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GESCHICHTE
DER
DEUTSCHEN LITTERATUR.
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i)EüT8cni:8 li:si:p>üch
VON
\V I L II K L M W V C Iv 1-: W N A (I K f..
VIERTER TEIL. ZWEITER BAND.
GESCHICHTE DER DEUTSCHEN LlTTERATUß.
IT. BAINO.
BASEL
BENNO SCHWABE.
SCUWEIGIIADSKKISCME VKRLAOSBUCIIUANDLUNO.
MDCCCXCiV.
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GESCHICHTE
DER
DEUTlSCHEN littehatur
EIN HANDBUCH
VON
WILHELM WACKERNAGEL.
Zweite Auflage
Beu bearbeitet und zu Ende geführt von
ERNST MARTIN. *»,
II. BAIND.
BASEL.
BENNO SCHWABE.
SCHWEIGHAÜSERISCHE VEBLAGSBUCHHANÜLÜNG.
MDCCCXCIV.
VORWORT.
Indem ich die Litteraturyeschkhte W. Wackerncujeh bis zum Schlüsse
führe, erfülle ich ein vor mehr cds zwanzig Jahren gegebenes Versprechen, bei
ivelcliem ich mir allerdings vorbehielt andere, bereits angefangene litter arische
Arbeiten gleichzeitig zu besorgen. Die erste Lieferung des II Bandes in
der neuen Auflage erschien 1885; von der zweiten an, die 1889 veröffentlicht
wurde und das XVII Jahrhundert umfasste, ivar ich auf selbständige Be-
arbeitung angewiesen, da mir, abgesehen von der allgemeinen Einleitung zum
XVII Jahrhundert, nur ein Collegienheft Wackernagels vorlag, das für die
spcetere, so umfangreiche und so mannigfaltige Litteratur nicht aus7-eichen konnte:
hat doch auch für die ältere Zeit Wackernagel seine Vorlesungen bei der
Drucklegung völlig umgearbeitet.
Für die yieuere Litteratur, und je nceher der Gegenwart um so mehr,
schien es unstatthaft die Vollständigkeit noch lueiterhin durchzuführen, wie
sie bis in das XVI JaJu'hundert erstrebt ivorden ist. Eine selbständige
Kenntnis der gesummten spceteren Litteratur zu erlangen, ist schtver, wenn
nicht überhaupt nur bis zu einem gewissen Masse mceglich; und vielleicht
noch schwerer ist es sie übersichtlich darzustellen. Ich habe mich hier darauf
beschränkt die Dichter und Schriftsteller zu behandeln, ivelche in ihrer Zeit
angesehn ivaren und auch für ims noch lüichtig erscheinen dürfen; ich habe
aus d^n Schriften über sie ausgewcehlt was eine ncehere Kenntnis vermitteln
kann; ich habe in allgemeinen Übersichten namentlich die Geschichte der
Sprache und Verskunst im Sinne Wackernagels tveiter zu führen gesucht.
Ich hoffe auf diese Weise das selbständige Studium der einzelnen Dichter,
Gattungen und Formen der Poesie doch immer erleichtert zu haben. Aller-
dings kann ich mir nicht verhehlen dass bei einer solchen Austvahl die An-
sichten über das Wünscheiisiverte und selbst das Notwendige verschieden aus-
fallen können. Wo ich gefehlt habe, mögen die Kenner der einzelnen Gebiete
VIII
uarhsühfif/ Hrteileti: ivird dorh (lach anderrsrUs in Mouoiirttphion selten iw-
merkt was Oesamtiüirstelhoif/en für das Einzelne Nems geboten Jmhen.
Ich habe nicht in jedem F(üle nnyegeben, was ich den bibliofjrajiJiiscJien
Ant/abe)t Gmlekes oder den Artikeln der ÄUf/emeinen Deutschen Biofjraphie
verdanke. Für die neueste Zeit ist mir Kürschners Litter afurkaJender meJir-
fach von Nutzen gewesen. Überall aber war es mein ernstes Bestreben die
)nir erreichbare Litteratiir selbst kennen zu lernen.
Dass ich die Litterat urr/eschichte bis an die Gegenwart heran geführt
und nicht, wie es sonst meist geschieht, Gcethes Tod, einen freilich tiefen Ein-
schnitt, zum Endziel genommen habe, wcere von Wackernagel wohl nicht ge-
tadelt worden, da er in seinen Vorlesungen über jenen Zeitpunkt Jiinaus ging,
auch in sei}iem Lesebuch voti der Litteiatur seiner eigenen Zeit noch Proben
gab. Auf dieses Lesebuch so viel als moeglich hinzuweisen hielt ich für
meine P/tirJit : sein poetischer Teil ist auch von spceteren Werken dieser Art
nicht überboten worden, die Prosaauswahl hat überliaupt kein Seitenstück ge-
funden.
Es mcegen nun, auch abgesehen von der niclir oder minder umfassenden
und ausführlichen Darstellung, noch manche Verschiedenheiten zwischen der
Geschichte der älteren Litteratur, wo ich Wackernagels Grundlage nur zu er-
gänzen hatte, und meiner selbständigen Fortsetzung obwalten, um dies icohl
schon leusserlich hervortreten wird. Li den Grundanschauungen fühle ich
micJi, gerade in Bezug auf die Litteratur unseres Jahrhunderts, eines Sinnes
mit meinem hochverdienten Vorgänger.
Strassburg, Weihnachten 1893.
Ernst Martin.
ÜBERSICHT DES INHALTES.
Neuhochdeutsche Zeit.
§ 91 G r u n d z ii g e : Blüte des Dramas, der Prosa. Bürger, Gelehrte als Tneger der Litteratur.
Lesen überwiegt. Schriftsprache. Wendung zur Weltlitteratur. Vergleich der Bau-
kunst. Drei Abschnitte: I das XVI und XVII Jahrh. Luther und Opitz, II das
XVIII Jahrh. Classicität, III Romantik 1.
I. ABSCHNITT.
I Abteilung: Das XVI Jahrhundert.
§ 92 Allgemeines. Buchdruckerkunst, Studium des classischen Altertums, Reforma-
tion. Vorbereitungen. M. Luther 4.
§ 93 Sprache der sächsischen Canzlei. Schriftsprache. Sprachlehren und Wörterbücher.
Hochdeutsche Hauptsprache. Mundarten. Grammatische Eigenheiten desXhd.: Dehnung
der Stammsylben. Diphthongierung langer Vocale, Vereinfachung von Diphthongen,
Consonanten im Auslaut denen im Inlaut angeglichen, s vor Cons. zu seh, im In-
und Auslaut mit r- vermischt. Niederdeutsche Einflüsse. Ableitung seltner, Zu-
sammensetzung häufiger. Missverständliche Umbildungen. Schwache Declination und
ablautende Conjugation verwirrt. Metrik nach antikem Muster abgeändert. Inter-
punction. Deutsche (Mönchs-) Schrift 8.
§ 94 Gelehrsamkeit. Lateinische Dichtung. Fremdwörter, Namen latinisiert. Italienische
und französische Einflüsse. Gebildete und Volk geschieden 27.
§ 9.'j Volkslied: episch und lyrisch. Fliegende Blätter. Liederbücher. Gesellschafts-
lieder. Formen der welschen Ton- und Dichtkunst. Die Veifasser nennen sich.
Sprecher und Singer, durch kaiserliche Verbote betroffen .35.
§ 96 Poetische Prosa des Volks. Sprichwörter, Esetsel, Waidsprüche, Sprüche der
Handwerksgesellen 42.
§ 97 Meistergesang der Handwerker. Singschulen, Tabulaturen, Sammlungen. Meister,
wer ein bar vortragen konnte. Künstlichkeit, Lehrhaftigkeit. Wechselwirkung mit
der Volkspoesie 43.
§ 98 Hans Sachs verbindet Volkstümlichkeit und die neue Bildung. Meistergesänge,
Sprüche und Gespraeche, Fabeln und Parabeln. Schwanke. Spiele, Tragcedien. Be-
sonders gut die Fastnachtspiele 48.
§ 99 Poesie der Gelehrten. Epik. Volkstümliche Stoffe seltner als geschichtliche.
Zeitungen. Reinike Fuchs. Thomas Murner. Fabeln: Alberus, B. Waldis. Rollen-
hagen. Geistliche Epik: Ringwaldt, Andrese 55.
§ 100 Job. Fi schart: erzaihlende und lehrhafte Gedichte. Komische Epik. Widmann:
Peter Leu, Laz. Sandrub, Wolfh. Spangenberg 66.
X
§ 101 Sprir hwört e r , rriaiiipln, Loberreiinp. Rtetsel (J. Sommer) 75.
§ 10"J MararoniHohe Poesie: FiHchart u. a. 7H.
§ 10."J Kirchenlied: verntummt in der katlioüsolien Kirche. Luther« eigne und uin-
gedichtete Lieder. Spsetere weniger lyrisch. Keformierte hcHchriinken sieh bald auf
die Psalmen: P. Melissas, A. Lobwasser 80.
§ 104 Weltliche Lyrik der Gelehrten: Theob. Hock. Studenten- und Martinslieder.
Franz. Vorbihl: Fiwchart u. a. P. Melissus (Sonett). Zincgref. E. Schwabe von
der Heide: accentuierender Vers 81».
§ 105 Drama. Das geistliche von den Protestanten verlassen : das antike Vorbild nach-
geahmt. Schuhuünuer und Geistliche als Dichter. Besonders in der Schweiz gepflegt.
Übersetzungen aus Terentius u. a. Unterscheidung von Trag<rdie und Comoedie,
Tragicocomii'dia. Acte und Scenen. Untergang des Fastnachtspieles. Stoff selten
au« heimischer Sage, öfters au« antiker. Meist aber biblisch, besonders aus dem
A. T. Didaxia und Satire eingemischt, meist kirchliche (N. Manuel). Gesang und
Musik wirkt ein, antiker und wälscher Versbau (P. Rebhun). Die Aufführungen
als Staats- oder Stadtaugelegenheit. Junge Bürger als Darsteller. Komische Elemente:
Narren. Spjeter Schüler in lateinischen Dramen (N. Frisclilin), Meistersänger,
Liebhaberge><ell8chaften. Lesedramen 93.
§ 106 Das englische Schauspiel wirkt ein. H. Heinrich Julius von Braunschweig.
Jac. Ayrer d. ä. Possenspiele und Singspiele. Englische Comoedianten und deutsche
Schauspielertruppen 106.
§ 107 Prosa, durch die Gelehrten gefördert. Romane. Übersetzungen. Volksbücher:
Faust, Eulenspiegel, Finkenritter, Schildbürger. G. Wickram. Novellensamm-
lungen: Job. Pauli, H. W. Kirchhof u. a. W. Büttner (Claus Narr) 123.
§ 108 Geschichtsschreibung. Lateinische: Job. Sleidanus, Beatus Rhenanus. Deutsche
besonders in der Schweiz: Aeg. Tschudi. Job. Stumpf. Seb. Münster, Seb. Franck.
M. Quad, Joh. Thurnmayer. Landeschroniken, L^ljensbeschreibungen, Reisen 131.
§ 109 Beredtsamkeit. Predigt: Luther, Mathesins. Fastnachtpredigten 137.
§ 110 Lehrhafte Prosa. Juristische: Joh. von Schwartzenberg. Übersetzungen. Ge-
sprsechlonn, Briefform : Luther. Seb. Franck. Joh. Arndt. Jac. Boehme. Mathematik
und Naturwissenschaften : Paracelsus, Dürer 140.
§ 111 Sprichwörtersammlungen: Joh. Agricola, Seb. Franck; Fried. Petri, Chph.
Lehmann, Joh. Sommer, Zincgref 146.
§ 112 Fisch arts Prosaschriften 148.
§ 113 Rück- und Vor blick. Sieg der gelehrten Litteratur behonders durch die Prosa.
Die Volkslieder verklingen, der Meistergesang verkümmert. Gesungene Dichtung ist
nur noch das Kirchenlied. Volksdramen und Volksbücher. Die letzten Reste der
Volkspoesie. 152.
n Abteilung: Das XVII Jahrhundert.
§ 114 Ausländerei: Reisen, Moden, Sprachmengerei. Gegenbestrebungen. Sprachgesell-
schaften : Fruchtbringende Gesellschaft u. a. Wissenschaftlicher Gebrauch des
Deutschen : Ratichius, Helvicus. Sprachwissenschaftliche Studien : Freher, Goldast,
Junius, Resenius, Morhof, Leibniz, Schilter, Scherz. 157.
XI
§ 115 Litte ratur. Teilnahme der Fürsten uud Frauen. Dichterkroenungen. Zurück-
treten der confessionellen Streitigkeiten und der lateinischen Verse. Galante Dichtung.
Übersetzerthsetigkeit. Verachtung der Volkspoesie: Pritschmeister. Der SOjsehrige
Krieg kein Hemmnis für den Aufschwung der Litteratur. Deren Sitz Nordostdeutsch-
land. Protestantischer Sinn. Luthers Sprache Richtschnur. Mundartliche Reime.
Komische Dialectpoesie. 162.
§ 116 Prosa nachlässiger. Schwerfälligkeit des Canzleistils. Beredsamkeit bei Staats-
bandlungen gepflegt, sonst nur im Roman Sorgfalt und Eifer. 167.
§ 117 Lyrik Hauptgattung der Poesie. Trennt sich mehr und mehr von der Musik.
Poesie Nebenbeschäftigung. Unwirklichkeit der besungenen Liebesverhältnisse.
Dichtung für andere, Entlehnung und Nachahmung, antike Mythologie selbst im
geistlichen Lied. Diese Gattung von allen gepflegt. Lehrhaftigkeit, wenn auch als
Arten des Lehrgedichts fast nur Satire und Epigramm gebraucht werden. Im Epi-
gramm Priamelform. Gelegenheitsdichtung, viel gerügt und doch geübt. 169.
§ 118 Epik noch in Geschichtsliedern, die doch wsehrend des Kriegs zusehends ab-
nehmen. Sonst kaum gepflegt: Fabel ganz selten. Theorie des Epos ^ unklar.
Epische Versuche (Hohenberg u. a.) spgerlich und meist Übersetzungen ; blieben
unbeachtet. 175.
§ 119 Drama beliebt, aber roh, vom Ausland abhängig. Schauspielerdrama übertrieben,
miischt Komik auch in die Tragoedie. Puppentheater. Dichterdrama, geht vielfach in
die Oper über. SchulauflÜhrungen. 178.
§ 120 Gelehrsamkeit auch in dem theoretischen Betrieb der Dichtung. Poetik: Opitz,
Hanmann, Buchner, Titz ; F. Ludwig von Anhalt, Schottelius, Neumark ; Zesen,
(Bellin) ; Harsdörfer. Birken, Omeis; Sacer, Weise; Feind, Hunold, J. G. Neukirch.
Litteraturgeschichte: Morhof, Neumeister. Grammatik: Schottel, Boediker,
Frisch, Stieler. Purismus. Metrik: Beachtung des Sprachaccents beim Versbau.
Frühe Verwechselung des Accents mit der Quantität der alten Sprachen. Dactylen.
Antike Strophenformen (Aisted. Brandmüller). Alexandriner. Sonett u. ae. Madrigal :
Ziegler. Bildverse, Anagramme. Allegorie, Mythologie. Anmerkungen den Gedichten
beigegeben. Die Deutsche Renaissancepoesie geht von der Nachahmung der Alten
zu der der Franzosen über. 180.
§ 121 Opitz. Leben. Verdienste um die Form. Oden. Lehrgedichte. Im Drama nur
Übersetzer. Schgeferei von der Nymphe Hercynia. 197.
§ 122 Weckher lin. Oden im Hofdienst und Liebeslieder. Strassburger Tannengesell-
schaft: Freinsheim, Rumpier, Schneuber. Schwaben und Schweiz: Wieland, Stettier,
Traunsdorf, Simler. 203.
§ 123 Spee: Verskunst vielleicht aus dem Volkslied geschöpft, kirchliche Zwecke. Lau-
rentius von Schnüflis. Bälde: Lateinische Gedichte hohen Stils, Rohheit der deutschen.
Jesuitenpoesie. 209.
§ 124 Dichter der Fruchtbringenden Gesellschaft: Hübner, Werder, Buchner,
Gueintz, Schottelius. Homburg, Neumark. Deutschgesinnte Genossen-
schaft: Zesen, Lyrik und Roman, (v. Rosenthal.) Schwanenorden: Rist,
Drama und Kirchenlied. Hoevelen. (Andere Gesellschaften.) 213.
§ 125 Hirten- und Blumenorden an der Pegnitz. Schseferliche Einkleidung. Hars-
dörfer, (Hellwig), Klaj, Birken, Omeis, Fürer. 223.
XII
§ 12(> Flpininji;, (Meariut«. SachHiwli-liniiiburgiMrlir Sliidpnten- und SoldatenpoPHie: Finckelt-
hau«, Hifhiiip, S<'hoch, Schirnipr, Schwiger. (Der RudolHtiedter Dramatiker Filidor.i
(ireflinger, Lund, Voijjtliinder. 22M.
§ 127 Sihlesit'r: ScultetUH, SclierHer, Tsthernin^', Titz. PreusHen : PlaviuB; Dach, Rohertin,
Albert, Kaltenbach, Köling; Kein]»e, Konpebl, Müllerin. Brandenburg: Peucker. 233.
^ 128 Geistliches Lied: «ubjertiv. Kefonuirte: Luise Henriette v. Brandenburg (n. a.
Fürstinnen. Sibylle Scbwarz . Neander. Lutheraner: Rinekart, Hecnnann, P. Ger-
hardt, J. Franck, B. Schuiolcke. Pietisten: Zinzemlorf, Spener, Francke, Freyling-
hausen, Tereteegen. Mystiker: Knorr von Rosenroth. Kulilmann. 238.
§ 120 Epigramm: Löbers Owenns. Logau ; Czepko. Scheffler = Angelus Silesius: .T.
Grob = Reinhold v. Freienthal. 244.
§ l.'JO Satire: Anna Owena Hoyers; Lauremberg: Rachel. 24«.
§ l."Jl Satirische Prosa: Albertinus; Moscherosch. (Kindermann): Schnppius; U. Megerle
= Abraham a. S. Clara. Bekämpfer des Volksaberglaubens: Pnstorius, Schmidt,
Francisci. Callenbach. 25L
§ 132 Tragoedie: A. Gryphius. Lyrik, Trauerspiel, Lustspiel. 2.')6.
§ 133 Zweite schlesische Dichterschale: Hofnmn von Hofmanswaldau, Lohen-
stein, Abschatz, Mühlpforth, Hallmann, Haugwitz. 261.
$ 134 Roman: Buchholtz, Anton Ulrich v. Brannschweig, H. A. von Ziegler und Klip-
hauseu: Happell, Bohse = Talander. Schelmenroman nach spanischem Muster:
Grimmelshaasen. Robinsonade: Insel Felsenburg. Reuters Schelmuff'sky. 265.
§ 13.') Ch. Weise, Lyrik, Koman, Schuldrama. 'Politische' Nachahmungen. Lyriker: Ch.
Gryphius, Hunold = Menantes, B. Mencke. 270.
§ 136 Hofpoesie im französischen Geschmack: v. Canitz, B. Neukirch: Wernicke und
sein Streit mit Postel und Hunold; v. Besser, K(pnitr: Heraeus. 274.
§ 137 Schausp i ele r dr a ma naih dem Kriege neubelebt. Truppen: Veiten. (Hamburger
Theaterstreit.) Ausländische Muster. Oper (Geller und Dedekind in Dresden, Bressand
in Braunschweig). Oratorium. Jesuitendrama. Volksschauspiel in der Schweiz. 277.
§ 138 Wissenschaftliche Prosa: Leibniz, Ch. AVolff, Thomasius. Geschichtschreibung:
Mascou, Gundling. Kirchengeschichte: Arnold. Erbauliche Prosa: von Butschky,
Scriver, Spener; Martin von Cochem. Religioeser Grundzug der Litteratur auch des
17. Jahrhunderts. 282.
II. ABSCHNITT.
Das XVIII Jahrhundert.
§ 139 Richtung des Jahrhunderts auf Philosophie, Aufklärung, Befreiung des Ein-
zelnen von Kirche und Staat. Nationalgefühl und Humanitfet. Litterarische Kritik.
Lehren und Muster des Auslandes. Letztes Ziel: Verschmelzung der Weltcultur und
der deutschen Volksart. Abschnitte um 1740, 1770, It^OO, durch heftige Kämpfe
bezeichnet. S. 287.
§ 140 He imstätte n deutscher Dichtung: Universitaeten, Akademien, HiBfe. Teil-
nahme der Frauen. Dichtende Offiziere, Kaufleute, Schauspieler. Zeitschriften:
moralische Wochenschriften, litterarische Zeitschriften und Sammlungen. Erneuerung
der altdeutschen Dichtung. 293.
XIII
§ 141 Sprache: Laut- und Biegungsformen. Gottsched, Adelung. Rechtschreibung: Klop-
stock. Wortwalil und Satzbildung. Dicbtersprache. Gottscheds Beschränkuno- nach
franzu'sischera Muster. Bodmer und Breitinger: Machtwörter. Klopstock, Wieland.
Lessing, Herder, Goethe, Schiller. Mundartliche Dichtung. 303.
§ 142 Verskunst. Prosaform in Dichtungen, Wechsel von Prosa und Versen. Irrtümliche
Gleichsetzung vou Tonstärke und Länge. Verwerfung des Reims. Beseitiguno- der
Alexandriner. Jambische Trimeter. Füntfüssige Jamben. Vierlüssler, Hans Sachsische
Versart. Trochseische Achtfiissler. Dactylus : Hexameter, Distichon. Strophenformen.
Kunst der Declamation. Freie Rhythmen. Sonett. Stanze. Strophe des Volksliedes.
Schwebende Betonung. 309.
§ 143 Epik. Religioftses, historisches, romantisches, komisches Epos. Fabel und kleine
Erzsehlung. Parabel und Legende. Idylle. Romanze und Ballade. Lieder auf Zeit-
ereignisse. Bardendichtung. Roman in Prosa. 323.
§ 144 Lyrik. Für den Gesang: Kirchenlied, Cantate, Oratorium; geselliges Lied. Ohne
Musikbegleitung: Lehrgedicht, Landschaftsdichtung. Lieder mit epigrammatischer
Spitze; spätere volksliedniiBssig. Ode, Elegie, Epistel, Satire, Epigramm. 329.
§ 145 Drama. Das Volksdraraa wird beseitigt, das Schuldrama beschränkt. Das Schau-
spielerdrama herrscht bis 1730, kämpft bis 1770 mit dem Dichterdrama. Hauswurst-
komoedie, Puppentheater. Inhalt und Darstellungsweise der Schauspielerdramen. Das
regelmsssige Drama und seine Gattungen: Tragiiedie, Komredie, Schseferspiel: rührendes
Lustspiel: bürgerliches Trauerspiel, ernstes Lustspiel; Historien nach Shakespeares
Art; Jambentragoedie. Oper: Operette. Bnchdrama. 334.
§ 146 Prosa des Verstandes. Geschichtsschreibung bleibt zurück. Autobiographie.
Geschichte der Kunst. Abhandelnde Prosa. Popularphilosophie. Beredtsamkeit.
Prediger: Mosheim, Jerusalem, Spalding, Reinhard. Streitschriften. Dialog. Brief-
form. 344.
§ 147 Neue Aussichten: Günther: Brockes, Hagedorn; Drollinger, Spreng, Haller. 347.
§ 148 Gottsched. Henrici, Pietsch, Frau Gottsched, Grimm, Quistorp, B. E. Krüger, J. Ch.
Krüger, Detharding, Schrenaich, Reichel, Triller, Schwabe. Mylius. Gottscheds
Gegner: Liscow, Rost i^Lamprecht). 356.
§ 149 Bodmer und Breitinger. Sulzer. 368.
§ 150 Preussische Dichterschule : Baumgarten, Meier, Pyra, Lange, Gleim, Uz, Götz, E. Ch.
V. Kleist, Ramler (Ephraim Kuh), die Karschi n. — Gessner. 375.
§ 151 Sachs i sehe Dichterschule, die Bremer Beiträge : Geliert, Rabeuer, Zachariae, Ebert,
Giseke, J. A. Gramer, J. E. Schlegel, J. H. und J. A. Schlegel. — Kästner, Lichtwer 387.
§ 152 Klopstock. 399.
§ 153 Wieland (Sophie la Roche). 407.
§ 154 G. E. Lessing (K. Gi Lessing, Bode, Klotz, Reimarus). 414.
§ 155 Gleichzeitige Dichtung. Nachahmer Hallers: Withof, Creuz; Klopstocks : Lavater,
Gerstenberg. Ossian und die Bardendichtung : Denis (Mastalier\ Kretschmauu
(Hartmana). ^Nachahmer Ramlers: Willamov ; Gleims : J. G. Jacobi, Michaelis,
Klamer Schmidt : Wielands : Nicolay ; Gellerts : PfefFel ; im Drama : Weisse. Sing-
spiel: Schiebeier, Eschenbnrg. Tragcedie : Cronegk. Lessiugs Schüler: Brawe, Ayren-
hoff. Wielands Xachfolger : Thümmel, Museus, J. G. Müller. Roman : Hermes,
Hippel. 424.
XIV
§ 1.% Abhandelnde Pro8a »elbständiger : Winckelinann. LesHinj^« Freunde: Mendeln8ohn,
Nirolai. Abbt, Garve, Engel, Liiiitenbeig. Sonnenfei«, BaHedow. Iselin, Hirzel,
Zimmermann (Knigge, Bahrdt). Sturz. M(E«er. Moser. Haman. Kant. 431>.
§ If)? Herder. 453.
§ l.'>8 Claudius, Bürger (Raspe"), Göckingk, Bnic (Dohm'). Göttinger Dichterbund : (J. F.
Huhn, Schoenborn), Voss, die Brüder Stolberg, Hülty, .Miller, Leisewitz. 462.
§ 159 Rheinischer Litteraturkreis, Stu rm und Drang: Schubart (Wekhrlin, Klein), Maler
Müller, Lenz, Klinger, Wagner (L. Ph. Hahn), Jung-Stilling, Schlosser, Merck, F. H.
Jacobi, Heinse. 472.
§ 100 Go'the (Knebel). 486.
§ 161 Schiller. 503.
§ 1G2 Lyrik der letzten Jahrzehnte vor 1800. Idylle: Bronner. Dialectdichtung: Hebel.
Usteri, Gruebel. Kosegarten. Landschat'tsdichtung : Matthisson (F. Brun), Salis-Seewis,
(F. A. W. Schmidt). Seunie. (iedankenlyrik nach Schillers Vorbild : (Tiedge, Elise
V. d. Recke), Hölderlin. Nachahmer Wielands: Baggesen, Falk, AIxinger, Blumauer.
Kortüni, Langbein. Epigramm : Hang. 513.
§ 163 Drama. Ritterdrama: J. Maier, v. Törring, Babo, v. Soden (Ziegler). Bürgerliche«
Schauspiel : Brandes (Goue), Möller, Stephanie, v. Gemmingen, Grossmann. Schroeder,
IfHand, Kotzebue. Gotter. Zauberposse : Hensler. Trago'die nach franzoesischem
Muster: CoUin. 522.
§ 164 Ritter- und Rjeuberroman: Spiess, Cramer, Wächter, Vulpius. Familienroman: La-
fontaine. Humoristischer Roman: Jean Paul F. Richter (Benzel-Sternau, E. Wagner).
Volksromau: Pestalozzi. Geschichtschreibung: Job. Müller. Erdbeschreibung: Forster.
Kuustlehre : Moritz, W^. v. Humboldt. 531.
III. ABSCHNITT.
Das XIX Jahrhundert.
§ 165 Grundzug des 19. Jahrhunderts das Streben nach Bildung. Historische Neigungen.
Politische Bestrebungen. Abschnitte: I Drittel: Romantik. II Drittel: Tendenz-
poesie und Realismus. Das Jahrhundert erweitert die Teilnahme an der Litteratur;
ein Schriftstellerstaud, durch die Zeitungen gestützt. Gattungen: Lyrik nach an-
fänglicher Blüte zurückgetreten. Drama manigfaltig, durch di" Entfaltung der Oper
beeinflusst. Roman und Novelle massenhaft und verschiedenartig ausgeprägt. Ge-
schichtschreibung, Redekunst. Sprache und Versbau. 539.
§ 166 Die romantische Schule und die Philosophie des Idealismus: Fichte,
Schelling. A. W. Schlegel (Gries), F. Schlegel, Bopp : Schleiermacher. Novalis,
Albertini. Tieck, Solger, AVackenroder, Steffens, Rumohr. 549.
§ 167 Die jüngeren Romantiker und die Begründung der deutschen Altertums-
wissenschaft: Brentano. Luise Hensel. Görres. Arnim. Bettina. Savigny.
J. und W. Grimm. Lachmann. (v. d. Hagen.) Schmeller. Chland. Lassberg. 567.
§ 168 Phantastisches Drama. H. v. Kleist. Z. Werner. Klingemann. Oehlen-
schlaeger. 576.
§ 169 Patriotische Schriften und Lieder. Gentz. E. M. Arndt. Körner. Stsgemanu.
Schenkendoi-f. Turner und Bui-schenschafter: Jahn. Brüder Folien. Massmauu. 583.
XV
§ 170 Erzaehlende Dichtung nach den Freiheitskriegen in Versen: Fouque.
E.Schulze. Pyrker; i n P rosa : Hoffmann. Clauren. Zschokke. Hegner. Mosen-
geil. Tromlitz. v. d. Velde. Spindler. Karoline Pichler. Immermann. 589.
§ 171 Bühnendichtung. Schicksalstragcedie : Müllner. Houwald. Historische Tragoedie :
Uechtritz. Raupach. Berliner Lustspiel: Angely. Blum, Töpfer. Auffenberg.
Robert. Beer. Schenk. Grillparzer. Zedlitz. Wiener Lustspiel: Castelli, Bieuerle.
Volksbühne: Raimund. Xestroy. Dialectstücke : Holtei. Arnold. Malss. 599.
§'l72 Schwteb ische Dichterschule: Uhland. Kerner. Schwab. Hauff. Waiblinger.
Moericke. Bauer. Notter. Mayer. G. und P. Pfizer. Geistliche Liederdichter :
Knapp. Gerok. Ausserhalb Schwabens : Spitta. Sturm. Fabeldichter : (Hey).
Froehlich. A. von Droste-Hülshoff. Romanzen- und Balladendichter: Seidl. Vogel;
Ebert. Bube, Bechstein. Simrock. Aug. und Ad. Stoeber. 607.
§ 173 Fränkische Dichter: Rückert. Platen. Nachahmer: K. Ludwig von Bayern.
Schefer. v. Sallet. 618.
§ 174 Norddeutsche Lyriker: Eichendorf. W. Müller. Reinick. Kopisch. Chamisso.
Gaudy. Heine. 627.
§ 175 Wissenschaftliche Prosa. Die üniversitaet Berlin. Philosophie: Hegel.
Herbart. Schopenhauer. Feuerbach. Theologie: Neander. Strauss. Geschichte:
Niebuhr. Raumer. Ranke. Dahlmann. Philologie. Naturwissenschaften : A. v.
Humboldt. Geographie: Ritter. 637.
§ 176 Das zweite Drittel des Jahrhunderts der Politik zugewandt. Fürst Pückler-Muskau.
Varnhagen. Rahel. Saphir. Börne. Das junge Deutschland. Wienbarg.
Kühne. Mundt. Gutzkow. Laube. Rüge. Prutz. Gottschall. .Julian Schmidt.- 645.
§ 177 Politische Lyriker. Oesterreicher: A. Grün. Lenau. Beck. Meissner. Hart-
mann. Lorm. Gilm. Feuehtersleben. Norddeutsche : Glasbrenner. Hoffmaun.
Dingelstedt. Herwegh. Rheinische Schule : Freiligrath. Kinkel. (Müller von
Koenigswinter. Pfarrius.) Geibel. Conservative Lyriker : Graf Strachwitz. v. Red-
witz. Scherenberg. 654.
§ 178 Drama. Krafttragoedie : Grabbe. Büchner. Griepenkerl. HebbeL Weichere Auf-
fassung : Mosenthal. Halm. Mosen. 0. Ludwig. Dramatisierung von Erzaehlungen :
Birch-Pfeifer. Lustspiel : A. Heiter. Benedix. Bauernfeld. 663.
§ 179 Prosaerzsehlung. Historischer Roman: W. Alexis. H. Koenig. Schücking.
Frauen : M. Paalzow. A. Schoppe. L. Mühlbach. Hesekiel. Litterarhistorischer
Roman : H. Kurz. Geographischer Roman : Sealsfield. Seeroman : H. Smidt. Th.
Mügge. F. Gerstäcker. Socialer Roman : v. Sternberg. Grtefin Hahn-Hahn. F. Lewald.
Willkomm. Waldau. Dorfgeschichte : J. Gotthelf. Auerbach. M. Meyr. J. Rank.
Jüdisches Kleinleben : Kompert. Protest. Pfarrhaus: 0. Wildermuth. Soldatenlebeu :
Hackländer. Naturschilderung : Stifter. Sittenmalerei : B. Goltz. 670.
§ 180 Die Dichtung von 1850 — 70 vom Humor beherrscht, mit Vorliebe historischen oder
provinziellen Stoffen gewidmet. Drama : Freytag. Putlitz. Hersch. Brachvogel.
Wiehert. Kruse. Lindner. Localposse : Kaiisch. Lyrik : Kunstform besondere
im Münchner Dichterkreis erstrebt. Roquette ; Heyse. Hertz. Leuthold. Lingg.
Bodenstedt. Schack. Hamerling. Jordan. Scheffel. Dialectdichtung : Corrodi.
Groth. Roman und Novelle: Frauen: Nathusius. v. FranQois. Marlitt. Landschaft-
licher Roman : Raabe. Hoefer. Storm. Reuter. Keller. Zeitroman : Spielhagen.
XV t
(ialpn. (Triniiii. Soldntcnroinaii : Wirkndp. Wintcrfold. WarhpnhuHPn. Cultnr-
liistoriHchc Novelle: Hiehl. Trautinann. HiHtoriHclier Roman der Gelehrten:
Eher«. Da Im. 67H.
§ 181 Wissenscliaftliche Prosa seit 1850. Philosophie: Ed. v. Hartmann. Naturwissen-
schaft: H. V. Heimholt/. AeKthetik : v. Viwcher. fxertchiehte der Philosophie: Ed. Zeller,
K. Fischer. Politische (teschichte: Momnisen. (üesebrecht. Droysen. Häusscr. v.Sybel.
H. V. Treitschke. Kriegsgeschiehte : v. Moltke. Verfdssungsgeschiehte : R. v. Gneist.
Litteraturgeschiehte : Gervinus (Schlosser). Wackernagcl. Müllenhotf. Scherer. •>!>(>.
(Die eingeklainmert«'n Namen stehen nnr in den Anmerkungen.)
BERICHTIGUNGEN.
S. 75, Anni. 36, Zeile 10 v. u. anstatt Agri-
eola § 111, 6 lies Ackermann t? 105, 45e.
88, A. 49 Z. 14 V. n. 1. Myllius.
91, Z. 1 V. u. lüge hinter Sonette hinzu:
die freilich in der Form so sehr abweichen
dass sie nur für das Bekanutsein des Na-
mens zeugen,
97, Z. 2 V. u. IGOl] 1. 1607.
99, A. 43 tilge das Fragezeichen.
100, Z. 3 V. u. 23a] 1. 144.
101, Z. 2 V. u. .1.] I. Jörg.
138, Z. 2 V. u. streiche Die bcesen Sieben
ins Teuffels Karnöffehpiel 1Ö62: dies ist
eine Streitschrift perscenlicher Art.
180, Z. 13 Rang] 1. Hang.
199, A. 10 Z. 4 V. u. 1632] 1. 1642.
206, Z. 13 Freunden] 1. Fremden.
224, A. 1 füge hinzu : Über das spätere
Fortleben des Ordens s. Mönnich, der pe-
gnesische Blumenorden 1644 — 1844 (Fest-
gabe zur 20Uj<ehrigen Stiftungsfeier"), Nürn-
berg 1844.
228, Z. 16 Johann] I. Daniel.
230, a. 8, Z. 1 J. Amelung] 1. F. Amelung.
232, a. 21, Z. 9 v. u. obersächsich] 1. ober-
sächsisch.
244, Z. 18 Jehua] I. Jehna.
259, A. 16 Z. 6 V. u. Gruhrauer] I. Guhrauer.
284, A. 13: vgl. § 147, 3.
289, Z. 9 raeumtcn] 1. raeumte.
323, A. 120, Z. 2 1756] 1. 1751.
332, A. 19 1. J. F. Reichardt aus Koenigs-
berg geb. 1752.
337, A. 17 aufführten] 1. aufführte.
337, A. 29, Z. 5 Schendi] 1. Schnudi.
349, A. 8, Z. 6 V. u. Kür-^chers] l. Kürschners.
354, A. 39, Z. 11 V. u. 1783] 1. 1883.
406, Z. 19 Dicktkunst] 1. Dichtkunst.
415, A. 5, Z. 6 V. n. 1. G. E. L. Leben.
430, A. 39, Z. 2 v. u. Ranschoff] 1. RansohofF.
471, Z. 6 stand] 1. standen.
478, A. 41 Z. 3 V. u. Loves] 1. Love's.
488, Z. 9 Bekanntschaft] 1. Freundschaft.
520, Z. 6 V. u. 1. Mit Heinrich Voss, dem
Sohne von J. H. Voss (vgl. § 167, 13).
527, Z. 6 1784] 1. 1781 (,wie S. 337).
530, Absatz 2 Heusler] 1. Henslrk.
532, A. 2, Z. 1 : gest. 1795] 1. gest. 1817.
535. Z. 1 tilge die Anführungszeichen.
544, A. 15, Z. 2 v. u. 1. § 179, 27.
577, Z. 4 1. 1777.
588, A. 23, Z. 4 v. u. 1. § 173, 8.
616, A. 48, Z. 3 1. Anm. 45.
637, Z. 6 1. Franzosen.
NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT.
§ 91-
Auf die Epik der althochdeutschen, die Lyrik der mittelhochdeutschen Jahr-
hunderte ist in weitrer Entwickelung und Vollendung dessen, was schon das
ablaufende Mittelalter begonnen, der neuhochdeutsche Zeitraum mit dem
Drama und der Prosa gefolgt, mit dem Drama, das als dritte und letzte Dich-
tungsart den Gegensatz der zwei früheren neu vereinigt, mit der Prosa, die
nun auch dem Verstände die gerechte Form gewaehrt und übermächtig selbst
in die Bereiche der Einbildung und des Gemüthes dringt. Der althochdeut-
schen Litteratur hatte das Kloster, der mittelhochdeutschen, bis die Adels-
rechte erblassten, der Hof das Geprsege gegeben: die neuhochdeutsche auf
dem noch breiter ausgedehnten Grund einer dritten Stufe ist Schöpfung und
Eigenthum der Bürger, der Gelehrten nsemlich unter diesen : denn nicht mehr
unmittelbar aus dem frischen Leben, sondern aus einer Gelehrsamkeit, die
dem Leben des Volkes meist entfremdet ist, wächst die neuhochdeutsche
Litteratur hervor. Darum hat die Epik untergehn, darum selbst in der Lyrik-
das Singen dem Sagen, ja das Sagen überall einem taubstummen Lesen, dem
Schreiben und dem Drucken weichen müssen.
Die Sprache des althochdeutschen Zeitraums hatte sich noch in der
ganzen Mannigfaltigkeit der Mundarten bewegen dürfen, der mittelhochdeutsche
dieselbe zwar nicht getilgt, aber doch bereits auf den einen Grundton der
Schwaebischen Mundart und so in eine Gesammtsprache der Hoefe zu einigen
gesucht: der neuhochdeutsche kennt nur noch Eine Sprache, die grundsätzlich
allen Einfluss der Mundarten zurückweist, die im Gegensatze zu den Mund-
arten des täglichen Lebens die Sprache der Litteratur, der Gelehrsamkeit,
der Bildung, die eine Schriftsprache ist. Heimath und Gebiet der alten
Hofsprache war das obre Deutschland, und daneben fand sich das niedere
noch im Besitz einer eignen Litteratur: unser Neuhochdeutsch aber rührt vom
Wackernagel, Litter. Geschichte. H. 1
2 NErirOOHDEUTSCIlK ZEIT. EINLEITUNG. § 91
OsTKX her aus einem bereits entfreiiuleten, nur durch Colonisution mit Deutsch-
land wiederverbundenen Lande, aus Böhmen ', und liat von da aus die Jlerr-
sclial't über oanz DErTscnr.AXi), auch über Niederdeutschland angetreten.
Der Osten und Nordosten ist die Wiege und lange und wiederholendlich der
Ilcrrschersitz auch der neuhochdeutschen Litteratur gewesen.
In der Sprache, in den Triegern der Litteratur, in deren Stoffen und
Arten überall ein Fortschritt zum Umfassendsten und Allgemeinsten. Wir
gewahren dasselbe, wenn wir auf die Verhältnisse zur Yorzkit und zur
Frkmok unser Auge richten. Schon im Mittelalter hatte sich die deutsche
Litteratur den Folgen ihrer geschichtlichen und geograj)hischen Stellung, den
Einwirkungen des antiken Vorgangs und der romanischen Nachbarschaft nicht
entziehen können: aber die Geistlichen begnügten sich noch mit dem An-
schluss an die schmale Lateingelehrsamkeit der Kirche, die Edlen mit dem,
w;is ihnen die ritterliche Bildung aus Frankreich brachte, und beidemal gedieh
die Entlehnung zur vollkommenen Aneignung. Unsere Litteratur dagegen,
geführt von all der reicheren Gelehrsamkeit, die in ihr waltet, getrieben von
dem Drange nach aussen, der ein alter Hauptzug des germanischen Lebens
ist, hat sich mit immer grocsserer Dahingcbung und Selbstcntäusscrung den
Thaten und Gedanken aller Vorzeit uud Fremde weit aufgethan, zuerst und
zumeist des classischeu Alterthums, dann aber auch der Welschen insgesammt
und des welschen und dos eigenen Mittelalters und des Morgenlandes bis nach
Indien hin: sie ist, zwar noch im Gewände der deutschen Sprache, auf dem
Weg, und vielleicht schon nah am Ende des Wegs, eine Weltlitteratur
zu werden. Freilich fehlt es nicht an Gegenwirkungen, wie denn die Wieder-
erweckung des deutschen Altert hunis auch auf Dichtung und Sprache bereits
tiefgreifenden Einfluss geübt hat. Immerhin hat der Fortgang von der
Besonderheit zur Allgemeinheit, von der Deutschheit in die Welt sich, wie in
der miausgesetzten Blüthe der Lyrik als der am wenigsten durch Volksthüm-
lichkeit bedingten Dichtungsart, so am augenfälligsten in den Formen der
Metrfk wiedergespiegelt. Auch hier bei den Diclitern des Mittelalters noch
das Fremde angeeignet und nicht vielerlei des Fremden; auch hier bei den
Neueren eine staets wachsende Fremdheit, immer andere Formen und immer
mehr Verdienst in der anschmiegendsten Nachahmimg gesucht. Dem sehnlich
in der Sprache. Dieser sind, imd schon bei den Gothen ist ihr so geschehen
(§ 9, 5), mit den fremden Begriffen auch der Fremdworte genug von jeher
§ ^I. 1) § 47. 7a. Vgl. Anz. f. d. Alt. III IIG.
§ 91 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. EINLEITUNG. 3
zugeführt worden, zumal latcinisclie, griechische, franzoesische, und überflüssige
sowohl als unvermeidliche: aber wsehrend das Mittelalter dergleichen so um-
zubilden liebte, dass sie deutscheren Klang und einen Anschein deutschen
Sinnes empfiengen, Isesst sie das Neuhochdeutsche moeglichst unverändert und
hat sogar manches Fremdwort aus früherer Umgestaltung und Aneignung
wieder nseher auf die fremde Urform zurückgebracht.^
Diess Yerhalten des Deutschen dem Fremden gegenüber ist nicht auf die
Sprache und die Kunst der Sprache eingeschränkt: wir finden es, da gleicher-
massen alles Leben solch eine Richtung nimmt, ebensowohl zunsechst in der
bildenden Kunst, in der Baukunst namentlich. Der althochdeutschen Litte-
ratur hatte der romanische, der mittelhochdeutschen der Spitzbogenstil zur
Seite gestanden, in entsprechender Art jener von Rom her, dieser aus Frank-
reich gekommen, aber vollendet durch deutsche Kunst mid deutsch geworden :
mit der Renaissance des sechzehnten Jahrhunderts aber ist auch für die Bau-
kunst der Rückschritt in die echtere Antike versucht und von da an noch
mancher Schritt mehr und immer weiter in die Fremde und immer dem gleich
wie innerhalb der Litteratur gethan worden, bis endlich unsere Tage dort wie
hier alle nur moeglichen Arten und Unarten des Stiles versammelt selm.
Einem Gemüth voll engerer Yaterlandsliebe moegen solche Wahrnehmungen
schmerzlich sein, zumal sie, wie tseglich unter den Völkern Schranke um Schranke
vor zauberhaften Mitteln des Yerkehres zusammenbricht, teeglich unabweisbarer
sich aufdrängen; trostreich aber und erhebend für den, der seinen Blick auf
die gesammte Art des germanischen Stammes, der ihn weiter vorwärts in die
Geschichte der Menschheit richtet und der Yerheissung des göttUchen Worts
von der einen Heerde des einen Hirten denkt: ihm ahnt da aus der alten
noch eine neue Herrlichkeit des deutschen Yolkes.
Eine Gliederung in drei ABScuxrrTE, wie innerhalb der früheren Zeit-
räume sich gezeigt hat, gilt auch, und mit dem nsemlichen Yerhältnisse der
Glieder, für die neuhochdeutsche Zeit. Zuerst (ich benenne die Zahlen im
Grossen) das sechzehnte und siebexzehnte Jahbhundert, das Emporsteigen,
die Bereitung und Begründung: im sechzelmten wird das Alte, das noch vom
Mittelhochdeutschen her vererbt ist, abgethan, und zugleich, noch mehr aber
und entschiedner im siebzehnten, gestaltet sich das Neue; das sechzelmte hat
die Kirchenbesserung, das siebzehnte deren unheilvollen Rückschlag, den
2) z. B. (lomus, inhd. ti(om, nhd. Dom; Grreciia, Kriech, Grteclie; viarti/r, viartertere, Mär-
tyrer ; tonuü, don, Ton.
4 NEIH0('IÜ)EUTSC1IP: ZKJT. § 92
dreissigjälmgoii Krieg, das sechzclinte Martin Lithkh als den Vater der
Sprache, das siobzelmte Martin Oimtz als deu Vater der üiclitkunst. Das
At'HTZEHNTK JAHRnrNDERT, iiiit don Erregungen des siebenja'hrigen Krieges,
dann von aussen her der franzcesischen Staatsuniwäl/ung, bringt in dem kurzen
Verlauf seiner Uiptelhadie die Blüte und die Fülle der Classicitset, bringt
die vollendete Prosa, die vollendete Dramatik, ist mit grossen und den groesten
Namen geschmückt, mit den Namen Kloi'stock, Wikland, Lf:.ssiN(i, Hkhdkr,
ScniLLKR und über allen Gcktuk. Nach solchem Abschlüsse des Entwick-
lungsganges, über den hinaus kein Fortschritt gedenkbar ist, führt das nki'N-
zKiiNTK Jaiiriiundkrt von dem Gipfel wieder hinab zu den Rückschritten der
Ivomantik, zu der neuen von dem Befreiungskrieg entzündeten Flamme der
Vaterlandsbegeisterung, zu einem halb alexandrinischen, lialb byzantinischen
(lewirre, inmitten dessen jedoch Ein sicherer Halt und das Ziel bereits vor
Augen steht, die Gewissheit der nunmehr anbrechenden Weltlitteratur.
In der Darstellung der mittelhochdeutschen Zeit, wo zuerst neben der
Poesie eine eigene Prosa und neben dem Epos Lyrik und Drama mit All-
ma^lichkeit sich gebildet, war es nothwendig, die Fülle des geschichtlichen
Stoffs nach Massgabe dieser Verschiedenheit der Formen anzuordnen. Jetzt
wird dem jelmlich nur noch innerhalb des sechzehnten Jahrhunderts zu ver-
fahren sein, als desjenigen Zeitabschnittes, welcher dem Mittelalter noch die
volle Endsohaft, der Prosa und dem Drama die letzte Begründung giebt; von
da an nicht mehr: von da an bestehn alle Formen der Litteratur in gleich-
msessiger Geltung und sie alle werden von denselben Zuständen betroffen, die
verschiedensten von denselben Personen ausgeübt: den Wechsel jener und die
Thatenfolge dieser hat die Litteraturgeschichte von da an aufzufassen.
ERSTER ABSCHNITT.
§ 92.
Dkr ERSTE Abschnitt der neuhochdeutschen Litteraturgeschichte zerfallt, wie
bereits ist angedeutet worden, wieder in zwei Theile, deren vorderen das sech-
zehnte Jahrhundert mit dem ersten Viertel des siebzehnten, den zweiten die
folgenden zehn bis eilf Jahrzehende füllen. Wir treten an das sechzehnte
Jiihrhundert heran.
Unter den folgenschweren Ereignissen, die Schlag auf Schlag dem Mittel-
alter das Ende gegeben und eine neue Welt geschaffen haben, gehopren die-
§ 92 XVI JAIIRH. REFORMATION. 5
jenigen, die den wichtigeren Tlieil, das Geistesleben, trafen, einzig oder doch
hauptsächlich der Geschichte Deutschlands an, die Erfindung der Buchdkicker-
KUNST, dann mit deren Hilfe, gleich nachdem Italien den Beginn gemacht,
der frische Aufschwung in den Studien dkh ct.as.sisciiex Alterthums (in
Italien selbst und in Frankreich haben zuerst Deutsche die erstehenden Classiker
gedruckt), und unterstützt von diesen Studien ^vie von jener Kunst der Wieder-
bau der Kirche.^ Damit ist in Dingen des Glaubens und des Wissens das
Deutsche Volk der siegreiche Vorfechter aller übrigen geworden, und waehrend
sein Kaiserthum verfiel, an die Spitze eines andern desto gi'oesseren Reichs
geti*eten, eines Weltreichs im Gebiet des Geistes. Auf die deutsche Litteratur
aber hat nm* eines jener Ereignisse ganz und unmittelbar und sogleich fördernd
eingewirkt und für sie die Grenze zwisclien Altem und Neuem gerade hier
gezogen, das letzte in der Reihe, die Reformation. Der Humanismus und
theilweis selber der Buchdruck übten zuntechst mid für läno*ere Zeit nur einen
Isehmenden, hemmenden und, obwohl bereits von älterem Ursprünge, doch
nur mittelbaren Einfluss, nur insofern sie Bezug auf die Kirchenbesserung
hatten, den Weg ihr ebneten und Waffen liehn: die Hauptsache jetzt war
diese, und w\as sie gab, bedeutungs- und entscheidungsvoll genug und auch
der Litteratur ein Segen. Sie, indem sie den grossen Gedanken eines all-
gemeinen Priesterthumes frisch erweckte, baute das gesammte Geistes- und
Sittenleben auf einen neuen, breiteren, tieferen Grund ; sie durch Übersetzung
der heil. Schrift stellte für ganz Deutschland Eine Sprache hin; sie mit dem
Humanismus brachte die Litteratur an die Gelehrten; sie bereitete, die nieder-
deutsche zugleich verdrängend, der hochdeutschen Litteratur, deren Hauptsitz
bisher im Süden des Reichs gewiesen, neue Sitze im Nordosten. Denn eben
hier schlug die Kirchenbesserung ihre Wm-zeln fester und weiter, wsehrend
im Süden die Übermacht bei der alten Kirche blieb oder ihr doch seit dem
schmalkaldischen Kriege 1546 konnte wdeder erzwimgen werden. Diess und
Andres entfremdete letzteren auch der neuen Litteratur für Jahrhunderte
lang, und da er wieder voll eintrat in dieselbe, geschah das wiederum nur durch
Protestanten. Gleichwohl hat der Süden und hat der Katholicismus sich der
Einwirkung des Neuen, das die Reformation gebracht, weder ganz noch dauer-
haft erwehren können -, wie denn überhaupt die ältere Kirche in allen den
§ 92. 1) Zu vergleichen, wie schon Seb. Brant LB. 1. 1505 lg. die neuen Irrlehren und
den Biicherdruck zusammenstellt. 2) Naechstliegende Beispiele die Verdeutschungen des
neuen Test, von Hieronymus Emser (§ d'K 29) 1527 und des alten u. neuen von Johann
6 NEUJ10C1U)EUT8CJ1E ZEIT. XYI .lAIIIMI. i^ 'J2
Liimlern, wo ucboii ihr, vielleicht sogar unterdrückt, die evangelische besteht,
sich mehr noch, als sie weiss und will, von dieser zu eigen macht. 80 voll-
endet sich dennoch gemach und still durch das allmächtige Wehen des Geistes,
was die berechnungsvolle kaiserliche fiewalt und der unselige Zwist der Evan-
gelischen selbst und die starre Verknöcherung, die bald auch über sie kam,
nicht allsogleich hat vollenden lassen.
Es war aber die Reformation kein urplötzliches Ereigniss, ebenso wenig
der mit ihr verbundene Umschlag der Littcratur, und nicht alles Alte ist jen-
seits liegen geblieben, nicht alles Diesseitige neu. Denn die bezeichnenden
Eigenheiten des sechzehnten und noch der folgenden Jahrlmnderte treten uns
meist schon irgendwie am Ablaufe der mittelhochdeutschen Zeit entgegen: da
schon in Mystikern und Ketzern die Ahnung und Anbahnung der Reformation
(§ 90, 15 fgg.); da schon Verdeutschungen der heil. Schrift, wenngleich nicht
aus der rechten Quelle (§ 90, 7), und deutscher Kirchengesang (§ 76) und
deutsche Predigt (§ 88, 1. 89, 7 fgg. 90, 18 fgg.) und eine Fülle ander-
weitiger Prosa (§ 87 fgg.) und mit Eifer geübt das Drama (§ 85 fg.); da
schon die Grundlegung des Neuhochdeutschen (§ 47, 7 fgg.); endlich schon
da in Leben und Litteratur die vorwiegende Geltung des dritten Standes
(§ 44) und neben, ja über dem Adel der Geburt der neue Geiehrtenadel, dem
namentlich die Einführung des Roemischen Rechtes sein Ansehn gab.^ Und
umgekehrt bestand noch im sechzehnten Jahrhundert Manches von dem weiter,
was schon im fünfzehnten und schon früher da gewesen: neben der Schrift-
sprache wie einst nach der Sprache der Hoefe einzelne Mundarten in litte-
rarischem Gebrauch (§ 47. 93, 5 fg. 98, 13 — 14); litterarische Thsetigkeit
noch im Südwesten, am Rhein und in der Schweiz (§ 103, 45 fgg. § 100.
§ 104, 9. 105, 10 fg. 108, 7. § 112); von den Arten und Formen der Litte-
ratiu- das geistliche und das Fastnachtsspiel (§§ 85 fg. 105), das Volkslied
und der Meistergesang (§§ 49. 75 fg. 95. 97); in Volksliedern ein Versbau
nach Accenten, im Meistergesänge nach der Sylbenzahl, und ebenso in aller
unstrophischen, in epischer, didactischer, dramatischer Dichtung Verse von
DiETENBERGER 15:34. die wenig geändert nur die Lutherische wiedergeben: Panzers Gesch.
d. rcemis'h-cathol. deutschen Bibelübersetzung, Nürnb. 1781, 33 fgg. u. 74 tgg. : Clajus
Lutherische Grammatik in Schulen der Katholiken: § 93. 19: das "Wörterbuch des Dasy-
podias § 93, 20 seit 1642 mit geistlicher Genehmigung als Dasypodius catholicus. 3) vgl.
Sainte Palayes u. Klübers Ritterwesen d. Mittelalters 2. 320 fgg. H. Fitting. Das Castrense
peculium. Halle 1871, S. 583 ff. Geilers Auslegung über d. Narrenschitf 76, 7 (Basel 1574,
286) und bei Seb. Brant selbst LB. 1, 1502 fg. die Zusammenstellung der Edelmanns- und
§ 92 MITTELALTER UND XVI JAHRH. 7
acht oder neun bloss abgezaehltcn Sylbcn^; ferner Sagendichtung noch von
Koenig Siegfried und von Dietrich von Bern (§ 95, 1. 97, 34. 98, 29; vgl.
§ 106, 29); Prosaromane, die noch auf dem Grund der Epik standen (§ 90,
224 fgg. 107, 3 fgg-); epische Gedichte des Mittelalters selbst und didactische,
ja lyrische, die von eben daher stammten, als gern ergriffener, wennschon
auch missverstandner und verderbter Stoff des Lesens und des Drückens ^,
und bei allem, was gedruckt ward, dieselbe Liebhaberei für ausschmückende
Holzschnitte wie ehedem für Malereien als Schmuck der geschriebenen Bücher,**
Jedoch, was von den litterarischen Dingen des sechzehnten Jahrhunderts
schon das vierzehnte und fünfzehnte besass, war alles da noch unfertig in sich
selbst und nur ein Anfang gewesen: die Vollendung war dem sechzehnten
vorbehalten; und was dem sechzehnten noch verblieb von Dingen des
fünfzehnten, war wiederum ein schwindender Rückstand, den jetzt die ver-
änderte Stellung des Volks zu der Litteratur beseitigen, den die Refor-
mation als Aberglauben oder die Gelehrsamkeit als rohen Ungeschmack aus-
tilgen sollte: Grundes genug und Noethigung den Beginn der neuhochdeutschen
Litteraturgeschichte mit dem sechzehnten Jahrhundert, mit der Reformation
zu machen.
Der Hauptname der gesammten Reformationsgeschichte und somit nicht
allein der Zeitordnung wegen der erste Name auch in der Geschichte der
neuhochdeutschen Litteratur ist Martin Luther.' Von dem, was er für die
der Doctoreneitelkeit. 4) § 48, 61 fgg. Eiu abweichendes Spiel, das aber auch schon um 1300
seinen Vorgang hat (§ 48, 59; auch in Fok Collation u. anderwärts s. Anz. f. d. Alt. V 224),
giebt den unstrophischen Versen bloss 6 oder 7 Sylben : so bei HSachs LB. 2, 65. Nur in den
Sprüchen der Sprecher § 96 Anf. und öfters in Fastnachtsspielen wie denen Manuels § 105, 88 fg.
noch ein roherer, in einzelnen Versuchen gelehrter Dichter schon ein regelrechterer Rhythmus
der Accente: § 104, 15. 105. 13. Versuche quantitativen Versbaues § 94, 30. 5) Drucke
und theilweis Umarbeitungen von Konrads Engelhard § 55, 107: Albrechts Ovid § 56, 32;
dem s. g. Heldenbuche § 63 Eing. : des Strickers Amis § 66, 5 (Zarncke in Haupts Zeitschr.
f. Deutsches Alterth. 9, 400): dem Kaleoberger § 66, 6: dem Staufenberger § 66, 56: dem
Theuerdank § 67. 15. 99, 41; dem Freidank § 79, 53; der Mohrinn § 81, 81: dem Renner
§ 82, 17; dem Xarrenschiff § 82 Schi.: den Liedern Neidharts § 72, 29. 6) § 44, 8. Die
berühmtesten Zeichner für dgl. Holzschnitte Hans Scheuffelin von Nürdlingen und Hans
ßURGKMAYR von Augsburg. Die Holzschnitte zu Albrechts Ovid von dem Umdichter
Georg Wickram (§ 107, 30) selbst gezeichnet: Haupts Zeitschr. 8, 399: wie früherhin von
SBrant und K. Maximilian zum Narrenschitt' und zum Theuerdank: § 67, 15. 82, 23.
7) geb. zu Eisleben 1483, gest. ebd. 1546. Die älteste unter den vielen deutschen Lebens-
beschreibungen Chronica des Ehncirdigen Herrn Dr. M. L. Wittenb. 1550: die von
Mathesius gepredigte § 109, 3: die letzte von .Tul. Köstlin, 2. Aufl. Elberfeld 1883.
8 M-:rii()C'Hi)KrTS('nK zeit. xvi jaiiiiii. § 93
Lyrik, was für dio rednerische und die lohrliaftc Prosa gethaii, wird gelegener
weiterhin zu liandeln sein*: hier und für jetzt genügt es, auf die Grundhige
seiner ganzen roformatorisclien Tha'tigkeit, zugleich die Hauptgrundlage unserer
Sprache, seine YKRDEiT.scmNd der Bibkl, hinzuweisen. Sie war die erste, die
nicht mehr bloss auf der lateinischen Übersetzung, wie die alte Kirche sie
anerkeimt, beruhte: sie zuerst gieng auf die beiden Ursprachen zurück. '•' Ge-
nug andre sind l)is auf den heutigen Tag ihr nachgefolgt, bei den Fortschritten
der Philologie und der Kritik vielleicht genauer in Einzelheiten, in den grossen
und wosontiichen Dingen jedoch keine der Lutherischen gleich : hier sind
Würde und Heiligkeit über das Ganze ausgegossen ; hier je nach dem Stoffe
wechselt der Redeton zwischen schlichter Einfalt und körniger Schärfe und
dem Schwung des Dichters; hier einen sich Treue gegen den alten Wortlaut
und bewusste Achtung vor der Sprech- und Denk- und Empfindungsweise des
Lebens mid des lloimathlandes. '" Die erste Arbeit daran hat länger denn ein
Jahrzehend gewsehrt, und das Werk ist nicht sogleich vollständig in Druck
gekommen, das ganze Neue Testament zuerst 1522, Altes und Neues zusam-
men erst 1534 und sieben Jahre spseter eine durchgreifende Überarbeitung,
zu welcher Melanehthon und andere Freunde geholfen hatten; die letzte Aus-
gabe, die Luther selbst noch erlebt, ist die von 1545. "
§ 93.
Die Sprache, deren sich Luther bei Übersetzung der Bibel und ebenso
in seinen eigenen Prosaschriften, seinen Briefen, seinen Liedern bediente ', war
nicht die ihm angeborene noch sonst eine landschaftlich beschränkte Mund-
8) § 5»9, 32. 101, 9. 103, 10. 109, 2. 110, 13 fgg. Gesammtausgaben vou Luthers Werken,
die älteste Wittenb. 1539—1559 (12 Theile deutsch, 7 lateinisch), neuere v. Walch, 24
Theile (nur die deutschen Schriften u. einige der lateinischen verdeutscht), Halle 1737 — 53;
die zu Erlangen 1826 fgg. herausgegeben, ist noch unvollendet. Kritische Gesammtausgabe
von Knake begonnen, Weimar 18H3 fgg. 9) Die Verdeutschung der sieben Busspsalmen
womit Luther im J. 1517 sein AVerk begonnen, schliesst sich noch der Vulgata, schon aber
auch der Reuchlinischen Uebersetzung an. 10) Rechenschaft und Erörterung Luthers
selbst in seinem Seadbrief vom Dolmetschen d. heil. Schrift, Wittenb. 1530: bei Walch 21,
316. Erlanger Ausg. 65, 102. 11) Neuere Wiederholungen derselben durch Bindseil u.
Niemeyer, Halle 1850 fgg. u. durch Hopf, Leipz. 1851. Die jüngste Schrift über Luthers
Bibelarbeit von Wilibald Grimm, kurzgefasste Gesch. der lutherischen Bibelübersetzung bis
zur Gegenwart. Jena 1884.
§ 93. 1) Luthers Verdienste um die Ausbildung der hochd. Schriftsprache v. Grotefend
in den Abhandlungen d. Frankfurter Gelehrtenvereins für deutsche Sprache 1, Frankf. 1818,
24 — 152. Seitdem vom Standpunkt der deutschen Philologie aus behandelt durch E. Opitz,
§ 93 MARTIN LUTHER. HPRACJIE. 9
art: er crwcchlte, damit der Süden wie der Norden ihn verstehen möchte,
jenes Deutsch, das von Boehmcn ausgegangen schon seit dem fünfzehnten
Jahrhundert in den Canzleien der Fürsten uud der Städte üblich geworden und
so überall zu öffentlicher Geltung gelangt, das schon vor ihm die gemeine
Sprache war -, dasselbe Caxzleideuthch, das wiederum, weil er es beglaubigt
und geheiligt, auch neben und länger denn ein Jahrhundert nach ihm noch
als musterhaft für den übrigen Verkehr des Lebens und für die Litteratur ist
betrachtet worden.^ Natürlich, indem nun Luther es gebrauchte, trat der
Obersächsische Grund wieder stärker hervor ^, und die Ycrsetzimg mit Nieder-
deutschem, welcher dieser Mundart eigen ist, musste gerade bei ihm und un-
Ueber lUe Sprache Luthers, Halle lb69. H. Rückert, Geschichte der nhd. Schriftsprache,
2. Band, Leipzig 1<S75. E. Wülcker, Germ. 28, 191—214. P. Pietsch, M. Luther und die
deutsche Schriftsprache, Breslau 1883. K. Burdach, die Einigung der nhd. Schriftsprache,
Habilitationsschrift Halle 1884. 2) Anni. 29. § 47, 7 fgg. Der Unterricht im Deutschen
V. Rud. V. Raumer 20. Der Ausdruck gemeines Deutsch ist zuerst 1464 nachweisbar (Anz. f.
d. Alt. VI. 316), findet sieh dann aber auch in den Drucken der vorlutherischen Bibelübersetzung.
Dass sich die Lautverhältnisse des Xhd. in der sächsischen Canzlei um 1470 einbürgern, wäh-
rend noch später Friedrich der "Weise wie Kaiser Max sieh dialectischer Formen bedienen,
zeigt E. Wülcker in der Zeitschr. des Vereins für thür. Geschichte IX, 351 fg. In Luthers
Schreibweise tritt um 1525 ein näherer Anschluss an die Canzleisprache ein: Opitz a. a. 0.
Luther sagt von sich selbst Ich liahe kein gewisse, sonderliche, eigene Sxjraclie im Deutschen,
sondern brauche der gemeinen Deutschen tipniche, das mich beide Ober vnd Niderlender
verstehen mcegen. Ich rede nach der Sechsischen Cantzeley, welcher nachfolgen alle Fürsten
vnd K(enige im Deutschland. Alle Heichstedie, Fürstenhcefe schreiben nach der Sechsisclien
vnd vnsers Fürsten Cantzeley. Darumh ists auch die gemeinste Deutsche Spraclie. Keiser
Maximilian vnd Churfürst Friderich, Hertzog zu Sachsen de. Jmben im Rcemischen Reich
die Deutschen Sprachen also in eine geivisse Sprache gezogen : Tischreden Cp. 70, Eisleb.
1566 Bl. 578. Am Hofe Franz i die Schreiben deutscher Fürsten aus ihrer Mundartlich-
keit zuerst in das gemeine Deutsch übertragen: Bartholds Gesch. d. Fruchtbring. Gesellseh. 9.
3) Anm. 16. 28. § 97, 27. LB. 3, 1, 768, 26. Die kaiserliche Kanzlei nennt in Augsburg
noch 1578 als Sprachmuster Hieronymus Wolf, de orthographia Germanica ac potius suevica
nostrate ; s. Raumer in Pfeiffers Germ. 1, 16U ff. Die kaiserliehen und mehrerer Fürsten
und Städte Canzleien und das Kammergericht zu Speier : Teutsche Orthographey v. JoH.
Rud. Sattlek, Basel 1610. 6. (kincelleyen (welche die rechten lehrerinn der reinen spräche
sind) Opitz v. d. deutschen Poeterey 1624, LB. 3, 1, 631. Die communis dialectus der
Deutschen (unterschieden von der Meissnerischen, Rheinländischen, Schwäbischen, Schweize-
rischen, Sächsischen u. Bairischen Mundart) stamme von den Meissnern und werde erlernt
zu Speier und am kaiserlichen Hofe : Scioppii Consultationes de scholarum et studiorum
ratione 1626 in Grotii Dissertationes de studiis instituendis, Amsterod. 1645, 455. Das
beste und zierlichste Deutsch in Speier: Teutscher Michel 1673. Cp. 12. 4) Daher Mathe-
sius bei ihm auch von Meissnischer Zunge reden konnte (Historien M. Luthers, Pred. 12):
10 NKrilOCIIDErTSClli: ZFIT. XVI JAHKII. § 98
bcwuast ihm selbst dadurch gcstoigort worden, dass die lleiinath 8(!incr Jugend
und die seines männlichen Wirkens, Mansfeld und Witten! lerg, beide hart an
die CJrenze NiethTsachsens rühren. So blieb seine Sprache für den Süden
des lleiches noch eine geraume Zeit fremdartig: nicht bloss, dass die Katho-
liken als gegen die Sprache der KetzcM-ei sich dagegen sträubten, auch die
Uetormatoren und die evangelischen Dichter der Schweiz und ebenda ein Mann
wie Tschudi, der frei von Vorurtheilen des Bekenntnisses war, wussten sich
in diese Neuerung nicht zu finden, und Zwingli und Tschudi und das Jahr-
hundert entlang fast alle Schweizerischen Dichter blieben bei der Mundart
ihres lleimathlandes stehn, und die Freunde Zwingiis gaben, obwohl Luther
benützend, ihrer Kirche die Bibel doch iu Züriclideutsch. •' Die Abweichungen,
bei denen gleichzeitig z. B. auch die Schwaben und im Selbstgefühl älterer
Anerkennung namentlich die Augsburger® noch verharrten, waren von minderem
Belang: diese erledigten sich meist durch ein bloss orthographisches Ab- und
Zutliun (vgl, Anm. 29), da namentlich hier, ich erinnere an Nicolaus von Weil
(§ 47, 10. 90, 279), die Canzleien auch schon vorgearbeitet hatten. Uebrigens
hat man auch da, wo man Luthers Sprachenachalimte, zunächst nur die Schreibweise
angenommen *^ * , dann aber mehr und mehr auch den mündlichen Gebrauch.
In solcher Art hat die Nkuhociideut.schk Sprache den Anfang genommen.
Eben diese Entstehungsart aber und die Zurückweisung, die sie noch in einem
nicht unbeträchtlichen Theile des Reiches fand, ist der ferneren Entwickelung
mehrfach ein Schade gewesen.
Meichsner, sagen auch die atislender, wenn sie untern leuten cjewesen u. irs landsnutnns
vergessen, reden ein gut deutsch. I>ru»ib erwecket der Sone Gottes ein deutschen Sachsen,
der gewandert war, und die BihJien Gottes in Meichsnisclie zung brachte. Und Konrad
Gesner in der Vorrede zu Maalers Würterbuche sunt qui tractui circa Lipsiam elegantio-
ri.'i sermonis, quo Lutherus etiam lUiros «mos condiderit, primae deferant. Vgl. Anm. 34.
5) Mezger, Gesch. der deutschen Bibelübersetzung in der schweizerisch-reformierten Kirche,
Basel 1876. Gesammtausgabe 1531; Luthers Dank- und Verdanimungsbrief auf Zusendung
einer spaeteren LB. 3. 1, 176. Selbst Kolross Enehiridion (Anm. 9) in der Zürcher Ausg.
V. lötU mundartlich umgeändert ; ebenso 1545 die Sprichwörtersammlung Sebastian Francks
(§111, 7): die Deutschen Sprichwörtersamml. v. Zacher 13. 6) Eine Priamel des
15/16 Jh. verlangt an einem schcenen Weibe die red dort lier von Stoahen: Eschenburgs
Denkmseler altdeutscher Dichtkunst 39S. Druik von Taulers Predigten 15()S, die da neu-
lich corrigirt ind gezogen seind zuo dem iiierern Tail auf guot verstentlich Augspurger
sprach, die da rnder andern Teutschen Zungen gemeiniglich für die rer stentlichste genom-
men rnd gehalten wird. Vgl. § 97, 2. 6a) Dies zeigen die Reime der Dichter, welche
vielfach ungenauer scheinen, als sie nach der wirklichen Aussprache waren. Ueber H.
Sachs s. Carl M. G. Frommann, Versueh einer gramm. Darstellung der Sprache des H. .S.,
§ 93 SPRACHLEllKEN UND WÖRTERBUECHER. 11
Einmal war dieses Deutsch für manchen, der es gebrauclien, der auch
nur die Bibel lesen wollte, halb unlebendig und fremd' und erst zu
erlernen, eben nur eine Schriftsprache. Die Gelelirsamkeit ergriff den
willkommenen Anlass, und es hoben um solchen Bedürfnissen zu begegnen ®
schon bei Lebzeiten Luthers die Sprachlehren an, Bücher der Art, die
für lebende Sprachen nirgend ein Heil ist ^ *. Zwar in der Mehrzahl
beschränkten sich dieselben unschoedlicher auf die Regeln des Schreibens
und des Lesens, Ausserlichkeiten, denen schon Steinhöwel und besonders
Nicolaus von Weil ihre Aufmerksamkeit gewidmet (§ 90, 278. 279): so
die Bücher von Johanne« Kolross ^, von Fabian Frangk ^°, von Valentin
IcKELSAMER*^ vou SEBASTIAN Helber ^^ u. a. Hoehor hinauf jedoch, ab-
gesehen von Albert Oelinger, der für Ausländer schrieb ^^, bis an die
Nürnberg 1878. 1) Der Basler Nachdruck des Neueu Test. 1523 und ihm folgend noch
mehrere andre aus Oberdeutschland stellen Luthers ausslendige wörtter eigens zusammen
und erklaeren sie auff Viiser hochteutsch : Zs. f. d. Mundarten 4, 239. 6, 11. Rückert Nhd.
Sehriftspr. 2, 94 fgg. Durch den Gegensatz geweckt (vgl. § 47, 5\ Anfmerksamkeit auf
die Unterschiede der Mundarten und Bewusstsein derselben : Anm. 3. 28. Raumers Unter-
richt im Deutschen 11. 22 fg. 8) Kolross in der Vorrede seines Enchiridions Anm. 9
berichtet, die deutsche Bibel sei jetzt vielen Alten eine Anreizung ihre Kinder in die deutsche
Schule zu schicken und sich auch selbst noch um die Kunst des deutschen Schreibens und
Lesens, namentlich aber der Bibel, zu bemühen: deshalb auch seine Anweisungen zum Yer-
ständniss der allegationes und concordantice biblischer Bücher. Fabian Frangk aber zielt
vornehmlich auf die Verwendbarkeit in Sachen der Canzlei und füllt den groesseren Theil
seines Buches Anm. 10 mit Vorschriften über die verschiedenen BriefFormulare, über Titu-
latur udgl. 8a) Eine Anzahl dieser Schriften und älterer, welche als Vorstufen gelten
können, sind neu gedruckt bei .Job. Müller, Quellenschriften u. Gesch. des deutschsprachlichen
L'nterrichts bis zur Mitte des 16. Jahrb. Gotha 1882. Der erste gedruckte Versuch einer
systematischen Anleitung in der deutschen Orthographie ist der Schryfftspiegel, Köln 1527 :
Müller 382 fgg. 9) Enchiridion. Das ist, hantbüchlin tütscher Orthographi u. s. w.
Basel 1530; Raumer a. a. 0. 9, Müller 414; in Zürcher Mundart umgesetzt: Anm. 5.
Kolross Teütsch Lehermayster zuo Basel, auch Dichter : § 94, 31. § 105, 76. 10) Or-
thographia. Deutsch. Lernt recht buchstäbig deutsch schreiben. Wittenberg 1531 ; Mag.
Fdh.Yr&ügk Bürger zutn Buntzlaw in Schlesien: Raumer 7 fg. Müller 388. 11) Teutsclie
Grammatica Daraiiss einer von jm selbs mag lesen lernen u. s. w. 1.534 ; ein Vorläufer
Die rechte weis aicffs kürzist lesen zu lernen scheint 1527 von Luther erwähnt zu werden.
Ickelsamer vielleicht von Rothenburg a. d. Tauber, dort und anderswo Schulmeister : Raumer
10 fgg. K. "Weigand in H. Fechner, Vier seltene Schriften des 16. Jahrb.. Berlin 1882.
12) Teutsclies Sylldbierbuechlein, Freib. im Uchtl. 1593: Helber Notar zu Freiburg im
Breisgau. Vgl. Anm. 29. 13) Grammatica seu Institutio Verce Germanicce linguce, in
qua Etymologia, Syntaxis et reliquce partes omnes suo ordine breciter tractantur. In
usum juventutis maxime Gallicce — Strassb. 1573; Oelinger Notar an diesem Orte, Über
12 NEUIKH'IinErTSCHE ZEIT. XVI JAIIRH. § 93
Sprache selbst '* gipng Johaxxes Clajis '\ und wie er nocli cntschioilner,
als schon Frangk gethan ""', Grund und Gewffihrschaft seiner Kegeln bei
Luther sucht '" und seine Grammatica (Tormanicce linc/uce von 1578 an
bis zum Beginne des achtzehnten Jahrhunderts in weit verbreitetem Ge-
brauche '", im (iebrauch sogar katholischer Schulen '" geblieben ist, muss
sie als die eigentliche Ahnherrin all der s[)a^teren Sprachlehren angesehen
werden. Ausser den Sprachlehren auch in WfiuTKRiUKCMKKx, deren erstes,
von Petrus Dasvpodhs 1535 herausgegeben, in seiner theilweis nach dem
Sachinhalr getroffenen Anordnung sich noch eng an mittelalterliche Vor-
gänge knüpft -", in Wörterl)üchern und sonst auf mannigfache Art be-
tha'tigten sich jene Bedürfnisse und die frisch erweckte Lust an ge-
lehrter Betraclitung und Behandlung der eigenen Sprache ^\ in den Ver-
suchen z. B. die Bechtschreibung zu regeln, die mehrmals im Verfahren
wechselnd Johannes Fischaut und auffälliger als er Paulus Melissus machte^^,
und in den Ausdeutungen von Orts- und Volks- und Personennamen, der-
ihn und seinen plagiatorischen Doppelgäntcer Laitrentius Albertus {Teutsch Gram-
nioticli', Augsb. ir>7;5) Raumer 5U t'gg. Doch liat Laur. Albertus manches eigene; gutes
besonders über Prosodie: Höpt'ner Ktformbestrebungen IT). l-l) Hchon Fraugk hatte
eine eigentliche Grammatik des Deutscheu gewünscht: ßaumer 11: und Paulus Rebhux
laut der Vorrede zu seiner Susanna v. 1544 (i? 105, 108) eine solche verfasst, aber noch
nicht ganz vollendet: Gottscheds Nceth. Vorrath ■/.. Gesch. d. deutschen Dramat. Dichtkunst
1, 89. Von Melissus IntroducUo in linguaiu germfinicam Anm. 22. 15) Grammatica
Germanicce Ungute, Leipz. 1078 : Mag. J. C'lajus geb. zu Herzberg im Meissnischen 1535,
Schulmann an verschiedenen Orten, zuletzt und bis zu seinem Tode 1Ö92 Prediger in Bende-
leben bei Frankenhausen : Raumer 18 t'gg. Eckstein ADB. Von seinen antikgemessenen
Versen § 04. 30; eiu Spottgedicht § 110. 3G. 16) Frangk bezeichnet als Muster eines
guteu Deutsehen Keystr Maximilians Omtzley vnnd (User zeit IJ. Luthers schreiben : Raumer 8.
17) daher auch auf dem Titel weiter Ex BibUis Lutheri Genminicis et aliis eius libris
coUecta. Rebhun hatte seine Grammatik ebenfalls vornehmlich auf Luthers deutsche Schriften
gerichtet. 18) Ausgaben bis 1720: meine Geschichte d. deutschen Hexameters 28. 19) Zu
dem Zweck Änderung des Titels (ex optimis quibusque autoribus collecta), AVeglassung der
Vorrede udgl. : Raumer 27 fgg. 20) iJasypodius deutsch HcesUn ? Dictionarium Latino-
gernmnicum, et vice versa GermanicoUitinum, zuerst Strassb. 1535 : Dasypodius cathoUcus
§ 92, 2. Naechst ihm Erasmus Alberus, Noviim dictiomirii genus, Frankfurt 1.540 :
JusuA Maaler Anm. 31 ; Melissus Anm. 22. 21) Vgl. § 110, 42. Die Ausgabe Ot-
trieds jedoch durch Matthias Flacius, Basel 1571. ward nur um kirchlicher, nicht um
philologischer Gründe und Zwecke willen unternommen. 22) in seinen Psalmen 1572 :
LB. 2. 201 : er habe sich, sagt er in der Vorrede, dieser Schreibung schon in seiner In-
troductione in Unguam germanicam bedient und werde sie noch in Dictionario germanico
erhärten.
§ 93 HOCHDEUTSCH, NIEDERDEUTSCH, MUNDARTEN. 13
gleichen schon Luthkr selbst -^, zumal aber als Lieblingsgeschäl't wiederum
Fischart trieb -*. Hier wie dort fehlte es freilich an Abenteuerlichkeiten nicht:
denn der Liebe und dem Eifer stand kein entsprechendes Mass von Wissen
und Besonnenheit zur Seite. ^^
Sodann eine zweite Folge der Verhältnisse, unter denen die neue Sprache
hervorgetreten. Anfänglich zwar befremdete sie die Niedp:rsachsen, selbst die
evangelischen, in gleichem Masse als die Schweizer, und es war nothwendig,
Luthers Bibel und Lieder der Lutherischen Kirche ihnen zu übersetzen ^^,
andre gleich in ihrem Deutsch zu dichten ^^, und an diese kirchliche Dichtung
schloss sich ein neuer Aufschwung der niederdeutschen Litteratur überhaupt
an -^ * : allgemach aber erlagen der Widerstand und der L^nterschied vor der
Einheit des Glaubens, vor dem geistigen Übergewicht der hochdeutschen
Litteratur, das längst schon bestehend jetzt sich nur vollendet hatte, vor den
niedersächsischen Anklängen, die dem Yerständniss dieses Hochdeutschen
Erleichterung gewsehrten, und auch Niederdeutschland gab sich der Herrschaft
desselben hin um weder mit Ernst noch mit Erfolg sich jemals mehr dawider
aufzulehnen. ^^ Bezeichnend hiefür ist, wie Thomas Kaxtzow, ein Pommer,
23) Alüpiot Nomina liropria Germanortim ad priscam Etymologiam restituta per
quendam antiqiiitatis studiosiim, Wittenb. 1537: unter Luthers Namea zuerst 1559:
Küstliu 2. 444. 24) z. B. LB. 2, 243 fgg. 3, 1, 483 fg. Vor ihm Beatus Rhenanus,
auch Aventinus (§ 1U8, 2. 26 tgg,). 25) Die Vor- und Urgeschichte Deutschlands bloss
der Namendeutung wegen mit allerlei Fabeln ausgefüllt, Graiiier und Germanen ohne weiteres
für Ein Volk genommen, aus der Uebereinstimmung des Griechischen und des Deutschen
deutscher Ursprung des Griechischen gefolgert udgl. Viel verständiger und deshalb richtiger
als Fischart behandelt die Alterthümer der deutschen Sprache TsciiUDi LB. 3, 1, 381 fgg
26) das Neue Test. Wittenb. 1522, die ganze Bibel Lübeck 15:34 u. s. f. bis 1621: Kinder-
lings Gesch. d. Nieder-Sächs. Sprache 396 fg.; Lieder: § 103, 8. Agricolas Sprichwörter
§ 111, 5; Ringwaldts Treuer Eckard § 99. 00. Strizers Schlemmer § 105, 84. 27) Lieder
von Vespasius u. a. : § 103, 9. Burkakd Waldis Drama vom Verlornen Sohne § 99, 43.
27a) Feststellung des niederdeutschen Sprachschatzes in (Nathan Chytr.i-:u.s) Nomenciator
Latinosaxon,icus, Bostochn 1582. 28) Kinderling a. a. 0. 375 fgg. 1621 ward die letzte
niederdeutsche Bibel, 1G30 das letzte niederd. Gesangbuch gedruckt. Joir. MiCR^?:nus in
seiner Pommerischen Chronica 1639 (Morhofens Unterricht v. d. Teutschen Sprache 1718,
438) Wir andern Sachsenleute luiben nun auch an unaerer Muttersprache einen solchen
Eekel yeliabt, das unsre Kinder nicht ein Vater unser, wo nicht in Hochteutscher Sprache,
beten, und tvir keine Pommerische Predigt fast mehr in gantz Pommern Heeren mcegen.
Und in Hans Wh.msen Laurembergs viertem Scherzgedichte (1654), das gleich den
übrigen niederdeutsch und nicht dem Hochdeutschen zu Ehren verfasst ist, sagt gleichwohl
der Hochdeutsche zu dem Xiedersachsen ja selbst in eurem Land, bey euren Ijandesleuten,
in allen Cantzeleyn (Anm. 3) ist unsre Sprach gemein, ivas Teutsch geschrieben irird, mus
14 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. § 93
die Chronik soines Hoiinathlandcs zuerst (1582) aucli in der heimathliehen
Mundart, spa'tor jodoeh wiederum Iiochdeutsoh aufgesetzt hat (§ 108, 32),
wie sich der niederdeutsche Eilknsi'ie(jei<, falls niemlich ein solcher je be-
standen, neben seiner hochdeutschen Übertragung fast spurlos hat verlieren
können (§ 107, 17). Nun erst begann der ^amc hochilcuf seh, der bisher s. v.
a. oberdeutsch, also nur zum Niederdeutschen der Gegensatz gewesen ^'\ in
den Gegensatz des Gebildeten zum Gemeinen (§ 100, 10. 12. 13), der herr-
schenden Schriftsprache ^", zu der tiefer liegenden und wandelbaren Yolks-
niundart hinüber zu spielen. " Zugleich aber ward nun unausbleiblich, dass
die hochdeutsche Sprache wachsenden Einflüssen der niederdeutschen offen
stand und immer mehr und noch mehr aus dieser in sie aufgenommen ward,
als Luther und die Seinen schon in ihr vorgefunden oder ihr gebracht hatten.
Ein Beispiel die Verkleinerung mit chen, die jetzt zwar die allgemein schrift-
deutsche, eigentlich aber unhoclideutsch ist, die auch Luther nur in Briefen,
wo er sich heimathlicher gehn laesst, braucht, während er in der Bibel nur
alles Hochteutsch sein, in Kirclien m'rd GOltn Wort in unser Sprach gelehret, in Schulen,
im (rericht, vird nur Hochteutsch gehccret, Kicr eigen Muttersprach ist bey euch seihst
unuerth, wer öffentlich drin redt, den helt man nicht gelehrt. Bezeiclinend für das Sinken
des Niederdeutschen ist der Gebrauch desselben als Bauernsprache bei den norddeutschen
Schauspieldichtern seit lö7H: § 106, 12. 29) s. Aniu. 7. Die Deutschordenschronik des
Niculaus V. Jeroschin v. Pfeiffer x. Noch auf dem Titel von Fischarts Bienenkörbe l.')?'.» Nider
Teutsch — gut preyt Frünckisch hoch Teutsch und in Helbers Sylbenbuechleiu(Anni. 12)31— 3.'i
Viererlei Teütsche Sprachen weiss ich, in denen man Buecher dru<:kt, die Cölniselte oder
Giilichische, die Siichsische, die Flämmisch oder Bral>antische, vnd die Ober oder Hoch
Teütsdie. Vnsere Gemeine Hoch Teütsclie wirdt auf drei weisen gedruckt : eine möchten
wir nennen die Mitter Teütsche, die andere die Donawisclie, die dritte Hwchst Beinische : —
Die Drucker so der Mittern Teütschen aussjjrach als vil die Diphthongen ai, ei, au, de.
belangt, lullten, rerstee ich die von Meinz, Speier, Franckfurt, Würtzburg, Heidelberg,
Nörnberg, Strassburg, Leipsig, Erdfurt, vnd andere, denen auch die von Cölen volgen, tcan
sie das Ot/er Teutsch verfertigen. Donawische rerstee ich alle in den Alt Baierischen vnd
Sdtwebischen Landen, den Bein vnberuert. — Hoechst Beinische lestlich, die so cor iezigen
jaren gehalten haben im Drucken die Sprach der Eidgenossen oder Schweitzer, der Wal-
liser, vnd etlicher beigesessener im Stifft Costantz, Chur, vnd Basel. Eine andre Bezeich-
nung des Gegensatzes § 17, 2. 30) Der Ausdruck Hauptsprache erlangt den Sinn der
Gemeinsprache den Mundarten gegenüber erst durch Schotte! 1663; vorher bezieht er sich
auf die für das Bibelstudium wichtigsten Sprachen: Hebraeisch. Griechisch und Latein:
s. Grimms "\Vb.; und so gebraucht das Wort auch F. Frangk: Müller 93. Vgl. § 128.
31) Sichtlich schon bei Josaa Maaler: Die Teutsch spraach. Alle Wörter, namen vnd arten
zuo reden in Hochteütscher spraach — Dictionariu)n germanicolatinum norum. Hoc est ,
Lingua' Tcutoniuc, superioris prasertim, J'hesaurus u. s. \v. Zürich l.'iiJl. Nicht das Ober-
§ 93 SCHRIFTSPRACHE. MUNDARTEN. 15
mit lein verkleinert, der eigentlich hochdeutschen, aber für die Schriftsprache
jetzo meist veralteten, mundartlichen, dichterischen Form. ^^
Die bisher besprochene Stellung des Neuhochdeutschen zu den Mundar-
ten hier des obern, dort des niederen Deutschlands konnte tiefer gehend und
gründlicher erst im achtzehnten Jahrhundert eine Lmwendung erfahren, als
die Schweiz und dann der übrige Süden des hochdeutschen Sprachgebietes
wieder eingriff in die Litteratur und so eingriff, dass seitdem mehr als ein
grosser Dichter und die groesten fast alle von daher gekommen sind. Seit-
dem ist die Sprache der verdeutschten heil. Schrift zwar noch der Grundton
für die feierliche Redweise des evangelischen Gottesdienstes und noch die
unverrückte Grundlage alles Schriftdeutschen, wie ja auch dasselbe Land, in
welchem Luther seine Yerdeutschung gearbeitet, es gewesen ist, das Wieland,
Goethe, Herder, Schiller an sich zog, und es hat bei ihrer beherrschenden
Ausbreitung über ganz Deutschland hin sogar manches ihrer Worte, das ei-
gentlich nicht hochdeutsch ist, bis in die Yolksmundarten des Oberlandes
dringen können ^^ : dennoch ist über jener Grundlage seitdem eine Erneuerung
vorgegangen, schnelleren Schrittes und umfassender als je zuvor : wie viel
Worte und Wortformen hat die Schriftsprache seitdem als veraltet fallen
lassen, wie viele statt deren neu geschaffen, und was am wichtigsten ist, wie
vielen das Bürgerrecht gegeben, deren Heiinath Mundarten des Südens sind !
Bis um 1750 mochte immer noch mit einigem Rechte das Deutsch der
Meissner, der Obersachsen sich für die Richtschnur alles Hochdeutschen
geben ^*, obwohl bereits die Schlesischen Dichter des siebzehnten Jahrhun-
derts (vgl. § 115, 14) mannigfach von dieser Richtschnur abgewichen und
Zweifel an deren Verbindlichkeit schon damals mit Nachdruck laut geworden
deutsch von Zürich und dennoch Hochdeutsch, nur superior prcesertim, und Deutsch und
Hochdeutsch gleichbedeutend. 32) Selbst in dem Briefe an seinen Sohn Hans neben
einander Soehnichen, Hänsichen und Sahnlin, Rmcklin, Pferdlin: LB. 3, 1, 171 fg.; vgl.
JGrimnis Deutsche Gramm. 3, G79 fg. Haupts Zeitschr. f. Deutsches Alterth. 7, öfjG.
33) z. ß. hange, fahlen, hoffen, kriegen d. i. bekommen (niederd. krujen), wehen in lehen
und weben für hochd. iceihen, Gerächt für Gerüfte (vgl. Haupts Zeitschr. 2, öö6), fett neben
hochd. feisst. Vgl. 0. J<euicke, Ueber die niederdeutschen Elemente in unserer Schrift-
sprache, Wriezen 18G9. 34) Kaumer a. a. 0. 51: prinms obtinet dialectus Misnica, quee
Germanis idem eat, quod Grcecis Attica, Italis Florentina, Gallis Aurelianensis, Hii^panis
Toletana Scioppius 451 : s. Anm. 3. 4. Noch andere Belege s. (Hildebrand) Grenzboten
1860 I 99 fgg. Vgl. ferner Zesen, Adriat. Rosemund S. 204 die Meissner welche auch die
allerlihhlichst und reineste Sprache hahen. Schon eine Priamel des lö Jh. in Eschenburgs
Denkiii. 417 in Meissen TeutxcJie Sprach gar gut. Daher den Franzosen hon Sa.ron s. v. a.
16 XElIHOriTDET'TSCIIE ZEIT. XVI JATIRII. § 93
waren'': seitdem abei- ist auch kein Schein des Rechtes mehr vorhanden.'"
Jetzt ist die Schriftsprache, und was ihr die Kegel giebt, weder vorzugs-
weise in Obersachsen noch irgend sonst wo im Norden, sie ist jetzt nirgend
melir daheim, weil sie es überall ist, muss überall erst gelernt und geübt wer-
den, kennt für ihre Worte und Wendungen kein andres Gesetz mehr als den
classisch ausgebildeten Gebrauch und für die Aussprache keine anderen
Kegeln, als die sich in der geschichtlich wohlbegründeten Kechtschreibung
erweisen.
Die landschaftlich noch erhaltenen Überreste des Sprachzustandes, wel-
cher der Schriftsprache vorangegangen war, die hochdeutschen Mundarten *',
zu denen nun auch das Obersächsische wiederum gebeert, haben seit der Ent-
stehung jener je tiefer und tiefer sinken müssen. Es zehrt zugleich an ihnen
gut Hochdeutsch. 35) Scioppius 4.")1 findet bei den Meissnern Wdlil die besten Worte
und Windungen, aber eine lächerlich schlechte Aussprache. Im Teutschen Miciiel Cp. 11
duhingegen — die I^iptziyer von den Meissnern, und aho auch andere von ihren yroh-
deutschredenden Nachbarn viel Unzierden an sich nehmen müssen. Stellen aus (Tranuna-
tikern des 17 Jh. bei Räumer 51. 54. 36) Wenn gleichwohl noch Gottsched, wenn noch
Adelung es hat wollen geltend machen, so können das beide doch nur, indem sie die Rede
des gebildeten Dresdners und Leipzigers von der des niederen Volks dort unterscheiden und
letzterer, der 1806 gestorben ist, die litt«rarische Gewaehrschaft der guten Sprache bloss bei
den Schriftsteilern im zweiten Viertel des 18 Jh. findet: Raumer 68. 71. Auflehnung der
Zürcher gegen die Spraehaumassungen der Gottsehedischen Schule: Sammlung d. Zürcheri-
schen Streitschriften 2, 1753, 9 fgg. Spott der Xenien LB. 2, 1219. 37) Geographische
Übersicht der deutschen Mundarten in Bernhardi.s Sprachkarte v. Deutschland, Kassel
1843. 1849: Berghaus, Gotha 1852; Kiepert, Berlin (vor 187U); ein besonders tiefgreifendes
Unternehmen, aber erst in den Anfängen begrifTen : G. Wencker, Sprachatlas von Nord- und
Mitteldeutschland I 1, Strassburg 1881. Bibliographische Znsammensetzung von Trcemel:
die Litt. d. Deutschen Mundarten, Halle 1854: K. v. Bahder. Die deutsche Philologie im
Grundriss, Paderborn 1883, S. 160 fgg. Proben aus allen in Germaniens Völkerstimmen
V. Firmenich, Berl. 1843 — 1853. Unter den lexicalischen u. grammatischen Einzelwerken
ilie vorzüglichsten Stalders Versuch eines Schweizerischen Idiotikon. Basel u. Aarau 180<j.
1812 und dessen Landessprachen der Schweiz, Aarau 1819: J. Staub u. L. Tobler. Schwei-
zerisches Idiotikon, Frauenfeld 1881 fgg.: ferner wegen des genaueren Eingehens auf pho-
netische Fragen: Winteler, Die Kerenzer Mundart, Lpz. u. Heidelberg 1876, Hunziker, die
Aarsauer Wb.. Aarau 1877: Schmeller.s Mundarten Baverns. München 1821, u. dessen
Bayerisches Wörterbuch, Stuttg. u. Tübingen 1827 — 1837, 2. Aufl. besorgt von Frommann
1872—77: Tobler.s Appenzellischer Sprachschatz, Zürich 1837: Weixhold über deutsche
Dialectforschung: die Laut- und Wortbildung und die Formen d. Schles. Mundart, Wienf
IS.'iS. Auf niederdeutschem Gebiet ist noch immer die vorzüglichste Gesammtdarstellung
der Versuch eines bremisch-niedersächsischen Wörterbuchs, Bremen I — V, 1767 — 71; mit
Nachtrag 1869. Eine Sammelstelle für alle diese Forschungen bot Frommanns Zeitschrift
§ 93 MUNDARTEN. 17
der Einfluss des Schriftdeutschen (Anm. 33), zugleich erstarren und verar-
men sie, weil ihnen die litterarische Uebung und die Pflege im Mund der Ge-
bildeten fehlt. So besonders die nord- und mitteldeutschen, die der Schriftsprache
aehnlicher sind und deshalb mehr von der Einwirkung derselben und mehr
von der sproeden Zurückhaltung, weil diese nun leichter ist, zu leiden haben.
Nicht jedoch so im Süden, namentlich nicht so in der Schweiz. Hier sind
den Mundarten, selbst der Schriftsprache gegenüber, noch mannigfache Vor-
züge des "Wohllauts und des Wortreichthumes eigen ^^: hier aber ist die
Sprache des Yolks auch die des Lebens Aller, die Schriftsprache mehr nur
eben die der Schrift, und zahlreiche und begabte Dichter bewsehren und stär-
ken die Befaehigung der ersteren auch für den litterarischen Gebrauch : ich
nenne Hebel und Usteri und Karl Rudolf Hagenbach ^^ für die obere Ala-
mannische ^^ '^ , Johann Georg Arnold für die Elsässer Mundart '^^^ Karl
Malss für die am Main und Mittelrhein ^\ Sebastian Sailer für Schwaben'*^
Franz von Kobell für die Pfalz und Baiern ^^, Johann Konrad Gruebel
Die Deutschen Mundarten I— VI, 1854 — 59, und VII, Halle 1877. Unterschieden von den
Mundarten die bloss lexicalisch abweichende Sprechweise einzelner Berufe: Bergmännisches
Wörterbuch, Chemnitz 1778; die Weidmanns-Sprache v. Behlen, Leipz. 1828: Wörterb. der
Spitzbuben-Sprache v. Grolmann 1, Giessen 1822 u. a. Letztere (vgl. § 47, 4) durch ihre
hebrseische Mischung verwandt mit dem auf der Mundart des Mittelrheins beruhenden Juden-
deutsch: Belehrung der Jüdisch-Teutschen Red- u. Schreib-Art v. Wagenseil, Koenigsb. 1699.
38) Trefflichkeiten der südteütschen Mund-Arten v. Radlof, München 1811. Die Schwei-
zerische Mundart im Verhältniss zur hochd. Schriftsprache (von Moerikofer), Frauenfeld
1838. Quarta (dialectus) Helvetica, qua quondam omnes fere Alemanni, hodie Helvetii
tantum utuntur, quam haud scio an omnium superioris Germaniae copiomsimam minimeque
depravatam rede dixerim. Homines enim suo contenti, et Aularum contemtores (ex quibus
fere Helvetiorum respublicce constant) exteris minus misceri, neque de lingua polienda et
adscitis p)eregrinis vocibus loquendique generibus exornanda soliciti esse solent Scioppius
a. a. 0. 452. Und dennoch gerade hier ein Hauptbeispiel der mundartlichen Verarmung.
Als der Schweizersprache die Litteratur noch voller mit gebeerte, bei Zwingli, bei Tschudi,
besass auch sie noch das erzsehlende Imperfectum: jetzt mangelt ihr dieses gänzlich, und sie
muss zur Erzeehlung das Praesens oder das Perfectum brauchen. 39) geb. zu Basel 1801,
gest. 1874. Unter seinen Gedichten, Basel 2. Aufl. 1863, mehrere in der heimathlichen
Mundart. 39a) Trenkle, Die alem. Dichtung seit Hebel, Tauberbischofsheim 1881.
40) Der Pfingstmontag, Lustspiel in Strassburger Mundart, Strassb. 1816. Sammlung der
seitherigen Dichtung im Elsässer Schatzkästel, Strassburg 1877. 41) Die Entführung
od. d. alte Bürger-Capitain, ein Frankfurter Heroisch-Borjerlich Lustspiel, Frankf. 1820,
u. a. 42) Vollständigste Ausgabe: Seb. Sailers sämmtl. Schriften im schwaeb. Dialekte
V. Hassler, Ulm 1842. Sailer geb. zu Weissenhorn 1714, gest. in dem Kloster Obermarch-
thal 1777. 43) Gedichte in hochd., oberbayrischer u. pfälzischer Mundart München
Waokcmagel, Litter. Gegcliichte. H. ^
18 NEUlIOCUnEUTSCIlE ZEIT. XVI JAIIKII. § 93
für Nürnberg *\ Ljnaz Frikduicii Castelm *'' und Johann Gaiiuikl Skiüi/"
für Oestcrrcich, Karl von IIoltei für Sclilesicn *''. Der Norden hat erat
neuerdings zwei hervorragende Vertreter gefunden in dem Dictmarsen Clal's
Orotii *'' * und dem Mecklenburger Fkitz Reuter. *'' ^
Noch ist übrig von den (iRAMMATiscuEN Eioenheiten, bis zu welchen von
Lutlier an ein mehr als dreihundertja3hriger Ent wickelungsgang unsre Schrift-
sprache über die Gesetze des Mittelhochdeutschen hinausgeführt hat, wenig-
stens die hauptsächlich bezeichnenden und da, wo es moeglich ist, auch den
schon älteren Ursprung und Beginn derselben anzugeben.
Zuerst im Bereich der Lautlehre die Vocale. Kurze und doch betonte
Sylben kennt das Neuhochdeutsche nicht mehr: überall ist die Hebung der
Stimme von der Dehnung auch eines vormals kurzen Lautes begleitet, und
CS hat z. B. das alte vatcr, (/eben, im, böte., tugent^ hövisch, lüge sich nun in
Väter, geben, ilim. Böte, Thgent, hrefisch, Lüge verwandelt. ^^ Die obersäch-
sische Mundart ist hiemit schon im Mittelalter, um das J. 1300 vorangegangen
und noch früher die niederrheinische (§ 47, 1); dem entgegen hält hin und
wieder die alamannische die alten Kürzen noch jetzo fest. *^ Auch eines der
Mittel, welche jetzt die Dehnung bezeichnen, die Einschaltung eines h, z. B.
vwhr, hat den mimittelbarcn Anlass schon im älteren Obersächsischen, das
vor auslautender Liquida den Vocal, der in jedem solchen Consonantcn ent-
halten ist •''", mit eigener Vernehmliclikeit auszusprechen und vor denselben,
damit kein Hiatus entstünde, noch ein h zu setzen liebte, also mehcr statt
m?r. '•' Durch eben jenen Einfluss der Betonung sind um eine Stufe weiter
zwei oder drei Vocalc von ursprünglicher und im Alamannischen jetzt noch
1839. 1841, n. a. 44) Grübeis sämmtl. Werke, Nürnb. 1835; geb. Nürnb. 1736, gest.
ebd. 1809. 45) Gedichte in niederoesterreich. Mundart, Wien 1828. 46) Flinserln,
Wien 1828—1839. 47) Schlesische Gedichte, Berlin 1830 uö. 47a) Quickborn 1852 uö.
47b) Läuschen und Rimels 1853 uö. Olle Kamellen 18G0 uö. 48) Seltener dient zur
Verlängerung betonter Sylben ein andres Mittel, die Verdoppelung des Consonanten, die
dem Vocal seine Kürze lässt, z. B. Hammer, Vetter, Sitte, mhd. Immer, vetere, site, und so noch
öfter bei /» und /: s. Schmeller Bayr. Akad. 1835 S. 739. Die Dehnung hebt schon im 13ten Jh.
und da nicht bloss nördlich an: JGrimms Gramm. 1, 1822, 384. 417. Lautphysiologisch
erörtert von Kräuter Beitr. z. Gesch. d. d. Sp. u. Lit. 2, 561. Paul ebd. 9, 101. 49) Noch
häufiger dergleichen in dem Hochdeutsch des eigentlich niedersächsischen Sprachgebietes,
hier jedoch nur bei einsylbigen Worten wie Tag, gib, Hof und auch bei diesen nicht
durchweg. 50) aus welchem auch Dehnungen wie Harz, Heerde, Geburt udgl. sich er-
klseren. 51) Wenn t anlautet, h zu diesem gesetzt: thum ; eben dieses th auch im Aus-
laut nach anlautender liq. : Muth. Vormals im gleichen Sinne die Verbindung rh und
§ 93 SPRACHE. EIGENHEITEN DER LAUTE. 19
geltender Länge dem Neuhochdeutschen zu Diphthongen geworden, i zu c?,
n zu au und dessen Umlaut iu zu äw, so dass z. B. ivtde (salix) und iveide
(pascuum), tühe (columba) und touhe (surdus) nun in den gleichen Lauten zu-
sammentrefFen, Weide und Taidje. Doch pflegt die Aussprache des Südens '"^
und ihr folgend theilweise selbst die Schrift den zwiefachen Ursprung noch
zu unterscheiden: Weide oder Waide und Weide, täube mid Taube, Traume
und Schäume. Von diesen Diphthongierungen hat im Mittelalter das Ober-
sächsische noch nichts gewusst, wohl aber die Mundart Oesterreichs und der
Steiermark ^^: diese Eigenheit hat die Canzleispracho zuerst in der Canzlei
Ludwigs des Baiern berührt und ist in der der luxemburgischen Kaiser durch
gedrungen. ^* Wiederum obersächsisch ist die grade entgegengesetzte Ver-
flachung dreier ursprünglich diphthongischen Laute in einfach lange, des uo
in «, des üe in w, des ie in i. ^* ^ Indess nicht bloss die südliche Sprechart,
auch überall die Schreibung bewahrt noch staets die alten Diphthongen: in
den Buchstaben sind trügen, trugen, fiel immer noch das mittelhochdeutsche
trägen u. s. f. Nur werden, recht zum Beweise, dass der alte Laut dennoch
verloren gegangen, dieselben Zeichen auch auf solche Vocale überti-agcn, die
schon von je her einfach sind, wie in Trüg, träglicli, viel. Diess ie für i schon
im Obersächsischen des Mittelalters. Durch solche Verebnungen der Laute hat
das Neuhochdeutsche ein besseres Gleichmass zwischen AVurzel und Schluss-
sylben hergestellt, als im Mittelhochdeutschen vorhanden gewesen, wo die
schwachen e der letztern noch auf bewegtere Diphthongen folgten, und eben
so gewsehrt die Tonlosigkeit, welcher jetzt die in e lautenden Schlusssylben
sämmtlich unterliegen, mehr Gleichmass als der Ton, den sie im Mittel-
hochdeutschen auch noch tragen durften: guter, fügende, badeten erscheint in
sich einhelliger als güoter, fiiegmde, badeten (§ 46. S. 126). Eine Folge der
nun überall geltenden Tonlosigkeit ist die weite Ausdehnung, welche das Neu-
hochdeutsche den Tilgungen des e giebt: im Mittelhochdeutschen hat es nur
noch vellest und vellet heissen dürfen, jetzt aber fällst und fällt. Und zwar
ausser Raht und Rath auch Rhat geschrieben. Beides (auch th zunaechst schon in ober-
sächsischen Handschriften des Mittelalters) dem griech. lat. rh und th nachgeahmt.
52) Schwaeb. Wörterb. v. Schmid 582. 587. 53) JGrimms Gramm. 1, 1840, 201 fg
Schilling Programm der Realschule von Werdau 1878. 54) Zwei andre, deren hier auch
gelegentlich mag gedacht werden, auf alamanuischem Boden, die nicht seltne Vertauschung
naemlich der schon im Mittelalter langen ä gegen 6, i. B. ane, wäc, hat, nhd. ohne, Woge,
Koth, und der Umlaut des kurzen a in ö statt e, z. B. Jialja helle Hölle, laskjan leschen
löschen: diess ö eine von den Eigensinnigkeiten Weckherlins LB. 2, 347 fgg. 54a) K.
20 - NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. § 93
i8t, wreliicnd seit Opitz am Scliluss der Worte mehr nur syncopiert wird,
da im sechzehnten Jalirliundert häufiger apocopiert und gern auch, was spcB-
terhin ganz abgekommen, das e der Vorsylben getilgt worden (bhüfeti, hschciden^
ghorsam, gimss udgl.): Kürzen und Härten, in denen ein Jliuipthinderniss hig
den Versen einen geregelten Rhythmus und ein Hauptanlass ihnen lediglich
eine gewisse Sylbenzahl zu geben (§ 94, 4. § 121). Unsre oberdeutschen
^lundarten verbinden die Vocaltilgungen der spsßtcren Jahrhunderte mit denen
des seclizehnten.
Die CoNsoxANTEX. Die durchgreifendste Änderung auf diesem Gebiete
hat ihren Anfang auch schon im vierzehnten Jahrhundert und zwar durch
den ganzen Bereich des Hochdeutschen liin genommen, das Festhalten näm-
lich der Media», des h, des 7, dann auch des fZ, im Auslaut, wie der Inlaut
sie gewfehrtc, jdso Loh, sang, liad und nicht mehr lop, sanc, rat. Bei 6 und
d freilich nur eine geänderte Schreibung, dem gleicheren Aussehn verschiede-
ner Formen desselben Worts zu Liebe ^'', da für das Ohr zwischen loj) und
Loh, rat und Rad kaum wird zu unterscheiden sein; nicht so bei g: denn
sang mit k zu sprechen ist nur landschaftliche Art und Unart, ebenso nur
landschaftlich und Einwirkung des Niederdeutschen wie Fliig mit eh. Von
dem Wechsel zwischen v und /, h und ch, der jenem zwischen Media und
Tenuis gleich geht, hat unser Deutsch das einemal gleichfalls den milderen
Laut am Ende wie inmitten der Worte, Reh wie Rehes, nicht mehr rech (nur
wird das h in Reh wiederum bloss geschrieben, nicht gesprochen), das andre-
mal den härteren nun auch innerhalb, Wolfes wie Wolf^ nicht mehr wolves,
und das milde v ist nur noch Mundarten geblieben. Andre Abweichungen
hier betreffen nicht so ganze Classcn, sondern bloss einzelne Laute und Laut-
verbindungen. So, bereits im dreizehnton Jahrhundert und zuerst in hoch-
alamannischen Landen nachweisbar '"'' ^ , auf Anlass der schon älteren Ver-
bindung sehr der Übergang von sl, sm, sn, siv in das breitere schl, sehn,
sehn, schio und ebenso von sj) und st., sobald sie anlauten (für den Auslaut
fehlt das bestimmende Vorbild eines sehr oder schT)., in schp., seht, die letztern
im Mittelalter auch geschi-ieben (§ 47, 2), im Neuhochdeutschen nicht mehr :
sp und st dürfen noch Consonanten nach sich haben, Schplitter aber und
schtrenge wsere ganz so unhaushälterisch, wie in schtvül das Dehnungszeichen
V. Bahder. Ueber ein vocalisches Problem des Mitteldeutschen. Leipz. 1880. 55) Lob,
Bad wie Lobes, Rades. Das Festhalten doppelter Consonanten auch am Schlüsse (B(ill,
Spott, mhd. bal hnJJes, spot spottes) hat keinen anderen Sinn noch Werth. 55a) Wein-
§ 93 SPRACHE. EIGENHEITEN DER LAUTE. 21
von kühl erscheint. Der Süden durchweg und unter Umständen auch nörd-
liche Lande geben den sp und st den breiteren Laut auch am Schlüsse,
Niedersachsen im llochdeutschreden den schärferen auch im Beginn der Worte
diese durch Einfiuss ihrer Mundart, die kein schp und seht, die aber auch kein
schl u. s. w. kennt, sondern gleich dem Mittelhochdeutschen nur sp, st, sl.
Eine zweite, auch den Ä-laut betreffende Änderung laesst ebenso schon bis
in das dreizehnte Jahrhundert sich zurückverfolgen : ^^ ^ schon da erlosch in
der Aussprache der alte Unterschied, der vielleicht ein ganz anderer war, als
wir jetzt meinen ^^, zwischen 7,3; und ss oder auslautend 7^ und s, und beider-
lei Zeichen galten nur noch je einem und demselben Laute (§ 47. S. 162) :
seitdem pflegte innerhalb S5, am Schluss der Worte ss gesetzt zu werden,
grosse, aber grosz, rosse, aber rosz (vorher gr67,e grbi,^ rosse ros), und diess
für das Auge nicht unschickliche Verfahren ist im Gebrauch geblieben, bis
erst die neuere Sprachlehre gemeint hat die Einfachheit durch bald diese,
bald jene Erfindung der Willkür verwirren zu müssen. Die Verschmelzung
von ? und ss geht durch ganz Hochdeutschland: zumeist der fränkischen Mundart
eigen ist die Ungewissheit zwischen s und ss: auch der Art Manches nun in
der Schriftsprache, ss für s wie Geissei aus gisel und geisel, noch häufiger s
für SS oder ss wie Kreis, verweisen, Loos, Krehs, Binse udgl. aus Tirei^, ver-
teilen, lö'^, Jcreh^, hinz,. Endlich noch mehrfache und nicht seltene Consonant-
veränderungen, die vom Niederdeutschen her in das Obersächsische, in die
Canzlei- und Schriftsprache, theilweis sogar bis in die südlichen Mundarten
gelangt sind, h für c/i, p für f und pf, t für s, d (das so im Anlaut freilich
auch schon alte Art des Elsasses ist) für t, z, B. haclcen^ Block, schleppen d.
h. schleifen, Stempel d. h. stempfei, Torf d. h. stirb, Docht d. h. täht, däm-
mern d. h. timhern. Dergleichen besonders unter den Ausdrücken der See-
fahrt und des Handels: natürlich, da Oberdeutschland keine Seefahrt hat, in
den Hsefen des Nordens aber die Sprache des Volks die niederdeutsche ist.
Also Rhede, Bord, Boot, Flotte, Tau, Theer, Hafen, Stapel, Fipe, mcekeln,
Wrack u. a., die auf Hochdeutsch Beite, Bort, Boss, Flosse, Zaii, Zäher,
Uahe, Staffel, Pfeife, mächein und Bach lauten wikden und lauten.
Wir gehn von Eigenheiten der Lautlehre zu denen der Wortlehre und
zunaechst zur Wortbildung über.
hold Alem. Gramm. § 190. 55b) Weinhold ebd. § 187. 188. 56) JGrimm (Deutsche
Gramm. 1, 1822, 26. 496) verneint die Übereinstimmung des goth. und niederländischen z
d. h. eines erweichten s und des alt- und mittelhochd. z d. h. sz. Wie aber, dass noch
22 NEUllOCUDELTöCllE ZEIT. § 93
Die Bofieliigung der Oermauisclicii Spraclien ihren Worfschutz immer
noch durch neue Bildungen zu meinen liat das Neuhoclideutschc wahrend
seines ganzen Verlaufes benutzt und dargethan. " Weniger zwar auf Wegen
der Ableitung: hier ist die ältere Sprache, hier sind auf deren Grunde auch
noch die Mundarten maimigfaltiger, die neuere aber und die Sprache der
Bücher hat mehr als ein altes Bildungsmittcl gänzlich fallen lassen und andre
vermengt, die frülier geschieden waren. ''^ Desto schöpferischer erweist sich
das Neuhochdeutsche in ZrsAMMKXsETzuNfJEN, schöpferischer und reicher als
schon das alte und mittlere Hochdeutsch, und dazu hat ihr bereits in den
Anfängen Luthei-, dazu im sieljzehnten Jahrhundert ein bewusstes Dichterbe-
dürfniss, dazu wieder in der classischen Zeit des achtzelmten und jetzt beim
Ilerandringcn der Weltliteratur die Antike und all die Fremde sonst durch
Nachahnmng und Übersetzung den Anstoss gegeben. ^' In zwei Stücken aber
ist hier eine Abweichung vom Alteren zu bemerken, in dem Aufgeben des
Bindelauts bei der eigentlichen Zusanmiensetzung (z. B. geselleschaft Gesell-
schaft, schadchaft schadhaft, betehns Bethaus) und in der männlichen oder
neutralen Genitivform weibliclier Worte bei der uneigentlichen, z. B. weis-
heitsvoll, mhd. w'isheite vol: letztere wieder schon im Obersächsischen des
vierzehnten Jahrhmiderts. *'*' Neben all der Fülle von Worten, die auf sol-
chen theilweis neuen Wegen unableessig zufliesst, fehlt es allerdings auch nicht
an Missverständniss und Verderbniss mancher schon in früherer Zeit ge-
schehenen Bildung: Worten wie albern, bieder, Wimper, vertheidigen und
Brosame, Einrede, iveissagen, Witthum ist niclit mehr anzusehen, den ersteren,
dass sie ursprimglich zusammengesetzt, den letztern, dass sie bloss Ableitungen
seien : mhd. alwcere, biderhc, icinthrä, vertagedingen und hrosme, einwte, ivi-z/igcn,
widem; und sonst noch zeigen genug erst dann den rechten und überhaupt
einen Simi, wenn man die ältre Gestalt in's Auge fasst: z. B. Beispiel, er-
eignen, Fastnacht, Friedhof, Geflügel, Sündflut, mhd. und theüweise noch einst
Kolross (Anm. !•) angiebt, mit sz im Auslaut, z. B. hasz, mosz (mhd. haz, mos), werde ein
ganx sanft und lind und leise, mit ss oder ssz im Inlaut (verdoppeltem sz), z. B. lassen oder
lasszen, ein weder ganz stark noch ganz linde, sondern mittelmaessig ausgesprochenes s be-
zeichnet? 57) Zeugniss das seit 1852 zu Leipzig erscheinende Deutsche Wörterbuch von
Jac. Grimm n. "\Vilh. Gkimm. fortgesetzt von K. Weigand. K. Hiidebrand, JE. Heyne, M.
Lexer. .ö8) Vgl. Grimms Gramm. 2, 403. 59) Belege all der äussersten Kunst und
Kühnheit in den Gedichten Rückerts, namentlich dem aus Sanskritüberlieferung geschöpften
von Nal und Damajanti LB. 2, 1631. 60) § 47, 9. Von Meusebach und JGrimm bis
in das 16te Jh. zurück verfolgt: Zur Recensiou d. deutschen Grammatik, hsggb. v. JGrimm,
§ 93 SPRACHE. WORTBILDUNG UND WüRTBIEGUNG. 23
im Ncuhoclidcutsclieii Mspel (§ 80, 1), eröugen^ vasenaht (§ 86, 1), vrltkof,
gevügele, sinvluot. ^*
Innerhalb der Wortbiegung sodann gilt bei der Declination zwar immer
noch der Unterschied starker und schwacher Formen, aber nicht ohne mehr-
fache Verwirrung und Verarmung, indem hie und da aus einem ursprünglich
ableitenden en jetzt ein flectierendes, eine schwache Flexionsendung (bei Ober-
sachsen kommt dergleichen schon um 1300 vor ^^), und umgekehrt aus einem
ursprünglich flectierenden en jetzt öfters ein ableitendes geworden ist : Heide,
Kette, Waffe, Grrahen^ Bogen, Brunnen, mhd. heiden, hetene, wäfen, grabe, hoge,
brunne; indem sodann die einsylbigcn starken Feminina nur noch im Pluralis
den Umlaut, im Singularis aber gar keine Flexion mehr haben: gen. dat.
gleichfalls Kraft, mhd. krefte; indem ferner die Feminina mit e jetzt den
Singularis alle stark, d. h. ohne schwache, aber auch ohne sonst welche En-
dung, den Pluralis alle schwach bilden : Zunge mhd. schon im gen. sg. sungen^
Grube auch im nom. pl. griiobe; indem endlich auch nicht wenige, die con-
sonantisch auslauten und demgemsess eigentlich stark sind, mit dem Pluralis
ebenso in die schwache Weise übertreten: TJiaf, Burg, pl. TJiaten, Burgen,
mhd. tcete, bürge. ®^ Aehnliches in der Conjugation. Nicht allein, dass hier
manche Wörter die m*sprünglich starken Formen gegen schwache, andre die
ursprünglich schwachen gegen starke Formen vertauscht und nur etwa im
Beginne des Zeitraums das Richtige theilweis noch bewahrt haben (Beispiele
jener Änderung bannen, hauen, heischen, schmiegen, waten, der letzteren dingen,
preisen, weisen ^*): durch Aufhebung des Rücklautes, den zwar das sechzehnte
Jahrhundert hie und da noch kennt (setzen, satzte, setzte)^ ist eine Art der
schwachen Verba ganz beseitigt, zwei Arten der starken aber sind auf An-
Cassel 1826. Gegen diese und alle zusammensetzenden s Jean Paul: Über die Zusammen-
setzung d. deutschen Doppelwörter, Stuttg. 1820. (jl) Zumeist so entstellt die zusammen-
gesetzten Ortsnamen: ausdeutende Rückführung solcher auf die ursprüngliche Gestalt durch
Alb. Schott über den Ursprung d. deutschen Ortsnamen zunsechst um Stuttgart, Stuttg.
1843; Heinr. Meyer, die Ortsnamen d. Kantons Zürich, Zur. 1849; Oberhessische Ortsnamen
V. Weigand, Archiv f. Hess. Gesch. u. Alterthumskunde 7 (1853), 239 fgg. In weiterem
Umfang verfolgt diese umdeutende Entstellung des alten Wortvorrathes K. G. Andresen
Die deutsche Volksetymologie, 4. Aufl., Heilbronn 1883. 62) räbe aus raben LB. 1, 934,
18. "Wiederholung und Veranschaulichung des Weges, auf welchem nach JGrimm (Gramm.
1, 1822, 817) die schwache Declination überhaupt entstanden ist. 63) Schriftsteller des
15. 16ten Jh. geben den so flectierenden Worten mit t zuweilen in der Einzahl wirklich
auch ein e, z. B. Saate LB. 2, 378, 1. 485, 4. 64) Neigung der Mundarten zu Bewah-
rung der richtigen, aber auch zu unrichtiger Ausdehnung der einen oder der anderen Form :
24 NEUIIOCIIDEUTÖCIIE ZEIT. § 93
lu88 einer vorher erwähnten Lautvcrinischung in eins geflossen: da es jetzt
meide heisst wie scheide^ so nun auch mied wie schied und fjcschieden wie
(jcmicdtni: nihd. mide meit (jemiten, scheide schiet gescheiden.^' Und der In-
dicativus des starken Prastcritums nimmt den Ablaut des Singulari.s auch in
die Mehrzahl, das Praesens conjunctivischc Formen schon in den Indicativ
lierübor: mhd. praes. sg. 1 ind. stirhe, cj. sterbe, nhd. beidemal sterbe] pl. 3
ind. stcrbent, cj. sterben, nlid. beidemal sterben', prset. sg. mhd. nhd. starp
starb, pl. mhd. stürben, nhd. wieder starben. Aber Luther sagt und Clajus^*^
lehrt noch stürben, imd oberländische Mundarten haben den rechten Indica-
tivus der Gegenwart auch jetzt noch.
Allerdings eine lange Reihe von Verlusten, von Schwächungen ehema-
liger Kraft, von Yergrocberimgen ehemaliger Feinheit. Besonderen Schaden
hat dadurch die Rede der Dichter erlitten: denn der gänzliche Untergang
einiger cousonantischen und mehrerer diphthongischen Laute, das Erlöschen
der meisten schwächeren Accente, die durchgehende Länge der betonten Syl-
ben, die übliche Kürzung der Flexionen und die so entstandene Einsylbigkeit
zahlreicher Worte uad Wortformen, der verminderte Gestalt- und Farben-
wcchscl in Declination und Coujugation, diess alles macht es den Dichtern
des neuhochdeutschen Zeitraumes bis zur Unmceglichkeit schwer, ihre Verse
noch mit ebenso einhelligem Fluss mannigfacher Laute und Toene, sie noch
ebenso wohlkUngend zu bauen, als im Mittelalter selbst den geringeren das
mceglich und geläufig war. Aber auch die Anschaulichkeit der Begriffe, auch
die verständige DeutUchkeit hat eingebüsst durch die Abscliwächung des ety-
mologischen Bewusstscins, durch den häufigen Maugel aller Flexion, dui-ch
den Gleichlaut von Flexionen der verschiedensten Bedeutung. Dazu noch
mancher Verlust auch im Bereiche der Syntax, die viel beschränktere An-
wendung z. B. des eausalen Genitivus und des Accusativs mit dem Infinitiv.
Indess für all diesen Schaden hat die Sprache sich Ersatz verschafft.
Dem eigentlich deutschen Versbau mag die Armuth an tieferen Accenten un-
zutraeglich sein: um so leichter ist nun die Nachahmung antiker Maasse: die
zwei Dactylen edles beengende wseren in mittelhochdeutscher Betonung noch
Antibacchien gewesen."^ Und wenn der Abgang einfacher Flexionen und
kürzerer Constructionsweisen öfter als vordem die Ncethigung auferlegt nach
Beispiele aus den Mundarten Baierns hei Schmeller a. a. 0. 354. 368 fg. 65) Clajus
lehrt noch ausdrücklich das Iniperf. schreib schriehei>t schreib schrieben: Räumer a. a. 0. 215.
66) sang sangest sang sungen: Kaumer a. a. 0. 67) Daher die mittelalterliche Schwie-
rigkeit und Unvollkommenheit solcher Nachahmungen: § 4b, 21.
§ 93 SPRACHE. SATZBAU. SCHRIFT. 25
anderweiriger Auskunft zu greifen, nach Prsepositioncu, nach Adverbien, nach
Füge- und Für- und Hilfszeitwörtern, nach ganzen Nebensätzen statt Eines
Wortes, so haben all diese Auskunftsmittel zumal in den Händen der Prosaiker
und nicht ohne wohlthaetige Einwirkung des lateinischen Musters sich zu
einem Maasse von Reichthum und Mannigfaltigkeit, von Feinheit und zugleich
Gedankeustrcnge und es hat dadurch der Periodenbau zu einem Maasse der
Kunst, in den Canzleien zwar auch zu einem Mass schwerfälliger Wcitläuftig-
keit sich ausgebildet, das dem Mittelalter noch fremd gewesen und ihm hat
fremd sein müssen.
Freilich sind zu einem nicht geringen Theile diese syntactischen Vorzüge
nur dadurch ermoeglicht worden, dass unser Neuhochdeutsch eine Sprache des
Schreibens und des Lesens ist, dass wir nicht mit dem Ohr allein, sondern
mehr mit dem Auge gewohnt sind Anfang und Ende und die ganze Gliede-
rung eines Satzgefüges zu ermessen. Und nur dem Auge kommt, oft als das
einzige Mittel, das die Deuthchkeit noch rettet, jene groessere Mannigfaltigkeit
der Interpuxction zu Hilfe, die der Humanismus dem früheren Alterthum
abgesehen und an die Stelle der einfachen Unterscheidungspunkte des Mittel-
alters gesetzt hat^*, und nur dem Auge jener in seinen Anfängen wie pedan-
tische Gebrauch ^^, nicht, wie das Mittelalter gethan, bloss etwa die Eigen-
namen und den Beginn neuer Sätze und der Yerse, auch nicht, wie hie und
da im sechzehnten Jalu-hundert noch geschieht^", nur die Hauptworte eines
Satzes, moegen dieselben auch Adjectiva oder Yerba sein, sondern die Sub-
ätantiva sämmtlich und nur die Substantiva dui'ch grosse Anfangsbuchstaben
zu bezeichnen und hervorzuheben.'*^ *
Endlich mag, da es sich um eine Schriftsprache handelt, auch noch der
8. g. Deutschen Schrift, einer Festsetzung ebenfalls des sechzehnten Jahr-
68) Xur seltener haben alt- nnd mittelhochdeutsche Handschriften neben dem blossen Punkt
auch ein V und im Sinn etwa des Semicolons auch ein / Die reichere Interpunction der neu-
hochdeutschen Zeit schon für Steinhöwel ein Gregenstand der Besprechung : § 90, 278. Vgl. A,
Bieling, Das Prineip der deutschen Interpunction nebst einer übersichtlichen Darstellung ihrer
Geschichte, Berlin 1880. Den Apostroph auch als deutsches Zeichen einer Elision im Verse finde
ich zuerst (oder giebt es schon frühere Beispiele?) in Scheits Grobianus (§ 100. 22) und von Kon-
rad Gesner LB. 2, 195 fg. gebraucht. 69) In der Bibelausgabe von 1545 (die vorangegangnen
hatten nur noch kleine Buchstaben gehabt) gaben die Freunde Luthers, die sie besorgten,
der Regel nach (die Ausnahmen sind sehr in der Minderzahl) allen Substantiven grosse
Anfangsbuchstaben und zwar einen lateinischen, wo der Sinn des Wortes ein boeser, einen
deutschen aber, wo derselbe ein giiter und so das Wort mit dem oder jenem Ausdruck zu
lesen sei. 70) vgl. z. B. die Stücke aus Fischart LB, 2 u, 3. 70a) A. Hagemann,
26 NEUllUCllDEUTSCIIE ZEIT. XVI JAJlUll. § 93
huiidcrts, hier gedacht werden. Das lünfzclinte hatte mit der eckichten
Münchsschrift, iu welche die altüberlieferte rcemische zuletzt war eutatellt
worden, deutsche wie lateinische und alle Bücher und hatte dieselben in
Deutschland und überall so gedruckt, wo die einheimische Bildung sich an
die Littcratur und die Kirche Roms anschloss. Als aber, zuerst in Italien,
seit Beginn des sechzehnten Jahrhunderts auch in Deutschland die neurannischc
Schrift aufkam, ein Versuch von der mönchischen Missgestalt zu scha'ueren
Formen, von der Mittelalterlichkeit auch hier auf den antiken Urs})rung zu-
rückzukehren, da entschied sich der Wettstreit beider Schriftarten im Allge-
meinen und allniffilich so, dass man für lateinische Bücher fortan bei der
neuen, für deutsche bei der ältergewohnten, also immer noch einer lateinischen
Schriftart blieb; mit gleicher Vertheilung stellte sich für das Bedürfniss des
schnelleren Schreibens neben die ältere eine neurocmische Currentschrift. Aber
eigentlich deutsche Buchstaben schienen damit so wenig aufgebracht zu sein ^'
und waren es auch in der That so wenig, dass noch wahrend des sechzehnten
Jahrhunderts in Deutschland genug lateinische, in Italien und Frankreich
lateinischer und italienischer und franzocsischer Bücher genug mit dieser
Mönchsschrift, dass umgekehrt schon zu derselben Zeit auch deutsche mit der
nem-oomischen gedruckt wurden'-, dass eben dieser die nsechsten Verwandten
der Deutscheu, die Niederländer, die Engländer, die scandinavischen Völker,
sieh bis heut bedient haben, dass aber die Schrift, welche man glaubt die
deutsche nemien zu müssen, sich ebenso wohl im Gebrauche der Böhmen,
der Litthauer und der Esthen findet. Es giebt keine Schrift, die uns bloss
eigen, und keine lateinische, die von der deutschen wesentlich verschieden
waere.^^
Die Majuskeltheorie der Grammatiker des Xhd., Berlin 18.S1. 71) vgl. Tschudi LB. 3
1, 384. 72) Ein erdocht falsch history etliclier Prediger miitich 1.509: Panzers Annalen
d. alt. Deutschen Litt. 1, Zusätze 112; Luthers Auslegung der 10 Gebote und des Vater-
unser, Basel 1523; Di Psalmen Davids von Melissa (t? 103, 56), Heidelb. 1572 u. a.: vgl.
Veesenmeyers Beitriege zu d. Culturgesch. d. deutschen Spr. 1. 4. Schon 1494 zu Basel die
erste Ausgabe von ßrants Narrenschiflf mit einer Mischung beider Schriften gedruckt:
Zarnckes Ausg. C fg. In Italien selbst gehoeren zwei deutsche Bücher mit zu den älteren
Denkmaelern der neuroemischen Schriftart, der Venetianische Nachdruck des Deutschen Kalen-
darius von Hans v. Koenigsberg 1478 und ein Bologneser Vocabularius Italo-Teutonicus
1479: Tan^cer 1, 108 u. Zusätze 42. 73) Epigramm von Kästner auf Bodmers Deutsche
Verse mit lateinischen Buchstaben LB. 2, 923. Vgl. F. Sönneken, Das deutsche Schrift-
wesen und die Notwendigkeit seiner Reform. Mit Abbildungen. Bonn und Leipzig 1881.
Die Majuskeln der deutschen Fracturschrift haben den Stil der Barockzeit angenommen.
§ 94 SCllULGELElIllSAMKEIT. 27
§ 94.
Die Betrachtung der neuhochdeutschen Sprache und Schrift hat uns bis
auf die neuesten Zeiten herab, zuletzt aber in das sechzehnte Jahrhundert
zurückgeführt. Wii* können nunmehr wieder ganz in dasselbe eintreten.
Es lag in der Aufgabe der Reformation, es war auch, wie das nament-
lich der Eifer zeigt, womit Luther * und der prceceptor Germcmics, Philipp
Melanchtiign ^, sich des Schulwesens annahmen, die Absicht der Reforma-
toren, dass ihr Werk dem gesammten und vor allem dem niedren Yolke zu
Gute keemc: denn auf diesem, zurückgesetzt oder darniedergedrückt wie es
war, lasteten die Unwissenheit und der Aberglaube, die Stützen der alten
Kirche, mit doppeltem Gewicht. Hätte die Aufgabe erfüllt, die Absicht voll-
ständig können erreicht werden, sicherlich wsere dann auch die Litteratur mit
ganzer Entschiedenheit an den dritten der Stände gelangt und hätte den bürger-
lichen Character, der jetzt an der Reihe war, angenommen ohne irgend welche
Verkürzung: war doch jetzt, wo man die Buchdruckerkunst besass. Niemand,
auch der Geringste nicht, von der Theilnahme an litterarischen Dingen aus-
geschlossen. Aber es sollte nicht so gehn: die grosse Sache nahm schon mit
ihrem Anfang eine Wendung, durch welche die Litteratur für jetzt und alle
Zeit in einen andern imd engeren Weg gelenkt ward, als den der Ablauf des
Mittelalters schien eröffnet zu haben: sie wich vom Yolke; nicht der gesaramte
Büi-gerstand, wie einst die Poesie der Schmuck jedes Edlen gewesen war,
kam in den Besitz : sie ward das Yorrecht der Gelehrsamkeit, sie gieng,
waehrend einzelne Gelehrte adlichen Standes ^ den Übergang gleichsam ver-
mittelten, von dem Adel der Geburt an den Gelehrtenadel über. Die Schuld
hieran war zum Theil beim Yolke selbst, das den Aufschwung, welcher ihm
sonst bevorgestanden, alsbald wieder verscherzte durch Ungebserdigkeit imd
Aufruhr und anderen Missbrauch, den es mit der neuen Lehre trieb ^ ; noch
groessere trugen die Obrigkeiten, die den Untergang der Priesterherrschaft
weniger in das Beste des Yolkes wendeten, als ihn zu unrechtlicher Yermeh-
rung nun ihres Reichthums und ihrer Macht benutzten^; zumeist abertrugen
§ 94. 1) An den chrtstl. Adel d. Nation, LB. 3, 1, 101 fgg. An die Eathsherrn aller Stätte
teutscJies Landes, das sie Christliche schulen auff'richten und halten sollen, Wittenb. 1524.
2) Philipp Schwarzerd, geb. zu Bretten in der Pfalz 1497, gest. zu Wittenberg 156Ü.
3) wie Dietrich von Pleningen § 108, 3. 109, 1. 110, ö. 8. Johann von Schwartzenberg § 110,
1. 4. 8. 9. Ulrich von Hütten Anra. 17. 4) vgl. Luther icider die stürmenden Bawren
LB. 5, 1, 185. 5) Dagegen Capito LB. 3, 1, 301.
28 NEUllüClIDEUTÖClIE ZEIT. XVI JAlllUI. § 94
diejenigen Schuld, die in der neuen Bewegung zuvorderst giengon und trieben
und leiteten, die Gelehrten, die llcforniatoron selbst. Demi eigentlich ganz
deutsch gesinnt und gebildet und ganz ein Mann des Volkes war unter diesen
einzig LuTHKR, freilich er der Erste: alle die andern aber, die neben und
hinter ihm und in dem gleichen Werke standen, waren durch die Art ihres
Wissens der Deutschheit, dem Volke, der Sprache und der Litteratur des
Volkes in groesserni oder geringerem Maasse fremd geworden. So nothwendig
der Reformation die Studien des classischen Alterthums waren, sie waren der-
selben gleichwohl scha3dlich, insofern sie zunächst dem deutschen Volke galt,
diess in seiner Gesammthcit und zumal in seinen unteren Schichten heben
und halten sollte. Mochte die Begeisterung, die sie weckten, auch nicht alle
bis zu 80 bedenklichem Uumass führen wie einmal den Reformator der
Schweiz '', immer waren die classischen Studien Ursache, dass einem gesunden
Leben aus sich selbst eins nach dem andern seiner unentbehrlichsten Beding-
nisse entzogen ward. Nun vollens war kein Zweifel mehr, dass nach Roemischem
Gesetz und durch lateingelehrtc Jmisten Recht zu suchen und zu sprechen
sei ^ ; nun mit verstärktem Bcwusstsein ward auf Univcrsitseten und hoehcren
Schulen der Gebrauch schon des Mittelalters festgehalten allen Unterricht
lateinisch zu ertheilen und auf die lateinische Bildung zu beziehn: die Sprache
der Heimath als Unterrichtssprache fand etwa nur in den niederen, den des-
lialb so genannten deutschen Schulen Duldung ^; des Paracelsus zu Basel
unternommene Wagniss auch vor Studenten deutsch zu lesen '•' blieb einstweilen,
da er in der That nur aus Unkenntniss des Lateinischen dem Deutschen so
den Vorzug emgeräumt, ohne Nachfolge, und all die älteren, all die vielen
erst im scchzelmtcu Jahi-hmidert gestifteten Universita3ten (zum Thcil wurden
sie erst auf Anstoss der Kirchenbesscrung und in deren Diensten gestiftet "^)
waren ebenso viele Pflanzstätten nicht bloss des Glaubens und der Wissen-
6) der in seiner an K. Franz i gerichteten Christianae fidei expositio, gedruckt 1536, da wo er all
die heiligen nnd grossen Männer aufzaehlt, mit welchen der Kcenig in dem ewigen Jenseits
zusammentreffen werde, neben Christo und den Propheten und Aposteln auch Hercukm,
Theseum, Socratem, Aristidem, Äntigonum, Numam, Camillum, Catoties, Scipiones nennt :
Zuinglii opera ed. Schuler & Schulthess 4, 65. 7) Dagegen Luther LB. 3, 1, 104. Wo
aber Hütten wider die Juristen eitert, zielt er nur auf die paebstischen Canonisten. 8) Ge-
schichte des Schulwesens in Basel bis z. J. löHD v. Fechter, Basel lb37, lUi fjg. Der Unter-
richt im Deutschen v. Kud. v. Raumer 3U. 9) Paracelsus in Basel von Friedr. Fischer :
Beitraege z. vaterländ. Gesch. v. d. histor. Gesellschaft zu Basel 5, 111. 130; vgl. § HO, 40.
10) die zu Marburg 1527. Koenigsberg 1544. Jena 1558. Helmstedt 1575. GiessenJ1607.
§ 94 SCIIULGELEimSAMKEIT. 29
Schaft, sondern auch jener Einseitigkeit und Beschränkung, zu welcher nach
Anfängen voll von Groesse und Freiheit der Humanismus je mehr und mehr
hinabsank, und der blinden Geringschätzung alles dessen, was Deutschland
im Gebiete der Littcratur an eigenen Leistungen und an eigner, nur noch
unbenutzter und unentwickelter Kraft besass. So kam es, dass vielleicht die
Meisten von denen, welche den Dichter in sich fühlten, lieber auf Lateinisch
dichteten; dass man kaum ein andres Dichten als auf Lateinisch anerkannte
und die Kaiser, seitdem zuerst Friedrich in den gelehrten Konrad Geltes mit
dem Lorbeer gekroent, die gleiche Ehre von sich aus oder dui-ch ihre Pfalz-
grafen gar niemand sonst erwiesen, als wer durch lateinische Yerse sich der-
selben würdig gemacht hatte; dass dieses Jahrhundert recht eigentlich das
Blütenalter der lateinischen Dichtkunst unter den Barbaren ward: ich nenne
aus Yielen nur Jacob Locher (1471—1528), Egbax Hesse (1488—1540),
Georg Sabinus (1508—1560), Petrus Lotichius (1528—1560), Thomas
Naogeorous (1511 — 1563), Nicodemus Frischlin (1547— 1590).'^ Und nicht
genug an den eigenen neuen Schöpfungen solcher, auch ursprünglich deutsche
Dichtung übertrug man jetzt in die fremde Sprache um sie damit dem ge-
bildeten Ohr anmuthiger und gleichsam verständUcher zu machen, Jacob
Locher schon 1497 das Narrenschüf '-, Heinrich Bebel (f um 1516) das
Volkslied Ich stund an einem Morgen ^^ und eine Sprichwörtersammlung
(§ 101, 6), Hartmann Schopper 1566 den Reineke Fuchs •% Johannes
Flitner 1620 Murners Schelmenzunft (§ 99, 20), Sixt Birck 1537 seine
eignen Comoedien von Beel und von der keuschen Susanna (§ 105, 142).
Dergleichen ist noch viel mehr ein treffendes Zeichen der Zeit als die Über-
setzungen, die auch zahlreich genug auf dem umgekehrten "Weg gegangen
(§ 99, 7. 105, 11 fgg. 107, 2). Bis hinein in den engsten Kreis derer, die
mit eigentlichem Lebensberuf sich der Erneuerung der deutschen Kirche, der
geistigen Befreiung des deutschen Volkes widmeten, herrschte diese Ungewohn-
heit des Deutschen und diese Entwoehnung: von Melanchthon, dem nsechsten
Freunde Luthers, giebt es nur lateinische Bücher '^: selbst die Grabrede hat
11) Eine Sammlung lateinischer Epiker, Lyriker and Didactiker aus Deutschland und aus
dieser Zeit die 6 Bände der Delüice poetarum Germanorum huius supenorisque avi illu-
strium, Frankf. 1612. Dramatiker § 105, 13ö. Über N. Frischlin s. D. F. Strauss, Leben und
Schriften des Dichters und Philologen N. F. Frankfurt a./M. 1856. 12) § 82, S. 380. Zamckes
Ausg. vom Narrensehiif Seb. Brants 380. 13) in elegischem Mass : abgedruckt hinter seinen
Facetiü ; das deutsche Lied LB. 2, 15. 14) Speculum vit(C aulicce. De ndmirahiU f'allacin et
aatutiarnlpeculee Beinil-efslihri qiiatuor , Frankf.1574. Schoppernoch einmal § 99, 45. 15) Phil.
30 NEUIIOCIIDEUTSCIIK ZKIT. XVI JAIIIMI. § 94
er dem I )iihingcs(;hiecleiioii auf Latein gohaltoii "'; und auch IiLuicii von
llrTTKN '^, dessen Ziel es doch war, die Aufregung über die Gelehrtenwelt
hinaus und selbst in das Staatsgebiet zu führen, auch er hat am liebsten und
hat all sein Bestes Lateinisch abgefasst "*, und nur deswegen ist auch er (von
K. Maximilian /u Augsburg 1517) mit dem üichtorkranzo gekroßnt worden.
Wie viel der schoensten Kraft, die der Lyrik, dem IJrama, der geschichtlichen
und der lehrenden Prosa hätte zu Gute kommen können, ist der deutschen
Litteratur mit all dem entzogen worden! lind doch vielleicht ist das nicht
einmal zu beklagen. Denn falls diese Lateiner sich gelegentlich herbeiliessen
auch deutsch zu schreiben, es gelang ihnen nicht: ihnen fehlte selbst das
deutsche Denken und Empfinden. So Ulrich von Hütten, als er gegen Ende
seines Lebens, wohl einsehend, dass seine Zwecke dieses Mittel forderten '^,
der deutschen Abfassung den Vorzug gab: da in der Klage und VERMAiiNi'iNß
von 1520 die härteste Unbeholfenheit der dichterischen Rede ^^ und in der
Prosa der Kla(;sciirift von 1520 und des GESPR/EcimuEcnLEiNs von 1521 -'
nur jenes Übersetzerdeutsch des Jsicolaus von AVeil (§ 90, 277 fgg.)? ein
Deutsch, hinter welchem ebenso Wort für Wort das Lateinische liegt wie
hinter Gang und Haltung der ganzen Gesprajchc das Muster Lucians. Auch
Ulrich Zwingli -- verrath, zwar minder augenfällig als Hütten, aber noch
deutlich genug und sogar in seinen rednerischen und den auf das Staatsleben
seines Heimathlands gerichteten Schriften ^', dass er öfter und lieber im Latein
sich bewegt hat: doppolt befremdlich ist es hier das Toggenburger und
Zürcherdeutsch , das in den classischen Anstrich hinübcrspielt. Immerhin
mochte die Zucht und LTebung, in welche das lange verwahrloste Deutsch so
Melanfhthonis opera ed. Bretschneider (& Bindseil), 21 Bde, Halle 1834—1854. Was man
auf Deutsch von ihm hat (s. Deutsches Wörterb. von Jae. u. Wilh. Grimm 1, LXXXi), ist
sttets nur L'bersetzung Anderer. 16) verdeutscht durch JoH. Funck : Ein Sermon vher
der Leich des Ehruirdigen Herrn Dr. M. L. 1546. 17) geb. zu Steckelberg in Hessen
1488 und nach einem durch Unruhe und Unglück abgekürzten Leben gest. auf der Ufenau
im Zürcher See 1523. D. F. Strauss, Ulrich v. Hütten. Leipzig 1858. II. 18) Opera
ed. E. Bücking I— V Suppl. I. II, Lpz. 1859—70. 19) LB. 3, 1, 226. 20) U. v. Huttens
Schriften hg. v. Bücking 3, 475 fgg. Auch in dem Reiterliede v. 1521, das Uhland 917
unter die Volkslieder aufgenommen hat. kommt der poetische Griff erst mit der letzten
Strophe. 21) LB. 3, 1, 211. 225. Gesprsechsform § 99, 11. 22) geb. zu Wildhaus
im Toggenbnrgischen 1484. gest. in der Schlacht bei Cappel 1531. Lebensbeschr. Ulr.
Zwingiis von Hess, mit Anhang von L^steri, Zürich 1811. Mierikofer, L'. Z. nach den ur-
kundlichen Quellen, II, Lpz. 1867. 69. Zwingiis Werke hsggb. v. Schüler u. Schult-
HESS, Zürich 1828 fgg. 23) Predigt, Scblussreden, Vermahnung an die Eidgenossen,
§ 94 SCnULGELEHRSAMKEIT. 31
von den Gelehrten der Kirche und der Kirchenbesserung genommen ward,
in manchem Betracht demselben auch heilsam sein: groeblicher und schaden-
bringender vcrgiengen sich an ihm die Hechtsgelehrten, sie durch zahllose
Einmischung überflüssiger und unverständlicher Fremdworte ^■*, als sollte
selbst in der Sprache jede Erinnerung des einheimischen Rechts vor der Über-
macht des roemischen verschwinden : ein Beispiel, das bei dem massgebenden
Ansehen der Canzleisprache (§ 93, 3) auch in weitere Kreise hinein und lange
noch fortgewirkt hat.-^ Jetzt ward denn auch Sitte, dass die Gelehrten und
wer gerne gelehrt erschien, ihrer deutsch klingenden Namen sich entschlugen,
wenigstens lateinische Endung daran hängten (z. B. Alherus, Clajus, Mathesius)^
noch lieber gänzlich ins Lateinische oder gar ins Griechische sie übersetzten:
Luther und Zwingli freilich thaten dieses nicht -^, aber doch wie schon im
Anfange der humanistischen und Reformationsbewegung z. B. Meissel^ der sich
Celtes nannte, so jetzo Schivarserd, Hausschein, Kirchmeyer, Köpfet, Schnitter,
Maaler u, a. und nannten sich dafür auf Griechisch und Lateinisch Melan-
chthon^ Oecotampadius, Naogeorgus, Capito, Agricola, Pictorius.'^^ Das hat so
bis in das siebzehnte Jahrhundert fortgedauert '^^: erst da verstand und be-
zeichnete man die Schwäche, die darin lag ^'\ und sie verlor sich wieder vor
dem Spott und der besseren Einsicht. Endlich, was in der gleichen Richtung
gieng, jetzt wiu'den auch die schon im Mittelalter (§ 48, 65 fgg. 78, 13. 81,
37. 54. § 90, 140) angehobenen Versuche Deutsche Verse nach antikem
Maass zu bauen öfter und ausgedehnter und mit gelehrterem Ernst betrieben.
Antwort auf Luthers Bekenntniss : LB. 3, 1, 233 fgg. 24) gerügt von Tschudi 1.038
LB. 3, 1, 386. 25) Klage des Grammatikers Lor. Albert 1573 (§ 93, 13) über Sprach-
mengerei : Reichards Historie d. deutschen Sprachkunst 41 ; vgl. Anm. 36. 26) Nur in
der Vor- und Nachrede des Baslerischen Pindar v. 1526 nennt sich Zwingli, als ob das eins
mit Zwilling waere, Geminius. 27) Irre führend schon für die Zeitgenossen : der (Jher-
setzer eines Dramas von Naogeorgus verdeutscht diesen Namen in Kirchbauer, ein andrer
eines andern gar in Neiibauer : Bücherschatz d. Deutschen National-Litt. 141 ; Grottscheds
Vorrath z. Gesch. d. deutschen Dramatischen Dichtkunst 1, 86. 28) Opitz Opitius, Schupp
Schupimis, Eacliel Rachelius ; Greif Gryphius, Neumann Neander. 29) Sittewalts
zweites Gesicht (Strassb. 1650, 1, 52 fg.) tveil viele junge Narren, tvann sie Jcatcm das Alpha
Fitta Gamma lallen können, so bald jhre Namen, nicht nur mit dem, in Lateinischer
sprach gebräiichliclien, us und ins; sondern mit ussiiis, mit igius, mit inus, mit anus, vnd
asinus, mit Griechisch vnd Hebräisch verbrcemen : Es will keiner mehr Rosskopff Jieissen,
sondern Hippocephalus, keiner tvill mehr Schneider heissen : keiner mehr Schuster : keiner
Weber, keiner Schmid; sondern Sartor, Sutor, Textor: sondern Sartorius, Sutorius, Tex-
iorius; Faber und Fahritius : nicht Schütz, sondern Sagittarius de. Aehnlich Schupp 1,
82 NEUHOCHDEUTSCH i: ZEIT. XVT .TAHRTr. § 94
inimor aber mit Ungelioerigkeit, indem man bald der dcutsclion Sprache eine
Mossung nach Längen und Kürzen •'", bald den antiken Aversen und denen
sogar, deren Sylbonzahl docli niclit fest steht, dem Hexameter und Pentameter,
die Beachtung bloss der Sylbonzahl aufnoßthigen mochte ^*, indem man die
fremdartig schweren Formen der alten Lyrik, die als einsame Dichterübung
noch etwa zu ertragen waren, selbst in den Gesang der Bühne und in das
Kirchenlied einführte (§ 103, 40 fg. 105, 105), indem man doch wieder nicht
wagte ganz antik zu sein, sondern auch neben den Längen und Kürzen gerne
den deutschgewohnten Reim noch bei behielt. ^-
Aber es genügte an der Schulgelehrsamkeit noch nicht: auf den überall
durchscheinenden Grund, den sie freiUch bildete, sollten sich noch andere
Fremdartigkeiten legen. Angehende (lelehrtc und schon damals Künstler
wurden durch ihre Studien nach Italien und Frankreich geführt ^^, und
auch gereifte Männer dieser Stände ^* machten um sich Weltkenn tniss und
grcßssere Kenntuiss des eigenen Berufes zu erwerben die Reise gern. Andere
sahen, da jetzt die Erwerbung der Spanischen Throne für das Haus Oester-
reich und die eifersüchtigen Bestrebungen Karls v imd Franz i auch in das
politische Leben eine neue und weiter gi-eifende Regsamkeit brachten, in
Diensten des Staates jene Fremde. Dazu der staets noch lebhafte Handels-
verkehr mit Itahen, durch den nicht bloss Güter des Kaufmanns über die
798 fg. n. Abraham a S. Clara im Hui und Pfni der Welt, Passau 1836, 199. Vgl. Jean
Paul LB. 3, 2, 908. 30) Konrad gesner (§ 110, 41) LB. 2, 195 u. Jon. Clajits
(.§ 93, 15) ebd. 207. Über des letzteren Theorie s. Höpfner Reformbestrebungen auf dem
Gebiete der deutschen Dichtung des xvi und xvil Jahrh. Berlin 18Ü6 S. 17. VgL § 1<>2
und meine Geschichte d. deutschen Hexameters u. Pentam., Berlin 1831, 16 fgg. Von Paul
Rebhuns noch halb misslungener Unternehmung jambischen und trochaeischen Rhythmus
(denn auch für diese einfaeheren Versarten kennt er wie Ciajus nur das antike Muster)
durch einen Wechsel betonter und unbetonter Sylben darzustellen s. unten § 105, 111 fgg.
In ganzen und i^ubtilen Jamben dichtete Seb. Hornmold, würteubergischer Rat (gest. 1637)
einen Psalter 1596, gedruckt 1604: Höpfner 18, wo dasselbe Streben bei andern würten-
bergisehen Dichtern nachgewiesen wird. 31) Oden von Jon. Kolross (§ 93, 9), SiXT
BiRCK und ZACHARiA.'i RiCHTER LB. 2, 133. 269 ; Hexameter u. Disticha von Jon. Fischart
ebd. 235 fg. : vgl. die Stelle des Gargantua § 95, 29. 32) All die eben angeführten
ausser Gesner. 33) Beispiele Ulrich v. Hütten in Pavia und Bologna; Bruno und
Basilius Amerbach in Paris: Beitrage z. vaterländ. Geschichte v. d. bist. Gesellsch. zu Basel
3, 149 fgg.; Felix Platter in Montpellier: Thomas PI. u. F. Platter v. Boos 172 fgg.;
Fischart in den Niederlanden, England, Frankreich, Italien: Paulus Melissus und JuL.
WiLH. Zincgref § 104, 10. 13. Klage und Spott bereits Seb. Brants Narrensch. Cp. 92
und Geilers üb. d. Narrensoh., Basel 1574, 245 fg. 34) wie Albrecht Diirer (§ 110, 45),
§ 94 WELSCHLAND. VOLK UND GELEimTE. 33
Alpen kamen; mit Frankreich aber ward ein Zusammenhang, der noch tiefer
gieng, zuerst durch die gemeinsame Reformationsarbeit, dann durch die Flucht
zahlreicher franzoesischer Protestanten auf deutschen Boden hergestellt.^^ Der
Uebertritt zur calvinistischen Confession, zuerst in der Pfalz 1562, entschied.^'' *
Die Wirkung von all dem war, dass dem schulmsessig gelehrten Hange der
Sprache und Litteratur sich noch ein italisenisch - franzoesischer Zug und
Anflug beigesellte, dass auch von daher Fremdworte in das Deutsch gemengt ^^
und neben den antiken auch Formen der romanischen Metrik in die weltHche
wie in die geistliche Dichtkunst, in die Lyrik wie in das Drama eingeführt
wurden (§ 95, 29 fgg. 103, 56 fg. 104, 7 fgg. 105, 107 fgg.). Zwar die
volle Stärke sollte dieser welsche Einfluss erst im siebzehnten Jahi-hundert
entwickeln und da erst, weehrend er jetzt nur mehr im Südwesten waltete,
ganz Deutschland bemeistern : begonnen aber hat er schon im sechzehnten und
hat bereits hier so weit und fest Platz gegriffen, dass ein ferneres Wachs-
thum damit begründet war.
Allerdings waren nicht alle Gelehrten so tief in der Undeutschheit be-
fangen, wie bisher mit absichtlicher Schärfe ist gezeichnet worden. Nicht
Luther allein, auch ausser ihm noch mancher hat eine dem entg-eorenoresetzte
Gesimiung bethsBtigt oder sie doch ausgesprochen, Avextinus (§ 108, 26), der
beim L'nterricht in der lateinischen Grammatik von der Muttersprache auszu-
gohn empfahl ^^, Tschudi (§ 108, 9), der die Sprachmengerei der Canzeleien
rügte (Anm. 24. 36), Melissus, der nach der Rückkehr aus welschen Landen
dem Heimathlichen doch den Vorzug gab vor allem Schein der Fremde ^\
FiscHAET (§§ 100. 112), der die Fülle seines Spottes über die undeutsche Na-
mengebung ergoss^^, Rollexhagen, der um seine Unkunst zu entschuldigen
es sehnlich wie schon lange vor ihm Valentin Boltz *" die Art des Deutschen
da er 1506 nach Venedig und Bologna gieng ; seine von daher an Wüibald Pirkheimer ge-
schriebenen Briefe in den Quellenschriften zur Kunstgeschichte III Wien 1872. 35) Bar-
tholds Gesch. d. Fruchtbring. Gesellschaft 11 fgg. 39 fgg. Dessen Deutschland u. die Huge-
notten, Bremen 1848. .35a) Höpfner Reformbestrebungen 23 fgg. Später war besonders der
Casseler Hof den Einflüssen des Westens geneigt. 36) Auch das schon von Tschudi Anm.
24 gerügt, und bereits 1571 ein Fremdwörterbuch moeglich und noethig, Simon Rotes
Deutscher Dictionarius d. i. Ausleger schwerer unbekannter deutscher, griechischer, latei-
nischer, hebraeischer, welscher, franzoesischer, auch anderer Wörter, so nach und nach in
deutsche Sprache kommen sind. 37) in seiner Grammatica v. 1.512 : der Unterricht im
Deutschen v. Rud. v. Raumer ö fg. 38) LB. 2, 197. 39) LB. 3, 1, 482 fgg. Gegen
die Schrift Witzeis v. d. Taufnamen der Christen, SVictor 1541. 40) Zuschrift der Yer-
Wacktmagel, Litter. Geschieht». II. 3
34 NEirilOCIlDKrTSClLE ZEIT. XVI JAIIIUL § 94
nannte, dass er sich alles Fremde gefallen lasse, fremde Sprachen lerne, die
eigene misMachte und versäume. *' Aber auch diese, und die um sehnlicher
Äusserungen willen noch neben ihnen zu nennen wahren, standen zu dem,
was sie so verfochten, mehr nur im (irundsatz als überall selber mit der
Tliat. Avontinus und Tsohudi haben einen Theil ihrer Schriften gleichwohl
lateinisch verfassen, Aventinus und gelegentlich Fischart selbst (§ 100, 5) haben
sith gleichwohl undeutschc Namen geben morgen, und wiederum Fischart und
mit ihm KoUenhagen hatten den Schulstaub so wenig abgeschüttelt, dass auch
sie, nicht besser hierin als Andre, mitten in deutsche Dichtung Namen und
Bezüge der antiken Mythologie^- und Fischart sogar die Etymologie in die-
selbe zuliess (§ 93, 24). Der Grund des Übels lag tiefer, und es hatte sich
zu lange und zu langsam vorbereitet, als dass ihm selbst die, welche es er-
kannten, festen Widerstand hätten leisten können: denn zuletzt kam Alles
nur von jener schon längst bis auf das Mark gedrungenen Zerrüttung der
Kraft und Macht des deutschen Volkes, die Fischart anderswo mit so edlem
Zorne beklagt. *^
In solcher Ai-t waren die Gelehrten dem übrigen Volk und ward das
Volk je mehr und mehr seinen Gelehrten entfremdet; in solcher Art sollte
selbst die Kirchenbesserung nm* dazu dienen, dass zwischen dem gemeinen
Mann und dem Gelehrtenadel in dem, was beide an Litteratur erzeugten und
besassen, die Kluft immer tiefer gerissen ward.
Zwar schien es, als wolle sich eine verschmelzende Ausgleichung an-
bahnen zwischen der neu aufkommenden gelehrten Weise und der schon vom
Mittelalter ererbten des Volks. Demi allerdings ward, zum Theil vielleicht
mit bewusster Absicht, zum groesseren Theile jedoch unbewusst und absicht-
los, und es ward von beiden Seiten aus darauf hingearbeitet, von den Ge-
lehrten, indem sie zu dem Bedürfniss, zu dem Verstüudniss, zu den Gewohn-
heiten des Volkes sich hinabliessen, von dem Volke, indem es die Red- und
Dichtweise der Gelehrsamkeit sich anzueignen und die welsche Bildung auch
sich zu Nutze zu machen suchte. Aber die Verschmelzung missglückte, zu-
meist wohl durch der Gelehrten Schuld, und die Versuche gegenseitiger An-
deutschung des Terenz v. 1539: § 105. 16. 41) Zuschrift des Froschmiiuselers v. 1566:
§ 99, 49. 42) Fischart LB. 2, 242 fgg. RoUenhagen § 99, 52. Auch das Mittelalter
hatte mit jeneu Namen gespielt : aber ihm, weil es minder gelehrt war, umkleideten sich
dieselben mehr mit Fleisch und Blut (§ 43, 49): konnte es doch zur Frau Venus noch den
frischen Mythus vom Venusberg erfinden: § 80, 82. 4.3) LB. 2, 219.
§ 95 VOLKSLIED. 35
naeherung und Aiibcquemimg hatten zuletzt ebeu jenen Ausgang, dass die
Theilnahme Aller an der Litteratur beseitigt ward und die Gelehrten kraft
ihrer hoeheren Stellung im Leben und vermoege des Übergewichtes ihrer
Bildung allein den Platz und den Besitz behaupteten. Die ganze Littera-
turgeschichte des sechzehnten Jahrhunderts ist lediglich eine Geschichte des
Zusammenwirkens und des Gegeneinanderwirkens dieser beiden Elemente.
§ 95.
Wir lassen zuerst ins Auge, was für die Litteratur das Yolk gethan, und
hier vor allem die eigenthümlichste und bezeichnendste Form seiner Thsetig-
keit, das Volkslied. Lieder, die ihren Stoff aus der Sage, zumal aus der
allgemeinen Heldensage schöpften oder bemerkenswerthe Ereignisse der Zeit-
geschichte über das Land hin und auf die Nachkommenschaft bringen sollten,
EPISCHE Lieder, hatte das Volk schon seit mehr denn einem halben Jahr-
tausend gesungen (§§ 36. 49. 62), und auch jetzt noch sang es deren, hielt
Sagenlieder, die sich vom Mittelalter her vererbten, fest ^ und dichtete, da
innerer und äusserer Krieg und der Hass der Bekenntnisse nur zu reich-
§ 95. Die wichtigsten der hier einschlagenden neueren Sammlungen, die von Arnim
u. Brentano, von Grörres und von TJhlaxd, schon zu § 75 namhaft gemacht: dazu jetzt
noch die von Erk : Deutscher Liederhort, Berl. 1853, Mittler, Deutsche Volkslieder, Frankf.
a. M. 1865, Groedeke u. Tittmann, Liederbuch aus dem 16. Jahrb., Leipzig 1867. Böhme,
Altdeutsches Liederbuch, Leipzig 1877; von älteren Drucken weiterhin Anm. 17. 19 fgg. ;
von haudschriftlicben Aufzeichnungen des 16 u. 17 Jh. ühland 973 fg., Hotfmann in seinem
u. Scbades Weimarischem Jahrbuch 1854, 101 fgg. (niederländ. u. hochd.) und desselben
Monatschrift von u. für Schlesien 1829, 542 fgg. Ausserdem zu vergleichen der erregte
und anregende Aufsatz Gr^ters über die teutschen Volksl. u. ihre Musik in Haessleins
und seinem Bragur 3. Leipz. 1794, 207 — 284 und das Buch von Talvj (Therese Adolfine
Luise V. Jakob, verehelichter Robinson), Versuch einer geschichtl. Characteristik d. Volks-
lieder german. Nationen, Leipz. 1840: insbesondere auch die bereits zu § 75 angeführten
Abhandlungen von Uhland und Müllenhoffs Einleitung zu den Sagen, Märchen u. Liedern
der Herzogt. Schleswig Holstein u. Lauenburg, Kiel 1845. 1) Zeugnisse über Lieder aus der
Heldensage in d. Deutschen Heldensage v. WGrimm 301 fgg. Drucke des Hildebrandsliedes
(§ 62, 8) bis iu das 17 Jh. : Uhland 1013 und Die beiden ältesten deutschen Gedichte durch
d. Br. Grimm, Cassel 1812, 53 ; Hüdebrandston eine oft wiederkehrende Melodiebezeichnung.
Auch die Lieder vom edlen Moringer, vom Grafen v. Rom und vom Tannhauser bis ins
17 Jh. gedruckt: § 49, 13. 14. 16. Gleichfalls sagenhafter Art die Lieder vom Schreiber
im Korb (d. h. Virgilius : § 66, 75; Chronistenstelleu über diess Lied in Canzlers u. Meiss-
ners Quartalschrift 1784, 3, 2, 9): Uhland 745; vom Eulenspiegel : Lappenbergs Uleuspiegel
282 fgg. : vom Schlauratfenland : LB. 2, 323 : von der Vogelhochzeit : Haupts Zschr. 3, 37 ;
Dichtungen wie die letztern hat auch Burkard "Waldis Esop 2, 27 vor Augen gehabt.
36 NEUHOCilDEUTSCIIE ZEIT. XYI JAiriUI. § 95
liehen Anlass boten, frischo Gesoliiohtsliedcr in Monge. - In noch grcrssorer,
in unorniossonor Anzahl aber lyrische Likukk, rein lyrische sowohl als solche,
in denen die Lyrik sieh mit einer Ej»ik von ungeschielitlicher und unsagen-
liafter Art vereinte, Balladen, wie man sie nennen mag, in groesserer Anzalil
und mit weit überwiegendem Werth der Erzeugnisse: recht ein Beweis, dass man
hier noch einem nicher gelegnen, stärker wirkenden Anstoss folgte: die
Lyrik war in die Volkspocsie erst gegen den Ablauf dos Mittelalters einge-
drungen (§ 75). Zumeist also Liobesliedor ^ in all der Mannigfaltigkeit, deren
diese Gattung fa^hig ist: auch die Balladen erzählten fast nur von der Liebe
Lust und Leid *, und die Tagweisen, die von dem Scheiden zweier Geliebten
bei Tagesanbruch und auf den mahnenden Ruf und Sang des Wächters er-
zählten, waren Staats Beiladen '; na3chst dem sodann Trinklieder •"', eine
Schöpfung beinah erst dieser späteren Zeit: das Mittelalter hatte davon noch
kaum gowusst (§ 75, 10. 18). Den epischen aber wie den lyrischen Sang
übte alles Yolk und überall, bei der Arbeit wie zur Erholung, der Jfeger im
"Wald, der Landmnnn auf dem Felde' und der Borgknapp im Schacht *', der
Reiter ^ und der Landsknecht '" vor dem Kampf und nach dem Siege und
2) Viele bei Uhland niid sonst zerstreut: Reforraationslied um 1524: LB. 2, .5; auf Sickingens
Tod 1523: LB. 2,6; auf die Schlacht bei Pavia 1525 LB. 2, 8; gegen die Evangelischen in
Hpts Zschr. S, 336. 339 (das letzte Parodie eines geistl. Liedes); gegen H. Heinrich d.
Jüngeren v. Braunschweig 1542 u. 45; bei v. Liiiencron, die historischen Lieder der Deutschen
(IV und Nachtrag, die Töne enthaltend, Leipzig 1865—69) Nr. 47fj fgg. 513 b fgg. ; auf den
cestreichischen Bauernkrieg 1597 in Karajans Frühlingsgabe 53 u. a. Gauze Sammlungen
von Soi.TAU : Ein Hundert Deutsche Histor. Volkslieder, Leipz. 1836. Zweites Hundert hg.
von Hildebrand 1856: KöRNKR: Histor. Volkslieder aus dem 16 u. 17 Jh., Stuttsr. 1840:
RoCHHOLZ : Eidgenössische Liederchronik, Bern 1835 ; und vor allem die ebengenannte von
Liiiencron, die bis zum J. 1554 reicht. Zu vgl. Job. Voigt über Pasquille, Spottlieder und
Schnuehschriften aus der ersten Hälfte des 16 Jh. in Raumers Histor. Taschenb. 1838, 321 fgg.
3) Buhllieder : vgl. § 98, 10. 103. 21. 31. LB. 2, 9 fgg., 174 fgg. 4) LB. 2, 169. 178;
eine scherzhafte, die fast wie eine Auffrischung von Günthers und der Brünhild Abenteuer
in der Brautnacht (Nib. 588) klingt, ebd. 320. 5) LB. 2, 15 (Bebeis lat. Übersetzung
§94, 13)? Uhland 161. 161. 190. Ambraser Liederb. .5.3. 202. 232; vgl. § 75, 16. Tagelied
LB. 2. 169. '2i^. 6) LB. 2. 187 fgg. ; Herbstlieder LB. 3, 1, 342 ; Martinslieder § 104, 6.
7) Hieher der Name Grasliedlein, Uhland 979, Lieder, die besonders geeignet und bestimmt
waren von grasenden Bauerndirnen gesungen zu werden. 8) Bergliedlein § 103, 30;
Tiergrii^dw Ueder § 97, 31 ; Bergreien Anm. 12. 23. 31. 37. § 99, 6. 103, 28. 29. 9) Reuter-
hedlein Uhl. 979. § 103, 28. 30. 10) LB. 2. 8 (auf einen Trommelmarsch gedichtet). 191.
Aventinus Chron. Frankf. 1566, 302. Von disen Dingen vnd Saclien allen fteind )wch Hl
alte ieutsclte Iteitnen vnd Mcistergcfieng roiJmnden in rnsern Stiften rnd KUe.ttern : denn
§ 95 ^ VOLKSLIED. 37
Jüngliugc und Msedchou Abends im Riug und die Gassen ab ' ' und, wenn
der Frühling wiederkam, zu Tanz und Reigen '-: da ertoenten denn auch
Wettgesänge des Winters und des Sommers gleich jenen, die einst zur Ent-
stehung der dramatischen Dichtkunst mitgewirkt. ^^ Die Ilauptlust jedoch war
der Liedersang da, wo die Geselligkeit des Mahles einen friedlich frohen
Kreis vereinigt hielt: da kamen auch andre als bloss Trinklieder vor ^* und
auch da halbdramatische Streitgedichte. '"'
Es ist aber dem Yoikslied bei all seiner Tiefe und Zartheit und Keck-
heit und Frische dennoch diejenige Kunst des Vortrages fremd, die Gehalt
und Form in festen Einklang mit einander brächte: nur selten wird, was der
Dichter empfunden oder gedacht, von seinen Worten ganz getroffen, und bald
verweilt die Darstellung über Gebühr bei Nebendingen, bald und noch öfter
springt sie ohne Vermittelung von Hauptsache zu Hauptsache. Auch der
Versbau, so einfach er ist, ein Wechsel gehobener und gesenkter Sylben,
und der ebenso einfache Strophenbau '^ leiden unter der Unbeholfenheit : die
Strophen verlieren oft ilir Gleichmass, den Senkungen wird eine Überzahl von
Sylben zugetheilt, die Reime sind ungenau und wild. Da zudem die Verbrei-
tung und Fortpflanzung wesentlich nur von Mund zu Mund geschah und der
Druck auf s. g. oifne oder fliegende Blätter imd einzelne Bogen *^ meisten-
theils erst dann hinzutrat, wenn es dort zu stocken begann, so musste der
ganze Weg der Überlieferung durch die Länder und die Zeiten eine fortlau-
fende Reihe von Änderungen, unabsichtlichen imd bewussten, des Missver-
ständnisses und der Nachhilfe sein, und es wird begreiflich, wie ims oft ein
und dasselbe Lied in so verschiednen Gestalten zugekommen ist. Was dem
Wechsel und der Verderbniss noch am wenigsten ausgesetzt sein mochte,
war die Melodie, und diese hat man sich überall ebenso einfach und kunst-
los als die Strophenform und auch insofern kunstloser zu denken, dass der
Gesang bloss einstimmig war.
solche Lieder allein seincl die alte teutsche Chronica, tvie denn bei vns noch der Lands-
knecht Brauch ist, die ullweg von jren Schlachten ein Lied maclien. 11) LB. 3, 1, Sil.
Gassenhauer Uhl. 97iJ u. § 98, lü. 103, 30 : vgl. gassatim gehn, Gassation, Gassellied Schmel-
lers Bair. Wörterb. 2, 72 fg. ; hauen laufen ebd. 130. 12) Dass die bist. Lieder der
Dietmarseben zum Tanze gesungen wurden, zeigt Müllenboff' a. a. 0. xxxv. In Bergreien
aber Anm. 8 ist Beie überhaupt nur noch s. v. a. Lied. 13) Uhland 23 ; vgl. § 83, 6.
14) Beispiel die trunkene Litanei in Fiscbarts (jargantua Cp. 8. 15) Buchsbaum und Fel-
BiNGER (Weide) LB. 2, 11. Säusack u. Stockfisch Ambr. Liederb. 182; vgl. § 83, 10 fgg.
84, 2.5 fgg. Auch das Lied von unraoeglichen Dingen LB. 2, 11 ist sicherlich mit Wechsel
der Personen vorgetragen worden. 16) LB. 2, 19 noch in alterthümlichster Art die Nibe-
38 NEUlIÜCllDEUTSCllE ZEIT. XYl JAllKlI. § 95
Aber diis scchzclintc Julirliundcrt verbreitete aucli in Deutschland weiter,
als je zuvor geschehen, die Kunst des mehrstiminigon Bingens, und nicht bloss
in den Capellen der Fürston, auch den Bürgern gefiel die gleichsam neue
Kunst. "* So ergriff sie das Volkslied, und namentlich für die Lust und Uebung
heiterer Gesellschaft wurden die einstimmigen Weisen zwei- und mehrstim-
mig umgesetzt: da wurden denn auch Sammlungen ein Bedürfniss, die eine
grocssore Zahl von Gesängen und dazu die Noten ontliielten: neben die fliegen-
den Blätter kamen Liedkkiu kciier. '^ Iliemit jedoch war der Musik dem
Texte gegenüber eine Bedeutung eingeräumt, die ihr das echte Volkslied
nicht vergönnte, imd wie man auf dessen einfache Weisen schon nur mit
Spott hinhcerte -", so geriethen auch die Worte in Vernachlässigung und in
Vergessenheit oft bis auf die Anfangsstrophen '^\ und man trug, da der kunst-
reiche Gesang ja die Hauptsache war, kein Bedenken demselben neue Worte
unterzulegen -- und kein Bedenken unter die Volkslieder, die man sang und
sammelte, auch solche zu mischen, die weder in Wort noch Weise jemals Volks-
lieder gewesen waren. -^ Diese Gesellschaftslieder, wie unsere Zeit sie
treffend benannt hat ^*, hielten zwar noch im Ganzen den Gang und Klang
lungenstrophe. 17) Uhland 979 fg. 18) Bergmanns Anihraser Liederbuch ix fg. K.
Maximilians Geschütz vor Hoheukrsehen 1512 als dessen vierstimmige canterei dargestellt:
Uhland 472. Thomas Elsbeths Liedersammlung 1599 den Bierbrauern zu Breslau zugeeignet:
HofFmanns Gesellschaftslieder xii. 19) wie die Gassenhatcer vnd Eeutterliedlin und die
GrasslicdliH : Uhland 979 ; W. Schmeltzls Sammlung von 1544 : Weiler Annalen 2, 18 .
ebenda Abdruck eines LB. von 1550 etwa; Dedekinds Tricinia auf trefliche lustige Texte
gesetzt 1588 : Docens Miscellaneen 1, 257. 20) So wahrscheinlich gemeint der Wettgesang
von Knckuck und Nachtigall LB. 2, 185 (prosaische Ausführung 3, 1, 605) und das aus
Volksliederanfängen zusammengesetzte Quodlibet ebd. 22. 21) Bei Forster (Anm. 22) und
anderswo (s. z. B. Docens Mise. 1, 257. 259) häufig genug nur diese abgedruckt. Man darf
darin keine Abkürzung sehn, welche das Übrige als bekannt voraussetze: Förster berichtet
ausdrücklich, wie oft er sich vergebens bemüht habe noch den rechten Text seiner Lieder
zu bekommen : das Deutsche Kirchenlied v. Phil. Wackernagel 804. 22) Hauptbeispiel
die fünftheilige Nürnberger Sammlung von Georg Forster 1539 u. s. f. : Uhland 978;
Forster bekennt selbst (Anm. 21\ er gebe seine Lieder nicht der Texte, sondern der Com-
positionen halben in Druck, und so habe er. wo der alte Text ihm fehlte oder ihm gar zu
ungereimt erschien, dafür einen neuen gemacht. Glanner, dem auch in seiner Sammlung
(München 1578") die Melodien die Hauptsache sind, will sich gern gefallen lassen, dass man
dazu andre Texte singe als die von ihm gegebenen : Docen 2.58. 23) So beschaffen die
meisten Liederbücher des Jahrhunderts : Hauptbeispiel das zuerst 1578, dann 1582 in Frank-
furt gedruckte, unter dem Titel Ambraser Liederbuch neu hsggb. von Bergmann, Stuttg.
L. V. 1845 ; vgl. Uhland 975. Nsechst dem die Nürnbergischen Berglireyen seit etwa
1530. Uhland 976 fg. ; neue Ausg. durch Schade, Weimar 1854. 24) Die deutschen
§ 95 GESELLSCIIAFTSLIEDER. 39
der Vülkslyrik innc, auf die sie folgten-^: zugleich aber griffen sie über den-
selben hinaus nach einer mehr gebildeten und gelehrten Art, nach grcesserer
Schärfe und Rundung des Ausdrucks und selbst nach dem Zierrath mytho-
logischer Bezüge-'': umschlossen doch die Kreise, für die und in denen sie
geschaffen wurden, leichtlich alle Abstufungen des Standes. ^^ Und noch eine
andre Neuerung begleitete diesen aufwärts gerichteten Zug des deutschen
Volksüedes. Es war das Ausland, es waren Frankreich und Italien, von de-
nen her der Anstoss zu der gesteigerten Künstlichkeit des Gesanges und
überhaupt zu einem Aufschwung der Musik, auch zur Verdrängung wiederum
der rohen Blasegersethe (§ 75, 7) durch allerhand feineres Saitenspiel nach
Deutschland kam ^^; durch die so vielen, die auf Reisen dort gewesen ^®,
noch mehr durch Musiker jener Lande selbst, die in Deutschland an Hoefen
und in Städten weilten ^°, wurden italiaenische und franzoesische Lieder ^' und
wurden die Formen der welschen Ton- und Dichtkunst nun auch hier in
Umlauf gesetzt, und es drangen die Gaillarden und Yillanellen und Canzo-
netten u. s. f. mit all ihrer fremdartigen Zierlichkeit bis in das Gesellschafts-
lied des deutschen Volkes ein. ^- L"nd so mochte es denn auch mehr vom
Gesellschaftslieder des 16 u. 17 Jh. v. Hoffmann v. Fallersleben, Leipz.^, 1860. 25)
Beispiel das Lied LB. 2, 22. welches wohl das sprichwörtlich gewordene Bohnenlied
sein mag, dessen die Reformations- und Litteratnrgeschichte Berns schon im J. 1522 gedenkt:
S. Niclaiis Manuel v. örüneisen 211 fgg. 26) Ambraser Liederb. xii. 27) Felix
Platter mit seiner Laute bei pancheten und hnubaden (auhaäe Morgenständchen, Taglied)
thsetig : Thomas PI. u. Felix PI. v. Boos 135. Unter den Liedern der trunknen Gesellschaft
in Fischarts Gargantua Cp. 8 und unter den Martinsliedern § 104, 6 auch lateinisch deutsche:
LB. 2, 193 fgg. 322 fgg. 28) Beispielshalb m vgl., was Felix Platter 134 fg. von seinen
jugendlichen und spjeteren Liebhabereien und Uebnngen erzählt. 29) § 94, 33. Fischart
wo er das Pariser Studentenleben schildert, Gargantua Cp. 27 da fieng man widerumb an
MusicJcartUch zusingen, auff ziigestimten Instrumenten zuspüen, quatuor, triiim, Mutetten,
Vüanellen de. Cp. 28 machten vnd schrihen inn jJire Schreihtceflin etliche kurtze Epigram-
mata zu Latin, vnnd vbersetzten sie darnach inn Eondeo vnd Ballade gestalt au/f' Fran-
tzasisch oder Teutsch, Heimeten vmb die uett, dichteten Lider, auff allerlei melodei, erfunden
neue bünd, neue däntz, neue sprüng, neue Passa repassa, neue hoppeltäntz, machten neue
Wissartische Reimen von gemengten trei hüpffen vnd zwen sehritten. 30) Ambraser
Liederb. ix fg. Vgl. das Lieder- u. Componistenverzeichniss in Aufsess Anzeiger für Kunde
d. deutschen Vorzeit 1853, 30 fgg. 31) Bicinia Gallica Latina et Germanica, Wittenb.
1545 : Erasmus Rotenbuchers Bergkreyen : Auff zwo stimmen componirt, sambt etlichen
dergleicJien Franckreichischen gesenglein, Nürnb. 1551 : Uhland 977. Das erste Buoch —
ScJuener Lautenstück, von artlichen Fantaseyen, lieblichen Teütsehen, FrantzoesiscJien vnnd
Italitenischen Liedern usw. 8trassb. 1572 : Fischarts Geistl. Lieder 135. Die Sammlungen
von Lasso, Mancjni u. Zacharia : Docens Mise. 1, 258 fg. 32) Bernh. Schmids Zuey
40 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVI JAHRII. § 95
welschen, iils von dem Einflüsse des Meistergesangs herrühren, wenn hi Lie-
dern der Art der Versbau nacli Acccnten gelegentlich mit der blossen Syl-
bcnzichlung wechselte. ^^ Es konnte nicht fehlen, diess zwiefache Emporstreben
des Volksgesanges, hier nach dem gelehrten, dort nach dem welschen Vor-
bild, musste denselben je mehr und mehr und endlich so ganz von seiner
Eigenart abziehen, dass sein Untergang damit eingeleitet war. Dem arbeitete
wohl noch eine dritte dem echten Volkslied zuwiderlaufende Neigung vor,
die jetzt immer stärker und nicht bloss, wo sie eher am Platz erscheint, in
der Lyrik der Gcsellschaftslicder ^*, sondern selbst in den Liedern geschicht-
lichen Inhalts und vorzugsweis gerade in diesen hervortrat, die Neigung den
Namen des Verfassers anzugeben ^^ und so demselben ein Recht zu sichern,
das doch allein in der Kunstpoesie und nur unter gelehrten Dichtern von Be-
deutung war: dazu ward dann die letzte Strophe verwendet, der Schluss des
Gedichts, wohin auch sonst diese Zeit die Verfassernamen zu setzen pflegte
(§ 98, 21). Lieder, Avclche reiner bei der Volksart blieben, unterliessen je-
doch all dergleichen Sclüussangaben und bezeichneten hccchstens Stund oder
Alter oder Ileimath ihres Dichters. ^'"'
Wo aber hat man die ersten Verfasser der Volkslieder, wcmi uns kein
Name und sonst keine Andeutung sie kenntlich macht, zu suchen? Unter den
Bergknappen etwa, die, wemi sie des eigentlichen Geschäftes müssig giengcn,
dann auf Erwerb dui-ch Saitenspiel und Gesang das Land durchzogen ^^, noch
mehr vielleicht unter denen, die ganz von Berufs wegen, bald wandernd, bald
im ständigen Dienst eines Füi-sten oder büi-gcrlich angesessen, hier die Er-
Bücher einer neuen künstl. Tabulatur auff' Orgel nid Instrument, Strassb. 1577. Von Jon.
Hermann Schein (gest. als Cantor zu Leipzig 1630") mehrere Sammlungen solcher von
ihm selbst gedichteten und componierten Stücke, z. B. Musica Boscareccia, Waldliederlein,
vff ItnhaniscJu?, Villanellische Invention, Leipz. 1621. Deutsche Endecasi Ilaben und Strophen
nach Art der Terzinen : LB. 2, 319 ; beide Formen aber auch bereits in einem Gedichte
von 1-449 nachgebildet : Uhl. -423. 33) wie schon dort bei Uhland 423. Zacharias Samm-
lung italisnischer Canzonetten mit deutscher bloss die Sylben gleich abzjehlenden Übersetzung :
Docens Mise. 1, 259. 34) Apiarius, Steuerlin, Helmbold, Schnegas, Hasler u. a.: s.
Anm. 32. Docens Mise. 1, 2.57 fgg. Hoflfmanns G^esellschl. ix. 35) Soltau lxvii. lxxi
fg. Körner ix, Liliencron 4, 615 fg. im Namen verzeiehniss. 36) Soltau Lxvi fg. LXix ;
LB. 2, 17. 10 und selbst noch in dem künstlichen Liede 219, 5: eines goldschmids tochter Ambr.
Liederb. 64. 37) Fei. Platter 136. Daher bezeichnet der Name Bergreien, Bergliedlein, Berg-
rische Lieder Anm. y nicht eigentliche Bergmannslieder (es gehn unter ihm allerhand ganz
andre"), sondern überhaupt nur solche, die in den Bergstädten (Uhl. 976, Ambr. Liederb. 36. 21!^, das
Lied vom Schreiber im Korb Anm. 1) und nun auf der Spielmannswanderung auch ausserhalb
§ 05 WELSCHE FORMEN. SINGER UND SPRECHER. 41
gotzung des Volks und dessen Lohn mit dichterischer Rede und mit Liedern
suclitcn, dort mit ihrer Kunst wie vordem die Wappendichter (§ 67, 18 fgg.
81, 21 u. 103) Festlichkeiten zu Hof und Stadt begleiteten, unter den
Sprechern und Pritschenmeistern und voraus den Singern. ^^ Die Namen
einiger solcher sind uns überliefert, Gruenenwald ^^, Leonhard Flexel ^'^,
Benedict Edelpöck *\ Wilhelm Weber •*- u. a., und zugleich Geschichten*^,
in denen uns diese Fahrenden und Begehrenden des sechzehnten und sieb-
zehnten Jahrhunderts, wenn nicht als unwürdige Reimenschmiede, dann als
Dichter im echtesten Volkston und auf dem Grunde des Volksliedes, aber
auch solche üngebührlichkeitcn ihrer Lebensart erscheinen, dass die Verach-
tung, die gleich den Begehrenden des Mittelalters sie betraf**, und die Ver-
bote, die Kaiser Karl v und Rudolf ii gegen das ganze Gewerb der Singer
derselben gesungen wurden. Welschengeiger, Scluilmeyer, Leirer, Bergreyer LB. 3, 1, 466.
38) Die Berufsnamen der Sprecher und der Singer schon im Mittelalter : § 44, 17. Singer
ühland 9 ; in Joben Spil § 105, 39 ein Sprecher, der dessen Grastmgeler sucht ; Sprucli-
sprecher : Wagenseil de civit. Noribergensi 466 fgg. Abzeichen der Sprecher ein Stab, das
lotterlioh genannt: Müllenhoff u. Scherer Denkm. 491, zu deren Beispielen aus H. Salats
Verlornem Sohn 1245. 2145 kommt. Schmeller B. ^\'b.- 1.541. Die Sprecher bei Schützen-
festen Fritschenmeister genannt : Uhland vor Fischarts Orlückhaftem Schiff v. Halling
xxvin fgg. An deren Festspriiche sich mit Satire schliessend der Lohspruch der Schützen
(auf die Aussreden vnd Fürwort — tcenn sie nit vil Trüffen) von dem Zürcher Hans
Heinrich Grob 1602 : Haupts Zeitschr. für Deutsches Alterth. 7, 240 fgg. 39) Singer
am Hofe "Wilhelms iv von Baiern : LB. 3, 1, 451 (1530 od. 1547). 40) Pritschen meister
zu Augsburg 1555 fgg. : Uhland a. a. 0. xxviii. Ebd. liv fg. Ulrich Ekthel auch von
Augsburg und Hans Son zu Kanstadt. Ueber die Aarauer Heinrich und Ulrich Wirri
s. Bschtold, Das glückhafte Schiff von Zürich S. 1. Ein Gedicht des ersteren Schnorrs
Archiv 7, 363. 41) Pritschenmeister in Diensten der K. Maximilians li u. Rudolfs li :
Weihnacht-Spiele u. Lieder v. Weinhold 18d. 42) Spruchsprecher zu Nürnberg, geb.
1602, gest. 1661 : Wagenseil a. a. 0. 466. 489. 564 ; Holstein Z. f. d. PhUol. 16, 165 fgg.,
über Wilhelm W. und seinen Vater Hans W. : vgl. § 115, 2. Auch jener Barbierer Jacob
Vogel um 1620, von welchem Xeumeister in seinem Specimen dissertationis de Poetis
Germanicis 108 berichtet, scheint mit der Fülle und Ruhmredigkeit seiner geistl. u. welt-
lichen, lehrhaften u. dramatischen und anderweitigen Reimereien, die ihm. ob freilich im
Ernste ? selbst den Diohterkranz zu Wege gebracht, aus dem Sprechergewerb hervorge-
wachsen, wie er denn auch am kursächsischen Hofe wirklich einmal eine Stellung der Art
bekleidet hat. Ein gelehrtes Gegenstück zu den Festbeschreibungen der Pritschenmeister
bietet Jacob Frischlins HohenzoUerische Hochzeit 1598, 3 Bücher, die beiden letzten wieder-
holt von Birlinger, Freiburg i. B. 1860. 43) LB. 3, 1, 451. Uhlands Volksl. 61Ö. 1025.
Wagens. 467 fgg. 44) Sprecher, Singer, Gaukler u. Schalksnarren rechtlich zusammen-
gestellt : Schmellers Bair. Wörterb. 3, 588. Schlemmer LB. 3, 1, 451; Schelmenzunft, Land-
42 NEUHUUIIDEUTSCIIE ZEIT. XVI JAHRH. § 96
und der Sprcclior ausgehn Hessen * ', uns nicht bclVcmden dürfen. Der Volks-
dichtung konnte solch ein Missvcrhaltcn derer, die iuniitten des Volkes ihrer
vorzugsweise pHogtcn, kein Nutzen sein.
§ 96.
Dio Sprecher pflegten, wo sie in ihrem eigentlichen Berufe standen, nur
gesanglos zu reimen, nicht zu singen': obschon demnach nicht in Strophen
gegliedert, hielten doch ihre Sprüche den Versbau nach Accenten, der sonst
nur noch im Volkslicde galt, und so in echterer Weise die alte Form der
bloss gesprochenen Uedichte fest; nur mitunter ward die Vierzahl der Hebungen
überschritten, und die Rede verlor sich aus der Poesie zurück in die Reim-
prosa.^ Noch entschiedncr als somit diese Gelcgcnhcitsreime der Sprecher
lehren uns andre, zum Thcil noch bis auf den heutigen Tag bestehende Über-
reste, dass der poetische Drang des Volkes niclit überall in das knappere
Gewand einer voll entsprechenden Formgebung sich gefügt, dass es ausser
dem Voiksgesang auch noch eine poetische Prosa des Volkes gegeben habe.
Nicht zu gedenken der Si'iucinvöuTEu und der R.kthsel (§ 101. 111), weil
diese schon um ihrer Kürze willen der Versform weder fähig noch bedürftig
schienen " % waren die WaiüsprCche, deren früheste Aufzeiclmungen jetzt
geschahen ^, zwar dem Inhalte und sonst auch ihrer ganzen Fassung nach echt
dichterisch, dichtcriscli wie das Gewerbe selbst, dessen freudiges Thun sie von
der Morgendämmerung an durch Wald und Flur bis zur Beute und zur spajtcn
Heimkehr begleiteten, waren sogar Schritt für Schritt ausgeschmückt mit
reimenden Satzschlüssen und überdiess mit spricliwörtlichen Schlagi'eimen und
Allitterationen in Fülle und waren dennoch, da den Reimabsätzen alles Mass
und Gleichmass abgieng, keine Gedichte, sondern lediglich «ereimte Prosa.
Und ganz in Prosa, gleichfalls dichterisch beseelter, so jedoch, dass nur stellen-
streicher, Lotterbub Uhl. 618 ; nasse Brüder Wagens. 489. Vgl. § 44, 18. 4.5) Wagea-
seil 491. Vgl. § 97, 32.
§ 96. 1) Wagenseil de civitate Noribergensi 491. 2) Wagenseil 467 fgg. 564 ig. In
gleicher Form die Rffithselsprüche iler Singer unter Uhlands Volksliedern 7. 9 und
die. wenn nicht aus schon früherer Zeit, doch zum mindesten aus dem 16 Jh. her-
rührende Bearbeitung des ^Vigalois (§ 60, 16. 1»0, 228; hier Wieduwilt geheissen),
die der Jude Jose) von Witzenhausen nicht selber verfasst (Beneckes Wigal. xxx), sondern
nur aus einem älteren Buche abgeschrieben hat : gedr. in Wagenseils Belehrung der
Jüdisch-Teutschen Red- u. Schreib-Art, K^pnigsb. 1699. und hieraus in den Erzehlungen aus
d. Heldenalter tcutscher Nationen, Danzig 178U, .'57.'^ — 009. 2a) Eine Reihe von reimenden
Fragen scherzhaft zusammengefügt in der Klage über den Niemand LB. 2, 118. 3) Altd.
Wälder d. Br. Grimm 3, Frankf. 1816, 97 fgg. Grsetcr in Haessleins u. seinem Bragur 3,
§ 97 PROSA DES VOLKES. 43
weis sich ein schmückender Glcichlaut (§ 40, 1. 3) und etwa am Schiuss
eines Ganzen in längerer Folge Heime sich darunter mischen, sind die Sprüche
DER Handwerksgesellen, der Schmiede \ der Bötticher ^, der Siebmacher ^
u. 8. w. abgefasst, die Reden, wenn ein Lehrling Geselle wird oder ein Gesell
auf der Wanderschaft das Handwerk grüsst,^ * Moegen auch die gedruckten
Niedersetzungeu " '', die es von der letzteren Art der Volksprosa giebt, bei
weitem nicht bis hinauf in das sechzehnte Jahrhundert reichen, der Ursprung
derselben reicht gewiss und zum mindesten so weit: war jenes Jahrhundert
doch das Blütenalter des deutschen Handwerks, und musste gerade damals
wie ein Naturdrang dazu treiben, dass der Geselle noch sein Leben und
Wandern mit Poesie umkleidete und die Poesie selbst in die Prosa brachte:
die ansässigen Meister brachten lieber Prosa in die Poesie.'
§ 97.
Denn neben dem Volkslied kam innerhalb der unteren Stände noch eine
andre Art sangbarer Dichtung aus dem Mittelalter in die neuere Zeit herüber
um gleichfalls jetzt zu der reichsten Pflege und der hoechsten Fruchtbarkeit,
aber auch in der Entwickelung ihrer Eigenheiten so bis auf die äusserste
Spitze zu gelangen, dass ein Abbrechen für immer gleichfalls unumgänglich
war, der Meistergesang nsemlich, diese Dicht- und Singübung nicht jedoch
des gesammten dritten Standes, sondern bloss der Bürger, der Handw^erker,
so viel deren sich hie und da in eigene Singschulen vereinigt und abgeschlossen
hatten. Wie noch viel eifriger und ergiebiger jetzt als schon vordem der
Meistergesang betrieben worden, zeigt die angewachsene Zahl dieser Schulen
(die reichste an Mitgliedern ' und diejenige, deren Gebräuchen auch ausserhalb
ein massgebendes Ansehen eingeräumt ward -, war die zu Nürnberg), zeigt
Leipz. 179-i, 272 fgg. K. Köhler "Weim. Jb. 3, 329. Wagner in seinem Archiv 133 fgg. wo die
Quellen aufgeführt werden. 4) Altd. Wald. 1, Cassel 1813, 88 fgg. 5) ebd. 100 fgg.
6) Bragur 3, 216 fgg. 6 a) Vom deutschen Handwerksleben in Brauch, Spruch und Lied,
Weim. Jb. IV (1856). 6b) Frid. Frisius, der vornehmsten Künstler und Handwerker Ceremo-
nialpolitica, Lpz. 1708. 7) Freilich Hans Sachs und Puschmann thaten schon auf der Wan-
derschaft sich zu den Meistersingern : LB. 2, 260. 23. HSachs v. J. L. Hoffmann 17 fg.
Heinr. HoflPmanns Spenden z. deutschen Litteraturgesch. 2, 5.
§ 97. Für diesen Paragr. wiederum zu verweisen auf die schon früher (§ 71, 16. 20) ge-
nannten Arbeiten von Wagenseil (Anm. 29), Haessler, Jac. Grrimm und Büsching. 1) Deren
mehr als drittehalb hundert: Wagenseil 517. 2) Adam Puschmann LB. 2, 261, 2 u.
Büsching 170. 172. Um solchen Rang scheint mit Nürnberg Augsburg gewetteifert zu
haben (Busch. 200. vgl. § 93, 6): aber Puschmann hat den rechten Grund der Singekunst
44 NEUllOCIIDEUTöCllE ZEIT. XYl JAllUll. § 97
ferner ilie erst nun und nun wiedcrholondlich gcscliclicne Aufzeichnung der
Tauulati'ren (§ 74, IG) - * und die Abfassung dem fielmliclier Werke über
die Regeln der Kunst ', zeigen endlicli auch die Menge und die luhaltsfülle
der SAMMLi'NfiEK, die man jetzt von Meisterlicdern der Zeit selbst und der
früheren Zeiten machte.^ Mit all dem aber konnte ein Weg nicht in die
Kichtc kommen, der vom ersten Beginn an zu verkehrt gewesen: es blieben
die alten Schajden, nur ins noch wildere gesteigert. Die Meistersänger legten
das Gewicht voraus auf die Form, und doch wie arm und fahrlajssig waren
sie selbst hierin! Zwar konnte bei der dem zünftigen Handwerk nachgebil-
deten Eim-ichtung ihrer Schulen •' (auch bei ihnen gal) es eine Taufe der
Lehrlinge und eine Freiung '^) nur der ein Meister werden, der als Meister-
stück ein Lied oder, wie sie es nannten, ein Bar ' von fehlerloser und
an Wort und Weise ganz neuer Form den Gesellschaftern vortrug *, und
überall schien eine neue Form ein so verdienstliches Werk, dass man sie
feierlich unter dem Beistande von Gevattern auf den Namen ihres Meisters
und noch einen schconen Beinamen taufte '•': gleichwohl haben nach jener
einen ersten Erfiudimg nur wenige spseterhin noch andere versucht: selbst von
llans Sachs (§ 98) rühren nur 13 neue Toone her.'^ Man war zufrieden und
konnte auch schon damit den Preis, die Krone, die Elirenkctte, den Kranz "
in Augsburg umsonst gesucht und erst in Nürnberg ihn gefunden : Busch. 168. 2a) vgl.
auch Schnorr (Anm. 4) S. 16. Der Nürnberger Schuelzetel von HSachs zu einem Meisterge-
sang verarbeitet: Hertel (§ '.»8, 7) S. '2(J. 31. Vgl. auch die Schulkumt Z. f. d. Alt. 10. 309.
3) durch Adam Puschmann, einen Schuhmacher aus Görlitz, geb. Iö32, gest. zu Breslau
1600. Über ihn und seine Werke HHoönianns Spenden z. deutschen Litteraturgesch. 2,
Leipz. 1844, 5 fgg. Auszüge aus seinem dreimal (1071. 1584. 15%) bearbeiteten Bericht
der deutschen Singekunst bei Büsching 16»i fgg. Ein Meistergesang von ihm, eiu Lob- u.
Trauergedicht auf seinen Lehrer Hans Sachs, LB. 2, 2;');): ein Drama § 105, 35. 4) Der-
gleichen auf mehreren Bibliotheken, bloss in Dresden 24 Bände. vdHagens Minnesinger 4,
907 b u. a., sieben ganz oder fast ausschliesslich von HSachs geschriebene: F. Schnorr
von Carolsfeld, Zur Geschichte des deutschen Meistergesangs, Berlin 1872. Buschmanns
Sammlung zu Breslau: HHoffm. a. a. 0. 15 fg. 5) Wagenseil 533. 546 fgg. Ein im
Namen der Schule vorgetragenes Lied hiess i'schulkunst (Anm. 2a ) : Hertel versteht darunter
ein Utbungsstück. 6) Wagens. 547. 7) Wagens. 500 fgg. vgl. oben 1, 465 : der Be-
griffsentwicklung vergleicht sich die von swane % 98, 19. 8) Wagens. 533; „Wer die
Tablatur noch nicht recht versteht, wird ein Schuler; der alles in derselben weiss, ein
Schul-Freund; der etliche Thcen, etwann 5. oder 6. fürsingt, ein Singer; der nach andern
Th(vnen Lieder macht, ein Tichter ; der einen Thon erfindet, eiu Meister; alle aber, so in
der Gesellschafft eingeschrieben seyn, werden Gcsellscliaffter genennet." 9) Wagens. 533.
