breitinger  nennt  dies  die  abstractio  imaginationis 
1,  286.  18)  1,  112.  19)  LB.  3,  2,  25.  11.  Vgl.  ebd.  23,  10  'Ein  Poet  ist  zugleich 
ein  Mensch,  ein  Bürger  und  Christ'.             20)  1,    186.     Epos  u.  tesupische  i'abel    sind  ihm 


372  NEUIIOCIIDEUTÖCJIE  ZEIT.         XYllI  JAUlül.  §  149 

Wiplireud  Brcitinger  seitdem  nur  noch  an  gelehrten  Arbeiten  Teil 
nahm,  blieb  Bodmer  seiner  kritischen  Tha'tigkeit  getreu,  wie  er  schon  vorher 
auch  das  Drama  in  den  Bereich  seiner  Untersuchungen  gezogen  und  in  dem 
1736  herausgegebenen  Briefwechsel  von  der  Natur  des  L'oetischeu  ( f eschmackes' 
nach  Corneilles  Vorgang  auch  das  Erhabene  neben  dem  Mitleid  und  dem 
Schrecken  von  der  tragischen  Wirkung  verlangt  hatte.'-' 

Von  den  zahlreichen  übrigen,  bald  einzeln,  bald  in  Sammlungen  erschie- 
nenen kritischen  Schritten  sind  einige  in  poetischer  Form  verf'asst:  so  schon  1734 
der  Character  der  Teutschen  GedichtcV"'  worin  Gottsched  noch  ein  freilich 
bedingtes,  nachher  zurückgenommenes  Lob  erhielt.'-'  Spater  rühmt  Bodmer 
Drollinger  und  Ilaller,  aber  auch  den  llallischen  Dichterkreis.  Diesen  gereimten 
Gedichten  stehn  am  Lebensende  Bodmers  hexametrische  gegenüber,  in  denen 
er  sich  über  die  Missachtung  der  Zeitgenossen,  zuerst  mit  dem  gleichen 
Geschick  Anderer,  dann  mit  den  doch  noch  erfahrenen  Beweisen  der  Zuneigung 
des  heranwachsenden  Geschlechts-^  troistet.  Dazwischen  liegen  zahlreiche,  meist 
parodierende  Angriffe  auf  die  jüngeren  Dichter,'-'  welche  man  ihm  vorge- 
zogen hatte. 

Und  doch  hatte, nur  der  Vortritt  dieser  Jüngeren  ihm  überhaupt  Lust 
und  Mut  gemacht,  selbst  in  hoeheren  Gattungen,  in  epischer  und  dramatischer 

wie  Lamotte    nnr    in    der  Gropsse  verschieden:    1,    195.  21)  Sein    Unterredner,   Graf 

Conti ,  der  Verfasser  eines  Paragone  della  poesia  tragica  d'Italia  con  quella  ili  Francia 
hielt    an    Aristoteles    fest.  22)  Vier    kritische    Gedichte    von   J.  J.  Bodmer,    hg.  von 

Bsechtold  in  Seuffert  D.  Lit.-dkni.   12  il883).  23)  So  abgedruckt  in  Gottscheds  Beytr. 

zur  krit.  Hist.  2U.  Stück  S.  624  (1738);  in  der  spaeteren  Form  unter  den  von  J.  G.  Sfchulthess) 
besorgten     Critischen    Lobgedichten    u.  Elegien'.    Z.  1747.  24)  Klopstock    war    1750 

Bodmers  Gast,  Wieland  1752:  freilich  entfremdete  sich  ihm  der  eine  bald  persoenlich,  der 
andere  spseter.  aber  auch  in  litterarischer  Hinsicht  um  so  mehr.  1774  besuchten  ihn  Goethe 
und  die  Brüder  Stolberg,  ersterer  auch  177{t.  Über  Boies  Anerkennung  im  Deutschen 
Museum  s.  Crueger,  Die  erste  Gesamtausgabe  der  Nib.  (Anm.  47)  S.  17.  Herder  lobte 
die  Homerübersetznng  Bodmers  in  der  Vorrede   zu  den  Volksliedern   II  S.  7.  25)  So 

namentlich  Lessing:  Lessingische  unasopische  Fabeln'.  Z.  176U,  als  deren  Verfasser  Bodmer 
im  127  Litteratnrbrief  aufgedeckt  wurde:  Polytimet.  ein  Tranerspiel,  durch  Lessings  Philotas 
oder  ungerathenen  Sohn  veranlasset'.  Z.  1760:  Odoardo  Galotti.  Augsburg  1778.  Gerstenberg: 
'Der  Hungerthurm  in  Pisa',  Lindau  und  Chur  176*J:  Weisse:  T)er  neue  Romeo,  eine  Tragi- 
komcedie',  Frankf.  u.  Lpz.  1769  (und  schon  in  'Neue  theatralische  Werke'  I.  Lindau  1768: 
'Atreus  und  Thyest,  ein  Trauerspiel  von  AVeissen.  Itzo  zum  Besten  der  Logen  und  des  Parterre 
characterisiert.  humanisiert,  dialogiert').  Gleim  und  Jacobi  :  'Von  den  Grazien  des  Kleinen  im 
Nahmen  und  zum  Besten  der  Anakreontchen.  In  der  Schweiz'.  1769.  Klopstock:  Das  Be- 
grsebniss  und  die  Auferstehung  des  Messias',  Fkf.  u.  Lpz.  1775;  'Der  Tod  des  Ersten  Menschen 
und  die  Thorheiten  des  weisen  Koenigs'.  Zürich  1776.     Die  Homerübersetzer:  'Der  gerechte 


§  149  BODMERS  GEDICHTE.  373 

Form  hervorzutreten.^''  Allerdings  schon  vor  Klopstock  hatte  er  Mihon 
wenigstens  mit  dem  Plane  zu  seinem  Noah'-^  nachahmen  wollen;  aber  erst  der 
Messias  gab  ihm  für  Sprache  und  Versart  das  Vorbild.  Vergeblich  jedoch 
lobten  ihn  seine  Hchüler,-^  selbst  Wieland -^.  Klopstock,  der  vor  diesem  bei 
Bodmer  zu  Gaste  gewesen  war,  schwieg,  und  Lessing  ■^''  spottete  der  neuen 
'Sündflut',  welche  Bodmer  episodisch  zu  'Noah'  hinzugefügt  hatte  (17.51); 
Kästner-'^  machte  die  holprigen,  cfesurlosen  Hexameter  lächerlich;  und  so 
versank  die  Reihe  der  Patriarchaden '^^  Bodmers  rasch  in  nicht  unverdiente 
Vergessenheit. 

Noch  zahlreicher,^^  aber  noch  weniger  gelungen  sind  die  Dramen  Bodmers, 
deren  Stoffe  er  meist  aus  der  biblischen,  der  roemischen  und  der  schweize- 
rischen Geschichte  entnommen  und  welche  zum  Ausdruck  seiner  republikani- 
schen, Aufklserung  und  Sittenstrenge  fordernden  Überzeugungen  dienen  sollten. 
Ohne  Handlung,  allein  auf  die  Entwickelung  der  Charactere  durch  Gesprseche 
gerichtet,    konnten    diese  Dramen  auch   auf  eine   Aufführung  nicht  rechnen; 


Momns',  1780.  Wieland:  'Bodmers  Apollinarien'  (Tübingen  1783)  S.  67  fgg.  26)  Der  Be- 
geisterung und  Hotinung,  mit  welcher  er  1749  die  Entwickelung  der  Poesie  betrachtete,  gibt 
er  Ausdruck  in  den  Neuen  crit.  Briefen  XLV  p.  388  'Meine  besten  Lebensjahre  sind  in  den 
Isthmus  gefallen,  der  von  dem  bleiernen  Alter  der  schienen  Wissenschaften  in  das  silberne 
herüberführte.     Das  goldene  Alter  ist  gewiss  dem  silbernen  auf  dem  Fusse'.  27)  'Grund- 

riss  eines  epischen  Gedichtes  von  dem  geretteten  Noah':  Sammlung  crit.  Schriften,  I.  Stück 
(1742).  28)  J.   G.   S(ulzer),    'Gedanken    von    dem    vorzüglichen    Wert    der    epischen 

Gedichte  des  Herrn  Bodmers',  Berlin  1754.  Bodmer  wird  hier  mit  Homer  gleichgesetzt, 
über  Watteau tl)  erhoben.  Doch  selbst  Sulzer  tadelte  in  vertrauten  Briefen  an  Bodmer  'die 
postdiluvianischen  Sitten  und  Künste  der  antediluvianischen  Menschen':  Briefe  der  Schweizer 
an  Gleim  S.  127:  darauf  hatte  Kleist  aufmerksam  gemacht:  Sauer.  Kleist  2,  176.  29)  In 
der  Ausgabe  des  Noah  von  17.52  (die  erste  war  ohne  den  Namen  des  Dichters  1750  er- 
schienen) :  'Abhandlung  von  den  Schoenheiten  des  epischen  Gedichtes  Noah'.  Zürich  1753. 
30)  LB.  2,    903.  31)  LB.  2.    923.  32)  Ausser  Noah  und  'Syntfluf:    Jacob  und 

Joseph'  1751 ;  'Jacob  und  Rachel'  1752 ,  'Dina  und  Sichern'  17.53,  'Joseph  und  Zulika'  17.53, 
'Zilla'    1755.     Die    'Colombona'    feiert    die    Entdeckung   Amerikas.  33)  Von  den  etwa 

vierzig  Stücken  seien  hervorgehoben :  'Der  erkannte  .Joseph'  und  'der  keusche  .Joseph', 
Z.  1754,  'Ulysses',  'Electra*.  1760;  'Patroclus',  'die  Cherusken'.  '.Johanna  Gray'.  Triedrich 
von  Tockenburg'.  'Oedipus'  1761.  'J.  Caesar'  1763.  'Cicero'  1764;  'Neue  Theatralische  Werke: 
der  Vierte  Heinrich  Kayser'  ua.  1768.  .  .  'Arnold  von  Brescia  in  Zürich',  Frankf.  1775, 
'Arnold  von  Brescia  in  Rom'  o.  0.  1776:  'W.  Teil',  'Samen  durch  List  genommen',  'Der 
alte  Heinrich  von  Melchthal'.  'Gesslers  Tod'  1775.  'Karl  von  Burgund' (eine  Nachahmung  der 
Perser  von  Aeschylus)  1771;  neu  herausg.  von  Seuflfert  Lit.-denkm.  9,  Heilbronn  1883. 
Bodmer  beutet  sonst  Shakespeare  aus.   Weit  älter,  vom  J.  1746,  ist  sein  Schseferspiel  'Cimon'.  das 


374  NEUIIOCIIDEUTSCIIK  ZEIT.         XVIII  JAHUII.  §   14".> 

BodiiuT  selbst  wünschte  überluiuj)!  nur  einen  Vurlnig  in  der  Art  der  griechischen 
Rhapsoden.  •'* 

Am  meisten  musste  IJodmcrs  Dichtweise,  seine  Empliinglichkeit  für 
poetische  Schienheit,  sein  unersättlicher  Fleiss  ihn  zum  Übersetzer  beffchigen, 
und  sclion  im  Streite  gegen  Gottsched  hatten  er  und  ßreitinger'*'  durch  licehere 
Anforderungen  sich  um  diesen  Zweig  der  Litteratur  verdient  gemacht.  Ausser 
Miltou  hat  13odmer  auch  Butlers  Iludibras  "'  und  Popes  Dunciadc'''  über- 
setzt, und  ist  noch  sptet  zur  englischen  Litteratur  zurückgekehrt  mit  seinen 
Altenglischen  (und  altschwtebischen)  Balladen. ^'^  Unter  den  Übersetzungen 
aus  dem  Griechischen,  die  er  mit  den  biidischcn  E[)cn  grossentoils  in  seiner 
Sammlung  Calliope'' ''■'  vereinigte,  ist  seine  llomerübersetzung*"  sachlich  und 
sprachlich  sorgfältig,  metrisch  dsigegen,  wie  alles,  was  er  in  Hexametern  schrieb, 
kunstlos  und  schlottrig.  Bearbeitete  er  doch  so  selbst  die  altdeutschen  Gedichte, 
l'arcival  ITöli,  JJie  Rache  der  Schwester  (2^ibelungen)  1767.  Freilich  auch  die 
Balladenform,  die  er  ihnen  1781  gab,  konnte  nicht  für  sie  gewinnen. 

Gerade  auf  diesem  Gebiete  jedoch  hat  er  sich  ein  bleibendes  Andenken 
gesichert  durch  die  Veröffentlichung  unserer  wichtigsten  Dichtungen  aus  der 
mittelhochdeutschen  Zeit,  die  er  z.  T.  glücklich^'  in  den  Handschriften 
auffand  und  auch  in  ihrem  Wertverhältnisse  zu  einander  besser  würdigte ^•^  als 
seine  Vorgänger  und  seine  Zeitgenossen:  seine  Ausgabe  der  Nibelungen^'' 
erschien  1757,  seine  Sammlung  von  Minnesingern  aus  dem  Schwsebischen 
Zcitpuncte'    1758   u.   59.^^      Auch    Boners    Fabeln,*^    allerdings    noch    ohne       • 


er  1773  drucken  lies».  84)  So  hatte  er  aiuh  Kloj)sti)ckß  Messias  durrli  Vorlesungen  popu- 

larisieren wollen:  s.  Lessing  bei  Lachmann-AIaltzahn  3,  152.  35)  Crit.  Dichtk.  "J.  157  fg^f. 

36)  Fkl".  u.  Lpz.  1737.  37)  Zürich  1747:  dazu  mehrere  Nachahmungen:  'Das  Banket  der 

Dunsen*  1758  ua.  38)  Zürich  1780  u.  1781.  311)  i'  Bde,  Zürich  1767.         40)  Homers 

AVerke    aus    dem  liriechischen    übersetzt.    Z.    1778.  41)    Über   die    von   Scho-pflin    in 

Strassburg  vermittelte  Übersendung  der  «lamals  in  Paris  befindlichen  Bilderhandschrift  der 
Minnesinger  s.  Crueger,  Strassb.  Studien  2,  440.  Freilich  verschweigt  Boilmer  dass  die 
erste  Nachricht  über  die  H».  «ler  Nibelungen  ihm  von  dem  Lindauer  Arzt  Obereit  gegeben 
worden  war:    .J.  Crueger,    Der    Entdecker    dei-    Nibelungen.    Strassb.    Dis«.      Frankf.    1883. 

42)  Schon  1743  hatte  Bodmcr  gehandelt  'Von  den  vortrefflichen  Umständen  für  die  Poesie 
unter    den  Kaisern    aus   dem    schwiei)isciicn    Hause':    Samml.  Crit.  Sehr.  VII  St.  S.  25  fW. 

43)  'Chriemhilden  Rache  und  die  Klage :  zwei  Heldengedichte  Aus  dem  schwieb.  Zeitpuncte. 
Samt  Fragmenten  aus  dem  (ledichte  von  den  Nibelungen  u.  d.  .Josaphat".  Zürich.  Bodmer 
war  durch  eine  f^ücke  in  iler  Nib.hs.  C  verfuhrt  worden  zwei  verschiedene  (tedichte  an- 
zunehmen. 44)  Proben  der  alten  schwa-b.  Poesie  des  Dreyzehnten  Jahrhunderts.  Aus 
der  Manessischen  Handschrift'  waren  schon   174!)  vorausgegangen.  45)  'Fabein  aus  den 


§  150  BODMERS  SCHÜLER.  375 

den  Namen  dos  Üichters/'^  gab  Breitingor,  welcher  sich  an  diesen  Arbeiten 
eifrig  beteiligte,  1757  heraus.  Sogar  die  'Samnikmg  deutscher  Gedichte  aus 
dem  XII.  XIII  und  XIV  Jalirhunderf  (Berlin  1782—85),  welche  auch  die 
wichtigsten  hoofischen  Epen  zuerst  wieder  bekannt  machte,  ist  zwar  von  Bodmers 
jüngerem  Landsmann  Christoph  Heinrich  Müllek^^  besorgt,  aber  von  Bodmer 
selbst  vorbereitet  worden.*"* 

Müller  hatte  in  Berlin  einen  Schützer  an  einem  älteren  Schüler  Bodmers, 
Johann  George  Sulzer,  gefunden,  welcher,  zu  Winterthur  1720  geboren, 
als  Akademiker  zu  Berlin  1779  starb. ^'-^  1744  nach  Magdeburg,  1747  nach 
Berlin  gekommen,  vertrat  er  überall  Bodmers  und  Breitingers  Ideen,^*^  denen 
er  zumal  durch  seine  'Allgemeine  Theorie  der  schoenen  Künste'  1771  — 1774 
einen  fasslichen  Ausdruck  gab.  Kenntnisreich  und  lebhaft,  Friedrich  II 
ergeben  und  von  diesem  geschätzt,  war  Sulzcr  der  beste  Vermittler  zwischen 
den  Schweizer  Kunstrichtern  und  dem  preussischen  Dichterkreise. 

§  150. 

Schon  früher  hatte  in  Preussen  eine  der  schweizerischen  Kunstlehre 
verwandte  philosophische  Beschäftigung  mit  dem  Schoenen  sich  rege  gezeigt. 
Insbesondere  an  der  Universittet  Halle,  an  welcher  seit  1 740  Christian  Wolf 
von  neuem  lehrte  und  seine  Lehrart  nun  auch  auf  die  Ästhetik  übertragen 
wurde.  Eben  dieser  Name  wurde  von  Alexander  Gottlob  Baumc4arten^ 
eingeführt,  dessen  Äefifliefim  zu  Frankfurt  a.  0.  1750  und  1758  erschien,  der 

Zeiten  der  Minnesinger",  Zürich.  46)  Diesen  fand  erst  Lessing,  Zur  Gesch.  u.  Lit.  V. 

Beitr.  1781  (Lachmanu-Maltzahn  10,  329  fg.),  der  die  Schweizer  Herausgeber  zugleich  der 
Nachlässigkeit   und    einer  kleinen  Ünredliclikeit  gegen  Grottsched  überführt.  47)   1740 

geboren,  aus  politischen  Gründen  (er  verfocht  Rousseaus  Gedanken)  1767  aus  Zürich  ge- 
flohen, hatte  er  am  Joachimsthalschen  Gymnasium  in  Berlin  eine  Anstellung  erhalten, 
kehrte  aber  1788  nach  seiner  Vaterstadt  zurück,  wo  er  1807  starb.  Vt>-1.  .Joh.  Cruesrer, 
Die  erste  Gesamtausgabe  der  Nibelungen,  Frankfurt  a.  M.  1884.  Über  die  Mangelhaftig- 
keit des  MüUer'schen  Abdrucks  s.  Lachmanns  AVolfram  v.  Esclicnbach  S.  XV;  dei-  i'arzival 
veranlasste  die  berühmte  grobe  Abweisung-  der  Sammluno-  durch  Friedrich  den  (xrossen. 
48)  So  beriet  er  sogar  den  eliemaligen  Gottschedianer  W.  J.  C.  G.  Casparson,  Prof.  in 
Cassel,  bei  der  Ausgabe  des  Wilhelm  von  Oransc  1781  (§  57,  '27):  Crueger,  Gesamtausg. 
S.  132  fgg.  49)  -L  (t.  Sulzers   Lebensbeschreibung  von    ihm   selbst  aufgesetzt  mit  An- 

merkungen von  .1.  B.  Merian  u.  Frid.  Nicolai,  Berlin  u.  Stettin  1801).  Vorher:  Hirzel  an 
Gleim  über  Sulzer  den  Weltweisen,  Zürich  ii.  Winterthur  177!».  2  Bde.  Sulzers  Vermischte 
philosophische  Schriften  aus  den  .]ahrbü(diern  der  Akademie  der  Wiss.  zu  Berlin  gesammelt 
1  1773,  U  1781  enthalten  ebenfalls  aus  dem  II  Bd.  Le})ensnachrichten  von  ßlankenburg. 
50)  Vgl.  oben  Anm.  28.  Bodmer  arbeitete  selbst  an  Sulzers  AVb.  mit :  Briefe  d.  Schweizer  276. 
§    150.      1)  Geb.  in  Berlin  1714,  gest.  als  Prof.  zu  Frankfurt  a.  0.   1762. 


370  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XVHT  JAIIKU.  §  15ü 

aber  sclion  ITM)  Juicli  soine  Proboschritt  Medifationcs  jihihsopliinti'  de  Honnidlis 
ad  poinm  portinnifiliKs,  insbosondoro  durch  seine  IJetinitioii:  ein  Gedicht  sei 
eine  vollkommene  sinnhche  Ivode,  das  Verlangen  nach  lebendigem  Inlialt  gegen- 
über der  a'usseren  Formrichtigkeit  ausgesprochen  hatte.  Doch  hielt  sich 
Baumgarteu  wesentlich  an  die  antike  und  die  ihr  folgende  ausländische  Dichtung 
und  Kunstlchro,  pries  die  Franzosen  als  unsere  Muster  und  verwarf  Klopstock.-' 
Erst  Baumgartens  Schüler,  (ikoikj  Fkikdrhjii  Mkier,'  welcher  nach  den 
Vorlesungen  von  Baumgarten  Anfangsgründe  aller  scho'ucn  Wissenschaften', 
zuerst  Halle  1748,  erscheinen  Hess,  trat,  mit  Entscliiedenheit,  ja  mit  Übertrei- 
bung für  die  Dichter  der  neuen  schweizerischen  Richtung  ein,  entnahm  seine 
Musterbeispiele  hauptsächlich  Haller,  verwarf  die  Reime,"'  pries  Klopstock '  und 
führte  Wielaud"  in  die  Litteratur  ein.  Gegen  Gottsched  hatte  er  1746  seine 
Untersuchung  einiger  Ursachen  des  verdorbenen  Geschmacks  der  Deutschen 
in  Absicht  auf  die  schoenen  Wissenschaften'  gerichtet. 

Als  Kritiker  und  zugleich  als  Dichter  führte  Imma.ntkl  Jacob  Pyra^ 
die  neuen  Ideen  weiter  und  zu  Erfolgen,  die  nur  sein  früher  Tod  abbrach. 
Geboren  zu  Cottbus  1715,  starb  er  als  Conrector  des  Köllnischen  Gymnasiums  zu 
Berlin  1744.  Mit  Gottsched  war  er  zerfallen,  als  dieser  eine  Probe  seiner  reim- 
freien Aeneisübersetzung  zwar  abgedruckt,  aber  hinter  eine  gereimte  Arbeit  seines 
Schülers  Schwartz  zurückgesetzt  hatte.**  Gegen  Gottscheds  Anhänger,  welche 
die  HälUschen  Bemühungen  zur  Aufnahme  der  Kritik"  herausgaben  und  über 
Haller,  über  Milton  ihren  Hohn  ergossen  (§  148,  (38),  wandte  sich  Pyras  Erweis  dass 
die  G*ttsch*di:inische  Secte  den  Geschmack  verderbe",  Hamburg  u.  Leipzig  1 743.^ 
Er  zeigte  dass  Miltous  llohcs^  etwas  ganz  anderes  sei  als  Lohensteins  Schwulst,  er 
warf  den  Gegnern  vor  dass  sie  die  Weisianischc  Mattheit  und  Leere  allein  gelten 
lassen  wollten.  Er  pries  den  hohen  Geschmack  der  biblischen  Scribenten"  und 
erwartete  von  dessen  Belebung  den  Fortschritt  auch  der  deutschen  Dichtkunst. 
Eben  diesen  Gedanken  hatte  er  bereits  1757  in  einem  gleichfalls  ohne  seinen 


2)  Ästh.  §  408  Fuit  inter  eos  (Gennanos)  quo  dicam  homuncionem  nomine?  qui  cruciatus 
hominis  optimi  maximi  genus  humanum  iiifinitix  nuilis  eximentes,  ludicrts  Ulis  novorum 
{felasimoruin  versicuUs  proscinderet  et  Christianus  tarnen  in  regno  Christianismi  videri  vellet. 
'A)  (ieb.  1718  zu  Amniendorf  bei   Halle,  hier  gest.  als  Professor  1777.  4)   Vorrede  zu 

den  Horatzischen  Oden  von  8.  G.  Lange  1747:  s.  §  141.  25.  5)  Beurteilung  des  Helden- 

gedirhtes  der  Messias  1749.  6)    Er  gab  1782  Wielands   Gedicht  Von  der    Natur  der 

Dinge   heraus.  7)  Gustav  Waniek,    Immanuel   Pyra  u.  sein  Einfluss  auf  die   deutsche 

Litteratur   des  18.  Jahrhunderts.     Lpz.  1882.  8)    Beytr.  5.    89  fgg.      Über   die    Fort- 

setzung dieser  Aeneis,  welche  sich  hdschriftlich  in  Halberstadt  befindet,  s.  H.  Nathusius, 
I.  J.  Pyra,  Programm,  Halberstadt  1874.  9)  'Fortsetzung  des  Erweises'  .  .  Berlin  1744. 


§  150  DER  HALLISCHE  DICHTERKREIS.  377 

Namen  erschienenen  Gedichte  'Der  Tempel  der  wahren  Dichtkunst"  Ausdruck  ge- 
geben. Er  widmete  diese  Allegorie  in  reimfreien  Alexandrinern  seinem  Freunde 
Samuel  Gottlob  Lange  (1711 — 1781),  welcher  ihn  auf  der  Universitaet  als  Sohn 
des  pietistischen  Professors'"  (§  128)  unterstützt  hatte  und  ihm  auch  spgeter  als 
Pastor  zu  Laublingen  ein  ländliclies  Asyl  gewsehrte.  Die  dichterischen  Ergüsse 
dieser  Freundschaft,  an  denen  sich  auch  Langes  Gattin  Dorothee  als  Doris  betei- 
ligte, Idyllen,  denen  Pyra  auch  neue,  selbstbeobachtete  Züge  einzuflechten  wusste, 
gab  Bodmer  zu  Zürich  1755  heraus,  als  Thirsis  und  Dämons  freundschaftliche 
Lieder.''  Hier  wechseln  Reim  und  Reimlosigkeit  ab.  In  Reimen  verfasste  Pyra 
eine  begeisterte  Ode  auf  Friedrichs  II  Regierungsantritt  1740.  Nach  seiner 
Übersiedlung  nach  Berlin,  wo  er  im  Umgang  mit  Lamprecht,  Rost,  Gleim  freiere 
Ansichten  sich  bildete,  beschäftigte  ihn  das  Drama;  doch  blieben  seine  Entwürfe 
zu  Saul  (Agag),  zu  Atreus  unausgeführt;  Jephtha,  mit  Choeren,  ging  in  der 
Handschrift  verloren.  Pyras  früher  Tod  führte  seine  Freunde  nur  nseher  zu- 
sammen'^ und  hob  vor  allem  Lange  sogar  über  Gebühr.  Seine  'Horatzische 
Oden'  1747  durfte  Lange  Friedrich  dem  Grossen  widmen.  Aber  wenn  selbst 
seine  Freunde  die  mit  dem  Selbstgefühl  zugleich  zunehmende  Nachlässigkeit 
seiner  Dichtung  bemerkten,'-^  so  gab  Lessings,  durch  eine  ehrenrührige  Be- 
hauptung Langes  hervorgerufenes  'Vademecum'  1754  dessen  Schwächen  dem 
allgemeinen  Gelächter  preis;  und  der  vereinsamte  Dichter  suchte  vergebens  durch 
Herausgabe  seines  Briefwechsels  '*  die  verlorne  Achtung  wieder  zu  gewinnen. 
Besser  gelang  es  Johann  Wilhelm  Ludwig  Gleim  einen  ausgedehnten 
Freundeskreis  unter  den  Dichtern  seiner  Zeit  zu  gewinnen  und  festzuhalten, 
obschou  auch  seine  Dichtungen  nur  zu  einem  geringen  Teile  dauernden  Wert 
beanspruchen  dürfen.  Geboren'^  zu  Ermsleben  bei  Halberstadt  1719,  erwarb 
er  sich  durch  Geschäftstüchtigkeit  und  Liebenswürdigkeit  ansehnliche  Ver- 
bindungen, ward  Secreteer  eines  preussischen  Prinzen,  welcher  1744  vor  Prag 

10)  Diesem    hatte    er    die    173b    gedruckte    Ode     Das    Wort    des    Hoechsten'    gewidmet. 

11)  Zweyte  vielvermehrte  Aufl.  hg.  v.  Langen.  Halle  [1749],  wiederholt  von  Sauer  in 
Seufierts  Lit. -denkm.  22,  Heilbronn  1885.  Hier  auch  die  übrigen  Dichtungen  Pyras. 
unter  ihnen  der  Bibliotartarus',  eine  komische  Epopöe  in  gereimten  Alexandrinern,  das 
rohe  Studentenleben  verspottend,  leider  nur  der  I  Gesang.  12)  Gottsched  war  scham- 
los genug  den  Verstorbenen  weiter  verhoehnen  zu  lassen;  doch  Pyras  Hallischei'  Gegner 
Mylius  bekehrte  sich.  13)  Briefe  der  Schweizer  hg.  von  Körte  Zürich  1804  S.  41. 
112  uö.  17p.  Kleist  hg.  v.  Sauer  2,  38  (1746).  1.52  (1749).  Gleim:  s.  Schüddekopf 
Ramler  S.  22  Anm.  S.  Gessner :  s.  Wölfflin  S.  154.  14)  Sammlung  gelehrter  u. 
freundschaftlicher  Briefe,  Halle  1769.  70;  recht  wenig  geordnet.  Bemerkenswert  sind 
darin    Langes    Übersetzungen    aus    den   Minnesingern.             15)    J.   W.  L.    Gleims    Leben. 


378  NEUIIOCHDEUTSCIIK  ZEIT.         XVIll  .JAIIUII.  §  150 

Hui,  (liinii  (los  Fürsten  von  Anliiilt-Dcssiiu,  und  orlan^to  1747  eine  Anstellung 
am  Ddinstift  zu  llalborstadt  mit  reichlichem  Einkommen.  Wachrcnd  eines 
langen  Lebens  (er  starb  IMO.'J)  lnvrtc  er  nicht  auf  diese  Mittel"'  und  seine 
Beziehungen  zur  Umgebung  Friedrichs  II"  und  /u  dessen  Nachfolgern  zur  ausge- 
dehntesten, zartesten  Wohltluetigkeit  insbesondere  gegen  jüngere  Dichter  zu 
verwenden,  von  denen  er  1772 — 74  eine  Anzahl  in  Malberstadt  um  sich  ver- 
sammelte (§  155,  39  fgg.)  und  zur  gemeinsamen  Abwehr  der  Spötter  antrieb.''* 
Überallhin  knüpfte  er  A'erbindungen  '•*  an,  und  entwaffnete  durch  seine  gut- 
mütige Begeisterung  die  Kritik.  Aufkherung  und  Duldsamkeit,  heiterer, 
ma?ssigor  Lebensgenuss,  feurige  Begeisterung  für  seinen  grossen  Kamig  bildeten 
den  Cregenstand  seiner  Dichtung,  die  freilich  leicht  hingeworfen,  wie  an 
Formvollendung  so  auch  an  tieferen  Gedanken  Viel  zu  wünschen  liess.  Für 
diesen  oder  jenen  Freund  bestimmt,  grossenteils  einzeln  oder  in  kleinen 
Sammlungen'-"  gedruckt  und  verschenkt,  wurden  seine  Gedichte  nun  von 
fremder  Hand'-'  vereinigt;  freilich  hatte  er  selbst  das  dichterische  Eigentum 
seiner  Freunde  ebenso  wenig  geschont  und  Prosawerke  von  Lessing  und  Klop- 
stock  ohne  sie  zu  befragen  in  Verse  gebracht  (§  142,  4).  Er  begann  mit 
einem  Versuch  in  scherzhaften  Liederu,  Berlin  [1744],  welche  in  Form  und 
Gedanken  Anakreon  nachahmten.  Gleichzeitig  dichtete  er  Schseferspiele,  von 
denen  aber  nur  'der  Bloede  Schrefer',  1745,  gedruckt  und  oft  aufgeführt  ward. 
Auch  seine  Romauzen',  1756  erschienen,  stammen  aus  der  gleichen  Zeit: 
sie  führten  diese  Gattung  bei  uns  ein,  aber  zunaechst  noch  in  der  Art  des  Fran- 
zosen Moncrif,  als  Parodien  der  Bänkelsängerlieder,  voll  possierlicher  Traurig- 
keit.    Ja  er  fand  damals  ^^  schon  den  Ton  der  spseteren  'Preussischen  Kriegs- 


Aus   seinen    Briefen    nnd    Schriften    von  W.   Kürte.    Halberstadt    1811.  16)  Hagestolz 

geblieben,  bestimmte  er  seinen  Xaehlass  zu  einer  Stiftung,  welche  noch  jetzt  eine  Fund- 
grube für  die  Litteraturgeschichte  bildet.  Insbesondere  vereinigt  seine  Gemetldesammlung 
die  Bilder  fast  aller  berühmten  Schriftsteller  seiner  Zeit  —  ausser  (jfPthe  u.  Schiller. 
S.  Körte    (ileims    Leben    S.  4.^8    fgg.  17)    Freilich    seine    Bemühungen    Friedrich    zur 

besseren  Würdigung  der  deutschen  Dichter  zu  gewinnen  waren  vergeblich :  diesem  Zwecke 
dienten  besonders   seine  'Gesprseche  mit  der  deutschen  Muse'  Berlin  1764.  18)    Unter 

den  Dichtern  ging  allwöchentlich  eine  Büchse  um.  deren  Inhalt  bei  den  Zusammenkünften 
vorgelesen  wurde:  Auszüge  bei  Pröhle.  Anh.  f.  Lit. -gesch.  4.  3:i.'}  fgg.  §  150,  i'2. 
19)  Selbst  mit  Gottsched  wechselt  er  noch  17.Ö6  litterarische  Briefe:  Körte,  Gleims  Leben 
48  fgg,  20)   Über   die  Sammlung  'Das   Hüttchen'   1794  s.  Voss  Briefe  3,  2,  319  fgg. 

21)  Zuletzt  und  auch  da  nicht  mit  voller  Sorgfalt,  von  Körte.  Halberstadt.  VII.  1811  bis 
1S18.  wozu  1841  noch  ein  VIII  Band  kam.  22)  In  dem  Lied  auf  den  Tod  des  Prinzen 

Wilhelm   1744:  s.  Briefe  der  Schweizer  S.  9:  'Dich  sali  der  Feind:    er  floh   von  Schanz'  zu 


§  150  GLEIM.  379 

lieder  in  den  Foldzügen  ITöO  und  1757  von  einem  Grenadier',--'  die  von  Lessing 
in  die  Litteratur  eingeführt,  Gleim  berühmt  gemacht  und  zahlreiche  Nachah- 
mungen-^ gefunden  haben.  Es  vereinigen  sich,  um  einen  solchen  Erfolg  zu 
verdienen,  die  volkstümliche  Reimstroplie,  der  volkstümliche  schmucklose,^^ 
meist  ernste,  bei  Rossbach  aber  auch  spottende  Ausdruck,  endlich  der  volks- 
tümliche Glaube  an  den  göttlichen  Schutz,  unter  dem  Friedrich  siege. 
Noch  spseter  griff  Gleim,  aber  mit  geschwächter  Kraft,  auf  das  Grenadierhed 
zurück,  gegen  Joseph  II,  1778;  und  suchte  ebenso  vergeblich  den  Revolutions- 
heeren gegenüber  durch  solche  Toene  den  preussischen  Ileldensina  wiederzu- 
erwecken.'-*^  Meist  aber  bewegte  er  sich  auch  spseter  in  anakreontischen  oder 
horazischen  Weisen,  fügte  ihnen  verwandte  Tetrarchische  Gedichte',-^  Gedichte 
nach  den  Minnesingern''-'*  und  Gedichte  nach  Walter  von  der  Yogehveide'-^ 
hinzu,  letztere  beide  Sammlungen  Übersetzungen  noch  unverstandener  Vor- 
bilder. Ganz  misslangen  die  Lieder  für  das  Yolk',  Halberstadt  1772.  Der 
leichten  Vortragsart  Gleims  entsprachen  besser  die  Fabeln  "'*'  und  Erzsehlungen 
nach  Lafontaine,  aber  auch  rührende  Beispiele  der  Wohlthsetigkeit.  Menschen- 
liebe predigte  er  in  'Halladat  oder  das  rothe  Buch',-^'  das  in  Ton  und  Einzel- 
heiten an  den  Koran  erinnern  sollte.  Seinen  zsertlichen,  gelegentlich  wohl  auch 
eifersüchtigen  und  gewaltsamen  Freundschaftsgefühlen  gab  er  Ausdruck  in 
poetischen  oder  aus  Prosa  und  Poesie  gemischten  Briefen,  von  denen  namentlich 
die  mit  G.  Jacobi  gewechselten  in  den  Druck  kamen-^'  und  beiden  Verfassern 
boßsen  Spott  zuzogen.  Noch  aus  dem  Nachlass  wurden  zahlreiche  Briefe  des 
immer  rührigen  und  enthusiastischen  Dichters  veröffentlicht.^^ 

Schanze'.  23)   Neue    Ausg.    v.    Sauer,    Seufferts   Dt.    Lit.  -  denkm.    4,   Heilbronn   1882. 

LB.  2,  765  fgg.  Einzeldrucke  gingen  der  Sammlung  voraus,  ihr  folgte:  'Der  Grenadier  au 
die   Kriegsmuse    nach    dem   Siege   bei    Zorndorf',  1759.  24)  Weisses   Amazonenlieder 

1762,  Gerstenbergs  Kriegslieder  eines  kgl.  djenischen  Grenadiers  1762.  Lavaters  Schweizer- 
lieder 1767.  25)  Gerade  an  den  einfachsten  Bezeichnungen  natürlicher  Dinge  nahmen 
die  Berliner  Freunde  Anstoss:  Briefe  d.  Schweizer  S.  310.  Kleist  befürchtete  sosar  das 
Lachen  boshafter  Menschen  über  die  Stelle  im  Siegeslied  auf  Lowositz:  'Auf  einer  Trommel 
8888  der  Held  und  dachte  seine  Schlacht':  Sauers  Ausg.  2,  468.  473.  P^beu  diese  Stelle  hob 
jedoch  mit  Kecht  Heinse  1778  hervor:  Briefe  zwischen  Gleim.  Heinse  u.  Müller  1.  375. 
26)  Preussische  Soldatenlieder.  Berlin  1790.  Zeitgedichte  1793.  Kriegslieder  171)4.  Preus- 
sische  Volkslieder,  Halberstadt  1800.  27)  Berlin  1764.  28)  Berlin  1773. 
29)  0.  0.  1779.  30)  Zuerst  Berlin  1756.  Proben  LB.  2.  763  fgg.  31)  Hamburg 
1774.  LB.  2.  775  fgg.  32)  Berlin  1768.  Schon  vorher  erschienen  Freundschaftl. 
Briefe,  Bcilin  1746  is.  darüber  Sauer  Kleist  2.  33):  Sechzig  Freundsihaftliche  Briefe  miit 
Lange  gewechselt),  Berlin  1760  und  es  folgten  noch  Episteln,  Lpz.  1783.  33)  Brief- 
wechsel zwischen   Gleim,    W.   Heinse  u.  J.  v.    Müller  hg.  von  Kürte,  Zürich    1804.     Briefe 


380  NEUIKUMIDEÜTSOFTE  ZEIT.         XVm  JAinni.  §  150 

Der  früheste  Freundeskreis,  den  Gleim  um  sieh  aamnielte,  umfasste 
seine  Studienj^enossen  in  Halle,  Hz  und  Götz:  beides  Süddeutsehe,  die  mit 
der  aiiakreontisclien  Dichtung  (fleims  mehr  übereinstimmten  als  mit  seiner 
Verherrlichun}?  Friedrichs  des  (Jrossen.  Johann  Piri-KU  llv.^*  war  geboren 
zu  Ansbach  1720  und  starb  dort  als  preussischcr  .]ustiz])eamter  1796.  Unter 
der  Misswirtscliaft  der  letzten  Markgrafen  von  Ansbach-Baireuth-'*»  hatte  er 
wie  Andere  zu  leiden:  lange  unbesoldet  im  Amte,  blieb  er  wie  Gleim  unver- 
heiratet. Auch  er  begann  mit  dem  Lob  des  Weins  und  der  Liebe;  auch  er 
versuchte  sich  zuerst,  und  erfolgreich,  in  neuen,  reimlosen  Formen,^'^  wendete 
sich  aber  bald  gereimten  Stroj)hen  und  dem  Alexandriner  wieder  zu.  Ge- 
sammelt Ulli!  von  Gleim  herausgegeben  erschienen  seine  Lyrische  Gedichte' 
zuerst  1749  zu  Berlin.  Sein  Sieg  des  Liebesgottes',  eine  komische  Epopoee, 
gegen  Modesucht  und  Pedanterei  zugleich  gerichtet,  folgte  1753.'"  Weil  er 
darin  über  Bodmers  Patriarchaden  gespottet,"  Hess  sich  Wieland  soweit  hin- 
reissen,  dass  er  in  den  Empfindungen  eines  Christen'  (Zürich  1757)  Uz  und 
andere  Dichter  als  'schwärmende  Anbeter  des  Bacchus  und  der  Venus'  bei 
dem  Oberhof))rodiger  Sack  in  Berlin  verklagte.  Uz-"*  fand  in  Lessing  und 
dessen  Berliner  Freunden  vorzügliche  Sachwalter  (§  153,  11);  er  hatte  die 
Genugthuung,  dass  Wieland  spa^ter  noch  freiere  Dichtungen  schrieb  als  er  selbst, 
und  schenkte  diesen  ebenso  seinen  Beifall  wie  denen  Thümmels  (§  155,  81  fgg.)- 
Doch  Hess  er  es  sich  seitdem  angelegen  sein  in  seinen  Dichtungen  ernstere  Stirn- 
deutscher  (Teiehrter  aus  (Tleims  Nai-hlass,  ebenfalls  Z.  1804.  Der  Briefwechsel  mit  Leasing 
ist  zuletzt  von  Redlich  in  der  Henipelscheu  Ausg.  des  letzteren,  der  mit  Kleist  von  Sauer 
hg.   worden.  34)  Biographie    in    'Poetische  Werke    von  .1.   P.  Uz,  nach    seinen  eigen- 

händigen Verbesserungen  hg.  von  Cli.  F.  Weisse',  Wien  1804.  II.  Henriette  Feuerbach. 
Uz  und  Cronegk,  Lpz.  1866  mit  Benutzung  von  üleinis  Briefwechsel.  Für  die  Lebensgeschichte 
von  Uz  sind  besonders  wichtig  die  von  A.  Henneberger,  Lpz.  1866,  herausgegebenen  'Briefe 
an  einen  Freund'  in  Rfpmhild.  wo  Uz  1752  untl  ITäS  bei  einer  Reichsexecution  gegen 
Meiuingen  thtetig  war  und  sich  verliebte.  Ebendieselben  auch  in  .1.  P.  Uz,  Saniniluntr  von 
zum  Teil  noch  uugedruckten  Dichtungen  .  .  hg.  v.  H.  Trapp,  Ru'mhild  1866.  Zur  Textes- 
geschichte  vgl.  bes.  Sämmtliche  poet.  Werke  von  .1.  P.  Uz  (hg.  v.  Sauer),  in  Seufferts  Lit.-denkm. 
33 — 38,  Stuttg.   1889.  34  a)  Sein  Fürst  erfuhr  von  ihm  erst  durch  eine  Audienz  bei 

Papst  Clemens  XIV,  weh-her  nach  dem   Dichter  fragte.  35)  Frühiingsode  (§  142,  73), 

zuerst  174;{  in  den  Belustigungen  des  Verstandes  u.  Witzes  S.  486  erschienen.  36)  Stral- 

sund, (ireifswald  und  Leipzig.  37)  Dass  schon  vorher  hin  und  her  gestichelt  worden  war, 

zeigten  Zimmermarin  in  Prutz  Deutsches  Museum  1866  und  Sauer  in  Seufferts  Lit.-denkm. 
33.  Ganz  besonders  aber  richtet  sich  die  Epistel  von  Uz  an  Hofrath  C(hrist)  gegen  Bodmer 
und  den  englischen  Ueschmack:  sie  erschien  in  der  Ausgabe  seiner  (redichte  von  1755. 
38)  Er  verteidigte   sich   launig   in   einem    Schreiben    über   eine  Beurteilung    des  Sieges  des 


§  150  UZ  UND  GÖTZ.  381 

mungen  zu  eeussern.  Seine  Theodicee'^'*  war  schon  175")  erschienen;^"  die 
gleiclie  Philosophie  vertrat  sein  Versuch  über  die  Kunst  froehlich  zu  sein'  (Leipzig 
1700)/'  in  Briefen,  denen  sich  noch  einzelne  an  Freunde  gerichtete,  teilweise 
mit  Prosa  und  Poesie  abwechselnd,  anschlössen.  Ilallers  Tiefe  und  Kraft 
suchte  er  mit  Popes  Klarheit  und  Glätte  zu  verbinden.  Aufgeklserte  Frömmig- 
keit beseelt  seine  geistlichen  Gedichte.*'-  Denselben  Ernst  zeigen  seine  patrio- 
tischen Oden:  vortrefflich  erkennt  er*^  den  Quell  alles  Unheils  in  der  Erziehung 
deutscher  Jugend';  er  beklagt  schmerzHch  den  deutschen  Bürgerkrieg**  und 
legt  auf  Kleists  Sarg  auch  sein  Lorbeerreis.*''  Von  den  jüngeren  Dichtern 
stand  ihm  der  frühgestorbene  Cronegk  nahe,  dessen  Schriften  er  sammelte 
(§  155,  77).  1768  schloss  er  seine  dichterische  Thätigkeit  ab,  indem  er  seine 
'Sämmtliche  poetische  Werke'  zu  Leipzig  erscheinen  liess. 

Dem  in  der  Jugend  angeschlagenen  Tone  blieb  Johann  Nicolaus  Götz*^ 
getreuer,  nur  dass  er  durch  den  Gegensatz  dieses  Tones  zu  seinem  geistlichen 
Berufe  sich  veranlasst  sah  je  länger  je  mehr  in  das  Dunkel  zurückzutreten. 
Geboren  zu  Worms  1721,  starb  er  zu  Winterburg  bei  Kreuznach  1781.  Als 
er  17-46  die  Oden  Anakreons  in  reimlosen  Versen'  herausgab,*^  entfremdete 
er  sich  Uz,  der  daran  mitgearbeitet  hatte;  auch  mit  Gleim,  durch  den  er 
in  preussische  Dienste  überzugehn  gehofft  hatte,  erkaltete  seine  Freundschaft, 
Als  Hofmeister  und  Schlossprediger,  seit  1748  auch  als  Feldprediger  des 
Regiments  Royal  d'Alsace  mit  den  franzoesischen  und  lothringischen  Hofki-eisen 
in  Berührung,    schloss  er   sich  eng  an  die  leichte  Erotik  der  Franzosen  ***  an. 

Liebesgottes',  Poet.  Wke.  1768,  2,  S.  250.  39)  LB.  2,  806.  40)  iu  der  2.  Auflage 

'Lyrische  und  audere  Gedichte',  Anspach  1755.  41)  LB.  2,  795  fgg.  42)  Noch  1781 

erschien,  vou  ihm  mit  Auderen  auf  'laudesfürstlichen  Befehl'  bearbeitet  ein  'Neues  anspachisches 
Gesangbuch',    worin  die  alten  Lieder  der  Weise  Gellerts  angepasst  waren.  43)    Sämtl. 

poet.  Werke  1,  185  Man  bildet  nur  den  Leib:  der  Jünglincf  lernt  gefallen,  Lernt  freyen 
Tanz  und  Spiel,  in  fremder  Sprache  lallen,  Und  buhlen,  eh  er  mannbar  itit,  Betrügen, 
die  er  kaum  geküsst.  Und  seinen  Hals  zu  schlauen  Tücken  Im  Joche  weicher  Sitten  bücken. 
44)  LB.  2,  803.  45)  LB.  2,   812.  46)    Eine    Lebensgeschichte,    von    ihm   seihst 

begonnen,  findet  sich  iu  der  Ramlerscheu  Ausgabe  seiner  Vermischten  Gedichte',  Mannheim 
1785  111  Bde.  Vgl.  auch  Friedrich  Götz,  Geliebte  Schatten.  Bildnisse  und  Autographen 
von  Klopstock,  Wielaud,  Herder,  Lessing,  Schiller,  Gopthe,  in  einem  befreundeten  Cydus 
(Mannheim  1858).  S.  14  fg.  Hahn,  J.  N.  Götz.  Die  Winterburger  Nachtigall,  Progr. 
Birkeufeld    1889.  47)  Ganz    selbständig    ist    die    Zweite    Bearbeitung   von    Götz:  'Die 

Gedichte  Auakreons   u.    der  Sappho  Oden',  Karlsruhe  1760.  48)  Voltaire   lernte  er  iu 

J.,uueville  perscjenlich  keuueu  uud  übersetzte  dessen  Gedichte  au  Friedrich  11  sowie  die 
Gedichte  des  Königs  auf  Voltaire.  Gressets  Vert-vert  übertrug  er  als  'Paperle',  Karlsruhe 
1752.     Doch  auch  nach  den  Minnesingern  dichtete  er,    nach  Herzog  Heinrich  vou    Breslau. 


382  NEUJlOciinElITSrilK   ZEIT.         XVIII  .lAllKIf.  ij  ir»() 

1750  Hess  er  'Gedichte  eines  Wornisers"  ersdieinen.  Spppter  vermittelte  Jlaiiiler 
die  VeröflVMitlicliiing  seiner  Gedichte,  oline  den  Namen  des  Verfassers  zn  nennen, 
und  mit  Änderungen,  welche  die  an  sich  s<rhon  zierlichen  Verse  noch  weiter  zu 
verfeinern  sucliton.  So  verfuhr  Jlamler  auch  in  der  nach  dem  Tode  des  Dichters 
erschienenen  Sanindung  (.Mannheim  1785).  Knebel,  der  Götz  kurz  zuvor 
aufgesucht,  ihn  aber  misstrauisch  und  zurückhaltend  gefunden  liatte,  beklagte 
Kamlers  Arbeit;^'  dagegen  zeigte  Voss  (§  142,  .'i)  allerdings,  dass  der  unablässig 
feilende  Dichter  Rander  die  Auswahl  aus  seinen  Lesarten  überlassen  hatte; 
freilich  war  llamlor  auch  noch  weiter  gegangen  und  seine  selbständigen  Ab- 
änderungen dürften  nicht  immer  den  Vorzug  besitzen.  Mehrfach  umgestaltet 
hatte  Götz  auch  das  Gedicht  von  der  'MädcheninseF,  welches  in  einem  Sonder- 
druck Knebels  Friedrich  11  vorgelegt,  von  diesem  beifällig  als  Muster  reindoser 
Verse  aufgenommen  worden  war:'"*  ursj)rünglic]i  iu  anakreoutischer  Form  ver- 
fasst,  hatte  er  es  sjneter  in  Distichen  umgegossen. 

Ernstere  Züge  trsegt  die  Dichtung,  welche  der  Berliner  Freundeskreis 
Gleims  pflegte,  liier  tritt  die  Begeisterung  für  den  grossen  Ka'uig  in  den 
Vordergrund,  wie  Gleim  selbst  sie  in  den  Grenadierliedern  aussprach.  Sie 
als  Soldat  zu  betluetigen  und  durch  den  Heldentod  zu  besiegeln,  war  das 
Loos,  welches  Ewald  Christian  von  Kleist  erfüllte/'^  Geboren  auf  dem 
vaeterlichen  Landgut  Zeblin  bei  Köslin  1715,  trat  er  erst  in  die  dänische,  1740 
in  die  preussische  Armee:  er  starb  an  den  in  der  Schlacht  bei  Kunersdorf 
erhaltenen  Wunden  zu  Frankfurt  a.  d.  0.  1759.  So  vollendete  sein  Schicksal  den 
Eindruck  seiner  edeln,  überall  Achtung  und  Liebe  gebietenden  Persoenlichkeit. 
Mit  Gleim  seit  1743  befreundet,  verweilte  er  im  Winter  1752  auf  1753  zu  Zürich 
und  stand  1757  und  1758  zu  Leipzig  mit  Lessing  in  vertrautem  Verkehr. 
Gleims  Beispiel  regte  ihn  zum  Dichten  an.  Für  die  Form  war  ihm  besonders 
Uz  Vorbild,  für  den  gedanken-  und  bilderreichen,  kraftvollen  und  gedrängten 
Ausdruck    Haller,    nur   dass   Kleist   milder    und   anmutiger  erscheint.''-     Den 


49)  8.  (ieu  Brief  an  Herder,  in  der  Adrastea  1803.  V  26"2  igg.  in  dessen  Werken  von  Suphan 
24,  255  fgg.  50)  Diese  Stelle  der  Schrift  Dt-  la  litterature  AUemande  Neudruck  6,  15 

wurde  freilich  neuerdintjs  auf  ein  (iedicht  des  Pnesideuten  vou  Derschau  über  die  1751 
zu  Emden  errichtete  Ostindische  HandeiRcomyiagnie  bezogen:  vou  Kohhnann  in  Schnorrs 
Arch.  XI  35."i;  aber  gewiss  mit   l'nreclit:  s.  (iciger   iu  Seulferts  Lit.-deukm.  10  S.  VllI  fgg. 

51)  'Ehrengedächtniss  Herrn  K.  l".  v.  K.  (vou  Frid.  Nieolai\  Berlin  1760.  (Tleims  Samm- 
luntren  verwertet  für  Leben  und  Dichtnnf':  Auir.  Sauer.  Ewald  von  Kleists  Werke  II 1. 
Berlin.  Hempe!  o.  .T.  ( \'orr.  von  1882.^  Der  11.  Bd.  enthält  die  Briefe  von  Kleist,  der  111. 
die  an  ihn  gerichteten.  Danach  A.  Chuquet.  De  Ewaldi  Kleifttii  vita  et  ncriptix,  Parisiis  1887. 

52)  Kleists  erste  Gedichte  erschienen,  nicht  ohne  Abänderungen  tler  Herau.sgeber,  in  Schwabes 


§  150  EW.  CIL  VON  KLEIST.  383 

liebsten  Stoff  aber  bot  ihm  der  Englilndcr  Thomson,  dessen  Jahreszeiten'  er 
in  der  Ansgabe  und  Übersetzung  von  Brockes  (§  147)  kennen  lernte.  Auch 
er  gedachte  den  Kreis  der  Jahreszeiten  zu  beschreiben,  vollendete  aber  nur 
den  'Frühling',  dem  er  selbst  zuerst  den  Titel  'Landlust'  geben  wollte.  Das 
Gedicht,  langgepflegt,  mehriacli  von  ihm  und  überdies  von  llamler^^  bearbeitet, 
erschien  zuerst  1749.  Es  ist  die  Schilderung  eines  Spaziergangs,  welche 
nur  durch  die  Hieufung  der  beschriebenen  Vorgänge  und  üegenstände''^  etwas 
Überladenes  und  Ermüdendes  hat,  so  sehten  auch  die  Darstellung  und  die 
eingestreute  Betrachtung  im  Einzelnen  ist.  Kleist  rühmt  das  Glück  des  Land- 
manns, er  verabscheut  die  Verwüstungen  des  Tra3ssigen'  Kriegs.  Seine  Melan- 
cholie, zu  der  eine  unglückliche  Liebe  stark  beitrug,  steigerte  sich  in  der 
Eintoenigkeit  und  dem  Zwang  des  Potsdamer  Garnisonslebens :  doch  fand  er 
Trost  in  dem  Gedanken  an  die  Weisheit  der  Vorsehung,'"''  in  den  Bildern 
eines  unschuldigen  Naturlebens. ^"  Da  erfasste  ihu  der  Kampf  Friedrichs  gegen 
übermächtige  Feinde:  seine  Bewunderung  für  die  mit  Menschlichkeit  geparte 
siegreiche  Tapferkeit  des  Koenigs,  seinen  Wunsch  für  das  Vaterland  Mühsal 
und  Qual,  ja  den  Tod  zu  erleiden,  ergoss  er  in  seine  'Ode^'  au  die  preussische 
Armee'  und  in  den  'kleinen  kriegrischen  Roman'  in  fünffüssigen  Jamben 
'Cissides  und  Faches'  1759.  Auch  das  Bild  bürgerlichen  Heldentums, 
das  er  schon  1745  in  Seneca  geselm,  stellte  er  in  einem  prosaischen  Drama 
nach  dem  Muster  von  Klopstocks  'Tod  Adams'  dar:  doch  ist  hier  Form  und 
Gesinnung  zu  starr,  zu  streng,  als  dass  der  Stoiker  das  Gefühl  des  Lesers 
für  sich  zu  gewinnen  vermöchte. 

'Belustigimgen  des  Verstandes  uud  des  Witzes'  1744.  1745;  danu  iu  'Neue  Beyträge  zum 
Vergnügen    des  Verstandes  und  AVitzes'  1748.  174i).  1751.  53)  Dessen  Abänderungen 

zeigt  der  Text  der  'Sämtlichen  Werke  des  Herrn  E.  C.  v.  Kleist',  III  Berlin  1760.  Danach 
LB.  'S,  786  die  Probe  aus  dem  Frühling.  'Über  die  Ramlersche  Bearbeitung'  s.  Sauer, 
Sitzungsber.  der  Wiener  Akad.  XC'VII,  1880.  Ramler  hat  sehr  stark  eingegriffen  um  die 
Sprache  einfacher,  die  Dactylen  flüssiger  zu  gestalten.  Etwas  ironisch  sagt  Kleist  (Sauer 
2,  166)  von  Ramler:  'er  hat  noch  nichts  gemacht  was  so  schoen  ist  als  sejn  Frühling.'  Auch 
die  Ausgabe  der  Gedichte  Kleists,  welche  W.  Kürte,  II,  Berlin  180;i,  aus  Gleims  Papieren 
herausgab,  ist  kritisch  unzulänglich.  54)   Kleist  rühmte  scherzend  die  'poetische  Bilder- 

jagd' auf  seinen  einsamen  Spaziergängen,  wie  Zimmermann,  Über  die  Einsamkeit,  Cap.  11, 
uud  Goethe  in  Dichtung  und  Wahrheit,  VII  Buch,  berichten.  Dass  Kleist  spjeter  die 
Schilderung  iu  Handlung  umzugiessen  gedachte,  erzsehlt  Lessing,  Laokoon  XVII.  Abschnitt. 
55)  'Der  gelähmte  Kranich'  LB.  2,  785.  56)  Irin.    Über  die  Erweiterung  der  idyllischen 

Gattung  durch  Gärtner-  u.  Fischeridylleu  s.  van  Haag,  E.  C.  v.  Kleist  als  Idyllendichter, 
Progr.  Rheydt  1889.  57)    LB.    2,  779.     Erschienen  iu  'Neue  Gedichte   vom   Verfasser 

des   Frühlings',  Berlin  1758.   deueu    Gedichte   vou    dem  Verf.  des  Frühlings'    1756  voraus- 
Wackernagel,  Litter.  Qeschichte.  H.  -6 


384  NEUIIOninErTSOIIK  ZKIT.         XVIII  JAIIRII.  §  ino 

Von  Kleist  aufgefordert'''*  Friedricha  Grosstliiiteii  in  (Jilen  zu  verherr- 
lichen, suchte  Kak!-  WiiJiKLM  Ramlkk  der  Horaz  des  preussischen  Augustus 
zu  werden.  Geboren  zu  (Jolberg  1720,  war  er  zwar  nicht  in  Halle,  wo 
er  Schule  und  Universittet  besuchte,  wohl  aber  in  Berlin  1744  mit  Gleiin 
bekannt  geworden.  1748  fand  er  eine  Anstolliing  als  Lehrer  am  Kadetten- 
corps mit  kärglichem  Einkommen.  Erst  Friedrichs  Nachfolger  ernannte  ihn 
178(>  zum  Mitglied  der  Akademie  und  zum  Mitdirector  der  K(Pniglichen 
Scliauspiele.  Er  starb  zu  Berlin  nOH.-'-*  Horaz,  den  er  in  den  Versmasseii 
des  Originals  übersetzte,'""  ist  Ramlers  ängstlich  nachgeahmtes  Muster, '^'  nur 
dass  er  in  den  eigenen  Diclitungcn*""'^  meist  Reimstroj)hen  gebraucht."^  Heine 
Entwürfe  arbeitete  er  langsam  und  mühsam  aus:*'^  künstlich  gab  er  ihnen 
den  lebhaften,  sprungweise  fortschreitenden  Gang;'"'''  durch  politische  Alle- 
gorien und  durch  gelehrte  Anspielungen'^'^  auf  die  antike  Mythologie ''^  und 
Geschichte  suchte  er  die  Kenner  zu  gewinnen.  Zur  Musikbegleitung  dichtete 
er  Cantaten  und  Oratorien,  von  denen  der  Tod  .lesir  in  der  Composition 
von  Graun,  1756,  seinen  Namen  zuerst  und  bis  auf  die  Gegenwart  bekannt 
gemacht  hat.  Ebenso  hatte  er  schon  1758  (II  Teil  1755)  Oden  mit  Melodien' 
gesammelt  und  darin  seine  grammatische  und  metrische  Sorgfalt  auch  auf  die 
Dichtungen  Anderer  übertragen;''"^  170(5  besser  'Lieder  der  Deutschen',  1774 
und  1778  seine  'Lyrische  Blumcnlese',  1783  eine  'Pabellese'  folgen.  Kleist, "^^ 
Lessing,  Götz,  spseter  Göckingk  und  ßoie  hatten  diese  Correcturen  sich  ge- 
fallen lassen;  Gleim  zerfiel  darüber  mit  Ramler  17G4.     Auch  seines  Schülers 

gegangen   waren.  58)  8auer  2,  339.  59)  Kurze   Lebeusgesi-bichte   von  (tückingk 

in  'Ramlers  Poetische  Werke"  (Berlin  1800,  II).  —  Carl  Schüdilekopf,  K.  W.  Raniler  bis  zu 
seiner  Verbimlung  mit  Lessing.  Wolteubüttel  1886  (Leipziger  Diss.):  hier  ist  der  haud- 
sehriftlich    erhaltene    Briefwechsel    Ramlers    benutzt.  60)    Zuerst    teilweise  1769  uö. ; 

vollständig   Berlin    1800.  61)  So   schöpft   die  Ode  LB.  2.  81.')    aus  Hör.  Carm.  2",  13. 

62)  Seine   'Oden'   zuerst    1767:   'Lyrische    Gedichte'    1772;    Poetische    Werke    s.    Anm.  5!». 

63)  Reimlos  z.  B.  'der  Triumph'  LB.  817.  64)  So  urteilt  Sulzer.  der  17r)0  mit  Raniler 
zusammen  eine  kritigcbe  Zeitschrift  begonnen  hatte:  Briefe  d.  Schweizer.  S.  424.  65)  A. 
Pick,  Über  Ramlers  Odentheorie,  Erfurter  Programm,  Lpz.  1887.  66)  Er  stellte  sich 
selbst  als  'Barden"  der  'Brennen'  dar.  07)  Seine  'Knrzgefasste  Mythologie'  erschien 
Berlin  1790.  II.  Auch  für  zierliche  Bilderbeigabe  zu  seinen  Gedichten  wusste  er  zu  sorgen. 
68)  Verzeichnisse  bei  Schüddekopf  68  fg.  Die  Gedichte  des  von  Mendelssohn  angeregten 
Ephraim  Kuh  (aus  Breslau.  1731 — 1790)  sind  von  Ramler  durchgefeilt:  'Hinterlassene 
Gedichte',  Zürich  1792,  II.  Vgl.  auch  Pick.  Herrigs  Archiv  73,  über  die  Bearbeitung 
Hagedornscher  (Tedichte.  Durchaus  absprecheml  urteilte  über  Randers  Begriff  von  Correctheit 
Herder  1772:  Weiuhold  Boie  S.  160  und  öficntlich  A.  W.  Schlegel  in  seiner  Kritik  Bürgers 
§  158.  18.             69)  Anm.  r.3. 


§  150  RAMLER,  DIE  KARSCHIN.  385 

Gessner  Idyllen  versificierte  Ramler  1785^*^  und  1789.  Mit  Lessing  zusammen 
erneuerte  er  das  Andenken  Logaus  (§  129,  4),  und  fügte  1766  eine  Samm- 
lung der  besten  Sinngedichte  der  deutschen  Poeten'  hinzu.  Nach  Battenx  Cours 
des  belles-lettres  bearbeitete  er  1756 — 1758  seine  'Einleitung  in  die  schoenen 
Wissenschaften',  welche  mehrmals  wiederholt,  die  frauzcesischen  Regeln,  wozu 
Ramler  Beispiele  aus  der  deutschen  Dichtung  eingeflochten  hatte,  bis  auf 
Herders  Einspruch ^^  in  Geltung  erhielten. 

Ramler  trug  auch  dazu  bei  die  preussische  Sappho'  zu  bilden.  Axxa 
Luise  Karschin'^  geb.  bei  Züllichau  1722,  hatte  als  Kindsmagd  und  Hirtin, 
dann  in  zweimaliger,  wohl  nicht  ohne  ihre  Schuld  unglücklicher  Ehe,  ein 
seltenes  Talent  besonders  zur  Stegreifdichtung  entwickelt,  als  ein  Baron  Kottwitz 
sie  1761  nach  Berlin  brachte.  Hier^'^  eignete  sie  sich  den  Stil  der  Ode 
an,  wofür  sie  freilich  die  Natürlichkeit  ihrer  früheren  Dichtung  in  Alexandrinern 
und  Kirchenliedstrophen,  z.  T.  auch  in  der  Mundart,^*  dahingab.  Gleim,  den 
sie  gern  geheiratet  hätte,  sammelte  ihre  'Auserlesene  Gedichte'^"*  1764,  wozu 
Sulzer  die  Vorrede  schrieb.  Unermüdlich  wusste  sie  die  Gunst  der  vornehmen 
Kreise  rege  zu  erhalten."^  Nur  Friedrich  II  blieb  kalt  und  karg.^'  Erst 
Friedrich  Wilhelm  II  baute  ihr  ein  Haus  in  Berlin,  in  welchem  sie  1791  starb. 

Ein  anderer  Schüler  Ramlers  eignete  sich  seine  reine,  glatte  Sprache 
an,  aber  nicht  seine  metrische  Sorgfalt:  vielmehr  beschränkte  er  sich  nach 
Ramlers  Rat  auf  eine  freilich  poetisch  gehobene  Prosa."*    Salomon  Gessner ^^ 


70)  im  'Deutscheu  Museum'.  71)  in  Nicolais  AUg.  D.  Bibl.  (1712)  16,  1,  17.    Suphan 

5,  278.  72)  llir  'Lebeuslauf   iu  der  von  ihrer  Tochter  C.  L.  von  Klenck,  Berlin  1792. 

besorgten  Ausgabe  ihrer  'Gedichte'.  Diese  Tochter  ist  ebenso  dichterisch  thsetig  gewesen 
wie  die  Enkelin  Helmina  von  Chezy  (1783 — 1856)  und  wiederum  deren  Sohn  Wilhelm 
von  Chezy,  welche  beide  die  Familiengeschichte  geschrieben  haben,  Helmiua  'Unver- 
gessenes', Leipzig  1858,  II;  Wilhelm  'Aus  meinem  Leben,  Helmina  und  ihre  Sühne', 
Schaffhausen  1863,  IV.  Vgl.  ferner  Heiuze,  Progr.  Anclam  1866.  Kluckhohn  in  Schnorrs 
Arch.     XI   484.     A.    Kohut,    Die  deutsche  Sappho,  Dresden  1887.  73)  Über  ihr  Er- 

scheinen in  Berlin  s.  bes.  Sulzer  an  Gleim:  Briefe  der  Schweizer  S.  332  fgg.  74)  Schle- 

sisches   Bauerngesprsch  in  der  Ausgabe    von  1792  S.  376  fgg.  75)  Es   folgten   noch: 

Neue    Gefliehte,    Mietau    u.    Leipzig    1772.  76)    Die    von    Seufiert,    Zeitsch.   d.   Harz- 

vereins, XIII,  189  fgg.  (Wernigerode  1881)  verütfentlichten  Bitt-  und  Dankepisteln  zeigen 
die  Flüchtigkeit  der  Dichterin  auch  teusserlich.  77)  Bekannt  ist  der  Vers,  mit  welchem 

sie  seine  zweite  Gabe,  2  Thaler,  zurücksandte :  Briefe  von  und  an  Merck  hg.  von  Wagner 
(§  159.  74)  S.  47.  78)  Gessners    Erstling    war    allerdings    das  'Lied    eines   Schweizers 

an  sein  bewaffnetes  Mädchen'  1751,  dem  noch  einige  wenige,  nieist  reimlose  Gedichte  folgten, 
mehrere    als  Prosa    geschrieben    am  Schluss  des  Dapliuis.  7!))  Vgl.  'Salomon   Gessner. 


386  NEUIIOCIIDEITSCHE  ZEIT.     XVIII  JAIIRII.  §  150 

(zu  Zürich  geb.  UM)  uiul  gestorben  17.S.S)  verweilte  174!>  und  ITöO  in  Berlin 
um  sicli  für  die  Buchiiandlung  seines  Vaters  vorzubereiten,  wandte  sich  aber 
mehr  und  mehr  der  Landschaftsmalerei'^"  zu,  und  hat  namentlich  in  der 
li;\dierkunst  Vorzügliches  geleistet.  Brockes  war  der  Lieblingsdichter  seiner 
Jugend;  spa'ter  nennt  er  Gleim  als  Vorbild;  Kleist,  der  bei  seinem  Züricher 
Aufenthalt  sich  innig  mit  ihm  befreundete,  widmete  ihm  seine  Idylle  'Iriif. 
Die  Idylle  ward  Gessners  Dichtart:  war  doch  auch  sein  spajterea  Leben  im 
Schosse  einer  zsertlich  geliebten  Familie,  und  zur  Sommerszeit  in  einer  Amts- 
wohnung im  Walde  zugebracht,  eine  wahre  Idylle.  Wie  Theocrit  wollte  Gessnor 
ländliche  Bilder  ohne  Galanterie  und  Witz  dicliten;  doch  mied  auch  er  noch 
den  Anschluss  an  die  Wirklichkeit  des  ba3urischen  Lebens  und  schilderte  eine 
arkadische  Unschuldswelt.  Sein  Daphnis'  1754  entnimmt  den  Stoff  aus  einem 
antiken  lioman,  die  Idyllen'  1750  und  besonders  die  zuletzt,  1772,  heraus- 
sreffebencn  stellen  einzelne  Scenen  dar,  mit  reizvoller  Beobachtung  des  Klein- 
lebens  der  Natur, '^  und  mehr  und  mehr  mit  moralisierenden  Absichten. ""-  D(Min 
wie  Bodmer  betonte  er  dass  der  Geschmack  in  genauer  Verbindung  mit  dem 
Herzen  und  den  Sitten'  stehe.  An  Bodmers  Patriarchaden  schliesst  sich  sein  'Tod 
Abels"  1758  an:  doch  wird  auch  hier  Kains  ' Unzufriedenheit'  als  die  Quelle  alles 
Unheils  angesehn.  Den  Gegensatz  zu  Stadt  und  Hof  schildert  er  in  dem 
'Schivferspiel  Evander  und  Alcimna',  dem  er  noch  ein  Rührstück  Erast'  beigab. 
Mit  diesen  Dramen  gleichzeitig,  1762,  erschien  der  erste  Schiffer,  von  ihm 
selbst  für  sein  Bestes  gehalten:  die  aufknospende  Liebe  hat  er  darin  allerdings 
meisterhaft  dargestellt.  Mit  der  Neigung  für  das  Zärtliche,  Zierliche  zeigt 
er  sich  der  Anakreontik  der  preussischen  Dichterschule  verwandt.  Aber  kein 
anderer  Dichter  gewann  auch  im  Ausland  solche  Gunst:  in  die  meisten  Sprachen 
Europas"*^  übersetzte  man  seine  formell  auch  dazu  besonders  einladenden 
Schriften;  vor  allem  in  Frankreich,*'*  wo  ihm  die  gleichzeitige  Naturschwärmerei 
Diderots  und  Rousseaus  entgegen  kam,  wurden  seine  Werke  sofort  und  dauernd 
beliebt. 


Von  J.  .1.  Hottiuf'er',  Zürich  1796:  und  S.  G.  Mit  untjedrackteii  Briefen  von  H.  Wöiffliu. 
Frauenfeld  1889.  Zahlreiche  Briefe  Gessners  zeigen  seinen  liebenswürdigen  Humor. 
80)  Über  seine  Kunst  sprach  er  sich  in  einem  Briefe  über  Landschaftsmalerey  an  Füssli. 
1770,  aus;  auch  in  dem  'Briefwechsel  mit  seinem  Sohne',  der  Zürich  und  Bern  1801  gedruckt 
ward,  ist  viel  von  Kunst  die  Rede,  da  der  Sohn  ebenfalls  Maler  war.  81)  l-'B.  3,  168 

Die   Gegend    im    Gras'.  82)    LB.   3,    16:")   fgg.  83)    Jöcher.    Lexikon    deutscher 

Dichter   und    Prosaisten    2.    llT)   fgg.  84)    7.«  Mort   d'Ahel  .   .  iradnit  .  .   ;wt/-  Mr. 

Huber.  Paris  1760  uü. 


§  151  GESSNER.     DIE  BREMER  BEITRÄGER.  387 

§  151. 

Die  Bekämpfung  Gottscheds  durch  die  Scliweizer  Kunstrichtcr  und  die 
preussische  Dichterschule,  noch  mehr  aber  die  Art,  wie  er  und  seine  An- 
hänger darauf  antworteten,  führte  dazu  dass  auch  in  seiner  na3chsten  Um- 
gebung, in  Leipzig,  die  besten  Kräfte  der  Jugend  sich,  wenn  nicht  gegen 
ihn,  doch  von  ihm  ab  wandten.  Gegen  die  Mitte  der  vierziger  Jahre  fand 
sich  unter  den  Leipziger  Studenten  und  jungen  Magistern  ein  Freundeskreis 
zusammen,  der  anfangs  noch  an  den  von  Schwabe  herausgegebenen,  von 
Gottsched  abhängigen  'Bchistigungen  des  Verstandes  und  Witzes'  (1741  fgg. 
§  148,  67)  mitarbeitete,  seit  1744  aber  eine  eigene,  allen  Streitigkeiten  ver- 
schlossene Zeitschrift  begründete,  mit  dem  Titel  'Neue  Bcytra?ge  zum  Ver- 
gnügen des  Yerstandes  und  Witzes'  Bremen  und  Leipzig  1744  fgg.*  Von 
Hagedorn  beraten,^  wollten  diese  Bremer  Beyträger'  besonders  'für  das 
Frauenzimmer'  schreiben.  Die  einzelnen  Gedichte  und  Aufsätze  wurden  ge- 
meinschaftlich geprüft;  doch  war  als  Herausgeber  namentlich  Karl  Christian 
GÄRTNER  thaetig^  (geb.  zu  Freiberg  1712,  gest.  zu  Braunschweig  als  Prof. 
am  Carolinum  1791). 

Die  Genossen  dieses  Leipziger  Dichterkreises*  waren  nur  zum  Teil 
Kursachsen;  aber  auch  die  von  aussen,  besonders  von  Hamburg  her  hinzu- 
tretenden Freunde  stimmten  in  den  gleichen  Ton  ein.  Entsprechend  den 
politischen  Verhältnissen  des  Staates,  in  welchem  eine  protestantische  Bevöl- 
kerung unter  einem  kathohsch  gewordenen  Herscherhause  stand  und  die 
liederliche,  verschwenderische  Hofwirtschaft  dieser  Kcenigo  von  Polen  über 
sich  ergehn  Hess,  ist  die  Poesie  der  sächsischen  Dichterschule  von  dulden- 
der Frömmigkeit  beseelt,  aber  gegen  die  Aufklärung  vielfach  nachgiebig  und 
munterem  Scherze  nicht  verschlossen.  Auf  Reinheit  und  Zierlichkeit  der 
Sprache  ebenso  bedacht  wie  die  preussische  Dichterschule,  ist  die  sächsische 
doch  den  reimlosen,  antiken  Formen  im  Ganzen  abgeneigt.  Am  besten  ge- 
lingt ihr  einerseits  die  kleinere  Erzählung  in  freien  Versen,  zumal  die  Fabel; 
andererseits  das  Drama,  dem   sie  eine  dauernde  Pflege  zuwendet,    und  zwar 

§  151.  1)  Nur  4  Bände  bis  1748  erschienen  im  ursprünglichen  Sinne;  der  V.  1748 — 50, 
und  der  VI.  1751 — 59  wurden  von  Joh.  Math.  Dreyer  herausgegeben,  der  schon  in  Gott- 
scheds Diensten  sich  durch  frivole  Schriften  gegen  Pyra  (§  150,  12)  einen  unfeinen  Ruhm 
erworben  hatte.  2)  Ihn  nennen  Rabener  und  Klopstock  'unseren  Vater".  3)  Er  eröffnete 
sie  mit  dem  Schoeferspiel  'Die  geprüfte  Treue'.  4)  Die  einzelnen  Freunde  werden  geschildert 
in  der  von  Cramer,  Ebert  u.  Giseke  redigierten  Zeitschrift  'Der  Jüngling',  Lpz.  1747 — 48: 
8.  Erich  Schmidt,  QF.  39,  40.   Eine  Auswahl  ihrer  Werke  mit  bist.  Einleitung  von  F.  Muncker 


388  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVHI  JAHRTT.  §  151 

meist   iiacli   tVauzd^sischcm    Muster,    aber    nicht   mit   der   Beschränktheit    und 
Steifheit  Gottscheds. 

Am  reinsten  prangt  sich  dieser  Grund/Aig  aus  in  CnuisTfAx  Fükcmtecjott 
Geli.kut,  welcher  zu  Hainichen  171.3  geboren,  als  Professor  zu  Leipzig  1701) 
starb. "^  1744  hatte  er  seine  Lehrtha^tigkeit  an  der  Universita»t  mit  der  Schrift 
De  iwosi  apolof/orwn  eorumquc  srriptorlhus  eröffnet.  Gleichzeitig  dichtete  er 
seine  Fabeln  und  Erziehlungcn\  welche  er  gesammelt  und  stark  überarbeitet "^ 
1740  (und  n  Teil  1748)  herausgab.  Unziehlige  Male  wiederholt  gingen  sie 
durch  die  Schule  in  den  Allgemeinbesitz  des  Volkes  über,  und  eigneten  sich 
allerdings  dazu  durch  ihren  volkstümlichen  Witz  und  die  fassliche  Moral. ^ 
Nach  Lafontaines  Vorbild  malt  Geliert  nicht  nur  die  Nebcnumständo  breit 
aus:  er  flicht  auch,  besonders  im  Eingang,  scherzhafte  Betrachtungen  und 
Gesprteche  mit  seinen  Lesern  ein.**  Der  gesunde  Menschenverstand  ist  der 
Ausgangspunct  seiner  Moral;  sein  Ziel  Verhoclmung  der  Eitelkeit,  besonders 
der  dichterischen,  aber  auch  der  der  Frauen,  die  er  ebenso  mit  ihrer  Flatter- 
haftigkeit neckt.  Streng  verurteilt  er  Geiz  und  Heuchelei.''  Seine  Stoffe 
hatte  er  grossenteils  selbst  erfunden, '°  doch  auch  ältere  deutsche  Fabulisten " 
benutzt.  Dieselbe  feine  Beobachtung  des  wirklichen  Lebens  bewies  Geliert 
in  seinen  Lustspielen,  welche  er  1747  gesammelt  herausgab:  in  ihnen  sah  die 
Zeit  den  getreuen  Spiegel  des  deutschen  Bürgertums,  vor  allem  seines  Fa- 
milienlebens.'" Weniger  gelang  ihm  die  Anlage  der  komischen  Handlung: 
sie  ist  oft  willkürlich,  durch  schlechtbegründete  Verwechselungen,  mehrmals 
durch  Brauttausch  weiter  und  zu  Ende  geführt.  Gellerts  Lustspiele  sind  in 
Prosa  verfasst:  'die  Betschwester',  zuerst  1745,  'das  Loos  in  der  Lotterie' 
1740,  'die  zärtlichen  Schwestern'  und  'die  kranke  Frau',  ein  Nachspiel.  Mit 
den  'Schwestern"  betrat  Geliert  das  Gebiet  des  rührenden  Lustspiels  nach 
franzoesischem  Muster,    zu  dessen  Rechtfertigung   er  die  akademische  Schrift 


'Bremer  Beitrseger'  in  Kürschner  Xat.  litt.  43.  44;  Stuttgavt  o.  J.  5)  Leben  von  Job. 

Andreas  Cramer  in  der  zn  Leipzig  1761* — 74  nü.  erschienenen  Ausgabe  von  Gellerts  'Sämtliche 
Schriften'.  Auch  die  Ausgabe  von  Jul.  Ludw.  Klee,  1831),  ist  spaeter  wiederholt  worden. 
H.  Döring,   Gellerts  Leben,   (ireiz  1833,  IL  6)  Für  Gellerts  Gewissenhaftigkeit  zeugt 

dass  er  bei  einigen  verworfenen  Fabeln  auch  deren  Fehler  im  Einzelnen  auseinamlersetzte: 
am  Schluss   des  1.  Bandes   in  der  Ausg.  von  17G1».  7)  LB.  2,  745  fgg.     .*^p.  751  'Der 

Maler':    die  Fabel,   welche  Geliert  vor  Friedrich   II    1760   vortrug.  8)  Über   den   Stil 

in   Gellerts  Fabeln   s.  Erich  Schmidt   Z.   f.   d.   A.   20   Anz.   54   fgg.  !))  LB.  2,   747. 

10)  Daher  er   sich   auch   gegen  Friedrich   II   als  Original   bezeichnete.  11)  Über  diese 

(.Bouer,  Luther,  B.  Waldis)  s.  seine  'Nachricht  und  Exempel  von  alten  deutschen  Fabeln',, 
vor  seinen  eigenen  Fabeln.  12)  Lessiug.  Hamburg.  Dramat.  22  Stück. 


§151  GELLERT.  389 

De  lomwdia  commovente  ^^  1751  schrieb.  In  Alexandrinern  hatte  Geliert 
seine  Sclia^ferspiele  'Das  Band'  1744  und  'Sylvia'  1745  sowie  das  nach  dem 
Franzoesischen  bearbeitete  Singspiel  'Die  Orakel'  gesehrieben.  Eben  diese 
Form  haben  auch  seine  'Lehrgedichte  und  Erzsehlungen'  1754,  wesentlich 
Characterskizzen,  wie  die  moralischen  Wochenschriften  sie  auch  bei  uns  ein- 
geführt hatten.  Den  Engländer  Richardson,  dem  Geliert  eine  überschwäng- 
liche  Verehrung  widmete,'^  ahmt  er  in  seinem  Roman  'Leben. der  schwedischen 
Gra-fin  von  G**',  II,  1747,  nach,  worin  er  in  einer  Reihe  von  abenteuerlichen 
Scenen  und  Verhältnissen  zu  zeigen  sucht,  dass  jede  Schuld,  namentlich 
wenn  sie  unwissentlich  begangen  ist,  gebüsst,  jedes  Unglück  durch  Gottver- 
trauen und  Geduld  ertragen  werden  kann.  Mehr  und  mehr  überwogen  solche 
religioise  Gedanken  und  beseelten  Geliert  bei  der  Abfassung  seiner  'Geist- 
lichen Oden  und  Gesänge',  1757:  von  den  Dogmen  absehend  preisen  sie 
Gottes  Macht  und  Güte  und  ermahnen  zur  Sittlichkeit.^'^  Den  gleichen  Inhalt 
haben  seine  moralischen  Schriften  in  Prosa,  von  denen  die  'Trostgründe  wider 
ein  sieches  Leben',  bereits  1747  erschienen,  aus  den  eigensten  Erfahrungen 
und  Empfindungen  des  Dichters  hervorgingen,  andere  aber  von  seiner  akade- 
mischen Thpetigkeit  veranlasst ,  aus  seinem  Nachlass  als  'Moralische  Vor- 
lesungen' 1774  herausgegeben  worden  sind.  Anziehender  sind  Gellerts  Briefe, 
die  er  mit  einer  grossen  Zahl  von  Personen  aus  allen  Ständen  wechselte  und 
wovon  er  einige  Muster  schon  1751  nebst  einer  'Praktischen  Abhandlung  von 
dem  guten  Geschmacke  in  Briefen'  veröffentlichte,^^  wahrend  andere  spaeter 
bekannt  gemacht  wurden.'^  In  diesem  umfassenden  Briefverkehr,  meist  als 
Gewissensrat  befragt  und  antwortend,  erinnert  Geliert  einigermassen  an 
Luther  (§  110,  16).^*  Die  ausgedehnte  Verehrung,  die  er  als  Dichter  und 
Lehrer  erfuhr,  seusserte  sich  vielfach  rührend:  wahrend  des  siebenjährigen 
Krieges  besonders  von  Seiten  des  preussischen  Heeres,  in  Versen  Kleists, 
in  der  Unterredung,  zu  der  Friedrich  II  ihn  heranzog;^''  spater  bezeigte  der 
sächsische  Hof  dem  kränklichen  Dichter  zärtliche  Fürsorge  und  von  der  Leip- 
ziger Studentenschaft  war  besonders  die  adlige  Jugend  ihm  empfohlen.     Schon 


13)  übersetzt  von  Lessing  in  seiner  'Theatralisc-hen  Bibliothek',  I,  1754.  14)  Schriften 

4,  92  Anm.  15)  LB.  2,  754  fgg.  16)  Daraus  LB.  3,  2,  73  fgg.  17)  Insbesondere: 
'Briefwechsel  mit  Demoiselle  Lucius',  hg.  von  F.  A.  Ebert,  Leipzig  1823,  'Briefe  an  Fräulein 
Erdrauth  von  Schoeufeld",  Lpz.  1861,  'Briefe  an  die  Fürstin  Johanna  Elisabeth  von  Anhalt- 
Zerbst'  in    den    Mitteil.  d.  Vereins  f.  anhält.  Gesch.  IV  1885  S.  268  fgg.  18)  Spater 

hat  Lavater  eine  sehnliche  Stellung  als  allgemeiner  Beichtvater  t>ingenommen.  19)  Fried- 

rich,  der   ihn   le  plus  raisonnable  des  savants  Alhniands  nannte,  widmete  ihm   spgeter  die 


390  NEUIIOCJI DEUTSCHE  ZEIT.        XVIII  JAIIIUr.  §  151 

aber  regte  sich  in  dem  jungen  Gu'thc  die  Kritik  vor  iilleni  gegen  die  he- 
schriinkto  Auffassung,  wclclie  Geliert  der  inzwisclion  fortgeschrittenen  Poesie 
gegenüber  bemerken  liess;'-°  und  die  Briefe  über  den  Wert  einiger  deutscher 
Dichter'  nannten"^'  ihn  einen  mittelmu'ssigen  Dichter  ohne  einen  Funken  von 
Genie".  Den  eigentündichcn  Verdiensten  Gellerts  ward  Gopthe  jedoch  gerecht, 
indem  er  seine  Schriften  für  ihre  Zeit  das  Fundament  der  deutschen  sitt- 
lichen Kultur'  nannte.^- 

Geliert  am  nächsten  stand  Gottlieij  Wilhklm  Rauenkr^^'  (geb.  1717 
zu  Wachau  bei  Leipzig),  nur  dass  er  die  lächerlichen  Fehler  des  Mittel- 
standes noch  schärfer  und  scherzhafter,  als  jener  es  in  Fabeln  und  Lustspielen 
gethan,  darzustellen  wusstc.  Seine  fast  durchaus  in  Prosa '^*  geschriebenen 
Satiren,  welche  gesammelt  zuerst  1751 — 1755  (IV  Bde)  erschienen,  setzte 
er  spa?ter  nicht  fort,  da  er  bemerkte  dass  man  seine  stets  allgemein  gehalte- 
nen Schilderungen  auf  bestimmte  Personen  zu  deuten  suchte.'^^  Auch  scheute 
er  sich  in  Dresden,  wo  er  seit  1753  lebte  und  als  Obersteuerrat  1771  starb, 
bei  Hofe  irgend  wie  Anstoss  zu  erregen;  Liscows  Beispiel  (§  148,  70)  konnte 
ihn  warnen. 2^  Wurde  ihm  doch  sogar  verdacht  dass  er  in  einem  ohne  sein 
Wissen  zum  Druck  gebrachten  Briefe  über  die  Beschiessung  Dresdens  1700, 
nicht  nur  gleichmütig  den  Verlust  seines  Hauses  und  seiner  Schriftstücke  be- 
richtet, sondern  auch  törichte  Äusserungen  der  Furcht  und  Wut  seiner  Um- 
gebung mitgeteilt  hatte.'-"  Benimmt  diese  notgedrungene  Vorsicht  Rabeners 
seinen  Satiren  den  dramatischen  Reiz  der  Liskowschen,  so  gewinnt  dafür  die 
Redlichkeit  seiner  Absichten,  seine  Abneigung  gegen  Pedanterie  und  Stutzer- 
tum,  sein  Abscheu  gegen  junkerliche  Brutalität,  gegen  Heuchelei  und  Feig- 
heit^* um    so    reinere  Zustimmung.     Darin   trifft   er    zu  seinem  Schaden  mit 

ursprünglich    an    Gottsched   gerichteten    Verse   (§  148,   10).  20)  Frankfurter  Gelehrte 

Anzeigen  1772.     Dichtung  und  Wahrheit  II,  Buch  VI  u.  VII.  21)  §  140,  42.     Bereits 

Ahbt  in  den  Lit.-briefen  tadelte  Gellerts  Breite  und  Tändelei.  22)  Dichtung  u.  Wahr- 

heit II.  VII  Buch.  In  Osterreich  waren  Gellerts  Gedichte  von  der  Biichercensur  ausgenommen. 
Vgl.  auch  Abhts  Zeugnis  LB.  3,  347  fgg.  23)  Vgl.  G.  W.  Rabeners  Briefe,   von  ihm 

selbst  gesammelt  und  nach  seinem  Tode,  nebst  einer  Nachricht  von  seinem  Leben  u.  Schriften 
hg.  V.  C.  F.  Weisse,  Lpz.  1772.  24)  In  Versen  ist  nur  ein  1737  verfasster,  ironischer 

'Beweis  dass  die  Keime  in  der  deutschen  Dichtkunst  unentbehrlich  sind':  znerst  in  den 
Belustigungen  des  Verstandes  u.  Witzes,  1741.  erschienen.  Von  einem  fast  vollendeten 
Lustspiel  der  Treygeist'  spricht  Weisse  a.  a.  0.  XLV.  25)  Dieses  Bemühen  widerlegte 

er  dadurch,  dass  er  für  einzelne  seiner  satirischen  Portrats  3Iartial,  Crebillon  u.  a.  als 
Quelle  nachwies.     Auch  Swift  u.   Holberg  benutzte  er.  26)   Beide   sind  oit    verglichen 

und  in  ihrem  Wertverhältnis  sehr  verschieden  beurteilt  worden:  s.  zuletzt  P.  Richter.  R. 
u.  L.  Progr.  Dresden  1884.  27)  LB.  3.  67  fgg.  28)  LB.  3,  47  fgg. 


§  151  RABENER.     ZACHARIÄ.  391 

Liscow  überein  dass  auch  er  beständig  ironisch  spricht,  beständig  das  Tadelns- 
werte lobt:-'-'  bei  allem  Wechsel  der  Einkleidung,  bei  der  oft  wahrhaft  drolli- 
gen Wendung  seiner  Einfalle  ermüdet  er  doch  auf  die  Dauer  ebenso  wie 
jener. 

Ging  der  Spott  bei  Raboner  und  noch  mehr  bei  Geliert  aus  einer  tieferen, 
sittlichen  Grundstimmung  hervor  und  suchte  er  bessernd  einzuwirken,  so  wollte 
ihr  Freund  Jr.sT  Friedrich  Wjlhelm  Zaciiari.e,  wenigstens  in  seinem  Haupt- 
werke, nur  scherzen,  nur  unterhalten.  Geboren^''  zu  Frankenhausen  in 
Nordthüringen  1726,  kam  er  1748  als  Professor  am  Carolinum  nach  Braun- 
schweig und  starb  hier  1771.  Er  trat  hervor^'  mit  einem  glücklichen  Wurfe, 
den  er  nicht  wieder  erreichte,  der  ihm  aber  bis  in  unsere  Tage  Leser  ver- 
schafft hat.  Sein  komisches  Heldengedicht  'Der  Renommiste',  1744,  stellte 
das  rohe  Studentcnleben ,  wie  es  in  Jena,  und  das  stutzerhafte,  wie  es  in 
Leipzig  herschte,  in  scharfem  Gegensatze  dar:  und  nicht  nur  der  Ton  dieser 
Kreise,  worin  jugendliche  Freiheit  nach  entgegengesetzten  Richtungen  hin 
abenteuerlich  ausschweifte,  war  glücklich  getroffen;  auch  die  eigentümliche 
Zierlichkeit  dieser  Dichtungsgattung  hatte  der  junge  Dichter  vortrefflich  durch- 
geführt, die  Parodie  des  echten  Epos,  die  Erfindung  einer  scheinbar  alles 
lenkenden  burlesken  Götterwelt.  Den  xVlexandriner ,  der  so  gut  zu  dem 
barocken  Inhalt  passte,  hat  Zacharise  in  spaäteren  Gedichten  sehnlicher  Art^- 
meist  gegen  einen  lässigen  Hexameter  umgetauscht;  einseitig  wendet  er  sich 
hier  gegen  die  Thorheiten  der  Modewelt  allein  und  hält  sich  noch  na?her  an 
sein  Yorbild  Pope.  Nur  gelegentlich  flicht  er  Züge  aus  der  deutschen  Sage 
ein,^^  wie  er  auch  Stoffe  daraus  im  scherzhaften  Romanzenton  ^*  behandelt 
und  'Fabeln  und  Erzsehlungen  in  B.  Waldis  Manier  gedichtet  hat.  Be- 
ziehungen  auf   die   gleichzeitige    deutsche  Dichtung  beleben  sogar  einen  Teil 

29)  Vgl.  Goethes  Urteil  D.  u.  W.  II,  VII.  .30)  Leben  von  J.  J.  Eschenburg  in  'Zachariaes 
Hinterlassenen  Schriften'.  Braunschweii;  1781.  Vorher  waren  Zacharites  'Poetische  Schriften'. 
Braunschweig  1772,  erschienen.  Vgl.  H.  Zimmer,  J.  F.  W.  Zacharise  und  sein  Renommist, 
Leipzig    1892.  31)  In  den  Belustigungen  zum  Vergnügen  des  Verstandes  und  Witzes 

1744.  32)   'Verwandlungen,   Das  Schnupftuch,   Der  Phaeton'  u.   a.    zuerst    erschienen 

in  'Scherzhafte  epische  Poesien  nebst  einigen  Oden  und  Liedern'  Braunschweig  u.  Hildes- 
heim (1751).  Spalter:  'Murner  in  der  Hölle'  17.57  u.  a.  33)  Der  Kiffhäuser  (in  den 
Verwandlungen),  Die  Wassernixe,  die  ihr  goldenes  Haar  kämmt  (Phaetonl  Auch  auf  das 
Volksspiel  von  Faust  nimmt  er  mehrmals  Bezug.  34)  'Zwey  schoene  Neue  Mtehr- 
lein  als  I.  Von  der  schoenen  Melusinen:  einer  Meerfey.  II  Von  einer  untreuen  Braut 
die  der  Teufel  hohlen  sollen'.  Leipzig  1772.  —  Die  Fabeln  nach  B.  Waldis,  (§  99,  36) 
erschienen    anonjTn    1771.    1777   von  Eschenburg  wiederholt.     Sie  verkürzen  besonders  die 


392  NEUlIOCIIDErTSClIE  ZEIT.        XYIIT  JATIKTI.  §  ini 

seiner  ernsten,  beschreibenden  (ledichtc;^''  und  so  feiern  die  Oden  und 
Lieder",  meist  nacli  ]Ioraz  oder  in  der  Weise  der  franzcrsisclien  2>etlte  j)oesie 
behandelt,  mit  Vorliebe  den  Kreis  seiner  Freunde. 

Von  diesen  Leipziger  Studienfreunden  waren  noch  mehrere  nach  Braun- 
.schwciir  übersresiedelt:  als  Lehrer  am  Carolinum  auch  Johann  Arnolu  Ehkkt 
(gest.  171)5),  der  zu  Jlaiuburg  1723  geboren  ,^*^  früh  den  Beifall  Hagedorns 
erworben  hatte  und  eine  vorzügliche  Kenntnis  der  fremden  Litteraturcn,  be- 
sonders der  englischen  besass.  Glovers  'Leonidas'  führte  er  1749  und  Youngs 
'Klagen  oder  Nachtgedanken  über  Leben,  Tod  und  Unsterblichkeit'  1751  in 
die  deutsche  Litteratur  ein.  Seine  eigenen  Gedichte, ^^  hauptsächlich  Episteln 
empfehlen  Lebensgenuss  und  Fröhlichkeit.^" 

Nur  vorübergelicud  wirkte  Nicolau«  Dietrich  Giseke  in  Braunschweig: 
aus  Günz^^  in  Niederungarn  gebürtig,  ebenfalls  in  Hamburg  erzogen,  starb 
er,  noch  nicht  41  Jahre  alt,  als  Superintendent  zu  Sondershausen  1765.  Seine 
formgewandten  Gedichte  sind  von  seinem  Schwager  Gärtner,  17(>7,  heraus- 
gegeben worden.*'' 

Einen  glänzenderen  Wirkungskreis  fand  Johann  Andreas  Gramer,  geb. 
1723  zu  Jadistffidt  im  Erzgebirge,  indem  er  von  Klopstock  empfohlen,  1754 
als  Oberhofprediger  nach  Kopenhagen  kam;  1771  von  Struensee  verbannt, 
ward  er  Kanzler  der  Universittet  Kiel  und  starb  hier  1786.*'  Schon  früh 
war  er  als  Herausgeber  von  moralischen  Wochenschriften*-  tha.'tig;  als  geist- 
licher Liederdichter*^  verband  er  Leichtigkeit  und  Schwung. 

Ihm  und  den  andern  deutschen  Dichtern,  welche  in  Kopenhagen  Gunst 
und  Lebensstellung  fanden,    war  hier  ein  Freund  vorausgegangen,    der  über 

weitlaeufigen   Nutzanwpnduns^en   des    alten    Fabulisten.  35)   Die  Tageszeiten',   Rostork 

175.5.  Von  geringstpm  Werte  sind  die  an  Milton  (dessen  ver!.  Paradies  Z.  auch  übersetzt 
hat,  1760)  sich  anlehnenden  geistlichen  Epen:  Schöpfung  der  Hölle  1760  u.  a.  36)  Lebens- 

beschreibung von  J.  J.  Eschenburg  im  11  Theil  von  'J.  A.  Eberts  Episteln  und  vermischte 
Gedichte',  Hamburg  1711.").  37)  Über  seine  Sonette  s.  §  142,  112.  38)  Durch  eine 

Serenate  das  Vergnügen'  hatte  er  1743  die  Censur  des  hamburgischen  Kirchenrates  sich 
zugezogen  und  deshalb  das  Studium  der  Theologie  aufgegeben.  39)  Bei  Steinamanger. 

40)  Des  Herrn  N.  D.  Giseke  Poetische  Werke,  Braunschweig  1767.  41)  Gedächtnisrede 

von    W.   E.   Christiani,    Kiel    1788.  42)  An    den   'Bemühungen  zur  Beförderung  der 

Kritik  und  des  guten  Geschmackes'  Halle  174.'J— 47  arbeitete  er  mit  Mylius  zusammen 
(§  148,  68);  mit  den  andern  Beitrsgeru  verbunden  besorgte  er  die  Zeitschriften  Der  Schutz- 
geist', Hamburg  1746;  'Der  Jüngling'.  Leipzig  1747  (s.  oben  Anm.  4).  Eine  spaetere  Unter- 
nehmung Cramers  'Der  Nordische  Aufseher',  Kopenhagen  u.  Leipzig  1758 — 61  verfiel  der 
Kritik  Lessings:   Literaturbricfe  48—51.     102—112.     §  140,   36.  43)  'Neue  geistliche 

Oden    und  Lieder',  Lübeck  1766—75.      Sämtliche    Gedichte",   Lpz.  1782—83:  'Hinterlassene 


§  151  J.  E.  SCHLEGEL.  393 

die  übrigen  Bremer  Beitra?ger  durch  seine  Leistungen  und  noch  mehr  durch 
die  von  ihm  erregten  Hoffnungen  hinausragte,  aber  von  einem  frühen  Tod 
hinweggerafft  wurde.  Johann  Elias  Schlegel,  zu  Meissen  1719  geboren," 
hatte  1733 — 39  in  Schulpforta  seine  Vorbildung  empfangen,  hierauf  in  Leipzig 
die  Rechte  studiert;  1743  als  Sekretaer  des  sächsischen  Gesandten  nach  Kopen- 
hagen gekommen,  starb  er  1749  als  Professor  an  der  Ritterakademie  zu 
Soröe.^^  In  Leipzig  hatte  er  an  Gottscheds  Übungen  Teil  genommen  und 
seine  ersten  Arbeiten  in  dessen  'Critischen  Beytraegen'  und  'Schaubühne'  ver- 
öffentlicht.^" Aber  frühzeitig  machte  sich  die  Selbständigkeit  Schlegels  ^'^ 
geltend ,  und  mit  seiner  Beteiligung  an  den  Bremer  Beytra^gen  loeste  sich 
das  Verhältnis  zu  Gottsched,  wenn  er  auch  gegen  seinen  ehemaligen  Lehrer 
nicht  feindlich  auftreten  mochte.*^  In  Hamburg  hatte  er  1743  sich  mit 
Hagedorn*^  innig  befreundet  und  durch  diesen  1745  auch  mit  Bodmer'°  Ver- 
bindungen angeknüpft.  In  Dsenemark  nahm  er  den  Lustspieldichter  Holberg 
dadurch  für  sich  ein,  dass  er  dsenische  Sitte  und  Geschichte  eifrig  studierte 
und  seine  Bemerkungen  in  einer  Wochenschrift  'Der  Fremde'  1745  und  46 
niederlegte.  Doch  weder  in  dieser  Art  der  Schriftstellerei  noch  in  seineu 
lyrischen  oder  epischen  Gedichten  liegt  sein  besonderes  Verdienst:  in  den 
Oden  tritt  Hallers  Einfluss  zu  sehr  hervor,  in  der  Erzsehlung  der  Hagedorns, 


Gedichte'  hg.  v.  C.  F.  Gramer,  Lpz.  1791.  44)  lu  J.  E.  Schlegels  Leben,  welches  seia 

Bruder  Johann  Heinrich  als  Herausgeber  seiner  'Werke'  V,  Kopenhagen  u.  Leipzig  1761  bis 
1770  uö.,  dem  letzten  Teil  vorausgeschickt  hat,  ist  irrig  1718  als  Geburtsjahr  angegeben. 
Das  genaue  Datum,  17.  Jan.  1719,  ist  festgestellt  worden  von  Seeliger,  Mitteil.  d.  Vereins 
f.  Gesch.  der  Stadt  Meissen,  1888  S.  153.  45)  Eugen  Wolff,  J.  E.  Schlegel,  Berlin  1889. 

46)  In  Schaubühne  IV  (174:3):  Herrmann,  Der  geschäftige  Müssiggänger;  V  (1744):  Dido. 
Eine  Übersetzung  der  Electra  von  Sophocles,  welche  Schlegel  zu  einer  von  Gottsched 
geplanten  Übersetzung  von  Aristoteles  Poetik  hatte  beisteuern  wollen,  veröffentlichte  er 
spseter  selbst  in  seinen  Theatral.  Werken  1747.  47)  In  einer  Ode  'Über  den  Missbrauch 

der  Dichtkunst',  die  Schlegel  auf  Anlass  von  Jlauvillons  Briefen  (§  1.39,  21)  an  Gottsched 
richtete  und  dieser  in  die  'Belustigungen'  Bd  2,  106  aufnehmen  liess,  rühmte  Schlegel  auch 
Addison  u.  Milton;  Gottsched  unterdrückte  diese  Strophen,  welche  erst  in  den  Werken  5, 
177  erschienen.  48)  Über  diese  Beziehungen  Schlegels  zu  Gottsched  s.  bes.  Job.  Rentsch, 

J.  E.  Schlegel  als  Trauerspieldichter,  Erlanger  Diss..  Lpz.  1890.  Schlegels  Briefe  an  Gott- 
sched hat  Seeligef  a.  a.  0.  vollständig  abgedruckt.  Gleich  unrichtig  haben  die  Brüder  von 
E.  Schlegel  spseter  sein  Verhältnis  zu  Gottsched  allzu  wenig  anerkannt  wie  andererseits 
Gottsched,  gereizt  durch  das  jenem  gespendete  Lob,  er  habe  zuerst  das  Drama  bei  uns  auf 
einen  bessern  Stand  gebracht,  seinen  eigenen  Einfluss  weit  übertrieb:  Neuestes  aus  der 
anmutigen  Gelehrsamkeit  1761;    s.  Rentsch  S.  31.  49)    Schlegels  Briefe  in  Hagedorns 

Werken  V  284  fgg.  50)  S.  Crueger,  Arch.  f.  Lit.-gesch.  XII,  48  fgg. 


394  NEUIIOCHDEUTSCllE  ZEIT.        XVIII  JAIIUH.  §  151 

und  mehrere  iiU/u  freie  Gedichte  inicli  Lafontaines  Muster  hat  er,  wie  es 
scheint,  ohne  seinen  Namen  veröffentlichen  hissen;-''  das  epische  Gedicht 
Heinrich  der  Lanvc*  vollendete  er  nicht.  Vielmehr  wandte  er,  und  von 
früh  an,  seine  beste  Kraft  der  Schauspieldichtung  zu.  Auch  ihm  galt  das 
rcgclnuessigc  Drama  der  Franzosen  als  Muster;  aber  vor  seinem  Lehrer 
Gottsched  hatte  er  nicht  nur  eine  freiere  und  beständig  vertiefte  Einsicht  in 
die  dramatische  Kunst  voraus,  sondern  auch  eine  wirkliche  dichterische  Be- 
gabung. Schon  als  Schüler  hatte  er  sich  eine  selbständige  Kenntnis  der 
griechischen  Tragiker  erworben,  wie  Gottsched  sie  nie  besessen  hat;  er  schrieb 
schon  damals  Tragcedien,  welche  durch  die  Neuberin  auf  die  Bühne  gebracht 
wurden.  In  den  'Trojancrinnen"  verband  er  die  gleichnamigen  Tragödien 
des  Euripides  und  Seneca  mit  des  ersteren  Ilccuba.^"^  Li  Orest  und  Py- 
ladcs'  (früher  Die  Geschwister  in  Taurien'  genannt)  passtc  er  die  euri|ti- 
deischc  Iphigenic  den  Anforderungen  des  franzrcsischcn  Theaters  an,''^  mit 
besonderer  Hervorhebung  des  Freundschaftsbundes,  welcher  in  dem  Wunsche 
eines  jeden  der  beiden  Helden  zu  sterben,  um  den  andern  zu  retten,  seinen 
hoDchsten  Ausdruck  findet.  Seiner  'Dido'  legte  Schlegel  ein  franzcrsisches 
Trauerspiel  zu  Grunde,  verbesserte  aber  diese  Bearbeitung  wie  seine  anderen 
Stücke  wiederholt. 

Selbständig,  auch  darin  dass  er  einen  Gegenstand  aus  der  deutschen  Ge- 
schichte wa^hlte,  verfasste  Schlegel  sein  Trauerspiel  llerrmanu .  Er  arbeitete 
nach  den  alten  Quellen  über  die  Varusschlacht,  die  er  für  sein  Drama  zu- 
sammenstellte.^* Aber  freilich  die  franzocsische  Form  machte  ihm  grosse  und 
nicht   überwundene   Schwierigkeiten:    sie   veranlasste   ihn    die  Ereignisse   zu- 


51)  In  (lern  von  seinem  Bruder  Joh.  Adolf  ebenfalls  anonym  herausgegebenen  'Buch  ohne  Titel" 
[Hamburg]  1746:  s.  Wolff  in  der  Vierteljahrsschrift  f.  Litt.-gesch.  IV,  384  fgg.  Groesstenteils 
noch  nicht  veröffentlicht  sind  die  von  Schlegel  an  seine  spatere  Gattin  gerichteten  Liebes- 
lieder, worüber  Wolff  in  der  Biographie  (Anm.  4.'i)  S.  140  fgg.  spricht.  52)  So  nannte  Rchlegel 
auch    sein    Stück    zuerst.  58)  Um    die  Monologe    und  Chorscenen    zu  vermeiden  führt 

er  eine  Vertraute  der  Priesterin  ein  und  ersetzt  den  deus  ex  machina  durch  einen  Orakel- 
spruch, der  zuletzt  die  Griechen  vor  dem  Opfertode  rettet,  nachdem  Thoas,  an  einer  AVunde 
sterbend  und  in  "Wut  gegen  die  Götter  ausbrechend,  einem  menschlicheren  Nachfolger  seine 
Stelle  hat  überlassen  müssen.  Da  Iphigenie  nur  allmsehlich  ihren  Bruder  erkennen  soll, 
lässt  Schlegel  ilie  beiden  Freunde  sich  anfänglich  für  Troer  ausgeben,  weil  jeder  Grieche 
dem  Opfertod  verfallen  ist:  ohne  diese  Begründung  ist  die  anfängliche  Nennung  falscher 
Namen  in  Gcethes  Iphisjenie  übergegangen,  was  (iottfried  Hermann  in  der  Vorrede  zu 
seiner  Ausgabe  der  euripideischen  Iphigenie  (Lips.  1883  p.  XXIV)  mit  Kecht  getadelt  hat. 
54)  Diese  Übersetzungen  sind  abgedruckt  in  den  "Werken  1,  29U  fgg. 


§  151  J.  E.  8CIILEGEL8  DRAMEN.  395 

sammcnzudrängen  und  dem  Zuschauer  Gespraiche  vorzuführen,  wahrend  die 
Handlung,  der  Kampf,  hinter  der  8cene  vor  sich  geht;  sie  verführte  ihn  zur 
Anbringung  einer  gerade  hier  unpassenden  Zärtlichkeit  des  roemerfreundhchen 
Fiavius  für  Tlmsnelda.  Immerhin  entsprach  die  gehobene  Ausdrucksweise, 
welche  auch  zu  zahlreichen  allgemeinen  Aussprüclien'*-'  Gelegenlieit  bot, 
der  vaterländischen  Gesinnung  der  Zeit.  Der  politische  Egoismus,  im  ver- 
raeterischen  Segestes  gebrandmarkt  ,^''  ist  von  Schlegel  noch  von  anderer 
Seite  her  geschildert  worden  im  Canut',  worin  ^^  er  aus  der  dänischen  Vor- 
zeit einen  Character  (Ulfo)  vorführte ,  dessen  gewissenlose  Herschsucht  nur 
mit  Shakespeares  Richard  III  verglichen  werden  kann.  Ein  verwandtes  Stück 
'Gothrika'  büeb  unvollendet,  ebenso  eine  Lucretia'  und  Die  Braut  in  Trauer' 
nach  dem  Englischen  von  Congreve :  dies  letztgenannte  Fragment  bleibt  des- 
halb merkwürdig,  weil  Schlegel  darin  von  den  sonst  gebrauchten  Alexandri- 
nern zu  den  englischen  reimlosen,  bei  ihm  abwechselnd  stumpf  und  klingend 
ausgehenden  Fünffüsslern  überging  (§  142,  49)  und  sofort  eine  weit  freiere, 
natürlichere  Ausdrucksweise  gewann.^-  So  hatte  er  auch  im  Lustspiel  durch 
den  Gebrauch  reimloser  Alexandriner  mit  weiblicher  Ca^sur  ein  neues,  be- 
quemeres Yersmass  versuchen  wollen.^'*  Allein  die  von  ihm  selbst  veröffent- 
lichten Lustspiele  sind  fast  alle  nach  Gottscheds  Vorschrift  in  Prosa  abgefasst: 
'Der  geschäfftige  Müssiggäuger'  (1741),  eine  Schilderung  heimischer  Zustände, 
aber  allzu  niedrig,  auch  in  den  Redewendungen  provinziell;  'Der  Geheimnis- 
volle' mit  übertreibender  Characteristik ,  beide  mit  Benutzung  franzoesischer 
Vorbilder,'^''  wobei  Schlegel  zwischen  der  derberen  Komik  Molieres  und  dem 
Conversationsstück  von  Destouches  u.  a.  einen  Mittelweg  zu  gewinnen  sucht; 
beide  auch  mit  jener  Namengebung,  welche  von  vornherein  den  Character 
erraten   lässt.     'Der  Triumph   der   guten  Frauen'  führt   ein  von  Steele  ange- 


55)  Die  epigrammatische  Neigung,  worin  Schlegel  sich  mehr  den  (jriechen  anschloss,  tadelte 
Gottsched;  er  lobte  dagegen  den  nationalen  Sinn  des  Stückes,  welches  man  auch  auf  das 
derzeitige  Verhältnis  Deutschlands  gegen  Frankreich  deuten  könnte.  Doch  fand  Schlegels 
'Herrmann'  einen  franza'sisi-hen  Übersetzer,  Bauvin.  dessen  1761J  <redruckter  Anninius,  oder 
wie  er  das  Stück  1772  nannte,  Les  Cherusquefi  in  Paris  zur  Aufführung  kam:  S(jpderhjelm 
(Anm.  60)  S.  103  Anm.  56)    Ein  Fürst  hat  weder  Kind  noch  Vater":  sagt  Segest  V  1. 

57)  Zuerst  Kopenhagen  1746  erschienen,  dann  1747  in  den  Theatralischen  Werken,  worin 
auch   der    Geheimnisvolle,    die  Trojanerinnen    und    Electra,  58)  S.  Rentsch  S.  89  fgg, 

59)  'Die  entführte  Dose'  1741  aufgeführt;  'Die  drei  Philosophen',  durch  Keguards  Democrite 
augeregt;  'Der  Gärtnerko^uig'  (^Abdolonymus  von  Tyrus),  worin  Schlegel  die  Pauthea  der 
Gottschedin  zu  parodiereu  gedachte.  60)  Werner  Sißderhjelm,  Oin  J.   E.  Schlegel,  sär- 


396  NElIIIOrirDEUTSCIlE  ZEIT.         WUT  JATfRIT  §  151 

deutetes  Tlioina  ;ius:  die  leichtfortif^cii  Sitten  der  englischen  Gesellscliiift 
jener  Zeit  ersdiienen  freilich  auf  der  deutschen  Bühne  anatcessig.  Am  meisten 
gefiel  Die  stumme  S(ho'nheit\  ein  Einacter'*'  in  gewandten  Alexandrinern, 
deutschen  oder  dienischen  Verhältnissen  entsprechend ,  aber  ebenfalls  von 
franzcpsischen  Vorbildern  beeinflusst. 

Schritt  somit  Schlegel  in  seinen  Dichtwerken  /u  immer  gra^sserer  Frei- 
heit und  Sicherheit  vor,  so  zeigten  seine  Schriften  über  die  Kunst  ein  Streben 
nach  Klarheit  und  Selbständigkeit,  das  ihm  mit  Lessing  gemeinsam  ist  und 
ihn  manchen  tiefen  ICinblick  vor  allem  in  die  Erfordernisse  der  Bühnen- 
dichtung hat  vorwegnehmen  lassen;  nur  dass  die  ersten  dieser  Schriften,^- 
srossenteils  in  Gottscheds  Zeitschrift  erschienen  und  meist  unbeachtet  blieben, 
wa'hrend  andere  und  besonders  seine  letzte:  Gedanken  zur  Aufnahme  des 
dänischen  Theaters'  erst  in  den  Werken'  1764  bekannt  wurden.  Schlegels 
Untersuchungen  gingen  aus  von  der  Verteidigung  der  Komoedie  in  Versen,*'^ 
welche  ein  anderer  Schüler  Gottscheds,  Straube,  nach  der  Lehre  des  Meisters 
verworfen  hatte,  weil  sie  der  Wahrscheinlichkeit  widerspreche,  indem  sie  das 
gemeine  Volk,  aus  welchem  die  Komtedie  ihre  Typen  entnehme,  in  Versen 
reden  lasse.  Schlegel  zeigte  grundsätzlich,"^  dass  die  Nacliahnmng,  die  das 
Wesen  der  Kunst  allerdings  ausmache,  zuweilen  eine  unheimliche  sein  dürfe, 
ja  sogar  sein  müsse,  da  sie  durch  das  Mittel  •"'''  der  Nachbildung  bedingt  sei : 
dies  Mittel  sei  für  die  Poesie  eben  der  Vers.  Eine  vollkomrane  Tteuschung 
sei  nie  angenehm:  stets  müsse  der  Zuhoerer  oder  Zuschauer  wissen  dass  er 
in  Gefahr  stehe  die  Nachbildung  für  Wirklichkeit  zu  halten,  doch  dürfe  er 
dieser  Gefahr  nicht  unterliegen.''*^  Darin  liege  das  Vergnügen,  welches  Schlegel 
für  den  Hauptzweck  der  Kunst  zu  erkk'ren  wagt.''"  Daher  sei  auch  nicht 
zu  verlangen   dass   das  Drama  stets   auf  eine  handgreifliche  Sittenlehre  aus- 


skildt  som  Jnstspeldiktare.     Helsingfors  1884.  öl)  Wie  das  vorgenannte  Stück  in  den 

"Beytriegen  zum  dienisoheu  Theater'  1748  erschienen,  worin  auch  'die  Langeweile',  mit  dessen 
dienischer  Übersetzung  das  neue  Theater  in  Kopenhagen  1747  eröffnet  worden  war. 
()'2)  (tesammelt  und  untersucht  von  J.  v.  Antoniewicz:  M.  E.  Schlegels  aesthetische  und 
dramaturtrische  Schriften',  Heilbronn  1887  in  Seufferts  Deutsche  Litt.-denkmseler  2fj.  Seine 
Vermutnnff  dass  Schlegel  namentlich  von  franzcesischen  Ästhetikern  (Fraguier,  Vatry  u.  a.) 
beeinflusst  sei,  bestreitet  jedoch  Braitmaier.  (Tcsch.  d.  ])0Ptischen  Kritik  u.  Theorie  S.  292  fgg. 
Danach  hätte  Schlegel  die  Ansichten  der  Züricher  Kunstrichter  selbständig  fortgebildet. 
Vgl.  noch  Walzel  Vierteijsch.  1.  212  fgg.  63)  Gottscheds  Grit.  Beytr.  VI  (1740)  §  142,  6. 

Ü4)   Bremer    Beytr.  I   (174.5).  (J5)  Schlegel   sagt:    das  Subject.  66)  Einleuchtend 

beruft  er  sich  darauf  dass  Wahnsinn  oder  Tod  auf  der  Bühne  nie  vollkommen  naturgetreu 
dargestellt  werde:   bei  Antoniewicz  S.   1(>3.   149.  (j7)   Ebd.  bes.   135.     Schlegel  schliesst 


§  151  J.  E.  SCHLEGELS  LEHRSCIIRIFTEN.  397 

laufe.*"*  Wohl  aber  übe  das  Theater  Einfluss  auf  die  Sitten  einer  Nation, 
wie  es  umgekehrt  von  da  aus  seine  Richtschnur  empfange.*'^  Daher  könne 
auch  das  franzu^sische  Theater  nicht  einfach  als  das  Vorbild  für  das  deutsche 
gelten:  es  sei  überdies  nicht  nur  dem  griechischen,  sondern  auch  dem  eng- 
lischen gegenüber  vielfach  im  Nachteil ,  indem  es  z.  B.  die  Einheit  der  Zeit 
und  des  Ortes  ^°  oft  nur  auf  gezwungene  Weise  durchführe.  Dagegen  lobt 
er  allerdings  an  der  franzoesischen  Tragcedie  die  Würde  und  Reinheit  der 
Sprache:^'  in  diesem  Botraclit  hatte  er  schon  früh  Shakespeare  getadelt, 
von  dem  als  erste  Verdeutschung  der  Tod  Caesars,  übersetzt  von  Kaspar  Wil- 
helm von  Borck,  zu  Berlin  1741  erschienen  war.'^  Auch  Ilolbergs  Komosdie 
ist  ihm  nur  ein  Anfang,  von  dem  immer  hoeher  zu  steigen  wsere.^^  Diesen 
Ansichten  hat  die  sptetere  Entwickelung  des  deutschen  Theaters  allerdings 
entsprochen.  Schlegels  eigene  Werke  wirkten  auf  diese  Entwickelung  hin : 
sie  wurden  noch  bis  1770  hin  immer  wieder  aufgeführt."* 

Die '  Sorge  um  den  litterarischen  Ruhm  ihres  Bruders  teilten  Johann 
Heinrich  Schlegel  (1724 — 80),  welcher,  zu  EHas  nach  Kopenhagen  über- 
gesiedelt,'' selbständig  .T.  Thomsons  Trauerspiele  übersetzt  hat,^''  und  Johann 
Adolf  Schlegel  (1721  — 1793),  seit  1759  Prediger  zu  Hannover.  Adolf 
dichtete  geistliche  Gesänge,  Fabeln  und  Erzsehlungen ; "'  ganz  besonders  aber 
machte  ihn  die  aus  Batteux  übersetzte,  aber  durch  zahlreiche  Zusätze  den 
deutschen  Verhältnissen  angepasste  'Einschränkung  der  schoenen  Künste  auf 
einen  einzigen  Grundsatz'  (zuerst  Leipzig  1751)  bekannt;  die  Nachahmung 
der  schoenen  Natur,  als  Grundsatz  der  Kunst  bezeichnet,  war  ein  Rückschritt 
gegen  die  Lehren  von  Elias  Schlegel,  wogegen  erst  Herder"^  erfolgreich 
eintrat. 

sich   hierin    an    Lamotte    au.  68)    Ebd.   202.  69)    Ebd.   206.  70)    Ironisch 

schlagt  er  vor  lieber  unter  das  Verzeichnis  der  Personen  zu  setzen:  Der  Schauplatz  ist  auf 
dem  Theater:  S.  223.  71)  S.  178.  72)   Autouiewicz  LXXIII  fgg.  78)   S.  210. 

74)  Mit  seinem  Herrmanu  wurde  17G(j  das  neue  Leipziger  Theater  eingeweiht.  Auch 
Lessings    Dramaturgie    bezieht     sich     mehrmals     auf    Darstellungen    .Schlegelscher    Stücke. 

75)  Er  war  der  nächste  Schulfreund  Lessiugs  in  S.  Afra  zu  Meissen.  76)  Leipzig  1758—64. 
77)  ErsteVe  erschienen  Leipzig  1766—1772:  die  Fabeln,  von  Gärtner  herausgegeben,  1769: 
Vermischte  Gedichte.  Hannover  1787.  89.  Adolf  Schlegel  war  eifritrer  Mitarbeiter  der 
Bremer  Bcytrage;  scheinbar  gegen  diese,  in  Wahrheit  aber  gegen  Gottsched  richtete  er 
unter  dem  Pseudonym  Nisus  eine  derb  ironische  Schrift  'Vom  Natürlichen  in  Schiefer- 
gedicht^n',  welche  Bodmer  mit  Anmerkungen  unter  dem  Namen  Hans  Görge  herausgab, 
Zürich  1746;  vgl.  die  §  143,  20  augeführte  Arbeit  von  Netoliczka.  Gleichzeitig  liess  Adolf 
Schlegel  ohne  sich  zu  ueuueu  das    Buch  ohne  Titel'  erscheinen:  s.  Aum.  51.  78)   Allg.  Dt. 


398  NKU I  loci  r DEUTSCH  F.  ZEIT.         XYJII  .1  Allini.  §  151 

Wie  Elias  Sclilo<;cl  war  auch  Ahuaham  GorriiKi-K  Käntn'kk  mit  den 
iilton'ii  Vertiisscrn  der  IJroiuer  Boyfra'«::o  botVuundet ;  abor  er  bet»Mligte  sich 
nicht  s('li)8t  an  dieser  Zeitschrift,  blieb  vichnehr  seinem  Lehrer  Gottschi'd 
getreu  und  suchte  dessen  Andenken,  wenn  auch  mit  der  notwendigen  Ein- 
schränkung, /u  retten/'-'  171!)  zu  Leipzig  geboren,  lehrte  er  seit  1739  an 
dieser  Universitjet  Mathematik,  seit  1756  zu  Göttingen,  wo  er  1800  starb. 
Sein  scharfer  Verstand,  sein  rascher  Witz  machte  ihn  zum  Epigrammatiker: '^ 
die  Überschwänglichkeiten  der  Schweizer  Dichter,  spa^ter  die  der  Sturm- 
und Drangzeit  verspottete  er,  bis  endlich  die  Romantiker*"  dem  gefürchteten 
Satiriker  sich  noch  überlegen  zeigten.  Die  Schlacht  bei  Rossbach  gab  ihm 
eine  reiche  Fülle  patriotischer  Sinngedichte  ein;  zierliche  Verse  richtete  er 
au  befreundete  Damen,  aber  auch  der  schlüpfrige  Scherz  stand  ihm  an.  Um 
den  unbefugten  Sammlern  entgegenzutreten  gab  er  seine  Vermischten  Schrif- 
ten' 1755  und  1772  heraus.**- 

Noch  ein  sächsischer  Dichter  hielt  zu  Gottsched,  ohne  jedoch  sein 
Schüler  gewesen  zu  sein.  MAtixr.s  Gottfuikü  Liuhtwer  geb.  zu  Würzen 
1719,  lebte  1749 — 1783  zu  Halberstadt,  seit  1752  als  Regierungsrat.  Seine 
'Vier  Bücher  lesopischer  Fabeln  in  gebundener  Schreibart',  zu  Leipzig  1748 
zuerst  erschienen,  wurden  erst  durch  Gottscheds  Lob  1751  bekannter,  fanden 
aber  auch  bei  dessen  Gegnern  Beifall.  Ramler  veranstaltete  1761  eine  aus- 
erlesene und  verbesserte'  Ausgabe,  welcher  Lichtwer  1762  eine  dritte  ent- 
gegenstellte.*^ Vergebhch  suchte  Gleim  Lichtwers  Verkehr.  Lichtwers  Fabeln 
stellen  sich  durch  einfache  fassliche  Moral,  durch  leichte,  gefällige  Form  und 
durch  glückliche,  schalkhafte  Einfälle  neben  die  Gellerts  und  haben  sich  zum 
Teil  mit  diesen  eine  dauernde  Beliebtheit  erworben.^*  Dagegen  bietet  sein 
'Recht  der  Vernunft',  ein  Lehrgedicht,  das  er  1758  Friedrich  II  widmen 
durfte,  nur  eine  trockene  Sittenlehre'*''  in  Alexandrinern. 


Bibl.    XVI,    1,    17    fgg.     Suphau  V  278.  79)    lu   eiuem  Vortrage    vor    der    deutsebeu 

Gesellschaft  in  Güttingen  1767.  Die  Aubünger  Gottscheds,  Sch<jeuaiih  und  Krüger  hatte 
er    schon    früh    verurteilt    uud     Hallcr    besonders    verehrt.  80)     LB.    2.    l>23    fgg. 

81)    A.   W.  Schlegel  (Böckiugs   Ausgabe)  8,  42.      LB.  ;3,    109i>.  82)    Zu   Altenburg: 

öfter  wiederholt.  Kästners  'Gesammelte  poetische  und  prosaische  scboen-wissenschattliche 
Werke'  erschienen  Berlin  1841.  IV;  am  Schluss  eine  Biographie  meist  nach  seinen 
eigenen    Angaben.  83)    Gesamtausgabe:    .M.    G.    Lichtwers    Schriften    hg.    von    seinem 

Enkel  E.  L.  M.  von  Pott.  Mit  einer  Vorrede  und  Biographie  Lichtwers  von  K.  €ramer. 
Halberstadt    1828.  84)    LB.   2.    7!)1    fgg.  85)    Vgl.   übrigens    Herders    Humaui- 

taetsbrief  33. 


§  152  KÄSTNER,  LICHTWER.     KLOPSTOCK.  399 

§  152. 

In  den  'Bremer  Beytraegen'  des  J.  1748  erschienen  die  drei  ersten 
Gesänge  des  Messias  von  Kiopstock,  und  damit  begann  eine  neue  Blütezeit 
der  deutschen  Dichtung.  Hier  war  die  Forderung  der  Schweizer  Kunstrichter 
erfüllt:  wahre  Begeisterung,  innerer  Drang  hatte  den  Dichter  ergriffen  und 
geleitet.  Die  hoechste  Aufgabe,  welche  sich  die  Zeit  denken  konnte,  war  mit 
kühnem  Mut  und  mit  voller  Hingabe  zu  loesen  unternommen  worden.  Die 
Religion  sollte  den  Gegenstand  des  Gedichtes  bilden  und  ihm  eine  hehre 
Würde  verleihn ,  zugleich  aber  auch  selbst  einen  neuen  Schmuck ,  ja  eine 
neue  Kraft  von  ihrer  dichterischen  Verherrlichung  em})fiiugen.  Und  eben 
dieser  Dichter,  welcher  sein  episches  Gedicht  der  Religion  widmete,  pries  mit 
der  gleichen  Innigkeit  und  Stärke  des  Gefühls  als  Lyriker  das  Vaterland, 
die  Freundschaft,  die  Liebe.  Ein  jugendlicher  Hauch  durchdrang  von  da 
aus  die  Litteratur  und  gab  ihr  zu  immer  neuem  Fortschreiten  Lust  und  Kraft. 
Von  dieser  Jugendlichkeit  blieb  vor  allen  andern  der  Dichter  selbst  erfüllt: 
er  sah  sich  als  einen  geweihten  Sänger  an,  der  es  wagen  durfte  die  Unter- 
schiede des  Standes  ausser  Acht  zu  lassen  und  sich  dem  Staatsmann,  dem 
Fürsten  gleich  zu  setzen.  Unbekümmert  um  der  Menschen  Reden  hat  er 
auch  in  seinem  Privatleben  sich  stets  und  überall  volle  Freiheit  und  Würde 
zu  wahren  gewusst. 

Friedrich  Gottlieb  Klopstock  '  war  am  2.  Juli  1724  zu  Quedlinburg 
geboren,  hatte  nach  einer  in  glücklicher  Freiheit,  grossenteils  auf  dem  Lande 
verlebten  Knabenzeit  die  Schule  zu  Pforta  1739 — 45  besucht  und  hier  schon 
den  Plan  zu  seiner  Dichtung  gefasst,  auf  welche  er  in  seiner  Abschiedsrede- 

§  L)2.  1)  Reiche  Mitteilungen  zur  Lebensgeschichte,  die  er  ■/..  T.  von  Kiopstock  selbst 
erhalten,  gab  der  schwärmerische  Sohn  ,J.  A.  Craraers  (§  151.  41  fgg.l.  Karl  Friedrich 
Gramer  in  'Kiopstock.  In  Fragmenten  aus  Briefen  von  Tellow  an  Elisa".  II.  Hamburg 
1777.  78;  und  chronologisch  geordnet  als  Erlieuteruug  zu  Klopstocks  Schriften  bis  1757 
in  'Kiopstock.  Er;  und  über  ihn'.  V.  Hamburg  1780 — 92.  Vgl.  die  schoene  Schilderung 
von  Sturz  LB.  ?).  750  fgg.  Von  den  neueren  Arbeiten  ist  ausser  dem  besonders  bibliogra- 
phisch wertvollen  Artikel  von  Cropp  im  'Lexikon  der  hamburgischen  Schriftsteller  bis  zur 
Gegenwart  IV*  (186^3)  noch  D.  F.  Strauss,  'Klopstocks  Jugendgeschichte'  (bis  1751)  in  'Kleine 
Schriften.  Neue  Folge',  Berlin  1865.  und  Erich  Sdimidt  in  'Characteristiken',  Berlin  1886 
S.  119  fgg.;  endlich  als  zusammenfassend  hervorzuheben:  Franz  Muncker  'F.  (i.  Kiopstock. 
Geschichte  seines  Lebens  u.  seiner  Schriften'.  Stuttgart  1888.  Ein  Teil  von  Klopstocks 
Briefwechsel  ist  aus  Gleims  Xachlass  hg.  worden  v.  Klamer  Schmidt,  'Kiopstock  u.  seine 
Freunde'  Halberstadt  1810:  ein  anderer  von  J.  M.  Lappenberg  'Briefe  von  u.  an  Kiopstock". 
Braunschweig  1867,  wo  auch  noch  sonstige  Sammlungen  verzeichnet  sind.  2)  TJeclumatio 

Wackernagel,  Lilter.  Geschichte.  II.  '11 


400  NEUIlOCnnEUTSCirE  ZEIT.         XVIII  JAIIKII.  §  152 

verständlich  gonug  hinwies.  Ein  Semester  in  Jena,  dann  von  Ostern  174(5 
ab  in  lieipzig  Theologie  studierend,  kam  er  in  Verbindung  mit  jenem  Freundes- 
kreis der  Bremer  Beytneger,  den  er  in  mehreren  Odeu  begeistert  feierte. 
Zu  Ostern  1748  trat  er  in  Langensalza  bei  Verwandten  eine  Ilauslehrerstelle 
an,  in  der  Nadie  einer  geliebten  Cousine,  Marie  Sophie  Schmidt;  doch  ge- 
wannen ihm  seine  Lieder  an  Fanny'  oder  'Cidli',  wie  er  sie  nannte,  ihre 
Jiicbe  nicht.  Da  füiirte  ihn  eine  Eiidadung  Bodmers  im  Juli  1750  nach 
Zürich.  Aber  der  lebensfrohe  Jüngling^  entsprach  den  strengen  Anforderungen 
Bodmers  wenig,  und  so  schied  er  bald  aus  dessen  Hause.  Im  Frühjahr 
1751  siedelte  er  nach  Kopenhagen  über,  wo  ihm  der  Minister  Graf  Bernstorff 
eine  Pension  von  dem  edlen  Kcenige  Friedrich  V  erwirkt  hatte.  Unterwegs 
hatte  er  in  Hamburg  seine  spaetere  Gemahlin  Meta  (Margareta  Moller)  kennen 
gelernt,  mit  welcher  er  1754  bis  1758  in  der  glücklichsten  GeistesgemRin- 
schaft  lebte.  Auch  sie  feierte  er  als  Cidli  oder  als  Clarissa,  und  regte  sie 
zu  eigener  Dichtung^  an.  Nach  ihrem  frühen  Tode  lebte  er  eine  Zeit  lang 
in  tler  Heimat  und  bei  den  Freunden  in  Halberstadt  und  Braunschweig. 
Doch  iiuch  in  Kopenhagen  sammelte  sich  ein  Kreis  deutscher  Freunde  um 
ihn,  die  /..  T.  seine  Verwendung  beim  KaMiige  dahin  gezogen  hatte.  Fried- 
rich V  starb  jedoch  1700  uud  Graf  Bernstorff  ward  durch  Struensee,  den 
verwegenen  (Jünstling  Christians  VH,  gestürzt.  Klopstock  begleitete  ihn  nach 
Hamburg,  das  er  nur  noch  auf  kurze  Zeit  verliess.  Er  verweilte  von  Sep- 
tember 1774  bis  März  1775  am  Hofe-'  zu  Karlsruhe,  bei  dem  trettiichen  Mark- 
grafen Karl  Friedrich  von  Baden,''  nachdem  er  in  Göttingen  den  Hainbund 
(§  158,  44),  in  Frankfurt  Goethe  aufgesucht  hatte.  Mit  diesem  entzweite  er 
sich  jedoch  für  immer,  indem  er,  auf  übertreibende  Gerüchte  hin,  ihn  er- 
mahnte den  jungen  Herzog  von  Weimar,  der  Goethe  inzwischen  zu  sich  be- 
rufen hatte,  nicht  zu  Ausschweifungen  zu  verleiten.  Um  so  mehr  beherrschte 
er  die  Geister  in  seiner  Umgebung,  in  Hamburg  und  Holstein,  Seit  1791 
mit  einer  Nichte  Metas  verma^hlt,  verlebte  er  auch  seine  letzten  Jahre  in  be- 


qua  poetus  epopoeite  nuctore-t  recenset  F.  G.  KI.  lateinisch  bei  Gramer  Kl.  1,  99  {gg.,  deutsch 
ebd.  54  fgg.  3)   Nach   einer  Fahrt  mit  Altersgenossen  beiderlei  Geschlechts  am  30.  Juli 

17.'»0  entstand  Klopstucks  Ode  'Der  Zürichersee'.     Vgl.  bes.  U.  Mterikofer.  Klopstock  in  Zürich 
1700  —  51,   Z.  u.   Frauenfeld   1851.  4)    liinterlassene   Werke    von    Margareta   Klopstock 

hg.  V.  F.  G.  Kl.  Hanibnrg  1751).  5)  F^twas  spieter  wünschte  der  karkölnische  Minister 

V.  Fürsteuberg  seine  Mithilfe   bei  der  neuen  Einrichtung  der  Schulen  im  Bistum  Münster: 
aui  h  der  Fürst  von  Dessau  wandte  sich  /u  gleichem  Zwecke  an  Klopstock.  (J)  Der  ergötz- 

liche Bericht  des  Wit-liindianers  F.  D.  King  über  diesen   Aufeutlialt  ist   voUstäudig  in  Erich 


§  152  KLOPSTOCKS  LEBEN.  •  401 

haglicher  GeseUigkeit.  Noch  einmal  entflammte  die  franzoesische  Revolution 
seine  kühnsten  Hoffnungen  auf  ein  neues,  freies  Zeitalter;"  erst  die  Greuel- 
thaten  des  J.  1793  wandelten  seine  überschwänglichen  Lobpreisungen  in  ein 
ebenso  heftiges  und  doch  kraftloses  Schelten.'^  Als  er  am  14.  März  1803 
starb,  bereitete  ihm  Hamburg  ein  wahrhaft  fürstliches  Leichenbegängnis®  und 
es  erneuerte  sich  so  noch  einmal  die  Anerkennung,  die  er  bei  seinem  ersten 
Hervortreten  gefunden  hatte. 

Allerdings  ohne  Kampf  hatte  er  auch  diese  nicht  errungen.  Hagedorn 
hatte  den  in  der  Handschrift  ihm  übersandten  Anfang  des  Messias  ^"  nur  mit 
Bedenken  gebilligt;  erst  Bodmer,  der  auf  Klopstock  Miitons  Geist  ruhen 
sah,  riss  durch  seine  stürmische  Verherrlichung  auch  die  jungen  Freunde  des 
Dichters  mit  sich  fort.  Bodmer  regte  auch  Andere  zu  empfehlender  Be- 
sprechung der  neuen  Erscheinung  an:  G.  F.  Meier  (§  150,  5)  setzte  in  einem 
Auszuge  mehr  die  poetischen  Schoßnheiten  des  Gedichtes  auseinander,  wteh- 
rend  J,  G,  Hess,  Prediger  zu  Altstetten  bei  Zürich  die  gegen  Klopstocks 
Rechtglffiubigkeit  erhobenen  Anklagen  widerlegte.^'  Dagegen  verfolgten  Gott- 
sched und  sein  Anhang  die  Messiade  mit  den  heftigsten  und  gehässigsten 
Streitsclu-iften,  durchaus  vergeblich  freilich,  wie  die  ihr  entgegengesetzten  Epen 
der  eigenen  Schule  nur  dem  allgemeinen  Gelächter  verfielen  (§  148,  59  fgg.). 
Die  Jugend,  vor  allem  soweit  sie  dem  Dichter  selbst  nahe  kam,  schloss  sich 
ihm  mit  Begeisterung  an.  Die  angesehensten  Gelehrten,  Haller,  Jerusalem 
in  Braunschweig,  der  Hofprediger  Sack  in  Berlin,  bemühten  sich  für  den 
Dichter  eine  passende  Lebensstellung  zu  finden,  bis  die  Gunst  des  Koenigs 
von  Daenemark  ihn  auch  über  die  Angriffe  der  von  ihm  stets  verachteten 
Kritik  hinausführte.  Mit  einer  Ode  an  Friedrich  Y  '^  leitete  daher  auch  der 
Dichter  die  neue,  bis  zum  fünften  Gesänge  weitergeführte  Ausgabe  ein,  welche 

Schmidt  Chaiacteristikea  S.  160  fgg.  zu  findeu.  7)  In  der  Einleitung  zur  Constitution, 

von  den  Rechten  des  Meuschen'  sah  er  'viel  praktisches  Christentum  glänzen':  Briefe 
bei  Lappenberg  8.  342.     Brutus  war  für  Kh)pstock  von  jeher  ein  V'orbild.  8)  Die  Auf- 

forderung Lavaters  sein  1792  erhaltenes  franzo^sisches  Bürgerrecht  zurückzugeben  nahm  er 
jedoch  sehr  übel  auf:  Br.  bei  Lappenberg  347  fgg.  9)  Neben  Meta  wurde  er  zu  Ottensen 

begraben:  vgl.  Rückerts  Gedicht  Die  Grober  zu  Ottensen',  LB.  2,  1574.  10)  Neudruck  der 
drei  ersten  Gesäuge,  wie  sie  1748  erschienen,  durch  F.  Muncker  in  Seufterts  Litt.-denkm.  11 
(Heilbronn  1883).  11)    'Zufällige  Gedauken  über  das  lleldeugedicht  der  Messias.    Ver- 

anlasset durch  Herrn  G.  F.  Meiers  .  .  Beurteilung  dieses  Heldengedichtes'.  Zürich  1749. 
Ganz  besonders  verdachte  man  den  Freunden  Klopstocks  dass  sie  von  seinem  'schöpferi- 
schen' Geist  sprachen,  Wiehreud  sie  doch  nur  die  hübhnische  Frage  der  franzifsischeu  Kritiker 
nach  einem  esprit    createur  bei  den  Deutschen    beantworten   wollten.  12)    LB.  2,  854. 


402  NEUIIOCIIDEUTSCIIE  ZEIT.         XVFII  JAHIMI.  8  ^-'^ 

'/u  Hallo  1751  erschien.'-'  Lang.s!un  schritt  das  Werk  weiter,  dessen  Phni 
schon  frühe  feststand  und  dessen  einzelne  Teile  '*  der  Dichter  je  nach  gün- 
stiger Stimmung  ausarbeitete.  1755  lagen  die  ersten  zehn  Gesänge  vor;'' 
1768  folgton  die  na^chsten  fünf;"'  die  fünf  letzten'*  177:i:  mit  einer  Schluss- 
ode 'an  den  Erlo'ser'  sprach  der  Dichter  seinen  Dank  dafür  aus  dass  er  das 
grosse  Werk  hatte  vollenden  können.  Klopstock  hatte  inzwischen  auch 
die  ersten  Teile  beständig  der  Foilo  unterzogen,"'  wobei  er  zugleich  seine 
strenger  gewordenen  formellen  Grundsätze  durchführen  und  dem  kirchlichen 
Lehrbofritte  sich  immer  mehr  anschliessen  wollte.  Über  diese  beiden  An- 
forderungen Hess  er  sich  auch  in  Abhandlungen  aus,  welche  die  spjeteren 
liände  begleiteten:  1705  Von  der  heiligen  Poesie''  und 'Von  der  Nachahmung 
des  griechischen  Sylbeumasses',  1708  Vom  deutschen  Hexameter',  1773  'Vom 
gleichen  Verse"  und  Vom  Sylbenmasse'.  Mit  Überzeugung  betonte  er  dass 
die  Keligion  durch  sein  Gedicht  gewinnen  werde,"'  und  dies  war  auch  die 
Auffassung  seiner  Zeitgenossen:  bis  in  die  Nonnenkloster  Oberdoutscldands 
brachte  der  'Messias'  deutsche  Poesie,-"  und  Übersetzimgen  in  die  meisten 
europrt'ischen  Sprachen  suchten  gerade  seine  religia^se  Wirkung  noch  zu  ver- 
breiten. Darüber  wurden  die  künstlerischeu  Mängel  des  Werkes  übersehn. 
In  der  That  war  schon  der  Stoff  für  ein  Epos  wenig  geeignet:  nicht  eine 
Sage  der  Urzeit,  sondern  ein  geschichtlicher  Vorgang,  aber  so  wie  ihn  das 
Dogma  der  Kirche  auffasste,  sollte  besungen  werden.  Hatten  die  Messiaden 
der  Karolingerzeif^'  Leben  und  Lehre  Christi  behandelt  und  hier  zu  epischen 


13)  Vgl.  Lessings  Anzeigen:  bei  Lacliiu.  Maitzahu  3,  21c?  und  312  tgg.  14)  Das  ileui 

Schluss  ani'ehiüriore  Weltiiericht  hatte  «ler  Dichter  schon  1752  gros«enteils  vollendet: 
Briefe    bei    Klamer    Schmidt    349.  15)    Kopenhagen,    in    einer    Prachtaungabe    aut 

Kosten    des    Krenigs.  16)    Kbenfalls   Kopenhagen.  17)    Zu    Halle.      Von    dem 

ganzen  Messias',  Altona  1780,  veranstaltete  Klopstock  mehrere  Ausgaben,  und  ebenso 
erschienen  in  mehreren  gleichzeitigen  Ausgaben 'Klojistocks  Werke',  XII,  Leipzig  1798 — 1817: 
1823—1826.  Dazu  tügten  A.  1-,.  Back  und  A.  K.  C.  Spindler  'Klopstock»  »ämtliche 
sprachwissenschaftliche  und  jesthetische  Schriften'  .  .  VI.  Lpz.  1830.  Neuerdings  »ind  ver- 
schiedene Ausgaben  uiehr  oder  weniger  vollständig  oder  mit  Beigaben  besorgt  worden: 
von  ßoxberger.  Berlin  bei  Hempel:  von  Hamel  in  Kürschner»  Xat.-bibl.  46 — 48.  18)  Vgl. 

namentlich  Richard  Hamel,  Klopstockstudien.  Hl.  Rostock  1879  —  80.  19)  An  Bodmer 

1750  schreibt  er:  'der  Messias  in  moralischen  Absichten,  welches  seine  vornehjiisten  sind": 
Briefe    bei    Lappenberg   S.    261.  20)   Briefe    bei    Lappenberg  S.  161.    299.     Vgl.  auch 

Weissens   Selbstbioicraphie  S.   191.  21)  Klopstock    lernte    diese    allerdings  kennen  uml 

gedachte  den  Heljand  selbst  herauszugeben:  Briefe  bei  Lappenberg  208.  An  »ich  steht  er 
Otfried  nseher.  an  welchen  seine  Liebhaberei  für  gewisse  Zahlen,  seine  Aufziehlnng  himmlischer 
Musikinstrumente  u.  a.  erinnern:  allerdinsrs  schweben  beiden  Dichtern  die  classisdien  Muster 


§  152  DEK  MESSIAS.  403 

Erztehlungen  reichliche  Gelegenheit  gefunden ,  so  beschränkte  sich  Klopstock 
auf  das  Leiden  und  den  Tod,  die  Auferstehung  und  die  llininielfahrt  Christi, 
einen  eher  dramatischen  Gegenstand  voll  ergreifender  Momente,  deren  Eindruck 
er  durch  gefühlvolle,  lyrische  Behandlung  auf  das  hoichste  zu  steigern  suchte. 
Er  selbst  sprach  es  aus  dass  die  erste  Hälfte  seines  Werkes  bis  zum  Tode  des 
Heilands  mit  den  hier  vorwaltenden  Gefühlen  der  Trauer  ihm  leichter  ge- 
worden sei  als  der  dichterische  Ausdruck  der  freudigen  Ilührung  über  den 
Auferstandenen.  Und  so  galt  schon  bei  den  Freunden  die  Würdigung  dieses 
zweiten  Teiles  für  schwierig."'"  Hier  entfaltet  sich  auch  eine  mehr  überlegte 
Kunst,  hier  haiufen  sich  Gespraiche  und  Chorlieder.  Am  ergreifendsten  wirkten 
und  wirken  wohl  noch  jetzt  die  Scenon,  in  welchen  Klopstock  Selbsterlebtes 
mit  eingeflochten  hat:  vor  allem  die  Erzählungen  von  Cidli  (so  nannte  er  die 
von  Christus  auferweckte  Tochter  des  Jairus),  wobei  ihm  anfänghch'-''  seine 
erste  unerwiderte  Liebe,  an  späterer  Stelle  '^*  sein  letztes  Gespräch  mit  Meta 
vorschwebten.  Ebenso  rührend  fand  seine  Zeit  das  Mitleid,  welches  eine  nach 
Youngs'^^  Vorgang  von  Klopstock  angenommene  Unschuldswelt  mit  dem  Tod 
der  Nachkommen  Adams  fühlt.-^  Ganz  besonders  ward  jedoch  das  Schicksal 
des  gefallenen,  aber  reuigen  Engels  Abbadonna  viel  besprochen  und  geradezu 
ein  Gegenstand  des  Streites:  strenger  gesinnte  verlangten  dass  er  verdammt 
bleibe,  weichere  Seelen,  und  mit  ihnen  Klopstock,  Hessen  ihn  Gnade  finden. 
Doch  Klopstock  strebte  auch  nach  furchtbar  erschütternden  Wirkungen:  darum 
setzte  er  Satan  noch  einen  verruchteren  Teufel,  Adramelech  zur  Seite.  Durch 
die  Erfindung  einer  zahlreichen  Geisterwelt  machte  er  freilich  die  einzelnen 
Vorgänge,  und  ganz  besonders  die  Kreuzigung,-^  erst  recht  unübersichtlich. 
An  manchen  Stellen,  wie  im  VI  Buch,  wo  gleichzeitig  der  jüdische  Rat,  Portia 
die  Gattin  des  Pilatus  und  die  Engel  von  einander  getrennt  verhandeln,  ist 
es  geradezu  schwer  den  Zusammenhang  zu  behalten.  Denn  der  Dichter 
unterscheidet  kaum  den  Ton  der  Reden :  überall  behält  der  Ausdruck  dieselbe 
Hoehc  und  Stärke  bei.  Selbst  seine  Bilder  tragen  wenis;  zur  Verdeutlichuns: 
bei,  da  sie  nicht  aus  der  Natur,  zuweilen  sogar  nicht  einmal  aus  der  sinn- 
lichen Welt  geschöpft  sind.  Dazu  kam  endlich  der  Vers,  der  zuerst  so  schwer 
erschien  dass  man  vielfach  die  Hexameter  einfach   als  Prosa   zu  lesen  riet.'^* 

der  latpinitJchen  Litteratur  dabei  vor.  Doch  auch  die  lyrische  Behandlung,  die  demütige 
Anerkennung  der  Grcpsse  und  Heiligkeit  des  (gegenständes  haben  die  beiden  Dichter  gemein. 
22)  Gramer,  Tellow  103.  23)  IV  610  fgg.  24)  XV  41'J  fgg.  25)  Die  neunte 

Nacht   (Klagen),    in   Eberts   Übersetzung  (1767)   S.  358  fgg.  26)  V  153   und  Hamels 

Commentar.  27)  Der  YlII  Gesang:  LB.  2,  819  fgg.  28)  So  Haller:  Kleist  §  142,  91. 


404  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XVI 11  JAlüUi.  i?  152 

KI()j)8tock  selbst  dnuig  auf  kuustvolle  IJeclamation,  die  er  auch  meisterhaft 
übte  und  lehrte.^^ 

Die  Kenntnis  der  griechisch -lateinischen  Metrik,  die  Klopstock  für  den 
Hexameter  voraussetzt,  ist  nocli  molir  mrtig  für  seine  C)denmasse,  von  denen 
übrigens  einige  der  schwierigsten  in  den  20.  Gesang  des  'Messias'  einge- 
Hocliten  sind.  Hie  und  da  hat  er  selbst  das  Schema  übergesetzt  oder  einzelne 
Silbenwerte  durch  Zeichen  njeher  bestimmt.  Auch  sprachliche  Erheuterungen 
sind  zuweilen  von  ihm  selbst  gegeben  worden,  so  verächtlich  er  auch  auf 
die  'Scholiasten'  herabsah:  aber  nicht  nur  Namen  der  antiken  und  der  nor- 
dischen Mythologie,  sondern  ganz  neu  gebildete,  wie  Sponda  für  den  Spondeus, 
und  Beziehungen  auf  sein  Reitpferd  oder  ein  Scliosshündchen  waren  zu 
erkheren.'*'  Solche  Ausdrücke  konnten  ja  nur  den  'wenigen  Edlen'  ver- 
ständlich sein.  Doch  auch  sonst  spannte  der  Dichter  seine  Forderung  zu 
hoch,  dass  die  Deutschen  seine  Sprache  lernen  sollten.  Wortfügung  und 
Wortfolge  ahmt  er  den  klassischen  Sprachen  nach,  nicht  selten  mit  öfterem 
Gebrauch  derselben  Wendung.^'  Daneben  stand  ihm  doch  auch  eine  durchaus 
einfaclie,  edle  Sprache  zu,  welche  zumal  in  reimlosen,  jambischen  Versmassen 
die  tiefempfundenen  Gedanken  des  Dichters  zu  hinreissendem  Ausdrucke 
bringt.-'" 

Die  frühsten  Oden,  1747  gedichtet,  gelten  dem  eignen  Dichterberuf  und 
den  Freunden.^'*  Vortrefflich  weiss  er  sie  einzeln  mit  wenigen  Strichen  zu 
zeichnen.  Die  trübe,  überztertliche  Stimmung,  welche  durch  Weinen  und 
Küssen  sich  seussert  und  im  Gedanken  an  den  Tod  schwelgt,  erscheint  noch 
mehr  in  den  ersten  Liebesoden:  richtet  doch  der  Dichter  sogar  noch  an  Meta 
die  Schilderung^*  der  'toten  Clarissa'.  Aber  auch  die  Lebensfreuden,  Wein 
und  Gesang,  oder  scherzendes  Gespräch  mit  schoenen  Frauen  feiert  er,  und 
nicht  minder  die  männlichen  Leibesübungen,  Ritt  und  Eislauf. ^^     Und  männ- 


29)  Die  Ode  Teone",  1767  gedichtet,  feiert  diese  Kunst.  30)  Zur  Kritik  und  Erklserung 

der  Oden  vgl.  namentlich  Erich  Schmidt,  'Beitr.  zur  Kenntnis  der  Klopstockschen  Jugend- 
lyrik'. QF.  .^9.  Strassb.  1880  und  'F.  G.  Klopstocks  Oden"  hg.  v.  F.  Muncker  u.  Jaro  Pawel. 
II,  Stuttgart  1889.  Von  Pawel  u.  schon  früher  von  anderen  sind  einzelne  Oden  erheutert 
worden:  die  gesamten  von  Delbrück,  Berlin  18:^0,  von  Vetterlein.  Lpz.  1827,  von  Gruber, 
Lpz.   1831,   von  Düntzer,  Lpz.   1868.   von   Back,  Stuttg.    1876.  Hl)   So  sagt  er  öfters: 

'einen   Gedanken   denken',   auch  in  Prosa.     Vgl.   übrigens  §  141,  21.  32)  So  an   Meta 

gerichtet  'Das  Kosenband",  und  für  ilire  sangeskundige.  sch(Pne  Nichte,  spieter  Klopstocks 
zweite  Frau  bestimmt,  das  'Vaterlandslied:  Ich  bin  ein  deutsches  Mtedchen".  Vgl.  auch  LB. 
2,  864  (VIII).  33)  LB.  2,  849.   851.  34)  LB.   2,  856.  35)  LB.  2,  863. 


§  152  KLOPSTOCKS  ODEN.  405 

lieh  fühlt  der  Dichter  überall,  wo  er  vom  Vaterland, ^"^  zumal  von  der  deut- 
schen Sprache  redet.  Ihre  Schoenheit  und  Kraft  preist  er;^^  mit  heisser 
Sehnsucht  wünscht  er  frühzeitig,  die  auch  von  ihm  nachgeahmte  englische 
Dichtung  zu  überflügeln ; '^^^  mit  Zorn  weist  er  den  englischen  Stolz  zurück.^'-' 
Doch  den  groissten  Deutschen  seiner  Zeit  verkennt  er:  Friedrichs  II  Gleich- 
giltigkeit  gegen  das  Christentum,***  seine  Vorliebe  für  die  franzoesische  Littc- 
ratur*'  erfüllt  ihn  zuletzt  geradezu  mit  Hass.  Dass  dies  Gefühl  erst  allmählich 
eintrat,  dafür  gibt  das  Lied  'Heinrich  der  Vogler'  Zeugnis,  welches  zuerst*^ 
Friedrichs  Heldenkraft  feierte,  spteter  jedoch  vollkommen  umgearbeitet  erschien. 
Klopstock  sah  in  Friedrich  nur  noch  den  Eroberer:  ihm  stellte  er  'Daniens 
Friederich'  entgegen,  dem  er  auch,  wie  schon  der  vorher  verstorbenen  Koenigin 
Luise,  eine  tief  gefühlte  Elegie*^  nachdichtete.  Und  den  Gedanken  der 
Religion  wusste  er  auch  in  seinen  Oden  den  erhabensten  Ausdruck  zu  geben, 
indem  er  lebendiges  Naturgefühl  mit  vertrautester  Bibelkenntnis  verband.** 

Die  erste  Sammlung  seiner  Oden  veröffenthchte  Klopstock*''  1771  mit 
der  lakonischen  Widmung  'An  Bernstorff'.  Vorher  schon  hatten  Unberufene 
die  einzeln  gedruckten  oder  handschriftlich  umlaufenden  zusammen  drucken 
lassen,  begreiflicher  Weise  mit  manchen  Irrtümern.*"  Inzwischen  hatte  der 
Dichter  seine  Oden  sorgfältig  durchgefeilt*''  und  mehrfach  die  griechische 
Mythologie  durch  die  nordische  ersetzt,  welche,  durch  die  Eddaübersetzung 
in  Mallet  Introdudion  ä  l'Jiistoire  de  Dmmnarc  (1755  fg.)  in  weiteren  Kreisen 
zugänglich  geworden,*'*  ihm  durch  die  Quellenstudien  Gerstenbergs  (§  155,  19) 
noch  nseher  gebracht  wurde,  und  die  er  nun  nach  dessen  Vorgang  verwen- 
dete, aber  freilich  vielfach  mit  celtischen  Namen  *^  vermengte. 

36)  LB.  2,  868.  37)  LB.  2,  865.  38)  LB.  2,  857.  39)  LB.  2,  864.  40)  'An 

Bernstorü"    1751.  41)   'Aa  (jleim'  1752.      Vergebens    hatte    Bodnier    durch    Tscharner 

den  AnfanEC  des  Messias  ins  Franzuesische  übersetzen  lassen  und  diese  Übersetzung:  durch 
Voltaire  {in  den  Koenig  zu  bringen  gesucht.  Noch  1782  dichtete  Klopstock  gegen  Friedrichs 
Schrift  De   la   Utterature    Allemanäe  seine    Ode   'die   Rache'.  42)   In  der  'Sammlung 

vermischter  Schriften  von  den  Verfassern  der  neuen  brem.  Beytnege'  I,  1749,  als  'Kriegslied 
zur  Nachahmung  des  alten  Lieds  von  der  Chevy-Clm^e-Jagi' .  Mit  Unrecht  heugnete  spater 
Klopstock  die  Beziehung   auf  Friedrich   ab,   bei  Gramer  Kl.  2,  346.  43)  LB.  2,  869. 

44)  LB.  2,  859.  45)  Hamburg.  46)  Auch  die  Klopstock  zu  Ehren  für  die  Land- 

grsefin  von  Hessen-Darmstadt  1771  in  34  Exemplaren  gedruckte  Sammlung  war  fehlerhaft: 
Weinhold    Boie   175;    QF.  39,   82:    Edw.    Schrreder  Vierteljschr.    f.    Litgesch.    V    53    fgg. 

47)  Er  hatte  namentlich  die  schwebende  Betonung  beseitigt  und  die  Senkungen  erleichtert. 

48)  Doch  hatte  Klopstocks  Vetter  Schmidt  schon  17.50  aus  Olaus  Worraius  den  Gesang 
Lodbrogs  bearbeitet;  Klamer  Schmidt    S.    142:    QF.    39,    18.  49)  So    nannte    er    die 


40«;  NEUIKMJIIDEUTÖCIIM   /FJT.         XVIIJ  .lAlllMl.  §  152 

Schon  vor  der  Siuniiilmig  scinor  Odoii  hatte  KUipstock  ücisthchb  Lieder" 
erscheinen  las«on  (II,  Kopenhagen  IT")«.  ITd!)),  worin  er  sich  auf  den  Stand • 
punct  der  Liemeinde  zu  stellen  suchte,  aber  mit  wenig  Erfolg '"  (§  144).  Hier 
gebrauchte  er  den  Reim,  aber  indem  er  den  reichen  Reim  zuliess,  zeigte  er, 
wie  ungeübt  er  in  dieser  Form  war. 

Ebenso  fanden  Klopstocks  Dramen  wenig  Beifall.  Er  dichtete  mehrere 
biblische  Trauersj)iele:  Der  Tod  Adams'  (Kopenhagen  und  Leipzig  1757),'' 
'Salomo"  (Magdeburg  1704),  'David'  (Hamburg  1772).  Durchweg  fehlte  so- 
wohl Handlung  wie  Charaeterzeichnung. 

Eigentiunlichcr  waren  seine  der  deutschen  Urzeit  •'■^  entnommenen  Stücke, 
welche  er  Bardicte"  nannte,  mit  missverstilndlichcr  Deutung  von  Barditus-'^ 
(§  3,  10):  Hermannsschlachf  (Hamburg  und  Bremen  1709),  'Hermann  und 
die  Fürsten' (Hamburg  17iS4),  Hermanns  Tod' (Hamburg  1787).  Die  kargen 
Nachrichten  des  Tacitus'*  sind  mit  celtischen  Namen  aufgeputzt;  Bardenchoere 
sind  in  den  Prosadialog  eingemischt,  welche  Gluck  ebenso  wie  viele  Oden 
Klopstocks  compouiert  hat.  Obschou  für  die  Schaubühne'  bestimmt,  sind 
die  Stücke  nicht  autt'ührbar.-''' 

Die  'Hermannsschlacht'  ist  Joseph  II  zugeeignet,  von  dem  Klopstock 
damals  die  Unterstützung  deutscher  Wissenschaft  und  Dicktkunst  ^"^  erwartete, 
die  Friedrich  der  Grosse  ihr  verweigert  hatte.  Als  auch  diese  Hoffnung  fehl- 
schlug,'' versuchte  er  die  deutschen  Schriftsteller  selbständig  zu  einigen.  Dies 
ist  der  Zweck  seines  Buches  Die  deutsche  Gelehrtenrepublik',  welches,  von 
3600  Subscribenteu  erwartet,  zu  Hamburg  1774  erschien.  Die  seltsame  Ein- 
kleidung, mit  welcher  Klopstock  seine  Ansichten  als  Gesetze  eines  urdeutschen, 
in  Zünfte  gegliederten,  von  Aldermännern  geleiteten  Landtages  vortrug,  stiess 
die  Leser  so  sehr   zurück    dass  der  II  Teil   des  Werkes  gar  nicht  erschien. 


Lfier    Telyn,  die    Nachtigall   Bardale.  50)  Kleist«    Urteil  bei  Sauer  2.  446.     Leasings 

Kritik:  Litteraturbrief  51.  111.  51)  Von  (ileiui  in   Verse  gesetzt,  Berlin   1766.     §  14:J,  4. 

Meta  verfasste  ein  Gregenstück  'Der  Tod  Abels'.  52)  Daraus  hatte  er  schon  1752  den 

Stoff  zu   seiner   dialogisc'hen    Ode  'Hermann    und  Thusnelda'   geschöpft.  53)    Deshalb 

sagte  Klopstock  auch  der  Banliet,  die  Zeitgenossen  aber  schon  das  B.  54)  Das  öfter  vor- 

kommende: die  Wunden  saugen  ist  einer  falschen  Lesart  in  Tacitus  (jerm.  7  entnommen, 
wo  man  exsugere  piagas  anstatt  extgere  las.  Solche  Züge  mochten  Schiller  'fratzenhaft' 
vorkommen:  Briefwechsel  mit  (joethe,  21    Mai   1803.  55)  Klopstock  sprach,  im  Scherz, 

den  Wunsch  aus  die  Hermannsschlacht  vor  preussischen  Truppen  im  Bodethal  aufgeführt 
zu  sehn,  wo  er  den  Schauplatz  der  V^arusschlacht  annahm:  Briefe  bei  Lappenberg  '22\K 
56)  Klopstocks  Vorschlag  ging  auf  eine  Akademie;  auch  auf  ein  deutsches  Theater  in  Wien, 
unter  der  Leitung  von  Lessing  u.  tierstenberg  hoffte  er.  57)    H.  .M.  Richter,  Geistes- 


§  153  KLOPSTOCKS  DRAMEN.     WIELAND.  407 

Nur  die  jungen  Dichter  des  Hainbundes  und  noch  mehr  die  des  Sturmes 
und  Dranges  bogrüsstcn  begeistert  Klopstocks  Spott  über  die  Regulbücher' 
und  seine  Verpocnung  aller  Nachahmerei. ^^ 

Seitdem  beschränkte  Klopstock  seine  Schriftstelleroi  in  Prosa  auf  Metrik 
und  Grammatik:  'Über  Sprache  und  Dichtkunst,  Fragmente'  (Hamburg 
1779.  80),  mit  phonetischer  Orthographie,  die  er  iudess  zuletzt  wieder  auf- 
gab; 'Grammatische  GesprsBche'  (Altena  1794),  worin  er  den  Vorrang  der 
deutschen  Sprache  vor  den  fremden  erweisen  wollte.  Historische  Aufzeich- 
nungen über  den  siebenjsehrigen  Krieg  und  die  Revolutionszeit  hat  Klopstock 
selbst  vernichtet. 

§  153. 

Zu  Klopstock  bildet  Wieland  den  vollen  Gegensatz:  sein  Wesen  und 
Dichten  ergänzte  das  was  an  jenem  einseitig  und  zu  hoch  getrieben  erschien. 
Dass  Wielands  Anfänge  sich  teilweise  an  Klopstock  anschliessen ,  ja  diesen 
noch  überbieten  wollen,  ist  nur  ein  Beweis  für  Wielands  Schwanken  und 
Ausschweifen,  das  neben  dem  entschiedenen,  von  Anfang  an  festbegründeten 
Beharren  Klopstocks  um  so  mehr  hervortritt;  erst  nachdem  er  von  der  Schwär- 
merei zu  einer  ebenso  übertriebenen  Leichtfertigkeit  übergegangen  war,  fand 
Wieland  die  Grundrichtung  seines  Geistes  in  der  Abwendung  von  alter 
Glaubens-  und  Sittenstrenge,  in  dem  Erstreben  des  einfachen  Lebensgenusses 
und  in  der  Ausübung  der  unmittelbar  n?echsten  Pflichten.  Während  Klop- 
stock mit  der  englischen  Dichtung  zu  wetteifern  suchte,  bildete  Wieland  sich 
hauptsächlich  nach  den  franzoesischeu  Schriftstellern.  Führten  Klopstocks 
Ideale  in  die  germanische  Urzeit,  so  fand  Wieland  seine  Stoffe  bald  im  Mittel- 
alter der  romanischen  Völker,  bald  in  der  Blütezeit  der  griechischen  Kultur. 
Wenn  Klopstock  seinen  Gegenständen  gegenüber  hohen  Ernst,  volle  Hingabe 
empfand,  behandelte  Wieland  seine  Helden  mit  halbem  Mitleid,  ja  mit  über- 
legenem Spott.  Klopstock  bereicherte  die  Sprache,  indem  er  ihr  Wendungen 
und  Fügungen  der  fremden  anzueignen  suchte;  Wieland  mischte  zahlreiche 
Fremdwörter  ein,  in  vertrauten  Briefen  sogar  mit  beständigen  Citaten,  wie- 
derum wesentlich  aus  Laune.  Dem  Hexameter  und  den  Odenmassen  Klop- 
stocks gegenüber  pflegt  Wieland  entweder  die  kunstvolle  Prosa  oder  die  mehr 
oder  weniger  freien  Verse,  z.  T.  in  romanischen  Strophenformen.  Auch  die 
Wirkung,    welche  beide  Dichter  ausübten,    war  von  Grund  aus  verschieden. 

«troemungeu    ^Berlin  lö75)    S.   15ö    fgg.  58)    Vgl.    Oskar    Theodor    Scheibner,    Über 

Klopstocks  Gelehrtenrepublik.     Aunaberg  1874  (Jenaer  Diss.). 


408  NEUHOCHDETTTSCnE   ZEIT.         XVIII  JATTUri.  §  153 

Riss  Klopstock  die  Jui^ond  mif  sirli  fort,  so  f^owann  Wioland  die  Ilofkroiso, 
denen  er  die  bis  diiiün  allein  beliebte  tVanzcrsische  ünterlialtungslittoratur 
durch  eine  deutsche  gleicher  Art  ersetzte.  Hielt  sich  Kloj)stock  auf  stolzer 
lld'lio,  sowohl  den  ihn  umgebenden  Diohtergenossen  gegenüber,  als  auch  im 
Verhältnis  zu  den  Grossen  der  Welt,  so  wusste  Wieland  durch  Schmiegsam- 
koit  und  Nachgiebigkeit  zu  gewinnen  und  hatte  in  früherer  und  spfcterer  Zeit 
manche  Übereilung  durch  kluges  Zurücktreten  wieder  gut  zu  machen. 

Mit  Wieland  gelangt  eine  Landschaft  wieder  zu  litterarischer  Thfetig- 
kcit,  welche  nach  langem  Stillstand  jetzt  die  Verbindung  zwischen  Obersachsen 
und  der  Schweiz  herstellte.  Er  war  in  Schwaben  geboren,'  zu  Oberholzhoim 
im  Gebiet  der  damaligen  freien  Reichsstadt  Biberach,  am  5.  September  1733. 
Von  1747  bis  174i)  erhielt  er  eine  pietistische  Erziehung  in  der  Schule  zu 
Kloster  Rergen  in  Magdeburg;  aber  seine  schon  damals  hervortretende  Zweifel- 
sucht wurde  durch  den  darauf  folgenden  Unterricht  eines  Verwandten ,  der 
an  der  Universitjpt  zu  Erfurt  Professor  war,  neu  genfehrt.  Im  Sommer  175Ü 
nach  Biberach  zurückgekehrt,  verlobte  sich  der  Frühreife  mit  einer  Cousine, 
Sophie  Gutermann,-  welche,  älter  als  er,  auf  seine  schwärmerischen  Ansichten 
durchaus  einging.  Einen  weiteren  üniversita^tsaufenthalt  in  Tübingen  von 
Hftrbst  1750  ab  benutzte  er  zur  Ausarbeitung  mehrerer  Dichtungen,  von 
denen  die  erste  groessere,-'  das  in  Alexandrinern  abgefasste  Lehrgedicht  'Von 
der  Xatur  oder  die  vollkommenste  Welt'  durch  Meier  in  Halle  (§  150,  6) 
1752  zum  Druck  befördert  wurde.  Im  Herbst  1752  folgte  Wieland  einer 
Einladung  Bodmers,  dem  er  den  von  ihm  geschiedenen  Klopstock  ersetzen 
und  zugleich  Schüler   und  Gehilfe   sein  sollte.     Um  so  mehr  ging  der  Jüng- 

§  lOo.  1)  Christoph  Martin  Wieland,  geschildert  von  J.  G.  Gruber,  Leipzig  u.  Altenburg, 
11.  1815.  16;  nenbearbeitet  als  AVielands  Leben,  in  dessen  "Werken  hg.  von  J.  G.  Gruber, 
Bd.  50-53,  Leipzig  1827—28.  —  L.  F.  Ofterdinger,  Ch.  M.  Wielands  Leben  u.  Wirken  in 
Schwaben  u.  in  der  Schweiz.  Heilbronn  1877.  —  Vgl.  auch  C.  W.  Büttitjer.  Ch.  M.  Wieland 
nach  seiner  Freunde  und  seinen  eigenen  Äusserungen  in  Raumers  Eistor.  Taschenbuch 
1839  S.  361  fgg.  —  Auswahl  denkwürdiger  Briefe  von  C.  M.  Wieland,  hg.  v.  Ludwig 
Wieland,  II,  Wien  1815.  —  Ausgewiehlte  Briefe  von  C.  M.  Wieland  an  verschiedene  Freunde 
in  den  Jahren  1751  bis  1810  geschrieben  und  nach  der  Zeitfolge  geordnet.  IV.  Zürich 
1S15.   16.  2)   In    seinen    Dichtungen    nannte    er   sie  Psyche,    Doris.    Serena,    Panthea: 

Felicia  im  Don  Silvio.  Ihr  Leben  s<-hrieb.  etwas  unzuverlässig,  Ludmilla  Assing,  'Sophie 
von  LaRoche,  die  Freundin  Wielands',  Berlin  1S5J).  Über  ihre  schriftstellerische  Thaetig- 
keit  8.  Anm.  38.  Sie  suchte  die  Schriftsteller  ihrer  Zeit  mit  sich  und  untereinander  zu 
verbinden  und  auszugleichen,  bis  zum  Überdrusse  für  G(Ptbe  u.    a.  3)  Ebenfalls  17.Ö0 

verfasst.  erschien  bereits  1751  zu  Halle.  Wielands 'Lobgesang  auf  die  Liebe"  in  Hexametern 
und  Klopstockischeu  Wendungen.     Leichter  verständlich  sind  die  in  jambischen  Fünflüsslern 


§  153  WIELANDS  JUGEND.  409 

ling  ganz  auf  die  Wünsche  Bodmers  und  seiner  Freunde*  ein,  als  sein 
Vcrloübnis  sich  lockerte  und  Ende  1753  geloest  wurde:  er  suchte  Trost  in 
rehgioesen  Gefühlen.  Er  dichtete  in  Hexametern  eine  Patriarchade  'Der 
gepryfte  Abraham',  Zürich  1753,''  und  ebenfalls  1753  'Briefe  von  Verstorbenen 
an  hinterlassene  Freunde",  diese  nach  dem  Vorbild  der  englischen  Schrift- 
stellerin Rowe;''  er  verfasste  in  Prosa  Hymnen"  1754  und 'Sympathien'  1756, 
sowie  'Empfindungen  eines  Christen'  1757.'  Auch  in  den  litterarischen  Käm- 
pfen stellte  er  sich  an  Bodmers  Seite:  er  pries  Bodmers  Noah  (§  149,  29), 
er  empfahl  dessen  Dramen  von  Joseph,  er  besorgte  eine  Sammlung  der 
Zürcherischen  Streitschriften  (ebd.  13)  und  brachte  1755  die  Schrift  Bodmers 
'Edward  Grandisons  Geschichte  in  Görlitz'  zu  Berlin  in  den  Druck ;  ^  er 
schrieb  endlich  in  dem  gleichen  Jahre  eine  der  heftigsten  Kritiken  über 
Schoenaich:  'Ankündigung  einer  Dunciade  für  die  Deutschen  nebst  dem  ver- 
besserten Hermann'.  Der  Epopoee  Schoenaichs  stellt  er  hier  Proben  einer 
eigenen  hexametrischen  Dichtung  von  Arminius  entgegen,  worin  er  nament- 
lich Lohensteins  Roman  benutzt  hat;  doch  ist  das  bereits  1751  an  Bod- 
mer  übersandte  Werk  unvollendet  geblieben.^  Die  freche  Lüsternheit  in 
den  Gedichten  von  Rost  und  Lamprecht   hatte  er  schon  1752  angegriffen;  ^^ 

1757  wandte  er,  weit  über  das  Ziel  hinausschiessend,  den  gleichen  Vorwurf 
gegen  Uz  (§  150,  37).  Darüber  traf  ihn  der  ernste  Tadel  Lessings  und 
seiner  Freunde, ^^  und  deren  Urteil  wirkte  je  länger  je  mehr  auf  Wieland 
einJ^  Er  hatte  auch  bereits  im  Juni  1754  Bodmers  Haus  verlassen  und  sich 
der  Erziehertheetigkeit  ^^  zugewandt,  zunächst  in  Zürich,  von  1759  an  in  Bern. 

1758  veröffentlichte  er  den  'Plan  einer  Akademie  zur  Bildung  des  Verstandes 
und  Herzens  junger  Leute', '^*  den  er  bereits  1756  an  den  Markgrafen  Karl 

gedichteten  'Erz«hlungen',  Tübingen  1752,    nach    Thomson.  4)   Über    sein    Verhältnis 

zu  diesem  Kreise  s.  besonders  L.  Hirzel,  Wieland  und  Martin  n.  Regula  Kiinzli,  Leipzig  1891. 
5)  LB.  2,  875.  6)  Geb.  Singer,  auch  von  Klopstock  gepriesen:  ihre  Schrift  Friendship 

in  death  war  1728  erschienen,  1745  ins  Deutsche  übersetzt  worden.  7)  LB.  .S,  103  fgg. 

1758  'Empfindungen  des  Christen',  noch  spseter  'Psalmen'  betitelt.  8)  Auszug  bei  Hirzel, 

Künzli  78  fgg.  9)    Gedruckt,   soweit   es  hslich  vorlag,   von   Muncker   in   Seuff'erts  Lit.- 

denkm.   6,    Heilbronn    1882.  10)    Sehreiben    au    Herrn   **    von    der    Würde    und   der 

Bestimmung  eines  schoenen  Geistes,  Zürich  1752;  er  bereute  diese  Ausfälle  im  Teutschen 
Mercur  1775,  2,  82.  11)  Nicolai,  Bibliothek  der  schoenen  Wiss.  1757  I  2  S.  415  fgg. 

Lessing    im  Litteraturbrief  7   fgg.  12)  Schon    17.58    wollte   Wieland    ausdrücklich    die 

Anschuldigungen  gegen   Uz  zurücknehmen:  Sauer,  Uz  LH.  13)  Ein  bei  seinem  Unter- 

richt nachgeschriebenes  Heft  'Geschichte  der  Gelehrtheit'  hat  Hirzel,  Frauenfeld  181(1  heraus- 
gegeben. Seine  Abschiedsrede  an  die  Züricher  Zoeglinge  s.  Vjschr.  II  585  fgg.         13a)  Schnorrs 


JKi  NEUlKM'lllJEUTSCHE  ZEIT.        XVIll  .lAIIKII.  5?  If).'} 

Friodricli  nach  Kailbruhe  luitgctoilt  liatic."  Ijcssing,  der  darüber  miHs^ünstif^ 
urteilte,'"'  wies  auch  nach  chiss  Wiehmds  Trauerspiel,  ijady  Johanna  Gray, 
welches  er  1758  in  Winterthur  hatte  autiuiiren  und  in  Zürich  drucken  lassen, 
grossenteils  einer  englischen  Vorlage  von  Nicholas  Itowe  entlehnt  sei.'"  Ein 
anderes,  Clenientine  von  l'orretta,  175'J,  brachte  nur  einen  lloinan  von 
Uichardson  in  dramatische  Form.  Das  gleichzeitig  erschienene  Epos  Cyrus', 
wovon  indessen  nur  5  Gesänge  tortig  wurden,  war  zur  Verherrlichung  Fried- 
richs des  Grossen  bestimmt.  Aus  der  (Jyroptedie  Xenophons,  den  Wieland 
jetzt  über  l'lato  stellte,  war  schon  vorher  eine  Episode  von  ihm  in  Prosa  be- 
handelt worden:  Araspes  und  Pauthea,  eine  moralische  Geschichte  in  einer 
Reihe  von  UnteiTedungen';  sie  erschien  17G0.  Er  war  zu  einem  Wendepunct 
seines  Lebens  und  seiner  schriftstellerischen  Thtctigkeit  gelangt:  das  bisher 
Veröffentlichte  vereinigte  er  als  Sammlung  ])rosaischer  Schriften'  1758,  'Poe- 
tische Schriften  1702.  Zu  Ostern  1700  verUess  der  Dichter  die  Schweiz, 
wo  er  noch  mehrere  platonische  Liebesverhältnisse'^  mit  meist  älteren  Damen, 
zuletzt  mit  der  hässlichen,  aber  geistreichen  Julie  von  Boudeli  "*  in  Bern, 
angeknüpft  hatte.  Er  kehrte  nach  seiner  Vaterstadt  zurück,  um  hier  die 
Stelle  eines  Kanzloidirektors  zu  vcrsehu.  In  der  Nsehe  von  liibcrach,  auf 
Scldoss  Warthausen,  sah  er  1702  seine  Jugendgcliebte  als  Gattin  von  La 
Roche  wieder,  der  dem  ehemaligen  kurmainzischen  Minister  Graf  Stadion  als 
dessen  Geschäftsführer  dorthin  gefolgt  war  und  wie  dieser  durchaus  frei- 
geistige Ansichten  hegte.'''  Wielaud  wurde  durch  den  Verkehr  mit  dem 
Grafen  und  seiner  Umgebung  völlig  umgewandelt.  War  schon  früher  Shaftes- 
burys  Virtuoso  ihm  bewundernswert  erschienen,  so  sah  er  jetzt  solche  Welt- 
männer vor  Augen  und  suchte  sich  ihre  Freiheit  im  Denken  und  Reden 
anzueignen.  Der  Spott,  den  Stadion  über  Religion  und  Moral  ergoss,  stimmte 
überein  mit  den  Eindrücken,  welche  Wieland  aus  der  reichen,  meist  auslän- 
dischen Büchersammluug  des  Grafen  empfing:  Voltaire,  Oi-ebillon,  Grecourt 
wurden  zunächst  auch  seine  Muster,  und  er  bemühte  sich  nicht  nur  ihre 
Glätte,  sondern  auch  ihre  Üppigkeit  wettzumachen.  So  namentlich  in  den 
Comischeu  Erzaehluugen',  o.  0.  1705,  worin  er  z.  T.  nach  Lucian,  griechische 


Arch.    XI    :^77    fgg.  14)    H.    Fun<k.    Beitrsge    zur    Wielandbiographie.    Freiburg    n. 

Tübingen  I.SH1'.  15)  Lit.br.  9—14.  16)  Lit.br.  6:3.  64.  17)  Vgl.  Scherer  Anz. 

zur  Zs.  f.  dt»ch.  Altertum  19.  25  fgg.  und  Z«.  f.  d.  A.  20,  Sbb  fgg.  18)  Ed.  Bodemann. 

.J.  V.  Bondeii    und    ihr   Freundeskreis.    Hannover    1S74:  auf  S.  ;W4  nimmt  Julie  norh   1764 
Wielands    offenherzige    Unklugheit'    in    Schutz.  11))    Über    ihn    und  seine.  1771   ohne 

seinen  Namen  erschienenen.    Briefe  über  das  .Münchswesen'  s.  Goethe  i).  u.  W.     XIII  Buch. 


§  152  WIELANDS  MANNESJAHIIE.  411 

Göttergeschichten  in  freien  Versen  wiedergab:  mehrere  darunter  hat  er  spaeter 
selbst  ausdrücklich  wegen  ihrer  Frechheit  verworfen.  Zunächst  aber  rühmte 
er  sicli  seines  Fortschrittes  in  der  musicaHschen  Behandkmg  von  Vers  und 
Sprache;^"  und  in  der  That  fand  er  von  nun  an  eine  Anerkennung,  die  sich 
namentUch  durch  die  Übersetzung  seiner  Schriften  in  das  Franztjesische  kund 
gab.  Nadine  1769,  Combabus  1770,  sclilossen  sicli  an.  Ebenso  unanständig, 
aber  doch  nicht  in  gleicher  Weise  auf  die  Erregung  der  Lüsternheit  be- 
rechnet, war  die  Geschichte  von  Biribinker,  welche  er  in  den  Roman  'Der 
Sieg  der  Natur  über  die  Schwärmerey  oder  die  Abentheuer  des  Don  Sylvio 
von  Rosalva'  einschob  (Ulm  1764):  wie  im  Don  (^uixote  der  Held,  dem  die 
Ritterbücher  den  Kopf  verdreht  haben,  wird  liier  ein  Opfer  der  Feenmierchen 
durch  die  Wirklichkeit  beschsemt.  Deutlich  stellt  Wieland  seine  eigene  frühere 
Überschwänglichkeit  und  spsetere  Ernüchterung  dar.  Den  gleichen  Gegenstand 
hatte  er  in  dem  bereits  1761  und  1762  geschriebenen,  aber  erst  1766 — 67 
erschienenen -^ '  Roman  'Geschichte  des  Agathen'  behandelt,'^-  den  er  spteter 
mehrfach  umarbeitete:  an  der  ersten  Fassung--^  befriedigte  ihn  weder  der 
Stil ,  noch  die  etwas  unzusammenhängende  Ordnung  der  Begebenheiten. 
Immerhin  begründete  Wieland  mit  diesem  Roman  eine  neue  Art  der  Unter- 
haltungslitteratur,  indem  er  auf  Entwickelung  der  Charactere,  nicht  auf 
Hseufung  wunderbarer  Ereignisse  ausging.  Gleichzeitig  erwarb  er  sich  ein 
wesentliches  Verdienst  durch  seine  grossenteils  in  Prosa  abgefasste  Über- 
setzung mehrerer  Dramen  von  Shakespeare,  welche  er  als  'Shakespears  Thea- 
tralische Werke'  Zürich  1762 — 66  herausgab. ^^  Obschon  in  Prosa  abgefasst, 
obschon  nur  lückenhaft  und  mit  tadelnden  Anmerkungen  vom  franzoesischen 
Standpunct  aus  begleitet,  hat  diese  Übersetzung  doch  zuerst  den  grossen 
englischen  Dramatiker  der  Menge  der  deutschen  Leser  zugänglich  gemacht. ^^ 
Erwachsen  war  sie  aus  einem  Anlass,  den  Wieland  in  seiner  Vaterstadt  er- 
hielt: durch  sein  st;edtisclies  Amt  zugleich  ^zur  Leitung  der  sta^dtischen  Bühne 
bestimmt,  fügte  er  für  diese  aus  Sommernachtstraum  und  Sturm  ein  neues 
Stück  zusammen.-^''     Und  hier  in  Biberach  begründete  er  auch,    nach  neuen 

20)  Vgl.    Sittenberger    in    der    Vierteljahrsschrift    f.    Lit.gesch.    IV    iJSl    t'gg.      406    fgg. 

21)  Frankfurt  u.  Leipzig  sind  für  Agathon  wie  sonst  öfter  als  Verlagsort  anstatt  Zürich  angegeben, 
weil  die  hier  bestehende  geistliche  Censur  das  Buch  verboten  hatte.  22)  Lob  Leasings: 
Dramaturgie  St.  69.  23)  Daraus  LB.  'i,  109  fgg.  24)  Diese  Übersetzung  ist  von 
J.  J.  f]schenburg  (§  155,  74a)  vervollständigt  und  1775—1784.  ^1798— 1806  neu  bearbeitet 
worden:  s.  Seutt'ert  in  Sehnorrs  Archiv  L».  1^29  tgg.;  Schüddekopf  ebd.  498  fgg.  25)  Lessing 
Dramaturgie  Lö.         26)  Vgl.  Sentfert  in  Schnorrs  Archiv  K».  -ij-,  wo  weiter  auf  Ofterdiuger 


412  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVIII  JAHRH.  §  153 

Verirrungen,  zu  Ende  1705  oin  glückliches  Familienlehon:  seine  Frau  las 
tVoilich  seine  Schritten  nicht.  Die  neugewonnene  (leinütsruhe,  gleichweit  enl- 
fernt  von  der  ehemiiligen  religid's-sittlichen  Überspannung  und  von  der  in- 
zwischen überwundenen  sinnlichen  Zügellosigkeit,  gab  sich  zunächst  in  Wio- 
lands  (ledichteu  kund:  in  dem  heroisch-coniischen  Gedicht  von  Idris'  und  in 
Musarion  oder  die  Philosophie  der  Grazien',  beide  zu  Leipzig  17158  erschie- 
nen; die  halb  in  Prosa  abgefasste  P]rza;hlung  'Die  Grazien'  folgte  1770,  'der 
neue  Amadis'  1771,  und  mit  dem  letztgenannten  begann  Wieland  in  Stoff 
und  Form  sich  der  älteren  romanischen  Dichtung  anzuschliessen.  Inzwischen 
hatte  er  die  unruhigen  und  unsichern  Verhältnisse  in  seiner  Heimat  verlassen 
und  war  einem  Rufe  an  die  kurmainzische  Universität  Erfurt  zu  Ostern  1769 
gefolgt.  Er  sollte  hier  Philosophie  vortragen;  seine  Auffassung,  welche  sich 
gegen  die  Naturanpreisungcu  Rousseaus  ablehnend  verhielt,  legte  er  nieder 
in  der  an  Voltaire  erinnernden,  ironischen  Schrift  'ßeytrsege  zur  geheimen 
Geschichte  des  menschlichen  Verstandes  und  Herzens.  Aus  den  Archiven 
der  Natur  gezogen",  Leipzig  1770,  11;^'  waehrend  er  gleichzeitig  in  ' l'ioxfKirrj^ 
luuvütisvo-;  oder  die  Dialogen  des  Diogenes  von  Sinope.  Aus  einer  alten 
Handschrift'  in  der  Weise  Sternes-'*  eine  milde  Menschlichkeit  lehrte.  Gegen 
die  Priester  richtete  sich  sein  anonym  erschienener  Roman  Der  Goldne  Spiegel 
oder  die  Koenigc  von  Scheschian',  Leipzig  1772,  IV.^''  Umsonst  hoffte  er 
damit  die  Gunst  Josephs  II  zu  gewinnen;  dagegen  empfahlen  ihn  seine  Leh- 
ren am  Weimarischen  Hofe:  er  ward  als  Erzieher  des  jungen  Herzogs  Karl 
August  im  Herbst  1772  dahin  berufen^"  und  blieb  in  Weimar  auch  nach 
Vollendung  seiner  Aufgabe  1775,  in  naher  Bezieliung  besonders  zur  Herzogin 
Anna  Amalia.^'  Bald  nach  seiner  Ankunft  in  Weimar  hatte  er  den  Teut- 
schen  Mercur  begründet  (§  140,  44)  und  liess  in  dieser  Zeitschrift  seine 
Werke  meist  zuerst  erscheinen.  Mehrmals  erhielt  er  den  Auftrag  zu  Sing- 
spielen für  die  Hoffeste  Texte  zu  verfassen,^-  welche  Schweitzer  componierte: 
so  dichtete  er  1772  Aurora',  1773  Alceste'  und  die  'Wahl  des  Hercules', 
1778     Rosamund^    deren    Misserfolg    in    Mannheim^-'    ihn    freilich    von    der 

in  ileu  Wirtemb.  Vierteljahi-sbeften  1883  verwieseu  wird.  27)  Scherer  im  Ga'tbejahrbufh 
1S8(>.  S.  ;*8  zeigt  dass  (jd-tlie  für  seineu  Satyios  maucbes  daraus  entuoniuieu  hat.  28)  Spalter 
uaunte  er  diese  Schritt  'Nacblass  des  Diogenes  v.  S."  Über  die  Nachahmung  Sterues  s. 
A.  Jlager,  .labresber.  der  Staats-Oberrealscbule  zu  Marburg  a.  D.  1890.  29)  Als  Anhang 

dazu  ist  anzusehn  'Die  (iesebichte  des  Philosophen  Daniscbiueude",  im  Teutscben  Mercur  1775. 
30)   B.  Seuftert,    Vierteijschr.   I  ;54-Mg.  H\)  Er  feierte  sie  als  Olympia.  32)   177;') 

schrieb  er  einen  'Versuch   über  das  deutsche  Singspiel    [Werke  34,   71].  33)  Er  musste 


§  153  WIELANDS  GREISEN  ALTER.  418 

Bühnendichtung  abschreckte.  An  Alceste  hatte  sich  bereits  eine  vielseitige 
Befehdung  des  Dichters  angeknüpft.  Wie  er  schon  den  Jüngern  Klopstocks 
im  Göttinger  Hainbund  als  'Sittenverderber'  gegolten  hatte,-'^  so  ergrimmte 
nun  Goethe  über  die  Selbstgefälligkeit,  mit  welcher  Wieland  seine  Behand- 
lung der  Sage  über  die  der  antiken  Dichter  erhoben  hatte,  *^  und  richtete 
gegen  ihn  die  Farce  'Götter,  Helden  und  Wieland',  welche  Lenz  1774  zum 
Druck  beförderte.^"  Auch  andere  Jugendgenossen  Gcethes  stürmten  gegen 
Wieland  an.^"  Wielaud  glaubte  sich  sogar  von  der  alten  Freundin,  Frau 
LaRoche,''**  mit  welcher  er  1771  in  Ehrenbreitstein  ein  empfindsames  Wieder- 
sehn gefeiert  hatte,  und  von  den  Brüdern  Jacobi  verlassen.  Als  aber  Goethe 
im  November  1775  selbst  nach  Weimar  übersiedelte,  soehnte  er  sich  bald 
mit  ihm  völlig  aus  und  nun  suchten  auch  die  anderen  Dichter  des  Sturmes 
und  Dranges  Frieden  bei  ihm.  Seitdem  fand  Wieland  an  Goethe  einen  teil- 
nehmenden Beförderer  seiner  Poesie.  An  die  älteren  Dichtungen  aus  der 
griechischen  Mythologie  schloss  sich  noch  der  verklagte  Amor  an,  1774; 
mittelalterliche  Stoffe  behandelte  er  in  'Der  Mönch  und  die  Nonne  auf  dem 
Mittelstein'  1775,  'Liebe  um  Liebe'  ('Gandalin')  177G,  'Geron  der  Adeliclr 
und  'Das  Sommernifelirchen  oder  des  Maulthiers  Zaum'  1777,  'Hann  und 
Gulpenheh',''^  'Der  Vogelsang  oder  die  drei  Lehren',  'Die  Wünsche  oder 
Pervonte'  1778,  'Oberen'  1780,  'Clelia  u.  Sinibald'  1783.  Yor  allem  Oberen 
erhält  den  Ruhm  des  Dichters,^"  welcher  den  wie  sonst  aus  der  Bildiotlieque 
des  Roinan.o  geschöpften  Stoff*'  mit  dem  Streite  zwischen  Oberen  und  Tita- 
nia  nach  Shakespeares  Sommernachtstraum  verband  und  nach  freilich  üppiger 
Schilderung  der  Liebesversuchungen  doch  schliesslich  die  Treue  den  Sieg 
davon  tragen  Hess.*-     Auch  zum  Prosaroman  in  der  Weise  des  Agathen  griff 

die  Oper  mehrmals  umarbeiten;  als  er  endlich  zur  Autführung  nach  Mannheim  gereist  war, 
wurde  diese  durch  den  Tod  des  Kurfürsten  von  Baiern  verhindert:  s.  Seutfert.  Abderiten 
16  fgg.  34)   (Tcgen    solche  Vorwürfe    verteidigte   sich  Wieland  iu  den   Unterredungen 

zwischen  W**  und  dem  Pfarrer  zu  ***,  T.  Merc.  1775.  35)  Teutsch.    Mercur  177;3.  1  1.  2. 

30)  Sehr  geschickt  zeigte  Wielaud  die  Farce  an  :  T.  Merc.  1774,  2,  351.  37)  J.  v.  .Sivers 

'Die  Sturmflut  gegen  Wieland'  in  seiner  Sammlung  M.  M.  K.  Lenz'  (§  159,  38).  38)  Kben 

hatte  er  deren  firstlingsschrift  bevorwortet:  'Geschichte  des  Fraeuleins  von  Sternheim',  Lpz. 
1771:  wie  er  auch  ihre  letzte  herausgab:  'Melusinens  Sommerabcmle',  Halle  l!SÜ6.  Sie 
starb  1807.  39)  K.  K<>-hler  Schuorrs  Archiv  3,  416.  40)    (ia-thes  Lob  in   ciuem 

Briefe  an  Lavater,  bei  Hirzel  S.  89.  Doch  tadelt  er  die  Mängel  der  Motivierung  bei  Ecker- 
mauu:    3    März    1.S30.  41)   Düntzer    in    der    Erlseuterung   des   Oberon,    ^Leipzig  1876, 

zeigt  dass  W'ieland  die  arabische  Geschichte  von  Joseph  fils  de  Jacob  et  de  Ja  princeftse 
Zuleika  (Bihl.  def  Romano  177S)  stark  benutzt  hat.  Vgl.  weiterhin:  M.  Koch,  Das 
Quelleuverhältuis    von     Wielauds    Oberon,     Maiburg     1879.  42)    LB.     2,    883    fgg. 


114  NEriKK'IIDElITSClIE   ZEIT.         XVIII  JAIlItll.  §154 

Wieland  meiirfach  zurück.  In  den  'Abderiten",  die  er  1774 — 80  im  T«nit- 
sclien  Morcur  erscheinen  liess,"*''  verspottet  er  das  deutsche  Spiessbürgertuni, 
mit  Eintit'chtunjj^  manches  erlebton  Zuges. *^  I*sychok>gisclic  Probleme  /umal 
der  Sellisttäuschung  behandelt  er  in  der  kürzeren  Erziehlung  ßonifazius 
Schleicher^  177G,  in  der  (Jeheimen  Geschichte  des  Peregrinus  Proteus"  17S.S..S9, 
im  'Agathodteinon'  17!H).*'*  Ein  liild  des  griecltischen  Geisteslebens  gibt  er 
in  'Aristipp  uud  einige  seiner  Zeitgenossen',  Leipzig  1800 — 1802;  und  wie 
hier,  gebraucht  er  die  Briefform  auch  in  Menander  und  (rlycerion'  1808, 
Krates  und  Jlipparchia'  1804.^"  Indem  er  allniiehlich  Lust  und  Kraft  zu 
eigenen  Erfindungen  schwinden  fühlte,  wandte  er  sich  zu  feinfühligen,  wenn 
aucli  etwas  weitschweifigen  Übersetzungen  der  alten  Scliriftsteller,  die  ihm 
besonders  zusagten:  llorazens  Briefe,  Dessau  1782,  Lucians  sämtliche  Werke, 
Leipzig  1788,  Ciceros  Briefe,  Zürich  1808  (von  Graster  vollendet  1821). 
Seine  sämtlichen  Werke  sammelte  er  Leipzig  1794 — 1802;*"  ein  unvor- 
sichtiges Wort  in  der  Vorrede,  dass  er  mit  dem  Beginn  des  goldenen  Zeit- 
alters zu  dichten  angefangen  habe  und  nun  auch  dessen  Untergang  erlebe, 
zog  ihm  eine  witzige,  aber  schonungslose  Antwort  von  A.  W.  v.  Schlegel  zu.*** 
Doch  lebte  er  tha^tig  und  heiter  noch  in  das  neue  Jahrhundert  hinein,  unge- 
stocrt  auch  von  den  grossen  Weltereignissen,  die  er  vielfach  richtig  vorausge- 
deutet*'' hatte.  1798—1808  lebte  er  auf  einem  Landgut  in  Osmanstjedt,  wo 
er  auch  sein  Grab  bestellte.  Er  starb  zu  Weimar  am  20.  Januar  1818;  ein 
Nachruf  Goethes'"'  zeichnete  sein  Bild  mit  liebevollen  Zügen. 

§  ir^4. 

Bereits  sind  mehrfach  die  Wirkungen  der  Kritik  zur  Sprache  gekom- 
men, welche  der  groesste  deutsche  Kunstrichter  geübt  und  durch  welche  er 
die  gesamte  litterarische  Tha-tigkeit  seiner  Zeit  umgestaltet  hat.  Lessing 
hat  den  Streit  zwischen  Gottsched  und  den  Zürichern  beendet,  indem  er  bei- 
den Parteien  die  Unzulänglichkeit    ihrer  Ansichten    auf   das  klarste  und  mit 


43)  LB.  ;>,  141  i'gg.  44)  B.  Sputffi-t.  Wielands  Abderiten.  Berlin  1878.  zeigt  dass  Wieland 

namentlich  Biberacher  und  Mannheimer  Erfahrungen  verwertete.  Enripides  in  Abdera 
stellt  Lessings  Beziehungen  zum  .Mannheimer  Theater  dar.  Vgl.  auch  §  l.öH.  25.  .50. 
45)   Damit    crüttncte   ^^'iclanll    sein  'Attisches  Museum".   Zürich   1796 — 180.!.  46)  Ver- 

wandte Erziehluugcn  von  Liebe  und  Freundschaft  verband  er  im  Hexameron  von  Knsenhayn. 
Lpz.    1805.  47)  Spfetere    Ausgaben    von    (trüber    1818—28.     1839.    1840.      1853—58; 

von   Diintzer.   Berlin  (Hempel).  48)  'Citatio  edictalis',  Athena-um   1799.     LB.  3,  1101. 

49)  Vor  allem  erkannte  er  früh  die  (Tni-sse  Napoleons,  der  ihn  dafür  in  Weimar  1H08 
auszeichnete.  50)   LB.  H.  (j47  fgg. 


§  154  LESSING.  415 

schlagendem  Witze  zeigte.  Er  hat  den  unberechtigten  Ruhm  und  Einfluss 
von  Dichterlingen  und  Krittlern  wie  Lange  und  Klotz '  zu  nichte  gemacht  und 
damit  Andern  eine  heilsame  Lehre  gegeben.  Er  hat  die  überschwängliche 
Bewunderung  Klopstocks^  auf  ein  richtiges  Mass  zurückgeführt  und  Wieland 
auf  den  Weg  gewiesen,  der  seinem  innersten  Wesen  entsprach ,  und  er  hat 
es  dennoch  auch  verstanden,  diese  beiden  Dichter  durch  volle  Würdigung 
ihrer  Vorzüge  zu  Freunden  zu  gewinnen.  Erscheint  in  diesen  beiden  Gremüt 
und  Einbildungskraft  verkörpert,  so  zeigt  Lessing  den  Verstand  in  hoechster 
Kraft:  so  sehr  dass  er  selbst  das,  was  sonst  noch  zum  Dichter  notwendig  ist, 
durch  ernste,  unablässige  Arbeit  zu  ersetzen  vermochte.^  Was  die  Kritik 
Lessings  so  unwiderstehlich  machte,  war  nicht  nur  ihr  scharfer,  klarer  Ausdruck, 
nicht  nur  das  Ungestüm  und  die  Wucht,  mit  der  er  angriff,  und  die  Beharr- 
lichkeit, die  ihn  nicht  ruhen  liess  bis  er  völlig  gesiegt  hatte.  Es  war  vielmehr 
seine  Art  alle  persoenlichen  Streitigkeiten  zu  sachlichen  Untersuchungen  zu  ver- 
tiefen, und  von  einzelnen  litterarischen  Gegenständen  ausgehend  die  wichtig- 
sten allgemeinen  Grundsätze  festzustellen.^  Oberfläcliliche  Ähnlichkeiten  ver- 
führten ihn  nicht,  er  strebte  nach  genauer  Unterscheidung  aus  Innern  Gründen. 
Der  Litteratur  seiner  Zeit  gegenüber  begnügte  er  sich  nicht  mit  der  Erörte- 
rung ihrer  nächsten  ausländischen  Muster:  er  drang  wirklich  zur  Antike 
zurück,  deren  richtige  Auffassung  er  siegreich  verfocht.  Dies  Streben  nach 
Wahrheit  galt  ihm  mehr  als  der  Besitz  der  Wahrheit,  und  er  brachte  daher 
in  den  Grundfragen,  die  das  geistige  Leben  seiner  Zeit  bewegten,  Dinge  zur 
Sprache,  woran  Andere  scheu  vorüber  geeilt  waren.  Die  Unruhe,  die  ihn 
trieb  und  mit  welcher  er  den  allgemeinen  Fortschritt  mächtig  förderte,  liess 
ihn  freilich  auch  in  seinen  Lebensverhältnissen  keine  volle  Befriedigung  em- 
pfinden und  warf  über  die  letzten  Jahre  seines  nicht  hochgekommenen  Lebens  ^ 
einen  tiefen  Schatten. 

§    154.      1)  S.  Anm.  10.  2)  F.  Muncker,  Lessings   perscenliches  u.  litterarisches  Ver- 

hältnis  zu  Klopstock,    Fkf.  a.   M.    1880.  3)  Vgl.    die   berühmte   Selbstschilderung  am 

Schluss  der  Hamburg.  Dramaturgie.  LB.  3,  230  fgg.  4)  Dies  meint  das  von  Friedrich 

Schlegel  ausgesprochene  Urteil,  dass  Lessings  Kritik  eine  productive  sei.  5)  Die  ersten 

biographischen  Nachrichten  gab  sein  Bruder  Karl  (jOTTHELF  Lessing  (1740  geb.,  Dichter 
von  Schauspielen,  die  1778 — 80  erschienen):  'Gr.  E.  Leben  nebst  seinem  noch  übrigen  litte- 
rarischen Nachlasse",  Berlin  1793—95.  III.  Eine  allseitige  Würdigung  Lessings  und 
damit  das  erste  Beispiel  einer  wissenschaftlichen  Dichterbiographie  überhaupt  bot  Th.  W. 
Danzel,  'Lessing,  sein  Leben  und  seine  Werke',  fortgesetzt  von  G.  E.  Guhrauer,  II,  Lpz. 
18.50  fgg.  2.  Aufl.  von  Maltzahn  u.  Boxberger,  Berlin  1880.  Danach  A.  Stahr,  Berlin  1859: 
J.  Sime,  London  1877,  deutsch  bearbeitet  von  A.  Strodtmann.  Berlin  1878;  H.  Zimmern, 
Wackernagel,  Litter.  Geschichte  U.  28 


41G  NEUHOrilDEUTSCHE  ZEIT.         XVIII  .TAH IM I.  §  \'>-\ 

GoTTHOLi)  Ei'iiKAiM  Lkssino  War  als  der  Sohn  eines  Predigers  zu  Ka- 
men/ in  der  Lausitz  am  22.  Januar  1729  geboren.  Früh  zeigte  sich  seine 
brennende  Lernbcgierde,  welche  ihm  auch  auf  der  Fürsrenschule  zu  Meissen 
die  Arbeit  zum  Spiel  machte.  Seit  Herbst  1746  Leipziger  Student,  ging  er 
bald  von  den  Büchern  zu  einem  angeregten  Leben  mit  den  Schauspielern  der 
Neuberschen  Tru})pe  über.  Wegen  einer  Bürgschaft  für  solche  Freunde 
musste  er  1748  Leipzig  verlassen  und  begab  sich  nach  Berlin,  wo  er  durch 
seinen  Freund  Mylius  (§  148,  (J.S)  journalistische  Verwendung  fand,"  auch 
von  VoUaire  in  einem  nicht  eben  säubern  (xcldprocess  als  Übersetzer  gebraucht 
ward."  1752  erwarb  er  in  Wittenberg  den  Magistcrtitel.  Erst  1755  verliess 
er  Berlin  und  trat  1756  eine  Stolle  als  Reisebegleiter  eines  jungen  Leipzigers 
an.  Im  Begriff  nach  p]ngland  über  zu  gohn,  wurden  sie  durch  den  Aus- 
bruch des  Kriegs  zur  Rückkehr  veranlasst.  Um  sein  ausbedungenes  Honorar 
gerichtlich  zu  erstreiten,  blieb  Lessing  ^^unsechst  in  Leipzig  und  fand  hier  in 
Ch.  E.  v.  Kloist,  der  bei  der  preussischen  Besatzung  stand,  einen  männlich 
liebenden  und  geliebten  Freund.  Im  Mai  1758  kehrte  er  nach  Berlin  zurück. 
Er  begründete  in  den  Briefen  die  neueste  Litteratur  betreffend'  (Berlin  1759 
bis  1705),  die  er  sich  an  einen  verwundeten  Offizier,  eben  Kleist,  gerichtet 
dachte,  ein  kritisches  Organ  von  schneidender  Schärfe,  aber  auch  von  all- 
seitiger Wirkung.  Doch  er  selbst  beteiligte  sich  daran  kaum  noch,  seitdem 
er  Ende  1760  als  Secretter  zu  General  von  Tauentzien  nach  Breslau  gegangen 
war.  Inmitten  des  bewegtesten  Kriegs-  und  Cfarnisonslebens  reiften  seine 
Hauptwerke.  So  durfte  er  hoffen,  als  er  1765  wieder  nach  Berlin  kam, 
dringend  empfohlen  durch  hochgestellte  Freunde,  von  Friedrich  dem  Grossen 
als  Bibliothekar  angestellt  zu  werden.  Der  Koenig  war  jedoch  von  früher 
her  durch  Voltaire,  der  bei  Lessing  unredliche  Absichten  auf  ein  von  ihm 
noch  nicht  veröffentlichtes  Werk  vermutet  hatte,  gegen  ihn  eingenommen  und 
waehlte  wiederum  einen  Franzosen,^  wobei  durch  Verwechselung  noch  dazu 
ein  völlig  Untüchtiger  die  Stelle  erhielt.  Ein  Lebensplan  Lessings  war  ge- 
London 1878,  deutsch  von  Claudi,  Lpz.  1879;  Düntzer,  Leipzig  1882.  Jetzt  abschlieHsend : 
Erich  Schmidt.  'Lessing.  Geschichte  seines  Lebens  und  seiner  Schriften',  Berlin  1884. 
188G — 92.  6)  Bei  der  Vossischen  Zeitung,  zu  welcher  er  von  1751  ab  auch  eine  Beilage 
'Das  Neueste  aus  dem  Reiche  des  Witzes'  herausgab.  Mit  Mylius  zusammen  veröft'entlichte 
er  'Beytrsege  zur  Historie  und  Aufnahme  des  Theaters',  Stuttgart  1750,  und  allein:  'Thea- 
tralische Bibliothek",  IV,  Berlin  1754 — 58,  meist  Übersetzungen.  7)  Voltaires  'Kleinere 
historische  Schriften'.  Kostock  1752  sind  vermutlich  auch  von  Lessing  übersetzt:  s. 
B.  A.  Wagner,  Lessingforschungen,  Berlin  18«1.  Neudruck  durch  Erich  Schmidt,  Berlin  1892. 
8)  Auch  Winckelmann  war  dem   Kcenige    vorgeschlagen,    aber    durch    ein    allzu    niedriges 


§  154  LESSINGS  LEBEN.  417 

scheitert,  und  diese  Enttteuscliung  hat  ihn  von  Preussen,  das  er  bis  dahin 
als  zweite  Heimat  hatte  ansehu  dürfen ,  völHg  abgewandt.  Ein  neuer  Fehl- 
schlag seiner  Hoffnungen  stand  ihm  bevor.  Er  Hess  sich  für  das  Hamburger 
Theater  gewinnen,  welches  durch  eine  Gesellschaft  von  Kunstfreunden  über- 
nommen und  mit  vorzüglichen  Isj-äften  besetzt  wurde:  Lessing  verpflichtete 
sich  wenigstens  über  die  Leistungen  dieser  Bühne  regelmtessigen  Bericht  ab- 
zustatten und  siedelte  im  April  1767  nach  Hamburg  über.  Allein  der  Mangel 
an  einheitlicher  Leitung,  noch  mehr  die  geringe  Geschmacksbildung  des 
Publicums  führten  das  Unternehmen  bald  dem  Untergange  zu.  Ebenso  brachte 
eine  mit  dem  als  Übersetzer  besonders  thsetigen  Bode'-*  zusammen  begonnene 
Buchhandlung  Lessing  nur  Verluste.  Er  dachte  daran  nach  Italien  zu  gehn 
und  dort  als  Kunstschriftsteller  sich  eine  freie,  wenn  auch  unsichere  Lebens- 
stellung zu  begründen:  hatte  er  doch  eben  in  dem  Streit  mit  Klotz  ^^  durch 
seine  'Antiquarische  Briefe'  gezeigt,  wie  weit  er  auch  über  vielbewuuderte 
Vertreter  der  Altertumswissenschaft  hervorrage.  Allein  er  fand  eine  An- 
stellung, die  wenigstens  seine  wissenschaftlichen  Neigungen  befriedigen  konnte, 
als  Bibliothekar  zu  Wolfenbüttel  und  trat  sie  im  Frühjahr  1770  an.  Bald 
empfand  er  freilich  die  Einsamkeit  seines  neuen  Aufenthaltes,  wofür  ihn  der 
Besuch  des  nahen  Braunschweig  und  der  dortigen  Freunde,  meist  Professoren 
am  Carolinum,  nur  vorübergehend  entschsedigte.  1775  und  1776  reiste  er 
nach  Wien,  wo  er,  sei  es  am  Theater,  sei  es  an  der  in  Aussicht  gestellten 
Akademie  wirken  sollte,  aber  trotz  aller  Ehrung  von  Seiten  des  Hofes  nicht 
gehalten  wurde.  Auch  eine  Reise  von  Wien  aus  nach  Italien  mit  dem  jungen 
Herzog  Leopold  von  Braunschweig,  der  spgeter  in  Frankfurt  a.  0.  als  Retter 
aus  Wassersnot  den  Opfertod  erlitt,  bot  in  Folge  der  Eile  und  des  gesell- 
schaftlichen Zwanges  wenig  Genuss  oder  wissenschaftlichen  Gewinn.  Noch 
mehr  führte  1777  ein  Besuch  in  Mannheim,  wo  man  ihn  für  das  Theater 
benutzen  wollte,  nur  zu  herben  Enttöeuschungen.  Doch  der  schlimmste  Schlag 
traf  den  Dichter  zu  Anfang  1778.  Er  hatte  1776  die  Wittwe  eines  Ham- 
burger Freundes  heimgeführt,  nach  langem  Brautstand,'^  da  die  Ordnung  des 

Angebot  abgeschreckt  worden.  9)  Jon.  Joachim  Christoph  Bode,  geb.  zu  Braunschweig 

1730,  gest.  zu  Weimar  17S(3;  aus  dürftigen  Anfängen  durch  Betriebsamkeit  und  gesellige 
Talente  emporgekommen.  Seine  vorzüglichen  Übersetzungen  von  Sterne,  Goldsmith,  Smollet 
haben    viel   zur  Verbreitung   des   englischen  (jeschmacks   beigetragen.  10)  Christian 

Adolf  Klotz  geb.  zu  Bischofswerda  1738,  gest.  zu  Halle  1771:  so  geschildert,  dass  Lessings 
Angriffe  auch  persoenlich  gerechtfertigt  erschienen,  von  C.  R.  Hausen,  Halle  1772. 
11)  'Freundschaftlicher  Briefwechsel  zwischen  Lessing  und  seiner  Frau'  [Kvii  Kücnig)  Berlin 


418  NEU  HOCH  DEUTSCHE  ZEIT.         XYIII  JA  H  Uli.  §  154 

Vcrma^gons  iliror  Kintlor  aus  orator  Ehe  sie  zu  niohrnialigoni,  längerem  Auf- 
enthalt in  Wien  zwang.  Die  treffliche  Frau,  die  einzige  mit  welcher  Leasing 
sich  getraute  zu  leben,  besass  er  nur  kurz:  sie  starb  im  Wochenbett,  und  die 
bitterste  Yerzweitlung  bemächtigte  sicli  seiner.  Wohl  fand  er  noch  die  Kraft 
den  Streit  durchzuluhreii ,  welchen  er  durch  die  Herausgabe  der  gegen  die 
christliche  Otfimbarungslehre  gerichteten  Fragmente  eines  Unbekannten''-  her- 
aufbeschworen und  den  besonders  der  llauptpastor  Goeze'^  in  Hamburg  mit 
feusserster  Heftigkeit  aufgenommen  hatte.  Wohl  vermochte  er  auch,  als  die 
braunschweigische  Regierung  ihm  im  Juli  1778  die  Veröffentlichung  weiterer 
Fragmente  und  ähnlicher  Schriften  verbot,  auf  seiner  alten  Kanzel,  der  Bühne, 
durch  sein  Drama  'Nathan'  seine  tiefsten  Überzeugungen  nur  um  so  wirkungs- 
voller vorzutragen.  Aber  er  fühlte  selbst  sein  Ende  nahen.  Er  starb  zu 
Braunschweig  am   15.  Februar  1781. 

Lessing  knüpfte  auch  als  Dichter'*  gern  an  die  Leistungen  Anderer  an 
um  sie  wo  moeglich  zu  übertreffen.  Seine  Erstlinge  waren  Lieder  im  Stil  der 
preussischen  Anakreontiker,  nur  dass  bei  ihm  von  Anfang  an  nach  franzoe- 
sischer  Weise  die  Neigung  zu  scharfer  Spitze  hervortrat.  So  reihen  sich  an 
seine  Lieder  unmittelbar  die  Sinngedichte  an,  welche  er  mit  jenen  zusammen 
als  'Kleinigkeiten'  1751  herausgab.'"'  Die  letztere  Gattung  pflegte  er  auch 
spteter  und  übte  damit  auch  in  seinen  litterarischen  Streitigkeiten  die  stärkste 


1789;     neu    herausg.    von    A.    Schopne.   Lpz.    1870.   *1885.  12)    Hermann    Samuel 

Reimakus,  geb.  1694,  gest.  als  Prof.  am  (Tymuasium  zu  Hamburg  1768.  Leasings  Auszüge 
waren  1774  und  1777  erschienen:  über  die  ganze  'Schutzschrift  für  die  vernünftigen  Ver- 
ehrer Gottes'  s.  D.  F.  Strauss,  Reimarus.  Lpz.  1862  (=  Ges.  Sehr.  5,  229  fgg.) 
13)  §  145.  Vgl.  bes.  G.  R.  Rc^pe.  .1.  M.  Gceze,  Eine  Rettung.  Hamb.  1860:  und  dagegen 
Boden,  Lessing  u.  GoPze,  Lpz.  u.  Heidelberg  1862.  14)  Er  sammelte  seine  'Schriften'  VI, 

Berlin  1753—55;  'Vermischte  Schriften'.  IV,  Berl.  1771—85:  'Zur  Geschichte  u.  Litteratur. 
Aus  den  Schätzen  der  herzoglichen  Bibliothek  zu  Wolfeubüttel,  I — VI  Beytrag',  Braunschweig 
1773 — 81.  Dazu:  'Theologischer  Nachlass'  hg.  von  seinem  Bruder,  Berlin  1784;  'Theatralischer 
Xachlass'.  II,  Berlin  1784 — 86.  'KoUectaneen  zur  Litteratur'  hg.  von  Eschenburg,  II,  Berlin 
1790;  vgl.  auch  Anm.  5.  'Sämtliche  Schriften'  hg.  v.  K.  G.  Lessing,  J.  J.  Eschenburg  u. 
F.  Nicolai,  XXX,  Berlin  1791 — 94:  kritische  Ausgabe,  das  Muster  für  alle  spaeteren  Arbeiten 
dieser  Art,  von  K.  Lachmann,  Berlin.  XIII.  1838 — 40;  2.  Aufl.  von  W.  v.  Maltzahn, 
XIII,  Lpz.  1853 — 57,  3.  Aufl.  von  Munckcr,  Stuttgart  1886  fgg.  Ausserdem  Gesarataus- 
gaben von  Redlich.  Boxberger  u.  a.  Berlin  bei  Hempel  o.  .T.  u.  sonst.  Seit  Lachmann 
sind  diesen  Ausgaben  meist  auch  die  Briefe  Lessings  beigegeben.  Vgl.  ferner  C.  C.  Redlich. 
Lessingbibliothek.  Verzeichnis  derjenigen  Drucke,  welche  die  Grundlage  des  Textes  der 
Lessingschen  Werke  bilden,  Berlin  1878;  Milchsack,  Systematisches  Verzeichnis  der  Lessing- 
Litteratur  der  Bibliothek  zu  Wolfenbüttel  1889.  15)  mit  dem  Druckort:  Frankfurt  u. 


§  154  LESSINGS  KLEINERE  GEDICHTE.  419 

Wirkung.  Er  begnügte  sieh  nicht  damit  die  eigenen  Eingebungen  seines 
Witzes  in  diese  Form  zu  kleiden;  nach  seiner  Art  sah  er  sich  auch  weit  um 
in  der  verwandten  Litteratur  und  erneuerte  zahlreiche  Epigramme  älterer 
deutsclier  und  fremder  Dichter.  ^'''  Auch  untersuchte  er  das  Wesen  der  Gat- 
tung in  den  1771'^  verüfFentlichten  Aufsätzen  Zerstreute  Anmerkungen  über 
das  Epigramm  und  einige  der  vornehmsten  Epigrammatistcn'.  Von  Martial 
besonders  ausgehend  unterschied  er  zwei  Teile  des  Epigramms:  einen  ein- 
leitenden, welcher  Spannung  erwecken,  Erwartung  hervorrufen  soll,  und  einen 
beschliessenden,  die  Aufloesung.  Den  epigrammatischen  Character  gab  er 
auch  der  Fabel,  wie  er  sie  spseter  behandelte.  Denn  in  seinen  Jugondfabeln 
schliesst  er  sich,  wie  in  den  gleichzeitigen,  oft  etwas  lockeren  Erzsehlungen, 
den  gefeiertsten  Fabulisten,  Ijafontainc  und  seiner  Schule  an,  und  borgt  sogar 
Geliert  einige  Fabeln  ab  um  nur  eine  andere,  eine  ihm  mehr  anstehende 
Lehre  hineinzulegen.^^  Die  hier  gebrauchten  freien  Yerse,  die  Lafontainesche 
Geschwätzigkeit  verwirft  Lessing  ausdrücklich  in  den  zu  Berlin  1759  erschie- 
nenen 'Fabeln,  Drej  Bücher.  Nebst  Abhandlungen  mit  dieser  Dichtungsart 
verwandten  Inhalts',  Er  sieht  hier  die  a?sopische  Fabel  als  Muster  an  und 
schreibt  daher  in  Prosa,  vermeidet  die  launige  Schilderung,  verbindet  aber 
gelegentlich  mehrere  Fabeln  zu  einer  zusammenhängenden  Reihe. '^  Den 
Ilauptreiz  aber  geben  diesen  Fabeln  allerdings  die  durchaus  treffenden  Hin- 
weise auf  die  Verhältnisse  der  Zeit,  zumal  auf  die  litterarischen.  In  den 
beigefügten  Abhandlungen  erklserte  er  die  in  der  Fabel  versteckte  Lehre  für 
die  Hauptsache  und  leitete  den  Gebrauch  der  Tiere  in  der  Fabel  davon  ab, 
dass  ihre  natürlichen  Charactere  bekannt  seien,  also  nicht  aus  dem  Wunder- 
baren, wie  die  Schweizer  Kunstlehrer  es  gethan.^*'  Auch  für  die  Geschichte 
der  mittelalterlichen  Fabel,  der  deutschen  und  der  lateinischen,^^  bringt  er 
aus  den  Wolfenbütteischen  Handschriften  Neues  vor. 

Eben  diese  Neigung  und  Fsehigkeit  zu   geistreichen  Sinnsprüchen,  und 
die  gleiche  Entwickelung  von  Ausführlichkeit  und  Deutlichkeit  zu  laconischer 

Leipzig,    in    Wahrheit   zu   Stuttgart   erschienen.  16)  Vgl.    die    mit  Ramler  zusammen 

besorgte  Auswahl  aus  Logau  (§  129,  4).  Über  von  Lessing  nicht  angegebene  Quellen 
s.  Hang.  Lessing  und  Cordus,  Neuer  teutscher  Mercur  1703,  3,  275  fgg.  Viel  zu  weit 
gehend:  P.  Albrecht,  Leasings  Plagiate,  I  Hamburg  1891.  17)  Im  I.  Teil  der  Vermischten 
Schriften.  18)  So   der  Tanzbser,   der  frei   geworden  den  Brüdern  im  Wald  vergeblich 

seine  Geschicklichkeit  anpreist,  und  von  Geliert  bedauert,  von  Lessing  als  Sclave  gescholten 
wird   (Lachmann-Maltzahn  1,  130;.  19)  LB.  .3,  189  'Die  Geschichte  des  alten   Wolfes'. 

20)  Bodmers  anonymen  Angriff  in  der  Parodie  'Lessingische  unsesopische  Fabeln',  Zürich 
1760,  wirft  Lessing  zurück  im  Litteraturbrief  127.  21)  Boner  (§  81,  63a.)  und  Romulus. 


42Ü  NEUIlUUliUEUTSCJlE  ZEIT.         XVllI  JAIIKII.  §  154 

Schärfe  zeigt  Lessing  als  drainatischer  Dichter.  Diese  Gattung  verdaukt  ihm 
mehr  als  alle  anderen,  wie  er  auch  hierin  sich  einen  bleibenden  und  durch 
die  Bühne  noch  stets  erneuten  Ruhm  erworben  liat.  Schon  auf  der  Schule 
verfertigte  er  Lustspiele,  die  er  als  Student  durch  die  Neuberin  aufführen, 
auch  drucken  Hess,  aber  z.  T.  spjeter  nicht  mehr  gedruckt  sehen  wollte.-'- 
In  StofFwahl  und  Behandlung  ahmt  er  hier  den  Franzosen,  aber  auch  Frau 
Gottsched  und  Geliert  nach ;  wie  diese  deutschen  Dramatiker  schreibt  er  in 
Prosa.  Doch  erregt  'Der  junge  (irelelirte'^^  persconliches  Interesse,  indem  er 
die  darin  verhoehntc  Pedantenthorheit  an  sich  selbst  erfahren  hatte.  Die 
Juden"-^  predigen  früh  Lessings  Gebot  der  Duldung.  Der  Freygeisf  sollte 
dem  Vater  zeigen  dass  die  Bühne  auch  treffliclie  Theologen  auftreten  lassen 
könne.  Aus  der  ersten  Berliner  Zeit  stammt,  wie  die  beiden  letzteren  Lust- 
spiele, auch  ein  unvollendetes  Trauerspiel-''  in  Alexandrinern,  'Samuel  Henzi', 
bemerkenswert  wegen  der  Kühnheit,  mit  welcher  Lessing  einen  Vorgang  der 
unmittelbaren  Gegenwart'-^  dramatisch  zu  behandeln  wagte.  Doch  eine  ganz 
neue  Bahn  betrat  er  in  'Miss  Sara  Sampson,  Ein  bürgerliches  Trauerspiel', 
das  er  1755  in  Potsdam  ausgearbeitet  hatte  und  zu  Frankfurt  a.  0.  aufführen 
Hess.-'  Nach  dem  Vorbild  der  englischen  Stücke,  welche  Pamilienunglück 
ilramatisch  darstellten,^^  führte  auch  Lessing  die  für  Schuldige  und  Schuldlose 
verhängnisvollen  Folgen  der  Verführung  vor.  Er  verlegte  den  Vorgang  nach 
England,  benutzte  aber  für  den  Character  seiner  Marwood  die  antike  Figur 
der  Medea.  Bald  darauf  griff  er  sogar  auf  das  deutsche  Volkstheater  zurück, 
indem  er  den  'Doctor  Fausf  dramatisierte,  wovon  er  jedoch  nur  Bruchstücke 
veröffentlichte.--'  Dagegen  stellte  er  den  preussischen  Heldengeist,  wie  Kleist, 
in    griechischer  Gestaltung    dar:    so   in  dem  Fragmente ^°  'Kleonnis',    das   in 

22)  So  sein  Erstlingswerk  'Dämon  oder  die  wahre  Freundschaft',  1747  erschienen;  dessen 
Abdruck  in  Ch.  H.  .Schmidt  Anthologie,  Frankfurt  u.  Lpz.  1770,  I  Bd,  Leasings  Unwillen 
erregte;  weshalb  es  auch  in  den  spietern  Ausgaben  fehlt.  23)  1747  gedichtet,  aber  erst 

1754  in  den  Schriften,  4.  Bd,  gedruckt.  24)  1749  verfertigt;  ebenfalls  Schriften  4  (1754). 

25)  Schriften  2  (1753).  26)  Henzi  war  am  17.  Juli  1749  zu  Bern  als  Verschwoerer  gegen 

die  aristokratische  Verfassung  pnthau])tet  worden.  27)  Es  erschien  in  demselben  Jahre: 

Schriften    6.  28)  Lillo,    Merchant    of  London,    1731    zuerst    aufgeführt.  29)  Lit. 

brief  17.  LB.  8,  193.  Eine  vermutlich  von  Frau  Gottsched  verfasste  Entgegnung,  welche 
Lessings  Faustscene  lächerlich  zu  machen  sucht,  hat  Schienther.  Frau  Gottsched  258  fgg. 
wieder  abgedruckt.  Lessing  hat  den  Stoff  wenigstens  zweimal  bearbeitet,  wie  aus  Nachrichten 
seiner  Freunde  hervorgeht;  doch  sind  die  Handschriften  verloren  gegangen.  30)  Theatr. 

Nachlass  2,  19  fgg.  Ein  niesseiiischer  Körnig  ttjetet  zur  Rache  für  einen  heldenmütigen 
Sohn  dessen  Mörder,  in  welchem  er  zu  sjjict  den  anderen,  ihm  früh  geraubten  Sohn  erkennt. 


§  154  LEASINGS  DRAIVIEN.  421 

füiiffüssigeu  Jamben  mit  stets  männlichem  Ausgang  veifasst  ist,  und  im  Thi- 
lotas'  (Berlin  1759),  der  in  knappster  Prosa  die  Sclbstopterung  eines  gefange- 
nen Koenigssohnes  erzajhlt.-"  Allein  die  volle  Iloehe  seiner  Kraft  erreicht 
der  Dichter  erst  nach  dem  Kriege  und  sein  erstes  Meisterdrama  ist  eine 
Friedens-  und  Versoehnungsmahnung ,  worin  die  beiden  feindlichen  Volks- 
stämme,  denen  Lessing  hier  durch  Geburt,  dort  durch  Neigung  angehojrte, 
in  ihren  besten  Eigenschaften  verkörpert  erscheinen.  'Minna  von  Barnhelm 
oder  das  Soldatenglück',  noch  1763  zu  Breslau  gedichtet,  erschien  zu  Berlin  1707, 
und  zahlreiche  Aufführungen,  mehrfache  Übersetzungen  beweisen  den  Ein- 
druck des  trefflichen  Stückes  auf  die  Zeitgenossen.  In  der  That  war  der 
scenische  Aufbau,  die  Führung  des  Gespraechs,  die  Schärfe  und  der  Adel 
der  Characteristik  über  alles  bisher  auf  dem  deutschen  Theater  Gesehene 
weit  erhaben.  In  Tellheim  verband  Lessing  seine  eigenen  und  die  Züge 
seines  Freundes  Kleist  ^-^  zu  einem  Idealbild  des  preussischen,  des  deutschen 
Offiziers.  Indem  er  neben  den  ergreifenden  Gemütsbewegungen  der  Haupt- 
personen auch  die  Komik  in  den  Nebenfiguren^^  vortrefflich  einzumischen 
verstand,  schuf  Lessing  mit  diesem  Stücke  das  ernste  Lustspiel,  wie  es  dem 
deutschen  Volkscharacter  am  besten  zusagte,  wie  es  aber  auch  gleichzeitig  mit 
Lessing  von  seinem  franzoesischen  Geistesverwandten  Diderot^*  gefordert  und 
durch  Beispiele  dargestellt  ward.  Hätte  das  Hamburger  Theaterunternohmen 
Bestand  gehabt,  so  w?ere  von  den  zahlreichen  Plaenen  Lessings  wohl  noch 
mancher  zur  Ausführung  gekommen.  Allein  er  vollendete  zunsechst  nur  noch 
ein  bereits  1758  in  Angriff"  genommenes  Trauerspiel  'Emilia  Galotti',  eine  in 
das  Gebiet  der  büi-gerlichen  Tragoedie  verpflanzte,  moderne  Virginia.  ^^  Lessing 
wollte  die  That  des  Vaters  ^^  begreiflich  machen,   der  seine  Tochter  ermordet 

31)  Über  die  Versificirung  durch  Gleiin  s.  §  142,  4.  32)  Auch  Kleist  hatte  vou  Leipzig 

aus  Contributionen  einzutreiben;  dass  ein  preussischer  Offizier  diese  selbst  vorstreckte  und 
dadurch  eine  feindliche  Stadt  rettete,  ereignete  sich  in  Lübben:  Er.  Schmidt,  Lessing 
1,  461.  33)  Über  benutzte  Motive  der  Vorgänger  s.  Erich  Schmidt  Anz.  zur  Zs.  f.  dtsch. 

Alt.  25,  74.  34)  Vgl.   Lessings   Vorreden  zum  'Theater  des  H.  Diderot'  1760.     »1781. 

35)  Der  Stoff' stammt  teilweise  aus  einer  Novelle  des  Bandello:  s.  den  Excurs  in  E.  Schmidts 
Lessing  2,  2o5  fgg.  36)   Das  Verlangen    der  Tochter  zu  sterben   hat    vielfach  Anstoss 

erregt,  s.  Engel,  Philosoph  für  die  Welt  u.  a.  Goethe  hat  es  nur  unter  der  Voraussetzung 
das«  sie  den  Prinzen  liebe,  begreifen  wollen:  Hiemer,  Mitteilungen  über  Goethe,  Berlin 
1841,  S.  668  fg.  Anders  Kuno  Fischer,  Lessing  als  Reformator  der  deutschen  Litteratur, 
Stuttgart  1881  S.  247  fgg.,  wo  die  Berechtigung  ihres  Wunsches,  aber  auch  nur  für  den 
einen  Moment,  in  welchem  er  ausgesprochen  wird,  behauptet  wird.  Ähnlich  schon  Herder 
Humanitaetsbrief  87.      Für    Guithes    Ansicht   spricht   jedoch    der    Vergleich    mit    Baudellos 


422  NELUIOCIIDEI'THCIIE  ZEIT.     XVIII  .lAlIKlI.  §  154 

um  sie  (lern  Gelüst  eines  Tyrannen  zu  entziehn,  docli  ohne  Hoffnung  durch 
einen  Volksaufstiuul  gerächt  zu  werden;  aber  er  konnte  nicht  vermeiden  (hiss 
neben  der  menschlichen  Teilnahme  doch  aucli  der  Ocdanke  an  die  politischen 
Zustände  Deutschlands  sich  vordrängte,  in  welchen  damals  wohl  auch  Ahn- 
liches uKrglich  gewesen  waire.  Indessen,  wenn  auch  vor  allem  durch  Schiller 
dieser  Gedanke  immer  mächtiger  tortwuchs,  so  fand  doch  die  scenischc  Kunst, 
die  Lessing  gerade  hier  bewiesen,  noch  allgemeinere  Anerkennung  und  Nach- 
ahmung. Noch  einmal  griff  Lessing  zur  dramatischen  Form  um  den  Ge- 
danken, die  ihn  zuletzt  am  tiefsten  bewegten,  Ausdruck  zu  verleihen.  Sein 
dramatisches  Gedicht:  'Nathan  der  Weise^  erschien  zu  Berlin  1779.  Er  hatte 
schon  früh  eine  Novelle  des  Boccaccio  zu  dramatisieren  gedacht,  worin  nach 
einem  Vergleich  aus  der  Kreuzzugszeit "  die  drei  Religionen  der  Christen, 
Juden  und  Heiden,  d.  h.  der  Mohammedaner,  als  gleichberechtigt  bezeichnet 
werden.  Jetzt  schuf  er^*  eine  Reihe  von  Gestalten,  in  deren  Zusammen- 
treffen er  diesen  Gedanken  schliesslich  zum  Siege  gelangen  Hess  und  von 
denen  er  die  Hauptperson  wiederum  mit  Zügen  ausstattete,  worin  das  Bild 
seines  Freundes  Moses  Mendelssohn  mit  dem  seinigen  sich  verband.  Der 
heitere  Ausgang,  die  Fülle  und  Weichheit  der  Sprache,  welche  in  dem  lose- 
bindenden  fünffüssigen  Jambus  sich  ergiesst,  stimmen  zu  der  Milde  der  Lehre, 
welche  den  göttlichen  Ursprung  der  Religion  nur  in  dem  Einfluss  auf  die 
Gesinnung  und  Gesittung  ihrer  Bekenner  sich  erweisen  lässt.^*  Eben  dies 
war  es,  was  er  in  seinen  Streitschriften  gegen  Goeze  ausgesprochen  hatte.'"* 
Auf  das  gleiche  Ziel  wies  seine  ernste,  kurzzusammenfassende  Schrift  'Die 
Erziehung  des  Menschengeschlechts'  (Berlin  1780),  welche  die  Hoffnung  auf 
ein  neues  ewiges  Evangelium  ausspricht  und  das  sittliche  Leben  als  etwas 
Selbständiges  neben  dem  christlichen  Dogma  hinstellt.  Für  die  Wissenschaft 
von  diesem  und  für  die  Kirchengeschichte  überhaupt  erwuchs  hieraus  eine 
neue  Freiheit,    und   so   hat  die   protestantische  Theologie  von  Lessing  einen 


Lncretia:    Er.    Schmidt    2,   8(K».  37)    Vgl.    besonders   Wnckemagel   Kl.   Srhr.    2,  452. 

Die  Erzffihlung  Nathans  von  den  drei  Hingen  LB.  2,  905.  38)  Dass  auch  Decamerone 

10,  3  und  5,  5  von  Lessing  benutzt  sind,  zeigt  Erich  Schmidt  Lessing  2,  512  fgg. 
39)  Von  der  überaus  umfiinglichen  Litteratur  über  Lessings  Xathan  (Verzeichnis  bis  1867 
in  einem  Dresdener  Programm  von  Naumann)  entspricht  wohl  der  Aufsatz  von  David  Strauss. 
Berlin  1864  uö.  dem  Sinne  des  Dichters  am  meisten.  40)  Vgl.  die  Auszüge  LB.  3.  257. 

265  (Das  Testament  Johannis,  als  apocrvph.  aber  göttlich  dem  Evangelium  Johannis  ent- 
gegengestellt). 27.3.  Gleiche  Ansichten  hatte  Lessing  schon  1751  geäussert :  Lachm.-3I. 
3,  154,  in4em  er  den  'unfruchtbaren  Streitigkeiten'  gegenüber  auf 'das  praktische  des  Chri- 


§  154  LESSINGS  UNTERSUCHENDE  SCHRIFTEN.  423 

tiefgreifenden  EinHuss  erfahren.*'  Fand  und  findet  noch  heute  Lessings 
theologische  Ansicht  viele  Bestreiter,"*'-^  so  wurden  seine  Kunstlehren,  so  tief 
sie  eingriffen,  doch  von  Anfang  an  als  massgebend  betrachtet  und  befolgt. 
Ausser  den  vielen  zerstreuten  Kritiken,  die  in  den  Litteraturbriefen  ihren 
UcEliepunct  erreichten,  sind  es  besonders  zwei  Schriften,  welche  den  gesamten 
Betrieb  der  Litteratur  umgestalteten,  so  wenig  sie  auch  beide  darauf  aus- 
gingen, umfassende  Lehrgeba3ude  aufzurichten.  Unvollendet  blieb  das  eine: 
'Laokoon:  oder  über  die  Grenzen  der  Mahlerey  und  Poesie',  I  Teil,  Berlin 
1766.*^  Das  Urteil  Winkelmanns  über  die  Laokoongruppe,  dass  sie  im 
Gegensatz  zu  Vergils  Erzsehlung  von  Laokoon  die  Ruhe  und  stille  Groesse 
zeige,  welche  der  Grundzug  der  antiken  Kunst  sei,**  berichtigte  Lessing  da- 
hin, dass  die  bildende  Kunst,  da  sie  nur  nebeneinander  bestehendes  darstelle, 
einen  einzigen  Moment  und  deshalb  einen  dauernd  gefallenden,*^  herausgreifen 
müsse,  wsehrend  die  Dichtung,  indem  sie  nacheinander  eintretendes  darstelle, 
auch  das  Hässliche  in  ihrem  raschen  Fortschritt  mitnehmen  könne.  Als  den 
Gegenstand  der  bildenden  Kunst  nannte  er  Körper,  als  den  der  Dichtung 
Handlungen.**'  Die  schildernde  Poesie,  die  bisher  einen  so  umfänglichen  und 
einen  so  hochgeschätzten*'^  Teil  der  poetischen  Litteratur  ausgemacht  hatte, 
verwarf  er,  wie  er  schon  1755*^  in  der  mit  Mendelssohn  gemeinsam  ver- 
fassten  Schrift  Tope  ein  Metaphysiker'  gezeigt  hatte,  dass  ein  Lehrgedicht 
notwendig  von  der  Strenge  und  Würde  einer  philosophischen  Untersuchung 
abweichen  müsse,  also  dieser  gegenüber  nur  einen  geringeren  wissenschaftlichen 
Wert  haben  könne.  Wie  nun  im  Laokoon  das  vergilsche  Vorbild  weit  hinter 
das  homerische  zurücktrat,    so  verlor   durch  Lessings  'Hamburgische  Drania- 


stentums'  hinwies.  41)    Vgl.  Carl  Schwarz,   G.  E.  Lessing   als  Theologe.     Halle  1874; 

und  Ed.  Zeller,  Vortrsege  und  Abhandlungen,  Lpz.  1877,  S.  283  fgg.  Von  den  zahlreichen 
Schriften  über  Lessings  Philosophie  morgen  C.  Hebler.  Philosophische  Aufsätze.  Lpz.  1869 
und  Gideon  Spicker,  Lessings  Weltanschauung,  Li)z.  1883  besonders  hervorgehoben  werden. 
42)  Von  ihnen  moege  genannt  sein:  .Toh.  Ciaassen,  Lessings  Leben  u.  ausgewa-hlte  Werke 
im  Lichte   der   christlichen  Wahrheit,    Gütersloh    1881,    II.  43)     Zahlreiche  Erlseute- 

rungsschriften :  hervorzuheben    H.  Blüraner,  Lessings  Laokoon   *  Berlin  1880.  44)    Ans 

eben  diesem  Gesichtspunct  aber  erwies  Lessing  in  der  Schrift  'Wie  die  Alten  den  Tod 
gebildet',  Berlin  1769,  dass  die  Darstellung  des  Todes  durch  ein  Skelett  erst  im  3Iittelalter 
aufgekommen    sei.  45)    Den   'fruchtbaren    Moment':    über    diesen  Begriff   ist    Lessings 

Untersuchung  besonders  durch  Ph.  J.  W.  Henke,  'Die  Gruppe  des  Laokoon  oder  über 
den  kritischen  Stillstand  tragischer  Erschütterung'.  Lpz.  u.  Heidelberg  186-,  weitergeführt 
worden.  40)    LB.   3,   1.  0.  47)    Insbesondere    wandte  Lessing    sich   gegen  Brei- 

tingers  Lob  einer  Stelle  in  Hallers  Alpen.  48)  Auf  Aulass  einer  Preisfrage  der  Berliner 


424  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVHl  JAHRH.  §  155 

turgic'  (lliimburg  17(57  —  08,  H)^'  die  bisher  iimstcrgiltige  franzoesische  Tra- 
ga'dio  ihr  Aiisohn  völlig.  Auch  liier  suchte  Lessing  seine  Stütze  in  der 
griochischcn  Littcratur:  die  Poetik  des  Aristoteles  gab  ihm  das  unverbrüch- 
liche Gesetz.''"  Darauf  hatten  sich  allerdings  auch  die  fran/.ocsischen  Dichter 
berufen;  aber  mit  Unrecht,  wie  Lessing  nachwies,  und  zwar  Voltaire  nicht 
minder  mit  Unrecht  als  Corneille.  Dem  Zwecke  der  Tragoedie,  wie  Aristo- 
teles ihn  bestimmt  habe,  entspreche  weit  mehr  Shakespeare,'"'  dessen  Art  über- 
dies dem  deutschon  Gefühl  weit  na>her  komme.  Damit  war  ein  wahrhaft 
erla-scndes  Wort  gesprochen,  das  deutsche  Drama  erhielt  eine  neue,  eine  ihm 
selbst  gemtesse  Richtung.  Freilich  als  es  zunajchst  über  die  von  Lessing 
angegebene  Linie  hinausging,  als  es  auch  in  seineu  Formen  sich  Shakesj)earc 
völlig  anschliessen,  ja  seine  Freiheit  noch  überbieten  wollte,  hielt  er,  wenn 
auch  nur  gegen  seine  Umgebung,   nicht  zurück  mit  seiner  Missbilligung. ^'^ 

§  155. 
Wsehrend  Klopstock,  Wieland,  Lessing  die  Dichtung  mit  gewaltigen 
Schritten  vorwärts  führten,  gingen  neben  ihnen  andere  Dichter  her,  welche 
nur  teilweise  ihnen  folgten,  einerseits  älteren  Mustern  anhingen,  andererseits 
eigene  Bahnen  einschlugen.  So  fand  Ilallers  ernste,  fromme  Lehrdichtung 
Nachahmer  in  dem  Duisburger  Professor  Jon.  Philiim«  Lorenz  Withof^ 
(1725 — 89)  und,  mit  mehr  Freiheit,  indem  hessen-homburgischen  Staatsmann 
FRiEDRrcH  Karl  Kasimir  von  Creuz  (1724— 1770).  Des  letzteren  Gedanken 
verweilen  bei  der  Vergänglichkeit  alles  Irdischen,  bei  den  Zweifeln,  die  alle 
Philosophie    nicht    loesen    kann.     Schon  1742    mit  Gedichten   hervorgetreten, 

Akademie.  49)  Lessings  Hamburgiarhe  Dramaturgie  erlaeutert  von  F.  Schroeter  u.  R. 

Thiele.  Halle  1877.  Cosack.  Materialien  zu  L's.  Dram.  Paderborn  1876,  2.  Aufl.  1891. 
50)  Lessings  Auffassung  der  aristotelischen  xf/.^raxrtc  rwr  Tiu^^rjuicKoy  berichtigt  J.  Bemays, 
'Zwei  Abhandlungen  über  die  aristotelische  Theorie  des  Drama",  Berlin  1880.  51)  LB. 

3,  217  fgg.  52)  So  meinte  er  über  Goethes  dramatisierten  Lebenslauf  des  Götz:  'Er  füllt 

Därme  mit  Sand  und  verkauft  sie  für  Stricke';  mit  Goethes  Werther  war  er  um  so  mehr 
unzufrieden,  als  er  den  jungen  Jerusalem,  dessen  Lebensschicksal  Goethe  für  seinen  Roman 
benutzt  hatte,  perscrnlich  schätzte:  was  er  in  der  Vorrede  zu  dessen  'PhilosophischeE  Auf- 
sätzen'. Braunschweig  177ß,  aussprach. 

§  \i)i).  1)  Gedichte,  Bremen  1751;  Aufmunterung  in  moralischen  Gedichten,  Dortmund 
1755.  spjeter  z.  T.  umgearbeitet  in  'Academische  Gedichte',  Leipzig  1782.  83,  11.  Herder, 
der  ihn  früh  neben  Creaz  nennt,  hat  einigen  Gedichten  (Das  Grab  des  Heiland«,  Sokrates 
oder  von  der  Schirnheit.  die  Entschlüsse"!  eine  minder  rauhe  Form  ffejreben.  Aber  seltsam 
klingt  Withofs  Anmerkung  zu  seinem  'Abschied  von  der  Dichtkunst':  'Ein  würdiger  Medicus 
bedarf  freilich  einiger  Ausspannung;  aber  es  gibt  noch  viel  edlere  und  nützlichere  Ergetzun- 


§  155  WITllOF,  CREUZ,  LAYATEK.  425 

blieb  er  in  Sprache  uud  Verskunst  hinter  den  Fortschritten  seiner  Zeit  zurück, 
wenn  er  auch  von  der  neuen  Dichtung  Kenntnis  nalim.  Sein  Lelirgedicht  in 
freien  Reiniverscn  'Die  Grsebor'  vcrfasste  er  zwischen  1752  und  1759;  von 
zwei  Alexaudrinertragoedien,  'Seneca'  und  'Sokrates'  Hess  er  die  letztere  un- 
vollendet. Am  meisten  entsprach  seiner  grübelnden  Schwermut  die  Ode, 
in  welcher  er  melodische  Strophenformen  mit  kräftigen  Gedanken  zu  erfüllen 
vermochte." 

ReligioGse  Dichtung  verband  mit  der  patriotischen  Johann  Caspar  La- 
VATER,  nur  dass  er  hier  Nachahmer  war,  und  zwar  verschiedener  Muster, 
wahrend  er  als  Prosaist,  als  theologischer  Schriftsteller  Selbständigkeit  be- 
wies. Geboren  zu  Zürich  1741,  starb  er  ebendort  1801,  an  einer  Schuss- 
wunde dahinsiechend ,  die  ihm  ein  eben  noch  von  ihm  erquickter  franzoe- 
sischer  Soldat  gegeben.^  Seine  Beherztheit  und  Opferwilligkeit  hatte  er  früh 
bewiesen,  indem  er  1762  einen  ungerechten  Landvogt  des  Züricher  Gebiets 
mit  Erfolg  anklagte.  Seine  'Schweizerlieder'  erschienen  zuerst  zu  Bern  1767, 
den  Grenadierliedern  Gleims  nachgebildet;  seine  'Christlichen  Lieder'  seit 
1771;^  1785  sammelte  er  seine  'Vermischte  gereimte  Gedichte'.  Seiner 
etwas  hastigen,  nachlässigen  Dichtungsweise  entsprachen  die  reimlosen  Formen 
mehr,  die  er  namentlich  in  längeren  erzaehlenden  und  lehrenden  Gedichten 
anwendete:  so  in  'Jesus  Messias  oder  die  Zukunft  des  Herrn  nach  der  Offen- 
barung des  Johannes'  (1780)  und  in  'Jesus  Messias  oder  die  Evangelien  und 
Apostelgeschichte  in  Gesängen',  IV,  1783 — 86:  Klopstocks  Messiade  war  ihm 
sonst  das  einzige  Buch,  an  welchem  er  sich  nicht  satt  lesen  konnte,  hier 
setzte  er  ihr  eine  bibelgemaessere  Geschichte  des  Heilands  entgegen.  In 
'Joseph  von  Arimathia'  1794  gebrauchte  er  achtfüssige  Jamben,  in  seinem 
Lobgesang  auf  Güte  und  Liebe  'Das  menschliche  Herz'  1789  fünffüssige. 
Auch  dramatisch  eiferte  er  Klopstock  nach:  dessen  'Tod  Adams'  war  ihm 
Vorbild    für   das  'religioese  Drama:  Abraham   und  Isaac'  (Winterthur  1776). 


gen,   als   die   Faulheit,    der   Wein    und   die   Poesie'.  2)    LB.  2,  911  fgg.     Gesammelt 

erschienen  seine  X)den  und  andere  (jedirhte/,  auch  kleinere  prosaische  Aufsätze,  Frankfurt 
a.  M.  1769.    Herder  nannte  diese  (tedichte  'metaphysisch':  Suphan  5,  290  fgg.  3j  J.  K. 

Lavaters  Lehensbeschreibung  von  seinem  Tochtermann  Georg  Gessner,  111,  Winterthur 
1802 — 1803;  Ferd.  Herbst,  L.  nach  seinem  Leben,  Lehren  und  Wirken,  Ansbach  18.'52; 
F.  W.  Bodemann  (mit  dem  gleiclien  Titel),  Gotha  1<SÖ6;  F.  Muncker,  J.  K.  Lavater,  eine 
Skizze  seines  Lebens  u.  Wirkens,  Stuttgart  188.'5.  Dass  der  Name  mit  langem  a  in  der 
zweiten  Silbe  ausgesprochen  wurde,  beweisen  Reime  die  Lenz  in  Lavaters  Gegenwart  auf 
ihn    dichtete.  4)    Proben    aus    beiden    LB.  2,    925   fgg. 


42«;  NEUIIOCIIÜEUTSCIIE  ZEIT.         XVlll  JAIIKII.  §  155 

Bei  der  Vollendung  stand  iliin  hier  (urthc  bei,  mit  welchem  er  1774  auf 
einer  Reise  nach  Ems  sich  innig  befreundet  hatte.  Sie  verbanden  sich  be- 
sonders zu  gemeinsamen  Studien  in  der  Physiognomik,"  als  deren  Frucht 
Lavaters  Buch  'Physiognomisclie  Fragmente  zur  Beförderung  der  Menschen- 
kenntnis und  der  Menschenliebe',  Leipzig  1775  —  78,  IV,  erschien.*  Aber 
so  offenher/.ig  sich  Goethe  ihm  anfangs  gezeigt,^  seit  1780  wandte  er  sich 
völlig  von  ihm  ab.  Ihn  ärgerte  je  länger  je  mehr  die  Schwärmerei,  mit 
welcher  sich  Lavater  in  die  Geheimnisse  des  Jenseits  versenkte,  zuerst  in 
den  Aussichten  in  die  Ewigkeit',  Zürich  1768  —  78,  IV;  dann  mit  besonderer 
Schärfe  gegen  die  KichtgUeubigen  im  Pontius  Pilatus',  Zürich  1782 — 85,  IV.' 
Auch  die  Wundersucht  Jjavaters,  sein  Glauben  an  die  Wundercuren  von 
Gassnei:,  Cagliostro,  Mesmer  erregte  viel  Anstoss  und  Tadel,  und  nicht  minder 
seine  wiederholten  Versuche"  Andere  für  seine  Ansichten  zu  gewinnen,  wobei 
er  die  hoechste  Gewandtheit  und  Kraft,  aber  auch  persaMdichc  Eitelkeit'" 
bemerken  Hess.  Auf  Viele  jedoch,  aus  den  hoechsten  und  niedrigsten  Stän- 
den, insbesondere  auf  die  Frauen,  wirkte  Lavater  mächtig  ein  und  die  reli- 
gioDse  Umwandlung  zu  Ende  des  Jahrhunderts  hat  er  sehr  wesentlich  mit 
vorbereitet. 

Lavater  war  noch  Schüler  von  Bodmer  und  Breitinger  gewesen  und 
hatte  von  hier  aus  den  Weg  zu  Klopstock  leicht  gefunden.  Mit  diesem  ver- 
band sich  aber  auch  ein  Dichter,  welcher  vielseitiger  und  selbständiger,  ge- 
wissermassen  Gleims  und  Wielands  Richtung  mit  der  Klopstockischen  vereinigt 
und  überdies  als  Kritiker  den  Übergang  von  Lessing  zu  Herder  herzustellen 
beitrtegt.  Heinrich  Wilhelm. von  GEusTENBERfi  war  1737  zu  Tondern  ge- 
boren und  als  Jenenser  Student  trat  er  1759  mit  Tändeleyen'  hervor," 
womit  er  sich  zunächst  an  Wielands  'Grazien'  anschloss  und  Lessings '-  Bei- 
fall  erwarb;     in    das    daenische   Heer    eingetreten    dichtete    er    'Kriegslieder 

5)  V.  d.  Hellen,   (juetbes    Anteil  an   Lavaters  pliysiognom.   Fragmenten,    Frankfurt    1888. 

6)  LB.  3,  511  fgg.  7)  Briefe  von  Goethe  an  Lavater,  hg.  von  H.  Hirzel,  Lpz.  1833. 
8)  Der  volle  Titel  lautete  'P.  P.  oder  der  Mensch  in  allen  Gestalten:  oder  Hcehe  und  Tiefe 
der  Menschheit;  oder  die  Bibel  im  Kleinen  und  der  Mensch  im  Grossen;  oder  ein  Universal- 
Ecce-Homo;  oder  Alles  in  Einem'.  Daraus  LB.  3.  525  fgg.  9)  So  forderte  er  177U  im 
II.  Teil  seiner  Übersetzung  von  Bonnets  Palin^jenesien  Moses  Mendelssohn  auf  die  darin  für 
das  Christentum  vorgebrachten  Beweise  zu  widerlegen  oder  selbst  Christ  zu  werden.  1786 
reiste  er  nach  Bremen,  1793  nach  Kopenhagen  um  für  seine  Ansichten  Anhänger  zu  ge- 
winnen. 10)  'So  fasste  man  auch  sein  1771  von  Zollikofer  in  Leipzig  herausgegebenes 
'Geheimes  Tagebuch  eines  Beobachters  seiner  selbst'  auf.  Hieraus  LB.  3,  50.")  fgg. 
U)    gedruckt    zu    Leipzig,    durch  Vermittelung  Weisses.             12)    Litteraturbrief    32.    33. 


§  155  GERSTENBERG.  427 

eines  dneiiischon  Grenadiers  bei  Eröffnung  des  Feldzugs  1762'.  In  Kopen- 
hagen mit  Klopstoek  nahe  befreundet,  verfasste  er  1706  das  'Gedicht  eines 
Skaklen';  aus  einem  Hünengrab  in  der  Nsehe  von  J.  A.  Cramers  Landgut 
Hess  er  einen  Sänger  des  heidnischen  Dsenemark  auferstehen  und  den  Gegen- 
satz der  alten  und  neuen  Zeit  besingen:  die  Götterdämmerung,  in  der  kna])pen, 
dunkeln  Art  der  Edda  erzaehlt,  beschloss  das  Gedicht.'^  Auch  als  Dramatiker 
betrat  er  neue  Bahnen:  1767  zeigte  er  in  seiner  tragischen  Cantate 'Ariadne 
auf  Naxos'  ein  aussezeichnetes  Musikverständnis  ^*  auch  in  den  wechselnden 
Versformen-,  ^'^  1768  schilderte  er  in  dem  Prosatrauerspiel '^  'Ugolino'  mit 
seltsamer  Wahl  nach  Dantes  Hölle  den  Hungertod  eines  Vaters  mit  seinen 
Söhnen,  wusste  aber  die  Scenen  des  Wahnsinns  und  der  Verzweiflung  mannig- 
faltig und  ergreifend  zu  gestalten.  Auch  hier  wird  musikalische  Begleitung 
eingeflochten,  noch  mehr  in  'Minona',  Hamburg  1785,  Gerstenbergs  Lieblings- 
dichtung, deren  Form  die  Einflüsse  von  Shakespeares  Sturm  und  von  Klop- 
stocks  Bardieten  ^^  erkennen  lässt;  auch  die  patriotische  Begeisterung  für  den 
Sieg  der  Angelsachsen  über  Briten  und  Roemer  erinnert  an  diesen.  Klop- 
stocks  Ansichten  vertritt  Gerstenberg  ebenso  in  einer  kritischen  Zeitschrift 
'Briefe  über  Merkwürdigkeiten  der  Litteratur',  Schleswig  u.  Leipzig  1766.  67,'^ 
welche  oft  als  'Schleswiger  Litteraturbriefe'  angeführt  werden.  In  der  That 
schlössen  sie  sich  vielfach  an  die  Berliner  Litteraturbriefe  an,  doch  mit  ab- 
weichenden, zum  Teil  entgegengesetzten  Absichten.  Schon  machen  sich  die 
Einflüsse  Hamanns  geltend,  und  wie  dieser  erschien  auch  Gerstenberg  den 
Zeitgenossen  nur  zu  dunkel,  was  aber  z.  T.  bei  ihm  ebenfalls  durch  die 
Tiefe  und  den  Reichtum  der  neuen  Gedanken  verschuldet  wird.  Gegen  die 
einseitigen  Bewunderer  der  Alten  wird  Shakespeare  hervorgehoben,  in  dessen 
'Historien'  eine  vollberechtigte  Gattung  des  Dramas  anzuerkennen  sei.  Die 
Poetik  des  Aristoteles  erscheint  nicht  als  durchaus  massgebend.  Gottscheds 
Verdienst  als  Sammler  kommt  zur  Geltung.  Die  altnordische  Dichtung  wird 
nach    der  Edda    und    den  Kjämpeviser  bekannt   gemacht,    aber  auch  Ariost 

18)  Über  die  Quellen,  auH  denen  er  schöpfte,  handelt  W.  Pfau,  Das  Altnordische  bei  Gersten- 
berg, Vjschr.  f.  Lit.gesch.  2,  161  fgg.  14)  Vgl.  Sturz  über  Gerstenberg  LB.  3,  753. 
15)  Sie  erschien  zusammen  mit  .J.  A.  Schlegels  Prokris  und  Cephalus  zu  Kopenhagen. 
Das  Monodrama  wurde  mehrfach  componiert;  zum  Duodrama  Umgewandelt  von  Brandes 
(Lpz.  1778).  16)  ohne  Namen  des  Verf.  Hamburg  u.  Bremen.  17)  Die  Sachsen 
führen  bei  ihrer  Feier  'Bardiete'  auf.  18)  Drei  Sammlungen,  wozu  'Der  Fortsetzung 
erstes  Stück'  Hamburg  u.  Bremen  1770  erschien,  von  minderer  Wichtigkeit.  Neudruck  mit 
Einleitung  von  A.  v.  Weilen  in  Seutt'erts  Lit.-denkm.  29,  Heilbronn   1888.     Briefe  Gersten- 


428  NEUIIOOFIDEÜTSCIIE  ZEIT.         XYIII  JAIIRII.  §  155 

uiul  Ciildcron  erhalten  ilir  Lob.  Wieland  wird  als  Übersetzer  Shakespeares 
scharf  getadelt,  ebenso  Ilainlors  unbefugte  Verbesserung  anderer  Dichter  ge- 
rügt. Es  begreift  sieh  leicht  dass  Klotz,  damals  noch  in  hohem  Ansehen, 
mit  den  Seinigen  Gerstenberg  die  Kritik  zu  verleiden  suchte,  und  nicht  ohne 
Erfolg.  Gerstenberg  hat  seitdem  nur  als  Dichter  noch  und  auch  nur  Weniges 
veröffentlicht.  Erst  weit  spteter  sammelte  er  seine  'Vermischte  Schriften',  UI 
Altona  1815.  16.  Freilich  trugen  missliche  Vcrma'gensverhilltnisse  zu  diesem 
Zurücktreten  bei:  erst  1785  erlangte  er  in  Altona  eine  befriedigende  Stel- 
lung, in  welcher  er  1823  starb. 

So  unverständlich  Gerstenbergs  Skaldendichtung  den  Lesern  in  Deutsch- 
land, trotz  seiner  Erheuterungen,  erschien,  so  wirkte  sie  doch  durch  Klopstocks 
Nachahmung  gewaltig  nach.'*-*  Dies  Muster  traf  zeitlich  zusammen  mit  einem 
anderen,  welches  die  Naturpoesie  des  Nordens  auch  in  der  Gegenwart  noch 
lebendig  zu  zeigen  schien.  Macphersons  Ossian  war  1705  erschienen.-" 
Gerstenberg  selbst  erkannte  die  Unechthoit'^'  dieser  Dichtungen,  aber  die 
meisten  Zeitgenossen  wurden  auch  durch  die  deutlichsten  Beweise  ^^  davon 
nicht  überzeugt.  Zu  gut  gefiel  ihnen  die  ganze  Stimmung  und  Einkleidung 
der  Ossianischen  Poesie,  die  Toene  der  Geister  im  Mondschein',  die  an  der 
Eiche  hängende  Harfe.  Die  erste  Übersetzung^^  in  Hexametern  veröffent- 
lichte Michael  Denis  1768.  69,  und  seine  Dichtung  verband  seitdem  Klop- 
stocks Muster  mit  dem,  was  aus  Ossian  und  den  Skalden  abzulernen  war. 
Mit  ihm  trat  Osterreich ,  trat  der  Jesuitenorden  wieder  an  die  Pflege  der 
deutschen  Litteratur  heran.  Geboren^*  zu  Schärding  1729,  war  er  von  1747 
bis  1773  dem  Orden  angehcerig,  hierauf  erst  als  Lehrer  am  Theresianum, 
dann  nach  dessen  Aufhebung  als  Bibliothekar,  zuletzt  an  der  Hofbibliothek 
tha?tig,-^^  bis  zu  seinem  Tode  1800.     1772  erschienen'-"  von  ihm  'Die  Lieder 

bergs   an  Nicolai    aus   dieser  Zeit    s.  Zs.   f.   d.   Phil.    23,   43  fgg.  19)  KlopstOfk  ward 

meist  als  Urheber  dieser  Richtung  angesehn,  was  (iersteuberg  selbst  in  einem  Beitrag 
zu  Jürdens  Lexikon  deutscher  Dichter  u.  Prosaisten.  Supplemente,  Lpz.  1811  S.  174  richtig 
stellte.  20)  Bereits  1762  die  ersten  Proben:  Fingal  und  Temora.  21)  Lit.-denkm. 

29,  57.     Er  beruft  sich  auf  ein  französisches  Memoire.  22)  Vgl.  Talvj,  die  Unächtheit 

der     Lieder     Ossians     und     des    Macphersonschen    Ossians     insbesondere.       Leipzig    1840. 

23)  'Gedichte  Ussians  eines  alten  celtischen  Dichters,  aus  dem  Englischen  übersetzt  von 
M.  Denis',  111,  Wien.     Eine  prosaische  Übersetzung  von  Anderen  war  schon  1764  erschienen. 

24)  Vgl.  bes.  F.  V.  Hofmann -Wellenhof,  M.  Denis,  Innsbruck  1881.  25)  Er  ver- 
öffentlichte als  solcher  auch  eine  Anzahl  bibliographischer  Schriften:  Einleitung  in  die 
Bücherkunde'  1777  usw.  26)  zu  Wien,  'mit  Vorbericht  und  Anmerkungen  von 
M.  Denis,  aus  der  (i.  J."     Den  Namen  Siued  hatte  ihm  Kretschmanu  gegeben.     'Ossians  und 


§  155  DENIS,  KRETSCHMANN.  429 

Sineds  des  Barden',  grossenteils  hoefische  Gelegenheitsgedichte  auf  Maria 
Theresia,  Joseph  11,  auf  Vorgesetzte,^^  andere  auf  befreundete  Dichter,  unter 
ihnen  Klopstock,  Gleim,  Ramler:  seit  der  Versoehnung  Friedrichs  II  und 
Josephs  II  waren  auch  ihre  Barden  befreundet.  Vorher  hatte  Denis  den 
preussischen  Kriegsliedern  oesterreichische  entgegengesetzt^**  und  sich  darin 
Geliert  für  Versmass  und  Stil  zum  Muster  genommen. ^^  In  den  Barden- 
gesängen wendet  er  nach  Klopstocks  Vorbild  die  horazischen  Odenformen,^" 
haeufiger  aber  freie  reimlose  Verse  an,  und  sucht  mehr  als  irgend  ein  anderer 
die  eigentümlich  skaldischen  Umschreibungen^*  nachzuahmen. 

Hierin  sticht  stark  von  ihm  ab  'der  Barde  Rhingulph',  Karl  Friedr[ch 
Kretschmann,  Advocat  in  Zittau  (1738  —  1809).^'^  Er  pflegt  den  Arminius- 
cultus,  welchen  der  sanfte,  moralisierende  Denis  bei  Seite  gelassen  hatte: 
1768  erschien  sein  'Gesang  Rhingulphs  des  Barden,  als  Varus  geschlagen 
war',  1771  'Die  Klage  Rhingulphs  des  Barden'  über  Hermans  Tod.  Auch 
Kleist  und  Geliert  beklagt  er.  Aber  die  Form  ist  wesentlich'*^  den  Gleim- 
schen  Liedern  angenaehert;  den  Reim  nimmt  er  in  der  Vorrede  zu  seiner 
Sammlung^*  ausdrücklich  für  die  'Bardeyen'  in  Anspruch.  Spseter  ging  er 
mehr  und  mehr  als  Lyriker  und  Dramatiker  auf  den  Spuren  seines  Freundes 
Weisse,^''  als  die  Bardenpoesie  ^^  überhaupt  lästig  und  lächerlich  geworden  war. 

Das  ganze  Sichversenken  in  die  germanische  Vorzeit  und  in  die  damit 
in  Verbindung  gesetzte  Poesie  des  Nordens  hing  zusammen  mit  dem  Unmut 
über  Friedrichs  II  dauernde  Ablehnung   der  deutschen  Litteratur,    und  fand 


Sineds  Lieder'  V,  1784,  mit  Naohlasy  hg.  von  Retzer,  der  auch  den  litterarischen  Nachlas» 
von  Denis  1801.  2,  II,  herausgab.  27)    Von   diesen   redet  er  einen  Bischof  als  Ober- 

druiden an.  28)  'Poetische  Bilder  der  meisten  kriegerischen  Vorgänge  seit  dem  .Jahre 

1756'  (Wien  1760),  spaeter  fortgesetzt.  29)  Sehr  wichtig  für  das  Eindringen  der  deutschen 

Litteratur  nach  Österreich  ist  die  von  Denis  veranstaltete  'Sammlung  kürzerer  (Tedi(dite  aus 
den  neueren  Dichtern  Deutschlandes',  II,  Wien  1766  (Vorrede  von  1762,  doch  s.  Hofmanu- 
Wellenhof  S.  .^02).  Denis  sprach  zeitlebens  mit  dialektischer  Färbung,  aber  er  schrieb 
allmählich  sehr  rein.  30)  Noch  ausgedehnter  gebraucht  diese  Kakl  Mastalier,  ein 

Ordensgenosse  von  Denis  (aus  Wien,  1731 — 1795).  31)    Mutter  der  Menschen'  =  Erde, 

'Männer  der  Wunden' =  Krieger,  'Das  Haupt  der  Starken' =  General.  Der  'Vorbericht  von 
der  alten  vaterländischen  Dichtung'  zeigt  die  gelehrten  Studien  des  Dichters;  ihre  Verwer- 
tung al)er  das  Schuhntessige  der  Jesuitenbildung.  32)  H.  F.  Knothe,  K.  F.  Kretschmann, 
der  Barde  Rhingulph.  Zittau  18.58.  33)  Abgesehn  von  den  häufigen  Ausrufen  'Ha!' 
u.  s.  34)  Sämtliche  Werke,  VI,  Lpz.  1784  99.  35)  des  'Oberbarden  an  der 
Pleisse'  (Denis).  36)  Das  überschwängliche  Lob  bei  der  ersten  Aufnahme  hatte  Herder 
gemaissigt:  Suphan  V,  322  fgg.    Boies  Verwerfung  der  Bardendichtung  s.  bei  Weinhold  177. 


430  NEUIIOCTIDEÜTHnHE  ZEIT.         XVIII  JAHRII.  §  155 

tlaluM-  aucli  nur  iiussorhall)  Proiissons''"  PHogo.  In  Prousson  wurde  Rainlcra 
antikisiorondc  Diclitung  weitergeführt  durch  .Ion.  Gottlikb  Wiij.amov,  geb. 
1730  zu  Mohrungen,  gest.  1777  zu  Petersburg,  wo  er  eine  Schulstelle  be- 
kleidet liatte.  Seine  Dithyramben'  erschienen  1763,  seine  Dialogischen  Fa- 
beln' 17()5.^'*  .lene  verherrlichen  in  freien  Versen  Bacchus;  die  Oden'  nach 
pindarischer  Art  feiern  erat  Berlin  und  Friedrich  JI,  dann  Katharina  von 
Russland  und  ihre  Siege  über  die  Türken :  und  hier  ahmt  er  auch  seinen 
Freund  Oleim,  ja  selbst  ein  russisches  Soldatenlied  nach. 

Doch  weit  mehr  ward  von  dem  proussischen  Dichterkreise  Oleims  die 
Anakreontik  in  der  Friedenszeit  weiter  gepflegt,  wobei  namentlich  der  von 
Friedrich  II  hochgeschätzte  franzoRsische  Dichter  Gresset  als  Muster  galt. 
Der  deutsche  Gresset"  sollte  Jon.  Geor(4  Jacobi  sein.^**  Geb.  zu  Düsseldorf 
1740,  war  er  in  llallo  17(56  College  und  Freund  von  Klotz,  1768  Kanonikus 
in  Halberstadt,  von  1784  bis  zu  seinem  Tod  1814  Professor  zu  Freiburg  i.  B. 
1768  erschienen  die  mit  Amoretten  tändelnden  Briefe  des  Herrn  Jacobi\  denen 
sofort  'Briefe  der  Herren  Oleim  und  Jacobi'  folgten;  in  der  'Winterreise'  1769 
und  der  'Sommerreise'  1770  ahmte  Jacobi  Sterne  nach,  doch  nur  dessen 
Sentimentalitset,  nicht  seinen  Humor.  Die  Frauen  auch  der  vornehmen  Kreise 
verwa3hnten  den  Dicliter,  dem  Wieland  und  Sophie  Laroche  persoenlich  nahe 
traten.  Aber  er  erweckte  auch  die  heftigste  Missgunst.  Bodmer  schalt  ihn 
in  dem  Schriftchen  Von  den  Grazien  des  Kleinen'  1769  als  unsittlich,  die 
Anhänger  Klopstocks,  insbesondere  Gerstenberg  ^"  Hessen  ihn  ihre  Feindschaft 
gegen  Klotz  entgelten.  Herder  verwarf  die  erotische  Spielerei  zwischen 
Männern,  Goethe  schalt  das  Rühmen  seines  guten  Herzens,*'  Nicolai  karrikicrte 
ihn  als  den  Dichter  'Säugling'  in  seinem  Roman  'Sebaldus  Nothanker'  1773 
und  selbst  Wieland  nahm  sich  seiner  nicht  an.  Es  war  eine  ungenügende 
Abwehr    dass   Gleim  1773    seine    Freunde    in  Halberstadt    zu   Stachelversen 

37)  In  Schwaben  dichtete  Telynhanl  d.  i.  Gottloh  Davtd  Hartmann  (geb.  17.52,  gest.  1775 
in  Mitau.  wohin  Sulzer  ihn  für  das  Gymnasium  empfohlen).  'Hinterlassene  Schriften'  hg.  von 
Wagenseil,  Gotha  1779.  Anfänglich  ein  heftiger  Gegner  Goethes,  ward  er  durch  perscpnliche 
Bekanntschaft  umgestimmt  und  liebte  wertherisch  Frau  von  der  Recke  §  162,  30:  Goethe- 
jahrbuch    1H88    S.  128   fgg.  38)    Beide    zu    Berlin.     Von    den    'Sämtlichen    poetischen 

Schriften',  Lpz.  177i»,  erschien  nur  der  ei-ste  Teil.  39)  Leben  (von  Ittner)  im  8.  Band  der 

'Sämtlichen  Werke'  Zürich  1807—22  uö.,  wo  indessen  manche  der  früheren  Schriften  fehlen, 
welche  in  den  'Sämtlichen  Werken'.  Halberstadt  1770—72  III  zu  finden  sind.  'Ungedruckte 
Briefe  von  und  an  .1.  G.  .Jacobi'  hg.  v.  E.  Martin  (QF.  2),  Strassburg  1874;  Martin  und  Scherer 
Z. f. d.  A. 20, 324 fgg.  G.  Kanschoö",  Über .Ja.obis  Jugendwerke.  Diss.  Berl.  1892.  40)  S. auch 
Weilen  Vjsch.  f.  Lit.-gesch.  3,  178.         41)   Fraukt'  gel.  Auz.  1772  (Xeudr.  §  159,  73  S.  670). 


§  155  G.  JACOBI,  MICHAELIS.  431 

gegen  die  Kritiker  aufforderte,  welche  überdies  ungedruckt  blieben.'*-  Jacobi, 
den  besonders  der  Yorwurf  der  Rcligionsspötterei  tief  gekränkt  hatte/''  ent- 
sagte bereits  17G9  dem  Spiel  mit  Amor;  die  sittliche  Grazie  ward  sein  Ideal, 
dem  seine  vielgesungenen  Lieder  und  seine  Singspiele,'*'*  oft  mit  zarter  Ein- 
flechtung  perscenlicher  Beziehungen,  einen  liebenswürdigen,  wenn  auch  der 
Kraft  ermangelnden  Ausdruck  verliehen.  Die  tiefe  Empfindung,  mit  welcher 
er  das  beste  Erdenglück,  aber  zugleich  dessen  Vergänglichkeit  umfasste,  gab 
ihm  rehgioese  Lieder  ein  und  Hess  ihn  auch  katholische  Festtage  in  ihrer 
tiefmenschlichen  Bedeutung  verherrlichen.'*''  So  gewann  er  selbst  frühere 
Gegner  zur  Teilnahme  an  den  von  ihm  herausgegebenen  Zeitschriften:  Iris, 
Vierteljahrsschrift  für  Frauenzimmer',  Düsseldorf  1774 — 76  und  'Taschen- 
buch' 1795  fgg.  (von  1803—13  wieder  'Iris'  genannt).**' 

Gleim  und  sein  sonstiger  Kreis  nahmen  an  Jacobis  Bekehrung  nicht 
Teil.  So  hatte  Jon.  Benjamin  Michaelis  dem  Freunde  (aber  auch  Wieland) 
Anstoss  o-eseben,  als  er  eine  Amorstatuette  auf  Jacobis  Zimmer  zu  Ausfällen 
auf  dessen  geisthche  Gegner  benutzte.**"'*  Michaelis,  aus  Zittau  gebürtig,  starb 
26J8ehrig  zu  Halberstadt  1772:  hier  hatte  er  nach  entbehrungsreichen  Jugend- 
jahren ,  die  er  in  Leipzig  und  Hamburg ,  hier  als  Journalist  und  Theater- 
dichter verlebt,  eine  Zuflucht  gefunden.  Seinem  Schützer  Gleim  waren  schon 
seine  'Einzele  Gedichte',  Leipzig  17G9,*^  gewidmet:  Operetten*^  nach  Weisses 
Muster,  aber  mit  Zauberspuk  und  Sticheleien  auf  die  gleichzeitige  Litteratur; 
Satiren,  Fabeln  und  Episteln,*^  diese  mit  naiherem  Anschluss  an  die  franzoe- 
sischen  Vorbilder;    auch    sein   Anfang    einer  Travestie    der  Aeneis-''^  ist    von 

42)  (§  150,  18)  Mitteilungen  daraus  auch  bei  H.  Proehle,  Lessing  Wielaud  Heinse  (Berlin  1877) 
S.  '262  fgg.  43)  Diesen  deutete  ilim  auch  der  Hofprediger  Sack  bei  einem  Besuch  in  Berlin 
1770  an:  Knebels  Liter.  Nachlass  2,  61.  44)  'Elysiuin'  1770,  Thsedon  und  Naide"  1788  u.  a. 
45)  LB.  2,  943,  bes.  Nr.  III.  46)  Das  Taschenbuch  für  1795  erschien  zu  Kcjeuigsberg 

u.  Leipzig,  das  für  1798  u.  99  in  Basel,  das  'Überflüssige  T.  für  1800'  in  Hamburg,  das  'T.  für 
1802'  ebenfalls,  die  spictere  'Iris'  in  Zürich.  46  a)  Vgl.  Witkowski  Vierteljschr.  III,  509  fgg. 
47)  Die  spseteren  sind  gesammelt  iu  M.  ß.  Michaelis  Poetische  Werke',  I,  Giessen  1780.  Vorge- 
druckt sein  Leben  von  Ch.  H.  Schmid,  1775.  Gesamtausgabe  Wien  1791.  Seine  Autobio- 
graphie ist  im  Neuen  Lausitzischeu  Magazin  1880  zu  finden;  der  Herausgeber  E.  G.  Wilisch 
hat  auch  eine  Characteristik  des  Dichters  gegeben:  Festschrift  des  G^'mn.  zu  Zittau  1886; 
darin  Ungedruclit^s    aus    dem    Nachlass    in   Halberstadt.  48)   'Walmir   und    Gertraud' 

(worin  er  die  rührende  Komcjedie  in  das  lyrische  Drama  überzutragen  versuchte),  'Je  unna- 
türlicher je  besser'.  Für  sich  erscbienen  'Amors  Guckkasten'  und  Hercuh-s  auf  dem  Oeta' 
Lpz.    1772.  49)   'Die    Grieber   der   Dichter',   1772,   gibt   eine   gute  Übersicht   über   die 

damalige  Litteratur.  'Die  Kuustrichter,'  eine  Epistel,  richtet  sich  au  Dorat,  der  die  Einigkeit 
der  deutschen   Dichter  gepriesen    hatte.  50)  'Leben  und  Thateu   des   theuren   Helden 

Wackernagel,  Litter.  Geschichte.  II.  '■"■' 


432  NErilOrUDRUTSfllR   ZEIT.         XVTII  JAIIRII.  §  155 

dnrthor  hoointlusst.  rnselbständigor  sind  andoro  Fortsotzor  der  Gloimschon 
Anakivontik:  so  dor  llalborsttedtor  Ki.amkr  Ebkrharu  Kaul  Schmidt  (174G 
bis  1.S2.S):  doch  half  er  177(5  das  Sonett  wieder  in  die  deutsche  Litteratur 
einlühren/'' 

Neben  (Jleinis  Lyrik  fand  auch  die  ihr  jehnliche  J)ichtung  Wielands 
Nachahmer.  Ihre  Geistesverwandtschaft  mit  der  franzcesischen  Litteratur  musste 
sie  besonders  dort  empfohlen,  wo  deutsche  und  frauzcesische  Bildung  in  nsech- 
ster  Berührung  standen,  im  Eilsass.  Der  Strassburger  Ludwk;  Hkinkich 
Nicola Y  (geb.  1787,  seit  1769  im  Dienste  des  späteren  Kaisers  Paul,  geadelt 
und  in  hohen  Ehrenstollen,  gest.  zu  Wiborg  in  Finnland  1820)^-  dichtete  in 
freien  Versen  Erzählungen  nach  Bojardo  und  Ariost^^  oder  nach  altfraiizoB- 
sischen  Fabliaux,  verfasste  zwei  Trauerspiele  n<ach  den  franzcesischen  Kegeln 
und  bearbeitete  Lustspiele  Molieres  und  Cxoldonis;  auch  in  Oden,  Elegien  und 
Briefen,  sowie  in  Fabeln  nach  Lafontaines  Art  versuchte  er  sich,  wobei  ihm 
Ramler  Sprache  und  Vers  verbesserte.''* 

Berühmter  ward  sein  Freund  und  Landsmann  Gottlirb  Konrau  Pfkffel 
aus  Colmar  (173«)  —  1(S09).  An  der  Vollendung  seiner  Vorstudien  für  den 
diplomatischen  Dienst,  dem  ein  älterer  Bruder  sich  erfolgreich  gewidmet  hatte, 
durch  völlige  Erblindung  verhindert,  beschäftigte  er  sich  mit  der  Übersetzung 
und  Bearbeitung  franzoßsischer  Litteraturwerke,  und  1778 — 92  mit  der  Lei- 
tung einer  von  ihm  begründeten  protestantischen  Kriegsschule;  durch  die 
Revolution  um  sein  Vermoegen  gebracht,  erhielt  er  bei  der  Wiederherstellung 
der  Ordnung  ein  bescheidenes  Amt.  Poetische  Versuche'  von  ihm  erschienen 
zuerst^^  1701:  es  waren  Lieder  in  Weisses  Art,  auch  Oden  und  Hymnen. 
Denselben  Titel  gab  er  auch  seinen  spaeteren  Sammlungen,  von  denen  die 
letzte  zu  Stuttgart  1802 — 10  (X)  erschien.  Prosaische  Versuche",  ebenda 
1810—12  (X)  schlössen  sich  an,  meist  Familiengeschichten  auf  Grund  des 
zumal  in  der  ReY(dutionszeit  Erlebten.  Unberücksichtigt  Hess  er  spfeter  seine 
Dramen,  grosseuteils  Bearbeitungen  franzoesischer  Stücke,  welche  er  als 
Theatralische  Belustigungen'  Frankfurt  1760  —  74,  VI,  herausgab.    Von  seinen 


Aeneas',  in  einer  Romanzenstrophe  nnd  im  Tone  der  Gleimschen  Romanzen.  Für  diese  Ver- 
spottung der  Alten  hatte  Scarron  this  Beispiel  gegeben.  51)  §  14:2.  110.  K.  E.  K.  Schmidts 
Leben    und   auserlesene   Werke.    .Stuttgart.    III,    1826—28.  52)     Aus   dem   Leben   des 

Freiherrn  H.  L.  v.  Nicolay"  von  P.  v.  Gerschau.  Hamburg  1834.  53)  Zuerst  'Galwine' 

in    seehs    Gesängen.   Petersburg  1773.  54)    Seine    Dichtungen    sammelte    er    als  'Ver- 

mischte Gedichte".  IX.  Berlin  n.  Stettin  1778 -8G,  Theatralische  Werke",  II.  Königs- 
berg  1811,     Poetische    Werke'.     IV.    1817.  55)    In    drei    Bücheru,    Frankfurt    a.    M. 


§  155  NICOLAY,  PFEFFEL.  433 

selbständigen  Dramen  iieigen  Der  Einsiedler,  ein  Trauerspiel'  1701  und  sein 
Schieterspiel  'Der  Schatz',  1762,  weniger  Kunst ■''"'  als  sein  mit  Gesängen  aus- 
gestattetes Schauspiel  Thilemon  und  Baucis',  Strassburg  1763.  Am  besten 
gelangen  Pfeffel  volksmaessige  Erza^hlungen  und  Fabeln:  Geliert  war  hier  sein 
Vorbild,"^  seine  Quellen  aber  meist  franzoesische  Fabeln,'"*  denen  er  vielfach 
Beziehungen  auf  die  deutsche  Litteratur,  gegen  Lessings  Fragmente,  Goethes 
Werther  und  gegen  die  Stürmer  und  Dränger,  sowie  auf  die  franzoesische 
Revolution  unterlegte. 

Bei  Pfeffel  wie  schon  bei  Michaelis  war  als  Muster  auch  ein  sächsischer 
Dichter  zu  nennen,  welcher  sich  persoenlich  an  die  in  Sachsen  gebliebenen 
Bremer  Beitrseger,  insbesondere  an  Rabener  und  Geliert  anschloss.  Christian 
Felix  Weisse,  zu  Annaberg  1726  geboren,  lebte  zu  Leipzig  seit  1745  als 
Student,  seit  1750  als  Hofmeister,  seit  1762  als  Kreissteuereinnehmer  bis 
1804.''^  Mit  Lessing  früh  befreundet,  blieb  er  hinter  dessen  Fortschritten  als 
Dichter  zurück  und  verlor  auch  sein  Vertrauen,  als  er  in  der  'Bibliothek  der 
schoenen  Wissenschaften',  welche  er  vom  V.  Band  an,  1759,  von  Nicolai  über- 
nommen hatte  und  bis  1781  führte,  sich  nicht  dagegen  gewehrt  hatte  dass 
Klotz  ihn  gegen  Lessing  ausspielte.  In  derselben  schwächlichen,  wenn  auch 
gutmütigen  Gesinnung  verwertete  er  seine  leichte  Dichtergabe.  Als  Lyriker*^" 
dichtete  er  Scherzhafte  Lieder',  Leipzig  1758  uö.,  worin  er  Lessings  epi- 
grammatische Spitze  mit  dem  franzoesierenden  Refrain  Hagedorns  verband. 
Seine  'Amazonenlieder',  Lpz.  1760  uö.,  denen  er  spteter  auch  eine  Übersetzung 
des  Tyrtseus  beigab,  ahmen  auch  in  der  Form  Gleims  Grenadierlieder  nach,*^' 
nur  dass  sie  die  Empfindungen  von  hochherzigen  Msedchen  darstellen,  welche 
den  Geliebten  ins  Feld  ziehen,  kämpfen,    siegreich  zurückkehren  oder  fallen 

56)  8.  das  verwerfende  Urteil  von  Lessing,  Hamb.  Drain.  14  Stück.  Erich  Schmidt  hat  den 
'Schatz'  analysirt:  Anz.  z.  Zs.  f.  d.  Alt.  23,  138  fgg.  57)  Die  Fabeldichtung  Gleims  und 

Lichtwers  vergleicht  mit  der  Pfeffels  Ellinger  Zs.  f.  deutsche  Philol.  17,  314  fgg.  58)  Vgl. 

M.  PoU,  Die  Quellen  zu  Pfettels  Fabeln.  Diss.  Strassb.  1888;  hier  sind  auch  die  Schriften 
zur  Biographie  Pfeffels  verzeichnet  (Ehrenfried  Stoeber  1809.  Rieder  1820,  und  mehrere 
Artikel  von  August  Stoiber).  59)  Seine  'Selbstbiographie'  erschien  Lpz.  1806.  Litterar- 

historische  Würdigung  durch  J.  Minor,  'Ch.  F.  Weisse  und  seine  Beziehungen  zur  deutschen 
Litteratur  des  18.  Jhs.'  Innsbruck  1880.  Minor  gab  auch  Briefe  aus  Weisses  Nachlass 
heraus:  Archiv  f.  Lit. -gesch,  9,  453.  Briefe  Weisses  an  Ramler  durch  Schüddekopf 
Herrigs  Archiv  77,  1  fgg.  79,  149  fgg.  82,  241  fgg.  Vgl.  auch  'Lessings  Jugendfreunde: 
Ch.  F.  Weisse,  J.  F.  v.  Cronegk,  J.  W.  v.  Brawe.  F.  Nicolai"  hg.  von  J.  Minor  in 
Kürschners  D.    Nat.   lit.    72.  60)  'Kleine    lyrische    Gedichte   von    C.  F.  Weisse',    III, 

Lpz.   1772.  61)    Er  bestreitet  dies  mit   Unrecht:  Selbstbiogr.  92:  s.  Minor.  Weisse  64. 


434  NEUIKUMIDKlTSrirK  ZEIT.         XVIII  .lAIlini.  §  ir)5 

sehen. '"'"^  Spuuer ,  da  er  überhaupt  durch  die  Kritik  verstimmt,  sieh  mehr 
und  mehr  der  Kinderlitteratur  zuwandte  und  durch  seinen  KindertVeund' 
1775 — iS2'''-'  eine  neue  und  unbestrittene  Heliebtheit  sieh  erwarb,  dielitete  er 
auch  Kleine  Lieder  lur  Kinder,  zuerst  17t»<»/'*  Allein  sein  Hauptgebiet  war 
das  Drama.'-'  Zwar  im  IiUsts|)iele  kam  er  nicht  weit  über  das  den  Fran- 
zosen, hie  und  da  auch  llolhcrj;  nachgeahmte  Muster  von  Frau  (lottsched 
und  üellert  hinaus.  Mit  dem  'Witzling'  der  ersteren  vergleicht  sich  sein 
1751  gedichtetes  Stück  Die  Poeten  nach  der  Mode',  worin  der  Gottschedianer 
'Reimreich'  und  der  Bodmerianer  Dunkel'  sich  gleich  lächerlich  machen. 
Noch  älter  war  die  'Matrone  von  Ephesus',  welche  ebenfalls  oft  aufgefühit 
wurde  und  wie  andere  Stücke  Weisses  Lessing  zum  Wettbewerb  reizte."'' 
So  das  rührende  Lustspiel  'Die  Freundschaft  auf  der  Probe',  welches  Weisse 
1707  schrieb,  liier  wie  in  seiner  Amalia'  1705,*^'  welche  derselben  drama- 
tischen (rattung  angehterte,  hatte  er,  Lessings  Sara  nachahmend,  englische 
Verhältnisse  auf  die  Bühne  gebracht.  Eine  Mittelstellung  zwischen  dem  fran- 
zoesischen  und  dem  englischen  Theater  nahm  Weisse  ausdrücklich  für  das 
deutsclie  Trauerspiel  in  Anspruch,  und  so  bearbeitete  er  mehrere  Stücke 
Shakespeares  nach  den  franzoesischen  Hegeln,  indem  er  die  Handlung  zu 
vereinfachen  und  die  Einheit  von  Ort  und  Zeit  moeglichst  durchzuführen 
suchte:'"'*  Richard  JIF  1759,  Romeo  und  Julie' 1707.  Richard  III  war  wie 
der  schon  vorausgegangene ''^  'Eduard  IIP  in  Alexandrinern  abgefasst,  wie  die 
Matrone  von  Ephesus',  Julia  wie  die  übrigen  Lustspiele  in  Prosa,  die  zwi- 
schen ihnen  liegenden  Tragoedien  aus  der  griechischen  Sage  'Die  Befreiung 
von  Theben'  1704 ''^  und   Atreus'  1706    in   fünffüssigen  Jamben.     Das   letzte 

62)  <Tut  verteidifjt  er  sich  dac^egen  dass  man  die  Bezieliuiiir  auf  ein  bestimmtes  Vaterland 
vennisste:  als  Freund  Lessinifs  und  Kleists  einerseits,  als  Sachse  andererseits  gebunden,  konnte 
er  nur  allgemein  menschliche  Verhältnisse  darstellen,  welche  überdies  für  das  weibliche 
Gefühl  massgebend  zu  sein  pflegen.  ü3)  Weniger  getiel  sein  'Briefwechsel  der  Familie 

des  Kinderfreundes'  Lpz.  1784 — itL*.  XII.  04)  verlegt  zu  Flensburg,  spaeter  in   Leipzig, 

und    hier    mit  Melodien  von   Hiller.  65)    Beytrag   zum    deutscheu  Theater',  Lpz.    1709 

bis  G8.  V;  spwter.  teilweise  umgearbeitet:  'Trauerspiele',  Lpz.  1776 — 80.  V;  'Lustspiele' 
1783,  III.  66)  Weisses  Mustapha  und  Zeangir  war  durch  Lessings  Plan  1748  angeregt 

worden.  67)   Lessing  nennt  'Amalia'  Weisses  bestes  Stück:    Dramat.    '20.     Der  hier 

hervorgehobene  Zug  dass  die  verlassene  (Teliebte  in  Männerkleidern  ihrem  Treulosen  nachfolgt, 
war  schon  in  .J.  E.  Schlegels  'Triumph  der  guten  Frauen'  verwendet  worden.  68)  Lessing, 

Dramat.  73  zeigt,   mit   welchem   Misserfolg.  69)    Lessing   schützte    dieses   Trauerspiel 

gegen  fremden  Tadel  im  Litbr.  81  und  wünschte  nur  groesseren  Fleiss  in  Vers  und  Sprache. 
In  der  That  sagt  Weisse.  Selbsthiogr.  S.  Ifiß  dass  ihm  die  Ausarbeitung  einiger  von  seinen 
Trauersjiielen   nicht 'mehr  als  vierzehn  Tage  gekostet  habe.  7t))  Ciegeu  diese  wie  gegen 


§  155  WEISSE.  435 

Trauerspiel  Weisses  scbloss  sich  in  der  freien  Behandlung  von  Ort  und  Zeit 
an  GcBthes  Götz  an,  sein  'Jean  Calas'  1774,  den  er  deshalb  auch  als  histo- 
risches Schauspiel'  bezeichnete.  Weit  mehr  jedoch  als  mit  dem  gesprochenen 
Drama  glückte  es  Weisse  mit  dem  Singspiel;'^  ja  er  führte  hiermit  die 
deutsche  Oper  wieder  ein,  welche  sich  weiterhin  zu  immer  hoeheren  Leistungen 
entfalten  sollte.  Er  ging  freilich  auch  hier  von  der  Nachahmung  fremder  Vor- 
bilder aus:  zuerst  bearbeitete  er  ein  englisches  SingspieP^  in  der  Operette 
'Der  Teufel  ist  los',  welche  1752  in  Leipzig  von  der  Kochschen  Truppe  auf- 
geführt wurde;  er  brachte  auch  die  enghsche  Fortsetzung  als  'Der  lustige 
Schuster'  1759  auf  die  Bühne,  nachdem  ein  letzter  Versuch  Gottscheds  das 
Wiederaufleben  der  ihm  verhasston  Oper  durch  die  Behoerde  unterdrücken  zu 
lassen  nur  zu  seiner  Scliande  ausgefallen  war  (§  148,  76).  Ln  Winter  1759 
auf  1760  lernte  Weisse  in  Paris  auch  die  franzoesische  Operette  kennen,  deren 
Lustigkeit  weniger  lärmend  und  mit  rührenden  Zuthaten  gemischt  war,  nament- 
lich indem  hier  ländliche  Unschuld  mit  dem  Verderben  des  Hof-  und  Stadt- 
iebens  in  Gegensatz  trat.  Nach  solchen  franzoesischeu  Stücken  verfasste 
Weisse  'Lottchen  am  Hofe'  1767,  'Die  Liebe  auf  dem  Lande'  1768,  'Die 
Jagd'  1769,  'Der  Dorf  barbier'  1771,  und  liess  ihnen  noch  einige  freier  erfun- 
dene folgen:  'Der  Ärntekranz'  1770,  'Die  Jubelhochzeit'  1772.  Gesungen 
wurden  übrigens  nur  eingelegte  Lieder  und  Choere,  der  Dialog  selbst  war  in 
Prosa  abgefasst,  sogar  da  wo  franzoesische  Verse  zu  Grunde  lagen.  Immerhin 
durfte  sich  Weisse  rühmen  durch  seine  Singspiele,  deren  Lieder'^  mit  den 
leichten  Melodien  Hillers  überall  gesungen  wurden,  den  deutschen  geselligen 
Gesang  neu  angeregt,  fast  neu  hervorgerufen  zu  haben. 

Von  den  zahlreichen  Nachahmern  der  Singspieldichtung  Weisses  fand 
ausser  J.  B.  Michaelis  noch  der  Hamburger  Daniel  Schiebeler  (1741  —  1771) 
besondern  Beifall,  dessen  romantisch-komische  Oper,  Lisuart  und  Dariolette' 
zu  Leipzig  1768  mit  Hillers  Komposition  erschien;  auch  die  verwandte  Gat- 
tung der  Romanze  in  Gleims  Art  bereicherte  er.^^  Seine  'Auserlesenen  Ge- 
dichte' gab  Jon.  Joachim  Eschenbukg  Hamburg  1773  heraus.  Zu  Hamburg 
1743  geboren,  1820  zu  Braunschweig  gestorben,  wo  er  seit  1767  als  Lehrer 


Julie   richtete  sich  Bodmers  parodierende  Kritik  (§  149,  25).  71)  Gesaninielt  erschienen 

Weisses  "komische    Opern'.   II   Lpz.  1768.  zuletzt  III.    Leipzig  1777.  der  Herzogin  Amalie 
von  Weimar   gewidmet.  72)    The   devil   to  2'(^y,    wovon    Borck,   der  Übersetzer  von 

Shakespeares   Julius   Csesar.    bereits   eine    Verdeutschung   geliefert    hatte,    welche    1743    zu 
Hamburg  und  sonst  mit  grossem  Beifall  gespielt  wurde.  78)  So  stammt  das  Lied  'Ohne 

Lieb'  und  ohne  Wein  was  wser'  unser  Leben'  aus  'Der  Teufel  ist  los".  74)  'Romanzen  mit 


430  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XVHT  JAHRU  §  155 

am  Camliiiuni  lobte,  hat  auch  Esclieiiburfjf  sicli  im  Siiig.spiol  und  sDiiHt  poe- 
tisch versucht,  über  weit  mehr  durch  Jjchrbücher'*'  um  die  schcene  Litterat ur 
sich  verdient  ;j;einacht. 

Doch  fehlte  es  auch  dem  ernsteren  Drama  nicht  an  Pflege  neben  Les- 
sing und  Weisse.  Zwei  junge  Dramatiker  bewarben  sich  um  den  Preis,  den 
Nicohii  in  der  Bibliothek  der  schoeneu  Wissenschaften  auf  das  Jahr  17ö7  für 
das  beste  Trauers})iel  aussetzte:  beide  erschieneu  des  Preises  würdig,  beide 
starben,  ehe  sie  die  Zucrkenuung  erfuhren.  Zu  Weisse,  noch  mehr  jedoch 
zu  CJellert"  stand  in  nahem  Verhältnisse  Jon.  Frikdrich  von  Cronegk  (geb. 
zu  Ansbach  1731,  gest.  zu  Nürnberg  1758):  sein  Codrus'  zeigt  ebenso  wie 
die  unvollendet  hinterlassene  Traga'die'®  Olint  und  Sophronia'  (nach  Tasso) 
die  Beschränkungen  der  fran/.oesischen  Bühne. ^'  Dagegen  genoss  Joachim 
Wiluklm  von  Brawe  (geb.  zu  Weissenfeis  1738,  gest.  zu  Dresden  1758)  in 
Leipzig  seit  1757  auch  den  Umgang  Lessings  und  dessen  bürgerliches 
Trauerspiel  führte  er  in  seinem  Treygeist'  weiter.  Von  Lessing  nahm  er 
wohl  auch  den  fünffüssigen  Jambus  in  seinem  Brutus'  an,  wozu  er  durch 
Cronegks  Codrus  angeregt  wurde.''* 

Eben  dies  Stück  erweckte  auch  in  Wien  einen  Dramatiker,  der  noch 
in  weit  spaeterer  Zeit  die  frauzoesischen  Formen  fest  hielt.  Der  spsetere 
Feldmarschall-lieutenant  Cornelius  Hermann  von  Ayrenmoff"  (1733  bis 
1819)  liess  1766  einen  Aurelius',  1768  Hermanns  Tod',  1774  'Tumelicus' 
aufführen,  erstere  beiden  wie  'Antiope"  und  Kleopatra'  in  Alexandrinern  ver- 
fasst,  'Tumelicus'  in  Prosa  mit  Bardenchoeren ;  für  Virginia',  1790  aufgeführt, 
hatte  der  Dichter  den  fünffüssigen  Jambus  angenommen.  Mehr  allgemeinen 
Beifall  ftmden  Ayrenhoffs  Lustspiele,  von  denen  'Der  Postzug  oder  die  nobeln 

Melodien  von  Hiller'  Hamburg  1768.  1771  'Neue  Romanzen'.  74  a)  Vgl.  auch  §  153,  24. 

75)  Verwandt  mit  dessen  Lebensauffassung  ist  die  Stimmung  in  Cronegks  Einsamkeiten", 
Zürich  1757,  wobei  ihm  Youngs  'Nachtgedanken'  und  die  Gedichte  von  Creuz  zunaechst  vor- 
schwebten. Die  Lustspiele  Cronegks  erinnern  an  J.  E.  Schlegel  und  Weisse.  76)  Von 
Roschmann  vollendet  und  1767  zu  Hamburg  autgeführt:  Lessings  Dramat.  1—7.  Diese  Fort- 
setzung s.  in  Schnorrs  Archiv  9,  64.  77)  Die  'Schriften'  Cronegks  gab  sein  Freund  Uz 
heraus,  II,  Leipzig  1760.  61  uö.  Zu  Strassburg  1775  (G(pdeke  §  215.  8.  6:  nach  Minor  1776) 
erschienen  Blüthen  des  Geistes  des  Freiherru  von  Cronegk  in  zweyen  von  seinen  bisher 
nie  gedruckten  Schriften'.  78)  Brutus  (Tod  bei  Philippi)  erschien  in  den  'Trauerspielen 
des  Herrn  von  Brawe',  Berlin  1768:  der  'Freigeist'  war  schon  1758  in  Nicolais  Bibliothek 
gedruckt  worden.  Für  beide  Stücke  hatte  Youngs  'Revenge'  viele  Züge  dargeboten.  Vgl. 
Sauer.  J.  \V.  v.  Brawe,  der  Schüler  Lessings,  Strassburg  1878  (QF.  30).  79)  Bio- 
graphie von  Karl  Berndt,  Wien  1852.     Die  'Werke'  Ayrenhoffs  erschienen  gesammelt  1772 


§  155  CRONEGK,  BRAWE,  THÜMMEL,  MUSÄUS.  487 

Passionen'  1769,  auch  von  Friedrich  II  in  seiner  Schrift  de  la  Utteratarc 
Allenmnde  gelobt  ward.  'Die  gelehrte  Frau'  1771)  diente  in  zweimaliger  Be- 
arbeitung der  litterarischen  Satire  gegen  die  Geniezeit  und  gegen  die  Roman- 
tiker.«" 

Wenn  Ayrenhoff  im  Lustspiel  die  Verkehrtheiten  der  Vornehmen  aus 
eigner  Kenntnis  darstellte,  so  benutzte  Thümmel  zu  gleichem  Zwecke  die  be- 
quemere Form  des  komischen  Romans,  wobei  er  als  kühl  witzelnder  ilot- 
mann,  wie  jener  mit  der  derberen  Laune  des  Soldaten  verfuhr.  Moritz 
August  vox  Thümmel«*  war  zu  Schoenfeld  bei  Leipzig  1738  geboren,  stand 
seit  1761  als  Kammerjunker,  1768—83  als  Minister  im  Dienste  des  Hofes 
zu  Coburg  und  starb  hier  1817.  Sein  Freund  Weisse  gab  1764«^  seine  in 
Prosa,  aber  mit  den  Wendungen  des  komischen  Epos  geschriebene  'Wil- 
helmine' heraus;  1771*^  folgte  'die  Inoculation  der  Liebe',  eine  schlüpfrige 
Erzaehlung  in  freien  Versen  nach  Wielands  Muster;  1791 — 1805-^  Reise  in 
den  mittäglichen  Provinzen  von  Frankreich  im  J.  1785  bis  86',  und  hier 
mischte  sich  in  die  feine  Schilderung  des  Übergangs  von  Sproedigkeit  und 
übler  Laune  zu  ausgelassener  Lebenslust  der  Spott  gegen  die  damals  von  der 
Revolution  bereits  beseitigten  Missstände  in  der  katholischen  Kirche,  gegen 
Jesuitenmoral  und  Reliquienverehrung.  Das  leichte  Talent  Thümmels  sprach 
sich  auch  in  den  eingemischten  Versen  aus. 

Harmloser  und  zahmer,  beschränkte  sich  mehr  auf  litterarische  Verhält- 
nisse JoH.  Karl  August  Mus^us  (geb.  zu  Jena  1735,  gest.  als  Gymnasial- 
professor zu  Weimar  1787).*^''  Dem  englischen  Familienroman  Richardsons 
setzte  er  seine  Parodie  'Grandison  der  Zweite  oder  Geschichte  des  Herrn 
von  N**  in  Briefen  entworfen'  Eisenach  1760 — 62,  HI,  entgegen.  Wie  hier 
der  Edelmut  des  Originals  durch  die  Überti-eibungen  eines  schwärmerischen 
Nachahmers  lächerlich  wird,  so  lernt  ein  durch  Lavaters  Physiognomik  Über- 
spannter deren  Trüglichkeit  einsehen  in  den  'Physiognomischen  Reisen.  Voran 
ein  physiognomisches  Tagebuch',  Altenburg  1788/89,  IV:  in  beiden  Werken 
schloss  sich  Musgeus  an  Wielands  Don  Silvio  an.     Und  nach  dem  Muster  von 

(anonym).  1789.    IV:    1803    uö.    in    VI   Bänden.  80)    Xorh    in    der    Vorrede   zu  den 

'.Sämtlichen  Werken'  1803  wird  die  Litteraturverderbnis  auf  Shakespeare  'den  kunst- 
geschmack-    und    sittenlosesten    Meistersänger'  zurückgeführt.  81)    J-  E.   von   Grüner, 

Leben  M.  A.  v.  Thümmels.  Leipzig  1819,  als  VI!  Band  zu  Thümmels  'Sämtlichen  Werken",  VI, 
Leipzig  1811 — 19.  82)  o.  0.  spsetere  Auflagen  in  Leipzig  und  ohne  den  Nebentitel  'oder 

der  verraaehlte  Pedant'.  83)  Zu  Leipzig.  84)  zu  Leipzig,  in  10  Bänden.  85)  Sein 

Lebensbild  in  den  'Nachgelassenen  Si-hriften  herausgegeben  von  seinem  Z*gling  A.  v.  Kotzebue', 


438  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVHI  JAHUH.  §  155 

Wiclaiuls  Boarl)cifunt^  tVanzfPsischcr  Ma^rchon  passte  er  die  deutsclien,*"''  die 
er  z.  T.  aus  iloin  Munde  des  Volkes  3chr>pfte,  durch  «gelehrte  Anspielungen 
und  milden  Spott  dem  (Tcschmacke  der  Zeit  an.  Eine  von  ihm  begonnene 
Sammlung  von  Erzählungen,  die  'Straussfedern' (I  Bd,  Berlin  u.  Stettin  1787) 
ward  von  Jon.  Gottwkrth  Miillkr  (aus  Hamburg,  geb.  1743,  gest.  zu 
Itzehoe  1828),''^  spa^ter  von  Tieek  fortgesetzt.  Müllers  'Siegfried  von  Linden- 
berg' (Hamburg  1779  uö.)  greift  auf  das  deutsche  Volksbuch  zurück,  aber 
nur  um  Verhältnisso  in  der  Umgebung  des  Verfassers  zu  verspotten. 

Neben  dem  komischen  Roman  ward  auch  der  ernste  nach  dem  Muster 
der  Engländer  in  Angriff  genommen.  Nach  Geliert  fand  hierdurch  besonderen 
Beifall  Jon.  Timotheus  Hermes  (geb.  zu  Petznick  bei  Stargard  1788,  seit 
1772  Prediger  in  Breslau  und  hier  gest.  1821).*'*  Er  suchte  Richardsons 
breite  Darstellung  mit  der  überraschenden  Anlage  Ficldings  zu  verbinden. 
Nachdem  er  'Miss  Fanny  Wilkes'^''  noch  auf  englischem  Boden  hatte  spielen 
lassen,  begann  er  auch  deutsches  Leben  mit  demselben  willkürlichen  Wechsel 
selbst  der  Charactere  darzustellen  :  Sophiens  Reise  von  Mcmel  nach  Sachsen'."" 
Spa^terc  Arbeiten  stiessen  auch  durch  die  Gemeinheit  der  dargestellten  Scenen, 
welche  die  beigefügte  Moral  nicht  entschuldigte,  einen  reineren  Geschmack 
zurück.'" 

Über  diese  und  andere  Romane  erhob  sich  durch  wahres  Gefühl  und 
feine  Ausführung  das,  was  Theodor  Gottlieb  Hippel''-^  leistete.  Geb.  1741 
zu  Gerdaucu  in  Ostprcussen,  starb  er  1796  zu  Kcenigsberg  als  angesehener 
Beamter,  nachdem  er  sich  um  diese  Stadt  wie  um  das  eben  an  Preussen 
gefallene  Danzig  sehr  verdient  gemacht  hatte.  Einen  'Centralkopf  nannte 
ihn  Kaut,  mit  dem  er  ebenso  wie  mit  Hamann  befreundet  war.  Seine  Schrift- 
stellerei '■'■^  verheimlichte  er  sorgfältig:  hier  ergossen  sich  seine  jugendlichen 
Erinnerungen  an  ein  durch  die  Verhältnisse  beschränktes,  aber  liebevolles 
Familienleben,^^  und  seine  Neigung  zur  Theologie,  die  er  zuerst  studiert 
hatte;    hier   pries  er  die  Ehe,'*^   obschon  er  selbst  Hagestolz  blieb;    hi«r  be- 

Lpz.  1791.  Moritz  Müller,  J.  K.  A.  Musaeus.  Jena  18l>7.  86)  Volksmaerchen  der  DeutsohA"! 
Gotha  1782 — 86  VI  uö.  87)  H.  Schroeder.  J.  G.  Müller  nach  seinem  Leben  und  «einen 

Werken    dari^estellt.    Itzehoe    1843.  88)    Vgl.    namentlich    Rob.    Prntz.    Menschen    u. 

Bücher.    Lpz.  186:.'.  89)    «o   gut   aiis    aus  dem  Englischen  übersetzt'.  Leipzig  1766.  II. 

90)  Leipzig  1769 — 73  V.  in  spateren  Auflagen    VI.  91)  Spott   der    Xenien    über  die 

freche  Erzie.hlnng  'Für  Töchter  edler  Herkunft'.  Lpz.  1787.  92)  1790  lies  er  den  Adel 

der  Familie  erneuen.  Selbstbiographie  in  Schlichtegrolls  Nekrolog  1796.  wozu  Nachträge 
eines    Freundes    im  Jahrgang    1797.  93)    Sämtliche  AVerke".    Berlin   1827—38.   XIV. 

94)  Vgl.  LB.  3,  731  fgg.  95)    Über  die  Ehe'.  Berlin  1774  uö.     Die  bürgerliche  Ver- 


§  156  HIPPEL.     WINCKELMANN.  439 

kämpfte  er  das  Ordenswesen,  da  er  doch  selbst  citriger  Freimaurer  war.  Seine 
Hauptwerke  sind  'Lebenslaufe  nach  aufsteigender  Linie""'  und  Kreuz-  mid 
Querzüge  des  Ritters  A-Z.'"*^  In  dem  letzteren ,  mehr  komisch-satirischen 
Roman  steigert  sich  die  Neigung  den  Stil  übermsessig  zu  würzen;  die  früher 
gern  und  glückhch  angebrachten  Gespreeche  nehmen  ab.  Seine  in  der  Jugend 
verfassten  Lustspiele  Der  Mann  nach  der  Uhr  oder  der  ordentliche  Mann' 
und  'Die  ungleichen  Nebenbuhler'^'*  veralteten  rasch  wegen  ihres  allzu  pro- 
vinzialen  Characters."^ 

§  156. 
Der  poetischen  Thsetigkeit  ging,  dem  Grundzug  des  Jahrhunderts  ent- 
sprechend, eine  theoretisch-kritische  zur  Seite,  welche  sich  in  Lessing  wie 
später  bei  Herder  mit  jener  innig  verband,  und  sonst  zwar  für  sich  bestand, 
aber  doch  auf  die  Produktion  Anderer  erhebhchen  Einfluss  übte.  Lessings 
Laokoon  knüpfte  weiterführend  an  eine  Schrift  von  Winckelmann  an ,  die 
erste,  mit  welcher  dieser  Begründer  der  Kunstgeschichte,  nach  langer,  müh- 
samer und  entbehrungsreicher  Vorbereitungszeit  sogleich  sein  eigentümliches 
Gebiet  betreten  hatte.  Jon.  Joachim  Win'ckelmann  *  war  der  Sohn  eines 
armen  Schuhflickers  in  Stendal;  1717  geboren,  hatte  er  Jahre  lang  erst  im 
Schulfach,  dann  als  Gehilfe  des  Geschichtsforschers  H.  von  Bünau  untergeord- 
nete Dienste  geleistet,  bis  1754  der  Übertritt  zur  katholischen  Kirche  ihm 
erst  in  Dresden  groessere  Freiheit,  dann  seit  1755  in  Rom  ein  ausschliesslich 
seinen  Studien  gewidmetes  Leben  ermoeglichte,  dem  jedoch  1768  bei  der 
Rückkehr  von  einer  Wiener  Reise  in  Triest  der  Dolch  eines  Raubmörders 
ein  jsehes  Ende  bereitete.  Auf  die  1755  erschienenen  'Gedanken  über  die 
Nachahmung  der  griechischen  Werke  in  der  Malerei  und  Bildhauerkunst' 
folgte  1764^  sein  Hauptwerk  'Geschichte  der  Kunst  des  Altertums'.  Hatte 
er  dort  als  das  vorzüglichste  Merkmal  der  Meisterwerke  der  Kunst  die  edle 
Einfalt   und   stille  Groesse  bezeichnet,    so   stellte  er  in  dem  spseteren  Werke 


besserung  der  Weiber'  1792.  96)  Berlin  IV  1778—81,  uö.  97)  Berlin  II  179.3.  94. 

98)  ersteres  Koenigsberg  1760,  letzteres  ebenda  176-3.  99)  Lessings  Dramaturgie  8t.  22. 

§  loo.  1)  Gcethe.  'Winckelmann  und  sein  Jahrhundert  in  Briefen  und  Aufsätzen', 
Tübingen  1805.  C.  Justi.  'Winckelmann,  Sein  Leben,  seine  Werke  und  seine  Zeitgenossen", 
II,  Leipzig  1866—72.  Erst  1882,  aus  der  Handschrift  gedruckt,  erschien  zu  Kassel 
Herders  Denkmal  Joh.  Winckelmanns'.  von  A.  Duncker  herausgegeben.  2)  Beide  Schriften 
erschienen  in  Dresden.  Neuerer  Abdruck  beider  mit  Einleitung  von  J.  Lessing.  Berlin  1870. 
Winckelmanns  Werke  wurden  herausgegeben  von  Fernow.  H.  Meyer  und  Joh.  Schulze.  VIII, 
Dresden    1808 — 20.      'Sämtliche    Werke"    hg.    von     Jos.    Eiselein,    XIII.    Donaueschingen 


440  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVHI  JAHRH.  §  156 

das  Verhältnis  der  griecliischeii  Kunst  zur  orientalischen  und  zur  rd'mischen 
und  ihre  zeitliche  Entwickelung  bis  zur  Blüt<>  und  zum  Verfalle  dar.  Dabei 
bewies  er  zugleich  eine  damals  noch  seltene  Kenntnis  der  griechischen  Jjitte- 
ratur  uud  ein  aus  Geistesverwandtschaft  hervorgegangenes  Feingefühl  für  ihre 
Vt)rzüge;  er  wusste  überdies  seinen  (iedanken  hierüber  einen  musterhaft  klaren 
und  markigen  Ausdruck  zu  verleihen,  der  ihm  unter  den  Prosaisten  des 
Jahrhunderts  eine  vorzügliche  Stelle  anweist,^  Indem  er  aber  zuerst  die 
richtige  Wertschätzung  der  griechischen  Kunst  lehrte/  wies  er  auf  diesem 
Gebiete  die  Anmassungen  der  gleichzeitigen  französischen  und  italienischen 
Künstler  ebenso  zurück,  wie  Lessing  der  Nachbetung  Voltaires  in  Deutsch- 
land ein  Ende  gemacht  hatte. 

War  Lessing  mit  Winckelmann  durch  das  gemeinsame  tiefere  Ver- 
ständnis der  griechischen  Kunst  und  Kunstlehre  verbunden,  so  gingen  zwei 
seiner  Jugendfreunde,  mit  denen  er  in  Berlin  \l')i  bekannt  wurde,  von  den 
Anregungen  der  englischen  Litteratur  aus:  Mendelssohn  und  Nicolai.  Moses 
Mendelssohn'*  war  zu  Dessau  172!J  geboren  und  kam  1742  nach  Berlin,  wo 
er  seit  1750  im  Hause  eines  Seiden  Warenfabrikanten  erst  als  Lehrer,  dann 
als  Buchhalter,  endlich  als  Teilhabor  sich  zu  Wohlsttmd  und  glücklichem 
Familienleben  durcharbeitete.  Kränklich^  verwachsen,  unter  der  Bedrückung 
seiner  Glaubensgenossen,  ja  selbst  unter  deren  eigenem  Widerstreben  leidend, 
hatte  er  durch  Sanftmut  und  Klugheit  alle  Schwierigkeiten  überwunden  Zum 
Schriftsteller  machte  ihn  Lessing,  welcher  seine  erste  Schrift  'Philosophische 
Gespra^che^  1755  in  den  Druck  gab,  und  gemeinsam  mit  Mendelssohn  die 
Schrift  über  Pope  (§  154,  4<S)  verfasste.  Von  Lessing  angeregt,  an  Baum- 
garten anknüpfend,  ganz  besonders  aber  Shaftesbury  nachahmend,''  widmete 
sich  Mendelssohn  ästhetischen  Untersuchungen  über  die  Empfindungen,  über 
das  Erhabene   und  Naive  in  den  sch(jenen  Wissenschaften^  u.  se.    Seine   phi- 

1825—29.  3)  Vgl.  Justi  1,  1.  429  fgg.    2,  2.  224.  4)  LB.  3,  3ö5  fgg.  5)  Moses 

Mendelssohns  Gesanimelte  Schriften.  Nach  den  Originaldrncken  und  Handschriften  hg.  v. 
(j.  B.  Mendelssohn",  VII,  Leipzig  1843  (mit  «Icr  Lebensgeschichte  und  mit  einer  Einleitung 
in  M's  philosophische  Schriften  von  Ch.  \.  Brandis).  —  M.  Kayserling,  'Moses  Mendelssohn, 
sein  Leben  u.  seine  \Verke\  Leipzig  1862.     ■'1888.  6)   Vgl.  über  Mendelssohns  philoso- 

phische u.  testhetische  Schriften:  Danzel,  Gesannnelte  Aufsätze  hg.  v.  0.  Jahn,  Leipzig 
1855  S.  85 — 98.  (t.  Kanngiesser.  Die  Stelluu<r  M.  Mendelssohns  in  der  Geschichte  der 
Aesthetik,  Frankf.  a.  M.  1868.  M.  Brasch,  M.  Mendelssohns  Schriften  zur  Philosophie, 
Aesthetik  und  Apologetik.  11.  Lpz.  1880.  Braitinaier,  (iesch.  d.  poet.  Theorie  u.  Kritik 
2,    72 — 279.  7)  So    übersetzte    er    bellen   httres  im  Gegensatz  zu  den  beaux-arts,    von 

denen  jene    willkürliche,    diese  natürliche  Zeichen   bei    ihrer  Nachahmung   in    Anwendung 


§  156  MENDELSSOHN.  441 

losophische  Schriften'  sammelte  er  1761,  II.  Viele  Äusserungen  greifen  den 
Ausführungen  Lessings**  vor;  Anderes  bildet  eine  Vorstufe  zu  Kiint;''  ganz 
besonders  aber  hat  er  auf  Schiller'^  eingewirkt.  Wie  dieser  es  spseter  gethan, 
versuchte  schon  Mendelssohn  Klarheit  mit  Schmuck  und  Schwung  der  Sprache 
zu  verbinden,  ward  aber  zuweilen  weitschweifig.  Auch  dass  er  sich  wesent- 
lich auf  die  Muster  der  französischen  Litteratur  beschränkte  und  die  franzo;- 
sischen  Theorien  festzuhalten  suchte,  namentlich  aber  seine  Abneigung  gegen 
die  scharfen  Gattungsgrenzon,  welche  Lessing  aufstellte,  Hess  Mendelssohn  nur 
als  den  Waffentr<eger  Lessings  erscheinen.  In  diesem  milderen  Sinne  beurteilte 
er  auch  die  gleichzeitige  Litteratur  in  den  von  Nicolai  herausgegebenen  Zeit- 
schriften bis  zum  J.  1768.  Seit  dieser  Zeit  beschäftigte  er  sich  mehr  und 
mehr  ausschliesslich  mit  der  ihm  besonders  angelegenen  Metaphysik ,  insbe- 
sondere mit  den  Fragen  nach  dem  Dasein  Gottes  und  der  Unsterblichkeit  der 
Seele.  Schon  1767  war  sein  Thtedon  oder  über  die  Unsterbhchkeit  der 
Seele  in  drei  Gesprsechen'  erschienen,  worin  er  Plato  zu  Grunde  gelegt,  aber 
die  von  der  franzoesischen  Philosophie  aufgeworfenen  Zweifel  aus  der  Leibnitz- 
Wolffschen  Philosophie  zu  widerlegen  gesucht  hatte.  1785  schloss  er  seine 
'Morgenstunden  oder  Vorlesungen  über  das  Dasein  Gottes'  an.  Hier  hatte  er 
mit  der  Philosophie  seinen  jüdischen  Glauben  in  Einklang  gebracht,    wie  er 


bringen.  8)    So    stimmt    zu    Lessings    Laokoon    folgende    Stelle    aus   einer   Reeension 

Mendelssohns  von  1758.  Im  Anschluss  an  Pope,  welcher  Thomsons  Jahreszeiten  getadelt 
und  die  malerische  Poesie  für  etwas  ebenso  ungereimtes  erklärt  hatte  als  eine  Mahlzeit 
von  lauter  Brühen,  bemerkt  er:  'Ohne  uns  eigentlich  wider  die  malerische  Poesie  zu  erklie- 
ren, glauben  wir  dass  die  [gegen  Pope  angeführten]  fjründe  nichts  beweisen.  Der  Pinsel 
ist  unstreitig  weit  glücklicher  in  der  Vorstellung  der  Aussichten  und  Gregenden  der  Natur 
als  die  Sprache.  Die  sichtbaren  Gegenstände,  welche  bloss  durch  Ebenmass  und  Farben 
entzücken  sollen,  werden  am  lebhaftesten  durch  Farben  und  Ebenmass  vorgestellt,  da  man 
sich  in  einer  Beschreibung  öfters  ziemlich  anstrengen  muss,  um  sich  durch  die  Association 
der  Begriffe  der  beschriebenen  (jegenstäude  mit  ihren  Farben  und  Verhältnisgr(Pssen  zu 
erinnern.  Zudem  ergötzen  die  schcenen  Landschaften  mehrenteils  im  Ganzen;  und  verlieren 
ihre  Annehmlichkeit,  wenn  sie  durch  Hilfe  der  Worte  nach  und  nach  der  Einbildungskraft 
vorgestellt  werden.  So  verschwistert  die  Dichtkunst  und  die  Malerei  sind,  so  hat  doch 
jede  Kunst  ihre  angewiesenen  (iränzen.  die  durch  das  Werkzeug  der  Sinne,  für  welche  sie 
arbeiten,    bestimmt    werden.     (Werke    IV,    1,    396.)  9)  Mendelssohn    nahm  schon  ein 

besonderes  'Billigungsvermoegen'  an,  welches  ein  Wohlgefallen  ohne  Begehren  in  sicli 
schliesse  (nach  Burke).  10)   Wenn  Mendelssohn  den  Reiz  (nach  Hogarth,  der  Homer  an- 

führt) als  die  SchoMiheit  in  der  Bewegung  bezeichnet,  so  wiederholt  dies  Schiller:  aber  auch  die 
Beziehung  von  der  aisthetischen  Wirkung  auf  die  iSittlichkeit  ist  ganz  a^hnlich  bei  beiden. 
Schillers   'Künstler'   stellen   Mendelssohns  Ansichten   in    kulturhistorischer  Entwicklung  dar. 


442  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XYHI  JAHKH.  §  156 

überhaupt  dioson  mit  den  Formen  der  deutschen  liihlung"  zu  umkleiden 
bestrebt  war.  Bei  diesen  religicesen  Uberzeugun<;en  war  es  ihm  tief"  schmerz- 
hch,  als  Friedricli  Jaoobi  Lessiniijs  Bekenntnis  zum  Spinozismus '^  veröffent- 
liclite.  Er  setzte  ihm  die  Schrift  'An  die  Freunde  Lessings'  entgegen,  starb 
aber  noch  vor  ihrem  Ei-scheinen  1786. 

Chri.stoi'ii  Friedrich  Nicolai  war  von  derberer  Natur.  In  BerHn,  wo 
er  173'i  geboren  war  und  1811  starb,  erwarb  er  sich  als  .Buchhändler  eine 
angesehene  und  einHussreiche  Stellung.'^  Wie  Mendelssohn  hatte  er  seine 
Bildung  nicht  auf  der  Universita»t,  sondern  durch  ha'uslichen  Fleiss  gewonnen. 
Sein  Bestes  leistete  er  in  seinen  ersten,  dem  Vorbilde  Lessings  und  J.  E. 
Schlegels  nachstrebenden  Schriften,  zumal  in  den  Briefen  über  den  itzigen 
Zustand  der  schoonen  Wissenschaften  in  Deutschland',  Berlin  1755,  worin  er '^ 
Uottsched  und  die  Züricher  zugleich  verwarf  und  Wieland  auf  den  rechten 
Weg  leiten  half.  Aber  schon  die  Abhandlung  vom  Trauerspiele',  womit ''' 
er  seine  'Bibliothek  der  scheinen  Wissenschaften'  1757  eröffnete,  rief  Lessings 
Bericlitigungen  hervor,  und  in  dem  daran  anknüpfenden  Briefsvechsel  über- 
liess  Nicolai  bald  Mendelssohn  das  Antworten.  An  den  von  ihm  verlegten 
'Briefen  die  neueste  Littoratur  betreffend'  (1759  — (55)  hatte  er  wenig  Anteil. 
Dagegen  wusste  er  die  Allgemeine  deutsche  Bibliothek'  1765 — 1806"'  zum 
massgebenden  Organ  der  deutschen  Aufkla^rung  zu  machen.  Diesen  Zwecken 
diente  auch''  seine  Beschreibung  einer  Reise  diu'ch  Deutschland  und  die 
Schweiz  im  J.  1781',  Berlin  u.  Stettin  1783—96,  XII.  Wesentlich  auf  die 
Theologie  jener  Zeit  richtet  sich  der  Roman  'Das  Leben  und  die  Meinungen 
des  Herrn  Magister  Sebaldus  Nothauker \  Berlin  u,  Stettin  1773—76,  IH  uö., 
eine  Mischung  von  Humor  in  der  Art  Sternes  mit  abenteuerlichen  Wechsel- 
fiillen  nach  Fieldiugs  Mustor,  welche  viel  Beifall  fand,  selbst  bei  Katharina  IL 
Schon    hier  waren    litterarische  Carricaturen    eingoftochten ;    gegen  die   Port- 

11)  Daher  seine  l  hersetzun;!,^  des  Alten  Testaments  mit  Benutzunir  "If'  Liitherisehen:  Fünf 
Bücher  ilosis,  Berlin  1780  fgg.  Psalmen  178:5;  Hohes  Lied  1788.  Auf  die  staatlichen 
Ansprüche  bezog  sieh  'Jerusalem  oder  über  religiopse  Macht  und  Judentum'  1783.  Über 
seine  würdige  Ablehnung  der  Zumutung  Lavaters  zum  Christentum  überzutreten  (1770) 
s.   §  155.    II.  12)  Über   die    Lehre   des  Spinoza    in  Briefen   an  Herrn  AI.  Mendelssohn 

1785.  13)  L.  V.  (>.  V.  (jöckiugk.  F.  Nicolais  Leben   und  litterarischer  Nachlass.  Berlin 

182U.  In  diesem  Nachlass  sind  namentlich  die  elenden  Verse  ein  Zeugnis  seiner  Beschränkung. 
Minor.  Lessings  Jugendfreunde  (Kürschners  Dtsch.  Nat.  litt.  7'2)  S.  277  fgg.  14)  Aus- 

zug bei  Braitraaier  2.  85 — 95.  15)  Abdruck  bei  Minor  (Anm.  13).  16)  Sie  wurde 

in  den  Jahren  17i>.3— 99  zu  Kiel  als  'Neue  AUg.  D.  Bibl.'  von  Hermaun  in  Hamburg 
herausgegeben.  1?)    Die   Bedeutung  des  Werkes  für  Statistik  u.  *.  hebt  G.  Rümelin. 


§  156  NICOLAI,  ABBT,  GARVE.  443 

schritte  der  Poesie  und  Pliilosophie  richtete  Nicolai  seitdem  eine  Reihe  von 
sehnlichen  Parodien:  gegen  üoethe:  'Freuden  des  jungen  Werthers,  Leiden 
und  Freuden  Werthers  des  Mannes',  Freystadt  1775;"^  gegen  Bürger  Eyn 
f'eyner  kleyner  Almanach  vol  schönerr  echterr  liebliclierr  Volckslieder  .  .  Berlynn 
vnndt  Stettymv  1777  und  1778,  II;  "•  gegen  Kant  und  Fichte  'Geschichte 
eines  dicken  Mannes',  II,  1794;  'Leben  und  Meinungen  Sempronius  Gundi- 
berts  eines  deutschen  Philosophen',  1798.  Pichte  antwortete  denn  auch  mit 
der  stärksten  Yerachtung  in  F.  Nicolais  Leben  und  sonderbare  Moinuuffon', 
Tübingen  1801,  wie  schon  Schiller  namentlich  in  den  Xenien  die  ebenso 
freche  als  unverständige  Kritik  Nicolais  abgestraft  hatte."'' 

Ein  Verdienst  erwarb  sich  indessen  Nicolai  durch  seine  Lebensbeschrei- 
bungen der  ihm  nteher  bekannten  Schriftsteller.  Dazu  gebeerte  auch  Thomas 
Abbt.'-^'  1738  zu  Ulm  geboren,  starb  Abbt  schon  1766  in  Bückeburg,  als 
Konsistorialrath  des  Grafen  Wilhelm.  Er  war  in  den  Litteraturbriefen  an 
Lessings  Stelle  getreten, ^'-^  nachdem  er  durch  seine  Schrift  'Vom  Tode  fürs 
Vaterland',  Berlin  1761  sich  bekannt  gemacht.  Wie  er  hier  den  Heldenmut 
Friedrichs  II  göfeiert  und  gezeigt  hatte,  dass  auch  in  Monarchien  jeder  Bürger 
Soldat  sein  solle,  so  hob  seine  Hauptschrift  'Vom  Verdienste'  1765  die  un- 
scheinbaren Stände,  die  Bürger  und  Bauern  hervor.^'  Für  das  Volk  war 
seine  biblische  Ausdrucks  weise  •^*  besser  berechnet,  als  die  ebenfalls  von  ihm 
versuchte  Nachahmung  der  taciteischen  Kürze. 

Glücklicher  vertritt  Christian  Garvp:  die  Prosa  des  gesunden  Menschen- 
verstandes, nur  dass  er  seine  Gabe  klarer,  anmutiger  Darstellung,  sein  feines 
Urteil    mehr    als  Übersetzer    besonders    englischer  Schriftsteller'-^^  (für  Fried- 

Redeu  u.  AuMtze,  N.  F.  Freiburg  i.  B.  ii.  Tübingen  1881,  S.  407—441,  hervor.  18)  Wie- 

derholt bei  Minor.  19)  Berliner  Neudruck  von  Elliuger,  1888.  20)  Fichtes  Sc-hrift 

war  von  A.  W.  Schleifei  in  den  Druck  sreo-eben  worden,  welcher  selbst  sich  ebenso  über 
Nicolai  lustig  machte:  LB.  3,  1097  fgg.  Eine  1784  zu  Leipzig  erschienene  Satire  (von 
F.  Schulz)  gegen  Nicolai  ist  von  L.  Geiger  wieder  abgedruckt  worden:  'Firlifimiiii  und 
andre  Curiosa'  Berlin  1885.  21)  F.  Nicolai,  Ehrengedächtnis  Herrn  Th.  Abbts.  Berlin 

u.  Stettin  1767.  Nicolai  gab  auch  Abbts  Termischte  Schriften'  heraus,  VI,  Berlin  17(38  bis 
71.  ^\^Si^.  Vgl.  ferner  Edmund  Pentzhorn,  Th.  Abbt,  Ein  Beitrag  zu  seiner  Biographie 
(üiss.  CTiessen)  Berlin  1884.  22)  Seine  Urteile  berichtigte  z.  T.  Herder,  welcher  17(J8 

'Über  Th.  Abbts  Schriften.  Der  Torso  von  einem  Denkmal,  au  seinem  Grabe  errichtet  I' 
schrieb  (Suphan  Ausg.  2,  249,  wo  auch  die  handschriftliche  Fortsetzung).  Vgl.  auch  R.  Thiele, 
Beitr.  z.  deutschen  Philologie  (Halle  1880)  S.  147  fgg.  23)  LB.  3,  333.  24)  Vgl. 

Geisler,  Über  die  schriftstellerische  Th»tigkeit  Th.  Abbts,  Progr.  Breslau  1852.  25)  Er 

übei'setzte:  Ferguson  Grundsätze  der  Moralphilosophie,  Lpz.  l772.  Home.  Grundsätze  der 
Kritik.    Lpz.    1772    II.      Burke,    Untersuchung    über    den    Ursprung    unserer    Begriffe    vom 


444  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XVHI  .TAHllH.  §  150 

rieh  n  üboreetzte  or  1  783  Ciceros  Srhrift  de  o/ficiis)  oder  als  Berichterstatter 
über  die  Litteratur  seiner  Zeit  bewtehrt  hat.  Zu  eigenen  grcesseren  Werken -'' 
liess  ihn  seine  Kränklichkeit"-'  nidit  kommen.  Er  h'bte,  abgesehen  von  der 
Studienzeit  und  den  in  Leipzig-*  als  Docent  verbrachten  Jahren  ITtJS — 72,  in 
Breshiu   1742—98. 

Innig  mit  Garve  verbunden  war  Jon.  Jac.  En'ukl  aus  Parchim  (1741 
bis  1802).^^  Seit  170.")  in  Leipzig,  seit  1770  in  Berlin  lebend,  suchte  er 
namentlich  Lessings  Anregungen  für  die  Bühne  fruchtbar  zu  machen,  insbe- 
sondere als  Director  des  kceniglichen  Theaters  zu  Berlin  1787—94.  1763 
hatte  er  Eid  und  l*tlicht\  ein  bürgerliches  Trauerspiel,  nach  Familienerinne- 
rungen  aus  dem  siebenja'hrigen  Kriege  geschrieben,  1772  dichtete  er  das 
rührende  Lustspiel  der  Edelknabe.  Ausser  diesen  und  anderen  meist  aus- 
ländischen Mustern  naehgeahmten  Dramen  sind  für  das  Theater  seine  Ideen 
zu  einer  Mimik'  II,  Berlin  178").  80,  bestimmt,  worin  er  die  Wahrheit  über 
die  Sclupnheit  stellte  und  deshalb  .auch  gegen  die  Verse  im  Drama  sich  aus- 
sprach. Gro'sseren  Beifall  fanden  seine  meist  als  Erza»hlungen  oder  Gesprajche  ^^ 
eingekleideten  moralischen  Abhandlungen,  welche  er  mit  Beitrsegen  seiner 
Freunde  zusammen  unter  dem  Titel  Der  Philosoph  für  die  Welt',  Leipzig 
177") — 77,  11"  veröffentlichte.  Eine  treffliche  Characterschilderung  nach  dem 
Leben  bot  sein  Roman  Herr  Lorenz  Stark',  der  zuerst  1795  u.  96  in  Schillers 
Iloren  erschien. 

Entschieden,  und  durch  reichen  Witz  besonders  wirksam,  vertrat  auch 
Georg  Christoph  Lichtenberg  die  Richtung  Lessings.  Geboren  zu  Ober- 
ramstädt    bei  Darmstadt  1742,    starb    er    als  Professor    zu  Göttingen  1799.^- 


Erbabeneu  uud  Schopnen,  Riga  1773.  Alex.  Gerard.  Versuch  über  das  Genie,  Lpz.  1776- 
Adam  Smith.  Untersuchung  über  die  Natur  und  Ursachen  des  Nationalreichtums,  Breslau 
1794 — 96  IV.  26)    Sammlung  einiger  Abhandlungen  aus  der  Neuen  Bibl.  der  schoenen 

Wiss."  Lpz.  1779:  neue,  vermehrte  Aufl.  Lpz.  180L'  IL  'Vermischte  Aufsätze',  Breslau 
J79() — löUO  IL  Der  Herausgeber  der  2.  Aufl.  jener  älteren  Sammlung,  J.  C.  Fr.  Manso  hat  auch 
Ch.  Garve  nach  seinem  schriftstellerischen  Character".  Breslau  1799.  geschildert.  27)  Seine 

Geduld  rühmt  ein  Xenion  Schillers  (^Hofmeisters  Nachlese  3,  148).  Über  Schillers  Verhältnis 
zu  Garve  s.  D.  Jacoby,  Schnorrs  Arch.  7.  90 — 145.  28)  Hier  lebten  auch  seine  besten 

Freunde,  an  welche  er  inhaltreiche  Briefe  richtete:  'Vertraute  Briefe  an  eine  Freundin'. 
Lpz.  1801.  Briefe  an  Ch.  F.  Weisse  u.  a."  Breslau  18U3  IL  'Briefwechsel  mit  Zollikofer' 
Breslau  1804.  29)  F.  Nicolai.  Gedächtnisschrift  auf  .1.  J.  Kugel,  Berlin  u.  Stettin  1806, 

auch  in  den  Abb.  iler  Berliner  Akademie,  welcher  bei<le  angehoerten.  Engels  Schriften. 
Xll.  Berlin   1801— »3.  30)  LB.  3.  8ö7.  31)  Ein   lll  Teil,  Berlin   1800,  ist  in  den 

Schriften    in   jene    beiden    ersten    verteilt.  32)    Klogium    von  Kästner  (Commeut.  Soc. 

reg.  Scientiarum;  Gütting.   1799.     Lichtenbergs  'V^ermischte  Schriften'  aus  den  hinterlassenen 


§   15ß  ENGEL,  LICHTENBERG,  SONNENFELS.  445 

Mathematiker  wie  Kästner,  war  er  mit  diesem  auch  durch  seine  frommen 
Überzeugungen  verbunden.  Aber  er  pflegte  nicht  sowohl ,  wie  Kästner,  das 
Epigramm,  sondern  die  Satire  in  Prosa,  und  knüpfte  hier  wie  in  ernsten 
Schilderungen  und  Beobachtungen,  zu  denen  ihn  Hypochondrie  und  ein  kränk- 
licher, verwachsener  Körper  immer  mehr  geneigt  machte,  an  englische  Vor- 
bilder an.  England  hatte  er  auf  Reisen,  zuletzt  1774  und  1775  auf  eine 
Einladung  des  Koenigs  hin,  genau  kennen  gelernt.  In  'Briefen  aus  England' 
schildorte  er'^''  Garricks  Darstellung  des  Hamlet;  Hogarths  Kupferstiche  eriseu- 
terte  er  ausführUch.^'  Selbst  der  berühmte  Anschlagzeddel  im  Namen  von 
Philadelphia'^^  ist  nach  einer  Vorlage  von  Swift ^'^  gearbeitet.  Dagegen  ver- 
fasste  er  seine  Simple,  jedoch  authentische  Relation  von  den  curieusen  schwim- 
menden Batterien',  eine  VerherrUchung  der  siegreichen  Verteidigung  Gibral- 
tars durch  die  Engländer  1782  in  der  schon  von  Michaelis  zur  Travestie  der 
Aeneis  verwendeten  Bänkelsängerstrophe.  Von  den  deutschen  Bestrebungen 
seiner  Zeit  war  es  namentlich  Lavaters  Bekehrungseifer  ^"  und  seine  phy- 
siognomische  Schwärmerei,'''*  dann  das  Geniewesen  und  die  Originalitaetssucht,''^ 
gegen  welche  er  seinen  oft  verletzenden  Spott  richtete;*"  doch  auch  Kant 
und  Fichte  griff  er  noch  an. 

Setzten  die  zuletzt  genannten  Schriftsteller  Lessings  Grundsätze  in  der 
Kritik  der  gleichzeitigen  Litteratur  fort,  als  er  bereits  auf  das  theologische 
Gebiet  sich  zurückgezogen  hatte,  so  schloss  sich  ihm  auf  dem  bisher  noch 
wenig  von  der  deutschen  Litteratur  berührten  Boden  Oesterreichs  ein  Schrift- 
steller mit  geringer  Eigenart,  aber  mit  folgenreicher  Wirksamkeit  an:  Josewh 
VON  SoNNEXFELs,  geb.  ZU  Nicolsburg*'  1733,  seit  17G3  in  Wien  Professor, 
1770  Theatercensor,  von  Joseph  II  hochgestellt,  gestorben  1817.  Er  war  zuerst 
in  der  Deutschen  Gesellschaft'  hervorgetreten,  welche  1761  begründet,  bald 
sich  aufloeste,  aber  doch  den  ersten  Anstoss  zu  einer  Vereinigung  der  Wiener 

Papieren  gesammelt.  Güttingen  1801 — 6,  IX,  werden  eingeleitet  durch  'Nachrichten  u. 
Bemerkungen  des  Verfassers  von  und  über  sich  selbst'.  In  der  Ausgabe  Gröttingen  1844  bis 
47,  VIII,  sind  seine  Briefe  hinzugefügt.  Vgl.  auch  Ed.  Orrisebach,  Lichtenbergs  Gredanken 
und  Maximen.  Lpz.  1871  und  Rieh.  M.  Meyer.  .1.  Swift  u.  G.  Ch.  Lichtenberg.  Berlin  1886. 
33)    In    Boies   Deutschem    Museum    1776.  34)    (TÖttingen    1794— 91):    fortgesetzt    aus 

seinem  Nachlass  18U0--18(l7.  IX.  35)  LB.  3,  8();J.  (1777).  36)  Lichtenbergs  Verm. 

Sehr,  ij,  192.  37)    Timorus.    il.  i.  Verteidigung   zweier  Israeliten,   die  durch  die  Kräf- 

tigkeit der  Lavaterschen  Beweisgründe  und  der  Göttingischcn  Mettwürste  bewogen,  den 
wahren  Glauben  angenommen  haben,  von  Konrad  Phutorin.  Bcilin'  (vielmehr  Güttingen) 
1773.  38)  LB.  3,  80.5.  39)  LB.  3,  799.  40)  So  hat  er  den  Streit  zwischen 

V^oss  und  dessen  Lehrer  Heyne  wesentlich  durch  seine  Teilnahme  verschärft.  41)  Sein 


44(>  NEU IKKÜI DEUTSCHE  ZEIT.         XVIII  .TAH KU.  §  156 

ScluifistolUn-  geboten  hatte.  Sonnentels  gab  sodaim  mehrere  Wochenschrit'teii 
mit  besonderer  llücksiclit  auf  die  Frauen  heraus,  von  denen  der  Mann  ohne 
Vorurteil'  17(55  schon  h'hhaf't  l'iir  die  Teihiahrne  an  der  deut.sciien  Dichtung 
und  für  eine  sittliche  Scliaubühne'  eiterte.  Dieser  h^t/teren  waren  vöUig  ge- 
widmet die  Briefe  über  die  Wienerische  Schaul)ühne'  IKJS,  wichtig  besonders 
durch  die  Vertreibung  des  Hanswursts  (§  145,  .ii)).  Allein  durch  seine  An- 
massung  niaclito  sich  Sonnenfels  selbst  seine  früheren  Mitstreiter  Klemm, 
Heufeld  u.  a.  /u  Feinden,  und  das  Bekanntwerden  seiner  heimlichen  Untcr- 
stüt/.ung  von  Klotz  gegen  Lessing  erschütterte  seine  Stellung  wenigstens 
vorübergehend.  Seitdem  wandte  er  sich  mehr  der  Vertretung  und  Verbreitung 
der  Aufkherung  im  Staatswesen^"  zu  und  nahm  an  dem  Kampfe  gegen  die 
Jesuiten  entschiedenen  und  erfolgreichen  Anteil. 

Die  Wendung  von  der  Litteratur  zum  Leben,  von  dem  Schoenen  zum 
Guten  lag  im  (irundzuge  der  Aufkherungsbestrebungen  selbst  und  fand  vitd- 
fach  einen  auch  formell  bedeutenden  Ausdruck.  Weniger  zwar  erwarb  sich 
dies  Verdienst  der  Mann,  welcher  mit  richtigem  Gefühl  die  Erziehung  als 
wirksamstes  Hilfsmittel  zur  Förderung  des  allgemeinen  Wohles  auffasste,  und 
sie  aus  den  Händen  der  Theologen  in  die  der  philosophisch  gebildeten  Pte- 
dagogen  überzufüliren,  dabei  nicht  sowohl  durch  Strenge  als  durch  Freiheit 
zu  wirken,  ja  den  Unterricht  selbst  mehr  spielend  zu  betreiben  suchte.  Jon. 
Bernhard  Baskdow,  geb.  zu  ifamburg  1723,  gest.  1790  in  Magdeburg, 
hatte  schon  in  Holstein  und  Dfenemark,  zuletzt  zu  Altona  seine  Erziehungs- 
und Lehrart  erprobt  und  angepriesen,^-'  als  ihm  durch  die  Berufung  nach 
Dessau,  wo  er  1774  das  Philanthropinum  eröffnete,  die  Gelegenheit  geboten 
wurde,  eine  ganze  Schule  nach  seinen  Grundsätzen  einzurichten.  Zwar  machte 
sein  ungestümes  und  rücksichtsloses  Vorgehen  ihm  selbst  dauernde  Erfolge 
unmceglich,    aber   wie   der  Beifall    der  Popularphilosophen^'  und    der  aufge- 

Grossvater   war  Rabbiner  in  Berlin  gewesen.  42)  'Über   die  Abschaffung  der  Folter', 

zuerst  Zürich  1770.  Wie  seine  übrigen  Werke  in  'Sonnenfels  Gesammelte  Schriften',  X, 
Wien  1783 — 87.  43)  Seine  Hauptschriften  sind:  Practische  Philosophie  für  alle  Stände. 

Kopenhagen  u.  Leipzig  1708  II:  Philalethie,  Neue  Aussichten  in  die  Wahrheits-Ueligion 
der  Vernunft  bis  in  die  ttriinzen  der  glaubwürdigen  Otl'cnbarung.  Altona  17G4.  diese  viel- 
fach, besonders  von  (icpze  heftig  bekämpft.  Sein  'Elemcutarbuch  der  menschlicheu  P^rkenut- 
nisse'.  wovon  er  zu  Hamburg  1768  den  Plan,  176t>  zu  Berlin  den  Anfang,  1774  zu  Dessau 
den  1 — 4  Band  herausgab,  ist  eine  Erlieuterung  zu  Kupfern  vou  Chodowiecky,  also  eine 
Art  Orbis  Pictua.  Über  'Basedows  Leben.  Character  und  Schriften'  hat  ausführlich  und 
ans  persipulicher  Kenntnis,  aber  unbeholfen  uml  feindselig  J.  Chr.  Meier  gehandelt.  11, 
Hamburg    1791.    17H2.  44)  Seihst    Lavater   durfte    er   seinen    Herzeusfreund    nennen. 


§  156  BASEDOW,  ISELIN,  ITTRZEL.  447 

klserten  Fürsten  sein  Auftreten  begünstigt  hatte,  so  wurden  die  von  ihm  ge- 
legten Keime  durch  Andere  gepflegt  und  zur  Entfaltung  gebracht. 

Besonders  in  der  Schweiz  fand  er  Anhänger  und  Portsetzer  seiner  pae- 
dagogischen  Reformen.  Die  repubUkanische  Verfassung  schärfte  hier  auch 
den  Blick  für  Mängel  des  Staatswesens  und  erregte  die  Hoffnung  durch  Rede 
und  Schrift  zur  Besserung  beizutragen.  Der  Staatsschreiber  von  Basel,  Isaac 
IsELiN  (1728 — 1782)  unterstützte  Basedows  Neuerungen;  er  verbreitete  die 
Ansichten  der  franzoesischen  Physiokraten ;  die  Stiftung  der  helvetischen  Gresell- 
schaft  in  Schinznach  1761  und  der  Gemeinnützigen  Gesellschaft  in  Basel  1777 
war  zum  guten  Teil  sein  Werk.^^  Als  Schriftsteller  begründete  er  seine  Ge- 
danken von  einer  beständig  fortschreitenden  Entwickelung  der  Menschheit 
durch  historische  Zeugnisse : ''^  Rousseau  gegenüber,  den  er  in  Paris  1752 
kennen  gelernt  hatte,  blieb  er  freilich  durch  seine  etwas  breite  und  einför- 
mige Behandlung  im  Nachteil. 

In  Zürich  vertrat  diese  menschenfreundlichen  Bestrebungen  der  Arzt 
JoH.  Kaspar  Hirzel  (1725 — 1803).  Von  Potsdam  her  mit  Kleist,  spaeter 
mit  Klopstock  befreundet,  übertrug  er  deren  idealistische  Auffassungs-  und 
Ausdrucksweise  auf  die  Verhältnisse  seiner  Heimat,  und  feierte  eine  Anzahl 
seiner  Zeit-  und  Landesgenossen  durch  biographische  Denkmseler.*^  Am 
meisten  Aufsehen  machte  eine  Schilderung  des  tüchtigen,  klugen  Landmannes 
Kleinjogg,  eigentlich  Jacob  Gujer,  die  er  als  'Die  Wirthschaft  eines  philoso- 
phischen Bauers',  Zürich  1761  uö.  veröffentlichte. ^■^'^  Er  begründete  damit  zu- 
gleich die  Gattung  der  Dorfgeschichten,  welche  spaeter  in  der  Schweiz  einen 
so  günstigen  Boden  gefunden  hat. 

Noch  naeher  an  Rousseau  hielt  sich  Jon.  Georg  Zimmermann,^**  geb. 
1728  in  dem  damals  zu  Bern  gehoerigen  Brugg  im  Aargau  und  hier,  nach- 
dem er  seit  1747  sich  bei  Haller  *^  in  Göttingen  ausgebildet  hatte,  als  Stadt- 

Dagegen  verfolgte  ihn  J.  G.  Schummel  in  Magdeburg  mit  der  Satire  'Spitzbart,  eine  konii- 
tragische  Geschichte  für  unser  ptedagogisches  Jahrhundert",  Leipzig  1779:  s.  W.  Kawerau, 
aus  Magdeburgs  Vergangenheit.    Halle    1886  S.    162   fgg.  45)  August  v.  Miaskowski, 

I.  Iselin,  Basel  1875.     Vgl.  Schnorrs  Arch.  XIII  183  fgg.  46)  Thilosophische  Mutnias- 

sungen  über  die  Geschichte  der  Menschheit",  II,  Frankfurt  n.  Leipzig  1764,  in  spieterea 
Auflagen  'Über  die  Geschichte  der  Menschheit',  II,  Zürich,  1768  uö.  Daraus  LB.  3.  323. 
47)  So  Sulzer  §  149,  49.  47  a)  Teilweise    nahm    Hirzel  sein   früheres  Lob   zurück  in 

der  Karl  Friedrich  von  Baden  und  Leop.  Frid.  Franz  von  Dessau  gewidmeten  Schrift  'Neue 
Prüfung  des  Philosophischen  Bauers',  Zürich  1785.  48)  Tissot.    Vie  de  Zimmermann, 

Lausanne  1797.  Ed.  Bodemaun,  Joh.  Georg  Zimmermann.  Sein  Leben  und  bisher  uugedruckte 
Briefe  an  denselben,  Hannover  1878.  49)  Er  schrieb  Hallers  Biograpliie:  §  147.39.     In 

Wackernagel,  Litter.  Geschichto.  II.  30 


448  NElIFTOrilDEüTSrHE   ZEIT.         XYIIT  JAHRH.  §  150 

arzt  an<Tost('llt,  \m  er  1708  als  Leibarzt  nach  Hannover  berufen  wurde.  Der 
Beifall,  (Ion  er  auch  bei  anderen  llu'fen  fand,  nadirte  seine  Kitolkeif.  Mit 
dem  Uvnistnus  RousHcaus  legte  er  die  Schwächen  der  menschlichen  Natur 
dar  und  pries  die  Einfachheit.  Seine  Schrift  Vom  Nationalstolze',  Zürich 
175.S  u<").  Itrachte  auch  für  den  Stolz  der  einzelnen  Stände  und  Bekenntnisse 
geschichtliche  Beispiele  in  grosser  Zahl.  Noch  mehr  im  Sinne  der  Aufkherung 
handelte  er  Über  die  Einsamkeit",  Leipzig  1784.  85,  IV,  nachdem  er  schon 
1756  zu  Zürich  'Betrachtungen  über  die  Einsamkeit'  hatte  erscheinen  lassen. 
Er  verwarf  Mystik  und  Mönchswesen,  lobte  aber  die  Vorteile,  welche  der 
tha^tige  Weltmann  in  zeitweiliger  Zurückgezogenheit  finde.  So  zwiespältig 
urteilte  er  auch  in  seinem  Bericht  über  Friedrichs  II  letzte  Krankheit:  Über 
Friedrich  den  Grossen  und  meine  Unterredungen  mit  ihm  kurz  vor  seinem 
Todc\  Leipzig  1788,  erweitert  als  Fragmente  über  Friedrich  den  Grossen', 
Leipzig  1790,  III.  Bei  allem  Lobe  des  Kienigs  stellte  er  doch  dessen  Schwä- 
chen lieblos  und  ungescheut  bloss.  Zahlreiche  Entgegnungen,  besonders  aus 
Freussen'**  brachten  ihn  in  die  heftigste  Aufregung.  Wie  er  schon  in  dem 
Buch  über  die  Einsamkeit-''  einen  harmlosen  Verteidiger  der  Mystik,  Obereit, 
bitter  verhoehnt  hatte,  so  überwarf  er  sich  nun  mit  der  bisher  von  ihm  selbst 
verherrlichten  Aufklärung.''  Die  Fortschritte  der  franzoesischen  Revolution, 
welche  er  doch  schon  1758  prophezeit  hatte,  vollendeten  die  Zerrüttung  seines 
Geistes,  in  welcher  er  1795  starb. 

Doch  auch  in  Deutschland  geborene  Staatsmänner  suchten  ihre  Ansichten 
durch  Prosaschriften    allgemeiner    zu    verbreiten.     Mit    franzoesischer  Schärfe 


der  Srhweiz  wareu  Wielaud,  Lavater,  Cressner  seine  njerhsten  Freunde.  Spieler  knüpfte  er  mit 
(ioethe,  zuletzt  mit  den  Grafen  Stolberg  Beziehungen  an.  50)  Hii)pel  si-hrieb  'Zimmer- 

mann 1  und  Friedrich  11.  von  Joh.  Heinrich  Friedrich  Quitteubaum.  London"  (Berlin)  171)0.  Auch 
Nicolai  trat  als  Beriihtiger  Ziimucnnanns  auf.  51)  111.  1  fgg.    Über  Obereit  s.  §  149.  41. 

52)  Besonders  heftig  und  austu'ssig  war  sein  Streit  mit  dem  Freiherru  Adolk  VON  Kniggk, 
geb.  zu  Bredenbeck  bei  Hannover  175:i,  gest.  als  Lauddrost  in  Bremen  1796.  einem  vielge- 
reisten Hauptvertreter  des  Ordenswesens,  von  dessen  zahlreichen  Schriften  nur  das  auf  Selbst- 
sucht bejrründete  Lehrbuch  Über  den  Umirantr  mit  Menschen"  Hannover  1788,  uü.  bekannt 
blieb.  Vgl.  über  ihn  K.  G(jfdeke,  A.  Freiherr  Knigge.  Hannover  1844  und  (Klencke) 
Aus  eiuer  alten  Kiste,  Lpz.  1853.  Ihn  bezeichnete  der  Parteigänger  Zimmermanns,  Kotzebue, 
als  Verfasser  seiner  frechen  Hohnschrift  'Bahrdt  mit  der  eisernen  Stirn  oder  die  deutsche 
Union  gegen  Zimmermann'  1790.  Karl  Frikduich  Bahrdt  (geb.  zu  Bischofswerda  1741, 
gest.  zu  Halle  1792)  war  von  der  Orthodoxie  stufenweise  zur  Xaturreligion  übergegangen, 
hatte  sich  als  Lehrer  und  Leiter  philantluopiuischer  Anstalten  versucht,  bis  er  als  Gast- 
wirt  seine  Laufbahn    beschloss,    nachdem    er   jede    von    ihm    verfochtene    Partei    durch    ein 


§  155  ZIMMERMANN,  STURZ,  MCESER.  449 

und  Laune  schrieb  IIelfrich  Peter  Sturz. '''^  Greboren  zu  Darrastadt  1736, 
stand  er  seit  1704  zu  Kopenhagen  im  Dienste;  des  Grafen  Bernstorf'''  und 
im  nahen  Verkehr  mit  Klopstock,''''  ward  aber  1772  in  den  Fall  Struensees 
mit  hineingezogen  und  starb  auf  einer  Reise  in  Bremen  1779.  Englands 
öffentliches  Leben,  das  er  17G8  mit  Kcenig  Christian  VIE  ebenso  wie  Frank- 
reich besucht  hatte,  war  das  bewunderte  Muster,  das  er  dem  deutschen  Leser 
vorhielt;'""'  Rousseau  stellte  er  über  Voltaire,  den  er  jedoch  den  Stürmern 
und  Drängern  gegenüber  nicht  preis  gab.''^  In  seinem  bürgerlichen  Trauer- 
spiel   Julie'  1707  lehnte  er  sich  an  Lessings  Sara  an. 

Echte  deutsche  Ai't  dagegen  war  das  Ziel,  auf  welches  Justus  Mceser^^ 
hinwies,  wenn  das  Zeitalter  neue  Bahnen  suchte.  Deutscbes  Wesen  und  seine 
Geschichte  zu  erforschen,  dazu  veranlassten  ihn  schon  die  ungewojhulich 
schwierigen  Verhältnisse,  in  denen  er  und  zwar  mit  schcenstera  Erfolge  wirkte. 
Geboren  zu  Osnabrück  1720  ward  er  hier  Beamter  eines  kleinen  geistliclien 
Staates,  in  dessen  Leitung  sich  ein  groessten teils  katholisches  Domcapitel  und 
eine  überwiegend  protestantische  Ritterschaft  teilten:  1747  zum  advocatas 
imtr'ue  erwaehlt  hatte  er  zuntechst  die  Rechtshändel  des  Gesamtstaates  zu 
führen,  ward  aber  bald  die  Seele  der  ganzen  Verwaltung.  Allseitig  verehrt 
starb  er  1794.  Ais  Schriftsteller  wirkte  er  besonders  durch  kleinere  Auf- 
sätze in  dem  Osnabrückischen  Intelligeuzblatte  1766  —  1782,  welche  seine 
Tochter,  Frau  von  Voigts,  als  Tatriotische  Phantasien''  1774  ■'•'  herausgab. 
Er  ging  dabei  aus  vou  den  gewoehnlichsten  Lebensverhältnissen,  entwickelte 
aber  seine  Urteile  und  Ratschlajge  aus  tiefster  Überlegung  und  aus  echter 
Menschenfreundlichkeit,  in  dem  Sinne  dass  er  der  Ausgleichungssucht  seiner 
Zeit  gegenüber  das  Bestehende  zu  erhalten  und  nur  wieder  mit  dem  ursprüng- 
lichen Geiste  zu  erfüllen  suchte.  Den  altangesessenen  Bauern  wollte  er  gegen 
den  Krtemer    ebenso  wie    gegen    den    vermoegenslosen  Neubauern    schützen; 


Sitten-  und  würdeloses  Lebeu  geschädigt.  53)  Max  Koch,  H.  P.  , Sturz,  Miiuchen   1879, 

mit  Benutzung    des    hslichen    Nachlasses.  54)    Eine    Lobschrift    aut    Bernstort.    1777 

veröffentlicht,  ist  mit  aufgenommen  in  die  'iSchriften',  welche  in  zwei  Sammlungen  1779 
u.  82  uö.  erschienen.  Die  erste  Sammlung  ist  Zimmermann  gewidmet.  Vorher  waren 
die  Briefe  und  Aufsätze  meist  im  Deutschen  Museum  geilruckt  worden.  55)  §  152,  1. 

56)  LB.  3,  739  fgg.  57)  Schriften  1,  103.  58)  F.  Nicolai,  der  Verleger  Moesers, 

beschrieb  dessen  Leben  vor  den  'Vermischten  Schriften',  Berlin  u.  Stettin  1797.  98,  II. 
Eingehender  B.  R.  Abeken  in  Mustus  Moesers  sämmtliche  Werke',  X,  Berlin,  1840,  uö. 
Hier  ist  auch  10,  1  fgg.  die  Biographie  von  Nicolai  wiederholt,  welche  am  Schluss  Mfi'ser 
mit  Sturz   vergleicht.  59)  Berlin    177Ö.  7G,    II,  uö.  spteter    vermehrt.     Daraus  LB.  3, 


450  NElTironiDETITSCTTE   ZEIT.         XVIIl  JAIIRTT.  §  156 

solhst  der  Ebrlichinacliung  des  Hirten"'*  widerstrobto  or,  weil  er  überhaupt  die 
Ehre  der  verschiedenen  Stände  als  Hebel  zur  Förderung  und  Bewahrung  der 
Sittlichkeit  und  des  Wohlergehens  Aller  ansah,  (legen  die  Empfindsamkeit 
seiner  Zeit  verteidigte  er  die  solavische  Erziehung,  der  natürlichen  Religicui 
treirenüber  setzte  er  die  Itechte  und  die  Vorteile  der  christlichen  Bekennt- 
nisse  auseinander.  Die  Mode  verspottete  er  und  pries  die  Sitte.  Dabei  ge- 
brauchte er  mit  glänzendem  Geschick  die  Ironie,  ja  gelegentlich  hat  wohl 
die  Advocatenart  ihn  zu  gewagten  Behauptungen  geführt,  welche  Leser  von 
selbständigem  Urteil  voraussetzen.  Indem  er  aber  das  Bestellende  als  ge- 
schichtlich geworden  begi-eifen  wollte,  ward  er  selbst  zum  Historiker:  seine 
'Osnabrückische  Geschichte',  17G5 — 80,  erhellte,  so  trocken  sie  in  der  Form 
war,  doch  die  gesamte  deutsche  Vor/eit,  indem  sie  die  Urzustände '^^  mit 
den  bäuerlichen  Verhältnissen  seiner  westphselischen  Umgebung  verglich.  Ver- 
ständnis und  Liebe  des  deutschen  Wesens  veranlasste  ihn  auch  gegen  Fried- 
richs II  absprechendes  Urteil  die  Litteratur  seiner  Zeit,  zumal  die  .Tugend- 
dichtungen (iu'thes  in  Schutz  zu  nehmen. 

Dagegen  versteht  es  sich  leicht,  dass  Moeser  nicht  ganz  einverstanden 
war  mit  den  Schriften  von  Frieduicii  Karl  von  Moser,  welcher  bei  dem 
lebhaftesten  Bestreben  das  deutsche  öffentliche  Leben  zu  bessern  allzu  ein- 
seitig Fürsten  und  Beamten  ins  Auge  fasste  und  das  Volk  nur  als  Gegen- 
stand der  Bevormundung  ansali.  Auch  Moser  trat  dem  Naturalismus  der 
franzivsischen  Philosophie  entgegen,  aber  aus  christlichen  Grundsätzen."'-^  Seine 
Frömmigkeit  erwies  er  in  harten  Prüfungen,  wie  sie  schon,  freilich  noch 
härter,  des  Rechtes  wegen  sein  Vater  Johann  Jacob  Moser,''*  bestanden  hatte. 
Geb.  zu  Stuttgart  172r{,  gest.  zu  Ludwigsburg  1798,  hatte  er  in  den  hessi- 
schen Ländern  hohe  Stellungen  bekleidet,  bis  ihn  1780  der  Landgraf  von 
Darmstadt    durch    jahrelange  Verfolgung    für    seinen   Übereifer,    den    er    im 


299  fgg.  60)  Auch  flie  Leibeigenschaft  und  «las  Faustrecht  nahm  er  gegen  die   unbe- 

(liuffte  Verwpifuntr  der  Zeitsrenossen  in  Schutz.  61)  Den  Tod  des  Amiinius  hatte  er  in 

einer  Tragcedie  nach  den  tranzresischen  Regeln  behandelt,  welche  in  Hannover  und  Göttingen 
1749  ei-schien.  aber  nur  auszugsweise  spseter  wiederholt  wurde:  bei  Abeken  9,  2()1.  10,  118. 
62)  (TiPthe  hat  ihu  in  Wilhehn  Meister  als 'Philo' gezeichnet.  63)  Hieser.  geb.  zu  Stuttgart 
17(J1.  hatte  als  Staatsrechtslehrcr  wegen  seiner  Weigerung,  in  Frankfurt  a.  <•.  mit  Gundling, 
dem  Hofnarren  Friedrich  Wilhelms  I  zu  disputieren,  den  nnbämligcn  Zorn  des  Kcpnigs 
erfahren  müssen:  als  Landschaftsconsulent  in  Württemberg  war  er  1759 — 64  auf  <lem 
Hohentwiel  eingekerkert.  Er  starb  llHö.  Vgl.  die  'Lebensgeschichte  .1.  J.  Mosers  von 
ihm  selbst  beschrieben'.  Frankfurt  und  Leipzig  1777.  IIL  Seine  zahl-  und  umfangreichen 
juristischen   Scliritten  flürfcn   ebenso  wie  seine  Kirchenlieder  einen  Wert  für  die  allgemeine 


§  156  MOSER,  HAMANN.  451 

Dienste  gegen  die  anderen  Beamten  bewiesen/'*  büssen  Hess.  Teils  in  zu- 
sammenhängenden Betrachtungen,  teils  in  einzelnen  Beobachtungen  '''^  legte  er 
seine  frommen,  rechtlichen  Ansichten  vor:  'Der  Herr  und  der  Diener  geschil- 
dert mit  patriotischer  Freyheif,  Frankfurt  1761,  'Daniel  in  der  Lrewengrube 
in  sechs  Gesängen'  (aber  in  Prosa),  1763,  'Reliquien'  und  'Beherzigungen' 
1766.  Friedrich  den  Grossen  hatte  auch  er  erst  als  Schirmherr  des  Prote- 
stantismus verehrt,  später  bekämpfte  er  in  der  Schrift  'Vom  deutschen 
Nationalgeiste'  1765  seine  kriegerische  Neigung  und  trat  für  Oesterreichs 
Kaiserrecht  ein. 