10) HSachs V. JLHoffmann 24. 11) Das Theater zu Freiburg v. Schreiber 17 fgg.
§ 97 MEISTERGESANG. 45
gewinnen, wenn man nur auf den Ton eines Anderen neue Worte dichtete
und gut sang, auf Toeno, welclie thcils noch aus dem Mittelalter stammten,
wie die vier gekroßuten oder Ilaupttoene, die auch mit zum Meisterstück ge-
hoerten ^-, theils von jüngerem Ursprung und vielleicht die Erfindung noch
lebender Zeitgenossen waren: so haben z. B. Hans Sachs und Adam Pusch-
mann einander nachgesungen.'^ Und allerdings war auch diess blosse Nach-
singen nicht gerade sttets das leichteste Geschäft: die Grundform aller Strophen
(die Schule sagte auf Deutsch Gesäte) war die Dreitheiligkeit *"*: aber es konnte
gelten, auf diesem Grund ein Gebäude von der verwirrendsten Buntheit und
einer Yerszahl aufzuführen, die über 30, ja gelegentlich über 100 hinausgieng.'-*
Solche Schwierigkeiten moegen die Unkunst, die neben so vieler Kunst sich
in den Meistergesängen findet, wohl erklaeren, moegen vielleicht zur Entschul-
digung dienen für all die groben Sprachfehler, auf welche man in den Tabu-
laturen sich genoethigt sah Strafen zu setzen, für die Laster, und wie die
übrigen Yerwahrlosungen des Eeimes hiessen, die man gleichfalls strafte und
doch nicht aufhob ''^j für das Abzahlen der Sylben an den Fingern '", welches
so sehr die Grundlage der meisterlichen Sangesübung bildete und den Rhyth-
mus der Accente so sehr überwog, dass von den MerJcern auch die Fehler
und die Strafen nach gewissen Sylbenzahlen bemessen '^ und die Accente nun
sogar im Reim nicht mehr beachtet wurden.'^ Aber nicht wohl dürfte es
ebenso zu erklseren und durch die Erkleerung zu entschuldigen sein, wenn
mehr als eine Redweise, die gerade echt dichterisch ist, in denselben Tabu-
AVagenseil 544 fg. Büscliing 169. Ein Kranz als Preis für geloeste Rsethsel oder für den
besten Gesang auch in der Volksdichtung des 16 u. schon des 15 Jh. : Uhlands Volkslieder
7. 9. LB. 3, 1, 341. 12) die langen Toene Heinrich Miiglings (§ 74, 44), Heinrich
Fraiienlobs (ebd. 8), Ludwig Marners (§ 71, 56) u. Regenbogens (§ 74, 39): Wagens. 554 fgg,
1.3) LB. 2, 259. 263, 40. 14) Zuweilen ward davon abgewichen durch die Anfügung
noch eines vierten den Stollen gleichen Gliedes hinter den Abgesang: JGrimni 46. Drei
auch die Grundzahl der Gesatze: Anm. 21. l.ö) Wagenseil 533 fgg. 16) Wagens,
526 fg. 529 fg. Büsching 184 fg. 189 fg. 194. 17) Wagens. 521. vgl. § 74, 17. 18)
Busch. 181 fg. 193. ,Was die Strafen um Sylben anbelangt, so hatte es damit diese Be-
wandnis , dass die verschiedenen Grade der Gesellschafter eine bestimmte Anzahl von Syl-
ben voraus haben. Wer um mehr Sylben gestraft wurde, als er voraus hatte, der hatte
sich versungen: d. i. er durfte sich weder Hoffnung zum Preiss machen, noch auch darauf,
dass er durch dergleichen fehlerhaften Gesang, als Probe um einen hoehern Grad seinen
Endzweck erreichte. Je mehr zeilichter die Gesätze eines Lieds waren, je mehr Sylben
bekam er auch voraus" Bragur 3, 83 fg. 19) So bindet z. B. Puschmann LB. 2, 259
Norembrifi : gewififi, 261 Egiäy : ie, 262 Augufiti : hie, Büclwr : ohngfehr, 263 hnndert : vn-
46 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVI JAIIKII. § 97
latuien vorpa*nt und wenn den Licdorn eigentlich nie ein iNUAi/r gegeben
wird, der Liedern ziemt: iille Lyrik ist vor der nüchternsten Lehrhaftigkeit
entwichen, oder es wird episclicn Stoffen -° («ewalt angetlian mit Formen,
weiche durch l'berkunst ihnen unangemessen und durch die beliebte Ein-
schränkung auf nur drei oder fünf oder sieben Strophen ^' ihnen zu eng sind.
Die Lehrmaftiokeit, sie ergieng sich besonders gern auf dem religioeson
Gebiete : denn es hatte die Schulen ein loeblicher Glaubensernst ergriffen ^'-,
so dass nichts Ungehoeriges darin lag, wenn die Versammlungen geistlicher
Gesang eröffnete '''', wenn sie des Sonntags und in Kirchen gehalten wurden -*
und der Singstuhl neben der Kanzel stand. '^•' Und es war zumeist der pro-
testantische, gern also den Zeitumständen gemaess ein streithafter Glaubens-
ernst: die Mehrzahl der Schulen und die grcesseren alle fanden sich in Städten
dieses Bekenntnisses -'^, in Städten, wo das Schulgesetz als Richtschnur der
Sprache Luthers Bibel '-" und papistische Lehren als einen Fehler der ärgsten
Art bezeichnen dui-ftc.-"* Damit aber nahm der Meistergesang, wie er ur-
sprünglich hinter die Lyrik der Edehi als deren verschobenes mid verbleichtes
Nachbild eingetreten war, so jetzo ganz eine Richtung an die Seite der Ge-
lehrton hin: wirklich gesellten sich auch zuweilen Gelehrte selbst den Schulen
bei -^, und es kam die Eitelkeit auf, Heinrich Frauenlob, den Anfänger der
Kunst, und Heinrich von Mügcln zu Doctoren der Theologie zu macheu
(§ 74, 32. 46), und die Eitelkeit, die freilich auch übel ausschlug, des Prunkens
beschicert, Summarum : Sum, 2t34 Decembris : Hess, siebemiy : frostig. 20) Wagenseil
501 ; Gedicht von den 12 ältesten Meistern (§ 74, 22) in sieben Strophen und ebenso viel
Toenen der Strassburger Schule : ebd. 504 fgg. Vgl. Anm. 34. 21) Die häufigste Stro-
phenzahl war gleich der Zahl der Strophenglieder (Anm. 14) drei: JGrimm 46 fg. Fünf
und sieben Erweiterungen desselben Grundverhältnisses: vgl. § G9, 7. Die drei zusammen-
hangenden Lieder Puschmanns LB. 2, 259 sind gedritt, gefünft und gesiebent. 22) Die
zu Freiburg nannte ihr Hauptsingen eine christlich-geistliche Singschule: Schreiber ä. a.
0. 15. 23) Wagenseil 490. 24) AVagens. 489. 540 fg. Kunstgesch. d. RSt. Augs-
burg von Paul V. Stetten, Augsb. 1779, 528 fg. Zu Freiburg in Räumlichkeiten des Do-
minicanerklosters: Schreiber a. a. 0. 25) Wagens. 541. 26) s. die Verzeichnisse bei
JGrimm 129 u. Büsching 16<j. Vgl. auch für Oesterreich Schröer in Bartschs Germanist.
Stud. 2, 206 fgg. 27) Büsching 187. Bibel u. Canzelei (.§ 93, 3) ebd. 182 fg. Wagens.
525. In der Nürnberger Schule hatte der älteste Merker Luthers Bibel vor sich um jedes-
mal Acht zu geben, „ob das Lied so wohl mit dem Inhalt der Schrift, als auch des Lutheri
reinen Worten überein komme" Wagens. 544. 28) Büsching 183. 29) Zu Freiburg,
wo die Gesellschaft zugleich eine Verbrüderung für Seelmesseu war und deshalb sogar
Schwestern zsehlte, als Mitglieder auch Doctoren und Priester: Schreiber 16. Anderswo
dergleichen seltener : doch zu Augsburg zwei Kotare. Gkoiuj Danbeck u. Job. Sprenger,
§ 97 MEISTERGESANG. 47
mit Latinittet.^" Um so berechtigter nun erschien die ekle Zurückweisung
alles dessen, was die Poesie der Schule mit der des übrigen niedern Volkes
hätte in Berührung und Vermischung bringen können ^': der Lohn dafür war,
dass von jenen kaiserlichen Verboten gegen die Singer und Sprecher die
Meistersinger ausgenommen wurden. ^^
So nach Grundsatz und Gesetz. Dennoch war bei den Standes- und
Berufsverhältnissen, in welchen meist diese Dichter lebten, nicht ganz zu
verhindern, dass zwischen dem Meistergesang und der Poesie des Volks und
des öfiFentlicheren Lebens ein Eiufluss bald auf die Form, bald auf den Inhalt
hin und her gieng.^^ Gelegentlich streifte das Volkslied an Künsteleien des
Reims und des Stropheubaues, wie die Schule sie liebte; andrerseits behan-
delten die Meistersinger Stoffe, die eigentlich der Sage und dem Gesang des
Volks zustanden, in Worms z. B. mit städtischem Stolz die Geschichte des
angesehene Meistersinger : Biiscliing 201 ; zu Nürnberg ein Magister und Lehrer am Gjth-
nasium, Ambr. 3Letzger : Wagens. 547; zu Strassburg um 1591 Peter Pfort Diaeon zu
Jung S. Peter und Pfarrer JoH. Zehenthoffer : vgl. Martin Die Meistersinger von Str.
1882 S. 15: zu Magdeburg (tabriel Rollenhagen (Gfedertz 84). Schriftstellerische und
anderweit freundliche Theilnahme Casp. Scheits für die Singschale zu Worms 1561
(Wackernagel Fischart 1U6. 228) sowie Cyriacus und Wulfhart Spangenbergs um
160() für die zu Strassburg (§ 100, 37. 105, 144) und später Jon. Christoph Wagenseils
für die zu Nürnberg : dessen Buch Von Der Meister-Singer Holdseligen Kunst Anfang,
Fortübung, Nutzbarkeiten, n. Lehr-Sätzen: de civitate Noribergensi, Altd. 1697. 433 fgg.
Geschenk des letzteren an die Schule 545. 30) Büsching 183 fg. Wagens. 526. .Sl)
Wagens. 547. 555. In der Singschule verboten Meizlieder d. h. Herausforderungen (§ 74
12a), Possenlieder, Bramberger u. Beryrische Lieder (Schreiber 18) d. h. Lieder wie das
vom Brennenberger (Uhlands Volksl. 158 fgg. vgl. § 103. 28) und die der Bergknappen,
die Bergreihen: § 95, 8. 37. Eigeuthümlich humoristisch die Badelieder: mehrere von
HSachs bei Schnorr S. 49 fgg. 32) § 95, 45. Auch in Baiern 1553 das Ansingen (Bettel-
gesang vor den Häusern) verboten, aber ausgenommen die jenen, so erbar uneryerUch «.
niemand cerletzliche Meister gesany singen: Schmellers Bair. Wörterb. 8, 272. 33) In
dem Ambraser Liederbuch § 95, 23 sind unter die Volks- u. Gesellschaftslieder auch nicht
wenig Meistergesänge eingereiht. 34) WGrimms Deutsche Heldensage 320. Andre Bei-
spiele Anm. 20; die Meistergesänge von Heinrich d. Loewen: Grieters Idunna u. Hermode
1813, Nr. 13 : und vom Eulenspiegel : Lappenbergs Ulenspiegel 233 fg. 277 fg. : so wie die
Lügenmserchen in Haupts Zeitschrift f. Deutsches Alterth. 2, 563. Seb. Brants Narrenschiff
V. Zarncke 455. Ambraser Liederbuch 176. 180 u. das Lied ebd. 340, das wie die voran-
gehenden Prosastücke das hinder fürher kehrt. Ueber Thierfabeln bei den Meistersängern
handelt WGrimm Abh. der Berl. Akad. 1855. Schnorr 19 fgg. verzeichnet die 'Schwaben-
streiche' und historischen Stoffe in den Dresdener Hss. In der Berliner Hs. 4* 414 Bl. 455
finden sich auch Scherze nach Art des Ebich LB. 1, 1420 und Bl. 384 ein Lied Uie stuhen
48 NEUIIOCIIDEUTSCIIE ZEIT. XVJ .lAIIUJI. § 98
hörnernen Siegfried '*, und die Meistersinger zu Augsburg, zu Strassburg, zu
Freiburg im Breisgau dichteten und führten selbst vor allem Volk geistliche
Spiele auf (§ 105, 144). Was aber der Hauptbelcg liier ist, aus der ersten,
der gesetzgebenden Schule, der zu Nürnberg, gieng ein Mann hervor, den
um seines fruchtbaren Eifers im Meistergesango willen diese Schule noch lange
nachher als ihre Zier verehrt hat '''', der aber noch fruchtbarer auf andern
der Tabulatur entzogenen Gebieten und überhaupt unter allen Dichtern des
Jahrhunderts der fruchtbarste, der gerühmteste ^^ und wirklich auch der grocste
darum war, weil ungebrochen von der Schulunart in ihm die Art des Volkes
mit ihrem edelsten Kern und Marke wohnte.
Hans Sachs ist zu Nürnberg im J. 1494 geboren worden und hochbetagt
gestorben im J. 157G; sein Vater war ein Schneider, er selbst ein Schuster.
Die Schule seiner Jugend gab ihm Anfänge der Gelehrsamkeit, etwas Latein '
und selber Griechisch; als Gesell durchwanderte er überall hin Deutschland;
was er dort erlernt, aber theilweis wieder vergessen ^, und die Anschauungen,
die er hier gewonnen hatte, suchte er sodann sein ganzes Leben entlang mit
unermüdlichem Eifer zu ergänzen und fort und fort zu erweitern: er las und
war belesen wie selbst wenige Gelelirte, belesen in der älteren deutschen
in den leutten sas der wein was xcol gemut er schencket ein den külen wirt usw. 35)
Auf einer der vier Tafeln, die zu Ankündigung eiuer Singschule ausgehängt wurden, Hans
Sachsens Bildniss: Wagens. ö42. 36) Wo z. B. Nicolaus Herman ir)<jU des litterarischen
Reichthumes seiner Zeit gedenkt, ist der einzige, den er namentlich anführt Hans Sachs :
Phil. Wackernagels Deutsches Kirchenlied 823; und Fischart in der pros. Vorrede seines
Eulenspiegels nennt unter denen, die den gleichen Stoff an Hand genommen, neben seinem
Vetter und Lehrer Caspar Seheid nur wieder ihn: Belege aus Ayrer § lOJ, 26. Sein Ruhm
und Einfluss als Dramatiker § 105, 2. ürtheil des 17 u. 18 .Th. § 113, 8.
§ .)8. Lebensbeschreibungen des Dichters mit Aufziehlung seiner Werke giebt es von
ihm selbst (am Schluss des 5 Bands der Willerischcn Ausg.) und von seinem jüngeren
Freunde Adam Puschmann (LB. 2, 259), beide in Versen ; spaetere von Ranisch, Alten-
burg 170;"), und von J. L. Hoffjfaxn : H. S. Sein Leben und Wirken aus seinen Dich-
tungen nachgewiesen, Nürnb. 1847. Einzeldrucke Haus Sachsischer Gedichte verzeichnet
im Bücherschatz d. Deutschen Xational-Litt., Berl. 1S")4. 5. 6 ; Gesammtausgaben zu Nürn-
berg bei Willer 1558 fgg. (neugedruckt Stuttgart L. V. 1870 fgg.) u. ebd. bei Lochner
1570 fgg. ; ein Nachdruck zu Kempten 1612 fgg. : vgl. Naumanns Serapeum 4, 148 fg.
Neuere unvollständig gebliebene oder nur auf eine Auswahl angelegte Sammlungen von
Bertuch (^§ 113, 8), üaesslein, Büsching, Becker, Göz, Güdeke und Tittmann (Lpz. 1870 fg.)
Sämmtliche Fastnachtspiele: Neudruck von Götze, Halle 1880 fgg. Ders. zur Textkritik:
Sehnorrs Arch. 7. 7 fgg. 8, 301 fgg. Im LB. 2, 62—126. 1) LB. 2, 260, 12. 2) Hoff-
§ 98 HANS SACHS. 49
Litteratur, soweit ihm dieselbe durch Druckwerke, und in den Novellen
Italiens und den Geschichten und Gedichten Roms und Griechenlands,
soweit ihm diese durch Übersetzungen leichter zugänglich wurden •', belesen
vor allem und mit derjenigen Erhebung und Bescligung seines Innern, welche
von daher fliessen und zuletzt dem Greise der beste Trost sein musste "*, in
der neu eröffneten heiligen Schrift. So wuchsen der Lust des Schaffens und
Gestaltens, die von seinem zwanzigsten Jahr an ihn erfüllte und erst auf der
äusscrsten Neige seines Lebens nachliess '', stsets neue Stoffe und Gedanken
zu, und die Zahl seiner Dichtungen ward eine beispiellose. Einzig an Meister-
gesängen (Lehrer in deren Kunst war ihm ein älterer Mitbürger, der Leinen-
weber Leonhard Nunnenbeck, gewesen) hatte er bis zum Jan. 1567, wo er
all seine bisherige Arbeit zsehlto, nicht weniger als 4275 verfasst ^, mit dem
vorwaltenden Ernst der Sitte, welcher den Schulen von je her eigen war,
und mit solchem Eifer für die evangelische Erneuerung des Glaubens, dass
namentlich der Schule von Nürnberg die gleiche Richtmig nun für alle Zeit
eigen blieb (§ 97, 27). Doch hat er, dem Schulgebraucho folgend, seine
Meistergesänge fast sämmtlich ungedruckt gelassen ^ (sie sollten nur Eigenthum
der Schule sein, die zieren und erhalten) und in den Druck nur solche Dich-
tungen gegeben, welche die Tabulatur mit ihren Vorschriften und Verboten
nicht beschlug: deren aber fanden bei jener Zaehlung sich 1981 vor, und es
war liiemit, da er noch drei Jahre länger seine Thsetigkeit fortsetzte, die
Zahl nicht abgeschlossen.^
Erst diese andern Gedichte, wennschon in "Wahl und Behandluno- der
Stoffe und in der Formgebung der Einfluss nicht zu verkennen ist, welchen
hier der nsechstberührende Vorgang eines älteren Nürnbergers, Hans Folz,
geübt hat ^, zeigen Hans Sachs in seiner ganzen Eigenthümhchkeit, der ganzen
Fülle seiner geschichtlichen Bedeutung. Demi was dieses Jalu-hundert bewegt
und sonst dessen Litteratur nach zwei Seiten hin gespalten hat, der Kampf
manu 14 fg. 3) Hoffm. 16. Goedeke, Lieder von H. Sachs S. xxx. Der Dichter giebt
seine Quellen meist selbst an. Insbesondere sind Steinhöwels Uebersetzung des Aesop und
des üecamerone (§ 90, 2G2. 269) von H. Sachs viel benutzt worden. Verzeichniss seiner
Bibliothek : Schnorrs Arch. 7, 1 fg. 4) LB. 2, 264, 18. 266, 13. 5) LB. 2, 264.
6) LB. 2, 262, 27. Doch zählt H. Sachs mehrmals und verschieden. 7) Handschriften
wie die § 97, 4 genannten geben namentlich ihn wieder; den Inhalt der von ihm selbst
geschriebenen hatte er selber auch zum groesten Theil gedichtet. Vgl. F. Ct. W. Hertel,
Jäher die kürzlich in Zwickau aufgefundenen Hss. von H, Sachs, Zwickau 1854 ; er bemerkt
dass H. Sachs in seinen übrigen Gedichten die Meistergesänge vielfach inhaltlich wieder-
gegeben hat. 8) Hoffm. 184. i)) Haupts Zeitschr. f. Deutsches Alterth. 8, 508; vgl.
Wackernagel, Litter. Geschiclite. U. 4
50 NEUII(X:iII)EUT8CIIE ZEIT. XVI JAlIlill. § 98
zwischen Schule und Leben, zvNnschcn (lelehrtcm und Volksm^cssigcra, zwischen
äusserer fremdartiger Angcwoehnung und angeborener freier Eigenart, und all
die Mannigfaltigkeit von alter und neuer Diehtweise, worin der Kampf sich
kundgiebt, es steht hier in Eine Porsccnlichkcit zusammengeschlossen da, so
jedoch, dass die Eigenart, das Volksnnessige, das Lebendige noch ungebrochen
den Sieg davon tnugt, und obschon ein Stellvertreter der gcsammten Litte-
ratur, Hans Sachs zu allervorderst doch ein Dichter des Volkes bleibt. Er
ist ein Meistersinger: aber ihn hindert keine sprcßde Übcrhebung auch Gassen-
hauer und Buhlliedcr d. h. Lieder der Liebe '" und für die erneute Kirche
auch geistliche Lieder und Psalmen ganz im Tone des Volks " zu dichten.
Er weiss dm'ch Lesen Vieles und ist nicht frei von der Lust seine Gelehr-
samkeit zur Schau zu tragen: aber ebenso viel, wo nicht mehr noch Freude
hat er an den Sagen und Märchen und sonst Geschichten der Ilcimath, deren
Kunde das Leben selbst und zumal wohl im Beginn seines Lebens die Ge-
sellenwanderschaft ihm eingebracht. Und Singschule und Gelehrsamkeit und
sein Antheil an den Erneuerungskämpfen der Kirche weisen ihn auf das
Lehrhaft-ernste hin, und er leistet dem auch gern und genugsam Folge : aber
noch lieber laesst er es sich wohl sein im Scherz, und die Unbefangenheit, in
welcher das Volk mit heiligen Namen und Geschichten und mit dem Teufel
spielt, ist bei aller Strenge des Glaubens auch ihm unverkürzt *-, oder es sind
Zwecke des Ernstes selbst, um derentwillen auch er diess Spiel treibt.'^ Denn
das ist seine eigenste Art, und das mildere Greisenalter hat im Gegensatz zu
der Schärfe, die dem Mann und dem Jüngling eher noch beliebte, sie erst
Anra. 21; HFolz § 66, 57. 81, 34. 42. 86, 10 fg. 10) Nehen den GasaenJuiwern (§ 95,
11) und Bulliedern nennt er selbst, wo er seine Gedichte aufzaehlt, auch noch Lieder t'on
Kriegs geschrey, also wohl geschichtliche : vgl. § 95, 2. 11) in Toenen schlecht vml gnr
gemein sagt er selbst von diesen geistlichen wie von jenen weltlichen Gresängen; unter den
geistlichen auch verenderte d. h. aus weltlichen geistlich und aus katholischen evangelisch
umgedichtete: § 103, 25. 29. Vgl. die Tageweise LB. 2, (il. Der Versbau freilich ein durch-
aus meistersingerischer. Die geistlichen Lieder (8) und die Psalmen (1.3) nicht in der Ge-
sammtausgabe, sondern schon 1525 u. 1526 einzeln gedruckt: das Deutsche Kirchenlied v.
Phil. Wackernagel 727. 733; beide ebd. 168 fgg. u. 175 fgg. wiederholt. Die ersten Mei-
sterlieder dichtete übrigens H. Sachs in katholischem Rinne. 12) Beispiel der Schwank
LB. 2, 102. 13) Beispiel das Maercheu von Gott und den Kindern Evae, welches ihm so
lieb gewesen, dass er es in dem eiuen Jahre 1553 zweimal, als Spiel und als Comoedie, dra-
matisiert (die Comoedie LB. 2, 74) und 1558 noch einmal als Schwank erzaehlt hat: schon
154G hatte er ein Meisterlied darüber gedichtet: Gcedeke Nr. lUO. Dasselbe Maercheu aus
Seb. Francks Sprichwörtern LB. 3, 1, 369. Über Hans Sachsens Quelle {\&t. Brief Melanch-
§ 98 HANS SACHS. 51
recht hervorgekehrt: er sieht ohne darum je von dem Grund einer tüchtigen
Sittlichkeit zu weichen (eher von dem, was uns für Anstand gilt) das Leben
gern von der heiteren Seite, harmlos oder doch mit Lachen an, mit Laune,
mit launigem Spott. Keich an Worten und geläufig ist sein Reden überall,
und Vers und Reim machen ihm nirgend und um so weniger Noth, da seine
Sprache mehr Nürnbergcrisch als gemeindeutsch ist und er letzteres mehr
nur schreibt als wirklich spricht: aber nur die Plauderei der scherzhaften
Dichtung erweckt Behagen, in ernsthafter machen die vielen Worte eher den
Eindruck einer beschwerhchen Weitläuftigkeit.
Aus all dem ergiebt es sich von selbst, in welche Reihenfolge des Werthes
die verschiednen Gedichtarten zu ordnen seien, auf die Hans Sachs ausser-
halb der Singschule sich gerichtet hat. Zu unterst (auch was er in Lob und
Trauer auf Luther und die Reformation geschrieben ^\ gebeert dahin) möchten
die rein lehrenden und diejenigen Lehrdichtungen stehn, die in ein Traum-
gesicht oder einen Spaziergang oder dem sehnlich eingekleidet ^^ oder mit
Hilfe der Personification und der Allegorie in eine Wechselrede gebracht
sind '^, die Sprüche, die Gespr.eche, beidemal Formen und Namen schon
aus älterer Zeit (§ 77, 14. 81, 85 fgg. 84, 31 fgg.), die letzteren noch durch
das angesehene Beispiel Ulrichs von Hütten frisch empfohlen (§ 94, 21. vgl.
§ 99, 11): auf das deutlichste diesem folgend und ebenfalls wieder in Sachen
der Kirchenbesserung hat sich Hans Sachs sogar auch in Abfassung prosaischer
Gesprseche versucht, die sich durch Lebensti-eue, Sprachgewandtheit und
massvolle Gesinnung auszeichnen.^^ Hceher sodann, weil die Lehre von Er-
zsehlung getragen und mehr Raum für die Komik gegeben ist, die Fabeln
UND Parabeln '^, und wieder über diesen die rein erzsehlenden Gedichte,
nicht gerade die ernsten, die etwa ihren Stoff aus der Geschichte des Alter-
thums, sondern die komischen, die s. g. Schwanke ^% die am liebsten aus den
Volksüberlieferungen der Heimath schöpfen. ^^ Zwar macht wie in den Parabeln
immer auch hier den Schluss eine lehrhafte Nutzanwendung, ebenso unaus-
thons 539) und anderweitige Darstellungen Jac. Grimm in Haupts Zeitsclir. 2, 257 fgg.
Schnorr im Archiv 12, 177 fgg. 14) Die Wittembergisch Nachtigal 1523 (in der Ge-
saramtausgabe allerdings verkürzt und abgeschwächt). Ein Epitaphium oder klagred ob
der leich B. Martini Lutlieri 1546. 15) Beispiel der Landsknecht Spiegel LB. 2, 65.
16) Hoffmann 123. 17) Raniseh 82 fg. Hoffm. 34. Vier Dialoge des H. Sachs (1524),
hg. V. R. Köhler, Weimar 1858. Ueber drei andere später verfasste Goedeke Lieder s. xxvi
Anm. 18) Beispiel, zum Theil auch jener Gespraeehsform, LB. 2, 118. 19) Schtvank
eigentl. ein Fechterstreich, dann ein lustiger Streich und die Erzajhlung davon. 20) z. B.
52 NEUIIOCIIDEIITSCJIE ZFJT. XVI .TAirilH. § 98
weichlich als (ausser den Meisicrliedern) alle (jicdichtc Hans Sachsens ein
Keim auf seinen Namen boscliliesst -' : aber die Erzählung selbst leidet
darunter nidit; die Moral am Ende scheint dem Dichter nur eben schicklich,
weil sie auch Hans Eolz und manchem schon früheren Novellisten des Mittel-
alters schicklich geschienen (§ 80, 9).
Endlich zuoberst das Duama.-- Auf dieses führte ihn ein unablrossiger
und mit den Jaluen st^ets anwachsender Zug mid Trieb '*^, und auch auf den
andern Gebieten seines Diclitens arbeitete er mannigfach nach diesem liin,
durch die überall gern gebrauchte Gesprächsform, namentlieli aber in den
Strcitgedicliten, den von ihm so genannten Kamjßfgospra'chm, bei denen öfters
nur der Zufall äusserer Umstände mag entschieden haben, ob er nicht auch
sie als Dramen bezeichnen sollte.'* Hier denn, von der Tabulatur ganz ab-
gewendet, liegt sein Hauptgebiet und liier vorzüglich, sobald man nur woniger
darauf achtet, was jetzt schon erreicht, als was im Drange innerer Noethigung
mit Eifer erstrebt worden, seine Bedeutung für unsre Litteraturgeschichte.
Er war unter den namhaften Dichtern seiner Zeit der erste, der unser Drama
aus der Schmalheit der Stoffe und der Kohheit der Form, die bisher es ein-
geengt, auf das freiere Feld einer Kunstübung nach antiker Art zu versetzen
suchte, und nicht bloss in Nürnberg, wo ihm Jacob Ayrer (§ 106, 21) und
Georg ^Iauricius dci* ältere (§ 105, 7) folgten, weit über die Grenzen der
Vaterstadt hinaus hat sein Vorbild cinflussreich gewirkt (§ 105, 2). Mehr als
sonst jemand gewahrt uns liiemit Hans Sachs und mehr als all seine übrigen
Werke gcwaehreu seine Dramen uns ein Beispiel von dem Bemühen auch der
ungelehrtcn Dichter Theil zu nehmen an den Erwerbnissen der neuen Gelehr-
samkeit und sie der Litteratur der Heimath anzueignen. Von ihm ist jenes
Lustspiel Reuchlins, das auf gelelu-ter Seite eine Vorverkündigung des dra-
matischen Aufschwungs war ^^ und mehr als ein Drama der Antike selbst -"
in deutschen Reimen erneuert worden: bei den griechischen mochte ihm latei-
LB. 2, 102. 21) Zu vergleichen der stehende Gediehtschluss seines Vorgängers Spricht
Hans Folz zNürmberg bancirer und t? 95, 35 — 36. 22) Kia nach den Jahren geordnetes
Verzeichniss der Dramen HSachsens giebt Gottsched in seinem Noethigen Vorrath zur
Gesch. d. deutschen Dramat. Dichtkunst, Leipz. 1757, 47 — 112. 23) Seine rechte Frucht-
barkeit hier begann erst nach der Glitte seines Lebens: vgl. Anm. 41. 24) Den Streit
zwischen Juppiter vnd Juno, ob Weiber oder Männer zum Hegiment tüglicher seyn (1534),
benennt er selber zwiefach Coniedia oder Kamjjfgesprcech. Vgl. § 105, 10. 25) Die
Scenica Progymnasmata § 8G, 23; bei HSachs 1531 Henno betitelt, nach der Hauptperson.
26) 1531 der Plutus des Aristuphanes (.HS. sa^t Pluto), 154« Plautus Men^-CHMEn, 1.550
§ 98 liAJSH SACHS. DRAMA. 53
nische, bei den lateinisclicn auch ältere deutsche Übersetzung helfen -^; noch
im J. 1563 die letzte seiner Arbeiten für die Bühne ist eine Verdeutschung
aus Terenz gewesen. ^^ Angetrieben von solchen Mustern und hier zumal
unterstützt von seiner Belesenheit, überschritt er nun auch, wo er freier und
eigener schuf, die Schranken, von denen bisher der Bereich der dramatischen
Stoffe war umschlossen worden (§§ 85. 86), und schöpfte deren von all den
Seiten, woher sie auch seiner Erzsehlung und der Lehre flössen, aus geist-
licher und weltlicher Geschichte, aus Schwank und Sage der Heimat ^^ und
den Novellen der Fremde, Anfangs mit der Vorliebe frischer Kenntniss aus
der Geschichte des classischen Altcrthumes ^^ und immer gern aus allegorischer
Erfindmig. In der Art und Form des Dichtens aber fügte er sich ebenso
wohl den Schranken, die wiederum das antike Muster zog. Zwar schrieb
auch er noch geistliche Spiele wie das Mittelalter, lieber indess um neeher
bei der weltlichen Roman- und Heldenhaftigkeit zu bleiben aus dem alten
denn aus dem neuen Testament oder gar der Legende, und oft genug brauchte
auch er noch den unterscheidungslosen Namen /Spi?, die bei weitem groessere
Zahl der Stücke jedoch unterschied er mit den neuen Worten Tragcedia und
Commdia. Und hier, wsehrend die bloss so genannten Spiele stsets nur ein-
actig waren, hier wie in den geistlichen Spielen trennte und zsehlte er meistens
Acte ^^ ^, gewoihnUch gleich den Roemern bis auf fünf, und hielt ein gebüh-
rendes Mass des Umfangs und der Menge der Personen inne ^^ und liess,
wennschon die Zwischenacte wohl Musik ausfüllte ^^, doch den Gesang in-
mitten der Gesprseche fort, so das die Aufführung noch so vieler Acte nie
einen ganzen Tag, geschweige denn wie vormals und wie noch jetzt bei
manchem Andern deren zwei und mehr in Anspruch nahm.^^ Es stehn aber
unter dem Titel Jocaste der Koenig Oedipus des Sophocles oder doch von diesem Stück der
Inhalt. 27) bei den Menaächmen, wie schon die deutsche Namengebung verrseth, die
Übersetzung Albrechts von Eibe § 86, 16; vgl. § 105, 11. 28) des Eunuchen unter
dem Titel Von der Bulerin Thais. 29) Der Hörnen Seyfrid 1557. Hauptquelle ein
von der sonstigen Überlieferung abweichendes Siegfriedslied; die Deutsche Heldensage v.
Wilh. Grimm 310 fg. 30) Nach den zwei Fastnachtsspielen von 1517 u. 1518, seinen
frühesten Stücken (Anm. 39), erst 1527 u. 1530 wiederum Dramen Lucretia und Virginia.
30a) Ueber die Bezeichnung der Actschlüsse durch Dreireim s. Rachel, Dreireini und Eeim-
brechung im Drama des H.S. Freiberg 1870. 31) Adam Puschmann in der Vorrede zu
seiner Comcedie v. d. Patriarchen Jacob (4:4: Personen) : HSaclis habe seine Spiele insgemein
auf 8 bis 12 Personen eingerichtet, weshalb er auch von der Bearbeitung dieses Stoffes ab-
gestanden: Heinr. Hoff'manns Spenden zur deutschen Litteraturgesch. 2, 13. 32) z. B.
LB. 2, 92, 41. 97, 7; vgl. § 105, 100 fgg. 33) t? 85, 40. 105, 122. Gedichtet für die
54 NEUJlOUIlDKrTSClIE ZEIT. XVI JAJIUII. § 98
dio Tragcrilion und überhaupt die iiussorlicli ernsteren Spiele an Oodiclitwerth
den Comocdien nach: letztere lagen mehr in Hans Sachsens Eigenart und
vergönnten seinem dichterischen, seinem sittlichen, selbst seinem rcligiocscn,
evangelischon Sinne den angemessncren Ausdruck.^* Und dennoch war er
auch in ihnen, so lange er leben und dichten mochte, stajts beirrt durch die
Neuheit seiner Neuerungen, durch das Unvermoogen den Gegensatz von Tra-
gocdic und Comcodie tiefer als nur in Zufälligkeiten des Ausseren aufzufassen ^^,
durch die Meinung, jeglicher Stoff, der in Form der Erzählung anzog, sei
alsbald auch tauglich für die dramatische Form, durch sein Ungeschick für
diejenige idealische Durchdringung eines Stoffes ^^, worauf allein die rechte
Dramatisierung und die Gliederung der Acte sich begründen konnte. Hans
Sachs kam zu früh, war bei aller Belesenheit doch zu ungebildet, hatte in
seinem Drange zu wenig Bewusstsein von dem Mass und Ziel der eigenen
Kraft um als Tragoedicn- und selbst als Komoodiendichter, was er wollte, voll
zu thun, um das deutsche Drama in die Fremde des antiken Beispiels hinzu-
führen. Am besten daher und beinah einzig gelang es ihm, wo er zugleich
bei der Komik und dem volksmajssig und heimatlich gewohnten stehen blieb,
im Fastnachtsspiele, dieser altnürnbergischen Dichtungsart, die vor ihm
Rosenblut und Folz geübt hatten (§ 86), letzterer auch sonst sein Vorgänger
(Aum. 9), und die neben ihm und sicherlich ihm nach auch Peter Probst,
ein andrer Meistersinger Nürnbergs, übte.^^ Hier stand, was namentlich im
Tragoediendichten ihu behinderte, sein Mangel an lyrischer Begabung, ihm
nicht so im Wege: hier galt es schwankhaften Stoff und Kürze und Ein-
fachheit der Ausführung; Theilung in Acte galt hier nicht. Aber gehoben,
wie er durch all sein Streben war, hob er sich hier auch über die Niedrig-
keiten vor ihm und wusste die Komik mit Gedankengohalt zu füllen; nicht
selten birgt gerade das lauteste Lachen seiner Laune einen Sinn voll eindring-
lichsten Ernstes : sein Narrenschxeiden ^'^j so mutli willig es blickt, es ist eine
Auflführnng waren alle Dramen HSachsens, und die meisten wurden auch aufgeführt, in und
ausser Nürnberg (§ 105, 2\ und bei den meisten bat nach seinem eigenen Bericht (Anm.
Anf.) er selber spielen helfen. 34) Beispiel die ungleichen Kinder 'Exje Anm. 13
mit ihrer von Gott selbst gehaltenen Kinderlehre und den papistischen Worten Cains und
seiner boesen Brüder LB. 2, )S5 fgg., 94 fg. 85) Sonst hätte er z. B. das Maerchen von
den Kindern Evae, so wie er es auffasst, nicht als Comoedie dramatisieren können. 36)
Abermals Beispiel die Kinder EviC, die gar nicht auf den eigentlichen Sinn des Maerchens,
sondern für allerlei andre religices-moralische Nutzanwendung (LB. 2, 100 fgg.) gedichtet
sind. 37) Handschriftlich sechs Fastnachtsspiele desselben von 1553: C-rottsched a. a. 0.
34 fgg. 38) von 1557: LB. 2, 206. Mitanstoss der gewaehlten Formgebung das Narrenschiff
§ üü ^ GELEHRTE EPIK UND DIDACTffi. 55
ganze Sittenlehre. Fastnachtsspiele ^'•' beginnen und wiederum, wenn man von
jener Übersetzmig aus Terenz (Anm. 28) absieht, beschliessen Fastnachtsspiele ^"
die Reihe seiner Dramen.
Sechsundvierzig Jahre lang, von 1517 bis 1563, hat Hans Sachs und
auch so noch in staunenswerther Fülle Dramatisches gedichtet, theils Tra-
goodien, theils Coma^dien, theils andre Spiele, Alles in Allem 208 ^M das Beste
aber von all dem sind die Fastnachtsspiele, ihrer 42, ist diejenige Form des
Dramas, die bei der Richtung, welche schon jetzt und mit vollster Entschieden-
heit im siebzehnten Jahrhundert die Litteratur einschlug, dem Untergange
verfallen musste.
§ 99.
So viel und mannigfach rang sich das Volk und rang sich ein Dichter aus
dem Yolkc zui" Gelehrsamkeit empor: nicht mit gleich allgemeinem und grossem
Eifer kamen von oben her die Gelehrten dem Yolk entgegen. Sie konnten
aber auch nicht wohl: denn sie hätten sich dabei zu vieler wirklichen oder
vermeinten Yortheile und beinah einer ganzen Art der litterarischen Dar-
stellung, der Prosali tteratur, entschlagen müssen. Sprechen wir aber zuerst
von der Poesie der Gelehrten.
Da zeigt sich gleich in der Epik, welch ein Unterschied zwischen ihrer
und der Volksart waltete. "Wo sie nicht, wie lieber geschah (§§ 107. 108),
der prosaischen Erzsehlung den Vorzug gaben, wo sie noch dichten mochten,
waren es doch keine sangbaren Lieder, die sie dichteten; Luther freilich, er
allein, hat auch das gethan ^ : die Anderen schrieben nm*, damit man Isese, in
Sebastian Brants (LB. 116, 11; vgl. § 99, 16) und nseher noch die Narrenbeschwoerung
u. der Lutherische Narr v. Murner (§ 99, 19. 27): vgl. Ausg. des letzteren v. Kurz 15 fgg.
Verwandte Gedanken sehnlich dargestellt noch anderswo bei HSachs, im Narrenfresser u.
im Narrenbad von 1530, in dem Kram der Narrenkappen v. 1566, im Narrenbrüter v.
1568: SBrants Narrensch. v. Zarncke cxxx fgg. Nachahmungen des Narrenschneidens
§ 105, 2. 39) DAS HoFGSiXD Veneris 1517 (vgl. § 99, 59 u. § 105, 72) und von der
Eigenschaft der Lieb 1518. 40) der Neydhardt mit dem Feyhel (vgl. § 72, 29)
und Eulenspiegel mit dem Beltzwaschen (vgl. § 97, 36. 107, 18), beide von 1562.
41) So zsehlt er selbst (Anm. Anf.) und nach ihm Buschmann LB. 2, 263 : Gottsched a. a.
0. 114 rechnet nur gerade 200 heraus. Die Mehrzahl davon fällt erst auf seine spaeteren
Jahre (Anm. 23), auf sein 59stes z. B. (1553) 5 Tragoedien, 5 Comcedien und 8 Fastnachts-
spiele, zusammen 18, und wiederum 18 auf sein 63stes (1557), naemlich 7 Trag., 7 Com. u.
4 Fastnachtsspiele.
§ 99. 1) in dem Lied von den Märtyrern zu Brüssel 1523 LB. 2, 37.
56 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVI JAHllH. § 99
der liiofür altgültigon Form (§ 92, 4). Noch grocsscr die Abwcicliung in
Saclicn des lulialts. Man druckte wohl noch und erneuerte für den Druck
hie und da ein Epos des Mittelalters (§ 92, 4) und übersetzte im J. 1515
aus dem Niederdeutschen die Teufelsgcschichten vom Bia'i)j:R Kausch ^: aber
Neues und Eignes auf diesem Wege schuf man kaum. Mochten auch Einzelne
wie Burkard Waldis und llollenhagen die Thiersage und das ^[«rchen noch
in Ehren halten und benutzen^ und 1558 Gp:()R(; Tiiym den spukhiiften Lebens-
lauf Theoduls von Walmoden des Unerschrockenen aus Überlieferungen des
Geschlechts zusammenreimen *: das Bedeutendste hier, woraus das Volk immer
noch seine Lieder sang (§ 95, 1), die Heldensage, war für die Gelehrten ein
Gegenstand bloss der gelehrten Kenntnissnalimc '•" oder der Geringschätzung,
des Spottes geworden.*' Es war eben die Sagendichtung des classischen Alter-
thumes, es war die Geschichte, mit deren Werthc man die hcimathliche Sage
mass. Die llias denn und die yEneis, ohne doch von ihnen befruchtet zu
werden, oder Geschichtsstofif brachte man in baare Reime: die ersteren beide
2) neu lisggb. v. Endlicher u. Wolf, Wien 1834 ; darnach in Simrocks Deutsch. Volksb. (j,
3ö9 — 414. Ausg. d. ältesten, niederdeutsch. Fassung v. Schade im Weim. Jb. V i^biy. 3) Waldis
Anm. 42. Rollenhagen in der Vorrede des Froschiuäuselers Was auch der alten detitsclien
Heidenische leer gewesen, vernimmet man aus den wunde rbarlichen Hausmehrlein, von dem
verachten fronten Aschenpössel, vnd seinen stoltzen spöttischen Brüdern. Vom albern vnd
faulen Heintzen, vom Eisern Heinrich, von der alten Neydhartin vnd dergleichen. Welche
ohne schrifft jmmer mündlich aiiff die nachkommen geerbet tverden, vnd gemeinlich dahin
sehen, dass sie Gottes furcht, fleiss in sacken, Demut, Gedult vnd gute Hoffnung leeren.
Denn die aller verachteste Person wird gemeinlich die aller beste. 4) Georg Tliym (eigent-
lich Klee) aus Zwickau, ein Schulmann, gest. zu Wittenberg 1.561. Sein Thedel Unvorferd
V. W. zuerst gedruckt 1558 zu Magdeburg und zu Strassburg. Vgl. Bücherschatz der
Deutschen National-Litt., Berl. 1854, 114. Auszüge in Guedeke, Deutsche Dichtung 1, 149 fgg.
5) Zeugnisse in Wilh. Grimms Deutscher Heldensage 3U1 fgg.; vgl. § 100, 7. 6) Joachim
Abeklin in der Vorrede zu seiner Bibel gsangs wegss, Zürich 1551 iPhil. Wackernagels
Deutsches Kirchenlied 812) der Berner, Ecken aussfart, Hertzog Ernst, der Hürne Süw-
frid, auch andere cnnützc, langwirige vnnd heillose lieder vnnd meistergsang. Mathesius
Vorrede auf Hermans Historien v. d. Sündflut 1563 (ebd. 820) Ich tadle der alten Meister
Gesenge vnnd Bergkreien auch nicht. Denn ich liab viel sciuener alier Geticht, darin man
gute vnd Christliche Leut spüret, gesehen, als das vom Pellican, von der Mühle vnd andere.
Aber was leret oder wen trcestet der alte Hillebrandt vnd Riss Sigenot '^ Scheit im Grobianus
1551, J ij rw., wo von groben Lügen die Kede ist, Erzelt darbey an solchem disch, Syrenen,
vieer Schwein, vnd wal fisch, Von Hertzog Ernst bewartem schiff, Wie er zu dem Carfunckel
griff, Vnd wie Signot den Berner truog, Vnd wie Wolff Dietrich würm erschluog, Vnd
wies sant Brando)i viel gieng, Dass er vier wochen in eim ring In einem grossen walfisch
§ 99 THOMAS MURNEll. 57
Johannes Spreng im J. 1610'; Beispiele des letztem die Jahr Blum, eine
Weltgeschichte Matthias Quads vom J. 1595 *, Jacou Ayrers Bambergische
Chronik von 1599 '■•, die Strassburgische eines Ungenannten von 1025 '° u. a.;
und falls man hoolier strebte, schien dem dichterischen Bedürfnisse voll genügt,
sobald der geschichtliche Stoff nur mit Allegorie und Mythologie umsponnen
war, wie in dem Lustgart Neiver Deuftscher Poeteri von Matthias IIoltz-
WART von Harburg d. i. Horburg bei Colmar (Anm. 4G u. § 105, 43) 1568
das Lob des wirtenbergischen Herzogshauses.
Hicniit ist bereits die Richtung auf Lehrhaftigkeit bezeichnet, die jetzt
beinah aller Epik der Gelehrten eigen ist, in solchem Mass eigen, dass zwi-
schen Erzsehlimg und Lehre kaum noch eine Grenze besteht, und was die
Litteraturgeschichte von der Epik dieses Jahrhunderts zu sagen hat, mit sel-
tenen Ausnahmen auch unter dem Namen der Didactik könnte gesagt wer-
den. Es kam das von der schulmsessigen Art, welche die Gelehrsamkeit jetzt
hatte ; es ward befestigt durch die Nothwendigkeit, dass auch die Epik irgend-
wie Theil nsehme an dem Glaubeuskampf und an den Kämpfen, die derselbe zu-
gleich im Staat entzündete : in welch unabsehbarer Fülle drängten sich jetzt,
bald verteidigend, noch öfter angreifend, und gern in die dramatisch belebtere
Gestalt des Gespraeches gebracht ^\ die religices-politischen Gelegenheitsge-
dichte ^'^, die Zeitungen, wie man sie wohl auch, wenn die Erzsehlung über-
wog, benannte ^^; es war schon begründet in den letzten Yorgängen des Mittel-
fuor. 7) gedr. zu Augsburg; die iEneis auch schon Murner 1515: Anm. 18; die Uäi/ssea
Simon Schaidenheisser, Augsb. 1537. 8) gedr. o, 0.: Büchersch. 90; vgl. § 108, 25.
9) hsggb. V. Joseph Heller, Bamb. 1838. 10) durch einen Liehhaber der Teutschen
Poetereij, Strassb. 1625. Der Verfasser hiess Michael Kleinlawel, ein Meistersänger:
Strassb. Stud. 1, 94. 11) in Poesie u. Prosa eine Lieblingsform schon des Mittelalters
(§ 81, 90. 85, 1) und jetzt den Gelehrten noch durch Lucian em2)fohlen: vgl. § 94, 21. 98,
16. 105, 10. 110, 12. 112, 2 u. unten Anm. 27. 12) z. B. Nie. Manuels Klayreä der
armen Götzen von 1528 etwa: bei Bächtold 237 fgg. vgl. CG; die Gedichte auf H. Heinrich
den Jüngern v. Braunschweig, den Feind der Reformation, darunter auch vier Gesprseche,
deren drei Aus de))i Latein jnns Deudsch geben : Gcedeke in d. Zeitschr. d. Histor. Vereins
f. Niedersachsen 1850, 1 — 116, diese auch bei Schade (s. u.) 1, 99 fgg. u. a. Eine ganze
Reihe solcher Dichtungen verzeichnet der Bücherschatz 90 — 100; vgl. Joh. Voigt über Pas-
quille, Spottlieder u. Schmsehschrit'ten aus d. ersten Hälfte d. 16 Jh. in Raumers Histor.
Taschenb. 1838, 321 fgg. Die meisten hier aufgeführten beziehen sich auf den Schmalkald.
Krieg und das Interim 1548; hervorzuheben die Dichtungen des Jon. Scuradin von Reut-
lingen: Liliencron Hist. Volksl. Nr. 521. 522. Alter sind die von 0. Schade herausgegebenen
Satiren und Pasquille aus der Reformationszeit, III, Hannover 1856 — 58. Vgl. über diese
Zeit: A. Bauer, Deutschland in den J. 1517—1525. Ulm 1872. 13) Beispiele Bücher-
58 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVI JAHKJI. § 09
alters, wo der Lehrhaftigkeit in aller lia'hcren Littcratur die Herrschaft war
gegeben worden. AV'ie lange und wie stark die raittelaltcrliclie Didactik noch
herüber in die neuere Zeit gewirkt hat, lajsst uns der wiederholte Druck
mehr als eines Gedichtes der Art (§ 92, 5) und Isesst die hochdeutsche Über-
tragung dos Rkixikk Prelis'^, die Allboliobtheit '' dieses in Lehre und Spott
hinübergespielten Epos uns erkennen. Vor allen aber wirkte jenes Gedicht,
das zuniechst an der Scheide des Überganges stand, das Nauuknschikf "^ :
sein EinHuss namentlich tränkte Menschenalter entlang die meiste Didaxis
der Gelehrten mit einer scharten bitteren verachtungsvollen Satire: der gc-
müthlich harmlosere Strafton blieb dem Volksdichter Nürnbergs vorbehalten.
In Zeit und Art der Vermittler zwischen Brant und der nachbranti-
schen Epik mid Didactik und überhaupt zwischen dem alten und dem neuen
Jahrhundert war Thomas Murnkh '^, geboren in Oberehnheim '^ * 1475, ein
unstet umschwcitcnder Mensch, ein Grosssprecher mit vielfachem Können und
Wissen '**, Franciscaner, Doctor der Theologie, Licentiat der Rechte, von K.
Maximilian 1506 als Dichter gekroent, gestorben in der Vaterstadt 1537 '* *.
Auf Sebastian Brant schon durch seine Heimat hingewiesen, ahmte er dessen
schätz 92: der Hinchcnde Both, der Post Reuter^ der Post Bohte ebd. 93. Hierher gehceren
auch einzelne der v. Welle^r, Stuttg. 1874, Lit. Ver. 119 hg. Dichtungen d. 16. Jhs. Vgl. auch
dessen Bibliographie: Die ersten deutsch. Zeitungen, Stuttg. 1872, Lit. Ver. 111. Vgl. § 108, 6.
14) § r)8, 11. Verfasser der hochdeutschen Übersetzung v. 1544 Michael Beuther: Rein-
hart Fuchs V. Jac. Grimm CLXXViii. 15) Mathesius in der 9 Predigt v. d. Historien D.
M. Luthers Ich liah auch gesellen, dass der Doctor den SäcJisischen ReinickefucJis mit zu
Tische getragen^ vnd vher Essen drinnen gelesen hat. Erasmns Alberus in der Vorrede
seiner 49 Fabeln Es haben auch vor dieser Zeit treffliche Leut durch lieymen treffliche
Lehren geben icoUen, Als Doctor ,'Sebustianus Brant, Herr Freydanck, Herr Hans von
Schwartzburg, Johann Morssheim, der Schiceitzer, der Renner, cnd der das Memorial der
Tugend gemacht luit (§ 110, 9). Aber vnter allen hab ich nie kein feiner noch meisterlicJier
Gedicht gelesen als das Buch ron Reineken, welclies ich nit geringer achte, dann alle Coniedien
der Alten. Koilenhagcns Vorrede zum Froschuiäuseler das gantze Politische Hoff Regiment
vnd das Roemische I'abstthumb ist vnter dem Nahmen Reinicken Fuchses vberauss weisslich
vnd künstlich beschrieben. 16) § 82, 18 fgg. Seb. Brants Xarrenschiff v. Zarncke cxvi
fgg. Benutzang des Xarrenschifies schon im uiederd. Heineke : Zarncke in Haupts Zeitschr.
9, 380. Das Narrenschiff u. HSachs: § 98, 38. 17) Nachrichten v. Th. Murners Leben
n. Schriften v. Waldau, Nürnb. 1775 : neuere Untersuchungen und Darstellungen von
Roehrich in Niedners Zeitschr. für d. histor. Theologie 1848, 587 fgg. u. Lappenberg in Dr.
Th. Murners Uienspiegel 387 fgg. 17a) Ch. Schmidt Hist. litt, de V Alsace 2, 211.
18) Von ihm in beiden Sprachen auch zahlreiche Schriften theologischen u. juridischen Inhalts
(vgl. § 110, 3) und 1515 eine gereimte Übersetzung von Virgils .iEneide. 18a) Gyss,
§ 99 THOMAS MURNER. 59
Dichtung dreimal hinter einander nach, in geringerem Umfang, aber ebenso
bruchstückhaft in der Vertheilung unter einzelne Bilder und bildliche Red-
weisen, mit der Narrexbescuavcerung ^^, der Sciielmenzunft ^" und der
Gäuciimatte "^^ d. h. der verliebten Thoren Wiese: die beiden ersten im J.
1512, das letzte 1519 herausgegeben, alle drei jedoch früher und auch auf
Latein verfasst ^^; über die Narrenbeschwoerung und die Schelmenzuuft hat
er auch wie Geiler über das Narrenschiff (§ 90, 77 fg.) deutsch gepredigt.
Herber und derber als Seb. Brant, roher in der Form (die Gäuchmatte
mischt sogar Prosa mit den Yersen), plump, wo Brant noch witzig, unsauber,
wo dieser nur noch frei gewesen (auch Eulenspiegel ist vielleicht von Murner
zuerst in die Litteratur gebracht worden: § 107, 16), wandte er hier und in
noch einigen anderen Werken wie der Badexfaiirt ^^ und der Mühle von
Schwixdelsheim ^* die Satire gern und kühn und gerecht auch gegen die
Geistlichkeit imd manchen Missbrauch der alten Kirche. Kaum jedoch hatte
gegen eben dieselben Luther sich erhoben ^^, so drang auf ihn und spseter
auch auf Zwingli und Zwingiis Freunde der Franciscaner in noch wilderer
Leidenschaft ein ^^, am heftigsten 1522 mit einem Gedichte theilweis in dra-
Histoire d'Obernai 2, 429. 19) in Umarbeitung neu herausgegeben von Georg "Wickram
(§ 107, 33) Strassb. 1556: hienacli der Abdruck in Scheibles Kloster 4. Stnttg. 1846, 615-880.
Ausgabe des Originals durch Gcedeke, Lpz. 1879. Anstoss zu einem Fastnachtsspiel HSachsens
§ 98, 38. 20) Neue Ausgabe (v. AValdau, nach der zu Augsb. 1513 gedruckten zweiten
Bearbeitung) Halle 1788; Facsimiledruck der ersten Fassung durch Scherer, Berlin 1881.
Lateinisch von Job. Flitner, Frankf. 1620: Nehulo nebulonum. Dramatisiert etwa 1540 (ob
von Jacob Cammerlander V Zarnckes Narrenschiff CXLI): Die alt vnd new Schelmen Zunff't.
Ebensolches Namens schon 1506 eine ironisch satirische Schrift, Der Brueder Orden in der
Schelmenzunfft (Strassb.), Bearbeitung der Secta Monopolii seu Congregutionis bonorum
Sociorum: Panzers Annalen d. alt. d. Litt. 1, 275. 21) Im Namen übereinstimmend mit
einem Fastnachtsspiele Pamphilus Gengenbachs § 105. 72, aber eins von dem andern unab-
hängig. Wiederabdruck von Murners Geuchmatt bei Scheible a. a. 0. 8, Stuttg. 1847,
895—1122. 22) Am Schluss der Gäuchmatte Kein dütsch hnoch nie gedichtet ivas Von
mir in allem mi/nen leben, Ich dichts latinisch auch do neben. 23) Ein andechtig geist-
liche Badenfart 1514: Ascetik unter dem Bilde all der Verrichtungen eines Bades. Murner
meinte, dass auch darüber, wie von ihm selbst über seine Narrenbeschwoerung, könnte ge-
predigt werden : gelert vnd vngelerten nutzlich zu hredigen vnd zu lesen. 24) Die Mülle
von Schwyndelssheim vnd Gredt Müllerin Jarzeyt 1515. Neudruck durch Albrecht in den
Strassburger Studien 2, 1. 25) Luthers Sendschreiben An den ChristlicJien Adel deutscher
Nation von des Christlichen Standes besserung im Juni 1520 erlassen (LB. 3, 1, 85): noch
im December desselben Jahres Murner An den Adel tütscher Nation icider Martinum
Luther. Luthers Schrift von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche hatte Murner
noch selbst verdeutscht. 26) Lied Murners von d. Untergänge christl. Glaubens in Uhlands
60 NEUIIOCIIDEUTSCJIK ZEIT. XVI JAUlill. § 09
matischcr Form, von dem [/rossen Lutherischen Narren toie indoctor
Murner heschtooren hat, einer AViedcraufnalimc also der Narrenlieschwoc-
riing: es sollte das die Erwiderung sein auf den KAit-^riiAXH, ein prosaisches
Gcspriüch von unbekanntem Verfasser, auf die fünfzehn Bi'ndesgenossen,
eine lleihe Streitschriften von Johann Eherlin -" ■, und auf andres, das zur
Verteidigung Luthers gegen Murnor ergangen war. " Durch solches Ge-
bahren verscluildeto Manier den bittersten IJass "'*, und wo in den Händen
der Gegner die Macht lag, deren Verfolgung; ihm blieb den ganzen Verlauf
des Jahrhunderts hindurch ein Angedenken in Huhn. '•'
Daim aber ward auch von dem Manne der Zeit, von Luther selbst,
dem lehrhaften Hang auf das folgenreichste Vorschub geleistet und derselbe
in eine gleichsam neue Bahn gelenkt. Durch Steiuhöwels Verdeutschung war
^sop, w^ie die mehrmals wiederholten und noch erweiterten Ausgaben des
sechzehnten Jahrliunderts es bezeugen (§ 90, 262), ein besonders vielge-
lesenes Buch geworden, vielleicht aber nicht sowohl der Fabeln als der vor-
angestellten Lebensbeschreibung wegen: letztere traf mit einer Neigung des
Volks zusammen, die schon früher im Amis, im Kalenberger (§ 66, 5. 6), im
Markolf (§ 81, 55), in dem verfälschten Neidhart (§ 72, 29) sich kundge-
geben hafle und jetzt im Euleuspiegel (§ 107, 16) und sonst noch mannig-
fach genug (§ 100, 31), namentlich auch in Drucken Neidharts und des Amis
und des Kaleubergers (§ 92, 5) sich kund gab, mit der Freude an Weis-
heit, die sich in Schalksgebajrden, an Schlauheit, die sich in Tölpeleien klei-
det. Eben daran jedoch nahm Luther Argerniss ; er empfahl mit Liebe den
lebendigsten Gebrauch der Fabel nach Art iEsops imd gebrauchte ihrer selbst
auch oft und gern^°: aber den ^sop, den man zu lesen pflegte, wollte er
Volksliedern Jt06. 26a) B. Riggenbach, Job. Eberlin v. Grünzburg, Tüb. 1874. 27) Th.
Murners Gedieht v. grossen Lutherischen Narren, hsggb. v. Heinr. Kurz, Zürich 1848, wo
auch 1G3 — 102 ein neuer Abdruck des Karsthans. 28) Novella, eine nach dem Lutherischen
Narren zu Murners Verspottung erfundne Gespenstergeschichte (1.522): Schcible 8, 675 — 705;
Dramen gegen ihn § 10.3, löO. 29) Murner vergleichbar, doch namhafter für die Ge-
schichte der Reformation als die der Litteratur ist Hieronymus Emser (geb. Ulm 1477,
gest. Dresden 1527). auch er zuerst ein Freund, dann ein hämischer Gegner Luthers: er
begann die Wendung gleichfalls mit einer Schrift Wüler das vnchristenliche buch Martini
Liiters an den Tetvtschen Adel aussya)igen. Leipz. 1521. Von seinem Diebstahl an dessen
Bibelverdeutschung § 92, 2, Gedicht von ihm Eyn deutsche Satyra vnd straffe des Eebruchs,
vnnd in was wurden vml erenn der Eelich stand vorczeiten gehalten. Leipz. 1505: reichlich,
so dass die Lehre von der ErziehJung weit überwogen wird, mit Beispielen durchflochten.
Über ihn auch Waldau: Nachrichten von H. Emsers Leben u. Schriften, Ansbach 1783.
30) 3Iehrfaches Zeugniss in einer Predigt, die Johannes Mathesius selbst über eine Fabel
1
§ 99 FABELDIOIITUNG. Gl
beseitigt wissen und legte im J. 1530^' selber Hand an ihn zu fegen; nur ist
seine der Urschrift gleich prosaische Verdeutschung nicht weit über den Be-
ginn und bloss eine Probe hinausgelangt. ^- llath und Beispiel solch eines
Mannes konnten, was die Hauptsache betraf ^'■\ nicht ohne Wirkung bleiben :
auf ihn gestützt, führte Mathesius die Fabel selbst in die Predigt (Anm. 22)
und führten schon vor Mathesius Andre sie wiederum und reichlicher, als
seit langem geschehen (vgl. § 81, 26 fgg.), in die Dichtung ein. So Hans
Sachs, der Dichter aus dem Volke (§ 98, 18), so noch mehr der Gelehrten.
Gleich im J. 1534 gab Erasmus Alberus ^* Etliche Fabel Esopi verteilt seht vnnd
ynn Bhcymen bracht, spaeterhin deren eine zweite, noch durch eigene Zuthat
vergroßsserte Sammlung heraus ^^; 1548 Burkard Waldis '^^ seinen Esopus
Gants Neiv gemacht; 1571 der Augsburger Daniel Holtzman unter dem Titel
Spiegel der Natürlichen Weysshait die 95 Fabeln des Cyrillus. -'^ Am werth-
losesten schon durch grosse Unselbständigkeit der letztere: er hat nur eine
älti-e Prosaverdeutschung des gleichen Buches ^^ in Vers und Reim ge-
zwungen; desto schätzbarer die zwei andern, zumal Burkard Waldis. Beide
(B. (1. Eichter 9) und mit Benutzung von Fabeln, darunter auch solchen, die er aus Luthers
Mund vernommen, gehalten hat, der neunten in seinen Historien D. M. Luthers § 109, 4.
31) demselben, wo er waehrend des Augsburger Keichstages zu Koburg war und in verwandter
Stimmung auch den Reichstag der Voegel schilderte: LB. 3, 1, 169. 32) Die Vorrede
dazu mit jeneu Urtheilen in Lob und Tadel LB. 3, 1, 193. Sammlung der äsopischen
Fabeln von Luther u. Mathesius nebst zahlreicheren andern, meist eigenen Verdeutschungen
die Hundert Fabeln aus Esopo von Nathan Chytr.eus, Eostock 1571. 33) Alberus
und Waldis haben beide noch das Leben -3?]sops erztehlt, aber beide verkürzt und ersterer
mit Tilgung der Unflätereien. Waldis benutzte eine von Dorpius in Löwen angelegte, Lpz.
1532 uö. gedruckte Sammlung in lat. Prosa. 34) ein Wetterauer, geb. 1500 und als
Generalsuperintendent zu Neubrandenburg gest. 1553. 35) Bas buch von der Tugent vnd
Wässheit, nemlich 4ü Fabeln, der mehrer Tlieil auss Esopo gezogen, vnnd mit guten Bheimen
verkleret, Frankf. 1550. Die frühere Ausgabe (gedr. zu Haganaw) hatte nur 17 Fabeln ent-
halten. Ein Einzeldi-uck der 42. von 1537 in Schnorrs Archiv 6, 3. 36) aus Allendorf
in Hessen und hier auch (1544 — 1557?) zuletzt in Abterode Pfarrer, ßurchard Waldis von
GoEDEKE, Hannov. 1852; von Buchenau, Marburg 1858. Spätere Aufschlüsse, besonders
aus Eiga, sind verwertet von Milchsack, Halle 1881 und in Tittmanns Ausgabe des Esopus
Lpz. 1882. Eine Ausg. des Esopus auch von H. Kurz Lpz. 1862. 37) Denkmaeler alt-
deutscher Dichtkunst v. Escheuburg 365 fgg. Er habe, sagt Holtzman (Eschenb. 378) zwei-
mal in Esslingen Schule gehalten: Eschenburg legt das richtig auf Meistergesang aus. Die
Einleitung Holtzmans ist z. Th. aus Alberus entlehnt, wie Goedeke bemerkt. Die Ausgabe
von 1572 katholisch gewendet. 38) den Spiegel der wyssheit, der im .T. 1520 zu Basel
gedruckt worden: Eschenb. a. a. 0. 373; eine Übersetzung schon v. 1190 Das buch der
Natürlichen weisslieü § 90, 260: vgl. Bücherschatz d. Deutschen National-Litt. 125.
62 NEUnOClIDEUTSCIIE ZEIT. XVI JAJIRII. § 99
vereinigen mit Gelelirsamkeit noch Kenntniss der Welt und der Menschen,
Alberus, der liald hier, bald dort in Deutschland als Prediger gestanden,
Waldis, den die bunt wechsehiden Geschicke seines Lebens als Mönch nacli
Riga, dann, nachdem er evangelisch geworden, als Zinngiesser und Han-
delsmann über Land und Meer bis an den Westrand Europas, zuletzt als
Prediger noch wieder in seine Heimat Hessen geführt haben. Aber Alberus
missbraucht die Fülle dessen, was er weiss und kennt: er gerajth erzaehlend
und lehrend in die Breite und von Abschweifung in Abschweifung. Beide
sind mit Eifer Protestanten, wie es denn auch von Alberus geistliche Lieder
und von Waldis einen deutschen Psalter giebt (§ lOii, .'{2. 39), aber Alberus
ohne Geschmack und Mass: dieselbe würdelose Streithaftigkeit, in welcher
er den Eulenspiegel und Alcoran der Barfüsser geschrieben ^^^ traegt er in
diese Fabeln über, und eine um die andre wird ihm eine Satire gegen den
Papismus. Beide endlich ti-achten nach heimischer Anlehnung, Alberus ober-
flächlicher, indem er die einzelnen Geschichts Vorgänge an benannte Orte
Deutsclüands, zumal Hessens verlegt, tiefer gehend Waldis. Ihn beseelt eine
ernste und warme Liebe des Yaterlandes: Zeugniss dessen wie sein Lobspruch
der Deutschen^" und wohl auch die Erneuerung des Theuerdanks ^ ' so hier
unter den Fabeln, die er selber dem .Esop erst beigefügt (namentlich all
die hundert des letzten, vierten Buches*'^ sind von ihm), diejenigen, deren
Stoff harmlos eine Thiersage, ein Mferchen der Kinder, ein Schwank des
Volkes ist. *- Zwar in solchen besonders erscheint der lehrhafte Schluss meist
ungehcerig mid gezwungen : aber die Erzsehlung vorher ist gut, und überall
zeichnen sich Waldis Verse vor den sonstigen der Zeit durch leichteren Gang
aus: von der niederdeutschen Dichtkunst, in die er mit seinem ersten Werk,
einem in Riga 1527 aufgeführten Fastnachtsspiel *^, eingetreten, hat sein Ohr
39) Uer Bfirfüsser Münche Eidensjueijel vnd Alcoran, Wittenb. (1531); mit einer Vorrede
Luthers. Verkehrte Grundlage der Über conformitatum S. Francisci ad ritam Jesu Christi
von Bartholomieus v. Pisa; vgl. § 107, 18. 110, 21. 40) am Schluss einer Reihe von
Bildern der deutscheu Ktenige und Reimen dazu, Vrsprung rnd Herkutiien der zwöJff ersten
alten Künig vml Fürsten deutselier Nation, Nürnb. 1543. Vgl. § 100. 15. 41) § 67, 15.
Frankf. 1553: Theuerdank v. Haltaus 47 fgg. 41a) Drei derselben hatte Waldis schon
1.543 veröffentlicht; im Anhang zu Ein xrarhafftige Historien von zweyen Metrssen, einer
satirischen Erzählung. Aber schon in Riga, und vermuthlich vor seiner Gefangenschaft
1536 — 1540 hatte er Fabeln nach Plsop gedichtet. Seine Streitgedichte gegen H. Heinrich
von Braunschweig 1542 sind neugedruckt Halle 1883. 42) So die meisten der im LB.
2, 151 fgg. mitgetheilten Beispiele. 43) vom verlornen Sohne, Neudruck von Milchsack,
§ 99 FABELDICIITUNG. ALBERUS, WALDIS, ROLLENIIAGEN. 63
die Empfindlichkeit für den Rhythmus erlernt, dass es sich ungern bloss mit
Abzahlung der Sylben begnügen mag.
Sebastian Brant und Murner hatten ihre Satire stückweis jener an Bilder,
dieser an Bilder und sprichwörtliche Redensarten angeknüpft (Anm. 19 fgg.):
der Fortgang des sechzehnten, der Beginn des siebzehnten Jahrhunderts hiel-
ten die ansprechende, nun auch von aussen her durch Alciatus ^^ empfohlene
Verbindung zweier Darstellungsformen fest, und jetzt ward der Fabel und
Parabel das Sprichwort und lieber noch das Bild, der Sinndichtung das Sinn-
bild zum Grunde gelegt. Haktmanx Schöpfer aus Xeumarkt in der Ober-
pfalz, derselbe, der den Reiueke Fuchs in lateinische Jamben übertragen
(§ 94, 14), hat im J. 1566 die iEsopischen Holzschnittbilder des Yergilius
Solis ^^, 1576 Matthias Holtzwart die Emblemen eines andern Meisters^''',
1622 der Zürcher Johann Heinrich Rordorff die seines Mitbürgers Christoph
Murer *^, bald mit kurzer Erzaehlung der Fabeln oder Geschichten, bald,
wo das Bild die Erzsehlung entbehi'Uch machte, bloss mit der sittlichen Aus-
deutung und Anwendung begleitet, Eucharius Eyering aber, ein Pfarrer im
Hildburghausischen ^^, in drei erst nach seinem Tode 1601 bis 1604 gedruck-
ten Bänden eme ganze Proverbiorum copia, Etlicli viel Hundert Lateinischer
vnd Teutscher Sprichwörter (die letzteren meistens aus Agricola § 111, 6),
mit schnenen Historien, Apolofjis, Fabeln vnd Gedichten gelieret. Dürr und
leblos sie alle und Eyering das noch mehr als Schopper, so lebensvoll auch
an sich manch guter Schwank ist, den jener zur Parabel wendet.
Den vollendenden Abschluss fand die Fabeldichtung der Gelehrten, der
Geistlichen, der Schulmänner, in dem grossen Lehrepos von Georg Rollen-
hagen *^, dem Froschmeuseler, der schon im J. 1566 gedichtet, aber erst
Balle 1881. 44) Die erste Ausg. der Emblevmta des Ital. Rechtsgelehrten Andreas Al-
ciatus 1522? 1531 zu Augsburg gedruckt. Liber Emblematum D. Andrece Alciati. Kunst-
buch Andrea Alciati von Meyland — verteiitscht — durch Jeremiam Held vo)i Nördlingen,
Frankf. 1566. 45) Bragur v. Hiesslein u. Grraeter 3, 319 fgg. 46) Bragur 3, 329 fgg. ;
lateinisch; über die deutseben Beigaben von Fischart 1581 vgl. § 100, 15. 47) XL
Emblemata miscella nova — Durch Christoff' Murern v. Zürych inventiret — mit JReymen
erklceret Durch Joh. Heinr. Eordorffen, Zürich 1622. 48) Aus den Worten 3, 482
dass mich Gott Fast funff'tzig Jahr geduldet hat — zum Diener — Des Worts, darumb
ich erst gefangen vom Babstthumb, vnd durch Gott entgangen pflegt man zu schliessen,
dass Eyering anfangs noch längere Zeit Katholik gewesen sei: ich kann sie nur von
Gefangenschaft um des (rlaubens willen verstehn. 49) geb. 1542 zu Bernau in der
Mark Brandenburg, gest. als Rector zu Magdeburg 1609. Lebensbeschreibung in der
Leichpredigt von Aarou Burckhart (^ Bragur 3, 434 fgg.) und von Lütcke, Berlin 1847. Theil-
G4 NEUJIOCIIDEUTSCIIE ZEIT. XVI JAllIUI. § U9
•
1595 ist iu Druck gogoben worden. ''' " üiuiulliigo dazu war die Ilomerischo
liatrachüinyomacliic; den Anstoss dieselbe in gereimtes Deutsch und Anlei-
tung sie in der Art zu übtMtragen, dass aus ilem kleinen crzteldcnden ein
grosses lehrendes E\)us und ißcichsam eine Contra/ ad ur der Zeit daraus ward,
gab dem Jüngling ein Lehrer auf der Universiuct zu Wittenberg ■'°: unzwei-
felhaft aber hat bei solcher Anleitung wie bei der Ausführung sehr mass-
gebend noch das Vorbild des Ileineke Fuchs, den Rollenhagen hoch rühmt
(Anm. 15), mitgewirkt. Von i)eiden Mustern "'" ^ kommt es her, dass die
Frösche und Mäuse, und was noch für Tliierc in Krieg und Berathung und
sonst auftreten, Eigennamen nacli Art der menschlichen tragen'^', und noch
mehr als in jenen Mustern handeln und reden und leben sie auch nach
Menschenart •'-: mit Anmurh täuscht bald, bald enttäuscht die durcligehendc
Mischung der Menschen- und der Thiernatur. Das Gedicht ist gut, wo er-
za)hlt, und gut, wo gelehrt wird: die Erzaehlung spricht namentlich an durch
idyllisch heimliche Behaglichkeit und harmlose Laune, eine Tongebung, die
ihr zunißchst aus den Msercheu des Volks zufliessen mochte, denen Rollcn-
hagen nicht sproede fremd war (Anm. 3); die Lehre, häufig mit Benutzung
Freidanks und des Renners, durch die schlagende Kürze des Sprichwortes
und der Spruchweislieit. ^^ Aber Erzaehlung und Lehre, eines geht zu Grunde
an dem andern. So eng begrenzt an sich der epische Stoff ist, zu einem
so langen Faden (drei Büchern , jedem aus mehreren Theilen , jedem
Theil aus zahlreichen Capitelu) ist er ausgesponnen, weil die Lehrhaftigkeit
ihn dehnt und fort und fort neue Einschaltungen den Verlauf, lehrende Be-
trachtungen die Erzaehlung, Märchen und Fabeln von aussen hereingetragen ^^
(.lie Lehre unterbrechen. Iliedm-ch ist das Ganze viel zu gross und zu bunt
geworden, als dass es noch ein episches Ganzes bleiben oder sein Dichter auch
nur die Einheit eines lehrhaften Grundgedankens hätte behaupten können.
nähme an der Dramendichtung § 105, 31 u. 71. 49a) Neue Ausgabe nach der 16Ü8 er-
schienenen von Gißdeke Lpz. 1876. 50) Veit Ortel, der 156G über die Batrachomyoniachie
las: ausführlicher berichtet in der prosaischen Vorrede. 50a) Doch auch Fischarts Flceh-
haz 1577 wirkte auf RolJenhagen ein: Wackernagel Fisch. 113. 51) Der Dichter selbst
unterschreibt seine Zueignung Marcus HüpffinsshoUz von Meusebach, der jungen Frosch
Vor.^inyer vnd C<thneuser im alten Mfisclienwigk. 52) Selbst von der Gelehrsamkeit, wie
sie das Menschenleben jener Zeit durchdrang, bleibt die Thierwelt hier nicht unberührt:
z. B. 1, 1, 5 erzaihlt Frosch Buussback die Geschichte des Ulysses u. der Circo: als ich, da
idi noch jünger was, eJiemals auch in den Bädiern lass. 53) z. B. LB. 2, 29G, 11 fgg.
aus Freidank 139, 19. 54) Unter d, Probestücken im LB. '2 rühren d. letzte, 298, aus Mathesius
Fabelpredigt Anm. 30, also mittelbar von Luther her; ebenso II, 2, 7 Doctor Sperlings Rath.
§ 99 GELEHRTE EPIK UKD DIDACTIK. 65
Neben der Fabeldichtimg kamen aber auch andre Auswüchse des lehr-
haften Triebes hervor, die sich noch weiter in die Unsinnlichkeit verzweig-
ten, nielir als ein Lehrgedicht, das, aller poetischen Einkleidung baar, nur
durch den Reim und die Absetzung nach der Zahl der Sylben sicli von der
Prosa schied, wie wenn z. B. (ich nenne das eine Beispiel um seines Stoffes,
das andre auch um seines Yerfassers willen) Martin Agkicola zur Instrumen-
talmusik '•''-' imd Nicolaus Herman Anweisung gab, wie sich ein Hausvater hal-
ten solle ^^; und mehr als eines, dem zwar ein Bezug von sinnUcher Ai't,
aber nur ein leicht und flüchtig berührender, oder zwar ein episches Gewand,
aber das fadenscheinig düimc einer crfundnen Allegorie gegeben war. Bei-
spiele dieser Richtung von Ringwaldt und Andrese, beiden wiederum Geist-
lichen. Yen Bartiiolom^eus Ringwaldt, Landpfarrer zuletzt in der Neumark
Brandenburg^^, der auch Dramen (§ 105, 85. 138), auch geistliche Lieder ge-
dichtet hat (§ 103, 22), seine zwei Hauptwerke, die lautere Wahrheit mit
einer Yorrede von 1585, aber bereits auf das J. 1588 Bezug nehmend, und
die christliche Warnung des treuen Eckard von 1588^^, jenes ein Lehr-
buch der Christlichkeit und der Sitte für das weltliche Kriegerleben und der
Tapferkeit für die geistliche Ritterschaft, dieses in Form einer Yerzückung
des sagenhaften Hüters am Yenusberge ''^ eine Schilderung von Himmel und
Hölle mit daraus fliessender Ermahnimg. Hier wie dort der Ernst des Glau-
bens imd die Ki'aft der Einfalt, aber überall Breite, und geringere Befsehi-
gung, wo es im Eckard Bilder des Erhabnen imd des Schrecklichen, als wo
es heftige Strafrede und in der lauteren Wahrheit den Ton einer kecken
Kriegslust gilt; am gelungensten die an beiden Orten ein- und beigefügten
Lieder, zumal die in der Lauteren Wahrheit, die sich der freiesten frische-
sten Art der Landsknechtdichtung (§ 95, 10) an die Seite stellen. In die
Lehre selbst greift etwas dieses lyrischen Zuges über: sie ordnet sich durch-
weg in strophenartige Absätze, meist von je vier Zeilen. Wie beliebt seiner
55) Musica instrumentalis Deutsch, Wittenb. 1.529; ein gleichbetitelter Auszug ebd. 1545.
5G) Oeconomia Oder hericht, wie sich ein Haussuatter halten söl, Nürnb. 1561: Verdeutschung
eines auch Oeconomia betitelten lat. "Werkes von Joh. Mathesius (§ 103, 35); Nie. Herman
§ 103, 31. 57) geb. zu Frankf. a. 0. 1530, gest. als Pfarrer zu Langfeld wahrscheinlich
1598. Über sein Leben und seine Werke Heinr. HofiPmanns Spenden zur deutschen Litte-
raturgeschichte 2, Leipz. 1844, 19 — 54. 58) Proben aus dem ersten LB. 2, 271 fgg.
59) § 81, 82. Auch in Dramen wie HSachsens Hofgesinde Veneris 1519, dem s. g. Etter
Heini § 105, 77 und einem Fastnachtsspiele Wickrams § 107, 34 die Gestalt des treuen
Eckard benutzt. Eckart der trete als Wortführer einer Prognostication auf 1534: Bücher-
Waclcernagel, Litter. Geschichte, II. 5
66 NEUnOCllDIUITSCHE ZEIT. XVI JAIIKII. § 100
Zeit namentlich der Treue Eckard, vielleicht grade das werthlosere Gediclit,
gewesen, zeigt die uiederdeiitsclie Übertragung, die 1598 ein Ungenannter,
und die Dramatisierung, die im J. lüüO Andukas Hautmann davon gefertigt
hat.*'" Von Johann Valentin Anduk.k''', emem Schwaben, eine Dichtung,
die hart an das Ende dieses Zeitabschnittes, um das J. 1015 lallt, da der
Verfasser noch Diacouus zu Vaihingen war, unter dem Titel die Ciiristenhur« "-
eine Geschichte des Ursprunges, des Wachsthums, der Bedrängnisse und wieder
der von oben gekommenen Kcttungcn der Kirche Christi, eingekleidet in die
Geschichte einer fern auf einer lusel des Weltmeeres gelegenen 8tadt, eben
der Christenburg. Wohl athmct auch hier jener Sinn der Friedensbedürftig-
keit und der den Glauben erst vollendenden Liebe, durch welchen Andreas
mitten in der Erstarrung und der gehässigen Streitsucht, deren Unsegcn jetzt
den Protestantismus ergriffen hatte, ein frühzeitiger Vorgänger des Pietismus
geworden ist*'-': aber er findet hier nicht wie doch in den Liedern des Dich-
ters (§ 103, 41) den innigen Ausdruck ticfbewogcer Gemüthlichkeit, es sind
vielmehr wie in den Sprüchen (§ 101, 10) und wie dort, wo Andrese auf
Lateinisch schreibt, die geistreich spielenden Griffe des Witzes, in denen er
sich kund giebt. •'^
§ 100.
Noch aber ist der Hauptname aus dem Gebiete der Epik und Didactik
übrig, der Name dessen, der hier fruchtbarer als irgend sonst jemand und
in Sinn und Ai't seiner Werke ganz von den Andern verschieden, der von
Seiten der Gelehrsamkeit her das kunstvollere Gegenbild und noch reicher
schätz 131. Vgl. ebd. 128 den Mom Veneris durch Ilenr. Kornmannum, Frankf. 1615.
Ein Vorläufer des treuen Eckard ist die Neice Zeittung so Hans Frommnn mit sich aus
der hellen nind dem himel bracht luit. . durch B. R. Amberg ir)82. 60) Hoffmann a. a.
0. ^}'2. vgl. § 93, 2(3. Ein eigenes Drama Hartmanns § 105, H-l. Von der Lauteren Wahr-
heit noch im J. 1700 eine Umarbeitung: Die Teutsche Warheit — durch J. W. Brodtkorhen,
Langensalz. 61) geb. 158G zu Herrenberg, gest. als Abt von Adelsberg zu Stuttgart 1651.
Vgl. .1. V. Andreae u. sein Zeitalter v. Hossbach, Berlin 1819. 62) zuerst Freiburg 1626
u. neu herausgegeben v. Grue.veisen, Leipz. 1836. LB. 2, 339 fgg. 63) In solchem
Sinn auch 1611: Stifter oder Erneurer einer geheimen Verbindung, von welcher er namenlos
selber die erste rsethselhafte Kunde gegeben zu haben scheint in der Faitut Fraternitatis
E. C. od. Entdeckung d. BrüderscJuxß d. kehl. Ordens d. Bosen-Creutzes, Frankf. 1615.
Vgl. § 107, 26; Buhle üb. Urspr. u. Schicksale d. Ordens d. Rosenkreuzer, Gott. 18»t3.
64) So auch in der umfangsärmeren, aber episch belebteren Schilderung eines rechtschaffenen
Dieners Gottes, die sich bei Herder, der überhaupt das Andenken Andreies erneuert hat.
wiederholt findet hinter dem 49sten Briefe, das Studium d. Theologie betreffend. Noch andre
und minder bedeutungsvolle Lehrdichtungen (v. .1. 1612 an) nennt das Verzeiehniss aller in
§ 100 FISCIIART. 67
an Toeneii ein Wiederhall zu Hans Sachs gewesen ist, der Doctor der Rechte
Johann Fischart, Ihn macht dem Geschichtsforscher schon die Ungewiss-
lieit anzieliend, die bei dem Stillschweigen all der Andern ^ über seine Lebens-
umstände waltet (man kennt wohl Strassburg als seinen Wohnort längere Jahre
hindurch, auch als seine vermuthliche Geburtsstadt ^ * , aber nicht die Zeit der
Geburt noch Zeit und Ort seines Todes -), so wie die Schwierigkeit ganz zu ermit-
Druck gekommenen Lat. u. Teutschen Schriften des Dr. J. V. Andreae v. Burk, Tübingen
1793. Lateinische Dramen Andreaes § 106, 20. .
§ 100. Wackeruagel, J. Fisch art von Strassburg. 2. Ansg. Basel 1874. Vgl, Vilmar
in Erseh u. Gruber Encyclop. 51 (I850j. Fischarts sämmtliche Dichtungen hg. v. H. Kurtz
III Lpz. 186(3. 67. Scherer, Östr. Gymn.-Zeitschr. 1867, 474. Wendeler. Fischartstudien des
Freiherrn von Meusebach, Halle 1879. Goedeke, Einl. zu Fischarts Dichtungen Lpz. 1880.
E. Schmidt, Allg. D. ßiogr. 1) Bezeichnend, wie Jac. Ayrer im Julius Redivivus, wo er
all die verdienten Dichter und Gelehrten Deutschlands nennt, zwar Fischart mit aufzsehlt,
aber unter den Juristen, neben Zasius. Zinegref, schon mit Entstellung des Namens, die er
jedoch in den Apophthegmen 1628 berichtigt, urtheilt (Opicii Poemata, Strassb. 1624, 161)
Jolum Fiscliers, genant Mentzers, Poemata, soviel mir deren vorkommen, sein zu weitleuffig,
hierein (in den Anhange Vnderschiedlicher aussgesuchter Getiehten anderer mehr teutsclien
Poeten) zubringen, auch mehrtheils nach der alten Welt. Doch wehre sein glücfchaftes Schiff
von Zürich, an Reichthumh Poetischer Geister, artiger Einfäll, schoener tvort, vnd merck-
würdiger Sprüchen (auss ivelchen stücken abzunehmen, was statliclies dieser nutnn hette leisten
können, wan er den fleiss mit der Natur vermehlen, vnd nit vielmehr sich an dem, ivie es
jhm einfeltig auss der Feder geflossen, hette benügen wollen) gar icohl der Roimiselien,
Grichisclien, ItalicBnisclien vnd Frantzoesischen Poesy an die Seiten, wo nicht vorzusetzen,
wann jhm nicht, ivie angedeut, noch etwas weniges fehlete, welclten Mangel ich jedoch mehr
der rnachtsamen geivohnheit seiner zeiten, als jhme selbsten zuschreibe, vnd möchte er mit
gutem fug sagen: Ich Imb das mein gethan, so vil mir Got bescJiert: Ein ander thue das
sein, so tvirdt die Kunst gemehrt. Aufrichtig bewundert J. V. Andreae Fischart: Hoss-
bach 166. Uhland bei Halling Das glückhaft Schiff xxv. la) Als Argentoratensis
wird er im Doctorbuch der juridischen Facultät zu Basel 1574 bezeichnet (vgl. auch
Z. f. d. A. 22, 252), in Büchereintraegen von 1567 nennt er sich du Strasbourg; dazu
stimmen in seinen Werken die Beinamen (Anm. 5) und seine Sprache. Das seinem Namen
meist beigefügte genant Mentzer soll seine Familie von anderen des Namens F. unterscheiden;
wenn er im Gargantua von 1590 von seinen Mentzerischen Landsleuten spricht, so braucht
dies nur ein Scherz zu sein. Um seinen Geburtsort anzuzeigen hätte er sich nennen müssen:
J. F. von Mainz. Auf jeden Fall brachte F. den fruchtbaren Haupttheil seines Lebens mit seinem
Schwager, dem Buchdrucker Jobin, in Strassburg zu: im J. 1581, als er seine Verdeutschung
des franzoesischen Buchs von Bodin De Magorum Dcemonomania zum erstenmale herausgab,
war er Advocat beim Reichskammergericht zu Speier, 1586, als die zweite Ausg. davon er-
schien, Amtmann zu Forbach bei Saarbrück. Martini 1583 heirathete er eine Tochter des
elsäss. Chronisten B. Hertzog, Amtmanns in Würth: Müntz Revue d'Alsaee 1873, S. 376.
2) Seine erste Druckschrift (Anm. 8) ist von 1570, die letzte, der Catalogus Catalogorum
68 NEUIlOCIIDiyrTSCTlE ZEIT. XVI JAlirJK § 100
toln, wjis alles er geschrieben habe: denn wfchrend Manclics von dem, als dessen
Verfiusser er bezeugt ist, noch nicht wieder ans Liclit gekommen'', kommt uner-
wartet immer anderes neu ans Licht*, und es vermehrt die Schwierigkeit, dass
er geliebt hat seltner seinen Namen voll und eigentlicli zu brauchen als mit
blosser Andeutung, mit l'bersetzung und allerlei Umänderung und Tausch des-
selben ^ und so auch mit Erdichtung von Druckortnamen ^ ein schon die Zeit-
genossen neckendes Spiel zu treiben. Es hat aber Fischart so zahlreiches,
er hat in beiden Formen, der poetisclien wie der prosaischen, auch so mannig-
faltiges leisten können, weil ein seltener Keichthuni an Geist und Kennt-
nissen ihn überall, wo er nur anrühren mochte, gleich aus dem Vollen schöpfen
licss: er besass ausser der auf Ueisen (§ 94, 33) erworbenen Weltkenntniss
clasaische Gelehrsamkeit und Bekanntschaft auch mit der franzoesischen (Anm.
2. 12. § 104, 7. 11. 112, 6. 12), nicht minder jedoch mit der altheimat-
lichen Literatur" mid war aus demselben Vaterlandssinne, der zwar in der
Sprachforscliung sich mehr eifrig als glücklich erwies (§ 93, 24), vertraut
mit allem Eigenthume des Deutschen Volkslebens: für die Geschichte der
Sitte im sechzehnten Jalu-hundort öffnet sich bei ihm eine Fundgrube, die
perpetuo durabilis, von 1590; die Ausgabe des Ehezuchtbiiehleins (§ 112, 2) von 1591 be-
zeichnet ihn bereits als todt. Eine alte Nachricht meldet von ihm viortuus a° 1089 in hieme
d. h. 1589 ciuf 1Ö90. 3) Eine Hanptstelle, worin Fisehart eine ganze Reihe seiner Schriften
selbst verzeichnet, im Hin vnd Vor Ritt des Gargantna: die meisten davon noch immer
verloren. 4) Ein Verzeichniss des bis jetzt bekannten in Wellers neuen Original-Poesien
Job. Fischarts, Halle 1854, 2 fgg. nnd in den zu Eingang dieses § genannten Schriften.
ö) Wackernagel Fisch. 7 fgg. J. F. M. u. J. F. G. M. d. h. JoJmn Fischart (Genannt)
Mentzer Ermahnung an die Teutschen Anm. 1.5, Kinderzucht Anm. IB, Landlust Anm. 17,
Eulenspiegel Anm. 23 u. Ehezuchtbüchlein § 112, 2; Ifgem Gargantua § 112, 10. ebenda
Im Fischen Gilts Mischen, Inn Freuden gedenck mein, Ir er Fürstlichen Gnaden Mutwilliger ;
Jin-e Forente Gignitur Minerua Emblemata Anm. 15. Hultrich EUoposcleros d. h. Jolmnnes
Fisdüuirt Fltehhatz Anm. 25, Podagr. Trostbüchlein § 112. 9 u. Gargantua hier auch Hart-
tisch. Huldrich Mlsart Sonette § 104, 11 u. Reveille ilatin ebd. 14; Wisart LB. 2, 235,
16. 238, 22. 35; Wischhart und Guicciard Bienenkorb (§ 112, 3). Baj). Guisart, B. G.
Triuraphspruch Anm. 12b; Jesuwalt Pickhart Leg. d, Hütleins Anm. 12, Bienenkorb und
Brotkorb § 112, 3. Rezmm, umgekehrt aus Menzer, Floehhatz u. Practik § 112, 4: Man-
sehr LB. 2, 235, 16. 238. 21; Ulrich Mansehr vom Treübach (d. h. Trihocusj (WwVh. SchiflF
Anm. 27. J. Noiut Trausdiiff (d. h. Jolum Fisclmrt) von Trühuchen Erlustigung Anm. 29.
Und dergleichen. 6) Grensing im Gänsserich: Gargantua § 112, 11; Lnufamien hei
Gnngn-olf Suchnnch: Legende d. Hütleins Anm. 12; Christiingen bei Ursino Gottgmn od.
Gutwino d. i. liernhard Jobin: Bienenkorb u. Brotkorb § 112. 3. 7) mit der Lyrik des
Volkes: Hauptzeogniss Cap. 8 des Gargantua, woraus das Lied LB. 2, 194; mit der Helden-
§ 100 FISCHART. 69
nocli auf lange hin nicht auszubeuten ist. Und er hat, so viele auch,
doch nur wenig grosse, meist nur kleinere Schriften verfasst, weil ein
hastiger Drang des Schaffens ihn immer vorwärts, zu Andrem, zu Neuem
trieb, und weil der Eichtung, in denen er die Dinge am liebsten an-
geschaut, der Laime, dem Spott, dem Humor, der Ironie, ein Verlauf inner-
halb weitgesteckter Grenzen niemals zusagt. Nicht dass der Ernst ihm fremd
gewesen wajrc : liegt doch in der Ironie ein bitterer, im Humor der heiligste
Ernst ; und so, wo nicht als Gewand, dann doch als Kern ist er allen Büchern
Fischarts eigen, zuvorderst denen, die er in Sachen des evangelischen Glau-
bens verfasst hat. Dieser war, kaum wieder gewonnen, gefsehrhcher als je
bedroht durch den neu gestifteten Jesuitenorden und dessen Wii-ken in Kirche
und Staat : einer der eifrigsten, die zur Gegenwelu* griffen, war Fischart, er mit
jenen Waffen des Spottes. Hier das Gedicht, sein erstes, so viel wir wissen,
der Nachtrabe von 1570*, femer gleich von 1571 S. Domixici und S. Feaxcisci
Leben ^, etwa gleichzeitig der Barfuesser Secten- und Kuttenstreit '",
die Träume des schlafenden Reiniken Fuchs 1573 ^^ Gorc4oneum Caput,
der Gorgonischen Meduse Kopf, Malchopapo, die Grille Krotestisch
MÜL, alle diese von 1577^'^, die Legende und Beschreibung des vier-
eckichten Huetleins der Jesuiten von 1580 ^-. Mehr auf die politischen
sage: Belege in d. Deutschen Heldensage v. Wilh. Grimm 311; Bearbeitung des Staufen-
bergers Anm. 19. 8) Nacht JRab oder Nehelkrceli. Von dem vberauss Jesuwidrischen
Geistlosen schreiben vnnd leben des Hans Jacobs Gackeis, der sich nennet Rah (Jac. Rabe
von Ulm, der aus der evangel. Kirche in die katholische zurück u. in den Jesuitenorden
getreten war) : iJarinnen darneben von der Jesuicider Nachtrabischem wesen vnd stand
u. s. w. : 0. 0. LB. 2, 213 fgg. 9) Von S. Dominici, des Predigennünchs, vnd S. Fran-
cisci Barfüssers, artlichem Leben vnd grossen Greioeln, Dem grawen Bettelmünch, F. J.
Nasen zu Ingelstat dedicirt — von J. F. Mentzern; o. 0. 10) o. 0. u. J.: gekürzt 1577.
11) Unter diesem bezeichnenden Namen im Gargantua aufgeführt (Anm. 3). Ausdeutung der
eine Thiertotenmesse darstellenden Steinbilder im Münster zu Strassburg. Vgl. Reinhart Fuchs
V. Jac. Grimm ccxv. ccxx. Gegen Fischart 1588 eine andre Ausdeutung von Joh. Nass;
Kurz 3. -IM. IIa) Grundlage wie für das vorige und die nächst folgenden Gedichte ein
im Holzschnitt beigegebenes Bild. Ebenso knüpft an ein heimatliches Kunstwerk an die
Eigentliche Fürbildung . . des . . astronomischen Vkwercks zu Strassburg im
Monster 1574. Die meisten dieser Gedichte bei Kurz, die Mühle in Schnorrs Archiv 7, 311,
wo Wendeler die Bildergedichte Fischarts u. a. besprochen hat; s. ebd. 12, 485. 12) IHe
wunderlichst vnerhoirtest Legend vnd Beschreibung Des abgeführten Quartirten Gevierten
vnd Viereckechten Vierhörnigen Hütleins — Etican des Schneiderknechts F. Nasen gewesenen
Meisterstücks — dwch Jesuicalt Pickart. Zu Grunde liegt La legende et description du
Bonnet sacre Kurz 2, xxxv.
70 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XYI JAIHUI. § 100
Kämpf'o riclitet sich Reveillk Matin 1575 **• , der Thumimispruch zr Eiirkn
DEK KÖNiuiNN VON Englanu ncbst dorn Engelländischen Grl'88 an die
LiKUKN Spanier 1588 '^ ^ und dioBAUENFAHUT der spanischen Armada 1589 '- « ;
endlich die Ermaxing an die Bi-ndpäpstler '^ ^ aus dem selben Jahre. Nicht
80 mit Laune und Spott verschmolzen tritt sein Ernst seltener hervor, aber
um 80 unvcrhüllter dann die ganze Tüchtigkeit seiner Gesinnung, seine Gläubig-
keit, seine Vaterlandsliebe. Beispiel (ich lasse überall die Prosaschrif'ten sowie
das Lyrische noch für speeterhin '^ bei Seite) eine Anzahl kleinerer Gedichte
von lehrhafter Art, das Lon der Laute von 1572 ", die Ermahnung an die
lieben Teutschen 1573 *\ die Anmahnung zu christlicher Kinderzucht
1578 '^, das Lob der landlust 1579 *' und die in die Ordentliche Be-
schreibung., (der) ..Bündnuss — der — Statt Zürich Bern und Strassburg
1588 aufgenommenen Lobsprüche auf diese Städte und ihre Flüsse. ''
Mit alle dem blieb Fischart noch in der Reihe der gelehrten Dichter
stehn, theils schon dem Stoffe, tlieils wenigstens der Vortragsweise nach :
das Lob der Landlust z. B. nimmt seinen Ausgang von der bekannten Epode
des Horaz Beattis ille. Doch wie er eben nicht bloss gelehrt, wie er auch
deutsch gesinnt und gebildet war, so hat er mit andern und wirklich den
werthvolleren seiner Schriften, er als der erste seit Luther, die Schritte,
l'2a) Kurz 3, 73. 12b) hinter einer Prosaerzählung vom Untergang der spanischen Ar-
mada: Kurz 3, 353. 12c') Kurz 3, 331. Aus dem VncalviniscU Gegen Ba(d)diiblein,
womit er eine Hohnschritt über das Unglück der Calvin isten in Frankreich zurück-
wies. 12d) Kurz 3, 377: auf die Ermordung Heinrichs iii von Frankreich bezüglich.
13) Lehrhafte und Romanenprosa § 112: geistliche Lieder § 103, 33: weltliche Lieder
u. Sonette § 104, 7. 11. 14) Ein Artliches loh der Lauten, vorgedruckt der Strassb.
Liedersammlung § 95, 31. 15) LB. 2, 219. Einleitungsgedicht zu den Eikones duodecim
primorum Germanice lieroum (die Reime zu den Koenigsbildern selbst von B. Waldis:
§ 99, 40); nach der Einzelausgabe Strassb. 1573 das Ganze wiederholt als Anhang zu Holtz-
warts Embleniatum Tijrocinia, Strassb. 1581 (§ 99, 46), denen Fischart auch eine Prosa-
vorrede beigegeben. Von Fischart selbst lehniiche kurz abgethane Bildererklaerungen in
Reimen, zu den Sacrorum Bihliorum Fiyuroe von Tob. !Stimmer, Basel 1576 : Kurz 2, 273 fgg.
Ja sogar die Accuratm Effigies Pontificum 1573 hat er mit Versen versehn: Kurz 3, 51 fgg.
16) beigegeben dem Strassb. Catechismus dieses n. späterer Jahre; nach Drucken von 1610
u. 1616 neu hsggb. von Vilmar zur Lit. Joh. Fischarts. Marb. 1846, 10 — 16 u. bei Kurz
3, 203. Dagegen ist, wie Scherer gezeigt hat, das Gedicht Die Gelehrten die Verkehrten,
Kurz 2, 329, nicht von Fischart verfasst. sondern nur mit Zusätzen verötfentlicht worden,
wenn er auch mit dem darin ausgesprochenen Freisinn übereinstimmen mochte. 17) Loh
des LandJusts, Mayersmut ind lustigen Feldthatcmanslehen vor Sebizius 7 Büchern v. dem
Feldbau, Strassb. 1579; Kurz 3, 308. 18) Kurz 3, 331.
§ 100 FISCHART. 71
deren das strebende Volk schon so ^^ele zu seinen üclchrten liinauf gethau,
von dieser Seite aus erwidert und frisch und liebevoll in die Art des Volkes,
in dessen Geschichten, in dessen Komik, in die bewegenden Gedanken und
Ereignisse von dessen Leben sich versetzt. ^^ Ihn mochte hierin das Bei-
spiel eines älteren Verwandten und Lehrers bestärken, Caspar Scheit von
Worms, der im J. 1551 ein aus Sebastian Brant -^ geflossenes lateinisches
Gedicht, eine ironisch verkehrte Anweisung zu guter Sitte, den Grohianus
Friedrich Dedekinds '^\ heiter imd derb in deutsche Verse gebracht -^ und eben-
solche Übertragung für die Prosa vom Eulenspiegel (§ 107, 16) beabsichtigt
hatte. Den unausgeführten Plan des Verstorbenen nahm Fischart über sich:
sein Eulenspiegel Beimenstveiss ^^ (so hat er gleich von Anfang an diese
Richtung verfolgt) gebeert unter seine frühesten Bücher. ^* Selbständiger ein
zweites von 1573, die Flcehhatz ^^, die allerdings nicht so rein erzsehlend als
der Eulenspiegel und weder von Lehrhaftigkeit noch von Gelehrsamkeit frei
ist : die Klagen über die Verfolgung durch die Weiber, die der Floh an die Mücke
und bis vor Jupiter bringt, die Verantwortung der Angeklagten und als Ent-
19) Von ihm auch der Staufenberger fiir den Strassbiirger Druck von 1588 überarbeitet
und in Eeimen bevorwortet: § 66, 56. 20) Narrenschiif Cap. 72 Von groben narren:
Eyn nuicer lieyHg heissst Grobian usw. und 110 a Von discJies vnzuclit (vgl. § 89, 41);
auch iu Murners Schelmenzunft Cap. 22 dieser Grobianus oder herr Grobian und der
h. Grobian bei Wickram: "Wackernagel Fischart 111 Anm. Daneben ein eignes, aber
auch nicht umfangreiches Gedicht von W. S. 1538, Grobianus Tischzucht. 21) zu-
erst 1549 in zwei Büchern erschienen, 1552 mit Benutzung Scheits zu dreien erweitert.
Dedekind aus Neustadt bei Hannover: als Dramatiker § 105, 82 u. 93. 22) Grobianus,
Von groben Sitten, vncl vnhafliclien geberden — verteutschet durch Casparum Scheidt von
Wormbs, Worms; unter der Vorrede 1551 und wie am Schluss des Gedichtes Scheit (vgl.
Anm. 23). Neudruck Halle 1882. Ueber andere Werke Scheidts s. Wackernagel Fischart
106 fgg. Titelspruch Liss tvol diss buechlin offt vnd vil, Vnd thuo allzeit das widerspil.
Überarbeitung Grobianus vnd Grobiana — Durch Wendelinum HeUbachiutn von MüUberg,
auss Thüringen, Frankf. 1.567. Über spätere s. die Einleitung von Milchsack zum Neudruck.
23) Frankf. o. J. In der pros. Vorrede mein Ueber Herr Vätter vnd Preceptor Caspar
Scheid seliger gedechtnuss (f 1565), so solcJie fürJmbende Matery seinem Grobiano gleich-
messig zulmndJen befunden, aber von icegen Schulgesclieff't vnd ernstlicherem studieren dar-
uon abgehalten. — Biss letzlich ich als ein Junger usw. 24) Bücherschatz 9: „erschien
vor der Fastenmesse von 1572, in mindestens drei drucken" Job. Fischarts Geistl. Lieder 135.
25) Flceh Hatz, Weiber Tratz Der wunder vnrichtige, vnd sjyot wichtige Bechtshandel der
Floeh mit den Weibern usw. Strassb. Neudruck Halle 1877. Schon in der erweiterten
und stark veränderten Ausgabe von 1577, welche Kurz 2. 1 nach der wesentlichgleichen von
1578 wiedergibt, berichtet die gereimte Vorrede,, jedermann wolle das Buch haben, Haus
für Haus prange es bei andern Büchern, stehe es gleich neben dem Catechismus. Spaetere
72 NEUUÜCIIDEUTSCIIE ZEIT. XVI JAIIKII. § 100
scheid tlio Vcrurthoilung des Flohes durch den Fla'hkanzlcr, den Dichter selbst,
alles das ist zuletzt nur auf die Standesunzufriedenheit der Menschen abge-
zielt: denn es wird dem Floh als Selbstüberhebung angerechnet, dass er aus
dem Staub an den Hund, vom Hund an die Weiber gehe. Aber die Ausfüh-
rung mit der übersprudelnden Fülle jeglicher Komik, mit den Zügen und Ge-
schichten aus dem Alltagsleben, die reichlich eingeflochten, mit den Eigen-
namen, die darin sämmtlichen Flochen gegeben werden, kurz, das Hüpfende
und Bcissendc, das die ganze Dichtung selber hat, ist im echtesten Sinn und
Geschmack des Volkes, -^ Der Froschmäuseier (§ 90, 49) ist um gleichen
Iluhm zu verdienen schon viel zu umständlich angelegt, und Entwickelung
der Gelehrsamkeit ist in ihm durchaus, Komik nirgend die Absicht. Endlich
das Gll'Ckhafte Schiff 2^, mit welchem Fischart ungescheut in einen Gebrauch
eintrat, dessen Uebung sonst nicht eben geachteten Dichtern, den Pritschen-
meistern (§ 95, 38. 44) zufiel, die VerhcrrUchung eines Bürgerfestes. Im Sommer
1576, als man zu Strassburg ein grosses Scliiessen hielt, war eine Anzahl
Zürcher von der Dämmerung bis zum Zwielicht Eines Tages die Wasser hinab
dorthin gefahren um den Bürgern der Stadt, deren Beitritt zur Eidgenossen-
schaft man wünschte, darzuthun, wie nah, wenn es gelte, die Schweiz mit
helfenden Waffen ihnen sei. -'^ Dieses Fest nun und diess Ereigniss, bald
nachdem sie vor sich gegangen, feiert Fischart, allerdings mit Benutzung eines
lateinischen und wohl auch deutscher Gedichte, die in Zürich entstanden waren -*^ ;
und in einem Anhang ein inzwischen erschienenes Hohngcdicht abweisend. -' An
Gelehrsamkeit fehlt es auch hier nicht: sie gibt sich kund in Mythologie und
Ausgaben von 1610 ab enthalten an der Spitze noch Das Lob der Mucken nach Lucian
und mitten eingeschaltet Des Flohes Zanck vnd Strauss Gegen der stoUzen Lauss : beides
nicht von Fischart, "Wackernagel Fisch. 115. Ein Stück daraus LB. 2. 223 fgg. 26) Ein
Volkslied von den Weibern u. den Floehen als Anhang der Flcehhatz, im Ambraser Liederb.
271 u. a. Schon Lindener lääS kennt es: Wackeruagel Fischart 100 Anui. 27) Ausgaben
ohne J. u. Ort: neuer Druck durch Hallixg mit einem einleitenden Beitrage v. Uhland :
Job. Fischart's, genannt Mentzer, Glückhaftes Schiff v. Zürich. Tübingen 1828. Darnach der
Beginn und Schluss im LB. 2, 239. Nachbildung des Originals Sirassburg 1884. Zinc-
grefs Urtheil Anm. 1. 28) Gleiches war schon im J. 1456 unternommen worden: diess-
mal brachten die Zürcher als Wahrzeichen einen Hirsebrei noch warm nach Strassburg.
Zu vgl. Über die Reise d. Zürcher Breytoptes nach Strassburg (v. King), ßaireuth 1787, und
Der warme Hirsebrei auf d. Freischiesseu zu Strassburg v. Maurer, Zürich 1792; Bsechtold
in den Mittheil, der Antiquar. Gesellschaft in Zürich 1880. 28a) s. Baeehtolds Nach-
weis. Das lat. die Argo Tigurimi von Eod, Gualtherus. 29) Notwendiger Kehrab Auf
aines VngeluebeUen Neidigen Scluindtichters viuttciUiges vnd Ehrrüriges Spottgedicht Kurz
§ 100 KOMISCHE EPIK. 73
gar Etymologie (§ 94, 42); und auch hier nicht an lolirhaftcr Absicht: aber
sie ist zu Einem Gedanken gesammelt und erhoben, und nicht neben der Er-
zajhlimg, sondern in ihr, sie beseelend und gestaltend, liegt die Idee, wie Be-
harrlichkeit auch das scheinbar unmoegliche mcßglich mache. Der Lohn solches
Aufschwunges über all die Andern ist da, wo die Erzsehlung über die blosse
Aufzsehlmig hinaus, und namentlich, wo sie in Schilderung übergehen kann,
eine lebensfrische Kraft der Anschaulichkeit, wie sie auch den Anderen fremd,
und mehr als ein Griff so nah an die Meisterschaft, als jetzt nur irgend schon
gestattet war.
Der Eulenspiegel und die Flcehhatz haben auf die Mitlebendcn und noch
auf das nsechste Geschlecht schon deshalb fortwirken müssen, weil beide Ge-
dichte in Stimmungen einklangen, die bereits vorhanden waren, und sie deren
Ton nur hier verstärkten, dort verfeinerten: denn auch, wodurch die Flceh-
hatz uns befremden mag, diese scherzende und spottende Handhabung der
Thierwelt, diess wichtig machende, fast veredelnde Ergreifen des Geringen,
ja des Widerwärtigen, auch das stand damals gleich den Eulenspiegeleien
und zuletzt aus dem gleichen Grund als sie nicht allein bei dem Yolke, sondern
um der Beispiele willen, welche bereits die antike Litteratur und jetzt das
Ausland boten, auch bei den Gelehrten wohl in Gunst. ^^ Schon im J. 1560,
eh Fischart den Eulenspiegel reimte, hatte Achilles Jason Widman von Hall
in Schwaben die Schalks- und Tölpelstreiche eines älteren Stadtkindes, Peter
Leu, zwar in der Absicht des Ergötzens (er hob mit dem Wort an Insipiens
esto), aber mit zu grosser Unbehilflichkeit gedichtet um selbst auch witzig
zu sein ^^: nun hinter Fischart kamen mit erhoehtem Geschick der komischen
2, 215 {gg.; der Schnmchspruch selbst 213 igg. 30) Vgl. § 112, 8. Fischart spricht
davon selbst am Schlüsse seiner Dichtung mit Ausführlichkeit: z. B. Wer sieht nicht ivas
für selzam streit Vnsre Frifmaler malen heut, Da sie füren zu Feld die Katzen Wider
die Hund, Maus vnd die Satzeit. Wer hat die Hasen nicht gesehen Wie Jceger sie am Spiss
vmtreJien. Oder ivie wunderbar die Affen Des Buttenkrcemers Kram begaffen. Vnd andre
Prillen vtid sonst grillen Damit heut fast das Land erfüllen Die Prifmaler vnd Patronirer
Die Laspriftrager vnd Hausirer. Im J. 161'J zu Hanover durch Dornavius ein ganzes
Sammelwerk der Art herausgegeben, Amphitheatrum Sapientice Socraticee joco-serice h. e.
encomia et commentationes — quibus res aut pro vilibus aui daintiosis Imbitce exornantur :
darin auch die Flcehhatz und nebst noch anderen deutschen Büchern das von des Esels Adel
und der Sau Triumph § 107, 25. 31) Zuerst Frankfurt o. J. (1557 — 59) gedruckt, neue
Ausgabe von Schade Weim. Jb. 1S57. Als Todesjahr Peter Leus gibt der Schluss des Ge-
dichtes das J. 149t) und eben dieser im Acrostichon den Namen des Verfassers. Auf dem
Titel wird P. L. als der ander Kalenberger bezeichnet, in zwei Ausgaben auch mit dem
74 NEUIIOCIIDEUTSCJIIE ZEIT. XVI JAilUlI. § 100
Erz.Thlung Axorkas Scikknwaldt, der eine Erncuorun«; der alten Legende
vom heil. Christophorus in deutsche Reime brachte, welche mit schwankhaf'ter
Derbheit begann und immer aufwärts steigend mit der ernsten Bedeutsamkeit
des Humors endigt^-, und 1618 Lazarus Handrub, der seinem jugendlichen
Muthwillen (er war noch Student) in einer Reihe muntrer Geschichten Luft
machte, der Gewohnheit aber moralischer Nutzanwendungen jedesmal nur in
prosaischen Zusatzworten, nur wie zum Spotte Rechnmig trug ^•'; es kam auch,
wie der Eulenspiegel aus Prosa in die Reimform übertragen und deshalb am
füglichsten liier mit einzureihen, im J. 1588 die Ge.sciiichtk von Dr. Johann
Fai'sten. ^* Der Flcehhatz aber schloss sich in Stoff und Sinn einmal der
MücKENKRiKG an, ein Krieg der Mücken und der Ameisen, mit Aufgebimg
des macaronischen Sprachengemisches nachgedichtet der Moschea Folengos
von Hans Christoph Fuchs im J. 1580 ^^; dann, dem Beispiele besser und ver-
wandtschaftlicher folgend, im J. 1607 der Gauss K(enig von Wolfhart
Si'ANGEXBERG ^•', Etil K^irtzwcijUg Gedicht^ von der Martins Gauss: Wie sie
Kalenberger d. Frankfui-ters zusammengedruckt: vgl. § 66, 6. Ueber d. Dichter, dessen wirkl.
Vorname Georg war, s. auch Schnorrs Arch. 11, 318. 32) Vom Lehen, Raisen, Wanderschafften
tmd Zustand des grossen S. Christoffels, 1591; ncugedr. in Deutsche Dichtungen v. Nicodemus
l'rischlin, Stuttg. L. V. 1857. N. Frischlin, auf d. Titel als Verf. genannt, kann nurUeberarbeiter
sein: s. Nebel, Anz. des germ. Mus. 1861, 348 fgg. 388 fgg. 33) Delitice Historicce et
Poeticce, d.i. Historische rnd Poetische Ki(rtzweil. Darinnen allerhand kitrtztceilige, lustige
vnd artige Historien, scha:ne anmutige Poetische Gedicht, hcefjUche Bossen vnd Schicenekc
zu Vertreibung die Maulliencliöley, zur erfrischung dess Geblüts in der Aderlass (vgl. LB.
3, 1, 441 u. § 22, 3), zu erlustigung dess langiceiligcn Bürschleins (Gesellschaft junger
Leute) heg den Collazen vnd Zechen, dienende, Beymenweise verfasset vnd begriffen seyn.
— Durch iMzarum Sandruh (ein westfielisch klingender Xame\ Philosophiee et TJieologice
Studiosum, der l'oeterey besondern Liebhabern, Frankf. 1618. Neudruck Halle 1878. Vgl,
§ 107, 52. 34) Nach dem Tübinger Drucke v. 1588 wederholt in Scheibles Kloster 11,
Stuttg. 1849, 1—211. Die Prosa v. 1587 § 107, 14. 35) § 102, 9. Dieser Name erst
so vollständig angegeben in dem durch Balthasar Schnurr besorgten Strassburger Drucke
v. 1612: in den früheren (Schmalkalden 1.580, Muckenthal bei AmeissJioffen IGOO) nur unter
der gereimten V'orrede H. C. F. Vgl. über das Gedicht die Geschichte d. Macaron. Poesie
v. Genthe 124 fgg. ; eine neue Ausg. von demselben Eisleb. 1833. Von jenem Balthasar
Schnurr auch Dramen, Pseudoxtratiota u. Triumphus CJiristi, beide 1607: Gottscheds Vor-
rath z. Gesch. d. d. Dram. Dichtk. 1, 163. 36) durch Lycostlienem Psellionoros Andro-
pediacum (Scherz wie Fischarts EUoposcleros oder Pedanterei?), Strassb. 1607. Ueber des
Dichters Lebensumstände s. Bossert in Schnorrs Archiv 11, 319 und Scherer Strassb. Stud.
1, 374 fgg. Um 1570 geb. kam er 1577 mit seinem Vater Cyriacus nach Strassburg, ward
1591 zu Tübingen Magister, lebte z. Str. als Corrector, seit 1611 als Pfarrer zu Buchenbach in
Franken, u. zwar noch 1637. Er hat noch mehr der Art geschrieben: in der Vorred heisst
§ 101 KOMISCHE EPIK. 75
zum Krßnifj erwehlet, resigniret, jhr Testament gemacht, begraben, in Himmel
vnd an das Gestirn kommen: auch was jhr für ein Lobspruch vnd lehr-Sermon
gehalten worden : nicht ohne CTclolirsamkeit aus Geschichte und Naturgeschichte,
satirisch in mannigfachen Bezügen auf Staat und Kirche, aber volksmaessig
harmlos in dem Griff den LiebUngsvogel der deutschen Gesellschaftslust (§ 104, 6)
80 zu dichterischen und durch die Erfindung zu koeniglichen, ja überirdischen
Ehren zu erheben. Ebenso ironisch gegen die katholischen Legenden feiern
des Dichters Axbind- oder Fang Brieffe 1611 eine Anzahl von Namens-
tagen. Es ist derselbe Spangenberg, der auch für die Bemühungen der
Meistersinger ein Herz gehabt hat ^^ ; in die Spuren Fischarts führte ihn, der
zu Mansfeld geboren, schon sein Aufenthaltsort Strassburg.
§ 101.
Wsehrend mit solchen Gedichten Fischart und die Seinen auf eine Epik
mehr in Weise des Yolks eingiengen, auf Erzsehlung, welche reiner oder ganz
gereinigt war von stoerender Zweckhaftigkeit, ward dem sehnlich auch eine
voLKSM,EssiGE DiDACTiK uuu vou Gelehrten geübt. Die Lehre des Volkes ist
das Sprichwort ; auf dessen Grunde, durch Reimung, durch Nachbildung, hatte
sich zumal seit Freidank schon im Mittelalter der Spruch entwickelt (§ 79,
es Weil aber rnder andern, auff ein zeit, zier Kurtziceil, mir durch die Phantasia eingehen
ward zu betrachten : die wunderbare Art der Creaturen : da etliche mit sonderbahrer Einig-
keit, andere hergegen mit vnversünlicJier Zweytracht vnd tviederwertigkeit mit vnd gegen
einander leben: fieng ich an zubeschreiben die Vrsach, icarumb die Katzen vnd Mäuse so
feindtselig wider einander seyen, vnd was sie für schwere Krieg gegen einander geführet.
Balt gab dieselbig Materi mir anleitung, aller Thiere Regiment vnd Kcenigreich zubeschreiben :
vnd befand sich, dass in denselben auch viel änderung vnnd Zivytracht sich zugetragen : daher
die Vierfüssigen Thier jren Löwen absetzten vnd den Esel zum Kattiig envehleten: die
Fisch gleichfalls den Stockfisch, dem Delphiti : das Gew ürm den Frosch dem Basilisken
vorsetzten vnd fürzogen. Wirklich ist nach einem Entwürfe Spangenbergs der prosaische
Eselkcenig § 107, 25 verfasst worden. Dramen von ihm, übersetzte und eigene, § 10.5, 11 fgg.
144. Anch von .J. A. (Job. Agricola? § 111, 6) ein Scherzgedicht die BurckJutrts vnd
Martini Gans: veröffentl. v. Goedeke imWeimar. Jb. VI, 35 fgg.; durch Johanne m Ol or in um
Variscum (d, i. Job. Sommer § 101, 1.3), aber in Prosa, eine Martins Ganss, Von der
Wunde rbarlicJien Geburt, Iceblichen Leben, vielfältigen Gut vnd Wohlthaten. Vnd v. d.
vnschüldigen Marter vnd Pein der Gänse — Allen Mertensbrüdern zu Erlustigung icoU
nieinendt geschrieben, Magdeb. 1609. 37) § 97, 29. Im J. 1598 schrieb Wolfharts Vater
M. Cyriac Spangenberg zu Ehren der Meistersinger in Strassburg ein Buch über den Meister-
gesang Von der — Kunst der Musica; herausg. Stuttg. Lit. Ver. 1861. Durch "VVolfhart
Sp. aber, Lycostlienem Psellionoros Andropediacum, ist das Lob des Meistergesanges in ein
Drama, die Singschul (Nürnb. o. J.), gebracht worden: § 105, 144,
76 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVI JAHJiH. § lül
34 fgg. 81, 35 fgg.), und der Freidank, der Cato, der Facctus, der Renner
waren immer noch vielgelesene, gern benutzte Bücher (§ 02, 5. 09, 53): so ward
denn auch bis in den Beginn des siebzelmten Jalirhunderts eifrig mit Dich-
tung immer neuer Sprüche auf eben demselben Grunde fortgebaut und hie ujid
da bald ein einzelner auf einen Buchdeckel oder in ein Stammbuch ' oder
sonst - verloren hingeschrieben, bald, damit der Sittlichkeit und der Weis-
heit und der Weltklugheit eine reichere Quelle des Rathes und der Abmah-
nungen flösse, ihrer gleich eine Sammlung angelegt, handschriftlich ^ oder im
Druck, von Benannten wie von Unbenanuten. ^ Jener Art die Bücher von
JouANX BrcüLER 1602, Friedrich Petri 1005, Burghart Gensschedel 1619,
Julius Wilhelm Zincgref 1623, Christoimi Lehman 1630 ^; dazu das älteste
unter allen, mit gelehrter Übertragung ms Lateinische, das von Heinrich Bebel
1508. ^ Und nach wie vor gab man den Sprüchen gern die spannende Form
der Priamel ' und flocht, schärfend und schmückend zugleich, die Priamel wie
den gewoclmlichen Spruch gern auch in länger ausgedehnte Lehrdichtungen ein. *
Auf das zeitgemajsseste aber und das hoechste Gebiet der Lehre, das religioese,
§ 101. 1) Anm. 12. Über den Gebrauch der Stammbücher Heinr. Hoffmanns Spenden
z. deutschen Litteraturgesch. 1, Leipz. 1844, 27 fg. 2) öfter auf Trinkgetässe; auf einen
Brustpanzer: Ambraser Liederb. 142. 3) Weimarer Handschrift v. 1537 (niederländ. u.
hochd.): Hoffmann in seinem u. Schades Weimarischem Jahrbuch 1854, 129 fgg.; Breslauer
von etwa l(iU3 auf der Rhedigerschen Bibliothek: aus dieser die Sprüche LB. 2, 331. An
beiden Orten die Sprüche je einem voranstehenden Liede beigefügt: auf gleiche Art einzelne
in dem Anibraser Liederbuch (§ 95, 23) u. auf fliegenden Liederbogen. 4) Loci communes
proverbidles de moribus, carminibus antiquis conscripti cum interpretatione Germanica,
Basil. 1572. Mit Benutzung derselben Sammlung, die auch für Bebel Anm. 6 Grundlage
war: Aufsess Anzeiger f. Kunde d. deutschen Vorzeit 1854, 269. lieber eine niederdeutsche
Sammlung Ein schccn rimbakelin o. 0. u. J. (.Lübeck von 154:8), wiedergedruckt als Werldt-
spröke Hamborch 1574; s. Goedeke Grundriss 113. 5) Buchler, Petri, Gensschedel, Lehman:
Nachweisungen und Auszüge in Hoflmanns Spenden 1, LB. 2, 332 fgg.: die Reimsprüche Zinc-
grefs (§ 104, 13) bei seiner Emblematum ethico-politicorum centuria, Frankf. 1623. In den
Sammlungen von Petri u. Lehmau auch Prosasprüehe : § 111, 9 fg. 6) § 94, 13. Pro-
verbia germanica coUecta atque in latinum truductu, Strassb. 1508. Neue Ausgabe von
Suringar, Leiden 1879. Hauptgrundlage eine ältere lateinisch-niederländische Sammlung, die
Proverbia communia, neu herausg. in Hoffmanns Horcc belgicm 9 (1854). Ungefaehr gleich-
zeitig mit Bebel, lat. u. deutsch, die Protterbia metrica et vulgariter rytmisata M. Johannis
Fabri de icerdea : Hoffmann im AVeimarischen Jahrb. 2, 1855, 183. 7) Beispiel LB. 3,
1, 463. Die Priamelhandschriften zu Wolfenbüttel u. Stuttgart § 81, 40 erst im 16 Jh.
aufgezeichnet: letztere Sammlung in abweichendem Texte (50 Sprüche) auch um 1550 ge-
druckt: Die hoeßUchen Weydsprüch, inn Heimen gcsteJt, Bücherschatz d. Deutschen National-
Litt., Berl. 1854, 104. Gleichzeitig eine andre von 130 Sprüchen: ebd. 105. 8) § 99, 53.
§ 101 SPRUCH- UND RyETHSELDICHTUNG. 77
das evangoHsch-cliristliche, suchte den Spruch schon Luther, indem er bib-
lische Grabreime empfahl und deren selbst einige Muster gab ^, und suchte ihn
wieder Andrk.e zu versetzen: dessen Geistliche Kurtziveil von 1019 enthält
ausser Liedern auch der Art Reimsprüche, den in Witz gewandten Ausdruck
tiefer und ernster Innigkeit des Glaubens und der Liebe. ^^
Ausser den Sitten- imd Glaubenssprüchen fanden zu Ende dieses Zeit-
abschnittes noch zwei Nebenarten der Spruchdichtung Aufnahme in die hoehere,
die gedruckte Litteratur und Pflege durch gelehrte Hände, der Leberreim und
das Reethsel. \Yas den Gebrauch der Leberreime zuerst veranlasst und was
derselbe ausser der geselligen Reimübung ursprünglich noch weiter bedeutet
habe, möchte jetzo schwer zu ermitteln sein ^ ^ : die frühesten Aufzeichnungen,
ein Wort von der Leber des Hechtes und darauf gereimt ein allgemeiner
Erfahrungs- oder Lehi-satz, gehceren in den Anfang des siebzehnten Jahrhunderts ^-
und in eben diese Zeit, das J. 1605, die erste gedruckte Sammlung solcher,
von Huldrich Therander oder, wie der Mann, ein Pfarrer bei Magdeburg,
eigentlich geheissen, Johaxx Sommer. '^ Raethsel (Anm. 8), diese der Priamel
zunächst verwandte Spruchart (§ 81, 41), hatte man schon hundert Jahre
früher gesammelt und gedruckt '*, da aber nur noch zu Kutzen des gemeinen
Mannes, und meist hatten sie damals gleich dem Sprichworte noch die Prosa-
form (§ 77, 5): jetzt, ermuthigt durch die Aufmerksamkeit, die den Ra^th-
seln des Alterthumes gewidmet ward ^^, nahm sich ihrer auch die Gelehr-
Die Priamel LB. 1, 1385, 8, die sich in derselben kürzeren Fassung noch bei Abraham a
SClara findet. Passauer Ausg. ö, 323, von Waldis im Esop 4, 93 zu 104 Zeilen ausgedehnt.
Auch in den Waidsprüchen § 96, 3 Priameln wie Kaethsel. 9) Denn reyme oder vers,
machen gute sententz oder Sprichwort, die man lieber braucht, denn sonst schlechte rede
Vorrede zu den Begrsebnissgesängen 1542: das Deutsche Kirchenlied von Phil. AVackernagel
803. Vgl. Köstlin 2, 517 fg. 10) LB. 2, 343: vgl. § 99, 64. 11) Oswald v. Wolken-
stein 15, 2 spricht unverständlich von der steinernen Leber eines Hechtes, der gnt für Un-
glück sei. Beziehung auf die heilsame Fischleber in der Geschichte des Tobias? 12) Stamm-
buchsprüche und Leberreime aus dem ßeisetagebuch eines Schlesischen Edelmannes : Hoifmauns
Monatschrift von u. für Schlesien 1829, 231 fg. LB. 2, 335. 13) Ilepatologia Hiero-
glyphica rhythmica, Magdeb. 1605: Hoffmanns Monatschr. IGO. 232 fg. Seine andren
Schriftstellernamcn Johannes Sommerus Cycnaeus (d. h. aus Zwickau) § 105. 137 u. Johannes
Olorinus Variscus § KX), 36. 106, 15. HO, 29. 111, 11. 14) Auszüge aus einer Augs-
burgischen Sammlung jener Zeit in Haupts Zeitschr. für Deutsches Alterthum 3, 27 fgg.
Der älteste Druck Strassburg um 1505, abgedruckt von Butsch Str. 1876. Andre spätre
Sammlungen u. Drucke im Bücherschatz d. Deutschen National-Litt. 126 u. in Hoffmanns
n. Schades Weim. Jahrb. 2, 233. 15) Job. Reusners .Enigmatugraphia, Frankf. 1599 u. a.
78 NEUIIOCIIDEUTSCHE ZEIT. XVI JAIIRIL § 102
Siimkoit uiul nahm sich derselbe Oclchrtc wie der Leberroime auch ihrer
an: Theraiidera JEniymatoyraphia^ obschon sie der Emplehluiig bei den
Zünftigen wegen vorgiebt aus Lateinischen (Quellen geschöpft zu sein '*, tragt
Deutsche Kiethsel zusammen oder wo das nicht, bildet sie doch deren Haltung
nach; nur sind auch jene in Vers und Reim gesetzt, und neben dem Begriffs-
rajthsel, das allein dem Volke bekannt gewesen, macht sich bereits das ge-
lehrtere Buchstabenrtethsel geltend '^; die Rajthselart aber, die man Fuacjen
hiess, die als Loesung nicht ein unbekanntes Subject zu gegebenen Praedicaten,
sondern mit neckendem Witze sonst eine Ergänzung und Erklajrung und eine
so nah gelegne forderten, dass der Befragte sie eben deshalb schwerlich fand,
diese gar zu volksmajssigen und unautiken Scherze liess Therandor unbenutzt
bei Seite: heitre Gesellscliaft hat sie noch lange und noch bis heut benutzt. '*
§ 102.
Die Vervollständigung des Bildes der gelehrten, der volksmfcssig gelehrten
Epik und Didacdk verlangt, dass endlich noch einiger llervorbringungen
Erwähnung geschehe, die dem Sinn und Gehalte nach theils zur Spruchdich-
tung, theils in die Nachfolge der Floehhatz gehocren, mit ihrer Form aber
einen so eigen thümlichen Weg einschlagen, dass hier die Undeutschheit der
Gelehrten auf das Ausserste getrieben und muthwiUig sich selber zum Ge-
spötte wird. Der im Mittelalter begonnene und nach dem Mittelalter noch
fortdauernde Gebrauch Hexameter aus lateinischen und deutschen Worten zu
mischen und so die Last des Fremden durch Thcilung gleichsam zu erleich-
tern * hatte schon um das J. 1500 zu dem weiteren Spiele geführt, dass man
auch den deutschen Worten solches Sprachgemenges lateinische Schlusssylben
gab. " Aber erst, da auch hier ein Anstoss vom Auslande kam, ward den
16) j^nigmatographia rythmica. Ein iietvs kiinstreiclies Reetzelbuch auss den herümhtesten
rnnd vortrefflichsten Alten vnd Newen Lateinischen Scrihenten mit fleiss zusam gezogen,
0. J. u. 0. (Magdeb. 1600?): vgl. Hoffmanns Monatschr. 160 fgg. LB. 2, 336. 17) Der-
gleichen auch hin und wieder in den Spruehsammlungen, so der von Petri: LB. 2, 338;
dies Rätsel war übrigens schon Luther bekannt: Köstliu 2, 5IH. 18) Beispiele und Zeug-
niss aus Paul Fleming in Haupts Zeitschr. 3, 27. Nach Schuppius 2, 228 fg. waren solche
Fragen auch eine der bei Depositionen üblichen Quälereien. V"gl. Schade Weini. Jahrb.
1857 (S. 119 des SA.).
§ 102. Zu diesem Paragraphen vgl. Genthes Gesch. d. Macaron. Poesie, Leipz. 1829.
8ehade, Fercula micaronica I. II: Weim. .Jahrb. 1855. 56. 1) § 48, 66 fg. Geschichte
d. deutschen Hexam. u. Pentameters (auch in Wackernagels Klein. Schritten II) 12 fgg. 31 fgg.
2) In dem Augsb. Rtethseibuche § 101, 14 Bl. c iij vw. Ein frag, welchs das best an den
fischen zuo essen sey. Ant. Sahiieus in federis rujns hechtilisqiie in leberis. Carpeus in
§ 102 MACARONISCIIE POESIE. 79
Deutschen das doch selbstgefundne Spiel geläufiger: er kam, seit im zweiten
Jahrzeheud des Jahrhunderts durch ebensolche Latinisierung des Itaiisenischen
Teofilo Folengo die s. g. maciirouische Poesie hingestellt und ihm alsbald
in Frankreich und auf Franzoesisch Axtoxius i>e Arena nachgedichtet hatte.
Nun auch häufiger geübt macaronische Poesie in Deutschland: im J. 154G ein
kurzes Schmahgedicht auf die Verbündeten von Schmalkalden ^ ; bald darauf
in komischen Bcschwa;rungsformeln bei IL Sachs ^ * ; von Fisciiart, dem
Folengos Verse bekannt waren ■*, demselben Fischart, der auch versucht hat
ganz auf Deutsch Hexameter zu machen (§ 94, 31), zahlreiche der Art
lateinisch-deutsche Hexameter in seinem Roman Gargantua, meist arzneiliche
Denksprüche, der Scliola Salernitana entnommen und wie zur Übersetzung so
verkehrt ^ ; von einem Ungenannten, einem Hamburger, und mehr nieder- als
hochdeutsch, das macaronische Gegenbild der Floehhatz, die 1593 zuerst ge-
druckte Floia^', kaum viel jünger und übermüthig in anderer Weise, in ele-
gischem Mass ein Abbild des Studentenlebens, die Delineatio summoru7n capitum
lustitudinis studenticce ^; und so vielleicht noch diess und jenes. Recht
häufig und geläufig aber und so wie in Italien und Frankreich ist diese Misch-
poesie doch nie bei uns geworden ^ : Andren als Fischart, Alteren als Stu-
denten mochte sie doch meist wie eine Lästerung der heifigen Gelehrsamkeit
erscheinen : dass sie vor allem geschmacklos und eine Entstellung ebenso wohl
der Muttersprache war, daran stiess man sich schwerlich. Schon 1580 über-
trug Hans Christoph Fuchs die Moschea Folengos in lediglich deutsche
zünglis iss alius im mittel drommis. Stocicfisch in blasijs Tcrepsius in schwantzis harha
meülein lecJcerbiss. Denselben Sprach, nur etwas erweitert, giebt aus einem gleichzeitigen
Bücherverzeichnisse des Klosters Tegernsee Schmeller in Naumanns Serapeum 1841, 283.
3) Boehmer in Haupts Zeitschrift f. Deutsches Alterth. 6, 538. An dies Gedicht anschliessend
ein anderes von 1548: Schnorrs Archiv 10, 485. 3a) Schade a. a. 0. 4) Gargantua
Cp. 1 Merlin Coccai inn seinen Nuttelverssen. Merlinus Cocains der Dichtername Folengos.
5) Gesch. d. d. Hexam. 26 fg. LB. 2, 235. 6) Diese erste Ausg. nachgewiesen von
Lessing (CoUectaneen 2, 102): der Titel derselben Floia, cortum versicale, de flois schivartibus,
Ulis deiriculis, quce omnes fere Minschos^ Nonnas, Weibras, Jungfras etc. behuppere, et
spitzibus suis schnaflis steckere et bitere solent; autore GripluAdo KnickJcnackio ex Floilandia ;
neuer Abdruck bei Genthe 333—838; nach einer Ausg. von 1689 bei Schade. Vgl. auch
Germ. 28, 117. 7) Es soll noch ältere Drucke als den von 1627 geben: Gesch. d. d.
Hexam. 36; nach einem jüngeren bei Genthe 323—332. 8) Der vermuthlich Deutsche,
der in Lateinisch-Italienischem Admirabiles conclusioties de Casei stupendis laudibus ge-
dichtet hat (Genthe 172), wird eben auch in Italien gelebt haben, wie der Aargauer Janus
C^ciLius Frev, Verfasser des liecitus veritalnlis super terribili Esmeuta l^aysauorum de
80 NEUIIOCJ [DEUTSCHE ZEIT. XVI JAIIIUl. § 103
Reime '■', und das sieb/olinto Jalirli lindert sah theils in Erinnerungen von frülier
her, die schon zu Bruchstücken geworden '", theils hie und da noch in einzehien
neuen, sonst nicht unebnen Versuchen " die ganze so gelehrte als widerge-
lehrte Spielerei erlöschen.
§ 103.
Wir wenden uns von der Epik und Didactik zu der Lyrik der (»e-
lelirteii. Hier lallt der Menge, dem Gehalte, der Bedeutung für alle Zeiten nach
das Hauptgewicht auf den geistlichen Theil, das Kirchenlied. Und dabei
kann fast nur die evangelische Kirche noch in rechten Betracht kommen.
Die KATHOLISCHE, mit so schccnem Eifer da auch gerad am Endo des Mittel-
alters (§ 76, 42 fgg.) für den deutschen Gesang der Gemeinde war gearbeitet
worden (noch um das J. 1500 machte sich in solcher Art Johannes Boschex-
STEix namhaft '), sobald die Keformation kam, trat sie erschrocken wiederum
zurück: mit seltnen Ausnahmen ^ fanden ihre Gelehrten es gerathener, gegen-
über den Neuerungen der Ketzer sich auf Sammlung und Behauptung des
RwlUo, in Frankreich lebte: Genthe 157 fg. 9) § lUO, 35. Die Vorrede an den Leser
beginnt (Ausg. 1600) Dieser Krieg ist vor vielen JJiarn An/'cDigs von eint heschriehen worn
Der sich genant Cocalium, Mit einer art der Carminum, Drinn er vermischt Welsch mit
Ijatein Wie dieser Verss bey vns mag seyn : Hie jacet in Dreckis qui modi) Reuter erat
(vgl, Gesch. d. d. Hexana. 26). Oder : Hei mihi Strassburgum quöd non qtieo schauiiere
turnum, Cumque bonis quid non posstim zechare GeseUis. 10) Dgl. geben öfters die
Facetiae facetiarnni, die Nugte venales, Moscherosch, Schuppius u. a. 11) wie den drei
Hochzeitgedichteu Gesch. d. d. Hexam. 34 fg.
§ 1(^3. Hauptsammlungen des Stoffs für diesen Paragr. das Deutsche Kirchenlied von
M. Luther bis auf Nie. Herman u. Ambr. Blaurer v. K. E. P. Wackernagel, Stuttg. 1841,
(im folgenden gemeint, wo keine Bandzahl angegeben ist) und zu 5 Bdn. erweiterte Aus-
gabe: das Deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts.
I — V. Leipzig 1^64 — 77, mit Bibliographie zur Gesch. des deutschen Kirchenlieds im XVI.
Jahrh. Frankfurt a. M. 1855: Geistl. Lieder d. EvangeL Kirche aus d. 16 Jh. v. Miitzeli,
Berlin 1855, und zur Ergänzung der übrigen Zeit Aug. Jak. Rambachs Anthologie christl.
Gesänge. Altona 1816 — 1833. Biographische Nachrichten in "\Vetzei>s Hymnopoeographia,
Herrnstadt 1710 — 1728, u. a. 1) Sein bedeutendstes Lied Do Jesus an dem creutze stuond
(die Sieben Worte); vgl. Anm. 25. Katholisch auch die Lieder von Martin Mvllius
(Anm. 49) Passio Christi 1517 und die im Hymnarius Sigmundslust 1524 enthaltenen:
Wackernagel II 1103. 1107 fgg. 2) Zuerst Michael Veh oder Vehe, Stiftsprobst zu
Halle, dessen Gesangbüchlin Gcystlicher Lieder v. 1537 (alter u. neuer, letztere meist von
Ca.si'AU Ql'EUIIAMER, Rathsmeister der Stadt) Heinr. Hoffuiann wieder herausgegeben,
Hannov. 1853. Über die spaeteren Sammlungen von Jon. Leisentrit 1567 u. Dav. Greg.
Corner 1625 und deren Verhältniss zu der Vehischen ebd. 123 fgg. 126 fgg. Crecelius in
§ 103 LTRUi DER GELEHRTEN. KIRCHENLIED. 81
schon altüberlieferten zu beschränken ^, oder was die Priesterschaft auf La-
teinisch sang, dem Volke nur in prosaischem Deutsch zu geben *. Folge davon,
dass in den Gotteshäusern der Katholiken der Laiengesang allmählich zu
der früheren Düi-ftigkeit und je mehr und mehr darauf zurücksank, womit
er vordem begonnen, auf den Gebrauch bei Bittgängen und sonst nur ausser-
kirchlichem Anlass. ^ Die Rei-ormation aber brach gleich mit vollen reichen
Strccmen des deutschen Kirchenliedes herein ; es sollte vor ihm, war die Ab-
sicht, die weltliche Lp-ik des "Volkes und auch die der Gelehrten musste einst-
weilen vor ihm verstummen: erst nach und nach, da nieder Beruhigung, ja
Gleichgültigkeit Mancher eingetreten war und ein leichterer Sinn wieder
erlaubt schien, fand auch diese neu das "Wort (§ 104). So verlangt schon aus
Gründen der Zeitfolge die geistliche Lyrik ihre Besprechung vor der weltlichen.
Das evangelische Kirchenlied war Lyrik zwar der Gelehrten, nicht
des Yolkes, aber für das Volk. Denn die Reformatoren und die Fortsetzer
ihres Werkes, wohl erkennend, dass mehr als in dem stummen Lesen und
der bloss einmal angehoerten Predigt eines Einzelnen erweckende und er-
bauende Kraft in dem voUtoenigen Zusammensingen der Gemeinde *^ und
in Liedern Isege, die auch daheim und über der Arbeit der Hände
könnten gesungen werden', waren hier in mannigfacher Weise und in
hoßherem Maasse denn anderswo darauf bedacht, an das Volk heran und
Wagners Archiv 1, 337 fgg. Bei Leisentrit auchi protestantische Lieder. 3) So Georg
WiTZEL oder Wicelius (vgl. LB. 3, 1, 28): Od« Christiane, Mainz 1541: Psaltes Ecclesia-
sticus, Köln 1550. Vgl. Wackern. Bihliogr. 175. 234: die Vorreden .571. 591. Eine Reihe
katholischer Lieder aus dem 16 u. dem Anfange des 17 Jh., theils nach den Sammlungen
Witzeis, Vehs u. s. f., theils von fliegenden Blättern, in den Passionsblumen, Augsb. 1844.
Vgl. Kehrein, Katholische Kirchenlieder, iv Würzhurg 1859—65. Ueher den Gebrauch der
deutschen Lieder in der kath. Kirche s. Bäumker, D. kath. deutsche Kirchenlied, Freiburg
1883 S. 8 fgg. Später waren es insbesonders die für die kath. Kirche wiedereroberten Ge-
biete, denen man deutsche Lieder zugestand. 4) Dgl. Übersetzungen neben den deutschen
Liedern bei Witzel und der ganze Inhalt eines Buches von Christoph Flurheim von
Kitzingen, Alle Kirchengesang vnd gebet des gantzen iars, zuerst Leipz, 1529: Wackern.
Bihliogr. 111. 5) § 32, 6 fgg. 76, 3 fgg. Wettgesang der einzelnen Processionen an den
Tagen vor Auffahrt LB. 3, 1, 340. 6) Wurstisens Basler Chronik 7, 18 unter d. .1. 1526
Auff Laurentij, fiengen der Reformierten Eeligions verwandten an in S. Martins Pfarr-
kirchen Teutsche Psalmen zuosingen. Dann oh man icol hieuor zuo Osteren in etlichen
Kirchen solches fürgenommen, also das viel Leuten vor freuden die Augen vher schössen,
gleich wie vor Zeiten in uiderbauunttig der Statt Jerusalem heschehen: usw. 7) der
handtwercksgesell ob seiner arheyt : die dienstmagt oh jrem schisselwesclien : der acker
rnd rebmann vff seinem acker : vnd die muoter dem weinenden Idnd inn der wiegen: Vor-
WacVernagel, Litter. Geschichte. II. 6
82 NEÜIIOCHDEUTSCIIE ZEIT. XVI JAHIIII. § 103
unter das Volk zu treten. Gleich eine sonst auffallende Erscheinung erklärt
sich hicdurch. In der übrigen Litteratur erlosch jetzo das Niederdeutsche
vor der hochdeutschen Bibel und Canzlei (§ 93): den Kirchenliedern aber ist
noch oft genug das vertrautere llausgowand jener Mundart gegeben worden,
durch ÜbersetzAing " sowohl als sclion bei der ersten Abfassung.^
Der Schöpfer des evangelischen Kirchenlieds der Deutschen ist derselbe,
der auch der irdische Begründer der evangelischen Kirche ist, Martin
LiTFiKR.*" Er hat diese geweihte Waffe als der erste unter allen und hat
sie gleich im Beginne seines grossen Thuns gebraucht: schon im J. 1524
Hess er ein Gesangbüchlcin drucken '\ das jetzt zwar nur acht Lieder, vier
darunter von ihm selbst, enthielt, aber von da an fast jährlich sich erneuernd,
zu immer grcesserera Umfang wachsen sollte.'^ Dem Dichter und Theologen
kam dabei zu Gute, dass ihm ein Tonkünstler von Beruf, Johann Walther,
mit Rath und That zur Seite stand '^, und dass er selbst ein begeisterter
Freund, ein geübter Kenner der Tonkunst war.'* Eigner Gedichte hat er
80 nur 36 beigesteuert^^: aber schon an diesen wenigen lassen sich all die
verschiedenen "Wege nachweisen, die zum Erwerb eines deutschen Lieder-
schatzes wie einst die alte so jetzt die neue Kirche nahm, Übersetzung aus
rede zum Gesangbuch der Catharina Zellinn, Strassb. 1534: Wackern. Bibliogr. 554. .^-hn-
liche Zeugnisse ebd. 609 fgg. 8) Kin gantz schone unde seer mitte ghesangkhoek 1526
0. 0. mit Vorrede von J. (fehlerhaft für P.?) Speratus: Wack. Bibl. 545: Geystlike Leder,
spaeter G. L. vnd Psalmen (Luthers u. a.) von Joachim Shiter, zuerst Rostock 1531, dann
Magdeb. 1534 nö. ebd. 127. 150. 166. 183. 341. 9) Nye ChristUke Gesenge vnde Lede —
Dörch Hermannum Vespasiuvi , Predyger tlio Stade, Lübeck 1571 : Wackern. Bibliogr.
370; vgl. Anm. 30. Johann Freder, Stettin 1576: ebd. 390. ü. a. Vgl. Job. Geffcken,
Die Hamburgischeu niedersächsischen Gesangbücher des 16. Jahrh. Hamburg 1857. 10) Aug.
Jak. Rambach über D. M. Luthers Verdienst um den Kirchengesang, Hamb. 1813. 11) Etlich
CristJich lider Lobgeseng, vnd Psalm, dem rainen icort Gottes gemess, aiiss der hei/ligen
schrifft, durch manclierley Jwchgelerter gemacht, in der Kirchen zuo singen, icie es dann
zum tayl berayt zuo Wittenberg in uebung ist, Nürnb. 1524: AV ackern. 49 fgg. 12) Den
Schluss der Bemühungen Luthers um Feststellung des neuen Kirchengesanges macht die von
Bapst 1545 zu Leipzig gedruckte Sammlung Geystliche Lieder (nun deren 105): Wackern.
Bibl. 199 fgg. 583. 1.3) Von Walther das Geistl. Gesangbüchlein in 5 Stimmen (zwei
Tenore") 1524, zu welchem Luther die Vorrede geschrieben : Wackern. Bibl. 63 fg. 543. Er
selbst auch Liederdichter: Anm. 29. Vgl. Holstein in Schnorrs Archiv 12, 185 fgg.
14) Zeugniss die gereimte Vorrhede au/f alle gute Gesangbüclier, Fraio Musica LB. 2, 50,
zuerst gedruckt 1538 (Schnorrs Archiv 12, 204), und eine Stelle der Lebensbeschreibung
Luthers von Ratzeberger: Dr. M. Luthers deutsche Geistl. Lieder v. Winterfeld, Leipz. 1840,
131 fg. 15) Ausg. v. Phil. Wackernagel: M. Luthers geistl. Lieder mit den zu seinen Leb-
§ 103 KIRCHENLIED. 83
dem Lateinischen '®, Auffrisclmng und Ändrung schon älterer deutscher
Lieder '', geistliche Verarbeitung weltlichen Volksgesanges '^, selbständige neue
Dichtung, nur gegründet auf das Wort Gottes, zumal auf das heilige Lied
des alten Bundes, die Psalmen.'^ Unmittelbar dem Volk am nächsten blieb
Luther da, wo er von Liedern, geistlichen oder weltlichen, ausgieng, die es
schon besass: bei jenen mag noch der Mann seiner armen Jugendzeit gedacht
haben, da er selbst dergleichen um Almosen vor den Häusern sang^''; die
Umdichtung der letztern sollte nicht die Gesanglust des geraeinen Mannes
stoeren, sollte sie veredeln, sie abziehn von der Unsittlichkeit, sie nutzbar
machen füi- den Dienst des Herrn. ^^
Auf eben die oder jene Art also verfuhren denn auch, die neben Luther
und nach ihm Lieder für die evangelische Kirche gedichtet haben, in staets
zunehmender ZahP^, gerade wie auch die Zahl der Gesangbücher, die bald
hie, bald dort in Deutschland neben das seinige traten, stsets groesser ward 2^;
unter den Dichtern werden auch Fürsten genannt, doch sind die Lieder nur
Zeiten gebrauch!. Singweisen, Stuttg. 1848. Eine Auswahl LB. 2, 40. 16) wie des Te
deum laudamus LB. 2, 45. 17) Erweiterung der altern Verdeutschungen des Vetii sancte
Spiritus u. des Media vita LB. 2, 43. 44; andre Beispiele § 76, 61. Auch das Osterlied
LB. 2, 41 scheint vorlutherischen Ursprungs. 18) Das Weihnachtslied LB. 2, 47, dessen
Melodie auch gleich denen zweier andern Lieder dem weltlichen Gesänge entlehnt scheint
(Winterfeld a. a. 0. 3), beginnt wie das weltliche in ühlands Volksliedern 9; dabei zu vgl.,
was von solchem Weihnaohtscresancre der Kinder im katholischen Frankenlande Franck er-
zsehlt LB. 3, 1, 337. In dem Lied v. d. heil, christl. Kirchen LB. 2, 49 mag die ganze
erste Strophe -weltlichen Ursprunges sein. Das Mittfastenlied Ntm treiben wir den Tod
hinaus (Mserchen d. Br. Grimm 2, 1819, xxxv; vgl. LB. 3, 1, 339) von Mathesius (Küstlin
2, 685) umgedichtet in Ein Lied für die Kinder, damit sie zu Mitterfasten den Pabst
austreiben: Nun treiben wir den Pabst hinaus, von Luther in den Druck gegeben 1541:
Wackern. 111 30. 19) z. B. Ein feste Burg ist unser Gott LB. 2, 46 auf Ps. 46; ver-
muthlich 1527 abgefasst (Köstlin 2, 650). Eine Umarbeitung am Schlüsse von Andreaes
Christenburg. 20) vgl. § 76, 36. LB. 3, 1, 337. Schmellers Bair. Wörterb.^ 3, 272 fg.
21) Luthers Vorrede zu Walthers Gesangbüchlein Anm. 13: damit die Jugend der buol
lieder vnd fleyschlichen Gesenge loss tvürde: Wackern. 543. 22) Die Hauptnamen etwa
Paulus Speratus, eigentlich von Spretten (1484—1554), der schon an Luthers erstem
Gesangbüchlein Anm. 11 Theil gehabt, NicoLAUS Decius (t 1541), Erasmus Alberus
(Anm, 39), Burkard Waldis (Anm. 32), JusTUS Jonas (1493—1555), Nicolaus Her-
MAN (Anm. 34), Wolfgang Musculus, deutsch Meusslin (1497—1563), Johann Mathesius
(Anm. 35), Paul Eber (1511—1569), Nicolaus Selnecker (1532—1592), Johann
Fischart (Anm. 33), Bartholomäus Ringwaldt (Anm. 29. § 99, 57), Philipp Nicolai
(Anm. 27) und JoH. Valentin Andrej (Anm. 41); Hans Sachs § 98, 11. 23) Ver-
84 NEUIIOCIIDEUTSCIIE ZEIT. XVT .TAIIRTI. § 103
in ihrem Namen gcdiclitet.-* Zwar lateinische oder ältere deutsche Lieder
sind nur selten mehr benützt worden ''■'•: von solchen hatte Luther das Beste
schon dahin. Desto ergiebiger floss der Übersetzung eine andere Quelle, der
alte Liederschatz der Bo-jimisciien Brukukr: aus Auftrag einer deutsch reden-
den Gemeinde derselben brachte im J. 1531 deren Pfarrer Michael Weisse,
damit zugleich ein Zeugniss ihres Glaubens gegeben würde, das Boehmische
Cantional in deutsche Reime -*'; manche dieser Gesänge giengen alsbald in
den Besitz auch der Protestanten Deutschlands über. ^^ * Und desto häufiger
baute man auf den Grund des weltlichen Volksgesanges, wandte Formen an,
wie der sie liebte, Piiilipi' Nicolai z. B. die Form der Tagweise, des Wäch-
terlieds-', legte seinen Melodien (wir lernen dieselben oft nur auf solchem
Wege kennen) geistliche Worte unter -^, gab den weltlichen Worten, bald
mehr, bald kaum obenhin abändernd, einen geistlichen Sinn^'-*: in der Art
besonders fleissig erwies sich IIexuicii Ivnaust, der im J. 1571 eine ganze
Sammlung Gassenhaivcr Reuter vtul Bergliedlin Christlich moraliter vnnd sitt-
zeichniss und Beschreibung bei Wackern. Bibliogr. .57 fgg. 24) Die Namen der Mark-
grafen von Brandenburg-Kulnibach Casimir (1481—1.527), Georg (1484—1543), sowie der
Königin Maria von Ungarn werden durch die ersten Silben der ihnen zugeschriebenen Lieder
gebildet; Wackern. 111, 116 fgg. Dem Markgrafen Albrecht (1522-1.557) wird allerdings
ein Lied, aber erst 1571 und gewiss mit Unrecht zugeschrieben. 25) Unter den Beispielen der
ersteren Art auffallend,wieAlberus noch künstliche Sequenzenformen nachgebildet hat: Wackern.
III, 890 fg. Vgl. LB. 2, 165. Das halblateinische Lied In dulcijuhilo % 76, 59. 61 von Fischart
(leun ainfnltigen zu niiz behmh von icort zu wort Teutsch gemacht: dessen Geistl. Lieder
19. Mehrfache Erneuerungen des Passionsliedes von Böschenstein Anm. 1 und evangelische
Umdichtungen des alten Liedes der SJacobspilger (§ 76, 33) Wackern. III, .531 fgg. Vgl.
HSachs § 98, 11. 26) Die Gemeinde zu Landskron u. Fulneck in Boehmen; M. Weisse
aus Neisse in Schlesien; erster und echter Druck zum Jtcngen liuntzel inn Behmen, später-
hin Ulmer Nachdrücke: Wackern. 119. 1;52. 1.53; AVeissens Vorrede u. Schlussreime .549.
2()a) Eine Auswahl dieser Lieder veröffentlichte Katharina Zell 1534; Wackern. Bibl. .533.
Eines LB. 2, 125. 27) LB. 2, 279. 281 : vgl. § 69, 43. 95, 5. Phil. Nicolai geb. im
Waldeckischen 1556, gest. zu Hamburg 1608; sein prosaischer Frewdenspiegel des Ewigen
I^hens, welchem jene zwei Lieder und noch ein drittes angehängt, zuerst gedr. Frankf.
1599; neue Ausg. v. Mühlmann, Halle 1854. 28) Beispiel der geistliche Buchsbaum von
Hans Witzstat v. Wertheim LB. 2, 13. Vgl. ebd. 15. 19. 174. Eben der Art die Christ-
liche Reutedieder von Philipp von Winnenberg Strassburg 1582; angeführt von Fischart
im Gargantua 1590 Cap. 2Q. 29) Das Frühlingslied LB. 2, 17 geistlich umgedichtet von
Joh. AValther (Anm. 13): Ein scluener geistlicher vnd Christlicher muer Berckreyen, Von
dem Jüngsten tage vnd eicigem Leben 1557 (Waokern. III, 187) u. von Knaust ebd. IV, 785.
Dichten doch vnsere Predicanten geistliche Lieder von einer Wilden Sau, das geistlich wacker
braun Meidlin, den geistlichen Felbinger, drc. Fischart LB. 3, 1, 474. Eine Reihe weit-
§ 103 KIRCHENLIED. 85
lieh verendert drucken liess.'*^ Alles das in grcesster Harmlosigkeit: so viel
anstoessiges und den Mutliwillen reizendes darin für ein feineres Gefühl
(Fiscliart Anm. 29) auch lag, es ward meist übersehen ob dem guten Zwecke
mit Hilfe des Alten und Allbekannten das bessere Neue um so leichter in
Umlauf zu bringen und das weltliche Volkslied durch sich selber auszm'otten. ^'
Am zahlreichsten aber waren diejenigen Dichtungen, die, im Übrigen eigen,
sich naeher imd enger oder in freierer Weite bloss an die Bibel und die bib-
lische Glaubens- imd Sittenlehre knüpften, wie die Bearbeitung der Psalmen
von BuRKARD Waldis^-, die Psalmen und Lieder von Johann Fischart ^^,
die Lieder endlich von Nicolaus Herman^* und Johann Mathesius^^, die
nicht bloss den Lebensverhältnissen beider gemsess (der erstere war Cantor,
der zweite Pfarrer der Bergstadt Joachimsthal) gern auf das Bergmannswesen
Bezug nehmen, sondern geflissentlich auch und zunsechst auf die stillere An-
licher Lieder, die so benützt worden, "Wackern. (1841) 837 fgg. Vgl. HSachs § 98, 11.
30) Wackern. Bibliogr. 369: die Vorrede 642. Darin auch, aber ohne das Namenszeichen
Knausts, die Umdichtung LB. 2, 163. GrJeichzeitig giebt von Vespasius niederd. Liedern
Anm. 9 die Hälfte Etlyke der besten olden Leder Geistlich vörandert, doch also, dat se
nicht allenen ehre geivandtlyke Melodien, sünder ock dath meiste deel, ehre Wort heholden
hebben: Wackern. Bibl. 370. 31) da mit, fsehrt der Titel von Knansts Sammlung fort,
die bcese ergerliche weiss, vnnütze vnd schampare Liedlin, auff den Gassen, Felde, Häusern,
vnnd andersswo, zusingen, mit der zeit abgehen möchte, wann mann Christliche, guote nütze
Texte vnd tcort darunder haben köndte. Vgl. Vespasius Vorrede Wackern. Bibl. 644 und
die Äusserungen Andrer über die teuffelisclien buol lieder ebd. 584 fg. 601. 32) § 99,
36. Der Psalter in Newe Gesangsiveise, vnd künstliche Heimen gebracht, Frankf. 1553.
Über noch andre früher und spaeter gedruckte Psalmenverdeutschungen Anm. 43. 52. 55. 56
und Goedekes Burchard Waldis 14 fg.: Fischart Gargantua 1582 Cp. 27 viit etlichen schcenen
lobtvasserischen (Anm. 57), m/irotischen, Mentzerischen (33) waldischeti (32) wisischen (26)
psalmen vnd lidern. Melissus (,56) übergeht er absichtlich : Hüpfner Reformbestr. 28.
33) Theilweise schon 1573 veröffentlicht (Wackern. IV s. VII); vermehrt in dem Strassb.
Gesangbüchlin v. 1576 : neuer Einzelabdruck von Below u. Zacher : Job. Fischart's Geistl.
Lieder u. Psalmen, Berlin 1849. Fischart schliesst sich ebenso an die franzcesischen Psalmen
an wie die Anm. 56 und 57 genannten Uebersetzer: Wackern. Fischart 125. 34) gest.
1561. Die Sontags Euangelia über das gantze Jar in Gesenge verfasset für die Kinder
vnd Christliclien Haussveter, Wittenberg 1560; Die Historien von der Sindfludt, Joseph,
Mose, Helia, Elisa, vnd der Susanna, sampt etlicJien Historien aus den Euangelisten, Auch
etlicJie Psalmen vnd Geistliclie Lieder, zu lesen vnd zu singen in Reyme gefasset, Für
Christi. Hausueter vnd jre Kinder, Wittenberg 1562: Wackern. Bibl. 303. 323. Die zwei
Vorreden der Evangelien (die erste von Paul Eber) ebd. 608 fgg., der Historien (die erste
von Mathesius) 612 fgg. Lieder v. Herman LB. 2, 167. Ein Lehrgedicht Hermans § 99, 56.
35) geh, zu Rochlitz im Meissnischen 1504, gest. 1565. Seins Lieder sind nicht in einer
8G NEUIIOCJIÜEUTSCIIE ZEIT. XVI JAlIJUl. § 103
tiiicht eines chiistlichcu lluuscs und oft für den betenden Kindesmuud be-
rechnet sind.^®
Einem unbefangnen Überblicke der ganzen Masse, aus der nur cin-
zchie Ilauptnamen niceglich gewesen ist lienorzuheljcn, können bei all der
GroDsse und Bedeutsamkeit auch die mannigfachen Mängel nicht cntgehn,
welche an diesem Theil unsrcr älteren Dichtung haften. Zwar Luthers Lieder
athmen noch eine gesunde Kraft und Freudigkeit des Glaubens, verschmelzen
kindliehe Einfalt mit dem lleldcnnmthe des in Christo erwachsenen Mannes,
haben meist die migesuchte Kunst der Volksart, sind nur selten getrübt durch
unlyrische Lehrhaftigkeit. Unter den vielen aber, die neben und hinter ihn
getreten, oft zudringlich, dass er selbst darüber klagen musste^^, wie wenige
kamen ihm nur von ferne gleich, wie wenige, wenn auch an Fruchtbarkeit
ihn mancher übertraf, waren Dichter wie er!^^ Darum nun bei den Andern
anstatt der Lyrik öfter nur Dogmatik, bei Era-smus Alüerus gcschmack- und
würdelos und lieblos ein zankender Eifer nicht bloss gegen die Papisten,
sondern auch gegen abw^eichende Bekenntnissfarben unter den Evangelischen
selbst ^^, mit Ablauf des Zeitalters ein Hang allegorisch zu umschreiben oder
überschwängÜch, wie es schon die Unart der alten Kirche gewesen, mit Bil-
dern zu spielen ^^; und wenn zu eben dieser Zeit, in den Liedern Johann
Valentin Andreres, wiederum auch wahre Poesie hervorbricht, so geschieht
das meistens nur, indem die ganze bisherige Anschauungsweise gegen eine
neue, die allgemein kirchliche gegen die persoenliche, das Wir gegen das Ich
vertauscht und so die eigenthümliche Lyrik der folgenden Geschlechter bereits
jetzt vorangeklungen wird.*' Diese Dichter, sie wollten dichten für das Volk:
aber den Ton des Volkes ti-afen nur die wenigsten, nur etwa Ringwaldt
noch, Nicolaus Herman und Johann Mathesius (Anm. 29. 34. 35); fast alle
raussten die Gelehrsamkeit, die sie auch hier nicht verläugnen konnten,
büssen, mit dem Unvermoegen die geistlichen Umdichtungen weltlicher Lieder
eigenen Sammlung erschienen. Als Prediger u. ßergwerksprediger § 109, 3 fg. 36) Vor-
reden zu d. Evangelien Wackern. Bibl. 611. zu den Historien 616. 37) Vorrede zu dem
Wittenberger Gesangbuch v. 1529: Wackern. Bibl. 547. 38) Zugeständniss Bucers 1545,
dass Luthers Lieder die anderen in Kunst vnd geisüiclier art mercklich fürtreffen: Wackern.
585. Ein rechter Beleg hiefür die dem Inhalte nach verwandten Lieder von Justus Jonas
u. von Luther, jenes 1524, diess 1527 gedichtet: AVackern. III, 42 u. LB. 2, 46. 39) Der-
artige Streitlieder Wackernagel III, 892 fgg. Über Alberus als Fabeldichter § 99, 34 fgg.
40) Beispiel im LB. 2 das Lied Nicolais 281. 41) LB. 2, 344. Auch das hier folgende
Lied ist zwar nicht ganz von dieser, aber sonst bezeichnender Art; vgl. § 99, 61 fgg. 101, 10,
§ 103 laRCHENLIED. 87
eben und ohne Argcrniss zu vollziehen, mit Einmischung des Lateinischen
selbst hier^^, mit allerlei hartem Ungeschick in Handhabung der Sprache und
des Reims und des Verses. Denn nicht einmal tür die Metrik mochten sie
von dem Volk nachgiebig lernen, und darin hat selbst Luther und schon er
gefehlt: wo keine Weise des Volkes festgehalten ward, dann häufig ein
Sti-ophenbau voll meistersingerischer Überkünstelimg, und überall, und selbst
wo man Weisen des Volkes festhielt, dennoch ein Versbau ohne Rhythmus,
einzig nach der Zahl der Sylben.*^ Das namentlich ist einem längern und
ungetrübten Bestände dieser Lieder hinderlich gewesen : von Opitz an musste
jedem zu feinerer Empfindlichkeit gebildeten Ohre solch ein Dichterdeutsch
unleidlich klingen, und man war genoethigt, was man nicht lieber ganz fallen
Hess, so umzuarbeiten, dass aus dem ungefsehren Anklang Reime und aus
den Zeilen wirklich Verse würden.** Die Berechtigung hiezu war keine ge-
ringere, als schon die Dichter der Reformationszeit selbst gegenüber älteren
Liedern besessen und ausgeübt.
Was von dem evangelischen Kirchenlied des sechzehnten Jahrhunderts
und der ersten Jahrzehende des siebzehnten bisher ist gesagt worden, gilt
alles lediglich der lutherischen Kirche. Nicht so der reformierten. In
dieser hat die Fülle eigenen Gesanges, mit der allerdings auch sie begann,
nur zu bald wiederum gestockt. Ihr fehlte schon ein Beispiel des Stifters,
wie Luther den Seinen es gegeben: den mühsam künstlich gereimten Liedern
Ulrich Zwinglis *"^ wohnte nichts befruchtendes inne. Einige wohl von seinem
Bekenntnisse, theils auch Schweizer, theils anders woher aus dem Süden des
Reiches, wetteiferten glücklich mit den Lutheranern, vor allen einer, den
Kraft und Frische und in Gehalt und Form eine regsame Vielseitigkeit aus-
zeichnen, Ambrosius Blarer, ein Constanzer, zuletzt und bis zu seinem Tode
1564 Praedicant in der Schweiz, im Thm-gau, in Winterthur.*" Aber die
Reihe derer, denen er voranstand, war weder gross an Zahl noch lang von
Dauer*'; Hindernisse von aussen wie von innen hemmten das Wirken und
42) Nicolai LB. 2, 279. 281. Der Schluss des ersten Liedes wiederholt den Anfang eines
schon mittelalterlichen, aber auch jetzt noch viel gesungenen, welches durchweg beide
Sprachen mischt: vgl. Anm. 25. 43) Ein durch musicalische Bildung erweckter Zug nach
rhythmischem Versbau in dem Psalter des Schweidnitzer Cantors Joachim Sartorius 1591:
8. Heinr. HofiFmanns Spenden z. deutschen Litteraturgesch, 2, 219 fgg. 44) Den ersten
Vorgang solcher Besserungen wagten Justus Gesenius u. David Dennike in dem Hannoeve-
rischen Liederbuch von 1647: § 117, 13. 45) LB. 2, 51. 46) Blaurer ist die der
schwäbischen Aussprache gemsesse Namensform; Lieder von ihm LB. 2, 127; alte Nachrichten
über sein Leben und Sterben Wackern. Bibl. 619 fgg. 47) Unter ihnen WoLFGANfx
88 NEUIIOCIIDEUTSCIIE ZEIT. XVI JAHIIII. § 1ü:5
kürzten dessen Verlauf. Dort der Widerwille des andern Bekenntnisses*''
und, du die Schweizer und mit ihnen meist auch Blarer bei der Mundart
blieben, sprachliche EnttVcmdung; hier ausser der Unkunst im Dichten, die
sie mit den Lutherischen thcilten, ein noch viel grccsserer Hang zur Über-
kuust: mochten doch, wichrcnd in der gleichen Richtung Jene nur selten und
sich beschränkend giengcn,*' zu Basel Jouanneh Kor.Ross, Sixt Birck u. a.,
ireilicli unvollkommen genug, geistlichen Gesang auf schwierige Maassc der
antiken Lyrik dichten. •''" Womit aber die reformierte Kirche sich selbst zu
allermeist in den Weg trat: nachdem Anfangs und Jahrzehende lang auch sie
in aller nur vergönnten Mannigfaltigkeit und so in Freiheit sich bewegt hatte,
dass sie neidlos aucli Dichtungen Lutlicrs und der Seinen in lebendigen Volks-
gebrauclr'' und in die Liederbücher aufnahm,''^ zog sie allgemach immer
mehr sich auf den Psalmensan« zurück,'* räumte anderem immer weniger
Geltung ein, ja Hess zuletzt den andern gänzlich verklingen.^* Denn recht
im Gegensatze zu joner Umdichtung weltlicher Lieder und Liederweisen, die
den Lutheranern geläufig und bei den Reformierten z. B. auch von Blarer war
geübt worden,'^^ wollten diese nur noch solchen Gesang, der einzig auf die I
Schrift gegründet, das reine Wort Gottes, von menschlichem Zuthun ma'g-
lichst wenig berührt wa^re. Bestimmend und entscheidend wirkte zu dieser
Capito d. b. Köpfel (1478—1541) § 94, 5. Johannes Zwick Anni. 52 und Ambrosius
Brnder Thomas Blarer. 48) Luther selbst wird mit dem Titelspruche der Wittenberger
Liedersammlung v. 1543 Viel falsclwr Meister itzt Lieder tickten usw. (Wackern. Bibl. 187)
zunaechst kaum andre als die Reformierten meinen. 49) Nachbildung der sapphischen
Ode von Zacharias Richter, einem Schlesier um 1600 (HofFmanns Spenden 2, 213), LB.
2, 269; vgl. § 94, 31 fg. Ältre Versuche der Art schon in der älteren Kirche von Mar-
TiNUS Mylius zu Ulm: LB. 1, 1511 fgg. 50) Sapphische und asclepiadische Oden LB.
2, 133 fgg.; vgl. § 94, 31 fg. 105, 105. Sapphische Strophen noch von anderen: Hüpfner
Reformbestrebungen S. 9 fg. Vgl. 105, 30. Theoretisch handelt hierüber Clajus in
seiner Gramm. (§ 93, 15, vgl. 94, 30) de ratione canninum nova. 51) A\'eisen
und Worte derselben oft genug in den Schauspielen der Schweiz § 105, 99 fgg. 52) Bei-
spiel das Zürcher Gresangbuch von Johannes Zwick in Constanz (Gsangbuechle von vil scJuetien
Psalmen vnd geistlichen liedern) seit 1536 (oder 1537): Wackern. Bibl. 140. 555. 53) wie
eben derselbe z. B. in Basel der erste Beginn alles deutschen Gesangs in der Kirche gewesen
war: Anm. 6. Auf reformierter Seite schon 1538 Der gantz Psalter Davids — in Gsang-
tceyss — Durch Jacoben Dachser zu Augsburg: Wackern. 148 fg. 54) Vgl. die histor.
Entwicklung d. Psalmengesangs in unserer reformirten Kirche v. Sarasin in den Beitr. z.
Vaterland. Gesch., hsggb. v. d. histor. Geseilsch. zu Basel 4, 1850, 299 fgg. und das Neu-
jahrstück d. Musik-Gesellschaft in Zürich 1855 (Der zürcherische Kirchengesang seit der
Reformation), 11 fgg. 55) LB. 2, 131.
§ 104 KIRCHENLIED. WELTLICHE LYRIK DER GELEHRTEN. 89
"Wendung das Beispiel der Reformierten Frankreichs und namentlich der
Schatz an schoenen Weisen mit, die Goudimel den Psalmen Marots und Bezas
gegeben hatte. Darum wurden auch von zwei Dichtern Psalmenverdeut-
schungen gefertigt, die eine im J. 1572, die andre zuerst 1573 gedruckt, die
sich um auf die franzoesischon Weisen zu gehn genau an die Vers- und
Strophcnformen der Franzosen und so überhaupt an den Wortlaut von deren
Übersetzung, nicht an die Urschrift noch an Luther hielten, mit all dem Un-
geschick, das dem Zwange vorgeschricbner und so ungewohnter Maasse wie
hier des vers commun noch folgen musste, die Verdeutschungen von Paulus
Melissus^*' und von Ambrosius Lobwasser. ^^ Letzterer gehoerte selbst zu
der Lutherischen Kirche : sein Werk aber, wie er dieser dadurch verdächtig
geworden, hat sich die reformierte dankbar angeeignet und lange und noch
bis auf neuere Zeit in Deutschland und der Schweiz alle Gesangerbauung nur
aus ihm geschöpft. Es wird, wenn man die Psalmen Lobwassers mit denen
vergleicht, die vor ihm Luther und Burkard Waldis, nach ihm Fischart und
Sartorius u. a. gedichtet haben (Anm. 19. 32. 33. 43), wohl begreiflich, wie
unter den Reformierten an ihrem überwiegenden oder gar ausschliesslichen
Gebrauch aller Trieb und Beruf zu fernerer eigener Kirchendichtung auf lange
hinaus hat erlahmen müssen.
§ 104.
Das Bedürfniss der Zeit und der Zug der Litteratur nahmen noch bis
weit nach der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts alle lyi-ische Dichtkraft der
Gelehrten, soweit dieselben des Deutschen imd nicht lieber allein des Latei-
nischen Freund und Meister waren (§ 94, 11), für das Kirchenlied in An-
spruch: die weltliche Lyrik, so wenig dem Volk auch fremd und so reich bei
diesem (§ 95), Pflege von gelehrter Hand sollte sie erst mit dem letzten
Viertel des Jahrhunderts finden, und langsam unter solcher Pflege hervorge-
trieben, ihre Blüte erst um Jahrzehende speeter aufgehn (§§ 117. 121). Es
stand aber diese weltliche Lyrik der Gelehrten zu der des Volkes nicht
56) Di Psalmen Davids In Teutische gesangreymen, nach Französischer melodeien uont
sylben art, mit sonderlichem fleise gebracht von Melisso, Heidelb. 1572. Nur die ersten
50 Psalmen; der 37ste (Terzinen) LB. 2, 201. Weltl. Lieder v. Melissas § 104, 14.
Seine Orthographie § 93, 22. 57) geb. zu Schneeherg 1515. gest. zu Koenigsberg 1585;
Dr. d. Kechte. Der Psalter dess Kcenigl. Propheten Davids, In deutsche reijmen versten-
diglieh vnd deutlich gebracht, gedr. Leipzig 1573, die gereimte AVidmung an Markgr. Ai-
brecht aber schon von 1565. L. auch im J. 1583 Übersetzer der lat. Tragoedie Buchanans
von der Enthauptung Johannis: Gottscheds NfBthigerVorrath y.. Gesch. d. deutschen Dram.
Dichtkunst 1757, 120,
00 NEUIIOCIIDEUTSCIIE ZEIT. XVI JAIIKlf. § 104
in demselben Verliilltniss der Herablassung und Anbequemung wie die geist-
liche; 08 geschah auch nicht wie hier gegen Absicht, wenn sie des rechten
Weges zum Volk dennoch verfehlte: bewusst und nur um der eigenen Uebung
willen trieb sie ein Spiel mit Fremdartigkeiten, die den Gelehrten selbst noch
etwas neues und so dem Volke dopi)elt unnütz waren. Nehmen wir Theo-
BALU ITcKCK, einen Pfälzer, mit den etwas hart geschmiedeten Liedern seines
Scho'iioi JBlumenfddcs von IGOl ' und das Lied von den Hansestädten aus,
das auf einfache Sangweise, den Ernst in sittigen Scherz und die Lehre in
die schlagenden "Worte der Spritehweisheit kleidend, im J. 1606 der Hansische
Syndicus Johannes Doman gedichtet hat," so bleiben uns als Beispiele volks-
majssiger Lyrik der Gelehrten nur etwa noch die Sti-dentenlieuer, Lieder,
wie diese dem Volke nur noch halb entwachsene, ja gelegentlich zu dessen
tiefsten Schichten hinabsinkende Jugend sie bei Gelagen '' oder beim fahren-
den Bettel * und liier wie dort gern mit heiterer Einmischung des gelehrt oder
kirchlich klingenden Lateines sang ^, und die Martinslieder, die in eben-
solcher Mischung der Sprachen und trunkener Lust und scheinbarer Feierlich-
keit eine Messe parodierten um die Festgans und den Festwein zu verherr-
lichen.^ Sonst aber lenkten die Gelehrten ihre Lyrik nach dem welschen,
dem italienischen und melu- noch dem kranz(esischen Vorbild, nach einer
Seite hin, auf die zwar auch das Gesellschaftslied sich neigte (§ 95, 25 fgg.),
in solcher Art jedoch, dass letzteres weit überholt ward und nicht folgen
konnte. Das Gesellschaftslied war eben als Lied, war durch neue Künste
der musicalischen Formgebung, die ihm hier sich boten, in die welsche
Richtung gebracht worden; auch den Gelehrten kamen, durch Übersetzung
§ 104. 1) Auf dein Titel mit Buchstabenumstellung Othehlaä Oeckh; geb. 1573. Über
ihn und seine Gedichte Heinr. Hoffmann in Prutz Litt. bist. Taschenbuch 1845, 401 fgg.
Höpfner Reformbestrebungen 32 fgg. zeigt das Moderne in Hoecks Stropheuformen. 2) Mor-
hofens Unterricht von der deutschen Sprache u. Poesie 1682. Im J. 1606: Lappenberg in d.
Zeitschr. d. Ver. f. hamburg. Geschichte 2, 454. Im Tlwn des Rolands: vgl. § 106, 47. Über
Joh. Doman aus Osualjrück. Syndicus von Stralsund und der Hanse, gest. 1618, s. ausser
Lappenb. a. a. 0. Bartholds Gesch. v. Rügen u. Pommern. 4, 2, 448 fgg. 3) LB. 2, 175.
187. 192 fgg. 4) LB. 2, 322. 5) Vgl. § 75, 12. 13. Auch die lat. deutschen Lieder
gegen die Evangelischen in Haupts Zeitschr. f. Deutsches Alterth. 8, 337 fg. mcegen Studenten-
dichtung sein. 6) LB. 2, 321; andre bei H. Hoffmann In dulci jubilo, Hannover 1854,
103 fg. und neben ganz deutschen in der Sammlung Simrocks: Martinslieder durch Anserinum
Gänserich, Bonn o. J.: vgl. § 75, 12. Von der Martinsfeier LB. 3, 1, 342. Sonstige Dichtung
u. Prosa von der Gans § 100, 36. Die Predigten über die Martinsgans durch Melchiorem
de Fabris 1597 sind ernsthaft; wohl auch die von Michael Saxen 1597, Bücherschatz der
§ 104 WELTLICHE LYRIK DER GELEHRTEN. 91
und durch Nachahmung, Formen wie des geistlichen so des weltlichen Gesanges
von da her zu: für den geistlichen ist zu erinnern an Lobwasser und Melissus
(§ 103, 56 fg.), für den weltlichen Johannes FisciiART zu nennen', vielleicht
auch, die jüngere Zeitgenossen und ungefsBhr Landsleute Fischarts gewesen,
Peter Denaisius ® und Isaac Habrecht.^ Wohl zu beachten, mit Ausnahme
Lobwassers lauter Dichter in Elsass und der Pfalz, Nachbaren Frankreichs,
Reformierte, und so auf das franzoesische Muster fast alle zwiefach hingewiesen.
Aber nicht mit dem Volke gemein und recht die Gelehrsamkeit bezeichnend
waren Entlehnungen, die nun auch die Lyrik zu einer Sache bloss des
Schreibens und Drückens und Lesens machten, die Einführung des unsang-
baren Sonettes namentlich durch Paulus Melissus ^° und wiederum durch
Deutschen National-Litt. 26. Parodien von Predigt und Messe § 109, 7 fgg. 7) §§ 100.
112. Tanzlied von der Ehe in dem Ton des AUemant d'Amour Tanz, das Fischart in seinem
Ehezuchtbüchlein 1578 und daraus Kurz 2, 281 fgg. mittheilt. Vgl. § 95, 29. 8) geb.
zu Strassb. 1560, gest. zu Heidelb. 1610. Vgl. Wackern. Fischart 124 fgg. Erhalten von
ihm nur ein Hochzeitlied in deutsch einfacher Strophenform: M. Opicii Teutsche Poemata,
Strassb. 1624, 166 fgg. Neudruck Halle 1879; und ein Streitgedicht in Reimpaaren, drey
Jesuwiten Latein, v. 1607: die Deutschen Sprich wörtersamml. v. Zacher 45 fgg. Die Art
jedoch, wie seine Gedichte von Melch. Adam (Vitse Germanorum ICtorum, Heidelb. 1620,
445) gelobt werden, leesst auf Nachahmung der Welschen als die sonst vorwaltende Eigen-
schaft schliessen: Fuit peritus linguarum Gallicce, Italicce, Anglich, x^rceter Latinam — In
vernacula elegantissimce vence poeta, docuitqice ipse sico exemplo linguam Germanicam nullavi
omnino ciiltus elegantiam respuere, modo excolatur. — Sed nos hunc unum, si nullus aliics
esset, Omnibus Italis Gallisque opponere non duhitamus: tanta facilitate, tanta felicitate,
tanta sermonis jmritate ac leporihus usus est in vernaculis carminibus concinnandis.
9) Arzt zu Strassburg u. daselbst gest. 1633: auch von ihm nur Ein Gedicht, ein Epigramm,
hinter dem Opitz v. 1624, S. 162. Moscherosch im 6ten Gesichte Sittewalds Th. 1 (Soldaten-
Leben) der redlicher vnd vmb miser Teutsche Sprach hochverdiente Budolff Weckerlein
(welcJier, icie auch Herr D. Isaac Habrecht vnd andere so ich anderer Orten nennen werde,
lange Zeit vor dem, sonst alzeit lohwürdigen Herren Opitzen, die teutsclie Sprach mit zier-
licher eygenfindiger Eeymen-Kunst Jierrlich gemacht haben). 10) Eigentlich Schede,
Melissus nach dem Namen seiner Mutter Ottilie Melisse; geboren zu Meirichstadt in Franken
1539, von Kaiser Ferdinand zum Dichter geki'oent (denn er dichtete auch lateinisch) und
geadelt, auf Reisen in Italien, Frankreich n. England, gest. zu Heidelb. 1602. 0. Taubert,
Paul Schede, Torgau 1864. Die Überreste seiner weltlichen Dichtung geben Opicii Poe-
mata, Strassb. 1624, in demselben Anhang, der auch Denaisius, Habrecht u. Zincgref enthält.
Daraus Eiusdem Sonnet LB. 2, 200. Vereinzelt im Zeitgange steht das Sonett Zuo dem
Bastardischen Cliristenthumb, das Christoph Wirsung von Augsburg (§ 105, 151) seiner
Übersetzung der Apologi Bernhardini Ochini 1556 vorangestellt hat: LB. 2, 197. Vgl.
Schnorrs Arch. 9, 4 fgg. Welti, Gesch. d. Sonettes in d. deutsch. Dichtung, Lpz. 1884, verzeichnet
»och Sonette a. d. Juliana (§ 107, 9), ferner i. d. Lobspruoh auf Zürich v. Huldrich Frcelich 1586
92 NEUIIOCIIDEUTSCIIE ZEIT. XVI JAIIRII. § 104
Fischart ", und verbunden hicmit, da man im Sonette zuntechet den Franzosen
nachgiong und diese den Jlondcoasyllabus desselben gegen den Alexandriner
zu vertauschen pflegten '"^j die Einführung auch des unsti'ophischen Alexan-
driners, die als llauptname und erst gegen Ende des Zeitabschnittes gleichfalls
ein Plalzer, Julius Wilhelm Zinccjkef, vertritt.*^ Von solcher gesanglosen
Lyrik möchte auch auf manches, was diese Gelehrten sonst eher in deutscher
als in welscher Art geschrieben haben, das richtige Licht fallen: es wird
wahrscheinlich, dass Melissus und Zincgrefs strophische Lieder ebenso wenig
alle noch für den Gesang seien berechnet gewesen.'* Wie aber mit den
Alexandrinern ein Ton zuerst angeschlagen war, der Jahrhunderte lang noch
weiter klingen und Alles überklingen sollte (§ 121), so zeigen sich auch,
nicht schon bei Melissus, aber nach ihm bei Erxst Schwabe von der Heyde '^
und noch entschiedner bei Zincgref, entschiedner auch und vollkommener bei
diesem, als wir es schon bei Waldis und Sartorius wahrgenommen haben
(§ 99, 43. 103, 43) und weiter bei Rebhun gewahren werden (§ 105, 113),
die Anfänge des accentuicrenden, nicht mehr allein die Sylben zsehlendcu
Versbaus, dessen Feststellung für immer dem dritten Jahrzehend des sieben-
u. iu H. RuD. ILi:BMANNS Gespraech zwischen Niesen u. Stockhorn, Bern 1605, sowie inj. V. An-
•Ireaes Geist). Kurzweil (§ 101, 10). 11) Off'enlkhs Ausschreiben der vbeJhefriedigten Stand in
Frankreich, Ans d. Franz. öw Teutsch gepracht durch Emericum Ijchtisium, o. 0. u. J.:
EtlicJi Sonet. Hiddrich Wisart (§ KX), ö). Kurz 3, 78 fgg. Im Gargantua Cp. 16 auch
Rundreimen d. h. ein Rondeau : vgl. § i»5, 29. 12) Die Sonette von Melissus, Zincgref
u. Schwabe Anm. lö in Alexandrinern, die von Ochinus u. Fischart in achtsylbigen Versen,
den älter gewohnten für unsangbare Dichtung. 13) geb. zu Heidelb. Iö91; Reisen in
Frankreich, England und den Niederlanden; gest. zu S. Goar 1635. Sein Verhältniss zu
Opitz § 121; seine Reimsprüche u. Apophthegmata § 101, 5 u. 111, 12; seine Schulpossen
§ 115, 8. Die Vermanung zur Dapff'erJceit in Alexandr. LB. 2, 365 gedichtet 1622 waehrend
der Belagerung Heidelbergs u. zuerst gedruckt 1624: Anm. 10; einzeln unter dem Titel
Soididen Lob 1625 u. Frankf. 1632. Ein älterer und roherer Versuch die mehr als 2000
Verse befassende Dichtung eines Ungenannten, Historische Eeimenn Vonn dem Ungereimten
Reichstage A. 1613 : Bücherschatz der Deutschen Nat. Litt., Berlin 1854, 160. 14) Von
Melissus wohl das zweite im LB. 2, 199, schwerlich aber das erste, und sicherlich keines
der Gedichte Fischarts in der ihm eigenthümlichen vierzeiligen Strophe mit überschlagenden
Reimen wie das Reveille Matin von 1575 (Huldrich Wisart) u. a. : Vilmar zur Lit. Joh.
Fischarts, Marburg 1846, 4. 8. 15) Verfasser einer 1616 gedruckten Gedichtsammlung,
die aber schon 1624 nicht mehr aufzutreiben war: H. Hoffmanns Spenden zur deatschen
Litteraturgesch. 2, 66 fg.: Einzelnes daraus (Sonett, Alexandriner, vers communs) in Opitzens
Aristarch angeführt: LB. 2, 363. Aus eben desselben Worten Quod et Schwabius docet et
observat (Arist. Cp. 7) und tcie auch Ernst Schwabe in seinem Büchlein erinnert (LB. 3,
1, 63t») geht hervor, dass den Gedichten Erörterungen über die Verskunst beigefügt, gewesen.
§ 105 DRAMA. ANTIKE. 93
zehnten Jahrhunderts vorbehalten war (§ 121). Der welsche Versbau konnte
darauf nicht führen, wohl aber der Sinn für groessero Kunstmajssigkeit der
Form, der überhaupt in der Betrachtung und Nachbildung der ausländischen
Muster geweckt und geschärft ward und so diesen Einen Vorzug der heimath-
lichen Volksdichtweise nicht länger verkennen Hess.
§ 105.
Von den zwei Formen, welche das deutsche Drama des Mittelalters in
und aus sich selbst entwickelt hatte, dem geistlichen und dem Fastnachts-
spiele (§§ 85. 86), sank mit der Reformation zumal das erstere aus der Litte-
ratur dahin um nur tief unten im katholischen Volk ein dunkles unwirksames
Leben fort zu fristen (§ 113, 12 fgg.): die Protestanten, auch hier nun die
Herrn, mussten es begreiflicher Weise fallen lassen, und nur zu seltenster
Ausnahme ward auch bei ihnen dergleichen noch gedichtet '. Man knüpfte
vielmehr fortführend an den Umschwung an, den aus einer fremden Vorzeit,
von der Antike her erregt, die letzten Jahrzehende des Mittelalters gebracht
oder doch bereitet hatten (§ 86, 15 fgg.). So schon in seinem Hans Sachs
das aufwärts strebende Volk (§ 98) : wie viel mehr so, und nicht ohne jenen
Dichter des Volkes auch zu kennen und zu nützen ^, die Gelehrten. ^ Nicht
bloss aber Bürger von Gelehrsamkeit und Gelehrte von mehr weltlicher Art, wie
§ lOo. Hilfsmittel für diesen Theil der Litteraturgescliichte, wennschon nur ein Bücher-
verzeichniss und weder vollständig noch überall zuverlaessig, ist Gottscheds Noethiger Vor-
rath zur Geschichte d. deutschen Dramatischen Dichtkunst, Leipz. 1757. 176.Ö: dazu Freies-
lebens Kleine Nachlese, Leipz. 1760. Vielfache Ergänzung und Berichtigung gewaehrt der
Bücherschatz d. Deutschen National-Litt., Berlin 1854, 139 — 148. Ferner Goedeke Grundriss,
Weller Annalen 2, 246 fg. Vgl. auch die Artikel in der Allg. D. Biogr. von Scherer u. a.
1) Ein kurtzes Osterspil zuo Bern durch Jung gsellen ghandlet, vff dem Bontag Quasimodo
nach Ostern, Im 1552. Jar, Bern 1552 ; von Hans von Rlte Anm. 44 a. 89. Aber doch
nur der Name und die Form (kurz und ohne Acte), nicht ein Inhalt nach Art der alten
Osterspiele: denn letzteren giebt die Offenb. .Joh. Cp. 4 u. 5. Auch auf kathol. Seite erklaert
Macropedius im Prolog des Lazarus 1541: er würde nicht wagen Christi Leben und Leiden
auf die Bühne zu bringen, lllos tarnen non arguit qui ea scriptitant, si quo legantur, non
agantur scriptitant. 2) HSachs (§ 98 Anf.) berichtet selbst, man habe sich seine Dramen
auch in andern nahen und fernen Städten zu verschaffen gesucht: Der verlorne Sohn 1582
zu S. Gallen, Tobias und das Opfer Isaacs noch 1602 zu Basel gespielt: Anra. 146; Darius
u. seine jüd. Kümmerlinge von den Meistersingern zu Strassburg, Venus u. Pallas für eine
Schulaufführung umgearbeitet: Anm. 144 u. 136. Vgl. § 97, 36. 3) Merkenswerthe Worte
Boltzens in seiner Vorrede zum Terenz (Anm. 16), wie unrecht, wie unchristlich es sei, die
Kunst der Heiden zu verachten und ungenutzt zu lassen: Gottsch. 1, 81. Ludw. Aug.
Burckhardts Gesch. der dram. Kunst zu Basel in den Beitraegen der histor. Gesellsch. zur
94 NEmiOCIIDEÜTSCIIE ZEIT. XVI JAIIRII. § 105
in Zürich der Glasmaler Josias Murcr und dor Wundarzt Jacob Ruoff * erwiesen
sich in solcher Uebung thaitig, sondern, in Zahl und Fruchtbarkeit selbst noch
überwiegend, auch Scmulmännkr, auch Okistijche, wie zu Basel und Augs-
burg SixT BiRCK * » , zu Tübingen und Basel Valentin Boltz ^ zu Dessau
Joachim Oroff*"', zu Nürnberg Georg Mauricius der ältere": sie fühlten neben
eigenem Drang und der Lust der Übrigen noch durch einige Worte, die zu
Gunsten des Dramas Luther gesagt ^, sich wieder beruhigt, wenn Andern und
ihnen selbst Bedenken kamen, ja mochten sich dadurch sogar aufgefordert
fühlen. ^ Und tha^tig und fruchtbar gieng die Uebung durch das ganze prote-
stantische Deutschland, noch unterstützt durch die sonst auch waltende Neigung
zur Gesprächsform '**; wenn aber anderen Theilen des Reiches einer voran-
stand, dann auf Grund eines Lebens voll freierer Öffentlichkeit die Schweiz '" *
(vgl. Anm. 117 fgg.) Dem auch entsprechend waren es zumal hier Männer
aus dem Volk und Ungelehrte, die Dramen dichteten, in dem übrigen Deutsch-
land eher nur Gelehrte.
Der Ubersetzun«kn, wie durch solche bereits im fünfzehnten Jahrhundert
die Einwirkung des antiken Dramas war vermittelt worden, wuchs im sech-
zehnten und durch den Fleiss Wolfhart Spangenbergs (§ 100, 36) zu Beginn
Gesch. Basels 1839, 193. 4) JMurer geb. 1530, gest. 1.581: über ihn als Maler Füsslis
Kiinstlerlexicon. Rueff aus dem Rheinthal, gest. in Zürich 1558; über sein Leben und seine
Werke (10 Dramen) Kottinger vor der Ausgabe des Etter Heini (Anm. 77) xxiv fgg.
4a) S. B. latinisiert Xystus Betulehiü oder Betulms, geb. 1500 zu Augsburg, war 1530 — 36
Rector zu Basel, dann bis zu seinem Tode 1554 in Augsburg. 5) von Rufach; 1539
(Vorrede zum Terenz Anm. 16) Diaconus zu Tübingen, vom folgenden Jahrzehend Prediger
am Spital zu Basel. 6) aus Zwickau, um 1545 Schulmeister zu Dessau. Vgl. Scherer,
Deutsche Studien III, Wien 1878, S. 11 fgg. 7) geb. zu Nürnberg 1539 und ebenda ge-
storben als Rector 1610. 8) in den Vorreden auff das Buch Judith u. miffs Buch Tobte.
Dort Vnd mag sein, das sie solch Geticht gespielet liaben, icie man hey rns die Passio
spielet, vnd ander Heilige geschieht. Da mit sie jr Volck vnd die Jiigent lereten, als in
einem gemeinen Bilde oder Spiel, Gott vertrawen, from sein, vnd alle hülffe vnd trost von
Gott hoffen u. s. w.: hier Jsts aber ein Geticht, so ists icarlich auch ein recht, schcen,
heilsam, nützlich Geticht vnd Spiel, eines geistreichen Poeten. Vnd ist zuuermuthen, das
solcher scha-ner Geticht vnd Spiel, bey den Juden viel gewest sind, darin sie sich auff jre
Feste t'nd Sabbath geübt, vnd der Jugent also mit Inst, Gottes wort V7id werck eingebildet
haben. 9) Abdruck jener Stellen Luthers in Rebhuns Zuschrift der Susanna Anm. 108:
zu vgl. was 1590 Cvriacus Spangenberg in der Zuschrift seiner aus Luc. 11, 14 geschöpften
Comopdie sagt: Gottsch. 1, 124. Luthers Weihnachtslied LB. 2, 47 von Martin Hammer
1608 in eine fünfactige Comoedie gebracht. 10) § 99, 11. Prosagespraeche in wirkliche
Dramen umgewandelt: § 106, 14. 110, 12; bei HSachs Comedia oder Kampfgesprcech § 98,
24. 10a) E. Weller, Das alte Volkstheater der Schweiz. Frauenfeld 1863.
§ 105 DRAMA. FORM. 95
des siebzehnten eine stsets groessere i\jizahl nach und machte jenen Boden
immerfort breiter und fester und treibender, Übersetzungen Anfangs noch des
Plautus " und Terenz ^-, speetcr auch aus Euripides '^, aus Hophocles *■*, aus
Aristophanes *^; wenn man den Terenz des Valentin Boltz, des Johannes
A(;ricola, des Wolfgang Rateciiius und Anderer ausnimmt, die eben wie
Albrecht von Eibe und Hans Nythart um genauer zu sein und den armen
Schülerlein zu Gute die Prosa vorgezogen ^*^, sämmtlich in Reimversen und
somit nah genug dem, was in der Heimath selbst altüblich war. Aber der
eigenen Uebung war alles das mehr nur Reiz als Vorbild : denn die Nachbildung
missglückte. "Wohl lernte man auch liier die Unterscheidungsnamen Tragcedie
und CoMCEDiE brauchen, die Namen, wsehrend man doch über den Unterschied
des Wesens beider so im Unklaren blieb, dass man auch vieles Comoedie
nannte, was Tragoedie, und Tragoedie, was Comoedie war (vgl. Anm. 90), dass
in dem Misch wort Tragicocomcedia ^'' ein willkommener Ausweg benutzt, dass
oft auch die alte Benennung Sinei um ihrer Zwiedeutigkeit willen noch fest-
gehalten ward. ^* Und man befliss sich den Tragoedien, den Comcedien, den
11) Aulularia durch Joach. Greff v. Zwickau, Magdeb. 1535; Mensechmi durch Jonas Bitner,
Strassburg 1570 (verwerfendes TJrthei] über HSachsens schon in der Namengebung gar zu
deutsche Verdeutschung § 98, 27 : Gottsch. 2, 226) ; Captivi durch Mart. Havneccium 1582 ;
Amphitruo durch Wolfh. Spangenberg, Strassb. 1608. 12) Andria u. Eunuchus von
Heinr. Ham, Magdeb. 1535; Eunuchus von JosuA Loxer 1586; der ganze Terenz durch
JOH. Episcopium V. Würzburg, Frankf. 1568: Bücherschatz der Deutschen National-Litt.,
Berlin 1854, 139; u. Mich. lyiELSTER v. Zittau, Magdeb. 1623. Vgl. 0. Francke, Terenz
und die lat. Schulcomcedie in Deutschland. Weimar 1877. 13) Iphigenia in Aulis durch
Mich. Babst 1584; Hecuba durch Wolfh. Spangenberg, Strassb. 1605. 14) Aiax Lorarius
durch Wolfh. Spangenberg, Strassb. 1608 : mit etlichen artigen Zusätzen, Erweiterungen um
die Aufführung prächtiger und bunter zu gestalten, wie sie insbesondere für das Strassburger
Schultheater (Anm. 133a) nachweisbar sind. 15) Nubes durch Isaac Froereisen von
Strassburg, Strassb. 1613. 16) § 86, 16. 17. Boltzens Terenz zuerst gedruckt Tübingen
1539/40: Bücherschatz 139; ein Auszug aus der Zuschrift und ein Probestück bei Gottsched
1, 81 fg. Von Johannes Agricola (§ 111, 6) 1544 und von Stephanus Kiccius 1603 die
Andria: Gottsched 2, 206. 241 fg. Und wieder der ganze Terenz von Wolfg. Ratichius
(§ 114, 8): Publii Terentii Sechs Frewäen-Spiel, Koethen 1620; und Johannes Ehenius 1627.