Moser  vpandte  sich  1762  verehrungsvoll  'an  den  Magum  im  Norden',*"^ 
und  dieser  Name  blieb  seitdem  der  Lieblingsname  für  Johann  Georg  Hamann. 
Noch  andere  Schriftstellernamen  gab  sich  der  wunderliche  Mann,  dessen  Lebens- 
führung auch  manches  Rsetsel  bietet.  Geboren  zu  Koenigsberg  1730,  war  er 
längere  Zeit  Hauslehrer  in  den  Gegenden  von  Riga  und  Mitau,  dann,  nach 
einem  verunglückten  Versuch  1757  und  1758  in  London  Handelsbeziehungen 
für  einen  befreundeten  Kaufmann  anzuknüpfen,  Unterbeamter  im  Zollwesen, 
seit  1777  Packhofverwalter.  Schon  1764  hatte  er  seine  Freunde  in  Ober- 
deutschland aufgesucht;  1787  folgte  er  einer  Einladung  in  den  frommen, 
feingebildeten  Kreis  der  Fürstin  Gallitzin  in  Münster,  starb  aber  bereits  1788 
auf  dem  nahegelegenen  Gut  Wellbergen.  ^^  Bekannt  wurde  Hamann  zuerst 
1759  durch  seine  Sokratische  Denkwürdigkeiten','^'^  denen  sich  als  sein 
Hauptwerk  1762  'Kreuzzüge  des  Philologen'  anschlössen.®^  Philologe,  so 
nannte  er  sich  zunsechst  mit  Hinbhck  auf  sein  Sprachstudium,  welches  ihn 
zu  den  tiefsten  Einsichten  führte, ^'^  nur  dass  er  von  seiner  ungeheuren  Belesen- 
heit   einen   seltsamen  Gebrauch   machte.     Wie  Sokrates  wollte   er  durch  die 

Litteraturgesfhichte    nicht   beanspruchen.  64)    Sehr   ungünstig    urteilte    .J.  H.    Merck 

(§  159,  74)  über  Moser:  Wagner,  Briefe  aus  dem  Freumieskreise  von  Merck,  Lpz.  1847, 
S.    2U0   fgg.  65)    LB.    3,    87    f'gg.  66)    'Treuherziges    Schreiben    eines    Laien- 

bruders im  Reich  au  den  Magum  in  Norden  oder  doch  in  Europa":  Literaturbriefe  XVI, 
69  fgg.  Die  Herausgeber  der  Literaturbriefe  hatten  Hamanns  Urteil  über  Mosers  'Herr 
und  Diener'  (Schriften  2.  149)  sich  wesentlich  angeeignet;  daher  schickte  Moser  diese 
Antwort    ihnen    zu.  67)    C.    H.    Gildemeister.    Mob.    Georg    Hamann's    Leben    und 

Schriften,  VI,  Gotha  18.57  —  73.  Hamanns  Schriften  hg.  von  Fr.  Roth,  IX,  Berlin 
1821 — 43.  68)  Der    volle   Titel:    'Sokratische   Denkwürdigkeiten    für  die   lange  Weile 

des  Publicums  zusammengetragen  von  einem  Liebhaber  der  langen  Weile.  Mit  einer 
doppelten  Zuschrift  an  Niemand  und  an  Zween'  [Kant  und  Berens],  Amsterdam  1759. 
69)  Das  Hauptstück  darin:  'Aesthetica  in  Nuce,  Eine  Rhapsodie  in  Kabbalistischer  Prose' 
ist    im    LB.   3,    280    abgedruckt.  70)     Sprache    ist    Vernunft,    Uyog'   Sehr.    7.    151, 


452  NI'^UHOOITDEUTSCIIE  ZEIT.         XYIII  JAHUII.  §  15« 

Ironie  lolnriK  und  diis  1  höchste,  was  er  als  nnsap^har  f'iihUo ,  mehr  ahnen 
lassen,  als  aussprechen  oder  p;ar  heweisen.^'  Der  überwie^^enden  Verstandes- 
cultur  seiner  Zeit  ^ep^enüber  forderte  er  die  Ausbiidunf^  und  Vercinif^ung 
aller  Kräfte:  die  Leidenschaft  war  ihm  Character  der  Urzeit  und  Bedingung 
ihrer  Kraft.  Der  Vorherrlicluino;  der  Vernunft  setzte  er  den  einfachen 
Ohristonorlauben  entgegen.  Die  franz(e3ische  Bildung  Friedrichs  II  bekämpfte 
er  mit  um  so  gnrsserer  Feindschaft,  als  er  an  seiner  eigenen  Lebensstellung 
die  Vorliebe  Friedrichs  für  seine  franztesischen  Beamten  hatte  bitter  empfin- 
den müssen.  Aber  auch  seine  Klagen  hierüber  gingen  ungehcert  vorüber. 
Bedurfte  doch  Hamann  auch  als  Schriftsteller  der  Ausleger:  seine  beständigen 
Anspielungen  auf  das  fernstgelegene,  welche  einen  polyhistorischen,  oder  wie 
Lessing  sagte,  einen  panhistorischen  Leser  voraussetzten,  liessen  ihn  für  die 
Menge  unverständlich  und  ungeniessbar  erscheinen.  Gegner  wie  Nicolai  paro- 
dierton ihn,  aber  grossere  Geister  bewahrten  ihm,  auch  bei  scharfem  Gegen- 
satz der  Ansichten,  die  hoechste  Achtung. ^- 

So  sein  Heimatsgenosse  Immanuel  Kant  (1724 — 1804),  der  nach  Leibnitz 
eine  neue  und  noch  mächtigere  Bethwtigung  der  deutschen  Philosophie  herbei- 
führte. Er  erwies  die  Nichtigkeit  jenes  Anspruchs  seiner  Zeit  Alles  durch 
den  gesunden  Menschenverstand  zu  begreifen  und  zu  bestimmen,  indem  er 
die  Gränzen  des  menschlichen  Denkens  feststellte:  nicht  die  Dinge  an  sich, 
sondern  nur  wie  sie  uns  erscheinen,  vermcegen  wir  zu  erkennen.  Dem  Dog- 
matismus von  Leibnitz  und  Wolf,  dem  Skepticismus  der  englischen  und 
franzoesischen  Popularphilosopliie  setzte  er  den  Kriticismus  entgegen'-'  und 
stellte  selbst  seine  neue  Auffassung  an  Wert  der  Entdeckung  des  Kopernika- 
nischen  Weltsystems  gleich.  Die  'Kritik  der  reinen  Vernunft',  Riga  1781,^^ 
war  das  reife  Ergebnis  einer  langen  Gedankenarbeit,  nachdem  seine  älteren 
Werke '"  sich  meist  auf  mathematische  und  naturwissenschaftliche  Gegen- 
stände bezogen  hatten.  Den  entmutigenden  Schlüssen  dieses  Hauptwerkes 
liess  er  jedoch  in  der  'Kritik  der  praktischen  Vernunft',  Riga  1788,  die 
sichere  Begründung  des  Glaubens  an  Gott,  Freiheit,  UnsterbHchkeit  folgen, 
welche  er  in   dem   allen  Menschen   eingepflanzten  Gewissen"®  fand.     Der  Ge- 

71)  'Kürze  ist  ein  Character  des  Genies'  1.  1U3.  72)  J.  Minor.  .7.  G.  Hamann  in  seiner 

Bedeutung  für  die  Hturm-  und  Drangperiode,  Frankt'.  a.  M.  1J581.  73)    Der  alles  zer- 

malmende Kant'  so  nannte  iliu  Mendelssohn.  74)  2.  Aufl.  17H7.  75)  Sämtliche 

Werke  hg.  von  K.  Rosenkranz  und  F.  W.  Schubert,  Lpz.  1838—42,  XII  (darin  Biographie 
von  Schubert)  und  von  G.  Hartenstein.  Lpz.  1838.  21867.  68,  VIII.  76)  Daraus  LB.  3. 

879 — 8U4.     In  §  7  fasste  er  den  'kategorischen   Imjtprativ"  in    die  Formel:    Handle   so   dass 


§  157  KANT.  453 

danke  an  die  Pflicht,  der  ihm  neben  dem  Anblick  des  gestirnten  Himmels 
als  das  Erhabenste  erschien,  war  für  sein  Denken  der  Angelpunct  wie  er  es 
für  das  Handeln  Friedrichs  des  Grossen  gewesen  war.  Daher  fasste  Kant 
auch  die  'Rehgion  innerhalb  der  Grunzen  der  blosen  Vernunft',  1793,  rein 
moralisch,  worauf  ihm  Friedrich  Wilhelm  H  die  Freiheit  zu  lehren  und  zu 
schreiben  einschränkte.  So  mannhaft  er  sich  dagegen  verhielt,  und  so  fein 
ironisch  er  die  Angriffe  der  Fachgenossen  abwehrte,  so  liebenswürdig  be- 
scheiden trat  er  im  bürgerlichen  Leben  auf.  Und  wenn  auch  sein  Moral- 
gesetz das  Glückseligkeitsprincip  der  Popularphilosophie  vernichtete,  so  war 
ihm  das  Gefühl  für  Schcenheit  und  Kunst  nicht  fremd  und  nicht  gleichgiltig. 
Seine  bereits  1766,  zu  Koenigsberg,  veröffentlichten  'Beobachtungen  über  das 
Gefühl  des  Schoenen  und  Erhabenen'  führte  er  weiter  in  der  'Kritik  der 
Urteilskraft'  1790:^^  Schoenheit  ist  ihm  was  als  zweckmässig  ohne  Yorstellung 
des  Zwecks  wahrgenommen  wird,^'^  was  ohne  Begriff  allgemein  gefällt,  was 
ein  interesseloses  Wohlgefallen  erregt.  Diese  Gedanken  fanden  ihre  Fort- 
führung durch  Schiller;  aber  das  gesamte  Geistesleben  der  neechsten  Zeit 
stand  unter  dem  Einflüsse  der  Philosophie  Kants.  Wenn  unter  den  Prosa- 
werken des  18.  Jahrhunderts  seine  'Kritiken'  wegen  der  mit  Absicht  ^^  ge- 
waehlten  rauhen  Schulsprache'  nicht  in  gleicher  Weise  wie  die  Werke  anderer 
Philosophen  allgemein  gelesen  und  gewürdigt  werden  konnten,  so  besitzen 
doch  seine  kleineren  Schriften  bei  aller  Gedankenfülle  die  hoechste  Reinheit 
und  Klarheit  des  Ausdrucks  und  die  Schärfe  seiner  Begriffsbestimmungen  ist 
der  Sprache  dauernd  zu  Gute  gekommen. 

§  157. 
Ein  Ostpreusse  wie  Hamann  und  Kant  war  auch  Johann  Gotfried  von 
Herder.  Kant  war  sein  Lehrer  an  der  Koenigsberger  Universita?t,  aber  noch 
ehe  er  seinen  eigentümhchen  Standpunkt  gefunden  hatte,  welchen  Herder 
spseter  heftig  bekämpfte.  Dagegen  dauerte  die  Freundschaft  Herders  mit 
Hamann  lebenslang.'  Herder  hat  Hamanns  Gedanken  ihrer  YerhüUung  ent- 
kleidet und  mit  glänzender  Darstellung  ausgestattet:  erst  durch  ihn  erlangten 
sie  volle  Anerkennung  und  Wirkung.     Andererseits  knüpfte  er  mit  Vorliebe 

die  Maxime  deines  Willens  jederzeit  zugleich  als  Prinzip  einer  allgemeinen  Oiesetzgebung 
gelten   könnte'.  77)  Berlin    und  Liebau,    ^1798.  78)  Noeli    deutlicher  und  über- 

zeugender sagt  Kant:  'Natur  ist  schoen,  wenn  sie  aussieht  wie  Kunst;  Kunst  ist  schoen, 
wenn    sie    aussieht    wie   Natur'.  79)    Kant    verwarf  den    Ausdruck   'schcene    Wissen- 

schaften': Kr.  d.  Urteilskraft  §  44. 

§    157.      1)  Herders  Briefe  an  J.  Gr.  Hamann,  im  Originaltext  herausg.  v.  Otto  Hoffmann, 


454  NEUJIOUIIÜEÜTÖCIIE   ZKIT.        XVlll  JAIIRII.  §  157 

an  Lessing-  an,  dessen  kritischer  Schärfe  er  die  Weite  seines  Blickes,  die 
Tiefe  seiner  EnipHndiing'  entgegen  setzte;  und  die  Folgezeit,  insbesondere 
das  zuipnchst  folgende  Geschlecht  hat  sich  ebenso  durch  seine  J^eitung  be- 
stimmen lassen*  wie  der  Geist  des  vorhergehenden  in  Leasings  Urteilen  und 
Diciitwerken  den  bleibenden  Ausdruck  erhielt.  Lessings  Bekenntnis  zur 
Philosophie  Spinozas  nahm  auch  Herder'  an,  nur  dass  er  dessen  Ethik  der 
Selbstlosigkeit  in  eigentümlicher  Weise  mit  der  christlichen  Theologie®  zu 
verbinden  suchte. 

Herder"  war  geboren  zu  Mohrungon  am  25.  August  1744.  Sein  Vater 
war  Schullehrer;  nur  mit  Schwierigkeit  errang  sich  Herder  den  Zugang  zur 
Universita't,  Nachdem  er  in  Kamigsberg  17(i2 — 64  studiert,  erhielt  er  eine 
Anstellung  in  Riga  als  Lehrer  an  der  Domschule,  spteter  auch  als  Prediger. 
Hochgeschätzt  von  den  gebildeten  Handelsherren  dieser  Stadt,  welche  unter 
russischem   Schatten   last   Genf  war,    Hess   er   sich  doch  seine  Stellung  dort 

Berlin  1889.  2)  St-hoener  Nachruf  im  Teut8fhen  Mercur,  Ort.  1781.     Unter  «len  Paramy- 

ihien:   'Der  Tod.     Ein  Gespraech  an  Lessings  (irabe":    LB.  2,  1045.  3)  Lessings   Ver- 

nunttreligion  führte  er  insofern  aus,  als  er  die  Unsterblichkeit  der  Seele  zwar  als  Glauben 
bestehen  lies«,  aber  doch  die  menschliche  Unsterblichkeit  darauf  bezog  dass  alles  Edle  und 
Reine,  alles  was  in  der  Natur  und  Bestimmung  des  Menschengeschlechts  in  seiner  fortgehenden 
Thietigkeit  wesentlich  liegt,  unendlich  fortwirke,  ein  (iedanke.  der  freilich  eine  Ablegung 
unseres  Ich  notwendig  fordere:  Zerstreute  Blätter  4.  Sammlung  1792  (Suphans  Ausg.  XVI, 
33  fgg.  39).  Dem  Lustspiele  Lessings  'Die  Juden'  wollte  übrigens  Herder  ein  Trauerspiel 
'Der  Christ"  entgegen  stellen:   Suphan-Redlich  XXVUI.   11.  4)  Ch.  Joret,    Herder   et 

la  renaiss'iiice  litteraire  au  XVITIe  siede.    Paris  187Ö.  5)  'Gott.    Einige  Gespraeche', 

Gotha  1787.  Dass  Herder  indessen  hauptsächlich  au  Leibnitz  fest  hielt,  zeigt  M.  Kronen- 
berg, Herders  Philosophie,  Heidelberg  1889.  6)  August  Werner,  Herder  als  Theologe. 
Berlin  1871.  7)  'Erinnerungen  aus  dem  Leben  .loh.  Gottfrieds  v.  Herder'.  Gesammelt 
und  beschrieben  von  Maria  Carolina  v.  Herder,  geb.  Flachsland,  hg.  durch  J.  G.  Müller, 
Tübingen  182U,  HI.  'J.  G.  v.  Herders  Lebensbild.  Sein  chronologisch  geordneter  Brief- 
wechsel' (bis  1771)  hg.  von  seinem  Sohne  Emil  G.  Herder,  VI,  Erlangen  1846.  Weitere 
Veröffentlichungen  von  H.  Düntzer  und  Ferd.  Gottfried  von  Herder:  'Aus  Herders  Nachläse', 
III,  Frankfurt  a.  M.  1856—57;  'Herders  Reise  nach  Italien',  Giessen  1859;  'Von  und  an 
Herder'.  III,  Leipzig  1861.  62.  Von  spietereu  Quellenschriften  vgl.  bes.  'Aus  dem  Herder- 
schen  Hause.  Aufzeichnungen  von  J.  G.  Müller.  178U— 82';  hg.  v.  J.  B«chtold,  Berlin  1881. 
Zusammenfassende  Biographie  von  R.  Haym :  'Herder  nach  seinem  Leben  und  seinen 
Werken',  II,  Berlin  1877.  85.  Die  Erinnerungen'  bildeten  den  Schluss  von  .1.  G.  v..Herders 
Sämtlichen  Werken,  (welche  Herders  Wittwe.  J.  G.  Müller  und  sein  Bruder,  der  Geschichts- 
schreiber, sehr  willkürlich  redigierten)  XLV.  Tübingen  18U5— 20:  LX,  Stuttg.  u.  Tüb.  1827  bis 
30;  XL,  ebd.  1852 — 54.  Düntzers  Ausgabe,  Berlin  o.  J.  XXIV.  Kritisch-historische 
Ausgabe   von  Suphan,  Berlin   1877   fg.  XXXI  (darin  XXV — XXLX   Poetische  Werke   hg. 


1 


§  157  HERDERS  LEBEN.  ,  455 

durch  litterarische  Streitigkeiten  verleiden,  in  welchen  ihn  Klotz  und  seine 
Anhänger  um  so  empfindlicher  trafen,  als  er  seine  ersten,  ohne  seinen  Namen 
erschienenen  Schriften  geradezu  abgeleugnet  hatte.  Auch  der  Wunsch  seine 
Jahre  zu  nutzen  und  sich  in  der  Welt  umzusehen  trieb  ihn  fort.  Im  Früh- 
jahr 1709  veriiess  er  Riga;  nach  langer,  einsamer  Seefahrt  landete  er  in 
Nantes.  Der  grossartige  Eindruck  des  Naturlebens  auf  dieser  Reise  wurde 
durch  die  naehere  Bekanntschaft  mit  der  ganz  anders  gearteten  franzoesischen 
Bildung  seiner  Zeit  nur  verstärkt.  Als  er  nach  Paris  kam,  erhielt  er  den  Antrag 
einen  geistesschwachen  Prinzen,  den  Sohn  des  Fürstbischofs  von  Lübeck  auf 
seinen  Reisen  zu  begleiten.  Auf  dem  Weg  nach  Eutin,  wo  er  seinen  Zögling 
abholen  sollte,  verkehrte  er  in  Hamburg  freundschaftlich  mit  Lessing.  Die 
Reisestelle  erwies  sich  bald  als  eine  Fessel:  Herder  trennte  sich  von  dem  Prinzen 
um  in  Strassburg  zunaechst  wegen  eines  entstellenden  Augenleidens  sich  einer 
Operation  zu  unterziehen,  wobei  der  junge  Goethe  ihm  wsehrend  der  lang- 
weiligen und  zuletzt  doch  erfolglosen  Kur  Gesellschaft  leistete.  Vorher  hatte 
er  in  Darmstadt  seine  speetere  Gattin  kennen  gelernt,  eine  Elsässerin,  welche 
ihm  ein  glückliches  Familienleben  bereitete  und  begeistert  an  seinen  schrift- 
stellerischen Arbeiten  Teil  nahm,  aber  auch  durch  die  Heftigkeit  ihrer  'Electra- 
natur'  die  Verstimmungen  ihres  an  sich  sehr  reizbaren  Gatten  noch  steigerte. 
Er  holte  sie  1773  nach  Bückeburg  ab,  wohin  er  im  Frühjahre  1771  als  erster 
Geisthcher  des  kleinen  Landes  berufen  worden  war.  Graf  Wilhelm  hatte  in 
ihm  wesentlich  einen  Ersatz  für  den  frühverstorbenen,  von  Herder  würdig 
beklagten  Abbt*  gesucht:  besser  jedoch  als  der  Stoiker  und  Soldatenfreund 
verstand  seine  saufte,  liebenswürdige  GemahUn  Herders  Bestreben  inmitten 
des  philosophischen  Jahrhunderts  der  Religion  ihr  Recht  wiederzugewinnen. 
Durch  dieses  gerade  damals  heftig  in  ihm  entbrannte  Verlangen  verfeindete 
sich  Herder  freilich  auch  mit  den  bisher  ihm  geneigten  Vertretern  der  Ber- 
liner Aufklärung;  er  fühlte  sich  in  der  kleinen  Residenz,  fern  von  den 
Stätten  des  deutschen  Geisteslebens,  wie  in  der  Verbannung.  Als  die  Greefin 
Maria  1776  starb,  hatte  er  eben  einen  durch  Goethe  erwirkten  Ruf  nach 
Weimar  angenommen,  wo  er  am  2.  October  anlangte  und  seitdem  bis  zu 
seinem  Tode  am  18.  December  1803  sein  geistliches  Amt,  zuletzt  als 
Prsesident  des  Oberconsistoriums  versah.  Eine  Aussicht  auf  eine  Professur 
in  Göttingen  war  ihm  wie  schon  in  Bückeburg,  so  wiederholt  und  sicherer 
waehrend  einer  Reise  nach  Italien  eröffnet  worden,  die  er  vom  Sommer  1788 

von  C.  Redlich).    Auswahl  durch  Lainbel  ia  Kürschners  Nat.-lit.  75—77.  8)  §  I5(j,  22. 


456  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVIII.  JAHKH.  §  157 

bis  zum  Sommer  1789  grossentoils  in  der  Umgebung  der  Herzogin  Amalia 
zurücklogto:  dass  er  sich  in  Weimar  bulton  lioss,  glaubte  er  sjitpter  bereuen 
zu  müssen.  Denn  auch  hier  wai-d  ihm  dauernde  ZutViiMlenheit  nicht  zu 
Teil:  der  obersJichsische  Volkschararter  seiner  thüringischen  Umgebung'' 
misstiol  ihm  ebenso  wie  er,  der  Anhänger  Kousseaus,'''  E^n^^  Adel"  und 
Hof  eingenommen  war;  und  freilich  bot  Anfangs  Karl  Augusts  geniale  Lebens- 
führung dem  strengen  Moralisten  manchen  Anstoss;  spwter  verstimmten  den 
Herzog  Herders  Klagen,  wenn  auch  die  Gunst  der  fürstlichen  Frauen  diesem 
treu  blieb.  Dadurch  ward  auch  Herders  Verhältnis  zu  Onethe  berührt:  nur 
in  den  Jahren  1783  bis  1794  etwa  waren  beide  eng  verbunden  durch  ihre 
Übereinstitnmung  in  philosophischen  Ansichten  und  in  der  litterarischen  Wirk- 
samkeit. Als  Giethe  sich  mit  Schiller  befreundete,  trat  Herder  zurück;  hatte 
er  anfänglich,  wie  früher  Wielands  Mercur,  dann  Boies  Deutsches  Museum, 
so  auch  Schillers  'Horen^  unterstützt,  so  sprach  er  über  dessen  spaetere  Werke 
ab,  um  so  härter,  als  er  damit  zugleich  den  Anhänger  Kants  verurteilte. 
Gegen  Kants  Hauptwerk  richtete  sich  Herders  Metakritik'  (Leipzig  1799,  II), 
gegen  Kants  und  Schillers  lesthetische  Schriften  seine  'Kalligone'  (Leipzig 
1800,  n);  in  seiner  'Adrastea'  (VI,  Leipzig  1801 — 3)  vereinigte  er  eine  An- 
zahl von  Aufsätzen,  welche  wie  schon  seine  letzten  'Briefe  zur  Beförderunir 
der  Humanita?t'  die  älteren  Dichter  seiner  Zeit  '-^  geflissentlich  gegen  die  an 
seiner  Seite  lebenden  hervorhoben. 

Von  Herders  älteren  Hauptschriften  zeigen  auch  die  der  Theologie  ge- 
widmeten den  Grundton  der  Überzeugungen  Herders,  sein  Streben  nach  Hu- 
manitaet:  war  ihm  doch  die  Religion  Christi,  wie  dieser  selbst  sie  übte  und 
lehrte,  die  Humanität  selbst.'^  Diese  Humanitset,  deren  Pole,  Verstand  und 
Güte,  im  Grunde  beide  auch  nur  eines  seien,  vertrat  er  durchweg,  sei  es  mit 
der  Auffassung  und  Deutung  der  biblischen  Überlieferungen  als  historischer, 
poetisch  durchhauchter  Quellen,  sei  es  mit  sittlicher  Mahnung,  welche  an  das 
allgemeine  Gefühl,  nicht  bloss  an  den  gesunden  Menschenverstand  sich  wandte 
und  Volk  wie  Gebildete  gleichmsessig  ins  Auge  fasste.  In  jener  Art  trat 
mit  besonderer  Kühnheit  hervor  Herders  'Älteste  Urkunde  des  Menschen- 
geschlechts' (II,  Riga  1774 — 76),    worin   die  mosaische  Schöpfungsgeschichte 


9)  Müller,  aus  dem  Herderschen  Hause  S.  71.  10)  Noch  das  allegorische  Drama  'Aeon  und 

Aeonis*,  1802  erschienen,  gibt  dieser  politischen  Gesinnung  Ausdruck.  11)  Doch  liess 

sich  Herder  seihst  1801  vom  Kurfürsten  von  Bayern  adeln,  um  einem  seiner  Soehne  den  Besitz 
eine»   ritterlichen   frutes   zu   sichern.  12)  Klopstocks   Lob   (Adrastea  V  1.  98  igg.)    ist 

freilich  ebenso  gerecht  wie  schoen.  13)  Humanitietsbrief  2.5,  30  (Suphans  Ausg.  XVII, 


§  157  HERDERS  THEOLOGISCHE  SCHRIFTEN.  457 

als  grossartige  Wiedergabe  der  Eindrücke  eines  Sommermorgens  •'  gedeutet 
wird;  spaeter  folgten  'Lieder  der  Liebe,  die  ältesten  und  schoensten  aus 
Morgenlande'  (Leipzig  1778),  ein  Versuch  die  Zusammensetzung  des  Hohen 
Liedes  aus  einer  Reihe  von  Liedern  zu  erkla^ren,  die  aus  dem  orientalischen 
Gefühl  und  Ausdruck  verstanden  werden  müssten ;  sodann,  nachdem  er  um 
1780  eine  Klserung  und  Sänftigung  wie  der  Ansichten  so  auch  der  Ausdrucks- 
weise erfahren  hatte,*''  das  z.  T.  in  GesprsBchsform  abgefasste  Buch  'Vom 
Geiste  der  Ebraeischen  Poesie'  (II,  Dessau  1782.  83),  eine  Würdigung  nament- 
lich des  Buches  Hieb  *"  und  der  Psalmen  vom  dichterischen  Standpunct  aus, 
der  auch  durch  Vergleichung  mit  arabischen  Dichtungen  und  mit  Ossian  ge- 
stützt wird.  Aus  dem  Neuen  Testament  zogen  namentlich  das  Evangelium 
Johannis  und  die  Apokalypse  *^  den  feinfühligen,  für  jede  Art  der  Poesie  em- 
pfänglichen Geist  Herders  an.  Mehrere  Erlteuterungsversuche  einzelner  Lehr- 
begriffe  (Auferstehung,  Rede  in  Sprachen)  vereinigte  Herder  in  den  'Christ- 
lichen Schriften'  (V,  Riga  1794—99). 

Von  den  Mahnreden  gelangten  die  Predigten  Herders  nur  gelegentlich 
in  den  Druck;  *^  er  selbst  schrieb  meist  nur  die  Entwürfe  auf,  welche  er 
dann  frei,  mit  eindrucksvoller  Ruhe,*^  so  gemeinverständlich  als  moeglich  aus- 
führte. Von  den  gedruckten  bekannte  er  dass  sie  dann  als  Abhandlungen 
mit  allem  Gezwungenen,  was  seine  Schriftstellerei  habe,  erschienen.^''  Diesen 
letzteren  Character  zeigen  allerdings  seine  'Provinzialblätter  au  Prediger' 
(Leipzig  1774),  worin  er  heftig  gegen  die  Predigt  der  Aufklterungstheologen, 
insbesondere  die  Spaldings  eiferte,  welche  nur  auf  Moral,  noch  dazu  wesent- 
lich im  Staatsinteresse,  dringe.  Den  milderen  Geist  der  spaeteren  Zeit  atmen 
die  'Briefe  das  Studium  der  Theologie  betreffend'  (Weimar  1780.  81).  An 
weitere  Kreise  wenden  sich  die  'Briefe  zur  Beförderung  der  Humanitaet', 
Riga  1793 — 97,  welche  die  reifen  Früchte  der  weitausgreifenden  Belesenheit 
Herders  enthalten  und  auf  Franklins,  Friedrichs  II,  Lessings  Schriften,  aber 
auch  auf  Homer  und  Pliilemon,  und  wieder  auf  Leibnitz  und  noch  auf  Kant 
hinweisen.^'     An  die  Schüler  des  seiner  Aufsicht  unterstehenden  Gymnasiums 

S.  121).  14)  LB.  3,  461.     Anlas«  gab  ein  Vergleich  Gessners  in  seinem   'Tod  Abels': 

Suphans    Ausg.    VI    p.    XIII.  15)    Snpban    XII.    .353    tgg.  16)    LB.    3,    477. 

17)  .\UPJX  .4W./,   (las  Buch   von  der    Zukunft   des   Herrn,    des  Neuen  Testamentes  Siegel, 
Riga  1779.  18)  Ein  Beispiel  LB.  3,  439.     Die  erste  Sammlung  'Christliche  Reden  und 

Homilien',    von   J.    (i.   Müller   besorgt,   erschien    in    den    Werken    1806.  19)  Vgl.    die 

schoene  Schilderung  von  Jean  Paul:    LB.  3,   914.  36  fgg.  20)  an  Lavater  1774:    Aus 

Herders  Xachla.ss  2,  117.  21)  Daraus  LB.  3,  493  'Haben  wir  noch  das  Vaterland  der 


458  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVHI  JAHUH.  §  157 

in  Weimar  wenden  sich  die  Schulreden,-'^  welche  erst  Stuttgart  1810  gesam- 
melt erschienen. 

Die  gleiche  Wendung  von  der  schroffen  Verworfung  des  Urteils  der 
Zeitgenossen  zu  einer  zusammenfassenden,  weitere  Ziele  steckenden  Betrach- 
tung lassen  die  Schriften  erkennen,  in  welchen  Herder  die  geschichtliche 
Entwickelung  der  Menschheit  hehandolt.  1 7 74 '■' veröffentlichte  er  'Auch  eine 
Philosophie  der  Gescliichte  zur  Bildung  der  Menschheit',  worin  er  besonders 
gegen  Voltaires  und  Iselins  Lob  der  Aufklterung  und  ihre  Herabsetzung  des 
Mittelalters  schneidende  Einsprache  erhebt.-^  Mcege  dies  letztere  eine  Zeit 
der  Unordnung  gewesen  sein,  moege  damals  ein  barbarischer  Ehrenpunct, 
eine  wilde  Händelsucht  geherrscht  haben :  immer  sei  das  noch  besser  als 
lebend  tot  sein.  Die  Gegenwart  biete  dagegen  Wiirme  in  Ideen  und  Kälte 
in  Handlungen;  ihr  Character  sei  Unglaube,  Despotismus  und  Üppigkeit. 
Gerechter  und  mit  gleichmfessigor  Liebe  verbreitet  sich  dagegen  über  den 
ganzen  Gang  der  Weltgeschichte  Herders  Hauptwerk,  seine  Ideen  zur  Phi- 
losoi)hie  der  Geschichte  der  Menschheit',  Riga  und  Leipzig,  IV,  1784  —  1791. 
Ausgehend  von  dem  Schauplatz  der  Weltgeschichte,  der  Erde,  von  der  Stel- 
lung des  Menschen  zu  den  übrigen  Organismen,  der  Verschiedenheit  der 
Völker  nach  Wohnsitz  und  Sitten,  benutzte  er  die  physiologischen  For- 
schungen Hallers,  verband  damit  die  physiognomischen  Studien  Lavaters, 
vor  allem  aber  Goethes  Winke  über  die  Ergebnisse  der  Naturwissenschaften. 
Freilich  Kant-^  tadelte  dass  Herder  so  vieles  allein  aus  dem  aufrechten 
Gang  des  Menschen  ableite,  und  fand  überhaupt  dass  er  der  Einbildungs- 
kraft im  Aufbau  seiner  Lehre  zu  weit  nachgebe;  aber  auch  er  erkannte 
die  erstaunliche  Fülle  der  Kenntnisse,  ihre  sinnreiche  Verknüpfung  und  die 
dichterische  Beredrsamkeit  Herders  an.  Mit  raschem  Fluge  eilt  die  Dar- 
stellung vorwärts,  zeigt  namentlich  in  der  Behandlung  der  Religionsgeschichte 
eine  grossartigo  Unbefangenheit,  gelangt  aber  nur  bis  zum  Ende  des  Mittel- 
alters, dem  Zeitalter  der  Entdeckungen  und  Erfindungen.  Für  die  Welt- 
geschichte ist  das  Werk  ein  Muster  gewesen  und  geblieben.  Einige  Abhand- 
lungen scldiessen  sich  vorbereitend  an,  mit  welchen  Herder  vielfach  Preise 
der    Akademien-"    sich    errang:    über    den     Ursprung    der    Sprache',    Berlin 


Alten?'  ein  umgearbeitetes  Stück  einer  zu  Riga  17H.')  verötfentlichten  Abhandlung.  Im  79. 
Brief  gedenkt  er  rühmend  seines  Lehrers  Kant;  ireilich  Schiller  und  selbst  Goethe  werden 
zuletzt  scheel  angesehen.  22)  Daraus  LB.  3,  4b5  'Von  der  Annehmlichkeit,  Nützlichkeit 

und  Notwendigkeit  der  Geographie'.  23)  o.  0.  24)  Daraus  LB.  3,  471.  25)  AUg. 

Iyit.-Zeitung  178.3.     Werke  hg.  von  Hosenkranz  u.  Schubert  VII  S.  349  fgg.  26)  Vgl. 


§  157  HERDERS  GESCHICHTLICHE  WERKE.  459 

1772,  worin  er  ausführte  dass  die  Sprache,  als  Anlage  des  Menschen  von  An- 
fang an  in  ihm  vorhanden,  Merkmale  der  Dinge  ausser  ihm  fest  zu  halten 
suche;  'Ursachen  des  gesunkenen  Geschmacks  bei  den  verschiedenen  Völkern 
da  er  geblühet',  Berlin  1775;  'Von  Einfluss  der  Regierung  auf  die  Wissen- 
schaften und  der  Wissenschaften  auf  die  Regierung',  Berlin  1780;  'Über  die 
Wirkung  der  Dichtkunst  auf  die  Sitten  der  Völker  in  den  alten  und  neueren 
Zeiten',  München  1781, 

Von  solchen  grossen  Gesichtspuncten  aus  war  Herder  gleich  beim  ersten 
Auftreten  bemüht  die  litterarische  Kritik  zu  fördern,  und  hier  nahm  er  Les- 
sings  Schriften  als  Anlass  zu  Beistimmung,  zu  Fortführung,  aber  auch  zu 
Widerspruch :  nur  dass  er  bei  diesem  oft  die  Fragstellung  veränderte  und  so 
neben  Lessing  Recht  behalten  konnte.  So  stellten  seine  'Sammlungen  von 
Fragmenten:  Über  die  neuere  deutsche  Litteratur',  III  (Riga)  1767,'-'  die 
Urteile  Lessings  und  seiner  Freunde  in  den  Litteraturbriefen  zusammen  und 
bekämpften  namentlich  die  bisherige  Neigung  deutsche  Dichter  mit  antiken 
gleichzusetzen.  Von  Herders  'Kritischen  Wäldern',  III  (Riga)  1769,  ist  das 
erste  Wäldchen ^'^  Lessings  Laokoon  gewidmet  und  sucht  den  hier  gegebenen 
Unterscheidungsgrund  zwischen  Poesie  und  Malerei  dahin  zu  berichtigen  dass 
die  letztere  durch  ihre  Werke  Eindruck  mache,  die  erstere  dagegen  durch 
ihre  Thaetigkeit  selbst ;^^  auch  die  'Plastik',  Riga  1778,  knüpft  hier  an,  in- 
dem die  Bildhauerei  als  'Kunst  des  Gefühls'  neben  die  Malerei  als  'Kunst 
des  Gesichts"  gesetzt  wird.  Noch  spseter  sucht  Herder  Lessings  Fabeltheorie 
genauer  zu  fassen,  indem  er  auf  den  bestimmten  Anlass  hinweist,  aus  wel- 
chem jede  einzelne  Fabeldichtung  der  ältesten  Zeit  entsprungen  sei.  Wich- 
tiger ward  seine  Behandlung  des  Epigramms:  hier  erwies  er  allerdings  dass 
Lessings  an  Martial  anknüpfende  Auffiissung  zu  eng  sei.  Herder  ging  auch 
hier  auf  die  Geschichte  der  Gattung  ein  und  wies  auf  die  griechische  Antho- 
logie hin,  worin  so  oft  und  so  glücklich  das  Epigramm  wirklich  als  Auf- 
schrift, als  Erklärung  eines  Denkmals  erscheine,  also  von  den  zwei  Lessing- 
schen  Bestandteilen  dos  Epigramms,  Erwartung  und  Aufschluss,  nur  der 
letztere  vorhanden  sei;  worin  ferner  neben  dem  Witz  auch  die  Empfindung 
zu  ihrem  Rechte  gelange.  Noch  andere  griechische  Dichtungen ,  Oden  von 
Pindar,  Alcaeus  u.  a.  erlseuterte  und  übersetzte  Herder  meisterhaft:   dies  und 


auch  zu  Winckelmann  §  156,  1.  27)  Daraus  LB.  S.  .S91.     Hier  werden  S.  40(.)  fgg.  viele 

der  oben  in  §  1.06  behandelten  Schriftsteller  besprochen.  28)    Die  andern   richten  sich 

gegen   Klotz.  29)   LK.    3,   409   fgg.     'Poesie   ist    Wirkung   auf  unsere   Seele,  Euergie' 


400  NEUJIGCHIDEUTSOIIE  ZEIT.         XVITI  JAlIRir.  §  157 

Morgenläudiscliofl '*'  ist  grossenteils  der  Inhalt  der  sechs  Sammlungen,  v\(^]<^h<> 
er  als   Zerstreut-o  Blätter'  /u  (iotha   1785 — 97  erscheinen  Hess. 

Allein  weit  hceher  als  Alles,  was  lltM-der  an  Lessiug  anschliessend  für 
das  Verständnis  und  die  Würdigung  der  antiken  Dichtung  gethan  hat,  steht 
sein  früher  schon  erworbenes  Verdienst  um  die  Anerkennung  der  Poesie  der 
hisher  für  barbarisch  angeseheneu  Völker,  der  Volkspoesie  überhaupt.  Ha- 
manns Ausspruch  dass  Poesie  die  Muttersprache  des  Menschengeschlechts  sei, 
wurde  in  llerdei-s  Ausführung  verständlich,  erwiesen  und  fruchtbar.  Jlomer, 
der  groBsste  Sänger  der  fJriechen  ist  zugleich  der  grcesste  Volksdichter;'" 
seine  weise  Darstellungsart  ist  Natur,  Jiicht  Kunstgriff,  wie  noch  Lessing  ge- 
meint hatte;  selbst  sein  Vers  ist  kein  Sclml-  und  Kunsthexameter.  Und 
diese  Gabe  zu  (Mnpfinden  und  den  Empfindungen  Ausdruck  zu  verleihen,  ist 
allen  Völkern  gemeinsam,  nicht  zum  wenigsten  auch  den  nordischen,  auch 
dem  deutschen.  So  pries  Herder  Ossians  Gesänge  mit  denen  der  Edda;  vor 
allem  aber  Shakespeare,  und  ihm  galt  ein  Teil  der  mit  Beitnegen  von 
Mueser  und  Giethe  versehenen  Sammlung  Herders  Von  deutscher  Art  und 
Kunst",  Hamburg  17  73:  Shakespeare-'-  erschien  als  Briuler  des  Sophocles  und 
nur  durch  die  Eigenart  seiner  Bühne  auf  andere  Mittel  als  dieser  angewiesen. 
Insbesondere  waren  es  die  lyrischen  Stellen  Shakespeares,  welche  man  bis 
dahin  vielfach  für  unübersetzbar  gehalten  hatte:  gerade  an  ihnen  zeigte  Herder 
die  Natur  des  Liedes,  in  welchem  sich  Gedanke  und  Form,  diese  auch  in 
der  Melodie,  innig  verschmelzen,  alles  aus  Empfindung  hervorgeht  und  wieder 
darauf  wirkt.  Den  gleichen  Grundzug  des  ersten  Wurfes'  zeigte  Herder  an 
den  alten  englischen  und  dtenischen  Balladen '^  in  dem  Aufsatze  Von  Ähn- 
lichkeit der  mittleren  englischen  und  deutschen  Dichtkunst',  der  in  Boies 
Deutschem  Museum   1777  erschien. 

Was  Herders  litterarische  Kunstlehre  so  wirksam  machte,  war  nament- 
lich auch  die  vor  ihm  unbekannte  Kunst  der  Übersetzung  mit  feinster  Beob- 
achtung und  Wiedergabe  von  Ton  und  Stil,  Versmass  und  Reimbindung  der 
Originale.  Er  suchte  jene  Übereinstimmung  mit  den  Sangesweisen  zu  wah- 
ren und  hätte  diese  daher  gern  immer  beigegeben.  Vortrettiich  wusste  er 
das  Kunstlose,    Tiefgefühlte    der  Poesie    der  Naturvölker    nachzubilden,    vor 


428,  G.  30)  Persisches   (nach   Sadi),   auch    Indisches:  diese  Neigung  zum  Orient  tritt 

besonders  seit  der  italienischen  Reise  hervor.  31)  Vorrede  zu  den  Volksliedern  II.  S.  5. 

Homer  sind  niehrfre  Aufsätze  Herders  in  den  'Hören'  gewidmet,  wobei  freilich  Heynes 
Verdienste  um  den  Diiditer  zu  hoch  gepriesen,  ilic  von  K.  A.  Wolf  übergangen  werden. 
32)  LB.  3,  4:i7.  31^)   l'robeu  LB.  2,  UW. 


§  157  IIERDBRS  KRITIK  UND  DICHTUNG.  461 

allem  in  der  sorgfarltig  ausgewa^hlten  Sammlung  seiner  'Volkslieder',  II,  Leipzig 
1778.  79.''*  Auch  die  antiken  Kunstformen,  die  er  früher  mit  gereimten 
vertauscht  hatte,  behielt  er  .seit  der  Übersiedlung  nach  Weimar  bei.''*  In 
diesen  Formen  übertrug  er  auch  die  lateinischen  Gedichte  des  deutschen 
Jesuiten  Bälde  (§123,  21)  unter  dem  Titel  Terpsichore,^^  III,  Lübeck 
1795.  96,  und  wusste  dem  Dichter,  dessen  Namen  er  zuerst  verschwiegen 
hatte,  auch  durch  eine  nachgetragene  litterarhistorische  Schilderung  gerecht 
zu  werden,  wie  er  auch  sonst  zahlreiche  deutsche  Dichter  besonders  des  17. 
Jahrhunderts^'  wieder  allgemein  bekannt  gemacht  hatte.  So  schloss  er  seine 
litterarische  Tha^tigkeit  überliaupt  mit  der  Bearbeitung  eines  spanischen  Ro- 
manzencyclus ,  von  dem  er  übrigens  nur  eine  franzoesische  Wiedergabe  in 
Prosa  und  mit  Erweiterungen  benutzen  konnte  :^^  der  'Cid',  erst  1805  voll- 
ständig erschienen,  ward  durch  Herder  ein  Meisterwerk  auch  der  deutschen 
epischen  Dichtung.-'^ 

In  den  Übersetzungen  aus  Kunstdichteru  hat  Herder  sich  viele  Frei- 
heiten gestattet  um  nur  den  allgemeinen  Eindruck  nicht  zu  verfehlen,  er  hat 
geändert,  was  nur  für  Gelehrte  verständlich  oder  für  unsere  Sitten  anstoessig 
erscheinen  konnte:  dadurch  sind  sie  gewissermassen  sein  Eigentum  geworden. 
Anderes  hat  er  aus  älteren  Dichtungen,  auch  Mythen  weiterführend  oder 
umgestaltend  neu  geschaffen:  so  die  meist  in  Prosa  abgefassten  Paramythien, 
denen  auch  in  poetischer  Form  sinnvolle  Allegorien  wie  'das  Kind  der  Sorge' 
anzureihen  sind.^"  Mit  bedeutsamer  Verwahrung  erneuerte  er  1797  die  Le- 
gendendichtung. ^'  Gehoeren  diese  zartfühlenden,  rein  auf  das  sittlich-religioese 
Humanitaitsideal  gewendeten  Erz-cehlungen  der  späteren  Zeit  an,  so  hat  er 
von  Anfang  an  in  selbständiger  Dichtung  die  schwungvolle  Ode  gepflegt,  auch 
die  politische,  für  welche  er  mehr  als  ein  anderer  Dichter  des  Jahrhunderts 
Sinn  und  Begabung  bewies. ^-^     Sein  musicalisches  Verständnis  aber  lockte  ihn 


84)  Die  Sammlung  viav  1773  bereits  druckfertig;  iu  den  Ausgaben  seit  18U7  wurde  sie 
'Stimmen  der  Völker  iu  Liedern'   betitelt    und    nach  Nationen    abgeteilt.  35)   Sujjhan- 

Redlich    XXVl  S.  IX.  36)    Friedrich   Lauchert.    Herders  griechische   und  morgenläu- 

disehe  Anthologie  und  seine  Übersetzungen  aus  J.  Bälde,  im  Verhältnis  zu  den  Originalen 
betrachtet.    Diss.  München  1886.  37)  Andrese,  Weckherlin:   von   früheren  Hütten   im 

Teutschen  Mercur  1777;  auch  das  Annolied  hat  er  vortrefflich  gewürdigt.  38)  Eeiuhold 

Koehler,  Herders  Cid  und  seine  franzcesische  Quelle,  Leipzig  18G7.  Paralleltexte  bei 
A.  S.  Vcegelin,  Herders  Cid.  die  franzciesische  und  die  spanische  Quelle,  Heilbronu  1879. 
39)    Daraus    LB.  2,    1057    fgg.  40)    LB.  2,  lü;J5.  41)    Proben  LB.  2.  1048  fgg. 

42)  'Germanien'  LB.  2,  1047.    Über  den  Mangel  an  neuerer  deutscher  politischer  Poesie  ver- 


402  NEUHOrnDKrTSOHE   ZEIT.         XA^III  JAIIRH.  §  158 

7,u  dor  ni»^hr  (Irunmtischon  Form  dor  Ciintate,  wolcho  er  niunGnÜich  zu  roli- 
gifrsen  Foston^'  gern  in  Anvvondimg  l)riichto.  Soin  Brutus"',  worin  Shako- 
spoiiros  Dichtung  molodramiitiscli  bcliandidt  war,  wurde  1774  in  Büokeburg 
aufgeführt.  Noch  im  letzten  Lebensjahr  dichtete  Herder  Admetus  Haus', 
«nn  Drama  mit  Gesängen,  ein  Bild  der  innigen  Liebe,  welche  ihn  mit  den 
Seinigen  verband. 

§  158. 
Herders  Volkslieder  schliessen  mit  einem  Gedicht '  von  Claudius  als 
Probe  welches  Inhaltes  die  besten  Volkslieder  seyn  und  bleiben  werden'. 
Auch  mit  Claudius  war  Flerder  1770  bekannt  geworden,  er  sorgte  für  den 
Freund,  welcher  wie  in  der  Dichtung  so  im  Leben  die  gewöhnlichen  Wege 
nicht  betreten  mochte.  Matthias  Claudius ^  war  1740  als  Sohn  eines  Pre- 
digers zu  Reinteld  in  Holstein  geboren,  hatte  nach  der  Studienzeit  sich  ver- 
geblich als  Hauslehrer  versucht,  war  1768  als  Zeitungsschreiber  nach  Ham- 
burg gekommen,  1771  von  Bode  (§  154,  9)  für  den  'Wandsbecker'  (seit 
1773  'Deutschen')  'Boten'  angestellt,  aber  1775  entlassen  worden.  Auf  Her- 
ders Empfehlung  berief  ihn  F.  C.  v.  Moser  nach  Darmstadt;  allein  er  ent- 
sprach hier  als  Journalist  noch  weniger  den  Absichten  der  Regierung.  So 
kehrte  er  1777  nach  Wandsbeck  zurück,  wo  er  bereits  1772  mit  seiner  treff- 
liclien  Rebckka,  einer  Zimmermannstochter,-'  sein  Haus  begründet  hatte.  Er 
lebte  als  Erzieher,  zunächst  der  Soehne  von  F.  H.  Jacobi ,  und  als  Schrift- 
steller: von  1775  ab  sammelte  er  seine  Schriften  als  ASMUS  omnia  sua 
SECUM  portans'.^  Eine  daenische  Pension,  dann  eine  Anstellung  an  der 
Bank  in  Altona  überhoben  ihn  spater  der  Nahrungssorgen.  Nachdem  auch 
er  noch  unter  der  Misshandlung  Hamburgs  durch  Davoust  gelitten  hatte, 
starb  er  hier  1815.  Als  Dichter  begann  Claudius  mit  'Tändeleyen  und  Er- 
zfehlungen'  Jena  1763,   einer  Nachahmung  Gerstenbergs,  welche  ihm  durch 


wundert  ersieh:  Hunianitißtsbriefe  11.  43)  Ostercautate :  LB.  2,  1042.     Auch  Handel» 

Messias  legte  er  1780  ei  neu  deutschen  Text  unter. 

§    L")S.      1)  Abendlied:   LB.  2,  957.  2)  W.   Herbst,   M.   Cl.  der  Wandsbecker  Bote, 

(iotha  1857.  4.  Aufl.  1878.  C.  Miinckeberg.  M.  Cl.  Ein  Beitrag  zur  Kirchen-  und  Litteratur- 
geschichte  seiner  Zeit,  Hamburg   18(ji).  3)  Er   nannte   sie  sein    Bauerumädchen".     Die 

Verniuehhingsfeier,  mit  der  er  seine  Gäste  überraschte,  scheint  Voss  in  der  'Luise'  vorge- 
schwebt zu  haben.  4)  VIII,  bis  1812  erschienen,  zu  Hamburg.  Mit  Nachlese  in 
der  10.  (Stereotyp-1  Aufl.  von  C.  Redlich.  Gotha  1879.  Von  Redlich  auch  'Die  poeti- 
schen Beitrsege  zum  Wandsbecker  Bothen,  gesammelt  und  ihren  Verfassern  zugewiesen", 
Hamburg  1871. 


§  158  CLAUDIUS.  463 

eine  Recension  von  Nicolai''  gründlich  verleidet  wurde.  Seine  eigenartige 
Gabe  und  Aufgabe  fand  er  erst,  als  er  unter  dem  Namen  des  Boten  Asmus 
in  volkstümlicher  Sprache''  und  Auffassung,  namentlich  in  der  Form  von 
Briefen,  die  er  z.  T.  einem  Vetter  Andres  zuschrieb,  sich  über  die  Tagesfragen, 
auch  die  litterarischen"  mit  Kenntnis  und  Gefühl  aussprach.  Anspruchslose 
Verse  und  ungekünstelte  Lieder  kamen  dazu.  Bald  spottete  er  mit  glück- 
licher Laune  über  die  steife  Aufklärung  ^  ebenso  wie  über  die  leere  Em- 
pfindsamkeit,^ bald  gab  er  der  frohen  Zecherstimmung  beim  Rheinwein '** 
kräftigen  Ausdruck;  er  pries  das  Glück  des  Familienlebens  und  die  Tüchtig- 
keit des  Bauernstandes,''  vor  allem  aber,  und  je  länger  je  mehr,  ein  von 
allen  Streitfragen  abgewaudtes  Christentum,'-  das  voll  Gottvertrauens  auch 
den  Gedanken  an  den  Tod,  an  'Freund  Hain'  nicht  scheut.  Indem  er  sich 
an  die  alten  Kirchenliederdichter,  insbesondere  an  Paul  Gerhardt  auschloss,'-^ 
gewann  er  eine  Sangbarkeit,  welche  seine  Lieder  weit  und  breit  in  die  ge- 
bildeten Kreise  eindringen  und  teilweise  bis  heute  sich  erhalten  liess. 

Von  anderer  Seite  her  griff,  und  zunsechst  mit  noch  groesserem  Beifall, 
Bürger  auf  das  Volkslied  zurück :  ihm  war  dessen  erzsehlende  Gattung  Muster 
und  teilweise  Quelle  für  die  eigene  Dichtung.  Auch  das  Lied  der  Empfin- 
dung pflegte  er;  doch,  indem  es  für  ihn  gleichfalls  ein  Spiegel  seines  Wesens 
und  Lebens  wurde,  besang  er  fast  nur  die  Liebesleidenschaft,  mit  sinnUcher 
Kraft ,  aber  auch  mit  ergreifendem  Schmerz.  Gottf^ried  August  Bürger 
war  1747  zu  Molmerswende  bei  Halberstadt  geboren.'^  Auf  der  Universitset 
zu  Halle  war  Klotz  sein  Lehrer,  freilich  auch  sein  Verführer  zu  Ausschwei- 
fungen. In  Göttingen  nahmen  sich  Freunde  seiner  an  und  verschafften  ihm 
1772  eine  Stelle  als  Amtmann  in  der  Nsehe,  die  er  jedoch  1784  aufgab.    Er 

5)  Literaturbrief  325.  6)  In  der  älteren  Zeit  mischen  sich  oberdeutsche  Dialectformen 

wie  gangen,  'n  Ding  tvie  die  Lieb  ist,  mit  niedei'deutschen,  Framause;  ganz  im  Heimat- 
dialect  ist  das  Sendschreiben  an  den  Naber  mit  Radt  (Grraf  Reventlovv)  lb0.ö,  abgefasst, 
welches   in    eiuer   kirchlichen  Frage   auf  die   Landleute   wirken   sollte.  7)    Vortrefflich 

sind  die  Briefe  über  Minna  von  Baruhelm  17G9:  Lessius;  blieb  Zeitlebens  ein  Freund  von 
Claudius.     Auch  (xoethes  Anfänge  begriisste  Claudius  freudig.  8)  Urians  Reise  um  die 

Welt:  LB.  2.  957.  9)  ebd.  953.     'Über  das  (ienie'  LB.  3,  717  (gegen  Wieland  gerichtet). 

10)  LB.  2,  956.  ,      11)  LB.  2,  960  fgg.        12)  Ein  gülden  ABC:  LB.  2,  963;  vgl.  3,  727. 

13)  D.   Jacoby   in    Wagners  Archiv   f.  d.    Gesch.   d.   dtschu.  Sp.  u.  Dichtung  1,  381    fgg. 

14)  In  der  letzten  Stunde  des  Jahres  geboren,  gab  er  selbst  1748  als  Geburtsjahr  an.  Bürgers 
Leben  behandelten  sein  Arzt,  L.  C.  Althof,  Einige  Nachrichten  von  den  vornehmsten  Lebens- 
umständen G.  A.  Bürgers,  Göttingen  1798;  H.  Proehle,  Bürger,  sein  Leben  und  seine  Dich- 
tungen, Leipzig  18.56.     Vgl.  bes.  Briefe  von  und  an  Bürger,  hg.  von  A.  Strodtmann,  Berlin 

Waclernagol,  Litter.  Gescbicbte  II.  31 


404  NEUHOOTIDET'TSriTE  ZEIT.         XVTTT  JAIIRH.  §  158 

lehrte  hierauf  in  Uöttingen  Aesthetik,*-'  seit  1789  als  Professor,  starb  aber 
verlassen  und  fast  im  Elend  schon  1794.  p]r  hatte  sich  1774  verheiratet, 
aber  bald  eine  heftige  Liebe  zu  seiner  Schwiegerin  gefasst,  sie  auch  nach  dem 
Tode  der  älteren  Schwester,  aber  nur  auf  kurze  Zeit  als  Gattin  besessen. 
Seine  dritte  Ehe  mit  dem  'Schwabenma;dchen\  das  ihn  angesungen  hatte, 
fiel  ganz  unglücklich  aus:  1790  geschlossen,  wurde  sie  1792  geschieden.  Eben 
damals  traf  ihn  auf  das  schwerste  eine  Beurteilung  seiner  Gedichte  durch 
Schiller;'®  aber  auch  sein  Schüler'"  A.  W.  Schlegel  konnte  in  einer  Schutz- 
schrift '''  nach  Bürgers  Tode  Schillers  Vorwürfe  nur  bestätigen.  Bürger  hatte 
heftig  geantwortet;  allein  er  versuchte  selbst  noch  seineu  Gedichten,  welche 
gesammelt  zu  Göttingen  1778  und  1789,  II,"  erschienen  waren,  nachträglich 
die  von  Schiller  vermisste  Idealitaet  zu  geben:  so  erschienen  sie  1796,  II.-" 
An  Feile  hatte  er  es  schon  vorher  nicht  fehlen  lassen:  besonders  seine  Erstlings- 
arbeit,-' die  Nachtfeyer  der  Venus',  die  1773  erschien,  arbeitete  er  mehrmals  um. 
Als  Übersetzer  versuchte  er  sich  auch  an  Homer,  zuerst  in  Jamben,-^  dann 
durch  Stolbergs  Wettbewerb'-^  umgestimmt,  in  Hexametern.  Ebenso  ahmen 
seine  lyrischen  Gedichte  z.  T.  franzoesische  Vorbilder  nach  und  streben  nach 
deren  leichtfertiger  Anmut  und  sinnlicher  Glut.  In  Prosa  übersetzte  er  1786 
aus  dem  Englischen"-*  Münchhausens  Abenteuer,  worin  die  uralten  Jaegerlügen 
auf  ein  damals  noch  lebendes  Original  übertragen  waren. -''  Bürgers  eigent- 
liches Feld  aber  ward   die  Ballade    und  Romanze.     Nachdem  er  noch  1770 


1874.  IV.  15)  Lehrbuch    der  Aesthetik,   Berlin  1825:    Lehrbuch  des   deutschen  Styls. 

ebd.  1826  von  Reinhard  hg.  Vgl.  Anm.  20.  Dieser  setzte  auch  den  von  Bürger  1778—1794 
herausgegebenen  Uöttinger  Musenalmanach  fort:  s.  §  140.  Über  Bürger  in  Göttingen  s. 
Kluckhohn    in    Schnorrs    Arch.    XII.   61    fgg.  16)    Jenaer   Allg.    Lit.   Zeitung   1791. 

17)  Vgl.  das  an   ihn  gerichtete  Sonett  Bürgers  LB.  2,  988.  18)  Characteristiken   und 

Kritiken  1801   II  3  fgg.;  eine   ausgezeichnete    litterarhistorische  Würdigung.  19)  Die 

für  die  Eutstehungszeit  beigefügten  Jahreszahlen  hat  Bürger  ziemlich  sorglos  bestimmt: 
Weinhold   Boie   204.  20)  Besorgt   von  K.  Reinhard,    ebenso   wie    Bürgers   Sämtliche 

Werke.  Hamburg  1812.  13  n.  öfter.  Dieser  Text  auch  in  den  Sämtl.  Werken  hg.  v.  A. 
W.  Bohtz.  Göttingen  1835.  Erst  die  Ausgaben  der  Gedichte  von  Sauer,  bei  Kürschner  78 
und  von  Ed.  Grisebach,  Berlin  1889,  II.  zogen  die  älteren  Lesarten  wieder  vor.  21)  nach 

dem  Peri^giUum  Veneri.^  T.  Merc.  1773.  22)  Klotz  D.  Bibl.d.schoenen  Wiss.  1771.  23)  D. 
Mus.  1776  Dec.  24)  Der  ungenannte  Verfasser  war  R.  E.  Raspe,  1737  zu  Hannover 

geboren,  aus  Kassel,  wo  er  als  Aufseher  das  Münzcabinet  bestohlen  hatte,  1775  nach  PLngland 
geflohen,  wo  er  1794.  als  Gelehrter  noch  immer  angesehu,  starb.  25)  Freiherr  von  Münch- 

hansen  1720—97.  Der  Sachverhalt  wurde  ermittelt  von  Ad.  Ellissen  in  der  6.  Ausgabe  der 
Bürgerschen  Schrift.  Berlin  1849.     Über  die  Quellen  s.  C.  Müller-Fraureuth,  Die  deutscheu 


§  158  BÜRGER.     GÖCKINGK.  465 

deu  Raub  der  'Prinzessin  Europa'  im  Bänkelsängerton  besungen,-^  wurde  er 
durch  Herders  Mahnungen  in  der  Sammlung  'Von  deutscher  Art  und  Kunst' 
auf  die  edlere  Auffassung  der  Romanze  hingewiesen  und  redete  dieser  selbst 
in  dem  'Herzenserguss  über  Volkspoesie,  Aus  Daniel  Wunderiichs  Buche'  das 
Wort.^^  Popularittet  ward  ihm  nun  für  dichterische  Werke  das  Siegel  der 
Vollendung.  Von  seiner  'Lenore'  1773  dachte  er  selbst  wie  die  Zeitgenossen 
sehr  hoch.-'  Auch  sonst  legte  er  öfters  seinen  Balladen  deutsche  Sagen  ^^ 
zu  Grunde  oder  behandelte  Vorgänge  der  Gegenwart,  edle  Thaten,  welche 
dem  Volke  als  Vorbilder  gezeigt  werden  sollten. -^^  Dass  Bürger  in  Kraft- 
ausdrücken nicht  Mass  hielt  und  durch  aeussere  Mittel  des  Klangs  zu  wirken 
suchte,  tritt  besonders  in  der  Umgestaltung  fremder,  enghscher  Vorbilder  zu 
Tage,^'  die  er  aus  Percys  Reliqaes  of  ancient  english  Poetry,  London  1765, 
u.  a.  entnahm.  ^^  Aus  solchen  Quellen  stammen  auch  zum  Teil  die  possen- 
haften Stoffe,^^  die  er  mit  frechem  Spott  ausführte:  zu  bitteren  Epigrammen 
gab  ihm  spseter  sein  Schicksal  Anlass. 

Auf  diesem  letzten  Gebiete  war  noch  thaetiger  Bürgers  Jugendfreund^* 
Leopold  Friedrich  Günther  von  Göckingk,^-^  dessen  Sinngedichte  seit  1772 
erschienen.^®  Mit  der  gleichen  Munterkeit  und  Reimgewandtheit  dichtete  er 
Episteln  und,  noch  am  meisten  im  Sinne  der  neuen,  leidenschaftlichen  Dichtart, 
seine  'Lieder  zweier  Liebenden',  1777,  unter  denen  übrigens  auch  die  dem 
Msedchen  zugeteilten  von  ihm  verfasst  sind. 


Lügendichtungen  bis  aiif  Münchliausen,  Halle  1887.  26)  Einzeldruck  1777.    Noch  1776 

stellte  Bürger  selbst  'Lenardo  und  Blandine'  über  Leaore:  Weinhold  Boie  264  Anm. 
27)  Deutsches  Museum  1776.  Dagegen  richtete  sich  Nicolais  .Spott  §  156,  19,  der  dem 
Xeineweber  Daniel  Wunderlich'  als  'Schuster  Daniel  Säuberlich'  antwortete.  28)  Über 

den  Stoff  s.  "Wackernagel,  Kleinere  Schriften  2,  399  fgg.  Erich  Schmidt.  Characteristiken 
S.  199  fgg.  Walter  Scott  übersetzte  Lenore  1796:  aber  die  Behauptung  seines  Vorgängers 
W.  Taylor,  dass  Bürger  nur  eiue  englische  Quelle  bearbeitet  habe,  wiesen  1797  A.  W.  Schlegel 
u.  a.  überzeugend  zurück.  29)  Der  Wilde  Jteger  LB.  2,  985.  30)  Das  Lied  vom 

braven  Manne  LB.  2,  971.    Die  Kuh  974.  31)  Der  Kaiser  und  der  Abt  LB.  2,  977  nach 

Kiny  John  und  the  abhot  of  Canterburi/,  obschon  der  Stoff  in  Deutschland  von  früher  her 
bekannt  war:  §  86,  11.  32)  Ci.  Bonet  Maury,  Bxiryer  et  les  origines  anglaises  de  la  bailade 

litteraire  en  Allenmgne,  Paris  1889.  33)  Frau  Schnips  u.  ae.    Ähnlich  auch  die  Menagerie 

der  Götter.  34)  Ihr  Briefwechsel  ist  grossenteils  abgedruckt  von  Sauer:  Viertelj.  f.  Litt.- 

gesch.  3.62  fgg.  416  fgg.  35)  Geb.  1748  zu  Groeningenbei  Halberstadt,  1789  geadelt,  nach 
langer  Thsetigkeit  als  angesehener  Beamter  gest.  zu  Warteuberg  bei  Breslau  1828.  1770 — 86 
war  er  Kanzleidirector  zu  Ellrich  bei  Nordhausen.  Seine  Gedichte'  erschienen  im  Selbst- 
verlag  1780—82,   III,   uü.     Auswahl  durch  Minor  bei  Kürschner  73.  36)  LB.  2,  989- 


4(j(i  NFATHOCIIDET'TSCIIE  ZEIT.     XYIII  .lAIIIMI.  §  158 

Oöckingk  war  Bürgers  Vorgänger,  der  Nachfolger  Boies  als  Heraus- 
geber des  Göttingischon  Miisonalinanachs.  Boik  hatte  es  meisterhaft  ver- 
standen selbst  zwischen  grundverschiedenen  Naturen  und  Richtungen  zu  ver- 
mitteln, indem  er  seinerseits  alle  Rücksichten  übte,  Anderen  volle  Freiheit 
Hess.  Den  Intendanten  des  Parnasses'  nannte  ihn  Gleim,  Geboren  1744 
im  ditmarsischen  Meldorp,  starb  er  hier  1806.*'  In  Göttingen  lebte  er  als 
Hofmeister  junger  Engländer  17(il)  — ITUi;  hierauf  in  Hannover  als  Stabs- 
secretaer,  bis  er  1781  in  seine  Heimat  als  Landvogt  zurückkehrte.  Im  Winter 
auf  1770  hatte  er  Berlin  und  Halberstadt  besucht;  spsetere  Reisen  führten 
ihn  nach  Hamburg,  Braunschweig,  Weimar,  Darmstadt,  Düsseldorf,  auch  nach 
Holland,  und  überall  knüpfte  er  dauernde  Verbindungen  an,  die  seinen  Unter- 
nehmungen, dem  mit  Gotter  zusammen  1770  begründeten  'Musenalmanach', 
dem  mitDohm*'^  1776  — 1778,  spaeter  von  ihm  allein  herausgegebenen  Deut- 
schen Museum'  (bis  1788,  'Neues  D.  Museum"  1789—91)  ihren  vorzüglichen 
Wort  verschaflFten.  Gedichtet  hat  Boie  nur  weniges,  und  wesentlich  nur 
Bearbeitungen  franzo'sischer  und  englischer  Stücke  aus  den  leichteren  Gattun- 
gen, Lieder,  Episteln,  Epigramme.*'' 

Im  Göttinger  Musenalmanach  trat  die  Lyrik  dieses  jüngeren  Dichter- 
geschlechtes hervor,  welches  sich  auf  der  Universitset  um  Boie  sammelte. 
Jugendhch  begeistert  vereinigte  sich  der  Bund'  oder  'Hain'^°  unter  Formen, 
welche  an  die  Barden  erinnern  sollten,  um  sich  gegenseitig  freimütig  zu  beur- 
teilen, die  Verehrung  Klopstocks,  die  Verwerfung  Wielands  zu  fordern,  aber 
auch  die  Minnesänger  und,  im  Wetteifer  mit  dem  befreundeten  Bürger,  die 
Volkslieder  nachzuahmen.  Im  Sommer  1772  kamen  Voss,  Miller,  Hölty  u.  a. 
mit   Boie   zusammen;^'    im  Herbst   traten   die   Brüder   Stolberg    hinzu,    und 

37)    K.  Weinhold,    Heinri.h    Christian    Boie,    Halle  1868.  38)    Christian    Conrad 

Wu.HELM  DoMM,  geb.  ZU  Lemgo  17öl.  spaeter  Diplomat  und  geadelt,  gest.  1820  zu 
Pusteleben  bei  Nordhausen.  Dohni  sorgte  für  die  Artikel  des  D.  Museums  über  Politik 
und    Statistik.  39)    Eine    Sammlung    nur    bei    Weinhold;    doch    s.   Zs.   f.   d.   Philol. 

1,  378  fgg.  40)  Der  Name  Hain  deutet  auf  Klopstocks  Ode  'der  Hügel  und  der  Hain', 

womit  die  griechische  und  die  deutsche  Dichtkunst  oremeint  sind.  Zuerst  nannte  sich  die 
Gesellschaft  'Parnass'.  Den  .\usdnuk  'Hainbund'  gebrauchte  zuerst  Voss  1804  in  einer 
Lebens(r<»8chi(hte  Höltvs.  Gi-legentlich  bezeichnen  die  Mito'lieder,  mit  Rücksicht  auf  ihre 
allgemeinen  Ziele,  die  Vereinigung  als  'deutscher  Bund'.  41)  Von  den  Bundesgenossen, 

welche  in  der  Litteraturgeschichte  nicht  fortlebten,  ward  Johann  Friedrich  Hahn  (aus 
Zweibrdeken,  geb.  um  1750,  gest.  1779")  durch  seinen  Franzosen-  und  Tyrannenhass  ein 
Vorbild  für  die  Freunde:  sein  Lapidarstil  wurde  für  die  Briefe  des  Bundes  an  Klopstock 
gewieblt.     Seine  Briefe  und  (jedichte  hat  Kediich  gesammelt:  Beitr.  zur  deutscheu  Philologie, 


§  158  GÖTTINGER  DICHTERBUND.    BOIE,  VOSS.  467 

wenn  sie  auch  nur  ein  Jahr  blieben  und  der  zu  Ostern  1773  aufgenommene, 
zu  Ostern  1774  geschiedene  P.  C.  Gramer ^^  nur  auf  kurze  Zeit  durch  Leise- 
witz ersetzt  wurde,  so  fand  doch  das  Streben  des  Bundes  ^^  seinen  Hoehepunct 
noch  in  dem  Besuche"*  Klopstocks  auf  seiner  Reise  nach  Karlsruhe  im  Herbst 
1774:  er  hatte  in  der  eben  damals  veröffentlichten  'Gelehrtenrepublik'  auf 
den  Bund,  dem  er  selbst  beitrat,  mit  den  überschwänglichsten  Hoffnungen 
hingewiesen.  Gerade  damals  aber  schieden  Leisewitz  und  Miller;  Hölty  und 
Voss  folgten  zu  Ostern  1775.  Die  Seele  des  Bundes  war  Voss  gewesen, 
seine  Berichte  und  die  von  ihm  ererbten  Bücher  erhielten  die  Erinnerung 
an  Wirken  und  Streben  *^  des  Bundes. 

JoHAXN  Heinrich  Voss  war  1751  zu  Sommersdorf  bei  Waren  in  Mecklen- 
burg geboren.**^  Da  sein  Vater  durch  den  siebenjsehrigen  Ki'ieg  verarmte, 
errang  er  sich  schwer  den  Zugang  zum  Universitsetsstudium.  Boie  war  ihm 
hilfreich  gewesen,  Boies  treffliche  Schwester  Ernestine  ward  1777  seine  Gattin. 
Er  lebte  damals  seit  1775  in  Wandsbeck,  von  dem  Ertrag  des  Musenalma- 
nachs, den  ihm  Boie  abgetreten  hatte,  und  den  er  in  Hamburg  bis  1800 
fortsetzte,*^  obschon  der  Göttinger  Verleger  ebenfalls  einen  Almanach  erst 
durch  Göckingk ,  dann  als  dieser  sich  mit  Voss  verbunden  hatte ,  durch 
Bürger  weiter  führen  Hess.  1778  ward  Voss  Rector  zu  Otterndorf  im  Lande 
Hadeln  (bei  Cuxhaven),  1788  durch  Stolbergs  Vermittelung  in  Eutin.  1802 
begab  er  sich  mit  einer  Pension  des  Herzogs  von  Oldenburg  nach  Jena,  wo 
Goethe  ihn  jedoch  vergebens  zu  halten  suchte,   als  er  1805  nach  Heidelberg 

Halle  1880,  245  fgg.  42)  Der  Solia  Aadreas  Cramers,  der  Biograph  Klopstocks  §  152,  1. 

43)  Die  Göttinger  Professoren  waren  grossenteils  dem  Bunde  abgeneigt,  Kästner  aber 
günstig.  Auch  einige  dichterisch  beanlagte  Frauen  und  Maedchen  ermunterten  die  jungen 
Dichter.  44)  Schon    im  Sommer  1773  war  ein  Vertrauter  Klopstocks,   Gottl.  Fr.  E. 

SCHOCNBORN,  durch  Göttingen  gekommen,  dann  in  Frankfurt  mit  dem  jungen  Goethe  bekannt 
geworden:  er  reiste  damals  nach  Algier  als  dsenischer  Consularsecretser,  wie  er  auch  1778 
bis  1802  in  London  Gesandtschaftsecretser  war.  Sch(]enborns  Dichtungen  erschienen  meist  im 
Wandsbecker  Boten.  Vgl.  J.  Rist,  Schccnborn  und  seine  Zeitgenossen,  Hamburg  1836. 
45)  Eine  ältere  Bearbeitung  dieser  Nachrichten  bietet  R.  Prutz,  Der  Göttinger  Dichterbund, 
Leipzig  1841.  Über  die  Bundesbücher,  die  jetzt  im  Besitz  von  Dr.  Klussmann  in  Rudolstadt 
sind,  s.  Redlich  in  der  Z.  f.  d.  Philol.  4.  121  fgg.  Crueger  in  Sievers  Akadem.  Blätter, 
Braunschweig  1884  S.  6U0.  46)  Ein  'Abriss  meines  Lebens'  von  ihm  selbst  und  meister- 

haft begonnen,  von  seiner  Witwe  fortgesetzt,  steht  in  den  von  seinem  Sohne  Abraham 
Voss  herausgegebenen  Briefen  von  J.  H.  Voss',  III,  (Bd.  III  in  2  Abt.)  Halberstadt  1829 
bis  33.  Andere  Briefe  in  Schnorrs  Arch.  XV,  361.  Wilh.  Herbst,  J.  H.  Voss,  II  (der  II 
Bd.  in  2  Abteilungen),  Leipzig  1872—76.  Sauer,  J.  H.  Voss  (Der  Göttinger  Dichterbund  I) 
in  Kürschners  Nat.  litt.  92.  47)  Über  die  Mühsal  der  Herausgabe  urteilt  er  mit  derbem 


468  NEUlI()CMII)f:UTSCnE  ZEIT.         XVIII  JAIIIMI.  §  158 

licnifon  wurde.  Hier  lobte  er,  seinen  Studien  und  seinen  litterarischon  Käm- 
pten  hingegeben,  bis  l.S'itl.  l'hildloge  und  Dichter  zugleich  hat  Voss  sieh 
besonders  mit  Übersetzungen  beschäftigt,  welche  namentlich  Homer*'*  dem 
weiteren  Lesekreise  in  Deutschland  erst  zuführten,  und  durch  ihre  anschmie- 
gende Treue,  die  er  beständig  noch  zu  erhcjchon  beflissen  war,  auf  die  Er- 
weiterung der  deutschen  Dichtersprache,  auf  die  Genauigkeit  in  der  Nach- 
ahmung antiker  Versmasse  den  grn>ssten  Einfluss  seit  Klopstock  geübt  haben. 
Das  homerische  Vorbild  bestimmte  auch  wesentlich  seine  eigene  Dichtung, 
die  er  gesammelt  zuerst  Ka'uigsbcrg  1802,  VI,  erscheinen  Hess:  vor  allem 
pflegte  er  die  Gattung  der  [dyllc,  in  woIcIkm'  er  das  norddeutsche  Natur- 
und  FamilienUibeu  mit  liebevoller  Versenkung  in  das  Einzelne  und  Kleine 
darstellte.*''  Theokrits  Muster  schwebte  ihm  vielfach  in  den  Gegenständen,"*" 
ja  auch  im  Gebrauch  des  Dialectes  vor/''  nur  dass  er  sein  Plattdeutsch  aus 
den  Eiuzelmundarten  und  selbst  aus  der  'sassischen  Buchsprache'  zusammen- 
setzte. Am  glücklichsten  ist  er  da,  wo  er  Selbsterlcbtes  schildert:  'der 
siebzigste  Geburtstag"  1781  ist  ein  Bild  seines  Elternhauses;  Luise,  ein  länd- 
liches Gedicht  in  drey  Idyllen^  welche  er  1705  auf  Gleims  Antrieb  zusammen- 
fügte,''" spiegelt  das  Wesen  seiner  Braut  und  ihres  Vaters  wieder. ''•'  Auch 
die  Elegien  erhalten  durch  solche  persoenlichc  Bezüge  Wärme  und  Reiz.  Da- 
gegen erscheinen  die  Oden  und  Lieder''*  mit  ihren  allgemeinen  Gedanken, 
die  zu  vernünftiger  Frömmigkeit  und  männlichem  Frohsinn  auffordern,  kühl 


Spott  LB.  2,1004.  48)  Homers  Odüssee.  Hamburg  1781:  Abdruok  mit  einer  Einleitung 

von  M.  Bernays,  Stuttgart  1881.  Begonnen  war  diese  Arbeit  1777;  der  Text  letzter  Hand 
erschien  1821,  zusammen  mit  der  llias,  von  welcher  Voss  zuerst  die  ihm  durch  F.  L.  Graf 
Stolherg  überlassene  Übersetzung  1778,  dann  die  eigene  zuerst  Altona  17'.*8  mit  der  um-, 
gearbeiteten  Odyssee  verüft'entiicht  hatte.  Diese  Umarbeitung  war  freilich  nicht  durchweg 
zum  Vorteil  und  mit  dem  Beifall  der  Zeitgenossen  ausgeführt  worden:  die  metrische  Strenge, 
(§  141,  49)  and  die  bis  zum  Undeutschen  getriebene  Nachbildung  der  alten  Wortfolge  und 
Wortzusammensetzung  stterten  die  früher  erreichte  Einfachheit  und  Natürlichkeit.  Immerhin 
war  schon  die  Einsetzung  der  griechischen  Namenforraen  anstatt  der  franzcesisch-lateinischen 
ein  Fortschritt.  Ausser  Homer  verdeutschte  Voss  Vergils  Landbau  1789,  Vergils  Werke, 
Braunschweig  17*J9;  Ovids  Verwandlungen.  Berlin  1798:  Properz,  Braunschweig  1830:  Horaz. 
Heidelberg  180(J:  Theokritos  Bion  und  Moschos.  Tübingen  1808:  TibuUus  ebd.  1810,  Aristo- 
fanes,  Braunscliweig  1821,  Aeschylos,  Heidelberg  1827.  und  wie  diesen,  mit  seinen  Soehnen 
zusammen   Shakespeare,    Leipzig    1818—2!».  49)  Zuerst   im  Musenalmanach   1776  'Der 

Morgen'.  50)    Der  Riesenhügel'   nach  den  (paQutixtvxQiai.  51)  De   Winterawend 

1777,  De  Geldhapers  u.  a.  52)  Freilich  erfuhren  sie  dabei  auch  Erweiterungen,  welche 

die  an  sich  handlungsarme  Erziehlung  mit  unübersichtlichen  Schilderungen  noch   überluden. 
53)  LH,  2,  1011.  54)  Darüns  LB    2.  1009  und  1006  fgg. 


§  158  DIE  BRÜDER  STOLBERG.  469 

und  künstlich,  ja  gelegentlich  platt;  grimmig  parodiert  er  das  Sonett  der 
Romantiker/'"-^  Diese  bekämpfte  er  nicht  nur  als  Feinde  seiner  Bemühungen 
um  die  Verfeinerung  des  deutschen  Versbaues  nach  antikem  Muster  noch 
über  Klopstock^^  hinaus,  wie  er  ihn  insbesondere  durch  seine  'Zeitmessung  der 
deutschen  Sprache',  Koenigsberg  1802  festgestellt  hatte;  er  hasste  sie  auch 
als  Trseger  der  hierarchisch-feudalen  Bestrebungen,  die  nach  der  Revolution 
und  den  Freiheitskriegen  immer  bedrohlicher  und  bedrückender  hervortraten. 
In  diesem  Kampfe  kannte  er  keine  Schonung,''  und  griff  1819  Friedrich 
Leopold  Graf  Stolberg,  der  1800  zur  katholischen  Kirche  übergetreten 
war,  ohne  von  ihm  persoenlich  gereizt  zu  sein  und  mit  absichtlicher  Missach- 
tung der  alten  Freundschaftsbande  auf  das  heftigste  an.^^ 

A-llerdings  war  dieser  Übertritt  Stol  bergs  eine  Verlfeugnung  seiner  Jugend- 
schwärmerei für  die  Freiheit,  die  er  jubelnd  gepriesen,  zürnend  verteidigt 
hatte.  Geboren  ^^  zu  Bramstsedt  in  Holstein  1750  war  er  ebenso  wie  sein 
Bruder  Christian  (geb.  1748  zu  Hamburg,  gest.  als  Landrat  zu  Windebye 
bei  Eckernförde  1821)  zu  Kopenhagen  im  Kreise  Klopstocks  aufgewachsen, 
hatte  ausser  dem  Göttinger  Bund  sich  auch  mit  Goethe  befreundet,  war  aber 
1776  einer  Berufung  nach  Weimar  auf  Klopstocks  Antrieb  ausgewichen  und 
lebte  als  oldenburgischer  Beamter  in  Eutin  1781 — 85  und  wieder  1791  bis 
1800,  seitdem  meist  in  Münster  bei  der  Füi-stin  Gallitzin '*''  und  starb  in 
Sondermühlen  bei  Osnabrück  1819.  Zu  seinem  Glaubenswechsel  hatte  ausser 
der  Fürstin  seine  zweite  Gemahlin  besonders  beigetragen,  wsehrend  die  erste, 
Agnes,  welche  1788  gestorben  war,  die  alte  Freundschaft  mit  Voss^'  beson- 

55)  LB.  2.   1023  fgg.  56)  Mit  diesem  selbst  zerfiel   er  hierüber  1789:  doch  verscehnte 

er  ihn  noch  vor  dem  Tode  durch  seine  Ode  'Klopstock  in  Elysion".  57)  Seinen  Grund- 

satz, gegen  die  Intoleranz  dürfe  man  nicht  tolerant  sein,  billigt  ausdrücklich  (jcethe  in  einer 
lobenden  Anzeige  der  lyrischen  Gedichte  von  Voss  (D.  Litteraturzeitung  1802).  Schon  früh 
tritt  bei  Voss  in  den  Streitschriften  die  Nachahmung  Lessings,  fi-eilich  etwas  plump  hervor. 

58)  'Wie  ward  Fritz  Stolberg  ein  Unfreier?'  in  der  von  Paulus  herausgegebenen  Zeitschrift 
Sophronizon;  und  gegen  Stolbergs  'Kurze  Abfertigung  der  langen  Schmsehschrift  des  Hof- 
rathes  Voss',  Hamburg  1820,  in  'Besttetigung  der  Stolbergischen  Umtriebe',  Stnttgart  1820. 

59)  Von  den  zahlreichen  Schriften  über  F.  L.  Graf  Stolberg,  welche  meist  von  confessionellen 
Gesichtspuncten  ausgehn,  sind  wegen  der  Benutzung  seiner  Briefe  hervorzuheben:  Theodor 
Menge,  Der  Graf  F.  L.  Stolberg  und  seine  Zeitgenossen,  Gotha  1862  II,  Job.  Janssen,  F.  L.  Graf 
zu  Stolberg,  Freiburg  i.  B.  1877,  II.  60)  Diese  geistvolle  Frau  (1748—1806),  Diderots 
Schülerin,  war  eine  geborene  Griefin  von  Schmettau  und  hatte  erst  1786  sich  ganz  den 
katholischen  Ansichten  hingegeben.  Vgl.  über  sie  Levin  Schücking,  Rhein.  Jahrbuch  1810. 
Mitteilungen  aus  dem  Tagebuch  und  Briefwechsel  der  Fürstin,  Stuttg.  1868.  Briefwechsel 
und  Tagebücher  (hg.  von  Schlüter),  Münster  1874,  Neue  Folge  1876.  61)  Otto  Helling- 


470  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVIII  JAHUH.  §  158 

dcr8  gopflojijt  und  di«^  Vorstimmunü^on,  /u  welchen  hier  die  Strenge  in  metri- 
schen Fragen,  dort  die  früho  Hinneigung  zu  Ijavater  Anlass  gab,  durch  die 
anmutigste  Vermittehing  beseitigt  hatte.  Diesen  persamlichen  Beziehungen, 
auch  den  stolzen  Familienerinnerungon  geben  die  Gedichte  vielfach  Ausdruck, 
welche  die  (Traten  Friedrich  Leopold  und  Christian  177!)  zu  Leipzig  durch 
Boie  herausgeben  Hessen.''-  Spalter  folgten  von  Friedrich  Leopold  Jamben, 
Leipzig  17S4,  und  eine  Sammlung  Die  Insel'  (ebd.  17«8);  von  beiden  Brü- 
dern zahlreiche  Übersetzungen  aus  dem  (friechischen,  und  mehrere  etwas 
eilfertig  verfasste  Schauspiele  (Leipzig  1787);  endlich  Vaterländische  (xe- 
dichte'  Haml)urg  1815;"^  dem  Abscheu  gegen  die  frauzocsischc  Devolution 
hatte  Friedrich  Leopold  schon  1793  in  einer  Ode  auf  die  'Westhunnen'  Aus- 
druck gegeben.  Seine  religiccsen  Ansichten  der  späteren  Zeit  legte  er  in  der 
umfänglichen  Geschichte  der  Religion  Jesu  Ciiristi',  Hamburg  1806 — 18, 
nieder.  Er  überragte  als  Dichter  seinen  Bruder  und  ergoss  bald  in  Oden- 
formen  nach  Klopstocks  Vorbild  bald  in  der  einfachen  volkstümlichen  Sprache 
und  Versform  von  Claudius  seine  stürmische  Begeisterung  für  Vaterland, 
Freiheit,  Natur. ''^  Vor  allem  feierte  er  mit  Innigkeit  und  Kraft  die  alten 
Ritterzeiten.'''* 

Neben  den  willenskräftigen,  nur  allzu  nüchternen  Voss,  den  überschwäng- 
lich  begeisterten  Fritz  Stolberg  trat  mit  sanfter  Scliwärmerei  Ludwig  Hkinrich 
Christoph  Hölty,  der  im  Vorgefühl  seines  frühen  Todes  (1748  zu  Mariensee 
geboren,  starb  er  im  nahen  Hannover  1776  an  der  Schwindsucht)  harmlose 
Freude  am  Leben  mit  wehmütiger  Entsagung  verband.'''''  Die  dämmernde 
Mondnacht,  mit  süssem  Schauer  empfunden,  die  Stille  und  Unschuld  des 
Landlebens,  weibliche  Schoinheit  und  Liebenswürdigkeit  sind  die  Gegenstände 

haus,   F.  L.  (jraf  zu    Stolherg    und  .1.  H.   Voss,    Münster    1882.  83.  (Progr.)  62)  Auf 

dem   Titelbild   zwei    Centanren.    darauf  spielen    die    Xenien  an.  63)    Der   Brüder  Ch. 

und  F.  L.  Gr.  zu  Stolberg  gesanimeile  Werke  erschienen  Hamburg  1820 — 25,  XX,  uü. 
'Die  Zukunft'  ein  früher  nur  stellenweise  bekannt  orewordenes  (^edioht  aus  den  J.  1779—82, 
verötfentlichte    0.  Hertwig    in    Sehnorrs  Archiv  Vi.  64)    Auf   der  mit  (joethe    unter- 

nommenen Schweizerreise  1775  dichtete  er  das  Lied  'Süsse  heilige  Natur,  las«  mich  gehn 
auf  deiner  Spur'.  65)  LB.  2,  991  fgg.  66)    Höltys  in  dem  Musenalmanach    und 

sonst  erschienene  Gedichte  wurden  zuerst,  aber  unbefu^rt  und  kritiklos  von  Adam  Fried- 
rieh  Geisler  gesaniuielt.  Halle  1782.  88  uü.:  dann  von  Stolberg  und  Voss,  mit  manchen 
eigenmächtigen  Änderungen  herausgegeben,  Hamburg  1783  uö.  ;  von  F.  Voigts.  Han- 
nover 1857.  Eine  kritische  Ausgabe  aus  den  Handschriften  veranstaltete  K.  Halm,  Leipzig 
1869  und  1870.  Vgl.  dazu  bes.  Weinhold  in  Schnorrs  Arch.  7.  187  fgg.  Crueger  Vjhrschr. 
11    281    fgg.      Gedichte    mit    den    Lesarten    der    verschiedenen    Ausgaben    LB.    2,    965    fgg. 


§  158  HÖLTY,  MILLER.  471 

seiner  Oden  und  Lieder:  für  letztere  fand  er  seine  Vorbilder  in  der  eng- 
lischen Litteratur,  aus  welcher  er  auch  einige  Prosawerke  übersetzte  um  seinen 
Lebensunterhalt  zu  gewinnen.  Die  komische  Romanze  hat  kein  Anderer  in 
Deutschland  so  anmutig  und  zugleich  so  unanstoessig  ausgebildet.  xVuch  die 
Grazienpoesie  J.  Georg  Jacobis  und  die  Bardendichtung,  welche  doch  seiner 
Dichtungsart  und  der  seiner  Freunde  am  nsechsten  stand,  hat  er  witzig 
parodiert. 

Der  rührende  Grundton  in  Höltys  Dichtung  erscheint  noch  verstärkter, 
aber  nur  als  eine  vorübergehende,  erkünstelte  Stimmung  bei  seinem  Freunde^' 
Johann  Martin  Miller,  welcher  1750  zu  Ulm  geboren,  ebenda  als  Prediger 
1814  starb."**  Von  Bürger,  der  ihm  damals  noch  im  Liede  den  Vorrang 
zuerkannte,  dem  Göttinger  Dichterkreise  zugeführt,  übertraf  er  seine  Freunde 
im  Verständnis  der  Minnedichtung, ''^  die  er  mit  grosser  Leichtigkeit  nach- 
bildete. Besser  als  seine  weinerlichen  Nonnenlieder  gelangen  ihm  seine 
Bauernlieder,  die  lebhaften  oder  behaglichen  Genuss  schildern. ^"^  Weit  mehr 
jedoch  als  die  'Gedichte'  (gesammelt:  Ulm  1783)  brachte  ihm  weithin  Ruhm 
sein  an  Goethes  Werther  anschliessender  Roman  'Siegwart,  eine  Klosterge- 
schichte'  (Leipzig  1776  uö.),  worin  er  Studentenliebschaften  mit  tragischem 
Ausgang  in  Folge  der  engherzigen  Standesvorurteile  der  Veeter  darstellte, 
teilweise  nach  eigenen  Erlebnissen,'''  die  er  aber  in  das  katholische  Bayern 
verlegte,  um  das  Überwiegen  des  Gefühls  noch  glaubhafter  zu  machen. 
Allerdings  trat  der  Bewunderung  und  Nachahmung  bald  die  Parodie  ^^  ent- 
gegen, und  Millers  sonstige  Romane  ^^  führten  nur  dazu  dass  er  sein  Ansehen 
rasch  verlor.     Doch  erneuerte  Voss  noch  spset  die  alte  Freundschaft. 

Wenn  Miller  die  Lyrik  des  Göttinger  Dichterbundes  durch  die  Pflege 
des  Romans  erweiterte,  so  fügte  ein  anderer  Genosse  noch  das  Drama  hinzu. 

67)  Miller  schrieb  'Etwas  von  Höltys  Character'  in  Schuberts  Teutsoher  Chronick.  Augsburg 
1776,  wiederholt  hinter  seinen  eigenen  (jedichten.  68)  Ein  Bericht  über  ihn  erschien 

in   den    Zeitgenossen    1819.    IV,   75   fgg.  69)   Sein   Bundesname   war    Minnehold,    wie 

Hahn  Teuthard,    Holt}-  Haining,    Voss  Sangrich    genannt    wurde.  70)    'Was    frag    ich 

viel  nach  Geld  und  Gut,  wenn  ich  zufrieden  bin'.  71)  Erich  Schmidt,  Aus  dem  Liebes- 

leben des  Siegwartdichters:  D.  Rundschau  1881  Sept.  72)  'Siegwart  oder  der  auf  dem 

Grab  seiner  Geliebten  jämmerlich  verfrohrene  Kapuziner'.  (Mannheim  1777,  von  Bernritter). 
73)  Schon  vor  Siegwart  erschien  Beytrag  zur  Geschichte  der  Z;Ertlichkeit'.  Lpz.  177G  und 
'Briefwechsel  dreier  akademischer  Freunde',  Ulm  1776,  Zwote  Sammlung  1777;  spaeter 
'Geschichte  Karls  von  Burgheim  und  Emiliens  von  Rosenau',  in  Briefen,  Lpz.  1778.  79.  IV 
(Abschilderung  Stolbergs);  'Geschichte  Gottfried  Walthers  eines  Tischlers  und  des  Städtleins 
Erlenburg.     Ein  Buch  für  Handwerker",  Ulm    1786  11.     Ausserdem  u.  a.  'Predigten  für  das 


472  NEUnOC][L)EUTSClIE  ZEIT.         XVIII  JAIIKII.  §  159 

Johann  Anton  Lkisewitz  war  geboren  zu  Hannover  1752  und  starb  180(1 
/u  Biaunschweig,  wo  er  sich,  zuletzt  als  Pra'aident  des  Obersanit^ctscollegiunis, 
um  (las  Arincnwoscn  grosse  Verdienste  erworben  hatte.  Als  er  1774  dem 
Bunde  durch  Ilölty  zugeführt  wurde,  schätzte  man  besonders  seine  Begabung 
zur  Satire,  die  er  bereits  gegen  den  fürstlichen  Despotismus  geübt  hatte ;^* 
num  erwartete  von  ihm  Grosses  als  Geschichtschreiber,  und  in  der  That  hat 
er  sich  lange  und  gründlich  mit  dem  dreissigja;hrigen  Kriege  beschäftigt, 
seine  Arbeit  aber  zuletzt  selbst  vernichtet.  Dagegen  fand  sein  Trauerspiel 
Julius  von  Tarent'  dauernde  Anerkennung,  trotzdem  es  bei  der  Bewerbung 
um  den  Preis  der  Ackermannschcn  Gesellschaft  hinter  Klingers  Zwillingen', 
worin  derselbe  Stott'  aus  der  Geschichte  der  Medici^''  mit  groesserem  Auf- 
gebot aeusserer  Mittel  behandelt  war,  zurückstehen  musste.^"  Den  klaren, 
scharfgefügtcn  Plan,  die  knappe,  nur  zu  witzige  Sprache  hatte  Leisewitz  nach 
Lessings  Emilia  gebildet  und  der  Meister,  dem  er  bald  darauf  auch  persoen- 
lich  nahe  trat,  gab  ihm  vollen  Beifall.  Wie  in  der  Form,  so  wirkte  Leise- 
witz auch  durch  den  Gegenstand,  Brudermord  aus  Eifersucht,  tief  auf  Schiller 
ein.  Entwürfe  zu  anderen  Trauerspielen  und  selbst  zu  einem  historischen 
Lustspiel  der  Sylvesterabend\  worin  er  die  Geschichte  der  Weiber  von 
Weinsberg  dramatisieren  wollte,  blieben  unausgeführt  und  sind  bis  auf  wenige 
Sceuen,  die  vorlseufig  in  den  Druck  kamen,  verloren  gegangen. 

§  15D. 
Der  neue  mächtige  Aufschwung,  den  die  deutsche  Dichtung  um  1770 
im  Norden  nahm,  trat  gleichzeitig  auch  in  Süddeutschland  ein.  Auch  hier 
sind  Freiheit  und  Natur  die  Losungsworte,  auch  hier  ist  es  besonders  Klop- 
stocks  Vorbild,  dem  die  Jugend  nachstrebt,  ist  es  Lessings  Lehre,  worauf 
sie  sich  beruft.  Aber  weniger  als  in  Norddeutschland  wird  am  Rhein  das 
classische  Muster,  wird  Homer  nachgeahmt:  das  einheimische  Volksleben  mit 
seiner    reicheren   Überlieferung,    seiner  groesseren   Lebhaftigkeit  und   Mannig- 


Lamivolk'  1776  tgg.  Auch  hier  tritt  die  'Nutzenstifterei'  in  den  Vordergrund.  74)  Eine 

Lebensbeschreibung  in  Sämtliche  Schriften  von  J.  A.  Leisewitz',  Braanschweig  1838. 
Vgl.  ferner  Gregor  Kutschera  v.  Aichbergen.  J.  A.  Leisewitz,  Wien  1876:  und  dazu  Erich 
Schmidt  Anz.  z.  Z.  f.  d.  A.  21.  190  und  R.  M.  Werner  in  dieser  Zs.  22.  83.  75)  Sagenhaft 

ausgeschmückt  bei  Thuanns.  Damit  verband  sich  Manches  aus  der  Verschwoerung  der  Pazzi 
und    Machiavelli.  76)    Gedruckt    wurde    'Julius    von    Tarent'    zuerst    Leipzig    1776; 

Neudruck  nach  dem  Manuscript  mit  den  dramatischen  Fragmenten  durch  R.  M.  Werner  bei 
.■^euttert,  Lit.-denkm.  32.  Heilbronn  1889;  mit  Klingers  Zwillingen  zusammen  durch  Sauer 
bei  Kürschner  B<1.  7i(. 


§  159  LEISEWITZ.     SCHUBART.  473 

faltigkeit '  wirkt  auch  auf  die  Kunstdichtung  ein.  Das  Schauspiel  wird  hier 
die  Liebliugsgattung  und  die  scheinbare  Regellosigkeit  Shakespeares  gibt  zu 
Übertreibungen  bis  ins  Unnatürliche  den  Vorwand  ab.  Noch  mehr  als  im 
Norden  gilt  hier  das  Genie,  die  Originalitset  zugleich  als  Grundbedingung 
für  das  Dichten  wie  als  Freibrief  für  das  Leben. ^  Die  aeusseren  Verhältnisse 
in  den  kleinen,  willkürlich  regierten  Staaten  verlockten  weit  mehr  vom  ge- 
woehnlichen  Wege  abzugehen,  brachten  aber  auch  weit  mehr  als  im  Norden 
für  die  Lebenspleene  der  jungen  Dichter  Gefahren  mit  sich,  ebenso  wie  die 
Abweisung  jeder  Vorschrift  ihre  Dichtung  mehrfach  auf  Irrwege  geraten  und 
vielversprechende  Anfänge  in  Nichts  auslaufen  Hess. 

Durch  Lebensunglück  wie  durch  Leichtsinn  und  durch  leichtes,  reiches 
Talent  stellt  sich  neben  Bürger  und  Günther  Christian  Friedrich  David 
Schubart; ^  wie  Bürger  zum  Göttinger  Bund,  so  nahm  auch  er  dem  rheini- 
schen Dichterkreise  gegenüber  eine  selbständige  Stellung  ein,  schon  in  Folge 
des  Altersunterschiedes.  Geboren  1739  zu  Obersontheim,  wuchs  er  in  dem 
nahen  Reichsstsedtchen  Aalen  auf,  und  studierte,  nachdem  er  in  Nördlingen 
und  Nürnberg  seine  Vorbildung  erhalten,  in  Erlangen  Theologie.  1763—69 
hielt  er  die  Schule  in  Geislingen.  Hierauf  als  Organist  nach  Ludwigsburg 
in  die  üppige  Residenz  des  Herzogs  Karl  berufen,  stiess  er  durch  iiusschwei- 
fungen  seine  Familie  von  sich  und  zog  sich  1773  die  Ausweisung  aus  Würtem- 
berg  zu.  Er  schweifte  nun,  als  genialer  Musiker  und  Stegreifdichter  gefeiert, 
in  Mannheim  und  München  umher,  konnte  sich  aber  hier  doch  nicht  zum 
Übertritt  in  die  katholische  Kirche  entschliessen  und  fand  1774  in  Augs- 
burg, spseter  in  Ulm  seinen  Beruf  und  sein  Auskommen  durch  die  Begrün- 
dung der  'Deutschen  Chronik'.  Aber  im  Kampfe  gegen  die  noch  immer 
mächtigen  Jesuiten  verletzte  er  den  oesterreichischen  Residenten,  und  diesem  zu- 
vorkommend, liess  ihn  Herzog  Karl,  den  er  durch  Ausfälle  auf  Franziska  von 
Hohenheim  gereizt,    1777  auf  würtembergisches  Gebiet  locken  und  ohne  Urteil 


§  lo.).  1)  Weil  man  die  ganze  Natur,  wie  sie  sich  in  der  Leidenschaft  zeigt,  darstellen 
wollte,  fand  man  auch  die  unteren  Stände  in  ihrer  Freiheit  von  Verstellung  geeigneter  für 
das  Drama.  2)  'Als  (ienie  ist  er  ein  Mann  von  Stand':  Mercks  Matinee  in  'Briefe  von 

und  an  M.'  S.  62.  3)  Schubarts  Leben  und  Gesinnungen.    Von  ihm  selbst  im  Kerker 

aufgesetzt,  I  Stuttgart  1701,  II,  von  seinem  Sohn  herausg.  1793.  Schubarts  Karakter  von 
seinem  Sohne  Ludwig  Schubart,  Erlangen  1798.  Ch.  F.  D.  Schubarts  Leben  in  seinen 
Briefen  .  .  hg.  von  D.  F.  Strauss,  II,  Berlin  1849.  P.  Pressel,  Schubart  in  Ulm,  Ulm  18G1. 
A.  Wohlwill  in  Schnorrs  Archiv  6.  343.  15,  21.  126;  in  Herrigs  Archiv  87,  1.  G.  HauflF, 
Ch.  F.  Ü.  Schubart  in   seinem  Leben   und    in  seinen  Werken,    Stuttgart  188ö.     E.  Nsegele, 


474  NEUirOCIIUEUTSCIIE  ZEIT.         XVIII  JAIIUII.  §  159 

und  Recht  auf  Hohcnasborg  erst  im  härtesten  Kerker,  spaeter  in  milderer 
Haft  fostset/-en.  Vergebens  das  Flohen  der  Familie,  die  an  ihm  hing,  die 
Fürbitte  der  Hoimatgcnossen,  der  benachbarten  Fürsten.  Erst  Friedrich 
Wilhelm  II  erwirkte  die  Freilassung  des  Dichters,  der  178(>  in  einem  Hymnus 
auf  Friedrieh  den  Grossen  seiner  von  Jugend  auf  gehegten  Begeisterung  für 
den  1  leiden  Ausdruck  gegeben  hatte.*  Schubart  ward  sogar  in  Stuttgart  als 
Hof-  und  Theaterdichter  angestellt;  seine  Chronik,  welche  inzwischen  sein 
Freund  Miller  für  die  Familie  fortgeführt  hatte,  erschien  von  da  an  in  der 
herzoglichen  Druckerei,  ebenso  wie  schon  1785.86''  seine  Sämtliche  Gedichte': 
beides  freilich  zum  grcesseren  Vorteil  der  herzoglichen  Kasse.  Von  neuem 
gab  sich  Schubart  dem  vollen  Genuss  des  Lebens  hin,  starb  jedoch  schon 
1791.  Die  fromme  Stimmung,  die  sein  strenger  Hüter  auf  Asberg,  General 
Kieger,''  in  ihm  genaihrt  und  die  er  dort  in  zahlreichen  geistlichen  Liedern 
ausgesprochen  hat,  stand  dem  gemütvollen  Dichter  schon  früher  nahe,'  wech- 
selte aber  damals  mit  Ausbrüchen  seiner  starken  Sinnlichkeit  und  mit  derben 
Satiren  ab:  letztere  bilden  den  Inhaltseiner  'Zaubereien',  Ulm  1766,  welche 
in  Wielands  Manier  geschrieben  und  diesem  zugeeignet  sind.  Sein  Gram  auf 
der  Festung  crgoss  sich  in  rülirendc  Lieder,'*  sein  Zorn  in  kraftvolle  Ver- 
wünschungen des  Despotismus. '•'  Den  Schmerz  des  Volkes  über  den  Abschied 
der  an  die  Holländer  verkauften  Soldaten  schildert  sein  ergreifendes  'Kaplied'. 
Das  Volkslied,  dem  er  früh  im  Umgang  mit  Handwerksburschen,  Soldaten, 
Bauern  seine  zarten  und  starken  Tccne  abgelauscht  hatte,  ahmte  er  auch  in  den 
Liebesliedorn  "^  nach,  die  mit  den  von  ihm  selbst  gesetzten  Weisen  viel  ge- 
sungen wurden.  Echt  volkstümlich  sind  auch  Schubarts  Erztehlungen  in 
hanssachsischcn  Versen. ' '     Dagegen  ist  sein   Ausdruck   meist   überstiegen    in 

Aus  Schubarts  Leben  und  Wirken,  Stuttgart  1888.  4)  LB.  2,  1170.  5)  Unbefugt 

hatte  man  'Schubarts  Gedichte  aus  dem  Kerker',  Zürich  1785,  herausgegeben.  So  waren 
auch  die  'Originalien  von  Mag.  Schubart",  Augsburg  178U,  eine  Sammlung  seiner  Aus- 
sprüche, ohne  sein  Zutun  erschienen.  Von  spa'teren  Ausgabeu  sind  auszuzeichnen:  'C.  F. 
D.  Schubiuts  lies  Patrioten  gesammelte  Schritten  und  Sohicksale'.  Stuttgart,  1839.  40,  Vlll. 
Schubarts  (redichte.  Hist.  krit.  Ausgabe  von  G.  Hautt".  Leipzig,  Reclam  o.  J.  6)  Auch 
Rieger  hatte  die  Willkür  und  Grausamkeit  des  Herzogs  erfahren:  er  ist  der  Held  von 
Schillers  Erzfehlung  'Spiel  des  Schicksals.  Ein  Bruchstück  aus  einer  wahren  Geschichte'. 
7)  Todesgesänge,  Ulm   17(J7.  8)    Gefangner    Mann,  ein  armer    Mann!'  9)    Die 

Fürstengruft',  178'  gedichtet,  als  Herzog  Karl  die  bereits  verspros-heue  Freilassung  nicht 
gewsehrte,  dann  ein  neuer  Vorwand   sie  zu   versagen.  10)    So  herzig  wie  mein  Liesel 

Giebts  halt  nichts  auf  der  Welt';  als  Soldatenlied  angeführt  von  Hebel,  Der  Heiner  und 
der  Brakenheimer  Müller.     Hebel    hat  Schubart  viel  benutzt.  11)  'Der    rechte    Glaub, 

eine  Legende':  findet  sich  wieder  in   der  Luise  von  Voss    s.  R.  Köhler  Z.  f.  d.  Ph.  4.   L31. 


§  159  MALER  MÜLLER.  475 

den  Gedichten  mit  den  freien  Odenversmassen  Klopstocks/^  besonders  in  den 
Huidigimgsgedichten,  die  er  spseter  geradezu  auf  Bestellung  schreiben  musste.'^ 
In  volkstümlich  derbem  Stile  schrieb  er  seine  Chronik  in  Prosa,  wofür  er 
Luthers  Sprache  zum  Vorbild  nahm.  Sie  hat  deutsche  Gesinnung  und  Anteil 
an  deutscher  Dichtung  zu  verbreiten  kräftig  beigetragen.'*  Hier  verbanden 
sich  Aufklaerung  und  frommer  Sinn,  waehrend  andere  Zeitschriftsteller  auch 
in  Schwaben  nur    der  ersteren  nach  franzcesischem  Muster  dienten.''' 

Auch  in  der  Pfalz  wich  der  franzcesische  Geschmack  nur  allmgehlich. 
Diesen  begünstigte  noch  Karl  Theodor,  der  jedoch  1778  als  Erbe  Bayerns 
nach  München  zog.  Unter  ihm  war  1775  eine  'Teutsche  Gesellschaft'  ent- 
standen, welche  mehr  als  durch  ihre  eigenen  Schriften  '*^  durch  die  Anregung 
zur  Begründung  des  Mannheimer  Nationaltheaters  sich  verdient  gemacht  hat. 
In  Mannheim  erlebte  1775 — 78  Friedrich  Müller,'^  der  sich  selbst  auch 
Maler  Müller  nannte,  seine  dichterisch  fruchtbarste  Zeit.  Geboren  zu  Kreuz- 
nach 1749,  hatte  er  am  Hofe  zu  Zweibrücken  seine  künstlerische  Ausbildung 
begonnen  und  setzte  sie  seit  1778  in  Rom  fort,  freilich  ohne  der  Technik 
Genüge  zu  thun,  und  daher  ohne  rechten  Erfolg.'^     1780  katholisch  geworden, 

Behaghel  Scliuorrs  Arch.  12,  340.  12)  'Der  Fiüling ,  'Der  ewige  Jude'  LB.  2,  11G3  fgg. 

13)  'Schon  1765  'Der  Tod  Frauciseus  des  Ersten  römischen  Kaisers'.  Eine  Ode  auf  Abbts 
Tod  wies   Herder    bitter    ab.  14)  Schubart    pries    liegeistert    die    jungen    Dichter    des 

Sturmes  und  Dranges.  Aber  seine  Angabe  dass  1775  Ga-the  und  Klinger  ihn  besucht 
hätten,  ist  Flunkerei:  Rieger,  Klinger  S.  74.  15)  So  Wilhelm  Ludwig  Wekhrlin, 

geb.  zu  Bothnang  bei  Stuttgart  1739,  gest.  zu  Ansbach  1792.  Von  Frankreich  heimgekehrt 
nahm  er  besonders  die  Reichsstädte  zum  Ziel  seiner  Satire;  als  sein  Bericht  über  die  letzte 
Hexenhinrichtung  zu  Grlarus  1782  von  Heukershand  verbrannt  werden  sollte ,  schickte  er 
seine  Silhouette  zur  Erha?hung  der  Feierlichkeit  ein.  Seine  Zeitschrift:  'Felleisen',  erschien 
Nördlingen  1778;  und  zu  Nürnberg:  'Chronologen'  1779 — 81:  'Das  graue  Ungeheuer'  1784 
bis  87;  'Hyperboreische  Briefe'  1788—90;  'Paragrafen'  1791  fgg.;  'Anspachische  Blätter' 
1792.     Vgl.    bes.    W.    F.    Ebeling ,    Wekhrlin.    Berlin   1869.  16)  Die  Geschichte  der 

(Tesellschaft  schrieb  Seutfert  Anz.  zur  Zs.  f.  d.  A.  24,  276  fgg.  Ihre  Seele  war  der  frühere 
Jesuit  Anton  von  Klein,  geb.  zu  Molsheim  1744,  gest.  zu  Mannheim  1810.  Seine  Tra- 
goedien  (Rudolf  von  Habsburg  1787  ua.)  sind  im  franzo^sischen  Geschmack,  sein  Athenor' 
eine  Nachahmung  von  Wielands  Oberen.  S.  'Litterärisches  Leben  des  .  .  Ritters  Anton 
V.  Klein'.  Wiesbaden  1818.  Für  Schiller  trat  er  in  verdienstlicher  Weise  ein:  Minor,  Schiller 
2,  240,  doch  vgl:  ebd.  254.  17)  B.  Seuffert,   Maler  Müller,  Berlin  1877:    im  Anhang 

Mitteilungen  aus  Müllers  Nachlass.  18)  Er  malte  mit  Vorliebe  Tierstücke  und  Teufel- 

scenen.  wie  er  auch  im  Faust  diese  letzteren  besonders  ausgeführt  hat.  Die  Künstler 
nannten  ihn  daher  den  Teufelsmüller.  Durch  ein  solches  Bild,  den  Streit  des  Erzengels 
Michael  mit  Satan  über  dem  Leichnam  des  Moses,  entzweite  er  sich  1781  mit  G«the,  der 
ihn  1775  kennen  gelernt  und    ihm  Unterstützungen   bei  dem  Weimarer  Hof  erwirkt  hatte. 


476  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XYIN  .TAHRH.  §  159 

erlangte  er  spaeter  die  Untorstützung  dos  Kronprinzen  Ludwig  von  Bayern. 
Er  starb  1S25.  Seine  Schriften  erschienen  unter  Tiecks  Mitwirkung  ge- 
sammelt zu  Heidelberg  ISll,  HI.'-'  Auch  er  hatte  sich  zuerst  an  Klopstock 
angelehnt;-"  und  diesem  entnahm  er  ebenso  wie  Schubart  die  Form  der 
freien  lihythmen,  meist  ohne  Reim.^'  Dann  wandte  er  sich  der  Prosaidylle 
zu,  Anfangs  noch  auf  Gessners  Sjiuren,  nur  dass  er  ossianischen  Schwung  an- 
strebte: so  in  Adams  Erwachen  und  erste  selige  Nächte',  mit  der  Fortsetzung 
der  erschlagene  Abef-'-;  bald  aber  gewann  er  eine  selbständige  Aufgabe, 
indem  er  mit  freiem  Humor  teils  die  Faunenwelt  schilderte  und  insbesondere 
die  trunkene  Stininmng  des  Naturmenschen  ausgezeichnet  traf;  *'^  teils  mit 
treuestem  Anschluss  an  das  Volksleben  seiner  pfälzischen  Heimat  heitere 
und  ergreifende  Bilder  entwarf:  'Die  Schafschur  (Mannheim  1775),  'Das 
Nusskerneu\  Volkstümliche  Lieder,  Raetsel,  Erztehlungen  waren  eingemischt, 
zum  Volkslied  wurde  Müllers  'Soldatenabschied\'*  Weniger  glücklich  waren 
seine  Balladen  (Mannheim  1776).  In  dramatischer  Form  bearbeitete  er  Stoffe 
aus  Volksbuch  und  Puppenspiel:  vor  allem  Faust,  den  er  mehrmals,  spseter 
in  Rom  metrisch  und  mit  religiöser  Auffassung  behandelte,  wovon  aber  nur 
einzelne  Stücke  in  den  Druck  kamen:  Situation  aus  Fausts  Leben',  Mann- 
heim 1776,  und  'Fausts  Leben  erster  Theil',  ebd.  1778,"  worin  er  Teufel 
und  Volk,  Studenten  und  Juden,  letztere  in  ihrer  Mundart  reden  und  die 
komische  Person  als  Diener  auftreten  Hess,  auch  satirische  Ausfälle  auf  seine 
Zeit  nicht  sparte.  Öfter  umgearbeitet,  auch  zuerst  nur  in  Proben  gedruckt, 
erschien  sein  'Golo  und  Genovefa'  erst  1811  vollständig.  Goethes  Götz  hatte 
stark  darauf  eingewirkt;  Adelheid  war  das  Modell  für  Golos  Mutter,  ein 
'Machtweib',  das  den  in  Wertherstimmung  schwankenden  Golo  zum  schlimm- 
sten fortreisst.  Und  doch  ist  die  Legende -''  rüiirend  genug  ausgeführt:  der 
Plan  des  Stücks,  wie  der  Grundriss,  den  darin  Erwin  von  seinem  Dom  vor- 
weist,    nicht    nach  Übung    und    Regel,    dem   Herzen    nach,   wie   Gott   mir's 

In  Rom  hielt  sich  Goethe  von  Müller  fern.  19)  Titelauflage  1825.     Nachlese  von  Hans 

Graf  York,  Jena  1873.  Auswahl  von  Hettner.  Leipzig  1868  II:  von  Sauer  (zusammen  mit 
Schubart)  bei  Kürschner,  Bd.  81.  20}  Er  trat  zuerst  hervor  mit  dem  'Lied  eines  blut- 

trunkenen Wodanadlers\  welcbes  sein  Freuud  Hahn  (§  158,  41)  in  dem  Güttinger  Musen- 
almanach 1774  brachte.  21)  LB.  2,  1026.  22)  1778  erschienen;  vgl.  jedoch  die 
Vorarbeiten  bei  Seuffert  481  fgg.  23)  LB.  3,  771  Bachidon  und  Milon.  'Der  Satyr 
Mopsus'  erschien  1775,  Fr.  Jacobi  gewidmet.  24)  LB.  2.  1025,  auch  in  Schubarts 
Gedichte  aufgenommen.  25)  Seutfert«  Lit.  deukiii.  3,  Heilbronn  1881.  Lessings  Faust- 
scenen  sind  benutzt:  beide  Dichter  betreundeteu  sich  1777,  als  Lessing  nach  Mannheim 
berufen  war  (^§  153.  54).           26)  Über  die  Geschichte  des  Stoffes  s.  B.  .Seuffert,  Die  Legende 


§  159  LENZ.  477 

gezeigt'.^^  Einfacher,  aber  opernhaft  stellt  sicli  'Niobe,  ein  lyrisches  Drama' 
dar  (Mannheim  1778),  ein  Bild  des  Titanentrotzes,  mit  dem  dieses  junge 
Geschlecht  auftrat,  für  Wielands  Abderiten  ein  willkommenes  Ziel  des  Spottes. 
Schubart  und  Müller  waren  als  Musiker  und  Maler  immer  noch  an  ein 
Formgefühl  gewoehnt,  welches  auch  ihre  Poesie  nicht  völlig  zerfliessen  oder 
in  ein  leidenschaftliches  Toben  ausarten  Hess.  Den  ersteren  dieser  Vorwürfe 
verdient  Jakob  Michael  Rkinhold  Lenz.^^  1751  zu  Sesswegen  in  Livland 
geboren,  in  Koenigsberg  Kants  Schüler,  kam  er  1771  als  Begleiter  junger 
Edelleute  nach  Strassburg  in  Goethes  Zauberkreis,  Mehr  als  irgend  ein  an- 
derer eignete  er  sich  dessen  Art  an,^^  so  dass  seine  ersten,  ohne  den 
Namen  erschienenen  Dramen, ^^  so  wie  noch  spaeter  von  ihm  verfasste 
Lieder  diesem  zugeschrieben  werden  konnten.^'  Durch  schnell  erworbenen 
Ruhm  verwcehnt,  von  grossen  Plsenen  besonders  militserischer  und  pädago- 
gischer Art^^  erfüllt,  zog  er  1776  zu  Goethe  nach  Weimar,  ward  aber  durch 
seine  Phantasterei  und  Taktlosigkeit  ein  Gespött  des  Hofes  und  dem  Freunde 
unertrseglich.  ^^  Von  Weimar  verwiesen,  irrte  er  dürftig  und  arbeitsunfsehig, 
seinen  Freunden  eine  Last,  am  Oberrhein  umher.  In  der  Schweiz  und  noch 
stärker,  als  er  1778  im  Steintal  bei  dem  menschenfreundlichen  Pfarrer 
Oberlin  verweilte,  brach  sein  Wahnsinn  aus.  Aufopferungsvoll  pflegte  ihn 
Goethes  Schwager^"*  Schlosser  in  Emmendingen,  bis  den  zu  rührender  Demut 
zurückgekehrten  seine  Verwandten  1779  abholten,  wozu  der  Weimarische 
Hof  die  Mittel  gewsehrte.     Lenz   starb    zu  Moskau    1792.     Früh  verschollen 

von  der  Pfalzgrfefin  Genovefa,  Habilitationsschrift,  Würzburg  1877.  27)  Act  V.  Sc.  3. 

28)  Ortjethes  Angaben  in  Dichtung  und  Wahrheit  sind  vielfach  hesttetigt  und  erweitert  worden  : 
Aug.  Stoeber,  Der  Dichter  Lenz  und  Friederike  von  Sesenheim,  Basel  1842.  Erich  Schmidt,  Lenz 
und  Kliuger,  Berlin  1878.  P.  T.  Falck,  Lenz  in  Livland,  Winterthur  1878.  Ders.  Friederike 
Brion.  Berlin  1884.  .Jegor  von  Sivers,  Lenz,  Riga  1879.  J.  Froitzheim,  Lenz,  Goethe  und 
Cleophe  Fibich,  Strassburg  1888;  Ders.  Lenz  u.  Goethe,  Stuttgart  usw.  1891.  29)  Er 

sandte  ihm  eine  jetzt  verlorene  Abhandlung  'über  unsere  Ehe':  D.  u.  W.  XIV  Buch  zu 
Anfang.  30)     Über  diese  und  andere  Verwechselungen    der  Dichter  des  Sturmes  und 

Dranges  s.  E.  Schmidt,  Wagner  *117.  31)  Die  im  Nachlass  Friederikens  gefundenen: 

8.  Bielschofsky  Gffthejahrbuch   1891   S.  211  fgg.  32)   Ideen    zu    einer    Frauenzimmer- 

schule   bei    Dorer-Eglüff   232    fgg.  33)  Seine    Stellung    am    Hofe    schildert    Lenz    im 

Dramolet  'Tantalus';  sein  persoenliches  Verhältnis  zu  Goethe  im  'Waldbruder'  (aus  Goethes 
Papieren  in  Schillers  üoren  1797,  IV  St.,  wiederabgedruckt  von  Dorer-Egloff,  von  Wald- 
berg, Berlin  1882  und  von  Froitzheim)  und  mit  arger  Entstellung  von  Gcpthes  Character: 
'Zum  AVeinen',    Weinhold,    Dramat.  Nachlass  S.  268  fgg.  34)  Auch    Goethes    Mutter 

hatte  er  in  Frankfurt  besucht:  Keil,  Frau  Rath  71.  Seine  Verehrung  für  Goethes  Schwester 
Cornelia  hatte  Lenz  romanhaft  ausgeschmückt  als  'Moralische  Bekehrung  eines  Poeten",  im 


47.S  NEUIIOCIIDEUTSCIII-:   ZKIT.         XVIJI  .TAI I KU.  §   15!) 

wunlon  seine  Scliriften  erst  weit  spa^ter  gesammelt. '•'  Auch  I^ienzena  An- 
fänge knüpfen  an  Klopstock  an ;  seine  spaetere  Lyrik,  meist  seinen  verliebten 
Trieumen  gewidmet,  hat  manche  llerzenstoRue,''"  zeigt  aber  imr  allzu  oft  die 
Nachlässigkeit  der  ersten,  raschen  Niederschrift.  Sein  Witz  glänzt  in  den 
litterarischen  Satiren  gegen  die  Anhänger  der  älteren  Dichtart,''  insbe- 
sondere gegen  Wieland,  dem  er  später  diese  Feindseligkeit  in  herzlicher 
Weise  abbat.  Keck,  in  Leasings  Weise,  hatte  er  Plautus  modernisiert.'" 
In  seinen  eigenen  Dramen  tritt  die  von  Goethe  bewunderte  Fa'higkeit,  selbst 
in  die  gemeinste  Wirklichkeit  Poesie  zu  legen,  oft  herzgewiimond  hervor  und 
besonders  die  Schilderung  der  naiven  Gemüter,  zumal  der  Frauen  gelingt 
ihm  vortrefHich.  Aber  er  verirrt  sich  in  der  Handlung  gern  zum  Unnatür- 
lichen, Hicht  etwa  eine  Selbstentmannung  ein  oder  schildert  ein  Ehepaar, 
welches  sich  mit  dem  Gedanken  peinigt  in  Geschwisterehe  zu  leben.  Meist 
liegen  eigene  Erlebnisse,  nur  })hantastisch  ausgemalt,  zu  Grunde:  heimische 
Erinnerungen  in  der  Komoedie  Der  Hofmeister  oder  —  wie  er  ironisch  hin- 
zufügt —  Vorteile  der  Privaterziehung',  Leipzig  1774;  Strassburger  Ein- 
drücke'**  in  den  ebenfalls  Komoedie  genannten,  in  Wahrheit  tieftraurigen 
'Soldaten',  Leipzig  1776.  Fast  durchweg*'*  aber  erscheint  die  dramatische 
Form  sehr  frei,  durch  den  Wechsel  der  Scenen  zerstückelt:  hiefür  berief  sich 
Lenz  auf  Shakespeare*'  in  den  'Anmerkungen  übers  Theater',  Leipzig  1774: 
er  bemerkte,  dass  er  sie  bereits  zwei  Jahre  vor  Erscheinung  des  Buches 
'Von  deutscher  Art  und  Kunst'  und  des  Götz  in  der  Saltzmannschen  Gesell- 
schaft*'- zu  Strassburg  vorgetragen  habe:  dass  er  auch  zu  dieser  Verhoehnuug 
der  'poetischen  Reitkunst  des  Herrn  Aristoteles'  durch  Goethes   und  Herders 

Frühjahr  1775:    Ga'thejahrbmh  X  46  tgg.  35)  Von  Tieck,    Berün   1828,    III.     Dazu 

Nachtnpo'e  bes.  von  Edward  Dorer-Eju;loff,  Baden  1857.  Uramatischer  Nachlass,  hg.  von 
K.  Weinhold,  Frankfurt  1884.  Auswahl  von  Sauer  bei  Kürschner  80.  Die  Entwürfe, 
zahlreich  un<l  oft  abgeändert,    fallen    fast    sämtlich    in    die   Jahre   1774—76.  3ö)  'An 

das  Herz':  Geschichte  des  Gedichtes,  welches  die  Losung  der  Stürmer  und  Dränger  beson- 
ders deutlich  ausspricht,  in  Erich  Schmidts  Wagner  S.  157  fgg.  3?)  Panda;monium 
irermanicum  (hg.  von  Dumpf,  Nürnberg  1819).  38)  Lustspiele  nach  dem  Plautus  fürs 
deutsche  Theati-r,  Fraukf.  u.  Leipzig  1774,  von  Ga-the  in  den  Druck  gegeben.  39)  Um 
Lenz  die  Furcht  vor  der  Rache  der  dargestellten  Personen  zu  benehmen,  gab  sich  Klinger 
als  Verfasser  an.  40)  Bemerkenswert  ist  die  gruessere  Einheit  im  Entwurf  zu  'dem 
tugendhaften  Taugenichts",  worin  er  dieselbe  Anekdote  Schubarts  bearbeitet  hat,  welche 
Schiller  für  die  Räuber  benutzte:  Weinhold,  Dram.  Naehl.  209  fgg.  41)  Von  dessen 
Lustspiel  'lAuex  labour  lost'  war  eine  Übersetzung  angehängt,  welche  namentlich  die  komi- 
schen Partien  vorzüglich  wiedergab.  4*2j  Lenz  hatte  ihr  den  Namen  Deutsche  Gesell- 
schaft' gegeben  und  sie  lebhaft  auf  die  Ausbildung  der  deutschen  Sprache  und  Art  im  Elsass 


§  159  LENZ,  KLINGER.  479 

mündlich    überlieferte  Äusserungen    veranlasst   worden    war,    hätte   er    wohl 
nicht  Iseugnen  können. 

Dem  sanften,  weibischen  Lenz  stand  mit  übei-männlicher  Kraft  der 
Dichter  gegenüber,  dessen  Drama  'Sturm  und  Drang'  dem  ganzen,  um  den 
jungen  Goethe  gescharten  Dichterkreis  den  Namen  verlieh.  Friedrich  Maxi- 
milian Klingp:r  ^^  war  ein  Landsmann  Goethes  und  ward  von  diesem  freund- 
schaftlich unterstützt,  als  er  sich  zur  Univcrsitaet  durch  viele  Schwierigkeiten 
durchkämpfte,  die  den  Stolz  des  kraftvollen,  schcenen  Jünglings  nur  stgehlten. 
1751  als  Sohn  eines  sttedtischen  Constablers  geboren  und  früh  verwaist,  wan- 
derte auch  er  von  Giessen,  wo  er  1774  seine  Studien  begonnen,  1776  zu 
Goethe  nach  Weimar,  schloss  sich  aber  bald  der  Seylerschen  Gesellschaft  als 
Theaterdichter  an.  Yon  Schlosser  empfohlen,  trat  er  1779  in  ein  oesterrei- 
chisches  Preicorps,  1780  als  Marinelieutenant  in  den  perscenlichen  Dienst  des 
Grossfürsten  Paul,  des  spseteren  Kaisers.^*  Rasch  stieg  er  empor,  ward  ge- 
adelt, General  und  Curator  der  Universitset  Dorpat  und  starb  1831.  Seine 
innerliche  Wandelung  vom  kraftgenialischen  Dichter  zum  streno-en  kalten 
Staatsmann  spiegelt  sich  auch  in  seinen  Schriften  wieder,  die  er  meist  rasch 
hinwarf,  aber  zum  Teil  in  die  spseteren  Sammlungen'*^  nicht  aufnahm.  Verse 
waren  ihm  versagt ;  auch  schlugen  die  komischen  Partien  seiner  Dramen  und 
Romane  in  herbe  Satire  aus.  Er  begann  mit  der  Nachahmung  Shakespeares : 
dessen  Lear  und  Goethes  Götz  boten  ihm  die  Motive  für  sein  im  deutschen 
Mittelalter  spielendes  Trauerspiel  'Otto'*"  1774,  wogegen  'das  leidende  Weib' 
1775  mehr  Lenz*^  nachahmte.  Gegen  den  Despotismus  schwacher  Fürsten 
richteten  sich  'die  neue  Arria'  und  'Simsone  Grisaldo':  beide  nach  Südeuropa 
verlegt  ebenso  wie  die  'Zwillinge',  womit  er  den  Plan  von  Leisewitz  zum 
'Julius  von  Tarenf  benutzend,  diesem  den  Hamburger  Preis  1775  vorweg- 
nahm. In  den  Freiheitskampf  der  englischen  Colonien  in  Nordamerika,  an 
dem  er  gern  Teil  genommen  hätte,  verlegte  er  'Sturm  und  Drang'  1776: 
dies  der  Hoehepunct  seines  Aufbteumens  gegen  Schicksal  und  Welt,  das  mit 
Überschwang  des  Gefühls  und  Ausdrucks,  mit  buntem  Wechsel  oft  grässlicher*** 


hingewiesen.  43)  Erich  Schmidt  s.  Anm.  28.     M.  Rieger,  Klinger  in  der  Sturm-  und 

Drangperiode,   Darmstadt  188U.  44)  Sein  Wahlspruch  war  damals:  Marte  Venereque. 

45)  F.  M.  Kliugers  Theater,  IV,  Riga  1786— 87;  Neues  Theater,  11,  Leipzig  1790;  Werke, 
XII,  Koenigsberg  1809—15;  Sämtliche  Werke,  XII,  Stuttgart  u.  Tübingen  1842  und 
1878 — 80.     Auswahl  von  Sauer,    mit  Leisewitz  zusammen  (§  158,  76).  46)  Neudruck 

von  Seutfert  in  den  Lit.-denkm.  1,   Heilbronn  1881.  47)  Daher  auch  von  Tieck  in  die 

Gesammelten    Schriften    von    Lenz  (Anm.  35)  aufgenommen.  48)   In    Otto'  stirbt  eine 

Wackernagel,  Litter.  Geschiebte.  II.  32 


480  NETJTIOrilDETITSCIIE  ZEIT.         XYITI  JAIIRTI.  §  159 

Scenen  snine  Dramen*-*  erfüllte.  Auch  er  hatte  sich  inzwischen  in  Weimar 
mit  Wieland''"  ausgesoehnt  und  ging  nun  dazu  über  in  lang  ausgesponnenen 
Romanen  mit  cynisch  lüsterner  Beimischung  in  der  Art  Crebillons  die 
Zustünde  der  Zeit  zu  verhoehnen :  so  in  Orpheus,  eine  tragisch-komische 
Geschichte',  Genf  1778 — 80.  Gegen  die  eigenen  Jugendtraiume  und  zugleich 
gegen  einen  früheren  Freund,  der  für  sein  JJrama  den  Titel  'Sturm  und 
Drang'  vorgeschlagen  hatte,  den  von  Lavater  empfohlenen,  eine  Zeit  lang 
selbst  den  Besten  übermächtig  erschienenen,  lügenhaften  Kraftapostel  Christxjph 
Kaufmann-''  wandte  er  sich  in  dem  Spottroman  Plimplamplasko  der  hohe 
Geist  (heut  Genie)  eine  Handschrift  aus  den  Zeiten  Knii)perdollings',  den  er 
mit  dem  Baseler  Sarasin  und  vielleicht  auch  Pfeffel  zusammen  1780  schrieb. 
Spätere  Dramen  Klingers  suchen  teils  die  Unsittlichkeit  der  vornehmen  Welt 
zu  geissein,  so  die  Lustspiele 'Die  falschen  Spieler'  1780  und  'der  Schwur  gegen 
die  Ehe',  1797;  teils  kehren  sie  als  Trauerspiele  in  einem  hoeheren  Stile  ^-  zu 
den  kraftvollen  Gestalten  der  Sage  zurück :  so  Medea  in  Korinth'  und  'Medea 
auf  dem  Kaukasos'  1791.  Klingers  Romane  kämpfen  sich  durch  einen  Pessi- 
mismus, welcher  bald  die  alten  orientalischen  Marchenformen  annimmt  ('der 
goldene  Hahn'  1785,  spseter  als  'Sahir'  umgearbeitet  u.  a.),  bald  sich  in  das 
Gewand  der  deutschen  Faustsage^-'  hüllt  (Fausts  Leben,  Thaten  und  Höllen- 
farth  1791)  hinauf  zur  Anpreisung  des  früherfassten  Rousseauschen  Tugend- 
ideals (Geschichte  eines  Teutschen  der  neuesten  Zeit  1798)  und  zu  fein  durch- 
geführter Versoehnung  des  Gegensatzes  von  'Weltmann  und  Dichter'  (1798).''* 
Von  den  anderen  Genossen  ^^  des  Sturmes  und  Dranges  verdient  nur  noch 

Person  unter  der  Folter  der  Inquisition.  49)  0.  Erdmann.  Üher  Klingers  drani.  Dich- 

tungen. Ka-nigsberg  Progr.  1877.  50)  Doch    verspottete   ihn   dieser  in  deu  Abderiten 

als  Hyperbolus.  51)  Kaufmann,  geb.  1753,  gest.  1795  als  Arzt  zu  Herrenhut,    nannte 

sich  selbst  'Gottes  Spürhund  naeh  reinen  Menschen'.  In  Weimar  war  selbst  tiopthe  und  noch 
länger  Herder  sein  Bewunderer;  ganz  besonders  beutete  er  das  Dessauer  Philanthropin  aus. 
Auih  in  Kliuffers  Faust  und  vorher  schon  in  dem  Maler  Müllers  werden  Züge  von  ihm 
benutzt.  Vgl.  Düntzer,  Ch.  Kaufmann ,  Leipzig  1882.  Baichtold  in  Schnorrs  Areh.  XV 
161  fgg.  52)  Auf  'Roderiko'  wirkte  Schillers  Karlos ;  spaeter  wandte  sich  Klinger  auch 

gegen  diesen  Dichter,  der  ihm  schon  als  Anhänger  Kants  Anstoss  gab.  Klinger  hasste 
jedes  'System'.  53)  G.  J.  Pfeiffer.   Klingers  Faust,  hg.  von  B.  Seuffert,  Würzburg  1890. 

54)  Die  'Betrachtungeu  und  Gedanken  über  verschiedene  (iegenstände  der  Welt  und  Litte- 
ratur".  Cöln  18U3,  beziehen  sich  insbesondere  auf  die  philosophischen  und  politischen  Ideen, 
die  zur  franzoesischen  Revolution  führten.  55)  Ludwig  Philipp  Hahn  (geb.  1746  zu 

Trippstadt  in  der  Pfalz,  Beamter  in  Zweibrücken,  gest.  1814)  ist  eingehend  behandelt  wor- 
den von  R.  M.  Werner,  Strassburg  1877  (QF.  22).  Sein  'Aufruhr  zu  Pisa',  worin  die  Vor- 
geschichte zu  Gerstenbergs  Ugolino  skizzenhaft    und    phrasenreich    dramatisiert  ist,    wurde 


§159  H.  L.  WAGNER.  481 

Heinrich  Leopold  Wagner''*'  hervorgehoben  zu  werden,  insbesondere  wegen 
seiner  freilich  nicht  immer  ehrenvollen  Beziehungen  zu  Goethe.  Geboren  zu 
Strassburg  1747,  starb  er  als  Advocat  zu  Frankfurt  1779.  Ursprünglich 
Nachahmer  Wielands,  griff  er  in  den  Streit  Goethes  gegen  die  Bekritteier 
des  Werther  1775  ein,  indem  er  diese,  vermutlich  mit  Benutzung  einzelner 
Witze  seines  grossen  Freundes,  aber  ohne  dessen  Wissen,''^  in  der  derben^* 
Farce  'Prometheus,  Deukalion  und  seine  Recensenten'  ausspottete.^^  Gleich- 
zeitig versuchte  er  sich  im  ernsten  Drama,  indem  er  wie  Lenz  das  bürger- 
liche Trauerspiel,  aber  in  einer  Lessing  abgelernten  strengeren  Ordnung''** 
weiter  führte  'Die  Reue  nach  der  That'  1775  stellte  eine  wegen  des 
Standesvorurteils  der  Eltern  unglücklich  endende  Liebesgeschichte ''^  dar;  'die 
Kindesmörderin'  1776  ^^  behandelte  die  Gretchentragoedie,  die  Goethe  bereits 
für  den  'Faust'  ausgeführt  hatte,  aber  mit  stärkster  Benutzung  der  Verhält- 
nisse, auch  der  Sprache  seiner  Vaterstadt,  erschütternd,  freilich  roh.  Den  allzu 
anstoessigen  ersten  Act  arbeitete  Karl  Lessing  ohne  Zustimmung  des  Ver- 
fassers um,  welcher  dann  dem  Ganzen  einen  verscehnlichen  Schluss  zu  geben 
suchte.®^  Eine  von  Goethe  angefangene  Übersetzung  der  für  das  bürgerliche 
Drama  Diderots  eintretenden  Schrift  Merciers  Da  thcätre  stellte  Wagner 
ebenfalls  1776  fertig;''*  den  eben  dahingeschiedenen  Hauptvertreter  des  fran- 
zoesischen  Classicismus  verhoehnte  er  in  'Voltaire  am  Abend  seiner  Apotheose' 
1778.«^ 

Stellten  Maler  Müller,  Lenz,  Klinger,  Wagner  das  Volkstümliche  in 
seiner  leidenschaftlichen  Erregung,  als  rohe  Kraft  dar,  so  trat  es  in  einem 
Schriftsteller,  den  der  junge  Goethe  beim  Emporringen   aus  Armut  und   Un- 


voa  Sühubart,  Ulm  1776,  in  dea  Druck  gebracht.  56)  Erich  Schmidt,  H.  L.  Wagner  2, 

Jena  1779.  57)  Goethes  ernste  Erklärung  hierüber   zielit  grundlos  in  Zweifel  Froitz- 

heim,  Cfaethe  und  H.  L.  VV^agner,  Strassburg  1889.  58)  Wagner  war  'zum  Aushcehnen 

geboren':  so  hatte  ein  Freund  an  Heiuse  berichtet:  Briefe  zwischen  Grleim ,  Heiuse  und 
Müller  1,  214.  59)  Der  Einzeldruck,  mit  falschen  Druckurten  erschienen,  ward  wieder- 

holt in  'Rheinischer  Most,  Erster  Herbst'  1775:  Neudruck  von  Düntzer,  Studien  zu  troethes 
Werken,  Elberfeld  u.  Iserlohn  1849,   von  Sauer,   Kürschner  Bd.  80.  GO)  Ortswechsel 

nur  zwischen   den  Acten.  61)  Schillers  'Kabale  und  Liebe'  hat  Züge  aus   beiden  Tra- 

goedien  Waguers.  62)    Zu    Leipzig    erschienen,    die    'Reue'    zu    Frankfurt.     Von    der 

'Kindesmürderin'  erschien  die  Umarbeitunir  K.  ö.  Lessinsrs  Berlin  1777:  die  des  Dichters 
selbst  Frankfurt  a.  M.  1779.  Neudruck  von  Er.  Schmidt,  Lit.-denkm.  13,  Heilbrouu  1883. 
63)  Daher  jetzt  als  Titel  'Evchen  Humbrecht  oder  Ihr  Mütter  uierkts  Euch!'  64)  'Neuer 
Versuch  über  das  Theater.  Aus  dem  Franztesischen.  Mit  einem  Anhang  aus  Cloethes 
Brieftasche",    Leipzig    177(j.  65)  Frankfurt    und  Leipzig.     Neudruck  in  Seutferts  Lit.- 


482  NEUIIOCHDErTSCHK  ZEIT.         XVIII  JAIIKII.  §  159 

bildung  Hebreich  untei-stützte,  mit  weichen  Zügen,  mit  einer  herzlichen 
Frimimigkeit  hervor.  Johann  Hkinkkii  JrN(;  nannte  sich  Stilling,**  als 
einer  der  Stillen  im  Lande\  (ieboren  1740  zu  Grund  im  nassauischen 
Hinterland  als  8ohn  eines  Schneiders  und  Schulmeister!*  verlebte  er  seine 
.lugend  in  eben  diesen  Berufsarten ;  studierte  1770 — 72  in  Strassburg  Augen- 
heilkunde, die  er  in  Elberteld  und  selbst,  als  er  von  1778  ah  in  Kaisers- 
lautern, Heidelberg  und  Marburg  die  Kameralwissenschat'ten  lehrte,  neben 
diesem  Fache  ausübte.  180;i  berief  ihn  Karl  Friedrich  wieder  nach  Heidel- 
berg, wo  er  bis  zu  seinem  Tode  1817  nur  dem  Auftrage  sich  widmete,  Re- 
ligion und  praktisches  Christentum  durch  Briefwechsel  und  Schriftstellerei  zu 
befördern.  Keine  seiner  spaeteren  Schriften,  in  welchen  seine  Phantasie  sich 
viel  mit  dem  Jenseits  beschäftigte,*^^  erreichte  die  Bedeutung  seiner  Jugend- 
geschichte, welche  Goethe  1777  hatte  drucken  lassen*^:  hier  eröffnete  sich 
ein  herzgewinnender  p]inblick  in  Sinn  und  Leben  der  armen,  rechtschaffenen, 
frommen  Bergleute  und  Kohlenbrenner,  unter  denen  er  seine  Knabenjahre 
verlebt ;  ihre  Volksbücher,  Volksmierchen  und  Volkslieder,  diese  freilich  von 
ihm  ebenso  naiv  umgestaltet,  wie  sie  im  Volksmunde  selbst  sich  beständig 
wandelten,  traten  wieder  in  die  Litteratur  der  Gebildeten  ein. 

Karl  Friedrich  von  Baden,  der  Jung-Stilling  einen  solchen  Auftrag  gab, 
hatte  früher  Johann  Gkorg  Sculo.sser •^'•'  in  den  Stand  gesetzt,  das  Wohl 
des  Volkes,  vor  allem  durch  Hebung  seiner  sittlichen  und  wirtschaftlichen 
Zustände  zu  fördern.  Geboren  1739  zu  Frankfurt  a.  M.  und  hier  als  Syn- 
dicus  1799  gestorben,  war  Schlosser  1773 — 87  Amtmann  zu  Emmendingen,  dann 
bis  1794  in  Karlsruhe  thaitig,  worauf  er  zunächst  einige  Jahre  erst  in  Ansbach, 
dann  in  Eutin  seineu  litterarischen  Arbeiten  lebte.  Überall  verband  ihn  nahe 
Freundschaft  mit  den  Dichtern  und  Schriftstellern,  welche  seine  Besfeisterunji: 
für  Wahrheit  und  Gerechtigkeit  teilten:  mit  Goethe,  dessen  Schwester  Cornelia 
er   1773  heiratete,  aber  schon  1777  durch  den  Tod  verlor,    mit  Lenz  ^''  und 

denkm.  '2,  Heiibronn  1881.  66)  Seiae  selbsterzaehlte  Lebensgeschichte,    abschnittweise 

herausgegeben,  in  .Sämtliche  Schriften  mit  einer  Vorrede  von  J.  N.  (Trolimann',  Stuttgart 
1835  —  37,  III;  1841.  -12,  XII:  Lebeusgeschichte  mit  Vorrede  des  Praelaten  von  KaplF 
1857  uö.     Bedenken    gegen  Jungs   Wahrhaftigkeit  SBUssert  F.  Jacobi    bei  Zöppritz   2,  149. 

67)  Das  Ki'iniweh.  Marburg  1794.  IV;  Sceneu  aus  dem  Geisterreiche.  Frankfurt  a.  M.  1797 
bis  löOl,  III:  auch  eine  Volkszeitschrift 'Der  graue  Mann",  Nürnberg  1795 — 18nj.  Ausserdem 
fromme  Erza;hlungen:    'Geschichte  des  Herrn   von  Morgenthau',    Berlin  u.  Leipzig  1779  ua. 

68)  Heinrich  Stillings  Jugend.  Eine  wahrhafte  Geschichte.  Berlin  u.  Leipzig  1777  uö. 
Daraus  LB.  3,  757  fgg.  69)  Alfred  Xicolovius,  J.  G.  Schlossers  Leben  und  litterarisches 
\N  irkeu.  Bonn   1844.           7(1)  Lenz  dachte  an  Schlosser,    als  er  in  iler  Konufdie  'Der  neue 


§  159  JUNG-STILLING,  SCHLOSSER.  483 

Klinger/'  mit  Lavater  und  Iscliu,  mit  Pfeffel  und  den  Brüdern  Jacobi,  mit 
Stolberg  und  Voss.  Er  selbst  pries  in  seinem  Aiitipope  oder  Versuch  über 
den  Natürlichen  Menschen',  Leipzig  1776^'*  den  Glauben  gegenüber  den 
Trostgründen  der  Philosophie.  Seine  durchaus  auf  das  Praktischem^  gerich- 
teten Reformideen  fasste  er  kurz  zusammen  im  Katechismus  der  Sittenlehre 
für  das  Landvolk',  Frankfurt  1771;  und  führte  sie  dann  in  einer  Reihe  von 
Abhandlungen  aus,  die  er  als  kleine  Schriften',  Basel  1779 — 93,  VI,  ver- 
einigte. In  dem  gleichen  Sinne  leitete  er  auch  die  Frankfurter  gelehrten 
Anzeigen'  1772,  welche  damals  das  kritische  Organ  des  Jüngern  Dichterge- 
schlechtes,  Herders,  Goethes  und  ihrer  Freunde  waren. ''^ 

An  der  Leitung  dieses  Jahrgangs  war  auch  Jouanx  Heinrich  Merok^* 
beteihgt,  ein  Darmstsedter,  geb.  1741,  gest.  1791.  Sein  scharfes  und  treffen- 
des Urteil,  welches  ebenso  sehr  dem  tragen  Festhalten  am  Überkommenen, 
als  der  Überspannung  der  neuen  Schriftstellerei  entgegen  trat,  bezog  sich 
zugleich  auf  die  Litteratur,  auf  die  bildenden  Künste,  besonders  die  Malerei, 
und  auf  die  geselligen  Zustände.  Diesem  letzteren  widmete  er  mehrere  Er- 
zsehlungen in  Wielands  Teutschem  Mercur:  'Geschichte  des  Herrn  Oheim', 
1778,  'Lindor,  eine  bürgerliche  deutsche  Geschichte'  1781  u.  a.,  worin  dem 
leeren  Scheintreiben  in  Hof  und  Stadt  die  kräftigende  und  befriedigende 
Thaetigkeit  auf  dem  Lande  entgegengestellt  wird.  In  die  Aufregung  der 
Dichterkämpfe   nach  1770  warf  er  derb\Ndtzige,   meist  dramatische  Satiren  in 


Menoza  oder  Geschichte  des  cumbanischen  Prinzen  Tandi",  Leipzig  1774  den  Widerstreit  der 
natürlichen  Gesinnung  gegen  die  Cultur  schilderte;  Schlosser  antwortete  mit  'Prinz  Tandi 
an  den  Verfasser  des  neuen  Menoza',  Naumburg  177.5.  71)  Klinger  nahm  Schlosser  zum 
Vorbild  seiner  Schildeningen  pflichttreuer  Beamten,  welche  gegen  Hofintrigue  und  Schlen- 
drian ankämpfen.  71*)  Zehn  Jahre  früher  in  englischen  Versen  gedichtet,  ist  die  Schrift 
von  Schlosser  in  deutscher  Prosa  fertig   gestellt  worden.  72)  Daher  bekämpfte  er  die 

Philanthropine  und  den  Physiokratismus.  Durch  seinen  Hinweis  auf  die  Berechtigung 
überlieferter  Einrichtungen  wie  der  Zünfte ,  durch  seine  Berufung  auf  das  alte  deutsche 
Recht  bereitete  er  mit  Mfjeser  zusammen  die  spietere  historische  Rechtswissenschaft  vor. 
73)  Neudruck  des  Jahrgangs  1772  mit  Einleitung  von  Scherer  in  Seufferts  D.  Lit.-denkra. 
7  u.  8,  Heilbronn  188:3.  1773  ward  Bahrdt  (§  156,  52)  Director  der  Zeitschrift,  die  seit- 
dem rasch  ihre  Bedeutung  wieder  verlor.  74)  K.  Wagner,  Briefe  an  J.  H.  Merck  von 
Goethe,  Herder,  Wieland  und  andern  bedeutenden  Zeitgenossen.  Mit  Mercks  biographischer 
Skizze,  Darmstadt  1835.  Ders.  Briefe  an  und  von  Merck.  Darmstadt  1838.  Ders.  Briefe 
aus  dem  Freundeskreise  von  Gcethe,  Herder,  Höpfner  und  Merck.  Leipzig  1847.  Ad.  Stahr, 
J.  H.  Mercks  ausgewaehlte  Schriften  zur  schoenen  Litteratur  und  Kunst.  Oldenburg  1840. 
Georg   Zimmermann,    J.  H.   Merck,    seine   Umgebung   und  Zeit,    Frankfurt   a.  M.    1871. 


484  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XVHT  JAHUH.  §  159 

freien  Versen,  sogenannte  Mutinöps,'''-'  welche  jedoch  damals  und  zum  Teil 
noch  jetzt  nicht  in  die  Öffentlichkeit  gekommen  sind.  Auf  (Jontlie,  der  frei- 
lich den  Kritiker  einen  Mephistoplieles  nannte,  wirkte  Merck  sehr  stark  ein, 
blieb  über  auch  mit  Nicolai  und  Lichtenberg  in  freundschaftlichen  Bezie- 
hungen. Die  Hocfe  in  Darmstadt  und  Weimar  schätzten  ihn  hoch:  mit 
der  Landgnefin  reiste  er  1778  nach  Petersburg,  und  besuchte  im  Auftrage 
des  Landgrafen  1700  Paris.  Allein  ha'usliches  und  geschäftliches  Missge- 
schick steigerten  seine  Verbitterung  so  weit,  dass  er  zuletzt  selbst  seinem 
Leben  ein  Ende  machte. 

Diesem  düsteren  Ausgang  steht  diis  glückliche  Leben,  der  Verstandes- 
schärfe Mercks  die  Gefühlswärme  gegenüber,  womit  Frikurich  Heinrich 
Jacobi,  der  jüngere  Bruder  des  Dichters  Johann  Georg  Jacobi^^  unter  den 
Vertretern  der  neuen  Richtung  in  der  Litteratur  sich  eine  eigentümliche 
Stellung  erwarb.  Geboren''  1743  zu  Düsseldorf,  war  er,  in  der  franzoBsischen 
Schweiz  herangebildet,  1764  in  das  kaufmännische  Geschäft  seines  Vaters 
eingetreten,  seit  1772  aber  als  Hof  kammerrat  erfolgreich  bemüht,  die  freisinnigen 
Anschauungen  des  Nationalceconomen  Adam  Smith  zur  Geltung  zu  bringen. 
Dabei  hatte  er  Müsse  genug,  um  auf  seinem  Landgut  Pempelfort  dem  schoen- 
sten  Familienleben,  der  edelsten  (iastlichkeit  gegen  befreundete  Schriftsteller 
sich  hinzugeben.  1771  mit  Wieland  bekannt  geworden,  unterstützte  er  diesen 
1772  bei  der  Begründung  des  Mercur,  wie  er  auch  1774  seinem  Bruder 
Georg  die  Zeitschrift  Ii-is"  vorzubereiten  half.  Am  folgenreichsten  aber  ward 
seine  innige  Befreunduug  mit  Gcethe  1774,  welche  auch  trotz  zeitweiliger 
Verstimmung  und  wachsender  Verschiedenheit  der  Meinungen  durch  persoen- 
lichen  Verkehr  immer  wieder  hergestellt  wurde.'"  Goethes  Jugendgestalt, 
allerdings  mit  Zügen  aus  seiner  eigenen  stürmischen^*  Entwickelungszeit  aus- 
gestattet, begann  Jacobi  1775  in   AU  will'  zu  schildern,'*"  einem  Roman  in  Briefen 

75)  Ein  Beispiel:  Briefe  an  u.  von  Merck,  S.  59.  76)  §  155.  39  fgg.  77)  Nachricht 
von  dem  Leben  F.  H.  Jacobis  von  Roth  vor  T.  H.  .Jacobis  auserlesener  Briefwechsel",  II, 
Leipzig  lb25.  Ferd.  Deycks.  F.  H.  Jacobi  im  Verhältnis  zu  seinen  Zeitgenossen  bes.  zu 
Goethe,  Frankfurt  a.  M.  1848.  Eberhard  Zirngiebl,  F.  H.  Jacobis  Leben  Dichten  und 
Denken,  Wien  1867.     Aus  F.  H.  .Jacobis  Nachlass,  hg.  von  Rud.  Zöppritz,    Leipzig  1869. 

78)  Briefwechsel  zwischen  (ioethe  und  F.  H.  Jacobi,  hg.  v.  Max  Jacobi,  Leipzig  1846. 
Jacobi  war  1784  in  Weimar,  Goethe  1792  in  Pempelfort,  Jacobi  nochmals  1805  in  Weimar. 

79)  Scherer.  Aufsätze  über  Gcethe  147.  80)  Anfang  in  der  Iris,  dann  im  Mercur  1776; 
neubearbeitet  in  'Eduard  Allwills  Papiere'  in  Vermischte  Schriften.  Breslau  1781:  und 
nochmals  in  'Ed.  Allwills  .  Briefsammlung'.  Kfsnigsberg  1792:  sowie  in  'F.  H.  Jacobis 
Werke".   VI,    Leipzig    1812 — 25.     Vgl.  Ad.  üoltzmann,  Ü^ber  Ed.  Allwills  Briefsammlung, 


§  159  MERCK,  F.  11.  JACOBI,  IIEINSE.  485 

nach  dem  Muster  des  Werther,  aber  ohne  Handlung  und  daher  auch  ohne 
Abschluss.*'  Noch  anstoessiger  war  für  Goethe  die  Selbstschilderung  Jacobis 
im  Woldemar  1777.^'^  Auch  widerstrebte  ihm  die  in  Jacobis  philosophischen 
Schriften  immer  mehr  hervorgekehrte  Neigung  freies te  Verstandesthfetigkeit 
mit  frommen  Überzeugungen  zu  verbinden:  erstere,  als  deren  notwendige 
Folgerung  er  Spinozas  Philosophie  ansah,  suchte  er  im  Verkehr  mit  Lessing^? 
auszubilden;  letztere  verbanden  ihn  mit  Jung-Stilling,  Lavater,  Claudius,** 
der  Fürstin  Cxallitzin,  Hamann,  F.  Stolberg.  In  des  letzteren  Kreis,  nach 
Eutin  flüchtete  er  1794  vor  den  Kriegsunruhen,  die  allmeehlich  auch  sein 
Yerraoegen  schmselerten.  1805  kam  er  nach  München  als  Präsident  der 
Akademie,  allerdings  von  Schelling  schonungslos  angegriffen,  wie  er  selbst 
die  neuere  Philosophie  schon  in  Kant  heftig  bekämpft  hatte.  1812  legte  er 
sein  Amt  nieder  und  starb  1819. 

Die  weitherzige  Fürsorge  Jacobis  für  seine  dichterischen  Zeitgenossen 
bezeugt  vor  allem  der  Schutz,  den  er  Johann  Jacob  Wilhelm  Hein.se  ge- 
waehrte.  Heinse,  zu  Langewiesen  bei  Ilmenau  1746  geboren,'^'^  war  1770  als 
Erfurter  Student  Wieland  und  Gleim  bekannt  geworden,  insbesondere  durch 
seine  'Sinngedichte'  und  musikaUsche  Dialoge';*^  doch  zog  er  zunaechst  mit 
einem  abenteuernden  Hauptmann  herum,  welcher  seine  feurige  Sinnlichkeit 
noch  steigerte  und  ihn  zu  einer  Übersetzung  des  Petronius*^  veranlasste.  Um 
nicht  wegen  der  Yeröffentlichung  dieser  Schrift  verworfen  zu  werden,  nannte 
er  sich  Rost,  als  er  1772  durch  Gleim  eine  Stelle  als  Hauslehrer  erhielt.  In 
Halberstadt  beteiligte    er  sich   an    Gleims  Dichtergenossenschaft ^*  und    Hess 


Jena  1878.  81)  Vortrefflich    gelungen    sind    die    Bilder    der  Gattin  Jacobis    (Amalie ; 

in  Woldemar  Allwina)  und  seiner  Halbtante  Johanna  Fahimer,  spaeter  der  zweiten  Frau 
Schlossers  (Sylli;  im  Woldemar  Henriette).  Über  die  letztere,  die  J.  Gr.  Jacobi  Adelaide 
nannte,  s.  Scherer,    Aufsätze    über  Groethe,  S.  91  .fgg.  82)  Im  T.  Mercur;    wiederholt 

als  'Woldemar.  Eine  Seltenheit  aus  der  Naturgeschichte',  I,  Flensburg  und  Leipzig  1779; 
und  mit  Fortsetzung:  Kuenigsberg  1794,  II.  83)  Vgl.  §  156,  12.  84)  §  158,  (nach 

Anm.  3).  85)  'Aus  Heinses  Nachlass':    Schnorrs   Archiv  X,    39    fgg.   372  fgg.     Job. 

Schober,  J.  J.  W.  Heinse,  Leipzig  1882.  Heinse  gab  sich  selbst  für  drei  Jahre  jünger 
aus  als  er  war.  86)  Die  'Sinngedichte',  Halberstadt   1771 ,    sind  von  seinen  Schriften 

allein  mit  seinem  Namen  erschienen ;  die  'Musikalischen  Dialogen',  sind  erst  1805  zu  Altenburg 
von  Arnold  herausgegeben  worden.  Anderes,  wie  namentlich  'Fiormona',  Berlin  1794  uo. 
(von  Meyer,  dem  Biographen  Schroeders  §  163,  19)  hat  man  Heinse  mit  Unrecht  aufge- 
bürdet, ebenso  einige  Gredichte  von  Rost  (§  148,  vor  Anm.  78)  welche  noch  in  Heinses 
sämtliche  Schriften,  hg.  von  H.  Laube,  Leipzig  1838,  X,  aufgencmmen  wurden.  87)  Be- 
gebenheiten   des   Enkolp,    II,    Rom  (Schwabach)  1773  nö.  88)  Über   die  'Büchse'  s. 


486  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVIII  JATHIH.  §  160 

1774  einen  Roman  Laidion  oder  die  cleusinischen  Geheimnisse'  erscheinen 
mit  angehängten  Ottavorimcn,  deren  Kunst  von  Goethe  bewundert  wurde, 
wfehrend  Wieland  den  allzu  siunlicii  freien  Inhalt  herb  tadelte.  J.  G.  Ja- 
cubi  entführte  damals  Heinse  als  Mitarbeiter  seiner  Iris'  nach  Düsseldorf. 
Hier  gewann  er  durch  ebenso  begeisterte  als  anschauliche  Beschreibungen 
der  Düsseldorfer  Gemaddegallerie*'-'  ein  neues  Gebiet  der  Kunstachriftstellerei, 
in  welcher  er  namentlich  die  Landschaftsmalerei  gegen  Winckelmann  und 
Lessing  zur  Geltung  brachte.  1780—83  verweilte  er  in  Italien,  mit  Maler 
Müller  und  Klinger  befreundet  und  mit  der  Vollendung  der  schon  früher 
begonnenen  Prosaübersetzungen  des  Tasso  und  seines  Lieblings  Ariost  be- 
schäftigt.'*' Wie  er  in  seinen  Reisebriefen  die  Naturschoeuhciten  der  Schweiz 
und  Italiens  mit  glühenden  Farben  gemalt,"'  so  verwertete  er  seme  Kenntnis 
der  italienischen  Kunst  in  seinen  Romanen  und  gefiel  damit  namentlich  am 
kurmainzischen  Hof,  dem  er  seit  1787  bis  an  seinen  Tod  zu  Aschaffenburg 
1808  als  Vorleser  und  Bibliothekar  angehcerte.  In  'Ardinghello  und  die 
glückseligen  Insehr,  II,  Lemgo  1787  uö.  stellte  er  die  Malerei  dar,  in  Hil- 
degard von  Hohenthar,  Berlin  1795 — 96,  III,  die  Musik:  in  dieser  Kunst 
war  er  selbst  ebenso  Meister  wie  im  Schachspiel,  das  er  in  Anastasia',  Frank- 
furt 1803,  geistreich  besprach.  Weniger  Lob  erwarb  ihm  die  Composition 
dieser  Kunstromane:  üppige  Scenen,  die  im  freien  Leben  und  Lieben  grie- 
chischer Seeraeuber  ■*'^  gipfeln,  verherrlichen  die  Kjaft,  welcher  alles  erlaubt  ist. 

§  160. 
Über  die  Dichtergenossen  des  Sturmes  und  Dranges  erhob  sich  Goethe: ' 
er  leistete  was  jene  zu  leisten  wünschten,-  er  ward  ihr  Vorbild,  vielfach  ihi-e 
Stütze,  bis  er  weiter  schreitend  sich  von  ihnen  trennen  musste.  Seine  Bahn 
führte  ihn  dann  aber  auch  auf  den  Gipfel  der  neueren  deutschen  Dichtung, 
ja  der  deutschen  Dichtung  überhaupt  und  an  einen  der  Hoehepuncte  der 
Dichtung  aller  Zeiten  und  aller   Völker.      Und  nicht    nur   die   Dichtung ,   die 

§  150,  18.  155,  42.  89)  Jetzt  in  München.  90)  'Das  befreyte  Jerusalem'  erschien 

zu  Mannheim  1781,    Roland  der  wütende'  Hannover  1782 — 83.  91)  Vgl.  die  Characte- 

ristili  Heinses   von  K(Enii(  Ludwig  LB.  3.    1507.  92)   Dieser  Schluss  des  Ardinghello 

ist  übrigens  von  Rousseaus  Emil  beeinflusst. 

§  160.  1)  Als  bibliographisches  Hilfsmittel  dient  besonders:  'Saloraon  Hirzels  Verzeichnis 
einer  Grethebibliothek  mit  Nachtrsegen  und  Fortsetzung'  hg.  v.  Ludwig  Hirzel,  Leipzig  1884. 
Weitere  Beiträge  und  Nachtraege  von  G.  v.  Loeper  und  W.  v.  Biedermann  in  Schuorrs 
An-hiv   5 — 15;    von    L.  Geiger   in   dem  G(Pthejahrbuch   1  fgg.  (188U  fgg.)  2)  Worte 

Go-thes    über    Raphael :    Tagebuch    der    Ital.    Reise,    Weimarer    Ausgabe    111    1    S.   3().^. 


§  IGO  GCETHE.  487 

Ergebnisse  fast  des  gesamten  geistigen  Lebens  vor  und  in  seiner  Zeit  nahm 
er  in  sich  auf,  mit  einer  Fassungskraft  und  einem  Aneignuugsvermoegen,  wo- 
für die  Weltgeschichte  wenige  Beispiele  bietet.  Freilich  ward  dies  nur  da- 
durch moeglich,  dass  ihm  eine  ungewoehnlich  lange  Lebenszeit  beschieden 
war  und  dass  das  Glück  ihn  von  Anfang  an  bis  zuletzt  wunderbar  be- 
günstigte.^ 

Gerade  darin  aber  lag  die  dichterische  Bedeutung  Goethes  dass  er  in 
seiner  Dichtung  rein  abspiegelte,  was  sein  glückliches,  reiches  Leben  ihm 
darbot,  dass  er  die  Wirkhchkeit  auf  das  tiefste  durchschauend,  die  in  ihr 
liegende  Poesie  auf  das  lebhafteste  empfand  und  in  vollendeter  Gestaltung 
wiederum  darstellte,  darin  also  dass  er  seinen  Werken  die  stärkste  Objek- 
tivitset  verlieh.  Indem  er  den  Blick  auf  das  Menschliche  überhaupt  richtete, 
zunaechst  aber  die  ihn  umgebende  deutsche  Volksnatur  in  deutscher  Sprache 
zum  Ausdruck  brachte,  ward  er  unser  groesster  deutscher  Dichter :  ohne  ihn, 
sagt  Jacob  Grimm,*  könnten  wir  uns  nicht  einmal  recht  als  Deutsche  fühlen. 
Und  ein  glückliches  Geschick  verband  ihn  auf  dem  Hoehepuucte  seines  Le- 
bens, noch  in  voller  Schaffenskraft  und  doch  bereits  der  ungestoerten  Betrach- 
tung ftehig  und  geneigt,  mit  dem  jüngeren  Dichter,  der  ihn  noch  zu  ergänzen 
vermochte:  mit  Schiller  vereint  bezeichnet  sein  Name  eine  Stufe  unserer  Bil- 
dung, welche  die  Folgezeit  nur  immer  wieder  sich  vor  Augen  zu  stellen  und 
nachtrachteud  zu  erreichen  hat  suchen  können. 

Schiller  war  nicht  der  emzige  Dichter,  mit  welchem  Goethe  in  perscen- 
licher  Verbindung  stand:  nur  wenige  der  hervorragenden  Zeitgenossen,  unter 
ihnen  allerdings  Lessing,  lernte  er  nicht  selbst  kennen.  So  mancher  gleich- 
zeitige Schriftsteller  empfing  nur  durch  die  Berührung  mit  Goethe  seine 
litterarhistorische  Bedeutung.  Ausserdem  sind  zahlreiche  Personen  eben  des- 
halb und  nur  deshalb  wichtig  geworden  dass  sie  auf  Goethe  einwirkten 
und  in  seinen  Werken  Erwsehnung  oder  dichterische  Verwendung  fanden. 
Denn  selbst  seine   groesseren   Dichtungen    sind   vielfach  durch   seine    Lebens- 


3)  Goethes  Leben  bis  177.5  von  ihm  selbst  beschrieben  s.  Anm.  98.  Vollständige  Biographien 
von  H.  Viehotf'.  Stuttgart  1847— .54  uö.  J.  AV.  Scha-fer.  Bremen  1851  iiö.  G.  H.  Lewes 
The  lit'e  and  the  works  of  G.,  London  18.55  uö.  übersetzt  von  J.  Frese,  Berlin  1857.  58  uö. 
A.  Mezieres,  W.  Goethe.  Paris  1872.  73,  IL  K.  Goedeke,  Goethes  Leben  und  Schriften, 
Stuttgart  1874.  ^77.  H.  Grimm,  Vorlesungen  über  GfPthe,  Berlin  1876,  *87.  H.  Düntzer, 
Goethes  Leben,  Leipzig  1880.  ^83.  —  H.  RoUett,  die  Gffithebildnisse.  Wien  1883.  F.  Zarnrke, 
Kurzgelasstes  Verzeichniss  der  Originalauf'nahmen  von  Goethes  Bildnissen.  Leipzig  1888 
(Abh.  d.  Sachs.  Ges.  d.  Wiss.  XI,  1).  4)  Vorwort   zu   der   Geschichte    der  deutschen 


488  NEUiroCIinElJTSCHE  ZEIT.         XVIir  JAlIUir.  §  1(>0 

ortUhruiigon  hotliiif^t  und  liiibcn  ihm  dazu  {gedient  sich  von  übormäc-htigen  Htiin- 
nmngen  dadureli  tVci  /u  nmchen,  tiass  er  sie  aussprach  und  künstlerisch  fjc- 
staltete.  Gopthcs  Dichtung  und  sein  Lel)en  stehen  in  einem  so  innigen  Zu- 
sammenhang dass  die  Geschichte  s(Mner  Werke"*  sich  an  die  Entwickelungs- 
stufen  seines  Lebens  anschliesscn  muas. 

Drei  Abschnitte  dieses  Lebensganges  lassen  sich  unterscheiden,  jeder 
wieder  in  zwei  Unterabteilungen  zerlegbar:  seine  Jugend,  zunächst  bis  zur 
Übersiedelung  nach  Weimar  1775,'"  dann  bis  zur  Rückkehr  aus  Italien  1788; 
sein  M;innosalter  bis  zur  Bekanntschuft  mit  Schiller  1794  und  wieder  bis  zu 
dessen  Tod  1805;  seine  Greisenjahre  bis  zum  Freiheitskriege  1813  und  von 
hier  ab  bis  an  seinen  Tod  1882. 

Johann  Wolfcjan«  von  G(ethe  war  geboren  am  28.  August  1749  zu 
Frankfurt,  als  8ohn  eines  kaiserlichen  Rates,  als  Enkel  des  StJidtschultheissen 
Textor.  Mehr  als  der  etwas  steife  Vater  gewann  die  naive,  heitere,  auch 
für  die  litterarischen  Freundschaften^  ihres  Sohnes  begeisterte  und  tha3tige 
Mutter  Katharina  Elisabeth^  (1731 — 1808)  seine  dauernde  Liebe.  Grossen- 
teils im  Hause  erzogen,  zusammen  mit  der  jüngeren  Schwester  Cornelia,  der 
spseteren  Gattin  Schlossers,  liess  er  doch  die  altertümliche,  zu  Zeiten  sehr 
belebte  Vaterstadt  stark  auf  sich  einwirken:  er  erlebte  die  Besetzung  Frank- 

Sprarbc.  5)  'ficrthens  Si-hriften*  wurden    zuerst  von  einem  Nar-hdrucker,    Himhurt:^  in 

Berlin  gesammelt,  1775 — 79,  IV:  ein  Nachdruck,  den  Goethe  selbst  spjeter  seinen  eigenen 
Ausgaben  mehrfaeh  zu  Grunde  legte:  sodann  von  Schmieder  in  Karlsruhe  u.  a.  Die  erste 
rechtmsessige  iSammlung  erschien  Leipzig  1787—90,  VIII;  'Neue  Schritten",  Berlin  1792  bis 
18(X),  VII.  '(iopthes  Werke',  Tübingen  1806—10,  XIII;  Stuttgart  u.  Tübingen  1815—1!»,  XX; 
'Gcpthes  Werke,  vollständige  Ausgabe  letzter  Hand',  ebd.  1827—30,  XL:  'Nachgelassene 
Werke'  ebd.  1832— ,34.  XV;  zu  dieser  Ausg.  in  16"  kam  eine  in  8"  hinzu:  1827—1842,  LX. 
Seitdem  zahlreiche  Ausgaben.  Abschliessende  Textbehandluncr  in  der  zu  Weimar  seit  1877 
'im  Auftrage  der  Grossherzogin  Sophie  von  Sachsen'  und  mit  Benutzung  des  ihr  1885  von 
GfPthes  letztem  Enkel  Walther  von  Gcethe  vermachten  Goethearchivs  besorgten  Ausgabe, 
I  Abteilung:  Werke;  II  Abt.  Gfcthcs  Naturwissenschaftliche  Schriften:  III  Abt.  Goethes 
Tagebücher:  IV  Abt.  Goethes  Briefe.  Ein  Verzeichnis  der  Briefe  Goethes  von  F.  Strehikc. 
Berlin  1881,  II.  Goethes  Gesprseche  hat  W.  v.  Biedermann.  Leipzig  1889—91,  IX,  gesam- 
melt. 6)  Seine  Briefe  und  Dichtungen  1764  —  76  fasst  zusammen  Der  junge  Goethe", 
mit  einer  Einleitung  von  M.  Bcrnavs.  Leipzig  1875,  III.  Vgl.  dazu  W.  Scherer,  Aus  Goethes 
Frühzeit.  QF.  34,  Strassburg  1«79.  J.  Minor  u.  A.  Sauer,  Studien  zur  Goethephilologie, 
Wien  1880.  7)  Nach  der  Mutter  der  Hairaonskinder  wurde  sie  'Frau  Aja'  genannt: 
das  <T(ethische  Haus  hiess  wegen  der  vielen  Besuche  die  casa  sanUi  (zu  Bethlehem). 
8)  Briefe  von  (icptbes  Mutter  an  die  Herzogin  Anna  Amalia'  als  I.  Band  der  'Schriften 
der  Goptbegeseliscliafl".  Weimar  1885;  Briefe  an  ihren  Sohn,  Christiane  u.  August  v.  G(jethe. 


§  IGÜ  GCETHES  JUGEND.  489 

furts  durch  die  Franzosen    1759,    wobei   er  auch    das    franzccsischc    Theater 
kennen  lernte,  und  die  Kncnung  Joseph  II    zum  roemischen  Koenige  ^  176-1. 

Dann  begab  er  sich  um  die  Rechte  zu  studieren  im  Herbst  1765  auf 
die  Universitfet  Leipzig,  wo  er  noch  Gottsched  sah ,  Geliert  beerte  und  bei 
Oeser,  dem  Freunde  Winckelmanns,  zeichnete. '°  Hatte  er  schon  in  Frank- 
furt gedichtet,"  so  fand  er  in  der  Leipziger  Geselligkeit  Anlass  zu  spielen- 
den, aber  bereits  formvollendeten  Liedern  zum  Teil  nach  franzcesischem 
Muster,  welche  1769  mit  den  Melodien  gedruckt  wurden. '^  Gleichzeitig  ver- 
fasste  er  dramatische  Versuche  in  Alexandrinern:  'die  Laune  des  Verliebten, 
ein  SchseferspielV^  für  Kätchen  Schoenkopf  gedichtet,  die  muntere  Tochter 
seines  Speisewirts  in  Leipzig,'*  die  er  mit  seiner  Eifersucht  plagte;  und  die 
MitschuldigeuV^  worin  sich  eine  bedenkliche  Kenntnis  der  Unsittlichkeit  bür- 
gerlicher Kreise  '^  kundgibt.  Mit  zerrütteter  Gesundheit  kehrte  er  im  Herbst 
1768  in  das  Vaterhaus  zurück,  wo  er  waehrend  der  langwierigen  Heilung 
sich  den  frommen  Mahnungen  der  herrenhutisch  gesinnten  Fraeulein  von 
Klettenberg  '^  hingab.  '^ 

Erst  Ostern  1770  konnte  er  seine  Studien  fortsetzen.  In  Strassburg, 
wo  er  die  Universitset  besuchte,  gewann  er  die  jugendliche  Kraft  wieder,  die 
seitdem  seiner  rastlosen  und  vielseitigen  Thaetigkeit  genügte.  Er  besuchte 
neben  den  juristischen  auch  die  medicinischen  Vorlesungen;  er  studierte  den 
Münsterbau,  worüber  er  bald  nachher  eine  begeisterte  Schrift  'Von  deutscher 
Baukunst'  veröffentlichte.'^  Die  franzoesische  Kultur  trat  zurück,  die  deutsche 
Biederkeit    der  Elsässer   lernte   er    in   dem    Kreis    des  Actuarius  Salzmann'-" 

3.  Bd.,  W.  1889.  Vgl.  auch  K.  Heinemann,  Goethes  Mutter,    Leipzig  1891.  9)  LB.  3, 

609  fgg.  10)  Briefe  aus  Leipzig:    Goethejahrh.  VII,    5  t'gg.  11)  Erhalten  ist: 

'Poetische  Gedanken    über    die  Höllenfahrt   Jesu  Christi',    1765.  12)    Neue    Lieder    in 

Melodien  gesetzt  von  B.  Th.  Breitkopf',  Leipzig  1770.  13)  Gedruckt  erst  in  den  Wer- 

ken 1806.  14)  0.  Jahn,  Goethes  Briefe  an  Leipziger  Freunde,  Lpz.  1849.  15)  Leipzig 
1787.  16)  Vielleicht  liegt  dem  Gegenstand  die  Gretchenepisode  zu  Grunde  .    die  er  im 

Sommer  1764  noch  in  Frankfurt  erlebt  hatte.  S.  Wahrheit  u.  Dichtung  V.  Buch,  und 
Scherer,    Aufsätze  über  Goethe,  Berlin    1886,    S.  29  fgg.  17)  Reliquien  der  Fräulein 

Susanna  Katharina  von  Klettenberg  nebst  Erlceuterungen  hg.  v.  J.  M.  Lappenberg,  Ham- 
burg 1849.  Sie  ist  'die  schöne  Seele'  im  Wilhelm  Meister.  18)  Aus  dieser  und  der 
Strassburger  Zeit  stammen  auch  die  Ephemerides,  s.  Seutferts  D.  Lit.-denkm.  14.  Heilbronn 
1883.  19)  Sie  erschien  in  Herders  Samml.  'Von  deutscher  Art  und  Kunst'  1773  (§  157,  32; 
Lit.-denkm.. 40.  41),  LB.  .3,  545.  Hier  S.  551, 15  Goethes  damaliges  Kunstprincip:  die 'characte. 
ristische  Kunst  ist  die  einzig  wahre".  20)  Salzmanns  'Kurze  Abhandlungen  über  einige 
wichtige  Gegenstände  aus  der  Eeligionslehre'  erschienen  Frankfurt  1776,  durch  GtPthe  be- 
sorgt, wie  er  auch  Jung-Stillings  Jugendgeschichte  in  den  Druck  gegeben  hatte  (§  159,  68). 


400  NEUirOCHDEUTSCIIE  ZEIT.        XVIII  JAIIRII.  §  100 

lieben.  Herders  Lehre,  der  er  sich  trotz  ihres  lierben  Ausdrucks  willig  un- 
terordnete, wies  ihn  auf  die  enpjlische  Tiittciatur,  auf  das  Volkslied  hin:  für 
Herder  sammelte  er  elsässisdie  Volkslieder.'-'  Der  Erfolg  dieser  Unter- 
weisung ward  sofort  an  den  erst  tändelnden,  dann  leidenschaftlichen  Liedern 
ottcnbar,  welche  Goethe  seit  Herbst  1770  an  Friederike  Urion,  die  Tochter 
«les  Pfarrers  zu  Öescnheim  --  richtete.  So  tief  aber  auch  ihn  diese  Liebe  er- 
fasste,  früh  fühlte  er  ihre  Aussichtslosigkeit.  Kach  der  Piomotion  zum  Li- 
centiatcn  am  (>.  August  1771   kehrte  er  nach  Frankfurt  7Airück. 

Hier  blieb  er  bis  in  den  Herbst  1775,  abgesehen  von  einem  Aufenthalt 
in  Wetzlar,-^  wo  er  vom  Mai  bis  September  1772  am  Reichskamraergericht 
arbeitete,  und  abgesehen  von  zahlreichen  Ausflügen,  die  ihn  schon  vorher 
nach  Darmstadt  und  von  Wetzlar  aus  nach  Giessen ,  im  Herbst  1772  nach 
Elirenbreitstein  zu  Frau  von  La  Roche-'  führten,  abgesehen  ferner  von  der 
Rheinreise  mit  Lavater-'  und  Basedow  zu  Jung  und  Jacobi-'*  im  Juli  1774 
und  der  Schweizerreise-"  mit  den  Brüdern  Stolberg  von  Mitte  Mai  bis  An- 
fang Juli  1775.  Seine  Sachwaltergeschäfte  betrieb  er  inzwischen  mit  Hilfe 
des  Vaters -'■*:  sie  Hessen  ihm  Müsse  genug  zur  lebhaftesten  und  mannigfal- 
tigsten schriftstellerischen,-'-'  künstlerischen  und  geselligen  Tha3tigkeit.  In 
Frankfurt  sammelte  sich  ein  Kreis  gleichstrebeiider  Jugeudgenossen  um  ihn; 
Besuche  von  allen  Seiten,  auch  fürstliche  Personen  stellten  sich  bei  ihm  ein: 
unter   den  Dichtern  selbst  Klopstock  auf  dem  Weg  nach  Karlsruhe  im  Herbst 

1774  und  auf  der  Rückreise  im  März  1775.  Maedchen  und  Frauen  kamen 
dem  schoenen  und  hinreissend  liebenswürdigen  Jüngling  entgegen^".   Zu  Ostern 

1775  verlobte  er  sich  mit  der  reizenden  und  characterfesten  Elisabeth  Schcene- 
mann,*'  sah  aber  diese  Verbindung,    die   einzige,   welche   ihn    wohl   dauernd 

21)  S.  die  Ausgabe   der   Ephemerides  Anm.  18.  22)  Das  'Sesenheimer  Idyll':    so    ist 

diese  in  Wahrheit  und  Dichtung  wundervoll  geschilderte  Liebesgeschichte  zuerst  von  August 
Stoeber  genannt  worden,  s.  §  159.  -8.  Das  Thatsächliche  hat  am  besten  Phil.  Ferd.  Lucius, 
Friederike  Brion  von  fSessenheiiu .    .Strassburg  1877,    erörtert.  23)   U'.  Herbst.  'Goethe 

in  Wetzlar  1772',  (jotha  1881.  24)  Briefe  GtBthes  an  Sophie  von  la  Roche  und  Bettina 

Brentano  hg.  von  G.  v.  Lcpper,    Berlin  1879.  25)  'Goethes  Anteil    an    Lavaters  Phy- 

siognomischen  Fragmenten'  von  E.  von  der  Hellen,  Frankfurt  a.  M.  1888.  26)  §  159,  78. 
Vgl.    auch    Briefe    von    Ga»the    an    Johanna    Fahlmer,    hg.    v.   L.    ürlichs,    Leipzig    1875. 

27)  Vgl.   bes.    L.   Hirzel,    (iipthes    Beziehungen    zu    Zürich.    Leipzig    (,und    Zürich)    1888. 

28)  G.  L.  Kriegk,  Deutsche  Ivulturbilder,  Lpz.  1874,  Anhang  S.  263—517.  29)  Auch 
an  den  'Frankfurter  gelehrten  Anzeigen'  des  J.  1772  beteiligte  er  sich  lebhaft:  §  159,  73- 
30)  Auch  die  Schwester  des  Grafen  Stolberg  trat  mit  Goethe  in  den  innigsten  Gedanken- 
austausch, ohne  ihn  je  selbst  zu  sehen:  Gcsthes  Briefe  an  die  Graetin  Auguste  zu  Stolberg, 
L|>z.  18:'>9.    -'1881  ^mit  Anm.  von   W.  Arndt).             31)  17.J8— 1817;    1778  verheiratet  mit. 


§  160  G(ETirES  JUGENDDICHTUNG.  491 

glücklich  hätte  machen  können,  durch  die  Abneigung  der  Verwandten  auf 
beiden  Seiten  sich  mehr  und  mehr  lockern,  bis  der  Herbst  sie  völlig  loßste. 
Diesem  Verhältnisse  vor  allen  entquollen  die  seelenvollsten  Lieder:  durfte 
Goethe  doch  von  seiner  Lyrik  besonders  sagen  dass  er  nur  gedichtet  habe 
was  er  fühlte,  dass  seine  Lieder  durchaus  Gelegenheitspoesie  seien.  Sangbar 
und  von  Lili  selbst  gesungen  stehen  diese  Lieder  mehr  kunstmaesslg  neben 
den  volkstümlichen  Balladen  ^"^  und  neben  den  Hymnen,  welche  in  freien 
kurzen  Versen  nach  Klopstocks  und  teilweise  auch  Pindars  Vorbild  begeistert 
aussprechen,  wie  den  Wanderer  die  Natur,  den  Künstler  die  Kunst -'^  ent- 
zückte und  vor  allem  wie  der  trotzige  Jüngling  auch  dem  übermächtigen 
Schicksal  gegenüber  seine  Freiheit  und  Kraft  fühlte.  Die  Hymnen  dieser 
letzten  Art,  Prometheus  und  Mahomet,^^  sind  Stücke  aus  unvollendeten 
Dramen;  von  anderen  damals  geplanten,  Sokrates  und  Caesar,  sind  nur  wenige 
Worte  erhalten.  Dagegen  führte  Goethe  gleich  nach  der  Rückkehr  nach 
Frankfurt  1771  das  Drama  aus,  welches  ihn  sofort  in  ganz  Deutschland  als 
einen  der  ersten  Dichter  erscheinen  liess,  'Die  Geschichte  Gottfriedens  von 
Berlichingen  mit  der  eisernen  Hand  dramatisiert'  nach  der  1731  gedruckten 
eigenen  Lebensbeschreibung  des  alten  Ritters :^^  von  der  erstaunhchsten  Natur- 
wahrheit in  der  Zeichnung  vor  allem  der  naiven  Charactere  und,  wie  es  da- 
mals schien,  auch  geschichthch  treu,  in  Wirklichkeit  aber  gefärbt^''  durch 
die  in  Herder,  Moeser,  Schlosser  hervorbrechende  Vorliebe  der  Zeit  für  ein- 
fache und  ursprüngliche  Zustände.  In  der  Form  aber  war  Goethe  noch  über 
das  Vorbild  des  von  ihm  lebenslang  verehrten  Shakespeare^^  hinausgegangen : 
so  zerstückelt  konnte  das  Drama  nicht  zur  Aufführung  gelangen.  Auf  Her- 
ders Mahnung  arbeitete  Goethe  es  daher  um,  drängte  zusammen  und  verband, 
beseitigte  allzu  Kühnes  und  liess  1773  sein  Schauspiel  Götz  von  Berlichingen 
mit  der  eisernen  Hand'  im  Selbstverlag  erscheinen.  Für  die  späteren  Auf- 
führungen gestaltete  er  es  noch  mehrmals  um,  nicht  immer  mit  Glück. ^'^  Un- 
veröffentlicht   blieb    dagegen    die    Urgestalt    des    zweiten    Hauptdramas    aus 

dem  Strassburger  B.  F.  von  Türckheim.  Vgl.  Lillis  Bild  von  Graf  F.  E.  von  Diirckheim, 
Nördliugen  1879.  Sie  uauute  spteter  Goethe  den  .Schöpfer  ihrer  inuraliseheu  Existenz,  wozu 
G(üthes    Worte    (Sulpiz    Boisseree ,    1862    1,    28«)    stimmen.  32)    LB.    2.    1089    fgg. 

33)  Künstlers  Morgenlied  und  Abendlied  (dies  gereimt).  Kenner  und  Künstler.  34)  LB.  2, 
1Ü98.  35)  §  108,    38.  36)  So    entbehrt    namentlich    die    Auflassung  Luthers  als 

Bruder  Martin  der  Tiefe  und  Richtigkeit:  LB.  8,  553  iss-  37)  Eine  begeisterte  Rede 

(rij^thes  zu  Shakespeares  Geburtstag  1771.  s.  D.  junge  G.  2.  39  fgg.  Shakespeare  und  kein 
Ende'  (zuerst  im  Morgenblatt  1815)  LB.  3,  673.  38)  Paralleltexte  in  'Goethes  G.  v.  B. 


492  NEiniOnirnEUTSCIIE  ZEIT.     XYITI.  JAIirur.  §  100 

Oflpthes  Sturm-  und  Diangzeit,  aeines  Faust.  Sic  nnthielt,  ausser  den  Bo- 
schwau'uugssecnon  und  dem  Studoutonspass  in  Auerbaclis  Keller  vor  allem 
die  ent/Äickeude,  erschütternde  Gretclientragüßdic.'''  Dagegen  zeigte  sich 
(icvthe  auch  der  leichteren  Aufgabe  gewachsen  ein  bürgerliches  Trauerspiel 
für  die  Bühne  zu  gestalten:  sein  Olavigo'',  Leipzig  1774,  dramatisierte  ein 
Stück  der  Memoiren  des  noch  lebenden  Beaumarchais.*"  Von  der  Wieder- 
holung einer  solchen  rasch  hingeworfenen  Leistung  schreckte  ihn  Mercks 
scliarfe  Mahnung  ab.  Dem  eigenen  Herzen  entsprang  seine  Stella,  ein 
Schauspiel  für  Liebende',  Berlin  1776,  worin  die  Doppelehe  des  Grafen  von 
Gleichen  als  Rettung  aus  einem  Verliältnisse  erscheint,  welches  mit  Zügen  aus 
der  unmittelbarsten  Gegenwart  und  Wirklichkeit  ausgestattet  ist :  das  Ärgernis 
dieses  Ausgangs  suchte  er  später*'  durch  Selbstmord  des  Doppcltvermsehlten 
zu  sühnen.  Jjeichte  Singspiele  wie  Erwin  und  Elmire',*^  'Claudine  von 
Yillabella'  * '  haben  ebenso  die  offenste  Darlegung  weiblichen  Fühlens  und 
Thuns  zum  Hauptgegenstand.  Noch  einen  Ton  tiefer  griff  Goethe  in  den 
satirischen,  oft  sehr  derben  Lustspielen,  mit  denen  er  die  empfindsame  Schcen- 
fiirberei  hier,  die  grobe  Naturschwärmerei  dort  mit  beissendem  Witze  be- 
kämpfte:** jenes  im  'Schoenbartspiel:  Jahrmarktsfest  zu  Plundersweilen'  und 
im  'Fastuaciitspiel:  Vom  Pater  Brey',*'^  vor  allem  aber  in  der 'Farce:  Götter, 
Holden  und  Wieland',  Leipzig  1774,  worin  er  Wielands  Selbstlob  seiner  ge- 
fühlvollen Alceste  der  des  Euripides  gegenüber  lächerlich  machte;  dies  in 
'Satyros  oder  der  vergötterte  Waldteufel',*''  womit  doch  wohl  hauptsächlich 
Basedows  Übertreibung  Rousseauscher  Ideen  getroffen  werden  sollte.  GcEthes 
Satire  war  seine  Zuflucht  vor  der  übergewaltigen  Unruhe,  mit  welcher  sein 
Treiben,  sein  Sehnen  nach  Vollendung  ihn  erfüllte.  Wie  schwer  und  trüb 
dies  Sehnen  auf  ihm  lastete,  wie  schmerzlich  er  die  Schranken  empfand, 
welche  Herkommen  und    Übereinkommen    in  Sitte  und   Meinung  und  zuletzt 

in  dreifacher  Gestalt',  hg.  v.  .1.  BaKchtold,  Freibur^  i.  B.  u.  Tübiugen  1882.  39)  Diese 

Urgestalt  ward  erst  bekannt  durch  'üunthes  Faust  in  ursprünglicher  (testalt  nach  der  (xöch- 
hausenschen  Abschrift  hg.  v.  Erich  Schmidt",  Weimar  1887.  40)  S.  bes.  A.  Bettelheim, 

Beaumarchais.     Eine  Biographie.     Frankfurt  1886.  41)  Zuerst   bei    den  Aufführungen 

180(>.  42)  Zuerst  in  der  Umarbeitung  nach  der  ital.  Reise  erschienen:    Leipzig  1788. 

43)  Ein  Schauspiel  mit  Gesang'  Berlin  1776;  umgearbeitet  als  'Ein  Singspiel'  Leipzig  1788. 

44)  Nicht  weniger   scharf  sind  Gu'tlies  Kecensionen    in    den   Frankf.  gel.  Anz.  (§  l;')!),   73). 

45)  Beide  zuerst  in  'Neueröönetes  moralisch  politisches  Puppenspiel',  Leipzig  u.  P^-ankfurt 
1774.  Pater  Brey  verspottet  den  Elsässer  Franz  Leuchseuring  (geb.  1746  zu  Langenkandel, 
ge.^t.  1827  zu  Paris),  der  als  Vermittler  der  empfinflsamen  Seelen  damals,  um  ITSä  in  Berlin 
als  Aufspürer  des  Kryptokatholicismus   eine   gewisse  Kolle   spielte.  46)  Zuerst  in  den 


§  160  GCETHE  IN  WEIMAR.  493 

die  ganze  Wirklichkeit  des  Lebens  seinem  Wünschen  und  Streben  entgegen- 
setzten, sprach  sein  Roman  mit  hinreissender  Beredtsamkeit  aus:  durch  'die 
Leiden  des  jungen  Werthers',  Leipzig  1774,'*^  ward  die  trübe  Stimmung  der 
Zeit*^  entzündet,  wie  durch  ein  schlagendes  Wetter,  und  der  Dichter  mit 
einem  Male  weltberühmt.^^  Allerdings  knüpfte  er,  auch  in  der  Briefform,  an 
Rousseaus  Noiweüe  Helo'ise  1759  an;^"  aber  er  gab  seiner  Erzselilung  die 
unmittelbarste  Wirklichkeit  durch  Einflechtung  eigener  Erlebnisse,  teils  aus 
der  Wetzlarer  Zeit,  wo  er  in  Kestners  Braut  Lotte  Buff  sich  verliebt  hatte,'"' 
teils  aus  der  spaeteren,  wo  er  in  Frankfurt  der  an  den  Kaufmann  Brentano 
verheirateten  MaKimiliane  la  Roche  nahe  stand,  und  durch  Benutzung  des 
Berichts,  den  ihm  Kestner  über  den  Selbstmord  des  jungen  Jerusalem''^  ge- 
geben hatte.  Auch  Werther  erfuhr  spseter  eine  Erweiterung  durch  sorgfäl- 
tiger motivierende  Episoden.  ^^ 

Aus  den  mehrfach  unerquicklichen  Verhältnissen  in  seiner  Heimat  folgte 
Gcethe  1775  einer  Einladung  des  jungen  Herzogs  Karl  August^*  nach  Weimar, 
wo  er  am  7.  November  eintraf.  Zuneechst  entzückte  er  den  fürstlichen 
Freund  durch  Teilnahme  und  Anleitung  in  den  Äusserungen  überschieumender 
Jugendlust,  zeigte  sich  aber  mehr  und  mehr  als  treuer,  einsichtsvoller  Berater 
auch  bei  den  ernsten  Regentenpflichten. ^^  Im  Juni  1776  ward  er  zum  Gre- 
heimen  Legationsrath  ernannt,  1782  zum  Kammerpreesidenten  und  gleichzeitig 
geadelt.    Bald  waren  die  gehässigen  Ausstreuungen  der  Hofleute  und  Beamten'''^ 

Werken  1817  erschienen.  47)  LB.  3,  575  fgg.  48)  Den  Werther  in  der  Tasche 

ertränkte  sich  die  nnglücklich  liebende  Frl.  von  Lassberg  1778  nahe  bei  Cxoethes  tfarteu- 
haus:    darauf  bezieht  sich  sein  Lied  'An  den  Mond'  LB.  2,   1080.  49)  J.  AV.  Appell. 

Werther  und  seine  Zeit.  3.  Aufl.  Oldenburg  1882,  verzeichnet  die  zahlreichen  Übersetzungen, 
Nachahmungen,  Parodien  in  deu  verschiedensten  Sprachen.  Besouders  ärgerte  sich  Grcethe 
über  Nicolais  cynische  'Freuden  des  jungen  Werthers.  Leideu  uud  Freuden  Werthers  des 
Mannes',  Berlin  1775.  50)  Erich  Schmidt,  ßichardsou,  Rousseau  und  (Tcjethe.  Lpz.  1875. 

51)  A.  Kestner,    Uoethe    und   Werther.     Stuttgart  u.  Tübingen    1854.  52)  §  151,  52. 

53)  Zuerst  Leipzig  1787.  54)  Geb.  1757,  gest.  1828  hatte  Karl  August  bis  1775  unter 

Vormundschaft  seiner  Mutter  Anna  Amalia  gestanden.  Briefwechsel  des  Grossherzogs  Carl 
August  von  Sachsen-Weiniar-Eisenach  mit  Gtjethe,  II,  Weimar  1863.  Über  die  erste  Be- 
gegnung des  Herzogs  mit  Gcjethe  s.  Anm.  66.  55)  Die  allmtehlige  Umwandelung  des 
jungen  Herzogs  schildert  G«thes  Gedicht  'Ilmenau  1783'.  Besouders  hatte  eine  gemeinsame 
Schweizerreise  Ende  1779  dazu  beigetragen.  56)  Besonders  feindlich  war  der  frühere 
Erzieher  des  Herzogs  gegen  Goethe  gesinnt,  Graf  Görz.  Von  den  hu-heren  Beamten  war'il 
der  Minister  von  Fritsch  allmaihlich  umgestimmt:  s.  C.  v.  Beaulieu  -  Marconnay ,  Anna 
Amalia,  Carl  August  uud  der  Minister  von  Fritsch,  Weimar  1874.  Über  Gu'the  als  Staats- 
und Geschäftsmann  s.  Ad.  Scholl,  Goethe  in  Hauptzügen  seines  Wirkens,  Berlin  1882,  98—279. 


4!M  NEUlKHMIDKlTTSrilE  ZEIT.         XVIII.  JAIIlill.  i?  1(10 

über  don  Eindrini^liiij^  vorstinntnt,  dor  sich  auch  den  trockensten  OeBchät'ten, 
dorn  Wo<j;obau,  der  llekruteniiuühehiinn;  mit  l'üiictliclikeit  widmete  und  den 
Hergbiiu  in  Ilmenau,  wenn  auch  oline  bleibenden  Ertoli^,  wieder  erötint^te, 
spu'ter  auch  ilen  Aut'tra^i^en  des  Herzogs  an  anderen  H(Jofen  sich  mit  Ge- 
wandtheit unterzog.  In  der  Umgebung  der  turstUchen  Frauen  förderte 
Charlotte  von  Stein  ^'  seine  Dichtung  tlurch  innige  und  verstäntlnisvolle  Teil- 
nahme. Wieland  war  gleich  bei  (icethes  Eintreffen  von  ihm  bezaubert  wor- 
den; Herder,  dessen  Berufung  177(5  Goethe  erwirkt  liatte,  stand  ihm  besonders 
in  den  achtziger  Jahren  nahe,  durch  die  Verehrung  Spinozas''"  mit  ihm  innig 
verbunden.  Dagegen  führte  der  Besuch  von  Lenz  und  Klinger  177U  nur 
zum  Bru(di,  und  Ivlopstock  sagte  ihm  eben  damals  die  Freundschaft  auf,  als 
(icBthe  den  Vorwurf,  er  verführe  den  jungen  Herzog,  mit  Entschiedenheit 
zurückwies.  Durch  Klopstock  wurde  auch  Fritz  Stolberg  bestimmt,  die  ihm 
angebotene  Kammerherrnstelle  in  Weimar  nicht  anzunehmen.  Fritz  Jacobi 
wurde  durch  die  mutwillige  Verhoehnung  seines  Woldemar',  welche  Gcethe 
1779  vor  der  Hofgesellschaft  vornahm,  tief  gekränkt.  Auch  die  da- 
mals noch  innige  Freundschaft  Gcethes  mit  Lavater  lockerte  sich:  als  Lavater 
178t)  nach  Weimar  kam,  nahm  ihn  Goethe  wohl  bei  sich  auf,  war  ihm  aber 
schon  innerlich  entfremdet  und  blieb  ihm  auch  seitdem  fern.^'-* 

In  der  Sorge  für  die  RegierungspHichten  wie  für  die  Vergnügungen 
des  Hofes,  in  der  stillen  Hingabe  besonders  an  naturwissenschaftliche  Studien "" 
gingen  so  dem  Dichter  über  zehn  Jahre  vorüber,  in  denen  er  nur  weniges 
veröffentlichen   konnte  und   nichts,    was   den    Ruhm    seiner  Erstlingsarbeiten 

57)  1742  —  1827.  Gtinahlin  des  Oberstallnieisters:  als  tiipthe  sie  kenneu  lernte,  bereits 
Mutter  von  sieben  Kiuileru.  Vgl.  bes.  Düntzer,  l'h.  v.  St.  Stuttgart  1874;  ders.  Ch.  v.  St. 
und  Corona  Sehroeter,  ebiL  187G.  Goethes  Briefe  an  Frau  v.  St.,  hg.  v.  Ad.  SehöU,  Weimar  1848. 
51,    III;    2.  Aufl.  ^bearbeitet  von  W.  Fielitz)  Frankfurt  1883.85,    II.  58)  W.  Danzel, 

Über  GcHthes  Spiuozismus.  Hamburg  1843;  B.  Snphan ,  (i.  u.  Spinoza  1783 — 86,  Berlin 
1881.  5«))   .\uui.  25.   Briete   von    Giethe   an    Lavater,   hg.  v.  H.  Hirzel.    Leipzig  1833. 

Goethe  u.  Lavater.    Vortrag  von  B.  Steck,    Basel  1884.  (JO)  Ausser    der  Geologie    be- 

schäftigte ihn  besonders  die  Anatomie  (am  27.  März  1784  fand  er  das  os  interma<cillare  des 
Menschen)  uud  Botanik:  mit  seinem  'V^ersuch  die  Metamorphose  der  Pflanzen  zu  erklären', 
(Totha  17!)0.  erött'nt'te  er  spseter  seine  Schriften  zur  Morphologie'  1817 — 24.  Ist  damit  für 
Darwins  Lehre  die  Grundlage  gegeben,  so  fanden  weniger  Beifall  Goethes  Beitrajge  zur  Optik', 
Weimar  1791.  92  un<l  seine  Arbeiten  'Zur  Farbenlehre'.  Tübingen  1810  fgg.  Vgl.  Oskar 
Schmidt,  Goethes  Verhältnis  zu  deu  organischen  Naturwissenschaften,  Berliu  1853;  H. 
Helmholtz,  Über  Giethes  naturwissenschaftliche  Arbeiten,  Wiss.  Monatsschrift  1853;  Ders., 
G(i*thes  Vorahnungen  kommender  naturwissenschaftlicher  Ideen,  Berlin  1892;  K.  Virchow, 
G.    als    Naturforscher,    Berlin     1861;    R.  Steiner   in    Kürschners    Xatiouallit.  114—116   ua. 


§  160  GOETHE   IN  WEIMAR.  495 

auch  nur  entfernt  hätte  erneuern  können.  Unthsetig  war  er  auch  als  Dichter 
nicht:  ausser  Hymnen/*'  welche  die  errungene  Ruhe  des  Gemüts  herrlich 
offenbaren,  ausser  Liedern  voll  weicher  Stimmung ''-  und  Liebesergüssen  an 
Frau  von  Stein ''-^  waehlte  er  zum  Ausdruck  seiner  tiefsten  Gedanken  eine 
epische  Dichtung  in  Ottaverime,  'die  Geheimnisse',  worin  sich  Vertreter  aller 
Religionen  zu  Herders  Humanittetsglauben  vereinigen  sollten.  Da  er  nur  ein 
Bruchstück  vollendete,  stellte  er  die  dafür  bestimmte  Zueignung'  spseter  der 
ganzen  Sammlung  seiner  Gedichte  voraus. '^^  Wo  er  sich  an  die  groessere 
Menge  wandte,  gebrauchte  er  auch  jetzt  noch  gern  Ton  und  Yersart  des 
Hans  Sachs, ^^  dessen  'Poetische  Sendung'  er  'nach  einem  alten  Holzschnitt' 
1776  pries.  Zahlreiche  grcessere  und  kleinere  dramatische  Dichtungen  ver- 
fasste  er  für  das  Hoftheater,  welches  nach  dem  Brand  des  Schauspielhauses 
1774 — 1783  auf  einen  kleineren,  meist  aus  Liebhabern*'*^  bestehenden  Kreis 
beschränkt  war,  an  welchem  er  sich  aber  auch  selbst  ebenso  wie  der  Herzog 
beteiligte,  wfehrend  in  den  Frauenrollen  die  Schauspielerin  Corona  Schroeter 
glänzte.  1776  entstand  das  Schauspiel  'die  Geschwister',  worin  die  schwe- 
sterliche Liebe  zu  einem  vermeinten  Bruder  dadurch  beglückt  wird,  dass  der 
Geliebte  sich  zu  erkennen  gibt;  gleichzeitig  'Lila',  ein  Feenspiel,  welchem 
in  der  Art  von  W^eisses  komischen  Opern  einzelne  gesungene  Partien  einge- 
mischt waren;  es  folgten  der  Triumph  der  Empfindsamkeit',  worin  Goethe 
auch  über  seine  eigenen  Werke  spottete  und  sogar  das  ernste  'Monodrama: 
Proserpina'  zu  diesem  Zwecke  einlegte;  'die  Yoegel'  nach  Aristophanes,  aber 
mit  besonderer  Beziehung  auf  die  gleichzeitige  deutsche  Litteratur,  welche 
auch  'Das  Neueste  von  Plundersweilen'  verspottete;  ferner  das  Singspiel 'Jery  und 

61)  LB.  2,  1100  fgg.  62)  LB.  2,  1079.  63)  Ihren    Nameu   versteckte    er    unter 

der  Form  Lida.  64)  LB.  2.    1124.  65)  'Legende'  LB.  2,    1123.  66)  Auch 

als  Dichter  für  das  Liehhabertheater  bethtetigten  sich  die  Kammerherren  von  Einsiedel  und 
von  Seckeudorf;  Beispiele  hei  SchöU  (Anm.  öü)  S.  495  fgg.  Goethejahrhuch  VII,  361  fgg. 
Nur  in  lyrischen,  meist  antiken  Formen  anfänglich  nach  Ramlers,  dann  nach  Herders  und 
Goethes  Vorbild,  dichtete  Karl  Ludwig  von  Knebel,  geb.  1744  zu  Wallerstein  im  Öttin- 
gischeu,  1765 — 73  Offizier  in  Potsdam,  1774 — 80  (jouverneur  des  Prinzen  Constantin,  den 
er  ebenso  wie  seinen  älteren  Bruder  Karl  August  im  December  1774  auf  einer  Reise  nach 
Paris  mit  Goethe  bekannt  machte.  Pensioniert,  starb  er  in  Jena  1834.  Seine  Übersetzung 
des  Properz  erschien  Leipzig  1798,  die  des  Lucrez  1821.  Vgl.  Knebels  litterarischer  Naeh- 
lass  u.  Briefwechsel,  hg.  v.  Varnhagen  und  Mundt.  Leipzig  1840,  III;  Briefwechsel  zwischen 
Goethe  u.  Knebel,  Lpz.  1857,  II:  Düntzer,  Briefe  von  Schillers  Gattin  an  einen  vertrauten 
Freund.  Lpz.  1856:  Ders.  Aus  K's.  Briefwechsel  mit  seiner  Schwester.  Jena  1858:  Unge- 
druckte Briefe  aus  Knebels  Nachlass ,  Nürnberg  1858 ,  IL  Fielitz,  Aus  Knebels  Tage- 
büchern :  Schnorrs  Arch.  XIV.  403.  Hugo  von  Knebel-Doeberitz,  K.  L.  v.  Knebel,  Weimar 
Wackernagel,  Litter.  Geschichte.  II.  -33 


496  NEUIIOniDEUTSCHE  ZEIT.     XVIIT.  .TATTTIIT.  §   100 

Ba'tely",  oineErinnorun«;  an  ilie  Schweizorreise  1779  (Anm.  55);  'die  Fischerinn' 
1782,  worin  der  Erlkoenig" '"  und  andere  Bailaden  zur  Einiage  dienten;  1783 
'Sclierz,  List  und  Rache",  im  Stil  der  italienischen  Arlekinkoma'die.  Seine 
reichen  Theatererf'alirungen*'*  fasste  Goethe  seit  1777  in  dem  Roman  Wil- 
lu'lm  Meisters  Lehrjahre'  zusammen,  Hess  aber  durch  den  Harfner  und  Mignon 
TiiMie  schmerzlicher  Reue  und  unerfüllbarer  Wünsche  erklingen.*'' 

In  einem  Liede  Mignons  sprach  Goethe  seine  eigene,  immer  heftiger 
sich  steigernde  Sehnsucht  nach  Italien  aus.  Hier^°  verweilte  er  vom  Herbst 
1781)  bis  in  den  Sommer  1788,  fast  ausschliesslich  im  Verkehr  mit  Künst- 
lern, zumal  iu  Rom.  In  zahlreichen  Briefen,  die  er  speeter  als  Italienische 
Reise'  zusammenfasste," '  berichtete  er  über  die  Eindrücke  von  Land  und 
Ijeuten,  über  sein  umfassendes  Studium  der  bildenden  Kunst  und  der  Natur- 
wissenschaft. Seine  Gleichgiltigkeit  gegen  die  christliche  Kirche  und  ihre 
Lehre  ward  zur  Feindseligkeit  angesichts  der  Reste  antiker  Groesse  und 
Schönheit.  Seine  bisherige  Hoffnung,  selbst  als  bildender  Künstler  etwas  zu 
leisten,  gab  er  auf.  Um  so  eifriger  beschäftigte  er  sich  mit  der  Vollendung 
seiner  zum  Teil  vor  langer  Zeit  begonnenen  Dichtungen.  Iphigenie  auf 
Tauris",  schon  1779  in  freien  Versen  fertig  gestellt  und  unter  Mitwirkung 
des  Dichters  selbst  aufgeführt,'-  ward  nun  in  jambische  Fünffüssler  von 
vollendetem  Wohlklang  umgesetzt."  'Egmont',  worin  seine  eigene  Jugend- 
freudigkeit voll  erbrauste,   erhielt  einen  idealisierenden  Abschluss.'*     Torquato 

189U.  67)   LB.  2,  10i)0.  ü8)  Er  benutzte  aber  auch  besonders  die  Kenntnis  von 

ISchroeders  Leben  und  Streben,  welche  ihm  die  Schauspielerin  Karoline  Schulze  vermittelt 
haben  mag  (§  1(33.  19).  69)  LB.  2,  1088.  1083.  70)  Er  brach  am  3.  Sept.  178« 

von   Karlsbad  auf  und  kehrte  am  2'2.  Juni   1788   nach   Weimar  zurück.  71)  Zuerst  als 

Aus  meiuem  Leben.  Zweyter  Abtheilung  Erster  u.  Zweyter  Theil',  Tübingen  1816.  Vorher 
schon  Einzelheiten  :  Das  rcfmische  Karneval',  Berlin  1789  u.  a.  Vgl.  besonders  Chn.  Schu- 
chardt,  Guethes  Ital.  Reise.  Aufsätze  und  Aussprüche  über  bildende  Kunst,  Stuttgart  1862. 
1863,  11.  Die  Tagebücher  und  Briefe  (iuethes  aus  Italien  au  Frau  v.  Stein  und  Herder'  sind 
als  2.  Band  der  Schriften  der  (TO'thegesellschaft,  Weimar  1886  erschienen;  sein  spa?terer 
Briefwechsel  mit  Freunden  in  Italien  als  5.  Band  Zur  Nachgeschichte  der  italienischen 
Reise',  W.  1890.  72)  L>ie  verschiedeneu  Fassungen:  LB.  2,    1117.     Goethes  Iphigenie 

auf  Tauris  in  vierfacher  Gestalt  hg.  v.  J.  Baechtold,  Freiburg  i.  B.  ■'1888.  Über  die  Be- 
nutzung der  iphigenie  von  El.  Schlegel  s.  §  151,  53.  Andere  Beziehungen,  insbesondere  die 
zu  Gotters  Iphigenie  behandelt  H.  Morsch  Vierteijsch.  4,   80  fgg.  73)  Für  eine  Fort- 

setzung: Iphigenie  auf  Delphos  i^LB.  3,  595)  entwarf  Goi'the  nur  den  Plan.  Vgl.  Scherer 
Aufsätze  über  Goethe,  wo  auch  über  die  von  Gtjethe  in  Sicilien  vorbereitete  TragU'die 
'Nausikaa'  das  Naehere.  Ein  um  1783  in  Angrifl'  genommenes  Stück  aus  der  thebanischeu 
Sage,     Elpeuiir'.    kam    nicht    über   die    ersten   Acte  hinaus.  74)  Schiller,  in  der  AUg. 


§  IGO  GCETHES   ITALIENISCHE  REISE.  497 

Tasso',  ein  hoeherer  Werther,  dessen  dichterisches  Traumleben  im  Kampfe 
gegen  die  Wirklichkeit  zu  Grunde  gehen  muss,  bot  Gelegenheit  den  Wei- 
marer Musenhof  zu  verherrlichen.  Endlich  nahm  Gcethe  auch  die  alten 
Faustscenen  wieder  vor,  vermehrte  sie  in  Italien  um  die  Hexenküche,  brachte 
das  Ganze  aber  auch  jetzt  nicht  über  'Faust,  ein  Fragment'  hinaus.  So  er- 
schienen diese  Dramen,  in  denen  sich  Jugendkraft  und  männliche  Reife 
wunderbar  vermsehlten,  in  der  Sammlung  seiner  Schriften,  Leipzig  1787 — 90.'^ 
Die  Zeitgenossen  aber,  durch  das  lange  Schweigen  des  Dichters  seiner  ent- 
woehnt,  in  Vorurteilen  aller  Art  befangen,  wussten  die  herrlichen  Gaben  nicht 
eben  zu  schätzen,  wie  Goethe  mit  Befremden  und  Missmut  selbst  bemerken 
musste. 

Dazu  traten  in  derselben  Zeit  noch  andere  Gründe  zu  tiefer  Verstim- 
mung. Die  Rückkehr  aus  Italien,  wo  er  in  vollster  Freiheit,  im  Genuss  der 
herrlichsten  Natur  und  Kunst  gelebt,  in  die  engen,  dürftigen  Verhältnisse 
Deutschlands  erfüllte  ihn  mit  dem  schmerzlichsten  Gefühl  der  Entsagung: 
und  dies  blieb  ihm  fortan,  wenn  auch  sein  fürsthcher  Freund  ihn  von  jeder 
anderen  Verpflichtung  entband  als  der  über  die  Landesanstalten  für  Kunst 
und  Wissenschaft  die  Oberaufsicht  zu  führen.  Auch  die  ihm  gewsehrte  Ge- 
legenheit der  Herzogin  Mutter  bei  ihrer  Rückkehr  aus  Italien  1790  bis  Venedig 
entgegen  zu  gehen,  beschwichtigte  nur  das  Sehnen  nach  dem  Süden,  ohne  den 
Wunsch  aus  seinem  Herzen  zu  tilgen.  Haeusliche  Verhältnisse  kamen  hinzu:  der 
Dichter  nahm  im  Sommer  1788  Christiane  Vulpius,  ein  anmutiges,  munteres, 
ihm  völlig  ergebenes  Msedchen'^  zu  sich  auf;  aber  seine  Hoffnung  nun  auch 
wie  bisher  an  Frau  von  Stein  seine  Muse  zu  finden,  ward  völlig  getseuscht.'''' 
Er  empfand  diesen  Verlust  tief;  doch  gewann  er  als  Dichter  an  seinem  neuen 
und  dauernden  Liebesbund  einen  reichen  Gegenstand,  den  er  mit  Recht  in 
antike  Formen  kleidete :  die  'rcemischen  Elegien"  erneuen  die  Dichtweise 
und    die   Lebensanschauung    von    Properz    und    Tibull.''^     Den    Unmut    des 


Litt.  Zeit.  1788,  tadelte  diesen  als  'opernhaft'  und  bearbeitete  das  Stück,  nicht  eben  glück- 
lich, für  die  Weimarer  Bühne:  hg.  von  Diezniann,  Stuttgart  u.  Augsburg  1857.  75)  Auch 
einzeln:  Iphigenie,  auf  Tauris  1787.  Egraont  1788.  Torquato  Tasso  1790.  Faust,  Ein 
Fragment  1790;  Neudruck  des  letztgenannten  in  SeufFerts  Lit.-denkm.  5,  Heilbronn  1882. 
76)  Ihre  Bildungsstufe  und  Sinnesart  zeigen  die  'Briefe  von  Gcj-thes  Frau  an  Nicolaus 
Meyer",    Strassburg  1887.  77)   Ihre    spa;tere  Gesinnung   gegen  Groethe   legte  sie  in  ihr 

Trauerspiel  'Dido':    hg.  v.  üüntzer,    FranWurt  a.  M.  18G7.  78)  LB.  2,    1127.     Noch 

mehr   lassen    Der   neue  Pausias    und   sein  Blumeumaedchen',  'Amyntas'  und  'Gefunden'.  LB. 


4Jm  NElUlocirDKrTSCIlK  /KIT.        XYIII  J.VIIIill.  §  IIJO 

DiclUors  ülicr  dio  Abwendung  der  feineren  Gosellachsift  sprechen  seine  'Vene- 
tianisciie  Epignimme'  aus.''^ 

Hier  aber  spielte  sclion  ein  weiterer  Oej^onsat/  mit,  in  welchen  ersieh 
zu  den  /eitereigniasen  setzte.  Die  IVanzd'sischt^  Revohition  seit  17S9  erfüllte 
ihn  von  Ant'ung  an  mit  dem  ti(»fsten  Widerwillen.  Hatte  er  doch  in  der 
ITeimatstadt  die  republieanischc  l^eschränkung  empfunden,  unter  Karl  August 
sich  die  Überzeugung,  dass  die  Alleinherrschaft  eines  edlen  und  tüchtigen 
Fürsten  die  beste  Staatsform  sei,  immer  fester  eingcpnegt.  Die  allgemeine 
Begeisterung  für  die  Herstellung  der  Menschenrechte  Hess  ihn  kalt,  er  sali 
nur  die  kleinen  und  trüben  Beweggründe  der  Einzelnen.  So  suchte  er  auch 
dramatisch  zuerst  das  Vorspiel  der  Revolution,  den  llalsbandprozess  Caghostros 
im  Grosscophta'  1790  ins  lächerliche  zu  ziehen,  dann  im  'Bürgergeneral' 
1793  die  Fürsprecher  der  Revolution  in  Deutschland  zu  verspotten.  Seinen 
Herzog,  der  im  preussischen  Heere  am  Kriege  gegen  Frankreich  Teil  nahm, 
begleitete  er  1790  ins  Lager  nach  Schlesien,  1792  in  die  Champagne  und 
179.'i  zur  Belagerung  von  Mainz  und  gab  über  seine  Erlebnisse  in  den 
beiden  Feldzügen  anschauliche  Berichte/"  Als  aber  die  Bewegung  weiter 
und  weiter  um  sich  griff',  als  das  Gemeine  ihm  zu  siegen  schien,  erftisste  er 
das  alte  Zerrbild  des  Weltregimonts,  die  mittelalterliche  Tiersage,  und  dich- 
tete 1794,  mit  Benutzung  von  Gottscheds  Prosa  (§  148,  41),  'Reineke  Fuchs' 
in  Hexametern,  mit  treff'licher,  nur  noch  zuspitzender  Wiedergabe  des  launig 
spottenden  Urbildes. 

Aus  der  Yerstimmung,  der  Vereinzelung  trat  Goethe  heraus  durch  seine 
Freundschaft  mit  Schiller.  Als  er  diesen  bald  nach  der  Rückkehr  aus  Italien 
kennen  gelernt,  war  ihm  in  dessen  Jugend dichtungen,  vor  allem  in  den  Raeu- 
bern  die  von  ihm  selbst  überwundene  Richtung  des  Sturmes  und  Dranges 
nur  noch  gesteigert  und  durch  die  Beimischung  politischer  Ideen  doppelt 
widerwärtig  entgegen  getreten.  Er  halte  dann  für  Schillers  Ernennung  zum 
Professor  in  Jena  gewirkt.  Aber  erst  die  Begründung  der  'Horen'^'  durch 
Schiller  1794  führte  beide  Dichter  nseher  zusammen'^-  und  einer  der  ersten 
Briefe  Schillers  '^^  bezeugte  sein  völliges  Verständnis  für  Goethes  Eigenart  und 

2.  1084,  GüPthes  innige  Zuneigung  erkennen.  79)  LB.  2,  1139.  80)  'Aus  meinem 

Leben.     Zweyter  Abtheiluug   fünfter  Theil.'     Stuttg.  u.  Tüb.  1822.  81)  In    den   Hören 

I  und  VI  erschienen  Gcntlies  Episteln  und  Elegien.  82)  Die  entscheidende  Begegnung 

fand  in  einer  Sitzung  der  naturforschenden  Gesellschaft  im  Juli  1794  statt.  83)  Seinen 

Briefwechsel  mit  Schiller,  einen  wahren  Schatz  von  wertvollen  Urteilen  und  Untersuchungen, 
hat  Gu'the  selbst  herausgegeben:  Sfnitg.  u.  Tüb.   1828-30,  VI;  in  den  spateren  Ausgaben 


§  160  GCETHES  VERBINDUNG  MIT  HCHILLER.  499 

Groesse.  Sie  verbanden  sich,  um  fortan  gemeinsam  ihre  auf  das  Ilcechste 
in  der  Kunst  gericliteten,  durch  das  Muster  der  Antike  bestimmten  Bestre- 
bungen gegen  die  Stumpfheit  der  Zeitgenossen,  gegen  die  Anmassung  der 
zurückgebliebenen  Schriftsteller  durchzusetzen.  Über  diese  hielten  sie  ein 
wahres  Strafgericht  in  den  Xenien',  welche  sie  im  Winter  1795  auf  96  ge- 
meinsam dichteten  und  ohne  Unterscheidung  ihrer  Verfasserschaft  in  Schillers 
Musenalmanach  1796  veröffentlichten.'*'' 

In  eben  diesem  Jahre  aber, zeigte  sich  Goethe  als  Meister  in  der  naiven 
Nachahmung  griecliischer  Dichtung,  die  er  mit  deutschem  Leben  erfüllte,  in 
der  Idylle  nach  dem  Vorgang  von  J.  H.  Voss,  nur  mit  Beziehung  auf  die 
grossen  Vorgänge  der  Zeit/^^  'Hermann  und  Dorothea'*'^  erzsehlt  eine  rüh- 
rende Begebenheit,  welche  bei  der  Aufnahme  der  1731  wegen  ihres  Glaubens 
vertriebenen  Salzburger  in  Thüringen**'  sich  ereignet  hatte,  aber  übertragen 
auf  Flüchtlinge,  die  der  franzoesische  Revolutionskrieg  über  den  Rhein  ge- 
scheucht hatte.  Zierlicher  noch,  aber  mit  den  Farben  der  südlichen  Natur 
hatte  Goethe  vorher  schon  in  Alexis  und  Dora'  raschgewonnenes  Liebesglück 
gemalt.  Und  noch  genauer  suchte  er  den  Anschluss  an  das  griechische  Epos, 
indem  er  mit  seiner  'Achilleis'  1799  die  Ilias  fortzusetzen  unternahm,  aber 
freilich  nur  ein  Bruchstück  fertig  stellte.'***  Neben  den  antiken  Formen 
pflegte  er  indessen  auch  die  neueren:  im  Wetteifer  mit  Schiller  dichtete  er 
1797  gedankenreiche  Balladen  ^'-^ ;  mehrere  erzsehlende  Liebeslieder,  "Der  Edel- 
knabe und  die  Müllerin'  u.  a.  entstanden  gleichfalls  1797,  auf  einer  Reise, 
die  nach  Italien  führen  sollte,  aber  wegen  der  Kriegsunruhen  schon  in  der 
Schweiz^"  ihr  Ziel  fand.  Gleichzeitig  nahm  Goethe  den  Faust  wieder  vor, 
fügte  vorn  'Zueignung',  'Prolog  im  Himmel'  und  'Vorspiel  auf  dem  Theater' 
an  und  führte   zumal    die   Scenen    des  Ostertages    weiter   aus:^'  so   erschien 

(1856,  1870,  1881)  sind  die  damals  lückenhaft  gelassenen  Stellen  ergänzt.  84)  Schillers 

und  Goethes  Xenienmanuscript,  znm  ersten  Mal  bekannt  gemacht  von  Ed.  Boas  u.  hg.  v. 
W.  V.  Maltzahn,  Berlin  1856.  85)  Das  Verhältnis  zu  den  Roemischen  Elegien  setzt  die 

Elegie  'Hermann  und  Dorothea'  auseinander:  LB.  2.  1130:  sie  bezieht  sich  auf  die  Homer- 
kritik von  F.  A.  Wolf.  Vgl.  auch  Gcethes  Briefe  an  F.  A.  Wolf,  hg.  v.  M.  Bernays, 
Berlin  1868.  86)  LB.  2,  1149  fgg.  87)  Das  liebthsetige  Gera  gegen  die  Salzbur- 

gischen Emigranten',  Leipzig  1732.  88)  Dei-  Ernst  und  die  Kraft  der  Sprache  erinnern 

mehr  an  Vergil.  89)  'Die  Braut  von  Korinth',  'Der  Zauberlehrling',  'der  Schatzgrteber', 

(diese    beiden    LB.    2,    1093),  'der   (jott    und    die    Bajadere'.  90)    Hier  auch  beklagte 

Goethe  den  frühen  Tod  der  von  ihm  ausgebildeten  Schauspielerin  Caroline  Becker  -  Xeu- 
mann  in  'Euphrosyne'  LB.  2,  1132.  Die  Vorstudieu  zu  dem  damals  geplanten  epischen 
Gedicht  von  Wilhelm   Teil  kamen  dem   Drama    Schillers   zu   Gute.       91)  LB.  2.  1105  fgg. 


500  NEUHOCnDKrTSCIIE  ZEIT.        XVIII  JAIIKII.  §  100 

dieser  ri-ste  Teil  als  Faust,  Traga^die'  /iierst  Stuttgart  1808.  Auch  den 
zweiten  Teil  nahm  er  jetzt  in  Angiift'  und  feierte  in  Helena'  die  Vcrnifeh- 
lung  der  classischen  Poesie  mit  der  neueren  mit  majestfptischer  Nachbildung 
griechischer  Formen.  Das  erste  Htück  einer  trjigischen  Trilogie,  deren  Stoff 
der  Ivevolutionsgeschichte  entnommen  war,'-  vcröffentliciite  er  1803  als  Natür- 
liche Tochter',  setzte  es  aber  nicht  fort ,  da  seine  N^eigung  zur  abgezogenen, 
symbolischen  Darstellung  keinen  Beifall  fand.  Seinem  Herzoge  zu  Gefallen 
übersetzte  er  Voltaires  Mahomet  und  Taiicrod'"  für  die  Weimarer  Bühne. 
Selbst  der  Abschluss  seines  Künstlerromans,  der  als  'Wilhelm  Meisters  Lehr- 
jahre' zu  Berlin  17U5  —  96,  IV,  erschien,  lässt  die  veränderte  Kunst-  und 
Lebensanschauung  und  die  Absonderung  von  dem  ehemaligen  genialen  Treiben 
erkennen:  diesen  Jahren  gehoereu  auch  die  'Bekenntnisse  einer  schoenen  Seele' 
an,  das  einzige  Stück,  womit  der  Roman  dem  Jacobi-Stolbergischen  Kreise 
Beifall  abgewann.  Um  die  Kenntnis  der  antiken  Kunst  zu  fördern  und  zu 
verbreiten,  Hess  Goethe  unter  Beihilfe  seines  Kunstfreundes,  des  Schweizers 
Heinrich  Meyer  die  'Propyläen'  erscheinen,^*  nicht  eben  mit  Erfolg.  Bald 
darauf  begannen  die  Romantiker  das  Mittelalter  mehr  und  mehr  als  allein 
giltiges  Vorbild  hinzustellen.  Als  Dichter  Hessen  sie  Goethe  noch,  aber  auch 
nur  ihn  gelten.  Er  Hess  sie  anfänglich  gewsehren,  bis  ihre  Übertreibungen 
ihn  zu  zorniger  Abwehr  veranlassten. 

Dies  geschah  erst  nach  Schillers  Tod.  Mit  dem  Verlust  des  Freundes, 
der  ihm  eine  neue  Jugend  gegeben  hatte,  war  auch  Goethes  Schaffenslust 
zurückgetreten.  Der  Sturz  Preussens  1806  brachte  dem  fridericianischen 
System  den  Untergang:  ein  neues  Deutschland  konnte  nur  durch  Anstren- 
gungen und  Opfei-  geschaffen  werden,  denen  Goethe  fern  blieb.  In  der  Ver- 
wirrung, die  nach  der  Schlacht  bei  Jena  über  Weimar  hereinbrach,  sicherte 
er  die  Zukunft  seiner  Familie,  indem  er  sich  mit  Christiane  trauen  Hess. 
Die  Herrschergewalt  Napoleons,  dem  er  am  2.  October  1808  in  Erfurt  vor- 
gestellt wurde, ^'  nahm  ihn  völlig  ein.  Seine  Dichtung  wurde  noch  einmal 
durch  eine  heftige  Neigung  für  Minna  Herzlieb,  die  Pflegetochter  des  Buch- 
händlers Frommann  in  Jena,^*^  neu    belebt:    ihre  jugendliche  Schoenheit  und 

92)  Memoires  histonquen  de  Strphanie-Lonise  de  Boarbon-Conti  (Madamp  Guachet).  Pari«  1798, 
II:  8.   Varnhagen  v.  Ense  Denkwürdigkeiten    1,  Mannheim    18.37.  93)  Tübingen    1802. 

94)  Tübingen  1798  -18(H>.    Meyers  kleine  Schriften  znr  Kunst  gab  P.  Weizsäcker  in  Seufferts 
Lit.-denkm.  25,    Heilbronn  188«>  heraus.  95)  Scholl ,    Abhdlgn.  467   fgg.     Auch   die 

Memoiren   von  Talleyrand  berichten   hierüber:    in  der  Übersetzung  von  Ebeling.    Köln  nnd 
Leipzig  lö91   1,  ;316.  96)  Friedrich  Frommann,  Das  Frommannsche  Haus.  Jena  U872. 


1 


§  160  GOETHES  ALTER.  501 

Lieblichkeit  feierte  er  in  Sonetten,  ihr  ^Yesen  bildete  er  in  den  'Wahlver- 
wandtschaften' nach."'  Nachdem  er  auch  diesen  schmerzlichen  Kampf  der 
Liebe  mit  älteren  Pflichten  durch  die  Wiedergabe  in  tragischendender  Dich- 
tung überwunden  hatte,  wandte  er  sich  der  Darstellung  seines  eigenen  Ent- 
wicklungsganges zu.  Seit  1810  schrieb  er  Aus  meinem  Leben,  Dichtung 
und  Wahrheif,  eine  künstlerisch  gestaltete  Erzsehlung  seiner  Jugend  bis 
1775.  Seine  Erlebnisse  ziehen  mit  anmutigster  Hervorhebung  alles  Heiteren, 
Glücklichen,  mit  leiser  Berührung  der  überwundenen  Schmerzen  vorüber;^** 
die  wunderbare  Entfaltung  der  deutschen  Litteratur,'-'''  welche  auf  Goethe  ge- 
wirkt hatte,  bis  er  selbst  die  Führung  der  Mitstrebenden  übernahm,  ist  ebenso 
klar  als  reich  und  zuverlässig  dargestellt.  Hier  vor  allem  bewsehrt  Goethe 
die  Meisterschaft  der  Prosa,  deren  Pflege  in  seinem  Alter  ebenso  überwog  als 
in  der  früheren  Zeit  ihn  Lyrik  und  Drama  vorzugsweise  beschäftigt  hatten. 
Den  Erschütterungen  der  Freiheitskriege  ging  er  soviel  als  moeglich  aus 
dem  Wege.  Aufgefordert  für  das  Berliner  Theater  eine  poetische  Verherr- 
lichung der  deutschen  Siege  zu  verfassen,  dichtete  er  1814  Des  Epimenides 
Erwachen'.'"*^  Allegorische  Festspiele,  namentlich  Verse  zu  Maskenzügen, 
hatte  er  bereits  in  grosser  Zahl  verfasst;  1800  das  zierliche  Palaeophron  und 
Neoterpe'.  Von  der  Direction  des  Weimarer  Hoftheaters  trat  Goethe  1817 
zurück,  nachdem  eres  seit  1791  geleitet  und  insbesondere  auf  eine  massvolle, 
idealisierende  Darstellungsweise  und  auf  ein  gleichmsessiges  Zusammenspiel 
hingewiesen  hatte. '"^  Noch  blieb  ihm  die  Sorge  für  die  Kunstsammlungen 
und  die  wissenschaftlichen  Bildungsanstalten ,  von  denen  er  die  Universitset 
Jena  auch  dadurch  auf  ihrer  Hoehe  zu  erhalten  suchte  dass  er  1804  der 
nach  Halle  verpflanzten  Allgemeinen  Deutschen  Litteraturzeitung'  eine 
Jenaische  Zeitschrift  entgegenstellte.  ^^^     Für  seine  eigenen  Kunstbestrebungen 

K.  Th.  Gaedertz,  Goethes  Minchen,  Bremen  1887.  97)  Tübingen  1809.  98)  Tüb.  1811—14.  F. 
Jacob)  nennt  1818  Gffthes  Erzsehlungen  in  DW.  'oft  wahrhafter  als  die  Wahrheit  selbst':  Zöpp- 
ritz  2, 149.  99)  LB.  3,  621  fgg.  Ebd.  647  Gffithes  Freimaurerrede  auf  Wieland  (§  1.53,  50); 

über  seine  Schilderung  Winckelmanns  s.  §  156,  1.  100)  Vielleicht  regte  ihn  zur  Wahl 

des  Gegenstandes  ein  1790  in  Paris,  auch  in  Strassburg  oft  gespieltes  Stück  an  :  Le  reveil 
d'Epimenide  von  M.  de  Flins,  welches  die  Errungenschaften  der  Revolution  feierte.  Hierüber 
sowie  über  ein  gleichnamiges  Stück  vom  Präsidenten  Henault  17.55  verdanke  ich  auszüg- 
liche Mitteilungen  Hrn.  Dr.  H.  Waitz.  Vgl.  auch  Kotzebue,  Meine  Flucht  nach  Paris,  S.  177. 
101)  E.  Pasque,  Guithes  Theaterleitung  in  Weimar,  Leipzig  1863,  II.  C.  A.  H.  Burckhardt, 
Das  Repertoire  des  Weimarischen  Theaters  unter  Goethes  Leitung,  Hamburg  u.  Leipzig  1891. 
J.  Wähle,  Das  Weimarer  Hoftheater  unter  Goethes  Leitung,  Weimar  1892  (Schriften  der 
Goethegesellbchaft.  6.  Bd.).  102)  Briefe  an  Eichstaidt,  hg.  v.  \V.  v.  Biedermann,  Berlin 


502  NHIJHOCIIDEUTSOIIE  ZEIT.         XVIII  JAIIKII.  i?  IHü 

schuf  er  sich  oiu  Orj^tiii  in  der  Zoitschrit't  Uehcr  Ivunst  und  Altorthiim ,, 
Stiitt<;art  1818  —  32:'"^  Suipiz  Boisscroe,  der  in  Köln  di(;  wichtij:j8ten 
Donkniii'lor  der  altdoutschon  Maleroi  «^orottot  und  den  Grundriss  dos  Domes 
aufgclundon  hatte,  gewann  aucli  den  alternden  (rCEtlie  wieder  für  die  mittel- 
alterliche Kunst, '"^  deren  Wert  er  in  seiner  .fugend  zu(>rst  gi^lteud  gemacht 
hatte.  Aus  deutschen  Sagen  waren  auch  1813  einige  Balladen  Gujthes  hervor- 
gegangen.'"-' Gleichzeitig  aber  tlüchteto  er  in  den  Orient  und  kleidete  Be- 
schaulichkeit und  heiteren  (tonuss  in  die  Formen  der  persisch-arabischen  ""' 
Lebensweise  und  in  leichtgereimte  Strophen. '°^  Das  eingetlochtene  Liebesver- 
hältnis bezog  sich  auf  Marianne  von  Willemer  in  Frankfurt,  die  selbst  als 
Suleika  reizende  Lieder  beisteuerte.'"**  Der  'westöstliche  Divan'  erschien  zu 
Stuttgart  1811).'"'-'  Lag  hier  die  rein  amsscrliche  Verbindung  an  dem  Plane 
des  Werks,  so  verblieb  derselbe  Character  einem  anderen,  weil  der  alternde 
Dichter  Lust  und  Kraft  verlor  die  zum  Teil  weit  früher  verfassten  Erzieh- 
lungen  zu  einem  Ganzen  zu  verschmelzen :  ""  Wilhelm  Meisters  Wanderjahre 
oder  die  Entsagenden',  Stuttgart  und  Tübingen  1821),  brachen  unvollendet 
ab.'"  Hier  war  des  Dichters  edle  Zurückhaltung,  welche  sein  bis  in  das 
hohe  Alter  dauerndes  Vermoegen  Liebe  zu  fühlen  und  zu  erwecken  hegleitete, 
auch  in  seinen  poetischen  Figuren  ersichtlich.  Auch  Faust,  für  welchen  er 
die  'Helena'  seit  1825  fortsetzte,  erhielt  nur  einen  Abschluss  in  allgemeinen, 
symbolischen  Zügen:  die  Verheissung  des  Prologs  ward  allerdings  durchge- 
führt dass  der  Mensch  zwar  irre  so  lange  er  strebe ,  aber  wenn  er  sich  nur 
um  das  Gute  bemühe ,  doch  von  den  hoeheren  Mächten  gerettet  werde. 
Immerhin  hat  dieser  zweite  Teil,  bei  verständnisvoller  Auswahl,"^  sich  neuer- 
dings auch  bühnenwirksam  erwiesen.     An  Faust  dichtete  Goethe  fast  bis  zum 

1872.  103)  Das  erste  Heft  war  1816  erschienen;  im  zweiten.  1819  erschien  'Neudeutsche 
religioes-patriotische  Kunst",  eine  Verurteilung  der  'Nazarener'  unter  den  Malern ,  welche 
nur  die  Anfänge  der  italienischen  Kunst  gelten  liesaen.  Neudruck:  Deutsche  Lit.-denkm. 
25,  97  fgg.  104)    Sulpiz  ßoisseree,  Stuttgart  1862.  105)  Totentanz,   der  getreue 

Eckart,  die  wandelnde  Glocke.  106)  Als  Quelle  diente  ihm  namentlich  Der  Divan  von  .  . 
Hafis,  übersetzt  von  .J.  v.  Hammer'.  Stuttgart  und  Tübingen  1812.  II.  107)  In  Reimen 

auch  die  kernhaften  Sprüche .  worin  Gcethe  die  Betrachtungen  seines  Alters  aussprach : 
Proben  LB.  2,    1145.  108)  H.  Grimm.    Preuss.  Jahrb.  1868.     Briefwechsel   zwischen 

Goethe    und    M.  von   Willemer.    hg.  v.  Creizenach ,    Stuttgart  2  1878.  109)  Unter    den 

spiieteren  Ausgaben  ist  die  von  G.  v.  Lopper  'mit  Einleitung  und  erlajuternden  Anmerkungen', 
Berlin    bei    Hempel ,    hervorzuheben.  110)  Ein    Novellencyclus.    durch   eine    Kahmen- 

erzfehlung  verbunden,  war  bereits  in  Goethes  'Unterhaltungen  deutscher  Ausgewanderten' 
(Schillers  Hören  I— V)  vorhanden.  111)  Ein    Denkmal   seines   greisenhaften  Prosastils 

gibt    die    Novelle    LB.  3,    689.         112)  Die  Aufführungen    des  2.  Teils,    in    verschiedenen 


§161  GCETIIES  LETZTE  LEBENSJAHRE.  503 

letzten  Tag;  als  der  zweite  Teil  erschien,  1833,  war  der  Dichter  nicht  mehr 
unter  den  Lebenden."^  Schon  181(j  verwitwet,  hatte  er  in  seiner  Schwieger- 
tochter, Ottilie  von  Pogwisch,  eine  liebevolle,  den  Ehrenpflichten  seines  gast- 
lichen, vielbesuchten  Hauses  würdig  vorstehende  Pflegerin  gefunden.^"  Tief 
erschütterte  ihn  das  Hinscheiden  seines  fürstlichen  Freundes  1828,  dann  der  Tod 
seines  Sohnes  in  Rom  1830.  Er  selbst  starb  am  22.  März  1832.  Noch  in  den 
letzten  Jahren  hatte  er  es  ausgesprochen  dass  die  Litteraturen  aller  Völker 
sich  einander  zu  nsehern  begönnen,  dass  eine  Welthtteratur '^^  sich  bilde: 
die  deutsche,  welche  durch  vortrettliche  Übersetzungen'^*^  sich  den  gesammten 
Reichtum  zuerst  aneigne,  werde  durch  diesen  Schatz  eine  neue  Bedeutung 
für  die  Bildung  der  Menschheit  gewinnen. 

§161. 

Goethe  gegenüber  nennt  sich  Schiller  selbst  einen  speculativen,  reflec- 
tierenden  Dichter;  er  setzt  dem  Realismus  Goethes  seinen  Idealismus  ent- 
gegen. Er  sucht  sich  mehr  und  mehr  der  ursprünglichen  poetischen  Natur 
Goethes  anzunaehern:  er  lässt  sich  von  ihm  beraten^  und  Gegenstände  zu 
Dichtungen  anweisen;^  aber  er  haucht  diesen  seine  Gedanken,  seine  grosse 
und  freie  Auffassung  ein. 

Und  diese  Auffassungsweise  bildet  wesentlich  Schillers  Eigentümlichkeit. 
Jene  Begeisterung,  welche  Goethes  Jugenddichtung  allerdings  beseelt,  aber 
mehr  und  mehr,  und  frühe  schon,  einem  ruhigen  Hinnehmen  der  Wirklich- 
keit Raum  gibt  um  in  dieser  freilich  die  inneren  Züge  der  Schoenheit  zu  ge- 
wahren und  sie  nachzubilden,  sie  ist  bei  Schiller  noch  weit  stürmischer  von 
Anfang  an,  braust  zuneechst  gegen  die  Hemmnisse  auf,  stroemt  dann  aber 
immer  gleichmsessiger  und  reiner  und  mächtiger  dahin.  Goethe  schildert, 
nach  dem  alten  Wort  über  die  griechischen  Tragiker,  die  Menschen  wie  sie 
sind,  Schiller  wie  sie  sein  sollen. 

Yor  allem  fasste  der  jüngere,  mit  dem  Jahrliundert  fortgeschrittene 
Dichter   ein   neues   Ziel   ins  Auge,    das   er   seiner    Zeit   und  noch    mehr   der 

Bearbeitungen,  begannen  um  1880.  113)  Zablreiehe  Ausgaben  des  Faust  mit  Erlieute- 

rungen:  von  Düntzer,  Leipzig  1867  und  bei  Kürschner  Nat.litt.  93;  von  M.  Carriere,  Lpz. 
1869;  von  G.  v.  Loeper,  Berlin  1870;  von  A.  v.  Üttingeu,  Erlangen  1880;  von  Sohröer, 
Heilbronn    1881.     Überdies  und   schon  früher   eine  Menge    von  Abhandlungen    über  Faust. 

114)  Von  den  litterarischen  Gehilfen  des  Dichters  hat  J.  P.  Eckermaun  seine  'Gespräche 
mit  Goethe  1823—1832',  Leipzig  1836  herausgegeben.     «1885  mit  A"bhandliingen  von  üüntzer. 

115)  A.  F.  v.  Schack,  Goethe  und  die  Weltlitteratur.  1890.  116)  Gcethe  selbst  hat 
besonders  lyrische  Gedichte  des  Auslandes  wundervoll  übersetzt. 

§    161.      1)  So    für    'die    Kraniche    des  Ibyeus'  s.  LB.  2,    1233.  2)  Den    Teil    wollte 


504  NEIIIOCHÜEUTSCÜE   ZEIT.         XVllI  JAlllUI.  §  KJl 

nachfolgenden  aufsteckte.  Für  Gopthe  waren  die  politischen  Verhältnisse  im 
Ganzen  glcichgiUig  gewesen:  Schiller  empfand,  worauf  schon  Lessing  mit 
Bezug  auf  das  Theater  hingewiesen  hatte,  dass  die  Poesie  von  dem  sonstigen 
nationalen  Leben,  vor  allem  von  den  staatlichen  Zuständon  sich  nicht  abloesen 
lasse.  Gerade  in  der  poetischen  Verwertung  politischer  Ideen  fand  Schiller 
einen  neuen  Weg  zum  Herzen  der  Nation  und  erwarb  sich  auf  diesem  Wege 
unvergängliche  Verdienste  um  ihre  Bildung. 

Schillers  Erstlingsdramon  knüpfen  an  die  bestehenden  Verhältnisse  an, 
deren  Unvernunft  und  Ungerechtigkeit  er  mit  schneidender  Schärfe  darzu- 
stellen wusste.  Aber  frühzeitig  erkannte  er  die  Notwendigkeit  sich  von  diesen 
nur  zu  Bitterkeit  und  Uass  stimmenden  Bildern  weg  und  geschichtlichen 
Schilderungen  zuzuwenden,  welche  den  Sieg  des  Edlen,  den  Untergang  der 
btjcswilligen  Gewalt  in  sich  schlössen.*  In  der  Geschichte  fand  Schiller  das 
.Magazin  für  seine  Phantasie,*  die  Verkörperung  seiner  Ideen.  Dass  er  dabei 
sich  nicht  auf  die  deutsche  Geschichte  beschränkte,  beeinträchtigte  in  keiner 
Weise  die  Wirkung  seiner  IJramen  auf  die  deutsche  Nation.  Ja  er  konnte 
hierdurch  nur  um  so  unbefangener  die  Aufopferung  für  Freiheit  und  Unab- 
hängigkeit, die  Überzeugung  von  einer  ewigen  Gerechtigkeit  als  Pflicht  vor 
Augen  stellen. 

Durch  die  tief  eiiidringonde  Beschäftigung  mit  Geschichte  und  mit  Phi- 
losophie'' wurde  Schillers  dichterische  Entwickelung  wohl  unterbrochen,  aber 
zugleich  auf  eine  hoehere  Stufe  gehoben.  Er  erreichte  diese  gleichzeitig  mit 
der  Anknüpfung  eines  nseheren  Verhältnisses  zu  Goethe.  Seine  vorhergegan- 
gene Dichterthsetigkeit  trug  die  Spuren  des  langen  und  schweren  Kampfes 
an  sich,  welchen  seine  Lebensumstände^  ihm  bis  dahin  auferlegt  hatten. 

GfPthe  1797  episch  hphan<leln :  s.  Briefwechsel  zwischen  Schiller  u.  Goethe  372  fgg.  Vgl. 
§  160.    00.  3)  Prophetisch    deutet  seiu   Wallenstein    auf  Napoleon,    die  Jungfrau  von 

Orleans  und  Teil  auf  die  Freiheitskriege.  4)  Brief  an  seine  spaetere  Schwaegerin  Karo- 

line vom  10.  Nov.  1788.  5)  S.  hierüber  bes.  K.  Tomaschek,    Schiller   in  seinem  Ver- 

hältnisse zur  Wissenschaft.  Wien  1862.  Ueberweg,  Schiller  als  Historiker  und  Philosoph, 
l.,eipzig  1884.  6)    Nachrichten   von  Schillers  Leben'  von   Körner  vor  der  ersten,    viel- 

fach wiederholten  Ausgabe  der  'Sämtlichen  Werke'.  Stuttg.  u.  Tüb.  1812—15,  XII.  Caroline 
von  Wolzogen 'Schillers  Leben  verfasst  aus  Erinnerungen  der  Familie,  seinen  eigenen  Briefen 
und  den  Nachrichten  seines  Freundes  Körner",  Stuttg.  u.  Tüb.  1830,  11.  nö.  Vergl.  ferner 
bes.  Thomas  Carlyle.  Leben  Schillers,  aus  dem  Englischen,  eingeleitet  von  (j'T'the,  Frank- 
furt 1830.  K.  Hoflmeister,  Seh.  Leben.  Stuttg.  1838—42,  IV.  (i.  Schwab.  Seh.  Leben, 
Stuttg.  1840  nö..  E.  Palleske.  Seh.  Leben  u.  Werke.  Berlin  1858.  seit  1886  hg.  von  H. 
Fischer.  Düntzer,  Seh.  Leipzig  1881.  Weltrich,  Seh.  Stuttgart  1885  fgg.  0.  Brahm, 
Schiller.  Berlin  1888  fgg.     J.  .Minor.  Schiller,  Sein  Leben  u.  seine  Werke,  Berlin  1890  fgg. 


§  161  SCHILLERS  JUGEND.  505 

Johann  Christoph  Friedrich  von  Schiller  war  geboren  am  10.  No- 
vember 1759  zu  Marbach  am  Neckar.  Sein  Vater  ^  stand  im  Militaerdienst 
des  Herzogs  Karl  von  Würtemberg,  seit  1761  als  Hauptmann;  er  hat  sich 
um  die  Obstzucht  des  Landes  sehr  verdient  gemacht,  insbesondere  seitdem  er 
Ende  des  J.  1775  auf  das  Lustschloss  Solitude  bei  Stuttgart  versetzt  worden 
war.  Vorher  war  ihm  der  Sohn  nach  Lorch,  dann  nach  Ludwigsburg  ge- 
folgt, bis  ihn  1773  Herzog  Karl  ncetigte,  in  die  Militaerakademie  einzutreten, 
die  1770  begründet,  damals  noch  auf  der  Solitude  bestand,  aber  1775  nach 
Stuttgart  verlegt  wurde  und  1782  den  Namen  Hohe  Karlsschulc  erhielt.  Da 
sie  nur  herzogliche  Beamte  ausbildete,  musste  der  Knabe  die  Absicht  Pre- 
diger zu  werden  aufgeben:  er  entschied  sich  zuerst  für  das  Studium  der 
Rechte,  spaeter  für  das  der  Mcdicin.  Zu  Ende  des  J.  1780  wurde  er  als 
Regimentsmedicus  in  Stuttgart  angestellt.  Schon  auf  der  Schule  dichtete  er 
und  hatte  sogar  zur  poetischen  und  rednerischen  Verherrlichung  von  Festen 
der  Anstalt  mitzuwirken.  Seine  wahre  Stimmung  aber  legte  er  in  sein 
Trauerspiel  'die  Rseuber',  woran  er  seit  1777  arbeitete.  Er  benutzte  dabei 
eine  Erzsehlung  Schubarts,*  verband  sie  aber  mit  der  Geschichte  eines  küh- 
nen und  grossdenkenden  Rseubers  aus  seiner  Heimatsgegend,  die  er  spseter 
auch  als  Novelle^  bearbeitet  hat.  Andere  Verhältnisse  und  Namen  entlehnte 
der  Dichter  seiner   Umgebung,^**    wsshrend   er    für   die    Gestaltung    einzelner 


Zur  Gesarataiisgabe  kam  hinzu  'Nachlese  zu  Schillers  Werken  nebst  Variantensammlung' 
(auch  als  'Supplemente  zu  Seh. 's  Werken'  bezeichnet)  aus  seinem  Nachlass  im  Einver- 
ständnis und  unter  Mitwirkung  der  Familie  Schillers  hg.  von  K.  Hoffmeister',  Stuttg.  u. 
Tüb.  1840.  41,  IV;  vgl.  auch  .Joachim  Meyer,  Beitrgege  zur  Feststellung,  Vermehrung  und 
Verbesserung  des  Schillerschen  Textes ,  1858 ,  fortgesetzt  1860.  'Sämtliche  Schriften. 
Historisch-kritische  Ausgabe',  im  Verein  mit  A.  EUisseu ,  R.  Köhler,  W.  Müldener,  H. 
Oesterley.  H.  Sauppe  und  W.  Vollmer  von  K.  (Joedeke,  Stuttgart  1867—76,  XV.  Vgl.  auch 
die  Ausgabe  Berlin  bei  Hempel  o.  J.,  XVI.  Schillers  Briefe,  kritische  Gesamtausgabe 
mit  Anm.  von  F.  Jonas,  Stuttgart  u.  s.  w.,  I.,  1892.  Der  litterarische  Nachlass  Schillers  ist  von 
seinen  Nachkommen  1889  der  Urossherzogin  von  Sachsen  übergeben  worden  und  ist  nun- 
mehr Bestandteil  des  (jra?the-Schiller-Archiv8  zu  Weimar.  Vgl.  J.  Minor,  Aus  dem  Schiller- 
Archiv,  Ungedrucktes  und  Unbekanntes  zu  Schillers  Leben  und  Schriften.  Weimar  1890. 
7)  Schillers  Beziehungen  zu  Eltern,  Geschwistern  und  der  Familie  von  Wolzogen,  Stuttgart 
1859.  8)  Vgl.  §  159,  40.     Schiller  hat  Schubart   1781    auf  dem  Hoheuasperg  besucht 

und  seine  Fürstengruft  nachgeahmt:  'Die  schlimmen  Monarchen'  (in  der  Anthologie).  9)  In 
der  Thalia  1,  2:  'der  Verbrecher  aus  Infamie'  (spseter  'aus  verlorner  Ehre').  Vgl.  H.  Kurz, 
Der  Sonnenwirt,  Frankfurt  a.  M.  1855,  wo  die  Geschichte  des  1760  hingerichteten  Raubers 
nach  den  Acten  mitgeteilt  ist:  Schiller  erfuhr  sie  von  seinem  Lehrer  Abel,  dessen  Vater 
die  Festnehmung    bewirkt    hatte.     10)  So    den    des  Pfarrers  Moser    aus  Lorch,    ferner    die 


506  NECIlOClIDKUTSOIli:   /KIT.         XVIII  JAIIUII.  §   WA 

Sccnen  bcsoiulcrs  (jiu'thos  üötz,  (ier8tenl)or^8  l'goliiKi  und  Slmkcspearcs  Dra- 
men,  für  die  KraftMpriiche  Klingors  Tragödien  zu  Vorbildern  nahm.  Das 
Ganze  bricht  mit  Kraft,  ja  mit  Wut  hervor  als  ein  Aufschrei  der  Natur 
gegen  den  Despotismus,  welcher  Schillers  Jugend  eingezwängt  hatte  und  nun 
sein  weiteres  Leben  schwer  zu  bedrücken  drohte.  Zwar  endet  der  Held  in 
Verzweiflung  über  die  Unmo'glichkeit  das  Kecht  durch  die  Gewalt  wieder 
herzustcsllen;  aber  die  Zustände,  gegen  die  er  sich  empmrt  hatte,  blieben 
nichts  desto  weniger  als  unertra'glich  gekennzeichnet.  Das  Stück  erschien 
1781  im  Selbstverhig "  und  ward  am  13.  Januar  17.S2  zu  Mannheim  aufge- 
führt. Der  Dichter  war  dabei  ohne  Urlaub  zugegen;  auch  einer  zweiten 
Autiuhrung  wohnte  er  bei ,  indem  er  sich  in  Stuttgart  als  krank  meldete. 
Hatte  der  Herzog  ihn  schon  dafür  hart  bestraft,  so  verbot  er  ihm  bald  alles 
fernere  Dichten,  weil  er  den  Canton  Graubünden"*  durch  Anführung  einer 
landheufigeu  Redensart  beleidigt  hatte.  Schillers  tiefer  Unmut  war  auch  in 
den  lyrischen  Gedichten  seiner  'Anthologie  auf  das  Jahr  1782''^  bald  mit 
überschwänglichen  Wendungen  nach  Hauers  und  Klopstocks  Vorbild,'''  bald 
mit  cynischem  Hohn,  mit  roher  Nachahmung  Bürgers  zu  Tage  getreten." 
Jetzt  beschloss  er  zu  fliehen.  Wahrend  eines  Hoffestes  am  21.  September 
fuhr  er  mit  dem  Musicus  Streicher  '^  aus  Stuttgart  hinweg.  Allein  in  Mann- 
heim empfing  ihn  der  Intendant  des  Nationaltheaters,  Heribert  von  Dalberg, 
nur  kalt  und  die  Schauspieler  verwarfen  das  von  Schiller  mitgebrachte  Trauer- 
spiel 'die  Verschwörung  des  Fiesco'.  Da  rettete  ihn  aus  wahrer  Not  die 
Einladung  der  Frau  von  Wolzogen,  deren  Scehne  auf  der  Karlsschule  Schiller 
kennen  gelernt  hatten.  Den  Winter  und  Frühling  1783  verlebte  er  auf  ihrem 
Gute  in  Baueibach  bei  Meiningen ,  und  brachte  im  Sommer  sein  zweites 
Trauerspiel"^  umgearbeitet  nach  Mannheim  zurück.     Freilich  der  Stoff,    den 

Namen    einzelner  Studenten  .    welche   zu   den  Kaeuhern    übergehen.  11)  Als  Verlagsort 

war  angegeben  :  Frankfurt  und  Leipzig.  Eine  für  die  Mannheimer  Bühne  verbesserte  Auf- 
lage erschien  Mannheim  1782,  und  gleichzeitig  in  Stuttgart  eine  zweite  des  Originals. 
Zahlreiche  andere,  auch  Nachdrucke,  z.  T.  Bearbeitungen  für  andere  Bühnen  folgten. 
Wichtig  für  Schillers  Fortschreiten  ist  seine  Selbstrecension  der  Raeuber  in  seiner  Zeit- 
schrift 'Wirtembergisches  Kepertorium  der  Literatur".  Stuttgart  1782.  IIa)  F.  Vetter 
in  Schnorrs  Arch.  XII.  404  fgg.  12)  '(Tedruckt  zu  Tobolsko'  (Stuttgart):  wiederholt 
I7it8.  Neudruck  durch  K.  v.  Bülow.  Heidelberg  1850.  13)  So  besonders  in  den 
Oden  an  Laura .  welche  er  an  eine  verwitwete  Hauptmann  Fischer  gerichtet  haben  soll. 
Auch  Schillers  Semele'  erschien  in  der  Anthologie".  14)  Diese  Gedichte  hat  er  selbst 
spjpter  grossenteils  verworten.  15)  Dieser  veroä'entlichte  Schillers  Flucht  von  Stutt- 
gart und  Aufenthalt  in  Mannheim  von  1782  bis  1785'.  Stuttg.  u.  Augsburg  1836.  Hier 
ist   irrig    der  17.  September  als  Tag  der  Flucht   angegeben.     16)  Erster  Druck   des  Fiesco, 


§161  SCHILLERS  JUGEND  DICHTUNG.  507 

er  nach  Rousseaus  Hinweis  mit  Benutzung  franzoesischer  Geschichtsquelleu 
behandelt  hatte,  besass  für  deutsche  Zuschauer  wenig  Anziehungskraft,  da 
ihnen  repubUkanische  Tugend  im  Kampfe  gegen  Herrschergelüste  etwas  fremdes 
war.  Besser  gelang  es  Schiller,  als  er  seine  Dichtung  auf  den  heimatlichen 
Boden  zurückführte  und  in  'Kabale  und  Liebe' '^  (Mannheim  1784)  die  Mai- 
tressenwirtschaft und  den  Soldatenverkauf  seines  Herzogs  brandmarkte.  Für 
die  tragische  Verwertung  der  Standesvorurteile,  insbesondere  für  die  realistische 
Schilderung  des  Bürgertums  gab  ihm  Leopold  Wagner  mehrfach  das  Muster. 
Aber  auch  dieser  Erfolg  sicherte  Schillers  Stellung  in  Mannheim  nicht. 
Theaterdichter  blieb  er  nur  bis  in  den  Herbst  1784;  die  Aufnahme  in  die 
deutsche  Gesellschaft  brachte  keine  weiteren  Vorteile.  Die  beim  Eintritt  ge- 
haltene Vorlesung  'Was  kann  eine  gute  stehende  Schaubühne  eigentlich  wir- 
ken?' veröffentHchte  er^*  in  seiner  'Rheinischen  Thalia'  (Mannheim  1785), 
konnte  jedoch  diese  Zeitschrift  nicht  über  das  erste  Heft  hinausführen.  Seine 
Freunde  verliessen  oder  verrieten'^*  ihn;  Charlotte  von  Kalb, '^  die  als  Gattin 
eines  Offiziers  in  franzoesischen  Diensten  ihm  in  Mannheim  nahe  trat,  konnte 
durch  ihre  schwärmerische  Neigung  ihn  nur  verwirren.-"  Doch  vermittelte 
sie  Schillers  erstes  Zusammenkommen  mit  Karl  August  von  Weimar,  dem  er 
zu  Weihnachten  1784  in  Darmstadt  den  ersten  Act  von  Don  Carlos  vorlas 
und  der  ihm  dafür  den  Titel  eines  Rates  erteilte.  Nach  Sachsen,  wo  er  für 
seine  litterarische  Thsetigkeit  einen  besseren  Boden  zu  finden  hoffte,  zog  er 
im  Sommer  1785.  Dorther  waren  ihm  schon  ein  Jahr  vorher  Briefe  zuge- 
kommen, in  welchen  der  Consistorialrat  Körner  und  die  Seinigen  ihm 
ihre  warme  Freundschaft  und  Verehrung  aussprachen.  Ihnen  nahe  lebte  er 
in  Leipzig  und  in  Gohlis,  spseter  mit  ihnen  in  Dresden  zusammen.  Hier 
dichtete  er  das  begeisterte  Lied  'an  die  Freude',  hier  vollendete  er  'Don 
Carlos'.  Hatte  er  für  dieses  Trauerspiel  im  Anschluss  an  eine  Novelle  von 
Saint  Real  anfänglich  den  Kampf  des  heldenmütigen  Jünglings  gegen  den 
despotischen  Vater,  der  ihm  die  Braut  geraubt,  zu  seinem  Vorwurfe  genom- 
men, so  trat  nun  Marquis  Posa,  der  Fürsprecher  für  Gedankenfreiheit  in  den 

Manuheim  1783.  17)  So  hatte  Iffland  das  Stück  benannt,  welches  ursprünglich  'Louise 

Millerin'  heissen  sollte.  18)  LB.  3,  963  fgg.  18a)  So  Iffland.  der  in  Gotters  Posse 

'Der  schwarze  Mann'  den  Dichterling  Flickwort   spielte,    eine    Karrikatur  Schillers:    Minor, 
Schiller  2,  232  fgg.  19)  Geh.  1781    zu  Waltershausen  im  Grahfeld.    starb  sie  1843  zu 

Berlin.     Ihr  sibyllinischer  Lebensbericht  wurde  von  E.  Palleske  herausgegeben:  'Charlotte. 
Gedenkblätter  von  Ch.  von  Kalb\  Stuttgart  1879.  20)  An  sie  gerichtet  sind  Schillers 

Gedichte  'der  Kampf,    zuerst  'Freigeisterei    der    Leidenschaft"  genannt :    und  'Resignation'. 


508 


NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT. 


XVHl  JAHRII. 


§  IfJl 


Vonlor^ruiul.  Die  Umarbeitung  verursachto  freilich  eine  gewisse  Unklariicit 
der  Intrigue  und  eine  Überfülle  des  Stott's,  wie  Schiller  in  seinen  IJriefen 
über  Don  Carlos'-*'  selbst,  zugestehen  musste.  Aber  die  ha'here  Auffassung 
brachte  auch  eine  gewtehltere  und  nuiiniehr  von  allen  Dialectfreiheiten  ge- 
reinigte Sprache  mit  sich;  di(^  Prosaform  der  älteren  Stücke  war  gegen  die 
immer  kunstvoller,  getragener  gebauten  fünffüssigen  Jamben  nateh  dem  Muster 
von  Lessings  Nathan  ausgetauscht.  So  erschien  Dom  Karlos,  Infant  von  Spanien' 
zu  Leipzig  1787;  die  ersten  Acte  waren  sclion  vorher  in  Schillers  Zeitschrift 
Thalia'  abgedruckt  worden,  welche  er,  die  Mannheimer  Anfänge  wieder  auf- 
nehmend, zu  Leipzig  1787  — t)i  herausgab  und  durcli  die  Neue  Thalia', 
ebd.   171)2—93  fortsetzte. 

1787  siedelte  Schiller  nach  Weimar  über,  wo  er  Frau  von  Kalb  wieder 
sah.  Ein  besseres  Glück  jedoch,  als  die  Verbindung  mit  ihr  ihm  hätte  be- 
reiten können,  gewann  er  durch  seine  Verlobung  mit  Charlotte  von  Lenge- 
feld,'-- deren  Familie  er  1788  bei  einem  Sommeraufcnthalt  in  Volkstaedt  bei 
Kudolstadt  na;her  kennen  gelernt  hatte.  Damals  suchte  er  durch  die  Bear- 
beitung einiger  Dramen  des  Euripides,'^''  allerdings  nach  franzoesischen  und 
lateinischen  Übersetzungen,  und  durch  die  Übertragung  des  II.  und  IV.  Buches 
der  Aeneis  in  Ottaverime^^  sich  an  den  classischen  Mustern  des  Altertums 
zu  schulen.  Die  tiötter  Griechenlands'  1788  sprachen  die  Sehnsucht  des 
Dichters  nach  der  griechischen  Bildung  aus;  'die  Künstler  1789^''  priesen 
die  Kunst  als  die  Erzieherin  des  Menschengeschlechts  und  als  die  Führerin 
des  Triebes  das  Wahre  zu  erkennen,  das  Gute  zu  wollen.  Beide  Gedichte 
waren  in  Wielands  Teutschem  Mercur  erschienen;  hier  verwertete  auch 
Schillers  Abfall  der  vereinigten  Niederlande  von  der  spanischen  liegierung' 
1788  die  Studien  des  Dichters  für  Don  Carlos  in  historischer  Darstellung, 
blieb  jedoch  unvollendet. 

Diese  historischen  Studien  veranlassten  eine  Berufung  Schillers  an  die 
Universitset  Jena,  wo  er  am  26.  Mai  1789  seine  Antrittsrede  hielt  'Was  heisst 
imd  zu  welchem  Ende  studiert  man  Universalgeschichte?'  Am  20.  Februar 
1790    fand    seine    Hochzeit    statt.      Neben    den    akademischen    Vorlesungen 


21)  Zuerst  im  Teut«chen  Mercur  1788.  22)  Geb.  1766,  gest.  1826  zu  Bonu.     Ihr  Brief- 

wechsel ist  abtjcdruckt  iu:  'Schiller  uud  Lotte,  1788.  1789",  Stuttg.  u.  Augsburg  1856. 
'Charlotte  von  Schiller    und    ihre   Freunde'.     Stuttgart  186U-6Ö.    lll.  23)  Iphigeuie 

in  Aulis'  und  'die  Phceuizieriuuen',  beide  iu  der  Thalia  1789.  Hier  erschien  auch  der 
Geisterseher",  ein  unvollendeter  Roman  über  geheime  Gesellschaften  und  ihren  Einfluss  vor 
allem  auf  die  confessionelleu   Verhältnisse.         24)  Neue  Thalia  1792.  25)  LB.  2,  1177. 


§  161  SCHILLER  IN  SACHSEN  UND  IN  JENA.  509 

arbeitete  er  eine  'Geschichte  des  dreissigjaehrigen  Krieges'  aus,^''  die  sich 
durch  glänzende  Darstellung,  insbesondere  durch  eindrucksvolle  allgemeine 
Betrachtungen  wie  durch  scharfe  und  farbenreiche  Characterschilderungen 
auszeichnete,  wenn  sie  auch  weniger  als  das  ältere  Geschichtswerk  auf  Quellen- 
studium beruhte.  Die  übermsessige  Anstrengung,  mit  welcher  Schiller  diese 
und  verwandte  Arbeiten  betrieb,  ward  für  seine  Gesundheit  verhängnisvoll. 
Bei  einem  Besuch  in  Erfurt,  wo  Karl  von  Dalberg,  der  Coadjutor  des  Kur- 
fürsten von  Mainz,  ihm  für  den  Fall  seiner  Nachfolge  im  Erzbistum  glän- 
zende Aussichten  eröffnete,  brach  im  Januar  1791  die  Krankheit  aus,  welche 
den  Dichter  in  immer  wiederholten  Anfällen  mehrmals  an  den  Rand  des 
Grabes  brachte  und  ihm,  so  wenig  seine  Dichtung  das  erkennen  lässt,  nur 
mit  beständigen  Unterbrechungen  und  Beschränkungen  eine  weitere  Thsetig- 
keit  gestattete.  Die  allgemeine  Teilnahme  und  Trauer  um  den  schon  Tot- 
gesagten führte  doch  zu  einer  Unterstützung  von  Dänemark  her,  die  ihn  der 
dringenden  Sorge  um  seinen  Unterhalt  überhob.  Der  Herzog  Friedrich 
Christian  von  Augustenburg  und  Graf  Schimmelmann ,  durch  den  Dichter 
Baggesen  von  der  Bedrängnis  Schillers  unterrichtet,  boten  ihm  eine  Pension 
auf  drei  Jahre  an  und  Hessen  sie  auch  noch  zwei  weitere  Jahre  fortdauern. 
Seinen  Dank  stattete  der  Dichter  ab,  indem  er  dem  Herzog  das  reifste  und 
tiefste  seiner  philosophischen  Werke  zueignete. 

Schon  auf  der  Karlsschule  hatte  sich  Schiller  mit  philosophischen  Unter- 
suchungen beschäftigt,  hauptsächlich  nach  Anleitung  des  Schotten  Ferguson, 
dessen  Moralphilosophie  Garve  übersetzt  und  erlseutert  hatte  (§  156,  25). 
Dann  legte  er  in  seinen  'Philosophischen  Briefen  zwischen  Julius  und  Raphael' 
die  schwärmerischen  Grundsätze  seiner  Jugendzeit  nieder  und  Hess  ihnen 
durch  Körner  die  kühleren  Ansichten  Kants  entgegenstellen.^^ 

Mit  Kant'-^^*  beschäftigte  sich  nun  Schiller  auf  dem  Krankenbett,  und 
wenn  er  dessen  Kritik  der  reinen  Vernunft'  und  'Kritik  der  praktischen  Ver- 
nunft' unwiderlegbar  fand,  so  bot  ihm  Kants  'Kritik  der  Urteilskraft'  Anlass 
zur  Erweiterung  und  Berichtigung.  Das  objective  Merkmal  des  Schoenen, 
welches  Kant  zu  finden  verzweifelte,  erkannte  Schiller  in  der  Freiheit,  in  der 
Selbstbestimmung.     Schoen    ist  was  sein  Gesetz  in  sich  trsegt  oder  zu  tragen 

26)  .sie  ersehieu  im  Historischeu  Kalender  für  Dameu  für  1791—93  zu  Leipzig.  Daraus 
LB.  3,  981  fgg.  27)  lu  der  Thalia  1786.     Die  eingelegte  Theosophie  des  Julius'  ge- 

hoert  zu  dem  Gedicht  "^FreuudschatV  iu  der  Anthologie.  Diese  und  andere  philosophische 
uud  historische  Arbeiten  vereinigte  Schiller  als 'Kleinere  prosaische  Arbeiten',  Leipzig  1792 
bis  1802.   IV.  27a)  E.  Kühnemann,    Die  Kantischeu  Studien  Schillers.   Marburg  1889. 


r.io  NP:iiiiouiii)EUTsc'iiK  /r.rr.      xviii  jaiikii.        §  lüi 

scheint.  Dieson  Begriff  erprobte  er  an  der  Beurteilung  des  menschlichen 
lliuulehis  uml  fügte  von  seinem  Standpuiict  aus  zu  Kants  Gebot  die  Pflicht 
über  die  Neigung  siegen  zu  lassen,  noch  die  Anforderung  hinzu  «lass  die 
Neigung  sich  d»T  Pflicht  anscldiesse,  dass  das  Gute  nicht  nur  gethan  werde, 
sondern  auch  freiwillig  und  gern  gethan  werde.  Der  weiteren  Ausführung 
dieser  ajsthetiüchen  Grundsätze,  welche  er  in  seinen  Vorlesungen  und  in 
Briefen  an  Körner-"  festgestellt  hatte,  widmete  er  hauptsächlich  drei  groessere 
Arbeiten. 

179;}  schrieb  er  über  Anmut  und  Würde': -^  erstere  setzte  er  in  die 
Freiheit  der  willkürlichen  Bewegungen  und  erklan-te  sie  für  den  Ausdruck 
einer  schd'uen  Seele,  letztere  fasste  er  als  die  Beherrschung  der  unwillkür- 
lichen Bewegungen  und  als  Kennzeichen  einer  erhabenen  Gesinnung.  Auf 
den  sittlichen  Wert  der  Hchcenheit  und  Kunst  ging  er  ein  in  den  Briefen 
über  ajsthetische  Erziehung,  welche  er  ursprünglich  an  den  Prinzen  von  Au- 
gustenburg gerichtet  hatte,  für  den  Druck  aber,  da  die  Originalien  beim 
Brande  des  Schlosses  in  Kopenhagen  1794  untergegangen  waren, ^**  erweiterte 
und  mehr  mit  den  Ausdrücken  der  Schule  in  Übereinstimmung  brachte.  So 
erschienen  sie  in  den  Hören  1795.  Schiller  begann  mit  dem  Hinweis  auf 
die  franzoesische  Revolution,-"  welche  gezeigt  habe  dass  die  Menschheit  noch 
nicht  tWhig  sei  sich  nach  Vernunftgesetzen  zu  regieren.  Dann  führte  er  aus 
dass  die  ästhetische  Stimmung,  wie  sie  durch  die  Beschäftigung  mit  dem 
Schoenen  hervorgebracht  werde,  zwar  an  sich  noch  nicht  moralisch  genannt 
werden  könne,  aber  die  zum  Handeln  nach  dem  Sittengesetz  notwendige 
Freiheit  von  der  sinnlichen  Begierde  herstelle. '^     Endlich  wandte  der  Dichter 

28)  Auch  biographisch  ha'chst  wertvoll,  erschien  'Schillers  Briefwechsel  mit  Körner  von  1784 
an*  zu  Berlin  1847,  IV:  *1874.  Für  die  Zeit  von  1792  ab  finden  sich  philosophische  Bemer- 
kunü;cn  Schillers  auch  im  'Briefwechsel  zwischen  Schiller  und  Wilhelm  vou  Humboldt.  Mit  einer 
Vorcriuuerung  über  Schiller  und  deu  (iaug  seiner  Cieistesentwickelung',  Stuttg.  u.  Tüb.  183U. 
*1876;    und    in   Schillers    und  Fichtes   Briefwechsel,    hg.  von  J.  H.  Fichte,    Berlin    1847. 

29)  Zuerst  in  der  N.  Thalia  und  für  sich  erschienen,  Leipzig  1793.  30)  Vgl.  hierüber 
'Schillers  Briefwechsel  mit  dem  Herzog  Friedrich  Christian  von  Schleswig-Holstein- .\ugusten- 
burg",  eingeleitet  und  herausgegeben  von  F.  Max  Müller.  Berlin  1876.  Eine  teilweise 
erhaltene  Abschrift  der  Originale  ist  abgedruckt  als  'Briefe  von  Schiller  an  Herzog  F.  C. 
von  S.  H.  Augustenburg  über  ästhetische  Erziehung',  hg.  von  A.  R.  J.  Michelsen ,  Berlin 
1876.  Über  das  Verhältnis  der  Originale  zu  Schillers  Druckschrift  s.  Breul  Zs.  f.  d.  Alt.  28. 
3.Ö8  Igg.  31)  Schiller  ward  1792  als  Gille,  j)ublictste  zum  franz<jesischen  Bürger  ernannt, 
erhielt  aber  das  Diplom  erst  1798.  Seine  Absicht  eine  Verteidigungsschrift  für  Ludwig  XVI 
zu  schreiben,  führte  er  nicht  aus.  32)  Der  VI  Brief  an  den  Herzog  ist  ziemlich  un- 
verändert  (,s.  Zs.  f.  d.  A.  28,    376)    für    sich    erschienen.     'Über    deu    moralischen    Nutzen 


§  161  SCHILLERS  PHILOSOPHISCHE  SCHRIFTEN.  511 

seine  Grundsätze  auf  die  Unterscheidung  der  Dichtarten  und  der  Dichtgat- 
tungen an  in  den  Abhandlungen  'Über  naive  und  sentimentalische  Dichter',''^ 
welche  er  gleichfalls  in  den  Hören  1795  und  96  veröffentlichte.  Die  naiven 
Dichter,  zu  denen  er  auch  Gu'the  rechnet,  befinden  sich  in  Übereinstimmung 
mit  der  Natur,  die  sentimentalischen  empfinden  die  Abweichung  der  Kultur 
von  der  Natur  und  aeussern  dies  entweder  mit  Sehnsucht, und  Klage,  wie  die 
idyUischen  und  elegischen,  oder  mit  Spott  wie  die  satirischen;  die  Tragoedie 
und  Komoedie  bringen  diese  Stimmungen  nur  in  die  dramatischen  Formen. 

Damit  schloss  Schiller  seine  philosophischen  Untersuchungen  wesentlich 
ab.  Er  hatte  im  Herbst  1793  bis  zum  Sommer  1794  die  Heimat  besucht 
und  seine  Gesundheit  befestigt,  seine  Zufriedenheit  wieder  hergestellt.  Die 
Rückkehr  nach  Jena  brachte  ihn  mit  Goethe  in  immer  naehere  Verbindung 
und  zugleich  wieder  in  dichterische  Thajtigkeit.  Die  Hören  wurden  1794 
begründet,  der  Musenalmanach  1795.  Noch  setzte  er  als  Lyriker^*  zunsechst 
die  frühere  Ideendichtung  fort:  'Die  Macht  des  Gesanges',  'das  Ideal  und  das 
Leben',  'Elegie' ^^  spaeter  als  'Spaziergang'  bezeichnet,  eine  Schilderung  des 
Übergangs  von  Natur  zu  Kultur,  wie  sie  sehnlich  auch  im  'Bürgerlied',^*^ 
spaeter  'Das  eleusische  Fest'  genannt,  erscheint.  Auf  das  Xenienjahr^'  1796 
folgte  das  Balladenjahr  1797.  Schiller  praegte  dieser  letzteren  Gattung  den 
lehrhaften  Zug  auf,  welcher  eine  meist  der  antiken  oder  mittelalterlichen  Sage 
entnommene  Erzaehlung  ^'^  zum  Beispiel  eines  moralischen  Satzes  machte.  1798 
gedichtet,  erschien  'das  Lied  von  der  Glocke'  1800,  eine  kunstvoll  mit  den 
einzelnen  Vorgängen  des  Glockengusses  verflochtene  Betrachtung  des  haeus- 
lichen  und  bürgerlichen  Lebens,  gleich  ausgezeichnet  durch  die  Anschaulich- 
keit der  Bilder  und  durch   die  Innigkeit  der  Empfindung. 

Gleichzeitig  setzte  Schiller  seine  beste  Kraft  an  das  Drama.  Auf  Grund 
seiner  früheren  und  nun  erweiterten  historischen  Studien  schrieb  er  seit  1796 
das  Trauerspiel  Wallenstein,  dessen  einzelne  Teile  1798  und  1799  zur  Auf- 
führung kamen,  waehrend  das  Ganze  zuerst  zu  Tübingen  1800  in  den  Druck 
gelangte.  Das  Werk  hatte  einen  solchen  Umfang  erhalten,  dass  nur  der 
Rahmen  einer  Trilogie  dafür  ausreichte.  Im  Vorspiel  'Wallensteins  Lager' 
zeigt   sich    Schillers    Meisterschaft   in  der    zum  Teil   komischeu  Characteristik 


ästhetischer  Sitten  :  LB.  3,  997  fgg.  33)  Spaeter  'Über  u.  u.  s.  Dichtung".  34)  Schillers 
Gedichte'  erschieuen  zuerst    gesammelt    zu  Leipzig  1800.  1803,  IL  35)  LB.  2 ,    1213. 

36)  LB.  2,  1195.  37)  LB.  2,  1215.  38)  'Der  Ring  des  Polykrates'  LB.  2,  1225; 

Die    Kraniche    des    Ihycus"    1233;     Der    Taucher'    1228:    'Der  Graf    von    Habsburg'  1238. 

Wackernagel,  Litter.  Geschichte  H.  "^ 


512  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVHI  JAHKH.  §  101 

voIkstüinli(^lier  Elemente,-'''  wofür  er  die  lässige  Spraclio,  die  kurzen  Reim- 
pare  vortrottiich  verwendete.  Die  Piccoloinini'  verbinden  den  edelsten  8til 
mit  der  schärfsten  /eiclinung  soldatischer  Gra'sse  und  Verworfenheit;  Wallen- 
steins  Tod'  steigert  kunstvoll  die  Tragik  des  Schicksals,  welches  erst  üher 
die  Angeho'rigen  des  Feldherrn,  dann  über  ihn  selbst  hereinbricht.  Eine 
andere  Phase  des  gewaltigen  Religionskriegs,  der  einst  ganz  Europa  erschüt- 
terte, stellt  'Maria  Stuart"  dar,  18UÜ  aufgeführt,  IHÜl  zu  Tübingen  veröffent- 
licht. Dem  rührenden  Untergang  der  leidenden  Heldin  dieser  Traguidie  steht 
das  entflammende  Beispiel  der  Yaterlandsbegeisternng  gegenüber,  welches  die 
Jungfrau  von  Orleans'  darbot;  wie  Maria  Stuart'  hauptsäidilich  nach  der  Ge- 
schichte Englands  von  Rapin  de  Thoiras  behandelt.  Das  sptetere  Stück  wurde 
1801  in  Leipzig,  in  Weimar  erst  180Ji  auf  die  Bühne  gebracht,  weil  der 
Herzog  durch  Voltaires  PiircUe  gegen  den  Stoff  eingenommen  war;  gedruckt 
wurde  es  1802.  1803  folgte  die  Braut  von  Messina  oder  die  ieindlichen 
Brüder,  dem  Gegenstande  nach  besonders  an  .Julius  von  Tarent'  von  Leise- 
witz erinnernd,  wie  schon  die  Raeuber"  den  Bruderzwist  behandelt  hatten. 
Aber  einen  eigentümlichen  und  nicht  eben  glücklichen  Versuch  machte  Schiller 
mit  der  Benutzung  der  antiken  Schicksalsidee  und  der  Erneuerung  des  Chores, 
den  er  gleich  in  zwei  Parteien  teilte,  übrigens  mit  aller  Pracht  seiner  Lyrik 
ausstattete.*'^  Ebenso  legte  er  lyrische  Partien,  wie  schon  in  die  Jungfrau  von 
Orleans',  auch  iu  'Wilhelm  Teil'  ein,  worin  er  auf  Grund  der  Erzählung  von 
Tschudi  und  der  von  seiner  Gattin  und  von  Goethe  erhaltenen  Schilderungen 
Land  und  Leute  der  Schweiz  bewunderungswürdig  darzustellen  wusste.  Nur 
das  Bestreben  Teils  That  vor  dem  Richterstuhl  unserer  Moral  zu  rechtfer- 
tigen führte  zu  nicht  eben  einstimmender  Rhetorik.*'  Noch  eine  geschicht- 
liche Traga?die,  'Demetrius',  konnte  Schiller  nur  in  den  ersten  Teilen  fertig 
stellen:  aus  dem  Nachlass  erschienen  sie  erst  in  den  'Sämtlichen  Werken', 
Stuttgart  und  Tübingen,  1812 — 15.  Vergeblich  haben  sich  Goethe  und  andere 
bemüht  diesen  grossartigen  Torso  zu  vollenden.  Die  gehobene,  gedanken- 
reiche Sprache  seiner  Tragcedieu  übertrug  Schiller  auch  auf  seine  Bejirbei- 
tungen  von  Shakespeares  Macbeth  (1801),  der  Pha?dra  des  Racine  (1805) 
und  des  tragikomischen  Maerchens  Turandot'  nach  Gozzi  (1802)*^,  wie  er  sie 
auch  in  dem  Festspiel  'die  Huldigung  der  Künste',  1804,  erklingen  liess. 


39)  Für    die    Kapuzinerpredigt    benutzte    Schiller    Abraham    a  Sancta    Clara :    §  131  ,    21. 

40)  LH.  2,  1211.  41)  LB.  2,  1245.  42)  Daraus  die  Rietsel  LB.  2,  1202.     Über 
diese  Bearbeitungen  fremder  Theaterstücke  s.  Alb.  Küster,  Schiller  als  Dramaturg,  Berlin  IWl. 


§  1G2  SCHILLERS  TRAGGEDIEN.     BRONNER.  513 

Um  dem  Theater  naeher  zu  sein,  war  Schiller  Ende  1799  nach  Weimar 
gezogen.  Er  blieb  hier  trotz  der  verlockenden  Aussichten,  welche  ihm  1804 
bei  einem  Besuch  in  Beilin  eröffnet  worden  waren.  1802  war  er  geadelt 
worden.  Er  starb  am  9.  Mai  1805:  sein  Bild  lebt  so  wie  es  ein  Epilog 
Goethes  zur  Glocke  in  demselben  Jahre  entwarf,  auf  immer  unter  uns  fort. 

Schillers  Gedichte  haben  für  unsere  Jugendbildung  eine  aihnliche  Be- 
deutung erlangt  wie  sie  Homer  bei  den  Griechen  besass.  Der  Sänger  der 
Freundschaft  hat  im  Leben  und  im  Tod  die  Kraft  besessen,  das  Gemüt  ein- 
facher Menschen  ganz  für  sich  einzunehmen.  Seine  Wirkung  auf  das  deutsche 
Yolk  ist  eine  einzigartige  geblieben. 

§  162. 

Goethe  und  Schiller  teilten  den  Beifall  ihrer  Zeit  mit  zahlreichen  anderen 
Dichtern,  von  denen  die  älteren  ja  zum  grossen  Teil  bis  zu  Ende  des  18, 
Jahrhunderts  thsetig  waren  und  auch  einen  grossen  Teil  der  jüngeren  auf 
ihre  Bahnen  lenkten.  Auf  dem  lyrischen  Gebiet  fand  damals  schon  Schiller 
einige  Nachahmung,  Goethe  erst  spaeter.  Es  waren  die  sentimentahschen  Gat- 
tungen der  Idylle,  der  Elegie,  der  Satire,  welche  mit  Vorliebe  gepflegt  wurden. 

Unter  den  Idyllendichtern  schloss  sich  Franz  Xaver  Bronner'  eng  an 
Gessner  an,  dessen  Hilfe  er  auch  in  bedrängter  Lage  erfahren  hatte.  1758 
zu  Hoechstsedt  an  der  Donau  geboren,  war  er  aus  dem  Kloster  1785  nach 
Zürich  entflohen.  1793  machte  er  einen  Versuch  zu  Colmar  in  den  Dienst 
der  constitutionellen  Kirche  Frankreichs  einzutreten,  wich  aber  auf  Pfeffels 
Rat  vor  den  Zuständen  der  Schreckensherrschaft  zurück.  Seitdem  lebte  er, 
abgesehen  von  den  Jahren  1810  — 17,  die  er  als  Universitaetsprofessor  zu 
Kasan  zubrachte,  als  Lehrer  meist  in  Aarau,  wo  er  1850  starb.  Bronners 
'Fischergedichte  und  Erzsehlungen'  erschienen  zu  Zürich  1787,  1794  neue 
Fischergedichte',  IL  Wie  Gessner,  dessen  'erstem  Schiff'er"  er  'die  erste  Fi- 
scherinn'  zur  Seite  stellt,  schildert  er  das  Kleinleben  der  Natur,  wie  es  an 
und  auf  dem  Wasser  sich  entfaltet,  mit  griechischen  Namen  für  seine  Helden, 
zaertlich  und  zierlich,  in  Prosa  und  in  reiner,  aber  norddeutsch  gefärbter 
Sprache. 

Anders  die  Idylle  nach  dem  Vorbild  von  Voss.  Seine  niederdeutschen 
Dichtungen  regten  eine  noch  glücklichere  Verwendung  des  oberrheinischen, 
alemannischen  Dialects  an,    und  Johann  Peter  Hebel'  gewann  damit  auch 

§    lo2.      1)  Über  seine  früheren  Erlebnisse  s.  F.  X.  Bronners  Leben  von  ihm  selbst  erzaehlt, 
Zürich  1795—97,  IIl.  2)  Georg  Läugiu,  .1.  P.  Hebel,  ein  Lebensbild.  Karlsruhe  1870; 


514  NEUIIOrilDErTSCHK   7A'AT.     XVITI  .TAlIRFr.  §  102 

den  Beifall  dor  (u'bihk'U'ii  im  übrigen  Deutschland,  vor  allem  den  GcEthes.'' 
Hebel  war  wie  Bronner  armer  Leute  Kind,  geboren  zu  Basel  1760,  ward 
Gymnasiallehrer  und  (ieistlicher,  18 15)  evangelischer  J'rselat  zu  Karlsruhe  und 
starb  auf  einer  Reise  in  Schwetzingen  182<).  Seine  'Alb'mannischen  (Jediehte' 
erschienen  zuerst  zu  Karlsruhe  l.SOH:^  sie  waren  Kinder  des  Heimwehs', 
meist  1801  entstanden,  Erinnerungen  an  die  im  Wiesenthal  verlebte  Kinder- 
zeit, deren  Eindrücke  Hebel  als  V'icar  in  jjörrach  1783 — \)\  erneuert  hatte. 
Einzelnes  war  an  die  dort  gewonnenen  Freunde  gerichtet,-'  deren  Kreis  er  in 
Karlsruhe  und  Strassburg  erweiterte;  obschon  unverheiratet,  pflegte  er  auch 
neckischgemütlichen  Verkehr  mit  Frauen.  Diesen  Beziehungen  galten  seine 
hochdeutschen  Dichtungen;  die  allemannischen  haben  einen  freieren,  allge- 
meineren Inhalt.  Wie  Voss  gebraucht  auch  Hebel  den  Hexameter,  nur  läs- 
siger; wie  Voss  übertragt  er  Seenen  aus  Theokrit  mit  Wechselgesängen  in 
deutsche  Verhältnisse.  Die  betrachtenden  Gedichte  sind  von  sinniger  Auf- 
fassung, ganz  vom  Standpunct  des  Landmanns  aus  erfüllt;  ein  gro'sseres  gibt 
die  allegorische  Schilderung  seines  Heimatthaies,  'die  Wiese\  Neben  ihnen 
stehen,  auch  in  der  Form  volkstümlich,  die  Gedichte  in  Reimstrophen,  oft 
einfache  Ergüsse  des  tiefsten  (Jefühls,  etwa  das  Glück  einer  jungen  Mutter 
aussprechend,  oder  harmlose  Kundgebungen  der  Weinfröhlichkeit  des  Mark- 
gra^flers."'  Dass  diese  allemannischen  Gedichte  treffend,  aber  zuerst  unwill- 
kommen Sinnes-  und  Redeweise  der  Heimatgenossen  wiedergaben,  bewies  das 
Missfallon,  das  sie  zuerst  hier  erregten  und  welches  sich  bis  zu  Drohungen 
verstieg.  Um  so  "[lücklicher  waren  auf  das  Volk  selbst  berechnet  die  Prosa- 
stücke,  welche  Hebel  als  'Erziehlungen  des  Rheinländischen  Hausfreundes' 
von  1803  ab  verfasste  und  zuerst  im  Badischen  Landkalender  veröffent- 
lichte.''* Von  1808  bis  15  erschien  der  Kalender  als  'Rheinländischer  Haus- 
freund" unter  Hebels  Redaktion;  da  gab  eine  Erzaehlung  der  katholischen 
Curie  Anstoss  und  seitdem   ist   nur  noch    der  Jahrgang  1819  von  ihm  selbst 


vgl.  auch  die  Einleitungen  zu  den  Ausgaben  von  Hebels  Werken,  insbes.  die  von  Behagbei 
zur  Auswahl  iu  Kürschners  Nat.bibl.  142.  3)  Jen.  Lit.  Zeit.  1805.  4)  Diese  Auf- 

lage tragt  den  Namen  des  Dichters  noch  nicht.  Hebels  sämtliche  Werke  erschienen  zuerst 
Karlsruhe  1832-34,  VIII.  Mit  Einlcituii?  von  G.  Wendt,  Berlin  1873.  74.  II;.  von 
li.  Längin,  München  1873.  Dazu  komiiit  (j.  Längin,  Aus  J.  P.  Hebels  ungedruckten  Pa- 
pieren, Nachtra-ge  zu  sei  neu  Werken,  Beitra;ge  zu  seiner  Characteristik,  Tauberbischofs- 
lieim  1882.  5)  Briefe,  hg.  von  Behaghel,  1,  Karlsruhe  1883.     Vgl.  auch  J.  P.  Hebel, 

Festgabe  zu  seinem  hundertsten  Geburtstage,  hg.  von  F.  Becker,  Basel  1860.  Aus 
Hebels  Briefwechsel,  Freiburg  1860.  Briefe  von  .1.  P.  Hebel  an  einen  Freund  (Nüsslin), 
Maunheiin  1860.  Nachtrag  1862.  ü)  Pr-.ben  LB.    2,    1125.  6a)  LB.  3,  1261  fgg. 


§  162  HEBEL,  USTERI.  515 

hergestellt  worden.  Schon  1811  war  sein  'Schatzkästlein  des  Rheinischen 
Hausfreundes'  erschienen,  eine  Auswahl  seiner  besten  Erzsehlungen.  Er  be- 
nutzte für  diese  Schriftstellerei  ältere  und  neuere  Quellen,  Paulis  'Schimpf 
und  Ernst'  ebenso  wie  das  'Vademecum  für  lustige  Leute' ;^  aber  er  gab 
ihnen  erst  das  echt  volkstümliche  Gepräge,  die  freie  Satzfügung  und  lose 
Satzverbindung,*^  die  Bildlichkeit  und  die  Hinweisung  auf  das  unmittelbar  vor 
Auge  Stehende.  Die  Moral  ist,  öfters  auch  ironisch,  durch  ein  Merke!  an- 
gefügt, wie  auch  die  Gedichte  zuweilen  mit  einem  trockenen  Schluss  die  rüh- 
rende Erzsehlung  beendigen.  Ja  gefühlvolle  Schilderungen  werden  wohl  durch 
einen  Spass  unterbrochen,  der  das  Gemüt  des  Lesers  wieder  in  das  Gleich- 
gewicht setzt.  Doch  kommt  der  tiefste  Ernst  ebenso  zu  ergreifendem  Aus- 
druck und  überall  fühlt  man  den  sicheren  Grund  der  Religiositset,  wenn 
auch  weniger  als  bei  Claudius  darauf  hingewiesen  wird.  Auch  Wunderbares, 
Ahnungen  und  Prophezeiungen,  lehnt  Hebel  nicht  ab.  Daneben  ergeht  er 
sich  in  ausgelassenen,  auch  derben  Spaessen,  und  gibt  namentlich  die  Streiche 
seiner  Spitzbuben  mit  köstlichem  Humor  wieder.  Politische  Erörterungen 
sind  eingemischt,  die  freilich  sich  den  Zeitverhältnissen  anpassen  und  daher 
für  die  Franzosen  gegen  die  Tiroler  und  gegen  die  Preussen  Partei  ergreifen 
mussten.  Endlich  verwertet  Hebel  seine  naturwissenschaftlichen  Kenntnisse 
in  gemeinnütziger  oder  erbaulicher  ^  Absicht  und  beschäftigt  den  Verstand  mit 
Reetseln  und  Rechenexempeln. 

Hebels  Vorgang  erweckte  zahlreiche  Nachfolge  in  der  Dialectdichtung, 
ganz  besonders  in  der  stammverwandten  Schweiz,  wo  der  Züricher  Johann 
Martin  Usteri^*^  sich  dicht  an  ihn  anschloss.  Geboren  1763  starb  er  1827 
in  Rapperswyl,  wo  er  erkrankt  Heilung  gesucht  hatte.  Einer  reichen  Kauf- 
mannsfamilie angehcerig,  1783  auf  Reisen  durch  Norddeutschland,  die  Nieder- 
lande und  Frankreich,  seitdem  behaglich  zu  Hause  gebheben,  konnte  er  in 
den  Stürmen  um  die  Wende  des  Jahrhunderts  sein  Vermcegen  nur  mit  Mühe 
und  nur  zu  einem  Teile  retten  und  ward  gleichzeitig  durch  den  Verlust  seines 
einzigen  Kindes  schwer  getroffen.  Und  doch  wahrte  er  die  Heiterkeit  seines 
Gemütes,  deren  Ausdruck  in  dem  Lied  Treut  euch  des  Lebens'  (1793) ^^ 
auf  dem  ganzen  Gebiet  deutschen  Gesanges  Wiederhall  gefunden  hatte.  Wie 
Salomo  Gessner,  für  dessen  Andenken  er  Sorge  trug,  war  Usteri  auch  Maler 

7)  Behaghel  (Anm.  2.)  XXIX.  8)  Anakoluthien  und  Parentheseu ;  Ankniipfuugen  mit  Also, 
Drum  usw.  9)  Auch  'Biblische  Geschichten  für  die  Jugend'  gab  er  Stuttgart  1812  uö.  heraus. 
10)  Lebensbeschreibung  in  der  erst  von  David  Hess  aus  dem  Nachlass  veranstalteten  Ausgabe 
der  Dichtungen  in  Versen  und  Prosa  von  J.  M.  Usteri',  Berlin  1831.  111.  n853.        11)  LB.  2, 


51t>  NEUJloCIliJKl  TSCIIK  ZEIT.         XVIll  JAIIIMI.  §  W2 

und  bcsontlors  an  Hchorzliaftcn  Zciohnunji^eii  in  Chodowiockis  Art  unciHchöpf- 
ücli.  Für  die  Züriclier  Küiistlorgestdlschatt,  die  er  1800  zur  allgemein  Schwei- 
zerischen erweiterte,  dichtete  er  muntere  Lieder  und  Balladen,  Seine  beiden 
Idyllen  im  Dialect,  die  ländliche  De  Vicari''  und  die  staedtischc  De  Herr 
Heiri'  haben  satirische  Züge;  doch  weiss  er  auch  etwa  junge  Ma3dchen  zart 
zu  zeichnen.  Eigentümlich  war  Ustori  die  Verwendung  geschichtlicher  Vor- 
stufen seiner  Mundarl :  vcutrettiich  wusste  er  das  mittelhochdeutsche  und  die 
Sprache  des  Kl.  Jahrhunderts  in  Liedern  und  Erzadilungen  nachzubilden,  so 
dass  diese  Stücke,  von  ihm  auch  in  Schritt  und  iülderschmuck  altortündich 
geformt,  selbst  Kenner  auf  dcu  ersten  Blick  tajuschen  konnten:  Thuman  zur 
Lindens  Abentheuer  auf  dem  grossen  Schiessen  zu  Strassburg  ir)76''  ua.  Un- 
vollendet blieb  ein  solcher  als  'Badschenke' '-  gedachter  Novellencyclus  'der 
Erggcl  im  Steinhus.  Wie  die  Sprache  suchte  Ustcri  auch  die  alte  Sitte 
namentlich  in  Festlichkeiten  wieder  zu  beleben  und  wirkte  dafür  durch  seine 
'Neujahrsstücke',  die  an  die  Schuljugend  verteilt  wurden. 

Wadirend  in  der  Schweiz  die  volkstümliche  Dichtung  zur  Wiederbelebung 
des  Altertümlichen  führte  und  somit  in  die  durch  die  Jtomantiker  in  Deutach- 
land hervorgerufene  Strtrmung  einmündete,  zeigte  sich  in  einer  deutschen 
Reichsstadt,  die  in  Folge  der  llevolutiouskriege  ihre  Selbständigkeit  verlor, 
das  alte  Wesen  des  Volkes  in  tüchtiger,  wenn  schon  beschränkter  Sinnesart 
und  gleichfalls  im  Dialect.  Joh.\nn  Koxrau  Griebel,  Stadtflaschner  in 
Nürnberg,  geb.  1736,  gest.  1809,  wurde  durch  ein  Spottlied  auf  die  Schlacht 
bei  Rossbach  zum  Dichten  angeregt  und  sah  seinen  ersten  Versuch  1790  ge- 
druckt. Bis  1806  erschienen  vier  weitere  Sammlungen  von  ihm,  1812  noch 
einiges  aus  dem  Nachlass. '•''  Alle  Gedichte  sind  in  Reimen,  meist  auch  in 
Strophen  abgefasst,  gewudmlich  scherzhaft,  auch  derb,  durchaus  im  Geiste  des 
Handwerkers,  dessen  Geradsinn  und  gesunder  Verstand  sich  durch  die  Schwierig- 
keiten der  Zeit  durchhilft. '^  Viele  Vademecumsgoschichten  begegnen,  darunter 
solche,  die  auch  bei  Hebel  '^  sich  finden,  und  freiUch  hier  glücklicher,  vor  allem 
kürzer  behandelt  sind.  Hans  Sachs,  den  auch  Usteri  scherzhaft  nachahmte,"* 
war  Gruebels  Vorbild;  aber  er  zeigt,  wie  wenig  die  Bildung  des  Handwerkers 

1281;  wo  auch  Stücke  aus  Usteris  mundartlichen  Idyllen.  12)  Geschenk  zu  einer  Badecur: 
vpl.  Murners  Badenfahrt.  Strasshurg  18ö7.  S.  XIX.  18)  Die  beste  Ausgabe  ist  die  mit  Gram- 
matikund  Glossar  von  Karl  Frnnnnann  versehene  'Grübeis  sämtliche  Werke',  Nürnberg  18.J7,  VI. 
Vgl.  auch  Jt'h.  Priem.  K.  Grübel  und  seine  Nachfolger,  Nürnberg  1878.  14)  Goethe.  Jen.  Litt. 
Zeit.  1805,  nennt  Gruebel  einen  'Philister  mit  Bewusstsein".  15)  Der  Bauer  und  der  Doctor 
1.   12  =  Hebels  Erzählung  'Das  seltsame  Recept'.         16)    Der  Frühlingsbote.  Gemähide  ä  la 


§   162  GRUEBEL.     KOÖEGARTEN.     MATT11I8Ö0N.  517 

iu  neuerer  Zeit  auf  einen  selbständigen  Fortschritt  hoffen  Hess.  Freilich  war 
der  Nürnberger  Dialect  nicht  bloss  lautlich  neben  dem  Hebels  ungünstig 
gestellt. 

Auch  schlug  die  lyrische  Dichtung  zu  Goethes  und  Schillers  Zeit  über- 
wiegend einen  ganz  anderen  Weg  ein  und  suchte  sich  moeglichst  den  antiken 
Mustern,  der  classischen  Anschauungsweise  zu  najhern.  So  dichtete  Gotthart 
Ludwig  Ko8E(mrtkx,'^  geboren  1758  zu  Grevismühlen  bei  Wismar,  Pfarrer 
zu  Altenkirchen  auf  Rügen  1792 — 1808,  hierauf  Professor  zu  Greifswald,  wo 
er  1818  starb.  Ein  leichtflüssiger,  weicher,  nur  allzu  fruchtbarer  Dichter*^ 
und  Redner,  ging  er  aus  von  Klopstock,  dessen  Masse  er  viel  gebrauchte, 
schloss  sich  dann  besonders  an  Voss  und  seine  hexametrischen  Formen  an 
und  verfasste  nach  der  'Luise'  insbesondere  Jucunde,  eine  ländliche  Dich- 
tung in  fünf  Belogen',  Berlin  1808:  hier  und  schon  in  der  'Inselfahrt'  1805 
gab  er  begeisterte.  Schilderungen  Rügens,  wie  er  auch  für  seine  Romane, 
Ida  von  Plessen',  Dresden  1800,  II  ua.  diese  Örtlichkeiten  benutzte.  Seine 
'Rede  am  Napoleonstag'  1809  und  seine  politische,  durch  die  liberalen  Phra- 
sen und  Formen  der  Franzosen  bestimmte  Haltung,  konnte  er  durch  seine 
'Vaterländischen  Gesänge'  1813  nicht  wieder  gut  machen. 

Doch  die  Landschaftsdichtung  fand  ihren  Meister  in  Friedrich  von 
Matthisson,*^  welcher,  wie  Schiller ^"^  auseinandersetzte,  es  verstand  die  ein- 
zelnen Vorgänge  der  Naturerscheinungen  in  ihrer  Aufeinanderfolge  zu  stim- 
mungsvollen Bildern  zu  vereinigen  und  etwa  an  ein  'Abendgemeelde'-^  oder 
eine  'Mondscheinlandschaft'  sehnsuchtsvolle  Gedanken  an  die  Heimat,  die 
Kinderjahre,  die  fernen  Freunde  anzuknüpfen.  Auch  die  Strophenformen  er- 
hcehten  den  musikalischen  Eindruck  dieser  Dichtungen.^^  Matthisson,  1761 
zu  Hohendodeleben  bei  Magdeburg  geboren,  ward  früh  mit  Klopstocks  Dich- 
tung bekannt  und  durch  Goethes  Jugendwerke  in  seinem  Enthusiasmus  für 
die  Natur  bestärkt.  1781  in  das  Philanthropin  zu  Dessau  als  Lehrer  einge- 
treten, begleitete  er  spseter  seine  Zoeglinge  auf  Reisen,  welche  ihn  bei  seiner 

Brengher:  LB.  2,  1282.  17)  Auf  den  Titeln  seiner  Schriften  nennt  er  sich  auch  L.  Theobul 
(Theoboul)K.  Über  sein  Leben  s.  H.  Franck,  G.  L.  Kosegarten,  Halle  a/S.  1887.  18)  Vgl. 
Goethes  u.  Schillers  Urteile  in  ihrem  Briefwechsel.  Kosegartens  'Gedichte'  erschienen  zuerst 
Leipzig  1788,  ^ Greifswald  1824—27:  'Dichtungen,  hg.  von  seinem  Sohne.  Eine  Sammlung 
von  Poesie  und  Prosa  veröffentlichte  er  als  Rhapsodien,  Rostock  1790 — 94,  IL  19)  Selbst- 
biographie und  'Erinnerungen'  in  der  Gesamtausgabe  seiner  ^Yerke  letzter  Hand,  Berlin 
1832,  VIII  (dazu  IV  Bände  litterarischer  Nachlass).  H.  Doering,  Matthissons  Leben, 
Zürich  1833.     Matthissons    'Lieder'    waren    zuerst    1781     erschienen.  20)  AUg.    Lit. 

Zeitung  1794.  21)  LB.  2,    1249  fgg.  22)  'Adelaide'  von  Beethoven  componiert. 


518  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XVHl  JAHlül.  §  102 

Gewiindtheit  und  violseitig(Mi  Eiiiptanf^liclikpit  mit  den  meisten  litterarischen 
Groessen  der  Zeit  in  Verbindung  brachten.  Nach  längerem  Autenthalt  in  der 
Schweiz  und  Frankreich  ward  er  1795  Vorleser  und  Ileisegesellschafter  der 
Fürstin  Luise  von  Dessau,  in  deren  Begleitung  er  auch  Italien  sah.  Nach 
ihrem  Tode  1811  lebte  er  bis  1828  am  Hofe  zu  Stuttgart,  von  welchem  er 
bereits  ISO!)  den  Adel  erhalten  hatte.  Seinen  Lebensabend  bis  1831  ver- 
brachte er  wieder  in  Würlitz.  Neben  den  weichen  Landschaftsgemadden  lieh 
er  auch  dem  Unmut  über  den  Zwang  des  Hof-  und  Gesellschaftsdienstes  in 
Epigrammen  Ausdruck  und  verwendete  seine  Formengewandtheit  als  Heraus- 
geber der  'lyrischen  Anthologie',  Zürich   1803  —  7,  XX. 

So  gab  Matthissou  auch  die  Gedichte  mehrerer  seiner  Freunde'-''  heraus, 
von  denen  ihm  besonders  nahe,  auch  als  Dichter,  Johann  Gaudknz  von  Sai.i.s- 
Seewis  stand.  Geboren  1762  auf  Schloss  Bothmer  bei  Malans  nördlich  von 
Chur,  starb  er  ebenda  1834.^*  Die  franzoesische  Revolution  traf  ihn  als 
Hauptmann  in  einem  Schweizerregiment.  Die  Kämpfe  von  1792  erlebte  er 
in  Paris  ohne  selbst  daran  Teil  zu  nehmen,  und  begleitete  dann  das  franzoe- 
sische  Heer  nach  Savoyen.  Seitdem  lebte  er  in  der  Heimat  als  schweize- 
rischer Offizier,  spseter  als  Beamter  des  Kantons  Graubünden.  1793  waren 
seine  Gedichte'-'^  zuerst  erschienen,  mit  einfacherem  Ausdruck,  innigerem 
Gefühl  und  durch  die  Reimstrophen  noch  sangbarer  als  die  von  Matthisson. 
Hölty,  dem  Vorbilde  dieser  Dichtungsweise,   kam  er  am  nsechsten.'-^^ 

Ein  älteres  Muster,  Kleists  Idylle  mit  ihrem  Unmut  über  die  Falsch- 
heit und  Gewaltth^tigkeit  der  Kulturwelt,-"  wiederholte  sich  nicht  sowohl  aus 
litterarischer  Einwirkung,  als  wegen  der  gleichen  stoischen  Gesinnung  in 
Johann  Gottfried  Seumk,^*  dessen  Gedichte  1801  erschienen.-'-'  Geboren 
1763  zu  Poserna  bei  Weissenfeis,  starb  er  zu  Teplitz  1810.     Auch  er  nahm 

23)  Friderike  Brun,  geb.  Munter,  'Gedichte,  herausg.  von  Matthisson',  Zürich  1795  uö. 
'Neue  Gedichte",  Darmstadt  1812,  'Neueste  Gedichte',  Bonn  1820.  Geb.  1765  zu  Graefentonna, 
gest.  zu  Kopenhagen  1835,  verwertete  die  Dichterin  ihre  Reiseeindrücke  aus  der  Schweiz, 
Frankreich  und  Italien  auch  in  Tagebuchform.  24)  G.  W.  Rieder,   Der  Dichter  J.  G. 

von  Salis-Seewis,  St.  Gallen  186.'3;  Adolf  Frey,  J.  G.  von  Salis-Seewis,  Frauenfeld  1889. 
25)  Zu  Zürich,  •M821,  dann  noch  1839.  Auswahl  von  A.  Frey  in  Kürschners  Nat.litt.  41,  2. 
LB.  2,    1261.  26)    Von    anderen    Idyllen-    und    Landschaftsdichtern    lebt    Friedrich 

August  Wilhelm  Schmidt,  Pfarrer  von  Werneuchen,  geb.  1764,  gest.  1838  durch  GfBthes 
Spottgedicht  fort:  'Musen  und  Grazien  in  der  Mark'.  LB.  2.  1087.  Vgl.  auch  A.  W. 
Schlegels   Hohn  LB.   3,  llÜO.  1102  fgg.     Berliner  Neudruck  1889.  27)  'Ein  Canadier, 

der    Europas    übertünchte    Hoeflichkeit    nicht    kannte".  28)     Mein    Leben*,    vollendet 

von  C.   A.    H.   Clodius,    Leipzig    1813.  29)  Sämtliche  Werke,    Lpz.    1826.    XII,    uö. 


§  162  SALIS-SEEWIS,  SEUME,  HÖLDERLIN.  519 

wie  Kleist  am  Kriege  Teil,  aber  gezwungen  in  Amerika  unter  den  von  ihrem 
Landgrafen  verkauften  Hessen,  dann  in  Polen  unter  den  Russen,  Deutsch- 
lands Fall  erfüllte  ihn  mit  tiefer  Bitterkeit.  Ein  Vorleeufer  des  Turnerwesens 
machte  er  1802  zu  Fuss  einen  'Spaziergang  nach  Syracus",  den  er  (Leipzig) 
1803  beschrieb. 

Andere  Dichter  suchten  Schillers  Ideendichtung ,  seine  Verbindung  von 
Philosophie  und  Poesie  nachzubilden:''"  keiner  mit  so  übermächtigem  Gefühl 
und  daher  auch  mit  so  trübem  Schicksal  wie  Friedrich  Hölderlin. "''  Neckar- 
abwärts  von  Schillers  Geburtsort,  zu  Lauffen  bei  Heilbronn  war  er  1770  ge- 
boren. Durch  Schiller  ward  er  1793  an  Frau  von  Kalb  als  Erzieher  ihrer 
Kinder  empfohlen  und  bekleidete  1796 — 98  dieselbe  Stelle  im  Hause  eines 
Frankfurter  Banquiers.  Dessen  Frau,  zu  Hamburg  in  Klopstocks  Kreis  auf- 
gewachsen, ward  Hölderlins  Diotima.  Unter  Misshandlungen  aus  dem  Hause 
getrieben,  lebte  er  zunsßchst  bei  Freunden  in  Homburg,  dann  in  der  Heimat 
und  kam,  nachdem  mehrere  Lebenspleene  gescheitert  waren,  1802  nach  Bor- 
deaux. Aber  noch  in  demselben  Sommer  kehrte  er  zu  seiner  Mutter  zurück, 
zu  Fuss,  wie  ein  Bettler,  wahnsinnig:  vielleicht  hatte  er  unterwegs  den  Tod 
der  Geliebten  erfahren.  Alle  Heilversuche  schlugen  fehl.  1806 — 43  lebte 
er  zu  Tübingen  im  Hause  eines  Tischlers  als  stiller  Pflegling.  Hölderlins 
Dichtungen ^^  sind  Hymnen,  Oden,  Elegien  in  Klopstocks  Formen,  die  er 
aber  mit  neuem  Wohllaut  zu  erfüllen  wusste  und  in  welche  er  seine  ganze 
Begeisterung  für  Freundschaft  und  Liebe,  Vaterland  und  Natur  ergoss.  Doch 
wie  sein  Pantheismus^^  in  Verzweiflung  an  Allem  umschlug,  so  trübte  schon 

30)  Wie  sehr  die  Zeit  solche  Bestrebungen  schätzte,  zeigt  der  Erfolg  der  'Urania'  von 
Christoph  August  Tiedge.  Geb.  1752  zu  Gardelegen,  gest.  1840  zu  Dresden,  fasste  er  in 
diesem  zuerst  zu  Halle  1800  veröfientlichten  Gedicht  die  rationalistische  Unsterblichkeitslehre 
in  freie  Verse  mit  matter,  breiter  Ausdrucksweise.  Tiedges  Werke  erschienen  St.  Gallen 
1832—33,  X;  dazu  Leben  und  Nachlass  1841.  Er  war  Gleims  Schützling  gewesen,  spseter 
sorgte  für  ihn  Elise  (eigentlich  Charlotte)  von  der  Recke  (1756 — 1833),  eine  vornehme 
Kurländerin,  deren  Reise  durch  Deutschland  1784—86  von  ihrer  Begleiterin  Sophie  Becker  be- 
schrieben wurde :  s.  'Vor  hundert  Jahren',  hg.  von  Karo  und  Geyer,  Stuttgart  o.  J.  Die  Gedichte 
der  beiden  Freundinnen  gab  der  Gatte  der  letzteren  heraus  :  Elisens  und  Sophiens  Gedichte 
herausg.  v.  Schwarz,    Berlin  1790.  31)  F.  Hölderlins  Sämtliche  Werke,  hg.  von  Chri- 

stoph Schwab,  Stuttgart  und  Tübingen  1846,  IL  Dichtungen  von  Hölderlin,  mit  biogra- 
phischer Einleitung  von  K.  Köstlin ,  Tübingen  1884.  Vgl.  auch  R.  Wirth  in  Schnorrs 
Archiv  XIV  299.  429.  Carl  C.  T.  Litzmann,  F.  Hölderlins  Leben  in  Briefen  von  und  an 
Hölderlin,  Berlin  1890.  32)  LB.  2,  1:501  fgg.  33)  Hölderlins  philosophische  Äusse- 

rungen stellt  schoen  zusammen  A.  Wilbraudt  in  'Führende  Geister',  hg.  von  A.  Bettelheim  2, 
Dresden  1890.     Hölderlin  beerte  Fichtes  Vorlesungen  in  Jena ;    Hegel  und  Schelling  waren 


520  NEUII0CHDEUT8C11E  ZEIT.         XVlil.  .JAlllUl.  §  162 

die  Voralinuiif;  Hciucs  hurten  Scliicksuls  sein  (icniüt;  seine  EinpaTung  über 
den  kalten  Missbrauch  der  ha'chston  Worte  und  Gedanken,  ül)er  die  Öchwäclie 
des  deutschen  Nationalgeistes"*  brachen  in  Jlohii  und  Verwünschung  aus. 
Mit  solchen  Äusserungen  scidoss  auch  sein  Jvonian  '  Hyperion', ■'•'  ein  15ihl  seiner 
IInffnung(Mi  und  seiner  Eiittteuschungen,  das  er  in  den  griechischen  Aufstand 
zur  Zeit  der  Schlacht  bei  Tschcsme  1770  verlegt  hatte.  Ebenfalls  unter 
Griechen,  aber  unter  denen  des  Altertums,  die  für  ihn  den  Gipfel  mensch- 
licher Entwickelung  bedeuteten ,  spielte  seine  unvollendete  Tragcedie  'Eni|)e- 
do('les\  auch  sie  eine  Darstellung  des  vergeblichen  Ankämpfens  gegen  Stumpf- 
sinn und  Gemeinheit.  Die  Tiefe  der  Empfindung,  der  Adel  des  Ausdrucks 
gibt  auch  seiner  spaeteren  Dichtung  einen  immer  wieder  anlockenden  Reiz, 
bis  diese  zuletzt  keinen  rechten  Zusammenliang  mehr  zu  Stande  bringt. 

Ein  langes,  eifriges  Bemühen  um  philosophische  Bildung  und  schliess- 
lich ebenfalls  den  Verzicht  auf  ein  sicheres  Erkennen  spricht  auch  Jesn 
Bacwesen  aus,""  nur  dass  er  dann  zu  Jacobis  Glaubensentschluss  sich  bekennt, 
zugleich  aber  auch  seinen  bisherigen  Lehrmeistern  mit  Spott  lohnt.  In  ihm 
greift  die  neu  erwachende  damische  Litteratur  in  die  deutsche  ein;  und  ein 
vorzügliches  Verdienst  hat  er  sich  um  Schillers  Kettung  aus  bedrängter  Lage 
erworben  (§  101,  vor  Anm.  27).  Geboren  zu  Korsa-r  17(j4  machte  sich  Bag- 
gesen  seit  1785  durch  seine  komischen  Erziehlungen'  bekannt."'  Mit  Staats- 
unterstützung reiste  er  nach  Deutschland  und  der  Schweiz,  von  vro  er  17UÜ 
eine  Enkelin  llallers  heimführte.  Auch  spaeter  reiste  der  Unruhige  viel  um- 
her und  begeisterte  sich  erst  für  die  franzoisische  Revolution,  dann  für  Na- 
poleon. Auf  der  Heimkehr  nach  Kopenhagen  1820  überraschte  ihn  der  Tod 
zu  Hamburg.  Seine  Tarthenais  oder  die  Alpenreise,  ein  idyllisches  Epos'^" 
erza^hlt  humoristisch  Reiseerlebnisse,  in  die  sich  eine  phantastische  Berg- 
götterwelt einmischt.  Mit  Voss,  dessen  Hexameter  er  hier  nachgebildet  hatte, 
wandte  er  sich  dann  geo:en  die  Sonette  der  Romantiker  mit  dem  'Karfunkel- 
oder  Klingklingelalmanach'."^  In  'Adam  und  Eva,  ein  humoristisches  Epos'*" 
verband  er  endlich  ernste  und  zarte  Gedanken    mit  frivolem  Spotte. 

Ein  Schützling  Wielands  war  Johanx  Daniel  Falk,  geboren  1768  zu 
Danzig,  der  sich  aus  dürftigen  Verhältnissen  (er  sollte  Perrückenmacher  wer- 

■^■"  ■-■-.  .  --■■■■  --  — ■ — — — ■ — ■ 

seine  Studienfreunde.  34)  LB.  2,  1321  fgg.  35)  Ein  Fragment  in  Schillers  Thalia 

1794.  das  Ganze,  umgearbeitet,  Stuttgart  u.  Tübingen  171»7.  09,  II.  Vgl.  auch  Schnorrs 
Arch.  XIII  oöb.  36)  Aus   J.  Baggesens  Briefwechsel  mit    K.  L.  Keinhold  und  F.  H. 

Jacobi.    Leipzig  1831.    IL  37)  (Tesammelt  Kopenhagen  1792.  38)  Hamburg  und 

Mainz    1804    uö.  39)  Tübingen   1810.     Vgl.  §  158,  55.  40)  Leipzig   1826:    neue 


§  162        BAÜÜEÖEN,  FALK.     KOMISCHE  ERZ.EllEUJNÜEN.  521 

den  wie  sein  Vater)  durchgearbeitet  hatte  und  von  1798  bis  zu  seinem  Tode 
182C  zu  Weimar  lobte.  Nach  der  Schlacht  bei  Jena  erwarb  er  sich  als 
Dolmetscher  Verdienste,  und  begründete  1813  eine  Anstalt  für  die  durch  den 
Krieg  verwaiste  und  verwilderte  Jugend.  Als  Dichter  trat  er  1796  mit  einer 
Satire  'die  Menschen'  nacli  Boileau  hervor,  und  die  Reimfbrm,  die  Richtung 
auf  das  Allgemeine  und  die  Aufklauungstendenz  blieb  seiner  Dichtung  auch 
weiterhin  eigen,  wenn  er  auch  spaeter  für  Goethe  und  Scliiller  gegen  Kotzebue, 
aber  auch  gegen  die  Romantiker  kämpfte.  Seine  'satirischen  Werke'  sam- 
melte er,  Leipzig  1817,  VII.  'Die  Ura^ber  zu  Rom',  zuerst  1796  erschienen, 
erinnern  an  Voltaires  Zadig  und  schliessen  sich  im  orientalischen  Kostüm  und 
in  der  Stropheuform  an  "Wieland  an. 

Wielands  romantisches  Epos  fand  einen  noch  treueren  Nachahmer  in  Jo- 
hann Baptist  von  Alxinger  (geb.  1755  zu  Wien,  ebenda  gestorben  als 
Theatersecretger  1797),  dessen  'Doolin  von  Maintz'  zuerst  1787,  dessen  'Bliom- 
beris'  1791  erschienen,^ ^  beide  nach  altfranzcesischen  Romanen  in  Stanzen 
abgefasst.  Alxingers  Verbündeter  im  josephinischen  Aufkla^rungskampf  war 
Alois  Blumauek,^^  geboren  1755  zu  Steyr,  erst  Jesuit,  dann  Censor,  endlich 
Buchhändler;^^  gest.  zu  Wien  1798.  Seine  travestierte  Aeneis*''  führte  die 
Arbeit  von  Michaelis*^  aus,  in  derselben  Form,  aber  mit  burleskem  Spott 
besonders  gegen  die  roemische  Kirche. 

Diese  kecke,  niedrige  Manier  der  Erzsehlungsform  fand  einen  passenden 
Stoff  und  eine  Behandlung,  welche  bis  in  die  Gegenwart  ihre  Liebhaber  ge- 
funden hat,  in  der  1784  veröffentlichten  Jobsiade^"  von  Karl  Arnold  Kortum 
(geb.  1745  zu  Mühlheim  a.  d.  Ruhr,  gest.  1824  als  Arzt  zu  Bochum).  Die 
Knittelverse,  die  platte  Sprache,  die  Ausstattung  mit  klotzigen  Bildern  pass- 
ten  vortrefflich  zur  ungeschminkten  Darstellung  des  lüderlichen  Studentenlebens 
und  des  ebenso  geistlosen  Philistertums. 

Verwandt  war  die  Ballade  und  Romanze,  wie  man  sie  zuerst  anfgefasst 
und    wie    sie  Bürger    auch    neben  der   edleren  Nachbildung  des  erza3hlenden 

Ausgabe    im    Auszüge    uud    mit  (biographisclieu)  Beilagen ,    Strassburg  1885.  41)  Zu 

Leipzig.    Von  Bliomberis  besorgte  Seume  eine  spätere  Auflage,  Leipzig  1802.  42)  Sämt- 

liche Werke,  Leipzig  1801—3,  VIII.  P.  v.  Hofmann-Wellenhof,  A.  Blumauer,  Wien  1885. 
43)  1781 — 94  gab  er  den  Wiener  Musenalmanach  heraus.  44)  Zuerst  nur  das  zweite  Buch 
'Die  Abentheuer  des  frommen  Helden  Aeneas',  Wien  1782;  aucb  im  Deutschen  Museum 
dieses  Jahres;  das  erste  ward  für  sich  und  im  Teutscheu  Museum  1763  verötlentlicht;  1788 
gelangte  er  bis  zum  9.  Buch.     Neudruck  von  Grrisebach,  Leipzig  1872.  45)  §  155,  50. 

46)  'Leben  ,    Meinungen    und  Thaten   von  Hieronynius  .Jobs   dem  Kandidaten',   zuerst  (ohne 


22  NEUIIOCJIDEUTSCIIE  ZEIT.        XVIU  JAUUll.  §  lü3 


o'J'J 


Volksliedes  ^opHegt  hatte.  Derbkomische,  z.  T.  auch  lüsterno  (iedichte  dieser 
Art,  doch  auch  einfachere  und  reinere,^'  machten  Audusr  Frikdricm  Ernst 
Lanmjbein  beliebt,  welcher,  zu  ]{adeberg  bei  Dresden  1757  geboren,  1800  bis 
1835  zu  Berlin  lebte,  litterarisch  vielbesciiäftigt,  auch  als  Censor.  Seine 
'Schwanke'  erschienen  zuerst  in  Dresden  1792,  seine  sämtlichen  Schriften 
zu  Stuttgart  1835  fgg.  XXX.""* 

Die  durchaus  auf  Witz  ausgehende  Art  des  Epigramms  setzte  nach 
Lessing  Johann  Chkistoimi  Fuikduich  Hai.«  fort,  ein  Jugendgenosse  Schillers, 
geb.  zu  Niederstotzingen  1701,  gestorben  als  Bibliothekar  zu  Stuttgart  182i>. 
Seine  'Epigrammen  und  vermischte  (Jedichte'  sammelte  er  1805  ;^'-'  sie  sind 
tiist  alle  gereimt  und  suchen  allgemeine  Fehler  unter  antiken  Namen  durch 
ungeheure  Übertreibung  lächerlich  zu  machen,  wie  er  denn  auch  'Hundert 
(spseter  200)  Hyperbeln  auf  Herrn  Wahls  grosse  Nase'""**  geschrieben  hat. 
Vielfach  gab  er  nur  ältere  Epigramme  in  neuer  Fassung  wieder.^'  Als  lie- 
dakteur  des  'Morgenblattes'  1807 — 17  bekämpfte  er^'-^  die  Romantik,  welche 
gerade  in  Schwaben  eine  neue  und  eigentümliche  Blüte  der  Lyrik  hervor- 
bringen sollte. 

§  163. 

Viel  nffher  hielt  sich  das  Drama  im  letzten  Drittel  des  Jahrhunderts 
an  die  neuen  grossen  Muster  und  suchte  mit  diesen  fortzuschreiten:  gelangte 
doch  jetzt  die  Bühne  überhaupt  erst  zu  voller  Anerkennung,  und  ihre  Lei- 
stungen fanden  eine  begeisterte  Aufnahme  wie  nie  zuvor.  An  diesem  Erfolge 
hatte  die  wachsende  Kunst  der  Schauspieler  vollen  Anteil.  Schroeder  und 
Iffland  waren  die  gefeiertsten  Namen,  denen  sich  jedoch  andere  in  grosser 
Zahl  anreihten.  Und  eben  diese  Schauspieler  dichteten  nun  auch.  Eine  vor- 
zügliche Kenntnis  des  Wirksamen  stand  ihnen  zu  Gebot  und  gern  folgten 
sie  den  wechselnden  Wünschen  der  schaulustigen  Menge.  Eine  reiche  Fülle 
von  Dramen  entstand,  die  freilich  oft  den  Werken  der  grossen  Dichter  der 
Zeit  eben  nur  das  Äusserliche  abgesehen  hatten  und  durch  die  Sucht  nach 
dem  Neuen  gehoben,  aber  eben  dadurch  auch  rasch   wieder    verdrängt  wur- 

Namen  dos  Dichters)  Münster  1784  uö.  47)  LB.  2,  1267.  48)  Darin  eine  kurze  Biographie 
von  F.  W.  Goedike.  Gutmütige  Laune  war  der  Grundzug  in  Langbeins  Charaoter.  Aus- 
gabe der  humoristischen  Gedichte  von  Tittmann,  Berlin  1874.  49)  In  II  Bänden, 
Berlin.  'Sinngedichte'  von  ihm  waren  schon  zu  Leipzig  1701  erschienen.  50)  Stuttgart 
1804.  51)  Eine  epigrammatische  Anthologie  verööentlichte  er  1807-  M.  X.  52)  H. 
Fischer.  Klassizismus  und  Romantik  in  Schwaben  zu  Anfang  unseres  Jahrhunderts  ün  der 
Festgabe  der  Universität  Tübingen   1889). 


§  1G3  HAIIG.     RITTEUDRAMEN.  523 

den.'  Vielfache  Umarbeitungen  zeigen  die  Unsicherheit  und  Willkür  der 
Dichter  und  ihre  Anpassung  an  den  Geschmack  der  Zuschauer. 

Den  stärksten  Eindruck  unter  den  neuen  Dramen  hatte  Goethes  Götz 
gemacht:  damit  war  das  Ritterdrama '-^  begründet,  das  zugloicli  dem  deutschen 
Nationalstolz  und  dem  Missvergnügen  über  die  bestehenden  Staats-  und  Ge- 
sellschaftsverhäitnisse  entgegen  kam.  Die  Kraftreden  der  Ritter,  ihre  klang- 
vollen Namen,  die  Rüstungen  und  altdeutschen  Gewänder''  übten  gewaltigen 
Reiz  auf  Aug'  und  Ohr.  Die  lose  dramatische  Form  des  Götz  schien  die 
Nachahmung  leicht  zu  machen:  in  Götz  und  bei  Shakespeare  fand  man  eine 
Fülle  von  Scenen,  die  man  mit  geringer  Abänderung  und  in  immer  wech- 
selnder Anordnung  bequem  wiederholen  konnte.  Wie  in  diesen  Musterstückeu 
kam  nun  alles  auf  die  Bühne,  was  die  franzoesische  Tragoedie  nach  klassischem 
Yorbild  im  Gespraech  mit  Vertrauten  oder  durch  Botschaften  hatte  erzaihlen 
lassen:  selbst  Turniere,  Belagerungen,  vor  allem  aber  'das  heimliche  Gericht'. 
Solche  Massenscenen  mussten  immer  wieder  lärmend  eintreten;  aber  auch  der 
Einzelne  gab  sich  ganz  seiner  Leidenschaft  hin.  Selbstverständlich  war  Prosa 
die  Form  des  Dialogs. 

Auf  Götz  war  bald  Klingers  Otto  gefolgt^;  dann  hatte  Müller  seine  Ge- 
novefa  gedichtet.  Die  Bühne  zu  Mannheim,  wo  Müller  damals  lebte,  ward 
die  Hauptstätte  des  Ritterdramas.  Für  sie  dichtete  der  Hofgerichtsrat  Jacob 
Maier  sein  'pfälzisches  Nationalschauspiel:  Der  Sturm  von  Boxberg'  1778, 
'Fust  von  Stromberg'  1782,  beide  Dramen  erfüllt  von  Pfaffenhass,  beide  aus- 
gezeichnet durch  antiquarische  Kenntnisse,  welche  in  den  Anmerkungen  ge- 
lehrt erörtert  waren,  aber  auch  bühnenwirksam.^  Von  Mannheim  aus  ver- 
pflanzte sich  diese  Neigung  für  das  Ritterdrama  nach  München,  zugleich  mit 
der  Vereinigung  Bayerns  und  der  Pfalz  durch  Karl  Theodor  1778:  die  gleich- 

§  loo.  1)  Eiue  Auswahl  der  merkwürdigsten  dieser  Dramen  mit  biographischen  Eiu- 
leituugeu  über  die  Dichter  hat  Adolf  Hautt'eu  in  Küi'schuers  Dtsch.  Nat.litt.  138.  139,  1.  2 
zusammengestellt.  2)  Otto   Brahm,    Das    deutsche    Ritterdrama    des    18.  .Jahrhunderts. 

Studien  über  J.  A.  von  Törring,  seine  Vorgänger  und  Nachfolger,  Strassburg  1880,  QF.  40. 
Dazu  R.  M.  Werner  Anz.  f.  d.  Alt.  VII,  417  fgg.  3)   Gewisse  Vornamen  wie  Adelbert, 

Adelheid,  Bertha  wurden  jetzt  beliebt  im  Drama  wie  im  Leben;  vgl.  hierüber  und  über 
die  Freude  an  der  altdeutschen  Tracht  Goetlies  Wilhelm  Meister  Buch  11,  Cap.  X. 
4)  Etwa  gleichzeitig  dichtete  im  Strassburger  Kreise  von  Lenz  der  Franzose  Ramond  de 
Carbounieres  seine  Giierre  d'Ahace,  gedruckt  1780:  s.  ICrich  .Schmidt,  H.  L.  Wagner  *118. 
In  Mannheim  verfasste  Anton  v.  Klein  (159,  IG)  ein  Singspiel  (ninther  von  Schwarzburg'  1777  : 
iu  der  Nshe  L.  Ph.  Hahn  (§  159,  55)  'Robert  von  Hoheneckeu',  Leipzig  1778,  in  AVieu 
Blumauer  (§lG2,42)'Erwine  von  Steinbach'  vor  1780.       öJSchillersBriefe  au  G(jetheNr.446  fgg. 


524  iNEniOCIlDFJTSCIlE   ZEIT.         XVITl  JAIIIMI.  §   103 

/eitiojen  Al)ai(hren  Josephs  II  auf  Uayern  boten  Gologonhoit,  das  bavrisciu' 
Staniinos-  und  Btaatsf^olühl  hosondors  kriiftif^  auszuKprftchoii.  Aus  innerster 
Überzeugung  gescbali  dies  durch  Joski'Ii  ArursT  von  Tökrin«,  welcher, 
1753  zu  .München  geboren,  ebendort  lH2fi  starb,  nachdem  er  die  Würde 
eines  Pra^sidenten  des  Staatsrats  bekleidet  hatte.  Von  seinen  zwei  Dramen 
verherrlichte  das  ältere''  Kaspar  der  Thorringer  die  Traditionen  seiner  Fa- 
milie; Herzenseri'ahrungen  gaben  ihm  zu  Agnes  Bernauerin'  (.München  1780 
uö.)  Anlass  und  Farbe.  Nicht  ebenso  einheitlich  gedacht,  da  der  Meuchelmord 
erst  psychologisch  begründet,  dann  aber  vom  Thjeter  selbst  als  Übereilung  be- 
klagt wird,  wirkte  dennoch  durch  den  geschickten  Aufbau  noch  packender 
'Otto  von  Witteisbach'  von  Josei'H  Makiis  Babo,  geboren  1756  zu  p]hren- 
breitstein,  gestorben  1H22  zu  Mimcheu":  er  veröffentlichte  das  Stück  1782 
zu  München  durch  den  Druck,  nachdem  es  bei  der  Aufführung  politischen 
Anstoss  erregt  und  ein  Verbot,  vaterländische  Schauspiele  auf  die  Bühne  zu 
bringen,  veranlasst  hatte.  Von  den  spa'teren  Ritterdramen  ist  etwa  noch  des 
Reichsgrafen  Julh'r  von  Soden'*  Ignez  de  Castro,  1784,  von  dichterischem 
Wert,  wenn  schon  nur  ein  Seitenstück  zur  Agnes  Bernauerin;  die  übrigen 
Ritterstücke,  besonders  die  der  neunziger  Jahre,  erschöpfen  sich  in  »usser- 
lichen  Nachahmungen'  und  begnügen  sich  mehr  und  mehr  mit  rührenden 
Eindrücken. 

Hierdurch  lenkte  das  Ritterdrama  in  das  bürgerliche  Schauspiel  ein, 
mit  welchem  es  von  vorn  herein  manche  Ziele  und  Mittel  gemeinsam  hatte: 
dem  Stoffe  der  Agnes  Bernauerin  entsprechen  hier  die  Liebesverbindungen 
ungleichen  Standes;  einem  Ritterstücke  Sodens,  welches  die  Doppelehe  des 
Grafen  von  Gleichen  behandelte,  geht  Goethes  Stella  voraus.  Wie  in  den 
Ritterstücken  war  auch  im  bürgerlichen  Drama  der  Alte  mit  rauher  Schale, 
weichem  Kern  eine  Lieblingsfigur.  Wie  die  biederen  Ritter  gegen  pfäffische 
Arglist,  gegen  fürstliche  Herrschergelüste  zu  kämpfen  haben,  so  werden  im 
bürgerlichen  Schauspiel  die  Bo-sewichter  gern  als  pietistische  Heuchler  dar- 
gestellt und  Minister  oder  Amtleute  sind  die  Bedrücker  von  Bürgern  und 
Bauern.  Die  Fürsten  schonte  man  meist :  kam  doch  der  aufgeklaerte  Despo- 
tismus der  liberalen  Strcemung  entgegen.     Dem  verzerrten  Bilde  des  Hoeflings 

6)  Es  war  1779  fertig,  wurde  aber  erst  1785  zn  Klagenfurt  gedruckt,    unrechtmaessig,  wie 
auch    in    den   Wiederholungen.  7)  Seine    zahlreichen  anderen  Schauspiele,    auch  Lust- 

spiele   müssen    hier    übergangen    werden.  8)  •)•    Reichsgrafen    v.    Soden    Schauspiele. 

Berlin  17;»1,   IV.  9)  Den    u'sterreichischeu  Patriotismus   vertrat  F.  W.  Zieoler  z.  B. 

mit  Türstengroesse".    auf   den    Streit  Friedrichs    des  Schienen    mit  Ludwig  von  Bayern  be- 


§  163  TÖRRING,  BABO,  SODEN.     SOLDATENSTÜCKE.  525 

stand  der  Soldat  gegenüber  mit  dem  ritterliehen  Sinn,  wofür  Lessings  Tell- 
heim  das  Muster  dargeboten  hatte.  Die  in  demselben  Stücke  gezeichnete 
Gestalt  des  Spielers  fand  vielfache  Verwendung.  Die  Wohlthaetigkeit,  die  bei 
Lessing  bereits  zur  Rührung  beigetragen  hatte,  wurde  von  Späteren  in  ver- 
schwenderischer Art  zu  diesem  Zwecke  verbraucht.  Der  gleichen  Absicht 
dienten  die  haeufigen  Kinderscenen;  und  die  jungen  Maedchen,  welciie  in  ihren 
Liebesverhältnissen  unglücklich  waren  oder  zu  werden  schienen,  wurden  gern 
als  Waisen  dem  Mitleid   der  Zuschauer  noch  naeher  gebracht. 

Mit  Lessing  war  in  liamburg  als  Schauspieler  Johann  Christian  Bran- 
des '"  bekannt  geworden ,  der  den  Edelmut  Tellheims  in  'Graf  Olsbach' 
1768  nachbildete,  EmiHe  Galotti  für  'Olivie'  1773  zum  Muster  nahm,  spteter 
jedoch  sich  den  jüngeren  Dichtern  anschloss  und  im  'Landesvater'  1782  Gem- 
mingens  Plsene  benutzte.  Eine  wegen  ihrer  leichten  Aufführbarkeit  rasch 
beliebt  gewordene  Gattung  hatte  er  1774  durch  sein  'Duodrama  mit  Musik: 
Ariadne  auf   Naxos'   mit  Benutzung   von   Gerstenbergs   Gedicht   eingeführt. ^^ 

Brandes  hatte  noch  in  Stücken  aus  dem  Stegreif  gespielt.  Ein  anderer 
Schauspieler  und  Dichter  zeigte  den  Zusammenhang  mit  der  älteren  Kunst- 
form darin,  dass  er  den  Ausstattungsprunk  der  Staatsaktionen,  etwa  das  Bild 
eines  belebten  Seehafens  in  das  bürgerliche  Schauspiel  hinübernahm.  Hein- 
rich Ferdinand  Mceller^^  erntete  zunsechst  in  Prag,  wo  1772  das  Theater 
einen  neuen  Aufschwung  genommen  hatte,  reichen  Beifall  mit  'Graf  von  Wal- 
tron oder  die  Subordination',  1776:  den  ergreifenden  Eindruck  einer  mili- 
taerischen  Hinrichtung,  die  doch  noch  im  letzten  Augenblick  abgewendet  wird, 
hatte  er  durch  die  auf  den  aufsässigen  Offizier  gehaeuften  edlen  Züge  zu 
steigern  gesucht. 

An  solchen  Soldatenstücken  fand  die  Zeit,  welche  vom  siebenjaehrigen 
Krieg  nur  die  glorreichen  Erinnerungen  bewahrt  hatte,  ein  grosses  Gefallen; 
schon  'der  Deserteur  aus  Kindesliebe'  1773  von  Gottlieb  Stephanie'^  verfasst, 

ziiglich,  Leipzig  179.5.  10)  Geb.  zu  Stettin  1735,  gest.  zu  Berlin  1799.    Beine  wechsel- 

vollen Schicksale  schilderte  er  in  Meine  Lebensgeschichte',  Berlin  1799.  1800,  111.  Die 
Lustspiele  von  Brandes  erschienen  zu  Leipzig  1773 — 7G,  II:  Sämtliche  dramatische  Schriften, 
Leipzig  1790.  91,  VIII.  11)  Allerdings  waren  von  AuGUST  Friedrich  vonGouk  (§  l.")5, 15) 
•(geb.  1743  zu  Hildesheim.  gest.  zu  Steinfurt  1789),  welcher  mit  Gwthe  in  Wetzlar  zusammen- 
traf und  in  dem  Trauerspiel  'Masuren  oder  der  junge  Werther'  1775  den  ganzen  dortigen 
Kreis  schilderte,  bereits  1771  zwei  Duodraniata  erschienen:  'der  Einsiedler'  und  'üido': 
allein    für    die    Bühne    war    erst    das   Stück    von  Brandes  wertvoll.  12)  (ieb.  1745  zu 

Ulbersdorf  in  Schlesien,  gest.  auf  einer  Reise  in  Fehrbellin  iTltS.  M.  v.  Schnvter,  H.  F. 
Möller,    Rostocker  Diss.  Berlin    1890.  13)  Ein  Breslauer,    1741—1800.     Kr  ward  der 


52«;  NEUIIOCIIDEUTSCIIE  ZEIT.         XVIll  .lAIIKII.  ^  •«'••^ 

ward  vielmals  autf^cfülirt ;  in  einom  anderen  Stück  die  aUgedankten  Offiziere' 
1770,    wiederholte  dieser  Diehter  wesentlich    Ijcssings  Minna    von  Barnhclm. 

Weit  mehr  als  diese  doch  meist  nur  auf  die  na^chste  JJühnenwirkung 
berechneten  Stücke  besass  inneren  Wert  das  bürgerliche  Drama  eines  Dich- 
ters, der  selbst  den  halberen  Ständen  angeluerte  und  dessen  Hinspruch  gegen 
die  Standesvorurteile,  aus  warmem  Herzen  gj'flossen,  auch  herzlich  ergriff. 
Der  Ixeichsfreiherr  Ott«»  Hkinkich  von  Gemmix(Jkn,'*  geb.  17r)5  zu  lleil- 
bronn,  war  wie  Törrin^  mit  dem  Intendanten  des  Alannheimer  Nationaltheaters 
Wolfgang  Heribert  von  Dalberg  befreundet.  Spteter  kam  er  nach  Wien,  wo 
er  als  politischer  Schriftsteller  für  Joseph  11  tha'tig  war  und  1799 — 1805 
als  badischer  Gesandter  lebte.  Er  starb  zu  Heidelberg  l.s;^t>.  Sein  Haupt- 
drama, der  deutsche  Hausvater',  Mannheim  1780,  stellte  sich  dem  1759  er- 
schienenen j^er^  de  fumiUe  von  Diderot  gegenüber;  doch  benutzte  Gem- 
mingen auch  Lessing  und  Goethe,  und  ward  seinerseits  für  Schillers  Kabale 
und  Liebe  '^  das  Vorbild  zu  mehreren  Zügen. 

Die  Rolle  des  Vaters,  der  seine  Kinder  vor  den  Folgen  ihres  Leicht- 
sinns rettet,  fand  eine  noch  schärfere  Auspraigung  durch  Gustav  Frikdrich 
Wilhelm  Grossmann."'  Sein  Lustspiel  Nicht  mehr  als  sechs  Schüsseln', 
Bonn  1780,  demütigt  den  Adelsstolz  der  Ha'Hinge  und  hebt  die  Soldatenehre 
mit  preussischem  Selbstgefühl  ''  hervor. 

Gewann  Grossmann  durch  Kunst  und  durch  Gesinnung  die  Achtung 
der  Besten '■',  so  ward  die  bürgerliche  Ehre  des  Schauspielerstandes  völlig 
sicher  gestellt  durch  Friedrich  Ulrich  LruEWi«  Schru-:ukr. '^  p]r  begründete 
die  eigentlich  deutsche  Schauspielkunst  im    Gegensatz    zu   der   franzoesischen 

'jüngere"  genannt .  weil  ein  älterer  Bruder  ebenfalls  als  Schauspieler  und  Schauspieldichter 
in  Wien  th«tig  war.     Sämtliche  Lustspiele,  Wien  1771 — 86,  VI.  14)  Caesar  Flaischlen. 

0.  H.  vi>u  (icmniiugeu .  Mit  einer  Vorstudie  über  Diderot  als  Dramatiker,  Stuttgart  lö90. 
15)  Xo<h  ua;her  stimmen  Einzelheiten  in  Schillers  Drama  zum  'Landesvater'  von  Brandes 
(8.  Flaischlen  S.  13(>  fg.).  16)  Geb.  174G  zu  Berlin,  Schauspieldirektor,  gest.  zu  Han- 

nover 1796.  17)   V  Aufzug,  VII  Auftritt:  'Er  ging  in's  Feuer  wie  ein  Brandenburger". 

Der  Fürst  unterzeichnet  übrigens  'Karl   August".  18)  Lessing.  Schiller,  (ni-thes  Mutter. 

19)  Die  Lebensgeschichte  Schru'ders,  welcher  sich  in  der  Jugend  durch  Schwierigkeiten  und 
Ve.rirrungen  hindurch  gekämpft  hatte,  verötfentlichte  F.  L.  W.  Meyer,  Hamburg  1819,  ll;- 
litterarhistorisch  behandelte  sie  B.  Litzmann,  F.  L.  Schroeder,  ein  Beitrag  zur  deutschen 
Litteratnr-  und  Theatergeschichte  1,  Hamburg  und  Leipzig  1890.  narhdem  er  bereits  Briefe 
.Schru'ders  an  Gotter,  ebd.  1887  herausgegeben  hatte.  Schroeders  Lebensverhältnisse,  ins- 
besondere auch  der  frühe  Tod  seiner  Schwester  Charlotte  1775  sind  in  Goethes  Wilhelm 
Meister  benutzt  (^^  16ü,  61).    Schnjeders  dramatische  Werke,  heransg.  von  Ed.  v.  Bülow  mit  einer 


§  163  GEMMINGEN,  GROSSMANN.     SCIIRCEDER.  527 

Declamation  und  abgemessenen  Geberdensprache,  wie  Ekhof  sie  noch  geübt, 
aber  freilich  auch  seelenvoll  vertieft  hatte;  Schrceders  Vortrags-  und  Dar- 
stellungsweise hielt  sich  so  viel  als  moeglich  an  die  Natur,  immerhin  inner- 
halb der  Grenzen  des  Schfpnen.  Geboren  zu  Schwerin  1744,  gestorben  1816 
auf  seinem  Landgut  zu  Reilingen  bei  Hamburg,  erwarb  er  sich  als  Bühnen- 
leiter zu  Hamburg  1771 — 98  (nur  1784 — 85  gebeerte  er  dem  Burgtheater  zu 
Wien  an)  ausgezeichnete  Verdienste  namentlich  durch  die  Einführung  der 
Shakespeareschen  Stücke,  zuerst  des  Hamlet  1776,  wobei  er  mehr  und  mehr 
auf  das  Original  zurückgrifF,  wfehrend  bis  dahin  nur  Weisses  Umgestaltung 
einiger  Stücke  Shakespeares  nach  franzoesischem  Muster  Beifall  gefunden 
hatte.  Selbst  verfasst  hat  er  mehrere  Lustspiele :  'das  Testament'  1781,  der 
Fäbndrich'2o  1782,  ^der  Ring'  1783,  'Stille  Wasser  sind  tief  1784,  'Unglück- 
liche Liebe  durch  Delicatesse'  1788.  'Das  Porträt  der  Mutter  oder  die  Privat- 
komoedie"  1786  kehrt  ein  Motiv  von  Sheridans  'Lästerschule'  um,  vergütet 
aber  die  nicht  eben  einleuchtende  Voraussetzung  dass  der  Verlust  eines  Por- 
träts der  Mutter  dem  Solm  die  Liebe  seines  Vaters  völlig  entzieht,  durch 
Lebhaftigkeit  und  Lustigkeit  der  Ausführung. 

Hseusliches  Leben,  aber  nach  einer  anderen  Seite  hin,  schilderte  Schrce- 
ders Rivale  als  Schauspieler  und  Schauspieldichter,  August  Wilhelm  Iff- 
LAND.^'  Zu  Hannover  1759  geboren,  zum  Prediger  bestimmt,  ward  er,  durch 
Schroeders  Spiel  für  seinen  Beruf  gewonnen,  in  Gotha  durch  Ekhof  geschult, 
eine  Hauptstütze  des  Mannheimer  Theaters,  1796  Generaldirector  des  Ber- 
liner Hoftheaters  und  starb  1814.  Als  Schauspieler  mehr  berechnet^'  als 
genial,  besser  in  komischen  als  in  tragischen  Rollen,  hat  er  sich  vor  allem 
durch  die  Pflege  der  Schillerschen  Dramen  verdient  gemacht  und  damit 
zugleich  den  Patriotismus  in  schwerer  Zeit  gehoben.  Durchaus  loyal  gesinnt 
zeigt  er  sich  auch  in  seinen  Festspielen.  Auch  sonst  an  Theaterdichtungen 
sehr  fruchtbar  (seine  Sammlung  vereinigt  61  Stücke)  suchte  er  besonders 
das  bürgerliche  Leben  naturgetreu  und  zugleich  so  rührend  als  moeglich  dar- 


Einleitung  von  L.  Tieck.  Berlin  18.31.  IV.  20)  Hier  gertet  der  Trseger  der  Titeh-olle  in  den 

Verdacht  einen  silbernen  Lütfel  entwendet  zu  haben  :  darauf  bezieht  sich  Schillers  Spott  in  den 
Xenien  LB.  2,  1223,  25.  21)  'Dramatische  Werke',    Leipzig  1798—1802,    XVI;    und 

vollständig  'Theater  von  Iffland",  Wien  1834.  XXIV.  Darin  auch  Teber  meine  theatra- 
lische Laufbahn'  (Neudruck  durch  H.  Holstein  in  'Deutsche  Lit.-denkm.  24.  Heilbronn 
1886),  bis  zum  Verlassen  Mannheims  reichend  und  eine  Rechtfertigung  dieses  Schrittes. 
Vgl.   auch  W.    Koffka,    Ufland    und    Dalberg,    Leipzig    1865.  22)   Seine    'Fragmente 

über    Menschendarstellung    auf    der   Bühne',    Gotha    1785:    'Theorie    der   Schauspielkunst", 

VVackprnagel,  Litter.  Geschichte.  II.  35 


528  NEUIIOCIIDEUTÖCHE  ZEIT.         XVIII  JAJUUI.  §  163 

zustellen.  So  steht  sein  weiclilichcs  Lustspiel  Die  Hagestolzen'-'  dem  satiri- 
schen von  Brandes  'Der  Hagestolze'  scharf  gegenüber.  Am  besten  gelangen 
ihm  die  Ja'ger"  1785,-^  biedere,  etwas  unbehiilfliciic  Menschen,  die  unter 
dem  Hasse  eines  Amtmannes  leiden.  Auch  'der  Spieler'  1791)  ward  noch 
lange  wiederholt.  Ifflauds  Ph-stliug  'Albrecht  von  Thurneisen'  1781  behandelt 
die  Schrecken  der  militärischen  Disziplin,  nach  Möllers  VValtron',  aber  mit 
tragischem  Ausgang.  Das  Verbrechen  aus  Ehrsucht'  1784^^  stellt  einen 
Kassendiebstahl  dar,  der  noch  rechtzeitig  durch  einen  Verwandten  gedeckt 
wird.  'Elise  von  Valberg'  1791  führt  eine  Hofiutrigue  gewandt  und  mit  be- 
friedigendem Schlüsse  durch.-"  Überall  aber  ist  für  Mand  das  Theater  eine 
Sitten-  und  Tugendschule;  nur  ist  es  eben  eine  oberflächliche  und  schwäch- 
liche Auffassung,  welche,  wie  Gcethe  urteilt,'-"  ihm  die  Kultur  als  Quelle  aller 
moralischen  Verkommenheit  erscheinen  lässt. 

Ein  bürgerliches  Schauspiel  von  gewandtester  Technik  und  erfüllt  von 
Rührseligkeit,  'Menschenhass  und  Reue',  machte  1789  emen  jungen  Dichter 
nicht  nur  in  Deutschland,  sondern  in  ganz  Europa  berühmt,  dessen  Theater- 
stücke für  das  na^chste  Jahrzehnt  die  Bühne  völlig  beherrschen,  und  spaeter 
auf  lange  hinaus  sich  immer  noch  neben  Schillers  Meisterwerken  behaupten 
sollten.  August  von  Kotzebue"-*  war  1701  zu  Weimar  geboren,  ein  Neffe 
von  Musseus.-'-'  1781  kam  er  nach  Russland,  wo  er  1 785  in  den  Ostseeprovinzen 
ein  einflussreiches  Amt  und  den  Adel  erlangte.  1790  brachte  ihn  freilich  sein 
noch  dazu  Knigge  (§  156,  52)  aufgelogenes  Pasquill  'Doctor  Bahrdt  mit  der 


Berlin    1815.  23)    Aufgeführt    1791,    gedruckt    1793.      Hier    leiht    die    frömiuelnde 

Schwester  des  Hagestolzen  auf  Pfänder:  vgl.  Schillers  Xenien  LB.  2,  1223,  25.  24)  Crleich- 
falls  in  den  Xenien  wird  Iftland  als  der  einzige  echte  Darsteller  der  .Jteger  hezeichnet.  wie 
Voss   allein  (in   Luise)  den   l'farrer    zu    schildern  verstanden  habe.  25)  Den  Titel  gab 

Schiller  an:  vgl.  andererseits  §  161,    17.  26)  Das  fürstliche  Par,    dessen  Verscehnung 

dargestellt  wird,  darf  auf  Karl  August  und  Luise  von  '\\"eimar  gedeutet  werden.  27)  Goethes 
Gesprteche,  hg.  von  Biedermann  1,  185.  28)  Abschnitte  seiner  Lebensgeschichte  erzaehlte 
er  ruhmredig  selbst:  'Meine  Flucht  nach  Paris  im  Winter  1790'.  Leipzig  1791;  'Das  merk- 
würdigste Jahr  meines  Lebens",  Berlin  1801  ,  II.  'Erinnerungen  aus  Paris  im  J.  1804". 
Berlin  1804  ua.  Diese  Stücke  wurden  als  Kotzebues  'Selbstbiographie',  Wien  1811  ,  nach- 
gedruckt. Daraus  schöpften  F.  Cramer,  Kotzebues  Leben.  Nach  seinen  Schriften  und  nach 
authentischen  Mitteilungen  dargestellt.  Leipzig  1820.  und  H.  During,  Kotzebues  Leben,  Weimar 
1830 ,  als  Supplementband  zu  'Sämtliche  dramatische  Werke  von  K.',  Leipzig  1828 — 29, 
XLIV.  Von  Familienpietaet  erfüllt  ist:  'A.  v.  Kotzebue ,  Urteile  der  Zeitgenossen  und  der 
Gegenwart  zusammengestellt'  von   W.  v.   Kotzebue,  Dresden   1881.  29)  Vgl.  §  155,  85. 


§  163  IFFLAND,  KOTZEBUE.  529 

eisernen  Stirn'  um  die  Achtung  aller  Strengergesinnten. ^"  1795  von  seinen 
russischen  Ämtern  zurückgetreten,  wirkte  er  1797  —  99  zu  Wien  als  Theater- 
dichter, ward  1800  von  Kaiser  Paul  nach  Sibirien  geschickt,  aber  bald  be- 
gnadigt und  an  den  Hof  gezogen.  Er  versuchte  dann,  wie  schon  früher, 
vergebens  in  Weimar  neben  Goethe  sich  geltend  zu  machen;  auch  ein  An- 
schlag Schiller  auf  Goethes  Kosten  zu  verherrlichen,  wurde  von  diesem  ver- 
eitelt. Dann  gab  Kotzebue  zu  Berlin  1803 — 7  'den  Freimüthigen'  heraus,^^ 
spaeter  in  liussland  'die  Biene'  und  'die  Grille'  gegen  Napoleon;  lebte  1813 
bis  1817  in  Koenigsberg  als  russischer  Generalkonsul,  ward  aber  wegen  seines 
giftigen  Hohnes  auf  die  deutschen  Freiheitsbestrebungen  1819  zu  Mannheim 
von  Sand,  einem  Mitglied  der  Burschenschaft,  erdolcht.  Noch  jetzt  sind 
Kotzebues  Lustspiele  beliebt,^'-^  besonders  auf  den  Liebhaberbühnen,  und  für 
solche  hatte  er  seine  ersten  Stücke  auch  verfasst.  Er  besass  die  unter  den 
deutschen  Dichtern  seltene  Gabe  des  natürlichen,  raschen  und  witzigen  Dia- 
logs, des  einfachen  und  doch  immer  überraschenden  Aufbaues :  er  hätte  eine 
hervorragende  Stelle  auch  in  der  Litteraturgeschichte  gewinnen  können,  wenn 
ihn  nicht  sein  Leichtsinn  und  seine  Eitelkeit  zu  eilfertiger,  massenhafter''^ 
Hervorbringung  getrieben  und  wenn  er  nicht  überhaupt  tiefere  Gefühle  nur 
als  flüchtige  Stimmungen  oder  gar  als  übertreibende  Nachahmungen  gekannt 
hätte.  So  verdarb  er  auch  gute  Plsene  durch  freche,  niedrige,  zweideutige 
Scherze,^^  und  Hess  dadurch  seine  aiusserlichen  Kührmittel,  Wohlthsetigkeit, 
Gebete,  Kinderscenen,  erst  recht  in  einem  bedenklichen  Lichte  erscheinen. 
Zu  der  Fülle  seiner  Theaterstücke  konnte  er  begreiflicherweise  niu-  durch  die 
keckste  Benutzung  franzoesischer  und  englischer  Originale  gelangen.  Alle 
Gattungen  versuchte  er:  neben  dem  Lustspiel  in  Prosa  oder  Alexandrinern, 
neben  dem  rührenden  Schauspiel  auch  das  Ritterdrama  in  'Johanna  von 
Montfaucon'  und  die  historische  Jambentragoedie  in  'Rudolf  von  Habsburg 
und  Koenig  Ottokar  von  Bochmen'  ua.  Gern  verlegte  er  den  Schauplatz  in 
fremde  Länder,  um  bei  den  Wilden  volle  Freiheit  von  Yorurteilen,  wozu  er 
auch  weibliche  Unschuld  und  eheliche  Treue  zu  rechnen  scheint,  darstellen 
zu  können:  so  treten  bei  ihm  schon  1790  'die  Indianer'  (eigentlich  Ostindier) 


30)  §  156,  52.  31)  Seit  1804  mit  Garlieb  Merkel  zusammen:    s.  über  diesen  Kritiker: 

G.  Merkel,  Über  Deutschland  zur  Schiller-  und  Goethezeit  .  .  mit  biographischer  Einleitung 
von  J.  Eckardt,  Berlin  1887.  32)  'Die  Zerstreuten',  'Der  Wirrwarr'  ua.  33)  Man 

zseMt  211  Stücke  von  ihm.  Die  meisten  erschienen  in  seinem  'Almanach  dramatischer 
Spiele  zur  geselligen  Unterhaltung  auf  dem  Lande',  Leipzig  1802  — 19.  Zuletzt  gesammelt 
in  seinem  Theater',   Leipzig  1840—41,  XL.  34)  Als  das  Stärkste  nennt  er  selbst  das 


530  NEUllOUllDElTSUllE  ZEIT.         XVIII  JAJlJlll.  §  103 

'in  Eu{i;liind'  auf,  so  1791  'die  Sonncnjuui^trau  in  !'( lu'.  Gk'iclie  Sinnesart 
und  Erfindungsweise  zeigen  aueli  seine  Kouiane,  die  Leiden  der  ortenber- 
gischen  Familie',  Petersburg   1785  ua. 

Füiirten  Kotzebues  Dramen  leichten  Gang  und  leichten  Sinn,  Eigen- 
schat'tcn  die  man  an  den  tranza-sischen  Theaterstücken  bewunderte,  auch 
der  deutschen  Bühne  zu,  so  fehlte  es  auch  nicht  an  solchen  Dichtern,  welche 
den  franzd'sischon  Geschmack  durcliaus  festzuhalten  oder  herzustellen  suchten. 
An  den  llcet'en  war  dieser  festbegrüiidet,  selbst  Karl  August  veranlasste  Goethe 
und  Scliiller  /.ur  Bearl)eitung  der  Traga^dien  von  Voltaire  und  Jlacine.  Ganz 
besonders  war  der  llof  zu  Gotha  diesem  Geschmacke  ergeben  und  der  Ge- 
heimsecreta^r  Frieurich  Wilhelm  Götter  huldigte  ihm  als  Dichter.  Er 
hatte  nach  franza'sischcm  Muster  in  Göttingen  1770  mit  Boie  zusammen  den 
Musenalmanach  begründet;  er  wirkte  in  demselben  Sinn  seit  1775  auf  das 
Iloftheater  zu  Gotha,  dem  ersten  in  Deutschland,  und  beeinflusste  dadurch  auch 
das  Maimlieimer,  wohin  die  Tru[)pe  grcesstenteiis  1 7 7ti  gezogen  war.  Er  be- 
arbeitete eine  Reihe  von  tranziesischen  Stücken,  Trag(i>dien  wie  Voltaires 
Electra  und  Mcrope,  Lustspiele  von  Marivaux,  la  Jlarpe,  Dorat.  Er  erlaugte 
aber  auch  am  Weimarer  Hofe  Beifall  durch  seine  für  musikalische  Begleitung 
gedichteten  Stücke:  Medea"  nach  dem  Vorbild  der  Ariadne  von  IJrandes, 
die  Geisterinsel'  nach  Shakespeares    Stui'm''  ua.-''' 

Der  gleichen  Richtung  wandte  man  sich  in  Wien  zu.  Die  Zauberoper 
knüpfte  hier  wieder  an  die  llanswurstkoma'die  an,  zog  aber  auch  Elemente 
des  Ritterstückes  herbei.  Ein  Muster  dieser  Ritterposse  ist  das  'Donauweib- 
chen' von  Karl  Friedrich  Heusler,  1792  zuerst  aufgeführt,  mehrfach  fort- 
gesetzt und  auf  lauge  hinaus  sehr  beliebt.^'' 

Auch  die  khissische  Tragoedie  der  Franzosen  fand  in  Wien  ihren  Ver- 
treter in  Heinrich  Joseph  von  Collin,  geb.  1771,  gest.  als  Hofrat  1811. 
Seine  Erstlinge,  Lustspiele  in  Prosa:  das  Scheinverbrechen",  1792,  und 
'Kindespflicht  und  Liebe,  1795,  aus  Romanen  gezogen,  das  letztere  aus  Tom 
Jones,  hatten  wenig  Beifall  gefunden.  Um  so  mehr  gefiel  sein  Regulus, 
1801,  dessen  Einfachheit  und  edle  Darstellung  in  den  fünflfüssigen  Jamben 
ihr  würdiges  Gewand  erhielt;  freilich  die  Handlung  war  gedehnt  und  Rühr- 
scenen,  auch  mit  Kindern,  in  der  Art  Kotzebues  hteuften  sich.  Aufopferung 
für  das  Vaterland,  wie    sie    Oesterreichs   Lage  damals    immer   wieder  gebot, 

Lustspiel  'Der  Rehbock  oder  die  sehuldlosen  Srhuldbewussten".  35)  Gotters   Singspiele* 

erschienen  zu  Leipzig  1778,  seine  'Schauspiele'  1795:  seine  'Gedichte'  Gotha  17ö7  — 1802, 
III:    im   letzten  Bande   auch  seine  Biographie.  3(j)  S.  über  dies  Stück  und  die  ganze 


§  164      GOTTER,  COLLIN.     RITTER-  UND  RÄUBERROMAN.         531 

empfahlen  auch  CoUins  Coriohin',  18U2,  'Bianca  della  Porta',  1807:  im  letzt- 
genannten Stück  ist  Schillers  Vorbild  schon  in  den  eingemischten  lyrischen 
Partien  ersichtlich.  Zugleich  wirkte  der  Umgang  mit  den  um  diese  Zeit 
nach  Wien  übergesiedelten  Brüdern  Schlegel  wenigstens  auf  die  Wahl  mittel- 
alterlicher Stoffe  hin.  Noch  mehr  lenkt  der  Herausgeber  der  Werke  Collins,^^ 
sein    Bruder  ^[athseus  (1779 — 1824)  in  die  Bahnen  der  Romantiker  ein. 

§  164. 

Die  Erzählung  in  Prosa ,  zunächst  der  Roman ,  stand  zu  Ende  des 
Jahrhunderts  in  naher  Wechselbeziehung  zum  Drama:  die  Lust  am  Aben- 
teuerlichen und  die  Schwärmerei  für  die  deutsche  Vorzeit  empfahlen  wie  das 
Ritterdrama  so  auch  den  Ritterroman,  dem  sich  nach  dem  Erscheinen  von 
Schillers  Ra?ubern  der  Raeuberroman  ansciiloss;  und  andererseits  schwelgte  die 
Rührseligkeit  der  Zeit  in  den  weichlichen  Familiengeschichten,  welche  ihre 
Helden  und  Heldinnen  meist  in  Verschuldung  und  Elend  geraten,  schliesslich 
aber  Rettung  und  Verzeihung  finden  Hessen.  Dabei  schöpften  die  Dramen 
aus  den  Romanen,  und  wiederum  lehnte  sich  die  Erza^hlung  an  das  Theater- 
stück an. 

Waren  es  namentlich  die  Schauspieler  gewesen,  welche  die  Bühne  mit 
Erzeugnissen  dieser  Art  versehen  hatten,  so  mussten  sie  es  noch  leichter 
finden  auch  die  Leser  mit  der  gleichen  Kost  zu  befriedigen.  So  erwarb  sich 
Christian  Heinrich  Spiess,^  der  mit  dem  'Ritterschauspiel:  Clara  von  Hohen- 
eicheif  Prag  1792,  die  Massenproduktion  in  diesem  Fache  eingeleitet  hatte, 
auch,  und  zwar  schon  seit  1782,  eine  grosse  Beliebtheit  durch  seine  Ritter- 
romane, wobei  er,  durch  Schillers  Greisterseher  angeleitet,  daneben  aber 
mit  Benutzung  des  Volksaberglaubens,  namenthch  Geistererscheinungen  und 
geheime  Gesellschaften  einwirken  Hess:  'Die  zwölf  schlafenden  Jungfrauen' 
1795;  Hans  Helling,  ein  Volksmserchen  des  10.  Jahrhunderts',  1798  ua. 
Nseher  an  Goethes  Götz  hielt  sich  Karl  Gottlob  Cramer,^  indem  er  eine 
gewisse  derbe  Ironie  anstrebte :  von  ihm  waren  'Leben  und  Meinungen,  auch 
seltsame  Abenteuer  Erasmus  Schleichers,  eines  reisenden  Mechanicus',  Leipzig 
1789,  'Hasper  a  Spada,  eine  Sage  aus  dem  13.  Jahrhundert",  Leipzig  1792 
und  zahlreiche  sehnliche  Machwerke  verfasst. 


Gattung  Hautten  (^Anm.  li.        37)   Wien    1812  — U.   Vi.     Vgl.  Fenlinand  Labau,  H.  .J.  t'ollin 
Wien  1879. 

§    164.       1)  Geh.  7A\   Freiberg   in  Sachsen  176;"):    Schauspieler,    gest.  1799    als  gi-ajflicher 
Wirtschaftsdirektor  in  Böhmen.  2)  Geb.  zu  Podelitz   bei  Freiburg  a.  d.  Unstrut  17.Ö8, 


532  NEUHOCIIDEITSCIIE  ZEIT.         XVllI  JAlUiH.  §  1(14 

^Vill kürliche  Ertiiidnuj;  ward  auch  da  geboten,  wo  versucht  wurde  den 
Schein  der  Überheferung  festzuhalten:  so  in  den  8agen  der  Vorzeit',  Berlin 
1780 — 99,  von  Veit  Weber,  hinter  welchem  Jsanien  sich  Lkonhard  Wächter^ 
versteckte.  Inmierhin  war  wenigstens  hier  eine  reinere  Phantasie  tha-tig. 
Dagegen  schloss  sich  au  Heinses  Ardinghello  Christian  Aigust  Vi:m'Iik^ 
an,  dessen  Kinaldo  Riualdini"  /u  Leipzig  1797  erschien;  auch  er  beschäftigte 
sich  übrigens  mit  dem  deutschen  Mittelalter,  um  Stoff  zu  romantischen  Ge- 
maflden  zu  finden. 

Nicht  weniger  zahlreich  und  fruchtbar  waren  die  Familienromanschreiber. 
Vom  preussischen  ll(»f  wurde  ArorsT  Lafontaine  ausgezeichnet,  welcher, 
zugleich  rationalistisch  und  gefühlvoll,  gegen  Standesvorurteile  eiferte,  ge- 
legentlich aber  auch  wie  Kotzebue  für  sittliche  Vergehen  eine  bedenkliche 
Nachsicht  «äusserte,  immer  aber  durch  den  glücklichen  Ausgang  seiner  Er- 
zsehlungen  befriedigte,  und  die  Gabe  einer  leicht  fasshchen,  flüssigen  Dar- 
stellung besass.  Nachdem  er  mit  Lustspielen  begonnen  (Die  Tochter  der 
ISatur'  ua.),  veröffentlichte  er  Die  Gewalt  der  Liebe  in  Erztehlungen'  z.  T. 
in  Versen.  1791  fgg. ;  Die  Verirrungen  des  menschlichen  Herzeus'  1792, 
'Clara  du  Plessis  und  Clairant'  (aus  der  Geschichte  der  Revolutionszeit)  1794, 
und  noch  eine  Reihe  a^hnlicher  Schriften,  welche  trotz  der  Angriffe  der  Ro- 
mantiker mit  groesstem  Beifall  aufgenommen  wurden. 

Weit  ha?here  Ziele  steckte  sich  ein  Erza'hler,  welcher  nach  dem  Vor- 
bild von  Sterne  und  mit  besonderem  Anschluss  an  Hippel  den  humoristischen 
Roman  pflegte  und  eine  Popularitaet  auch  in  den  besten  Leserkreisen  erlangte, 
so  dass  er  unseren  klassischen  Dichtern  sich  an  die  Seite  stellen  konnte. 
Johann  Paul  Friedrich  Richter'  oder,  wie  er  sich  als  Schriftsteller  nannte, 
Jean  Paul,  war  geboren  zu  Wunsiedel  1708,  hatte  in  Leipzig  studiert,  dann 
in  der  Heimal  an  mehreren  Orten  Hauslehrerdienste  gethan.  Aus  einem 
bisher  dürftigen  Leben    erhob  ihn  sein  Roman  'Hesperus  oder  die  4ö  Hunds- 

1795  Forstrat    zu    Meiiiingen.    gest.  17tt.).  3)  <ipb.  zu  Ülzen  1762.    gest.  zu  Hamburg 

1837    als  Vorsteher    einer  Erziehuugsaustalt.  4)  Aus  Weimar.    1768—1827:    Gipthes 

Schwager    und   von   ihm  für  Theater   und  Bibliothek   verwendet.  5)  Selbstbiographie. 

1826  begonnen,  von  den  Seinigen  ergänzt,  Breslau  1838.  Den  Titel  'Wahrheit  aus  meinem 
Leben'  fasste  (juethe  als  sesren  sich  ireriihtet  auf:  bei  Eckermann  30.  März  1831.  R.  0. 
Spazier.  'Jean  Paul,  ein  biographischer  Commentar",  mit  zahlreichen  Briefen  des  Dichters, 
Leipzig  1833.  K.  Ch.  Planck.  Jean  l'auls  Dichtung  im  Lichte  unserer  nationalen  Ent- 
wickelung,  Berlin  1876.  Nerrlieh,  J.  Paul  und  seine  Zeitgenossen,  Berlin  1876:  von  dem- 
selben eine  Auswahl  der  Werke  J.  Pauls  in  Kürschners  Xat.litt.  130 — 134.  Vi.      Sämtliche 


§  164  FAMILIENROMAN.     JEAN  PAUL.  533 

posttageV  Berlin  1795  zu  einer  rasch  wachsenden  Berühmtheit.  In  Weimar, 
wo  er  1796  und  1798  sich  aufhielt,  nahm  ihn  besonders  Herder  freundlich 
auf;  Frau  von  Kalb  sah  in  ihm  ihr  Dichterideal.  Er  aber  ergriff  das  Ver- 
hältnis zu  ihr  und  zu  anderen  scha?ngeistigen  Damen  nur  als  Gelegenheit 
zum  Studium  des  weiblichen  Herzens.  Nachdem  er  in  Berlin  den  Titel  eines 
hildburghipusischen  Legationsrats  erhalten  und  sich  verheiratet  hatte,  begab 
er  sich  1801  nach  Meiningen,  1802  nach  Coburg,  endlich  1804  nach  Baireut, 
wo  er,  vom  Fürstprimas  Dalberg  mit  einer  Pension  unterstützt,  welche  spa:>ter 
der  bayrische  Staat  übernahm,  in  idyllischen  Yerhältnissen  bis  1825  lebte 
und  nur  auf  Reisen  der  Fortdauer  seines  Ruhmes  sich  erfreute.  Als  Schrift- 
steller vereinigte  er  in  beständigem,  sprungweisem  Wechsel  ein  reiches,  ja 
überschwängliches  Gefühlsleben  mit  der  Lust  an  ebenso  übertreibendem  Witz 
und  Spott.  Die  letztere  Richtung  überwog  in  seinen  Jugendschriften,  von 
denen  zuerst  'die  grcBuländischen  Prozesse',  Berlin  1783/4,  11,^  erschienen, 
dann  die  'Auswahl  aus  des  Teufels  Papieren',  Gera  1789,  folgte.  Spseter, 
als  sich  der  Dichter  von  Kants  Philosophie  zu  der  Jacobis  hingewandt  hatte,** 
trat  die  andere  Neigung  in  den  Vordergrund,  und  mehr  als  ein  anderer 
Schriftsteller  verstand  er  es  seiner  Zeit  Thrsenen  der  Rührung  zu  entlocken, 
bald  durch  die  tiefempfundene  Schilderung  der  Unzulänglichkeit  alles  Irdi- 
schen, der  Sehnsucht  nach  der  Vollendung  irdischer  Wünsche  im  Jenseits, 
bald  auch,  indem  er  reine  aber  unerfahrene  Menschen  nach  dem  Hoechsten 
streben  oder  auch  in  einem  engbegrenzten,  dürftigen,  aber  schuldlosen  Leben 
ihr  Glück  finden  Hess.  Für  Charactere  dieser  letzteren  Art  bot  ihm  besonders 
der  Lehrerstand  die  Modelle  dar  und  so  gebeerte  sein 'Wuz',  den  er  1793  der 
'Unsichtbaren  Loge'  anhängte,  sein  'Quintus  Fixlein'  1796,  sein  'Fibel'  1812, 
sein  'Rector  Seemaus'  1814,'-*  zu  den  Prachtstücken  dieser  empfindsamen  Art, 
wsehrend  sein  'Armenadvocat  Siebenkses',  Berlin  1796,  sein  'Titan'  1801 — 3, 
seine  'Flegeljahre'  1804—5  das  Übermass  des  Ideahsmus  darstellen,  welches 
grossenteils  in  Thatenscheu  und  Unwahrheit  umschlägt,  und  wieder  andei-e, 
wie  'Doctor  Katzenbergers  Badereise'  1809  durch  den  gezwungenen,  gelehrt 
zusammengesuchten,  ja  geradezu  geschmacklosen  Witz  abstossen.^*     Die  me- 

Werke  vou  J.  Paul',  zuerst  Berlin  1826—28,  LX.  6)  Der    Titel    bezieht    sich  darauf 

dass  die  einzeluen  Stüi-ke  als  Briete  gedacht  sind,  welche  sein  Hund  befördert.  J.  Paul 
war  ein  grosser  Tierfreund.  7)  Daraus  LB.  o,  895.  8)  J-  Paul  richtete  sich  auch  gegen  Fichte, 
den  er  in  der  Clavis  Fichtiana,  1800,  bekämpfte.  9)  LB.  3,  899—943.  9*)  J.  Pauls  Satire 
ahmte  Christian  Ernst  Gtrafv.Bentzel-Sternau  nach,  geb.  zu  Mainz  1767,  gest.  1849  ('Das 
goldene  Kalb',  18U3.  4,  IV);   wogegen  Ernst  Wagnkr,  geb.  1769,  gest.  zu  Meiningen  1812 


534  NEüHOCHDEüTyCHE  ZEIT.         XVIII  JAlIJill.  §  1«;4 

frische  Form  war  Jean  Paul  vi'tllig  versagt:  er  halt  sich  mit  langgezogenen 
Sätzen  in  lilühender  Prosa,  seinen  'Streckversen^  wie  er  sie  nannte.  Für 
deutsches  ^Vesen  war  er  gegenüber  der  allzu  ausschhesslichen  Verherrlichuiii: 
des  Griechentums  durch  Gcethe  und  Scliiller  und  im  Widers])rucli  gegen 
den  einseitigen  Formensinn  der  Kon)antiker  durcli  seine  Vorschule  der 
Aesthetik"  1804  eingetreten;  gesunde  pa^dagogische  Grundsätze  empfahl  er  in 
seiner  Levana"  1807.  Die  Erhebung  Deutschlands  gegen  Napoleon  begrüsst«; 
er  mit  Begeisterung. 