17) z. B. Calixtus und Meliboea Anm. 151 heisst in der Ausg. v. 1534 ain traurige Comedi,
80 von den Latinisclien Tragicocomcedia geplant tnrt: Büchersch. 139; in der Vorrede zu
Holtzwarts Saul Anm. 43 gegenwürtige Comitragediam oder Tragicomediam, wie man tcill;
Anm. 40. 65. 136 u. § 106, 3. 18) Schauspiel (§ 83, 4) finde ich auf dem Titel eines
Dramas nur einmal (Tragedi oder schaicspiel, der Kau ff man — durch Thomam Kirchmeier :
Büchersehatz 141), sonst aber öfters gebraucht, von Luther Cor. 1, 4, 9. Hebr. 10, 33, von
96 NEUIIOCIIDEÜTSCHE ZEIT. XYT JAlIKir. § 105
Spielen einen reicher bewegten Wechsel der Personen und der Pireignisse zu
geben, als die Dramen des Mittelalters in ihrer Gradlinigkcit besessen hatten:
wirklich Composition jedoch ward so wenig dabei erreicht, dass auch die
Einthoilung in Acte, die nun allgemein beliebte (meist waren wie bei den
Alten deren fünf), und wiederum die der Acte in Scenkn '^ nur auf Zufall
oder Willkür beruhte und es bald noethig, bald doch nicht überflüssig schien, J
ein Argument, wie es bei Plautus nur die Bücher hatten, dem Spiel auf der
Bühne selber als Prolog, ja gelegentlich jedem einzelnen Acte sein Argument
•vorauszuschicken. Diess Streben nach grcesserer Fülle und Kunst in antiker m
Art war denn auch Ursache, dass vor der Comoedic das Fastxaciitssfikl je ■
mehr und mehr weichen musstc -", weil es zu roh einfach war; nicht minder
verurtheilte es um seines Leichtsinnes -^ und schon um seiner Verbindung
willen mit den übrigen Fastnachtslustbarkciten ^- der Ernst der Zeit, der noch
ernstere Sinn der Dichter und ihr Mangel an Ertindungsgabe. Überhaupt, so
sehr unter den geläufigen antiken Mustern das Komische vorwog (vielleicht
nur daher jener Missbrauch des Worts Comedi), den Dramatikern des sech-
zehnten Jahrhunderts war die reine und unbefangene Komik fremd, und nur
solche schien gestattet und zu entschuldigen -^, die geschmacklos mitten im
Ernst dem Gelächter der Menge (Anm. 129 fgg.) oder die einem ernsten
Zweck als Waffe diente (Anm. 74 fgg. 88 fgg.). Hier zumal tritt der Unter-
schied der gelehrten Dramatik und der volksmajssigen des Meistersingers von
Manuel bei Grüneisen 433, von einem Ungenannten bei Gottsched 1, 73, von StumpfiF LB.
3, 1, 413, 38 u. a. Das Wort Lustspiel bereits 1536 und 1537, aber schwerlich schon als
Gattungsname gemeint: Ein Lustsjnel rnd vast ehrliche Kurtziceih von Veneris vnd PaUadis
Gezenck Wittenb. 1536: Gottsched 1, 75; Ein lustspiel, der iceyber Reichstag genant, auss
den CoUoquiis Erasmi genumnien, Nürnb. 1537: Biicherschatz 141. Ebenso Freudenspiel
bei Christoph Lehman in Hoffmanns Spenden zur deutschen Litteraturgesch. 1, 72 u. noch
bei Paul Gerhardt, Langbecker 652. 19) Für Actus auch auf Deutsch Wirckung Anm.
153; Uebung in Bultzens Terenz; Aussfahrt Gottsch. 1, 86; Theil 167; am öftesten Handel,
z. B. ebd. 71t. 8.5, Pauli Bekehrung Anm. 64, der AVeit Spiegel Anm. 78. Für Scena in
jenem Terenz Uüttin u. Gottsch. 86 Gesprmch. 20) HSachs u. Ayrer abgerechnet (,§ 1*8
u. 106) ist in der Art und unter dem Namen des Fastnachtsspieles nur hoechst wenig mehr
gedichtet worden: einige Beispiele im weitern Verlaufe oben und § 107, 34. 48; andre von
1.590, 1605, 1606, 1613 und 1623 b. Gottsch. 1, 126. 157. 158. 182 und im Büchersch. 147.
21) In Murers Babylon Anm. 49 der Herold des ersten Tags Doch ists nit ein lychtfertig
spil icie man dann nebt zur Fassnacht vil Es ist ouch nit druinb gsähen an das man drinn
schmähe unjb ald man Aid das man drinn veracht frömbd lüt. Fastnachtspredigten § 109, 7.
22) Schilderung derselben von Seb. Franck LB. 3, 1, 338 fg.; ein Fassnacht Beyen in
Uhlands Volksliedern 636. 23) vgl. was Ambuosius Pafe 1605 i. d. Vorrede seines Jonas
§ 105 DRAMA. STOFFE. 97
Nürnberg recht vor Augen : Hans Sachsen war die Komik sichthch das Liebste
und an seinem Dichten auch das Beste (§ 98, 34 fgg.)^ und eigentlich er blieb
auf dem Wege, den zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts die Gelelu'samkeit
eröffnet hatte (§ 86, 15 fgg.).
Bei solchem Sinn musste im Drama die Wahl und Handhabung der
Stoffe sehnlich ausfallen wie in der Epik (§ 99). Selten nur griff man nach
dem, was die Romanendichtung oder was Geschichte und Sage der Heimath
boten: von jener Art die Uistoria Magelonce (§ 107, 7), das Dichtwerk eines
Studenten 1539, und Mac4eloxa, Octavianus und die Sieben weisen Meister
(§ 107, 6. 90, 249) von Sebastian Wild (Anm. 144), und Georg Pondos
Historia Walthers 1590, Georg Mauricius des altern Comoedia von Graff
Waltlier von Saluts und Crriselden (§ 90, 268 fg.) 1606; von dieser der
Wilhelm Tell, wie er kurz und ärmer an Kunst und noch ohne Actein-
theilung in Uri ^^ und weiter ausgeführt von Jacob Rueff 1545 in Zürich ist
gespielt worden ^% der Berchtoldus redivivus''^ und, gedichtet von Xico-
DEMUS Frischlin, gehalten zu Stuttgart 1579, Fraw Wendelgart.^' Noch
seltener ward, wie im J. 1533 die Lucretia von dem Reformator Heinrich
BuLLiNGER 2^, 1578 Bamonis und Pythice Bruederschaft von Franz
Omich, Schulmeister zu Güstrow, 1584 die Histori vom Kampff mvischen den
Roemeren und denen von Alba, 1599 die Zerstcerung der Stadt Troja von
Georg Gotthart -^^ , einem Solothurner, 1596 Scipio Affricanus von Christoph
Murer 2*^; 1601 Pyramus und TJiisbe ^^ ^ von S. Israel (Anm. 52), aus der
Geschichte und Poesie des Alterthumes geschöpft. Um so häufiger dagegen
sagt, Gottsch. 1, 156, 24) Ein hypsch spyl gehalten zu Vry in der Eydgnoschafft, von
dem frommen rnd ersten Eydgnossen Wilhelm Thell genannt, Zürich o. J. Neudruck Basel
1874 von W. Vischer: vgl. dessen Sage von der Befreiung der "Waldstädte, Leipzig 1867.
25) Ein hüpsch vnd lustig Spyl — von Wilh. Thellen, neu hsggb. von Friedrich ilayer,
Pforzheim 1843, 26) Berchtoldus Bedivivus. D. i. Ein schcene — Comoedien, Von Er-
hawung der lobl. Statt Bern — Anfänglich beschrieben durch einen besonders Liebhabern
alter Historien, vnd der Poesi: Jetzo aber vbersehen — Durch Joh. Gasbarum Myri-
ctsum, 1630 (Bern): Berthold v von Zaehringen, Gründer Berns gegen 1200. Die ältere
Dichtung wohl die handschriftlich zu Bern erhaltene von Michael Stettler 1609 : Mones
Schauspiele des Mittelalters 2, Karlsruhe 1846, 423; wo auch eine Tragicouwsdia vom Ur-
sprung loblicher Eidgnoschafft 1605 (nach Weiler Volksth. 109); vgl. § 108, 13. 27) gedr.
zuerst Tübingen 1580, neuer Abdruck der Ausg. von 1589 in den Deutschen Dichtungen
Frischlins (§ 100, 32) ; Inhalt die Geschichte von Udalrich u. Wendelgart in d. Deutschen
Sagen d. Br. Grimm 2, 258 fgg. 28) Weller Volksth. 23. Druck, allerdings ohne den
Namen des Verf. Basel 1533. 28a) Dr. zu Bern und Freiburg: Weller Volksth. 234 igg.
28b) Sohn des Josias: Weiler Volksth. 210. 28c) aufgeführt zu Münster im Gregorieutbal
Wackernagel, Litter. Geschichte. IL 7
98 NEIIII()(JJI1)EUTS(!IIE ZEIT. XVI JAllKJI. § IO5J
luul in unabsehbarer Menge aus der heil. Schrift: ein Merkmal, dcsgleicher
wohl auf keinem Littcraturgebicte sonst begegnet, von der holien Bedeutung,!
die der (Jlaul)ens- und Kirehenfrage noch über aller classischen üelelirsamkeit
eingeräumt worden. Zumeist aus der heiligen Schrift des alten, nicht so des
neuen Bundes: damit ward entschiedener von dem bisherigen, dem katholischen
"Weg des geistlichen Spieles abgelenkt, und allerdings auch lag in dem alten
Testament ein gro'sserer Kcichthum an Stoffen vor, die bühnengerecht er-
scheinen durften. Z. B. also Adam lnd IIeva 1550 von Jacob Rleff ^''* und
1573 von Geor(} Roll zu Koünigsberg (Anm, 147); Nok 1540 von Hans von
Rute -^"; Abraham gleichfalls von Rueff und 1502 von Herman IIaberer zu
Lenzburg ^'', 1500 von Georg Rolleniiagen ^*; Immolatio Isaac 1544
durch Hieronymum Zieglerum Rottenhurgcnsem^'^'^ Isaac und Rebecca
1539 von Hans Tirolf zu Cala (Anm. 112), 1559 durch Fetrum Frce-
torium^'^ und 1569 von Thomas Brunner, einem Oestreichcr; Jacob 1534
zu Magdebm-g ^\ 1560 von Brunner, 1580 von Adam Pusciimann zu Bres-
lau ^•\ 1586 von Gp:org G(ebel (Anm. 146); Abraham, Isaac und Jacob
(doch nur das erste Stück erhalten) 1540 von Joachim Grefe von Zwickau
und vor ihm schon von einem andern ^^; Joseph 1538 von Hans von Rute ^'^ *
1540 in Zürich ^^ und von Thiebold Gart zu Schlettstadt ^^ * , 1571 von
Bartholom.kus Leschke zu Laubau in der Lausitz, 1593 von Johannes
Schlayss (Anm. 145), 1603 von Andrea.s Gasmann zu Rochlitz ^^; Ruth von
N. Frischlin ^^ * ; IIiob, dessen Quelle ja selbst schon beinah ein Drama ist,
1535 wiederum von Jacob Rueff ^^'' und 1585 wiederum in Zürich^*, 1603
HJ04, gedr. zu Basel, 3. Aufl. 1616: Gaedertz Gab. Kollenhagen S. 97. 29) Fast textlich,
onet was die adion zuotragen heisst es auf dem Titel. Neue Ausg. von Kottinger, Quedlin-
burg u. Leipz. lS4y. Wühl eins u. dasselbe mit der Comedi von Erschaffung der Welt,
die auch 1550 in Zürich sei gespielt worden: Memorabilia Tigurina von Hans Heinrich
Bluntschli, Zürich 1742, 96. 29a) Weller Volksth. 71. 30) gedr. Zürich 1562.
31) gedr. Hildesheim 1603: Bücherschatz 143. Ein zweites Drama Anm. 71. Vgl. §99, 49.
32) Büchersch. 142. 33) Büchersch. 143. 34) Büchersch. 140. Nach einem Acrosti-
chon sind Georg Major und .Joachim Greif die Verf. 35) § 97, 3. Ausführlicher über
dieses erst l.')92 zu Görlitz gedruckte Drama Gottsched 1, 127 fgg. u. HoflFmanns Spenden
z. deutschen Litteraturgeschichte 2, 8 fgg. 36) Gottsched 1, 84. Vgl. die Abhandlung
Scherers Anm. 6. 36a) Weller Volksth. 63. Noch andre deutsche und die lat. Dramen
von Joseph führt Scherer auf: D. Stud. 3. 29. 37) Ein hüpsch nüices Spil von Josephen,
Zürich 1540. 37a) Strassb. 1.540. Neudruck Strassb. 1880; Erich Schmidt zeigt hier die
Benutzung Ovids. 38) Gottsched 1, 166. 38a) nach der Hs. gedruckt in Frischlins
D. D. (§ 100, 32). 38b) Züricher Druck: Wellers Volksth. 147. 39) Joben Spil —
Gespili dxrch ein Ehrsamme Burgerscliaff't einer lobl. Statt Zürich, Basel 1585.
§ 105 DRAMA. STOFFE. 99
von Joanne Bertesio ^^] das goldene Kalb Aarons 1573 von Heinrich
R.«TEL zu Sagan; Josua 1579 von Rudolf Sciimid zu Lenzburg ^': Gedkon
1540 von Hans von Rute ^^; Samuel und Saul 1551 von W. Schmeltzl ^^ * ;
Saul 1571 von Matthias Holtzwart zu Basel "^^I Oelung Dauidis 1554
von Valentin Boltz 1554 zu Basel '^\ David und Goliath 1555 zu Bern
von Hans von Rute '** ^ , 1545 von W. Schmeltzl ** ^ , 1606 durch Georgium
31aiiriciu7n den Eltern, 1572 David und Michal von Johann Teckler
und David und Salomo von Christian Berthold, Stadtschreiber zu Lübben;
Absolom 1565 von Josias Murer in Zürich *^ und 1603 von Heinrich Rsetel;
Belagerung der Stadt Samarice 1603 durch Zachariam Poleiim,
Stadtschreiber zu Frankenstein in Schlesien; Judith *^ '^ 1536 durch Joachim
Greff von Zwickau, 1542 durch W. Schmeltzl *^ \ 1559 durch Sixt Birck
von Augsburg (Anm. 28) ; Tobias, da dieser Stoff ja gleich der Judith durch
Luther selbst empfohlen war (Anm. 8), oftmals, 1539 von Johann Ackermann
zu Zwickau*-^ '^^ nach ihm zu Colmar von Georg Wickram *^ ^ (Anm. 122. § 107,
33), 1569 von dem schon genannten Thomas Brunner, 1605 als Umarbeitung
eines altern Stückes durch Johann Yetzeler zu Schaffhausen ^^, 1617 durch
Georg Gotthart zu Solothurn (28a) ^\ u. a.; Hester 1537 von Valten Voith zu
Magdeburg "^^ ^ , 1567 zu Zürich *'' ^ ebenso wie Zorobabel *^ 1575, Belcege-
rung der Statt Bahylon 1560^^, diese drei wiederum von Josias Murer;
der Hofteufel (Daniel in der Loewengrube) 1544 durch Johannem
40) Trmjicomcedia, gedr. Jena 1603: Bücherscli. 146. 41) Ein niliv Wunäerharliche Spils
tiebung, vss dem Buoch Josuce fürnemlich zogen, wie die Kinder Issrael trocfcens fuoss durch
den fürt Jordans zogen usw. Nüwlich durch Burger der Statt Lentzhurg gespilt, 1579 o. 0.
42) lyie Hystori tvie der Herr durch Gedeons hand sin volck von mier finden gioalt wunder-
harlich ericesset hab — zuo Bern durch die Jungen burger gespilt, Bern 1540. 42a) Wiener
Dr. Neudruck Wien 1883. 43) Vorrede Mathias Holtzivart, St. (Stadtschreiber?) zuo
Raiypoltzwiler : vgl. § 99, 10 — 11. Basel, nicht Gabel, wie Grottsched 2, 230 angiebt. Holtz-
wart benutzt Boltz (Anm. 44): Weller Volksth. 39 fgg. 44) gedruckt Basel 1554.
44a) Berner Druck; Hans v. Rute Anm. 1. 89. 44b) Weller Ann. 2, 247. 45) Ab-
solom Ein Spyl von einer jungen Burgerschafft zuo Zürych — gespült — vnd gemacht
durch Josen Murer Burgern Zürych, Zur. 1565. 45a) Vgl. über diesen Stoff Scherer
D. Stud. 3, 43. 45b) Goedeke Gr. 1165. 45c) Neudruck der Dramen Ackermanns und
Voiths von Holstein Stuttg. L. V. 1884. 45d) Wickrams Tobias, 1551 gedruckt, ward
1578 zu Heidelberg nach einer Bearbeitung durch den Steinmetzen Heinrich Schmid aus
Meissen, 1580 zu S. Gallen gespielt und gedruckt: Goedeke Gr. S. 370. 46) gedr. Lindau 1605.
47) Büchersch. 148. 47a) Holstein in Schnorrs Archiv 10, 147 fgg. Ebd. u. 12, 46 noch
andere Behandlungen des Stoffs. Vgl. Anm. 45c. 47b) Weller Volksth. 19G. 103. 48) Zoro-
babel Ein nüw Spyl von dem mal, welches Künig Darius sinen Landtsfürsten vnd Hof-
lüten zuorichtet — Anno 1575. Durch Josen Murer: Zürcher Druck o. J. 49) gedr.
100 NEUIIOCIIDEUTSCHE ZEIT. XVI JAHUll. § 105
Chryscum; endlicli, viollcicht unter allcu Geschichten die beliebteste, weil
sie mit manchem sonst der Bibel weit entlegnen Schwanke zusammentraf •'",
Susanna •'" * 1532 von Sixt Birck '•', vor 1535 ohne Namen des Dichters und
des Ortes''", 1535 von Paulus Rebiiun (Anm. 108), 1552 durch Jaspar
VON Gennep^''', 1559 durch Leoniiard Stöckel ''<= , Schulmeister zu Bart-
fold in Ihigarn, 1565 von Jacob Punckelin "'''^ , 1566 von Conrad Graff '• * ,
1003 durch Samuel Israel von Strassburg, Schul- und Kirchendiener zu
Münster in S. Gregorionthal ^", 1604 von Andreas Calagius, einem Breslauer,
1605 von Georg Pondo zu Berlin, 1609 von Joachim Leseberg, Prediger zu
Wunstorf im llorzogthum Braunschweig (§ 106, 13), u. a. m. Aus dem
neuen Testament aber und dem Leben Christi am häufigsten Spiele von dessen
Geburt, Weiiinachtsspiele : denn überall knüpfte sich an diese Zeit, durch
Verkleidung imd Umzug bereits halbdramatisch, altherkömmlich und aucli von
der Erneuerung der Kirche nicht ausgetilgt, heiter und bedeutsam so mancher-
lei Festübung zumal der Jugend an ^^, dass auch evangelische Dramatiker dem
Reiz eines solchen Stoffs nicht widerstehen konnten noch katholische Dichter
dem Reiz auch die vollere feinere Kunst des Dramas auf ihn anzuwenden.
Wir haben dergleichen Weihnachtsspiele '"^ von Knust zu Berlin 1540, Jacob
Rueff 1552, Jacob Funckelin zu Biel 1553 ^", Sebastian Wild zu Augsburg (Anm.
23a) und Johannes Leon zu Erfurt ^^, Ambrosius Pape zu Magdeburg 1582 ■"',
Christoph Lasius zu Spandau 1586, Georg Pondo 1589 (Anm. 147), Johannes
CuNO zu Calbe 1595, Georg Mauricius dem altern 1606, Martin Hammer 1608
Zürich 1560. 50) Auch im Mittelalter schon bearbeitet: § 85, 76; und jetzt auch lat.
von Nicod. Frischlin Anm. 135; vgl. § 106, 4. 50a) Pilger Z. f. d. Philol. 9, 129 fgg.
51) ron Sixt Birck von Augspurg, schuolmeyster zuo mindern Basel, öffentlich inn Mindren
Baxel, durch die jungen Bürger gehalten, Basel 1532. Vgl. Anm. 120. 123. 142. 51a) Zwei
Ausgaben, eine Nürnberger u. eine Magdeburger. 511)) Cölner Druck: Goedeke Gr. 318.
51*') Wittenberger Druck. Stückel schliesst sich an S. Birck an. 51d) Germ. 14, 412,
wo über F.s Leben und Werke urkundliche Nachweise. öle) Prediger zu Duderstadt.
Eislebener Druck: Goedeke Gr. S. 330. 52) gedruckt Basel 1607. Israel hält sich an
das lat, Drama Frischlius, ebenso Calagius. 53) vgl. § 83, 23 fgg. 85, 65 fgg, LB. 3, 1,
337 fgg. Weihnacht-Spiele u. Lieder auss Süddeutschland u. Schlesien v. Weinhold, Graz
1853. 54) Den groesseren Theil derselben verzeichnet bereits Weinhold a. a. 0, 173 fgg,
55) Ein Geistlich Spyl von der Empfengknuss vnd Geburt Jesu Christi — Gedicht durch
Jacob Funckelin Anno 1553. vnd gespilt durch die Jxigend zuo Biel vffs Nüw Jnr, gedr.
Zürich, 56) Wild Gottsch, 2, 224. Tragcedia Die Histori von der Götlichen Offenbarung
des tvaren Messie — den Weisen auss Morgenlandt gescliehen. Auch tvie Her ödes die rn-
schuldigen Kindlein Imhe tcedten lassen — Durch Johannem Leon Ohrdruuiensem zu Er-
ffurt Schulmeister zu ,S. Michml, Frankf. 1566. 57) Bücherschatz 143. Desselben Jonas
I
§ 105 DRAMA. STOFFE. 101
(Anm. 9), Johannes Seger zu Greifswalde 1613; dazu aus der katholischen
Kirche eines von Benedict EdelpÖck ''- und vier von einem nicht benannten
Baiern. ^'^ Sonst aber nur wenig evangelische und neutestamentliche Geschichte,
wie etwa dev Jesus chiodecennis 1610 von Joachim Leseberg '^^ ; Johannes
DER Täufer 1545 von Johannes Krue(4inger "^ 1549 zu Solothurn ^^ und
1588 von Johannes Sanders, Pfarrer zu Adenstedt bei Peine; die Hochzeit
zu Cana 1538 von Paul Rebhun (Anm. 109); Lazarus 1545 von Joachim
Greff '^^ *, 1552 von Jacob Rueff und im gleichen Jahre von Jacob Funckelin ^'^•
Zacheus von GrefF^^'^; Stephanus 1589 von Zach. Zahn aus Northeim und
1592 von Melchior Neukirch in Braunschweig ^^^ ; 1546 Pauli Bekehrung
von Valentin Boltz ''^; 1593 zu Kauf heuern die ganze Apostelgeschichte von
Johannes Brummer ^'•; 1573 von Philipp Agricola von Eisleben das jüngste
Gericht *'^, Geschichte der Zukunft also. Am seltensten, was einst der
Hauptinhalt der geistlichen Spiele gewesen (§ 85, 44 fgg. 73), das Leiden:
diess auch von Rueff ^^ ^ ; oder die gantse Historia vnsers Herrn: diese
(die Geschichte des alten Testamentes und die der Kirche bis auf Luther mit
einbegriffen) von Bartholomäus Krueger, Stadtschreiber zu Trebbin, 1580.*^^
Eher noch Dramatisierung von Gleichnissreden Christi, derer vom Weingarten
des Herrn 1539 durch Jacob Rueff '^^, vom verlornen Sohne ''^ ^ 1527 durch
B. Waldis (§ 99, 43), 1535 durch J. Binder (Anm. 107), 1536 durch Johann
Ackermann (45 c), 1537 durch Hans Salat ^^ ^ , 1540 durch Jörg Wick-
Anm. 23. 149. 58) § 95, 41; abgedruckt bei Weinliold 193 fgg. 59) Auszüge bei
Weinhold 175 fgg. 60) gedr. Helmstädt: Büchersch. 146. 61) gedr. Zwickau: Büchersch.
142. 62) Büclierschatz 143; vom Probst Job. Aal: Weller Volksth. 219. 62a) iiacb
dem Latein des Job. Sapidus, Strassb. 1.539: Scherer D. Stud. 3, 55. 63) Ein trostlieh
besserlich Spyl — vom Lazaro — durch die Jugend ziio Biel offenlich (jespilt, gedr. Zürich.
63a) Scherer D. Stud. 3, 56. Zwickauer Druck 1546: Action auf das 18. und 19. Cap.
Lucce: Goedeke Grundr. 1163. 63b) Goedeke Roemolt (Anm. 80a). 64) Basler Druck
1.546; vgl. Anm. 117. 121. 123. 65) aus Hoya, Rector zu Kaufbeuern ; Tragico-Comcedia
actapostolica, d. i. die Historie d. heil. Aposteln-Geschichten, Laugingen 1593: Deutsches
Museum 1776, 752. 66) Büchersehatz 143. 66a) 1545: Weller Volksth. 162.
67) Bücherschatz 143. Abdruck in Tittmanns Schausp. 2, 7 fgg. Von 1580 auch Kruegers
Weltliches Spiel von den bäurischen Richtern und dem Landsknecht. Neudruck von Bolte,
Lpz. 1884. Krüger auch Prosaist: § 107, 19. 68) handschriftlich zu SGallen: Mones
Schauspiele d. Mittelalters 2, 419 fgg. G. Scherer, S. Galler Hss. 1859, S. 68. 68a) Hol-
stein, Das Drama vom verlornen Sohn, Geestemünde 1880. Ueber die sich hier anschlies-
senden Comcedien vom Studentenleben s. Erich Schmidt Leipz. 1880. Im 16. Jahrh. nur
lateinisch abgefasst beginnen sie mit den Studentes von Christoph Stummel, Frankf. a. d. 0.
1549. Vgl. ferner Anm. 137. 68b) Basel, o. J. Neudruck v. Bächtold Einsiedeln 1881.
IU2 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XYl JAllUH. § 105
mm ""^ "= , 1544 durch Andreas Scliarpfcncckcr "^^ * , 1545 durch Wolfganj;
SchmoltzP^ « , 1556 durch H. Sachs (2), 1580 durch Nicohius Kialcben «« ^
1590 durch Clu-istian Sehern ^^ « , 1603 durch Ludwig llollo ''* ^ u. a. vom reicmkn
Mann und armen Lazarus 1529 und 1540 in Zürich *', 1543 durch Johannes
Krüginger '", 1550 durch J. Funckelin "°* und 1590 durch Joachim Lonemasn
zu Magdeburg "'; vom Ko'uig der seinem Sohn Hochzeit machte ''* von J. Rasser
zu Ensisheim 1574.
Denn Lehrgeschichten wie diese lagen der didactischcn und wie die zwei
vorletzten der satirischen Auffassung von selbst schon vor der Hand; Didaxis
aber und Satire, die Vorliebe der Zeit, walteten überhaupt im Drama so,
dass man häufig und gern auch echt geschichtlichen Stoff in Allegorie mochte
verflicssen lassen und dessen Darstellung, wo sich nur Anlass bot, und oft
genug auch ohne ^\jihiss mit Sittenmalcrei voll spöttischer Bezüglichkeit durch-
tlechten mochte. Und nicht wenige Dramen dienten eigens und einzig der
Lehre, der Satire, der Sittenmalerei. Sogar Fastnachtsspiele gicngen nicht
bloss auf satirische Schilderung, wie im Beginn dieses Zeitabschnittes die
Gauchmatte von Pamphilus Gengenbach, einem Basler ^'-, und kurz vor dem
Ende das Fastnachtsspiel des Mciningers Johannes Steurlein vom Dienst-
68c) zu Colmar gespielt und gedruckt. 68d) Nürnberger Druck. Seh., Caplan zu Winds-
heiin, zog Ackermann aus. 68e) "Wiener Druck: Weller Ann. 2, 36ö. Von ihm noch
andre Gleichnisse dramatisiert : ebd. 247. 68f) Asotus zu Salzwedel gespielt: Magdeburger
Druck 15S6. Nach Macropedius. 68g) "Wittenberg 1.599. 68h) Hollonius, Freimut:
zu Alten Stettin gedr. 69) Hans Heinr. Bluntschli Anm. 29. "Weller Volksth. 134. Vgl.
auch Anm. 107. 70) Zwickauer Druck: Büchersch. 142: vgl. Anm. 111. 70a) Berner
Druck. Eingeschaltet ist ein klein spiß, dem Bychen Mann vber Tisch gespilet, ein Strytt
Veneris vnd Palladis : abgedr. bei Tittmann, Schauspiele ans dem Ki. Jahrh. Leipz. 1868.
71) übersehen und bevorwortet von Georg Rollenhagen (Anm. 31): Gottsched 1. 124.
Büchersch. 148. 71a) Basel 1074: Goed, Gr. 32G. 72) in den zwei ersten Jahrzehendeu
des 16. Jh. Drucker seiner eignen und der Bücher Andrer. Ausgabe seiner "W^erke von
Gcedeke 1856. Von ihm auch o. 0. u. J. ein Todtenfresser : Anm. 88; ein erschrockenliche
histonj V. fünff schnoeden Juden — jm Spceten thon gesungen; Der welsch Fluss, ein ge-
schichtliches Gelegenheitsgedicht (1513\ eingekleidet mit Benutzung des Kartenspiels; bist.
Lieder auf Schlachten von 1.509 und 1513; ein Liber Vagatorum, Urareimung eines zu
Anfang des 16. Jahrh. mehrmals, 1528 mit einer Vorrede von Luther gedrückten Buches:
HofiFmann Weim. Jahrb. 4, 65 fgg. Auch bei Gengenbach ein vocahnlaris rotwelsch (§ 47, 4).
Eine Practica: § 112, 5; 1514 der bundtschuoch (gereimte Vorrede, Prosaerzaehlung. Lied
im speten thon). U. a. Auch die gouchnuxt, so gespilt ist worden, durch etUch geschickt
Burger einer löblichen stat Basel. Wider den Eebruch vnd die sünd der vnküscheit, ist
0. 0. u. J.: Gottsch. 1, 52 setzt sie in das J. 1519, weil sie ein Auszug aus Murners Geuchraatt
(§99, 21) scheine: sie stimmt jedoch mit derselben nur im Namen, im Inhalt eher mit HSachsens
§ 105 DRAMA. STOFFE. 103
GESINDE ^^, sogar sie gicugeu aucli auf Belehrung voll ununiwundeuen Ernstes
aus, wie noch einmal von Gengenbach die zehn Alter "^ und der Xolluard^^:
viel eher noch durfte und musste man die neugelernten, die gelehrteren und
kunst- und anspruchsvolleren Formen der Komoedie und der Tragoedie brauchen
um in ernstem oder spöttischem und öfter noch bunt in beiderlei Gewände
Lehren des Glaubens und der Sitte und der politischen Weisheit vorzutragen.
Beispiel die fünf Betrachtungen zur Busse von Johannes Kolross 1532
zu Basel "^, Mnndiis^^ ^ 1537 von Joachim Greff, Wohl- und Übelstand
DER Eidgenossenschaft 1542 von Jacob Rueff'', der Welt Spiegel 1550
von Valentin Boltz ^^, Weisheit und Narrheit um 1550 von Leonhard
Freyssleben ''^, der jungen Knaben Spiegel 1554 von G. Wickram '^^ ^ , der
jungen Mannen Spiegel 1560 von Josias Murer ^^^ Von dem Laster der
Fastnachtsspiel vom Hofgesinde Veneris 1517 überein. Nach Goedeke, Gengenbach xxi ward
sie 151G aufgeführt. 73) Ein Tcürtzweüigs Fassnacht Spiel, vom faulen, eigensinnischen
Dienstgesinde — Durch Johann. Steurlein den Eltern, P. L. CcBsareum, Schleusingen
1610; die gereimte Widmung Datum zu Bleynungen. Docen Miscell. 1, 259 führt an
Epithalamia, durch J. Steurlinum, Stadtschreibern zu Wasingen, 1587. 74) Die X
alter diser icelt, gespielt zu Basel 1500 (wahrscheinlich fehlerhafte Angabe für 1515); Druck
0. 0. u. J. Bis in das 17 Jh. oft wiedergedruckt u. dabei umgeändert; 1517 gespielt und
1519 gedruckt zu Memmingen: Panzers Annalen d. alt. d. Litt. 1, 431; 1531 gespilt, geniert
vnd gebessert zu Colmar und gedr. zu Strassburg 1534: Büchersch. 139. Vielleicht von G.
Wickram, der 1537 zu Colmar ein Fastnachtspiel vom Narrengiessen aufführte, gedr. Strassb.
1538. 75) Der Nollhart Diss sint die prophetien sancti Methodij vnd Nollhardi, gespielt
zu Basel 1517, Dr. o. 0. u. J.: Umarbeitung Der alt vnd neio Bruder Nolhard, Strassb.
bei Cammerlander um 1540: Büchersch. 140. Von der überaus einfach dramatischen Form
dieses und des vorigen Spieles in Haupts Zeitschr. für Deutsches Alterth. 9, 313. Aehnlich
das Fastnachtspiel vom treuen Eckhart, das G. Wickram 1538 drucken Hess. 76) Eyn
scJuen Spil von Fänfferley bet rächt missen den menschen zuor Buoss reytzende, durch
Joannem Kolrossen, — vff den ersten Sontag nach Ostern 1532 öffentlich zuo Basel ge-
halten, Basel 1532; vgl. Anm. 105, Kolross § 93, 8. Ueber ein ähnliches Spiel von Lien-
hard Culman, Wie ein sünder zuor Buoss hekärt toird, Nürnberg 1539, s. Goedeke Homulus
219. 76a) Stofflich verwandt (Geschichte von Vater Sohn u. Esel) ist die Tragedi Seb.
Wilds 1*0» dem Doctor : Tittmanu Schausp. I, 1868. 77) In Verbindung mit einem altern
sehnlichen Stück von ungenanntem Verfasser unter dem Titel Etter Heini hsggb. v. Kottinger,
Quedliub. u. Leipz. 1847. Vgl. Weller Volksth. 159. 78) Der icelt Spiegel Gespilt von
einer Burgerscliaffl der ivglberuempten fryhstatt Basel 1550, Basel 1551. LB. 2, 135.
79) Zarncke a. a. 0. cxxix fg. 79a) Strassburger Druck: Scherer QF 21, 40. Be-
nutzt in Jacob Schertwegs 2'rag. von einem verlornen Sohne, zu Ölten gespielt 1579.
Baseler Druck: Holstein (Anm. 68a) S. 47, von G. Pondo im Speculum puerorum 1596:
QF. 21, 50 und von Ayrer. 80) Ein nüio spyl, darinn wirt angezeigt — wie durch bcese
gsellschafft der man verfuert an hättelstah, ouch etwan vmb leyb vnd laben gebracht wirt,
1U4 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVI JAHKH. § 105
lloffart 1564 von Jon. R(kmoldt *® * , uie Narrensciiule um 1570 von
Johannes Heri'ort ^', Ein christlich Spiel von der Kinderzncld 1573 von Joh.
Ilasser ^' » , der christliche Ritter 1570 von Friedrich Deüekind **, die
Glücktvünschmig zum erneuerten Bund zwischen Zürich und Bern 1584 von
Jon. Haller *^ * , das geistliche Malefizreciit 1587 von Joachim Arentsek
zu Halbei-stadt ^% der Deutsche Schlemmer 1584 von Johann Strizer zu
Lübeck ***, die Comoedia von den gottesvergessenen Doppel- d. h. Würfel-
Spielern 1590 von Thomas Birck *^ * , Spcciilnm mundi 1590 von Bak-
THOLOM.Krs RiNfavALDT ®^, CoMCPdia von dem Schiihvesen 1606 von Georg
Mauricius, Christiani hominis sors et fortnna 1612 von Ambrosius Papc
und im gleichen Jahr und von eben demselben Mundus immundus.
Zumeist aber bewegte dieses Jahrhundert in lehrhafter und satirischer
Weise der Streit der Kirchenbesserung, und wie man um seinetwillen jetzt
die Frau Jutta wieder hervorzog (§ 85, 79), wie man bei eigner Dramatisie-
rung geschichtlichen Stoffen gern einen Bezug eben dorthin gab imd die Stoffe
schon in dem Bezug erwählte, z. B. Sixt Birck im J. 1535 die Geschichte
vom Bel zu Babel ^^ Jacob Rueff die von Paulina und den Priestern der
zuo Zürych f/eJuilten, Zürcher Dr. 80a) Goedeke in der Zs. des bist. Ver. f. Niedersachseu,
Hannover 18ö5 S. 293 fgg. Zum Stoff vergl. der blosse Kaiser § 66, 21. 81) In weiterer
Ausführung unt. d. Namen Valentin Apelles, Rectors z. Freiberg, gedr. Frankf. a. 0. 1578:
Zarncke cxxviii fg. 81a) zu Bern gespielt 1573: Weller Volksth. 103. 82) Aus dem
Brief an d. Eph. 6; agiret vml augiret zu Braunschueig 1604. Durch M. Joh. Bech-
manum: Büchersch. 144 (vgl. § 106, 13). Handschrift zu Bern: Mones Schauspiele des
Mittelalters 2, 412 fgg. Auch hier wie in 70a ist ein khn spyl eingeschaltet, das bei einem
Gastmahle statt findet und das Urteil Salomos behandelt. Dedekind schon § 100, 21. Vgl.
den lat. Miles christinnus von Com. Laurimanus aus Utrecht. Antw. 1565. 82a) Baseler
Druck: Weller Volksth. 104. 83) Standgericht über Adam als Stellvertreter der ganzen
sündigen Menschheit: dabei Gott Vater und Sohn als Oberster u. Hauptmann, der heil. Geist
als Fürsprech des Beklagten: Auszug in vdHagens Germania 3, Berlin 1839, 150 fgg.
Glaubenslehre und Drama in Processform: vgl. § 85, 63. 84) Ursprünglich niederdeutsch
Be (lüdesche ScMüitier : Goedekes Homulus und Hecastus. Hannover 1865, Hier ist die ganze
Filiation dieser Allegorie von den drei Freunden, unter denen nur einer treu bleibt, durch
die erzählende und dramatische Litteratur hin verfolgt. Der Homulus des Petrus Diesthemius
wurde vom Kölner Buchdrucker Jasper von Gennep übersetzt, 1539 aufgeführt, 1.540 gedr.
Neudruck Viersen 1873. Die meisten deutschen Dramen schlössen sich an den Hecastus des
Macropedius 1538 an: s. Anm. 13«. 139. 84a) Holstein in der Z. f. d. Philol. 16, 71:
hier auch Näheres über den Ehespiegel von Th. Birck 1598: Sievers Beitr. 10, 199 über
ein verlornes Spiel von ihm. den Hexenspiegel. 85) Heinr. Hoffmanns Spenden z. deutschen
Litteraturgeschichte 2, 47. 52. Vgl. § 99, 57. 86) Ein lierUche Tragedi wider die Ab-
götter y, Basel 1535; der Verfasser hier nicht genannt, wohl aber in der Erweiterung, Angs-
II
§ 105 DKAMA. STOFFE. 105
Isis ^', so dichtete mau denn auch Drameu genug und wieder hier auch Fast-
nachtsspiele, die einzig und unmittelbar und gerades Wegs diese Richtung
nahmen, deren Inhalt zum Angriff gegen die alte Kirche erfunden oder zur
Verherrlichung der neuen aus deren Geschichte geschöpft und etwa noch in
Allegorie gewendet war. Voran, mit all der Keckheit, deren diese Dichtart
nur faehig ist, eine Hauptwaffe in der Reformation von Bern, die Fastnachts-
spiele des Venners der Stadt, Nicolaus Manuel, von 1522 und 1530 *^ und
ihnen sehnlich, nur mit noch wilderem Versbau, eines von Hans von Rute
1532 ^^. Ebenfalls der ersten Reformationszeit gehört das niederdeutsche
Fastnachtsspiel von Claivs Bur an.^^ ^ Ferner, im J. 1524 erfunden und 1530 vor
Karl V vielleicht wirklich aufgeführt, eine stumme, nur durch Gebserden spre-
chende Comoedie, das Spiel im kceniglichen Saale zu Paris ^° ; 1537 Johan-
nes Huss von JoH. Agricola ^\ etwa 1542 der neue deutsche Bileamsesel '•*^,
bürg 1539; vgl. auch Anm. 142. 87) Etter Heini v. Kottinger xxvL 88) Nie. Manuel
geb. 1484, gest. 1530. Über ihn Grueneisen: Niclaus M. Leben u. Werke eines Malers u.
Dichters, Kriegers, Staatsmannes u. Reformators im 16. Jh., Stuttg. u. Tüb. 1837 und die
Ausgabe von Bächtold, Frauenfeld 1878: über seinen Todtentanz (Bilder und Reime) auch
Haupts Zeitschr. f. Deutsches Alterth. 9, 349 fgg. ; Klagrede d. armen (jötzen § 99, 12 ;
Prosaschriften von ihm § 109, 9 fg. 110, 12. Seine Fastnachtsspiele vom Pabst und seineu
Priesterschaft, von dem Unterschiede zwischen dem Pabst und Jesu Christo
LB. 2, 55 fgg. (beide gespielt 1522) u. ein Chorgericht d. h. Ehegericht (1530). Das erste
hiess, weil es von der Eintrieglichkeit der Seelmessen für die Pfaffen ausgeht, auch der
Todtenfresser : Glrüneisen 91; von Gengenbach Anm. 72 gleichfalls eine Klage über die
Todtenfresser: Goedeke P. G. 153. Das letzte (als Spiel des 15 Jh. auch gedruckt bei Keller
2, 861 fgg.) braucht in evangelischem Sinn einen alten Lieblingsstoff der Fastnachtsspiele,
Klage einer Bauerndirne wegen Eheversprechens. Dazu kommen bei Bächtold der 112 fgg.
zuerst veröffentlichte Ablasskrsemer 1525 und, 1526 gedruckt, Barbali, ein Gespr?pch, in
welchem sich ein Msedchen gegen das Kloster wehrt. 89) Ein Fassnachtspil den vrsprung,
Juiltung, vnd das End heyder, Heydnischer, vnd Bcepstlicher Abgötteryen aUenMicIi ver-
glychende, zuo Bern im öcJitland durch die jungen Burger gehallten, Basel 1532. Vgl.
Anm. 1. 89a) hg. von A. Hcefer, Greifswald 1850. Vor der Reformation ein politisches
Fastnachtspiel de schere klodt 1520 dem Bisehof von Hildesheim zu Ehren gespielt: Ausg.
in den mittelniederdeutschen Fastnaehtspielen von Seelmann, Norden und Leipzig 1885.
90) Auf den Titeln dreier in demselben J. 1524 erschienenen Drucke hier ein Tragedia
oder S2)iU, dort Eyn Comedia genannt: Panzers Ann. 2, 320; vgl. Anm. 17. Neuer Ab-
druck mit Einleitung von Grüneisen in Illgens Zeitschr. für die histor. Theologie 1838, 1,
156 fgg. S. 168 die Vermuthung, ursprünglich sei das Spiel lateinisch abgefasst gewesen.
91) Gottsch. 1, 75 fg. Ueber den Verfasser s. Kawerau in Schnorrs Archiv 10, 6 fgg.
92) Wie die schcen Germania durch arge list vnd zauberey ist zur Bcepst Eselin trans-
formirt worden usw. Gottsched 1, 54 setzt dieses Drama wegen der Schlussreime Manes
Hutteni an die Teutschen um 1522 an (Hütten f 1523) ; um 1542 u. als Arbeit Cammerlanders
10«) NEl IIÜCIIDEUTÖCJIE ZEIT. XVI JAlIUll. § 105
1593 Maunthis von IFciiir. Eckstorni '•'-'' , 159t> der Tapista conver-
sus von Friedrich Dedekind '•'^, 1600 das Curriculuni vitcn Luthcri
von Andreas Hahtmann '", 1G17 endlich smn Jubel Jahr vnd Frewden Fest
der erneuten Kirche die Tetzelocramia, dass ist eine lustige Comoßdie von
Jühan Tetzcls Ahlasslram, von IIeinricii Kiklmanx ''' und mit wüster Vcr-
ha'hnung des ärgerlichen MöncJilebens die Tragicocomoidia vom Yisitator Crui),
deren Verfasser sich Pamphiliis Münigsfeind nennt.'-"' Leider fehlte auch
dieser streithaften Dramatik die noch sclilimmere Schattenseite nicht, die Ge-
hässigkeit der Lutheraner und selbst eines Mannes wie Martin Rinckart auch
gegen das reformierte Bekenntniss und gegen die nur mild vertraglichen: in
solchem Sinne 1592 ukk Calvinische Post-Reuter, 1593 Lutherus redivivus
durch Zachariam liivandrum zu Bischofswerda, 1613 von Riiickart der
ElSLEBISClIE christliche RiTTER.'''^
So ward auf die Wahl der Stoffe der bestimmende IlaupteinHuss von der
kirchlichen Bewegung ausgeübt: die Gelehrsamkeit wirkte mehr nur auf die
Formgebung, auf die des Ganzen und bis in die Einzelheiten. Mit den Fort-
schritten, welche Gesang und Musik überall und namentlich im Gebrauch der
Kirche machten (§ 95, 28 fgg. § 103), und bei der Verbindung, die von Alters
her zwischen dem Kirchenlied und dem auf der Bühne bestand (§ 85, 35),
hatte aucli hier eine reichere Fülle und groessere Kunstgerechtigkeit solcher
Einmischungen Platz gegriffen: nicht bloss wie etwa vordem zu Beginn des
Stückes ^^ ward musiciert, nicht bloss zum Schlüsse desselben ein geistliches
Lied von Allen angestimmt ^^ und zwischen hinein nur hie und da von Choeren
§ 99. 20), der allerdings nicht genannt ist, Zarncke in SBrants Narrenschitf CXLI. Ueber
die von Zarncke geltend geniaclite Interjection Uan s. Grimm Wb. und Goedeke P. Gengen-
bach 608 fgg.; hier 8. 310 fgg. Abdruck. Das Beiwort ncio möchte auf I'mdichtuug eines
äitern Stückes schliessen lassen. 92a) Goetleke, R(Pmoldt (Anm. 80a). 93) Biichersch.
145. 94) demselben, der Ringwaldts Treuen Eckard in dramatische Form gebracht hat:
§ 99, GO, 95) Bücherschatz 147. 96) den Druckort Strichnaicer, typis daustralihus,
SHintibus Conradi von der Leiter, sub siyno pendentis cucuUigeri; Zuschrift an die Esauiten;
als Schlussgesang eine Parodie des Liedes Nun hmst iitis den Leib begraben (das Deutsche
Kirchenlied von Phil. Wackernagel 292 = III 332 fg.): Gottsched 1, 175 fg. 97) Gottsch.
1, 1<J8 fgg. Neudruck Halle 1883. Die Allegorie mit den drei ungleichen Brüdern Pseudo-
Petrus in Wälschland, Martin in Eisleben und Johann (d. i. Calvin) in der Schweiz ein
unduldsam verengtes Seitenbild jener von den drei Ringen § 79, 49: Grundlage die Gesta
Rom. 45. 98) Haupts Zeitschr. 9, 329. 99) Christ ist erstanden: Osterspiel Hansens
von Räte Anm. 1; vgl. § 85, 35. Den vatter dort oben (das D. Kirchenl. v. Ph. "Wacker-
nagel 287. III 321) und Te deum hiudamus: Boltzens Weltspiegel Anm. 78. Erhalt vns
Herr bei/ deinem wort (Kirchenl. 149. 111 2G : von Luther, wie die im Folgenden angeführten
ij 105 DRAMA. 8T0FFE. VEKSBAU. 107
oder Einzelnen gesungen: jetzt liebte man es, den Öchluss iiuch mit Musik-
lärm '"'', lind jetzt, wo man Acte theilte, auch das Ende schon jedes Actes,
wie bereits Reuchlin gethan (§ 86, 23), mit Gesang zu bezeichnen ^^^ und
Gesang des Ernstes '"^ und des Scherzes ^"^ und Musik ^"* in entsprechend
groosserer H.äufigkeit auch der Handlung selber einzuflechten. Hier denn fand
die Gelehrsamkeit sich zu zeigen Anlass: wie in das Kirchenlied, so drängte
sie mit antiker Vers- und Stropiienmessung sich auch in den Chorgesang
der Bühne ein: Beispiele aus den Jahren 1532, 1535 und 1562 die Dramen
von Kolross, Birck und Haberer. ^"^^ Noch weiter und durchgreifender und
zugleich in nachahmender Richtung auf den wÄlschen Versbau hin (§ 94,
36) verfolgte seit 1535 diesen Weg der metrischen Neuerungen namentlich
Paulus Rebiiun, von Geburt vermuthlich ein Berliner, an vcrschicdnen Orten
Lehrer und zuletzt in Ölsnitz Geistlicher. ^"^ Schon Georg Blnder in einer
Verdeutschung des Acolastus von 1535 ^^'^ hatte den Misslaut des acht- oder
neunsylbigen Gesprsechsverses stellenweis gegen viersylbig abgezsehlte umge-
tauscht: Rebhiin in der Susanna von 1535 ^°^ und der Hochzeit zu Cana von
1538 '"^ sowie in der bloss dialogischen Klage des armen Mannes von
1540 *^^ brachte, Scene für Scene, Abschnitt für Abschnitt wechselnd, eine noch
groessere Mannigfaltigkeit der Maasse, und was eine Vorahnung, wenngleich keine
Lieder): Kathsclilag P. Paulus iii Anm. 149. 100) Das in wechselnder Form wieder-
kehrende Schlusswort Spillüt, blast uff (oder schlanä uff)! wir ivend darvon. 101) Davids
OElung von Boltz Anm. 44, Schluss des 6 Actes ein Lobgesang, Im Thon Nun fröuwt
euch lieben Christen gmeyn (Kirchenl. 129. III 5). 102) Boltzens Weltspiegel im 6 Act
das Jacobs Med § 103, 25; Schmids Josua Anm. 41 im 4 Act ein Klag Med Israelis vber
den verlierst zuo Aj. Inn der ivyss, Vss tieffer noht schry ich zuo dir (Kirchenl. 131. III 7).
103) Rathschlag P. Paulus in im 1 Act lateinische Messgesänge; in Boltzeus Weltspiegel
Act 1 die Parodie Ins tüffels nammen faren wir (§ 76, 18). 104) Beispiel Brummers
Apostelgesch. Anm. 6.5. 105) § 94, ;32. 103, 50. Haberers Abraham Anm. 30: Beginn
ein vierstimmiger Gesang in meistersingerischer Form ; Schluss des 1 Actes Komm schöpffer
heiliger geist (Kirchenl. 138. III 15); des 2ten ein Gesang in der melodia Ingenium quon-
dam fuerat (deutsche Reimhexameter); des 3ten in der meJody, Vitamque faciiint beatiorem;
des 4ten in deutschen sapph. Strophen; des oten in meistersingerischen. 106) Von Eeb-
huns nicht vollendeter oder verlorener deutschen Grammatik § 93, 14. 107) Acolastus —
vertütscht (vgl. Anm. 135) rund gehalten zuo Zürich, Zürcher Druck; nach ihm Josias
Murer in seiner Belagerung der St. Babylon Anm. 49 u. im Jungmannen Spiegel 80; sowie
Joh. Aal im Johannes 62; Jon. Wagner in den hsl. zu Solothurn vorhandenen S. Moriz
und S. Urs: Weller Volksth. 229, Gotthart 228a. Auch in Wickrams verl. Sohn: 68c.
108) Erster Druck Zwickau 1536; auffs neiv gemehret vnd gebessert ebd. 1544. Neudruck
Stuttg. Lit. Ver. 1859; auch bei Tittmann Schauspiele des 16 Jahrh. 109) Neudruck
Stuttg. 1859. 110) Friedländers Vorrede zu d. Drama Georg Pondos Anm. 147 S. viii fg.
10« NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVI JAIIKII. § 105
Yorbcrcirung der sptetcren "NVioderlicrstellungon auf diesem Gebiete war (denii
unmittelbar Nachfolge und Zusammenhang erweist sich nirgend '"), er gab
allen Versen, auch denen, wie sie bisher allein geherrscht, auch den eilfsyl-
bigen, den vers communs, die er aus Frankreich holte ''^, seiner Absicht nach
und meist auch wirklich in der Ausführung einen geregelten Rhythmus, baute
sie, nicht immer freilich ohne die Härten des Zwanges, aus Jamben und
Trocha?en auf."^ Nur begründete er, wiederum wenigstens seiner Absicht
und dem Bcwusstsein nach, selbst diese einfachen Maasse nicht auf die alte
und volksmaessige Uebung Deutschlands, sondern auf die Regel der Antike,
meinte damit narh der Lateiner Art zu gchn."* So litt, wenn es die Dicht-
kunst der Heimath galt, auch das gesundeste Auge an Weitsichtigkeit. Und
das gebrach gerade ihm sonst nicht: zumal die Susanna mit ihren fest und
rund gebildeten Charactcren, mit ihren Griffen keck ins Leben hinein und
mancher Feinheit voll Gemüthes weist eine ungewoehnliche Begabung auf.
Das Kirchenlied, obschon allem Volke bestimmt, musste sich dennoch von
der Gelehrsamkeit seiner Dichter ganz durchdringen lassen (§ 103, 42. 49 fg.):
das Drama, obschon von der Gelehrsamkeit so mannigfach berührt und durchweg
umgestaltet, sollte damit dem Volke doch nicht entrückt sein. Denn nicht
bloss die Fastnachtsspiele wurden in dessen Eigenthum gedichtet: auch die
übrigen Dramen, und eigentlich erst diese recht, waren zumeist eine Sache
der vollsten Öffentlichkeit imd der Theilnahme Aller. Jene wurden staets nur
von Wenigen und in der Regel wohl auch nur vor kleinerer Zuschauerschaft,
in Häusern, in Wirthshäusern ^^^, seltner wie die von Gengenbach und Manuel
auf offener Gasse gehalten '**^: an der Auffuehruxg dieser ^^^ pflegten von der
111) Vielmehr klagt Rebhun vor der Susanna v. 1544 über Tadel, den seine neuen Verse,
und unbefugte Abänderung, welche dieselben hätten erleiden müssen, und Krüginger in
seinem Lazarus (Anm. 70). in der Bearbeitung wenigstens von 1.555 (Gottsch. 2, 211 fgg.),
mischt zwar auch viersylbige, achtsylbige, elfsylbige, zwölfsylbige Verse, aber nicht mit
solcher Regelung des Wechsels und so , dass er eben wieder nur die Sylben zsehlt.
112) Johann TyrolflFs (Anm. 33) nach Xaogeorgus gedichtetes Spiel vom Antichristischen
Pabstthum 1538, zu welchem Rebhun eine belobende Vorrede geschrieben, ist ganz in vers
communs verfas.st: Gottsch. 1, 79 fg. 113) Mit jedem Wechsel ist das Mass in — und
V darüber gedruckt. 114) Vorrede zur Klage des armen Mannes. Doch s. auch Höpfner,
Reformbestreb. 13, 3t3. 115) So im Mittelalter: § Sfj, 12; so Gebrauch bei Hans Sachs:
LB. 2, 106. 35. 116) In Gengenbachs Gauohmatte Anm. 72 ladet der Hofmeister der Frau
Venus alles umstehende Volk, jung und alt. arm und reich usf. zu seiner Herrinn ein; aehnlich
in Manuels Chorgericht Anm. 88 von den zahllosen Narren ringsumher und bis auf die Dächer.
Für eben dessen Spiel vom Pabst u. Christo, worin nur ein Aufzug von Gesprsech begleitet
wird, war schon durch diesen Inhalt die Aufführung auf der Gasse gefordert. 117) Reich
§ 105 DRAMA. YERSBAU. AUFFUEHRüNG. 109
Obrigkeit herab, die mit Geld und sonstiger Fürsorge half "^ stufenweis,
massenweis Alle und in der ganz andren Ai-t, die daraus weiter folgte, mit-
zuwirken. Das Spiel ward eine Angelegenheit des Staates oder der Stadt:
darum auch sprach ein Herold, und öfters ihrer mehr als einer, angethan,
wie ihn die Holzschnittbilder der alten Drucke zeigen, mit Wappenschild und
Wappenfarben, die Eröffnungs- und die Schlussrede und trug in jener etwa
das Argument (Anm. 19 — 20), in dieser eine Ausdeutung und Anwendung
des Ganzen vor: da doppelt passlich, wo schon im Ganzen poUtische Bezüg-
lichkeiten walteten wie bei Gengenbach, bei Rueff, bei Boltz und anderen
Dichtern namentlich der Schweiz: derselbe Zug, von dem in der Schweiz auch
die heimathliche Geschichtsschreibung und Geschichtsdichtung besonders ist
gefördert worden (§ 108, 7). Es geschah aber die Aufführung durch die ge-
sammte dessen fsehige, besonders also durch die jüngere Bürgerschaft ^^^; auch
die Weiberrollen wurden dabei von Männern gespielt ^"-*', wohl aus Schick-
lichkeitsgefühl, nur dass man die so verkleideten und vor denselben manches
sagen und thun Hess, womit wirkliche Weiber eher wseren verschont worden.
Den Dichtenden nun lag ob, mceglichst vielen eine Stelle wo nicht im
Gespr£ecli und in der Handlung selbst, doch wenigstens auf der Bülme
und so Gelegenheit zu anständiger Mummerei zu geben: es kam zu Stücken
mit mehr als hundert redenden und einer noch viel groesseren Menge
stummer Personen.'-^ Das musste die Handlung weitläuftig machen, den
an lebensvollen Zügen zur Kenntniss dieses Theiles der alten Dramatik ein Abschnitt
in der Lebensbeschreibung Felix Platters von Basel: Thomas Platter u. Felix Platter von
Fechter, Basel 1840, 122—124: (Neudruck v. Boos S. 143 fgg.). Josias Simlers lobpreisender
Bericht über das Basler Spiel von der Bekehrung Pauli (Änm. 46): Neujahrsblatt des Waisen-
hauses in Zürich 1855, 6. 118) .Schlussrede des Joben Spils Anm. 39 Hiemit frommen,
tcysen Herren Banckend wir üch aller eeren Die jr vns hand fhuon heicysen Darumh u-ir
üch billich prysen Kein kosten Jmnd jr üch duren Ion Was wir üch hauend hand jr ge-
thon Vil wyns geschenckt zuo eer der weit Gmeinen kosten auch mit barem gelt Vssgerichtet,
geschettckt hundert pfund. Gleicher Dank in der Zueignung des Tobias Anm. 46. Greif
in der Vorr. zu Abraham 1540 rühmt, dass Kurfürst Joh. Friedrich die Kosten mehrerer
Tragcedien getragen und die Actoren beschenkt habe: Tittmann Schauspiele 1, xxxviii.
Der Stadtrath zu Freibnrg fügte den Geldunterstützungen sogar noch Thurmstrafe für die
bei, Avelche die Proben versäumten: das Theater zu Freiburg von Heinr. Schreiber 21.
119) Angaben der Art auf den Titeln beinah aller Drucke: öfters auch dem Per-
sonenverzeichniss die Namen der Spieler beigesetzt. 120) Belege in den Personen- und
Spielerverzeichnissen: Felix Platter in einem Schulspiel (Anm. 133) ein Gratia, Zwingerus
die Paiche, Scalerus die Hippocrif^is: a. a. 0. 122. Doch scheint ebd. berichtet zu sein, dass
einmal die Susanna auch von einem Maedchen gespielt worden, und vom Mitspielen solcher
in einem andren Stücke wird 123 bestimmt berichtet. Vgl. Anm. 147. 121) z. B. in
110 NEUHOCllDEUTSClll-: ZEIT. XVI JAllJUL § 105
Fortaclnitt der Thatcn und der Roden lionimon, und so ward nicht selten die
classische Zahl der Acte weit überschiitton und für die Aufführung noch ein
zweiter Tag in Ansprucli genommen.'-- Alles das, abgesehen von der Thei-
lung in Acte, wie schon im Mittelalter (§ 85, 17 tgg. 86, 13); ebenso, was
allein solch eine Spiolermongc moeglich machte und zugleich eine Folge der-
selben war, das Sj>i(>l unter freiem Himmel, in weit off'encn Jläumen, mit ein-
fachster Bülinenzurüstung und Maschinerie.'-^ Du liarten und schauten den
Ifuudorten Tausende zu, und jene wie diese mocliten der Lust um so ehei'
sich ergeben, da sie immer noch eine seltnere, vielleiclit nur jährlich einmal
wiederkehronde und man auch jetzt noch gewohnt war das Spiel nur auf Tage
der festlichen Flusse und sonst schon frcehlicher Stimmung anzuberaumen, auf
Sonntage '-*, auf Tilge nah an den hohen Festen der Kirche '^■', auf Neu-
jahr '-*' und sogar Tragoidien auf die Fastnacht.'-^
In solcher Art war an den dramatischen Uebungen das ganze Volk, auch
die Masse der Ungelehrten, ein jeder irgendwie betheiligt: dieser Masse denn
zu Lieb geschah Ijereits in der Dichtung manches, was sonst die Dichter
RueflPs Adam und Heva (Anm. 20) 106, in Boltzens Weltspiegel (Anui. 78) löS Personen,
alle redend; in Joli. Kassers Comcedie aus Evang. Matth. 21 u. 22 (Anm. 71a) deren 162: in
Pauli Bekehrung auch von ßoltz (Anm. 64) nur 78, aber (Aufführung zu Basel) Der Rudolf
Fry war luiuptman, Jiatt by 100 hurger, alle seiner färb angethon, under seim fenUn : Fei.
Platter 122; in Holtzwarts Saul (Anm. 43) 110 redende et mutarum quan appellant drdtcr
200. 122) z. ß. Gedeon Anm. 42. Goliath Anm. 44 a, Adam u. Heva, Weltspiegel, Saul,
Tobias Anm. 46. Wickrams Tobias von zwei Tagen auf einen abgekürzt: Gottsched 2, 220.
In der Zerstoerung Trojas von Georg Gotthart am ersten Tage 9, am zweiten 12 Acte. Vgl.
Anm. 153. 123) Susanna gespielt zu Basel auf dem Fischmarkt: Die brüge (Bühne) war
uf dem hrunnen, u. war ein zintiener kästen, darin die Susanna sich teesehet, doselbst am
hrunnen gemacht. Ebenda auf dem Kornmarkt Pauli Bekehrung: der Balthasar Han war
der hergott in eim runden himmel: der hieng oben am pfaicen (Haus), dorus der strol
schoss, ein fürige racketen, so dem Saulo, alss er vom ross fiel, die hosen anzündet. —
Ln himmel macht man den donner mit fassen, so vol stein umgedriben ivaren : Fei. Platter
122. 124) z. B. Rebhuns Susanna Anm. 108 zu Kahla am Sonntage Invocavit 153;').
125) nach Ostern: Fünfferley betrachtnusse Anm. 76; Osterspiel Anm. 1; Zorobabel Anm.
48 in Zürich nach Osteren 1575 u. a. Pfingstmontag: Rueff's Weingarten und Brummers
Apostelgeschichte Anm. 65 u. 68. W^eihnachtsspiele Anm. 54 fgg. 126) Das ältere Spiel
von Wohl- u. Übelstand der Eidgenossenschaft Anm. 77: Binders Acolastus Anm. 107 Be-
schluss Das schenckt man üch zum guoten jar; Funckelins Empfängniss und Geburt Christi
Anm. 55. Am Innsbrucker Hofe zum Sonnenwendfeuer, das dem Neujahrsfeste gegenüber-
liegt, 1583 der Raub der Proserpina gespielt: Freiesleben 15 fg. 127) Nicht bloss Apelles
Narrenschtd zur Fastnacht (Comcedie in Acten, kein s. Fastnachtsspiel) Anm. 81, sondern
auch ToHiA.s KoBER.s Idea Militis rere (Ivisfiani, Tragoedia usw. 1607 und ein geistlich
f
§ 105 DKAMA. AUFFUETIRTTNG. 111
•
oder (locli die meisten unter ihnen vielleicht anders gemacht hätten. So die
Vorsorge für mancherlei Schaugepränge, für bunte lärmende Aufzüge zu Fuss
und Ross (Anm. 121) und Aehnliches; so auch die durchweg geltende Ver-
letzung des Costüms, die allerdings mit jedem Schritte, den sie weiter ab
von den eigenthümlichen Formen des antiken oder alttestamentlichen Lebens
that, der Fassungskraft und der Fassungslust des Volkes den fremden Stoff
nseher brachte, und hiemit verbunden die Belebung der Fremdheit und des
Ernstes durch Scenen voll launig heimathlicher Sittenschilderung ^-^, durch
die mit Hass und Grausen untermengte Komik jener Nebenpersonen, die ebenso
schon das Mittelalter gebraucht hatte, der Aerzte, der Juden, der Teufel *-^,
und durch die bald harmlosen, bald bitteren Spässe noch einer anderen, die
erst jetzt in Gebrauch *^° und besonders als Prolog imd Epilog neben, ja vor
den Herold, ja gänzlich an dessen Platz zu stehen kam ^^\ des Narren. '-^^
In ihm personificierte sich, unbewusst den Dichtern selbst und noch sehr un-
genügend, die humoristisch-ironische Weltanschauung, so dass ihm in ernster
Dramatik eigentlich mit noch groesserem Recht eine Stelle ward als neben
den Scherzen der Komoedie und des Fastnachtsspieles,
Fastuachtspiel vom Joseph 1610: Gottsched 1, 160. 166. Vgl. Anm. 74 fgg. 128) Bircks
und Rehhuns Susauna Anm. 51. 108 (Kinderscenen), Ackermanns Verlorener Sohn Anm. 68,
.loben Spiel Anm. 39, Wickrams Tobias, vom reicheu Mann u. armen Lazarus Anm. 69 u. a.
129) § 85, '2 — 4. Juden u. Arzt z. B. in Pauli Bekehrung und der jungen Mannen Spiegel
Anm. 64 u. 80. Teufel oft und wo auch nur ein entfernter Anlass und mit breiter Aus-
führung wiederholter Gesprseche: z. B. Gottsched 1, 138. 159. 161. 167 fg.; zu vgl. Ein
lüstig (jesprech der Teuff'el vnd etlicher Kriegsleute, Von der flucht des grossen Scharrhansen
H. Heinrichs v. Brunschtcig 1542: Goedeke in der Zeitschr. d. Histor. Vereins f. Nieder-
sachsen 1850, 91. Den Berchtoldus redivivus Anm. 26 eröffnen sogar schon als Vorredner
Claus Narr, Lucifer und Herold, den Absolom Anm. 45 Lucifer, Moloch, Narr u. Herold.
Namen der Teufel wie im Mittelalter: z. B. in Rueffs Wohl- u. Übelstand d. Eidgenossenseh.
Anm. 77 Luzifer, Sathan, Beizebock, Bell, Eunzifal, in der Belagerung Babylons Anm. 49
Lucifer, Satan, Ästharoth, Beel, Beltzihoch, Milcom; Buntzifal neben Sathan auch im
Joben Spiel. Vgl. § 106, 32. 130) Doch kann bereits 1560 im Beginn von der jungen
Mannen Spiegel Anm. 80 der Narr sagen Es ist ein alt harkomner sitt den Jan ich yetz
ouch gältten Das givonlich louffend narren mit in spylen von ye loältten — Zuo dem nmn
mir den fortantz lat vor allen disen possen; in einem handschriftlichen Stücke zu Bern es
ist ein sprichivort allgemein, das Teein spil ienen sig so klein, in dem nit ein narr muesse
gyn: Mones Schauspiele d, Mittelalters 2, 415. 131) z. B. Anm. 129; in der Magelone
Anm. 23^ — 24 werden Vor- u. Schlussrede nur von dem Morio gesprochen. 132) Unsre
Redensart der Narr im Spiele sein. Mit eignem Namen im Beichtholdus Anm. 129 u. im
Zorobabel Anm. 48 Claus Narr (vgl. § 107, 52), in der Welt Spiegel Anm. 78 Heiny
112 NEUIIOCllDEHTSCIIE ZEIT. XVI JAirRTI. § 105
Dio bisherige Scliildcrung hat uns im Drama, melir als selbst in dem
lieiligon Gesang des Kirchenliedes, die Lust und Freudigkeit des Volks und
die Hingebung seiner Gelehrten zu fruchtbarer Wechselwirkung vereint gezeigt.
Aber es stand nicht überall, nicht immer, nicht für die Dauer so : auch diese
Dichtart sollte der Beeinträchtigung durch Übergriffe der Gelehrsamkeit und
durch die Engheit der Gelehrten nicht entgehen. Schon der Ablauf des
Mittelalters hatte das Drama, zu dessen Aufführungen man seit langem ge-
wohnt war auch Schuelkr zu verwenden (§ 85, 11. 12), unter die Schul-
übungen selbst mit aufgenommen (§ 8G, 22. 23) : das dauerte jetzt so fort und
setzte sich noch immer fester *'^, zuerst nur in den evangelischen, bald durch
Nachahmung auch in den Jesuitenschulen; ststs mehr fand man diesen "Weg
besonders geeignet um die Jugend zu einem volleren und leicht geläufigen
Gebrauch der Sprachen des Alterthumes heranzuziehn.'^^* Denn immer noch
waren es meist und der Regel nach latkinisciie und nun sogar grieciiisciik
DuAMKN ^^\ die man von den Knaben und Jünglingen der hoeheren imd der
hohen Schulanstalten spielen liess, und namhafte, darunter auch mit Dichter-
kraft begabte Gelehrte, ein Thomas Naogeorgus, ein Nicodemus Frischlin,
ein Caspar Bruelow, machten es sich um dieses Zweckes willen zur Ange-
legenheit, den Schatz der altroemischen Überlieferung noch um manch neues j
Erzeugniss zu vermehren, das auch biblischen, heimathlichen, allegorisch er-^
fundenen Stoff in die classische Sprache und Kunstform brachte.'^'' Zwar kam
Wunderfitz, 1553 u. 1573 in einem Fastnachtssp. von Peter Probst und in Rolls Comoedie
vom Falle Adams schon Hans Wurst (Gottsch. 1, 35. 118): oder ist es beidemal nur der
Name eines Fressers {WtirstJians bei HSachs: Schmellers Bair. Wörterb. 4, 158), in welchem
Sinn auch Luther 1541 den dicken Herzog Heinrich ii von Braunschweig-AVolfenbüttel einen
Hans Worst betitelt hat? Ein Wursthänsel in den englischen Spielen neben dem Jan:
Cohn Shakespeare in (iermany LX ; doch dies wie es scheint ein dürrer Narr. Vgl. § 106,
37. Vgl. hierzu u. zu den vorhergehenden Anm. Weinhold in Gosches Jahrbuch für Litte-
raturgeschichtc 1, 1 fgg. 133) Beispiele von der Univ. u. dem Gymnasium zu Basel bei
Burckhardt in d. Beitrsegen z. Gesch. Basels 1839, 197 fgg. 133a) Das lat. Schuldrama
des 16. Jahrh. erhielt seine höchste Ausbildung in den Niederlanden durch Gnaphaeus, Crocus
und Macropedius: s. die Anm. 135. Ihre Werke haben selbst das deutsche Volksschau-
spiel beeinflusst. In Deutsehland war die academische Bühne zu Strassburg, welche 1538
mit dem Anabion (Lazarus) von Sapidus eröffnet wurde, besonders berühmt. Die Auffüh-
rungen fanden (wie auch in Magdeburg) zur Messezeit statt. Vgl. Jundt im Programm des
protest. Gymu. Strassburg 1881. 134) Zu Zürich 1531 Aristophanes Plutus: Grüneisens
Manuel 41 ; 1535 sagt Georg Binder in der Vorrede zu seiner Verdeutschung des Acolastus
Anm. 107 Ich hab mm etwan vil iaren hie Zürich mit viinen knaben vil der Latinischen
vml Griechischfn comcedicn Terentij vnä Aristnphanis gespylt ; 1598 zu Strassburg Euripideaj
Medea nel>st ClioM'en IMndars: Bücherschatz 145. 185) Mehrere Einzeldrucke der Art
§ 105 DRAMA. SCHULSPIEL. 113
mitunter wohl auch ein deutsches Stück 7Aiv Aufführung durch Schüler *^*',
und eins und das andre jener neulateinischen wurden verdeutscht *^^, die
besseren oder mehr ansprechenden sogar wiederholendlich '^^, und wurden auch
so von Schülern *^" und so nun auch von Ungelehrten gespielt ^^": aber damit
war das Übel nicht vergütet, geschweige beseitigt, dass die Latin itset auch hier
und hier besonders der deutschen Dichtkunst gerade die Fsehigsten und Ge-
bildetsten entzog, dass neben dem Lateinischen das deutsche Drama in Ver-
achtung und Zurücksetzung gerieth '^' (meinte man doch deutschen Gedichten
verzeichnet im Bücherseh. 138; eine Sammlung 10 lateinischer Dramen (darunter Acolastti^
h. e. historia de filio prodigo von Gulielmus Gnapheus, Pammachius von Naogeorgus, He-
cnstus von Georgius Macropedius d. i. Langeveld) gedruckt zu Basel 1540: Comcedi(B ac
tragcedicc aliquot ex novo et vetere testamento desiimptce — Adiunximus xnmterea äziafi
lejndtssimas conicedias, mores corruptissimi secuU elegant issime depingentes. Naogeoi'gus
und Nicod. Frischlin § 94, 11. 136) Ein Lustspiel vnnd vast ehrliche Kurtsweile v.
Veneris vnd Palladis gesenck — Durch einen vleissigen ehrliebenden Studenten gemeiner
jugent zu gut verfasset (Umarbeitung einer Comoedie HSaehsens), Wittenb. 1536 : Bücher-
schatz 142; Rechtfertigung der Jugend zu Bartfeld in Ungarn 1559, dass sie die Susanna
deutsch auiführe, nicht lateinisch: Gotisch. 2, 219: in Magdeburg spielte man erst eine lat.
Comoedie, dann eine deutsche erst auf dem Rathause vor dem Rate, hierauf unter freiem
Himmel vor allem Volke: Goedeke Grundr. 306 nach einer Nachricht von 1561; 1544 u. 1621
Spiele der Lateinerknaben auf dem Münsterhof in Zürich: Memorabilia Tigurina v. Hans
Heinr. Bluntschli 96; 1603 zu Rochlitz Josephus Tragicomieus von Andreas Gasmann:
Gottsch. 1, 166: 1597 bei den Jesuiten zu München S. Michael: Freiesleben 19; 1611 bei
denen zu Dillingen *S'. Udalricus : Büchersehatz 147. 137) z.B. Cornelius relegatus, lat.
V. Albertus Wichgremus und so gespielt zu Rostock 1600, deutsch v. Joh. Sommerus Cycnceus
(§ 101, 13): Gottsch. 1, 158; Naogeorgs Jeremias 1608 von Wolf hart Spangenberg (Anm.
11): Bücherseh. 146. Zuweilen von den Verfassern selber übersetzt: Beispiele von Mart.
Hatneccius u. Tobias Kober Gottsched 119 und 161. Der erstere, Rector, zuletzt zu
Grimma, schrieb einen Almansor, deutsch 1582 (aus welchem H. RuD. Klauber seinen
Almansor, Basel 1590, entnahm), u. Hans Pfriem od. Meister KecJcs 1582 (lat. Hansoframea
oder Momoscopus 1581), auf Grund von Volksmierchen und volksthümlich derb, Neudruck
des letzteren Stücks, Halle 1882. 188) Naogeorgs Pammachius: Bücherseh. 141. Gott-
sched 1, 72. 79. 2, 200; desselben Kaufmann: Bücherseh. 141. 145. Gottsch. 85; beide Stücke
reformatorisch. Langevelds Hecastus: Gottsch. 96. 115. 123. Frischlins Rebecca: Gottsch.
123. Bücherseh. 147; desselben Phasma fGres/c/ti von mancherley Ketzereyen): Gottsch. 137.
163; und Julius redivivus: ebd. 143. Bücherseh. 144. Daniel Cramers Plagium (Sachs.
Prinzenraub) durch Barthol. Ringwaldt (§ 99, 57) u. Joh. Sommer : Bücherseh. 144. Gottsch.
157. 139) Hecastus zu Nürnberg 1549: Gottsch. 1, 96; vgl. Terenzens Hecyra ebd. 65
und die deutschen Vor- u. Beschlussreden zu Sophoeles Aiax Lorarius und Euripides Medea:
Gottsched 165. Bücherschatz 145. 140) Acolastus — rertütscht vnnd gehalten suo Zürich
von Georg Binder, Zürich 1535. 141) Jos. Murers Prologus zu der jungen Mannen Spiegel
WacTcernagel, Litter. Geachiclite. II. "
114 NEUIIOCIIDEIITSCIIE ZEIT. XYT JAIIRII. § 105
auch dieser Art den recliten Wortli und Ooljrauch erst dann zu gehen, wenn
man sie in Latein übertrüge '"'-), dass endlich die Einschriliikung auf Scliüler
und Schulfeste und die lliiunilichkcitcn der Schule '" ein Vorbild ward auch
anderweit die Auttulirung cijizuschriinken, auf das Spiel etwa bloss der
MKisTKKSiN(iKU eines Orts "' oder einer schon Comcodianten lehnlichen Likh-
uABERüE8ELL8CHAi''T '^^ uod, was Ajifaugs nur bei Fastnachtsspielen gescliehen
löljU Anm. 80 beginnt Hoch, wohjeleert, fürnemen, frommen darum wir also grüst Juir
kommen Hat rnn verursacht das alein ivyl man von alter har in gmein Eerlicher spilen
Rieh hrucht hat vnd sonders hie in diser statt Als wir von alten ril Itand ghcert nun aher
sinds rmcerd zerstart Wi/ls nit lieissen Commcdien old Latinisch Thragedirn Man spricht
die Jugend ueht sich drinn das ist auch vnser aller sinn Latin hat vnser keinr gstudiert
wir sind nit also gschivind vnd gfiert Das wir latinsch Commedien dichten drutnb wir vns
nach dem TütscJien richten Wir bgtcrend auch hierinn zuo leeren vnd so mans vns gleych
thuot i-^rkeeren So sinds im grund grad söllich lüt die vff den künsten haltend 7iiit usw.
Doch ist die Nameugcbung der autikon Comujdie und das ganze Gedicht dem Aeoiastus
nachgebildet. 142) Die Susanna von Sixt Birck 1532 deutsch (Anm. 51), 1537 lat. ge-
dichtet: Susanna, comoedia tragica, per Xystum Betuleium Augustanum, Augsb. 1537; Beel,
Eine Geistliche Comico-Tragn'dia, Erstlich aus dem teutschen Exemplar Xysti lietuleii (vgl.
Anm. 8G) in die lat. Sprach vertiert vnd Kilf) inn Gymnasio Ulmensi publice agiert, ]\'un-
mehr aber widerumb inn teutsche JReymen vberlegt durch Joan. Cunr. Merckium, Ulm IG 15:
Büchersch. 147. 143) Doch gieng z. B. in Basel (Fei. Platter 122 fg.) dem Spiele der
Gymnasiasten und Studenten ein Umzug durch die Stadt voraus, der sie den Eltern und
Freunden uud allem Volk bereits in der Verkleidung ihrer Rollen zeigte, eine ^^roccs-s gleich
der mittelalterl. processio ludi § 85, IG. 144) so zu Augsburg, wo im .1. 1510 Kolross
fünf Betrachtungen Anm. 7G den Anfang machten : Kunstgesch. d. RSt. Augsburg v. Paul
V. Stetten, Augsb. 1779, 530: Vermuthung Gottst^heds 2, 224. dass der Sebastian Wilu
zu Augsburg, der 1566 schon in zweiter Ausgabe zwülf Dramen drucken lassen, ein Meister-
sänger gewesen ; zu Nördlingen, wo meist Dramen von HSachs aufgeführt wurden: s. Schnorrs
Arch. 13, 34 fgg. : zu Freiburg im Breisgau: d. Theater zu Freiburg v. Heinr. Schreiber
21; zu Strassburg, wo 1598 die Meistersinger HSachsens Comcedie von Darius und seineu
drei jüd. Kämmerlingen vermehrten u. besserten und die Geschichte u. das Lob der Sitig-
schul von Lycosthenes Psellionoros in gestalt einer Comcedi und wohl für das Spiel der zu-
nsechst gefeierten seihst allegorisiert und das Gericht Salomonis von demselben als Oimcedische
Singschul gedichtet ward: Gottsched 1, 174. 186 fgg. § 100, 37. Zeugnisse über dram.
Aufiührungen der Meistersinger im 17 Jahrh. s. Strassb. Stnd. 1, 92 fgg. Für sie dichtete
Wolfh. Spangenberg seine Comoedieu Wie gewunnen so zerrunnen und Glückstcechsel, uud
seine tragwdische Vorbildung Mammons Sold, alle gedr. Nürnb. 1613. Von Nürnberg selbst,
wo doch HSachs u. Peter Probst die Meistersinger auch Dramen dichteten (§ 98, 37), wird
dergleichen nicht erztehlt. 145) Laut der Vorrede zu dem Joseph, welchen 1593 Job.
Schlayss nach einer deutschen Comu^die v. Christian Zyrl und einer lateinischen v. Aegidius
Hunnius zusammengedichtet, hatten ein Hans Pfister und eine ehrbare Gesellschaft zu Tü-
bingen schon öfters deutsche Comu'dien gehalten uud waren dabei vom Rath unterstützt
I
I
§ 105 DRAMA. DRUCK. 115
war (§ 86, 12), auf den engeren Zuschauerkreis, den ein Fest im Haus
eines Bürgers ''*'' oder ein Hoffest ^" sammelte.
Die Abwendung vom Leben, die schon in solchem Ausschluss des ge-
summt mit-Nvirkenden Volkes lag, erscheint aber auf das Ausserste getrieben,
wenn dramatische Gedichte nicht allein, wie die vorher genannten meist, nach
dem Spiele, damit man sie mm auch lesen ^*^, und auch nicht deshalb gedruckt
wurden, damit man sie nun spielen möchte '*^, sondern wenn mit dem Drucken
einzig das Lesen ^•'''*, mit dem Dichten einzig das Drucken bezweckt und darum
ein Drama gleich auch so gedichtet ward, dass die Auffühi'ung sogar unmoeg-
worden. 146) Beiträge z. Gesch. Basels 201: Rebhuns Hochzeitspiel auff die Hochzeit
zu Cana Galilea gestellet 1538; J. Murers Bester Anm. 47 a; Ch. Murers Scipio 28b; Brunners
Rebecca und Tobias 1569; die Fahrt Jacobs v. Georg Goebel (Budissin 1586) Comcediemceise
auf Hochzeiten vnd sonst zu spielen gestellet ; ein Berner Hochzeitspiel von 1606 bei Gott-
sched 1, 158. Auch HSachsens Plutus 1531, wie der Prologus zeigt, vor einer Abendgesell-
schaft aufgeführt. Eben desselben Tobias u. Opfer Isaacs zu Basel 1602 auf Anlass einer
Hochzeit, aber durch Schüler u. in einem Schulgebäude : Büchersch. 146. Beitraege z. Gesch.
Basels 200. 147) Anm. 126. Georg Rolls Comoedia vom Falle Adams u. Evas 1573 auf
dem Schlosse zu Koenigsberg, die wahrscheinlich von Georg Pondo gedichtete Comcßdie v.
d. Geburt des Herren Christi (hsggb. v. FrietUänder, Berl. 1839) 1589 am Berliner Hof ge-
spielt: die Darstellenden Knaben und Msedchen des kurfürstl. Hauses selbst und von adlichem
und bürgerlichem Stande. Msedchen: hier durfte deren Auftreten (Anm. 120) weniger stossen.
148) wie z. B. Rebhun auf den Titel seiner Susanna Anm. 108 setzte gantz lustig vnd
fruchtharlich zu lesen. 149) .Joachim Greffs Abraham, Isaac u. Jacob Anm. 36 zu spielen
vnd zu lesen trcestlich ; die Vorrede zu dem Radtschlag JDes allerheiligsten Vaters Bapsts
Pauli des Dritten, Mit dem Collegio Cardinalium, wie das angesatzte Conciliimi zuo Trient
fürzunemen sey, Anno 1545 (o. 0.) setzt die Aufführung nur als moeglich : Aber für dieses
alles zumal, Imben vnd brauclien wir einen Ort, als vnser Kirclien, Theatrum oder Pro-
scenium, wo es einem jedem am gelegensten vnd bequemisten ist zu agieren; die Comoedie
n. die sechs Fastnachtsspiele des Meistersingers Peter Probst zu Nürnberg 1553 zum Lesen
and zum Spielen geschrieben: Gottsched 1, 34: ebenso Joh. Leons Weihnachtsspiel Anm. .56
noch ohne Aufführung, aber für eine solche gedruckt ; Heinrich Rsetels goldnes Kalb 1573
trcestlich, nützlich vnd lustig zu lesen vnd öffentlich zu spielen; im Jonas rhythmicus
durch Ambrosium Papen 1605 die Geschichte so ausgeführt, das sie ohn Zweiffei mit
Lust vnd Nutz gelesen vnd agiret tverden kann: Gottsched 155. 150) wie bei dem CoN-
CILIUM und dem Reichstag, beiden von Utz Eckstein gegen Murner u. die Murnerischen
gedichtet (§ 99, 28), neu gedruckt in Scheibles Kloster 8, 705-826. 827—892, vgl. auch
Weller Volksth. 112, wo noch zwei andere Dialoge von Eckstein; bei Freysslebens Spiel
V. d. Weisheit u. Narrheit Anm. 79, auf dessen Titel der Keim Kauff o Leser dise suchen.
Du wirst drinn lernen vnd lachen; gewiss auch bei den meisten Dramen, die man aus dem
Latein verdeutschte: insbesondere wo sie Schulaufführungen den des Lateins Unkundigen
verständlich machen wollten, wie in Strassburg die Uebersetzungen von Isaac Froereysen,
Wolfh. Spangenberg u. a. (,Anm. 11 fgg.). Uebrigens wurden deutsche Argumenta oft bei
110 NETlIOrTIDETTSrilE ZEIT. XVI JATIRIT. § 106
lieh gewesen wjpic: ein Beispiel horoits aus dem J. l.")2() die Trarjedia von
CaliTstns und Mclibia '•'"', deren Verfasser, Christoi-ii Wik.sin(s von Augs-
burg (§ 104, 10), aus der Ciespia^chfurm einer spanisch-italia'nischen Novelle '-'S
die er, zwar mit Freiheit, nur verdeutschte, eine Reihe von 21 Acten "^^, ein
Drama und keines gemacht hat.
§ 106.
Wie eifrig nach all der bislierigen Darstellung das sechzehnte Jahrhundert 1
um dus Drama sich bemühte, die Bemühung musste auf diesen Wegen er-
folglos bleiben, da Hans Sachs zu ungelehrt dafür und zu einseitig in seiner
Begabung, die ]\[olirzahl der Anderen aber unbegabt und zu gelehrt und so,
was beide erreichten, nur eine unfruchtbare Bastardmischung aus Heimischem
und Fremdem war; sie w^ere überall erfolglos geblieben, wenn nicht ein gün-
stiges Geschick, desgleichen noch einmal im achtzehnten Jahrhundert sich er-
eignen sollte (§ 145), die Einwirkung eines Volkes gebracht hätte, welches
durch Gleichzeitigkeit und Bluts- und Sinnesverwandtschaft nseher stand.
Noch um Jahrzehende, ehe dieser Zeitabschnitt zu Ende gieng, trat auch (las
Englische Schauspiel und trat die Schauspieldichtung Shakspeares und seiner
älteren Zeitgenossen in den deutschen Gesichtskreis.' Erster Beleg hievon
(wir lassen andre bedeutungslosere und minder sichere Spuren - bei Seite),
ein Beleg schon aus den Jahren 1593 und 1594, sind die Dramen des Her- 1
zogs Heinrich Julius von Braunschweig. ^ Stand und Bildung wiesen sonst
auch diesen Dichter auf die Dichtart der Gelehrten hin, auf biblische Stoffe,
wie es denn auch von ihm eine Susanna giebt ^, und auf Benutzung des]
der Auiführung in die lat. Stücke aufgenommen. 151) Biichersch. 1.39. Vgl. auch Scherer]
QF. 21, 13 fg. 152) einer ital. Übersetzung der Celestina des Spaniers Rodrigo Cota. der-
selben, die Caspar Barth 1625 unter dem Titel Ponioboscodidascnlus in Latein gebracht hat.
1.58) oder, wie er sagt, Wirckungen : Anm. 19.
§ 10(). 1) Eine Darstellung des Englischen Schauspiehvesens jener Zeit in Baudissins
AVerke: Benj. Johnson und seine Schule. Leipz. 1836. Ueber seinen Einfluss auf Deutsch-
land s. A. Cohn, Shakespeare in Germany, London 186.5. Meissner, Die englischen Comoe-
dianten in Oesterreich, "Wien 1884. 2) wie den Zusammenhang von Zacharias Lieb-
HOLDS Kaufmann von Padua 1596 mit dem novellenhaften Theile von Shakspeares Cym-
beline. Wesentlich die gleiche Geschichte schon in deutscher Poesie u. Prosa des 18 und
des 15 Jh.: § 66, 30. 90, 272. 3) geb. l.')64, gest. 1613. Neue Ausgabe seiner Schau-,
spiele von Holland Stuttg. Lit. Ver. 1855. Hier auch ein früher ungedrucktes Stück Der \
Fleitichmver. Von den übrigen nenn Stücken führen den Namen Tragcedia 3, Tragicn
Comcedifi (§ 105. 47) 2, Vommha 4. Ueber das Theater des Herzogs s. auch H. Grimm,
Fünfzehn Essays N. F. 142. 4) Tragica Vonuedia von der Sumnna, in doppelter Fassung,!
§ 106 DRxVMA. EKGLlöCllES SCHAUSPIEL. 117
Tercnz.'^ Aber eben derselbe (und noch von anderen Fürsten der Zeit wird
das bericlitet) hatte an seinem Hof Schauspieler aus England ^ : daher bei
ihm nun auch Stoffe tlieils von Englischem Ursprung ^, theils doch den eng-
lischen ähnlicher als den gewohnten deutsclien ^ und überall, in Tragoedien
und Comoedien, eine Behandlungsweise, wie sie allein den Engländern abzu-
sehen war, die Anlage nicht ohne Kunst, die Charactere mannigfaltig und
körperhaft und einer darunter, der stsetig wiederkehrt, der Tölpel und Schalk
JoHAN BousET ^, dazu dessen Reden stsets in niederdeutscher und öfters sonst
auch die der geringeren Personen in der oder jener anderen Mundart ^^ und
alle Rode in Prosa, da die Englischen Schauspieler, denen doch wohl die
Aufführung oblag, die Stücke ihrer Heimath auch nur in so bequemere Form
übertragen hatten J^ Jener Sprachenwechsel war zuweilen schon vor dem
Herzoge ^^ und ist noch häufiger nach ihm versucht worden ^^, bezeichnend,
weil es fast immer nur Niederdeutsch ist, das so sich einmischt, für die
beide 1593, die spätere Auffs new Tcürtzer verfasset. Susannen Anderer § 105, 50 fgg.
Der Herzog legte die Frischlins zu Grunde. 5) Daher bei ihm Personennamen wie Davus,
Dromo, Thraso, Pamphilus, Sosia, Plirygia. 6) Heinrich Julius und ihm gleichzeitig
Landgraf Moritz von Hessen und schon vor ihnen Friedrich ii v. Dännemark (1559 — 1588)
nach Thomas Heywoods Apology Ibr Actors 1612: Magazin f. d. Litter. d. Auslandes, Berlin
1841, 73; Lynker, Gesch. d. Theaters in Cassel 18G5; spseter, um 1614, Johann Siegmund
V. Brandenburg: Tiecks Deutsches Theater 1, xxiv. Doch zogen eben diese Comoedianten
auch an fremden Hcefen und in auswärtigen Städten umher: s. Anm. 49. 7) In der
Ehebrecherin 1593 der gleiche Schwank von einem sich selbst zum Hahnrei machenden Ehe-
maune (Gallichorcca), den Shakspeare für die Lustigen Weiber von Windsor benützt hat
(Fallstatf u. Ford). Zu der Comoedia Von einem Edelmann, Welcher einem Abt Drey
Fragen auff'yegeben, 1594, konnte den Stoff jene englische Ballade gewahren, die Bürger
nachgedichtet (LB. 2, 977): doch gieng derselbe längst auch schon in Deutschland um (LB.
3, 1, 75 u. a.) und war bereits im 15 Jh. dramatisiert worden : § 86, 10. 8) Beispiel die
Comoedia von Vincentio Ladislao Sacrapa von Mantua 1594, einem pedantisch hochredenden
und aufschneidenden Junker, wie dgl. öfters bei Shakspeare. J)) auch Boussett u. Bouschet:
englisch bossed bucklicht? Ayrer sagt Posset: engl, posset Molkenbier? Oder aus franz.
Poncet Däumling, der als Tom Ponce auch in England bekannt ist? vgl. Anm. 38. Der
herzogl. braunschweigische Komiker Sackville nannte sich auch Johann Bouset: Meissner
S. 31. 10) meissuisch, thüringisch, schwsebisch u. a. Nur in dem Abt, wo aber der
Schalk auch Hauptperson ist (Anm. 7), spricht er ebenfalls hochdeutsch. 11) Zu schliessen
aus der Prosaform der Stücke, welche die wandernden englischen Conicjedianten spielten:
Anm. 18. 12) 1578 in Omichs Dämon und Pythias, 1586 in der Fahrt Jacobs von Goebel,
1589 in dem Berliner Weihnachtsspiel und im Speculam imerorum v. Pondo. 13) von
JoH. CuNO in der Geburt und Offenbarung Christi 1595, von Bertesius im fliob 1603, von
Job, Bechmann im Miles christianus 1604 (Goedeke, Roemoldt), von Joachim Burmeister
118 NErilOCHDEUTSCHE ZEIT. XVI JAIIKII. § lOß
Stellung tief unten, die man jetzt dem letzteren nur noch gönnte (§ 93, 27 fgg.).
Befremdlicher war und blieb die Prosa '\ und es geschah, dass Stücke des
Herzogs in den üblichen Keimvers umgearbeitet wurden '': die Vornehmheit
des Verfassers schreckte davon nicht ab: die Zeit ahnte dieselbe vielleicht
oft gar nicht "', da er geflissenthch seinen Namen in ra^thsolhafte Umschrei-
bungen barg.'' Stärker jedoch als durch ihn, dessen Streben von solchen
Eingriffen nur konnte benachtheiligt werden, w^irkte das neue Vorbild, seit
von England aus und über die Niederlande (eine Truppe im Gefolge Leicesters
1585) zu den wenigen stehenden nun auch wandernde Schauspieltruppen, die
8. g. Englischen Com^dianten, gekommen waren um ganz Deutschland zu
durchziehn und bald an Hoefen, bald in Städten ''* ihre in Prosa verdeutschten
Dramen, mitunter auch Singspiele aufzuführen '* : es geschah das um dieselbe
in dem Geoifenbarten Christus 160.5, von einem unbekannten in der Tragoeäia von einem
ungerechten Richter 1608 (zu Magdeburg, wo auch die meisten anderen Stücke dieser Art),
von Joachim Lesebekg in der Susanna 1609, von Angelius LoHRUERii Liga d. i. Gabriel
Rollenhagen (Gsdertz G. R. Leipzig 1881), der dabei den ganz niederdeutschen Isaac von
ScHLUE (Rostock 1606?) benutzte, in den Amantes amentes 161tt. von Nie. Loccius im
Verlornen Sohn, Lüneburg 1^9 (Gcedeke Rcemoidt), von Martin Rinckart im Eislebischen
Ritter und in dem Monetarius seditiosus (der Müntzerische Bcmrenkrieg) 1625 u. a. ; die
Comcedia de nuptiali contractu Israel durch Joh. Btitovium 1600 liat ein niederd. Zwi-
schenspiel: Büohersehatz 146; über hamburgische Zwischenspiele, freilich aus spseterer Zeit
s. Gsedertz Das niederdeutsche Drama, Berlin 1884. In den Zwischenspielen von Andreres
(Anm. 20) sonst lateinischem Turbo 1616 das bunteste Sprachgemenge, selbst Polnisch und
Zigeunerdeutsch. 14) Vor dem Herzoge, da Übersetzungen wie die des Terenz § 105, 16
und nur zum Lesen bestimmte Prosagesprseche (.§ 110, 12) hier nicht in Betracht kommen,
in Prosatbrm nur das Innsbrucker Spiel vom Raube der Proserpina 1583 : § 105, 126. Nach
ihm das Weihnachtsspiel von .Job. Seger 1613, wo sich jedoch nur einzelne Prosastellen
unter die Verse mischen. Vgl. Anm. 89. 15) der Vincentius Ladislaus durch Eliam
Herliciuin 1601 (Satrapa statt Sacrapa), die Ehebrecherinn 1605 durch Joh. Olorinum
Variscum d. h. Joh. Sommer: § 101, 13; beide bei Holland S. 555 fgg. 16) Joh. Sommer
wusste den Verfasser wohl, da er angiebt, dass die Ehebrecherinn auf dem Schlosse zu Wolfen-
büttel sei in prosa agiret worden. 17) HIBALDEHA, HIBELDEHA d. i. Henricus
Julius Brunsvicensis Atque (Et) Luneeburgensis Dux Episcopatus Halberstadensis Antistes
(oder Episcopuii HAlberstadetisis) ; dem entsprechend zu deuten auch HIDBELAHE, HIE-
HADBEL, HIDBELEPIHAL, HIDBELEPIHALA. 17a) Besonders wichtig Frank-
furt: E. Mentzel Geschichte der Schauspielkunst in Frankfurt a. M. 1882, Hier agieren
sie 1593 englisch, 1604 zu Nördlingen deutsch: Schnorrs Archiv 11, 62.5. 18) Deutsches
Theater v. Teeck, Berlin 1817, 1, xxiii fgg. Shakspeares erstes Erscheinen auf d. Bühnen
Deutschlands v. E. A. Hagen, Kcenigsb. 1832, 9 fgg. Sammlung der Prosadramen Engelische
Coniedien vnd Tragödien — Sampt dem Piclelhering, zuerst 1620; Liebeskampff' od. Ander
Tlieil der Engelischen Comoedien vnd Tragcedien 1630: vgl. Anm. 49. Auswahl bei Titt-
§ 106 DRAMA. JACOB AYRER. 119
Zeit schon, in welche die Stücke des Herzogs fallen. ^^ Alsogleich ward noch
mehr als ein Dichter sonst von den Eagclländern berührt und angeregt: so
Johann Valentin Andrere ■^'', so namentlich Jacob Ayker der ältere.^ ^ Dieser,
der im J. 1605 ^^, nachdem er für das Drama vielleicht nur ein Jahrzehend
lang thsetig gewesen '^^^ zu Nürnberg gestorben ist, mag zwar in Vielem nur
als der Nachfolger seines Landsmannes Hans Sachs erscheinen, wie er denn
auch, obschon in seinem spa?teren Leben Procurator und Notar zu Bamberg'^*
und Nürnberg, kaum viel gelehrter war als Sachs ^^ : anfangs hatte auch ihn
ein geringeres Gewerb, ein Eisenkram, gensehrt. Er hat genug in der alt-
nürnbergischen und Hans Sachsens Art, den er hoch verehrte -^, ja umarbei-
mann, Die Schausp. der Engl. Komödianten in Deutschland, Lpz. 1880. Ein Spiel in Reim-
versen, das sicherlich eben hieher zu ziehen, bei Keller in den Fastnachtspielen aus dem
15 Jh., Stuttg. 18.53. 2, 1013—1020: ein Singspiel, der Eolandt, ebd. 1021—1025; vgl.
Anm. 47. Eine rohe Prosabearbeitung von Shakespeare's Romeo und Julie ist abgedruckt
bei Cohn 305 fgg. (dies Spiel wohl das 1604 in Nördlingen gespielte) ; eine solche des Kauf-
manns von Venedig {'Der Jucl von V.) bei Meissner 131. In der Sammlung von 1620 ist
dagegen die Comoedie von Sidonia und Theagenes eine Prosaaufloesung von Gab. RoUenhagens
Amantes avientes: R. Koehler Jb. der Shakespeare-Gesellschaft i 408 fgg. 19) Denn bei
Ayrer, der zum mindesten 1595 zu dichten begonnen (Anm. 23 1, zeigt sich der Engl. Ein-
fluss schon durchweg. 20) Ihn bestimmte zur Abfassung zweier lat. Dramen Esther und
Hyaeinthus AnfjUcorum histrionum cemulatio: Andreaes Dichtungen (v. Sonntag), Leipz. 1786,
XXXII. Andreie Anm. 13. §99,61. 21) Jakob Ayrer von Schmitt, Marb. 1851. Samm-
lung seiner Dramen Ojms Thmatricum. Dreissig Aussbündtige schcene Comedien vnd Tra-
gedien — Sampt noch andern Sechs vnd dreissig — Fassnacht oder Possen Spilen, Nürnb.
1618; die Fastnachtspiele mit besondrer Blätterzsehlung u. der Jahrszahl 1610. Von einer
Handschrift zu Dresden Heibig in dem Literarhist. Taschenbuch von Prutz 1847, 442 fgg.
Abdruck der Dramen Stuttgart Lit. Ver. 1864. 65. 22) Heibig in den Blättern f. Literar.
Unterhaltung, Leipz. 1847, J^'r. 328. 23) Die früheste unter den Jahrszahlen der Dresdner
flandschr. ist 1.595: Heibig bei Prutz 443. Trotz dem so viele Dramen: ausser den 30 u.
36 des Druckes verspricht dessen Vorrede noch einen zweiten Theil von andern viertzig
scIuPAien lustigen Comedien Geistlich vnd Weltlich; drei nicht in das 02}us iheatricum auf-
genommene zu Dresden: Heibig a. a. 0. 443. Indess Ayrer dichtete schnell: zu einigen
seiner Singspiele hat er nur je einen Tag gebraucht: Heibig 444. 24) In Erinnerung
daran, wo nicht dort selbst gedichtet die neunactige Tragedia, Vnd gantze Histori von er-
bauung vnd anTcunfft der Stadt vnd Stiffts Bamberg sowie die gereimte Chronik § 99, 9.
25) Beispiel die rohe Entstellung der antiken Eigennamen. Auch dadurch unterschieden
von dem jüngeren Jacob Ayrer, Doctor der Rechte, Advocat zu Nürnberg; von diesem in
Prosa 1597 Historischer Processus Juris, in welcliem sich Lticifer vber Jesum — beklaget;
nach Jacobus de Teramo: vgl. § 90, 11. 26) Im Julius Redivivus Com. 107 b Vnd ist
in diser Stadt auch icorn Hans Sachss der Teutsch Poet geborn Der alle andre übertrifft
Hat hinderlassen seiner schrifft Fun ff Büclier Teutscher Reimen vol Wer dise list dem
120 NFAIHOCIIDKITSUIIK ZEIT. XVI JAHRH. § 10(5
tend nach Hans Sachs ", hat Fastnaclitsspielo und biblisclic -'* und antike
Stoffe und Stoffe der deutschen Epik ^•' und auch er mit Übersetzung aus dem
Lateinischen gedichtet ^° und Alles 8o, dass er an Witz, an Gomüth, an Sitte,
an Geläufigkeit der Rede hinter dem Vorgänger weit zurückbleibt: wie un-
ziemlich, dass er in einem Possenspiel *' selbst Jesum, wie ärmlich eintoonig,
dass er in beinah alle Tragoedien und Comoedien der Teufel einen oder meh-
rere setzt! ^^ Jedoch ebenso weit steht wieder er voraus durch gereifterej
Kunst der Characteristik und dramatischer Entwickclung, Und diese verdankt'
er, der minder in sich selbst begabte, dem Beispiel, das die Engelländer ^^
brachten, um so unzweifelhafter, da auch sonst dessen Einwirkung auf das
mannigfachste sich kund giebt.^^* Nicht dass, wie der Herzog von Braun-
schweig, irgendwo auch er in Prosa dichtete: Gewohnheit oder richtiges Ge-
fühl la3sst ihn die alte Versform beibehalten, und theilweis zeigt er in deren^
Handhabung eine bei Hans Sachs noch seltnere Geschicklichkeit -'^i aber auch
er bearbeitet Stoffe aus England und benützt Englische Dramen ^'^ ; auch er
braucht die Einmischung niederdeutscher Rede als Mittel der Komik ^'^; auch!
er mischt, wie die englischen Comocdiantcn ihren Piclcclhering ^^, sogar in
Tragccdien die lustige Person, den Jahn ^"^, und leesst denselben, wenn auch
gfallens ivol ; in dem Process wider der Koeniginn Podagra Tyrannei Fastnsp. 38 fgg. eii
Hauptredner Hans Sachs. 27) Heibig a. a. 0. 443. 28) Heibig a. a. 0. u. Anm. 23J
29) Die als drei Theile zusammengestellten Dramen Vom Hueg Dietericlien, Von dem Keiser '
Ottnit und Vom Wolff Dietericlien; vgl. Anm. 41 u. § 107, 18. 80) Julius Mediticus, j..
auss Nicodemo Fri^chlino ; von Gottsched im Vorrath 1, 121 durch Vermengung mit der ^|
älteren Verdeutschung Jacob Frischlins (§ 105, 138. Biichersch. 144) fälschlich in das J.
1585 gesetzt. 31) der Baur mit seim Gefatter Todt : auf Grund des Volksmaerchens.
32) Auch bei ihm i. d. Comedia v. d. schoenen Sidea d. Teufelname B.uncifal% 105, 129. Vgl. d.
Zauberer Runcifax im Königssohn v. England: Tittm.Schausp. d. engl. Kom.S. Llllu. Creizenach,
Faast 75. 33) deren Auftreten zu Nürnb. 1597 bezeugt ist: Meissner 32. 33a) Ayrers
Sidea stimmt mehrfach mit Shakespeares Sturm; seine Phoenicia mit Viel Lärm um nichts.
Ueber andere englische Stücke, welche als Quellen Ayrers in Betracht kommen, s. Tittmann
in den Schausp. aus dem 16. Jh. 2. 129 fgg. 34) Die Reimbrechung durch Personen-
wechsel (§ 85, 37) bei ihm gleichmaessiger u. sichtlich grundsätzlicher als bei HSachs (vgl.
über diesen Rachel, Reimbrechung u. Dreireim im Drama des fl. Sachs u. andrer gleichzei-
tiger Dramatiker, Progr. Freiberg 1870): bei ihm auch, was HSachs nicht kennt, Brechung
durch Personenwechsel mitten im Verse. Wohl ebenfalls engl. Einfluss: vgl. den Roland
in Kellers Fastnachtsp. 2. 1021. 35) Tieck a. a. 0. xviii fgg. 36) Es spricht so im]
Julius Rediv. AUeprex der Sophoisch Krcemer. 37) Anm. 18. Engl, to pickle einsahen'.
ein magrer Narr und Hans Wurst § 105, 132 ein feister? Wohl eher nach der Lieblings-
speise des niederländischen Volkes genannt, wie Jean potage u. ä. 38) Jahn oder JannA
§ 106 DRAMA. SCHAUSPIELER. 121
nur als Buten oder Diener, mit Wort und That einen gewissen Antheil nehmen
an dem Verlaut' der Ereignisse, wsehrend der Narr der bisherigen deutschen
Bühne mehr nur seitwärts darein, gleichsam nur in Randbemerkungen '-^'^ und
hooher hinauf etwa als Prolog und Epilog hat mitreden dürfen'*"; in Possen-
spielen ist Jahn sogar öfters die Hauptperson: dann aber kommt an dessen
Statt wohl auch ein anderer Name vor/' Selbst eine oder zwei neue Arten
des Dramas schafft Ayrer den Engelländern nach: mit der Auffühi-img an
keine bestimmte Zeit gebunden, für keine Gelegenheiten dichtend, da er,
anders als jener Herzog (Anm. 16), zunächst nur für das Lesen schreibt und
die Aufführung nur als Mceglichkeit annimmt *'■*, bezeichnet er seine Fastnachts-
spiele zugleich mit einem allgemeineren und bis dahin imgebrauchten Namen
als Possenspiele ^^ ; einen Theil aber dieser Possen- oder Fastnachtsspiele hat
er, hinausgehend über die blosse Einflechtung von Musik und Gesang, die
ihm auch geläufig ist, wie all den Früheren ^* , als Singspiele abge-
in dieser Form zwar niederländisch, die Person aber selbst wiederholendJich als eine ur-
sprünglich englische bezeichnet: der Engellendisch Narr udgl. Dazu noch mancherlei Bei-
namen, besonders Clam oder Klan (Process wider der Kceniginn Podagra Tyrannei) d. h.
engl, down, und Posset, dieser fast nur in Possenspielen und vielleicht mit Bezug hierauf
aus Bosset Anm. 9 verändert. Einmal, im Servius Tullius, heisst der Narr auch Jodel (nach
dem Franzoesischen? vgl. Jodelet in Molieres Preeieuses ridicules), im Julius Kediv. und in
Valentinus u. Ursus TL 1 Lcerlein. Dies nach DWb. von Lorenz abgeleitet; aber doch
wohl unter Einfluss von Lauer (hlrej Schalk. Vgl. LB. 25, 26 (bei Murner) lürlis Tand.
39) In dem Deutschen Schlemmer von Joh. Stricerius § 10.5, 84 sind wirklich auch die Neben-
reden des Narren (in Prosa) theilweis an den Rand gedruckt. 40) § 105, 131. Auch bei
Ayrer spricht zuweilen den Prolog nicht der Ehrnholt, sondern Jahn der Engellendische
Narr. 41) In einem der vorzüglichsten Fastnachtsspiele LB. 2, 301, dessen Stoif sichtlich
aus einem Mserchen des Volks entnommen, heisst der einfeltig Narr, der die Hauptperson,
Fritz Dolla; in einem andern, der vberivunden Eifferer (Eifersüchtige), wird es frei gestellt,
ob man die Hauptperson wolle als Jahn erscheinen lassen : Maritus (oh man tvillj in gestalt
eines Englendisclun Jahnns geht ein. 42) Auf dem Titel des Opus Thaeatr. Sjnhveiss
verfasset, das nmn alles Persa^nlich agirn Tcan und in der Vorrede nicht allein zu Lesen
so anmutig vnd lieblich, — sondern auch alles nach dem Leben angestellt vnd dahin ge-
richtet, das mans (gleichsam aiiff die neue EngliscJie manier vnd art) alles Perscenlich
Agirn vnd Spilen kan. 43) Anm. 21. Bosse, Poss Knabe, geringer Knecht: Schmellers
Bair. Wörterb.' 1, 298; wunderliche, lustige, fratzenhafte Figur: Frisch Teutsch-Lat. Wörter-
Buch 2. 66. Unsre Redensarten einen Possen spielen u. Possen reissen: letzteres (reissen
eigentlich s. v. a. zeichnen) ungefaehr wie imnnlin machen LB. 1, 150.5, 16; bossen reissen
schon z. B. Murner im Luth. Narren S. 156 und Rollenhagen LB. 2, 288, 24; bei Ayrer
im Kaiser Maehumet Jahn der Narr oder Possen reisser. 44) § 105, 99 fgg. Bald sind
die Lieder nebst den Weisen vorgeschrieben, Weisen bekannter Volks- od. Gesellschaftslieder:
z, B. im Theseus Es steht ein Linden in jenem Thal und im Fastusp. vom Hoüeben Es
122 NEUIIOCIIDEUTSCIIE ZEIT. XYI JAlliill. § 106
fasst ^'', zwar noch ohne jcgliclion Wechsel verschiedener Formen, mit steeter
Wiederliolung (denn so eben hielten es die Engelländer *'^') einer und derselben
bald englischen *", bald deutschen Weise.^"
Wie etwa sonst noch die Deut-^chc Schauspieldichtung durch die Eng-
lischen Comojdiantcn umgestimmt worden, lajsst sich, da begreiflich das Meiste
der vergänglichen Schrift überlassen blieb, aus dieser Zeit selber nicht mehr
zeigen. Doch weiss man, dass die Kunstwanderungen jener Fremden noch
das ganze siebzehnte Jahrhundert entlang gedauert '*'•' und so staets nachhaltiger
und zuletzt entscheidend den Anstoss gegeben haben, durch welchen die Auf-
i'iihriuigsweise, die bisher gegolten, und damit die bisherige Stellung des
Deutschen Dramas zu dem Volk und in der Litteratur und mit der Stellung
das Wesen desselben für alle Folgezeit umgeändert ward. Denn ihrem Bei-
spiele nach bildeten schon mit dem ersten Beginn des Jahrhunderts sich auch
Deutsche Schauspieltruppen "": es konnte dieser hoehcr gehenden Abzweigung
gierigen zwo Gespiehi gut wol vber ein breite Heiden (in den 2 Brüd. aus Syracus ein Lied
im Rosenton HSaehsens): bald, aber seltner, wird die Wahl des Gesanges freigegeben: z. B.
am Schluss der Trag. v. Erbauung d. Stifts Bamberg Zu mercken die Gesänger, tcelcJie ip.n
diae Trayedi gehoeren, sollen Jnen die Spielleut doch also dass sie der MaPri gleich seindt,
selbst darein machen, oder machen lassen, mich solchen Tarnen vnd Melodeyen die sie können.
45) Singets Sjnl d. h. singendes Spiel, wie im Gegensatze dazu die Vorrede von Bedenten
Spilen spricht. Das Fastnsp. Von dem Engelländischen Jann Posset wie er sich in seinem
Dienst verhcdten kommt in beiden Formen, redend und singend, vor. 46) Tieck a. a. 0.
xviil fg. u. XXIX. Älteres deutsches Beispiel die Marieuklage § 85, 36. 47) Heibig bei Prutz
a. a. ü. 443 fg. Öfters namentlich Im Thon : Wie man den Engelendischen Roland singt
(auch Doman § 104. 2 im Thon des Rolands): gemeint ist wohl das Singspiel Anm. 18, das
aber die Strophe noch vierzeilig, mit blossen Einschnitten, nicht wie Ayrer und Doman acht-
ze.ilig mit überschlagenden neuen Reimen zeigt; in beiden Formen trifft dieselbe metrisch
iiberein mit dem Hildebrandston § 63, 35. 64, 30. Roland ist (Fastnsp. Anm. 45) dess
Janen Vatter, 48) z. B. von einem ungerechten Juristen//« thon: Lieb haben steht eim
jeden frey, der Wittenbergische Magister Im TJwn wie man den Billatliey o Narr dummel
dich singt. 49) So kamen, um Beispiele von den äussersten Enden Deutschlands zusam-
menzustellen, im Jahr 1605 englische Comoedianten bis nach Koenigsberg: Cohn Lxxx: 1607
nach Graz: Meissner 74: und an den österreichischen Hoefen trafen sie mit den italienischen
Comoedianten zusammen, die schon 1568 am Hofe Max ii erwähnt werden: Meissner 190.
Um 1620 verscheuchte sie der Krieg. Nach diesem erschienen sie wieder. 1651 bis 1654 kamen
sie nach Basel: L. A. Burckhardt in d. Beiträgen d. Hist. Gesellsch. z. Gesch. Basels 1839,
204. 167U erschien zu Frankfurt Schau-Bühne Englischer u. Franzoesischer Comoedianten
(Mehreres darin aus der Sammlung Anm. 18), und in den Vermischten Gedichten von Ab-
schatz (gest. 1699) sagt Der verkleidete Comoediant S. 118 Ich der Comcediant bin Edel zu
erkennen Vnd darff' mayich Iwhes Hauss der Anglen Vätter nemien. 50) In Basel z. B.
traten solche schon 1602 und 1604 und gleichzeitig mit letzteren auch Schauspieler aus
§ 107 PROSA DER GELEHRTEN. ROMANE. 123
des alten Standes der Spielleute (§ 44, 17 fgg. 95, 38 fgg.) nur beförderlich
sein, dass gleichzeirig von der Geistlichkeit her sich Bedenken regten gegen
das Comoedienspiel einer ehrbaren Bürgerjugend. ^^ Schon die Aufführungen
durch Liebhaber, durch Schüler, durch die Meistersinger eines Ortes hatten
die Mitwirkung des Volks an seinen Dramen mannigfach eingeschränkt
(§ 105, 133. 144 fg.): mit der Entstehung eines eigenen Schauspielerstandes
ward dieselbe ganz beseitigt, dafür aber ward nun besser, ward häufiger und
an mehr Orten und mit einem reicheren Wechsel verschiedner Erzeugnisse
gespielt und so der Wegfall äusserer Theilnehmung durch erhoehte Theilnahmc
des Sinns und Verständnisses, durch allgemeinere Anregung und Bildung
schoen vergütet.
§ 107.
Gehen wir jetzt zu der Prosa über. Vieles, ja das Meiste von dem, was der
Poesie der Gelehrten Abbruch that, konnte in eben deren Hand der Prosa
nur zu Gute kommen. War doch die Prosa, wsehrend das Volk sich an ihr
nur wenig zu betheiligen vermochte (§ 96) und hier eher nur empfieng als
gab und mitwirkte, die naturgemaesseste Ausdrucksform für die Gelehrten,
die naturgemaesseste auch für den ernst lehrhaften Geist der Zeit, dem Dich-
tung eines war mit Lüge.^ Und wenn dem Dichten durch schiefe Anwendung
der Antike die Gelehrsamkeit, wenn durch Schmselerung der lebensvolleren
ÜberUeferungswege vielleicht auch der Buchdruck ihm ein Schade war, bei
der Prosa war jener Einfluss desto besser an seinem Ort (stsets sich häufende
Übersetzungen classischer Schriftsteller "^ dienten zu stsets wirksamerer Vermittc-
lung), und der Buchdruck förderte jedenfalls hier mehr als einst das Schreiben.
Zu alle dem kam noch, dass auf keinem Gebiete der Mann des Jahrhunderts
mit so leuchtenden Beispielen voranstand als eben hier, hier mit seiner ver-
deutschten Bibel, seinen Lehrschriften, seinen Briefen, seinen Predigten. So
brach denn jetzt zumal für die Prosa und durch die Prosa ein neues Zeit-
j alter mit frischer Blüte und fruchtbar an, nachdem das Mittelalter nur schon
j die Triebe dazu angesetzt : in der Poesie ward mehr durch Abdorren erst für
ispsetere Triebe der Platz bereitet.
I .
; Frankreich auf: Burckhardt a. a. 0. 203. 51) Bedencken von Comoedien oder Spihn,
Zürich 1624.
§ 107. 1) Lügen und Gedichte zusammen- (Daniel 2, 9), tcar geschieht u. falsch gedieht
i'inander entgegengestellt (LB. 2, 242. 22); Mahrlein ?.r,Qog Luc. 24. 11. 2) Roman unten
Anm. 11: Geschichtswerke § 108, 3; rednerische und Lehrschriften § 109, 1. HO, 4. 46.
124 NEUIIOCIIDFATSCIIE ZEIT. XVI JAlIIMf. § 107
Der Zusimimonhiing mit den Anfängen schon im Mitlohiltcr zeigt sich
vor allem in derjonigon der erz.kmlkndkx Prosa, die nach Gehalt und Simi
das Ciegenliild zu der volksmaissigen Epik der Gelehrten (§ 100) war, in den
Koiiiaueu imd Novellen.^* Die Komaxk, die bereits das fünfzehnte Jahr-
hundert hervorgebracht (§ 00, 224 fgg.)) erhielt das sechzehnte durch wieder-
holten Druck noch beständig in Umlauf ' und mehrte zugleich deren Zahl
nach derselben Richtung hin, in der man doi-t gegangen, und auf denselben
Wegen. Ubeksetzingex also zumeist franzcEsischcr Helden- und Liebes-
geschichten, des Olivier und Artus durch Wilhelm Ziely^*, des Fiera-
BRAS *, der Haimonskinder '', des Kaisers Octavianu.s durch Wim. Saltzmann ^,
der schocnen Magelona durch M. Veit Warbeck ^ und des Hohlspiegels, in
welclien mau die entschwindende Ritterlichkeit zuletzt noch aufgefangen, des
Amauis ^ ; daran anschliessend auch schon Die Schuftereien von der schmim
Jidiana.^ Aus dem Itahaniischcn der märchenhafte Reiseroman von den drei
K(ENi«.ss(EiixEN VON Serendh'pe ^^ durch Johann Wetzel ; aus dem Latcini-j
sehen, hinter dem dann wieder das Griechische des Heliodorus lag, dii
ul^thiopica historia durch Johann von Zschorn." Beinah alle diese mij
andern a?hnlicheu Büchern, auch solchen, die schon im Jahrhundert vorhei
entstanden waren, fasste im J. 1587 das Buch der Liebe zusammen (§ 90,'
224. vgl. § 108, 46); ihrer einige gehn bis auf heut als Volksbuecher um.'^
112, 2. 2a) Vgl. F. Bobertag, Geschichte des Romans und der ihm verwandten Dich-
tungs-Gattungen in Deutschland, i 1, Breslau 1876 und dazu W. Scherer, Die Anfänge des
deutschen Prosaromans und Jörg Wickram von Colraar, Str. 1877 (QF. 21). 3) Über
den Wieduuilt, eine Umarbeitung des Wigoleis § 90, 228 in Reimprosa, s. § 96, 2.
3a) gedr. Basel 1521 zusammen mit Valentin und Orsus von demselben Uebersetzer: § 9U,
226. 4) Siemern 1533. 5) Hertzog Ai/mont von Vordons Süne, Siemern 1535. Ab-
weichend davon das noch jetzt gangbare Volksbuch (erster Druck Köln 1604?), eine Über-
setzung aus dem Niederländischen: vdHagens Grundriss zur Geschichte d. Deutschen Poesie
174. 539. Ebd. 175 über einen durch Conrad Egenberger von Wertheim aus dem Däni-
schen (V) übersetzten Ogikr, Frankf. 1571. (j) Strassburg 1535. 7) Augsburg 1.536:
Bücherschatz der Deutschen National-Litt. 111. Derselbe Stoff in der historia von Phyloconiu
und Eugenia, durch Peter Wernher übersetzt, Nürnberg 1515: Weller Ann. 2, 311.
8) Das I — XIII Buch erschienen Frankfurt 1569 — 75, das xiv — xxiv zu Mümpelgart 159(1
bis 1594. Das i wiederabgedruckt von Keller, Stuttgart 1857 (,Lit. Ver. 40). Vgl. QF.
21, 64 fgg. Das vi Buch von Fischart übersetzt : § 112, 10. 9) In demselben Verlag
zu Mümpelgart erschienen 1595, nach Nie. de Montreux übersetzt: Höpfner, Reformbestre
bungen S. 31. 10) Basel 1583: Altd. Wälder d. Br. Grimm 3. 100. Goedeke Grundr^
S. 379. 11) Strassb. 1559: Büchersch. 112. Im Buch der Liebe nach den Helden b€
titelt Von Theugene vnd Charidia. 12) Sammlung Die deutschen Volksbücher von Hii\\
§ 107 ROMANE. 125
So denn auch und mit noch groesserer Berechtigung die meisten der Romane,
die aus dem Boden der Heimath selbst erwachsen sind, deutsche Sagen er-
zählen oder Legende mit deutscher Anknüpfung oder schwankhaftc Geschich-
ten aus dem Leben und in der Licblingsart des Volkes, Kaiskr Friedrich i,
wie er Jerusalem erobert und zuletzt, dass niemand weiss wohin, verloren
geht'^; in mehrfacher Abfassung, der ältesten von 1587, der Schwarzkünstler
Johannes Faust '*; von Chrysostomus Diidul^^^us, einem Westfalen, der ewig
wandernde Jude Aiiasverus '■'' ; ferner der Eulenspiegel ^''', aus niedersächsi-
scher Überlieferung, wohl auch nach einer niedersächsischen Urschrift '^ ver-
fasst vielleicht von Thomas Murner (§ 99, 17), zuerst nachweisbar im J. 1515
und seitdem zu unzsehlichen Malen wieder gedruckt, das namhafteste und ge-
lesenste unter allen diesen Büchern, weil in seinem Helden noch reicher und
bunter als einst im Morolt und im Markolf (§ 81, 55. Ol), im Pfaffen Amis
(§ 66, 5), im Kalenberger (§ 66, 6), in dem falschen Neidhart (§ 72, 29.
98, 40) sich die Freude des Yolks an tölpischer Schalkheit und schalkhafter
ROCK, Frankf. 1845 fgg. Über dieselben Görres: Die teutschen Volksb., Heidelberg 1807.
13) 1519 zu Landshut u. zu Augsburg; nach letzterem Drucke wiederholt durch Pfeiffer in
Haupts Zeitschr, für Deutsches Alterthum 5, 253—267. Vielleicht nur um dieser Sage des
Volks die wahre Geschichte entgegenzustellen gab gleich 1520 zu Strassburg JoH. Adelphus,
Stadtarzt in Schaff hausen, seinen Barbarossa heraus : Schmidt Hist. litt, de l'Als. 2, 404 ; vgl. 144.
14) Frankf. 1587 von einem Ungenannten : danach die Reime von 1588 § 100, 34 und im
gleichen Jahre zu Lübeck eine niederd. Uebersetzung ; 1599 zu Hamburg durch Georg
Rudolf Widmann, einen Schwaben (nebst einer Frankfurter Ausgabe von 1587, wieder
abgedruckt in Scheibles Dr. Job. Faust, Stuttg. 184G, die editio princeps wiederholt von
Kühne Zerbst 1868 und in den Neudrucken Halle 1878); Umarbeitung der letzteren durch
Joli. Nie. PfUzerum^ Nürnberg 1674 (neuer Abdruck von Keller, Tübingen 1880, Lit. Ver.
146): hierauf durch Kürzungen beruhend das jetzige Volksbuch. Vgl. die Sage v. Dr. Faust,
untersucht v. Düntzer (Scheibles Schatzgräber 1) Stiittg. 1846, 83 tgg. und die Litteratur
der Faustsage von Peter, Leipz. 1851. Die spieteren Volksdramen von F., welche seit 1746
auch als Puppenspiele aufgeführt worden, sind aus der englischen Tragoedie von Marlowe
entnommen, welche schon 1608 zu Graz durch englische Comoedianten aufgeführt wurde:
vgl. W. Creizenach, Versuch einer Gesch. des Volksschauspiels vom Doctor Faust, Halle
1878; und Meissner (zu § 106) S. 78. 15) Die ältesten Drucke vom J. 1602, Leipzig
und Bautzen; der Name Dudulseus zuerst in einer Ausgabe von 1617. Vgl. Grässe, Der
Tannhäuser und Ewige Jude, 2. Aufl. Dresden 1861. 16) Dr. Thomas Murners Ulen-
spiegel, hsggb. von Lappenberg, Leipzig 1854. Eine Kölner Ausg. von Servais Kruffter
erschien facsimiliert bei Asher, Berlin 1865. 17) In einer Kölner Ausgabe von 1.539
wird 1483 als das Jahr angegeben, in welchem der niederdeutsche Verf. schrieb: Lappenberg
170. 347. In der von Lappenberg abgedruckten hochdeutschen Ausg. von 1519 wird 1500
als Abfassungszeit genannt. Das Zeugnis für Murners Autorschaft s. Lappenberg 385. Jac.
126 NEUnOCITDEUTSCHE ZEIT. XVI JATTRTI. § 107
Weislicit personificiert getuiidcii hat, von Fiscliait in Reime '* wie von einem
Andern der Faust und aus lioclidcutsclier Sprache alsbald in die niederrhei-
nische, die niederländisclio, die franza?sische, die englische, die polnische, die
lateinische sogar gebracht; a^hnlich dem Eulcuspiogel Hans Clawert, aehnlich
mit Absicht schon in der Führung seines Lebens selbst, wie Bartiiolom.«us
KRrK(;KR diess besclirieben '^ ; der Finkeniuttku sodann, ein überbietender
Hohn gegen die Lügen der Vielgereisten -" und so ein Nach- und Widerklang
der Lügennuercheu, die öftei-s im Mittelalter waren gedichtet worden und deren
auch jetzt das Volk und die Meistorsclmle noch manches sang ^', grossartig
genug in seinem phantastisch scherzenden Übermuthe um wohl an Fischart
erinnern zu dürfen, aber zu alt für diesen, schon um das J. 15G0 gedruckt--;
die ScuiLDiuJKüEU oder das Lalknhucii -', eine Erzaihlung, die anschaulich
macht, wie sehr die Weisheit sich zu hüten habe, dass sie nicht in Thorlieit,
und der spielende Schein, dass er nicht in Ernst umschlage ; der Esklkcknuj •*
endlich, im J. 1G17 nach einem Entwürfe Wolf hart Spangenbergs ^•' und dui-ch-
Grimm, Deutsches Wörterlt. 1, Lxxni, nimmt einen gleichzeitig von Murner und von Pauli
(Anm. 37) benützten niederd. Text an; vgl. Lappeub. 378 fg. 18) § 100, 23. Eine Nach-
ahmung das Buch des Alberus § 99, 39. das den heil. Franciscus zu einem Eulenspiegel,
seine Thaten und Wunder zu Eulenspiegeleien macht. Volkslied § 95, 1; Meisterlieder
§ 97, 34; Dramen HSachsens § 9ö, 40 und Jae. Ayrers (§ lOG, 21): singents Spil, von dem
EulenJijtigeh mit dem Kauffmann vnd Pfei/f'enmacher ; von dem ersteren auch ein Schwank
Eidenspiegels Disputation mit einem Bischof}' ob dem BriUenmachen : Willers Ausg. 2, 4, GU.
19) Hans Clauerts Werckliche Historien, Berlin lö87. Neudruck Halle 1882. Niederd.
Übersetzung: Lappenberg a. a. 0. 383. Ein Drama Krügers § 105, G7. 20) Scheit im
Grobianus 1051, 1 rw. Der weit gewandert vnd der alt Die liegen beide mit geivalt. Schon
im Ackermann von Böhmen Cap. xvii. 21) § 06, 50 fgg. 95, 1. 97, 34. Auf ihrem
Grunde aueh das Fastnachtsspiel bei Keller 1, 91 fgg. C. Müller-Fraureath, Die deutschen
Lügendichtungeu bis auf Münchhauseu, Halle 1881. 22) zu Strassburg: HHoffmann iu Auf-
sess Anzeiger f. Kunde d. deutschen Mittelalters 1833, 74 fg. Beziehungen Fischarts auf den
Finkenritter, doch nicht als auf ein eigenes Werk: ebd. 130. 23) Schildbürger, durch
M. Aleph Beth Gimel, Misnopotamia 1597 usf.: Laienbuch 1G14, o. 0, Auf alemannischej
Heimat weisen ketschen, ankenluifelin ua. hin, auf einen kathol. Verf. die Marienverehrunj
Cap. 21. Die Geschichten werden schon früher in Schwaben u. Elsass erzählt, bei Bebet u. a.
Auch in der Zimmerischen Chronik 1, 301 fgg. Die Schildbürger erschienen als Witzen-
bürger und um noch zwei Bücher vermehrt in dem Grillenvkrtreiber durch Conradum
Agyrtam von Bellemont, Frankf. 1G03: Büchersch. IIG. JGrimm im Deutschen Wörterb.
1, xci. 24) Durch Adolph Rosen von Creutzheim, Ballenstedt; das Abfassungsjahr in
der Vorrede. 25) § KH), 30. Auch die Vorrede des Eselkoenigs berichtet, dass hiezu der
Dichter des Ganskcenigs die Collectanea, Disposition vnd aussführliclie entwerß'ung (so all-
bereit Anno 1608 auffs Papier gebracht gewesen) hinderlassen : auss ivelchem dann diese
II
I
§ 107 ROMANE. 127
weg mit Benutzung des lleinike Fuchs geschrieben, ein Thierroman also, aber
satirisch gegen allerlei und alles-": gleichzeitig, im J. 1621, mochte den Don
QuixoTK wohl auch der satirische Bezug zur Übersetzung ^', die Feinheit und
Bemessenheit aber der Satire kaum in groessere Gunst empfehlen.-^
Das Volksmsessige, das mit Ausnahme etwa nur des letzten all die ge-
nannten Bücher und Büchlein haben, wennschon man als deren Verfasser stsets
Gelehrte erkennt, liegt in dem Stoffe, der überall von epischer Art und Her-
kunft, in der Darstellungsweise, die vielleicht nur beim Eselkoenig aus zu
starkem Bewusstsein der Ironie etwas nüchtern breit ist, liegt bei der Mehr-
zahl in dem Mangel der Yerfassernamen -'', liegt in der Wandelbarkeit durch
Umarbeitung und Fortsetzung, die eben wie bei den Yolkshedern (§ 95, 17)
oft auch hier gegolten hat. Darum sind die Romane minder volksmeessig, die
wir von Georg Wickram von Colmar, Stadtschreiber zu Burgheim im Breis-
gau 1554 bis 1556 ^^ haben, Gabriotto vxd Reiniiart ^° ^ 1551, der jun«ex
Knaben Spiegel 1554, der irr reitende Pilger und der von guten und
ECKSEN Nachbarn 1556, endlich der Goldfaden 1557 ^' : denn so gern sonst
dieser nur zu viel schreibende Mann sich an Überliefertes und Fremdes leimte,
Beschreibung, ohne Abbruch oder zusatz, ist verfertigt worden. Erfimler der Geschiohte
jedofh nicht Spangenberg: s. JGrimms Reinhart Fuchs Llil. ccxv. Anstoss zur Veröffent-
lichung des Buchs Avar dem Verf. laut seiner Vorrede der Wetteifer mit einem andren Von
dess Esels Adel Vnd der Saw Triumph durch Gripimngno Fahro-MirandA 1617 (§ lOU, 30).
Ueber den hier gemeinten G. F. üklESSKRSCHMiDT (§ 110, 28) s. Wackern. Fischart 117; über
seine ital. Quelle Scherer QF. 21, 37; ebenda 14 auch über einen Roman Brissonetus von
ihm mit einer Vorrede von 1559 (?). 26) In dem Stücke LB. 3, 1, 605 auch gegen die
kabbalistische Weisheit, die von den Rosenkreuzern (,§ 99, 63) schon damals geübt oder doch
ihnen Schuld gegeben ward. 27) Ritterliche Thaten dess tvunderseltzamen Abentheicers
Don Kichote de la Mantscha — durch Fahsch Basteln von der Sohle, Koethen 1621.
28) Indess sind noch 1648 und 1669 wiederholte Ausgaben gedruckt worden : Büchersch. 135.
29) Murner nennt sich selbst als Verfasser des Eulenspiegels nicht, und Rose v. Creutzheim
(vgl. Anm. 26) ist schwerlich ein wirklicher Name. 30) 1554 unterzeichnet er noch zu
Colmar die Vorrede des Knabenspiegels, 1555 uennt ihn das als Neujahrsgeschenk übersandte
Rollwagenbüchlein Anm. 47 Stadtschreiber zu Burgheim. Freilich auch 1555 noch bezeich-
net er sich auf dem Titel eines 1551 verfassten gereimten Gespräches wider die Trunkenheit
(Bücherscliatz 7) als Tichter vnd Bürger zu Colnuir. Vgl. über Wickram insbes. Q,F. 21,
35 fgg. 30a) Unter diesem Titel im Buch der Liebe; Wickram selbst nannte seinen Ro-
man Ein scJuxne History von sorglichem anfang vnd aussgang der brinnenden Liebe usw.
31) Alle diese Romane sind zu Strassburg erschienen; ebenso der vermutlich auch von
Wickram bearbeitete Bitter Galmy vss Schottenland zuerst 1539; vgl. über diesen E. Schmidt
in Schnorrs Archiv 8, 346 fgg.
128 NEUHOOIIDEUTSCllE ZEIT. XVI JAIIRH. § 107
mit Erneuerung '-' oder mit Überarbeitung "'', jene scheinen docli lediglich von
ihm selbst erfunden •'*, aber der Goldfaden iiündestens gut erfunden und auch
gut erzsehlt.^' Noch weiter von den Romanen aller And«Mn entfernt, ja eigent-
lich vereinzelt sich Jgmann Fischart: von ihm erst spseter (§ 112).
Von Novellen gab es, worauf immerfort durch Wiederdruck der älteren
und durch Fertigung neuer Überset/Amgen schon das Beispiel Boccaccios und
sonst der Itaiia^ner wies '", immerfort ganze, oft sehr umfassende Samm-
LrxcEx: desto kleiner waren meistens die Novellen selbst; viele darunter
dürfte man auch ihres Inhaltes wegen ebenso wohl Anecdoten heissen. Hier
steht, nicht bloss der Zeit nach, an der Spitze Johanxes Pauli •*^, den die
Litteraturgcschichte auch unter jenen zu nennen hat, durch welche die Predigt-
werke Geilers uns sind überliefert worden ■'*^, von Geburt ein Jude, aber Fran-
ciscanermönch und in den Jahren, da er sein grosses Novellenbuch Schimpf
und Ernst d. h. Scherz und Ernst •''' * zusammenstellte, 1518 und 19 (ge-
druckt ward es zuerst 1522), Losemeistor in seinem Ordenshause zu Thann
im Elsass. Sichtliches Vorbild sind ihm die Gesta liomanorwn (§ 90, 140)
gewesen, mit denen er auch, wo er nicht aus dem Munde der Leute schöpft,
den Bereich und die Art seiner schriftlichen (Quellen ^^ theilt : auch seine Ge-
schichten haben oft nur symbolischen und selbst die scherzhaften einen Werth
32) der Metamorphosen Ovids von Albrecht von Halberstadt (§ 56, 32); die Bilder
dazu von ihm selbst gezeichnet : § 92 . .ö. 6. Des Lateins unkundig kann Georg
W. nicht der Gregorius AVickram sein , der Die biedier Vincentii Obsopei : Vonn
der Kunst zu tn'ncken, Freihurg 1537. übersetzt hat. 33) der Narrenbeschwoerung
Murners § 99, 19, aber nicht des Brantischen Narrenschiflfs : Zarncke cxxxix. Ihm
selber sein Spiel Tobias durch einen Andern umgearbeitet, von zwei Tagen abgekürzt auf
einen: § lOö, 122. Über "W. als Dramatiker s. § 105, ■15d. 75. 79a. 34) Eine Geschichte,
die so ganz im Bürgerleben sich bewegt wie die von guten und boesen Nachbarn, konnte
schwerlich aus älterer Zeit herrühren. Den Inhalt des Knabenspiegels vergleicht mit Er-
lebtem Eine warhaff'tige History von einem vnyerahtenen Son, in ein Dialogum gestellt.
Strassb. o. .1. 35) wieder hsggb. von Brentano, Heidelberg 1809. 'S(i) Altere Über-
setzungen Boccaccios (Cento norelle) und aus Boccaccio § 90, 266 fgg. ; neuere v. 1519 usf. :
Canzlers o. Meissners Quartalschrift 2, 3, 2, 33 fg. Bücherschatz 118; einzelne seiner Novellen
in Egenolffs Schertz mit der Warheyt (Anm. 41), alle lOO dem Frankfurter Pauli v. 1583
angehängt. Mehrere von M. Montanas (Anm. 49) übersetzt oder dramatisiert: QF. 21, 12.
23. 37) Über den Barfüsser .Job. Pauli und das von ihm verfasste Volksbuch Schimpf u.
Ernst V. Veith, AVien 1839. Vgl. auch Stoeber Alsatia 1856 S. 415 fg. 38) Evangeli-
buch 1515, die Etneis 1516, die Brösamlin 1517 und die Predigten über das Narrenschitf
1520: § 90, 78. Eigene Predigten von Pauli, gehalten 1-493 und 94: Bartsch Alemannia
11, 136. 38a) Neue Ausg. von Oesterley, Stuttgart 1866, Lit. Ver. 85. 39) Lappen-j
§ 107 NOVELLEN. 129
der ernsten Lehre ^°; nur erzwingt er die Symbolik niclit und drängt die Lehre
nicht auf. Diess natürlich unbefangene Wesen, verbunden mit ebenso schlichter
Geläufigkeit der Darstellung, hat dem Buch einen langen Bestand in zahlreich
wiederholten Drucken gesichert, die allerdings fast ebenso viel Umänderungen
der echten Form durch Zusätze und noch mehr durch Kürzung sind.*^ Pauli
hatte noch als Katholik und mit der Scheu eines, der selbst ein Geistlicher
war, geschrieben : durch die lleformation ward auch hier der alten Geistlich-
keit gegenüber die Komik entfesselt: es gefiel von deren Unsitten, es gefiel
nun (eine Wirkung zugleich jener italisenischen Muster ^^) je mehr und mehr
von Unsitte überhaupt und von schvvankhafter Thorheit und, je weiter die
Reformation im Rücken lag, selbst ohne Sitte und anstandslos und ernstlos
zu erzaehlen: kein halb Jahrhundert nach dem Auftreten Paulis, und es gab
trotz dem, dass er so eifrig, dass auch die Gesta Bomanorum imd, ihnen
verwandt, die Sieben weisen Meister immer noch gelesen wurden *^, doch
als frisches Erzeugniss beinahe nur noch komische, beinahe nur noch unsaubere
Novellen. Da wurden die Facetice, die der Tübinger Professor Heinrich
Bebel bereits im J. 1508 *^ und schon er besonders zum Hohne der Pfaffen
herausgegeben, als GeschwencJc verdeutscht*^, mid Bebel folgend kehrte
zumeist nach eben dieser Seite hin Hans Wilhelm Kirchhof die Geschichten
seines Wendunmuth '*''; jener Wickram aber in seinem Rollwagenbuechlein *',
bergs Ulenspiegel 364 fg. Im J. 1538 erschienen Die alten Rcemer , eine protestantische
Überarbeitung der Gesta Romanorum mit Hinzufiigung der Sieben weisen Meister (§ 9U,
250): Brants Narrenschiff v. Zarncke CXLI. 40) Beispiel die im LB. 3, 1, 75 ausgehobenen
Stücke. 41) Ein ausführlich besprechendes Verzeichniss bei Lappenberg a. a. 0. 365 fgg.
Der Schertz mit der Warheyt bei Egenolff in Frankf. L550 ist eine ganz neue eigene
Sammlung, für welche Pauli nur auch benützt worden: Lappeuberg 376. Bücherschatz 118.
42) Die um Ernst und Sittenreinheit bemühten Novellen Giraldis kamen zu spset und wurden
noch spseter, erst 1614, übersetzt: Bücherschatz 120. 43) § 90, 140. 249 fg. Dyocletianus
Leben von Keller 41. Bücherschatz 117 fg. 44) in seinen Opusculis novis, Strassburg.
Erste Einzelausgabe Margarite facetiarum ebd. 1509. Bebel schon früher genannt § 94, 13.
Ein Vorgänger, ebenfalls ein Schwabe, war § 90 nach Anni. 263 zu nennen: Augustin
Tünger, der 1486 Facetice für Eberhard von Würtenberg schrieb und verdeutschte: Ausgabe
von Keller Tübingen 1874, Lit. Ver. 118. 45) 1558: Bücherscli. 118. 46) Frankfurt
1563: Büchersch. 119. Um 3 neue Theile vermehrt 1602. Neudruck von Oesterlcy, Tübingen
1869, Lit. Ver. 95—99. Zur Lebensgeschichte Kirchhoffs, der uls Landsknecht weitumher-
gekommen war und spaeter in hessischen Diensten stand, zuletzt als Burggraf von Spaugeu-
berg s. auch Dithmar, Aus und über H. W. Kirchhoff, Marburg 1867. Progr. 47) Proben
und zur Erkiaerung des Namens der ganze Titel nach der ersten Ausg. v. 1555 LB. 3, 1,
441. Neue Ausgabe von Kurz, Leipzig 1865. Das Jahr darauf konnte derselbe Wickram
Wackernagel, Litter, Geschichte. II. 9
lao NEUIIOCIlDErTSCHE ZEIT. XVI .TAH 1(11. § 107,
Jacoh Frky mit der Gartknokseli.sciiaft *", Martinu8 Montanus mit dem]
Wecjkurzkr *', Vai.kntin Schumann mit dem Nachthukchlein ^'', Mjchakl
LiNDNER mit dem Katziporis ^', all diese weichen auch sonst keiner Plump-
heit, keiner l'nreinheit aus, sobald sie nur zum Gelächter oder anderswie
nocli kitzelt, und selbst der Mansfeldische Pfarrer Wolf(!AN(; Buttnkr, der
die Splisse sammelt, welche Claus Narr gemacht '-, verfahrt dabei niclit
gerad immer wa>hlorisch. Der grossen Menge missfielen dergleichen Bücher
nicht : sind sie doch nur durch deren Fleiss im Lesen solch eine Seltenheit
für uns geworden; auch niclit den andren Gelehrten allen und selbst solchen
niiht, die lieber auf Lateinisch schrieben : Bebeis Facetice haben da Nachfolge
gefunden, die zahlreich genug ist'*'; auch Fischart mochte darüber noch mit
Nachsicht urtheilen.''^ Mancher indess, der strenger, vielleicht auch nur enger
als Fischart dachte, darunter auch Rollenhagen, dem doch das lündermaerchen
kein Anstoss war ^\ von diesen Novellen wandte er sich mit sittlicher Ent-
rüstung ab.°^
zum Zwecke strenger Sittenbelehrung eine Sammlung von ganz andern Geschichten, selbst
aus der Bibel, drucken lassen, Die Siben Hau})tlaster, Strassb.: Büchersch. 7. 48) Purste
Ausgabe 1556: Büchersch. 119. .Tac. Frey Stadtschreiber zu Maursmünster im Elsass: auch
Verfasser eines B'astnachtsspieles: Gottscheds Vorrath 2, 190 und zweier ernster Stücke von
Abraham und Lazarus. 49) Montanus ein Strassburger: von ihm (vgl. Anm. 36) auch
zu Strassb. um 1560 ein zweiter Theil der Gartengesellschaft: Büchersch. 119. Der Weg-
kürzer 1565 zu Frankf. als dritter, die Gartengesellschaft als zweiter Theil mit dem Roll-
wagenbüchlein zusammengedruckt. 50) zti Nacht )uich dem Essen, oder au ff Weg vud
Stmssen, zu lesen — mancherlei/ gute Bossen, darunder f'ünff grober Zotten 1559; Valien
Schumann Schriftgiesser v. Leipzig: Büchersch. 119. Bobertag in Schnorrs Arch, 6, 129.
51) 0. 0. 15.58. Zusammen mit dem ebenfalls von Lindner verfassten Rastbüchlein 1.558,
neu herausgegeben von Lichtenstein, Tübingen 1883. Lit. Ver. 163. 52) als Narr am
Kursächs. Hofe 1486 — 1532; Büttners Buch zuerst Eislebeu 1572: Lappenbergs Ulenspiegel
382. Hinter jedem Geschichtlein eine gereimte Lehre, wie auch bei Kirchhof und wie schon
früher in den Gestis Romanoram und der Leipz. Novellensammlung § 90, 140. 251: umge-
kehrt Prosalehre hinter Reimen bei Sandrub § 100, 33. Claus Narr im Drama § 105, 132 ;
von Jac. Ayrer § 106, 21 ein singets Spil, von etliclien närrisclien Reden des Claus Narr n ;
von HSachs schon 1560 Drey Schicencke Claus Narren: Willers Ausgabe 2, 4, 128.
53) Schon 1524 und 29 von dem Strassburger Otmar Nachtigall (Luscinius) Joci u. Sen'a
jocique (vgl. Schnorrs Archiv 11, 1 fgg.), von Johannes Gast, einem Breisacher, Geistlichem
zu Basel, Conrivales sermones 1548, weiterhin die Facetice Nicod. Frischlins, die Faceticc
faceiiarum 1600, die Joci atque seria der zwei Melander Otto und Dionysius 1611 u. s. f.
54) LB. 3, 1, 476. 55) § 99, 3. Gute Freunde haben laut der Vorrede gemeint, sein
Gedicht solt etwas mehr Nutzen scluiffen, denn rnser weitberümter Landtmann Eulenspiegel
oder auch andere schand-Bücher, der Pfaff von Kaienberg, Kazij>orus, Rollwagen de
56) Midi 1 leset jetzunder. rnd sivd srhr gemein, balt in aller Händen, so da schreiben
§ 108 GESCHICHTSSCHREIBUNG. 131
§ 108.
Einen grcesseren als die Ronianenprosa und wahrhaft einen grossen Fort-
schritt, den grcEstcn vielleicht, der überhaupt der Litteratur des sechzehnten
Jahrhunderts vergönnt gewesen, machte jetzt über die schmalen Vorgänge des
Mittelalters (§ 90, 141 fgg.) hinaus die Prosa der Geschichtsschreibung.
Welch besserer Grund aber war auch einer solchen jetzt bereitet: in der
Gegenwart rings ein gross bewegtes Leben, ein Kampf religioeser und politi-
scher Gedanken, eine Staatskimst, deren Tragweite über die Welt hin gieng ;
aus dem Alterthum gerade hier die untrüglichsten Muster, und geübt in den
Studien des Alterthumes Forschung und Kritik, Zwar manchen Gelehrten
verlockten eben diese Muster auch Geschichte auf Latein zu schreiben: ich
nenne Johannes Sleidamis, den mit Recht berühmtesten ', und JBeatiis
Bhenanus, der auch Rühmens werth ist-; andre aber bemühten sich Csesar
und Salust und Livius und Tacitus und Suetonius, Herodot und Thucydides
und Xenophon und Plutarch ihrem Volk durch Übersetzung nah zu bringen ^,
und viel mehr noch waren derer, die eine ehrgeizige oder wehmuthsvolle
Vaterlandsliebe * und die wachsende Theilnahme Aller, selbst der Geringsten
an den Händeln der Welt ^ (Zeugniss hievon die erst einzeln ausfliegenden,
zuletzt regelmsessig wiederkehrenden Zeitungen ^) zu deutscher Erzeehlung
vnnä lesen können, viel vnnütze, vnzüclitige, vnd garstige Bücher, als da sind der Eulen-
spiegel, Schimpff' rnd Ernst, Rolleu-agen, Gartengesellschafft, Cento Novella usw. : Burgliart
Genssehedels Vorrede zu seiner Ethiea Christiana Eythmica 1619 in HHoffmanns Spenden
z. deutschen Litteraturgesch. 1, 21: die ärgerlichen, schandbare vnnd schcsdUche Bücher vom
Eulenspiegel, Marcolpho, Katzibori, Pfaffen vom Kaienberg vnd dergleichen : Vorrede zum
Eselkoenig.
§ 108. 1) eigentl. Philippson, aus Schieiden in der Grafschaft Manderscheid, von 1542
bis zu seinem Tode 1556 in Strassburg ; sein Hauptwerk die Commentarii de statu religionis
et reipublicce Carolo V Ccesare 1555. 2) eigentl. Bilde, aus Rheinau im Elsass; Herum
Germanicarum l. III 1531. 3) Livius Ivo Wittig, Mainz 1505, in freier Bearbeitung;
Caesar M. Ringmaxn PmLESius, Strassburg 1.507: Salust Dietrich von Pleningen (110,
5), ein Freund des grossen Johann von Dalberg, Bischofs v. "Worms, gedr. zu Landshut
1515; Tacitus Jacob Micyllus, Mainz 1535; Suetonius Jag. Polychorius Strassb. 1536;
Herodot aus dem Lat. Hieronymus Boner, Stadtschultheiss von Colmar, Augsb. 1535, aus
dem Griech. Georg Schwartzkopff, Frankfurt 1593 ; Thucydides, Xenophon u. Phitarchus
gleichfalls Boner, Augsburg 1533, ebd. 1540 und 1534. Und so fort. 4) Vaterländischer
Sinn bei allen, mit Stolz bei Quad Anm. 25, mit Klage über den Neid und Hass d. Fremden
nnd die schweigsame Selbstmissachtung der Deutschen bei Reissner Anm. 37. 5) ver-
spottet in Murners Sehelmenzunft Cp. 25 Von Reichstätten reden. ö) Vgl. Gesch. des
deutschen Journalismus von Prutz 1, Hannover 1845. Zeitung ursprünglich Name einer
132 NEUllOCJIDEUTSCHK ZEIT. XVI JAIIUII. 8 108
1
der Woltliiiiidol, der Ocschiclite der "Welt, der Geschichte der llciniath trieb.
Mit Werken letzterer Art stand aus dem gleichen Grunde wie schon im
Mittelalter und wie ebenda mit der l'Hoge des geschichtlichen Liedes (§ 90,
162) und jetzt mit einer öftcntlichoren Auffassung des Dramas (§ 105, 118 — IIU)
allen Theilen des Reiches die Slhwkiz voran. Hier eine Fülle örtlich be-
schränkter, kleinst^iatischer Geschiciitsschreibung ', litterarisch freilich meistens
werthlos, werthvoll dem Gelehrten zumal durch ihre Berichte über die Jlefor-
mationsarbeit ** : aber es überragt die Fülle mehr als einer mit hcpherer Be-
deutung, vor allen jener, der zuerst und f'üi' immer den Grund der iSchweizer-
geschichte gelogt, der überall zuerst es verstanden hat die geschichtliche
Darstellung auf" Forschung, auf Kritik zu bauen und dennoch anschaulich
darzustellen, den Stofl" der Erzsehlung mit Blicken politischer Weisheit zu
durchleuchten und dennoch zu crzaehlen, Aegidius Tschlüi, ein Glarner, geb.
1505, gest. 1572, ein Mann, in dessen Lebensführung auch (er war Land-
ammann seiner Heimath) staatsmännischer Sinn sich mit dem Geiste der
Freiheit und dem Ernst der Wahrhaftigkeit vereinte '' : von ihm ausser zahl-
reichen, auch lateinischen, auch kleineren Werken, unter denen die Bhetia
von 1538. auszuzeichnen *", als sein Hauptwerk die Schweizer Chronik, fort-
geführt bis zum J. 1570." Au Tschudi zuna^chst reihen sich Christian
jeden, vielleicht auch (§ 99, 13) dichterisch abgefassten Verkündung einer Neuigkeit aus der
Ferne u. Fremde. Yerzeichniss solcher kleineren Druckschriften prosaischer Form in dem
Bücherschatz d. Deutschen National-Litteratur 41 fg. 128. 131 t'g. Handschriftliche regel-
maessig an Staatsmänner eingesendet: Schmellers Bair. AVörterb. 4, 293: an die Fugger in
Augsburg: Sickel in Hoffm. u. Schades Weimarisch. Jahrb. 1, 344 fgg. Die älteste Zeitung
in dem jetzigen Sinn des Wortes die von Joh. Carolus in Strassburg hg. Relation aller f'ür-
nemmen Historien: J. 0. Opel, Die Anlange der deutschen Zeitungspresse 16U9 — 1650 im
Archiv f. Gesch. des deutschen Buchhandels III, Leij)zig 1Ö79. 7) s. Gottlieb Eman. v.
Hallers Bibliothek der Schweizer -Geschichte, Bern 1785 — 88. Egb. Frid. v. Mülinen, Pro-
dromus einer schweizer. Historiographie, Bern 1874. 8) So nameutlich Valerius Ans-
HEi.MS, genannt Rüd. Berner Chronik, hsggb. v. Stierlin, Bern 1825 — 33, und die (.Zürcher)
Reformationsgeschichte v. Heinu. Bullinger. hsggb. v. Hottinger u. Voegeli, Frauenfeld
1838 — 40. 9) Egid. Tschudis Leben und Schriften von Ildephons Fuchs, SGallen 1805,
und Blumer im Jb. des bist. Vereins des C. Glarus 1870. 74, 10) Probe im LB. 3, 1,
381. 11) aber leider nur bis zum J. 1470 gedruckt: Chronicon Helveticum, hsggb. von
.]oh. Rud. Iseliu, Basel 1734. Proben LB. 3, 1, 389; das erste Stück hauptsächlich nach
dem Liede LB. 1, 1285. JosiAS Simler von Zürich, dem Tschudi eine lateinische Bearbei-
tung des Werkes übertragen, hat nach Vereitelung dieses Vorhabens selbst auf Lateinisch
ein geschichtliches und staatsrechtliches Buch de Repuhlica Helvetiorum abgefasst, Zürich
1576: eine Verdeut-schung davon erschien bereits im gleichen .lahre: Xeujahrsbl. d. Waisen-
§ 108 GESCIIICIIT8SCIIREIBUNG. 13'3
WuRSTisEN, der ciuc Basier Chronik '^, und Michakl Stettlek, der spacter-
liin gleichfalls Helvetische Annalen geschrieben hat '^, jener, ob zwar auf ge-
ringerem Gebiete, nicht geringer an Gabe des Erzählens und an Gelehrten-
treue: war er doch auch von denen, die jetzt in der Sammlung der älteren
Geschichtsquellen Deutschlands einen dankenswerthen Anfang machten.'^ Fast
alle diese Schweizer Chronisten und die früheren darunter alle haben je ihrer
Landesmundart sich bedient: ein Gemisch von schweizerischem und hohem
Deutsch brauchte Johannes Stumpfe, den erst sein speeteres Leben zum
Schweizer gemacht hatte '•^: seine Beschreibung der Eidgenossenschaft von
1546 giebt, nachdem nur der Eingang rein historisch gehalten ist, den übrigen
Stoff in topographischer Zersplitterung ^'^ ; in einem andren, nicht die Schweiz
berührenden Buche, Keyser Heinrijchs des vierdten Historia von 1556, beein-
trächtigt gegenpsebstischer Eifer die Auffassung, selbst die Darstellung.'^ So
gehoerte auch Sebastian Mijnster, der im J. 1544 gleichfalls ein halb ge-
schichtliches, halb geographisches Werk, aber von weiter gedehntem Bereiche,
eine Cosmographie, und er mit besserm Geschicke verfasst hat '*, auch er ge-
hoerte der Schweiz nur durch sein Leben und Lebensende, nicht von Geburt
an.''-' Das andre Deutschland kann dem Tschudi der Schweiz nur Einen an
die Seite, darf aber diesen einen zugleich hoch über Stumpff und Münster
stellen, Sebastian Franck, einen Schwaben von Donauwörth, geb. 1499 oder
1500, Verfasser im J. 1531 des Zeitbuches, einer Weltgeschichte, der ersten
auf Deutsch, die nicht bloss übersetzt war -", 1534 des Weltbuches, einer
hauses in Zürich 1855, 16. 24:. 12) Basel 1580. "Wurstisen geb. zu Basel 1544:, gest. 1588.
13) Ännales oder Beschreibung der vornehmsten Geschichten, so sich in Helvetia zugetragen
haben, Bern 1626. Stettier geb. zu Bern um 1580, gest. 1642; auch Verf. eines Dramas
aus der Berner Geschichte: § 105, 26. 14) Germanise historici illustres ed. Chr. Ursti-
sius, Frankf. 1585. 15) geb. zu Bruchsal 1500, Pfarrer im Zürichbiet, dann auch Bürger
von Zürich, gest. 1.566. 16) Gemeiner lohlicher Eyäcjnos^chafft Stetten, Landen vnd
Völckeren C'hronickwirdiger thaaten beschreybuny, Zürich: als Eingang eine bis 1308 rei-
chende Gesammtgeschichte, dann Beschreibung und stückweis die Geschichte der einzelnen
Länder u. s. f. Ein Auszug die Sehwytzer Chronica von 1554. 17) Probe im LB. 3,
1, 411. Aehnliches Werk eines Elsässers, der Barbarossa v. Adelphus, § 107, 13. 18) LB.
3, 1, 399 der Abschnitt von den neihven Inseln (America): in gewandter Verbindung Ent-
deckungsgeschichte und Beschreibung. 19) geboren zu Ingelheim 1489, von 1529 bis zu
seinem Tode 1.552 Professor in Basel. 20) Chronica, Zeythuch vnd geschychthihel,
Strassb. : im J. 1536 (Druck o. 0.) von ihm selbst am so viel weiter geführt. Ältre, aber
übersetzte Weltgeschichten nach Rolfink und von Alt nach Schedel § 90, 188. 189. Auf
Anlass der letzteren bemerkt Panzer, Ann. d. alt, d. Litt. 1, 206, „dass sich der beruffene
Sebast. Franck in seiner Chronica oder Zeitbuch, dieser deutschen Übersetzung wohl bedient,
i:J4 NEUIIOCIIDEUTSCJIE ZEIT. XVI JAlUlli. § lOH
Bcaclircil)un;]f iiiich der gcsaniniton Welt -', 1538 der Germania ", eines
«ausgctulirtercn Gcgcnbildcs zu dem unsterbliclien Werk des grossen Koüniers.
Ein Politiker wie Tsehudi ist Franck allerdings nicht: aber er hat vor Tschudi
voraus einen drängenden Zug der religiocs-sittlichen, der philosophischen Be-
trachtung, der ihn auch den Gedanken, die in der Geschichte walten, nach-
gehn heisst: darum Ifcsst er jenen Johannes Cakio, der gleich auf ihn ebenfalls
eine Weltgeschichte, nur gar zu vorwiegend mit chronologischer Handhabung
geschrieben -^, noch weiter hinter sich; er hat voraus vor Stumpff und Münster,
deren letzterer bloss die Nachbildung versuchen kann, den tief blickenden,
streithaft scharfen Geist, welchem es wichtiger ist das Volk als bloss das
Land zu schildern und ein Bedürfniss, auch alle Gebrechen eines Volks un<l
die eines jeden Standes bloss zu legen. Wir werden diesen seltenen Mann,
der nach vielen Unruhen und Wechseln des innern wie des äusseren Lebens
um das J. 1543 zu Basel gestorben ist ^^, mit noch andren, nicht minder be-
deutsamen Erzeugnissen wieder unter den lehrhaften Prosaikern treffen (§ 110,
25 fgg. 111, 7). Ausser Franck ist als ein solcher, der auch noch versucht
hat einen Geschichtsstoff grcesseren Umfanges zu bewältigen und ihn in der
Gesinnung wenigstens, in der Begeisterung auch bewältigt hat, Matthias Quad
zu nennen: er hat unter dem Titel Teutschcr Nation Herliglceit im J.
1609 eine aussführliche heschreihnng des gegemvertigen, alten vnd vhralten
Standes Germanice ent werfen. ^^ All die Übrigen beschränken sich landschaft-
lich enger oder auf eine Stadt, einen kürzeren Zeitraum, eine einzelne Per-
son; nur Johannes Thi-rnmayer von Abensberg oder Aventimis-^ weiss
noch den Anfängen seiner Bairischen Chronik von 1533 -' Bezüge auf die
und aus derselben vieles wörtlich abgeschrieben habe." 21) Probstücke LB. 3, 1, 31f>.
22) Hanpttitel der zweiten Ausg., 1539 o. 0.; der ersten zu Augsb. Chronica. Des gantzen
Teutsclien lands, dller Teutschen Völcker Herkommen usw. 23) Chronica, Wittenb. 1532.
Von Melanchthon, der das Buch seinen Geschichtsvortraegen zum Grunde legte, Chronicon
Cftrionis latine expositum et auctum, Wittenb. 1558—65. 24) Nachlese zu S. Franks
Leben und Schriften von Am Ende, Nürnb. 1796. Vgl. H. Bischof. Seb. Franck und die
deutsche Geschichtschreibung, Tübingen 1857. C. H. Hase, Seb. Franck von Word, der
Schwarmgeist, Lpz. 1869. Anfang einer ausführlichen Lebensgeschichte von Weinkauff in
Birlingors Alemannia 5. 131. 6, 49. 7, 1 fgg. 25) Köln 1609. Von ihm auch eine kurze
Weltgeschichte in Reimen : § 99, 8. 26) geb. U77, gest. zu Regensburg 1534. In dem
einen Privilegium des Auszugs von 1522 maister Ham Türmayr genant Auentinus.
27) Zuerst nur lateinisch Annales JBoiorum; ein deutscher Auszug gedr. zu Nürnb. 1522:
Bayrischer Chronicon: im Latein nun verfertigt: vnd in Syhen Piiecher getailt ein kurzer
auszug; deutsche Bearbeitung des ganzen Werkes vollendet 1533, aber gedruckt erst 1566
§ 108 GESCHICHTSSCHREIBUNG. 135
Gesammtgcscliichtc des groesscren ViiteiUmdes zu geben ^^, freilich indem er
auch genug der Fabehi braucht um in der Urzeit die Lücken der Forschung
auszufüllen: naschst dem Abte Tritheim ^'^ hat namentlich er diesen wohl-
meinenden Leichtsinn (Eifer für die Ehren Deutschlands verführte dazu ^")
noch in das ganze Jahrhundert weiter fortverpflanzt. -'^ Von Thomas Kantzow
sodann eine Pommerische ^-, von Lucas David eine Preussische ^^, von Johann
ScHicKFUss eine Schlesische ^^, von Friedrich Zorn eine Wormser ^^ '^ , von
Leonhard Widmann eine Regensburger ^^ ^ , von Christoph Lehman eine
Speirische Chronik ^'^ : letztere aus dem J. 1612 und sie zumal eine fleissvolle,
für die Städtegeschichte des Mittelalters noch jetzt ausgiebige Arbeit, aber zu
viel mit Lehrhaftigkeit, mit politischen Abschweifungen untermischt und schon
in dem beschwerlichen Stil der Canzleien, der bald noch allgemeiner herrschen
sollte (§ 116, 4), geschrieben: der Yerfasser war eben selbst von der Canzlei
und als Schriftsteller sonst auch in lehrhafter Weise thsetig (§ 101, 5. 111,
10). Ferner eine Zimmerische Chronik, voller Sagen und Schwanke ^■''^ , eine
Lebensgeschichte Wilwolts von Schaumburg ^^ ^ , von Zacharias Theobald eine
Historie des llussitenkrieges ^^, von Adam Reissner das Leben der Herren
Georg und Caspar von Frundsberg ^^ und hieran sich schliessend die Erzeeh-
lungen die Götz von Berlichingen ^^, die Ser. Schertlin von Burten-
(Probe LB. 3, 1, 311) wie die lat. Annales erst 1554. Kritische Ausg. v. Lexer, München
1882 fgg. 28) Er hatte auch zu einer eigenen Germania illustrata vorgearbeitet; das
erste Buch derselben durch Casparum BruscJdum deutsch hsggb. : Chronica von vrsprumj,
herkomen vnd thaten der vhralten Teutschen, Nürnb. 1541. 29) Compendium siue Ere-
uiarium primi voluminis annalium sive historiarum, de origine regum et gentis Francorum,
Mainz 1515. 30) Aventinus für die Ehre der Muttersprache : § 94, 37. Auch gegen das
Latinisieren der Gelehrtennamen (§ 94, 27 — 29) eiferte er: bei Lexer I, S. 15. 31) Bei-
spiel im LB. Fischart 2, 243 fgg.; vgl. § 93, 24. 32) zuerst, etwa 1536, niederdeutsch,
dann hochdeutsch ausgearbeitet (vgl. § 93, 28—29): die niederd. Abfassung hsggb. von
Boehmer, Stettin 1842 ; die erste hochd. v. Medem, Anclam 1841 ; die sog. Pomerania, herausg.
von Kosegarten, Greifswald 1816 ist eine Umarbeitung von fremder Hand. Kantzow gest.
zu Stettin 1542. 33) nicht vollständig, abgebrochen durch den Tod des Verfassers zu
Koenigsberg 1583; hsggb. v. Hennig u. Schütz, Koenigsb. 1812—1817. 34) Leipz. 1625.
34a) Hg. V. Arnold, Stuttg. 1857, Lit. Ver. 43. Verfasst 1570. 34b) Städtechron. XV,
1878. 35) Proben LB. 3, 1, 545. 35a) Herausg. von Barack, Stuttg. 1868. 69, Lit.
Ver. 91—94; und Freiburg 1881. 82. Verfasst von Graf Frohen Christoph v. Zimmern
und seinem Secretär Hans Müller 1564 — 66. 35b) Hg. von Keller, Stuttg. 1858, Lit. Ver.
50. Handschrift von 1507. 36) Wittenb. 1610 und um zwei Bücher vermehrt Nürnb.
1621; Theobald, aus Schlackenwalde in Boehmen, gest. 1627. 37) Historia Herrn Georgen
vnd Herrn Casparn von Frundsberf/, Vatters vnd Sons, Frankf. 15(j8. 38) als alter
136 NEUHOCIinErTSrilE ZEIT. XVI JAIIKII. § 1U8
BACH ^^ ' , die Bartholom.kus Sastrow ^'"' , die Hans von Sciiweinichen '•*,
die Thomas und Fef.ix Platter ^" jeder von seinem Lebenslaufe selbst ver-
fiisst hat: all das reclite Zeichen und Zeugnisse dieser Zeit, die Frundsberge
und Götz und Sclnvciniohcn \\\c in andrer Weise lluttcn (§ 94, 17) und Pleningen
und Schwartzenberg (§ HO, 1 fgg.) für die Ausgänge des alten Adels, die
Sastrow und Platter für das Aufkommen des gelehrten Bürgerthumes. Auto-
biographischer Art und schon deshalb mit zu der Geschichtsschreibung zu
stellen sind endlich auch die Reisebeschreibungkn, Berichte insbesondere über
Pilgerzüge, die nach dem gelobten Land unternommen worden, in Leben und
Schrift eine Fortsetzung schon mittelalterlicher Sitte (§ 90, 175 fgg.). Die
Frühesten jetzt, von 1519, sind Ritter Ludwig Tschudi von Glarus ^'^ » und
Hans Stockar, ein Schaffhauser ^ ' : Spatere Johann Helffrich ", Melchior
VON Seidlitz *^, Leonhard Rauwolf *\ Ulrich Krafft " ' , Samuel
KiECHEL **^ , Michael Heberer *''' und noch mancher sonst: Siegmund Feier-
abend zu Frankfurt, derselbe Buchhändler, dem wir die Romanensammlung
das Buch der Liebe (§ 107, 11 — 12) verdanken, hat auch solcher Reisen eine
ganze Sammlung, das Reyssbiich des heyligcn Lands, schon im J. 1584 heraus-
geben können, darin mehrere der so eben aufgezahlten, die vorher schon
einzeln gedruckt warcn.**^ In Südamerika erlebte Abenteuer erzählen N.
Federmann und H. Stade. *^ *
Mann: gest. zu Hornberg 1562: erste Ausg. Xürnb. 1731. 38a) herausg. von O. Schün-
huth, Münster 1!S58. 38b) herausg. von Mohnike, Greifswald 18'23. 24. HI. 39) Lieben,
Lnst und Leben der Deutschen des 16 Jh. in den Begebenheiten des schles. Ritters H. v.
Schw. (bis 1602, gest. 1616), hsggb. von Büsching, Breslau 1820—23, von Oesterley, Bres-
lau 1878. 40) Thomas Platter u. Felix PI. zwei Autobiographien, hssg. v. Fechter, Basel
1840, von Boos, Leipzig 1878. Die des Vaters (gest. 1.582) von 1.572, des Sohnes (gest.
1614) von 1612. 40a) gedruckt Rorschach 1606: Titns Tobler, Bibliographia geogr.
Palaestin« Leipzig 1867. 41) Heimfahrt von Jerusalem Hans Stockars (hsggb. von
]N[anrer-Constant\ Schaffh. 1839. 42) Bericht von der Beis mich Hierusalem u. s. w.
Leipz. 1578. 43) Gründl. Beschreibung d. WaUfart nach d. heil. Lande, Basel 1576.
44) Leonharti liauwolfen AigentlicJie beschreibung der Eniss, so er vor diser zeit gegen
Auff'gang — selbs lolbracht. Laugingen 1.582. 44a) Reisen und Gefangenschaft (in Tri-
poH 1574—77. beschrieben 1616, von Hassler, 8tuttg. 1861, Lit. Ver. 61. 44b) Hg. von
Hassler. Stuttg. 1866. Lit. Ver. 86 (Kiechel reiste im Orient 1.585—81». 45) Servitus
uEgyptiaca, Heidelb. 1610. 46) die von Heltfrich, Seydlitz undRauwolI; ebenda Daniel
Ecklins v. Aarau Reise 1552, von welcher zu Basel 1576 ein Einzeldruck erschienen war.
46a) Des ersteren Reisen in Venezuela 1529 fgg. erschienen als Indianische Hvstoria
(Hagenau) 1577, des letzteren Bericht über seine Gefangenschaft in Brasilien bis 1555,
Frankfurt 1556. Neue Ausg. von Klüpfel, Stuttg. 18.59, Lit. Ver. 47.
I
i^ 109 BEREDSAMKEIT. 137
§ 109.
Wahrend auf die erzaehlende Prosa Luther nur in su fern, als er das
allgemein anregende und massgebende Muster der neuen Sprachschöpfung
war, nur mittelbar Einfluss üben konnte (denn es gab der Art kaum anderes
von ihm als nur die geschichtlichen Theile der Bibelübersetzung), hat er auf
die rednerische und die lehrhafte desto tiefer greifend und hier ganz unmittel-
bar, hier durch reichstes, schoenstes, eigenstes Beispiel eingewirkt. Einmal
also durch Beispiele der Beredsamkeit, das heisst, da man jetzt für die
Heimath selbst ^ nur die eine Anwendung noch kannte, der Predigt. Zwar
die feinere Kunst und die Kunstgriffe der Redner des Alterthumes waren
Luther fremd: sie wseren zu kleinlich gewesen für den tiefen Grund, aus dem
zuerst er wieder schöpfte, für das hohe Ziel, zu welchem er als der erste
wieder hinwies; und ebenso fremd die halb phantastischen, lialb überverstän-
digen Funde, in denen gegenüber der geistigen und gemüthlichen Verdumpfung
der mittelalterlichen Kirche die Predigt der Mystiker ausgeklungen war (§ 90,
53 fgg. 73 fgg.): er besass dafür zu viel Klarheit der wissenschaftlichen Er-
kenntniss und zugleich der Glaubenseinfalt, war zu sehr ein Mann des Volkes
und seiner Aufgabe gegen das Volk sich zu wohl bewusst. Daher denn in
seinen Predigten überall nm* die grossen und einfachen, aber eben durch die
Einfachheit wirksamsten Mittel der Redekunst.- Von den Predigten der Mit-
arbeiter und naechsten Nachfolger Luthers ist so weniges und in seltenen
Einzeldrucken verstreut auf uns gekommen, dass nicht zur Genüge zu beur-
theilen ist, ob sie hier doch volksmsessiger und mehr ihrem Führer gleich
verfahren seien als im Kirchenliedc (§ 103, 38 fgg.): aber es darf das aus
den Erfolgen, die auch sie gehabt und wüe auch sie der Gemeinden immer
mehr gestiftet und befestigt haben, wohl mit Gewissheit geschlossen werden:
fehlte doch selbst nicht, wie wir an mehr als einem Beispiele sehen, jene
schwärmerische Beredsamkeit, die hin und wieder das Volk bis zu religioesem
und politischem Wahnwitz entzünden konnte. Und von einem der würdigsten
und vertrautesten Schüler haben wir wie von dem Meister selbst mehrere
ganze vielumfassende Predigtsammlungen, die uns ersetzen moegen, was bei
§ 109. 1) Übersetzung von Plinius Panegyricus durch Dietrich von Pleningen: Gay
Pliny des andern lobsagung, Landsh. 1515. 2) Als Beispiel im LB. 3, 1, 197 seine letzte
Predigt, in der er wie aus Ahnung des nahen Abscheidens noch die Summe seiner Lehre
und seines Lebens zieht und noch einmal, nur das Hauptsächliche hervorhebend, den
Kampf gegen das Pabstthum aulnimmt. Einzeldrucke von Predigten Luthers verzeichnet
im Büchersch. der Deutschen National-Litt. 26 fgg. ; die erste Sammlung die Kirclienimtüle,
138 NEUIKH'IIDEUTSCIIP] ZEIT. XVI JAIIlill. § lOi)
den anderen abgeht, von Joiiannks MATiiEsirs. CJlcicli seinen Liedern (§ lO.'J,
35), nur nicht wie diese bloss gelegentlich, sondern gun/- und einzig knüpfen
die Predigten seiner Brn/postilla oder Sarcjda ^ an das IJerufshiben der Ge-
meinde an, bei der er gedient hat, der Stadt Joachiiiisthal: ein Werk auch
für die Sprachtorschung von Wiclitigkcit, nach dem Freiberger Stadtrecht
(§ 90, 13) das erste, das uns die Jveiclifhümor der deutschen Bergmanns-
sprache in lebendigem Zusammenhang verwendet zeigt. Zugleich aber durch
geschichtlichen Wcrth anziehend sind die siebzehn Predigten, in denen Ma-
thesius das Leben und Wirken seines geliebten Lehrers zum Gegenstand der
ErzRihlung und erbaulichen Betrachtung macht.* Mit der Kirche Zwinolis
und der Seinigen, die wir schon an Werth und dauerhafter Fruchtbarkeit
der Liederdiclitung haben der Lutherischen nachstehen sehn (§ 103, 45 fgg.),
scheint es sich ebenso in Betreff der Predigt verhalten zu haben: gleich Zwingli
selbst '•* hat nicht jenes Strcemende, mit sich fort reissende der Beredsamkeit,
auch hier vielmehr etwas gelehrt beschwerliches, das die Eingänglichkeit ver-
kürzen musste. Und so wird es nicht bloss aus hinderlichen Verhältnissen
der Politik zu erklären sein, dass die Kirchenbesserung in der Schweiz viel
weniger dui'chgegriffen und überwältigend gewirkt hat als in andern Theilen
des lieiches. Emtiuss aber auf die Beredsamkeit des evangelischen Nordens
konnte die Schweiz schon deshalb nicht üben noch selbst auch hebenden und
belobenden Einfluss von daher in reicherem Mass erfahren, weil sie auch hier
durch Festhalten an der heimathlich gewohnten Art des Sprechens sich von
all den Erspriesslichkeiten einer litterarischen Wechselwirkung ausschloss
(§ 93, 5).
Zwischen Ernst und Scherz mitten inne steht eine Anzahl von theologi-
schen Abhandlungen protestantischer Geistlichen, welche einzelne Laster und
Unsitten der Zeit als Teufel schildern. So zuerst der Hosenteufel von An-
dreas Musculus 1556, spajter von Cyr. Spangenberg der Jagteufel 1560
und Die bcesen Sielen ins Teufel Karnöffelspiel 1562. Eine ganze Sammlung
solcher Schriften erschien als Theatrum diabolorum 1569.^*
Wittenb. 1527: besorgt hatte sie Stephan Roth (Köstlin 2, löS) wie Cruciger die von 1543.
3) Die erste derselben LB. 3, 1. 417. 4) Historien von — Dr. Martini LutJiers, An-
f'anfj, l.chr, Lehen vnd Sterben — ditrch den alten Herrn M. Mathe-s^ium gestellt, Niirnb.'
l.')66: Bücherschatz d. Deutschen Xational-Litt. 34. Neue Ausgabe von Rust, Berlin 1841. j
Ausserdem noch 25 Predigten über die Historia Vnsers lieben Herren vnd Heylands Jesu]
Christi (Nürnberg 1572), 54 über die Sündflut (Diluvium Mathesii, Leipzig 1587) u. a.
5) Beispiel LB. 3, 1, 233: vgl. § 94, 22. 5a) Die Schrift v. Musculus erschien zu Frank-'
fürt a. d. 0., die Spangenbergs zu Eisleben, das l'lieatram Frankf. a. M, Hierin auch der
§ 109 BEREDSAMKEIT. 139
Doch noch wcitergeliendes wurde gcw<agfc. Wir haben das Fastnachts-
spiel als eine der Waffen im Glaubensstreit (§ 105, 88 fg.) und schon früher
die spöttische Nachäffung der Predigt als eine Fastnachtslustbarkeit kennen
lernen ^ : auch im sechzehnten Jahrhundert ward dieser frevelhafte Scherz,
die rednerische Mischung deutscher, mit Reimen durchflochtener Spässe und
lateinischer, die wie Bibelstellen klangen (vgl. § 44, 33), und ward wohl jetzt
noch häufiger geübt, da sichtlich der Spott zuerst und zumeist auf die alte
Kirche gemünzt und seine Wendung gegen alles Kirchliche und Geheiligte
und Ernste überhaupt nur ein weiterer Schritt war. Denn nicht nur die
Predigt der Kirche ward durch Fastnachtspredtgten ', auch andre von deren
Redehandlungen wurden so in Lächerlichkeit gezogen '^, und in gleich paro-
discher Weise verfasste Nicolaus Manuel, jener Dichter scharf gegenpsebstischer
Fastnachtsspiele (§ 105, 88) einen letzten Willen der Messe ^: freihch hat
eben derselbe durch den Muthwillen seiner Laune sich auch verleiten lassen
das Evangelium vom Leiden und Sterben unsers Herrn auf den Wein zu
parodieren.^'' Die Hauptanlässe, für welche dergleichen Scherze verfasst und
bei welchen sie vorgetragen wurden, mochten Trinkgelage zur Fastnachts-
und zu anderen Zeiten sein ^\ wie ja die Lieder, die man bei den Martins-
schmäusen sang, ebenso parodisch an- und auszuklingen pflegten (§ 104, 6),
und Trinkgelage namentlich der Studenten *-: zwischen den quodlibetischen
Redübungen der hohen Schulen '^ und den Fastnachtspredigten und trunkenen
Hofteufel von Chryseus (§ 105 S. 99), welcher doch durch dramatische Form und biblischen
Inhalt in einen anderen Zusammenhang gehört. 6) § 8G, 2. Ein Fastnachtsspiel bei
Keller 2, 613 mit solcher Parodie beginnend. 7) Ein KurtziocUige Fas&nacht-Predig von
Dr. Schtoarmen zu Hummelsliagen, auff' Grillenberg vnd Lappenech: neue Abdrücke in
Grffiters Idunna u. Hermode 1813, 42 fgg. u. durch Karajan, Wien 1851. Eyn härtziveylig
Predige, die vns heschreyht Dr. Schmossmann, am vier vnd zweintzigsten kappenzipffell :
neuer Abdruck durch Haupt u. a. Leipz. 1819. Beide Stücke bereits im J. 1589 vorhanden
und beliebt: Schraossm. 5. Eben der Art wohl auch die Freyharts Predigt 1550 u. s. f.:
Bücherschatz 105, Lachmanns Walther v. d. Vogelw. 200; und aehnlich noch unsre Kinder-
predigten § 113, 11. 8) Vaterunser, Taufe, Benedicite aus der Papisten Handbucchlein
(schon früher als 15(J3) in Phil. Waekernagels Deutschem Kirchenlied G92 fgg. zum Theil
in Reimen, wie ebenda in bekannter Gesangweise der Barfuesser Mönch Zehen Gebott.
Gebetparodien des 17 .Jh. § 113, 4. 9) Grüneisen 433 fgg. bei Bschtold 232. 10) LB.
3, 1, 269. Noch augenfälliger ist die Parodie in einem etwas älteren Stücke gleichen In-
haltes, das Manuel scheint gekannt und benutzt zu haben: Haupts Zeitsehr. für Deutsches
Alterth. 3, 27. 11) Die trunkene Mette (Reimprosa) : HBofFmann In duki jubilo 100 fgg.
Auch in der Überschrift des 8 Cap. von Fischarts Gargantua die TruncJcen Litanei.
12) Auf dem Titel von Dr. Schwärmen Ist lustig zu gebrauchen bey dem Deponiren, Hoblen
vnd Hanssien. 13) Zarucke in Haupts Zeitsehr. 9, 119 fgg.
140 NEL'IIOCIIDEITSCIIE ZEIT. XYI JAIIKH. § 110
Metten war dem Sinn und Wesen nacli zuletzt kein Unterschied, nur dass
jene ötfentlicher, feierlicher, ausl'ülirlicher und f^anz in Latein und gcwiehltercm
Latein gehalten wurden.
§ 110.
Dass im seclizeimten Jahrhundert neben der rednerischen auch die lehr-
hafte Prosa und sie zu noch reicherer Fülle, zu einem noch höheren CJrade
der Ausbilduug sich entwickelt hat, war das Ergebniss eines Zusammenwirkens
von allen Seiten her und auf den einen erhochten Mittelpunkt hin, den Luther
einnalyn. Der Gebrauch des Deutschen als der öffentlichen, der Staats- unij
Gerichtssprache (§ 90, 05 fgg.) ward neu befestigt und besttetigt für immer,
als auf dem Reichstage zu Augsburg K. Karl v die Bekenntnissschrift der
Evangelischen nicht lateinisch, sondern deutsch verlesen liess und eben der-
selbe zwei Jahre nachher, im J. 1532, die peinliche Gerichtsordnung, die zu-
erst der Freiherr Johann von Schwartzenberg entworfen hatte, zum Reichs-
gesetz erhob ' : damit war zugleich von Reichs wegen eingeleitet, was ohnediess
in Folge der Kirchenbesscrung geschehen nuisste, dass allmajlich die Canzlei-
sprache auch des niederen Deutschlands hochdeutsch ward.- Leider nur
trübte sich diese Sprache der Canzleien überall, weil ja Roemisches Recht nun
allgemein war, durch zahlreiche Fremdworte (§ 94, 24), und Pedanterei ge-
wophnte sie an die beschwerlichste Weitläuftigkeit (§ 108, 35. 116, 4); so
war auch die Übersetzung, die im J. 1519 Thomas Mirner von Justinians
Institutionen fertigte ^, und war das Ansehen, worin noch lange der Klagspiegel
und der Laienspiegel (§ 90, 131 fg.) standen, der deutschen Rechtsprosa
mehr ein Verderb als Nutzen. Nicht so die Übersetzungen, die es von
anderen Lehrscliriften der Classiker und ihnen nach der italia^nischen Hu-
manisten gab, Ciceros und Lucians, Petrarcas, Poggius und Beroaldus wiederum
durch jenen Schwartzenberg ^, durch Dietrich von Pleningen, den wir sonst
schon als Yerdeutscher kennen ', durch Adam Wernher von Themar *, durch
§ 110. 1) Die peinl. Gerichtsordoung K. Karls v nebst der Bamberger und Brandenburger
Halsgerichtsordnung, hsggb. von Zöpfl. Heidelberg 1842. Vgl. Herrmann, Job. Freih. v.
Schwarzenberg, Leipz. 1841; Schwarzenbergs Briefe nebst dessen Leben und Schriften von
Strobel, Altorf 1773. Geb. 1463, gest. 1528. Vgl. Anni. 4. 8. i». 2) § 93, 28. Kinder-
ling a. a. O. 393 fgg. 3) Lappenbergs Ulenspiegel 4(X) fgg.; vgl. § 99. 18. 4) seit
1522 Cicero de senect., de amic, de oftic, Tuscul.; zusammen unter dem Titel der Teütsch
Cicero Augsb. 1534. Eigentlich Übersetzer war Schwartzenbergs Caplan Hans Neuser: er
selbst hat darauf die Arbeit nur in geläufiger Deutsch zu bringen gesucht. 5) § 108, 3.
109, 1. Von klaffern. — Zicay puechlein das ain Lucianus vnml das ander Poijgius he-
schriben haben, Landshut 1516. 6) Eyn neuae yetentscht Buechleyn, inhaUende — Ciagen
§ 110 LEIIRHAFTE PROSA. 141
Jacob Fru-:linkint ^ : hier mussto schon um des Inhaltes willen auch die Form
befruchtend wirken, und wie viel daran gleich die Übersetzer selbst gelernt,
zeigen andre dem sehnliche Schriften, die Pleningen und Schwartzenberg ver-
fasst haben ohne zu übersetzen '^, letzterer deren auch zum Theil in Reimen.''
Sehn wir dann Schwartzenberg mit noch einem Büclilein "^ in die kirchliche
Bewegung, sehn wir den groesten der adlichen Humanisten Deutschlands,
Ulrich von Hütten, in eben dieselbe zuerst auf lateinisch, dann mit Selbst-
übersetzung und zuletzt gleich auf deutsch eingreifen (§ 94, 19. 21), sehen
wir, welch eine Flut lehrhafter, ernster, spöttischer Gelegenheitsschriften die
Flut der Ereignisse in Kirche und Staat mit sich geführt ^', Schriften wider
den Türken und den Pabst, gegen Murner und für Luther (§ 99, 27), und
wie gern man diesen, Hütten voran, die Form des Lucianischen GESPR.i<:cns
gegeben hat ^^: so liegt uns vor Augen die ganze reiche Wechselwirkung da,
in welcher das Studium der Antike und die Reformation und der neue Auf-
schwung der deutschen Lehrprosa gestanden. Über all dem aber fest und
hoch hebt Luthek sich empor, hier fast allein so reich als die Andern zu-
sammen, reich und mannigfaltig: denn obschon seine Lehrschrifteu sich einzig
auf die Gottesgelahrtheit und die Kirchenbesserung beziehn, so durchlaufen
sie innerhalb dieser Grenzen all die Vortragsweisen, welche da nur moeghch
sind, von der kindlich einfachen des Catechismus '^ und des verdeutschten
Aesop (§ 99, 32) bis zu der leidenschaftlich bewegten imd schwungvollen,
wo das Lehrhafte in das Rednerische übergeht: diess z. B. in den Ermahnungen
gegen den Bauernaufruhr ^^5 mitten iune liegen, um auch dafüi* nur haupt-
sächlich bezeichnendes zu nennen, die schlichten und dennoch wissenschaftlich
immer werthvollen Vorreden zu den einzelnen Büchern der heil. Schrift und
der Synlichkeit vnä des Schmertzen — Antwurt der Vernunfft (Petrarca), Oppenheim 1516:
Biicherschatz der Deutschen Xational-Litt. 19. 7) Bedefürung dreier gebrüder, Eym
Weinsau ffers, Hurers vnd Spielers nach Beroaldus, Xainz 1535; vgl. Anni. 25. 8) PJe-
ningen ein anntwort uuff zico fragen: — ■ wie es zukomm, das sich tvenig menschen jrs
Stands benuegen lassent, — tvie es Zugang das ivenig leutt — das wäre gut erkennen,
Landsh. 1516. Schwartzenberg Der Zudrincker vnd Prasser Gesatze Ordenung vnd In-
struction, Oppenh. (1512): ironisch wie spteterhin der ürobianus § 100, 21 fg. 9) ^[cmorial
der Tugent, Kummer Trost u. a.; hinter dem deutschen Cicero. 10) Beschwerung der
alten Teufelischen schlangen mit dem Götlidien wort 1.525. 11) Verzeichniss im Bücher-
schatze 20. ;34: fgg. 12) § 99, 11. Beispiel von Manuel (§ 105, 88) Ain klegliche Bot-
schafft dem Bapst zu komen 1528: Grüueisen 422 fgg.. Bächt. 21G; umgearbeitet in dni-
matische Form u. Reim: Cfrüneisen 225 fgg. Bucht, clxxxv ; vgl. § 105, 10. 13) Eyn bett-
buchlin 1522: LB. 3, 1, 179. Deudsch Catechismus Wittenb. 1529. 14) n^der die stür-
142
NEÜirOCIIDETTTSCITE ZEIT. XVI .TAIIRir.
8 in)
die orl)aulii'hcn Aualop^ungon, mit dcnon er einige derselben bogleitet hat.'''
Die Form aber, deren er für seine Iclirliaften Mittheihmgen sich am häufigsten
und liebsten bedient, ist die des ürikkes.'*"' Und wiederum innerhalb dieser
einen Form welche Mannigfaltigkeit der Toeno je nach der Sache, der es gilt,
nach der Person, an die er sclireibt, nach der Stimmung, die gerade ihn selbst be-
herrscht, väterlich kindlich seinem Sohne '', harmlos scherzend der (iattinn
und den Freunden gegenüber '^, wissenschaftlich mit den Gelehrten, und vor
Volk und Fürsten selbst mit fürstlicher i^Iajestoet.'-' Zum Theil sind diese
Briefe, weil sie öffontUche Sendschreiben waren, gleich von Luther selbst dem
Druck übergeben worden: aber auch die bloss geschriebenen übten dennoch
die eindringlichste Wirkung aus : sie wirkten wie auf den Kreis, der ihn in
häuslicher YertrauHchkcit umgab, die weisen und heiteren, auch durch Er-
zählung lehrenden Reden, die er bei Tische führte, die Tischreden, die erst
die Yerehrung des jüngeren Geschloclites vcröffentliclit luit.^'' Neben Luthers
Lelirstil treten alle die zurück, die sonst in dem gleichen Werk ihm zur
Seite und beigestanden, Euasmus Albekus z. B. mit der masslosen Leiden-
schaftlichkeit seiner Streitlust'-' und hier auch Ulrich Zwixgli, dem weder,
wo er einfach sein sollte, die Einfachheit noch anderswo der erhabnere Schwung
gelingt '-'-, den in seiner eigenen Kirche durch deutschere Kraft und Schärfe
des Wortes Wolfgan« Köpeel leichtlicli übertroffen. -^ Unter denen, die der
Reformation sich entgegengestellt haben, ist einzig Berthold, Biscliof von
Chiemsee, um der Redlichkeit und des wissenschaftlichen Ernstes, womit er
den Widerspruch gefülu-t, und der alterthümlichen Schlichtheit und Härte
seiner Sprache willen ^*, in noch hoeherem Grad aber und von Seiten des
metulen Rniren 1525: LB. 185. 15) Ps. 36 LB. 144. 16) Luthers Briefe und Send-
schreiben, gesammelt v. de Wette, Berl. 18"25— 27 ; eine Auswahl, meist genauer den Ur-
schriften folgend, LB. 85. Seitdem Naehtrjege zu de Wette durch Seidemann, Lutherbriefe
1859, und Burckhardt, Luthers Briefwechsel, Lpz. 186<J. Eine Ausgabe mit Anmerkungen
von Enders, Frankf. a. M. I 1884. 17) LB. 371. 18) LB. 1G9. 178. 19) LB. 85.
145. IGl. 20) Tischreden od. Colloquia Dr. M. L. (von JoH. Aurifaber) Eisleben
1.566; neue Ausg. von Förstemann, Leipz. 1844 fgg. Aurifaber hat die Tischreden nach
Rubriken geordnet, die ursprünglichen Aufzeichnungen sind noch vorhanden: Küstlin 2, 487.
676. 21) § 99, 39. 103, 39. Der Form wegen (Anm. 12) hervorzuheben Ein Dialogm
oder Gesprach etlicher Personen vom Interim. Item vom Krieg des Endtchrists zu Bom
— Item von den Zeychen des Jüngsten tags 1548. 22) Beispiele der theologischen und
theologisch-polemischen u. politischen Lehre LB. 3, 1, 239. 251. 263. Vgl. § 94, 23. 103,
45. 109, 5. 23) LB. 301: vgl. S 94, 5. Wolfgang Küpfel oder Köpfli. lat. W. Capito
oder auch mit Beziehung auf den Stand seines Vaters W. Fabricius C. geb. zu Hagenau
1478, gest. zu Stra.ssburg 1541. 24) Tewtsche Theologey, München 1528; neue Ausg. von
§ 110 LEHRHAFTE PROSA. 143
Stils gleich neben Luther ist Sebastian Fkanck hervorzulieben. Auch Luther
kannte und ehrte die altdeutschen Mystiker : hat doch er das schoene Büchlein
von der Deutscheu Theologie zuerst drucken lassen (§ 90, 50), wie zugleich
die von ihm erhobne Bewegung sichtlich der Anstoss gewesen ist, dass auch
die Ausgaben Taulers nun sich hcäuften (§ 90, 37. 39); und die Kenntniss
kam ihm wohl zu Statten: er machte die reichere Befajhigimg zum Ausdruck
des Abstracten, die der Sprache durch die Mystiker anerzogen worden (90,
17 — 18), für die Predigt und mehr noch für die lehrhaften Schriften sich
auch nutzbar. Ebenso Franck, und sein schon an der Geschichtsschreibung
und sonst ^'^ mannigfach geübter Stil hat sich noch um ein grosses philosophi-
scher ausgebildet. Er aber ward von der Mystik des Mittelalters, ward von
der Philosophie des Alterthumes ^^ auch in die pantheistischen Irrungen beider,
ward von dem unruhigen Drang und dem selbstgenügsamen Reichthum seines
Geistes auf Wege verleitet, wo zwischen Tiefsinn imd Frevel jede Grenze
schwand, und es kam, dass ihn, der anfangs mit Luther gewirkt, die neue
wie die alte Kirche als Ketzer zurückwies. Seine Hauptschriften in solcher
Art der Philosophie, der Religionsphilosophie sind die Par adoxa^ aller in
Got Philosophierenden Christen rechte Götliche Philosophei vnd Teütsche Theo-
logei (nicht ohne Absicht eignete Franck nun sich wie schon vor ihm jener
Bischof Berthold die altgeehrte Benennung zu), und an bekannte Stellen des
ersten Corintherbriefes angeknüpft das Loh des Thorechten Göttlichen Worts,
das er einer Verdeutschung von Erasmus Lobe der Thorheit und Agrippas
Lob des Esels beigefügt ^^ ; noch eine dritte wird uns spseter entgegentreten
(§111,7).
Des Erasmus Encomion, das Lob des thoerichten Gotteswortes, damit war
zugleich ein Versuch gemacht die Satire auch in die Prosa und in die Satire
den hoeheren Humor, die feinere Ironie zu bringen, ein Versuch, der jedoch
nur spaerliche und tief abfallende Nachfolge fand, an der Sapiens Stultitia
z. B., die Georg Friedrich Messerschmid aus dem Italifenischen übertrug -'',
und der Ethograx^hia Mundi Johannes Sommers -'', die zuerst mit weit-
Reithmeier, ebd. 1853: Proben LB. 3, 1, 273. 25) § 108, 20 fgg. Seine Declamntion
— eins Sauffers, Hurers vnd Spilers, Nürnb. 1531, nach demselben Dialog des Beroaldus,
den Froslinkint Anm. 7 verdeutscht hat. 2C) in diese Richtung seiner .Studien gehcprt
das Buch Sihen iveisen in Greciu, Frankfurt o. J. 27) Die erste Ausg. der Paradoxa zu
Ulm 0. J.: die erste mit Jahrszahl ebd. 1033. Morie Encomion o. 0. u. J. (^Neudruck von
Götzinger, Lpz. 1881); ein Abschnitt aus dem Lob d. güttl. Wortes LB. 3, 1, 343. 28) des
Antonius Maria Spelta, Strassb. 1615. 29) Magdeb. 1609; auch liier Johannas Olorinus
144 NEUIIOCIIDEUTSCHE ZEfT. XVI JAIIRII. § 110
gi'oifcnder Frische ungelegt, schon vom zweiten Thcii an sich ia den wohl-
teilen Spott über das andre Geschlecht verengte.^" Einstweilen zog die Satire
noch die Gedichtform und bald den unverliüllteren Durchblick der ernsten
Hintergedanken, wie das Narrenschiti' und der Reinike Fuchs es lehrte, bald
die derbere Handhabung in Art des Grobianus und der Eulenspiegeleien vor
(§ 99, 14 fgg. und 29—30. 100, 20 fgg.).
In Lutlier und Franck, dem Wortführer der göttlichen Weisheit und
dem der thau-iciit gewordeneu menschlichen, hatte sich etwa der Gegensatz
von Tauler und Eckard (§ 90, 18 fgg. 35 fgg.) erneut: er sollte noch einmal
beim Übergang aus dem sechzehnten in das siebzehnte Jahrhundert wieder-
kehren in Arndt und Bochme. Johannes Arndt ^', der im niedersächsischen
Norden gewesen ist was in Schwaben Andre« (§ 99, 61), der aber deshalb
auch von den im Formelzwang erstarrten Gliedern der Kirche verketzert
worden wie Andrese und weiterliin Spener ^-, Ai'ndt wirkt heute noch durch
seine Erbauungsschriften, die ältesten, deren die evangelische Kirche braucht,
zumal durch seine vier Buecher vom wahren Ohristenthim ^^, die der tief-
sten Gedanken voll im Gewände der Einfalt und dichterisch in dem der
Prosa sind ^*, und wii'kt durch sie nicht allein in tausend Häusern und Herzen
Deutschlands fort: fast alle Sprachen, die eine Litteratur besitzen, besitzen
auch Übertragungen jener Schriften Arndts. Ihm gegenüber Jacob B^hme,
den eine Zeit, die nichts mehr von Sebastian Franck und noch nichts von
den Mystikern des Mittelalters wusste, Phüosophiis Teutonicus genannt hat, in
der Meinung ihn damit als den ersten Philosophen zu bezeichnen, welcher
deutsch geschrieben, Schuhmacher zu Görlitz und daselbst gestorben im J.
1024.^^ Schon in Paracelsus (Anm. 40) halte sich abenteuerlich die Ahnung
von göttlichen Geheimkräfteu der Natur geregt: ihr verzerrter Ausdruck, ver-
Vuriscus genannt: vgl. § 101, 13. 30) p. II Malus Midier, p. III Impenoi<us Midier.