Wenn  Jean  Paul  das  Glück  der  Armen,  auch  der  Armen  an  Geist  rüh- 
rend darstellte,  so  war  Jon.\NX  Hkixuich  Pestalozzi  '**  von  glühendem  Eifer 
beseelt,  ihrem  Elend  abzuhelfen:  um  die  Quellen  dieses  Elends  zu  verstopfen, 
wollte  er  dem  Volke  durcli  eine  gute  Erziehung  den  Trieb  und  die  Mittel 
geben  sich  emporzuringeu.  Geboren  zu  Zürich  1740,  ein  Jugendfreund  La- 
vaters,  ging  er  von  den  gelehrten  Studien  über  zur  Landwirtschaft,  welche 
er  im  Neuenhof  bei  Brugg  betrieb.  Hier  begründete  er  1774  eine  Armen- 
erziehungsanstalt, die  er  mit  völliger  Hingabe,  aber  nicht  mit  befriedigendem 
seusseren  Erfolg  leitete.  Als  er  1780  die  Anstalt  aufgeben  musste,  suchte  er 
seine  von  Iselin  gebilligten  Ansichten  in  erzadilender  Form  darzustellen. 
'Lienhard  und  Gertrud,  ein  Buch  für  das  Volk'  erschien  1780,  mit  Fort- 
setzungen bis  1787.  Die  materielle  und  sittliche  Not  des  Volkes  hatte  Pesta- 
lozzi genau  kennen  gelernt:  eine  Besserung  erhoffte  er  nur  für  die  heran- 
wachsende Jugend,  wenn  schon  die  damals  noch  aristokratische  Obrigkeit  viel 
Unrecht  und  Unglück  abzustellen  im  Stande  sei.  Die  Erziehung  aber  solle 
sich  an  die  haeusliclie  Zucht  anschliessen,  wie  eine  gute  Mutter  sie  aus  der 
Fülle  ihrer  Liebe  und  in  ihrer  natürlichen  Einsicht  den  Kindern  am  besten 
zu  geben  verstünde.  Es  sind  ergreifende  Bilder  der  Not  und  der  Bosheit, 
aber  auch  der  werkthaetigen,  frommen  Liebe,  die  sein  Volksbuch  auf  einander 
folgen  lässt:  mit  tiefem  Gefühl  sind  die  kindlichen  Empfindungen  erst  in  der 
Entbehrung,"  dann  an  den  von  Arm  und  Reich  geteilten  Freudenfesten 
wiedergegeben.  Pestalozzi  erhielt  Gelegenheit  seine  Grundsätze  im  Grossen 
zu  erproben,  als  er  nach  den  Kämpfen  der  inneren  Schweiz  gegen  die  Fran- 
seine Gefühlsschwärmerei  nachbildete:  Wilibalds  Ansichten  des  Lebens'  1804:  L.B.  3.  1289  fgu. 
10)  Pestalozzis  Sämtliche  Schritten.  Stuttgart  18Ut  — 26,  X\'.  eine  mangelhafte  Ausgabe. 
Besser:  Sämtliche  Werke,  eingeleitet  von  L.  W.  Seylfarth,  Brandenburg  18651 — 73.  XVlll: 
von  demselben  auch:  Pestalozzi  nach  seinem  Leben  und  seinen  Werken.  6.  Anti.  Leipzig,' 
1876.  Nachtraege  zu  den  Werken  in  den  'Pestalozziblättern',  Zürich  1878  fgg.  Ausgewaehlte 
Werke  mit  Biographie,  hg.  von  F.  Mann,  Langensalza  1878.  75t,   IV.  H)  LB.  3,  841. 


§  164  PESTALOZZI,  MÜLLER.  535 

zosen  '1798  ein  Waisenhaus'  in  Stans  übernahm,  und  bald  darauf  eigene 
grocssere  Anstalten  zu  Burgdorf,  spteter  in  Yverdou  begründete.  Auch  im 
Ausland,  besonders  in  Preussen,  fand  Pestalozzis  Methode  Anerkennung  und 
Annahme.  So  durfte  er  trotz  manches  seusseien  Fehlschlags  dankbar  auf 
den  Erfolg  seiner  Wirksamkeit  zurückschauen,  als  er  1827  in  Brugg  starb. 
Der  Wunsch  auf  die  Staatsverhältnisse  einzuwirken,  befeuerte  auch  die 
Geschichtschreibung,  welche  gleichfalls  von  einem  Schweizer  zum  ersten  Male 
wieder  in  grossem  Sinn  und  Stil,  als  Kunstwerk  und  mit  der  Absicht  vater- 
ländische Gesinnung  und  staatsmännische  Weisheit  zu  lehren  unternommen 
wurde.  Johannes  von  Ml'ller'-  war  1752  zu  Schaffhausen  geboren  und 
fand  dort,  nachdem  er  in  Göttingen  studiert,  auch  zuusechst  eine  Stelle  als 
Lehrer,  gab  diese  jedoch  schon  1773  wieder  auf  und  wirkte  auch  an  der 
Kriegsakademie  zu  Kassel  nur  1781 — 83.  Seinen  Studien  hingegeben,  lebte 
er  meist  bei  Freunden  in  der  Schweiz,  bis  er  1786  als  Bibliothekar  nach 
Mainz  kam.  1792  siedelte  er  nach  Wien  über,  wo  er  den  Adel  erhielt,  1804 
nach  Berlin.  1807  bestimmte  ihn  Napoleon  zum  Ratgeber  seines  Bruders 
Jerome,  des  Koenigs  von  Westfalen;  allein  der  Unmut  über  die  Roheit  und 
den  Leichtsinn  dieses  Fürsten,  dem  er  seine  Vergangenheit  aufgeopfert  hatte, 
führte  ihn  bald  ins  Grab.  Er  starb  zu  Kassel  1809.  Der  Wandel  seiner 
politischen  Stellung  war  durch  die  wechselnden  Maclitverhältnisse  veranlasst, 
welche  dem  an  sich  konservativen  Politiker  erst  in  dem  Preussen  Friedrichs 
des  Grossen,  dann  in  Osterreich,  endlich  unter  Napoleon  das  Bestehende  am 
sichersten  gestellt  erscheinen  Hessen.  Der  joscphinischen  Anfeindung  des  Papst- 
tums war  er  entgegen  getreten,  indem  er,  durch  Herder  geleitet,  dessen 
ehemalige  Bedeutung  anerkannte;  ^^  Friedrich  II  hatte  er  noch  nach  der 
Schlacht  bei  Jena  in  einer  öffentlichen  Rede  gepriesen,  aber  wesentlich  wegen 
der  Eigenschaften,  welche  Napoleon  ebenfalls  für  sich  in  Anspruch  nehmen 
durfte:  Goethes  Übersetzung  dieser  Rede  ^*  war  ein  Zeichen  der  Zustimmung. 
Die  Erfolge  der  alten  Eidgenossenschaft  führte  er  in  seiner  Schweizergeschichte^" 
auf  die  moralischen  Vorzüge  der  alten  Zeiten  zurück.  Konservativ  war  er 
auch  als  Forscher:  er  folgte  wesentlich  den  alten  Chronisten  wie  Tschudi, 
dessen  Ausdrucksweise  er  sogar  wiederholte.  Kritik  der  Quellen  lehnte  er 
ab    und    bezeichnete    Schöpflin    und    andere    Urkundenforscher    als    Knechte. 


12)  Briefe  eines  jungen  Gelehrten  an  einen  Frennd  (Bonstetten\  hg.  von  F.  Brun,  Tübingen 
181'J;  Briefe  von  J.  v.  Müller  an  seinen  ältesten  Freund  in  der  Sfhweiz  (Füsli),  Zürich 
1813.  13)  Reisen  der  Psepste  o.  0.  1782.  14)  LB.  3,  579  fgg.  15)  Znerst  Bern 

(üngierter  Druckort  Boston)  1780,  ^86—95,  Leipzig.     Er  gelangte  nur   bis   1500.     8.  Ferd. 


536  NEUIIOCUÜEUTÖCIIE  ZEIT.         XVIIl.  JAUlUl.  §  104 

Aber  vortrettlich  vorstand  er  es  den  rcichon  Stoff,  dim  sein  staunenswertes 
Gedächtnis  ihm  l)oreit  hielt,  übersichtlich  zu  ordnen  und  die  leitenden  Ideen, 
die  Charactcrc  der  weltgeschichtlichen  Perscenlichkeiten  klar  und  knapp  aus- 
zudrücken, wobei  Tacitus  sein  bewundertes  Vorbild  war.  Von  seinen  zahl- 
reichen Arbeiten  (er  ist  namentlich  auch  wie  Haller  als  Jlecenscnt  unermüd- 
lich und  vielseitig  thsetig  gewesen)  sind  eben  der  genannten  Eigenschaften 
wegen  die  Vier  und  zwanzig  Bücher  allgemeiner  Geschichte','*  welche  bis  zu 
Ende  dos  Mittelalters  reichen,  von  besonderer  Wichtigkeit  geworden. 

Mit  Müller  traf  in  Kassel ,  dann  in  Mainz  Johann  Geor(;  Forstkr  '^ 
zusammen,  welcher  in  gleich  umfassender  Weise  geographische  und  natur- 
wissenschaftliche Kenntnisse  zur  W(üterbildung  der  allgemeinen  Weltanschauung, 
aber  in  einem  politisch  entgegengesetzton  Sinne  verwertete.  Forster  war  1754 
zu  Nassonhuben  bei  Danzig  geboren  und  hatte  früh  seinen  Vater,  einen  Pre- 
diger, den  jedoch  die  Natiu-forschung  mehr  lockte,  auf  weiten  Reisen  begleitet, 
1772 — 75  bei  der  Weltumsegelung  Cooks.  Nachdem  er  1777  die  Beschrei- 
bung dieser  Reise  herausgegeben  hatte,  lebte  er  als  Professor  1779 — 84  zu 
Kassel,  dann  zu  Wilna,  seit  1788  in  Mainz.  Hier  nahm  er,  von  der  Ver- 
derblichkeit der  geistlichen  Staatsrogierung  längst  überzeugt,  nach  der  Erobe- 
rung der  Stadt  durch  Custine  den  lebhaftesten  Auteil  an  der  repuldikanischoii 
Regierung  und  begab  sich  1798  nach  Paris  um  die  Einverleibung  des  linken 
Rheinufers  in  Frankreich  zu  beantragen.  Hier  starb  er  1794,  von  Grauen 
und  Ekel  über  die  Schreckensherrschaft  erfüllt  und  durch  haeusliches  Miss- 
geschick schwer  getroffen.  Mehr  als  die  Beschreibung  seiner  Weltreisen 
haben  die  Ansichten  vom  Niederrhein'  ihm  dauernden  Ruhm  verschafft:  auf 
einer  Reise  mit  dem  jungen  Alexander  von  Humboldt  1790  hatte  er  mit 
unvergleichlicher  Vielseitigkeit  über  Natur  und  Volksleben,  Kunst  und  ge- 
schichtliche Denkmteler  Bemerkungen  gesammelt  und  tiefsinnige  Betrachtungen 
daran  geknüpft.  Gegen  das  reinmenschliche  Ideal  der  Griechen  und  Raphaels 
setzte  er  Rubens  herab.  Reinmenschliche  Schcenheit  erkannte  er  auch  in  dem 
indischen  Drama  Sakontala,  welches  er  1791  durch  eine  Übersetzung  aus  dem 
Englischen  in  die  deutsche  Litteratur  einführte. 


Schwarz.  J.  v.  Müller  und  seine  Schweizergesrhirbte,  Basel  1804.  16)  Stuttgart  1810. 

Sämtliche  Werke.  Stnttg.  1810— If«.  XXVIIl.  17)  Autobiographie  bis  1784  in  Strieder 

Hess.  Gelehrtengeschichte.  Briefwechsel,  Lpz.  1829.  Briefwechsel  mit  Sömmerring,  hg.  von 
Hettner.  Braunscbweig  1877.  H.  Koenig,  Forsters  Leben  in  Haus  und  Welt  *1858.  K.  Klein,  G. 
Forster    in  Mainz,  1863.     Leitzmann,  Beitraege  zur   Kenntnis  Forsters   im    Arch.  f.  neuere 


§  1G4  FORSTER,  MORITZ,  W.  v.  HUMBOLDT.  537 

Goethe  begrüsste  wie  Herder  diese  Erwerbung  auf  das  freundlichste.  In 
Goethes  Sinn,  ja  im  Verkehr  mit  Goethe,  den  er  in  Italien  traf,  führte  auch 
Karl  Philipp  Moritz  in  einer  kleinen  Schrift  'Über  die  bildende  Nachahmung 
des  Schoenen', ''^  Braunschweig  1788,  die  Kunstlehre  weiter.  Der  Künstler,  so 
bemerkt  er,  finde  in  der  Natur  keine  vollkommenen  Muster,  die  er  nur  ge- 
treu nachzubilden  habe;  sein  Vorbild  liege  vielmehr  in  ihm,  da  ihm  die 
Fsehigkeit  inne  wohne,  die  für  die  Einbildungskraft  nicht  fassbare  Schoenheit 
des  Naturganzen  in  seine  Thatkraft  aufzunehmen  und  aus  sich  herauszubilden. 
Die  künstlerische  Thatkraft  ist  ihm  eine  angeborene  Gabe,  welche  durch  keine 
noch  so  hohe  Ausbildung  des  Geschmackes  erworben  werden  könne.  Moritz 
hatte  diese  letzte  Erfahrung  an  sich  selbst  machen  müssen,  da  er  vergebens 
versucht  hatte  sich  zum  Schauspieler  auszubilden.  1757  zu  Hameln  geboren 
und  bereits  als  Hutmacher  in  die  Lehre  gegeben,  war  er  durch  seinen  Fleiss 
allerdings  zu  den  Universiteetsstudien  hindurchgedrungen.  Seine  Laufbahn 
hat  er  in  dem  psychologischen  Roman  'Anton  Reiser',  Berlin  1785,^^  an- 
ziehend beschrieben.  Er  starb  bereits  1793  zu  Berlin,  wo  er  als  Mitglied  der 
Akademie  Vorlesungen  über  die  Theorie  der  schoenen  Künste  hielt. 

Naeher  an  Schillers  Ansichten  hielt  sich  Wilhelm  von  Humboldt^"  mit 
einem  Versuch  an  einem  Werke  Goethes  die  einzelnen  Gattungen  der  Dicht- 
kunst philosophisch  nach  Inhalt  und  Form  zu  bestimmen.  Geboren  1767  zu 
Potsdam,  verlebte  er  die  Jahre  1794 — 97  z.  T.  in  Jena,  mit  Schiller  im  eng- 
sten Verkehr.  Seine  'ästhetischen  Versuche  über  Goethes  Hermann  und 
Dorothea'  erschienen  zuerst  Braunschweig  1799:  feinsinnig  im  Einzelnen,  aber 
bei  der  Artbeschreibung  des  Epos  zu  einseitig  am  homerischen  Vorbild  haf- 
tend. Spseter  hat  Wilhelm  von  Humboldt  um  so  weitblickender  als  Sprach- 
forscher'-' den  Zusammenhang  und  die  Zusammenstimmung  der  menschlichen 

Sprachen  84,  369.  86,  129:  88,  129.  18)  Neudruck  von  L.  Geiger  in  Seufferts  Dtsche  Lit,- 
denkm.  31,  Heilbronn  1888.  Goethe  hatte  einen  Teil  dieser  Schrift  in  seine  'Italienische  Keise' 
aulgenommen.  19)  Neudruck  in  Seufierts  Lit.-denkm.  23,  Heilbronn  1886.  Seine  Reisen 
in  England  beschrieb  er  1782,  die  in  Italien  1792.  93.  tTber  seine  Prosodie  s.  §  142,  20 
fgg.     Vgl.  auch    Max  Dessoir,    K.  Phil.  Moritz    als  Aesthetiker,    Berlin    1889.  20)  K, 

Haym,  "W.  v.  Hmuboldt,  Lebensbild  und  Characteristik,  Berlin  1856.  V^on  Briefen 
Humboldts  sind  ausser  denen  an  Schiller  (§  161,  28)  für  sich  herausgegeben  worden  die  an 
eine  Jugendfreundin  (Charlotte  Diede)  1847,  die  an  Welcker  1859,  die  an  Körner  1880,  die 
an  F.  H.  Jacobi  durch  A.  Leitzmann.  Halle  1892.  21)  Hauptwerk:  'Über   die  Kawi- 

sprache'  in  den  Schriften  der  Berliner  Akademie  1836 — 39  erschienen,  mit  der  Einleitung 
'über  die  Verschiedenheit  des  menschlichen  Sprachbaues  und  ihren  Einfluss  auf  die  geistige 
Entwickelung  des    Menschengeschlechts".     W.  v.  H.,    Gesammelte  Werke,    Berlin    1841   bis 


538  NEUHOCIIÜEUTSCIIE  ZEIT.        XVIll  JAIIUII.  §  ir.4 

Sprachen  gezeigt.  Auch  die  in  einer  Jugendschrift  Ideen  /u  einem  Versuch 
die  Grenzen  der  Wirksamkeif  des  Stsiates  zu  l)estimmen'--  ausgesprochene 
Ansicht  dass  der  Staat  die  menschliche  Entwickehing  nur  zu  schützen,  nicht 
aber  zu  leiten  habe,  hat  er  in  seiner  patriotischen  Teihialime  am  Wiederauf- 
bau Preussens  selbst  widerlegt.  Als  Gesandter  und  als  Minister  1809  —  \H\\) 
theetig,  starb  er  zu  Tegel  bei  Berlin  1835. 

1852,  VII.  22)  Nur  stückweise  1792,  erst  1851  vollständig  veröffentlicht. 


DAS  NEUNZEHNTE  JAHßHUNDEET. 

§  165. 
Das  Jahrhundert,  an  dessen  Ende  wir  stehen,  kann  nur  zum  Teil 
historisch  betrachtet  werden;  die  seit  1870  aufgetretenen  Schriftsteller  ge- 
hojren  der  Gegenwart  an.  Indessen  lässt  sich  auch  jetzt  schon  in  dem 
geistigen  Leben  des  neunzehnten  Jahrhunderts  ein  Grundzug  nachweisen,  das 
Streben  nach  Bildung.  Dies  Schlagwort  hat  die  Aufklserung  des  vorigen 
Jahrhunderts  abgeloest,  hat  sich  ihr  vielfach  feindlich  entgegengestellt.  Wandte 
sich  die  Aufklärung  allein  an  den  Verstand,  so  sollte  die  Bildung,  welche 
von  der  künstlerischen  Thsetigkeit  ihren  Namen  hat,  sich  auf  den  ganzen 
Menschen  beziehen.  Der  Ausdruck  ist,  wenn  auch  aus  dem  Franzcesischen  ^ 
übernommen,  doch  durch  Goethe  erst  als  ein  für  sich  stehendes  "Wort  aus- 
geprsegt^  und  in  Umlauf  gesetzt  worden.  Bezog  sich  die  Forderung,  welche 
er  mit  dem  "Worte  aussprach,  auf  das  Verhältnis  zur  Gesellschaft,  so  gaben 
seine  begeisterten  Anhänger,   die  Romantiker,^    ihr  eine  solche  Ausdehnung, 

§  16o,  1)  Former  le  cceur,  Vesprit.  So  sagt  Herder:  'Bildung  der  Denkart,  der  Gesinnungen 
und  Sitten  ist  die  einzige  Erziehung ,  die  diesen  Namen  verdient ,  nicht  IJnterriclit,  nicht 
Lehre'.  2)  Vgl.  die   berühmte   Stelle   im  Tasso   I,    2:    'Ein  edler  Mensch  kann  einem 

engen  Kreise  nicht  seine  Bildung  danken.  Vaterland  und  Welt  mnss  auf  ihn  wirken,  Ruhm 
und  Tadel  muss  er  vertragen  lernen.  Sich  und  andre  wird  er  gezwungen  recht  zu  kennen. 
Ihn  wiegt  nicht  die  Einsamkeit  mehr  schmeichelnd  ein.  Es  will  der  Feind ,  es  darf  der 
Ereund  nicht  schonen.  Dann  übt  der  Jüngling  spielend  seine  Kräfte,  fühlt  was  er  ist  und 
fühlt  sich  bald  ein  Mann'.  In  den  "Wahlverwandtschaften  1,  2  heisst  es  von  Luciane,  dass 
sie  sich  in  der  Erziehungsanstalt  'für  die  Welt  bildet':  und  ebd.  :  'Doch  wer  ist  so  gebildet, 
dass  er  nicht  seine  Vorzüge  gegen  andre  manchmal  auf  eine  grausame  Weise  geltend  macht?' 
Doch  gebraucht  Goethe  das  Wort  auch  in  einem  weiteren  Sinne  in  den  'Vier  Jahreszeiten',  68: 
'Franzthum  drängt  in  diesen  verworrenen  Tagen,  wie  ehmals  Lutherthum  es  gethan,  luhige 
Bildung  zurück'.  3)  Dorothea  Schlegel  (Briefwechsel  1,  122)  sagt  in  ihrem  Tagebuch : 

'Sich  bilden  ist  das  Streben  des  Lebens  .  .  .  Zum  Leben  gebeert ,  dass  man  die  Welt  und 
alles  ausser  sich  kenne,  zum  Sterben  aber,  dass  man  sich  selber  kenne,  dass  man  gebildet 
sei'.     Friedrich  Schlegel  wendet    das  Wort    in  der  Lucinde    in  den  verschiedensten  Foinnen 

WacVernagel,  Litter.  Geschichte  H.  36 


540  NEIIIIOCIIDEUTSCHI':   ZKIT.         XIX  .lAIIUll.  §  165 

das8  sie  Alles  umfassto,  was  über  die  Naturanlagc  hinausführte.  Allmtehlich 
verengerte  sich  die  Bedeutung  des  Wortes*  doch  wieder  dahin,  dass  es  auf 
den  Unterricht  oder  doch  die  P>ziohung  beschränkt  wurde,  welclie  der  Ein- 
zelne erhalten  hat,  und  jetzt  von  Gymnasialbiklung  und  selbst  von  Yolks- 
schulbildung  die  Rede  ist.  Und  so  hat  sich  frühzeitig'  an  das  freilich  unbe- 
stimmte" Wort  der  Spott  geheftet,  welcher  es  gegenwärtig  schon  manchem^ 
verleidet  hat.  Indem  mau  dabei  an  Kenntnisse  und  Fertigkeiten  denkt,  welche 
angeeignet  werden  sollen,  verwechselt  man  Bildung  leicht  mit  Gelehrsamkeit, 
insbesondere  mit  der  auf  die  historischen  Wissenschaften  gerichteten.  In 
der  That  darf  gerade  dem  neunzehnten  Jahrhundert  die  Vorliebe  für  diese 
ebenso  als  kennzeichnend  beigelegt  werden,  wie  dem  vorigen  die  philosophische 
Neigung.  Von  dessen  Forderung,  auch  die  Lebensverhältnisse  nach  Ver- 
standesgründen zu  ordnen,  war  man  abgekommen;  die  Erschütterungen  der 
franzoesischen  Revolution  schienen  zu  beweisen,    dass  dieser  Weg  nur  in  das 

und  Beziehungen  an.  In  dem  Sonett  'Athenaeum'  gibt  er  aU  seine  und  seines  Bruders  Ab- 
sicht an  'Der  Bildung  Strahlen  all'  in  Eins  zu  fassen'.  Schleiermacher  richtet  seine  Reden 
'an  die  Gebildeten  unter  ihren  Verächtern'.  Rumohr  Denkwürdigkeiten  1,  80:  'Die  hohe 
Bildung,  welche  Einzelne  unter  uns  durch  verbreitetes  Studium,  Nachdenken  oder  Anstren- 
gung erlangen  .  .  .  Jenes  tiefgefühlte  Bedürfnis  gegenseitiger  Anregung,  auf  welchem  die 
Anmut  und  der  Zauber  eines  wahrhaft  gebildeten  Umgangs  beruht'.  Savigny  nennt  die 
Romantiker  in  Jena  'genialische  und  sich  wahrhaft  bildende  Menschen':  Steig,  Goethe  und 
die  Brüder  Grimm  S.  8.  Vgl.  ferner  Bettina,  Frühlingskranz  164;  'die  innere  Bildung  der 
Seele'  305.  Das  Wort  ist  dann  bei  H.  v.  Kleist,  bei  Fichte  in  den  Berliner  Vorlesungen, 
bei  Jahn  im  Volkstum  vielfach  zu  finden.  Ganz  besonders  aber  ist  freilich  der  Goethesche 
Sinn  darin  sichtbar  geblieben,  dass  Rahel  z.  B.  sagt :  'Ein  gebildeter  Mensch  muss  sich  in 
die  Individualitaet  eines  andern  versetzen':  Proelss,  Das  junge  Deutschland,  S.  474.  4)  In 
dem  engeren  Sinne,  worin  es  soviel  als  Gewandtheit  des  Umgangs  bedeuten  soll,  sagt  das 
Sprichwort:  'Reisen  bilden",  welches  die  Prinzessin  Amalia  (§  178)  in  den  Tieuschungen  1 
schon  ironisch  anführt.  Von  Lenau  schreibt  seine  Grossmutter  1821:  'Jetzt  lernt  er  reiten 
und  fechten  auch  dabei.     Alles    muss    er  lernen,    was   zur  Bildung  gebeert':    Schurz  1,  51. 

5)  Kotzebue  richtete  gegen  die  Romantiker  sein  satirisches  Drama:  Der  hyperboreische 
Esel  oder  die  heutige  Bildung.  Doch  auch  die  Vertreter  der  klassicistischen  Dichtung 
neckt  Tieck  öfters,  ebenso  Kerner  in  den  Reiseschatten  mit  dem  Worte  Bildung;  und 
Eichendorff,    Krieg    den    Philistern,    lässt    nur    deren    Vertreter    das    Wort    gebraachen. 

6)  Grillparzer  bei  Foglar  *  S.  46:  'Ein  gebildetes  Publicum  heisst  ein  nachbetendes  Publi- 
cum. Bildung  haben  immer  nur  Einzelne'.  Dingeist edt  in  der  Amazone  (Rodenberg  2,  115): 
'Bildung  ist  das  stolze  Modewort  des  Tages:  sie  besteht  aus  75 %  Einbildung  und  25 "/o 
Nachbildung'.  Geibel  Zeitgedichte  (Ges.  Werke  2,  104):  'Das  ist  der  Bildung  Fluch,  in 
der  wir  leben,  dass  ihr  das  Beste  untergeht  im  Vielen'.  7)  Wenn  sie  von  Bildungs- 
philistern   reden,    so    erinnert    dies    an    die     Veruunftphilister'    Brentanos   (^Frühlingskranz 


§  165  HISTORISCHE  UND  POLITISCHE    RICHTUNG.  541 

Verderben  führe.  Die  Erhaltung  des  Überkommenen  ward  als  Pflicht  der 
Staatslenker  angesehen  und  das  Verständnis,  zunächst  die  Kenntnis  der 
Überlieferung  als  Aufgabe  der  Wissenschaft  und  Kunst.  Wohl  reicht  die 
Entwickelung  der  deutschen  Philosophie  noch  weit  in  das  neunzehnte  Jahr- 
hundert hinein;  aber  der  mächtige  Anstoss,  den  Kant  gegeben  hatte,  kehrte 
nur  immer  schwächer  wieder,  und  die  sich  wiederholende  Überwindung  des 
bisherigen  Standpunctes  nahm  zuletzt  das  Vertrauen  zu  den  umfassenden 
Systemen  hinweg.  Auch  in  der  Philosophie  wurde  das  historische  Element 
immer  stärker.  In  der  politischen  Geschichte  traten  jetzt  die  Meister  des 
Faches  hervor  und  die  Grundsätze  ihres  Forschens  verbreiteten  sich  in  immer 
weiteren  Kreisen.  Die  Geschichte  der  Litteratur,  der  Künste  und  Wissen- 
schaften schloss  sich  an;  vor  allem  in  der  Philologie,  in  der  Behandlung  der 
Sprachdenkraseler,  gab  Deutschland  jetzt  das  Muster  für  die  anderen  Nationen, 
ja  es  nahm  vielfach  diesen  die  Arbeit  auf  ihrem  eigenen  Gebiete  vorweg. 
Durch  diese  historischphilologischen  Forschungen  wurde  der  Kreis  der  Stoffe 
und  Formen,  deren  sich  die  Litteratur  bediente,  ausserordentlich  erweitert. 
Übersetzungen^  aus  allen  Cultursprachen  bereicherten  die  deutsche  Dichtimg 
und  gaben  ihr  neue  Muster,  verliehen  ihr  aber  auch  den  Anschein  einer 
Buntheit  und  Verwirrung,  welcher  ihrer  weiteren  Fortführung  Gefahr  bringen 
muss.  Dazu  kommt,  dass  neben  den  Geisteswissenschaften  die  Naturwissen- 
schaft unseres  Jahrhunderts,  nach  anfänglichem  Abirren,  immer  mäch- 
tiger herano-ewachsen  ist,  und  nicht  zufrieden  mit  dem  Vorrechte  die  eeusseren 

DO  ' 

Lebensgrundlagen  umzugestalten,  vielfach  auch  den  Betrieb  jener  anderen 
Wissenschaften,  ja  selbst  den  der  Dichtung  einzuschränken  und  herabzusetzen 
unternommen  hat. 

Die  unzweifelhafte  Verbesserung  der  Lebensbedingungen  machte  es  auch 
moeglich,  den  Ansprüchen  besser  zu  genügen,  welche  auf  politischem  Gebiete 
erhoben  wurden.  Der  Zusammenbruch  des  deutschen  Reichs  und  die  Unter- 
werfung der  einzelnen  Staaten  unter  Napoleon  zeigten  die  Unzulänghchkeit 
der  bisherigen  Zustände;  zur  Abwehr  der  Fremdherrschaft  w-urden  die  Kräfte 
aller  Volksgenossen  aufgerufen  und  freiere  Einrichtungen  versprochen,  deren 
Herstellung  jedoch  erst  nach  langem  und  oft  unterbrochenem  Ringen  erreicht 
werden  konnte.  Diese  politischen  Bestrebungen  geben  auch  der  Litteratur 
unseres  Jahrhunderts  eine  eigene  Färbung,  welche  mit  ihrer  historischen 
Neigung   in   innigem   Zusammenhang    steht.     Die    zunehmende   Ausgleichung 


111  {gg.)  8)    Diese  beurteilt,   alleidiugs   wesentlich  soweit  antike  Dichter  in  Betracht 


542  NEUHOCflDEUTSCIIE   ZEIT.         XIX  JAIllUl.  §  165 

der  Standesuntorsehicdc,  die  immer  engere  Zusammenfassung  der  einzelnen 
deutschen  Staaten  Hess  nun  aber  auch  ältere  Gegensätze  wieder  hervortreten, 
welche  im  y)hilosüphischen  Zeitalter  wenigstens  aus  der  Litteratur  verschwunden 
w.iren,  die  confessionellen.  Die  Besiegung  Napoleons  setzte  das  Papsttum 
von  neuem  in  seinen  früheren  Besitz  ein  und  die  Neubegründung  des  Jesuiten- 
ordens 1814  zeigte  die  Wiederaufnahme  seiner  alten  Ansprüche,  Dieser 
Richtung  kam  es  zu  (fute,  dass  in  den  protestantischen  Ländern  eine  Ver- 
tiefung des  kirchlichen  Sinnes  eingetreten  war,  wobei  indessen  durch  die 
Union  in  Preussen  1817  wenigstens  die  alte  Zwietracht  zwischen  Lutheranern 
und  Reformierten  ausgeglichen  wurde.  Die  Absonderung  der  streng  confes- 
sionell  Gesinnten  gab  sich  auch  in  der  Litteratur  kund." 

Die  politische  Wendung  der  Litteratur  unseres  Jahrhunderts  gestattet 
es,  die  einzelnen  Abschnitte  in  deren  Entwickolung  an  grosse  politische 
Ereignisse  anzuknüpfen,  welche  die  Grundlagen  auch  für  die  Litteratur  um- 
gestalteten. Ein  erster  Abschnitt  reicht  von  dem  Anfang  des  Jahrhunderts 
bis  zur  Julirevolution  1830.  In  dieser  Zeit  erweckte  der  Druck  der  Fremd- 
herrschaft die  Sehnsucht  nach  der  alten  deutschen  Freiheit,  welche  als  die 
notwendige  Voraussetzung  auch  für  Ehre  und  Glück  des  Einzelnen  gefühlt 
wurde.  Als  dann  Deutschland  durch  die  Freiheitskriege  seine  Unabhängig- 
keit wieder  erlangt  hatte,  war  es  zunaechst  durch  seine  ungeheueren  Opfer 
so  geschwächt,  dass  es  sich  der  Gestaltung  zum  deutschen  Bunde  fügte, 
welcher  nur  zur  Bedrückung  innerhalb  der  einzelnen  Staaten  die  Macht  oder 
den  Willen  zu  haben  schien.  Die  Poesie  flüchtete  von  Neuem  aus  der  Wirk- 
lichkeit. Es  war  diese  ganze  Zeit  von  der  Romantik  beherrscht,  welche 
in  dem  alternden  Goethe  '**  ihr  Haupt  verehrte.  Bei  seinem  Tode  kurz  nach 
der  Julirevolution  trat  die  Litteratur  in  einen  neuen  Abschnitt  ein,  welcher, 
das  zweite  Drittel  des  Jalu-hunderts  umfassend,  als  der  der  Tendenz- 
poesie bezeichnet  werden  kann.  Die  Herstellung  des  Verfassungsstaates 
ward  das  Ziel  aller  Wünsche,  denen  auch  die  Dichtung  immer  lauteren  Aus- 


kommen, 0.  F.  Gruppe,  Deutsche  Übei-setzerkuust,  Hannover  1859.  9)  V-  Nörrenberg, 

Die  katholische  Dichtung  der  Gegenwart  (1847 — 73),  Münster  1873 ;  ders.  Allg.  Litteratur- 
geschichte  3,  205,  Münster  1882,  Vgl.  auch  die  übrige  Litteratur,  welche  Wetzstein,  Die 
religicpse  lA-rik  (§  172,    48a)  auf  S.  7  anführt.  10)   Freilich  Goethe    untei-stützte  per- 

soenlich  die  jungen  Dichter  nicht,  er  urteihe  kühl  über  Uhland  §  172,  21;  Platen,  AV.  Müller, 
Rückert :  Goethes  Gespr.  hg.  v.  Biedermann  5,  259.  8,  7  fgg. ;  5,  141;  Vjsch.  f.  Litgesch. 
2,  378  fgg,  Grillparzer,  Selbstbiogr.  (Sämtl.  AVke.  1872,  X  83)  klagte  'Goethe  in  einem 
grossartigen  Quietismus  förderte  nur  das  Gemiessigte  und  Wirkungslose*. 


§  165  ABSCimiTTE   DER  LITTEUATURGESCllICllTE.  543 

druck  gab.  Darüber  schwand  der  ehemalige  nationale  Gegensatz  gegen 
Frankreich:  ja,  wie  das  parlamentarische  Leben  Frankreichs  als  das  Muster 
für  Deutschland  galt,  so  ahmte  man  ihm  namentlich  seine  Tageslitteratur  und 
sein  Theater  nach.  Eine  Verstärkung  erhielt  die  politische  Tendenz  durch 
den  Regierungsantritt  Friedrich  Wilhelms  IV  von  Preussen  1840,  welchem 
nicht  wie  seinem  Vater  die  dankbare  Erinnerung  an  die  Freiheitskriege  zur 
Seite  stand:  er  wollte  auch  den  Wünschen  der  Zeit  vielfach  entgegenkommen, 
versagte  aber  die  Gewaehrung  der  Verfassung,  bis  die  Pariser  Februarrevolu- 
tion 1848  auch  in  Deutschland  den  Sturm  entfesselte.  Zwar  die  Errungen- 
schaften dieser  Zeit  blieben  nur  in  der  Beschränkung  auf  die  einzelnen 
Staaten  erhalten;  in  der  Litteratur  trat  sogar  vielfach  eine  der  früheren  ent- 
gegengesetzte Stroemung,  wenigstens  eine  Abkehr  von  der  Politik  hervor.  So 
sind  die  zwei  Jahrzehnte  bis  1850  von  den  folgenden  zwei  litterarisch  ebenso 
zu  scheiden  wie  das  erste,  romantische  Drittel  des  Jahrhunderts  durch  die 
Freiheitskriege  unterbrochen  wird.  Seit  1850  strebt  die  Poesie  nach  einer 
neuen  Ausbildung  der  Form,  und  zugleich  nach  einem  näheren  Anschluss 
an  das  wirkliche  Leben,  wie  es  sich  in  den  einzelnen  Ständen  und  Land- 
schaften verschieden  gestaltet  hat.  Dieser  Zug  des  Realismus  unterscheidet 
wesentlich  die  Litteratur  nach  der  Mitte  des  Jahrhunderts  von  der  früheren. 
Inzwischen  ging  die  politische  Entwickelung  ihren  Gang.  Der  Regierungs- 
antritt Wilhelms  I  in  Preussen  erweckte  von  neuem  Hoffnungen,  welche  durch 
das  Genie  eines  grossen  Staatsmannes  in  unerwarteter  Weise  erfüllt  wurden: 
1866  übernahm  nach  Oesterreichs  Ausschluss  Preussen  die  Leitung  Deutsch- 
lands, welches  1871  als  deutsches  Reich,  im  Besitze  wiedererrungener  Ge- 
biete ,  einig  und  mächtig  da  stand ,  wie  seit  Jahrhunderten  nicht.  Freilich 
das  volle  Gefühl  dieses  Glückes  ward  bald  durch  den  Streit  der  Parteien 
getrübt:  überaus  schwierige  Fragen  bleiben  noch  zu  loesen.  Dies  Bewusstsein 
drückt  auch  auf  die  Dichtung,  welche  überdies  den  Realismus  vielfach  so 
weit  geführt  hat,  dass  sie  die  einfache  Wiederspiegelung  der  Wirklichkeit, 
welche  doch  nie  in  ihren  allseitigen  Zusammenhängen  erkannt,  geschweige 
denn  dargestellt  werden  kann,  für  die  Aufgabe  der  Kunst  hält,  wozu  wohl 
noch  die  Neigung  hinzutritt  die  traurigen,  finsteren  Seiten  des  Lebens  aufzu- 
suchen und  einzelne  Vorkommnisse  namentlich  des  grossstaedtischen  Lebens 
zu  Zeichen  allgemeiner  Zustände  zu  stempeln.  Dabei  stellt  sich  unsere  Litte- 
ratur ebenso  unter  die  Führung  des  Auslandes,  des  Nordens  und  besonders 
Frankreichs,  wie  dies  schon  im  zweiten  Viertel  des  Jahrhunderts  geschehen 
war,  waehrend  das  erste  wie  das  dritte  Viertel  nur  etwa  englische  Einwirkung 


544  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XIX  JAHRH.  §  Klö 

erfahren,  ja  das  erste,  die  Zeit  der  Romantik,  vielmehr  nach  aussen  hin  und 
gerade  nach  Frankreicli  sich  selbst  anregend  erwiesen  hatte.  Doch  über  die 
Gegenwart  zu  urteilen  ist  nicht  Sache  der  Litteraturgeschichte. 

Trat  nun  die  Poesie  im  Laufe  des  Jahrhunderts  ihre  anfangli<;h  einge- 
nommene Stelle  im  Mittelpunct  der  geistigen  Bestrebungen  mehr  und  mehr 
an  andere,  an  politische  und  sociale  Bestrebungen,  an  Wissenschaft  und 
Technik  ab,  so  wurde  das,  was  der  Tiefe  ihrer  Wirkungen  abging,  einiger- 
massen  vergütet  durch  die  Erweiterung  der  Kreise,  in  welche  sie  drang.  Die 
Schule,  welche  auch  in  ihren  hervorragenden  Anstalten  sich  noch  um  die 
Wende  des  Jahrhunderts  ausschliesslich  der  classischen  Philologie  widmete, 
nahm  allnuehlich  auch  Rücksicht  auf  die  deutsche  Litteratur.  Der  wach- 
sende Wohlstand  vermehrte  die  Zahl  der  Leser  auch  für  Werke  der  littera- 
rischen Kunst  und  die  immer  Ijilligere  Herstellung  der  Classikcrausgaben 
stand  in  Wechselwirkung  mit  deren  Verbreitung.  Noch  wuiden  einzelne 
Dichter  durch  die  Gunst  der  Fürsten  über  die  Lebenssorgen  hinweggehüben, 
wobei  Friedrich  Wilhelm  IV  seit  1840,"  dann  Maximilian  H  von  Bayern 
nach  1855*-  etwa,  und  neben  ihnen  die  thüringischen  Fürsten'^  sich  aus- 
zeichneten. Auch  die  Heranziehung  geadelter  Dichter  zu  der  Hofgesellschaft 
setzte  sich  wie  im  vorigen  Jahrhundert  fort:  mit  ihr  verband  sich  der  Anteil 
des  Adels  an  der  Dichtung,  welche  selbst  ein  Koenig,  Ludwig  I  von  Bayern, 
übte.  Die  Prinzessin  Amalie  von  Sachsen'*  zeigt  zugleich  den  Anspruch  der 
Frauen  auf  dichterische  Thaetigkeit  und  dieser  Anspruch  ist  bis  auf  die 
neueste  Zeit,  ja  in  immer  verstärktem  Masse  erhoben  worden,  wenn  auch 
Schriftstellerinnen  von  der  Bedeutung  der  Frau  von  Stael  und  der  Georges 
Sand  in  Deutschland  noch  fehlen.  Gerade  bei  den  Schriftstellerinnen  '-^  zeigt 
sich  das  Geschick  und  die  Neigung,  den  wechselnden  Anforderungen  des 
Tagesgeschmackes  zu  genügen,  obschon  auch  sonst  unter  den  allnifehlich  berufs- 
maBssig  vereinigten  *®  Schriftstellern  notwendig  nur  Einzelne  die  Anerkennung 


11)  Er  berief  Schelling,  Tieck,  Kückert,  Fouque,  Kopisch  nach  Berlin,  und  setzte  Gries,  Geibel, 
Freiligrath  ua.  Pensionen  aus.  12)    Er  versammelte  Geibel,  Heyse,    Bodenstedt  ua.  zu 

einer  dichterischen  Tafelrunde,  welche  auch  auf  jüngere  Knnstgenossen  in  München  einwirkte. 
13)  Grossherzog  Karl  Alexander  berief  auf  Liszts  Antrieb  Hoftmann  von  Fallersleben  und 
Dingelstedt  nach  "Weimar,  wo  auch  Gutzkow  weilte  ;  er  suchte  tScheffel  zu  gewinnen.  Herzog 
Ernst  von  Gotha  nahm  Freytag  in  Schutz,  welcher  übrigens  (Erinnerungen  314)  auf  die 
ungünstige  Seite  des  Einflusses,  welchen  diese  Gunst  auf  die  Künstler  üben  kann,  aufmerk- 
sam macht.  14)  §  17^,  20.  15)  Vgl.  die  Birch-Pfeiffer  §  17S,  18  und  die  Roman- 
schriftstellerinnen L.  Mühlbach  und  E.  Marlitt  §  179.  18.  25.  lü)  Dies  zeigen  insbesondere 
die  Schriftsteller- und  Journalistentage;  auch  die  Schillerstiftung  und  andere  Unterstützung»- 


§  165  xVUSBREITUNG   ])ER   LITTEKATUK.  545 

auch  der  Folgezeit  werden  erwerben  können.  Für  ausgezeichnete  Leistungen 
sind  Staatspreise  bestimmt  worden,  insbesondere  für  solclie  der  Bühnen- 
dichtung/^ welche  ja  der  weitesten  Wirkung  ffehig  sind.  Den  Ertrag  der 
schriftstellerischen  Arbeit  sichert  die  Gesetzgebung'"  gegen  den  Nachdruck; 
für  Theaterstücke  ist  seit  1842  etwa  der  Gebrauch  der  Tantiemen  eingeführt 
worden.  ^^  Am  meisten  aber  trug  zur  Bildung  eines  Schriftstellcrstandes  die 
Begründung  einer  immer  zahlreicheren  Menge  von  Zeitungen  bei,  welche 
durch  Beilagen,  neuerdings  durch  eingefügte  Feuilletons  insbesondere  der 
Romanschriftstellerei  den  groessten  Vorschub  geleistet  haben.  Von  den  poli- 
tischen Zeitungen  verdient  die  'Allgemeine  Zeitung',  welche  Cotta  um  die 
Wende  des  Jahrhunderts  begründet  hatte,  wegen  der  geschickten  Verbindung 
der  Regierungsfeusserungen  und  der  Beitrtege  ausgezeichneter  Schriftsteller 
und  wegen  der  dadurch  bedingten  weiten  Wirksamkeit  besonders  genannt  zu 
werden.  Dann  rief  besonders  das  Jahr  1848,  welches  die  Pressfreiheit  brachte, 
eine  Fülle  von  Zeitungen  hervor.  Neben  den  politischen  standen  von  Anfang 
an  die  kritischlitterarischen:  auch  hier  nahm  das  Cottasche  'Morgenblatt'  seit 
1807  eine  der  ersten  Stellen  ein.^*'  Für  die  satirische  Lyrik  wurden  die 
Münchener  'Fliegenden  Blätter'  seit  1845  und  der  Berliner  'Kladderadatsch' 
seit  1848  die  Sammelpuncte;  die  ersteren  pflegten  mehr  die  Parodie  und  das 
Sittenbild,  waehrend  der  letztere  besonders  in  den  sechziger  Jahren  durch 
seine  witzigen,  gelegentlich  auch  ernsten  Gedichte  und  Ausfälle  die  politische 
Stimmung  in  Norddeutschland  wesenthch  beeinflusst  hat.  Etwa  gleichzeitig 
fällt  auch  die  Begründung  mehrerer  Zeitschriften,  welche  an  weitere  Kreise 
sich  wendend  die  Erzaehlungsdichtung  besonders  der  Frauen  gefördert  haben: 
die  'Gartenlaube'  in  Leipzig,  'das  Daheim'  u.  a.  Eine  volkstümliche  Dar- 
stellung, welche  sich  nach  Hebels  Muster  an  den  Landmann  selbst  wandte, 
wurde  in  den  Kalendern  geübt,  welche  je  nach  Landschaft  und  Confession 
verschiedene  Richtungen  einschlugen.-^ 

anstalten.  17)  Seliillerpreis,  den  K.  Wilhelm  als  Prinzregent  1859  aussetzte  ;  Grillparzer- 

preis 1872  gestiftet ;  Berner  Preis  1891.  18)  Bundestagsbesclilüsse  gegen  den  Nachdruck 
von  1832  an ;  Gesetz  des  norddeutschen  Bundes  1870,   spseter  Reichsgesetz.  19)  Prutz 

Vorwort  zu  den  dramatischen  Werken.  Schon  um  1822  war  dies  in  Aussicht  genommen 
worden :  Briefe  an  Tieck  1,  155.  20)  Andere  Zeitschriften  dieser  Art  s.  u.  bei  Müllner, 

Gutzkow,  Laube,  Prutz,  Gottschall  ua.  Neuerdings  'Grenzboten'  1818  fgg.  'Im  neuen  Eeich 
1872 — 1881.  'Deutsche  Eundschau'  Berlin  1874  fgg.  Unter  den  politischen:  'Preussische  Jahr- 
bücher' 1858  fgg.  21)  Auszuzeichnen  wiere  wohl,  ausser  B.  Auerbachs  Kalender  'Der  Ge- 
vattersmann' 1845 — 48,  die  Spinnstube  seit  1846,  welche  der  Pfarrer  Wilhelm  Örtel  (W.  0. 
von  Hörn)  schrieb,    der  Lahrer  hinkende  Bote,    an  welchem  A.  Bürklin  besonderen  Anteil 


54Ü  NEUHOCHDEUTSCHE    ZEIT.         XIX  JAllUH.  §  1G5 

Dio  Littcraturgcscliichtc  muss  ihren  Blick  aber  auf  die  Werke  richten, 
welche  den  Besten  ihrer  Zeit  genug  tliun  wollen  und  bleibende  Denknuulcr 
der  Kunst  zu  werden  bestimmt  sind.  Von  den  überlieferten  Gattungen 
der  Poesie  erfuhr  die  Lyrik  in  der  ersten  Hälfte  des  Jahrhunderts  noch  eine 
bedeutende  Bereicherung  an  Formen  und  Tarnen,  wobei  jedoch  die  Zeit  der 
Romantik  sich  grosscnteils  nur  darum  bemühte,  die  von  Gccthe  so  verschieden- 
artig gegebenen  Vorbilder  naclizuahmen  und,  zuweilen  auch  mit  Erfolg,  zu 
überbieten.  Die  Tendenzlyrik  der  dreissiger  und  vierziger  Jahre  klang  ge- 
legentlich an  Schiller  an.  Nach  1850  trat  die  Liederdichtung  mehr  und 
mehr  zurück:  der  Realismus  war  den  Gefühlscrgüssen  abhold  und  die  kunst- 
volle Nachbildung  fremder  Masse  konnte  weitere  Kreise  nicht  ansprechen,  so 
dass  nur  das  humoristische  Lied  im  Volkston  noch  Aufnahme  fand.  Freilich 
die  Festdichtung  und  anderseits  die  hseusliche  Übung  der  Poesie  nahm  des- 
halb nicht  ab.  Von  den  Arten  der  erztchlcnden  Poesie  ward  die  bisher  fast 
im  Übermass  und  zum  Überdruss  geübte  Balladen-  und  Romanzendichtung 
durch  die  kürzere  Erza'hlung  in  Versen  abgelcest.  Das  umfangreiche  epische 
Gedicht  wurde  selten  und  kaum  jemals  mit  weitreichendem  Erfolge  versucht. 
Selbst  das  Lehrgedicht  ward  mehr  als  Sammlung  von  Sprüchen  und  Betrach- 
tungen aufgefasst;  auch  die  Fabel -^  fand  ihre  Erneuerung,  jedoch  mehr  als 
Kiuderpoesie.  Wie  für  die  Lyrik  Goethe,  so  ward  für  das  Drama  Schiller 
meist  das  Vorbild:  die  Schicksalstragoedie  des  zweiten  Jahrzehnts  knüpfte  an 
Schillers 'Braut  von  Messina' an;  das  historische  Schauspiel  suchte  der  Gross- 
artigkeit seiner  Scenenerfindung,  der  Pracht  seiner  Sprache  nahe  zu  kommen; 
und  selbst  das  bürgerliche  Trauerspiel  nahm  für  den  Conflict  der  Stände  seine 
Erstlingswerke  zum  Muster.  Doch  suchten  viele  Dramatiker  auch  Goethes 
Natürlichkeit  besonders  für  die  Frauencharactere  nachzubilden,  und  für  den 
Aufbau  der  Stücke,  für  den  Dialog  ward  Kotzebues  Geschick  erstrebt,  wie 
andrerseits  das  Familienstück,  das  Schroeder  und  Itttand  gepflegt  hatten,  ein 
dankbarer  Vorwurf  bis  auf  die  Gegenwart  blieb;  frühzeitig  ging  das  Volks- 
stück  daraus  hervor,  welches  sich  mit  dem  Singspiel  und  der  Posse  berührt 
und  durch  die  Benutzung  der  Mundarten  den  lokalen  Reiz  erhceht.  Daneben 
fehlte  es  nicht  an  fremden  Einflüssen;  neben  den  immer  erneuten  Versuchen, 
Shakespeares  Vorbild  für  die  historische  Tragcedie  zu  verwerten,  fand  beson- 
ders in  dem  zweiten  Drittel  des  Jahrhunderts  die  franzoesische  Lustspieldich- 

hatte,  und  der  in  Freiburg  i.  B.  erschienene  'Kalender  für  Zeit  und  Ewigkeit'  des  Prof.  der 
kath.   Theologie    Alban    Stolz.     Überall    ist    Hebels    Vorbild    sichtbar.  22)  Froehlich, 


§  165  GATTUNGEN   DER  LITTERATUR.  547 

tung,  insbesondere  die  von  Scribe,  die  eifrigste  Beachtung.  Das  franzoesische 
Sittendrama  liess  sich  l'reilich  nur  durch  Übersetzung  auf  die  deutsche  Bühne 
verpflanzen.  Einzelne  Dichter"^  unternahmen  es  sogar,  die  altgricchische  Ko- 
mccdie  in  Deutschland  einzuführen:  doch  es  waren  und  bheben  dies  Buch- 
dramen. Um  80  mehr  strebte  die  Oper  auch  die  sBusseren  Bühnenmittel  zu 
entfalten.  Eine  eigentümlich  deutsche  und  zugleich  durchaus  romantische  Art 
der  Oper  führte  K.  M.  v.  Weber  mit  dem  Freischütz  1821  ein,  welchem 
Lortzing  ua.  mit  sehnlichen  Werken  nachfolgten.  Den  groessten  Eindruck,  der 
zugleich  unleugbar  auch  den  Sinn  für  die  altdeutsche  Sage  und  Dichtung 
zu  verbreiten  mächtig  beigetragen  hat,  brachte  Richard  Wagner ^^^  hervor. 
Indem  er  zugleich  mit  der  Musik  auch  den  Text  zu  seinen  Opern  ^^  verfasste, 
stellte  er  sich  unter  die  deutschen  Dramatiker,  ohne  jedoch  hiermit  bei  der 
Eigenart  selbst  seiner  Sprache  auf  Nachfolge  rechnen  zu  dürfen. 

Ward  die  dramatische  Dichtung  im  19,  Jahrhundert  auch  in  ihren 
Nebenarten  ausgestaltet  und  vielfach  bereichert,  so  kam  auch  der  Roman,  die 
eigentliche  epische  Gattung  der  Gegenwart,  erst  jetzt  zu  voller  Geltung  und 
unübersehbar  mannigfaltiger  Pflege.^^  Auch  hier  zwar  leuchtete  Goethes 
Wilhelm  Meister  vor  und  die  Nachahmung  hat  bis  in  die  neueste  Zeit  Fi- 
guren ^'^  und  Motive  daraus  wiederholt.  Aber  eine  Reihe  von  neuen  Unter- 
arten des  Romans  traten  allmählich  hervor:  der  historische  Roman  -mit 
mannigfaltiger  Abstufung  der  gelehrten  Bestandteile  und  mit  den  Nebenarten 
des  litterarhistorischen  und  culturhistorischen  Romans,  der  zeitgeschichtliche 
Roman,  der  exotische  und  wiederum  der  provinciale  Roman,  endlich  der 
sociale  Tendenzroman,  als  dessen  Abart  die  Dorfgeschichte  einen  breiten  Raum 
einnimmt.  Überall  steht  daneben  die  Novelle,  vielfach  mit  grösseren  An- 
sprüchen an  kimstvollen  Bau  und  einheithche  Stimmung.  Dem  geschichtlichen 
Roman  kam  die  glanzvolle  Entwickelung  der  Geschichtschreibung  zu  Gute; 
wie  diese,  so  kleidete  sich  auch  die  philosophische  Forschung  oft  in  eine 
klare  und  eindrucksvolle  Darstellungsweise,  besonders  da,  wo  sie  auf  die  ge- 
schichtliche Entwickelung  früherer  philosophischer  Systeme  sich  richtete.  Sel- 
tener rechneten  Werke  der  Naturwissenschaft  auf  einen  Leserkreis  ausserhalb 


Sturm,    Hey:    §  172,  52.  53.  23)  ßückert  §  173,  8;   Platen  §  173,  42;   Prutz  §  176 

nach  Anm.  34.  23  a)  Geb.  zu  Leipzig  1813,    gest.  zu  Venedig  1883.  24)  Tann- 

haeuser  1845,  Lohengrin  1852,  Tristan  1855,  der  Ring  des  Nibelungen  1855,  die  Meister- 
singer 1868,  Parsifal  1876.  25)  H.  Mielke,  Der  deutsche  Eoman  des  19.  Jahrhunderts, 
Braunschweig  1890.  26)  J.  0.  E.  Donner,  Der  Einfluss  Wilhelm  Meisters  auf  den 
Roman    der  Romantiker.     Diss.  Helsingfors.     Berlin    1893.     Eine  Verbindung   von  Mignon 


548  NEUIIOCHDEUTSCIIE   ZEIT.         XIX  .TAIIKII.  §  1(55 


der  Fachgenossen,  (lanz  neu  aber  war  (abgesehen  vom  kirchlichen  Gebraucli) 
und  dem  .lahrhumlert  eigen  die  Pflege  der  öffenthchen  Beredsamkeit.  Die 
nationakMi  Kämpfe  7ai  Anfang  riefen  eine  Anzahl  ausgezeichneter  Fiugscliriften 
hervor,  in  welchen  Gentz,  Fichte,  Arndt  mit  zündender  Begeisterung  sich 
vernehmen  Hessen.  Dann  übte  sich  auch  der  mündliche  Vortrag  in  den  Ver- 
handlungen der  Kammern,  1848  des  deutschen  Parlaments  und  seit  1871 
des  deutschen  Reichstags.  Die  unmittelbar  vor  den  Volksmassen  gehaltene 
Rede  fand  seit  1848  und  wieder  seit  Anfang  der  sechziger  Jahre  eifrige  und 
gewandte  Pflege. ^^  Bei  der  Eigenart  des  deutschen  Volkes  wird  freilich  eine 
Redekunst  und  Überredungskraft,  wie  sie  bei  den  Alten  und  bei  den  neueren 
romanischen  Völkern  bezeugt  ist,  sich  kaum  entwickeln.  Selbst  die  Reden 
des  Fürsten  Bismarck,^'*  reich  an  Geistesblitzen,  aber  kunstlos  vorgetragen, 
haben  mehr  als  Aeusserungen  seines  Genies  als  durch  formelle,  zur  Nach- 
ahmung geeignete  Vorzüge  gewirkt,  besitzen  mehr  historische  als  litterarischc 
Bedeutung. 

Immerhin  hat  die  der  deutschen  Sprache  mit  den  übrigen  Cultur- 
sprachen  gemeinsame  Beeinflussung  durch  den  Gebrauch  der  Tagespresse  und 
der  Rednertribüne  schon  vielseitig  und  tief  auf  ihre  Fortbildung  eingewirkt. 
Der  Stil  ward  dadurch  zur  Knappheit  und  Kraft  geführt;  aber  die  Bequem- 
lichkeit und  Eile  verführte  auch  vielfach  zu  Unrichtigkeit  ^^  und  namentlich 
zum  übermaessigcn  Gebrauche  von  Fremdwörtern,  Gegen  dieses  letztgenannte 
Übel  suchte  man,  selbst  von  Seiten  der  Behoerden  durch  Verdeutschung  der 
fremden  Ausdrücke  einzuschreiten.  Oft  verband  sich  damit  das  Bestreben, 
auch  die  Rechtschreibung^"  zu  vereinfachen  und  nach  Grundsätzen,  welche 
freilich  wechselten,  umzugestalten.  Andrerseits  ward  durch  den  litterarischen 
Gebrauch   der  Mundarten  (§  93,  37)    besonders   in   der  Dichtung   oder   auch 


und  Philine  ist  z.  B.  noch  in  Heyses  Koman  'im   Paradiese'  die  Zenzi.  27)  So  durch 

den  Begründer  der  deutschen  Socialdemokratie  Ferdinand  Lassalle  (1825 — 1864).  28)  Die 

politischen  Reden  des  Fürsten  Bismarck  hesorgt  von  Horst  Kohl,  Stuttgart  1892.  93,  VI. 
Vgl.  H.  Blümner,  Der  bildliche  Ausdruck  in  den  Reden  des  Fürsten  Bismarck,  Leipzig  1891. 
29)  Etwas  übertreibend  :  G.  AVustniann  Allerhand  Sprachdummheiteu,  Leipzig  1891.  30)  J. 

Grimm  wollte  das  Wörterbuch  dazu  benützen,  um  die  nhd.  Orthographie  der  mhd.  anzu- 
nsehern  (Z.  f.  d.  Ph.  1,  227);  dann  erregte,  in  demselben  Sinne  verfasst,  ein  Aufsatz  von 
K.  Weinhold  in  der  Oestr.  Gymn.  Zs.  1852  eine  starke  Bewegung,  die  jedoch  durch  R.  v. 
Ranmer  (s.  dessen  sprachwissenschaftliche  Schriften,  Fkf.  u.  Erlangen  1863)  gehemmt  und, 
nachdem  die  orthographische  Conferenz  1876  kein  einheitliches  Ergebnis  gehabt  hatte,  durch 
die  Bestimmungen  der  einzelnen  deutschen  Regierungen  (Bayern  1879,  Preussen  1880)  zum 


§  166  SPRACHE   UND  VERSBAU.  549 

der  in  einzelnen  Landschaften   üblichen  Umgangssprache^^  der  Sprachschatz 
auch  der  Schriftspraclie  bereichert. 

Das  gleiche  Streben  nach  dem  Altertümlichen,  Volksm^ssigen  trat  auch 
im  Versbau  hervor.  Die  den  classischen  Litteraturen  entnommenen  Vers- 
arten wurden  zwar  vielfach  und  selbst  mit  strengeren  Anforderungen^"  ge- 
braucht; und  wie  hierin  Goethe  als  Muster  gelten  konnte,  so  gab  er  auch 
durch  seine  Nachahmung  orientalischer  Dichtungen  den  Anlass  zur  Einfüh- 
rung der  orientalischen  Formen,  der  Ghaselen  und  Makamen;  die  früher  schon 
beliebten  südromanischen  Formen  wurden  durch  Herübernahme  der  Canzone, 
Siciliane,  Terzine,  Glosse,  der  assonierenden  Romanze,  des  Ritornells  und  des 
Rispetto  vermehrt.  Aber  für  das  Lied  hielt  man  sich  doch  lieber  an  die 
ebenfalls  von  Goethe  meisterhaft  erneuten  Verse  und  Strophen  des  Volks- 
liedes, welches  man  immer  nseher  kennen  lernte.  Für  die  erza3hlende  Dich- 
tung wurde  besonders  durch  Uhland  die  Nibelungenstrophe  beliebt,  für  welche 
jedoch  der  gleichmeessige  Bau,  den  die  neuhochdeutsche  Verskunst  forderte, 
eine  gewisse  Steifheit  leicht  mit  sich  brachte.  Besser  gelangen  die  kurzen 
vierhebigen  Reimverse,  die  man  auch  oft  mit  dreihebigen  klingenden  unter- 
mischte. Die  AUitterationspoesie  wurde  durch  Fouques  Bearbeitungen  der 
Eddalieder  bekannt,  neuerdings  auch  selbstcändig  und  in  ausgedehntem  Masse 
von  W.  Jordan,  und  mit  noch  groesserer  Willkür  durch  R.  Wagner  zu  er- 
neuern unternommen.  *^ 

§  166. 

Mit  dem  Beginne  des  Jahrhunderts  erfuhr  wie  das  politische  Leben 
Deutschlands,  so  auch  das  litterarische  eine  tiefgreifende  Umgestaltung.  Goethe 
und  Schiller  hatten  schon  1796  durch  ihre  Xenien  '  hoehere  Anforderungen 
an  die  Litteratur  gestellt-,  diese  Anforderungen  erhielten  in  weitesten  Kreisen 
Geltung  durch  die  romantische  Schule.^  Ihr  gehoerten  zunsechst  vier  Dichter 
an,  die  Brüder  Schlegel,  Novalis  und  Tieck,  welche  sich  im  J.  1799  in  Jena 
persoenlich  zusammenfanden,  wo  Schiller  und  die  Verkündiger  und  Fortsetzer 


Stillstand  gebracht  wurde.  31)  Messingisch,  was  schon  Adelung  im  Wb.  so  nannte.    So 

namentlich  F.  Reuter,  der  sich  gegen  Claus  Uroths  Absicht,  das  Holsteinische  als  das  allein 
schriftniiBssige  Niederdeutsch  hinzustellen ,  wehren  musste :  'Abweisung  der  ungerechten 
Angriffe  und  unwahren  Behauptungen,  welche  Dr.  Cl.  Groth  in  seinen  Briefen  über  Platt- 
deutsch und  Hochdeutsch  gegen  mich  gerichtet  hat',  Berlin  1858.  32)  Platen  diente 
hier  als  Muster,  dem  besonders  die  Münchner  Uichterschule  der  fünfziger  Jahre  nachstrebte.. 
33)  Vgl.  jetzt  für  das  Einzelne  :  J.  Minor,  Neuhochdeutsche  Metrik,  Strassburg  1893. 
§    160.      1)    §    J39,    34.                 2)    R.    Haym,    Die    romantische    Schule,     Berlin    1870. 


550  NEUllUCllDEUTöClIE   ZEIT.         XIX  JAillüI.  §  KIO 

der  Kantischen  Philosophie  einen  Breunpunct  für  das  geistige  Leben  Deutsch- 
lands geschaffen  hatten. 

Die  Fortsetzer  Kants  trugen  wesentlich  bei  zur  Bildung  der  romanti- 
schen Lehre,  welche  nicht  nur  Dichtung  und  Kritik,  sondern  auch  Philosophie 
und  Leben  auf  neuer  Grundlage  aufzubauen  unternahm.  Als  den  Begründer 
ihrer  Philosophie  nannten  die  Romantiker  Jon.  Gottlieb  Fichte.^  1762  zu 
Rammenau  in  der  sächsischen  Lausitz  als  Sohn  eines  armen  Webers  geboren, 
war  er  durch  seine  von  Kant  veröffentlichte  Schrift  'Versuch  einer  Kritik  aller 
Offenbarung"  (Riga  1792)  berühmt  geworden  und  lehrte  1794 — 99  in  Jena 
mit  tiefster  Wirkung,  bis  eine  Anklage  der  sächsischen  Regierung  wegen 
Atheismus  und  seine  schroffe  Zurückweisung  der  vermittelnden  Absichten  des 
weimarischen  Ministeriums  ihn  um  diese  Lehrstelle  brachten.  Seitdem  in 
Berlin  auch  durch  Vorlesungen  tha^tig,  ergriff  er  in  der  wachsenden  Be- 
drängnis und  nach  den  Niederlagen  Preussens  unerschrocken  und  tiefein- 
dringend das  Wort  für  die  Wiederaufrichtung  Deutschlands.  Der  Universität 
Berlin  als  ihr  erster  gewsehlter  Rector  angehoerig,  starb  er  1814  am  Lazarett- 
fieber ,  welches  seine  Gattin  von  der  Pflege  der  Verwundeten  nach  Hause 
gebracht  hatte.  Fichtes  'Wissenschaftslehre'  versuchte  ohne  die  von  Kant 
angenommene  Voraussetzung  des  Bestehens  der  'Dinge  an  sich'  das  vorstel- 
lende Bewusstsein  des  Ich  als  die  alleinige  Quelle  unserer  Vorstellungen  nach- 
zuweisen; spfBter  war  ihm  Gott  das  einzige  Sein  und  das  menschliche  Wissen 
nur  ein  Bild  dieses  Seins,*  Mehr  jedoch  als  durch  die  Begründung  seiner 
Lehre  wirkte  Fichte  durch  die  Kraft  und  Klarheit,  mit  welcher  er  die  Fol- 
gerungen daraus  für  das  Leben  zog,  und  durch  die  Strenge ,  womit  er  sich 
gegen  die  Selbstzufriedenheit^  und  die  Selbstsucht  des  Zeitalters  wandte. 
Stimmten  in  dessen  Verurteilung  die  Romantiker  mit  Fichte  übercin,  so 
sahen  sie  noch  mehr  als  in  seinem  subjectiven  Idealismus  ihre  eigenen  An- 
sichten ausgeführt  in  der  Philosophie  Scliellings.*^  Friedrich  Wilhelm  Joseph 
VON  ScHELLixG  War  1775  zu  Leonberg  in  Würtemberg  geboren,  wurde  1798 
Professor  in  Jena  neben  Fichte,  ging  1803  nach  Würzburg,  wirkte  seit  1806 
in  München,  Landshut,  Erlangen  und  wieder  in  München,  und  wurde  1841 
nach  Berhn  berufen,  um  gegen  Hegels  dialektische  Philosophie  die  Glaubens- 

3)  J.  Gr.  Fichtes  Leben  und  litterarischer  Briefwechsel,  von  seinem  Sohne  J.  H.  Fichte, 
*  Leipzig  1862,  IL  J.  G.  Fichtes  Sämtliche  Werke,  Berlin  1845.  46,  VIII:  dazu  die  'Nachge- 
lassenen Werke'.  Bonn  1834,  III.  4)  LB.  3,  1033:  aus  der  'Anweisung  zum  seligen 
Leben  oder  auch  Religionslehre',  Vorlesungen,  welche  er  1806  gehalten  hatte.  5)  Daher 
auch  sein  Kampf  gegen   Nicolai,    §  156,  20.             6)    Aus   Schellings   Leben.     In    Briefen. 


§  166         ROMANTISCHE   LEHRE:   FICHTE,   SCHELLING.  551 

Philosophie  zu  vertreten.  Die  grossen  Erwartungen  musste  der  Greis  tseuschen: 
er  starb  zu  Ragaz  1854.  Seine  Lehre  ging,  bis  er  1818  als  Schriftsteller 
fast  verstummte,  durch  manche  Wandelung  hindurch.  Er  hatte  1795  mit  der 
Darlegung  des  Idealismus  nach  Fichte  begonnen,  1797  Tdeen  zur  Philosophie 
der  Natur'  und  1798  die  Schritt  Ton  der  Weltseele'  erscheinen  lassen,  und 
gab  1801  in  der  'Darstellung  meines  Systems  der  Philosophie'  die  Grundzüge 
seines  Identita?tssystems,  wonach  in  dem  Absoluten,  dem  Einen  und  Ewigen 
der  Unterschied  des  Besondern  und  Allgemeinen,  des  Endlichen  und  Unend- 
lichen, des  Realen  und  Idealen,  des  Anschauens  und  Denkens  aufgehoben 
sei.  Dies  Absolute  ist  ihm  die  Gottheit  und  von  ihr  handelt  er  dann  mit 
Anlehnung  an  Jacob  Boehme;'  speeter  sucht  er  auch  in  der  Mythologie* 
überall  Zeugnisse  seiner  Ansichten.  Am  ansprechendsten  stellte  Schelling 
sein  System  dar  in  der  Anwendung  der  Philosophie  auf  die  Einzelwissen- 
schaften, welche  er  als  'Vorlesungen  über  die  Methode  des  akademischen 
Studiums'  1803  veröffenthchte.^ 

Schellings  Naturphilosophie  suchte  Gedanken  Goethes  zu  verwerten;  mit 
Goethe  und  Schiller  stimmte  er  darin  überein,  dass  die  Kunst  '*^  die  hoechste 
Aeusserung  des  menschlichen  Geistes  sei:  seine  Identitsetsphilosophie  sah  die 
Welt  als  ein  Kunstwerk  an  und  im  einzelnen  Kunstwerk  fand  er  das  Unend- 
liche endUch  dargestellt.  Goethe  war  auch  für  die  Romantiker  der  grcesste, 
ja  der  einzige  ältere  Dichter,  den  sie  anerkannten.  Einem  seiner  Werke 
entnahmen  sie  die  Bezeichnung  dessen  was  sie  erstrebten,  den  Namen  der 
für  sie  selbst,  nachdem  man  zuerst  sie  als  die  neupoetische  Schule  zusammen- 
gefasst  hatte,  dauernd  blieb. ^^  In  Goethes  Roman  Wilhelm  Meister  fanden 
sie  die  hoechste  Leistung  aller  neueren  Kunst  und  den  Ausgangspunct  für 
ihre  eigenen  dichterischen  Bestrebungen.'^  Romantische  Poesie  sollte  also 
ursprünglich   so   viel   als  Romanpoesie    sein.     Es  zeigte   sich  allerdings   bald, 

Leipzig  1869.  70,  III.    Schellings   Sämtliche  Werke,  Stuttgart  1856—61,  X.  7)   Vgl. 

LB.  3,    1073    fgg.  8)  'üie    Gottheiten    von    Samothrake'   1815.  9)  LB.  3,    1083. 

10)  Auch  als  Dichter  versuchte  er  sich  in  der  Terzinendichtung  'Die  letzten  Worte  des 
Pfarrers  von  Drottning',  wozu  Steffens  (Anm.  97)  ihm  den  Stoff  gegeben  hatte;  sowie  in 
den  satirischen  oder  pessimistischen  Gedichten  'Epikurisch  Glaubensbekenntnis  Heinz  Wider- 
porstens'  (Aus  Schellings  Leben  1,  282)  und  'Nachtwachen  von  Bonaventura':  Zs.  f.  d.  A. 
23,  203.  11)  Nach  Haym  auseinandergesetzt  von  J.  H.  Schlegel,  Über  den  Begriff'  des 

Eomantischen,  Wertheim  1878.  Alf r.  Biese,  Zs.  f.  vgl.  Litt.-gesch.  NF.  I  1888.  Vgl.  auch 
Petrich  (Anm.  12  a)  S.  107  Anm.  Das  innere  Verhältnis  der  romantischen  Poesie  zu  Goethe 
und  Schiller  hatte  schon  H.  Hettuer,  Die  romantische  Schule,  Braunschweig  1850,  entwickelt. 
12)  F.  Schlegel    erklärte:    'die    franzcesische    Revolution,    Fichtes  Wissenschaftslehre    und 


552  ^'EUllOCIIDEUTsrili:   ZEIT.         XIX  JAIIlill.  J^  IGi; 

dass  die  Beziehung  auf  die  Form  dos  Romans,  die  übrigens  durch  cinge- 
flochtone  Lieder  auch  der  Diclitung  in  Versen  gerecht  werden  konnte,  doch 
/u  eng  für  die  neue  Poesie  sein  würde.  Es  trat  auch  bei  den  Gliedern  der 
Schule  selbst  der  an  sich  ältere  Begriff  wieder  liervor,  wonach  Iloman  die 
Dichtung  in  romanischer  Sprache  bezeichnete:  die  mittchilteriiche  Dichtung 
der  romanischen  Völker  einschliesslich  ihrer  Nachahmung  bei  den  germa- 
nischen wurde  zum  Vorbild  der  romantischen  Schule  erhoben.  In  diesem 
Sinne  stellte  namentlich  A.  W.  Schlegel  in  seinen  Vorlesungen  zu  Berlin  und 
Wien  die  romantische  Poesie  in  Gegensatz  zur  classisclien,  so  dass  der  Unter- 
schied zwischen  antik  und  modern  wesentlich  damit  zusammen  fiel.  Zugleich 
aber  ward  der  Gegensatz  der  Zeiten  und  Nationen  zu  einem  inneren  vertieft, 
indem  die  von  Schiller  vorgenommene  Unterscheidung  zwischen  naiver  und 
sentimentaUscher  Dichtung,  also  eine  Unterscheidung  der  Gattungen  und 
Arten  auf  jenen  Gegensatz  augepasst  wurde.  Die  ganze  Geschichte  der  Lit- 
teratur  zerfiel  nun  in  zwei  grosse  Richtungen:  die  classische  der  Griechen 
und  Roemer,  denen  sich  in  neuerer  Zeit  besonders  die  Franzosen  anschlössen, 
und  die  romantische,  d.  li.  die  Volks-  und  Kunstpoesie  des  Mittelalters  und 
der  nächstfolgenden  Zeit,  so  dass  auch  Shakespeare  und  Cervantes  ihr  an- 
geeignet wurden,  aber  auch  die  Dichter  des  Ostens  einbegriffen  waren.  Die 
romantische  Poesie  erschien  in  dieser  Ausdehnung  ffchig,  das  gesamte  geistige 
Leben  aller  neueren  Völker  in  sich  aufzunehmen,  alle  Gattungen  in  sich  zu 
vereinigen;  sie  sollte  progressive  Universalpoesie'  sein.  Freilich  zeigte  sich 
bald  genug  die  Unmceglichkeit  einer  solchen  Vermischung  aller  nationalen 
Formen  und  Stile  und  die  neue  Mythologie,  welche  zum  Ersatz  der  antiken 
aus  der  Naturphilosophie  herausgebildet  werden  sollte,  kam  vollends  nicht  zu 
Stande.  So  blieb  die  mittelalterhche,  die  romanische  Dichtung  das  haupt- 
sächliche Vorbild  der  neuen  Dichterschule;  nicht  nur  ihre  Versarten  und 
Ausdrucksweisen,'-*  auch  ihre  Ideen,  insbesondere  die  religioesen  Vorstellungen 
des  Mittelalters  wurden  als  Wegweiser  zu  einem  Fortschreiten  angesehen, 
welches  von  der  franzcesischcn  Beschränkung  des  Geschmacks,  ja  auch  von 
der  einseitigen  Verherrlichung  des  classischen  Ideals  durch  Schiller  und  Goethe 
in  der  Zeit  ihrer  Vereinigung  sich  entfernen  und  erheben  sollte. 

Goethe    konnte    bei    dieser   Entwickelung    des    romantischen  Gedankens 
noch  immer  als  Vorbild  gelten:    seine  Jugenddichtungen  waren  ja  auch  viel- 


GcPthes  Meister  sind  die  orroessten  Tendenzen  des  Zeitalters':  Athenseuni  1,  2.  56,  12a)  H. 

Petrich.  Drei  Kapitel  vom  roraantiseheu  Stil.  Leipzig  1878.  behandelt  die  Bildlichkeit,  den 


§  160  ROMANTISCHE   SCHULE  :   A.  W.  SCHLEGEL.  553 

fach  auf  die  ältere,  die  volkstümliche  deutsche  Dichtung  zurückgegangen. 
Noch  nseher  schlössen  sich  die  Romantiker  an  die  früheren  Schriften  von 
Herder  an,  die  das  Mittelalter  gepriesen  und  den  Wert  der  Volksdichtung 
überhaupt  gegenüber  der  Kunstdichtung  aufgezeigt  hatten.  Aber  Herder 
hatte  sich  seit  der  Verbindung  Goethes  mit  Schiller  den  älteren  Dichtern  des 
Jahrhunderts  zugewandt,  er  hasste  die  Kantische  Philosophie.  Rücksichten 
auf  ehemalige  Verdienste  kannten  die  Romantiker  nicht;  die  von  Herder  be- 
fürwortete Humanitset  ward  ihr  Spott.  Ebenso  bestimmten  perscenliche  Be- 
ziehungen ihr  Verhältnis  zu  Schiller.  Ursprünglich  war  er  ihr  Führer  fast 
noch  mehr  als  Goethe:  seine  ästhetischen  Untersuchungen  waren  die  Grund- 
lage für  die  der  Brüder  Schlegel;  an  seinen  Zeitschriften,  den  'Hören',  dem 
'Musenalmanach'  waren  auch  sie  thsetig.  Novalis  stand  ihm  als  Student  in 
Jena  nahe;  Tieck  schätzte  wenigstens  'die  Räuber'  hoch.  Aber  eine  miss- 
günstige Besprechung  des  Musenalmanachs  für  1796  durch  F.  Schlegel  gab 
Schiller  Anlass,  auch  dem  älteren  Bruder  aufzusagen;  und  noch  mehr  zeigten 
die  Xenien  des  nsechsten  Jahrgangs,'^  wie  unzufrieden  er  mit  ihrer  schnei- 
denden und  anmassenden  Kritik  war.  Mit  der  Begründung  des  'Athenseums', 
welches  die  Brüder  Schlegel  1798 — 1800  zu  Berlin  erscheinen  Hessen,  war 
ihre  Selbständigkeit,  ihr  Anspruch,  eine  neue  Litteraturperiode  herbeizuführen, 
ofifen  und  mit  Entschiedenheit  erklsert. 

So  nahe  indessen  damals  die  Brüder  und  ihre  Freunde  zusammenhielten, 
80  waren  sie  doch  auf  verschiedenen  Wegen  zu  ihrem  neuen  Standpunct  ge- 
langt und  gingen  auch  in  ihrer  weiteren  Entwickelung  verschiedene  Wege. 

Die  Brüder  Schlegel  waren  die  Scehne  Joh.  Adolfs,  die  Neffen  von 
Elias  Schlegel:'*  August  Wilhelm  1767,  Feiedrich  1772  zu  Hannover  ge- 
boren. Wilhelm  hatte  als  Student  in  Göttingen  sich  besonders  an  Heyne  und 
Bürger  angeschlossen,''  dann  als  Hauslehrer  in  Amsterdam  gelebt  und  1796 
sich  in  Jena  niedergelassen,  wo  er  1798  eine  Professur  erhielt.  Seine  geist- 
reiche, reizende  Gattin  Caroline  "^  stand  ihm  bei  seinen  litterarischen  Arbeiten 

Archaismus  und  die  Mystik  vor  allem  in  Tieeks  Sprache.  13)  Die  Brüder  meint  'das 

hitzige  Fieber  der  Grtekomanie'  und  'das  geniale  Geschlecht  derer,  welche,  was  sie  gestern 
gelernt,  heute  schon  lehren  wollen'.  F.  Schlegel  rächte  sich,  indem  er  Schiller  als  den 
Patroclus  bezeichnete,  welcher  sich  freue,  in  der  Eüstung  Achills  mit  diesem  verwechselt 
zu  werden:  allein  das  betreffende  Epigramm  gegen  die  Chorizonten,  welche  vergeblich  die 
einzelnen  Xenien  auf  ihre  Urheber  zurückzuführen  versuchen  würden ,  ist  von  Goethe. 
14)  §  151.  15)  §  158,  17.     In  den  Göttinger  Gelehrten  Anzeigen  1789  trat  er  zuerst 

als  Kritiker    auf.  16)  Eine   Tochter    des  Göttinger   Professors  Michaelis    war    sie    in 

erster  Ehe   mit   dem  Bergarzt  Böhmer    vermsehlt.     Als  Witwe   zog   sie,  von  Begeisterung 


554  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XIX  JAHRII.  §  IGG 

zur  Seite,  trug  aber  wesentlich  zu  seiner  Entfremdung  von  Schiller"  bei. 
Als  Schlegel  1800  Jena  verliess,  blieb  Caroline  zurück.  Ihre  Tochter  aus 
erster  Ehe,  Auguste  Bachmor,  war  mit  Schelling  verlobt:  sie  starb,  und 
Bräutigam  und  Mutter  voroinigten  sich  in  ihrer  Trauer.  Caroline  trennte  sich 
von  Schlegel '"  und  Schelling  ward  ihr  dritter  Gatte. 

A.  W.  Schlegel  hatte  in  Jena  für  die  Allgemeine  Litteraturzeitung  eine 
grosse  Anzahl  von  Kccensionen  geschrieben  und  darin  das  volle  Verständnis 
für  die  Eigentümlichkeit  der  einzelnen  poetischen  Gattungen,  namentlich  ein 
ausserordentlich  feines  Gefühl  für  die  dichterische  Form,  für  Sprache  und  Vers 
bewiesen. ^'^*  Diese  Kunst  befähigte  ihn  besonders  zum  Übersetzer  und  hier 
hat  er  auch  die  schwierigsten  Aufgaben  glänzend  gelocst.  Mit  welchem 
unermüdlichen  Flcisse  er  feilte,  ist  besonders  an  der  schoensten  Frucht  dieser 
seiner  Tha?tigkeit,  an  seiner  Shakespeareübersetzung  gezeigt  worden,'^  wovon 
16  Stücke,  darunter  die  meisten  Koenigsdramen ,  zu  Berlin  1797 — 1801  er- 
schienen, denen  1810  noch  Richard  III  folgte.  Der  britische  Dichter,  der 
bisher  nur  in  Prosa  verdeutscht  worden  war,  ist  durch  Schlegels  Vermittelung 
auch  zu  einem  deutschen  geworden.  Auf  die  gleichzeitige  Litteratur  aber 
wirkte  nicht  weniger  A.  W.  Schlegels  'Spanisches  Theater',  Berlin  1803  und 
1809,  II,  und  die  zierlichen  'Blumenstraeusse  italienischer,  spanischer  und  por- 
tugiesischer Poesie',    Berlin    1803.'^*    Diese   Formen  pflegte  er   nun  auch  in 

für  die  franzoesische  Revolution  erfasst,  nach  Mainz  zu  dem  unglücklichen  Forster  und  ward 
bei  der  Wiedereinnahme  der  Stadt  durch  die  Preussen  1793  gefangen  fortgeführt.  In  ihrem 
Unglück,  das  sie  durch  eigene  Schuld  noch  gesteigert  hatte,  erwies  sich  A.  Vi.  Schlegel  als 
treuer  Verehrer,  Friedrich  sorgte  für  sie  in  der  naechsten  Zeit.  Vgl.  G.  "Waitz,  Caroline, 
Leipzig  1871,  II,  und  'Caroline  und  ihre  Freunde,  Mitteilungen  aus  Briefen'  von  G.  Waitz, 
Leipzig  1882.     Scherer  Tortr.  u.  Aufsätze  356  fgg.  17)  An  eine  Freundin  schrieb  sie 

am  21.  Oct.  1799  (Caroline  1,  272)  'Schillers  Musencalender  ist  auch  da:  über  ein  Gedicht 
von  ihm,  das  Lied  von  der  Glocke,  sind  wir  gestern  Mittag  fast  von  den  Stühlen  gefallen 
vor  Lachen,  es  ist  ä  la  Voss,  ä  la  Tieck,  ä  la  Teufel,  wenigstens  um  des  Teufels  zu  werden.' 
Schiller    nannte   sie  seinerseits  Dame  Lucifer.  18)  Schlegels  Canzone  'Todtenopfer  für 

Auguste  Ba-hmer.   an  Novalis'.  1800:    LB.  2,   1330.  18a)  Ganz  vortrefflich  sind  auch 

seine  'Briefe  über  Poesie.  Sylbenmass  und  Sprache'  in  den  Hören  1795/96,  sowie  die  Be- 
trachtungen über  Metrik  an  F.  Schlegel ,  welche  erst  in  den  Sämtl.  Werken  7,  155  fgg. 
erschienen :  hier  wie  sonst  bekämpft  W.  Schlegel  Klopstock.  Diese  Seite  der  Begabung 
A.  W.  Schlegels  berücksichtigt  besonders  D.  F.  Strauss,  Ges.  Sehr.  2,  121—158.  19)  Mi- 

chael Bernays,  Zur  Entstehungsgeschichte  des  Schlegelschen  Shakespeare,  Leipzig  1872. 
Schuorrs  Archiv  10,  236.  19a)  Aus  dem  Spanischen,    besonders  aber  aus  dem  Italie- 

nischen übersetzte  mit  der  gleichen  Sorgfalt  .ToH.  Diedrich  Gries,  aus  Hamburg,  1775  bis 
1842,    als  Student    in  Jena    mit    den  Romantikern  befreundet.     'Tassos  befreites  Jerusalem' 


§  166  A.  W.  SCHLEGEL.  555 

seinen  eigenen  Dichtungen;  ^^  im  Sonette  nannte  er  sich  selbst  'Muster  und 
Meister,  zugleich  der  Schöpfer  und  das  Bild  der  Regel'.  Doch  gebrauchte 
er  auch  die  antiken  Yersmasse  nach  dem  Muster  Gcßthes  und  Schillers,^ ^  und 
um  1800  die  Formen  des  deutschen  Volksliedes.-^  Mit  Goethes  Iphigenie 
wetteiferte  Schiegels  Ion,  die  Bearbeitung  einer  Tragoedie  des  Euripides:-^  wie 
in  jener  ein  Geschwisterpaar  sich  unverhofft  zusammenfindet,  so  ist  hier  die 
Wiedererkennung  eines  ausgesetzten  Sohnes  durch  seine  Mutter  der  Kern- 
punet.  Aber  der  Knoten, ^^  welchen  wie  bei  Euripides  göttliches  Dazwischen- 
treten loest,  hat  für  ein  deutsches  Theater  unmceglich  dieselbe  Bedeutung  wie 
für  die  Athener,  als  deren  Stammvater  Ion  galt.  In  Weimar,  wo  Goethe 
1802  das  Stück  auflführen  Hess,  wurde  es  daher  auch  kalt  aufgenommen. 

A.  W.  Schlegel  hatte  von  1801  ab  mehrere  Winter  hindurch  in  Berlin 
Vorlesungen  gehalten,  in  welchen  er  die  Ideen  der  neuen  Schule  selbst  mit 
Übertreibung^^  vortrug.  Diese  Vorlesungen  liess  er  nicht  drucken,^^  wohl 
aber  die  Vorlesungen  über  dramatische  Kunst  und  Litteratur,^^  welche  er 
1808  in  Wien  gehalten  hatte,  wo  noch  mehr  als  in  Berlin  die  vornehmste 
Gesellschaft  ihm  zuhoerte.  Er  bot  darin  zuerst,  wenn  auch  nur  für  eine 
einzelne  Gattung,  eine  wirkliche  Licteraturgeschichte,  in  welcher  sich  das  feinste 
ästhetische  Urteil  mit  historischem  Verständnis,  mit  Berücksichtigung  aller 
durch  Zeit  und  Volk  bedingten  Umstände  verband.  Weniger  sprechen  diese 
Vorzüge  des  Gelehrten  in  den  Gedichten  Schlegels  an,  so  in  den  an  Schiller 


.Jena  1800—3,  II.  'Ariosts  rasender  Roland',  .Jena  1801—9,  V.  'Calderons  Schauspiele', 
Berlin  1815—29,  VIII  ua.  Vgl.  'Aus  dem  Leben  von  J.  D.  Gries'  (von  Elise  Campe), 
Leipzig  1855.  20)  Mit  den  lyrisclien  Übersetzungen  und  den  Abhandlungen  vereinigt 

als  'A.  W.  v.  Schlegels  sämtliche  Werke',  hg.  von  Ed.  Böcking,  Leipzig  1846,  XII.  Dazu 
G.  Schlegel,  Oeuvres  ecrites  en  franrais,  Lpz.  1846,  III  und  Opmcula  latina,  Lpz.  1848. 
21)  So  gehen  aui'  Schillers  Vorbild  (LB.  2,  1216)  die  freilich  noch  genauer  anschliessenden 
Beschreibungen  der  Versarten  zurück:  LB.  2,  1364,  vgl.  auch  1.341.  Ein  Seitenstück  zu 
den  Kranichen  des  Ibycus  ist  Schlegels  Romanze  Arion  (1797)  LB.  2,  1321.  22)  'Die 

Warnung'  (der  ewige  Jude):  LB.  1327  (gedichtet  1801)  zeigt  Doppelsenkungen.  23)  Schlegel 
rühmte  sich,  diesen  verbessert  zu  haben;  doch  klüger  als  Wieland  (§  153,  35)  schrieb  er 
dies,  ohne  sich  zu  nennen:  Haym  705  fg.  24)  Ion  ist  von  Apollon  mit  Kreusa  vor 

ihrer  Vermsehlung  mit  Xuthos  erzeugt  worden.  Besonders  lächerlich  ist  es,  wenn  der 
Jüngling  den  Korb  mit  den  Windeln,  worin  er  einst  ausgesetzt  wurde,  umarmt  und  gerührt 
anspricht.  25)  So  rechtfertigte  er  die  Astrologie  des  Mittelalters  wegen  ihres  poetischen 

Characters   und   setzte   die  Wissenschaft   der  Astronomie  herunter.  26)  Sie  sind  von 

Minor  in  Seufferts  Lit.-denkm.  17—19,  Heilbr.  1884,  herausgegeben  worden.  27)  Heidel- 

berg 1809—11,  III.     Schlegel  sorgte  auch  für  eine  Übersetzung  in  das  Franzoesische,  welcher 
Wackernagel,  Litter.  Geschichte.  II,  "• 


556  NEUHOCHDEUTSCHH   ZEIT.         XIX  JAllinr.  §  lOß 

sich  anlchncmlcn  Elegien  'Die  Kunst  der  Oriechen'  1709  und  Rom'  1805.-" 
Den  kiitliolisicrenden  Neigungen  seiner  Freunde  kam  Schlegels  'Bund  der 
Kirche  mit  den  Künsten'  1800  entgegen,^'-*  doch  wollte  er  spa'ter  nur  eine 
jirvdilecHnn  d'artiste  für  die  katholische  Kirche  empfunden  haben.*'» 

In  Berlin  hatte  Schlegel  Frau  von  Stael  kennen  gelernt,  die  Tochter 
des  Ministers  Necker:  mit  ihr  lebte  er  seit  1804  meist  auf  ihrem  Landgut 
zu  Coppet  bei  Genf  und  trug  wesentlich  bei  zu  ihrem  ausgezeichneten  Buche 
VAlJemnqne.  Als  es  1811  erschien  und  Napoleon  sie  verbannte,''"  begleitete 
Schlegel  sie  auf  ihren  Reisen;  von  Stockholm  folgte  er  1813  dem  Kronprinzen 
von  Schweden  auf  dem  Feldzuge.  1818  ward  er  an  die  neubegründete  Uni- 
versitait  Bonn  berufen,  wo  er  bis  zu  seinem  Tode  1845  sich  wesentlich  auf 
seine  Sanskritstudien  beschränkte.-"  Durch  seine  Eitelkeit,  jung  und  vornelim 
erscheinen  zu  wollen,  zog  er  sich  viel  Spott  zu :  übte  aber  auch  selbst  seinen 
schonungslosen  Witz  gegen  seine  Feinde.  Früher  hatte  er  die  Anhänge  des 
Athenauims^^  zu  Ausfällen  in  Prosa  gegen  Wieland  und  Kästner,  Voss  und 
Nicolai  benutzt;  gegen  Kotzebuc  richtete  er  1801  die  Ehrenpforte  und  Triumph- 
bogen' im  Namen  der  deutschen  Schauspieldirectoren,^^  eine  Nachahmung  der 
Jugendfarcen  Goethes,  nur  gefeilter  und  boshafter.  Spätere  Epigramme  wenden 
sich  gegen  Schiller  und  die  schwaebischen  Dichter,  gegen  Nicbuhr,  Arndt, 
Bopp;^^  auch  die  alten  Freunde  Fichte,  Schelling  und  selbst  den  Bruder 
verschonte  er  nicht. 

Friedrich  Schlegel  besass  in  noch  hcehcrem  Grad  den  Geist  der  Kritik, 
des  Absprechens  und  Aushoehnens.  Nur  gebrauchte  er  dazu  seine  'göttliche 
Grobheit';  er  schlug  auch  dem  Publicum  gern  mit  Faeusten  ins  Gesicht.  Ur- 
sprüngUch^-^  zum  Kaufmann  bestimmt,  studierte  er  mit  wahrem  Heisshunger 
insbesondere    die   Griechen.     Seine   Jugendschriften  ^*''  wiederholte  er    spseter 

solche  in  andere  Sprachen  folgten :  §  174,  nach  Anm.  21.  28)  LB.  2,  1349.  29)  LB. 
2,  1333:  die  absichtliche  Einfachheit  des  Ausdrucks  tritt  auch  in  der  Wiederholung  der 
gleichen  Reimworte,    in  Formen  wie  'ich  glaube*   hervor.  29a)  Oeuvr.  frang.  1,    191. 

30)  Napoleon  urteilte:   Votre  livre  n'est  pas  frayirais.  31)  Indische  Bibliothek  1823  bis 

1830,  III.  32)  LB.  3,  1097.  33)  Daraus  die  Terzinen  LB.  2,  1342.  Ebenda  ein  Triolett 
gegen  Merkel  (§  163,  31)  aus  derselben  Zeit.  34)  LB.  2,  1366.  35)  Biographische 

Skizze  von  E.  Feuchtersieben  in  der  2.  Aufl.  der  'Sämtlichen  Werke',  AVien  1846,  XV;  die 
erste  Sammlung  hatte  F.  Schlegel  selbst  besorgt:  Wien  1822 — 25,  X.  Zur  Lebensgeschichte 
sind  besonders  wichtig:  'F.  Schlegels  Briefe  an  seinen  Bruder  Wilhelm',  hg.  von  0.  Walzel, 
Berlin  1890.  36)  Neue  Ausgabe   der   ursprünglichen  Texte:    'F.  Schlegel  1794—1802, 

seine  prosaischen  Jugendschriften',  hg.  von  J.  Minor,  Wien  1882.  IL  Ein  früher  unge- 
druckter Aufsatz   aus   dem   J.  1794  'Vom  Wert    des  Stadiums    der   Griechen    und    Rocmer, 


§  166  F.   SCHLEGEL.  557 

nur  zum  Teil  und  nur  überarbeitet.  Die  erste  darunter  'Von  den  Schulen 
der  griechischen  Poesie'  war  1794  erschienen;  besonders  ausführlich  schrieb 
er  die  'Geschichte  der  Poesie  der  Griechen  und  Roemer',  Berlin  1798,  aber 
auch  sie  befasste  nur  das  Epos.  F.  Schlegel  übertrug  mit  Geist  und  Kenntnis 
auf  die  Litteraturgeschichte  die  Anschauungen,  welche  Winckelmann  aus  der 
antiken  Kunstgeschichte  gewonnen  hatte:  er  unterschied  die  Stilarten  und 
die  Schulen.  Nach  Beendigung  seiner  Studien  in  Leipzig  hatte  P.  Schlegel 
in  Dresden  gearbeitet;  1797  kam  er  nach  Berlin,  wo  die  alten  Ansichten 
aus  der  Zeit  Friedrichs  des  Grossen  noch  vorherrschten.  Für  einen  neuen 
Geist,  der  sich  zunächst  in  der  Anerkennung  Goethes  aussprach,  fand  Fried- 
rich Schlegel  einen  günstigen  Boden  in  den  Heusern  einiger  reicher  jüdischer 
Familien,  in  welchen  geistreiche,  zum  Teil  auch  schoene  Msedchen  und  Frauen^' 
den  jungen  Adel  (die  Brüder  Humboldt  und  selbst  Prinz  Louis  Ferdinand  ^^ 
gebeerten  dazu)  um  sich  versammelten.  Die  Emancipation  der  Frauen  war 
eine  natürliche  Neigung  dieser  Kreise;  Friedrich  Schlegel,  der  die  Frauen 
gern  männlich  stark,  die  Männer  weiblich  zart  gemacht  hätte,^^  fand  hier 
den  Hosrerkreis,  der  ihn  immer  weiter  trieb  in  seinen  Paradoxien.  Recht 
zum  Verdrusse  der  Freunde  Lessings  erkannte  er  diesen  in  einer  Schrift 
über  Lessing  1797  nicht  als  Dichter  an;  er  sollte  nur  als  Kritiker  und  auch 
als  solcher  nicht  mit  seinen  einzelnen  Urteilen,  sondern  mit  seinem  unendlich 
fortschreitenden  Streben  nach  Wahrheit  gelten  dürfen.  Den  grcessten  Anstoss 
aber  und  einen  durchaus  berechtigten  gab  F.  Schlegel  durch  seinen  Roman 
Xucinde'  1798:  es  war  eigentlich  nur  der  Anfang  eines  Romans,  aber  die 
Fortsetzung  blieb  aus.  Ja  die  Erzsehlung,  welche  doch  von  einem  Roman 
zunsechst  erwartet  wird,  trat  nur  episodenweise  zwischen  Gespreechen,  Traeu- 
men,  Allegorien  hervor.  So  formlos  diese  Yerherrlichung  des  Genusses,  des 
Müssigganges,  der  Frechheit  erschien,  so  schamlos  war  sie  auch,  um  so  em- 
poerender  als  Schlegel  dabei  sein  Verhältnis  zu  Dorothea  Veit  der  Öffentlich- 
keit bloss  stellte.*^  Ihre  Liebe  zu  ihm  hat  auch  das  überwunden*'  und  ihm 
auch  in  bedrängter  Lage  hingebende  Treue  erwiesen.*^ 

in  'A.  "W.  uud  F.  Schlegel',  in  Auswahl  hg.  v.  0.  Walzel,  Kürschner  D.  Nat.-litt.  143, 
Stuttgart  0.  J.  37)  Rahel  Levin  s.  §  176,  4.    Henriette  Herz  §  169,  5.  38)  Er 

starb    1806   bei    Saalfekl    den    Reitertod.  39)    Seine  Diotima   (Jugeudsehriften  1 ,    46) 

behandelt  das  Hetaerenwesen.  40)  Auch  seine  Schwiegerin  Caroline  schildert  Friedrich 

Schlegel,  und  es  ist  freilich  anziehend  zu  lesen,  wie  auch  er  sich  in  sie  verliebte,  diese 
Liebe    aber   unterdrückte,    um   seinem  Bruder    die  Treue  zu   bewahren.  41)  Dorothea 

von  Schlegel  geb.  Mendelssohn  uud  deren  Söhne  .Tohanues  und  Philipp  Veit,  Briefwechsel 
hg.  V.  J.  M.  Raich,  Mainz  1881,  II.  42)  Einen  Roman  'Fiorentin*  von  Dorothea,  eine 


558 


NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT. 


XIX  JAHKII. 


Klf) 


Mit  ihr  kam  F.  Schlegel  1799  nach  Jena,  hatte  aber  als  Privatdocent 
keinen  Erfolg.  Schon  war  ihm  angestrengte  Arbeit  zuwider;  seine  geist- 
reichen Einfälle  Hess  er  als  Fragmente  und  Ideen  im  Athemeum,  spater  in 
seiner  Zeitschrift  Europa*^  erscheinen.  Mit  seinem  Bruder  und  Tieck  gab 
er  auch  einen  Musenalmanach  für  1802  heraus  und  versuchte  sich  nun  auch 
als  lyrischer  Dichter.  Die  Glätte  und  der  Fluss  seines  Bruders  fehlten  ihm 
ganz,  aber  einzelne  starke  Toone  schlug  er  an,  welche  namentlich,  wo  sie 
das  altdeutsche  Wesen  verherrlichen,  auf  die  jüngeren  Dichter  tief  eingewirkt 
haben. '•^  Als  Tragiker  hatte  er  noch  weniger  Erfolg  als  sein  Bruder:  sein 
Trauerspiel  Alarcos'  1802  ward  in  Weimar  nur  durch  Gcßthes  Dazwischen- 
treten vor  dem  Auslachen  gerettet.  Es  sollte  den  spanischen  Stoff  mit  dem 
einfachen  Bau  des  Aeschylos  und  wieder  mit  der  buntesten  Mischung  der 
Versformen''''  vorführen. 

1802  ging  F.  Schlegel  nach  Paris,  um  dort  die  aus  allen  Ländern  zu- 
sammengeha3uften  Kunstschätze  zu  studieren.  Unterwegs  am  Rhein  machte 
er  auf  die  Kunstdenkma^ler  des  Mittelalters  aufmerksam  und  leitete  auch  durch 
Vorlesungen  in  Paris  die  Brüder  Boisseree^''  zu  diesem  Studium  an.  Er 
selbst  aber  versenkte  sich  zu  Paris  in  die  asiatischen  Sprachen,  insbesondere 
das  Sanskrit.  Sein  Buch  'Über  die  Sprache  und  Weisheit  der  Indier'  Heidel- 
berg 1808,''^  verkündete  fast  prophetisch  die  ursprüngliche  Einheit  der  indo- 
germanischen Sprachen,  allerdings  wesentlich  nur  auf  Grund  ihrer  überein- 
stimmenden Formcnbildung,  ohne  die  Verschiedenheiten  zu  beachten,  welche 
erst  Franz  Bopp***  zusammenzufassen  und  zu  erklaeren  unternahm.  1804  mit 
Dorothea  ehelich  verbunden,    trat   er   1808   mit   ihr  zur  katholischen  Kirche 


Nachahmung  des  W.  Meister  und  des  Geistersehers,  gab  Friedrich  Leipzig  n.  Lübeck  1801 
heraus ;  ebenso  eine  von  ihr  verfasste  Sammhing  romantischer  Dichtungen  des  Mittelalters 
(Merlin  ua.),  Leipzig  1804.  43)  Frankfurt  a.  M.  18u3,  IL  44)  LB.  2,  1367  'Auf 

der  Wartburg';  1378  'Im  Spesshardt'  gab  für  Eichendorifs  Waldlieder  das  Vorbild;  'Frei- 
heit' ebd.  ist  von  Schenkendorf  bis  auf  das  Versmass  nachgeahmt  worden :  LB.  2 .  1529. 
Auch  von  Schlegels  Sinnsprüchen  sprechen  manche  treffend  den  Wert  altdeutscher  Bieder- 
keit und  Frömmigkeit  aus.  45)  Neben  den  Reimen  erscheinen  auch  Assonanzen. 
Eben  wegen  seiner  'seusserst  obligaten  Sylbenmasse'  brachte  Goethe  das  Stück  auf  die 
Bühne:  Briefwechsel  mit  Schiller  Nr.  858.  46)  Ihre  Sammlung,  deren  Grundstock  die 
damals  aus  den  Kölner  Kirchen  herausgeworfenen  Bilder  ausmachen,  ist  jetzt  ein  wertvoller 
Teil  der  alten  Pinakothek  in  München.  Vgl.  §  160.  104.  47)  Daraus  LB.  3,  1109.  48)  Geb. 
zu  Mainz  1791,  1821  Professor  zu  Berlin,  wo  er  1867  starb.  Sein  'Conjugationssystem  des 
Sanskrit  in  Vergleichung  mit  jenem  der  griechischen ,  lateinischen ,  persischen  und  germa- 
nischeu   Sprache'    erschien    Frankfurt    a.    M.    181G;    seine    'Vergleichende    Grammatik    des 


§166  F.  SCHLEGEL.     SCIILEIEUMACIIER.  559 

über.  Hierauf  nahm  ilin  Metternich  1809  als  Secreteer  in  die  Hof-  und 
Staatskau/Jei  zu  Wien,  und  sandte  ihn  1815  als  Legations  rat  beim  Bundestag 
nach  Frankfurt ;  dabei  nahm  er  wie  sein  Bruder  den  Adel  an ,  den  sie 
auf  alte  Familienurkunden  begründeten.  Seit  1818  aber  widmete  Friedrich 
von  Schlegel  sich  wieder  ganz  seiner  Schriftstellerei  *^  und  seinen  Vor- 
lesungen über  Geschichte,  alte  und  neue  Litteratur,  sowie  über  Lebens- 
philosophie. Überall  war  ihm  die  katholische  Kirche  jetzt  das  einzig  Mass- 
gebende und  die  Adelsvorrechte  im  Staate  durchaus  unantastbar.^**  Er  starb 
zu  Dresden  1829. 

An  der  letzten  Wendung  seiner  Ansichten  hatte  sein  Bruder  Wilhelm 
Anstoss  genommen  und  ihm  1827  das  alte  Bündnis  aufgesagt.^'  Weit  früher 
hatten  sich  die  BerHner  Freunde  von  ihm  getrennt.  Unter  ihnen  hatte  ihm 
Friedrich  Daniel  Ernst  Schleiermacher^^  besonders  nahe  gestanden,  der 
großsste  Theologe,  den  die  protestantische  Kirche  Deutschlands  in  unserem 
Jahrhundert  besessen  hat,  geboren  zu  Breslau  1768,  gestorben  zu  Berhn  1834. 
Auch  er  hatte  zu  den  Fragmenten  im  Athenseum  beigesteuert:  er  war  durch 
'Vertraute  Briefe  ^^  über  F.  Schlegels  Lucinde'  für  seinen  Freund  eingetreten, 
allerdings  ohne  seinen  Namen  zu  nennen.  Die  Grundlage  seiner  eigenen 
Lehre  hatte  er  damals  schon  kund  gegeben  durch  seine  'Reden  über  Religion 
an  die  Gebildeten  unter  ihren  Verächtern',  Berlin  1799,  worin  er  die  Reli- 
gion bestimmt  als  das  Gefühl  schlechthiniger  Abhängigkeit,  das  Bewusstsein 
davon,  dass  auch  die  gesamte  Selbstthsetigkeit  des  Menschen  von  anderwärts 
her  bedingt  sei.  Die  Religion  aber  war  ihm  etwas  Selbständiges  neben  der 
Sittlichkeit,  stand  ihm  neben  Wissenschaft  und  Kunst  und  erschien  ihm  als 
zur  Vollendung  des  menschlichen  Daseins  notwendig.  Über  die  Sittlichkeit 
handeln  Schleierraachers  'Monologen'  1800;^*  mit  gemütvoller  Wärme  fasst 
seine  'Weihnachtsfeier'  1806  nochmals  die  verschiedenen  Verhältnisse  zusam- 
men, welche  Gebildete  zum  Christentum  haben  können. 

Tiefen  Eindruck  machten  Schleiermachers  Reden  auf  einen  anderen 
Freund  Friedrich  Schlegels,    auf  Novalis,    wie  sich  Friedrich  Leopold  von 

Sanskrit'  usw.  zuerst  Berlin  1833—52,  III.  49)  Auch  neue  Zeitschriften  hatte  er  be- 

gründet: 'Deutsches  Museum',  Wien  1812.  13;  'Concordia',  Wien  1820—23.  50)  S.  da- 

gegen Arndt,  Schriften  für  und  an  seine  lieben  Deutschen,  3,  1  fgg.  51)  F.  Schlegels 

Briefe  (Anm.  35)  S.  653.  52)  'Aus  Schleiermachers  Leben  in  Briefen',  Berlin  1858—63, 

IV.  Dilthey,  Das  Leben  Schleiermachers,  I,  Leipzig  1870.  Über  seine  patriotischen  Pre- 
digten 8.  §  169,  8.  53)  Lübeck  und  Leipzig,  1800.  54)  LB.  3,  1191.  Ebenda 
1205   Ein   akademischer  Vortrag  'über  Piatons  Ansicht  von    der  Ausübung   der  Heilkunst'. 


560  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XIX  JAllKIl.  §  Hid 

Hardenberg  ^^  nach  einer  älteren  Seitenlinie  seines  Geschlechtes '"'  nannte. 
Geboren  1772  zu  Weissenfeis,  wo  sein  Vater  Salincndirector  war,  studiorte 
er  Bergwissenschal't  und  Rcchtsgelchrsamkeit.  1797  starb  ihm  eine  liebliche 
Braut  und  ein  ihm  innig  verbundener  Bruder.  Wie  Schleiermacher  in  den 
Grundsätzen  der  Herrenhuter  erzogen,  gab  sich  Novalis  ganz  den  Gedanken 
an  das  Jenseits  hin.  Er  starb  an  der  Schwindsucht  im  Mai  1801;  an  seinem 
Sterbebette  stand  Friedrich  Schlegel,  mit  welchem  er  schon  als  Student  be- 
freundet war.  Novalis  war  ein  geborener  Dichter,  waehrend  die  beiden 
Schlegel  sich  künstlich  in  die  dichterische  Stimmung  versetzten.  Mit  Recht 
schreibt  Novalis  sich  herzliche  Phantasie'  zu.  Dem  Schmerz  über  seine  Ver- 
luste entquollen '"^  seine  'Hymnen  an  die  Nacht":  noch  vermischen  sich  in  diesen 
Prosaergüssen  panthcistische  Naturbegeisterung,  wie  Hölderlin''*  sie  rehnlich 
empfunden  hatte,  und  christliche  Hingebung.  Diese  herrscht  allein  in  den 
spa^tcren  Schriften  vor,  ja  sie  steigert  sich  bis  zur  unbedingten  Verherrlichung 
der  mittelalterlichen  Kirche  in  dem  Aufsatze  'Die  Christenheit  oder  Europa', 
welchen  selbst  die  Freunde  auf  Goethes  Rat  nur  stückweise  veröfTentlichten,-^^ 
'Mit  Recht',  so  urteilte  Novalis,  'widersetzte  sich  das  weise  Oberhaupt  der 
Kirche  frechen  Ausbildungen  menschlicher  Anlagen  auf  Kosten  heiligen  Sinnes 
und  unzeitigen  gefährlichen  Entdeckungen  im  Gebiete  des  Wissens'.  Den 
Jesuitenorden  nennt  er  'das  Muster  aller  Gesellschaften,  die  eine  organische 
Sehnsucht  nach  unendlicher  Verbreitung  und  ewiger  Dauer  fühlen'.  Schliess- 
lich wünscht  er,  da  das  Papsttum  im  Grabe  liege,  dass  auch  der  Protestantis- 
mus aufhoere  und  einer  neuen  dauerhaften  Kirche  Platz  mache.  Diesen 
schwärmerischen  Geist  zeigen  auch  die  mehr  erzählenden  Dichtungen  von 
Novalis.  'Die  Lehrlinge  von  Sais'  knüpfen  an  ein  Gedicht  Schillers  an,  lassen 
aber  in  zartester  Ausführung  das  Ziel  aller  Forschung  in  der  Liebe  finden. 
Das  Mserchen  dient  ihm  dazu  seine  Lehre  einzukleiden,  es  ist  ihm  überhaupt 
der  Canon  der  Poesie.     Schwebten  ihm  dabei  Gcethes  Maerchen  vor,   welche 


55)  Hardenbergs  Leben  von  Tieck  in  der  mit  F.  Schlegel  zusammen  besorgten  Ausgabe 
der  Schriften,  Berlin  1802,  II  uö.  Tieck  und  Bülow  fügten,  Berlin  1846,  noch  einen  3.  Teil 
mit  den  Briefen  ua.  hinzu.  Friedrich  von  Hardenberg  genannt  Novalis,  eine  Nachlese 
aus  den  Quellen  des  Familienarchivs,  hg.  von  einem  Mitglied  der  Familie,  Gotha  1873. 
Novalis  Briefwechsel  mit  F.  und  A.  W. ,  Charlotte  und  Caroline  Schlegel,  hg.  von  Raich, 
Mainz  1880.  A.  Schubart,  Novalis  Leben,  Dichten  und  Denken,  Gütersloh  1887.  56)  de 
Nordli,  deutsch  wohl  von  Rode,  von  einem  Gute  auf  neugerodetem  Land.  57)  Zuerst 

im  Athenaeum  3,  188  fgg.  58)  §  162,  33.  59)  Friedrich  Schlegel  nahm  ihn  fast 

ganz   in   die  4.  Auflage  der  Schriften  von  Novalis  1826   auf,    aus    der   folgenden   entfernte 


I 


§  16G  NOVALIS.     ALBERTINI.  561 

in  Schillers  Hören  erschienen  waren,  so  sah  er  noch  mehr  in  Wilhelm  Meister 
das  Muster  des  Romans,  nur  dass  er  bald  nur  Unpoesie,  eine  durchaus 
praktische  Richtung  darin  erkennen  wollte.  Er  selbst  entfaltete  die  ganze 
Schwärmerei  der  Romantik  in  seinem  'Heinrich  von  Ot'terdingen',  wovon  er 
den  ersten  Teil,  die  Lehrjahre  des  Dichters,  vollendete,  die  Fortsetzung  aber, 
die  Verkterung  des  Dichters,  nur  stückweise  ausarbeiten  konnte.  Er  be- 
nutzte dabei  das  altdeutsche  Gedicht  vom  Wartburgkrieg,  flocht  einzelne  histo- 
rische Züge  aus  der  Zeit  Kaiser  Friedrichs  II  ein,  weit  mehr  aber  Phantasie- 
gcbilde.  Aus  der  Kyff  hseusersage  nahm  er  die  blaue  Blume,  die  dem  Jüngling 
im  Traume  erscheint,  ihm  das  Bild  seiner  spseteren  Braut  zeigt,  und  doch 
zugleich  die  Poesie  bedeutet.  In  die  sant'tfliessende  Erzsehlung  sind  Lieder 
eingestreut,  von  warmem  Gefühl  und  einfachem  Ausdruck,  etwa  den  Wein 
oder  das  Bergmannsleben  ®^  preisend.  Die  ganze  Innigkeit  seines  Gemüts, 
den  vollsten  Wohllaut  legt  Novalis  in  seine  'Geistlichen  Lieder',*^'  welche 
auf  die  Freunde  wie  auf  die  spseteren  Dichter  tief  eingewirkt  haben.  An 
Novalis  zunsechst  schliesst  sich  als  Liederdichter  ein  Jugendfreund  Schleier- 
machers an,  Johann  Baptista  von  Albertini,  der  1767  zu  Neuwied  geboren, 
als  Bischof  der  Herrenhuter  1831  zu  Berthelsdorf  starb:  seine  'Geistlichen 
GedichteV^  Bunzlau  1821  uö.,  gaben  der  Glseubigkeit  der  Brüdergemeinde 
neuen,  geschmackvollen  Ausdruck. 

Den  Einfluss  von  Novalis  erfuhr  auch  Ludwig  Tieck,  dem  die  roman- 
tisch gesinnten  Zeitgenossen  oft  die  nsechste  Stelle  nach  Gcethe  zugewiesen 
haben.  Auch  Tieck  war  von  der  Phantasie"^  beherrscht,  wie  Novalis;  auch 
er  sah  im  Mserchen  die  hcechste  Dichtart.  Aber  er  wandte  sich  der  heiteren 
Lebensauffassung  zu,  und  wenn  ihn  zeitweise  das  Schauerliche  anzog,  ja 
überwältigte,  so  überwog  doch  weitaus  bei  ihm  die  Ironie,  ein  Begrifif,  den 
schon  F.  Schlegel  hoch  gestellt*^*  und  den  speeter  Tiecks  Yerehrer  Karl 
Wilhelm  Ferdinand  Solger  ^^  ausführlich  erörterte.     Tiecks  Lebensumstände  ^^^ 


Tieck    itn    wieder.     Vollständiger    Abdruck    bei    Eaich  (Anm.  5.5).  60)  LB.  2,  1409. 

61)  Daraus  LB.  2,  1411.  62)  LB.  2,  1417.  63)  Ihr  Walten  im  Traum   stellt  er 

vortrefilicb    dar:    LB.  2,    1395  fgg.  64)  Seine    Deutung    des    Wortes    schwankt:    als 

'stete  Selbstparodie'  enthält  die  Ironie  die  Forderung  'der  Künstler  müsse  sich  selbst  über 
sein  Hoechstes  erheben':  Haym  257  fgg.  65)  Geb.  zu  Schwedt  1780,  starb  er  als  Pro- 

fessor der  Liniversitiet  Berlin  1819.  'Erwin,  vier  Gesprseche  über  das  Schoene  und  die 
Kunst',  Berlin  1815.  'Solgers  nachgelassene  Schriften  und  Briefwechsel',  hg.  v.  Tieck  und 
Raumer,  Leipzig  1826,  II.  65a)  Rud.  Köpke ,  Ludwig  Tieck,   Erinnerungen  aus  dem 

Leben  des  Dichters  nach  dessen  mündlichen  und  schriftlichen  Mitteilungen,  Leipzig  1855,  II. 
Hier  auch  ein  chronologisches  Verzeichnis  seiner  Werke.     Briefe  an  L.  Tieck,   ausgewaehlt 


562  NEUIIOCIIDEUTSOJIE   ZEIT.         XIX  JAllJMl.  §  lüO 

waren  denen  von  Novalis  viclfacli  entgegengesetzt.  Er  war  geboren  zu  lierliii 
1773,  als  Sohn  eines  tüchtigen  Scilermeisters,  der  auch  schon  der  neuen 
Litteratur  seine  Aufmerksamkeit  schenkte.  An  CJa'thes  Götz  lernte  Tieck 
fast  lesen.  Auf  dem  Gymnasium  trat  bereits  Tiecks  Begabung  hervor,  welche 
seine  Lehrer  missbrauchten,  indem  sie  ihn  abenteuerliche  Geschichten  vollen- 
den oder  ganz  abfassen  liessen  und  diese  in  den  Druck  gaben.''"  Früh 
mischte  er  Ironie  ein  und  gefiel  damit  den  Berliner  Lesern  nur  um  so  mehr. 
So  kam  er  in  Verbindung  mit  dem  Buchhändler  Nicolai,  für  den  er  nament- 
lich die  von  Musa^us*^^  angefangene  Sammlung  der  Straussfcdern'  mit  Benutzung 
Iranza'sischer  Romane  weiter  führen  sollte.  Nicolais  Geschmack  befriedigte  er 
vollends  mit  der  selbstcrfundenen  Erztehlung  'Peter  Lebrecht,  eine  Geschichte 
ohne  Abenteuerlichkeiten'  1795/96,  worin  er  die  Siegwartschwärmerei  ver- 
spottete, freilich  auch  zugleich  Nicolais  Keisebeschreibungen  lächerlich  machte. 
Gleichzeitig  aber  stellte  Tieck  in  'Abdallah'  den  finstersten  Zweifel  an  der 
Weltordnung,  und  in  'William  Lovell'  die  Verführung  und  Zerstcorung  eines 
ursprünglich  edlen  Geistes  durch  die  dämonische  Einwirkung  eines  falschen 
Freundes  dar.*^^  Schon  war  ihm  das  Unzulängliche  und  Unbefriedigende  der 
Berliner  Aufkla3rung  deutlich  geworden.  Seine  Universitfctszeit,  die  er  1792 
bis  1794  in  Halle,  Göttingen  und  Erlangen  verlebte,  hatte  er  besonders  dazu 
benutzt,  sich  mit  Shakespeare  und  seiner  Zeit,  sowie  mit  Cervantes  vertraut 
zu  machen;  von  Don  Quixote  liess  er  spseter  eine  Übersetzung  erscheinen. *^^ 
Zunächst  aber  legte  er  in  die  Ma?rchen,  die  er  für  Nicolai  bearbeitete,  mehr 
und  mehr  Spott  auf  die  einseitige  Verstandesbildung,  so  dass  1  799  der  jüngere 
Nicolai  ihm  den  Verlag  aufsagte.  Für  die  volkstümlichen  Maerchen  hatte 
Tieck  meist  die  dramatische  Form  gewaehlt:  so  im  'Ritter  Blaubart,  ein 
Ammenmairchen  von  Peter  Lebrecht'  1797,^"  worin  er  indess  um  Seelen- 
malerei sich  bemühte;  'Der  gestiefelte  Kater  1797,  'Die  verkehrte  Welt,  ein 
historisches  Schauspiel'  1799,  'Prinz  Zerbino  oder  die  Reise  nach  dem  guten 
Geschmack,  gewissermassen  eine  Fortsetzung  des  gestiefelten  Katers',  Jena 
1799'^  ua.     In  Erzajhlungsform  war  'Die  denkwürdige  Geschichtschronik  der 

und  herausg.  von  K.  v.  Holtei,  Breslau  1864,  IV.  L.  Tiecks  Schriften,  Berlin  1828—46,  XX ; 
Novellen,  Breslau  1835—42,  XIV;  vollständige  Ausgabe,  Berlin  1852.  53,  XII.  Nachge- 
lassene Schriften,  hg.  von  R.  Köpke,  Lpz.  18.5.5,  II.  Tiecks  AVerke,  hg.  von  G.  L.  Klee, 
Leipzig  1892,  III.  66)    'Thaten    und   Feinheiten   renomirter  Kraft-    und  Knift'genies', 

Berlin  1790.  91,  II.  67)  §  155,   85.  68)  Abdallah   erschien  Berlin  1796,   Lovell 

ebd.  1795.    96    II.  69)  'Leben  und  Thaten  des  scharfsinnigen  Edlen  Don  Quixote  von 

La  Mancha',  Berlin   179'J— 1801,  IV.  70)  Zu  Berlin,  wie  die  folgenden.  71)  Daraus 


§  166  TIECK.     WACKENRODER.  563 

Schildbürger'  1796,  abgefasst.  Auch  die  dramatischen  Stücke  sind  übrigens 
Lesedichtung  und  nicht  aufführbar,  wenn  schon  spseter  Versuche  damit  ge- 
macht worden  sind:  im  gestiefelten  Kater  spielt  nicht  nur  dies  kluge  Tier, 
sondern  das  Publicum  selbst  mit  und  gibt  die  toerichten  Bemerkungen,  welche 
Tieck  in  Wirklichkeit  gebeert  zu  haben  behauptet,  sich  selbst  zum  Besten; 
in  Zerbino  singt  Wald  und  Gebüsch  und  selbst  die  Himmelsbläue,  was  be- 
greiflicherweise einen  Vertreter  der  Plattheit  zur  Verzweiflung  bringt. 

Wieder  sprang  Tieck  von  der  ironischen  Behandlung  der  älteren,  volks- 
tümlichen Litteratur  zum  Ernste  über,  diesmal  aber  nicht  zum  Schauerlichen, 
sondern  zur  Einfalt  und  Andacht.  Hierin  folgte  er  allerdings  dem  Vorgang 
eines  Jugendfreundes,  Wilhelm  Heinrich  Wackenroüer,  der  für  die  Kunst 
schwärmte,  aber  nach  dem  Willen  seines  Vaters  die  Rechtswissenschaft  stu- 
dieren musste :  ein  Zwiespalt,  in  dem  er  sich  so  verzehrte,  dass  er  1798, 
erst  26jährig,  starb.  Mit  Wackenroder  war  Tieck  von  der  Universität  Er- 
langen nach  Nürnberg  gewandert  und  es  erschien  den  Freunden  als  eine 
würdige  Aufgabe,  die  Denkmseler  der  altdeutschen  Malerei  und  Bildnerei 
wieder  zur  Geltung  zu  bringen,  wie  Goethe  den  Ruhm  der  altdeutschen  Bau- 
kunst erneuert  hatte.  Die  classische  Kunst,  welcher  Goethe  sich  seitdem  in 
Italien  ganz  zugewandt  hatte,  schloss  auch  Wackenroder  nicht  aus:  was  er 
aber  hauptsächlich  betonte,  war  die  Begeisterung,  die  völlige  Hingabe,  welche 
wie  dem  Künstler,  so  auch  dem  Beschauer  allein  gezieme.  'Ich  vergleiche 
den  Genuss  der  edleren  Kunstwerke  dem  Gebete',  sagt  er  in  den  'Herzens- 
ergiessungen  eines  kunstliebenden  Klosterbruders'; '^^  und  schon  die  Maske, 
welche  der  Verfasser  annahm,  zeigt  wiederum  die  Neigung  zur  katholischen 
Kirche,  welche  von  der  Litteratur  speeter  auf  die  Künstler  ^^  überging.  Auch 
für  Musik  besass  Wackenroder  ein  feines  Verständnis,  wie  die  aus  seinem 
Nachlass  von  Tieck  in  die  'Phantasien  über  die  Kunst"  1799  aufgenommenen 
Bemerkungen  beweisen.  Tieck  selbst  gab  seinen  Gedanken  über  das  Leben 
in  der  Kunst  eine  erzaehlende  Form  in  'Franz  Sternbalds  Wanderungen', 
Berlin  1798:  er  lässt  darin  einen  Schüler  Dürers  nach  den  Niederlanden  und 
nach  Rom  reisen;  doch  blieb  die  Erztehlung  unvollendet.  Zahlreiche  Lieder 
sind    eingemischt,    darunter   ein   romantischer  'Arion';  ^*    das  Wandern   wird 

LB.    2,    1399.  72)    Berlin    1797,   S.    158.  73)    Von    den    deutschen    Künstlern, 

welche  besonders  nach  den  Freiheitskriegen  sich  in  Rom  zusammen  fanden,  traten  Overbeck 
na.  zur  katholischen  Kirche  über,  weil  sie  glaubten,  das»  die  Kunst  der  alten  Maler  in  der 
Zugehoerigkeit  zu  dieser  Kirche  begründet  gewesen  wtere.  Gegen  diese  und  sehnliche 
Ansichten  richtet  sich  Goethes  Aufsatz  §  160,  103.         74)  LB.  2,  1388.     Auch  Novalis  hat 


564  NEUUOCllDEUTSCJIE  ZEIT.        XIX  JAIIKII.  §  lüO 

gepriesen ,  das  Waldhorn  in  der  Mondnacht  kehrt  liior  wie  sonst  bei  den 
Romantikern  oft  wieder.'^  Sprache,  Versbau  und  Reim  sind  nachlässig  be- 
handelt, da  Tieck  den  ersten  Wurf  meist  ungoändert  beibehielt. ^"^ 

Diese  künstlerische  Freiheit  behauptete  Tieck  auch  in  den  ernsten  roman- 
tischen Dramen,  welche  er  seit  dem  Zusammenleben  mit  den  Freunden  in 
Jena  1799  dichtete.  In  seiner  Genovefa"  eignete  er  sich  aus  der  damals 
erst  teilweise  veröffentlichten  Tragoedie  des  Malers  Müller^®  einen  Zug  an,  das 
schwermütige  Lied  Golos.  Das  Stück  wird  eröffnet  und  beschlossen  durch 
den  h.  Bonifacius."  Noch  bunter  ist  'Kaiser  Octavianus',""  ebenfalls  nach 
einem  Yolksbuche.  Zu  Anfang  erscheint  die  Romanze  mit  ihren  Eltern 
Glaube  und  Liebe,  ihren  Dienern  Scherz  und  Tapferkeit,  und  spricht  die  be- 
rühmten Worte,  welche  bald  als  Programm  der  Romantiker  galten:  'Mond- 
beglänzte  Zaubernacht,  die  den  Sinn  gefangen  hält;  wundervolle  Märchenwelt, 
steig'  auf  in  der  alten  Pracht!'  Die  Geschichte,  wmc  zwei  Kinder  der  mit 
Unrecht  verstossenen  Kaiserin,  das  eine  von  einem  Loewen,  das  andere  von 
einem  Affen  geraubt  werden,  konnte  freilich  zum  guten  Teil  nur  erzajhlend 
dargestellt  werden;  als  Gegengewicht  gegen  die  Einfalt  und  Schwärmerei  hat 
Tieck  allerlei  hausbackene  Gesellen,  Bauern  als  Erzieher  der  Knaben  u.  a. 
gleichfalls  auftreten  lassen.  Die  Form  schweift  nach  allen  Richtungen  aus: 
neben  Prosa  auch  Jamben,  Sonette,  Stanzen,  zum  Teil  assonierend.'*'  Mit 
altdeutschen  Studien  beschäftigt,  deren  Ergebnisse  sich  nfeher  an  die  Quellen 
halten  sollten,  war  Tieck  in  Deutachland  und  Italien  umhergereist;  in  München 
erfasste  ihn  ein  schweres  Gichtleiden,  in  dessen  Folge  er  zeitlebens  eine  ge- 
bückte Haltung  behielt.  Schon  1803  waren  ^^  seine  'Minnelieder  aus  dem 
schwtebischen  Zeitalter'  erschienen,  welche  die  alten  Texte  nur  verwischten,  aber 
durch  die  begeisterte  Einleitung  viel  Teilnahme  erweckten.  xVnderes,  wie  das 
Fragment '^^  aus  'Koenig  Rother  1808  zeigte  ein  sehr  mangelhaftes  Verständnis 
der  alten  Sprache.    Tiecks  Trauendienst  oder  Geschichte  und  Liebe  des  Ritters 

im  Ofterdingen  die  Sage  in  Prosa  bebandelt.  75)  LB.  2,  1383  fgg.  76)  Absichtlicb 

und    ironiscb    sind    die  Mängel  in  dem  Spottsouett  LB.  2,  1392.  77)  'Leben  nnd  Tod 

der  heiligen  Genoveva':  in  'Romantische  Dichtungen',  Jena  1799.  1800,  II;  hier  auch  die 
Tragoedie  'Leben  nnd  Tod  des  kleinen  Rotkäppchens';  sowie  die  Erzsehlung  'Der  getreue 
Eckart  und  Tannhäuser',  woraus  LB.  2,  1122  fgg.  78)  §  159,  19.  79)  Er  stellt  sich 

selbst  vor  mit  den  Worten  'Ich  bin  der  wackre  Bouifacius'.  Als  Tieck  das  Stück  Goethe 
vorlas,  streichelte  dieser  den  Kopf  seines  neunj;ehrigen  Sohnes  und  sagte  'Nun  was  meinst 
du  zu  all  den  Farben,  Blumen,  Spiegeln  und  Zauberkünsten,  womit  unser  Freund  uns  unter- 
haben hat?"  Küpke,  Tieck  1,  260.  80)  'Lustspiel  in  zwei  Teilen',  Jena  1804. 
81)  Assonierende  Romanzen  vom  Daeumchen  LB.  2,  1392.  82)  Zu  Berlin.  83)  In  der 


§  166  TIECK.  565 

und  Sängers  Uli'ich  von  Licbtenstein'  erschien  1812.^^  Auch  die  Nibelungen 
hatte  er  übersetzt;  doch  war  ihm  F.  H.  von  der  Hagen  mit  seiner  Erneuung 
1807  zuvorgekommen.  Seit  der  Rückkehr  nach  Deutschland  1806  lebte  Tieck 
meist  in  der  Naehe  von  Frankfurt  a.  0.,  wo  mehrere  Edelleute  ihn  und  seine 
Familie  bei  sich  aufnahmen.  1819  siedelte  er  nach  Dresden  über  und  wurde  hier 
1825  als  Dramaturg  ^^  angestellt,  wirkte  aber  besonders  durch  seine  berühmten 
Vorlesungen  von  Theaterstücken  auf  einen  künstlerisch  angeregten  Kreis.  ^^ 

Einen  Teil  seiner  romantischen  Schriften  —  Mserchen,  Erzsehlungen  und 
Schauspiele  —  hatte  Tieck  1812  — 17  im  Phantasus^''  vereinigt  und  sie  in 
eine  Rahmenerzsehlung  gefasst,  welche  an  das  Zusammenleben  mit  den  Freun- 
den in  Jena  erinnern  sollte.  Unter  den  Mserchen  war  ihm  das  liebste  'Der 
blonde  Eckbert',  worin  zuerst  das  Wort  Waldeinsamkeit  vorkam  und  die 
Zeitgenossen  bezauberte.  Dieser  Schauer  ist  für  Tiecks  selbsterfundene  Mser- 
chen  ein  stets  wiederkehrender  Reiz:  nicht  eine  einfache  Sittenlehre,  wie  das 
Volksmaerchen  sie  gibt,  sondern  dumpfe,  unbestimmte  Gefühle  wollen  sie  mit- 
teilen.    Mit  dem  Tortunat'^^  schloss  er  1815  seine  romantische  Dichtung  ab. 

Litterarhistorische  Arbeiten  beschäftigten  ihn  zuneechst,  in  denen  er  nament- 
lich ältere,  bereits  verschollene  Dichter,  die  er  zum  Teil  noch  gekannt  hatte, 
der  Litteratur  wieder  zuführte.  So  hatte  er  sich  an  der  Herausgabe  der 
Werke  des  Malers  Müller  1811  beteiligt,  so  veröffentlichte  er  zu  BerUn  1826 
H.  V.  Kleists  gesammelte  Schriften,  1828  die  von  J.  M.  R.  Lenz,"*'-*  1831 
F.  L.  Schroßders  dramatische  Werke. ^°  Die  Insel  Felsenburg  erneute  er 
1827;^^  Stücke  von  H.  Sachs  bis  auf  Lohenstein  als  'Deutsches  Theater' 
1817.^^  Die  von  Schlegel  nicht  übersetzten  Dramen  Shakespeares  übertrug 
er  mit  Hilfe  seiner  Tochter  und  des  Grafen  Baudissin  Berlin  1826,  1830  bis 
1833,  IX,  wobei  freilich  die  Yorzüge  der  Schlegelschen  Übersetzung  nicht 
erreicht  wurden.  Schon  1798  hatte  er  aus  Ben  Jenson  übersetzt;  1811  Hess 
er  'Altenglisches  Theater'  erscheinend^  und  1823^^  'Shakspears  Yorschule'. 

Seit  1821  veröffentlichte  Tieck  eine  Reihe  von  Novellen,^^  worin  er  die 
ehemalige   Schwärmerei   und   gesuchte  Einfalt   völlig  aufgab,    dafür  aber  die 

Einsiedlerzeitung  von  Arnim.  84)   Zu   Tübingen.  85)   'Dramaturgische    Blätter', 

Berichte  aus  den  J.  1821 — 24,  erschienen  Breslau  1826,  II  und  nochmals  in  den  'Kritischen 
Schriften',  Leipzig  1848.  52,    IV.  86)  Hermann  Frhr.  von  Friesen,  'L.  Tieck,   Erin- 

nerungen eines  alten  Freundes  aus  den  J.  1825 — 42',  AVien  1871,  II.  87)  Berlin,  III. 

88)  'Ein    Msrchen    in    fünf   Aufzügen'.     Daraus  LB.  2,    1133   fgg.  8!))    Berlin,    III. 

§  159,  35.  90)  Berlin,  IV ;  vgl.  §  163,  18.  91)  VI.  §  134,  18.  92)  Berlin,  II. 

93)   Berlin,    II.  94)    Leipzig.  95)    Anm.   65a.     J.  Minor,   Tieck    als   Novellen- 


566  NEUIIOUIIDEUTÖCJIE   ZEIT.        XIX  JAIIKII.  i^  l(j(; 

Ironie,  welche  entgegengesetzte  Ansichten  zu  "Worte  kommen  liisst,  vielseitig 
und  behaglich  ausübte.  Er  behandelte  einerseits  litterarhistorischc  Stoffe, 
schilderte  z.  B.  »Shakespeares  Entwickelung  in  'üichterlcben'  1826 — 31,  das 
Ende  des  Camocns  in  'Der  Tod  des  Dichters'  1834,  anderen  Teils  aber 
crza^hlte  er  eigene  Erlebnisse,  so  die  Theatererinnerungen  aus  seiner  Jugend 
in  'Der  junge  Tischlermeister'  1836;  oder  er  nahm  wie  in  'Der  Wasser- 
mensch' 1834  Stellung  gegen  die  jungdeutsche,  ihm  wie  der  Romantik  über- 
haupt feindliche  Litteraturstra^mung.  Groesseren  Umfang  gab  er  dem  'Auf- 
ruhr in  den  Cevennen',  wovon  er  jedoch  nur  den  ersten  TeiP'"'  1826  vollendete, 
und  wieder  seinem  letzten  Werk  'Vittoria  Accorombona",  Berlin  1840,  IL 

Im  naechsten  Jahre  verliess  er  Dresden,  wo  ihm  Frau  und  Tochter  ge- 
storben waren,  um  dem  Rufe  Friedrich  Wilhelms  IV  folgend,  fortan  in  Berlin 
oder  Potsdam  zu  leben.  Er  beriet  den  Koenig  bei  seinen  Theaterversuchen, 
welche  auch  Tiecks  eigene  Stücke  auf  die  Bühne  brachten,  freilich  ohne 
ausserhalb  des  Hofes  Beifall  zu  finden.  Seit  1848  völlig  zurückgetreten,  starb 
Tieck  in  seiner  Vaterstadt  1853. 

In  Berlin  war  er  mit  Henrich  Steffens  wieder  zusammengetroffen, 
dessen  Autobiographie  'Was  ich  erlebte'"^  auch  in  die  Geschichte  der  roman- 
tischen Schule  manchen  Einblick  gewajhrt.  Er  war  aus  Dänemark  nach 
Deutschland  gekommen,  wie  vor  ihm  Baggcsen*"*  und  nach  ihm  Oehlen- 
schla3ger.^^  Geboren  1773  zu  Stavanger  in  Norwegen,  ward  er  1796  Privat- 
docent  in  Kiel,  1804  Professor  der  Mineralogie  in  Halle,  dann  in  Breslau, 
zuletzt  in  Berlin,  wo  er  1845  starb.  Am  Feldzuge  1813  hatte  er  als  Frei- 
williger Teil  genommen.  Seine  Novellen  brachten  den  Norden  Deutschland 
nteher:  in  das  vorige  Jahrhundert  führten  'Die  Familien  Walseth  und  Leith';  '""^ 
die  eigenen  Erlebnisse  stellte  er  dar  im  Novellencyclus  'Die  vier  Norweger'.'"' 
Er  suchte  Schellings  Naturphilosophie  durchzuführen;  aber  den  katholisieren- 
den  Neigungen  stellte  er  seine  'Confession,  Wie  ich  wieder  Lutheraner  wurde 
und  was  mir  das  Luthertum  ist'  entgegen.'"^ 

Ein  anderer  Freund  Tiecks,  der  zur  katholischen  Kirche  übergetreten 
war,  wandte  sich  der  Kunstgeschichte  des  Mittelalters  zu.  Karl  Fr.  L.  F. 
VON  Rumohr  '"^  gebeerte    einer   schleswigholsteinischen  AdelsfamiHe    an ,    war 

dichter:  Akad.  Blätter  I,  129  fgg.,  193  fgg.  96)  Daraus  LB.  3,  1151.  97)  Breslau 

1840 — 44,  X.  H.  Steffens,  ein  Lebensbild  von  R.  Petersen,  aus  dem  Daenischen  übersetzt  von 
A.  Michelsen,  Gotha  1884.  98)  §  102,  36.  99)  §  1G8,  30.  100)  Berlin  1816. 

IT,  III.     Daraus  LB.  3,  1295  fgg.  101)  Breslau  1827.  28,  VI.  102)  Breslau  1831. 

103)  li.  W.  Schulz,    K.  Fr.  v.  Kumohr,    sein    Leben    und   seine    Schriften,  Leipzig  1844. 


§  167       STEFFENS.     RUMOHR.     JÜNGERE  ROMANTIKER.  567 

aber  auf  deren  Besitzung  bei  Dresden  1785  geboren;  er  starb  hier  1843, 
nachdem  er  sein  Leben  meist  auf  Reisen  zugebracht  hatte.  Seine  'Italieni- 
schen Forschungen' ^°*  helhen  insbesondere  die  Geschichte  der  äUeren  Malerei 
auf.  Launig  und  gelehrt  behandelte  er  die  Tafelgenüsse,  denen  auch  Fried- 
rich V.  Schlegel  zugethan  war,  in  seinem  'Geist  der  Kochkunst'**'^  1822  und 
gab  in  der  'Schule  der  Hceflichkeit  für  Alt  und  Jung''*'*'  Lebensregeln  für 
die  verschiedenen  Stände.  Weniger  befriedigen  die  seinem  Gönner  Friedrich 
Wilhelm  IV  gewidmeten  'Deutschen  Denkwürdigkeiten  aus  alten  Papieren','*''' 
eine  sittenschildernde  Erzeehlung  aus  der  Zeit  nach  dem  siebenja3hrigen  Kriege. 

§  167. 

Die  romantische  Lehre,  welche  der  Phantasie  und  dem  Gefühl  einen 
so  freien  Spielraum  Hess  und  die  Gesetze  des  Yerstandes  ebenso  wie  die 
Anforderungen  der  strengen  sachgema3ssen  Form  so  weit  zurückdrängte,  musste 
bei  der  Jugend  begeisterte  Aufnahme  finden.  Schon  als  die  Brüder  Schlegel 
mit  Novalis  und  Tieck  sich  1799  in  Jena  zusammenfanden,  traten  jüngere 
Dichter  ihnen  nahe,  aus  denen  sich  ein  zweiter  Kreis,  die  jüngere  romantische 
Schule  bildete.  Diese  jüngeren  Romantiker  waren  mehr  productiv  als  kritisch 
beanlagt;  sie  waren  als  Dichter  wenigstens  den  Brüdern  Schlegel  überlegen. 
Aber  sie  mischten  noch  mehr  als  die  älteren  Romantiker  "Willkürliches  und 
Seltsames  ein;  ihre  Dichtwerke  haben  wirkliche  Schoenheiten,  aber  auch  viel 
Abgeschmacktes.  Sie  unterschieden  sich  von  jenen  älteren  auch  durch  die 
Vorbilder,  welche  sie  bewunderten  und  nachahmten.  Dehnten  die  Brüder 
Schlegel  ihre  Vorliebe,  ihre  Forschung  auf  die  Litteratur  vieler  alter  und 
neuerer  Völker  aus,  hatte  Tieck  seinen  Lesern  neben  den  altdeutschen  Dich- 
tern auch  Shakespeare  und  Cervantes  zugänglich  gemacht,  so  beschränkte 
sich  die  jüngere  Schule  auf  die  deutsche  Volkspoesie.  Hier  drangen  sie  denn 
auch  tiefer  ein  als  jene,  und  im  innigen  Bund  mit  ihnen  standen  die  ersten 
Meister  der  deutschen  Altertumswissenschaft. 

Auch  für  die  jüngeren  Romantiker  gab  es  einen  Sammelplatz,  der  durch 
Lage  und  Umgebung  ganz  ihren  Wünschen  entsprach,  Heidelberg,  wo  die  an 
Baden  gefallene  Universitset  mit  glänzenden  Hoffnungen  neubegründet  wurde.  ^ 


104)  Berlin  1826—31,  III.   Daraus  LB.  3,  1345  fgg.  105)  Das  Buch  erschien  unter  dem 

Namen    seines  Koches,   Josei^h   Kcenig,    Stuttg.  n.  Tüb.  2  1832.  106)    Stuttgart    1834. 

LB.  3,  1351  fg.  107)  Berlin  1832,  IV. 

§    lo7.      1)  K.  Bartsch,    Romantiker   und   germanistische  Studien  in  Heidelberg  1804 — 8. 
(Akad.  Rede)  Heidelberg   1881.     H.  W.  B.  Zimmer     J.   G.   Zimmer   und    die    Romantiker, 


568  NEUIIOCIIDEUTSCJIE   ZEIT.         XIX  JAIIlllI.  §  167 

liier  siedelte  Brentano  sich  1804  an,  1805  folgte  Arnim,  1806  Görres. 
Arnim  und  Brentano  Hessen  zu  Heidelberg  1806 — 8  'Des  Knaben  Wunder- 
horn,  alte  deutsche  Lieder'  erscheinen,  in  drei  Bänden,  welchen  noch  ein 
Anhang  Kindorlieder  beigegeben  war.-  Die  Sammlung,  mit  Liebe  und 
Fleiss  zu  Stande  gebracht,  übertraf  an  Reiclitum  weif  was  Herder^  und 
Andere*  von  deutscher  Volksdichtung  zusammengestellt  liatten;  allerdings 
hatten  die  Herausgeber  wie  Herder  auch  solche  Lieder  bekannter  Dichter 
aufgenommen,  welche  in  das  Volk  übergegangen  waren.  Ga;the,  dem  des 
Knaben  Wunderhorn  zugeeignet  war,  begrüsste  die  Sammlung  mit  kurzer, 
treffender  Beurteilung  der  Hauptlieder ^  und  wünschte,  dass  sie  in  jedem 
Hause,  wo  frische  Menschen  wohnen,  zu  finden  wsere.  Er  erkannte,  wie  ge- 
waltig das  Buch  die  Lust  am  Volksgosang  verbreiten  und  neu  beleben  werde; 
die  tiefste  Einwirkung  auf  die  lyrische  Dichtung  sollte  sich  anschliessen.  Da- 
gegen kehrte  J.  H,  Voss*^  die  philologische  Seite  liervor  und  machte  es  den 
Herausgebern  zum  harten  Vorwurf,  dass  sie  einzelne  Lieder  ergänzt  oder 
sonst  verständlicher  gemacht  hatten.  Brentanos  Sammlungen,  welche  für  die 
Volkslieder  zu  Grunde  gelegen  hatten,  dienten  auch  für  die  begeisterte  Schrift 
von  Görres  'Die  teutschen  Volksbücher ,  nähere  Würdigung  der  scha'nen 
Historien-  "Wetter-  und  Arzneybüchlein,  welche  theils  innerer  Werth,  theils 
Zufall,  Jahrhunderte  hindurch  bis  auf  unsere  Zeit  erhalten  hat',  Heidelberg 
1807.'  Die  Volksbücher,  auf  welche  schon  A.  W.  Schlegel  hingewiesen,'» 
wovon  F.  Schlegel  bereits  eines  ^  erneuert  hatte,  erschienen  nun  als  gesunde, 
durch  die  Jahrhunderte  fortgeführte  Kost  des  Volkes,  der  wechselnden  Schrift- 
stellerei  der  Gelehrten  an  Wert  überlegen.  Endlich  gab  Arnim  mit  den 
Freunden   und   anderen  Gleichgesinnten^   die  'Zeitung  für  Einsiedler'  heraus, 


Frankfurt  a.  M.  1888.  2)  M819.     »Berlin  1846  (in  4  Bden,  aus  Arnims  Nachlass  ver- 

mehrt).    Neue  Ausgabe  von  G.  Wendt,  Berlin  1873,  II;    Neubearbeitung  von  A.  Birlinger 
und  W.  Crecelins,    Wiesbaden  1874.  7G,    II.  3)  §  157,  34.  4)  Arnim  selbst  in 

der  Einleitung  'Von  Volksliedern,    an  Herrn  Kapellmeister  Reichardt'  nennt    noch  Elwert, 
Ungedruckte   Reste   alten    Gesanges,  Marburg    1781.  5)   Jen.  Allg.  Lit.  Zeitung   180(3. 

Über  diese  und  andere  Stimmen  der  Zeitgenossen  s.  H.  Hoffmann,  Weimar.  .Jahrb.  II,  261 
bis  282.  6)  im  Stuttgarter  Morgenblatt  1808.  7)  Daraus  LB.  3,  1171.    Ebd.  1187 

die  Einleitung   zu  den  Altteutschen  Volks-   und  Meisterliedern  von  Görres,    Frankf.  1817. 
7  a)  In  den  Berliner  Vorlesungen  §  166,  26.  8)  §  90,  238.  Die  Neubearbeitung  ist  von 

Dorothea    Schlegel  -vorsenommen    worden.      Über    die    zusammenfassende    Erneuerung    der 
Volkslieder   durch    Simrock  s.  §  90,    223.  9)  Ausser  den  Brüdern  Schlegel  und  Tieck 

waren  auch   die  Brüder  Grimm,    Uhland   und  Kerner   beteiligt:    der  letztgenannte  lieferte 


§  1G7  BRENTANO.  569 

welche  freilich  nur  von  April  bis  August  1808  erschien'"  und  hierauf  als 
'Troest  Einsamkeit' zusammcngct'asst"  wurde.  Noch  1808  verliessen  die  Freunde 
Heidelberg;  die  Feindschaft  des  alten  J,  II.  Yoss  und  seiner  Anhänger  ver- 
trieb sie.  Ein  letzter  Kampf  entspann  sich  über  das  Sonett:  auf  eine  zier- 
liebe Verteidigung  durch  Arnim  ^-  antwortete  'der  Karfunkel-  oder  Kling- 
klingel-Almanach'  von  Baggesen  und  Heinrich  Yoss,  1810.'^ 

Die  eigenen  Dichtungen  der  Freunde  sind  sehr  verschieden,  entsprechend 
ihren  Lebensverhältnissen.  Clemens  Maria  Brentano,'*  dessen  Mutter'^  zu 
Goethe,  dessen  Grossmutter  Sophie  von  La  Roche '^  zu  Wieland  Jugendver- 
hältnisse gehabt  hatten,  war  zu  Ehrenbreitstein  1778  geboren  und  verlebte 
bei  der  Grossmutter  seine  Kinderjalire.  In  der  kaufmännischen  Lehre  bei 
seinem  Vater  in  Frankfurt  und  bei  einem  Geschäftsfreund  in  Langensalza 
zeigte  er  durch  ausgelassene  Streiche  seine  Abneigung  gegen  diesen  Beruf. 
Als  der  Tod  seines  Vaters  1797  ihn  in  Freiheit  und  in  den  Besitz  eines  aus- 
reichenden Vermoegens  setzte,  suchte  er  in  Jena  als  Student  sich  den  Brü- 
dern Schlegel  und  Tieck  anzuschliessen.  Für  sie  nahm  er  Partei  durch  seine 
'Satiren  und  poetische  Spiele  von  Maria'  I,  Leipzig  1800,"  worin  er  Kotzebues 
Trauerspiel  Gustav  "Wasa  in  der  Weise  Tiecks  parodierte.  Bedeutender,  aber 
von  ihm  spseter  nicht  anerkannt,'^  ist  sein  Verwilderter  Roman  Godwi  oder 
das  steinerne  Bild  der  Mutter  von  Maria', '^  eine  Nachahmung  der  Lucinde 
und  des  Lovell.  In  dem  formlosen  Werk  besitzen  nur  die  eingemischten 
Lieder  Wert,  deren  bald  lautjubelnde,  bald  tiefschwermütige  Toene  bei  Heine, 
Lenau,  Geibel  widerklingen,  wsehrend  andere  die  Volkslieder  aus  der  spsete- 


wohl  auch   die  Gedichte  von  Hölderlin.  10)  Heidelberg.  11)  Mit  dem  Nebentitel 

'Alte  und  neue  Sagen  und  Wahrsaguncren ,  Geschichten  und  Gedichte.'  Neue  Ausgabe  von 
F.  Pfaff,  Freiburg  i.  B.  u.  Tübingen  1883.  12)  Als  Beylage  zur  Zeitung  für  Einsiedler: 

'Geschichte  des  Herrn  Sonet  und  des  Fräuleins  Sonete,  des  Herrn  Octav  und  des  Fräuleins 
Terzine,  eine  Komanze  in  90  -\-  .3  Soneten'.  13)  §  162,  39.  14)  Biographie  von  seinem 
Bruder  Christian  in  den  'Gesammelten  Schriften'  von  Gl.  Br.  Frankfurt  a.  M.  1852,  IX;  die 
zwei  letzten  Bände  enthalten  den  Briefwechsel.  Ausführlich :  J.  B.  Diel,  Gl.  Br.  Ein  Lebens- 
bild nach  gedruckten  und  ungedruckten  Quellen.  Ergänzt  und  hg.  von  W.  Kreiten,  Frei- 
burg i.  B.  1877.  78,  II.  15)  §  160.  vor  Anm.  51.  16)  §  153,  2.  38.  '"  17)  Neu- 
druck von  Minor  in  den  Dtsch.  Litt.-denkm.  l.ö,  Heilbronn  1883.  18)  Er  kaufte  die 
Exemplare  auf,  um  sie  zu  vernichten.  19)  Bremen  1801.  2,  II.  Der  erste  Band  enthält 
verworrene  Briefe,  die  sich  der  vorgebliche  Herausgeber  im  II.  von  dem  Helden  erklieren 
lässt:  'dies  ist  der  Teich,  in  welchen  ich  I  S.  206  falle'.  Am  Schlüsse  stirbt  der  Dichter 
Maria;  ein  Freund  Brentanos  schilderte  noch  in  einer  Art  Nachruf  dessen  Wesen  und  die 
Lebensweise  der  Freunde  in  Jena,  die  sich  in  der  Verehrung  für  Goethe  zusammengefunden 


570  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XIX  JAHRH.  §  1G7 

ren  Sammlung  sclion  bekannt  machen.  Die  Yolkssage  von  verführerischen 
Nixen  verband  Brentano ''''  mit  dem  Lurlcifelsen  und  seinem  berühmten  Echo. 
Gleichzeitig  richtete  Brentano  Liebesgodiclite  an  Sophie  Mereau,-'  eine  Dicli- 
tcrin  und  Schüknin  Schillers,  welche  ihre  Ehe  loeste,  um  sich  1803  mit 
Brentano  zu  verbinden,  aber  schon  1806  starb;  von  einer  zweiten  Frau, 
welche  noch  unbändiger  war  als  er  selbst,  Hess  er  sich  scheiden.  1808  begab 
er  sich  zu  seinem  Schwager  Savigny  nach  Landshut  und  folgte  diesem  auch 
1814  nach  Berlin.  Seine  lyrische  Dichtung  setzte  er  fort  in  den  zum  Teil 
assonierenden  Romanzen  vom  Rosenkranz,-^  worin  er  das  Studentcnleben  zu 
Bologna  um  1300  schilderte.  Als  Dramatiker  hatte  er  1804-^  das  Lustspiel 
Toncc  de  Leon'  erscheinen  lassen ,  welches  spanische  Verwickelung  mit 
"Witzen  in  Shakespeares  Weise  durchsetzte,  aber  bei  der  Aufführung  in  Wien 
keinen  Beifall  fand.  Ebenso  wenig  Eindruck  machte  sein  historisch-roman- 
tisches Drama  'Die  Gründung  Prags' ^^  und  mehrere  Festspiele  auf  die 
Freiheitskriege,^^  mit  volksliederartigen  Einlagen,  aber  wegen  seiner  Wort- 
und  Ycrsspiele  doch  nicht  volksmassig.  Mehr  Anklang  fanden  die  Erza;h- 
lungen  Brentanos.  Zwar  'Des  Uhrmachers  Bogs^^  wunderbare  Geschichte', 
Heidelberg  1807,  ist  eine  oft  fast  unverständliche  Satire;  allgemeiner  hält 
sich  die  auf  dasselbe  Ziel  gerichtete  'Der  Philister  vor,  in  und  nach  der  Ge- 
schichte'.-' Absichtliche  Einfalt  nach  dem  Muster  altdeutscher  Erzaehlungen-* 
herrscht  in  dem  Bruchstück  'Aus  der  Chronica  eines  fahrenden  Schülers';  -^ 
sowie  in  der  tieftraurigen  'Geschichte  vom  braven  Kasperl  und  der  schoenen 
Annerl',^"  welche  zeigt,  wie  gerade  das  übertriebene  Ehrgefühl  der  Armen 
zum  Yerbrechen  und  Verderben  führt.  Der  Volksaberglaube,  welcher  hier 
grausig  hervortritt,    verbindet    sich   mit  lustiger  Erfindung  in  'Die  mehreren 

hatten.  20)  'Zu   Bacharach    am    Rheine   wohnt'    eine    Zauberin'.  21)   Ihr   bisher 

stets  falsch  angegebenes  Geburtsjahr  1771  ergibt  sich  aus  dem  Nachruf:  Brentanos  Briefe 
1,  41.  22)  Sie  erschienen  erst  in  den  Ges.  Schriften.  23)  Zu  Güttingen.  24)  Pesth 
1815.  25)  Darunter  'Victoria  und  ihre  Geschwister,  mit  fliegenden  Fahnen  und  bren- 

nender Lunte.  Ein  klingendes  Spiel',  Berlin  1817.  Bei  der  Aufführung  in  Wien  erlaubte 
die   Censur    nicht    einmal    die   Feinde    als   Franzosen    zu    bezeichnen.  26)  Der  Name 

vereinigt  die  Anfangs-  und  Endbuchstaben  von  Brentano  und  Gürres,  welche  hier  zusammen 
arbeiteten.  Der  etwas  gesuchte  Witz  erhellt  schon  aus  der  Fortsetzung  des  Titels  .  .  'wie 
er  zwar  das  menschliche  Leben  längst  verlassen,  nun  aber  doch,  nach  vielen  musicalischen 
Leiden  zu  Wasser  und  zu  Lande,  in  die  bürgerliche  Schützengesellschaft  aufgenommen  zu 
werden  Hoffnung  hat'.  Die  eingelegte  Schilderung  einer  Concertmusik  ist  wahrhaft  schwindel- 
erregend. 27)  Berlin  1814,  aber  schon  früher  verfasst.  28)  Brentano  erneuerte 
Wiekrams  Goldfaden,  Heidelb.  1809:  §  107,  31.         29)  Erschienen  1818.         30)  Berlin  1817. 


§  167  BRENTANO,  GÖRRES,  ARNIM.  571 

Wehmüller  und  ungarisclien  Nationalgesich ter'.^'  Spajter  dichtete  Brentano 
nur  noch  Mserchen,^^  zum  Teil  nach  dem  Pentamerone  des  Neapolitaners  Ba- 
sile,  aber  mit  satirischen  Bezügen  auf  die  Zeit,  besonders  die  Litteratur;  den 
Erlces  daraus  bestimmte  er  zu  frommen  Zwecken.  In  Berlin  hatte  Brentano 
sich  bekehrt;  sein  ganzes  Leben,  dessen  Leere  der  Berufslose  schon  empfun- 
den hatte,  erschien  ihm  nun  verdammlich.  Sein  boshafter  Witz,  der  sich 
namentlich  darin  gefiel,  die  Frauen  durch  phantasierte  Geschichten  zu  rühren 
und  dann  auszulachen ,  hatte  durch  Luise  Hensel  ^^  eine  Zurückweisung 
erfahren,  welche  ihn  zur  völligen  Unterwerfung  unter  geistliche  Zucht  führte. 
1817 — 24  lebte  er  meist  zu  Dülmen  in  Westfalen  am  Bett  einer  kranken 
Nonne,  deren  Visionen  über  die  Geschichte  der  Jungfrau  Maria  er  aufzeich- 
nete;^* dann  in  München.  Er  starb  in  Aschaffenburg  bei  seinem  Bruder 
Christian. 

In  München  war  Joseph  von  Görres^^^  wieder  mit  ihm  zusammenge- 
troffen. 1776  zu  Coblenz  geboren  und  wie  Brentano  von  der  einen  Seite  her 
aus  Italien  stammend,  hatte  er  sich  zuerst  für  die  franzoesische  Revolution 
begeistert,  war  dann  aber  für  die  Erhaltung  deutschen  Wesens  am  Rhein 
feurig  eingetreten,  besonders  durch  seinen  'Rheinischen  Mercur'  1814.  Damals 
ward  ihm  das  Unterrichtswesen  in  der  Rheinprovinz  anvertraut;  bald  aber 
zeigte  sich  sein  heftiges  Widerstreben  gegen  die  preussischen  Einrichtungen. 
Nach  dem  Erscheinen  seiner  Schrift  'Teutschland  und  die  Revolution'  1819 
floh  er  nach  Strassburg  und  vertrat  seitdem  die  Forderungen  der  Vorkämpfer 
in  der  katholischen  Kirche.^^  1826  nach  München  an  die  Universitaet  be- 
rufen, starb  er  hier  1848. 

Als  Dichter  stand  nseher  zu  Brentano  dessen  Schwager  Ludwig  Achim 
VON  Arnim.  Ein  durchaus  fester,  edler  Character,  verkörpert  er  die  nord- 
deutsche, die  protestantische  Romantik:  Brentanos  warme  Phantasie  hat  in 
ihm   den   springenden  Humor  zur  Seite.     Geboren  zu  Berlin  1781,    starb  er 


31)    Erschienen    1817.  32)    'Gockel,    Hiukel,    Gakeleia'    Frankfurt    a.  M.    1838,    und 

nach  seinem  Tod  erschienen,  'Rothkehlchens,  Liebseelchens  Ermordung  und  Begraehnis', 
Zürich  1843;  'Die  Maerchen  des  Clemens  Bi'entano',  hg.  von  Guido  Görres,  Stuttg.  u.  Tüb. 
1847,  II.  33)  1798 — 1876  ;    Tochter    eines   protestantischen  Geistlichen   aus  Linura  in 

der  Mark,  trat  sie  spseter  zur  katholischen  Kirche  über  ;  ihre  geistlichen  Lieder  fanden  viel 
Beifall.  H.  Eeinkens,  L.  Hensel  und  ihre  Lieder,  Bonn  1877.  F.  Binder,  Luise  Hensel, 
Freiburg  i.  B.  1885.  34)  Sie  wurden  zu  München  1852  veröffentlicht.  35)  Joseph 

V.  Görres,  Gesammelte  Briefe,  hg.  von  Marie  Görres  und  F.  Binder,  München  1858 — 74,  III. 
J.  N.  Sepp,  Görres  und  seine  Zeitgenossen,   Nördlingen  1877.  36)  Er  begründete  die 

Wackernagel,  Litter.  Geschichte.  II,  38 


572  NEUHOCHDEUTSOlIi:   ZEIT.         XIX  JAIIIMI.  §  167 

auf  seinem  Gut  Wiepersdorf  westlich  von  Lübben  in  der  Mark  IS'M.  Besser 
al^  seine  lyrischen  Gedichte,^'  die  er  in  Tiecks  Art  rasch  hinwarf  und  in 
denen  er  mehr  auf  eine  unbestimmte  Empfindung  als  auf  klare  Gedanken 
und  feste  Gestalten  abzielte,  waren  seine  Erzählungen.  Die  Erstlinge  zwar 
sind  voller  Nachahmung,  besonders  Goethes.  Dessen  Werther  veranlasste  auch 
die  Briefform  seines  ersten  Romans  'Hollins  Liebesleben  1802.^*  Ein  roman- 
tisches Gemisch  aus  Prosa  und  Versen  und  zugleich  eine  Verquickung 
nordisch -germanischer  Sage  mit  Hohn  auf  die  Aiifkla'rung  erfüllt  'Ariels 
Offenbarungen  I,  1804.  Ein  dritter  Roman  ahmt  W,  Meister  nach:  'Armuth 
Keichthum  Schuld  und  Busse  der  Grajfin  Dolores',  1810:  •''•*  aber  schoene 
Schilderungen  wie  gleich  zu  Anfang  die  des  verwilderten  Palastes  und  Parkes, 
in  welchem  die  Heldin  aufwächst,  wechseln  mit  sonderbaren  Erfindungen,  die 
nur  satirische  Deutung  rechtfertigen  kann.^°  In  anderer  Weise  werden  aus- 
gezeichnete Einzelheiten  durch  eine  widerspruchsvolle  Zusammenfassung  ver- 
dorben in  dem  Roman  'Die  Kronenwächter,  I,  oder  Bertholds  erstes  und 
zweites  Leben',  Berlin  1817:  eine  Schilderung  Schwabens  zu  Anfang  des 
16.  Jahrhunderts,  welche  eine  Reihe  von  lebensvollen  Bildern  enthält,  aber 
durch  deren  rasch  wechselnde  Voraussetzungen  den  Leser  verwirrt.  Diese 
Willkür  musste  natürlich  Arnims  Dramen  völlig  entstellen.  'Halle  und  Jeru- 
salem, Studentenspiel  und  Pilgerabentheuer',  Heidelberg  1811,  versetzt  Car- 
denio  und  Gelinde  von  Gryphius  in  die  Gegenwart,  mischt  aber  ganz  abseits 
liegende  Gegenstände  ein.^'  Ebenso  wenig  eignen  sich  zur  Aufführung  die 
Dramen,  welche  er  als  'Schaubühne'  zusammenfasste:  ^'-  meist  Bearbeitimgen 
älterer  deutscher  Stücke,  aber  auch  selbständige  historische  Dramen.  Unter 
diesen  enthält  der  'Auerhahn'  die  Geschichte  von  Otto  dem  Schütz  und 
zeichnet  vortrettiich  die  Härte  des  Vaters,  der  selbst  ein  ungehorsamer  Solin 
gewesen  ist. 

Altdeutsche   Erzählungen    vereinigte    Arnim    im  'Wintergarten',    Berlin 
1809.     Und    altdeutschen  Aberglauben    verkörperte    er,    nach  seiner  Art  im 

noch    bestehemle    Zeitschrift    'Historisch -politische    Blätter'.  37)    LB.    2,    1441    fgg. 

38)  Zu  (jöttingeo  ei*schienen  wie  der  uaechste  Roman.  Neue  Ausgabe  von  Minor,  Frei- 
burg i.  ß.  1883.  Die  Schlussscene,  in  welcher  sich  der  Held  auf  einer  Liebhaberbühne, 
seiner  Geliebten  gegenübei-stehend,  als  Mortimer  wirklich  ersticht,  ist  von  Heine  in  einem 
bekannten  Gedicht  wiederholt  worden.  39)  Berlin,  IL  40)  LB.  3,  1245.  41)  Der 
2.  Teil  beginnt  mit  der  Kreuzigung  Christi.  L'nter  den  Personen  tritt  ausser  Ahasver  auch 
der    Klapperstorch    auf.  42)  L  Band,    Berlin  1813;    aus    dem   Nachlass   sind    noch    2 

Bände  in  Arnims  'Sämtliche  Werke'  aufgenommen,    welche  seine   Witwe,    anfänglich    noch 


§  167  ARNIM,  BETTINA.  573 

Übermass,  in  seinen  Novellen:  'Isabella  von  Aegypten,  Kaiser  Karls  V  erste 
Jugendliebe'  ua,,  Berlin  1811.  Ebenso  wenig  hielt  er  seinen  Reichtum  an 
komischen  Situationen  zu  Rat  und  musste  sich  daher  viel  von  andern  aus- 
plündern lassen.  Immerhin  gehoeren  viele  dieser  Erzaehlungen,  besonders  die 
in  die  neuere  Zeit  verlegten  und  mit  Lebenserinnerungen  ausgestatteten'*^  zu 
dem  besten,  was  deutsche  Erzaehlungskunst  geschaffen  hat. 

Erst  nach  Arnims  Tod  trat  seine  Witwe  Bettina  ^^  als  Schriftstellerin 
hervor:  sie  beschränkte  sich  auf  die  Biographie,  auf  die  romantische  Wieder- 
gabe ihrer  Jugendeindrücke.  Sie  liebte  ebenso  wie  ihr  Bruder  Clemens  das 
Seltsame:  selbst  als  sechzigjsehrige  Greisin  erschien  sie  jugendlich  unbesonnen, 
jedem  Zwange  feind.  'Das  Kind',  so  nannte  sie  sich  in  ihrem  ersten,  1835  er- 
schienenen Buche  ^•'  'Goethes  Briefwechsel  mit  einem  Kinde'.  Sie  erzsehlt  darin 
in  Briefform,  wie  sie  1807,  damals  bereits  22J8elirig,^^  zu  Gcethe  kam  und 
ihm  ihre  begeisterte  Hingebung  kund  gab.  Sie  teilte  ihm  die  Erinnerungen 
aus  seiner  Jugend  mit,  welche  Frau  Rat  ihr  erzsehlt  hatte  und  blieb,  trotz 
seiner  Ablehnung,*"  ihrer  Schwärmerei  für  ihn  bis  zuletzt  treu.  Freilich  sind 
die  Briefe,  welche  sie  mitteilt,  vielfach  ausgeschmückt:"*®  aber  diese  Aus- 
brüche des  lebhaftesten  Gefühls*^  haben  bald  nach  dem  Tod  des  grossen 
Dichters  dazu  beigetragen,  sein  Andenken  zu  verherrlichen.  Eine  Jugend- 
freundin, die  mit  ihren  überspannten  Ansichten  Ernst  machte,  schilderte  Bet- 
tinas Buch  'Die  Günderode,  ein  Briefwechsel',  1840.^°  Ihren  Bruder,  der 
sich  um  ihre  Bildung  bemüht  hatte,  verherrlichte  sie  in  'Clemens  Brei;tanos 


mit  Beiziehuug  von  W.  Grimm,  besorgt  hat,  Berlin  1839  fgg.  2  1853—56,  XXII.  43)  In 

der  'Ehensdimiede'  verwertete  er  die  Erinnerungen  von  einer  Reise  in  Schottland ,  dessen 
Romantik  er  noch  vor  W.  Scott  dargestellt  hat.  44)  M.  Carriere,  Bettina  von  Arnim, 

Breslau  o.  J.  (Deutsche  Bücherei).     C.  Alberti,  B.  v.  A.  Leipzig  1885.  45)  Berlin  III. 

'1881,    mit   einer  Einleitung   von   ihrem    Schwiegersohn  H.  Grimm.  46)  Nach  Steig, 

Deutsche  Rundschau  1892,  Augustheft,  waere  sie  allerdings  nicht  1785,  sondern  1788  ge- 
boren. Ihre  Vaterstadt  war  Frankfurt.  47)  Er  brach  mit  ihr,  als  sie  1811  gegen 
seine  Frau  unartig  war.  48)  Sie  loeste  z.  B.  die  Sonette  Goethes  an  Minna  Herzlieb 
(§  160,  96)  in  Prosa  auf  und  gab  sie  für  Briefe  aus,  die  sie  empfangen  habe.  Auch  hier 
gilt,  was  sie  sich  von  Goethes  Mutter  am  7.  Oct.  1808  schreiben  Hess.  'Die  Beschreibung 
von  den  Prachtstücken  und  Kostbarkeiten  hat  mir  sehr  viel  Pläsier  gemacht;  wenn's  nur 
auch  wahr  ist,  dass  du  sie  gesehen  hast;  denn  in  solchen  Stücken  kann  man  dir  nicht 
wenig  genug  trauen.'  49)  LB.  3,  1487.  50)  Grünberg,  II.  Die  Stiftsdame  Ka- 
roline v.  Günderode ,  1780  geboren ,  erdolchte  sich  1806  bei  Winkel  am  Rhein ,  als  der 
Heidelberger  Professor  Creuzer  ein  Eheversprechen  zurück  nahm.  Sie  hatte  sich  auch  als 
Dichterin  versucht,    nicht  ohne  Kühnheit,    indem   sie    die  Ermordung  Attilas  durch  Ildiko 


574  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XIX  JAlllill.  §  UM 

Frülilingskranz,  aus  Jugcndbriefcn  ihm  geflochten'  1844.'''  Wie  sie  ihr  erstes 
Bach  dem  Fürsten  Pückler,  das  zweite  den  Studenten  gewidmet  hatte,  so 
wandte  sie  sich  an  Frie(hich  Williehn  IV:  'Dies  Buch  gehoort  dem  KoMiig' 
1843  ;''^  an  Gespräche  mit  Frau  Rat  anknüpfend  empfalil  sie,  das  Elend  der 
Berhner  Armen  durch  Unterricht,  durch  öffentliche  Vorlesungen  zu  heben. 
Das  Kamigsbuch  setzte  sie  fort  als  'Gespneche  mit  Dtcmonen'  1852,  nachdem  sie 
bereits  1846  in  'Ilius  Pamphilius  oder  die  Ambrosia'  einen  Briefwechsel  mit 
dem  jungen  Theologen  Nathusius  veröffentlicht  hatte.    Sie  starb  zu  Berlin  1850. 

In  ihren  Briefen  wird  oft  auch  ihr  Schwager  crwaihnt,  der  berühmte 
Rechtshistoriker  Fkiedricii  Karl  von  Savignv,  geb.  1775  zu  Frankfurt  a.  M., 
gest.  1801  zu  Berlin,  wo  er  1810—42  Professor,  dann  bis  1848  Minister  für 
Landesgesetzgebung  gewesen  war.  Schon  seine  deutsche  Erstlingsarbeit  'Das 
Recht  des  Besitzes'  1803  zeigt  auch  in  der  Darstellung  jene  Klarheit  und 
Ruhe,  welche  Clemens  Brentano  und  Bettina  von  ihrem  eigenen  Wesen 
so  abstechend  fanden.  Savignys  Schrift  'Vom  Beruf  unserer  Zeit  für  Gesetz- 
gebung und  Rechtswissenschaft'  1814^^  wandte  sich  gegen  das  aus  der 
Begeisterung  der  Freiheitskriege  hervorgegangene  Verlangen,  ein  einheitliches 
deutsches  Recht  herzustellen,  wozu  in  der  That  es  damals  und  noch  auf 
lange  hinaus  zu  früh  gewesen  wäre.  Darin  stimmte  er  mit  den  Romantikern, 
aber  auch  mit  Ma}ser  überein ,  dass  das  geschichthch  gewordene  nicht  nach 
dem  vermeinten  Vernunft-  oder  Naturrecht  abzuändern  sei.  Die  Wissenschaft 
der  Rechtsgeschichte  hat  er  namentlich  für  das  roomische  Recht  festgestellt 
und  urkundlich  aufgebaut. 

Savignys  Schüler  war  der  Begründer  der  deutschen  Alter tuiiiswissen- 
schaft;  Jacob  Grimm.^*  Geboren  zu  Hanau  1785,  hat  er  fast  stets  mit  seinem 
um  ein  Jahr  jüngeren  Bruder  Wiliiklm'^^  zusammen  gelebt  und  zusammen 
gearbeitet,  bis  1830  an  der  Bibliothek  zu  Cassel,  bis  zum  Verfassungsbruch 
des  Koenigs  von  Hannover  1837  als  Professoren  in  Göttingen,  seit  1841  als 
Mitgheder  der  Akademie  zu  Berlin,  wo  Wilhelm  1859,  Jacob  1863  starb. 
Jacob  Grimms  'Deutsche  Grammatik',    welche   zuerst  1819  erschien,^^    stellte 


i 


darstellte.    'Gesammelte  Dichtungen',  hg.  von  Götz,  Mannheim  1857.  51)  I,  Charlotten 

bürg.  52)  Berlin,  II.  53)  LB.  3,  1233.  54)  W.  Scherer,  J.  Grimm,  Berli 

'1885.    Briefwechsel  zwischen  J.  und  W.  Grimm  aus  der  .Jugendzeit,  hgg.  von  H.  Grimm  und 
G.  Hinrichs,    Weimar  1881.  55)  Über  Wilhelm   hat  Jacob  selbst  gesprochen  ,    Berlin 

1860;  in  den  'Kleineren  Schriften*  J.  Grimms  (Berlin  1864)  im  I.  Bd.,  wo  auch  seine  Sellist- 
biographie    und    die   Rede    auf  Lachmann.  56)  Göttingen ,    wie    die    meisten    BücIkt 

J.  Grimms.      Vorrede   LB.   3,    1409.      MSl'2-37,    IV.      M840    (nur   der    Anfang).      Neu.r 


f 


§  167  SAVIGNY,  J.  UND  W.  GRIMM,  LACIIMANN.  575 

die  germanische  Pliilologic  auf  einen  neuen,  sichern  Boden;  seine  'Deutschen 
ReclitsaUerthümer'  1828,  seine  'Deutsche  Mythologie'  1835^^  eröfFneteu  neue 
RsDume  ihres  Geba3udes,  das  er  durch  zahh'ciche  Einzelschriften  und  Ausgaben 
ausführte  und  auszierte.  Wilhelm  Grimm  hat  namentlich  in  seinem  Buch 
'Die  deutsche  Heldensage'  1829^^  einen  besonders  wichtigen  und  schwierigen 
Teil  der  altdeutschen  Litteraturgeschichte  erkeutert.  Beide  Brüder  haben  zu- 
sammen zu  Leipzig  seit  1854  ihr  'Deutsches  Wörterbuch'  erscheinen  lassen, 
welches  von  Andern  fortgesetzt,  das  grossartigste  Denkmal  ist,  welches  je 
einer  Sprache  errichtet  wurde.  Der  poetischen  Litteratur  stehen  besonders 
nahe  die  Sammlungen  alter  Yolksüberlieferung,  womit  die  Brüder  fast  zuerst 
hervortraten  und  in  welchen  sie  die  schoensten  Muster  der  volkstümlichen 
Rede  aufstellten,  die  reichsten  Quellen  für  die  erzsehlende  Dichtung  im  Volksstil 
eröffneten:  'Deutsche  Kinder-  und  Hausmaerchen',  zuerst  1812,  und  'Deutsche 
Sagen'  1816,  1818,  11.^^  Vor  diesen  echten  Volksmserchen  und  Volkssagen 
verblassten  die  Nachahmungen  der  Romantiker  und  ihrer  Vorgänger.  An 
beiden  Sammlungen  hatte  W.  Grimm  hervorragenden  Anteil:  er  schmiegt 
sich  besonders  treu  an  die  wirklich  gehoerten  Erzeehlungen  an,^"  wie  sie  ihm 
besonders  eine  Bauernfrau  aus  Schwelm  mitteilte.  Er  hatte  1809  in  Weimar 
bei  Goithe  geweilt®^  und  sich  durch  die  Übersetzung  altdsenischer  Heldenlieder, 
1811,  auch  poetisch  betheetigt.  Sein  Bruder  hat  mehr  eine  eigene,  poesie- 
volle, besonders  bilderreiche,  aber  durchaus  männliche  Ausdrucksweise. ^^ 

Jacob  Grimms  geniale  Combination,  Wilhelm  Grimms  feinfühlige  Nach- 
bildimg wurde  wesentlich  ergänzt  durch  den  Scharfsinn  und  die  strenge  Me- 
thode, welche  Karl  Lachmann  *^^  an  der  classischen  Philologie  ausbilden  half 
und  auf  die  deutsche  übertrug.  1793  zu  Braunschweig  geboren,  ward  er 
1825  an  die  Universitset  Berlin  berufen  und  starb  hier  1851.  Die  Kunst  der 
Wiederherstellung  altdeutscher  Texte  übte  und  lehrte  er  meisterhaft,  für  den 
altdeutschen  Versbau  zeigte  er  die  Grundzüge  auf,  welche  auch  den  heutigen 
noch  bedingen.  Die  strenge  wissenschaftliche  Arbeit,  welche  genau  das  fest- 
stellte, was  die  Reste  des  Altertums  erkennen  lassen ,  war  ihm  eine  sittliche 
Aufgabe;  daher  sein  oft  hartes  Urteil  über  Mitforschende. ^* 


Abdruck,  Berlin  1869  fgg.  57)  Umgearbeitet  1844.    *1878,  III  von  H.  E.  Meyer  besorgt. 

58)  ^1867  von  JlüUenboff,  ^ Gütersloh  1889,  von  Steig  besorgt.         59)  Beide  Werke  zu  Berlin. 
60)    LB.  3,    1353    fgg.  61)    E.  Steig,    Goethe    und   die    Brüder  Grimm,    Berlin  1892. 

62)  Andresen,  Über  die  Sprache  J.  Grimms,  Leipzig  1870.  63)  K.  L.  Eine  Biographie 

von  M.  Hertz,  Berlin  18.51.     Lachnianns  Briefe  an  M.  Haupt,  hg.  von  Vahlen,  Berlin  1892. 
F.  Leo,  Rede  zur  Ssecularfeier  K.  Lachmanns,    Göttingen  1893.  64)  Von  diesen  war 


57G  NEUllOCllDEUTSCJIE  ZEIT.        XIX  JAlIKll.  §  168 

llieriu  wie  in  der  Dichtung  erwiesen  die  süddeutschen  Fachgenossen 
sich  milder.  Unter  ihnen  war  Uhland  ein  ausgezeichneter  Litterarhistorikcr, 
J.  Andreas  Schmkller^'^  ein  unverglcichliclier  Bearbeiter  der  Mundarten.*" 
Geboren  1785  zu  Türschenreut  in  der  Oberpfalz  als  Sohn  eines  armen  Korb- 
flechters, nahm  er  als  Soldat,  dann  als  Offizier  Teil  an  den  Kriegen  unter 
und  gegen  Napoleon,  und  war  seit  1816  bis  zu  seinem  Tod  1852  in  Mün- 
chen an  der  Akademie  und  der  Bibliothek  thfctig. 

Noch  eigentümlicher  verkörperte  der  Freiherr  Joseph  von  Lassrerg"' 
altdeutsches  Rittertum.  1770  zu  Donaueschingen  geboren,  dann  als  Forstmann 
in  den  Diensten  und  in  vertrautem  Verhältnis  zur  Fürstin  von  Fürstenberg, 
lebte  er  seit  1817  auf  seinen  altertümlich  ausgeschmückten  Burgen,  erst  zu 
Eppishusen  im  Thurgau,  dann  in  Meersburg  bis  1855.  Aus  seinem  reichen 
Ilandschrifteuschatz  veröffentlichte  er  Vieles  in  seinem  'Liedersaal'  1820 — 25.'"'^ 

§  168. 

Für  das  Drama  konnte  Goethe,  den  die  Romantiker  unter  den  deutschen 
Dichtern  allein  anerkannten,  nicht  ebenso  wie  für  Lyrik  und  Roman  das 
Vorbild  abgeben.  Hier  musste  der  Einfluss  Schillers  vorwiegen  und  es  galt 
seine  geschlossene  Form  und  den  Adel  seiner  Gestalten  mit  der  vollen  Natür- 
Hchkeit  Goethes  in  der  Characterzeichnung  zu  verbinden.  Mit  gewaltigem 
Ringen  versuchte  dies  Heinrich  von  Kleist,  nur  dass  er  seiner  Eigenart 
und  der  Zeitstroemung  folgend,  viel  Phantastisches  einmischte.  Dim  war 
das  Ernst,  womit  die  meisten  Romantiker  nur  spielten.  Er  stellte  auch  an 
das  Leben  Anforderungen,  welche  die  Zeit  nicht  zu  erfüllen  vermochte.  Sah 
er  schon  früh  hochfliegende  Hoff'nungen  fclilschlagen ,  so  dass  er  das  Leben 
bald  verachten  lernte,  so  stürzte  ihn  völlig  in  Verzweiflung,  dass  der  letzte 
und  tiefste  Grund  seines  Selbstgefühls  zu  schwanken  und  zu  versinken  schien. 
Denn  sein  edler  Stolz  wurzelte  in  dem  Heldentum  der  preussischen  Armee 
unter  Friedrich  dem  Grossen,  dem  auch  seine  Familie  gedient  hatte.  Frei- 
lich erst  die  schwere  Demütigung  des  preussischen  Ruhms  durch  die  Schlacht 
bei  Jena  und  ihre  Folgen  brachten  dies  Gefühl  ihm  zu  vollem  Bewusstsein 
und  es  war  die  furchtbare  Tragik  dieses  Lebens,  dass  es  durch  den  Selbst- 
neben ihm  in  Berlin  tlisetig  Friedrich  Heinrich  von  der  Hagen  aus  Schmiedeberg  in 
der  Uckermark  (1780 — 1856),  dessen  Arbeiten  zwischen  der  Liebhaberart  der  Romantiker 
und  der  streng   wissenschaftlichen  Behandlung  den  Übergang   bilden.  65)  Biographie 

von  J.  Nicklas,  München  1885.  66)  §  93,  37.  67)  Sein  Briefwechsel  mit  Uhland, 

hg.  von  Pfeiffer  u.  Bartsch,  Wien  1870;  dazu  Scherer  Kleine  Sehr.  1,  57  fgg.  68)  St.  Gallen 
u.  Constanz,  IV. 