31) geb. zu Ballenstädt l.")55, gest. als Superintendent zu Celle 1621; vgl. H. L. Perta de
Joh. Arndtio eiusque libris qui inscribuntur de vero christianismo. Hanov. 1852. 32) Arndt
sogar verdächtigt, dass er ein Weigelianer sei: vgl. Anm. 37. 33) Frankf. seil 1G05:
Stiieke daraus LB. 3. 1, r)07 : Pauadiesgärtlein, Leipzig 1G12: hier auch einige Reim-
gebete. Ausserdem von Arndt mehrere Predigtsammlungen aus den J. 1615 fgg. Sämmt-
liche Geistreiche Schriffteo, Leipz. u. Görlitz 1734—36. 34) Mehrere Gebetlieder Paul
(Tfrhardts aus dem Paradiesgärtlein geschöpft: Langbeckers Ausgabe 555 fgg. 30) geb.
zu Alt-Seidenberg bei Görlitz 1575. Vgl. .Tue. Ba^hme, ein biographischer Denkstein von
Fouque. Greiz 1831. Jac. Bu-hmes Leben u. Lehre von WuUen, Stuttg. 1836. Hamberger,
Die Lehre J. Böhmes, München 1844. Vgl. auch N. Lausitzisches Magazin xxxui. Görlitz
§ 110 LEHRHAFTE PROSA. 145
geblich der Spott aller Besonnenen ^'^, war die Kunst der Goldmacher; und
schon in Valentin Weigei. hatten Paracelsus Einfluss und der der Mystiker
sich dahin geeinigt, dass die Erkenntniss seiner seihst die Erkenntniss Gottes,
auch die Schöpfung Gott, die Kirche mit ihren Hauptlehren im Irrthum sei ^^:
mit Jacob Boohme, einem Anhänger Weigels, fand dieses Streben fern ab von
der Offenbarung durch eigene Spcculation das Verhältniss zwischen Gott und
Menschen und Natur zu ergründen für seine Zeit die Yollendung (ein spseteres
Zeitalter hat darin einen willkommenen Yorgang erkannt) und durch eine
Fülle von Schriften nun erst den rechten Eintritt auch in die Litteratur und
die litterarische Wirkung.^* Aber selbst die bedeutendsten dieser Schriften,
wie gleich die älteste, Aurora oder die Morgenrcetiie im Aufgang von 1612
und speeter, von 1623, das Mysterium magnum^^^ zeigen warnend auch
den tiefsten Anschauungen den Aberwitz, z. B. den der Goldmacherei, un-
trennbar beigemischt, zeigen uns, da dem Denken Boehmes nicht bloss der
geoffenbarte Grund, sondern auch die Grundlage wissenschaftlicher Bildung
fehlte, meist Grübelei anstatt des Denkens oder spiegeln jene Schwärmerei
zurück, die ihn bis zu vermeintlichen Gesichtseingebungen verzücken konnte.
Und wohl ist die Sprache nicht imgewandt, je an seinem Ort bald von hohem
Schwünge, bald lieblich bis zur Kindlichkeit, und manche der philosophischen
Wortschöpfungen ist mit ebenso viel Glück als Kühnheit unternommen: indess
gerade hier fehlt es auch an schlimmen Verstoessen nicht, welche die Unge-
lehrsamkeit und die beständige Verwechselung von Begriff und Sinnbild ver-
schuldet.
Neben der lehrhaften Prosa des Staats und des Rechtes und der in jedem
Betracht weit überwiegenden der Theologie und der Philosophie ward die
DER mathematischen UND DER NATURWISSENSCHAFTEN jotzt UUr WCnig nOch
geübt. Denn was über Natur- und Heilkunde Philippus Aureolus Theo-
PHRASTüS Paracelsus Bombastus ab Hohenheim auf Deutsch geschrieben *•*,
1857. 36) z. B. des Grammatikers Job. Clajus (§ 93, 15): Althumistica, B. i. Ein tvun-
derharliche, seltzame vnd bewerte Kirnst, Auss Mist ötc. Gold zu machen, Amberg 1586
(in Reimen); und Rollenhagens im Froschmäuseier B. 1, Th. 2, Cp. 15 — 17; vgl. § 107, 26.
37) Weigel geb. zu Grossenbain in Sacbsen 1533, gest. als Pfarrer zu Zscbopau 1588: seine
Schriften meistens erst lange nach seinem Tode zu iSleustadt (Magdeburg) gedruckt: Kirch-
und Hauspostül über die Evangelien 1611;. Captura aurea, Der güldene Gry ff, d. i. An-
leitung alle Dinge ohne Irrthum zu erkennen 1618 u. a. 38) Frühere Sammlungen der
Werke Boehmes von Betke, Amsterd. 1675; von Gichtel, ebd. 1682: darnach zu Hamburg
1715 und 1730; die neueste y. Schiebler, Leipz. 1831—1813. 39) Aus beiden LB. 3, 1,
571 und 587. 40) geb. auf dem Hohen Nest bei Eiusiedeln 1493, nach weit und wild
Wackernagel, Litter. Geschichte. II. 1'^
141J NEUIIOCII DEUTSCHE ZEIT. XVI JAJIKII. § 111
derselbe, der auch, weil das Latein ilini unitoqiiem war, als der erate unter
allen academischen Lehrern öft'c^ntlich auf Deutsch vorgetragen hat (§ 94, 9),
schlsegt eben meistens, und -wo die Begeisterung seinen Stil aus der Trocken-
heit und rnbeholfenheit erhebt, da immer in jene theosophische Richtung
ein; Koxuad Gksner aber, der aligclohrtc Zürcher", so lebhaft seine Theil-
nahme selbst für eine gelehrte Behandlung der Deutschen Sprache *^, so rege
sein Sinn auch für das Yolksmfessigc im Deutschen war *^, sein grosses natur-
goschichtliclies ^Ye^k, die Ilistoria cmimalium seit 1550, hat doch gleich all
den vielen kleineren er selber nur lateiniscli abgcfasst, und die deutsche Ab-
fassung stammt von anderen nicht so namhaften Männern." Nur Aijuikciit
Dürer *' iiat es verstanden auch einigen Arbeiten aus dem üebiete der an-
gewandten Mathematik eine scharf umrissene und, so weit hier Schoenheit
moeglich war, nicht unschoene Gestalt zu geben.'**'
§ 111.
Wir haben bei der lehrliaften Dichtung gesehn, wie theils um das eigene
Wissen aufzufrischen, tlieils um doch in etwelcher Verbindung mit dem Volk
zu bleiben die Gelehrten aus dessen Spruchweisheit geschöpft, wie sie Sprich-
wörter und Raethsel des Volks in Reime gebracht und neue Sprüche denselben
nachgereimt haben (§ 99, 38. 53. § 101). Das entsprechende Verhältniss und
uiDschweifeiidem Leben gest. zu Salzburg 1541. Vgl. Lessings Paracelsns, sein Leben und
Denken, Berlin 1839, u. Paracelsus in Basel v. Fiseber in d. Beitrsegen z, vaterländ. Gesch.,
hsggb. von der bistor. Gesellscb. zu Basel 5, 1854, 109 fgg. Seine Scbriften in deutscber
Spracbe gesammelt zu Basel 1589—9] und zu Strassb. 1603. 41) geb. 1516, gest. 1565.
Conr. Gessner v. Jon. Hanuart, Wintertbur 1824. 42) Vorrede zu Maalers Würterbucbe
§ 93, 81; Bemühungen um die von Gassar beabsicbtigte Ausgabe Otfrieds: Hanhart 204
igg. Hoffmanns Fundgruben 1, 39 fg.; antik gemessene deutsche Verse § 94. 30. 4.^) In
der Hhtoria animalium öfters deutsche Sprichwörter aus der Thierwelt angeführt: Hanh. 130.
44) VogeJbuoch, durch HuodolffHeüssIin, Zürich 1557: Thierbuoch, durch Cuonraf
Forer ebd. 1563; Fischbuoch, durch denselben ebd. auch 1563. Spster ein fehnliches Ge-
sammtwerk, das die Wissenschaft in die Erbauung und ungefaehr wieder auf den Weg des
alten Physiologus § 88, 19 hinüberlenkt, von Hermann Heinrich Frey, Pfarrer zu Schwein-
t'urt: 'Ix9voßtßXia, Biblisch Fischbuch, Leipz. 1594, &riooßißkia, Bibl. Thierbuch u. 'OQyt9oßißki«,
Bibl. Vogelbuch. ebd. 1595. 45) zu Nürnberg geb. 1471, gest. 1528. Seine Briefe, das
Tagebuch seiner Niederländ. Reise u. andre Aufzeichnungen in Campes Reliquien v. A. D.,
Nürnb. 1828 (§ 94, 34). 46) Vnderweysnny der Messung mit dem Zirckel rnd RicMscheyt
in Linien, Ebnen vnd gantzen Corporen, Nürnb. 1525; Etliche Vnderricht zu Befestigung
der Stett, Schloss vnd Flecken ebd. 1527; Vier Bächer von menschliclier Proportion 1528:
dieses das Hauptwerk. Zu Nürnberg auch die erste Verdeutschung des Vitruvius durch
G ualtherum Rivitim 1548. Erwähnung verdienen noch die Strassbnrger Heinr. Vogtherr,
dessen Kunsthuch 1538, u. Daniel Specklin. dessen Architectura v. Vestungen 1589 erschien.
§111 SPRICHWÖRTER UND SPRÜCHE. 147
Verfahren kehrt in der prosaischen Lehrart wieder. Der gedruckten Reethsel-
sammluugcn ist bereits Erwsehnung geschelien (§ 101, 14): noch öfter wurden,
da vom Ilunianismus her ein Buch wie des Erasmus Ädagia ^ Vorbild und
Anstoss gab, da Bücher der Art aus dem Alterthume selbst vor Händen
lagen ^, da auch die Gelehrten nicht dem Eindrucke sich zu entziehn ver-
mochten, wie treffende Weisheit das deutsche Sprichwort (§ 110, 43), wie viel
mit der Weisheit des classischen Alterthums zusammentreffendes es enthalte ^,
noch öfters wurden in unveränderter Prosaform Sprichwörtersainmlungeu
angelegt "* und gern auch gleich, wie Erasmus mit seinen Adagien dort gc-
than, die Sprichwörter nach Ursprung und Sinn und Anwendung gedeutet.
So, damit ich nur die wichtigsten Belege nenne, im J. 1529 (vor 1534 auch
niederdeutsch ^), von Johannes Agricola, einem Landsmanne Luthers '^, aus-
führlich erläutert; im J. 1541 in weit groesserer Zahl, so dass derselbe Ge-
danke durch eine Reihe von Sprichwörtern belegt wird, von Sebastian
Franck, den wir kennen, der sßhnlich dem Sprichwort schon aus eigenem Sinn
und Tiefsinn die Paradoxa geschrieben'; im J. 1548, mit der Franckischen
§ 111. Litteratur der Sprichwörter v. Nopitsch, Nürnberg 1822. Die Deutschen Sprich-
wörtersammlungeu v. Zacher, Leipz. 1852. 1) Erste Ausg. zu Paris 1500. Vgl. Surin-
gar, Erasmus over nederlandsche spreekiooorden, Utrecht 1873, wo auch Litteraturübersicht
über die deutschen Sprichwörtersammlungen, 2) und den Parcemiographen verwandt,
solche wie der alten Weisen Exempelsprüch § 90, 261, wie Seb. Francks Siben tceisen in
Grecia § 110, 26, wie Plutarchi von Cheronea vnd anderer Jcurts weise vnd hoeffliche Spruch
durch Heinrich von Eppendorff vss dem Latin in Teutsch verdollmetscht, Strassb. 1534.
3) Germanicorum adagiorum cum Latinis et Gr<ecis collatorum centuria? septem von Eberh.
Tappius, Strassburg 1539 ; Adagia sive Sententiie proverbiales Grsecse, Latinae, Germanicae,
Strassb. 1596; u. a. 4) Eine solche von Luther ist handschriftlich erhalten: Köstlin 2,
444. 673; eine von H. Friedrich Wilhelm von Weimar gedr. zu Annaburg 1577, theil-
weis nur Register einer verlorenen Sammlung mit Auslegungen : HHofFmanns Spenden zur
deutschen Litteraturgesch. 1, 149. Zacher a. a. 0. 14. 5) zu Magdeburg: F. Latendorf,
Agricola's Sprichwörter, ihr hochdeutscher Ursprung und ihr Einfluss auf die deutschen und
niederländischen Sammler, Schwerin 1862. Das hochdeutsche Original war betitelt Brey-
hundert Gemeyner Sprichivorter, Haganaiv 1529. Das Ander teil . . hat funffthalb hundert
newer tvörtter 1529. Beide Theile zusammen 1534. Nach vielen Ausgaben die letzte (749
Sprw.) Wittenb. 1592. Daneben eine Sammlung Agricolas von 500 . . Neiver . . Sprich-
loörter, Augsburg 1548: Anz. d. germ. Mus. 1865, 388. 1866, 207. 1878, 180. 6) eigentl.
Schnitter? geb. zu Eisleben 1492, gest. als Hofprediger zu Berlin 1566; seine Verdeutschung
der Andria des Terenz § 105, 16; seine Tragoedie von Huss ebd. 91. Vgl. Agricolas Schriften
von Kordes, Altona 1817. 7) § 110, 27. F. Latendorf, Seb, Francks erste namenlose
Sprich wörtersaramlung vom J. 1532 in getreuem Abdruck, Poesneck 1876, schreibt ihm auch
diese Sammlung zu, welche in der Auswahl sich eng an Agricola anschliesst. Von dem
148 NEÜJlOClIDKüTSCin«: ZEIT. XVI .lAllKII. § ll'J
Arbeit oft verwechselt, von einem Uiibokannten.'* Andre mischten dem, \v;i>
sie sammelten, Naclibildungen, den Spricliwörtorn, die das Volk gcwfehrtc,
volksmiessig sclbstvert'asste Prosasprüclie bei: dergleichen Bücher von Frikk-
Ricn Pktui '•' und Christoi-m Lkiimax '", die auch Reimsprüclie, von Johannes
SoMMKR, der auch Rrethsel und Leberreime gedichtet hat.'' Ein Werk end-
lich von der Schlussgrcnzo dieses Zeitabschnittes hält in einer Weise, die
nach den bisherigen Vorgängen, nach dem Vorgang namentlich der Tisch-
reden Luthers (§ 110, 20) nahe genug lag, die Mitte zwischen den Sprich-
wortsammlungeu und den früher erwa;hnten Hammlungen geschichtlicher und
romanhafter Auecdoten (§ 107, 46 fgg.)i f?er Tcutschen Scharpf sinnige
hinge Sprach oder die Apophthegmata von Jur.irs Wilhelm Zincgref '*:
Anecdoten meist aus Deutschland, deren Kern und Schärfe aber nicht ein
überraschendes Ereigniss, sondern eine sinnreiche spruchartige Rede, in denen
das llauptstück auch die Spruchweisheit ist, aber eine andre als die unter
dem Volk umlaufende und jedesmal getragen und körpcrliclier gemacht durch
die Cfrundlage einer kurzen Erzwhlung und durch geschichtliche Namengebung.
]Iiemit waere die Darstellung der Prosa des sechzehnten Jahrhunderts
beendigt, wenn nicht ein Name noch fehlte, der ims schon bei der Poesie
mehrfach als einer der bedeutendsten und gleich hoch bedeutend mit Hans
Sachs entgegengetreten (§ 100. 102, 5. 103, 33. 114, 7) und der auch in der
Prosa der bedeutendsten einer, gewiss der bedeutendste naechst Luther ist.
Er ist das aber durch seine fruchtbare vielseitige vielgestaltige Thsetigkeit
zugleich in den verschiedensten Arten der Prosa und durch die eigenthümliche
überragenden Werth des Franokischen Buches Wilh. Grimm in Vridankes Bescheidenheit
cix. Stücke daraus LB. 3. 1, o<j7. Vgl. § 93, 5. 8) Fast ganz wie das Franckische
Buch betitelt, Sprichtcörter, Schcene, Weise Khwgreden, und von demselben EgenolfF zu
Franckfnrt gedruckt, der jenes gedruckt hatte. Öfter wiederholt bis 1615: Latendorf (Anm.
7) S. 292 fgg. Ueber die Quellen (Agricola und Franck) s. C. Schulze in Herrigs Archiv
f. d. Stud. d. neueren Sprachen 1S62, 153 fgg. 9) Der Teutschen Weissheit, Das ist —
Sprudle vnd Sprichivörter in schcenen Reimen oder schlecht ohne Beim, Hamburg 1605:
vgl. § 101, 5. 10) Florilegium politicum, o. 0. 1630: Einordnung des Stoffs unter locos
communes nach Art der spaeteren Bearbeitungen von Erasmns Adagien. Der Titel nach
Jan Groters llorilegium Ethico-poUticinn. Frankf. 1610. Vgl. § 101, 5. 108, 35. 11) Joh.
Olorini Varisci Faroemiologia Germanica, Magdeb. 1606; vgl. § 101, 13. 16. 12) Strass-
burg 1626; ein zweiter Theil ebd. 1631. Apophthegtntita als Nebenname zuerst ebd. 1628;
als vorangestellter Hauptname auf dem von Jon. Leonh. Weidxer hinzugefügten dritten
Theile der Leidner Ausgabe 1644. Noch ein 4 u. öter Theil Amsterdam 1655. Über Zinc-
gref § 101, 13.
§112 FISCHART. 149
Verbindung, die in ihm auch hier die gelehrte und die volksmsessige Richtung
eingehn: Umstände, um derentwillen er besser so zu vereinzehi und durch
eine Stellung ans Ende der gesammten Übersicht auszuzeichnen ist. Als
Redner freiUch (er war kein Theologe) hat sich Johann Fischart keinen
Namen gemacht und ebenso wenig durch geschichtliche Schriften \ wohl aber
als Verfasser einer reichen und mannigfaltig bunten Reihe von Erzeugnissen
der lehrenden und der romanhaft erztehlenden Art. In der Poesie sowohl
des Ernstes als des Scherzes Meister, ist er das auch und noch mehr im Ge-
wand solcher Prosa. Hier giebt es von ihm (ich nenne wieder nur die haupt-
sächlichen Werke imd wiederhole das schon früher (§ 100, 3) gesagte, dass man
nicht wenige seiner Bücher einstweilen bloss dem Namen nach kennt und bei
manchem seine Verfasserschaft noch Zweifeln unterliegt), es giebt hier aus dem
J. 1578, in der schlichtesten Ausdrucksweise des sittHchen und des religioesen
Sinnes lehrend, das Philosophisch Ehzuchthüchlin sammt der Kinder
Zucht, beides nach Plutarch, aber frei und mit Vermehrung -, recht eigentlich
verdeutscht und in Anwendbarkeit auf die Verhältnisse des christlichen Lebens
übertragen. Ferner eine Schrift nach Art einiger früher schon genannten
dichterischen (§ 100, 8 fgg.), eine scharfe und heftige Satire gegen die psebst-
liche Kirche, namentlich gegen deren neu erstandene Vorfechter die Jesuiten,
der BinenJcorh Des Heyl. Boemischen Imenschivarms von 1579 (das
Ehezuchtbüchlein war nur aus dem Jahre vorher), auch das der Arbeit eines
Andern, eines Niederländers, frei nachgebildet.^ Aber das rechte Gebiet des
§ 112. 1) Weder äussere noch innere Merkmale weisen darauf hin, dass in den zeitge-
schichtlichen Schriften über die franzoesischen und die englisch-spanischen Händel (Vilmar
z. Litt. Joh. Fischarts 2. 22 u. oben § 100, 12 b fgg.) noch etwas andres ausser den begleitenden
Gedichten von Fischart sei. Als Jurist übersetzte er ein Werk über Hexen von dem Fran-
zosen Bodin, De magorum dcemonomania, Strassb. 1581. Vgl. ferner Anm. 10. 2) auch
um ein Gespraicli (§ 99, 11) von Klag des Ehestands : dies aus den Colloquns des Erasmus.
Stücke aus diesen Zusätzen LB. 3, 1, 501. 3) des Philipp Marnix v. S. Aldegonde. Vgl.
Th. Kessemeier, Progr. Bremen 1877. Als Druckort wird Christiingen, Fischart selbst
Jesuicalt Pickhart genannt (§ 100, 5. 6), dies mit Beziehung auf den alten Gebrauch die
Waldenser und die Boehmischen Brüder Picarden zu nennen (s. du Gange v. Picardia und
Phil. Wackernagels Deutsches Kirchenlied 749): im Vorstoss dise Waldensische vnd Piek-
hartische Bienen. Aber Der Heylig Brotkorb Der H. BoemiscJien Reliquien (nach einer
Schrift Calvins), Christiingen 1580 u. s. f. ist nicht von Fischart: von diesem (Jesuicalt
Pickhart) nur ein beigegebnes kurzes Gedicht, das Übrige von Jacob Eysenberg, mit dessen
Namen auch die Vorrede unterzeichnet ist, und Wiederholung eines schon 1557 zu Witten-
berg gedruckten Buches. Nur auf die Absicht solches Neudruckes also zielen die Anfüh-
rungen und Ankündigungen von Jesuwalt Pickharts H. Brotkorb im Bienenkorb 54 b und
150 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVI JAlIKIl. § 112
Mannes war die Komik, die harmlos lacht und einen froolilichen Scherz nach
alter "Weise des Volkes liebt und übt, und war noch über die Komik und
über den blossen Spott der Satire hinaus der gehobnere Humor und dem
verbunden die Ironie. Von Komik übersprudelnd und echt volksm{e88ig in
der Komik ein Büchlein aus dem J. 1Ö72, Aller Fractich Grossmtiottcr*,
das den Unfug, den abergläubisch oder betrügerisch die s. g. Practiken, die
Kalender, mit Vorhersagungen trieben'", in muthwilligen Scherz zog*^: eben
solch eine Parodie war schon 1540 die Lassfafel vnd Practica des Doctor
Grillen gewcseu ", nur diese nicht so giündlich ausgeführt, aber damit man
lache, tief im Schmutz. Komisch und humoristisch und ironisch zugleich das
Podagrammisch Trostbüchlin vom J. 1577, ein Buch, der Neigung einer
Zeit entsprechend, in der Erasmus auch ein Lob der Thorheit, andre das
Lob des Esels und der Sau, und Fischarts eigener Neigung, der ja auch die
Floehhatz geschrieben ^: hier sind es zwei Schutz- und Lobreden des Poda-
gras, die er aus fremdem Latein Fischartisch bearbeitet einfülu:t.^ Endlich
sein vornehmstes, auch sein berühmtestes Werk, recht der Inbegriff seiner be-
zeichnendsten Eigenthümlichkeiten, ein Roman '^, der zuerst 1575 und von
da wiederholendlich bis in das siebzehnte Jahrhundert ist gedruckt und dabei
immer in etwas, schon von Fischart selber ist geändert worden, die Geschicht-
161 a (Ausg. von 1581), aus welchen Halling im Gliiekh. Schiff 33. G2 u. a. auf Fischart
als den Verfasser des Granzen geschlossen haben. 4) Neudruck Halle 1876. Proben LB.
3, 1, 459. 5) vgl. LB. 3, 1, 749 fgg. Eine ganze Reihe solcher Practiken verzeichnet
im Büchersch. der Deutschen National-Litt. 130 fg.; ältere von Folz und Gengenbach führt
Keller an, Fastnachtsp. 3, 1272. 1325. 6) Anstoss dazu, aber nicht Vorbild die Profjno-
stication pantagrueUne in den Oeuvres de Rabelais 1553. Rabelais wird in der dritten,
sehr vermehrten Wiederholung 1574 ausgebeutet und genannt, ebenso eine latein. Prognostica
von Jacob Henrichmann 1508, die in Wackernagels Fischart 131 fgg. wiederabgedruckt ist.
Ueber eine dritte Quelle, die in einer Practica von Job. Nas vorliegt (Goedeke Pamphilus
Gengenbach S. 415 fgg.) s. ebenda S. 67 Anm. 7) Neuer Abdruck Leipz. 1854. 8) § KX).
30. 107, 25. 110, 27. Fischart selbst in den Schlussreimen der Floehhatz beruft sich zuerst
auf antike Muster wie die Schutz- und Lobreden des Fiebers von Phavorinus, der Schma-
rotzerei von Lucian, der Kahlheit von Sjnesius, dann auf neuere und ihm gleichzeitige Als
Porciiim, den Saupoeten Der weisst toie Schicein ainander toeden, Vnd Erasmum von Eoter-
dam So rümt der Thorhait grosen stamm, Agrippa auch von Nettershaim Lehrt icie schcen
sich der Esel zäum, Vnd das er nicht sei faul vnd trccg Sonder hedachtsmn auf dem nceg
usf. 9) Die Zuschrift An alle Podagramsgedultige vnd Zipperlinschuldige LB. 3, 1, 491.
10) Der Bücherschatz 11 legt ihm wegen eines mit J. F. G. M. (vgl. § 100, 5) unterschrie-
benen Einleilungsgedichtes auch die Verdeutschung des Ixmenius (der Hysminia des Eu-
stathius) von Joh. Chr. Artopeo (d. h. Becker) bei: vgl. Anm. 1. So hat er auch das vi Buch
§ 112 FISCHART. 151
Schrift oder wie es seit 1582 hiess ^\ GeschichtMitterung^ Von Thaten vnd
Bähten der HeMen vnd Herren Grandgusier, Gargantoa vnd Pantagruel. Zwar
ist auch dieser Gargaxtua, die noch unvollendete Geschichte eines Riesen-
geschleclits, keine ganz eigene neue Schöpfung: Fischart hat nur das erste
Buch eines franzoesischen Romans, des Gargantua und Pantagruel von Franz
Rabelais ^^, inn einen Teutschen Model vergossen, aber eben in einen deutschen
und in seinen Model; er hat jene Urschrift, wie gleichfalls der Titel sagt,
bloss vngefwrlich obenhin vher oder drunder gesetzt, nur dass sie zu weiteren
kecken Yariationcn ihm das Thema lieh. Schon bei Rabelais, der die Gruud-
züge seines Buchs einer sagenhaften Überlieferung Südfrankreichs abgesehn '^,
hatte der Humor die Formgebung bis in alle Einzelheiten hinein durchdrungen
und in neuen Worten und AVendungen schon da so kühn mit der Sprache
geschaltet, als dieselbe nur irgend zuliess, und etwas mehr noch, als sie zu-
liess; Latein und Griechisch mussten mit aushelfen: dem deutschen Bearbeiter
bot sich eine Sprache von unendlich grcesserer Bildsamkeit und reicherer
Fülle eigener Mittel dar, und er verstand das zu nützen: mit solch einem
Fluss gebräuchlicher und ungebräuchlicher, mit solchem Übermuth, solcher
Unerschöpflichkeit im Erfinden neuer Ausdrücke ist weder vor noch nach
diesem ein deutsches Buch, ist überhaupt wohl in keiner Sprache je ein Buch
geschrieben worden. Und in allen Tcenen der Laune, des Spottes, des Humors,
der Ironie und stsets so harmlos und unmittelbar spielt das Gemüth des
Deutschen, dass niemand bei ihm, wie doch bei Rabelais geschieht, sich wird
gedrungen fühlen auf didactischen und satirischen Sinn und Zweck zu rathen:
ihm ist, ob auch manches der Art in einzelnen Theilen liegen moege, doch
das Ganze nur ein grossartig ergötzliches Bild strotzender Riesenkraft und
Sinnlichkeit. Überall sieht man den vielseitig durchgebildeten, den theologisch
und philologisch und historisch gelehrten und bis ins Herz für diese Dinge
bewegten Mann: aber auch das ganze geistige Besitzthum des Volkes, alle
Lieder, alle Sprichwörter, alle Schwanke und Scherze und Gebräuche der
Heimath sind ihm lebensvoll gegenwärtig '*, und jedesmal, wo es am passlich-
d. Amadis 1072 übersetzt: § 107, 8. 11) Nach dies. Ausg. d. Probestücke LB. 2. 235 u. 3, 1, 471.
12) Rabelais geb. 1483, gest. 1553 : Gargantua 1535, Pantagruel 1537 usf. Gelbcke, J. F. u. Rabe-
lais Gargautua, Progr. St. Petersburg 1874. Die 10 ersten Capitel v, Rabelais mit d. entsprechen-
den bei Fisch, vergleicht L. Ganghofer, J. Fisch, u. seine Verdeutschung d. Rabelais, München
1881. "Wie die Practick sich an Rabelais anlehnte, so ist dessen Gargantua 2, 7 die Grundlage für
Fischarts Catalogus CataJogorum 1590. 13) Jac. Grimms Deutsche. Mythologie 509. 14) Bei-
spiele vor andern das 8te Cap. mit den Spässen und Gesängen einer Zechbruderschaft und
das 25ste mit dem Verzeichniss der Kinder- und Gesellschaftsspiele.
152 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVI JAHRH. § 113
8ten ist, (1. h. wo es am überraschendsten zutrifft, weiss er sie vor zu bringen.
AUorclings macht diese bunt wechselnde Häufung der Bezüge ^lic Lesung des
Buchs beschwerlich; schon zu Fischarts Zeiten mochte nicht allen alles ver-
ständlich sein: wie viel weniger uns, die wir inmitten eines ganz veränderten
Lebens stehn. Weim irgend ein älteres Buch, so bedarf dieses der Erklärung;
eine rechte Erkherung aber würde erst ganz gewahren lassen, welch ein Schatz
der Kenntuiss deutscher Sittengeschichte wie durchweg bei Fischart so beson-
ders hier verborgen, hier noch zu heben ist.
§ 113.
Die Betrachtung der deutschen Litteratur des sechzehnten und im ersten
Viertel des siebenzehnten Jahrhunderts ist geschlossen. Sie hat uns das un-
ausgesetzte Spiel zweier sich gegenüberstehenden Kräfte, die theils feindselig
einander zuwider, theils wie im Wetteifer zusammenN\irkten, einen Kampf
zwischen Altem und Neuem, zwischen Volksmassigkeit und Gelehrsamkeit
gezeigt. Das Schlussergebniss dieses Kampfes haben wir an Einzelheiten schon
zur Genüge wahrgenommen, so auch, dass dessen nsechste und weiti*e Folgen
sich mit andeuteten: fassen wir jetzt beide in eineu Rück- und Yorblick
kurz zusammen.
Der Vortheil im Kampf war zu überwiegend auf Seiten der Gelehrten,
schon darum, weil sie Neues und Fremdes brachten, das Volk aber nur Altes
und Alteinheimisches besass; dai'um ferner, weil sie sich auf eine Bildung
stützten, deren Gehalt oder deren äussere Formen, selbst pedantisch missver-
standen und missbraucht, doch eine unwiderstehliche Kraft ausübten, die Bil-
dung des classischeu Alterthumes und bald auch die modern franzoesische ;
endlich darum, weil sie eine ganze Art der Litteratur, die volle und die ge-
rade jetzt bedeutsamere Hälfte derselben, die Prosa, als ihr "Werk und ihr
Eigenthum zum Voraus hatten. Zwar Hessen sich die Gelehrten hie und da
entgegenkommend zu dem Volk hinab : aber es geschah das mehr nur aus
besondi-er Neigung Einzelner, als dass es im Sinne der gelehrten Litteratur
überhaupt gelegen hätte. Desto nachgiebiger und durchweg nachgiebiger er-
wies sich von der anderen Seite her das Volk, nachgiebig, indem es Eigen-
thümlichkeit auf Eigenthümlichkeit zum Opfer brachte, nachgiebig, indem es
dafür je mehi* und mehr sich in die Denk- und Sprechweise der Gelehrten
hineinzubilden suchte. Unter solchen Umständen war kein anderer Ausgang
raoeglich, als dass alle Volksmsessigkeit von der Gelehrsamkeit erdrückt, und
eben wie diess Jahrhundert mit Aufstellung einer neuen Sprache begonnen
hatte, so im Verlauf desselben auch die alterthümlichen Bestandtheile der
§ 113 RÜCK- UND VÜKBLICK. 153
Litteratur immer mehr auF die Seite geschoben und endlich ganz beseitigt
wm-den. Im sechzehnten Jahrhmidert besass noch das Volk eine Fülle eigener
alter Lieder und mehrte den Besitz noch stsets durch Ilinzudichtung neuer:
durch den Zug aber, den es selber nahm, nach dem Gelehrten und dem
AVelschen ward seine Lyrik und Epik abgeleitet: von da ab ist, was noch in
dem alten Bette floss, mit jedem Gescblcchte mehr versiegt, eines der über-
kommenen Lieder nach dem andcpn verklungen vor der Missachtung und dem
Spott der Gebildeten ', vor dem Ärgerniss der kirchlich strengen ^, bald auch
vor der eigenen Scham, manches nur gerettet, indem es aus dem allgemeinen
Gebrauche sich in landschaftliche und mundartliche Beschränkung zurückge-
zogen ^, und kaum dass in spseterer Zeit, dass jetzt noch neue Lieder aus
dem Munde des Volks hervorgegangen sind und gehn : Gesänge, wie noch hie
und da waehrend des dreissigjtehrigen Krieges * und spaeter zu Ehren des
Prinzen Eugen ■' entstanden sind '' ^ , wie etwa hie und da noch das Landvolk
kurz und bruchstückartig zum Tanz erfindet ^, zerstreuen sich nun durch Zeit
imd Raum in ebenso grosser Seltenheit, als die früheren Jahrhunderte der-
gleichen überall und in Menge geschaffen haben. Sodann, was an sich unbe-
dauerlich, aber gleichfalls ein geschichtliches Zeichen ist, auch die andre,
künstlichere Art der Volksdichtung, der Meistergesang, kam mit Ausgange
dieses Zeitraums ab, und der Name Hans Sachsens, des Stolzes der Sing-
schulen, ward zum Sprichwort, wo man eine recht alberne Poeterei bezeichnen
§ 113. 1) Beispiel Schuppius in dem Schlusswort des Ungeschickten Kedners (Schriften
1, 868), zugleich Nachrieht über eine unbekannte Volksliedersamralung noch dieser spaeten
Zeit. 2) Mit dem 17 Jh. war schon ein gutes Theil von dem erreicht, was die reforma-
torischen Dichter des 16ten bezweckt hatten (§ 103, 21. 31), Verdrängung des weltlichen
Gesangs durch geistlichen: das sechzehnte hatte zu dem Ende weltliche Lieder und Weisen
geistlich umgedichtet (§ 103, 18. 28 fgg. 55): im 17ten ward um ein Lied unter alles Volk
zu bringen schon der umgekehrte Weg genommen (Wellers Lieder des dreissigjiehr. Krieges,
Basel 1855, vi). Paul Gerhardt bezeichnete, was er auf alte Volksweisen schrieb, nicht mehr
mit deren echten eigenen, sondern mit den Anfangsworten andrer gleichfalls geistlicher Lieder,
und bis auf neuere Zeiten hat das Landvolk der evangelischen Schweiz auch in weltlichster
Lustbarkeit kaum andre Gesänge anzustimmen gewnsst als die Psalmen seiner Kirche. So
singen noch jetzt die Bergleute des böhmischen Erzgebirges im Wirthshause protestantische
Kirchenlieder. .3) Die Sammlungen mundartlicher Volkslieder verzeichnet Trcemel, die Litt,
der Deutschen Mundarten, Halle 1H54. K. v. Bahder, Die deutsche Philol. § 137. 4) Der weltl.
Umdichtung geistl. Lieder u. Liederweisen schliessen sich, nnr frevelhaft, die Gebetparodien an:
Weller 121. 263; vgl. § 109, 8. .5) Das bekannteste derselben in krit. Bearbeitung bei Soltau .527.
5a) Volkslieder aus spaeteren Kriegszeiten sammelte F. W. v. Ditfurth; die v. 17.56—1871
Berlin 1871. 72. 6) Schleifer in Schwaben: Grseters Bragur 3, 229 fgg. Schnitterhüpflein
in Baiern: Schraellers Bair. Wörterb. 3, 499 fg. Rundas im Vogtlande: Dunger, R. und
154 NECHÜCIIDEUTSCIIE ZEIT. XVI JAlUill. § 113
wollte "^ : erst Goptlic hat ihn wieder zu Ehren hergestellt.* Zwar blieben an
dem und jenem Orte noch länger Schulen bestehn, vne zum Verdrusse der
Schulen auch das Oewerb der Si-uki-uek noch fortbestand'': aber man spürte
sie nicht und wusste nichts von ihnen und sie selber kaum von sich '" : man
hat im J. 1839 durch die Zeitungen vernehmen müssen, dass die Singschule
zu Ulm sich förmlich aufgelöst habe, um zu vornehmen, dass dort noch eine
solche gewesen sei." Als die letzte und zaheste erhielt sich die zu Mem-
niingen "'' bis 1852. Mit dem Yolksliede, mit dem Meistergesang ist aus der
Poesie überhaupt auch alles Sixoex verschwunden: Poesie und Musik sind
seitdem zwei getrennte Künste, und letztere tritt immer nur gelegentlich und
nur nachtrieglich hinzu; so viel auch die Lyriker noch von ihrem Saitenspiele
reden, es ist blosse Redensart, und wenn ein Epiker beginnt Ich singe, so
wiu'de er der "Wahrheit doch gemsesser sagen Ich schreibe. Unabweisbar ge-
beert der Gesang nur noch zum Kirchenliede: hier hat sich denn auch, ge-
tragen durch das übereinstimmende und mitererbte Verfahren der musicalischen
Composition, der dreitheilige Strophenbau erhalten, wsehrend die übrige, von
der Musik abgelooste Lyrik denselben vergessen und verloren hat. Unter-
gegangen ist endlich auch an der Kunst und Unkunst der Gelehrten und an
sonstiger erst von aussen lierzugeführter Bildung das volksmsessige Drama,
das Drama, wie es vordem ein Spiel des Volkes selbst zu seiner Erbauung
oder Belustigung gewesen; nur hin und wieder und namentlich unter den
Katholiken hat sich in Städten noch für längere Zeit ^^ die Aufführung geist-
Keimsprüche aus dem V. Plauen 1876. 7) Die Art, wie Hoffmannswaldau 1679 (Vor-
rede zu den Deutschen tTbersetzungen und Gedichten) ihn noch lobt, verrseth den Wider-
spruch gegen die abschätzigen Urtheile Anderer ; diese aber vertritt Wernicke, der in seinem
Hans Sachs v. 1703 seinen Gegner Postel (Steipo) von HSachsen zum Nachfolger in der
Pritschmeisterei ernennen Issst. Und in solcher Betrachtungsweise waren selbst die Kritiker
von Zürich noch befangen: Samml. der Zürcherischen Streitschriften 1753. 1, 132. 2, 52.
8) durch sein Gedicht HSachsens poet. Sendung (vgl. Dichtung u. Wahrheit B. 18 Auf.)
und Wieland durch sein Nachwort dazu im Aprilheft des Deutschen Mercurs von 1776.
Gleich darauf die Proben aus HS. Werken von Bertuch, Weimar 1778. Vgl. Koberstein zu
u. über Goethes Gedicht HSachsens poet. Sendung in Hoffmanns u. Schades Weimarischem
Jahrb. 1, 299 fgg. 9) Wagenseil an den § 95, 38 fgg. 96, 1 fg. angeführten Stellen.
10) Von dem Erlöschen der Hauptschule, der zu Nürnberg, Haesslein im Bragur 3, 98.
11) Nachricht von deren Bestand im J. 1792 bei Htesslein a. a. 0. 107 tg. IIa) Schnorr
(§ 97, 4) S. 24. 12) Luzerner Handschriften von Passions- und Osterspielen des 16 Jh.:
Mones Schauspiele des Mittelalters 2, 420 fgg. Vier geistl. Spiele d. 17. Jh. für Charfreitag
u. Fronleichnamsfest (zu Ürdingen) von Reix, Crefeld 1853. Passionsspiel in Böhmen bei
Keichenberg bis Ende des vorigen Jhs. : Mitth, d. Ver. f. Gesch. d. Deutschen in Böhmen
§113 RÜCK- UND VORBLICK. 155
lieber, auf dem offenen Lande die Aufführung von geistlichen und von Fast-
nachtsspielen selbst bis beute '^, da jedocb meist in solcher Art erhalten, dass
nicht sowohl Überreste des Dramas, wie das sechzehnte Jahrhundert es bereits
ausgebildet, dass vielmehr die früheren Anfänge desselben hier noch unent-
wickelt vor Augen stehn; voji den Festumzügen der Schuljugend, die nun
auch schon seit mehr denn hundert Jahren aberkannt sind, gilt das gleiche.''*
Jene Spiele der Bauerschaften aber hat in ihrer Abgelegenheit von der Welt
die neueste Zeit gleichsam erst entdecken müssen.^'
So denn ist, nachdem das beginnende sechzehnte Jahrhundert noch eine
Litteratur des Volkes angetreten, auf das Zeitalter des dreissigjsehrigen Krieges
und wie viel mehr noch auf die weiter folgende Zeit ledigHch eine Litteratur
der Gelehrten, dieses neuen, allerdings aus dem Volk emporgewachsenen Adels
gekommen. Das Volk aber, welches unterhalb stehen bleibt, hat keinerlei
Mitwirkung mehr an der Litteratur; es giebt nichts dazu von sich aus:
es singt, und noch mehr, es liest nur, was ihm von oben gegeben wird, und
das einzige, was es neben den verhallenden Liedern und neben den dichteri-
schen Prosareden (§ 96) und den Rsethseln und den Sprichwörtern noch als
ein minder verkümmertes Eigenthum inne hat, sind die Volksbuecher, jene
alteinfachen, zum Theil noch aus dem sechzehnten Jahrhundert, zum Theil
aus noch früherer Zeit herrührenden Ritter- und Liebes- und Scherzgeschichten,
XII, 16. Ebd. XVIII, 306 fgg. Joacliimsthaler Christspiele und Ansinglieder. Passionsspiel
bei S. Stephan in Wien: Z. f. d. Philol. 6, 146 fgg. Geistliches Volksschauspiel im Seh warz-
wald (1654): Germ. 12, 206 fgg. Zuckmanteler Passionsspiel: Germ. 13, 486. Lambacher
Passionssp. (vor 1593;: Progr. Linz 1883. Von den Zünften in Freiburg i. B. die Passion durch
Umzug u. Spiel dargestellt: Texte von 1599 u. 1604: Zeitsch. der Gesellsch. f. Geschichtskunde,
III, Freiburg i. B. 1874. Für den Text v. 1604 die Passion von Jac. B-uef 1545 (§ 105, 4)
benutzt: Hartmann (Anm. 13) S. 247 fgg. Vgl. § 85, 72. 13) Das Passionsschauspiel in
Oberammergau von Devriekt, Leipz. 1851. A. Hartmann, Das Oberamm. Passion.sspiel in
seiner ältesten Gestalt, Lpz. 1880, zeigt die Zusammensetzung aus einem Augsburger Passions-
spiel des 15. Jh. und dem von Seb. Wild (§ 105, 144). Weihnachts-Spiele und Lieder anss
Süddeutschland und Schlesien von Weinhold, Graez 1853. Geissteidigen in Tirol am un-
sinnigen Donnerstag : Pichler über d. Drama des Mittelalters in Tirol 72. Fastnachtschimmel
und Leutausspielen in Baiern : Schmellers Bair. Würterb. 3, 363. 561. Vgl. § 86, 5. 6.
14) Umzug u. kirchl. Handlung der Schüler am S. Xicolaustage : LB. 3, 1, 343; am Tage
S. Gregorius: Märchen der Br. Grimm 2, 1819, xxxii fg. Schmeller a. a. 0. 2, 82. 107.
Dabei hatte ein als Bischof verkleideter Knabe eine Predigt, gewcehnlich in Reimen, vorzu-
tragen : Nachlass hievon, zugleich anklingend au die Fastnachtspredigten des 16 Jh. (§ 109, 7).
unsre Kinderpredigten, ein Spiel mit verdorbenem Latein, mit halbbiblisehen Namen und
Geschichten, mit Kettenreimen: das deutsche Kinderbuch von Simrock 74 fgg. 15) Die
156
NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT.
XVH JAIIKll.
8
113
die der gcmciue Mann sich an den Ecken der Stnissen und auf Julirmärkten
kauft. Ursprünglich sind insgcsammt auch sie von (Jelehrten verf'asst und
lange durch alle Stände hin gelesen worden: jetzt dienen sie der Gelehrsam-
keit nur noch als Gegenstand des Saminclns und der wissenschaftlichen Be-
trachtung, sie und ebenso die Lieder, die Sprichwörter, die Ktethsel "^ : ein
Merkmal zugleich, wie fern und fremde den Gelehrten das Volk geworden
und wie auch diess letzte Gut des Volkes schon im Begriff ist aus dem Leben
zuiück zu weichen.
ersten Naohriohten über die Passionsspiele v. Oberammergau brachte Oken im Volksfreund
1830: Dubbers, Das oberamni. Passionssp. Frankf. a. M. 1872. 16) Sammlungen und
sonstige Behandlung der Volkslieder § 95 Anf. Die Volksbücher und mit ihnen die Sprich-
wörter und die Raethsel gesanmielt von Simrock: die deutschen Volksbücher, Frankf. 1845
fgg. (B. 5 Sprichw., B. 7 Riethsel). Umfassende und ([uellenmässig belegte Sammlung der
Sprichwörter: K. F. W. Wander. Deutsches Sprichwörterlexicou, V, Leipzig 18G7 — HU. Über
die Volksbücher Görues: Die teutschen Volksbücher, Heidelb. 1807. Über die Sprichwörter
Sailkr: die Weisheit auf der Gasse, Augsb. 1810; vgl. § 111 Anf.
DAS SIEBZEHNTE JAHRHUNDERT.
§ 114.
Mit dem zweiten Yiertel des siebzehnten Jahrhunderts beginnt , um
noch die Anfangsjahrzehnte des achtzehnten in sich zu schliessen, ein zweiter
Theil in dem ersten Zeitabschnitte der neuhochdeutschen Litteratur. Wir
nennen denselben in Kürze das siebzehnte Jahrhundert.
Nach all den Beziehungen zu dem Ausland in Süden und Westen, die
das sechzehnte Jahrhundert aufgebracht (§ 94, 10 fgg.), hatte sich schon,
als das siebzehnte eintrat, das Leben der Deutschen, von den Höfen bis zu
den unteren Ständen hinab, ganz mit Ausländerei durchdrungen. Schon
damals, nicht erst in Folge des dreissigj^hrigen Krieges. Allerdings hat
dieser das Übel noch verstärkt und tiefer befestigt und weiter ausgedehnt:
dass aber Deutschland so, wie mit ihm geschah, dem Eindränge aller Nach-
barvölker blossgelegt und zuletzt die zertretene Beute aller, der Bundes-
genossen wie der Feinde ward, das war nur möglich, weil man schon vorher
sich selber aufgegeben, weil man schon längere Zeit sich gewöhnt hatte auf
alle Fragen des wissenschaftlichen, des litterarischen, des geselligen Lebens
die Antwort am liebsten bei den Fremden, in den religiösen und politischen
Parteikämpfen die Unterstützung des Auslandes nachzusuchen. Augenfällige
Merkmale solches Zugs in die Fremde und der Abhängigkeit von ihr waren
den Zeitgenossen selbst die Reisen,^ die nun unter jungen Edelleuten und
Gelehrten immer häufiger, und deren Ziel neben Frankreich und Italien nun
seit der engeren Verbindung, welche die Geschicke Friedrichs V. von der
Pfalz mit Engelland geknüpft, und durch den neuen Glanz der Hochschule
§ 114. 1) Opitz im Aristarchus, Bodm. 75; Fleming D. Ged. S. 202 Was gilt hei uns
ein Mann der nicht gereiset hat? Philanders v. Sittewald Th. 2. andres Gesicht Hanss
hienüher , Ganss herüber; Logau Sinngedichte. Zugabe während des Druckes 229. 230:
Wackernagel, Litter. Geschiebte. H. 11
158 NEITirOCIIDEUTSCIIE ZEIT. XVII JAIIRH. § 114
zu Loydcn, auch England und die Nioderlando wurden, und waren die Modkn
in der Tracht, die man aus der Fremde nach der Heimat holte.- Das augen-
talligste aber und augenfällig aucli für uns noch, weil dieses Merkmal noch
immer litterarisch beurkundet vor uns liegt, ist die Si'Uaciimp:ngeuki, die Un-
sitte der Gelehrten, wenn sie überhaupt zum Deutschen sich bequemen moch-
ten, es dann ganz zu durchflechten mit Lateinischem und Griechischem, die
Unsitte der Hof- und Kriegsleute ebenso mit FranzoDsischcm, mit Italienischem,
mit Spanischem zu prunken. Und das war nicht erst nach dem Kriege ein
Gegenstand der Klage und des Spottes,^ das war schon während,* ja vor
demselben in vollem Schwange,^ das gleich jenen Reisen, die mit dazu wirk-
Abraliam a S. Clara LB. 3, 1, 910 u. a. 2) Alamodo Monsters (Lied von 1628, in
Strassburg gedichtet, wo das Unwesen zuerst hervortrat) : Opel-Cohn. Der 3()j. Krieg, N. 87 ;
AUmodischer Jahnnarck von l(i29, AlmnodiscJie Iluhelbanck, Augsburg 1G30 (Heyses Bücher-
schatz), Ein Newes AUomodisches Lied von 1G31 : Birlinger Alem. 9, ö5. 53. PhilandersTh. 2,
erstes Ge^'n^ht Ala Mode Kehrauss ; Logau LB. 2. 472. 2G. 479. 12. 482, 27. 484, 18. 48G, 1;
Lauremberg II Schertz-Gedichte Van allemodischer Kleder Dracht. Abr. a S. Clara a. a. o.
Freilich Harsdürfer Gespr. sp. 1, 95 meint dass die Gegner jeder Kleiderveränderung
Beltz von Ziegenfellen oder Feigenblätter nach Adams erster Kleidung tragen sollten. S.
Erich Schmidt, Der Kampf gegen die Mode, in Charakteristiken (1888) 8. (J3 fgg. 3) Lau-
remberg III Schertz-Ciedichte Van allemodisclier Sjjrake und Titeln; Logau LB. 408, 21;
Rachel VIII Satire; Simplicissimus 2, 1083 ff.: Neukirchs Vorrede zu Hoffmauswaldaus
und andrer Deutschen Gedichten 1. Wir leben auch zugleich zu einer Zeit, da die Deut-
schen fast nicht mehr Deutsche seyn ; da, die ausländischen Spraclien den Vorzug haben,
und es eben so schimpß'lich ist, deutsch zu reden, als einen schiceitzerischen Latz oder
Wams zu tragen. 4) Der Kampf gegen die Fremdwörter entbrennt besonders heftig
um 1040. Moscheroschs Ala Mode Kehrauss enthält das Datum des 21. Juni 1041; dariu
ein Stück aus Ein new Klaglied , Teutsche Michel genannt , wider alle Sprachrerderber
(Angspurg o. J.") : s. Weimar. .lahrb. 2. 200. 1642 erschien (von Rist, der schon im Klag-
gedicht auf Opitz 1640 gegen Fremdwörter geeifert) Baptistae Armati ratis thalosi ('rr holsati)
Rettung der Edlen TeutscJien Hauptsprache gegen die Sprachmengerei der Soldaten und
Adligen ; 1043 Der Vnartig Teutsclier Sprachrerderber von unbekanntem Verfasser, der die
gleiche Neigung bei Kaufleuten und Studierten nachweist; eine Schrift, die mehrmals um-
gearbeitet, als Neice aussgeputzte Sprachposaun an die Vnartigen Teutschen Sprachver der-
ber 1648 gedruckt wurde und noch 1650 zu Cölu in Jo. Cocay Teutscher Labyrinth. Sampt
einem Poetischen Lusthringer und Teutsclien Sprachverderber erschien. Aus dem Jahre 1648
stammt auch die zu Frankfurt gedruckte Welie-klag Dess alten Teutsclien Michels Vber die
^\^ / Ällamodisclie Sprachverderber. Vgl. auch § 116, 3. Hauptbeispiel der Sprachmengerei das
\ / \^Austspiel Horribiücribrifax, das Audr. Gryphius zwar für die Veröffentlichung frühestens \vcl
/ \M J. 1648 vollendet hat, das er jedoch selbst als eine „Torheitseiner Jugend" bezeichnet (geb. 1616):
•i:v\ in diesem ein Gelehrter, Sempronius, der mit griechischen und lateinischen Brocken, ein Kriegs-
. mann, Daradiridatumtarides, der mit franzoesischen, ein andrer, Horribiücribrifax, der mit ita-
"^ lienischen um sich wirft. 5) Latein und Frauza^sisch in den Liedern von Nicolaus Zaugius
.vv
§114 FRUCHTBRINGT:NDE GESELLSCHAFT. 159
ten , hatte seinen Anfang schon im sechzehnten Jahrhundert genommen
(§ 94, 24 fgg. 33 fgg.).
Zum Glücke jedoch waren nicht aUe Gelehrten so geschmacklos ge-
lehrt und so undeutsch, noch gaben sich alle Fürsten und Staats- und Kriegs-
männer so gedankcn- und gewissenlos der Fremde hin. Ja es konnte gerade
jetzt die deutsche Litteratur einen neuen Aufschwung nehmen, dessen Wir-
kung bis auf den heutigen Tag sich fort erstreckt, und diese Erneuerung,
so grossen Einfluss auch die Litteratur des Auslandes auf sie übte, so gewiss
geschah sie doch nur aus übermächtigen Regungen der Vaterlandsliebe und
war in ihren Anfängen wesentlich als eine Gegenwehr gegen die Ausländerei
in Sitte und Sprache gemeint. Und das Hauptergebniss dieser Bestrebungen,
die Reinheit der dichterischen Sprache kam auch der nächsten Folgezeit zu
Gute, als das politische Übergewicht Frankreichs mehr und mehr hervortrat,*^
als das Vorbild des glänzenden und leichtfertigen Hofes von Yersailles die
meisten deutschen Fürsten blendete und verlockte, ' und selbst unter den
Schriftstellern sich die Überzeugung verbreitete dass es hauptsächlich darauf
ankomme in deutscher Sprache und Dichtung das zu leisten was dem
franzoesischen Muster entsprach.^ Auch riefen jetzt die herabsetzenden Ur-
theile der Franzosen über die Geistlosigkeit der Deutschen, wie namentlich
das des Jesuiten Bouhours,'^ zornige Abwehr hervor.
Schon im Jahre 1617, dem Jahre vor Beginn des grossen Krieges,
ward zu Weimar von einigen Fürsten des Anhaltischen und des Weimari-
schen Hauses und einer Anzahl Adliger (einer derselben, Caspar von Teut-
LEBEN, hatte zuerst die Sache angeregt) ein Verein gegründet, der sich die
1611: Hoffmanns deutsche Gesellschaftslieder X. 45; in dem Weihnachtsspiele von Job.
Seger 1613 (Reden der Teufel): Gottscheds Vorrath 1, 172. Tadel und Parodie in Opitzens
Aristarchus 1617 und dessen Poeterei 1624, Bodm. 76 tgg. u. 36. 6) Vom Münster-
schen und dem pyrenseischen Frieden an rechnet Leibniz, Ünvorgreifl. Ged. 26, die Zeit.
in welcher das deutsche Nationalgefiihl sich schwächer und stumpfer gegen die Anerkennung
der fremden Ü^berlegenheit wehrte. Leibnitz seihst geisselt auch dichterisch die Nachahmer
der Franzosen und kündigt den Grossen die für sie besonders unheilvolle Verbreitung dieser
Vorliebe im deutschen Volke an. 7) Für einige protestantische, insbesondere für den
preussischen Hof waren die Kefugies, welche die Aufhebung des Edicts von Nantes 168.5
nach Deutschland führte, die Vermittler der neueren französischen Bildung. 8j Chr.
Weise, Curiöse Gedanken von deutschen Versen S. 135 will freilich selbst in Versen die
franzoesischen AVörter, welche von den Deutschen gleichsam in ihr Bürgerrecht genom-
men worden, als affection, courage, servtteur, nicht ganz ausmerzen: aber ei- nimmt selbst
diese Freiheit hauptsächlich für die Prosa in Anspruch. Vgl. § 116. 2. 9) Entreti'ens
160 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVH JAHllH. § 114
AutVcchtcrhaltiing von Sitte und Zucht, vorzüf^lich aber die Pflege der deut-
schen Sprache und deren Bewahrung vor ausländischem Verdorbniss zur Auf-
gabe setzte, die Fruchtbringende Gesellschaft oder der Palmenorukn.'*'
Nach Tcutleben das erste Oberhaupt war Fürst Luüwkj von Anhalt (§115, 1 fg.),
und so sind auch die folgenden stets fürstliche Personen, sind bis zum An-
fange des achtzehnten Jalirliunderts , wo er wiederum verlosch, zahlreiche
Edelleute und Gelehrte bürgerlichen Standes seine Mitglieder gewesen. Sol-
ches Ansehen und das Beispiel des Eifers, womit jener Aufgabe nachgelebt
ward, reizten zum Wetteifer, und die weiteren Jahrzelinte sahen noch melir
Verbindungen der Art stiften," die geschichtlich zum Theil nicht minder be-
deutsam geworden, zum Theil auch ohne Spur und Dauer vorbei gegangen
sind, die Aufrichtige Tannexoesellsciiakt 16.33 (§ 122), die Teutscii-
GRsiNNTE Genos.sensciiaft 1643 (§ 124), der Blumenorden an »er Pegnitz
1644 (§ 125), der Sciiwanenorden an der Elbe 1658 (§ 124), der letzt-
genannte zugleich ausdrücklich als „ Pflanzgarten " für den Palmenordcn be-
stimmt: eigentlich aber waren diesem gegenüber or und die andern alle nur
eben so viel Aussonderungen der Verkehrtheit.
Zugleich mit jener fürstlichen Fürsorge und gewiss nicht ohne Wechsel-
wirkung mit derselben ward von Seiten der Schulmänner, der Gelehrten her
auch für die grammatischen Studien des Deutschen, für dessen schulmäs-
sigen wie den hoeheren wissenschaftlichen Betrieb eine neue Zeit erüff*net.
Wolkgang Ratichius, ein Holsteiner, und mit ihm Christoph Helvicus,- ein
Hesse, der erstere im Jahre 1635, der letztere schon 1617 gestorben, wirk-
ten begeistert eifrig darauf hin , dass alle Schulbildung mit Unterricht im
Deutschen und auf Deutsch begonnen würde : Bestrebungen , die einen vor-
züglichen Gönner in dem genannten Fürsten von Anhalt und vorzüglichen
Beifall an eben dem Ort erlangten, der die Geburtsstätto des Palmenordens
war.'-' So sah denn auch das Ende des Jahrhunderts die Einführung der
d'Ariste et d'Eugene, Paris 1671. 10) Älteres Hauptwerk Neu-Sprosaenäer Pahnhnttm
— von dein Sproxscnrlen (Georg Neumark), Nürnberg 1G68; vorher Der Teittsehe Palmen-
baum D. t. Lohschrift von der Fruchtbringenden GeseVscJiaft . . . durch den Unrerdroxftenen
(C. Ct. V. Hille), Nürnberg 1647. lu neuerer Zeit die Geschichte der Fruchtbringenden
Gesellschaft von Barthold, Berlin 1848. G. Krause, Der Fruchtbringenden Gesellschaft ältester
Erzschrein. Leipzig 1855. Bei Logau, der selbst auch ein Mitglied war, mehr als ein schöner
Spruch über das Wesen und AVirken des Vereins: Deutscher Sinn-Getichte Drey Tausend 2,
2, 26. 3, 13. 3, 6. 18. 11) Die 8prachgpsellschaften des siebzehnten .Jahrhunderts von
Otto Schulz. Berlin 1824. H. Schultz, Die Bestrebungen der Sprachgesellschaften des 17. .Jhs.
für Reinigung der deutschen Sprache. Göttiugen 1888. 12) Der Unterricht im Deutschen
§ 114 ALTDEUTSCHE STUDIEN. 161
deutschen Sprache in die Vorlesungen der Universitäten (§ 138).'^ Und
jetzt, wo nicht zuerst, doch bewusster und wissenschaftlicher, als dergleichen
das sechzehnte Jahrhundert schon versucht (§ 93), wiesen Männer wie Mar-
QUARD Freher, '^ wic Melchior Goldast von Haiminsfeld,*'^ wie Martin
Opitz,'*"' wie nach diesen allen und groesser als sie Franz Junius'^ die deut-
schen Studien auf den strengeren Weg der Geschichtlichkeit, auf die Alter-
thümer der eigenen wie der verwandten Sprachen des germanischen Stammes,
und wiesen dieselben um so erfolgreicher darauf hin , ^^ da man ihr Beispiel
schon um der andern Verdieoste willen achtete, die sie als Gelehrte, oder
wie Opitz als der vorderste Dichter der Zeit sich erworben hatten; mit Junius
Namen sind die ersten Drucke des altehrwürdigsten aller germanischen Sprach-
denkmseler bezeichnet, der Bibelübersetzung Yulfilas (§ 8) und jener Dich-
tungen, die zuerst er dem Angelsachsen Caedmon zugeschrieben.^^ Zu glei-
cher Zeit mit der Vulfilaausgabe von Junius traten auch die wichtigsten
Quellen der nordischen Mythologie ans Licht : die Edda von Snorri und
Stücke aus den eddischen Liedern , beides durch Peter Johann Resenius
herausgegeben. Für Deutschland wurden auch diese Studien durch Daniel
von Eud. V. Kaumer 34— 40. Henisch 1616, Grrimin Wb. 1 , xxu. Wissenschaftlich bedeuten-
der als die beiden genannten ist ihr zeitweiliger Mitarbeiter, der Naturforscher Joachim
JUNGIUS: s. Guhraaer, J. J. 1850. Ave-Lallemant, Des J. J. Briefwechsel, Lübeck 1863.
Ders. Das Leben des J. J. Breslau 1882. 13) Helwichs Schwiegersohn Schuppius verlangt
den Gebrauch der deutschen Sprache auch in der Wissenschaft : Der Teutsche Lehrmeister
LB. 761 fgg., insbesondere S. 771. 779. Die Forderung das Deutsche für die Wissenschaft
auszubilden vertritt später namentlich Leibniz LB. 3, 1, 996 fgg. 14) Geb. zu Augsb.
1565, gest. zu Heidelb. 1614. Seine Ausgabe Willirams (§ 38) Worms 1631. S. über ihn
und die folgenden Namen Rud. v. Eaumer, Gesch. d. german. Philologie vorzugsweise in
Deutschland (München 1870). 15) Geb. 1576 zu Espen bei Bischofszell im Thurgau,
gest. zu Giessen 1635. Ausgabe Tirols, des Winsbecken und der Winsbeckinn (§ 77, 8. 11)
in den Paraenetici veteres, Insulae (Lindau) 1604; ebenda sowie in seiner Ausgabe des
Valerianus Cimelensis episcopus 1601 und in der Replicatio pro imperio 1611 noch zahl-
reiche Einzelanführungen aus der grossen, damals wie jetzt wieder in Heidelberg befind-
lichen Liederhandschrift § 70, 25. 16) § 121. Ausg. des Annoliedes (§ 55, 56) Dantisci
1639. Und schon im Aristarchus 1618 und in der Poeterei 1624 mehrfache Benutzung des
von Goldast mitgetheilten. 17) Eigentlich Du Jon, von französischer Herkunft, geb. zu
Heidelberg 1589, gest. zu Windsor 1677. Über sein Leben und Wirken Jac. Grimm vor
der Hymnorum vet. eccl. interpretatio theot. Gottingae 1830. 18) Theilnahme für die
neuen Studien, bewährt durch häufige Anführung altdeutscher Gedichtstelleu, nicht blos in
deutschen Schriften, wie bei Moscherosch § 131 (vgl. v. d. Hagens Minnes. 4, 896), sondern
selbst in Arbeiten der classischen Philologie, wie Taubmanns Ausg. vom Culex des Virgil,
Wittenb. 1609. 19) Ulphilas zu Dordrecht 1665, Caedmon zu Amsterdam 1655 gedruckt.
1G2 NEUIIUCIIDEUTSCIIE ZEIT. XVII JAIIUII. § 115
George Morliof (§ 120) nutzbar gemacht, wajhrend die auch hier eingreifende
Thajtigkeit Leibnizens (§ 138) durch dessen 8ecretajr Johann Georg Eckhart
fortgesetzt ward.^° Mehr compilierendcr Art waren die Arbeiten von Jo-
hannes ScHiLTEU in Strassburg und seines Nachfolgers Johann GEOR(i
SCHEIIZ.*'
§ IIa-
Aber man begnügte sich nicht so mit der blossen Gesinnung und dem
Wollen und der Wissenschaft des Deutschen : unmittelbar zu wirksamer Ab-
wehr stellte sich dem droliendcn Verderben die Litteratur selbst entgegen.
Sie vermochte es bei dem Halt und dem breiten Grunde, den ihr jene Ge-
sellschaften , voraus der Palmenordcn, boten. So weit deren Verzweigung
reichte, und sie verzweigten sich überall hin , so weit auch die Theilnahme
an der Litteratur und der Anstoss sie zu üben. Und wie da Schriftsteller
bürgerlichen Standes mit Edellcuten, ja mit Fürsten sich vereinten,' wie durch
solche Vereinigung Edclleute und selbst Fürsten, z. B. gleich jener Ludwig
VON Anhalt und eines der ersten Glieder des Palmcnordens, Dietrich von dem
Werder, veranlasst wurden, sich auch litterarisch zu versuchen,^ so fanden
im Urtheile der Welt und im Selbstgefühl auch die bürgerlichen Schriftsteller
wiederum diejenige Hebung, welche bei angewachsener Häufigkeit die aka-
demischen Titel nicht mehr gewähi-en konnten, und nun auch deutsche Dich-
ter eine Auszeichnung , die vordem bloss lateinischen zu Theil geworden
(§ 94); auch solche wurden jetzt gekrönt,^ bis freilich diese Ehre sich gleich-
falls abnützte,* und auch litterarische Verdienste nicht selten mit dem Adels-
20) Historia studii etymologiei linguae Germanicae hactenus impensi, Hannover 1711.
Die Vorarbeiten von Leibniz gab Eekhart heraus als Leibnitii CoUectanea Etymologien
illußtrationi linguarum veteris Celticae, Germanicae, Gallicae aliarumque inservientia. Hann.
1717. Vgl. Neff, Leibniz als Sprachforscher und Etymologe , Heidelberg 1871 (Progr.).
21) Thesaurus Antiquitatum Teutonicarum III fol. Ulm 1726 — 28. Schilter, zu Pegau in
Sachsen geb. 1632, starb zu Strassburg 1705; Scherz zu Strassburg geboren 1678, starb
ebenda 1754.
§ 115. 1) Auf einen Vorschlag, die Fruchtbringende Gesellschaft in einen adligen Ritter-
orden zu verwandeln, antwortet Ludwig 1648 : 'das von anfang her uml noch, bis nun in
das ein und dreyssigste Jhar in der geselschaft wöl erwogen und betrachtet gewesen das
von wegen der f regen künste wissenscJiaft die gelehrten auch edel, sowol als die erfarnen
in Waffen gelmlten werden können (Krause Erzschr. 98). 2) Von f. Ludwig Fran-
cisci Petrarchae Sechs Triumphi oder Siegesprachten in deutsclie Reime über gesetzet, Koethen
1643; V. d. AVerder § 124. 3) Im J. 1647, indessen wol nur zu Scherz und Hohn,
selbst der Nürnbergische Sprecher Wilh. Weber: "VVagenseil de Civitate Noribergensi 564;
vgl. § 95, 42 über den Barbier Vogel. 4) Logau 2, 5, 43 Einen zum Poeten krönen
§115 LITTERATUR. 163
briefe bekräftigt/' Und noch insofern erwuchs der Litteratur von jenen Ge-
sellschaften her eine höhere und freiere Stellung, dass, weil hie und da auch
Frauen der Zutritt offen stand/' nun wieder auch Frauen, bürgerliche, edle,
fürstliche, häufiger als seit langem an der Litteratur sich betheiligen mochten ''
und so dies Jahrhundert gelegentlich selbst Dichterinnen mit dem Lorbeer-
kranze des Kaisers schmücken sah.^ Durch all das ward der ganzen Schrift-
stellerei ein verändertes Gepräge aufgedrückt: die Geistlichen und Schul-
männer machten nicht länger so wie bisher die Mehrzahl aus (erstere waren
schon durch die Abneigung der Zeit gegen die confessionellen Streitigkeiten
in der Litteratur eingeschränkt),^ und gerne nahm, mit bewusster und aus-
gesprochener Verachtung dessen, was pedantisch war oder schien, ^*^ die Ge-
lehrsamkeit einen weltmännischen Zug: wofür in den Jahrzehnten um das
Hält man heute für verhöhnen. Klage Rachels über die Vergexidung dieser Ehre und die
daher fliessende Geringschätzung der Dichter : Sat. 8, lU-i fgg. Ähnlich Schupp LB. 3, 1,
786. 791. 5) Das erste Beispiel Opitz § 121. 6) In den Blumenorden: Herdegens
Histor. Nachricht 254 u. a.; in die Teutschgesinnte Genossenschaft, und hier sogar Frauen
als Vorsteherinnen der Zünfte, in die sie getheilt war: Reichards Historie der deutschen
Sprachkunst 157. Darauf «hnliche Gunst vom Palmenorden eingeräumt: Neumark 179 fg.
Dagegen sagt Candorin im Zimberswan : Beständigkeit halber bestehet der Stvan-Orden aus
lauter Manspersonen. Auch dass dieser Orden auf die Gelehrsamkeit besonders hielt,
schloss die Frauen fast aus. 7) Beispiele in Morhofens Unterricht v. d. teutschen
Sprache und Poesie 1718, 398 fgg.; auch im Verlauf unserer Darstellung deren manches,
zumal bei geistlicher Dichtung. Eine ältere Aufzählung von Zesen LB. 2, 508 20 fgg.
Später von Georg Chn. Lehms, Teutschlands galante Poetinnen . . nebst einem Anhang
ausländischer Dames. Fkf. a. M. 1715. Pischon , Antheil der Frauen an der Dicht-
kunst des 17. Jahrb. vdHagen Germ. 8, 104. 8) Herdegen 333. 337. 347 fg. Noch
1738 wurde Sidonie Zäunemann in Erfurt von der Universität Göttingen zur gekrönten
Dichterin ernannt wie kurz vorher eine Frau von Ziegler durch die Universität Wittenberg
die gleiche Ehre erhielt (Weimar. Jahrb. 3, 445). 9) Ludwig von Anhalt, selbst ein
Reformierter, schreibt 1647: 'Es ist bisher noch keiner mit dem nahmen eines Calvinisten,
sondern als ein guter Christ in die geselschaft auf und eingenommen worden, wird auch
hinfüro mit dem Rottischen Nahmen keiner eingenommen iverden (Krause, Erzschr. 90).
1646 : 'Herr Johannes Valentinus Andreae, kan , iviewol dergleichen geistliclie noch nicht
in die Fruchtbringende geselscJmft gekommen, auf gescheltenes ansuchen, gar wol einge-
nommen werden. Weil aus seinen erbaulichen Schriften, die er bisher ausgelassen, so viel
zu sehen und zu spüren, das er sonder Zioeiffel einen verträglichen Geselschafter in brüder-
licher Christlicher liebe geben wird.' (Ebenda 207). Vgl. Logau LB. 2, 473, 38 fgg. Die
Stücke 83 und 84 in Opel-Cohn, 30jähr. Krieg zeigen die Verbreitung solcher Gedanken
im Volk (ersteres ein Strassburger Druck, Verf. vermuthlich Gottlieb Dachtier nach S. 483 fgg.).
10) In diesem Sinne bereits die Schulbossen, ein spätestens im J. 1624 verfasstes Büchlein
104 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVK JAHRH. § 115
J. 1700 der Ausdruck galant uUgomcin üblich ward." Daher auch die all-
iniUiliclie Abiiahmc der lateinischen Dichtung, welcher anfänglich auch die
Vertreter der neuen deutschen Litteratur noch einen guten Thcil ihrer Kraft
gewidmet hatten.'^ Eben dieser weltmännische Zug musste jedoch, da ihm
eine Bildung nach moderner Art allein entsprach, den Einflüssen der Fremde,
denen man die Litteratur zu verschlicssen dachte, das Thor wiederum auf-
thun, und immer weiter und weiter aufthmi, und so geht von der Stiftung
des Palmenordcna, bei der man Gebräuche mid Sinnbilder nach dem Muster
der Crusca zu Florenz einführte,'^ uud von den Stiftern und ersten Gliedern
an, die selbst, was sie dichteten, nur aus dem Italienischen zu verdeutschen
wussten (Anm. 2 und § 118, 5), es geht von da an durch das ganze Jahr-
hundert gleichwie der eigentliche Grund aller deutschen Schriftübuug , eine
nie ermüdende Lust und Fruchtbarkeit des Übersetzens, zumal aus den Ita-
lienern imd Franzosen,'^ und ein Streben, das, so lange ihm die sittliche
Kraft noch innewohnt, der Achtung und fast der Bewunderung werth ist,
den Zwiespalt zwischen deutscher Gesinnung, deutscher Sprache und welschem
Stoffe , welscher Form ausgleichend zu verquicken. Freilich die alte volks-
thüniliche Dichtung versank für dies Jahrhundert in immer tiefere Verachtung
und Vergessenheit (§ 113); ihre letzten, entarteten Tra}ger, die Pritschen-
meister, deren die wenigen vom Kriege verschont gebliebenen Volkslustbar-
Zincgrefs (§ 104, 13): die deutschen Sprichwörtersamnilungen v. Zacher 38 fgg. Harsdörfer
schreibt an Ludwig von Anhalt 1647 über Schneuber in Strassburg: Er ist Lehrer der
poeterei/ daselbst, ein hochgelehrter Mann und kein Schulfiichs. Von gemeinen Schulpossen
spricht Hofmanswaldau Vorr. zu seinen Gedichten. 11) M. v. Waldberg, Die galante Lyrik
QF. 56 (Strassburg 1885). 12) Opitz, Fleming, Buchner, Gryphius, Lauremberg u. s. w.:
selbst noch Leibniz. Dass manche meinten, 'es sey eine schlechte Sache mit der teutsclien
Poeterey; man solle lateinische Verse dafür machen, berichtet Rist, Rettung der Teutschen
Hauptsprache. Vgl. Birken Dichtkunst Vorr. § 2:i. 13) Wie in der Accademia della
Crusca (seit 1582) hatte jedes Mitglied des Palmenordens seinen Gesellschaftsnamen nebst
Sinnbild und Wahlspruch: Caspar v. Teutleben z. B. zu allernächst nachahmend {crusca
Kleie) hiess der Mehlreiclie, sein Bild war ein in den Mahlkasten sich entleerender AVeizen-
sack, dazu das Wort Hierin ftndt siclis ; Fürst Ludwig der Nährende führte ein Weizen-
brot und den Spruch Nichts bessers. Vgl. Barthold lü8 fgg. — L'ordre de la Palme d'or:
Barth. 115. 139. 144. H. Schultz (§ 114, 11) S. 19. 14) Opitz Poeterey cap. VlII :
Eine guete art der vbung aber ist, das tcir vns siteweilen auss den Griechischen vnd Lateinischen
Poeten etwas zue vbcr setzen vornemen : dadurch denn die eigcnschaft vnd glantz der Wör-
ter, die menge der figuren, vnd das vermögen auch dergleichen zue erfinden zue wege ge-
bracht wird. Krause Erzschrein S. 31 'weill bey der Fruchtbringenden gesellsclmft woll
hergebracht das von ihren gliedern zu auffnehmung vnd enveitterung unserer Deutschen land-
§115 LITTERATUR. 1G5
kcitcn, Schützenfeste u. a. niclit entrathen konnten, wurden für die neue Ge-
lehrtenpoesie das Ziel des Abscheus und des Holmes.'^
In solcher Art denn und für solchen Fortgang durch ein Zusammen-
strömen vaterländischer und wachsender fremder Einflüsse und gleich als
Ansatz einer Litteratur der Welt, ist mit dem zweiten Viertel des siebzehnten
Jahrhunderts die neuhochdeutsche Litteratur begonnen worden; das sech-
zehnte hatte nur erst die Sprache begonnen , in Dingen der Litteratur aber
wesentlich bloss die alten Rückstände weggeräumt und so das Feld für ein
neues vorbereitet. Es traf mithin dieser Aufschwung gerade in die Zeit des
UKE ISSIG j.EHRiGEN Krieges, ungolähmt dadurch, wie oft auch und wie schmerz-
liche Klage über all die Schrecken ergieng : vielmehr, so lange derselbe noch
ein Kampf um den Glauben war, hielten sich die Schriftsteller dessen be-
wusst, dass sie mit einzustehen hätten für den Glauben, und als er ein Kampf
ward um den Bestand und die Ehre Deutschlands, als beide mehr und mehr
darniedersanken, da ward es ihnen Pflicht, wenigstens das Deutschland der
Sprache und der Litteratur zu retten. So erwies sich auch damals die Un-
wahrheit des alten Spruches inter arma silent mnsae: wohl aber begann da-
mals zuerst die Wahrheit eines anderen neueren von den verschiedenen
Grenzen des staatlichen und des schriftstellerischen Deutschlands.'^ Und
sogar, wo vielleicht die zerwühltesten Striche des grossen Kriegsschauplatzes
lagen, wo es am roethesten war von Blut und Brand, gerade da am lautesten
singend erhub sich in die noch freie friedliche Luft die Lerche der Dicht-
vnd Muttersprache, entweder etwas in derselben von neuen verfasset und gesehrieben, oder
aus andern sprachen vbergesetzet wirdt' : deshalb schickt F. Ludwig einem Mitglied ein
bestimmtes Buch zum Übersetzen zu. Leibniz Unvorgr. Ged. 60. Doch war Andr. Gryphius
(§ 132) grundsätzlich dagegen, in der Vorrede zu dem Schwärmenden Schäfer: Ich, der ander-
werts zu derogleichen Übersetzungen wenig belieben trage (angesehen sie mir nicht minder
Zeit hinweg nehmen, und mehr Mühe bringen, als wann ich ettvas aus eigner Erfindung
aufsetzte); und auch Hofmanswaldau verschmähte in reiferen Jahren (Vorrede zu den Hel-
denbriefen § 133) diese „dienstbare Arbeit". 15) Über die Pritschenraeister schelten
Buchner, Tscherning Bedenken S. 37, Zesen Heliconische Hechel, Sacer (§ 120, 32). Hof-
manswaldau Vorrede zu seinen Gedichten; vgl. auch W. Scherffer S. 665 von dem ungelieuren
Joch der alten Fritsch-JReimen ; Schirmer Auf einen Pritzscher ; Gryphius P. Squentz 3. Auf-
zug; Menantes, Der thörichte Pritschmeister, Ein Lustspiel 1704. Daher auch die Ver-
achtung des Hans Sachs, den man für einen Vertreter dieser Pritschmeisterpoesie hielt. § 113, 7.
16) Schillers Xenion (53 bei Boa»-Ma\tznhn) Deutschkmd i' Aber wo liegt es'^ Ich tveiss das
Land nicht zu finden. Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf. Daher auch das
Weltbürgerthum, welches in Leibniz sich mit deutschem Nationalgefühl verbindet, in andern,
wie dem Polyhistor Conring zu Helmstadt, sich zu vaterlandsfeindlichem Wirken im Solde Lud-
16Ö NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVH JAHRH. § 115
kunst. Im sechzehnten Jahrhundert hatten die südwesthchen Lande, die
Schweiz, der Oberrlicin, an der Littoratur noch reichlich mitgewirkt und der
Oberrhein schon damals unter welschem Einfluss (§ 104): jetzt aber wendete,
an die oberrheinischen Vorgänge nur durch den ersten Anstoss der Bewegung
angeknüpft (§ 122), das litterarische Leben sich ausschliesslich dem Nord-
osTKX zu ; — der Süden verstummte, auch der evangelische Süden, wie der
katholische schon der Reformation gegenüber verstummt war , auch die
Schweiz, um erst nach langem wieder, erst nachdem der westfälische
Frieden ihre thatsächliche Trennung von dem Reiche zu einer rechtlichen
gemacht, und auch da zuerst nur mit schüchtern einzelnen Versuchen die
alte Volkseinheit dennoch kund zu thun; — dem Nordosten, d. h. zugleich
dem Muttersitze der Kirchenbesserung und der mit ihr verbundenen neuen
Sprachschöpfung. '^ Damit war entscheidend für immer der prote-stantische
Sinn der neuhochdeutschen Litteratur, und in ihr und durch sie die Herr-
schaft der Sprache Luthers festgestellt. Mochten auch, was letzteren Punkt
betrifft, bewusst oder unbewusst noch landschaftliche Abweichungen von der
eng obersächsischen Art mit unterlaufen,''* wie selbst bei dem ersten Dichter
der Zeit, bei Opitz, uns dergleichen entgegentritt,'^ mochte sich auch der
überlieferte Wortvorrath, sei es durch dichterische Neubildung (vgl. § 120),
sei es selbst durch Entlehnung aus Mundarten, noch so reichlich mehren,
jene Grundlage blieb dennoch fortan unverrückt und ward an Oder und
Elbe, an Pleisse und Pegnitz gleich grundsätzlich beachtet. Alles wirkte
zusammen , um jetzt zu vollenden, was Bibel und Kirche schon im vorigen
Jahrhundert begründet hatten, die Übung je der besten Schriftsteller, der
wigs XIV verirrt. 17) Gottsched bemerkte Spraohkunst^ (1749) S. 46: Der Sitz der dcut-
scJien Gelehrsamkeit ist seit der Glauhensr einig ung nach Obersachsen gewandert. Nicht icenig
luxt auch der aus Frankfurt am Main grösstentheils nach Leipzig gezogene BücherJuindel
dazu beigetragen. (Socin. Stbriftsprache und Dialecte S. 375). 18) Ausstellungen schon
des 17. Jahrhunderts am Obersächsischen, die jedoch nicht sowohl der Sprache als nur der
Aussprache gelten. § 93, 35. 19) Z. B. die Reimbindung solcher Worte wie können,
gönnen (gesprochen kinnen , ginnen) und sinnen, rinnen LB. 2. 386. 10. 395, 13. 398, 9.
402, 10. 403, 10. die den schlesischen Dichtern überhaupt, und nach Opitzens Vorgang auch
anderen, wie Fleming (ebd. 435, 34) unanstössig ist. Vgl. AVeinhold M. Opitz. Kiel 1862
S. 31 Anm. 24. Opitzens Freiheit tadelt Buchner in seinem Wegweiser: Schottel vertheidigt
sie. Titz nimmt sie auch für sich in Anspruch. Tscherning Unvorgr. Bed. 82 verweist die
Tadler Opitzens auf Flemmings Reim kreucht : steigt u. a. Harsdörffer Trichter 1650 8. 3b
erinnert daran, dass auch bei den Griechen ein jeglicher Poet nach seiner Mundart geschrieben.
Ausdrücklich bemerkt Logau in der Vorrede zu seiner groesseren Sammlung, dass die En-
dungen der Reime zusammenstimmen nur nach unserer Mundart, wo sie geschrieben. Noch
§ 116 SPRACHE LUTHERS. PROSA. 167
Einfluss, der von ihnen aus, vermittelt dui'ch jene Gesellschaften, weiter in
alle Kreise auch des weltlichen Lebens gieng, die Lehre endlich der Gram-
matiker, welche nun, voran Ratichius,^" einmüthig die Sprache Luthers oder
wesentlich in gleichem Sinn und nur mit anderem Ausdruck das Obersäch-
sisclie als die einzige Richtschnur des Deutschen anerkannten.^^ Selbst der
Gebrauch der Mundart zu scherzhaften Dichtungen-- bestätigt durch den darin
ersichtlichen Zweck komisch zu wirken nur die alleinige Giltigkeit der Schrift-
sprache; ebenso wie das Studium der Mundarten bei Grammatikern wie
Schottel (§ 120), gerade die Regel der Schriftsprache festzustellen half.
§ 116.
Ganz aber und eigentlich gilt , was von der Litteratur des sieb-
zehnten Jahrhunderts ist gesagt worden, nur von der Poesie derselben,
nicht so von der Prosa. Diese war schon räumlich weiter ausgedehnt und
es nahmen an ihr, wenn auch nicht die Schweiz, doch z. B. das Elsass und
sonst die oberrheinischen Lande theil: wohl eine weitere Yersamung der
Blüthe, zu der im vorigen Jahrhundert die Prosa gerade hier, voraus durch
Fischart gediehen war (§ 112). Im übrigen aber kehrte sich das Verhält-
niss, das zwischen Poesie und Prosa damals bestanden, jetzt völlig um. Das
sechzehnte Jahrhundert hatte reichlich eben so viel Prosa als Poesie , wo
nicht der ersteren noch mehr gehabt; jedenfalls lag auf dieser Seite der
Litteratur der Vorzug einer höheren Entwicklung. Jetzt dagegen, und es
sollte so von jetzt bis um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bleiben,
trat die Prosa wiederum zurück: die Mehrzahl der Talente und die grösseren
Talente und die grössere Fruchtbarkeit fielen der Dichtkunst zu, und die
Prosa theilte keineswegs all deren Fortschritte : hier wich die Sprachmengerei,
da willenlos träge Gewöhnung^ und selber Grundsatz sie behauptete,^ dem
Canitz reimt kömmt : bestimmt. 20) § 114, 8. Raumer a. a. 0. 39. 21) Raumer
44. 45. 49. 54. 57: vgl. § 93, 34. 22) Weckherlins derbes schwäbisches Lied bei einem
fürstlichen Aufzug (1618) ist Bauern in den Mund gelegt : Gödekes Auswahl S. 327. Ähn-
liches für Altenbnrg von Schoch gedichtet (Hundert Lieder. 1660 S. 54): in Schlesien von
Scherffer S. 581. Ganz besonders aber in Niederdeutschland, vgl. Lauremberg § 130, und
die im Anhang der Ausgabe von Lappenberg mitgetheilten Hochzeitsgedichte: denn gerade
bei solchen Gelegenheiten war die Mundart beliebt. Hchwiger Liebesgrillen mischt hambur-
gische Dialectproben ein. Über das Niederdeutsche im Drama s. die § 137, 29 angeführten
Schriften von Gaedertz. Gryphius, Die geliebte Dornrose, gebraucht die schlesische Mundart:
Moscherosch Gesichte, Ander Teil, bietet elsässische und lothringische Proben.
§ 116. 1) Vgl. Leibnitz LB. 3, 1, 997. 2) Z. B. Morhofens Unterricht v. d. teut-
schen Spr. u. Poesie 597 fgg. (Ausg. 1718) Lateinische und Frantzoesische Wörter haben
1G8 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVU JAHRH. § IIG
besseren Streben nicht so allgomeiii , und weehrend die Dichter Sorgfalt auf
den Stil zu verwenden pflegten und gern ausgiongen auf leichte Gefälligkeit,
hielten die Prosaiker meist auch die grceste Nachlässigkeit für gestattet, oder
übertrugen auf alles die steife schleppende Darstellung, die in den Caxzeleien
sich gebildet hatte: denn das Deutsch der Canzleien, so unnütz und ohne
Mass auch gerade dieses mit Fremdem versetzt ward,^ galt von Alters her
noch immer als mustergebend.* An solcher Schwerfälligkeit, solcher Un-
deutschheit der Sprechweise gieng namentlich, die so schoen begonnen (§ 108),
die GEscmcHTsscHREiHrNVi aufs neu zu Grunde : kein Werk derart von irgend
welcher höheren Vollendung lässt sich bis an den Ausgang dieses Zeitab-
schnittes namhaft machen; es gieng daran auch zu Grunde die Beredsamkeit,
die geistliche sowohl , die sich ebenfalls schon so hoch erschwungen hatte
(§ 109), als die weltliche, auf die man, wie es scheint, zuerst jetzt verfiel:
es ward an den Hoefen Sitte feierlich öffentliche Handlungen, Bundesgesuche
und Vertrage und Brautwerbungen wie Leichenbegängnisse unter Abhaltung
wohl ausgearbeiteter Staatsreden zu vollziehen.^ Zumeist aber dahin sank
in einem ernstluiften carmine und in einer abgemessenen rede keinen platz. In Discoursen
(welches Wort auch durch kein Teutsches recht aussgedrücket icerden kan) in Brieffen, in
politischen Schrifften, wird man gezwungen, dieselben zu gebraucJien, denn es kan bissiceilen
viel nachdencklicher dadurch gegeben icerden u. 8. f. 3) Vgl. § 94, 24. "Weckherlins
Erklärung an einige canzleihenen 1G15 (Güdeke. Auswahl Xr. fJl): insbes. Str. 2 Ihr mischet
teutsch, welsch und latein, doch keines rein, weil eure kunst ihr nicht gern wolt verhehlen,
vnd sprechet mir zu weiser schmach dass ich Verderb die deutsche sprach weil fremde wort
ich nicht, ivie ihr, mag quälen. Dies gemischte Kanzleideutsch wird von Maximilian von
Baiern 1624 noch misstallig bemerkt: Bartholds Fruchtbr. Gesellschaft 62: dagegen sagt
gerade in Bezug aui' Fürstlielie Cantzleyen Moscherosch im Ala mode Kehrauss (ISittewald
Th. 2, Gesicht 1): Die Herschafften )neynen nicht dass ein Diener was wisse oder gelernt
Juibe , wan er seine Schrifften nicht dergestalt mit Wälschen und Lateinischen Wörtern
ziere vnd schmücke. Vnd geschieht offt, dass ein gut Gesell, der sich dess puren Teutschen
gehraucht, vnd solcher vnteutschen Beden sich mit allem fleiss müssiget vnd enthaltet, für
einen vnverständigen Esel gescholten, oder wohl gar abgeschafft , vnd an seinem Glück loird
verkürtzet. 4) § 93. 3: Canzeleistil des Stadtschreibers von Speier Lehman 1612. § 108,
35. 5) Bei Schuppius an verschiedenen Orten mehr als ein Teutscher Cicero der Art
genannt, z. B. LB. 3, 1, 774. Zwei Kanzler in Königsberg, jeder als preussischer Cicno
bezeichnet: N. Preusg. Prov. Bl. 1853 S. 293. Seiner Zeit der berühmteste Veit Ludwig
V. Seckendorf. in Diensten zuerst sächsischer Herzoge, dann des Kurfürsten von Branden-
burg, gest. 1692: Deutsche Reden (44) Leipz. 1686. 1691. Zwölfbändiges Sammelwerk von
Lünig: Reden grosser Herren, vornehmer Minister und berühmter Männer, Leipzig 1719 fgg.
Ein Muster im Kleinen bietet die Friedensrede, welche Diederich von dem Werder durch
seinen fünfzehnjährigen Sohn Paris 1639 zu Cüthen und anderswo halten Hess: Wittkowski
D. V. d. W. 126.
§ 117 LYRIK. 169
die LEiiRiiAFTp; Prosa; sie ward am wenigsten auch geübt: hier kam, und
das war zuletzt besser als die sonst beliebte Sprachenmischung, der Gebrauch
der allgemeinen Gelehrtensprache wieder zur Oberhand, oder man zog dem
Deutschen die neue Sprache der Welt, die franzcesische vor : Hauptbeispiel
Leibniz (§ 138). Wo allein noch Fruchtbarkeit und eine fort und fort sich
steigernde herrschte, wo auch dem Eifer nicht ganz die Erfolge fehlten, das
war der Roman, die Art der Prosa, die ihrem Wesen nach unmittelbar an
die Dichtkunst grenzt : hier, aber hier allein auch, kam man hinaus über die
Vorgänger des sechzehnten Jahrhunderts. Zwar, was den Stil betrifft, stand
der Roman fast durchweg hinter der gebundenen Dichtung, und hier zumal
Hess man sich gern nachlässig gehn: sonst jedoch hat diese Prosa in leben-
diger Weise Schritt gehalten mit all den Entwicklungen, welche die Poesie
und welche das ganze Geschmacks- und Sittenleben der Zeit durchlief. Deshalb
wird die weitere Darstellung wohl von ihr noch öfters , von der lehrhaften,
der rednerischen, der geschichthchen nur wenig mehr zu handeln haben.
§ 117.
Auf der Poesie also liegt, wie für die mittelhochdeutschen Jahrhunderte,
so für dies zweite der neuhochdeutschen Zeit das Hauptgewicht. Hier aber
nahm, aus mehr als einem Grunde, den vordersten Rang die Lyrik ein.
Weniger weil etwa noch die Verbindung mit der Musik sie belebt und dem
Leben empfohlen hätte: diese Verbindung ward ausserhalb des Kirchenliedes
je länger je mehr aufgehoben (§ 104, 10), überall anderswo galt der Gesang
fast nur noch als eine MögUchkeit, als ein Zufall,' und Schreiben und Lesen
§ 117. 1) Die Lyrica oder getichte die man zur Music sonderlich gebrauchen Jean
Opitz LB. 3, 1, 627; vgl. 639. Auch sind Odeu von Opitz. Rist u. a., z. Th. auf die Me-
lodien beliebter französischer oder niederländischer Lieder gedichtet , nach glaubwürdigen
Zeugnissen wirklich gesungen worden: § 121, 18. Selbstverständlich gilt dies auch von
dramatischen Stücken, bei denen zuweilen auch die Begleitung bemerkt wird: W. Scherffer
Buch II Meijen- Sarabande . . mit Musik. B. V. Corydon und Lesbia Vermälimg . . zur
Viol di Gamba dargebracht. Zu den Liedern von Rist, Neumark, Zesen u. a. sind die Noten
mit abgedruckt; bei Lund und Brehme wird gelegentlich eine Weise angegeben, nach welcher
das Lied zu singen sei. Die für die Sangeslust insbesonders der akademischen Jugend be-
stimmten Liederbücher des 17. .Jahrh. nehmen zu den vereinzelt noch weiter eeführteu alten
Volksliedern solche der Kuustdichter auf. So liat in Tugendhaff'ter Jungfrauen und
Jungengesellen Zeit-Vertreiber D. i. Neilvermehrtes . . Weltliehes Liederbüchlein, o. 0. u. J.
Meusebach im Exemplar der Berliner Bibliothek Lieder f(dgender Dichter vermerkt: Opitz
(.§ 121), Rist, Gabriel Voigtländer, Schoch, Schein, Göring, Schirmer, Greflinger, Albert,
Fleming, Hass. Schwieger. Zesen , s. Hayn im Serapeum 1870. S. 195 fgg. In Cocay Teilt-
170 NEIIIIOCÜDEUTSCIIE ZEIT. XVII JAHItll. § 117
war jetzt der Weg zur Mitthoiliing uiul Wi(ulcrscliöpfunf; eines Liedes,'
Sondern weil es die Lyrik war, die schon im scch/chnten Jahrhundert mit
der jetzt herrschenden Mischung deutscher und fremder Dichtweise den An-
fang gemacht (§ 95, 104); weil die Dichter des Südwestens, aus deren Boden
jetzt die Kunst dem Nordosten zuwuclis, eben auch Lyriker gewesen waren
(§ 104, 7 fgg.)j weil diese Diclitart mit ihren leichteren, schneller vorühcr-
gchendon llervorbringungen am ehesten geeignet schien , bloss der Lust und
Erholung zu dienen und Stunden gelegentlicher Müsse auszufüllen: die bes-
seren Dichter aber wollten ihre Kunstübung nur so betrachtet , so betrieben
wissen f weil endlich in ihr mehr als in den andern Arten das Dichten sich
ablöst von der Aussenwelt, weil in sie das Gemüth sich gleichsam aus der
Wirklichkeit hinaus zu flüchten vermag, weil sie am wenigsten durch Yolks-
thümlichkeit bedingt ist, weil sich in ihr der Mensch für sich allein und so
auch nur das allgemein Menschliche in ihr ausspricht. Und grade solch ein
Dichten ward gefordert und gefördert von einem Zeitalter wie diesem, wo
die Wirklichkeit in der That nichts Fesselndes besass und den Dichtern der
letzte Halt des Volkslebens unter den Füssen morsch zusammenbrach;^ schon
scher Labyrinth . . sampt einem Poetischen Lustbrinf/er , Köln 16.50. begegnen Gedichte
von Opitz und Fleming. Im Venusgärtlein, Hamburg IG.öt», finilen «leh Lieder von Rist
und (irefliuger, in Gantz 'neuer Hans Guck in die Welt, D. i. Neuvennehrte weltliche Lust-
Kammer, 0. 0. u. J., solche von Rist und Opitz: und eben diese werden ihrer Melodien
wegen angeführt: Gesechste Tugend- und Laster-Eose oder Jungfräulicher Zeitvertreiber.,
von Constans Holdlieb, 1G65 Nürnberg. Dass die kunstmüssigen Lieder ins Volk drangen,
bezeugt auch Schoch Vorr. xu Hundert Schäfer-Lieder , mit besonderem Bezug auf Finckelt-
haus und Schirmer: s. die Stelle in "NValdberg, Deutsche Renaissancelyrik (Berlin 1888) S. 41.
Zur Verbreitung dienten insbesonders auch die Einzeldrucke dieser Lieder, von denen Mense-
bach a. a. 0. mehrere anführt. Vgl. auch Opitz § 121, 18. Von der Gewöhnung ohne Rück-
sicht auf die Musik und von der Beschwerlichkeit mit Rücksicht auf sie zu dichten spricht
des breiteren Morhof in seinem Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie cp. 15.
2) Vgl. die Überschriften Weckherlins und Zincgrefs LB. 2, 352. 365. 3) Weise
Curiüse Gedanken von Deutschen Versen (1692) II S. 13 Also mrd die Poeterey eestimirt,
wenn der Mann etwas anders darneben hat, davon er sich bey Mitteln und bey Eespect
erfüllten kann, was an dem Beispiel verschiedener Dichter nachgewiesen wird. Lohenstein
sagt, wer nur Poesie treibe, sei dem zu vergleichen , der ein Kleid nur von Spitzen trage.
Die in der Poesie gross zu werden gedenken, meint 1697 Neukirch in der Vorrede zu
Hoffmanswaldaus und andrer Deutschen Gedichten 1 , müssen entweder selbst mittel, oder
doch auskömtnlichen unterhalt, 7ind zum wenigsten bey ihren amtsgeschäfften die freylieit
haben, dass sie drey oder vier stunden des tages verschwenden dürffen. Daher tragen die
Gedichtsammlunoren um 17(X) vielfach Titel wie Nebenstunden, Luststunden u. ä. Wald-
berg QF. 56. 18. 4) Der Krieg sei der deutschen Poesie günstig gewesen, weil inmitten
§ 117 LYRIK. 171
damals galt, was ein späteres Wort'^ den Deutschen angerathcn, sich freier
zu Menschen zu bilden, da zur Nation sich zu bilden nicht melir vergönnt
sei. Wenn aber auch nicht dieses höher menschlichen Strebens, so waren
die Dichter sich dessen doch ganz wohl bewusst, dass ihre Lieder nichts als
ein Spiel mit Unwirklichkeiten , nur eine gelehrte oder künstlerische Übung
im Erfinden, dass die Namen nur Namen, die Worte nur Worte, die Em-
pfindungen ohne Eigenheit und Wahrheit wären.® Daher die Möglichkeit,
auch auf Bestellung anderer zu dichten; ' daher ein Hauptverdienst in all
den Kunstgriffen des Redeschmuckes, namentlich in der Verzierung mit Bei-
wörtern gesucht ^ und kein Unrecht in der Entlehnung solches Schmuckes
seiner Glut und Verwüstung hochbegabte Gemüther in deren Ausbildung Ruhe gesucht und
gefunden hätten : Schreiben Dilherrs an Harsdürfer vom Jahre 164G hinter dessen Poetischem
Trichter 1. Verlust von Gedichten gelegentlich der Verwüstungen des Krieges beklagen
Weckherliu, Rist, Logau. 5) Goethe, Hempels Ausg. 3, 253. ö) Opitz selber in
der Zuschrift seiner Gedichtsammlung 1625: Sie wissen nicht, und wollen nicht tvissen,
dass in solcJien Gedichten oft eines geredet, und ein anders verstanden tvird, ja dass ihm
ein Poet die Sprache und sich zu üben wohl etwas vornimmt, welches er in seinem Gemüthe
niemals meinet; ivie denn Asterie, Flavia , Vandala und dergleichen Namen in diesen
meinen Büchern nichts als Namen sind, und so wenig für xvahr sollen azifgenommen wer-
den, so wenig als glaublich ist, dass der Göttliche Julius Scaliger so viel Lesbien, CrispilJen,
Ädamantien, Telesillen, Pasicompsen, und wie sie alle heissen, geliebet als gepriesen habe.
Freilich gerade bei Opitz geben Überlieferung und eignes Zeugniss in den Gedichten Anlass,
an wirkliche Personen zu denken : Palm Beiträge 135. Borinski Poetik der Renaissance S. 72.
Fleming besingt dieselbe Geliebte unter verschiedenen Namen. Schwieger Liebesgrillen Vorr.
zum II. Theil 'Denn ich bezeuge es vor jedermann dass kein eintziges Lied darunter zu
finden, icelches ich für mich einer eintzigen Jungfrau zu gefallen verfertiget.' Schirmer
Vorr. zu deu Rosengepüscheu. Am ersten glaubt mau der Versicherung von Rist Musa
teutonica S. 131. Scaligers Lesbien und Opitius Vandalen . . ivelche Nymplien doch nichts
als blosse Namen sein . . . also auch wenn ich der AmaryUis, Charitin, Silvia u. a. gedenke.
Rist bezieht später (1G4G) die Liebeslieder auf die Ehe: v. "VValdberg, Renaissancelyrik S. 80-
Weckherlin an Veyras . . eutschuldigt Trink- und freche Liebeslieder: Gedenck doch du
mein Veyras, nicht, dass, wan ich von dem tvein auch dicht, ich so gern sei bei dem tvein-
schenken . . So glaub ich dass es auch gnug sei, tvan der poet ohn heuchelei ein from vnd
keusches leben führet , obschon bisweilen sein gesang mit frecher sprach und geilem klang
die ohren üppiglich berühret (Güdekes Auswahl S. 118). 7) Klage Opitzens über zu-
dringliche Ncethigungen solcher Art, Poeterey cp. 3 : Dieser begehret ein I/ied auf eines
andern Weib , jenem hat von des Nachbarn Magd geträumet , einen andern hat die ver-
meinte Buhlschaft einmal freundlich angelaclit; — ja des närrischen Ansucliens ist kein Ende.
8) Lehie Opitzens, Poet. cp. ü. Von der Zubereitung vnd Zier der Worte. Titz II B.
V Cap. Gleich wie ein köstlicher Edelstein einen Ring, also zieren die Epitheta die Poetische
Mede; ttnd wird aus rechtem Gebrauch derselben ein guter Poete nicht minder, als aus den
172 NEUJIOCIIDEKTSCIIE ZEIT. XVII JAIIRII. § 117
aus den alten,'' kein Unrecht in dem gehäuften Oebriiuch von Namen und
IJczügen der antiken Mytliologie.'" Das war theilwcis freilicli schon im vori-
gen Jahrluindert so gehalten worden (§ 94, 42); ebenso hielten es die jetzt
näheren Muster Frankreichs, Italiens und der Niederlande, und der auch
hinter diesen als der vornehmste Antrieb zu dem allen stand, lloratius. "
Der Mangel an wahrhafter Kunst und gar an sittlichem Gehalte, in den auf
solchen Wegen die Poesie nothwendig und nicht allein bei den minder be-
gabten Dichtern gerieth, mochte für ernstere Oemüther wohl ein Argorniss
sein: aber nur Wenige nahmen es so ernst damit.'- Und wenn dieser
Mangel auch zunächst nur der wkltlichen Lyrik eigen ist, welch unerfreu-
liches, welch erschreckendes Licht fällt gleichwohl von da aus auf die «eist-
L[ciie! Das siebzehnte Jahrhundert war auf letzterem Gebiet fruchtbarer als
je eine frühere oder si)ätere Zeit: '^ es gibt einzelne (so all die groesten
hier '^), die nur geistliche, sehr wenige jedoch , die nur weltliche Gedichte
verfasst haben, und sogar solche, die in den weltUclien vor keiner Unzucht
scheuten, hielten sich wie um der Vollständigkeit willen verbunden, gelegent-
lich auch geistliche zu verfassen.''' Da liegt, bei diesen wenigstens, der
Argwohn nahe, dass auch die religiösen Empfindungen bloss erfunden, dass
auch hier die Namen blosse Namen, dass auch in den geistlichen Gedichten
Klawen ein Letc, erkandt. Letzterer Ausdruck auch bei Harsdüifer: BoriuHki 199. 9) Auch
dies von Opitz ausdrücklich empfohlen. Poet. cp. 8. Vgl. v. AValdberg Renaissancelyrik
Cap. IV. worin die gleiche Missachtung des fremden Eigenthumes auch den Neueren gegen-
über uachgcwiesen ist. 10) Rechtfertigung Opitzens: Poet. cp. 3. 11) Albert Lehnerdt,
Die deutsche Dichtung des 17. u. 18. Jahrh. in ihren Beziehungen zu Horaz. Königsberg
1882. (Progr.) Dennoch, und obwohl Opitz als ein hauptsächliches Mittel zur Bildung für
die deutsche Poesie das Übersetzen aus griechischen und lateinischen Dichtern bezeichnet
(§ 115. 10), Horatii Vier Bücher Odarum erst 16ÖG (das I. schon lfj43) von Joh. Bohemus^
in Teutsche Poesie übersetzet, gedruckt zu Dresden. Auf griechische Quellen, die An-
thologie und die griechischen Romane weist v. Waldberg hin , Renaissancelyrik S. 142 fg.
12) Hauptzeugnisse — die freilich z.Th. auf das spanische Original zurückgehn — bei Moscherosch
im 5. und 6. Gesichte Sittewalds, Th. 1, Letztes Gericht und Hollen-Kinder, dort gegen den
Missbrauch der Mythologie, hier gegen die anderweitigen Untugenden, welche die Poeten
(er trifft deren viel tausend in einem Pferch der Hölle) von den Wälschen Völckern ab-
leJinwn, und im 4. der niederdeutschen Scherzgedichte Laurembergs van Almodiscluir Poesie
und Hymen. Vgl. § 120, 95. 13) Vgl. den 2.-^. Theil von Rambachs Anthologie
christlicher Gesänge, Altena und Leipzig 1817 fgg. Schon in diesem Jahrhundert um-
fassende Gesangbücher zusammengestellt, zu Berlin 1G44 von dem Buchdrucker Christian
Runge (Praxis pietatis melica), zu Hanover von JuSTUS Ge.senius und David Dennius
(§ 103, 44). 1704 von Anastasius Fkeylinghaiisen (§ 128, 19). 14) Voraus Paul
Gerhard und Benjamin Schmolck § 128. 15) Z. B. Hofmannswaldau § 133. LB. 600.
AI
§ 117 DIDAKTIK. 173
I
I
Manches nur der Übung wegen und ohne die Ilerzensmeinung des Dichters
gesagt sei. Hat doch sogar hier der Unfug mythologischer Verzierung sich
eindrängen können. ^'^
So erhielt die Lyrik und solch eine Lyrik im siebenzehnten Jahrhundert
den Platz vor allem übrigen Dichten, und diese Stellung und zugleich dieser
Charakter sind ihr von da an für lange Zeit, und soviel die litterarisclie
Menge betrifft, fast bis auf den heutigen Tag geblieben. Denn die Umstände,
welche damals zuerst die Poesie in solch eine freie Schwebe ausserhalb des
Lebens setzten, haben mit dem siebzehnten Jahrhundert nicht ihre Endschaft
erreicht. Zwei Eigenheiten indess unterscheiden jene beginnende neuhoch-
deutsche Lyrik merklich genug von der der späteren Zeitabschnitte,
Einmal die Lehrhaftigkeit. Im sechzehnten Jahrhundert, wo die ge-
lehrten Dichter noch häufig und gern erzählten und lange Zeit keine anderen
Lieder dichteten als geistKche (§ 103. 104), war noch die Lehrhaftigkeit
theils mit der Epik, theils nur mit dem KirchenHed verschmolzen: jetzt, wo
die Gelehrsamkeit der Dichtenden nicht geringer und der Ernst der Zeit noch
mahnender, wo Lyrik die vor allen geltende Dichtart und die weltliche Lyrik
zu neuem Reichthum aufgegangen war, jetzt durchdrang der lehrhafte Geist
auch diese, um die Herrschaft in ihr mit der Tändelei unwirklicher Empfin-
dungen zu theilen: wenn früherhin die Grenze zwischen Epik und Didaktik
schwer zu finden gewesen (§ 99), so jetzt zwischen Lyrik und Didaktik.
Und auch hierin walteten Grundsatz und Bewusstsein ^^ und wirkte neben
eigenem innerem Zug das Beispiel von aussen , von Frankreich , von den
Niederlanden her. Nur selten mehr kam (und wer möchte das bedauern?)
die reine Didaktik auf; geschah es aber, dann ergriff sie gern die Beziehung
auf die Wirklichkeiten des Lebens, die der Lyrik abging, so jedoch, wie es
sich jetzt am nächsten bot und fast einzig mögUch war, strafend, spottend,
als Satire, als satirisches Epigramm: die fremden Vorbilder, die hier so
wenig fehlen durften als anderswo, waren Juvenal und Martial, von den neue-
ren der enghsche Lateiner Owen,^^ in spseterer Zeit dann hoefisch zahmer
der Franzose Boileau. Das Epigramm der Satire aber duldete neben sich
16) Namentlich in die Hymnen, wie nach Dan. Heinsius Vorgange Opitz sie in Deutschland
aufgebracht (§ 121). Auch dieses weiss Opitz in der Vorrede zu Dan. Heinsen Lobgesang
Jesu Christi 1624 zu rechtfertigen , mit Worten , die aus einer Anmerkung des letzteren
entnommen sind. 17) Opitz LB. 3, 1, 627 Bie Lyrica erfodern zueßderst ein freyes
lustiges geinüte , vnd wollen mit schönen Sprüchen vnd lehren häuffig geziehret sein.
18) John Owen, lat. Audoenus, gest. 1622: Epigrammatum libri X, Lond. 1612. Erste
IL)
.,„w..v 6-., „w . ... -
174 NEUIIOCIIDEUTSCIIE ZEIT. XVH JAÜUIL § 117
auch noch das unsatirischc, da wiederum Rom und Frankreich auch hievon,'"
und sogar das Morgenland seine Muster zeigte;*" so gedeckt, konnte sich
theilweise selbst die nur halb gelehrte , halb volksmajssigo Si'rl'cuuiciituno,
an der das sechzehnte Jalirliuudert seine Freude gehabt (§ 101), und konnte
zumal durch solche , die etwa jetzt auch lieber auf die Wege des Volkes
traten, sogar die Phiamel sich noch in dieses siebzehnte fort verpflanzen.-'
Die andere Eigenheit, welche die neue Lyrik bezeichnet, nicht unvor-
bereitet, da schon mit Ablauf des sechzehnten Jahrhunderts dergleichen ge-
schehen war,^- ist die Neigung der Dichter, ihre Empfindungen und Betrach-
tungen an einen Anlass des sie zunächst berührenden Lebens, an die Ver-
mahlung etwa eines Freundes oder Gönners, eine Kindtaufe, ein Begräbniss
anzuknüpfen, kurz die Gelegenheitsdichtung.''^ Es scheint dieser Hang in
Widerspruch zu stehen mit der vorher ausgesprochenen Ilüge der Beziehungs-
losigkeit, der Ablösung von den wirklichen und wahren Dingen. Aber es
scheint nur so. Wirklichkeit auch für weitere Leser hatte die besungene
Gelegenheit nur selten, ja nur selten auch für das Gemüth des Besingenden
schon: denn eben hier ward oft, und je tiefer ein Dichter stand, je tiefer
hinab die Kunst wieder sank, desto öfter nur auf Bestellung oder sonst wie
nur um den Lohn gedichtet. ^^ Deshalb und weil zum Gelegenheitsdichtcn
gelegentlich Jeder sich berufen glaubte, gerade hier die verschwimmendste
Allgemeinheit, der hohlste Prunk, kühle Redensarten oder Rohheit für Em-
Verdeutöcliung Rosarium, d. i. Rosengarten — durch Ber nhar dum Nicaeum Ancu-
manum, Emden 1641: spätere und bekanntere die von Valentin Loeber, einem Erfurter
(geb.1620, gest. 1685): zuerst Epigrammatum Oiveni Drey Bücher . Hamb. 1651, in weiteren Aus-
gaben vermehrt. 19) Die von Opitz verdeutschten Disticha Catos (vgl. § 79, 12) und
Tetrastioha oder Vier-Verse des Herrn von Pibrac: sein Florilegium variorum epigram-
matum entlehnt Satirisches und Unsatirisches aus Griechen und aus alten und neuen La-
teinern. 20) Persianischer Rosenthal, deutsch nach Saadi von Adam Olearuis (§ 126, 7)
Schleswig 1654. 21) § 101 , 5. Von Moscherosch § 131 und Abraham a. S. Clara ebd.
häufig Priameln. altüberlieferte und vielleicht auch neue, angebracht. Priameln bei Logau
§ 129. 22) Die Epithalamia L. Steurlins 1587 : Docens Miscellanea 1, 259 : Ringwaldts
(§ 99, 57) 1592: Spenden z. deutschen Litteraturgesch. v. Hoffmann 2, 53; und manches bei
den oberrheinischen Lyrikern um 1600 § 104, 7 fgg. 23) Solehe der Hauptinhalt der
Gedichtsammlungen, die man Wähler nannte: vgl. Opitz LB. 3. 1, 627. 24) Candoria
Deutscher Zimber Swan (§ 124) S. 222 verlangt sogar, um die uugelehrten Mitbewerber
auszuschliessen : Von Rechtsteegen sollte billig eine Obrigkeit drüber halten , das sonsten
Nimands als ntir ein Gekröneter dazu befreiter Käiserl. Poet oder der Lorber-Krone ge-
würdigter auf Hochzeit, Namensfeier, Freudenfest, Trauerfälltn, Leichbegängnis und dgl.
§ 118 EPIK. 175
D
pfindung. Alles das von beinahe allen des Zeitalters selbst erkannt und
häufig genug und scharf genug getadelt, ^^ aber umsonst gegenüber dem herr-
schenden Drang und ohne Wirkung, da auch die meisten der Tadelnden
selbst ihm nachgaben. Die fahrenden Dichter des Mittelalters hatten gleich-
falls auf blosse Gelegenheiten viel gesungen und gesagt und oft auch sie
bloss um der Gunst und der Belohnung willen (§ 67, 18 fgg. 69, 27 fgg,
71, 49 fgg.): aber jedesmal war es eine Gelegenheit von höherer, wahrhaft
geschichtlicher Bedeutung, die sie zu ergreifen, oder doch eine lebensvollere,
wahrhaftere Bezüglichkeit , in der sie das Ergi-iffene auszuführen wussten.
Die gelehrten Dichter des siebzehnten Jahrhunderts, indem nun auch sie
dergleichen schrieben, verfehlten die alte Spur, sie eben als Gelehrte, eben
als Dichter des siebzehnten Jahrhunderts: innerer Trieb und die äusseren
Zustände entrückten sie dem Leben, und ihrem Dichten gebrach, was allein
die Gelegenheit dichterisch fruchtbar machen konnte, der epische Gehalt.
§ 118.
Die Epik selbst, dieser sinnliche Gegensatz der alles vergeistigenden
j Lyrik, lag jetzo, wsehrend von dem Volke wohl noch Geschichtslieder neu
gesungen (§ 113, 4) und für das Volk denen sehnliche Zeitgedichte, Zei-
tung&ii^ wie man stets noch sagte (vgl. § 108, 6), bald in unsangbarer, bald
und noch öfter jetzt in sangbarer Form geschrieben ^ und ihm von den Zei-
tungs- oder Avisensängern vorgetragen wurden, ^ die Epik selbst lag bei den
Gelehrten ganz darnieder: fast alle Dichtkraft ward von der Lyrik angezogen,
Dichtesachen nuiche und drükken lihsse. 25) Von Opitz bis herab auf Cauitz: vgl. die
Stellensammlung Zur Gesch. d. sehles. Gelegenheitsdichterei in Hoflmanns Monatsschr. von
und für Schlesien 477 fgg., Laurembergs viertes Scherzgedicht, Schuppius LB. 3, 1, 782
und Canitz ebenda 2, 626 fgg.
§ 118. 1) Vgl. meine Einleitung zu Wellers Liedern des dreissigj ährigen Krieges. Basel
1855. Das vorzüglichste unter den unsangbaren Zeitgedichten dieser Sammlung noch aus
dem Beginn des grossen Krieges, der Prager Hof koch S. 62. Spätere Sammlungen: Der
dreissigjährige Krieg. Eine Sammlung von historischen Gedichten und Prosadarstellungen,
hg. V. J. Opel und A. Cohn. Halle 1862. Die historisch -politischen Lieder des Süjährigen
Krieges, gesammelt von F. K. v. Ditfurth, hg. von Bartsch, Heidelberg 1882. In der weit
geringeren Zahl und Bedeutung der Lieder nach der Schlacht bei Lützen zeigt sich zugleich
die Abnahme der gesammten Volkskraft nach dieser Zeit, sowie in den hühnischen Gebet-
parodien (Mährisches Vaterunser Weller 61, s. auch 121. 205. 227. 261) die zunehmende Ver-
rohung. Nicht unbeliebt ist unter den nicht gesungenen Stücken die dramatische Form, welche
auch in Prosa erscheint (Opel-Cohn Picket-Spiel Nr. 76) und in dieser bis Ende des Jahrhunderts
wiederkehrt: Kartenspiel 1689. 2) Noch 1695 in Christian Weises Verfolgtem Lateiner
170 NEUnOCIIDEUTÖCJIE ZEIT. XVll JAHRII. § 118
und was daneben von epischer Begabung noch übrig blieb, das wählte, eben
wie jetzt die Völker des Abendlandes thatcn, lieber die Form des Romans,
wo sich alles erfinden liess und die Darstellung sich bequem auch innerhalb
der alltäglichsten Personen und Ereignisse bewegen konnte. Selbst die
Fabel, so reichlich und schön sie noch im sechzehnten Jahrhundert gepflegt
worden (§ 99, 30 fgg.)» so lehrhaft sonst man auch jetzt gestimmt war, wich
bei der Ohnmacht für die Epik jetzt zurück, um nur selten und nur scheu
und halb in parabelartiger Poesie und Prosa wiederum vorzutreten. Nicht
dass es unter den Dichtern, die ja alle den Yirgil, deren mancher wohl auch
die Heldengedichte Italiens gelesen , an Versuchen gemangelt hätte , Ei'O-
i'OEiEN auch auf deutscli zu fertigen : aber wie sich die Zeit über deren
Wesen in merkenswerther Unklarheit der Theorie befiind,^ so ging sie auch
bei aller Ausübung bald so, bald anders fehl. Bald liess die Gelehrsamkeit
in der antiken, die Belesenheit in der modern ausländischen Litteratur nach
fremden und fremdgearteten Stoffen* und zuerst nur mit linkischer Über-
setzung danach greifen;^ bald erneuerte man wohl altheimatliche Dichtungen,
(Comoedien Probe 322) konimen die Zeitungssänger und bei ebendemselben (LB. 3, 1, 833 fgg.)
ein Avisen-Sünger und Zeitungsschreiber vor; ja zu Hamburg noch 1746 — 48 eine Zeitung
in Versen, Poetisclie Zeitungen und Poetische Neuigkeiten betitelt: Lappenberg in der
Zeitschr. d. Vereins f. Hamburg. (Teschichte 2, 491. 3) Opitz LB. 3, 1. G20 kann als
Heroische getichte beispielsweise Virgils Georgica und seine eigenen Trostgetichte in Wieder-
Wertigkeit des Krieges nennen : Burkard Mencke aber in seiner Unterredung von der deut-
schen Poesie (hinter dem 4. Theile der Gedichte Philanders v. d. Linde) lässt sich S. 145
bedünken. ma)i könnte tcoJil einen Unterschied zwiscfien einem Epico und Heroico carmine
machen, so dass nmn diejenigen Gedichte unter die heroischen brächte, welche zu Ehren
eines Helden, Fürsten oder hohen Ministri verfertiget worden. Er meint wohl Gedichte
wie die beschreibenden der Hofpoeten § 136, 12. 4) Lucretia von TlTZ § 127 gedruckt zu
Danzig: die unvergnügte Proserpina von dem Freiherrn Wolf Helmhard v. Hohenberg,
Regensb. 1661 ; Cleopatra, Sophonisbe u. a. in dem Poetisch-historischen Lustgarten, Erfurt
1666, von Neumark § 124. 5) Du Bartas La Vocation Oder . . der Beruff und die
Altvtcter, Cöthen 1619; wiederholt in Die ander Woche 1622 (1627). Die erste Woche
1631 (neue Aufl. 1661). Alles von Tob. Hübner: s. § 124, 6. Eine Gesammtausgabe der
beiden Wochen erschien 1640 von den Freunden des Dichters verbessert. Auch die Vranie
u. a. von Bartas hat Hübner übersetzt : Die Himmlische Musa . . Cöthen 1623 : Krause,
Ludwig V. Anhalt 3. 63 fgg. Tasso : Glücklicher Heerzug in das Heylig iMndt, Oder Das
erlösete Jerusalem, Frankf. 1626; die 2. Ausg. ebd. 1651 (Gottfried, Oder Erlösetes J.)
nennt als Übersetzer DiEDERicn VON DEM Werder § 124. Von demselben Die Historia
vom rasenden Roland (Ariosto). Leipz. 1636. Später, 1668. von Michael Schirmek Virgils
Aeneide, 1700 von Postel § 137, 29 unter dem Titel Die listige Juno das 14. Buch der
Ilias. 1727 von B. Neukirch Fenelons Teleniach in deutsche Verse übertragen: § 136, 4.
§ 118 EPIK. 177
aber nur solche, die bereits cinklangen in den beliebten Ton der Lehre und
Satire;^ bald nahm man Helden und Thaten der nächstliegenden, der noch
kaum vergangenen Geschichte des Vaterlandes , ^ bald wieder aus dessen
grauer Vorzeit,^ bald auch aus den Überlieferungen des alten Bundes ;'•' aber
die gute Wahl verdarb bei den Einen an dem Drang, auch das Vaterlän-
dische und Zeitgeschichtliche in die mythologische Allegorie zu spielen , bei
den anderen an der romanhaften Willkür, die sich für Erfindung gab, bei
allen an der wieder unaustreibbaren Lehrsucht. Und so blieben all die Ver-
suche doch erfolglos und gingen selbst an einer Zeit fast unbemerkt vor-
über, die sonst mit überschwänglichem Lobe nicht zurückhielt. ''^ Wie aber
hätten sie auch gelingen können ? da es an der Hauptsache gebrach, an dem
Grund und Boden eines starken und freudigen Volksthumes, der die Epik
tragen, an der vollen und unmittelbaren Wechselwirkung zwischen Leben
und Kunst, der sie hätte nähren und gross ziehen können: Hindernisse, vor
denen auch in der Folgezeit nie mehr eine deutsche Epik vermocht hat auf-
zukommen, ausser etwa der idylhschen, deren Gesichtskreis von selbstgefälli-
ger Häuslichkeit begrenzt, in der die Erzählung herabgestimmt ist zu Schil-
derungen nur aus so engem Leben. Dass aber das echte, das höhere Epos
dem Berufe der neuhochdeutschen Dichtkunst entzogen sei, dass es derselben
schon im siebenzehnten Jahrhundert entzogen gewesen, das haben dessen
grcessere Dichter sämmtlich wohl erkannt und durch Enthaltung, Opitz auch
mit ausgesprochenem Grundsatz,'^ Hofmanswaldau sogar mit Vernichtung
eines früheren Versuchs bethsetigt.^^
6) Ein ungenannter Zesenianer Beineke Fuchs, Kost. 1650: vgl. Grimms Reinhart
Fuchs CLXXIX und Reinke de vos hg. v. F. Prien, S. XIX. XLVIII; Matthaeus
ScHULTES den Theuerdank, Ulm 1679 : Theuerdank v. Haltaus 59 fgg. 7) Ber Held
von Mitternacht (Gustav Adolph) von JoH. Sebastian Wieland , Heilbronn 1633 ; Teut-
scher Tugentspigel oder Gesang von dem Stammen und Tliaten dess Alten (germanischen)
und Newen Teutschen Hercules (Bernhard v. Weimar) von Jon. Fkeinsheim, dem Er-
gänzer des Livius und des Curtius, Strassb. 1639, vgl. § 122: Der dreissigjährige Krieg
von Georg Greflinger (§ 126) 1657. 8) Ber Hahspurgische Ottohert (ersonnener
Ahnherr des Hauses Hahsburg) von Wolf Helmhard von Hohenberg, Erfurt 1664; der
grosse Wittekind von Postel, gedichtet bis 1701, gedruckt erst 1724 zu Hamburg.
9) Neumarks Sieghafter David (D. u. Goliath), Jena 1655; König David von Juda von H.
Anton Ulrich v. Braunschweig, 1712 eingeschaltet in die 2. Ausgabe von dessen
Octavia § 134. 10) Zwar von Fleming LB. 2, 456 ein Ruhmsonett an Dietrich v. d. Werder :
aber Opitz in seiner an denselben gerichteten Zuschrift der Poet. Wälder 1637 rühmt ihn
um alles mögliche sonst, nur von dem deutschen Tasso und Ariosto schweigt er. 11) LB.
3, 1, 624. 12) So wird zu verbinden sein, was Hofmanswaldau in der Vorrede zu
178 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVH JAHRH. § 119
§ 119-
Und 80 kommen wir immer -wieder auf die Lyrik als die bevorzugte
Dichtart zurück: bcvorzujL,^t was die Häufigkeit der Ausübung und ebenso
was den Werth der Erzeugnisse betrifft. Noch ist aber eine Dichtart übrig,
und gerade diejenige, die wir früherhin als das eigentlich bezeichnende Werk
und Eigenthum, deren Ausbildung wir als die besondere Aufgabe der neu-
hochdeutschen Litteratur haben kennen lernen: das Drnnia. Und auch schon
dem siebenzehnten Jahrhundert fehlte diese Dichtart' nicht: wie das in allen
Beziehungen die Grundlage und den Grundriss der gesammten neuhoch-
deutschen Litteratur gegeben hat, so auch in dieser. Aber hier zumal bloss
eine Grundlage. Das Theater war bei Hoch und Nieder beliebt, für das
Theater thatig waren viele Dichter, bekannte und unbekannte, aber nur
wenige Talente von Bedeutung, und auch diese wenigen haben bei weitem
nicht so viel für das Theater geleistet, als andere und theilweise auch sie
selbst für die Lyrik. Die Erklaerungsgründe liegen nahe. Das Drama ist
eine untrennbare Verschmelzung von Epik und Lyrik, und hier zumal, wo
Vergangenes vergegenwärtigt werden soll, wird die sinnlichste, lebendigste
Wirklichkeit der Gestaltung gefordert. Gerade an der Epik und gerade an
dem Leben der Wirklichkeit fehlte es den Dichtern dieser Tage, und darum
auch den meisten Dramen dieser Tage an Kunst der Composition und der
Characteristik: namentlich in der Tragoedic; in der Comcßdie, die es mehr
mit groesseren Menschengattungen als mit einem Individuum zu thun hat,
war deshalb auch die Characteristik weniger schwer. Dann schadete auch
dem Drama, dass die Beseitigung des Volksschauspiels des sechzehnten Jahr-
hunderts allen Fortschritt und Zusammenhang einer geschichtlichen und or-
ganischen Entwickelung aufgehoben hatte; so konnte die Weiterbildung, die
man jetzt erstrebte, nicht auf heimatlich vorhandener Grundlage vor sich
gehen: man hatte dabei nichts als die eben erst eingebürgerte englische Co-
moedie (§ 106), sonst aber musste man wie von vorn beginnen und war, wie
seinen deutschen Übersetzungen und Gedichten von der Vernichtung eines jedoch nicht
weiter bezeichneten früheren Werkes und was Neunieister (Specimen dissertationis de Poetis
Germanicis 56) von einem epos de hello Germanico berichtet, welches H. auch einmal ver-
fasst, aber den Flammen übergeben habe.
§ 119. 1) Vgl. das schon § 10.") angeführte Buch von Gottsched; ferner "NV. A. Passow,
Das deutsche Drama im 17. Jahrhundert, Meiningen 1H47, und die betreffenden Abschnitte
in Ed. Devrient. Gesch. d. deutschen Schauspielkunst, V, Leipzig 1848 — 74. Rnd. Genee,
Lehr- und AVanderjahre des deutschen Schauspiels, Berlin 1882, Kob. Prölss. Geschichte d.
§ 119 DRAMA. 179
man einmal nichts aus sich selbst beginnen konnte, gcnoothigt, in alle Vor-
zeit und Fremde nach Anlchnungspunktcn umher zu greifen; in die alte
"Welt, wo man dem Geschmack dieser blutigen Zeit gemäss mit besonderer
Vorliebe Seneca den Tragiker wtehlte , in die moderne , nach den Nieder-
landen, nach Italien, nach Frankreich, wo jetzt gerade mit Corneille die sog.
goldene Zeit begann.
Es bewegte sich aber das Drama dieser Zeit noch in zwei ganz ver-
schiedenen Richtungen, deren eine, alterthümlich und noch mehr volksgemsess,
weniger vom Ausland abhängig war und eben deshalb späterhin auch noch
verweht werden sollte, um der andern das Gebiet allein zu überlassen: man
kann jene mit nicht unpasslicher Benennung das Schauspieleedrama, diese
das Dichterdrama nennen. Die Dramen naemlich der ersteren Art - gingen
entweder aus einzelnen Schauspielgesellschaften als deren mehr oder minder
gemeinsame Schöpfung hervor, oder waren, wenn auch ein einzelner, ausser-
halb stehender Schriftsteller sie verfasst, immer doch dem nachhelfenden
Weiterdichten der Schauspieler, der Improvisation u. dgl. anheimgegeben;
ihre Form war Prosa oder verwilderte Verse , oder beide wechselnd , viel-
leicht mit eingelegten Gesangsstücken; ihre Sprache gelegentlich den Volks-
mundarten genaehert. Schon in dieser Art und Form zeigen sie sich als eine
Fortsetzung des Schauspiels der englischen Comoedianten ; sie folgen diesem
auch in der Einmischung komischer Scenen und stehender komischer Figuren
selbst in die Tragoedie. Daneben bestand auch eine förmHche Trennung der
Tragik und der Komik, indem man groesseren ernstlichen Dramen noch ein
kleineres Possenspiel folgen liess, eine Nachcomoßdie, in derselben Art wie
die Griechen der Tragcedie noch ein Satyrdrama beigaben: jenes ernste
Schauspiel hiess dann Adlon oder Hauptaction , Haupt- und Sfaatsaction.^
Für die Hauptaction entnahm man den Stoff aus der Bibel, der Geschichte
älterer und neuerer Zeit , auch aus Romanen , zuweilen war es eine Nach-
bildung nach Dramen des Auslands; für das Possenspiel genügte die freie
eigene Erfindung, oft waren es nur blosse Entwürfe, die aus dem Stegreif
durchgeführt wurden. In beiden Arten des Schauspielerdramas entsprach
Anlage und Ausführung dem grossartigen Stil der alten Holzschnitte : es war
mehr abgesehen auf die Ereignisse als die Charaktere, weshalb auch starke
Übertreibung erlaubt schien ; es war alles berechnet auf Rührung und Lachen
des grossen Haufens. Die Steifheit , die Übertreibung der Darstellenden
dram. Litteratur und Kunst in Deutschland I, Lpz. 1883. 2) Vgl. hierüber § 137. 3) Doch
180 NEUllOCIJDEUTHCllE ZEIT. XVll JAlllUI. § 120
niiichtcn es mo-glicli, dass maucbc Stücke auch auf das ruppcnthcatcr über-
gingen, 80 zumal Doctor Faust.'
Dem gegenüber trat das Diciiterdrama mit allen Ansprüchen hoclierer
Kunstmiessigkeit auf: seltener in der Form des Lustspiels, welches zu germg
und niedrig schien, lieber in der des Grossen und 0 rossartigen, des erhaben
Schrecklichen, des Trauerspiels. Und dies in streng gebundenen Versen.
Es dehnte sein Stoffgebiet so weit aus wie das ernstere Schauspielerdrama,
suchte aber dies zu übertreffen durch Verwickelung der Intrigue, durch Cha-
ractcristik : nur waren die Empfindungen, denen sie Ausdruck gab, zu über-
trieben, zu allgemein in der Weise der damaligen Lyrik. Diese machte sich
noch eigens geltend durch Chorgesänge, Reigen, durch Gesänge, die man
Persouiticationen in den Mund legte. Darin folgte man Seneca, aber auch
dem Vorgang des Auslands.^ Der allgemeine lyrische Rang und sonst der
Geschmack der Zeit führte auch die Ope)\, das Singspiel und dessen geist-
liche Nebenart, das Oratorium aus Italien ein. Hier konnte man Stück für
Stück Alles in Lyrik aufgehen lassen. Die Oper bewegte sich in der Mytho-
logie und im Schajferleben, wie man sich dies in der alten Welt dachte, oder
in ersomiener Allegorie, auf beiderlei Weise geeignet zur Gelegenheitsdichtung.
Der Prunk des Costüms und der Decoration, die Wunder der Maschinerie
machten sie zur Lieblingsbelustigung der Hoefe, aber auch einzelner reicher
Handelsstädte. In den hoeheren , den hcefischen und gelehrten Kreisen war
überhaupt die Zuschauerschaft des Dichterdramas zu suchen ; das Schauspieler-
drama wendete sich an das niedere Volk, wozu Wochen- und Jahrmärkte
die Gelegenheit darboten. Gelegentlich, wenn die Verbindungen des Dich-
ters es mit sich brachten, gaben auch Schulfeste Anlass zu Auffühi'ungen, die
insofern sich an die Schauspielerdramen anschlössen, als die Gymnasiasten bei
ihren Spielen nach Umständen improvisiren durften. Aber mehr und mehr
musste das Schauspielerdrama zurückweichen , und Lessing konnte von ihm
reden, wie von Verlorenem und Vergangenem.
§ 120-
All die bisher aufgeführten Characterzüge der Litteratur des siebzehn-
ten Jahrhunderts, sollen sie in einer einzigen, alles umfassenden und begrün-
denden Eigenheit zusammengefasst werden, so kann dies nur die Oelehrsam-
keit sein, trotz der weltmännischen Bildung mancher Dichter, trotz der Volks-
ist dieser letztere Ausdruck erst im 18. Jahrh. nachgewiesen. 4) W. Creizenach, Versuch
einer Gesch. des Volksschauspiels von Doctor Faust , Halle 1878. 5) Hier war ins-
§ 120 POETIK. METRIK. RHETORIK. 181
msessigkcit, die eben noch im Schauspielerdrama sich kund gab. Nur weil
in dem littcrarischen Kampf des sechzehnten Jahrhunderts die Gelehrsamkeit
das Feld behauptet hatte, trat jetzt im siebzehnten solch eine Abloesung der
Poesie von der "Wirklichkeit, solche Liebe zur Lehrhaftigkeit, solche Hin-
neigung zu fremden Mustern und sonst der mannigfaltigsten Fremdartigkeit,
und neben einander Sprachmengerei und eine oft bis zum Eigensinn getrie-
bene Reinheit der Sprache. Eben daher endhch auch, um noch den letzten
Characterzug beizufügen , das theoretische Bewusstsein , mit welchem man
jetzo dichtete. Im sechzehnten Jahrhundert, als die neue Sprache hingestellt
ward, trat die Gelehrsamkeit gleich mit Grammatiken hinzu; jetzt im sieb-
zehnten, da eine neue Litteratur hervortrat, war man auch sogleich mit der
Belehrung zur Hand, die dazu taugte, mit Poetik und Metrik und Rhe-
torik. Und wie all die wesentlichen Eigenheiten , mit denen jetzt die neu-
hochdeutsche Litteratur sich entwickelte, derselben seitdem verblieben sind,
so auch dieser Bund der Übung mit der Theorie. Eine unverkümmerte
Unmittelbarkeit des Schaffens ist seitdem keinem Schriftsteller mehr vergönnt
gewesen; selbst das Genie hält es für seine Pflicht, sich von allem Thun und
Lassen der Kunst, die es ausübt, theoretisch Rechenschaft zu geben, und
mehr als einer hat es bloss durch Einsicht in die Theorie und geschickte
Handhabung derselben bis zum Anschein des Talents gebracht.
Im siebzehnten Jahrhundert bereits ist die Zahl der Schriften über die
Dichtkunst eine sehr grosse und es lässt sich auch in ihnen der Entwicklungs-
gang der Litteratur verfolgen,^ um so mehr als die meisten Verfasser dieser
Schriften zugleich aus ihren eigenen Gedichten Beispiele für ihre Lehren ent-
nommen haben.
Schon Opitz hat damit den Anfang gemacht und eben hierdurch sein
Ansehn wesentlich begründet. Seine lateinische Abhandlung ÄristarcJms^
1617 (oder 1618) wendet sich im allgemeinen gegen die Verächter der deut-
schen Sprache und Dichtung, gibt aber doch schon einzelne Vorschriften für
den deutschen Dichter. Eingehender entwickelte Opitz seine Grundsätze in
besondere, das niederländisclie Drama massgebend. Schon Opitz in der Vorrede An den Leser
in der Strassburger Ausgabe von 1624 führt die Dramen von Hooft, Bredero, Coster an.
§ 120. 1) Em. G rucker , Hist. des doctrines litteraires et esthctiques en Allemagne
(Opitz, Leibnits, Gottsched, Les Siiisses), Paris 1883. üründlicber und umfassender : Karl
Borinski, Die Poetik der Renaissanfe und die Anfänge der litterarischen Kritik in Deutsch-
land, Berlin 1886. 2) Aristarchus siie de contemptu linguae Teutonicae o. J. Neu-
druck mit Erläuterungen von AVitkowski, M. 0. Aristarchus . . und Buch v. d. D. Poeterey,
182 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XYH JAIIKH. § 120
(1cm Buche Vo7i der deutschen Poefcrcy 1G24,^ welches dann 1634 u. 5. mit
dem Nebentitcl Prosodia Germanica wiederholt worden ist, von 1645 ab mit
gelehrten Anmerkungen von Enocii Hanmann ^ vermehrt. In fünf Tagen
geschrieben gibt die deutsche Poetcrcy in den ersten fünf Abschnitten nur kurze
und z. Th. obcrfläcldiche Bemerkungen über Wesen und Wcrth der Dicht.-
kunst und über ihre recht willkürlich ausgewsDhlten und aneinander gereihten
Gattungen. Hier benutzt Opitz fast durchweg und z. Th. wörtlich die fran-
zocsischen Dichter der sogen. Pleiade, insbesonders Ronsard '" und du Bellay,*'
welche ihrerseits wieder auf Scaliger ^ zurückgehn: auch diesen nennt Opitz
und von anderen sonst noch Vida'* und Heinsius.^ Wichtiger und z. Th.
von wahrhaft grundlegender Bedeutung sind die in den letzten drei Ab-
schnitten niedergelegten stilistischen und metrischen Vorschriften von Opitz.
Für diese nennt er öfters im Aristarchus, aber auch in der Poeterey als seinen
Vorgänger Ernst Schwabe von der Heydk , dessen Büchlein jedoch nicht
erhalten ist. '°
Was Opitz kurz und flüchtig angedeutet, dessen gründliche Ausführung
Lpz. 1888. Über die Zeit des Erscheinens s. S. 21. Citirt wird im A. eine im Sept. 1617
erschienene Abhandlung: Opitz verlies» Beuthen, den Druckort, im Frühjahr 1618. 3) Bres-
lauer Druck. Hauptstelleu LB. 3, 619 fgg. Neudruck des Ganzen Halle 1876; mit Erläu-
terungen von Witkowski , s. Anm. 1. 4) E. H. war geb. 1622 zu Leipzig und starb
als Superintendent zu Rochlitz 1680. Beziehungen zu dem Strassburger Kreis zeigt Wit-
kowski S. 69. S. 92 der Ausgabe von 1690 werden citiert Nib. 2106. 3. 4. 2107, 2. 3.
73, 1. 2: ein gothischer Poet soll vor des grossen Carols Zeiten in diesem Gedicht von dem
Gothen König Theodor oder Theodoricus Veronensis gesungen haben. Offenbar schöpfte
Hanman aus Lazius, de gentium alic^uot migrationibus. 5) Die Benutzung des Ronsard
bemerkt schon der erste Biograph Opitzens, Colerus. Neuerdings haben sich mit dieser
Abhängigkeit unseres Dichters besonders eingehend beschäftigt: Strehlke, M.Opitz, Leipzig
1856. Zöllner, Deutsches Museum 1865. S. 255 fgg. V. Beränek. M. Opitz in seinem Ver-
hältniss zu Scaliger und Ronsard. Jahresbericht der Staatsoberrealschule im III. Bezirke,
Wien 1883. 0. Fritsch, M. Opitzens Buch von der deutschen Poeterei, Leipziger Diss.,
Halle 1884. Sievers P. u. B. Beitr. 10, 205. Chn. W. Berghoeffer, M. 0. Buch von der d. P.,
Frankfurt a. M. 1888. 6) Grucker a. a. 0. S. 152. Fritsch P. u. B. Beitr. 10, 591. Dagegen
scheinen die Übereinstimmungen mit einer Einleitung von Du Bartas zur Ausgabe seiner
Werke von Simon Goulard de Senlis, welche Sievers (Anm. 5) hervorhebt, die Benutzung
dieser Quelle noch nicht zu beweisen. Vgl. Witkowski S. 43, welcher auch die Benutzung
Bellays leugnet. 7) Julius Caesar Scaliger lebte von 1484 bis 1558. Seine Poetices
libri Septem wurden zu Genf 1561 u. ü. gedruckt. 8) Vida. Bischof von Albano. Poeti-
corum libri III Cremona 1520. 9) D. Heinsius (1580 — 1655) De Tragoediae constitu-
tione, Leyden 1611. Auch die Vorrede des Scriverius zu Heinsius Gedichten 1615 benutzt
Opitz, s. Muth u. Witkowski. 10) Nach einer Randnotiz in der 1. Ausg. des Aristarch
§ 120 POETIK. 183
dui-fte man von den Professoren der lateinischen Poesie an den Universitgeten
und hoßheren Schulen erwarten. Und so setzte man grosse Hoffnungen ins-
besondere auf eine Anleitung von August Buchner in Wittenberg (mit dem
Gesellschaftsnamen der Genossene in der Fruchtbringenden Gesellschaft), die
jedoch erst aus dessen Nachlass veröffentlicht ward. ' ^ Metrik und poetischen
Stil behandelte klar und verständig Johann Petek Titz '^ Zwey Bücher von
der Kunst hochdeutsche Verse un^ Lieder zu mac/je?^ (Danzig 1642); waehrend
Andreas Tscherning '^ TJnvorgreifßiches Bedcnclcen über etliche misshräuche in
der deutschen Schreib- und Sprachhunst insonderheit der edlen Foeterey (Lü-
beck 1659) sich mehr über einzelne streitige Wörter und Wortformen aus-
spricht.
Dass sich auch solche, die der Lehrberuf nicht eben zur Ausbildung
der poetischen Theorie veranlasste , dieser Aufgabe zuwandten , dazu gaben
insbesondere die Sprach gesellschaften Gelegenheit. In der Fruchtbringenden
Gesellschaft hatte Ludwig von Anhalt schon 1639 eine Anleitung zu der
Deutschen ReimeJcunst in Strophen mit angehängten Mustern der Dichtungs-
(Hoffmanns Spenden 2, 66) und W. Scherffer Gedichte S. 279 war Schwabes Buch 1616
erschienen; als Druckort nennt Rist in seiner 3Iusa Teutonica Frankfurt (a. 0.). Vgl.
§ 104, 15. Aber eine wirkliche Bekanntschaft mit demselben ist bei keinem andern Zeit-
genossen als bei Opitz nachzuweisen; schon Zincgref hatte nur davon gehört. Rumpier
Vorr. zu dem Ersten Gebüsch S. 11 behauptet, dass das Buch nie gedruckt worden sei: er
gibt Danzig als Aufenthaltsort Schwabes an. Zesen in Bellins Sendeschreiben (1647) will
in einem sonderbahren Büchlein die uhralten Heldenyesänge, des Ernst Schicahens von der
Heiden überaus schöne und fast ganz vollkommene, wieivohl sehr alte (jetichte, und anderer
davon auch H. Buchner schreibet, ans Tageliecht bringen: diese Ausgabe Zesens ist jedoch
nicht erschienen. Vgl. auch Schütze Schnorrs Arch. 14, 244 fgg. 11) Buchner, geb.
zu Dresden 1591 , starb als Prof. in "Wittenberg 1661 : W. Buchner, A. B.. sein Leben und
Wirken. Hannover 1863. Seine Poetik erschien als Kurzer Wegweiser zur Deutschen Ticht-
kunst in unrechtmässiger Ausgabe durch G. Gözen , Jena 1663; in rechtmässiger durch
Praetorius: Anleitung zur deutschen Poeterey, Wittenberg 1665, Der Poet ebd. 1665. Bei
Göz ist niemals von einer früheren Ausgabe die Rede. Die zahlreichen Verweisungen auf
Buchners Poetik, welche man schon lange vor 1663 findet, können sich auf Abschriften
seines Entwurfs oder auf Nachschriften nach seinen Vorträgen beziehen. Dies wird auch
durch die Verschiedenheit der Titel, unter denen sie citiert wird, wahrscheinlich: vgl.
hierüber auch W. Buchner S. 66. Trotzdem setzen manche eine Ausgabe der Poetik
Buchners auf 1642 an (dass sie vorher noch nicht ausgegangen w»r. sagt Titz ausdrücklich);
allein selbst Borinski. der diese Meinung ebenfalls S. 133 ausspricht, bemerkt, dass Gözes
Ausgabe Hefte voraussetzt, welche zwischen 1632 und 1634 und zwar nach Dictat geschrieben
waren. 12) Titz bevorwortete auch Gottfried von Peschwitz Jüngst- Erbauter Hoch-
teutscher Parnass , Das ist Anmuthige Formeln u. s. w. Jena 1663. 13) Auch
184 NEUJlüClIDEUTSCJIE ZEIT. XVII JAIIKII. § 120
formen vcrfasst.'* Dann trat neben Büchner, der in der Gesellschaft als
vorzüglichster Kenner der deutschen Metrik galt, der Grammatiker Justus
Georg Schottelius '^ {der Suchende in der Fruchtbringenden Gesellschaft
genannt), dessen Teutsche Vers- oder Jlcimlctinst, zu "Wolfenbüttel 1045 er-
schienen , insbesondere die grammatische Grundlage der Poetik behandelte.
Als ein Vertreter der Fruchtbringenden Gesellschaft mag auch auf dem Ge-
biete der Poetik Georg Neumark "* gelten , welcher Poetische Tafeln (Jena
1667) verfassfe und in der tabellarischen Form bereits die äusserliche Auf-
fassung dieser spateren Zeit erkennen lässt.
Eigenartiger, aber auch grcosseren Irrungen verf\illen, waren die theo-
retischen Vei-suche der anderen Gesellschaften. Am kecksten ging Philipp
Zesen (§ 124) vor, der Stifter der tcutschgesimiteu Genossenschaft, der seine
Schreibfertigkeit, seine ebenso begeisterte als geistig beschränkte Hingabe
an litterarische Bestrebungen auch der Poetik , insbesondere ihrem formellen
Theile zuwandte. Sein Deutscher Helikon , der auch ein Reimwörterbuch
enthielt, erschien Wittenberg 1640 und in einer Reihe weiterer Auflagen,"
denen sich noch mehrere Erläuterungsschriften '^ anschlössen. Zesens Über-
treibung der Sprachreinheit, die sich auch in einer vielfach unverständlichen
Verdeutschung der Kunstausdrücke '^ äusserte, seine orthographischen Neue-
rungen,^" seine masslose Anpreisung ganz nebensächlicher Verdienste um die
Form zogen ihm frühzeitig den Tadel der Verständigen und immer aufs Neue
den Spott der Lachlustigen zu.^^ Andererseits fehlte es ihm allerdings auch
Tscherning gab eine Deutsche Schatzkammer von schönen und poetischen redensarten u. s. w.
bei. 14) Krause, Erzschrein 219. Gedruckt zu Cüthen 1640. 15) Geb. zu Eimbeck
1612, seit 1638 zu "Wolfenbüttel in ansehnlichen Ämtern, gest. 1676. Schottet gebraucht
mehrfach die Ausdrücke der Meistersänger: Borinski 165. 16) Geb. 1621 zu Langen-
salza , nach längerem bedrängtem Wandern in Norddeutschland , wo er sich in Hamburg,
in Königsberg (als Studierender) und in Danzig aulhielt, seit 1652 in Weimar als Sekretär,
gest. 1681. Nach der AUg. D. Biogr. wären seine Poetischen Tafeln schon Thorn 1649
erschienen. 17) 2. Aufl. AVittenberg 1641, 3. 1649. 4. Jena 1656. 18) Scala
Heliconis Teutonici, Amsterdam 1643. Deutsch-InteiniscJie Leiter zum hochdeutschen Helicon,
Jena 1656. Hochdeutsche Heliconische IlecJiel oder des Hosenmohnds zweite Woche, Ham-
burg 1668. Dazu kommen einzelne Erörterungen in Zesens „Sendeschreiben", welche z. Th.
in der Samm.lung von Bellin, Hamb. 1647 sich finden, theils für sich (o. 0. 1664) erschienen
sind; sowie mehrere Abschnitte der mehr grammatischen Arbeiten Zesens: Anm. 43.
19) Im Helicon* 1. 171 wird z. B. der jambische Trimeter bezeichnet als der dreihändige
fohtändige Steigende. Auf die Mahnung Dietrichs v. d. Werder hat Zesen denn auch dem
Helicon einen erklärenden Anzeiger seiner Verdeutschungen vorausgeschickt. 20) S. Anm. 54.
21) Ein Brief Ludwigs von Anhalt bei Krause, Erzschrein 424. Andere Äusserungen s.
I
§ 120 POETIK. 185
nicht an blinden Anbetern und Nachbetern,^- und selbst von berufener Seite
ward das Richtige in seinen Ansichten spater anerkannt.-^
Klüger und massvoller zeigten sich die Theoretiker des Blumenordens
an der Pegnitz in ihren formellen Bestimmungen ; wsehrend sie zugleich die
Gattungen der Poesie über die von Opitz gezogenen Grenzen hinaus zu er-
weitern suchten. Georg Puilipp Harsdcerfer (s. § 125) schliesst sich in
den Grundlagen an Schottel an : sein Poetischer Trichter, Die Teutsche Dichf-
und Reimkunst ohne Behuf der Lateinischen Sprache, in VI Stunden eimu-
giessen erschien Nürnberg 1647,-* ein II. Theil 1648, ein III. 1653. Im
II. werden namentlich die Schauspiele eingehender als sonst behandelt und
dem Hirtenspiel,^^ einer bei der Nürnberger Dichterschule besonders beliebten
Gattung, ein eigener Abschnitt gewidmet. Der III. enthält ein alphabetisches
Verzeichniss von Poetischen Beschreibungen, verblümten Reden und Tiunstzier-
lichen Ausbildungen.-^ Erbauliche Zwecke bevorzugt Siegmund von Birken
(§ 125), der zu Nürnberg 1679 eine Teutsche Rede-Und- und Dichthinst,
oder Tcurtze Anweisung zur Teutschen Poesy erscheinen Hess.-'' Endlich ver-
fasste Magnus Daniel Omeis ^^ eine Gründliche Anleitung zur Teutschen
Anm. 32 und § 130 (Rachel). § 135, 20 (Weise). 22) Insbesondere vertrat Johann
Bellin (geb. in Pommern 1618, gest. 1660 als Rektor zu Wismar) Zesens Ansiebten.
23) So von Leibnitz Unvorgreifl. Gedanken § 65. Eccard Eist. stud. etym. p. 233. 24) Neue
Aufl. 1650. Eine mebr der Sprache und ihrer Geschichte zugewandte Schrift ist Harsdörfers
Specimen philologifxe germanicae, Nürnberg 1646. 25) Harsdörfer XII. Stund S. 99 über-
setzt es durch Satyra, unterscheidet sie aber von den Strafgedichten, so das» er mit der erstem
Art wohl Satyrspiele meint. Von ihr trennt er auch die undramatischen Hirtengedichte. Die
Hirtenspiele waren durch die Italiener besonders ausgebildet worden, welche sich nach Hars-
dörfers Bericht viel darauf zu Gute thaten ; ihre spätere Beliebtheit erklärt sich aus der Un-
natur des Hoflebens, welches hier unter der Maske der Unschuld und Einfalt bald den Fürsten
zu schmeicheln, bald ihnen sinnliche Lust zu gewähren suchte. Die Unbestimmtheit der Kunst-
form zeigt sich auch in der Mannigfaltigkeit der Namen: Tassos Amintas wird in einer Über-
setzung als „Wald-Gedichte" bezeichnet, Gottsched Vorrath 195; Guarinis Pastor fido eine
Tragicocomoedia 193. Tragi Comoedia 216: ersterer Name begegnet auch für eine deutsche
Nachahmung 195; Hirtenspiel 261, (ScÄä/ez-s/yzeZ 265 und Freiesleben Nachlese 92; Schäfferey
F. 43 ; Pastoral 263 : Pastorella Gottsch. 272, Pastorell 47, Pastourelle F. 65. Auch die
„ Wirtschaften" der Höfe. Maskeraden mit dramatischen Einlagen, schliessen sich an. 26) Dgl.
nach dem Muster der für die lat. Poesie üblichen eingerichtete Aerarien wurden w^ie die Reim-
lexica für die Praxis viel benutzt und von andern nachgeahmt. Anm. 12. 13. 27) Wie
Harsdörfer, so bezeichnete sich auch Birken auf dem Titel nur als ein Mitglied der Frucht-
bringenden Gesellschaft, Birken mit Beifügung seines Gesellschaftsnamens: der Envachsene.
Seine Regeln erläuterte er mit Geistlichen Exempeln; angehängt ist das Schauspiel Psyche
und ein Schäfergedicht Der Norische Föhns. 28) Geb. 1646 zu Nürnberg. 1674 Prof. zu
186 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVH JAHRH. § 120
accuraten Beim- und DichtJcunsf, Nürnberg 1704, worin bereits die verwand-
ten Schriften von Morhof und Weise (Anm. 37) stark benutzt sind.
Denn die llegelstrengc und Wcrthschätzung der äusserlichen Sorgfalt
und Zierlichkeit der älteren Dichter liatte inzwischen Gegner gefunden, welche
einer einfacheren, lässigeren Uehandlung das Wort redeten. Wie schon Val.
Andreae sich die Freiheit der rasch hingeworfenen Dichtung gewahrt hatte,-''
wie überhaupt die südwestdeutschen Dichter gegen die genaue Beobachtung
der Regeln von Opitz sicli gesträubt (§ 122), so trat nun der Künstelei von
Zesen u. a. gegenüber vielfach eine Wendung zum Natürlichen, selbst zum
Prosaischen hervor. Ihr liehen Lauremberg (§ IBO), dann Johann Balthasar
Schupp (§ 131) kräftige Worte. ^° Auch die Comoüdie bemächtigte sich des
dankbaren Stoffes, welchen die geistlose, aber eingebildete Gelehrtendichtung
darbot." Gegen Ueberkunst und gegen Unkunst, die er in der Person Hans
Wursts zusammenfasste , wandte sich unter dem Namen Hartmann Reinhold
der Frankfurter Gottfried Friedrich Sacer^' mit der durchweg ironischen
Schrift Reime dich oder ich fresse dich., Nordhausen 1G73. Der Ilauptgegner
aber aller Yerstiegenhcit war Christian Weise (§ 135), dessen Curiöse Ge-
dmiken von Deutschen Versen Leipzig 1692 erschienen. Weise hat über seine
Behandlung des Dramas, der von ihm hauptsächlich gepflegten Gattung, sich
spaeter noch gelegentlich ausgesprochen , ^^ wie nach ihm Barthold Feind
Altdorf, gest. 1708. Seine Poetik, welche als Anhang eine Deutsehe Mythologie, d. h. eine alpha-
betisch geordnete Darstellung der antiken (iottheiten bietet, erschien in 2. Aufl. 1712. 29) LB. 2.
343. 30) Schuppe sagt in der Vorrede zu seinen Morgen- und Abendliedern, Schriften S. 935:
„Ob das Wörtlein und, die, das, der, ihr und dergleidten, kurtz oder lang seyn,
daran ist nur und allen 3Iuscquetirern in Stade und Breuien wenig gelegen. Welclier Rom.
Käyser , ja welcher Apostel hat ein Gesetz gehen, dass man einer Sylben halben, dem
Opitio zu Gefallen, solle einen guten Gedancken. einen guten Einfall fahren lassen?"
31) Der Pedantische Irrthum Des überwitzigen doch sehr betrogetien Schulfuchses . . Rappers-
weil 1673: s. R. Köhler, Kunst über aUe Künste, Berlin 1864, S. XXVI. 32) Diesen
Verfasser-Namen gibt die Schrift Unvorgreißiches Bedenken über die Schriften der bekann-
testen Poeten hochdeutsclier Sprache von M. E. C. P. C. Königsberg 1681 an, welche man
gewöhnlich Martin (von) Kenipe zusehreibt, die aber vielleicht Michael Kohngehl angehört;
während Morhof u. a. Joh. Riemer, den Verfasser einer Lustigen Ehetor ica , Merseburg
1681, hinter dem Pseudonym gesucht hatten. Sacer war geb. zu Naumburg 1635, starb
als Kanimerconsulent zu Braunschweig 1699. Gegen Sacer hatte sich Zesen schon 1668 ge-
wandt, s. § 124, 31. Dass Rist dem Pseudonymus wie Sacer als poetisches Muster gilt, ist
nicht zu übersehen. Der Nebentitel von „Eeim^e dich oder ich fresse dich" : Antipericata-
metanaparbeugedamphirribificationes poeticae ist einem Scherze Schupps au der in Anm. 30
erwähnten Stelle abgeborgt, während doch der Verfasser sonst auf Schupp stichelt. 33) In
§ 120 POETIK. LITTE RATURGESCIIICHTE. 187
(§ 137, 28) in der Vorrede zu seinen Deutschen Gedichten (Stade 1708)
seine GedancJcen von der Opera niederlegte.
Die Regeln der Hofpoesie, wie sie sich unter dem Einfluss der franzoe-
sischen Dichter unter Ludwig XIV. gestaltet hatte, fasste Hunold (§ 135, 2G)
zusammen in der unter dem Namen Menantes verfassten, auf einem Heft von
Erdmann Neumeister beruhenden Schrift Die allerneueste Art zur reinen und
galanten Poesie zu gelangen (Hamburg 1717); wsehrend Johann George
Neukircii mehr der studierenden Jugend zu dienen suchte durch seine An-
fangs-Gründe zur 'Reinen Teutschen Poesie Jtsiger Zeit (Halle 1724).^*
Schon war aber damals die Zahl der Dichter seit Opitz so gross und
ihre Verschiedenheit so deutlich geworden, dass das Bedürfniss einer Lit-
teraturgeschichte hervortrat. Hatten schon früher ^^ einzelne Dichter selbst
mit Wohlgefallen ihre Schar gemustert, so ward nunmehr der Versuch einer
Abschätzung der Verdienste der Einzelnen gemacht. Im Zusammenhang
nicht nur mit der älteren deutschen Dichtung,^*' sondern der gesammten Lit-
teratur der Renaissance beurtheilte sie Daniel George Morhof^' in seinem
der Vorrede zur Comödieu Probe, Leipz. 1695 : De interpretatione dramatica. 34) Kaum
verdieneu Erwaehming elende Machwerke wie Erdmann Uhseüs Wolinformirter Poet 100-
rinnen die poetischen Kunstgriffe . . durch Frag und Antwort . . erkläret %oerden, Leipzig
1715 u. a. 35) Zesen in der Lustinne 1645: s. LB. 2, .505 fgg. Inf Ehreukrantz
1644 (§ 114, 4), S. 193 werden genannt: Opitz, v. d. "Werder, Ristius, Lohausen, Plavius
Caesius, Tscherning, Freinshemius, Buchnerus, Bucholtz, Böhm, Seladon, Weckerlin, Lundius
Fleming, Brem, Rumpier, Schneuher. Eine stattliche Anzahl führt W. Scherffer Geist- und
weltliche Gedichte (1652), S. 664 auf: Apeües, Augspurger, Albinus, Arnold; Barth
Buchner, Bachmann, Bundschuh, Brehme, Betulius, Buchholtz , Böhme, Beling, Blümel
Bert; Dache; Frensheim, Flämming, Finckeltaus, Fischer, Finx; Gräblinger, Gryphius
Gweintz, Greflinger, Grumnier ; Hannemann, Hübner, Harssdörfer, Hartman, Heerman, Hom-
burg, Hund, Held, Hentsche ; Köler, Klajus, Knaust, Kutler, Kaldenbach, Kirstenius; Lond,
Lucius, Löber; Moscherosch, Milag, Möller; Olearius, Ortlob; Plavius, Peuker, Petermau
Rist, Rümpler, Rinkart; Schotteliu, Scholl, Schneider, Schlutter, Schmied, Schneuher
Simmler, Schoch, Schultz; Tschernig, Titz, Tülsuer; Wekkerlin, Winkler; Vogel; Zepko
Zese, Zigler. Opitz war vorher genannt; Logau fehlt merkwürdigerweise, da er doch den-
selben Herzögen von Brieg diente wie Schertfer. ScherfFers Liste scheint übrigens die
etwas kürzere von Harsdörfer Specimen 195 zu Grunde gelegt zu haben , wo jedoch noch
Dietrich von dem Werder und Scherffer von ScherfTenberg dazu kommen und anstatt Köler
— Kellner, anstatt SchöU — Schill genannt werden. 36) Als einen Vorgänger in der
Übersicht über die verschiedenen Zeiträume der deutschen Litteraturgeschichte nennt Morhof
S. 254 Kakl Ortlob , welcher (Wittenberg 1654) eine Dissertation de variis germa-
nicae poeseos aetatibus geschrieben; s. darüber Gottsch. ßeitr. 1, 280. 37) Geb. zu
188 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVH JAHRH. § 120
Unterricht von der Teiitschcn Sprache und Poesie (Kiel 1682). Dagegen be-
schränkte sich auf ein alphabetisches Register mit kritischen Bemerkungen
die an sich reichhaltige Aufzfchlung von M. N. E. d. h. Erümann Neu-
meister ^* Spccimen disscrtationis . . de j)0'ttis Germanicis hujus smculi
pr(ücipuis 1706.
Es knüpfte aber die Poetik, so weit sie sich mit der äusseren Form
befasste, nothwcndiger Weise an die Grammatik an: war doch die Rein-
haltung und Ausbildung der Sprache noch mehr der ausgesprochene Zweck
der litterarisclien Gesellschaften als die dichterische Production. Der Stolz
auf die uralte Heldoisprachc war in mitten des Jammers und der Schmach
ein letzter Trost. ^^ Mit übertreibender Bewunderung wies man hin auf ihre
Vorzüge , ihre IJildsamkeit und Ausdrucksfahigkeit.^'^ Man wünschte die
deutsche Sprache auf den Universitäten als Unterrichtsgegensland eingeführt
zu sehn.^' Ihrem Studium widmete sich neben dem wissenschaftlichen Ernst
auch die dichterische Begeisterung.*- Yor allem war Zesen*' in diesem
Sinne thsetig, der alles Fremde aus Wort- und Schreibgebrauch zu verdrängen
suchte, aber freilich durch die Willkür und Geschmacklosigkeit der von ihm
"Wismar 1639, seit 1665 Prof. in Kiel, gest. auf einer Reise zu Lübeck 1691. Sein Unter-
richt ward in vermehrter Aufl. Lübeck u. Frankfurt 1702 (nach welcher hier citiert ist)
und nochmals' 1718 abgedruckt. 38) Geb. zu Uechtritz bei Weissenfeis 1671, seit 1704
Prediger am Hofe von Weissenfeis. 1715 zu Hamburg, starb 17.56. Eine Übersicht der
Dichter in dieser späteren Zeit gibt auch Omeis S. .56 fg. 39) Viel verhandelt wurde
über die Frage, ob die deutsche Sprache wie alle andern eine Tochter der hebräischen sei
oder ob sie, wie dies für die cimbrische, d. h. niederländische Goropius Becanus, andere
für die schwedische behauptet hatten, vielmehr als der Ursprache am nächsten stehend zu
gelten habe. In Krauses Erzschrein 241 fgg. verhandeln Gueinz, Rector zu Halle, und
Schottel. dessen deutschthümelnden Ansichten Ludwig von Anhalt beitritt, über diese Frage :
beide Parteien haben Recht, wenn sie die Etymologien der Gegner ablehnen. Später be-
zeichnet Morhof S. 6 das Deutsche als Schwestersprache des Hebräischen. 40) Nament-
lich der onomatopoetische Reichthum wird gern hervorgehoben: von Schottel, ausführliche
Arbeit S. 62 fgg.. von Harssdörfer . Gespr. Sp. 3, 288: von W. Scherffer. der z. B. den
Lärm des Vieh- und Gefiügelhofs schildert (S. 137): das wiegern, das hölken , das blöken,
das tadern, das quitsclien, das zitschen, das pipeti , das schnadern. Feiner ist das Lob
Logaus LB. 2, 482, 7, der ebd. 476, 29. 39 die Herzlichkeit der deutschen Sprache preist.
Gegen das Nachahmen der Thierstimmen u. s. w. wendet sich Morhof S. 595 fg.
41) Harsdörfer Specimen philologiae germanicae p. 95. 42) Elias Caspar Reichards
Versuch einer Historie der deutschen Sprachkunst. Hamburg 1747. R. v. Raumer Gesch.
d. germ. Philologie, S. 70 fgg. 185 fgg. H. Rückert Gesch. der nhd. Schriftsprache (Leipzig
1875). 2, 283 fgg. 43) So schon in : Hooch-Deutsclie Spraa-chiibung, Hamburg 1643.
§ 120 SPRACHLEHRE. 189
vertretenen Sache mehr schadete. Wissenschaftliche Vertiefung dagegen er-
strebte Schotte!, insbesondere ** durch seine Ausführliche Arbeit von der Teut-
schen Hauhtsprache (Braunscliweig 1663): gestützt auf eine reiche Kcnntniss
vor allem der niederdeutschen Dialecte unternahm er das Gresetzmsessigo der
Schriftsprache festzustellen und durchzuführen. Von den zahlreichen practi-
schon Grammatiken erlangte die von Johann BacDiKER,"*'' Grundsätze der
deutschen Sprachen (Cöln a. d. Spree 1690) ein dauerndes Ansehn und er-
hcehtere Brauchbarkeit in der durch Jon. Leonhard Frisch*'^ Verbesserten Auf-
lage Berhn 1723. Frisch selbst erwarb sich hervorragendes Verdienst durch
sein Teutsch-Lateinisches Wörter-Buch^ Berlin 1741, welchem seine reiche
Kenntniss der deutschen Mundarten und der Nachbarsprachen sowie die
Heranziehung der älteren Schriftdenkmseler einen Werth gegeben hat, der
in Bezug auf die Kunstwörter, d. h. die in einzelnen Gewerben und Hand-
werken üblichen Ausdrücke, noch heute besteht.'*^ Dagegen gehalten tritt
weit zurück Der teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder teutscher
Sprachschats von dem Spaten (Caspar Stieler), ^'' Nürnberg 1691.
dann in seinem Bosenmänd, Hamburg 1651 und in zahlreichen, seinen poetischen Schriften
sowie seineu Sendeschreibeu eingeflochteuen Bemerkungen. Bellin (Anm. 17) u. a. such-
ten die Ansichten ihres Meisters zu verbreiten. Rumpier war unabhängig von Zesen
auf ähnliche Gedanken gekommen. 44) Schottel sammelt darin auch die deutschen
Eigennamen und Sprichwörter. Eine Teutsche Sprachkunst hatte er schon 1641 zu Braun-
schweig, und wiederholt 1651 erscheinen lassen. Seinen Ansichten von der geschichtlichen
Entwicklung der Sprache, die nur durch Nachlässigkeit, Klügelei und Streit von ihrem
Ursprung abgewichen sei, gab er Ausdruck in einer Art Roman : Horrendiim Bellum gram-
maticale Teutonum antiquissinium, Braunschweig 1673, der Nachahmung einer lateinischen
Schrift von Joh. Spangenberg, Bellum grammaticale (zwischen Amo und Poeta) iterum ed.
Schneider, Güttingen 1887. — Gleichzeitig mit Schotteis Sprachkunst erschien von Chn.
Gueinz, dem Ordnenden: Deutsclier Sprachlehre Entwurf, Cüthen 1641, eine von Fürst
Ludwig durchgesehene Arbeit : Krause Erzschr. S. 258 fgg. Gueintz betonte den usua,
Schottel die ratio; jener behauptete den Vorrang der meissuischen Mundart, dieser bestritt
ihn. 45) Geb. in Pommern 1641 , gest. als Rector des cülnischen Gymnasiums zu
Berlin 1695. 46) Geb. zu Sulzbach in der Oberpfalz 1666, nach längeren "Wande-
rungen seit 1698 am Gymn. zum grauen Kloster in Berlin thätig, gest. 1743. 47) Frisch
entsprach hiermit einer damals noch nicht veröffentlichten Forderung von Leibnitz: Un-
vorgreifl. Ged. 33. 48) Stieler war zu Erfurt geb. 1632 und starb daselbst nach einem
wechselvoUeu Leben 1707. Seine Arbeit erfüllte einen alten Wunsch der Fruchtbringenden
Gesellschaft, welcher er als der Spate angehörte: vgl. die Verhandlungen über ein deutsches
Wörterbuch von Fürst Ludwig, Schottel, Harsdörfer u. a. in Krause Erzschr. S. 12 fg.,
387 fgg. Ihnen galt das unvollendet gebliebene Wörterbuch von Georg Henisch. Teutsche
Wackernagel, Litter. Geschichte, II. 13
190 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVH JAHRH. § 120
Die erste Anforderung an die Sprache der Dichtung war die Reinheit,
welche insbesondere durch das Eindringen der Fremdwörter gefährdet war
(§114, 3 fgg). Indem man diese, soweit sie nur für deutsche Wörter
und Wendungen eintraten, zu vermeiden suchte,*^ überschritt man freilich
oft das Ziel und unternahm es auch die längst eingebürgerten Lehnwörter,
oder wie man sie damals nannte, Bastiird Wörter''" auszumerzen und dafür
deutsche einzusetzen, welche zum Theil der älteren Sprache,^' seltener den
Mundarten entlehnt, meistens aber neugebildet wurden:^- das letzte geschah
fast stets durch Zusammensetzung, welche nothwendig eine gewisse Schwer-
fälligkeit und Weitläufigkeit mit sich brachte und dadurch der ganzen Be-
strebung nach Reinheit Missfallen und Widerspruch zuzog. Darin aber kam
man überein, dass Fremdwörter und besonders Namen ihre fremde Endung
mit der deutschen vertauschen und durch Annahme deutscher Buchstaben
sich auch äusserlich der deutschen Umgebung einfügen sollten.^'
Sodann aber ward die Richtigkeit der Rede verlangt, zunächst die der
Schreibung, Auch hier fehlte es nicht an Übereifrigen, welche theils die
Schreibung der Aussprache noch enger anzuschlicssen theils auch hier un-
deutsche Buchstaben, wofür man c (i v y x erklaerte, zu beseitigen versuch-
ten.^* Wenn auch dies keinen Erfolg hatte, so setzte sich doch mehr und
mehr die Forderung durch, dass mundartliche Formen ^^ nicht mehr geduldet
Sprach und Weissheit (der letztere Ausdruck weist auf die darin gesammelten Sprich-
wörter), 1 Augsburg IGIG , als Muster. 49) Auch darin folgte man dem Ausland. In
Frankreich hatte Henri Estienne 1579 über den nouveau langage italianize geschrieben.
Die Crusca (§ 115, 9) hatte der Fruchtbringenden Gesellschaft das Vorbild der Sprachreini-
gung gegeben. In Holland waren der Historiker Hooft, der Mathematiker Stevin in gleichem
Sinne vorgegangen: dem erstem gehört z. B. die Neubildung Stadhonchr für Lieutenant an,
die als Statthalter ins Deutsche überging. 50) Wolff. Purismus Gl. 51) Hier ist
besonders Harsdörfer zu nennen, welcher im Specitnen philologiae gemumicae den Ausdruck
Witdod, welchen er als Philosoph deutete, wieder erneuern und daneben Wortdod = Phi-
lolog aufbringen wollte. Auch Runipler versucht ähnliches. Vor allem aber zeigen Zesens
Wortdeutungen und Ableitungen den kindlichen Zustand des deutschen Sprachverständnisses.
Sein lebenslang vorbereitetes Stammbuch, d. h. Verzeichniss der Stämme, würde ein wahrhaft
abschreckendes Buch geworden sein. Wie sehr ihm durch sein Leben in der Fremde das
Sprachgefühl verloren ging, zeigt die Form deszu, welche er anstatt desto gebrauchte.
52) Vgl. die Liste bei Wolff Purismus 130 fgg., doch s. auch Schultz Sprachgesellschaften,
S. 37. Rumpier will Kirche und Schule durch Bet- und Lehrhaus verdeutschen. 53) Opitz
Poet. cap. VI. 54) Am weitesten ging hierin Zesen, von dessen Orthographie, mit welcher
er übrigens wechselte. LB. 2. 505 auch eine Probe gibt. 55) Opitz stellte in einem Brief
§ 120 VERSKUNST. 191
werden, Wortverstümmelungen oder Worterweiterungen des Verses und Reimes
wegen '"^ unerlaubt sein sollten. Doch wird Hiatus '"'' vermieden, indem ein
scliwaches e im Auslaut vor vocalischem Anlaut getilgt und an seine Stelle
ein Apostroph gesetzt wird. Von besonderer Wichtigkeit, weil dadurch ein
uraltes Grundgesetz der deutschen Sprache auch im Versbau wieder zur
Geltung gebracht wird, ist die Forderung, dass die Verse entweder jambisch
oder trochaisch sein sollen d. h. dass hoeher betonte Silben mit minder be-
tonten abwechseln und dass aus dem Accent der Sprache selbst dieser Unter-
schied bestimmt werden soll.^^ Seit Opitz ist die Regel nur von wenigen
zurückgebUebenen Dichtern vernachlässigt worden: ausgesprochen^^ und mehr
oder minder streng befolgt hatten andre sie schon vor ihm, wie sie auch
unabhängig von ihm in seiner Zeit angewandt wurde. ^° Opitz selbst beruft
sich für ihre Anwendung an der männlichen Csesur auf Tobias Hühner.*^'
Für die weitere Entwicklung der Theorie aber ward der Gebrauch des an-
an Venator die Regel auf: Veluti ego Silesiaca dialecto non utor, ita neque vestra Älsatica
uti te posse imto. Est quoddam quasi Atticum apud Graecos genus, quod LuÜ cranum
vodtare per me potes : hoc nisi sequaris, erres necesse est : Tscheruings Uuvorgr. Bedenken
S. 40. Dieser Gebrauch der üblichen Schriftsprache schloss nicht ganz aus, dass die Reim-
bindung eine mundartliche Aussprache voraussetzte: § 115, 19. Opitz verwirft sogar von
seinem Standpunkt als Schlesier aus Reime wie entgegen : pflegen ; lehret : bescheret : Poeterey
cap. 7 (LB. 3, 1, 629), die anderwärts wieder keinen Anstoss erregten. Vgl. E. Heilborn, Die
E-Reime bei Opitz: Paul u. Braune Beitr. 13, 567 fgg. 56) LB. 3, 1, 630 fgg. Opitz
rechnet hierher auch aus Melissus Eoi Boesslein, wo vielmehr unflectiertes attributives Ad-
jectivum vorliegt. Dagegen werden Syncopen und Apocopen von süddeutschen Theoretikern
in Schutz genommen, wie z. B. von JoH. Ludwig Prascu, Gründliche Anzeige von Für-
trefßichkeit und Verbesserung Teutscher Poesie, Regensbuig 1680 S. 15. 57) LB. 8,
1, 629, mit Berufung auf E. Schwabe. Vgl. Scherer Über den Hiatus in der neueren deut-
schen Metrik (Abhandl. zu Ehren Th. Mommsens 1884). Opitz dehnt übrigens die Regel,
wohl durch die lateinische und romanische Metrik verführt, auch auf die Stellung vor h
aus; ebenso Schottel, wenigstens als Freiheit. Über den ältesten Gebrauch des Apostrophs
8. § 93, 68. 58) LB. 3, 1, 634. Opitz erkennt den Unterschied zwischen der deutscheu
und der antiken Metrik ganz richtig : nicht zwar das wir auff' art der grieclien und lateiner
eine gewisse grosse der silben (wir würden sagen : länge) können in acht nehtiien. 59) So
in der Grammatik des Clajus (§ 93, 15. 94, 30). Opitz scheint das Gesetz von den Nieder-
ländern übernommen zu haben , wo Abraham van der Myle es 1612 klar gelehrt hatte , s.
die Stelle in Hanmanns Anmerkungen zur Prosodie von Opitz (1690) S. 82 fg. 66) Von
Rebhun u. a. (§ 94, 30. 105, 113). Neben Opitz hat F. v. Spee den Tonwechsel genau
beobachtet. 61) Poeterey Cap. VII wie auch ein vornehmer Mann, der des Herren
von Bartas Wochen in unsere Sprache übersetzt hat, erinnert. Hübner in der Vorrede zu
Die andere Woche (1622) sagt, es sei nüthig, dass I. allezeit die sechste Sylbe in jedem
192 NEUIIOCIIDEIITSCIIE ZEIT. XVII JAIIIÜI. § 120
tikeii Ausdrucks für den Vcrsfuss vcrliiingnissvoll , indom sehr bald"* und
Itist allgemein versucht wurde die Verschiedenheit der deutschen Betonung
mit den (iuantitaDtsverhiiltnissen der antiken Metrik in volle Übereinstimmung
zu bringen: dabei musste nothwendiger Weise die Beurtheilung der Silben,
welche bald kurz bald lang gebraucht wurden, unlösbare Schwierigkeiten
verursachen, •"'•* sobald man nicht auf das Touverhältniss zu den näclistfolgen-
den Rücksicht nahm.
Die Wörter mit zwei unbetonten Silben hinter einer betonten mussten
die Frage nahe legen, ob die deutsche Dichtung nicht auch wie die antike
dactylische Versfüsse gebrauchen solle. Da sie in der romanischen ausge-
schlossen waren, so waren Opitz, ^* Ludwig von Anhalt *"''' u. a. gegen ihre
Anwendung; Büchner*^'' hielt sie für Gedichte, die gesungen oder von Musik
begleitet werden sollten, vorzüglich geeignet, und andere, insbesondere Zesen
und die Mitglieder des Pegnitzordcns folgten ihm nach, wobei vielfach das
Versmass selbst in Verbindung mit scliallnachahmenden Wörtern den Ein-
druck eines recht lebhaften Gefühls zu machen bestimmt war.*^'
Die Spaltung der Ansichten ging noch tiefer: auch der Gebrauch an-
tiker Vers- und Stropheuformen ward bald empfohlen und geübt, bald ver-
Verss oder Reim den Abschnitt oder CcBSur macht und helt, derowegen allein masculinte
terminationis, das ist, enttveder ein einsylhig ivort seyn oder den Accent in der letzten
Sylhe haben muss. 62) Schotte! (1645) spricht bereits nur von langen und kurzen
Silben ohne Rücksicht auf die deutsche Betonung zu nehmen. Dagegen sagt Büchner
richtig: Die Silben seind entweder lang oder kicrtz, welche ihre Beschaff'enJieit in unserer
Teutschen Poeterey bloss und allein aus dem thone oder ausrede ermessen wird (Wegweisei-
S. 115). 63) Daher spricht Schotte! von drei Arten der Wortzeit: längere kürzere
mittlere: und andere folgen ihm darin nach. 64) Poet. VIII (LB. 3, 634, 38). Danach
soll der Dactylus zuexceilen d. h. wohl in der Caesur der jambischen Verse geduldet werden.
65) Krause Erzschreiu 218. Doch vgl. 231; 1643 schreibt Ludwig an Harsdörfer (ebd. 327)
Hey der . . Jambisclien Heldenart wird nochmals guter wolmeinung erinnert, das keine
Dactili darinnen mögen gemischet werden : In den Dactilischen und Anai)estischen
reimen aber mögen sie herummer hüpfen und springen wie sie kömien und vermögen.
66) Erzschrein 231 and das vorausgehende Muster. Nach Buchner nannte Zesen die Dac-
tylen die Buchner -Art. Doch gebrauchen er uud andere noch eine Menge sonätiger Be-
zeichnungen: Schotte! langgekürzt (so auch Harsdörfer) oder abspringend; Zesen Helicon
(1G5Ü) 46 der rollende, der Färtige, die Dattel- oder Pahnen-art. Ebenso haben auch die
anapaestischen Versfüsse mancherlei Namen erhalten : unter ihnen hält Titz C. IX die
jambisch anfangenden für die angenehmsten. 67) Auch hierin überschritten insbesondere
Zesen einerseits, anderseits die Pegnitzschäfer jedes Mass: für letztere s. LB. 509. 517.
Doch ermahnt Harsdörfer (Poet. Tr. !V Stund) diese neuerfundenen Reimgebünde nur zu
I
§ 120 VERS- UND STROPHENFORMEN. 193
pönt oder doch beschränkt. Im ersteren Fall trat, wenn schon seltener mehr,
das Bestreben wieder hervor auch die Gesetze des antiken Versbaus über
Positionsliinge u. a. zu beobachten. ^^ Bemcrkenswerth ist für die Nicht-
beachtung, welche die Zeit allen Versuchen in antiken Versmasseu entgegen-
brachte, dass auch die letzten unter ihnen glauben etwas ganz neues auf die
Bahn zu bringen.'^'' Dadurch dass man auch in antiken Strophenforraen den
Reim meistens für nothwendig hielt, ^"^ schuf man sich weitere Schwierig-
keiten,''' und verletzte überdies das Gefühl der strengeren Kenner der latei-
nischen Dichtung, welche die leoninischen Hexameter des Mittelalters als
Knüttelverse verwarfen. ^^ Etwas günstiger zeigte sich die neue Kunstdichtung
den Strophenformen des Alterthums, insbesondere der sapphischen''^ und der
pindarischen: begreiflich da die franzoesischen Dichter sich ebenfalls dieser
Formen bedient hatten, freilich mit Abänderungen, welche sie in das son-
stige System der silbenzsehlenden und reimenden Poesie einordneten. Auch
hierin folgten die Deutschen: die pindarische Ode, wie Opitz und schon
Weckherlin und noch andere sie bauten, hat mit dem Vorbild nur die Ein-
Beschreihung lustiger Händel zu gehrauchen, zur Aufmunterung und zu Lohgedichten und
Reimliedern, keineswegs aher zu traurigen Erzehlungen, Lehrgedichten u. dgl. 68) So
hatten es Clajus u. a. gehalten (§ 94, 30) und so hielten es im 17. Jahrhundert Emmeram
Eisenbeck mit einer reimlosen Bearbeitung des CIV Psalms, Regensburg 1617 ua. :
s. Wackernagel Gesch. des deutschen Hexameters und Pentameters, Kl. Sehr. 2, 47 fgg.
Zu den hier aufgeführten Namen kommen noch JOH. Heinrich Alsted , Theologe zu
Herborn, von welchem Zesen, Leiter zum Helicon (Jena 1656) S. 9 den Anfang des Vater-
unsers in Hexametern mittheilt, und der Baseler Johannes Brandmüller, geb. 1593, gest.
als Pfarrer zu Mülhausen i. E. 1664, mit zwei Gratulationsgedichten zu Baseler Universitäts-
feierlichkeiten 1621 und 1624: s. Vierteljahrsschrift für neuere Litt.-Gesch. I S. 98 fgg.
69) So noch Karl Gustav Herseus (§ 136), der eine gereimte Elegie zur Geburtstagsfeier
Kaiser Karls VI 1713 betitelt als Versuch einer neuen teutschen Reimart. Hier ist Hexa-
meter wie Pentameter nach dem deutschen Accent gebaut, und so haben auch die verstän-
digen Vorgänger es gehalten: S.v. Birken, Rede- Bind- und Dichtkunst S. 30, Chr. Weise,
Curiöse Gedanken S. 436 fgg., welcher übrigens diese Dichtart als lateinische Pedanterey
verwirft. Morhof, Unterricht (1702) S. 483 citiert einen sonst unbekannten Dichter, der
Opitz in Distichen gepriesen. 70) Eisenbeck, Alsted, Brandmüller, Morhof reimen die
Hexameter, Pentameter u. s. w. nicht. 71) Das bemerkt Weise a. a. 0. 72) Schottel
Vers- oder Reimkunst II 2; Zesen Scala Heliconis (1643) S. 7: Leoninus dicitur Latinis
Rophalicus gerin. Knittelversch ; er nennt diese Reime auch Knittelhardos, Knittelversche,
Pritzschmeisterverse. Hier ist bereits die Übertragung des Namens Knittelverse auf die
volksmässigen vierhebigen Reimpaare vorhanden. Vgl. auch Schupp LB. 3, 1, 793 unge-
reimbte Verse und Knüppelhardussen. 73) Opitz Poeterey Cap. VIII (LB. 3, 1, 641)
194 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVII JAIIKII. § 120
thoilung iu Strophe, Gogenstroplic und Epodos'^ gemeinsam, wird aber aus
jambischen und trochaischen gereimten Zeilen zusammengesetzt. Nur für die
aus Horaz bekannten Odentbrmen ward gelegentlich der Reim bei Seite ge-
lassen.'-^
Die Stelle des antiken Hexameters als heroisches, des Distichons als
elegisches Mass nalmi nach der Lehre der Franzosen der Alexandriner paar-
weise oder überschlagend gereimt ein.''*' Und so ward denn dieser franzö-
sische, allerdings auch bei den Niederländern eingebürgerte Vers in Deutsch-
land durch Opitz, wenn auch nicht zuerst eingeführt, '^ so doch für erzfch-
lende, betrachtende und selbst dramatische Gedichte zu einer ganz überwie-
genden Anwendung gebracht, welche über ein Jahrhundert lang dauern sollte.
Nur empfahl Opitz — offenbar um die Eintoenigkeit des Versmasses zu mil-
dern — das Übergreifeh des Satzes in das folgende Reimpaar.'^ Neben dem
Alexandriner behielt der fünffüssigc Jambus mit männlichem oder weiblichem
Reime ' ^ eine gewisse Geltung, die sich auf den Gebrauch der vers commwis
bei den Franzosen stützte. *°
Diese beiden Versarten wurden auch zu abgeschlossenen Strophenformen
verbunden, zum Quatrain,^' zum Sixain,**^ und vor allem zum vierzehnzeiligen
Sonett.^' Gerade in der letztgenannten Form haben die nach Würde und
Kraft des Ausdrucks strebenden Dichter jenes Jahrhunderts z. Tb. Vorzüg-
liches geleistet.^*
hält es mit Ronsard, nach welchem die sapphische Ode nur mit Musikbegleitung angenehm
sein könne. 74) Als deutsche Namen sind Satz, Gegensatz und Zusatz, Nachsatz oder
Nachgesang besonders beliebt. 75) S. Wackernagel Kl. Sehr. 2, 53. Brandmüller reimt
seine Trochaeen, Jamben, anacreontischen , aristophanischen, phalaeciscben Verse, dagegen
nicht die sapphischen. aklepiadeischen, alcaischen Strophen und die Hexameter, auch wenn
letztere mit anderen Versen verbunden sind. 76) Opitz Poet. VII (LB. 3, 1, 635).
77) Schon vor ihm hatten Hübner, Melissus, Zincgref und, von Opitz selbst angeführt, E.
Schwabe von der Heyde den Alexandriner gebraucht: § 104, 12. 13. 15. 78) Poeterey
VII LB. 636. 79) Opitz kennt noch die Bezeichnung der Meistersänger: stumpfe und
klingende Reime (Syllaben) : Vorrede zu den Psalmen (Ausg. von 1690: S. 12). 80) Poet.
VII. LB. 637. 81) Opitz nennt sie auch vierversichte Getichte : Poet. VII (LB. 639).
82) Opitz betitelt ein Gedicht dieser Art, in welchem sich die Schlusswörter in allen 6
Strophen, aber in anderer Stellung wiederholen, als Sechstine (LB. 2, 398); Rumpier
nennt ein solches Sexerung. Weckherlin Sechster oder Stände. 83) H. Welti. Ge-
schichte des Sonettes in der deutschen Dichtung, Leipzig 1884. Nach holländischem Muster
übersetzte man den Namen mit Klinggedicht {so schon Opitz), Klinggesang, Klingreim.
84) Insbesondere Weckherlin, Opitz, Flemming LB. 2, 451, welcher auch viermal gehobene
§ 120 VERSKÜNSTELEIEN. 195
Je mehr indessen ein tändelndes Spiel an die Stelle des Ernstes trat,
desto mehr drangen auch freiere, aus verschieden langen Yersen zusammen-
gesetzte Dichtungsformen ein. So das franzoesische Rondeau, das schon
Fischart gekannt ^^ (§ 95, 29), und mit noch weiterer Verbreitung, das ita-
lienische Madrigal, welches Caspar Ziegler ^^ 1653 mit ausdrücklicher Be-
rufung auf die Vorliebe der Musiker für die Composition dieser Gedichte
empfahl. ^^ Aus dem Franzcesischen entlehnte man auch das Echo oder den
Widerruf, wozu schon Opitz Beispiele und Anleitung gibt.^®
"Wie hier das Ohr, so ward auch die Schaulust zu reizen versucht und
eine schon bei den Alexandrinern, dann in der Mönchspoesie des Mittelalters
wohl bekannte Gattung, die der Bildverse neu gepflegt. ^^ Selbst SchotteP*'
gibt Muster für Gedichte in der Form eines Eies, einer Pyramide, eines
Kreuzes; dann haben die Pegnitzschsefer sich auch an diesen Kunststücken
besonders erfreut.^ ^ Eine Künstelei verwandter Art ist das Anagramm, wel-
ches Opitz im Aristarchus ziemlich ausführlich behandelt, das sich aber auch
sonst vielen Beifalls erfreute. Indem hier in den zufälligen Buchstaben des
Namens eine besondere Beziehung auf den Traßger gesucht ward, schloss sich
das Anagramm an die emblematische Dichtung an, die schon im vorher-
gehenden Jahrhundert ^^ mehrfach geübt worden war, aber auch jetzt in der
Ausdeutung von Wappen und sehnlichen Abzeichen noch immer Pflege fand.
War doch die Illustration schon damals als ein besonderer Vortheil dem über-
sättigten Leser gegenüber geschätzt. ^^
Verse zum Sonett verbindet: 450. Zesen hat auch hier seine kecken Neuerungen geübt
(§ 124), die zum Theil selbst von Gryphius nachgeahmt werden. 85) Ein wüster Ricnd-
reim Geschichtklitt. XVI. Ueber die Bingelreime , welche gJeichen anfang und gleichen
ausgang haben s. Schottel Ausf. Arbeit S. 948, wo insbesondere ein Eundum von Zesen.
Dieser Name der poetischen Form begegnet schon bei Weckherlin. Der wiederkehrende
Vers ist nur ein Halbvers. 86) Ziegler war geboren zu Leipzig 1621, und starb als
Professor der Rechte zu Wittenberg 169U. 87) Von den Madrigalen , Leipzig 165.3,
vermehrt "Wittenberg 1685. Ein Madrigal sei ein kurzes und nachdenkliches Gedicht, ein
Epigramma, ein unausgearbeiteter Syllogismus, dessen Hauptconclusion allezeit aus den
letzten zwei Eeimen, auch wohl aus der letzten Zeile zu erscheinen habe. Die Silbenzahl
der 5 — 15 Zeilen sei zwischen 7 und 11, ein bis drei Verse könnten ohne Reim bleiben.
88) Poet. V (LB. 626). 89) Scaliger Poet. II cap. 25 gibt zwei Beispiele von Zeilen,
die in ihrer Zusammensetzung die Eiform ergeben ; vgl. Borinski 44. 90) Vers- oder
Reimkunst III cap. XL Weise Cur. Ged. II 109 verwirft die Bilderverse, die er mit der
madrigalischen Art in Verbindung setzt. 91) LB. 2, 513 Abbildung des zweispitzigen
Parnasses von Harsdörfer. 92) § 99, 44 fgg. Über die Sinnbilder als Gegenstand der
Dichtkunst s. Birken (Anm. 27) S. 213 fgg. 93) Harsdörfer P. Tr. III S. 108 'Mancher
196 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVH JAIÜÜI. § 12ü
Dio Allegorie, einem wesentlich verstandcsmaessig dichtenden Zeitalter
vorzüglich angemessen, bediente sich mit Vorliebe der antiken Mythologie.
Den Anstoss, welchen diese fremden Namen christlicher Gesinnung und deut-
schem Stolz gaben,^^ suchte man durch den Hinweis auf ihre rein allego-
rische Bedeutung zu mildern "'• oder selbst durch neuerfundene Verdeutschungen
zu vermeiden.'-"^
Die Dichter selbst aber waren geradezu stolz darauf, dass sie im Ge-
brauche minder bekannter mythologischer Namen und Erzählungen ihre Ge-
lehrsamkeit zeigen konnten. Diesem Zwecke ebenso wie dem Nachweis der
von ihnen entlehnten Tlätze (§ 117, 9) galten die Anmerkimgen, mit welchen
sie ihre Gedichte mehrmals ausgestattet haben,^^ ganz in der Weise wie man
Werke des classischen Alterthums herauszugeben pflegte.
Nachahmung der Alten, das war die volle Absicht der neu anhebenden
deutschen Dichtung, die sich an die lateinische Renaissancepoesie '•'^ und an
die gleiche Richtung bei den Nachbarnationen, vor allem an Ronsards Lehre
und Muster anschUessen konnte. Dass eine gehobene, lebhafte Ausdrucks-
weise , eine sorgfältige , kunstvolle Form als sinnfälligste Kennzeichen der
blätterte lang in einem Buch: so bald er aber ein Figur sihet, hält er still und lieget, was
beygeschrieben ist.' 94) § 117, 12. 95) Opitz Poet. III Die mihmen der Heidnischen
Götter hetreffendt , deren sich die stattlichsten Christlichen Poeten ohne Verletzung jhrer
religion jederzeit gebraucht luiben, angesehen das hierunter gemeiniglich die Allmacht
Gottes, tcelcher die ersten menschen nach den sonderlichen wirckungcn seiner unbegreiffliclien
Maiestet tnterschiedene namen gegeben, als das sie wie Maximus Tyrius meldet, durch
Minerven die Vorsichtigkeit , durch den Apollo die Sonne, durch den Neptunus die Lufft
welche die Erde vnnd Meer durchstreichet ; zue zeiten aber vorneme Leute, die wie Cicero
im anderen buche von den Gesetzen saget, vmb jhres Verdienstes willen in den Himmel
berufen sein, zue zeiten was anders angedeutet wird, ist allbereit hin vnd wieder so viel
bericht davon gescheiten, das es tceiterer aussführung ho/f entlich nicht wird von nöthen
sein. Ahnlieh in der Vorrede zur Übersetzung des Lobgesanges Jesu Christi von Hein-
sius. Ueber Spätere s. HofFmann Spenden 2, S7 . Tittmann Nürnb. Dichterschule IG fgg.
Koberstein Grundriss § 188, 3. 96) Hier fand Zesen ein fruchtbares Feld für seine puristischen
Neigungen : s. den Anhang zu seiner Rosemund (1645) und die Probe LB. 2, 506. Venus
wird durch Lustinne, Libinne, Lachmund oder Schauminne bezeichnet, was freilich ohne
ein mythologisches "Wörterbuch kaum verständlich war. In Bellins Sendeschreiben Nr. 20
erklärt Zesen, dass die alten Gütternamen zu sehr nach dem Heidenthume stinken. Auch
Harsdörfer möchte Venus durch Minne oder Freia übersetzen: s. Wolff, Purismus S. 74
(§ 114, 4). 97) Hauptbeispiel Opitz § 121, 30. Er folgt darin allerdings nur Heinsius,
welcher seinen Lobgesang Jesu Christi selbst commentiert hatte. 98) Lotichius (§ 94, 11)
wird von Opitz als Fürst aller deutschen Poeten bezeichnet: Vorr. zum Feldleben (§ 121, 23).
§ 121 OPITZ. 197
wahren Poesie angesehn wurden, entsprach dem Ernste der deutschen Geistes-
und Gemüthsanlage. Erst das Gefühl der Schwäche, das in und nach dem
grossen Kriege sich in steigendem Masse geltend machte, führte einerseits zu
Versuchen mit Übertreibung und roher Sinnlichkeit nach italienischem Vor-
bild neue Reizungen hervorzurufen, andererseits und überwiegend zu Ein-
fiichheit, Nüchternheit und Zierlichkeit, zum Prosastil auch in der Poesie,"^
nach dem Vorbild der mehr und mehr national sich entwickelnden classischen
Dichtung der Franzosen.
§ 121.
Die im Aristarchus 1617 angekündigte, im Buche von der deutschen
Poeterei 1624 theoretisch begründete Neugestaltung der deutschen Poesie
suchte Opitz als Dichter auch durchzuführen. In der That ward er bald so
gut wie ausnahmslos als erster aller deutschen Dichter angesehn ; ^ die Muse
der neuen Dichtung ward als Opitzinne gepriesen, dichten hiess opitsieren.'^
Noch ein Jahrhundert spseter ward er als Vater der deutschen Dichthmst
gefeiert.^ Und doch zeigt er als Dichter nur wenig Gemüth und Phantasie ;
Gelehrsamkeit und Formensinn ist sein Hauptverdienst. Er ist wesentlich
Nachahmer und meist sogar Übersetzer.^ Aber er genügte seiner Zeit. Dazu
99) Noch Ronsard Pref. de la Franc, fol. 5 sagt Le style 2^>'0saique est ennemy capital de
l'eloquence poetique: Harsdürfer Trichter III. (37.
§ 121. 1) Buchner nennt ihn 1624 Phcenix der teutschen Poeten, Hübner Fürst und
Adler deutscher Poeten, Dietrich von dem Werder 1626 Fürst aller t. P.; Tscherning
Deutscher Gred. Früling S. 153 Opitz — o du Fürst und Phoenix der Poeten die Deutsch-
land hat erzeugt. M. Rinckart, Summarischer Discurs und Durch-Gang von Teutschen
Versen, Fusstritten vnd vornehmsten Eeimarten , Lpz. 1645 sagt bey unserem obersten
Poeten Fürsten Opitien. Der wiederbringer Teutscher Sprach der hochgelehrte Opitz sagt
der Sprachverderber von 1643. Vgl. Fleming LB. 2, 457. Logau 479, 9. Zesen 507, 1.
Eine Anzahl von lobenden Stellen gesammelt bei Tscherning u. Peschwitz (§ 120, 12. 13).
Rex Genmmicorum poetarum nennt ihn Grotius: ReifFerscheid Quellen (Anm. 5) S. 574.
2) Opitzieren: Tscherning, Sonnet. W. Scherffer: s. die § 127, 2 angeführte Diss. von
Drechsler S. 15. Prasch S. 72 Von dem Wort Opitzieren, icelches iemand brauchet. 'Opitzi-
niren Greflinger Z. f. d. A. 28 Anz. 122. 3) Parentem Poetarum Germanicorum vulgo
appellare solent : Neumeister Diss. Gottsched, Lob und Gedächtnissrede auf den Vater der
deutschen Dichtkunst. M. 0. von Boberfeld, Leipzig 1739. Doch erheben die Schweizer
Kunstrichter den Anspruch, als Verfasser des Sittenmalers (1721) sich des in Verachtung
liegenden Ruhmes von Opitz zuerst mit vollem Ernst und critischer Einsicht angenommen
zu haben: Der gemisshandelte Opitz in der Trillerschen Ausfertigung seiner Gedichte (1747)
S. 4. In der That bemerkt die Vorrede zu Morhofs Unterricht (1702). Opitz werde fast
von wenigen mehr gelesen. 4) Deshalb wollte der niederländische Dichter Vondel Opitz
198 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVII JAHKII. § 121
kam, du8s er auch persocnlich die Würde des Dichters durch kluge Benutzung
der überaus schwierigen Zeitverhiiltnisse zu wahren und zu heben verstand.
Geboren^ war Martin Opitz am 23. December 1597 zu Bunzlau.