§  168  SCPIMELLER,   LASSBERG.     H.  v.  KLEIST.  577 

mord  endete,  ehe  die  hcissersehnte  Sühnung  dieser  Sehmach  gewonnen  ward. 
Sein  vorzeitiger  Tod  hat  auch  seinen  Dichterruhm  bedrückt:  erst  spseter, 
dann  aber  in  immer  steigendem  Masse  ist  er  zur  Geltung  gekommen.^ 

B.  Heinrich  W.  von  Kleist,  zu  Frankfurt  a.  O.  1776  geboren,  war  zuerst 
Offizier,  begann  aber,  da  der  Garnisonsdienst  ihm  unerträglich  schien,  Ostern 
1799  Studien  an  der  Universitset  seiner  Vaterstadt,  die  ihn  jedoch  ebenso 
wenig  befriedigten  als  die  darauf  folgende  Beschäftigung  in  der  Zollverwaltung. 
Eine  Reise  nach  Paris  1801  schnitt  seine  Aussichten  im  Staatsdienst  ab.  In 
der  Schweiz,^  wo  er  sich  als  Bauer  anzusiedeln  gedachte,  traf  er  wieder 
politische  Zustcäiide,  welche  ihm  widerstanden.  Aber  hier  erfasste  er  seinen 
Dichterberuf.  Sein  erstes  Trauerspiel,  'Die  Familie  SchrofFenstein',  erschien 
Zürich  1803:  mit  düsterer  Folgerichtigkeit  stellt  es  den  Untergang  zweier 
durch  einen  Erbvertrag  verbundener  Familien  dar,  die  erst  über  den  Leichen 
eines  von  den  eigenen  Vsetern  ermordeten  Brautpaares  sich  verscehnen. 
Sprache  und  Vers  zeigen,  dass  Kleist  sein  Werk  nicht  völlig  ausreifen  liess. 
Noch  weniger  konnte  er  sich  rnit  seinem  'Robert  Guiscard'  genug  thun,  wo- 
mit er  selbst  Goethe  den  Kranz  hatte  entreissen  wollen.  Vergebens  schrieb 
ihm  Wieland,  dessen  Sohn  in  der  Schweiz  mit  Kleist  zusammen  getroffen 
war  und  bei  welchem  er  dann  gastliche  Aufnahme  gefunden  hatte,  dass  er 
ihn  für  berufen  halte,  neben  Goethe  und  Schiller  eine  noch  immer  freie  Stelle 
unter  den  ersten  deutschen  Dramatikern  einzunehmen.  Auch  eine  neue  Reise 
über  Oberitalien  nach  Paris  brachte  keine  volle  Loesung.  Kleist  vernichtete 
das  Stück,  von  dem  nur  wenige,  durchaus  grossartige  Scenen  erhalten  sind. 
Kleist  war  gebrochen,  schon  hatte  er  den  Entschluss  gefasst,  in  Napoleons 
Heer  den  Tod  zu  suchen.  Noch  einmal  vermittelten  die  Freunde  eine  An- 
stellung in  Preussen.  Aber  er  verliess  Koenigsberg,  als  das  Unglück  über 
den  Staat  hereinbrach.  In  Berlin  Avurde  er  von  dem  franzoesischen  Gouver- 
neur  als  verdächtig   verhaftet   und    nach   Frankreich   geschickt.     Durch  den 


§  168.  1)  Tieck  veröffeatliclite  'Heinrich  von  Kleists  Hinterlassene  Scliriften',  Berlin 
1821;  dann  seine  'Gesammelte  Schriften',  Berlin  1826,  III,  eine  Ausgabe,  welche  Julian 
Schmidt,  Berlin  1859  wiederholte.  Kleists  'Politische  Schriften  und  andere  Nachtrsege  zu 
seinen  Werken'  gab  Kud.  Köpke  heraus ,  Berlin  1862.  Ed.  v.  Bülow  ,  'Kleists  Leben  und 
Briefe',  Berlin  1848.  A.  Koberstein  'Kleists  Briefe  an  seine  Schwester  Ulrike',  Berlin  1860. 
K.  Biedei-mann  'Kleists  Briefe  an  seine  Braut',  zum  ersten  Mal  vollständig,  Breslau  1884. 
Eingehende  Biographien  von  A.  Wilbrandt ,  Nürdlingen  1863;  0.  Brahm,  Berlin  1884. 
S.  Friedmann,   Enrico  di  Kleist,    Milano  1893.  2)  Th.  Zolling,  H.  v.  Kleist  in  der 

Schweiz,  Stuttgart  1882.  Derselbe  gab  auch  Kleists  'Sämtliche  Werke'  in  Kürschners  D.  Nat.- 
litt.  149.  150  heraus.    Eine  andere  Ausgabe  der  'Sämtl.  Werke'  mit  biogr.  Einl.  von  R.  Genee, 


578  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XIX  JAIIKII.  §  168 

Friedensschluss  von  Tilsit  frei  geworden,  versuchte  er  in  Dresden  als  Dichter 
zu  leben.  Er  verkehrte  hier  besonders  mit  Adam  Müller, '  der  die  Ansichten 
Friedrich  Schlegels  rcdefertig  vertrat,  aber  durch  seine  rücksichtslose  Partei- 
nahme für  den  Adel  und  die  katholische  Kirche  auch  Kleists  Aussichten  in 
Preussen  schacdigte.  Müller  gab  Kleists  'Amphiiryon"  heraus,  'ein  Lustspiel 
nach  Moliere',  Dresden  1807,  in  welchem  die  frivole  Spötterei  zu  einem 
ernsten  Seelengemjclde  umgeschaffen  ist  und  die  Verwirrung  der  Gefühle 
Alcmenc  als  ohne  Schuld  schuldig  erscheinen  lässt.  Ein  ajlinliches  Problem 
der  Darstellung  weiblicher  Leidenschaft  stellte  sich  Kleist  in  der  Penthcsilca, 
welche  in  dem  von  Kleist  und  Müller  1808  herausgegebeneu  Phd^bus'*  erschien: 
die  Amazonenkoenigin  bekämpft,  liebt,  mordet  Achilles.  An  dieser  bis  zu 
Wahnsinn  und  Wut  gesteigerten  Leidenschaftlichkeit  fand  Goethe  kein  Ge- 
fallen. Kleists  Verehrung  für  Goethe  schlug  in  glühenden  Hass  um,  als  Goethe 
ebenfalls  1808  sein  Lustspiel  'Der  zerbrochene  Krug'''  in  Weimar  aufführte, 
aber  durch  die  Bühneneinrichtuug  auch  zu  dessen  Fall  beitrug :  er  hatte  die 
zusammenhängende,  überlange  Handlung  in  drei  Aufzüge  zerlegt,  von  denen 
der  folgende  gerade  da  wieder  ansetzte,  wo  der  vorhergehende  schloss.  Das 
Lustspiel  war  in  der  Schweiz  entstanden,  wo  Kleist  bei  Zschokke  in  Bern 
die  auf  einem  niederländischen  Kupferstiche  dargestellte  bseurische  Gerichts- 
scene  mit  mehreren  Freunden  zum  Gegenstand  einer  wetteifernden  Bearbeitung 
wsehlte.  Er  wusste  dem  Stoffe  kunstreiche  Verwickelung,  scharfe  Characte- 
ristik  und  wahrhafte  Komik  des  Ereignisses  wie  der  durch  den  Vers  allein 
gehobenen  Reden  zu  verleihen.  Dass  jedoch  der  Dichter  für  die  ernste  Auf- 
fassung des  Lebens  mehr  gestimmt  war,  zeigen  seine  'Erzsehlungen',®  die 
nur  allzu  sehr  den  Untergang  der  Edeln,  der  durch  die  Liebe  Beglückten 
darzustellen  lieben.  Die  grcesste  unter  ihnen,  'Michael  Kohlhaas',  erzsehlt 
mit  rascher,  kräftiger,  überall  auf  das  natürliche  Gefühl  der  einzelnen  Per- 
sonen begründeter  Entwickelung,  wie  ein  von  Rechtssinn  erfüllter  Mann  durch 
Gewalt  und  Hohn  zur  verbrecherischen  Selbsthilfe  getrieben  wird  und  dafür 
mit  seinem  Leben  büsst.  Die  Zeit  Luthers  wird  geschildert,  aber  freilich 
vielfach  ungeschichtlich,  und  am  Schluss  mischt  sich  Kleists  Neigung  zum 
Wunderbaren  ein.     Diese  Neigung  steigert  sich  noch  in  dem  Schauspiel  Kleists, 

Berlin  1888,  II.  3)  Creb.  1779  zu  Berlin,  1805  convertiert,  Schützling  von  Gentz,  gest.     | 

1829    zu  "Wien    als   Hofrat    in    der   Staatskanzlei.  4)  Phoebus.     Ein  Journal    für    die 

Kunst,  Dresden.  5)  Stückweise  im  Phoebus,  vollständig  Berlin  1811  erschienen.  6)  Eben- 
falls im  Phoebus,    dann  Berlin  1810.  11,    II.     Daninter    Das  Bettelweib  von  Locarno'  LB. 


i 


§  168  H.  V.  KLEIST.  579 

das  am  ersten  und  am  allgemeinsten  gefallen  hat,  in  'Ksetchen  von  Heilbronn'.^ 
Kjetchen,  das  Widerspiel  der  Pcntliesilca,  erwirbt  die  Liebe  ihres  Ritters 
durch  eine  Hingabe,  welche  als  Bezauberung  erscheint  und  über  jedes  Hinder- 
nis, nach  der  ursprünglichen  Absicht  des  Dichters  auch  über  Zauberei  den 
Sieg  davon  treegt."*  Dies  Urbild  der  Frauenliebe  führte  Kleist  um  so  sorgsamer 
aus,  als  er  eben  zu  Dresden  im  Körnerschen  Hause  eine  Braut  gefunden  zu 
haben  glaubte.  Bald  verdüsterte  sich  wieder  sein  Schicksal  und  das  Unglück 
des  Vaterlandes  ergriff  ihn  immer  schmerzlicher.  Er  hatte  Napoleons  Sieg 
über  Preussen  lange  vorausgesehen:  der  Hohn  und  die  Arglist,  wovor  sich 
nun  Fürsten  und  Volk  in  Deutschland  beugten,  empoerte  ihn  tief.  Sein 
wilder  Hass  gegen  die  Feinde  ergoss  sich  vor  allem  in  der  Hymne  'Germania 
an  ihre  Kindei-',  welche  in  der  Form  Schillers  Lied  an  die  Freude  nachahmt.^ 
So  wenig  wie  diese  konnte  er  selbst  'die  Hermannsschlacht'  zum  Drucke 
bringen,  welche,  unbekümmert  um  geschichtliche  Genauigkeit  im  Einzelnen, 
ein  furchtbares  Bild  der  Rache,  wie  er  sie  wünschte,  entwarf:  trugvoll  gegen 
die  List,  erbarmungslos  gegen  die  Grausamkeit.  Einen  milderen  Ausdruck 
gab  Kleist  seiner  Vaterlandsliebe  in  seinem  letzten  Schauspiel  'Der  Prinz  von 
Homburg'.  Es  führt  aus  der  trüben  Gegenwart  in  die  stolze  Vergangenheit 
Preussens,  in  die  Tage  von  Fehrbellin,^^  und  der  grosse  Kurfürst  tritt  ebenso 
stark  wie  menschlich,  seine  Heerführer  voller  Hingabe  an  ihn,  aber  doch  auoh 
des  eigenen  "Wertes  sicher  auf.  Die  "Worte  des  alten  Kottwitz  gegen  seinen 
Herrn  deuten  prophetisch  auf  die  Rechtfertigung  Yorks  wegen  der  Convention 
von  Tauroggen.  Aber  die  Zeit^  nahm  Anstoss  an  der  Naturwahrheit,  mit 
welcher  der  Held,  auf  dem  Schlachtfeld  so  tapfer,  vor  der  wegen  Missachtung 
des  Tagesbefehls  über  ihn  verhängten  Todesstrafe  zusammenbricht:  eine  Todes- 
furcht, die  er  doch  herrlich  überwindet,  indem  er  das  Urteil  des  Kriegs- 
gerichts selbst  bestsetigt  und  sich  so  der  Gnade  des  Kurfürsten  würdig  zeigt. 
Es  war  die  letzte,  schoenste  Dichtung  Kleists.     1809  mit  dem  spseteren  Histo- 


3,  1357.  7)    Das  K.  v.  H.  oder  die  Feuerprobe,    ein  grosses  historisches  Kitterschau- 

spiel',  Berlin  1810.  7  a)  Auf  Tiecks  Rat   gab  Kleist  der  ursprünglich  als  Zauberwesen 

gedachten  Gregenspielerin  Züge,  welche  an  Adelheid  in  Goethes  Götz  erinnern,  sie  nur  durch 
Toilettenkünste   noch   mehr   herabsetzen.  8)  Die  Reimstellung   der  Chorpartie   weicht 

ab.  8a)  C.  Varrentrapp,  Der  Prinz  von  Homburg  in  Geschichte  und  Dichtung:  Preuss. 

Jahrb.  45,  335 — 358.  Kleist  benutzte  eine  unhistorische  Auecdote  in  den  Schriften  Fried- 
richs des  Grossen ,  welche  durch  ein  Gemseide  auf  der  Berliner  Kunstausstellung  1800  all- 
gemeiner bekannt  geworden  war.  Zur  Entstehungsgeschichte  des  Prinzen  von  Homburg  und 
der  Hermannsschlacht  vgl.  auch  Niejahr,  Vjschr.  f.  Litt.-gesch.  6,  409  fgg.  9)  Grillparzer 


580  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XIX  JAlIIUf.  §  108 

riker  Dahlmann^"  nach  Ocsterrcich  gewandert,  um  gegen  Napoleon  mitzukäm- 
pfen, entging  er  auf  dem  Schlachtfeld  von  Aspern  nur  mit  Mühe  dem  Tod 
als  Spion.  Er  kehrte  nach  Berlin  zurück;  eine  neubegründete  Zeitschrift'" 
brachte  ihm  nur  tiefe  Demütigungen.  Die  Koenigin  Luise,  auf  welche  er  für 
sich  wie  für  das  Vaterland  alle  Hoffnung  setzte,  starb.  Noch  einmal  wollte 
man  ihn  in  die  Armee  aufnehmen;  als  er  aber  wegen  der  Ausrüstung  bei 
seinen  Verwandten  vorsprach,  brachte  ihn  ihr  verächtliches  Urteil  über  seine 
ganze  Dichterthastigkeit  zur  Verzweiflung.  Die  Frau  eines  Bekannten,  welche 
wegen  eines  unheilbaren  Leidens  einen  qualvollen  Tod  vor  Augen  sah,  for- 
derte ihn  auf,  sie  zu  erschiessen.  Kleist,  der  schon  längst  gewünscht  hatte, 
mit  Andern  zusammen  in  den  Tod  zu  gehen,  erfüllte  ihren  Wunsch.  Am 
2L  November  1811  streckte  er  mit  sicherer  Hand  sie  und  sich  am  Ufer  des 
Wansees  bei  Berlin  in  den  Sand. 

Die  Stelle  des  grocssten  deutschen  Dramatikers  nach  Goethe  und  Schiller, 
welche  Wieland  und  die  Nachwelt  H.  v.  Kleist  angewiesen  haben,  nahm  bei 
den  Zeitgenossen  Zaciiarias  Werner'*  ein.  So  urteilte  Frau  von  Stael  in 
der  Allcmagne :  bei  ihr  in  Coppet  hatte  Werner  1809  einige  Zeit  zugebracht 
und  hier  mit  A.  W.  Schlegel  sein  bestes  Drama,  den  '24.  Februar',  selbst 
aufgeführt.  In  Koenigsberg,  wo  er  1768  geboren  war,  und  in  dem  vor  1806 
zu  Südpreussen  ge heerigen  Warschau  hatte  er  subalterne  Ämter  bekleidet. 
In  wenigen  Jahren  war  er  dreimal  verheiratet  und  dreimal  geschieden:  er 
schwankte  zwischen  sinnlicher  Lust  und  bittrer  Reue  hin  und  her.  Seit  1805 
konnte  er  seinem  Dichterberufe  leben:  bald  darauf  verlieh  ihm  der  Fürst- 
primas Dalberg  eine  Pension,  welche  spseter  Karl  August  übernahm.  Goethe 
führte  seine  Dramen  auf,  nahm  aber  den  groessten  Anstoss  daran,  dass  Werner 
seine  religioesen  Bilder  überall  einflocht. '-^  In  Rom  trat  Werner  1811  zur 
katholischen  Religion  über  und  erregte  auf  dem  Wiener  Congress  als  Pre- 
diger Aufsehen  durch  seine  seltsame,  würdelose  Erscheinung.  Er  starb  zu 
Enzersdorf  bei  Wien  1823.  Seine  Jugendgedichte  '^  waren  zwar  noch  von 
der  Aufklserung  beherrscht,  lassen  aber  früh  erkennen,   dass  er  für  sich  wie 

bei  Foglar  *12  spricht  von  einer  Natürlichkeit,  'die  man  anspeien  muss'.  9a)  §  175,  'Ib. 

10)  Berliner  Abendblätter':  Arnim,  Brentano,  Fouque  waren  Mitarbeiter.  11)  Lebensabriss 
Z.  "Werners  (von  Hitzigl,  Berlin  1823,  wesentlich  auf  die  confessionelle  Entwickelung  des 
Dichters  bezüglich.  Biographie  und  Characteristik  von  Schütz,  Grimma  1841,  II.  H.  Düntzer, 
Zwei  Bekehrte,  Leipzig  1873.  Das  Schicksalsdrama,  hg.  von  J.  Minor,  Kürschners  Xational- 
litt.  l.öl.  12)   In  einem  Sonett  verglich  er  den  Mond  mit  einer  Hostie:   Steffens  'Was 

ich  erlebte'  6,  250  fgg.  13)  Mit  den  spaeteren  verbunden  in  'Ausgewsehlte  Schriften*, 


§  168  Z.  WERNER.  581 

für  das  Volk  die  kirchliche  Autoritset  als  notwendig  ansah.  In  diesem  Sinne 
dichtete  er  'Die  Scehne  des  Thals',  Berhn  1803,  II,  worin  er  für  die  Eintei- 
lung des  umfänglichen  Werkes  Schillers  Wallenstein,  für  einzelne  Vorgänge 
dessen  Jungfrau  von  Orleans  zum  Muster  nahm.  Der  I.  Teil,  'Die  Templer 
auf  Cypern',  knüpft  an  diesen  Orden  die  Stiftung  der  Freimaurer,  für  welche 
der  Dichter  durch  seinen  Freund  J.  J.  Mnioch '^  begeistert  worden  war;  im 
II.,  'Die  Kreuzesbrüdef,  vollzieht  sich  die  Vernichtung  des  Ordens  durch 
den  habgierigen  Koenig  von  Frankreich  und  seinen  nichtswürdigen  Kanzler 
Nogaret:  doch  gibt  die  Entscheidung  der  ebenso  reingesinnte  als  thatkräftige 
Erzbischof  Wilhelm  von  Paris, '^  welcher  einer  über  den  Templern  stehenden 
Gesellschaft,  den  Soehnen  des  Thaies  angehoert  und  die  Ideen  des  Ordens 
durch  dessen  Aufhebung  nur  noch  hoeher  zu  führen  und  weiter  auszu- 
breiten beabsichtigt.  Diese  verworrenen  Grundgedanken  sollen  durch  Bühnen- 
zauber aller  Art  gehoben  werden,  wobei  Werner  mit  Vorliebe  harfen- 
spielende Geister  auftreten  lässt.  In  derselben  opernhaften  Weise  behandelte 
er  seine  speeteren  Tragoedien,  von  denen  'Martin  Luther  oder  die  Weihe  der 
Kraft',  Berlin  1807  erschien.  Der  Reformator^*'  erscheint  als  ein  Besessner, 
bald  in  finsteres  Grübeln  versunken,  bald  überderb.  Katharina  von  Bora, 
erst  seine  Feindin,  folgt  ihm,  durch  seinen  Anblick  bezwungen,  dienend 
überall  hin.  Aber  die  naiven  Äusserungen  des  Gemüts  fehlen  Werner,  er 
bewegt  sich  in  den  Wendungen  Schillers.  Er  widerrief  spseter  seine  Luther- 
verehrung, indem  er  dem  alten  Stück  'Die  Weihe  der  Unkraft','''  ein  lyrisch- 
allegorisches Stück  auf  seine  eigene  Bekehrung,  entgegen  setzte.  Die  übrigen 
Dramen  Werners  behandeln  fast  durchaus  Legendenstoflfe  oder  biblische  Gegen- 
stände. 'Das  Kreuz  an  der  Ostsee',  1806^^  und  'Wanda  die  Koenigin  der 
Sarmaten',  1810^'-*  erzsehlen  die  Bekehrung  der  heidnischen  Preussen,  wobei 
das  letztere  Stück  Kleists  Penthesilea  nachahmt;  'Attila  Koenig  der  Hunnen', 
180820  feiert  Roms  Rettung  durch  Pabst  Leo;  'Cunigunde  die  Heilige',  181 5,^1 
das  Gottesgericht,  durch  welches  sie  ihre  Reinheit  beweist;  zuletzt ^^  erschien 

Grimma  1841,  XIII.  14)  1765—1804;  als  Schriftsteller  mit  Fichte  und  Tieck  in  Be- 

ziehung. 15)  Er    erklsert   dem  zur    Milde    gestimmten  Cardinal:    'Die  Kirche   ist  das 

grosse  Gleichgewicht,  vom  Schicksal  hingestellt  zur  ew'gen  Brustwehr,  dass  nie  der  Menschen- 
herrseher  sich  vermesse  das  heiligste  der  Menschheit  anzutasten.'  Denn  nie  werde  das 
Volk  'für  das  Ideal  der  Templer,  für  ihren  freudeleeren  Pflichthegriff  auch  seines  Glaubens 
heitren  Himmel  tauschen'.  Iß)  Das   geschichtliche  Material,    unter   welchem  auch  der 

Tintenklex  an  der  A¥and  nicht  fehlt,  sammelte  Werner  unter  Beihilfe  Joh.  v.  Müllers. 
Luther  war  eine  Hauptrolle  Ifflands.  17)  Frankfurt  1813.  18)  Berlin.     Nur  der 

I.  Teil'Die  Brautnacht'.         19)  Tübingen.         20)  Berlin.         21)  Leipzig.         22)  Wien  1820. 


582  NEUllUCJiDEÜTSCIlK   ZKIT  XIX  JAIIKII.  §  lü8 

'Die  Mutter  der  Makkabtecr'.  Diese  Triig<jüdic  wird  durch  Canzoncn  einge- 
führt, die  Makkabreer  spreeliou  in  Stanzen,  wie  schon  in  Attila  ein  Honett 
cingesclialtet  war.  lloeher  steht  'Der  vierundzwanzigstc  Februar',  eine  cinactige 
Tragd'die,^-'  welche  Werner  in  "Weimar  1801)  'unter  den  Auspicicn  Ga-thes' 
gedichtet  hatte.  Den  Tag,  an  welchem  seine  Mutter  und  sein  Freund  Mnioch 
gestorben  waren,  wa^hlte  er  zum  Unglückstag,  an  welchem  ein  verarmter 
Schweizer  Bauer  seinen  eigenen,  aus  der  Fremde  heimkehrenden  Sohn,  ohne 
ihn  zu  erkennen,  aus  Habgier  erschhegt.  Die  llieufung  der  früheren  Misse- 
thateu  der  Familie  auf  diesen  Tag,  die  Benutzung  eines  Mordinstruments, 
das  schon  früher  zu  Unthaten  gedient  haben  sollte,  ging  auf  die  anderen  un- 
mittelbar folgenden  Dichter  der  Schicksalstragcedie  über,-'  welche  Schillers 
BeispieP^  vollends  missbrauchten. 

Wenn  Zacharias  Werner  Schillers  Pathos  mit  kecken  Ausstattungskün- 
sten verband,  so  gingen  andere  Bühnendichter  dieser  Zeit  noch  weiter  in  der 
»usserlichen  Auffassung  ihrer  Aufgabe.  Es  begreift  sich,  dass  solche  Dichter 
danach  strebten,  die  Leitung  einer  Bühne  zu  erhalten.  Besondere  Anerkennung 
erwarb  sich  unter  ihnen  Ernst  August  Fufedrich  Klinüemann,^*^  ein  Braun- 
schweiger, geb.  1777,  gest.  1831.  Als  er  in  Jena  sich  mit  Brentano  befreun- 
dete, war  er  bereits  mit  Ritterromanen  und  Ritterdramen  hervorgetreten: 
spaeter  wetteiferte  er  in  historischen  Stücken :  -^  'Heinrich  der  Loewe',  'Luther" 
ua.  mit  Werner;  dichtete  als  Seitenstück  zu  Schillers  Teil  'Der  Schweizer- 
bimd';-^  stellte  sich  aber  auch  mit  einem  'Faust' -^  an  Gathes  Seite,  ja  er 
brachte  den  seinigen  eher  auf  die  Bühne,  als  dies  mit  dem  Gcctheschen  ver- 
sucht worden  war,  den  er  selbst  1829  aufführen  Hess. 

Mehr  Beachtung  verdient  ein  romantischer  Dramatiker  aus  Dsenemark, 
der  darauf  Anspruch  machte,  auch  als  deutscher  Dichter  zu  gelten.  Adam 
Oeulenschl-kger^°  war  1779  von  deutschen  Eltern  zu  Kopenhagen  geboren 
und  starb  hier  1850  als  Professor  der  Aesthetik.  Mit  einem  Stipendium  des 
Grafen  Schimmelmann  war  er  1805 — 9  auf  Reisen  und  besuchte  auch  Goethe. 
Sein  erstes  Stück,  welches  Aufsehen  machte,  war  'Aladdin  oder  die  Wunder- 
lampe', Amsterdam  1808,  vorher  aber  schon  in  dfenischer  Sprache  erschienen: 

23)    Aitenburg    1815.  24)    §   171,  6.  25)    §   161,   vor   Anm.  40.     Auch    von 

Tieck  in  Karl  von  Beraeck  (1795)  war  die  Schicksalsidee  schon  dramatisch  verwertet 
worden;    sehnliches    hatte  Moritz  (§  164,    18.  19)   versucht.  2H)  Seine  Schrift  'Kunst 

und  Natur,  Blätter  aus  meinem  Tagebuch,'  Braunschweig  1823 — 28,  III  ist  für  die  Kenntnis 
des  damaligen  Theaters  wertvoll.  27)  Hauptsammlung  sein  Theater',    Tübingen  1809 

bis    1820,    III.  28)    Leipzig    1805.  29)    Altenburg    1815.  30)    In    seinen 


§  169  KLINGEMANN,  ÖnLENSCHLÄGER.  583 

mit  den  wunderbaren  Verwandlungen  des  Märchens  vertreegt  sich  gut,  dass 
Geister,  Voegel  und  selbst  eine  Spinne  redend  auftreten.  Die  Trauerspiele 
Oehlenschlffigers  behandeln  meist  nordische  Sagen.  Sein  'Correggio' '"  dra- 
matisiert die  Anecdote  des  Vasari,  dass  der  Maler  sich  an  dem  Kupfergeld 
zu  Tode  geschleppt  habe ,  welches  er  von  dem  Erloes  eines  Bildes  erhielt. 
Correggios  mehr  als  engelhafte  Geduld  wird  mit  der  herben  Kritik,  welche 
Michel  Angelo,  der  begeisterten  Anerkennung,  welche  Giulio  Romano  ver- 
tritt, in  Gegensatz  gestellt  und  so  dem  dürftigen  Stoffe  wenigstens  eine  alle- 
gorische Bedeutsamkeit  gegeben. 

§  169- 
Die  Wendung  zur  patriotischen  Dichtung,  welche  in  H.  v.  Kleist  so 

mcächtig  hervortrat,  vollzog  sich  nun  auch  bei  mehreren  anderen  Dichtern 
und  verlieh  ihnen  zum  Teil  einen  dauernden  Ruhm.  "Wie  tief  die  Folgen 
der  napoleonischen  Siege  für  das  Fortbestehen  der  Nation  auch  von  denen 
gefühlt  wurden,  welche  sie  für  unabänderlich  hielten,  zeigt  vor  Allen  Goethe,^ 
Es  ist  ein  hohes  Verdienst  der  Romantiker,^  dass  sie  mehr  und  mehr  auch 
in  politischer  Beziehung  das  nationale  Ziel  hervorhoben,  dass  sie  gegen  die 
Eroberungen  der  franzoesischen  Ideen  und  der  franzoesischen  Waffen  zugleich 
zum  Widerstand  unablässig  durch  Dichtungen  wie  durch  Staatsschriften  auf- 
forderten; und  dies  Verdienst  wird  nicht  aufgehoben  dadurch,  dass  sie  zum 
Teil  allzu  weit  zurückgreifend  allmeehlich  nur  in  Oesterreich  und  der  katho- 
lischen Kirche  das  Heil  der  deutschen  Zukunft  sahen  und  jeder  anderen, 
jeder  freieren  Richtung  feindlich  entgegen  traten.  Hierbei  kam  naturgemaess 
mehr    als    die  Dichtung    die   Rede    und   Schrift    in  Prosa    zur  Anwendung, 

'Schriften,  zum  erstenmale  gesammelt  als  Ausgabe  letzter  Hand',  Breslau  1829.  30,  XVIII 
erschien  auch  seine  Biographie  bis  1809.  31)  Stuttg.  u.  Tüb.  1816;  dsenisch  schon  1811. 

§  169.  1)  In  einem  Gresprsech  mit  dem  weimarischen  Kanzler  v.  Müller  im  Dec.  1808 
(Gr(Bthes  Gespr.,  hg.  v.  Biedermann  N.  386)  sagt  Groethe:  'Deutschland  ist  nichts,  aber  jeder 
einzelne  Deutsche  ist  viel  und  doch  bilden  sich  letztere  gerade  das  Umgekehrte  ein.  Ver- 
pflanzt und  zerstreut  wie  die  Juden  in  alle  Welt  müssen  die  Deutschen  werden,  um  die 
Masse  des  Guten  ganz  und  zum  Heile  aller  Nationen  zu  entwickeln,  die  in  ihnen  liegt.'  (Vgl. 
bei  Biedermann  auch  N.  352.)  2)  A.  W.  Schlegel   schrieb    im  März  1806   an  Fouque 

(Briefe  an  Fouque,  S.  356  fgg.) :  'Wie  Goethe,  als  er  zuerst  auftrat,  und  seine  Zeitgenossen, 
ihre  ganze  Zuversicht  auf  die  Darstellung  von  Leidenschaften  setzten,  und  zwar  mehr  ihres 
aeusseren  Umfanges  als  ihrer  inneren  Tiefe ,  so  haben  die  Dichter  der  letzten  Periode  die 
Phantasie,  und  zwar  die  bloss  spielende  müssige  träumerische  Phantasie  allzu  sehr  zum 
herrschenden  Bestandtheil  ihrer  Dichtung  gemacht.  Wir  in  dieser  gewaltsamen,  hartprüfen- 
den Zeit,  wir  bedürften  einer  durchaus  nicht  träumerischen,  sondern  wachen,  unmittelbaren, 


584  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XIX  JAIIRH.  §  1G9 

welche  mit  der  patriotischen  Poesie  zusammentraf,  aber  noch  vor  dieser  auf 
die  öffentliche  Meinung  zu  wirken  gesucht  hatte. 

Dieselbe  Entwickelung,  welche  an  F.  Schlegel  und  A.  Müller^  ersicht- 
lich war,  hatte  vor  ihnen  Frieuricii  von  Gektz  erfahren,  nur  dass  er  es 
uuterliess,  das  kirchliche  Bekenntnis  zu  wechseln.  1764  in  Breslau  geboren, 
war  er  in  Berlin  aufgewachsen  und  hatte  sich  früh  der  damaligen  Sittenlosig- 
keit  dieser  Stadt  hingegeben.  Als  Schriftsteller  war  er  anfänglich  für  die 
franzo'sische  Revolution  eingetreten  und  gab  in  einem  'Sendschreiben'  an 
Friedrich  Wilhelm  III  bei  dessen  Thronbesteigung  1707*  wenigstens  dem 
Verlangen  nach  Pressfreiheit  einen  vollbegrüudeten  und  vortrefflich  vorgetra- 
genen Ausdruck.  Aber  weder  diese  Schrift  noch  die  naechsten  gegen  Frank- 
reich gerichteten  gewannen  den  Beifall  des  Koenigs.  So  wandte  sich  Gentz, 
welcher  schon  von  England  grosse  Geldsummen  empfangen  hatte,  nach  Oester- 
reich  und  fand  1802  dort  Anstellung.  Scharfsichtig  erkannte,  beredt  ver- 
kündigte er  die  weitere  Entwickelung  der  politischen  Verhältnisse.  1806  war 
er  im  preussischen  Hauptquartier  und  sein  Tagebuch  ist  eine  Hauptquelle 
für  die  Geschichte  dieser  Zeit  geworden.  1809  verfasste  er  das  Kriegsmani- 
fest Oesterreichs.  Seitdem  war  er  ganz  in  Metternichs  Sinne  thsetig,  und  als 
ProtocoUführer  au  den  Congressen  der  na^chsten  Jahre  beteiligt.  Die  Mass- 
regeln gegen  die  deutschen  Universitseten,  welche  1819  zu  Karlsbad  be- 
schlossen wurden,  waren  sein  Werk.     Er  starb  zu  Wien  1832. 

Weit  tiefer  jedoch  als  in  Oesterreich  ging  die  deutsche  Bewegung  in 
Preussen.  Nach  dem  ersten  und  freilich  über  alles  Mass  kläglichen  Schrecken, 
nach  der  haemischen  Schadenfreude  über  den  Sturz  des  fridericianischen  Staates 
ermannten  sich  die  edleren  Geister.  Der  in  Berlin  noch  eben  so  tobend  ge- 
führte Kampf  zwischen  den  Romantikern  und  ihren  Gegnern  verstummte. 
Die  Schmach  und  der  immer  steigende  Druck  der  Fremdherrschaft  vereinigte 
zu  gemeinsamer  Trauer;  der  Auf  blick  zu  den  wenigen  Hoffnungssternen,  vor 
allem  zur  Koenigin  Luise,  erhob  die  Treue.  Auch  wo  ein  a^usserer  Wider- 
stand nicht  geleistet  werden  konnte ,  vollzog  sich  eine  innere  Umwandlung, 
welche  auf  jenen  vorbereitete.  Henriette  Herz^  erzaehlt,  wie  mit  einem  Mal 
die  geistreichlockere  Unterhaltung  in  der  Gesellschaft  der  Versenkung  in  die 
alte   deutsche   Zeit  Raum    gab.     Nach    dem  Tilsiter  Frieden   bestimmte   der 

energischen    und    besonders    einer    patriotischen   Poesie'.  3)  §  168,  3.  4)  LB.  3, 

1157.  Von  den  Sammlungen  seiner  'Schriften'  ist  die  von  G.  Schlesier,  Mannheim  1838 
bis  1840,  V  besorgte  besonders  wertvoll.  Dazu:  'Aus  dem  Nachlass  Varnhageus  von  Ense, 
Tagebücher  von  F.  v.  Gentz",  Lpz.  1861 — 74,  IV.  5)  Henriette  Herz,  ihr  Leben  und 


I 


§  169  PATRIOTISCHE  SCHRIFTSTELLER.  585 

Koenig,  von  neuen  Beratern  umgeben,  dass  Preussen  seine  aeusseren  Verluste 
durch  Stärkung  der  inneren  Kräfte  wieder  ausgleichen  sollte:  in  diesem 
Sinne  stiftete  er  die  Universitaet  Berlin  1810, 

Ein  fester  Halt  der  vaterländischen  Gesinnung  war  der  hier  wirkende 
Philosoph  Fichte.^  Schon  vor  der  Schlacht  bei  Jena  hatte  er  sich  erboten, 
das  Heer  als  Prediger  zu  begleiten.  Nach  dem  Schlage  war  er  einer  der 
ersten,  welche  den  Widerstand  und  die  Wiederaufrichtung  verkündigten. 
Allerdings  erwartete  er  diese  erst  von  einem  künftigen  Geschlecht,  das  durch 
eine  neue  Nationalerziehung  hierzu  vorbereitet  werden  müsse.  An  Pestalozzis 
Anschauungsunterricht  anknüpfend,  sei  die  Jugend  zum  Selbstdenken  anzu- 
leiten. Hierzu  biete  die  deutsche  Sprache  das  beste  Mittel,  durchsichtig  und 
bildungsfähig  wie  sie  sei,  die  einzige  Muttersprache  im  wahren  Sinne  unter 
den  neueren.  Solche  Betrachtungen  tseuschten  wohl  die  Spseher  über  die 
Tragweite  dieser  Reden,"  welche  Fichte  hielt,  wsehrend  in  den  Yorlesungs- 
raum  hinein  die  Wirbel  franzoesischer  Trommeln   ertoenten.* 

Dem  Philosophen  trat  der  Historiker  Ernst  Moritz  Arndt  ^  zur  Seite, 
der  mit  der  Publicistik  die  Dichtung  verband.  Arndt  war  1769  zu  Schoritz 
auf  der  Insel  Rügen  geboren.  Von  seiner  Jugendzeit  und  seinem  freien 
Leben  in  der  Natur,  im  Wald  und  an  der  See,  im  Verkehr  mit  den  einfachsten, 
kräftigsten  Menschen  hat  Arndt  selbst  hoechst  anziehend  erzsehlt  in  seinen 
'Erinnerungen  aus  dem  aeusseren  Leben',  Leipzig  1840.  Er  studierte  in 
Greifswald  und  Jena  und  ward  nach  längeren  Reisen  durch  Deutschland,  Un- 
garn, Italien  und  Frankreich  Professor  in  Greifswald.  Seine  bis  dahin  ver- 
fassten  Gedichte  haben  meist  geselligen  Inhalt,  feiern  Liebe  und  Wein;  auch 
von  diesen  Liedern  haben  manche  durch  Frische  und  Sangbarkeit  sich  im 
studentischen  Gebrauche  erhalten.  Doch  sclion  wiesen  seine  Schriften  auf 
die  Schseden  der  Zeit  hin:  so  sein  'Versuch  einer  Geschichte  der  Leibeigen- 
schaft in  Pommern  und  Rügen',  Berlin  1803.  Noch  war  auch  er,  der  unter 
schwedischer  Herrschaft  geborene  und  wirkende,  nicht  zur  vollen  Erkenntnis 


ihre  Erinnerungen,  hgg.  von  .T.  Fürst,  Berlin  M858,  S.  310.  6)  §  166,  3.     Ihm  weihte 

Fouc[ue  seinen  Signrd  1808;  wie  Fichte  auch  an  Charaissos  Musenalmanach  für  1806  sich 
beteiligt   hatte.  7)  Das  begeisterte   Schlusswort   LB.  3,  1051.  8)   Neben  Fichte 

wirkte  Schleiermacher  in  Berlin  durch  patriotische  Predigten  für  die  geistige  Wiedererhebung 
Preussens.  9)  Neben  zahlreichen  populseren  Biographien  Arndts  gibt  eine  litterarhisto- 

rische  Würdigung  E.  Langeuberg,  'E.  M.  Arndt,  sein  Leben  und  seine  .Schriften',  Bonn  1869. 
Derselbe  hat  E.  M.  A.  Briefe  au  eine  Freundin",  Berlin  1878  verütfeutlicht.  'Briefe  an  Johanna 
Motherbv    von  W.   v.   Humboldt    und    E.    M.   Arndt',    hg.    v.   H.   Meisner,    Leipzig    1893. 


586  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.        XIX  JAHRH.  §  109 

dessen  durchgedrungen,  was  Deutschland  Not  that.  Erst  1806  veröffentlichte 
er'"  den  I.  Teil  seines  Buches  'Geist  der  Zeit',  voll  grimmigon  Hasses  gegen 
Napoleon.  Vor  den  Franzosen  flüchtete  er  nach  Schweden,  kehrte  aber  bald, 
zunächst  unter  falschem  Namen,  zurück.  1812  reiste  er  über  Galizien  nach 
Russland,  wo  der  Freiherr  von  Stein"  damals  die  deutschen  Streiter  gegen 
Napoleon  um  sich  sammelte.  An  Steins  Seite  war  Arndt  1813  bei  der  Er- 
hebung Deutschlands  überall  tha'tig.  Damals  schrieb  er  seinen  'Katechismus 
für  den  deutschen  Kriegs-  und  Wehrmann",'-  der  in  biblisch  erhabener 
Sprache  dem  einfachen  Sinn  des  Volkes  vorhielt,  um  was  es  sich  im  Kampfe 
gegen  Napoleon  handle.  Nach  der  Leipziger  Sclilacht  erschien  Arndts  Buch 
'Der  Rhein  Deutachlands  Strom,  aber  nicht  Deutschlands  Grenze'.'''  Ge- 
schichte und  geographische  Lage,  Deutschlands  Ehre  und  Sicherheit,'*  Alles 
verbiete,  den  Franzosen  das  linke  Rheinufer  zu  überlassen.  Vielleicht  noch 
mehr  als  diese  Schriften  zündeten  die  Lieder  Arndts,  die  in  unübertrefflicher 
Weise  den  Volkston  trafen ''"  und  durch  ansprechende,  teilweise  von  ihm  selbst 
gefundene  Weisen  getragen,  sich  schnell  verbreiteten.  Schon  1810  und  1812 
sprach  er  seine  felsenfeste  Überzeugung  aus,  dass  die  gute  Sache  siegen 
werde:  ^'^  in  diesem  Sinn  verherrlichte  er  Schills  Aufstand.  Als  dann  der 
grosse  Kampf  begann,  erhob  er  die  Thaten  der  preussischen  Heere  und  ihre 
Führer,  vor  allen  Blücher:  und  Arndts  schmetterndes  Lied  'Was  blasen  die 
Trompeten,  Husaren  heraus!'  hat  das  Andenken  an  diese  Zeit  fort  und  fort 
lebendig  erhalten.  Aber  auch  der  tiefe  Ernst,  der  Schmerz  über  die  furcht- 
baren Opfer,  findet  seinen  vollen  Ausdruck  in  Arndts  Lied  von  der  Leipziger 
Schlacht,  Und  so  vermochte  er  gegenüber  der  Selbstsucht  und  Selbstgenüg- 
samkeit der  einzelnen  deutschen  Staaten  und  Stämme  den  Einheitsdrang  des 
deutschen  Volkes  durch  sein  Lied  'Was  ist  des  Deutschen  Vaterland'  auch 
über  die  Zeiten  hinweg  zu  tragen,  in  denen  es  verboten  sein  sollte,  diese 
Einheit  auch  nur  zu  denken.  Arndt  hat  den  Umschlag,  der  bald  nach  den 
Freiheitskriegen  eintrat,  an  sich  selbst  erfahren  müssen.  1818  war  er  an  die 
neugestiftete  UniversitsBt  Bonn  als  Professor  der  neueren  Geschichte  berufen 
worden;    schon  im   nsechsten  Jahre  wurde   er  in  Untersuchung  gezogen  und 

10)  Altona  1807.     Der  II.  u.  III.  Teil  erschien  Berlin  1813,  der  IV.  1818.  11)  Darüber 

berichtet  Arndts  Schrift  'Meine  AV^andeningen  und  AVandelnngen  mit  dem  Reichsfreiherrn 
V.  Stein",  Berlin  1858.  12)  Breslau  1813  uö.  13)  Leipzig  1813.  14)  'Geben 

wir  den  Franzosen  das  Knie,  das  der  Rhein  bei  Mainz  bildet,  so  wird  dies  Knie  beständig 
auf  unserem  Nacken  liegen".  15)  Gern  beginnt  er  mit  einer  Frage,  wie  die  alten  Volks- 

lieder es  auch  thaten.  lü)  Damals  dichtete  er:  'Der  Gott,  der  Eisen  wachsen  Hess,  der 


I 


§  169  ARNDT.     KÖRNER.  587 

ihm  die  Lehrthietigkeit  untersagt.  So  verlebte  er  lange  Jahre  gezwungener 
Müsse.  Erst  Friedrich  Wilhelm  IV  stellte  ihn  wieder  an  seinen  Ehrenplatz, 
Längst  war  der  Dichter  ergraut,  aber  sein  Herz  war  frisch.  1848  ward  er, 
fast  80J8ehrig,  in  das  deutsche  Parlament  gewsehlt.  Er  lebte  noch  bis  Anfang 
1860  und  dichtete  noch  im  90.  Jahre  "Worte  an  Schillers  Grab.'" 

Hatte  Arndt  sich  als  reifer  Mann  in  den  Dienst  des  Vaterlandes  ge- 
stellt, so  fand  die  kämpfende  Jugend  ihren  Dichter  in  Theodor  Körner.'* 
Auf  Körners  Grab  haben  die  Mitstrebeuden  und  die  Nachlebenden  alle  Kränze 
gelegt,  die  dem  Sänger  und  Helden  gebühren.  Und  wohl  war  seine  edle, 
reine  Persoenlichkeit  dieser  Verehrung  durchaus  würdig.  Mit  Recht  schrieb  er, 
als  er  seinem  Vater  den  Entschluss  mitteilte,  sich  den  Lützowschen  Jeegern 
anzuschliesseu:  'Dass  ich  mein  Leben  wage,  gilt  nicht  viel;  aber  dass  dies 
Leben  mit  allen  Blütenkränzen  der  Liebe,  der  Freundschaft  und  der  Freude 
geschmückt  ist,  und  dass  ich  es  dennoch  wage,  das  ist  ein  Opfer,  dem  nur 
ein  solcher  Preis  entgegen  gestellt  werden  darf.'  Sein  Vater,  der  treue  Freund 
und  einsichtsvolle  Berater  Schillers,'^  hatte  ihm  früh  zur  Ausbildung  seiner 
dichterischen  Anlagen  Antrieb  und  Gelegenheit  geboten.  Anfangs  zwar  stu- 
dierte er  Bergsvissenschaft  in  Freiberg,  in  Leipzig  Geschichte  und  Philosophie. 
Aber  in  Wien  ward  er  auf  sein  Drama  'Zriny'  hin  1812  als  Hoftheaterdichter 
angestellt.  Er  war  damals  21  Jahre  alt  und  Zriny  zeigt  ebenso  wie  seine 
anderen  Trauerspiele  einen  noch  nicht  ausgereiften  Geist;  auch  ihre  rasche 
Folge  war  nur  dadurch  mceglich,  dass  der  Dichter  sich  mit  rhetorischer  Nach- 
ahmung Schillers  begnügte.-"  Weit  vorzüglicher  ist  Körners  Talent  für  das 
Lustspiel.  Hier  benutzt  er  zuweilen  Kotzebues  Plsene,  gibt  ihnen  aber  durch 
muntern  und  durchaus  reinen  Scherz  und  durch  die  Einkleidung  in  leichte 
Verse  eine  anmutige  Gestalt,  welche  bis  heute  sie  namentlich  für  die  Fami- 
lienbühne in  Gebrauch  erhalten  hat.     Die  lyrischen  Gedichte  Körners  ahmen 

wollte  keine  Knechte'.  17)  'Gedichte,  vollständige  Sammlung',  Berlin  1860;   'Schriften 

für  und  an  seine  lieben  Deutschen',  Leipzig  1845,  III;  IV.  Teil  Berlin  1855.  18)  Zahl- 
reiche Biographien,  meist  populser:  Kohut,  Berlin  1891  ua.  Briefe  u.  a.  Eeliquien  bei  R. 
Brockhaus,  T.  K.  Leipzig  1891.  Kürnerbibliographie  von  Peschel,  Börsenblatt  für  den 
deutschen  Buchhandel  1891  X.  213  und  215.  Schriften  zur  Körnerfeier  bespricht  Minor 
im  Anz.  z.  Zs.  f.  d.  Alt.  36,  381.  19)  161,  6.  28   und  nach  Anm.  20.  20)  Was 

Körner  zum  Tragiker  fehlte,  ist  leicht  zu  zeigen,  wenn  man  seine  Toni' mit  der  Quelle,  der 
'Verlobung  auf  S.  Domingo',  einer  Novelle  Heinrichs  von  Kleist  vergleicht.  Bei  Kleist  ist 
die  Heldin  eine  wilde  Natur,  die  erst  mordgierig  auftritt,  dann  durch  die  Liebe  schritt- 
weise, aber  mit  unwiderstehlicher  Gewalt,  dem  Opfer  in  die  Arme  getrieben  wird  und 
endlich  mit  ihm  zugleich  untergeht.  Körner  hat  daraus  ein  gutes  Maidchen  gemacht,  das  mit 
Wackernagel,  Litter.  Geschichte.  II,  39 


588  NEUnOCirDKUTSCHH   ZFJT.         XIX  .lAKIllf.  §  109 

Schiller  in  den  formellen  Freiheiten  nach,  ohne  seine  tiefen  Gedanken  /,u 
Ijesitzen.  Erst  der  Eintritt  in  die  grosse  Erhebung  verleiht  den  Liedern 
Körners*'  den  vollen  Gehalt.  Die  herrlichste  Jugendkraft  schipunit  hier,  bald 
als  zornglühenilor  Aufruf,  bald  als  ernstes  Gebet  vor  der  Schlacht,  bald  als 
letzte  Gedanken  des  dem  Tode  entgegensehenden  Kriegers.  Diese  Lieder 
wurden  nach  Körners  Tod  von  seinem  Vater  als  Leycr  und  Schwert'  heraus- 
gegeben.-^ Das  letzte,  welches  in  altgormanischer  Weise  das  Schwert  selbst 
personificiert,  'Du  Schwert  an  meiner  Linken,  was  soll  dein  heitres  Blinken? 
dichtete  Körner  unmittelbar  vor  dem  Gefechte,  in  welchem  er  fiel,  bei  Gade- 
busch  in  Mecklenburg,  am  20.  August  1813. 

Neben  Arndt  und  Körner  dichteten  noch  manche-^  Andere,  unter  wel- 
chen Frikdricm  AuorsT  von  St.eoemann  (1763 — 1840)  als  Staatsbeamter 
in  Preussen  schon  18üG  seine  ungebrochene  Zuversicht  dichterisch  aussprach. 
Wa'hrend  er  seine  'Kriegsgesänge  aus  den  Jahren  1806 — 13'^^  in  antike 
Strophenformen  fasste,  gab  Max  von  Schenkendorf-''  seinen  Liedern-'"'  im 
Anschluss  an  Novalis  und  F.  Schlegel-"  die  Formen  und  den  Ton  der  neuen 
romantischen  Poesie  und  erfüllte  sie  auch  mit  der  Sehnsucht  nach  der  alten 
deutschen  Kaiserzeit  und  mit  einer  tiefempfundenen  Religiosita3t.  In  Tilsit 
1783  geboren,  hatte  er  die  Hechte  studiert,  sich  aber  seinen  dichterischen 
Neigungen  und  dem  Umgang  mit  den  frommen  Kreisen  Koenigsbergs  hin- 
gegeben. Auch  in  Karlsruhe,  wohin  er  1812  übersiedelte,  stand  er  Jung 
Stilling  und  Frau  von  Krüdener  besonders  nahe.  Als  der  Krieg  1813  aus- 
brach, begleitete  er  die  Armee,  den  Degen  mit  der  Linken  führend,  da  ihm 
die  rechte  Hand  im  Duell  zerschossen  worden  war ;  spaeter  ward  er  von  Stein 
bei  der  Einrichtung  der  badischen  Landwehr  verwendet.  Nach  dem  Frieden 
ward  er  Regierungsrat  in  Coblenz,  starb  aber  bereits  1817.  Neben  dem 
Vaterland  war  ihm  das  hoDchste  die  Freiheit  und  die  stille,  friedliche  Thsetig- 
keit  des  Bauernstandes,  den  er  als  den  festen  Grund  der  Volkstüchtigkeit 
pries.-** 

dem  edlen  Fremden  schliesslich   gerettet  wird.  21)  LB.  2,    1549.  22)  Berlin  1814. 

Sammlung  der  übrigen  Gedichte  als  'Poetischer  Xachlass',  Leipzig  1815,  11.  'Sämtliche  Werke', 
hg.  V.  Streckfuss,  Berlin  1834  uö.  'Werke  in  vollständigster  Sammlung',  hg.  v.  Ad.  Wolf, 
Berlin  18.58,  IV.  28)  Abgesehen  von  den  sogleich  noch  zu  nennenden:  Fouque  §  170,  1; 

E.  Schulze  ebd.  11;  Kückert  §  173,  1.  24)  Berlin  1814.  25)  'Gedichte",  Stuttgart  1815. 
'Mit  einem  Lebensabriss  und  mit  Erlaniterunofen  von  A.  Hasen,  St.  18G2.  Von  Hagen  auch 
'Schenkendorfs  Leben,  Denken  um!  Dichten',  Berlin  1869.  Dazu  Drescher,  Programm  d. 
Gymu.iu  Mainz  1888.  2«)  LB.  2,  1529.  27)  Vgl.  §  166,  39.  28)  LB.  2,  1533. 


§  170  SCHENKENDORF.     JAHN. 


589 


Ein  Lied  der  Treue,  welches  sich  mit  wörtlicher  Wiederholung  an  ein 
geistliches  von  Novalis'^«  anschliesst,  richtete  Schenkendorf  an  den  Turnvater 
Jahn,  dessen  Bestrebungen  den  Aufschwung  der  Freiheitskriege  vorbereiteten 
und  ihren  Geist  auch  spaeter  noch  zu  erhalten  suchten.  Auch  Frfkdrich 
Ludwig  Jahn,  geb.  1778  zu  Lanz  in  der  Westpriegnitz,  war  ein  Lützower; 
er  hatte  schon  1806  in  die  preussische  Armee  eintreten  wollen.  Dann  sclirieb 
er  sein  Buch  ^Deutsches  Volksthum^  Lübeck  1810,  im  Sinne  Arndts,  freilich 
ohne  dessen  Kenntnisse  und  Redegabe;  er  fasste  mehr  das  Äusserliche  ins 
Auge,  die  sogenannte  altdeutsche  Tracht  und  den  Gebrauch  reindeutscher, 
teilweise  willkürlich  erfundener  Ausdrücke.  Auch  er  ward  durch  die  Dema- 
gogenriecher verfolgt,  1819-25  in  Haft  gehalten,  dann  in  Freiburg  an  der 
Unstrut  eingebannt,  bis  Friedrich  Wilhelm  IV  die  Polizeiaufsicht  aufhob. 
Jahn  konnte  noch  in  das  Deutsche  Parlament  eintreten.     Er  starb  1852. 

Mehr  noch  als  durch  die  Turnerei  blieb  die  freiheitliche  Richtung  auf 
den  Universitäten  in  den  Burschenschaften  lebendig,  deren  Ideen  und  Formen 
bis  auf  Klopstock  und  den  Göttinger  Dichterbund  zurückweisen.  Das  Wartburg- 
fest der  Burschenschaften  1817  und  vollends  1819  die  Ermordung  Kotzebues 
durch  Saud  3«  gaben  den  Anlass  zu  den  gehässigsten  Verfolgungen!  Trotzdem 
lebte  dieser  Geist  weiter  und  sprach  sich  in  Liedern  aus,  deren  Dichter  zum 
Teil  Deutschland  verlassen  mussten,^'  wsehrend  Anderen ^2  ^j^g  sp^^g^e  Wen- 
dung der  Regierungsansichten  zu  Gute  kam. 

§  170. 

Auf  den  begeisterten  Aufschwung  der  Freiheitskriege  folgte  zunächst  eine 
tiefe  Erschöpfung.  Die  Wunden,  welche  seit  Jahrzehnten  die  Kriege  der  franzoe- 
sischen  Republik,  dann  die  Napoleons  den  europaiischen  Völkern  geschlagen 
hatten,  riefen  nach  dem  Frieden  überall  den  dringenden  Wunsch  hervor,  vor 
allem  ungestcert  den  eigenen  Bedürfnissen  der  Einzelnen,  der  Wiederher- 
stellung des  alten  Wohlstandes  leben  zu  können.  Wo  aber  die  Gedanken, 
welche  die  edelsten  Gemüter  des  deutschen  Volkes  bewegt  hatten,  noch  nach- 
wirkten, namentlich  wo  die  Frage  nach  den  in  der  Not  versprochenen  Ver- 
fassungen   auftauchte,    waren    die   deutschen  Regierungen   unter  Oesterreichs 

29)  LB.  2,  1415.  30)  §  163,  31.  31)  So  die  Brüder  A.  A.  L.  und  Karl  Follen, 

aus  Giessen,  der  eine  in  der  Schweiz,  der  andere  in  Amerika  gestorben.  Ihre  'Freie 
Stimmen    frischer    .Tugend'    erschienen    zu    Jena    1819.  32)    So    Hans    Ferdinand 

Massmann.  Geb.  zu  Berlin  1797,  erhielt  er  1826  in  München  die  Leitung  des  Turuweseus 
im  Cadetteucorps  und  ward  von  Friedricli  Wilhehu  IV  nach  Berlin  berufen,  wo  er  auch 
deutsche  Philologie  lehrte.     Er  starb  1874  zu  Muskau. 


r>00  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XIX  .lAllKlI.  §  170 

Leitung,  welcher  sich  aber  Preusscn  seit  1819  völlig  anschloss,  rücksichtslos 
thivtig,  diese  Regungen  zu  unterdrücken. 

Auch  die  Litteratur  kam  diesen  Absichten  der  Regierungen  entgegen, 
auch  da  wo  sie  nicht  geradezu  ihnen  diente,  wie  dies  insbesondere  durch  die 
in  Metternichs  Sold  getretenen  Romantiker  und  ihre  Freunde  geschah.  Nach 
ihren  Lehren  sollte  die  wiederhergestellte  Macht  der  Kirche  und  des  Adels 
die  Wiederkehr  der  überstandenen  Erschütterungen  verhüten. 

In  Prousseu  wurde  wenigstens  der  Anspruch  des  Adels  durch  den  Baron 
Friedrich  de  la  Motte  ForquE '  auch  dichteriscli  vertreten.  Er  stammte 
aus  einer  franzoesischen  Familie  von  altem  Adel,  welche  mit  den  Refugies 
nach  der  Mark  gekommen  war;  der  Grossvater  des  Dichters  war  General 
unter  Friedrich  dem  Grossen  gewesen.  Geboren  zu  Brandenburg  1777,  be- 
teiligte sich  der  Dichter  an  dem  letzten  Feldzug  Preussens  gegen  die  fran- 
za38ische  Republik,  nahm  aber  1802  den  Abschied,  um  sich  ganz  der  Dich- 
tung zu  widmen.  Er  lebte  auf  dem  Gute  seiner  Gemahlin,  welche  ebenfalls 
schriftstellerisch  thaitig  war,  zu  Nennhausen  bei  Rathenow.  1813  trat  er  als 
der  erste  freiwillige  Jseger  seines  Kreises  ein,  musste  aber  nach  der  Schlacht 
bei  Lützcn  wegen  zerrütteter  Gesundheit  ausscheiden.  Nach  dem  Tode  seiner 
Frau  1831  begab  sich  Fouque  nach  Halle,  wo  er  sich  durch  Vorlesungen 
vor  Gleichgesinnten  erhielt.  1842  ward  er  durch  Friedrich  Wilhelm  IV  nach 
Berlin  berufen,  starb  aber  bereits  1843.  Seine  Jugenddichtungen  veröffent- 
lichte er,  mit  einem  Vorwort  von  A.  W.  Schlegel,  unter  dem  Namen  Pellegrin;- 
unter  dem  eigenen  zuerst  'Sigurd  der  Schlangentoedter,  ein  Heldenspicl  in 
16  Abenteuern',  Berlin  1808.^  In  einer  Trilogie  mit  Vorspiel  fasste  er  die 
altnordische  Sagenform  zusammen  und  wusste  die  Kraft  der  alten  Dichtung  gut 
wiederzugeben,  auch  in  den  eingemischten  Liedern  die  Allitteration  würdig 
einzuführen.  Aber  die  Zeit  war  für  das  fremdartige  Neugebotene  weniger 
empfänglich,  als  für  Fouques  Prosanovelle  'Undine',  Berlin  1811  uö.  Die 
Melusinensage  erschien  darin  anmutig  und  zart,  auch  stilistisch  meisterhaft 
ausgeführt.     Undine  gehört  zu  den  Elementargeistern,*  welche  eine  Seele,  wie 

§  170.  1)  Er  selbst  veröffentlichte  die  'Lebensgeschichte  des  Baron  F.  de  la  Motte- 
Fouque',  Halle  1840.  Dazu  kommen  'Briefe  an  Fr.  B.  de  la  M.-F.'  mit  einer  Biographie 
von  Hitzig,    hg.  von  Fouques  Tochter,    Berlin    1848.  2)  'Dramatische  Spiele',    Berlin 

1801.  Er  übersetzte  aus  dem  Spanischen  und  ahmte  die  Formen  dieser  Poesie  nach. 
3)  S^Meter  fortgesetzt  durch  'Sigurds  Rache'  in  der  vollständigen  Ausgabe  'Der  Held  des 
Nordens',  Berlin  1810.  4)  Fouque  selbst  berief  sich  auf  Theophrastus  Paracelsus  (Musen 

1812,  H.  4,  S.  198);    für  die  Ausführung  schwebte    ihm  wohl  der  Ritter  von  Staufenberu' 


§  170  FüUQUE.     SCHULZE.  591 

Fouque  dichtete,  nur  durch  die  Liebe  eines  Sterblichen  erhalten.  Das 
neckische  Msedchen,  in  ein  liebevolles  "Weib  umgewandelt,  vermag  ihren 
Ritter  wohl  zu  gewinnen,  aber  nicht  zu  bewahren.  Der  Erfolg  dieser  Dich- 
tung war  ausserordentlich'^  und  zeigte  sich  auch  in  der  Beteiligung  vorzüg- 
licher Dichtergenossen''  an  Fouques  Zeitschrift  'Die  Musen',  Berlin  1812  bis 
1814,  III. '^  Aber  leider  Hess  er  sich  dadurch  zur  Yielschreiberei  verführen 
und  suchte  die  Wiederholung  seiner  mehr  und  mehr  auf  das  Ausserliche  ge- 
richteten Schilderungen  durch  Allegorie  zu  vergüten,  welche  doch  nur  immer 
wieder  seine  freilich  aus  Überzeugung  fliessende  ^  Ansicht  von  den  Vorzügen 
und  Vorrechten  des  Adels  einhüllt.  Im  Zauberring  ^  stellte  er  unter  dem 
Bilde  eines  alten  Burgherrn,  dessen  Gäste  aus  den  verschiedensten  Ländern 
sich  sämtlich  als  seine  Kinder  zu  erkennen  geben,  die  weite  Verzweigung 
des  deutschen  Adels  dar,  in  dem  Rittergedichte  'CoronaV*^  dessen  Heldin 
durch  den  zu  christlicher  Demut  bekehrten  Ritter  Romuald  besiegt  wird,  die 
Überwindung  der  Revolution.  Als  sich  Fouque  1819  gegen  die  so  hart  ver- 
folgten Wortführer  der  Freiheitsbestrebungen  aussprach,  vergass  man  ihn  zu 
seinem  bittren  Leid. 

Fouques  weiche  Phantasie  und  die  Benutzung  der  nordischen  Sage 
nahm  ein  Dichter  auf,  der  jedoch  seine  Gebilde  in  südliche  Versformen  ein- 
kleidete:  Ekn.st  Schulze  aus  Celle  1789  —  1817.  Er  hatte  mit  einem  epi- 
schen Gedichte  Tsyche'  begonnen  und  darin  die  Graziendichtimg  von  Wieland 
und  G.  Jacobi  nachgeahmt.  Seiner  jungverstorbenen  Geliebten  Csecilia  Tychsen, 
der  Tochter  eines  Göttinger  Professors,  widmete  er  das  Epos  'Caeciha',  eine 
romantische  Verherrlichung  der  Siege  Ottos  des  Grossen  über  die  heidnischen 
Dfenen,  in  etwas  unregelmsessigen  Stanzen.  Um  so  kunstvoller  und  zarter 
ist  sein  letztes  Gedicht  'Die  bezauberte  Rose':  eine  Prinzessin  Clotilde  wird 
von  der  Feenkoenigin  zur  Rosenknospe  gewandelt,  dann  durch  die  Tcene  des 
Sängers  Alpin  entzaubert.  Die  Lieder,  welche  E.  Schulze  als  FreiwiUiger 
dichtete,  sind  ihm  w^eniger  gelungen,  als  seine  etwas  sinnlichen  Elegien  aus 
noch  früherer  Zeit.'^ 

vor:  §  66,  56.  Auch  seines  Freuudes  Kleist  Kstclien  von  Heilbronn  wird  Fouque  benutzt 
haben.  5)  Immermann    Memorabilien    1,    282    nennt   die  Wirkung   iehnlich    der    des 

Werther  und  der  Rauber.  6)  So  Ubland.     Andere  Dichter   führte  Fouque  durch  Be- 

vorwortung  ihrer  Werke    ein.  7)  Sptetere   Zeitschriften  Fouques    treten  weit   zurück. 

8)  In  der  Vorrede  zum  Zauberring  versichert  er,  dass  er  seine  litterarisehe  Arbeit  stets 
mit  Gebet  beginne.  9)  Nürnberg  1812.  10)  Tübingen  1814.  11)  E.  Schulzes 

sämtliche   poetische  Schriften,    hg.  von  F.  Bouterwek,    Lpz.  1819.  20,   IV;    neue  Ausgabe 


592  NEUIIOCIIDEUTSCITE   ZEIT.        XIX  JAIIKII.  §  170 

Noch  weiter  zurück  bis  auf  Klopstocks  Epos  griff  Johann  Ladislaitb 
Pyrker,  geb.  1772  zu  Langh  im  Stuhhvcissenburger  Comitat,  gest.  1847  zu 
Wien  als  Erzbischof  von  Erlau.  Schon  18 lU  hatte  er  Historische  Schau- 
spiele' aus  der  ungarischen  Geschidite  nach  Collins  Muster  gedichtet.  Seine 
in  Hexametern  abgefasste  'Tunisias',  eine  Schihlerung  des  Kriegszugs  von 
Karl  V  gegen  Tunis,  erschien  1819  zu  Wien,  sein  'Rudolf  von  Habsburg' 
1824.  Die  historische  Erztehlung  hat  durch  Einmischung  von  Helden  der 
Vorzeit  eine  Art  von  mythischem  Hintergrund  erhalten;  in  die  hochtrabende 
Rede  drängen  sich  beständig  niedrige  Wendungen  ein.  Die  gleiche  kalte 
Auffassung  zeigen  die  Legendendichtungen,  welche  Pyrker  als  Terlen  der 
heiligen  Vorzeif  zu  Ofen  1821  veröffentlichte  und  später  noch  vermehrte. 

Unvergleicldich  weiter  reichend  als  die  Wirkung  dieser  Dichter,  dauern- 
der auch  als  der  Ruhm  Fouques '-  zeigte  sich  der  Erfolg  eines  Erzfchlers, 
der  ganz  fern  sich  hielt  von  den  politischen  Fragen  und  einzig  den  Enthu- 
siasmus für  die  Kunst,  vor  allem  für  die  am  meisten  romantische  Kunst, '^  die 
Musik,  zum  Ausdruck  brachte,  damit  die  Vorliebe  für  das  Wunderbare  und 
Grauenhafte,  für  Zauberspuk  und  Wahnsinn  verband  und  diese  Uberschwäng- 
lichkcit  durch  den  Gegensatz  gegen  die  gemeine,  ja  verzerrte  Wirklichkeit 
noch  zu  crhuehen  verstand.  Amadeus^*  oder  richtiger  Ernst  Theodor  Wil- 
helm Hoffmann  war  1776  zu  Koenigsberg  geboren'^  und  kam  1800  als  Be- 
amter in  das  preussische  Polen.  In  Warschau,  wo  er  seit  1804  lebte,  traf 
er  zusammen  mit  Z.  Werner  und  Hitzig,  die  ihn  mit  der  neuen  romantischen 
Litteratur  bekannt  machten.  In  das  lebhafte  gesellige  und  künstlerische 
Treiben  schlug  wie  ein  Blitz  aus  heitrem  Himmel  der  Untergang  Preussens 
ein.  Vor  den  franzoesi sehen  Siegern  und  der  ihnen  entgegen  kommenden 
nationalen  Erhebung  in  Polen  zerstob  die  preussische  Beamtenschaft.  Der 
preussische  Staat,  auf  die  Hälfte  zusammen  gedrängt,  vermochte  seine  bis- 
herigen Beamten  nicht  zu  erhalten.  Hoffmaun  verwertete  seine  künstlerischen 
Fcehigkeiten  und  ging  als  Musikdirector  nach  Bamberg.     Als  er  eine  sehnliche 

mit  Biographie  von  Marggraf,  Lpz.  1855,  V.  Für  das  Andenken  des  in  Hannover  schwär- 
merisch verehrten  Dichters  sorgte  zuletzt  der  koenigliche  Hof.  12)  Dessen  Undine 
Hoflmann  als  Oper  componiert  hat.  13)  Die  eigentlich  romantische  Kunst  hatte  schon 
F.  Schlegel  in  der  Lucinde  sie  genannt.  14)  Den  Vornamen  Amadeus  verdankte  er 
einem  Druckfehler  auf  dem  Titel  einer  seiner  ersten  Schriften,  wo  anstatt  eines  W  ein  A 
eingesetzt  war,  das  er  seitdem  heibehielt.  15)  (Hitzig)  Aus  HofFmanns  Leben  und 
Nachlass,  Berlin  182.3,  II.  Z.  Funck,  Aus  dem  Leben  zweier  Dichter,  Bamberg  1836. 
E.  T.  A.  Hoö'mann ,    Erzählungen   aus    seinen    letzten  Lebensjahren,    sein  Leben  und  sein 


§  170  PYRKER.     HOFFMANN.  593 

Stelle  in  Sachsen  angenommen  hatte,  griff  nochmals  der  Gang  der  Wclt- 
begebenheiten  in  sein  Leben  ein:  er  erlebte  als  unfreiwilliger  Augenzeuge  die 
Schlacht  bei  Dresden  1813.  In  dem  Ernste  der  ntechstfolgenden  Zeit  war 
er  glücklich,  wieder  in  den  Staatsdienst  eintreten  zu  können:  er  war  am 
Kammergericht  zu  Berlin  seit  1814  beschäftigt  und  1810  angestellt.  Seine 
Berufsgeschäfte  erledigte  er  tadellos,  gab  sich  aber  im  Verkehr  mit  Schau- 
spielern, insbesondere  dem  genialen  Ludwig  Devriont,  einem  schwelgerischen 
Leben  hin,  wozu  eine  zuletzt  überrasche  Schriftstellerei  ihm  die  Mittel  ge- 
waehrte.  An  der  Rückenmarksdarre  starb  er  schon  1822.  Von  seinen 
Schriften  erschienen,  durch  Jean  Paul  eingeführt,  die  'Phantasiestücke  in 
Callots  Maniei-',  Bamberg  1814,  III.  Die  groteske  Manier  dieses  lothringi- 
schen Zeichners  zur  Zeit  Ludv/igs  XIV,  seine  kecken  Striche,  welche  bei 
aller  Verzerrung  und  "Willkür  eine  gewisse  Grazie  nicht  verleugneten,  wollte 
er  als  Schriftsteller  nachbilden.  Der  verkörperte  Ausdruck  seiner  Begeiste- 
rung für  die  reine,  hohe  Kunst,  die  mit  der  wirklichen  Welt  in  mannigfache 
Widersprüche  gerset,  ist  Hoffmanns  Kapellmeister  Kreisler.  Noch  phantas- 
tischer ist  der  Geisteszustand  des  Enthusiasten  im  Mserchen  vom  goldenen 
Topf  wiedergegeben,  einer  tollen  Hseufung  von  Zaubereien  und  Verwand- 
lungen, wobei  gerade  das  Allergewcehnlichste  in  das  Wunderbarste  übergeht 
und  wieder  daraus  sich  zurückbildet.  Von  aller  ertreeumten  Pracht  bleibt 
zuletzt  nur  die  Sehnsucht  zurück  nach  dem  Feenland,  der  Insel  Atlantis, 
d.  h.  dem  Leben  in  der  Poesie.  'Die  Elixiere  des  Teufels',  Berlin  1815, 
1816,  n,  stellen  den  unmerklichen  Übergang  des  reinen  frommen  Lebens 
zum  Verbrechen  und  zur  abscheulichsten  Bosheit  dar,  und  ebenso  dunkel  ge- 
färbt sind  die  'Nachtstücke',  Berlin  1817.  Haben  hier  offenbar  Jugend  werke 
Tiecks  als  Muster  gedient,  so  vereinigen  nach  dem  Vorbild  von  Tiecks  Phan- 
tasus  'Die  Serapionsbrüder'  1819  eine  Reihe  von  Novellen  freundlicheren 
Inhalts:  'Der  Sängerkrieg  auf  Wartburg',  'Meister  Martin  der  Küfer,  eine 
von  Spseteren  viel  benutzte  Darstellung  der  Meistersängerei,  'Die  Bergwerke 
von  Falun'  ua.  ''^  Mit  beständiger ,  scheinbar  willkürlicher  Unterbrechung 
wechseln  Schwärmerei  und  Spott  in  den  'Lebensansichten  des  Katers  Murr 
nebst  fragmentarischer  Biographie  des  Kapellmeisters  Joh.  Kreisler  in  zufäl- 
ligen Makulaturblättern',  Berlin  1820,  22,  II.  Noch  einmal  griff  Hoffmann 
geradezu    auf  Callots   Bilder   zurück   in  dem  Capriccio   'Prinzess  Brambilla', 


Nachlass,  hg.  von  Micheline  Hoffniann,  Stuttgart  1839,  V.  16)  Freilich  der  Vergleich 

mit  Hebels  Erzeehlung  'Der  Bergmann  von  Falun'  fällt  zu  Ungunsten  Hoffmanns  aus:    der 


504  NEUIIOCIIDKUTSCIIE   ZEIT.        XIX  JAIIRII.  §  170 

Breslau  1821,  worin  Camcvalsconcn  wie  Schatlonbildor  vorübortaiizcn.  Iloff- 
nianns  Phantasien  haben  vielen  Spicteren  zur  Fundgrube  gedient  und  selbst 
in  Frankreich  und  noch  auf  lange  hinaus  Nachahmung  gefunden. 

Wadirend  llottmann  die  Spannung  und  Ermattung  der  Zeitgenossen 
durch  ein  Überniass  der  Phantasie  aufzureizen  suchte,  kam  eine  Reihe  an- 
derer Schriftsteller  dem  Ruhebedürfnis  der  Zeit  entgegen,  indem  sie  das  ge- 
wophnliche  Leben,  insbesondere  die  Familienverhältnisse  zum  Gegenstand  einer 
leichten,  gelegentlich  auch  lockern  Darstellung  nahmen.  Sie  knüpften  damit  an 
den  Familienroman  von  Lafontaine  (§  164)  wieder  an,  nur  vertauschten  sie  seine 
Gefühlsschwelgerei  mit  einer  platteren  Lebensauffassung.  Hierdurch  gewann 
der  Postrat  Karl  Heun  aus  Dobrilugk,  geb.  1771,  gest.  zu  Berlin  1854, 
welcher  unter  dem  Pseudonym  Clauren  schrieb,''  zuerst  einen  grossen  Leser- 
kreis, zog  sich  dann  aber  die  Züchtigung  Wilhelm  Hauffs  (§  172)  zu,  dessen 
Parodie  'Der  Mann  im  Mond'  seine  Oberflächlichkeit  und  Lüsternheit,  seine 
Speisezettel  und  Kleiderverzeichnisse  dem  Gelächter  preisgab.  Reiner  und  tiefer 
zeigte  doch  die  gleiche,  auf  die  vorromantische  Zeit  zurückgreifende  Lebens- 
auffassung Heinrich  Zschokke,  der  zu  Magdeburg  1771  geboren,  1848  zu  Aarau 
gestorben,  sein  bewegtes  Loben  selbst  anziehend,  nur  mit  einer  gewissen  be- 
rechneten Bescheidenheit  beschrieben  hat  als  'Selbstschau',  Aarau  1842.'* 
Früh  verwaist,  hatte  er  zwischen  Schul-  und  Universitnetszeit  als  Theater- 
dichter einer  Wandertruppe  angehoert,  dann  in  Frankfurt  a.  0.  erst  studiert, 
dann  sich  habilitiert,  aber  aus  Widerwillen  gegen  den  kirchlichen  Zwang  des 
Ministers  WöUner  Preussen  verlassen.  In  die  Schweiz  und  nach  Paris  ge- 
wandert, übernahm  er  1796  die  Leitung  eines  Lehrerseminars  in  der  Naehe 
von  Chur,  wurde  aber  schon  1798  durch  den  Kampf  zwischen  den  cester- 
reichisch  gesinnten  Conservativen  und  den  von  Frankreich  unterstützten  Libe- 
ralen vertrieben.  Unter  den  Letzteren  errang  er  durch  Gewandtheit  und 
Furchtlosigkeit  rasch  eine  hervorragende  Stellung  und  wirkte  als  Regierungs- 
commissaer  in  den  Waldstaedten ,   in  Basel    und  im  Tessin  thatkräftig  für  die 


Zauber  des  Berggeists  verstärkt  die  Rührung  nicht.  17)  Von  den  zahlreichen  Erzaeh- 

lun^en  Claurens  ward  'Mimili\  Dresden  1816.  besonders  beliebt :  er  schildert  darin  die 
Liebschaft  eines  preussischen  OflBziers  mit  einem  schweizerischen  Naturkind,  welches  doch 
zugleich  auch  hochgebildet  ist,  die  besten  Dichter  und  Musiker  kennt,  auch  Botanik 
studiert.  Von  Claurens  Lustspielen  wurde  'Der  Bräutigam  aus  Mexiko',  Dresden  1824, 
viel   aufgeführt.  'Gesammelte    Schriften",    Lpz.  1851,  XXV.  18)   Dazu   F.  W.  Genthe. 

Erinnerungen  an  H.  Z.  Eisleben  1850.  W.  Xeumann,  H.  Z.  Eine  Biographie,  Cassel  1853. 
F.  Bsbler,    H.  Z.  Ein    Lebensbild.     Aarau   1884.     St.   Born,  H.    Z.    (Vortraege,    gehnlten 


§  170  ZSCIIOKKE.     HEGNER.  595 

einheitliche  Republik.  1801  zog  er  sich  in  das  Privatleben  zurück  und  lebte 
zunaechst  in  Bern,  dann  in  Aarau,  wo  er  als  Beamter  und  Schriftsteller 
erfolgreich  für  den  politischen  und  religioescn  Freisinn  eintrat.  Seine  Zeitung 
'Der  aufrichtige  und  wohlerfahrnc  Schweizerbote'  von  1804  ab  gewann  ihm 
auch  in  Baden  Freunde  an  Hebel,  Wessenberg  ua.  Seine  'Stunden  der  An- 
dacht', welche,  1806—16  geschrieben,  in  zahlreichen  Auflagen  und  Über- 
setzungen erschienen,  verbreiteten  seine  von  allem  Confessionalismus  freien 
religioescn  Ansichten.  Wie  er  schon  die  von  ihm  erlebten  politischen  Ereig- 
nisse in  der  Schweiz  beschrieben  hatte, '^  so  verfasste  er  im  Auftrag  des 
Kcenigs  von  Bayern  eine  Geschichte  dieses  Landes.-''  Als  Dichter  war  er 
schon  in  seiner  Jugend  aufgetreten  mit  Ritter-  und  Raeubertragoedien ,  unter 
denen  'Abällino  der  grosse  Bandit',  1794,^^  besonderen  Beifall  fand.  In  'Ala- 
montade  der  Galeerensklave',  Zürich  1802,  bewahrt  der  Held  auch  unter 
überaus  schrecklichen  und  dazu  völlig  unverschuldeten  Verhältnissen  den  Gleich- 
mut der  Tugend.  1811 — 27  schrieb  Zschokkc  seine  'Erheiterungen',  eine 
Reihe  von  51  Novellen,  deren  Zahl  er  überhaupt  bis  auf  71  brachte.  Einige 
darunter  verfolgen  volkspaedagogische  Zwecke  im  Sinne  Pestalozzis :  'Das 
Goldmacherdorf'  1817,  'Die  Branntweinpestf  1837;  andere  verwerten  Erinne- 
rungen an  die  Revolutionszeit,  wie  'die  Rose  von  Disentis',  'der  Flüchtling  im 
Jura';  die  meisten  aber  bezwecken  nur  eine  leichte,  muntere  Unterhaltung. 

Von  den  gleichzeitigen  Novellisten  und  Romanschriftstellern  reiht  sich 
JoH.  Ulrich  Hegner  aus  Winterthur  (1759 — 1840)  insofern  an  Zschokke  an, 
als  er  jene  helvetischen  Bewegungen  von  1798  als  'Salys  Revolutionstage'  1816^^ 
schilderte,  und  in  der  'Molkenkur'  1812,^^  welcher  'Suschens  Hochzeit'  1819 
folgte,  die  Schweizer  Eigentümlichkeiten  durch  einen  Norddeutschen  wider- 
spiegeln Hess.  Eine  gute  Beobachtung  mit  trockenem  Witz  verbunden,  steht 
Hegner  auch  in  seinen  Kunsturteilen  zu  Gebot  ;^^  schon  die  hohe  Stellung, 
welche   er  Goethe   anweist,    zeigt   sein   Fortschreiten   über  Zschokke    hinaus. 


iu    der    Schweiz),    Basel   1885.  19)    'Geschichte    vom    Kampf    uad    Untergang    der 

schweizerischen  Berg-  und  Waldkantone',  Zürich  1801.  'Historische  Denkwürdigkeiten 
der  helvetischen  Staatsumwälzung',  Winterthur  1803 — 5 ,  III.  Daran  schliesst  sich  'Des 
Schweizerlandes  Geschichten  für  das  Schweizervolk",  Aarau  1822.  20)  Der  Baierischen 

Geschichten  I— VI.  Buch,  Aarau  181.3—18,  IV.  21)  Frankfurt  u.  Leipzig.  22)  Winter- 
thur. 23)  Zürich.  24)  Bereits  in  'Auch  ich  war  in  Paris',  Winterthur  1803.  4,  II. 
'Beitraege  zur  nseheren  Kenntnis  Lavaters',  Lpz.  1836.  Gesammelte  Schriften,  Berlin  1828 
his  1830,  V.  Litterarische  Aphorismen  aus  Briefen  an  J.  G.  Müller:  Acad.  Blätter,  1,  412  fgg. 
Eigene  Aufzeichnungen    über   seine  Jugendjahre,    hg.    von    A.    Hafner,    Winterthur   1886. 


596  NEUIIOCIIDET'TRCIIE   ZEIT.         XIX  JAIIRII.  §  170 

Zahlreiche  andere  Schriftsteller  suchten  entweder  mit  Erza-hhingcn  aus  der 
Gegenwart,  meist  in  Novellonform,  zu  unterhalten,  wie  Fuikdricii  Mosexof:!!. 
aus  Meiningen  (1773 — 1839)  und  der  unter  dem  Namen  August  von  Tromlitz 
schreibende  K.  Ar«,  von  Witzlkben  (geh.  1773  bei  Weimar,  gest.  1839  zu 
Dresden)  uder  durch  historische  Romane  zugleich  zu  belehren :  so  Franz  von 
i>ER  Velüe  aus  Breslau  (1779 — 1824)  und  mit  bosojiderem  Erfolg  Karl 
Si'iNDLER-^  (geb.  1795  zu  Breslau,  aber  in  Strassburg  aufgewachsen  und  in 
dessen  Ntehe  in  Bad  Freiersbach  1855  gestorben).  Von  den  Frauen,  welche 
die  historische  Erztehlung  pflegten,  ist  die  Wienerin  Karoline  Pichler^*^ 
(1769 — 1843)  als  Vermittlerin  zwischen  der  Zeit  Blumauers  und  der  roman- 
tischen und  als  Vertreterin  des  oesterreichischen  Patriotismus  viel  gefeiert 
worden. 

Doch  der  geschichtliche  Roman  sollte  erst  in  der  Folgezeit '^^  auch  in 
Deutschland  seine  Ausbildung  erhalten.  Neeher  an  Goethe  und  Jean  Paul 
zugleich  hielt  sich  ein  Dichter  von  ernstem  Streben,  der  eben  deswegen  sich 
auf  sehr  verschiedenen  Gebieten  versucht,  aber  bei  der  Unverträglichkeit 
seines  Wesens  mit  der  romantischen  Auffassung  im  Dichten  wie  im  Leben 
erst  spöet  seine  rechte  Bahn  und  dann  ein  rasches  Ende  gefunden  hat.  Karl 
Lebrecut  ImmerxMann^**  war  1796  zu  Magdeburg  geboren,  hatte  1813  die 
Universitaet  Halle  bezogen  und  kehrte  1815  aus  dem  Feldzug  als  Offizier 
zurück.  1819  kam  er  als  Divisionsauditeur  nach  Münster  und  lernte  hier 
die  Grsefin  Elisa  von  Ahlefeldt  kennen,  welche  nun  ihren  Gemahl,  den  General 
Lützow,  verliess  und  mit  Immermann  lebte,  ohne  ihm  jedoch  ihre  Hand  zu 
reichen. ^■•*  Sie  folgte  ihm  1827  nach  Düsseldorf,  wo  er  beim  Landgericht 
angestellt  war.  Hier  war  eben  damals  durch  die  Begründung  der  Maleraka- 
demie unter  Schadow  ein  lebhaftes,  geistreiches  Treiben  erwacht,  welches 
durch  den  Hof  des  Prinzen  von  Preussen  noch  gefördert  wurde.     Immermann 


25)  Der  Jude,  Deutsches  Sittengemaelde  aus  der  ersten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts,  Stuttg. 
1827,  IV.  Der  Jesuit,  Charactergemselde  aus  dem  ersten  Viertel  des  18.  Jahrh.,  Stuttg. 
1829,  III.  26)  Denkwürdigkeiten   aus  meinem    Leben',    Wien  1844,    IV.     Ihr  'Aga- 

thocles'  1809  stellt  die  Anfänge  des  Christentums  dar.  Ihre  dramatischen  Dichtungen 
schliessen  sich  an  die  Collins  an.  27)  §  174.  28)  Immermann  hat  seine  Jugend- 

zeit selbst  geschildert  in  den  'Meraorabilien',  III,  Hamburg  1840 — 43.  Auf  Grund  seines 
Tagebuchs  und  der  Familienbriefe  hat  G.  v.  Putlitz  über  'Immermanns  Leben  und  Schriften' 
gehandelt,  Berlin  1870,  II.  Vgl.  auch  D.  F.  Strauss,  Ges.  Sehr.  2,  161—197.  'Immer- 
manns Schriften'  erschienen  gesammelt  zuerst  Düsseldorf  1835 — 43,  XIV.  29)  L.  Assing, 
Grffifiu  Elisa  von  Ahlefeldt,   Berlin  1857.     So  hatte  Frau  voil  Stein  sich  nicht  mit  Goethe, 


§  170  IMMERMANN.  597 

fand  geistreiche  Freunde  an  F.  von  Üchtritz,^^  an  dem  Kunsthistoriker  Karl 
Schnaase;  ^^  die  jungen  rheinischen  Dichter^'  schlössen  sich  ihm  an.  Von 
jeher  hatte  er  besonders  die  Bühne  im  Auge  gehabt;  nachdem  er  in  Tiecks 
Art  dramatische  Yorlesungen  gehalten  und  1832  auf  33  einen  Theaterverein 
begründet  hatte,  übernahm  er  1834  die  Leitung  des  Düsseldorfer  Theaters, ^^ 
das  er  durch  Mustervorstellungen,  wenn  auch  mit  geringen  Kräften,  zu  einem 
Epigonen  des  weimarischen  zu  gestalten  suchte.  Felix  Mendelssohn-Bartholdy 
dirigierte  die  Oper,  vertrug  sich  freilich  nicht  lange  mit  Immermann.  Dieser 
musste,  da  die  Mittel  zur  Fortführung  des  Theaters  nicht  ausreichten,  1836 
in  die  juristische  Laufbalm  zurückkehren.  1839  trennte  er  sich  endlich 
von  der  Gräfin  Ahlefeldt;  die  Liebe  einer  jungen  Frau  gab  ihm  das  lang 
ersehnte  Familienglück.  Doch  mitten  im  freudigsten  Schaffen  nahm  ihn  schon 
1840  der  Tod  hinweg. 

Unter  den  zahlreichen  und  verschiedenartigen  Werken  des  Dichters  sind 
seine  lyrischen  Gedichte  am  wenigsten  eigentümlich;  die  Balladen  suchen  die 
altenglische  von  Bürger  nachgeahmte  Form  neu  zu,  beleben.  Die  didaktischen 
Dichtungen  haben  ihren  Wert  durch  die  tiefempfundenen  Gedanken,  mit  denen 
sich  Immermann  gern  den  herrschenden  Ansichten  und  Neigungen  entgegen- 
stellte, selbst  da,  wo  er  innerlich  ihnen  hätte  zustimmen  können  und  nur  ihr 
seusserer  Überschwang  ihn  zur  Kritik  veranlasste.  So  war  er  gegen  die 
Burschenschaften,  gegen  die  Philhellenen  aufgetreten,  so  nahm  er  P.  Pfizers 
Eintreten  für  Preussens  Beruf  in  Deutschland  ^^  mit  msekelnder  Kälte  auf,  so 
bekämpfte  er  an  Heines  Seite  Platen.^^ 

Immermanns  'Gedichte'  erschienen  zuerst  1822  und  gleichzeitig  seine 
'Trauerspiele'.  Von  diesen  bezieht  sich  'Petrarcha'  bereits  auf  sein  Verhältnis 
zu  Frau  von  Lützow;  dem  Unmut  über  dessen  unbefriedigende  Gestaltung 
gab   er  Ausdruck  in  'Gardenie   und   Gelinde',    nach  Gryphius,    Berlin  1826. 


Frau  von  Kalb  sich  niAt  mit  Schiller  vermsehleu  wollen.  30)  §  171,   13.  31)  Geb. 

zu  Danzig  1798,  gest.  zu  Wiesbaden.  1875.  'N'iederländische  Briefe',  Stuttgart  1834.  Ge- 
schichte der  bildenden  Künste,  Düsseldorf  1813 — 64,  VII.  ^  Düsseldorf,  dann  Stuttgart, 
1866—1879,  VIII.  32)  F.  Freiligrath,    Immermann.     Blätter  der  Erinnerung  an  ihn. 

Stuttgart  1842.  33)  Vgl.  Immermanns  'Maskengespraeche'  über  diese  'Düsseldorfer  An- 

fange', 1840.  34)  §  172,  47.  35)  §  173,  nach  Anm.  43.     Gegen  Platens  roman- 

tischen Oedipus  richtete  er  eine  gehalten  scherzende  Gegenschrift  'Der  im  Irrgarten  der 
Metrik  herumtaumelnde  Cavalier'  (vgl.  §  143,  31)  und  citierte  Platen  anerkennend  in  den 
Briefen  an  seine  Braut,  wsehrend  er  um  1831  sich  von  Heine  abwandte:  Putlitz  2, 
283;  1,  2(il. 


598  NEUIIOCIIDEUTHCIIE   ZEIT.        XIX  JAIIUII.  §  170 

riatens  Urteil  über  dies  Stüek  iiia<i;  doch  dazu  beigetrat^en  haben,  dass 
Immerniann  sieh  dem  gesehichthchen  Trauerspiel  zuwandte.  In  dem  'Trauer- 
spiel in  Tirol",  Hamburg  182.S,  welches  er  später  mehr  bühnengerecht  her- 
stellte und  'Andreas  llofer"'  nannte,  suciite  er  die  Volkseigentümlichkeit  getreu 
wiederzugeben,  wobei  er  sich  der  Freiheiten  Shakespeares  bediente.  Ebenso 
ging  er  auf  die  geschichtlichen  Gegensätze  ein  in  'Kaiser  Friedrich  II',  Ham- 
burg 1828,  und  in  der  Trilogic  'Alexis',  Düsseldorf  1832.  Noch  einmal  griff 
er  als  Dramatiker  zurück  in  die  romantische  Welt:  sein  'Merlin,  eine  Mythe', 
Düsseldorf  1882,  eine  Tragoedie  des  Widerspruchs,  wie  er  sagte,  schildert 
den  Sieg  des  Glaubens  im  Untergang  der  äusseren  Welt. 

Die  bretonischc  Sage  behandelte  Immermann  auch  als  erzählender 
Dichter.  Sein  letztes,  unvollendetes  Werk  war  'Tristan  und  Isolde',  Düssel- 
dorf 1841,  in  schoenen  Strophen:  nach  dem  gefälschten  Eidschwur  gedachte 
er  das  Liebesleben  aufhopren  zu  lassen  und  so  die  Leidenschaft  durch  die 
Busse  zu  sühnen.  Alter  ist  ein  komisches  Epos  'Tulifäntchen',  Hamburg 
1830,  welches  in  zierlicheij  Trocha?en  und  mit  poesievollen  Bildern  die  Ge- 
schichte des  winzigen  Helden  erzählt,  und  die  Ansprüche  des  Adels  in 
ihrem  Widerstreit  gegen  die  riesige  Gewerbstha^tigkeit  der  Neuzeit  und 
ihre  Mittel  verspottet,  nebenher  auch  die  Frauenemancipation ,  die  poesie- 
feindhche  Musikschwärnierei  ua.  durchhechelt.  Unverhüllt  sind  die  Zeitschil- 
derungen im  Prosaroman  'Die  Epigonen',  welcher  Düsseldorf  1836  erschien, 
jedoch  weit  früher  begonnen  war.  Der  Kampf  des  Feudalismus  und  der 
Grossindustrie  wird  nach  Vorgängen  in  Immermanns  Heimat  dargestellt;  zu- 
gleich entsagungsvoll  die  schon  im  Titel  angedeutete  Meinung  ausgesprochen, 
dass  die  Bildung  und  Dichtung  der  Gegenwart  schon  durch  das  überreiche 
Erbe  der  Vergangenheit  verhindert  werde.  Vollkommenes  zu  leisten.  In  dem 
bunten  Gewühl  der  auftretenden  Figuren  erscheinen  teils  wirkliche,  nur 
leicht  verhüllte  Personen,  so  A.  W.  Schlegel  als  Hindu,  teils  auch  Phantasie- 
gebilde, wie  Flämmchen,  eine  Mischung  von  Mignon  und  Phihne.  Der  letzte 
Roman  Immermanns,  'Münchhausen,  eine  Geschichte  in  Arabesken',  Düssel- 
dorf 1838.  39,  IV,  stellt  die  verschiedenen  Kreise  neben  einander  und  in 
nur  losen  Zusammenhang.  Einer  Welt  des  Scheins  und  der  Thorheit,  in  wel- 
cher einzelne  Züge  auf  Fürst  Pückler,  Bettina,  aber  auch  auf  das  junge 
Deutschland  hinweisen,  tritt  die  der  Wirklichkeit  gegenüber,  auch  sie  nicht 
ohne  Irrtümer  und  Fehler,  aber  doch  tüchtig  und  der  Liebe  zugänglich.  Der 
westfselische  Hofschulze,  der  mit  dem  Schwert  Karls  des  Grossen  das  heim- 
liche Gericht  hegt,  wahrt  Immermanns  dichterischen  Ruhm. 


§171  TIIEATERDICIITER.  599 

§  1^1- 
In  der  politisclien  Stille,  welche  nach  den  Freiheitskriegen  eintrat,  ward 
das  Theater  fast  der  Mittelpunct  des  öffentlichen  Lebens.  Neben  den  Hof- 
bühnen entstanden  in  den  Hauptstädten  kleinere  Theater,  von  Gesellschaften 
oder  Einzelnen  begründet,  meist  mit  der  Absicht  die  leichteren  Gattungen 
des  Dramas,  Lustspiel,  Singspiel,  Posse  zu  pflegen.  In  Wien  waren  solche 
Nebenbühnen  schon  vorbanden;  in  BerHn  ward  1819  das  Koenigsstädter 
Theater  errichtet.  An  genialen  Schauspielern  fehlte  es  nicht:  die  Familie 
Devrient  hat  allein  schon  eine  Dynastie  von  Bühnenbeherrschern  erzeugt  und 
einer  von  ihnen,  Eduard  Devrient,  hat  eine  freilich  nicht  immer  zuverlässige 
'Geschichte  der  deutschen  Schauspielkunst'  geschrieben.^  Sophie  Schroeder,^ 
in  Hamburg  ausgebildet,  in  Wien  wsehrend  ihrer  Glanzzeit  angestellt,  ver- 
körperte Schillers,  dann  Grillparzers  Frauengestalten;  ihre  Tochter  Wilhel- 
mine,^  mit  Karl  August  Devrient  verheiratet,  feierte  überall  wahre  Triumphe, 
ebenso  Henriette  Sonntag,*  beide  freilich  Sängerinnen:  jene  hat  1822  Beetho- 
vens ^  Fidelio,  diese  gleichzeitig  K.  M.  v.  Webers  Freischütz  zu  voller  Geltung 
gebracht,  zwei  Opern,  welche  in  ihrer  menschlichleidenschaftlichen,  aber  volks- 
tümlichdeutschen Art  zur  romantischen  Dichtung  die  musikalische  Ergänzung 
darboten.  Dass  aber  gerade  die  Oper  als  der  Gipfel  der  Bühnenleistungen 
erschien  und  so  schwärmerische  Begeisterung  hervorrief,  ist  bezeichnend  für 
die  politisch  stille,  hcefische  Zeit.  Auch  im  Schauspiel  tritt  der  gleiche  Zug 
hervor.  Es  sind  zum  Teil  Dichter  aus  vornehmen  Familien,  welche  die 
Bühnen  versorgen,  und  noch  mehr  ist  die  Bühnenleitung  die  Sache  adeliger 
Hofleute.  Neben  jenen  Dichtern  stehen  Schauspieler  und  Andere,  welche 
den  Wünschen  der  Hoefe  so  viel  als  moeglich  entgegenkommen.  Mehr  als 
H.  v.  Kleist  und  Z.  Werner  lassen  diese  Dichter  den  klügelnden  Verstand 
und  die  Berechnung  der  Bühnenwirksamkeit  vorherrschen.  Ihre  Stücke  sind 
nicht  nur  aufführbar,  sondern  auch  packend:  bald  erschüttern  sie  durch  die 
Stärke  der  tragischen  Eindrücke,  bald  überraschen  sie  durch  Situationskomik. 
Im  Trauerspiel  schlössen  sich  an  Schiller  und  an  Werner  die  Dichter  der 
Schicksalstragoedie*^  an,  welche  freilich  durch  Übertreibung,  durch  Willkür, 
durch  rein  seusserliche  Auffassung  des  Zusammenhangs  zwischen  Schuld  und 


§    171.      1)    Leipzig  1848—1874,  V.  2)    Geb.  1781  iu  Paderborn,  gest.  za  München 

1868.  3)  Greb.  zu  Hamburg  1804,  gest.  zu  Coburg  1860.  4)  Greb.  zu  Coblenz  1803, 

gest.  in  Mexico  1854.  5)  Ludwig  van  Beethoven,    geb.  zu  Bonn  1770,   gest.  zu  Wien 

1827;    Karl  Maria  v.  Weber,  geb.  zu  Eutin  1786,  gest.  zu  London  182f3.     'Der  Freischütz' 
wurde  zuerst  1821  aufgeführt.  (i)    .T.  Minor,    Die  Schicksalstraguedie    iu    ihren  Haupt- 


600  NEUJIOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XTX  JAllRIf.  t<  171 

Sühne  ebenso  rasch  wie  sie  Ansehen  und  Maclit  gewonnen  liatte,  diese  auch 
wieder  verlor.  Von  der  romantischen  Uiclitung  war  die  irussere  Form  der 
meisten  Öchicksalstrago'dicn  bedingt,  der  vierfüssige  Trochjcus  des  spanischen 
Dramas,  welcher  in  seinem  atemlosen  Fortrollen  die  rasche  Folge  der  schreck- 
liclion  Ereignisse  begleitete  und  ihren  Eindruck  verstärkte. 

Unmittelbar  auf  Z.  Werners  Trauerspiel  'Der  vicrundzwanzigste  Februar' 
folgten  die  überbietenden  Nachahmungen  von  Adolf  Müllner.  Ein  Neffe 
liiirgers,  besass  er  auch  dessen  rücksichtslose  Kraft  und  verband  damit  eine 
wahrhaft  mathematische  Berechnung  und  die  liedefertigkeit  des  Advocaten. 
Er  war  1774  in  der  Naehe  von  Weissenfcls  geboren  und  starb  in  dieser  Stadt 
1829.  Wie  Kotzebue  ging  er  aus  vom  Liebhabertheater  und  begann  180!> 
mit  kecken,  meist  kurzen  Lustspielen,  für  welche  er  aus  franzoesischen  Quellen 
schöpfte:  darunter  'Die  Vertrauten',  ein  Stück,  welches  1S12  in  Wien  zur 
Aufführung  kam.  Von  den  Trauerspielen  Mülluers  fügte  'Der  neunund- 
zwanzigste Februar"  zu  der  Ermordung  eines  Kindes  noch  die  Blutschande. 
Wie  kalt  der  Dichter  seinem  schauerlichen  Stoffe  gegenüberstand,  zeigte  er, 
indem  er  auf  Wunsch  den  Schhiss  abänderte  und  die  Nachricht  von  der 
Geschwisterehe,  welche  zum  Morde  treibt,  für  eine  irrige  ausgeben  liess. 
Gleichfalls  eine  Aufdeckung  alten  Frevels  und  die  dadurch  veranlasste  Be- 
gehung anderer  stellt  'Die  Schuld'  dar.®  Die  Verbindung  spanischer  und 
nordischer  Scenerie  soll  die  Romantik  steigern.  Aber  ganz  ungenügend®  er- 
scheint als  letzter  Grund  aller  Greuelthaten  der  Fluch  eines  Zigeunerweibes, 
welchem  die  Mutter  der  feindlichen  Brüder  die  Gabe  verweigert  hat.  Immer- 
hin ist  wenigstens  der  Zusammenhang  hier  noch  gewahrt;  dagegen  hteuft 
Müllner  Handlungen  und  Motive  bis  zur  Unklarheit  in  'Koenig  Yngurd'  1810, 
worin  er,  mit  starker  Benutzung  Shakespeares ,  den  'Normaltyrannen'  Napo- 
leon darstellen  wollte.  Auch  'Die  Albaneserin'  1820,  wieder  ein  Brudermord, 
der  durch  Selbstmord  gesühnt  werden  soll,  erreichte  die  Wirkung  der  'Schuld' 
nicht  mehr.  Vergebens  suchte  Müllner  seine  Erfolge  durch  bissige  Bekäm- 
pfung'*' seiner  Gegner  und  Mitbewerber  festzuhalten. 


Vertretern,  Frankfurt  1883.  7)  Leipzig  1812.  8)  Leipzig  1816.  9)    Müllner 

verweist  daher  auch  am  Schluss  etwaige  Frager  auf  eine  andere  Ausknnftstelle:  'Fragst 
du  nach  der  Ürsach,  wenn  Sterne  auf  und  untergehn?  Was  geschieht  ist  hier  nur  klar, 
das  Warum  wird  offenbar,  wenn  die  Toten  auferstehn'.  10)  Kr  war  1820— 2.T  Redac- 

teur  des  Stuttgarter  Litteraturblattes;  1826 — 29  schrieb  er«das  'ilitteruachtsblatt'  zu  Braun- 
schweig, spseter  zu  Leipzig.     Mülluers  'Dramatische  Werke'   ei-schieuen    in  einer  'Gesammt- 


§  171  SCIIICKSALSDRAMA.  GOl 

Neben  den  polternden  Müllner  trat  der  weinerliche  Ernst  von  Houwald/' 
dem  noch  dazu  die  Fähigkeit  abging,  ein  Stück  in  einfachen  und  klaren  Um- 
rissen zu  entwerfen.  Geboren  1778  zu  Straupitz  in  der  Niederlausitz,  starb 
er  1845  zu  Lübbon  als  Landsyndicus.  Yon  seinen  Tragoedien  sucht  'Das 
Bild'  1821  Rührung  dadurch  zu  erwecken,  dass  die  Heldin  sich  blind  ge- 
weint hat;  durch  handgreifliche  Un Wahrscheinlichkeiten  verfehlen  ihre  Wir- 
kung 'Die  Heimkehr',  'Der  Leuchtthurm',  1821,  'Die  Feinde'  1825,  'Die 
Seera3uber'  1830.  Ais  namentlich  Tieck  und  Börne  auf  diese  Mängel  hin- 
wiesen, war  Houwald  bereits  zur  KinderUtteratur  übergegangen,  wie  einst 
der  ihm  vielfach  eehnliche  Ch.  Felix  Weisse.  ^^ 

Eine  ganz  andere  Bahn,  aber  mit  nicht  viel  besserem  Erfolge,  schlug 
ein  Landsmann  Houwalds  ein,  Friedrich  von  Uechtritz.^^  Zu  Görlitz  ge- 
boren 1800  und  1875  gestorben,  lebte  er  in  richterlicher  Stellung  1829 — 58 
zu  Düsseldorf  und  nahm  an  Immermanns  Theaterunternehmung '^^  Anteil.  Von 
Tieck  beraten,  pflegte  er  die  historische  Tragoedie  mit  grossem  Sinn  und 
edler  Auffassung,  doch  ohne  gestaltende  Kraft,  Seine  Hauptwerke,'*  'Ale- 
xander und  Darius'  1827,  'Die  Babylonier  in  Jerusalem'  1836,  kamen  be- 
sonders auf  der  Dresdener  Bühne  zur  Aufführung.  Spteter  wandte  sich 
Uechtritz  dem  historischen  Roman  zu  und  schilderte  in  'Albrecht  Holm' 
1852.  53,  III,  die  Reformationszeit  in  Deutschland  und  Italien,  in  dem  'Bruder 
der  Braut'  1860  die  Wiedergeburt  Preussens. 

Das  historische  Theater  fand  dann  in  Berlin  einen  Vertreter  von  über- 
wuchernder Fruchtbarkeit,  aber  auch  von  wahrhaft  abschreckendem  Mangel 
an  Poesie :  Ernst  Benjamin  Salomon  Raupach.  '^  Als  Sohn  eines  Predigers 
1784  zu  Straupitz  geboren,  war  er  längere  Zeit  in  Russland  als  Erzieher 
thaetig  und  kehrte  erst  1823  nach  Deutschland  zurück.  In  Berhn,  wo  er 
1852  starb,  bekleidete  er  bis  1842  die  Stelle  eines  Theaterdichters,  dessen 
Stücke  sämtlich  aufgeführt  werden  mussten.  Seine  Loyalitset  empfahl  ihn 
bei  Hof;  dem  Philosophen  Hegel  stand  er  durch  seinen  scharfen  Verstand 
und  seine  dialektischen  Neigungen  nahe;  den  Historiker  F.  v.  Raumer  ge- 
wann er  ganz,  indem  er  1826 — 32  dessen  Geschichte  der  Hohenstaufen  in 
16  Tragoedien   dramatisierte.     Auch  'Der  Nibelungen  Hort'  brachte    er  1828 


ausgäbe',  Brannscliweig  1828  uö.         11)  Sämtliche  Werke,  Leipzig  1851  uö.         12)  §  155, 
63.  64.  13)    F.  V.  Ü.    Briefwechsel  mit   einer   Eiuleitung  von  H.  v.  Sybel   uutl  einer 

Biographie  von  Th.  Paur,  Leipzig  1884.  13  a)  §  170,  33.  14)   .Jugendlich    form- 

los sind  die  'Trauerspiele',  Berlin  1823:  Chrysostomus,  Spartacus,  Otto  III.         15)  E.  Rau- 
pachs   Dramatische    Werke    komischer    Gattung,    Hamburg  1829—35,    IV :    D.  W.   ernster 


002  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XIX  JAllKir.  ß  171 

auf  die  Bühne,  nach  seiner  Art  so  quellontreu  als  moeglich.  Aber  sein  be- 
rühmtestes Stück  blieb  'Isidor  und  Olga  oder  die  Leibeigenen"',  Leipzig  1826, 
eine  fürchterliche  Schilderung  russischer  Verhältnisse,  die  mit  einem  doppelten 
Brudermord  ondigt.  Auf  weichliche  Rührun((  zielt  sein  Volksdraina  'Der 
Müller  und  sein  Kind\  Hamburg  1835.  Auch  die  Komik  Baupachs  ist  allzu 
niedrig  gegritfon:  schelmische  Bediente,  verschmitzte  Barbiere  treiben  ihr  Un- 
wesen in  diesen  Stücken,  welche  indessen  in  der  leichten,  sichern  Kompo- 
sition an  Ruupachs  Vorbild  Kotzebue  erinnern.  Daher  sind  seine  'Schleich- 
händler', seine  'Schule  des  Lebens',  sein  ZeitgcnuTide  'Vor  hundert  Jahren', 
dessen  Hauptfigur  der  alte  Dcssaucr  ist,  auch  weit  spajter  noch  aufgeführt 
worden.  Die  anderen  Dichter  der  Berliner  Theater  waren  meist  in  Berlin 
selbst  geborne  Schauspieler  und  passten  franzoesisclie  Lustspiele,  namentlich 
Vaudevilles,  der  deutschen  Bühne  au:  Louis  Angely,"'  Karl  Blu.m,'"  welcher 
besonders  das  Couplet  mit  satirischer  Spitze  pflegte,    und  etwas  feiner  Kari. 

TÖl'FKR.'« 

Auch  die  süddeutschen  Hofbühnen  hatten  ihre  eigenen  Dichter.  In 
Karlsruhe  dichtete  Joseph  Heinrich  von  Aüffenber«,'"  welcher  1778  zu 
Freiburg  geboren,  als  badischer  Hofmarschall  1857  starb.  Oft  auf  Reisen, 
zeigte  er  als  Schauspieldichter  wie  als  Erzaehler  eine  Vorliebe  für  die  süd- 
romanischen Völker.  Seine  Jambentragoedie  Tizarro',  welche  an  Schillers 
Wallenstein  erinnert,  erschien  1823,  seine  'Alhambra'  1829.  30,  III,  dies 
eigentlich  ein  Epos  in  dramatischer  Form.  'Die  Spartaner',  'Die  Syrakusef 
schlössen  sich  an  die  historischen  Quellen  eng  und  enger  an. 

In  Karlsruhe  lebte  längere  Zeit  auch  der  Schwager  Varnhagens,  E.  C. 
Ludwig  Levin,  spseter  L.  Roijert-Tgrnow  genannt.  Geb.  zu  Berlin  1778, 
starb  er  zu  Baden-Baden  1832.  Schon  1804  hatte  er  in  Berlin  'Die  Über- 
bildeten', eine  Bearbeitung  der  Frccieuscs  ridkides  von  Molicre  zur  Auffüh- 
rung bringen  können,  aber  ebensowenig  damit  gefallen  als  spteter  mit  seinem 
Tiauerspiel  'Die  Tochter  Jephthas"  und  mit  der  bürgerlichen  Tragcedie  'Die 
Macht  der  Verhältnisse',  welche  die  Härte  der  Standesvorurteile  ergreifend, 
aber  trostlos  darstellt.     Wsehrend  der  Freiheitskriege  dichtete  Robert  in  lyri- 

Gattnng,  Hamburg  1835—43,  XVI.  16)  1780—1835.  'Vaudevilles  und  Lustspiele,  zu- 

naechst  für  das  Koenigstffidtische  Theater  in  Berlin',  B.  1828—34,  III.  Darin  'Das  Fest  der 
Handwerker".     'Neuestes  komisches  Theater',  Hamburg  1836— 41,  III.  17)  1785 — 1844. 

Theater'  Berlin  1839 — 44:  'Der  Ball  von  Eilerbrunn',  'Erziehungsresultate'  ua.  18)  Creb. 

1792,  gest.  zu  Hamburg  1871.  'Lustspiele'  Berlin  1830-51,  VII.  'Tagesbefehl',  Des 
Koenigs    Befehl',    'Der   beste    Ton',    'Rosenmüller    und    Finke'.  19)    Sämtliche  Werke, 


§171  THEATERDICHTER.  603 

sehen  Formen  'Kämpfe  der  Zeit",  und  widmete  sie  Fichte,  dessen  Vortraege 
ihn  zum  Christentum  hinübergeführt  hatten. 

Ebenfalls  aus  jüdischen  Kreisen  stammte  Michael  Beer,^®  geb.  1800 
zu  Berlin,  gest.  zu  München  1833,  der  Bruder  des  Componisten  Meyerbeer. 
Schon  lOjfehrig  hatte  er  seine  Klytsemnestra  aufFühren  sehen,  "1823  mit 
seinem  Taria'  die  Stellung  des  Juden  beklagt  und  damit  selbst  ^Gcethes  Teil- 
nahme gewonnen.  Beers  Jambentragoedie  "Struensee'  1828  lieh  diesem  Staats- 
verbrecher edle  Absichten  und  ein  rührendes  Ende. 

Beers  Freund  war  Eduard  von  Schexk,  der  die  Münchner  Bühne  be- 
herrschte. Geb.  1788  zu  Düsseldorf,  trat  er  früh  zur  katholischen  Kirche 
über  und  diente  Ludwig  I  als  Minister  1828 — 31;  er  starb  zu  München 
1841.  Unter  seinen  Dramen^^  fand  'Belisar'  1829  viel  Beifall'',  trotz  der 
allzuscharf  nach  Licht  und  Schatten  verteilten  Auffassung  und  der  roman- 
tisch gemischten  Yersform.  Schenks  Lustspiele  zu  Künstlerfesten  führen  ge- 
wandt Scenen  aus  der  Kunstgeschichte  vor:  'Dürer  in  Venedig'  1828  und 
'Die  Griechen  in  Nürnberg'  1835. 

Doch  den  Ruhm  der  ersten  deutschen  Theaterstadt  behauptete  "Wien 
und  das  Burgtheater  unter  der  kundigen  Leitung  Jos.  Schreyvogels-^  war 
wie  für  die  Schauspielerkunst  so  auch  für  die  dramatische  Dichtung  der 
günstigste  Boden.  Sie  fand  in  Grillparzer  einen  Dichter  von  vorzüglicher 
Begabung,  der  neben  Kleist  etwa  so  steht  wie  der  Dramatiker  Goethe  neben 
Schiller.  Grillparzer  selbst ^^  nannte  sich  'das  Mittelding  zwischen  Goethe  und 
Kotzebue,  welches  die  Zeit  brauche':  mit  der  Bühnenwirksamkeit  des  letz- 
teren wollte  er  die  edle  Naturwahrheit  des  grossen  Dichters  verbinden.  Zu- 
gleich sprach  er  damit  seine  Abwendung  von  den  Romantikern  aus,  insbe- 
sondere von  der  Richtung  der  jüngeren  Schule;^*  mit  der  älteren  stimmteer 
in  seiner  Benutzung  des  spanischen  Dramas  überein.  Mit  der  naechstfolgen- 
den  Zeit  der  politischen  Dichtung  kam  er  in  noch  stärkeren  Widerstreit. 
Ein  Versuch  sein  Gebiet  durch  die  Pflege  des  Lustspiels  zu  erweitern,  fand 
1838  eine  so  rohe  Abweisung  von  Seiten  der  Zuschauer ,  dass  der  empfind- 
liche Dichter,  dem  auch  im  Leben  und  in  seiner  Beamtenlaufbahn  so  manches 

Siegen  u.  Wiesbaden  1834 — 44,  XX  und  Supplementband.  20)   Sämtliche  "Werke,  hg. 

von  E.  V.  Schenk,   Lpz.  1835.  21)  Gesammelte  'Schauspiele',    Stuttgart  1829 — 35,  III. 

22)  Aus  Wien,  1768—1832,  war  Secretser  des  Burgtheaters  1814—32.  Unter  dem  Namen 
C.  A.  West  bearbeitete  er  'Das  Leben  ein  Traum'  von  Calderon  und  'Donna  Diana'  von 
Moreto  1819.  23)  Tagebuch  von  1828  im  GriUparzerjahrbuch  1892,  S.  167.         24)  In 

der  Selbstbiographie    (Sämtl.  Werke  10)    spricht   er   von  'der  Rohheit  des  jungen  Deutsch- 

WacVernagel,  Litter.  Geschichte  II.  40 


(J04  NEUHOOirnElTSCIIE   ZEIT.         XIX  JAHRH.  §  171 

Missgeschick  und  Unrecht  begegnet  war ,  nichts  mehr  zu  veröffentlichen  be- 
schloss.  Erst  in  den  Stürmen  des  Jahres  1848  machte  sich  seine  oBster- 
reichische  Gesinnung  geltend ;  Laube  brachte  auf  dem  Burgtheater  seine 
Stücke^''  zu  immer  halberer  Anerkennung;  er  erlebte  noch  als  Greis  die  be- 
geisterte Würiligung  seines  Verdienstes,  welche  nach  seinem  Tode  nur  immer 
weiter  und  tiefer  gedrungen  ist.^'^ 

Franz  Grilli'Arzeu  war  zu  Wien  geboren  1791;  er  starb  1872.  Er 
war  Beamter,  zuletzt  1832 — 58  Archivdirector  der  Hofkammer.  Sein  Erst- 
lingswerk fällt  der  Schicksalstragcedie  zu"^  und  deren  rasches  Veralten  hat 
auf  seinen  Ruhm*  in  Deutschland  sehr  ungünstig  eingewirkt.  Die  Ahnfrau', 
1817,^*  übertraf  alles  gleichartige  an  Kunst  der  Anlage  und  der  Ausführung, 
auch  an  schauriger  Wirkung,  rief  aber  eben  deshalb  auch  am  meisten  die 
Parodie  hervor.  Der  Dichter  hatte  darin  eine  Rneuber-  und  eine  Gespenster- 
geschichte verschmolzen.  Ganz  andere  Gegenstände  behandelten  seine  späte- 
ren Dramen,  zuntechst  Liebestragoodien  aus  der  griechischen  Sage,^^  welche 
im  hohen  Stil  der  Iphigenie  Goethes  ihm  zu  wunderbarer  Entfaltung  weib- 
lichen Liebeslebens  den  Stoff  boten.  Sappho  1819,  deren  Aufbau  Byron 
entzückte,  stellt  die  bewunderte,  aber  nicht  geliebte  Künstlerin  dar;  die 
Trilogie  'Das  goldne  Vliess'  1822^*^  den  Gegensatz  zwischen  dem  menschlich- 
klaren,  aber  auch  stolzen  Hellenentum  und  der  von  Zauberei  und  roher 
Leidenschaft   beherrschten   Barbarenwelt.     In    Des   Meeres   und    der   Liebe 

lands,    der  Volkspoesie  und  des  mittelhochdeutschen  Unsinns'.  25)    Zuerst    1851    'Des 

Meeres  und  der  Liebe  Wellen*.  Laube,  Bnrgtheater,  216  fg.  26)  Grillparzers  Sämtliche 
Werke,  X,  Stuttgart  1872  (von  Laube  und  Weilen  besorgt),  von  Sauer,  Stuttgart  1887,  XVI. 
Eine  andere  Ausgabe  von  Minor  begonnen,  Stuttgart  1892  fgg.  In  jener  erschien  zuerst 
die  Selbstbiographie  und  Stücke  aus  dem  Tagebuch  des  Dichters.  Andere  Reliquien  im 
Grillparzerjahrbuch,  Wien  1890  fgg.  (bis  jetzt  3  Bände).  Mitteilungen  aus  Gespraechen  von 
Adolf  Foglar,  Grillparzers  Ansichten  über  Litteratur,  Bühne  und  Leben,  Wien  1872,*  Stutt- 
gart 1891.  Emil  Kuh,  Zwei  Dichter  Oesterreichs,  Pest  1872.  Auguste  von  Littrow,  Aus  dem 
persoenlichen  Verkehr  mit  G.,  Wien  1873.  Fäulhammer,  .J.  G.  Eine  biographische  Studie, 
Graz  1884r.  L.  A.  Frankl,  Zur  Biographie  F.  G.  Wien  ^1884.  Laube,  G.'s  Lebensgeschichte, 
Stuttgart  1884.  Friedmann,  F.  G.  Milano  1893.  Litterarhist.  Würdigung:  Scherer,  Vortrsege 
und  Aufsätze,  Berlin  1874,  193—307.  E.  Reich,  G.'s  Kuustphilosophie  1891.  R.  v.  Muth,  Grill- 
parzers Teihnik,  (Progr.)  Wiener-Neustadt  1886.  27)  Gegen  seinen  eigenen  und  den 
Widerspruch  Anderer  hat  dies  bewiesen  J.  Volkelt,  Grillparzer  als  Dichter  des  Tragischen, 
Nördlingen  1888.  28)  Zu  Wien  erschienen,  wie  tfUe  Einzelausgaben  der  Werke  Grill- 
parzers. 29)  Jul.  Schwering,  F.  Grillparzei-s  hellenische  Trauerspiele  auf  ihre  littera- 
rischen Quellen  und  Vorbilder  geprüft,  Paderborn  1891.  30)  Das  Schlussdrama  'Medea* 
war  das  letzte  Werk  Grillparzers,    welches   auch    in    Deutschland  vor  1850  gespielt    wurde. 


§  171  GRILLPARZER.  605 

Wellen'  (1840  gedruckt)  zeigt  die  ihrem  Priesteramte  ungetreue  Hero  die 
Liebenswürdigkeit,  welche  sonst  der  Gegenspielerin  zufiel;  aber  auch  ihr  gereicht 
die  Leidenschaft  zum  Verderben.  Eine  andere  Reihe  von  Dramen  Grillparzers 
behandeln  auf  Grund  sorgfältiger  Quellenstudien  die  Geschichte  Oesterreich- 
Ungarns  und  sprechen  die  Hingabe  des  Dichters  an  Herrscherhaus  und 
Vaterland  aus:  'Koenig  Ottokars  Glück  und  Ende'  1825,^'  'Ein  treuer  Diener 
seines  Herrn'  1830,  und  erst  aus  dem  Nachlass  erschienen,  'Ein  Bruderzwist 
im  Hause  Habsburg',  worin  die  Geschichte  des  menschenscheuen  Kaisers 
Rudolf  n  und  der  Anfang  des  SOjsehrigen  Krieges  verbunden  sind.  Mserchen- 
haft  ist  'Melusine'  1833,  ein  Operntext  für  Beethoven,  aber  von  C.  Creutzer 
componiert ;  und  nach  einer  Erzsehlung  von  Voltaire  dramatisiert  'Der  Traum 
ein  Leben'  1840,  eine  Mahnung  zur  Zufriedenheit  imd  Bescheidung.  Aus 
Gregor  von  Tours  stammt  der  Stoff  zu  seinem  1840  gedruckten  Lustspiel 
'Weh  dem  der  lügt',  in  welchem  der  Held  gerade  dadurch  sein  Ziel  erreicht, 
dass  er  die  Wahrheit  sagt,  aber  eben  deshalb  keinen  Glauben  findet;  die 
Characteristik  der  einzelnen  Personen ,  welche  der  Dichter  spseter  immer 
mehr  über  die  früher  vorherrschende  Composition  des  ganzen  Dramas  vorwalten 
liess,  hat  hier  in  der  humorvollen  Behandlung  ihren  Gipfel  erreicht.  Aus 
dem  Nachlasse  kamen  noch  die  Tragcedien  'Libussa'  und  'Die  Jüdin  von 
Toledo',  diese  auf  Grund  eines  Dramas  von  Lope  de  Vega  bearbeitet ,  und 
das  Fragment  'Esther'  an  das  Licht:  auch  diese  Stücke  haben  weibliches 
Fühlen  und  Denken  zum  unerschöpflich  variierten  Gegenstand.  Dagegen  waren 
mehrere  Erzaehlungen  Grillparzers  schon  früher  bekannt:  'Das  Kloster  von 
Sendomir',  eine  kunstvolle  Enthüllung  früherer  Greuel thaten ,  und  ebenso 
einfach  als  tiefergreifend  'Der  arme  Spielmann',  der  alt  und  dürftig,  doch  in 
seinem  kunstlosen  Spiel  glücklich  ist,  offenbar  ein  Selbstbekenntnis  des  Dich- 
ters. Doch  konnte  dieser  auch  scharf  urteilen  und  legte  seinen  Unmut  in 
zahllosen  Epigrammen  nieder.  Er  hat  Wien  unter  Metternich  'das  Capua 
der  Geister  genannt;  aber  1848  Radetzky  zugerufen:  'In  deinem  Lager 
ist  Oesterreich !' 

Die  anderen  Wiener  Dramatiker  dieser  Zeit  blieben  weit  hinter  Grill- 
parzer  zurück.  Joseph  Christian  von  Zedlitz  ,  geb.  1790  zu  Johannisberg 
in  Schlesien,  gest.  zu  Wien  1862,  war  erst  Offizier,  dann  in  der  Staats- 
kanzlei beschäftigt.     Als  Lyriker  machte  er  sich  durch  'Die  nächtliche  Heer- 

31)  Alfred  Klaar,  K.  Ottokars  Glück  und  Ende,  Eine  Untersuclmng  über  die  Quellen  der 
Grillparzerscbeu    Tragoedie.     Leipzig  1885.     Cirillparzer    sah    in    Ottokar   zugleich    ein    Bild 


r,06  NEUHOCIIDEUTSCIIE   ZEIT.         XIX  JAIIRIf.  §  171 

schau\  eine  Verherrlichung  Napoleons  bekannt.  Seine  Canzonendichtung 
Totonkränze',  1827,^-'  sammelt  historische  Beispiele  für  die  Lehre,  dass  aller 
Ruhm  nichtig  sei.  Die  Dramen  von  Zcdlitz  folgen  spanischen  Vorbildern: 
'Turturoll'  1821,  'Der  Kcpuigin  Ehre'  1828,  'Zwei  Nächte  zu  Valladolicr 
1825  ua.  'Kerker  und  Krone'  1833  verherrlicht  Tassos  Tod,  ein  Seitenstück 
zu  OehlenschUegers  Correggio.  Die  Erzsehlung  'Waldtra?ulein'  1843  geht  in 
der  Sinnlichkeit ,  die  Liedersammlung  'Soldatenbüchlein'  1849  in  der  Loya- 
lität zu  weit. 

Eigentümlicher,  aber  in  einer  niedrigen  Schicht  der  dramatischen  Litte- 
ratur,  zeigte  sich  Ignaz  Franz  C.  Castelli  aus  Wien,  geb.  1781,  gest.  1862, 
Beamter  in  den  Diensten  der  oesterreichischen  Stände  1801 — 42.  Er  ver- 
fasste,  meist  nach  franzoesischeu  Mustern,  Singspiele  und  Possen,  von  denen 
er  60  Stück  in  den  'Dramatischen  Sträusschen'  1<S09  —  27  veröffentlichte.^^ 
1828  erschienen  seine  Gedichte  in  niederoesterreichischer  Mundart,  wozu  er 
1847  ein  Wörterbuch  hinzufügte.  Castellis  Memoiren  1861,  IV  berichten 
lehrreich  auch  über  das  Wiener  Theaterwesen  jener  Zeit. 

Die  Wiener  Posse  bearbeitete  auch  Adolf  Bäuerle.  Geboren  1786, 
starb  er,  nachdem  er  1848  politisch  sich  bethaetigt  hatte,  1859  in  Basel.  Er 
schrieb  1806  —  56  die  Wiener  Theaterzeitung,  1819  die  'Eipcldauer  Briefe'. 
Als  Dichter  1806  zuerst  hervorgetreten,  Hess  er  eine  Reihe  von  Volksstücken 
1820 — 26,  VI  erscheinen.  Er  erfand  die  Figur  des  Wiener  Bürgers  Staberle, 
den  er  auch  reisen  Hess.  Sein  letztes  Stück  war  'Der  Sonderling  in  Wien'. 
Als  Erzfehler  benutzte  er  namentlich  seine  Theatererinnerungen,  indem  er 
die  Schauspielerin  Therese  Krones  und  den  Dichter  Ferdinand  Raimund  in 
biographischen  Romanen  behandelte. 

Raimund  ^^  war  der  genialste  und  gemütvollste  Dichter  der  Wiener 
Volksbühne;  er  brachte  die  Zauberwelt  mit  dem  bürgerlichen  Leben  in  tiefe- 
ren Zusammenhang.  Er  begann  1823  mit  'Der  Barometermacher  auf  der 
Zauberinsel';  es  folgten  'Der  Diamant  des  Geisterkoenigs',  Der  Bauer  als 
Millionser',  'Der  Verschwender,  und  der  Schreiner  Valentin,  den  Raimund 
selbst  darstellte,  blieb  als  eine  gemüt-  und  humorvolle  Rolle  dauernd  beliebt. 
Raimund  war  1790  geboren,  er  erschoss  sich  1836.  Ihn  widerte  der  Erfolg 
an,  den  Johaxn  Nestroy  ^'  (aus  Wien,    geb.  1802,  gest.  zu  Graz  1862)  mit 


Napoleons.  32)    Zu    Wien :    die    spaeteren    "Werke    seit    1830    erschienen    bei    Cotta. 

33)  Vollständige  Ausgabe,  Wien  1843,  XV.  34)  Sämtliche  Werke  hg.  v.  Glossy  und 

Sauer,  Wien  1881.  IH.  35)  Gesammelte  AVerke  von  Chiavacci  und  Granghofer,  Stutt- 


§  172  WIENER   LUSTSPIELDICUTEli.  607 

seinen  frechparodistischen  und  gemeinlüsternen  Possen,  dem  'Lumpacivaga- 
bundus'  1833  ua.  fand. 

Aus  der  Wiener  Volksbühne  ^^  der  älteren  Zeit  wurde  manches  in  die 
Berliner  hinübergeführt  durch  einen  schlesischen  Dichter,  welcher  insbeson- 
dere für  die  Dialectpoesie  viel  gethan  hat.  Karl  von  Holtei^'  war  1798 
zu  Breslau  geboren  und  starb  hier  1880.  Einer  adeligen  Familie  angehoerig, 
war  er  Schauspieler  geworden,  hatte  aber  besonders  als  Vorleser  in  Tiecks 
Weise  geglänzt.  Für  das  Koenigstöedter  Theater  in  Berlin  dichtete  er  Sing- 
spiele: 'Die  Wiener  in  Berlin'  1824,  'Die  Berliner  in  Wien'  1826,  spseter 
auch  'Die  Wiener  in  Paris';  1826  'Der  alte  Feldherr',  1829  'Leonore';  und 
manche  der  eingelegten  Lieder  ^^  wurden  volkstümHch.  Den  Berliner  Jargon ^""^ 
brachte  Holte!  zuerst  auf  die  Bühne;  noch  großssereu  Erfolg  hatte  er  mit 
seinen  'Schlesischen  Gedichten'.^''  In  'Lorbeerbaum  und  Bettelstab'*'  stellte 
er  den  Untergang  eines  leichtsinnigen  Dichters  rührselig  dar.  In  Graz ,  wo 
Holtei  1850 — 65  lebte,  schrieb  er  eine  Reihe  von  Romanen,  meist  Erinne- 
rungen aus  seiner  bewegten  Wanderzeit:  'Die  Vagabunden'  1851,  'Christian 
Lammfell' *2  1853,  'Die  Eselsfresser'  1860  ua. 

Auch  ausserhalb  der  Grosssteedte  fand  das  Volksleben  und  die  Mundart 
dramatische  Verwendung:  in  Strassburg  durch  den  Professor  G.  D.  Arxold 
(1780—1829),  dessen  'Pfingstmontag'  1816  Goethes  Lob  erhielt;  ^^  in  Frankfurt 
durch  Karl  Malz  (1792 — 1848),  der  Die  Entführung  oder  der  alte  Bürger- 
capiteen'  1821  erscheinen  Hess.** 

§  172. 

Reichere  und  reifere  Früchte  als  Drama  und  Erzaehlung  brachte  nach 
den  Freiheitskriegen  die  Lyrik.  Die  Subjectivitset  der  Romantik  musste 
dieser  Gattung  förderlich  sein  und  die  Ärmlichkeit  imd  Enge  des  damaligen 

gart   1892.    W.   hg.   von   L.    Gottsleben,   Berlin    1893.  36)  F.  Schlögl,  Vom  Wiener 

Volkstheater,  "Wien  u.  Teschen  o.  J.  [1883].  37)  Holtei  hat  sein  früheres  Leben  selbst 

geschildert  in  'Vierzig  Jahre'  18-13 — 50,  VIII.  Festrede  zu  seinem  80.  Greburtstag  von 
K.  Weinhold,  1878.  Max  Kurnik,  Holtei,  ein  Lebensbild,  Breslau  1880.  Holteis  Theater' 
erschien  Breslau  1845;  seine  erzsehlenden  Schriften  Breslau  1861 — 66,  XXXIX.  38)  So  das 
Mantellied  in  Leonore  'Schier  dreissig  Jahre  bist  du  alt'  nach  der  Melodie  des  Volksliedes 
'Es  waren  einmal  drei  Reiter  gefangen'.  Andere  Lieder  wie  'Denkst  du  daran,  mein  tapfrer 
Lagienka',  ua.  sind  dem  Französischen  nachgeahmt.  39)  'Ein  Trauerspiel  in  Berlin',  eine 
Criminalgeschichte.  40)  Breslau,  zuerst  1830.  41)  Schleusingen  1840.  42)  F.  Willo- 
mitzer,  Ch.  Lammfell,  Ein  Beitrag  zur  Characteristik  Holteis  als  Romanschriftsteller,  Ber- 
lin 1878.  43)  Gcßthe  wurde  durch  Karl  August  darauf  auf merksam  gemacht :  s.  dessen 
Brief  an  Goethe  vom  11.  Febr.  1820.  44)  Vgl.  §  93,  40.  41. 


608  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XIX  JAIIRII.  §  172 

Lebens  Hess  wenigstens  dem  Gefühl  des  Einzelnen  Ircicn  Spielraum,  Goethes 
Beispiel  konnte  nach  zwei  Seiten  hin  die  Lyrik  zu  weiterer  Vollendung 
reizen:  seine  Jugenddichtung  hatte  im  Anschluss  an  das  Volkslied  einen 
freieren,  lebhafteren  Ausdruck  gewonnen;  die  bedächtige  Poesie  seiner  spaete- 
ren  Zeit  entnahm  die  Muster  der  kunstvollen  Form,  die  allgemein  menschlichen 
Gedanken  einem  immer  weiteren  Kreise  von  Vorbildern  und  strebte  bewusst 
der  Weltpocsie  zu.  Die  erstcre  dieser  beiden  Richtungen  ward  in  Schwaben 
aufgenommen  und  fortgesetzt  und  der  Kreis  von  Dichtern,  welcher  sich  hier 
bildete,  ward  auch  zuerst'  und  mit  voller  Entschiedenheit  als  eine  Dichter- 
schule anerkannt,  nicht  immer  zur  Freude  der  Dichter  selbst.^  Auch  in 
Schwaben  war  allerdings  ein  älteres  Geschlecht  der  Romantik  abgeneigt^ 
und  nur  in  längerem  Kampfe  vermochte  die  Jugend  durchzudringen,  welche 
den  Vorwurf  der  Schwärmerei  zurückgab,  indem  sie  ihre  Gegner  Tlattisten' 
nannte. 

Das  anerkannte  Haupt  der  schwäbischen  Schule  war  Lldwi«  Uiilaxd* 
und  sein  Ruhm  als  Dichter  verband  sich  mit  seiner  Wirksamkeit  als  Ge- 
lehrter und  Politiker.  Geboren  1787  zu  Tübingen,  ist  er  hier  auch  gestorben 
1862.  Seine  Jugend  fiel  in  die  Rheinbundszeit.  1810  war  er  in  Paris  um  das 
Gerichtsverfahren  nach  dem  code  Napoleon  kennen  zu  lernen,  beschäftigte  sich 
aber  mehr  mit  den  altfranzoesischen  Handschriften  und  unterschied  zuerst 
das  karolingischc  Volksepos  in  Tiradon  von  den  Erzsehlungen  in  kurzen 
Reimparen  über  die  antike  und  bretonische  Sage.-^  Heimgekehrt,  arbeitete 
er  eine  Zeitlang  im  Justizministerium,  und  nahm  dann  als  Advocat  Teil  an 
den  Verfassungsstreitigkeiten,  welche  erst  1819  ihren  Abschluss  fanden.  Zur 
Feier  der  Versoehnung  dichtete  er  den  Prolog  zu  Herzog  Ernst  von  Schwa- 
ben,  wie  er  vorher  in  seinen  'Vaterländischen  Gedichten'  1817  den  Kampf 
für  die  alte  Verfassung  Würtembergs  auch  als  Dichter  geführt  hatte.  Nach- 
dem er  1822  von  seineu   altdeutschen  Studien   in   seinem  'Walther    von   der 


§  172.  1)  Die  schwaebische  Eigenart  nnd  die  Verhältnisse  jener  Zeit  schildert  F.  Vischer, 
Kritische  Gänge   1,   4 — 78.  2)  Vgl.  Kerners  Gedicht  'Die  schwaebisrhe  Dichterschnle'. 

3)  §  162,  52.  4)  L.  Uhlands  Leben  aus  dessen  Nachlass  und  aus  eigener  Erinnerung 

zusammengestellt  von  seiner  Witwe,  Stuttgart  1874.  F.  Notter,  L.  U.,  sein  Leben  und  seine  Dich- 
tungen, Stuttgart  1863.  K.  Mayer,  L.  U.,  seine  Freunds  und  Zeitgenossen,  Stuttgart  1867,  IL 
Vortreege  von  W.  "Wackernagel:  Kl.  Sehr.  2,  481;  0.  Jahn.  Bonn  1863:  vgl.  auch  Treitschke, 
Eist,  und  polit.  Aufsätze,  Leipzig  1865.  H.  Fischer,  L.  U.  Eine  Studie  zu  seiner  Siecularfeier, 
Str.  1887.  Dazu  die  von  R.  M.  "Werner  Anz.  zur  Z.  f.  d.  Alt.  32,  153  fgg.  angeführten  Schriften. 
L.  Fränkel,  Uhlandbibliographie,  Germ.  34,  345  fgg.  5)  'Über  das  altfranzoesische  Epos' 


§  172  SCHWABEN:   UHLAND.  609 

Vogel  weide'  eine  vorzügliche  Probe  gegeben  hatte,  wurde  er  1829  zum  Pro- 
fessor in  Tübingen  ernannt,  legte  aber  1832  diese  Stelle  nieder,  weil  ihm  die 
Regierung  den  Urlaub  zur  Ständekammer  verweigert  hatte.  1848  vertrat  er 
im  Frankfurter  Parlament  die  demokratisch-grossdeutsche  Partei  und  beglei- 
tete 1849  auch  das  Rumpfparlament  nach  Stuttgart,  wo  es  mit  Gewalt  auf- 
geloest  wurde.  Seitdem  lebte  er  ganz  seinen  Forschungen,  welche  ihn  zu 
häufigen  Reisen  durch  Deutschland  veranlassten.  1836  war  'Der  Mythus 
von  Thor'  erschienen,  1844  'Alte  hoch-  und  niederdeutsche  Yolkslieder,  eine 
philologisch  sorgfältige  Ausführung  des  in  'Des  Knaben  Wunderhorn'  Ange- 
strebten; seine  feinsinnigen  Erlseuterungen  dazu  sind  grossenteils  erst  aus  dem 
Nachlass  veröffentlicht  worden.^ 

Die  Beschäftigung  mit  der  altdeutschen  Dichtung  hat  nun  auch  Uhlands 
eigene  Dichterphantasie  befruchtet,  ja  sogar  seine  Formen,  seine  Ausdrucks- 
weise vielfach  bestimmt."  Eine  Reihe  von  mittelhochdeutschen  Wörtern  und 
Wendungen  ^  sind  besonders  in  seinen  älteren,  spseter  teilweise  von  ihm  selbst 
verworfnen  Gedichten  zu  finden.  Für  die  innere  Form,  für  die  Auffassungs- 
und Darstellungsweise  der  Gegenstände  der  Dichtung  ist  von  besonderer 
Wichtigkeit  ein  Aufsatz  Uhlands,  welchen  er  1807  in  dem  'Sonntagsblatt', 
einer  geschriebenen  Studentenzeitung,  niederlegte.^  An  Schelhng  erinnernd 
sagt  er:  'Das  mystische  Erscheinen  unseres  tiefsten  Gemütes  im  Bilde,  das 
Hervortreten  der  Weltgeister,  die  Menschwerdung  des  Göttlichen,  mit  einem 
Worte:  das  Ahnen  des  Unendlichen  in  den  Anschauungen  ist  das  Roman- 
tische'. Er  weist  nach,  wie  dieser  Zug  den  nordischen  Völkern  im  Gegensatz 
zu  den  Griechen  eigen  ist,  wie  die  Äusserungen  dieses  Zuges  die  Rehgiositset, 
Minne  und  Tapferkeit  der  Ritterwelt  sind.  'Es  gibt  romantische  Charactere, 
d.  h.  solche,  die  der  romantische  Glaube  ganz  ergriffen  hat  und  Motiv  ihrer 
Gesinnungen  und  Handlungen  wird:  Mönche,  Nonnen,  Kreuzritter,  Ritter 
des  Grals  usw.  Auch  die  Natur  hat  ihre  Romantik :  Blumen ,  Regen- 
bogen, Morgen-  und  Abendrot,  Wolkenbilder,  Mondnacht,  Gebirge,  Stroeme, 
Klüfte  usw.  lassen  uns  teils  in  lieblichen  Bildern  einen  zarten,  geheimen  Sinn 
ahnen,    teils  erfüllen  sie  uns  mit  wunderbarem  Schauer  .  .  Die  Romantik  ist 

in    Fouques   Musen    1812.  6)   L.  U.  Schriften  zur  Geschichte  der  Dichtung  und  Sage, 

Stuttgart  1865 — 73,  VIII.  7)  R.  Fasold,  Altdeutsche  und  dialectische  Anklänge  nebst 

Verzeichnis  der  Uhlandlitteratur:  Herrigs  Archiv  1884,  LXXII:  G.  Hassenstein,  L.  U.  Seine 
Darstellung  der  Volksdichtung  und  das  Volkstümliche  in  seinen  Gedichten,  Leipzig  1887. 
8)  Zwier,  Turnei,  Wat  'Kleid'  usw.  Auch  die  auffallende  Symmetrie  in  manchen  Zahlen- 
verhältnissen ,  ist    der    alten    Dichtung    abgesehen.  9)    Bei    Jahn    (Anm.  4)    S.    135. 


niO  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XIX  JAHRII.  §  172 

nicht  bloss  ein  phantastischer  Walin  des  Mittelalters;  sie  ist  hohe,  ewige  Poesie, 
die  im  Bilde  darstellt,  was  Worte  dürftig  oder  nimmer  aussprechen'. 

Dieses  rege  und  feine  Gefühl  für  die  Stimmung  der  Natur  spricht  sich 
in  Uhlands  Liedern '"  mannigfaltig  aus  mit  einer  Einfachheit  der  Mittel, 
welche  an  Goethe  erinnert:"  besonders  dessen  1804  erschienene  Gedichte'^ 
haben  Uhland  angeregt.  Es  ist  das  Leben  und  Weben  der  Natur  selbst, 
was  sein  'Frühlingsglaube'  wiedergibt;  sein  'A})fclbaum'  führt  mit  kindlicher 
Einfalt  und  zugleich  mit  »usserster  Sauberkeit  der  Zeichnung  ein  Bild  der 
allspendenden  vor.  In  andern  Liedern  sind  die  allgemein  menschlichen  Em- 
pfindungen auf  Figuren  aus  dem  Volk,  aus  der  Jugend  übertragen: '2«  'Des 
Knaben  Berglied,  Schiefers  Sonntagslied'.  Gerade  diese  Lieder  haben  die 
schoenste  Composition  durch  Kreutzer,  Silcher,  Mendelssohn,  Schubert  erfah- 
ren und  Ludwig  Richter  zu  sinnverwandter  Illustration  veranlasst.  Am  tief- 
sten mag  ins  Volk  gedrungen  sein  das  Lied  vom  guten  Kameraden,  das  den 
Ernst  und  die  Treue  des  deutsclien  Soldaten  unübertrefflich  ausspricht. 

Persoenhcher  sind  natürlich  Uhlands  Liebeslicder,  auch  sie  der  tiefsten 
und  reinsten  Empfindung  voll:  von  dem  ersten  Wunsche  des  schüchtern 
Liebenden  an,  der  die  Geliebte  nicht  anzusprechen  wagt,  bis  die  tsegliche 
Begegnung  ihn  der  Gegenliebe  versichert,  und  endlich  die  beiden  Hand  in 
Hand  sitzen  und  schweigend  sich  ihres  Glückes  freuen.  Mag  der  Dichter 
hier  auf  seine  eigene  Schweigsamkeit  schalkhaft  hindeuten,  so  steht  ihm  auch 
sonst  ein  muntrer  Scherz  zu.  Das  Gedicht  von  'Unstern,  diesem  guten  Jun- 
gen' verfasste  er  zu  einer  Zeit  als  er,  im  Vaterlande  aussichtslos,  vergeblich 
auch  anderswo  nach  einem  Unterkommen  ausschaute.'*  Besonders  in  den 
litterarischen  Kämpfen  spottet  er  gern  über  die  Feinde  seiner  Dichtung'*  und 
wendet  gegen  sie  gerade  die  von  ihnen  verpoenten  romantischen  Formen,  das 
Sonett  und  die  Glosse.  Auch  in  den  politischen  Gedichten  klingt  die  Ironie 
gern  vor,  doch  greift  er  hier  ebenso  eindringlich  zum  hohen  Ernst. '^ 

Fast  noch  mehr  aber  beruht  Uhlands  Ruhm  auf  seinen  erzsehlenden 
Gedichten  im  Volkston,  auf  seinen  Balladen  und  Romanzen."'  Hier  führt  er 
jene  romantischen  Ideale  der  Religiositaet ,  der  Minne  und  der  Tapferkeit  in 
Gestalten  der  Sage  oder  der  Geschichte  verkörpert  vor,  mit  vorzüglicher 
Anpassung  von  Ausdruck  und  Versmass  an  die  Zeit  oder  Heimat  des  Helden: 

10)  LB.  2,  1447.  11)  F.  Sintenis,  Gcpthes  Einfluss  auf  Uhland,  Dorpat  1871.  12)  im 

Taschenbuch  von  Wieland.  12a)  Mimische  Dichtung  nennt  dies  "Wackernagel  aaO.    496. 

13)  LB.  2,  1479.  14)  LB.  2,  1451.  Frühliogslied  des  Kecensenten,  1453  der  Recensent. 

15)  '"Wenn    heut    ein    Geist    herniederstiege'    am    18.    Oct.    1816.  16)   LB.  2,    1457. 


§  172  IJHLAND.  Gll 

spanische  Trochseen  mit  Assonanz,  Nibelungenstrophen,  kurze  Reimpare  ent- 
sprechen jedes  Mal  genau  dem  Inhalt.  Zwei  Gebiete  bevorzugt  er  beson- 
ders: einmal  die  franzoesische  Sage,  namentlich  die  von  Karl  dem  Grossen. 
Als  er  von  Paris  zurückkehrte,  hatte  er  die  Absicht,  ein  'Maerchenbuch  des 
Koenigs  von  Frankreich'  zu  schreiben,  in  welchem  bei  einem  Hoffeste  Ver- 
treter sämtlicher  Provinzen  ihre  schoensten  Sagen  erzsehlen  sollten.  Zweitens 
aber  die  Sagen  seiner  engeren,  der  schwäbischen  Heimat.  Am  ausführlich- 
sten hat  Uhland  die  Geschichte  Eberhards  des  Greiners  dargestellt,  nicht 
ohne  durch  den  genauen  Anschluss  an  die  Quellen  ^^  sich  zu  einer  gewissen 
Trockenheit  verführen  zu  lassen.  An  die  kurzen  erzsehlenden  Gedichte  schliesst 
sich  endlich  die  freilich  Fragment  gebliebene  Epopoee  'Fortunat  und  seine 
Seehne'  an,  in  Stanzen  und  mit  einer  Ariost  nachgeahmten  ironischen,  selbst 
mutwilligen  Behandlung. 

Historisch  sind  nun  auch  die  zwei  vollendeten  Dramen  Uhlands:  denn 
eine  grosse  Anzahl  von  Entwürfen  sind  nur  bis  zur  Ausarbeitung  einzelner 
Scenen  gediehen,  ^^  wobei  teilweise  die  Nachahmung  des  spanischen  Dramas 
ersichtlich  ist.  Vollendet  und  aufgeführt  wurden  'Herzog  Ernst  von  Schwa- 
ben' 1818,  und  'Ludwig  der  Baier'  1819.  Beide  feiern  die  Treue:  das 
Trauerspiel  die  Freundestreue,  welche  den  Gefsehrten  auch  nicht  um  den 
Preis  der  eigenen  Rettung  verlassen  will;  das  Schauspiel  die  Vertragstreue, 
durch  welche  auch  politische  Gegner  im  Wettbewerb  um  die  hoechste  Gewalt 
verscehnt  und  verbunden  werden.  Allerdings  ist  die  Treue ,  die  sich  mehr 
im  Leiden  bewahrt,  kein  dramatisch  wirksames  Motiv.  Dazu  kommt,  dass 
Uhland  die  Liebe  wohl  stark,  aber  nicht  leidenschaftlich  darstellt,  dass  er 
historische  Anecdoten  benutzt,  die  nur  komisch  wirken  können,  ^^  endlich  dass 
er  lange  Erzsehlungen  einflicht,  auch  da  wo  die  handelnden  Personen  über 
das  Geschehene  schon  unterrichtet  sein  müssten.^"  So  haben  Uhlands  Dramen 
sich  nur  etwa  als  Schuldramen  erhalten,  wsehrend  seine  Lyrik  sich  mehr  und 
mehr  neben  der  Goethes^'  ihre  Stelle  errungen  hat.     Uhlands  Gedichte,  1815 

17)  Eichholtz,  Uhlands  schwsebische  Balladen  auf  ihre  Quellen  zurückgeführt,  Berlin  1873; 
ders.,   Quellenstudien  zu  Uhlands  Balladen,  Berlin  1879.  18)  A.  v.  Keller,  Uhland  als 

Dramatiker  mit  Benutzung  des  hslichen  Nachlasses,  Stuttgart  1877.  19)  So  in  'Ludwig 

der  Baier'  die  zwei  Eier  des  braven  Schweppermann ;  selbst  die  Sage,  dass  ein  fahrender 
Schüler  den  Herzog  Friedrich  auf  Trausnitz  in  einem  Zaubermantel  habe  entführen  wollen. 
20)  So  in  'Herzog  Ernst'  die  an  sich  schoene  Erzsehlung  von  der  Koenigswahl  Konrads  des  Saliers. 
Überdies  waltet  in  diesen  Erzsehlungen  das  epische  Element  auch  darin  vor,  dass  allzu  oft  Satz- 
und  Versende  zusammenfallen.  21)  Goethe  selbst  urteilte,  aiis  politischer  Verstimmung, 

ungünstig  über  Uhland:  Gespr.  mit  Eckermann,  21.  Oct.  1823,  und  Brief  an  Zelter  4.  Oct.  1831. 


612  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XIX  JAIUtH.  §  172 

zueret  erschienen,  liiil)cn  seit  1830  sicli  in  immer  zahlreicheren  Auflap^en 
wiederholt.  Er  seihst  war  seit  1819  fast  als  Dichter  verstummt,  da  er  nur 
aus  innerem  Drange  singen   wollte. 

Sehr  verschieden  von  Uhland,  aber  durch  lebenslange  Freundschalt 
innig  mit  ihm  verbunden,  war  Justini'«  Kerxkr.  Wa'hrend  Uhland  die 
Romantik  und  zwar  je  länger  je  mehr  in  die  historische  Khirheit  überführte, 
tauchte  Kerner  sie  noch  tiefer  als  selbst  Arnim  und  Brentano  in  Phantasie 
und  Schwärmerei;  ja  was  bei  diesen  noch  vielfach  beabsichtigt  und  gesucht 
erschien,  geht  bei  ihm  aus  der  innersten  Natur  hervor,  aus  einem  Hang  zur 
Schwermut,  welcher  ausrufen  konnte :  'Schmerz  ist  Grundton  der  Natur.'  Da- 
mit verbindet  Kerner  einen  tollen,  aber  harmlosen  Humor.  Schon  die  Jugend- 
eindrücke stimmten  ihn  hierzu,  welche  er  als  'Das  Bilderbuch  meiner  Knaben- 
zeif  beschrieben  hat.--  1781  zu  Ludwigsburg  geboren,  stammte  er  aus  einer 
Bcamtenfamilie,  welche  damals  und  später  wieder  hoehere  Stellungen  ein- 
nahm. Sein  Vater  hinterliess  jedoch  die  Familie  in  bedrängten  Verhältnissen. 
Justinus  war  erst  bei  einem  Schreiner,  dann  bei  einem  Kaufmann  in  der 
Lehre,  ehe  er  studieren  durfte.  Damals  lernte  er  Varnhagen,  in  Berlin  auch 
Fouque  und  Chamisso  kennen.  Als  Arzt  in  Staatsdiensten  lebte  er  zu  Wild- 
bad, seit  1818  bis  zu  seinem  Tod  1862  in  Weinsberg,  wo  er  auf  Burg 
Weibertreu  sein  Haus  baute  und  eine  rege  Gastlichkeit-^  übte.  Hier  ergab 
er  sich  den  Studien  über  die  Geisterwelt ,  über  Magnetismus  und  Som- 
nambulismus,23a  welche  ihm  eine  freilich  nicht  unbedenkliche  Berühmtheit 
verschafften.  Seltsam  war  auch  Kerners  dichterische  Erstlingsschrift  'Reise- 
schatten von  dem  Schattenspieler  Luchs'  1811,^*  eine  als  Reiseschildorung 
zusammengefasste  Reihe  von  wunderlichen  Bildern  grossenteils  satirischer  Art, 
gegen  die  Feinde  der  Romantik  gerichtet.  Ein  Schattenspiel  gibt  in  Tiecks 
Art  das  Volksbuch  von  Schildeis  wieder;  ein  anderes  führt  ein  Ludwigs- 
burger Original  vor,  'Der  Totengrfeber  auf  dem  Feldberg',  welcher  bei  dem  Ver- 
such, eine  Flugmaschine  zu  erfinden,  unglücklich  endet:"  das  beste  sind 
Kerners  eingelegte  Lieder  und  Mserchen,  welche  von  Andern  für  echt  volks- 
tümlich   gehalten  werden    konnten.     Seine  Romanzen    naeheren  sich  teilweise 


22)   Braanschweig   1849,    »1886.  23)   Geistreich   geschildert  von    D.  F.  Strangs  'Zwei 

friedliche  Blätter',  Ältona  1839:  spaeter  von  Aime  Reinhard,  J.  Kerner  und  das  Kernerhaus, 
Tübingen  1862,  »1886;  von  Kerners  Tochter  Marie  Niethammer,  J.  Kerners  Jugendliebe  und 
mein  Vaterhaus,  Stuttgart  1877.  Theob.  Kerner,  Das  Kernerhaus  und  seine  Gäste,  Stuttg., 
Lpz.,  Berl.,  Wien  1894.  23a)  'Die  Seherin  von  Prevorst',  Stuttg.  u.  Tüb.  1829,  'Geschichte 
Besessener  neuerer  Zeit",  Karlsruhe  1834.  24)  Karlsruhe,  LB.  3,  1427  fgg.  25)  Der 


§  172  KERNER.     SCHWAB.  613 

durch  Klarheit  und  Heiterkeit  denen  Uhlands:  Der  Geiger  von  Gmünd, ^"^ 
Die  Würtemberger  Sagep^  andere  wieder  sind  voll  düsterer  Romantik,  so 
'Die  vier  wahnsinnigen  Brüder'.^^  Glücklicher  noch  ist  Kerner  in  seinen  Lie- 
dern,^^  welche  zwar  viel  Verschwommenes  zeigen,  aber  gelegentlich  durch 
die  Tiefe  der  Wehmut  oder  durch  ihre  jubelnde  Freude  hinreissen.^"  Diese 
Lieder  brachte  zum  Teil  schon  Kerners  Poetischer  Almanach  für  1812',  wo 
zuerst  die  schwsebischen  Dichter  mit  ihren  norddeutschen  Freunden  zusammen 
hervortraten.^' 

Von  den  Freunden  Uhlands  steht  von  Kerner  am  fernsten  Gustav 
Schwab,^-  dem  die  Klarheit  Uhlands,  aber  nicht  die  Tiefe  seines  Gefühles 
gegeben  war.  Zu  Stuttgart  1792  geboren,  starb  er  ebenda  1850.  Er  hatte 
Theologie  studiert,  widmete  sich  aber  meist  dem  Unterricht.  Verschiedene 
Reisen,  so  1815  nach  Norddeutschland,  wo  er  von  Fouque  freundlich  aufge- 
nommen wurde,  1827  nach  Paris,  machten  ihn  mit  vielen  bedeutenden  Zeit- 
genossen bekannt;  er  selbst  nahm  wiederum  in  Stuttgart  jüngere  Dichter 
gastfreundlich  auf.  Freiligrath  und  Lenau  wurden  von  ihm  in  die  Litteratur 
eingeführt,  wozu  ihm  die  Redaction  des  Morgenblattes  1827  —  37,  dann  die 
des  Musenalmanachs,  den  er  mit  Chamisso  1833 — 38  herausgab,^-'  die  beste 
Gelegenheit  bot.  Schwab  hat  die  Gedichte  Hauffs  und  W.  Müllers  gesam- 
melt; er  hat  alte  Volksbücher  erneut  und  namentUch  aus  dem  Franzoesischen 
vortrefflich  übersetzt.  Immer  formgewandt,  aber  freilich  zuweilen  am  Ausser- 
lichen  haftend,  zeigt  er  sich  in  seinen  eigenen  Gedichten,  welche  zuerst 
1828.  29  erschienen."*  Seine  erzaehlenden  Dichtungen  vereinigte  er  gern  zu 
groesseren  Sammlungen,  indem  er  die  Sagen  der  von  ihm  durchwanderten 
Gegenden  zusammenfasste :  besonders  gelang  ihm  'Der  Bodensee'  1827.^" 
Dumpfe,  ahnungsvolle  Schauer  gibt  'Das  Gewitter'  vortrefflich  wieder. ^"^ 

Unter  Schwabs  Schülern  erscheinen  zwei  auch  durch  ihren  frühen  Tod 
mit  einander  verbunden,  wenn  auch  an  Talent  und  Character  sehr  verschie- 

Spuk  auf  dem  Kirchhof  ist  spseter   von   Heine  nachgeahmt  worden.  26)  LB.  2,  1501. 

27)  'Preisend  mit  viel  schoenen  Reden',  LB.  2,  1501.  28)  LB.  2,  1497.  29)  LB. 

2,  1493  fgg.  30)  'Wohlauf  noch  getrunken    den    funkelnden  Wein!'  31)  Daran 

8chlo88  sich  'Deutscher  Dichterwald',  Tübingen  1813.  32)  Karl  Klüpfel,  Gustav  Schwab, 

sein  Leben  und  Wirken,  Leipzig  18.58.  Gr.  Schwabs  Leben,  erzsehlt  von  seinem  Sohne  Ch. 
Th.  Schwab,  Freiburg  i.  Br.  und  Tübingen  1883.  33)    Nur  1837  setzte   er   aus,    weil 

dem  31u8enalmanach  ein  Porträt  Heines  beigegeben  wurde,  der  eben  Schwabs  Freunde  ge- 
hässig geschmseht  hatte.  34)  Stuttgart,  II.  Zuletzt  eine  vollständige  Ausgabe  bei 
Reclam  in  Leipzig  (1881).  Schwabs  Ausgewsehlte  prosaische  Schriften  gab  Klüpfel,  Freiburg 
u.  Tübingen  1882,  heraus.          35)  Daraus  Einiges  LB.  2.  1503  fgg.  36)  LB.  2,  1528. 


614  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XIX  JAHKH.  §  172 

den:  Wilhelm  Haiff  und  Wiliiklm  Waiiilin(jek.  Hauff',  1802  zu  Stutt- 
gart geboren,  starb  bereits  1827.  Seine  ersten  Erzirhlungen  sammelte  er  als 
'Mrerchonalmanach  auf  das  Jalir  1826';'''  in  diesem  Jahre  noch  folgten  die 
'Mitteilungen  aus  den  Memoiren  des  Satan',  eine  Nacliahmung  A.  Hoffmanna, 
und  'Der  Mann  im  Mond',  eine  Parodie  Claurens,  endlich  der  Iloman  'Lichten- 
stein', worin  er  die  Erzruhlungsweise  W.  Scotts  vortrefflich  auf  die  schwsD- 
bische  Heimat  übertrug.  Die  wirtembergische  Geschichte  bot  ihm  auch  den 
Stoff  zu  mehreren  Novellen,  die  1828  gesammelt  erschienen.  Studenten- 
erinnerungen und  Iloffmannschen  Gespensterspuk  verband  er  in  den  'Phantasien 
im  Bremer  Ratskeller'  1827.  In  seinen  Soldatenliedern^''  traf  er  den  Volkston 
vorzüglich;  sie  sind  wirklich  in  das  Volk  übergegangen.^* 

Durfte  von  Hauff  noch  eine  weitere  glückliche  Entwickelung  erwartet 
werden,  so  hatte  Waiblinger,  als  er  26ja'hrig  zu  Rom  starb,*"  sich  bereits 
erschöpft,  ohne  dass  die  grossen  Hoffnungen,  die  er  selbst  von  sich  hegte, 
sich  irgendwie  gerechtfertigt  hätten.  Er  war  früh  in  Ausschweifungen  ge- 
fallen und  stand  in  Gefahr,  durch  hastige  Schriftstellerei  sein  Talent  gänzlich 
zu  verderben.  Schwab  erwirkte,  dass  er  nach  Italien  reisen  konnte,  wo 
Platen  und  Kopisch  ihm  freundlich  entgegen  kamen,  ohne  ihn  jedoch  retten 
zu  können.  Waiblingers  Anfänge  knüpften  an  Hölderlins  Hyperion;  doch 
zeigte  sein  'Phaethon'  1823  nicht  entfernt  die  gleiche  Durchdringung  des  alt- 
griechischen Lebens  und  Denkens.  In  Italien  schilderte  er  mit  starker  Über- 
treibung Land  und  Leute,  'Die  Briten  in  Rom'  bitter  verhoehnend.  Seine 
lyrischen  Gedichte  benutzen  antike  Formen  und  wissen  freilich  den  Sinnen- 
taumel wie  die  todesraüde  Abspannung  treffend  auszudrücken.  Er  glaubte 
sich  besonders  zum  Dramatiker  berufen,  aber  seine  'Anna  Bullen'  bewsehrte 
dies  nicht. 

Den  Ruhm  der  schwaebischen  Dichtung  erneuerte  dagegen,  wenn  auch 
bei  seinem  Auftreten  in  der  Zeit  der  Tendenzpoesie  fast  übersehen,'*"*  Eduard 
McERiKE,  ein  Universitaetsfreund  AVaiblingers.*'  Geboren  zu  Ludwigsburg  1804, 

37)  Zu  Stuttgart,    wie  auch  die  folgenden  Schriften.  38)  'Steh  ich  in  finstrer  Mitter- 

nacht' und  'Morgenrot':  letzteres  mit  Benutzung  von  Strophen,  die  his  auf  Günther  zurück- 
führen, §  147,  9.  39)  'Sämtliche  Schriften'  mit  Vorwort  von  G.  Schwab,  Stuttgart 
1830.  31,  XXXVI,  uö.  Sämtl.  Werke  mit  biogr.  Einl.  von  H.  Fischer,  Stuttgart  1885, 
VI;  Sämtl.  Werke  mit  Biogr.  von  W.  Bölsche,  Leipzig  1888.  89,  V;  Sämtl.  Werke  mit 
biogr.  Einl.  von  A.  Weile,  Berlin  o.  J.  V.  40)  Seine  Jugend  hat  er  selbst  beschrieben; 
seine  italienische  Zeit  H.  v.  Canitz,  der  Herausgeber  seiner  Gesammelten  Werke,  Hamburg 
1839.  40,  IX.            40  a)  F.  Th.  Vischer,  Krit.  Gänge  2,  216  fgg.  41)  Er  gab  dessen 


§  172  HAUFF.     WAIBLINGER.     MCERIKE.  615 

lebte  er  als  Pfarrer  zu  Clevcrsulzbach  in  der  Na^lie  von  Heilbronn  1834 — 43, 


dann  bis  1875  zu  Stuttgart,  wo  er  1851 — 66  am  Katharinenstift  Unterricht 
erteilte.  Moeriice  trat  1832  ^^  hervor  mit  dem  Roman  'Maler  Nolten',  worin 
auf  Grund  von  allerdings  anfechtbaren  Yoraussetzungen  ein  erst  liebliches, 
dann  erschütterndes  Bild  der  Liebe  zweier  befreundeter  Künstler  zu  einem 
Naturkinde  vorgeführt  wird.  Seltsam  wird  am  Schluss  alles  Unheil  aus  dem 
Fluche  eines  Zigeunermsedchens  abgeleitet,  dem  der  Maler  die  Treue  gebrochen 
hat.  An  Kerner  erinnert  ein  eingelegtes  Schattenspiel  'Der  letzte  Koenig  von 
Orplid'.  Moerikes  spaätere  Prosaerzsehlungen  sind  meist  Maerchen,  wie  'Das 
Stuttgarter  Hutzelmännlein',  stellenweise  in  der  Mundart  *^  oder  mit  altertüm- 
lichen Wendungen  geschrieben  5  am  Schluss  steht  die  Novelle  'Mozart  auf  der 
Reise  nach  Prag'  1856,  welche  den  genialen,  fi-ohsinnigen,  herzensguten  Meister 
vortrefflich  vorführt.  Andere  Erzsehlungen  sind  in  Yersen  abgefasst,  in  Hexa- 
metern die  Idylle  vom  Bodensee,  'Meister  Martin  und  die  Glockendiebe'  1846; 
in  Hans  Sachsischen  Reimen  'Der  alte  Thurmhahn',  die  schoenste  Beschrei- 
bung eines  friedlichen  Pfarrhauses.  Die  Lieder  Moerikes  erschienen  zum 
Teil  schon  in  Maler  Nolten,  dann  1838  für  sich:  herrliche  Naturbilder;  bald 
neckische,  bald  ergreifende  Schilderungen  des  Msedchenherzens ;  Romanzen 
über  stets  von  dem  Dichter  selbst  erfundene  Stoffe;  endlich  auch  Gelegen- 
heitsgedichte voller  Liebe  und  Poesie.  Das  Ganze  ist  doch  nur  ein  dünner 
Band. 

Neben  den  schwsebischen  Dichtern  von  besonderer  Eigenart  stehen 
andere,  welche  die  Weise  jener  fortführen.  Als  Dramatiker  versuchten  sich, 
doch  ohne  dauernden  Erfolg,  Ludw^ig  Bauer *^  und  Friedrich  Notter,"*^ 
beide  Freunde  Mcerikes;  die  Lyrik  ward  mehr  von  einigen  selteren  Dichtern 
gepflegt,  so  von  Karl  Mayer  *''  und  den  Brüdern  Gustav  und  Paul  Pfizer.*^ 

'Gedichte'  heraus,  Hamburg  1844.  42)  Zu  Stuttgart,  wie  auch  die  folgenden  Schriften. 

Moerikes  Gesammelte  Schriften  mit  einer  Einleitung  von  J.  Klaiber,  Stuttgart  1878. 
43)  So  besonders  in  der  'Historie  von  der  schoenen  Lau'  d.  h.  der  Nixe  des  Blautopfs  bei 
Blaubeuern,  wozu  M.  v.  Schwind  Illustrationen  beisteuerte;  den  Briefwechsel  des  Dichters 
und  des  Malers  hat  Bijechtold,  Stuttgart  1891,  herausgegeben.  Von  demselben  'Briefwechsel 
zwischen  H.  Kurz  und  E.  Moerike',  Stuttgart  1885  und  'Briefe  zwischen  Th.  Storm  und 
Moerike',    D.  Rundschau    58,    41.  44)  Geb.  1803   zu  Orendelsall   bei   Öhringen,    gest. 

1846  zu  Stuttgart.  Seine  'Schriften'  wurden  in  Auswahl  von  seinen  Freunden  herausge- 
geben, St.  1847 ;  darin  'Alexander  der  Grosse',  der  schon  1836  erschienen  war.  45)  Geb. 
1801  in  Ludwigsburg,  gest.  1884  in  Stuttgart;  vgl.  J.  E.  v.  Günthert,  Moerike  und  Notter, 
Berlin  und  Stuttgart  (1885).  Notter  dichtete 'die  Johanniter'.  46)  Anm.  4.  47)  Geb. 

1801  zu  Stuttgart,  gest.  1867  zu  Tübingen ;  1848  Märzminister.     Über  P.  Pfizer  s.  besonders 


616  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XIX  JAIIRII.  §  172 

Der  letztgenannte  hat  1831  in  seinem  Briefwechsel  zweier  Deutscher"  der 
Philosophie  Hegels  und  ihrer  Zufriedenheit  mit  den  bestehenden  Verhältnissen*'^ 
die  Poesie  und  die  Sehnsucht  nach  der  Herstellung  der  deutschen  Einheit 
gegenübergestellt  und  Preussens  Beruf  dazu  in  schwungvoller  Dichtung  aus- 
gesprochen. 

Wie  hier  politisch-nationale  Gedanken  durch  einen  schwajbischen  Dichter 
laut  wurden,  so  fand  sich  in  Schwaben  auch  für  die  Neubelebung  des  geist- 
lichen Liedes*^'  Sinn  und  Talent.  Mit  G.  Schwab  war  Albert  Knapp  be- 
freundet, welcher  1798  zu  Alpirsbach  geboren,  1864  zu  Stuttgart  starb.  Seine 
zahlreichen  Christlichen  Gedichte'  erschienen  zuerst  1829  gesammelt;*"  auch 
den  Hohenstaufen  widmete  er  einen  epischen  Cyclus,""  1839.  Ihm  schloss 
sich  Friedrich  Karl  von  Gerok^°*  an,  welcher  1815  zu  Vaihingen  geboren, 
seit  1868  Prselat,  1890  in  Stuttgart  starb:  seine  'Palmblätter'  erschienen  zuerst 
1857.  Beiden  gesellten  sich  auch  sonst  in  Deutschland  verwandte  Dichter 
zu:  in  Hannover  Karl  Johann  Philipp  Spitta,^'  geb.  1801,  gest.  zu  Burg- 
dorf 1859,  dessen  Sammlung  Psalter  und  Harfe',  zuerst  Pirna  1833 ,  einen 
weicheren  Ton  zeigt;  und,  etwas  jünger,  in  Köstritz  bei  Gera  Julius  K.  R. 
Sturm,  dessen  Gedichte  zuerst  1850  erschienen.  Sturm  gab  seit  1874  ein 
'Jahrbuch  religioeser  Poesien'  heraus  und  dichtete  auch  Fabeln. -^^  Hierin  und 
als  geistlicher  Liederdichter  war  ihm  ein  Schweizer  vorangegangen,  Abraham 
Emmanuel  Fröhlich,  geb.  1796  in  Brugg,  gest.  1865  zu  Gebensdorf  im 
Aargau.  Seine  'Hundert  neue  Fabeln'  waren  in  Zürich  1825  erschienen ; '^^ 
der  epischen  Erztehlung  der  schwaebischen  Dichter  schloss  er  sich  mit  den  in 
Nibelungenstrophen  verfassten  Lebensschilderungen  der  Reformatoren:  'U. 
Zwingli'  1840,  'J.  Calvin'  1864  und  mit  'Ulrich  von  Hütten'  1845  an. 

W.  Lang,  Von  und  aus  Schwaben,  I,  Stuttgart  1885.  Gustav  Pa2er  lebte  1807—1889:  er 
neigte  mehr  zur   lehrhaften    Reflexionspoesie.  48)  Diese  Briefe  rühren  von  J.  Notter 

her,  Anm.  44.  48a)  0.  Wetzstein,    Die  religioese  Lyrik  der  Deutschen    im    19.  Jahr- 

hundert.    Nenstrelitz    1891.  49)   Zu   Basel.     Daraus    LB.    2,    1785.     Eine    Sammlung 

älterer  Lieder  veröffentlichte  er  als  'Evangelischer  Liederschatz  für  Kirche  und  Haus'  1837 
uö.  und  vereinigte  die  Beitrsege  der  Zeitgenossen  in  seiner  'Christoterpe'  1832 — 53.  Vgl. 
A.  Knapp,  Eigene  Aufzeichnungen,  fortgeführt  Von  seinem  Sohne  Joseph  K.,  1867. 
50)  LB.  2,  1793.  50a)  H.  Mosapp,  K.  Gerok,  Stuttgart  1890.  51)  K.  K.  Münkel, 

K.  J.  P.  Spitta,  ein  Lebensbild,  Leipzig  1861;  und  die  1870  zu  Gotha  erschienene 
Ausgabe    von  Ps.  u.  Harfe.  52)    Neues    Fabelbuch,    Leipzig  1881.     Nur    für   Kinder, 

aber  für  diese  ganz  vorzüglich  geeignete  Fabeln  dichtete  .Johann  Wilhelm  Hey, 
Pfarrer  im  Herzogtum  Gotha  (1789 — 1854);  seine  'Fünfzig  Fabeln  für  Kinder'  erschienen 
zuerst  1833:    vgl.   F.  Hauseii,  W.  Hey,  Gotha  188G.  53)  LB.  2,  1767. 


§  172  GEISTLICHE   LIEDERDICHTU^G.  617 

Auf  katholischer  Seite  sprach  sich  das  religioese  Gefühl  weniger  in  der 
Form  des  Liedes  als  in  betrachtender  Dichtung  aus,  in  welcher  Annette 
Elisabeth  von  Droste-Hülshoff^^  Vorzügliches  leistete.  Geboren  in  der 
Is^he  von  Münster  1797,  starb  sie  1848  bei  ihrem  Schwager  Jos  v  Lass- 
berg  zu  Meersburg. ^^  Ihre  Gedichte,  zuerst  zu  Münster  1837  erschienen  geben 
meist  landschaftliche  Eindrücke  oder  sagenhafte  Überlieferungen  ihrer  west 
feilschen  Heimat  mit  kräftigen  Farben,  aber  nicht  immer  leichtverständlicher 
Darstellung  wieder.  Nach  ihrem  Tod  erschien  ihr  'Geistliches  Jahr'  Stutt- 
gart 18ol,  eme  dichterische  Verherrlichung  der  katholischen  Jahresfeste  und 
der  Sonntage  in  wechselnden  Strophen,  innig  und  nicht  unbeeinflusst  durch 
die  Freundschaft,  welche  sie  mit  Protestanten,  so  auch  mit  den  schwäbischen 
Dichtern  verband.^® 

^  Doch  das  Vorbild    der  schwa3bischen  Dichterschule  wirkte  insbesondere 

m  der  Balladen- und  Romanzendichtung  ^^  nach  allen  deutschen  Landschaften 
hin.  In  Oesterreich  waren  Joh.  Gabriel  Seidl^«  und  Joh.  Nepomuk  Vocl'« 
auf  diesem  Gebiete  besonders  thsetig,  in  Boehmen  Karl  Egon  Ebert '>'>  in 
Thüringen  Adolf  Bube«'  und  Ludwig  Bechstein,«^  am  unteren  Rhein  Karl 
&iMR0CK,«=^  im  Elsass  die  Brüder  August  und  Adolf  Stceber.«^ 

54)    Levin    Schückiug,  Annette  v.  Droste-Hülshoff,    Hannover    1862;    von    demselben    eine 
Gesamtausgabe  ihrer  Schriften,  Stuttgart  1879,  III.    Eine  andere  von  W.  Kreiten,  Paderborn 
l«öd,  der  auch  ihr  Leben  beschrieb,  Münster  1886.     Vgl.  auch  H.  Hüffer    A    v    D  -H    und 
Ihre  Werke,  Gotha  1887.     Ihre  Briefe  erschienen  zu  Münster  1877.    Briefe  von  A  v  D  -H 
und  L    Schücking  1893^  55)    §  167,  7.  56)  K.  Budde,  Preuss.  Jahrb.  69  ■(1892)' 

fw      T.  l  ^  '"''  ^°''''  ^''^'   I^^^t^^hlands  Romanzen-    und  Balladen-Dichter 

Wurzburg    und    Karlsi-uhe    1864-73,   III.  58)    Aus  Wien,    1804-75    Beamter   am 

Munzcabinet.    Mit  Grün  und  Lenau  befreundet.    Auch  Dialectdichter:  Flinserln  18-^8-38  IV 

BeTmr    ^B^f  TT  ''''"'''  ""'■  '^^    ^^^  ^^^^'^'  l«Ö2-66,  land'ständis'che,: 

B  am  er:   Balladen  und  Romanzen  1835.  60)  Aus  Prag,  1801-82,  Fürstenbergischer 

Maegdekneg  im.  tschechischen  Sinn:    noch    mehr  verherrlicht  diese  nationalen  Erinneren 
Bi-et.slaw  und  Jutta,    Prag  1835.  61)    Aus  Gotha,  1802-73,  Archivrat.     'Romanfen 

und  Balladen,  Gotha  1850.  62)  Geb.  1801   zu    Weimar,    gest    1860  zu  Meinin.en   als 

fs  ^3^^Tv'^^''^'*«^^^    '""l'  ''''^''''''  '-'  '^'  '^^^-^--  '-  Thüriiilerde 
Deutsches  Heldenbuch,  Stuttgart  1843-50,  VI.    Diese  und  andere  Übersetzungen  Simrocks 
haben  d.eKenutn.s  der  altdeutschen  Dichtungen  erheblich  ausgebreitet;  die  der  Nibelungen 
1827  erwirkte  auch  G«thes  Beifall.  64)  Beide   Brüder   waren    zu  Strassburg    .eboren 

nL    t^V^  n""    '™    ^'''"=    ^"='^^'    ^'^^^«^^    "^'-    ^--siallehrer,    Adolf 

Uöxu-y.)    ftarrer.     Des   ersteren  Gedichte  erschienen   zuerst  Strassburg  184-?    die  Adolfs 
Hannover  1845.     ^Str.  1893.  ^  ' 


618  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XIX  JAIIRII.  §  173 

§  173. 

Dem  ausgedehnten,  aber  durch  persoenliche  Beziehungen  innig  ver- 
bundenen Kreise  der  schwäbischen  Schule  stehen  in  Frauken  zwei  Dichter 
gegenüber,  welche  weniger  durch  Freundschaft  als  durch  gemeinsame  Ziele 
zusammen  gehalten  wurden.  Es  war  das  Vorbild  der  spseteren,  der  orien- 
talischen Lyrik  Goethes,  welches  hier  nachgeahmt  wurde ;  Beschaulichkeit  und 
Gedankentülle  ward  für  den  Inhalt  erstrebt,  für  die  Form  Zierlichkeit  und 
Manigfaltigkeit  im  Anschluss  an  die  fremden  Muster.  Freilich  konnte  das 
Abgleiten  in  das  Künstliche  und  Spielende  nicht  immer  vermieden  werden, 
um  80  weniger  als,  wie  bei  dem  alternden  Goethe,  so  auch  bei  seinen  Nach- 
ahmern die  Gelegenheitspoesie  sich  hervordrängte  und  die  leichtgewordene 
Kunst  die  Versuchung  nahe  brachte,  auch  geringfügigen  Anlässen  durch  Er- 
füllung von  ungewöhnlichen  Bedingungen  einen  eigenen  Heiz  zu  verleihen. 

Von  den  beiden  fränkischen  Dichtern  war  Friedrich  Rückert  '  zu 
Schweinfurt  geboren  1788,  verlebte  aber  seine  Jugend  auf  dem  Lande,  da 
sein  Vater  als  Amtmann  seine  Stelle  mehrmals  wechselte.  Das  freie  Leben 
in  der  anmutigen  Natur  seiner  Heimat  hat  dem  Dichter  den  Drang  nach 
Unabhängigkeit  dauernd  eingepflanzt.  Nachdem  er  die  Rechte  studiert,  ha- 
biUtierte  er  sich  1811  in  Jena  für  Philologie-,  welche  für  ihn  das  Studium 
der  Sprache  und  Litteratur  aller  Völker  war.  Aber  weder  in  Jena  noch  am 
Gymnasium  zu  Hanau,  wo  er  1813  eintrat,  hielt  er  aus.  Aus  der  Verein- 
samung und  Verbitterung  riss  ihn  der  Beifall  zweier  vorzüglicher  Männer,' 
des  Superintendenten  Hohnbaum  in  Rodach  und  des  Freiherrn  Truchsess  von 
Bettenburg  bei  Ilasfurt.  Beiden  dankte  er  für  ihre  gastliche  Aufnahme 
durch  seine  Dichtungen,  dem  ersteren  durch  die  Idylle  'Rodach'.  Truchsess 
machte  ihn  mit  dem  Freiherrn  von  "Wangenheim  bekannt,  welcher  in  Württem- 
berg als  Minister  die  neue  Verfassung  gegen  Uhland  und  seine  Freunde  durch- 

§  173.  1)  Heinrich  Rückert,  Erinnerungen  an  F.  Rückert  (H.  R.  Kleinere  Schriften, "Weimar 
1877,  2,  275 — 346).  C.  Beyer,  Rückerts  Leben  und  Dichtungen,  Coburg  1866;  ders.  F.  Rückert, 
ein  biographisches  Denkmal,  Frankfurt  1868:  ders.  Neue  Mitteilungen  über  F.  Rückert,  Leipzig 
1873;  Nachgelassene  Gedichte  F.  Rückerts  und  ne^e  Beitrage  zu  dessen  Leben  und  Schriften, 
Wien  1877.  C.  Fortlage,  F.  R.  und  seine  AVerke,  Frankfurt  a.  'il.  1867.  Boxberger,  Rückert- 
studien,  Gotha  1878.  B.  Suphan,  F.  R.,  "Weimar  1888.  F.  Muncker,  F.  R.,  Bamberg  18fK). 
2)  Seine  Dissertation  de  idea  philologice  sprach,  im  Anschluss  an  F.  Schlegels  Sprache  und 
Weisheit  der  Inder  bereits  die  Lebensaufgabe  Rückerts  aus :  Philölogia  est  humanitatis  in 
verho  cognitio.  Begreiflich,  dass  die  Professoren  der  classischen  Philologie  bei  der  Dispu- 
tation ihm  hart  zusetzten:  aber  in  Bezuor  auf  schlagfertigen  Witz  war  er  ihnen  mehr  als 
gewachsen.  3)  C.  Kühner,  Dichter  Patriarch  und  Ritter,  Wahrheit  zu  Rückerts  Dich- 


§  173  FRANKEN:  RÜCKERT.  619 

zusetzen  suchte.  Rücker t  übernahm  1816  in  Stuttgart  die  Redaction  des 
Morgenblatts/  zog  aber  schon  1817  nach  Italien,  wo  er  im  Kreise  der  ro- 
mantisierenden Künstler  lebte.  Nachdem  er  1818  in  Wien  den  Unterricht 
des  Orientalisten  Hammer-Purgstall  empfangen,  Hess  er  sich  in  Coburg  nieder. 
1826  ward  er  als  Professor  der  orientalischen  Sprachen  nach  Erlangen  be- 
rufen,'' 1841  nach  Berlin,  wo  er  nur  im  Winter  lesen  sollte,  wsehrend  er  den 
Sommer  auf  seinem  Landgut  Neusess  bei  Coburg  zubrachte.  In  Berlin  gefiel 
er  sich  nicht  und  gab  durch  bittre  Epigramme  Anstoss:  so  siedelte  er  noch 
vor  der  Revolution  1848  ganz  nach  Neusess  über,  wo  er  einen  schoenen,  still 
thaetigen  Lebensabend  verlebte.  Er  starb  zu  Anfang  des  J.  1866,  nachdem 
er  noch  für  Schleswig- Holstein  gedichtet  hatte."  Seine  ersten  vaterländischen 
Gedichte  veröffentlichte  Rückert  unter  dem  Namen  Freimund  Raimar:" 
'Deutsche  Gedichte'  1814,^  darunter  ein  grosser  Teil  der  Geharnischten 
Sonette.^  Rückert  hatte  die  Form,  die  bisher  nur  zu  liebeschmachtendem 
Getändel  oder  hoechstens  zum  Preise  der  Kunst  gedient  hatte,  in  der  That 
in  toenendes  Erz  verwandelt.  In  der  edelsten  Sprache  geben  die  Sonette  die 
tiefsten  Bewegungen  der  Zeit  kund :  sie  lassen  erst  den  Unmut  über  die 
Schmach  und  den  Druck  der  Fremdherrschaft  erklingen,  dann  den  festbe- 
schworenen Entschluss  der  Befreiung,  endlich  den  Jubel  und  den  Stolz  der 
Sieger,  dem  der  Hinweis  auf  die  schweren  Opfer  nur  einen  tieferen,  aber 
nicht  weniger  kräftigen  Ton  verleiht.  Nach  dieser  Stufenfolge  gliedern  sich 
die  drei  Abteilungen,  denen  ein  Yorklang  und  ein  Nachklang  beigegeben  ist. 
Mit  vorzüglicher  Kunst  sind  einzelne  Bilder  in  den  Rahmen  der  Form  ge- 
fasst,  Friedrich  der  Grosse,  der  seine  Rächer  im  Jenseits  erwartet,  Körners 
Tod.  Nebenher  hat  Rückert,  wie  Körner  und  Arndt,  durch  volkstümliche 
Lieder  zu  wirken  gesucht;  doch  sprechen  diese  Lieder,  oft  Hohnlieder  auf 
die  Feinde  und  absichtlich  nachlässig  in  der  Form,^*^  weniger  an,  wenn  sie 
auch  die  Stimmungen  der  Zeit  selbst  mit  ihrer  Überschwänglichkeit  und  ihrer 

tung,  Frankfurt  a.  M.  1869.  4)  Mit  Uhland  ging  er  damals   einen  dichterischen  "Wett- 

streit in  der  Art  der  provenzalischen  Tenzone  ein.  CTUstav  Pfizer  hat,  Stuttgart  1837,  die 
beiden  Dichter   kritisch    verglichen.  5)  F.  Reuter,  Fr.  Rückert  in  Erlangen  und  .Jos. 