Dort und in Breslau, zuletzt auf dem akademischen Gymnasium zu Beuthen
vorgebildet, bezog er 1618 die Universität zu Frankfurt a. 0., die er 1619 mit
Heidelberg vertauschte. Hier im Verkehr mit Gelehrten und Hofbeamten,
mit jüngeren gleichgesinnten Freunden, verlebte er schcene Tage, so lange
Friedrich von der Pfalz in Prag noch nicht ernstlich gefaehrdet war. Beim
Nahen der Spanier im October 1620 floh Opitz nach Holland, wo er sein
Vorbild Daniel Heinsius® persocnlich kennen lernte, und hielt sich dann eine
Zeit lang bei einem Freunde in Jütland auf. Nach Schlesien zurückgekehrt,
nahm er 1622 eine Schulstellc in Siebenbürgen an, verliess sie aber schon
1623. Aus unsicherer Lage trat er 1626 in die Dienste des fanatischen
Burggrafen Karl Ilannibal von Dohna, in dessen Begleitung er schon 1625
nach Wien gekommen und hier zum Poeten gekroont ^ worden war. 1627
ward er geadelt (von Boberfeld). Nun ward er auch 1629 in die Frucht-
bringende Gesellschaft als der Gelcroente aufgenommen , wsehrend er 1625
vergeblich versucht hatte sich ihr zu naehern.^ 1630 besuchte er Paris, wo
nicht als Dichter gelten lassen : Harsdürfer in der Vorrede zu den Sonntagsandachten ; W.
ScherflFer S. 279. 5) Ueber die Schriften zur Biographie Opitzens s. H. Palm, Beitrsege
zur Gesch. der deutschen Litt, des XVI und XVII Jhs. Breslau 1877. Aus unmittel-
barer Kenntniss schöpfte sein Freund und Heimatsgenosse, der gleichfalls dichterisch thätige
Christoph Koler (Colerus) in seiner Laudatio, welche 1G39 zu Breslau an Opitzens Namenstag
gehalten, aber erst 1665 gedruckt wurde. Diese u. a. Quellen verarbeitete K. G. Lindner
in der Umständlichen Nachricht von M. 0., Hirschfeld 1740. — Sammlungen von Briefen
von und an Opitz sind herausgegeben worden von Jasky, Danzig 1670, von L. Geiger,
Mittheilungen aus Hss. Leipzig 1876 und in Schnorrs Archiv V 316 — 370, von Witkowski
Z. f. deutsche Philol. 21, 16 fgg. 163 fgg. Vgl. auch A. Reifierscheid, Quellen z. Gesch. d.
geistigen Lebens wsehrend des 17. Jhs. I. Heilbronn 1889. 6) Von Heinsius hatte Opitz ver-
mothlich durch seinen Freund Kirchner Naeheres erfahren: s. Palm S. 144. 186. Über das
Verhältniss von M. Opitz zu Dan. Heinsius s. die Diss. von B. Muth, Lpz. 1872. Die ersten
grösseren Gedichte, die Opitz veröffentlichte, der Lobgesang Jesu Christi, Görlitz 1621, und
Hymnus oder Lobgesang Bacchi, Liegnitz 1622 sind Übersetzungen aus Heinsius; auch
einige Liebeslieder sind diesem abgeborgt, z. Th. mit Veränderung des Versmasses. Opitz
sagt zu Heinsius (LB. 2, 377, 20) er bekenne 'Dass Ewre Poesie der meinen Mutter sey.* Spaeter
hebt er dies Verhältnis allerdings nicht ebenso hervor. 7) Krause Erzschrein S. 351. P.
Flemming hg. v. Lappenberg S. 132. ReifFerscheid Nr. 170. 8) Sein Gegner war Tobias
Hühner, der seine eigenen Verdienste um die neue Verskunst (§ 120, 61, s. auch den Tadel Anm.
28) in der Poeterey von Opitz nicht genug anerkannt sah , wohl auch es übel nahm, dass
§ 121 OPITZ. 199
er Hugo Grotius naehcr trat, aber mit Erstaunen und Missbilligung bemerkte,
dass die von ihm verehrten und nachgeahmten franzoesischeu Dichter des
sechzehnten Jahrhunderts bereits durch ein jüngeres Geschlecht um alles An-
sehn gebracht worden waren. ^ Die Wendung des Krieges seit 1630 riss auch
Opitz mit sich fort. Wahrend er bis dahin, allerdings ohne selbst überzu-
treten, den Bestrebungen Dohnas Schlesien zur katholischen Kirche zurück-
zuführen, in jeder Weise gedient,^" und selbst des Jesuiten Becanus
Manuale controversiarum , eine Streitschrift zu jenem Zwecke, ins Deutsche
übertragen hatte,'' trat er nunmehr, nachdem Dohna 1633 in Prag gestorben,
in protestantische und selbst in schwedische Dienste. Vor den zurückkehren-
den Kaiserlichen floh er 1635 nach Thorn, dann nach Danzig, und fand hier
endlich 1637 als Historiograph des Königs Viadislaus von Polen eine aus-
kömmliche und angesehene Stellung. Doch schon am 17. August 1639 raffte
ihn die Pest hinweg.'^
Von seiner dichterischen Aufgabe hatte Opitz von Anfang an mit Be-
geisterung gesprochen '^ und gegenüber der Gleichgiltigkeit , ja Verachtung,
in welche die deutsche Dichtung bei den meisten Zeitgenossen gefallen war,
eine Wärme und Zuversicht gezeigt, die auf gleichgestimmte Gemüther hin-
reissend wirkte. Wie Heinsius in den Niederlanden, wies auch er auf die
gleichzeitigen dichterischen Leistungen der romanischen Nationen hin, denen
gleichzukommen auch die deutsche Sprache faehig sei. Zum Beweise hierfür
berief er sich auf die von Goldast ans Licht gezogenen Gedichte der Minne-
sänger (§ 114, 10. 11). Was der deutschen Dichtung der Gegenwart haupt-
sächlich fehle, sei die sorgfältige Bemühung um Regelrichtigkeit. Seinen
Gedichten suchte er vor allem diesen Vorzug zu geben, und zwar bei fort-
schreitender Erkenntniss in immer hcßherem Masse. Die älteren arbeitete er
Opitz srhon im Aristarchus einige Verse aus Bartas unzweifelhaft besser als H. selbst über-
setzt hatte. Für Opitz wirkte ausser Buchner. der selbst der Gesellschaft damals noch nicht
angehoerte, besonders D. v. d. Werder. 9) An Zincgref (Poet. Wälder I Buch: Ausg.
1644 S. 29): Hier seh' ich' s zu Pariss, da Botisard nicht Poete Mehr heisset tvie vorhin, da
Bellay betteln geht, Da Bartas unklar ist, da Marot nicht versteht, Was recht Französisch
sey, da Jodel, da Baif, Nicht also reine sind icie jetzt der newe Grieff Vnd Hofemuster
ivil. 10) Dass dieser Dienst Opitz in strengeren Kreisen verdacht wurde, zeigt (Rist),
Rettung der deutschen Hauptsprache (1632) II Brief: Viele schmshen 0. er sey fast keiner
Religion zugethan gewesen. 11) Die Übersetzung erschien im Druck Frankfurt 1631,
doch ohne den Namen des Uebersetzers. 12) Einen Bericht über seinen Tod s. Weim.
Jb. 2, 203. 13) Vgl. auch LB. 387, freilich wieder ein aus Ronsard entlehntes Gedicht.
200 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVII JAIIIUI. § 121
dcmgcmeess vim '^ und sein Beispiel veranlasste auch andere Zeitgenossen'^
ihm darin zu folgen.
Um 80 mehr war er ungehalten,"' als Zincgi-ef 1624 die Gedichte, welche
er in Heidelberg und spa3tcr ihm mitgethoilt hatte, in der älteren Form ver-
öffentlichte, und noch dazu Dichtungen, meist geringen Werthes, aus ihrem
Freundeskreise beifügte (§ 104, .S). Dieser Ausgabe setzte er eine eigene,
verbesserte und neugeordnete Sammlung 1625 entgegen, welcher mit bestän-
diger Vermehrung des Inhalts, aber auch mit Woglassung älterer Gedichte
noch melu'cre Ausgaben folgten.*'
Jene frühsten Gedichte waren grosscntheils lyrischer Art, Oden, wie
Opitz nach Ronsards Vorgang die Lieder nannte. Den Inhalt bildeten Liebes-
verhältnisse, wobei der Dichter als Schaefcr auftrat. Diese Lieder verbreiteten
sich rasch und wurden nach den meist franzocsischcn Melodien viel gesungen; '®
noch in weit spaterer Zeit begegnen sie in den Liederbüchern , '^ und selbst
14) S. die Varianten zu den im LB. mitgetheilten Stücken: darunter allerdings auch solche,
welche aus politischen Gründen verändert worden sind : LB. 375. 15) Heermann : Ger-
vinus 3, 271. W. Spangenberg: Scherer im Anz. f. deutsches Alterthum 1, 195. Auch
Tob. Hübner schloss sich in der Bearbeitung der Ersten Woche des Du Bartas 1631 naeher
an das System von Opitz an: Witkowski. Werder S. 13. J.V. Andrea: Koch Kirchenlied
S. 165. Witkowski Opitz Arist. S. 65. Reifferscheid Nr. 240. 16) Poeterei Cap. V.
Übrigens hatte Opitz dieser Sammlung sogar eine Vorrede beigegeben, so das« er früher
damit einverstanden gewesen sein muss. S. auch Reifferscheid S. 770 fg. 17) Acht
Bücher Deutscher Poematum. Breslau 1625. Wiederholt ebd. 1629, (Nachdruck o. 0.
1637) Breslau 1638. 1639: Danzig 1641: (Frankfurt a. M. 1644: Titelauflage der
von 1639): Amsterdam 1645. 46: Breslau J690. Neue Ausgaben: von B(odmer) und
B(reitinger) Zürich 1745 (nur Bd. I erschienen); von Triller, IV Bde., Frankfurt a. M.
1746. Auch diese Ausgaben sind nicht vollständig und nicht correct. Auswahl von
Tittmann. Leipzig 1869. Verzeichniss der Ausgaben: Hoffmann von Fallersleben , M.
0. V. B. Leipzig 1858: Bibliographie der Einzeldrucke von üesterley : Centralblatt für
Bibliothekswesen 2, 383 (1885). 18) Opitz in einem Briefe an Colerus aus Breslau
1628: Palm 162. Reifferscheid Nr. 259. Danach müssen auch Einzeldrucke dieser Lieder
auf den Strassen verkauft worden sein. 19) 'Ich empfinde fast ein Grawen steht in Jo.
Cocay Teutsehes Labyrinth sampt einem Poetischen Lusthringer , Cöln 1650, S. 60 und in
Tugendhaffter Jungfrauen und Jungengesellen Zeitvertreiber . . . durch Hilarium Lustig von
Freuden Thal (o. 0. u. J.). wo auch 'Jetzt blicken durch des Himmels Saaf, 'Wer sich auf
Muhm begiebet,' und 'Wohl dem der fern von hohen Dingen. Ferner findet sich Coridon der
gieng betrübet in Gantz neuer Hans guck in die Welt d. i. Neuvermehrte weltlicJie Lust-
Kammer (0. 0. u. J.). In Venusgä rtlein, Hamburg 1659 werden wenigstens die Anfänge
der Lieder von Opitz angeführt: S. 180 Im Thun : Wal dem der weit von holten Din-
gen u. a. Dasselbe in 'Gesechste Tugend- und Laster-Rose oder Jungfräulicher Zeitver-
§ 121 OriTZ. 201
Parodien bezeugen ihre Beliebtheit.-" Audi ihrem Inhalte nach sind diese
Oden oft entlehnt,^' was der Dichter nicht immer angibt. Das Gleiche gilt
auch von den Gedichten in künstlicheren Formen, insbesondere den Sonnetten,
und ebenso von den Epigrammen,
Selbst in die entlehnten Gedichte legt jedoch Opitz gern perscenHche
Beziehungen und diese beherrschen überhaupt seine Poesie zum guten Theil.
Trotz der Verachtung, mit welcher er von den Gelegenheitsgedichten spricht
(§ 117, 7), widmet er frohen und traurigen Lebensereignissen Anderer seine
Dichtung und sucht durch Gedichte, sowie auch durch die Widmung seiner
groesseren Arbeiten die Gunst der Vornehmen und Gelehrten zu gewinnen.
Die für seine Freunde bestimmten Dichtungen zeigen oft eine Herzlichkeit
und Innigkeit, ^^ welche seinen Liebesgedichten fehlt. Den Grossen gegenüber
ist er zu jeder Schmeichelei bereit, wie dies freilich von der Renaissance-
poesie in der lateinischen und in den Landessprachen überhaupt gilt, nur
dass der Stolz der Dichter sich in dem oft wiederholten Gedanken äussert,
dass sie allein Unsterblichkeit des Namens gewaehren können. Das zu seiner
Zeit berühmte Gedicht, mit welchem Opitz die Gunst des Koenigs Vladislaus
gewann, hat wenigstens durch den Preis fürsthcher Friedensliebe einen wür-
digen Gedanken ausgeführt. In demselben Sinne verherrlichen mehrere Lehr-
gedichte das Landleben, wonach Ki'ieg und Hofgetriebe die Sehnsucht nur
erhoehten. So das Loh des FelcUlebms -^ 1623, worin Opitz Fischarts Be-
arbeitung einer horazischen Ode umgestaltet; -* und zwei Gedichte auf die
Landgüter seiner Gönner, Zlatna in Siebenbürgen 1623 und Vielgut in
Schlesien 1629. Tiefere Erregung und mannhafte Entschlossenheit zur Ab-
wehr der unter dem Vorwand der Religion versuchten Knechtung-"* athmen
treiher . . von Constaus Holdlieb, Nürnberg 1665. 20) 'Ich empfinde fast ein Grawen
parodiert von Klaj : LB. 516. von Fleming, von Birken (Dichtkunst S. 122), von Schirmer
und Finkelthaus, Lustige Lieder : — Dass ich, Liebe, für und für Bin gewesen eigen dir.
Es ist Zeit einmal zu Schemen, Was doch meine Bücher machen u. s. w. Witzigei- sagt
Schii-mer Holla, Junger, geh und frage, ivo das schönste Buch mag seyn, Lass den Opitz
binden ein; auch von Albert und Dach (Oettingen QF. 49, 55) sind Parodien vorhanden.
Harsdörfer (Jotham 2) parodiert Wohl dem der fern von holten Dingen = W, d. d. iceit
von grossen Stätten; dasselbe Lied bei Finkelthaus 'Wohl dem der tracht nach hohen
Dingen : Gödeke D. D. S. 303. Die geistliche Umarbeitung eines Opitzischen Liedes ver-
zeichnet Koch, Gesch. des Kirchenlieds 3, 132. Vgl. Waldberg Renaissaucepoesie S. 217 fgg.
21) So ist auch das beliebte Lied Ich empfinde fast ein Grauen nur die Bearbeitung einer Ode von
Ronsard. Auch über diese Entlehnungen vgl. die zu § 120, 5 augeführten Schriften und K.Wein-
hold, M. 0. von B. Kiel 1862 S. 24 fgg. 22) LB. 386. 400. 401. 23) In Zinegrefs Sammlung
Lust des Feldbaivs. 24) Opitz in Zachers Zeitschrift 4. 477. 25) Die gleiche Stimmung in
202 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVU JAHRH. § 121
die Trost (jedicläe in WiderwerUgheit des Krieges, 1621 in Jütland vcrfasst,
aber erst 1633 veröffentlicht.*'' In scharfem Gegensatz dazu verhoehnt Opitz
in den Landes Martis, 1628, die feige Geduld seiner Landes- und Glaubens-
genossen'^ durch ein ironisches Lob des Esels. Die gezwungene Laune dieses
dem Grafen Dohna gewidmeten Gedichts vcrräth sich auch in dem Schwulst"*'
und gelehrten Prunk, durch den es an die aus Heinsius übersetzten Hymnen"
erinnert. Anmerkungen erläutern, ebenfalls nach diesem Vorbild, den Text;
ebenso den des Vesuvius, 1633, einer Nachahmung eines antiken Gedichtes
Aetna,^^ wie schon früher den des ebenfalls beschreibenden Gedichtes Zlatna.
Ebenso trocken sind die moralischen Lehren in den von Opitz übersetzten
Disticha Cat&nis 1629 und den Vierversen des Pibrac 1634. Sie sind wie
alle Lehrgedichte und viele der Gelegenheitsgedichte in Alexandrinern abge-
fasst. Ebenso melirere geistUche Gedichte: von Opitz selbst gedichtet, und
nicht ohne Innigkeit, die durch den einfachen Ausdruck nur gewinnt, der
Lohgesang über den freudenreichen Geburtstag Jesu Christi 1624; von ihm
nur übersetzt das Gedicht Fow der Warheit der Christlichen Religion 1631,
nach Hugo Grotius ; und aus biblischen Quellen geschöpft die Klagelieder
Jeremia 1626 und Jonas 1628. Dagegen sind die Episteln des gantzen
Jahres 1624 und die Psalmen 1637 auf franzoesische Melodien und Salomons
Hohes Liedt 1627 ebenfalls in freieren Formen verfasst.
dem Liede LB. 403. 26) Auch verschwieg der erste Druck den Xamen des Dichters,
obschon er in der Poeterei cap. V Proben als seine Verse bezeichnet hatte. Stücke aus der
Dichtung LB. 388. 27) Auch ein frivoles Epigramm auf den Fall Magdeburgs bezeugt
die politische Ansicht des Dichters zu dieser Zeit : Neumeister Diss. 76. Reifferscheid Nr. 434.
28) Oben Anm. G. Im Hymnus auf Bacchus sollte nach Scaligers Vorgang (Poet. VI. 4: p. 721
der Ausg. von 1607), den auch Ronsard befolgt hatte, die bacchische Begeisterung durch die
gehäuften Zusammensetzungen ausgedrückt werden. Darüber spricht Opitz Poet. VI,
und mahnt das nomen verbale hinten zu setzen gegen den lat. u. franz. Gebrauch, den
namentlich auch Tob. Hübner nachgeahmt hatte: z. B. dontie-mort hringetodt vom Apfel
des Paradieses. Das Kunststück ward nachgeahmt z. B. von Fleming, Schirmer u. a.
29) Eine gehobene gewählte Sprache nach dem Muster der antiken und der Renaissance-
poesie gehörte zu den Anforderungen , welche Opitz an die neue deutsche Dichtung stellte.
Er selbst ist freilich nicht ganz frei von gemeinen Ausdrücken und Bildern : so im Vesuvius
Die graice Trete verreckt; an Vldrichen von Holstein du nimbst auch eine Striegel, Die
Pullas hat geschärfft. Vgl. LB. 379, 35. 390, 29. Über seine dialectischen Reime
8. § 115, 19. 80) Von Lucilius dem jüngeren. Das Interesse für diese antiquarischen
und naturwissenschaftlichen Erörterungen — zu denen freilich die poetische Form wenig
passt — war durch vulcanische Ausbrüche des vorhergehenden Jahres neu geweckt worden.
II
§ 122 OPITZ. WECKHERLIN. 203
Nur als Übersetzer, aber so dass er die eingemischteu lyrischen Stücke
der antiken Originale in jambische oder trochäische Strophen verwandelte,
betrat Opitz das Gebiet des Dramas: er übertrug die Trojanerinnen des Se-
neca 1G25, die Antigene des Sophocles 1636 und entnahm dem Italienischen
die Texte zu den Opern Dafne 1627 und Judith 1635; Dafne, von dem be-
rühmten Heinrich Schütz neu componiert und 1627 zu einer Vermashlung
am kursächsischen Hofe aufgeführt, war die erste Oper in Deutschland.
Mit Prosa verbanden sich lyrische Stücke in der Schcefferei/ von der
Nimfen Hercinia 1630, in welcher Opitz und seine Freunde Buchner, Nüssler
und Venator als Schaefer auftreten, dann von der Nymphe in das Innere des
Riesengebirges geführt und über allerlei Naturwunder sowie über die Ge-
schichte des Hauses Schaffgotsch unterrichtet werden. Als Vorbild dienten
die unter dem Titel Ärcadia erschienenen Schseferromane, von denen die des
Sidney von Opitz auf Grund einer 1629 erschienenen Übersetzung durch
Vdlenünum Theocrittim von Hirschherg, 1638 bearbeitet wurde. So hatte er
auch Barclays Argenis, einen politisch allegorischen Roman 1626 verdeutscht.
Gelehrsamkeit überwog bei Opitz mehr und mehr die dichterische
Thaetigkeit. Eine früh begonnene Alterthumskunde von Siebenbürgen, Dada
antiqua, gedachte er insbesondere nach den dort gesammelten Inschriften
auszuführen; doch hinderte der frühe Tod die Vollendung des Werkes. Dagegen
erwarb er sich durch die Ausgabe des Lobgedichts auf den h. Anno (§ 55, 56;
114, 11) ein bleibendes Verdienst um die Geschichte unserer alten Litteratur.
§ 122.
Das von Opitz aufgestellte Gesetz und Muster der neuen Kunstdichtung
fand überall Anerkennung : nur ganz vereinzelt und nur bedingt ward Wider-
spruch erhoben. Opitz selbst schien mehr und mehr zu vergessen, dass er
nur ausgesprochen hatte, was vielen im Sinne lag, dass er eine Bahn, die
auch andere betreten hatten , gegangen und freilich zuerst bis an das Ziel
gelangt war. Begreiflich dass einer jener älteren Dichter , der zudem an
poetischer Kraft Opitz entschieden überragte, sich sein Recht als Vorgänger
wahrte, wenn er auch mit Unrecht die strengere Regelmsessigkeit des Vers-
baus als zu weitgehende Forderung abzulehnen suchte. Dieser Dichter war
Georg Rudolf Weckherlin,^ oder Rudolf W. Denn auch in der Sprache
hatte er allerhand eigensinnige Grillen.^
§ 122. 1) Naclidem Eschenburg uad Herder (dieser im D. Mus. 1779) auf Weckherlin
hingewiesen, gab C. P. Conz 1803 Nachrichten von dem Leben und den Schriften R. W.
204 NEUIIOCIIDEUTSCIIE ZEIT. XVII JAIIRII. § 122
Weckherliu war geboren zu Stuttgart 1584, studierte Jurisprudenz und
war seit 1604 vielfacli auf Reisen, meistens im Dienste des wirtembergischen
Hofes. Die in Frankreich und England, von wo er 1613 heimkehrte, er-
worbene Hprachkenntnis verschaffte ihm gegen 1616 eine Stelle als Secretilr
und Dollmetscher zu Stuttgart, und als durch die Vertreibung Friedrichs von
der Pfalz aus Boehmen die andern protestantischen Iloefe des Südwestens mit
betroffen wurden, eine ähnliche Verwendung in England. Nachdem er hier
verschiedenen Ministern, dann, nach vergeblicher Bemühung um schwedische
Auftrage 1641, von 1648 ab dem Parlament als Unterstaatssecretär für den diplo-
matischen Verkehr gedient, ward er 1650 durch Milton ersetzt und starb 1658.
Seine frühsten Gedichte feiern pfälzische , wirtembergische , badische
Fürsten, vor allem die jugendlich schccne und lebenslustige Kurfürstin Elisa-
beth, deren Kindern er noch in England Treue erwies. Mit Beschreibungen
von Stuttgarter Hoffesten trat er 1616 und 1618 in die Öffentlichkeit ; » 1618
und 1619 folgten seine Oden und Gesänge/ Erst 1641 gab er eine großssere
Sammlung heraus: Geistliche und tveltliche GedicMe, die 1648 überarbeitet
und vermehrt nochmals erschien.^
Jene Hofgedichte, Cartele und Erklaerungen von Aufzügen und Balleten,
ahmen fremde, besonders franzoesische Vorbilder nach, die nur selten, etwa
für den Ausdruck des Stolzes auf die deutsche Ritterschaft, hceheren Schwung
zuliessen. Die Oden, in der von Ronsard aufgebrachten pindarischen Form,
zeigen die Verehrung des Dichters für die Grossen seiner Heimat, ** vor allem
Ludwigsburg 1803. Von spseteren Arbeiten sind besonders E. Höpfner, G. R. Weckherlins
Oden und Gesänge. Berlin 1865 und Z. f. D. Philol. 1, 350; ferner die Auswahl der Ge-
dichte von Gödeke Lpz. 1873 zu nennen. Die in den englischen State papers enthaltenen
Notizen über W. stellt F. Althaus zusammen: AUg. Zeitung 25. 26. Mai 1888. Briefe auch bei
Reifferscheid 511 fgg. 2) §93.54: AV's Orthographie gibt viellaih die schwäbische Mundart
wieder: seine Syntax ist durch die antike beeinflusst, z. B. in ihren Satzverkürzungen : wendend
mein, fliehend dein Gesicht Göd. S. 213 : Anglicismen weist Höpfner Oden Anm. 60 nach. Den
Fremden zu Liebe, die sich über die Consonantenhäufung im Deutschen beklagten, vermied "NV.
die Syncope von gesaget, gemachet : Höpfner S. 10 nach der Vorrede zur Ausgabe von 1641.
Dagegen hat er die süddeutsche Apocope von Lieh u. ä., die auch in Norddeutschlaud an
den Höfen beliebt war (s. Dietrich v. d. Werder bei Witkowski S. 71), ohne Bedenken
gebraucht. 3) Triumf Ke^cUch hey der F. Kindtauf zu Stutgart gehalten. Auch von
W. für Kurfürstin Elisabeth ins englische übersetzt : Triumphall sheics sei forth lately at
Stuttgart. Kurze Beschreibung dess zu Stutgarten bei der F. Kindtauf und Hochzeit
jüngst geluiltenen Freivdeti-Fests 1618. — Beschreibung und Abriss des jüngst zu St. ge-
haltenen F. Balletlis. 1618. 4) Die beiden Bücher der Oden und Gesänge sind auch zu
Stuttgart erschienen. 5) Druckort beider Ausgaben Amsterdam. 6) LB. 347.
§ 122 WECKIIERLIN. 205
für die fürstlichen Frauen. Volle Empfindung geben die Gesänge zu er-
kennen, welche unter dem Namen Myrta Weckherlins sptetere Frau " feiern
und die ganze Stufenfolge der Leidenschaft, von der hoffnungslosen Sehn-
suclit bis zu völliger gegenseitiger Hingabe beider vor Augen führen. Der
tiefgefühlte Nachruf, den der Dichter spteter ihr widmet, zeigt, dass so lange
sie lebte, das Glück der 1616 geschlossenen Ehe dauerte.^
Anthcil des Herzens bekunden auch die Dichtungen, welche sich auf
den grossen Krieg beziehen und bald sich an die Soldaten wenden oder das
deutsche Yolk aufrufen,^ bald die protestantischen Führer verherrlichen. Der
Heldentod Gustav Adolfs wird als eine Apotheose ganz in antiker, mytho-
logisierender Weise dargestellt; ^^ jeder naehere Bezug auf die wirklichen
Verhältnisse ist vermieden , ja die vorausgeschickte Einleitung ist von recht
trockenen, allgemeinen Erwsegungen durchzogen.
Und so steht bei W. auch sonst der hochstrebenden Auffassung, der
gewsehlten Ausdrucksweise gelegentlich starke Derbheit und Natürlichkeit
gegenüber. In einem Hochzeitsliede '^ malt er den Liebestaumel, in späteren
Gedichten die Trunkenheit ungescheut bis ins Einzelne. Seine Epigramme,
z. Th. deutlich gegen bestimmte Personen gerichtet, sind voller Schärfe. Dem
Hofleben gegenüber äussert er sich frühzeitig ironisch und absprechend.
Viele seiner Gedanken sind entlehnt, die der Liebesgedichte aus Pe-
trarcha, die der ernsten z. Th. aus englischen Quellen ^^ oder aus franzoe-
sischen,^* z. Th. aus antiken,^* endlich auch aus deutscher Volksüberlieferung. ^^
Überall aber gilt, dass er auf seine Weis übersetzte oder vielmehr bearbeitete,
dass er z. B. die Schilderungen des Horaz in moderne Lebensverhältnisse
übertrug.
Seine Vers- und Strophenformen sind fast durchaus die der Renaissance-
7) Der wirkliche Name hatte neun Buchstaben. Hüpfner vermuthet, dass Myrta Elizabeth
Dudley geheissen habe und eine Hofdame der Kurfürstiu Elisabeth gewesen sei. Sie war auf jeden
Fall eine Engländerin und gehörte den Hofkieisen au; der Dichter legt ihr, Orüdeke S. 103,
das Lob würtembergischer Prinzessinnen in den Mund: sie lebte also damals in Stuttgart.
8) Crüd. S. 254. Dies Gedicht ist ein doppelter Sechster oder Stände, mit dem letzteren
Namen scheint "VYeckherlin ungesungene Strophen von 4, 6. 8 Zeilen zu bezeichnen.
9) LB. 3Ö2. 354. 10) LB. 355. 11) Im Anhang zu Zincgrefs Ausgabe von
M. Opicii Teutsche Poemata, Strassburg 1624 S. 198. 12) So das Kennzaiclien eines
Glickseligen Lebens LB. 351 aus Wotton's Character of a llappy lAfe. Vgl. über diese
englischen Quellen Herders Brief VIII (Werke in 40 Bdn., 25, 391) und Hüpfner S. 7.
13) Aus Ronsard : Hüpfner S. 27. 14) Für die Epigramme vgl. Hüpfner S. 25. 15) Höpf-
Wackern.igel, Litter. Gescbichte. II. 14
20G NEUIIOCIIDEUTSCTIE ZEIT. XVII JAHRII. ß 122
pocsie, besonders der franzoesischen. Den Alexandriner wandte er schon 1G18
au, in einigen Gedichten "* in stropliischer Verbindung, wie sie sonst nur beim
Sonett üblich war. Aber mit dieser Anpassung an die fremde Verskunst
ging ihm wie andern das Gefühl für den deutschen Versbau, wie es Opitz
wieder in seine Rechte eingesetzt hat, um so meiir verloren, als er in spic-
terer Zeit namentlich viel mit Fremden , wenn aucli der deutschen Spraclie
kundigen, aucli über litterarischc Fragen verhandelte. Wohl begrüsstc er
Opitz auf Grund vermuthlich einer Zusendung von dessen geistlichen Ge-
dichten, mit vollem Lobe ; '^ auch verbesserte er seine Gedichte vielfach nach
der neuen Weise. Aber er verwahrte sich doch '^ gegen eine allgemeine
Durchführung dieser Regeln, denen zu Folge viele mehrsilbige und zusammen-
gesetzte Wörter ganz aus der Dichtung ausscheiden müssten, und erinnerte
daran, dass er schon um 1610 durch seine Gedichte den Freunden der deut-
schen Sprache Reichthum und Zierlichkeit vor Augen gelegt habe.'"
Dieses Verdienst Weckherlins wurde auch von andern hochgehalten
und Opitz gegenüber wieder in Erinnerung gebracht.-" Es war ein Kreis
von protestantischen Gelehrten und Dichtern in Strassburg, welche vielleicht
durch Weckherlins Beziehungen zum Gefolge Bernhards von Weimar-' mit
dem Dichter selbst nseher bekannt wurden. Jüngere Angehoerige dieses
Kreises-- stifteten 1633 die Aufrichtige Gesellschaft von der Tannen,
ner S. 24. 16) Güdeke S. 62. 206. 17) LB. 355. 18) Aus der Vorrede der
Ausgaben von 1641 uud 1648 bei Höpfner S. 16 Anm. Die Analogie der englischen
und niederländischen Sprache will er nicht gelten lassen. Auch Herder a. o. 0. findet
Weckherlins freie Behandlung des Verses angenehmer als die einto'nig scandierende.
19) Hüpfiier S. 6. W. spricht auch von Jugendgedichtcu . darunter Bearbeitungen der
Erzählungen Ovids, die ihm theils auf Reisen verloren gegangen, theils im Krieg vernichtet
worden seien. 20) Moscherosch, Soldatenleben (Ausg. von 1650 S. 655): der redliclier
vnd vmh unser Teutschc Sj^rach hochverdienter Eodolff' Weckerlein, tcelcher wie auch Herr
Isaac Hahrecht, lange Zeit vor dem sonst ewig lohtcürdigcn Herrn Opizen, die teutscJie Sjirach
mit zierlicher eygenfindiger Reymen-Kunst herrlich gemacht haben. (Schill) Der teutschen
Sprach Ehrenkrantz rühmt Weckherlin S. 118. 193. Rumpler sagt im Vorwort zu den Eeim-
getichten: G. B. W. hat ein grosses stuck amm eiss gebrocJten, als er imm IGlSten jar die 2.
hitclier seiner Oden tmd gesänge zu Stutgarten ausgehen lossen ; derer lesung nachmals
dem Martin Opitzen (zur nachfolge) gar icol bekommen. 21) Herzog Bernhard hatte
zur Seite den Oberst SchafFalitzki von Mukodell, der von Weckherlin schon vor 1618, von
Rumpler und Schneuber nach 1640 gefeiert worden ist: Höpfner S. 5. Allerdings war
Weckherlin schon in der Strassburger Sammlung Zincgrefs reichlich vertreten uud konnte auch
hierdurch dem Strassburger Kreise im Gedächtnis erhalten werden ; daraufweist bei Moscherosch
(vorige Anm.) die Zusammenstellung AVeckheilins mit Habrecht. Perscenlich aber kannte
selbst Zincgrefs Freund Berncgger Weckherlin nicht: Reifferscheid Quellen Nr. 124. 22) Als
§ 122 AUPRICIITIGE TANNENGESELLSCHAFT. 207
die jedoch von Anfang an sich auf wenige Mitglieder beschränkte ''^•' und sich
bakl aufgelcest zu haben scheint, auf jeden Fall keine Spuren ihrer Vereins-
thaitigkeit hinterlassen hat. Aus diesem Kreise ging jedoch Johann Freins-
licini *^ hervor, der als Philologe sich weithin berühmt gemacht hat. Nach
der Eroberung Breisachs durch Herzog Bernhard dichtete er TeutscJier Tti-
gentspiegel oder Gesang von dem Stammen und Thaten dess Alten und Neiven
Tentsclien Hercides,'^'^ worin er von mythologischer und altdeutscher Gelehrsam-
keit zuletzt zu trockener Zeitgeschichte übergeht, in gut gebauten Alexandrinern,
in schlichter Sprache mit einigen meistersängerischen Freiheiten.-*^ Durch
seine Dichtung allein machte sich Jesaias Eumpleh-^ von Leweniialt be-
kannt, von welchem ein Erstes gehüsch seiner Beim-getichte 1647 erschien,''^"
der aber schon ein Loh der Buchdrucherey 1640,-'-' und noch 1660 ein Ehren-
geticht auf Joh. Freinsheimers Ahleihen ^" herausgab. Seine ernste , vater-
ländische, christliche Gesinnung äussert sich in etwas harter Form;^' seine
Mitglied der Gesellschaft lässt sich nachweisen, ausser Rumpler, nur ein Student Thiederich,
der 1634 ermordet wurde: Rompler, Reimgetichte S. 75. Diesen beiden Namen gesellt
Boeder (ehd. 230) noch Lucius, der ebenfalls 1634 starb, und Freinsheim bei. Schneuber,
den Grödeke Grrundriss III S. 5 u. a. als Stifter nennen, ward erst im Herbst 1634 immatriculiert.
Dass Moscherosch der Gesellschaft angehörte, ist ganz unbezeugt: auch war er 1633 nicht in
Strassburg. Befreundet war er allerdings mit Rumpler. 23) Rompier, Vorr. zu den
Beimgetichten ; Schneuber Teutscher Getichten Änderer Theyl (1656) S. 7 ; Zesen, Bosentahl
(1669) S. 14 Nicht lange darnach erhub sich auch die Neunständige Ilänseschaft : welche
in geheim, tmd gleichesfals wie die Strashurgische, unter ihren neun Hänsegliedern gehliehen ;
von denen der Färtige noch allein im lehen. Dunkel spricht Schneuber 2, 298, von der neuen
Rosengesellschaf't, wie die gerade Tanne zuerst sich gefreut habe als eine Böse sie umivunden,
wie diese aber zu üppig geworden bald welken zu toollen scheine. 24) Geb. zu Ulm 1608,
Professor zu Upsala 1642 — 50, später zu Heidelberg, gest. 1660 (§ 118, 7). 25) Strass-
burg 1639. Die hübsche Titelzeichnung rührt von Rumpler her, der auch zu Moscheroschs
Gesichten in der echten Ausgabe das Titelkupfer gezeichnet hat. 26) Der Heide, ihr
iverdt, fürm = vor dem. 27) Bumpler schreibt er sich selbst und macht scherzhafte Wort-
spiele auf diesen Namen ; vielleicht eben deswegen nennen ihn aiide v e Bompler und schreibt
er sich selbst so auf dem Titel seiner Reimgetichte und später. Er war aus (AViener-) Neustadt,
wie aus seinem Immatriculationseintrag (Strassburg, jur. Fac. 23. Sept. 1628) hervorgeht.
Geburtsjahr, sowie Ort und Zeit seines Todes sind unbekannt. Den Ausbruch des 30jährigen
Kriegs erlebte er als Kind; ein Neujahrsgedicht 1627 scheint das älteste uns erhaltene. Den Sohn
Schaffalitzkis (Anm. 21) begleitete er 1641 nach Paris und erwtehnt auch dass er mit Herzögen
von Wirtemberg-Montbelgard gereist sei. 28) Druckort sämmtlicher Schriften ist Strass-
burg. 29) Erweitert auch in den Reimgetichten. 30) Strassburger Bibl. 31) Auch er
hat eine Sechstine Sexerung S. 16, eine Ode mit Kher, Widerkher und Letzgesang S. 83,
eine andere mit den sriechischeu Namen der Theile S. 28. beide am Schluss von Gedichten
208 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVH JAHRH. § 122
puristischen Neigungen verbinden ihn mit Zesen.'- Noch geringer an \Verth,
wesentlich Gelegonheitspoesie ist der Inhalt der Gedichte Johann Matthias
SciiNEiiJERs ^' 164-4, denen Teiäscher Gedichten Anderer Theiß 1656 folgte;
doch ward er in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen (§ 115, 10).
Wie schwer es manchen süddeutschen Dichtern fiel sich der neuen
Verskunst anzuscliliessen, zeigt Jon. Sebastian Wieland,^'' der 1626 eine be-
schreibende Dichtung auf die Stadt Urach, und 1633 zu Gustav Adolfs Ehren
Der Held von Mitternacht'^'' erscheinen liess. Obschon er Opitzens Arbeit
d. li. doch die Poeterei schon zur Hand hatte, als er die erstere Dichtung
schrieb, hatte er die Handgriffe nicht gleich ersehen; und selbst die zweite,
obgleich metrisch genauer, wird dem doch mit Liebe behandelten Gegen-
stände durch trockene Aufzahlung der einzelnen Thaten und Tugenden des
Koenigs nicht gerecht.^'' Von Opitz völlig absehend hat in Bern 1642 An-
TiioNi Stettler^^ nochmals les Qiiatrains du Sieur de Pihrac übersetzt, in
den vers comniims des vorgedruckten Originals. Noch kunstloser sind die
Epigramme des oestcrreichischen Exulanten J. IL v. Traunsuork , welche
ebenfalls zu Bern 1642 erschienen,-''* in denen jedoch die Volksthümlichkeit
des Inhalts, die Biederkeit der Gesinnung erfreulich wirkt. Erst der Züricher
in Alexamlrinern. endlich auch Sonette und gebraucht Dactylen. 32) Etlidier der . . Deutsch-
gesinnten Genossensduift Mitglieder . . Sendeschreiben, zusavimengeläsen . . durch J. Bellinen
(l(j47) N. 13: Zesen schreibt aus Utrecht 8 Mertz 1645. Rumpier steuert Lobgedichte auch zu
deu Werken Harsdörfers sowie zu Schills Ehrenkrantz bei und feiert Kists Dichterkro'nung.
33) (ieb. zu Mülheim i. B. Prof. der Poesie zu Strassburg 1642 — 1G65. Auch er hat Oden mit
Satz, Gegensatz, Nachklang oder Abgesang oder Nachlied. Seinen beideu zu Strassburg erschie-
nenen Sammlungen sind lateinische Gedichte beigegeben. An Job. Val. Andreaj richtet sich 1, 51.
34) Wieland war 1621 Pfarrer zu Colstetten auf der Alp: Gödeke Grdr. 242. 35) Dies
Gedicht (§ 118, 7) mit newen teutsclien Versen nach Art der frantzösischen . . beschrieben war
zu Heylbronn gedruckt; Urach zu Tübingen. 36) Dies gilt freilich auch von den zahl-
reichen anderen Gedichten auf Gustav Adolf, von denen ülivarius (= Olearius) Sieges- und
Triumffsfahne G. A. Leipzig 1633, in Alexandrinern, neben Gedichten von Fleming und
Weckherliu Auszeichnung verdient. Vor dem Tod des Königs ist gedichtet Der Mitternacht
Stern . . 1632 o. 0. akrostichisch im Thon Wie schoßn leticht uns der Morgenstern ; und
ein nicht zur Auftührun«; trekommenes Drama Schwedische Comödia, worüber Mentzel. Gesch.
d. Schauspielkunst in Fkf. a. M. S. 70 Xißheres augibt. 37) Berliner Bibl. 38) J-
H. V. V. Z. D. G. L. H. V. F. L. G. A. Erstes tausend deutscher weltlicher Poematum
von allerJutnd täglich fürfallender Materia, vntid Handlungen, numclierley Sprichwörtern
und Gleichnussen. (Strassburger Bibl.) Es folgen noch zwei andere Tausende: 8()0<) hat
der Vir. fertig. I 293 Manclier nimbts mit schöfln j Vnd gibts wider mit löfln.' Hans
Sachs und Claus Narr sind dem Vfr. bekannt. Ein Beispiel seiner Verskuust : III 303
I
§ 123 KATHOLISCHE DICHTER. 209
Johann Wilhelm Simler ^■'' brachte durch seine Tcutsche Gedichte 1648 die
opitzischen Kegeln auch für die Scliweiz in Geltung; doch fehlte es hier über-
haupt an dichterischem Nachwüchse.
§ 123.
Wenn nicht vor Opitz, so doch unabhängig von ihm war das neue
Versgesetz von einem andern Dichter durchgeführt und selbst verfeinert *
worden: von dem Jesuiten Friedrich von Spee,'- dessen Tndsnachtigall iedoch
erst 1649, nach seinem Tode gedruckt erschien.^ In der Vorrede gibt der
Dichter auch seine metrischen Grundsätze an. Wie Opitz erkennt^ er im
Deutschen nur jambische und trochaische Verse an; die Quantität sei vom
Accent genommen, so dass die Silbe, auf welche in gemeiner Aussprache der
Accent falle, für lang gerechnet werde, die anderen für kurz; es gebe Aus-
nahmen, in denen aber das Ohr nicht verletzt werden dürfe. Wa^hrend nun
Opitz von der holländischen Dichtung aus auf das Gesetz aufmerksam ge-
worden war, beruft sich Spee auf die lateinischen, nach dem Accent gebau-
ten Hymnen , von denen er Fange Ungua gloriosi als Muster eines trochai-
schen Verses anführt ; vielleicht hat aber auch das Volkslied des Niederrheins
ihm Anleitung gegeben. Auf jeden Fall waren die von ihm gebrauchten
jambischen Strophenformen grossentheils sowohl in der Hymnenpoesie -^ als
im gesungenen Volkslied ^ bekannt; auch das Spiel mit Binnen-, Schlag- und
Kehrreimen, das Spee liebt, findet sich hier wie dort. An das erzsehlende
Volkslied erinnert deutlich der Poetisch Gesang von Francisco Xavier, worin
der Missionar als furchtloser Held dargestellt wird. Dass Spee seine Lieder
Dass sich neun Schicdbn an eim hasn gricJit. 39) (Jeb. vor 1611, gest. 1672 als Prediger.
8eine Sprache ist mundartlicli gefärbt.
§ 123. 1) In der sorgfältigen Auswahl der einsilbigen Wörter für Hebung und für
Senkung. 2) tfeb. zu Kaiserswerth 1.591, trat er 1610 in den Orden ein, und starb als
Opfer der Krankenpflege an der Pest zu Trier 1635. 3) Druckort Cöln, wo noch weitere
Auflagen bis 1709. Durch H. von Wessenberg, F. v. Schlegel, Brentano u. a. wurden erst
einzelne Gedichte, dann die ganze Sammlung erneut. Ausgabe nach dem Autograph des
Dichters von 1634 (Strassburger Bibl.) von (j. Balke. Leipzig 1879. In der Vorrede ist auch die
sonstige Litteratur über Spee angeführt, worunter 0. Hülscher, Progr. d. Kealgymn. zu
Düsseldorf 1871, mit Familiennachrichten. LB. 409. 4) Das Folgende nach der ein-
facheren Darstellung im Strassburger Msc. 5) S. Balke XLII. 6) Von Spes
51 Liedern sind 36 jambisch; 15 (LB. I. III) im Hildebrandston: 4 in dem des Bohnen-
lieds LB. 21 : 15 (LB. II mit Refrain) haben dieselbe Strophenform, aber ohne Binnenreim.
210 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVH JAHUH. § 123
für ilcn Gesang diclitcte gclit aus der Beigabc der Melodien hervor.' Volks-
thüinliclier als bei Opitz ist aucli in Specs Gedichten die Sprache behandelt:
er scheut sicli nicht verkürzte Wortformcn * und selbst mundartliche Aus-
drücke '•• zu gebrauchen. Alle diese Freiheiten hat der Dichter gewiss wohl
überlogt, wie er auch sorgsam an seinen Versen gefeilt und der ganzen
Sammlung eine Anordnung gegeben hat, welche von allgemeinen Betrach-
tungen über die Liebe zu Gott zur Schilderung der Passion und zuletzt des
Frohnleichnamsfestes hinführt. Mit Vorliebe bedient sich Spee der Ein-
kleidung in Ilirtonlieder und Hirtengesprajche, wie er denn auch die Sicclides
Miisce als die seinigen bezeichnet. Christus selbst , der gute Hirt , heisst
nun Daphnis, dessen Martertod von Dämon und llalton beklagt wird,'" wie
sie schon vorher zusammen Gottes Güte gepriesen haben. Diesem Preise
dient die Schilderung der Natur, welche zart beseelt " erscheint, und deren
wunderbare Gesetznifessigkcit unter anderem am Treiben der Bienen ''^ mit
tändelnder Nachahmung der Naturlautc vorgeführt wird. Auch wo Erza^hlung
folgt, liebt der Dichter von Naturschilderung auszugehn, wie das alte Volks-
lied. Nur ist bei ihm alles ins Weiche , Kleine , Kindliche , Süssliche ge-
wendet und es werden der Thrsenen, der Verzückungen zu viel.'^ An der
subjectiven Wahrheit der Auffassung ist nicht zu zweifeln. Der Dichter,
schon ganz auf Unterwerfung unter das religiöse Gebot , auf den Frieden
gerichtet, mochte inmitten der furchtbaren Wuth des Krieges diesen nur in
seinem Glauben finden.'* Dazu auch andere anzuleiten sang er seine Lieder
trotz der NacJitigaU, dazu schrieb er auch in Prosa sein Giildnes Tiigetidhuch^
welches ebenfalls zu Cöln 1649 gedruckt ward: '^ hier zeigt sich die bei den
Die trochaischen haben allerdings ihr Vorbild nur in der lat. Hyninendichtung. 7) Im
Druck. Im Msc. zu Trier ist der Platz dafür freigelassen. 8) Kalte Wind halt ein!
Auch die Inclination : Erklingens LB. 409, 18 und die Nachsetzung des Pronomens : den
Farben sein, der Haiton mein , sind gegen die grammatisch strenge Regel von Opitz.
9) Geit = geht, gähn und gon = gehn ; näulich = mit Mühe, wer Bogen = icelcher
Bogen. Daher hätte auch LB. 412, 39 staicre ^^ starke, heftige nicht verändert werden
sollen, zumal das "Wort öfters bei Spee wiederkehrt. 10) LB. 424. 11) Der
melancholische Eindruck des Mondscheins, die Flügel der Winde, die als Thränengüsse auf-
gefassten Quellen. Die ganze Natur empfindet Dankbarkeit gegen den Schöpfer. Schrecken
und Abscheu über das an Christus verübte Verbrechen. 12) LB. 416. 13) Ganz
fehlt es auch nicht an Missgriff'en : Balke S. L. 14) Der Confessionsstreitigkeiten
gedenkt er nur in N. 51, wo er vom Spott der Ketzer über das Fronleichnamsfest spricht.
15) Mehrere Auflagen bis 1749, 1829 von Brentano erneuert, dann noch 1850. Wie die
Trutznachtigall ward das G. Tugendbuch ins Lateinische und Tschechische übersetzt. In das
§ 123 KATHOLISCHE DICHTER. 211
Jesuiten so fein ausgebildete Rhetorik und ihre Methode, durch die vom
Beichtkinde verlangten Seufzer u. a. Rührung hervorzurufen, in herkömm-
licher Weise, wenn auch bei Spee das Gelernte zur eigenen Natur geworden
sein mag. Einen unvergesslichen Beweis innerer Freiheit hat er doch ge-
geben , indem er die Hexenprocesse durch eine freilich ohne seinen Namen
zu Rinteln 1631 erschienene Schrift Caidio criminalis^^ bekämpfte: als Beicht-
vater hatte er in Bamberg 1627 und 1628 über zweihundert dieser Schlacht-
opfer zum Tode vorbereitet und sich von ihrer aller Unschuld überzeugen
müssen.
Der von Spee angeschlagene Ton begegnet spaeter, nur so dass die poe-
tische Naturbeseelung in pantheistische Gedanken umschlsegt , bei Angelus
Silesius (§ 129); auch protestantische Kirchenlieder klingen, wohl ohne dass
die Verfasser von Spee wussten, an seine Weise an. Die katholische Dich-
tung zeigt seinen Einfluss noch spseter, aber freilich in Werken von weit
geringerem Werthe. Von dem Kapuziner Laurentius von Schnüffis ^"^ er-
schien zu Constanz 1682 Mirantisches Flötleiiiy oder geistliche ScMfferey, in
■welcher Christus, under dem Namen Daphnis, die in dem Sünden-Schlaff ver-
tiefte Seel Clorinda . . aufertvecU . . Noch mehrere aehnhche Werke folg-
ten,'^ darunter auch Mirantische Wunderspiel der Welt, 1701, worin die
Schilderung der üblichen Spiele an Harsdörfer, die geisthche Deutung an
mittelalterliche Werke wie das Goldne Spiel von Ingold (§ 90, 74) erinnert.
Rücksicht auf Andere beherrscht wieder den geisthchen Schriftsteller, wseh-
rend Spee aus innerem Triebe dichtete. Die Strophenformen bei Laurentius
sind dieselben wie bei Spee; Noten sind beigegeben und Bilder sollen den
Reiz der Lesewerke noch erhoehn. Laurentius war erst nach einem sehr
weltlichen Hofleben ins Kloster getreten, mehr des bisherigen Treibens müde
als aus Herzensdrang.
Tugendbuch sind Lieder aus der Trutznachtigall aufgenommen, z. Th. in älterer Fassung.
16) Schon 1632 folgten zwei Nachdrucke; später Übersetzungen ins Deutsche, Holländische
und Französische. Der Name des Verf. ward erst durch Leibnitz allgemeiner bekannt.
17) Eigentlich Johann Martin, welchen Namen er in Mirant umsetzte. Geb. zu Schnifis in
Vorarlberg 1633, war er Schauspieler am Hofe zu Innsbruck, trat 1665 ins Kloster und
starb in Constanz 1702. Seine Bekehrung erzählt er allegorisch in Philotheus, Wien 1678.
18) Mirantische Wald-ScMlhney, Constanz 1688, Mirantische Mault rummel, ebd. 1690,
Mirantische Mayenpfeijf, Dillingen 1692, Futer über die M. Maultrummel, Const. 1699,
Marianische Einöd , Sieben Hauptschmerzen. Auch die Vielfarbige HimvieU-Tulipan,
212 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVU JAHiai. § 123
Diigcgou stellt dem Dichter Spcc sein Ordensbruder Jacoi» Bälde '"
allerdings würdig zur Seite, und wie jener den religiocsen, so gab er den
politischen Ideen der (iegenrcformation überzeugten kunstvollen Ausdruck.
Dem stolzen Herrschergefühl, den zuversichtlichen Siegeslioffnungen ist es
ganz angemessen , dass der Dichter Sprache und metrische Formen der roe-
mischen Dichter aus der Imperatorenzeit gebraucht.^** Er feiert die katho-
lischen Fürsten und Führer, Tilly, Pappenheim, vor allen seinen Kurfürsten
Maximilian.'-' Er klagt über den Umschwung des Krieges, auch über die
Verwüstung seiner elsa3ssischen Heimat und warnt die Deutschen vor dem
Nachäffen franzcosischer Sprache und Sitte." Zahlreiche persocnliche Bezie-
hungen verbirgt er hinter ersonnenen oder dem Alterthum entlehnten Namen.
Für NaturschcDnheit ist er empfänglich , waehrend er in seinen zahlreichen
Gedichten auf die Jungfrau Maria mehr Pracht als Gefühl zeigt, wie er auch
als dramatischer Dichter nach Senecas Muster bei den Ordensfesten wirkte
und selbst als Historiker^^ tha?tig war. Gegen diese Leistungen sticht jedoch
das Wenige scharf ab was er deutsch gedichtet: nicht bloss sein Agathyrsus
Tentsch^ München 1647, worin er gegenüber den Spöttereien über die Mage-
ren, zu denen er auch zsehlte, die Leiden der Feisten schadenfroh und derb
ausmalt. Auch in seinem Ehrenpräss Marice 1688 wirkt die bairisch ge-
färbte Sprache , der unbeholfne Yersbau den Absichten des Dichters ent-
gegen.-* Und dies gilt nun auch von den meisten gleichzeitigen oder spae-
5. Aufl. Einsiedeln 1753, wird ihm in der ADB. zugeschrieben. 19) (ieb. löO-i zu
Ensisheim. als Ingolstadter «Student 1G24 in den Orden eingetreten, gest. 1668 als Hof-
prediger zu Neuburg an der Donau. G. Westerniayer, Jacobus Bälde, sein Leben und seine
Werke. München 1868. 20) Seine Lyrica, zuerst München 1643 gesammelt, umfassen
4 Bücher Oden und ein Buch Epodon. wie bei Horaz. Eine Gesammtausgabe seiner Poemata
erschien zuerst Cöln 166U; eine vervollständigte München 1730. Vieles, insbesondere von
seinen Prosaschriften, kam nicht in den Druck. 21) Die zeitgenössische Polemik Baldes
abstreifend, hat zuerst wieder Herder in der Terpsichore 1795 den Dichter durch eine Über-
setzung ausgewsehlter Oden bekannt gemacht und seinen stoischen, weltbürgerlichen Sinn,
seine erhabene, reichgeschmückte Ausdrucksweise gepriesen. Seitdem folgten zahlreiche
L'bersetzungen : von Xeubig. München 1828; Aigner. Augsburg 1831: Knapp. Christoterpe
1848; Schroth und Schleich, Renaissance, München 1870. Zu seiner Zeit haben die Nürn-
berger Dichter, aber auch Gryphius. einiges übersetzt. 22) Dies thut übrigens auch
Laurentius a Schnüfis. der Philanders Schriften kennt. 23) E. X. v. AVegele. Gesch. d.
deutschen Historiographie S. 388. 24) Jo. Ulr. Erhard übertrug Baldes Gedicht als
Eeformierter Ehrenpreis auf Christus, Stuttgart 1674 (Herder). Sein eigenes lat. Poema
de vanitate mundi versetzte (ebenso wie den Agathyrsus) der Dichter in das Teutsch:
§ 124 DICPITER DER SPRACIIGESELLSCIIAFTEN. 213
teren Dichtungen in deutscher Sprache, -welche von seinen Ordensgenossen
herrühren: im J. 1731 hat ein Gegner des Ordens, O. Litzel unter dem
Namen Megalissus eine Sammlung von Proben der Jesuitenpoesie** veranstaltet,
die seine Behauptung in der Schrift Der Undeutsche KatholiJc, dass die Poesie
seit Opitz durchaus protestantisch sei, wenigstens bei den Zeitgenossen recht-
fertigte.
§ 124.
Wsehrend im Süden Deutschlands die Versuche in der neuen Dicht-
kunst vereinzelt auftraten und eine dauernde Nachwirkung nicht hatten, brei-
tete sich im mittleren und in Norddeutschland das strengere Gesetz der poe-
tischen Form rasch und weithin aus. Die Sprachgesellschaften riefen einen
wahren Wetteifer in der Erzeugung von Gedichten, die ihm genügen sollten,
hervor. Leider stand mit der Menge der Gedichte ihre Treiüichkeit durch-
aus nicht im Verhältniss. Der patriotische Eifer, welcher den Adel trieb,
konnte eine wirklich dichterische Anlage nicht ersetzen; und die Professoren
der Poesie, die bisher von Amtswegen lateinische Gedichte für ihre Körper-
schaften verfasst hatten und nun auch mit deutschen ihren Verpflichtungen
nachkamen, lieferten zwar correcte Arbeiten, aber keineswegs Dichtwerke von
wirklichem Werthe. Einzelne Schwärmer brachten vollends durch sinnlose
Wagnisse und hohles Selbstlob die gelehrte Dichtung beinahe in dieselbe
Missachtung, welche die volksthümhche schon längst getroffen hatte. '
Unter den Sprachgesellschaften hatte die groesste Wirkung die älteste,
Warheit , gesungen von der Eitelkeit der Welt. Diesen und den andern strophischen
Gedichten steht ein Wiegengesang auf eine bairische Prinzessin (Westermayer 205) mit noch
weniger gelungenen Alexandrinern zur Seite. Heftigste Polemik athmet das ebenfalls zuerst
lat. gedichtete Ein neues geistliches Lied von einer ivilden Sau, icodurch der abtrünnige
Blartin Luther abgebildet. Mit Musiknoten 1717. In diesem wie in den anderen satirischen
deutschen Gedichten mischt sich viel Latein ein. 25) Frankfurt und Leipzig 1731.
Vgl. auch die Bemerkung, die Leibnitz einem Jesuiten gegenüber 1715 macht: neque enim
emendatio patriae poeseos, quam inde ab anno trigesimo superioris seculi imigna Germa)iiae
pars amplexa est, in collegia x>atruin societatis Jesu, quod sciam, penetravit. Guhrauer,
Leibnitz' Deutsche Schriften 1, 60 Anm.
§ 124. 1) Einigermassen bezeichnend hiefür ist die weitverbreitete Form Versehe,
welche sich sogar in Xeumarks Neusprossendem Palmbaum in den vorausgeschickten Ehren-
gedichten für diese gebraucht findet. Noch Heinrich von Kleist musste den Hohn dieser
Form im 3Iunde seiner Verwandten spüren, als seine Dichterplsene gescheitert waren. Sie
stammt aus dem Niederdeutschen, s. Lauremberg 4, 112. 244. 256. 375. Vgl. noch verschte
(= machte Verse) im Keim auf herschte : "Wernike H. Sachs. VerscJiweise hat ohne schlimmen
214 NEUIIOCIIDEUTSCIIE ZEIT. XYll JAIUül. § 12-i
zugleich (las Muster der übrigen. So lange Ludwig von Anhalt die Frucht-
BRiN<;EXbK Gesell.schaft leitete, sah sie sich zwar durch die Zeitumstände
gena?thigt, einige Feldherrn und Staatsmänner des SOjahrigcn Krieges aufzu-
nehmen, welche, zumal wenn sie fremden Nationen angeliojrten, für deutsche
Sprache und Litteratur kaum ein Verständniss haben konnten; aber sie
strebte doch danach auch die besten Dichter sich zu verbinden und durch
Ausbildung von Sprachrogel und Verskunst eine Aufgabe von hoher Bedeu-
tung zu Icpscn. Unter Ludwigs Nachfolger , Wilhelm von Weimar , dem
Schmackhaften {l()bl—lC)V)2)^ trat mehr und mehr eine äusserliche Auffassung
des Gesellschaftszwecks hervor: die Fruchtbringende Gesellschaft ward zum
Palmenorden, man nahm mit Yorliebe hochstehende Perscenlichkeiten auf^
und feierte die Aufnahmen mit vielem Gepränge; die dichterische Thjetigkeit
der Gesellschaft war wenig angesehnen Beamten , so dem Erzschreinhalter
Neumark überlassen. Der dritte Vorstand der Gesellschaft, Herzog August
von Sachsen zu Halle, der Wohlgcrathene (1667 — 1680) brachte die Zahl
der Mitglieder, die unter Ludwig 527, unter Wilhelm 789 betragen hatte,
auf 890.* Nach seinem Tode blieb die Gesellschaft ohne Oberhaupt und
folglich ohne weitere Wirksamkeit.^
Schon unter Ludwig hatten die meisten Mitglieder, die durch die Ge-
sellschaft zur Schriftstellerei veranlasst wurden, sich mit dem Übersetzen be-
gnügt oder doch groessere Werke nur auf diese Weise verfasst: so Ludwig
selbst (§ 115, 2), so Tobias Hüebner der Nütjshare und Dietrich von dem
Werder^ der Vielgekörnte (§ 118, 5). Doch zeigte der Fürst sich in den
zahlreichen lieimgesetzen für die Mitglieder seiner Gesellschaft und in anderen
Gedichten für deren Zwecke (§ 120, 1-4) mit selbständiger Erfindung; Hüeb-
ner dichtete für Ritterspiele bei Hoffesten, u. a. beim Empfang der Kur-
Nebensinn V. Löber. 2) €'ber das Geschlecht- und Wappenbuch der Fruchtbr. Ges.
unter Herzog Wilhelm s. Weim. Jb. 3, 119 fg. 3) Neumark, Neusprossender Palmbaum
8. 34 zfehlt auf: Ein König, drei Kurfürsten. 4ft Herzoge u. s. w. Auch der grosse Kurfürst
war Mitglied und wenigstens in der Keinhaltung der deutschen Sprache eifrig: Dünger Wb.
der Verdeutschungen. S. 32 fg. 4) Verzeichnis« der ersten 806 in Neuraarks Palmbaum,
der übrigen in Amarantes (Herdegen) Hirten- und Blumenorden S. 855 fg. 5) Eine
Klage über diesen Ausgang in einer Vorrede von 1706 bei Gottsched Not. Vorrath.
276. 6) Über beide s. G. Witkowski. Diederich von dem Werder. Leipzig 1887. Tobias
Hüebner. Hofmeister zu Bernburg, lebte 1578 — 1636: Werder 1584 geb. zu Werdershausen,
am Mauritianum zu Cassel erzogen, lebte bis 1628 in hessischen, später in anhaltinischen
Diensten und starb 1657. Zu seinen Übersetzungen gehört auch die des geschichtsallegerischen
§ 124 FRUCHTBRINGENDE GESELLSCHAFT. 215
fürstin Elisabeth in Heidelberg 1613;' Werder hat eine Anzahl religioescr
Gedichte z. Th. in künstlichen Formen verfasst.^ Von den gelehrten Mit-
gUedern der Gesellschaft zu Ludwigs Zeit galt — abgesehen von Opitz —
Buchner, der Genossene als vortrefflicher Dichter.^ Allein Geschmack und
Sorgfalt, wie er als Lehrer und Beurtheilcr anderer sie gezeigt (§ 120, 11),
und selbst eine gewisse Kühnheit, wovon seine Anwendung und Vertheidiguug
des Dactylus zeugt , entschädigen nicht für den unwichtigen Inhalt der Ge-
legenheitsgedichte und die überkommenen Gedanken der geistlichen Dich-
tungen.'" In ziemlich platten Alexandrinern dichtete Christian Gueintz,''
der Ordnende (§ 120, 44) ein Loh der DrucJcerey-Kunst auff das Jubelfest,
Halle 1640,'- ein damals mehrfach behandelter'^ Gegenstand. In demselben
Jahr erschien von J. G. Schottelius (§ 120, 15) Lamentatio Germanice ex-
spiranfis , Der mmmehr hinsterbenden Nymphen Germanice elendeste Todes-
Mage, '^ in kräftigem, etwas rauhem Tone, gleichfalls in Alexandrinern.
Die spaeteren Dichter der Fruchtbringenden Gesellschaft zeigen bereits
den Einfluss anderer Meister, insbesondere auf lyrischem Gebiet. So schliesst
sich Ernst Christoph Homburg '^ eng an Opitz an, dessen Liebesoden im
Schsefercostüm er in seiner Schimpff- und Ernsthafften Clio '^ 1638 vielfach
parodiert. Daneben stehn einerseits Studentenlicder ausgelassener Art, and-
rerseits Übersetzungen aus dem Niederländischen, wie denn der Dichter spseter
Prosaroraans Dianea von Loredano. Nürnberg 1644. 7) AVitkowski S. 5. 8) Ebd.
114. Insbesondei-e hat er Krieg und Sieg Christi gesungen in 100 Sonnetten, Da in jedem
Verse die heyden Wörter Krieg und Sieg tvenigstens einmal befindlich sein: eine Spielerei,
die dem Italienischen abgesehn ist. Die Sammlung erschien Wittenberg 1631. Die
Busspsalraen mit einem Klagelied über Magdeburgs Zerstoerung. Leipzig 1632. Über ein
gefühlvolles Trauergedicht auf seine erste Gattin Selbsteigene Gottselige Thränen , Halle
1625: vgl. Weim. Jb. 2, 211. 9) Sogar P. Fleming sagt (Jenaer Ausg. 1651 S. 189
Nach Herrn Opitzens seinem Versterben) : Ist Buchner nur nicht todt , so lebet Opitz
noch. 10) Buchners Nachtmahl des Herrn, Wittenberg 1628, ist wiederabgedruckt im
Weim. Jb. 2, 1 ff., wo auch das Ballet bei Churfürst Johann Georg II Beylager, 1638 zu Gotha
gehalten nach der Hs. Sonst nur Gelegenheitsgedichte in Einzeldrucken. H) Geb. 1592,
starb als Rector zu Halle 1650. 12) Krause, Ludwig v. Anhalt 3, 153. 13) Von
Rumpier und Schneuber in Strassburg (§ 122, 29), von Tscherning in Breslau, D. Ged. Früling
S. 132. Zesen, Gebundene Lob-Rede von der . . Buchdrückerei/, Hamburg 1642. 14) Druckort
Braunschweig. Merkwürdige Reimfreiheiten: getroffen: aussruff'en, und besonders in Ver-
nachlässigung des Umlauts: gebuhlet: gefühlet, Kugel: Zügel. 15) Geb. zu Mühla bei
Eisenach 1605. Rechtsconsulent in Naumburg, starb 1681. In des Fruchtb. Ges. der Keusche.
16) 0. 0. mit den Vornamen Erasmi Chnjsophili. 2. Aufl. in 2 Theilen, Jena 1642. Das
Lied Kinder viüssen jetzo sagen ^ obgleich Gelegenheitsgedicht, ist in Cocay Teutscher
216 NEUIIÜCHDEUTÖCIIE ZEIT. XYII JAllUll. § 124
Cats' Selbstrcit '^ übersetzt hat. Eine Trayico-Comcedia von der verliebten
Schäffhnn Dnlcimunda 1643 criiinort an die Nürnberger Schule. Spajtcr
sandte sicli Homburg der ernsteren Dichtung zu, und liess üeistliclic Lieder
1658 und 1659 mit den Melodien erscheinen. Ein Thüringer wie Homburg
und ebenso auf die musicalisclie Composition seiner Gedichte bedacht und
sogar selbst dafür thwtig war sein Freund G. Neumark (§ 120, 16) der Spros-
sende. Schwere Jugendschicksalc führten ihn frühe zur geistlichen Dichtung,
und sein Lied Wer nur den liehen Gott lässt tvalten ist der Dank für Er-
rettung aus bedrängter Lage.'^ Auch er ging von der Schaeferpocsie aus
und trat zuerst mit einem Schacfergcdicht Betrüht-verliehter doch endlich hoch-
erfreuter lliirte Filamon tvegen seiner . . Belli/lora, Hamburg 1640"* hervor.
1651 zu Danzig folgten mehrere Gedichte, die Neumark meist aus Cats ver-
hüchdeutscht hatte : Sofonisbe, Kleopatra, Fryne Bozene, letzteres wieder eine
Schöpferin feiernd.'-'* Seine lyrischen Gedichte vereinigte er in Poetisch- und
Musikalisches Lustwäldchcn Hamburg 1652;-' auch hier ist die schaeferische
Verkleidung besonders stark vertreten. In spfeteren Jahren wandte sich Neu-
mark mehr und mehr der geistlichen Dichtung zu."
Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft war auch Philipp Zesen als
der Wohlsetsende; aber er suchte sich ein eigenes Feld für seine Rührigkeit
und Neuerungssucht, indem er die Deutschgesinnte Genossenschaft zu Ham-
burg 1643 begründetet^ Er wusste zur Theilnahme auch angesehene Schrift-
Lahtjrinth S. 65 wieder zu finden. 17) Nürnberg 1(M7. 18) Weim. Jb. 3. 176 fl'.
Die Erzählung, wonach der Dichter seine Viola di Gamba (Cello), die er versetzt und nach
unvemmtheter Unterstützung wieder eingelöst hatte, mit diesem Liede wieder als die seinige
begrüsste. findet sich zuerst bei Herdegen (Amarantes) Gesch. des Blumenordens. Neumark
spielte das Instrument meisterhaft und hat sich auf dem Titel des Lustioäldchcns damit
abbilden lassen. 19) Wiederholt Königsberg 1648. 20) Spater zusammen mit
Der Sieghafte David u. a. im Poetisch - Historischer Lustgarten, Frankfurt 1666.
21) AViederholt in Fortgepflanzter Musikalisch- PoetiscJier Lustwald Jena 1657. 22) Des
Siirossenden unterschiedliche . . Lieder, Weimar 1675. 23) Über Stiftung und Ein-
richtung beriihtet Z. in Das hochdeutsche helikonische üosentahl, Amsterdam 1669: Der
deutschge^inneten Genossenschaft erste zwo Zünfte, Hamburg 1676: Das hochdeutsche
lAlientlial, Amst. 1679; Des Hochteutschen Nägleinthals Vorbericht, Hamb. 1687; Der
Teutschgesinnten Genosse nsclmft Zunft- und Geschlechtstmmen, Wittenberg 1685, vermehrt
ebd. 1705. Der Name der Genossenschaft wird übrigens schon 1647 in der Sammlung
Etlicher Sendeschreiben durch Bellin (Hamburg) erwsehnt. Die Anwendung des Wortes
Zunft auf die einzelnen Zweige der Gesellschaft lässt schon das Deutschthümelnde und
zngleich unbewusst Meistersingerische an Zesens Bestrebungen erkennen : die Wahl der
§ 124 DEUTSCHGESINNTE GENOSSENSCHAFT. 217
steller wie Harsdörfer und Moscherosch, selbst den Niederländer Joost van
Vondcl zu gewinnen, aber sie gaben nur ihren Namen dazu, ohne für die
Gesellschaft etwas zu leisten. Was die Genossenschaft als solche hervor-
brachte, trug den geistigen Stempel ihres Begründers, schloss sich an seine
Eigenthümlichkcit eng an. So wiederholten die meisten Anhänger Zesens vor
allem die puristischen Neigungen, die auch in der Rechtschreibung sich kund
geben (§ 120, 43); so ahmten sie auch seine hüpfenden Versmasso, seine
Klangspiele nach. Freilich hinter diesen Äusserlichkeiten , die durch Kühn-
heit und Künstlichkeit zuerst blenden mochten, war auch bei ihrem Meister
ein fester Kern nicht vorhanden; seine Eitelkeit verletzte, seine Wandelbar-
keit-* machte an ihm irre und so musste er es vielfach erleben, dass sich
anfängliche Gunst bald in Abneigung wandelte,-'' dass anstatt der Yerehrung,
die er zuerst genossen, bittrer Hohn ihm entgegentrat. Die Gutmüthigkeit,
mit welcher er diesen fast durchweg ertrug,'-*^ die Sanftmuth, welche er auch
in einem dürftigen Alter bewies, gewannen dann wieder das Mitleid, und
insbesondere die Frauen haben für seine treuen, wenn auch oft geschmack-
losen Huldigungen ihm durch Zuneigung und Fürsprache gelohnt.-^ So hat
Blumeunameu für die Zünfte, ihre Abgreuzung nach den Zahlen 81. 49, 25 das Spielerische
seines Treibens. 24) Ho verleugnete er mehrere seiner Verdeutschungen von Lehnwörtern,
die er im Anhang zur Roseniunde gebraucht hatte (S. 367) in der Heliconischen Hechel (S. 100) :
Wolff Purismus 86. Nur der Ausdruck Windfang für Mantel wurde ihm allerdings wohl
mit Unrecht vorgerückt: er ist rothwelsch: s. die Verzeichnisse bei Moscherosch und W.
Scherffer. Übrigens gab Zesen schon in der Behandlung seines eigenea Namens Anlass zu Klage :
er nennt sich nicht nur wie sein Vater Csesius oder Coesius, sondern auch Zese, Zesien. und
mit Übersetzung auch des Vornamens: Der Blaue Ritter, Bitterhold von Blauen, MarJwld ;
auch von Fürstenau, mit Verdeutschuntr des Namens seiner Heimat. .Sein (iesellschaftsuame
in der Deutschgesinnten Grenossenschaft ist der Fürtige. 25) Ein Beispiel bietet das Ver-
hältuiss zu Ludwig von Anhalt. 1648 in die Fruchtbr. Ges. aufgenommen, zeigt Zesen sich
wenig ehrerbietig gegen deren Oberhaupt und behauptet u. a., dass nur Gelehrte, besonders
Kritiker das Praedikat Durchlaucht wie lat. Illustris führen dürften. Schliesslich verwarnt
ihn Ludwig, seine neuerungssüchtigen Schriften ja nicht unter dem Namen der Gesellschaft
herauszugeben. Krause Erzschrein S. 413 fgg. Beachtung verdient auch, dass in Neumarks
Palmbaum andere Gesellschaften, aber nicht die von Zesen gestiftete, genannt werden.
26) Nur gegen Rists Anfeindungen wehrt er sich im Sendeschreiben an den Kreuztragenden
1664 und etwas heftiger gegen Sacer: jener undeutsche Nahmlteilige Naumhurger in der
Helikon. Hechel 1668. 27) In seiner Jugend hatte er eine besondere Verehrerin an
Dorothea Eleonora von Rosenthal, welche zu Breslau 1641 PoetiscJie Gedanken an einen
der deutsclien Poesie sonderbahren Beförderer erscheinen liess. Sie kannte Z. damals seit 163.0.
Da sie mit ihrer Freundin von Hohenthal in den nächsten Jahren in England und den
Niederlanden lebte, so vermuthete M. Gebhardt in einer Diss. Strassb. 1889 dass sie das
218 NEUliOClIDEUTSOJU!: ZEIT. XVli JAIÜill. § 124
08 ihm in seinem unstaiten, meist in den Niederlanden zugebrachten Leben, •'^
wenigstens an äusserlichen Ehren nicht gefehlt.'''-' Auch gelang es ihm durch
eine ausserordcntliciie Fruchtbarkeit^" immer von neuem Erstaunen zu erregen,
so sehr auch bei naOierer Betrachtung die rein auf den Brodorwerb gestellte
Veranlassung zu manchen Arbeiten, insbesondere den Übersetzungen, ersicht-
lich wird.*'
Als Dichter ging Zesen aus von den Anleitungen, die er auf der Schule
bei Gueintz, auf der Universitajt bei Büchner erhalten hatte: der von den
letzteren empfohlene Dactylus ist durch Zesen besonders viel in Anwendung
gebracht worden. Er dichtet auch dactylische Sonette,^- und verschnörkelt
diese Kunstform sonst durch die Einführung des Echos u. a. Erweiterungen,
wie er mit Verkennung des Grundbaus, auch die Verbindung der 8. Zeile
mit den folgenden nicht nur übt, sondern auch empfiehlt.'^ Dieselbe Neigung
durch äussere Mittel des Reims und Versmasses zu wirken beherrscht auch
sonst Zesens Lyrik: der Gedanke und Ausdruck wird ihm fast gleichgiltig.-'*
Urbild der Adriatischen Rosemund sei. SpsEter haben sich besonders anhaltinische und
holsteinische Fürstinnen Zesens angenommen. 28) Oeb. als Predigerssohn zu Priorau bei
Dessau 1719, kam er ltj42 nach den Niederlanden, und blieb, von häufigen Reisen abgesebu.
hier bis 1083. Erstarb in Hamburg Ui89. 29) Itjä^ njeherte ersieh in Regensburg dem
kaiserlichen Hofe und ward geadelt, worauf er sich Filipp oon Zesen oder Ccegius a Zesen
nannte, zuerst auf Büchertiteln 1657: doch unterschreibt er bereits die FrühlingsJust lti42
F. von Zesen. 30) Ein Verzeichniss seiner Schriften lieferte der Dringende (Ph. v.
Bährenstät') 1072. ein vermehrtes der Stützende (Gabler') Speyer 1G87. Es sind 89 gedruckte,
49 uugedruckte oder noch unfertige. Diese grosse Zahl soll zugleich widerlegen was man
sieh in Deutschland erzaehlte. dass Zesen in Holland Correctordienste thue: wie hätte er
dann Zeit zur Schriftstellerei gefunden. 31) Zu den Übersetzungen gehören Schriften
über Kriegsbaukunst, Anweisungen zum Zeichnen und Malen, geographische Werke über
Afrika. Amerika u. s. w. Ferner ein Theil der Romane Zesens. Ohne litterarischen Werth
sind auch die historischen uud philologischen Arbeiten Zesens: sein Leo Belgicus , eine
Schilderung der vereinigten Niederlande 1600. auch ins Deutsche übertragen, Nürnberg 1670:
Die rerschnuehete, doch wieder erhöhete Majestät d. i. Karls II Königs v. England Wunder-
geschicht, Amst. 1061: seine Beschreibung der Stadt Amsterdam. 1664: seine Moralin
Horatiana, Amst. 1656: Der erdichteten Heidnischen Gottheiten Herkunft und Begäbnüsse,
Nürnb. 1688. Diese Werke sind zugleich grüsstentheils mit Bildern geziert. Bemerkenswerth
für Zesens religiöse Überzeugung ist : Des Geistlichen Standes Urteile wider den Gewissens-
zwang in Glaubenssaclien und Des Weltliclien Standes Handlungen und Urteile tcider den
Gewissenszwang u. s. w.. beide Amst. 1665. 32) Vgl. Welti, (iesch. d. Sonatts S. 91 fgg.
33) Helicou III 1641. Er beruft sich auf die Eigenschaft des Sonetts, dass es ein Sinngedicht.
und kein Gesang sei. 34) Ein Muster von Geschmacklosigkeit ist die Reimceisse
Uertzogin (Anm. 36). worin Überschwänglichkeit und Plattheit in Schmeicheleien wett-
§ 124 PHILIPP VON ZESEN. 219
Er begann und schloss mit religioesen Liedern, ^^ von denen jedocli keines in
den GeniGindegebraucli übergegangen ist, so wenig wie die weltlichen Liebes-
lieder '" Zesens sich in den Liederbüchern seiner Zeit wieder finden. War-
mes Ileimatsgefühl beseelt sein Priorau oder Loh des Vaterlandes, Amsterdam
1680,^^ nur dass der Schmuck der Gelehrsamkeit allzu gehäuft erscheint und
durch Noten erläutert werden muss. Das eigenthümlichste Werk Zesens ist
sein Roman Adriatische Eosemund, Amsterdam 1645,^* worin Öelbsterlebtes
mit schaei'erischen Phantasien und gelehrten Gesprächen verquickt ist und
vielfach Gedichte sich einmischen. Hauptgegenstand ist eine nicht unerwie-
derte, aber wegen Religionsverschiedenheit aussichtslose Liebe. Die übrigen
Romane Zesens aus der früheren Zeit sind aus dem Franzoesischeu übersetzt: ^^
Die Traurige jedoch Fr ölich- Aussgehende Historia von Lysandern und Kalisten,
Leyden 1644; Ibrahims . . und Isahellen Wunder-Geschichte, Amsterdam 1645;
Die Afrikanische Sofonishe^ Amsterdam 1647. Dagegen kehrte er zu eigner
Erfindung zurück und zwar zur Ausschmückung biblischer Geschichte in
Assenat (und Joseph), Amst. 1670;^° Simson, Nürnberg 1679.^' Ein kurzer,
eifei'u. Seltsam betitelt ist auch Zeseus Heimsalaht welchen hei dem KröhnungsmaJile des . .
Dicht Dieisters . . Hilfen . . aufsetzte der Färtig -Wohlsetzende (Amst. 1G81). Die Vergleiche
des Süssen mit Zucker und Zimmt u. s. w. beginneu schon bei ihm: und wo einmal ein
Wort zum Reim passt. wird es ohne weiteres Bedenken gebraucht. 35) Melpomene
Oder Trauer- und Klagegedichte Vber das .. Leiden .. Christi, Halle 1638: Kindliche
Klio . . auf die Geburtsnacht . . Jesuleins, Hamburg 1641 ; Gekreutzigter Liebsflaminen oder
Geistliclier Gedichte Vorschmack, Hamburg 1653: Geistliche Seelenlust, Amst. 1657:
Frauenzimmer-Gebeht-Buch, Amst. 1657 u. ü. Drei Danklieder 1685. 3ü) Als Samm-
lungen sind hervorzuheben: Frühlings-Lust oder Lob- und Liebeslieder, Hamburg 1642;
Poetischer Rosenwülder Vorschmack, Hamburg 1642 : Frühlingslust ebd. 1642 u. ü. ; Dich-
terisclie Jugendflammen, ebd. 1651: Schöne Ilamburgerin, 1668: Die Eeimveisse Hertzogin,
1668; die beiden letztern auch in Dichterisclies Rosen- imd Lilientahl, Hamburg 1670.
37) In trochäischen Tetrametern mit Pause in der Caesur und Eeimwechsel. 38) Im
Anhang auch die Lustinne, worüber § 120, 35. Wiederholt 1664 und 1666. Mit Rosemund
und Ibrahim 1645 beginnt Zesen seine orthographischen und puristischen Schrullen zu
zeigen; doch ist die zweite Ausgabe des letzteren, Zweibrücken 1675, und die späteren
Romane davon wieder frei. Inhaltsaugaben und Proben der Romane Zesens bei Cholevius,
Die bedeutendsten deutschen Romane des 17. Jhs., Leipz. 1866. 39) Der erste nach
Daudiguier, die zwei andern nach der Scudery. 40) Er nennt Assenat eine Heilige Stahts-
Lieh- und Tjebensgeschicht und begründet dies Beiwort, wie er auch auf die gelehrten Quellen
hinweist, aus denen er schöpft. Einen Moses, den er neben Simson ankündigt, scheint er
nicht ausgeführt zu haben. 41) Simson ist der einzige Roman Zesens, von dem keine
weitere Auflage erschien. Die Abschweifungen dieses Romans sind keineswegs durch Palla-
vicinis Samsou. den v. Stubenberg Nürnberg 1657 übersetzt hatte, veranlasst, wie Cholevius
220 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVH JAHRH. § 124
fast zerhaektor Satzbau, die Iläiilung gleichbcdcutcnilor Ausdrücke, endlich
wenigstens im Simson die überniffissigc Fülle von unnützen Episoden zeigt
auc'li jetzt wieder die Übertreibung, die Zesen nun einmal nicht vermeiden
konnte.^'-
Mit Zesen anninglich befreundet,^^ dann aber sein unerbittlicher Gegner
war der Stifter des Schwancnordens , Joiiannks Rist.^* In der That waren
beide Naturen grundverschieden, trotz einiger Übereinstimmungen äusserliclier
Art. Gemeinsam war beiden die Leichtigkeit, Menge und Vielseitigkeit der
Schriftstellerei , die hohe Werthschätzung der dichterischen Form; auch in
ihrer Rührigkeit, ihrem Streben nacli äusseren p]hren begegnen sie sich. Aber
der musicalischen Stimmung Zescns steht die plastische Anschauung llists
gegenüber; wsehrend jener schwärmt und tändelt, gibt Rist die Wirklichkeit
fest und derb wieder; den kecken Neuerungen des ersteren setzt Rist das
Herkömmliche entgegen. Das dürftige , umherschweifende Litteratenleben
Zesens durfte der gutgestellte Pfarrherr von Wedel bemitleidenswerth und
deshalb auch verächtlich finden , weil Zesen gleichzeitig die groessten An-
sprüche erhob. Aber Rist verbreitete noch überdies Nachrichten über Zesen,
welche sonst unbezeugt und bei dessen kindlich gutmüthigem Wesen un-
glaubhaft sind.*^ Hier ist die Heftigkeit, mit welcher Rist auch sonst über
Neider und Verleumder klagt, nur allzu deutlich.'*''
Die erste Dichtungsgattung, mit der sich Rist beschäftigt und in welcher
er auch wohl seine beste Kraft gezeigt hat, ist das Drama. Und zwar ver-
mischt er meist mit der Allegorie des ernsten Schauspiels die ihm vortrefflich
gelingende Komik der Volksbühne, wie sie, ähnlich den niederländischen Kluch-
ten, auch in Hamburg lebendig gewesen sein muss. Von über 30 Stücken,
die Rist verfasst hatte, sind nur fünf erhalten.*" Den Gegenstand von vier Dra-
S. 104 vermutete. 42) Die Orthographie und ebenso die Wortwahl kehrt in diesen
spsetereu Publikationen zum Herkömmlichen zurück. 43) Rist lobt Zesens grammatische
Verdienste (in der Spraachühung 1643) und wiederholt dies Gedicht im Poet. Schauplatz
1G4G S. 47; Zesen besucht ihn 29. Juni 1648 in AV^edel: Hansen, Rist S. 137. Bei diesem
Anlass hat vielleicht Zesen nach seinem meissnischen Sprachgefühl, für welches sehn
und stehn nicht reimten, einen Ristschen Vers corrigiert: hieraus leitet Z. im Sende-
schreiben (Anm. 26) das ganze Zerwürfniss ab. 44) (Jeb. 1607 zu üttensen bei Hamburg.
1635 Pfarrer zu Wedel a. d. Elbe. gest. 1667. Theodor Hansen, J. Rist und seine Zeit.
Halle 1872. Auswahl seiner Dichtungen von Gödeke und Götze, Leipz. 188.5. 45) Zesen
sei 16.55 in Reval wegen eines Pasquills gefänglich eingezogen worden und habe in Lebens-
gefahr gestanden. 46) Im Vorbericht zum Friedejauchzenden Deutschland deutet er
auf seine geistlichen Mitbrüder als seine Verfolger hin : Hansen, Rist S. 113. 47) Gaedertz.
§ 124 RIST. 221
men bilden die Kriegszeiten, die Rist durchlebte und mit scharfer Beobach-
tung insbesondere ihres Einflusses auf den Bauernstand darstellte , so dass
diese Bilder sich denen von Moschcrosch und Grimmeishausen (§ 131. 134)
wohl an die Seite stellen können. Schon 1630 gab er unter fremdem Namen
heraus Jrenaromachia, worin die Feindschaft zwischen Bauern und Soldaten
mit nur zu schrecklicher Lebenswahrheit geschildert ist.^'^ 1634 folgte sein
Perseus , die Geschichte des macedonischen Kcenigs , untermischt mit einer
spasshaften Werbescene, welche an Shakesperes K. Heinrich IV wenigstens
erinnert.*^ 1647 veranlasste der Wunsch einer comoediespielenden Studenten-
gesellschaft aus Koenigsberg unter der Leitung von Andreas Gärtner Rist zur
Abfassung des Schauspiels Das Friede ivünschende Deutschland^ dem 1653
Das Friede jauchzende Deutschland folgte.^" Beide Stücke mischen unter die
Prosa , welche Rist der Schauspieler wegen vorzog , Lieder und komische
Zwischenspiele.^^ In den letzteren tritt beidemale Sausewind auf, aber im
ersten Stück nur als Yerkörperung der nach soldatischen Sitten lüstern ge-
wordenen academischen Jugend, im zweiten dagegen als deutliche Carricatur
Zesens. ^^ Das letzte Drama Rists ist die Depositio Cornuti Typographici
Das niederdeutsclie Di-ama, Berliu 1884 S. 34 fgg. 48) Abdruck von Gißdertz, im
Jahrbuch des Ver. f. nd. Spi-achforschung VII (1881) S. 100 fgg. zugleich mit eiuer Um-
setzung in die volksthümlichen vierhebigeii Verse, welche Erasmus Pfeiffer als Pseudo-
atratiotae (o. 0.) 1631 erscheiueu liess. Ebd. 134 Proben einer Umsetzung in den schlesischen
Bauerndialect, Breslau o. J. und S. 135 der Nachweis, dass in dem Drama eines ungenannten
Verfassei-s Eatio Status oder der itziger Älamodesierender rechter Staats Teufel o. 0. 1688
u. ö. Ilists Stücke stark ausgebeutet worden sind. Über die Aufführung der Irenaromachia
8. Walther im Correspondenzbl. des nd. Ver. VIII, 1883, S. m. Gsedertz Drama S. 237.
49) Als Tragoedia gedruckt zu Hamburg; aufgeführt zu Heide. Das Zwischenspiel wieder-
holt von Gsedertz. Jb. a. a. 0. 50) Das erstere Stück, zu Hambui-g aufgeführt und gedi-uckt,
ist oft wiederholt worden; das letztere, ausser in Hamburg, nur noch iu Nürnberg gedruckt,
ebeufalls 1653. Aufführungen iu Frankfurt macht Mentzel, Gesch. d. Theaters in Fkf.
S. 70 wahrscheinlich. Neudruck beider von M. Schletterer, Augsburg 1864. 51) Im
zweiten Stück ist überaus bemerkenswerth die Abneigung, mit welcher die Bauern den
Friedensschluss vernehmen: jetzt werden sie wieder auf Geistlichkeit und Obrigkeit zu hören
haben und können das Räuberleben, in welchem sie den Soldaten nacheifern, nicht fort-
führen. Die Schilderung des Bauei-nfestes ist so lebendig wie nur ein Bild von Ostade oder
Teniers. 52) Herr Eeuierhold von der blauen Wiese (Schletterer S. 174) wird mit
Sausewind verglichen : gemeint ist Ritterhold von Blauen, wie sich Zesen iü ier Auf-trahgs-
schriß zur Bosemund nennt. Sausewinds Geliebte heisst Rosemund, sie soll eine Wäscherin
sein, sehnlich wie man von Zesens Liebschaften auf der Universität erzsehlte. Ein Plagriat
wird dem Sausewind vorgeworfen: Schletterer S. 138. Die Art, wie Sausewind als Schaefer
wegen Schafdiebstahls Prügel erhält, erinnert au eiu Stück von Scher 1638, der sonst Eist
Wackernagel, Litter. Geschichte. U. 15
222 NEUIIOCHnRUTSCriR ZEIT. XVI 1 JAIIKII. § 124
165"), oine in Verse gcbraclite DarstoUung der Buclidruckcrgebräuche bei
der Jlrnonnung des Lehrlings /Aim (Jesellen.*^
Während jedocli Kists Dramen schon wegen der niederdeutschen
Sprache ihrer besten Scenen nur eine beschränkte Wirkung hatten, gewannen
ihm seine lyrisclien Gedichte, obschon weniger eigenthümUch , einen Ruhm,
der nur durch den Opitzens überboten ward. Seine Liebeslieder, die in der
Mtisa tcutonica, Hamburg 1084,'*^ m Poetischer Lustgarte, Hamburg 1G88, Des
Daphnis aus Cimhrien Galathee 1642, erschienen waren, fanden ihren Weg in
die Liedcrbüclipr jener Zeit:""^ der Dichter selbst, in der spjeteren Sammlung
Poetischer Schauplatz, Hamburg 1G4G, wünschte freilich alle diese Verse ins
Feuer geworfen zu sehn. Er wandte sich früh und allma?hlich immer mehr der
geistlichen Liederdichtung zu, und errang durcli Fruchtbarkeit •'^' und Glätte sich
auch auf diesem Gebiete eine vorzügliche Stelle , wenn auch nur gerarte die
ältesten als wirkUch ausgezeichnet galten und gelten durften;" darunter das
vielgerühmte 0 Eimglceit, du Donner wort. ■''^ Geistlicher Malinung dienen auch
die auf bestimmte Veranlassungen verfassten Schriften: Holstein, vergiss es
nicht, die Schilderung eines verderblichen Sturmes, Hamburg 1648, und eine
Reihe von Gedichten auf den Frieden. ^^ Zahlreiche Gelegenheitsgedichte
vereinigt Rists Neuer Teutscher Parnass, Lüneburg 1652:"" Parnass nannte
der Dichter einen schattigen Hügel mit schoener Aussicht bei Wedel a. d.
Elbe. In den letzten Jahren wandte sich Rist der Prosa zu und verfasste
eine Anzahl Erörterungen über Das allercdelste Nass der gantzen Welt (die
benutzte, nach (jaedertz Xtl. Drama S. 54. s. u. zu Lauremberg: aber auih an den Berger
Extravagant von Corneille. 53) o. 0. (Lüneburg), wiederholt Frankfurt 1677 : abgedruckt
Akad. Blätter 1, 387 fgg. 441 fgg. und Lüneburg 1886. Aucb in diesem Stück sind nieder-
deutsche Kiemente. 54) Wiederholt 1637 und 1640. Darin auch Pindarische Oden
aus persoMilichen Anlässen. Einzelne Lieder feiern die Siege der protestantischen Partei.
55) S. zu § 117. 1. Eiu von Herder ausgezeichnetes Lied s. LB. 521. 56) Die geistlichen
Lieder hebt Hansen, .1. Rist besonders heraus: er ztehlt S. 308 mindestens 634. Hansen unter-
scheidet folgende Sammlungen : Himmlische Lieder, Lüneburg 1641. 42 ; Neue himmh'scJie
Lieder, Lüneburg 1651: SabbathiscJie Seelenlust, ebd. 1651: Alltägliche Hausmusik, 1654;
Musikalische Festandachten, 1655: Musik. Katechistnusandachten, 1656: Seelengespräche,
165S: Musikalische Kreuz- Trost- Lob- und Dankschule, 1659: Musikalisches Seelen-
pnradies, 1660. 62; Passionsandachten, 1664. 57) In Himlisclier Lieder erstes Zehn,
Lüneburg 1641, steht das Lied LB. 528, die Ausführung eines Liedes in der kath. Samm-
lung von Corner 1631: (jödeke und Götze S. 215. 58) LB. 525: aus der dritten Dekade.
Lüneburg 1642. 59) So schon 1640 Krieges und Friedensspiegcl , Hamburg 1640. Die
Soldaten werden auch hier als Sprachverderber gescholten: vgl. § 114, 4. 60) Wiederholt
§ 125 ELBSCIIWANENORDEN. 223
Dinte), Hamburg 1663®' u. ä. , was wesentlich persccnliches Interesse hat.
Diese letzten Zeiten waren durch neuen Kj-ieg (zwischen Schweden und
Dänemark) und andere unglückliche Umstände dem Dichter schwer gewor-
den: ihn trcesteten die Ehren, welche er früher errungen, 1647 die Aufnahme
in die Fruchtbringende Gesellschaft als der Rüstige , etwas spseter die Er-
nennung zum Comes Palatinus , der selbst Dichterkrocnungcn vornehmen
konnte.*^' Yon dieser Ehre entnahm er den Anlass sich in dem von ihm
lOoS''-^ gestifteten Elbschwanenordeu als Pulatin zu bezeichnen. Die übrigen
Mitglieder des Ordens konnten sich ihm nur von fern vergleichen; die llaupt-
schrift über den Orden : Deutscher Zimhersivan von Candorin (Konrad von
Hcevelen) 1662 stoesst durch ihre theilweise an Zesen sich anschliessende,
theilweise selbständig verdrehte Orthographie ebenso ab wie durch ihr Ge-
schimpfe auf die Missgünstigen. Mit Rists Tod scheint der Orden erloschen
zu sein; besser bewtehrte sich Zesens Deutschgesinnte Genossenschaft, wenig-
stens ward noch zu Anfang des 18. Jhs. ein Verzeichniss ihrer Mitglieder*'^
ausgegeben.
§ 125.
Am längsten aber dauerte der Hirten- und Blnmenorden an der
Pegnitz,' der mit zeitgemaessen Wandlungen sich als litterarische Gesellschaft
bis zur Gegenwart erhalten hat. Diese Dauer erklsert sich daraus, dass der
Orden wesentlich die dichterischen Bestrebungen der Patrizier und Gelehrten
1657 und Copenliageu 1668. 61) U. ö. Feruer: Das aller edelste Lehen (Landlebeu),
1663; Bie aller edelste Thorheit, 1664; Die alleredelste Belustigimg, 1666; Die aller-
edelste Erfindung, 1667; Die alleredelste Zeitverkürzung, 1668. Diese Sehriftstellerei wurde
fortgesetzt von Er. Francis« (§ 131); die ganze Sammlung von 12 Mouatsgespraechen erschien
als Recreations-Jahr, Fkf. und Augsburg 1703: Hansen S. 150. 62) Ein von ihm aus-
gestelltes Diplom von 1663, bei Hansen 178 igg. 63) Walther, Anz. z. Zeitsch. f. d. Alt. 28,
108. Raehse im Neudruck von Schwiegers Geharnschte Venus S. X. Walther erinnert daran,
dass schon 1652 die 'Elbschsefer' verbunden waren, nach Rists Andeutungen. 64) Witten-
berg 1705. Von den übrigen li tte ra ri sehen Gres e lisch aften des 17. Jahrhunderts
ist keine durch namhafte Leistungen bekanntgeworden: die Liliengesellschaft in Thüringen:
Barthold, Gesch. d. Fr. Ges. S. 275, der belorbeerte Taubenorden, für den PauUini 1692 ein
Programm veröffentlichte, nach welchem es übrigens mehr auf Geschichtsforschung abgesehen
war; der Leopoldenorden in Dresden, der 1695 gestiftet werden sollte, aber nach Weichmann,
Poesie der Niedersachsen, II. Bd. Vorrede, nicht das geringste geleistet hat u. s. w.
§ 1ä5. 1) Über die äussere Geschichte des Ordens s. Historisclie Nachricht von dess
löblichen Hirten- und Blumen-Ordens an der Pegnitz Anfang und Fortgang biss auf das
durch Göttl. Güte erreichte Hunderste Jahr . . von . . Amarantes (Johann Herdegen), Nürn-
berg 1744. Die dichterischen Leistungen des Ordens bespricht Julius Tittmann. Die Nürn-
224 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVH JAHllH. § 125
Nürnbergs /usiimmenfiisste, wenn schon besonders in seiner ersten Blüthezeit
aucli ausländische MitgHcder sicli iinschk)ssen.''' Die alte Reichsstadt und die
ihr angehörige Universitiet Altdorf' pflegten diese Bestrebungen mit demselben
pietaitvoUen, wenn auch beschränkten Sinne, vermcrgc deren auch die Kunst
der Meistersinger und selbst die der Spruchsprecher sich hier bis zu völligem
Absterben aus Altersschwäclie fortpfianzten/' Die politische Stellung Nürn-
bergs prffigte sich in dem vermittelnden Geiste aus, welcher der Dichtung
der Pegnitzschajfer eigen war: sie lehnt sich an die schlesisch-mitteldeutsche
Schule an, steht aber auch mit der süddeutschen, selbst der katholischen
Poesie* in Zusammenhang. Und mehr als dies sonst geschehen war, tritt
hier von den Mustern der Rcnaissancepoesie die italienische und selbst die
spanische in den Vordergrund. Daher die schon im Namen der Gesellschaft
ausgedrückte Bevorzugung der Schäferpoesie.^ Nur dass noch offener als
anderwärts die rein allegorische Auffassung der Schaiferdichtung ausgespro-
chen wird,® dass politische und religiöse Gedanken sich in dies Kleid hüllen.
Der tändelnden Auffassung entsprach die Form: die Vorliebe für Klang-
wirkungen, für dactylische Versmasse. Stilistisch suchte man durch auffallende
Neubildungen und durch gehäufte Gegensätze zu wirken , wodurch freilich
gerade das Gegenteil von einfacher Natürlichkeit erzielt ward. Es begreift
sich aber diese Vorliebe für die sch»ferliclie Einkleidung aus der Sehnsucht
nach dem Frieden , aus der Abwendung von den Bildern der Verwüstung,
welche die Wirklichkeit dem Auge darbot.'' Auch die Geselligkeit der
Peffnitzschfefer nahm Formen der Schaeferwelt an: ein Poetenwäldchen bei
Nürnberg und etwas weiter entfernt ein Irrhain mit mancherlei Sinnbildern
und Erinnerungen auch an die verstorbenen Mitglieder wurden für die Zu-
sammenkünfte oder für einsame Betrachtungen aufgesucht.^ Ebenso ward die
berger Dichterscbule. Harsdörfer, Klaj, Birken. Göttingen 1847. 2) Harsdürfers Freunde
Schottel und Rist gehörten dem Orden an: spaeter namentlich mehrere Ostpreussen.
3) § 97. 113, 10; 95. 42. 113, 9. 4) Nachahmung Spes bei Harsdörfer in einem Liede
auf die Bienen: Beziehungen zu Bälde (Anm. 33) und andererseits Benutzung durch Lau-
rentius a Schnüffis: § 123. 5) Ebenso in der poetischen Theorie der Pegnitzschaefer :
§ 120, 25. 6) Harsdörfer wendet sich gegen den Vorwurf, dass die Hirten dergleichen
Unterredungen nicht führen, ja solche zu verstehen nicht fähig seien: er antwortet (Vorrede
zu Diana = Pegnitzschaefergedicht am 4. Blatt): Durch die Hirten oder Schäfer werden
verstanden die Poeten, durch ihre Schafe die Bücher und durch derselben Wolle ihre
Gedichte, durch die Scliafhunde ihre vom wichtigen Studiren müssige Stunden. 1) Hais-
dörfer, Vorr. zur Diaua. 8) S. hierüber Herdegeus Bericht und die beigegebenen
§ 125 NÜRNBERGER DICHTER. 225
Stiftung des Ordens schsoferlich ausgeschmückt: die zwei Begründer Hars-
dörfer und Klaj wollten für ein Hochzeitsfest mit Gedichten gewetteifert, und
als die Schiedsrichterin Fama den Kranz nicht hatte vergeben wollen, jeder
eine Blume daraus gezogen, die andern aber für die sich ihnen zum Yereine
anschliessenden Dichter vorbehalten haben. Ihre Dichter- und Schsefernamen
entlehnten sie zunächst der Arcadia von Sidney : hier erscheint ein Hirt
Clajus, den natürlich Klaj auf sich bezog, wsehrend Harsdörfer den Busenfreund
des Clajus, Strefon, vorstellte. So verfassten beide Dichter gemeinsam ihr
Pegnesisches SchcefergedicM, in den Berinorgischen Gefilden;^ und diese an die
Hercynia von Opitz erinnernde Form gemeinsam verfasster Hirtengedichte
wiederholt sich noch öfter als Ausdruck für die Gesellschaftsangelegenhoiten.^"
Mit dem gemeinschafthchen Grundzug vertrug sich indessen die Eigen-
thümlichkeit der einzelnen Mitglieder, welche erst spseter einer gleichma^ssigen
Frömmigkeit und Formglätte nachstrebten. Den eigentlichen Stifter und das
erste Oberhaupt der Gesellschaft zeichnete eine freiere Stellung und Bildung
aus : auch die Menge und Mannigfaltigkeit seiner Schriften gibt ihm eine
groessere Bedeutung. Georg Philipp Harsdcerfer , aus altem Nürnberger
Geschlecht 1607 geboren, hatte 1626—1631 Frankreich, England, Holland
und Italien bereist und war seit 1637 als angesehener Beamter in seiner
Vaterstadt thätig bis zu seinem Tode 1658. Yon seinen Schriften über die
Theorie und Geschichte der Sprache und Dichtung ist schon die Rede ge-
wesen.'^ Auch seine Übersetzungen können hier nur kurz berührt werden:
die der Diana des Monte-Major ,'- ferner die moralischen Erzsehlungen aus
dem Franzoesischen und Englischen u. a. Meist aber verarbeitete er fremde
Erfindungen zu Sammlungen, welche die neue und ausländische Bildung in
Deutschland einführen sollten: insbesondere zu seinen Frauenzimmer Gespräch-
spielen 1641 — 49.^^ Italienischen Vorbildern nachgeahmt,^* enthielt dies
Abbildungen. 9) Nürnberg 1644. 10) Fortsetzung der Pegnitz-Scliäferey . . durch
Floridan und Klujus . . Nürnberg 1645; hier wird die Stiftung des Ordens erzEehlt. Ferner
vcn Montano (Johann Hellwig) Die Nymphe Noris in Ziveyen Tagzeiten dargestellt,
Nürnb. 1650, mit Beiträgen auch von Birken, dessen Pegnesis (1 9 Hirtengedichte,
II 8 ebensolcher enthaltend) 1673. 79 erschien. 11) § 120, 24. 12) Nürnberg
1646 u. ö. Er benutzte dabei eine aeltere, aber nicht vollständige Übersetzung des Freiherrn
von Kuefstein. Herdegen, S. 70, schreibt Harsdörfer auch eine 1634 erschienene Übersetzung
der Dianea des Loredano zu, was wohl nur eine Verwechselung mit der Diedrichs v. d.
Werder (§ 124, 6) sein kann: Bobertag, Gesch. d. Rom. 2, 93. 13) Nürnberg, in
8Theilen. Von der Beliebtheit des Werks zeugt u. a. das Lob Schuppes im Freund in der Noth
(Neudruck S. 56). 14) Gsp. III 93, Namentlich hatte üirolamo Bargagli in einem
220 NEUIIOCIIDEUTÖCIIE ZEIT. XYll JAIllül. § 125
]Iiiui)t\vt>rk lliirsilürfcrs eine uncmlliclic Fülle von Spielen, aber auch sonst aller-
luind Lcsenswünligcs^ i. O. 300 Absdinittc mit zahlreichen Zugaben.''' Auch
die Ausstattung mit vielen Bildern war ganz im Geschmack der Zeit. Eigen-
tlühnlich und nicht unglücklich durchgeführt ist die dialogische Einkleidung,
indem sechs Personen von verschiedenem, aber durcliaus gutem Stande, drei
von jedem Cieschlccht, sich zusammenfinden und zum Zeitvertreib einander
belehren, Anecdoteu erzaililcn, lla3thsel aufgeben u. s. w. Alle diese Unter-
haltungen werden als Spiele aufgefasst, und so erhielt der Verfasser mit
gutem Grund in der Fruchtbringenden Gesellschaft den Beinamen des
Spiclmden. Doch fehlt in diesen Spielen und überhaupt in Harsdörfers
Schriften nicht der Bezug auf das Geistliche, das Biblische. So war schon
dem YI. Thcil eine lleihe von Andachtsyemüläen beigegeben, Betrachtungen
an Vignetten angeknüpft. Spaeter hat Ifarsdörfer Hertzheivegliche Sonntags-
andachtcn^^ nach den Evangelien- und Episteltcxtcn verfasst und noch 1656
Hundert Andachtxgcmälde folgen lassen. Selbst die Fabel und Parabel -
welche er als fast der Einzige in diesem Jahrhundert, noch dazu in prosai-
scher Form pflegte, — hat er an biblische Namen geknüpft in seiner Sammlung
Nathan und Jotham^ auf welche als Beigabe unter Simsons Namen zweimal
hundert Rsethsel in gereimten Vierzeilen folgen.'^
Mehr als Harsdörfer gebrauchte Johann Klaj die dramatische Form,
die er indessen eigenthümlich gestaltete, so dass gewissermassen die Urform
des griechischen Dramas bei ihm wiederkehrt: heilige Geschichten werden
so vorgetragen , dass der Dichter selbst abwechselnd erzajhlt und die Em-
pfindungen der von ihm dargestellten Personen ausspricht. Die Formen einer
bewegten Lyrik Icesen einander ab, auch Prosa mischt sich ein. Klaj trug
diese Dichtungen selbst in der Kirche nach gcendigtem Gottesdienste vor,
wobei er in einigen Stücken auch Sänger und Musiker als Chccre mitwirken
Dialogo de' giuochi, Venedig 1581 eine fehnliche Sammlung veranstaltet (Tittmann S. 22).
Eine franz(rsis(he 3Iaison des Jeus erschien erst 1G43. 15) Im 2. Theil findet sich dem
Franzcesischen nachgeahmt Bas Schauspiel Teutscher Spricluvörter. Hier und anderwärts
bekundet Harsdörfer seine Kenntniss deutscher Volkslitteratur : er citiert den Finkenritter
und die Lalenburger, auch Fischarts Verdeutschung des Erkenne dich selbst (2, 315).
Hauptsächlich aus spanischer Quelle (Lope de Vega, Tittmann Wi) stammt dagegen Melisa
oder der Gleichniss Freudenspiel , Beigabe zum III. Theil. Auf italienische Art gesetzet
ist das Geistliclie Waldgedicht oder Freudenspiel genannt Seelcuig, Gespr. sp. IV, eine
Allegorie auf die Versuchungen der Welt. Nach englischem Muster dramatisierte er die
Redekunst, Gesp. sp. V. 16) 11. Nürnberg 16-49. 1652. 17) II. Nürnberg 1650.
§ 125 HAKSDÖEFEK. lO^AJ. BIRKEN. 227
licss. Derartig sind sein WeijJmacht-Lied^^'^ seine Aufferstehung Jesu Christi^^^
seine Ilöllm- und Himmelfahrt J. Christi^ nebcnst darauf erfolgter Sichtbarer
Ausgiessung Gottes des Heiligen Geistes , -" der Leidende Christus in einem
Trauerspiele vor gestellet ^- ' Herodes der Kindermörder Nach Art eines Trauer-
spieles ausgehildet^-- Engel- und Drachenstreit. ^"^ Die Feste, welche in Nürn-
berg beim völligen Abscliluss des westphselischen Friedens stattfanden, gaben
Klaj Anlass zu seinem Schtvedischen Fried- und Freudenmahl.,-* zu dem Ge-
burtstag des Friedens und zur Irene, einer Beschreibung der einzelnen Feier-
lichkeiten.-'^ Er starb 1656 als Pfarrer zu Kitzingen; geb. zu Meissen 1616,
hatte er 1644 in Nürnberg eine Zuflucht gefunden, wo Harsdörfer ihn, den
Schüler Buchners, freundlich aufnahm und empfahl.
Ebenso war der dritte Hauptdichter unter den Pegnitzschajfern, der
1662 ihr zweiter Vorsteher ward, nicht in Nürnberg selbst geboren: Sieg-
mund VON BiKKEN, wie er sich nannte, seitdem er 1654 von Ferdinand III.
geadelt worden war. Sein Vater, Betulius, war Pfarrer zu Wildenstein in
Bcehmen gewesen, 1629 aber mit dem dreijsehrigen Sohne nach Nürnberg
geflohen. 1645 ward der jugendliche Dichter als Floridan in den Blumen-
orden aufgenommen; bald darauf boten die Friedensfeste ihm noch mehr als
Klaj Gelegenheit, sich durch Aufführungen im Geschmack der Zeit Bewun-
derer und Gönner zu verschaffen. Sein Schauspiel Teutscher Kriegs Ab- und
Friedens Einzug ward 1650 durch junge Patrizier vor den kaiserlichen und
schwedischen Bevollmächtigten aufgeführt ; die äusseren Umstände erzsehlt
der Dichter in seiner Geschichtsschrift: Die Friederfreuete Teutonie.-^ Auch
das Heldenspiel Margenis wird 1651 vorgestellt." Spaeter hat Birken be-
sonders Hoffesthchkeiten durch solche Stücke verherrlicht: so durch das
Singspiel Sophia *^ eine brandenburg-sächsische Vermsehlung. In allen diesen
Fällen wusste der Dichter durch pomphafte Schmeichelei sich die Gunst der
Grossen zu gewinnen. Schon 1648 war er durch Harsdörfer empfohlen neben
Schottel bei der Erziehung der jungen Herzöge von Braunschweig-Wolfen-
1651. Daraus LB. 512. 18) Nürnberg 1644. 1650 folgte ein Freudengedichte der selig-
machenden Geburt J. C. zu Ehren gesungen. 19) Ebd. 1644. 20) Ebd. 1644.
21) Ebd. 1645. Nach Hugo Grotius. 22) Ebd. 1615, nach Heinsius. 23) Ebd. 1645.
Dieses Stück wurde 1662 zu Altenburg durch den Rector Christian Funcke für eine
Aufführung bearbeitet: Gottsched, Not. Vorr. 1, 213; Nachlese S. 34. 24) Nürn-
berg 1649. 25) Beide letzteren erschienen Nürnberg 1650; mit Abbildungen.
26) Nürnberg 1652: Schauspiel. Ist auch aufgenommen in Teutschlands Krieges -Beschluss
und Friedenskuss (1650). 27) Gedr. Nürnberg 1671». 28) Bayreuth 1662. Gleich-
228 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVll JA1[IUI. § 120
biittcl tlut'tig gewesen: diesen widmete er später seine Guclfis oder Is^idcr-
sächsischer Lorheer liayn}'^ Ebenso schmückte er die Genealogie der säclisi-
schen Fürsten aus in dem Chur- und Fürstlichen Sächsischen HeldensaaV
Ganz besondere Sorgfalt aber verwendete er auf den Spiegel der Ehren des
Erzhauses Oesierreich^ Nürnberg 1G68, wobei er eine von Job. Jac. Fugger
1555 verfasste Arbeit zu Grunde legte, aber nach den Anweisungen des
Wiener Hofes vielfache Rücksichten zu nehmen hatte. ^' Neben diesen groes-
seren Werken war Birken als Übersetzer-*- und als Liederdichter vielfach
thaetig. In seinen Liedern hatte er anfänglich einen freieren Ton angeschla-
gen, schränkte sich aber mehr und mehr auf eine zugleich fromme ^^ und
prunkvolle Lyrik ein. Es war bezeichnend, dass der Pegnitzer Orden zu-
gleich mit seinem Antritt der Vorsteherschaft das bisherige Sinnbild der
PansfloDte mit der Passionsblume vertauschte. Auch Birkens Tod 1681 än-
derte in dieser Richtung des Ordens nichts ; nur kam allerdings der Schwulst
und die Vorliebe für bewegte Versmasse in Abnahme, als die spsetercn Vor-
steher Johann Daniel Omeis " (Dämon) und Christoph Fürer von Haimen-
DORF (Lilidor) die Lehren Morhofs und Weises und das Vorbild der fran-
zoesischen Classiker ^•' mit der Bewunderung der zweiten schlcsischen Dichter-
schule zu verbinden suchten. Fürer (1665—1732), der die höchste Stelle
im Nürnberger Freistaat bekleidete, gab hier noch einmal dem Dichternamen
äusseren Glanz, blieb jedoch bei Übersetzung und matter Nachahmung frem-
der Muster stehn.^^
§ 126.
Die Sprachgesellschaften vereinigten nur einen Thcil der Dichter der
Zeit, andere und gerade einige der besten standen für sich, und nur in inne-
rem Zusammenhang schlössen sich ihnen Nachahmer und Schüler an. Opitz
zeitig liess er ein Ballet der Natur aufführen, worin die vier Elemente u. ä. allegorische
Figuren auftraten. 29) Nürnberg 1669. Prosaschrift ebenso wie die nächstgenannten
historischen Werke. 30) Nürnberg 1677. 31) Der historische Werth dieser Arbeit Birkens
ist daher auch sehr gering, und schon wahrend der Entstehung des "Werkes durch den Wiener
Bibliothekar Lambecius absprechend beurtheilt worden. Vorausgegangen war Birkens Ost-
ländischer Lorheerliayn, 1657. 32) Ho übersetzte er, Nürnberg 1658, Baldes De abusu
Tabaci unter dem Titel: Die truckene Trunkenheit, und Androfilo, ein Schauspiel des
.Jesuiten Masenius, Lüneburg 1656. 33) Vgl. über seine Poetik § 120, 27. 34) Über
dessen Poetik s. § 120, 2.S; wo auch über seine Lebensverhältnisse. 35) Fürer über-
setzte aus Boileau und Corneille; daneben allerdings noch italienische Singspiele. 36) Ver-
mischter Gedichte Kranz, 1682; Gästliche Vesta und irdische Floia, 1702; Pomona oder
auff/esammelte Früchte der Einsamkeit, 1726.
§ 126 FLEMING. 229
galt auch diesen Dichtern als ihrer aller Führer, wenn schon das, was er
geleistet hatte, auch anderen erreichbar schien. Opitz ist namentlich von dem
Dichter ' hoch gepriesen worden , dessen poetischer Wcrth den Zeitgenossen
bereits fülilbar,* von Spaetern^ mit Recht über den seines Meisters erhoben
worden ist. Paul Fleming* war geboren 1609 zu Hartenstein im Voigt-
lande, wurde auf der Schule zu Mitweida, dann zu Leipzig mit lateinischer
Verskunst vertraut,^ auch musikalisch insbesondere durch Hermann Schein
(§ 95, 32) gebildet, und studierte an dem letztgenannten Orte Medicin, bis
die Verwüstungen des Krieges ihm die Heimath verleideten. Er ergriff die
Gelegenheit, eine holsteinische Gesandtschaft erst 1634 nach Moskau, dann
1636 — 1639 nach Persien zu begleiten. Mit zerrütteter Gesundheit heim-
gekehrt, erwarb er noch 1640 zu Leiden den Doctorgrad, starb aber bereits
am 2. April d. J. zu Hamburg. Die russisch-persische Reise ist auch sonst
litterarisch bedeutsam geworden, indem sie einem andern gelehrten Begleiter,
Adam Olearius, Anlass gab zu einer der bessern Prosaschriften dieser Zeit,
zur Beschreibung der newen orientalischen Heise ^ und zugleich zur Verdeut-
schung einer morgenländischen Dichtung: Persianischer Rosenthal . . von . .
Schich Saadi.^ Für Fleming ward die Reise die reichste Blüthezeit seines
Dichtens. Er gewann auf der Rückkehr in Reval die Liebe einer Braut,
von deren älterer Schwester er schon 1635 eine Zusage erhalten, aber durch
die weitere Fortsetzung der Reise wider ihren Wunsch verloren hatte; auch
das zweite, festere Band zerriss der frühe Tod des Dichters.^ Mit diesen
Liebesverhältnissen zusammen spiegeln sich in seinen Gedichten die mannig-
fachen Freundschaftsbeziehungen zu den Reisebegleitern , die bald heiter
glänzenden, bald furchtbaren und schmerzlichen Eindrücke der Fahrt. In
§ 126. 1) Vgl. die Totenklage Flemings auf Opitz LB. 457. 2) Das beweist die
Zahl der Auflagen, welche Flemings Gedichte erfuhren. 3) Von Morhof insbesondere.
4) Diese Namensform ist akrostichisch bezeugt; daneben und zwar in den älteren Einzel-
drucken nennt sich der Dichter Flemming. 5) Die lateinischen Gedichte sind zu
Flemings Lebzeiten nur theilweise und in Einzeldrucken erschienen , gesammelt sind sie
herausgegeben worden von J. M. Lappenberg, Stuttgart 1863 (Lit. Ver. LXXIII). Lappenberg
hat auch die deutschen Gedichte herausgegeben: Stuttg. 1865 (Lit. Ver. LXXXIL LXXXIII).
Eine Auswahl der letzteren von Tittmann, Leipzig 1870. Die Überlieferung der deutschen
Gedichte Flemings behandelt eine Greifswalder Dissertation von A. Bornemann, 1882.
6) Schleswig 1617, Vermehrt: Beschreibung der moshotoitischen und persianischen Beise,
1656 u. ö. Auszüge LB. 3, 669. 7) Schleswig 1654 (§ 117, 20). Darin Locmans Fabeln.
Ein Gedicht von Olearius § 122,36. 8) Die Beziehungen der Lieder Flemings auf die unter
mannigfachen Namen gefeierten Schwestern (Elsabe, Basile, Basilene, Salvie, Balthie u, s. w.
230 NEUllOCllDEUTSClIE ZEIT. XYll JAllKll. § 126
Folge porsönliclicr Erfahrungen und der Gcscliicke des Vaterlandes" ward
der Dichter, welcher alle idealen Güter, Freundschaft und Liebe, Kunst und
Ruhm freudig zu geniessen angelegt war, mit Schwennuth erfüllt, so sehr er
auch diese Stimmung durch den Preis froehlicher Gelage,'" mclir noch durch
das Bewusstsem seines Dichterwerthes " und durcli festes Gottvertrauen zu
überwinden strebte. Das kurz vor der Heise 1633 gedichtete Lied In allen
mcincti Thaten Lass ich den Höchsten rathen '^ spricht dies Gottvertrauen in
allgemein gültiger Weise aus. Flemings Gedichte sind meistens Gelegenheits-
gedichte, weshalb schon in den einzelnen Abthcilungen seiner Sammlung'"
die Glückwünschungen, Ilochzeits- und Begräbnissgedichte vorwiegen; aber
die Wahrlieit und die Lebhaftigkeit seines Gefühls, der leichte Fluss, die
reine Sprache verleihen ihnen den vollen Werth der lyrischen Dichtung. Vor
allem war Fleming Meister in der Handhabung derjenigen Form, welche
ihrem ganzen Wesen nach das Lyrische mit dem Epigrammatischen ver-
einigt, des Sonetts. Von groesserem Umfange ist ein Ilochzeitsgedicht,'* in
welchem er, durch die Hercynie von Opitz verführt, Poesie und Prosa zu
einer Schwfcrei verbindet. Eine Margenis '-^ nach dem Muster von Barclays
Argenis, als allegorischen Roman über die deutsche Geschichte seiner Zeit
zu schreiben, beabsiclitigte er 1633, liess jedoch dies Werk spseter fallen.
An Fleming schloss sich eine Reihe jüngerer Dichter an, welche wie
er als Studenten Liebes- und Zechlieder dichteten, und darin die von ihm
gezogenen Grenzen wohl auch überschritten. Es waren grossentheils Lands-
leute und die Universitaet Leipzig hatte sie zusammengeführt; z. Th. auch
trafen sie mit Fleming in Hamburg zusammen. Hamburg war eine der we-
nigen Städte Deutschlands, die durch den Krieg nicht litten; vielmehr nahm
die Stadt, durch Flüchtlinge aus den Niederlanden und dem Innern Deutsch-
lands, insbesondere aus Magdeburg, damals einen neuen Aufschwung. Der
blühende Handel brachte Wohlleben und Genusssucht mit sich ; aber auch
edlere Freuden wurden geschätzt und Hamburg hat von dieser Zeit an lange
als ein Sitz der Dichtung gegolten. Hier w^echselte Fleming bei der Rückkehr
von der grossen Reise Sonette mit Gotfried Finckelthaus "^ aus Lützen.
und Anna Amnie Aglaja Anemone Koril<») erläutert Lappenberg : vgl. auch J. Amelang. Baltische
Monatsschrift. 1881 S. 361 fgg. 9) LB. 2, 442. 445. 10) In diesem Ton auch ein ausge-
lassenes Hochzeitsgedicht. Die licfländische Schneegräfin, Lappenb. 8. '.>4. 11) Vgl. die
drei Tage vor dem Tod gedichtete (irabschrift. LB. 2. 4.5S. 12) LB. 447. 13) Nach
seinem Tode, aber in der von ihm selbst bestimmten Anordnung erschienen seine Teutschen
Poemata, zuerst Lübeck (1642), dann Jena 1651 u. ö. 14) Lappenberg S. 72.
15) Lappenberg 8. 354. 16) 8. Pröhle, Feldgarben. Leipzig 1859, wo auch ein frommer
§ 126 SÄCHSISCHE LIEDERDICHTER. 231
1640 veröffentlichte Finckclthaus seine Deutshe Gesänge (Hamburg o. J.),
welche wankelmüthige Liebe und treue Freundschaft preisen, und 1044 seine
Deutsche Lieder unter dem Namen Greger Federfechters zu Lützen, endlich
1645 u. ö. unter den Anfangsbuchstaben seines Namens G. F. Lustige Lieder.
Schon 1638 hatte er Geistliche Andachten im Anschluss an Salomons Hohes Lied
erscheinen lassen. Ein Leipziger war sein Freund Cukistian Breiime,'^ der
nach kurzem Kriegsdienst um 1640 nach Dresden an die Bibliothek kam,
1657 hier Bürgermeister wurde und 1667 starb. Von ihm erschienen 1637
Allerhand Lustige, Traurige und nach Gelegenheit der Zeit vorgekommene
Gedichte mit den Melodien; 1647 Die Vier Tage einer neuen und lustigen
Schäferey von der schoenen Coelinden und deren . . Schäfer Corimho. Den
gleichen leichten Ton schlug Johann Georg Schock aus Leipzig "^ an, wel-
cher mehr als durch seine Lieder (gesammelt als Neu-erhaueter Poetischer
Lust- und Blumengarten von hundert Schüfer-, Hirten-^ Liebes- und Tugend-
liedern . . J200 Sonneten . . 400 DenJcsprüchen. Leipzig 1660) sich durch
seine Comoedia vom Studentenlehen 1651 bekannt gemacht hat. '^ Liebeslieder
mit schäferlicher Yerkleidung dichtete auch David Schiemer aus Freiberg
(geb. um 1623, gest. nach 1682). Sein erstes (bis viertes) Rosengepüsche erschien
1650 u. ö. und (um ein neues Buch: erstes bis fünftes JRosengepüsche) ver-
mehret 1657; seine Poetische Pautengepüsche 1663. Schirmer folgt ausländi-
scher Mode, indem er auch Madrigale-" dichtete. Als kurfürstlicher Biblio-
thekar zu Dresden seit 1656, hatte er neben andern höfischen Gelegenheits-
gedichten auch allegorische Ballete zu erfinden. Schirmer gebeerte der
Gesellschaft Zesens (§ 124) an; ebenso Jacob Schwiger aus Altena, dieser
als der Flüchtige. Seine Liebesgrillen ^ z. Th. nach dem Niederländischen,
nach Cats und Westerbaen, mit eingemischten Brocken des hamburgischen
Dialects, erschienen mit den Melodien 1654; in anderen Gedichten überwiegt
fast der Hohn die Zärtlichkeit; so in der Sammlung Die Geharnschte Venus
Lohspruch des ivunderbaren Heilbrunnens zu Hornhausen (Dresden 1646), und Schnorrs
Archiv 3, 66 fgg. Schoch, Sonnete S. 134, betrauert seinen frühen Tod. 17) Bei ihm
tritt die Schilderung der Studentengelage noch stärker als sonst hervor ; auch sprachlich ist
er sehr nachlässig. Von seinem spseteren Ansehn zeugt ein Hochzeitslied von Tscherning,
Deutscher Gedichte Frühling, 8. 348, in pindarischer Odenform. Auch mit Klaj war er
befreundet. 18) 1666 nennt er sich Amtmann zu Westerburg, 1688 unterzeichnet er
zu Braunschweig als herzoglicher Diener. 19) Erich Schmidt, Verh. der Trierer Philo-
logenvers. 1879. Nach Ovid Metam. IV ist Schochs Poetischer Weyrauch-Baum und Sonnen-
blume, Leipz. 1656, gedichtet. 20) LB. 521). Über die Gattung und deren Empfehlung
232 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XYH JAHlül. § 126
von FUidor dem Dorfcrer 1600.^' In Hamburg, wo Finckclthaus und
Schwigor eine Zeit lang lebten, fand auch der aus seiner Hciniath bei Regens-
burg durch den Krieg vertriebene Georc Greflinukr ^'^ nach längerem Uin-
hei-schwcifcn seinen Autenthalt (1646 bis etwa 1677) und erhielt durch Rist
den Dichterkranz sowie Aufnahme in den Elbschwanenordcn. Eine Danzigcr
Geliebte Flora feierte Greflinger in Seladons Beständige Liehe^ Fkf. a. M. 1644;
seine Weltliche Lieder erschienen ebd. 1651 ; seine Poetische Rosen und
Dürner, Hülsen und Körner, Hamburg 1655. In dieser Lyrik macht sich
ein volksthümlicher Humor glücklich geltend. In trockenem Annalcnstil
schilderte Greflinger , der wahrscheinlich unter Bernhard von Weimar ge-
fochten hatte , Der Deidschcn Dreyssigjähriger Krieg u. d. N. Celadon von
der Donau, 1657, und betrieb auch sonst in Poesie und Prosa historische
Berichterstattung,^^ ebenso wie er als Übersetzer fruchtbar war. Hier ist
Die Sinnreiche Tragicocomwdia genant Cid, 1650, als erste Spur von Cor-
neilles Eindringen nach Deutschland hervorzuheben.-' — Waren die genann-
ten Dichter dieses Hamburger Kreises meist Fremde , so kam ihrer Art
durch C. Ziegler, s. § 120, 87. 21) Neudruck mit Biographie von Th. Raehse, Halle
INSS. Schwieger oder 8chwiger (die Schreibung der Namen wechselt in dieser Zeit auch
sonst) hatte 1650 die Universität Wittenberg bezogen, war 1GÜ7 dänischer Soldat, 1659 zu
Glückstadt beamtet. Nach einer Notiz von Waldau starb er 1666. Auf jeden Fall ist er
verschieden von dem FlLlDOR, der für den Rudolstädter Hof Trauer- Lust- und Mischfjnele
gedichtet hat, die zu Jena 1665 und Ivudoistadt 1667 erschienen: Der Vermeinte Printz
(eine Princessin), nach Pallavicini; Er)ielinde oder die viermahl Braut; Die Wittekinden
(Singespiel; Schwarzburger Stammsage); Der Betrogene Betrug, nach Scarrons Eoman
Comique: Bnsilene (mit Benutzung von Guarinis Pastor fido); wozu wohl auch das ohne
Verfassernamen überlieferte Mischspiel Die erfreuete Unschuld, 1664, gehöi't. Dazu kommen
noch Zwischenspiele: Sfaramutza u. a. komische Personen treten auch in den ernsten
Partien auf. S. hierüber K. T. Pabst, Jacob Schwieger als Dramatiker in den Blättern f. lit.
Unterhaltung 1847, S. 1074 fgg. Die Identität der beiden Filidore bezweifeln mit Recht
Passow (§ 119, 1) und Gödeke. Die Sprache des Rudolstädter Dichters ist thüringisch-
obersäohsich : verzwatzschien (verzweifeln), geschurigelt (geniert), einig (einzig), Gott geh als
Concessivpartikel wie Weise und oberdeutsche Dichter, aber niemals niederdeutsche den
Ausdruck gebrauchen. Ein Lied, von Filidor an seine Flavia gerichtet, findet sich in
Schochs Weyrauchbaum und Sonnenblume, und bezeugt die Beliebtheit des Namens.
Weckherlin nennt sich selbst Filodor. 22) AV. v. Oettingen QF. 49, Strassburg 1882.
Walther. Anz. zur Z. f. d. A. 28, 73. Bolte, ebd. 31, 103. 23) Er gab eine Zeitung.
Nordischer Mercur, heraus. 24) Auch ein Stück von Lope de Vega, Verwirrter Hof
oder König Carl, übertrug er und zwar in Prosa 1652. Selbständig, aber ungeschickt
dramatisierte er Ferrando Dorinde , Zweyer hochverliebtgewesenen Personen erbärmliches
§ 127 HAMBURGER DICIITERKREIS. 233
doch auch im Norden die gleiche Stimmung entgegen , wofür Zacharias
LuND aus dorn Schieswig'schen ein Beispiel gibt. 1G08 geboren, studierte
er in Wittenberg bei Buchner, promovierte 1647 zu Kopenhagen und starb
hier als k. dänischer Secretär 1667. Von ihm erschienen Allerhand artige
Deutsche Gedichte^ Lpz. 1636, worin manches aus dem niederländischen und
franzoesischen, so nach Du Bellay, übertragen ist; auch aus seiner Schäferi-
schen Comosdie die Dieroniene theilt er hier Choere und Duette mit. Lund,
der als lateinischer Dichter noch mehr Anerkennung gefunden hatte, ahmt
Fleming nach und feiert Opitz, welcher sonst von den jugendlich übermüthi-
gen Dichtern des sächsischen Dichterkreises wohl benutzt, aber auch paro-
diert •'" wird. Noch nseher an Greflingers Art ^"^ tritt Gabriel Voigtländer
heran, welcher schon gealtert als Hoftrompeter in dänischen Diensten zu
Soröe 1642 seine auf itahenische, franzcesische, englische und deutsche Me-
lodien verfassten Gedichte als Erster Theil Allerhand Oden und Lieder sam-
melte; von seiner derben Art gibt insbesondere ein vielgesungenes '" Lied auf
Lex Ars Mars Zeugniss.
§ 127.
Im Nordosten Deutschlands , in Schlesien und am Strande der Ostsee
ward Opitz nicht nur als erster deutscher Dichter verehrt: seine Landsleute
in der Heimath und soweit sie nach auswärts kamen , hielten strenger an
seinem Muster fest, als dies von anderen geschehen war. Der Eindruck, den
seine Schriften machten, wurde durch die perscenliche Bekanntschaft verstärkt,
als Opitz selbst seine letzten Lebensjahre in Danzig zubrachte und von hier
aus auch Koenigsberg besuchte. Es waren überdies die Dichter des Nord-
ostens grossentheils gereifte Männer mit zuweilen sehr trüben Lebenserfah-
rungen, und mancher von ihnen hatte als Lehrer der Dichtkunst vor allem
deren Würde zu wahren. So steht der Ernst dieser Dichter in vollem
Gegensatz zu der oft ausgelassenen Lebenslust der sächsischen Nachahmer
Flemings, der Vertreter der Studenten- und Soldatenpoesie.
In Schlesien überwog der schmerzliche Eindruck , welchen die Ver-
wüstung des Landes, die Unterdrückung der Evangelischen machen musste.
Trost gewährte eine ergebungsbereite Frömmigkeit, und religioese Betrach-
Ende. Fkfurt 1644, mit Benutzung seiner eigenen Liebesgeschichte. 25) § 121, 20.
Schoch stellt Buchner und Schirmer über Opitz, wie freilich auch Zesen über diesen hinaus
zu kommen glaubte. 26) S. den Excurs v. Oettingen QF. 49, 45. 27) Vgl. auch
QF. 5G. 90.
234 NEUIIOCIIDEUTSCIIE ZEIT. XYII J.VIlKir. § 127
tung ward der vornehmste Inhalt der Dichtung. Insurcrn diese IJetraclitung
im Epigramm sich in einzehie Gedanken .lufloeste, wird sie spsetcrhin im
Zusammenhang zu besprechen sein (§ 129). Erzjchlend, aber mit allzureich-
lichcr p]inmischung mytliologischcr Gelehrsamkeit bietet sie Andreas Scul-
TKTis aus Bunzlau , dessen Gedichte von Lessing wieder hervorgezogen
worden sind:' die Oesterliche Triumph Posaimc ^ Breslau 1642, sein Bliit-
scliwitzender und Todringender Jesu (ebd. o. J.). Neigung zur Entfaltung
seiner Gelehrsamkeit zeigt auch "Wencel Scherffer von Scherffenstein,"
nur dass sie bei ihm in einem humoristischen Gedicht besonders hervortritt,
in De^' Götter und Göttinnen Hochzeitslieder, welche in Geist- und Weltliche
Gedichte Erster Thcil, Brieg 1652, ein Buch ausmachen. Der Gebrauch der
Dactylen, das Nachahmen der Thierstimmen ^ zeigen den Dichter unter dem
Einfluss der Nürnberger Dicliterschule, wie auch die Bearbeitung von Dede-
kinds Grobianus in Alexandrinern, womit Scherffer 1640 seine Thaetigkeit
begann, sich an ältere, volksthümUchere Art anlehnt. Mehrere Gelegenheits-
gedichte haben Musikbegleitung; * der Dichter selbst war Organist im Dienste
der Herzöge von Brieg. Geboren zu Leobschütz vor dem Beginn des dreissig-
joehrigen Kriegs, dessen Greuel er lebendig schildert, starb er 1574.'^
Andre Schlesier verliessen die Heimath. Von seinem Verwandten Opitz
selbst empfohlen, kam der zu Bunzlau 1611 geborene Andreas Tsciierning
nach Rostock zu Peter Lam-emberg,''' als dessen Nachfolger in der Professur
der Poesie (seit 1644) er 1659 starb. Tscherning bemüht sich um Reinheit der
Sprache; als Dichter versucht er auch andere antike Yersmasse als die von
Opitz gebrauchten, alcaische, glyconeische, ithyphallische, phalecische Oden.
Fast ausschliesslich Gelegenheitsgedichte ^ ohne neue Gedanken erwarben
seine Dichtungen nur durch die Sorgfalt der Form ihr Ansehn. Sie sind
gesammelt als Deutscher Gedichte Friding ^ Breslau 1642, und Vortrab des
Sommers, Rostock 1655. Groessere Selbständigkeit besitzt Johann Peter
TiTz,** der ebenfalls aus Schlesien ausgewandert, in Danzig die Professur der
§ 12/. 1) Gedichte von A. S.. aufgefunden von Lessing, Braunschweig 1771
(Lachmaun-Maltzahn 8. 353), wozu Nachlesen geliefert haben .Jachniann , Breslau 1774,
Schultz, ebd. 1783. Hoffmann v. Fall.. Wcim. .Ib. 3, 224. Scultetus, der 1639 nach Breslau
tyif das Gymnasium kam, scheint früh gestorben zu sein. 2) Paul Drechsler, Diss.
Breslau 1886. 3) § 120, 40. 4) § 117. 1. 5) Weim. Jb. 3. 175. 6) Dem
Bruder des Dichters § 130. 7) Ein Lob der Buchdruckerey. Breslau 1640. Vgl. auch
§ 120, 13. 8J § 120, 12. Küpke, in Hageus Germ. 10, 205 fgg. L. H. Fischer, J. P.
§ 127 SCHLESIER UND PREUSSEN. 235
Poesie bekleidete. Neben seinen meist nüchtern-correcten Gelegenheits- und
geistlichen Gedichten^ versuchte er sich doch auch auf epischem Gebiete mit
seiner Lucretia (1642 oder bald nachher s. § 118, 4); in Knemons Smdschreihen
an Bhodope nach Cats, 1647, dichtete er die erste deutsche lleroide. Ein
älterer Danziger Dichter ist Johann Plavius, dessen Trawr- und Trewgedichtc
Danziff 1630 erschienen."' Unter ihnen findet sich ausser Oden und Sonetten
auch eine Coiiranfe oder Drähetanz^ als Text zu einem Tanzlied, wie sie in
Preusscn nach polnischer Art üblich waren und von den Koenigsbergor Dich-
tern, auch von Neumark , als er in Preussen lebte , zu Hochzeiten vielfach
gedichtet worden sind.
Der Koenigsberger Dichterkreis ist durch Freundschaft und gemeinsame
Richtung eng verbunden. Als sein vorzüglichster Vertreter galt schon zu
seinen Lebzeiten Simon Dach,'' Geboren 1605 zu Memel, hatte er seit 1633
eine Schulstelle, seit 1640 die Professur der Poesie an der Universitaet inne,
und starb nach längerem Siechthum 1659. Die Dürftigkeit und Unsicherheit
der Besoldung zwang den Dichter , sich in bezahlten Gelegenheitsgedichten
zu erschöpfen. Die Gedichte für die brandenburgischen Kurfürsten, von
denen Friedrich Wilhelm in einem neeheren persoenlichen • Yerhältnisse zum
Dichter stand, fasste die nach S. Dachs Tod veranstaltete Sammlung Clmr-
hrandenhurgische Rose, Adler, Löiv und Scepter (Koenigsberg 1696) zusam-
men.'- In diese Sammlung wurden auch zwei Festspiele aufgenommen, von
denen das eine , Prussiarchus oder Sorbuisa die Vertreibung der Barbarei
aus Preussen durch die Stiftung der Universitset Koenigsberg feiert und zu
deren hundertjsehrigem Jubelfest 1644 aufgeführt worden ist, waehrend das
andere, Cleomedes^ 1635 vor dem Kcenig Wladislaus dargestellt, ebenso alle-
gorisch Polens Bedrängniss und Sieg verherrlicht. Weit hoeheren Werth hat
Titz' Deutsche Gediclite, Halle 1888. Vgl. EUinger in Zs. f. d. Philol. 21 , 309 fgg.
9) Unter den ersteren ist aucli ein Hochzeitslied für Simon Dach 1641. 10) Berliner
Bibl. Das älteste Gedicht scheint das Epitaph eines Danzigers, 1626, zu sein. Plavius
wird von Tscherning im Unvorgreifl. Bedenken über Schreib- und Sprachkunst , S.
55. 81. 115 genannt, und ein Gedicht von ihm in Harsdörfers Gesprsechsp. II 243 ver-
ändert wiedergegeben. 8acer tadelte seine volksthümlichen Deminutive : QF. 56, 104.
11) Die zahlreichen älteren Arbeiten über S. Dach sind durch Oesterleys Ausgabe,
Tübingen 1876 (Lit. Ver. 130) überholt worden. Oesterley hat auch eine Auswahl,
Leipzig 1876. und eine andere, welche zugleich Dachs Freunde umfasst, Berlin und
Stuttgart 0. J. (Kürschners Nat. Bibl.) veröffentlicht. 12) Hierin auch das LB.
460 wiederholte Lied, in welchem sich des Dichters Dürftigkeit, sein Vertrauen und
236 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVH JAHRII. § 127
S. Dachs Lyrik: seine Lieder'' sprechen die Frömmigkeit, welche aus kum-
mervoller Lage sich mit Zuversicht dem Jenseits zuwendet , die Freude an
der Natur, und vor allem das Glück herzlicher Freundschalt innig und in
einfach schoencn Formen aus. J)ach durfte sagen, dass Preussen die Kunst
der deutschen Reime erst von ihm gelernt habe.'* Die Hochzeitslieder, be-
sonders die älteren, zeigen , dass er auch zu scherzen verstand : einmal ge-
brauchte er für einen solchen Anlass auch die Mundart: in Anke van Tharau^
das spteter durch Herder wieder hervorgehoben worden ist. Im leichten Bau
der Strophen bewaehrt sich Dachs musicalische Bildung , die er im Verein
mit den Freunden pflegte.'-' Unter diesen war zugleich sein einflussreicher
Gönner, der kurfürstliche Oberhofsecretär Kouert Kobkutin, welcher 16ü0
zu Saalfeld i. Pr. geboren, vielfach durch Reisen gebildet,'*' 1G48 starb. Von
seinen Liedern, die eine sanfte Schwermuth athmen, sind mehrere aus dem
Holländischen Dirk Camphuysens übersetzt. Für die Musik war der Mittel-
punkt des Freundekreises Heinrich Albert,'^ geboren zu Lobenstein im
Voigtlaud 1604, in Dresden durch seinen Oheim Heinrich Schütz, den Com-
pouisten von Opitzens Opern, mit der italienischen concertierenden , auf An-
schluss des Rhythmus an die wechselnde Stimmung und auf Verzierung des
Gesanges ausgehenden Musik bekanntgeworden, und von 1630 bis zu seinem
Tode 1651 Organist in Königsberg. Er sammelte die Lieder der Freunde
und verwandter Dichter, darunter auch Opitz, in seinen Arien., welche mit
den Melodien in acht Theilen zu Königsberg 1638 — 1650 erschienen.'® 1641
hatte Albert als Musicalische Kürbshütte, Welche vns erinnert Menschlicher
Hinfälligkeit die Verse componiert , welche er nach damaliger Sitte ''■• sich
und seinen Freunden zu Ehren in seinem Garten auf zwölf Kürbisse, jeder
für einen Freund, geschrieben hatte. Die Freunde trugen überdies Schaefer-
namen, die z. Th. aus ihren Eigennamen durch Buchstaben Versetzung gebildet
seine Bescheidenheit wahrhaft rührend kundgeben. 13) Proben LB. 459 fgg. 14) LB.
465, 12. 15) Von seiner Geige spricht er LB. 466, 11; sie begleitete ihn auch auf Reisen.
16) S. hierüber die zahlreichen Briefe in A. Reifferscheids Quellen z. Gesch. d. geistigen
Lebens m Deutschland während des 17. Jhs. (Heilbronn 1889), zumal S. 129 fgg. 17) Oder
wie er sich lateinisch nannte Henricus Alberti ; vgl. Daniel Caspar (von Lobenstein), der sich
lateinisch D. Caspari schrieb. 18) Wiederholt als: I. Geistliche Lieder, Leipzig 1657;
II. Weltliche Lieder, Brieg 1657. Neudruck der Lieder, Halle 1883, (Gedichte des Königsberger
Dichterkreises, aus H. Alberts Arien und musikalischer Kürbshütte hg. v. L. H. Fischer);
einiger Melodien durch Roh. Eituer, Halle 1884. 19) Tittmanu. Nürnb. Dichterschule,
S. 65, nach Pejjnes. Hirteusfedicht S. 27 fsjof. uud Nathan und Jotham I. Nr. LVIII.
§ 127 KÖNIGSBERGER DICHTER. 237
waren : so hiess Simon Dach Chasmindo o. ä. , Robertin Berrinto , Albert
Bamon^ Christoph Kaltenbach Seladon oder Lycahas. Der letztgenannte
Dichter, 1613 zu Schlichen geboren, ging 1G56 als Professor der Dichtkunst
und Beredsamkeit von Koenigsberg nach Tübingen und starb hier 1698.
Seine Hirtengedichte erschienen zu Koenigsberg 1648, seine Deutsche Sappho
1651. Schliessen sich schon die Gedichte dieser Freunde an Dachs Vorbild
innig an , so gilt dies auch von dessen Nachfolger auf dem Koenigsberger
Lehrstuhl der Poesie, Johann Röling, der zu Lütkenburg in Holstein 1634
geboren, mit Morhof befreundet war, und 1679 starb. Sein Teutscher Odm
Sonderiahres Buch von geistlichen Sachen., Koenigsberg 1672, geht indessen
auf die einzelnen Thatsachen im Leben Jesu und andere Gegenstände kirch-
licher Betrachtung weit nseher ein als Dach und seine Freunde dies gethan.^''
Auch er dichtete Brauttänze. ^^
In der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts suchte man auch
in Koenigsberg den Anschluss an die grcesseren Sprachgesellschaften. Allen
vier Gesellschaften gebeerte Birkens Freund Martin Kempe an, welcher 1637
geboren, als kurfürstl. brandenburgischer Historiograph 1682 starb.-- Seine
Gedichte sammelte er als Poetische Lustgedanclien.^^ Dem wachsenden Zweifel
der Zeitgenossen gegenüber suchte er den Werth der Dichtkunst zu erweisen.^*
Für die Bühne bearbeitete er nach Lope de Yega die Geschichte vom ge-
zwungenen JPrinsen Turhino. Zahlreicher sind die dramatischen "Werke von
Michael Küngehl, geb. zu Kreuzburg i. Pr. 1646, als Bürgermeister zu
Koenigsberg gest. 1710. Er behandelte mehrere Shakespere'sche Stoffe, die
ihm jedoch nur durch die englischen Komoedianten bekannt geworden sein
können : -^ Viel Lärm um Nichts in Die vom Tode eriveclde Phönisia., Koenigs-
berg o. J. und Cymbeline ^^ in Der TJnschtddig-beschiddigten Innocentien
Unschidd; auch das Mischspiel Die unvergleichlich schöne Prinzessin Andro-
meda 1695 beruht auf fremdem, 1675 zu Ansbach aufgeführten Vorbild.
CXXXI. 20) Auszug von Oesterley in der Anm. 11 citierten Sammlung (Kürschners
Nat. Bibl.). 21) Oesterley in Schnorrs Archiv 8, 173 fgg. 22) So Herdegen S. 288. Gödeke
Grundr.2 III 272 weist auf eine andere Quelle hin, wonach er 1642 — 1683 lebte. In der That
erscheint er noch in den Ehrengedichten zu Kongehls Belustigung 1683. 23) Jena 1665.
Darin auch ein Gesprächspiel und andere Anklänge an die Nürnberger Dichter. 24) Eine
kritische Schrift, die bald ihm bald Kongehl zugeschrieben wird, s. § 120, 32. 25) Genee,
Gesch. der Shakespeare'schen Dramen in Deutschland, Leipz. 1870 S. 185 fgg. Übrigens hat
Kongehl diese Gegenstände nicht unwürdig, vielmehr lebendig und kräftig behandelt.
26) Doch steht Kongehls Dichtung vielmehr in einem näheren Verhältniss zur Novelle des
Wackernagel, Litter. Geschichte, II. • 16
238 NEUIIOCITDEUTSCIIE ZEIT. XVII JATIRH. § 128
Die ersten beiden und seine lyrische Gedichte sind gesammelt in Eines vor-
trefflichen Poeten Geist- und Weltliche Gedichte., Stettin 1715; eine frühere
Sammlung der Lieder hatte er, olme sich zu nennen, als Belustigung bei der
Unlust, Stettin 1G83, II. Theil , Kgsb. o. J. veröffentlicht und 1700 eine
Reihe von Lobsprüchen auf zahlreiche geschichtliche rersccnlichkeiten als
Siegprangender Lorbeer- Ilaijn zusammengefasst. Diese und die zahlreichen
Gelegenheitsgedichte habön minderes Ansehn erlangt als einige geistliche
Lieder, welche er unter dem Namen Prutetiio zu den Liederbüchern der
Peffnitzschäfer beisteuerte. Unter diesem Namen schrieb er auch einen
Roman in Prosa und Yerscn, Surbosia (Umstellung aus Borussia), geschichts-
massiges Heldengedicht, Nürnberg 1676.
Auf Gelcgenheitsdichtung beschränkte sich die Dichterin Gertrud Möl-
lerin aus Kcenigsberg , welche 1641 geboren , als Wittwe eines Professors
der Medicin 1705 starb; doch hat sie in Simon Dachs Weise, nur mit scherz-
hafter Absicht, auch die Liebesdichtung in der Mundart gepflegt.-^ Eben
dies gilt auch von einem älteren, aus Schlesien nach Brandenburg gewander-
ten Dichter, Nicolaus Peucker:^^ 1640 — 1675 dichterisch thaetig , hat er
den Grossen Kurfürsten verherrlicht und Familienfeste von Freunden be-
sungen, wobei ihm S. Dach und Rist als Vorbilder galten, aber auch Klang-
spiele in Scherffers Art (Anm. 3) gefielen.
§ 128.
Die Aufzaehlung der verschiedenen Schulen der weltlichen Lyrik hat
fast überall auch des geistlichen Liedes gedenken müssen, dessen Pflege in
diesem Jahrhundert für jeden Dichter etwas selbstverständliches war. Unter
den schon genannten Dichtern sind einige, die auch auf diesem Gebiete mit
zu den hervorragenden gehoeren, wie Rist und Dach; von anderen wie Fle-
ming und Neumark sind einzelne Lieder durchaus volksthümlich geworden;
andere endlich haben wenigstens durch die grosse Zahl ihrer geistlichen
Lieder sich auch hier Berücksichtigung verdient.^ Ausser den bisher ange-
Boccaccio 2, 9. Vgl. auch § 106, 2. 27) Jahrbuch für niederdeutsche Sprachforschung
XII, 141. 28) Aus Jauer gebürtig, Stadtrichter zu Cöln a. d. Spree. Auswahl aus
seiner Wolklingenden Paucke (Berlin 1702), von Ellinger, in den Berliner Neudrucken
I 3 (1888).
§ 128. 1) So namentlich die Nürnberger Dichter; ihre geistlichen Lieder sammelte
Joh. Michael Dilherr, Pfarrer zu Nürnberg, geb. 1604 gest. 1669 : Nürnberger Gesangbuch,
§ 128 GEISTLICHES LIED. 239
führten Dichtern gibt es jedoch noch andere, die sich ganz auf geistliche
Lieder beschränkt haben, und wie ihre Zahl eine sehr grosse ist, so ist auch
die Bedeutung dieses Litteraturzweiges für jene Zeit sehr erheblich.' Die
furchtbare Noth, die der lange, alles verwüstende Krieg mit sich brachte,
wandte die Herzen dem religioesen Tröste zu. Das geistliche Lied führte
diejenigen , welche aus rcligioisen Gründen kämpften , in die Schlacht ; ^ es
hielt die Unterdrückten aufrecht und zusammen. Oft ist es Ausdruck nicht
nur einer persoenHchen Stimmung,^ sondern selbst einer einmaligen Lebens-
erfahrung : ^ aber die Stärke des Gefühls, welche hieraus entspringt, verbindet
sich mit der allgemein christlichen Auffassung so glücklich , dass gerade
Lieder dieser Art zu den beliebtesten Kirchenliedern geworden sind. Über-
haupt leistet die Zeit auf diesem Feld ihr Bestes, und sie hat für die Folge
eine dauernde Quelle der Erbauung fliessen lassen.^ Hier machte sich auch
die verbesserte Form der neuen Kunstpoesie am glücklichsten geltend. War
schon früher mit Rücksicht auf das Gefühl des Yolkes das Betonungsgesetz
im geistlichen Liede mehr als sonst beobachtet worden, so durfte seit Opitz
hierin keine Rohheit mehr hervortreten; und die von ihm erstrebte Richtig-
keit der Sprachformen, Reinheit der Reime, Sorgfalt der Wortwahl drang
bald durch, wsehrend die Ausschreitung seiner Nachfolger, ihre Tändelei mit
Sprach- und Versformen von dem gesunden Gefühl der besseren Dichter und
der Gemeinde zurückgewiesen wurde. Die Dichter gehörten auch nicht wie
sonst überwiegend dem Gelehrtenstande an; am geistlichen Liede betheiligten
1653, und weit umfänglicher : Geistliche Psalmen, Nürnberg 1656. Vgl. Ed. Em. Koch,
Gesch. d. Kirchenlieds und Kirchengesangs, 3. Bd., Stuttgart 1867, S. 515. 2) Jul.
Mützell, Geistliche Lieder der evangelischen Kirche aus dem 17. und der ersten Hälfte des
18. Jhs., von Dichtern aus Schlesien und den umliegenden Landschaften verfasst. I (und
einziger) Bd. Braunschweig 1858. 3) Verzage nicht, o Häuflein klein! das Lied,
welches Gustav Adolf vor der Schlacht bei Lützen singen liess, ist von JoH. Michael
Altenburg (1584 — 1640) gedichtet worden. 4) Daher, wie schon § 103, 41 bemerkt
ist, das Überwiegen des ich in den geistlichen Liedern dieses Zeitraumes, gegenüber dem
toir des 16. Jahrhunderts. 5) Eine missbräuchliche Übertreibung dieser Richtung ist es
wenn nur gedachte, und oft in der Wirklichkeit kaum vorkommende Lebenslagen von den
Dichtern geistlicher Lieder ins Auge gefasst werden, wie dies namentlich Rist gethan:
8. Koch, a. a. 0. 219. ÜT)rigens hat die Sage mehrere Anlässe zu berühmten geistlichen
Liedern erst erdichtet: so bei Neumark § 124, 15; bei P.Gerhardt, Anm. 13. 6) Hier
sei nur an Winckebnann erinnert, der, als er aus äusserlichen Gründen sein evangelisches
Bekenntniss aufgegeben hatte, doch auch spaeter noch in seinem Gesangbuch Erhebung und
240 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVH JAIIRII. § 128
8ich auch der Adel, auch die Fürsten,^ und die Frauen * haben ebenso diesen
Zweig der Dichtung ganz besonders mit ergriffen.
Dieses neue Erblühn des geistlichen Liedes erstreckte sich nicht nur
auf das lutherische Bekcnntniss; auch die Keformicrtcn wurden wieder zur
Theilnahmc angezogen,'' nachdem sie längere Zeit hindurch ausschliesslich
Bearbeitungen der Psalmen gesungen hatten (§ 103). Eine der ersten Stim-
men aus dieser Kirche ist die der Kurfürstin Luise Henriette von Bran-
DEXiRRG, Tochter des edlen Friedrich Heinrich von Oranien und Gemahlin
des Grossen Kurfürsten, geb. 1627, gest. 1667. Sie hat zu einer Sammlung'"
von Runge (§ 117, 13) einige Lieder beigesteuert, darunter Jesus, meine
Zuversicht. Zahlreicher sind die Dichtungen von Joachim Neander,^' geb.
1650 zu Bremen und ebendaselbst als Prediger gestorben 1680. Aber die
volle Pflege fand das gcistUche Lied doch nur innerhalb der lutherischen
Kirche. Yon den vielen Namen der Dichter können nur einige herausgeho-
ben werden. Noch in die ältere Zeit zurück reicht Martin Kinckart, geb.
1586 zu Eilenburg, und hier auch gestorben als Prediger 16-49, dessen con-
fessiouell engherzige Dramen bereits § 105, 97 besprochen worden sind.
Spater wandte sich Rinckart der neuen Verskunst zu und suchte auch seiner-
seits Regeln für diese aufzustellen (§ 121, 1). Von ihm rührt das bereits
16-45 gedichtete Friedenslied her: Nun danJcet alle Gott. Wie Rinckart, so
ging auch Johannes Heermann '^ (geb. zu Räuden in Niederschlesien 1585,
Pfarrer zu Koben , gest. 1647 zu Polnisch Lissa) erst allmaehlich zur stren-
geren Form über, welche er namentlich in den Sammlungen Exercitium Pie-
tatis und Bevoti Musica Carclis ^ beide Breslau 1630 erschienen, genau zu
beobachten strebte. Die schweren Schicksale, die er wsehrend des Krieges
erfuhr, wandten seine Gedanken mit Vorliebe auf das Leiden Christi. Mit
vollkommener Freiheit und Sicherheit bewegt sich innerhalb der neuen Kunst
Paul Gerhardt,'^ dessen Lieder in der That als Kleinod und Krone alles
Befriedigung fand: Justi, Winckelmann 1, 68. 7) Wilhelm II von Weimar, Anton
Ulrii-b von Braunschweig -Wolfenbüttel u. a. 8) Ausser Luise Henriette von Brandenburg
sind von fürstlichen Dichterinnen Anna Sophia, Landgräfin von Hessen - Darmstadt,
LuD.i':.MiLiA Elisabethe und -.Emilia Juli an a von Schwarzburg: von anderen Sibylle
Schwarz aus Greifswald (1621 — 1638) und freilich sectierisch: Anna Owena Hoyer (§ 130)
hervorzuheben. 9) Selbst für die katholische Kirche ward gerade in dieser Zeit der
Gebrauch deutscher (und selbst evangelischer) Lieder zugestanden; namentlich in neueroberten
Landen: vgl. § 103, 3. Neugedichtete geistliche Lieder der Katholiken, s. § 123 und 129.
10) D. M. Luthers «. a. . . . Geistliche Lieder und Pmltnen, Berlin 1653. 11) LB. 565.
12) LB. 405. 13) LB. 547. Das Lied Befiehl du deine Wege, LB. 553, ist vor
§ 128 PAUL GERHARDT. 241
evangelischen Kirchengesanges zu bezeiclincn sind. Geboren zu Gräfen-
hainichen in Sachsen 1607, 1651 Geisthcher zu Mittenwalde in Brandenburg,
dann zu Berlin, ward er 1666 abgesetzt, als er einen Befehl des Kurfürsten,
die Kanzelstreitigkciten zwischen Lutheranern und Reformierten zu unter-
lassen, nicht als bindend anerkennen wollte , obschon er selbst sich als Pre-
diger ebenso wie als Dichter jeder Feindseligkeit gegen Andersgläubige ent-
halten hatte; 1668 nach Lübben berufen, starb er hier 1676. Seine Lieder
erschienen zuerst gesammelt 1667.^^ Vielleicht ist keines mit der Absicht
kirchlichen Gebrauches gedichtet , alle geben den unmittelbaren Ausdruck
eigener und augenblicklicher Empfindung und Erfahrung: das hat aber ihren
dichterischen Werth nur erhoeht, weil es ihnen den Ton der reinen Lyrik
gab, und die kirchliche Brauchbarkeit nicht verkürzt; denn des Dichters
Denken und Empfinden ist eben ein rein evangelisches und deshalb auch
ein kirchliches, ist allen Gliedern der Kirche verständlich, für alle so wie für
ihn selbst erweckend und erhebend, tröstend und kräftigend. Paul Gerhardt
ist ein zum zweitenmal dichtender Luther : dieselbe Kindeseinfalt , dieselbe
Ileldenkraft des Glaubens, jetzt aber angethan mit all der Meisterschaft der
Darstellung, all dem Fluss und dem Wohllaut der Rede, die dem 16. Jahr-
hundert noch fremd gewesen, die erst die Errungenschaft des 17. Jahrhun-
derts waren, und nur wenig berührt von dessen Geschmacksfehlern ; e r kann
sagen, was er empfindet und was ihn begeistert, und kann es in stets wech-
selnder Mannigfaltigkeit der Toene jedesmal so sagen, wie es angemessen ist,
liebKch oder gewaltig, gelinde oder mit strenger Kraft, kindlich spielend oder
männlich ernst, immer aber auf dem unverrückbaren Grund des Bibelglau-
bens. So sind denn auch die Psalmen und andere biblische Stücke die
Hauptquelle gewesen, aus denen er schöpfte ; doch hat er daneben lateinische
Hymnen bearbeitet. ^^ Neben Gerhardt tritt wohl zurück, was gleichzeitig
von geistlichen Liedern gedichtet ward; doch verdient wegen der Beherr-
Gerhardts Absetzung verfasst, mit welcher es die Sage m Verbindung brachte. 14) P. G.
Geistliche Andachten, bestellend in 120 Liedern, Berlin, bei Eunge, in dessen Praxis pietatis
melica die einzelnen Lieder schon vorher aufgenommen worden waren. Historisch-kritische
Ausgabe von J. F. Bachmann, Berlin 1866. Andere von Ph. Wackernagel, zuletzt Gütersloh
1876, von Gödeke, Leipz. 1877. 15) LB. 647 0 Haupt voll Blut und Wunden; ebd.
das lateinische Vorbild Bernhards von Clairvaux. Wenn Bäumker in dem § 103, 3 citierten
Buch S. 5 darauf hinweist, das« die Melodie zu Gerhardts Lied dieselbe ist, wie die des alten
Liebesliedes 3Iein Gmüth ist mir verwirret, Das macht ein Jungfrau zart, so ist nicht
zu übersehn, dass diese Melodie schon vorher zu einem Geistlichen Liede gebraucht worden
242 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVH JAHIUI. § 128
schling der Form und der Kraft dos Ausdrucks, die sich an Gcrluirdts Weise
anschlicsst, wenigstens Johann Franck '* noch ausgezeichnet zu werden. J^ret
spjct^r erwarb sich fast gleiche Beliebtheit wie Gerhardt der mit einer fast
zehnmal grocsscren Zahl von Liedern auf diesem Felde thajtige Benjamin
ScHMOLCKE." Geb. im Herzogthum Liegnitz 1G72, Pfarrer zu Schweidnitz,
starb er 1737. Dem Druck, der auf seinen Glaubensgenossen in Schlesien
lastete, begegnet er mit inniger Treue des Bekenntnisses, zuweilen mit helden-
müthigcm Sclnvung. Er dichtet für die Erbauung in Kirche und Haus, ein-
fach und volksniffissig , nur zuweilen durch allzu grosse Bibelgelehrsamkeit
lästig, zumal wo das Anbringen versteckter Namen und Bezüge sich wieder-
holt. Doch sind sowohl die kleineren Sammlungen, in denen Schmolckes
Lieder zuerst erschienen, als die spaiteren umfassenden'* zu grocsster Ver-
breitung und dauernder Beliebtheit gelangt. In Schmolckes Zeit war die
Liederdichtung schon grosscntheils beeinflusst durch den von Spener (§ 138)
begründeten Pietismus, welcher die Glaubenslehre und ihre confessionell ver-
schiedenen Fassungen hinter das christliche Gefühl und dessen Bethajtigung
im taeglichen Leben zurücktreten Hess. Freilich nahm gerade im Lied diese
Ixichtung mit Vorliebe die Sündhaftigkeit der Menschen und das Verdienst
des Versoehnungstodes Christi zum Gegenstand : das frohe Gottvertrauen, der
unschuldige Genuss der Naturschoenheit , wie sie besonders bei P. Gerhardt
80 wolüthuend hervortraten, mussten dem Ausdruck der Zerknirschung und
dem bald rohen, bald tändelnden Ausmalen der Leiden Jesu weichen. Von
der zuletzt genannten Geschmacklosigkeit ist selbst derjenige nicht frei zu
sprechen, der Spenei-s Bestrebungen ganz in das wirkliche Leben einzuführen
und einen kirchlich gesellschaftlichen Zustand nach Art der ersten Christen-
gemeinden wiederherzustellen suchte: Nicolaus Ludwig Graf von Zinzen-
DORF, geb. zu Dresden 1700, gestorben als Bischof der von ihm gestifteten
Brüdergemeinde zu Herrenhut 1760.'^ Bewundernswerth ist an ihm auch
war, 8. die Anführnng im LB. 16) Geb. zu Guben 1618, Bürgermeister daselbst und
Landesältester, gest. 1677. Seine Teutsche Gedichte erschienen 1672 und 1674. ein Theil als
Geistliches Sion bezeichnet, der andere als Irdischer Helicon , letzterer schwülstig und
wertlos. Über Francks Leben s. bes. Jentsch in Neues Lausitzisches Magazin LIII, Görliz
1877 S. I fgg. 17) Hoffmann, Spenden z. Litgesch. 2. 18) Sämmtliehe Trost- und
Geistreiche Schrifften II, Tübingen 1740. 1744. Die Titel mehrerer kleinerer Sammlungen
sind LB. 637 zu den daraus entnommenen Stücken angeführt. 19) Leben des Herrn
N. L. Grafen von Zinzendorf . . beschrieben von A. G. Spangenberg 1772 — 74. Varnhagen
V. Ense, Biogr. Denkra. V. Bernhard Becker. Zinzendorf im Verhältniss zu Philosophie und
§ 128 SCHMOLCKE. ZLNZENDORF. 243
seine litterarische Fruchtbarkeit : obschon von Jugend auf und besonders seit-
dem er 1724 Herrenhut gegründet, unablässig durch Studien und durch
äusserliche Bemühungen für seine Zwecke, durch Briefwechsel, durch Reisen
bis nach America in Anspruch genommen, war er dennoch auch als Schrift-
steller in beiden Formen, Poesie und Prosa beständig in Thsetigkeit, sowohl
innerhalb der Gemeinde als ausserhalb, um deren Sache gegen die vielen
Angriffe, die er und sie erfahren mussten, durchzufechten. Seinem reichen
Geiste standen zarte Empfindung und majestsetischer Schwung gleichermassen
zu Gebote , lyrisch -" und rednerisch. Aber die Eilfertigkeit hat ihm doch
geschadet: er hat vieles improvisieren müssen, dann auch Andres ebenso
leicht hingeworfen, so dass der Darstellung fast überall die vollendete, ganz
befriedigende Durchbildung fehlt und oft die groessten Dinge mit allen Nach-
lässigkeiten und selbst in den Barbarismen der alltseghchen Redeweise aus-
gedrückt werden. So kommt es auch , dass er in seinen Liedern die von
Mystikern und Pietisten übernommenen Bilder und Wendungen bis zm* Ein-
toenigkeit wiederholt hat. Reiner und weniger in diesen Ausserlichkeiten
befangen sind die Lieder , die von den eigentlichen Pietisten , von Spener
selbst, von August Hermann Francke, dem Begründer des Hallischen Waisen-
hauses, von Johann Anastasius Freylinghausen ^^ u. a. gedichtet worden
sind. Der reformierten Kirche angehoerig vertritt diese pietistische Richtung
der freilich in das neechste Jahrhundert tief hineinreichende Gerhard Ter-
steegen," geb. zu Mors 1697, Bandweber zu Mülheim a. d. Ruhr, und
hier gestorben 1769. In seinen Liedern ^^ tritt neben der grossen Tiefe und
Innigkeit des Denkens und Empfindens bald viel Unbeholfenheit, bald wieder
Künstelei der Form hervor, eines wie das andere, weil es ihm an tieferer
wissenschaftlicher und htterarischer Bildung gebrach.
Doch das mystische Spiel mit der Liebe zwischen Seele und Christus
als ihrem Bräutigam, welches in den pietistischen Liedern vielfach geschmack-
los und eintcenig erscheint, und uns noch in den Dichtungen des Angelus
Kirclientlium seiner Zeit, Lpz. 1886. 20) Zinzendorfs Lieder reichen bis 1713 zurück;
sie finden sieh grossenteils in der Sammlung Geistlicher und lieblicJier Lieder, Lpz. 1725.
Nicht ganz treu sind sie wiedergegeben in Des Gr. Z. Geistliche Gedichte, gesammelt und
gesichtet von Alb. Knapp, Stuttgart 1845. Proben LB. 683. 21) Sein Gesangbuch ist
§ 117, 13 erwsehnt. 22) K. Barthel, Tersteegens Leben, Bielefeld 1852. Gerh.
Kerlen, G. T., 2. Aufl. Mülheim 1853. 23) LB. 687. Geistliches Blumengärtlein
Inniger Seelen oder kurtze Schlussreimen, Betrachtungen tmd Lieder, erschienen zuerst 1729.
Der Name der Schlussreime erinnert an Angelus Silesius (§ 129), welchem Tersteegen in der
244 NEUIIOCIIDEUTSCIIE ZEIT. XVII JAlllUI. § 129
Silcsius (§ 129) begegnen wird, sollte sich mit noch einer noch weniger volks-
majssigcn Gelehrsamkeit verbinden , mit den Träumen der Goldmiicherei,
wie sie schon J. Btrhme in seine mystische Philosophie aufgenommen hatte.
In die geistliche Poesie führte sie ein Christian Knorh von Rosenrotii,
welcher zu Altrauden in Schlesien 1636 geboren, convertierte und als pfalz-
gra?flichcr Beamter zu Sulzbach 1689 starb. Sein Neuer Helicon mit seinen
Neun Musen ^ d. i. Geistliche Sittenlieder ^ Nürnberg 1684, benützt Bocthius
und lateinische Hymnen des Mittelalters, aber auch altdeutsche und hollän-
dische Dichtungen; angehängt ist ein Geistliches Lustspiel: Die Vermahlung
Christi mit der Seelen.'^* Wie aber die Mystik überhaupt auf einer gefaßhr-
lichen Grenzlinie schwebt, so hat es auch damals an solchen nicht gefehlt,
die von ihr aus in den Abgrund schwärmerischer Wahnwitzigkeit stürzten.
So jener Quirinus Kuhlmann , der sich für einen Sohn des Sohnes Gottes
hielt und als Kwnig aller Koenige eine neue geistliche Monarchie, das Kuhl-
mannthum, stiften wollte. Geboren zu Breslau 1651, ward er nach mancher-
lei Irrfahrten lebendig verbrannt zu Moskau 1689. Seine zahlreichen pro-
saischen und poetischen Schriften zeigen die wachsende Verrücktheit seines
schwärmerischen Ilochmuthes : Himmlische LiehesJcüsse (Jehua 1671), Neu
begeisterter (Jakob) Böhme^ Leydcn 1674, vorzüglich aber sein Kühlpsalter ^
Amsterdam 1684 — 1688, bei dessen Lesung man auf seinen Verstand Acht
haben muss.
§ 129.
Eine zweite Dichtungsgattung, welche dem Geiste des siebzehnten Jahr-
hunderts vorzüglich entsprach und vielfach, zum Theil in ausgezeichneter
Weise gepflegt wurde, war das Epigramm. In dieser kurzen Form war am
leichtesten den strengen Forderungen der neuen Kunstpoesie Genüge zu thun;
die vorwiegend verständige Auffassung der Zeit fand an dem Witze, der
hier glänzte , ein besonderes Gefallen. Kurz und treffend gewichtige Ge-
danken auszusprechen war man auch in den zahlreichen Devisen und AVahl-
sprüchen ' bestrebt und die Lust an überraschender Verbindung von Gegen-
sätzen, welche sich selbst in der lyrischen und erzählenden Dichtung kund
that, konnte in der Epigrammendichtung ihre volle Befriedigung finden. Da-
That Vieles nachgeahmt hat. 24) Zur Vermsehlung Leopolds I. hatte er ein Chemisches
Prachtspiel Coniugmm Plurbi et Palladis (1677) verfasst.
§ 129. 1) Hierfür gibt besonders Harsdürfer in seinen Gespraechsspielen Beispiele.
Auch seine Andachtsgeraähle, kurze Erläuterungen von Vignetten mit Devisen, übertragen
§ 129 EPIGRAMM. 245
her begegnen auch in zahh'eichen Sammlungen besonders lyrischer Gedichte
Anhänge mit Epigrammen: schon Opitz war damit hervorgetreten, Fleming
und andere folgten ihm nach. Opitz war auch hier nur Übersetzer, und so
griff man auch sonst nach den Mustern der Ausländer, selbst orientalische
Sprüche , wie die dos Kalifen Ali , wurden verdeutscht.^ Ganz besonderen
Beifall fanden die lateinischen Epigramme des Engländers Owen. Nachdem
schon J. P. Titz ein deutsches Florilegium daraus veranstaltet, gab Valentin
LÖBER^ zu Hamburg 1653 die ganze Sammlung als Teutschredender Owmus
wieder. Löbcr wünschte zu zeigen, dass die deutsche Sprache die angenehme
Kürze der roemischen wett machen könnte; auch lehnt er sich gern an
deutsche Sprichwörter an. Diese Neigung theilt auch der Epigrammen-
dichter, welcher die selbständige Erfindung auf diesem Gebiet besonders
glücklich vertritt, und dessen bleibender Werth mit Recht von Lessing* her-
vorgehoben worden ist, wsehrend der Dichter den Zeitgenossen wenig bekannt,
und frühzeitig so gut wie vergessen war. Friedrich von Logau war ge-
boren bei Nimptscli in Schlesien 1604, lebte als Canzleirath am Hofe zu
Brieg, von 1654 an zu Liegnitz und starb hier 1655. Groessere lehrende
und beschreibende Gedichte, wie Opitz sie verfasste, hat man nicht von ihm:
mit Tact und Glück beschränkte er sich auf die ihm gemsesse Dichtart des
Epigramms , oder wie er nach Zesens Vorgang es nannte, des Sinngedichts.
Daher ward er 1648 als Der Verldeinernde in die Fruchtbringende Gesell-
schaft aufgenommen. Eine erste Sammlung^ erschien zu Breslau 1638 unter
dem Titel Zwei hundert teutscher Eeimensprüche Salomons von Golmv; eine
weit umfangreichere ebenda 1654 als Scdonions von Golaw deutscher Sinn-
getichte drei Tausend, mit den Zugaben sind es mehr als 3500. Schöpfte
Logau seine Gedanken fast ausschliesslich aus sich selbst, so gibt er auch
meist eignen Erfahrungen und Stimmungen Ausdruck: zur Vielseitigkeit be-
fsehigte ihn seine Kenntniss des Hof- und Weltlcbens ; seine Tiefe liegt in
seinem deutschen Gemüth, seiner deutschen Tüchtigkeit in Dingen des Glau-
diese Neigung nur auf das geistliche Gebiet (§12.5,16). 2) Von A. Tscherning: Centuria
Epigrammatum (1641). Auch die persischen Dichtungen des Saadi, welche Olearius ver-
deutschte (§ 126, 7) enthalten viel Epigrammatisches. 3) § 117, 18. 4) Litteratur-
briefe 36 und 43 fg. F. v. L. Sinngedichte: zwölf Bücher. Mit Anmerkungen über die
Sprache des Dichters hg. v. C. W. Ramler und G. E. Lessing, Lpz. 1759. 5) Neue
kritische Ausgabe der Werke Logaus: F. v. Logau, Sämmtliche Sinngedichte, herausg. von
G. Eituer, Lit. Ver. CXIII, Tübingen 1872. Von demselben Herausgeber eine Auswahl in
24G NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVII JAIllUI. § 129
bcns und der Sitte. Seiner von confcssioncller Engherzigkeit freien " Religio-
sitaet gab er darin ebenso Ausdruck, wie der Anliänglichkeit an seinen fürst-
lichen Herrn, der Verehrung für seine Fürstin. Auch sonst fehlt es nicht
an anmuthigcm Preise der Frauen, Aber ebenso stark tritt der Tadel hervor:
obschon durch sein Amt auf die Gunst des Hofes angewiesen, spricht er
doch unverhohlen seine Abneigung gegen die hocfischen Ränke, seine Vor-
liebe für den Landbau aus, dessen Verwüstung durch den Krieg, dessen
Nioderhaltung durch die Steuern er bitter beklagt. Noch schärfer trifft sein
Spott die moralische Verderbniss, die der Krieg mit sich brachte, der Friede
durch die nunmehr unwiderstehlich vordringende franzcesische Mode nur be-
festigte. Indem Logaus grccssere Sammlung genau nach der Zeitfolge der
Abfassung geordnet ist, gibt sie ein anschauUches Bild der politischen und
litterarischen Zustände in ihrer Entwicklung, soweit diese den Dichter selbst
berührte. Die von Opitz festgestellten Versregeln beobachtete er, wenn er
sich auch gegen übertriebene Genaiugkeit aussprach. ^ Neben dem Ale-
xandriner gebrauchte er auch kürzere Verse; indem er gerade hierin
priamelhafte Anreihung der Satzglieder verwandte, knüpfte er wieder an
die ältere Spruchdichtung des Volkes an. Enger als Logau schloss sich
an Opitz Daniel von Czei'Kü und Reigersfeld,^ geb. 1G05 zu Koschwitz
im Fürstenthum Liegnitz , 1629 Exulant, seit 1631 aber in Schweidnitz,
begütert und angesehn, gest. in Wohlau 1660. Seine Gedichte sind
grossentheils noch nicht gedruckt ,^ die gedruckten z. Th. Gelegenheits-
gedichte, wie selbst sein Drama Pierie 1636,^*' das erste nach den von
Opitz empfohlenen Lehren gedichtete , mit Choeren imd eingemischten
Dialectscenen. Czepkos Bede aus seinem Grabe veröffentlichte Gryphius, der
sich seinen Schwager nennt, in den KirchhofsgedanJcen. Das Sententioese in
Czepkos Dichtart wies ihn auf die epigrammatische Form, und diese hat er selbst
Liebesgedichten gegeben. Er nennt seine Gedichte in dieser Form Einfälle ohne
Nachdenken, nach Art der griechischen Epigramme. 1655 dichtete er Sexcenta
monosticha sapientum, welche seine Neigung zur Mystik erkennen lassen.'^ So
den Deutschen Dichtern des 17. Jhs., 3. Bd. Lpz. 1870. LB. 465. 6) LB. 473, 38. 7) 2,
8, 70 . . Das lang für kurtz, für lang Das kurtz, das glaub ich wol, zu Zeiten schlich und
sprang . Zu Zeiten satzt' ich icas im Kummer, was in Eile . . . Wann nur der Sinn recht
fällt, 100 nur die Meimmg recht, So sey der Sinn der Herr, so sei der Beim der Knecht.
8) Vgl. über ihn besonders: Hoffmann, Weim. Jb. 2, 283 fg. Palm, Beiträge z. Gesch. d.
d. Litt., Breslau 1877 S. 261 fg. ReifFerscheid Quellen S. 764. 9) Der Nachläse befindet
sich in Breslau. 10) Vgl. Palm, Schles. Prov. Bl. 1867. 11) Darauf wies zuerst hin
§ 129 LOGAU. SCHEFFLER. 247
bereitet er auf den mystischen Epigrammatiker vor, dessen Ruhm durch F.
V. Schlegel erneuert und seitdem viel gepriesen worden ist. Angelas Silesitis
ist der Dichtername , den sich Johann Scueffler '^ zulegte , auch er ein
Schlesier, geb. zu Breslau 1G24; auch er ursprüngUch Protestant. Allein
durch Abraham von Franckenberg /^ dem auch Czepko befreundet war,
wurde er zur Mystik geführt und trat 1653 zur kathoHschen Kirche , in
welcher er göttliche Beschaulichkeit nicht wie dort geschmseht und verfolgt,
sondern gefördert zu sehn glaubte. Er starb 1677 im Mathiasstift zu Bres-
lau, nachdem er in einer Reihe von Streitschriften ^* seine früheren Glaubens-
genossen heftig bekämpft hatte. So sehr dieser Fanatismus mit dem pan-
theistischeu Quietismus des Angelus Silesius in Widerspruch zu stehn scheint,^''
80 ist doch auch in seiner poetischen Entwicklung ein verwandter Zug nach-
zuweisen. Zuerst mit jugendlichen Gelegenheitsgedichten '^ neben A. Scultetus
(§ 127) aufgetreten, liess er seine beiden Hauptwerke 1657 erscheinen: Hei-
lige Seelen-Lust oder geistliche Ilirtenlieder der in ihren Jesum verliehten
Psyche (Breslau) und Geistreiche Sinn- und Schlussreime (Wien) , letztere
nochmals als CheruMnischer Wandersmann und um ein sechstes Buch ver-
mehrt, Glatz 1674.^^ Die Lieder zeichnen sich unter den mystischen Jesus-
liedern des ganzen Zeitraums durch Zartheit und Feuer der Empfindung,
durch Reinheit und Fluss der Form aus und sie sind namentlich durch die
Pietisten auch in die protestantischen ^^ Gesangbücher gekommen. Eigen-
thümlicher noch ist der Cherubinische Wandersmann : ^^ eine Reihe von Reim-
sprüchen in meist paarweise verbundenen Alexandrinern mit Überschriften,
ohne System, vielmehr wohl so geordnet, wie sie dem Dichter in den Sinn
Kahlert in der Anm. 12 genannten Schrift, S. 56. 12) Über sein Leben s. besonders
August Kahlert, Angelus Silesius, Breslau 1853 : wozu Lindemann, A. S. (J. Seh.) Freiburg
1876, Einiges nachträgt. 13) Franckenberg hat für die Sammlung der "Werke J. Böhmes
von Betke (§ 110, 38) das Material vorbereitet. 14) Er hat sie in seiner Ecdesiologia,
Neisse und Glatz 1677 gesammelt. 15) Dieser Widerspruch hat Anlass gegeben
dass W. Schrader, A. S. und seine Mystik, Halle 1853, Angelus und Scheffler für zwei
verschiedene Personen hat erklären wollen. 16) Hierüber s. Hoffmann v. Fallersleben,
Weim. Jb. 1, 267 fgg. 17) Von den späteren Ausgaben des Ch. W. empfiehlt sich
die Sulzba'ch 1829 (oder nach dem Exemplar der Strassburger Bibliothek, München 1827)
erschienene, weniger die in der Gesammtausgabe der poet. Werke von Rosenthal, Regensburg
1862 befindliche. Aus der Seelenlust und dem Ch. W. Proben LB. 533. 18) Vgl.
auch § 128, 23. Das Marienlied LB. 538 vertritt allerdings den katholischen Standpunkt.
19) Den Beinamen erklärt die Vorrede zur 2. Ausgabe: Wenn du (Leser) bald ivie ein
Seraphin von himtnlischer Liebe brennest, bald wie ein Clierubin mit unvenvandten Augen
248 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVH JAHKH. § 130
kamen, l'ührcn die Lehre aus, dass der Mensch zu Gott komme, ja Gott
selbst werde , wenn er nur seinen Eigenwillen völlig aufgebe. Auch hier
wieder eine wunderbare Beherrschung der Sprache, die kühnsten Gedanken
in einfachem, durchsichtigem Ausdruck. Angelus erneuert die Sätze Meister
Eckharts, den er indessen nur unter Taulers Namen kennt, weil in dessen
Predigten die Tractatc jenes Aufnahme gefunden hatten. ■''' In der spscteren
Ausgabe sucht Angelus das kirchlich Anstössige hinweg zu erklären. Zu-
gleich wendet er sich mit der Sinnlichen Betrachtung der vier letzten Dinge^^
an die niedrigen Gemüter ^"^'^ bei denen er durch Schilderungen und Vor-
stellungen Eindruck machen will, welche er früher weit von sich gewiesen
hatte. Von dem hohen Fluge in das Gebiet der Theosophie kehrte das
Epigramm wieder zu weltlichen Beobachtungen zurück. Recht derb tritt es
auf bei dem Schweizer Johann Gkou , w^elcher 1643 zu Enzcnschwyl im
Canton St. Gallen geboren , nach Kriegsdiensten und Reisen in angesehner
Stellung zu Herisau 1697 starb. Seine Dichterische Vcrsuchgahe . . in Teut-
schen und Lateinischen Aufschriften , Wie auch etlichen Stinimgedichtcn und
Liedcren erschien Basel 1678;" ein unter dem Namen Reinholds von Freicn-
tahl veröffentlichtes Poetisches Spazierwüldlein^ bestehend in vielerhand Ehren-
Lchr- Scherz- und Sfrafgedichte^i 1700. Indem der Dichter besonders die
schlechten Gelcgcnheitsdichter, die Pritschtneistcr verspottet, führt er zu der
litterarischen Kritik über, welche in Wernikes Epigrammen, etwa gleichzeitig
mit der zuletzt genannten Sammlung hervortreten sollte (§ 136).
§ 130.
Nach der Poetik des 17. Jahrhunderts* war mit dem Epigramm innig
verwandt die Satire , so wenig in der wirklichen Dichtung dieser Zeit das
satirische Epigramm vor dem betrachtenden den Vorrang besitzt. Die Kunst-
poesie hat ihr Augenmerk auf das Schoene, das Erhabene oder Liebliche
gerichtet; für das Characteristische fehlt ihr leicht der scharfe treffende Aus-
druck. Wo sich Spott und Hohn vollauf geltend machen wollen, da waehlen
sie entweder die prosaische Form (§ 131) oder sie greifen zur Mundart, die
auch vor dem Gemeinen, wenn es nur Eindruck macht, nicht zurückscheut.
Gott anschauest. 20) Franz Kern, J. Schefflers Cherubinischer Wandersmann. Lpz. 186G.
21) Schweidnitz 1675. doch muss schon früher eine Ausgabe erschienen sein. Die zu Glatz
1689 erschienene ändert nngeschirkt Sinnreiche Betrachtung : Kahlert S. 73. 22) Linde-
mann S. 162. 23) Daraus die Proben LB. 601 fgg.
§ 130. 1) Opitz, Poeterey V sagt, dass die Satyra ein lang Epigramma, vnd das
§ 130 SATIRE. 249
Besonders lieftig äussert sich in dieser Weise eine Frau, die durch religioose
Sectirerei sich in Gegensatz gegen ihre ganze Umgebung setzte. Anna
OwENA HoYERS,'^ gcb. 1584 zu Coldenbüttel in Schleswig, verlor im Hader
mit der Geistlichkeit ihr Vermoegen und starb 1655 in Schweden, wo sie
1632 den Schutz der Kcenigin gefunden hatte. Ihre Gedichte, 1650 zu
Amsterdam erschienen, sind kunstlos, aber kräftig in ihrer rehgioescn Zuver-
sicht. Gegen ihre geistlichen Gegner richtete sie 1630 Be denische Dörp-
Pape, die derbe Schilderung eines Bauerngelags, an welchem die Dorfpfarrer
selbst Theil nehmen.' Massvoller, milder, spasshafter ist die Ironie des vor-
züglichsten Satirikers, den dies Jahrhundert und den Niederdeutschland her-
vorgebracht hat. Johann Lauremberg war geboren 1590 zu Rostock und
starb als Professor der Mathematik zu Soröe in Dsenemark 1658. Mit nieder-
deutscher Dichtung trat er zuerst 1634 hervor, indem er in zwei bei einer
fürsthchen Hochzeit aufgeführte Comoedien^ plattdeutsche Bauernscenen ein-
schaltete. Weit verbreitetes Ansehn gewannen dagegen Laurembergs vier
Satiren , Veer Scherte Gedichte , welche zuerst 1652 erschienen, öfter, seit
1700 als De veer olde heröhmede Schertz- Gedichte wiederholt worden sind.'*
Die drei ersten beschäftigen sich mit den Thorheiten der Mode, welche im
II. Gedichte noch besonders an der Kleidertracht, im III. an Sprache und
Titeln aufgezeigt werden. Einem sehnlichen Gegenstand hatte Lauremberg
schon 1630 eine lateinische Satyra gewidmet ,'^ dem verderbhchen Einfluss,
welchen die franzoesische Sitte auf die akademische Jugend ausübte. In den
niederdeutschen Gedichten tritt natürlich die Komik handgreiflicher auf und
spricht auch das Anstoessigste offen aus : nur dass dui'ch schalkhafte Über-
treibung, durch sorglose, oft überraschende Folge der Gedanken die Laune
des Dichters sich kundgibt und dem Leser mittheilt. Es fehlt auch nicht
Epigramma eine kurtze Satyra ist. 2) Erich Schmidt, Charakteristiken, S. 85
fgg. 3) Abdruck von Paul Schütze: Zeitschrift f. schleswig-holstein. Geschichte
1885, 243 fgg. Die Form ist strophisch: die Reden der Personen selbst werden wieder-
gegeben, 4) Gedruckt im Triumphus nuptialis, 1648. Die plattdeutschen Scenen
sind wiederholt worden im Jahrbuch für niederdeutsche Sprachforschung für 1877
(Bremen 1878) S. 91 fgg. Jahrg. 1887 (1888) S. 45 fgg. 5) Kritische Ausgabe von
J. M. Lappenberg, Lit. Ver. LVIII, Stuttg. 1861; Neudruck mit Einleitung, Anmerkungen
und Glossar von W. Braune. Halle 1879. Hier ist auch auf die Vorgänger in der sprach-
lichen Erklaerung, E. Müller (Cöthen 1870) und Fr. Latendorf, Germ. 19 und 21, sowie
Rostock 1875, Bezug genommen. Auf dem Titel der Originalausgabe bezeichnet sich der
Dichter als Hans WiUmsen L. Rost,, wobei Willmsen auf den Vornamen seines Vaters
Wilhelm hinweist, Rost, als Rostochiensis zu ergänzen ist. 6) Bei Lappenberg S. 79.
250 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVII JAIIRII. § 130
an Äusserungen des Geniütlis, insbesondere wenn der Dichter sich wchmüthig
der Jugendzeit erinnert. Für die Litteraturgeschichte von besonderer Wich-
tigkeit ist die vierte Satire, welche den bettelhaften Gelegcnheitspoeten schil-
dert und den Gebrauch des Niederdeutschen rechtfertigt/ mit welchem zu-
gleich die nachlässige Versbildung — Alexandriner vermischt mit alterthüm-
lichen vierhebigen Versen — nahe zusammenhängt. Laurcmberg schloas sich
damit an die ältere mundartliche Dichtung an, er reizte auch zur Nach-
ahmung: namentlich für Ilochzeitsgedichte blieb diese Form weit häufiger
in Gebrauch, als es jetzt moeglich ist dies nachzuweisen.^ Für die eigent-
liche Satire jedoch wich auch in diesem Betracht der gefeiertste Nachfolger
Laurembergs von ihm ab : Joachim Rachel, 1618 zu Lunden in Ditmarschen
geboren, gestorben 1669 als Rector der Domschule zu Schleswig.^ Er be-
gründete die kunstmajssige, gelehrte, hochdeutsche Satire, deren Wesen er
in der letzten seiner acht Satiren, '° Der Poet, auseinandersetzte. Gleich-
ma^ssig verwirft er die ungelehrte Dichtung wie die puristischen Umschrei-
bungen Zesens; gegen die dichtenden Frauen eifert er ebenso wie der von
ihm gepriesene Rist. Die Frauen zu schmaehlen oder doch nur bedingt zu
loben ist der Zweck seiner drei ersten Satiren, welche als Hochzeitsgedichte
vorgetragen worden sind. Tritt schon in diesen Gedichten die gelehrte An-
spielung anspruchsvoll hervor, so hat er geradezu aus Juvenal und Persius
den Stoff für die IV. — VI. Satire'^ entnommen. Am meisten Lebenswahrheit
besitzt die VII. Der Freund, worin das akademische Leben, für jene Zeit
der einzige Zufluchtsort einer glücklichen, oft freilich missbrauchten Freiheit,
treffend, wenn auch nüchtern geschildert ist. Noch kühler, noch mehr nach
fremdem Vorbild gestaltete sich die Satire um die Wende des Jahrhunderts
7) In der That ist eine hochdeutsche Übersetzung der Scherzgedichte von Constantin
Christian Dedekixd in Dresden 1654. der dabei Zesensche Grundsätze befolgte, übel
genug gerathen. Eine dänische Übersetzung war schon 1652 dem Original unmittelbar
gefolgt. 8) ifehrere Stücke, zwei älter als Laurembergs Scherzgedichte, hat Lappen-
berg als zweiten Anhang seiner Ausgabe wieder abgedruckt. 9) S. zuletzt Aug.
Sach , J. R. ein Dichter und Schulmann des 17. Jhs. , Schleswig 1869. Hier auch ein
Hochzeitslied in der Mundart von R., welches lange erhalten blieb. 10) Die ersten
sechs erschienen als Tetitsche Satyrische Gedichte, zuerst Frankfurt 1664 ; die beiden letzten
Kopenhagen 1666. Eine Gesammtausgabe , Stralson 1668 , fügte zwei untergeschobene
Satiren hinzu, von denen die eine, Jungfern-Anatomie ihre etwas bedenklichen Scherze
z. Th. Leipziger Dichtern (§ 126) entlehnt. H) Die IV, 'Kinder Zucht" ist LB. 569
wieder abgedruckt.
§ 131 SATIRISCHE PROSA. 251
in den Händen der Hofdichter, von denen Canitz die erste Stelle behauptet
(§ 136).
§ 131-
Die satirische Prosa des siebzehnten Jahrhunderts, welche einen viel
breiteren Raum einnimmt als die Satire in Gedichtform, vereinigt Erzsehlung
und Betrachtung, so dass man oft zweifelhaft sein kann, ob ihre Werke als
Romane, Novellen, Anecdotensammlungen zu bezeichnen sind oder als Abhand-
lungen und namentlich Predigten. Denn als letztere sind sie allerdings viel-
fach vorgetragen worden, und es soll nur ein Anpassen an das Unterhaltungs-
bedürfniss der Zuhcerer und Leser sein , wenn der Sittenlehrer durch
Geschichten oft komischer Art Aufmerksamkeit auch für seine ernsten
Mahnungen zu gewinnen sucht. Diese eigenthümlich gemischte Litteratur-
gattung übernahmen die Deutschen vom Ausland, von den Spaniern, welche
ebenso Ernst und Komik zu verbinden suchten. In Deutschland ward eine
grosse Anzahl solcher Schriften in freier Übersetzung und Bearbeitung be-
kannt durch Aegidius Albeetinus,^ der zu Deventer 1560 geboren, 1620
als fürstlicher Secretär in München starb und zuerst 1594 mit dieser Schrift-
stellerei hervortrat. Unter seinen Gewsehrsmännern nimmt der Hofprediger
Karls V., Antonius de Guevara eine der ersten Stellen ein. Aber auch den
von Spaniern aufgebrachten Schelmenroman führte Albertinus durch eine
solche Bearbeitung in Deutschland ein (§ 134). Schrieb Albertinus im Sinne
der Jesuiten und selbst in der Form ungelehrt und mundartlich, so knüpfte
ein anderer, von den Zeitgenossen hochangesehner Schriftsteller an ein spa-
nisches Vorbild an, um deutsche Gesinnung zu verbreiten und in den Stür-
men der Zeit aufrecht zu halten. Johann Michael Moscherosch war ge-
boren zu Wilstädt gegenüber von Strassburg 1601 , stand seit 1626 als
Erzieher oder Amtmann im Dienste vornehmer Herren in Lothringen, lebte
von 1642 bis 1656 als Beamter meist in Strassburg, spseter in Hanau und
Cassel, und starb 1669 auf einer Reise zu "Worms. ^ Moscherosch stammte
selbst aus Spanien , seine Mutter aus Daenemark; zum guten Deutschen
§ 131. 1) Verzeicliniss von 51 Schriften in Aeg. Albertinus, Lucifers Königreich und Seelen-
gejaidt hg. v. R. Freih. v. Liliencron. Berlin und Stuttgart o. J. (Kürschners Xat. Litt.). 2) Die
in der Leichenpredigt von Meigener, Frankf. a. M. 1669 gegebenen Notizen vervollständigte z. Th.
aus Familienpapieren H. Dittmar in einer Ausgabe der Gesichte, Berlin 1830; s. auch die Allg.
D. Biogr. (Muncker). C. A. Scholtze, Phil, v. Sittewald, Progr. Chemnitz 1877. Briefe von M.
sind bei Wirth (Anm. 7) und in Zs. f. d. Philol. 21, 184 sowie in Reifferscheids Quellen ver-
öffentlicht. Über eine Art Tagebuch mit dem Titel Patientia s. Herrigs Archiv 1854 S. 353.
252 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVTI JAHRH. § 131
machte ihn seine protestantische Überzeugung. Von den Greueln des Kriegs
selbst schmerzlich berührt, wollte er vor allem durch fromme, deutsche Ju-
genderziehung für die Zukunft wirken. Zunäclist für seine eigenen Kinder
bestimmte er seine Insomnis cnra parentum^ Christliches Vurmächtniss oder
Schuldige Vorsorg eines freuen Vatters, Strassburg 1643:^ er hatte es unter
beständiger Todesgefahr als Amtmann zu Vinstingen 1641 verfasst. Gleich-
zeitig^ arbeitete er die Schriften aus, welche ihn erst berühmt gemacht'' und
ihm 1645 die Aufnahme in die Fruchtbringende Gesellschaft als der Träu-
mende verschafft haben, seine Wunderliche und ivarhajfüge Gesichte Phi-
landeis von Sifteivald,^ d. i. Straff-Schrifften H. M. Mosrherosch, zuerst mit
dem Titel Visiones de Don de Quevcdo, nach dem spanischen Original, wel-
ches Moscherosch indessen erst durch eine franzoesische Übersetzung kennen
gelernt hatte. ^ Zuerst einzeln erschienen, wurden die ersten sieben sptetestcns
1642 gesammelt, und allmählich mit sieben selbsterfundenen vermehrt bis
1650.^^ Inzwischen waren Nachdrucke z. Th. mit unechten Gesichten auf-
getreten, welche Räuber- und Gespenstergeschichten mit politischen Betrach-
tungen vermengten und selbst in ihrer ungelchrten Darstcllungsweisc von
Moscheroschs Schreibart abwichen. Denn selbst die seinem Vorbild ent-
nommenen Gesichte hatte er mit zahlreichen Zusätzen, namentlich mit dich-
terischen Belegstellen ^ aus der roemischen und den modernen Litteraturen
aufgeputzt; und durchweg auf persoenliche Erlebnisse bezogen.'** Noch mehr
ist dies letztere der Fall in den selbsterfundenen Gesichten, von denen ins-
3) Wiederholt 1647, 1653 und 1678. Bearbeitung von Dittniar, Frankfurt 1833. Vgl. auch
Max Nickels, H. M. Moscheroch als Pädagog. Diss. Leipzig 1883. Mehrere andere Schriften
von Moscherosch beziehen sich auf adlige Ei-ziehung. 4) In den Gesichten finden sich
die Data 1640 (Todtenheer), 1641 (Ala Mode Kehrauss und Podagram"). 1642 (Soldatenleben).
In Ala Mode Kehrauss sagt M., er habe die (resichte nach Quevedo 2 Jahre früher geschrieben,
also 1639. 5) Unbedeutend sind die lateinischen Epigramme, gesammelt Frankf. 1665,
und die deutschen Gelegenheitsgedichte, worüber Erich Schmidt, Zs. f. d. A. 23, 71 fgg.
Moscherosch war mit Rumpier befreundet (§ 122, 26) und suchte Weckherlins Verdienste
um die deutsche Dichtung gegen Opitz' Ruhm geltend zu machen (§ 122. 21). An Zincgrefs
Apophthegmeu hatte er mitgearbeitet. Über deu ihm zugeschriebenen Sprachverderber s.
§ 114, 4. 6) Durch Buchstabenversetzung für Wilstädt. 7) Durch die Visions . .
par le siettr de /a Gen^sfe 1633 u. ö. ; das Original (1631) hatte den Titel ÄMf/Io.s. Joh. Wirth,
Moscheroschs Gesichte Ph. v. S. Verhältniss der Ausgaben zu einander und zur Quelle.
Erlangen 1887 (Diss.). SeufFert Anz. f. d. Alt. XIV, 96. 8) Letzte Ausgabe 1677. 9) Deren
Ungenauigkeit rügt Bobertag in der Vorrede zu seiner Auswahl (^Kürschners Xat. Litt.) S. XLX.
Eine neue Ausgabe der Gesichte war von Dittmar begonnen worden (Anra. 2). 10) Vgl. LB.
§ 131 MOSCIIEROSCIL SCHUPPIUS. 253
besondere das Soldatenlehen ein furchtbares Bild der Ausschreitungen des
Krieges gibt, waehrcnd Alumode Kehrauss die Entartung der Deutschen und
ihre Nachäfferei fremder Thorheiten verspottet.'' Vor allem die Gedanken
der letztgenannten Satire haben weiter gewirkt, auch bei den katholischen
Sclu'iftstellern. '^ Hoffnungsfreudiger , lebenskräftiger ist das Streben eines
wenig jüngeren Satirikers, der freilich auch Gleichschweres nicht erlebt hatte.
Johann Balthasar Schuppius '^ war geboren zu Giessen 1610, war in Mar-
burg Professor 1635 — 1646, dann hessischer Hofprediger, hielt 1648 die erste
Friedenspredigt zu Münster, und lebte 1649 — 1661 als Prediger zu Hamburg.**
Diese letzte Stellung gab ihm Yeranlassung, mit deutschen Schriften hervor-
zutreten, welche zu Hanau 1663 gesammelt erschienen; '^ darunter die ein-
zige vollständig von ihm herausgegebene Predigt: Gedenic daran Hamburg,
1656.'^ Seine auf das wirkliche Leben gerichtete, ebenso ungescheut Laster
und Missbrauch strafende, als durch Erzaehlungen, meist von selbst Erlebtem,
gewürzte Predigtweise zog ihm die Feindseligkeit seiner Amtsgenossen zu;
mit den Universitatsprofessoren verdarb er es durch seine Hinweise auf die
Übelstände der akademischen Einrichtungen. Gegen die Anklagen, welche
laut wurden, wehrte er sich in freilich rücksichtsloser Weise.''' Erfreulicher
651 fgg. 11) Als Richter erscheinen hier altdeutsche Helden : Hermann, Ariovist u. a.,
welche auf Schloss Geroldseck im AVasichen verborgen fortleben. Damit ist die Ruine bei
Zabern gemeint; aber zugleich an das gleichnamige Schloss bei Vinstingen an der Saar
gedacht, da die Aussicht auf diesen Fluss öfters erwaehnt wird. 12) Vgl. Schnüffis
§ 123, 22 und unten Anni. 19; über Abraham a S. Clara s. Karajan S. 113; über AVeise,
§ 135, 8. Balthasar Kindermann, der unter dem Namen Kurandor in Rists Orden
aufgenommen ward, geb. 1636 zu Zittau, gest. als Prediger zu Magdebui-g 1706, gab 1651
den Schoristen-Teufel heraus, welcher in zwei Gesichten die Höllenqualen schildert, die den
Verfechtern des Pennalismus drohen. 13) Deutsch nannte er sich. Schup2^e und Schupp:
Schriften (1663) S. 592. 609. 14) Alexander Vial, J. B. S. ein A'orläufer Speners,
Mainz 1857. Ernst Oelze, B. S. Ein Beitrag zur Gesch. des christl. Lebens in der ersten
Hälfte des 17. Jhs., Hamburg (Vorwort von 1862). K. E. Bloch, J. B. S. (Progr.) Berlin
1863. M. Weicker, J. B. S. in seinem Verhältniss zur Pädagogik des 17. Jhs. (Progr.),
Weissenfels 1874. C. Hentschel, J. B. S. (Progr.) Döbeln 1876. 15) Neue Auflagen zu
Fraulvfurt a. M., die letzte 1719. Inzwischen waren aus dem Nachlass von seinen Soehuen noch
mehrere, aber minderwerthige Schriften herausgegeben worden; in die Schriften nahmen sie
den Fahulhnnss auf, eine AViederholung der § 99, 30 angeführten Predigt des Mathesius, um damit
die Vorwürfe gegen Schuppes Predigtweise durch das Beispiel Luthers zu widerlegen. 16) LB.
3, 697. Neudruck des Tractats Z)er jPrewnfZ in der Not, nach der ersten Ausgabe 1657, Halle
1878. Der Tractat ist für einen zur Üniversittet ziehenden Sohu bestimmt. Eiuzelue Tractate
Schuppes sind in das Holländische und Dänische (Schriften S. 645) übersetzt worden. 17) LB.
Wackernagel, Litter. Gescliichte. II. 1«
254 NEUJIOGIIDEUTSCIIE ZEIT. XVII JAIIKII. § 131
sind die allgcmoinen Betrachtungen über deutsche Dichtung und Bildung, die
cv im Teiitschen Lehrmeister, einem angeblichen Gespraich zwischen Antenor
(dies war sein Schriftstcllernamc) und Diiphnis aus Oimbrien (Rist) vortrug.'**
Er verwirft ebenso die Sprachmcngerei wie den übertriebenen Purismus ; er
wünscht deutschen Unterricht und Unterricht im Deutschen auch für die
Universitäten, wie schon sein Schwiegervater Ilclvicus (§ 114, 13). Er be-
ruft sich auf Müschcrosch,'-' nennt aber als Vorbild besonders den Italiener
Trajanus Boccalini und dessen Uckitiones ex Famas.so. Schuppes Schrift-
stellerei ward dann von Christian Weise (§ 135) und weniger der Form
nach als in Bezug auf das erstrebte Ziel, von Thomasius (§ 138) fortgesetzt.
Am najchstcn aber tritt zu Schuppius ein katholischer Prediger heran , der
Augustiner Abraham a S. Clara. So der Ordensname; sein bürgerlicher war
Uluech Meoerle oder Megeulin. Geboren zu Krecnhcinstetten bei Mess-
kirch 1G44, trat er 1662 ins Kloster und wirkte mit allseitigem Bcifalle als
Prediger zu Wien (1682—1689 zu Graz) bis zu seinem Tode 1709.''" Seine
Predigten gab er zuerst auf besonderen Anlass in den Druck: 1673 Astria-
CKS Austriacus, auf den Markgrafen Leopold, dann mehrere auf die Pest des
J. 1679 bezügliche (MercJcs Wiemi 1679 , Lösch Wienn 1680 u. a.) , die
Anmahnuug zum Türkenkrieg (Auff<, ft«//', ihr Christen! 1683),^' woraus
Schiller für die Kapuzinerpredigt in Wallensteins Lager geschöpft hat , die
Empfehlung des Wallfahrtsortes Taxa in Bayern, wo Abraham als Prediger
gewirkt hatte (Gack, Gaclc, GacJc, Gack a Ga Einer Wimderseltzamen Hennen
München 1685). Eine Sammlung solcher Predigten erschien Salzburg 1684
u. ö. unter dem Titel Beimh dich oder ich liss dich. Von den spicteren
Schriften, die theilweise noch aus seinem Nachlasse herausgegeben worden
sind,-- nimmt Judas der Erzschelm.,-'^ zu Salzburg 1686 — 1695 in vier Bän-
73;") fgg. Auch die Abschweifuugen und Wiederholungen der Tractate Schuppes sind nicht
zu loben. Ein Beispiel für die letzteren s. Anni. 27. 18) LB. 761 fgg. 19) LB. 79L
20) Th. (t. V. Karajan, Abraham a Sancta Clara, Wien 18(j7 : dazu Scherer, Zs. f. österr.
Gynin. 1867 S. 49 fgg. Vorträge und Aufsätze (Berlin 1874), S. 147 fgg. Zs. f. d. Alt. 21 Anz.
279 fgg. Lauchert in Birlingers Alem. XVII. 77 fgg. 21) LB. 891 fgg. Wiener Neudrucke 1,
Wien 1883. 22) Aus dem Nachlasse stammen : Ab r nimmt scJies Besehet desiien, Vi'ien und
Brunn 1717, AbrahnmiscJie Lauherhütt, Wien und Nürnberg 1721 — 23. Ahraliamisclies Geluib
dich tpohl, Nürnbcig 1729. Unecht ist 3Iercuriah's oder Wintergrün, Nürnberg 1733, und ohne
Giund Abraham zugeschrieben Centifolium StuHorum, Wien 1709. Eine Ausgabe sämmtlicher
Schriften erschien Passau und Lindau 1835 — .54 in 21 Bdn. 23) LB. 910. Eine Auswahl
von Bobertag, Berlin u. Stuttgart (Kürschners Nat. Litt. 40). Inhaltsausgabe bei Hugo Mareta,
§ 131 ABRAHAM A S. CLARA. 255
den erschienen, insofern eine besondere Stellung ein, als das legendenhaft
ausgeschmückte -^ Leben des verrätherischen Apostels den Anlass gibt , alle
möglichen Laster und Thorbeiten zu besprechen. Denn auf die Moral ist
das Absehn des Predigers gerichtet; wo er Glaubenslehre vorträgt, wie in
seiner, allerdings lateinisch geschriebenen , (rrammatica religiosa (Salzburg
1691) erscheint er trocken und unselbständig. Als Prediger will er, und
bierin hat der Leichtsinn seiner Zuhcererschaft ihn wohl in zunehmendem
Masse bestärkt, vor Allem durch Erregung von Neugier und Lachlust wirken.
Nicht als ob ihm der sittliche Zweck verloren gegangen waere, an Wahr-
heitsliebe,^"^ an Freimuth, auch dem Hofe gegenüber, dessen Prediger er doch
war, steht er Schuppius gleich, dessen Eigenheit auch sonst durch die seinige
nur überboten wird. Auch dieser hatte schon, und in bedenklicher Weise,
zu überraschen gesucht; ^"^ auch dieser hatte schon die evangelische Ge-
schichte mit den Farben der Gegenwart und zwar stark satirisch auszumalen
gewagt ,2^ und sonst vom Hundertsten ins Tausendste kommend , Anecdoten
und , wiewohl selten , Sprichwörter oder andere Yolksüberlieferungen einge-
flochten. Aber wenn wir Schuppius glauben dürfen, dass er sich in wirklich
gehalteuen Predigten weniger habe gehn lassen als in den daraus herge-
stellten Tractaten,-^ so scheint Abraham vielmehr im Druck manches Wagniss
der freien Rede unterdrückt zu haben. -^ Auch so noch sind Abrahams
Schriften nicht mit Unrecht fast als Unterhaltungsbücher angesehen worden.
Dazu macht sie namentlich das Überwiegen des volksthümlichen Gehalts:
selbst die geistlich gelehrten Geschichten und Legenden führen wesentlich
auf die mittelalterliche Überlieferung zurück. Abrahams glänzende Gabe zu
erzsehlen verbindet sich mit scharfer Beobachtung des wirklichen Lebens,
dessen Bilder er zugleich durch witzige Übertreibung spasshaft zu verzerren
weiss. Noch eigenthümlicher zeigt sich sein Witz im Wortspiel, welches
geradezu für seinen Stil bezeichnend, zuweilen gesucht erscheint, aber durch
Über J. (1. Erzschelm (Progr.) Wien 1875. 24) Nach Jacobus a Voragine. tibrigens
ist die Entstehung des Judas aus wirklich gehaltenen Predigten noch vielfach zu bemerken:
mitten in einem Capitel beofegnen Schlusswendungen. wie: für diesmal sei es srenusr u. a.
25) LB. 924. 26) Schuppius .Schriften 599. Er wünschte seineu Zuhörern zum Dank für ihre
Liebe, dass sie zur Hölle fahren möchten — nach einer Pause füffte er hinzu — um dort
die Qualen der Verdammten zu sehen. 27) Vgl. die Geschichte Johannis des Täufers:
im Freund in der Noth, Sehr. 242 fj'or. und wiederholt in der Ahcjenöth igten Ehren rettun<r.
ebd. (J5G. 28) Schriften 583. 29) Vgl. die Predigtbruchstücke in Reimb dich oder
ich liss dich zu Anfang, welche noch dazu den Landptarreru für die Exordia ihrer Predigten
256 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVII JAIIRII. § 132
die schnelle Folge immer wieder überrascht. Ihm stand eine — besonders
für einen Fremden — erstaunliche Kcnntniss der "Wiener Mundart /u Ge-
bote; auch deren Gebrauch wird in den gedruckten Schriften nur eine Ab-
schwiichung erfahren haben.
Diese Eigenschaften machen die Werke Abrahams in weit hcoherem
Grade als die seiner Vorgänger in der satirischen Schreibart zu einer Fund-
grube für Volkssitte und Volksglauben in jener Zeit, Das Interesse des Ge-
lehrten für die volksthümliche Überlieferung und besonders für den Aber-
glauben, an welchem die durch den Krieg aufgeregte Phantasie des Volkes
sich weidete, tritt auch sonst hervor, nur dass weder Eigenthümlichkcit der
Form, noch selbständige Gedanken diesen Schriftstellern litterarhistorischen
Werth verschaffen. Johannes Pr.ktorius (1630 — 80), als Magister an der
Universitait Leipzig lehrend, bekämpfte in zahlreichen Schriften^" (Dmnono-
lotjia Bubinzalii iSilesii, Leipzig 1662, Fhüosophia Cohts oder Pfy, lose vieh
der Weiher, u. a.) den Volksaberglauben, wahrend er selbst in allem ge-
lehrten Wahne befangen war; ihm folgte der Zwickauer Apotheker Johann
EuHARi) Schmidt (1660 — 1722) mit der Gestriegelten Rockaiphilosophic
(Chemnitz 1705),^' Verwandten Schlages und trotzdem von den Zeitgenossen
vielfach als liistorische Quellen benützt sind viele Schriften des Büchermachers
Erasmus Francisci '^ (geb. zu Lübeck 1627, gest. zu Nürnberg 1694): der
höllische Proteus u. a, Bittere Satiren in loser dramatischer Form schrieb
der Jesuit Franz Callenbach,^^ an dessen Büchern jedoch die Titel Wiirmatia,
Wurmland 1714, Qicasi sive Mundus Quasificatus u. a. das Witzigste sind.
§ 132.
Dem Zorn und dem Jammer, welchen die wilde Verwüstung des langen
Krieges hervorriefen, sollte es auch an dem hoechsten Ausdruck nicht fehlen,
zu dem die Dichtung fsehig war: auch die TragOBdie fand in dieser Zeit
ihre Pflege durch einen hochbegabten Dichter. Andreas Gryphius ist schon
von Elias Schlegel * mit Shakesperc verglichen worden, in dessen Todesjahr
er geboren ward, wie er hundert Jahre nach dessen Geburt starb. Aller-
dings hat Gryphius von Shakesperc nur einen Lustspielstoff, und auch diesen
nicht unvermittelt, übernommen; sein eigentliches Muster auf dramatischem
Gebiet war der Niederländer Joost van den Vondel.^ Allein diesem Dichter
empfohlen werden. 30) S. Zarncke in der Allg. D, Biogr. 31) Archiv f. Litt,
gesch. 1870, S, 105 fgg. 490. 32) ^Vill, Xürubergisches Gelehrtenlexicon I 462. V 346.
Über Francisci als Fortsetzer von Rist s. § 124, 61. 33) Lebensumstände unbekannt.
§ 132. 1) In Gottscheds Krit. Beitr. VII (1744). 2) R. A. Kollewj^n, Über
§ 132 ANDKEAS GRYPHIUS. 257
gegenüber, dessen Dramen grossentheils von politiscli-religioosen Absichten
eingegeben sind, zeigt Grypliius eine freiere Auffassung der menschlichen
VerhiUtnisse, die ihn zugleich befa^higte, wie Shakespere auch die heitere
Seite seiner Kunst hei-vorzukehren. Nur sind es erst die spateren Jahre,
in denen Gryphius sich den überaus trüben Eindrücken seiner Jugendzeit
entzog. Geboren 1616 zu Grossglogau , ^ verlor er beide Eltern früh und
erlebte heranwachsend die Bedrückung seiner Glaubensgenossen , die Ver-
heerung seiner Ileimath. Erst 1636 fand er als Erzieher im Hause des
Kammerfiscals Schcenborn einen freundUcheren Aufenthalt. Nach dessen Tod
suchte er, über Danzig, die Niederlande auf, wo er von 1638 bis 16-44 ler-
nend und lehrend der Universitset Leyden angehoerte. Als Reisebegleiter
begüterter Jünglinge sah er Frankreich und Italien , verlebte , litterarisch
thsetig, ein Jahr in Strassburg und kehrte 1647 über Holland in die Heimath
zm-ück. Eine glückliche Ehe und, seit 1650, die amtliche Thajtigkeit als
Syndicus des Fürstenthums Glogau, befriedigten ihn: mitten in einer Sitzung
raffte ihn 1664 ein Schlaganfall hinweg. Als Dichter^ war er, abgesehn von
lateinischen Gedichten,^ zuerst hervorgetreten mit Son- und Feyertags Son-
neten^^ Leyden 1639: die Anwendung dieser Form auf religioese Gegenstände,
bei welcher Gryphius zugleich durch die Innigkeit seiner Überzeugung und
durch die scharfe Auspreegung des lutherischen Dogmas Eindruck machen
konnte, fand vielfach Nachahmung. Auch für persoenliche Erfahrungen und
Stimmungen wandte er noch spseter das Sonett an , seit 1643 mit Abwei-
chungen von der einfachen, durch Opitz aufgekommenen Form, welche sich
an Zesens Vorbild anschlössen.^ Frommen Gedanken dient ferner bei ihm
den Einfluss des hoUäudisclien Dramas auf Andreas Grypliius, Amersfoort und Heilbronn
0. J. (1880). 3) Cliristliclier Lebenslauf von B. S. v. Stoscli 1665, Leubscheri Sclieäiasma
de claris Grypliiis, Brigae 1702. Seine Familie stammte aus Thüringen und liiess eigentlich
von Greif. 4) Die erste grössere Sammlung erschien, mit fremden Zuthaten. Frankf. a. M.
1650 und Strassburg 1652; eine gereinigte, Breslau 1657; dann nochmals 1663; am voll-
ständigsten ist die von dem Sohne des Dichters, Christian Gryphius, Breslau und Leipzig
1698 herausgegebene. Neuerdings hat H. Palm die Lustspiele im Lit. Ver. 138 (1878),
die Trauerspiele ebd. 162 (1882) und die lyrischen Gedichte ebd. 171 (1884) wieder abgedruckt;
sowie eine Auswahl in Kürschners Nat. Litt. Bd. 29 herausgegeben; aus den dramatischen
Dichtungen war eine solche von Tittmann veranstaltet worden : Lpz. 1870. 5) Heroäis
furiae et Bacheiis lachnjmae, 1634, Auszug von F. W. Jahn , Halle 1883 (Progr.). Dem
Senate von Venedig überreichte er 1646 sein Olivetum, eine Leidensgeschichte Christi,
übersetzt von Strehlke, Weimar 1862. 6) Neudruck von Welti, Halle 1883. Vgl.
ebendesselben Geschichte des Sonettes in der deutschen Dichtung, S. 99 fgg. 7) Vgl.
258 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVH JAHIIH. § 132
die Ode, die er bald als pindarischc mit Satz, Gegensatz und Zusatz aus-
führt, bald in volksthümlich sangbarer Strophe dichtet." Die mit Vorliebe
behandelten Vorstellungen von der Vergänglichkeit und Eitelkeit aller irdi-
schen Güter finden ihren stärksten Ausdruck in den Kirchhofsgedanken 1650:
die Bilder der Verwesung erscheinen hier gehäuft und bis in die grauen-
haftesten Einzelheiten durchgeführt.'' Dass Gryphius auch als Lyriker freund-
lichere Gedanken auszusprechen wusste, zeigen seine Gelegenheitsgedichte,
namentlich die Hochzeitsliedcr. Weniger gelingt ihm der Ton der Satire in
drei Schcrtsgedichtcn, da er z. B. falsche Freundschaft nur mit ernstem Tadel
zu schildern weiss. Auch seine Epigramme oder Beischrifften sind mehr
herb als witzig. Alles Lyrische tritt jedoch zurück hinter die Bedeutung,
die Gryphius sich als Dramatiker erworben hat. Er begann mit Über-
setzungen, auf tragischem Gebiete mit den Gibeonitern '" von Vondel, worin
der Untergang der Soehne Sauls dargestellt war , und mit der Märtyrer-
geschichte der h. Felicitas von dem Jesuiten Causinus;" von Lustspielen hat
er in der Jugendzeit die Seugamme oder Untreues Hausgesinde aus dem Ita-
lienischen,'- und noch 1603 Der schwermendc Schäffer nach Thomas Corneille
bearbeitet: das letztgenannte Stück auf besonderen "Wunsch, trotz der Ab-
neigung gegen Ubersetzerarbeit, die sich allmajhlich bei dem Dichter geltend
machte (§ 115, 15). In der That hat Gryphius als Übersetzer sich oft durch
seine fremden Vorbilder zu undeutschen Ausdrücken und Wendungen ver-
führen lassen, und namentlich aus dem Holländischen ist ihm manches der-
artige auch noch bis in spsetere Zeit geblieben.'^ Ebenso hat der antike
Tragiker, den die Renaissancedichter als Muster ansahen, hat Seneca auf den
Stil auch unseres Dichters eingewirkt, und namentlich eine übertrieben ab-
gekürzte Redeweise bei diesem verschuldet.'* Im übrigen bestimmte Vondels
Nachahmung des Seneca auch Gryphius: in der Eintheilung der Tragoedien
in Abhandlungen, d. h. Acte (nicht in Scenen, ausser im Leo, wo die Ab-
handlungen noch in Eingänge zerfallen) , in der Trennung der Acte durch
unter den Proben LB. 2. 485 fgg. besonders Nr. VII. 8) LB. XI und XII. In einer
Art alräisfher Strophen ist Xr. XIII verfasst mit Reimen. 9) Angehängt sind Über-
setzungen whnlieher lat. Stücke von Bälde und Czepkos Rede aus seinem Grabe (§ 129).
10) Vondels Stüek hiess De Gebroeders ; Gryphius übersetzte nach der ersten Ausgabe von
1(3;W; seine Arbeit erschien erst 1698 im Druck. 11) Zuerst 1657 veröffentlicht. 16.58
zu Breslau von Schülern aufgeführt. 12) Gedruckt zuerst 1663 wie das folgende Stück.
18) So bUckt = ist, wird offenbar, holl. blijkt ; ausdagen, 'vor Gericht fordern', holl.
uitdaghen. Vgl. auch Palm. Lit. Ver. 162 S. 729. 14) Palm. Sonderausgabe der
§ 132 ANDREAS GRYPHIUS. 259
Chocrc oder Rcycn, in wclclien oft allegorische Personen auftreten und mit
lyrischen Gesängen '-' in Versen von unregelmassig wechselndem Umfange die
sonstgebrauchten Alexandriner unterbi'echen, endlich in der Beobachtung der
Einheit der Zeit, nicht des Ortes. Auch das hat Gryphius mit seinen Yor-
bildern gemein , dass weder eine lebenswahre Characteristik noch eine fort-
schreitende Entwickelung , sondern pathetische Reden sein Hauptaugenmerk
bilden. Dabei gelingen ihm die elegischen Klagen noch besser als die oft
über alles Mass hinausgehenden Prahlreden. Zu solchen gab ihm sein erstes
selbständiges Trauerspiel Leo Armenius ^^ vielfach Gelegenheit, ein Stück aus
der byzantinischen Geschichte, welches gewissermassen zu Wallensteins Schick-
sal im Gegensätze steht: der Kaiser will seinen übermächtigen und Verrath
sinnenden Feldherrn beseitigen, verschiebt jedoch die Hinrichtung und wird
selbst ermordet. Ausdrücklich bemerkt der Dichter, dass er die den Alten
unbekannte Meinung nicht theile, dass kein Trauerspiel sonder Liehe tmd
Buhlerey vollkommen sein könnte. ^^ Eine Märtyrergcschichte aus der Zeit
des Dichters enthält Catharina von Georgien oder Bewährete Beständlrjlceit,^^
worin die christliche Fürstin als Gefangene des Perserschachs Abbas lieber
den Tod unter den furchtbarsten Qualen erleidet, als dass sie seiner Liebe
nachgäbe und zugleich ihre Religion verleugnete. Wie liier die himmlische
Liebe den Tod überwindet, so meint der Dichter, zeige sein Trauerspiel
Cardenio und Gelinde oder Vnglücldicli Verlilete ''■' den Sieg des Todes über
die irdische Liebe. Der Stoff, den Arnim und Immermann der Erneuung
werth fanden, lässt das Stück als Vorläufer des bürgerlichen Trauerspiels
und des Schauspiels in engerem Sinne erscheinen: es sind bürgerliche
Kreise, in denen es spielt, und es endet wenigstens nicht blutig. Zu seinem
alten tragischen Ideal, zur Verherrlichung standhaften Leidens kehrte Gry-
phius zurück in Carolus Stuardus oder Ermordete Majestät, welches unmittel-
bar nach dessen Hinrichtung verfasst , der in Deutschland und den Nieder-
Dornrose S. 21 fgg. 15) Beispiele LB. 2, 499 fgg. 16) Zuerst 1650 erschienen; eine
holländische Übersetzung von Leeuw, welche auf dem Theater zu Amsterdam aufgeführt und
1659 gedruckt wurde, erwshnt Kollewyn p. 18. Über eine Aufführung des L. A. in Leipzig,
die Leibniz als Knabe gesehen, s. Gruhrauer Leibniz' Deutsche Schriften 1, 'oO. 17) Er stichelt
dabei auf Corneilles Polyeucte. 18) Zuerst 1657 erschienen: 1665 zu Halle bei einem Schulfest
aufgeführt: s. Jahn in der Anra. 5 angeführten Schrift. 19) Den Gegenstand erzsehlte Gryphius
seinen Freunden in Amsterdam 1647: das Stück erschien zuerst 1657. Eine offenbar verwandte
Erzählung hat Boxbcrger in Schnorrs Archiv 12. 219 nachgewiesen: Harsdörfer. Schauplatz
jämmerlicher Mordgeschichte, Hamburg 1649 X. XXXVI. Bei Gryphius tritt viel Gespensterspuk
2G0 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVH JAllRH. § 132
landen allgemeinen Entrüstung "Worte lieh,-" und in GrossmütliKjcr licchts-
Gclchrtcr oder sterbender Aemiliiis Paulus Fapinianus KJöO,-' mit starker
Benutzung von Vondels Palamedes. Inzwischen hatte der Dichter, auch der
eigenen Befriedigung durch Ehe und Amt Ausdruck gebend , für froDhlicho
Feste des Landes mehrere Stücke verfasst, ([q.q Freudetispiel Majuma 1653"
und das Lust- und Gesangspid Piastus^''-^ wohl 16G0, endlich gleichfalls 16GÜ
sein mit Benutzung von Quinault verfasstes Gesangsp'd Vcrlihtes Gespetiste,
welches Act um Act im Wechsel mit dem Schertsspil Die Gclihte Dornrose
zur Aufführung kam. Insbesondere das letztgenannte Scherzspiel ist merk-
würdig, einmal wogen des fast durcligängigcn (Jobrauchs der schlesischen
Mundart, sodann wegen der wenn auch überaus freien und geistreichen Be-
nutzung von Vondels Leuwendalers. Ebenso, wenn auch nicht mit gleichem
Glück, versuchte sich Gryphius an einem Shakcspereschen Stoffe, der lUipcl-
comcedie im Sommernachtstraum, welche mehr oder weniger selbständig in
England, den Niederlanden und Deutschland'^* von Comocdianten aufgeführt
worden war, aber hier auch schon vor Gryphius einen gelehrten Bearbeiter-^
gefunden hatte. Gry})hius hat durch sein Stück Ahsurda cotnica oder Herr
Peter Squents , Schimpfspiel ^ den Stoff neu belebt.-*^ Es erschien zuerst
hinzu: er theilte den Gespensterglauben seiner Zeit. 20) Zuerst 1657 gedruckt und in dieser
Fassung wiederholt bei Tittniann: narh der Restauration umgearbeitet 1663, wobei unter den
neu benutzten Quellen auch ein AVerk Zesens (§ 124, 31) erscheint. Eine Auöiihrung der ersteren
Fassung durch Comüdiauten zu Wiudsheim am Main 1650 vermutbet Tittmann, S. XXXVI,
wohl irrig. Vgl. auch Mentzel, Das Frankfurter Theater, S. 76. Schon bei Gryphius findet
die Enthauptung auf der Bühne statt. 21) 1660 zu Breslau von den Schülern aufgeführt;
1738 zu Speyer: Schnorrs Arch. 15, 222: eine Aufführung zu St. Gallen durch die junge
Burgerschaft 1680 führt Gödeke an. Von Veiten 1690 aufgeführt: Heine S. 36 (§ 137).
Heine gibt in Zs. f. d. Philol. 21. 280 Auszüge aus einer i'rosabearbeitung des Papinianus,
welche dem Repertoire der Wandertruppen angehörte, und in einer Abschrift von 1710
vorliegt. 22) Zuerst 1657 gedruckt. Inhaltsangabe dieses und der anderen Lustspiele
bei H. Hitzigrath, A. G. als Lustspieldichter, Wittenberg (Progr.) 1885. 23) Zuerst
1608 gedruckt. 24) Vgl. KoUewyn S. 45 und schon in Schnorrs Archiv 9, 445 fgg.
über die niederländische Kluchtiglie Tragoedie: of den Hartoog von Fierlepon, von Grams-
berghen, welche 1650 zu Amsterdam aufgeführt wurde; die englische und eine Hamburger
Comödie, über welche Schupp und Rist berichten, untersucht nteher F. Burg in der Zs. f.
d. Alt. 25, 130 fgg. 25) Gryphius nennt Daniel Schwenter Prof. zu Altdorf, gest. 1636.
Doch wird erst Gryphius die satyrischen Bezüge auf Hans Sachs und die Meistersinger
eingewoben haben, welche Meyer v. Waldeck, Vierteljsch. f. Litt.-Gesch. 1, 195 nachweist.
26) Eine holländische Übersetzung von Leeuw 1669: KoUewyn S. 45: weitere Bearbeitung
durch Chn. Weise § 135, 21. Über eine zu Landshut 1756 gedruckte Verschmelzung des
§ 133 ZWEITE SCIILESISCIIE DICIITERSCHULE. 2G1
1657/^ scheint aber schon um 1G48 entstanden zu sein, zugleich mit Ilorri-
hilicribrifax Tenfsch,'^^ einem Nachkömmling des Miles Gloriosus, den der Dich-
ter aber zugleich als alamodischen Sprachverderber gezeichnet und mit einem
Gegenstück, einem pedantischen Schulmeister zusammen auf das reichlichste
aus seinen eigenen Sprachkenntnissen ausgestattet hat (§ 114, 4). So die
veröffentlichten Werke ; von andern ist uns nur kurze Nachricht zugekommen.
Bedenken wir indessen die in dem Erhaltenen bezeugte Fruchtbarkeit und
Vielseitigkeit des Dichters, auch dass er theilweise Vorzügliches geleistet hat,
so stellt Gryphius allerdings einen geschichtlichen Höhepunct dar, und es
war eine gerechte Anerkennung der Zeitgenossen, wenn die Fruchtbringende
Gesellschaft ihn 1662 als den Unsterblichen aufnahm.
§ 133.
Mit Gryphius perscenlich befreundet folgten ihm als Dichter mehrere
Landsleute, deren Dichtart jedoch der seinigen sich nur in äusserlichen Dingen
anschloss, im Grunde jedoch entgegensetzte. Mit Unrecht ist daher Gryphius
zuweilen mit ihnen zusammen zur zweiten schlesisehen Dichterschule ge-
rechnet worden. Diese ahmt den Italienern nach, wie vor ihr der Nürnberger
Dichterverein. Sie strebt in Folge dessen nach jener witzelnden Ausdrucks-
weise, welche die Italiener mit ihren concetti ausgebildet hatten, Wendungen,
in welchen bildliche und eigentliche Bedeutung der W^örter best<ändig wech-
selten, und dadurch überraschende Satzverbindungen moeglich wurden.* Sie
wandte sich an die Sinnlichkeit , meist mit lüsternen Schilderungen , aber
auch mit grässlichcn Marterscenen. Besonders die erstere, mit wahrer Scham-
losigkeit verfolgte Richtung ist kennzeichnend für diese Schule, ja für die
ganze Zeit. Denn es war diese Lüsternheit, ja dieses Prahlen mit Sitten-
losigkeit ein Bestandtheil jener fremden, zumal franzoesischen Mode, wie sie
nach der Mitte des Jahrhunderts vor allem an den Hoefen , wo man das
Beispiel Ludwigs XIV. vor Augen hatte, sich ausbreitete; doch auch die
Gelehrten glaubten auf den leichtfertigen Ton der Unterhaitimg vor den Hof-
leuten eingehn zu müssen.- In die Dichtung diesen leichtfertigen Ton ein-
P. Squpntz mit Faust s. Erich Schmidt. Zs. f. d. A. 26, 244 fgg. 27) Neudruck von
W. Braune, Halle 1877. 28) Erster Druck wohl von 1663. Neudruck Halle 1877.
§ loo. 1) Als ein Beispiel diene der Anfang der aus Lohensteins Arminius ausgehobenen
Stelle LB. 3, 863. 2) Leibnitz nahm Theil an der Bewunderung, welche ein lüsternes
Gedicht von Besser, Die Ruhestat der Liebe oder die Schoss der Geliebten selbst bei fürstlichen
Frauen fand. s. "Weim. Jb. 3. 116. Vgl. auch die von Wagenseil, De dvitati Noribergensi
262 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVII JAlIiai. § 133
zuführen, dazu ward allerdings das eine Haupt der zweiten schlcsischcn
ISchulc, CiiuisTiAN HoKMAN VON HoFMANswALDAr,'^ aucli durcli eigene Nei-
gung getrieben: dass er sich der Bedenklichkcit seines Unternehmens bewusst
war, geht daraus liervor, dass er seine Gedichte erst spset und um unbe-
fugten Herausgebern entgegenzutreten erscheinen licss,* und auch dann noch
nur einen Theil ; das Übrige ward erst nach seinem Tod und mit noch
schlimmem, ebenso geist- als zuchtlosen Nachahmungen zusammen veröffent-
licht.'^ Ilofmanswaldaus Hauptwerk sind die Heldcnhriefe ^^ womit er zuerst
Ovids Hcroiden in deutscher Dichtung nachahmte:' Liebespaare, meist aus
der deutscheu Sage und Geschichte, wechseln Briefe, welclic fast alle schon
durch die zu Grunde liegenden Verhältnisse etwas Anstocssiges haben.* Der
Dichter selbst freilich bewahrte den Huf eines rechtlichen, humanen Ehren-
mannes. Geboren 1617 zu Breslau, in Danzig um 1637 in Verkehr mit
Opitz, dann durch Reisen gebildet, starb er 1679 als Rathsprseses seiner
Vaterstadt. Ihm nahe befreundet war Daniel Carper, seit 1670 von Lohen-
stein. Geboren 1635, lebte dieser von 1657 an bis zu seinem Tode 1683
in Breslau , zuletzt als Protosyndicus der Stadt." Rührig und erstaunlich
gelehrt zeigt er sich auch als Dichter; er sucht bewusst die Vorzüge zu ver-
binden, welche seine Zeit an Gryphius und Hofmanswaldau bewunderte, die
liebliche Schreibart des einen mit der erhabenen des andern, und beide zu
(1697) S. 458 berichtete Unterredung mit der Scudery. 3) Die Orthographie des Namens
schwankt. Hauptquelle für das Leben des Dichters ist die Lobrede seines Freundes Lohenstein,
die den Gedichten Hofmanswaldaus beigegeben ist. Vgl. ferner Palm ADB. und K. Friebe,
Diss. Greifswald 1886. 4) C. H. v. H., Deutsche Übersetzungen und Gedichte, Breslau
1670. Darin die Dramen: Der getreue Schäfer, von Guarini und der sterbende Socrates, von
Theophile (nach Pia tos Phaedon). Die Proben aus den geistlichen Oden LB. 2, 687 zeigen
Hofmanswaldaus verständigen, massvollen Sinn; aber auch seine Lieblingsausdrücke C««an-
Zuckr.r, Atnbra-Ktichen u. ä. Grössere Stücke aus Hofmanswaldau, Lohenstein u. a.
schlesischen Dichtern bei Bobcrtag (Kürschners Nat. Litt. 36). 5) Herrn von Hofmans-
waldau und andrer Deutschen auserlesener und bissher ungedruckter Gedichte I. Theil,
Leipzig 1695 u. ö. Herausgeber war B. Neukirch (§ 136); die Sammlung gedieh bis zum
VII. Band, 1727. 6) Eine schwedische Übersetzung führt Palm a. a. 0. an. Nachfolger
fand H. bei Lohenstein. Mühlpfort und H. A. v. Ziegler. Heldenliebe der Schrift A. u. N. T.
1691. Lächerlicherweise beginnt hier dieser Briefwechsel mit Adam und Eva. 7) Doch
8. Titz§127. 8) Z. B. Tibald und Lettice van Hort stellen Heinrich von Braunschweig-
Wolfenbüttel , Luthers Feind, und Eva von Trott vor. Eine Deutung der Namen gibt
Neumeister im Specimen (§ 120. 38). 9) Ein Lebenslauf ist den Schriften seit 1685
beigegeben. Vgl. neuerdings besonders Conrad Müller, Beitrag zum Leben des Dichters
D. C. v. L., Breslau 1882 (Weinhold, Germauist. Abh. I) und Erich Schmidt in der AUg.
§ 133 HOFMxVNSWALDAU. LOHENSTEIN. 263
übertreffen durcli das Sinnreiche, welches er im bildlichen Ausdrucke fand."^
Sein dichterisches Gefühl dagegen ward völlig von der Gelehrsamkeit erstickt.
Daher sind auch seine lyrischen Gedichte'^ die schwächsten: selbst ein
Trauergedicht auf den Tod seiner Mutter 1652 '- ist kalt und steif bei allem
Prunk. Die Yorliebe für das Gr.ässliche beherrscht nun völlig Lohensteins
Trauerspiele: nur diese Gattung des Dramas hat er versucht, schon darin
von seinem Vorgänger Gryphius verschieden. Dessen Wagnisse auf der tra-
gischen Bühne überbietet er allerdings: wenn Gryphius Mord und Hinrich-
tung auf der Bühne darstellte, so lässt Lohenstein grausam foltern; ja er
führt sogar Nothzucht und Blutschande fast vor die Augen der Zuschauer.
Es ist unbegreiflich , aber sicher , dass einige dieser Stücke bei Breslauer
Schulfesten zur Darstellung gekommen sind.^^ Freilich der Bombast und die
gelehrten Anspielungen,'* die selbst im Munde der Frauen und sogar in den
leidenschaftlichsten Auftritten sich finden, lassen die sinnliche "Wirkung immer
wieder erkalten. Gelehrten Ursprungs sind auch die nach Gryphius, aber
wieder mit Masslosigkeit, eingeschalteten Geistererscheinungen und die beson-
ders in den Reyen beliebten Verkörperungen unwirklicher oder doch un-
perscenlicher Dinge. '^ Lohenstein will, wie er sagt, grausamste Laster und
schreckliche Strafen darstellen. Zwei Gebiete liefern die Stoffe dazu: die
roemische Kaiserzeit und die türkische Geschichte der neueren Zeit. Letz-
terer gehoert zumal Ibrahim Sultan an, 1673 zur Feier einer kaiserlichen
Vermaehlung gedichtet, und die 1653 zuerst erschienene Jugendarbeit, Ibra-
him, spseter als Ibrahim Bassa von jenem Stück unterschieden.'^ Dem andern
Kreise entnommen sind Cleopatra 1661 und umgearbeitet'^ 1680, Agrippina
und Epicharis 1665, endlich 1680 Sophonisbe. In dieser spseteren Zeit, durch
Gicht gepeinigt, fand Lohenstein eine andere litterarische Gattung noch be-
quemer zur Entfaltung seiner Gelehrsamkeit, den Roman. Er begann den
Arminius,'^ in welchem er die deutsche Urzeit mit den fernst abgelegenen
D. Biogr. 10) Daher der starke Gebrauch malender Beiwörter, und noch mehr der
zusammengesetzter Wörter. Vgl. auch W. A. Passow, D. C. v. L., Seine Trauerspiele und
seine Sprache. Meiningen 1852. 11) Sie sind seit 1680 den Trauerspielen beigegeben
als Blumen; und wieder in einzelnen Abtheilungen als Rosen, Hyacinthen, Himmelsschlüssel
u. a. 12) Müller S. 28 fgg. 13) Aug. Kerckhoffs, D. C. v. L. Trauerspiele mit
besonderer Berücksichtigung der Cleopatra. Paderborn 1877 S. 18. 19. 14) Ausführliche
Anmerkungen dienen zur Erläuterung. 15) Vgl. LB. 2, 59:3 fgg. 16) Ibrahim Bassa liegt
der von Zesen (§ 124, 39) übersetzte Konian der Scudery zu Grunde, nur mit tragisch abge-
ändertem Ausgang. 17) Darüber s. Kerckhofi's und Müller. 18) Grossmüthiger Feldherr A.
264 NEUIIOCIIDEUTSCTIE ZEIT. XVJI JAIIRII. § 133
Erzielilungs- und Belelirungsstoffcn '' und mit adlij^cn Niuncn au8 der Gegen-
wart ausfüllte: der Iloman erscliien, von andern vollendet, 1081).-° Wahl
und Behandlung des Gegenstandes bezeugen einen vaterländischen Sinn, den
ein Freund und Verehrer l^ohensteins , der Freiherr Hans Ass.maxn von
AnscHATZ (geb. 1G46 zu Würbitz in Schlesien, gest. als Landesdeputierter
zu Liegnitz 1699) auch als Lyriker aussprach: der Zorn über die franzoesi-
schcn llaubkriege Hess ihn, der, wie so viele Schlesier dieser Zeit, in Strass-
burg studiert hatte, zu den Watleu rufen. Einfach wie dies Gefühl gibt sich
auch die Frömmigkeit des bescheidenen Dichters kund, der selbst nur eine
Übersetzung des Pastor Fido drucken Hess.*' An Ilofmanswaldau schlicsst
sich dagegen Heinrich Mihi.i'foiitii an, ein Breslaucr (1639 — 1681), der
freilich über Gelegenheitsdichtung nicht viel hinauskam.*'^ Groesseres wagte,
aber unglücklich, Johann Christian Hallmann aus Breslau (geb. nach 1640,
gest. 1704)." Selbst Schauspieler, schrieb er mehrere Dramen,^* z. Th. nach
dem Italienischen (Adelheid und, in Prosa, Eraclius), auch Pastorellen (Adonis
und llosibella), worin er auch Scaramuza, einen lustigen Diener auftreten
lässt. An die Jesuitcndramen — Hallmann convertierte — erinnern die
Märtyrerin Sophia und Thcodoricus Veroncnsis. Die Sprache geht noch über
Lohensteins Schwulst hinaus." Verständiger, aber auch matter ist die dra-
matische Dichtung von August Adolf von IIaugwitz (geb. zu Übigau in
der Obeiiausitz 1645, gest. ebenda 1706). Mit dem Dresdener Theater in
Verbindung stehend, verfasste er Maria Stuarda , -^ Soliman und das Ballet
Flora nach dem Franzoesischen : alles vereinigt im Frodromus poeticus oder
oder Hermann. LB. 3, 863 fgg. 19) Selbst die chinesische Geschichte, die Bereitung
des Thees u. ä. wird eingeschaltet. 20) Druckort Leipzig. Neue Auflage 1731, 4 Bde.,
mit über 3(X)0 Quart-Seiten. Die Gleichnisse und Prachtausdrücke sammelte J. C. Männling,
Arminius enucleatus, StargardI708, und Lohensteinius sententiosus, Breslau 1710. 21) Chr.
Gryphius sammelte die Übersetzungen und Gedichte von A. v. A. Leipzig und Breslau 17U4.
LB. 2, 607. 22) Teutsclie Gedichte, Breslau 1686, II. Theil 1687. Vgl. Kahlert,
Weim. Jb. 2, 304 fgg. 23) ADB. (Erich Schmidt). 24) Einzeldrucke seit 1667.
Die Sammlung 'Trauer-, Freuden- und Scliäffer-Spiele ist nach 1673 erschienen, da Adonis
die Vermifihlung K. Leopolds feierte. Über die Beliebtheit dieser opernhaften Stücke 8.
C. Müller, Lohenstein S. 91. 25) In Schlesische Adlers Flügel, einer Eeihe von
Regentenhildern. heisst es von K. Johann von Böhmen : Der Klugheit schlauer Molch und
Demantfester Spiegel Sind AncJcer eines BeicJis j die niem/ils gehen ein; Es kann kein
Donnerkeil zermalmen diese Biegel: Ja hierdurch kann ein Mensch der Letten Meister seyn.
26) Nach einer Erzählung von E. Erancisci. Auch einen Wallenstein hat er gedichtet,
welcher zwar nicht gedruckt, aber öfter aufgeführt worden ist (§ 137, 20).
§ 134 ROMAN. 265
poetischer Vortrab 1684. Andre Anhänger Loliensteins wandten sich spseter
seinen Gegnern zu, so Christian Gryphius und Benjamin Neukirch (§ 136).
§ 134.
Lohensteins Arminius bildet einen Itoehepunct in der Entwickelung des
Roiiiaus waehrend des 17. Jahrhunderts.^ Diese Gattung der Kunstprosa
schloss sich eng an das Vorbild des Auslands an, wenn schon ihre Anfiingc,
und zwar auch die einer selbständigen Bearbeitung, bis in das 16. Jalu'-
hundert zurückreichen (§ 107). Noch Opitz trat auch auf diesem Gebiete
nur als Übersetzer auf (§ 121, Schluss) und ebenso waren die zahlreichen
Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft, welche Romane schrieben, so
gut wie ausschliesslich mit der Verdeutschung fremder Werke beschäftigt.^
Von den italienischen, spanischen und franzoesischen Romanen, welche in
Deutschland auf diese Weise bekannt wurden, übten namentlich die letzt-
genannten eine tiefe und immer melu* zunehmende Wirkung: die hier ausgebil-
dete heroisch-galante Richtung regte zur selbständigen Nachahmimg an. Zesen,
der erste Übersetzer von Romanen der Scudery und de Gerzans ^ hat aller-
dings in seinem Originalroman Rosemund sich noch mehr durch die früher
behebte Schsefererzsehlung * bestimmen lassen: nicht nur, dass die verlassene
Geliebte sich als Schseferin verkleidet, auch dass offenbar Selbsterlebtes und
Selbstempfundenes die Grundlage der Erzsehlung bilden , weist auf dieses
Vorbild zurück. Aber die biblischen Romane Zesens, Assenat und Simson,
sind durchaus Liebesgeschichten, die in hohen Kreisen spielen und in
denen das hcefische Leben der Zeitgenossen sich spiegeln sollte. An aus-
schmückender Gelehrsamkeit Hess es schon Zesen nicht fehlen, und in diesem
Sinne gingen Andere noch weiter. Zunaechst Andreas Heinrich Buchholz
§ ld4. 1) L. Cholevius, Die bedeutendsten deutschen Romane des 17. Jlis., Leipzig
186G. F. Bobertag, Greschichte des Romans und der ihm verwandten Dielitungsgattungeu
in Deutschland, I. Abth. Bis zum Anfange des 18. Jhs. Breslau 1876 — Berlin 1884.
2) Besonders fruchtbar war der Unglückselige in der Fruchtbringenden Gesellschaft, d. h.
der östreichische Freiherr Jon. Wilh. von Stuisenberg (1631 — 1688): er übersetzte mehrere
Romane von Marini, u. a. Printz Kalloandro 1656, den Samson von Pallaviciui 1657. die
Clelia von der Scudery 1664, die Eromena von Biondi 1667. 3) Ibrahim und Sophonisbe
(§ 124, 39). 4) Eine der frühesten Schäfergeschichten, welche zugleich wie Zesens
Rosemund eine wirkliche Liebesgeschichte allegorisch darzustellen angibt, ist Jüngst erbauete
Schäff'erey Oder keusche Liebes- Beschreibung Von der Verliebten Nimfen Amoena Vnd dem
Lobivürdigen Schäffer Amandus . . von A. S. D. D., Leipzig 1632. Unter der Vorrede
nennt er sich Gr. C. V. Gr. A. S. D. D. sonst Schindschersitzky geheissen. Zahlreiche Citate
206 NEUII0CIII)EI'TSC1[E ZEIT. XVII JAIIKII. § 134
(geb. 1007 zu Schoeningeu im Braunsohwcigi.schen, Professor zu Rinteln und
Superintendent zu Braunscbweig, hier gest. 1671), dessen unifiinglichc Ro-
mane Dcx christlichen teutschen Grossfiirstcn Herkules und der hcehmischeii
Jimiiglichen Fräulein Valiska Wundergeschichte 1059, und Der . . Fürsten
Jlerkuliscus und Herkidadisla . . Wundergeschichte 1665 erschienen.'' Unter
dem Bilde der germanischeu Urzeit war hier — noch eine Nachwirkung des
politisoh-allegorischon Romans, wie ihn die von Opitz übersetzte Argenis vertrat
— der dreissigjichrige Krieg dargestellt, und ausführliche Erörterungen ins-
besondere über die streitigen Glaubensfragen eingemischt ; es sollton diese
Romane zu der Leichtfertigkeit des noch immer gelesenen Amadis den vollen
Gegensatz bilden. Mehr das Lehrreiche der Beschreibungen äusserer huefi-
scher Formen hatte der von politischem wie litterarischem Ehrgeiz erfüllte
Herzog Anton Ulrich von BRAUNsciiwEiG-LiJNEBURG im Auge, der Schüler
Schotteis und Birkens, in der Fruchtbringenden Gesellschaft der Siegprangende,
geb. 1033, gest. 1714. Er veröffentlichte zu Nürnberg 1009 — 73 Die Durch-
leuchtige Syrerinn Äramena, welche in der Zeit des Patriarchen Jacob gelebt
haben sollte, und Die JRccmische Octavia (Xeros Gattin) 1677. Dem Herzog
schienen die Romane überhaupt wahre Adels- und Hofschulen, und dass Reden
und Briefe, zumal aus solcher Feder, als Muster angesehen wurden, begreift
sich ebenso wie die Lust den hier verhüllt erzajhlten Vorgängen nachzuspüren.
Am meisten Beifall imter den Romanen der Zeit fiind jedoch Die Asiatische
Banise oder Das Blutige doch muthige Pegu , der zuerst in Leipzig 1689
erschienene Roman Heinrich Anselms von Ziegler ind Kliphalsen (geb.
1653 zu Radmcritz in der Oberlausitz, gest. zu Liebertwolkwitz bei Leipzig
1697; vgl. § 133, 0): und die Geschlossenheit des Plans, die schwungvolle
Sprache, das Interesse an dem noch immer wundervollen Orient und seiner gleich-
zeitigen Geschichte rechtfertigen diese Vorliebe der Zeitgenossen. Gerade diese
letztgenannte Eigenschaft lockte Nachahmer an, welche im Gegensatze zu den
bisher genannten Verfassern, durchgängig, wie auch liohenstein, angesehenen,
ja hochgestellten Männern , das Romanschreiben als ein Gewerbe ansahen,
und ebenso fruchtbar waren als jene auf um* wenige grosse Werke bedacht.
Politische und geographische Kenntnisse verwerthete Eberhardt Gierner
Hai'I'ell (geb. 1648 zu Marburg, gest. zu Hamburg 1690) in seinen Romanen
Der Asiatische Onoganiho, darin Der jetzt regierende grosse Sinesische Kayser
aus Opitz. 5) Druckort beider Romaue Brauusehweig. 6) So Cliu. Huuold (§135,27),
dessen Satirisclur Eoman, Hamburg 1705, seiue Eutfernung aus dieser .Stadt herbeiführte;
§ 134 HOFROMAN. SCJIELMENROMAN. 267
XuncJiius als ein unibscJnvei ff ender Ritter vorgesteUd. . 1673, Der Europceische
Toroan (Türkischer Roman) 1676 u. s. w.; nur dass der Academische Roman,
Ulm 1690, bereits mit der Schilderung einheimischer, lockrer Sitten begann.
Auf dieser Bahn folgte u. d. N. TaZawrfer August Bohse (geb. zu Halle 1661,
Schriftsteller in Hambui'g und Jena, gest. als Professor zu Liegnitz 1730), dessen
Liehescahinet der Damen 1685 eine lange Reihe verwandter, zum Theil in
ferne Zeiten und Länder verlegter Erzeehlungen eröffnete: Ärsinoe 1700 u. a.'^
Diese spseteren Romane, welche planlos Abenteuer von zuweilen anstcessiger
Art häuften, berührten sich ihrem Grundzuge nach mit einer Abzweigung,
welche bereits im Ausland neben den ursprünglichen, idealistischen Roman
getreten war, mit dem Schelmenroman. In Spanien vsrar zuerst der gevvoehn-
lichen Übertreibung der Romane gegenüber mit Glück versucht worden, an-
statt des hoefisch-ritterlichen Lebens das der niedrigsten Stände, und zwar
aus dem Gesichtspuncte eben dieser Stände zu schildern : neben dem Thron-
saal und Lustgehölz sollte Gesindestube und Landstrasse den Schauplatz des
Romans abgeben. Ein Muster dieser Romanart, den Guzman de Alfarache von
Mateo Aleman hatte Aegidius Albertinus (§ 131, 1) 1615 als Der Landstörtzcr
Gusman von Alfarche oder Picaro genannt überarbeitend verdeutscht; Niclas
Ulenhart die Perle dieser Dichtung, Lazarillo de Tormes, Augsburg 1617
deutsch erscheinen lassen. Eine wahrhaft werthvolle Fortbildung fand der
Schelmenroman in Deutschland durch Johann Jacob Christoffel von
Grimmelshausen. Er verwebt in seinem Hauptwerke , dem Abenteuerlichen
Simplicissimus , mit entlehnten^ und erfundenen Zügen offenbar eigene Er-
fahrungen in Fülle, so dass die Geschichte seines Helden grossentheils sein
eigenes Leben wiedergeben muss. Dies ist um so wichtiger, als er in seinen
Schriften sich vielfach als Verfasser hinter falschen und wechselnden Namen
verborgen hat.^ Sicher ist, dass er zu Gelnhausen^ gegen 1625 geboren,
JoH. Leonhard Rost (aus Nürnbei-g 1688—1727), der unter dem Pseudonym 'Meletaon
sehrieb. Die unsittliche Richtung dieser Romane rechtfertigte die Bedenken, welche gegen
den Roman überhaupt geltend gemacht wurden, namentlich von GtOTTHARD Heidegger,
Mythoscopia Bomantiea oder Discours von den so genannten Romans, Zürich 1698.
7) Selbst das Schlusscapitel, LB. 3, 807 fgg., ist aus Guevara nach der tTbersetzung des Alber-
tinus entnommen. Auf ein franzoesisches Vorbild, Francion von Sorel, hat Bobertag, Gesch.
d. Rom. 2, 65 fgg. hingewiesen. 8) Er nennt sich German Schleifheim von Sulsfort,
Samuel Greiffenson von Hirschfeld u. s. w. wobei meist durch Buchstabenversetzung sich
der wahre Name ergibt. Dies Nameuspiel, wegen dessen G. sich selbst einen Proteus nennt,
erinnert an Fischart. Erst Echtermeyer 1838 und Passow 1847 haben den wahren Sach-
verhalt aufgeklärt. 9) Nachweis der Familie G. daselbst: Duncker Zs. f. hess. Gesch.
268 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVII JAIllüI. § 134
seit dem zehnten Jahr am Krieg und seinen Wecliselflillen Theil nahm und
nach weiten Reisen spätestens l(iG7 bischöflich Strassburgischer Amtmann"'
zu Uenclicn ward und hier 107G starb. Als Schriftsteller trat er seit 1659
mit satirischen Schriften" in Moscheroschs Art und mit ernsten Romanen '-
hervor. Sein Hauptwerk, der Simplicissimus, erschien 16G8 und öfters
wiederholt; '^ es schlössen sich ihm 1670 zwei Seitenstückc an: Trutz-Simiücx
oder . . Landsturtzerin Courasche und Der seltsame Springinsfeld^ und nocli
spa}tere Schriften {Das ivunderliche Vogel-Nest 1672 u. a.) lassen die Per-
sonen des Hauptromans wieder auftreten.'^ Dieser zeichnet sich, nicht nur
vor den Fortsetzungen und Nachahmungen, durch die anschauliche Schilde-
rung der Kriegszeit aus, wobei dem Laster- und Grausenhaften nur um so
wirkungsvoller heitere Bilder zur Seite treten , wie das liebliche Idyll der
Kindheit des Helden;'^ auch dessen Charactereutwicklung wird meisterhaft
durchgeführt. Dies reiche Lebensbild umspielt und berührt überdies eine
phantastische Zauber- und Gespensterwelt. Vielfache Nachahmungen "^ be-
zeugen die BeUebtheit des Romans. Im sechsten Buche des Simplicissimus
war nebst anderen Reisen auch eine in die Südsee geschildert, bei welcher
1882 S. 385 fgg. 10) Es ist wahrsclieinlich, dass er vom Protestantismus zur katliolischeu
Kirche übertrat. Eine als Beweis dafür öfters angeführte Schrift: Simplicii Angeregte Ur-
sachen, warum er nicht katholisch werden könnte, von Bonamicus in einem Gespräch
widerlegt, gehört jedoch J. Scheffler au, in dessen Ecclesiologia sie als XYII. Tractätlein
gedruckt ist. 11) Der fliegende Wandersmann nach den Mond, zunächst nach frau-
z(jpsischer Vorlage; Traum-Geschicht von Dir und Mir, 166Ü: Schwartz und Weiss oder
der satyriscJie Pilgram, 16G6. 12) Exempel der unveränderlichen Vorsehung Gottes . . .
Histori vom keuschen Joseph, o. 0. u. J. (1667?) u. ö. Auch die Geschichte von Josephs Diener
Musai ist beiffeffeben. Wegen der Coneurreuz mit Zesens Assenat gerieth G. mit diesem
iu Streit; Zesens Neuerungen bekämpfte er noch in Simplicissimi Fralerey und Gepräng
mit seinem Teutsclien Micliel (1673). Spaetere Romane sind: Dietwalts und Amelinden anmuthigc
Liebs- und Leidsbeschreibung, Nürnberg 1670 und Proonmus und Lympida, o. 0. 1672.
13) Von der Ausgabe 1668 ist uur ein Nachdruck (B) aus dem J. 1669 erhalten: aus dem glei-
chen Jahre stammt eine echte Ausgabe (A). worin die mundartlich gefärbte Sprache der ersten
nach den allgemeinen Regeln umgestaltet und ein 6. Buch als Continuatio hinzugekommen
ist. Neudrucke haben wir (abgesehen von mehreren Bearbeitungen) von Keller, Lit. Ver.
XXXIII. XXXIV, 1854, wozu in Bd. LXV. LXVI, 1862 noch andre Schriften Grimmeis-
hausens kommen; von Heinrich Kurz, Leipzig 1863, 4 Bde.; von Tittmanu, Leipzig 1874;
von Kögel, Halle (Neudr.) 1880; von Bobertag, in Kürschners Nat. Litt. 14) Gesammelt
erschienen die simplicianischen Schriften Nürnberg 1683 u. ö. Dieser Druckort ist wohl^l
auch der der früheren Ausgaben . und nicht das hierin öfter genannte Mompelgart.
15) LB. 3, 705. 16) Ungarischer Simplicissimus 1683, Neudruck Leipzig 1854 u. a.
il
§ 134 SCHELMENROMAN. 269
das Schiff scheitert und der Held auf einsamer Insel sein Leben zu be-
schliessen gedenkt. Diese Vorstellung, mehrfach in der Litteratur der Zeit
behandelt, fand ihren glücklichsten Ausdruck in Robinson Crusoe von Daniel
Defoe 1719,'^ wovon schon 1720 eine deutsche Übersetzung erschien. Unter
den vielfachen Versuchen, denselben Gedanken für deutsche Loser neu zu
gestalten, verdient Auszeichnung ein Roman, dessen Verfasser Johann Gott-
fried Schnabel sich als Schriftsteller Gisander nannte, seinen Lebensverhält-
nissen nach aber wenig bekannt ist: die Insel Felsenhurg : ^^ hier ist es ein
kleiner Friedensstaat, der zuletzt aus den auf die einsame Insel Verschlagenen
sich bildet. Doch neben dem sehnsüchtigen Vergnügen, mit welchem solche
Erzeehlungen aufgenommen wurden, regte sich der Spott, welcher an das alte
Sprichwort von den Lügen der Weitgewanderten (§ 107, 20) anknüpfte.
Mit wirklich genialer Darstellungskraft gezeichnet, tritt ein solcher Auf-
schneider auf im ScJielmu/fsl.y von Christian Reuter.'^ Es verschlägt wenig,
dass dieser mit Reise- und Liebesabenteuern renommierende, beständig flu-
chende Landfahrer ursprünglich eine bestimmte Person hatte darstellen sollen,
den Angehcerigen einer Leipziger Familie, welche der Dichter als Student
auch dramatisch gezeichnet hatte: Uhonnete Femme Oder die Ehrliche Frau
SU Pfesiwe (1695), La maladie et la mort de VhonnPte Femme: das ist: Der
ehrlichen Frau Schlampampe Krankheit und Tod 1696 u. a. Mit derselben
burlesken Komik zeichnete er einen herabgekommenen Adligen und seine
Umgebung in Graf Ehrenfried ^^ (1700). Vor den rechtlichen Folgen seiner
Pasquille ward Reuter durch hohe Gönner beschützt; geb. zu Kutten bei
Zörbitz 1665 , erscheint er zuletzt als Fest- und Passionsdichter thsetig
(§ 137, 33) zu Berlin 1703—12.2'
17) H. Hettner, Robinson und die Robinsonaden, Berlin 1854. 18) Wunderliche Fata
einiger Seefahrer, absonderlich Alberti Julii eines geborenen Sachsens . . Nordbauseu 1731 bis
43. Schnabel war zu dieser Zeit gräflicher Hofagent zu Stollberg. Erneuerung von Tieck,
Breslau 1827; s. A. Stern, im Histor. Tascheubuch, Lpz. 1880 und Ph. Strauch, Rundschau
1888. 19) Zwei Ausgaben von 1696, die eine etwas gleichmässiger im Stil, aber weniger
ursprünglich, wozu noch ein anderer Theil 1647; Neudrucke von Schullerus Halle 1885.
Vorher oft als Volksbuch gedruckt. 20) Tb. Hermann in Prutz Deutsches Museum
5, 2, 660 fgg. (1855): s. Vierteljsch. f. Litt.-Gesch. 1, 283. 21) Leben und schrift-
stellerische Thätigkeit Reuters hat Zarncke aufgedeckt: Abb. der sächs. Ges. d. Wiss. 1884.
Ebd. Berichte 1887, 44. 253. 306. Vgl. Minor Cl. g. A. 1885 und Creizenach in Schnorrs
Arch. 13, 434 fgg. Ellinger, Ch. Reuter und seine Komödien, Zs. f. d. Philol. 20, 290
fgg. Ellinger hat auch drei Singspiele Reuters wiederholt: Berliner Neudrucke I, 3 (B. 1888).
Wackernagol, Litter. Geechicbte. II. 18
270 NEUIIOUIIDEUTSCIIE ZEIT. XVII JAIUill. § 135
§ 135.
Ging die zweite schlcsische Dichterschule mit ilircm Schwulst und ihrer
gesucht geistreichen Ausdrucksweise über alles Mass hinaus, so fand gleich-
zeitig ein ebenso übertriebenes Streben nach Einfachheit und Natürlichkeit
seinen Vertreter in Ciiuistian Weisk. ' Jene suchte auf die vornehmen
Kreise zu wirken , Weises Schriftstcllcrthaitigkeit ging so gut wie ganz auf
in der Sorge für die Schule. Geboren zu Zittau 1G42, ward er 1G70 Pro-
fessor in "NVcisscnfels , 1G78 Rector in der Vaterstadt und starb hier 1708.
Weise ist auf allen Gebieten der schoenon Littoratur thwtig gewesen und hat
eine grosse Fruchtbarkeit bewiesen; aber diese Vielseitigkeit und Leichtigkeit
war bedingt durch den niedrigen Begriff, welchen er von der Dichtkunst
hatte,- und durch die Bcschriinkung auf den nächsten Zweck , den er im
einzelnen Falle verfolgte. Die Poeterei ist ihm eine Dienerin der Bered-
samkeit : ^ die Beschäftigung mit ihr soll den künftigen liedner schon der Reime
wegen noethigen, mit dem Ausdruck zu wechseln. Andrerseits sollte beim
Versemachen durchaus nur erlaubt sein, was die gebildete Prosa auch zuliess;
kühne Wortstellungen waren verpcent. So erschien ihm die Dichtkunst auch
als lernbar und nicht eben schwierig: schon auf der Universittet in Leipzig
gab er darin Unterricht,* wie er selbst damals für Andere zahlreiche Gedichte
verfasste. Diese sind denn auch z. Th. in seine erste Sammlung überge-
gangen, die als Der grünenden Jugend Ueberßüssige Gedancken^ Leipzig 1668
u. ö. erschien.'^ Den etwas leichtfertigen, oft volksmaessigen Ton der Lieder
seiner früheren Zeit suchte er als Schulmann durch Der grünenden Jugend
Notlmendige GedancJceti 1675 und durch Reiffe GedancJcen, Leipzig 1683, in
Vergessenheit zu bringen; allein diese Erzeugnisse der Gclogenheitspocsie
waren ebenso werthlos als Weises geistliche Gedichte , die theilweise erst
nach seinem Tod veröffentlicht wurden/' Es war eben für Weise die Prosa
eine weit angemessenere Form und zu deren kunstmaessiger Behandlung hat
er ebenfalls Anleitung gegeben.'' Allein seine ganze Kraft entfaltete er erst
§ 135. 1) H. Palm, Beiträge zur Gesch. d. d. Lit. S. 1 fgg. L. Fulda, die Gegner
der zweiten schlesischen Schule in Kürschner Nat. Litt. Bd. 39. 2) Er meinte dabei
freilich die deutsche Dichtung seiner Zeit; die classischen Dichter Vergil u. s. w. sieht er ganz
anders an : Vorr. zu den Überflüssigen Gedancken. 3) Curiöse Gedanken von Deutschen
Versen II IG. Ähnliche Anschauunffen vertritt Weise schon 1675 in den Anmerkungen
zu den Nothweudigen Gedancken. 4) Eine Probe seines Unterrichts Cur. Ged. II 86 fgg.
5) Ein II. Theil folgte 1674. 6) Gottergebene Gedanken 1703; Tugendlieder 1719;
Trost- und Sterbe- Andachten und Buss- und Zeitandachten, beide 1720. 7) Politischer
§ 135 WEISE. 271
in der volksmsessigen Behandlung der Prosa, wozu ihm Erza^hhing und Drama
Gelegenheit boten. In Moscheroschs ^ Art und mehrfach nach dessen An-
deutungen schrieb er Romane , in welchen die moralische Betrachtung , die
Gespraeche den oft dürftigen und nüchternen Erzsehlungsstoff weit überwiegen:
Die drey Hauptverderher in Deutschland 1671 (gemeint sind das Theologen-
gezänk, das als Machiavellismus bezeichnete Streben Aller über ihren Stand
hinaus und das Modewesen), Die drey ärgsten Ertz-Narren, Leipzig 1672,**
Die drey Mügstcn Leute, ebd. 1675,^" Der politische Näschcr o. J. (dann
1676). Zum letztgenannten Werke bekannte er sich in den spaeteren Auf-
lagen als Verfasser, waehrend er sich in dem 1671 veröffentlichten Siegmimd
Gleichviel , in den beiden folgenden Catharimis Civilis genannt hatte. Weit
vorzüglicher als diese Romane sind jedoch die dramatischen Arbeiten Weises.'^
Mit wenigen Ausnahmen {Die trinmpihierende Keuschheit,^'^ Die hetriihte und
getröstete Galathee,^^ dies ein Singspiel und das einzige in Versen abgefasste
Stück Weises, Die beschützte Unschidd, Lustspiel vom dreifachen Glücke, eine
Verherrlichung Leipzigs; endlich die Komplimentier comödie ^*) sind seine sämmt-
lichen Stücke für die Schulbühne geschrieben. Weise fand in Zittau die
auch anderwärts übliche Sitte vor , dass die Schuljugend alljsehrhch Proben
ihrer Geschicklichkeit in den Sprachen durch Aufführung von Schauspielen
abzulegen hatte. ^^ Weise füllte die dazu bestimmten drei Tage mit eigenen,
und durchaus deutschen Schauspielen aus: am ersten Tag ward ein biblischer,
am zweiten ein historischer Stoff behandelt; den dritten nahmen erfundene
und mehr scherzhafte Gegenstände ein, wobei zuweilen zwei Stücke Act für
Act mit einander wechselten.'^ Die biblischen Stücke, durchweg dem alten
Testament entnommen (ein zwölfjsehriger Jesus ist nicht aufgeführt worden)
versetzen in der naiven Weise des alten Volksdramas Verhältnisse der Gegen-
wart in die Patriarchenzeit : '^ Esaus Geschichte gibt Gelegenheit, die Jagd-
Redner. Leipzig 1677 u. ö. Curieuse Gedankeu von deutschen Briefen, Leipzig 1693.
8) Auch Grininielshausen kennt er, nennt aber dessen Simplicissimus einen Salbader: Vorr.
zu den Ertznarren. Vou der reichen Phantasie Grrimnielshausens ist allerdings bei "Weise
Nichts zu finden. 9) Neudruck Halle 1878. 10) Eine Probe daraus LB. 3, 853.
II) E. W. H. Koruemann, Ch. W. als Dramatiker, Diss. Marburg 1853. Glass, Ch. W.'s
Verdienste um die Entwickelung des deutschen Dramas, Progr. Bautzen 1876. 12) Ein
modernisiertes .Josephsdrama, erschienen in den Überflüssigen Gedanken 1668. 13) Dies
und die nächsten drei siiid in den Überfi. Ged. II 1674 erschienen. 14) Anhang zum
Politischen Redner 1677. 15) Über einen Vorgänger Weises, den Zittauer Rector
Christian Keimann s. das Progr. von H. J. Kämmel, Zittau 1856. 16) Vgl. Gryphius,
Verliebtes Gespenst und Dornrose (§ 132). 17) Vielleicht gab dies Anlass zu den
272 NEUlIOCIinElIT.SCriE ZEIT. XVII JAIIRII. § 135
rechte des Adels darzulegen und die liauern, welche bei Weise überhaupt
schlocht wegkommen, in ihrer Feigheit, Dummheit und Falschheit vorzu-
führen. Auch tragische Stoffe, wie Jephthas Tochtermord, kamen zur Dar-
stellung , und zwar nach Weises Grundsatz , durch achnoUon Wechsel zu
überraschen, so dass unmittelbar auf die schrecklichsten Scenen lustige Spässe
des Pickeihrerings folgten. Denn diese Figur übernahm er aus dem Schau-
spielerdrama, und machte sie Anfimgs zum Ausdruck der allgemeinen satiri-
schen Auffiissung, wajhrend er sie spa3ter mehr und mehr in die Handlung
selbst verflocht. Die historischen Dramen Weises sind meistens Intrigucn-
stücke aus der Neuzeit : Emporkömmlinge, wie der Marschall d'Ancre, Biron,
Olivarez, andrerseits Masaniello, werden gestürzt und so auch hier der Ju-
gend die Vorsicht eingeprägt, die Weise als Ilaupteigenschaft des Politicus,
des auch von Schupp wie von Thomasius empfohlenen Vorbildes der Lebens-
führung, ansah. Zugleich geben diese wie die biblischen Stücke reiche Ge-
legenheit, Nebenpersonen anzubringen, und es sollten ja alle Schüler mit-
wirken, wo moDglich mit Berücksichtigung ihrer Gaben, ja selbst der Stellung
ihrer Eltern. Am besten sind Weise die rein komischen Nachspiele gelungen,
in denen seine lebhafte , lustige Gemüthsart, seine scharfe Beobachtung des
Volkslebens und der Volksrede ^^ ganz zur Geltung kommen , in denen er
endlich auch am meisten das Schauspielerdrama, dessen niederländische und
niederdeutsche Vertreter er rühmt, als Vorbild und Stoffsammlung benutzen
konnte. Auf diesem Wege kamen ihm wohl auch classische Lustspiele des
Auslandes zu: Molieres Precieiises ridicules benutzte er im Verfolgten La-
teiner^^^ Shakesperes Taming of the Shrew in der Koimdia von der bösen
Catharinc^^ Dagegen entnahm er von Gryphius das Muster des Peter Squentz
zu seinem Lustigen Nachspiel von Tobias und der Schwalbe."^ ^ Vollkommen
frei dichtete er die Ztveyfache Foetensunft zur Verspottung Zesens und der
poetischen Gesellschaften überhaupt.^- Indem nun Weise stets neue Stücke
Angriffen der CTeistlichkeit, wegen deren Weise die Schulaufführungen von 1689 ab zunächst
ganz ausfallen liess und später nur unregelmässig wiederholte. 18) Er überlässt den
Aufführenden den nächsten Anschluss an die Mundart zu suchen. In der beschützten Unschuld
sind die Dialectscenen in der Mundart selbst geschrieben. Die kräftigen Ausdrücke sind
wohl der Grund gewesen, dessentwegen Leibniz, Unvorgr. Ged. 112, Weises Sprache als
etwas schmutzig bezeichnete. Doch wagt allerdings Weise auch in den Sachen seinen Zu-
schauern starke Dinge zu bieten. 19) Mit Esau und Jacob zusammen als Komoedien-
Probe. Lpz. IGOG. 20) Zuerst veröffentlicht von Fulda, s. o. Anm. 1. Vgl. auch Von
dem Träumenden Bauern am Hofe Phüippi Boni in Burgundien mit dem Shakespere'schen
Vorspiel zu Taming of tlie Shrew. 21) LB. 3, 827. 22) Auch die Namen der Feinde
§ 135 WEISE. GALANTE LYRIK. 273
für sein Schulthcater schrieb (nur eines hat er wiederholt aufführen lassen),
kam er bis zur Zahl von 55 Dramen, die er nur zum Theil und dann oft
im Anhang zu andern Schriften in den Druck brachte , ^^ zum andern aber
handschriftlich hinterliess.-* Leider vererbte sich die geringe "VVerthschätzung,
die er selbst für seine Schauspiele hatte, auf die Folgezeit, um so mehr als
durch Gottsched der franzoesischc Geschmack ausschliesslich herrschend ward,
dem das Yolksthümlichdeutsche an Weise durchaus widerstrebte; und so hat
erst Lessing ^^ wieder auf Weises Verdienste hinweisen müssen. Weit mehr
reizten — und verführten — Weises Romane und seine lyrischen Gedichte
zur Nachahmung. Insbesondere mit dem von ihm gern gebrauchten Namen
des Politicus ward ein arger Missbrauch getrieben: von J. Riemer allein
erschienen Der Politische Maulaffe 1679, Die Politische Colica 1680, Der
Politische Stochfisch 1681 u. ä. und von Anderen noch andere Thorheiten
dieser Art. Weises Lieder aber erzeugten der bisherigen Übersticgenheit
gegenüber eine wahre Fluth von Nachahmungen, die nur durch Reim und
Rhythmus sich von der Prosa unterschieden. Mit den Anforderungen an
Gedanken und Ausdruck sank selbst der Begriff von der Würde der Kunst,
und es konnten Lieder auf die Genussmittel, auf Tabak, Kaffee, Bier und
selbst Kümmelsuppe sich in die Öffentlichkeit wagen. -^ Waren doch die
zahlreichen Gelegenheitsgedichte, mit denen Christian Gryphius (1649 — 1706,
Rector zu Breslau), der Sohn des Andreas, seine Poetischen Wälder 1698
füllte, die unter dem Namen Menantes von Christian Friedrich Hunold,^'
Schuppes sind darin benützt. Gedruckt im Anhang zu den Reifen Gedanken. Gegen Zesen
richtet sich auch in den Ertznarren Cap. XI und Überflüss. Ged. 10, 12. 23) S. Anm.
12. 13. 14. 19. 22. Sonst erschienen (s. Fulda S. XXX): Der gestürzte Markgraf von Ancre,
Zittau 1679. Jephthas Tochtermord 1680. Bäuerischer Machiavellus, Lpz. 1681. Opferung
Isaaks, Zittau 1682. Zittauisches Theatrum, Dresden (1683): Jakobs Heirath; Masaniello;
Tobias. Neue Jugendlust Fkf. und Lpz. 1684: Der verfolgte David; Argenis; Verkehrte
Welt. Lust und Nutz der spielenden Jugend, Dresden und Lpz. (1690): Der keusche Joseph;
Die unvergnügte Seele; Der betrogene Betrug. Der freimüthige und höfliche Eedner, Lpz.
1693 : Naboths Weinberg ; Marschall Biron ; Politischer Quacksalber. Die betrübten und
wiederum vergnügten Nachbarskinder 1699. Neue Proben von der vertrauten Redenskunst,
Dresden und Lpz. 1700: Olivarez; König Wenzel; Niederländischer Bauer. Curieuser Körbel-
macher, Görlitz 1705. Ungleich und gleich gepaarte Liebesalliance , Görlitz 1708.
24) Einiges ist auch ganz verloren. 25) Brief an seinen Bruder Karl, vom 14. Juli
1773. 26) LB. 2, 681 von Daniel Stoppe, aus Hirschberg (1697—1747), Der Parnass
im Sattler, 1735. Freilich auch Canitz dichtete ein Lob des Tobacks, LB. 2, 619; über andere
B. Weim. Jb. 2, 243. QF. 56, 91. 27) Geb. 1680 zu Wandersieben bei Gotha, 1700 bis
274 NEUIIOCUÜEUTÖCJIE ZEIT. XYIl JAIllüI. § 130
die uiitor dorn Namen Philandcr von der Linde von dem Leipziger Professor
Jon. IJi KCKnAui) Mkncke (§ 1.58, l:{) 1705 heniusgegebcncn, endlich die von
Morliof seinem Unterricht von der Tcutschen Spraclic und Poesie (§ 120, 37)
beigefügten, alle gleich iidialtsleer, gleich beschränkt auf die Ausfüllung gc-
waOmlicher, anspruclisloser Formen. Es fehlte eben diesen deutschen Nach-
ahmungen der franzoosischen galanten Poesie an dem geselligen Zwecke,
welchem diese in den Pariser Salons, in dem Hotel de Rambouillet u. a.
gedient hatte und welcher allein ihre prosaische Ausdrucksweise, ihre Be-
schränkung auf Sonett, Äladrigal, Epistel und {ohiiliche kleine Gedichtformen,
endlich ihren spielenden , nur auf sinnreiche Schlüsse berechneten Inhalt
rechtfertigte.'^^
§ 136.
Mit der Wendung der gelehrten Dichter zur Einfachheit und Nüchtern-
heit kam die Gcschmacksentwickelung in den Jlof kreisen, zunaechst den
braudcnburgisch-preussischen überein, welche sich an die damals ihr classisches
Zeitalter durclilebende franzocsische Litteratur anzuschUessen suchte. Die Ver-
ständigkeit und leichte Anmuth der franzoesischen Dichter , insbesondere
Boilcaus, fand einen bewundernden Nachahmer an dem Freiherrn Friedrich
Rudolf Ludwig von Canitz (geboren zu Berlin 1654, vielfach diplomatisch
thfctig , gest. 1699). Seine Satiren, so weit sie nicht Übersetzungen sind,
richten sich gegen das Hofleben; aber auch Von der Poesie handelt er und
schilt die feile, sinnlos übertreibende Gelegenheitsdichtung, lässt übrigens die
schlesischen Dichter noch gelten.' Noch mehr Bewunderung erregte seine
Trauorode auf den Tod seiner ersten Gattin, und es fehlt allerdings den
tiefgefühlten Gedanken dieser Ode nur an Verbindung und Einheitlichkeit.-
Wenn Canitz als vornehmer Hofmann seine Unzufriedenheit mit den littera-
rischen Zuständen massvoll aussprach, so hatte dagegen Benjamin Neukirch
Anlass genug erhalten , die Verachtung , in welche die Dichtung mehr und
1706 als Litterat in Hamburg, starb 1721 in Halle. Von ihm erschienen: Die Edle Be-
mühungen müssiger Stunden in Galanten . . Gedichten, Hamburg 1702, II Bde. 1704;
Theatralische, Galante und Geistliche Gedichte, ebd. 1706: Akademische Nebenstunden,
Halle 1713. Über ihn vgl. § 136; über seine Poetik s. § 120: seine Romane 134, 6; seine
Opern 137. 31. 28) Von Waldberg QF. 56.
§ 136. 1) LB. 2, 626, 7 fgg. 2) Erst nach seinem Tode erschienen die Gedichte, von
Joachim Lange gesammelt, als Neben-Stunden unterschiedener Gedichte, Berlin 1700; besser,
aber etwas willkürlich behandelt, gab sie J. U. König, Berlin 1727 heraus, mit einer Lebens-
beschreibung. Danach eine Biographie von Varnhagen. Vgl. auch die Sammlung von
§ 136 IIOFDICHTUNG. 275
mehr fiel, bitter zu beklagen. Geboren zu Reinke im Glogau'schen 1665,
suchte er vergeblich seit 1696 in Berlin, als Lehrer von Adeligen, zuletzt
an der Ritteracademic sein Auskommen zu finden: erst die Berufunjr als
Prinzenerzieher nach Ansbach 1718 verschaffte ihm einen sorgenfreien Lebens-
abend. Er starb 1729. Als Dichter begann er mit der Nachahmung seiner
berühmten Landsleute: er gab Lohensteins Arminius und Hofmanswaldaus
Gedichte heraus (§ 133, 5. 20). In Berlin jedoch ging er zur Gelegenheits-
dichtung im franzocsischen Stile über, leistete aber sein Bestes in Satiren
meist dialogischer Form, die erst weit spseter erschienen.^ Zuletzt brachte
er in Ansbach Fenolons Telemach in deutsche Alexandriner.^ Eindrucksvoller
jedoch als die stille Abkehr von Canitz und die Absage des wenig beachteten
Neukirch war der Angriff auf das Ansehn der herrschenden Dichterschule,
der von dem Epigrammatisten Christian Wernicke ausging. Er war ge-
boren zu Elbing 1661 , -^ hatte in England vergebHch diplomatische Dienste
gesucht, war 1708 — 1723 daenischer Resident in Paris und starb zu Kopen-
hagen 1725.® 1697 veröffentlichte er überschriße oder Epigramme^ Weil
er darin die Spielereien der Pegnitzer und die Überschwänglichkeiten der
Schlesier verspottet hatte, verghch ihn Postel, der in Lohensteins Manier für
die Hamburger Oper dichtete , mit dem Hasen , der auf dem Grabe des
Loewen herumspringe. Als Antwort Wernickes erschien: Ein Heldengedicht
Hans Sachs genannt (§ 113, 7). Jetzt mischte sich Hunold in den Streit,
worauf Wernicke ihn wegen eines Epigramms auf den Koenig von Spanien
in seinen eben damals (1702) erscheinenden Gedichten denuncierte. Hunold
liess noch rechtzeitig das Blatt Umdrucken und richtete nun 1704 gegen
Wernicke eine ganze Komoedie: Der ThöricUe Pritschmeister^ Oder Schtver-
mende Poete, worin er den Gegner als Wecknarr und Narrweck ^ auftreten
liess. So wenig dieser Ausgang für Wernicke vortheilhaft war, so thut dies
Fulda in Kürschners Nat. Litt. .39 (zugleich für Neukirch und "Wernicke). 3) Zuerst
im Anhang zu Haukes Wehlichen Gedichten. Dresden und Leipzig 1727. Eine Auswahl aus
den grossentheils ungedruckten Gedichten veranstaltete Gottsched, Eegenshurg 1744, und
fügte eine Lebensbeschreibung bei. 4) Begebenheiten des Prinzen von Itluiha, Anspach
1727 — 39. 5) Neubaur: Altpreuss. Monatsschrift, XXV (1888). Hier ist auch ein zu Elbing
1678 erschienenes Lob-Gedicht Über die Gnadenvolle Geburt Christi von Christian Wernigke
abgedruckt. 6) Jul. Elias, Ch. W., München 1888 (Diss.). 7) Zu Amsterdam; die
späteren Auflagen 1701 und 1704 (Poetischer Versuch) erschienen zu Hamburg. Wiederholt
von Bodmer, Zürich 1749: Auswahl mit Correcturen von Eamier Lpz. 1780. LB. 2, 629.
8) Diese Namensverdrehungen haben dazu geführt, dass man dem Dichter oft die Namensform
276 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVII JAHRIl. § 13G
seinem dichterischen Verdienste doch keinen Eintrag: seine Epigramme sind
mannigfaltig, witzig, nur nicht immer leicht verständlich, selbst nicht mit
Hilfe der beigefügten Erläuterungen. Der hier verfochtcnc franzoesischo Oe-
schmack aber durchdrang mehr und mehr die Hofpoesie, die zunjechst der
Kurländer Johann von Besser am preussischen Hofe vertrat. Oeboren zu
Frauenberg 1654, hatte er nicht zum wenigsten durch äussere Vorzüge sich
Gunst und Ansehn verschafft; er ward Obcrceremonienmeister erst bei KoDnig
Friedrich I., dann nach dessen Tode in Dresden, wo er 1729 starb.^ Hier
folgte ihm, gewandter und vielseitiger, Johann Ulrich Kcenkj (geb. zu Ess-
lingen 1688, gest. 1744). Schon 1711 in Hamburg als Operndichter'" thactig,
ward er spaetor am sächsischen Hofe mit der Anordnung und Beschreibung
der Festlichkeiten beauftragt, wobei er anstatt der bisherigen Fritschmeister-
tracht" einen rocmischen Heroldsrock erhielt. Auch hier dichtete er für die
Bühne : Die verlcelirte Welt u. ä. Selbst zu einem epischen Gedichte schwang
er sich auf: August im Lager, wovon jedoch nur der erste Gesang, die Ein-
holung des preussischen Koenigs zum Mancever, 1731 erschien: '^ eine ganz
äusscrliche Schilderung eines militserischen Schauspiels. Es begreift sich,
dass er den Muth zur Vollendung verlor: war doch Besser auch bei einem
würdigeren Gegenstande, einem epischen Gedicht auf den Grossen Kurfürsten
nicht über den Anfang hinaus gekommen. Noch weniger bedeuten die für
den Wiener Hof verfassten Gedichte '^ von Karl Gustav Heraeus, der 1671
zu Stockholm geboren, convertierte und in Wien die Aufsicht über die Kunst-
sammlungen erhielt. Er starb 1730. An den Hoefen war eben der Gebrauch
des Franzoesischen noch immer im Fortschreiten begriffen '^ und wo sich noch
"Warnecke o. ä. gegeben hat. 9) Schrifften , Leipzig 1711, und in einer Ausgabe
von König, mit Lebensbeschreibung, J732. Danach eine Biographie von Varnhagen.
10) Carl V, Diana, Heraclius, Der getreue Betrug (heroisches Schäfer-Spiel), Die gekrönte
Tugend. Fredegunda, Alceste, Heinrich der Vogler u. a. 11) In den Dressdnischen
Carnevals- Ergötzlichkeiten hatte er auch über einige Königliche Schiessen Poetische Einfälle
zu liefern, gerade wie die bisherigen Pritschmeister. 12) Des Herrn von Königs (er
ward wie Besser geadelt) Gedichte, Dresden 1745, von Kost herausgegeben. 13) Gedichte
und lateinische Inschriften, Nürnberg 1721. Über einen Versuch mit antiken Formen
8. § 120, 69. 14) Ein ergötzliches Zeugniss dafür legen die Schriften des Deutsch-
Fran^os Jean Cretien Toucement ab , welche zu Leipzig bei JoH. Christian Troemer,
dem Verfasser, erschienen (1731 u. ö., meist mit Bildern) und in gelungener Parodie der
Hofdichtung Vorgänge der Dresdener, Potsdamer u. 8. w. Hoefe beschrieben, wobei die Sprache
der durch die Hopfe nach Deutschland gezogenen Franzosen nachgeahmt ist.
§ 137 SCHAUSriELERDRAMA. 277
Widerstreben zeigte, wie am Hofe Friedrich Wilhelms I. von Preussen, da
kam es wenigstens nicht der deutschen Dichtung zu Gute.
§ 137.
Bereits ist verschiedentlich bei Besprechung der dramatischen Dichter
auch auf das gleichzeitige Schauspielerdrama hingewiesen worden: aus diesem
hatten jene wenigstens einige Lustspiel stofFe entlehnt/ und selbst in der Tra-
gcedie erklsert sich die ungescheute Vorführung der blutigsten Scenen daraus,
dass die Zuschauer vom Schauspielerdrama her ^ an dergleichen gewoehnt
waren. Andrerseits aber waren auch Dramen der gelehrten Dichter in das
Repertoire der Schauspielertruppen übergegangen , ^ ja für dieses gedichtet
worden.^ Einzelne gelehrte Dichter waren selbst Schauspieler, wie Hallmann
(§ 133, 23), der sich doch über die Darstellung durch herumziehende Truppen
verächtlich genug ausspricht. In der That hatte das Schauspielerdrama an
sich etwas hcechst Unsicheres und Ungleiches: so verbreitet es war und so
gewiss es bei irgend günstigen Verhältnissen sich einstellte, so wandelbar war
es nicht nur in seinen Leistungen, sondern auch in seinen Formen, welche
sich immer neu der Vorliebe der Zuschauer anzupassen suchten. Vollends
für eine htterarische Feststellung der aufgeführten Stücke war man nicht
besorgt, sondern eher, um Wettbewerb auszuschliessen, ihr abgeneigt.^ Es
ist daher die Entwickelung des Schauspielerdramas nur aus einer Fülle von
einzelnen Nachrichten zu gewinnen, welche oft nur ungenaue Titel der Stücke
darbieten, sicher aber nur eine lückenhafte Übersicht gewaehren.^
Die Noth des dreissigjsehrigen Krieges unterbrach auch den Fortbestand
der bereits vielfach zur Gewoehnung gewordenen Schauspiele: die Behoerden
§ 137. 1) Koügehl § 130, 25. 26. Grypliiiis § 132, 24. Weise § 135, 19. 20. 2) Übrigens
hatte schon vor den englischen Komödianten das Volksschauspiel des 16. Jhs. Ähnliches
geboten: die Enthauptung Johannes des Täufers z. B. fand auf der Bühne statt; und in
Kassers Spiel Von dem Könige, der seinem Sohn Hochzeit machte (§ 105, 71 a), wird ein
jüdischer Rebell von den Römern auf das grausamste hingerichtet: das Herz wird ihm aus-
geschnitten und um den Mund geschlagen — gerade wie man in Wirklichkeit Justiz übte.
3) Gryphius § 132, 20. 21. Weise, Masaniello. Haugwitz § 133, 26. 4) Rist (124, 50).
5) Daher auch die zufällig gesammelten und herausgegebenen Stücke (§ 106, 18 und 49)
sehr nachlässig und incorrect sind. 6) Für einzelne Städte liegen Sammlungen solcher
Nachrichten vor: für Berlin von C. M. Plümicke 1781, A. E. Brachvogel 1877: für Dresden
von M. Fürstenau, Zur Gesch. der Musik und des Theaters am Hofe zu D. II 1861. 62
für Frankfurt von E. Mentzel, Gesch. d. Schauspielkunst in F. 1882; für Hamburg von
J. F. Schütze, Hamburg 1794; für Leipzig von (Blümner) 1818; für Nürnberg von J. E.
Hysel 1863; für Trag von 0. Teuber 1883; für Wien von J. E. Schlager, Wiener Skizzen aus
278 NEUllüCIlDEL'TSCllE ZEIT. XYII JAlIKll. § 137
verweigerten die Erlaiibniss zu solchen Lustbarkeiten,' die Verarmung be-
nahm die Mittel dazu. Unmittelbar nachher aber tauchen die Schauspieler-
truj)i)on um so zahlreicher wieder auf, und es ward auf dauernde Einrich-
tungen für ihre Vorstellungen Bedacht genommen. Wa^hrend man früher
meist mit Räumen für Ballspiel und mit Feclithäusern sich begnügt hatte,
welche das Spielen nur bei Tageslicht gestatteten, wurden allmsDhlich eigene
Häuser mit Abendbcleuchtung hergestellt: " auch die bisherige, von England
und den Niederlanden übernommene Bühne mit einem durch Vorhänge ver-
schliessbaren Mittelraum ' ward nach franzccsischem Muster durch einen tiefen
llaum mit wechselnden Coulissen ersetzt."^ Kostüme und ^Faschinen '• wurden
namentlich für die Oper mit groosster Pracht und Kunst hergestellt. Selbst-
verständlich steigerten sich nun auch die Ansprüche an die Leistungen der
Schauspieler. Aber freilich, sie gingen wesentlich auf äusserliche Dinge,
insbesondere wo Gesang und Musik begleitete: das Wort des Dichters ward
mehr und mehr als nebensächlich angesehn. Immerhin hatte der Schau-
spielerberuf an Reiz gewonnen und vor allem die Studenten '^ gingen von
ihren academischen Aufführungen nicht ungern in das AVanderleben der
Schauspielertruppen über , in welchen sie nun freilich oft genug noch mit
Springern und Seiltänzern, auch mit Scharlatanen und Zahnbrechern zusam-
men zu leben und nach dem Geschmacke der Zeit den Hanswurst als wich-
tigste Person anzuerkennen hatten. Als nun sich auch Frauen den Komoo-
diantentruppen anschlössen '^ und ihnen freilich eine hoehere Kunstleistung
erst in vollem Umfange moeghch machten, mehrten sich die schon früher'*
laut gewordenen Bedenken gegen die sittliche Berechtigung der Schauspiele:
insbesondere die pietistisch gesinnte Geistlichkeit suchte die Schauspieler durch
kirchliche Strafen zu schrecken.'-^ Allein noch schlimmer wirkte auf den
dem Mittelalter N. F. 1839, und in den Berichten der Wiener Akademie 18.51 7) Zu
Berlin 1623 und 1G20: CTcnee, Lehr- und Wanderjahre S. 283; zu Frankfurt e. Mentzel 68,
zu Strassburg 1626: Strassh. Stud. 1. 94. 8) Dresden 1664. Augsburg 1665, Nürnberg
1668. 9) So noch bei Hallmann in dem seinen Gedichten beigegebenen Theaterbild.
10) Vgl. das Bild der Dresdener Bühne bei Fürstenau. 11) Eine Flugmaschine in
Frankfurt 1651 eingeführt: Mentzel 75. 12) § 124, 50 (Rist). Caspar von Zimmern
hatte 1660 hauptsächlich Studiosen in seiner Truppe: Plüniicke. Theatergeschichte von Berlin
S. .50. Das gleiche ist von Veiten anzunehmen. 13) Dies scheint zuerst bei der Truppe
des Joris .Jolifous geschehn zu sein, der 1653 in Basel anofab, dass bei ihm auch rechte
Weibsbilder mitwirkten. Auch Magister Veiten brachte seine Frau und andere Schau-
spielerinnen auf die Bühne. 14) § 106, 51. 15) So ward in Berlin und in Hamburg,
wo er starb, dem Magister Veiten das Abendmahl verweigert. Über den Hamburger
§ 137 SCHAUSPIELERDRAMA. 279
Fortbcstand der deutschen Truppen die immer stärker hervortretende Be-
vorzugung der fremden Schauspieler, von denen die franzoisischen gegen
Ende des Jahrhunderts nicht nur mit wohlgeübter Darstellungsweisc, sondern
auch mit einem nationalen Kunstdrama auftraten. So war es denn fast eine
vorübergehende Episode zu nennen , dass Magister Johannes Velten '^ von
1668 bis zu seinem Tode 1692 sich in Gunst und Ansehn behauptete, wenn
auch die von ihm gegen 1682 erworbene Berechtigung, seine Truppe als
Chursächsische Komoediantengesellschaft zu bezeichnen, schon früher und auch
spsßter noch andern zu Thcil geworden ist und sehnliche Titel sonst vielfach
begegnen. Übrigens hatte Yelten einen bedenklichen Schritt gethan, indem
er die Improvisation bei seinen Schauspielern begünstigte und ihnen somit
nicht nur den Vortrag, sondern auch die Erfindung des Textes zumuthete.
Begünstigt wurde dieser Schritt dadurch, dass bei den englischen Komoedian-
ten bereits die Prosaform üblich war: jetzt wurden selbst in Yerse geschrie-
bene Dichtungen von den Schauspielern in Prosa aufgelöst. ^^
Es waren aber die von Veiten aufgeführten Stücke '^ z. Th. noch aus
biblischen Stoffen hergestellt, wie Adam und Eva, oder aus behebten Ro-
manen, ^^ wie Amadis, oder aus der Geschichte, wie Wallenstein. ^** Meist
aber waren es die beliebtesten Stücke der ausländischen Bühne, die Sliakes-
peres-^ und Vondels,^^ selbst Calderons,-^ zu denen seit 1690 auch die Mo-
Theaterstreit, welcher durch die Theatromania des Predigers Anton Reiser 1681 entzündet
wurde, s. GefFckeu, Zeitsch. f. Hamhurg. Gesch. 3 (1851) und über die ganze Entwickehing
dieser Gegensätze Stäudlin. Gesch. der Vorstellungen von der Sittlichkeit des Schaupiels,
Gott. 1823. 16) C. Heine, J. V. Diss. Halle 1887. Veiten war geboren zu Halle 1640.
17) Ganz im Gegensatz gegen früher : § 106, 15. 18) Vgl. Heine 17 fgg. Ein anderes
Verzeichniss von Schauspielen, welches in Nürnberg um 1710 aufgezeichnet ist, hat Meissner
im Jahrbuch der Shakespeare-Gesellschaft, XIX (1884) S. 142 fgg. abgedruckt und erläutert.
19) Aus einem Roman stammte wohl auch Der verirte Soldat oder des Glücks Prohirstein,
hg. von P. V. Radics, Agram 1865; vgl. Bolte in der Zs. f. d. Phil. 19 (1887) S. 86 fgg.
20) Vermuthlich der von Haugwitz (§ 133, 26). 21) Shakesperes Taming of the Shretv ist
als Kunst über alle Künste Ein bös Weib gut zu machen, bearbeitet und zu Rapperschweyl (?)
1672 gedruckt worden: neu hg. von R. Köhler, Berlin 1864. Von dem Bearbeiter rühren
noch her : Der Pedantische Irrthum Des überioitzigen doch sehr betrogenen Schiüfuclises . . .
1673 (§ 120, 31), und Alamodisch Technologisches Interim Oder Des Ungeistlichen Geistlichen
Statistisch Scheinheiliges Schaffskleid . . . 1675. Den drei Stücken ist je ein singendes
Possefispiel angehängt. Ausser von Shakespere gingen auch von Kyd, Marlowe, Massinger
Stücke in das Repertoire der Schauspielertruppen des 17. Jhs. über. 22) Vondels Maria
Stuart ward von Chr. Kormart übersetzt, Halle 1672. Nach Jan Vos ist wohl die Tragicomödie
von Jason und Medea bearbeitet: Creizenach im Sitzungsbericht der sächs. Ges. d. Wiss.
280 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XYH JAIIIÜl. § 137
liore'schcn Komoodion hinzukamen." Nur hatten diese Stücke sich grosscn-
theils schon früher den Bedürfnissen der deutschen Bühne anpassen müssen
und waren die tragischen durch blutige Sccnen erweitert,*-' und zugleich
durch die Einmischung des Hanswursts mit komischen Elementen versetzt
worden. Zu dessen älteren Namen (§ 106, 37 fg.) kamen noch die der
italienischen Commedia delV Arte entlehnten Scaramutz und Polichinell, da-
neben auch Curtisan."
Wie für die possenhaften Zuthaten, so ward Italien auch für die musi-
kalische Behandlung der Bühnenstücke mehr und mehr das Vorbild. An-
fangs begnügte man sich noch meist mit Schaferspiclcn, Pastorellen, ging
aber dann mit raschen Schritten zur Ausbildung der Oper vor, welche Ohr
und Auge durch alle sinnlichen Reize zu fesseln suchte und dem Dichter
nur einen sehr bescheidenen Antheil gönnte. Neben den Hcefen, unter denen
sich Dresden," aber auch kleinere, wie Braunschweig ^^ und Weissenfels -"
besonders eifrig der Oper annahmen, war es Hamburg, '° wo diese Kunst-
gattung zu einer wahren Blüthezeit gelangte. Der spaetere Rathsherr, Li-
centiat Gerhard Schott, sorgte 1678 für Erbauung eines besonderen Hauses
und für eine Ausstattung , welche sich auch an die schwierigsten Aufgaben,
Darstellung eines Seesturmes u. ä. wagen durfte. Musikalische Kräfte ersten
Ranges, wie der melodienreiche Reinhard Keiser verbanden sich mit einer
Anzahl eifriger Dichter^' zur Herstellung der Opern. Biblische Stoffe, wie
18b6 S. 107. Ausserdem wurden zahlreiche holländische Kluchtspiele übernommen.
23) Das Leben ein Traum , Die Tochter der Luft (Semiramis) und Eifersucht das grüßte
Scheusal, welche jedoch durch niederländische Vermittelung nach Deutschland gekommen
waren. Heine, S. 34 und 35. 24) Eine vollständige Übersetzung Moliere's erschien
zu Nürnberg von 1694 ab als Histrio Galliens, Comico Satyr icus sine Exemplo. Schon
in der Schaubühne engl, und franzoes. Komödianten (§ 106, 49) waren mehrere Stücke er-
schienen, aber in sehr schlechter Bearbeitung. 25) Ein Beispiel bietet der Polyeuctus,
den Mag. Christophorus Kormart , meist aus dem Frantzösisdien chs H. Corneille ver-
deutscht zu Leipzig 1669 aufFühren und drucken Hess. 26) Cortisan: Schlager, Wiener
Skizzen S. 331 fgg. Hier = fahrender Schüler (S. 334). 27) Von den Dresdener Hof-
dichtern ist Schirmer schon genannt § 126, 20: andere sind Ernst Geller und Con.stantin
Christian Dedekind, dessen Neue Geistliclie Schauspiele hekuehmet zur Music 1670
erschienen. 28) Hier war unter dem prachtliebenden Anton Ulrich F. C. Bressand mit
der Übersetzung franzopsischer Trauerspiele (Rodogune von Corneille 1691, Athalia von
Racine 1694 u. a.) und der Abfassung von Opern beschäftigt: Porus 1693, Penelope, Circe,
Jason, Jtalanta, Der getreue Treu-Bruch 1705. 29) Gottsched, Nöth. Vorrath S. 249. 250.
30) E. 0. Lindner, Die erste stehende Deutsche Oper, Berlin 1855. 31) Lucas von
Bostel, Christian Heinrich Postel, Christian Hunold (§ 136, 26), Barthold Feind, Ulrich
§ 137 OPER. JESUITENDRAMA. 281
Adam und Eva, womit das Untemelimcn eröffnet wurde, wechselten mit
mythologischen, historische, wie Cara Mustapha oder Belagerung von Wien,
mit satirischen Schilderungen Hamburgs, wobei oft Sccnen in niederdeutscher
Mundart eingelegt wurden.^- Diese letztgenannten Sittenschilderungen zeigen
bereits das Sinken des Geschmackes, welches seit Anfang des 18. Jahrhun-
derts die Theilnahme an der Oper allmaehlich erlöschen Hess. 1704 zweigte
sich auch von der geistlichen Oper das Oratorium '^ ab, das aus dem Theater
in die Kirche überging und eine eigene, durch Händeis und Bachs Compo-
sitionen bis in die Gegenwart wirksame Kunstgattung bildete.
Was die Oper an Pracht geleistet hatte, fand gleichzeitig sein Gegen-
stück in der Jesuitenkomoedie , welche in Wien und München auch auf den
Besuch des Hofes rechnen durfte. Für die deutsche Litteratur ist die Je-
suitenkomoßdie schon deshalb von geringer Bedeutung, weil sie meistens
lateinisch abgefasst war;^* nur in den Stoffen berührte sie sich allerdings ins-
besondere mit einzelnen Richtungen des Schauspielerdramas, ^^ weehrend der
Gebrauch der Allegorie in ihr noch weiter als irgendwo sonst getrieben
wurde. ^^
Vereinzelt erhielt sich endlich in der Schweiz das alte Volksschauspiel:
die junge Bürgerschaft von St. Gallen führte 1653 Des Hertzogen Carln
von Burgimd . . Krieg mit gemeiner Eidgenossenschaft auf, ein Schauspiel,
das der Notar Josua Wetter gedichtet hatte und mit einem andern von
dem Horatier und Ciiriatier-Kampf 1663 herausgab. ^^
Künig (§ 136, 10. 11). 32) Vgl. K. Th. Gaedertz, Nd. Jahrb. VIII, 115 und Das
niederdeutsche Drama von den Anfangen bis zur Franzosenzeit, Berlin 1884 (Das niederd.
Schauspiel Bd. I), S. 77 fgg. 33) C. H. Bitter. Beiträge zur Gesch. d. Oratoriums,
Berlin 1872. Über die Entwickelung der Passionstexte von den aus den evangelischen
Berichten zusammengestellten Stücken zu den opermässigen und wieder zu den einfacheren
nnd schriftgemässeren , wie sie Ch. Reuter 1708 und spteter Brockes vertreten, s. Zarncke,
Ber. der sächs. Ges. d. Wiss. 1887 S. 306 fgg. 34) Nach dem Muster der von Joh. Sturm
in Strassburg eingerichteten akademischen Bühne. 35) S. das von Meissner besprochene
Verzeichniss (Anm. 18) N. 110. Durch die Jesuiten sollen auch die spanischen Dramen
Calderons und Lope de Vegas nach Deutschland gebracht worden sein: Teuber, Prager
Theater S. 15. 36) Vgl. den Bericht von Teuber, S. 29 fgg. über eine 1644 aufgeführte
Maria Stuart; über eine 1659 zu Wien agierte Pietas victrix sive Fl. Constantimis M.
de Maxentio tyranno Victor: Schlager, AViener Skizzen S. 235. 818. Dasselbe gilt von dem
§ 125, 32 angeführten Stück Androfdo. 37) Gottsched, Not. Vorr. 2, 251. Über andre
Reste des Volksdramas im 17. Jh. s. § 113, 12 fgg.
282 NEUnOCIIDEUTSClIE ZEIT. XVII JAHRII. § 138
§ 138.
Es erübrigt noch, einen Blick auf die ernste Prosa des 17. Jahrhunderts
zu werfen, da der satirischen und des Romans bereits gedacht worden ist.
Die wissenschaftliche Litteratur in deutscher Sprache ist in dieser Zeit
nicht eben umfangreich, da die lateinische hier ihren ganzen Vorrang behaup-
tete, ja die Gelehrten in der weltbürgerlichen Stellung, die sie ihnen gab,
einen Ersatz für die Wirkung auf ihr Volk suchten. Wo es darauf ankam,
wissenschaftliche Fragen den Hof- und Adelskreisen n»her zu bringen, drängte
sich daneben auch das Franzoesische ein. Dies gilt nun ganz besonders von
demjenigen Gelehrten , der nicht nur mehr als irgend ein Deutscher jenes
Jahrhunderts, ja als irgend ein Zeitgenosse auf allen Gebieten der Wissen-
schaft heimisch und mit Erfolg thaetig war, sondern überhaupt zuerst und
sogleich glänzend die deutsche Nation in die Entwickelung der neueren
Philosophie einführte, innerhalb deren ihr eine so grosse Zukunft bestimmt
war. Gottfried Wiluelm Leibxiz war geboren zu Leipzig 1646, verweilte
in kurmainzischen Diensten zu Paris 1672 — 1676, besuchte auch England,
Holland und spseter Italien , wo er überall mit den grcessten Gelehrten in
nahe Beziehung trat; 1676 als Bibliothekar nach Hannover berufen, starb
er hier 1716.' Seine Schriften sind zum guten Theil erst nach seinem Tod
erschienen und eine vollständige Sammlung ist noch nicht vorhanden.' Unter
den deutschen ^ ragen besonders zwei hervor , welche zugleich seine Vater-
landsliebe, seinen Gedankenreich thum und seine klare, reine Ausdrucksweise
erkennen lassen: die um 1680 geschriebene Ermahnung an die Teutschc
ihren Verstand und Sprache hesser su Üben,* und, wohl 1697 aufgesetzt,
Unvor greif ßiche Gedancken betreffend die Ausübung und Verbesserung der
deutschen Sprache.'' Die erstere Schrift urtheilt scharf ab über die gleich-
§ 138. 1) über Leibniz' Leben hatte namentlich sein Sekretär Eckhart naehere Nachrichten,
welche zuerst von Murr, Nürnberg 1779 veröffentlicht, aber schon von Fontenelle im Eloge de
L. 1717 benutzt wurden. Auch eine Autobiographie ist bei Pertz und Klopp (s. Anm. 2) ab-
gedruckt. Die Litteratur über L. hat Windelband bei Ersch u. Gruber knapp zusammengefasst.
2) Erschienen sind Sammlungen von Raspe Amsterdam 1765, Dutens Genf 17G8, Pertz Han-
nover 1843 fgg.. 0. Klopp Hann. 1864 — 85. 3) Sammlung von G. E. Guhrauer II, Berlin
1838. 40. Vgl. auch Anm. 4. 4) Hg. von C. L. Grotefend, Hannover 1846. 5) LB. 3,
993 fgg. (mit einigen Auslassungen). Zuerst veröffentlichte sie Eckhart 1717; kritische
Ausgabe mit Benutzung einer Handschrift von Aug. Schmarsow QF. 23, Strassburg 1877.
Über die Abfassungszeit s. L. Neff, Durlach 1880 (Progr.), wo auch die Abhängigkeit
Leibnizens von Schottelius, die Schmarsow behauptet hatte, bestritten wird. Vgl. auch
§ 138 LEIBNIZ. 283
zeitige deutsche Litteratur;^ die andere mahnt zum Gebrauch des Deutschen
in der Wissenschaft , und fasst zuna^chst die zur genauen Kenntnias der
Sprache noch fehlenden Hilfsmittel ins Auge. Die Ermahnumj zielt auf die
Errichtung einer deutschgesinnten Gesellschaft; spaeter sucht Leibniz mehr auf
die Hoefe zu wirken ^ und sie zur Stiftung von Academien und wissenschaftlichen
Gesellschaften zu bewegen.® Für die erste Kcenigin von Preussen, Sophie
Charlotte, schrieb er seine Theodicee^^ welche, obschon franzoesisch abgefaast,
den Grundzug seiner Philosophie, den Optimismus weit und auf lange hinaus
verbreitet hat. Er schloss sich damit an die religicesen Überzeugungen seiner
Zeit an, die er selbst durchaus theilte, hat aber gerade durch den Versuch
einer philosophischen Rechtfertigung des Glaubens die Grundlage für die
Aufklaerung des 18. Jahrhunderts gelegt. Das gesammte philosophische
System Leibnizens aber ward Gemeingut der nsechstfolgenden Zeit erst durch
Christian Wolff. Geboren zu Breslau 1679 ward er als Professor zu Halle
von den Pietisten vertrieben 1723, wirkte dann aber wieder liier von 1740
ab in hohen Ehren — er ward wie Leibniz zum Reichsfreiherrn ernannt —
bis zu seinem Tode 1754. Er fasste die Ideen seines Vorgängers zusammen
und trug sie in lateinischen und (bis 1726) kürzer in deutschen Schriften
vor, klar und breit, mit allzu genauem Anschluss an die mathematische
Methode/^ Lebhafter, aber mehr sprungweise wirkte im Sinne der Auf-
klaerung Christian Thomasius " (geb. zu Leipzig 1655, gest. als Professor
der Rechte zu Halle 1728). Sein an die Franzosen anknüpfender Kampf
gegen die Vorurtheile der Pedanterie und gegen den Glaubenszwang veran-
lasste seine Vertreibung von der Leipziger Universitset 1690: hier hatte er
§ 114, 20. 6) Wolte Gott es icere jedes Mahl unter zehn solcher fliegenden Papiere
(vjie sie die halbjährigen Messen lierfürh ringen) eines, so ein Frembder ohne Lachen, ein
Patriot ohne Zorn lesen könne (S. 15). Unter andern nennt Leibniz auch "Weise mit Tadel,
vgl. Guhrauer 2, 401 und § 135, 18. Schon hinsichtlich des Purismus standen sie auf ver-
schiedenem Standpunkt. Die alte deutsche Sprache, insbesondere die in Luthers Bibel, erhebt
Leibniz hoch; ja er ist fast der Meimmg, dass loeiland ein trunckener alter Teutsclier in
Reden und Schreiben mehr Verstand spüren lassen als anjezo ein nüchterner französischer
Äffe thtin wird (Erm. S. 21). 7) Selbst die LB. 3, 977 fgg. abgedruckten Erörterungen wenden
sich an vornehme Personen, welche L. für die Wissenschaften gewinnen will. 8) Diese
Absicht gelang ihm zu Berlin 1700 ; aber auch in Dresden, Wien. Petersburg war L, in
gleichem Sinne thätig. 9) Zuerst erschienen Amsterdam 1710. 10) Beispiele LB. 3, 1025
aus Vernün/f'tige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, zuerst Fkf. und
Lpz. 1719. 11) "Würdigung seiner "V^erdienste um die deutsche Litteratur von B. A.
284 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVH JAIIIUI. § 138
zuerst 1688 deutsche Vorlesungen gelialten und die erste kritische Zeitschrift
in deutscher Sprache, d'iQ 3to)iats- Gespräche ^'^ 1689 und 1090 herausgegeben.
Erst kurz vorher war, ebenfalls in Leipzig, eine gelehrte Zeitschrift, aber in
lateinischer Sprache, die Acta Ernditorum begründet'-' und damit für den
wissenschaftlichen Verkehr eine neue, wirkungsvolle Form geschaffen worden.'*
Auch Leibniz betheiligte sich an den Acta ^ wie er auch die frühere
Art, auf die Zeitgenossen durch Flugschriften einzuwirken benutzt hatte;
wesentlich zu Vermittelungsvorschlfegen zwischen den politisch-religioesen Par-
teien der Zeit.'-' Weit grossartiger jedoch ist, was er für die geschichtliche
Aufhellung der politischen Vergangenheit Deutschlands gethan hat,'* nur dass
er auf diesem Feld sich des Deutschen nicht bediente. So erwarb sich hier,
nach den Anfangen des 10, Jahrhunderts, Johann Jacob Ma.scou (aus Danzig,
geb. 1689, gest. 1761 als Professor zu Leipzig) mit seiner Geschichte der
Tetdschcn" 1726 das Verdienst, zuerst ein grosses historisches Werk in der
Muttersprache, gelehrt und verständlich zugleich, darzubieten. Sein stilisti-
sches Verdienst tritt noch klarer hervor, wenn man damit andere historische
Werke der Zeit vergleicht, wie etwa von Nicolaus IIieronymus Gundlinü
den Academischen Discours über . . Pufendorjfs Einleitung zu der Historie '*
(1737).
Weit besseres leistete bereits die Kirchengeschichte , die freilich die
damals wichtigsten Fragen berührte. Vorzüglich die 1699 zu Frankfurt a. M.
erschienene Unparfheyische Kirchen- und Ketzerhistorie von Gottfried Ar-
nold '^ (geb. zu Annaberg 1666, nach mancherlei Kämpfen gest. als Prediger
zu Perleberg 1714) machte durch Gelehrsamkeit und durch die völlige Ab-
wendung von der orthodoxen Auffassung den tiefsten Eindruck : -" mit Spener
Wagner, Berlin 1872 (Progr.). 12) Der ursprüngliche Titel war Schertz- und Ernfit-
haffter Vernünff'tiger und Einfältiger Gedancken . . Erster Monath. 13) Von Burkhard
Mencke (§ 136) ; über ihn vgl. Rieh. Treitschke, Lpz. 1842. 14) R. E. Prutz, Gesch. des
deutschen .Journalismus I, Hannover 1845, S. 275 fgg. 15) Die von Edm. Pfleiderer,
L. als Patriot. Staatsmann und Bildungstraeger. Lpz. 1870, L. zugeschriebenen Staatsschriften
sind als ihm fremd nachgewiesen worden von Bresslau, Zs. f. preuss. Gesch. und Landes-
kunde 1870 S. 317 fgg. 16) F. X. v. Wegele, Gesch. der deutschen Historiographie,
München und Lpz. 1885 (Gesch. d. AViss. in Deutschland 20). S. G19 fgg. 17) LB.
1047. Der I. Band geht bis zum Anfang der fränkischen Monarchie, der IL (Leipz. 1737)
bis zu Abgang der merowingischen Kipuige. 18) Eine Probe LB. 3, 1058. 19) G. A.
Sein Leben und seine Bedeutung für Kirche und Theologie, von F. Dibelius, Berlin 1873.
20) Noch Goethe Dichtung und Wahrheit, VIII. Buch, schildert den Einfluss dieser Leetüre
I
§ 138 HISTORISCHE UND ERBAULICHE PROSA. 285
und Thomasius in Verkehr , ging Arnold aus von der Mystik , die er auch
in Abhandlungen'"' und Liedern" zum Ausdruck brachte.
An erbaulicher Prosa ist auch sonst die Zeit reich und reich selbst
an werthvollen Schriften dieser Art. Rein und flicssend schreibt Samuel
VON BuTscHKY, geb. zu Breslau 1612, gest. als kaiserlicher Rath 1G78. Er
trat zur katholischen Kirche über, beschränkt sich aber in seinen Schriften -^
auf allgemein religicese oder philosophische Gleichnissreden oder Betrachtun-
gen, z. Th. im Anschluss an Seneca. Von Vorgängen und Verhältnissen des
gewoehnlichen Lebens und der Natur gehen die frommen Gedanken aus,
welche Christian Scriver , geb. zu Rendsburg 1629, gest. zu Quedlinburg
1693, in auf lange hinaus vielgelesenen Erbauungsbüchern niedergelegt hat,
dem Seelenscliatz^ eigentlich einer Predigtsammlung, und namenthch in Gott-
holds Zufälligen Andachten ^^ 1671. Auf das Leben selbst und seine sittlich-
religioese Neugestaltung zielen die Mahnungen, welche Philipp Jacob Spener"
aufgesetzt hat. Geboren zu Rappoltstein im Elsass 1635, hat er als Prediger
zu Strassburg, Frankfurt a. M., Dresden und Berlin, wo er 1705 starb, den
groessten Einfluss auf die Gemüther geübt und den bisher starr festgehaltenen
äusserlichen Unterschied der Bekenntnisse zu verschmelzen vermocht. An
diese Erweichung des Gefühls sollte auch das anknüpfen, was das 18. Jahr-
hundert für die Neugestaltung der deutschen Poesie gethan hat.
Auch auf katholischer Seite fehlt es dem 17. Jahrhundert nicht an
Erbauungsbüchern, welche z. Th. bis in unsere Zeit sich erhalten haben. So
hat derKapuzinerMARTiN VON Cochem (geb. um 1630, gest. zu Bruchsal 1712)
durch zahlreiche Volksschriften gewirkt , von denen einige , wie das Lehen
Christi, zuerst 1689, und die vier letzten Dinge, mit stärkster Ausmalung
aller schrecklichen und mitleiderregenden Bilder, andere, wie sein Auserlesenes
History-Buch 1693, die Legenden der Heiligen 1705, mit lieblicheren Scenen-^
Gefühl und Einbildungskraft zu erregen vermochten.
auf seine Jugendzeit. 21) LB. 3, 929 eine Probe aus seiner mystischen Schrift Bas Ge-
heimniss der göttlichen Sophia oder Weissheit. 22) Gesammelt von Knapp, Stuttgart
1845. 23) Euthymia 16.57, A. L. Senecce Flores 1661, Fünfhundert Sinnen- Geist- und
Lehr-Eeiche Beden 1666, Pathmos 1677, Wohlbebauter Rosenthal 1679. Auszüge in Hoff-
manns Spenden z. d. Litt.-Gesch. 1, 85. Butschkys eigentliümliclie Keclitsclireibung zweigt sich
von der Zesens ab. 24) Daraus LB. 3, 815. Der Name Gotthold und vieles andre erinnert
an die Parabeln in Harsdörfers Jotham (2, XI fgg. LX). 25) AV. Hossbach, Ph. J.
Spener und seine Zeit. 2. Aufl. Bei'lin 1853. Stücke aus Speners Theologische Bedencken,
Halle 1700 — 1702, LB. 3, 943 fgg. 26) Aus dem Historybuch sind besonders die Geschichten
von Griseldis Hirlanda und Genovefa durchaus volksthümlich geworden.
Wackernagel, Litter. Geschichte. H. J9
286 NEUHOCJIDEUTSCHE ZEIT. XVII JAIIRII. § 138
So zeigt sich iiocli in den "Werken aus dem Schlus3 unseres Zeit-
absclinitts der religiocsc Grundzug, welcher als breiter und tiefer Strom die
Litteratur des 16. Jahrhunderts getragen, im siebzehnten aber in Folge der
confessioucllen Spaltung seine Kraft bereits eingebüsst hatte. Die von der
Religion geräumte beherrschende Stellung innerhalb der nationalen Bildung
nahm mehr und mclir die Philosophie ein und sie bestimmte auf dem Hoeho-
punct zu Ende des 18. Jalirliunderts das geistige Leben unseres Volkes. Für
die Litteratur war dies ein Vortheil : das Streben nach Schoenheit, das in der
Renaissancedichtung nur äusserliche Befriedigung gefunden hatte, konnte sich
nunmehr als allein berechtigte Forderung der Kunst geltend machen und
behaupten. Doch zu diesem Ziele führte erst ein weiter, an Mühen und
Kämpfen reicher Weg.
DAS ACHTZEHNTE JAHRHUNDERT.
§ 139.
Das achtzehnte Jahrhundert nannte sich mit Stolz das philosophische,' das
Jahrhundert der Aufklaerung.^ Für Deutschland trifft der erstere Xamc
insofern nicht ganz zu, als die bedeutendsten Schriftwerke seiner Philosophen
entweder vorausgegangen waren, wie die von Leibnitz, oder erst gegen Schluss
des Jahrhunderts hervortraten, wie die Kants und seiner ersten Nachfolger,
denen sich in das neunzehnte Jahrhundert hinein noch eine weitere Ent-
wickelung der deutschen Philosophie anschloss. Wohl aber war auch Deutsch-
land in diesem Jahrhundert beherrscht von dem Streben nach einer verstandes-
msessigen Behandlung nicht nur der Gegenstände der Erkenntnis, sondern
auch der Lebensfragen, nach einem freien Denken und einer dem entsprechen-
den Gestaltung der seusseren Yerhältnisse. Dies unter Philosophie zu verstehn
hatte man vom Auslande, insbesondere von den Franzosen gelernt:^ franzce-
sische Schriftsteller wie Voltaire (1694—1778) und in noch weit stärkerem
Grade Rousseau (1712 — 1778) wirkten auch auf das deutsche Geistesleben
bestimmend ein, jener mehr auf die Vornehmen, denen er mit beissendem
Spotte die kirchlichen Überlieferungen verächtlich machte, dieser auf die
gelehrten Stände, die er durch seine begeisterte Anpreisung des Natur-
zustandes mit sich fortriss.
§ 139. 1) Wie beliebt das Wort philosophisch war, dafür nur als Beispiele LB. 3, 4(5, 30
(Haller). 50, 22 (Rabener). 87, 18 (Moser) u. a. Nach Abbt und Herder ist Philosophie
die eigentlich deutsche Nationalwissenschaft: Haym, Herder 1, 112. Herder, Auch eine
Philosophie der Geschichte S. 18 'Unser .Jahrhundert hat sich den Namen Philosophie
mit Scheide Wasser vor die Stirn gezeichnet'. Vgl. auch Brinkmann an Klopstock: Briefe
an K., hg. von Lappenberg S. 394. Den Sinn des Wortes zeigt z. B. 'der philo-
sophische Bauer' von Hirzel (§ 156): wir würden sagen 'der rationelle Landwirt'.
2) Kant, 'Was ist Autklsrung ?' Berliner Monatsschrift 1784. Justus Moeser aber
spricht einmal nicht ohne Ironie von dem 'Jahrhundert der Menschenliebe'. 3) Her-
mann Hettner, Litteraturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Braunschweig 1856—70, VI.
WackerDagel, Litter. Geschichte. II. 20
288 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVUI JAHRH. § 189
So zeigte sich auch in Dcutschhiiid das Jahiliundcrt feindselig gegen
das Ansehn aller Überlieferung und bemüht von dem voraussetzungslosen
Denken allein Rechte und Vorschriften abzuleiten. Vor Allem hatte darunter
die Macht der Religion, hatten insbesondere die kircldichen Einrichtungen
zu leiden.^ Die Schranken der christlichen Confessionen suchte man zu be-
seitigen;-' ja über das Christentum hinaus wurden die bis dahin völlig ab-
gesonderten und rechtlich unterdrückten Juden zur Teilnahme wenigstens am
geistigen Leben heran gezogen, wozu bei ihnen selbst die Lust sich erst ver-
einzelt zeigte.^ Am meisten wurde die katholische Kirche durch den Geist
der Zeit erschüttert: galten ihr doch hauptsächlich die Angriffe der franzcß-
sischen Philosophon und ihre thaetigsten und rücksichtslosesten Vorkämpfer
wurden durch die Aufhebung des Jesuitenordens 1778 beseitigt. Wo in den
katholischen Teilen Deutschlands sich die Teilnahme an der Litteratur-
bewegung zeigte," trat auch die Gleichgiltigkeit, wenn nicht Feindseligkeit
gegen die bisherigen kirchlichen Einrichtungen hervor. Doch auch die pro-
testantischen Kirchen Hessen mehr und mehr an die Stelle der Dogmen die
Gebote der Nächstenliebe treten, wie sie der Pietismus früher schon hervor-
gehoben hatte: der Rationalismus gab dem Zweifel mehr und mehr Raum;
die Moral, ja die Nützlichkeitsrücksicht wurde für die Predigt massgebend.
An Kämpfen und an Rückschlaegen fehlte es allerdings nicht; und die Kriege
Friedrichs des Grossen waren noch vielfach confessionell aufgefasst worden,**
4) Heinrich Geizer, Die deutsche poetische Litteratur seit Klopstock und Lessing. Leipzig
1841.' (Die neuere deutsche Nationallitteratur nach ihren ethischen und religiösen Gesichts-
puncteu), Leipzig 1847—49.' I 1858. 5) AVie sehr mau zunächst Rücksicht auf andere
Confessionen nahm, dann glaubte dass diese selbst darauf nicht mehr Anspruch machen
würden, davon gibt ein besonders deutliches Zeugnis die Anmerkung Klopstocks zu Messias
XVIII 655. 6) Gumpertz durch Gottsched 1745 unterstüzt: Danzel 333. Besonders \Var
Lessiug für die Judeubefreiung thaetig; aber auch Klopstock redet ihnen bei Joseph II
das Wort. Mendelssohn war ihr erster deutscher Schriftsteller von Bedeutung; seine Über-
setzung des Alten Testaments 1780 fgg. machte die Glaubensgenossen mit der deutschen Littera-
tursprache vertrauter. Gegen Mendelssohns Jerusalem 1783 richtete Hamann Golgatha und
Scheblimini: doch lobtauch er Lessings Nathan. Dohm. Über die bürgerliche Stellung der Juden
1781. Vgl. auch £. Kuh § 150. G8. 7) Die Universitsteu Erfurt, Würzburg, Freiburg gingen
in diesen Bestrebungen voran. 8) So im Elsass und in der Schweiz: Strassburger
Studien 2, 485. 486: Briefe der Schweizer an Gleini 354. Selbst in Sachsen dachte man so.
Die geistlichen Morgenlieder der Soldaten Friedrichs veranlassten Kleist zur Dichtung seiner
'Hymne'. Vgl. auch 'Unterhaltungen mit Friedrich dem Grossen, Memoiren und Tagebücher
von H. de Catt", hg. v. R. Koser, Leipzig 1885, S. 435. Ein alter Soldat des Regiments
Anhalt erwidert 1760, als der K«]enig ihn und seine Kameraden lobt: 'Wie hätten wir nicht
•I
II
§ i;}9 GRUNDZUG DER AUFKLÄRUNG. 289
80 dass erst sein endgiltiger Sieg auch für die bisherige Feindschaft der
Kirchen den Frieden brachte.
Eben diese pohtischen Ereignisse führten nun auch in Wechselwirkung
mit der philosophischen Geistesstroeraung dazu die bisherigen Staats Ver-
hältnisse aufzulcesen und abzuändern.-^ Der Zusammenhang des deutschen
Reichs, schon gelockert durch die Kriege Bayerns, dann Preusseus gegen
Oesterreich, wurde am Schlüsse des Jahrhunderts durch die franzoBsischen
Revolutionskriege , dann durch Napoleons Siege völlig gesprengt. Innerhalb
der einzelnen Staaten raeumten Friedrich der Grosse seit seinem Regierungs-
antritt 1740 mit den altüberlieferten Zuständen vielfach auf; ihm folgte mit
noch tiefer einschneidenden Reformen Joseph II, der sie freilich vor seinem
Tode (1790) grossenteils zurücknehmen musste. Die härtesten Rechtsein-
richtungen wurden beseitigt,'" die bisher schroff aufrecht erhaltenen Unter-
schiede der Stände ausgeglichen. Diesem letzteren Z\vecke dienten nament-
lich auch die geheimen Gesellschaften, die gegen das Ende des Jahrhunderts
bedeutenden Umfang und Einfluss erhielten. Für das Volk, für die Unter-
drückten zu wirken, ward der Ehrgeiz auch der Vornehmen und Gelehrten.
Dem Nationalgefühl war freilich mit diesen Veränderungen noch
keine Befriedigung gewsehrt. Wenn auch Friedrichs des Grossen Erfolge,
namentlich dem Übermut der Franzosen gegenüber als deutsche Siege er-
schienen, so stiess doch wieder seine Vorliebe für eben diese Franzosen und
nicht w^eniger seine Strenge gegen die Unterthanen die meisten Deutschen ab.
Freilich auch die auf Joseph II übertragenen Hoffnungen wurden getteuscht. So
blieb jenes Weltbürgertum,'' zu dem sich Leibnitz schon bekannt hatte, der
Trost unserer edelsten Geister. Sie begrüssten die franzoesische Revolution als
Befreiung der Menschheit, und selbst als sie sich greuelvoll entwickelte und
verheerend auch Deutschlands Gränzen erst überschritt, dann mehr und mehr ein-
engte, fehlte es nicht an Stimmen, welche schadenfroh ihr zujubelten.'- Unter-
dessen Hess die Menge des Volkes, welche mit ihrer Liebe nie über die Gränzen der
einzelnen Staaten hinausgegangen war,'^ stumpfsinnig Alles über sich ergehen.
brav seiu sollen: wir haben uns ja für die Religion, für Sie und das Vaterland geschlagen.'
9) K. Biedermann. Deutschland im 18. Jahrhundert. Leipzig 1854—80, IV. 10) Die Folter:
die Todesstrafe für Kindermürderinnen; die Leibeigenschaft: alle diese Überlieferungen
werden auch durch die poetische Litteratur bekämpft. 11) Die Hamburger Wochen-
schrift 'der Patriot' 1724 (§ 140, 33) zeigte auf dem Titel den Kopf des Sokrates mit der Über-
schrift Tosmopolites oder zu Teutsch : deT Weltbürger'. 12) So besonders in den ehemals
geistlichen Herrschaften und den Keichsstadteu. 13) Ja auch als ünterthauen fremder
Herrscher hatten selbst deutsche Dichter sich wenigstens gerühmt: Gerstenberg als Diene, Pfeffel
200 NEUIIoniDElTTSCnE ZEIT. XVIII JA KIM F. § 13!)
Bei der anschoinonden Unmocglichkeit , die politischen Verhältnisse
Deutschlands von innen heraus umzugestalten, hielten die liesten fest an der
lluniauitset. Der Einzelne sollte um so freier seine eigene Bildung vollen-
den, je weniger er durch confessionelle, staatliche, ja nationale Pflichten in
Anspruch genommen war.'* Alle Völker, alle Bekenntnisse sollten sich in
rein menschlicher Gesinnung zusammen finden, so wie man glaubte, dass die
Natur überall die gleichen Anlagen, die gleichen Rechte verliehen habe.''^
Jeder fühlte sich auf sich gestellt und berechtigt auch seine Angelegenheiten
selbst zu ordnen; nsechstdem aber ward die Familie weit wichtiger als was
das Herkommen in Staat und Kirche forderte. Das Herz ward der Gesetz-
geber des Thuns und Lassens, Empfindsamkeit sein Stolz. Daher die vielen
Selbstbekenntnisse dieses Zeitraums,'" die wie Kousseaus Confesaions (von
1781 ab) auch die innersten Empfindungen, die geheimsten Triebfedern eigner
Thaten zu enthüllen suchten. Daher die innigen Freundschaften, die Besuche
und Briefe, welche auch ferner stehende verbanden. Und mit Recht suchte
man, gleichfalls nach Rousseau {Emile 1762) die Erziehung zunaech.st des
Einzelnen auf die Bildung des Charakters, auf die Entwickelung des Willens
zu bauen und sah in der Erziehung eine der wichtigsten Aufgaben,'" die
auch für das niedere Volk '^ auf das ernstlichste in Angriff zu nehmen sei.
Der Grundzug des Zeitalters und seine Entwickelung spiegelt sich in
der Litteratur genau wider: bot sie doch hauptsächlich die Mittel dar,
durch welche die gewünschten Verbesserungen herbeigeführt werden sollten.
Auch für die Litteratur ward, und zu ihrem grossen Gewinn, die Prüfung
aller Überlieferung auf ihre verstandesgema>sse Berechtigung hin eine drin-
gende und beständig wiederholte Forderung. Kritik ward das Losungswort,
welches in freilich erst allmaehlich wachsender Stärke der Bedeutung immer
wiederkehrt.'-* Sie hat die hervorbringende Thfetig^eit mehrmals nicht nur
als Franzose, Kosegarten als Schwede in Poiiiniern. Die Hannoveraner waren besonders stolz
auf ihre Verbindung mit England. 14) Sibillers Ankündigung der Hören scbliesst Alles
aus, was auf Staat, Kirche und Verfassung Bezug bat. Vgl. auch ilie Abhandlung von W. v.
Humboldt § 164, 22. 15) Daher die Begeisterung für die wilden V^ölker, das Interesse
für die Reisebeschreibungen. 16) S. u. a. Jung-Stilling, Voss, Moritz, Brandes, Bronuer:
mit dem weitesten Gesichtskreis G(rthe. 17) Das Carolinum in Braunschweig, das
Fhilanthrupin in Dessau, die Anstalten von Pfetfel in Colniar, von Salis in Marschlins, von
Salzmann in Schnepfenthal. 18) In der Mark war hiefür der Freiherr von Rochow
thietig (Teutscher Merkur 1778), besonders aber Pestalozzi in der Schweiz (§ 1641
19) (nittscheds 'Critische Beytra;ge' u. a. Besonders die Schweizer gebrauchen das Wort
mit Vorliebe: Boilmer dichtet sogar critische Lobgedichte' und ruft darin die Gottin Critica,
I
§ 13!) KRITIK IN DER LITTERATUR. 201
geleitet, sondern angeregt.^" Ihr ist es zum guten Teil zu verdanken, dass
die Litteraturgeschichte dieses Jahrhunderts keinen Rückgang aufweist, wie
noch in seinem Anfang Gottsched und seine Gegner auf Opitz zurückgreifen
mussten, dass sie vielmehr mit immer kühneren Schritten aufsteigend zuletzt
auf den Gipfel der Vollendung gelangte, welclien zu erreichen unserer Dichtung
bis jetzt überhaupt bestimmt war.
Auch die Kritik stand allerdings unter dem Einfluss der Lebren und
Muster des Auslandes, teilweise auch der Vergangenheit. Nur zeigte
sich in deren Wahl und Würdigung ein bestcändiges Wachsen des deutschen
Geistes. Waren es anfangs die franzoesischen Classiker, die man eng an-
schliessend nachahmte,-^ ^ so traten frühzeitig englische Vorbilder^'-^ daneben,
zunsechst noch solche, die gleichfalls sich an die Franzosen anlehnten.-^ Neuerer
in der französischen Litteratur und mehr noch englische Dichtungen aus
älterer Zeit führten weiter und zu freierer Nachbildung. Gleichzeitig bahnte
sich auch ein tieferes Verständnis der griechischen und roemischen Kunst und
Kunstlehre an.^* Homer trat über Vergil und dessen neuere Nachahmer,"^
Sophokles und Shakespeare wurden an die Stelle von Corneille und Racine
gesetzt. Die franzoesischen Kunstvorschriften erwiesen sich als missverstanden
an. Wie hoch denkt Lessing von der Kritik im Bekenntnis am Schluss der Dramaturgie!
Und wie gross erscheint das Wort in Kants drei Hauptwerken ! Zu Grunde liegt übrigens
der Gebrauch des Ausdrucks in Bayles Dictionnaire critique. 20) Wie sehr die Zeit-
genossen davon überzeugt waren, moegen zwei Stellen aus Hallers Tagebuch (§ 147, 39)
beweisen. 1748 (1, 40) sagt er 'Wir sind versichert, die Künste und die Poesie sind eben
vorzüglich darum in Deutschland noch minder hoch als in den angränzenden Landen gestiegen,
weil man mit dem mittelm»ssigen so viel Geduld gehabt und seine Hochachtung zu leicht
gegeben hat.' 1777 (2, 189) 'Ohne die Kritik wird keine Nation jemals das Übergewicht
in Werken des Witzes erhalten. Und es ist sehr wahrscheinlich dass die wenige Aufnahme
der Dichtkunst in den hundert nach Opizen verflossenen Jahren den Mangel der wahren
Kritik zur vornehmsten Ursache habe.' 21) Diese hielt von Neuem den Deutschen
vor um sie zur Bescheidenheit zu mahnen, Eleazar Mauvillon, Sprachlehrer zu Leipzig, in
seinen Lettres frawjaises et germaniques 1740, wogegen sich Schwabe in den Belustigungen
des Verstandes und AVitzes 1, 282 wandte, wahrend Bodmer die Briefe durch Übersetzung
noch verbreitete. 22) Auf solche wies Voltaire hin: Lettres Anglaises ou Lettres
phüosophiques 1730. Schon vorher hatte in der Schweiz Muralt in seinen Lettres sur les
Anglais et les Frangais 1725 die Engländer vorgezogen; ihm folgte Haller. 28) Addison,
Pope, Thomson. Vgl. M. Koch in den Verhandlungen der Philologenversammlung zu Gör-
litz 1890. 24) Dazu wirkte wesentlich mit das Studium der bildenden Kunst (Winckel-
mann § 156). 25) Noch Haller setzte Vergil über Homer, freilich aus Gründen der
Sittlichkeit (^Tagebuch 1, 263). Sulzer fand sogar Pope dichterischer als Homer (ebd. 2, 43).
292 NICUJIOCHDELTSCIIH ZEIT. XVIII JAIIUII. § 130
und un/.uliinglicli.-" Der Sinn für Poesie wurde als eine gemeinsame (Jiibo
aller Nationen erkannt und die Sclurnheit auch der kunstlosen, nicht von der
Regel, sondern von der Begeisterung beherrschten Dichtung empfunden. Es
trat der Gegensatz der Naturpoosie,'-' der Volkspoesie zur Kunstpoesio des
Einzelnen an das rechte Licht: als Aufgabe des modernen, des deutsclien
l^ichtcrs erschien es Natur und Kunst zu verbinden , sein eigenes Denken
und Dichten mit dem des Volkes in Einklang zu bringen. Aus dieser
Verschmelzung der Weltcultur und der deutschen Volksart gingen
Werke von wahrer Vollendung, von hoechstem Wert für alle Zeiten und
nicht nur für die deutsche Nation hervor. Ja es zeigt sich die Anerkennung
dieser Fortschritte schon im achtzehnten Jahrhundert darin, dass nach einigen
misslungenen Versuchen -^ doch die bisherigen Träger der Weltlitteratur, die
Franzosen" und Engländer,^" zur Beachtung der deutschen Dichter veran-
lasst werden konnten und die kleineren germanischen Nationen, die Holländer^'
und Nordländer,^- geradezu deren Nachahmer geworden sind.
Die allmsehliche Entwickelung der deutschen Litteratur im achtzehnten
Jahrhundert lässt doch gewisse Abschnitte erkennen, innerhalb deren die
neujrewonnenen Anschauungen sich entfaltet und wirksam erwiesen haben.
Der erste Abschnitt, bis 1740, zeigt ein bewusstes, ernstes Streben die
26) Die Xachahmung der franzoesischen Muster bekämpfte selbst ein Franzose, Premontval.
Über die Gallicomanie, Berliner Akad. 1759, übersetzt in Herders Humanitsetsbriefen 110.
27) Über die allmsebliche Würdigung des Volksliedes s. Erich Schmidt, Charakteristiken
S_ 2.S4. 28) Gottsched entlockte Voltaire einige hipfliche Wendungen (§ 148, 12):
Bodmer Hess ohne Erfolg Hallers und Klopstocks Dichtungen in das Franzoesische über-
setzen (§ 122, 41V Der Curator der preussischen Universitäten, J. F. von Bielfeld schrieb
(anonym) Progr'es des AUemands dans les sciences, les heiles lettres et les Ärts, Amsterdam
17.Ö2. Sturz bemerkte jedoch 1768 dass die Franzosen mit deutscher Litteratur wenig
bekannt seien. 29) Auf diese wirkten besonders die Deutschen in Paris: Melchior
Grimm (§ 14U, 13. 148, 48), Michael Huber (§ 150, 84), Franz Leuchsenring (§ 160, 4.5),
alle im Kreise Diderots lebend; von Franzosen waren Marraontel, Dorat. Chamfort, Chalier
(von diesem Theatre AUemand 1770^ als Übersetzer thfetig. Ein Jotcrnal iCtranger
erschien zu Paris 1754—62 : Leuchsenrings Journal de lecture 1775 — 79. vgl. zuletzt
Schnorrs Arch. XIV. 143. Am meisten wurden begreiflicher Weise die deutschen Prosa-
werke gewürdigt: Gessners Idyllen, Goethes Werther. Vgl. Ch. Joret, Des rnpports
inteUectuels et litteraires entre la France et l'AUemagne. Paris 1884; Th. Süpfle, Geschichte
des deutschen Kultureinflusses auf Frankreich, I. II 1, Gotha 1886. 88. Für Italien 8,{
Th. Thiemann. Deutsche Kultur und Litteratur des 18. Jahrhunderts im Lichte der zeit-
genössischen italienischen Kritik, Oppelu 1886. 30) In England ward erst Bürger!
durch W. Scott u. a. eingeführt: § 158. 28. 81) Vgl. CG. Kakebeen, De invloed
der duitsche ktteren op de Xederlandsclie . Culemborg 1888. 32) Baggesen § 162.
§ 139 ABSCHNITTE. 293
deutsche Litfcratur von ihren schlimmsten Auswüchsen zu befreien, sie neu
zu pflanzen, zusammen zu halten und in beständiger Yergleichung mit den
angesehensten Mustern des Auslandes weiter zu führen. Der zweite Ab-
schnitt, bis 1770, kann füglich als das Zeitalter Friedrichs des Grossen be-
zeichnet werden, dessen grosse Kriege in diese Zeit fallen: der Geist seiner
Regententhsetigkeit und selbst seiner persoenlichen Neigungen herrscht auch
in der Litteratur dieser Zeit, Verstand und Willensstärke, hohe Begeisterung
und doch wieder ein Spiel mit weichen Gedanken und zierlichen Formen. ^^
Der dritte Abschnitt, bis zum Ende des Jahrhunderts und noch etwas
darüber hinaus, eine Zeit des langen Friedens, dann des auswärtigen Krieges,
wendet sich vom Staate so ab wie der vorhergehende von der Kirche und
strebt nach der Erfüllung der rein menschlichen Ideale, welche in den Kunst-
formen der Griechen, in der Eigenart des deutschen Yolksgeistes gesucht
und gefunden werden. Diese Abschnitte sind von einander getrennt durch
heftige Kämpfe, zu denen allerdings verschiedene Anlässe führten. Den
ersten Abschnitt beschloss die Entzweiung der bis dahin einträchtigen Führer
der Litteratur, welche deren bisherigen Anhänger freiere, eigene "Wege be-
treten liess, ja durch die Anstoessigkeit des Haders dazu veranlasste. Tiefere
Gründe und ein weniger persoenlich , aber sachlich um so heftiger geführter
Kampf war es, der um 1770 die Jugend von der älteren Generation schied.
Aus der Beseitigung der bisherigen, franzoesischen Regeln ging das Bestreben
hervor, alle Regeln abzuwerfen und die scheinbare Gesetzlosigkeit der älteren,
der volkstümlichen Dichtung nachzuahmen: erst eine tiefere Auffassung lehrte
hier die innere Gebundenheit bei seusserlicher Freiheit zu verstehen imd der
Kunstdichtung selbst wieder anzueignen. Mit einem heftigen Kampfe, zu
welchem sich die beiden Hseupter unserer Dichtung verbündeten, um die
zurückgebliebenen Vertreter überwundener Vorstufen zu verdrängen,^* endigte
auch beinahe das Jahrhundert: fortan blieb wenigstens für die kritische
Beurteilung das Mass der hcechsten Leistungen fest und immer wieder leicht
zur Geltung zu bringen.
§ 140.
Indem so die Litteratur des achtzehnten Jahrhunderts an Wert und
I mfang beständig zunahm, war sie freilich bei jedem Fortschritte der Auf-
lassung derer, auf die sie wirken wollte, voraus und musste diese erst an
ilo) Auch das Interesse des Auslands für deutsche Litteratur in dieser Zeit (Anni. 28. 29)
knüpft zum guten Teil an Friedrich und seine Landesangehcerigen an. 34) Goethes
und Schillers Xenien 1796.
294 NEUIIOCllüEUTöCJlE ZEIT. XYllI JAlllüI. § UO
sich ziclin und nacli sich zichn. Noch lange warcn nur einzelne Kreise ihr
gewonnen, die Menge auch in den mittleren und hocheron Ständen blieb von
den alten Vorurteilen, vor allem den confessionellen befangen. Daher nah-
men die katholischen Teile Deutschlands erst im letzten Drittel des Jahr-
hunderts Anteil an der neuen Littcraturbewegung; aber auch in den pro-
testantischen gewann sie nur langsam eine breitere Bahn, obschon hier
teilweise an eine ältere littcrarische Thaetigkeit angeknüpft werden konnte.
So in Sachsen und in Hamburg.' Dazu kam von Anfang des Jahrhunderts
an die Schweiz,'- insbesondere Zürich. Die Richtung der schweizerischen
Schriftsteller fand Aufnahme und weitere Pflege in Ilallc'^ und Berlin, während
die sächsischen Diclitcr zum Teil nach Braunschweig* und Kopenhagen^
übersiedelten. Halberstadt ward durch Gleims [)ersa'nliche Bemühungen^ Js^'gcn
1770 zum Sammelplatz jüngerer Dichter, während gleichzeitig die Universitaet
Göttingen und andererseits Frankfurt und der Überrhein je einen Kreis von
Jünglingen vereinigten, welche gemeinsame litterarische Ziele verfolgten. Bald
darauf aber nahm Weimar unter Herzog Karl August den anerkannten Vor-
rang unter den Heimstätten deutscher Dichtung ein, als Wieland,
Goethe, Herder, Schiller und eine Anzahl geringerer Kräfte sich dort zu-
sammen fanden.
Dem gelehrten Grundzug aller neueren Litteratur entsprechend waren
die Universitseten mehrmals und gleich zuerst die Ausgangspuncte der
neuen Litteraturbewegungen. So pedantisch auch waehrend des ganzen Jahr-
hunderts die Lehrform, schon wegen des noch immer für vornehmer gehal-
tenen Gebrauches der lateinischen Sprache''* war und bleiben musste, so lange
§ 140. 1) F. AVehl, Hamburgs Litteraturleben des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1856, jetzt
nifht mehr ausreichend. 2) J. C. Mopiikofer, Die schweizeiisehe Litteratur des acht-
zehnten Jahrhunderts, Leipzig 1861. J. Bschtold, Geschichte der deutscheu Litteratur in der
Schweiz, Fraueufeld 1892. Auch in litterarischer Hinsicht verbanden sich die bisher,
thseticren Kreise zu der 'Patriotischen Gesellschaft', welche in Schinznach zuerst 1762 zu-j
sammen trat. 8) W. Kawerau, Aus Halles Litteraturleben, Halle 1888; ders. Aua
Magdeburgs Vergangenheit. Halle 1886. 4) Schiller, Braunschweigs schoene Litteratur!
in den Jahren 1745 bis 1800, Wolfenbiittel 1845. 5) Hier befanden sich 1763 Klopstock,|
J. A. Gramer, Funck, Resewitz, J. H. Schlegel: J. E. Schlegel war zuerst, 1743, hier ein-
getroffen. 6) Gleims Verhalten stand nicht allein. AVolthietig gegen jüngere DichterJ
hatte sich si-hon Hagedorn erwiesen, den Kabener (Hagedorns Werke 5, 71) 'einen liebreicheal
Vormund der witzigen und notleidenden Köpfe in Sachsen' nennt: Bodmer nahm Klopstock,J
dann Wieland gastfreundlich auf. Kleist unterstützte Ramler, Nicolai, Voss; F. Jacobi undj
GoBthe thaten viel für ihre litterarischen Freunde. 6a) Haller bedauert die Abschaffung]
§ 140 HEIMSTÄTTEN ÜER DICHTUNG. 295
die Einpraegung von massenhaften Kenntnissen als Hauptsache galt; so roh
ferner auch das Leben der Studenten noch im Allgemeinen sich darstellte/
so war doch hier am ersten noch der Boden für dichterische Bestrebungen
empfänglich, sei es dass wie früher die Professoren, sei es dass Studierende
selbst im Verein sich um deren Pflege bemühten. Ersteres geschah nament-
lich da, wo zum Teil im Anschluss an frühere Dichtergesellschaften (§ 124)
sich litterarische Vereine bildeten.^ Für dichterische Vereine Jüngerer waren
Leipzig, spseter Göttingen mit seinen neuzeitlicheren Formen (die Universitset
war erst 1737 gegründet worden) und mit seinem frischeren Geiste günstig;
zuletzt, und freilich ganz am Wendepunct des Jahrhunderts, nahm Jena den
ersten Rang ein, wo die Philosophie Kants zuerst vor einem groesseren und
aus allen Gegenden Deutschlands zusammengestrcßmten Hcererkreise vorge-
tragen wurde und sofort eine Reihe von Weiterbildungen erfuhr.
Es tauchte wiederholt der Gedanke auf die Pflege der deutschen
Sprache und Litteratur durch eine Akademie nach dem Muster der fran-
zoesischeu gefördert zu sehn: allein die Berliner Akademie besann sich erst
nach dem Tode Friedrichs 11 auf diese ihr von Leibnitz gestellte Aufgabe,^
und die Versuche Gottscheds 1749 und Klopstocks '° gegen 1770 in Wien
die Stiftung einer Akademie anzuregen schlugen ebenso fehl als ein ähnlicher
Vorschlag Herders 1787 bei dem Markgrafen Karl Friedrich von Baden*'
unausgeführt blieb.
Denn die Hoefe waren mit wenigen Ausnahmen noch weniger als
früher geneigt die deutsche Dichtung zu unterstützen: ging doch von ihnen
hauptsächlich der freiHch auch bis weit in die bürgerliche Gesellschaft *^ ver-
des Lateinischen als Gelehrtensprache: Tagebuch 2, 186. Dagegen tritt wie Klopstock so
auch Herder begeistert für die Muttersprache ein und setzt schon 1764 das Latein herab:
Haym, Herder 1, 25 fgg. 7) Dichterisch ward das Studentenleben, freilich sehr ver-
schieden, behandelt in Pyras Bibliotartarus, in Zacharises Renommisten, in Goethes Faust,
in Kortums Kandidat Jobs; die Wirklichkeit gibt am derbsten Laukhard gegen Ende des
Jahrhunderts wieder. 8) Vgl. § 148, 9. 9) Von K. Ph. Moritz (§ 164) erschienen 1793
'Beitraege zur deutschen Sprachkenutniss, vorgelesen in der königl. Akademie, 1. Sammlung';
auch von anderen Mitgliedern Aufsätze von geringem Belang. 10) § 148. Danzel, Gottsched
306, vgl. auch ebd. 315 (Dresden) § 152, .56. 11) Haym, Herder 2, 487. 'Ideen zum
ersten patriotischen Institut für den Gemeiugeist' d. h. für Sprache Geschichte und thietige
Philosophie: in Suphans Ausg. 16, 6U0 aus Herders Adrastea wiederholt. 12) Von der
Geselligkeit in Hannover schreibt Zimmermann 1769 (bei Bodemann S. .57) 'Kein anderes
Wort wird gesprochen als franzfüsisch, auf franzcesisch wird coquettirt, auf franza-sisch wird
gescherzt, und auf franzoesisch geküsst'. F. C. Gramer, Klopstock in Briefen an Tellow 1, 94 sagt
296
NEUIIOCIIDEUTSaiE ZEIT.
XVllI JAIIKII.
§ 140
breitete Gebraucli dos Franzcpsischcn für allen feineren Verkehr aus.'*'' Wohl
bestand zu Anfang des Jahrhunderts noch die Anstellung von Ilofdichtcrn
an manchen Hafen (§ l'i<>), aber die alte Autfassung, welche in ihnen nur
einen Teil, und einen sehr nebensächlichen, des Hofgesindes sah, machte
eine weitere Entwickelung der deutschon Diclitung von ihnen aus unmopglich.
Erst als hochherzige Fürsten Dicliter ohne solche persccnliche VcrpHichtungcn
an sich zogen und unterstützten, wie Friedrich V von Dänemark Klopstock
berief, war die Würde der Dichter gewahrt, ja in den Augen der Zeit-
genossen hoch erhoben. Am vorteilhaftesten für die schoene Litteratur ge-
stalteten sich die Verhältnisse, wenn die Fürsten dichterisch begabte Männer
als Beamte in ihrem Jiande anstellten, wie Herzog Karl von Braunschweig
an das von ihm 1746 gestiftete Carolinum Berufungen in diesem Sinne er-
gehen Hess, spaeter Lessing zum Bibliothekar in Wolfenbüttel ernannte; wie
selbst ein Landesherr von so geringen Mitteln wie Graf Wilhelm von Lippc-
Öchaumburg erst Abbt, dann Herder zu sich berief; und wie spater Karl
August die ersten öchriftsteilcr der Nation um sich versammelte: das Amt
Hess sie unabhängig erscheinen und gestattete doch ein wahrhaftes Freundes-
verhältnis zwischen Fürst und Dichter.'^
Mit tiefem Schmerze empfanden es alle Freunde der deutschen Dich-
tung, dass der groesste Fürst des Jahrhunderts, dass Friedrich H sich nicht
nur kalt, sondern selbst ungerecht gegen die deutschen Dichter erwies,'^
Die begeisterten Lobgedichte seiner Landeskinder lohnte er karg und ver-
1777 'In vielen der feinen Societaeten in Hamburg ist unsere arme Frau Muttersprache gänzlich
proscribiert, es gibt junge Herren die auch ihre Namen auf franzoesisch aussprechen.' Ins-
besondere wurde auch der briefliche Verkehr vielfach, z. B. von Haller, so gut wie aus-
schliesslich franzoesisch geführt: wogegen Gottsched eiferte § 148, 14. Er fragt Grit. Beytr.
IV. .093 'Ist es nicht Thorheit dass man die Aufnamen [Addresse] eines Briefes ohne Unter-
schied auf franzoesisch verfertiget?' Vgl. G. Steinhausen, Geschichte des deutschen Briefes,
Berlin 1889. 91. 2. 29 fgg. 13) Ausser dem Berliner Hof unter Friedrich II war der
zu Gotha besonders franzu'sigch: für ihn zunächst berichtete Melchior Grimm (§ 148, 48) über
die neuen litterarischen Erscheinungen in Paris: Correspondance litteraire, poUtique, critique,
addressee ä un souverain d' Allemag ne par Grimm et Diderot, Paris 1812. 1813. StippUment
1814. Neue Ausgabe 1829. Auch der Hof zu Kassel war unter Landgraf Friedrich II 1760—85
fanz franzoesisch: Lynker Geschichte des Theaters und der Musik in Kassel hg. v. Köhler,
Kassel 1865. 14) Das erhabenste Denkmal dieser Verbindung ist die Fürstengruft in
Weimar, wo Karl August und Luise .'on Sachsen-Weimar neben Goethe und Schiller rnhn.
15) H. Pröhle. Friedrich der Grosse und die deutsche Litteratur^ Berlin 1878. G. Krause,
Friedrich der Grosse und die deutsche Poesie, Halle 1884. A. Berger, Friedrich der Grosse
§ 140 VERHALTEN DER IICEFE. 297
letzend; er wollte Lessing iu Berlin nicht halten, er vorwarf Groethes Erst-
lingsdichtung. Seine Schrift de la litterature Ällpuiandc 1780'*' rief freilich
Widerspruch genug hervor; '^ aber erst der Nachfolger Friedrichs suchte,
nun schon zu spaet, wenigstens den einheimischen Dichtern Genugthuung
zu geben.
Auch Joseph II tauschte die Hoffnungen der deutschen Schriftsteller. Vor
allem geriet die um 1770 begonnene Berufung deutscher Gelehrten nach Wien
bald ins Stocken, zum Teil durch ihr eigenes Verschulden, weit mehr aber
durch die confessionellen Vorurteile seiner Umgebung. So war es denn auch
nur eine kurze Gunst, welche die Kurfürsten Karl Theodor von der Pfalz um
1775 und Friedrich Carl Joseph von Mainz '^ um 1786 der deutschen Litte-
ratur erwiesen: jener ward durch seine Übersiedelung nach München 1778,
dieser durch die franzcesische Invasion 1792 auf andere Bahnen gedrängt.
Die Dichter traten den Hoefen gerade in der zweiten Hälfte des Jahr-
hunderts vielfach dadurch nseher dass sie den Adel erhielten'^ und so der
übrigen Hofgesellschaft auch seusserlich gleich gestellt wurden. Innerlich war
eine enge Verbindung schon durch die lebhafte Teilnahme hergestellt wor-
den, w^elche die Frauen jetzt wieder der Dichtung und den Dichtern zu-
wandten. Von den Fürstinnen war es namentlich Karl Augusts Mutter,
Anna Amalia,'-" eine braunschweigische Prinzessin, welche ebenso einsichtsvoll
als liebenswürdig solche Gunst übte. Aber auch sonst haben damals vor-
zügliche Frauen des Adels oder der bürgerlichen Kreise die Trseger der
Litteratur durch Verständnis und Begeisterung für ihre Werke gefördert^'
nnd die deutsche Litteratur, Bonn 1890. 16) Neudruck durch L. Geiger in Seufferts Lit.
denkm. 16, Heilbronn 1883. Vgl. Suphan. Friedrichs des Grossen Schrift über die deutsche
Litteratur, Berlin 1888. 17) Gegenschriften von Jerusalem, 3Iceser (§ 156), Leo Gomperz,
Lettre sur la langue et la lüterature Alhmande relative ä Vouvrage De la litterature Allemande
(Danzig 1781), die einzige welche Friedrich beachtete. Goethe gedachte zu erwidern, gab
aber den Plan auf. Sein Urteil von 1782 steht in den Briefen von und an Merck S. 258.
Klopstocks Ode gegen Friedrichs Schrift § 152, 41. 18) Schon unter Emmerich .Joseph
war wenigstens an der Erfurter Uni versitset Einiges für deutsche Schriftsteller geschehen: spseter
hatte der Coadjutor Karl von Dalberg in Erfurt Schiller viel Freundlichkeit erwiesen: Boxberger,
Erfurts Stellung zu unserer classischen Litteraturperiode, Erfurt 1869. 19) Haller (dieser
freilich mehr wegen wissenschaftlicher Verdienste), Gcethe, Herder, Schiller, und zahlreiche
andere Schriftsteller, Dohm, Göckingk, Hippel. Klinger, Kotzebue, Matthisson, J. Müller,
Nicolay, Sonnenfels; zum Spasse Kurz § 145, 28. Bürger dichtete dagegen ein stolzes Epi-
gramm 'Auf das Adeln der Gelehrten'. 20) Sie war eine Nichte Friedrichs des Grossen;
seine Schwester, die Koenigin Ulrike Louise von Schweden verehrte Haller, welcher ihr 1762
die 9. Auflage seiner Gedichte widmete. 21) Schon die Moralischen Wochenschriften
298 NEUJlOCIlDErTSCJIK ZEIT. XVIII JAIIKII. § 140
und sind in diesen Werken selbst durch anziehende Bilder solcher Verhält-
nisse verewigt worden. Auch au dichtenden Frauen fehlte es nicht , doch
sinil sie grossentcils durch ihre Verbindung mit den Schriftstellern zu dieser
litterarischen Bethatigung gekommen.'--
Schon um die Mitte des Jahrhunderts hatte sich übrigens der Kreis
der Dichter dadurch erweitert, dass AngohoDrigc des Kriegerstandes '^'
und Kaufleute'-* sich an der Litteratur beteiligton. Es war Berlin, wo
diese neuen Elemente des Schriftstcllcrstandes zucr.st hervortraten und Lossing
hat sie besonders gefördert. Die schriftstellerische Tluctigkcit des Buch-
händlers Nicolai, dem sich spater Andere-^ anschlössen, hat auf die Aus-
breitung der Litteratur einen unbestreitbaren Einfluss gehabt: schon die Be-
schränkung des mit dem Wachsen der Litteratur ebenfalls anwachsenden
Nachdruckes-'' konnte durch diese Verbindung um so leichter durchgeführt
werden.
Noch ein Stand wurde zur littcrarischcn Mitarbeit herangezogen, der
dazu schon durch seinen künstlerischen Beruf manchen Vorteil mitbrachte.
Schauspieler begannen auch selbst Schauspiele zu dichten, nicht nur für
die Aufführung, denn das war ja schon bei den Schauspiclerdramen der
Fall gewesen, soudern für den Druck. Es war dies die Folge der raschen
Entwickelung, welche zu dieser Zeit das Theater von der niedrigsten Stufe
(Anm. 34) sind besonders darauf bedacht den Frauen zu gefallen und auf ihre Erziehung
einzuwirken. 22) Die Frauen Gottscheds, Langes, Klopstocks, Vvnu. La Roche, die
Schwestern Stolberg, Frau von Stein, Schillers Schwaegerin Karoline u. a. Dagegen
waren die Neuberin und die Karschin selbständig zu ihrer dichterischen Thaetigkeit ge-
kommen. 23) Ch. E. V. Kleist, der allerdings 1745 noch schreiben musste 'Unter Offizieren
ist es eine Art Schande ein Dichter zu sein' (Sauers Ausg. 2, 22). Spieter kam v. Knebel
dazu, auch Blankenburg; auswärts Gerstenberg, Ayrenhoff. 24) Nicolai, Mendelssohn.
25) Bode in Hamburg, Campe in Braunschweig, Bertuch in Weimar. 26) Über
die bedeutendsten Nachdruckfirmen lim 1775 s. K. Buchner, Wieland und die Weidmannsche
Buchhandlung, Berlin 1871 S. 8 fgg. Es sind besonders Geschäfte in Reutlingen, Schwabach,
Karlsruhe, Bamberg: früher war selbst Leipzig beteiligt, spteter noch Wien und Prag.
Dagegen suchten die Schriftsteller sich durch Selbstverlag auf Prsenumeration zu schützen,!
meist mit schlechtem Erfolg: so erschien Lessings Dramaturgie, Goethes Götz; Klopstocka
Gelehrtenrepublik hatte eine grosse Zahl von Subscribenten, verdarb aber die Stimmung dea
Publicums. Auch Wieland verlor viel Geld durch eine 'Buchhandlung der Gelehrten' inl
Dessau. Vgl. Herder in Suphans Ausgabe 12. 401. 447. Doch erschien noch die Odyssee von
Voss auf diese Weise. Bürger veröffentlichte einen 'Vorschlag dem Büchernachdruck zaj
steuern' im D. Museum 1777 S. 435. Juristisch erörterte die Frage Pütter, Über den Bücher-
nachdruck 1774. Kant folgte 1784: 'Von der Unrechtmaessitckeit des Büchernachdrucks'.j
I
§ 140 ERWEITERUNG DER SCIIRTPTSTELLERKREISE. 299
zur Kunstvollcndung empor führte. ^^ Hatte Gottsched den Anspruch der
gelehrten Dichtung auf die Bühne zur Geltung gebracht, so machten J. E.
Schlegel in Kopenhagen und für Deutschland massgebend Lessing in Ham-
burg^** geltend, wie notwendig es sei, die Principalschaft bei den Truppen
zu beseitigen und die geschäftliche Seite des Unternehmens von der künst-
lerischen zu trennen. Der Gedanke des deutschen National theaters ward
seit 1767 in verschiedenen Staedteu mit verschiedenem Erfolge zur Ausführung
gebracht, auch die lioefe, zunsechst die zu Gotha und Weimar,^'*" nahmen
deutsche Schauspielertruppen in ihre Dienste. Diese Neuerungen vollendeten,
was die Achtung vor den steigenden Kunstleistungen und was das ernste
Streben der Einzelnen nach edler Haltung im bürgerlichen Leben und in der
Geselligkeit^^ angebahnt hatte. Der Schauspieler erschien in der Gesellschaft
völlig gleich berechtigt, ja durch poesievolle Darstellungen seines Standes^"
noch besonders gehoben. Dass die Schauspieler nun auch zum Schauspiel-
dichten sich entschlossen, war zugleich durch das immer wachsende Bedürfnis
der Bühnen nach neuen Stücken veranlasst.
Wenn durch die Errichtung stehender Bühnen die Wirkung der neu
gehobenen Dichtkunst eine wahrhaft volkstümliche wurde, so diente, und
zwar von Anfang an, noch ein anderes Mittel zur Verstärkung des Einflusses,
den die Litteratur auf immer weitere Kreise übte : die Bildung immer
neuer, immer besserer Zeitschriften.
Yon diesen überschritten den engeren Kreis der Gelehrten, an welchen
sich noch die Monatsgesprseche von Thomasius^' gerichtet hatten, zuerst die
moralischen Wochenschriften nach dem Vorbild des englischen Tatter
und SjJectator.^^ Die ersten eng anschliessenden Nachahmungen erschienen
Aber noch Jean Paul hatte 'Sieben Worte' gegen den Naehdruck zu richten. 27) Vgl.
im Einzelnen § 14ij. 28) Die Hamburger Unternehmung war allerdings durch Loewen
und Andere ins Werk gesetzt worden. 28a) Hier bestand schon 1757—58 eine Truppe
unter Leituntr und auf Kosten des Hofes: Wähle, Das Weimarer Hoftheater unter Goethes
Leitung .S. 10. 29) Schon die Veltheimin, dann die Neuberin hatten das Zeugnis einer
anstündigen Lebenshaltung sich erworben: über letztere s. Mentzel, Theater in Frankfurt
S. 169. Dann war Ekhof mit den Bürgern in Hamburg, Schrueder auch mit dem Adel in
Hannover in nächste Verbindung getreten. 30) Vor allem durch Goethes Wilhelm
Meister. Aber schon dass die Selbstbiographien dieser Zeit (§ 139, 16) zum grossen Teil
von Schauspielern herrühren, zeigt die Neugierde der Leser für ihre Schicksale. Vgl. auch
Schropders Leben und die Mitteilungen der Caroline Schultze (§ 160, 68). 31) § 138, 12.
32) Von Steele und Addison herausgegeben: The Tatler 1709—11, The Spectator 1111— 12;
es folgte The Guardian 1713. Auch ins Deutsche übersetzt, der letztgenannte als 'Der ge-
300 NEUIIOCIIÜEIJTSCIIE ZEIT. XVIII JAIIUII. § 140
in llanil)urg:^'' der Vcrniinftler 1713 — 14, und andere, darunter besonders
eingreifend, aber auch vielfach angcgiiffen 'Der Patriot' 1724 — 2(J. Inzwisclien
waren andere Städte nachgefolgt,'^ zuna^chst Zürich, wo 1721 'Die Discourse
der Maler' von Bodnier erscliienen, später namentlich Leipzig, wo Gottsched
1725 Die vernünftigen Tadlerinnen', 1727 den Biedermann' herausgab.
Schon frühzeitig miscliten sich religiuise, besonders pietistische oder aufkla)-
rungsfreundliche Absichton in die Moral der Wochenschriften; auch gemein-
nützige Zwecke wurden erstrebt, öfters naturwissenschaftliche Belehrung
erteilt. Den niedrigen littcrarischen Standpunct, den die meisten Wochen-
schriften einnahmen, machte vor allem Lessing klar;^'' er übte an dem
'Nordischen Aufscher'' von J. A. Cramer ein einigcrmassen abschreckendes
Strafgericht aus.^*"' Die Thaten Friedrichs des Grossen weckten auch im
Bürgerstand die Teilnahme an den politischen Ereignissen und so entzogen
die politischen Zeitungen-^" den moralischen den Boden, namentlich indem
sie durch ihre Beigaben den Inhalt jener in sich aufnahmen.
Unter den Gegenständen , welche die moralischen Wochenscliriften be-
handelten, fand die Litteratur der Zeit ihre naturgemsesse Stelle; frühzeitig
loeste sich aber dieser Teil ab und erfuhr eine selbständige Pflege, Bereits
die 'Discourse der Maler' richteten auf den litterarischen Geschmack und
treue Hofmeister' 1725, und von der Gottschediu 1745, wie sie auch 1739 den 'Zuschauer'
übersetzt hatte. 33) Karl Jacoby, Die ersten moralischen AVoeheuschriften Hamburgs,
Progr. des Wilhelnisgymnasium, Hamburg 1888. 34) Verzeichnis von Beck in Gottscheds
Zeitschrift üas Neueste aus der aumuthigeu (ielehrsamkeit' 1761 8. 829 fgg. Allgemeines
Sachregister über die wichtigsten deutschen Zeit- und AVochenschriften, Leipzig 1790. Vgl.
Ernst Milberg, Die deutscheu moralischen Wochenschriften des 18. Jhs. Leipziger Disa.
Meissen o. J. Auch die Nachbarlitteraturen zieht herbei Max Kawczynski, .Studien zur Litte-
raturgeschichtc des XVlll. .Ihs. Moralische Zeitschriften, Leipzig 1880. 35) Vorrede zu
den Schrifteu von Mylius (1754): Lachni, Maltzahn 4, 48t). Auch Abbt (Litteraturb riefe XIV,
227—330), dann Herder in den Fragmeuten 1766 (Suphans Ausg. 1, 211. 2. 325) und
J. Müpser (sämtliche Werke 3, 86) urteilen über die moralischen Wochenschrifteu ab.
obgleich der letztere gerade eine verwandte, freilich tiefere und selbständigere Art von
Schriften verfasst hat. 36) Briefe die neueste Litteratur betreffend. 48 — 51. Lessiugs
Kritik fand eine schwache Erwiderung aus dem Kreise Klopstocks durch Gerstenbergs
'Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur' im Zusatz zur Fortsetzung des 12. Briefes.
37) Eine ältere Art von politischen Zeitschriften, wozu Fontenelle das Muster gegeben, waren
die anecdotenreichen 'Gespneche im Reiilie der Todten'. von Fassmaun. dem früheren Hofnarren
Friedrich \\ ilheliiis l. Von den spietercu politischen Publicatiuueu wurden besonders ein-
flussreich der 'Briefwechsel meist statistischen Inhalts', den der Göttinger Professor August
Ludwig Schlüezer vou 1774 an herausgab, 1782 — 93 mit dem Titel '.Staatsanzeiger'.
§ 140 . ZEITSCHRIFTEN. 301
desse;i Verbesserung ihr liauptsächliches Augeuinerk; spaeter wusste Gott-
sched namentlich durcli Zeitschriften ^^ seine Ansichten über Sprache und
Litteratur zu verbreiten. Eine unparteiische Haltung suchten die 'Göttinger
gelehrten Anzeigen' zu behaupten, welche Haller 1747 — 53 leitete.^^ Eine
tiefere Auffassung der litterarischen Kritik vertraten die von Lessing be-
gründeten Briefe die neueste Litteratur betreffend', Berlin 1759 — 65, hinter
denen freilich die von seineu Freunden herauso-cgebenen Zeitschriften, die
vermittelnde 'Bibliothek der schoenen Wissenschaften und der freyen Künste',"*"
und die 'Allgemeine deutsche Bibliotheky das Organ der flachen Auf-
klaerung, an Kraft und Bedeutung weit zurückbliebeu. Die neuen Forde-
rungen der Sturm- und Draugzeit machten sich geltend durch die 'Briefe
über Merkwürdigkeiten der Litteratur', welche Gerstenborg 1766 zu Schles-
wig herausgab, und noch stärker durch die 'Frankfurter Gelehrten Anzeigen'
im Jahre 1772, als sie Schlosser mit Merck leitete.^- Eine kritische Zeit-
schrift im Geiste der Kantischen Philosophie, an welcher Schiller mitarbeitete,
war die 'Allgemeine Litteraturzeitung', welche seit 1785 zu Jena heraus-
gegeben wurde. ^^
Neben den kritischen Organen bildeten sich andere Zeitschriften, welche
besonders kleinere Litteraturwerke der Lesewelt zuführen wollten. Von den
älteren Sammlungen dieser Art erlangten besondere Bedeutung die 'Neuen
Beytraege zum Vergnügen des Verstandes und Witzes', Bremen und Leipzig
1744—59 (§ 151,1). Speeter begründete Wieland nach dem Muster des
Merciire de France den 'Teutschen Mercur', Weimar 1773 — 89, mit einer
Fortsetzung 'Neuer teutscher Mercur' 1790 — 1810.^"* Jüngeren Bestrebungen
38) Beytraege zur Critisclien Historie der ileutscheu Sprache, Poesie uud Beredtsainkeit,
Leipzig 1732 — 44, VIII. Neuer Büchersaal der schoeueu Wisseuschafteu uud l'reieu
Küuste, Lpz. 1745—54. Das Neueste aus der aumuthigeu Gelehrsamkeit, Lpz. 1751 — 62.
39) Begründet wareu sie 1745. Haller schrieb über 1200 Artikel, grcesstenteils
freilich über fachwisseuschaftliche Schriften; seiu Programm im Tagebuch (1787) 1, 30 fgg.
40) Leipzig 1757—65, zuerst von Nicolai und Meudelssohu, dann seit der Begi'üuduug
der Litteraturbriefe von Chr. F. Weisse redigiert, welcher auch eine Fortsetzung 'Neue
Bibi. d. seh. W. u. d. f. K.', Leipzig 1765—1806 besorgte. 41) Von Nicolai heraus-
gegeben, Berlin und Stettin 1765 — 92, fortgesetzt als 'Neue AUg. deutsche Bibliothek', Kiel
1793-1800, Berlin und Stettin 1801—6. Dazu das Eegister von Parthey, Berlin 1842.
42) Noch schonungsloser urteilten L. A. Unzer und .Jacob Mauvillou in den 'Briefen Über
den Werth einiger deutscher Dichter und über andere Gegenstände den Geschmack uud die
schcene Litteratur betreffend", Lemgo 1771. 72, II. 43) Von Schütz uud dem Juristen
Hufeland. Vgl. § 160, 102. 44) Dazu Repertorium von Burkhardt, Jena 1873.
302 NEUHOCIII)p]UTSCIIR ZEIT. XVIII JAIIRII. § 140
und Tiilcntcn diente als Vereinigungspuiict Boies und Dohms Deutsches
Museum', Leipzig 1770 — 88, fortgesetzt bis 171)1. Die Reihe beschloss mit
den groüsston Absichten, aber nicht mit entsprechender Aufnahme Schillers
Zeitschrift 'Die Hören', Tübingen 1795 — 97.
Günstiger als diesen meist monatlichen Zeitschriften war die Teilnahme
der Leser für kleine , jährliche Sammlungon meist lyrischer Diclitungon,
welche dem zu Paris seit 1765 erscheinenden Ahnanac des Muses sich an-
schlössen. 1770 trat in Göttingen der Musenalmanach (oder poetische Blumen-
lese)' hervor, von Boie, anfangs mit Gotter zusammen, besorgt; welchen von
1775 ab in Göttingen Göckingk, später bis 1794 Bürger, dann Reinhard
bis 1802 weiter führten, wa^hrcnd Voss ihn gleichzeitig in Hamburg 1775
bis 1800 fortsetzte. Andere Musenalmanache erschienen zu derselben Zeit in
Leipzig, Frankfurt, Weimar, Wien, Nürnberg, Stuttgart, Salzburg, Berlin,
Mannheim und an anderen Orten: der von Schiller herausgegebene 1795 bis
1800. Daneben wa3hlten andere Herausgeber andere Namen: G, Jacobi,
welcher 1774 — 76 eine Tris', nach dem Muster des Journal des Dames von
Dorat, für die Frauen veröffentlichte, Hess von 1795 ab ein 'Taschenbuch'
erscheinen, dem er 1803 — 13 wieder den Namen 'Iris' gab.
Dienten diese Zeitschriften der lyrischen Dichtung als Sammelpuncte,
so entstanden Sammlungen von Theaterstücken mehr auf zufällige
Weise, indem die Texte der zur Auffülirung kommenden Stücke vereinigt
wurden, meist in unrechtmaessigen Nachdrucken.*'' Zwar Gottsched stellte
noch eine solche Sammlung planmaessig her: Deutsche Schaubühne, nach
den Regeln der alten Griechen und Rcemer eingerichtet', Leipzig 1740—45, VI;
auch hier wie spgeter misclien sich Übersetzungen unter die deutschen Original-
stücke ein.
Sammlungen von poetischen Stücken wurden aber nicht nur zum Ver-
gnügen der Leser, sondern auch für den Unterricht bestimmt, als Muster für
die einzelnen Gattungen und Stilarten : so von Eschenburg eine Beispiel-
sammlung zur Theorie und Litteratur der schoenen Wissenschaften', Berlin
und Stettin 1788-95, VIH.
Auch weiter rückwärts richtete sich der Blick der Kunstlehre, und was
die frühere Zeit kaum zu confessionellcn oder nationalen Zwecken versucht,
dann allmählich mit gelehrtem Eifer für die Geschichte der Sprache und
Litteratur unternommen hatte, das sollte nunmehr der Poesie der Gegenwart zu
45) Die von 1760 — 83 erschienenen Sammlungen zsehlt Nicolai auf, Rei8e II 586.
II
§ 141 SPRACTIFORMEN. 303
Gute geschehn und die ältere Dichtung zur Bereicherung und Berichtigung
der neueren beitragen. So zogen die Schweizer und Gottscheds Anliänger
im Wetteifer Opitz wieder hervor, so veröffentlichte Lessing Logau und
Scultetus,^'' so wusste namentlich Herder älteren deutschen Dichtern und
selbst dem lateinischschreibenden Bälde neuen Reiz zu verleihn. Bis in das
Mittelalter zurück griff Bodmer/' und seine Ausgabe der Minnesinger hat
besonders Gleim und den Göttinger Bund zu Nachbildungen angereizt, auch
für die Erneuerung manches alten Wortes den Anlass geboten.*^
§141.
Mit der gewaltigen und immer reicheren Entfaltung der Litteratur,
zumal der poetischen, stand auch die Entwickelung der deutschen Sprache
des achtzehnten Jahrhunderts in innigem Zusammenhang. Dieser Fortschritt
ist freilich aeusserlich nicht ebenso augenfälHg bezeugt. Die Laut- und
Biegungsformen, wie sie bei den meisten und angesehensten Schriftstellern
in Schrift und Druck erschienen, blieben von Anfang bis zu Ende des Jahr-
hunderts wesentlich die gleichen: beruhten sie doch fast ganz auf den Fest-
setzungen der Grammatiker des siebzehnten Jahrhunderts,' welche ihrerseits
die mit Luthers Schriftgebrauch am naechsten übereinstimmende Rede- und
Schreibweise der gelehrten Kreise Kursachsens und der nsechstgelegenen
Gegenden Mittel- und Norddeutschlands zur Richtschnur genommen hatten.
Diese Überlieferungen fasste mit Geschick und Gewicht Gottsched zusammen,
dessen 'grammatisches Hauptwerk 'Grundlegung zu einer deutschen Sprach-
kunst' seit 1748 wiederholt erschien.^ Er begründete den alten Anspruch
Meissens^ das beste Deutsch zu sprechen damit dass, bei dem Mangel eines
das ganze Reich, wie in Frankreich, beherrschenden Hofes, dem Hofe, dessen
Hauptstadt am meisten in der Mitte Deutschlands liege, das Recht zustehe
über die Sprachrichtigkeit zu bestimmen. Den früheren deutschen Gramma-
tikern entgegen entschied er sich da, wo Luthers Gebrauch von der seit-
herigen Entwickelung verlassen worden war, für die letztere und setzte inso-
fern allerdings die Lehre mit dem Leben in eine bessere Übereinstimmung,
Einzelne etymologische Spielereien* beeinträchtigten den Erfolg Gottscheds
46) § 129, 4. 127, 1. 47) § 149, 41 fgg. 48) Noch kühner als Bodmer beab-
sichtigte Moeser nach einem Briefe an Gleim 1756 alle deutschen Gredichte bis 1.000 heraus-
zugeben: Abekens Ausgabe 1,35. Vgl. ebd. auch 3, 236 'ein westfelisches Minnelied'.
§141. 1) § 120, 42. 2) § 148, 26. 3) § 93, 34. 4) Er schrieb 'Kuäbel-
bart', weil es von 'Knabe' komme, 'schmäuchelu', weil von Vhmaucheu'. Darüber habeu sich
Wackernagel, 1/iUer. Geschichte. 1\. 21
•{04 NEUITOCHDEUTSCPrE ZEIT. XVTir .lATTRir. § 141
nicht. Seine Lehre fand ihre Fortsetzung durcli Joiia.nn Ciiuiktoi'h Adki-inm;.
welcher wie Gottsched selbst aus dem preussischen Staate nach Sachsen ge-
kommen war und hier als unparteiischer Lobredner der obersächsiachen Spracii«-
besondere Anerkennung fand, aber auch, wie Gottsched, seine Lehrbücher
auf preussischen Schulen einfüliren konnte. Gottsched hatte schon auf dir
Litteratur in Österreich einzuwirken gewusst,' wenn auch erat Gellerts
Schriften hier der völligen Annahme des obersächsischen Sprachgebrauches
den Weg bahnten. Vergeblich sträubte sich gegen Gottscheds Sprachregelii
der Pater ArousTix Dornbllitii ,^ dessen Ohservationes zu Augsburg 17.").")
erschienen: auch die mundartlichen Abweichungen vom Obersächsischen,
denen die alte Überlieferung zur Seite stand, ^ mussten weichen. Bayern
widerstrebte noch länger,'" aber seit der Vereinigung mit der Pfalz 1778
ohne Aussicht auf dauernden Erfolg.
Ebenso wenig konnten Neuerungen in der seusserlichen Sprachform, in
der Rechtschreibung, gegen das wohl berechtigte Streben nach einem
Festhalten des Überkommenen und des allgemein Angenommenen durch-
dringen : selbst Klopstocks angesehener Name ' ' war unvermoegend sie ein-
zuführen; ihm trat Hamanns'- gewichtiges Wort entgegen.
seiue süddeutschen Geguer schon histig gemacht. 5) Geboren zu Spantekow 1732, seit
17<j3 in Leipzig, gest. als Obeibibliothekar zu Dresden 18(Xi. 6) 'Deutsche Spfachlehre',
Berlin 1781. Seine Schrift 'Über den deutschen Styl* erschien Leipzig 1785. Sein Haupt-
werk aber war der 'Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der
Hochdeutschen Mundart*, Leipzig 1774—86, V. 2. Aufl. Leipzig 1793—1801, IV. 7) Er
lobte in dem Biichersaal 1747 die 'Kaiserliche deutsche Grammatik' von J. B. v. Autesperg,
welche jedoch den in Osterreich überlieferten Gebrauch neben dem übersächsischen gestatten
wollte, 8. Socin, Schriftsprache und Dialecte im Deutschen, Heilbronn 1888 S. 431 fgg.
8) Benedictiner in Gengenbach bei Offenburg. Der lange Titel seiner Schrift beginnt:
'Ohservationes oder gründliche Anmerkungen über die Art und Weise eine gute Lber-,
Setzung besonders in die teutsche Sprach zu machen'. Vgl. hierüber Burdach in den Ver-
handlungen der 37. Philologenversammlung, Leipzig 1885. S. 169 fg. Dornblüth geht auf
die Acten des Reichskammergerichts zu Speier gegen Ende des 17. Jahrhunderts zurück.
9) So die 1. Person ich brich. Der auch daran ersichtliche Wegfall des unbetonten e wurde
von Dornblüth ebenso für Knah, Nam verlangt. 10) Über Bayern s. Gottsched Crit. Beytr.
IV, 264 fgg. mit Bezug auf den Parnassus boicus. 11) 'Über Sprache und Dichtkunst,
Fragmente.' Hamburg 1779 (§ 152). Seine Vorschlage gingen auf eine Lautschreibung
(dt, ör, fon, tr), welche der Name Zesens auch damals noch lächerlich machte. Schon Bodmers
Gebrauch des y für ü: Zyrich hatte nur misfallen. Dagegen gelang es Voss das y für «'
zu verbannen. 12) 'Zwey Scherflein zur neuesten deutschen Litteratur', o. 0. 1780. Ha-
manns Apologie des Buchstaben H, gegen Damm gerichtet, hatte Kant besonders gelobt:
§ 141 ENTWICKELUNG DES STILES. 305
Ganz anders aber stand es mit Gottscheds Bemühungen in den wich-
tigeren Fragen des Stils, in der Entscheidung über die Wortwahl und
über die Satzbildung. Hier zeigte sich bei ihm und wieder bei Adelung
eine Beschränktheit und Anmassung, welche mit Kecht bei den bedeutendsten
Schriftstellern nur Widerspruch, ja Hohn hervorrief. Gottsched wollte gerade
hier das Muster der Franzosen als massgebend liinstellen; er wollte, wie die
Academie franraise, eine einheitliche, reine, aber auch breite und leichte
Sprache für die gesammte Litteratur festsetzen. Er übersah völlig, dass in
Frankreich der Geist der Nation einer solchen Gleichmajssigkeit zustrebte und
im geselligen Verkehr, auch des Hofes und der Gelehrten, ebenso wie in der
Dichtung den ihm angemessenen Grundzug des Feinen, Klaren, Zierlichen
bereits ausgebildet hatte, wsehrend in Deutschland die Ilofkreise franzoesisch
sprachen, die Gelehrten lateinisch schrieben und die Dichtung kaum anfing
sich aus Dürftigkeit und Yerachtung zu erheben. Yon den lebendigen Kräften
der deutschen Dichtung, die noch schlummerten, wusste er nichts, und als sie
sich regten, erkannte er sie nicht. Wie die franzcesische Sprache, so sollte
nach ihm auch die deutsche dieselbe sein für Poesie wie für Prosa ; sie sollte
nur die Wörter und Wendungen gebrauchen, welche man in den gebildeten
Kreisen Leipzigs kannte und welche die in seiner Jugend gelesenen Dichter
gebraucht hatten. Alles Landschaftliche war ihm gemein, alles Altertüm-
liche veraltet,^* alles nach fremden Sprachen neu gebildete'^ oder aus der
eigenen Sprachschöpfung des Dichters hervorgegangene eine verwerfliche
Neuerung. In diesem Sinne urteilte er und liess er seine Schüler über die
Dichter aburteilen,'^ Und noch Adelung urteilte so: an der Sprache,*^
wie sie in den Schriften der Bremer Beitrseger vorlag, hielt er fest, auch
als Goethe und Schiller schon ihre Meisterwerke hatten erscheinen lassen.
Anfangs erschienen Gottscheds Forderungen den Zeitgenossen nicht un-
berechtigt. Die Dichter ausserhalb Sachsens liessen sich ihre Werke von
* ■ — —
Gildenieister 2, 299. 13) 'Wonne ist ein altes ausgemustertes Wort' sagt der Gottsehe-
dianer, welcher das 'Gesprsech Günthers im Eeiche der Todten* geschrieben hat (§ 147, 1)
H. 166. 14) So verfolgte er den Gebrauch der Participien oder, wie er sie nannte,
Mittelwörter'; wer sie gebrauchte, hiess bei ihm ein Participianer: Sprachkunst, Haupt-
stück V. Vgl. dagegen Breitinger, Grit. Dichtkunst II. S. 147 fgg. Haller: Frey (§ 147, 39)
S. 83. 15) Vgl. namentlich Schoenaichs Schrift § 148, 62 fgg. Nichts ist jedoch
lehrreicher als der Versuch der Frau Gottsched einer Ode Klopstocks eine andere entgegen
zu Stelleu, welche denselben Inhalt, aber nach Gottscheds Regeln ausdrücken soll. s. Löbell,
Die Entwicklung der deutscheu Poesie 1, 209. IG) Er verwarf z. B. 'beginnen' und
306 NEUIIOCHDFJTTSCirE ZEIT. XYITI .TATIRTT. § 141
Freunden aus Mittcldoutschliind durchsolin: so Hagedorn und Haller.'' Selbst
Bodmer fügte sich zuerst den sprachlichen Zurechtweisungen Gottscheds, bis
ihm die Geduld riss und er nunmehr die Ansprüche der Sprache Ober-
deutschlands '^» auf die litterarischc Verwendung treffender Ausdrücke, denen
die obersiichsische nur Umschreibungen entgegenstellen konnte , mit Ent-
schiedenheit geltend machte. Breitinger gab diesen Ansprüchen noch eine
bestimmtere Fassung: er nannte diese sinnlichen Bezeichnungen abstracter
Dinge Machtwörter.'" Den volkstümlichen Gebrauch stützte er durch die
älteren Schriftsteller und empfahl diese mit dem Augenmerk auf solche
Wörter und Wendungen durchzugehn und auszuziehn. Insbesondere wies er
auch wieder auf Luthers Bibelsprache als Sprachquelle hin." Zur Bereiche-
rung der Sprache sei die beste Gelegenheit durch die Übersetzung'-" aus
fremden Sprachen geboten, welche die Wahl genau entsprechender Ausdrücke
zur Pflicht mache. Gegenüber der Notwendigkeit die verschiedenen Begriffe
genau wiederzugeben gestand er der Rücksicht auf Wohlstand und Wohllaut
nach franzoDsischer Art wenig Wert zu.
Was die Schweizer wünschten , leistete Klopstock. Er bildete mit
grossartiger Kühnheit eine neue Sprache der Dichtung,-' wobei er für den
biblischen Gegenstand seines Hauptwerks natürlich der Bibel Luthers sich
zumeist anschloss, daneben aber, und aus ebenso nahe liegenden Gründen in
den Oden ganz besonders die classischen Sprachen mit dem Reiclitum ihrer
Wortbildung, der Freiheit ihrer Satzgestaltung und ihrer Wortfolge wieder-
zugeben suchte. Seine Prosa lehnte sich in körniger Kürze an Tacitus
gestattete nur 'anfangen'. 17) § 147, 33. 42. Aber an Bodmer schreibt Hagedorn 1747 bei
Eschenburg 5, 94 'Unser Ekel für Wörter, welche älter sind als unsere Ammen, ist eine der
schlechtesten Nachahmungen der Franzosen'. 17a) Verständige Einwendungen gegen
Provinzialwürter machte ein Brief J. E. Schlegels an Bodmer: Schnorrs Archiv XIV, 48.
18) Wie 'einen bestehn', 'sich an etwas weiden'. Auch 'frommen, Fug' u. a. verteidigte er und
die Übersetzung 'Misston* für Dissonanz. S. Grit. Dichtkunst IL Cap. ± 19) Ebd. II S. 71.
20) Ebd. II. Cap. 4. 21) Christoph AVüi-fl, Über Klopstocks poetische Sprache mit beson-
derer Berücksichtigung ihres Wortreichtums, Jahresbericht des ObergA-mnasiums in Brunn
1883—85, Herrigs Archiv 64, 271—340. G.5, 251—320. A. W. Schlegel nannte Klopstock einen
grammatischen Poeten und einen poetischen Grammatiker. Charakteristisch ist Klopstocks
"Vorliebe für Verbalzusammensetzungen mit Adverbien, aber auch 'die Verbindung intransitiver
Verba mit einem Object: 'Gelindere Lüfte umflossen sein Antlitz' wird von Schcenaich als etwas
Neues bezeichnet: 'es flamm' Anbetung der Sabbath!' erregte bei Nicolai Anstoss (vgl. Lessing
Litt. Brief 19). Andere aufl'allende Wendungen siud: 'zürnt ihn weiser' d. h. macht ihn durch
Zürnen weiser (Ode au (.Tleini): 'atmender trinkt' d. h. trinkt mit stärkerem Atemholen (Rhein-
§ 141 DICIITERSrRACIIE. 307
an; vcräclitlich sprach er-'- von den Ileiligcrocmischcrcichdeutschernations-
perloden'. Die Entscheidung über das was in der Sprache erlaubt und ge-
lobt werden sollte, wies er den guten Schriftstellern zu.^^ Hierin traf er mit
"NVieland zusammen, der im Teutschen Mercur 1782^* Adelungs Beschränkung
des guten Deutsch auf Sachsen und die Schriftsteller von 1740 — 60 zurück-
wies. Immerhin befragte Wieland Adelungs Wörterbuch auf das fleissigstc "''
und feilte seine Schriften bei wiederholten Ausgaben auf das sorgfältigste
nach.-® In seinen Briefen hatte er wie kaum ein anderer die Unart fremde
Sprachbrocken einzumischen.
Dass Gottscheds Ansehn auch auf dem Gebiete' der Sprachreinigkeit
bei den Schriftstellern geschwunden war, hatte Lessing bewirkt,-^ welcher,
selbst ein geborener Obersachse, den Schweizern beistimmte und für die
Wortbildung eine gewisse Freiheit verlangte und übte.^* Ganz besonders
aber ward Lessings Prosastil wichtig, indem er sich der gesprochenen Rede so
nahe hielt als moeglich, und, allerdings nach franzoesischem Muster, seine Sätze
scharf zuspitzte, insbesondere in geteilten Sätzen die hauptsächlichen Wörter
durch Wiederholung der nebensächUchen eindringlich hervorhob. Ihn ergänzte
Herder, welcher seine tiefe Erregung durch Ausrufungen, durch unvollendete
Sätze auch dem Leser mitteilte.^^ Wenn Hamann für die Idiotismen der
Landschaften eingetreten war, so machten die an Herder sich anschliessenden
wein); 'der gesungenste Ton' u. a. 22) Grammatische Gespraeche 1, 107. 23) Ebd. 77
'Sprachgebrauch. Bey der sehr kleinen Anzahl von Skribenten, die Dauer versprechen, lebe ich
eigentlich. . . Doch besuche ich auch wohl diesen und jenen Redner. Auf den Kanzleyen,
weist du wohl, hat mein Vetter Regensburger das grosse Wort; und wir beyden stehen
nicht sonderlich zusammen'. 24) Ueber die Frage Was ist Hochdeutsch?' in der
36bändigen Ausgabe der sämmtl. Werke 33, 343 fgg. 25) Büttiger in Raumers bist.
Taschenbuch 1839 S. 383 Anm. 26) Dies hebt Goethe in seiner Gedächtnisrede hervor:
LB. 3, 601. 27) Der Litteraturbrief 65 beschäftigt sich mit Gottscheds 'Kern der
deutschen Sprachkunst' und den 'Anmerkungen' dazu von J. M. Heinze, Göttingen u. Leipzig
1759. 28) Vgl. Lehmann, Forschungen über Lessings Sprache, Braunschweig 1875. Doch
irrte Lessing, als er 1768 glaubte das Wort 'empfindsam' erst zu schaffen um das englische
sentimental wieder geben zu können (s. die Stelle bei Erich Schmidt, Richardson, Rousseau
und Goethe S. .324 fg.): 'Ein empfindsames Herz' findet sich schon 1757 in den Briefen der
Frau Gottsched 3, 55 (§ 148, 44). Freilich hat Lessing dem Wort seinen spöttischen Beige-
schmack gegeben. Umgekehrt ist Menschlichkeit vor Herder eine Hinweisuug auf menschliche
Schwäche, seit Herder hat es die edlere Bedeutung der Menschenfreundlichkeit erhalten:
erstere stammt aus der theologischen Anschauung, letztere aus der Übersetzung des lat.
humanitas. 29) E. Naumann, Über Herders Stil. Progr. Berlin 1884; über das Lautliche"
und die Wortbildung s. Th. Längin, Die Sprache des jungen Herder in ihrem Verhältnis
308 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVHI JAHKH. § 141
jungen Dichter^" von dieser Erlaubnis reichlichen Gebraucli und riefen da-
durch freilich den Spott Nicolais hervor. Cioothe, der als Leipziger Student
sich seine Frankfurter Gleichnisse und Sjjrichwörter hatte verweisen lassen
müssen,^' schloss sich doch mehr und mehr an die gewählteste Schriftsprache
an^- und wusste ihr nur durch feinste Beobachtung aller Stilunterschiede einen
Reichtum und eine Geschmeidigkeit zu geben wie kein anderer Dichter es
vermocht hatte. Auch ihm leuchtete Luthers Sprache vor,-'^ aber auch andere
Schriftsteller des sechzehnten Jahrhunderts nennt er als seine Fundgruben.^*
Daneben eignete er sich die von Klopstock eingeführte Wortstellung und
"Wortverweudung der classischen Sprachen an.^** Spwter wirkte Voss auf
ihn, welcher die homerische Fülle und Biegsamkeit der Sprache nachzubilden
suchte, aber auch eifrig die altdeutschen Sprachdenkniielcr dafür durch-
forschte.^^ Schiller^" schloss sich an Kants Sonderung der Wortbedeutungen
an; er gab seiner Sprache den Glanz, welcher seine erhabenen Gedanken
recht zu kleiden vermochte. Er durfte ^^ zu den Dichterlingen seiner Zeit
von der gebildeten Sprache reden, die für dich dichtet und denkt'. Und
diese Sprache auch in ihrer Lautform immer mehr zu befestigen und zu ver-
breiten, hat die Bühne nicht wenig beigetragen, welche notwendig auf eine
gleichmaessige Aussprache hin wirken muss.^®
Mit der Ausbildung der Schriftsprache zur Sprache der Litteratur und
der guten Gesellschaft war aber auch die MoDglichkeit gegeben, den Mund-
arten wieder ein bescheidenes Dasein in der Dichtung zu gestatten. Der
volksmaessige Gebrauch der mundartlichen Poesie war auch im Druck nie
ganz geschwunden; so bei den Nürnbciger Neujahrswünschen, welche Grüber^-*
zur Srhriftsprache, Freiburger Diss. Tauberbischofsheim 1891. 30) H. Claudius; Maler
Müller, Lenz, Wagner. 31) Dichtung und Wahrheit II, Buch VI. Vgl. über die
Sprache des jungen Goethe (bis 1776 etwa) Burdach in dem Anm. 8 angeführten Vortrag.
Goethes Aussprache zeigte noch spseter seine Herkunft aus dem Keich; er scheint Vaiter
gesagt zu haben (Gesprseche hg. v. Biedermann VIII, .344). 32) So ersetzte er (vielleicht von
Moritz in Italien berathen) ili der Iphig. 1325 das früher gebrauchte einig durch einzig.
33) V. Hehn. Ga-the und die Sprache der Bibel, GiRthejahrbuch VIII. 181 fgg. 34) (iciler
an der in Anm. 31 genannten Stelle. 34a) C. Olbrich. Guethes Sprache und die Antike,
Leipzig 1891: und überhaupt: J. 0'. A. Lehmann. G(Pthe8 Sprache und ihr Geist, Berlin 18r32.
35) Nicht aber mit Glück, wie die Anführungen in seiner 'Zeitmessung' zeigen. Mit seinen
Göttinger Freunden hatte er u. a. das AVort 'Minne' wieder zu Ansehn gebracht,
36) Schillers schwäbische Aussprache wird durch seine .Jugendreime wie Menschen: wünschen
genugsam bezeugt. 37) LB. 2, 1217-, 41. 38) Vgl. Zs. f. deutsche Philol. 24, 223
und Goethe bei Eckermann 5. Mai 1824. Auch die Mannheimer Bühne fühlte 1777 dies
Bedürfnis: s. bei Erich Schmidt. Lessing S. 8(>3 die Äusserung Stengels. 39) § 162, 13;
§ 142 MUNDARTEN LITTERARISCH VERWENDET. 309
nachgeahmt hat. McBgen hier ungclchrte Verfasser thsetig gewesen sein, in
der Regel waren es Gelehrte, welche die Mundart dichterisch behandelten und
zwar wohl durchweg zu komischen Zwecken. So der derb witzige Sebastian
Sailer,^" welcher 1714 zu Weissenhorn bei Ulm geboren, als Pra3monstraten8er
zu Obermarchthal 1777 starb. Gelehrte dichteten auch in Strassburger
Mundart die sogenannten Fraubasengesprseche,*' von denen das älteste in
einem llochzeitsgedicht von 1687 vorliegt.*^ Vor allem aber war Nieder-
deutschland, besonders Hamburg, auch Braunschweig, *^ für plattdeutsche Poesie
empfänglich. In Hamburg war selbst auf der Bühne das Niederdeutsche be-
liebt:^* der Bookesbeutel oder der Hamburger Schlendrian' von dem- Buch-
halter Heinrich Borkenstein wurde 1741 — 64 aufgeführt;*^ und noch Ekhof
und Borchers glänzten in solchen Rollen.