Kopp,    nach    Farailienpapieren,    Hamburg    1888.  6)  Auch  diese  Gedichte    sind  aufge- 

nommen in  die  Gesamtausgabe  'F.  Riickerts  gesammelte  poetische  Werke',  Frankf.  a.  M. 
1868.  69,  XII.  Rückert  selbst  hatte  seine  'Gesammelte  Gedichte'  zuerst  Erlangen  1834  heraus- 
gegeben. 7)  Spaeter  Reimar:  ursprünglich  hatte  er  bescheiden  sich  Reimer  nennen 
wollen,  aber  von  dem  jungen  Heinrich  Voss  den  Namen  des  süssesten  aller  Minnesänger 
empfangen.  8)  o.  0.  (Heidelberg).  9)  Daraus  LB.  2,  1559.  10)  S}*mons,  Zu 
Rüekerts  Verskunst,  I  Die  Behandlung  des  Reims,  Progr.  des  Friedrichwerderschen  Gymn. 

Wackernagel,  Litter.  Geschichte.  II,  "11 


t'.2U  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XIX  JAHRH.  §  173 

Abhängigkeit  von  kleineren  Anlässen  zu  erkennen  geben.  Viele  dieser  Lieder 
erschienen  als  'Kranz  der  Zeit'  1817,"  nun  bereits  verspantet,  ebenso  wie  die 
politische  KonKedie  Napoleon',  1815.  18,  II.'-  Inzwischen  war  der  Dichter 
von  den  Kriegsliedern  zurückgekehrt  zu  der  ihm  besser  anstehenden  heiteren 
und  stillen  Dichtart.  Bereits  1812  hatte  er  eine  grosse  Anzahl  von  Liebes- 
gedichten, meist  Sonetten,  geschrieben.  Zuerst  erschien'^  1817  'Agnes,  eine 
ländliche  Todtenfeyer';  dann  1825 '■•  'Ainaryllis':  so  hatte  der  Dichter  den 
Namen  der  Geliebten,  einer  Wirtstochter,  Marie  Lies  idealisiert  und  ihren 
Liebreiz  ebenso  wie  die  Abweisung  seiner  ihr  unverständlichen  poetischen 
Huldigungen  bittersüss  besungen.  Kückerts  Ileimwehheder'  1816''*  gelten 
seiner  Bewerbung  um  Friederike  Heim.  Bedeutender  und  ein  wahres  Schatz- 
kästlein wahrer  und  tiefer  Liebe  ist  der  'Liebesfrühling',  den  er  1821  für 
seine  spsetere  Gattin  dichtete:*''  in  der  beweglichsten  kunstreichsten  Form 
wird  der  Dichter  nicht  müde  die  geheimen  Regungen  der  Herzen  auszu- 
spüren imd  in  ihrem  Fortgang  von  der  ersten  Neigung  bis  zur  innigsten  Hin- 
gabe zu  verfolgen.  Auch  der  neckische  Scherz  bleibt  nicht  aus,  aber  der 
Grundton  ist  das  ruhige  Glück  eines  dichterisch  bewegten  Herzens.  Ebenso 
lebenswahr  schildert  Rückert  in  späteren  Gedicliten  die  Freude  an  seinen 
Kindern.  Einem  frühverstorbenon  Töchterchen  sendet  er  1834  wehmütige 
Gedanken  nach,  die  als  'Kindertodtenlieder'  erst  aus  dem  Nachlass  veröffent- 
licht worden  sind.  Ganz  in  seine  Frühzeit  fallen,'^  für  seine  kleinen  Schwestern 
gedichtet,  die  fünf  'Kindermaihrcheu",  vom  BcPumchen  das  andere  Blätter  hat 
gewollt  ua.  Allein  Rückert  begnügte  sich  nicht  damit,  Gefühle  und  Verhält- 
nisse zu  besingen,  die  an  sich  schon  poetisch  sind:  die  ganze  umgebende 
Welt,  auch  das  alltfegliche  Ereignis  wurde  wie  unwillkürlich  ihm  Stoff  zur 
Dichtung.''  Wohl  ist  das  Virtuosentum  zu  bewundern,  welches  selbst  ge- 
ringen und  gleichgiltigen  Gegenständen  durch  Witz,  durch  unerwartete  Reim- 
verbindung, durch  den  Triumph  über  gehäufte  Schwierigkeiten  der  Form 
poetischen  Wert  verleiht.     Aber  der  Dichter  schadete  durch  seine  Fülle  nur 


zu  Berlin  1876.  11)  Stuttgart  und  Tübingen.*  12)  Der  I.  Teil  'Napoleon  und  der 

Drache'    (die    Revolution),    II.    'Napoleon    und    seine    Fortuna'    (^Josephine).  13)    Im 

Taschenbuch   für  Damen.  14)  Zu  Frankfurt.  15)   Im  Morgenblatt.  16)  Er- 

schienen in  der  Urania  für  182;S.  LB.  2,  1581.  17)  Zuerst  im  Morgenblatt  1817    ver- 

öffentlicht. 18)  'Dass  mein  Leben  ein  Gesang,  sag'  icli's  nur,  geworden:    .Jeder  Sturm 

und  jeder  Drang  dient  ihm  zu  Accorden.  Was  mir  nicht  gesungen  ist,  Ist  mir  nicht  ge- 
lebet; Was  noch  nicht  gelungen  ist,  Sei  noch  angestrebet.  Von  der  Welt,  die  mich  um- 
ringt, Wüsst'  ich   unbezwingbar  AVcn'gcs   nur:    die  Seele  klingt   Und  die  "Welt  ist  singbar.' 


§  173  RÜCKERT.  621 

sich  selbst;  vergeblich  macht  er  geltend,  dass  ohne  seine  weniger  gelungenen 
Gedichte  die  besseren  und  anerkannt  guten  nicht  da  sein  würden,*"  Zu 
sichten  und  zu  feilen  war  seine  Sache  nicht.  Der  Kritik  setzt  er  seine  Zu- 
versicht entgegen,  dass  man  einst  von  der  gepriesenen  'bausbackenen'  Poesie 
zu  seiner  schlicht  'hausbackenen'  zurückkehren  werde. ^"^  In  der  That  hat 
er  auch  unter  den  Gaben  seiner  hseusUchen  Muse  Vieles  dargeboten,  was 
Allgemeingut  werden  konnte.  Vor  allem  gewaehrte  die  Natur,  in  deren  vollem 
Genuss  der  Dichter  den  groessten  Teil  seines  Lebens  zubrachte,  ihm  uner- 
schöpflichen Stoff:  das  Nisten  der  Voegel,  das  Flattern  der  Schmetterlinge, 
das  Blühen  und  der  Laubfall  seiner  Bseume,  alles  betrachtet  er  mit  tief- 
sinnendem, liebevollem  Geiste  und  findet  darin  Bezüge  auf  das  menschliche 
Leben.  Dem  Volksmund  dichtet  er  nach,  wenn  er  das  Lied  'Was  die 
Schwalbe  sang'  zum  Ausdruck  der  Wehmut  des  Alters  erhebt.-'  Hier  weiss 
er  den  Lautklang  selbst  zum  Trseger  der  Stimmung  zu  machen,  wie  schon 
früher  im  Ea-iegslied  '0  wie  ruft  die  Trommel  so  laut'!-^  So  tragen  über- 
haupt seine  Lieder  ihre  Melodie  in  sich  und  wenn  auch  manche  von  ihnen, 
namentlich  aus  dem  Liebesfrühling,  Musiker  wie  Schumann,  Franz  ua.  zur 
Composition  angeregt  haben,  so  hatte  der  Dichter  selbst  keine  rechte  Freude 
daran  ;-^  zur  Illustration  war  die  Gedankenlyrik  vollends  ungeeignet. 

Indem  Rückert  auf  seine  Poesie  zurückblickte,  erkannte  er  seine  Be- 
schränkung auf  die  Lyrik  und  auf  eine  bestimmte  Art  der  Lyrik  klar 
genug.-*  Und  doch  versuchte  er  sich  auch  im  Drama.  Jugenddramen,  die 
nach  Calderons  Vorbild  Sagen  seiner  Heimat  behandelten,  sind  zwar  nur 
durch  das  Zeugnis  seiner  Freunde  bekannt.  Aber  in  Berlin,  wo  er  glaubte 
auf  das  Theater  wirken  zu  können,  dichtete  er  eine  Anzahl  historischer 
Dramen,  welche  jedoch  weder  bühnengerechten  Aufbau  noch  psychologische 
Tiefe  besitzen,  sich  vielmehr  wesentlich  auf  lange,  an  sich  schoene  Reden  be- 
schränken. Die  meisten  Stücke  wuchsen  ihm  denn  auch  über  das  Mass 
hinaus.  Die  Stoffe  sind  teils  aus  der  jüdischen  Geschichte  entnommen,  'Saul 
und  David'  1843,  'Herodes  der  Grosse'  1844,  teils  aus  der  deutschen,  'Hein- 

P.  Werke  VII,  S.  122.  19)  Weisheit  des  Brahmanen  I,  31.  20)  P.  W.  YII,  113. 

Solche  nur  formell  poetische  Stücke  hat  er  namentlich  in  seiner  Sammlung  'Haus  und  .Jahr' 
1838  und  in  dem  erst  aus  dem  Nachlass  1888  erschienenen  'Poetischen  Tagebuch'  (1850—66) 
vereinigt.  21)  LB.  2,  1580.  22)  LB.  2,  1565.  23)  P.  Werke  VII.  158.  160. 

Beyer,  Biogr.  Denkmal  S.  221 :  Lieder  und  Sprüche  aus  dem  Na-^hlass  1867.  24)  'Greist 

genug  und  Gefühl  in  tausend  einzelnen  Liedern  Streu'  ich  wie  Duft  in  den  Wind  oder  wie 
Perleu  in's  Gras.     Hätt'  ich  in  einem  Gebild  es  vereinigen    können,    ich    wser'   ein   Ganzer 


622  NEUIIOCHDEUTSOKE   ZEIT.         XIX  JAIIRIF.  §  17^ 

rieh  IV  in  zwei  Teilen,  1844;  in  drei  Teile  zerfiel 'Criatofero  Colombo'  1845. 
Von  seinen  erztühiondon  Dichtungen'-'  gelangen  ihm  manche  Jialladen  und 
Romanzen,  denen  seine  schmucklose,  fliessende  Sprache  ebenso  den  Character 
ruhiger  Betrachtung  gab,  wie  er  den  Legenden  und  Parabeln  von  ihrem  Ur- 
sprung her  eigen  war.  Epische  Dichtung  in  grocsserem  Umfang  unternahm 
Kückert  nur  als  Übersetzer  und  als  solcher  hat  er  neben  Herder,  Voss  und 
A.  W.  Schlegel  sich  einen  dauernden  Namen  erworben.-*'  Auch  die  künst- 
lichste Form  war  ihm  gerecht;  freilich  musste  sich  die  deutsche  Sprache  hier 
wie  in  seinen  eigenen  Gedichten  Vieles  gefallen  lassen,  nichts  jedoch,  was 
geradezu  unverständlich  oder  unschocn  hätte  hei.ssen  können.  Wortbrechungen 
durch  den  Vers,  so  dass  der  erste  Teil  eines  Compositums  reimt,  neue  Wort- 
bildungen und  Zusammensetzungen,  ungewadinliche  Wortstellungen,  alles  weiss 
er  kühn  und  geschickt  in  Anwendung  zu  bringen.  Altdeutsche  oder  mund- 
artliche Wörter,  neue  Übersetzungen  fremder  Ausdrücke  finden  sich  hteufig, 
jedoch  mit  richtigem  Gefühl  für  die  Angemessenheit  im  einzelnen  Gedichte 
oder  an  der  einzelnen  Stelle.^' 

Rückerts  Übersetzungen  beginnen  mit  dem  altenglischen  Gedicht  Horn- 
child,  welches  er  1818  in  die  Nibclungenstrophe  mit  den  Wendungen  der 
älteren  Sprache  übertrug  und  dem  Sänger  des  Richard  La^wenherz,  Blondel, 
in  den  Mund  legte.  Dann  aber  wandte  er  sich  dem  Orient  zu  und  dichtete 
Ghaselen,  meist  Liebes-  und  Zechlieder  im  Sinn  des  Hafis:  'Ostliche  Rosen' 
1822.^**  Weit  wichtiger  jedoch  und  geradezu  der  groesste  Beweis  seines  Nach- 
bildungstalentes sind  die  seit  1826  erschienenen  'Verwandlungen  des  Abu 
Seid  von  Serug  oder  die  Makamen  des  Hariri'.-^  In  einer  fortlaufenden  Kette 
von  Reimzeilen,  welche  zuweilen  durch  künstlichere  Masse  durchbrochen  sind, 
werden  die  Streiche  des  Abu  Seid  erzaehlt,  der  an  allen  moeglichen  Orten 
lind  in  allen  mceglichen  Gestalten  auftritt,  und  überall  durch  seine  witzigen 
und  kunstvollen  Verse  die  Hoerer  bezaubert,  die  Gegner  überwindet.  Selbst- 
verständlich musste  hier  meist  der  Wortwitz  des  Urtextes  durch  ein  tehnliches 
Beispiel  aus  der  deutschen  Sprache  wiedergegeben  werden.  Aus  dem  Ara- 
bischen   sind    auch    'die   Lieder    des    Amrilkais'    1843,^"   'Hamasa    oder   die 

Dichter;    ich    bin   jetzt    ein    zersplitterter   nur.^     P.  W.  VII,  6.  25)  LB.  2,  158.3  ua. 

26)  Vorrede  zu  Hariri  'Wer  Philolog  und  Poet  ist  in  einer  Person  wie  ich  armer,  Kann 
nichts  besseres  thun  als  übersetzen  wie  ich'.  27)  H.  Meurer,  Lexicalische  Sammlungen 

zu  F.  Rückerts  AVerken,  Progr.  Weimar  1872.  Vgl.  auch  Kern  (Anm.  35)  S.  32. 
28)  Leipzig.  W.  ^lüller  meinte,  viele  davon  verdienten  ein  vorgesetztes  K.  LB.  2,  1603. 
21»)    Stuttgart    und    Tübingen.     LB.    2,    Ißll.  30)    Stuttgart,    ebenso    die  folgenden. 


§  173  RÜCKERT  ALS  ÜBERSETZER.  623 

ältesten  arabischen  Volkslieder  1846,  II  übertragen;  ebenso  Manches  in 
'Sieben  Bücher  morgeuländischer  Sagen  und  Geschichten',  1837,  und  'Erbau- 
liches und  Beschauliches  aus  dem  Morgeulande',  1836.  Aus  dem  persischen 
Epos  entnahm  Rückert  1838  die  Sage  von  Röstern  und  Suhrab,^'  von  dem 
Helden,  der  unwissentlich  den  eigenen  Sohn  erschlsegt.  Aus  dem  indischen 
Mahabharata  übersetzte  er  Nal  und  Damajanti^"  1828  ;  auch  die  brahmanischen 
Erzsehlungen,  1839,  sind  der  indischen  Litteratur  ebenso  entnommen  wie  das 
erst  aus  dem  Nachlass  zusammen  mit  den  Idyllen  des  Theokrit  und  den 
Fröschen  des  Aristophanes  veröffentlichte  Drama  Sakontala.  Dagegen  ist  'Die 
Weisheit  des  Brahmauen',  ^^  1836,  nur  zum  geringen  Teil  aus  der  indischen 
Spruchpoesie  geschöpft;  sie  zeigt  sich  als  des  Dichters  volles  Eigentum  durch 
die  beständigen  Bezüge  auf  die  deutsche  Philosophie^*  und  das  Leben  der 
Gegenwart;  ^^  auch  die  Einkleidung  in  den  mit  glücklicher  Leichtigkeit  er- 
neuten Alexandriner  gibt  diesen  Sprüchen  ihr  eigentümliches  Geprsege,  welches 
oft  an  Angelus  Silesius  erinnert.  In  eben  diese  Form  fasste  er  sein  'Leben 
Jesu,  Evangelien-Harmonie  in  gebundener  Rede'  1839.  Wsehrend  er  hier 
wie  sonst  aus  den  Quellen  selbst  geschöpft  hatte,  übertrug  er  1833^''  Das 
von  Confucius  gesammelte  Chinesische  Liederbuch  Schi-King'  nach  lateinischen 
Vorlagen  in  das  Deutsche.  Indem  er  hier  in  der  Vorrede  auf  den  weiten 
Umkreis  der  Sprachen  und  Dichtungen  blickte,  die  er  mit  Liebeseifer  durch- 
forscht und  dem  Inhalte  nach  der  deutschen  Litteratur  angeeignet  hatte, 
durfte  er  ausrufen  'Weltpoesie  allein  ist  Weltversoehnung'.^^ 

Wenn  Rückert  im  stillen  Genüsse  der  Natur  und  des  Familienlebens 
seine  Befriedigung  fand  und  unablässig,  aber  mühelos  die  Gedanken  und 
Formen  der  Litteraturen  aller  Völker  deutsch  nachbildete,  so  strebte  ihm  sein 
Schüler  und  Freund  Platen  mit  herber  Strenge  gleichzukommen,  ohne  sich 
selbst  auch  nur  genug  thun  zu  können.^*  Die  Verstimmung,  mit  welcher 
ihn  der  anderen  Dichtern  gespendete  Beifall  erfüllte,  trieb  ihn  zu  heftigen 
Streitgedichten,  in  denen  er  seine  eigene  Kraft  wenigstens  als  Dramatiker 
verzehrte.  Einsam  und  fern  vom  Vaterlande  verlebte  er  die  letzten  Jahre 
und  starb  noch  in  voller  Manneskraft.  ^^    K.  August  G.  M.  Graf  von  Platen- 

31)  LB.  2,  1651.  32)  LB.  2,  1631.  33)  LB.  2,    1639.  34)  Für   Schelling 

gegen  Hegel.  35)    Franz  Kern,  F.  Rückerts  Weisheit  des  Bralimaüen  dargestellt  und 

beurteilt,  Oldenburg  1868.  G.  Voigt,  F.  Eückerts  Gedankenlyrik  nach  ihrem  philo- 
sophischen Inhalte,  Annaberg  1881.  36)  Zu  Altena.  37)  Vgl.  auch  LB.  2,  1595  die 
Einleitung  zur  Hamäsa.  38)  Vortrefflich  beurteilte  diese  Richtung  Platens  Goethe  bei 
Eckermann  zum  25.  Dec.  1825.             39)  Platens  Eutwiekeluug    lässt   sich,    und  auch  dies 


624  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XIX  JAIIRII.  §  173 

n.M.LKUMÜNDE  —  CF  liess  spßoter  den  zweiten  Teil  seines  Geschlcchtsuaniens 
^veg  —  stammte  aus  einer  von  Rügen  nach  Franken  gezogenen  Familie;  er 
war  geboren  zu  Ansbach  1790.  1810  ward  er  in  das  bairische  Cadettencorps 
aufgenommen,  diente  als  Page  bei  Hofe  und  zog  1815  mit  ins  Feld.  Früh 
nach  wissenschaftlicher  Ausbildung  strebend,  konnte  er  seit  1818  zu  Würz- 
burg, dann  zu  Erlangen  studieren  und  schloss  sich  hier  namentlich  an  Schcl- 
ling  an.  Nachdem  er  schon  1824  Venedig  besucht,  begab  er  sich,  von  Kernig 
Ludwig  unterstützt,  1826  nach  Italien  und  kehrte  seitdem  nur  auf  kurze 
Zeit  nach  Deutschland  zurück.     Er  starb  1835  zu  Syracus. 

Zu  den  ältesten  Gedichten  Platens  gehoeren  ausser  mehreren  Liedern 
einige  seiner  Romanzen.^**  Wenn  die  schwäbischen  Dichter  mit  Vorliebe 
sagenhafte  Gegenstände  für  die  Ballade  waihlten,  so  beschränkt  sich  Platen 
auf  historische  Vorgänge,  welche  ihm  zu  eindrucksvoller  Gegenübersetzung 
von  GroDsse  und  Vergänglichkeit  Gelegenheit  geben.  So  in  den  1819  ge- 
schriebenen Romauzen  'Der  Pilgrim  von  S.  Just'  und  'Das  Grab  im  Busento'; 
in  beiden  verstärkt  sich  der  Eindruck  durch  die  Zeitumstände,  durch  Nacht 
und  Sturm.  In  spreterer  Zeit  nimmt  diese  Darstellung  weltgcschichtliclier 
Momente  bei  Platen  nur  eine  weiter  ausgeführte  Form  an. 

Hervorgetreten  aber  war  Platen  zuerst  mit  Ghaselen,^'  deren  Form  er 
durch  Rückert  kennen  gelernt  hatte,  und  in  welcher  er  wie  dieser  und  wie 
schon  Goothe  im  Divan  seine  eigenen  Gedanken  und  Erlebnisse  niederlegte. 
Wie  die  Ghasele,  so  gestattet  auch  das  Sonett  bei  öfterer  Wiederkehr  des 
gleichen  Reimes  einen  Gedanken  nach  all  seinen  Beziehungen  hin  durch- 
zuführen. Platen  beansprucht  auch  in  diesem  Versmass  die  Meisterschaft." 
Ganz  vortrefflich  drückt  er  namentUch  in  den  Sonetten  auf  Venedig*^  die 
elegischen  Gefühle  aus,  welche  die  zerfallende  Koenigin  der  Meere  erweckt. 
Spseter,  als  er  in  Italien  weilte,   versuchte    der   Dichter    die   antiken  Formen 


ist  für  ihn  bezeichnend,  an  der  Hand  seines  Tagebuches  verfolgen,  von  welchem  die 
bis  1825  reichenden  Bände,  Stuttgart  und  Augsburg  1860,  wenigstens  auszugsweise  ver- 
öffentlicht worden  sind.  Aus  den  Tagebüchern  hat  H.  Meisner  Platens  Gedanken  über 
Philosophie  und  Religion  in  der  D.  Revue  1888  zusammengestellt.  Auch  der  Brief- 
wechsel Platens  ist  grossenteils  zugänglich  geworden  durch  seinen  Verehrer  und  Nach- 
ahmer, den  Leipziger  Professor  Minckwitz,  als  'Poetischer  und  litterarischer  Nachlass', 
Leipzig  1852,  IL  Platens  'Gesammelte  Werke'  sind  zuerst  Stuttgart  1839  erschienen, 
mit  einer  biogr.  Skizze  von  Goedeke:  die  Ausgabe  Berlin  bei  Reclam  hat  Redlich  be- 
sorgt, ebenso  die  Berlin  1888  erschienene.  40)  LB.  2,  1741.  41)  LB.  2,  1743. 
Sie  waren  Erlangen  1821  und  24  erschienen.             42)  LB.  2,  1747.             43)  LB.  2,  1748. 


§  173  PLATEN.  625 

der  Ode  und  des  Hymnus  wieder  zu  beleben.  Ausser  den  überkommenen 
Strophenarten  bildete  er  auch  eigene  und  unternahm  es  durch  die  genaueste 
Abwsegung  der  Silbenwerte  den  Leser  zu  richtigem  Vortrag  zu  zwingen. 
Vielfach  sind  es  politische  Ansichten,  die  er  ausspricht  und  an  die  Welt- 
ereignisse knüpft,  an  die  Julirevolution,  an  den  Tod  Kaiser  Franz  I,  und  die 
besonnen  liberale  Denkweise  des  Aristokraten  verdient  volle  Anerkennung. 
Den  schlimmsten  Feind  sah  er  in  dem  despotischen  Russland,  wie  er  gleich- 
zeitig auch  Polenlieder  dichtete,  die  jedoch  erst  aus  dem  Nachlass  veröffent- 
licht wurden.**  In  den  Oden  sowie  in  den  hexametrischen  Dichtungen,  be- 
sonders den  Eclogen,*^  spricht  sich  überdies  auch  die  Freude  über  die  Kunst 
und  Natur  in  Italien  aus;  andere  feiern  den  Gönner  Platens,  Koenig  Ludwig 
von  Bayern  oder  seine  Freunde,  wie  Kopisch.  In  Distichen  sind  zahlreiche 
Epigramme**"'  abgefasst,  welche  die  strengen  Kunstforderungen  des  Dichters, 
aber  auch  sein  stolzes  Selbstgefühl  kund  geben.  Einen  epischen  Gegenstand 
behandelte  er  in  den  "Abbasideu'  1829,  worin  er  einen  Stoff  aus  Tausend 
und  eine  Nacht  in  fünffüssige  Trochseen  kleidete. 

Solchen  Msercheninhalt  gab  er  mehrfach  auch  seinen  dramatischen  Ge- 
dichten. 1824*^  erschien  'Der  glseserne  Pantoffel',  eine  Verbindung  von 
Aschenbroedel  und  Dornroeschen.  "Treue  um  Treue' *^  dramatisiert  die  schoene 
Sage  von  Aucassin  und  Nicolette.  Eine  herodotische  Anecdote  behandelte 
er  im  'Schatz  des  Rhampsinit',  nur  flocht  er  satirische  Beziehungen  auf  die 
hegelsche  Philosophie  ein.  Diese  parodische  Absicht  machte  er  in  anderen 
Dramen  zur  Hauptsache,  indem  er  —  auch  hier  im  Anschluss  an  Rückert 
—  die  aristophanische  Komoedie  zu  erneuern  unternahm  und  freiUch  sich  da- 
bei so  nahe  als  moeglich  an  das  griechische  Urbild  hielt.  Er  übersah  nicht, 
dass  weder  die  Aufführung  auf  einer  deutschen  noch  überhaupt  auf  einer 
Bühne  unserer  Zeit  zu  erwarten  stand  *^  noch  auch  die  politischen  Verhält- 
nisse, also  den  Hauptstoff  der  alten  Komoedie,  zu  berühren  ihm  gestattet 
war.  Einzig  die  Litteratur  durfte  und  wollte  er  beleuchten,  und  sein  völlig 
entschiedener  und  vollberechtigter  Standpunct  war  ein  Verdienst,  welches  er 
durch  die  kunstvollste  Nachbildung  der  antiken  Form  zu  steigern  wusste. 
Platens   erste   Komoedie    dieser  Art   war    'Die  verhängnisvolle  Gabel'  1826.^" 


44)  Strassburg  1839  uö.  45)  'Die  Fischer  auf  Capri'.  LB.  2,  1750.  46)  LB.  2,  1756. 
47)  Schauspiele,  I  Erlangen.  48)  Schauspiele,  Stuttgart  1828.  49)  J.  G.  0.  von 

Lüttjendorf-Leinburg,  geb.  zu  Pressburg  1825,  gest.  1893,  Nachahmer  Platens  und  Freund 
Geibels  hat  allerdings  in  "Wiirzburg  und  München  an  dilettantischen  Aufführungen,  des  Eom. 
Üed.  Teil  genommen:  AUg.  Z.,  Febr.  1893.         50)  Stuttgart,  wie  auch  das  folgende  Stück. 


G2G  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.         XIX  JAHRH.  §  173 

Sic  richtet  sich  j?egen  die  Schicksalstragoedie  und  parodiert,  wenn  auch 
Miillner  und  Houwald  besonders  genannt  sind,  in  ihren  Grundzügen  haupt- 
sächlicli  Grillparzors  Alinfrau.  Wie  in  dieser  muss  ein  Gespenst  so  lange 
unigehn,  bis  alle  Nachkonimcn  getastet  sind;  wie  dort  ein  Dolch,  so  ist  hier 
eine  Gabel  das  verhängnisvolle  Mordinstrument.  Der  Chorus  des  Stückes, 
als  welcher  ein  Jude  Schniuhl  auftritt,  weist  offen  auf  die  Zielpuncte  der 
Satire  hin.  In  seinen  Parabasen'"'  tritt  besonders  die  Nachahmung  des  Ari- 
stophanes  hervor,  welche  auch  die  überlangen  Composita,  selbst  die  derben 
Witze  erklaert.  Sie  ist  noch  stärker  im  zweiten  Lustspiel  'Der  romantische 
Oedipus'  1828.  Der  Dichter  hatte  zu  seinem  Schmerze  sehen  müssen,  wie 
wenig  Anerkennung  seine  Kunst  in  Deutschland  fand.  Es  wurden  ihm  sogar 
Epigramme  hinterbracht,  welche  Immermann  gegen  seine  Gliaselen  gedichtet 
und  Heine  rn  seine  Reisebilder  aufgenommen  hatte.  Platen  beschloss 
ihn  zu  züchtigen  und  mit  ihm  'die  ganze  tolle  Dichterlingsgenossenschaft'. 
Ohnehin  gegen  die  Nachahmung  Shakespeares  feindlich  gesinnt,  nahm  er  be- 
sonders Immermanns  Bearbeitung  des  Trauerspiels  'Gardenie  und  Gelinde'  von 
Gryphius  aufs  Korn.  Er  lässt  Immermann  auch  mit  Sophocles  in  der  Dich- 
tung eines  Oedipus  wetteifern  und  alles  auf  der  Bühne  darstellen,  was  bei 
dem  griechischen  Dichter  nur  erziehlt  wird,  von  der  Geburt  des  Oedipus  bis  zu 
seiner  Selbstblendung.  Auch  hier  wird  jedoch  die  Satire  noch  geradezu  aus- 
gesprochen, indem  der  Verstand,  ein  Exilierter  aus  Berlin,  zuletzt  den  Un- 
sinn dieser  Darstellungsweise  nachweist.  Doch  diese  Komoediendichtung  war 
nicht  eigentlich  Platens  Endziel.  Mit  heisser  Sehnsucht,  aber  vergebens,  rang 
er  danach  selbst  als  Trauerspieldichter  ein  Meisterwerk  zu  schaffen.  Nur  als 
eine  Studie  konnte  'Die  Liga  von  Cambrai'  1833^-  gelten;  und  kaum  hätte 
er  mehr  als  Rückert  die  Grenze  des  Lyrikers  überschreiten  können. 

Gedankenlyrik  erfüllt  auch  die  Gedichte  des  Koenigs  Ludwig  von 
Bayern,*^  welcher  1786  zu  Strassburg  geboren,  als  Kronprinz  seit  1799 
deutsche  Gesinnung  gegen  Napoleon  vertrat,  als  Koenig  1825 — 48  den 
bildenden  Künsten  in  seiner  Hauptstadt  eine  Heimstätte  schuf  und  1868  in 
Nizza  starb.     Als  Dichter   verwertete  er  vor  allem  seine   italienischen  Reise- 


51)  LB.  2,  1725.  52)  Frankfurt.  Schon  hatte  Goethe  (zu  Eckermann  am  11.  Febr.  1831) 
Platens  Begabung  gerade  für  das  Technische  der  Tragoedie  anerkannt,  aber  auch  gefragt,  wie 
er  noch  eine  Tragcßdie  schreiben  wolle,  nachdem  er  die  tragischen  Motive  parodistisch  ge- 
braucht? 53)  Zuerst  München  1828.  29,  III;  ein  IV.  Teil  1847.  Gedichte  mit  kunst- 
geschichtlichen   und    bibliographischen    Beilagen,    hg.    von    G.  Laubmann,    München    1888. 


§  174  K.  LUDWIG.     SCIIEFER.     SALLET.  627 

eindrücke,  oft  in  antiken  Formen,  ohne  Sorgfalt  indessen,  wie  auch  die  dem 
Historiker  Johannes  Müller  nachgeahmte  Kürze  seiner  Prosa  ^*  manchen 
Anstoss  gab. 

Mit  Rückerls  Beschaulichkeit  vergleicht  sich  die  Dichtung  Leopold 
ScHEFERS,  nur  dass  sie  sich  auf  Sittenlehre  beschränkt  und  diese  auf  einen 
pantheistischen  Optimismus  begründet.  Der  Dichter,  aus  Muskau  gebürtig 
1784  und  hier  gestorben  1862,  hatte  sich  autodidaktisch  gebildet  und  stand 
seit  1811  im  Dienste  des  ihm  von  Jugend  auf  befreundeten  Fürsten  Pückler, 
welcher  1811  seine  Gedichte  herausgab  und  ihm  die  Mittel  zu  einer  Reise 
nach  Neapel,  Athen  und  Konstantinopel  1816  — 20  geweehrte.  1834^^  erschien 
sein  'Laienbrevier',  Sprüche  in  fünffüssigen  Jamben  für  jeden  Tag  des  Jahres, 
welche  er  1807—22  gedichtet  hatte.  Aus  seinen  Reisegedichten  stammen 
'Hafis  in  Hellas'  1853  und  'Koran  der  Liebe'  1858,  stark  erotisch,  in  Aus- 
druck und  Versbau  nachlässig,  und  erst  durch  Max  von  Waldau  in  Reime 
gebracht.  Wie  dieser  war  Schefer  auch  Erzsehler;  doch  sind  in  seinen 
74  Novellen  (seit  1823)  nur  die  Landschaftsschilderungen  gelungen,  die  Er- 
zsehlung  ist  oft  verworren,  die  Vorgänge  selbst  sonderbar  und  unerfreulich.'^ 
Pantheismus  predigte  auch  Friedrich  von  Sallet,  dessen  Xaienevangehum' 
1842^^  an  einzelne  Stücke  des  Neuen  Testaments  anknüpfte,  freilich  nicht 
um  Zufriedenheit  und  Bescheidung  zu  lehren,  sondern  um  zum  Kampfe  zu 
rufen.  Geb.  zu  Neisse  1812,  starb  Sallet  bereits  1843,  nachdem  er  bis  1838 
Offizier  gewesen  war. 

§  174. 

Die  mit  Uhland  und  Rückert  gleichzeitigen  Lyriker  Norddentschlands 
hielten  sich  nseher  an  die  romantische  Schule.  Sie  feierten  besonders  die 
Wanderlust,  und  freilich  durfte  ihnen  am  Rhein  oder  in  Italien  das  Leben 
poesievoller  als  in  der  Heimat  erscheinen.  Von  ihnen  hatte  Joseph  von 
EicHENDORFF  ^  dem  Kreise  der  jüngeren  Romantiker  zu  Heidelberg  selbst  an- 
gehcert,  dann  zu  Wien  unter  dem  Einfluss  F.  Schlegels  gestanden.   Geboren  zu 


54)  LB.  3,  1493.  55)  Zu  Berlin.  56)  Ausgewsehlte    Werke,    Berlin    1845,    XII, 

mit  einer  Biographie  von  W.  v.  Lüdemann.  Eingehender  E.  Brenning.  L.  Seh.  Bremen 
1884  (auch  N.  Lansitzisches  Magazin  LX).  57)  Leipzig.  'Sämtliche  Schriften',    Breslau 

1845.  48,  V  uö. 

§  174.  1)  Biographie  von  seinem  Sohn  in  Jos.  Freiherrn  v.  Eichendorff  Sämtliche 
Werke,  2.  Aufl.,  Leipzig  1864,  VI.  *Lpz.  1883,  IV.  Dazu  Vermischte  Schriften,  Paderborn 
1866,  V.  Gedichte  aus  dem  Nachlasse,  hg.  von  H.  Meisner,  Leipzig  1888.  H.  Keiter,  J. 
V.  E.,  Sein  Leben  und  seine  Dichtungen,  Köln  1887.     Minor,  Z,  f.  d.  Ph.  21,  214,  wo  auch 


028  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.        XIX  JAlIRll.  §  174 

Lubowitz  bei  Ratibor  17tS8  hatte  er  in  seiner  Jugend  das  gastfreie  Leben  des 
Adels  kennen  gelernt,  welches  in  der  romantischen  Dichtung  immer  wieder 
verherrlicht  wird.  Nachdem  er  in  den  Freiheitskriegen  als  Offizier  gelochten, 
fand  er,  da  inzwischen  sein  Faniilienbesitz  starke  Einbusse  erf\ihren  hatte,  1819 
im  Ministerium  des  Cultus  eine  Anstellung  für  katholische  Angelegenheiten; 
als  Beamter  in  Ostpreussen  wirkte  er  für  die  Herstellung  der  Marienburg. 
1844  schied  er  aus  dem  Amt  und  starb  1857  zu  Neisse.  8ciu  erstes  grocsseres 
Werk  'Ahnung  und  Gegenwart'  (Nürnberg  1815)  führte  sein  Freund  Fouque 
ein.  Die  Nachahmung  des  Wilhelm  Meister  ist  vielfach  ersichtlich,  doch 
geht  der  zwischen  zwei  Frauen  stehende  Held  zuletzt  ins  Kloster.  Die 
späteren  Novellen  bringen  {fhnliche  Figuren  und  Vorgänge  wieder;  unter 
ihnen  nimmt  durch  Einfachheit  und  Lieblichkeit  die  erste  Stelle  ein  'Aus  dem 
Leben  eines  Taugenichts',  Berlin  1826:  ein  träumender,  geigender,  dichtender 
Jüngling  findet  ohne  sein  Zutliun  sein  bescheidenes  Glück  im  Leben  wie  in 
der  Liebe."  Seine  Beschränkung  wie  seine  Thatenscheu  lässt  ihn  als  Philister 
erscheinen :  aber  Eichendorff  verkündet  in  einem  dramatischen  Mserchen 
'Krieg  den  Philistern',  Berlin  1824;  freilich  nicht  ohne  die  Dichter  zugleich 
zu  verspotten.  Auch  in  der  Tragoedie  versuchte  er  sich  mit  'Ezelin  von 
Romano',  Kcenigsberg  1828,  'Der  letzte  Held  der  Marienburg',  ebd.  1830. 
Seine  kirchliche  Gesinnung^  beherrscht  noch  mehr  seine  litterarhistorischen 
Werke:  'Über  die  ethische  und  rehgioese  Bedeutung  der  neueren  romantischen 
Poesie  in  Deutschland',  Leipzig  1847,  'Geschichte  der  poetischen  Litteratur 
Deutschlands',  Paderborn  1857,  II  uö.  Und  so  klingt  ein  rcligioeses  Gefühl 
auch  in  die  Wanderlieder  Eichendortfs,  welche  durch  Mendelssohn  u.  a,  com- 
poniert,  Lieblinge  des  geselligen  Gesanges  geworden  sind.*  Auf  eine  Volks- 
melodie dichtete  Eichendorff  das  Lied  'In  einem  kühlen  Grunde',  das  nach 
Goethes  Vorgang^  die  Poesie  der  Mühle  verherrlichte. 

Diese  nahm  dann  mit  Beziehung  auf  den  eigenen  Namen  ein  jüngerer 
Dichter  auf:  Wilhelm  Müller,®  geb.  1794  zu  Dessau,  und  hier  gest.  als  Biblio- 
thekar 1827.  Obschon  auch  er  im  Freiheitskrieg  an  mehreren  Schlachten  Teil 
genommen  hatte,  hat  er  doch  eben  so  wenig  als  Eichendorff  Kriegslieder 
gesungen.     Wohl  aber   begeisterte  ihn  ItaUen,  wo  er  1817.  18  weilte:  seine 


über  andere  Litteratur.  2)  LB.  3,  1459.  3)  K.  Dietze,  Eichendorffs  Ansicht  über 

romantische    Poesie    im    Zusammenhang    mit    der    Doctrin    der    romantischen  Schule,   Diss. 
Leipzig  1883.  4)  LB.  2,  1703.  5)  §  160,  nach  Anm.  89.  (5)  Eine  Biographie 

fügte  G.  Schwab    den    von    ihm  herausgegebenen  'Vermischten  Schriften',  Leipzig  1830,  V, 


§  174  EICHENDORFF.     W.  MÜLLER.     REINICK.  629 

leichtlebigeu  Briefe  von  dort  vereinigt  er  in  'Rom,  Roemer  und  Rosmerinnen' 
1820.^  Seine  Gedichte  aus  der  Studentenzeit  1812  hatte  er  schon  1816  mit 
denen  seiner  Freunde  als  'Bundesblüten'  herausgegeben.  Dann  legte  er  seine 
"Wanderlieder  gern  den  Vertretern  bestimmter  Stände  in  den  Mund,  zuerst 
1818  die  Müllerlieder,  denen  ebenso  als  Cyclus  zusammenhängend  die  'Winter- 
reise' 1823  folgte,  1821  'Sieben  und  siebzig  Gedichte  aus*  den  hinterlassenen 
Papieren  eines  reisenden  Waldhornisten';  ^  oder  er  knüpfte  sie  an  bestimmte 
Gegenden :  Trühlingskranz  aus  dem  Plauenschen  Grunde',  'Muscheln  von  der 
Insel  Rügen',  mit  besonderer  Verwertung  der  volkstümlichen  Sagen  und  Breeuche. 
Auch  fröhUche  Zechlicder^  gelangen  ihm  vortretilich.  Dem  unbestimmten, 
weichen  Gefühlsausdruck  Eichendorffs  stellte  Müller  eine  zierliche,  klare 
Kunst  gegenüber,  die  doch  der  musikalischen  Composition  F.  Schuberts  u.  a. 
glückliche  Anregung  gab.  Ebenso  gelangen  ihm  seine  'epigrammatischen 
Spaziergänge'.'*'  Zu  einem  hoeheren  Schwung  begeisterte  ihn  der  griechische 
Freiheitskampf:  seine  'Lieder  der  Griechen'  1821 — 24"  gingen  wieder  auf 
die  einzelnen  Heldenthaten,  die  verschiedenen  Stände  und  Landschaften  ein. 
Sie  schlössen  sich  an  die  neugriechischen  Volkslieder'^  an,  wie  Müller  als 
tüchtiger  Philologe  auch  über  Homer '^  geschrieben;  wie  er  für  seine  Epi- 
gramme Logau  '*  benutzt  und  um  die  gleichzeitige  Litteratur  sich  ebenso  wie 
sein  Freund  G.  Schwab  kritische  Verdienste  erworben  hatte. 

In  spseterer  Zeit  setzten  zwei  Maler  diese  Liederdichtung  fort.  Zunsechst 
Robert  Reinick'^  aus  Danzig,  geb.  1805,  gest.  zu  Dresden  1852.  Ein  guter 
und  glücklicher  Mensch,  Hess  er  seine  frohe,  reine  Stimmung  in  zarten  oder 
scherzhaften  Liedern  erklingen,  welche  ebenfalls  sich  zur  Tonbegleitung  ge- 
eignet erwiesen.  In  Rom  und  in  der  Heimat  hatte  er  Künstlerfeste  zu  ver- 
herrlichen; seine  Freunde  illustrierten  seine  Lieder,"*  L.  Richter  seine  treff- 
liche Übersetzung  Hebels.  Spseter  wandte  er  sich  der  Eanderlitteratur  zu, 
und  sein  Maerchen-,  Lieder-  und  Gedichtenbuch'  hat  dauernden  Beifall  ver- 
dient.'^ 


bei.     'Gedichte',    hg.    von    (seinem    Sohn)    Max    Müller,    Leipzig  1868.  7)    II,  Berlin, 

wie    die    nseehstgenannten    Schriften.  8)    Dessau,    2.    Bändchen    1824:    LB.    2,    1713. 

9)    Komanze    Est    est,    LB.    2,    1716.  10)    LB.    2,    1721.  11)    Dessau,    spseter 

Leipzig.    LB.  2,  1707.  12)  Übersetzung    nach  Fauriels  Sammlung,   Leipzig   1825,    IL 

13)  Homerische  Vorschule,  Lpz.  1824.  14)  Bibliothek    deutscher  Dichter  des  17.  Jhs. 

Leipzig  1822 — 27;    fortgesetzt    von    K.    Förster.  15)    Lebensgeschichte    von  B.  Auer- 

bach   vor    Reinicks    Liedern,    Berlin    1852.  16)    'Lieder    eines    Malers,    mit    Kand- 

zeichnungen   seiner    Freunde',    zuerst    Düsseldorf   1838.  17)    2.  Aufl.    Bielefeld    1873. 


6:m  NEUIIOCIIDEL'TSCIIE   ZEIT.         XIX  JAIIRII.  §  174 

Ntpher  an  die  Yolksüberlieforung  hielt  sich  Ar(iLKT  Kopiscii.'*  Geboren 
1799  zu  Breslau,  wurde  er  in  Italien,''-'  wo  er  1828 — 2H  weilte,  dem  da- 
maligen Kronj)rinzen  Friedrich  Wiihehn  von  Preussen  bekannt,  welcher  iiim 
spa'tcr  den  Auftrag  gab,  eine  Geschichte  der  kceniglichen  Schlösser  und 
(lärten  zu  schreiben.  Er  starb  zu  Berlin  1853.  Ein  liebenswürdiger  Gesell- 
schafter, zeigte  er  auch  als  Dichter  sich  vorwiegend  humoristisch,  namentlich 
in  den  Bearbeitungen  der  Grimmschen  Sagen  und  Mterchen,  welche  er  als 
'Allerlei  Geister"  1848  sammelte.  Die  Soldateupoesie  bereicherte  er  mit  einigen 
kräftigen  Erziehlungen.  Auch  im  schlesischen  Dialect  dichtete  er  Einiges, 
wie  er  schon  die  neapolitanischen  Volkslieder  als  'Agrumi',  Berlin  1837,  über- 
setzt hatte.  Daneben  versuchte  er  sich  auch,  durch  Platen  in  Italien  dazu 
veranlasst,  in  antiken  Massen,  in  Oden  und  Hymnen;  und  ebenso  wenig  mit 
Erfolg  als  Dramatiker  in  'Walid'  und  'Chriemhild:  hier  suchte  er  die  Heldin 
zu  entschuldigen,  schwächte  aber  ihre  Groesse  nur  ab. 

Doch  einen  neuen  Sammel])unct  für  die  norddeutsche  Dichtung  bildete 
ein  Dichter,  der  im  Leben  durch  seine  Wanderungen  weiter  als  alle  anderen 
geführt  worden  war.  Adelbert  von  Ciiamis.so-"  stammte  aus  einem  alten 
Geschlecht  der  Champagne,  welches  Ludwig  XYL  bis  zuletzt  Treue  bewiesen 
hatte  und  dessen  Stammschloss  Boncourt  bei  S.  Meuehould  in  der  Revolution 
der  Erde  gleich  gemacht  wurde:  der  Dichter  segnete  spseter  den  Pflug,  der 
darüber  gehe.-'  1781  geboren,  hatte  er  neunjährig  Frankreich  verlassen  und 
wurde  1796  Page  bei  der  Koenigin  Luise.  Als  Offizier  erlebte  er  1806  die 
schmachvolle  Capitulation  von  Hameln  und  suchte  dann  in  Frankreich  eine 
Stelle  als  Lycealprofessor  zu  Xapoleonville  in  der  Vendee.  Hätte  er  sich  an 
den  Hof  Napoleons  begeben  wollen,  so  wsere  eine  glänzende  Laufbahn  ihm 
sicher  gewesen.  Er  zog  es  vor  bei  Frau  von  Stael  in  Coppet  A.  W.  Schlegels 
Vorlesungen  in  das  Franzoesische  zu  übersetzen.  Dann  begann  er  an  der 
neuen  Universita^t  Berlin  naturwissenschaftliche  Studien.  Der  Freiheitskrieg 
hatte  für  ihn,  der  sich  bei  Deutschen  als  Franzose,  bei  Franzosen  als  Deutscher 
fühlte,  kein  Schwert.  Seine  Wünsche  erfüllten  sich,  als  er  1815  auf  einem 
zur  Weltumsegelung   bestimmten   russischen  Kriegsschiff,    welches    der   Sohn 


18)  'Bemerkungen  zum  Leben  des  Dichters'  von  K.  Bötticher,  in  den  'Gesammelten  Werken' 
von  A.  K.,  Berlin  1856,  V.  19)  Er  entdeckte  auf  Capri  die  blaue  Grotte,  worüber  er 

anmutig  berichtete:  Ges.  W.  V,  55.  20)  Zu  betonen  Chämissö.   Der  eigentliche  Name  war 

Louis  Charles  Adelaide  comte  de  Chamisso.  Seine  Lebensbeschreibung  von  H.  E.  Hitzig,  mit 
seinem  Briefwechsel  durchflochten,  bildet  den  5.  und  6.  Band  der  Werke,  Berlin  1836—39,  VI. 
Familieubriefe  auch  bei:  K.  Fulda,  Ch.  und  seine  Zeit,  Leipzig  1881.  21)  LB.  2,  1690. 


§  174  KOPISCH.     CH  AMISSO.  631 

des  Dichters  Kotzebue  befehligte,  als  Naturforscher  Aufnahme  fand.  Drei 
Jahre  verbrachte  er  zumeist  in  der  Südsee,  wo  er  mit  den  Bewohnern  der 
glücklichen  Inselwelt  wahre  Freundschaft  schloss.  Nach  Berlin  zurückgekehrt, 
erhielt  er  eine  Anstellung  am  botanischen  Garten,  ward  1835  Mitglied  der 
Akademie,^^  und  starb  1838.  Seine  Jugendgedichte,  welche  er  1806  in  einem 
Musenalmanach  mit  denen  seiner  Freunde-^  vereinigt  hatte,  verwarf  er,  als 
er  1831  -*  seine  'Gedichte'  sammelte.  In  der  That  war  er  zuerst  berühmt 
und  zwar  weltberühmt  geworden  durch  Teter  Schlemihls  wunderbare  Ge- 
schichte', welche  mit  einem  Yorwort  von  Fouque  zuerst  zu  Nürnberg  1814 
erschienen  war.-'  Mit  schmerzlichem  Humor  stellte  er  darin  seine  eigene 
Heimatlosigkeit  dar.  Erst  seine  Heirat  1819  gab  ihm  das  reinste  Glück  und 
Stoff  zu  tiefgefühlten  Liedern.  In  'Frauenliebe  und  Leben'  begleitet  er  die 
weiblichen  Empfindungen  von  der  ersten  Liebe  bis  zum  Segen,  den  die 
Grossmutter  über  die  Enkelin  ausspricht.  Mit  Recht  bewunderte  Kronprinz 
Friedrich  Wilhelm  die  Goethesche  Sprache  des  Dichters,  der  doch  im  ge- 
woehnlichen  Leben  z.  B.  beim  Zeehlen  sich  stets  des  Franzoesischen  bediente. 
Mehr  noch  als  Goethe  hatte  auf  Chamisso  Uhland  gewirkt,  den  er  in  Paris 
getroffen  und  sogleich  auf  das  hoechste  geschätzt  hatte. ^^  An  diesen  erinnert 
auch  ein  trockener  Humor  in  den  Gedichten  Chamissos :  der  Trinker,  der 
von  Msessigkeit  predigt,  die  'Tragische  Geschichte'  vom  Zopfe. ■^'  So  hat 
Chamisso  Geschichten  von  Hebel  und  Sagen  von  Grimm  in  Verse  umgesetzt. 
In  den  Romanzen  tritt  gelegentlich  ein  Hang  zum  Bittern,  zum  Düstern  her- 
vor. Mit  rührender  Teilnahme  begleitet  der  Dichter  das  Schicksal  der 
Armen,^^  und  nicht  nur  in  der  Phantasie:  'Die  alte  Waschfrau' ^^  bezieht  sich 
auf  eine  wirkliche  Person,  welcher  Chamisso  durch  sein  Lied  eine  erhebliche 

22)  Emil  du  Bois-Keymond ,  Chamisso  als  Naturforscher,  Eede  in  der  Akad.  d.  Wiss.  zu 
Berlin.     Leipzig    1889.  23)    Berliner   Neudriick   durch    L.  Geiger    1889.     Als    Symbol 

diente    den    Freunden    der   Nordstern.  24)    Leipzig.  25)    LB.   .9,    1443.    Fouque 

soll  auch  durch  ein  Scherzwort  den  Grrundgedanken  Chamissos  angerefft  haben :  als 
dieser  auf  einer  Reise  alles  Gepäck  verloren  hatte,  fragte  er,  ob  nicht  auch  der  Schatten 
in  Verlust  geraten  waere.  Dass  der  Teufel  den  Schatten  —  aber  nur  betrogen  —  nimmt, 
erzsehlt  die  Volkssage;  vgl.  Th.  Kürner.  Der  Teufel  in  Salamanca.  Anderes  ist  ans 
der  nsechsten  L'mgebung  Chamissos  geschöpft,  so  der  Name  des  treuen  Dieners  Bendel. 
Zu  dem  Schlussbild  mag  der  ewigwandernde  Botaniker  und  Eunolog  Arndt  beigetragen 
haben,  von  dem  Öhlenschlaeger  erzaehlt  und  welchen  Chamisso  in  Paris  gesehen  haben 
wird.  26)   Uhland   empfing    damals  von  ihm  das  franzoesische  Volkslied,    welches  'der 

Kcpnigstochter  von  Frankreich'   zu  Grunde   liegt:    Ges.  ^\'.  b,  258.  27)    LB.  2,  1687, 

28)  'Der  Bettler  und  sein  Hund'.  LB.  2,  1G9.3.  29)  LB.  2,  1701. 


1 


632  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XIX  JAIlUll.  §  174 

Unterstüt/ung  vorschaffte.  Von  den  südlichen  Formen  pflegte  Chamisso  be- 
sonders die  Terzinen:  bald  in  ernster  Parabel,^"  bald  in  scherzhafter  Er- 
zsehlung;*'  auch  die  alUttcrieronde  Strophe^-  behandelte  er  sorgfältig.  Als 
Übersetzer  leistete  er  besonders  für  Berangcr  Vorzügliches. 

Hierbei  wie  bei  der  Herausgabe  des  Musenalmanachs,  die  Chamisso 
1833  —  38  besorgte, •^•'  stand  ihm  Franz  von  Gaidy"  zur  Seite,  auch  er  ein 
Abkömmling  franzcüsischen  Stammes  und  preussischer  Offizier,  (»eb.  1800  zu 
Frankfurt  a.  0.  nahm  er  1833  den  Ab.schicd.  Mehrmalige  Reisen  nach 
Italien  hat  er  als  'Mein  RoRmerzug,  Berlin  1836  und  satirisch  im  Tagebuch 
eines  wandernden  Schneidergesellen',  Leipzig  1836,  erzsehlt.  Er  starb  1840 
zu  Berlin.  Seine  'Erato'  erschien  zu  Berlin  1829,  seine  'KaiserUeder'  zu 
Leipzig  1835,  welche  Napoleon  mit  einem  gewissen  Trotz  gegen  die  nationalen 
Gefühle  feiern.  Meist  aber  wtehlte  er  humoristische  Stoffe,  denen  er  durch 
Fremdwörter  einen  modernen  Reiz  gab.  Refrain  und  Pointe  lernte  er  von 
Chamisso  und  Heine. 

Dieser  letzte  Name  bedeutet  noch  einmal  eine  Steigerung,  eine  Zu- 
sammenfassung der  romantischen  Kunst,  zugleich  aber  ihr  durch  Übertreibung 
und  Selbstvcrspottung  herbeigeführtes  Ende.  Dass  Heine  als  Lyriker  die 
Romantik  mit  besonderem  Glanz  und  weitgreifender  Wirkung  vertreten,  sie 
aber  auch  so  bitter  hoehnen  und  zu  ihrem  Sturze  so  wesentlich  beitragen 
konnte,  begreift  sich  wohl,  da  seine  Geistesart  und  seine  eeusseren  Verhält- 
nisse ihren  wesentlichen  Ideen  völlig  entgegengesetzt  waren  und  er  sich  nur 
die  aeusseren  Formen  und  Darstelluugsweisen,  so  wie  ein  Schauspieler  seine 
Rolle  anzueignen  vermochte. 

Heinrich    (oder   wie    er   ursprünglich   hiess:    Harry)    Heine -'^   war  in 


30)  LB.  2,  1691.  1699.     Vgl.    auch    'Salas  y  Gomez',    eine    Erinnernng    au    die  "Weltreise. 

31)  LB.  2,  1695.  32)    'Das    Lied    von    Thrym*.     LB.  2,  1681.  33)    Zu   Leipzig. 

34)  Biographie    von    Arthur   Müller    in    den    'Gesammelten    Werken',    Berlin   1853,   VIII. 

35)  A.  Strodtniann.  H.  Heines  Leben  und  "Wer^e,  Berlin  1867.  68,  II;  »1884,  II.  Eob. 
Proelss,  H.  H.  .Sein  Lebensgang  und  seine  Schriften,  Stuttgart  1886.  Gr.  Karpeles,  H.  Heiue 
und  seine  Zeitgenossen,  Berlin  1888.  H.  Keiter,  H.  Heine,  Köln  1891.  Heines  Memoiren, 
inhaltlich  wie  formell  geringwertig,  erschienen  als  Supplementband  seiner  sämtl.  Werke, 
Hamburg  1884.  Vgl.  auch  A.  Meissner  H.  H.,  Hamburg  1856.  Max  Heine,  Erinnerungen 
an  H.  H.,  Berlin  1868.  Skizzen  über  H.  H.  von  seiner  Nichte  Fürstin  de  la  Rocca, 
Wien,  Pest,  Leipzig  1882.  AI.  Weill,  Souvenirs  intimes  de  H.  JH.,  Paris  1883.  C.  Seiden, 
Le.t  derniers  jours  de  H.  H.,  Paris  1884.  H.  Heines  Familienleben,  von  seinem  Neffen 
Baron  L.  v.  Embden,  Hamburg  1892.  Zur  Würdigung  des  Dichters  vgl.  F.  Sintenis, 
H.  U.  Ein  Vortrag,    Dorpat   1S77:    W.   Bülsche,    H.   H.  Versuch  einer  iesthetisch-kritischen 


§  174  GAUDY.     HEINE.  633 

Düsseldorf  1798  geboren.^'*  Sein  Vater,  ein  jüdischer  Kaufmann, ^^  brachte 
ihn  in  die  Lehre  nach  Frankfurt,  dann  nach  Hamburg,  wo  sein  reicher  Onkel 
Salomon  Heine  sich  seiner  annahm.  1819  studierte  er  in  Bonn,  wo  A.  W. 
Schlegel  tief  auf  ihn  einwirkte,  spseter  in  Göttingen.  In  Berlin  wurde  er  im 
Varnhagenschen  Hause  bald  als  Dichter  anerkannt  und  lernte  auch  Hoffmann 
und  Fouque  kennen.  Nur  widerstrebend  beteiligte  er  sich  an  der  jüdischen 
Reformbewegung.  1825  wurde  er  in  Göttingen  Doctor  der  Rechte,  und  trat 
gleichzeitig  zur  protestantischen  Kirche  über,  um  sich  die  Aussicht  auf  eine 
Staatsanstellung  zu  eröffnen.  Allein  auch  als  Advocat  hatte  er  in  Hamburg 
keinen  Erfolg.  Er  warf  sich  auf  die  schon  von  Berlin '^^  aus  begonnene 
journalistische  Thsetigkeit  und  erhielt  von  Cotta  sehr  vorteilhafte  Anerbietungen. 
Die  Unterstützung  seines  Onkels  wusste  er  sich  dauernd  zu  erhalten.  1827 
reiste  er  nach  England,  dann  nach  längerem  Aufenthalt  in  München  1828 
nach  Italien.  Die  JuUrevolution  bereitete  ihm  in  Paris  den  Boden,  auf  dem 
er  sich  völlig  heimisch  fühlte.  Nachdem  er  1831  dorthin  übergesiedelt  war, 
kehrte  er  immer  nur  auf  kurze  Zeit  nach  Hamburg  zurück.  1836  erwirkte 
er  sich  einen  geheimen  Jahrgehalt  von  der  franzoesischen  Regierung,  den  er, 
als  es  1848  bekannt  wurde,  als  Plüchtlingsalmosen  bezeichnete.  1848  wurde 
er  von  der  Rückenmarksdarre  befallen,  die  ihn  in  langen  Qualen  1856  zum 
Tode  führte. 

Ziemlich  am  Anfange  seiner  Dichterthaetigkeit^^  stehen  seine  'Tragoedien' 
mit  einem  lyrischen  Intermezzo,  Berlin  1823.  'William  Ratcliff'  ist  eine  Ge- 
spenstergeschichte, welche  in  den  durch  W.  Scott  bekannt  gewordenen 
schottischen  Bergen  spielt  und  an  Grillparzers  Ahnfrau  erinnert.  Zugleich 
aber  vertritt  der  Reeuber  Ratcliff  den  Gegensatz  zwischen  den  'zwei  Nationen 

Analyse   seiner  Werke   uud   seiner  Weltanschauung,    Leipzig  1888.  36)    Im  Februar 

1798  nach  dem  Register  des  Rabbiners :  5  Jahrb.  des  Düsseldorfer  Geschichtsvereins, 
1890,  S.  144.  Er  selbst  gab  im  Scherz  den  1.  Jan.  1800  als  seinen  Ofeburtstag  an,  um 
hinzufügen  zu  können  'daher  einer  der  ersten  Männer  des  Jahrhunderts';  auf  seinem 
Taufschein  Hess  er  den  13.  Dec.  1799  als  Geburtstag  setzen;  anderwärts  gab  er  1797  au. 
37)  Auch  die  Mutter  war  Jüdin;  ihren  Familiennamen  von  Geldern  haben  ihre  Kinder 
ohne  Grund  für  adelig  ausgegeben.  38)  Berichte  im  Rheinisch-westfielischen  Anzeiger 

1820.  22.  39)  Sämtliche  Werke,    hg.  von  A.  Strodtmann,    Hamburg  1861—63,  XXI; 

«1867,  XVIII,  wozu  noch  Briefe  XIX— XXII,  1876;  neue  Ausg.  in  XII,  Hamburg  1887; 
Gesammelte  Werke  von  H.  Karpeles,  Berlin  1887,  IX;  Sämtliche  Werke,  hg.  mit  Biogr. 
und  Einl.  von  W.  Bölsche,  Leipzig  1887,  VI;  von  St.  Born,  Stuttgart  1887.;  mit  Ein- 
leitungen, Erlsputerungen  und  Verzeichnissen  sämtlicher  Lesarten  von  E.  Elster,  o.  J.  Leipzig 
und  Wien:  vgl.  dazu  Redlich  Z.  f.  d.  A.  36  Auz.  384.     Andere  Ausgaben  von  Laube,  Wien 


634  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XIX  JAHltll.  §  174 

der  Satten  und  der  Iliingorlcidor.  Wie  hier  der  sociale  Hass,  so  tritt  in 
'Almansor  der  des  Bekenntnisses  hervor:  es  ist  der  Raclioschrei  des  unter- 
drückten Judentums,  welches  nur  das  Gewand  des  romantischen  Maurenvolkes 
angenommen  hat.  Die  Judenverfolgungen  dos  Mittelalters  schildert  auch  eine 
Novelle  Heines,  welche  Fragment^'*  blieb,  'Der  Rabbi  von  Bacharach'. 

Seine  eigentümliche  liegabung  entfaltete  Heine  in  der  Lyrik.  Hier  konnte 
sein  Ich,  das  für  ihn  immer  das  maasgebende  blieb,  in  Freud'  und  Schmerz 
sich  wicderspicgeln,  mit  dem  kecksten  Übermut  und  der  trübsten  Bekümmer- 
nis und  freilich  auch  mit  schamlos  entbloesster  Gemeinheit.  Früh  erfasste  ihn 
die  Verzweiflung  an  allem  Hohen  und  Edeln,  der  Weltschmerz,  den  Byron 
damals  dichterisch  verherrlichte.^'  Bei  Heine  knüpften  diese  Stimmungen  an 
das  Fehlschlagen  seiner  Bewerbung  um  zwei  der  Hamburger  Cousinen. *- 
Seine  Gefühle  kleidete  er  anfänglich  mit  Vorliebe  in  Tr?eume  und  Gespenster- 
geschichten, wofür  ilmi  Brentano,  Arnim,  Kerner  die  Muster  gaben.  Aber 
freilich  in  der  Anschaulichkeit  der  Bilder  und  Vorstellungen  na^herte  sich 
Heine  wieder  Uhland,  ja  er  übertraf  diesen  an  Farbenkraft.  Mit  der  male- 
rischen Kunst,  die  insbesondere  auch  durch  neue,  packende  Beiwörter  wirkte,^^ 
verband  er  die  groesste  Einfachheit  des  Satzbaus  und  der  Versform:**  hier 
waren  Bürger,  EichendorfF,  W.  Müller  und  das  Volkslied  selbst,  aus  dem 
alle  diese  Dichter  geschöpft  hatten,  seine  wohlbenutzten  Vorbilder.  Mit  der 
gropssten  Sorgfalt,*''  die  selbst  an  den  zahlreichen  Correcturen  in  den  Hand- 
schriften ersichtlich  ist,  feilte  er  an  diesen  Gedichten,  bis  er  vöUig  das  zu- 
treffende Wort  gefunden,  den  leichten  Fluss  des  Verses  hergestellt  hatte. 
Ganz  besonders  aber  liebt  er  —  und  freilich  auch  nach  Brentanos  und  Hoff- 
manns Vorgang   —  die  Schwärmerei  unerwartet   durch   das  Wirkliche  und 

1886  fgg.;  von  Lachmann,  Leipzig  1887  :  von  Reuper,  Halle  1887  fgg.  40)  1824  ver- 

fasst,    erschien    es    im    Salon    184U.  41)  Die  Poesie  der  deutschen  Nachahmer  Byrons 

nannte  Goethe  'Lazarethpoesie':  Zu  Eckermann  24.  Sept.  1827.  Über  Heines  Beziehungen  zu 
GfPthe  8.  Walter  Rohert-Tornow,  GoPthe  in  Heines.Werken.  Berlin  1883.  42)  H.  Hüffer, 

Ans  dem  Leben  Heinrich  Heines,  Berlin  1878  (Briefe  an  Christian  Sethe).  Seufifert  Yj. 
f.  Litt.-gesch.  3,  589  flF.  43)    Max    Seelig,   Die   dichterische    Sprache   in  Heines   Buch 

der  Lieder,  Diss.  Halle  1891.  Freilich  schadete  die  Übertreibung  auch  hier:  wenn  Eichen- 
dorff  in  den  Strophen  'auf  den  Tod  meines  Kindes'  LB.  2,  1705,  24  von  der  'schluchzenden 
Klage  der  Nachtigall'  spricht,  so  ist  dies  rührend :  manieriert  aber  sagt  Heine  in  der  Vor- 
rede zum  Buch  der  Lieder:  'die  Nachtigall  .  .  sie  jubelt  so  traurig,  sie  schluchzet  so  froh'. 
Gerade  diese  starken  Ausdrücke  meint  er,  wenn  er  an  Platen  die  'Naturlaute'  vermisst. 
44)  K.  Hessel,  Die  metrische  Form  bei  Heine,  Z.  f.  dtsch.  Unterricht  3,  47.  45)  Erst 

allmsehlich    eignete   er  sich   überhaupt  die  Richtigkeit  der  Sprache  an:    s.  Redlich    Anz.  f. 


§  174  HEINES  GEDICHTE.  635 

Gewoelmliche  zu  unterbrechen,  bald  als  Neckerei,  bald  als  bittere  Bosheit:  und 
für  den  verhcehnenden  Witz  besass  er  von  Jugend  auf^''  Neigung  und  Be- 
gabung in  vorzüglichem  Masse.  Dies  Spiel  mit  Worten  und  Reimen  ergötzte 
auch  den  gewcehnlichen  Leser  und  solche  Wendungen  prsegten  sich  der  Sprache 
der  Unterhaltung  tief  ein.  Zu  ebenso  weiter  Verbreitung  gelangten  die 
Lieder,  worin  die  Stimmung  der  Sehnsucht  und  der  Schwermut  rein  durch- 
geführt war  und  denen  die  Liedercoraponisten  Silcher,*''  Mendelssohn,  Schubert 
ihre  Kunst  zugewendet  haben.  Sie  haben  auch  einen  Teil  der  Romanzen 
Heines  in  Musik  gesetzt,  welche  jene  trüben  Stimmungen  meisterhaft  den 
Trsegern,  Menschen  aus  dem  Volke  anzupassen  verstanden.*^  Diesen  Romanzen 
gab  Heine  einen  groesseren  Umfang,  weehrend  die  Lieder  meist  sich  mit  ganz 
wenigen  Strophen  begnügten  und  nur  einen  Eindruck,  einen  Einfall  kräftig 
ausführten. 

Solche  Lieder  hatte  Heine  schon  1817  als  Hamburger  Comptoirist  ge- 
dichtet; 1822  gab  er  in  Berlin  seine  'Gedichte'  heraus  und  Hess  sie  mit 
starkem  Selbstlob  vom  Buchhändler  anzeigen.  Mit  wohlbedachter  Kritik 
sammelte  er  1827  die  bis  dahin  veröffentlichten  Stücke  als  'Buch  der  Lieder'."*^ 
Hier  erschienen  auch  die  Nordseebilder  wiederholt,  welche  in  den  freien 
Rhythmen  sich  an  Goethes  Hymnen  anschliessen,  aber  mit  der  ebenso  gross- 
artigen, als  naturgetreuen  Schilderung  des  Meeres  einen  neuen  ^"^  Gegenstand 
für  die  deutsche  Dichtung  gewonnen  haben. 

'Die  Nordsee'  war  bereits  in  den  Reisebildern  erschienen,  im  I.  Teil, 
Hamburg  1826.  Kerners  Reiseschatten  boten  zu  diesen  das  nsechste  Vorbild, 
weiter  zurück  stand  Brentanos  Godwi:  an  diesen  Roman  erinnerte  namentlich  die 


dentsclies  Alt.  36,  385.  46)  Vgl.  das  Gedicht  'Wüniiebergiade'  auf  einen  Düsseldorfer 

Sclinlkameraden  bei  Sethe  (Anm.  42):  anch  bei  Elster  (Anm.  49).  Nicht  unrichtig  sagte 
A.  W.  Schlegel  spseter  von  Heine  'Deine  Begeisterung  ist  verschroben,  deine  Tücken  sind 
Natur'.  47)  Die  'Lorelei'  geht  dem  Inhalt   nach   auf  die  von  Brentano  gebildete  Sage, 

der  Strophenform  nach  auf  eine  Bearbeitung  von  Graf  Loebeu  zurück;  aber  freilich  die  so 
völlig  volksliedartige  Übereinstimmung  von  Gegenstand  und  Behandlung  stammt  von 
Heine.  48)  'Die  Grenadiere',  'Die  Wallfahrt  nach  Kevlaar'.  LB.  2,  1795.     Über  Stoffe 

und  Stilarteu  s.  0.  Netoliczka,  Zu  Heines  Balladen  und  Romanzen,  Progr.  Kronstadt  1891. 

49)  Neue  kritische  Ausgabe  von  E.  Elster  in  den  Dtsch.  Litt.-denkm.  27,  Heilbronn  1887. 

50)  Freilich  auch  hier  knüpft  das  'Seegespenst'  an  W.  Müllers  Vineta  an,  der  Schluss  au 
A.  Hoffmanns  Goldnen  Topf,  II  Vigilie.  Vgl.  Xanthippus,  Was  dünket  euch  um  Heine, 
Lpz.  1888.  Immermann  sagt  bei  Putlitz  2,76  'Heines  Leidenschaft  für  die  Nordsee  möchte 
ich  für  wahr  halten,  wenn  auch  in  ihm  so  vieles  nur  willkürliche  Aneignung  ist".  Auch 
spseter    noch    bewundert    Lenau    bei   Niendorf   222,    wie  wunderbar  Heine  im  'Runenstein' 

Wacternagel,  Litter.  GescLiclite.  II.  42 


630  NEUHOCIIDEUTSCITE   ZEIT.         XIX  JAlirill.  §  174 

Satire  mit  ihrer  Einiiiischung  der  Wirklichkeit  und  zwar  einer  oft  gemeinen 
Wirklichkeit.  Der  Studentenwitz  in  seinen  derbsten  Äusserungen  trat  liier 
in  die  Litteratur  ein.  In  andrer  Weise  anstoessig  erschien  im  II  Teil,  1827, 
das  Buch  Legrand,  eine  Ycrhimmolung  Napoleons,  der  freilich  den  Juden 
am  Rhein  hürgeriiche  Gleichstellung  verliehen  hatte.  Der  III  Teil,  1830,-'' 
ergoss  über  Phiten,  den  Heine  schon  im  II  Teil  durch  Immermanns  Epi- 
gramme verhoehnt  hatte,  eine  solche  Fülle  von  gemeinen  Verdächtigungen, 
dass  Heine  selbst  davon  den  groessten  Schaden  hatte. 

Dieser  satirischen  Richtung  dienen  nun  wesentlich  die  Dichtungen  Heines 
in  seiner  Pariser  Zeit.  Den  Vorwurf  der  Vertreter  der  freisinnigen  Bewegung 
in  Deutschland,  er  sei  ein  Talent,  aber  kein  Character,  drehte  sein  'Atta 
Troll'^-  gegen  sie  um.^^*  In  'Deutschland,  ein  Wintcrmserchcn',  Hamburg  1844, 
schildert  er  eine  Reise  nach  Hamburg  mit  den  bittersten  und  unfla'tigsten 
Witzen  über  Deutschlands  Gegenwart  und  Zukunft.  Heines  'Neue  Gedichte', 
Hamburg  1844,  priesen  ungescheut  seine  Pariser  Liebschaften.  Auch  der 
'Romanzero'  1851  gefiel  sich  in  schmutzigen,  rohen  Bildern.  Von  den  Ge- 
dichten aus  der  Matrazengruft,  welche  erst  nach  seinem  Tod  erschienen,-'^ 
brachten  die  'Lamentationen'  meist  bissige  Ausfälle;  die  'hebrjeischcn  Melo- 
dien' zeigten,  dass  zuletzt  die  jüdischen  Erinnerungen  noch  allein  sein  Gemüt 
bewegten,  so  oft  er  auch  sie  herabgezogen  hatte. 

Umflinglicher  sind  aus  der  Pariser  Zeit  die  Prosaschriften  Heines.  Seine 
politischen  Berichte  an  die  Allgemeine  Zeitung  fasste  er  1833  als  'Franzoesische 
Zustände'  zusanmien,  die  Besprechung  der  zeitgenössischen  Kunst  in  Frank- 
reich als  'Salon'  1834 — 40,  IV.  Für  die  Franzosen  aber  schrieb  er  über 
Deutschland  in  der  Europe  Utteraire  und  in  der  Revue  des  deux  Monden^ 
und  liess  diese  Artikel  zugleich  mit  wohlüberlegten  Änderungen  deutsch  er- 
scheinen: 'Zur  Geschichte  der  neueren  schoenen  Litteratur  in  Deutschland', 
Paris  1833,  II,  worauf  'Die  romantische  Schule',  Hamburg  1836,  U  folgte. 
Mit  ausserordentlicher  Gewandtheit  machte  er  den  Franzosen  die  deutsche 
Geistesbewegung  seit  der  Reformation  verständlich,  freilich  mit  oberflächlichem 
Urteil  und  meist  perscenlichen  Spöttereien,  durchaus  im  Gegensatz  gegen  die 
Ällemagne  der  Frau  von  Stael.     Einzelne    Gegner  nahm    er  noch   besonders 

(Neue  Gedichte)    dea  endlosen    Rhythmus    der   Wellen    wiedergegeben  hat.  51)  'Naeh- 

traege  zn  den  Reisehildern',  welche  besonders  P^ngland  betrafen,  ei-schieneu  zuerst  Ham- 
burg 1831.  52)  Zuerst  184.3,  das  Ganze  Hambnrg  1847.  52  a)  Vgl.  auch  'Briefe 
von  H.  Heine  au  H.  Laube',  hgg.  vou  E.  Wulff.  Breslau  1893.  h'i)  Dichtungen, 
Ainstf-rdani   löGl,   II. 


§  175  HEINES  PROSASCHRIFTEN.  637 

vor :  Menzel,  der  das  Verbot  seiner  Werke  herbeigeführt  hatte,  in  der  Schrift 
'Über  den  Denuncianten',  1837,  die  schwaebischen  Dichter  im  'Schwabenspiegel' 

1839,  den  damals  bereits  verstorbenen  Börne  in  dem  Buch  'Heine  über  Börne' 

1840.  Da  zeigte  er,  wie  sehr  er  die  unteren  Classen  verachtete  und  hasste, 
für  die  er  doch  das  Banner  der  Freiheit  schwingen  wollte.  Mehr  und  mehr 
sah  er  sich  als  Franzose  an  und  sorgte  für  eine  Übersetzung  seiner  sämtlichen 
Werke  in  das  Franzoesische.  Seine  Werke  haben  denn  auch  nicht  nur  dazu 
beigetragen,  franzoesische  Anschauungen  in  Deutschland  zu  verbreiten :  seine 
leichte,  durchaus  auf  den  Reiz  berechnete  Prosa  nach  franzcesischem  Muster 
wurde  Vorbild  des  deutschen  Zeitungsstils;  er  hat  das  deutsche  Feuilleton 
begründet. 

§  175. 

Für  die  wissenschaftliche  Prosa  muss  es  genügen,  auf  die  Haupt- 
trseger  ihrer  Entwickelung  hinzuweisen.  Viele  und  die  groessten  unter  ihnen 
waren  an  der  1810  unter  der  Leitung  Wilhelms  von  Humboldt  begründeten 
Universitaet  Berlin  vereinigt :  so  von  deren  Anfängen  an  der  Philosoph  Fichte, 
der  Theologe  Schleiermacher,  der  Jurist  Savigny,  die  Philologen  F.  A.  Wolf 
und  A.  Bceckh,  der  Historiker  Niebuhr. 

Die  allgemeinste  Geltung  fand  zunsechst  von  Berlin  aus  ein  philosophi- 
sches System,  welches  den  Anspruch  erhob,  die  Welt  aus  dem  Geiste  abzu- 
leiten und  sie  geistig  nachschaflfend  zu  verstehen:  das  System,  welches  G. 
Wilhelm  F.  Hegel  ^  aufstellte.  Geboren  zu  Stuttgart  1770,  war  er  als 
Student  mit  HölderHn  (§  162,  33)  und  Schelling  befreundet  und  schwärmte 
mit  ihnen  für  die  franzoesische  Revolution.  1801  habilitierte  er  sich  in  Jena, 
musste  aber  1807  die  Stelle  eines  Redacteurs  in  Bamberg  übernehmen  und 
war  1811 — 16  Rector  in  Nürnberg.  1817  wurde  er  nach  Heidelberg,  1818  nach 
BerHn  berufen.  Hier  durfte  er,  durch  den  Minister  Altenstein  gestützt,  bald 
seine  Lehre  als  die  Philosophie  des  preussischen  Staates  ansehen.  Er  hatte 
immer  die  Staatsautoritset  verehrt;  in  der  Vorrede  zur  Rechtsphilosophie  1820 
sprach  er  das  bekannte  Wort  'das  Vernünftige  ist  wirklich  und  das  Wirk- 
liche ist  vernünftig':  allerdings  war  das  Wirkliche  für  ihn  die  Erscheinung 
der  Idee.  In  seiner  Erstlingsschrift  'Die  Differenz  des  Fichteschen  und  des 
Schellingschen  Systems  der  Philosophie'  1801  hatte  er  den  subjectiven  und 
den  objectiven  Idealismus  der  beiden  zu  vereinigen  gesucht.    War  für  Fichte 

§  17l3.  1)  Rosenkrauz,  Hegels  Leben,  Berlin  1844  (Supplement  zu  Hegels  Werken, 
vollständige  Ausgabe  von  Freunden  des  Verewigten,  Berlin  1832 — 40,  XVIII),  gegen 
dessen   günstige    Auffassung    R.  Haym ,    Hegel    und   seine   Zeit,    Berlin  1857  sieh  wendet; 


638  NEUIIOCHÜEUTSCHK   ZEIT.         XIX  JAHRH.  §  175 

das  ha'chste  die  Sittlichkeit,  für  Schcliing  die  Kunst,  so  fand  es  Hegel  in 
der  Wissenschaft.  Die  schon  von  Fichte  unterschiedene  Thesis,  Antithesis 
und  Syuthesis  ward  bei  Ilegel  zur  dialektischen  Methode,  welclie  zu  jedem 
Begriffe  den  Gegensatz  als  gegeben  ansieht  und  beide  widerstreitende  Be- 
gritfe  in  einem  dritten,  hoeheren  aufzuheben  sucht.  So  schon  in  der  'Phaeno- 
menologie  des  Geistes',  Bamberg  1807;  in  der  'Wissenschaft  der  Logik',- 
Nürnberg  1812.  Hegels  Vorlesungen  führten  dann  die  Methode  und  das 
System  durch  alle  Gebiete  der  Wissenschaft  hindurch  und  regton  in  Juris- 
prudenz und  Theologie  die  systematische  Construction  gewaltig  an.  In  der 
Aesthetik  stand  ihm  die  griechische  Kunst  am  hoechsten;  Hegel  schloss  sich 
hier  an  Schiller  so  an,  wie  SchcUing  an  GcBthe.  Als  Hegel  1831  von  der 
Cholera  hinweggerafft  wurde,  stand  er  auf  der  Hcehe  seines  Ruhmes  und 
seiner  Wirksamkeit.  Seine  Vorlesungen  wurden  von  seinen  Schülern  heraus- 
gegeben,'' und  diese  suchten  nun  seine  Lehre  fortzubilden,  was  vielfach  zu 
hohlen  oder  zu  durchaus  verneinenden  Ergebnissen  führte.  Vergeblich  aller- 
dings unternahm  es  Schelliug,  1841  nach  Berlin  berufen,  seine  Philosophie 
an  die  Stelle  der  Hegeischen  zu  setzen.  Das  Vertrauen  auf  die  philosophi- 
schen Systeme  schwand;  man  beschränkte  sich  auf  einzelne  Gebiete  der 
Philosophie.  Und  so  erlangte  Jon.  Friedrich  Herbart,*  geb.  zu  Oldenburg 
1776,  gest.  zu  Göttingen  1841,  durch  seinen  Ausbau  der  Psychologie  und 
die  darauf  begründete  Paedagogik  einen  weitreichenden  und  dauernden  Ein- 
fluss  auf  die  spaeteren  Philosophen  von  Fach.  In  weiteren  Kreisen  aber  kam 
etwa  um  1850  ein  Philosoph  zur  Geltung,  dessen  Hauptschriften  bald  nach 
denen  Hegels  erschienen,  aber  eben  wegen  ihrer  Feindseligkeit  gegen  alle 
idealistische  Philosophie  zunächst  völlig  unbeachtet  geblieben  waren.  Artuur 
SciioPENHArER  war  1788  in  Danzig  geboren  und  hatte,  zum  Kaufmann  be- 
stimmt, seine  Eltern^  viel  auf  Reisen  begleitet.  Erst  seit  1811  studierte  er 
in  Berlin.  Aber  wenn  Fichte  aus  dem  Sollen  des  Ich  die  Welt  der  Erschei- 
nungen ableitete,  so  war  für  Schopenhauer  das  unbewusste  Wollen  der  Natur 
der    Ausgangspunct.     Auf   seine    ErstUngsschrift   'Die    vierfache   Wurzel    des 

Köstlin,    Tübingen    1870,    vermittelt.  2)    Daraus    LB.   3,    1225.  3)    Für    diese 

Schule  waren  die  Jahrbücher  für  wissenschaftliche  Kritik,  Stuttgart,  spaeter  Berlin,  1827 
bis  1846,  der  Sammelplatz    gewesen.  4)  Psychologie   als  Wissenschaft    gegründet    auf 

Erfahrung  Metaphysik  und  Mathematik,  Koenigsberg  1824,  1825  II.  Hartensteins  Ausgabe 
der  kleineren  philosophischen  Schriften  Herbarts,  Leipzig  1841,  1842  III.  Herbartsche 
Reliquien,    hg.  von  Ziller,    Lpz.  1871.  5)  Seine  Mutter  Johanna  (1766 — 1838;  ist  mit 

Reisebeschreibungen,  kunstgeschiclitlichen  Werken  und  Romauen  hervorgetreten ;  auch  seine 


§  175  PHILOSOPHEN.  639 

Satzes  vom  zureiclienden  Grunde',  Rudolstadt  1813,  folgte  Leipzig  1819  sein 
Hauptwerk  'Die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung';  1836  'Über  den  Willen  in 
der  Natur',  endlich  Berlin  1851  Tarerga  und  Paralipomena',  und  gerade  diese 
Bemerkungen,  ebenso  geistreich  und  verständlich,  als  rücksichtslos  und  bitter, 
haben  die  grcesste  Wirkung  nicht  nur  in  Deutschland  geübt.  Dem  Optimis- 
mus, der  bisher  in  der  Philosophie  wie  in  der  Religion  geherrscht  hatte, 
stellte  er  einen  gründlichen  Pessimismus  entgegen.  Das  Christentum  setzte 
er  hinter  den  Buddhismus  zurück.  Die  Sittlichkeit  leitete  er  aus  dem  Mit- 
leid ab:  Selbstvernichtung  sei  das  hoechste,  Entsagung  das  nsechste  Gebot. 
Freilich  Schopenhauers  Leben  entsprach  seiner  Lehre  nicht  recht.  Als  Jüng- 
ling reich  und  frei,  kostete  er  erst  alle  Freuden  der  Welt  gründlich  durch. 
1820 — 31  war  er  in  Berlin  habilitiert,  las  aber  nicht.  Seitdem  lebte  er  in 
Frankfurt  als  egoistischer  Hagestolz;  die  Bewegungen  von  1848,  welche  ihm 
Besitz  und  Genuss  bedrohten,  durchlebte  er  zitternd  und  konnte  sich  der 
Reactionszeit  noch  erfreuen.^  Von  anderer  Art  war  die  Perscenlichkeit  und 
die  Wirkung  von  Ludwig  A.  Feuerbach,  welcher  ebenfalls  die  bisherige 
Entwickelung  der  deutschen  Philosophie  verwarf,  ja  überhaupt  zu  dem  Schluss- 
wort kam  'Keine  Philosophie  meine  Philosophie'.  Er  gebeerte  einer  Familie 
an,  welche  in  Wissenschaft  und  Kunst  vorzüghches  geleistet  hat.  Sein  Vater 
Anselm  von  Feuerbach,  dessen  Lebensgeschichte  er  selbst  1852  geschrieben 
hat,  erwarb  sich  um  das  Strafrecht  in  Bayern  und  dadurch  um  die  deutsche 
Rechtswissenschaft  grosse  Verdienste.  Ludwig  Feuerbach,'  1804  zu  Landshut 
geboren  und  in  Berlin  Hegels  Zuhoerer,  wandte  sich  von  der  Theologie  zur 
Naturwissenschaft.  Seit  1828  in  Erlangen  habilitiert,  bekämpfte  er  die  christ- 
lichen Lehren  durch  seine  'Gedanken  über  Tod  und  Unsterblichkeit'  1830, 
die  geltende  Philosophie  durch  seine  'Geschichte  der  neueren  Philosophie', 
Ansbach  1833— 37,  H;  Hess«  1841  'Das  Wesen  des  Christentums',  1845  'Das 
Wesen  der  Religion'  folgen  und  schloss  1866  mit  der^  Schrift  'Gott,  Freiheit 
und  Unsterblichkeit  vom  Standpuncte  der  Anthropologie'.  Indem  er  allen 
Willen  auf  den  Glückseligkeitstrieb  zurückführte,  ging  er,  wie  Herbart  und 
Schopenhauer  auf  Kant,  so  seinerseits  bis  auf  die  Sensualisten  des  18.  Jahr- 
hunderts zurück.^*'     Er  selbst  war  ebenso  freundlich  im  Umgang  als  inmitten 

Schwester  Adele  war  Schriftstellerin.  6)  Schopenhauers  Lehen  von  Gwinner,   Leipzig 

1878.  7)  K.  Grün,    L.  Feuerbachs  philosophische  Characterentwickelung.     Sein  Brief- 

wechsel und  Nachlass,  Leipzig  u.  Heidelberg  1874.  8)  Zu  Leipzig,  wo  auch  die  spsete- 

ren    Schriften    Feuerbachs    erschienen.  9)   Als   lU.  Band  der  Sämtl.  Werke  1846 — 66 

erschienen.  10)  Vortrefflich  verstand  er  seine  Ergebnisse  kurz  zusammenzufassen.    Er 


640  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.        XIX  JAIIRH.  §  175 

bedrängter  Ycrliiiltnissc  standhaft  und  heiter.     Er  starb  1872  zu  Rochenborg 
bei  Nürnberg. 

Die  philosophische  Entwickelung  ergriff  von  neuem  auch  die  Theologie. 
Schleiermacheis  Neubegründung  der  Dogmatik  wurde  für  die  historische  For- 
schung durch  August  Neander  "  verwertet.  1789  zu  Göttingen  von  jüdi- 
schen Eltern  geboren,  in  Berlin  zu  dem  Nordsternbund'"  Chamissos  und 
Yarnhagens  gehtrrig,  war  er  180G  zur  evangelischen  Kirche  übergetreten  und 
lehrte  von  1813  bis  zu  seinem  Tode  1850  an  der  Universitset  Berlin.  In 
seinen  Schriften,  insbesondere  in  der  'Allgemeinen  Geschichte  der  christlichen 
Religion  und  Kirche',  Hamburg  1825 — 42,  IV,  trug  er  in  einfacher,  zuweilen 
einförmig  erscheinender  Darstellung  die  Entwickelung  des  kirchlichen  Glau- 
bens und  Lebens  vor.  Auf  eben  diesen  Gegenstand  übertrug  nun  aber  Hegels 
Methode  David  Friedrich  Strauss.'^  In  Ludwigsburg  1808  geboren,  hatte 
Strauss  die  Romantik  abgestreift,  aber  das  Streben  nach  Schoenheit  der  Darstel- 
lung, selbst  in  poetischer  Form,  bewahrt.  Sein  Leben  Jesu,  kritisch  bcar- 
beitef,  Tübingen  1835.  36,  H,  fasste  die  evangelische  Geschichte  als  Mythe, 
d.  h.  Sage  aus  dogmatischer  Tendenz,  in  welcher  die  wirklichen  Vorgänge 
durch  die  Beziehung  auf  die  Verheissungen  des  alten  Testaments  in  das 
Wunderbare  hinüber  gespielt  worden  seien.  Seine  Stelle  als  Repetent  in 
Tübingen  musste  er  nun  aufgeben ;  eine  Berufung  nach  Zürich  1839  erregte 
dort  einen  Volksaufstand.  Er  beschränkte  sich  seitdem  auf  die  schriftstelle- 
rische Thaetigkeit  und  richtete  gegen  die  bisherige  Dogmatik  sein  Buch  'Die 
christliche  Glaubenslehre  in  ihrer  geschichtlichen  Entwickelung  und  im  Kampfe 
mit  der  modernen  Wissenschaft',  Tübingen  1840.  41,  IL  Den  Koenig  Fried- 
rich Wilhelm  IV  von  Preussen  bekämpfte  er  in  der  Schrift  Der  Romantiker 
auf  dem  Throne  der  Caesaren'  oder  'Julian  der  Abtrünnige',  Mannheim  1847; 
als  er  jedoch  in  die  würtembergische  Kammer  gewsehlt  worden  war,  zeigte 
er  sich  so  conservativ,  dass  ihm  die  Waehler  bald  ihr  Vertrauen  entzogen. 
Er  zeichnete  dann  in  glänzender  Weise  eine  Reihe  von  Schriftstellern,  die 
für  die  Freiheit  gekämpft  und  gelitten  hatten:  'Schubarts  Leben  in  seinen 
Briefen',  Berlin  1849,  U;  Leben  und  Schriften  von  Frischlin,  Frankfurt  a.  M. 
1855;  Hütten,  Leipzig  1858  —  60,  III;  Reimarus,  ebd.  1862.  Der  Erfolg  von 
Renans  Vie  de  Jesus  veranlasste  ihn,  sein   Leben  Jesu  für  das  deutsche  Volk' 

gab  der  materialistischen  Lehre  von  Moleschott  den  Ausdruck :  Der  Mensch  ist  was  er  isst'. 
11)  O.  Krabbe,  A.  Neander,  Hamburg  1852;  J.  L.  Jacobi,  Erinnerungen  an  A.  Neander, 
Halle  1882.  12)   §  174,  23.  13)    Lebensgeschichte   von  Ed.  Zeller,  Bonn   1874; 

^y.  Lang,  Leipzig  1874;    A.  Hausrath,    Heidelberg  1876.  78,   II.     Zeller   hat  auch  die  Ge- 


§  175  THEOLOGEN.  641 

zu  bearbeiten,  ebd.  1864.  Mehr  Leser  fand  'Der  alte  und  der  neue  Glaube', 
zuerst  Bonn  1872,  worin  er  an  die  Stelle  der  Religion  Kunst  und  Wissenschaft 
setzte.  In  Darmstadt,  wo  er  für  die  Grossherzogin  Alice  Vorlesungen  über 
Voltaire  (Bonn  ^1872)  ausarbeitete,  lebte  Strauss  1865 — 72;  er  starb  in 
seiner  Heimatstadt  1874. 

Indem  Strauss  in  der  evangelischen  Geschichte  eine  mythische  Grund- 
lage suchte,  wandte  er  auf  diesen  Gegenstand  die  historische  Kritik  an,  welche 
Barthold  Georg  Niebuhr,*^  selbst  angeregt  durch  die  homerischen  Unter- 
suchungen F.  A.  Wolfs,  an  den  Anfängen  Roms  geübt  hatte.  Niebuhr  hat 
die  Geschichtsforschung  in  hoeherem  Sinne  eingeführt.  Zu  Kopenhagen  1776 
geboren,  war  er  früh  mit  seinem  Vater,  der  sich  durch  eine  wissenschaftliche 
Reise  nach  Arabien  dauernden  Ruhm  erworben  hat,  nach  Meldorf  in  Dit- 
marschen  gekommen,  wo  Boie  und  Voss  tiefen  Einfluss  auf  ihn  übten.  1800 
trat  er  als  Finanzbeamter  in  dtenische  Staatsdienste,  ging  aber  1806  nach 
Preussen.  An  dem  Aufschwung  des  Staates  nach  dem  Umsturz  durch  Na- 
poleon nahm  er  erheblichen  Anteil;  an  d^r  neuen  Universitset  Berlin  hielt 
auch  er  Vorlesungen.  Seine  'Roemische  Geschichte',  Berlin  1812,^^  erwies 
die  Schilderung  der  roemischen  Koenigszeit  bei  Livius  u.  a.  als  eine  völlig 
unzuverlässige,  sagenhafte  Tradition,  und  hellte  die  Geschichte  der  Republik 
namentlich  durch  Anwendung  einer  wahrhaft  ausgezeichneten  Kenntnis  volks- 
wirtschaftlicher Verhältnisse  auf.  Niebuhr  versenkte  sich  ins  Altertum  als 
wenn  es  Gegenwart  wsere.  Die  strengste  Wahrheitsliebe  erschien  ihm  überall 
als  eine  sittliche  Aufgabe,  und  von  dieser  innigen  Teilnahme  zeugt  auch  der 
körnige  Ausdruck  seiner  Schriften.^'''  1816  —  23  war  er  in  Rom  als  Diplomat, 
seit  1825  in  Bonn  an  der  neubegründeten  Universitset  thsetig.  Die  Juli- 
revolution erschütterte  den  conservativen  Mann  auf  das  tiefste;  erstarb  1831. 

Vielfach  in  Gegensatz  zu  Niebuhr  stand  Friedrich  L.  G.  von  Raumer, 
dessen  wissenschaftliche  Verdienste  freilich  ungleich  geringer,  dessen  Wirk- 
samkeit aber,  durch  eine  grosse  Rührigkeit  und  ein  langes  Leben  unterstützt, 
immerhin  hoch  anzuschlagen  ist.  Geb.  1781  zu  Wörlitz  bei  Dessau,  war 
auch  er  preussischer  Finanzbeamter  unter  Hardenberg.  1811  ward  er  Pro- 
fessor der  Staatswissenschaft  und  Geschichte  zu  Breslau,  1819  in  Berlin 
und  starb  hier  1873.^^     Von  seinen  wissenschaftlichen  Arbeiten  ward  die 'Ge- 


sammelten Schriften  von  Strauss  herausgegeben,   Bonn  1876 — 78,  XI.  14)   Leben  von 

Franz  Eissenhardt,  Gotha  1886.       15)  III.  Bd.  1832.        16)  Vgl.  LB.  3,  1329.       17)  Seine 
Lebenserinnerungen  und  den  Briefwechsel  hatte  er  selbst  herausgegeben,  Leipzig  1861,  III; 


042  NEUIIOCILDEUTSCIIE  ZEIT.        XIX  JAIIRII.  §  175 

schichte  der  Hohcnataufen'  1823—25,  VI,  von  der  romantischen  Vorliebe 
gerade  für  diese  Zeit  des  Mittelalters  besonders  günstig  aufgenommen;'^ 
Raumer  stand  Tieck  nahe.  Er  sorgte  für  die  Verbreitung  der  historischen 
Studien  teils  durch  die  Einrichtung  von  öffentlichen  Vorlesungen,  teils  durch 
sein  'Historisches  Taschenbucli  seit  1830.'^ 

Neben  Räumer  lehrte  an  der  Berliner  Universitset  Leopold  von  Ranke, ^^ 
der  groDsste  Oeschichtschreibcr  der  deutschen  Nation,  welcher  Forschung  und 
Darstellung  verband  und  diese  beiden  Aufgaben  gleich  ausgezeichnet  loeste. 
Geboren  zu  Wiche  a./d.  Unstrut  1795,  starb  er  zu  Berlin  1886,  nachdem  er 
fast  bis  zum  letzten  Tage  seine  litterarische  Tha3tigkeit  fortgesetzt  hatte.  Auf 
Schulpforta  und  in  Leipzig,  besonders  unter  G.  Hermann,  war  er  als  Philo- 
loge tretHich  ausgebildet  worden  und  1818—25  in  Frankfurt  a.  d.  0.  Gym- 
nasiallehrer gewesen.  1824  trat  er  hervor  mit  einer  'Geschichte  der  romani- 
schen und  germanischen  Völker  1494 — 1514',  mit  einem  Beiheft  'Zur  Ki-itik 
neuerer  Geschichtschreiber'.-'  Seine  Grundlage  waren  besonders  die  venetia- 
nischen  Gesandtschaftsberichte,  welche  er  zunaechst  auf  der  Berliner  Bibliothek 
vorfand ;  und  von  der  kühlen,  vorsichtigen,  fast  parteilosen  Darstellung  dieser 
Diplomaten  scheint  seine  Auffassung  und  Ausdrucksweisc  ebenfalls  bestimmt 
zu  sein.  Der  Hegeischen  Philosophie  gegenüber  vermeidet  er  die  Zurück- 
führuug  der  politischen  Verhältnisse  auf  Schlagwörter  und  Lehrsätze;  er  will 
nur  'zeigen,  wie  es  gewesen  ist".  1827 — 31  bereiste  er  Italien  und  Hess  sich 
vorher  in  Wien  durch  Gentz  mit  den  Gedanken  der  damaligen  Staatsmänner 
vertraut  machen,  wsehrend  in  Rom  der  preussische  Gesandte  Christian  Karl 
Josias  von  Bunsen  ihm  nahe  stand.  Zuna3chst  bearbeitete  er  aus  der  Ge- 
schichte seiner  Zeit 'Die  serbische  Revolution',  Hamburg  1829;  dann  folgten  ^^ 
1884 — 36  'Die  roemischen  Psepste  des  16.  und  17.  Jahrhunderts',  wohl  sein 
bedeutendstes  Werk;-^  1839 — 43  'Die  deutsche  Geschichte  im  Zeitalter  der 
Reformation',  V;  1847.  48  'Neun  Bücher  preussischer  Geschichte',  denen  sich 
etwa  gleichzeitig  auch  'Franzoesische'  und  'Englische  Geschichte'  anschlössen; 
1869  2*  'Geschichte  AValleusteins',  1871  'Die  deutschen  Mächte  und  der 
Fürstenbund',  1873  'Genesis  des  preussischen  Staates'  und  'Aus  dem  Brief- 
wechsel Friedrich  Wilhelms  IV  mit  Bunsen',  1877  'Die  Denkwürdigkeiten 
Hardenbergs'.     Seine  'Sämtlichen  Werke'  waren  1867 — 81 ,  in  48  Bänden  zu 

auch  seinen  'Litterarischen  Nachlass'  1869,  IL  18)  Daraus  LB.  3,  1339.        19)   Leipzig, 

spseter  von  Anderen  fortgeführt.             20)  Eng.  Guglia ,    Leopold    von    Rankes  Lehen   und 

Werke,  Leipzig  1893.             21)  Lpz.  u.  Berlin.  22)  Berlin,  wie  die  naechsten  Werke. 
23)  LB.  3,   1471.            24)  Leipzig. 


§  175  HISTORIKER.  643 

Leipzig  erschienen.  Eine  Weltgeschichte,  wozu  es  ihn  schon  in  seinen  An- 
fängen getrieben  hatte,  begann  er  noch  1880  und  führte  sie  bis  zum  VII.  Band 
und  bis  zu  Ende  des  11.  Jahrhunderts.  Dazu  kam  seine  Teilnahme  an  Zeit- 
schriften, insbesondere  an  der  'historisch-politischen',  Hamburg,  dann  Berlin 
1832 — 36;  und  eine  wahrhaft  allseitige  Leitung  der  historischen  Studien  in 
Deutschland.  Die  Ergebnisse  der  Geschichtsquellen,  in  der  Sammlung  der 
Mommienta  Germanice  historica,  welche  die  von  Freiherrn  von  Stein  begründete 
Gesellschaft  unter  der  Leitung  von  G.  H.  Pertz  zu  Hannover  seit  1826 
herausgab,  fasste  die  Schule  Rankes  zusammen  als  'Jahrbücher  des  Deutschen 
Reichs',  Berlin  seit  1837.  Seinen  begeisterten  Zuhoerer,  Kcenig  Maximilian  II 
von  Bayern,  regte  Ranke  zur  Stiftung  der  historischen  Commission  in  Mün- 
chen 1858  an.  Und  so  dauern  die  Wirkungen  des  ausgezeichneten  Histo- 
rikers auch  weiterhin  fort. 

Neben  Ranke  ist  Friedrich  Christoph  Dahlmann  hervorzuheben,  welcher 
wie  Arndt  unter  schwedischer  Oberhoheit  geboren  war,  zu  Wismar  1785, 
und  wie  Arndt  als  Professor  zu  Bonn  1860  starb.^^  1812  ward  er  Professor 
in  Kiel  und  zugleich  Secretar  der  schleswig-holsteinischen  Prselaten  und  Ritter- 
schaftsdeputation. In  dieser  Stellung  ward  er  ein  Führer  der  schleswig- 
holsteinischen Bewegung,  welche  nach  schweren  Kämpfen  und  Leiden  so 
wesentlich  zur  nationalen  Neugestaltung  Deutschlands  beitrug.  Im  Frank- 
furter Parlament  stand  Dahlmann  an  der  Spitze  der  preussischen  Partei.  Yon 
seinen  Schriften  ward  die  Ausgabe  des  Chronisten  von  Ditmarschen,  Johann 
Adolphi  genannt  Neocorus  (1598),  Kiel  1827,  H,  auch  für  deutsche  Sprache 
und  Altertümer  bedeutsam.  Eine  'Dsenische  Geschichte'  führte  er  bis  zur 
Reformation-*'  —  und  hatte  auch  hier  zur  germanischen  Sage  wichtige  Unter- 
suchungen zu  führen.  Auf  den  grossen  Leserkreis  wirkte  Dahlmann  beson- 
ders durch  seine  'Geschichte  der  englischen  Revolution',  Leipzig  18-44,  welcher 
1845  die  'Geschichte  der  franzoesischen  Revolution'  sich  anschloss. 

Dahlmanns  nahe  Freunde,  seine  nsechsten  Genossen  unter  den  Göttinger 
Sieben  von  1837,  waren  die  Brüder  Grimm,^^  die  Begründer  der  deutschen 
Philologie  neben  Lachmann,^^  der  vergleichenden  Sprachwissenschaft  neben 
Franz  Bopp.^^  Durch  diese  Gelehrten  wurde  historisch  ausgeführt ,  was 
Wilhelm  von  Humboldt  philosophisch  als  Wesen  der  Sprache  erschlossen  hatte. 


25)    A.  Springer,   DaMmanns   Leben,    1870.  72,   II.     Vgl.  §   168,  9  a.  26)    Hamburg 

1840 — 44,  III.  27)  Briefwechsel  zwischen  J.  und  "W".  Grimm,  Dahlmann  und  Gervinus, 

hg.  V.  E.  Ippel,   Berlin    1885.  86,    II.  28)    §    167,    54.  29)    §    166,    43. 


644  NEUIIOCIIDEUTSCIIE   ZEIT.         XIX  JAIIKII.  §  175 

Gegenüber  dem  roiclion  Erblülien  der  historisch-philosopliiachen  Studien 
in  Deutschland  blieb  die  Naturwissenschaft  jener  Zeit  in  Deutschland  hinter 
ihren  Fortschritten  in  andern  Ländern  vielfacli  zurück,  nicht  ohne  Verschul- 
den der  Naturpliilosophio  und  ihrer  voreiligen  Schlüsse.  Ein  Forscher  aller- 
dings vertrat  auch  damals  schon  die  cxacte  Untersuchung  und  dehnte  sie 
zusrleich  über  das  (lesamtgebiet  der  Naturwissenschaften  aus:  indem  er  über- 
dies  die  Ergebnisse  der  geschichtlichen  Forschungen  sich  aneignete,  nahm 
er  in  der  Wissenschaft  und  als  deren  Vertreter  in  der  Gesellschaft  eine 
Stellung  ein,  welche  ihn  mit  Goethe  vergleichen  lässt.  Alexander  vok 
Hr.MBOLDT  war  geboren  zu  Berlin  1769  und  starb  hier  1859.  Er  studierte 
in  Göttingen  und  Freiberg  und  begleitete  G.  Förster  auf  seiner  Reise  am 
Nieden-hein.^"  1792 — 97  lebte  er  als  Oberbergmeister  in  den  damals  preus- 
sischen  Fürstentümern  Ansbach  und  Baireut.  1796  durch  den  Tod  seiner 
Mutter  in  den  vollen  Besitz  seines  Vermocgcns  gelangt,  trat  er  1798  über 
Paris  und  Madrid  seine  "Weltreise  an,  die  ihn  von  1799  bis  1804  in  Mittel- 
und  Südamerica  festhielt,  von  der  er  aber  auch  die  reichsten  Ergebnisse  für 
alle  Fächer  der  Naturwissenschaft  zurückbrachte.  Er  fasste  sie  zusammen  in 
dem  Werke  Voi/ac/e  anx  regions  eqamoxiales  du  Nouveau  Conünent,  welches 
er  in  Paris  1808 — 27  ausarbeitete  und  mit  Aufwendung  seines  VermoDgens 
grossartig  ausstattete.^'  Eine  zweite  grosse  Reise  unternahm  er  von  Berlin 
aus  durch  Russland  bis  zum  Altai  und  zur  chinesischen  Grenze  1829.  Die 
mächtigsten  Eindrücke  seiner  Reisen  legte  er  in  formvollendeter,  oft  poesie- 
voUer  Darstellung  nieder  in  seinen  'Ansichten  der  Natur,^"  zuerst  1807,  spseter 
mit  sorgfältiger  Benutzung  aller  weiteren  Fortschritte  der  Forschung.  Ein 
wissenschaftliches  Gesamtbild  der  Natur  vom  Sternensystem  bis  zu  den  Lebe- 
wesen, zuletzt  dem  Menschen,  zu  entwerfen,  hatten  früh  schon  Gesprsechc 
mit  Gcethe  ihn  angeeifert.  Nachdem  er  den  Gegenstand  in  offentÜchen  Vor- 
lesungen zu  Paris  und  Berlin  mehrmals  durchgesprochen  hatte ,  fasste  ihn 
Humboldt  zusammen  als  'Kosmos,  Entwurf  einer  physischen  Weltbeschreibung', 
Stuttgart  u.  Augsburg  1845—58,  IV."  Ebenso  allseitig  im  Spenden  seines 
Wissens  wie  unermüdlich  im  Fortlernen  und  voller  Anerkennung  für  die  Mit- 
strebenden war  er  zugleich  bei  den  preussischen  Koenigen  Friedrich  Wil- 
helm III  und  IV  ein  Fürsprecher  freisinniger  Politik  und  überall  ein  Ver- 
mittler der  Culturnationen. 


30)    §    164    nach    Anm.    17.  31)    XX    Bände    Fol.     X   4».  32)    LB.  3,    1161. 

33)  Spaeter  kam  noch  der  Anfang   des  V.  Buchs   hinzu. 


§  176  NATURFORSCHER.  645 

Von  Humboldt  wesentlich  gefördert,  begründete  Karl  Ritter-*^  die 
Geographie  als  eine  für  sich  bestehende  und  umfassende  Wissenschaft.  Ge- 
boren zu  Quedlinburg  1779,  war  er  lange  als  Erzieher  theetig,  ehe  er  1820 
an  der  Kriegsschule  und  der  Universitaet  zu  Berlin  Anstellung  fand.  Er  starb 
hier  1859.  Von  seiner  Erdkunde'  erschienen  zwei  Bände,  Berlin  1817  u.  18; 
eine  neue  Ausgabe,  welche  alle  bisherigen  Forschungen  zusammenfasste,  von 
1822  ab.^^  Mit  Africa  beginnend,  schritt  sie  vom  Einfachen  zum  Mannig- 
faltigen vor.  Eine  ausserordentliche  Gelehrsamkeit  verband  sich  in  diesem 
Werke  mit  einer  begeisterten  Hingabe  an  den  Gegenstand,  worin  Menschheit 
und  Welt  in  ihrem  grossen  Zusammenhang  gefasst  waren. -^^ 

§  176. 

Dass  die  deutsche  Litteratur  im  zweiten  Drittel  des  Jahrhunderts  eine 
neue  Richtung  nahm,  war  dadurch  bedingt,  dass  an  die  Stelle  der  Kunst, 
welche  bis  dahin  das  geistige  Leben  beherrscht  hatte,  die  Beschäftigung  mit 
der  Politik  trat.  Die  sehnsüchtige  Bewunderung  der  Vergangenheit  gab  dem 
Wunsche  Raum,  die  Gegenwart  nach  dem  Vorbild  der  Nachbarnationen,  zu- 
nächst der  franzoesischen  freier  zu  gestalten.  Die  Philosophie,  welche  den 
bestehenden  Staat  und  die  kirchliche  Überlieferung  zu  begreifen  und  zu 
stützen  unternommen  hatte,  wandte  sich  der  Verneinung  zu.  Die  Pariser 
Julirevolution  1830,  Hegels  Tod  1831  und  der  Tod  Goethes  1832  beschlossen 
die  alte  Zeit;  eine  neue  war  schon  vorher  durch  den  Spott  der  jüngeren 
Schriftsteller '  über  jene  Vertreter  der  Poesie  und  der  Philosophie  angekündigt 
worden. 

Diese  jüngeren  Schriftsteller  konnten  ihr  Ziel  nur  durch  eine  immer 
wiederholte  Einwirkung  auf  die  Zeitgenossen  zu  erreichen  hoffen.  Sie  nahmen 
die  Zeitschriften  und  Zeitungen  in  Besitz,  und  erlangten  so  zugleich  die  Mittel 
zu  einer  unabhängigen,    selbständigen  Lebensstellung.     Freihch  brachte  diese 


34)  Krsemer,    C.  Ritter,   Ein   Lebensbild    nach   seinem  hslichen  Nachlass,  Halle  187.5,  III. 

35)  Mit  dem  besondern  Titel  Die  Erdkunde  im  Verhältnis  zur  Natur  und  zur  Geschichte 
oder  allgemeine  vergleichende  Geographie  als  sichere  Grundlage  des  Studiums  und  Unter- 
richts in  physischen  und  historischen  Wissenschaften'.  36)  Triebt  die  verwirrende 
Mannigfaltigkeit  zügelloser  Gewalten,  sondern  die  Anschauung  von  dem  Mass  und  dem 
Gesetz  in  der  unendlichen  Fülle  und  Kraft  ist  es,  was  uns  auch  schon  in  der  sinnlichen 
Natur  mit  der  Ahnung  des  Göttlichen  unwiderstehlich  durchschauert':  Einl.  zur  Erdkunde. 
§  176.  1)  Börne  nannte  Goethe  den  gereimten  Knecht,  Hegel  den  ungereimten.  So  ur- 
teilte auch  Menzel  über  Goethe  und  Hegel  absprechend,  nur  schrieb  er  ihnen  die  Schuld  an 
der  Zügellosigkeit  der  Zeitgenossen  zu.     Allerdings   gab   gerade    Hegel    dem   jüngeren    Ge- 


646  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XIX  JAJHUI.  §  176 

Arbeit  an  der  Tagcsscbriftstcllerei  auch  eine  überrasche  Production  mit 
sicli  und  die  immer  stärker  anschwclh^nde  Masse  der  Littcratur  musstc  ilirem 
inneren  Werte  schjedlicli  werden.  Noch  blieb  zwar  zuna^chst  eine  hoehere 
Anforderung  an  die  Form  in  Geltung  und  wenigstens  der  leichte,  witzige, 
starke  Ausdruck  wurde  noch  erstrebt  und  empfunden.  Noch  ward  die 
poetische  Gestaltung  auch  der  politischen  Wünsche  gern  gesolm  und  der  neue 
Stoff  der  Dichtung  sollte  mit  der  überkommenen  schoenen  Form  zusammen 
wirken.  Daher  pflegten  die  neuen  Schriftsteller  auch  die  Kritik  in  zahl- 
reichen Zeitschriften;  ja  sie  suchten  durch  historische  Zusammenfassung  ihrer 
Urteile  diese  zu  begründen  und  zu  verstärken :  mehrere  Handbücher  der 
Litteraturgeschichte  sind  von  den  Tagesschriftstellcrn  selbst  verfasst  worden. 
Eben  diese  Ausbildung  des  neuen  Stils  wirkte  selbst  in  die  Kreise 
hinein  verführerisch,  gegen  welche  sich  die  politische  Richtung  der  jungen 
Schriftsteller  erhob.  Gentz  begrüsste  Heine  mit  vollem  Lobe,  und  Metternich 
bemühte  sich  Börne  zu  gewinnen.  Der  Aristocratie  selbst  gebeerte  ein  Teil- 
nehmer an  der  neuen  Litteratur  an,  dessen  Character  ein  wunderbares  Ge- 
misch war  aus  echter  Ritterlichkeit  und  eitler  Effekthascherei,  frivoler 
Menschenverachtung  und  tiefer  Empfindung  für  das  Schcene  und  Edle,  und 
dessen  Leben  ^  ein  wahrer  Roman  genannt  werden  kann.  Fijrst  Hermann 
L.  H.  von  Puckler-Muskau  war  in  dieser  oberlausitzischen  Stadt  1785  ge- 
boren, überwarf  sich  als  Student  und  Offizier  durch  seine  unsinnige  Ver- 
schwendung mit  seinem  Vater,  reiste  fast  mittellos  nach  Italien,  kämpfte  in 
den  Freiheitskriegen  mit  Auszeichnung,  verheiratete  sich  mit  einer  älteren 
Dame,  der  Tochter  des  Staatskanzlers  Hardenberg,  Hess  sich,  von  ihr  selbst 
dazu  veranlasst,  scheiden,  um  iu  England  eine  reiche  Heirat  zu  suchen  und 
so  neue  Mittel  für  seinen  Aufwand  zu  gewinnen,  lebte,  nachdem  er  imver- 
richteter  Sache  zurückgekehrt  -war,  wieder  mit  seiner  geschiedenen  Frau, 
reiste  durch  Nordafrika  und  Kleinasien,  gestaltete  seine  Besitzungen  mit  dem 
feinsten  Sinn  für  Gartenbaukunst  aus  und  starb,  nachdem  er  1866  noch  den 
preussischen  Generalstab  begleitet  hatte,  18^1  auf  seinem  vseterlichen  Erbgut 
Branitz  bei  Cottbus.  Er  schrieb  selbst  'Andeutungen  über  Landschafts- 
gärtnerei' 1834.3     Aber   sein   erstes  Werk   waren  die   'Briefe   eines  Verstor- 


schlecht    die    Waffe    der   Dialektik    iu  die    Hand.  2)   Lndniilla  Assing,  Fürst  H.  von 

Pückler-Mnskau,  Hamburg  1873;  von  der«.  Des  Fürsten  H.  v.  P.-M.  Briefwechsel  und  Tage- 
bücher, Hamburg  1876,  IX.  3)  Zu  Stuttgart,  wie  auch  die  spseteren  Schriften.  Die 
Verdienste  des  Fürsten  um  die  Landschaftsgärtnerei   sind   von   Petzold,   Leipzig  1874,   ge- 


§176  F.  PÜCKLER.     VARNHAGEN.  647 

benen',  Stuttgart  1831 :  diese  Briefe,  die  er  aus  England  an  seine  Frau  ge- 
schrieben hatte,  zeichneten  mit  feiner  Beobachtung  und  vornehmem  Spott, 
auch  in  der  eigentümlichsten  Sprachmeugerei,  die  aristocratischen  Kreise 
Englands  und  traten  für  die  bedrückten  Irländer  und  gegen  den  kirchlichen 
Pietismus  ganz  im  Sinne  des  deutschen  Liberalismus  ein.  Die  gleichen  An- 
sichten jeusserte  der  Fürst  in  'Tutti-frutti'  1835  und  sonst.  Seine  spseteren 
Reisebeschreibungen  veröffentlichte  er  unter  dem  Namen  Semilasso. 

Mit  noch  groesserer  Entschiedenheit  kam  Kael  August  Varnhagen  von 
Ense  den  freisinnigen  und  kosmopolitischen  Anschauungen  entgegen.  Geb. 
zu  Düsseldorf  1785  war  er  als  Student  der  Medicin  mit  Chamisso  und  Kerner 
befreundet.  1809  in  die  oesterreichische  Armee  eingetreten,  kam  er  in  diplo- 
matischen Diensten  nach  Paris,  welches  er  1814  in  Hardenbergs  Gefolge 
wiedersah.  1815 — 19  lebte  er  als  Legationsrat  zu  Karlsruhe,  dann  amtlos 
in  Berhn,  wo  er  1858  starb.  1814  hatte  er  Rahel  Levin  (oder  mit  ihrem 
spseteren  Namen  Robert)  geheiratet,  welche  vierzehn  Jahre  älter  war  als  er. 
Nach  ihrem  Tode  1833  gab  er  ihre  Briefe  und  sonstigen  Aufzeichnungen 
heraus.*  Vielbewundert  war  Varnhagen  als  Biograph  und  seine  "VVeltlseufig- 
keit  gab  ihm  hiefür  manchen  Vorteil;  im  Anschluss  an  Goethe  hatte  er  sich 
einen  anmutig  fliessenden  Stil  angeeignet.^  Seine  'biographischen  Denkmale' 
erschienen  zu  Berlin  1822 — -45,  V,  seine  'Denkwürdigkeiten  und  vermischten 
Schriften'  1835 — 46,  VII.*^  Längst  hatte  Varnhagen  alle  Äusserungen  der 
politischen  Unzufriedenheit  gesammelt;  er  war  auch  der  geheime  Förderer 
und  Beschützer  der  jungen  Schriftsteller."  Er  hatte  Heine  in  seinen  Salon 
aufgenommen  und  ihn  spaeter  nach  Paris  empfohlen.  Schon  durch  seine 
Gattin  gebeerte  er  den  jüdischen  Kreisen  an,  welche  die  neue  Bewegung  be- 
sonders eifrig  ergriffen.  Von  ihnen  ward  der  Witz,  besonders  da^  Wortspiel 
eifrig  gepflegt  und  ausgebildet.  Neben  Heine  steht  mit  noch  groesserer 
Fruchtbarkeit  auf  diesem  Gebiet,  aber  auch  ganz  darauf  beschränkt  Moriz 
Gottlieb  (eigentlich  Moses)  Saphir,^  geb.  1795  zu  Lovas-Bereny  in  Ungarn. 

schildert  worden.  4)  'Rahel,  Ein  Buch  des  Andenkens  für  Freunde',  Berlin  1834,  III. 

'Gallerie  von  Bildnissen  aus  Raheis  Umgang  und  Briefwechsel',  Leipzig  183G.  Spteter 
folgte  von  seiner  Nichte  herausgegehen  'Raheis  Briefwechsel  mit  Varnhagen'  1874.  75,  VI. 
'Raheis  Briefwechsel  mit  David  Veit',  Leipzig  1877.  'Aus  Raheis  Herzensleben',  Leipzig 
1877.  5)  LB.  3,  2,  1313.  6)  Zu  Mannheim,  spteter  Leipzig.  Ausgewählte  Schriften 

'Leipzig  1871 — 76,  XIX.  Nach  seinem  Tod  veröffentlichte  seine  Nichte  Ludmilla  Assing 
seine  'Tagebücher'  1861.  2,  IV,  nachdem  sie  schon  durch  die  'Briefe  A.  v.  Humboldts  an 
Varnhagen',  Leipzig  1860,  grosses  Aufsehen  erregt  hatte.  7)  Gutzkow,  Rückblick  S.  20. 

Laube,  Litt.-gesch.  4,  212.         8)  Der  Anfang  einer  Selbstbiographie  steht  in  der  Volksausgabe 


648  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XIX  JAHRH.  §  176 

Seit  1822  in  Wien  mit  dorn  Theaterdichter  Bfcuerlc  verbunden,  wandte  er 
sich  1826  nach  Berlin,  wo  indessen  sich  ebenso  wie  in  Wien  die  ernsteren 
Dichter  gegen  ihn  verbanden.  Dann  genoss  er  in  München  eine  Zeit  lang 
die  Gunst  des  Koenigs  Ludwig;  kehrte  aber  seit  18;}4  wieder  nach  Wien 
zurück,  jetzt  ganz  Mettcrnichs  Absichten  dienstbar.  Neben  seinen  zahlreichen 
Witzblättern  wirkte  er  durch  sogenannte  Akademien,  Vorlesungen,  in  denen 
ein  Wortspiel  dem  anderen  folgte.     Sapliir    starb  1858   zu  Baden  bei  Wien. 

Ganz  anders  verwendete  Ludwig  Börnk  "  die  Kraft  seines  Witzes. 
Eigentlich  Lob  Baruch  genannt,  war  er  1786  in  Frankfurt  geboren.  In  Berlin 
kam  er  im  Hause  der  Frau  Herz  '°  mit  den  littcrarischen  Kreisen  der  roman- 
tischen Schule  in  Verbindung.  In  der  napoleonischen  Zeit  war  er  Polizei- 
actuar  in  seiner  Vaterstadt,  aber  die  Wiederherstellung  der  freistsed tischen 
Verfassung  1814  zwang  ihn  zurückzutreten.  Bereits  war  er  als  Theater- 
recensent  gefürchtet;  unbekümmert  um  philosophische  Systeme  urteilte  er  als 
'Naturkritikef  und  Hess  sich  oft  durch  politische  Beweggründe  leiten."  Im 
Anschluss  an  Jean  Paul  suchte  er  durch  ungeheure  Übertreibungen  zu  wirken.*''* 
Seine  Zeitung  'Die  Wage'  ward  mehrmals  unterdrückt;  doch  vergeblich  suchte 
man  ihn  für  die  oesterreichische  Politik  anzuwerben.  Dann  wusste  Cotta  seine 
Feder  zu  Berichten  aus  Paris  zu  gewinnen,  wo  Börne  sich  seit  1819  wieder- 
holt und  nach  der  Julirevolution  bis  zu  seinem  Tode  1837  ständii;  aufhielt. 
So  hoehnisch  er  auch  über  Deutschland  urteilte,  die  Stimmung  besonders  am 
Oberrhein  und  in  Oesterreich  ward  durch  ihn  geleitet. 

Auf  die  Bahnen  Heines  und  Börnes  drängte  sich  eine  Schar  jüngerer 
Schriftsteller;  noch  einmal  aber  gelang  es  den  Regierungen  'das  junge 
Deatschland'  zu  unterdrücken  und  auf  andere  Wege  zu  bringen.'-  Dieser 
Name  stammt  von  Ludolf  Wiexbarg,  welcher  1802  zu  Altona  geboren, 
1872  zu  Schleswig  starb.  Seine  'Aesthetischen  Foldzüge',  Vorlesungen,  welche 
er  als  Privatdocent  in  Kiel  gehalten  hatte  und  zu  Hamburg  1834  drucken 
Hess,   widmete   er   'dem  jungen  Deutschland'.     Der  Name   erinnerte   an   die 

• 

seiner  Scbriften,  Brunn  1888,  XXVI.  9)  Gegen  Heines  Sclimiehschrift  (§  174,  nach  Anni. 

51)  verteidigte  ihn  Gutzkow,  L.  Börne  1840.  0.  Alberti,  L.  Börne,  Berlin  1886.  Mich.  Holz- 
tnann,  L.  Börne  1888.  Börnes  Gesammelte  Schriften  waren  Hamburg  1829 — 34,  YIIl  erschienen; 
vollständig  1862,  XII.         10)  §  166,  37.    Briefe  des  jungen  Börne  an  Henriette  Herz,  Lpz.  1861. 

11)  So  wenn  er  an  Schillers  Teil  Anstoss  nimmt,  weil  der  Held  sich  nicht  hätte  zwingen 
lassen  dürfen,  nach  dem  Apfel  auf  dem  Kopfe  des  Sohnes  zu  schiessen  und  weil  Gesslers 
Tcptuug  Meuchelmord  sei.  IIa)  So  behandelte  er  die  damalige  Post  als  'Postschnecke'. 

12)  Besonders  eingehend:    Joh.  ProeUs,  Das  junge  Deutschland,  Stuttgart  1892.     F.  Weh!, 


§  176       BÖRNE.  DAS  JUNGE  DEUTSCHLAND.         649 

giovine  Italia^  welche  unter  Mazzinis  Führung  die  italienische  Revolution  in 
Angriff  nahm,  und  wieder  an  die  jeime  France,  welche  besonders  durch 
Victor  Hugo  vertreten,  dem  Regehvesen  der  alten,  classischen  Poesie  Frank- 
reichs eine  neue  wildphantastische,  die  sogenannte  romantische  entgegen 
stellte.  Das  junge  Deutschland  blieb  hinter  diesen  verwandten  Richtungen 
zurück.  Wienbarg  verstummte  bald  und  ward  vergessen.  Ebenso  wenig 
konnten  mehrere  BerUner  Schriftsteller  Dauerndes  schaffen.  Gustav  Kühne, ^^ 
geb.  zu  Magdeburg  1806,  gest.  zu  Dresden  1888,  führte  in  der  litterar- 
historischen  Schrift  'Weibliche  und  nicännliche  Charactere',  Leipzig  1838,  H 
besonders  die  Yertreterinnen  der  Frauenemancipation  vor,  Rahel,  Bettina  und 
Charlotte  Stieglitz.  Diese  letztgenannte,  die  junge  und  schoene  Gattin  eines 
Berliner  Dichters,  der  nach  grossen  Anlseufen  sich  in  Kraftlosigkeit  zu  ver- 
lieren schien,  erdolchte  sich  1834,  um  ihn  sich  selbst  und  seinen  grossen 
Yorsätzen  zurückzugeben.  Ihr  nahe  befreundet  war  Theodor  Mundt,^*  dessen 
Roman  'Madonna,  Unterhaltungen  mit  einer  Heihgen',  Leipzig  1835,  die 
Dürftigkeit  der  Erza^hlung  durch  sinnliche  Schilderungen  und  politische  Ten- 
denz zu  vergüten  suchte.  Weit  groässer  und  dauernder  war  das  Ansehn 
zweier  Schriftsteller,  welche  beide  neben  ihrer  historisch-kritischen  Thsetigkeit 
auch  Romane  verfasst  und  das  Theater  durch  Dichtung  und  Leitung  beein- 
flusst  haben:  Karl  Gutzkow  und  Heinrich  Laube. 

Gutzkow  hat  seine  'Knabenzeit'  selbst  beschrieben,^^  auch  über  speetere 
Erlebnisse  berichtet  er  in  seinen  'Rückblicken'.^^  Als  der  Sohn  eines  prinz- 
lichen Bereiters  war  er  1811  zu  Berlin  geboren  und  hatte  Theologie  studiert, 
folgte  aber  1830  einer  Aufforderung  Wolfgang  Menzels,  ihm  in  Stuttgart  bei 
der  Redaction  des  Morgenblattes  behilflich  zu  sein.  MenzeP^  verfocht  die  christ- 
lich-germanischen Grundsätze  der  Burschenschaft  und  griff  in  seinem  Buche 
'Die  deutsche  Litteratur'  1828'^  Goethe  masslos  heftig  an,  wahrend  er  sich 
den  schwsebischen  Dichtern  und  Politikern  nahe  hielt.  Er  unterstützte  Gutz- 
kow noch,    als    dieser   'Briefe   eines  Narren  an  eine  Närrin',  1832,    mit  frei- 

D.  j.  Deutselilaud,  Hamburg  1886  (mit  unwichtigen  Briefen).  13)  E.  Pierson,  G.  Kühne, 

sein  Lebensbild  und  Briefwechsel  mit  Zeitgenossen.  Mit  einem  Vorwort  von  W.  Kirehbach, 
Dresden  und  Leipzig  (1890).  14)  Geb.  1804   zu  Potsdam,    gest.    in  Berlin   ISÜl.     Er 

verfasste  'Ch.  Stieo-litz,  ein  Denkmal',  Berlin  1835.  'Die  Kunst  der  deutschen  Prosa.  Aesth- 
etisch  litterarisch  gesellschaftlich',  Berlin  1837.  Auch  eine  'Geschichte  der  Litteratur  der 
Gegenwart',  Berlin  1842.         15)  Frankfurt  1852.  16)  Berlin  1875.         17)  1798—1873. 

W.  Menzels  Denkwürdigkeiten,  hg.  von  seinem  Sohne  K.  Menzel,  Bielefeld  u.  Leipzig  1877. 
18)  Später  schrieb  Menzel:    'Deutsche  Dichtung  von  der  ältesten  bis  auf  die  neueste  Zeit*, 


650  NEUIIOCHDEUTÖCIIE  ZEIT.         XIX  JAIIRH.  §  17G 

sinnigen  Anspielungen  schrieb,  und  in  Maha  Guru,  (lescliichte  eines  Gottes' 
1833,  die  psychologische  Entwickelung  eines  Dalailama  phantastisch  ausmalte. 
Doch  Gutzkow  schloss  sich  in  Hamburg,  dann  in  Frankfurt  den  Verehrern 
Heines  an  und  bekämpfte  Christentum  und  Ehe  mit  haOmischem  Spott.  Er 
Hess  Öchleiermachers  Jugendbriefe  über  die  Lucindo  '^  1835  wiederabdrucken 
und  fügte  eine  herausfordernde  Vorrede  hinzu.  Er  legte  seine  Ansichten 
nach  seiner  Weise  ironisch  dar  in  dem  Romane  "Wally  die  Zweiflerin,  Mann- 
heim 1835,  wozu  der  Selbstmord  der  Frau  Stieglitz,  der  Roman  LeHa  von 
Georges  Sand  und  eine  lüsterne  Scene  aus  dem  jüngeren  Titurel  neben  eignen 
Grübeleien  des  Dichters  und  von  ihm  geführten  Gespraechen  den  wunderlich 
verquickten  Stoff  darboten.  Nun  brach  Menzel  im  Morgenblatt  ^°  gegen  die 
ganze  'Unmoralische  Litteratur'  los.  Der  Bundestag  sah  sich  veranlasst  einzu- 
schreiten. Indem  er,  wie  es  scheint,  auf  eine  Stelle  des  Romans  selbst-'  zu- 
rück griff,  verbot  er  die  Schriften  des  jungen  Deutschlands',  d.  h.  ausser 
Gutzkow  noch  die  von  Wienbarg,  Laube,  Mundt,  sowie  Heines  Werke.  Gutz- 
kow selbst  wurde  wegen  seines  Romaus  mit  Gefängnis  bestraft,  dann  unter 
polizeiUche  Aufsicht  gestellt.  Er  und  seine  Schicksalsgenossen  —  Heine  war 
freilich  in  Sicherheit  —  bewiesen  keineswegs  ihren  Märtyrermut.  Sie  ent- 
schuldigten sich  gegen  die  Behoerden,  beschuldigten  sich  unter  einander.-- 
Gutzkow  schilderte  im  na?chsten  Roman  'Seraphine'  die  Liebesgeschichten 
einer  Gouvernante,  in  'Blasedow  und  seine  Soehne'  1838  die  Erlebnisse  einer 
Familie,  deren  Scehne  sämtlich  zuletzt  Journalisten  werden.  Dann  aber  suchte 
er  auch  die  Bühne -^  dem  modernen  Leben  zu  eröffnen,  wobei  ihm  das  fran- 
zoesische  Intrigueustück  als  Muster  diente.  Eigentümlich  deutsch  aber  war 
die  Vorüebe  für  das  historische  Costüm,  für  die  Dramatisierung  geschicht- 
licher Vorgänge,  in  denen  sich  die  Bestrebungen  der  Gegenwart  abspiegeln 
Hessen.  So  schildert  Gutzkow  die  Journal  istenthsetigkeit  in  'Richard 
Savage'  1842,-^  die  fi-eireligia3se  Bewegung  in  'üriel  Acosta',  dem  Lehrer  des 
Spinoza-**  1847;  und  wenn  hier  der  Streit  gegen  die  Unduldsamkeit  tragisch 
ausgeht,  so  wird  die  Heuchelei  komisch  gestraft  in  dem  'Urbild  des  Tartuffe' 
1847.  Heiterer  noch  und  ansprechender  hatte  'Zopf  und  Seh  werf  1844  den 
Gegensatz   zwischen    dem    rauhen  Friedrich  Wilhelm   I    von    Preussen   und 

Stuttgart  1.S58.  III.  19)  §  116,  48.  20)  16.  Sept.  1835.  21)  I  Buch,  Cap.  2. 

22)    Pr.jel88  11,    Pierson,    Kühne    53.   54.  23)    Dramatische   Werke    1842—57,  IX. 

'Iö62.  63,  XX.  1847.  48  war  er  an  der  Leitung  des  Theaters  zu  Dresden  beteiligt. 
24)  Aufgeführt  wurde  dieser  dramatische  Erstling  Gutzkows  1839.  24a)   Novellistisch 

hatte  Gutzkow  den  Gegenstand  schon  1834  im  Morgenblatt  behandelt  :   'Die  Saddncaer  von 


§  176  GUTZKOW.     LAUBE.  651 

seinen  bildungseifrigen  Kindern  dargestellt,  wsehrend  das  Bild  der  Jugend- 
zeit Goethes  im  'Koenigslieutenanf  1852  durch  gesuchte  litterarhistorische  An- 
spielungen und  Übertreibungen  aller  Art  abstiess.  Die  in  die  Gegenwart 
verlegten  Dramen  Gutzkows  leiden  an  seiner  Yorliebe  für  schwankende  Cha- 
ractere,  welche  sich  für  jeden  Theatereffect  hergeben  müssen. ^^  jS^ach  1848 
kehrte  Gutzkow  zum  Roman  zurück,  der  ihm  viel  bessere  Gelegenheit  bot 
seine  scharfe  und  vielseitige  Beobachtung  der  Zeitgeschichte  zu  verwerten. 
Er  flocht  nicht  nur  eine  Reihe  von  Zeitgenossen  mit  wenig  veränderten  Is'amen 
in  seine  Erzsehlung  ein,  sondern  versuchte  auch  alle  an  den  Ereignissen  be- 
teiligten Schichten  der  Bevölkerung  so  viel  als  moeglich  zu  berücksichtigen. 
Triumphierend  ruft  er  aus,  der  alte  Roman  des  Nacheinander  sei  abgethan; 
er  eröffne  den  Roman  des  Nebeneinander.  Dass  er  dabei  die  verschlungenen 
Faeden  oft  durcheinander  wirrte,  ja  seine  Absichten  zuweilen  selbst  zu  ver- 
gessen schien,  musste  man  ebenso  in  den  Kauf  nehmen,  wie  die  immer  zu- 
nehmende Verwilderung  seiner  Sprache.  Zunächst  stellte  er  die  eben  über- 
standene  Revolutionszeit  dar  in  den  'Rittern  vom  Geiste'  1850;  dann  im 
'Zauberer  von  Rom',  1858,  die  etwa  um  1840  hervortretende  jesuitische  Propa- 
ganda, welche  er  auf  Grund  umfassender  und  eindringender  Studien  in  einer 
Fülle  von  Figuren  darstellte.  Jeder  dieser  Romane  bestand  aus  neun 
Bänden; 2*^  auf  fünf  beschränkte  sich  der  in  die  Reformationszeit  führende 
'Hohenschwangau'  1864 — 68.  In  der  letzten  Zeit  war  Gutzkow  durch  Gegner- 
schaften, die  er  sich  doch  selbst  durch  seine  nörgelnde  Kritik  zugezogen 
hatte,  so  gereizt,  dass  er  einen  Selbstmordversuch  machte;  auch  sein  Tod 
1878,  zu  Sachsenhausen,  erfolgte  unter  seltsamen  Umständen. ^^ 

Glückhcher,  und  freihch  von  Anfang  an  fester,  ging  Heinrich  Laube  ^^ 
seinen  Lebensweg.  Geboren  zu  Sprottau  1806  hatte  auch  er  Theologie  stu- 
diert und  sich  1831  der  Schriftstellerei  zugewendet.  Das  Theater  lockte  ihn 
früh,  seine  Romane  beschäftigen  sich  oft  damit;  aber  noch  mehr  als  seine 
dramatischen  Werke  brachte  ihm  die  Leitung  des  Burgtheaters ^^  1850—66, 
dann  die  des  Stadttheaters  zu  Leipzig  und  wiederum  bis  1878  die  des  Wiener 
Stadttheaters  Ruhm  und  Einfluss.  Sein  Ideal,  die  Verschmelzung  der  clas- 
sischen    Declamation    der    Gcetheschen    Schule    mit    der    Naturwahrheit    des 

Amsterdam'.  25)    H.  Bulthaupt,   Dramaturgie    des   Schauspiels,    3.  Bd.,    Oldenburg  u. 

Leipzig  1891,  S.  257  fgg.  26)  Eine  spätere  Bearbeitung  der  Ritter  vom  Greiste  (1878) 

verkürzte  diesen  Roman  auf  vier  Bände.  Das  meiste  frühere  in  den  'Gesammelten  Werken', 
Jena  1873 — 76,  XII.  27)  Er  verbrannte  im  Bett ;  so  hatte  er  mehrere  seiner  Roman- 

helden umkommen  lassen.  28)  'Erinnerungen'.  Wien  1875.  82,  II.  29)  Vgl.  sein 

Wackernagel,  Litter.  Geschichte.  II.  43 


652  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XIX  JAHRH.  §  176 

Schrojderschen  Spiels,  führte  er  mit  Strenge  durch.  Schriftstellerisch  begann 
er  mit  der  Nachahmung  Heines  und  zugleich  Heinses^*^  und  führte  in  dem 
Roman  'Das  Junge  Europa',  Leipzig  1833 — 37,  Liebesgeschichten  und  poli- 
tische lutriguen,  wie  er  sie  besonders  zur  Zeit  des  polnischen  Aufstandes  be- 
obachtet hatte,  keck  und  burschikos  vor.  Auch  Laube  entging  dem  Gefäng- 
nis nicht,  doch  ward  er  dazu  als  Burschenschafter  verurteilt  und  durfte  die 
Zeit  seiner  Haft  grossenteils  in  Muskau  bei  Fürst  Pückler  zubringen.  Seine 
Novelle  'Die  Schauspielerin',  Mannheim  1836,  zeichnete  ein  Bild  des  bei  aller 
Vergötterung  doch  an  Liebe  armen  Künstlerlebens.  Ein  umfassender  ge- 
schichtlicher Roman,  'Der  deutsche  Krieg',  Leipzig  1863—66,  IX,  schilderte 
den  dreissigjsehrigen  Krieg  wirkungsvoll,  aber  allzusehr  mit  Erörterungen  der 
Helden  selbst,  denen  noch  dazu  in  ganz  unhistorischer  Weise  nationale  Be- 
weggründe geliehen  waren.  Laubes  Dramen^'  zeichnet  eine  ungewa'hnliche 
Kenntnis  des  Bühnengerechten  aus,  die  nur  wieder  die  Reize  allzu  sehr  hajuft. 
Von  den  Traga'dien  'Monaldeschi'  1845,  'Struensee'  1847,  'Graf  Essex'  1856 
usw.  fordert  'Dcmetrius'  1872  den  Vergleich  mit  Schillers  Torso  sehr  zu 
seinen  Ungunsten  heraus.  Auch  die  Schauspiele  'Die  Karlsschüler'  1847  und 
'Prinz  Friedrich'  1854  verbinden  Rührseügkeit  mit  dem  Bestreben  die  Staats- 
weisheit der  Tyrannen  geltend  zu  machen.  Leichter  gebaut,  aber  eben- 
falls stark  auf  das  patriotische  Interesse  der  Helden,  besonders  Friedrichs 
des  Grossen,  berechnet  ist  das  Lustspiel  'Gottsched  und  Geliert'  1847. 
Auch  eine  für  die  Beurteilung  der  Zeitgenossen  beachtenswerte  'Geschichte 
der  deutschen  Litteratur',  Stuttgart  1838 — 40,  IV,  hat  Laube  verfasst.  Er 
starb  1884. 

Gegen  das  Jahr  1840  trat  eine  andere  Reihe  von  Schriftstellern  hervor, 
welche  immer  stärker  die  politische  Befreiung  verlangten  und  die  litterarische 
und  religioese  Frage  als  bereits  entschieden  behandelten.  In  schroffster  Form 
sprach  dies  ein  Manifest  'Der  Protestantismus  und  die  Romantik'  aus,  welches 
Aknold  Rüge'-  und  Echtermeyer  in  den  Hallischen  Jahrbüchern'^  1839  ver- 
öffenthchten.     Die  gleiche  Richtung  verfolgte  auch  als  Dichter  Robert  Prutz, 

Buch  über  dessea  Geschichte  §  145,  1.  30)   §  159,  86.  31)  Dramatische  Werke, 

Leipzig    1845 — 75,    XIII.  32)    A.  Rüge,    zu  Bergen    auf  Eugen    1802   geboren,    war 

1824 — 30  als  Burschenschafter  in  Haft,  lebte  dann  seit  1832  als  Docent  in  Halle,  spseter 
in  Dresden  und  seit  1843  bis  zu  seinem  Tode  (in  Brighton)  1880  im  Ausland.  Erst  für 
die  Revolution  thaetig,  ward  er  1866  durch  die  Politik  Bismarcks  versoehnt.  Vgl.  A.  Rüge, 
Aus  früherer  Zeit,  Berlin  1862 — 67,  IV.  Briefwechsel  und  Tagebücher,  hg.  v.  P.  Nerrlich, 
Berlin  1886,  II.  33)    Hallische   Jahrbücher  für  Wissenschaft    und    Kunst,    1838—41; 


I 


§  176  PRUTZ.     GOTTSCHALL.  653 

ein  jüngerer  Heimatsgenosse  und  Freund  Ruges.'*  Geboren  zu  Stettin  1816, 
lebte  er  auch  nach  Vollendung  seiner  Studien  meist  in  Halle,  wo  er  1849 
Professor  wurde.  1857  nach  Stettin  zurückgekehrt,  starb  er  hier  1872.  An 
vielen  Orten  hatte  er,  als  Redner  ausgezeichnet,  litterarhistorische  Yortraege 
gehalten:  von  Schriften  dieses  Inhalts,  welche  auf  sorgfältigen  Studien  be- 
ruhen, aber  z.  T.  auch  politischen  Absichten  dienen,  erschienen  'Der  Göttinger 
Dichterbund',  Leipzig  1841,  'Die  politische  Poesie  der  Deutschen'  1845,  'Die 
Geschichte  des  deutschen  Journalismus'  I,  Hannover  1845,  'Vorlesungen  über 
die  deutsche  Litteratur  der  Gegenwarf,  und  'Vorlesungen  über  die  Geschichte 
des  deutschen  Theaters',  beide  Leipzig  1847,  'Die  deutsche  Litteratur  der 
Gegenwarf  1860,  H,  'Menschen  und  Bücher'  1862.  1843—48  gab  er  ein 
'Litterarisches  Taschenbuch',  1851 — 66  das  'Deutsche  Museum'  heraus.  Die 
ersten  'Gedichte'  von  Prutz  waren  meist  poHtisch  und  zeigten  Leidenschaft, 
aber  weder  tiefe  Gedanken  noch  formelle  Vorzüge.  Spseter  dichtete  er  ebenso 
feurige  LiebesHeder:  'Aus  der  Heimat',  Leipzig  1858,  'Aus  goldnen  Tagen', 
Prag  1861,  'Herbstrosen',  München  1864,  'Buch  der  Liebe',  Leipzig  1869. 
Im  Drama  versuchte  er  sich  zuerst  in  Platens  "Weise  mit  dem  Lustspiel 
'Nach  Leiden  Lust',  dann  mit  der  Tendenzcomcedie  in  aristophanischer  Form 
'Die  politische  Wochenstube',  Zürich  1845,  worin  erst  eine  falsche  Germania 
als  Trsegerin  der  romantischen  Ideen  Friedrich  Wilhelms  IV,  dann  eine 
echte,  volkstümliche  auftritt.  1847 — 49  erschienen  zu  Leipzig  die  z.  T.  bereits 
früher  verfassten  'Dramatischen  Werke':  sie  stellen  öfters  edle  Helden  dar, 
welche  durch  die  Bosheit  ihrer  Fürsten  zur  Auflehnung  getrieben  werden 
und  80  untergehen:  Moritz  von  Sachsen,  welcher  mit  dem  Pathos  des  Mar- 
quis Posa  ausgestattet  ist,  Karl  von  Bourbon.  Eine  Reihe  von  Romanen  von 
Prutz  haben  gleichfalls  die  Neigung  die  Unterdrückung,  diesmal  mehr  die 
sociale  der  Armen,  zu  geissein:  'Das  Engelchen',  Leipzig  1851,  'Der  Musi- 
kantenturm' 1855  ua. 

Nseher  an  Gutzkow  hielt  sich  K.  Rudolf  von  Gottschall.  ^^  Zu  Bres- 
lau 1823  als  Sohn  eines  Offiziers  geboren,  war  er  am  Rhein  aufgewachsen. 
In  Koenigsberg  politisch  hervorgetreten,  versuchte  er  vergeblich  sich  zu  habi- 
litieren und  trat  daher  1847,  wie  gleichzeitig  Gutzkow  in  Dresden,  Prutz  in 
Hamburg,  seinerseits  in  Koenigsberg  als  Dramaturg  zum  Theater  über.     Seit 


Deutsche  Jbr.,   Lpz.  1842.  34)    Wie    dieser   ward   Prutz   1866   umgestimmt :    im  Mai 

hatte  er  noch  'Terzinen'  im  Sinne  der  Fortschrittspartei  gedichtet,  im  Herbst  Hess   er  eine 
'Palinodie'   folgen.  35)    Ad.  Silberstein,    R.  Grottschall,    Fünfundzwanzig  Jahre    einer 


054  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.        XIX  JAHRH.  §  177 

1852  lobte  er  wieder  in  Schlesien,  seit  1867  in  Leipzig  und  ward  1877  ge- 
adelt. Gottaclialls  'Gedichte'  1849  zeigen  ihn  als  politischen  öelegenhoits- 
dichter.^'^  Ebenso  dienen  seine  'Dramatischen  Werke'^'  vielfach  der  Zeit: 
'Ulrich  von  Hütten'  1843  verherrlicht  den  religioesen  Freisinn;  dann  feiert 
Gottscliall  mit  den  Wendungen  Schillers  die  franzoesische  Revolution:  'Die 
Marseillaise'  1849,  'Lambertiue  von  Mericourt'  1850;  gleichzeitig  ist  sein 
'Schür,  worin  der  schon  von  Rüge  dramatisch  behandelte  Conflict  zwischen 
Heldensinn  und  Kamaschentum  zu  einem  tragischen  Ende  führt.  Von 
Gottschalls  Lustspielen  ist  'Pitt  und  Fox'  durch  Lebhaftigkeit  des  Dialogs 
und  munteren  Gang  ausgezeichnet.  Eine  Reihe  von  erzfehlenden  Ge- 
dichten^'^ schloss  sich  an:  'Carlo  Zeno'  1854,  die  Geschichte  eines  vene- 
tianischen  Admirals,  der  als  Urbild  der  Männlichkeit  erscheint,  wie  'Die 
Göttin'  (der  Vernunft)  185:^  die  Fraucnemancipation  nach  G.  Sand  darstellt. 
Zuletzt  erschienen  Gottschalls  Romane,  'Das  Goldne  Kalb'  1880  ua.  Seine 
litterarischen  Kritiken ''•'  sammelte  er  als  'Litteraturgeschichte  des  19.  Jahr- 
hunderts', Breslau  1855,"  und  fügte  (ebd.)  1858  eine  'Poetik'  hinzu.  Im 
Gegensatz  zu  Gottschalls  günstiger  Auffassung  stand  die  scharfe  Beur- 
teilung der  zeitgenössischen  Litteratur,  welche  Julian  Schmidt,*'  der  Freund 
G.  Freytags,  in  den  'Grenzboten'  niederlegte  und  als  Geschichte  der  deut- 
schen Nationallitteratur  im  19.  Jahrhundert,  zuerst  Leipzig  1853*'  zu- 
sammen fasste. 

§  177. 
Der  Freiheitshauch,  der  von  1830  ab  die  Litteratur  durchdringt,  weht 
vor  allem  in  der  Lyrik,  um  so  stärker,  als  es  zunsechst  sich  kaum  darum 
handelte,  bestimmte  Ziele  zu  weisen,  sondern  nur  allgemeine  Stimmungen 
auszudrücken.  Diese  poHtische  Lyrik  knüpfte  an  Uhlands  politische  Ge- 
dichte an  und  in  Schwaben  fand  sie  zuerst  gastliche  Aufnahme,  als  sie  aus 
dem  geistig  abgeschlossenen  Oesterreich  sich  erhob.  Wie  Fürst  Pückler  als 
Reiseschriftsteller  für  die  liberalen  Ideen  eingetreten  war,  so  eröffnete  auch 
in  der  Lyrik  ein   hochgestellter  Dichter  die    neue  Bahn:    Axastasius  Grüx, 


Dichte rianf bahn,  Leipzig  1868.  36)    1842  Lieder  der  Gegenwart,    1848    Barricaden- 

lieder,  1856  'Sebastopol'.  37)  Gesaramelt,  Leipzig  1865—80,  XX.  38)  Gottschall 

sammelte  sie,   Breslau  1875.  6,  III.  39)   Von   1865  ab    redigierte  er  die   "Blätter  für 

litterarische    Unterhaltung'    und    'Unsere    Zeit".  40)    «1893,    III.  41)    Geb.    zu 

Marienwerder  1818,  gest.  zu  Berlin  1886.  42)  Zuletzt,  aber  unvollendet,  als  'Geschichte 

der  deutschen  Litteratur  von  Leibnitz  bis  auf  unsere  Zeit',  1,  Berlin  1886. 


§  177  A.  GRÜN.    LENAU.  655 

wie  sich  als  Dichter  Graf  Anton  von  Auersberg  nannte.'  Geboren  1806  zu 
Laibach,  ist  er  1876  zu  Graz  gestorben,  nachdem  er  seit  seinem  Eintritt  in 
die  krainische  Ständeversammlung  1832  für  die  freiheitliche  Entwickelung 
Oesterreichs  gekämpft  hatte.  Als  Dichter  hatte  er  sich  zuerst  durch  seinen 
Romanzenkranz  'Der  letzte  Ritter'  1830  bekannt  gemacht,  worin  er  nach 
dem  Yorbild  von  Uhlands  Eberhard  in  Nibelungenstrophen  Kaiser  Maximi- 
lian I  feierte.  Bot  dieser  volkstümliche  Fürst  auch  dem  Humor  günstige 
Seiten,  so  klingt  durch  Grüns  'Spaziergänge  eines  Wiener  Poeten',  Hamburg 
1831,  tiefe  Entrüstung  über  das  Regiermigssystem  Mettemichs.  Sie  ergiesst 
sich  besonders  über  die  geistige  Knechtung,  über  das  Treiben  der  Pfaffen, 
welche  der  Dichter  genau  von  den  ihres  Amtes  würdigen  Priestern  unter- 
scheidet ,  über  Censur  und  litterarische  Grenzsperre ,  und  endlich  über  das 
Schlimmste,  über  die  Naderer,  die  Spione,  welche  jedes  Yertrauen,  jede 
Freude  des  Yolkes  vergiften.  Dem  gleichen  Freisinn  dienen  weltgeschicht- 
liche Bilder  zum  Hintergrund  in  'Schutf,  Leipzig  1835;  doch  hebt  hier  zum 
Teil  der  humoristische  Abschluss  in  Heines  Art  die  Grundstimmung  wieder 
auf.  Einem  spielenden  und  nicht  immer  verständlichen  Humor  ergab  sich 
der  Dichter  in  den  'Nibelungen  im  Frack',  Leipzig  1843,  der  Geschichte 
eines  musiktollen  Kleinfürsten  zur  Zeit  Friedrich  Wilhelms  I,  und  im  TfafFen 
von  Kaienberg'  1850.  Spseter  setzte  Grün  als  Übersetzer  der  'YolksUeder 
aus  Krain'  1850  und  des  'Robin  Hood'  1864  seine  Dichterlaufbahn  fort  und 
beschloss  sie  mit  der  Sammlung  'In  der  Yerandah',  Berlin  1876. 

Grün  gab  auch  1855  die  'Sämtlichen  Werke'  seines  weit  begabteren 
Dichtergenossen  Lenaü  heraus:^  dies  war  der  Dichtername  für  Nicolaus 
Niembsch  von  Strehlenau.  Geb.  1802  zu  Csatad  bei  Temesvar  in  Ungarn, 
wuchs  der  Dichter  unter  trüben  Yerhältnissen  auf,  welche  der  Leichtsinn  des 
Yaters,  eines  Offiziers,  verschuldet  hatte;  die  Mutter  verzog  den  Knaben.  Er 
studierte  in  Wien  Medicin,  vollendete  aber  diese  Studien  nicht.  1832  begab 
er  sich  nach  Schwaben,  wo  man  den  gefühlvollen,  geistreichen  Dichter  be- 
geistert aufnahm.  G.  Schwab  veröffentlichte  seine  ersten  'Gedichte'  1832. 
Es  war  ein  neuer  und  ein  mächtiger  Klang,    der  hier  von  der  ungarischen 

§  177.  1)  Gesammelte  Werke  hg.  von  Fraakl,  Berlin  1877,  V;  dazu  P.  v.  Radics,  A. 
Grün  u.  seine  Heimat.   Festschrift,   Stnttg.  1876.  2)  Stuttgart  u.  Augsburg,  IV;   mit 

schoenen  'iebensgeschichtlichen  Umrissen',  ^(von  Barthel)  Lpz.  1883.  Prachtausgabe  von 
Laube,  Wien  1884 — 86,  II.  Dazu  N.  L.  Briefe  an  einen  Freund,  hg.  v.  K.  Mayer,  Stuttg. 
1853.  Emma  Niendorf,  L.  in  Schwaben,  Lpz.  1855.  Anton  Schurz,  Lenaus  Leben,  grossen- 
teils  aus  des  Dichters  eigenen  Briefen  von  seinem  Schwestermann,  Stuttg.  u.  Augsb.  1855,  IL 


656  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XIX  JAHRII.  §  177 

Haide  und  den  raeuberisclicn  Hirten,  von  den  Schenken  mit  den  geigenden 
Zigeunern  und  den  tanzenden  Husaren  Kunde  brachte.  Lenau  begab  sich 
damals,  von  den  unfreien  Zuständen  Oesterreichs  und  Deutschlands  angewidert, 
nach  Nordamerika,  um  sich  hier  anzusiedeln.  Aber  die  kalte  Berechnung 
seiner  neuen  Landsleute  ward  ihm  bald  ebenso  unertrieglich  wie  der  un- 
freundliche Himmel,  der  Wald  ohne  Singvögel.  Er  verlebte  dann  ein  Jahr- 
zehnt abwechselnd  in  "Wien  und  in  Schwaben  und  fand  hier  an  dem  Grafen 
Alexander  von  Würtemberg  einen  Genossen  in  Gesinnung  und  Dichtung,^ 
aber  auch  im  frühen,  traurigen  Ende.  Der  Graf,  1802  zu  Kopenhagen  ge- 
boren, starb  in  Wildbad  1844.  Eben  dies  Jahr  beschloss  Lcnaus  Dichterlauf- 
bahn. Er  hatte  sich  in  Baden-Baden  verlobt,  konnte  sich  aber  von  einer 
langgehegten  Liebe  zu  einer  verheirateten  Frau*  nicht  frei  machen.  Nach 
Stuttgart  zurückgekehrt  verfiel  er  dem  Wahnsinn  und  starb  1850  zu  Dcebling 
bei  Wien.  Auf  diesen  Ausgang  deutet  auch  die  Entwickelung  seiner  Poesie, 
die  sich  immer  verzweiflungsvoller  in  die  dunklen  Seiten  des  Lebens  und 
Denkens  versenkt.  1836  hatte  er  in  seinem  Trühlingsalmanach'  zuerst  Scenen 
aus  'Fausf  veröffentlicht,  in  welchem  er  seine  eignen  Erlebnisse,  seine  Alpen- 
wanderungen wie  seine  Seefahrt,  seine  anatomischen  Studien  wie  seine  philo- 
sophischen Grübeleien  niederlegte.  Dem  Selbstmord  Fausts  steht  der  Abschluss 
in  Lenaus  Don  Juan  zur  Seite:  der  Frevler  findet  nur  in  seinem  Lebens- 
überdruss  die  Grenze  seines  Thuns.  Erzsehlend  behandelte  Lenau  auf  Grund 
eingehender  historischer  Studien  verzweiflungsvolle  Kämpfe  gegen  Geistes- 
bedrückung: 'Öavonarola'  1837,  'Die  Albigenser'  1842;  als  den  Helden  des 
letzteren  Gedichts  nannte  er  selbst  den  Zweifel.  Zwischen  der  Frömmigkeit 
seiner  Kinderjahre  und  der  Philosophie  der  Zeit  schwankte  er  ebenso  unent- 
schieden, wie  er  im  Leben  bald  trotzige  Selbstsucht,  bald  weiche  Hingabe 
an  die  Liebe  seiner  Freunde  bewies. 

An  Grün  und  Lenau  schloss  sich  eine  cesterreichische  Dichterschule, 
welche  von  jenem  den  Freisinn,  von  diesem  die  Romantik  der  mit  dem  Kaiser- 
staat vereinigten  Yölker  entlehnte.  Aus  Ungarn  wie  Lenau  stammte  Kjvkl 
Beck,  der  1817  zu  Baja  geboren,  1879  zu  Währing  bei  Wien  starb.  1838 
kam  er  nach  Leipzig,  wo  für  diese  jüngeren  Dichter  sich  ebenso  eine  Zu- 
flucht  fand,    wie   für    die   älteren   in   Stuttgart.     'Der    fahrende   Poet'  1839 


G.  Karpeles,    N.  Lenau,    Berlin  1873.  3)  'Gedichte',  Stuttg.  u.  Tüb.  1837,   Lieder  des 

Sturmes'  1838,  'Gesammelte  Gedichte'  1841,  'Gegen  den  Strom'  1843.     Der  Grafstand  Kerner 
besonders  nahe.  4)  L.  A.  Frankl,  L.  und  Sophie  Loewenthal,  Stuttg.  1891. 


§  177  (ESTERREICIIISCnE  LYRIK.  657 

schildert  Becks  damalige  Umgebungen;  'Janko  der  ungarische  Rosshirt',  ein 
Roman  in  Versen,  lässt  den  Helden  an  einem  magyarischen  Grossen  furcht- 
bare Rache  nehmen.  Die  'Lieder  vom  armen  Mann'  1846,  Rothschild  ge- 
widmet, entrollen  Bilder  des  Elends.  Solche  Schilderungen  bietet  zuweilen 
auch  Alfred  Meissner,^  dessen  Vater  als  Badearzt  in  Teplitz,  dann  Karlsbad 
dem  Dichter  manche  Verbindungen  auch  im  Ausland  gewann.  Geboren  1822, 
studierte  er  Medicin,  kam  1846  nach  Leipzig  und  Dresden  und  trat  in  Paris 
Heine  ^  nahe.  Sein  'Ziska'  1846  feierte  den  Hussitenführer;  dass  er  damit  der 
tschechischen  Bewegung  gegen  die  Deutschen  1848  gedient  hatte,  verleidete 
ihm  die  Fortsetzung.  Von  Meissners  Dramen  zeigt  'Das  Weib  des  Urias'  1851 
jene  besonders  durch  Hebbel  vertretene  Auffassung  der  alttestamentarischen 
Geschichte,  welche  die  Frömmigkeit  des  jüdischen  Volkes  nur  für  die  Menge 
gelten  lässt,  den  Helden  aber  allgemein  menschliche,  nur  masslos  gesteigerte 
Empfindungen  beilegt;  die  anderen  führen  in  die  englischen  Verhältnisse, 
welche  Meissner  selbst  kennen  gelernt  hatte:  'Reginald  Armstrong  oder  die 
Macht  des  Geldes'  1853,  'Der  Prsetendent  York'  1857.  In  seinen  geschicht- 
lichen Romanen  verwertete  er  die  Erlebnisse  der  Revolutionszeit:  'Schwarz- 
gelb' 1862 — 64  ua.  Ein  geheimer  Mitarbeiter  an  dieser  Romanschriftstellerei 
bedrohte  ihn  mit  Enthüllung  und  brachte  ihn  so  zum  Selbstmord.  Meissner 
starb  1885  zu  Bregenz.  Schärfer  vertrat  Moriz  Hartmann  ^  die  demokra- 
tisch grossdeutsche  Partei.  Geboren  1821  zu  Duschnik  bei  Pribram,  studierte 
er  Philosophie  in  Prag  und  Wien,  begab  sich  1844  nach  Berlin  und  Leipzig, 
und  liess  hier  1845  seine  Gedichte  als  'Kelch  und  Schwert"  erscheinen.  Die 
Ereignisse  von  1848  und  49,  an  denen  er  als  Mitglied  des  Deutschen  Par- 
laments beteiligt  war,  besang  er  in  Heines  Weise  mit  Hohn  auf  die  liberalen 
Mittelparteien  in  der  'Reimchronik  des  Pfaffen  Mauritius'  1849.  Seitdem 
lebte  er  bis  1872  als  Journalist  in  der  Schweiz,  in  Stuttgart,  zuletzt  in  Wien. 
Zum  philosophischen  Pessimismus  ging  von  der  politischen  Dichtung 
HiERONYMUs  LoRM^  Über,  eigentlich  Heinrich  Landesmann  genannt,  dessen 
kritisches  Erstlingswerk  'Wiens  poetische  Schwingen  und  Federn'  1846  sich 
gegen  Metternichs  System  richtete.  Von  anderen  oesterreichischen  Dichtern  be- 
kämpfte der  Tiroler  Hermann  von  Gilm,^  dessen  'Tiroler  Schützenleben'  1863, 

5)  'Geschichte  meines  Lebens',  Wien  und  Teschen  1884,  II.  'Sämtliche  Werke',  Lpz.  1872,  XVIII. 
(j)  Vgl.  §  174,  35.  7)  Gesammelte  Werke,   Stuttg.  1873.  74,  X.  8)  Geboren  zu 

Nikolsburg  1821,  trotz  früher  Verkrüppelung,  Taubheit  und  Augenschwäche  ein-  fruchtbarer 
und  gedankenreicher  Schriftsteller.  9)  Geb.  zu  Innsbruck   1812,    gest.  als  Beamter  zu 

Linz  1864.     Vgl.  J.  G.  Obrist,  Der  Lyriker  H.  v.  G.  Progr.  Trautenau  1874;    A.  v.  Passer, 


G58  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.        XIX  JAIIRH.  §  177 

'Gedichte'  1864.  65,  11  erschienen,  die  Jesuiten.  Früher  und  in  einer  weicher 
gestimmten  Zeit  dichtete  Ernst  von  Feuchterklebkn,'"  aus  einer  thüringi- 
schen Familie  in  Wien  1806  geboren  und  1849  gestorben,  nachdem  er  zu- 
letzt noch  im  Unterrichtsministerium  eine  hohe  Stellung  eingenommen  hatte. 
Seine  zartsinnigen  'Gedichte'  erschienen  1836;  weit  mehr  aber  erlangte  seine 
Schrift  'Zur  Disetetik  der  Seele',  Wien  1838  uo.,  durch  die  Verbindung  des 
Idealismus  mit  ärztlicher  Erfahrungsweisheit  Beifall. 

Seit  1840  stellte  sich  der  oesterreichischen  Schule  eine  norddeutsche 
zur  Seite,  welche  anstatt  der  schwermütigen  Klage  den  immer  schärferen 
Spott  hoeren  Hess.  Der  Berliner  Witz  beschränkte  sich  damals  noch  fast 
ganz  auf  die  localen  Zustände:  ihnen  widmete  mit  Benutzung  der  Volksrede 
Adolk  Glasbrenner  (1810 — 76)  eine  Reihe  von  Heften  und  Zeitschriften 
und  stellte  in  'Berlin  wie  es  ist  und  —  trinkt',  Berlin  u.  Leipzig  1832 — 50, 
zahlreiche  Figuren  aus  dem  Volksleben  dar.  Nur  sein  burleskes  Epos  'Der 
neue  Reineke  Fuchs',  1845,  nahm  sich  ein  hceheres  Ziel,  die  Bekämpfung 
des  Jesuitismus.  Weit  groessere  Kreise  aber  regte  Heinrich  Hoffmann  an, 
der  sich  nach  seinem  Geburtsort  im  Lüueburgischen  von  Fallersleben  nannte 
und  sein  Leben  selbst  beschrieb.*'  Als  Germanist '^  hat  er  namentlich  durch 
das  Finderglück  auf  seinen  Reisen  sich  verdient  gemacht.  Seine  Stelle  als 
Professor  zu  Breslau  verlor  er  wegen  seiner  'Unpolitischen  Lieder',  Hamburg 
1840.  Seit  1842  reiste  er,  gefeiert  und  verfolgt,  aber  immer  politisch  wirk- 
sam, umher,  bis  er  1854  in  Weimar  sich  niederliess.  Von  1860  bis  zu  seinem 
Tode  1874  war  er  Bibliothekar  des  Herzogs  von  Ratibor  zu  Corvey.  Jene 
Lieder  waren  keineswegs  boesartig,  wahre  Neckereien,  welche  ironisch  die 
Segnungen  des  Despotismus,  den  Corporalstock  und  die  Censur  priesen.  Sie 
lehnten  sich  in  der  Form  au  die  Volkspoesie  an,  welche  Hoffmann  genau 
kannte  und  selbst  in  den  Mundarten  '^  nachzubilden  unternahm.  Kinderlieder 
verfasste  er  in  grosser  Zahl  und  oft  mit  glücklichem  Gefühl.  Auch  einzelne 
seiner  vaterländischen  Lieder  '*  sind  durch  ihre  einfache  Innigkeit  allgemein 
behebt  geworden.  Wa?hrend  Hoffmann  die  Unzufriedenheit  der  Gelehrten- 
kreise in  volkstümlicher  Form   aussprach,    gab  Franz  Dingelstedt '^  seiner 

H.  von  Gilm,  Leipzig  1889.  10)  Vgl.  M.  Necker,  Grillparzerjahrbnch  1,  .331.  11)  'Mein 
Leben,  Aufzeichnungen  und  Erinnerungen',  Hannover  1868,  VI.  Er  war  1798  geboren. 
12)  Bibliographie  von  J.  M.  Wagner,  H.  H.  v.  F.   Wien  1869.  13)  Allemannische  Lieder, 

Fallersieben  1828  und  Loverkens  (^niederländisch  s.  v.  a.  Blättchen,  Horie  belgic»  VIII). 
14)  'Deutschland    über   Alles!'   'Wie   könnt'    ich    dein    vergessen*.  15)   J.  Rodenberg, 

F.  Dingelstedt.  Blätter   aus   seinem  Nachlas»,  Berlin  1891,  IL     Dingelstedt  selbst  beschrieb 


§  177  NORDDEUTSCHE  LYRIK.     HERWEGII.  659 

politischen  Satire  mehr  witzige  Schärfe  und  weltmännische  Kälte  in  Heines 
Art.  Geboren  zu  Halsdorf  in  Hessen  1814,  veranlasste  er  als  Gymnasial- 
lehrer zu  Kassel  durch  Berichte  in  Lewaids  Europa  1838  seine  Strafversetzung 
nach  Fulda,  und  nahm  1841  den  Abschied,  um  als  Berichterstatter  der 
Augsburger  Allgemeinen  Zeitung  Paris,  London  und  Wien  zu  bereisen.  Zu 
Hamburg  1842  erschienen  seine  'Lieder  eines  kosmopolitischen  Nachtwächters', 
welche  mit  beissendem  Spott  die  deutschen  Zustände  verurteilten.  Dass 
Berlin  dabei  am  schlimmsten  mitgenommen  wurde,  trug  wohl  bei  zu  der 
raschen  Glücksbahn,  welche  Dingelstedt  seit  1843  als  Vorleser  des  Königs 
von  Würtemberg  betrat.  1851  kam  er  als  Theaterintendant  nach  München, 
1857  nach  Weimar,  1867  als  Laubes  Nachfolger  nach  Wien,  wo  er,  in  den 
Freiherrnstand  erhoben,  1881  starb.  Um  die  deutsche  Bühne  hat  er  sich 
durch  Musteraufführungen  der  Dramen  Shakespeares  und  Schillers  verdient 
gemacht.  Sein  'Haus  der  Barneveldt',  1850  aufgeführt,  zeigte  die  sorgfäl- 
tigste Berechnung  der  Bühnenkünste;  in  seine  Romane,  'Die  Amazone' 
1850,  n  ua.,  legte  er  seine  eingehende  Kenntnis  des  Weltlebens. 

Doch  den  groessten  Eindruck  erweckte  unter  den  politischen  Sängern  der 
vierziger  Jahre  Georg  Herwegh.  1817  zu  Stuttgart  geboren,  floh  er  1839 
in  die  Schweiz.  Seine  'Gedichte  eines  Lebendigen'  erschienen '''  1841  mit 
einer  hcehnenden  Widmung  'an  den  Verstorbenen',  den  Fürsten  Pückler.  In 
kräftigen  Rhythmen  forderte  er  zur  Empoerung  auf.  Mit  der  wilden  Kampf- 
lust verband  er  ein  weiches  Gefühl,  und  die  Zeitgenossen  übersahen  darüber 
die  Unklarheit  der  Gedanken  und  die  formellen  Mängel,  welche  Herwegh 
trotz  der  Nachahmung  Platens  und  Berangers  nicht  überwunden  hatte. '^ 
Seine  Reise  nach  Deutschland  1842  gestaltete  sich  zu  einem  Triumphzuge; 
selbst  Friedrich  Wilhelm  IV  liess  ihn  sich  vorstellen.  Als  er  aber  mit  einem 
tactlosen  Schreiben  sich  an  den  Koenig  wandte,  ward  er  ausgewiesen.  Der 
unglückliche  Putsch  in  das  badische  Oberland  1848  brachte  ihn  um  sein 
Ansehen.     Seit  1866  in  Baden-Baden  anssessig,   starb  er  1875. 

Auch  ein  Dichter  von  groesserer  Begabung,  H.  Ferdinand  Freiligrath,^^ 
ward  in  die  Bewegung  der  Zeit  hineingerissen,  nicht  zur  Förderung  seines 
litterarischen  Ruhmes.     Geboren  1810   zu  Detmold   als   Sohn   eines  Lehrers, 

einzelne  Abschnitte  seiner  litterarisr-hen  Thsetigkeit :  Litterarisclies  Bilderbuch  1878,  'Münchener 
Bilderbogen    1879,  Sämtliche  Werke,  Berlin  1877.  78,  XII.  16)  Zürich  und  Winterthur. 

2.  Bd.  1844.  In  Zürich  erschienen  auch  Herweghs  'Neue  Gedichte,  herausgegeben  nach  seinem 
Tode*  1877.  17)  F.  Th.  Vischer,  Kritische  Gänge  2,  282  fgg.  18)  Schmidt-Weissenfels, 
Freiligrath,  Stuttg.  1876.     W.  Buchner,  F.  Freiligrath,  Ein  Dichterlebeu  in  Briefen.    Lahr 


660  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XIX  JAHKII.  §  177 

trat  er  vom  Gymnasium  in  die  kaufmännische  Lehre  zu  Soest  ein,  lebte 
1831—36  in  Amsterdam,  dann  in  Barmen,  bis  der  grosse  Erfolg  seiner 'Ge- 
dichte' 1838"  ihn  hoffen  Hess,  frei  der  Dichtung  leben  zu  können.  Chamisso 
und  Schwab  hatten  sein  Talent  sofort  anerkannt.  Von  früh  an  war  Freiligrath 
mit  Versen  beschilftigt  gewesen  und  bis  zuletzt  hat  er  sorgfältig  seine  Dich- 
tungen nachgebessert.  Für  die  schildernde  Poesie  hatte  ihm  Matthisson  zuerst 
das  Muster  geboten,  dann  war  er  besonders  durch  Lenau  mächtig  ergriffen 
worden;  aber  ganz  eigentümlich  war  die  bewusstc  Kühnheit,  mit  welcher  der 
junge  Dichter  auch  die  fremde,  die  tropische  Natur  wiedergab  und  klang- 
volle Namen  der  Geographie  gern  als  Keime  verwendete.  Übersetzungen 
aus  den  englischen  Landschaftsdichtern,  dann  aus  Lamartine  dienten  ihm  zur 
Schulung.  Aber  nicht  bloss  die  ausserordentliche  Gewandtheit  in  der  Hand- 
habung von  Sprache  und  Vers,  womit  er  z.  B.  den  Alexandriner  von  neuem, 
aber  freier  gebaut  zur  Anwendung  brachte;  nicht  bloss  die  phantasievolle 
Ausmalung  seiner  Landschaftsbilder:  auch  das  warme  Gefühl  des  Dichters^" 
musste  hinreissen.  Lenaus  verunglückter  Plan,  sich  in  Amerika  anzusiedeln, 
gab  Freiligrath  Anlass  zu  dem  Cyclus  'Der  ausgewanderte  Dichter'.  Früh 
tritt  die  Teilnahme  Freiligraths  an  dem  Loose  der  Armen,  der  Bedrückten 
hervor:  und  von  dieser  Seite  her  ward  er  zur  politischen  Dichtung  fortge- 
rissen, da  er  doch  durchaus  kein  Politiker  war.  Noch  1842  hatte  er  gegen 
Herwegh  gesungen:  'Der  Dichter  steht  auf  einer  hoeh'ren  Warte  als  auf  der 
Zinne  der  Partei';  da  bekehrte  ihn  Hoffmann  von  Fallersleben  zu  Koblenz 
in  einer  durchzechten  Nacht.  Freiligrath  hatte  1842  von  Friedrich  Wil- 
helm IV  eine  Pension  erhalten,  er  lehnte  sie  1844  ab  und  veröffentHchte  im 
gleichen  Jahre  sein  'Glaubensbekenntnis',  indem  er  Deutschland  verliess.  Aus 
England  kehrte  er  1848  zurück,  um  mit  Marx  in  der  'Rheinischen  Zeitung' 
die  sociale  Demokratie  zu  predigen.  Seine  Lieder  aus  dieser  Zeit,  die  mit 
wilden ,  aber  keineswegs  klaren  Gedanken  und  in  einer  absichtlich  rohen 
Sprache  den  Bürgerkrieg  preisen,  sammelte  er  als  'Neuere  politische  und 
sociale  Gedichte',  Köln  1849.  Dann  kehrte  er  nach  London  zurück.  Als 
die  Amnestie  1866  ihm  die  Heimat  wieder  öffnete  und  gleichzeitig  die  Genfer 
Bank  in  London,  an  welcher  er  angestellt  war,  sich  aufloeste,  bereitete  ihm 
der  Dank  der  Nation  ein  sorgenfreies  Alter.  Noch  dichtete  er  1870  patrio- 
tische Lieder.     Er  starb  zu  Canstatt   1876. 


1881,  II.  19)  Stuttgart.     Seine  'Gesammelten  Dichtungen'  erschienen  ebd.  1870,  VI  uö. 

20)  So  in  dem  oft  nachgeahmten  Lied  an  die    Auswanderer'.    Auch  die  Mahnung  '0  lieb',  so 


§  177  FREILIGRATH.     KINKEL.     GEIBEL.  661 

Das  Loos  der  Verbannung  hatte  auch  Freiligraths  Freund,  J.  Gottfried 
Kinkel^'  zu  tragen.  Geboren  zu  Obercassel  bei  Bonn  1815,  hatte  er  sich 
an  dieser  Universitaet  1837  als  Theologe  besonders  für  Kunstgeschichte  habi- 
litiert und  1845  ein  Buch  über  'Altchristliche  Kunst'  veröffentlicht.  1843 
waren  seine  lyrischen  Gedichte  erschienen;  doch  weit  vorzüglicher,  noch  ein- 
mal ein  reiner,  voller  Klang  des  mittelalterlichen  Rittertums  war  seine  erzseh- 
lende  Dichtung  'Otto  der  Schütz'  1845;  und  zur  epischen  Dichtung  kehrte 
Kinkel  auch  spseter  zurück  mit  dem  'Schmied  von  Antwerpen'  (Quintin  Messys) 
1872,  und  dem  feinsinnigen  Idyll  'Tanagra'  1883.  Dagegen  blieben  seine 
Tragoedien  'Koenig  Lothar  von  Lothringen'  1842  und  'Nimrod'  1852  ohne 
Erfolg.  Inzwischen  hatte  Kinkel  Schweres  erlebt.  Wegen  seiner  Beteiligung 
am  badischen  Aufstande  1849  ward  er  zu  lebenslänglichem  Zuchthaus  verur- 
teilt. Es  gelang,  ihn  1850  aus  Spandau  zu  befreien.  In  England  erwarb  er 
sich  durch  rastlose  Lehrthaetigkeit  volles  Ansehen:  das  Flüchtlingsleben  hat 
seine  geistreiche  und  charactervolle  Gattin  Johanna  (gest.  1858)  in  'Hans 
Ibeles  in  London',  Stuttgart  1860,  ergreifend  geschildert.  Kinkel  ward  1866 
als  Professor  der  Kunstgeschichte  nach  Zürich  berufen  und  starb  hier  1882.^^ 

"Wenn  nun  schon  Kinkel  für  die  Revolution  zwar  durch  die  That  ein- 
stand, aber  seine  Dichtung  von  ihren  Stürmen  fern  hielt,  so  hat  Emmanuel 
Geibel^^  die  politische  Poesie  nur  im  nationalen  Sinne  gepflegt  und  seine 
Wünsche  auch  zuletzt  erfüllt  gesehen.  Geboren  zu  Lübeck  1815,  liess  er 
seine  Gedichte  zuerst  in  Berlin  1840  erscheinen:  sie  stammten  zum  Teil  aus 
den  Jugendjahren  oder  aus  der  Studentenzeit  in  Bonn  und  Berlin ,  endlich 
aus  den  beiden  letzten  Jahren,  welche  er  als  Hauslehrer  bei  dem  russischen 
Gesandten  in  Athen  zugebracht  hatte;  es  waren  Liebesgedichte,  Landschafts- 
bilder besonders  vom  Ostseestrand,  Wanderlieder.  Ein  sorgfältiges  Studium 
war  darin  ersichtlich.  Anklänge  an  Brentano,  Heine,  Uhland  und,  spseter 
überwiegend,  an  Platen,  aber  auch  an  das  Volkslied  und  die  Minnesänger. 
Die  ausgezeichnete  Feinheit  der  Form  verband  sich  mit  edler,  weicher 
Empfindung  und  wahren,    kräftigen  Gedanken.     In  Griechenland  waren  ihm 

lang  du  lieben  kannst!"  zeigt   diese   Gefühlsweichheit.  21)  Ad.  Strodtmann,  Hamburg 

1850,  II.    0.  Henne  am  Rhyn.  G.  Kinkel,   ein  Lebensbild.  Zürich  1883.  22)  Von  den 

übrigen  rheinischen  Dichtern  moegen  noch  genannt  sein :  Wolfgang  Müller  von  Koenigs- 
winter  (1816 — 73),  dessen  'Rheinfahrt'  1846  erschien;  und  Gustav  Pfarrius  aus  Kreuznach 
(geb.  1800,  gest.  zu  Köln  1884):  'Waldlieder',  Köln  1850.  23)  Scherer,  E.  Geibel,  Berlin 

1884;  A.  Holz,  E.  Geibel,  Ein  Gedenkbuch,  Berlin  1884;  K.  Th.  Gsedertz,  E.  Geibel,  Denkwür- 
digkeiten, Berlin  1886;  Carl  C.  T.  Litzmann,  E.  Geibel,  Aus  Erinnerungen,  Briefen  und  Tage- 


662  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XIX  JAHRH.  §  177 

die  antiken  Ycrsarten  lieb  geworden,-*  und  in  diese  kleidete  er  auch  man- 
chen treffenden  Spruch.  Nach  der  Heimkehr  beschäftigte  er  sich  mit  der 
spanischen  Romanzendichtung.-*  Dem  Dichterberuf  zu  leben  ermutigte  ihn 
eine  Pension  Friedrich  Wilhelms  IV  seit  1842;  freilich  hatte  er  deshalb  einen 
Angriff  Herweghs  zurückzuweisen;  mit  den  rheinischen  Dichtern  aber  blieb  er 
innig  verbunden.  Gastliche  Aufnahme  fand  er  bei  dem  Freiherrn  von  Mals- 
burg auf  Escheberg  bei  Kassel  und  in  Schlesien  bei  dem  Fürsten  Carolath. 
In  der  Zeit  vor  der  Revolution  erhob  er  die  Stimme  für  Schleswig-Holstein.-*^ 
1852  berief  ihn  Maximilian  II  nach  München,  wo  Geibel  der  dichterischen 
Tafelrunde  des  Koenigs  vorsass  und  mit  den  jüngeren  Freunden  zusammen 
mehrere  Sammlungen  von  übersetzten  Gedichten  herausgab.-'  Seit  1867  in 
die  Heimatstadt  zurückgekehrt,  wo  er  1884  starb,  fasste  er  seine  politischen 
Dichtungen  als  'Heroldsnife'  zusammen,  1871.  Auch  als  Dramatiker  war  er 
aufgetreten.  Ein  Erstlingsdrama,  Kcenig  Roderich,  1844,  nahm  er  spajter 
nicht  in  seine  'Gesammelte  Werke'  auf  (Stuttg.  1883  u.  84,  YIII).  Die  Tra- 
gcedie  'Brünhild'  1857  versucht,  nicht  eben  glücklich,  die  nordische  und  die 
deutsche  Sagenform  zu  verschmelzen  und  in  classischer  Ausdrucksweise  wieder- 
zugeben. Eine  a?hnliche  Schilderung  weiblicher  Leidenschaft  gibt  'Sopho- 
nisbe'  1869.  Mit  dem  anmutigen  Sprichwort  'Echtes  Gold  wird  klar  im 
Feuer  1882  führte  Geibel  die  franzoesische  Gattung  der  praverhes  auf  die 
deutsche  Bühne. 