Von Niederdeutschland ging auch der Versuch aus die Mundart für
die Dichtung der Empfindung zu verwenden.*^ Joh. IL Voss schloss sich
damit in seinen Idyllen völlig an sein Vorbild Theocrit an. In Süddeutsch-
land folgte Hebel , in der Schweiz Usteri ; *^ und wenigstens der erstere hat
auch über seinen landschaftlichen Kreis hinaus dankbare Aufnahme gefunden.
§ 142.
Die Fortbildung der Sprache, insbesondere der dichterischen, stand in
Wechselbeziehung zu den mannigfaltigen und eindringlichen Bemühungen des
achtzehnten Jahrhunderts um Verbesserung der deutschen Verskunst. Nicht
nur die eigenen Gedichte unterzog man vielfach einer wiederholten Bearbei-
tung von metrischen Gesichtspuncten aus ; ^ auch die Verse anderer und nicht
bloss befreundeter Dichter wurden verbessert herausgegeben: so von Ramler
die Werke vieler Zeitgenossen,^ von Voss die nachgelassenen Dichtungen
8. die Allg. Deutsche Biogr, 9, 786. 40) Seine Dichtungen wurden zuerst 1819 gedruckt,
dann von Hassler zu Ulm o. .J. (1842) herausgegeben. Ein Stück aus 'Schöpfung und
Sündenfair hatte Gottsched mit Abscheu in der Vorrede zu seinen 'Beobachtungen über
den Gebrauch und Missbrauch vieler deutscher Wörter u. Redensarten', Strassburg und Leipzig
1758, veröffentlicht. 41) F. W. Bergmann, Strassburger Volksgesprseche, Str. 1873.
42) J. Froelich, Les joies du mariage, caquets rinies en dialecte strasbourgeois, Paris 1889.
4.S) § 147, 15. 44) K. Theod. Gtedertz, 'Das niederdeutsche Drama von den Anfängen
bis zur Franzosenzeit', Berlin 1884. Vgl. auch .J. Ch. Krüger § 148, 55 und selbst Frau
Gottsched ebd., 46. 45) Gedruckt zu Frankfurt u. Leipzig 1742 uö. 46) § 158, 51.
47) § 162, 2 fgg.
§ 142. 1) Klopstock ersetzte die schweren Silben an 2. und 3. Stelle im Dactylus
später durch leichtere: E. Schmidt QF. 39, 46. Ebenso verbessert Schiller den 'Spaziergang :
LB. 2, 1203. 2) Über Ramler und Hagedorn s, Eschenburgs Ausg. 4, 102 fgg. Pick
310 NEUIIOCJIDEUTSCJIE ZEIT. XVIII JAIIKII. § 142
seines Freundes llölty.^ Glcim glaubte sogar den in Prosa geschriebenen
Philotas von Lessing erst in Verse umsetzen zu sollen, und das etwas ironische M
Lob Lcssings hinderte ihn nicht ebenso mit Adams Tod' von Klupstock zu
verfahren.^ Kamler sah wohl Sal. Uessner als seinen Schüler an, dessen
Prosa er ohne weiteres versificiercn dürfte."'
Diesen Bemühungen stand allerdings auf der anderen Seite das He-
strebcn gegenüber den Zwang des Verses gänzlich abzuschütteln und dadurch
erst die volle Natürlichkeit insbesondere für die Bühne zu gewinnen. Schon
Gottsched wies dem Lustspiel die Prosaform zu und seine Schüler verhan-
delten darüber.® Dann war Lessing dieser Ansicht besonders zugethan: nicht
nur seine Dramen, sogar die Trauerspiele, schrieb er grossenteils i^ Prosa,
er kleidete auch die Fabel nach dem Muster der a)sopischcn und selbst die
Ode in diese Form. Früher war bereits im komischen und satirischen Epos
das Gleiche geschehn,^ imd diesem Vorgang folgte Thümmel mit vielem
Beifalle nach; ernsthaft gebrauchte Gessner in seinen Idyllen die Prosaform.
Auf das Drama wirkte Lcssings Beispiel so durchgreifend, dass viele in Verse
geschriebene Theaterstücke für die Aufführung' in Prosa umgeschrieben wur-
den, weil die Schauspieler sie nur so spielen wollten.**
Eine zierliche Nachlässigkeit sollte es sein, wenn nach franzoesischen
Vorbildern,^ Verse und Prosa in demselben Stücke, ja selbst in demselben
Satze wechselten;"' besonders der Epistel gab man gern diesen Schmuck;
nicht selten hseufte man auch die Reime."
Wo man aber sein Absehen auf eine strengere Verskunst richtete, zeigte
sich mehr ein unsicheres Gefühl, als eine klare und bis ins Einzelne drin-
gende Einsicht. Diejenigen, welche die Regeln des Versbaues zu lehren
Herrigs Archiv 73, 241. Die Schweizer erklserten sich gegen 'das ewige Ausbuzzen'.
Vgl. über die Urteile der Zeitgenossen Weilen zu den Schleswiger Litteraturbriefen S. LXI.
3) Voss verteidigte auch das Verfahren von Kamler: Über Götz und Ramler, kritische
Briefe, Mannheim 1809. 4) Philotas, Berlin 1760. Adams Tod ebd. 1766. Vgl. Danzels
Lessing 1, -440. So wurde auch Kleists Seneca in Alexandriner gebracht: Sauers Kleist 1, 271.
5) Sal. Gessners Auserlesene Idyllen in Verse gebracht, Berlin 1787, Der erste Schiffer 1789.
6) Elias Schlegel und Straube: Grit. Beytr. 6, 466. 624. 7. 287. Vgl. Antoniewicz zu
Schlegels asth. und dramaturg. Schriften S. XXIIF fgg. 7) § 143, 10. 8) Schlegels
Canut und der Triumph der guten Frauen: E. Wolff S. 133. 172; Goethes Mitschuldige,
Schillers Don Carlos u. a. 9) Gresset u. a. Auch Friedrich II. 10) So Gleim
schon 1746; Uz, dann J. G. Jacobi; Ebert und Giseke, Wieland, 'Grazien'; Gerstenberg Tände-
leyen'; Thümmel 'Reisen'. 11) Bremer Beytr. * II 175. 245. Ad. Schlegel zu Batteux II 559
Anm. Gegen die mit Hexametern vermischte Prosa sprach sich Mendelssohn aus: Bibl. d.
§ 142 VEKSKUNST. THEORIE. 311
unternahmen, suchten allerdings die aeusserliche und dürftige Art der Anwei-
sungen aus dem vorhergehenden Jahrhundert zu vertiefen; allein durch den
allzu engen Anschluss an die Vorschriften der antiken Metrik geriet man meist
auf Irrwege, welche zuletzt doch wieder zu Unsicherheit und Willkür führten.
Vor allem blieb die Verwechselung der antiken Länge und der deutschen
Tonstärke *^ so ziemlich allgemein. Zwar Avies Breitinger '^ darauf hin, dass
im deutschen Versbau der Accent wohl in Betracht komme, 'da notwendig
auf gewissen Plätzen ein hoher, auf anderen ein niederer'* gesetzt wird', dass
dagegen 'die Wahl derjenigen Arten Thones, welcher von dem langen oder
kurtzen Zeitmass der Sylben entsteht', dem Verse mit der Prosa gemein sei.
Auch Elias Schlegel '"' unterscheidet noch die metrische Grundlage der latei-
nisch-griechischen und der deutschen Poesie. Aber Gottsched wandte ohne
weiteres die antiken Bezeichnungen der langen und kurzen Silben auf die
deutschen Accentunterschiede an,'*' und musste deshalb annehmen dass in
Hinsicht auf die Zeitdauer fast alle einsilbigen Wörter im Deutschen eine
ungewisse Natur hätten.'' Auch Klopstock'^ und selbst noch Voss nahmen
jedes Wort für sich nach der Art der antiken Metrik und suchten nur
innerhalb des einzelnen Wortes die Silben gegenseitig abzuschätzen. Die
'Zeitmessung der deutschen Sprache' von Voss, Kcenigsberg 1802, suchte das
in Regeln zu bringen, was der Dichter bei seinen eigenen Versen beobachtet
hatte und Goethe pries sein unsterbliches Verdienst um die deutsche Rhythmik,
die er aus so manchen schwankenden Versuchen einer für den Künstler so
schoenen Wiss. III, 1. 12) § 120, 62 fgg. Zu dieser Verwechselung trug die schon im
16. Jh. ühliche Wiedergabe des Touunterschiedes durch die prosodischen Zeichen — ^ gewiss
Vieles bei. 13) Critische Dichtkunst 2, 438 fgg. 14) S. 440 bezeichnet er diesen als
leise, meint also mit dem hohen die laute, starke Aussprache. Übrigens empfiehlt Breitinger
zuletzt die franzcesischen und italienischen Versarten, worin nur an den Abschnitten die Accente
notwendig geregelt sein müssten. 15) In einem Briefe an Bodraer, bei Antoniewicz (§151,
62) p. CXLII. 16) In der Tonmessung, welche er der deutschen Sprachkunst als IV Teil
beigab, sagt er S. 471 der Ausgabe von 1748 'Haus: wie es in Rath/wM.s' kurz war, so kann es
in ÄiMSwirth lang sein'. (Ebenso noch 1762 S. 591.) 17) Vom Tonmasse der einsylbigen
Wörter schrieb schon Behrendt in Gottscheds Grit. Beytr. V 48 fgg. 18) Doch will Klop-
stock 1756 die Kürzen d. h. die nicht hochtonigen Silben nicht völlig gleich setzen, sondern 2
oder 3 Arten unterscheiden: bei Back und Spindler (§ 151, 17) .3, 9. Ganz besonders vermisst
er im Deutschen den Spoudeus, der eben nur durch Zusammensetzungen wie z. B. Wortschall
gebildet werden könne; er dichtet daher eine sehnsüchtige Ode an 'Sponda'. Denselben
Mangel bemerkt Ramler, Einleitung in die schoenen Wissenschaften nach Batteux, Leipzig
1760, 1, 165. Dagegen bemerkt Ad. Schlegel, Einschränkung der schcjenen Künste (§ 151, 78)*
1772 S. 532 dass oft verschiedene Arten zu scandieren mceglich seien , dass von in
312 NEUIIUCIIDELTSGIIE ZEIT. XVIII JAllKlI. § 142
erwünschten (.icwisshcit und Festigkeit entgegen hebe.'-' Goethe hatte jedoch
schon früher die richtigeren Ansichten iiuf sich wirken lassen, welche K. Phil.
Moritz in seinem Versuch einer deutschen Prosodie', Berlin 178t}, auseinander
gesetzt hatte. Moritz widersprach mit Recht-" jener üleichsctzung der Grund-
lagen der antiken und der deutschen Verskunst und führte das Tonverhältnih.
der Silben zueinander auf ihren logischen Werth zurück so dass auch die
einsilbigen Wörter je nach ihrem Verhältnisse zu den folgenden nach festen
Kegeln-' als über- oder untergeordnet erschienen.
Zur genaueren Bestimmung des Verhältnisses zwischen den einzelnen
Silben zwang vor allem die allmählich zunehmende Mannigfaltigkeit der
Muster für die dichterischen Formen. An die Stelle der in den vier ersten
Jahrzehnten fast allein giltigen franzoesischcn Vers- und Strophenarten traten
im zweiten Abschnitt unseres Zeitraumes die antiken; im dritten kamen die
volkstümlichen hinzu, welche man teils der englischen Dichtung, teils der
eigenen älteren entlehnte. Ganz besonders äusserte sich das neue Bestreben
zu Anfang der zweiten Periode in der Verwerfung des Reims, den man
bisher als ein Haupterfordernis und als das erste Kennzeichen der Poesie
angesehen hatte.-- Man konnte sich dabei auf Stimmen des Auslandes-^
berufen, welche den Reim für entbehrlich und hemmend erklsßrt hatten;
aber schon vor diesen hatten zuntechst einige in der Schweiz lebende
Dichter^* sich erst gegen den Zwang, dann auch gegen die Schcenheit des
Reimes ausgesprochen; ihnen folgten die hallischen Dichter,"^^ spaeter Klop-
ertcente von Jubeln allerdings kurz, aber iu auf von dem Schlachtfehl lang erscheine.
19) In der Anzeige (§ 158, 57), welche freilich darauf berechnet war Voss ganz für Jena
Zugewinnen. 20) S. 123. 21) S. 143 'Nach dem Substantivura und Adjectivum
folgt in prusodischer Rücksicht zunächst das Verbuni. nach dem Verbum die Interjection.
dann das Adverbium, das Hilfsverbum, die Konjunction. das Pronomen, die Praeposition.
endlich der Artikel. Diesem sind nur die Vorsilben mit schwachem e untergeordnet.' Es
ist beachtenswert dass diese Ordnung der von Rieger (Z. f. deutsche Philol. 7. 1 fgg.) für die
allitterierende Dichtung aufgestellten grossenteils entspricht. 22) Über die Zweifel
von Weise s. Borinski, Poetik der Renaissance S. 337 fg, 23) So führte Breitinger
Crit, Dichtk. 2. 4G1 Scipio Maffei an, der 1736 das erste Buch der Ilias in italienische
reimfreie elfsilbige Verse übersetzt hatte; Hagedorn in einem Briefe an Lange 1746 in
Eschenbnrgs Ausgabe 5. 154 eine franzcesische Schrift von 1737. nicht ohne Ironie, da er wie
Haller an den Reimen festhielt. Ramler, Einleitung in die schoenen Wiss. I. 162 sprach sich
gegen den Reim aus in Auschluss an .S. Mard: s. auch Ad. Schlegel. Einschränkung II 540 fgg.
24) Bodmer hatte bereits 1722 eine Stelle aus Boileaus Art poetique in reimlose Alexandriner
übertragen: Disc. d. M. II Th. V Disc; vgl. \ll Disc. Drollinger LB. 2, 662 nennt den
Reim den Feind von Gerst und Witz." Vgl. auch Spreng bei Drollinger 1. 212. 25) Lange
§ 142 KAMPF UM DEN REIM. ALEXANDRINER. 313
stock; ^® und die von ihm kühn und stolz als Muster aufgestellten antiken Vers-
und Strophenmasse konnten nicht gut anders als reimlos nachgebildet werden.
Freilich fand der Reim nicht nur in Gottsched -^^ einen übereifrigen Vertei-
diger; auch Lessing"'-* entschied sich für die Beibehaltung des Reimes im
Verse.^" Und wenigstens für die Lyrik machte Moritz^' mit Recht geltend
dass der Reim ein Bedürfnis des Ohres sei, seitdem Gesang und Poesie ge-
trennt sei: nur durch ihn werde das in gleicher Ordnung Wiederkehrende
bemerkbar. Er hätte auch vom Reime bemerken können, was er dem deut-
schen Versbau nachsagt , dass er nicht Silben, sondern Ideen gegen einander
abmesse: indem der Reim im Deutschen nicht Beugungssilben, sondern
Stammsilben einander entgegenstellt, ist er zwar schwieriger,''' aber auch
wirkungsvoller als der romanische.
Immerhin wurde wenigstens eine Art von Reimversen durch die Feinde
des Reimes so gut wie völlig beseitigt, die bis dahin nach franzoesischem
Muster in den grossen Dichtungsgattungen, der epischen und der dramati-
schen allgemein gebraucht worden war: der Alexandriner. Bodmer^^ und
DroUinger^* schilderten in abschreckenden Zügen den ebenso langen als steifen
Vers, der durch die Csesur in der Mitte eine lähmende Gleichmtessigkeit
seiner kurzen Abschnitte erhalte; und mit Recht bemerkte Breitinger^' dass
der streng gebaute Alexandriner umsonst dem romanischen, dessen Tonverhält-
nisse nur am Schlüsse der Abschnitte gebunden seien, gleich zu kommen suche. '^
und Pyra § 150, 11. Ihr Ästhetiker Meier nannte in der Vorrede zu Langes 'horatzischen
Oden' 1746 den Keim geradezu etwas hässliches. 2ß) In der Ode von Klopstock an
Voss 1782 wird der Reim gescholten als 'lermender Trommelschlag, lermend und lermend
mit Gleichgetoene'. 28) Anfänglich war auch Gottsched für reimfreie Verse nach
antiken Massen eingetreten: LB. 2, 731. Crit. Dichtk. 1731 S. 311. 29) 1751 im April-
hefte des Neuesten aus dem Reiche des Witzes (L.-M. 3, 212): ausführlicher in einem
Briefe, welcher jedoch dem Dichter die Wahl lässt, ob er reimen will oder nicht (3. 31U;
\^\. 313, 379). Lessino-s liberalere Ansicht ward dann auch von Nicolai und Ramler ver-
treten. 30) Ein Nachklang dieser Fehde über den Reim ist in Herders 86. Humani-
taetsbrief die Äusserung: 'Den Reim lasse ich unserer Poesie nicht nehmen!' 31) Proso-
die S. 94. 32) Dass italienische und franzoesische Reime leichter als deutsche fallen,
bemerkt Bodmer Disc. 2. VII. 33) Kritische Lohgedichte und Elegien 1747 S. 14, in
einem Gedichte von 1733. 34) LB. 2. 662. 35) Crit. Dichtk. Th. 2, S. 435 fgg.
Er beruft sich auf Lamotte. 36) Noch spa;ter und eingehender verwirft den Alexandriner
Home, Grundsätze der Kritik, übersetzt von Meinhard 2, 466: 'der Alexandriner vereinigt
die Mängel des Hexameters und des gereimten fünffüssigen Jambus ohne ihre eigentümlichen
Schoenheiten : der «Sclaverei des Reims und der Regel des vollen Schlusses zu Ende jedes
Cupletts unterworfen, ist er noch besonders durch die Einförmigkeit der Pausen und der
314 NEUIlOClIDEUTöCllE ZEIT. XVllI JAJIIUI. § 142
Indessen gebrauchen''^ noch Lessing ^"^ und selbst Gathc ''■' den Alexandriner;
Klopstock und Wioland aber nicht mehr und ebenso wenig Herder und Schiller.
Reimlose Alexandriner wurden nur vereinzelt versucht;*'' ebenso, wenn
aucli hjeufiger, und durch das antike Vorbild auch spajter empfohlen, die
nahverwandten jambischen Trimeter mit der Cacsur im dritten Fusse und
ohne Reim. J. E. Schlegel*' rühmte 1740 diese Vorsart wegen der bestän-
digen Abwechselung zwischen der weiblichen Ca?8ur und dem männlichen
Versschluss; Lessing'- folgte und Ramler, der die Trimeter bereits 1757 em-
pfahl und seit 1773 in einigen Singspielen anwendete; endlich Goethe in der
für den Faust 1800 gedichteten Helena, und Schiller in einigen Teilen der
Jungfrau von Orleans.*^ Anapfeste erschienen seit Ramler in den jambischen
Versarten wohl gestattet, nur dass er selbst sie von den Verseingängen
ausschloss.
Das beliebteste Metrum für das Drama in Versen und hier der Ersatz
für den Alexandriner ward der fünffüssige Jambus, den vor allem das
Vorbild Shakespeares und schon vor ihm und für andere Gattungen das
Miltons empfahlen." Gereimt und mit stumpfer Csesur hinter der zweiten
Hebung war dies Versmass durch die wns communs der Franzosen längst
bekannt geworden und hatte vielfache Anwendung gefunden. Die reimlose
Art, den englischen JiJnnk verse, hatten Miltons Übersetzer schon im 17. Jahr-
hundert beibehalten.*^ Gottsched*^ tadelte freilich die freie Ctesur, gab seinen
Accente unangeuehm. 37) Für das komisehe Epos blieb der Alexandriner ganz mit
Recht beliebt: bei Uz, Zachariaj u. a. Haller empfiehlt ihn aber noch für das ernste Lehr-
gedicht. 38) Im dramatischen Fragment Henzi und in didaktischen Gedichten. Im
Drama verwendet ihn Cronegk. zu Epitaphien Kant noch 1782: Hartensteins Ausg. VIII
S. 605 fgg. 39) in den Mitschuldigen. Vgl. Bartsch Goethejahrbuch I. 40) Von
Veit Ludwig von Seckendorf in der Übersetzung von Lncans Pharsalia 1695: s. Gottscheds
Sprachkuust^ S. 511. Dann gebraucht Pyra im Tempel der Dichtkunst abwechselnd männliche
und weibliche Alexandriner ohne Reim. 41) Werke 3, 87 fgg. Proben, die er selbst ver-
fasst hatte, ebd. 2, 621 fgg. 42) Giangir. 43) Act 2, Sc. 6—8. Über Goethe
s. Harnack. Vierteljschr. f. Lit.-gesch. V 113 fgg. 44) F. Zarncke. Über den fünffüssigen
Jambus mit besonderer Rücksicht auf seine Behandlung durch Lessing, Schiller und Goethe,
I Abth. Festschrift der Universität Leipzig 1865. Sauer QF. 30, 128 fgg. und Sitzungsberichte
der Wiener Akad. XC 625 (1878) 'Ueber den fünffüssigen Jambus vor Lessings Nathan'.
45) Theodor Haake und Ernst Gottl. von Berge; 'Das verlustigte Paradies' von dem letzteren
erschien Zerbst 1682: s. Eschenburg im D. Mus. 1784, 2. 512 fgg. Cantzler und Meissners
Quartalschrift 2 Jahrg. 3, 1, 76. Bolte in der Zs. f. vgl. Litteraturgesch. u. Renaissancelitt.
1, 426 führt noch das 1618 von dem Kasseler Arzt Rhenanus aus dem Englischen übersetzte
Drama Lingua an. worin zuerst deutsche blank-verse vorkommen. 46) Grit. Dichtk.
§ 142 FÜNFFÜSSIGE JAMBEN. 315
eigenen Versen dieser Art durchaus klingenden Ausgang und vermied das
Enjambement, die Yersverschränkung, welche durcli den Satzanfang kurz vor
dem Versscliluss oder durch den Satzschluss kurz nach dem Yersanfang ent-
steht. Ganz im Gegensatz dazu gestattete sich Bodmer*" nicht nur wie schon
früher Drollinger die freiere Csesur nach itaHenischcr Art, sondern auch den
Wechsel zwisclicn stumpfem und klingendem Versausgang; ja er mischte be-
reits einzelne längere Zeilen ein. Kleist verwendete bald die strenger bald
die freier gebauten Fünffüssler in seinen ErzsehUmgen. Besondere Belehrung
über die englischen Verse gewährte J. N. Meinhards Übersetzung der Ele-
ments of criticimi von 11. Ilome.'*'* Herder pries die fünffüssigen Jamben
1768 an in den Fragmenten zur deutschen Litteratur^^ und wünschte das
Mass das deutsche nennen zu können, vor allem in der Tragödie. Auch hier
waren bereits eine Anzahl Versuche gemacht worden: so schon von J. El.
Schlegel,"*^'^ von J. F. von Cronegk^" und J. W. von Brawe,'"' und freier
von Joh. Heinr. Schlegel in einer Bearbeitung von Schauspielen Thomsons,
die 1758 — 64 erschien. Noch weniger streng behandelte Wieland den Vers
in seinem 1758 in der Schweiz aufgeführten und gedruckten Trauerspiel
Lady Johanna Gray. Christian Felix Weisse ''^ u. a. , selbst Klopstock mit
seinem Salomo 1704 folgten. Aber erst Lessings^^ Nathan 1779 gab zu
Herders Lehre das wirksame Beispiel , dem vor allem Goethe ^* in Iphigenie
und Tasso, Schiller seit Don Carlos nachfolgten. Immerhin ward Lessings
1742 S. 408. D. Spraclik. 1748 S. 517 fgg. 47) Übersetzung von Erzjjehlungen nach
Thomson 1745, hinter Langes und Pyras Freundschaftlichen Liedern (§ 150, 11). Wieland
in seinen Erztehlungen 1752 war etwas strenger. 48) Txrundsätze der Critik, aus dem
Englischen', Leipzig 1763 — 66: 2, 423 fgg. 49) Diese Bemerkungen wurden erst in"
der 2. Aufl. eingeschaltet, s. Sämmtl. Werke bei Suphan 2, 36 fgg. 49a) In der an-
gefangenen Übersetzung der 'Braut in Trauer' von Congreve, die zuerst 1762 in den Werken
2, 579 erschien, mit eigentümlichem Wechsel zwischen stumpfen und klingenden Ausgängen.
50) 'Der ehrliche Mann der sich schämt es zu seyn\ 1765 gedruckt, mit durchaus klingenden
Schlüssen. 51) Brutus, zuerst gedruckt 1768, mit durchaus stumpfen Schlüssen. Bei
der einzigen Aufführung, zu Wien 1770, stoerte ganz besonders der Vers: QP. 30, 78-
5'2) Weisses Befreiung von Theben, 1764 erschienen, hatte durchaus männlichen Ausgang ;
Rein Atreus, 1766, auch weiblichen. Dies war das erste in Deutschland aufgeführte .Janiben-
stück; es kam 1767 in Leipzig auf die Bühne: Minor bei Kürschner 72 S. XVIII (für die
Schweiz s. oben). 53) Lessing hatte allerdings schon 1758, iniKleonnis u. a. Fragmenten
den blank-verse mit Anschluss au das Epos angewandt: s. E. Schmidt, Lessing 343. 351.
Wie verbreitet iudess 1778 der Wunsch nach dem Metrum war. zeigt das Beispiel Kleius
in Mannheim: QF. 40, 65. 54) Er wollte schon 1765 den blanTc-i-erse in seinem Belsazar
gebrauchen, nach El. Schlegels Beispiel und dein Rat der meisten Kritiker: Der junge
310 NKi:iI()('III)ElITSOfIE ZEIT. XVIII JAIIIIU. § 142
Beh;in«llun«;sweis(', wclclie nainontlicli durch Enjiiiiiboinents die Versabsetzun«»;
beständig duiThlirach, weniger von den Spffiteron nachgealinit, als die Shakes-
peares. Diesem folgend beschloss Schiller*'* öCtors die Secnen mit Heimen.
Auch er unterbrach mit Doppelsenkungon und mit schwebender Betonung
gern die regelnuessige Scansion. CJa'the aber gab seinem Füntfüssler durch
das streng festgehaltene Mass, durch das Ausklingen des Verses mit seltenem
Enjambement die edle Haltung, welche sonst dem antlkeu Trimeter eigen
war. Er wandte ihn auch gereimt in lyrischen Formen, vor allem in der
Stanze, mit feinster Kunst an und wusste hier den ruhigen Fluss des italieni-
schen Vorbildes völlig wieder zu geben.
Eine leichtere Anmut erscheint in den dreimal gehobenen jambischen
Versen mit klingendem, reimlosen Ausgang, welche besonders in den ana-
kreontischen Liedcheu und Episteln zur Anwendung kamen.
Dagegen griff der parweise gereimte jambische Vierfüssler auf eine
volkstümliche, seit Opitz verschmähte Versart zurück, auf die Hans Sach-
sische, die noch Gottsched''® als Knittelverse gescholten. Scherzhaft gerade
gegen Gottsched von Kost'^ gebrauclit, wurde sie von Goethe von neuem zu
Ehren gebracht und für Dichtungen aller Art im Tone des alten Meisters
verwandt:'"^ seine Freunde''^ folgten ihm und hielten zugleich mit ihm auch
allerlei Freiheiten des Reimes, des Versbaues und selbst der Sprache für
dieser Versart angemessen.
In solchen Gedichten, zumal denen betrachtenden Inhalts vermischt
Goethe auch die Vierfüssler mit längern Zeilen , wie er es auch im Drama,
besonders im Faust gethan hat. Die gleiche Freiheit war den Dichtern, die
sich an franzoesische Muster anschlössen, schon längst durch deren rers lihteti
oder ini'ynliers bekannt. Im Drama erhielt sich diese madrigalische Ab-
wechselung für das Singspiel, auch für die Cantate. In der Fabel war
Lafontaines Vorbild auch metrisch massgebend. Schon weit früher aber war die
Mischung von Zeilen verschiedenen Umfangs von Brockes, auch von Hagedorn*'"
Gcethe 1. 10. 55) s. Ed. ßelling. Die Metrik Schillers, Breslau 1883. 56) CTottsthed
Grit. Uichtk. '(^1742) S. 623: 'Knittelverse. alttVäukisi-he aohtsylbige gestümpelte Reime.'
Breitiuger Grit. Dichtk. 467 fgg. zieht sie wenigstens dem Alexandriner vur. 57) § 148,
76. Schon Ganitz bediente sich des Versmasses zu solchen Zwecken. 58) So in den
um 177;') entstandenen Stücken .Neu eröfl'netes moralisch-politisches Puppenspiel' u. a.; insbe-
sondere aber in 'Hans Sachsens poetische Sendung': spaeter fallen die Parabeln und Legenden
LB. 1123. 59) W'ieland in der Titanomachie 1775; Schiller in Wallensteins Lager.
()0) Hagedorn findet sie geschickt für Übersetzungen aus Horaz. wie er in der Vorrede
Ji
§ 142 SONSTIGE JAMBISCHE UND TROCIIAISCHE MASSE. 317
in Anweiuluno; o-ebracht worden. Dann liebte Wieland besonders seine leichten
*o o
Erzaehlungen'^' in diese Form zu kleiden, und bildete auch seine Oftave
rinie'^'- mit wechselnder Zeilenlänge und Reimverbindung : zuerst in Idris und
Zenide 1767.
Den jambischen Yersfüssen gegenüber treten die trochaischen sehr zurück :
vergeblich empi'ahl Gottsched die trochaischen Achttussler'*-' als prächtig
und majestaitisch sonderlich für Heldengedichte ; auch die VierfÜssler wurden
nur in anakreontischer Dichtung'''* und zwar reimlos angewendet, ausserdem,
dem spanischen Original folgend, von Herder im Cid, mit einem stumpfen
Verse am Ende jedes Absatzes. Fünffüssige Trochseen begegnen in Herders
Cid^^ und in seinen Legenden;'*'^ früher schon hatte Goethe sie wohl nach
dem Serbischen ''^ gebraucht und mit vorzüglicher Kunst ausgebildet.
Dass in lyrischen Gedichten nach volkstümlicher Art der Auftact bald
eintrat bald nicht, und somit jambische und trochaische Zeilen sich mischten,
hängt zusammen mit der Freiheit des gesungenen Yolksliedes auch im inne-
ren Verse doppelte Senkung zu gebrauchen: ja nach diesem Muster hat
Goethe sogar dreifache Senkung^* sich gestattet.
In ganz anderem Sinne ward gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts der
Versuch gemacht die Doppelsenkung in unserer Poesie einzubürgern : sie sollte
dazu dienen den Dactylus m Versen nach antiker Weise herzustellen. Hatte
man früher schon ziemlich kunstlos diese fremden und unserer Sprache
weniger angemessenen Versarten nachgeahmt,^* so sollte nun gerade mit der
Aneignung dieser Masse der Gipfel nationaler Verskuust errungen sein. Zwar
Gottsched, der zuerst dactyhsche Hexameter und Pentameter deutsch nach-
zubilden gelehrt hatte,'** nahm, mit den Leistungen Anderer unzufrieden und
mehr noch über ihre Verschweigung seines Verdienstes erbittert, seine Em-
zu seiueu Oden uad Liedern auseinander setzt: Eschenburgs Ausg 3, XXV. (jl) Komische
Erzffililuugen 1762; doch auch schon sein Antiovid 1752. 62) Ihm folgte Schiller in
den Übersetzungen aus Vergils Aneis 1792. mit besonderer Begründung im Vorwort.
63) Mit "Wechsel des Ausgangs zwischen Cijesur und Schluss: Sprachk. 527 fgg. Allerdings
Schoenaich gehorchte dem Meister und Frau Gottsched übersetzte Popes Lockenraub in dieser
Form. 64) Gottsched übersetzte so zuerst einige Oden Auakreons: dann Götz und L^z
den ganzen Anakreou 1746. Auch Gleim und Hagedorn bedienten sich dieser Versart in
eigenen Dichtungen. 65) LB. 1U7U, 5. 66) LB. 1048, 35. 1056, 20. 67) Dei'
Klaggesang der edlen Frauen des Asan Aga, von Goethe übersetzt, erschien in Herders
Volksliedern 1778. 68) Im Zigeunerlied von 1772. z. B. Da rüttelten sie sich, da
schüttelten sie sich. 69) § 120, 68. 70) Crit. Dichtk. '311. Vgl. namentlich die
318 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVHI .lAHKH. § 142
pfeliluiifT dieser Versarten zurück.'' Aber die nach Mannipjfaltigkeit nnd
Lel)liaftigkoit der Form strobendeu Jjyriker,'- /uiuechsf die des halliscli-
preussisclien Dichterkroises, liessen sich die dactylischcn Masse, und so auch
die Hexameter und Pentameter nicht nehmen. Zuna^chst wurde in lyrischen
Stroplieu eine Zusammcnsot/ung von Yerslussen gewajj^t, welche als dactylisdir
Hexameter mit einer Yorschlagsilhe autgef'asst werden konnte: so von Uz in
einer 1748 gedruckten Frühlingsode"'' von vierzeiligen Strophen; ihm folgte
bald eil. Ewald von Kleist, sowohl mit Oden"' als auch mit dem Lehrgedicht
der Früling'; auch aus dem Leipziger Kreise schlössen sich J. A. Schlegel,
Giseke u. a. an. Den entscheidenden Schritt zur Aneignung des antiken
Hexameters für das deutsche Epos ^^ that Klopstock mit dem 1748 erschei-
nenden Anfang seines Messias. Klopstock setzte auch theoretisch die Vor-
züge des deutschen Hexameters"" auseinander, den er durch ausgeklügelte
Gründe selbst über den homerischen erheben zu können meinte."" Vergebens
dass einsichtige Kenner sich gegen den Hexameter erklfertcn: Hagedorn '~
wenigstens mit kühler Zurückhaltung, Haller"" mit gewichtigen Gründen,
§ 120. G8 angeführte Schrift Wackernagels. 71) Noch schlimmer ist dass er 17:Y) den
Hexametern wenigstens Reime zu geben auffordert: Wackeruagel 8. 67. 72) Ubei
die Mo'gliclikeit des deutschen Hexameters correspoudieren 1742 Budmer und Koenig: Danzei
Lessing 1, 393. 73) § 150, 35. Uz selbst fasste sie anders auf: 'Es besteht dieselbe
aus zwei .Jamben, einem Anapaisten, wenn man genau reden will, abermals zwei .Jamben
und einer kurzen, überbleibenden Silbe. Der zweite Vers ist zusammengesetzt aus zwei
.Jamben und zwei Anapiesten": Seuä'erts Lit. denkm. 33, IV. 74) In den Werken 17G0
1, 12 fgff. befindet sich eine Ode an Herrn Rittmeister Adler, welche 1739 datiert ist:
aber Sauer Kleist S. 48 nimmt das J. 1745 als das der Entstehung an und Nachahmung
der Ode von Uz. Übrigens ist Kleist weniger genau wie l'z. 75) Den Hexameter
auch als dramatisches Versmass zu gebrauchen, diese (Tcschmacklosigkeit war Bodmer vor-
behalten, von dem 1754 'der erkannte Joseph' und '<ler keusche .Joseph', beide freilich aus
epischen Dichtungen dramatisiert erschienen. 76) Von der Nachahmung des griechischen
Silbenmasses im Deutschen: dem Messias 1756 beigegeben; Sprachwiss. Seh. 3, 1 fgg.
77) Sprachwiss. ScJir. 2, 68. Er fand selbst im Heliand Hexameter, ebd. 108. 78) Eschen-
burgs Ausg. 5, 64. 79) Haller hg. v. Hirzel S. 400 in der 1772 verfassten Vergleichunir
seiner Dichtung mit der Hagedorns: 'Mir kommt es immer vor, wenn man Hexameter machen
wollte, wie sie gemeiniglich sind, so waere die Arbeit zu leicht, und leichte Arbeit ist auch
in der Poesie schlecht. "Wollte man aber die Harmonie beibehalten und auch richtige Füsse
von langen und kurzen Silben abwechseln lassen, wie Hr. Uz und v. Kleist . . gethan haben
80 wa^re die mechanische Arbeit sehr schwer. Und einmal fehlt dem deutschen Hexameter
der Spondeus und die einsylbigen Wörter sind zu haeufig*. — Auch J. A. Schlegel im Anhang
zu seiner Übersetzung des Batteux (1759) bezweifelte dass die Hexameter im Deutscheu
nachzubilden seien. Ramler erklärte jeden Hexameter für fehlerhaft, der sich auf mehr
I
§ 142 DACTYLISCIIE HEXAMETER. 319
Lessiug durch stillschweigenden Nichtgebrauch, Bürger^" mit unsicherer,
Heinse'*' mit entschiedener Ablehnung: Bürger ward sogar umgestimmt und
übersetzte die llias nicht, wie er Anfangs gewollt, in fünffüssigen Jamben,
sondern in Hexametern. Und doch war Klopstocks Hexameter nicht einmal
das, was er bei genauerem Anschluss an die antike Kunst, '^^ vor allem mit
Beobachtung der Regeln über die Csesur hätte sein können; auch die ein-
zelnen Hexameter verkettete er durch Enjambements.^^ Für solche Nach-
lässigkeit konnte die soi-gfältige Vermeidung des Hiatus und die gesuchte
Künstlichkeit, mit welcher durch Spondeen Feierliches oder Schreckliches
ausgedrückt wurde oder der Abbruch des unvollendeten Verses einen Still-
stand der Erzielilung bezeichnen sollte,^^^ nicht entschsedigen. Noch weiter
ging Job. H. Voss in diesen Künsten,^' doch bemühte er sich in den Cee-
suren *"' und selbst in der Abwtegung der für die Doppelsenkung geeigneten
Silben dem antiken Vorbild nseher zu kommen.*" Allerdings musste sich
dafür die Sprache manches gefallen lassen.** Freier bewegte sich Goethe,*^
namentlich indem er den deutschen Trochseus anstatt des Dactylus zuliess:
genug wenn nur der Leser gezwungen wurde sechs Mal im Verse die Stimme
als eine Art scandiereu lasse: J. A. Schlegel, Batteux 2, 583 Anm. 80) T. Meix-ur 177G,
4,46. Klopstoek erwiderte iu deu Fragmenteii über Sprache und Dichtkimst 1779, Sprach-
wiss. Sehr. 2. 91 fgg. 'üeher den deutscheu Hexameter.' 81) 1783 verwirft Heiuse
deu Homer von Voss wegen der Hexameter: Briefe zwischen Grleim, Heinse u. Müller
2, 495. 82) Wie uuschceu sind Verse wie Messias V 187 'Vor deu Augen Israels, vor
dem Antlitz der Rcemer'! Diserese hinter dem 2. und 4. Fusse haben im VIII Buch (LB. 819)
die Verse 127. 175. 256. 258. 288. 366. 399. 490. 519. Dactyleu wie IV 534 'Antlitz war\ XIV
145 'Botschaft zu' siml Zuugenprobeu; vgl. ferner V 295 'die schrecklichere der Christen',
319 'des Weltgerichts Wagschäl hält'. Ganz abscheulich sind Hexameter Zacharia^s, wie
Verlorn. Par. IV 'Obgleich der Koeuig des Himmels auf deinen Fittigen fähret'. Wieland
folgte mit seinen Jugenddichtuugen Klopstoek auch in den Fehlern nach. 83) Dagegen
sprach sich Haller in den (rött. gel. Anz. 1771 aus (Tagebuch 1, 352): 'freilich sind wir
noch immer in G-edanken, ein Vers müsse nicht mit einem Worte abgebrochen werden, das
zu nahe mit dem ersten Worte des folgenden zusammeuhäno-t'. Voss verlangte deu Zu-
sanimenfall der rhythmischen und der Satzperiodea. 84) Messias V 325, von Wieland
nachgeahmt: SeuffertLit. deukm. 6, VII. 85) Er verwendet auch den sonst vermiedenen
Amphibrachys zur Malerei iu dem bekanuteu Verse 'Hui'tig mit Donnergepolter entrollte
der tückische Marmor' Od. 11, 598. 86) An Stolberg: Briefe 3, 38 Aum. 87) Noch
genauer gab F. A. Wolf in den freilich nur kurzen Proben seiner Übersetzung der llias jeden
einzelnen Fuss wieder. S. Aug. Schmits, De hexametri Germanici historia, Diss. Boun 1862,
welcher Klopstoek und die Naclifolger bis auf Schiller behandelt. 88) Zahlreiche Filisionen;
Bildung von Spondeen durch künstliclie Zusammensetzung. 89) Übei- den Zwang den
die Regeln von Voss auf Clcethe ausübten s. Heliu (tuithejahrbuch 6, 179. 1808 urteilte er über
Wackernagel, Litter. Goscbichte II, 22
320 NEiniO(liri)EUTS0IIH ZFJT. XVIII .TAIIUIl. § 1 !_'
mehr als bei den folgoiulen ciu oder zwei Silben zu erheben; doch ist auch
bei ihm «'in mehrt'acher Unterschied ilor Zeiten und der J)iclitarten'"' zu
booliaciiten. Zieiidicli frei ist auch Herder, dessen lilumcn aus der griechi-
schen Anthoioj^ie 1780 den epigrammatischen Gebrauch des antiken Disti-
chons bei uns einführten. Schiller gebrauchte diese Formen nur 1795-98,
und iiess sich von Voss zu grcesserer Strenge bestimmen.
Setzt nun schon der deutsche Hexameter und Pentameter einen Leser
mit claasischer Bildung'" voraus, so gelia>rt Kenntnis des Horaz dazu, die
Strophenformen richtig zu fassen, welche den antikem Diclitern nachge-
bildet worden sind. Audi diese wurden von Klopstock zuerst in Deutsch-
land eingebürgert'-'' und zugleich theoretisch empfohlen.'-*^ llamler wetteiferte
dann mit Klopst(jck in horazischeu Stroplien,'-*^ Herder gebrauchte sie mit
voller Kunst, ebenso Voss. Vortrefflich hat llöklerhn diese Formen benutzt.
Dagegen versuchte sich Goethe nur einmal ''■' in der antiken Odeuform, ebenso
Schiller.^'' Lessing, Wieland, Bürger liaben sich ihrer gänzlich entlialten. In
der Tliat fällt es oft überaus schwer bei sinngemtessem Vortrag dieser Oden
zugleich den Rhythmus durchklingen zu lassen: es ward eine Kunst der
Declamation noetig, welche allerdings Klopstock'*^ und llamler sorgfältig
übten. Die über den Text gedruckten Schemata waren nur ein unzulängliclier
Notbehelf. Noch weit mehr aber gilt diese Unsicherheit für die völlig neu
gebildeten Odenformen, in denen sich die Elemente der antiken künstlich
mischten. '^^
— ■ i ' ^Li« I
Voss: 'für lauter Prosodie ist ihm die Poesie ganz entschwunden'. !)0) Nachlässiger ist der
Versbau im Reineke Fuchs, strenger in Hermann und Durotiiea. Die frühsten Hexameter Uck-
thes gehii'ren seiner Leipziger Zeit, dem.J. IKi;") an: Der junge (Id-tlie 1, 11, in einer Schihlerung
(.TOttscheds in Klopstock- Hüdmerischeu Wendungen. 91) Kleist riet daher auch des Lateins
unkundigen Lesern seinen Frühling wie Prosa zu lesen: Sauer Kleist 1, 138. 92) Versuche
aus dem Anfang des 17. .Jahrhunderts: § 120, 68. 7.ö. 93) Vor dem Messias von 17.ÖG:
Sprachwiss. Sehr. 1. 14 fgg. 94-) Doch l)ezweift'lte er 17lj:i dass diese lyrischen Versmasse
bei uns ihr (rlück machen würden: zu Batteux 1, 183. 95) In asklepiadeischer .Strophen-
art: 'Mahomets Nachthymne', 1774 gedichtet, zuerst gedruckt in Schölls 'Briefe u. Aufsätze von
Utpthe' S. läl. 96) 'Der Abend" 1776. 97) § 152,2!». Auch GcBthe pflegte diese
Kunst, doch mehr mit der Absicht den Inhalt zur (ieltung zu bringen. Insbesondere war
sein V^ortratr komischer Stücke unübertrefflich. 98) Die Probe lässt sich leicht an den
Strophen uiacbeu, die dem XX. (iesang des Messias eingetiochten sind. .Moritz, Versuch
einer deutschen Prosodie bemerkt S. 105 fgg. ganz richtig dass die Klopstocksche Ode 'Wenn
der Schimmer von dem Monde nun herab iu die Wälder sich ergiesst' anstatt '-' ^ — ^^j^^ — ^j
^^ — //^^ — ^/^^-r auch als eine Folge kurzer Trochaien gelesen werden könnte. Voss
hat in einem Dithvrambus von ISO«» sotrar vier Kürzen (unbetonte Silben) hintereinander
§ 142 ODEN IN STROPHEN UND IN FREIEN VERSEN. 321
Von hier aus ist nur ein Schritt zur völligen Aufloesung des rhythmi-
schen Bandes, zur freien Folge von Versen verschiedener Art, meist jedoch
von kurzem Umfang, wie mau damals ja auch die pindarischen Oden ab-
teilte."^ Auch diese Form hat Klo[)stock 1754 eingeführt'"*^ und für hohe
Begeisterung besonders geeignet gefunden: er teilte diese Gedichte in vier-
zeilige Abschnitte. '"' Andere'"-^ folgten ihm nach ohne diese Abteilung zu
beobachten: vor allem Goethe, dessen Hymnen,'"^ in kurzen Zeilen mit zwei
oder drei Hebungen dahinrolleud die tiefste Erregung wiederspiegeln. Auch
in die Dramen nahm er sie hinüber, gewissermassen als Ersatz der griechi-
schen Chorgesänge. '*'^ Dass die Form sich besonders zur musicalischen Com-
position eignete, hatten Lessing und Horder "^'' bemerkt.
Neben den antiken Strophenformen erhielten sich diejenigen, welche
bereits früher der Poesie des Auslandes, insbesondere der franzcesischen ent-
lehnt worden waren, ebenso wie die noch älteren, im Kirchenlied erhaltenen,
dreiteiligen.'"^' Von den ersteren wurde das Sonett seltener: '"^ Gottsched
fand es zu schwierig ; '"^ Andere spotteten über die unnütze Mühe ; '"^ die
Verehrer der reimlosen Verse mussten das Sonett erst recht verwerfen. Erst
seit den sechziger Jahren brachten norddeutsche Lyriker das Sonett wieder
auf: meist erotisch und mit Anschluss an italienische Muster.^'" Dann pflegte
gesetzt: LB. 1020, 37; denu so ist z. B. 1021, 4 'schäumenderen Pokal' zu lesen. Vgl. die
Vorrede zu LB. 2, p. XVL 99) Vgl. A. Goldbeck-Loewe, Zur Geschichte der freien
Verse in der deutscheu Dichtung von Klopstock bis Cjcethe, Diss. Kiel 1891. Den nicht
seltenen Adouius hat zuerst Mylius stichisch augewendet: Lessing L.-M. 4, 487. 100) 'Die
Genesung.' 101) 'Die Frühlingsfeier': LB. 859. 102) von Creuz LB. 921, die
Brüder Stolberg ebd. 99Ü, Herder 1042, Schubart 1163. 1170, Maler Müller u. a. 103) LB.
1095 fgg. 104) So in der Iphigenie. 105) Litteraturbrief 51; Fragmente 1. 72.
106) Unter diesen war besonders beliebt, auch für nicht geistlichen aber doch ernsten Inhalt,
eine von 10 viermal gehobenen Zeilen, welche Günther für sein Lied auf Prinz Eugen
gebrauchte: § 147, 5; vgl. Hagedorn ebd. Anm. 28. Mit Vertauschung der männlichen und
weiblichen Ausgänge gleicht ihr diejenige DroUingers § 147, 37 iind die E. Schlegels § 151,
47. Eine ganz sehnliche, worin jedoch die Schweifreime den gekreuzten vorangehen, gebrauchten
J. E. Schlegel 5, 148 uö. J. A. Gramer; Crouegk 2, 198; auch G«the in der Hüllenfahrt
Christi: Der junge GcEthe 1, 79. 107) Wie Canitz, Besser, Kfßnig, B. Mencke gebrauchten
es allerdings noch Günther, Brockes, DroUinger. Vgl. die Schrift von Welti § 120. 83; eine
Samnüung veranstaltete F. Rassmann Sonette der Deutschen, Braunschweig 1817, III. welcher
auch die deutschen Triolette gesammelt hat. 108) Grit. Dichtk. (1730) 487 fgg.
109) Hageilorn beschliesst die Fabel 'der Berg und der Poet' mit den Worten: 'Allein gebt
Acht, was k(mimt heraus? Hier ein Sonett, dort eine Maus'. Oft variiert wird ein scherz-
haftes Sonett, in welchem so lange über Schwierigkeiten geklagt wird bis das Werk unver-
mutet fertig ist: nach Voiture. der es wieder spanischen Dichtern abgesehn. 110) Jon.
322 NEIJHOCHDEIITSCITE ZEIT. XVIII .IAH KU. § 142
Bürger um 17.S!) diese Form, und gab ihr ebenfalls besonders Liebes-
tändelei zum Inhalt.'" Ihm schloss sich, ausser A. W. Schlegel, der spteter
das Sonett auf das feinsto auszubilden und es zur lyrisch-didactisehen Lieb-
lingsform zu erheben suchte, von älteren Dichtern besonders Joli. Arnold
Ebert "" an. Freilich dem überschwäiiglichen Preise der Romantiker gegen-
über verwarfen viele Angeho'rige der alten Schule"^ das Sonett; aber Go^the
liess sich umstimmen und feierte eines seiner sparten Liebesvcrhältni.sse '"
durch Sonette.
Wie im Scmett die ältere Willkür und Nachlässigkeit in der Nach-
ahmung eines südlichen Vorbildes einer strengeren, kunstgema^sseren Behand-
lung wich, so geschah es auch mit der Stanze, der achtzeiligen, dreireimigen
Erza^hlungsstrophe. Der freieren Nachbildung Wiolands,"'' dem spteter aller-
dings noch Scliillcr"" sich anschloss, setzte Heinse seine genau in elfsilbigen
Zeilen und mit dreimal gekreuzten Reimen abgefassten Offare rinie entgegen; "^
und dies Beispiel wirkte auf Goethe, dessen Zueignung' ursprünglich die gauz
in dieser Form geplante Erzsehlung 'Die Geheimnisse' eröffnen sollte.""
Der freiere Versbau hatte inzwischen eine angemessenere Stelle gefun-
den in den Nachahmungen des strophischen, gesungenen Volksliedes,
welches in Herder einen ebenso feinsinnigen als begeisterten Lobredner fand.
Diese Würdigung des Volksliedes ging von England aus, wo der Spectator
das alte Lied von Chevy -Chase auch in seiner Form als Muster hingestellt
hatte: diese Strophe von vier abwechselnd viermal und dreimal gehobenen
Jamben ahmte Klopstock 1749 in einem ursprünglich Friedrich dem Grossen
geltenden Liede,"^ dann Gleim in den Kriegsliederu des Grenadiers nach,
AVestermann, geb. 1742 zu Geismar, gest. zu Bremen 1784: 'Die allerneuesten Sonuetten',
Bremeu 1765 — 67, die meisten in Alexandrinern, und über mythologische Stoffe aus Ovid.
Dann D. Schiebeier (§ 155, 74): 'Auserlesene Gediclite" hg. von Eschenburg 1773 S. 175.
Ganz besonders aber Klamer Eberhard Karl Schmidt, dessen Sonette im T. Mercur 1776,
April u. Sept. erschienen (§ 155, 51). 111) Doch vgl. § 15S, 97. 112) § 151, 36:
seine Sonette erschienen im Musenalmanach von Voss für 1794. 113) Herder Adrastea
1803; .1. Paul, Vorschule der Ästhetik 18U4: Voss im Morgeublatt 1808, vgl. LB. 1023. 27
fgg.; .T. Baggesen 'Der Karfunkel- oder Klingklingelalmanach auf 1810'. Doch dieser Sonetteu-
krieg von 1803 — 1809 gehoert mehr der folgenden Zeit an. 114) Minna Herzlieb 1807:
§ 160, 96. Früher fällt u. a. das schcene Sonett 'Natur und Kunst' in dem Vorspiel 'Was wir
bringen' 1802. 115) Anm. 62. 116) Anm. 63. 117) Anhang zu Laidion 1774;
allerdings noch mit abwechselnd stumpfen und klingenden Schlüssen. Gleichzeitig wurde in
Übersetzungen italienischer Dichtungen durch Werthes (T. Mercur 1774 2, 293 fgg.) die
ursprüngliche Form völlig beibehalten. 118) LB. 1124. § 160, 64. 119) § 152, 42.
§ 143 SONETTE, STANZEN. VOLKSLIEDSTROPHEN. 323
und zahlreiche Andere'-" folgten. Weitere Strophenformen des englischen
Volksliedes wurden durch Percy's Rcllques 1 764 bekannt und fanden eben-
falls Nachahmer in Deutschland; Herders Sammlung der ' Volkslieder' 1778
vermehrte noch die Zahl der Vorbilder.
Die Freiheiten des Volkshcdes, welches Senkungen doppelt setzte oder
auch ganz ausUess und ebenso den Auftact behandelte, abgekürzte oder sonst
ungewcehnliche Wortformen gebrauchte, wurden gelegentlich auch in das
Lied*-' der Kunstdichter übertragen und selbst in das Drama mit volkstüm-
licher Sprache und Versart.'" Die Kunstdichtung dagegen gestattet sich
gern Tonversetzung, welche durch schwebende Betonung wieder ausge-
glichen wird, wenn die nsechste darauf folgende Silbe weder inhaltlich noch
lautlich gegen das leichte Hervorheben einer an sich schwachen Silbe
widerstrebt.'-^
§ 143.
Unter den Dichtgattungen galt nach den Lehren der Renaissance' die
Epik als die hoechste und Versuche darin mit den berühmtesten Mustern
des Altertums und des Auslandes zu wetteifern erneuerten sich das ganze
achtzehnte Jahrhundert hindurch. Dass das wahre volkstümliche Epos
überall unter Verhältnissen entstanden war, welche der Neuzeit und ihrer
Kultur durchaus fern lagen, lernte man erst gegen Ende dieses Zeitraums
einsehn.^ Von den verschiedenen Wegen das Ideal des Epos, wie es der
Zeit vorschwebte, zu verwirklichen führte am weitesten die Verherrlichung
der heiligen Geschichte, das religicese Epos nach Miltons Vorbild.^ Klop-
120) Weisse, Gerstenberg, beide 1762; Lavater 1767: Gessner im Lied eines Schweizers an
sein bewaffnetes Mädchen war schon 1756 vorangegangen: § 150, 24. 78. 121) So singt
Goethe 'Ich hab" mein' Sach' auf nichts gestellt"; Freiheiten die in einem ernsten Gedicht mit
Sprechton kaum zu finden sein dürften. 122) Goethes Faust reimt Gebetbuch : Geruch
u. a. und im Zauberspruch: Trauben trsegtder Weinstück, Hörner der Ziegenbock. Schiller in
Wallensteius Lager hat zahlreiche Doppelsenkungen. 123) Vgl. bei Schiller: das fürchtbare
Geschlecht der Nacht; die Feldflasche noch geh ich drein. Eine Ausnahme ist im Prolog zur
Jungfrau von Orleans, 3 Auftritt: 'Sind friedliche Landleute'. Vgl. Assmus, Die äussere Form
neuhochdeutscher Dichtkunst, Leipzig 1882 S. 167; Z. f. deutsche Philol. 23, 367.
§ 143. 1) Gottsched Grit. Dichtk. 1, 137. Klopstocks Abschiedsrede von Schulpforta
§ 152, 2. 2) F. A. Wolf, Prolegoviena ad Homerum, 1795. Herder. 'Homer ein Günstling
der Zeit', zuerst in den Hören 1795. Auf die andersgearteten Bildungsverhältnisse der home-
rischen Zeit hatte Blackwell hingewiesen, dessen Untersuchung über das Leben und die
Schriften Homers von Voss übersetzt worden war, Leipzig 1776. 3) Gegen dieses
wie gegen die biblische Komcedie wandte Gottsched ein dass dadurch die heilige Geschichte
:}24 NEUIIOCMIDEUTSCHE ZEIT. XVIII JAIIKII. § 143
Stocks Messias gab den edelsten Genuitcrn eine Zeit lang das Gefühl der
hocchsten Befriedigung. So selbständig übrigens der junge Dichter den Plan
getasst hatte, so war ihm doch schon Bodiner mit dem (irundriss eines epi-
schen Gedichtes von dem geretteten Xoah' zuvor gekommen;^ nach dem Er-
scheinen des Messias schloss sich ßodmer auch in der Form eng an dies
Vorbild an und führte Wieland zu eben solcher Nachahmung. Allein diese
und andere,'' noch mehr misslungene Versuche trugen nur dazu bei das
religicpse Epos in Missachtung zu bringen, welches selbst in Klojtstocks Hand
den ursprünglichen Hotinungen nicht entsprochen hatte und durch Lavater
vergeblich mit Hervorhebung der frommen Absichten über die poetischen
erneuert worden war.''
Das rein historische Epos, wozu jene Zeit das Muster in Voltaires
Henriade sah, hatte gleich Anfangs Gottsched im Kampfe gegen Klopstock
als das allein berechtigte hinzustellen versucht und die Machwerke seines
Schülers Schoeuaich^ als treffliche Proben dieser Dichtart gepriesen. Auch
J. E. Schlegel begann 1742 ein Heldengedicht in Alexandrinern auf Hein-
rich den Loewen. Wieland gab 1759 seinem ebenfalls unvollendeten 'Cyrus'
Beziehungen auf Friedrich den Grossen; Gh. E. v. Kleist legte gleichzeitig
in Cissides und Faches' die heldenmütige Begeisterung des prcussischen
Heeres; Friedrich den Grossen, dann Gustav Adolf gedachte auch Schiller
um 1790 episch zu verherrlichen. In voller Abwendung von der Gegenwart
und von der vaterländischen Geschichte unternahm es dagegen Goethe die
Ilias durch eine 'Achilleis" fortzusetzen. Und doch hatte er in Hermann und
Dorothea" einer Idylle auf zeitgeschichtlichem Grunde wenigstens den Hinter-
grund des grossen Epos zu verleihen gewusst.
Mehrere der genannten Werke und noch andere bezeugten schon da-
durch dass sie unvollendet blieben, die Schwierigkeit, welche der Nachahmung
des antiken und des neueren, religioesen Epos anhaftete. Auch eine andere
Art des neueren Epos, das romantische des Ariost, wurde zwar von Wie-
land und seinen Nachahmern'^ angebaut, aber nur von ihm und nur im Oberon
zu anerkannter Trefflichkeit gebracht.
in den Verdacht der Fabeln gebracht werde: Grit. Beytr. 7. 582. 4) § 149. -.'T.
fi) § 148. 64. b) § 15."). Doch liess noch 1810 (j. A. v. Hale.m ein hexametrisches
Gedicht Jesus der Stifter des Gottesreiches' zu Hannover erscheinen, welches im Gegen-
satz zu Mystik und Wunderglauben den Gegenstand durchaus menschlich und historisch
darstellte: G. .Jansen," Aus vergangenen Tagen, Oldenburgs litterarische und gesell-
schaftliche Zustände, 1877. 8. 198, 7) § 148, GO. til. 8) § 153. 162. lU. 41.
§ 143 EPOS. FABEL. 325
Noch mehr stellte sich dem ernsten Epos das komische entgegen,
welches vielfach geradezu als Parodie auftrat. Auch hierfür bot das Ausland
Muster in Boileaus Liiirin und, noch beliebter, und überdies der Zeit nach
noch naeher, in Pope's Rai)e of ihe lock.^ In Deutschland trat im Anschluss
an Pope zuerst Rost"' hervor, dessen 'Tänzerin' 1741 allerdings in Prosa
abgefasst war;^' bald folgten Pyra mit dem Bibliotartarus '' und Zacharia;,
von dessen teils in Alexandrinern, teils in Hexametern abgefassten komi-
schen Epopoeen der Renommist' 1744 am frischesten sich erhielt. Zahlreiche
Dichtwerke dieser Art, von denen jedoch viele im Entwürfe oder im Anfange
stecken blieben, lockte der Dichterkrieg zwischen Leipzig und Zürich hervor. '^
Wiederum mehr allgemeiner Art, auf gewisse Stände bezüglich, zeigt sich
die Satire in der Prosaerzaehlung 'Wilbelmine' von Thümmel 1764. Auch den
Gegenstand der alten epischen Musterdichtungen verspotteten Michaelis und
Blumauer, welche beide die Aeneis travestierten.^* Goethe erneuerte 1794
in Reineke Fuchs das alte deutsche Tierepos und seine Satire gegen den
gesammten Weltlauf.
Damit schloss zugleich in gewisser Weise die Pflege einer kleineren
Gattung von poetischen Erzeehlungen, die Fabel. Sie war eine Lieblings-
gattung des achtzehnten Jahrhunderts bis über seine Mitte hinaus gewesen:
nur dass sie vielfach mit der kleinen Erzsehlung zusammen geworfen
wurde.'"' Schon die Theorie wandte ihr ein vorzüghches Augenmerk zu:
Breitinger erklserte sie für die vollkommenste Dichtart. Die Muster des
Auslandes, unter den Franzosen ^** besonders das Lafontaines, wirkten mächtig
ein. So leisteten auf diesem Gebiete namentlich^' Hagedorn, Geliert, Licht-
wer, PfefFel Yorzügliches. Lessing führte auch hier Lehre und Leistung
weiter: seine knappen Prosafabeln, 1759, schlössen sich nseher an Aesop an,
übertrafen aber an geistreichem Bezug auf die gleichzeitigen Verhältnisse,
9) Übersetzt von Frau Gottsched. Lpz. 1744. 10) Bodmer gibt Rost als Verfasser
an: 'Die DroUingersche Muse' V. 201 fgg. Ebenso Kleist 1753: bei Sauer 2, 225: dieser
weist in der Anmerkung vielmehr auf Lamprecht hin (§ 148, 73). 11) Zu Berlin
erschienen: wieder abgedruckt in Ch. H. Schmid Anthologie der Deutschen, Frankf. u.
Lpz. 1770, 2. 12) § 150, 11. 13) § 148, 65. 66. 153, 8. 14) § 155, 50.
162, 44. 15) Wolrad Eigenbrodt, Hagedorn und die Erzshlung in Reimversen,
Berlin 1884. Von der ungeschickten Behandlung der Fabel in älterer Zeit gibt ein Beispiel
der 'Auszug aus Aesopi Fabeln' von J. F. Riederer, Coburg 1717. worüber Weichmann,
Poesie der Xiedersachsen 3, 12 fgg. Xaeheres mitteilt. 16) Eine Übersicht der fran-
zoesischen Fabeldichter, soweit sie für Pfeff'el in Betracht kommen, bietet PoU, Strassb.
Stud. 3. 17) Eigentümlich sind die wenigen Fabeln Hallers : meist Prosaerzsh-
320 NEUHOCIIDEUTSCIIK /KIT. XVJIJ JAJIKll. § 143
besonders die litterarisclion, iillo Mifl)cwerber. "* Wie Lcsslug gern ältere
Fabeln unidirhtete, so erweiterte Herder die antiken Mytlien in seinen Para-
niytliien, einer Abart der Parabeln.''' Ebenso erneuerte Herder die Jje-
gendendichtung, worin ihm Kosegarten und Andere folgten.
Feiertc Parabel und Legende die erhabene Schopnheit der Religion, so
fand, mit noch weit reicherer Entfaltung, die Unschuld der ursprünglichen
Natur ihre Darstellung in der Idylle. Noch Gottsched fasstc sie wie die
Dichter des siebzehnten Jahrhunderts als Schafergcdicht,*® und seine Zeit-
genossen, wie Kost, glaubten auch schlüjifrige Scenen mit diesem Namen be-
schocnigen zu dürfen. Eine ganz iileale Schaferwelt schilderte Kleist in
Versen, öal. Gessner in einer gehobenen Prosa: diesem eiferte namentlich
8eb. Bronner mit Fischeridyllcn nach. Von den griechischen Scenen, bei
welchen er die Faunen Arkadiens besonders im Auge gehabt hatte, ging
Maler Müller zur derben deutschon, pfälzischen Natur über. Poetische Form
und das griechische Muster Theocrits, aber nach seiner niederdeutschen Hei-
mat übertragen, brachte Joh. Heinrich Voss wieder zur Geltung: und nicht
bloss die Bauern, auch die Landgeistlicheu wusste er idyllisch darzustellen.
Führte er für ersterc, nach Theocrits Beispiel, die Mundart in die Litteratur'
ein, so fand dieser Vorgang in Hebel eine noch glücklichere Fortsetzung.
Für Fabel und Idylle hatte die Kunstdichtung von jeher kleinere Ge-
dichte bevorzugt; allma^hlich lernte man aus der Volkspoesie auch das erza^h-
lende Lied ernsten, rührenden Inhaltes kennen^' und begann es nachzubilden.
Zunächst regte sich noch der hochmütige Spott der Gebildeten, und die
liomanze, wie sie nach dem Franzccsischen des Moncrif zuerst von Gleim
1756 wiedergegeben wurde, sollte anfänglich nur Parodie der Bänkelsänger-
gedichte sein, wozu sowohl Liebesgeschichten der Gegenwart als antike oder
liing. dann die Moral in Versen: Hirzels Ausg. 8. 1<^8. 18) § lö4, 22, wo anch
Bodmers Streitschrift gegen Lessing angeführt ist. Einen neuen Reiz suchte Wiihuuov
der Fabel durch dialogische Einkleidung zu geben : § 15.5. 38. 19) § 157, 40. 41.
20) Gottscheds Empfehlung des Natürlichen verspottete J. Ad. Schlegel § 151, 77: sjia;ter
besprach er die ganze Gattung recht unklar in seinem Batteux, Einschränkung. 3. Aufl.
Lpz. 1770 11 345 'Von dem eigentlichen Gegenstande der Schaiferpoesie': er unterscheidet
davon die Landgedichte d. h. solche, die das Landleben schildern. Dass die bisherige Vor-
stellung nach 1770 zu veralten begann, zeigen die 'Idyllen der Deutschen', Frankf. u. Leipzig
1774. 75, worin es heisst dass die eigentliche Zeit dieser Dichtung vorüber sei. Vgl. über
die ganze Gattung und ihre Geschichte 0. Netoliczka, Schieferdichtung und Poetik im 18. Jh.
Vierteljschr. iL 1—89. 21) Hagedorn im Vorbericht zu den Oden und Liedern 1747
gedenkt neben den lappischen, kosakischeu, skandinavischen, amerikanischen Liedern auch
I
§ 143 IDYLLE. ROMANZE. BARDENDICHTUNG. 327
deutsche Sage den Stoff geben mussten.-" Erst Percy's^'' Reli/iues of ancient
Enfilish poeiry, 1765, gaben eine Avürdigere Vorstellung von der Balladen-
poes ie,^^ welche namentlich Herder ausführte und verbreitete."" Bürger,
welcher früher und spaeter der älteren Auffassung sich anschloss, gab doch
durch seine Lenore' 177-4 das erste und wirkungsvollste Muster einer dich-
terischen Erzffihluno^ im Volkston und mit volkstümlichem Inhalt. -^^ Von
den zahlreichen Nachahmungen,-^^ mit denen sich freilich allerdings wieder
komische Versuche mischten,-'* hoben sich die von Goethe und Schiller wett-
eifernd im Balladenjahre 1797 gedichteten glänzend ab: sie zogen auch die
Sagen des classischen Altertums in den Bereich der Romanzendichtung und
fanden in Schillers Behandlung Gelegenheit zu edlen Lehren. In der Weise
des alten Epos zum Cyclus vereinigt erschienen die Romanzen vom Cid in
Herders Bearbeitung 1803.
Noch mehr lyrischen Charakter tragen die unmittelbar an Zeitereig-
nisse sich anschliessenden Lieder, welche Gleim ebenfalls einführte : in ihnen
erscheinen die älteren geschichtlichen Volkslieder kunstmajssig nachgebildet.
Gleims Kriegslieder eines preussischen Grenadiers 1759 regten vielfach zur
Nachahmung an.^'-' Mehrere dieser Nachahmer kleideten ihre Helden in
Tracht und Sitte der germanischen und besonders der nordischen Vorwelt
mit mancherlei ertrseumten Zügen: dazu gab Gerstenbergs Gedicht eines
Skalden 1766 den Anstoss, Klopstock folgte und rasch erhob sich, rasch
verstummte aber auch wieder die 'Bardendichtung', welche durch
Macphersons Ossian 1765 noch eine besonders düstere Färbung erhalten
hatte. ^«
der spanischen Romanzen und englischen Balladen. 22) Gleim § 150. Zacharite § 151.
34. Schiebeier § 1.55. 74. Raspe § 158. 24. Hölty § 1.58, 66. Auch in Weisses Singspielen
'Der lustige Schuster' ua. ist Romanze eine gesungene Gespenstergeschichte. J. F. Lcewen.
dessen Romanzen 1762 erschienen, wird von Grüner in Thümmels Leben S. 23 der erste
glückliche Romanzendichter genannt. Vgl. P. Holzhausen, Die Ballade und Romanze bis
zu ihrer Ausbildung dun-h Bürger: Zs. f. deutsche Philol. 1.5, 120 fgg. 297 fgg. 2'6) Seine
Sammlung ist aus der Handschrift herausgegeben worden : ' Bishop Percy's Folio Munu-
script ed. hy Haies and FumicaU, London 1868. 24) Der Unterschied der Ballade
und der Romanze ist ein schwankender: erstere ahmt mehr das nordische Volkslied nach,
hat düsteren Inhalt, liebt Freiheiten in Versmass und Reim; die Romanze hält sich an die
spanische Dichtung, verherrlicht besonders den Ritterdienst. 25) § 157. 33. 34.
26) !;. 1.58, 26 fgg. 27) Von den Brüdern Stolberg, Jung-Stilling. Maler Müller u. a.
28) Namentlich wurden die Gedichte dieser Art von Langbein beliebt: § 162, 47 fg.
29) § 150, 24. 30) 155, 13. 10—35. Eug. Ehrmann, Die bardische Lyrik im 18. Jahr^
328 I^EüllOCllDEUTSCliE ZEIT. XYlIl JAllKlI. § 143
Loestc sich in der Uoman/.e imil Ballade die orza^blende Dichtung in
kleine lyrische Gedichte auf, so warf auf der anderen Seite die kunstvolle
ErzH'hluni,' auch erfundener Geschichten von groesserer Ausdehnung das Ge-
wand der Verse ab: an die Stelle des Epos trat der Roman. Die umfäng-
lichen, aber formlosen Schriften dieser Art aus dem 17. Jahrhundert wurden
noch lange gelesen.". Die Kunstgattung des Romans, welche auf psycholo-
gische Wahrheit und auf dramatische Spannung ausgeht, entwickelte sich aus
der Sittenschilderung der moralischen Wochenschriften. Aber Deutschland
übernahm gleich das Ergebnis dieser in England vollzogenen Umgestaltung.
Richardsons Romane wurden von Geliert, Hermes u. a. nachgeahmt. Wie
in England dem sentimentalen Roman der frivole, dann der humoristische
entgegen trat , so übernahm es Wieland in Deutschland die Schwärmerei zu
enttäuschen: nur dass Fielding, Smollct, Sterne englische Zustände und
Sitten geschildert hatten, wtelirend Wicland seine Helden im griechischen
Altertum oder sonst auf südlichem Schauplatze ihre Schicksale erleben
Hess. '2 Rousseaus Roman 'La nouvelle HrloUe' 1761 gab neue Anregung:"'
ihr entsprang Goethes Werther, der erste deutsche Roman, welcher der
Wcitlitteratur angehcert. Heinse brachte die Kunst als glücklich gewaehlten
Stoff in den Roman ; aber w«?hrcnd er diese Verbindung nur a?usserlich her-
stellte , wusste Goethe in Wilhelm Meister die innerste Entwickelung des
Künstlers mit seinen Lebcnsschicksalen zu verflechten. Endlich suchte der
deutsche humoristische Roman, wie Hippel und vor allen Jean Paul ihn aus-
bildeten , den tiefsten Ernst und das weichste Gefühl mit ausgelassenem
Scherze zu verbinden. Daneben ward das erwachte Lesebedürfnis der grossen
Menge durch die Ritter- und Ra?uberromane , die sich an Dramen Goethes
und Schillers anhängten, immer von neuem gereizt und befriedigt.
hundert. Halle 1892. 31) Über diese s. § 134. Hercules von Buchholz ist das Lieblings-
huch der schoenen Seele im W. Meister d. h. des Frl. von Klettcnberg (§ 160, 17). Jung-
Stilling las um 1760 die asiatische Banise, Hercules u. a.: s. Lebensgeschichte S. 176 fgg.:
Kosegarten um 177»! ebenfalls die asiatische Banise: Franck S. 21: Matthisson die Octavia
des He?zogs Anton Ulrich von ßraunschweig: Erinnerungen. Wiener Ausgabe 1815, 4, 213.
Zahlreich waren auch die üppigen Abeuteurergeschichten, welche den Vorteil allerdings vor
den spseteren Romanen voraus hatten dass der Leser den Ausgang in keiner Weise vor-
anssehn konnte: so K. v. H., 'Der im Irrgarten der Liebe herumtaumelnde Cavalier',
Warnnngsstadt 1746 u. a. 32) An Wieland, dessen Agathon Lessing gelobt hatte
(,§ 151. 22\ knüpfte von Blankenburg an. Versuch über den Roman', (ohne den Namen des
Verf.) Leipzig und Liegnitz 1774: Entwickelung der Charactere war seir.e Hauptforderung.
33) Erich .Schmidt, Richardson, Rousseau und Goethe, Jena 1875.
§ 144 ROMAK. LYRIK. 329
§ 144.
Mehr als der epischen Dichtung war es der Lyrik unserer Dichter im
achtzehnten Jahrhundert gegeben, das Ilcechste zu leisten: die Wahrheit und
AVärme des Gefühls, die Gedankentiefe, welche vor allen Goethe und Schiller
in ihre lyrischen Gedichte gelegt haben, sichert diesen für alle Zeiten den
Ruhm der deutschen Yolksseele den treusten Ausdruck zu verleihn. Eben
jene Subjectivitaet des Urteilens und Empfindens, jene Abgeschlossenheit des
Privatlebens, welche der ganzen Zeit eigen sind, musstc den Boden für eine solche
Dichtart besonders günstig zubereiten. Freilich dauerte es lange bis die
vielfach hohle und rein auf Richtigkeit und Zierlichkeit der Form gerichtete
Lyrik des vorhergehenden Jahrhunderts und besonders seiner letzten Jahr-
zehnte sich so glücklich umgestaltete. Erst gegen die Mitte des achtzehnten
Jahrhunderts überwand das wahrhafte und nun oft überschwänghche Gefühl
die kalte, auf äussere Zwecke bedachte Fest- und Gelegenheitspoesie, die so
oft auf Bestellung, 'in fremdem Namen' geübt worden war und gerade deshalb
auf Nachsicht Anspruch zu haben glaubte.^ Nur zu lange erhielt sich auch
der Gebrauch erträumte Yerhältnisse , etwa der Liebe, -^ zu besingen; und
üppige Schilderungen sollten dann als reine Spiele der Phantasie entschuldigt
sein. Und ein guter Teil von dem lyrischen Reichtum dieser Zeit fällt
den Nachahmungen zu, welche die einem Dichter gelungenen Gedanken und
Wendungen vervielfältigten und eben hierdurch verblassen und sich abschwä-
chen Hessen. Dazu kamen die mannigfaltigen Einflüsse des Auslandes und
des Altertumes, in Folge deren die Lyrik dieser Zeit zwar ein überaus
reiches, aber auch buntes und verwirrendes Bild darbietet.
Ein Hauptunterschied ward allerdings dadurch hervorgerufen dass ein
Teil der lyrischen Gedichte für den Gesang bestimmt war oder doch
dafür bestimmt zu sein vorgab. Dies gilt ganz besonders von der geistlichen
Lyrik, welche sich meist in den Formen des alten Kirchenliedes fort-
bildete und eine durch seusseren L'mfang noch immer ansehnliche Pflege fand,^
§ 144. 1) Bei Herders Tod sprach Goethe den Wunsch aus dass die Trauerdichtung,
mit welcher man Klopstock noch gefeiert habe, stumm bleiben möchte: Groethejahrbuch 7, 298.
2) Noch Lessing spricht so von seinen Liebesliedern seinem Vater gegenüber: IJanzel
Lessing 1, 121. Ähnliches bei (xleini und Jacobi. Ch. Fei. Weisse richtet 1778 'an die
Muse' die Worte: 'Verzeih, wenn ich zu schwach gespielet! Die Lie])e fordert unser Herz:
Das Wenigste hab' ich gefühlet! Das Meiste sang ich bloss aus Scherz . . Ich sang vom
süssen Saft der Reben und Wasser trank ich oft dazu'. Lindner (Anm. 13) S. 90.
3) Aug. Jac. Rambach, Anthologie christlicher tjesänge, Bd. 4—6, Altona und Leipzig
330 NEUIIUCJIUEUTÖCJIE ZEIT. XYJII .lAlllill. § 144
ja sich über die Griinzon der prütestantischcu I^ekcnntiiissc mich in die katho-
lische Kircho der Aufkla3rungszcit verpflaiute.* Innerhalb der evangelischen
Kirohenliederdichtung trat bald nach der Mitte des Jahrhunderts dem bis-
herigen, entweder dürr dogmatischen oder überschwänglich pietistischen-* Grund-
zuge gegenüber eine Umwandlung ein, welche durch die Teilnahme der
angesehensten Lyriker veranlasst war: Geliert und Klopstock gaben auch dem
Kirchenlied das Gepränge des Jahrhunderts. Jener verband mit Innigkeit
und Einfachheit einen klaren, fliessenden Ausdruck; dieser übertrug auch in
die geistliche Dichtung seine Begeisterung, IVeilich auch seine ungewoühnlichc
und für die meisten Kirchenbesuchcr unverständliche Redeweise. Selbst durch
Einführung eines Wechsels zwischen Chor und Gemeinde suchte Klopstock
diesen Teil des Gottesdienstes zu beleben uud zu erhoeheu. Für die Folge-
zeit ward freilich Gellerts Richtung, die so ganz den aufgeklicrten Bürger-
stand ansprach, die massgebende: unter den Liederdichtern des Rationalismus
vertrat August Hermaxk Niemkyer" am würdigsten diese Richtung, wäh-
rend sie sonst vielfach in das Platte und Gemeinnützliche ausartete.^ Be-
zeichnend und bedauerlich ist es namentlich dass in dieser Zeit die Abände-
rung älterer Lieder aus Gründen nicht nur der Sprache uud Verskunst,
sondern selbst des dogmatischen Lihalts beliebt wurde: Klopstock*' gab selbst
1822— .3.3. Ed. Emil Koch, fTeschichte des Kirchenliedes und Kirchengesanges der christlichen,
insbesondere der deutschen evangelischen Kirche, 3. Aufl. Bd. 4 — 6, Stuttgart 1868 — 69.
4) Koch 4, 196. 5, 187. 6, 541. Sr-hon 1773 erschienen von dem Exjesuiten F. X. Riedel
(1737 — 75): 'Lieder der Kirche aus den roemischen Tagzeiten uud Messbuch übersetzt'; 1777
zu Landshut von Joh. Franz Seraphim von Kohlbrenner Der geistliche Gesang zum
Gottesdienst in der roemisch-katholischen Kirche'. Vgl. auch Ernst X. Turin, Sammlung
geistlicher Lieder; Mainz 1778. Denis dichtete 1779 fgg. deutsche Gedichte für den Kirchen-
gesang: Hofmann-AVellenhof S. 55: ebenso Ignaz Feller zu Freiburg i. B. Hier vert'asste
G. Jacobi Lieder auf katholische Feiertage. Etwas sp;eter fallen die geistlichen Lieder von
Ignaz Heinhich vox Wes.senberg, geb. 1774 zu Dresden, Verwalter des Bistums Constanz,
spseter bis 1827 des Erzbistums Freiburg, gest. 1860 zu Constanz. 5) Vgl. § 128.
Unter den pietistischen Dichtern ist noch besonders Carl Heinrich von Bugatzky
(1690 — 1774) hervorzuheben. Den pietistischcn Zug vertraten die sog. Ccethener Lieder,
welche erst stückweise gedruckt, seit 1736 gesammelt erschienen: Koch 4, 433. Gegen ihre
arienhaften weichlichen Melodien mit ihrem tänzelnden Trippeltact eifert Herder, Briefe über
das Studium der Theologie 1780. Koch .5, 383. 6) Geb. 1754 zu Halle, starb Niemeyer
ebenda 1828 als Director der Waisenliausanstalten, Professor und Kanzler der Universitaet.
Seine 'Auswahl einiger vorzüglichen neueren geistlichen Lieder zum Privatgebrauch' erschien
1782, sein 'Gesangbuch für hcphere Schulen und Erziehungsanstalten' 1785. 7) Eambach
6, IV führt Lieder an über die Schutzblattern, über Schonung der Ba-ume, Gespenster-
furcht u. ä. 8) Im Anhang zu seinen geistlichen Liedern 17.58. So fasste J. A. Gramer
§ 144 KIRCHENLIED. 331
das Beispiel, am schlimmsten ging Basedow^ vor; Herder'" trat zuerst wieder
öffentlicii für das Reclit der alten Dichtung ein.
Geliert und Klopstock dichteten vielfach auf ältere Choralmelodien;
aber es fehlte auch damals durchaus nicht an neuen Compositionen insbeson-
dere für die geistlichen Dichtwerke groesseren Umfanges und von wechselnder
Strophenform, für die Cantate und das Oratorium. Wirkten doch (ieorg
Heinrich ][ändel (1685 — 1759), Joh. Sebastian Bach (1085 — 1750), Carl
Heinrich Graun (1701 — 1759), Joh. Adam lliller (1728 — 1804) in diesem
Jahrhundert, das freilich, wie die angefülu-ten Namen zeigen, einen Über-
gang der Musik vom Grossen und Strengen bis zum Gefälligen und Leichten"
sich vollziehen sah. Und so bildeten auch die Dichter gerade diese mehr
dramatischen Gattungen der geistlichen Lyrik jetzt aus: Brockes, Ramler,
Herder sind auf diesem Felde neben geringeren Namen '^ zu nennen.
Auch die weltliche Liederdichtung ward mehr und mehr wneder der
Verbindung mit der Musik zugeführt, freilich anfänglich auf einö so künstliche
Weise, dass nur ausgebildete Sänger ihr genügen konnten.'-' Leipzig und
Hamburg gingen voran: dort wurden u. a. Günthers'^ und Gottscheds,'^ hier
Hagedorns'" Lieder componiert. Berlin folgte, wo Ramler '^ auch für solche
z. B. deu Anfang des Lutberliedes nun iu folgende Form: 'Ein starker Schutz ist unser
Gott! Auf ihn steht unser Hoffen' Koch Kircheul. 6, 217 fgg. 9) Uuiversalgesangbuch zur
geselligen und unaüst<jBssigen Erbauung auch für solche Christen, welche verschiedenen Glaubens
sind, Berlin und Altona 1767. 10) Vorrede zur 1. Ausgabe des Weimariscbeu Gesaugbuchs
1778: Koch 6, 255. Schon 1767 hatte Kästner in einem Briefe an Weisse (Kästners Werke
4, 74) sich gegen diese Abänderungen ausgesproclien. Falk, Neueste Sammlung kleiner Satiren,
Berlin 1804 S. 243, bringt 'verbaUliornen' in Verbindung mit dem Namen des Geueralsuper-
iuteudenten Ballhorn, welcher die alten Gesangbücher verbessert, die neuen eincfefülirt und
den Arm der weltlichen Regierung dazu in Anspruch genommen habe. In der That ent-
standen Unruhen über die neuen Gesangbücher in Berlin 1780, iu Würtemberg 1791 : Koch
6, 243. 252. 11) Bezeichnend ist dass Hermes die in seinen lloman 'Sophiens Reise'
(§ 155, 90) eingeschalteten geistlichen Lieder z. Th. auf Operettenarien Hillers dichtete.
1'2) Munter in Gotha 1761, Patzke in Magdeburg 1766, Niemeyer in Halle 1777: Koch
Kirchenl. 6, 296. ;3.52. 371. 13) Ernst Otto Lindner, Gesch. d. deutschen Liedes im
18. .Jahrhundert, hg. v. L. Erk, Leipzig 1871. 14) Sperontes Singende Muse an der
Pleisse 1736. 15) Sammlung versidiiedener und auserlesener Oden, I— IV. Halle 1737 — 43
(comp, von .1. F. Graife). 16) Sammlung Neuer Oden und Lieder, Hamburg 1742, II
(comp, von Görner). Auch der Refrain, den Hagedorn in seinen Liedern, meist zu scherz-
hafter Wirkung, verwendet, ist ursprüuglicli durch die Rücksicht auf den Gesang bedingt.
17) Oden mit Melodien, Berlin 1753. .55, IL Besonders siml es Gedichte von Gleim
und Lessiug, welche (iraun, Ouanz, Ph. E. Bach u. a. componieit haben. 1756 folgten
332 NEUIIOCIIDKIJTSCJIE ZEIT. XVIII JAIllMI. § 144
Pflefi^o (los Kunstgosnngs sorgte. Klopstocks Odcnsclivviing regte Glucks Com
position an."* Aber gegen 1770 waiulte sich wie die Diclitung so auch die
Tonsetzuiig dem Vorijild des VoIksHedes /u, und nun erat entstanden Ijieder
für den geselligen (Jesang, welche eine luBhere Kenntnis der Musik und
Begleitung des Klaviers nicht voraus setzt<Mi. '' Die komische Oper oder viel-
mehr das Singspiel trugen gewaltig zur Verbreitung dieses geselligen Ge-
sanges bei.'-" Wie engherzig und beschränkt indessen auch noch zu Ende
des Jahrhunderts der ({esohmack des Mittelstandes diese Lieder aufnahm,
zeijrt namentlich das Mildheimische Liederbuch.-' Schiller suchte daher auch
für die Freimaurerlieder dem IMattcMi der gewöhnlichen Gesänge gegenüber
einen hoeheren Schwung durch Beziehungen auf antike Sagen zu gewinnen.
AVeit umfänglicher ist jedoch die Lyrik, welche ohne Rücksicht auf
den Gesang entstand. War doch das Lehrgedicht, das durch seinen sub-
jectiven Inhalt ebenfalls hierher gebeert, noch für die erste Hälfte des Jahr-
hunderts eine durchaus angesehene Gattung, bis Lessing-- zeigte dass dabei
sowohl der philosophische Gegenstand als die poetische Form zu kurz ksemen.
Für die ältere Zeit ist indessen zu bedenken dass die poefische Form für
Betrachtungen und Auseinandersetzungen über festhetische Gegenstände durch
den Gebrauch der Classiker bei den Roemern und Franzosen durchaus ge-
rechtfertigt erschien. Nicht minder unpoetisch war die dcu Engländern vor-
zugsweise nachgeahmte ausführliche Naturbeschreibung, wie man ebenfalls von
Lessing-* lernte; und doch kehrte sie in kürzeren Formen und mit llervor-
hebunrr der Gefühle des Betrachtenden in der Landschaftsdichtung von
Voss, Mathisson u. a. wieder. Doch selbst Lessing zahlte der Zeit und seiner
'Berlinische Oden und Lieder', zu Leipzig, comp, von F. \V. Marpurg. 18) Kine Com-
pusitiou der Frühen Gntber' erschien im Musenalmanach 1775 (s. Schmid (iluck S. '2iiH).
'Oden von Klopstock mit Melodien' (von Neefe) erschienen Lpz. 1770. 19) Ausser
Neefe nennt Liuduer S. 122 noch Joh. Andre aus Offeubach, geb. 1741, den Freund
(xii'thes; .]. A. P. Schulz aus Lüneburg, geb. 1747, der mit Voss befreundet war: F. F.
Reinhardt aus Koenigsberg, geb. 1751, der auch als .Schrittsteller sich bethietigte. Mozart
hat ebenfalls manches Lied dieser Zeit componiert und (xcethes 'Veilchen' ward nach seiner
Melodie in den Lustspielen zu Ende des Jahrhunderts viel gesungen. 20) § 155, 73.
Vgl. Hott'mann von Fallersleben. Unsere volkstümlichen Lieder, o. Autl. Leipzig 1869.
H. R. Fcrber. 'Die Gesellschafts- und Volkslieder in Hamburg an der Wende des vorigen
.Jahrhunderts' in K. Koppmann, Aus Hamburgs Vergangenheit. Hamburg und Leipzig
1885, S. 27—75. 21) .\uHagen bis 1837. Gesammelt von Rud. Zach. Becker, geb.
zu Erfurt 1759, gest. zu <intha 1822. 22) In der mit Mendelssohn gemeinsam
verfassten Schrift 'Pope ein Metaphysiker ?' 1751: i? 154. iS. 2.3) Im Laocoon.
§ 144 GESELLIGES LIED. LEHRGEDICHT. EPISTEL. 333
Geistesart den Zoll insofern als er das kurze Lied mit besonderer Vorliebe
in epigrammatische Spitzen auslaufen Hess, wozu allerdings die franz<je-
sische CJuüison ihn wie Andere, wie schon Hagedorn ■''* verleiten konnte.
Erst Herder wies darauf hin'-'" dass der Hauptvorzug des Liedes nicht in
Glanz und Politur bestehe, dass sein Wesen nicht Gemälde, sondern (Jesang
sei und somit die Weise, der melodische Gang der Leidenschaft oder Em-
pfindung seine Yollkommenheit ausmache.
Die einzelnen Gattungen der Lyrik wurden mit Vorliebe nach dem
Schema der antiken Poetik benannt, wovon nur die neu aufgekommenen
ausgeschlossen waren, wie die llonianze oder Ballade, und, schon früher be-
kannt, die Cautate weltlichen Inhalts, die auch als Serenate bezeichnet wurde.
Selbst das sangbare Lied erhielt anfänglich vielfach den Namen der Ode;-''
doch beschränkte man seit der Nachahmung der antiken Formen die Be-
zeichnung als Ode auf die in diesen Formen verfassten Gedichte. Für diese
Art von Oden galt meist, und auch bei Klopstock in seiner früheren Zeit,"^
Horaz als das erschöpfende Muster. Nur den Hymnus nahm Klopstock aus,
womit theils die in freien Rhythmen abgefasste Ode, theils nach dem Vor-
bilde der homerischen Hymnen Dichtungen in Hexametern gemeint waren;
erstere erhielten den Namen des Dithyrambus , den man freilich aus dem
Altertum fast ohne die in dieser Form gedichteten Werke überkommen
hatte. Man sah bei dem Namen des Hymnus natürlich auch ab von den
kleinen Gedichten in kurzen Zeilen, die als anakreontisch bezeichnet zuerst
von den franzoesischen Formen zu. den antiken übergeführt hatten.
Der Begeisteruno- , mit welcher die Ode und die ihr verwandten Gat-
tungen Religion, Vaterland, Freundschaft, Liebe feierten, trat auf der einen
Seite die sanfte Wehmut, auf der anderen der witzige Spott zur Seite. Jene
fand ihren Ausdruck in der Elegie, nur dass nach antikem Gebrauch auch
die ruhige Betrachtung in ihr Ausdruck fand.-^ Für diese war auch die
Epistel bestimmt, welche allerdings namentlich persoenliche Verhältnisse
berührte. Zur Epistel trat in der Sturm- und Drangzeit eine Abart, die
MüHnee,^^ frei in der Form, meist dem Spotte gewidmet, dem sonst die
Satire diente. Insofern sich die Satire in die Parodie des Epos kleidete,
24) Hagedorn im Vorbericht zu deu Odeu 1747. 25) Vorrede zu deu Volksüederu
1778 II, S. 33. 26) Oben Amii. 15-17. 27) Bei Baek und Spindler 4, 40 fg.
28) Die Bezeiidiuuugeu siud nicht fest: Schillers 'Elegie' erhielt spteter deu Titel 'der
Spaziergang". (juPthes 'Alexis und Dora' ersohieu zuerst als Idylle, wurde dann aber uuter
die Elegien gestellt. 29) § 159, 75.
334 NEIIIIOCIIDFJITSCHI-: ZEIT. XVIII .TAIllMI. § Uf)
war sie bereits beim komischen Epos an/iifülircii. Weit vorzügliclier als die
breit ausgeführten satirischen Uichtungen der älteren Zeit gehingen die kur/-
gel'assten, epigrammatisciien. Während Lessing noch nach Martials Vor-
bild und vielt'ach mit Bonut/ung älterer Sinngedicjite seinen Witz in dieser
Form spielen liess, ebenso wie vor ihm Kästner und nach ihm llaug, eröffnete
Herder eine weitere Bahn mit dem Hinweis auf die gedankenreichen Ej)i-
gramine iler griechischen Anthologie, welclie auch der EmpHndung und Be-
trachtung llaum gewichren, Guithe und Schiller legten ebenso in die DisticInMi-
form Herders ihre reiche Jjebenserfahrung, ihre reife Kunstansicht; benutzten
aber auch Martials Xenien' als Muster für die litterarische Satire, welche
dem Fortwirken und Fortwuchern veralteter Kunstrichtungen ein Ende be-
reiten sollte.
§ 145.
Den kräftigsten Aufschwung brachte das achtzehnte Jalirhundert für
das Dniiii«!,' welches jetzt von dürftigen, verächtlichen Anfängen zu den
herrlichsten Leistungen fortschritt. Der ausgleichende, rationalistische Zug
der Zeit musste freilich die Reste des Volksdramas beseitigen oder doch
in die letzten Winkel zurückdrängen: polizeiliche Verbote folgten sich in den
verschiedenen Ländern.^ Auch das Schuldrama^ fiel den neuen psedago-
§ l4i). 1) Zur Litteratur der Bühupiigesfhipbte vgl. § 119. 1. Hinzuzufügen ist für das 18.
.Jahrhundert: Witz, V^ersueli einer (xesehichte <ler theatralischen Autführungen in Augsburg,
187G: Kub. Prcjelss, (iesch. d. Hoftbeaters zu Dresden, lÖ7ö: II. Müller, Chronik des k. Hof-
theaters zu Hannover. 1876; .J. Peth, (leseh. d. Theaters u. der Musik in Mainz, 187i);
A. l'iebler. Chronik d. grossherzogl. Hof- und Xationaltheaters zu Mannheim, 1879;
M. Martersteii;, Die ProtoeoUe des Mannheimer Xationaltheaters unter Dalberj^ 1781 — 89. 1889:
F. (irandaur. Chronik des Hof- und Xationaltheaters zu Münthen, 1878: H. Laube, Das Burg-
theater. Leipzig I8t)8: Dennerlein, (Teschiehte des Würzburger Theaters, 1803. 2) 1739 in
Preussen: HotFmann von Fallerslebeu, Gesch. d. deutsehen Kirchenliedes, 3. Aufl. 1861 S. 429.
1751 in Österreich: .Jacob Zeidler, Die Schauspieltbietigkeit der Schüler und Studenten Wiens,
Progr. OberhoUabrunu 1888. 1777 in Salzburg: Wagner. Das Volksscbauspiel in Salzburg,
1882, S. 13 fgg. 3) Verbote der Schulautführungen in Preussen 1718. in Sachsen 1787.
in Graz 1760: Peinlich, Gesch. d. Grazer Gymn. 1871 S. 43. Für ganz Österreich 1768:
Zeidler S. 43. Gottsched hatte, im .\uschluss an ein Programm des Annaberger Rectors
Richter, die Scbulcomoedie noch empfohlen: Crit. Beytr. 7. 572. Schulaufführungen ia
protestantischen (hegenden während des 18. .Jahrhunderts verzeichnet Heiland. Über die
dramatischen Autfübrungeu im Gymnasium zn Weimar, Programm 1858. In dem theater-
liebeudeu Hamburg blühte die Schulconifpdie auch im 18. .Jahrhundert, s. Emil Riedel,
Schuldrama und Theater, bei K. Koppmauu. Aus Hamburgs Vergangenheit, Hamburg und
Leipzig 1885 S. 185—251. Selbst in Halle trat unter Friedri.h 11 eine Xachblüte ein:
I
§ 145 DRAMA. 335
gischen Ansichten vielfach zum Opfer, nach welchen es geradezu als Anleitung
zur Verstellung galt. Die prunkcndste Entfaltung dieses Zweiges der dra-
matischen Kunst in den Jesuitenschulcn ^ wurde mit diesen selbst unterdrückt.
Zur Beseitigung des Volks- und Schuldramas wirkte ausser dem Stre-
ben nach feinerer Kunst auch die religioese Aufkiaerung insofern mit, als ihr
die dort stattfindende Darstellung der heiligen Geschichte anstcessig erschien.
Dagegen schwächte sich die kirchliche Verurteilung des Schauspiels'' immer
mehr ab und der Versuch des als Gegner der Aufklaßrung bekannten Haupt-
pastors Goeze in Hamburg seinen Amtsbruder Joh. Ludwig Schlosser''' wegen
seiner Beteiligung an der Schauspieldichtung 1769 zur Verurteilung zu brin-
gen schlug fehl.
Dieser Streit fiel in den zweiten Wendepunct der Geschichte des Dramas
im achtzehnten Jahrhundert, in die Zeit, als das Dichterdrama endgiltig den
Sieg^ davon trug über das meist ungedruckt gebliebene Schauspieler-
drama. Das zweite Drittel des Jahrhunderts war von dem Kampfe beider
Gattungen erfüllt; wsehrend des ersten hatte das Schauspielerdrama ausschliess-
lich geherrscht. Freilich war diese Herrschaft zugleich die tiefste Erniedri-
Kawerau, Aus Halles Litteraturlebeu S. 13. Liaduer, Rector zu Riga, veröfFeutlichte einen
'Beytrag zu Schulhaudiungeu' Koeuigsberg 1762, worüber die Litteraturbriefe XII 204 f'gg.
abspracbeu; Herder (Supbau 2, 311) enipfabl vielmebr 'jugendliche Dramen'. Pfeffel verfasste
'üraniatiscbe Kinderspiele', Strassburg 1769; Engel schrieb 1769 'Der dankbare Sohn', als
ein Schauspiel für Kinder. 4) Über Jesuitendranien in Wien s. Nicolai Reise 4, 560
fgg., wo die gedruckte Inhaltsangabe eines solchen Stückes 'Abraham und Isaac' 1725, mit-
geteilt ist. Über solche in München handelt K. Trautmann, Italienische Schauspieler am
bayrischen Hof: Münchener Jahrbuch 1887. 5) Gegen den Hambui'ger Geistlichen Joh.
Jos. Winkler schrieb die Witwe des Schauspieluuternehmers Veiten: 'Zeugniss der Wahrheit
vor die Schauspiele oder Comoedien', eine Schrift, welche 1711 von der Mecklenburgischen
Schauspielergesellschaft und 1722 von der Hoffmannschen wieder herausgegeben wurde:
Löwen (Anm. 7.) S. 17. Der Theaterdichter Schuchs, Üblich, starb 1753 in Frankfurt
ohne Absolution zu erhalten; er schrieb vor seinem Ende 'die Beichte eines christlichen
Koniüidianten an Gott', s. Mentzel S. 234. 6) Geb. 1738, gest. als Pastor zu Bergedorf
1815. Er hatte als Student mittelmässige Schauspiele gedichtet, welche 1766 aufgeführt,
1768 ohne seinen Namen gedruckt wurden: 'Der Zweikampf, die Maskerade'. GcBzes Haupt-
schrift hiess: 'Theologische Untersuchung der Sittlichkeit der heutigen deutschen Schaubühne',
Hamburg 1770. Vgl J. Geft'cken, Zs. des Vereins f. hamb. Gesch. 3 (1851) S. 56-77 und
Erich Schmidt, Lessing 2, 127 fgg. 7) Damals ei'schienen auch die ersten historischen
Arbeiten über das deutsche Theater: 'Die Geschichte des deutschen Theaters' in Joh. Frid.
LoBweus Schriften 4 (1766), 1—76; 1775 die 'Chronologie des deutschen Theaters (o. 0. von
Christian Heinrich Schmid). Spaetere geschichtliche Notizen brachte der Gothaische 'Theater-
kaleuder' von 1775—1800 herausg. von Heinrich Gottfrid Reichard, und desselben Theater-
Wackernagel, Litter, Geschichte. II, 23
33G NEUIIOCIIDEUTSCIIE ZEIT. XVIII JAIlKli. § UiL
gung. Die einzelnen Truppen zogen in Deutschland umher, wo überdies
noch recht wenige Süedte * sich ihnen öffneten, wtehrend die Hoeie so gut wie
durchweg franzoesische und italienische Schauspieler, Sänger und Tänzer Ix-
vorzugten."' Dass sie auch Skandinavien, Polen und Ilussland '" besuchten,
war ebenso wenig eine volle Entschanligung, als dass die Lager und Winter-
quartiere der Heere in den grossen Kriegen sie zuliessen.
Neben der Truppe Vcltens, welche bis 1712 noch von dessen Wittwe "
geführt wurde, aber viele der besten Kräfte an andere verlor, liatte sich be-
sonders die des Mecklenburgischen Ilofkomo^dianten Elensohn Geltung ver-
schafft, dessen schcjene und ränkesüchtige Wittwe (er starb 1708) erst einen
Harlekin Ilaack, dann den Schausj)ieler K. L. Hoffmann heiratete. Als bald
nach ihrem Tode (1725) sich die Truppe aufheste, erwarb sich 1727 das
Ehepaar Neuber das sächsische Privileg. In Leipzig trat die Neuberin '- mit
Gottsched in Verbindung und begann die Aufführung regelmsessiger Stücke
nach franza^sischem Muster.'^ Mit der feierlichen Verbannung'^ des Harlekins
vom Theater, 1737, sollte der entscheidende Schritt gethan sein. Zwar die
Neuberin selbst nahm spteter die Rolle, nur in einem weissen Gewände an-
statt des buntsehäckigen, und mit dem Namen Hänsclien, wieder auf. Lessing '*
nahm noch 1767 den Hanswurst in Schutz, wie vorher, 1761, J. Moeser"' für
Journal 1777—1784. 8) Hauptsächlich Hamburg und Leipzig; selbst in Frankfurt
spielte mau nicht alle .lahre. 9) In Berlin hielt Friedrich II nur eine frauzcesiscbe
Schauspielertruppe, ebenso stand es in AVien bis 1772, in Mannheim bis 177b. in Kassel bis
178."). in München fast das ganze .lahrliuudert hindurch. 10) Stockholm. Dauzig, Riga
und Petersburg wurden hauptsächlich besucht. 11) Sie wird auch Veltheimiu. Velthemin
genannt. 12) Caroline N. war geb. 1697 zu Reicheubach in Sachsen, Tochter des Advocaten
Weisseuborn in Zwickau, welchem sie 1717 entfloh um mit dem Studenten Neuber zur
Bühue zu gehu. Thatkräftig, keck und hübsch, auch dichterisch gewandt, stieg sie waehreud
der dreissiger .Jahre, sank im Ui^chsteu .Jahrzehnt herab, und starb in kümmerlichen Verhält-
nissen 1760 zu I^aubegast bei Dresden. Vgl. .J. F. von Reden - Esbeck, C. Xeuber und
ihre Zeitgenossen, Leipzig 1881. 13) Zuerst führte sie 1728 Pradous Regulus nach
der Übersetzung von Kuenig auf; nach einer Oper von Kcenig bearbeitete Koch 'Sancio und
Senilde", und dies Stück brachte sie 1741 auf ihre Bühne: Liewen 4. 2;"). Reden-Esbeck 262.
Übrigens zeitfteu sich irleiche Bestrebuuifen unabhäntfii; von (iottsched und der Neuberin
schon in Strassburg, wo Frau Professor Linck Corneilles 'Polyeuctes' 1727 hatte erscheinen
und 1730 auch im Privatkreise hatte autführen lassen: hierauf bezieht sich die missverständ-
liche Angabe in Danzels (Gottsched S. 266: s. .Jahrbuch des Vogesendubs VII, 117.
14) Vielverbreitet ist der Irrtum dass Harlekin sogar verbrannt worden sei: Anlass dazu
mochte der Ausdruck Autodafe bieten, den Lo'wens (Jesch. d. Th. S. 28 für das Neubersche
'Vorspiel' gebraucht. 15) Hamburg. Dram. 18 Stück. Auch sah Lessing in Breslau
namentlich die Vorstellungen Schurhs als Hanswurst sehr gern. J6) 'Harlekin oder
1
§ 145 SCHAUSPIFXKUNST. 337
ihn eingetreten war. Aber das Publicum wollte wenigstens die ernsten Stücke
von dieser stoerenden Unterbrechung befreit wissen,*^ Dem Beispiel der Neu-
berin folgten mit Aufführung regelmsessiger Stücke an Stelle der Haupt- und
Staatsactionen' '* besonders die Truppe Schoenemanns , welche seit 1740 sich
bildete, spseter unter Kochs Leitung stand, und die seit 1751 von Ackermann
geleitete. Hier trat der erste grosse Schauspieler Deutschlands hervor, Konrad
Ekhof,'^ mit welchem wenigstens in Bezug auf die Declamation eine eigentüm-
lich deutsche, auf Wahrheit und Natur gerichtete Schauspielkunst ihren An-
fang nahm.^*^ 1767 war er eine Zierde des Nationaltheaters zu Hamburg,
und wenn auch dies Unternehmen keinen Bestand hatte, die Truppe vielmehr
wieder unter der Führung des einen Unternehmers, des früheren Kaufmanns
Seyler in Deutschland umherzog, so ward doch in Weimar, wohin sie 1771
wanderte, und seit 1774 in Gotha, ein nseheres Verhältnis zu den kleinen
Hoefen angeknüpft, welches auch die Einwirkung des jüngeren Dichterge-
schlechtes mit sich brachte. Noch mehr fand diese in Mannheim statt, wo
Wolfgang Heribert von Dalberg das Nationaltheater 1779 einrichtete. In
Hamburg leitete Friedrich Ludwig Schrcßder 1771 — 98 das Theater; nur 1781
bis 1785 gehoerte er der deutschen Bühne zu Wien an, welche 1776 zum
Nationaltheater erklsert worden war. In Berlin geschah dies 1787; hier stand
1796 — 1814 Aug. Wilh. Iffland dem Theater vor, auch er wie Schrceder
zugleich als Schauspieldichter thaetig.-*'* So war der Yorwurf, der auf diesen
beiden Hauptstaedten Deutschlands lastete, dass sie am längsten^' die Hans-
wurstkomoedie gepflegt hatten, ehrenvoll gesühnt.
In Wien hatte der deutsche Harlekin sich an dem italienischen lieran-
gebildet'-' und von hier aus beherrschte diese Figur das deutsche Theater;
Vertbeidiguug des Grrotesk-Komisehen.' Doch dachte Moeser dabei mehr an das italienische
Urbild als au die deutsche Nachahmung. 17) Vgl. was J. El. Schlegel 1743 über den
Ulysses von Dr. Ludwig, deu die Truppe des mit der Neuberiu um das sächs. Privileg
streitenden Harlekins Müller autführten, in einem Briefe au Hagedorn erziehlt: in Eschenburcs
Ausg. von Hagedorns Werken 5, 287. 18) Deu Ausdruck bezeichnet Gottsched uoch
1725, indem er von 'sogenannten Haupt- uud Staatsactiouen' spricht, als ungewüphulich:
Heine, Der unglückseelige Todesfall Caroli XII, Halle 1888 S. IV. 19) Geb. 1720 zu
Hamburg, gest. zu Gotha 1775, s. H. Uhde in Gottschalls N. Plutarch, Bd. 4, Lpz. 1876.
Auch niedrigkomische RoUeu in plattdeutscher Sprache spielteer vortrefflich u. bearbeitete dafür
selbst mehrere frauzo?sische Stücke: Gißdertz, D. niederd. Drama 200 fgg. 20) L. SchrcP-
derbei Meyer, Schroeders Leben S. 145. 20 a) § 163, 19 fgg. 21) Unter Friedrich
Wilhelm I war Eckenberg 'der starke Mann", später der Hanswurst Sehueh (gest. 1764) Haupt-
inhaber der Berliner deutseheu Bühne gewesen. 1766 ward in Berliu von Döbbelin der
Hanswurst abgeschafft: Gothaer Theaterkai. 1780 p. 89. 22) Über die Gedichte des Wiener
338 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVHI JAHKH. § 145
der Hanswurst, vorher mehr in den lustigen 'Nachspielen' zu den 'Haupt-
actionen' thaetig, ward selbst in den tragischen Stücken die ständige, wenn
auch in unztehligen Verwandlungen auftretende Hauptperson, wie sein Dar-
steller meist auch in der Truppe die Directorstelle bekleidete. Der erste
Schauspieler, der die deutsche HarlekinroUe geschaffen hatte, war Joski'II
Anton Stuanitzky:^-' 1706 nach Wien gekommen, nahm er für seine lächer-
liche Kollo den Salzburger Bauern zum Muster, dessen grüner, spitzer Hut
sein Abzeichen wurde. So stellt er sich dar in der als Neujahrsgabe er-
schienenen Schrift Lustige Reyss-Beschreibung aus Saltzburg in verschiedene
Länder'.'-* Eine Sammlung der Scenen, die er spielte und welche er meist
dem Thmtre Italien des Gherardi entnahm, veröffentHchte er 1711 als Olla
potrida des durchgetriebenen Fuchsnmndr,'- ' auch für die norddeutschen Harle-
kinaden eine vielbenutzte Fundgrube."'' Eine Anzahl der von Stranitzky
aufgeführten Staatsactionen sind wenigstens handschriftlich, meist aus dem
J. 1724, erhalten.-'
Stranitzky hatte noch vor seinem Tode (1727) Gotfried Prehauser zum
Gehilfen angenommen, der sich wiederum spseter mit Joseph Felix Kurz-*
Hauswuräts berichtete Sonnenfels, Briefe über die Wiener Schaubühne, Wien 1768, Nr. 52
(Wiener Neudrucke 7, 312 fgg.). 23) Die Richtigkeit der über seine Lebensgeschichte von
Nicolai Reise 4, 566 fgg. gegebenen Notizen bezweifelt R. M. Werner: Der Wiener Hanswurst II
(Wiener Neudrucke 1886). Nach Nicolai sollte er 1676 zu Schweidnitz geboren und als Leip-
ziger Student zur Veltenschen Truppe gegangen sein. 24) o. 0. u. J. mehmials wieder-
holt (spaeter von Prehauser) und mit Fortsetzungen versehn: AViener Neudr. 6, Wien 1883.
Die Form ist Reiraprosa; der Inhalt schöpft z. T. aus Volksscherzen, wie der Geschichte
vom Schlaraffenland, z. T. kehrt er spaeter bei Münchhausen wieder. Auf Salzburg weist
Stranitzky auch in seinen Staatsactionen hin: Weiss (^Anm. 27): aus den dortigen Volksspielen
entnahm er den Gegenspieler zum Hanswurst, den Riepel = Knecht Ruprecht. 25) Öfter»
wiederholt; neuerdings in den Wiener Neudrucken 10. Wien 1886; in der Einleitung hat
R. M. Werner das Verhältnis zur angegebenen Quelle und zu Abraham a S. Clara genauer
auseinander gesetzt. Die Benutzung von Reuters Graf Ehrenfried (§ 134, 20, vgl. auch
Zarncke in der Sachs. Ges. 1888. 1889. 1) erweist Ellinger Z. f. d. Ph. 20, 314. 26) Gott-
sched Grit. Dichtkunst, 3. Aufl. 1742 S. 739. 27) Auszüglich mitgeteilt, die 15. 'Die
glorreiche Marter Joannes von Nepomuck' vollständig, in Karl Weiss, Die Wiener Haupt-
und Staatsactionen, Wien 1854. Allerdings scheint gerade das abgedruckt« Stück einen
geistlichen Verfasser zu haben; die Rolle des Hanswursts hat hier ein 'verwirrter Jurist
und Favorit des Königs', Babra genannt. Auf ein Jesuitenstück weist auch der ange-
häugte Epilogus von den 5 Sinnen'. P^ine Aufführung durch die Wandertruppe Reibe-
hauds in Leipzig hat Ad. Schlegel im Auge, Vom Natürlichen in Schaefergedichten (§ 151,
77) S. 12 fgg. 28) aus Wien, spteter im Scherze vom Kaiser geadelt, lebte 1715 — 1784.
§ 145 HANSWURSTKOMÖDIE. 339
verband. Dieser erfand die Figur des dummspitzbübischen Bernardon, welche
er mit einer erstaunlichen Fruchtbarkeit der Mache in immer neuen Ver-
hältnissen auftreten Hess, obschon auch hier die Elemente der Posse: Singen,
Prügeln, Fliegen auf Maschinen und andere Kunststücke sich beständig wieder-
holten. Lange kämpfte so die Wiener Ilarlekinade gegen die regelmaessigen
Stücke, auch mit Parodien, wie Trinzessin Pumphia und der tyrannische Tartar-
Kuükan'.-'-' Aber als Prehauser 1769 starb, ward auch in Wien der Hanswurst
auf Nebenbühnen verdrängt ; auf diesen hat er als Kasperle ■'° allerdings noch
auf lange hinaus sich erhalten. Für die vom Hofe unterstützten Bühnen
ward nun das Extemporieren^' untersagt, welches, der italienischen Komoedie
abgesehen, den Spsessen des Hanswursts eine grosse Lebendigkeit verliehen,
aber freilich auch zu den frechsten Ausfällen und den unflsetigsten Zoten
Gelegenheit geboten hatte.
Wie das Kasperletheater besonders als Marionettenspiel fortbestand und
fortbesteht,^^ so war schon zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts, auch
bei Stranitzky, der Wechsel zwischen den Holzpuppen und den lebenden
Personen sehr gewoehnlich, für die Schauspieler freilich wenig ehrenvoll.
Wichtig ist, dass auf diese Weise sich manche Stücke jener Zeit als Puppen-
komoedien handschrifthch erhalten haben, ^^ um so mehr als schon aus Neid
gegen die anderen Gesellschaften die Schauspieler ihre Dramen nicht in den
29) 0. J. Wiener Neudrucke Nr. 2 (Wien 1883). Ebenda Nr. 4 eine Antwort auf die Angriffe
von Sonnenfels: 'Der auf den Parnass versetzte grüne Hut' (wohl nach Nadal, Arlequin au
Parnasse 1732, s. Haller in Hirzels Ausg. S. 87], von Chr. G. Klemm 1767, der vorher gegen
den Hanswurst geschrieben hatte. Ein anderer Wiener Dichter derHanswurstkomoedie ist Hafner,
dessen 'Megäre', 'f^vakathel' und 'Schendi' auch spteter noch wiederholt wurden, der sich
aber auch in der Charakterkomoedie (Die bürgerliche Dame, der Furchtsame) versuchte.
30) Diesen Namen brachte um 1780 der Komiker Laroche auf: Meyer, Schroeders Leben S. 359.
31) Eine ganze Vorstellung aus dem Stegreif, die bei glücklicher Laune überaus geistreich
und packend ausfiel, schildert Meyer, Schroeders Leben (zum J. 1773) S. 242. Vgl. auch
Goethes Wilhelm Meister II, 9. Noch jetzt in Italien üblich, wo ein solches improvisiertes
Stück, gewöhnlich als Nachspiel gegeben, farsa heisst. 32) In Strassburg als 'Bibbel-
spiel': Arnold Pfingstmontag 1, 2 und s. Ludwig, Str. vor hundert Jahren (1888) S. 157.
320; jetzt als Kölner Hennesge. Über Berliner Puppentheater s. Carl Engel, Deutsche
Puppenkomoedien 2, VIII. 33) Deutsche Puppenkomoedien , hg. v. Carl Engel I — X,
Oldenburg 1875—90. Vgl. auch Anm. 37. Nach solchen Drucken spielen gegenwärtig
manche Wandertruppen: so führte eine Truppe, über welche auch H. Hansjacob, Dürre
Blätter, Heidelberg 1890, II S. 89 spricht, am 22. Juni 1890 in Sesenheim Genofeva auf.
Nach den Auffuhrungeu eines Puppenspielers in Niederoesterreich haben R. Kralik und
J, Winter Deutsche Puppenspiele herausgegeben, Wien 1885. Dazu vgl. Z. f. d. A. 31,
340 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XYIII JAIIKH. § 145
Druck" brachten; ja auch für sich oft nur die notwendig feststehenden Texte
zu den gesungenen Partien^'' aufzeichneten.
Immerhin ist es mnnglich aus den verschiedenen Überlieferungen sich
ein Bild von Inhalt und Darstcllungswcise der Schauspielerdrarnen zu
machen.'"' Die Gegenstände waren grosscntoils schon im 17. Jahrhundert
auf die Bühne gebracht worden, mussten sich aber einer beständig, nament-
lich in den komischeu Teilen, wechselnden Behandlung unterziehen lassen.
So wurde das Volksschauspicl von Faust, welches auf Marlowes Tragödie
beruhte, jetzt mit ilanswurstsccnen durchsetzt, die grell von dem Ernste der
Grundlage abstachcn.^^ Von älteren l)iblischen Stücken wurde Adam und
Eva noch 1734 zu Strassburg aufgeführt,^ '^ Abels Tod zu Frankfurt nöü.''"
Dem Dichterdrama des siebzehnten Jahrhunderts gebeert der Papinianus von
Gryphius an, welcher 1710 von llasskerl überarbeitet wurde und noch 1745
zur Aufführung kommen sollte.*" Die meisten Stoffe stammen indessen aus
den romanischen Litteraturen , von denen die spanische" meist durch das
holländische Theater vermittelt wurde, welches auch seinerseits mehrere Lust-
Anz. 53 i'gg. 34) Gf-druckt werden allerdings längere Anzeigen: so die Inhaltsangaben
von: 'Der eiserne König', Hamburg 1719, s. Heine, Wanderbühne (Anni. .%) S. ö!».
35) Von Kurz selbst gesammelte 'Teutsche Arien' sind auf der Wiener Hofbibliothek vor-
handen: Proben in Devrients Gesch. der deutschen Schauspielkunst 1, 43.5 fgg. ; von Erich
Schmidt, Zs. f. d. A. 25, 288; Gcethejahrbuch 3, 321. 36) Carl Heine, Das Schauspiel
der deutschen Wanderbühne vor Gottsched. Halle 188i(. 37) S. die zu § 107, 14 an-
geführte Schrift von W. Creizenach. Die ältere Fassung ist vollständig nur in einem Ulmer
Puppenspiel erhalten (Scheible, Kloster 5 Bd, S. 783 fgg.), die jüngere mit dem Wiener
Dialekt in einem Augsburger (ebd. 818 fgg.). Von den erhaltenen Programmen ist beson-
ders wichtig das zur Faustaufführung von Kurz in Frankfurt 1767: Mentzel 294. 511.
Eine Berliner Fassung ist abgedruckt von Lübke Zs. f. d. A. 31, 105 fgg., eine AN'iener bei
Kralik und Winter (Anm. .33); eine auf dem Plagwitzer Sommertheater vor kurzem noch
aufgeführte von A. Tille, als 10. Bändchen der Deutschen Puppenkomcedien, Oldenburg
u. Leipzig o. J. Einen modernisierten Text, worin Faust nach Amerika reiste, sah der Schreiber
dieser Zeilen zu Eisenach 18.56, zu Kehl 1892. Die z. T. aus den Arien zum Volksschauspiel
hervorgegangenen Lieder von Faust stellt A. Tille zusammen: Die deutschen Volkslieder
von Faust, Halle 1890. 38) Jahrbuch des Vogesenclubs 7, 118. 39) Mentzel 476.
40) C. Heine Zs. f. deutsche Philol. 21, 280 fgg. Die Hanswurstrolle spielt hier Trnraeus,
ein im Gehirn verrückter liechtsgelehrter (vgl. Anm. 27). 41) S. ausser der in Anm.
.36 angeführten Schrift von C. Heine auch dessen Aufsatz X'alderon im Spielverzeichnisse
der deutschen Wandertruppen': Zs. f. vgl. Litteraturgesch. u. Renaissancelitt. 2, 165 fgg.
395 fgg. Auf das Italienische weisen in Stranitzkys Staatsactionen (Anm. 2.5) die Namens-
formen l'oante =^ Toas ; Pelifonte; lAdoJpho u. a. Italienisch sind auch z. T. die Titel der
in Frankfurt 1741 von Wallerotti aufgeführten Stücke, welche F. A. Nuth 'componierte':
§ 145 SCIIAUSPIELERDRAMA. 341
spiele^'- für die deutsche Bülmc lieferte. Neu entstanden sind im ersten
Drittel des Jahrhunderts sicher solche Stücke, welche geschichtliche Ereig-
nisse und Personen jener Zeit feierten, und meist die in Gespraechform abge-
fassten politischen Monatsscliriften*^ mit wörtlicher Wiederholung benutzten:
die Belagerung von Belgrad, der Tod Karls XII von Schweden 1718,^^
'Glück- und Unglücksprobe des . . Fürsten von Mentzikoff', ein Stück dessen
Aufführung in Berlin 1731 einem Marionettenspieler verboten wurde,^^ die
Empoerung von Corsica gegen Genua unter Theodor von Neuhof, 1741 in
Frankfurt aufgeführt*'' u. a. Für die Eilfertigkeit der Mache, mit welcher
überhaupt die Stücke der Wanderbühne hergestellt wurden, zeugt dass von
einem Schauspieler, Wezell, überliefert ist, er habe in zwei Nächten eine
Komoedie machen können.*^
Gewisse Züge der Behandlung kehren oft wieder: das Grässliche wird
gchfeuft; Mord und Selbstmord, Geistererscheinungen, Zaubereien und aben-
teuerhche Verwandlungen werden vorgeführt; Herrschsucht und Wollust, aber
auch Grossmut und treue Liebe treten stark aufgetragen auf die Bühne ; dem
Hofgetriebe steht die Schseferwelt gegenüber; Belauschungen und Verklei-
dungen sind heeufige Mittel den Fortschritt der Handlung herbeizuführen. An
Seelenconflicten fehlt es nicht, aber die schliessliche Entwickelung meidet die
tragische Consequenz : zuletzt entscheidet der Zufall. Alles wird verdeutHcht
und erklsert, alles auf die Bühne gebracht, selbst Schlachten und Belagerun-
gen. Man sucht mit Pracht und Lärm zu wirken, greift im Notfall aber
auch zu den dürftigsten Mitteln. Den Scenenwechsel ermoeglicht der Zwischen-
Mentzel S. 439 fgg. 42) Creizenach, Sachs. Ges. d. Wiss. 1886 S. 111. Der Titel
'Die närrische Wette oder der geizige Gerhard' beruht auf einem Missverständnis des holl.
gieraard Geizhals. Andere holländische Lustspiele führt die Chronol. d. dt. Theaters S. 125
und 127 aus dem J. 1746 auf. Nicolai Keise 4, 618 spricht von den Klüjten = holl. Kluchten,
wie man in seiner Jugendzeit die auswendig gelernten Partien in den sonst extemporierten
Stücken genannt habe. 43) So wurden die 'Gesprgeche im Reiche derer Todten ausgebeutet,
welche David Fassmann (geb. 1683, gest. 1744; von 1726 bis 1731 Hofnarr Friedrich Wilhelms I)
1718—1740 herausgab (vgl. § 140, 87): s. C. Heine Unglückseeliger Todesfall Caroli XII,
Halle 1888. Heine schlsegt für die so entstandenen Stücke den Namen 'biographische Dramen'
vor. 44) Karl der Zwölfte vor Friedrichshall, hg. v. Heinrich Lindner, Dessau 1845,
nach einer Hs. aus dem J. 1724 von der Hand Kohlhards, welcher der Haack-Hoffmannschen,
spseter der Neuberschen Truppe angehoerte, herausg. v. Heine (Anm. 43). Loewea (Anm. 7)
nennt S. 22 als Dichter Joh. Georg Ludovici, den auch Nicolai, Reise 4, 566 als fruchtbaren
Schauspielverfasser anführt und dessen Entwürfe Lessing aus dem Nachlass der Neuberin
besessen haben soll. Noch 1741 wurde das Stück in Frankfurt gespielt: Mentzel 492.
45) Plümicke, Theatergeschichte von Berlin S. 109. 46) Mentzel 455. 47) Lcewen
342 NEUnOCIIDEUT>SCllE ZEIT. XVIII JAIIUII. § 145
Vorhang vor einem Mittclraum, in welchem die Ilandhmg im Gemach od'r
mit Ausblick auf die Ferne vor sich geht.*'* Zur leichteren Darötellburkeit
trägt die Prosa bei, in welche auch ursprünglich gereimte Stücke, wie Pa-
pinianus, aufgelöst sind; nur besonders erhabene Stellen sind gereimt und in
Alexandrinern abgefasst; auch die Abgänge sind zuweilen durch Keimverse
ausgezeichnet. Die Si)rac]ic ist durchweg — und im Contraste hierzu lag zum
Teil die lächerliche Wirkung der eingemischten niedrigen Komik in den ilans-
wurstscenen — überaus schwülstig, im Stil der zweiten schlesischen Dichter-
schule gehalten.*"'
Auch von dieser Seite her musste das Schauspielerdrama Gottscheds
Widerwillen erregen, der das regelmässige Drama nach franzcesischem
Muster auf die deutsche Bühne zu bringen und ihm hier auch die Allein-
herrschaft zu gewinnen suchte. Dass die Schauspieler sich allmiehlich diesen
Bestrebungen anschlössen, ist bereits angedeutet worden; wie die Dichter ihr
Augenmerk der Bühne mehr und mehr zuwandten und dem Kunstdrama
seine Geltung verschafften, wird die Litteraturgeschichte unter den einzelnen
Namen auszuführen haben. Nur über die verschiedenen Gattungen des
Dichterdramas und ihre wachsende Mannigfaltigkeit ist hier noch zu handeln.
Das franzoesische Theater der classischen Zeit, welches Gottsched als
unübertrettiich und als durchaus massgebend ansah, kannte nur die Tragocdie,
die Komcedie und, mehr als Nebengattung, das Schgeferspiel. Für die Tra-
goedie suchte Gottsched durch Übersetzung, dann durch freiere Bearbeitung,
endlich durch Originalarbeit zu sorgen; selbständiger pflegte seine Frau die
Komcedie, für welche ihr ausser Moliere und den mehr gleichzeitigen Fran-
zosen, Destouches und Marivaux, auch der Da?ne Ilolberg mit derberer Komik
Muster und Motive darbot. Das erste deutsche Schteferspiel, das auf die
Bühne kam, war von Rost verfasst:^" Gottsched und seine Frau beteiligten
sich auch an dieser Dichtungsart und die letztere vertrat auch als Über-
setzerin die comedie lannotjante'^^ in Deutschland. Der eigentliche Dichter
des rührenden Lustspiels war indessen Geliert: er schrieb zu ihrer Empfeh-
S. 22. Ein Stück von ihm, Tamerlan, wird zum J. 1725 angeführt. 48) Danach ist
§ 1U7. H einzuschränken. Noch in Lessings Sara Sampson 1, 8 heisst es: 'Der mittlere
Vorhang wird aufgezogen. Mellefonts Zimmer' (vorher Saali. Vgl. auch das 'geteilte
Theater' in Girthes Mitschuldigen 2, 1. 49) In den 'biographischen Dramen' (^Anui. 4.3)
tritt auch der. damals nicht weniger hochtrabende, Zeitungsstil dazwischen: z. B. im Karl
XII die Erzählung des Ktenigs von seiner Abkunft und Jugendzeit. 50) § 148, 22.
51) § 148. Gottsched selbst nannte diese allerdings eine Zwitter-Gattung, s. Antoniewicz,
§ 145 GATTUJSGEN DES DICHTERDRAMAÖ. 343
lang das Programm de comaidia commovente 1751. Lessing übersetzte es;
allein wie schon J. E. Schlegel nicht nur als Dichter weit über seine Vor-
gänger im Drama hinausgeschritten war, sondern auch die Theorie durch
Empfehlung des Lustspiels in Yersen erweitert hatte, so fügte Lessing, und
mit dem groessten Erfolge, neue Gattungen und neue, wirkliche Meisterstücke
zu dem bisherigen Bestände der deutschen Bühne. Im Anschluss an das
englische Theater führte er das bürgerliche Trauerspiel bei uns ein, eröffnete
es durch Sarah Sampson 1755 und gab ihm in Emilia Galotti ein bleibendes
Muster; der Lehre und dem Beispiel Diderots folgend begründete er in
Deutschland das ernste Lustspiel mit Minna von Barnhelm 1767. Endlich
stellte er in Nathan dem Weisen 1779 das erste Schauspiel in Jamben auf,
und brachte so die Form zur Geltung, welche seitdem für den hohen Stil
des deutschen Dramas beibehalten wurde. Diese Form entnahm er Shake-
speare : und auf diesen Dichter und seine uns Deutschen am meisten zusagende
Behandlung des Schauspiels hatte er in der Hamburger Dramaturgie 1767
hingewiesen, indem er gleichzeitig dem franzcesischen Theater, insbesonders
dem Voltaires die Mustergiltigkeit siegreich'''^ abstritt.
Die Abwerfung der franzoesischen Regeln führte aber weiter und weiter :
man sah in Shakespeares Stücken Historien ohne Zeit- und Ortseinheit; man
verlangte die seusserste Naturwahrheit, die Darstellung der heftigsten Leiden-
schaft, die Vorführung des Erschütternden in Leid und Lust. Gerstenbergs
Ugolino 1769 und weit kräftiger Goethes Götz 1773 eröffneten diese Bahn,
welche durch Schillers Rseuber 1782 eine neue Erweiterung erfuhr. Aber
die Dramen der Sturm- und Drangzeit gingen grossenteils über das Auf-
führbare hinaus; die polternden Ritter- und Rseuberstücke ebenso wie die
weichherzigen Familiengemselde, welche von bühnenkundigeren Dichtern ver-
fasst jenen bald nachfolgten, konnten wohl die Zuschauer blenden und rüh-
ren, aber eine dauernde Befriedigung hceherer Ansprüche nicht geben. Erst
Goethes Iphigenie verband mit griechischer Einfachheit und Ruhe deutsches
Gemüt; dann gab Schiller von Wallenstein 1798 an seinen dramatischen
Meisterwerken ebenso die Versform, die edelste Haltung wie den reichsten
Gedankengehalt. Gleichzeitig übertrugen die beiden Dichter ihre strengen
Ansichten auch auf das Weimarer Hoftheater, welches 1791 — 1817 unter
Schlegels Schriften LIV. 52) Die Fürsten Hessen sich freilich ihre Vorliehe für das
franzoesische Theater nicht nehmen: nicht bloss Friedrich II, sondern auch Joseph II
■j (Meyer, Schrueder S. 376) und seihst Karl August hielten am dassischen Stil der Franzosen
344 NEUlIUCilDEUTSClIE ZEIT. XVIII JAIJKU. § 14ü
Gcrthcs Leitung sich boftind. Die Schauspieler standen hier wirkHch ganz
dem Dichter /u Befehl:'^ ihr Verhältnis war jetzt dem zu Anfang des
Jaluluindorts bestehenden völlig entgegengesetzt.
Das Schauspielerdrama dos aclitzehnten Jalirhunderts hatte von dem
des vorhergehenden auch die Oper übernommen, diese aber bald ganz auf
die itjdienischen und franza»si sehen Texte bescliränkt. Auch so ging die
deutsche Oper bald dem Untergange zu: 1741 wurde zum letzten Male eine
deutsche Oper, Atalante, in Danzig aufgeführt. Allein Gottsched""* trium-
phierte zu früh: die Operette ^^ drang von England aus auch in Deutschland
ein und Weisses Singspiel Der Teufel ist los' brachte sie 1752 zuerst wieder
auf die Bühne, welche das gesungene oder vielmehr mit Liedern durchfloch-
tene Drama bis in die siebziger Jahre hinein beherrschte.^*^ Freilich erst die
zunächst mit italienischem Texte versehenen Opern Mozarts haben der Oper
auch auf dem deutschen Theater einen ebenbürtigen Platz neben dem hohen
Drama gesichert.
Vereinigten sicli in der Oper alle Künste um den Zuschauer hinzu-
reissen, so fehlte es auch nicht an Dramen, welche von vorn herein auf die
Aufführung verzichtend allein dem Leser gefallen wollten. Dies gilt vor allem
von der eigentümlichen Gattung, in welcher Klopstock urdeutschen Inhalt in
eine selbsterfundcnc Form kleidete, dem Bardiet, wofür er 1767 mit seiner
Hermannsschlacht das erste Beispiel gab, nachdem er schon 1757 den Tod
Adams dramatisch, aber nicht für die Bühne behandelt hatte. Mehr eignete
sich das Buchdrama für die litterarische Satire:" und vor allem der junge
Gopthe hat es in diesem Sinne geistreich verwendet, ja gelegentlich auch in
phantastischer Weise zur Aufführung gebracht.
§ 146.
Von der Prosa, so weit sie nur ein nachlässigeres Gewand für die sonst
in Verse gekleideten Äusserungen des Gefühls und der Einbildungskraft war,
fest: vgl. § 160. 03. 53) (joethe führte sogar den Gebrauch der Masken für die Auf-
führung antiker Stücke und ihrer Narhahraungen ein. Vgl. darüber 0. Franrke. Über
Gfpthes Versuch zu Anfang unseres Jahrhunderts die roemischen Komiker Plautus und Terenz
auf der weiniarischen Bühne heimisch zu machen: Zs. f. vgl. Litt.-gesch. und Renaissance-
litteratur, 1, 91 fgg. 54) Noetiger Vorrat S. 314. 55) Ronsseans Operette, Le
fJcvin du viUcuje hatte die Gattung in Frankreich rasch beliebt gemacht. 56) Köster,
Das lyrische Drama: Preuss. .Jahrbücher 1801 August S. 188 fgg. 57) Der politischen
Satire im patriotischen Sinne dienten eine Reihe von Stücken, die 1706 — 9 erschienen waren
und von Gottsched Noet. Vorr. S. 277—282 verzeichnet sind: 'Eröffnetes Schauspiel von dem
verdienten Fall des Herzogs von Anjou" u. s. w. Sie wurden sicherlich nicht aufgeführt.
§ 146 PROSA. 345
ist bereits die Kode gewesen: das achtzehnte Jahrhundert hatte ja nicht nur
im Roman der erzselilenden Dichtkunst eine beständig wachsende Kunstgattung
zur Seite gestellt und im Drama die volle Natürlichkeit nur in Prosa zu er-
reichen geglaubt; selbst auf dem Gebiet der kleineren Poesie waren Oden,
Idyllen, Fabeln in Prosa verfasst worden. Die Prosa des Verstandes erhielt
daneben nicht weniger sorgfältige Pflege und erfolgreiche Ausbildung. Zwar
die erza?hlende Prosa der Geschichtschreibung blieb noch zurück, da das
Zeitalter überhaupt den historischen Studien wenig geneigt war,' des politi-
schen Sinnes crmangelte und mit gutem Grunde von den überlieferten Staats-
verhältnissen sich nicht angezogen fühlte. Erst gegen Ende des Jahrhunderts
trat der trockenen Gelehrsamkeit, welche besonders an der Universitset Göt-
tingen den Betrieb der geschichtlichen Forschung übernommen hatte, die
geschmackvolle Behandlung zur Seite. Herder ging voran, welcher mit um-
fassender Weite des historischen Blickes, mit philosophischer Vertiefung der
Grundanschauungen die Weltgeschichte an die Entwickelung der Natur an-
knüpfte. Schiller bewsehrte sich auch in seinen historischen Schriften als
Meister des Stils. Endlich fasste Johannes Müller Forschung und Darstellung
zusammen mit eigentümlicher, seitdem überholter Kunst. Und auch ihm war
die Quellenkritik sogar zuwider; als Hauptsache galt ihm die Ermittelung der
Grundzüge eines jeden Zeitalters und ihre eindringliche Zusammenfassung.
Vortreffliches leistete die Autobiographie: die Erlebnisse so vieler Männer,
die sich zum Teil aus den engen Verhältnissen jener Zeit zur Selbständig-
keit heraufgearbeitet haben, liegen, mit Offenheit und Ausführlichkeit erzsehlt,
uns vor.^ Die Krone dieser Schilderungen ist Goethes Dichtung und Wahr-
heit, worin zugleich eine Litteraturgeschichte bis zum letzten Viertel des
Jahrhunderts geboten ist: ihre Entwickelung hat er bei aller Ruhe und Klar-
heit des Alters doch mit vollster Frische und Anmut ausgeführt. Wie hier
die Geschichte der Dichtung, so hatte weit früher die Geschichte der Kunst
§ 146. 1) Mendelssohn z. B. sagt (Werke 1, 1.5) 'Was nur den Namen CTCschichte
hat, Naturgeschichte, Erdgeschichte, Staatsgeschichte, gelehrte Geschichte hat mir nie in
den Kopf kommen wollen'. Für Goethe sind die mephistophelischen Neckereien be-
zeichnend, womit er dem Historiker Luden auf den Zahn fühlt: Gfjethes Gespr. hg.
v. Biedermann 2. 79 fgg. Vgl. auch bei Eckermann 15. Oet. 1825. Die Zeitschriften
-ind bis auf Schillers Hören gegen Geschichtschreibung gleichgiltig : vgl. Minor, Weisse
•'506; Weinhold, Boie 27.3. Mangel an historischem Sinn spricht sich selbst in den
historischen Tragoedien der Stürmer und Dränger aus, worin die bestimmten Beziehungen
abgestreift sind : Rieger Klinger 1, 89. 2) § 139, l»i,
34C NEUJlOCIIUEUTSCilE ZEIT. XVIII JAllIül. § UU
I
des Altertums in Winckelmann einen Oeschichtschreiber von grossartiger Auf- I
tUssung und eindrucksvoller Darstellung gefunden.
Die philosophische Richtung auf die Ableitung der Einzelheiten aus
tieferen Grund/.ügen, welche sich auch in solchen historisclicn Werken kund
gibt, rausste uaturgomiess sich besonders günstig für die abhandelnde Prosa
erweisen. In der That ist gerade auf diesem Gebiet eine reiche Entfaltung,
ein gewaltiger Fortschritt ersichtlich. Vor allem wurde die Kritik und Theorie
der Kunst fast das ganze Jahrhundert hindurch mit wachsendem Erfolge
gepflegt, von den Anfängen der Leipziger und Züricher bis zu den Meister- _
werken Lessiugs, Herders, Schillers. Nicht weniger bemühte man sich um ™
die Fragen der Sittlichkeit und der Metaphysik. Die Popularphilosophio
versuchte es immer von neuem und vielfach glücklich die moralischen An-
schauungen der Zeit umzugestalten und durch die AufkUerung des Verstandes
auch auf das Gefühl zu wirken. Eine völlige Umwälzung aller bisherigen
Ansichten über die tiefsten Fragen brachte zuletzt Kant hervor.
Dadurch wurde besonders die Theologie betroffen. Und doch war sie
es, welche allein wirklich zu allem Volke sprach,* welche auch die unteren
Stände durch die Rede zu gewinnen und zu lenken vermochte. Abgeselm
vom Universitsetskatheder, auf \velchem doch Gelehrsamkeit noch hoeher ge-
schätzt war, gab nur die Kanzel Gelegenheit Beredtsamkeit zu entfalten.
Auch fehlte es nicht an berühmten Namen von Predigern, wobei wiederum
vielfach die Übereinstimmung mit dem Wesen des Jahrhunderts, mit der
theologischen Maessigung und der philosophischen Aufklai'rung den Ruhm be-
gründen half So gleich bei dem Theologen, den man als den ersten deut-
schen Prosaisten anerkannte,* bei Johaxn Lorenz Mosheim; so bei Johann
Friedrich Wilhelm Jerusalem, dem Leiter des Carolinums in Braunschweig;^
so bei Johann Joachim Spalding*"' und anderen Predigern in BerUn. Selbst
Herder brachte wenigstens die Ruhe, Klarheit und Einfachheit auf die Kanzel,^ wo-
von er sich in seinen Abhandlungen entfernte. Noch zu Ende des Jahr-
hunderts erwarb sich Franz Volkmar Reinhard^ in Dresden gerade durch
3) Darauf weist mit Recht Hippel Selbstbiographie 299: 'Die Prediger sind die Einzigen,
die zum Volke reden'. 4) § 148, 6. Geb. 1694 zu Lübeck, starb Mosheim 1755 zu
Göttingen als Kanzler der Universitset seit 1747, nachdem er von 1723 an in Helmstädt
die letzte Zierde dieser Hochschule gewesen war. 5) § 139, 4. Geb. zu Osnabrück
17(X>, gest. 1789. 6) Sein Verdienst um die Vereinfachung des Predigtstils rühmt
Herders Kalligone, von Kunst und Kunstrichtern, Suphans Ausg. 22. 162. Geb. 1714
zu Triebsees, gest. 1804. 7) § 157, 18. 19. 8) Geb. 1753 zu Vohenstrauss im
§ 147 GATTUNGEN UND FORMEN DER PROSA. 347
die philosophische Bildung, welche er seinen Predigten zur Grundlage gab,
eine weitreichende Anerkennung.
Die Form der Rede an persoenlich gedachte Zuhoerer gab man gern
auch den abhandelnden Schriften, vor allem den Streitschriften, und die
litterarische Kritik bot vielfach Anlass das Für und Wieder so zu erörtern.
Geradezu die Fassung des Dialogs in solchen Abhandlungen zu gebrauchen,
war nicht üblich: doch zeigte sie sich besonders geeignet, schwierige und
schliessHch zweifelhafte Entscheidungen dem Leser zuzuweisen; daher kleidete
wohl Lessing z. B. seine Freimaurergesprteche 'Ernst und Falk' 1778 und
1780 so ein; Klopstock und Moritz hielten es für vorteilhaft grammatische
und metrische Fragen so abzuhandeln.^
Weit behebter war die Briefform. Wie der Roman nach englischem
Muster gern die Gelegenheit ergriff die innersten Seelenstimmungen und Be-
wegungen in dieser Form sich selbst schildern zu lassen, so war sie auch
geeignet bald einen Gegner scharf ins Auge zu fassen oder einen bestimmten
Standpunct zu berücksichtigen (und in diesem Sinne hat namentlich Lessing
meisterhaft sich ihrer bedient), bald auch einen freieren Gang der Unter-
suchung einzuschlagen und dem Leser durch kürzere Abschnitte schwierige
Fragen leichter fasslich zu machen: so schrieb Herder seine Humanittets-
briefe, Schiller seine Briefe über die testhetische Erziehung des Menschen.
Es stand aber diese schriftstellerische Briefform in innigem Zusammenhang
mit dem Wert, welchen man damals überhaupt auf briefliche Mitteilungen
legte '*^ und welchen man durch sorgfältige Vorbereitung zu erhoehen suchte. ^^
§ 147.
Nach diesen Umblicken über die allgemeinen Verhältnisse und die
Gattungen der Litteratur kann ihre Entwickelung im Einzelnen au den Persoen-
lichkeiten der Dichter und Schriftsteller aufgezeigt werden. Viele der dem
vorhergehenden Jahrhundert zugeteilten Dichter lebten und wirkten in das
Sulzbacbischen, war er seit 1777 au der Universitaet Wittenberg thsetig, 1791 — 1812 als
Oberhofprediger in Dresden. Eine Predigt, welche auf das achtzehnte Jahrhundert einen
Rückblick wirft, LB. 3, 1009. 9) Schiller empfand vielleicht das Uupassliche dieser
Form, als er den Gedanken au ein Gesprsech 'Kallias\ worin er 1793 seine Ästhetik dar-
legen wollte, wieder aufgab. 10) Vgl. G. Steinhausen, Geschichte des deutscheu Briefes,
Berlin 1889. 1890, 11. 11) Wenn Goethe seine Strassburger Briefe, z. B. seinen ersten
Brief an Friederike zunsechst im Concept aufsetzte, so kann dies Gewöhnung au die Leipziger
Lehre Gellerts gewesen sein; aber auch F. H. Jacobi schrieb au Goethe auf diese umständliche
Weise.
4
348 NEUHOCIIDHUTSCFIE ZEIT. XVIIl JAlllill. § 147
iiclit/ehnte liiiiein; aber sie sind schon frühor besprochen worden, weil sie
keinen Fortschritt erkennen lassen, weil sie die Weise des 17. Jahrlmnderta
nur fortsetzen oder vielmelir ihren goriuj^en Gehalt völhg zu erscliöpfen und
gegen die Dichtung last nur Überdruss und Veraciitung zu erwecken scheinen.
Neue, sch(enere Aussicliten eröffnet zuerst ein Dichter, der freilich derj
übrrkoninienen, der allgemeinen Art zu dichten anhängt und an dessen Schick-
sal die Ungunst der Zeit sich besonders wirksam erweist: Johann ChkistianJ
Güntjikk', geb. zu Striegau IG!);"), gestorben als Student der Medicin zu Jena]
172:^. Früh, auf der Schule" zu Schweidnit/., erwarb ihm sein Talent dunst 1
und Ijiebe; den Verw(ehnten riss auf der Universitait zu Wittenberg, die er
171.") bezogen, die Hoheit des Studentenlebens hinab; in Leipzig vom Professor
Burkiiard Menke (§ 135)^ wieder gehoben, verscherzte er 1719 die freilich
bedenkliche Aussicht Hofdichter in Dresden zu werden;^ seitdem irrte er durch
sein Vaterland, oft drückender Not preisgegeben, vom eigenen V^ater hart
abgewiesen, bis das letzte Aufraffen ihn nur dem frühen Tode zuführte.
Wie dieser, so erinnert auch seine Dichtergabe an Flemming. Günther ist
Lyriker; die Gelegenlieitsdichtung, oft im Namen eines andern" geübt, ist sein
Gebiet, dem er jedoch wie Flemming die ganze Kraft seines Gemütes zuwendet.
§ 147. 1) Die Quellen für Günthers Lebensgeschichte fliessen spaet und trüb. Eine 1732
zu Si'hweiduit/, eisihieueue, 'J. Ch. Günthers curieuse und merkwürdige Lebens- und Keise-
beschreibung' in Versen istunächt: Beytr. zur i-rit. Hist. der deutschen Spr. 1 247 fgg. Unter
dem Namen Carl Ehrenfried Siebrand schrieb der Arzt Chr. E. Steinbach 'J. Ch. Günther«
. . Leben u. .Schrifl'teu. gedruckt in Schlesien' [Breslau] 17.'}8, au« pers<f ulicher Kenutuis,
aber ungenau und mit selbstischen Nebenabsichten. Hu-huisch und grub, ohne Neues zu
bieten, erwiderte ein Gottschedianer (vermutlich Steinauer: Litzmann Liscow S. 104) in
'Gespräche zwischen J. Ch. Günthern . . . in dem Reiche der Todten und einem Ungenauntea
in dem Reiche der Lebendigen' 1739. Neuerdings schrieben Hüffmann v. Fallersieben
in den Spenden zur deutschen Litteraturgeschichte IL 115 fgg. und U. Koquette, Stuttgart
IbtiO, das Leben des Dichters. M. Kalbeck verütfeutlichte Neue Beitrage zur Biographie,
Lpz. 1879; B. Litzmann schrieb Zur Textkritik u. Biographie Günthers, Frf. a. M. 1880.
Dilettantisch ist: G. K. Wittig, Neue Entdeckungen zur Biographie G's., Striegau 1881.
2) Eine beim Abgang von Schweidnitz 1715 aufgeführte Schulkomaidie Constantin behandelt
die Geschichte der Atheuais-Eudocia in Lohcnsteius Weise, aber mit komischen Zwischen-
seenen offenbar nach dem Muster des .Jesuitendramas. Gottsched tadelt das Stück heftig:
Crit. Beytr. IV. 184 fg. 3) «^ 138, 13 sollte es heisseu: Begründet von Otto Mencke, 1682,
fortgesetzt von seinem Sohu Burkhard Mencke (§ 135). 4) Die durch die 'Gespräche im
Reiche der Todten' aufgebrachte Auecdote. Ulrich Kcpuig (,§ 13(i) habe Günther vor der
Audienz betrunken macheu lassen und so diesen Nebenbuhler beseitigt, ist eine boshaft«
Erfindung: in einem zu Lauban um 1720 verfassten Gedicht (Kalbeck S. 47 fg.) freut sicll
Günther dass Koenig, 'ein Mann von Geist und Grund' die Stelle erhalten habe und nicht
i
§ 147 GÜNTHER. 349
Seine Formen sind die der Reimverse, der überlieferten und oft sangbaren
Strophen, die er jedoch mit wunderbarer Leichtigkeit und Anmut handhabt;
seine Sprache ist rein und schlicht, nur durch wenige Allegorien, durch
Vergleiche und Anspielungen auf antike Dichtungen gehoben. Was ihn von
der gleichzeitigen Hofdichtung glänzend unterscheidet, ist einerseits die Kraft
der Empfindung, andererseits die scharfe Beobachtung und ungescheute Ein-
flechtung von Zügen des wirklichen Lebens. Der leidenschaftliche Ausdruck
des Jubels über glückliche Liebe, der Trauer über erfahrene Untreue und
Erbarmungslosigkeit, der Reue über seine eigene Verschuldung steht ihm ebenso
zu Gebote wie der übermütige, bittre Spott, der sich besonders gegen die
ihm feindhch gesinnten Geistlichen wendet, und die Sprache des jugendlichen
Frohsinns,"' selbst des Leichtsinns. Auch der Versuch groessere Gegenstände
zu besingen, den er mit seiner Ode 'Auf den zwischen Ihro Roem. Kayserl.
Majestaet und der Pforte (zu Passarowitz) 1718 abgeschlossenen Frieden'^ unter-
nahm, zeigte Begeisterung und lebhafte Einbildungskraft, nur dass auch bei
Prinz Eugen der arme Dichter vergebens auf Lohn hoffte. Sein Stolz blieb
ungebrochen' und die Muse war seine Troesterin auch im Elend. Seine
Dichtung^ wirkte besonders unter den Studenten fort, und in Leipzig eiferte
ihr noch der junge Goethe nach.^
Zu Günthers Schicksal stellten schon die Zeitgenossen in den schärfsten
Gegensatz das eines Hamburger Dichters, der ihnen zugleich den lange be-
haupteten Dichterruhm Schlesiens auf den Norden zu übertragen schien. '°
In der That führte Barthold Heinrich Brookes '' ein durch Glück und Klug-
heit gleich begünstigtes Leben:'^ geb. zu Hamburg 1680, in Halle, Genf und
der Wasserdichter, 'der mich vorhin verschnitt". 5) Übersetzung des Gaudeamus igitur
LB. 2, G77. Dagegen 'Als er sich seiner ehemaligen Jugendjahre mit Schmerzen erinnerte'
678. 6) LB. 2, 665. Gottscheds Urteil s. § 142, 1. Elias Schlegel sagt: 'Der Ton in
welchem Günther sprach: Eugen ist fort, ihr Musen nach! Hat mich auf den Parnass gerissen':
AusiT. von 1766 IV S. 18U: und er führt öfters Stelleu aus Günthers Gedichten an.
7) LB. 676. 8) Eine Ausgabe der Gedichte Günthers, vou Gottfried Fessel ziemlich
leichtfertig besorgt, erschien zuerst Frankfuit u. Leipzig 1724 mit mehrmaligen Fortsetzungen
1725. 1727. 1735, uud öfters wiederholt, s. die in Aum. 1 genannte Schrift von Litzmann,
welcher auch bei Reclam in Leipzig o. J. eine kritische Auswahl herausgegeben hat; eine
andere von Tittmann, Lpz. 1874: von Fulda in Kürschers Nat. litt. 38 (o. .1.). 9) Merk-
würdiger Weise lebt eiu Gedicht Günthers, durch das Volkslied fortgeführt, in Hautls Sol-
datenlied Morgenrot' zum guten Teil noch jetzt weiter: Litzmann Zur Textkritik S. 30.
10) So Günther selbst 1718: s. Weichmann, Poesie der Niedersachsen 3, Vorbericht; Vor-
rede zu Günthers Gedichten ^1726. 11) Auch Brokes oder Brooks geschrieben: das
0 ist laug. 1*2) Seine selbstverfasste Lebensgeschichte ist vollständig abgedruckt in
350 NEUHOCIIDEUTSCITE ZEIT. XVIII JAIIRII. § 147
Leiden und sonst auf Reisen vorgebildet, 1720 Senator geworden und seitdem
sowohl als Diplomat wie als Amtmann th.'ctig, starb er 1747; vor allem steht
seine lleiratsgeschichte, ausgesprochenermasscn auf Reichtum gerichtet, ai)er
zu glückliolier Ehe führend, Günthers wechsclvoUon, und doch mit der Leiden-
schaft des Herzens erfüllten Liebeserlobnissen schroff gegenüber. Ganz ver-
schieden von Günthers Dicliterart und docli nicht ohne nachhaltige Wirkunjj
war die von Brockes gepflegte Gattung der Poesie. Zuerst durch ein viel-
cuinponiertes Passionsoratorium 'Der für die Sünde der Welt gemarterte und
sterbende Jesus' 1712 bekannt geworden, liess er 1715 eine Übersetzung nach
Marino Verdeutschter Betlehemitischer Kindermord' erscheinen, worin er sich
noch als Anhänger des schwülstigen Stiles der zweiten schlesischen DichterscJmle
zeigte. Dies Gedicht hatte er in der Teutschen Gesellschaft'-' vorgetragen,
in welcher er sich mit Ka^nig und den Gelehrten llichey, '^ Fabricius, Joh.
Hühner u. a. 1715 — 1718 zusammenfand, wie er auch 1716 — 1748 mit
Einigen von ihnen die Patriotische Gesellschaft bildete, die den 'Patrioten'
(§ 140, 33) herausgab. Die Gedichte dieses Kreises, meist Gelegenheitsge-
dichte, erschienen mit verwandten zusammen in der Sammlung von C. F.
Weichmann, Poesie der Niedersachsen' in sechs Bänden'^ zu Hamburg 1725
bis 1738. Das Hauptwerk von Brockes war sein 'Irdisches Vergnügen in Crott
bestehend in physicalisch- und moralischen Gedichten',''' eine Reihe von Natur-
betrachtungen in wechselnden, oft freien Versen, welche meist von geringen
Gegenständen ausgehend, zuweilen aber auch von einem durch die Malerei "
geweckten Sinn für landschaftliehe Schoenheit beseelt,'- überall auf den Preis
Gottes in aufgeklaertem Sinne '^ hinführten. Der erste Teil, 1721, erlebte eine
der Zs. des Vereins für haniburgische Geschichte II (1847) S. 167 fgg. Vgl. ferner das
hamb. Schriftstellerlexikon und Alois Brandl, B. H. Brockes, Innsbruck 1878. 13) Über
diese Gesellschaft s. Petersen. Zs. f. hamburg. Geschidite II 533 fgg. 14) Die Gedichte
Richeys, welcher sich als Dialectforscher durch sein Idioticon Hamburgense 1743 noch
mehr verdient gemacht hat, erschienen 1764 gesammelt. lö) Band IV — VI sind von
J. P. Kohl herausgegeben. Es sind zusammen nicht weniger als 68 Dichter und Dichte-
rinnen vertreten; einige mit plattdeutschen Gedichten, so Brockes 1, 138 fgg. Für den
Mangel an Anteil des Gemüts ist es ebenso bezeichnend, wenn hier eine Anzahl fremder
Herrscher angesungen werden, die Koenige von Schweden, Dajnemark, England sowie russische
Grossfürsten, als wenn Brockes ein Trostgedicht seiner Freunde auf den Tod eines seiner Kinder
mit Beibehaltung der Reimwörter, also in bouts-rimes beantwortet: 2, 248. 16) Probett
LB. 649 fgg. Auswahl von Fulda in Kürschners Nationalbibl. 39. 17) Brockes war
besonders mit dem holländischen Maler Mieris befreundet. 18) Die Naturbilder wurdett
zuweilen glücklich unterbrochen durch Einführuuir der Kinder des Dichters: Brockes war
ein trefflicher Familienvater. 19) Brockes benutzte besonders Scriver (§ 138, 24): s. Brandl
§ 147 BROCKES. HAGEDORN. 351
Anzahl von Auflagen und erwarb dem Dicliter Rulim und Hofgunst; der
neunte, 1748 erschienen, verfehlte alle Wirkung: der Dichter hatte sich aus-
geschrieben und die persoenliche Eitelkeit trat mit Nüchternheit,^** ja Gredanken-
iosigkeit gepart zu Tage. ^'Noch zuletzt wandte sich Brocke« wieder der
Übersetzerthsetigkeit zu, jetzt mit Bevorzugung der Engländer: Popes Versuch
vom Menschen 1740, und besonders Thomsons Jahreszeiten, 1745 verdeutscht,
haben für diese Zeit gewiss als Muster gelten dürfen. Aber die Sprache in
den Dichtungen von Brockes erschien frühzeitig durch Neubildungen^" wie
durch mundartliche Färbung^-' entstellt, durch Breite und Trivialität-^* ermüdend.
So war es ein Freundesdienst, wenn Hagedorn aus den ersten fünf Teilen
des Irdischen Vergnügens in Gott' einen 'Auszug der vornehmsten Gedichte',
Hamburg 1738, herstellte.^^ Wie Brockes das ehrbare kluge thaetige Hamburg
vertrat, so Hagedorn das Wohlleben und die freie Bildung, worin sich besonders
die dort zahlreich anwesende Diplomatie auszeichnete. Sohn eines dsenischen
Conferenzrates, war Friedrich von Hagedorn^" 1708 in Hamburg geboren,
1729 — 31 in London als Privatsecretser des dsenischen Gesandten beschäftigt,
spaeter bis zu seinem Tode 1754 in Hamburg als Secretser der englischen
Court d. h. Handelsgesellschaft, in einer Stellung die ihm viel Müsse und
Freiheit Hess. Seine aus Geldrücksichten geschlossene Ehe gewsehrte ihm
kein glückliches Familienleben. Um so mehr gab er sich einer behaglichen
Geselligkeit hin und einem geschmackvollen, tiefeindringenden Litteratur-
studium. Sein Liebling war Horaz, dessen Gedichte er vielfach mit Einmi-
schung heimatlicher Züge nachahmte. Den franzoesischen Lyrikern und den
englischen Moralphilosophen der Zeit entlehnte er Formen und Gedanken, worauf
in Anmerkungen zu seinen Gedichten hinzuweisen er fast als Pflicht ansah.
S. 46. 20) Schou früher hatte er auch die vier Elemente, die fiiaf Siune u. se. besungen.
21) Kleine Künste, wie ilie Nachahmung des Nachtigallschlags, die Schilderung des Wohl-
geruchs einer Nelke durch Ricchpausen nach jeder Silbe können dafür nicht entschiedigeu.
Beispiele der Lautmalerei bei Brockes bringt lobend vor Breitinger Grit. Dichtk. :i, 2ü.
22) Besonders viele Zusammensetzungen mit be — : beblühmt, bebüscht, beblättert, beschtvitzt,
beschuppt usw. 23) Kein Spierclien Gras, Spiegel mit Fulgen von Silber \\. a. Keime
wie um : Stimm. 24) derselbe, derjenige u. se. Flickwörter. 25) Dass Hagedorn
die Schwächen der Dichtung von Brockes kannte , hat er durch gelungene Parodien be-
wiesen: Eschenburgs Ausgabe 4, 115. Noch feindlicher urteilte K(jenig übei' Brockes, den
er im Bunde mit Bodmer 1725 in einem 'Boberfeldischen Journal' bekämpfen wollte: Brandl
S. 135 If. 26) Lebensgeschichte von Eschenburg in der Ausgabe der Poetischen Werke,
Hamburg 18U0 V, Bd. IV; im V. der Briefwechsel Hagedorns. Vgl. ferner K. Schmitt im
Jahrbuch f. deutsche Litt.-Cxesch. von A. Heuneuberger 1. Meiningen 1855 und H.Schuster
Wackernagel, Litter. Geschichte. II. 24
352 NEUHOCllüEUTSCHE ZEIT. XVIII JAlllUl. § 147
Frühzeitig, schon als zwölf jti'hiiger hatte er seine Gelegenheitsgedichte drucken
sehn; dann sich an Wcichnuiuns Siuniniung beteiligt. Von der Universitiet
Jena zurückgekehrt, verötfentlichre er 1729 den Versuch einiger Gedichte
oder Erlesene Proben l'oetischer NebenstundcnV^ teils Satiren nach Rachels
Vorbild, in denen er die Fehler der feinen Gesellschaft rügt und durch den
Hinweis auf die Einfachheit der LamUeute zu beschaiinen sucht, teils Oden,
unter ihnen Der Wein', eine in Form und Erfindung-'* an Günthers Ode auf
Prinz Eugen sich anschliessende Dichtung, welche er spaeter überarbeitet und
stark verkürzt liat.-^ Dann eröffnete er 1788 mit einem Versuch in poetischen
Fabeln und Erza'hlungen' eine neue, erfolgreiche Bahn; noch andere Gedichte
dieser Art fügte er der 1750 erschienenen Sammlung Moralische Gedichte'
bei. Lafontaine war hier sein Vi>rbild,'" dem er mit der Ausmalung von Einzel-
heiten, mit der oft strophischen Form, mit der kühlen, verstandesmiessigen
Moral folgte; auch die Erziehlungen,'^' zu denen teilweise auch Bocaccio den
Stoff gewa^hrte, tragen nur der sinnlichen Liebe Recliuung, gehn aber nicht
auf die Erregung der Lüsternheit aus und sind im Ausdruck durchaus unan-
stoessig. Ahnliche Richtung auf das Zierliche, Muntere, Leichtfertige zeigen
die Oden und Lieder', zuerst mit den Musiknoten erschienen, dann in fünf
Bücher gesammelt 1747.^* Sangbar und durchaus correct in der Sprache*'
gaben sie der Liederdichtung der Folgezeit ein vielfach nachgeahmtes Muster.
Zugleich wandte der Preis der offenen, auf Gleichstellung beruhenden Freund-
schaft, welcher der Dichter auch in der Widmung der einzelnen Gedichte an
Diss. Lpz. 1882. 27) Neudruck von Sauer : Deutsche Litteraturdenkniale des 18. Jahr-
hunderts 10, Heilbionu 1883. 28j Schatteu aus deu Rtj-uierkriegeu, Haus und (irete.
LB. 2, 694 fgg. 29) Die dichterische Entwickeluug Hagedurns ist an der Hand der
vou ihm selbst beigefügteu Entstehuugsjalirc leicht zu verfolgen. 30) S. die zu § 143,
15 angeführte Schrift von W. Eigenbroilt. 31) Dass in der berühmtesten Johannes
der Seifensieder' anstatt des savetier bei Lafontaine auftritt, ist wohl nicht als ein Miss-
verstiindnis zu erklären (wie allerdings bei Ch. H. Schmid : Minor. Weisse 40.3), in Folge
dessen Hagedorn einen snvonnier untergeschoben hätte: Hagedorn führt die gleiche Erzäh-
lung von dem Schuster bei ßurkard AValdis an. So verdankt Johann sein Handwerk wohl
dem bequemen Keim auf Lieder und tvieder. 32) Öfters wiederholt, auch in der
Gesamtausgabe in 3 Bänden. Hamliurtc l?.')?. Die an!;ehäno:tc AbhautUung vou la Nautt
über die Lieder der (rriechen, von Ebert übersetzt, ward, wie Herder sagt, dassisch fSf
die Deutschen : Suphaus Ausg. XXV^II, S. 187 Anm. 33) Schon 1727 sagt Hagedort
l^Escheuburgs Ausg. ö. 14): 'Ich habe mich insonderheit bemüht, in dem Ausdruck keinen
obersächsischeu Ohre ekel zu werden, und daher um irewisser zu »jehn, dies Oiedicht vo»
einem Schlesier censieren lassen*. Merkwürdiger Weise hat er sogar oberdeutsche ProviB-
zialismeu seinen Bauern beigelegt; fielt. Schätz} e : s. Eschenburg 8. 149: lassl mich ungeheU
§ 147 HAGEDORN. DROLLINGER. 353
seine Freunde Ausdruck gab, die Verehrung der Jüngeren ihm vorzüglich
in der Zeit zu, als der Streit zwischen Leipzig und Zürich eine unparteiische
Stellung als besonderen Dankes wert erscheinen Hess.
In vieler Hinsicht, durch die gleiche Strenge in der Beurteilung der eigenen
frühereu Dichtungen, in der ablehnenden, aber nicht absprechenden Haltung
den späteren Neuerungen gegenüber stellte sich Hagedorn zur Seite ein Dichter,
welcher sonst zu ihm einen bedeutsamen Gegensatz bildete und diesen Gegen-
satz wie jene Übereinstimmung auch ausdrücklich anerkannt hat.^^ Der
Munterkeit und Zierlichkeit Hagedorns gegenüber steht die Empfindungstiefe,
die Schwermut, der Ernst Hallers. Spseter wiederholte sich dieser Gegensatz
auf höherer Stufe: er trennt Klopstock und Wieland, ja auch Goethe und
Schiller. In Haller war diese Geistesrichtuug verbunden mit Eigenschaften
der Form, die sich teilweise aus eeusseren Umständen, insbesondere aus seiner
schweizerischen Herkunft erklaeren. Die Schweiz war politisch seit lange von
Deutschland getrennt; seit dem dreissigjiehrigen Kriege hatte sie auch an dem
Geistesleben, insbesondere au der Poesie Deutschlands wenig Anteil ge-
nommen. Die erste Wiederanknüpfung fand an der Gränze, in Basel statt,
wo ein dem badischen Laude zugehoeriger Dichter hervortrat und mit seiner,
dem schweizerischen Wesen verwandten Dichtung eine weitere Fortsetzung
und Ausbildung dieser Dichtuugsart in der Schweiz selbst hervorrief. Karl
Friedrich: Drollinger ''^ war 1688 zu Durlach geboren, verweilte aber seit
1703 erst als Student, dann als badischer Archivbeamter in Basel bis zu
seinem Tode 1742. Seine Gedichte, soweit er sie nicht selbst vernichtet hatte,
erschienen erst 1743, mit einer Gediichtnissrede seines Schülers J. J. Spreng
(Prediger und Professor zu Basel, 1699 — 1768), der ebenfalls und zwar mit
geistlichen Liedern sich versuchte, und für die Baseler Mundart'*'' gesammelt
hat wie DroUinger die altdeutsche Sprache in den Urkunden studierte.
r)rollinger bearbeitet noch Psalmen und dichtet Sonette, aber er preist Boileau
iiul übersetzt Pope; er ahmt Brockes nach, mit welchem er auch in Brief-
verkehr stand; aber er wffihlt hoehere, metaphysische Gegenstände für seine
Lehrgedichte: 'Lob der Gottheit, Über die Unsterblichkeit der Seele," Über
lie göttliche Fürsehung'. Am selbstständigsten ist er in formellen Dingen:
'•. 82. Über spsetere Correctureu von Ramler: s. Eschenburg 4, 102. 34) Haller
itiau8g. von Hirzel, S. 397: ein Brief au Freiherrn von Cremniingen 1772. 35) W.
Aackernagel, DroUinger, Akail. Festrede, Basel 1841 (Kl. Sehr. 2, 428 fgg.). Th. Löhleia,
»roUinger, Progr. d. Gymn. Karlsruhe 1873. 36) Idioticon Rauracum s. Ad. Socin
II Birlingers Alemannia 15. 185 fgg. 37) LB. 2. 657. Alle diese Oden in derselben
354 NEUTIOORDEUTSniE ZEIT. XYIII JAIIKII. § 147
er zuerst lehnte sich ausdrücklich gegen den Reim, gegen den Alexandriner^'
auf (§ 142, 24).
Drollingers Einfluss erfuhr Alhrk.cht von IIali.rr,'*^ als er 1728 in
Basel lebte. Geb. 1708 zu Bern, hatte er 1728 — 28 in Tübingen und Leiden
studiert, und Xorddeutschland, England, Frankreich bereist. Nachdem er sich
1729 in seiner Vaterstadt als Arzt niedergelassen, folgte er 1736 einem Rufe
nach Göttingen, wo er der neubegründeten Universitaet wesentlich ihren Glanz
verlieh und sich insbesondere als Anatom und Physiologe einen Weltruf^"
erwarb. Trotzdem ergriff er 1753 die Gelegenheit in seine Heimat zurück-
zukehren; nach unermüdlicher, vielseitiger, zuletzt auch voll anerkannter
Thwtigkcit starb er zu Bern 1777. Neben seinen zahl- und umfangreichen
Fachschriften,^' seiner ebenso ausgedehnten kritischen Schriftstellerei, besonders
in den Göttinger gelehrten Anzeigen (§ 140, 39) erscheint Hallers Dichtung
zwar an Umfang gering, aber an Wert und Wirkung nicht minder ausge-
zeichnet. Seine Jugendversuche hatte er selbst grossenteils, als durch den
Lohensteinischen Geschmack allzu verdorben, unterdrückt; seine spaeteren
Gedichte suchte er in Sprache und Versbau beständig nachzubessern,*^ un(
lOzeiligen Strophe. 38) LB. 2, 662 'über die Tyrannei der deutschen Dichtkunst'.
Doch lobt Drollinger noch Gottsched, der ihn 1733 in die 'Deutsche Gesellschaft' aufge-
nommen hatte. 39) Schon 1755 erschien in Zürich: 'Das Leben des Herrn von Haller'
von .1. G. Zimmermann, wozu Haller selbst das Material geliefert hatte: nach »einem Tode
(von G. Heinzmann herausgegeben) 'A. v. Hallers Tagebuch seiner Beobachtungen über
Schriftsteller und an sich selbst, zur Karakteristik der Philosophie und Religion diese«
Mannes', II Bern 1787. grossenteils Auszüge aus den Gütt. gel. Anz. , aber auch ein noch
nicht wieder aufgefundenes religitpses Tagebuch von 1766 ab. Zum hundertjährigen Todes-
tag erschien 'A. v. H.. Denkschrift', Bern 1877 (von Blösch, Hirzel, Fischer, Valentin.
Bachmann); 1879 A. v. H. und seine Bedeutung für die deutsche Litteratnr von Ad. Frey,
Leipzig: 1882 A. v. Hallers Gedichte, herausg. u. eingeleitet von L. Hirzel, Frauenfeld:
ferner Hallers Reisetagebücher mit einem Gedicht vou 1721, hg. von L. Hirzel, Leipzig
1783; Ed. Bodemann, Von und über Hallcr. üngedruckte Briefe und Gedichte (aus Zimmer-
manns Nachlass), Hannover 1885. 40) Neben der englisch - hannoverischen Regie-
runtr war es besonders Friedrich der Grosse, welcher zweimal Haller für seinen Staat n
crewinnen suchte: 1749 an die Akademie der Wissenschaften zu Berlin, und 1755 ab
Kanzler der Uuiversitst Halle. 1749 ward Haller geadelt. 41) Auch hier wei«
er allgemeine und fruchtbare Gedanken einzuflechten : so über den Wert der Hypothesen I^
3, 2, 25 fgg. 42) S. die Varianten zu den Stücken im LB. 2, 714 und vgl. W. Hon*
Die EntWickelung der Sprache Hallers. Progr. Bielitz 1890: Käslin Freiburger Diss. 1896
Haller benutzte zu iliesen Berichtigungen den Rat des hannoverischen Leibarztes Werlhof
dessen Gedichte er selbst 1749 herausgab. In der Handhabung fremder Sprachen, insbesondW"
des Franzcpsischen und Lateinischen zeijjt Haller übriffens eine staunenswerte Gewandtheit
§ 147 HALLER. 355
zugleich seinen immer strenger gewordenen sittlichen und religioesen** Ansichten
gemsess umzugestalten. 80 trtegt die erste, ohne den Namen des Dichters
erschienene Ausgabe, der Versuch Schweizerischer Gedichten', Bern 1732,
vielfach ein anderes Gepraege als die letzte von ihm besorgte,^^ die elfte 1777.
Doch legt Haller die Tiefe und Fülle seiner Gedanken, die Kraft und Kürze
seines Ausdrucks auch in die Dichtung über die eigensten Angelegenheiten:
in die Gedichte auf Lebensereignisse, auf Freunde*'' und auf die Gattin,
die er als Doris ** umwarb, die er in zweien seiner spseteren *^ Gedichte, als
sie kurz nach der Ankunft in Göttiugen gestorben war, unter ihrem Namen
Marianne rührend beklagte. Innig spricht der jugendliche Dichter seine
Sehnsucht nach dem Vaterlande *"* aus; die schweren Schweden, an denen die
Republik Bern, wesentlich unter dem Einfluss Frankreichs krankte, deckt er
durch kräftige Satiren auf: Die verdorbenen Sitten, Der Mann nach der Weif.
Noch ernster wird der Dichter da, wo er im Lehrgedicht die tiefsten Fragen
der Sitten- und Glaubenslehre dichterisch erörtert: Über den Ursprung des
Übels, Über die Ewigkeit'.*^ Am gewinnendsten vereinigt sich Vaterlands-
liebe, Lob der einfachen Sitten und die auch im Einzelnen kenntnisreich
verweilende Schilderung einer grossartigen Natur in dem 1729 verfassten
Gedicht Die Alpen'.-^" Ward hier Hallers Wirkung spaiter durch Rousseau
noch überboten, der die Naturschocnheiten der Schweiz und die Vorzüge des
Naturlcbens in die Wcltlittcratur einführte, so wandte sich Haller im Alter als
Staatsmann wie als Schriftsteller gegen Rousseaus übertreibende Lehren: auch er
griff zur Form des Romans um in Usong' 1771 die unumschränkten Herrscher
seiner Zeit in der beliebten morgenländischen Einkleidung zu belehren und
zu ermahnen,^' in 'Alfred, Koenig der Angelsachsen' 1773 das von ihm hoch-
Franzcjesische Gedichte hat er wie Hagedorn der ersten Ausgabe seiner Dichtwerke beige-
geben. 43) Durchaus protestantisch gesinnt bekämpft er in den 'Gedanken über Ver-
nunft, Aberglauben und l'nglauben" gleichraaessig die Jesuiten wie die franzoesischen Auf-
klarer, von denen er spueter namentlich Voltaire selbst durch persoenliche Berührung kennen
lernte. 44) Eine 12. Ausgabe, von J. R. Wyss besorgt, erschien Bern 1828. Neben
den Originalausgaben gibt es zahlreiche Nachdrucke und Übersetzungen. 45) An
Gesellschaften zur Pflecre der deutschen Litteratnr nahm Haller in Bern und in Güttintcen
Teil. 46) Die Offenheit und Innigkeit, mit welcher der Dichter hier auch die Gefühle
der Braut auszusprechen wagte, wurde von La Mettrie frech umgedeutet in der Art de jouir,
wie dieser Schützling Friedrichs des Gr. auch sonst Haller. sogar mit erlogenen Angaben,
zu sich herab zu ziehen suchte. 47) In die spaeteren .lahre fallen namentlich auch die
erat durch Bodemanns Schrift lAnm. 'iVd] bekannt gewordenen Gedichte. 48) 1726 s.
LB. aaO. 49) LB. 2, 723. 50) LB. 715. 51) Als ursprünglich zur Ein-
350 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVHl JAHIHI. § 14
golmltcnc vcrfassiingsma'ssige K(rnigtum Englands darzustellen, endlich in
Fabius und Cato' 1774 der heimischen Jlepublik seine aristokratische Auf-
fassung ein/upnegen. Um so strenger kehrte er diese politischen Ai)sichton
hervor, je mehr ihm die Zeit sich in Gefühlsweichheit und Zügellosigkeit
aufzuld'sen schien: ihn selbst traf dieser Zug der Zeit insofern, als sie seinen
bis dahin beständig gestiegenen Ruhm rasch verbleichen und zurücktreten Hess.-''*
§ 148.
"Wenn das achtzehnte Jahrhundert auf seinem H(ehopuncte Hagedorn
und Ilullcr als die Urheber eines neuen Aufschwungs der Dichtung nannte,
so kennzeichnet es den ersten, der sich zum Führer einer umfassenden littc-
rarischen Kritik aufwarf, dass er gerade gegen diese beiden kleinlich und
ungerecht verfuhr;' und diesem Verhalten entsprach auch völlig seine bUnde,
mit allen Mitteln geführte Bekämpfung alles dessen, was die nächste Zeit
von Fortschritten der Dichtung brachte. So erkla3rt es sich dass das Ver-
dienst, welches Johann Christoimi Gottsched sich immerhin um die deutsche
Litteratur erworben hat, gerade von den Besten unter seinen Zeitgenossen
als ein geringes und zweifelhaftes bezeichnet wurde und durch den von ihm
gestifteten Schaden völlig aufgewogen zu sein schien. Das Geschick, mit
welchem er die litterarischen Bedürfnisse der Zeit erkannte, und die That-
kraft , die er zu ihrer Befriedigung entfaltete , standen zugleich im Dienste
flprhtring in diesen Roman bestimmt bezeichnet Haller seine 'Briefe über die wichtigsten
Wahrheiten der Offenbarung". Bern 1772. 52) Herabsetzende Urteile über Hallers letzte
Schriften von Nicolai, Wieland, Herder s. bei Hirzel p. CDXLVIII fgg. Doch setzte G<¥the
noch seinem Götz Worte aus Usong vor: für Fausts unbefriedigten Wissensdurst hätte er
in seiner Zeit kaum ein treff'enderes Beispiel finden können als Haller. Spster wendet er
sich freilich scharf gegen den Dualismus in Hauers entsagenden Worten: 'In's Innre der
Natur dringt kein erschaffner Geist, Zu glücklich wenn sie noch die seussre Schale weist".
(Die Falschheit der menschlichen Tugenden V. 289 fg.) Am meisten wirkte Haller auf
Schiller ein; und dessen Einwand gegen das Trauergedicht auf Marianne (Über naive und
sentimentalische Dichtung) lasst Haller ebenso nur als den besten und berühmtesten Ver-
treter einer unvollkommenen Dichtweise ins Auge wie Lessings Tadel der schildernden
Poesie im Laocoon nur aus diesem Grunde die 'Alpen' zum Beispiel wählt.
§ 14S. 1) Die Befehdung Hallers durch Gottsched und seine Anhänger fasst Hirzel in
der Ausgabe Hallers S. 399 zusammen; er zeigt S. CXCV dass Haller Gottscheds Zorn sich
zuniechst dadurch zuzog, dass er seine Göttinger Freunde verteidigte, als (iottscheds Fran,
ohne sich zu nennen, sie angegriffen hatte. Hagedorn wird als Fabeldichter von Gottsched
hinter Stoppe und Triller zurückgesetzt: s. Eschenburgs Ausgabe 4, 55. Auch Günther»
Ode auf Prinz Eugen kritisiert Gottsched eingehend: Grit. Beytr. Y 63 fgg. Bezeichnend
ist es, wie er die Einmischung von Hans und Grete in diese Ode tadelt: ebd. IV 189;
1
§ 148 GOTTSCHED. 357
seiner Eitelkeit und Herrschsucht; er erreichte auch zunaechst sein Ziel, und
zeigte sich dann gleichgiltig gegen den Hass und Hohn, dem er in steigendem
Masse verfiel, als die von ihm gegen seine Vorgänger geübte Kritik ihn selbst
immer stärker und schärfer traf. Leipzig, das durch die altberühmte Uni-
versitset und durch den anwachsenden Buchhandel als Centrum der Litteratur
gerade damals gelten durfte, bot ihm den günstigen Boden für seine Bestre-
bungen Sprache, Litteratur und Theater nach einheitlicher Regel zu gestalten
und zu leiten: er fand dabei anfänglich um so mehr Beifall, als er kein
Obersachse von Geburt war und somit ohne Vorurteil den Vorzug seiner
neuen Heimat zu behaupten schien. In Judithenkirch bei Königsberg 1700
geboren,- hatte er auf dieser Universita?t studiert und gedachte hier auch
als Lehrer aufzutreten, als er wegen seiner stattlichen Körpergrossse in
Gefahr kam den Zwangswerbungen Friedrich Wilhelms I anheim zu fallen.
1724 nach Leipzig geflüchtet und von B. Mencke (§ 147, 3) freundlich auf-
genommen, ward er 1730 Professor,^ 1739 Rector und bekleidete diese Würde
noch viermal; er starb 1766. Seine Stellung benutzte er rücksichtslos zur
Gewinnung von litterarischen Gehilfen.^ Die von Mencke geleitete Görlitzer
Gesellschaft, die sich seit 1717 die deutschübende ^ poetische nannte, suchte
er als ihr Senior seit 1726 durch auswärtige Verbindungen''' und durch An-
kündigung hoher Ziele nach dem Muster der franzocsischen Akademie zu
heben; als aber die Mitglieder sich ihm nicht durchaus willfährig zeigten,^
gründete er eigene Vereine,"^ denen sich in Koenigsberg, Greifswald, Jena,
2) In vorzüglicher Weise ergänzt die litterarischen Nachrichten der älteren Zeit aus dem
umfangreichen brieflichen Xachlass Th. W. Danzel, Gottsched und seine Zeit, Leipzig 1848.
Vgl. ferner ,Joh. Criieger, J. C. (Gottsched und die Schweizer J. J. Bodmer u. J. J. Brei-
tinger in Kürschners Nationallitteratur i'2. M. Koch, Gottsched und die Reform der deut-
schen Litt, im 18. .Jh. Hamburg 188(j. 3) Damals war sein Fürsprecher in Dresden
der Hofpoet LTlrich Koenig, den er selbst durch ein Geldangebot zu gewinnen suchte; aber
schon 17.30 verfeindete sich Gottsched mit ihm durch die Bekämpfung der Oper und liess
ihn in den 'Gesprtechen Günthers im Reiche der Todten' (§ 147, 3) mit Schmutz über-
schütten, ja auf das ärgste verleumden. 4) In der schärfsten Weise rügen diese Aus-
beutung Jüngerer Zachariae und Lessing 1755 (s. Lessing von Lachmann-Maltzahn 5, 37).
5) Nicht bloss in diesem Namen zeigt sich der Einfluss der Hamburger Gesellschaft von
Brockes (§ 147. 1.3): s. Danzel S. 80. 6) Insbesondere gewann er .Alosheim (_§ 146, 4)
zu ihrem Prsesidenten: auch DroUinger und Haller wurden zu Mitgliedern ernannt. Die
Schriften der Gesellschaft erschienen, II, Leipzig 1730. 1734; die Oden der deutschen Gesell-
schaft 1738: Grit. Beytr. V .340. 7) Gottsched wollte Steinbach, den Biographen Gün-
thers [% 147, 1) ausschliessen lassen. 8) 1752 die (Tesellscbaft der freien Künste auf
Grundlage einer freien Rednergesellschaft: Danzel 113. Die Critischen Beytraege (,§140,38)
358 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVHI .lAllUH. § 148
Göttinü;on, ja selbst in Hern verwandte öesellscliaftcin '^ anschlössen. Vergeb-
lich jedoch waren seine Henuihuns^en in Dresden nnd Wien die Gunst der
n(rfe zu gewiinien und an letzterem Orte, wohin er 1741) reiste, die Grün-
dung einer Akademie zu voranlassen. Friedrich der Grosse fasste bei pcr-
scrnlichem Verkehr mit Gottsched in Leipzig 1757 eine ungünstige Meinung
von ihm.'" Dass Gottsched sich an die franzcEsischcn Schrit'tstoller, insbeson-
dere an Fontenelle " und Voltaire'- wandte, ohne freilich von ihnen mehr
als kahle Coniplimentc zu erhalten, entsprach dem Grundzug seiner eigenen
Thjetigkeit. Denn diese bezweckte durchaus die Correctheit, die Uegelrichtig-
keit, wobei ihm, wie schon Thomasius ' ' (§ 13«) die Franzosen durchaus als
Muster vor Augen standen: deren litterarische Leistungen in deutscher Sprache'*
wiederzugeben, zuna?chst durch Übertragungen, dann auch durch freiere
Nachahmungen, das war die Aufgabe, die er sich und die er der deutschen
Littcratur stellte. Wie die Uuimer die Griechen benutzten, so und freilich
auch mit kleinen Freiheiten,'' sollte man in Deutschland die franzoesischcn
Vorbilder sich aneignen. Die Nachahmung der Natur '" nannte er mit Be-
rufung auf Aristoteles den obersten Grundsatz der Kunst; die Wahrscheinlich-
keit der Fabel, die Klarheit der Darstellung ging ihm über Alles. Die
erschienen anfänglieh 1732 al« ' he ra ungesehen von ettliehen Mitgliedern der deut«ehen Gesell-
schaff in Leipzig', vom VI Band an, 1739. 'hg. von einigen Liebhahern der dentschen
Litteratur'. 9) Eine kurze Übersicht dieser (lesellschaften in den Nachträgen zu Hulzers
Theorie S. 56. 10) Krause. Friedrich der (Ir. u. die deutsche Poesie (§ 140. l.ö)
S. 24 fgg. Friedrich hatte Gottsched in einem franz. Gedicht als cygne Saxon angeredet,
übertrug jedoch spaeter dies Gedicht auf Geliert. Anders urteilte Gottsched selbst über sein
Verhältnis zu Friedrich in einem Brief an Prof. Flottwell in Ktpnigsberg (Krause 87 fgg.).
Vgl. auch Briefe der Frau Gottsched 3, 36 (1757): 3, 103 (,1758). 11) Fontenelles
Schriften übersetzte (iottsched . Leipzig 172G uö. Zuletzt als 'Auserlesene Schriften des
Hrn. v. F.' 1751. 12) Voltaire besuchte Gottsched in Leipzig 1753: s. Danzel S. 338.
13) Vgl. Grit. Beytr. 3. 348 fgg. 14) Denn den Gebrauch des Französischen selbst
bekämpfte er: seine Braut ging auf seine Mahnungen hin von franziesischen Briefen, die
damals allein für fein und anständig galten, zu deutschen über: Briefe der Frau (iottsched
1, 68. Auch Friedrich dem Grossen gegenüber suchte er die deutsche Sprache und IJtte-
ratur zu verteidigen, doch ohne Geschmack und daher auch ohne Erfolg. 15) So
ersetzte er in den Tragiedien die Anrede Vous durch das würdige Du der Alten; und
suchte auch sonst raceglichst gegen Anachronismen und für das mehr historische Costüm zu
wirken. Vgl. Crit. Dichtk. Hl Cap. X § 30 und Mylius Crit. Beytr. VIII 30. 16) Über
Gottscheds Kunstlehre s. F. Braitmaier, Die poetische Theorie Gottscheds und der Schweizer,
Progr. Tübingen 1879 und desselben Geschichte der Poetischen Theorie und Kritik vo«
den Diskursen der Maler bis auf Lessing, Frauenfeld 1889, I : Fz. Servaes. Die Poetik Gott-
§ 148 GOTTSCHEDS LEHRE. 359
Hebung der Sittlichkeit, die freilich für ihn wesentlich mit eeusserem Anstand
zusammenfiel, sollte der Zweck der Kunst sein. So war denn auch die
Philosophie Wolfs, über den er gelegentlich wohl auch auf Leibnitz zurück-
griff, der Ausgangspunct seiner eigenen wissenschaftlichen Arbeiten,*^ durch
welche er selbst auf die Hoefe, sogar auf Friedrich Wilhelm I in dessen
letzten Tagen einwirkte.'** Dieselbe breite Darstellung, dieselbe rein verstän-
dige Auffassungsweise, wie sie Gottsched als Schüler Wolfs in der Philosophie
sich angeeignet hatte, sollte nun auch für seine littorarische Reform mass-
gebend sein. Poesie schien ihm geradezu erlernbar, ja bei sorgfältiger An-
eignung der Regeln gar nicht schwierig. '** Durch die Anwendung seiner
Regeln, auch wenn er diese einfach den Franzosen entlehnte, hat er sich
allerdings insofern verdient gemacht, als er die Nachlässigkeit,-'' den Schmutz,
den Schwulst und die Spielerei,^' die sich bis dahin, besonders in der Ge-
legenheitsdichtung, hatten breit machen dürfen, unerbittlich verfolgte und ver-
trieb. Die letzten Ausläufer der schlesischen '-•^ Dichtung, die Hanke, Stoppe
u. a. und in Leipzig der Nachfolger Reuters in der bürgerlichen Komoedie,
Picander,-^^ wurden glücklich beseitigt; vor allem aber ward dem Schauspieler-
drama mit der Verbannung des Hanswursts das beständig zum Gemeinen
herabziehende Element genommen (§ 145, 14). Diesen Kämpfen dienten die
seheds und der Schweizer, Strassburg 1887 (,QF. 60). 17) Erste Gründe der ge-
sammten Weltweisheit 1734. Die Theodicee von Leibnitz übersetzte Uottsched 1744. Auch
eine Übersetzung des Wörterbuchs von Bayle besorgte er, Leipzig 1741 — 44, suchte aber
durch Zusätze die Kühnheiten des Freidenkers abzuschwächen. 18) Danzel S. 44 fgg.
Bei dieser Vertretung der Wolfschen Philosophie hatte CTOttsched zum wärmsten Gönner
( den ehemaligen koenigl. polnischen Staatsminister von Manteiitfel, deu Begründer der Gesell-
schaft der Alethophilen: durch ihn wurde er in seineu Leipziger Anfängen gegen die
Feindschaft der am Hofe mächtigen Orthodoxen erfolgreich beschützt. 19) Vgl. be-
sonders die Vorrede zur 3. Autl. der Critischen Dichtkunst 1742 , in welcher Gottsched
seinen Züricher Concurrenten vorhielt dass mau aus ihrem Werke nicht lerne Gedichte zu
machen. Noch weitherziger als sonst fasst er seine Anforderungen in der 'Anleitung wie
ein Frauenzimmer Gedichte verfertigen könne' (Vernünftige Tadlerinnen 1 , 12 s. QF. 60,
153). 20) Auch schlechte Übersetzer züchtigte er: Grit. Beytr. 4, 518. 21) So
eiferte er gegen Anagrarame, Akrostichen, Bilder- und Leberreime : Gedichte 2, 554. Grit.
Dichtkunst am Schluss. 22) Über die Empfindlichkeit der Schlesier gegen Tadel s.
Grit, Beytr. 4, 186. Stoppe (§ 136, 26) demütigte sich allerdings vor Gottsched : Danzel
85 uö. 23) Schriftstellername von Christian Friedrich Henrici, der, 1700 geboren,
als Steuerbeamter in Leipzig 1764 starb. Seine 'Teutschen Schauspiele bestehend in dem
academischen Schlendrian, Erztsäutier und der Weiber-Probe' erschienen Berlin, Frankfurt
und Hamburg 1726; seine 'Ernst-Schertzhatfte und Satyrische Gedichte', IV, Leipzig 1727
360 NEUIIOCHDFAJTSCIIE ZEIT. XVIII JAHIIH. § 1 !
kritischen Zoitschrifton, mit tlenen Gottsched seit 1725 (^ 140, 34) hervortrat,
zuerst in der popula?ren Form der raoralischon Wochenschriften, von 1732 ab
(§ 140, 38) mit gelehrt kritischen Zeitschriften. Was hier, meist mit An-
knüpfung an ältere und neuere Bücher im Einzelnen erörtert wurde, fi^^ir
Gottsched systematisch in seinen Lehrbüchern zusammen, von denen stinu
Redekunst"-* zuerst 1728, der Versuch einer kritischen Dichtkunst"^^ 173'».
die Grundlegung zu einer deutschen Sprachkunst' -*^ 1748 erscliienen. Wii
diese Werke sich durch Verständlichkeit, aber auch durch Seichtigkeit zu-
na?chst grossen Beifall erwarben, auch besonders da wo die Schulen"-^ noi li
zurückgeblieben waren, die Verbreitung der Schriftsprache und die AnpassuiiL^
der Dichtungsfonnon an die franztcsischen Muster förderten, ist schon früJK i
(§ 141, 2 fgg.) auseinander gesetzt worden. Den Lehren über die Dicht-
kunst sollten vor allem Gottscheds eigene Dichtungen entsprechen. Dass er
iu seinen Lehrbüchern die Beispiele, wenigstens anfangs, seinen eigenen Werken
entnahm, geschah im Anschluss an die älteren Schriften dieser Art;'^'* in der
That glaubte er aber auch selbst, vor allem iu der Lyrik alles zu leisten,
was von einer Ode, einem Lehrgedicht, einem poetischen Sendschreiben zu
verlangen war. Er schloss sich den llofpoeten an,'-"* von deneu der Kcjenigs-
berger Johann Valentin Piktscii sein Lehrer'" gewesen war, nur dass er
den Lohensteinischeu Schwulst" auch dieser Vorbilder sorgfältig vermied.
Historische und mythische Namen von Klang sollten ein Gedicht heben,
wsehrend sonst Gottsched sich an die bare Wirklichkeit hielt,^' ja an niedrige
bis 37. Über erstere s. Srhlenther. Frau Gottsched 102 fgg. 24) u. d. T. 'Grundriw
zu finer vernunftgemsessen Redekunst". Hannover 1728; die ö. Auflage, 'Ausführliche Rede-
kunst". Leipzig 1759. 25) 4. Aufl. Leipzig 1751. 26) 5. Aufl. Leipzig 1762.
6: 177fi. 27) Für die Schulen veranstaltete (jottsched selbst noch besondere Auszüge:
Kern der deutschen Sprachkunsf. Lpz. 1753 uö. 'Vorübungen der Beredtsamkeit". 1754 uö.
'Akademische Redekunst' 1759. 'Vorübungen der lateinischen und deutschen Üichtkunst'.
1756 uü. Dem Ausland wurden Gottscheds Schriften z. T. durch Übersetzungen ins Fran-
zoesische u. a. Sprachen zugänglich gemacht. 28) Vgl. Grit. Beytr. 7. 671 und t? 120.
S. löl. 29) Wie diese dichtet er auch in fremdem Namen" und gegen Bezahlung.
30) Pietsch lebte 1690 — 1733. Pietschs 'Gesamiete Poetische Schriöten' gab (Gottsched Lpz. 172f
heraus: aus dem Nachlas» vermehrt wiederholte sie Joh. George Bok. Ko^nigsberg 1740
Vgl. Grit. Beytr. 7. 131 , wo wegen der Zusammensetzung eines bruchstückweise vorgefun-
denen Gedichtes auf Karl VI Bok von Gottsched der Aristarch' genannt wird, 'der di<
llias des preussischen Homers" in Ordnung brachte. 31) In der Ode auf Eugens ToJ
1736 gesteht Gottsched selbst dass er 'den Geschichten nach gereimet". Seine Frau singi
er trocken und prosaisch an: Seitdem ein ehiich Band uns beyderseits verbindet". Un-
mittelbar daneben stehn allerdings überspannte Wendungen der Schäferpoesie und de
§ 148 GOTTSCHEDS DICHTUNG. 361
Dinge ungescheut erinnerte.-'* Die Gedichte, 1736 und 1751 erschienen, sind
teilweise nach den Rangverliältnissen der gefeierten Personen geordnet.''^
Von eigentlich epischer Dichtung hat er nur, und zwar lauge vor 1736, ein
komisches Epos vom harten Bücherkrieg' angefangen, diese Dichtungsart aber
in Ernst und Parodie speeter seinen Schülern überlassen.^* Auch die Send-
schreiben sind schmeichlerische Gelegenheitspoesie. Die Lehrgedichte behan-
deln prosaische Gegenstände, die rechte Art zu predigen u. ob. Als Gesänge
sind strophische Lieder bezeichnet. Auch Cantaten und Serenaden hatte er
gedichtet, sogar eine Oper 'Diana' nach Fontenelles Endymion' für ein Hof-
fest wenigstens angefangen: doch liess er sich daran ungern erinnern, da er
die Oper überhaupt als Dichtungsgattung zu beseitigen sich je länger je mehr
beeiferte. ^^ Als Dichtung sollte nur das gesprochene Drama gelten, die Tra-
goedie, die Komcßdie und das Schteferspiel nach frauzoesischem Muster. Gott-
sched sammelte die eigenen und die Werke seiner Schule unter dem Titel
'Die deutsche Schaubühne nach den Regeln und Exempeln der Alten', Leipzig
1740 — 45, in sechs Bänden.^" Schon 1732 war sein Sterbender Cato' er-
schienen, den er als sein eigenes Werk bezeichnete, weil er die Sterbescene des
Helden aus Addisons Cato, das übrige Stück, worin Csesar als Liebhaber der
Tochter Catos auftritt, aus dem Franzoesischen von Deschamps entnommen
hatte. ^^ Obschon vielfach von der Neuberschen Truppe u. a. aufgeführt,
konnte das Stück doch ebenso wenig Wert und Dauer beanspruchen als die
anderen Trauerspiele Gottscheds, 'Die parisische Bluthochzeit' ^'^ und Agis',
die von der überlieferten Geschichte nur soweit abwichen als es die Regeln
Odenstilps. S. QF. 60, 53. 32) In piner Ode sagt er: Ich wartete, mein Herzog,
nur Bis die gebraurlate Brunnenrur Dir neuen Math und Geist gegeben'; ja an .Soheyb
(2, 54) sfhildert er sogar eingebend die Wirkung des Karlsbader Wassers. 33) Im
ersten Buche alle auf hohe Häupter und türstliche Personen, alle auf grsefliche, adliche
und solche die ihnen gleichkommen im zweiten, alle freundschaftliche und vertraulichere
Lieder im dritten'. Lessing spottet darüber Lm.-M. 3, L51 (1751). 34) Doch gab er
[diesen vielfach die (jedanken und vermittelte den Druck ihrer Satiren: Waniek Pyra
S. 1-l'J. 35) Schon in den Schriften der deutschen Gesellschaft 2, 552 war eine
Abhandlung von St. Evremont gegen die Oper übersetzt worden; ein Lustspiel von dem-
selben Autor und desselben Sinnes hatte Gottsched als 'Die Opern' in der 'deutschen Schau-
bühne' wiederholt. Im 'Nöthigen Vorrath' 'Anm. 40) 1, 314 hatte er zum .1. 1741 trium-
phierend die letzte Auffuhrung einer deutschen Oper verzeichnet: um so schmerzlicher war
lihm ihr Wiederaufleben als komische Oper (§ 145, 55). 36) Wiederholt 1746 — 50.
37) Eingehend untersucht diese Zusammensetzung Bodmer, Sammlung crit. Schriften.
IVIII Stück : 'Sinnliche Erzichlung von der mechanischen Verfertigung des deutschen
lOriginal-Stückes von Cato'. 38) Die Anmerkungen citieren Thuanus als Quelle.
362 NEUIIOrilDEUTSCHE ZEIT. XYIII JAlIltH. § I4b
erforderten, uinl ;ils sein niiiites, verworrenes Sclia'ferspiel Atalante'.^" Von
1753 ab entsaj^te Guttscbed jeder Beziehung zum Theater und erwarb sich
noeli ein wirklielics Verdienst um die Geschichte unseres Dramas: sein
Nüthiger Yorrath zur Geschichte der deutschen dramatischen Dichtkunst",
Leipzig 1757 *" ist ein Zeugnis seines Fleisses und seiner Yaterhindsliebe.^'
Mit Gottsched teilte seine Frau die Arbeit wie den anfänglichen Iluhni;
seinen immer rascheren Sturz empfand sie melir als er, dessen Beschränkt-
heit sich jeder Belehrung verschloss. Geb. zu Danzig 1713, war Luisk
AuEFXJUNDE Victoria Ki'lmi's'- seit ihrer Heirat 1735 an der gelehrten
(«aleerc' thwtig,^" bis ihr Tod 1762 ein kinderloses, durch Kränklichkeit und
dui-ch das allgemeine Kriegselend verdüstertes Leben beschloss.^* Und doch
war sie eine heiter verständige Natur und besass Neigung wie Fadiigkeit zur
scherzenden Dichtung. Bei der litterarischen Arbeitsteilung hatte ihr daher
Gottsched das Lustspiel zugewiesen, und ihre Übersetzungen aus dem Fran-
zocsischeu sind ebenso wie ihre sell)ständigercn Nachahmungen auf der Ham-
burger Bühne noch zu Lcssings Zeit aufgeführt worden.''' Schon 1736 hatte
sie, ohne ihren Namen, das Lustspiel eines franza^sischen Jesuiten als die
Pietisterey im Fischbeiurock oder die doctormtessige Frau' bearbeitet und die
31)) F. Kühle, Das dputHcbe Schaeterspiel des Ib. Jalirlumderts I, Halle 1885. DieH Stüek ward
auih in Srliulpn und 17.50 oder 17.51 in Wirn sogar von df-n kaiserlichen Kindern aufgeführt.
'Hier' (im Schaeferspiel) 'herschet die Tugend allein": Crit. Beytr. 7, .581. Gottscheds Verlangen
dass die .Schsefergedichte so natürlich als mipglieh sein sollten, verhoehnt die § 151. 77 an-
geführte Sehrift von J. Adolf Schlegel und Bodnier. 40) Ein II Theil oder Nachlege
erschien 17tj5. mit Anhang von Freyesleben . Bibliothekar in Gotha (s. § 105 Anm.».
41) Von den sonstigen Bemühungen (Gottscheds um die ältere Litteratur ist noch hervor-
zuheben: Hinrichs von Alkmar Keineke der Fuchs, nach der Ausgabe von 1498 ins Hoch-
deutsche übersetzt und mit einer Abhandlung versehn', Lpz. 1752. Neudruck von A. Bieling,
Halle 1886. 42) Ihre Lebensgeschichte schrieb Gottsched selbst: 'Der Frau L. A. V.