Geibel  erwies  sich  auch  einem  politischen  Dichter  freundlich,  welcher 
gegen  das  'EUenkrpemertum',  gegen  die  'ewigen  Neinsager  die  Romantik  des 
Adels  verfocht,  dabei  jedoch  sich  gegen  die  Russen  erklärte  und  die  clericale 
Partei  bekämpfte.  Moritz  K.  W.  Graf  von  Strachwitz,  zu  Peterwitz  bei 
Frankenstein  1822' geboren,  starb  bereits  1847  auf  einer  Reise  zu  Wien. 
Seine  'Lieder  eines  Erwachenden'  erschienen  1842,  von  Herweghs  Kampflust 
zur  Entgegnung  angeregt.-^ 

In  noch  hceherem  Grade  durfte  Oskar  von  Redwitz  als  Lyriker  der 
Reaction  gelten.  Geboren  1823  zu  Lichtenau  in  Mittelfranken,  gab  er  seine 
juristische  Laufbahn   auf,  als   seine  'Amaranth",   Mainz  1849  uo.  glänzenden 

büchern,  Berlin  1887.  24)  'Klassisches  Liederbuch",  Berlin  1875.  25)  Volkslieder 

und  Romanzen  der  Spanier.   Berlin  1843.  26)  Zwölf  Sonette,    Lübeck  1846:    Junius- 

lieder,  Stuttgart  1848.  27)  Spanisches  Liederbuch,  mit  Heyse  zusammen.  1858,  Roman- 

zero  der  Spanier  und  Portugiesen,  mit  Freiherrn  von  Schack,  Stuttgart  1860,  Fünf  Bücher 
franzoesischer  Lyrik,  mit  Leuthold,  ebd.  1862.  Eigene  Dichtungen  der  Freunde  vereinigte 
'Ein  Münchner  Dichterbuch',  hg.  von  E.  Geibel,  ebd.  1862.         28)  Gedichte  von  Strachwitz, 


§  178  STRACHWITZ.     RED  WITZ.     SCHERENBERG.  663 

Erfolg  gehabt  hatte.  Und  doch  hatte  er  nur  die  Ausdrucksvvcisen  und  Lied- 
formen von  Herwegh,  Kinkel  u.  a.  zum  Preise  eines  frommen  Ritters  ange- 
wendet, und  diesem  auch  die  Yerstossung  einer  Braut  wegen  ihres  Unglau- 
bens zum  Verdienst  angerechnet.  Ein  Yersuch,  Redwitz  als  Professor  der 
Aesthetik  und  Litteraturgeschichte  in  Wien  zu  beschäftigen,  missglückte. 
Nach  Bayern  zurückgekehrt,  trat  er  jedoch  in  der  Kammer  der  liberalen 
Partei  bei  und  dichtete  1871  'Das  Lied  vom  neuen  deutschen  Reich',  eine 
lange  Reihe  von  Sonetten.  Er  starb  1891  in  Meran.  Auch  für  die  Bühne 
war  er  thsetig  und  hat  mit  'Siglinde'  1853,  Thomas  Morus'  1856,  Thihppine 
Welser'  1859,  'Der  Zunftmeister  von  Nürnberg'  1860,  'Der  Doge  von  Venedig' 
1863  viel  Beifall  gefunden,  da  seine  Stücke  ebenso  bühnengerecht  als  rühr- 
selig waren.  Sein  Roman  'Hermann  Stark,  deutsches  Leben'  erschien  Stutt- 
gart 1869,  m. 

Wie  Redwitz,  wurde  auch  Christian  Friedrich  Scherenberg  ^^  wegen 
seiner  conservativen  Richtung  begünstigt.  Geboren  1798  zu  Stettin,  lebte  er 
als  Schauspieler  und  Secretser,  seit  1838  aber  ganz  als  Schriftsteller  in  dürf- 
tigen Verhältnissen,  bis  er  1845  durch  seine  Schlachtgemselde  in  freien 
Versen,  die  er  nach  Freiligraths  Weise  mit  Fremdwörtern  aufgeputzt  hatte, 
berühmt  und  vom  Plofe  unterstützt  wurde:  'Ligny',  'Waterloo'  1849,  'Leuthen' 
1852,  'Abukir'  1856,  'Hohenfriedberg',  Berhn  1869.  Er  starb  1881  zu 
Berlin.^» 

§  178. 

Das  Drama  versuchte  in  den  neechsten  Jahrzehnten  nach  1830  eben- 
falls neue  Bahnen  zu  beschreiten  und  nicht  nur,  -wie  die  dem  jungen  Deutsch- 
land angehoerigen  Dichter  es  thaten,  im  Anschluss  an  die  franzoesische  Bühne, 
also  mit  besonderer  Pflege  des  kunstvollen  Aufbaus,  der  lebhaften  Unter- 
redung. Andere  Dramatiker  wollten  durch  das  Ungeheure,  durch  das  Vor- 
führen der  stärksten  Leidenschaften  und  ihrer  wildesten  Äusserungen  den 
tragischen  Eindruck  hervorbringen,  zugleich  aber  durch  die  engste  Berührung 
mit  der  Wirklichkeit  diesen  Eindruck  verstärken.^  Der  erste  Dichter  dieser 
Richtung,  der  Krafttragoedie  war  Christian  Dietrich  Grabbe.^    Geboren 

Gresamtansgabe ,    Breslau    1850.  29)  Th.  Fontaue,    Scherenberg    und    das    litterarische 

Berlin,  Berlin  1885.  30)  Hier  erschienen  auch  seine  'Gedichte',   4.  Aufl.  1869. 

§  178.  1)  Dass  sie  damit  zum  Teil  nur  die  Absichten  und  Ansichten  der  Sturm-  und 
Drangzeit  erneuerten,  scheinen  die  Dichter  der  Krafttragoedie  kaum  gewusst  zu  haben. 
S.  Friedmauu ,  11  äramma  tedesco  del  nostro  secolo ,  II.  /  Psicologi,  Miiano  1893. 
2)  rirabbes  Leben    von    Ed.  DulltM-    vor  der  'Hermannsschlacht',    Düsseldorf  1838.     Dullers 


664  NEUnOCTTDEUTSCIIE  ZEIT.        XIX  JATIRII.  §  178 

zu  Detmold  1801  als  Sohn  des  Zuchthausverwalters,  war  Orabbe  iu  Berlin  mit 
Heine  belreundet  und  wie  dieser  oin  Bewunderer  Byrons.  Auch  mit  Ticck 
knüpfte  er  Verbindungen  an.  1827  wurde  er  Auditeur  des  lippischen  Militier- 
contingents,  verliess  aber  1834  Amt  und  Frau  und  Heimat.  Vergeblich 
suchte  Imraermann  in  Düsseldorf  den  Trunksüchtigen  zu  einer  verständigen 
Lebensweise  zurückzuführen.  1836  kehrte  er  nach  Detmold  nur  zurück  um 
hier  zu  sterben.  Von  seinen  'Dramatisclien  Dichtungen',  Frankfurt  1827,  war 
'Herzog  Theodor  von  Gothland'  eine  grteuelvolle,  überlange  Tragoedie,  in  wel- 
cher wie  in  Shakespeares  Titus  Andronicus  ein  furchtbarer  Boesewicht,  ein 
Mohr,  der  Haupttrseger  der  Handlung  ist.  Seltsamer  Weise  schrieb  Grabbe 
gleichzeitig  über  'Shakespearomanie'.  Sein  Lustspiel  'Scherz,  Satire,  Ironie 
und  tiefere  Bedeutung',  worin  der  Teufel  eine  komische  Figur  spielt,  sucht 
in  Tiecks  Weise,  aber  ganz  barock,  die  gleichzeitige  Litteratur  zu  verhcehnen. 
1829  folgte  'Don  Juan  und  Faust',  das  einzige  allenfalls  aufFührbare  Stück.  In 
den  unvollendeten  Ra^merdramen  'Marius  und  Sulla'  und  'Hannibal'  ahmt 
Grabbe  wiederum  Shakespeare  nach  und  drängt  hier  wie  in  den  Hohen- 
staufendramen  Friedrich  Barbarossa  (1829)  und  Kaiser  Heinrich  VI  (1830) 
die  Handlung  im  Übermass  zusammen.  In  der  'Hermannsschlacht'  stellt  er 
die  Cheruskerfürsten  als  westfselische  Bauern  dar.  Alles  Mass  überschreitet 
'Napoleon  oder  die  hundert  Tage'  1831:  das  Stück  schliesst  mit  der  Vor- 
führung der  Schlacht  bei  Waterloo.  Aber  als  Buchdrama  betrachtet,  ver- 
dient es  wegen  der  übersichtlichen  Zusammenfassung  des  gewaltigen  Stoffs 
und  der  treffenden  Characterisierung  der  überaus  zahlreichen  Beteiligten, 
unter  denen  auch  Napoleon  würdig  aufgefasst  ist,  durchaus  Anerkennung; 
ja  selbst  ein  gewisser  prophetischer  Blick  ^    ist   allerdings  bewundernswert. 

Noch  entschiedener  suchte  Georg  Bücuner*  die  historische  Treue  zu 
wahren,  dessen  Drama  'Dantons  Tod'  1835  von  Gutzkow  veröffentlicht  wurde. 
Der  junge  Dichter,  1813  zu  Goddelau  bei  Darmstadt  geboren,  hatte  in  Strass- 

vou  Grabbes  Witwe  beeinflusste  Darstellung  wird  mehrfach  berichtigt  durch  K.  Ziegler, 
Grabbes  Leben  und  Character,  Hamburg  1855.  0.  Blumenthal,  Xachtrajge  zur  Kenntnis 
Grabbes,  Berlin  1875;  von  dems.  eine  kritische  Ausgabe  der  Werke  Grabbes,  Detmold 
(Berlin)  1874,  IV;  besser  als  die  Sämtl.  AVerke,  hg.  von  Gottschall,  Leipzig  1870,  II. 
3)  Grabbe  lässt  einen  napoleonischen  Veteranen,  als  ihn  der  Herzog  von  Orleans  aus  den 
Händen  der  Polizei  befreit  und  das  Volk  jubelt  'Hoch  Orleans,  dereinst  Koenig!'  die  stille 
Bemerkung  machen  'Würde  auch  endlich  weggejagt,  wenn  er  je  Koenig  werden  sollte!'  Das 
schrieb  er  1831!  4)  Sämtliche  Werke    und    handschriftlicher   Nachlass,    hg.  v.  K.  E. 

Franzos,  Frankfurt  a.  M.  187y.  S.  347  sagt  Büchner:  'ich  betrachte  mein  Drama  wie 
ein  Gemälde,    das    seinem  Original    gleichen    muss';    354   'der    dramatische  Dichter    ist  in 


§  178  KRAFTTRAG(EDIE.  665 

bürg  Medicin  studiert,  war  1835,  als  seine  Teilnahme  an  einem  socialistischen 
Geheimbunde  entdeckt  wurde,  nach  Zürich  geflohen,  wo  er  1837  starb.  In 
rascher  Scenenfolge  stellte  er  die  Menschen  der  Schreckenszeit  dar,  wie  sie 
waren,  blutig,  liederhch,  energisch,  cynisch,  und  der  Leser  fühlt  sich  zugleich 
empoert  und  gefesselt.  Nach  einer  andern  Seite  hin  vertieft  sich  Büchner 
in  die  trübsten  Bilder,  in  dem  Novellenfragment  'Lenz',  durch  welches  Oberlins 
Bericht^  über  die  Wahnsinnsanfälle  des  unglücklichen  Dichters  zuerst  bekannt 
wurde. 

Ein  dritter  Dichter  schien  endlich  die  ergreifenden  Bilder  der  fran- 
zoesischen  Revolution  wirklich  der  Bühne  zuzuführen,  W.  Robert  Griepen- 
KERL,®  dessen  Leben  ebenso  wie  das  Grabbes  nach  einer  Zeit  der  Hoffnuntr 
vorzeitig  zu  Grunde  ging.  Geboren  1810  in  Hofwyl  bei  Bern,  war  er  in  Braun- 
schweig aufgew^achsen  und  gab  seine  dortige  Schulstelle  1846  auf,  als  seine 
Schriften  Beifall  fanden.  Vorlesungen  seiner  Dramen  verschafften  ihm  Beifall 
in. vielen  Städten  Deutschlands.  Aber  vergebens  hoffte  er  auf  dauernde  Unter- 
stützung dmxh  dieHoefe:  sein  eigner  Herzog  that  nicht  das  Geringste  für  ihn. 
Er  starb  1868  im  Elend.  Ursprünglich  mit  griechischen  und  Musikstudien  be- 
schäftigt, schlug  er  als  Dichter  eine  ganz  andere  Richtung  ein.  Seine  drama- 
tischen Absichten  begründete  er  durch  seine  Schrift  'Der  Kunstgenius  der 
deutschen  Litteratur  des  letzten  Jahrhunderts'''  1846  :  über  Goethe  und  Schiller 
hinaus  sollte  ihn  Shakespeare  führen.  Wie  dieser  verband  er  mit  der  Prosa 
Jamben,  welche  der  Begeisterung  zum  Ausdruck  dienten.  Griepenkerls  'Robes- 
pierre' erschien  zu  Bremen  1849;  er  stellte  darin  auch  den  von  Büchner 
behandelten  Sturz  Dantons  dar,  durch  welchen  bei  ihm  Robespierre  sich  die 
tragische  Verschuldung  zuzieht.  Spseter  griff  Griepenkerl  noch  weiter  zurück 
in  der  Revolutionsgeschichte  und  legte  für  'Die  Girondisten'  1852  die  an  sich 
schon  dichterisch  ausgeschmückte  Darstellung  Lamartines  zu  Grunde.  1861 
Hess  er  'Auf  Sanct  Helena'  folgen.  Daneben  behandelte  er  Conflicte  in  den 
Hof-  und  Adelskreisen:  'Ideal  und  Welt',  Weimar  1855,  und  'Anna  Walseck' 
1857,  in  diesem  Stücke  mit  Hereinziehung  der  Zeitphilosophie. 

Die  Krafttragoedie,  welche  in  der  Geschichte  nur  wenige  Zeitabschnitte 
für  ihre  Zwecke  geeignet  fand,  führte  Christian  Friedrich  Hebbel^  in  die 

meinen  Augen    nichts    als    ein    Geschiehtsschreiber'.  5)    S.  Stoebers    Buch   §  159,    28. 

(j)  0.  Sievers,  R.  Griepenkerl  der  Dichter  des  Robespierre,  Wolfenbüttel  1879.  7)  Leipzig, 

I  (und  einziger)  Band.  8)  Hebbels  Werke,    hg.  v.  E.  Kuh,  Hamburg  1865.  68,  XII; 

Hebbels  Tagebücher,  hg.  v.  F.  Bamberg,  Berlin  1885.  87,  II.     Hebbels  Briefwechsel,  hg.  v. 
F.  Bamberg,  Berlin  1890.  92,  II.     E.  Kuh,  Biographie  Hebbels,  Wien  1877,  II.     E.  Kulka, 


666  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.        XIX  JAHRH.  §  178 

sa^enhafce  Vorzeit  und  in  Jas  Leben  der  unteren  Stände,  wo  die  Leiden- 
schaft sich  ungeliindcrt  entflammen  und  verderbend  um  sich  greifen  konnte. 
Mit  dem  letzteren  Gegenstand  griff  er  auf  das  bürgerliche  Trauerspiel  zurück, 
welches  die  Stürmer  und  Dränger  neben  dem  Ritterschauspiel  gepflogt  hatten. 
Aber  Hebbel  zeigte  zugleich  eine  unerbittliche  Wahrheitsliebe  und  eine  Folge- 
richtiirkeit,  welche  an  II.  v.  Kleist  erinnerte,  aber  auch,  da  ihm  dessen  Sinn 
für  das  stille  Glück,  für  die  Seligkeit  der  Liebe  fehlte,  ihm  nur  zu  düsteren, 
unerfreulichen  Rildern  Aulass  gab.  Sein  Pessimismus  traf  mit  dem  Schopen- 
hauers zusammen  und  für  beide  Schriftsteller  war  die  Zeit  nach  1850  be- 
sonders empfänglich.  Geboren  zu  Wesselburcn  in  Nordditmarschen  1813  als 
Sohn  eines  Maurers,  verlebte  Hebbel  eine  'Hölle  in  der  Jugend'.  1835  fand 
er  in  Hamburg  Gönner  und  studierte  in  Heidelberg  und  München.  Durch 
seine  Judith,  welche  1840  zur  Aufführung  kam,^  rasch  berühmt  geworden, 
erhielt  er  1842  durch  Oehlenschlagers  Vermittelung  ein  dssnisches  Stipen- 
dium, mit  welchem  er  nach  Paris  und  Italien  reiste.  1845  nach  Wien  ge- 
langt, heiratete  er  dort  die  Schauspielerin  Christine  Enghaus  und  blieb  seit- 
dem in  Wien  bis  zu  seinem  Tode  1863.  Sein  eigenes  Selbstgefühl  hatte  er 
in  der  Judith  dem  furchtlosen,  aber  auch  ruchlosen  Holofernes  verliehen, 
den  Judith  wohl  bewundern,  aber  auch  morden  muss.  Eine  sehnliche  Über- 
spannung zeigt  in  der  Genoveva,  Hamburg  1843,  der  leidenschaftUche  Golo, 
dem  die  Heldin  allzu  engelhaft  gegenüber  steht.  Wieder  ein  Problem  der 
sinnlichen  Liebe  behandelt  Maria  Magdalena,  Hamburg  1844,  worin  die  Ge- 
mütsverhärtung kleinbürgerlicher  Kreise  ergreifend,  aber  auch  niederdrückend 
zur  Erscheinung  kommt.  Dasselbe  Problem  verlegt  'Julia',  Leipzig  1850, 
in  die  hoehere  Gesellschaft,  aber  ohne  die  genaue  Kenntnis  ihrer  Formen. 
Wiederum  in  die  jüdische  Geschichte,  aber  in  ihre  grseuelvoUe  Spsetzeit  greift 
'Herodes  und  Mariamne',  Wien  1849,  in  die  herodoteische  Überlieferung 
'Gyges  und  sein  Ring'  1856:  in  beiden  schleegt  verletzte  Frauenliebe  in  Hass 
um.  In  'Agnes  Bernauer'  1855  ^^^  lässt  sich  deren  Gemahl  von  der  Rache  an 
dem  Vater,  der  ihm  die  geliebte  Gattin  hingerichtet  hat,  zuletzt  durch  die 
Pflicht  gegen  den  Staat  abbringen.  Am  meisten  aber  fanden  Hebbels  'Nibe- 
lungen'" (1863)  Beifall,  eine  allerdings  grossartige  Vertiefung  der  Charactere 
des  Heldenliedes,  die  sich  nur  allzu  grossprahlerisch  aussprechen,   aber  nicht 


Erinnernngen  an  F.  Hebbel,    Wien  1878.     L.  A.  Frankl,    Zur   Biographie    Hebbels,    Wien 
Pest  Leipzig  1884.  9)  Gedruckt   wurde   sie  Hamburg    1841.  10)  Hebbel    nannte 

die  Heldin  'die  moderne  Antigone':  Briefe  S.  18.  11)  Trauerspiel  in  drei  Abteilungen. 


§  178         HEBBEL.  MOSENTHAL.  HALM.  667 

glücklich  in  der  Vorführung  aller  Hauptscenen  des  Epos  auf  der  Bühne, 
welche  doch  niemals  die  übermenschlichen  Gebilde  der  Sage  sichtbar 
darstellen  kann.  Noch  weniger  gelang  es  Hebbel  mit  der  Komcedie :  'Der 
Diamant'  1847,  'Der  Rubin'  1850.  Letzteres  Stück  soll  die  tiefsinnige  Lehre 
verkörpern,  dass  die  irdischen  Güter  nur  den  beglücken,  der  sie  sogleich  weg- 
zuwerfen bereit  ist.  Als  erzsehlender  Dichter  hseuft  Hebbel  in  seinen  Novellen 
1855  bald  grausige  bald  verächtliche  Züge.  Dagegen  lässt  er  das  reinmensch- 
liche Gefühl  über  den  Unterschied  der  Stände  glücklich  den  Sieg  davon 
tragen  in  der  epischen  Dichtung  'Mutter  und  Kind',  Hamburg  1859. 

Wenn  Hebbel,  ein  Sohn  des  Volks,  dessen  Gefühle  treflfend  auszu- 
sprechen vermochte,  so  war  auch  Salomon  Hermann  Mosenthal*^  mit 
grossem  Geschick  für  das  Melodramatische  bemüht  das  Volksleben  auf  die 
Bühne  zu  bringen.  Geboren  1821  zu  Kassel,  kam  er  1842  nach  Wien  und  starb 
hier  als  Beamter  1877.  Er  schilderte  in  seinem  Volksstück  'Deborah',  Pest 
1850,  das  Schicksal  einer  aus  Ungarn  vertriebenen  Jüdin,  welche  von  ihrem 
Geliebten,  einem  Bauernsohn,  getrennt  wird,  ihm  aber  zuletzt  seine  Untreue 
verzeiht.  Der  ursprüngliche  Plan  eines  befreundeten  Dichters,  welchen  Mosen- 
thal  ausführte,  stellte  ein  Zigeunerma^dchen  als  Heldin  auf  und  Grillparzer 
machte  Mosenthal  die  Einführung  der  Tendenz  zum  Vorwurf;  '^  doch  sind 
aus  dieser  gewiss  die  Herzenstoene  geflossen,  durch  welche  das  Stück  so  er- 
greifend wurde.  Auch  ohne  solche  Nebengedanken  wusste  er  mit  den  Volks- 
stücken 'Der  Sonnwendhof '  1854,  'Der  Schulz  von  Altenbüren'  1867  ebenso 
zu  rühren,  wie  vor  ihm  Auerbach  mit  seinen  Dorfgeschichten.  Weiche 
Empfindung  durchdringt  auch  die  historischen  Tragoedien  Mosenthals  'Caecilie 
von  S.  Albano'  1850,  'Pietra'  1865  ua. 

Völlig  im  Gegensatz  zu  Hebbels  Krafttragoedie  stand  ein  älterer  Wiener 
Dichter,  welcher  an  Grillparzer  sich  anlehnend  seine  kunstgemsesse  Auffassung 
der  dramatischen  Aufgabe  sowohl  durch  feine  Ausführung  besonders  der 
Frauencharactere  als  durch  Sorgfalt  der  Sprache  und  der  Versbildung  be- 
zeugte. Friedrich  Halm,**  so  nannte  sich  als  Dichter  Eligius  Franz  Joseph 
von  Müuch-Bellinghausen;  zu  Krakau  1806  geboren,  starb  er  als  Vorstand 
der  Hofbibliothek  und  der  Hoftheater  zu  Wien  1871.  Freilich  wie  Hebbel 
stellte  er  sich  etwas  gesuchte,  gew^agte  Probleme.  Seine  'Griseldis',  1835  auf- 
geführt,   verlegt    die  Geduldprobe  der  Gattin  an  den  Hof  des  Koenigs  Artus, 


Hamburg.  12)  Lebensbild  vou  J.  Weilen  in  den  Gesammelten  Werken,  Stuttgart  und 

Leipzig  1878,  VI.  13)  Mosenthal,  Ges.  W.  1,  280.  14)  Dramatische  Werke,  Wien 

Wackernagel,  Litter.  Geschichte  II.  44 


668  NEUIIOriTDET'TSrHE   ZEIT.         XIX  JATIRIT.  §  178 

verleiht  ihr  aber  einen  tragischen  Ausgang,  indem  die  Entdeckung  des  mit 
ihr  getriebenen  Spiels  die  Liebe  auf  einmal  und  für  immer  erlöschen  lässt. 
Der  Sohn  der  Wildnis'  1842  zeigt  den  Sieg  der  Liebenswürdigkeit  über  rohe 
Kraft,  freiüch  mit  allzu  weichem  Gefühlsausdruck.  'Verbot  und  Befehl'  ist 
eine  vortretHiche  Intrigucnkomcedie.  'Der  Fechter  von  Ravcnna'  18.j4  stellt 
die  begeisterte  Thusnelda  ihrem  unwürdigen  Sohne  gegenüber.  'Wildfeuer' 
1863  bringt  den  etwas  bedenklichen  Versuch  auf  die  Bühne,  eine  Prin- 
zessin als  Prinz  zu  erzichn  bis  sie  ihr  Geschlecht  entdeckt,  'ßegum  Somru' 
1863  entwickelt  nach  einer  französischen  Novelle  die  Liebestragoedie  einer 
indischen  Fürstin,  deren  Land  englischer  Herrschsucht  zufällt. 

Noch  mehr  dringt  lyrische  Weichheit  in  die  historische  Tragoedie,  wne 
Julius  Mosen'^  sie  behandelte.  Seiner  Heimat  nach  war  er  ein  Nachbar 
Jean  Pauls,  und  ihm  auch  innerlich  verwandt.  1803  zu  Marienei  im  säch- 
sischen Voigtlando  geboren,  ward  er  zuerst  Advokat  in  Dresden,  1844  Dra- 
maturg in  Oldenburg,  doch  schon  seit  1846  bis  zu  seinem  Tode  1867  durcli 
ein  Rückenmarksleiden  geltehmt.  Viele  Dichtungen  Mosens  sind  Nachklänge 
einer  Reise  durch  Italien  1823 — 26:  so  sein  allegorisches  Gedicht  vom  Ritter 
Wahn,  das  den  Kampf  zwischen  sensualistischer  Philosophie  und  Glauben 
darstellt.  Mosens  Lieder  auf  die  vertriebenen  Polen  ^*^  wurden  volkstümlich. 
Sein  Roman  'Der  Congress  von  Verona'  1842  schildert  die  Stimmung  der 
zwanziger  Jahre  vortretHich.  Unter  den  Theaterstücken  1842  zeigten  Cola 
Rienzi,  Otto  III  ua.  zugleich  Feinheit  der  Seelenmalerei,  wie  gute  Berech- 
nung der  scenischen  Wirkung;  am  besten  gelang  es  ihm  in  'Herzog  Bernhard 
von  Weimar  1855  den  Untergang  nationalen  Strebens  mit  einer  Liebes- 
intrigue  zu  verknüpfen. 

Tiefer  jedoch  erfasste  Otto  Ludwig  die  Aufgabe,  die  Tragoedie  zugleich 
poetisch  und  bühnengerecht  zu  gestalten;  noch  mehr  als  Hebbel  mühte  er 
sich  mit  Selbstkritik  ab,  so  dass  er  u.  A.  seinen  Plan  für  eine  Agnes  Ber- 
nauer siebenmal  umarbeitete,  und  doch  nicht  ausführte.*'  Ludwig,  1813  zu 
Eisfeld  a.  d.  W^erra  geboren,  ging  1839  nach  Leipzig,  um  bei  Mendelssohn 
sich  als  Musiker  auszubilden,    und    starb  nach  langem  Siechtum  zu   Dresden 

1837—57,  VII;  Werke,  Wien  1856—72,    XII.  15)    Seine    anmutigen    Erinnerungen 

ans  der  Jugendzeit  sind  den  Sämtlichen  Werken,  Oldenburg  1863,  VIII  (M880,  VI)  bei- 
gegeben. Fortgeführt  von  M.  Zschommler,  mit  Vorwort  von  R.  Mosen,  Plaueu  1893. 
16)    'Die    letzten   Zehn    vom    vierten  Regiment'    ua.  17)    Ludwigs    Xachlassschriften 

(,1  Skizzen  und  Fragmeute,  II  Shakespearestudien)  sind  von  M.  Heydrich,  Leipzig  1874, 
11,   hgg.  worden.     Seine    Dramatischeu    Werke    waren    Lpz.   1853,    II    erschieuen.      Seine 


§  178  MOSEN.     LUDWIG.     LUSTSPIELDICHTER.  669 

1865.  Ludwigs  'Erbförster'  wurde  1850  aufgeführt,  eine  ausgezeichnete 
Characterstudie,  welche  erklajrt,  wie  der  ehrenfeste  Alte  aus  eigensinnigem 
Ehrgefühl  zum  Mörder  wird.  Auch  seine  'Makkabseer'  1854  erheben  sich 
auf  die  Hoehe  des  Pathos,  ohne  jedoch  wie  es  bei  Hebbel  geschieht,  zu  über- 
treiben. Ludwigs  Novellen  zeichnen  das  Yolksgefühl  seiner  Heimat  in 
treffenden  Bildern:  'Die  Heitherethei  und  ihr  Widerspiel'  1854,  'Zwischen 
Himmel  und  Erde'  1855,  dies  der  tragisch  endende  Zwist  einer  Dacbdecker- 
familie. 

Doch  waßhrend  dieser  und  andere  Dichter  sich  so  mit  ganzer  Seele  um 
die  Wiederbelebung  der  Tragcßdie  bemühten,  drang  auf  den  Bühnen  selbst 
die  geschickte  Mache  vor,  welche  immer  Neues,  immer  den  wechselnden 
Wünschen  der  Zuschauer  Entsprechendes  zu  liefern  verstand.  Die  Theater 
der  vierziger  Jahre  beherrschte  Charlotte  Birch  geb.  Pfeifer.  Eine  ge- 
borene Stuttgarterin  trat  sie  mit  dreizehn  Jahren  1813  als  Schauspielerin  auf 
und  lebte  von  1844  bis  zu  ihrem  Tode  1868  in  Berlin.*®  Kaum  ein  beliebter 
Erzsehler  war  in  dieser  Zeit,  dessen  Werke  sie  nicht  mit  grossem  Geschick, 
aber  mit  oberflächlicher,  auf  Rührung  berechneter  Motivierung  dramatisiert 
hätte.  Schon  1828  Hess  sie  'Herma'  nach  Yan  der  Velde  aufführen,  spseter 
'Das  PfefferrcBseF,  'Dorf  und  Stadt'  nach  Auerbach,*^  'Die  Waise  von  Lowood' 
nach  Wilkie-Collins,  'Die  Grille'  nach  Georges  Sand  usw. 

Im  Lustspiel  stellte  sich  ihr  bald  eine  Dame  aus  den  hoechsten  Kreisen 
zur  Seite,  die  Prinzessin  Amalie  von  Sachsen,  welche  unter  dem  Namen 
A.  Heiter  schrieb. ^^^  Geboren  zu  Dresden  1794,  starb  sie  unvermsehlt  1870. 
1834  hatte  sie  'Lüge  und  Wahrheit'  auf  die  Bühne  gebracht,  1836  ihr  bestes 
Stück  'Die  Pürstenbraut'.  Ihr  Sinn  für  komische  Verwickelungen  ist  unver- 
kennbar, wenn  auch  manche  Unwahrscheinlichkeit  in  den  Kauf  zu  nehmen 
ist,  und  dass  die  Prinzessin  ihre  Kenntnis  der  Bürgerwelt  überhaupt  nur  aus 
zweiter  Hand  erlangt  hatte,  ist  früh  bemerkt  worden. 

Der  eigentliche  Lustspieldichter  des  deutschen  Bürgertums  ward  der 
Leipziger  Roderich  Jul.  Benedix,^*  geboren  1811,  gestorben  1873,  nachdem 
er  als  Schauspieler  und  Schauspieldirector  auch  in  Köln  und  Frankfurt  thaetig 
gewesen  war.     Er   begann   damit   das   eigentümlichste    Stück    des   deutschen 

gesaniBielteu  Werke  erscliieuen  zu  Berlin  (1870),  V  und  wieder  1891.  18)    Ihi'e  ge- 

sammelten   Werke    erschienen    Leipzig    1863 — 70,    XIII.      Geoamraelte    Erzseblungen,    ebd. 
1863,  III.  19)  Er  bestritt  ihr  das  Recht  sein  Werk  zu  benutzen  durch  einen  Process. 

20)  Ihre    Werke    hat    R.    Waldmüller    (E.    Duboc)     Leipzig    1873,    VI    herausgegeben. 

21)  Gesammelte  Werke,  Leipzig  1846—72,  XXVII.     'Der  mündliche  Vortrag    n877.     Eine 


670  NEUliOCHDEUTÖCHE  ZEIT.        XIX  JAIIUil.  i<  170 

Lebens  zu  scliildern,  die  Studcnteiiwelt.  'Das  bemooste  llaupf  erschien  1841, 
später  'Die  relegierten  Studenten'.  Auch  sonst  sucht  Benedix  nach  den  Ori- 
ginalen, wie  sie  in  Deutschland  vorkommen,  und  weiss  sie  dann  lustig  herum- 
zutreiben. 'Die  Hochzeitsreise"  stellt  den  pedantischen  Pliilologen  dar,  der 
zum  guten  Gatten  uiiigeschatfen  wird.  Der  Stocrenfried'  die  boese  Schwieger- 
mutter, 'Die  zgertlichen  Verwandten'  eine  ganze  Sammlung  von  verschieden- 
gearteten Familienglicdcrn.  Nach  1870  unternahm  es  Benedix,  auch  der 
patriotischen  Erhebung  gerecht  zu  werden:  'Des  Laudwchrmanns  Christ- 
test' ua. 

Neben  der  deutschen  Lustspielvvelt  hatte  sich  früh  die  oesterreichische 
besonders  ausgebildet,  z.  T.  mit  Anlehnung  an  das  franzoesische  Muster. 
Ediauü  von  Bauhrnkeld^'^  war  1802  zu  Wien  geboren  und  starb  ebenda 
1890.  Als  liberaler  Beamter  hatte  er  es  doch  verstanden  auch  die  Hofgunst 
sich  zu  bewahren  und  trat  wie  A.  Grün  1848  nach  beiden  Seiten  hin  msessigeud 
auf.  Noch  fruchtbarer  als  Benedix,  hat  er  über  hundert  Theaterstücke  ge- 
dichtet. Sein  'LiebesprotocoU'-^  wurde  1831  aufgeführt;  'Bürgerlich  und  ro- 
mantisch' richtete  sich  gegen  Saphir,  den  Grillparzer  aus  dem  Kreise  der 
Wiener  Schriftsteller  fern  hielt;  'Grossjährig'  war  noch  unter  Metternich  ein 
Protest  gegen  die  staatliche  Bevormundung;  'Ein  deutscher  Krieger'  1844 
zeichnete  das  Bild  des  biederen  Othziers;  'Aus  der  Gesellschaft'  1867  Hess 
den  Helden  die  Schranken  der  vornehmen  Welt  durchbrechen.  Überall  ist 
der  Dialog  lebendig,  die  Handlung  aber  gering;  die  boese  Ironie  Bauernfelds 
trat  mehr  in  den  Epigrammen  hervor,  in  die  er,  Hagestolz  geblieben  wie 
Grillparzer,  seinen  Unmut  über  die  ihn  umgebenden  Zustände  niederlegte. 

§  179. 

Auf  dem  Gebiete  der  Prosaerzaehlung  setzte  sich  nach  Goethes  Tod 
zunaechst  die  Einwirkung  eines  fremden  Romandichters  fort,  welchem  Goethe 
selbst  schon  hohe  Anerkennung  gezollt  hatte,  W.  Scotts  historischer  Roman 
war  in  Deutschland  früh  nachgeahmt  worden.'  Die  Erstlingsschriften  von 
Willibald  Alkxis-  erschienen  sogar  als  Werke  Scotts:  'Walladmor'  1823 
und  'Schloss  Avalen'  1827.     Diesen  Schriftstellernameu  gebrauchte  Wilhelm 


Autobiographie  in  der  'Garteulaube*  1871.  22)  B.  Stern,  E.  v.  Baiiernfeld,  ein  üichter- 

portiiet  nach  pei-scrnlichen  Eriuucruucren,  Leipzig  (1890).  Bauerufelds  '(Tesamnielte  Schriften' 
erschienen  Wien  1.S71 — 73,  XII;  Bauernteids  Dramatischer  Nachlass'  hg.  v.  F.  v.  Saar, 
Stuttg.  1893.  23)  Hier  ist  1,  6  eine  Reniiuiscenz  aus  Arnohls  Pfingstmontag  4,  2. 

§    171).      1)  \V.  Häuft,  Lichteustein  1826  (§172,  nach  Anm.  37).  2)  Gesammelte  Werke, 


§  179  HISTOmSCHER  ROMAN.  671 

llaering,  welcher  1798  in  Breslau  geboren,  in  Berlin  bis  1852  lebte  und  1871 
auf  seinem  Landgut  bei  Arnstadt  starb.  Seit  1832  wandte  er  sich  der  Schil- 
derung der  Mark  Brandenburg  und  ihrer  Geschichte  unter  den  Hohenzollern 
zu;  er  wusste  Land  und  Leute  vortrefflich  zu  characterisieren  und  zugleich 
durch  den  Hinweis  auf  das  Ziel  ihrer  geschichtlichen  Entwickeluug  der 
scheinbar  so  poesielosen  Provinz  einen  eigenen  Reiz  zu  verleihen.  Zur  Yor- 
geschichte  der  Hohenzollernzeit  gehoert  'Der  falsche  Waldemar'  1842;  'Der 
Roland  von  Berlin'  1840  behandelt  den  Kampf  des  ersten  Kurfürsten  mit 
den  märkischen  Städten,  'Die  Hosen  des  Herrn  von  Bredow'  1846  die  Be- 
siegung des  unbotmfessigen  Adels  ;  'Der  Wärwolf'  1848  schildert  die  Refor- 
mation, 'Dorothea'  1856  die  Zeit  des  grossen  Kurfürsten,  'Cabanis'  1832  die 
Jugendgeschichte  Friedrichs  des  Grossen,  'Ruhe  ist  die  erste  Bürgerpflicht' 
1852  und  'Isegrim'  1854  die  Katastrophe  von  Jena  und  die  Freiheitskriege. 
Seine  juristischen  Studien  verwertete  Alexis  als  Erzsehler,  indem  er  mit 
Hitzig  zusammen  seit  1842  den  'Neuen  PitavaF,  eine  Sammlung  von  Ver- 
brechergeschichten herausgab.  Ebenso  wie  Alexis  richtet  sich  Heinrich 
KoENiG^  in  seinen  geschichtlichen  Romanen  gegen  die  Adelsherrschaft  und 
noch  mehr  gegen  die  Ansprüche  der  katholischen  Kirche,  der  er  selbst  an- 
gehcerte.  1790  zu  Fulda  geboren,  nahm  er  längere  Zeit  am  kurhessischen 
Verfassungsstreit  erheblichen  Anteil  und  starb  1869  zu  Wiesbaden.  Nach- 
dem er  'Die  hohe  Braut'  1833  zu  einem  Bild  der  franzoesischen  Revolutions- 
zeit gestaltet  hatte,  schilderte  er  mit  genauer  Kenntnis  etwas  spsetere  Vor- 
gänge auf  heimatlichem  Boden:  'Die  Clubbisten  von  Mainz'  1847,  'Koenig 
Jeromes  Carneval'  1855.  Die  westfselische  Provincialgeschichte  behandelte 
nur  noch  mit  mehr  Ironie  C.  B.  Levin  Schücking,*  geboren  1814  zu  Kle- 
menswert  bei  Meppen,  gestorben  zu  Pyrmont  1883,  nachdem  er  als  Redac- 
teur  für  Cottas  Zeitschriften  und  für  die  Kölnische  Zeitung  thsetig  gewesen 
war,^  'Die  Ritterbürtigen'  1846  zeichneten  den  Adel  seiner  Heimat  nicht 
eben  günstig;  'Paul  Bronckhorst'  1859  stellte  die  Besitzergreifung  des  Münster- 
landes durch  Preussen  mit  scharfem  Blick  für  die  beiderseits  begangenen 
Fehler  dar. 

Frei  von  solchen  Nebenabsichten  hielten  sich  mehrere  Verfasserinnen 
historischer  Romane:  Henriette  Paalzow  aus  Berlin  1788 — 1847,  die  mit 
'Godwie  Castle'  1836,  'Thomas  Tyrnau'  1843   vornehm   und   sanft   zu    unter- 


Berliü  1874,  XX.         3)  Autobiographiscli:  'Aus  dein  Leben',  Stuttgart  1840,  und  'Auch  eine 
Jugend',  Leipzig  1852.         4)  Lebenserinnerungen,  Breslau  1886.         5)  Vgl.  auch  §  172,  54. 


672  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XIX  JAHIUI.  §  179 

halten  suchte,  wrehreud  Amai.ia  Sciiopi'e"^  (auf  Fchmarn  geboren  1791,  gestorben 
1858  in  Newyork)  und  noch  mehr  Louise  Mühlhacii,  wie  sich  die  Gattin 
des  Schriftstellers  Mundt'  nannte,  (geboren  zu  Neubrandenburg  1814,  starb 
sie  zu  Berlin  1873)  den  historischen  Roman  durch  ebenso  massenhafte,  als 
obcrtlächlichc  Schriftstellerei  ^  frühzeitig  herabzogen.  Geradezu  eine  streng- 
conservative  Aufftissung  trug  Geor(;e  Ludwio  Hesekiel  in  seine  geschicht- 
lichen Schilderungen  'Die  Royalisten  und  die  Republicancr'  1845,  III;  Tor 
Jena'  1859,  II  ua.,  wajhrend  er  doch  die  Figuren  und  Motive  von  Alexis 
sich  zu  Nutze  machte.  Geb.  1819  zu  Halle,  starb  er  zu  Berlin  1874,  als 
Redacteur  der  Kreuzzeitung. 

Eine  Abart  des  historischen  Romans,  den  litterarhistorischen  begründete 
Hermaxx  Kurz,*-'  geboren  zu  Reutlingen  1813,  gestorben  als  Bibliothekar  zu 
Tübingen  1873,  indem  er  besonders  das  Andenken  des  grossen  schwaebischen 
Dichters  feierte:  Schillers  Heimatsjahre,  Stuttgart  1843.  Auch  'Der  Sonnen- 
wirt' 1855  steht  zu  Schiller  in  Beziehung.'" 

Neben  der  Geschichte  erhielt  auch  die  Geographie  ihren  Roman,  und 
für  diesen  bot  der  Americaner  Cooper  das  Muster,  waehrend  zugleich  die 
Lyrik  Lenaus  und  Freiligraths  die  Sehnsucht  in  die  Ferne  bestärkte.  Coopers 
ei-ster  Nachahmer  in  Deutschland  war  Carl  Postel,  der  den  Namen  Charles 
Sealsfield  angenommen  hatte.  Geboren  zu  Poppitz  bei  Znaim  in  Mähren 
hatte  er  in  den  Kreuzherrenorden  zu  Prag  eintreten  müssen,  floh  aber  1823 
nach  Nordamerica  und  starb  1859  auf  seiner  Besitzung  bei  Solothurn.  Seinen 
Roman  'Der  Legitime  und  die  Rcpublicaner,  eine  Geschichte  aus  dem  letzten 
englisch-americanischen  Kriege'  1833  hatte  er  zuerst  englisch  geschrieben; 
'Der  Virey  und  die.  Aristocraten  oder  Mexico  im  J.  1812'  folgte  1835.  Vor- 
trefflich sind  die  Landschaftsbilder,  die  Sealsfield  entwirft,  aber  auch  die  ein- 
zelnen Nationen  und  Rassen  weiss  er  in  ihren  verschiedenen  Ständen  und 
Berufen  genau  und  anziehend  zu  characterisiereu;  freilich  die  Sprachmengerei, 
die  hierzu  ebenfalls  dient,  greift  auch  in  die  Erzählung  selbst  über. 

Zum  exotischen  Roman  stellt  sich  der  Seeroman  nach  Maryatts  Bei- 
spiel, welchen  Heinrich  Smidt  einführte.     Geboren  1798  zu  Altena,  starb  er 

ö)  Sie  nahm  sich  in  Hamburg  des  jungen  Hebbel  an.  Ihre  'Erinnerungen  aus  meinem  Leben' 
erschienen  Altona  1838,  II.  7)  §  176,  14.  8)  Von  A.  Schoppe  erschien  Tycho  de  Brahe' 
1839;  L.  Mühlbach  begann  1838  mit  jungdeutschen  Emancipations-  und  Sensationsromanen 
und  stellte  dann  in  umfänglichen  Romanen  (im  ganzen  schrieb  sie  300  Bände)  Friedrich  den 
Grossen,  Joseph  II,  Napoleon  und  zuletzt  noch  Kaiser  Wilhelm  dar.  9)  §  161,  9.  Biographie 
von  Kurz  in  den  von  P.  Heyse  hgg.  'Gesammelten  Werken    1874.  75,  X.         10)  §  161,  9. 


§  179  GEOGRAPHISCHER  UND  SOCIALER  ROMAN.  673 

1867  ia  Berlin.  Mehr  als  die  zahlreichen  Erfindungen,  durch  welche  er  seine 
Erfahrungen  als  Seemann  (bis  1823)  umkleidete,  erweckt  sein  Bericht  über 
diese  selbst  Interesse:  'Mein  Seeleben'  1837.  Dagegen  erhielt  der  geographische 
Roman  Sealsfields,  den  Theodor  Mugge'^  aus  Berlin  (1806  —  1861)  durch 
Schilderungen  aus  Skandinavien,  'Afraja'  1854,  'Erik  RandaF  1856  ua.  nur 
auf  einen  neuen  Schauplatz  verlegte,  einen  neuen  Reiz  durch  den  Humor, 
mit  welchem  Friedrich  Gerstäcker  namentlich  den  Yankeewitz  wiedergab. 
Geboren  in  Hamburg  1816,  lebte  er  1837—43  in  den  Vereinigten  Staaten  in 
verschiedenartigen,  oft  abenteuerlichen  Beschcäftigungen  und  unternahm  spseter 
noch  mehrere  Weltreisen,  teilweise  mit  dem  Auftrag  über  die  deutsche  Aus- 
wanderung zu  berichten.  1872  starb  er  in  Braunschweig.  Gerstäckers  Ro- 
mane überraschen  durch  reiche  Erfindung,  welche  nur  zuweilen  durch  ihre 
Übertreibungen  an  die  alten  Rseuberromane  erinnert,  und  durch  lebhafte, 
wenn  auch  unkünstlerische  Darstellung:  'Die  Regulatoren  des  Arkansas'  1846, 
IH;  'Die  Flusspiraten  des  Mississippi'  1848,  III;  am  Schlüsse  steht  der  in 
Mexico  spielende  Roman  'Ein  Plagiar'  1872.^^ 

War  nun  schon  in  der  Behandlung  des  historischen  Romans  die  p olitis di- 
so ciale  Bewegung  dieses  Zeitabschnitts  bemerkbar  geworden,  so  diente  viel- 
fach die  erzsehlende  Prosadichtung  geradezu  den  verschiedenen  Bestrebungen 
solcher  Art  zum  Ausdruck.  Von  aristocratischer  Seite  her  stellte  sie  Ale- 
xander VON  Ungern-Sternberg  dar,  welcher  sich  als  Schriftsteller  auf  den 
letzteren  Namen  beschränkte.^^  Geboren  1806  zu  Noistfer  in  Esthland,  kam 
er  1831  nach  Deutschland,  wo  er  hauptsächlich  in  Berlin  sich  aufhielt;  er 
starb  im  Irrsinn  1868  zu  Dannenwalde  in  Mecklenburg.  Seine  Novelle  'Die 
Zerrissenen'  1832  sprach  den  Weltschmerz  der  vornehmen  Kreise  jener  Zeit 
aus.  In  den  vierziger  Jahren  vertraten  seine  Romane  und  Novellen  die  An- 
sprüche des  Adels  zum  Teil  in  hoehnischer  Weise,  insbesondere  entging  die 
Lüsternheit  seiner  'Braunen  Mserchen'  1850  nicht  gerechtem  Tadel.  Spa3ter 
noch,  aber  zugleich  mit  den  Gedanken  der  Frauenemancipation  verbunden, 
sprach  dieselben  Anschauungen  die  Grsefin  Ida  Hahn-Hahn  aus.  Geboren 
1805  zu  Tressow  in  Mecklenburg,  war  sie  in  schwierigen  Verhältnissen  auf- 
gewachsen, da  ihr  Vater,  ein  Theaterenthusiast,  sein  Vermoegen  verschwendet 
und  zuletzt  als  Director  einer  Wandertruppe  sich  von  seiner  Familie  getrennt 
hatte.  1826  heiratete  sie  einen  Vetter,  wurde  1829  geschieden,  behielt  aber 
die  Mittel   zu   einem  vornehmen  Leben    und   zu   grossen  Reisen   bis   in  den 


11)  Romane,  1862—67,  XXXIII.     12)  Gesammelte  Schriften,  Jena  1872—78,  XLIII.     13)  Erin- 


674  NEUIIOCIIÜEÜTSCIIE  ZEIT.        XIX  JAIllUI.  §  170 

Orient.  Doch  nur  die  Scliriftstellcrei  war  für  sie  ein  voller  Genuas.  1835 
mit  Gedichten  hervorgetreten,  Hess  sie  1841  ihr  berühmtestes  Werk  er- 
scheinen: 'Faustina',  eigentlich  ein  weiblicher  Don  Juan;  eine  schoene  Grajfin 
probiert  die  Männer  nur  um  sie  wieder  wegzuwerfen,  worauf  sie  in  tiefem 
Schmerze  umkommen.  Schliesslich  geht  Faustina  in  das  Kloster.  Noch 
spottete  die  Verfasserin  über  diesen  Ausgang  ibrer  Heldin.  Aber  nachdem 
sie  die  Revolution  in  Dresden  als  Augenzeugin  erlebt,  trat  sie  selbst  zur 
katholischen  Kirche  über  und  verkündigte  ihre  Bekehrung  in  der  Schrift 
'Von  Babel  nach  Jerusalem',  Mainz  1851.  Seitdem  war  sie  lebhaft  thsetig 
Klocster  zu  begründen,  behielt  sich  aber  selbst  die  Freiheit  vor.  Ihre 
späteren  Romane  wie  'Eudoxia'  1867,  II  sind  natürlich  ihren  kirchlichen 
Absichten  geweiht.  Sie  starb  zu  Mainz  1880.  In  den  scliärfsten  Gegen- 
satz zu  ihr  stellte  sich  Fanny  Lewalü.'*  1811  zu  Koenigsberg  von  jüdischen 
Eltern  geboren,  ebenfalls  vielgereist,  verheiratete  sie  sich  1845  mit  dem 
Kunstschriftsteller  Adolf  Stalu-  und  starb  1889  in  Dresden.  Seit  1842  litte- 
rarisch thffitig,  veröffentlichte  sie  1847  'Diogcna  von  Iduna  Grsefin  H.  H.', 
worin  sie  ihre  Gegnerin  bis  auf  die  Eigentümlichkeiten  ihres  nachlässigen 
Stiles  parodierte  und  mit  dem  Wahnsinn  der  Heldin  schloss.  Doch  auch  in 
ilircn,  meist  historischen  Romanen  stritt  sie  für  die  Gleichstellung  der  Ge- 
schlechter, behandelte  aber  mit  Vorliebe  den  Untergang  des  genialen  Adels 
und  sein  Unvermoegen,  den  verstandesgema^ssen  Forderungen  der  Neuzeit 
gegenüber  sich  zu  erhalten:  'Prinz  Ludwig  Ferdinand'  1849,  'Von  Geschlecht 
zu  Geschlecht'  1864.  Im  socialen  Roman,  der  gegen  den  Unterschied  der 
Stände  eifert,  hatte  F.  Lewald  einen  älteren  Mitstrebenden  an  Ernht  Will- 
komm aus  Heringsdorf  bei  Zittau,  geboren  1810,  gestorben  zu  Zittau  1886. 
'Die  Europamüden'  1838,  II,  u.  a.  Romane  geben  tiefe  Unzufriedenheit  mit 
den  bestehenden  Verhältnissen  kund.  Und  freilich  fand  sich  unter  dem  Adel 
selbst,  zumal  dem  schlesischen,  die  gleiche  Überzeugung  verbreitet,  und  als 
Romanschriftsteller  gab  ihr,  unter  dem  Namen  Max  Waldaü,  R.  Georg 
Spiller  von  Hauenschild  Ausdruck.  1822  zu  Breslau  geboren,  starb  er  auf 
seiner  oberschlesischen  Besitzung  1855.  Nachdem  er  1847  seine  Gedichte 
als  Blätter  im  Winde'  veröffentlicht  hatte,  schilderte  er  in  dem  Roman  'Aus 
der  Junkerwelt'  1850,  H  seine  Standesgenossen  in  abschätziger  Weise. 

Mehr  Beifall  jedoch  als  diese  direct  der  Romantik  des  Adels  entgegen- 
tretenden Darstellungen  fand  ein  Zweig  der  Erzsehlungsdichtung,  welcher  sich 

nerungablätter ,    Berlin    1855—60,    VI.  14)    'Meine    Lebensgeschichte',    Berlin    1861. 


§  179  PllAUENROMAN.     DORFGESCHICHTE.  675 

den  unteren  Volksschichten,  dem  Bauernstande  zuwandte  und  hier  mit  liebe- 
voller Beobachtung  eine  für  sich  bestehende,  den  gebildeten  und  vornehmen 
Kreisen  au  innerem  Werte  gleich  stehende  Welt  künstlerisch  zu  erfassen 
strebte.  Auch  früher  schon  war  dies  geschehen,  aber  doch  meist  mit  der 
Absicht  die  Bauern  selbst  zu  belehren  und  zu  bessern:  so  von  Pestalozzi. ^^ 
Solche  Absichten  verfolgte  auch  zuerst  der  Berner  Pfarrer  Albert  Bitzius,^" 
der  sich  als  Schriftsteller  Jeremias  Gotthelf  nannte  (geb.  1797,  gest.  1854). 
Allein  bald  ward  es  ihm  nicht  minder  wichtig,  auch  der  Lesewelt  die  mannig- 
faltigen derben,  aber  tüchtigen  Gestalten  seiner  Landsieute  vorzuführen.  Mit 
genauester  Sachkenntnis,  mit  einer  Treue,  die  bis  zur  Einmischung  der  Mund- 
art vorschritt,^^  entwarf  er  eine  grosse  Reihe  von  Erzeehlungen,  unter  denen 
'Uli  der  Knecht',  ein  Volksbuch,  Berlin  1846,  mit  seinen  Fortsetzungen  das 
Leben  eines  Bauern  von  der  dürftigen  Jugend  bis  zum  beheebigen  Alter  be- 
gleitet und  alle  kleinen  Fehlgriffe  und  Sorgen  ebenso  rückhaltslos  aufdeckt, 
wie  die  Bescheidung  und  Ausdauer  ihr  Lob  und  ihren  Lohn  vollauf  erhält. 
Salonfsehig  wurde  die  Dorfgeschichte  erst,  als  sie  nicht  nur  von  anstoes- 
sigen  Rohheiten  gereinigt,  sondern  auch  in  die  Beleuchtung  der  Zeitideen  gestellt, 
als  die  Frage  nach  dem  Widerstreit  zwischen  Sitte  und  Sittlichkeit  auch  hier 
erhoben  wurde.  In  diesem  Sinne  hat  Berthold  Auerbach  die  Dorfgeschichte 
eingeführt,  wenn  schon  bereits  Immermann  die  westfeelische  Bauernart  nicht 
ohne  Hervorhebung  ihrer  Beharrlichkeit  und  inneren  Sicherheit  der  Über- 
bildung der  Zeit  gegenüber  gestellt  hatte.  Auerbach  war  1812  zu  Nord- 
stetten  im  württembergischen  Schwarzwald  geboren  und  bildete  sich,  nach- 
dem er  die  Absicht,  Rabbiner  zu  werden,  aufgegeben  hatte,  durch  philoso- 
phische Studien  aus,  die  sich  namentlich  auf  Spinoza  bezogen.  Diesen  nahm 
er  zum  Helden  eines  Romans,  Mannheim  1837,  II,  wie  er  auch  Ephraim 
Kuh^^  in  'Dichter  und  Kaufmann',  ebd.  1839,  II  romanhaft  behandelte. 
Allein  erst  die  'Schwarz wälder  Dorfgeschichten',  ebd.  1843,^^  brachten  ihm 
volles  Ansehn.  Es  waren  Jugenderinnerungen,  die  er  psychologisch  zu  be- 
gründen suchte.     Die  Verschiedenheiten,  welche  selbst  zwischen  dem  freiesten 


15)  §  164,  10.  16)  Manuel,  Leben  des  A.  Bitzius,  Berlin  1857,  als  12.  Band  vron  J.  (jotthelf, 

Ge«ammelte  Schriften,  Berlin  1856—58,  ^861,  XXIV.  Clemens  Brockhaus,  J.  (i.  der  Volks- 
schriftsteller, Berlin  1877.  17)  Alb.  von  Rute,  Erklserung  der  schwierigen  dialektischen 
Ausdrücke  in  J.  Gotthelfs  gesammelten  Schriften,  Berlin  1858  (Ges.  Sehr.  Bd.  24). 
18)  §  150,  68.  19)  Drei  weitere  Bändchen  folgten  1844—54.  'Sämtliche  Schwarz- 
wälder Dorfgeschichten',  Stuttgart  1884,  X.  Gesammelte  Erzsehlungen,  Karlsruhe  1889. 
'Aus    dem    Schwarzwald,    Gedichte'    hg.    von    F.   Gessler  und  E.   Scherenberg,   Lahr  1891. 


676  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XIX  JAIIIIH.  §  179 

unter  den  Gebildeten,  dem  Künstler,  und  dem  Bauernkindc  walten  und  je 
länger,  jo  mehr  sie  trennen,  führte  er  in  der  Frau  Professorin'  tragisch  aus. 
Eine  spatere  Reihe  der  Dorfgeschichten  hat  teilweise  durch  die  Benutzung 
von  Erza}hlungen  der  G.  Sand  mehr  poetische  Farbe  erhalten,  aber  zugleich 
die  Naivettvt  noch  mehr  eingebüsst:  'Barfüsselc'  1856,  'Joseph  im  Schnee' 
und  'Edel weiss'  1861.  Die  Dorfgeschichte  verflocht  Auerbach  mit  dem  Zeit- 
roman in  der  Erzählung  'Auf  der  Hoehe'  1865,  III;  wie  er  hier  Verfassungs- 
kümpfc  in  Bayern  zum  Hintergrund  gewajhlt,  so  bezog  sich  'Das  Landhaus 
am  Rhein'  1869  auf  den  amerikanischen  Bürgerkrieg;  in  'Waldfried'  1874,  III 
sprach  Auerbach  seine  Befriedigung  über  die  Begründung  des  deutschen 
Reiches  aus. 

Auerbachs  Idealisierung  der  Bauern  fand  Nachfolge.  Mkf.chior  Mkyr,^" 
geboren  zu  Ehringen  1810,  gestorben  zu  München  1871,  veröffentlichte  1856 
'Erziuhlungen  aus  dem  Ries'.  Joskpii  Raxk,  geboren  zu  Friedrichsthal  im 
Bivhmorwald,  spseter  Theatcrsecretser  in  Wien,  liess  Erza;hlungcn  'Aus  dem 
Bcvhmerwald'  1842 -'  erscheinen  mit  besonderer  Achtsamkeit  auf  die  Fest- 
gebra^uchc  seiner  abgelegenen  Heimat. 

Diese  Auffassung  des  Klcinlebens  wurde  nun  auch  auf  andere  Kreise 
übertragen,  auf  die  jüdischen  durch  Leopolu  Kompert.  Geboren  1822  zu 
Münchengrsetz  in  Böhmen,  starb  er  zu  Wien  1886.  Seine  Erza3hlungen  'Aus 
dem  Ghetto'  erschienen  1848,  'Boehmische  Juden'  1851  ua. 

Sittcnsehilderuujxen  solcher  Art  mussten  der  Frauenwelt  besonders  zu- 
sagen.  Zahlreiche  Schilderungen  schwäbischer  Pfarrhäuser  veröffentlichte 
Ottilie  Wilüermutu  von  1847  und  vereinigte  sie  in  einer  Gesamtausgabe, 
Stuttgart  1862.  1S17  zu  Rotteuburg  am  Neckar  geboren,  ist  sie  zu  Tübingen 
1877  gestorben. 

Ein  neues  Element  brachten  in  diese  Kleinmalerei  die  humoristischen 
Schilderungen  des  Militferdienstes,  welche  Friedrich  Wiluelm  IIacklänüer 
als  'Bilder  aus  dem  Soldatenleben  im  Frieden'  1841  und  'Wachtstuben- 
abenteuef  1845  veröffentlichte.--  Er  hat  seine  Biographie  selbst  geschrieben: 
'Der  Roman  meines  Lebens'  1878,  IL  Geboren  1816  zu  Burtscheid  bei 
Aachen,  versuchte  er  sich  als  Kaufmann  und  als  OtRziersaspirant,  fand  aber 
als  Schriftsteller  in  Stuttgart  Gunst  bei  Hot  und  war  1843 — 49  dem  Kron- 
prinzen Karl  beigegeben,    der    ihn   jedoch   sofort   bei  seiner  Thronbesteigung 

'B.  Auerbachs  Briefe  aa  seinen  Freund  .Jacob  Auerbach',  Frankfurt  1884,  II.  20)  Bio- 
graphisches   in  seinem  Kachlass   1874.  21)  Neue  Folge  1847.  22)  Seine  Werke 


§  179  NEBENARTEN  DES  ROMANS.  677 

1864  aus  der  Stellung  als  Director  der  koeniglichen  Bauten  und  Gärten  ent- 
liess.  Hackländer  starb  1877  auf  seiner  Villa  am  Starnberger  See.  1849 
hatte  er  Radetzky  auf  dem  Feldzuge  in  Italien  und  den  damaligen  Prinzen 
von  Preusscn  in  Baden  begleitet,  aucli  1866  wieder  dem  Krieg  in  Italien 
beigewohnt.  Seine  Romane,  'Europaeisches  Sklavenleben'  1854  ua.  schildern 
bald  gerührt  bald  leichtfertig  das  Loos  der  niederen  Stände  und  ebenso  aus 
naeherer  Kenntnis  den  vornehmen  Miissiggang.  Noch  einmal  kehrte  er  in 
'dem  letzten  Bombardier'  1870,  IV  zum  Militaerleben  zurück.  Seine  Lust- 
spiele 'Der  geheime  Agent'  1851,  'Magnetische  Kuren'  1853  ua.  gewannen 
durch  feine  Anlage  und  Munterkeit  viel  Beifall, 

Weehrend  Hackländer  einen  kecken,  gelegentlich  rücksichtslosen  Lebens- 
mut verherrlichte,  fand  die  stille,  entsagende  Bescheidung  einen  Lobredner 
an  Adalbert  Stifter,^^  durch  welchen  sich  das  sonst  so  abgeschlossene 
Oesterreich  auch  an  der  Erzaehlungslitteratur  jener  Zeit  beteiligte.  Geboren 
zu  Oberplan  im  Bcehmerwald,  ward  Stifter  bei  den  Benedictincrn  zu  Krems- 
münster erzogen  und  unterrichtete  in  Wien  als  Privatlehrer  u.  a.  den  Fürsten 
Richard  Metternich.  1849 — 65  war  er  Schulrat  in  Linz,  widerstrebte  aber 
der  Concordatspohtik.  Er  starb  1868.  Stifters  Novellen  erschienen  als 
'Studien'  1844—50,  VI;  dann  als  'Bunte  Steine'  1853.  'Witiko',  ein  histo- 
rischer Roman  aus  der  Geschichte  Boehmens  im  12.  Jahrhundert,  folgte  1857. 
Stifter  verbindet  die  Kleinmalerei  der  Natur,  die  er  in  den  wechselnden 
Jahreszeiten  und  Witterungen  sorgfältig  beobachtete  und  dichterisch  nach- 
bildete (gern  wsere  er  Landschaftsmaler  geworden)  mit  Erzsehlungen,  die  sich 
meist  auf  Kinder  oder  Greise  beziehen.  Eigene  Lebenserfahrung  stellt  er  im 
'Nachsommer'  1857  dar.     Die  spseteren  Schriften  haben  viel  Didaktisches. 

Lehrhaft,  aber  in  leidenschaftlicher,  geisthaschender  Sprache,  legte 
BoGUMiL  Goltz  seine  Beobachtungen  über  die  Verschiedenheit  der  Ge- 
schlechter, der  Menschenarten  und  Nationen  vor.  Geboren  1801  in  dem 
damals  preussischen  Warschau,  studierte  er,  ward  aber  Landwirt,  reiste  spaeter 
viel  umher  und  starb  zu  Thorn  1870.  Seine  Jugend  hat  er  mit  lebhafter 
Phantasie  erzsehlt:  'Das  Buch  der  Kindheit'  1847,  und  'Ein  Jugendleben' 
1851.  Seine  Reisebeschreibung  'Ein  Kleinstädter  in  Aegypten'  1855  gab 
scharfsichtige,     aber    wiederum    stark   aufgebauschte   Beobachtungen    wieder. 

erschienea  in  4  Seriea  gesammelt,  Stuttgart  1860 — 73.  23)  Mit  Grillparzer  zusammea 

besprochen  von  E.  Kuh,  'Zwei  Dichter  Oesterreichs',  Pest  1872.  Hier  auch  andere  Schriften 
über  Stifter.     Stifters  Sämtliche  Werke,  hgg.  v.  Aprent,  Pest  1870,  XVll. 


678  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.         XIX  JAIIUII.  §  180 

Überall  tritt  in  seiner  Darstellung  die  Lust  zum  mündliehen  Vortnig  hervor, 
den  er  gewandt  und  eindringlieh  übte,  aber  doch  nicht  zur  Klarheit  und 
Anmut  durchgebildet  hatte. 

§    180. 

Nach  der  Revolution  von  1848  und  ihrem  heftigen,  aber  grossenteils 
fruchtlosen  Ringen  trat  eine  Ernüchterung  und  Entmutigung  des  öffentlichen 
Geistes  ein,  welche  auch  in  der  Litteratur  sich  widerspiegelte.  Zunsechst 
erlitt  die  Lyrik  dadurch  erhebliche  Einbusse:  sie  ward  wieder  mehr  Aus- 
druck perstt'nlicher  Stimmung  oder  Spiel  mit  einer  vorgebildeten  Kunst.  Selbst 
der  nationale  Krieg  von  1870  erzeugte  zwar  eine  grosse  Fülle  von  teilweise 
trefflichen  Gedichten;*  aber  durch  alle  Volksschichten  zündete  doch  nur  ein 
Lied,  'Die  Wacht  am  Rhein',  das  von  Max  Schneckenburger"  schon  1840 
gedichtet  und  von  den  rheinischen  Soldaten  fortdauernd  gesungen  worden 
war.  Die  Stelle  der  Liederdichtung  nahm  die  Erzsehlung  in  Versen  ein, 
welche  eben  in  diesem  Zeitabschnitt  vorzügliche  und  mannigfaltige  Aus- 
bildung erhielt. 

Auch  auf  diesem  Gebiete  machte  sich  die  gemischte  Stimmung  des 
Humors  geltend ,  welche  naturgemajss  auf  die  Taeuschung  der  Hoöiiungen 
folgte,  von  deren  Berechtigung  man  doch  überzeugt  war.  Der  Humor,  bald 
lustiger,  bald  herber,  beherrscht  die  Litteratur  dieses  Zeitabschnitts.  Er 
wandte  sich  dem  wirklichen  Leben  zu  und  sah  in  dessen  künstlerischer  Ge- 
staltung seine  Aufgabe :  es  ist  bezeichnend,  dass  mehrere  der  besten  Schrift- 
steller dieser  Zeit  sich  ursprünglich  als  Maler  hatten  ausbilden  wollen:  Scheffel, 
Keller,  auch  Reuter.  Die  Beschäftigung  mit  dem  wirklichen  Leben  führte 
zu  den  landschaftlichen  Verschiedenheiten  der  deutschen  Volksart;  selbst  die 
mimdartliche  Dichtung  ward  neugeweckt  und  brachte  mehrfach  Ausgezeichnetes 
hervor. 

Da  wo  man  an  der  ernsten  Grundlage  festhielt,  welche  inmitten  der 
unbefriedigenden  Gegenwart  Trost  und  Zuversicht  gewsehren  sollte,  griff"  man 
auch  in  der  Dichtung  zur  Geschichte,  die  in  der  Wissenschaft  gleichzeitig 
die  Führung  übernahm.  Dem  verzagten  Geschlecht  hielt  man  die  grossen 
Zeiten  und  Männer  vor,  welche  den  deutschen  Namen  zu  Ehren  gebracht 
hatten.  Diese  Richtung  auf  die  Geschichte  hat  damals  im  Drama  wie  im 
Roman  Werke  von  dauerndem  Werte  geschaffen. 

§  ISO.  1)  0.  Weddigen,  Die  patriotische  Dichtung  von  1870.  71,  Essen  a.  d.  Ruhr  1880. 
2)  Creb.  bei  Tuttlingen  1819,  gest.  in  Burgdorf  1849 ;  s.  W.  Lang,  Von  und  aus  Schwaben, 


§  180  DRAMA.     G.  FREYTAG.  679 

Humor,  dramatische  Kunst  und  geschichtliche  Studien  verband  Gustav 
Freytag,'  dessen  Lustspiel  'Die  Journalisten',  Leipzig  1854,  innerhalb  dieser 
von  deutschen  Dichtern  selten  zugleich  selbständig  und  mit  Erfolg  angebauten 
Gattung  einen  Ehrenplatz  einnimmt.  Der  Dichter  spiegelt  darin  auch  persoen- 
liche  Erfahrungen  ab.  Geboren  1816  zu  Kreuzburg  in  Schlesien,  war  er 
1839 — 47  Privatdocent  für  deutsche  Philologie  in  Breslau,  1848  —  70  Re- 
dacteur  der  'Grenzboten'  in  Leipzig  zusammen  mit  dem  Litterarhistoriker 
Julian  Schmidt.  Den  Sommer  verbrachte  er  meist  auf  seinem  Landgut  Siebe- 
leben bei  Gotha,  im  Verkehr  mit  Herzog  Ernst.  Seit  1879  hat  Frey  tag  sich 
nach  Wiesbaden  zurückgezogen.  Von  seinen  Dramen  erschienen  das  Lust- 
spiel 'Die  Brautfahrt',  eine  Episode  aus  dem  Leben  des  Kaisers  Max  I,  und 
ein  Stück  aus  einer  unvollendeten  tragischen  Trilogie  'Der  Gelehrte'  1844. 
Schon  in  diesem  Stück  weist  der  Dichter  auf  das  thsetige  Leben,  auf  die 
Politik  hin,  aber  in  einem  nationalen  Sinne.  Er  will  den  Gegensatz  zwischen 
Adel  und  Bürgertum  überwinden :  das  letztere,  mit  aller  seiner  Tüchtigkeit, 
erscheint  doch  im  politischen  Leben  der  Führung  bedürftig,  und  zu  dieser 
sind  die  über  das  Junkertum  hinaus  ragenden,  tapferen  und,  wenn  sie  wollen, 
auch  liebenswürdigen  Adeligen  berufen.  Freytag  hat  Gestalten,  wie  die  des 
groessten  Staatsmannes  der  nachfolgenden  Zeit,  geahnt  und  das  Verständnis 
für  sie  vorbereitet.  Eine  Verbindung  zwischen  einem  kühn  und  edel  denken- 
den, im  freien  Amerika  gebildeten  Bürgerlichen  und  einer  vornehmen  Dame 
stellte  er  in  der  'Valentine'  dar,  Leipzig  1847;  sein  'Graf  Waldemar',  1858, 
gewinnt  in  der  Liebe  eines  Bürgermsedchens  den  im  Taumel  der  vornehmen 
Welt  verlorenen  Jugendmut  und  Edelsinn  wieder.  Zwischen  diesen  beiden 
Schauspielen  stehen  'Die  Journalisten',  worin  die  Thsetigkeit  der  Presse  auf 
der  Hoehe  ihrer  Aufgabe  zugleich  mit  den  echten  Farben  der  Wirklichkeit 
gemalt  wird.  Das  Trauerspiel  'Die  Fabier',  1859,  zeigt  den  gleichen  Gegen- 
satz der  Stände  und  seine  Ausgleichung  nur  in  die  Rosraerwelt  übertragen. 
Doch  noch  mehr  als  durch  die  dramatische  Kunst,  deren  hohe  Anforderungen 
er  selbst  in  der  'Technik  des  Dramas',  1863,  auseinandersetzte,  wusste 
Freytag  in  der  loseren  Form  des  Romans  seinen  Ideen  Verbreitung  zu  geben. 
Vor  allem  gab  'Soll  und  Haben',  1855,  worin  er,  mit  Berufung  auf  J.  Schmidts 
Rat,  das  deutsche  Volk  'von   seiner  besten  Seite,    bei  der  Arbeit'  schilderte, 


Vf.  Heft,    Stuttgart  1890.  3)  Freytag  hat  seine  Jugendzeit   selbst  in  seinein  anmutig 

ironischen  Tone  geschildert:  'Erinnerungen  aus  meinem  Leben',  Leipzig  1887  (1.  Band  der 
'Gesammelten  Schriften',  Leipzig  1887.  88,  XXII).     C.  Alberti,  G.  Freytag,  sein  Leben  und 


680  NEUHOCHDEUTSCHE   ZEIT.        XIX  JAHRTI.  §  180 

dem  KaufmannstanJ  und  der  landwirtschaftlichen  Thatigkcit  die  Ehre  und 
zeichnete  das  Verkommen  des  hochmütig  verschwenderischen  Adels  wie  die 
Nichtigkeit  der  betrügerischen  Speculation.  Die  Universitfetskreise  im  Conflict 
mit  dem  Loben  der  kleinen  lloefo  stellte  'Die  verlorne  Handschrift'  dar, 
1804.  Der  letzte,  grosse  Romancyclus  Freytags,  'Die  Ahnen',  1872 — 80,  VI, 
führte  eine  deutsche  Familie,  die  eigene  des  Dichters,  mit  leichter  Ironie  zurück 
auf  ein  vandalischos  Koonigsgeschlecht,  so  dass  die  wichtigsten  Entwickelungs- 
stufen  der  deutschen  Geschichte  in  fesselnden  Bildern  vorüberziehen.  Überall 
lagen  hier  tief  eindringende  culturhistorische  Studien  zu  Grunde,  welche  zum 
Teil  schon  in  den  'Bildern  aus  der  deutschen  Vergangenheit',  IV,  1859 — G2, 
an  die  Öffentlichkeit  getreten  waren.  Einem  politischen  Freund,  dem  badi- 
schen Minister  K.  Mathy,  widmete  Frey  tag,  Leipzig  1870,  eine  Biographie; 
er  erzählte,  nicht  durchweg  anerkennend,  seine  Begegnungen  mit  Kaiser 
Friedrich  als  Kronprinzen.* 

Die  politische  Auffassung  Freytags  vertrat  als  Dramatiker ,  wie  P. 
Ileyse  ua. ,  so  auch  Gustav  von  und  zu  Putlitz.^  Geboren  zu  Retzien  in 
der  Westpriegnitz  1821,  starb  er  hier  1890.  1863  hatte  er  die  Leitung  des 
Schweriner  Theaters,  1873  die  des  Karlsruhers  übernommen  und  war  in- 
zwischen mehrmals  Ilofmarschall  des  damaligen  Kronprinzen  von  Preussen. 
Von  seinen  Lustspielen*^  haben  'Badecuren'  1853,  'Das  Schwert  des  Damocles' 
1858  besonders  gefallen;  unter  den  historischen  Schauspielen  verherrlicht 
'Das  Testament  des  grossen  Kurfürsten',  1859,  die  preussische  Staatsidee, 
'Wilhelm  von  Oranien  in  WhitehalF,  1864,  und  'ßolf  Berndt',  1881,  den 
Protestantismus  und  den  Liberalismus. 

Eben  diesen  Zielen  strebte  auch  ein  Schüler  Dingelstedts  zu,  Hermann 
Hersch  aus  Jüchen  in  Rheinpreussen ,  geboren  1821,  gestorben  1870  zu 
Berlin.  Seine  Gedichte  'Von  Westen  nach  Osten'  erschienen  1848 ;  seine 
'Anna  Liese',  ein  ansprechendes  Characterbild  des  alten  Dessauers,  1859. 
Mit  dem  historischen  Schauspiel  verband  den  historischen  Roman  Albert 
Emil  Brachvogel.  Geboren  zu  Breslau  1824,  starb  er  zu  Berlin  1878. 
Nachdem  er  sich  als  Schauspieler  und  Bildhauer  versucht,  wandte  er  sich 
1855  zur  Schriftstellerei.  Sein  Trauerspiel  'Narciss',  1857,  stellte  dem  üppigen 
Hof  Ludwigs  XV  und  der  kaltegoistischen  Philosophie  der  Encyclopsedisten 


Schaffen,  Leipzig  1886.  4)    Der  Kronprinz  und  die  deutsche  Kaiserkrone',    Lpz.  188Jt. 

5)  Theatererinnerungen  1874,    II,    Berlin;    Mein  Heim,   ebd.   1885.     Ausgewsehlte  Werke, 
ebd.  1872—78,  V.  6)  Lustspiele,  Berlin  1850—55,  IV:  Neue  Folge,  ebd.  1869—72,  IV. 


§  180  HISTORISCHES  DRÄ.MA.     LUSTSPIEL.  681 

einen  Künstler  gegenüber,  der  über  diese  Verhältnisse  den  Verstand  verliert. 
Brachvogels  'Adalbert  von  Babenberg",  1858,  erneuert,  nur  mit  vertieften 
historischen  Kenntnissen,  das  Ritterdrama.  Sein  Roman  Triedemann  Bach', 
1858,  schildert  wieder  ein  Genie,  das  dem  Wahnsinne  anheimfällt.  Mit 
historischen  Dramen  begann  auch  Erxst  Wichert  aus  Insterburg,  geboren 
1831,  seine  schriftstellerische  Thtetigkeit:  'Unser  General  York',  1858, 
'Withing  von  Samland',  1860,  ua.,  um  dann  weiterhin  im  Lustspiel  mit 
'Ein  Narr  des  Glücks',  1868,  'Ein  Schritt  vom  Wege'  1871  ua.  noch  mehr 
Beifall  zu  finden ;  er  Hess  eine  Reihe  historischer  Romane  folgen,  welche  sich 
meist  auf  dem  Boden  seiner  ostpreussischen  Heimat  bewegen:  'Heinrich  von 
Plauen',  1881  ua. 

Auf  dem  gleichen  Felde  des  historischen  Dramas  zeigte  sich  Heixrich 
Kruse,  geboren  1815  zu  Stralsund,  erst  in  spteterem  Lebensalter  thsetig,  nach- 
dem er  längere  Zeit  Redacteur  der  Kölner  Zeitung  gewesen  war.  'Die 
Grsefin',  1868,  'WuUenweber',  1870,  'Moritz  von  Sachsen',  1872  ua.  berühren 
Fragen  der  politischen  und  religioesen  Freiheit,  die  noch  die  Gegenwart  be- 
wegen. Kruses  'Fastnachtspiele',  1887,  bewsehren  seine  humoristische  Be- 
gabung. Trübere  Schicksale  hatte  Albert  Lixdxer  zu  bestehen.  Zu  Suiza 
geboren  1831,  gab  er,  nachdem  sein  Trauerspiel  'Brutus  und  Collatinus' 
1867  mit  dem  Schillerpreise  gekrcent  worden  war,  seine  Stelle  als  Gymnasial- 
lehrer zu  Rudolstadt  auf.  Seine  'Bluthochzeif  1871  fand  wieder  Beifall. 
Doch  der  Dichter,  dem  das  Leben  in  Berlin  grosse  Entteeuschunoren  bereitet 
hatte,  verfiel  in  Wahnsinn  und  starb  1888.  Das  historische  Drama  fand 
dann  nach  1870  in  Erxst  von  Wildenbruch  den  Dichter,  der  die  Yorge- 
schichte  des  neuen  Kaiserhauses  der  Hohenzollern  begeistert  und  wirkungs- 
voll darstellte. 

Das  feinere  Lustspiel  wurde  meist  von  denselben  Dichtern  gepflegt, 
welche  sich  im  historischen  Drama  versuchten.  Daneben  gelangte  die  Local- 
posse  zunsechst  in  den  Grossstädten,  in  Wien  und  Berlin,  zur  Ausbildung. 
Auch  sie  verschmsehte  die  Beimischung  rührender  Züge  nicht,  wenn  auch  in 
Berlin  der  volkstümliche  Wortwitz,  der  'Kalauer',  mit  Vorliebe  eingeflochten 
ward.  Unter  den  Dichtern  dieser  Art  glänzte  besonders  David  Kallsch,"  ge- 
boren zu  Breslau  1820,  gestorben  zu  Berlin  1872. 

Kaiisch  ist  auch  der  Begründer  des  Berliner  'Kladderadatsch',  in  wel- 
chem seit  1848    die  politische  Dichtung,    oft   in   kunstvollen  Formen,    wenn 

7)  Berliner  Volksbühne  1864,  IV.     Lustige  Werke  1870—71,  V.     Das  Wallnertheater  ver- 


682  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XIX  JAHlUr.  §  180 

auch  ohne  die  Namen  der  Dichter,  fortbestand  und  sich  fortbildete.  Die 
liVrik  der  namhaften  Dicliter  zeigte  teilweise  ebenfalls  dieses  Streben  nach 
vollkommener  Reinheit  und  Zierlichkeit  der  Form,  wozu  ja  die  Menge  der 
bereits  vorhandenen  Muster  leicht  Anleitung  geben  konnte.  Besonders  beliebt 
wurde  die  kurze  Erzsehlung  in  Versen,  die  poetische  Novelle. 

Einen  der  ersten  und  einen  glänzenden  Erfolg  errang  nach  Kinkel  Otto 
Roquettk'*  mit  'Waldmeisters  Brautfahrt',  Stuttgart  1851;  eine  Reihe  von 
erza^hleudcn  Dichtungen  folgte:  'Der  Tag  von  St.  Jakob'  1852,  'Hans  Haide- 
kukuk'  1855  ua.  und  in  dramatischer  Form  'Gevatter  Tod'  1873;  auch 
mehrere  Dramen  zur  Aufführung:  'Jacob  von  Artevelde'  1856  ua.,  sowie  Ro- 
mane und  Novellen  in  Prosa  zeigen  Roquettes  anmutige  Begabung. 

Der  Meister  der  feinen  Novelle^  aber  ist  Paul  Heyse,  geb.  zu  Berlin 
1830,  seit  1854  in  München.  Als  romanischer  Philologe  von  Verdienst  hat 
er  auch  in  seine  Dichtung  das  Formgefühl,  sowie  die  leichte  SiunUchkeit 
der  südeuropffiischen  Poesie  übertragen.  Mit  dem  'Jungbrunnen',  einer  Samm- 
lung zierlich  erfundener  Maerchen,  war  er  schon  1849  aufgetreten;  er  Hess 
dann  eine  Reihe  von  Novellen  "^  folgen,  unter  welchen  'L'Arrabiata',  auf 
Capri  beim  Zusammensein  mit  Scheffel  gedichtet,  das  rasche  Umschlagen 
der  Mädchensproedigkeit  in  die  hingebende  Liebe  des  Weibes  schildert,  ein 
von  Heyse  oft  und  mannigfaltig  behandeltes  Thema.  In  Versen ' '  waren 
schon  'Die  Brüder,  eine  chinesische  Geschichte',  Berlin  1852,  abgefasst;  in  Hexa- 
metern die  Legende 'Thekla',  Stuttgart  1858.  Dramatisch'-  hatte  Heyse  1850 
'Francesca  von  Rimini',  1879  die  'Sabinerinnen'  behandelt;  zu  den  Liebesproble- 
men fügte  er  spaeter  politisch-nationale:  'Elisabeth  Charlotte'  1864,  'Colberg'  1868, 
'Die  alte  Jungfer' 1893  ua.;  sociale  in 'Ein  überflüssiger  Mensch'  1890;  überall 
zur  Ausgleichung  der  Gegensätze,  zur  Förderung  des  Gemeinsamen  mahnend. 
Heyses   Romaue   sprechen   seine   bildungsfreudige  und  kirchlich  freie,    aber 


körperte  diese  Berliner  Volkstypeu.  8)  Geb.  1824  zu  Krotoschin,    seit  1869  Professor 

am  Folytechuic'um  iu  Darmstadt.  Rot^uettes  'Liederbuch'  erschien  zuerst  1852.  Seine  'Dra- 
matischen Dichtungen"  Stuttgart  1867—77,  II;  seine  'Novellen'  Berlin  1870,  II:  'Weit  und 
Haus'  1871,  II:  zuletzt  'Neues  Novelleubuch'  1884.  9)  Auch  als  Sammler  und  Heraus- 

geber ist  Heyse  für  diese  Dichtungsart  in  Prosa  thsetig  gewesen:  'Deutscher  Novellenschatz', 
hg.  mit  H.  Kurz,  München  XXIV,  1871 — 76;  Neuer  deutscher  Novellenschatz,  mit  L. 
Laistner,    ebd.   1884  fgg.  10)    Berlin   1885 — 87    ei-schieneu  19   Sammlungen.      Über  P. 

Heyse  als  Romauschriftsteller  s.  Th.  Ziegler,  Studien  und  Studieuküpfe,  Schafthausen  1877, 
wo    auch   H.  V.   Kleist,  Uhland,    Grillparzer    und    Mürike    behandelt    sind.  11)    Ge- 

sammelte Novellen  in  Versen  1863.     -1870,    II.  12)  'Dramatische  Dichtungen',  Berlin 


§  180  HEYSE.     ERZiEHLUNG  IN  VERSEN.  683 

social  versoehnliclie  Überzeugung  und  Gesinnung  aus :  'Die  Kinder  der  Welt' 
1872,  'Im  Paradiese'  1873,  dies  ein  Bild  des  Münchener  Künstlerlebens,  in 
welchem  auch  der  Humor  mitspielen  darf,  'Der  Roman  der  Stiftsdame'  1887, 
zuletzt  'Merlin'  1893,  worin  er  entsagungsvoll  dem  Naturalismus  unserer 
heutigen  Litteratur  entgegentritt. 

Heyses  Richtung  teilten  wesentlich  die  mit  ihm  und  Geibel  in  München 
verbundenen  Dichter.  Zunsechst  schliesst  sich  Wilhelm  Hertz  '^  an,  dessen 
'Gedichte'  Hamburg  1859,  dessen  epische  Dichtung  'Lanzelot  und  Ginevra' 
1860  erschien.  Meist  geben  seine  Dichtwerke  mittelalterliche ,  besonders 
romanische  Sage  und  Dichtung  wieder,  denen  er  auch  seine  Forschung  zu- 
gewendet hat.  Mehr  in  Platens  Weise  widmete  sich  Heinrich  Leuthold^* 
der  Erneuerung  antiker  Versarten;  seine  Gedichte  erschienen  gesammelt  erst 
1879.  Hermann  Lingg'^  dagegen  behandelte  mit  Vorliebe  altgermanische 
Stoffe,  bereits  in  seinen  von  Geibel  1854  eingeführten  'Gedichten',  nament- 
lich aber  in  dem  strophischen  Epos  'Die  Völkerwanderung',  Stuttgart  1866 
bis  1868,  HI.  Von  seinen  Dramen  zeigt  gleich  das  erste,  'Catilina',  München 
1864,  die  Bewunderung  der  Kraft  auch  in  ihren  Verirrungen.  Noch  weiter 
dehnte  sich  der  Kreis  der  Litteraturen  aus,  deren  Inhalt  und  Form  durch 
den  Münchener  Dichterbund  Bearbeitung  fand.  Friedrich  M.  Bodenstedt'*' 
brachte  in  den  'Liedern  des  Mirza  Schaffy',  Berlin  1851 ,  zwar  nicht  den 
Namen  eines  wirklichen  Dichters,  wohl  aber  die  auf  den  Genuss  der  Gegen- 
wart gerichtete  Liederweisheit  des  Orients  von  neuem  zur  Geltung,  wie  er 
in  'Ada  die  Lesghierin'  1853  ua.  die  1844 — 46  in  Tiflis  ihm  bekannt  ge- 
wordene Wunderwelt  des  Ostens  feierte,  und  sonst  in  zahlreichen  Über- 
setzungen namentlich  die  russische  Volks-  und  Kunstdichtung  der  deutschen 
Litteratur  aneignete. 

Am  meisten  aber  zeigt  den  Character  der  Weltlitteratur  die  Dichtung 
des  Grafen  Adolf  Friedrich  von  Schack,^^  dessen 'Spanisches  Theater'  1845 
die  Reihe  seiner  Übersetzungen  eröffnet,    welche   bis  nach  Arabien,   Persien 


1864—83,  XIII.  13)  Greb.  zu  Stuttgart  1835,    seit    1858  Professor  am  Polytechnicum 

zu  München.  14)  Geb.  zu  Wetzikon  bei  Zürich  1827,   gest.  in  der  Anstalt  Burghölzli 

1879.     Vgl.  A.  W.  Ernst,  H.  Leuthold,  ein  Dichterporträt,   Hamburg  1891.  15)  Geb. 

zu  Lindau  1820,   seit  1851    in  München.  16)  Geb.  zu  Peine   bei    Braunschweig  1819, 

gest.  zu  Wiesbaden  1892.  'Erinnerungen  aus  meinem  Leben',  Berlin  1888.  90,  II.  17)  Geb. 
zu  Brusewitz  bei  Schwerin  1815,  vielgereist,  durch  seine  Gemgeldegallerie  auch  um  dasKunstieben 
in  München  hochverdient.  Vgl.  'Ein  halbes  Jahrhundert.  Erinnerungen  und  Aufzeichnungen', 
Stuttgart  1888.  89,  III.  Manssen,  Graf  Schack  (ursprünglich  holländisch),  Stuttgart  1888. 
Wackernagel,  Litter.  Geacbichte.  II.  w 


C84  NEUIIOCTIDEUTSCIIE   ZEIT.         XIX  JATTRII.  §  180 

und  Indien  sich  liiuiiWei-  ziehen.  Die  eigenen  Dichtungen  Schacks  sind  meist 
erziehlende  Lehrdichtungen,  'Nächte  des  Orients'  1874  ua.  zuweilen  mit  der 
Ironie  Byrons,  die  auch  in  den  kecken,  witzigen  Keimen  sich  kund  gibt.  In 
den  Dramen  Schacks  wirkt  dieser  lyrische  Fluss  freilich  stoerend. 

Der  Zug  zur  phantastischen  Behandlung  überkommener  Erzahlungsstoffe 
in  kunstvoller  Form  begegnet  auch  ausserhalb  der  Münchner  Schule.  In 
Oesterreich  vertritt  ihn  Robkkt  IIamekling,*^  dessen  'Venus  im  Exil'  1858, 
'Schwanenlied  der  Romantik' 1862,  'Germanenzug'  (Canzonen)  1864,  'Ahasver 
in  Rom'  1866,  'Der  Ka^uig  von  Sion'  1860,  'Die  sieben  Todsünden'  1872  ua. 
Bilder  von  üppiger  Farbenpracht  malten,  Wcchrend  sein  'Homuuculus'  1888 
bitterer  Satire  diente.     Sein  Roman  'Aspasia'  erschien  1876,  II. 

Eigentümlicher  und  kühner  zeigt  sich  Wilhelm  Jordan,''^  welcher  mit 
Gottschall  befreundet  zuerst  in  der  ostpreussischen  Heimat  die  freiheitliche 
Bewegung  vertrat, '-''  aber  im  Frankfurter  Parlament  die  polnischen  Ansprüche 
zurückwies.  Als  Schriftsteller  hat  er  mit  seinem  Trauerspiel  'Die  Wittwe 
des  Agis'  1859  ua.,  mit  dem  feinen  Lustspiel  'Durchs  Ohr'  1880  ua.  Erfolge 
errungen.  Aber  sein  eigenstes  Denken,  seinen  unerschütterlichen  Optimismus 
legte  er  in  die  dramatische  Dichtung  'Demiurgos'  1852 — 55,  und  brachte  diese 
Philosophie  weniger  passend  auch  in  die  allitterierende  Bearbeitung  der 
Heldensage,  in  seine  'Nibelungen'  1868.  74,  welche  er  als  moderner  Rhap- 
sode selbst,  und  mit  bedeutender  Wirkung  vortrug. 

Die  Beschäftigung  mit  der  altdeutschen  Dichtung  gibt  auch  der  Poesie 
Joseph  Victor  Scheffels^'  ihr  Geprsege,  nur  dass  er  durch  seinen  Humor 
und  durch  sein  volkstümliches  Wesen  unvergleichlich  groesseren  und  wärme- 
ren Beifall  gewonnen  hat.  Zu  Karlsruhe  1826  geboren,  ist  er  hier  auch 
1886  gestorben.  Ihm  war  auch  das  Talent  des  Liederdichters  verliehen: 
seine  'Lieder  eines  fahrenden  Schülers',  1847  ohne  seinen  Namen  in  den 
Münchener  'Fliegenden  Blättern'  erschienen,  sind  längst  gesungen  worden, 
ehe  er   sie   in  'Gaudeamus'  1867  sammelte.     Hier  hatte  die  Studentenpoesie 


Schacks  Gesammelte  "Werke,  Stuttgart  1883,  VI.  18)  Geb.  zu  Kirchberg  am  AVald  bei 

Zwettl  1830,  Gymnasiallehrer  in  Triest,  gest.  zu  Graz  1889.  'Stationen  meiner  Lebens- 
pilgerschaft', Hamburg  1889.  P.  K.  Rosegger,  Tersceuliche  Erinnerungen  an  Hamerling', 
AVien  1891.     A.  Polzer,  R.  Hamerling,  Hamburg  1890.  19)  Geb.  zu  Insterburg  1819. 

K.  Schiffner,  W.  Jordan,  Frankfurt  1889.  20)  Glocke  und  Kanone,  1841.  21)  Die 

stark  angewachsene  Litteratur  fassen  zusammen  :  A.  Ruhemann,  J.  V.  v.  Scheffel,  Stuttgart 
1887  und  Joh.  Pr(plss,  J.  V.  v.  S.,  Berlin  1887.  Von  Pra'lss  bevorwortet  erschienen  auch 
aus  dem  Nachlass  'Reisebilder',   Stuttg.  1887;    'Gedichte  aus  dem  Nachlass',   Stuttgart  1889. 


§  180  LYKIK.     SCHEFFEL.  685 

einen  neuen  Inhalt  erhalten,  in  welchem  die  Gelehrsamkeit  und  nicht  nur  die 
historische,  auch  die  naturwissenschaftliche  mit  überraschender  Ironie  ver- 
wertet wurde.  Scheffel  fasste  diesen  Inhalt  in  eine  absichtlich  lose  Form, 
gestattete  sich  eine  Freiheit  der  Sprache  und  des  Verses,  welche  zu  der 
'feucht  froehlichen'  Stimmung  vorzüglich  passte  und  zahlreiche  Nachahmungen 
anregte.  Scheffel  hatte  nach  dem  Wunsche  seines  Vaters  Jura  studiert; 
seinen  Wunsch  Maler  zu  werden,  konnte  er  erst  1852  und  nun  schon  zu 
spset,  zur  Ausführung  bringen,  1853  erschien  die  auf  Capri  gedichtete  Er- 
zsehlung  'Der  Trompeter  von  Säckingen';  die  etwas  lässige  Form  stimmte 
vortrefflich  zu  der  trockenen  Darstellung  der  Liebesgeschichte. ^-^  1855  folgte 
der  Roman  'Ekkehard",  dem  Inhalte  nach  hauptsächlich  auf  den  lOosterge- 
schichten  Sanct  Gallens  beruhend,  zu  denen  Scheffel  durch  die  Beschäftigung 
mit  dem  Waltharius  geführt  worden  war.  Aber  die  bis  in  das  Einzelne  ge- 
führten und  durch  Anmerkungen  nachgewiesenen  Studien  waren  durchtränkt 
mit  reicher  Empfindung  und  erfüllt  von  origineller  Erfindung.  Dass  es 
schliesslich  moderne  Menschen  sind,  dass  die  Frauencharactere  kräftiger  sind 
als  die  Männer,  beeinträchtigt  zwar  die  gelehrte  Verwendbarkeit,  erhoeht  aber 
die  Verständlichkeit  für  unsere  Zeit.  Seitdem  vermochte  Scheffel  kein  groes- 
seres  Ganzes  mehr  zu  schaffen.  Die  Lieder,  welche  er  als  'Frau  Aventiure' 
1863  erscheinen  Hess,  der  'Juniperus'  1866  waren  Fragmente  eines  Wartburg- 
romans, den  er  für  den  Grossherzog  von  Weimar  schreiben  wollte;  auch  die 
Prosanovelle  aus  der  Völker wanderungszeit  'Hugideo'  1858,  die  lyrischen 
Gedichte  'Bergpsalmen'  1870,  'Waldeinsamkeit  1880  sind  nicht  umfänglich. 

Scheffel  befriedigte  seine  Zeit  durch  seinen  Realismus,  durch  sein  Wur- 
zeln in  der  Wirklichkeit,  in  der  Natur  und  Geistesart  seiner  Heimat.  Ge- 
brauchte er  schon  gern  mundartliche  Ausdrücke,  so  widmeten  andere  Dichter 
ihre  ganze  Kraft  der  Dialectdichtung.  Dem  alemannischen  Stamme  Scheffels 
gehoerte  auch  der  Züricher  Jugendschriftsteller  W.  August  Corrodi-^  an, 
dessen  1858  zu  Winterthur  erschienene  Idyllen  'De  Herr  Professor',  'De  Herr 
Vikari'  ua.  auch  den  Humor  zu  entfalten  vermochten.  Ernster,  ja  wohl  zu- 
weilen aUzu  gefühlvoll,  dichtete  der  Ditmarsche  Claus  Groth,^*  und  sein 
'Quickborn'  1852,  ward  der  Ausgangspunct  für  eine  neue  Pflege  der  nieder- 
deutschen Poesie. 

22)  Deu  Stoff  hatte  Scheffel  aus  einer  Grabaufschrift  in  Säckingen  herausgesponnen,  weiche 
einem  Trompeter  und  seiner  Gemalilin,  einer  geborenen  Freiin  von  Schoenau  gewidmet  war. 

23)  1826—1885.  24)  Geb.  1819  zu  Heide,  gest.  als  Professor  zu  Kiel  1892.  Gesam- 
melte   Werke,    Kiel    1892,    V.     'Lebenserinnerungen'    1892,    hg.    v.  E.  Wolff,  Kiel.      Karl 


686  NEUITOrUDEUTSCHE   ZEIT.         XIX  JATIRIT.  §"180 

Der  Zug  zur  Abspiegelung  der  naechstcn  Umgebung,  den  die  Lyrik  be- 
sonders als  Dialectpoesie  bekundet,  tritt  nun  auch  in  der  Prosaerzachlung 
hervor  und  begrcitiicliorwcise  sind  es  besonders  die  Frauenromane,  welche 
ihm  folgen  und  mit  Glück  folgen.  Mit  ernsten,  frommen  Gedanken-''  schil- 
derte das  norddeutsche  Familienleben  Marie  Nathusius,^'^  welche  1817 
zu  Magdeburg  geboren,  1857  auf  ihrem  Landgut  Neunstadt  starb  und  1853 
ihr  Tagebuch  eines  armen  Fraeuleins'  veröffentlichte.  M.  Luise  von  Fran- 
gois,  geb.  zu  Ilertzberg  in  Schlesien  1817,  gest.  1893  zu  Weissenfeis,  zeich- 
nete die  Adelskreise  feinsinnig  und  gerecht:  ihr  Roman  'Die  letzte  Recken- 
burgerin'  erschien  1871.  Aber  auch  die  Schriftstellerinnen  der  liberalen  Kreise 
wenden  sich  wenigstens  von  den  ehemaligen  Emancipationstheorien  ab ;  unter 
ihnen  war  wohl  die  beliebteste  E.  Marutt,^^  wie  sich  Eugenie  John  nannte. 
1825  zu  Arnstadt  geboren,  wo  sie  auch  1887  starb,  wurde  sie  für  die  Fürstin 
von  Schwarzburg-Sondershausen  als  Sängerin  ausgebildet  und  blieb  bis  1863 
ihre  Gesellschafterin.  1867  trat  sie  mit  'Goldelse'  hervor  und  fand  durch 
Dramatisierung  ihrer  Erzsehlungen,  z.  B.  der  'Reichsgraefin  Gisela'  sogar  den 
Weg  auf  die  Bühne. 

Doch  noch  öfter  beschäftigte  sich  der  aus  gemütvoller  Teilnahme  und 
überlegenem  Spott  gemischte  Humor,  für  den  Dickens  das  massgebende  Vor- 
bild darbot,  mit  den  kleinen  Verhältnissen  des  Lebens.  Mit  besonderer 
Liebe  versenkte  sich  Wilhelm  Raabe,^^  geb.  1831  zu  Eschershausen  im  Her- 
zogtum Braunschweig,  in  enge,  dürftige  Verhältnisse,  die  doch  durch  die 
Poesie  der  Empfindung  verschoent  werden.  Sein  erster  Roman  ist  'Die  Chronik 
der  SperUngsgasse'  1857  ;  'Der  Hungerpastor  1864,  'Horacker'  1876  ua.  haben 
den  gleichen  herzlichen,  zuweilen  schrullenhaften  Zug.  Kräftiger  schilderte 
pommersche  Zustände  Edmund  Hcefer,"'*  geboren  zu  Grcifswald  1819,  ge- 
storben zu  Cannstadt  1882.  1852  begann  er  mit  'Erzsehlungen  aus  dem  Volk'; 
in  'Schwanwick',  Stuttgart  1856,  und  in'Aldermann  Ryke'  1864  leistete  er  wohl 
sein  Bestes.  Durch  tiefe  Empfindung,  welche  die  Natur  mit  den  Seelenvor- 
gängen   in   innigen  Zusammenhang    bringt   und   selbst   spukhafte  Sagen   neu 


Eggei-8,  Klaus  Groth  und  die  plattdeutsche  Dichtung,  Berlin  1885.  25)  Wenig  erbaulich 

ist  der  Spott  über  das  Zugrundegehen  kirchlich  liberaler  Gelehrtenfamilien  in  dem 
anonym  zu  Hamburg  1853  veröffentlichten  Roman  Eritis  sicut  deus  von  Elisabeth  Cranz. 
26)    Ihre    gesammelten    Schriften    erschienen    zu   Halle   1858—69,    XV.  27)  Ihre  ge- 

stammelten   Romane   erschienen   Leipzig   1888—90  in  70  Lieferungen.  28)    Sein  Pseu- 

don}Tn    in    den    altern    AVerken    ist    Jacob    Corvinus.  29)    Erzaehlende    Schriften 

zuerst    gesammelt    Stuttgart     1865,    XII.      Ausgewählte     Schriften,     .Jena     1882,     XIV. 


§  180  HUMORISTEN.     REUTER.  687 

zu  beleben  weiss ,  gab  Theodor  Storm  ^°  seinen  Erzsehlungen  einen  eigenen 
Reiz,  der  freilich  der  scherzenden  Laune  schon  ferner  steht.  Geboren  zu 
Husum  1817,  war  er  1853 — 1865  als  richterlicher  Beamter  in  Preusseu  an- 
gestellt, dann  wieder  in  der  Heimat  und  starb  zu  Hademarschen  1888.  Seine 
lyrische  Begabung  dringt  auch  in  den  Erzsehlungen  vor,  von  denen  'Immensee' 
1852  die  erste  war,  Aquis  suhmersiis  1877,  Renate  1878  ua.  folgten.  Erst  die 
spseteren  errangen  jedoch  den  Beifall,  den  damals  ein  anderer  norddeutscher 
Schriftsteller,  indem  er  freilich  auch  dem  urwüchsigen  Volksscherz  Raum 
gab,  ganz  für  sich  gewonnen  hatte.  Fritz  Reuter^'  hat,  trotzdem  er 
sich  meist  seines  Dialectes  oder  vielmehr  der  zwischen  diesem  und  der 
Schriftsprache  stehenden  Redeweise  seiner  gebildeten  Landsleute  bediente, 
doch  in  ganz  Deutschland  Leser  gefunden.  Geboren  zu  Stavenhagen  in 
Mecklenburg-Schwerin  1810,  war  er  als  Burschenschafter  1833 — 40  auf 
Festung,  eine  Zeit,  die  er  mit  ergreifendem  Ernst,  mit  packendem  Humor 
in  der  Erzsehlung  'Ut  mine  Festungstid'  1863  beschrieben  hat.  Endlich  frei 
geworden,  suchte  er  sich  vergebens  eine  Lebensstellung  zu  gewinnen.  Als 
Privatlehrer,  bereits  verheiratet,  veröffentlichte  er  1853  seine  Gedichte,  meist 
humoristische,  zum  Teil  derbe  Xseuschen  und  Rimels',^^  Volkssch wanke,  die 
Reuter  vortrefflich  nacherzaehlte  oder  umbildete.  Die  eigenen  Lebenserfah- 
rungen verwertete  er  in  'Ut  mine  Stromtid',  einem  Teil  der  'Olle  Kamellen', 
1856 — 63;  an  der  Hauptfigur,  dem  'Onkel  Brsesig',  der  gewissermassen  durch 
seine  Betrachtungen  den  Chorus  des  Dramas  darstellt,  hat  er  längere  Zeit 
gearbeitet.  Damals  lebte  er  in  Neubrandenburg,  seit  1863  in  Eisenach,  wo 
er  1874  starb.  Die  'Franzosentid'  1860  schrieb  er  nach  den  Erzsehlungen 
seines  Yaters;  in  'Hanne  Nute'  1860  verband  er  Handwerks  brauch  und  eine 
die  Yogelstimmen  nachahmende  Einmischung  der  Tierwelt  in  menschliche 
Schicksale.  Ernst  und  tieftragisch  hatte  'Kein  Hüsung'  1857  die  dunkle 
Seite  der  patriarchalischen  Zustände  seiner  Heimat  berührt,  die  Rechtlosig- 
keit des  Armen  und  Hoerigen. 

Ein    nicht    minder    tiefes  Gefühl    mit   einer   schalkhaften,    gelegentlich 
ebenfalls  derben  Laune  verbunden,  zeigt  ein  Schriftsteller  der  Schweiz,  welcher 

30)  P.  Schütze,  Th.  Storm,  BerUn  1887.  F.  Wehl,  Th.  Storm,  Altona  1888.  Mörike-Storm- 
Briefwechsel,  hg.  v.  Baclitold,  Stuttgart  1891.  'Neue  Novellen'  1878,  'Drei  neue  Novellen' 
1880,  'Novellen'  1882,  'Zwei  Novellen'  1883.    Gesamtausgabe  der  Schriften,  Braunschweig  1889. 

31)  Leben  von  A.  Wilbrandt  in  den  'Nachgelassenen  Schriften  von  F.  Reuter',  "Wismar 
1874  (Sämtliche  "Werke  XIV).  H.  Ebert,  F.  Eeuter,  sein  Leben  und  seine  Werke, 
Güstrow  1874.    K.  Th.  G^dertz,   F.  Reuterreliquien,    Wismar  1885.  32)   §  93,47,  6. 


688  NEUIIOCIIDEUTSCIIE  ZEIT.         XIX  JAIIKII.  §  180 

erst  nach  1870  in  Deutschland  volle  Würdigung  fand.  Gottfried  Keller  ^^ 
war  ein  Züricher,  geboren  1819,  gestorben  1890.  Als  Sohn  eines  Drechslers 
hatte  er  den  Schulunterricht  früh  abgebrochen;  er  wollte  sich  in  München 
1839  zum  Maler  ausbilden,  kehrte  aber  nach  drei  Jahren,  ohne  sein  Ziel 
erreicht  zu  haben,  in  die  Vaterstadt  zurück.  Ein  Staatsstipendiura,  welches 
auf  Grund  seiner  Gedichte'  184G'*  ihm  die  litterarische  Ausbildung  moeglich 
machen  sollte,  genoss  er  in  Heidelberg  und  Berlin,  von  wo  er  1855  heim- 
kehrte. 1861  —  76  war  er  als  Staatsschreiber  in  musterhafter  Weise  thatig. 
Sein  Ruhm  als  Erzschler,  den  er  diu-ch  seinen  Roman  'Der  grüne  Heinrich' ^^ 
1854  und  durch  die  Novellen  'Die  Leute  von  Seldwyla'  1856  in  der  Schweiz 
begründet,  dann  durch  die  humoristisch  mit  den  Heiligen  spassenden  'Sieben 
Legenden"  1872  erneut  hatte,  wurde  durch  Romeo  und  Julie  auf  dem  Lande' 
1876  auch  in  Deutschland  zur  vollen  Anerkennung  gebracht.^"  Die  'Züricher 
Novellen',  1878,  H,  zeigten  Keller  auch  auf  dem  Gebiet  der  historischen 
Erzeehlung  tüchtig.  Der  Novellencyclus  'Das  Sinngedicht'  1881  führt  mehr- 
fach nach  Norddeutschland,  wsehrend  der  Roman  Martin  Salander'  1886 
wieder  ganz  in  der  Heimat  spielt.  Überall  bietet  der  Dichter  Selbstempfun- 
denes, Selbstgeschautes.  Mit  Vorliebe  stellt  er  die  Tseuschungen  und  Ent- 
tgeuschungen  des  Idealismus  dar,  bald  in  der  Liebe,  bald  im  Staatswesen, 
doch  so,  dass  zuletzt  doch  das  Herz  Recht  behält.  Auch  in  der  Lyrik 
Kellers  herrscht  bei  aller  Herbe  ein  stiller  Frieden.  Jean  Paul  war  sein 
Jugendideal,  über  das  er  nur  spseter  hinauswuchs. 

Nicht  der  Humor,  aber  die  nahe  Berührung  mit  der  Wirklichkeit  der 
Dinge  verbindet  mit  den  bisher  genannten  Romanschriftstellern  auch  Fried- 
rich Spielhagen. ^'  Geboren  zu  Magdeburg  1829,  kam  er  jung  mit  seinen 
Eltern  nach  Stralsund  und  die  Ostseeküste  ist  für  ihn  oft  der  Schauplatz  der 
Erzaehlung:  so  in  der  vorzüglich  schcenen  Novelle  'Auf  der  Düne'  1858. 
Ein  umfänglicher  und  mehrfach  fortgeführter  Roman,  'Die  problematischen 
Naturen',  1861,  II,  schildert  zuletzt  die  Berliner  Ereignisse  vom  März  1848; 

33)  Eine  Lebensgeschichte  schrieb  zusammenfassend  Breuning,  1892:  vorher  Brahm, 
Lpz.  1883;  vgl.  auch  Frey,  Erinnerungen  an  G.  Keller,  Lpz.  1892.  G.  Kellers  Leben. 
Seine  Briefe  und  Tagebücher.  Von  J.  Baechtold,  I.  Berlin  1894.  Kellers  Nachgelassene 
Schriften   und  Dichtungen,  Berlin    1893.  34)    Gesammelte  Gedichte.    Berlin  1883  uö. 

35)  Durchaus  absprechend  beurteilt  diesen  noch  Kreysig,  Vorlesungen  über  den  deutschen 
Roman  der  Gegenwart,  Berlin  1871.  36)  Heyse  nannte  ihn  in  einem  Sonett  'Shakespeare 

der  Novelle".  37)  Sämtliche  Werke  1871,  X:  1877—78,  XIV.    L.  Ziemssen,  F.  Spiel- 

hagcn,  Breslau  o.  J.  (Deutsche  Bücherei  XXVI.) 


§  180  KELLER.     SPIELHAGEN.  689 

In  Reih  und  Glied'  1866  zielt  auf  F.  Lassalle;  'Die  Sturmflut'  1876  auf 
die  damals  eben  vergangene  Gründerzeit.  Spalter  hat  Spielhagen  allzu  sehr 
die  Resignation  und  zuletzt  in  'Der  neue  Pharao'  1889  die  völlige  Abwen- 
dung von  der  politischen  Lage  unserer  Zeit  hervortreten  lassen.  Nur  der 
Ichroraan:  'Was  will  das  werden?'  1887  spricht  noch  Hoffnungen  auf  eine 
bessere  Zukunft  aus.  Nach  der  heitern  Seite  wendet  sich  'Das  Skelet  im 
Hause'  1878,  und  die  Schauspiele  'Liebe  für  Liebe',  1875,  'Hans  und  Grete' 
1876.  Wertvolle  Erörterungen  über  seine  Kunstübung  boten  Spielhagens 
'Beitrsege  zur  Theorie  und  Technik  des  Romans'  1882,  'Finder  und  Er- 
findet 1890. 

Neben  Spielhagen  traten  andere  Schriftsteller  des  Zeitromans  zurück; 
nur  E.  Philipp  Lange,  der  unter  dem  Namen  Philipp  Galen  schrieb,  konnte 
mit  seinen  Romanen  aus  den  letzten  Kämpfen  Schleswig-Holsteins:  'Der 
Inselkcenig'  1852,  Y  ua.  Aufmerksamkeit  erregen.  1813  zu  Potsdam  geboren, 
ward  er  Militserarzt  und  verwertete  seine  medicinischen  Studien  in  seinem 
nsechsten  Roman  'Der  Irre  von  S.  James',  1854.  Zeitverhältnisse  schilderte 
auch  der  sociale  Roman  'Unüberwindliche  Mächte',  welchen  der  Kunsthisto- 
riker Hermann  Grimm,  der  Sohn  Wilhelm  Grimms,  1867  erscheinen  liess. 

An  die  Ereignisse  jener  Jahre  erinnern  vielfach  auch  die  Kriegsnovellen 
und  militserischen  Romane.  Hier  folgten  dem  Vorbilde  Hackländers  Julius 
VON  WicKEDE,  geboren  1819  zu  Schwerin;  Adolf  von  Winterfeld,  geboren 
zu  Altruppin  1824,  gestorben  zu  Berlin  1889,  und  Hans  Wachenhusen,  ge- 
boren zu  Trier  1827. 

In  die  Vergangenheit  griffen  dagegen  bald  nach  1850  mehrere  Schrift- 
steller, teilweise  wie  Freytag,  um  sie  der  Gegenwart  als  Mahnung  und  Trost 
vorzuhalten;  Scheffel,  um  sie  mit  den  Gebilden  seiner  dichterischen  Phan- 
tasie zu  erfüllen.  Neben  ihnen  bildete  Wilhelm  H.  v.  Riehl  die  cultur- 
geschichtliche  Novelle  aus,  wsehrend  er  zugleich  eine  'Naturgeschichte  des 
Volkes'  1851 — 69  schrieb.  Geboren  1823  zu  Bieberich  am  Rhein,  lehrt  er 
seit  1859  an  der  Universitaet  München.  Seine  Novellen  erschienen  zuerst 
1856,  mit  historischer  Treue  des  Hintergrundes,  zu  welchem  nur  die  Staffage 
erfunden  ist.  Riehls  zierliche  Erzsehlungen  behandeln  mit  Vorliebe  die 
Künstlergeschichte,  besonders  die  der  Rococozeit.  Dagegen  ging  Franz 
Trautmann  aus  München  (1813—87)  in  das  Mittelalter  und  die  naechstfolgende 
Zeit  zurück,  indem  er  im  holzschnittartigen  Chronikenstil  'Eppelin  von  Gai- 
lingen'  1852,  'Die  Abenteuer  des  Herzogs  Christoph  von  Bayern'  1852.  53,  II; 
'Die  Chronika  des  Herrn  Petrus  Nöckerlein'  1856  ua.  abfasste. 


G90  NEUHOCHDEUTSCHE  ZEIT.        XIX  JAIIRH.  §  181 

Daneben  hat  der  Wunsch,  in  erzählender  Form  die  Ergebnisse  der 
Wissenschaft,  besonders  auf  den  dunklereu  Gebieten  der  Geschichte,  so  genau 
als  moüglich  mitzuteilen,  auch  Fachgelehrte  zum  historischen  Roman  geführt: 
so  Geor«;  M.  Ebeus, '^  geboren  1837  zu  Berlin,  mehrere  Jahre  hindurch  Pro- 
fessor in  Leipzig,  dessen  'Aegyptische  Kccnigstochter'  1864  eine  längere  Reihe 
von  Erzaehlungeu  eröffnet  hat;  wsehrend  Felix  Daiin,  geboren  1834  zu  Ham- 
burg, die  altgermanische  Sage  und  Geschichte  zu  seinem  Gegenstand  er- 
wa^hlte:  auf  'Harald  und  Theano'  1856,  ein  episches  Gedicht,  folgte  nament- 
lich 'Ein  Kampf  um  Rom'  1876,  III. 

§  181. 

Ein  Überblick  über  die  wissenschaftliche  Prosa  seit  der  Mitte  des  Jahr- 
hunderts kann  nur  eine  Anzahl  von  Namen  darbieten,  Schriftsteller,  welche 
mit  vorzüglichen  und  weithin  wirkenden  Forschungen  auch  eine  eigentümliche 
Form  der  Darstellung  verbunden  haben. 

Dass  nach  Hegel  die  deutsche  Philosophie  ein  neues  umfassendes  Lehr- 
gebfeude  nicht  errichtet  habe,  ist  allgemein  zugestanden;  auch  die  ihm  früher 
schon  entgegengestellten  Systeme,  wie  namentlich  das  Schopenhauers,  haben 
bei  aller  Anregung  im  Einzelnen  doch  nicht  Stand  gehalten.  Schopenhauers 
Gedanken  erneuerte  wesentlich  Eduard  von  Hartmann  in  seiner  Philosophie 
des  Unbewussten'  (1869),  welche  den  Willen  der  Natur  zugleich  als  Intelli- 
genz fasste.  Geboren  zu  Berlin  1842,  musste  er  1865  wegen  Kränklichkeit 
aus  der  militajrischen  Laufbahn  zurücktreten.  Hartmann  hat  auch  als  Dra- 
matiker sich  versucht  und  unter  dem  Namen  Karl  Robert  in  seinen  'Drama- 
tischen Dichtungen'  1870  Tristan  und  Isolde,  David  und  Bathseba  behandelt; 
'Aphorismen  über  das  Drama'  veröffentUchte  er  1870.  Eine  Neugestaltung 
der  deutschen  Philosophie  erwartet  man  von  der  Vertiefung  der  Naturwissen- 
schaften, und  namentlich  die  Schriften  von  Hermann  von  Helmholtz,  geboren 
zu  Potsdam  1821,  erregen  und  begi-ünden  diese  Hoffnung. 

Die  Anhänger  Hegels  haben  indessen  einzelne  Zweige  der  Philosophie 
ausgebaut.  So  Friedrich  Theodor  von  Vischer  ^  die  Aesthetik.  Geboren  zu 
Ludwigsburg  1807,  wirkte  er  namentlich  als  ausgezeichneter  Interpret  der  Dich- 
tung zuletzt  in  Stuttgart,  1855—1866  in  Zürich,  und  starb  zu  Gmunden  1887. 
Seine  Untersuchimg    'Über  das  Erhabene   und  Komische'    1837    hatte   sofort 

38)  Ebers  'Die  Geschichte  meines  Lebens',  Stuttgart  1893. 

§    181.      1)    'Mein    Lebensgang':     Altes    und    Neues    3    (Stuttgart    1862).      Ilse    Frapan, 

Vischer-Erinnerungen.    Stuttg.  1889.     Th.  Ziegler,  F.  Th.  Vischer.  Stuttg.  1893. 


§  181  PHILOSOPHIE  UND  GESCHICHTE.  691 

Anerkennung  gefunden ,  seine  'Aesthetik  oder  Wissenschaft  des  Schoenen', 
1847 — 58,  III  erschwerte  das  Verständnis  nur  durch  die  vielfache  Rücksicht 
auf  die  abweichenden  Ansichten  Anderer.  Auch  Yischer  hat  sich  dichterisch 
bethsetigt:  Ernstes  brachten  seine  'Lyrische  Gänge'  1882;  im  Bänkelsängerton 
besang  er  unter  dem  Namen  Philipp  Schartenmayer  namentlich  187-1  'den 
deutschen  Krieg  von  1870';  und  verspottete  unter  anderen  Pseudonymen 
die  Ausleger  des  Goetheschen  Faust  1862.  In  dem  Roman  'Auch  einer' 
1879,  n,  eine  humoristische  Selbstparodie,  flocht  er  eine  Erzsehlung  aus  der 
Pfahlbauzeit  ein. 

Im  übrigen  erschien  es  besonders  erwünscht,  durch  die  Geschichte  der 
Philosophie  deren  bisherige  Ergebnisse  dem  künftigen  Neubau  zu  erhalten. 
Um  die  Philosophie  des  Altertums  hat  sich  so  besonders  Eduard  Zeller 
verdient  gemacht,  welcher,  1814  zu  Kleinbottwar  in  Würtemberg  geboren, 
gegenwärtig  an  der  Berliner  Universitaet  lehrt.  Seine  Thilosophie  der  Grie- 
chen' Hess  er  Tübingen  1844 — 52,  III  uö.  erscheinen;  eine  'Geschichte  der 
deutschen  Philosophie  seit  Leibnitz'  München  1873  uö.  Kuno  Fischer,  ge- 
boren zu  Sandewald  in  Schlesien  1826,  jetzt  in  Heidelberg,  schrieb  eine 
'Geschichte  der  neueren  Philosophie'  1844  —  82,  VI,  und  erleeuterte  durch 
zahlreiche  Schriften  in  glänzender  Darstellung  unsere  classischen  Dichter,  be- 
sonders Schiller. 

Die  geschichtUchen  Studien  fanden  in  dieser  Zeit  ausgezeichnete  Fort- 
führung. An  Niebuhr  schloss  sich  Theodor  Mommsen  an,  geb.  zu  Haiding 
in  Holstein  1817,  jetzt  in  Berlin.  Seine  'Roemische  Geschichte'  erschien 
zuerst  1854.  55,  III,  wozu  1885  der  V.  Band  hinzukam.  War  stilistisch 
wie  sachlich  bei  Mommsen  die  Anpassung  an  moderne  Verhältnisse  über- 
raschend, so  suchte  'Die  Geschichte  der  deutschen  Kaiserzeit',  Braunschweig 
1855 — 88,  V,  von  Wilhelm  von  Giesebrecht  (geboren  zu  Berlin  1814,  ge- 
storben zu  München  1889)  vielmehr  die  mittelalterliche  Anschauung^neu  zu 
beleben.  Jon.  Gustav  Droysex,  geb.  1808  zu  Treptow,  gest.  zu  Berlin  1883, 
entwickelte  in  seiner  Geschichte  der  Preussischen  Politik,  Berlin  1855 — 86,  V, 
die  Grundlagen,  auf  denen  die  preussische  Führerschaft  in  Deutschland  be- 
ruhte und  stellte  im  'Leben  des  Feldmarschalls  Grafen  York  von  Wartenberg', 
Berlin  1851.  52,  HI  einen  Vertreter  des  preussischen  Wesens  dar.  Der  um 
die  Wendung  der  süddeutschen  Politik  um  1860  hochverdiente  Heidelberger 
Professor  Ludwig  Häusser,  geb.  zu  Kleeburg  im  Elsass  1818,  gest.  1867, 
trug  namentlich  durch  seine  'Deutsche  Geschichte  vom  Tode  Friedrichs  des 
Grossen  bis  zur  Gründung  des    deutschen  Bundes',    Berlin  1854  —  57,    dazu 


092  NEUIIOCIIDEIJTSCIIE  ZEIT.        XIX  JAIIKH.  §  181 

bei ,  dass  der  für  Deutschlands  staatliche  Wiedergeburt  wichtigste  Zeitab- 
schnitt eine  richtige  Würdigung  fand.  Die  endliche  Begründung  des  deut- 
schen Kciches  durch  Wilhelm  Y  schilderte  1889.  90,  V,  IIeinricji  von  Syijkl, 
geb.  zu  Düsseldorf  1817,  gegenwärtig  Director  der  preussischen  Staatsarchive. 
Eingehend  legte  Hkinuicu  von  Trkitschkk,  geb.  zu  Dresden  1834,  jetzt 
an  der  Berliner  Universität,  die  an  Irrungen  so  reiche  Vorgeschichte  dieser 
Neubegründung  dar  in  der  'Deutschen  Geschichte  im  19.  Jahrhundert',  seit 
1879  (bis  jetzt  IV).  Dieser  politischen  Geschichtschreibung  stellte  sich  die 
niilitscrische  in  den  Gcneralstabswerken  'Der  Feldzug  von  1866  in  Deutsch- 
land', Berlin  1866;  'Der  deutsch-franzocsische  Krieg  1870/71',  Berlin  1872 
bis  1881,  V;  'Der  deutsch-diienische  Krieg  1864',  Berlin  1886.  87,  II  zur 
Seite,  welche  unter  der  Leitung  des  Generalfcldmarschalls  Helmutii  von 
MoLTKE  (geb.  zu  Parchim  1800,  gest.  zu  Berlin  1891)  entstanden  sind.  Von 
ihm  waren  schon  1845  'Briefe  aus  der  Türkei'  erschienen,  welche  zur  deut- 
schen classischen  Prosa  zu  rechnen  sind.^ 

Von  den  zahlreichen  Schriftstellern,  welche  die  Staatswissenschaften 
historisch  aufgehellt  haben,  ist  wenigstens  Ridolf  von  Gneist,  geboren  zu 
Berlin  1816,  noch  hervorzuheben,  dessen  'Englische  Verfassungsgeschichte'  zu 
Berlin  1882  erschien. 

Ein  näheres  Eingehen  rechtfertigt  sich  an  dieser  Stelle,  wenn  die  Fort- 
schritte der  deutschen  Litteraturgeschichte  und  Altertumskunde  zu  berühren 
sind.  Die  Geschichte  der  deutschen  Litteratur  empfing  ihre  erste  würdige 
Zusammenfassung  durch  Georg  Gervixus.^  Geboren  zu  Darmstadt  1805, 
starb  er  in  Heidelberg  1871.  Wie  Haeusser  war  er  von  Friedrich  Christoph 
Schlosser  (1776 — ^"1861)  vorgebildet  worden  und  hatte  dessen  Aufmerksam- 
keit auf  die  Zusammenhänge  der  litterarischen  mit  der  politischen  Geschichte 
sich  angeeignet.  Als  Professor  in  Göttingen  1836,  37  trat  er  den  Brüdern 
Grimm  nahe  und  war  einer  der  'Göttinger  Sieben'.  Aber  weder  seine  poli- 
tische Wirksamkeit  in  den  nsechsten  Jahren,  noch  seine  Geschichtschreibung, 
welche  in  der  'Geschichte  des  19.  Jahrhunderts'  1853 — 66,  XIII,  ihre  Voraus- 
sagen durch  die  Ereignisse  unerfüllt  sah,  reicht  an  die  W^irkung  seiner  'Ge- 
schichte der  poetischen  Nationallitteratur',  Leipzig  1835 — 42,*  welche  un- 
mittelbar   nach    Goethes    Tod    von    dem    Standpunct    unserer    Klassiker    die 


2)  Gesammelte  Schriften  und  Denkwürdigkeiten,  VII,  Berlin  1891.   92.  3)  K.  Gosche, 

G.    Gervinus,    Leipzig    1871;    E.    Lehmann,    G.    Gervinus,    Hamburg   1871.      G.    Gervinus 
Leben  von  ihm  selbst  (1860),  Leipzig  1893.  4)  » 1870— 75. 


§  181  DEUTSCHE  PHILOLOGIE.  693 

gesamte  littcrarischc  Entwickelung  Deutschlands  überblickte  uud  von  der 
bisherigen  poetischen  Zeit  auf  eine  "Wendung  zur  politischen  Bethaitigung 
hinwies.  Die  ältere  Dichtung  war  dabei  noch  nicht  ganz  zu  ihrem  Rechte 
gekommen:  dies  verschaffte  ihr  erst  die  philologische  Forschung,  wie  Lach- 
mann sie  lehrte.  Von  seinen  Schülern  erwarben  sich  besonders  zwei  durch 
den  tiefen  und  weiten  A.nbau  dieser  Studien  Verdienste.  Wilhelm  Wacker- 
nagel, geboren  zu  Berlin  1806,^  gestorben  zu  Basel  1869,  dessen  Litteratur- 
geschichte,  Basel  1849  fgg.,  zuerst  die  ältere  Zeit  auf  Grund  allseitiger 
Durcharbeitung  darstellte  und  dessen  Deutsches  Lesebuch,  1835 — 44,  III  uö., 
schon  vorher  den  wissenschaftlichen  Betrieb  dieser  Studien  allgemein  zugäng- 
lich gemacht  hatte.  Karl  Müllenhoff,  geb.  zu  Marne  in  Südditmarschen 
1818,  gest.  zu  Berlin  1884,  fasstc  aus  den  Quellen  die  gesamte  Geschichte 
des  germanischen  Geistes  zusammen  in  seiner  Altertumskunde,  Berlin  1870  fgg.^ 
An  Müllenhoff  schloss  sich  AViliielm  Scherer  an,  geb.  zu  Wien  1841,  gest. 
zu  Berlin  1886,  der  noch  einmal  die  deutsche  Philologie  durch  selbständige 
Forschungen  auf  allen  ihren  Gebieten  bereichert  hat,  dessen  Buch  'Zur  Ge- 
schichte der  deutschen  Sprache',  Berlin  1868,  ^78  einen  neuen  Abschnitt  der 
deutschen  Sprachforschung  einleitete  und  dessen  'Geschichte  der  deutschen 
Litteratur',  Berlin  1882  uö.,  eine  auch  formell  meisterhafte  Darstellung  dieses 
Stoffes  bietet.'' 

Seitdem  ist  auf  dem  Gebiete  der  deutschen  Litteraturgeschichte  im  Ein- 
zelnen eifrig  weiter  gearbeitet  worden,  und  die  hierdurch  stets  aufs  neue 
geförderte  Beschäftigung  mit  den  grossen  Zeiten  unserer  Dichtung  ist  gegen- 
wärtig und  wohl  auf  lange  hinaus  ein  Segen  auch  für  die  Litteratur  selbst. 

5)  R.  Wackernagel,  W.  Wackernagels  Jugendjahre,  Basel  1885.  Wackernagel  hat  unter 
der  Verfolgung  der  Demagogenrichter  schwer  gelitten:  auf  Grund  eines  Schiilerhriefes  war 
ihm  jede  Aussicht  auf  eine  Thsetigkeit  in  seinem  Vaterland  verschlossen  worden.  Vgl.  noch 
seine  'Kleinereu  Schriften'  (hg.  von  M.  Heyne),  Leipzig  1872 — 74,  III,  wo  auch  eine  kurze 
Biographie.  Poetik,  Rhetorik  und  Stilistik,  hg.  von  L.  Sieher,  Halle  1873,  ^1888.  Als  Dichter 
schliesst  er  sich  durch  Formenreichtum  und  Sinnigkeit  zunsechst  an  Rückert  an.  'Gedichte, 
Auswahl',  Basel  1873.  (5)  Bis  1893  erschienen  Bd.  1,  2,  3,  5.  7)  Vgl.  auch  seine 

'Geschichte  des  Elsasses',  Berlin  1871  uö.  (zusammen  mit  0.  Lorenz)  seine  'Vorträge  und 
Aufsätze',  Berlin  1874;  Poetik,  Berlin  1883;  seine  kleinen  Schriften  hgg.  von  K.  Burdach 
nnd  E.  Schmidt,  Berlin  1893,  IL 


EEGISTER. 


Bei  Namen,  die  auf  mehreren  Seiten  vorkommen,  wird  diejenige  vor  ausgestellt,  welche  die 

'    Lebensumstände  angibt. 


A. 


Aal,  J.  101  a. 

Abbt,  Tb.  443.  455. 

Aberlin,  J.  56  a. 

Abrabam  a  S.  Clara  (TJ.  Megerle)  254—256. 

Abscbatz,   H.  Assmann  v.  A.  264.  267. 

Ackermann,  J.  99.  101. 

Adelphus,  J.  125  a. 

Adelung,  J.  C.  304.  305. 

Adelung  der  Dichter  162.  297.  544. 

Agricola,  J.  99.  101. 

—  J.  105.  147. 

—  M.  65. 

—  Ph.  101. 
Agyrta,  C.  126  a. 
Akademien,  deutsche  295  a.  358. 
Alberus,  E.  12  a.  61.  83  a.  86.  142. 
Albert,  H.  236. 

Albertini,  J.  B.  v.  561. 

Albertinus,  A.  251. 

Albertos,  L.  12  a. 

Alexis,  W.  (W.  Häring)  670. 

Alexandriner  92.  194.  206.  313.  623.  660. 

Aisted  193  a. 

Altenburg,  J.  M.  239  a. 


Alxinger,  J.  B.  v.  521. 

Amadis  124. 

Amalie  v.  Sachsen  (A.  Heiter)  669.  544. 

Amarantes  s.  Herdegen. 

Andrea  J.  V.  66.  77.  83  a.  86.  92  a.  119.  186. 

Angelas  Silesius  s.  Scbeffler. 

Anhalt,   Ludwig  v.  160.  162.  183.  214. 

Anmerkungen,  Gedichten  beigefügt  196.  202. 

219. 
Antike  Mythologie  34,  A.  Lyrik  88  a,  A.  Vers- 

und  Strophenmessung  107. 
Apelles,  V.  104. 
Arndt,  E.  M.  585  fg. 

—  J.  144. 
Arentsee,  J.  104. 

Arnim,  L.  A.  v.  571—573.  568  fg. 

—  Bettina  v.  573. 
Arnold,  G.  284. 

—  J.  G.  D.  17.  607. 
Auerbach,  B.  675.  662. 
Auffenberg,  J.  H.  v.  602. 
Aurifaber,  J.  142  a. 
Aventinus  s.  Thurnmayer. 
Ayrer,  J.  119.  103  a. 


B. 


Babo,  J.  M.  524. 
Babst,  M.  95  a. 


Baggesen,  J.  520,  569. 
Bahrdt,  K.  .T.  448  a.  483  a. 


696 


Bälde,  J.  212. 
Rillude  327. 
bar  44. 

Jiardendichtung  327. 
liardiet  344.  406.  427  a. 
Barth,  C.  116. 
Basedow,  J.  B.  446.  400. 
Bauer,  L.  6(»3. 
Büuerle,  A.  606. 
Bauernfeld,  E.  v.  670. 
Baumgarten,  A.  G.  375.  440. 
Bebel,  H.  29.  76. 
Bechman,  J.  104a.  117a. 
Bechstein,  L.  617. 
Beck,  K.  656. 
Beer,  M.  603. 
Bellin.  J.  185  a.  208  a. 
Benedix,  J.  665». 

Benzel-Sternau  C.  E.  Graf  v.  533a. 
'Berchtoldus  redivivu»'  97. 
Bergreien  40  a. 
Berlichingen,  Güz  v.  135. 
Bertesius,  J.  99.  117  a. 
Berthold,  C.  99. 
Berthold,  B.  v.  Chiemsee  142. 
Besser,  J.  v.  276. 
Bildverse  195, 
Binder,  Georg  101.  107, 
Birch-Pfeifer,  Ch.  669. 
Birck,  S.  29.  32  a.  88..  94.  99.  100.  104.  107. 
114  a. 

—  Th.  104. 

Birken,  Sigismund  v.  185. 

ßismarck,  Füret  549. 

Bitner,  J.  95a. 

Blankenburg,  C.F.v.298a,  328a. 

Blarer,  A.  87. 

—  Th.  88  a. 
Blum,  K.  602. 
Blumaue  r,  A.  521.  523  a. 
Bode,  J.  J.  Ch.  407.  462. 
Bodenstedt,  F.  M.  683. 
Bu-diker,  J.  189. 

Bodmer,  J.  J.  368—375.  300.  303.  306.  361  a. 
397.  401.  405a.  408.  409.  419a.  430.  435a. 


Bogatzky,  C.  H.  v,  330  a. 

Böhme,  J.  144.  145. 

Böhmische  Brüder  84. 

Bohnenlied  39  a. 

Bohse,  A.  (Talander)  267. 

Boie,  H.  C.  463—465.  443.  471.  473.  521. 

Boisseree,  S.  502. 

Bok,  J.  G.  360  a. 

Boltz,  V.  33.  94.  95.  99.  101.  103. 

Bopp,  F.  558. 

Borck,  C.  W.v.  397.  435  a. 

Bürue,  L.  (L.  ßaru.h)  648.  645a. 

Böschenstein,  J.  80.  84  a. 

Bostel,  L,  V,  280  a. 

Boaset,  J.  117. 

Brandes,  J.  C,  525.  528, 

Brandenburg,  L,  H.  v.  240. 

Brandmüller,  J.  193a. 

Braunschweig,  A.  U.  v,  266.  177a.  240a. 

—  H.  J.  V.  116. 

Brawe,  J.  W.  v.  436, 

Brehme,  C.  231. 

Breitinger,  J.  J.  306.  423  a. 

Brentano,  C.  M.  568—571. 

Bressand,  F,  C.  280  a. 

Briefform  der  Abhandlungen  347. 

Brockes,  B.  H.  349—351.  353.  386. 

Bronner,  F.  X,  513. 

Bruelovius,  C.   112, 

Brummer,  J.  101. 

Brun,  F.  518  a. 

Brunner,  Th.  98.  99. 

Bube,  A.  617, 

'Buch  der  Liehe   124. 

Buchholtz,  A.  H.  265. 

Buchler,  J.  76. 

Buchner,  A.  183.  215. 

Büchner,  Ch.  664. 

BuUinger,  H.  97, 

'Bur,  Claws'  105. 

Börklin,  A.  545  a, 

Burmeister,  J,  117  a, 

Butovius,  J.  118  a. 

Butschky,  S,  v.  285. 

Büttner,  W.  130. 


697 


c. 


Calagius,  A.  100. 

Callenbach,  F.  25ü. 

Cammerlander  105  a. 

Canitz,  F.  K.  L.  v.  274.  273  a. 

Qinzleideutsch  168. 

Capito  88  a. 

Carlo  J.  134. 

Casparson,  W.  J.  C.  C.  375  a. 

Castelli,  J.  F.  C.  606.  88  a. 

Chamisso,  A.  v.  (L.  C.  A.  comte  de)  630. 

Chezy,  H.  v.  385  a. 

—  W.  V.  385  a. 

Chryseus,  J.  100. 

Chytrsbus,  N.  13.  61a. 


Dach,  S.  235. 

Dachser,  J.  88  a. 

Dachtier,  G.  163  a. 

Bactylen  192.  218.  317. 

Dahhnann,  F.  C.  643. 

Dahn,  F.  690. 

Dalberg,  W.  H.  v.  337.  506.  526. 

Dasypodius,  P.  6  a.  12. 

David,  L.  135. 

Decius,  N.  83  a. 

Dedekind,  F.  71.  73  a. 

—  C.  C.  250.  280  a. 

'Delineatio   summorum 

studenticse'  79. 
Denaisius,   P.  91. 
Denis,  M.  428. 
Derschau,  v.  382  a. 
Detharding,  G.  A.  364. 


Clajns,  J.  6  a.  12.  32  a.  145. 
Claudius,  K  462  fg.  470. 
Clauren  (C.  Heun)  594. 
CoUin,  H.  J.  V.  530. 

—  M.  V.  531. 
Corner,  D.  G.  88  a. 
Corrodi,  W.  A.  685. 
Cramer,  J.  A.  392.  427. 

—  K.  F.  399  a.  467. 

—  K.  G.  531. 

Cronegk,  J.  F.  v.  436.  381. 

Cnlman,  L.  103. 

Cuno,  J.  117  a. 

Czepko,  D.  V.  C,  und  Keigersfeld  246. 


D. 


104. 


eapituni    lustitudiuis 


Deutsche  Buchstaben  25. 

Deutschgesinnte  Genossenschaft  216. 

'Deutschland,  das  junge   648. 

Devisen  244. 

Dichterverzeichnisse  des  17.  Jahrh.  187  a.  188a. 

Dietenberger,  J.  6  a. 

Dilherr,  J.  M.  238  a. 

Dingelstedt,  F.  v.  658. 

Distichen  320. 

Dohm,  Ch.  C.  466  a. 

Dornavius  73  a. 

Dornblüth,  A.  304. 

Dreyer,  J.  M.  387a. 

DroUiüger,  K.  F.  353.  357  a. 

Droste-Hülshofif,  A.  E.  v.  617. 

Droysen,  J.  G.  691. 

Dudulteus,  Ch.  125. 

Dürer,  A.  32  a.  146. 


Eber,  P.  83  a. 
Eberlin,  J.  60. 
Ebers,  G.  M.  690. 
Ebert,  .J.  A.  392. 
Eckhart,  J.  G.  162. 
Ecklin,  D.  136  a. 


E. 


Eckstein,  U.  115  a. 
Eckstorm,  H.  106. 
Edelpöck,  B.  41.  101. 
Eichendorft-,  J.  v.  627. 
Eisenbeck,  E.  193  a. 
Ekhof,  K.  337.  527. 


698 


Elsbcth,  Th.  388. 

Emser,  H.  5  a.  60  a. 

Enf,'cl,  J.  .1.  444. 

Englische  Komödianten  116.  122  a. 

Episcopiurt,  J.  9r)a. 

Eppendorff,  H.  v.  147. 

Erthel,  U.  41  a. 


Eschenburg,  .1.  J.  4.3:'».  .302.  411a. 

Etter  Heini  103  a. 

Eulenspiegel  12;'). 

Eyering,  E.  63. 

Eysenberg,   J.  149. 

Extemporieren  der  Schauspieler  279.  339. 


F. 


Fabeldichtung  61.  176.  226.  325.  370.  616. 

Faber  de  Wcrdea.  .1.  76a. 

Fabria,  M.  de  90  a. 

Falk,  J.  D.  520. 

Fassmann,  D.  3418.  300  a. 

Fastnachtspiele  9G. 

Faust,  Buch  von  Dr.  125. 

Faustkomödie  180.  340. 

Feind,  B.  186.  280  a. 

Feller,  J.  330  a. 

Feuchtei-sleben,  E.  v.  653. 

Feuerbaeh,  L.  A.  639. 

Fichte,  J.  G.  550.  585. 

Filidor  232  a. 

Finckelthaus,  G.  230. 

Finkenritter  126. 

Fischart,   J.  67.   12.    13.  32  a.  33.  79.  83  a. 

91.  149  fgg. 
Fischer,  K.  691. 
Flacius,  M.  12  a. 
Fleming,  P.  229. 
Flexel,  L.  41. 

Fliegende  Blätter  des  16.  Jahrh.  37. 
Flitner,  J.  29. 
Tloia'  79. 
Flurheim,  C.  81a. 
FoUen,  A.  A.  L.  589. 

—  K.  589. 
Folz,  H.  49. 
Forer,  C.  146. 
Forster,  J.  G,  536. 

—  G.  38  8. 

Fonque,   F.  de  la  Motte-F.  590.   549.   592. 

628.  631. 
Francisci,  E.  223  a.  256. 
Franck,  F.  11. 


Franck,  J.  242. 

—  S.  133.  143.  147. 
Fran(joi8,  M.  L.  v.  686. 

Frauen  litterarisch  tlicctig  163.  240.  298.  544. 

Freder,  .T.  82  a. 

Freher,  M.  161. 

Freie  Verse  321. 

Freientahl,  R.  v.  s.  Grob. 

Freiligrath,  H.  F.  6.59. 

Freinsheim,  J.  1778.   207. 

Fremdwörter  31.  33.  190. 

Freudenspiel  96  a. 

Frey,  J.  C.  79  a. 

—  J.  130. 

Freylinghausen,  J.  A.  243. 
Freyssleben,  L.  103. 
Freytag,  G.  679.  544. 
'Friedrich  L,  Kaiser'  125. 

Friedrich  II.  von  Preussen  293.  296.  354  a. 

358.  385.  3888.  .389  a.  405.  410.416.  429. 

443.  448.  450-^52.  474.  535. 
Friedrich  Wilhelm   IV  von   Preussen   544. 
Frisch,  J.  L.  189. 
Frischlin,  J.  41  a. 

—  N.  29.  74.  97.  113. 
Fröhlich,  A.  E.  616. 
Froelich,  H.  91. 
Froelinkint,  J.  141. 
Froereisen,  J.  95a. 

Fruchtbringende  Gesellschaft  160.  214. 
Fuchs,  C.  74.  79. 

Fugger,  J.  J.  228. 
Funck,  J.  30  a. 
Funcke,  C.  227  a. 
Fünckelio,  .1.  100—102. 


I 


699 


G. 


galant  'toeltmänniscli   164. 

Galen,  Ph.  (E.  P.  Lange)  689. 

Gart,  Th.  98. 

Gärtner,  K.  C.  387. 

Garve,  C.  443. 

Gasmann,  A.  98.  113  a. 

Gast,  J.  130a. 

Gaudy,  F.  v.  632. 

Geibel,  E.  661. 

Gelegenheitsdichtung  174. 

Geller,  E.  280  a. 

Geliert,  C.  F.    388—390.  304.  358  a.  305  a. 

419.  420.  429.  433.  434.  436.  438. 
Gemeinsprache  9. 
Gemmingen,  0.  H.  v.  526. 
Gengenbach,  P.  102.  103. 
Gensschedel,  B.  131  a. 
Gentz,  F.  v.  584. 
Gerhardt,   P.  240.  463. 
Gerok,  F.  K.  v.  616. 
Gerstäcker,  F.  673. 
Gerstenberg,  H.  W.  v.  426—428.  405.  430. 

462.  525. 
Gervinns,  G.  692. 
Gesangbücher,  geistliche  172  a. 
Gesatz  45. 
Geschichtslied  35. 

Gesellschaften,  litterarische  223  a.  350.  357. 
Gesellschaftslied  90.  332. 
Gesner,  K.  10  a.  32  a.  146. 
Gessner,  S.  385.  386.  476. 
Giesebrecht,  W.  v.  691. 
Gilm,  H.  V.  657. 
Giseke,  N.  D.  392. 
Glanner  38  a. 
Glasbrenner,  A.  653. 
Gleim,  J.  W.  L.  377—379.   310.  380—382. 

384—386.  398.  429.  431.  432  a.  433.  435. 

468.  485. 
Gneist,  R.  v.  692. 
Goebel,  G.  98. 
Göckingk,  L.  F.  G.  v.  465. 
Goldast,  M.  167. 

Wackernagel,  Litter.  Geschiebte.  II, 


Goltz,  B.  677. 

Görres,  J.  v.  571.  ,570. 

Goethe,  ,J.  W.  v.  486—503.  308.  364  a.  390. 

400.  413.  421a.  424  a.  426.  430.  435.  443. 

450a.    45.5.    456.    463a.  467  a.    482.  484. 

532.  535.  537.  542  a.  551.  564.  568.  578. 

580.  583.  611a.  626  a. 
Gotter,  F.  W.  530.  466. 
Gotthart,  G.  97. 
Gotthelf,  J.  (A.  Bitzius)  675. 
Gottschall,  K.  R.  v.  653. 
Gottsched,  J.  C.  356—367.  303.   354  a.  369 

bis  372.  376.  377  a.  378  a.  393.  398.  401. 

427.  430.  435. 
Gottsched,  L.  A.  V.  362.  363.  342.  420.  434. 
Götz,  J.  N.  381. 
Goue,  A.  F.  V.  525  a. 
Goeze,  J.  M.  418.  335.  422.  446  a. 
Grabbe,  C.  D.  663. 
Graff,  C.  100. 

GrefF,  ,J.  94.  95a.  98.  99.  101.  103. 
Greflinger,  G.  (Celadon)  232. 
Griepenkerl,  W.  R.  665. 
Gries,  J.  D.  554  a. 
GriUparzer,  F.  603—605.  667. 
Grimm,  F.  M.  296.  363. 

—  J.  574.  22  a. 

—  W.  574.  22  a. 

(Ttrimmelshausen,  .J.  .T.  C.  267—269. 
Grob,  J.  (Reinhold  v.  Freientahl)  248. 
Grobianus  Tischzucht  71a. 

Groth,  C.  685. 

Grübel,  J.  K.  518.  17. 

Grün,  A.  (A.  Graf  Anersperg)  654.  655. 

Grünenwald  41. 

Gryphius,  A.  256—261. 

—  C.  273. 

Gueintz,  C.  215.  189  a. 
Günderode,  K.  v.  573. 
Gundling,  N.  H.  284. 
Günther,  J.  C.  348.  349. 
Gutzkow,  K.  649. 


46 


I 


700 


H. 


Ilaberer.  H.  W.   1(17. 

Habrecht,  I.  91. 

Hac-kländer.  V.  W .  (wfi. 

HafiKT  .'..J'.ta. 

Hairedorn.    K.  v.  3r.l— 353.  30<;.   356.    393. 

401.  433. 
Hagen.  F.   H.  v.    »l.  57Ha.  505. 
Hagenbach,  K.   R.   17. 
Halin,  .1.  F.  4Ü(J.  470a. 

—  L.  Ph.  480  a.  523  a. 

Hahn,  I..   (Tiätin  673. 

Halcm.  (i.  A.  v.  324  a. 

Haller,   A.  354—350.    304.   .300.  307.  357  a. 
362  a.  366.  401.  447. 

—  .1.  104. 

Hallmann,  .1.  C.  264. 
Harn,  H.  95a. 
Hamann,  J.  <t.  451. 
Hamerling,  R.  684. 
Hammer, ^M.  94  a.  lOO. 
Hanke  359. 
Haumann,  E.  182. 
Hatiswursicomödie  330. 
Happel,  E.  (t.  266. 
Hardenberg,  F.  L.  v.  s.  Novalis. 
Harsibirter,  (t.  P.  225.  185. 
Hartmann,  A.  60.  1U6. 

—  E.  V.  690. 

—  M.  657. 
Hasskerl  340. 
Haut!',  W.  014. 

Hang,  C.  Ch.  H.  522.  419  a. 

Haugwitz,  A.  A.  v.  264. 

HiPnsser.  L.  691. 

Hayneccius,  M.  113a. 

Hebbel,  C.  F.  665—66^7. 

Hebel,  J.  P.  513— 515.   17.  474  a.  545.  (529. 

Heberer,  M.  136. 

Heerraann,  .1.  240. 

Hegel.  Ct.  W.  F.  637. 

Hegner,  ,1.  U.  595. 

Heidegger,  Ct.  267  a. 

Heine,  H.  032-037. 


Heinsp,  .1.  .1.  W.  485. 

Helber,  S.   11. 

Heldensarje  56  a. 

Helffrich,  .1.  1.30. 

Hellbach,  W.  71a. 

Hcilwig,  .J.  (Montauiifl)  225. 

Hclniholtz,   H.   V.  690. 

Hdvicus,  C.  160. 

Henisch  189  a. 

Henrici,  C.  F.  (Picander)  .359. 

Hensel,  L.  571. 

Hensler,  K.  F.  530. 

Herdius,  K.  (i.  276.  193a. 

Herbart,  .1.  F.  638. 

Herdegen,  .1.  (Amarantes)  223. 

Herder,  .J.  G.  v.  4.53— 4<;2.    .307.    .340.    385. 

424a.  425a.   429  a.   443  a.  405.  490.  491. 

494.  533. 
Herlicius,  E.  118  a. 
Hermann,  N.  65.  83  a.  85.  80. 
Hermes,  .1.  T.  438. 
Herport,  .1.  103. 
Hersch,  H.  680. 
Hertz,  W.  683. 
Herwegh,  Cr.  6.59. 
Herz,  H.  584.  648. 
Hesekiel,  G.  L.  072. 
Hesse,  E.  29. 

Hessen-Darmstadt,  Anna  Sophie  v.  240a. 
Heun,  K.   s.  Clanren. 
Heusslin,  R.  146  a. 
Hexameter  318. 
Hey,  .J.  W.  616  a. 
Heyse,  P.  642.  662  a. 
Hippel,  Th.  G.  V.  438. 
Hirschberg,  Valentinus  Theocritns  v.  203. 
Hirten-  und  Shimenorden  223. 
Hirzel,  .T.  K.  447. 
Hochdeutsch  14. 
Hopck,  Th.  90. 
Huefer,  E.  686. 

HotTmann,  A.  (E.  Th.  W.)  592—594. 
—  H.  i^von  Fallersleben)  658.  600. 


701 


Hofman  von  Hofiiianswaldaii,  C.  262.  177  a. 

Hohenberg,  W.  H.  v.   176  a.  177  a. 

Höl.lerliü,  F.  519. 

Holle,  L.  102. 

Holtei,  K.  V.  607.  18. 

Hölty,  L.  H.  C.  470—472.  518. 

Holtzman.  D.  61. 

Holtzwart,  M.  57.  63.  70  a.  'JS>. 

Hörn,  W.  0.  v.  (W.  Ürtel)  545  a. 


Hornmold,  S.  32  a. 

Houwald,  E.  v.  601. 

Hövelen,  K.  v.  (Candurin)  223. 

Hoyers,  A.  R.  249.  240  a. 

Hübner,  T.  214.  215.  176  a.   191.  198  a. 

Humboldt,  A.  v.  644.  536. 

—  W.  V.  537.  585a. 

Hunold,  C.  F.  (Menante«)  273.  187.  266  a.  275. 

Hütten,  U.  v.  141.  27  a. 


I.    J. 


lekelsamer,  V.  11. 
Idyllendiclituny  326. 
Iffland,  A.  W.  527.  337. 
Immermann,  K.  L.  596 — 598.  626. 
Interpunction  23. 
Iselin,  J.  447.  458.  534. 
Israel,  S.  97  a.  100. 

Jacobi,  F.  H.  484.  442.  462.  490.  494. 
—  J.  G.  430.  379.  471.  484.  486. 
Jahn,  F.  L.  589. 
Jahn  =  Hansiourst  120. 
Jambus,  fünffüssiger  314.  395,  vicrfüssujer 
316. 


Jasper  von  Gennep  100. 

Jei-usalem,  F.  W.  366.   401. 

Jesuitenkomödie  281.  335. 

Jodel  =  Hansiourst  121  a. 

Jonas,  J.  83  a. 

Jordan,  W.  684. 

Josel  42  a. 

Joseph  II,  Kaiser  289.  401.  412.  445. 

Jmlenhefreiung  258  a. 

'Juliana,  Schseff'erey  v.  d.  schoenen'  124. 

Jungius,  J.   161  a. 

Jung-Stilling,  J.  H.  482.  490. 

Juuius,  F.  161. 


K. 


Kaiisch,  D.  681. 

Kaltenbach,  C.  237. 

Kaut,  J.  452.  411.  445.  456.  458.  477.  485. 

509.  550. 
Kantzow,  Tb.  13.  135. 
Karschin,  A.  L.  385. 
'Karsthans'  60. 
Kcästner,  A.  (j.    398.  331  a.  366  a.  373.  445. 

467  a. 
Kaufmann,  Ch.  480. 
Keimann,  C.  271  a. 
Keiser,  R.  280. 
Keller,  G.  688. 
Kempe,  M.  237. 
Kerner,  J.  612. 
Kiechel,  S.  136. 
Kielmann,  H.  106. 
Kirchenlied  80.  238  fgg.  329. 


Kirchhof,  H.  W.  129. 

Klaj,  J.  225. 

Klauber,  H.  R.  113  a. 

Klee,  G.  (Thym)  56  a. 

Klein,  A.  v.  475  a.  523  a. 

Kleinlawel,  M.  57a. 

Kleist,  E.  U.  V.  382.  383.  389.   416.  447. 

—  H.  V.  576-580.  587a. 
Klemm,  Ch.  G.  339  a.  446. 
Klenck,  C.  L.  v.  385  a. 
Klingemann,  E.  A.  F.  582. 
Kliuger,  F.  M.  479.  472.  478a.  483. 
Klopstock,   F.  G.  399—407.  304.   306.   318. 

373.  425.  447.  449.    467.    469.   472.   475. 
47(5.  490. 

—  Meta  400.  401a.  403.  406  a. 

Klotz,   C.  A.  417.   428.  430.  446.  455.  463. 
Knapp,  A.  616. 


ro2 


Knaust.  U.  84. 

Knebel,  K.  L.  v.  405  a.  :382. 

Knigge,  A.  v.  448  a. 

Knittelverse  li»3.  ',116. 

Kuorr  v.  RoHcnroth,  C.  244. 

Knast  100. 

Kobell,  F.  V.  17. 

Kober,  T.  llüa.  113  a. 

Kohlbrenner.  .1.  F.  S.  v.  330  a. 

Kohlhard  346  a. 

Kolross,  J.  10a.  11.  328.  88.  103.   107. 

Kompert,  L.  676, 

Kongehl,  M.   237. 

Koenig,  H.  671. 

—  J.  U.  276.  280a.  336a    348a.    350.  351  a. 

357  a.  367.  371. 
Köpfel,  W.  (Capito)  142. 
Kopisch,  A.  680. 
Kormart,  C.  279  a.  280  a. 


Körner,  K.  Th.  587. 

Kortum,  K.  A.  521. 

Koaegarten,  G.  L.  517. 

Kotzebue.  A.  v.  528— 53(».  437  a.  448a.  556. 

Krallt,  U.   136. 

KretHchniann,  L.  F.  42!«. 

'kritisch'  Lieblingswort  der  AufklccruHy  2iiO. 

Krumung  der  Dichter  162. 

Krüger,  B.  101.  126. 

—  B.  E.  364. 

—  J.  C.  364. 
Krüginger,  J.  101.  102. 
Kruse.  H.  681. 

Kuh,  E.  384  a. 
Kuhlmann,  Q.  244. 
Kühne,  G.  649. 
Kurz,  H.  672.  682  a. 

—  J.  F.  338. 


Lachniann.  K.  575. 

Lafontaine,  A.  532. 

Laienbuch  126. 

Lamprecht,  J.  F.  367  a.  377. 

Langbein,  A.  F.  E.  522. 

Lange,  S.  G.  377. 

La  Roche,  S.  v.  408-410.  413.  430.  490. 

Lassalle,  F.  548. 

Lassberg,  J.  v.  576.     • 

Lasius,  C.  100. 

Lateinische  Dichtung  161. 

Laube,  H.  651  fg. 

Laukhard  295a. 

Lauremberg,  H.  W.  249.   13  a.   186. 

Laurentius  a  Schnuffis  (J.  Martin)  211. 

Lavater,  J.  C.  425  fg.  401a.  437.  445.  446  a. 

470.  490,  494. 
Leberreime  77. 
Lehmann,  C.  76.  135.  148. 
Leibnitz,   G.   W.   v.   282.    159  a.    162.   359. 

373.  441. 
Leinbarg,  J.  G.  0.  v.  Lütjendorf  L.  6258. 
Leisentrit,  J.  808. 
Leisewitz,  J.  A.  472. 


Lenau  (N.  Niembsch  v.  Strehlenau)  655. 

Lenz,  J.  M.  K.  477.  425  a. 

Leon,  J.  100.  115  a. 

Leschke,  B.  98. 

Leseberg,  J.  100.  101.  118a. 

Lessing,   G.   E.    414—424.    307.   347.   365. 

377—379.  380.  385.  389  a.  397  a.  409.  426. 

434.  439—445.  449.  452.  454.   455.    4.59. 

460.  472.  478.  485.  522.  525.  537. 

—  K.  G.  115  a. 
Leuchsenring,  F.  492  a. 
Leuthold,  H.  683.  662a. 
Levin  s.  Robert. 
Lewald,  F.  674. 
Lichtenberg,  G.  C.  444. 
Lichtwer,  M.  G.  398.  433a. 
Liebhold,  Z.  116a. 
Liederbiiclier  38.  169  a.  200.   202. 
Linck,  C.  S.  336  a. 

Lingg,  H.  683. 
Lindner  335  a. 

—  A.  681. 

—  M.  130. 
Liscow,  C.  L.  6. 


703 


Litzel,  G.  :il8. 

Lfpber,  V.  245.   17  In. 

Lobwasser,  A.  8tt. 

Loccius,  N.  1  I8a. 

Locher,  J.  29. 

Logau,  F.  V.  (Golaw)  245.  385. 

Lohenstein,  D.  C.  v.  262—264.  376.  409. 

Lonemann,  J.  102. 

Loner,  J.  95  a. 

Lorm,  H.  (^Landesman)  657. 


Maaler,  J.  12  a. 

Macuronischc  Poesie  79. 

Mafiopetlius  93a. 

Madriyid  195. 

'Magelone'  97. 

Maier,  J.  523. 

Malss.  K.  607.  17. 

Manso,  .J.  C.  F.  444  a. 

Manuel,  N.  57  a.  105.  139. 

Märchen  56.  560.  565. 

Maiiitt,  E.  (E.  John)  688. 

Martin,  J.  s.  Laurentius  a  8chunffis. 

—  von  Cochem  285. 
Martinslieder  90. 
Mascou.  J.  J.  284. 
Massmaun,  H.  F.  589. 
Mastalier,  K.  429  a. 
Mathesius,  .].  S3a.  85.  86.  138. 
Matthisson,  F.  517. 

Mauricius,  (t.  94.  97.  99.  100.  104. 

Mauvillon.  J.  301a. 

Maximilian  11.  von  Bayern  544.  662. 

Mayer,  K.  615. 

Megerle,  U.  s.  Abraham  a  S.  Clara. 

Meistersinger  43.  114.  153. 

Meissner  Sprache  15. 

Meissner,  A.  657. 

Melanchthon,  F.  27.  29. 

Melan.ler,  D.  130  a. 

—  ().  130  a. 

Melissas,  P.  (Schede)  91.  12.  33. 
Menantes  s.  Hunold. 
Men.ke.  J.  B.  274.  348.  357. 


'lotterholz'  41  a. 
Lotichius,  P.  29. 
Löwen,  J.  F.  335  a. 
Ludovici  341  a. 

Ludwig  1.,  K.  V.  Bayern  626.  544.  648. 
—  O.  668. 
Lund,  Z.  233. 

Luther,  M.  7.  13.  27.  28.  55.  60.  77.  82.  94. 
137.  141.  147.  166. 


M. 


Mendelssohn,  M.   440.   342.   402.    422.    423. 

426  a. 
Menzel,  W.  649. 
Merck,  J.   H.  483.  451a.  492. 
Merckius,  J.  C.  114a. 
Mereau,  S.  570. 
Merkel,  (j.  529  a. 
Messerschmidt,  (i.  F.  127  a.   143. 
Meyer,  F.  L.  W.  485a.  526  a. 
Meyr.  M.  676. 
Michaelis,  J.  B.  437.  528. 
Mieraelius,  J.  13a. 
Miller,  .J.  M.  471.  474. 
Minnesänger  nachgeahmt  381  a.  466.  471. 
Mnioch,  J.  J.  581. 
Mode  verspottet  158. 
Möller,  H.  F.  525.  528. 
Möllerin,  G.  238. 
Moltke,  H.  Graf  692. 
Mommsen,  Th.  691. 
Montanus,  M.  130. 
Morhof,  D.  G.  162.  187.  274. 
Mörike,  E.  614. 

Moritz,  K.  Ph.  537.  295a.  312.  582  a. 
Moscherosch,  J.  31.  251. 
Mosen,  J.  668. 
Mosengeil,  F.  596. 
Mosenthal,  S.  H.  667. 
Moser,  F.  K.  v.  450.  462. 
Mauser.  .1.   449.  303  a. 
Mosheim,  J.  L.  346.  357  a. 
Mügge,  Th.  673. 
Mühlbach,  L.  (Mundt)  672. 


i04 


Mühlpturt.  U.  MA. 
Miillpiihofl",  K.  693. 
Müller,  A.  r»78. 

—  C.  H.  375. 

—  F.  (Maler  Müller)  475—477.  486. 

—  H.   135a. 

—  J.  V.  535.  345.  581a. 

—  J.  (j.  438. 

—  W.  628. 

—  W.  (von  Könif^swinter)  661  a. 
Müllner,  A.  600. 

Mu  ndnrtfti  1 6. 

Mundartliche  DidUunu  IGT.  272  a.  281.  308. 
350  a.  385. 


Mundt,  Th.  649. 
Münigsfeind,  Paniphilus  106. 
Münster.  S.  133. 
Murer,  C.  97. 

—  J.  94.  99.  103. 

Murner,  Th.  58.  57  a.  125.  140. 
MuHPuluR.  A.  138. 

—  W.  83  a. 
Musenidmamicli  3(»2. 
Musikbegleituny  der  Lieder  169. 
Mylius,  C.  366.  377  a.  392a.  416. 
Myllius,  M.  80 a.  88  a. 
Myricsus,  J.  J.  97  a. 

Mythulofiie  allegorisch  verwandt  196. 


N. 


Nachdruck  bekämpft  298. 
Nachtigall.  0.  130a. 

Namen  des   Verf.  in  der  Schlusszeile  ange- 
geben 40. 

—  latinisiert  31. 
Naogeorgus,  Th.  '29.  31a.  112. 
Narr  im  Spiel  111. 
Nathusius,  M.  686. 
Naumann,  C.  N.  365a. 
Neauder,  A.  640. 

—  J.  240. 

Nebenbeschäftigung,  Poesie  als  170  a. 
Nestroy.  J.  606. 

Neuber,  H.  14Ua. 

Neuberln,  C.  336.  368.  394.  420. 

NeuJutchdeutsch  22. 


Neukirch,  J.  (t.   187. 

—  M.  101. 

Neumark,  (J.  184.  176  a.   177  a.  216. 
Neameister,  E.  187.  188. 
Nibelungen  182  a. 

Nicolai,  C.  F.  442.  430.  433.  436.  441.  449  a. 
452.  463.  465  a.  484.  .562. 

—  Ph.  84.  83  a. 
Nicolay,  L.  H.  432. 
Niebnhr,  B.  ti.  641. 
Niemeyer,   A.  H.  330. 
Notter,  F.  615. 

Novalis  (F.  v.  Hardenberg)  559 — 561. 
Nunnenbeck,  L.  49. 
Nuth,   F.  A.  340. 


0. 


Obereit.  J.  H.  374.  448. 
Oehlenschläger,  A.  582. 
Olearius,  A.  229.  245  a. 
Gelinge r,  A.  11. 
Omeis,  M.  D.  185.  228. 
Omich,  F.  97. 


Paalzow,  H.  671. 

Pape,  A.  96  a.  lOO.  104.  115  a. 


Oper  180.  280.  599. 

Üperdte  344. 

Opitz,  M.  197—203.  161.  181.  370. 

Oratoriu7n  281.  331. 

Orthographie  548. 

Ortlob,  K.  187a. 


P. 


Paracelsas,  Th.  145. 
Passionsspiel  155a. 


705 


Paul,  J.  8.  Richter. 

Pauli,  J.  128.  . 

Peschwitz,  G.  v.  183  a. 

Pestalozzi,  J.  H.  534. 

Petri,  F.  76.  148. 

Peucker,  N.  238. 

Pianius,  G.  661a. 

Pfeffel,  G.  K.  432.  480. 

Pfeiffer,  E.  221  a. 

Pfitzer,  J.  N.   125  8. 

Pfizer,  G.  615. 

—  P.  61.5. 

Philosophisch  'rationell'  287  a. 
Picander  s.  Henrici. 
Pichler,  C.  596. 
Pickelhering  120. 

Pietsch,  J.  V.  360. 

Platen  (A.  Graf  v.   P.-Hallermüade^  623 bis 

626.  549  a. 
Platter,  F.  136. 

—  Th.  136. 
Plavius,  J.  235. 
Pleniagen,  D.  v.  27  a.  140. 
Poleus.  Z.  99. 


Quad,  M.  .57.  134. 
Querhamer.  C.  80  a. 


'Politicus'  272. 

Pondo,  G.  97.  100.  103.  115a. 

Possetispiel  121. 

Postel,  C.  H.  154a.  177  a.  275.  280a. 

'Prager  HofkocK  175a. 

Prasch,  J.  L.  191  a. 

Pra;tonus,  J.  256. 

—  P.  98. 
Prehauser,  G.  338. 
Priamel  76.  174. 

Pritsclienmeister  41.  184.  248.  275.  276. 
Probst,  P.  115  a. 

Prosa  des  Volkes  42. 

—  hinter   Verse  gemischt  310. 
Prosaform  der  jioetischen  Gattungen   310. 
Prutz,  R.  652. 

Psalmensang  88. 

Pückler,  L.  H.  F.,  Fürst  v.  F.-Muskau  646. 

627.  652. 
Puppenkomödie  180.  339. 
Pnschmaun,  A.  98. 
Putlitz,  G.  V.  u.  z.  680. 
Pyra,  J.  J.  376. 
Pyrker,  .1.  L.  592. 


Quistorp,  Th.  J.  364. 


R. 


Raabe,  W.  686. 
Rabener,  G.  W.  390. 
Raebmau.  H.  R.  92a. 
Rachel.  J.  250.  352. 
Raimund,  F.  606. 
Ramler.  K.  W.  384  fg.  309. 
Rank.  .J.    676. 
Ranke,  L.  v.  642. 
Raspe,  R.  E.  462  a. 
Rasser,  J.  102.  104. 
Raetel,  H.  99,  115  a. 
Ratichius,  W.  95.  160. 
Bcetsel  42.  77. 
Räumer,  F.  L.  (i.  v.  641. 


Raupach.  E.  B.  S.  601. 

Rausch,  Bruder  56. 

Rauwolf,  L.  136. 

Rebhun.  P.  12  a.  10(».  101.   107. 

Recke,  E.  v.  d.  430a.  519  a. 

Reden  bei  Stautsverhandlungen  168. 

Redwitz.  0.  V.  662. 

Reiche]  365. 

Reimarus,  H.  S.  418  a. 

Reime,  dialektische  166a.  Ulla.  308a. 

Reimlosigkeit  der  Gedichte  193.  312. 

Reinhard.  F.  V.  346. 

Reinick,  R.  629. 

Reim'cke  Fuchs  58.  177a. 


f()6 


lifistn  in  tlas  Auslnuil  '.VI.   l.')?. 
Keiser,   A.  27!» a. 
Keissner,  A.   i:$5. 
IJrsrnius.  P.  .1.   161. 
Kcnter,  (".  2til>.  ;J3«a. 

—  F.  687. 
KlicnanuH.  H.   \,)\. 

—  .1.  :U4a. 
Rhenius.  J.  itr)a. 
Rirciiis,  S.  !»5a. 
Kichev.  M.  iJäO. 

Kicliter,  J.  V.  V.  ^Jean  Paul)  532—534.  23a. 
407  a.  593. 

—  Z.  32  a.  88a. 
Kicdel.  F.  X.  330a. 
Riederer,  J.  F.  325a. 
Kiehl,  W.  H.  V.  689. 
KipuuT,  J.  186 a. 
Kinckaidt,  M.  106.  118a. 
King,  F.  D.  400a. 
Bingwald,  B.  65.  83  a.  86.  104. 
Eisifben,  N.  102. 

Rist,  .J.  220—223.  158a. 
Kitter,  K.  645. 
Kivius,  G.  146  a. 
Robert,  L.  (Leviu)  602. 

—  R.  647.  557  a. 
Robertin.  R.  236. 


Roll,  (i.  98.   115a. 

Kollenhagen,  Georg  63.  !)8.  102». 

—  Gabriel   118a. 
Ko'ling.  J.  237. 
Homan  169.  .-528. 
Bomantiker  469.  549. 
Bomantischi:  Poesie  551. 
Bomanzc  326.  378. 

' Rti'iner,  die  alten    129. 

Roemoldt,  .).  104. 

Rondeau  92  a.  195. 

Ro(iiiette,  O.  ()82. 

Rordorrt;  J.  H.  63. 

Roschraann  436a. 

Rose,  A.  K.  V.  Creutzheim   126a. 

Bosenkremer  66  a. 

Rosen thal,  D.  E.  v.  217  a. 

Rost,  .J.  C.  325.  367.  377.  485a. 

—  J.  L.  267  a. 
Rote,  S.  33a. 
Rotenbucher,  E.  39  a. 
Rückert.  F.  618—623.  22  a. 
Ruett;  J.  94.  97.  98.  100.  101.  103. 
Rüge,  A.  652. 

Rnmohr,  K.  F.  L.  F.  v.  566. 
Rumpier,  J.  K.  v.  Lewenhalt  207. 
Rute,  H.  V.  93a.  98.  99.   105. 


S. 


Sabiuus,  G.  29. 

Sacer,  G.  F.  186. 

Sachs,  H.    48.    51.   61.    79.    83a. 

108.  120a.  153.   154.  495. 
Sailer,  S.  309.  17. 
Salat,  H.  101. 
Salis-Seewis.  J.  G.  v.  518. 
Sallet,  F.  V.  627. 
Saltzmann,  W.  124. 
Salzmann,  J.  D.  489. 
Sanders,  J.  101. 
Sandrab,  L.  74. 
Saphir,  M.  G.  647. 
Sartoriiis,  J.  87  a. 
Sastrow,  B.  135  a. 


Sattler,  J.  R.  9  a. 
Savigny,  F.  K.  v.  574. 
93.    102.    !     Sax,  M.  90a. 

Schack,  A.  F.  v.  683.  682  a. 
Schäferpoesie  224. 
Schäfer  spiel  185a. 
Schaidenreisser,  S.  57  a. 
Scharpfenecker,  A.  102. 
Schausjnelerdrama  179.  277.  335. 
Schauspielertruppen,  deutsche  122.  366. 
Sehefer,  L.  627. 
Scheffel,  J.  V.  V.  684. 
Scheffler.  .1.  (^Angelas  Silesius)  243.  247. 
Schein,  H.   10a. 
Scheit,  C.  71.  47  a. 


707 


Scbelliug,  F.  W.  J.  v.  550.  551.  554. 

Schenk,  E.  v.  603. 

Schenkeudorf,  M.  v.  588. 

Scherenberg,  E.  F.  663. 

Scherer,  W.  6:>3. 

Scheröer,  W.  S.  v.  Scherffenstein  234. 

Schertlin,  S.  S.  v.  Burteabach  135  a. 

Scliertz  mit  der   Warheyt  129  a. 

'Scheveklof  105  a. 

Scheyb,  F.  C.  v.  364a. 

Schickfuss,  J.  135. 

Schicksalstragcedie  599. 

Schiebeier,  D.  435. 

'Schildbürger    126. 

Schiller,  J.  Ch.  F.  v.  503—513.  308.  356  a. 

441.  443.  444.  453.  464.  472.  478  a.  487.  498. 

517.  519.  526.  528a.  531.  537.  553.  555a. 
Schilter,  J.  162. 
Schinner,  I).  231. 

—  M.  176  a. 
Schlayss,  J.  98.  114  a. 

Schlegel,    A.  W.   v.    552—556.    4H4.    465a. 
531.  583.  590. 

—  C.  553. 

—  D.  V.  557.  568. 

—  E.  393—399.  349  a.  434a.  442. 

—  F.  V.  556—559.  580. 

—  J.  A.  397.  362  a. 

—  J.  H.  397. 

Schleiermacher,  F.  D.  E.  559.  585  a. 
Schlosser,  F.  C.  692. 

—  J.  G.  482.  477.  479.  488.  494. 

—  J.  L.  335. 
Schlcezer,  A.  W.  300a. 
Schlup,  J.  V.  118a. 
Schlüter,  J.  82  a. 
Schmeller,  J.  A.  576. 
Schmeltzl,   W.  38  a.  99.  102. 
Schmid,  B.  39  a. 

—  H.  99  a. 

—  K.  99. 
Schmidt,  E.  K.  432. 

—  F.  A.  W.  518  a. 

—  J.  654. 

—  J.  E.  256. 


Schmolcke,  B.  242. 

Schmossmann,  Doctor'  139  a. 

Schnaase,  K.  597. 

Schnabel,  J.  G.  (Gisander)  269. 

Schneuber,  J.  M.   208.  164  a. 

Schnurr,  B.  74. 

Schoch,  J.  G.  231. 

Schoen,  C.  102. 

Schoenaich,  C.  0.  v.  365.  409. 

Schoenborn,  G.  F.  E.  467  a. 

Schoenwaldt,  A.  74. 

Schoppe,  A.  672. 

Schopper,  H.  29.  63. 

Schottelius,  J.  G.  184.  189.  215. 

Schradin,  J.  57  a. 

Schreyvogel,  J.  603. 

Schriftsteller  stand  544. 

Schrueder,  F.  K.  L.  526.  337. 

Schubart,  C.  F.  D.  473—475.  505. 

Schücking,  L.  671. 

Schuldrama  334. 

Schultes,  M.  177  a. 

Schulze,  E.  591. 

Schumann,  V.  1.30. 

Schummel,  J.  G.  447  a. 

Schuppius,  J.  B.  253.  161a.  1H6. 

Schwab,  G.  619.  655. 

Schwabe,  E.  Schw.  v.  d.  Heyde  92.  182. 

—  J.  J.  366.  387. 
Schwanenorden  220. 
Schwanke  51. 
'Schwärm,  Doctor'  139a. 
Schwarz.  S.  240  a. 
Schwarzburg,  L.  E.  Gräfin  v.  240. 

—  A.  J.  Gräfin  v.  240a. 
Schwarzenberg,  J.  v.  27  a. 
Schwebende  Betonung  323. 
Schweinichen,  H.  v.  136. 
Schwenter,  D.  260  a. 
Schwertweg,  J.  103. 
Schwiger,  J.  231. 
Scioppius,  G.  9  a. 
Scriver,  C.  285.  350  a. 
Scultetus,  A.  234. 
Sealsfield,  C.  ^Postel)  672. 


•Oft 


Scrkendoif,   V.  L.  v.   16Ha. 

Seger,  J.  101.  UHa. 

Seidl,  J.  617.  IS. 

Seiillitz,  M.  v.  136. 

Seinecker,  N.  83a. 

Seume,  J.  G.  518. 

Shakespeare  116a.  IIH.  IJOa. 

Siniler,  J.  W.  2Uli. 

Singer  41. 

Singschulen   1;J. 

SleidanuB,  J.  131. 

Smidt,  H.  672. 

Soden,  J.  v.  h'l\. 

Solger,  K.  W.  F.  561. 

Sommer,  J.  77.  75a.  113a.   143    14.s. 

Son,  H.  41  a. 

Sonett  !tl.  194.  321. 

Sonuenfels,  J.  v.  445. 

Spalding,  J.  J.  a46.  457. 

Spangenberg,  C.  94.  136. 

—  J.  187  a. 

--  W.  47a.  74.  :i4.  9r>a    113a.  114a.   126. 

Specklin,  D.  147  a. 

Spee,  F.  V.  2U9— 211. 

Spener,  P.  J.  285.  242.  243. 

Speratus,  P.  82a.  aSa. 

Sperontes  331a. 

Spettler,  M.  97  a. 

Spiess,  C.  H.  531. 

Spiel  im  MnigJ.'  Saal  zu  Paris  105. 

Spielhagen,  F. '608. 

Spindler,  K.  596. 

Spitta,  K.  J.  P.  616. 

SprachgeselUchaften  213. 

Sprachlehren  11. 

Sprachmengerei  158.  168. 

' Sprachverderher\  der  nmirtig  deutsche  158  a. 

Sprecher  41. 

Sprechweise  einzelner  Berufe  17  a. 

Spreng,  J.  J.  353. 


Sprichwörter  42.   156. 
Sprüche  der  Handwerkir   13. 
Stade,  H.  136. 
Stfegemann,  F.  A.  v.  .588. 
Stael,  L.  G.  de  556.  .580. 
'Stände'  Strophenform  2(»5  a. 
Stanze  322. 
Steffens,  H.  566. 
Stegreifstücke  bib. 
Steinhach,  C.  E.  348a.  357  a. 
Stephanie,  G.  .525. 
Sternberg,  A.  v.  Ungern-  673. 
Stettier,  A.  208. 
Stenrlein,  J.   102. 
Stieglitz,  C.  649. 
Stieler,  C.  (der  Spate)  189. 
Stifter,  A.  672. 
Stöber,  Ad.  617. 

—  Aug.  617. 
Stockar,  H.  136. 
Stöckel,  L.  100. 
Stolberg,  Ch.  469. 

-  F.  L.  469.  464.  466.  467.  490. 
Stolz,  A.  546  a. 

Stoppe,  D.  273  a.  356  a.  359. 

Storm,  Th.  687. 

Strachwitz,  M.  K.  W.  Graf  v.  662. 

Stranizki,  J.  A.  338. 

Straube  396. 

Strauss,  D.  F.  640. 

Streitgedichte  37. 

Strizer,  J.  104. 

Stubenberg,  .J.  A.  AV.  v.  265. 

Studentenlieder  90. 

Stumpf,  J.  133. 

Sturm,  J.  K.  R.  616. 

Sturm  und  Drang  407. 

Sturz,  H.  P.  449. 

Sulzer,  J.  G.  375.  373  a. 

Sybel,  H.  v.  692. 


Tabulaturen  der  Meistersinger  44. 
Tannengesellschaft  206. 


T. 


Teckler,  J.  99. 

Teil,  Spiel  von   Wilhelm  97. 


4 


709 


Tersteegen,  G.  243. 

Teufel  im  Schauspiel  111. 

'Theatrum  diabolormii'  138. 

Theobald,  Z.  135. 

Thoraasius,  Ch.  "276  a. 

Tliüinmel,  M.  A.  v.  437. 

Thuinmayer,  J.  (Aventinus)  134.  33. 

Thym,  G.  56. 

Tieck,  L.  561—566.  579.  582  a. 

Tiedge,  C.  A.  5U)a. 

Tierfaheln  hei  den  Meistersirnjern  47  a. 

Tierstimmen  nachgeahmt  188a.  2\0. 

Tirolf,  H.  98. 

Titz,  J.  P.  183.  234.  245. 

Tottwechsel  im   Verse  verlangt  191. 


Uehersetzunyen  164. 

U echtritz,  F.  v.  601. 

Uhland,  L.  608—612.  549.  631. 

Uhsen,  E.  187  a. 

Uhlenhart,  N.  267. 


Varnhagen  von  Ense,  K.  A.  647. 
Vehe,  M.  80  a. 
Velde,  F.  v.  d.  596. 
Veiten,  J.  279.  336. 
Vers  communs  108. 
Versmasse,  antike  31.  193.  234. 
'VerscK  213  a. 
Vespasius,  H.  13a.  82a. 
Vischer,  F.  Th.  v.  690. 


Wachenhusen,  H.  689. 
Wächter.  L.  (Veit  Weber)  532. 
Wackenroder,  W.  H.  563. 
Wackernagel,  W.  693. 
Wagenseil,  J.  Ch.  47  a. 
Wagner,  E.  533. 

—  J.  107. 

—  H.  L.  481. 

—  R.  547.  549. 
Waibliuger,  W.  614. 


Töpffer,  K.  602. 

Törring,  .J.  A.  v.  524. 

'Tragicorao^dia'  95. 

Trautmaun,  F.  689. 

Traunsdorff,  J.  H.  v.  208. 

Treitschke,  H.  v.  692. 

Triller,  D.  W.  365.  356  a. 

Trimeter  314. 

Troemer,  J.  Ch.  (J.  C.  Toucement)  276  a. 

Tromlitz,  A.  v.  (Witzleben)  596. 

Tscherning.  A.  234.  183.  245  a. 

Tschudi,  A.  132.  10.  13.  33.  535. 

—  L.  136. 

Tünger,  A.  129  a. 

Turin,  E.  X.  330  a. 


u. 


Umarheitungen    aus     metrischen    Gründen 

200.  206. 
ünzer,  L.  A.  .301  a. 
Usteri,  J.  M.  515.   17. 
Uz,  .1.  P.  380.  318. 


V. 


Vogel,  J.  41  a. 
Vogl,  J.  N.  617. 
Vogtherr,  H.  146  a. 
Voigtländer,  G.  233. 
Volksbücher  124.  155.  568. 
Volksetymologie  23  a. 
Voss,  H.  569. 

—  J.   H.   467—469.   308.   309.   811.   445  a. 
470  a.  471.  474.  513.  517.  568.  641. 


w. 


Waidsprüche  42. 

Waldau,   M.    v.    (K.    G.    Spiller    v.    Hauen- 
schild) 674.  627. 
Waldis.  B.  61.  13  a.  62.  83  a.  85.  101. 
Walther,  J.  82. 
Warbeck,  Veit   124. 
Weber,  W.  162  a.  41. 
Weckherlin,  G.  R.  203—206. 
Weichmann,  C.  F.  350.  352. 
Weidner,  J.  L.  148  a. 


710 


\Ve\gel  V.  145. 
Weihnacht ssjtiele  KK). 
"Weimar,  F.   W.  v.   147  a. 

—  W.  II   V.  IM 4.  -MOa. 

WeiHP,  Ch.  270-273.  Iö6.  283  a.  376. 
\Vei8«e,   Ch.    F.   433—435.   367.   429.   431. 
432.  436.  437. 

—  M.  Hl. 

Wekhrlin.  \V.  L.  47:'). 
Welthüif/ertum  241) a. 
Weltlüteratur  2.  503. 

^    Werder,  D.  v.  d.  214.   162.   176  a.   215.,  i??^ 
Werlhof  354  a. 
Werner.   Z.  580—582. 
Wernher,  A.  v.  Themar  140. 
Wernicke,  C.  275.  154  a. 
W  essenberg,  .T.  H.  v.  330  a. 
Westennann,  .T.  322a. 
Wetter,  J.  281. 
Wetzel,  J.  124. 
Wezeil  341. 
Wiehert,  E.  681. 
Wiokede,  J.  v.  689. 
Wickram,  G.  127.  7  a.  99.  101—103.  129. 

—  Cir.  129. 


Widmann,  A.  .T.  73. 

—  ö.  R.  125  a. 

—  L.  135. 

Wieland.   .1.    M.    407—414.    307.    370.    373. 
.■}76.  3S0. 

—  .1.  S.   177  a.  208. 
Wien  barg,  L.  648. 

Wild,  S.  97.   KK).  103 a.   114  a. 
^\ildenhruch,  K.  v.  681. 
AVilderniuth,  0.  676. 
Willaraov,  .1.  (i.  430. 
Wilik(»mm,  E.  674. 
Winekelmann,  J.  .1.  439.  423. 
Winnenberg,  Ph.  v.  84  a. 
Wiuterteld,  A.  v.  689. 
Wirri,  ü.  41  a. 
Wirsung,  Ch.  91.  116. 
Wirtschaften,  poetische  185  a. 
Withof,  J.  P.  L.  424. 
Witzel,  ü.  81. 
Witzstat,  H.  84  a. 
Wochenschriften,  Moralische  299. 
Wolf,  H.  9  a. 
Wollt,  Ch.  V.  283.  359.  370  a.  375. 


Y.  Z. 


Yetzeler,  .J.  99. 

5  mh<1.  (nhd.  ß)  Atissprache  21  a. 

Zachariae,  .T.  F.  W.  391. 

Zacharias  40a. 

Zahn,  Z.  101. 

Zäunemauu,  S.  163  a. 

Zedlitz,  J.  C.  V.  605. 

Zeitungen  57. 

Zeitungssänger  175  a. 

Zell,  K.  83  a.  84  a. 

Zeller,  E.  691. 

Zernitz  365. 

Zeaen,  Ph.  v.  216—220.  184.  188.  265. 

Ziegler,  C.  195. 

—  F.  W.  524  a. 

—  H.  98. 


272. 


Ziegler,  H.  A.  v.  266.  262.  268  a. 

—  M.  V.  163. 

Ziely,  W.  124. 

Zimmermann,  J.  G.  447. 

Zimmern,  Ch.  v.  135 a. 

Zimmerische  Chronik  135. 

Zincgref,  J.  W.  76.  92.  148.  163  a.  200. 

Zinzendoi-f,  N.  L.  Graf  v.  242. 

Zorn,  F.  135. 

'Zorobabel'  99. 

Zsehorn,  J.  v.  124  a. 

Zschokke,  H.  594.  578. 

Zwick,  J.  88  a. 

Zwingli,  U.  10.  28  a.  30.  87.  138.  142. 

Zyrl,  C.  114  a. 


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