Gottschedin ircb. K. sämtliche kleinere Gedichte nebst dem von vielen vornehmen Standes-
personen. Gönnern und Freunden beyderlei Geschlechts Ihr gestifteten Ehrenmaale', Lpz. 1763.
Litterarhistorisch ist sie gewürdigt worden von Paul Schienther, Frau Gottsched und die
bürgerliche Komoedie, Berlin 1886. 43) Ausser der Beteiligung an den Zeitschriften
Gottscheds hat sie namentlich a\ich die (xeschichte der franz. Akademie übersetzt, Lpz. 1749
bis 1757. Vgl. auch § 140. }V2. 44) Die von üorothee Henriette von Runckel heraus-
gegebenen 'Briefe der Frau L. A. V. Gottsched', III, Dresden 1771. geben ihrer Geistes-
und Gemütsart anziehenden, oft auch rührenden Ausdruck. Als ihren Lieblingsdichter
nennt sie den von ihrem Mann bekämpften Haller. Die Mitgliedschaft in der deutschen
Gesellschaft hatte sie abgelehnt, um nicht den unweiblichen Ehrgeiz zu zeigen, den sie der
gekrtenten Dichterin Marianne von Ziegler i§ 115. 8i Schuld gab: Br. 1. '21. 2. 225. Die
'deutsche Sappho' nannte man sie am Hof zu Zerbst: ebd. 2. 252. 3, 30. 45) Drama-
§ 148 FRAU GOTTSCHED. SEINE SCHÜLER. 363
Satire auf den Jansenismus gegen die Pietisten ihrer Heimat, sogar mit
Einflechtung mundartlicher Scenen gerichtet.^*^ Andere Komoedien nach Me-
liere, Destouches u. a. ('Der Menschenfeind' nach Le Misanthrope ; 'das Ge-
spenst mit der TrummeP, ursprünglich ein Stück von Addison The drummer;
'der Verschwender'; 'der poetische Dorfjunker') hatte sie zu Gottscheds
'Schaubühne' beigesteuert und durch deutsche Eigennamen, durch Aufloesung
in Prosa sowie durch die Einteilung in 5 Acte seiner Lehre angepasst.
Spteter beteiligte sie sich mit der Übersetzung der Cenie von der Frau
von Graffigny (Wien 1753) an der Einführung dos rührenden Ijustspiels in
Deutschland, Die selbständigeren Lustspiele der Frau Gottsched wollen
Mängel der Zeit, welche ihr persoenlich naeher getreten waren, lächerlich
machen: so die 'Ungleiche Heirath' mit Benutzung von Molieres Oeorcfes
Dandin^ die Hausfranzoesin oder die Mamsell', dem Jecm de France des
Dsenen Holberg nachgeahmt, 'das Testament', teilweise dem Malade Imaginaire
nachgebildet. Dies letzte Stück erkannte auch Lessing als einen Fortschritt
an, waehrend er sonst über Frau Gottsched wie über ihn selbst absprach.
Dem litterarischen Kampfe gegen die Nachäflfer des Pindar und Persius'*^
diente ihr Lustspiel der Witzling', womit die Schaubühne' abgeschlossen
wurde. Auch in der Tragoßdie versuchte sich Frau Gottsched mit 'Panthea',
nach der Cyropsedie ; dagegen bezeichnete sie ein allegorisches Festspiel der
beste Fürsf als durch Rücksicht auf den Anhaltischen Hof ihr abgedrungen.
Neben der 'geschickten Freundin' Gottscheds sind auch andere Schau-
spieldichter als seine Schüler aufgetreten, von denen jedoch nur Elias Schlegel,
welcher frühzeitig auf eigenen Bahnen fortschritt, Tüchtiges leistete. Das
erkannten die Übrigen auch dadurch an dass sie nach der Universitsetszeit
ihre dichterische Thsetigkeit wieder aufgaben. So Friedrich Melchior
Grimm, ^"^ welcher 1741 sogar noch von der Schule her ein Trauerspiel
'Banise' einsandte ,*^ das Gottsched in seine Schaubühne aufnahm ; Grimm
hat, von 1749 bis 1792 in Paris verweilend und mit Rousseau und anderen
Schriftstellern in nahem Yerkehr, die Hoefo von Gotha, Berlin, Petersburg
über die Entwickelung der franzoesischen Litteratur auf dem Laufenden er-
halten (§ 140, 13). Sein Schriftchen über die italienische Oper 1753 ist
turgie, 26. Stück. 46) Wieder abgedruckt Strassburg 1841. Derbe Ausdrücke wie
hier gestattet sich Frau (jottsched auch sonst . was ihr vorgehalten wurde . als ihr Gatte
das Singspiel Weisses als unzüchtig anklagte: Minor, Weisse 155. 386. 47) Gemeint
sind die Bremer Beitrsger (§ 151): 8. Rentsch, J. E. Schlegel S. 22. 48) Geboren
in Regensburg 1723, gest. in Gotha 1807. 49) Danzel Gottsched .343 fgg.
364 NEUiroriTDEIITSCnE ZEIT. XYIII JAIIKIf. § 148
sofort von Fniu (Jottsclied zur Vorwendung in d(!rn Streit gegen Weisses
Operette Der Teufel ist los' (Anni. TH) verdeutscht worden: 'Der kleine
Prophet von Bd-iiniischbroda'. Nelien Trago'dien (Aurelius) lieferte für Uott-
scheds 'Sciiuubühne'' auch Konuedit*n, sogar nach Gottscheds Entwürfen, ^^
TiiKODOR Johann Quiktori':''' Der Bock im Processe' mit Benutzung von
Kacines PUiidpiits, original der Ilypochondrist' und die Austern', letzteres
eine rohe Studenteiifopperei im Weinhause. Benjamin Ephraim KrÜger aus
Danzig''-^ verfasste für die 'Sciiaubühnc' ein Trauerspiel 'Mahomed IV'; ein
anderes, Frau Gottsched, seiner Landsmännin gewidmetes 'Viticliab und Dank-
wart, die alemannischen Brüder\ 174t) erschienen, verpHanzte zuerst die neue
Tragopdie in Gottscheds Sinne nach Wien, wo es 1747 bei der Eröffnung
der neuen Bühne aufgeführt wurde. '^ Dagegen dichtete von Gottsched unab-
hängig ein Namengenosse des letztgenannten , Johann Christian Krüger,''^
als Schauspieler mehrere Komödien, teils Satiren auf die Geistlichkeit, teils
harmlose Kleinigkeiten; nur im Niedrigkomischen, besonders in der Verwen-
dung der niederdeutschen Mundart lobte ihn Lessing;''-' so hatte er nament-
lich seine Übersetzungen aus Marivaux''" für das Hamburger Theater unter
Ekhof angepasst. Diese zeitgenössische franzoesische Komoedie, auf munteren,
etwas breiten Dialog gerichtet, entsprach am besten dem Geschmack des
deutschen Publicums; für derbere Komik bot Ilolberg eine Fundgrube, aus
welcher besonders Georg Aigust Detiiarding schöpfte.^ ^
Noch weniger als im Drama gelang es Gottsched in dem Meisterstücke
des menschlichen Witzes, in der Epopoee Werke von Bedeutung hervorzu-
rufen; und gerade hier verleitete ihn der Unmut über den raschen und
grossen Erfolg Klopstocks das Machwerk eines seiner Schüler mit der lächer-
lichsten Übertreibung auszuzeichnen. '"' Er kroente 1752 den Freiherrn
50) Danzel Gottsched 140. 51) Oeb. zu Rostock 1722. um 1767 im Rate zu Wismar
thaetig. 52) Dau/el lioMscbed 166. 53) Laube, Buigtheater S. 9. Sonueuleis Briefe
über die Wieuer Scbaubilbue. Nicolai, Reise 4, 570. 54) t^eb. zu Berlin 1722, gest. zu
Hambursr 17.Ö0. Seine Jugendarbeit 'Die Geistlichen auf dem Lande' 1743 ward confisciert :
'Die Candidaten oder die Mittel zu einem Amte zu gelangen', ein Rührstück, ward 1748 zuerst
aufgeführt. Am längsten blieb Herzog Michel' beliebt, ein Lustspiel uadi einer Erziühiung
von .1. A. Schlegel, wel«hes noch Gu'the als Leipziger Student bei Sthu'nkopfs autl'ülirie.
55) Dramaturgie St. 28 und 83. Vgl. Gwdertz, Da» niederdeutsche Drama (Berlin 1883)
S. 192 fgg. 5G) Hannover 1747. 49. 57) 'Deutschfranzos', 'Bramarbas' und 'poli-
tischer Kanneugiesser' in tiottscheds Srhaubüliue. Detharding, geb. zu Rostock 1717. starb
1786 in Lübeck als Syndicus des Domcapitels. 58) Wenn Gottsched die 'Thcresiade',
ein Ehrengedicht von Franz Christoph von Scheyb, Wien 1746, lobte, so bewog ihn
§ 148 STREITSCT[RIFTEN FÜR GOTTSCHED. 365
Christoi'ei Otto von Sciuenatch,^^ dessen 'Beldengedicht Hermann oder das
betreyte Deutschland' er herausgegeben hatte : *'" eine schwache Nachahmung
der Henriade, worin die Lücken der geschichtlichen Kenntnis mit Hofintri-
guen und Prahlereien ausgefüllt waren."' Der junge Freiherr Hess sich ver-
leiten als Schildknappe Gottscheds in den litterarischen Kampf einzugreifen
und die Neuerungen der Schweizer und Klopstocks in einem unifängUclien
Werke *"'^ nach Art des Dktionnaire neolorjique von P. F. G. Desfontaines
(1726) zu verspotten: neben einigen treffenden Rügen "'^ legte er nur seine
und seines Meisters Beschränktheit an den Tag.*^^ In einigen weiteren Streit-
schriften rieb er sich noch besonders an Lessing (Gnissel), bot aber vielmehr
dem übermächtigen Witze dieses Gegners Stoff zu den lustigsten Entgegnungen.
Gerade diese Streitschriften der Anhänger Gottscheds (er selbst Iseugnete
sogar seinen Anteil an der Ästhetik Schoenaichs ab*^^) brachten ihn völlig
um sein Ansehn. Neben Schcenaich waren besonders Reichel durch eine
'Bodmerias' (1755) und vorher schon D. W. Triller'^'' durch seinen 'Wurm-
samen' (1751) in diesem Sinne thaetig. Als Herausgeber von Zeitschriften
dazu, wie dieser selbst fühlte (Danzel 301), meiir die Berechuung auf den Eiufluss, deu
Scheyb als Sekretier der uiederoesterreichischeu Landschaft in deu Wieuer Huf kreisen besass.
59) (Jeb. zu Auititz in der Niederlausitz 1723, als Majuratsherr daselbst gest. 1807. Nach
kurzem Kriegsdienst lebte er damals in drückeuder Abhängigkeit bei seinem Vater.
60) Leipzig 1751; neue Aufl. 1753. 61) Ein zu Berlin 1757 herausgegebenes Heldenge-
dicht .Scha'uaichs 'Heinrich der Vogler oder die gedämpften Hunueu' blieb ebenso wirkungs-
los wie vorher sein Versuch in der tragischen Dichtkunst, Breslau 1754. 62) Die
ganze Ästhetik in einer Nuss oder neologisches Wörterbuch . . . Alles aus den Accenten
der heiligen Männer und Barden zusammengetragen und den groesten Wortschöpflern unter
denselben aus dunkler Ferne o-eheilig-et von einijfen demüthioen Verehrern der sehraffischeu
Dichtkunst', (Breslau) 1754. 63) Besonders Bodmer gab mit Idiotismen wie 'gefölgig',
mit Wortbildungen wte 'ambrosialisch' oder mit Einmischung mo<leruer Begrifl'e in die
Schilderung der Urzeit: 'durch optische Parallaxen wusst' er aus Luftcrystall teleskopische
Glajser zu schleifen' Ofrund zum Spott. 64) So tadelt Schoenaich 'aus Freundes Hän-
den", wofür er 'des Freundes' verlaugt; 'Abhang', 'tu iler ersten Entfaltung der sanft angehen-
den Blüte': 'einsame Nächte'. Mit Klopstock wirft er Zernitz und Ch. Niu. Naumann
zusammen, welch letzterer in seinem 'Nimrod, ein Heldengedicht in 24 Büchern', Fkf. u.
Lpz. 1752 eine unwillkürliche Parodie des Messias geliefert hatte. Haller muss sich selbst
die inzwischen beseitijjten schweizerischen Ausdrücke seiner ersten Auflassen vorhalten
lassen. Der streitbare Ästhetiker bekämpft weiterhin "Wielaud, (Tleim. selbst iTcllert, 'der
so gern lobet um wieder gelobet zu werden'. 65) Danzel, (rottsched 382. 66) 1695
bis 1782, Arzt wie Keichel. Seine 'Aesopische Fabeln', Hamburg 1740. seine Ausgabe des
Opitz verfielen der Kritik der Schweizer. Sein 'Sächsischer Prinzeuraiib' 1743, ist natürlich
360 NEUIIOCIIDEUTSClIi: ZF.IT. XVIII JAHRir. ß 14S
vertraten ebenso unglücklich dio Tiu-tei Gottsclieds Johann Joachim Schwabk,"'
mit den lielusti'^ungon des Veratandes und Witzes', 1741 — 45, VIII, und
Chkistlou Mylii'8,'''* der in seinen liällisciien ßeniüliungon /,ur Aufnaiinie
der Critik' 174.'i — 47 llaller auf elende Art verhoehnte, dann von diesem
unterstützt eine naturwisacnschattlichc Reise nach Amerika antrat, aber schon
in London 1754 starb.
Vergeblich aber suchte Gottsched einen Satiriker für sicli zu gewinnen,'''
der die Waffe der l'ersittiage mit Meisterschaft führte und zuletzt gegen
Gottsched selbst wendete. Christian Luüwk; Liscow,'** geb. 1701 zu Witten-
burg in ^Iccklenburg-Schwerin, hatte in Rostock und Jena studiert, dann als
Lehrer und spseter in diplomatischer Verwendung Frankreich und England
bereist, trat 1741 in die Dienste des Grafen Brühl, lebte aber, nachdem er
1749 auf 1750 wegen unvorsichtiger Äusserungen über dessen Politik in
Untersuchungshaft gewesen war, zurückgezogen auf einem Gute seiner Frau
bis 1700. Um 17H0 in Lübeck verweilend, auch mit dem Hamburger Kreise
Hagedorns befreundet, wandte er seine an Boileau geschulte, aber auch an
eigenen Erfindungen reiche"' Laune gegen litterarische Streber und Prahler,
einen Magister Sivers zu Lübeck, einen Professor Philippi in Halle, und mit
tiefei'en Absichten''^ gegen den orthodoxen Theologen Mantzel in Rostock:
die anonym oder pseudonym erschienenen Schriften vereinigte er ebenso ohne
sich zu nennen 1739 als 'Sammlung Satyrischer und Ernsthaffter Schriften',
darunter auch die 1730 herausgegebene zusammenfassende 'Die Vortrefflich-
ziigleich Familit'iilieldeulied (Crit. Beytr. 8, 535). 67) Geb. zu Magdeburg 1714, gest.
als Professor und Bibliothekar zu Leipzig 1784. Pseudonym schrieb er gegen die Schweizer:
'Neuer critischer Sack- Schreib- und Taschenalmanach auf 1744' (Lpz. 1743) und 'Vollein-
geschanktes Tintenfässl', Kutfstein 1745. 68) Geb. zu Reichenbach in der Oberlausitz
1722. Lebensbeschreibung von Kästuer 1755 (s. dessen Schriften, Berlin 1741, 3, 156 fgg.).
Mylius Vermischte Schriften gab sein Freund Lessing heraus. Berlin 1754 (die Vorrefle s.
Lachm.-Maltz. 4. 47il fgg.). 69) Ironischer Ablehnungsbrief Liscows von 1735 bei
üanzel, Gottsched 2.35. 70) K. G. Heibig, C. L. Liscow, Dresden u. Lpz. 1844. G. C.
F. Lisch. Liscows Leben. Schwerin 1845: diesen Mitteilungen ans den Acten folgte .1.
Classen, Über C. L. Liscows Leben und Schriften, Lübeck 1846; mit neuem Material B.
Litzmann. C. L. Liscow in seiner litterarischen Laufbahn. Hamburg und Leipzig 1883.
71) Vortrettiich erweist er z. B. dass die Gegenschrift des von ihm angegritteneu Philippi
gar nicht von diesem herrühren könne, gibt weiterhin sogar einen in aller Form ausge-
stellten Bericht über dessen Tod, nnd hält diese Nachricht mit scheinbar ernsten Beweis-
gründen aufrecht, als Philippi protestiert. 72) Den freisinnigen, durch Bayle bestimm-
ten Staudpunct Liscows zeigt noch deutlicher die an einen Lübecker Freund gerichtete
ironische Warnungsschrift 'Über die Unnöthigkeit der guten Werke zur Seligkeit', welche
§ 148 GOTTSCHEDS FEINDE : LISCOW, ROST. 367
keit und Notwendigkeit der elenden Scribenten gründlich erwiesen'. In
Dresden trat er mit dem llofdichter Koenig in nahe Verbindung und richtete
gegen Gottsched die Vorrede zu dem von Heinecken übersetzten Dionysius
Longinus Yom Erhabenen (2, Aufl. 1742), worin er die Schweizer versichert
dass ihr Gegner kein Recht habe im Namen der 'herrschenden Diclitor' in
Deutschland zu reden.
Noch ärger ward Gottsched von Dresden aus durch seinen ehemahgen
Günstling Johann Christoph Rost verhöhnt, 1717 zu Leipzig geboren, 1742
durch Gottscheds Yermittelung Redacteur der Spenerschen Zeitung in Berlin,'^''
siedelte er noch in demselben Jahre nach Dresden über, wo Kcenig ihn zum
Eingreifen in den Streit Gottscheds und der Neuberin veranlasste. Diese
hatte bei der Rückkehr von Petersburg 1741 die Schoenemannsche Truppe
in Gottscheds Gunst vorgefunden und rächte sich , indem sie in einem Vor-
spiel 'der allerkostbarste Schatz' Gottsched selbst als 'Tadler' im Sternenge-
wand, mit Fledermausflügeln auf die Bühne brachte.'* Vergeblich suchte
Gottsched die Auff'ührung zu hintertreiben; der Minister Graf Brühl befahl
die Aufhebung des Verbots, und Rost erzaehlte in einer Satire das Vorspiel'
mit komischem Ernste das Ereignis.'''' Noch spseter, als 1753 Gottsched
gegen Weisses Oper 'Der Teufel ist los' einzuschreiten versucht hatte,' "^^ richtete
Rost gegen ihn ein Gedicht in Knittelversen 'Der Teufel. An Herrn G.
Kunstrichter der Leipziger Schaubühne, Utopien 1755', welches dem Ver-
folgten bei einer Reise auf jeder Station eingehändigt wurde und welches
Gottsched, als er sich bei Graf Brühl beschwerte, diesem selbst, in Rosts
Gegenwart vorlesen musste ohne Genugthuung zu erhalten. Rost, welcher
1765 starb,'" hatte sein leichtes Talent mehrfach zu selbständigen Neuerun-
gen verwendet: nicht nur, indem er in seinen Satiren den Knittelvers
(§ 142, 57) wieder in die "tiitteratur einführte; auch die komische Epopöe
hatte er, allerdings noch in Frosaform, mit der 'Tänzerin' eröff'uet (§ 143, 10).
Als 'Versuch von Schsefergedicliten und anderen poetischen Ausarbeitungen'
erst Lpz. 1803 herausgegeben worden ist. 73) Sein Vorgänger war J. F. Lamprecht,
geb. zu Hamburg 1707, gest. zu Berlin 1744, auch er ein abtrünniger Gottsehediauer.
74) Reden-Esbeck, C. Neuber S. 2B9 fgg. Bald darauf verspottete sie Gottscheds Forde-
rung historischer Treue im Costüme. indem sie als Nachspiel einen Act des Cato in rcemi-
scher Tracht parodierend auifübren liess. 75) Mehrmals, besonders auch in der Schweiz
gedruckt, zuletzt in den Vermischten Gedichten von Herrn J. C. Rost", die Chr. H. Schmid
1769 herausgab. 76) Vgl. über diesen Streit Minor, Weisse 144 tgg. und dazu im
Anhang das umfängliche Verzeichuis der gewechselten Streitschriften. 77) Chr. H.
Wackernagfl, f.itter. Gescbichte H. 25
368 NEUTIOCHDEUTSCIIE ZEIT. XYTTT .TAHRIf. § 149
Hess er (Berlin) 1742 sohlüptVigo Erzivhlungen mir ironischer Moral im Ue-
schmacke Liitbntaines und (ireeourts (Ms<heinen; darin aucli Ein Scha^fer-
spiel", welches die Neuberin 1741 aufgeführt hatte/"
§ 149.
Gottsched konnte durch die von Dresden aus, unter dem Schutze eines
allmächtigen Ministers gegen ihn gericliteten Angritte der Satiriker zwar
lächerlich gemacht werden, aber sein Ansehn bei den ernsten Freunden der
Dichtung hätten sie wohl nicht zu erschüttern vermocht. Dies war vielmehr
das Werk der offenen, gründlichen Gegner, welche seinem Autoritätsglauben
die Lust zu reformieren, seiner zusammengeborgten Lehrweisheit tüchtige
Gelehrsamkeit und selbständiges Denken, seiner ränkevollen Beeinflussung
der zeitgenössischen J^itteratur Freimut, ja Grobheit entgegensetzten. Hatte
er hotten dürfen in Deutschland jeden Widerstand durch seine weitverzweig-
ten Verbindungen unter den Gelehrten und an den Hoefen zu besiegen , so
erstand ihm in der republikanischen Schweiz die unerbittliche und überlegene
Feindschaft zweier Kunstrichter, die mit ihm etwa gleichalterig und Anfangs
ihm zuvorgekommen waren, die er erst nachgealimt, dann in seine Bundes-
geuossenschaft aufgenommen , zuletzt aber hatte hochmütig schulmeistern
wollen. Nachdem sie eine Zeit lang seine sprachlichen Verbesserungen sich
hatten gefallen lassen (§ 141, 17), brachte sein Verhalten gegen eine ihrer
litterarischen l'nternehmungen, welche er als Concurrenzarbeit bezeichnete
und zu unterdrücken versuchte, einen tieferen Gegensatz an den Tag, dessen
Unvertra'glichkeit sich rasch offenbarte, so dass der Streit erst mit dem Sturze
seiner Ileri-schaft ein Ende fond. Freilich auch der Ftuhm seiner beiden
Züricher Gegner überlebte diesen Sturz nicht lange: sie hatten nur die Bahn
gebrochen für groessere Kunstrichtei- und Kunstlehrer, und was der eine von
ihnen noch spaeter von eigener Dichtung erscheinen Hess, fand hoechstens bei
den ihm persoenlich Nahestehenden, und auch bei diesen meist nur auf eine
kurze Zeit Beifall,
Johann Jacob Boümer,' geboren zu Greifensee bei Zürich 1698, war
nach vergeblich ihm auferlegter kaufmännischer Lehrzeit in Oberitalien 1719
Schinid, Necrolug U iBeiliu 178ö) 425 fgg. 78) Redeu-Esbeck 264: damals wurde es
'Der versteckte Hammer betiteh: bei spseteren Aufführuugeu als 'Die gelernte Liebe*.
§ 149. 1) Über Bodmers Leben vgl. uameutlich .Joh. Joe. Hottingeri Acroama de
Jo. Jac. Bodmero, Turici 1783, wo auch seiue Schriften schon aufgezifhlt sind: ferner
Morikofer, Die Schweizerische Litteratur des 18. .Jahrhunderts. Leipzig 1861, 8. 72 — 247
und Biechtold. Gesch. der dt. Lit. in d. Schweiz 524—687. Briefe au Bodmer s. in dem
§ 149 . BODMER UND BREITINGER. 369
nach Zürich zurückgekehrt, erhielt hier 1725 eine Lehrstelle für schweizerische
Geschichte,- die er bis 1775 bekleidete, und starb 1782. Als Gelehrter
bedeutender und besonders durch philologische Leistungen um die Bibelkritik^
verdient, war Johann Jacou Breitingkr ebenfalls am Gymnasium in Zürich
angestellt; geb. 1701 starb er 1776. Bodmer, lebhaft und unermüdlich
anregend, ehrbegierig und spottlustig, auch in der Wahl seiner litterarischen
AVaffen nicht immer gewissenhaft,* fand in Breitinger einen treuen und sorgsam
überlegenden Verbündeten, der durch philosophische Begründung das aus
unmittelbarem Gefühle hervorgegangene Urteil seines Freundes zu stützen
vermochte. Frühzeitig traten sie hervor: in Verbindung mir anderen Jugeud-
genossen Hessen sie 1721 — 23 'Die Discourse der Mahlern"" erscheinen, eine
Nachahmung des englischen Spectator^^ die nur im letzten Band einer groesseren
Freiheit Raum gibt." Eigen jedoch ist ihnen der Vorzug, welcher dem Verstand
vor der Einbildungskraft zugesprochen wird,^ die Rechtfertigung der Satire,
letzten vou ihm selbst besorgten Buche 'Literarische Pamphlete. Aus der Schweiz',
Z. 1781: und in 'Briefe berühmter und edler Deutschen an Bodmer'. hg. v. G. F. Stteudlin,
Stuttgart 1794. Briefe von und an Bodmer bei Hagedorn iu Eschenburgs Ausgabe 5:
seine Briefe an Gleim in Briefe der Schweizer . . . hg. v. W. Körte , Zürich lb04.
S. auch Bodmers (literarisches) Tagebuch hg. von .J. Baechtold iu der .Jubilieumsschrift der
allgemeinen geschichtsforschenden Gesellschaft der Schweiz 1891 : seine 'Persoenlichen
Anekdoten', hg. von Th. Vetter. Züricher Taschenbuch 1892. 2) Eine 'Helvetische
Bibliothek' liess er Zürich 1735 — 44 erscheinen . 'Historische u. critische Beytrsge zur
Historie der Eydgenossen', Z. 1739. Seine freimütige Geschichte der Schweiz im 18. Jahr-
hundert wurde nicht zum Drucke befördert. 3) Ausgabe der Septuaginta 1730 — 82.
4) Er trat vielfach anonym oder pseudonym auf. Auf Sch(pnaichs Angrifie antwortete er
mit Parodien auf dessen Dichtungen. Eine Zweideutigkeit , welche wider besseres Wissen
Gottsched als einen Corrector erscheinen liess, der sein eignes Lob in ein fremdes Werk
eingesetzt hätte, rügt Ba^chtold, Vier kritische Gedichte Bodmers S. XXXVII. Auch auf
diese Unarten mag sich Goethes Wort beziehn (Dichtung und Wahrheit, VII Buch) dass
Bodmer zeitlebens ein Kind geblieben sei. 5) 4 Bde., der IV. mit dem Titel 'Die
Mahler oder : Discourse Vou den Sitten der Menschen. Der vierde und letzte Theil'. Ver-
besserte Auflage: 'Die Mahler der Sitten', 2 Bde., Z. 1746. Neudruck von Th. Vetter
(Frauenfeld 1891), der auch die Vorarbeiten der Herausgeber veröffentlicht hat: 'Chronick
der Gesellschaft der Mahler' 1721—22, Frauenfeld 1887. 6) Dies spricht schon die
AVidmung aus 'An den Erlauchten Zuschauer der Engeländischen Nation'. Im Einzelnen
ist die Benutzung dieses Vorbildes , von dem zuniechst nur die franzcpsische Übersetzung
den Bearbeitern vorlag, untersucht worden von Th. Vetter, Der Spectator als Quelle der
'Discurse der Maler', Frauenfeld 1887. 7) Auch der Stil, der sich anfänglich zwischen
Curialien und Fremdwörtern unbehilflich hindurchwindet, wird zusehends freier und cor-
recter. 8) Wie Gottsched, so schliessen sich auch ilie Züricher an den Philosophen
370 NEnilorilDEUTRCIIE ZEIT. XVITI JAIlRir. § 149
die Ycrworfung dos liurloskon, und, mif ilirnr ornstoron Ric]itunj2: zusammon-
hilngcnd, das grosse Gewicht, das auf" die Eiv-ielumg, iuich :iuf die der Ma'dclieu
gelegt wird. Für die deutsclie Littcratur ward es überdies lolgenreich, daas
die englischen Ansichten üher Poesie und Kritik von den Mahlern" auf die
deutschen Dichter übertragen, dass falsclier Prunk und Wortspielsucht ge-
tadelt und deshalb Opitz"' als der einzige Musterdichtcr verkündigt wurde.
Auch die Empfehlung der reimlosen Verse (§ 142, 23 fg.) und das der Fabel,
zumal der selbsterfundenen '" nach Lamottes Vorgang gespendete Lob sind für
die spsetere Entwickelung nicht nur der Züricdier Freunde bedeutsam geworden.
Im Spectator hatte Addison Miltons poetische Verdienste gepriesen: in
dessen Dichtung fand Bodmer sein eignes Ideal. Eine Übersetzung in Prosa,
Johann Miltons Verlust des Paradieses', liess er zuerst 1732, und noch öfters,"
mit stets erneuter Verbesserung der Sprache und des Stiles erscheinen. Die
Verteidigung'- der Originaldichtung gegen die Voltaire nachgesprochenen
Vorwürfe Gottscheds eröffnete 1740 den grossen Litteraturstreit zwischen Zürich
und Leipzig.'''
Doch das Hauptwerk der schweizerischen Kritik, welches Gottscheds
Feindseligkeit im vollsten Masse hervorrief, aber auch, schon durcli den Ver-
Wolf an. 9) Vgl. § 121, 3. Eiue sorgsame Ausgabe des Dichters, 1745 begouneu.
ward durch die weit schlechtere von Triller, Fraukf. a. M. 1746 verdrängt. Auch die Ge-
dichte von Cauitz gab Bodmer heraus 1737. und die vou Wernike s. § 136, 7. 10) Neue
Crit. Briefe {Z. 174;») S. 185 (XXII): 'Alle meine Freunde haben eine grosse Hochachtuuir
für ihren Mitbürger Hermann Axels. Vornehmlich schätzen sie ihn darum hoch, dass er
seine Fabeln nicht findet, sondern erfindet'. 11) 1742. 1754 und von nnn an mit dem
Titel Verlohrues Paradies'. 176i). 1780. 12) Critische Abhamlliing von dem Wunder-
baren in der Poesie uud dessen Verbindung mit dem Wahischcinlichen in einer Verteidi-
gung des CTediehtes J. Milton von dem verlohrnen Paradiese; der beigefügt ist Joseph Ad-
disons Abhaudlunir vou den Schirnheiten in demselben Gedichte', Zürich 1740. - — Bodmer
bewegt sich übrigens meist in den theologischen Fragen, die hier anknüpfen. 13) Die
wichtigsten Streitschriften der Züricher sind vereinigt in der 'Sammlung Critischer. Poe-
tischer und anderer geistvoller Schriften zur Verbesserung des Urteils und des Witzes in
den Werken der AVohlredenheit und der Poesie', Z. 1741 — 44, 12 Stücke; wiederholt (von
Wieland) 'Sammlung der Zürcherischen Streitschriften' . . Z. 1753 in 3 Bdn. Im Einzelnen
haben diese Stücke, welche sich vielfach mit Gottscheds Schülern u. Freunden, Triller u. a.
beschäftigen, jetzt grossenteils kein Interesse mehr. Immerhin ist die Art, wie 1742 Gott-
scheds Vorrede zur 3. Auflage seiner Dichtkunst samt <len von ihm beigebrachten Zu-
stimmungszeugnisseu aus der Schweiz (^Bern u. Basel) abgeführt wird, ebenso lustig als
tapfer. Von den spaetereu Darstellungen des Streites ist die von Manso im VIII Band
der 'Charactere der vornehmsten Dichter aller Nationen (^Xachtriege zu Sulzers Allgemeiner
ll
§ 149 LEHRE DER ZÜRICHER. 371
gleich mit dem Scinigen, seinem Anselm am meisten Eintrag gethan hat, war
J. J. Breitingers 'Critische Dichtkunst worinnen die Poetische Mahlerey in Absicht
auf die Erfindung im Grunde untersuchet und mit Beyspielen aus den berühm-
testen Alten und Neuern erläutert wird', Zürich und Leipzig 1740.'* Breitinger
schloss sich besonders an Dubos an, der seinerseits von den Engländern beein-
flusst Rcflexions critiques sur Ja poesie et sur la j^^inture (Paris 1715)
geschrieben und in Deutschland bereits durch den mit den Schweizern ver-
bündeten U. Kcenig '^ eingeführt worden war. Mochte Gottsched hcchnend darauf
hinweisen "' dass bei Breitinger nicht wie bei ihm Vorschriften zu finden seien,
wie man diese oder jene Art von Gedichten zu verfertigen habe: die Absicht
Breitingers war vielmehr eine feste Grundlage für die Kritik zu schaffen, die
Wirkungen der Dichtung zu erforschen und daraus die Anforderungen an den
Dichter abzuleiten. Die Leidenschaft, die Begeisterung mache den Dichter,
der allerdings von der Wirklichkeit ausgehe, aber die verschiedenen Erschei-
nungen derselben Sache verbinde und diese selbst von dem Zufälligen scheide: "
so stelle der Dichter eine 'mcegliche Welt' dar. Die Schoenheit aber bestehe
in der Verbindung des Wahren und des Neuen; und stets neu sei das Wunder-
bare, welches nur zugleich wahrscheinlich sein müsse.''' Da ihm nun die
Besserung des Willens als der eigentliche Zweck der Dichtung erschien,'^
so gab er derjenigen Dichtungsart den Vorzug, die er 'ein lehrreiches Wunder-
bares' nannte, der eesopischen Fabel. ^"
Besser als in dieser Lehre von den Gattungen ward Breitinger in
einzelnen Betrachtungen über Darstellungs- und Ausdrucksweise der hoeheren
Dichtart gerecht. Auf Homer bezieht sich auch wesentlich die ebenfalls
1740 erschienene 'Critische Abhandlung von der Natur, den Absichten und
dem Gebrauche der Gleichnisse'.^ Dagegen lenkt Bodmers Schrift 'Critische
Betrachtungen über die Poetischen Gemaihlde der Dichter', Zürich 1741, den
Blick wieder auf die gleichzeitigen Dichter, indem sie eine bereits 1727
erschienene Arbeit Ton dem Einfluss und dem Gebrauche der Einbildungs-
kraft' nur umfassender wiederholt.
Theorie der schoenen Künste)' Lpz. 1806 besonders hervorzuheben. 14) LB. 3, "2, 1 fgg.,
wo 13, 37 die Aufzsehlung der benutzten Kunstsehriftsteller. 15) 'Von dem guten Ge-
schmack in der Dicht- und Redekunst' im Anhang zu seiner Ausgabe der Canitzischen Ge-
dichte 1727 (§ 1.36, -2). Vgl. Braitmaier S. 57 fgg. 16) in der Vorrede zur 3. AitA.
seiner Dichtkunst (s. Anm. 13). 17) Breitinger nennt dies die abstractio imaginationis
1, 286. 18) 1, 112. 19) LB. 3, 2, 25. 11. Vgl. ebd. 23, 10 'Ein Poet ist zugleich
ein Mensch, ein Bürger und Christ'. 20) 1, 186. Epos u. tesupische i'abel sind ihm
372 NEUIIOCIIDEUTÖCJIE ZEIT. XYllI JAUlül. § 149
Wiplireud Brcitinger seitdem nur noch an gelehrten Arbeiten Teil
nahm, blieb Bodmer seiner kritischen Tha'tigkeit getreu, wie er schon vorher
auch das Drama in den Bereich seiner Untersuchungen gezogen und in dem
1736 herausgegebenen Briefwechsel von der Natur des L'oetischeu ( f eschmackes'
nach Corneilles Vorgang auch das Erhabene neben dem Mitleid und dem
Schrecken von der tragischen Wirkung verlangt hatte.'-'
Von den zahlreichen übrigen, bald einzeln, bald in Sammlungen erschie-
nenen kritischen Schritten sind einige in poetischer Form verf'asst: so schon 1734
der Character der Teutschen GedichtcV"' worin Gottsched noch ein freilich
bedingtes, nachher zurückgenommenes Lob erhielt.'-' Spater rühmt Bodmer
Drollinger und Ilaller, aber auch den llallischen Dichterkreis. Diesen gereimten
Gedichten stehn am Lebensende Bodmers hexametrische gegenüber, in denen
er sich über die Missachtung der Zeitgenossen, zuerst mit dem gleichen
Geschick Anderer, dann mit den doch noch erfahrenen Beweisen der Zuneigung
des heranwachsenden Geschlechts-^ troistet. Dazwischen liegen zahlreiche, meist
parodierende Angriffe auf die jüngeren Dichter,'-' welche man ihm vorge-
zogen hatte.
Und doch hatte, nur der Vortritt dieser Jüngeren ihm überhaupt Lust
und Mut gemacht, selbst in hoeheren Gattungen, in epischer und dramatischer
wie Lamotte nnr in der Gropsse verschieden: 1, 195. 21) Sein Unterredner, Graf
Conti , der Verfasser eines Paragone della poesia tragica d'Italia con quella ili Francia
hielt an Aristoteles fest. 22) Vier kritische Gedichte von J. J. Bodmer, hg. von
Bsechtold in Seuffert D. Lit.-dkni. 12 il883). 23) So abgedruckt in Gottscheds Beytr.
zur krit. Hist. 2U. Stück S. 624 (1738); in der spaeteren Form unter den von J. G. Sfchulthess)
besorgten Critischen Lobgedichten u. Elegien'. Z. 1747. 24) Klopstock war 1750
Bodmers Gast, Wieland 1752: freilich entfremdete sich ihm der eine bald persoenlich, der
andere spseter. aber auch in litterarischer Hinsicht um so mehr. 1774 besuchten ihn Goethe
und die Brüder Stolberg, ersterer auch 177{t. Über Boies Anerkennung im Deutschen
Museum s. Crueger, Die erste Gesamtausgabe der Nib. (Anm. 47) S. 17. Herder lobte
die Homerübersetznng Bodmers in der Vorrede zu den Volksliedern II S. 7. 25) So
namentlich Lessing: Lessingische unasopische Fabeln'. Z. 176U, als deren Verfasser Bodmer
im 127 Litteratnrbrief aufgedeckt wurde: Polytimet. ein Tranerspiel, durch Lessings Philotas
oder ungerathenen Sohn veranlasset'. Z. 1760: Odoardo Galotti. Augsburg 1778. Gerstenberg:
'Der Hungerthurm in Pisa', Lindau und Chur 176*J: Weisse: T)er neue Romeo, eine Tragi-
komcedie', Frankf. u. Lpz. 1769 (und schon in 'Neue theatralische Werke' I. Lindau 1768:
'Atreus und Thyest, ein Trauerspiel von AVeissen. Itzo zum Besten der Logen und des Parterre
characterisiert. humanisiert, dialogiert'). Gleim und Jacobi : 'Von den Grazien des Kleinen im
Nahmen und zum Besten der Anakreontchen. In der Schweiz'. 1769. Klopstock: Das Be-
grsebniss und die Auferstehung des Messias', Fkf. u. Lpz. 1775; 'Der Tod des Ersten Menschen
und die Thorheiten des weisen Koenigs'. Zürich 1776. Die Homerübersetzer: 'Der gerechte
§ 149 BODMERS GEDICHTE. 373
Form hervorzutreten.^'' Allerdings schon vor Klopstock hatte er Mihon
wenigstens mit dem Plane zu seinem Noah'-^ nachahmen wollen; aber erst der
Messias gab ihm für Sprache und Versart das Vorbild. Vergeblich jedoch
lobten ihn seine Hchüler,-^ selbst Wieland -^. Klopstock, der vor diesem bei
Bodmer zu Gaste gewesen war, schwieg, und Lessing ■^'' spottete der neuen
'Sündflut', welche Bodmer episodisch zu 'Noah' hinzugefügt hatte (17.51);
Kästner-'^ machte die holprigen, cfesurlosen Hexameter lächerlich; und so
versank die Reihe der Patriarchaden '^^ Bodmers rasch in nicht unverdiente
Vergessenheit.
Noch zahlreicher,^^ aber noch weniger gelungen sind die Dramen Bodmers,
deren Stoffe er meist aus der biblischen, der roemischen und der schweize-
rischen Geschichte entnommen und welche zum Ausdruck seiner republikani-
schen, Aufklserung und Sittenstrenge fordernden Überzeugungen dienen sollten.
Ohne Handlung, allein auf die Entwickelung der Charactere durch Gesprseche
gerichtet, konnten diese Dramen auch auf eine Aufführung nicht rechnen;
Momns', 1780. Wieland: 'Bodmers Apollinarien' (Tübingen 1783) S. 67 fgg. 26) Der Be-
geisterung und Hotinung, mit welcher er 1749 die Entwickelung der Poesie betrachtete, gibt
er Ausdruck in den Neuen crit. Briefen XLV p. 388 'Meine besten Lebensjahre sind in den
Isthmus gefallen, der von dem bleiernen Alter der schienen Wissenschaften in das silberne
herüberführte. Das goldene Alter ist gewiss dem silbernen auf dem Fusse'. 27) 'Grund-
riss eines epischen Gedichtes von dem geretteten Noah': Sammlung crit. Schriften, I. Stück
(1742). 28) J. G. S(ulzer), 'Gedanken von dem vorzüglichen Wert der epischen
Gedichte des Herrn Bodmers', Berlin 1754. Bodmer wird hier mit Homer gleichgesetzt,
über Watteau tl) erhoben. Doch selbst Sulzer tadelte in vertrauten Briefen an Bodmer 'die
postdiluvianischen Sitten und Künste der antediluvianischen Menschen': Briefe der Schweizer
an Gleim S. 127: darauf hatte Kleist aufmerksam gemacht: Sauer. Kleist 2, 176. 29) In
der Ausgabe des Noah von 17.52 (die erste war ohne den Namen des Dichters 1750 er-
schienen) : 'Abhandlung von den Schoenheiten des epischen Gedichtes Noah'. Zürich 1753.
30) LB. 2, 903. 31) LB. 2. 923. 32) Ausser Noah und 'Syntfluf: Jacob und
Joseph' 1751 ; 'Jacob und Rachel' 1752 , 'Dina und Sichern' 17.53, 'Joseph und Zulika' 17.53,
'Zilla' 1755. Die 'Colombona' feiert die Entdeckung Amerikas. 33) Von den etwa
vierzig Stücken seien hervorgehoben : 'Der erkannte .Joseph' und 'der keusche .Joseph',
Z. 1754, 'Ulysses', 'Electra*. 1760; 'Patroclus', 'die Cherusken'. '.Johanna Gray'. Triedrich
von Tockenburg'. 'Oedipus' 1761. 'J. Caesar' 1763. 'Cicero' 1764; 'Neue Theatralische Werke:
der Vierte Heinrich Kayser' ua. 1768. . . 'Arnold von Brescia in Zürich', Frankf. 1775,
'Arnold von Brescia in Rom' o. 0. 1776: 'W. Teil', 'Samen durch List genommen', 'Der
alte Heinrich von Melchthal'. 'Gesslers Tod' 1775. 'Karl von Burgund' (eine Nachahmung der
Perser von Aeschylus) 1771; neu herausg. von Seuflfert Lit.-denkm. 9, Heilbronn 1883.
Bodmer beutet sonst Shakespeare aus. Weit älter, vom J. 1746, ist sein Schseferspiel 'Cimon'. das
374 NEUIIOCIIDEUTSCIIK ZEIT. XVIII JAHUII. § 14".>
BodiiuT selbst wünschte überluiuj)! nur einen Vurlnig in der Art der griechischen
Rhapsoden. •'*
Am meisten musste IJodmcrs Dichtweise, seine Empliinglichkeit für
poetische Schienheit, sein unersättlicher Fleiss ihn zum Übersetzer beffchigen,
und sclion im Streite gegen Gottsched hatten er und ßreitinger'*' durch licehere
Anforderungen sich um diesen Zweig der Litteratur verdient gemacht. Ausser
Miltou hat 13odmer auch Butlers Iludibras "' und Popes Dunciadc''' über-
setzt, und ist noch sptet zur englischen Litteratur zurückgekehrt mit seinen
Altenglischen (und altschwtebischen) Balladen. ^'^ Unter den Übersetzungen
aus dem Griechischen, die er mit den biidischcn E[)cn grossentoils in seiner
Sammlung Calliope'' ''■' vereinigte, ist seine llomerübersetzung*" sachlich und
sprachlich sorgfältig, metrisch dsigegen, wie alles, was er in Hexametern schrieb,
kunstlos und schlottrig. Bearbeitete er doch so selbst die altdeutschen Gedichte,
l'arcival ITöli, JJie Rache der Schwester (2^ibelungen) 1767. Freilich auch die
Balladenform, die er ihnen 1781 gab, konnte nicht für sie gewinnen.
Gerade auf diesem Gebiete jedoch hat er sich ein bleibendes Andenken
gesichert durch die Veröffentlichung unserer wichtigsten Dichtungen aus der
mittelhochdeutschen Zeit, die er z. T. glücklich^' in den Handschriften
auffand und auch in ihrem Wertverhältnisse zu einander besser würdigte ^•^ als
seine Vorgänger und seine Zeitgenossen: seine Ausgabe der Nibelungen^''
erschien 1757, seine Sammlung von Minnesingern aus dem Schwsebischen
Zcitpuncte' 1758 u. 59.^^ Auch Boners Fabeln,*^ allerdings noch ohne •
er 1773 drucken lies». 84) So hatte er aiuh Kloj)sti)ckß Messias durrli Vorlesungen popu-
larisieren wollen: s. Lessing bei Lachmann-AIaltzahn 3, 152. 35) Crit. Dichtk. "J. 157 fg^f.
36) Fkl". u. Lpz. 1737. 37) Zürich 1747: dazu mehrere Nachahmungen: 'Das Banket der
Dunsen* 1758 ua. 38) Zürich 1780 u. 1781. 311) i' Bde, Zürich 1767. 40) Homers
AVerke aus dem liriechischen übersetzt. Z. 1778. 41) Über die von Scho-pflin in
Strassburg vermittelte Übersendung der «lamals in Paris befindlichen Bilderhandschrift der
Minnesinger s. Crueger, Strassb. Studien 2, 440. Freilich verschweigt Boilmer dass die
erste Nachricht über die H». «ler Nibelungen ihm von dem Lindauer Arzt Obereit gegeben
worden war: .J. Crueger, Der Entdecker dei- Nibelungen. Strassb. Dis«. Frankf. 1883.
42) Schon 1743 hatte Bodmcr gehandelt 'Von den vortrefflichen Umständen für die Poesie
unter den Kaisern aus dem schwiei)isciicn Hause': Samml. Crit. Sehr. VII St. S. 25 fW.
43) 'Chriemhilden Rache und die Klage : zwei Heldengedichte Aus dem schwieb. Zeitpuncte.
Samt Fragmenten aus dem (ledichte von den Nibelungen u. d. .Josaphat". Zürich. Bodmer
war durch eine f^ücke in iler Nib.hs. C verfuhrt worden zwei verschiedene (tedichte an-
zunehmen. 44) Proben der alten schwa-b. Poesie des Dreyzehnten Jahrhunderts. Aus
der Manessischen Handschrift' waren schon 174!) vorausgegangen. 45) 'Fabein aus den
§ 150 BODMERS SCHÜLER. 375
den Namen dos Üichters/'^ gab Breitingor, welcher sich an diesen Arbeiten
eifrig beteiligte, 1757 heraus. Sogar die 'Samnikmg deutscher Gedichte aus
dem XII. XIII und XIV Jalirhunderf (Berlin 1782—85), welche auch die
wichtigsten hoofischen Epen zuerst wieder bekannt machte, ist zwar von Bodmers
jüngerem Landsmann Christoph Heinrich Müllek^^ besorgt, aber von Bodmer
selbst vorbereitet worden.*"*
Müller hatte in Berlin einen Schützer an einem älteren Schüler Bodmers,
Johann George Sulzer, gefunden, welcher, zu Winterthur 1720 geboren,
als Akademiker zu Berlin 1779 starb. ^'-^ 1744 nach Magdeburg, 1747 nach
Berlin gekommen, vertrat er überall Bodmers und Breitingers Ideen,^*^ denen
er zumal durch seine 'Allgemeine Theorie der schoenen Künste' 1771 — 1774
einen fasslichen Ausdruck gab. Kenntnisreich und lebhaft, Friedrich II
ergeben und von diesem geschätzt, war Sulzcr der beste Vermittler zwischen
den Schweizer Kunstrichtern und dem preussischen Dichterkreise.
§ 150.
Schon früher hatte in Preussen eine der schweizerischen Kunstlehre
verwandte philosophische Beschäftigung mit dem Schoenen sich rege gezeigt.
Insbesondere an der Universittet Halle, an welcher seit 1 740 Christian Wolf
von neuem lehrte und seine Lehrart nun auch auf die Ästhetik übertragen
wurde. Eben dieser Name wurde von Alexander Gottlob Baumc4arten^
eingeführt, dessen Äefifliefim zu Frankfurt a. 0. 1750 und 1758 erschien, der
Zeiten der Minnesinger", Zürich. 46) Diesen fand erst Lessing, Zur Gesch. u. Lit. V.
Beitr. 1781 (Lachmanu-Maltzahn 10, 329 fg.), der die Schweizer Herausgeber zugleich der
Nachlässigkeit und einer kleinen Ünredliclikeit gegen Grottsched überführt. 47) 1740
geboren, aus politischen Gründen (er verfocht Rousseaus Gedanken) 1767 aus Zürich ge-
flohen, hatte er am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin eine Anstellung erhalten,
kehrte aber 1788 nach seiner Vaterstadt zurück, wo er 1807 starb. Vt>-1. .Joh. Cruesrer,
Die erste Gesamtausgabe der Nibelungen, Frankfurt a. M. 1884. Über die Mangelhaftig-
keit des MüUer'schen Abdrucks s. Lachmanns AVolfram v. Esclicnbach S. XV; dei- i'arzival
veranlasste die berühmte grobe Abweisung- der Sammluno- durch Friedrich den (xrossen.
48) So beriet er sogar den eliemaligen Gottschedianer W. J. C. G. Casparson, Prof. in
Cassel, bei der Ausgabe des Wilhelm von Oransc 1781 (§ 57, '27): Crueger, Gesamtausg.
S. 132 fgg. 49) -L (t. Sulzers Lebensbeschreibung von ihm selbst aufgesetzt mit An-
merkungen von .1. B. Merian u. Frid. Nicolai, Berlin u. Stettin 1801). Vorher: Hirzel an
Gleim über Sulzer den Weltweisen, Zürich ii. Winterthur 177!». 2 Bde. Sulzers Vermischte
philosophische Schriften aus den .]ahrbü(diern der Akademie der Wiss. zu Berlin gesammelt
1 1773, U 1781 enthalten ebenfalls aus dem II Bd. Le})ensnachrichten von ßlankenburg.
50) Vgl. oben Anm. 28. Bodmer arbeitete selbst an Sulzers AVb. mit : Briefe d. Schweizer 276.
§ 150. 1) Geb. in Berlin 1714, gest. als Prof. zu Frankfurt a. 0. 1762.
370 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVHT JAIIKU. § 15ü
aber sclion ITM) Juicli soine Proboschritt Medifationcs jihihsopliinti' de Honnidlis
ad poinm portinnifiliKs, insbosondoro durch seine IJetinitioii: ein Gedicht sei
eine vollkommene sinnhche Ivode, das Verlangen nach lebendigem Inlialt gegen-
über der a'usseren Formrichtigkeit ausgesprochen hatte. Doch hielt sich
Baumgarteu wesentlich an die antike und die ihr folgende ausländische Dichtung
und Kunstlchro, pries die Franzosen als unsere Muster und verwarf Klopstock.-'
Erst Baumgartens Schüler, (ikoikj Fkikdrhjii Mkier,' welcher nach den
Vorlesungen von Baumgarten Anfangsgründe aller scho'ucn Wissenschaften',
zuerst Halle 1748, erscheinen Hess, trat, mit Entscliiedenheit, ja mit Übertrei-
bung für die Dichter der neuen schweizerischen Richtung ein, entnahm seine
Musterbeispiele hauptsächlich Haller, verwarf die Reime,"' pries Klopstock ' und
führte Wielaud" in die Litteratur ein. Gegen Gottsched hatte er 1746 seine
Untersuchung einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks der Deutschen
in Absicht auf die schoenen Wissenschaften' gerichtet.
Als Kritiker und zugleich als Dichter führte Imma.ntkl Jacob Pyra^
die neuen Ideen weiter und zu Erfolgen, die nur sein früher Tod abbrach.
Geboren zu Cottbus 1715, starb er als Conrector des Köllnischen Gymnasiums zu
Berlin 1744. Mit Gottsched war er zerfallen, als dieser eine Probe seiner reim-
freien Aeneisübersetzung zwar abgedruckt, aber hinter eine gereimte Arbeit seines
Schülers Schwartz zurückgesetzt hatte.** Gegen Gottscheds Anhänger, welche
die HälUschen Bemühungen zur Aufnahme der Kritik" herausgaben und über
Haller, über Milton ihren Hohn ergossen (§ 148, (38), wandte sich Pyras Erweis dass
die G*ttsch*di:inische Secte den Geschmack verderbe", Hamburg u. Leipzig 1 743.^
Er zeigte dass Miltous llohcs^ etwas ganz anderes sei als Lohensteins Schwulst, er
warf den Gegnern vor dass sie die Weisianischc Mattheit und Leere allein gelten
lassen wollten. Er pries den hohen Geschmack der biblischen Scribenten" und
erwartete von dessen Belebung den Fortschritt auch der deutschen Dichtkunst.
Eben diesen Gedanken hatte er bereits 1757 in einem gleichfalls ohne seinen
2) Ästh. § 408 Fuit inter eos (Gennanos) quo dicam homuncionem nomine? qui cruciatus
hominis optimi maximi genus humanum iiifinitix nuilis eximentes, ludicrts Ulis novorum
{felasimoruin versicuUs proscinderet et Christianus tarnen in regno Christianismi videri vellet.
'A) (ieb. 1718 zu Amniendorf bei Halle, hier gest. als Professor 1777. 4) Vorrede zu
den Horatzischen Oden von 8. G. Lange 1747: s. § 141. 25. 5) Beurteilung des Helden-
gedirhtes der Messias 1749. 6) Er gab 1782 Wielands Gedicht Von der Natur der
Dinge heraus. 7) Gustav Waniek, Immanuel Pyra u. sein Einfluss auf die deutsche
Litteratur des 18. Jahrhunderts. Lpz. 1882. 8) Beytr. 5. 89 fgg. Über die Fort-
setzung dieser Aeneis, welche sich hdschriftlich in Halberstadt befindet, s. H. Nathusius,
I. J. Pyra, Programm, Halberstadt 1874. 9) 'Fortsetzung des Erweises' . . Berlin 1744.
§ 150 DER HALLISCHE DICHTERKREIS. 377
Namen erschienenen Gedichte 'Der Tempel der wahren Dichtkunst" Ausdruck ge-
geben. Er widmete diese Allegorie in reimfreien Alexandrinern seinem Freunde
Samuel Gottlob Lange (1711 — 1781), welcher ihn auf der Universitaet als Sohn
des pietistischen Professors'" (§ 128) unterstützt hatte und ihm auch spgeter als
Pastor zu Laublingen ein ländliclies Asyl gewsehrte. Die dichterischen Ergüsse
dieser Freundschaft, an denen sich auch Langes Gattin Dorothee als Doris betei-
ligte, Idyllen, denen Pyra auch neue, selbstbeobachtete Züge einzuflechten wusste,
gab Bodmer zu Zürich 1755 heraus, als Thirsis und Dämons freundschaftliche
Lieder.'' Hier wechseln Reim und Reimlosigkeit ab. In Reimen verfasste Pyra
eine begeisterte Ode auf Friedrichs II Regierungsantritt 1740. Nach seiner
Übersiedlung nach Berlin, wo er im Umgang mit Lamprecht, Rost, Gleim freiere
Ansichten sich bildete, beschäftigte ihn das Drama; doch blieben seine Entwürfe
zu Saul (Agag), zu Atreus unausgeführt; Jephtha, mit Choeren, ging in der
Handschrift verloren. Pyras früher Tod führte seine Freunde nur nseher zu-
sammen'^ und hob vor allem Lange sogar über Gebühr. Seine 'Horatzische
Oden' 1747 durfte Lange Friedrich dem Grossen widmen. Aber wenn selbst
seine Freunde die mit dem Selbstgefühl zugleich zunehmende Nachlässigkeit
seiner Dichtung bemerkten,'-^ so gab Lessings, durch eine ehrenrührige Be-
hauptung Langes hervorgerufenes 'Vademecum' 1754 dessen Schwächen dem
allgemeinen Gelächter preis; und der vereinsamte Dichter suchte vergebens durch
Herausgabe seines Briefwechsels '* die verlorne Achtung wieder zu gewinnen.
Besser gelang es Johann Wilhelm Ludwig Gleim einen ausgedehnten
Freundeskreis unter den Dichtern seiner Zeit zu gewinnen und festzuhalten,
obschou auch seine Dichtungen nur zu einem geringen Teile dauernden Wert
beanspruchen dürfen. Geboren'^ zu Ermsleben bei Halberstadt 1719, erwarb
er sich durch Geschäftstüchtigkeit und Liebenswürdigkeit ansehnliche Ver-
bindungen, ward Secreteer eines preussischen Prinzen, welcher 1744 vor Prag
10) Diesem hatte er die 173b gedruckte Ode Das Wort des Hoechsten' gewidmet.
11) Zweyte vielvermehrte Aufl. hg. v. Langen. Halle [1749], wiederholt von Sauer in
Seufierts Lit. -denkm. 22, Heilbronn 1885. Hier auch die übrigen Dichtungen Pyras.
unter ihnen der Bibliotartarus', eine komische Epopöe in gereimten Alexandrinern, das
rohe Studentenleben verspottend, leider nur der I Gesang. 12) Gottsched war scham-
los genug den Verstorbenen weiter verhoehnen zu lassen; doch Pyras Hallischei' Gegner
Mylius bekehrte sich. 13) Briefe der Schweizer hg. von Körte Zürich 1804 S. 41.
112 uö. 17p. Kleist hg. v. Sauer 2, 38 (1746). 1.52 (1749). Gleim: s. Schüddekopf
Ramler S. 22 Anm. S. Gessner : s. Wölfflin S. 154. 14) Sammlung gelehrter u.
freundschaftlicher Briefe, Halle 1769. 70; recht wenig geordnet. Bemerkenswert sind
darin Langes Übersetzungen aus den Minnesingern. 15) J. W. L. Gleims Leben.
378 NEUIIOCHDEUTSCIIK ZEIT. XVIll .JAIIUII. § 150
Hui, (liinii (los Fürsten von Anliiilt-Dcssiiu, und orlan^to 1747 eine Anstellung
am Ddinstift zu llalborstadt mit reichlichem Einkommen. Wachrcnd eines
langen Lebens (er starb IMO.'J) lnvrtc er nicht auf diese Mittel"' und seine
Beziehungen zur Umgebung Friedrichs II" und /u dessen Nachfolgern zur ausge-
dehntesten, zartesten Wohltluetigkeit insbesondere gegen jüngere Dichter zu
verwenden, von denen er 1772 — 74 eine Anzahl in Malberstadt um sich ver-
sammelte (§ 155, 39 fgg.) und zur gemeinsamen Abwehr der Spötter antrieb.''*
Überallhin knüpfte er A'erbindungen '•* an, und entwaffnete durch seine gut-
mütige Begeisterung die Kritik. Aufkherung und Duldsamkeit, heiterer,
ma?ssigor Lebensgenuss, feurige Begeisterung für seinen grossen Kamig bildeten
den Cregenstand seiner Dichtung, die freilich leicht hingeworfen, wie an
Formvollendung so auch an tieferen Gedanken Viel zu wünschen liess. Für
diesen oder jenen Freund bestimmt, grossenteils einzeln oder in kleinen
Sammlungen'-" gedruckt und verschenkt, wurden seine Gedichte nun von
fremder Hand'-' vereinigt; freilich hatte er selbst das dichterische Eigentum
seiner Freunde ebenso wenig geschont und Prosawerke von Lessing und Klop-
stock ohne sie zu befragen in Verse gebracht (§ 142, 4). Er begann mit
einem Versuch in scherzhaften Liederu, Berlin [1744], welche in Form und
Gedanken Anakreon nachahmten. Gleichzeitig dichtete er Schseferspiele, von
denen aber nur 'der Bloede Schrefer', 1745, gedruckt und oft aufgeführt ward.
Auch seine Romauzen', 1756 erschienen, stammen aus der gleichen Zeit:
sie führten diese Gattung bei uns ein, aber zunaechst noch in der Art des Fran-
zosen Moncrif, als Parodien der Bänkelsängerlieder, voll possierlicher Traurig-
keit. Ja er fand damals ^^ schon den Ton der spseteren 'Preussischen Kriegs-
Aus seinen Briefen nnd Schriften von W. Kürte. Halberstadt 1811. 16) Hagestolz
geblieben, bestimmte er seinen Xaehlass zu einer Stiftung, welche noch jetzt eine Fund-
grube für die Litteraturgeschichte bildet. Insbesondere vereinigt seine Gemetldesammlung
die Bilder fast aller berühmten Schriftsteller seiner Zeit — ausser (jfPthe u. Schiller.
S. Körte (ileims Leben S. 4.^8 fgg. 17) Freilich seine Bemühungen Friedrich zur
besseren Würdigung der deutschen Dichter zu gewinnen waren vergeblich : diesem Zwecke
dienten besonders seine 'Gesprseche mit der deutschen Muse' Berlin 1764. 18) Unter
den Dichtern ging allwöchentlich eine Büchse um. deren Inhalt bei den Zusammenkünften
vorgelesen wurde: Auszüge bei Pröhle. Anh. f. Lit. -gesch. 4. 3:i.'} fgg. § 150, i'2.
19) Selbst mit Gottsched wechselt er noch 17.Ö6 litterarische Briefe: Körte, Gleims Leben
48 fgg, 20) Über die Sammlung 'Das Hüttchen' 1794 s. Voss Briefe 3, 2, 319 fgg.
21) Zuletzt und auch da nicht mit voller Sorgfalt, von Körte. Halberstadt. VII. 1811 bis
1S18. wozu 1841 noch ein VIII Band kam. 22) In dem Lied auf den Tod des Prinzen
Wilhelm 1744: s. Briefe der Schweizer S. 9: 'Dich sali der Feind: er floh von Schanz' zu
§ 150 GLEIM. 379
lieder in den Foldzügen ITöO und 1757 von einem Grenadier',--' die von Lessing
in die Litteratur eingeführt, Gleim berühmt gemacht und zahlreiche Nachah-
mungen-^ gefunden haben. Es vereinigen sich, um einen solchen Erfolg zu
verdienen, die volkstümliche Reimstroplie, der volkstümliche schmucklose,^^
meist ernste, bei Rossbach aber auch spottende Ausdruck, endlich der volks-
tümliche Glaube an den göttlichen Schutz, unter dem Friedrich siege.
Noch spseter griff Gleim, aber mit geschwächter Kraft, auf das Grenadierhed
zurück, gegen Joseph II, 1778; und suchte ebenso vergeblich den Revolutions-
heeren gegenüber durch solche Toene den preussischen Ileldensina wiederzu-
erwecken.'-*^ Meist aber bewegte er sich auch spseter in anakreontischen oder
horazischen Weisen, fügte ihnen verwandte Tetrarchische Gedichte',-^ Gedichte
nach den Minnesingern''-'* und Gedichte nach Walter von der Yogehveide'-^
hinzu, letztere beide Sammlungen Übersetzungen noch unverstandener Vor-
bilder. Ganz misslangen die Lieder für das Yolk', Halberstadt 1772. Der
leichten Vortragsart Gleims entsprachen besser die Fabeln "'*' und Erzsehlungen
nach Lafontaine, aber auch rührende Beispiele der Wohlthsetigkeit. Menschen-
liebe predigte er in 'Halladat oder das rothe Buch',-^' das in Ton und Einzel-
heiten an den Koran erinnern sollte. Seinen zsertlichen, gelegentlich wohl auch
eifersüchtigen und gewaltsamen Freundschaftsgefühlen gab er Ausdruck in
poetischen oder aus Prosa und Poesie gemischten Briefen, von denen namentlich
die mit G. Jacobi gewechselten in den Druck kamen-^' und beiden Verfassern
boßsen Spott zuzogen. Noch aus dem Nachlass wurden zahlreiche Briefe des
immer rührigen und enthusiastischen Dichters veröffentlicht.^^
Schanze'. 23) Neue Ausg. v. Sauer, Seufferts Dt. Lit. - denkm. 4, Heilbronn 1882.
LB. 2, 765 fgg. Einzeldrucke gingen der Sammlung voraus, ihr folgte: 'Der Grenadier au
die Kriegsmuse nach dem Siege bei Zorndorf', 1759. 24) Weisses Amazonenlieder
1762, Gerstenbergs Kriegslieder eines kgl. djenischen Grenadiers 1762. Lavaters Schweizer-
lieder 1767. 25) Gerade an den einfachsten Bezeichnungen natürlicher Dinge nahmen
die Berliner Freunde Anstoss: Briefe d. Schweizer S. 310. Kleist befürchtete sosar das
Lachen boshafter Menschen über die Stelle im Siegeslied auf Lowositz: 'Auf einer Trommel
8888 der Held und dachte seine Schlacht': Sauers Ausg. 2, 468. 473. P^beu diese Stelle hob
jedoch mit Kecht Heinse 1778 hervor: Briefe zwischen Gleim. Heinse u. Müller 1. 375.
26) Preussische Soldatenlieder. Berlin 1790. Zeitgedichte 1793. Kriegslieder 171)4. Preus-
sische Volkslieder, Halberstadt 1800. 27) Berlin 1764. 28) Berlin 1773.
29) 0. 0. 1779. 30) Zuerst Berlin 1756. Proben LB. 2. 763 fgg. 31) Hamburg
1774. LB. 2. 775 fgg. 32) Berlin 1768. Schon vorher erschienen Freundschaftl.
Briefe, Bcilin 1746 is. darüber Sauer Kleist 2. 33): Sechzig Freundsihaftliche Briefe miit
Lange gewechselt), Berlin 1760 und es folgten noch Episteln, Lpz. 1783. 33) Brief-
wechsel zwischen Gleim, W. Heinse u. J. v. Müller hg. von Kürte, Zürich 1804. Briefe
380 NEUIKUMIDEÜTSOFTE ZEIT. XVm JAinni. § 150
Der früheste Freundeskreis, den Gleim um sieh aamnielte, umfasste
seine Studienj^enossen in Halle, Hz und Götz: beides Süddeutsehe, die mit
der aiiakreontisclien Dichtung (fleims mehr übereinstimmten als mit seiner
Verherrlichun}? Friedrichs des (Jrossen. Johann Piri-KU llv.^* war geboren
zu Ansbach 1720 und starb dort als preussischcr .]ustiz])eamter 1796. Unter
der Misswirtscliaft der letzten Markgrafen von Ansbach-Baireuth-'*» hatte er
wie Andere zu leiden: lange unbesoldet im Amte, blieb er wie Gleim unver-
heiratet. Auch er begann mit dem Lob des Weins und der Liebe; auch er
versuchte sich zuerst, und erfolgreich, in neuen, reimlosen Formen,^'^ wendete
sich aber bald gereimten Stroj)hen und dem Alexandriner wieder zu. Ge-
sammelt Ulli! von Gleim herausgegeben erschienen seine Lyrische Gedichte'
zuerst 1749 zu Berlin. Sein Sieg des Liebesgottes', eine komische Epopoee,
gegen Modesucht und Pedanterei zugleich gerichtet, folgte 1753.'" Weil er
darin über Bodmers Patriarchaden gespottet," Hess sich Wieland soweit hin-
reissen, dass er in den Empfindungen eines Christen' (Zürich 1757) Uz und
andere Dichter als 'schwärmende Anbeter des Bacchus und der Venus' bei
dem Oberhof))rodiger Sack in Berlin verklagte. Uz-"* fand in Lessing und
dessen Berliner Freunden vorzügliche Sachwalter (§ 153, 11); er hatte die
Genugthuung, dass Wieland spa^ter noch freiere Dichtungen schrieb als er selbst,
und schenkte diesen ebenso seinen Beifall wie denen Thümmels (§ 155, 81 fgg.)-
Doch Hess er es sich seitdem angelegen sein in seinen Dichtungen ernstere Stirn-
deutscher (Teiehrter aus (Tleims Nai-hlass, ebenfalls Z. 1804. Der Briefwechsel mit Leasing
ist zuletzt von Redlich in der Henipelscheu Ausg. des letzteren, der mit Kleist von Sauer
hg. worden. 34) Biographie in 'Poetische Werke von .1. P. Uz, nach seinen eigen-
händigen Verbesserungen hg. von Cli. F. Weisse', Wien 1804. II. Henriette Feuerbach.
Uz und Cronegk, Lpz. 1866 mit Benutzung von üleinis Briefwechsel. Für die Lebensgeschichte
von Uz sind besonders wichtig die von A. Henneberger, Lpz. 1866, herausgegebenen 'Briefe
an einen Freund' in Rfpmhild. wo Uz 1752 untl ITäS bei einer Reichsexecution gegen
Meiuingen thtetig war und sich verliebte. Ebendieselben auch in .1. P. Uz, Saniniluntr von
zum Teil noch uugedruckten Dichtungen . . hg. v. H. Trapp, Ru'mhild 1866. Zur Textes-
geschichte vgl. bes. Sämmtliche poet. Werke von .1. P. Uz (hg. v. Sauer), in Seufferts Lit.-denkm.
33 — 38, Stuttg. 1889. 34 a) Sein Fürst erfuhr von ihm erst durch eine Audienz bei
Papst Clemens XIV, weh-her nach dem Dichter fragte. 35) Frühiingsode (§ 142, 73),
zuerst 174;{ in den Belustigungen des Verstandes u. Witzes S. 486 erschienen. 36) Stral-
sund, (ireifswald und Leipzig. 37) Dass schon vorher hin und her gestichelt worden war,
zeigten Zimmermarin in Prutz Deutsches Museum 1866 und Sauer in Seufferts Lit.-denkm.
33. Ganz besonders aber richtet sich die Epistel von Uz an Hofrath C(hrist) gegen Bodmer
und den englischen Ueschmack: sie erschien in der Ausgabe seiner (redichte von 1755.
38) Er verteidigte sich launig in einem Schreiben über eine Beurteilung des Sieges des
§ 150 UZ UND GÖTZ. 381
mungen zu eeussern. Seine Theodicee'^'* war schon 175") erschienen;^" die
gleiclie Philosophie vertrat sein Versuch über die Kunst froehlich zu sein' (Leipzig
1700)/' in Briefen, denen sich noch einzelne an Freunde gerichtete, teilweise
mit Prosa und Poesie abwechselnd, anschlössen. Ilallers Tiefe und Kraft
suchte er mit Popes Klarheit und Glätte zu verbinden. Aufgeklserte Frömmig-
keit beseelt seine geistlichen Gedichte.*'- Denselben Ernst zeigen seine patrio-
tischen Oden: vortrefflich erkennt er*^ den Quell alles Unheils in der Erziehung
deutscher Jugend'; er beklagt schmerzHch den deutschen Bürgerkrieg** und
legt auf Kleists Sarg auch sein Lorbeerreis.*'' Von den jüngeren Dichtern
stand ihm der frühgestorbene Cronegk nahe, dessen Schriften er sammelte
(§ 155, 77). 1768 schloss er seine dichterische Thätigkeit ab, indem er seine
'Sämmtliche poetische Werke' zu Leipzig erscheinen liess.
Dem in der Jugend angeschlagenen Tone blieb Johann Nicolaus Götz*^
getreuer, nur dass er durch den Gegensatz dieses Tones zu seinem geistlichen
Berufe sich veranlasst sah je länger je mehr in das Dunkel zurückzutreten.
Geboren zu Worms 1721, starb er zu Winterburg bei Kreuznach 1781. Als
er 17-46 die Oden Anakreons in reimlosen Versen' herausgab,*^ entfremdete
er sich Uz, der daran mitgearbeitet hatte; auch mit Gleim, durch den er
in preussische Dienste überzugehn gehofft hatte, erkaltete seine Freundschaft,
Als Hofmeister und Schlossprediger, seit 1748 auch als Feldprediger des
Regiments Royal d'Alsace mit den franzoesischen und lothringischen Hofki-eisen
in Berührung, schloss er sich eng an die leichte Erotik der Franzosen *** an.
Liebesgottes', Poet. Wke. 1768, 2, S. 250. 39) LB. 2, 806. 40) iu der 2. Auflage
'Lyrische und audere Gedichte', Anspach 1755. 41) LB. 2, 795 fgg. 42) Noch 1781
erschien, vou ihm mit Auderen auf 'laudesfürstlichen Befehl' bearbeitet ein 'Neues anspachisches
Gesangbuch', worin die alten Lieder der Weise Gellerts angepasst waren. 43) Sämtl.
poet. Werke 1, 185 Man bildet nur den Leib: der Jünglincf lernt gefallen, Lernt freyen
Tanz und Spiel, in fremder Sprache lallen, Und buhlen, eh er mannbar itit, Betrügen,
die er kaum geküsst. Und seinen Hals zu schlauen Tücken Im Joche weicher Sitten bücken.
44) LB. 2, 803. 45) LB. 2, 812. 46) Eine Lebensgeschichte, von ihm seihst
begonnen, findet sich iu der Ramlerscheu Ausgabe seiner Vermischten Gedichte', Mannheim
1785 111 Bde. Vgl. auch Friedrich Götz, Geliebte Schatten. Bildnisse und Autographen
von Klopstock, Wielaud, Herder, Lessing, Schiller, Gopthe, in einem befreundeten Cydus
(Mannheim 1858). S. 14 fg. Hahn, J. N. Götz. Die Winterburger Nachtigall, Progr.
Birkeufeld 1889. 47) Ganz selbständig ist die Zweite Bearbeitung von Götz: 'Die
Gedichte Auakreons u. der Sappho Oden', Karlsruhe 1760. 48) Voltaire lernte er iu
J.,uueville perscjenlich keuueu uud übersetzte dessen Gedichte au Friedrich 11 sowie die
Gedichte des Königs auf Voltaire. Gressets Vert-vert übertrug er als 'Paperle', Karlsruhe
1752. Doch auch nach den Minnesingern dichtete er, nach Herzog Heinrich vou Breslau.
382 NEUJlOciinElITSrilK ZEIT. XVIII .lAllKIf. ij ir»()
1750 Hess er 'Gedichte eines Wornisers" ersdieinen. Spppter vermittelte Jlaiiiler
die VeröflVMitlicliiing seiner Gedichte, oline den Namen des Verfassers zn nennen,
und mit Änderungen, welche die an sich s<rhon zierlichen Verse noch weiter zu
verfeinern sucliton. So verfuhr Jlamler auch in der nach dem Tode des Dichters
erschienenen Sanindung (.Mannheim 1785). Knebel, der Götz kurz zuvor
aufgesucht, ihn aber misstrauisch und zurückhaltend gefunden liatte, beklagte
Kamlers Arbeit;^' dagegen zeigte Voss (§ 142, .'i) allerdings, dass der unablässig
feilende Dichter Rander die Auswahl aus seinen Lesarten überlassen hatte;
freilich war llamlor auch noch weiter gegangen und seine selbständigen Ab-
änderungen dürften nicht immer den Vorzug besitzen. Mehrfach umgestaltet
hatte Götz auch das Gedicht von der 'MädcheninseF, welches in einem Sonder-
druck Knebels Friedrich 11 vorgelegt, von diesem beifällig als Muster reindoser
Verse aufgenommen worden war:'"* ursj)rünglic]i iu anakreoutischer Form ver-
fasst, hatte er es sjneter in Distichen umgegossen.
Ernstere Züge trsegt die Dichtung, welche der Berliner Freundeskreis
Gleims pflegte, liier tritt die Begeisterung für den grossen Ka'uig in den
Vordergrund, wie Gleim selbst sie in den Grenadierliedern aussprach. Sie
als Soldat zu betluetigen und durch den Heldentod zu besiegeln, war das
Loos, welches Ewald Christian von Kleist erfüllte/'^ Geboren auf dem
vaeterlichen Landgut Zeblin bei Köslin 1715, trat er erst in die dänische, 1740
in die preussische Armee: er starb an den in der Schlacht bei Kunersdorf
erhaltenen Wunden zu Frankfurt a. d. 0. 1759. So vollendete sein Schicksal den
Eindruck seiner edeln, überall Achtung und Liebe gebietenden Persoenlichkeit.
Mit Gleim seit 1743 befreundet, verweilte er im Winter 1752 auf 1753 zu Zürich
und stand 1757 und 1758 zu Leipzig mit Lessing in vertrautem Verkehr.
Gleims Beispiel regte ihn zum Dichten an. Für die Form war ihm besonders
Uz Vorbild, für den gedanken- und bilderreichen, kraftvollen und gedrängten
Ausdruck Haller, nur dass Kleist milder und anmutiger erscheint.''- Den
49) 8. (ieu Brief an Herder, in der Adrastea 1803. V 26"2 igg. in dessen Werken von Suphan
24, 255 fgg. 50) Diese Stelle der Schrift Dt- la litterature AUemande Neudruck 6, 15
wurde freilich neuerdintjs auf ein (iedicht des Pnesideuten vou Derschau über die 1751
zu Emden errichtete Ostindische HandeiRcomyiagnie bezogen: vou Kohhnann in Schnorrs
Arch. XI 35."i; aber gewiss mit l'nreclit: s. (iciger iu Seulferts Lit.-deukm. 10 S. VllI fgg.
51) 'Ehrengedächtniss Herrn K. l". v. K. (vou Frid. Nieolai\ Berlin 1760. (Tleims Samm-
luntren verwertet für Leben und Dichtnnf': Auir. Sauer. Ewald von Kleists Werke II 1.
Berlin. Hempe! o. .T. ( \'orr. von 1882.^ Der 11. Bd. enthält die Briefe von Kleist, der 111.
die an ihn gerichteten. Danach A. Chuquet. De Ewaldi Kleifttii vita et ncriptix, Parisiis 1887.
52) Kleists erste Gedichte erschienen, nicht ohne Abänderungen tler Herau.sgeber, in Schwabes
§ 150 EW. CIL VON KLEIST. 383
liebsten Stoff aber bot ihm der Englilndcr Thomson, dessen Jahreszeiten' er
in der Ansgabe und Übersetzung von Brockes (§ 147) kennen lernte. Auch
er gedachte den Kreis der Jahreszeiten zu beschreiben, vollendete aber nur
den 'Frühling', dem er selbst zuerst den Titel 'Landlust' geben wollte. Das
Gedicht, langgepflegt, mehriacli von ihm und überdies von llamler^^ bearbeitet,
erschien zuerst 1749. Es ist die Schilderung eines Spaziergangs, welche
nur durch die Hieufung der beschriebenen Vorgänge und üegenstände''^ etwas
Überladenes und Ermüdendes hat, so sehten auch die Darstellung und die
eingestreute Betrachtung im Einzelnen ist. Kleist rühmt das Glück des Land-
manns, er verabscheut die Verwüstungen des Tra3ssigen' Kriegs. Seine Melan-
cholie, zu der eine unglückliche Liebe stark beitrug, steigerte sich in der
Eintoenigkeit und dem Zwang des Potsdamer Garnisonslebens : doch fand er
Trost in dem Gedanken an die Weisheit der Vorsehung,'"'' in den Bildern
eines unschuldigen Naturlebens. ^" Da erfasste ihu der Kampf Friedrichs gegen
übermächtige Feinde: seine Bewunderung für die mit Menschlichkeit geparte
siegreiche Tapferkeit des Koenigs, seinen Wunsch für das Vaterland Mühsal
und Qual, ja den Tod zu erleiden, ergoss er in seine 'Ode^' au die preussische
Armee' und in den 'kleinen kriegrischen Roman' in fünffüssigen Jamben
'Cissides und Faches' 1759. Auch das Bild bürgerlichen Heldentums,
das er schon 1745 in Seneca geselm, stellte er in einem prosaischen Drama
nach dem Muster von Klopstocks 'Tod Adams' dar: doch ist hier Form und
Gesinnung zu starr, zu streng, als dass der Stoiker das Gefühl des Lesers
für sich zu gewinnen vermöchte.
'Belustigimgen des Verstandes uud des Witzes' 1744. 1745; danu iu 'Neue Beyträge zum
Vergnügen des Verstandes und AVitzes' 1748. 174i). 1751. 53) Dessen Abänderungen
zeigt der Text der 'Sämtlichen Werke des Herrn E. C. v. Kleist', III Berlin 1760. Danach
LB. 'S, 786 die Probe aus dem Frühling. 'Über die Ramlersche Bearbeitung' s. Sauer,
Sitzungsber. der Wiener Akad. XC'VII, 1880. Ramler hat sehr stark eingegriffen um die
Sprache einfacher, die Dactylen flüssiger zu gestalten. Etwas ironisch sagt Kleist (Sauer
2, 166) von Ramler: 'er hat noch nichts gemacht was so schoen ist als sejn Frühling.' Auch
die Ausgabe der Gedichte Kleists, welche W. Kürte, II, Berlin 180;i, aus Gleims Papieren
herausgab, ist kritisch unzulänglich. 54) Kleist rühmte scherzend die 'poetische Bilder-
jagd' auf seinen einsamen Spaziergängen, wie Zimmermann, Über die Einsamkeit, Cap. 11,
uud Goethe in Dichtung und Wahrheit, VII Buch, berichten. Dass Kleist spjeter die
Schilderung iu Handlung umzugiessen gedachte, erzsehlt Lessing, Laokoon XVII. Abschnitt.
55) 'Der gelähmte Kranich' LB. 2, 785. 56) Irin. Über die Erweiterung der idyllischen
Gattung durch Gärtner- u. Fischeridylleu s. van Haag, E. C. v. Kleist als Idyllendichter,
Progr. Rheydt 1889. 57) LB. 2, 779. Erschienen iu 'Neue Gedichte vom Verfasser
des Frühlings', Berlin 1758. deueu Gedichte vou dem Verf. des Frühlings' 1756 voraus-
Wackernagel, Litter. Qeschichte. H. -6
384 NEUIIOninErTSOIIK ZKIT. XVIII JAIIRII. § ino
Von Kleist aufgefordert'''* Friedricha Grosstliiiteii in (Jilen zu verherr-
lichen, suchte Kak!- WiiJiKLM Ramlkk der Horaz des preussischen Augustus
zu werden. Geboren zu (Jolberg 1720, war er zwar nicht in Halle, wo
er Schule und Universittet besuchte, wohl aber in Berlin 1744 mit Gleiin
bekannt geworden. 1748 fand er eine Anstolliing als Lehrer am Kadetten-
corps mit kärglichem Einkommen. Erst Friedrichs Nachfolger ernannte ihn
178(> zum Mitglied der Akademie und zum Mitdirector der K(Pniglichen
Scliauspiele. Er starb zu Berlin nOH.-'-* Horaz, den er in den Versmasseii
des Originals übersetzte,'"" ist Ramlers ängstlich nachgeahmtes Muster, '^' nur
dass er in den eigenen Diclitungcn*""'^ meist Reimstroj)hen gebraucht."^ Heine
Entwürfe arbeitete er langsam und mühsam aus:*'^ künstlich gab er ihnen
den lebhaften, sprungweise fortschreitenden Gang;'"''' durch politische Alle-
gorien und durch gelehrte Anspielungen'^'^ auf die antike Mythologie ''^ und
Geschichte suchte er die Kenner zu gewinnen. Zur Musikbegleitung dichtete
er Cantaten und Oratorien, von denen der Tod .lesir in der Composition
von Graun, 1756, seinen Namen zuerst und bis auf die Gegenwart bekannt
gemacht hat. Ebenso hatte er schon 1758 (II Teil 1755) Oden mit Melodien'
gesammelt und darin seine grammatische und metrische Sorgfalt auch auf die
Dichtungen Anderer übertragen;''"^ 170(5 besser 'Lieder der Deutschen', 1774
und 1778 seine 'Lyrische Blumcnlese', 1783 eine 'Pabellese' folgen. Kleist, "^^
Lessing, Götz, spseter Göckingk und ßoie hatten diese Correcturen sich ge-
fallen lassen; Gleim zerfiel darüber mit Ramler 17G4. Auch seines Schülers
gegangen waren. 58) 8auer 2, 339. 59) Kurze Lebeusgesi-bichte von (tückingk
in 'Ramlers Poetische Werke" (Berlin 1800, II). — Carl Schüdilekopf, K. W. Raniler bis zu
seiner Verbimlung mit Lessing. Wolteubüttel 1886 (Leipziger Diss.): hier ist der haud-
sehriftlich erhaltene Briefwechsel Ramlers benutzt. 60) Zuerst teilweise 1769 uö. ;
vollständig Berlin 1800. 61) So schöpft die Ode LB. 2. 81.') aus Hör. Carm. 2", 13.
62) Seine 'Oden' zuerst 1767: 'Lyrische Gedichte' 1772; Poetische Werke s. Anm. 5!».
63) Reimlos z. B. 'der Triumph' LB. 817. 64) So urteilt Sulzer. der 17r)0 mit Raniler
zusammen eine kritigcbe Zeitschrift begonnen hatte: Briefe d. Schweizer. S. 424. 65) A.
Pick, Über Ramlers Odentheorie, Erfurter Programm, Lpz. 1887. 66) Er stellte sich
selbst als 'Barden" der 'Brennen' dar. 07) Seine 'Knrzgefasste Mythologie' erschien
Berlin 1790. II. Auch für zierliche Bilderbeigabe zu seinen Gedichten wusste er zu sorgen.
68) Verzeichnisse bei Schüddekopf 68 fg. Die Gedichte des von Mendelssohn angeregten
Ephraim Kuh (aus Breslau. 1731 — 1790) sind von Ramler durchgefeilt: 'Hinterlassene
Gedichte', Zürich 1792, II. Vgl. auch Pick. Herrigs Archiv 73, über die Bearbeitung
Hagedornscher (Tedichte. Durchaus absprecheml urteilte über Randers Begriff von Correctheit
Herder 1772: Weiuhold Boie S. 160 und öficntlich A. W. Schlegel in seiner Kritik Bürgers
§ 158. 18. 69) Anm. r.3.
§ 150 RAMLER, DIE KARSCHIN. 385
Gessner Idyllen versificierte Ramler 1785^*^ und 1789. Mit Lessing zusammen
erneuerte er das Andenken Logaus (§ 129, 4), und fügte 1766 eine Samm-
lung der besten Sinngedichte der deutschen Poeten' hinzu. Nach Battenx Cours
des belles-lettres bearbeitete er 1756 — 1758 seine 'Einleitung in die schoenen
Wissenschaften', welche mehrmals wiederholt, die frauzcesischen Regeln, wozu
Ramler Beispiele aus der deutschen Dichtung eingeflochten hatte, bis auf
Herders Einspruch ^^ in Geltung erhielten.
Ramler trug auch dazu bei die preussische Sappho' zu bilden. Axxa
Luise Karschin'^ geb. bei Züllichau 1722, hatte als Kindsmagd und Hirtin,
dann in zweimaliger, wohl nicht ohne ihre Schuld unglücklicher Ehe, ein
seltenes Talent besonders zur Stegreifdichtung entwickelt, als ein Baron Kottwitz
sie 1761 nach Berlin brachte. Hier^'^ eignete sie sich den Stil der Ode
an, wofür sie freilich die Natürlichkeit ihrer früheren Dichtung in Alexandrinern
und Kirchenliedstrophen, z. T. auch in der Mundart,^* dahingab. Gleim, den
sie gern geheiratet hätte, sammelte ihre 'Auserlesene Gedichte'^"* 1764, wozu
Sulzer die Vorrede schrieb. Unermüdlich wusste sie die Gunst der vornehmen
Kreise rege zu erhalten."^ Nur Friedrich II blieb kalt und karg.^' Erst
Friedrich Wilhelm II baute ihr ein Haus in Berlin, in welchem sie 1791 starb.
Ein anderer Schüler Ramlers eignete sich seine reine, glatte Sprache
an, aber nicht seine metrische Sorgfalt: vielmehr beschränkte er sich nach
Ramlers Rat auf eine freilich poetisch gehobene Prosa."* Salomon Gessner ^^
70) im 'Deutscheu Museum'. 71) in Nicolais AUg. D. Bibl. (1712) 16, 1, 17. Suphan
5, 278. 72) llir 'Lebeuslauf iu der von ihrer Tochter C. L. von Klenck, Berlin 1792.
besorgten Ausgabe ihrer 'Gedichte'. Diese Tochter ist ebenso dichterisch thsetig gewesen
wie die Enkelin Helmina von Chezy (1783 — 1856) und wiederum deren Sohn Wilhelm
von Chezy, welche beide die Familiengeschichte geschrieben haben, Helmiua 'Unver-
gessenes', Leipzig 1858, II; Wilhelm 'Aus meinem Leben, Helmina und ihre Sühne',
Schaffhausen 1863, IV. Vgl. ferner Heiuze, Progr. Anclam 1866. Kluckhohn in Schnorrs
Arch. XI 484. A. Kohut, Die deutsche Sappho, Dresden 1887. 73) Über ihr Er-
scheinen in Berlin s. bes. Sulzer an Gleim: Briefe der Schweizer S. 332 fgg. 74) Schle-
sisches Bauerngesprsch in der Ausgabe von 1792 S. 376 fgg. 75) Es folgten noch:
Neue Gefliehte, Mietau u. Leipzig 1772. 76) Die von Seufiert, Zeitsch. d. Harz-
vereins, XIII, 189 fgg. (Wernigerode 1881) verütfentlichten Bitt- und Dankepisteln zeigen
die Flüchtigkeit der Dichterin auch teusserlich. 77) Bekannt ist der Vers, mit welchem
sie seine zweite Gabe, 2 Thaler, zurücksandte : Briefe von und an Merck hg. von Wagner
(§ 159. 74) S. 47. 78) Gessners Erstling war allerdings das 'Lied eines Schweizers
an sein bewaffnetes Mädchen' 1751, dem noch einige wenige, nieist reimlose Gedichte folgten,
mehrere als Prosa geschrieben am Schluss des Dapliuis. 7!)) Vgl. 'Salomon Gessner.
386 NEUIIOCIIDEITSCHE ZEIT. XVIII JAIIRII. § 150
(zu Zürich geb. UM) uiul gestorben 17.S.S) verweilte 174!> und ITöO in Berlin
um sicli für die Buchiiandlung seines Vaters vorzubereiten, wandte sich aber
mehr und mehr der Landschaftsmalerei'^" zu, und hat namentlich in der
li;\dierkunst Vorzügliches geleistet. Brockes war der Lieblingsdichter seiner
Jugend; spa'ter nennt er Gleim als Vorbild; Kleist, der bei seinem Züricher
Aufenthalt sich innig mit ihm befreundete, widmete ihm seine Idylle 'Iriif.
Die Idylle ward Gessners Dichtart: war doch auch sein spajterea Leben im
Schosse einer zsertlich geliebten Familie, und zur Sommerszeit in einer Amts-
wohnung im Walde zugebracht, eine wahre Idylle. Wie Theocrit wollte Gessnor
ländliche Bilder ohne Galanterie und Witz dicliten; doch mied auch er noch
den Anschluss an die Wirklichkeit des ba3urischen Lebens und schilderte eine
arkadische Unschuldswelt. Sein Daphnis' 1754 entnimmt den Stoff aus einem
antiken lioman, die Idyllen' 1750 und besonders die zuletzt, 1772, heraus-
sreffebencn stellen einzelne Scenen dar, mit reizvoller Beobachtung des Klein-
lebens der Natur, '^ und mehr und mehr mit moralisierenden Absichten. ""- D(Min
wie Bodmer betonte er dass der Geschmack in genauer Verbindung mit dem
Herzen und den Sitten' stehe. An Bodmers Patriarchaden schliesst sich sein 'Tod
Abels" 1758 an: doch wird auch hier Kains ' Unzufriedenheit' als die Quelle alles
Unheils angesehn. Den Gegensatz zu Stadt und Hof schildert er in dem
'Schivferspiel Evander und Alcimna', dem er noch ein Rührstück Erast' beigab.
Mit diesen Dramen gleichzeitig, 1762, erschien der erste Schiffer, von ihm
selbst für sein Bestes gehalten: die aufknospende Liebe hat er darin allerdings
meisterhaft dargestellt. Mit der Neigung für das Zärtliche, Zierliche zeigt
er sich der Anakreontik der preussischen Dichterschule verwandt. Aber kein
anderer Dichter gewann auch im Ausland solche Gunst: in die meisten Sprachen
Europas"*^ übersetzte man seine formell auch dazu besonders einladenden
Schriften; vor allem in Frankreich,*'* wo ihm die gleichzeitige Naturschwärmerei
Diderots und Rousseaus entgegen kam, wurden seine Werke sofort und dauernd
beliebt.
Von J. .1. Hottiuf'er', Zürich 1796: und S. G. Mit untjedrackteii Briefen von H. Wöiffliu.
Frauenfeld 1889. Zahlreiche Briefe Gessners zeigen seinen liebenswürdigen Humor.
80) Über seine Kunst sprach er sich in einem Briefe über Landschaftsmalerey an Füssli.
1770, aus; auch in dem 'Briefwechsel mit seinem Sohne', der Zürich und Bern 1801 gedruckt
ward, ist viel von Kunst die Rede, da der Sohn ebenfalls Maler war. 81) l-'B. 3, 168
Die Gegend im Gras'. 82) LB. 3, 16:") fgg. 83) Jöcher. Lexikon deutscher
Dichter und Prosaisten 2. llT) fgg. 84) 7.« Mort d'Ahel . . iradnit . . ;wt/- Mr.
Huber. Paris 1760 uü.
§ 151 GESSNER. DIE BREMER BEITRÄGER. 387
§ 151.
Die Bekämpfung Gottscheds durch die Scliweizer Kunstrichtcr und die
preussische Dichterschule, noch mehr aber die Art, wie er und seine An-
hänger darauf antworteten, führte dazu dass auch in seiner na3chsten Um-
gebung, in Leipzig, die besten Kräfte der Jugend sich, wenn nicht gegen
ihn, doch von ihm ab wandten. Gegen die Mitte der vierziger Jahre fand
sich unter den Leipziger Studenten und jungen Magistern ein Freundeskreis
zusammen, der anfangs noch an den von Schwabe herausgegebenen, von
Gottsched abhängigen 'Bchistigungen des Verstandes und Witzes' (1741 fgg.
§ 148, 67) mitarbeitete, seit 1744 aber eine eigene, allen Streitigkeiten ver-
schlossene Zeitschrift begründete, mit dem Titel 'Neue Bcytra?ge zum Ver-
gnügen des Yerstandes und Witzes' Bremen und Leipzig 1744 fgg.* Von
Hagedorn beraten,^ wollten diese Bremer Beyträger' besonders 'für das
Frauenzimmer' schreiben. Die einzelnen Gedichte und Aufsätze wurden ge-
meinschaftlich geprüft; doch war als Herausgeber namentlich Karl Christian
GÄRTNER thaetig^ (geb. zu Freiberg 1712, gest. zu Braunschweig als Prof.
am Carolinum 1791).
Die Genossen dieses Leipziger Dichterkreises* waren nur zum Teil
Kursachsen; aber auch die von aussen, besonders von Hamburg her hinzu-
tretenden Freunde stimmten in den gleichen Ton ein. Entsprechend den
politischen Verhältnissen des Staates, in welchem eine protestantische Bevöl-
kerung unter einem kathohsch gewordenen Herscherhause stand und die
liederliche, verschwenderische Hofwirtschaft dieser Kcenigo von Polen über
sich ergehn Hess, ist die Poesie der sächsischen Dichterschule von dulden-
der Frömmigkeit beseelt, aber gegen die Aufklärung vielfach nachgiebig und
munterem Scherze nicht verschlossen. Auf Reinheit und Zierlichkeit der
Sprache ebenso bedacht wie die preussische Dichterschule, ist die sächsische
doch den reimlosen, antiken Formen im Ganzen abgeneigt. Am besten ge-
lingt ihr einerseits die kleinere Erzählung in freien Versen, zumal die Fabel;
andererseits das Drama, dem sie eine dauernde Pflege zuwendet, und zwar
§ 151. 1) Nur 4 Bände bis 1748 erschienen im ursprünglichen Sinne; der V. 1748 — 50,
und der VI. 1751 — 59 wurden von Joh. Math. Dreyer herausgegeben, der schon in Gott-
scheds Diensten sich durch frivole Schriften gegen Pyra (§ 150, 12) einen unfeinen Ruhm
erworben hatte. 2) Ihn nennen Rabener und Klopstock 'unseren Vater". 3) Er eröffnete
sie mit dem Schoeferspiel 'Die geprüfte Treue'. 4) Die einzelnen Freunde werden geschildert
in der von Cramer, Ebert u. Giseke redigierten Zeitschrift 'Der Jüngling', Lpz. 1747 — 48:
8. Erich Schmidt, QF. 39, 40. Eine Auswahl ihrer Werke mit bist. Einleitung von F. Muncker
388 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVHI JAHRTT. § 151
meist iiacli tVauzd^sischcm Muster, aber nicht mit der Beschränktheit und
Steifheit Gottscheds.
Am reinsten prangt sich dieser Grund/Aig aus in CnuisTfAx Fükcmtecjott
Geli.kut, welcher zu Hainichen 171.3 geboren, als Professor zu Leipzig 1701)
starb. "^ 1744 hatte er seine Lehrtha^tigkeit an der Universita»t mit der Schrift
De iwosi apolof/orwn eorumquc srriptorlhus eröffnet. Gleichzeitig dichtete er
seine Fabeln und Erziehlungcn\ welche er gesammelt und stark überarbeitet "^
1740 (und n Teil 1748) herausgab. Unziehlige Male wiederholt gingen sie
durch die Schule in den Allgemeinbesitz des Volkes über, und eigneten sich
allerdings dazu durch ihren volkstümlichen Witz und die fassliche Moral. ^
Nach Lafontaines Vorbild malt Geliert nicht nur die Nebcnumständo breit
aus: er flicht auch, besonders im Eingang, scherzhafte Betrachtungen und
Gesprteche mit seinen Lesern ein.** Der gesunde Menschenverstand ist der
Ausgangspunct seiner Moral; sein Ziel Verhoclmung der Eitelkeit, besonders
der dichterischen, aber auch der der Frauen, die er ebenso mit ihrer Flatter-
haftigkeit neckt. Streng verurteilt er Geiz und Heuchelei.'' Seine Stoffe
hatte er grossenteils selbst erfunden, '° doch auch ältere deutsche Fabulisten "
benutzt. Dieselbe feine Beobachtung des wirklichen Lebens bewies Geliert
in seinen Lustspielen, welche er 1747 gesammelt herausgab: in ihnen sah die
Zeit den getreuen Spiegel des deutschen Bürgertums, vor allem seines Fa-
milienlebens.'" Weniger gelang ihm die Anlage der komischen Handlung:
sie ist oft willkürlich, durch schlechtbegründete Verwechselungen, mehrmals
durch Brauttausch weiter und zu Ende geführt. Gellerts Lustspiele sind in
Prosa verfasst: 'die Betschwester', zuerst 1745, 'das Loos in der Lotterie'
1740, 'die zärtlichen Schwestern' und 'die kranke Frau', ein Nachspiel. Mit
den 'Schwestern" betrat Geliert das Gebiet des rührenden Lustspiels nach
franzoesischem Muster, zu dessen Rechtfertigung er die akademische Schrift
'Bremer Beitrseger' in Kürschner Xat. litt. 43. 44; Stuttgavt o. J. 5) Leben von Job.
Andreas Cramer in der zn Leipzig 1761* — 74 nü. erschienenen Ausgabe von Gellerts 'Sämtliche
Schriften'. Auch die Ausgabe von Jul. Ludw. Klee, 1831), ist spaeter wiederholt worden.
H. Döring, Gellerts Leben, (ireiz 1833, IL 6) Für Gellerts Gewissenhaftigkeit zeugt
dass er bei einigen verworfenen Fabeln auch deren Fehler im Einzelnen auseinamlersetzte:
am Schluss des 1. Bandes in der Ausg. von 17G1». 7) LB. 2, 745 fgg. .*^p. 751 'Der
Maler': die Fabel, welche Geliert vor Friedrich II 1760 vortrug. 8) Über den Stil
in Gellerts Fabeln s. Erich Schmidt Z. f. d. A. 20 Anz. 54 fgg. !)) LB. 2, 747.
10) Daher er sich auch gegen Friedrich II als Original bezeichnete. 11) Über diese
(.Bouer, Luther, B. Waldis) s. seine 'Nachricht und Exempel von alten deutschen Fabeln',,
vor seinen eigenen Fabeln. 12) Lessiug. Hamburg. Dramat. 22 Stück.
§151 GELLERT. 389
De lomwdia commovente ^^ 1751 schrieb. In Alexandrinern hatte Geliert
seine Sclia^ferspiele 'Das Band' 1744 und 'Sylvia' 1745 sowie das nach dem
Franzoesischen bearbeitete Singspiel 'Die Orakel' gesehrieben. Eben diese
Form haben auch seine 'Lehrgedichte und Erzsehlungen' 1754, wesentlich
Characterskizzen, wie die moralischen Wochenschriften sie auch bei uns ein-
geführt hatten. Den Engländer Richardson, dem Geliert eine überschwäng-
liche Verehrung widmete,'^ ahmt er in seinem Roman 'Leben. der schwedischen
Gra-fin von G**', II, 1747, nach, worin er in einer Reihe von abenteuerlichen
Scenen und Verhältnissen zu zeigen sucht, dass jede Schuld, namentlich
wenn sie unwissentlich begangen ist, gebüsst, jedes Unglück durch Gottver-
trauen und Geduld ertragen werden kann. Mehr und mehr überwogen solche
religioise Gedanken und beseelten Geliert bei der Abfassung seiner 'Geist-
lichen Oden und Gesänge', 1757: von den Dogmen absehend preisen sie
Gottes Macht und Güte und ermahnen zur Sittlichkeit.^'^ Den gleichen Inhalt
haben seine moralischen Schriften in Prosa, von denen die 'Trostgründe wider
ein sieches Leben', bereits 1747 erschienen, aus den eigensten Erfahrungen
und Empfindungen des Dichters hervorgingen, andere aber von seiner akade-
mischen Thpetigkeit veranlasst , aus seinem Nachlass als 'Moralische Vor-
lesungen' 1774 herausgegeben worden sind. Anziehender sind Gellerts Briefe,
die er mit einer grossen Zahl von Personen aus allen Ständen wechselte und
wovon er einige Muster schon 1751 nebst einer 'Praktischen Abhandlung von
dem guten Geschmacke in Briefen' veröffentlichte,^^ wahrend andere spaeter
bekannt gemacht wurden.'^ In diesem umfassenden Briefverkehr, meist als
Gewissensrat befragt und antwortend, erinnert Geliert einigermassen an
Luther (§ 110, 16).^* Die ausgedehnte Verehrung, die er als Dichter und
Lehrer erfuhr, seusserte sich vielfach rührend: wahrend des siebenjährigen
Krieges besonders von Seiten des preussischen Heeres, in Versen Kleists,
in der Unterredung, zu der Friedrich II ihn heranzog;^'' spater bezeigte der
sächsische Hof dem kränklichen Dichter zärtliche Fürsorge und von der Leip-
ziger Studentenschaft war besonders die adlige Jugend ihm empfohlen. Schon
13) übersetzt von Lessing in seiner 'Theatralisc-hen Bibliothek', I, 1754. 14) Schriften
4, 92 Anm. 15) LB. 2, 754 fgg. 16) Daraus LB. 3, 2, 73 fgg. 17) Insbesondere:
'Briefwechsel mit Demoiselle Lucius', hg. von F. A. Ebert, Leipzig 1823, 'Briefe an Fräulein
Erdrauth von Schoeufeld", Lpz. 1861, 'Briefe an die Fürstin Johanna Elisabeth von Anhalt-
Zerbst' in den Mitteil. d. Vereins f. anhält. Gesch. IV 1885 S. 268 fgg. 18) Spater
hat Lavater eine sehnliche Stellung als allgemeiner Beichtvater t>ingenommen. 19) Fried-
rich, der ihn le plus raisonnable des savants Alhniands nannte, widmete ihm spgeter die
390 NEUIIOCJI DEUTSCHE ZEIT. XVIII JAIIIUr. § 151
aber regte sich in dem jungen Gu'thc die Kritik vor iilleni gegen die he-
schriinkto Auffassung, wclclie Geliert der inzwisclion fortgeschrittenen Poesie
gegenüber bemerken liess;'-° und die Briefe über den Wert einiger deutscher
Dichter' nannten"^' ihn einen mittelmu'ssigen Dichter ohne einen Funken von
Genie". Den eigentündichcn Verdiensten Gellerts ward Gopthe jedoch gerecht,
indem er seine Schriften für ihre Zeit das Fundament der deutschen sitt-
lichen Kultur' nannte.^-
Geliert am nächsten stand Gottlieij Wilhklm Rauenkr^^' (geb. 1717
zu Wachau bei Leipzig), nur dass er die lächerlichen Fehler des Mittel-
standes noch schärfer und scherzhafter, als jener es in Fabeln und Lustspielen
gethan, darzustellen wusstc. Seine fast durchaus in Prosa '^* geschriebenen
Satiren, welche gesammelt zuerst 1751 — 1755 (IV Bde) erschienen, setzte
er spa?ter nicht fort, da er bemerkte dass man seine stets allgemein gehalte-
nen Schilderungen auf bestimmte Personen zu deuten suchte.'^^ Auch scheute
er sich in Dresden, wo er seit 1753 lebte und als Obersteuerrat 1771 starb,
bei Hofe irgend wie Anstoss zu erregen; Liscows Beispiel (§ 148, 70) konnte
ihn warnen. 2^ Wurde ihm doch sogar verdacht dass er in einem ohne sein
Wissen zum Druck gebrachten Briefe über die Beschiessung Dresdens 1700,
nicht nur gleichmütig den Verlust seines Hauses und seiner Schriftstücke be-
richtet, sondern auch törichte Äusserungen der Furcht und Wut seiner Um-
gebung mitgeteilt hatte.'-" Benimmt diese notgedrungene Vorsicht Rabeners
seinen Satiren den dramatischen Reiz der Liskowschen, so gewinnt dafür die
Redlichkeit seiner Absichten, seine Abneigung gegen Pedanterie und Stutzer-
tum, sein Abscheu gegen junkerliche Brutalität, gegen Heuchelei und Feig-
heit^* um so reinere Zustimmung. Darin trifft er zu seinem Schaden mit
ursprünglich an Gottsched gerichteten Verse (§ 148, 10). 20) Frankfurter Gelehrte
Anzeigen 1772. Dichtung und Wahrheit II, Buch VI u. VII. 21) § 140, 42. Bereits
Ahbt in den Lit.-briefen tadelte Gellerts Breite und Tändelei. 22) Dichtung u. Wahr-
heit II. VII Buch. In Osterreich waren Gellerts Gedichte von der Biichercensur ausgenommen.
Vgl. auch Abhts Zeugnis LB. 3, 347 fgg. 23) Vgl. G. W. Rabeners Briefe, von ihm
selbst gesammelt und nach seinem Tode, nebst einer Nachricht von seinem Leben u. Schriften
hg. V. C. F. Weisse, Lpz. 1772. 24) In Versen ist nur ein 1737 verfasster, ironischer
'Beweis dass die Keime in der deutschen Dichtkunst unentbehrlich sind': znerst in den
Belustigungen des Verstandes u. Witzes, 1741. erschienen. Von einem fast vollendeten
Lustspiel der Treygeist' spricht Weisse a. a. 0. XLV. 25) Dieses Bemühen widerlegte
er dadurch, dass er für einzelne seiner satirischen Portrats 3Iartial, Crebillon u. a. als
Quelle nachwies. Auch Swift u. Holberg benutzte er. 26) Beide sind oit verglichen
und in ihrem Wertverhältnis sehr verschieden beurteilt worden: s. zuletzt P. Richter. R.
u. L. Progr. Dresden 1884. 27) LB. 3. 67 fgg. 28) LB. 3, 47 fgg.
§ 151 RABENER. ZACHARIÄ. 391
Liscow überein dass auch er beständig ironisch spricht, beständig das Tadelns-
werte lobt:-'-' bei allem Wechsel der Einkleidung, bei der oft wahrhaft drolli-
gen Wendung seiner Einfalle ermüdet er doch auf die Dauer ebenso wie
jener.
Ging der Spott bei Raboner und noch mehr bei Geliert aus einer tieferen,
sittlichen Grundstimmung hervor und suchte er bessernd einzuwirken, so wollte
ihr Freund Jr.sT Friedrich Wjlhelm Zaciiari.e, wenigstens in seinem Haupt-
werke, nur scherzen, nur unterhalten. Geboren^'' zu Frankenhausen in
Nordthüringen 1726, kam er 1748 als Professor am Carolinum nach Braun-
schweig und starb hier 1771. Er trat hervor^' mit einem glücklichen Wurfe,
den er nicht wieder erreichte, der ihm aber bis in unsere Tage Leser ver-
schafft hat. Sein komisches Heldengedicht 'Der Renommiste', 1744, stellte
das rohe Studentcnleben , wie es in Jena, und das stutzerhafte, wie es in
Leipzig herschte, in scharfem Gegensatze dar: und nicht nur der Ton dieser
Kreise, worin jugendliche Freiheit nach entgegengesetzten Richtungen hin
abenteuerlich ausschweifte, war glücklich getroffen; auch die eigentümliche
Zierlichkeit dieser Dichtungsgattung hatte der junge Dichter vortrefflich durch-
geführt, die Parodie des echten Epos, die Erfindung einer scheinbar alles
lenkenden burlesken Götterwelt. Den xVlexandriner , der so gut zu dem
barocken Inhalt passte, hat Zacharise in spaäteren Gedichten sehnlicher Art^-
meist gegen einen lässigen Hexameter umgetauscht; einseitig wendet er sich
hier gegen die Thorheiten der Modewelt allein und hält sich noch na?her an
sein Yorbild Pope. Nur gelegentlich flicht er Züge aus der deutschen Sage
ein,^^ wie er auch Stoffe daraus im scherzhaften Romanzenton ^* behandelt
und 'Fabeln und Erzsehlungen in B. Waldis Manier gedichtet hat. Be-
ziehungen auf die gleichzeitige deutsche Dichtung beleben sogar einen Teil
29) Vgl. Goethes Urteil D. u. W. II, VII. .30) Leben von J. J. Eschenburg in 'Zachariaes
Hinterlassenen Schriften'. Braunschweii; 1781. Vorher waren Zacharites 'Poetische Schriften'.
Braunschweig 1772, erschienen. Vgl. H. Zimmer, J. F. W. Zacharise und sein Renommist,
Leipzig 1892. 31) In den Belustigungen zum Vergnügen des Verstandes und Witzes
1744. 32) 'Verwandlungen, Das Schnupftuch, Der Phaeton' u. a. zuerst erschienen
in 'Scherzhafte epische Poesien nebst einigen Oden und Liedern' Braunschweig u. Hildes-
heim (1751). Spalter: 'Murner in der Hölle' 17.57 u. a. 33) Der Kiffhäuser (in den
Verwandlungen), Die Wassernixe, die ihr goldenes Haar kämmt (Phaetonl Auch auf das
Volksspiel von Faust nimmt er mehrmals Bezug. 34) 'Zwey schoene Neue Mtehr-
lein als I. Von der schoenen Melusinen: einer Meerfey. II Von einer untreuen Braut
die der Teufel hohlen sollen'. Leipzig 1772. — Die Fabeln nach B. Waldis, (§ 99, 36)
erschienen anonjTn 1771. 1777 von Eschenburg wiederholt. Sie verkürzen besonders die
392 NEUlIOCIIDErTSClIE ZEIT. XYIIT JATIKTI. § ini
seiner ernsten, beschreibenden (ledichtc;^'' und so feiern die Oden und
Lieder", meist nacli ]Ioraz oder in der Weise der franzcrsisclien 2>etlte j)oesie
behandelt, mit Vorliebe den Kreis seiner Freunde.
Von diesen Leipziger Studienfreunden waren noch mehrere nach Braun-
.schwciir übersresiedelt: als Lehrer am Carolinum auch Johann Arnolu Ehkkt
(gest. 171)5), der zu Jlaiuburg 1723 geboren ,^*^ früh den Beifall Hagedorns
erworben hatte und eine vorzügliche Kenntnis der fremden Litteraturcn, be-
sonders der englischen besass. Glovers 'Leonidas' führte er 1749 und Youngs
'Klagen oder Nachtgedanken über Leben, Tod und Unsterblichkeit' 1751 in
die deutsche Litteratur ein. Seine eigenen Gedichte, ^^ hauptsächlich Episteln
empfehlen Lebensgenuss und Fröhlichkeit.^"
Nur vorübergelicud wirkte Nicolau« Dietrich Giseke in Braunschweig:
aus Günz^^ in Niederungarn gebürtig, ebenfalls in Hamburg erzogen, starb
er, noch nicht 41 Jahre alt, als Superintendent zu Sondershausen 1765. Seine
formgewandten Gedichte sind von seinem Schwager Gärtner, 17(>7, heraus-
gegeben worden.*''
Einen glänzenderen Wirkungskreis fand Johann Andreas Gramer, geb.
1723 zu Jadistffidt im Erzgebirge, indem er von Klopstock empfohlen, 1754
als Oberhofprediger nach Kopenhagen kam; 1771 von Struensee verbannt,
ward er Kanzler der Universittet Kiel und starb hier 1786.*' Schon früh
war er als Herausgeber von moralischen Wochenschriften*- tha.'tig; als geist-
licher Liederdichter*^ verband er Leichtigkeit und Schwung.
Ihm und den andern deutschen Dichtern, welche in Kopenhagen Gunst
und Lebensstellung fanden, war hier ein Freund vorausgegangen, der über
weitlaeufigen Nutzanwpnduns^en des alten Fabulisten. 35) Die Tageszeiten', Rostork
175.5. Von geringstpm Werte sind die an Milton (dessen ver!. Paradies Z. auch übersetzt
hat, 1760) sich anlehnenden geistlichen Epen: Schöpfung der Hölle 1760 u. a. 36) Lebens-
beschreibung von J. J. Eschenburg im 11 Theil von 'J. A. Eberts Episteln und vermischte
Gedichte', Hamburg 1711."). 37) Über seine Sonette s. § 142, 112. 38) Durch eine
Serenate das Vergnügen' hatte er 1743 die Censur des hamburgischen Kirchenrates sich
zugezogen und deshalb das Studium der Theologie aufgegeben. 39) Bei Steinamanger.
40) Des Herrn N. D. Giseke Poetische Werke, Braunschweig 1767. 41) Gedächtnisrede
von W. E. Christiani, Kiel 1788. 42) An den 'Bemühungen zur Beförderung der
Kritik und des guten Geschmackes' Halle 174.'J— 47 arbeitete er mit Mylius zusammen
(§ 148, 68); mit den andern Beitrsgeru verbunden besorgte er die Zeitschriften Der Schutz-
geist', Hamburg 1746; 'Der Jüngling'. Leipzig 1747 (s. oben Anm. 4). Eine spaetere Unter-
nehmung Cramers 'Der Nordische Aufseher', Kopenhagen u. Leipzig 1758 — 61 verfiel der
Kritik Lessings: Literaturbricfe 48—51. 102—112. § 140, 36. 43) 'Neue geistliche
Oden und Lieder', Lübeck 1766—75. Sämtliche Gedichte", Lpz. 1782—83: 'Hinterlassene
§ 151 J. E. SCHLEGEL. 393
die übrigen Bremer Beitra?ger durch seine Leistungen und noch mehr durch
die von ihm erregten Hoffnungen hinausragte, aber von einem frühen Tod
hinweggerafft wurde. Johann Elias Schlegel, zu Meissen 1719 geboren,"
hatte 1733 — 39 in Schulpforta seine Vorbildung empfangen, hierauf in Leipzig
die Rechte studiert; 1743 als Sekretaer des sächsischen Gesandten nach Kopen-
hagen gekommen, starb er 1749 als Professor an der Ritterakademie zu
Soröe.^^ In Leipzig hatte er an Gottscheds Übungen Teil genommen und
seine ersten Arbeiten in dessen 'Critischen Beytraegen' und 'Schaubühne' ver-
öffentlicht.^" Aber frühzeitig machte sich die Selbständigkeit Schlegels ^'^
geltend , und mit seiner Beteiligung an den Bremer Beytra^gen loeste sich
das Verhältnis zu Gottsched, wenn er auch gegen seinen ehemaligen Lehrer
nicht feindlich auftreten mochte.*^ In Hamburg hatte er 1743 sich mit
Hagedorn*^ innig befreundet und durch diesen 1745 auch mit Bodmer'° Ver-
bindungen angeknüpft. In Dsenemark nahm er den Lustspieldichter Holberg
dadurch für sich ein, dass er dsenische Sitte und Geschichte eifrig studierte
und seine Bemerkungen in einer Wochenschrift 'Der Fremde' 1745 und 46
niederlegte. Doch weder in dieser Art der Schriftstellerei noch in seineu
lyrischen oder epischen Gedichten liegt sein besonderes Verdienst: in den
Oden tritt Hallers Einfluss zu sehr hervor, in der Erzsehlung der Hagedorns,
Gedichte' hg. v. C. F. Gramer, Lpz. 1791. 44) lu J. E. Schlegels Leben, welches seia
Bruder Johann Heinrich als Herausgeber seiner 'Werke' V, Kopenhagen u. Leipzig 1761 bis
1770 uö., dem letzten Teil vorausgeschickt hat, ist irrig 1718 als Geburtsjahr angegeben.
Das genaue Datum, 17. Jan. 1719, ist festgestellt worden von Seeliger, Mitteil. d. Vereins
f. Gesch. der Stadt Meissen, 1888 S. 153. 45) Eugen Wolff, J. E. Schlegel, Berlin 1889.
46) In Schaubühne IV (174:3): Herrmann, Der geschäftige Müssiggänger; V (1744): Dido.
Eine Übersetzung der Electra von Sophocles, welche Schlegel zu einer von Gottsched
geplanten Übersetzung von Aristoteles Poetik hatte beisteuern wollen, veröffentlichte er
spseter selbst in seinen Theatral. Werken 1747. 47) In einer Ode 'Über den Missbrauch
der Dichtkunst', die Schlegel auf Anlass von Jlauvillons Briefen (§ 1.39, 21) an Gottsched
richtete und dieser in die 'Belustigungen' Bd 2, 106 aufnehmen liess, rühmte Schlegel auch
Addison u. Milton; Gottsched unterdrückte diese Strophen, welche erst in den Werken 5,
177 erschienen. 48) Über diese Beziehungen Schlegels zu Gottsched s. bes. Job. Rentsch,
J. E. Schlegel als Trauerspieldichter, Erlanger Diss.. Lpz. 1890. Schlegels Briefe an Gott-
sched hat Seeligef a. a. 0. vollständig abgedruckt. Gleich unrichtig haben die Brüder von
E. Schlegel spseter sein Verhältnis zu Gottsched allzu wenig anerkannt wie andererseits
Gottsched, gereizt durch das jenem gespendete Lob, er habe zuerst das Drama bei uns auf
einen bessern Stand gebracht, seinen eigenen Einfluss weit übertrieb: Neuestes aus der
anmutigen Gelehrsamkeit 1761; s. Rentsch S. 31. 49) Schlegels Briefe in Hagedorns
Werken V 284 fgg. 50) S. Crueger, Arch. f. Lit.-gesch. XII, 48 fgg.
394 NEUIIOCHDEUTSCllE ZEIT. XVIII JAIIUH. § 151
und mehrere iiU/u freie Gedichte inicli Lafontaines Muster hat er, wie es
scheint, ohne seinen Namen veröffentlichen hissen;-'' das epische Gedicht
Heinrich der Lanvc* vollendete er nicht. Vielmehr wandte er, und von
früh an, seine beste Kraft der Schauspieldichtung zu. Auch ihm galt das
rcgclnuessigc Drama der Franzosen als Muster; aber vor seinem Lehrer
Gottsched hatte er nicht nur eine freiere und beständig vertiefte Einsicht in
die dramatische Kunst voraus, sondern auch eine wirkliche dichterische Be-
gabung. Schon als Schüler hatte er sich eine selbständige Kenntnis der
griechischen Tragiker erworben, wie Gottsched sie nie besessen hat; er schrieb
schon damals Tragcedien, welche durch die Neuberin auf die Bühne gebracht
wurden. In den 'Trojancrinnen" verband er die gleichnamigen Tragödien
des Euripides und Seneca mit des ersteren Ilccuba.^"^ Li Orest und Py-
ladcs' (früher Die Geschwister in Taurien' genannt) passtc er die euri|ti-
deischc Iphigenic den Anforderungen des franzrcsischcn Theaters an,''^ mit
besonderer Hervorhebung des Freundschaftsbundes, welcher in dem Wunsche
eines jeden der beiden Helden zu sterben, um den andern zu retten, seinen
hoDchsten Ausdruck findet. Seiner 'Dido' legte Schlegel ein franzcrsisches
Trauerspiel zu Grunde, verbesserte aber diese Bearbeitung wie seine anderen
Stücke wiederholt.
Selbständig, auch darin dass er einen Gegenstand aus der deutschen Ge-
schichte wa^hlte, verfasste Schlegel sein Trauerspiel llerrmanu . Er arbeitete
nach den alten Quellen über die Varusschlacht, die er für sein Drama zu-
sammenstellte.^* Aber freilich die franzocsische Form machte ihm grosse und
nicht überwundene Schwierigkeiten: sie veranlasste ihn die Ereignisse zu-
51) In (lern von seinem Bruder Joh. Adolf ebenfalls anonym herausgegebenen 'Buch ohne Titel"
[Hamburg] 1746: s. Wolff in der Vierteljahrsschrift f. Litt.-gesch. IV, 384 fgg. Groesstenteils
noch nicht veröffentlicht sind die von Schlegel an seine spatere Gattin gerichteten Liebes-
lieder, worüber Wolff in der Biographie (Anm. 4.'i) S. 140 fgg. spricht. 52) So nannte Rchlegel
auch sein Stück zuerst. 58) Um die Monologe und Chorscenen zu vermeiden führt
er eine Vertraute der Priesterin ein und ersetzt den deus ex machina durch einen Orakel-
spruch, der zuletzt die Griechen vor dem Opfertode rettet, nachdem Thoas, an einer AVunde
sterbend und in "Wut gegen die Götter ausbrechend, einem menschlicheren Nachfolger seine
Stelle hat überlassen müssen. Da Iphigenie nur allmsehlich ihren Bruder erkennen soll,
lässt Schlegel ilie beiden Freunde sich anfänglich für Troer ausgeben, weil jeder Grieche
dem Opfertod verfallen ist: ohne diese Begründung ist die anfängliche Nennung falscher
Namen in Gcethes Iphisjenie übergegangen, was (iottfried Hermann in der Vorrede zu
seiner Ausgabe der euripideischen Iphigenie (Lips. 1883 p. XXIV) mit Kecht getadelt hat.
54) Diese Übersetzungen sind abgedruckt in den "Werken 1, 29U fgg.
§ 151 J. E. 8CIILEGEL8 DRAMEN. 395
sammcnzudrängen und dem Zuschauer Gespraiche vorzuführen, wahrend die
Handlung, der Kampf, hinter der 8cene vor sich geht; sie verführte ihn zur
Anbringung einer gerade hier unpassenden Zärtlichkeit des roemerfreundhchen
Fiavius für Tlmsnelda. Immerhin entsprach die gehobene Ausdrucksweise,
welche auch zu zahlreichen allgemeinen Aussprüclien'*-' Gelegenlieit bot,
der vaterländischen Gesinnung der Zeit. Der politische Egoismus, im ver-
raeterischen Segestes gebrandmarkt ,^'' ist von Schlegel noch von anderer
Seite her geschildert worden im Canut', worin ^^ er aus der dänischen Vor-
zeit einen Character (Ulfo) vorführte , dessen gewissenlose Herschsucht nur
mit Shakespeares Richard III verglichen werden kann. Ein verwandtes Stück
'Gothrika' büeb unvollendet, ebenso eine Lucretia' und Die Braut in Trauer'
nach dem Englischen von Congreve : dies letztgenannte Fragment bleibt des-
halb merkwürdig, weil Schlegel darin von den sonst gebrauchten Alexandri-
nern zu den englischen reimlosen, bei ihm abwechselnd stumpf und klingend
ausgehenden Fünffüsslern überging (§ 142, 49) und sofort eine weit freiere,
natürlichere Ausdrucksweise gewann.^- So hatte er auch im Lustspiel durch
den Gebrauch reimloser Alexandriner mit weiblicher Ca^sur ein neues, be-
quemeres Yersmass versuchen wollen.^'* Allein die von ihm selbst veröffent-
lichten Lustspiele sind fast alle nach Gottscheds Vorschrift in Prosa abgefasst:
'Der geschäfftige Müssiggäuger' (1741), eine Schilderung heimischer Zustände,
aber allzu niedrig, auch in den Redewendungen provinziell; 'Der Geheimnis-
volle' mit übertreibender Characteristik , beide mit Benutzung franzoesischer
Vorbilder,'^'' wobei Schlegel zwischen der derberen Komik Molieres und dem
Conversationsstück von Destouches u. a. einen Mittelweg zu gewinnen sucht;
beide auch mit jener Namengebung, welche von vornherein den Character
erraten lässt. 'Der Triumph der guten Frauen' führt ein von Steele ange-
55) Die epigrammatische Neigung, worin Schlegel sich mehr den (jriechen anschloss, tadelte
Gottsched; er lobte dagegen den nationalen Sinn des Stückes, welches man auch auf das
derzeitige Verhältnis Deutschlands gegen Frankreich deuten könnte. Doch fand Schlegels
'Herrmann' einen franza'sisi-hen Übersetzer, Bauvin. dessen 1761J <redruckter Anninius, oder
wie er das Stück 1772 nannte, Les Cherusquefi in Paris zur Aufführung kam: S(jpderhjelm
(Anm. 60) S. 103 Anm. 56) Ein Fürst hat weder Kind noch Vater": sagt Segest V 1.
57) Zuerst Kopenhagen 1746 erschienen, dann 1747 in den Theatralischen Werken, worin
auch der Geheimnisvolle, die Trojanerinnen und Electra, 58) S. Rentsch S. 89 fgg,
59) 'Die entführte Dose' 1741 aufgeführt; 'Die drei Philosophen', durch Keguards Democrite
augeregt; 'Der Gärtnerko^uig' (^Abdolonymus von Tyrus), worin Schlegel die Pauthea der
Gottschedin zu parodiereu gedachte. 60) Werner Sißderhjelm, Oin J. E. Schlegel, sär-
396 NElIIIOrirDEUTSCIlE ZEIT. WUT JATfRIT § 151
deutetes Tlioina ;ius: die leichtfortif^cii Sitten der englischen Gesellscliiift
jener Zeit ersdiienen freilich auf der deutschen Bühne anatcessig. Am meisten
gefiel Die stumme S(ho'nheit\ ein Einacter'*' in gewandten Alexandrinern,
deutschen oder dienischen Verhältnissen entsprechend , aber ebenfalls von
franzcpsischen Vorbildern beeinflusst.
Schritt somit Schlegel in seinen Dichtwerken /u immer gra^sserer Frei-
heit und Sicherheit vor, so zeigten seine Schriften über die Kunst ein Streben
nach Klarheit und Selbständigkeit, das ihm mit Lessing gemeinsam ist und
ihn manchen tiefen ICinblick vor allem in die Erfordernisse der Bühnen-
dichtung hat vorwegnehmen lassen; nur dass die ersten dieser Schriften,^-
srossenteils in Gottscheds Zeitschrift erschienen und meist unbeachtet blieben,
wa'hrend andere und besonders seine letzte: Gedanken zur Aufnahme des
dänischen Theaters' erst in den Werken' 1764 bekannt wurden. Schlegels
Untersuchungen gingen aus von der Verteidigung der Komoedie in Versen,*'^
welche ein anderer Schüler Gottscheds, Straube, nach der Lehre des Meisters
verworfen hatte, weil sie der Wahrscheinlichkeit widerspreche, indem sie das
gemeine Volk, aus welchem die Komtedie ihre Typen entnehme, in Versen
reden lasse. Schlegel zeigte grundsätzlich,"^ dass die Nacliahnmng, die das
Wesen der Kunst allerdings ausmache, zuweilen eine unheimliche sein dürfe,
ja sogar sein müsse, da sie durch das Mittel •"''' der Nachbildung bedingt sei :
dies Mittel sei für die Poesie eben der Vers. Eine vollkomrane Tteuschung
sei nie angenehm: stets müsse der Zuhoerer oder Zuschauer wissen dass er
in Gefahr stehe die Nachbildung für Wirklichkeit zu halten, doch dürfe er
dieser Gefahr nicht unterliegen.''*^ Darin liege das Vergnügen, welches Schlegel
für den Hauptzweck der Kunst zu erkk'ren wagt.''" Daher sei auch nicht
zu verlangen dass das Drama stets auf eine handgreifliche Sittenlehre aus-
skildt som Jnstspeldiktare. Helsingfors 1884. öl) Wie das vorgenannte Stück in den
"Beytriegen zum dienisoheu Theater' 1748 erschienen, worin auch 'die Langeweile', mit dessen
dienischer Übersetzung das neue Theater in Kopenhagen 1747 eröffnet worden war.
()'2) (tesammelt und untersucht von J. v. Antoniewicz: M. E. Schlegels aesthetische und
dramaturtrische Schriften', Heilbronn 1887 in Seufferts Deutsche Litt.-denkmseler 2fj. Seine
Vermutnnff dass Schlegel namentlich von franzcesischen Ästhetikern (Fraguier, Vatry u. a.)
beeinflusst sei, bestreitet jedoch Braitmaier. (Tcsch. d. ])0Ptischen Kritik u. Theorie S. 292 fgg.
Danach hätte Schlegel die Ansichten der Züricher Kunstrichter selbständig fortgebildet.
Vgl. noch Walzel Vierteijsch. 1. 212 fgg. 63) Gottscheds Grit. Beytr. VI (1740) § 142, 6.
Ü4) Bremer Beytr. I (174.5). (J5) Schlegel sagt: das Subject. 66) Einleuchtend
beruft er sich darauf dass Wahnsinn oder Tod auf der Bühne nie vollkommen naturgetreu
dargestellt werde: bei Antoniewicz S. 1(>3. 149. (j7) Ebd. bes. 135. Schlegel schliesst
§ 151 J. E. SCHLEGELS LEHRSCIIRIFTEN. 397
laufe.*"* Wohl aber übe das Theater Einfluss auf die Sitten einer Nation,
wie es umgekehrt von da aus seine Richtschnur empfange.*'^ Daher könne
auch das franzu^sische Theater nicht einfach als das Vorbild für das deutsche
gelten: es sei überdies nicht nur dem griechischen, sondern auch dem eng-
lischen gegenüber vielfach im Nachteil , indem es z. B. die Einheit der Zeit
und des Ortes ^° oft nur auf gezwungene Weise durchführe. Dagegen lobt
er allerdings an der franzoesischen Tragcedie die Würde und Reinheit der
Sprache:^' in diesem Botraclit hatte er schon früh Shakespeare getadelt,
von dem als erste Verdeutschung der Tod Caesars, übersetzt von Kaspar Wil-
helm von Borck, zu Berlin 1741 erschienen war.'^ Auch Ilolbergs Komosdie
ist ihm nur ein Anfang, von dem immer hoeher zu steigen wsere.^^ Diesen
Ansichten hat die sptetere Entwickelung des deutschen Theaters allerdings
entsprochen. Schlegels eigene Werke wirkten auf diese Entwickelung hin :
sie wurden noch bis 1770 hin immer wieder aufgeführt."*
Die ' Sorge um den litterarischen Ruhm ihres Bruders teilten Johann
Heinrich Schlegel (1724 — 80), welcher, zu EHas nach Kopenhagen über-
gesiedelt,'' selbständig .T. Thomsons Trauerspiele übersetzt hat,^'' und Johann
Adolf Schlegel (1721 — 1793), seit 1759 Prediger zu Hannover. Adolf
dichtete geistliche Gesänge, Fabeln und Erzsehlungen ; "' ganz besonders aber
machte ihn die aus Batteux übersetzte, aber durch zahlreiche Zusätze den
deutschen Verhältnissen angepasste 'Einschränkung der schoenen Künste auf
einen einzigen Grundsatz' (zuerst Leipzig 1751) bekannt; die Nachahmung
der schoenen Natur, als Grundsatz der Kunst bezeichnet, war ein Rückschritt
gegen die Lehren von Elias Schlegel, wogegen erst Herder"^ erfolgreich
eintrat.
sich hierin an Lamotte au. 68) Ebd. 202. 69) Ebd. 206. 70) Ironisch
schlagt er vor lieber unter das Verzeichnis der Personen zu setzen: Der Schauplatz ist auf
dem Theater: S. 223. 71) S. 178. 72) Autouiewicz LXXIII fgg. 78) S. 210.
74) Mit seinem Herrmanu wurde 17G(j das neue Leipziger Theater eingeweiht. Auch
Lessings Dramaturgie bezieht sich mehrmals auf Darstellungen .Schlegelscher Stücke.
75) Er war der nächste Schulfreund Lessiugs in S. Afra zu Meissen. 76) Leipzig 1758—64.
77) ErsteVe erschienen Leipzig 1766—1772: die Fabeln, von Gärtner herausgegeben, 1769:
Vermischte Gedichte. Hannover 1787. 89. Adolf Schlegel war eifritrer Mitarbeiter der
Bremer Bcytrage; scheinbar gegen diese, in Wahrheit aber gegen Gottsched richtete er
unter dem Pseudonym Nisus eine derb ironische Schrift 'Vom Natürlichen in Schiefer-
gedicht^n', welche Bodmer mit Anmerkungen unter dem Namen Hans Görge herausgab,
Zürich 1746; vgl. die § 143, 20 augeführte Arbeit von Netoliczka. Gleichzeitig liess Adolf
Schlegel ohne sich zu ueuueu das Buch ohne Titel' erscheinen: s. Aum. 51. 78) Allg. Dt.
398 NKU I loci r DEUTSCH F. ZEIT. XYJII .1 Allini. § 151
Wie Elias Sclilo<;cl war auch Ahuaham GorriiKi-K Käntn'kk mit den
iilton'ii Vertiisscrn der IJroiuer Boyfra'«::o botVuundet ; abor er bet»Mligte sich
nicht s('li)8t an dieser Zeitschrift, blieb vichnehr seinem Lehrer Gottschi'd
getreu und suchte dessen Andenken, wenn auch mit der notwendigen Ein-
schränkung, /u retten/'-' 171!) zu Leipzig geboren, lehrte er seit 1739 an
dieser Universitjet Mathematik, seit 1756 zu Göttingen, wo er 1800 starb.
Sein scharfer Verstand, sein rascher Witz machte ihn zum Epigrammatiker: '^
die Überschwänglichkeiten der Schweizer Dichter, spa^ter die der Sturm-
und Drangzeit verspottete er, bis endlich die Romantiker*" dem gefürchteten
Satiriker sich noch überlegen zeigten. Die Schlacht bei Rossbach gab ihm
eine reiche Fülle patriotischer Sinngedichte ein; zierliche Verse richtete er
au befreundete Damen, aber auch der schlüpfrige Scherz stand ihm an. Um
den unbefugten Sammlern entgegenzutreten gab er seine Vermischten Schrif-
ten' 1755 und 1772 heraus.**-
Noch ein sächsischer Dichter hielt zu Gottsched, ohne jedoch sein
Schüler gewesen zu sein. MAtixr.s Gottfuikü Liuhtwer geb. zu Würzen
1719, lebte 1749 — 1783 zu Halberstadt, seit 1752 als Regierungsrat. Seine
'Vier Bücher lesopischer Fabeln in gebundener Schreibart', zu Leipzig 1748
zuerst erschienen, wurden erst durch Gottscheds Lob 1751 bekannter, fanden
aber auch bei dessen Gegnern Beifall. Ramler veranstaltete 1761 eine aus-
erlesene und verbesserte' Ausgabe, welcher Lichtwer 1762 eine dritte ent-
gegenstellte.*^ Vergebhch suchte Gleim Lichtwers Verkehr. Lichtwers Fabeln
stellen sich durch einfache fassliche Moral, durch leichte, gefällige Form und
durch glückliche, schalkhafte Einfälle neben die Gellerts und haben sich zum
Teil mit diesen eine dauernde Beliebtheit erworben.^* Dagegen bietet sein
'Recht der Vernunft', ein Lehrgedicht, das er 1758 Friedrich II widmen
durfte, nur eine trockene Sittenlehre'*'' in Alexandrinern.
Bibl. XVI, 1, 17 fgg. Suphau V 278. 79) lu eiuem Vortrage vor der deutsebeu
Gesellschaft in Güttingen 1767. Die Aubünger Gottscheds, Sch<jeuaiih und Krüger hatte
er schon früh verurteilt uud Hallcr besonders verehrt. 80) LB. 2. l>23 fgg.
81) A. W. Schlegel (Böckiugs Ausgabe) 8, 42. LB. ;3, 109i>. 82) Zu Altenburg:
öfter wiederholt. Kästners 'Gesammelte poetische und prosaische scboen-wissenschattliche
Werke' erschienen Berlin 1841. IV; am Schluss eine Biographie meist nach seinen
eigenen Angaben. 83) Gesamtausgabe: .M. G. Lichtwers Schriften hg. von seinem
Enkel E. L. M. von Pott. Mit einer Vorrede und Biographie Lichtwers von K. €ramer.
Halberstadt 1828. 84) LB. 2. 7!)1 fgg. 85) Vgl. übrigens Herders Humaui-
taetsbrief 33.
§ 152 KÄSTNER, LICHTWER. KLOPSTOCK. 399
§ 152.
In den 'Bremer Beytraegen' des J. 1748 erschienen die drei ersten
Gesänge des Messias von Kiopstock, und damit begann eine neue Blütezeit
der deutschen Dichtung. Hier war die Forderung der Schweizer Kunstrichter
erfüllt: wahre Begeisterung, innerer Drang hatte den Dichter ergriffen und
geleitet. Die hoechste Aufgabe, welche sich die Zeit denken konnte, war mit
kühnem Mut und mit voller Hingabe zu loesen unternommen worden. Die
Religion sollte den Gegenstand des Gedichtes bilden und ihm eine hehre
Würde verleihn , zugleich aber auch selbst einen neuen Schmuck , ja eine
neue Kraft von ihrer dichterischen Verherrlichung em})fiiugen. Und eben
dieser Dichter, welcher sein episches Gedicht der Religion widmete, pries mit
der gleichen Innigkeit und Stärke des Gefühls als Lyriker das Vaterland,
die Freundschaft, die Liebe. Ein jugendlicher Hauch durchdrang von da
aus die Litteratur und gab ihr zu immer neuem Fortschreiten Lust und Kraft.
Von dieser Jugendlichkeit blieb vor allen andern der Dichter selbst erfüllt:
er sah sich als einen geweihten Sänger an, der es wagen durfte die Unter-
schiede des Standes ausser Acht zu lassen und sich dem Staatsmann, dem
Fürsten gleich zu setzen. Unbekümmert um der Menschen Reden hat er
auch in seinem Privatleben sich stets und überall volle Freiheit und Würde
zu wahren gewusst.
Friedrich Gottlieb Klopstock ' war am 2. Juli 1724 zu Quedlinburg
geboren, hatte nach einer in glücklicher Freiheit, grossenteils auf dem Lande
verlebten Knabenzeit die Schule zu Pforta 1739 — 45 besucht und hier schon
den Plan zu seiner Dichtung gefasst, auf welche er in seiner Abschiedsrede-
§ L)2. 1) Reiche Mitteilungen zur Lebensgeschichte, die er ■/.. T. von Kiopstock selbst
erhalten, gab der schwärmerische Sohn ,J. A. Craraers (§ 151. 41 fgg.l. Karl Friedrich
Gramer in 'Kiopstock. In Fragmenten aus Briefen von Tellow an Elisa". II. Hamburg
1777. 78; und chronologisch geordnet als Erlieuteruug zu Klopstocks Schriften bis 1757
in 'Kiopstock. Er; und über ihn'. V. Hamburg 1780 — 92. Vgl. die schoene Schilderung
von Sturz LB. ?). 750 fgg. Von den neueren Arbeiten ist ausser dem besonders bibliogra-
phisch wertvollen Artikel von Cropp im 'Lexikon der hamburgischen Schriftsteller bis zur
Gegenwart IV* (186^3) noch D. F. Strauss, 'Klopstocks Jugendgeschichte' (bis 1751) in 'Kleine
Schriften. Neue Folge', Berlin 1865. und Erich Sdimidt in 'Characteristiken', Berlin 1886
S. 119 fgg.; endlich als zusammenfassend hervorzuheben: Franz Muncker 'F. (i. Kiopstock.
Geschichte seines Lebens u. seiner Schriften'. Stuttgart 1888. Ein Teil von Klopstocks
Briefwechsel ist aus Gleims Xachlass hg. worden v. Klamer Schmidt, 'Kiopstock u. seine
Freunde' Halberstadt 1810: ein anderer von J. M. Lappenberg 'Briefe von u. an Kiopstock".
Braunschweig 1867, wo auch noch sonstige Sammlungen verzeichnet sind. 2) TJeclumatio
Wackernagel, Lilter. Geschichte. II. '11
400 NEUIlOCnnEUTSCirE ZEIT. XVIII JAIIKII. § 152
verständlich gonug hinwies. Ein Semester in Jena, dann von Ostern 174(5
ab in lieipzig Theologie studierend, kam er in Verbindung mit jenem Freundes-
kreis der Bremer Beytneger, den er in mehreren Odeu begeistert feierte.
Zu Ostern 1748 trat er in Langensalza bei Verwandten eine Ilauslehrerstelle
an, in der Nadie einer geliebten Cousine, Marie Sophie Schmidt; doch ge-
wannen ihm seine Lieder an Fanny' oder 'Cidli', wie er sie nannte, ihre
Jiicbe nicht. Da füiirte ihn eine Eiidadung Bodmers im Juli 1750 nach
Zürich. Aber der lebensfrohe Jüngling^ entsprach den strengen Anforderungen
Bodmers wenig, und so schied er bald aus dessen Hause. Im Frühjahr
1751 siedelte er nach Kopenhagen über, wo ihm der Minister Graf Bernstorff
eine Pension von dem edlen Kcenige Friedrich V erwirkt hatte. Unterwegs
hatte er in Hamburg seine spaetere Gemahlin Meta (Margareta Moller) kennen
gelernt, mit welcher er 1754 bis 1758 in der glücklichsten GeistesgemRin-
schaft lebte. Auch sie feierte er als Cidli oder als Clarissa, und regte sie
zu eigener Dichtung^ an. Nach ihrem frühen Tode lebte er eine Zeit lang
in tler Heimat und bei den Freunden in Halberstadt und Braunschweig.
Doch iiuch in Kopenhagen sammelte sich ein Kreis deutscher Freunde um
ihn, die /.. T. seine Verwendung beim KaMiige dahin gezogen hatte. Fried-
rich V starb jedoch 1700 uud Graf Bernstorff ward durch Struensee, den
verwegenen (Jünstling Christians VH, gestürzt. Klopstock begleitete ihn nach
Hamburg, das er nur noch auf kurze Zeit verliess. Er verweilte von Sep-
tember 1774 bis März 1775 am Hofe-' zu Karlsruhe, bei dem trettiichen Mark-
grafen Karl Friedrich von Baden,'' nachdem er in Göttingen den Hainbund
(§ 158, 44), in Frankfurt Goethe aufgesucht hatte. Mit diesem entzweite er
sich jedoch für immer, indem er, auf übertreibende Gerüchte hin, ihn er-
mahnte den jungen Herzog von Weimar, der Goethe inzwischen zu sich be-
rufen hatte, nicht zu Ausschweifungen zu verleiten. Um so mehr beherrschte
er die Geister in seiner Umgebung, in Hamburg und Holstein, Seit 1791
mit einer Nichte Metas verma^hlt, verlebte er auch seine letzten Jahre in be-
qua poetus epopoeite nuctore-t recenset F. G. KI. lateinisch bei Gramer Kl. 1, 99 {gg., deutsch
ebd. 54 fgg. 3) Nach einer Fahrt mit Altersgenossen beiderlei Geschlechts am 30. Juli
17.'»0 entstand Klopstucks Ode 'Der Zürichersee'. Vgl. bes. U. Mterikofer. Klopstock in Zürich
1700 — 51, Z. u. Frauenfeld 1851. 4) liinterlassene Werke von Margareta Klopstock
hg. V. F. G. Kl. Hanibnrg 1751). 5) F^twas spieter wünschte der karkölnische Minister
V. Fürsteuberg seine Mithilfe bei der neuen Einrichtung der Schulen im Bistum Münster:
aui h der Fürst von Dessau wandte sich /u gleichem Zwecke an Klopstock. (J) Der ergötz-
liche Bericht des Wit-liindianers F. D. King über diesen Aufeutlialt ist voUstäudig in Erich
§ 152 KLOPSTOCKS LEBEN. • 401
haglicher GeseUigkeit. Noch einmal entflammte die franzoesische Revolution
seine kühnsten Hoffnungen auf ein neues, freies Zeitalter;" erst die Greuel-
thaten des J. 1793 wandelten seine überschwänglichen Lobpreisungen in ein
ebenso heftiges und doch kraftloses Schelten.'^ Als er am 14. März 1803
starb, bereitete ihm Hamburg ein wahrhaft fürstliches Leichenbegängnis® und
es erneuerte sich so noch einmal die Anerkennung, die er bei seinem ersten
Hervortreten gefunden hatte.
Allerdings ohne Kampf hatte er auch diese nicht errungen. Hagedorn
hatte den in der Handschrift ihm übersandten Anfang des Messias ^" nur mit
Bedenken gebilligt; erst Bodmer, der auf Klopstock Miitons Geist ruhen
sah, riss durch seine stürmische Verherrlichung auch die jungen Freunde des
Dichters mit sich fort. Bodmer regte auch Andere zu empfehlender Be-
sprechung der neuen Erscheinung an: G. F. Meier (§ 150, 5) setzte in einem
Auszuge mehr die poetischen Schoßnheiten des Gedichtes auseinander, wteh-
rend J, G, Hess, Prediger zu Altstetten bei Zürich die gegen Klopstocks
Rechtglffiubigkeit erhobenen Anklagen widerlegte.^' Dagegen verfolgten Gott-
sched und sein Anhang die Messiade mit den heftigsten und gehässigsten
Streitsclu-iften, durchaus vergeblich freilich, wie die ihr entgegengesetzten Epen
der eigenen Schule nur dem allgemeinen Gelächter verfielen (§ 148, 59 fgg.).
Die Jugend, vor allem soweit sie dem Dichter selbst nahe kam, schloss sich
ihm mit Begeisterung an. Die angesehensten Gelehrten, Haller, Jerusalem
in Braunschweig, der Hofprediger Sack in Berlin, bemühten sich für den
Dichter eine passende Lebensstellung zu finden, bis die Gunst des Koenigs
von Daenemark ihn auch über die Angriffe der von ihm stets verachteten
Kritik hinausführte. Mit einer Ode an Friedrich Y '^ leitete daher auch der
Dichter die neue, bis zum fünften Gesänge weitergeführte Ausgabe ein, welche
Schmidt Chaiacteristikea S. 160 fgg. zu findeu. 7) In der Einleitung zur Constitution,
von den Rechten des Meuschen' sah er 'viel praktisches Christentum glänzen': Briefe
bei Lappenberg 8. 342. Brutus war für Kh)pstock von jeher ein V'orbild. 8) Die Auf-
forderung Lavaters sein 1792 erhaltenes franzo^sisches Bürgerrecht zurückzugeben nahm er
jedoch sehr übel auf: Br. bei Lappenberg 347 fgg. 9) Neben Meta wurde er zu Ottensen
begraben: vgl. Rückerts Gedicht Die Grober zu Ottensen', LB. 2, 1574. 10) Neudruck der
drei ersten Gesäuge, wie sie 1748 erschienen, durch F. Muncker in Seufterts Litt.-denkm. 11
(Heilbronn 1883). 11) 'Zufällige Gedauken über das lleldeugedicht der Messias. Ver-
anlasset durch Herrn G. F. Meiers . . Beurteilung dieses Heldengedichtes'. Zürich 1749.
Ganz besonders verdachte man den Freunden Klopstocks dass sie von seinem 'schöpferi-
schen' Geist sprachen, Wiehreud sie doch nur die hübhnische Frage der franzifsischeu Kritiker
nach einem esprit createur bei den Deutschen beantworten wollten. 12) LB. 2, 854.
402 NEUIIOCIIDEUTSCIIE ZEIT. XVFII JAHIMI. 8 ^-'^
'/u Hallo 1751 erschien.'-' Lang.s!un schritt das Werk weiter, dessen Phni
schon frühe feststand und dessen einzelne Teile '* der Dichter je nach gün-
stiger Stimmung ausarbeitete. 1755 lagen die ersten zehn Gesänge vor;''
1768 folgton die na^chsten fünf;"' die fünf letzten'* 177:i: mit einer Schluss-
ode 'an den Erlo'ser' sprach der Dichter seinen Dank dafür aus dass er das
grosse Werk hatte vollenden können. Klopstock hatte inzwischen auch
die ersten Teile beständig der Foilo unterzogen,"' wobei er zugleich seine
strenger gewordenen formellen Grundsätze durchführen und dem kirchlichen
Lehrbofritte sich immer mehr anschliessen wollte. Über diese beiden An-
forderungen Hess er sich auch in Abhandlungen aus, welche die spjeteren
liände begleiteten: 1705 Von der heiligen Poesie'' und 'Von der Nachahmung
des griechischen Sylbeumasses', 1708 Vom deutschen Hexameter', 1773 'Vom
gleichen Verse" und Vom Sylbenmasse'. Mit Überzeugung betonte er dass
die Keligion durch sein Gedicht gewinnen werde,"' und dies war auch die
Auffassung seiner Zeitgenossen: bis in die Nonnenkloster Oberdoutscldands
brachte der 'Messias' deutsche Poesie,-" und Übersetzimgen in die meisten
europrt'ischen Sprachen suchten gerade seine religia^se Wirkung noch zu ver-
breiten. Darüber wurden die künstlerischeu Mängel des Werkes übersehn.
In der That war schon der Stoff für ein Epos wenig geeignet: nicht eine
Sage der Urzeit, sondern ein geschichtlicher Vorgang, aber so wie ihn das
Dogma der Kirche auffasste, sollte besungen werden. Hatten die Messiaden
der Karolingerzeif^' Leben und Lehre Christi behandelt und hier zu epischen
13) Vgl. Lessings Anzeigen: bei Lacliiu. Maitzahu 3, 21c? und 312 tgg. 14) Das ileui
Schluss ani'ehiüriore Weltiiericht hatte «ler Dichter schon 1752 gros«enteils vollendet:
Briefe bei Klamer Schmidt 349. 15) Kopenhagen, in einer Prachtaungabe aut
Kosten des Krenigs. 16) Kbenfalls Kopenhagen. 17) Zu Halle. Von dem
ganzen Messias', Altona 1780, veranstaltete Klopstock mehrere Ausgaben, und ebenso
erschienen in mehreren gleichzeitigen Ausgaben 'Klojistocks Werke', XII, Leipzig 1798 — 1817:
1823—1826. Dazu tügten A. 1-,. Back und A. K. C. Spindler 'Klopstock» »ämtliche
sprachwissenschaftliche und jesthetische Schriften' . . VI. Lpz. 1830. Neuerdings »ind ver-
schiedene Ausgaben uiehr oder weniger vollständig oder mit Beigaben besorgt worden:
von ßoxberger. Berlin bei Hempel: von Hamel in Kürschner» Xat.-bibl. 46 — 48. 18) Vgl.
namentlich Richard Hamel, Klopstockstudien. Hl. Rostock 1879 — 80. 19) An Bodmer
1750 schreibt er: 'der Messias in moralischen Absichten, welches seine vornehjiisten sind":
Briefe bei Lappenberg S. 261. 20) Briefe bei Lappenberg S. 161. 299. Vgl. auch
Weissens Selbstbioicraphie S. 191. 21) Klopstock lernte diese allerdings kennen uml
gedachte den Heljand selbst herauszugeben: Briefe bei Lappenberg 208. An »ich steht er
Otfried nseher. an welchen seine Liebhaberei für gewisse Zahlen, seine Aufziehlnng himmlischer
Musikinstrumente u. a. erinnern: allerdinsrs schweben beiden Dichtern die classisdien Muster
§ 152 DEK MESSIAS. 403
Erztehlungen reichliche Gelegenheit gefunden , so beschränkte sich Klopstock
auf das Leiden und den Tod, die Auferstehung und die llininielfahrt Christi,
einen eher dramatischen Gegenstand voll ergreifender Momente, deren Eindruck
er durch gefühlvolle, lyrische Behandlung auf das hoichste zu steigern suchte.
Er selbst sprach es aus dass die erste Hälfte seines Werkes bis zum Tode des
Heilands mit den hier vorwaltenden Gefühlen der Trauer ihm leichter ge-
worden sei als der dichterische Ausdruck der freudigen Ilührung über den
Auferstandenen. Und so galt schon bei den Freunden die Würdigung dieses
zweiten Teiles für schwierig."'" Hier entfaltet sich auch eine mehr überlegte
Kunst, hier haiufen sich Gespraiche und Chorlieder. Am ergreifendsten wirkten
und wirken wohl noch jetzt die Scenon, in welchen Klopstock Selbsterlebtes
mit eingeflochten hat: vor allem die Erzählungen von Cidli (so nannte er die
von Christus auferweckte Tochter des Jairus), wobei ihm anfänghch'-'' seine
erste unerwiderte Liebe, an späterer Stelle '^* sein letztes Gespräch mit Meta
vorschwebten. Ebenso rührend fand seine Zeit das Mitleid, welches eine nach
Youngs'^^ Vorgang von Klopstock angenommene Unschuldswelt mit dem Tod
der Nachkommen Adams fühlt.-^ Ganz besonders ward jedoch das Schicksal
des gefallenen, aber reuigen Engels Abbadonna viel besprochen und geradezu
ein Gegenstand des Streites: strenger gesinnte verlangten dass er verdammt
bleibe, weichere Seelen, und mit ihnen Klopstock, Hessen ihn Gnade finden.
Doch Klopstock strebte auch nach furchtbar erschütternden Wirkungen: darum
setzte er Satan noch einen verruchteren Teufel, Adramelech zur Seite. Durch
die Erfindung einer zahlreichen Geisterwelt machte er freilich die einzelnen
Vorgänge, und ganz besonders die Kreuzigung,-^ erst recht unübersichtlich.
An manchen Stellen, wie im VI Buch, wo gleichzeitig der jüdische Rat, Portia
die Gattin des Pilatus und die Engel von einander getrennt verhandeln, ist
es geradezu schwer den Zusammenhang zu behalten. Denn der Dichter
unterscheidet kaum den Ton der Reden : überall behält der Ausdruck dieselbe
Hoehc und Stärke bei. Selbst seine Bilder tragen wenis; zur Verdeutlichuns:
bei, da sie nicht aus der Natur, zuweilen sogar nicht einmal aus der sinn-
lichen Welt geschöpft sind. Dazu kam endlich der Vers, der zuerst so schwer
erschien dass man vielfach die Hexameter einfach als Prosa zu lesen riet.'^*
der latpinitJchen Litteratur dabei vor. Doch auch die lyrische Behandlung, die demütige
Anerkennung der Grcpsse und Heiligkeit des (gegenständes haben die beiden Dichter gemein.
22) Gramer, Tellow 103. 23) IV 610 fgg. 24) XV 41'J fgg. 25) Die neunte
Nacht (Klagen), in Eberts Übersetzung (1767) S. 358 fgg. 26) V 153 und Hamels
Commentar. 27) Der YlII Gesang: LB. 2, 819 fgg. 28) So Haller: Kleist § 142, 91.
404 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVI 11 JAlüUi. i? 152
KI()j)8tock selbst dnuig auf kuustvolle IJeclamation, die er auch meisterhaft
übte und lehrte.^^
Die Kenntnis der griechisch -lateinischen Metrik, die Klopstock für den
Hexameter voraussetzt, ist nocli molir mrtig für seine C)denmasse, von denen
übrigens einige der schwierigsten in den 20. Gesang des 'Messias' einge-
Hocliten sind. Hie und da hat er selbst das Schema übergesetzt oder einzelne
Silbenwerte durch Zeichen njeher bestimmt. Auch sprachliche Erheuterungen
sind zuweilen von ihm selbst gegeben worden, so verächtlich er auch auf
die 'Scholiasten' herabsah: aber nicht nur Namen der antiken und der nor-
dischen Mythologie, sondern ganz neu gebildete, wie Sponda für den Spondeus,
und Beziehungen auf sein Reitpferd oder ein Scliosshündchen waren zu
erkheren.'*' Solche Ausdrücke konnten ja nur den 'wenigen Edlen' ver-
ständlich sein. Doch auch sonst spannte der Dichter seine Forderung zu
hoch, dass die Deutschen seine Sprache lernen sollten. Wortfügung und
Wortfolge ahmt er den klassischen Sprachen nach, nicht selten mit öfterem
Gebrauch derselben Wendung.^' Daneben stand ihm doch auch eine durchaus
einfaclie, edle Sprache zu, welche zumal in reimlosen, jambischen Versmassen
die tiefempfundenen Gedanken des Dichters zu hinreissendem Ausdrucke
bringt.-'"
Die frühsten Oden, 1747 gedichtet, gelten dem eignen Dichterberuf und
den Freunden.^'* Vortrefflich weiss er sie einzeln mit wenigen Strichen zu
zeichnen. Die trübe, überztertliche Stimmung, welche durch Weinen und
Küssen sich seussert und im Gedanken an den Tod schwelgt, erscheint noch
mehr in den ersten Liebesoden: richtet doch der Dichter sogar noch an Meta
die Schilderung^* der 'toten Clarissa'. Aber auch die Lebensfreuden, Wein
und Gesang, oder scherzendes Gespräch mit schoenen Frauen feiert er, und
nicht minder die männlichen Leibesübungen, Ritt und Eislauf. ^^ Und männ-
29) Die Ode Teone", 1767 gedichtet, feiert diese Kunst. 30) Zur Kritik und Erklserung
der Oden vgl. namentlich Erich Schmidt, 'Beitr. zur Kenntnis der Klopstockschen Jugend-
lyrik'. QF. .^9. Strassb. 1880 und 'F. G. Klopstocks Oden" hg. v. F. Muncker u. Jaro Pawel.
II, Stuttgart 1889. Von Pawel u. schon früher von anderen sind einzelne Oden erheutert
worden: die gesamten von Delbrück, Berlin 18:^0, von Vetterlein. Lpz. 1827, von Gruber,
Lpz. 1831, von Düntzer, Lpz. 1868. von Back, Stuttg. 1876. Hl) So sagt er öfters:
'einen Gedanken denken', auch in Prosa. Vgl. übrigens § 141, 21. 32) So an Meta
gerichtet 'Das Kosenband", und für ilire sangeskundige. sch(Pne Nichte, spieter Klopstocks
zweite Frau bestimmt, das 'Vaterlandslied: Ich bin ein deutsches Mtedchen". Vgl. auch LB.
2, 864 (VIII). 33) LB. 2, 849. 851. 34) LB. 2, 856. 35) LB. 2, 863.
§ 152 KLOPSTOCKS ODEN. 405
lieh fühlt der Dichter überall, wo er vom Vaterland, ^"^ zumal von der deut-
schen Sprache redet. Ihre Schoenheit und Kraft preist er;^^ mit heisser
Sehnsucht wünscht er frühzeitig, die auch von ihm nachgeahmte englische
Dichtung zu überflügeln ; '^^^ mit Zorn weist er den englischen Stolz zurück.^'-'
Doch den groissten Deutschen seiner Zeit verkennt er: Friedrichs II Gleich-
giltigkeit gegen das Christentum,*** seine Vorliebe für die franzoesische Littc-
ratur*' erfüllt ihn zuletzt geradezu mit Hass. Dass dies Gefühl erst allmählich
eintrat, dafür gibt das Lied 'Heinrich der Vogler' Zeugnis, welches zuerst*^
Friedrichs Heldenkraft feierte, spteter jedoch vollkommen umgearbeitet erschien.
Klopstock sah in Friedrich nur noch den Eroberer: ihm stellte er 'Daniens
Friederich' entgegen, dem er auch, wie schon der vorher verstorbenen Koenigin
Luise, eine tief gefühlte Elegie*^ nachdichtete. Und den Gedanken der
Religion wusste er auch in seinen Oden den erhabensten Ausdruck zu geben,
indem er lebendiges Naturgefühl mit vertrautester Bibelkenntnis verband.**
Die erste Sammlung seiner Oden veröffenthchte Klopstock*'' 1771 mit
der lakonischen Widmung 'An Bernstorff'. Vorher schon hatten Unberufene
die einzeln gedruckten oder handschriftlich umlaufenden zusammen drucken
lassen, begreiflicher Weise mit manchen Irrtümern.*" Inzwischen hatte der
Dichter seine Oden sorgfältig durchgefeilt*'' und mehrfach die griechische
Mythologie durch die nordische ersetzt, welche, durch die Eddaübersetzung
in Mallet Introdudion ä l'Jiistoire de Dmmnarc (1755 fg.) in weiteren Kreisen
zugänglich geworden,*'* ihm durch die Quellenstudien Gerstenbergs (§ 155, 19)
noch nseher gebracht wurde, und die er nun nach dessen Vorgang verwen-
dete, aber freilich vielfach mit celtischen Namen *^ vermengte.
36) LB. 2, 868. 37) LB. 2, 865. 38) LB. 2, 857. 39) LB. 2, 864. 40) 'An
Bernstorü" 1751. 41) 'Aa (jleim' 1752. Vergebens hatte Bodnier durch Tscharner
den AnfanEC des Messias ins Franzuesische übersetzen lassen und diese Übersetzung: durch
Voltaire {in den Koenig zu bringen gesucht. Noch 1782 dichtete Klopstock gegen Friedrichs
Schrift De la Utterature Allemanäe seine Ode 'die Rache'. 42) In der 'Sammlung
vermischter Schriften von den Verfassern der neuen brem. Beytnege' I, 1749, als 'Kriegslied
zur Nachahmung des alten Lieds von der Chevy-Clm^e-Jagi' . Mit Unrecht heugnete spater
Klopstock die Beziehung auf Friedrich ab, bei Gramer Kl. 2, 346. 43) LB. 2, 869.
44) LB. 2, 859. 45) Hamburg. 46) Auch die Klopstock zu Ehren für die Land-
grsefin von Hessen-Darmstadt 1771 in 34 Exemplaren gedruckte Sammlung war fehlerhaft:
Weinhold Boie 175; QF. 39, 82: Edw. Schrreder Vierteljschr. f. Litgesch. V 53 fgg.
47) Er hatte namentlich die schwebende Betonung beseitigt und die Senkungen erleichtert.
48) Doch hatte Klopstocks Vetter Schmidt schon 17.50 aus Olaus Worraius den Gesang
Lodbrogs bearbeitet; Klamer Schmidt S. 142: QF. 39, 18. 49) So nannte er die
40«; NEUIKMJIIDEUTÖCIIM /FJT. XVIIJ .lAlllMl. § 152
Schon vor der Siuniiilmig scinor Odoii hatte KUipstock ücisthchb Lieder"
erscheinen las«on (II, Kopenhagen IT")«. ITd!)), worin er sich auf den Stand •
punct der Liemeinde zu stellen suchte, aber mit wenig Erfolg '" (§ 144). Hier
gebrauchte er den Reim, aber indem er den reichen Reim zuliess, zeigte er,
wie ungeübt er in dieser Form war.
Ebenso fanden Klopstocks Dramen wenig Beifall. Er dichtete mehrere
biblische Trauersj)iele: Der Tod Adams' (Kopenhagen und Leipzig 1757),''
'Salomo" (Magdeburg 1704), 'David' (Hamburg 1772). Durchweg fehlte so-
wohl Handlung wie Charaeterzeichnung.
Eigentiunlichcr waren seine der deutschen Urzeit •'■^ entnommenen Stücke,
welche er Bardicte" nannte, mit missverstilndlichcr Deutung von Barditus-'^
(§ 3, 10): Hermannsschlachf (Hamburg und Bremen 1709), 'Hermann und
die Fürsten' (Hamburg 17iS4), Hermanns Tod' (Hamburg 1787). Die kargen
Nachrichten des Tacitus'* sind mit celtischen Namen aufgeputzt; Bardenchoere
sind in den Prosadialog eingemischt, welche Gluck ebenso wie viele Oden
Klopstocks compouiert hat. Obschou für die Schaubühne' bestimmt, sind
die Stücke nicht autt'ührbar.-'''
Die 'Hermannsschlacht' ist Joseph II zugeeignet, von dem Klopstock
damals die Unterstützung deutscher Wissenschaft und Dicktkunst ^"^ erwartete,
die Friedrich der Grosse ihr verweigert hatte. Als auch diese Hoffnung fehl-
schlug,'' versuchte er die deutschen Schriftsteller selbständig zu einigen. Dies
ist der Zweck seines Buches Die deutsche Gelehrtenrepublik', welches, von
3600 Subscribenteu erwartet, zu Hamburg 1774 erschien. Die seltsame Ein-
kleidung, mit welcher Klopstock seine Ansichten als Gesetze eines urdeutschen,
in Zünfte gegliederten, von Aldermännern geleiteten Landtages vortrug, stiess
die Leser so sehr zurück dass der II Teil des Werkes gar nicht erschien.
Lfier Telyn, die Nachtigall Bardale. 50) Kleist« Urteil bei Sauer 2. 446. Leasings
Kritik: Litteraturbrief 51. 111. 51) Von (ileiui in Verse gesetzt, Berlin 1766. § 14:J, 4.
Meta verfasste ein Gregenstück 'Der Tod Abels'. 52) Daraus hatte er schon 1752 den
Stoff zu seiner dialogisc'hen Ode 'Hermann und Thusnelda' geschöpft. 53) Deshalb
sagte Klopstock auch der Banliet, die Zeitgenossen aber schon das B. 54) Das öfter vor-
kommende: die Wunden saugen ist einer falschen Lesart in Tacitus (jerm. 7 entnommen,
wo man exsugere piagas anstatt extgere las. Solche Züge mochten Schiller 'fratzenhaft'
vorkommen: Briefwechsel mit (joethe, 21 Mai 1803. 55) Klopstock sprach, im Scherz,
den Wunsch aus die Hermannsschlacht vor preussischen Truppen im Bodethal aufgeführt
zu sehn, wo er den Schauplatz der V^arusschlacht annahm: Briefe bei Lappenberg '22\K
56) Klopstocks Vorschlag ging auf eine Akademie; auch auf ein deutsches Theater in Wien,
unter der Leitung von Lessing u. tierstenberg hoffte er. 57) H. .M. Richter, Geistes-
§ 153 KLOPSTOCKS DRAMEN. WIELAND. 407
Nur die jungen Dichter des Hainbundes und noch mehr die des Sturmes
und Dranges bogrüsstcn begeistert Klopstocks Spott über die Regulbücher'
und seine Verpocnung aller Nachahmerei. ^^
Seitdem beschränkte Klopstock seine Schriftstelleroi in Prosa auf Metrik
und Grammatik: 'Über Sprache und Dichtkunst, Fragmente' (Hamburg
1779. 80), mit phonetischer Orthographie, die er iudess zuletzt wieder auf-
gab; 'Grammatische GesprsBche' (Altena 1794), worin er den Vorrang der
deutschen Sprache vor den fremden erweisen wollte. Historische Aufzeich-
nungen über den siebenjsehrigen Krieg und die Revolutionszeit hat Klopstock
selbst vernichtet.
§ 153.
Zu Klopstock bildet Wieland den vollen Gegensatz: sein Wesen und
Dichten ergänzte das was an jenem einseitig und zu hoch getrieben erschien.
Dass Wielands Anfänge sich teilweise an Klopstock anschliessen , ja diesen
noch überbieten wollen, ist nur ein Beweis für Wielands Schwanken und
Ausschweifen, das neben dem entschiedenen, von Anfang an festbegründeten
Beharren Klopstocks um so mehr hervortritt; erst nachdem er von der Schwär-
merei zu einer ebenso übertriebenen Leichtfertigkeit übergegangen war, fand
Wieland die Grundrichtung seines Geistes in der Abwendung von alter
Glaubens- und Sittenstrenge, in dem Erstreben des einfachen Lebensgenusses
und in der Ausübung der unmittelbar n?echsten Pflichten. Während Klop-
stock mit der englischen Dichtung zu wetteifern suchte, bildete Wieland sich
hauptsächlich nach den franzoesischeu Schriftstellern. Führten Klopstocks
Ideale in die germanische Urzeit, so fand Wieland seine Stoffe bald im Mittel-
alter der romanischen Völker, bald in der Blütezeit der griechischen Kultur.
Wenn Klopstock seinen Gegenständen gegenüber hohen Ernst, volle Hingabe
empfand, behandelte Wieland seine Helden mit halbem Mitleid, ja mit über-
legenem Spott. Klopstock bereicherte die Sprache, indem er ihr Wendungen
und Fügungen der fremden anzueignen suchte; Wieland mischte zahlreiche
Fremdwörter ein, in vertrauten Briefen sogar mit beständigen Citaten, wie-
derum wesentlich aus Laune. Dem Hexameter und den Odenmassen Klop-
stocks gegenüber pflegt Wieland entweder die kunstvolle Prosa oder die mehr
oder weniger freien Verse, z. T. in romanischen Strophenformen. Auch die
Wirkung, welche beide Dichter ausübten, war von Grund aus verschieden.
«troemungeu ^Berlin lö75) S. 15ö fgg. 58) Vgl. Oskar Theodor Scheibner, Über
Klopstocks Gelehrtenrepublik. Aunaberg 1874 (Jenaer Diss.).
408 NEUHOCHDETTTSCnE ZEIT. XVIII JATTUri. § 153
Riss Klopstock die Jui^ond mif sirli fort, so f^owann Wioland die Ilofkroiso,
denen er die bis diiiün allein beliebte tVanzcrsische ünterlialtungslittoratur
durch eine deutsche gleicher Art ersetzte. Hielt sich Kloj)stock auf stolzer
lld'lio, sowohl den ihn umgebenden Diohtergenossen gegenüber, als auch im
Verhältnis zu den Grossen der Welt, so wusste Wieland durch Schmiegsam-
koit und Nachgiebigkeit zu gewinnen und hatte in früherer und spfcterer Zeit
manche Übereilung durch kluges Zurücktreten wieder gut zu machen.
Mit Wieland gelangt eine Landschaft wieder zu litterarischer Thfetig-
kcit, welche nach langem Stillstand jetzt die Verbindung zwischen Obersachsen
und der Schweiz herstellte. Er war in Schwaben geboren,' zu Oberholzhoim
im Gebiet der damaligen freien Reichsstadt Biberach, am 5. September 1733.
Von 1747 bis 174i) erhielt er eine pietistische Erziehung in der Schule zu
Kloster Rergen in Magdeburg; aber seine schon damals hervortretende Zweifel-
sucht wurde durch den darauf folgenden Unterricht eines Verwandten , der
an der Universitjpt zu Erfurt Professor war, neu genfehrt. Im Sommer 175Ü
nach Biberach zurückgekehrt, verlobte sich der Frühreife mit einer Cousine,
Sophie Gutermann,- welche, älter als er, auf seine schwärmerischen Ansichten
durchaus einging. Einen weiteren üniversita^tsaufenthalt in Tübingen von
Hftrbst 1750 ab benutzte er zur Ausarbeitung mehrerer Dichtungen, von
denen die erste groessere,-' das in Alexandrinern abgefasste Lehrgedicht 'Von
der Xatur oder die vollkommenste Welt' durch Meier in Halle (§ 150, 6)
1752 zum Druck befördert wurde. Im Herbst 1752 folgte Wieland einer
Einladung Bodmers, dem er den von ihm geschiedenen Klopstock ersetzen
und zugleich Schüler und Gehilfe sein sollte. Um so mehr ging der Jüng-
§ lOo. 1) Christoph Martin Wieland, geschildert von J. G. Gruber, Leipzig u. Altenburg,
11. 1815. 16; nenbearbeitet als AVielands Leben, in dessen "Werken hg. von J. G. Gruber,
Bd. 50-53, Leipzig 1827—28. — L. F. Ofterdinger, Ch. M. Wielands Leben u. Wirken in
Schwaben u. in der Schweiz. Heilbronn 1877. — Vgl. auch C. W. Büttitjer. Ch. M. Wieland
nach seiner Freunde und seinen eigenen Äusserungen in Raumers Eistor. Taschenbuch
1839 S. 361 fgg. — Auswahl denkwürdiger Briefe von C. M. Wieland, hg. v. Ludwig
Wieland, II, Wien 1815. — Ausgewiehlte Briefe von C. M. Wieland an verschiedene Freunde
in den Jahren 1751 bis 1810 geschrieben und nach der Zeitfolge geordnet. IV. Zürich
1S15. 16. 2) In seinen Dichtungen nannte er sie Psyche, Doris. Serena, Panthea:
Felicia im Don Silvio. Ihr Leben s<-hrieb. etwas unzuverlässig, Ludmilla Assing, 'Sophie
von LaRoche, die Freundin Wielands', Berlin 1S5J). Über ihre schriftstellerische Thaetig-
keit 8. Anm. 38. Sie suchte die Schriftsteller ihrer Zeit mit sich und untereinander zu
verbinden und auszugleichen, bis zum Überdrusse für G(Ptbe u. a. 3) Ebenfalls 17.Ö0
verfasst. erschien bereits 1751 zu Halle. Wielands 'Lobgesang auf die Liebe" in Hexametern
und Klopstockischeu Wendungen. Leichter verständlich sind die in jambischen Fünflüsslern
§ 153 WIELANDS JUGEND. 409
ling ganz auf die Wünsche Bodmers und seiner Freunde* ein, als sein
Vcrloübnis sich lockerte und Ende 1753 geloest wurde: er suchte Trost in
rehgioesen Gefühlen. Er dichtete in Hexametern eine Patriarchade 'Der
gepryfte Abraham', Zürich 1753,'' und ebenfalls 1753 'Briefe von Verstorbenen
an hinterlassene Freunde", diese nach dem Vorbild der englischen Schrift-
stellerin Rowe;'' er verfasste in Prosa Hymnen" 1754 und 'Sympathien' 1756,
sowie 'Empfindungen eines Christen' 1757.' Auch in den litterarischen Käm-
pfen stellte er sich an Bodmers Seite: er pries Bodmers Noah (§ 149, 29),
er empfahl dessen Dramen von Joseph, er besorgte eine Sammlung der
Zürcherischen Streitschriften (ebd. 13) und brachte 1755 die Schrift Bodmers
'Edward Grandisons Geschichte in Görlitz' zu Berlin in den Druck ; ^ er
schrieb endlich in dem gleichen Jahre eine der heftigsten Kritiken über
Schoenaich: 'Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen nebst dem ver-
besserten Hermann'. Der Epopoee Schoenaichs stellt er hier Proben einer
eigenen hexametrischen Dichtung von Arminius entgegen, worin er nament-
lich Lohensteins Roman benutzt hat; doch ist das bereits 1751 an Bod-
mer übersandte Werk unvollendet geblieben.^ Die freche Lüsternheit in
den Gedichten von Rost und Lamprecht hatte er schon 1752 angegriffen; ^^
1757 wandte er, weit über das Ziel hinausschiessend, den gleichen Vorwurf
gegen Uz (§ 150, 37). Darüber traf ihn der ernste Tadel Lessings und
seiner Freunde, ^^ und deren Urteil wirkte je länger je mehr auf Wieland
einJ^ Er hatte auch bereits im Juni 1754 Bodmers Haus verlassen und sich
der Erziehertheetigkeit ^^ zugewandt, zunächst in Zürich, von 1759 an in Bern.
1758 veröffentlichte er den 'Plan einer Akademie zur Bildung des Verstandes
und Herzens junger Leute', '^* den er bereits 1756 an den Markgrafen Karl
gedichteten 'Erz«hlungen', Tübingen 1752, nach Thomson. 4) Über sein Verhältnis
zu diesem Kreise s. besonders L. Hirzel, Wieland und Martin n. Regula Kiinzli, Leipzig 1891.
5) LB. 2, 875. 6) Geb. Singer, auch von Klopstock gepriesen: ihre Schrift Friendship
in death war 1728 erschienen, 1745 ins Deutsche übersetzt worden. 7) LB. .S, 103 fgg.
1758 'Empfindungen des Christen', noch spseter 'Psalmen' betitelt. 8) Auszug bei Hirzel,
Künzli 78 fgg. 9) Gedruckt, soweit es hslich vorlag, von Muncker in Seuff'erts Lit.-
denkm. 6, Heilbronn 1882. 10) Sehreiben au Herrn ** von der Würde und der
Bestimmung eines schoenen Geistes, Zürich 1752; er bereute diese Ausfälle im Teutschen
Mercur 1775, 2, 82. 11) Nicolai, Bibliothek der schoenen Wiss. 1757 I 2 S. 415 fgg.
Lessing im Litteraturbrief 7 fgg. 12) Schon 17.58 wollte Wieland ausdrücklich die
Anschuldigungen gegen Uz zurücknehmen: Sauer, Uz LH. 13) Ein bei seinem Unter-
richt nachgeschriebenes Heft 'Geschichte der Gelehrtheit' hat Hirzel, Frauenfeld 181(1 heraus-
gegeben. Seine Abschiedsrede an die Züricher Zoeglinge s. Vjschr. II 585 fgg. 13a) Schnorrs
JKi NEUlKM'lllJEUTSCHE ZEIT. XVIll .lAIIKII. 5? If).'}
Friodricli nach Kailbruhe luitgctoilt liatic." Ijcssing, der darüber miHs^ünstif^
urteilte,'"' wies auch nach chiss Wiehmds Trauerspiel, ijady Johanna Gray,
welches er 1758 in Winterthur hatte autiuiiren und in Zürich drucken lassen,
grossenteils einer englischen Vorlage von Nicholas Itowe entlehnt sei.'" Ein
anderes, Clenientine von l'orretta, 175'J, brachte nur einen lloinan von
Uichardson in dramatische Form. Das gleichzeitig erschienene Epos Cyrus',
wovon indessen nur 5 Gesänge tortig wurden, war zur Verherrlichung Fried-
richs des Grossen bestimmt. Aus der (Jyroptedie Xenophons, den Wieland
jetzt über l'lato stellte, war schon vorher eine Episode von ihm in Prosa be-
handelt worden: Araspes und Pauthea, eine moralische Geschichte in einer
Reihe von UnteiTedungen'; sie erschien 17G0. Er war zu einem Wendepunct
seines Lebens und seiner schriftstellerischen Thtctigkeit gelangt: das bisher
Veröffentlichte vereinigte er als Sammlung ])rosaischer Schriften' 1758, 'Poe-
tische Schriften 1702. Zu Ostern 1700 verUess der Dichter die Schweiz,
wo er noch mehrere platonische Liebesverhältnisse'^ mit meist älteren Damen,
zuletzt mit der hässlichen, aber geistreichen Julie von Boudeli "* in Bern,
angeknüpft hatte. Er kehrte nach seiner Vaterstadt zurück, um hier die
Stelle eines Kanzloidirektors zu vcrsehu. In der Nsehe von liibcrach, auf
Scldoss Warthausen, sah er 1702 seine Jugendgcliebte als Gattin von La
Roche wieder, der dem ehemaligen kurmainzischen Minister Graf Stadion als
dessen Geschäftsführer dorthin gefolgt war und wie dieser durchaus frei-
geistige Ansichten hegte.''' Wielaud wurde durch den Verkehr mit dem
Grafen und seiner Umgebung völlig umgewandelt. War schon früher Shaftes-
burys Virtuoso ihm bewundernswert erschienen, so sah er jetzt solche Welt-
männer vor Augen und suchte sich ihre Freiheit im Denken und Reden
anzueignen. Der Spott, den Stadion über Religion und Moral ergoss, stimmte
überein mit den Eindrücken, welche Wieland aus der reichen, meist auslän-
dischen Büchersammluug des Grafen empfing: Voltaire, Oi-ebillon, Grecourt
wurden zunächst auch seine Muster, und er bemühte sich nicht nur ihre
Glätte, sondern auch ihre Üppigkeit wettzumachen. So namentlich in den
Comischeu Erzaehluugen', o. 0. 1705, worin er z. T. nach Lucian, griechische
Arch. XI :^77 fgg. 14) H. Fun<k. Beitrsge zur Wielandbiographie. Freiburg n.
Tübingen I.SH1'. 15) Lit.br. 9—14. 16) Lit.br. 6:3. 64. 17) Vgl. Scherer Anz.
zur Zs. f. dt»ch. Altertum 19. 25 fgg. und Z«. f. d. A. 20, Sbb fgg. 18) Ed. Bodemann.
.J. V. Bondeii und ihr Freundeskreis. Hannover 1S74: auf S. ;W4 nimmt Julie norh 1764
Wielands offenherzige Unklugheit' in Schutz. 11)) Über ihn und seine. 1771 ohne
seinen Namen erschienenen. Briefe über das .Münchswesen' s. Goethe i). u. W. XIII Buch.
§ 152 WIELANDS MANNESJAHIIE. 411
Göttergeschichten in freien Versen wiedergab: mehrere darunter hat er spaeter
selbst ausdrücklich wegen ihrer Frechheit verworfen. Zunächst aber rühmte
er sicli seines Fortschrittes in der musicaHschen Behandkmg von Vers und
Sprache;^" und in der That fand er von nun an eine Anerkennung, die sich
namentUch durch die Übersetzung seiner Schriften in das Franztjesische kund
gab. Nadine 1769, Combabus 1770, sclilossen sicli an. Ebenso unanständig,
aber doch nicht in gleicher Weise auf die Erregung der Lüsternheit be-
rechnet, war die Geschichte von Biribinker, welche er in den Roman 'Der
Sieg der Natur über die Schwärmerey oder die Abentheuer des Don Sylvio
von Rosalva' einschob (Ulm 1764): wie im Don (^uixote der Held, dem die
Ritterbücher den Kopf verdreht haben, wird liier ein Opfer der Feenmierchen
durch die Wirklichkeit beschsemt. Deutlich stellt Wieland seine eigene frühere
Überschwänglichkeit und spsetere Ernüchterung dar. Den gleichen Gegenstand
hatte er in dem bereits 1761 und 1762 geschriebenen, aber erst 1766 — 67
erschienenen -^ ' Roman 'Geschichte des Agathen' behandelt,'^- den er spteter
mehrfach umarbeitete: an der ersten Fassung--^ befriedigte ihn weder der
Stil , noch die etwas unzusammenhängende Ordnung der Begebenheiten.
Immerhin begründete Wieland mit diesem Roman eine neue Art der Unter-
haltungslitteratur, indem er auf Entwickelung der Charactere, nicht auf
Hseufung wunderbarer Ereignisse ausging. Gleichzeitig erwarb er sich ein
wesentliches Verdienst durch seine grossenteils in Prosa abgefasste Über-
setzung mehrerer Dramen von Shakespeare, welche er als 'Shakespears Thea-
tralische Werke' Zürich 1762 — 66 herausgab. ^^ Obschon in Prosa abgefasst,
obschon nur lückenhaft und mit tadelnden Anmerkungen vom franzoesischen
Standpunct aus begleitet, hat diese Übersetzung doch zuerst den grossen
englischen Dramatiker der Menge der deutschen Leser zugänglich gemacht. ^^
Erwachsen war sie aus einem Anlass, den Wieland in seiner Vaterstadt er-
hielt: durch sein st;edtisclies Amt zugleich ^zur Leitung der sta^dtischen Bühne
bestimmt, fügte er für diese aus Sommernachtstraum und Sturm ein neues
Stück zusammen.-^'' Und hier in Biberach begründete er auch, nach neuen
20) Vgl. Sittenberger in der Vierteljahrsschrift f. Lit.gesch. IV iJSl t'gg. 406 fgg.
21) Frankfurt u. Leipzig sind für Agathon wie sonst öfter als Verlagsort anstatt Zürich angegeben,
weil die hier bestehende geistliche Censur das Buch verboten hatte. 22) Lob Leasings:
Dramaturgie St. 69. 23) Daraus LB. 'i, 109 fgg. 24) Diese Übersetzung ist von
J. J. f]schenburg (§ 155, 74a) vervollständigt und 1775—1784. ^1798— 1806 neu bearbeitet
worden: s. Seutt'ert in Sehnorrs Archiv L». 1^29 tgg.; Schüddekopf ebd. 498 fgg. 25) Lessing
Dramaturgie Lö. 26) Vgl. Sentfert in Schnorrs Archiv K». -ij-, wo weiter auf Ofterdiuger
412 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVIII JAHRH. § 153
Verirrungen, zu Ende 1705 oin glückliches Familienlehon: seine Frau las
tVoilich seine Schritten nicht. Die neugewonnene (leinütsruhe, gleichweit enl-
fernt von der ehemiiligen religid's-sittlichen Überspannung und von der in-
zwischen überwundenen sinnlichen Zügellosigkeit, gab sich zunächst in Wio-
lands (ledichteu kund: in dem heroisch-coniischen Gedicht von Idris' und in
Musarion oder die Philosophie der Grazien', beide zu Leipzig 17158 erschie-
nen; die halb in Prosa abgefasste P]rza;hlung 'Die Grazien' folgte 1770, 'der
neue Amadis' 1771, und mit dem letztgenannten begann Wieland in Stoff
und Form sich der älteren romanischen Dichtung anzuschliessen. Inzwischen
hatte er die unruhigen und unsichern Verhältnisse in seiner Heimat verlassen
und war einem Rufe an die kurmainzische Universität Erfurt zu Ostern 1769
gefolgt. Er sollte hier Philosophie vortragen; seine Auffassung, welche sich
gegen die Naturanpreisungcu Rousseaus ablehnend verhielt, legte er nieder
in der an Voltaire erinnernden, ironischen Schrift 'ßeytrsege zur geheimen
Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens. Aus den Archiven
der Natur gezogen", Leipzig 1770, 11;^' waehrend er gleichzeitig in ' l'ioxfKirrj^
luuvütisvo-; oder die Dialogen des Diogenes von Sinope. Aus einer alten
Handschrift' in der Weise Sternes-'* eine milde Menschlichkeit lehrte. Gegen
die Priester richtete sich sein anonym erschienener Roman Der Goldne Spiegel
oder die Koenigc von Scheschian', Leipzig 1772, IV.^'' Umsonst hoffte er
damit die Gunst Josephs II zu gewinnen; dagegen empfahlen ihn seine Leh-
ren am Weimarischen Hofe: er ward als Erzieher des jungen Herzogs Karl
August im Herbst 1772 dahin berufen^" und blieb in Weimar auch nach
Vollendung seiner Aufgabe 1775, in naher Bezieliung besonders zur Herzogin
Anna Amalia.^' Bald nach seiner Ankunft in Weimar hatte er den Teut-
schen Mercur begründet (§ 140, 44) und liess in dieser Zeitschrift seine
Werke meist zuerst erscheinen. Mehrmals erhielt er den Auftrag zu Sing-
spielen für die Hoffeste Texte zu verfassen,^- welche Schweitzer componierte:
so dichtete er 1772 Aurora', 1773 Alceste' und die 'Wahl des Hercules',
1778 Rosamund^ deren Misserfolg in Mannheim^-' ihn freilich von der
in ileu Wirtemb. Vierteljahi-sbeften 1883 verwieseu wird. 27) Scherer im Ga'tbejahrbufh
1S8(>. S. ;*8 zeigt dass (jd-tlie für seineu Satyios maucbes daraus entuoniuieu hat. 28) Spalter
uaunte er diese Schritt 'Nacblass des Diogenes v. S." Über die Nachahmung Sterues s.
A. Jlager, .labresber. der Staats-Oberrealscbule zu Marburg a. D. 1890. 29) Als Anhang
dazu ist anzusehn 'Die (iesebichte des Philosophen Daniscbiueude", im Teutscben Mercur 1775.
30) B. Seuftert, Vierteijschr. I ;54-Mg. H\) Er feierte sie als Olympia. 32) 177;')
schrieb er einen 'Versuch über das deutsche Singspiel [Werke 34, 71]. 33) Er musste
§ 153 WIELANDS GREISEN ALTER. 418
Bühnendichtung abschreckte. An Alceste hatte sich bereits eine vielseitige
Befehdung des Dichters angeknüpft. Wie er schon den Jüngern Klopstocks
im Göttinger Hainbund als 'Sittenverderber' gegolten hatte,-'^ so ergrimmte
nun Goethe über die Selbstgefälligkeit, mit welcher Wieland seine Behand-
lung der Sage über die der antiken Dichter erhoben hatte, *^ und richtete
gegen ihn die Farce 'Götter, Helden und Wieland', welche Lenz 1774 zum
Druck beförderte.^" Auch andere Jugendgenossen Gcethes stürmten gegen
Wieland an.^" Wielaud glaubte sich sogar von der alten Freundin, Frau
LaRoche,''** mit welcher er 1771 in Ehrenbreitstein ein empfindsames Wieder-
sehn gefeiert hatte, und von den Brüdern Jacobi verlassen. Als aber Goethe
im November 1775 selbst nach Weimar übersiedelte, soehnte er sich bald
mit ihm völlig aus und nun suchten auch die anderen Dichter des Sturmes
und Dranges Frieden bei ihm. Seitdem fand Wieland an Goethe einen teil-
nehmenden Beförderer seiner Poesie. An die älteren Dichtungen aus der
griechischen Mythologie schloss sich noch der verklagte Amor an, 1774;
mittelalterliche Stoffe behandelte er in 'Der Mönch und die Nonne auf dem
Mittelstein' 1775, 'Liebe um Liebe' ('Gandalin') 177G, 'Geron der Adeliclr
und 'Das Sommernifelirchen oder des Maulthiers Zaum' 1777, 'Hann und
Gulpenheh',''^ 'Der Vogelsang oder die drei Lehren', 'Die Wünsche oder
Pervonte' 1778, 'Oberen' 1780, 'Clelia u. Sinibald' 1783. Yor allem Oberen
erhält den Ruhm des Dichters,^" welcher den wie sonst aus der Bildiotlieque
des Roinan.o geschöpften Stoff*' mit dem Streite zwischen Oberen und Tita-
nia nach Shakespeares Sommernachtstraum verband und nach freilich üppiger
Schilderung der Liebesversuchungen doch schliesslich die Treue den Sieg
davon tragen Hess.*- Auch zum Prosaroman in der Weise des Agathen griff
die Oper mehrmals umarbeiten; als er endlich zur Autführung nach Mannheim gereist war,
wurde diese durch den Tod des Kurfürsten von Baiern verhindert: s. Seutfert. Abderiten
16 fgg. 34) (Tcgen solche Vorwürfe verteidigte sich Wieland iu den Unterredungen
zwischen W** und dem Pfarrer zu ***, T. Merc. 1775. 35) Teutsch. Mercur 177;3. 1 1. 2.
30) Sehr geschickt zeigte Wielaud die Farce an : T. Merc. 1774, 2, 351. 37) J. v. .Sivers
'Die Sturmflut gegen Wieland' in seiner Sammlung M. M. K. Lenz' (§ 159, 38). 38) Kben
hatte er deren firstlingsschrift bevorwortet: 'Geschichte des Fraeuleins von Sternheim', Lpz.
1771: wie er auch ihre letzte herausgab: 'Melusinens Sommerabcmle', Halle l!SÜ6. Sie
starb 1807. 39) K. K<>-hler Schuorrs Archiv 3, 416. 40) (ia-thes Lob in ciuem
Briefe an Lavater, bei Hirzel S. 89. Doch tadelt er die Mängel der Motivierung bei Ecker-
mauu: 3 März 1.S30. 41) Düntzer in der Erlseuterung des Oberon, ^Leipzig 1876,
zeigt dass W'ieland die arabische Geschichte von Joseph fils de Jacob et de Ja princeftse
Zuleika (Bihl. def Romano 177S) stark benutzt hat. Vgl. weiterhin: M. Koch, Das
Quelleuverhältuis von Wielauds Oberon, Maiburg 1879. 42) LB. 2, 883 fgg.
114 NEriKK'IIDElITSClIE ZEIT. XVIII JAIlItll. §154
Wieland meiirfach zurück. In den 'Abderiten", die er 1774 — 80 im T«nit-
sclien Morcur erscheinen liess,"*'' verspottet er das deutsche Spiessbürgertuni,
mit Eintit'chtunjj^ manches erlebton Zuges. *^ I*sychok>gisclic Probleme /umal
der Sellisttäuschung behandelt er in der kürzeren Erziehlung ßonifazius
Schleicher^ 177G, in der (Jeheimen Geschichte des Peregrinus Proteus" 17S.S..S9,
im 'Agathodteinon' 17!H).*'* Ein liild des griecltischen Geisteslebens gibt er
in 'Aristipp uud einige seiner Zeitgenossen', Leipzig 1800 — 1802; und wie
hier, gebraucht er die Briefform auch in Menander und (rlycerion' 1808,
Krates und Jlipparchia' 1804.^" Indem er allniiehlich Lust und Kraft zu
eigenen Erfindungen schwinden fühlte, wandte er sich zu feinfühligen, wenn
aucli etwas weitschweifigen Übersetzungen der alten Scliriftsteller, die ihm
besonders zusagten: llorazens Briefe, Dessau 1782, Lucians sämtliche Werke,
Leipzig 1788, Ciceros Briefe, Zürich 1808 (von Graster vollendet 1821).
Seine sämtlichen Werke sammelte er Leipzig 1794 — 1802;*" ein unvor-
sichtiges Wort in der Vorrede, dass er mit dem Beginn des goldenen Zeit-
alters zu dichten angefangen habe und nun auch dessen Untergang erlebe,
zog ihm eine witzige, aber schonungslose Antwort von A. W. v. Schlegel zu.***
Doch lebte er tha^tig und heiter noch in das neue Jahrhundert hinein, unge-
stocrt auch von den grossen Weltereignissen, die er vielfach richtig vorausge-
deutet*'' hatte. 1798—1808 lebte er auf einem Landgut in Osmanstjedt, wo
er auch sein Grab bestellte. Er starb zu Weimar am 20. Januar 1818; ein
Nachruf Goethes'"' zeichnete sein Bild mit liebevollen Zügen.
§ ir^4.
Bereits sind mehrfach die Wirkungen der Kritik zur Sprache gekom-
men, welche der groesste deutsche Kunstrichter geübt und durch welche er
die gesamte litterarische Tha-tigkeit seiner Zeit umgestaltet hat. Lessing
hat den Streit zwischen Gottsched und den Zürichern beendet, indem er bei-
den Parteien die Unzulänglichkeit ihrer Ansichten auf das klarste und mit
43) LB. ;>, 141 i'gg. 44) B. Sputffi-t. Wielands Abderiten. Berlin 1878. zeigt dass Wieland
namentlich Biberacher und Mannheimer Erfahrungen verwertete. Enripides in Abdera
stellt Lessings Beziehungen zum .Mannheimer Theater dar. Vgl. auch § l.öH. 25. .50.
45) Damit crüttncte ^^'iclanll sein 'Attisches Museum". Zürich 1796 — 180.!. 46) Ver-
wandte Erziehluugcn von Liebe und Freundschaft verband er im Hexameron von Knsenhayn.
Lpz. 1805. 47) Spfetere Ausgaben von (trüber 1818—28. 1839. 1840. 1853—58;
von Diintzer. Berlin (Hempel). 48) 'Citatio edictalis', Athena-um 1799. LB. 3, 1101.
49) Vor allem erkannte er früh die (Tni-sse Napoleons, der ihn dafür in Weimar 1H08
auszeichnete. 50) LB. H. (j47 fgg.
§ 154 LESSING. 415
schlagendem Witze zeigte. Er hat den unberechtigten Ruhm und Einfluss
von Dichterlingen und Krittlern wie Lange und Klotz ' zu nichte gemacht und
damit Andern eine heilsame Lehre gegeben. Er hat die überschwängliche
Bewunderung Klopstocks^ auf ein richtiges Mass zurückgeführt und Wieland
auf den Weg gewiesen, der seinem innersten Wesen entsprach , und er hat
es dennoch auch verstanden, diese beiden Dichter durch volle Würdigung
ihrer Vorzüge zu Freunden zu gewinnen. Erscheint in diesen beiden Gremüt
und Einbildungskraft verkörpert, so zeigt Lessing den Verstand in hoechster
Kraft: so sehr dass er selbst das, was sonst noch zum Dichter notwendig ist,
durch ernste, unablässige Arbeit zu ersetzen vermochte.^ Was die Kritik
Lessings so unwiderstehlich machte, war nicht nur ihr scharfer, klarer Ausdruck,
nicht nur das Ungestüm und die Wucht, mit der er angriff, und die Beharr-
lichkeit, die ihn nicht ruhen liess bis er völlig gesiegt hatte. Es war vielmehr
seine Art alle persoenlichen Streitigkeiten zu sachlichen Untersuchungen zu ver-
tiefen, und von einzelnen litterarischen Gegenständen ausgehend die wichtig-
sten allgemeinen Grundsätze festzustellen.^ Oberfläcliliche Ähnlichkeiten ver-
führten ihn nicht, er strebte nach genauer Unterscheidung aus Innern Gründen.
Der Litteratur seiner Zeit gegenüber begnügte er sich nicht mit der Erörte-
rung ihrer nächsten ausländischen Muster: er drang wirklich zur Antike
zurück, deren richtige Auffassung er siegreich verfocht. Dies Streben nach
Wahrheit galt ihm mehr als der Besitz der Wahrheit, und er brachte daher
in den Grundfragen, die das geistige Leben seiner Zeit bewegten, Dinge zur
Sprache, woran Andere scheu vorüber geeilt waren. Die Unruhe, die ihn
trieb und mit welcher er den allgemeinen Fortschritt mächtig förderte, liess
ihn freilich auch in seinen Lebensverhältnissen keine volle Befriedigung em-
pfinden und warf über die letzten Jahre seines nicht hochgekommenen Lebens ^
einen tiefen Schatten.
§ 154. 1) S. Anm. 10. 2) F. Muncker, Lessings perscenliches u. litterarisches Ver-
hältnis zu Klopstock, Fkf. a. M. 1880. 3) Vgl. die berühmte Selbstschilderung am
Schluss der Hamburg. Dramaturgie. LB. 3, 230 fgg. 4) Dies meint das von Friedrich
Schlegel ausgesprochene Urteil, dass Lessings Kritik eine productive sei. 5) Die ersten
biographischen Nachrichten gab sein Bruder Karl (jOTTHELF Lessing (1740 geb., Dichter
von Schauspielen, die 1778 — 80 erschienen): 'Gr. E. Leben nebst seinem noch übrigen litte-
rarischen Nachlasse", Berlin 1793—95. III. Eine allseitige Würdigung Lessings und
damit das erste Beispiel einer wissenschaftlichen Dichterbiographie überhaupt bot Th. W.
Danzel, 'Lessing, sein Leben und seine Werke', fortgesetzt von G. E. Guhrauer, II, Lpz.
18.50 fgg. 2. Aufl. von Maltzahn u. Boxberger, Berlin 1880. Danach A. Stahr, Berlin 1859:
J. Sime, London 1877, deutsch bearbeitet von A. Strodtmann. Berlin 1878; H. Zimmern,
Wackernagel, Litter. Geschichte U. 28
41G NEUHOrilDEUTSCHE ZEIT. XVIII .TAH IM I. § \'>-\
GoTTHOLi) Ei'iiKAiM Lkssino War als der Sohn eines Predigers zu Ka-
men/ in der Lausitz am 22. Januar 1729 geboren. Früh zeigte sich seine
brennende Lernbcgierde, welche ihm auch auf der Fürsrenschule zu Meissen
die Arbeit zum Spiel machte. Seit Herbst 1746 Leipziger Student, ging er
bald von den Büchern zu einem angeregten Leben mit den Schauspielern der
Neuberschen Tru})pe über. Wegen einer Bürgschaft für solche Freunde
musste er 1748 Leipzig verlassen und begab sich nach Berlin, wo er durch
seinen Freund Mylius (§ 148, (J.S) journalistische Verwendung fand," auch
von VoUaire in einem nicht eben säubern (xcldprocess als Übersetzer gebraucht
ward." 1752 erwarb er in Wittenberg den Magistcrtitel. Erst 1755 verliess
er Berlin und trat 1756 eine Stolle als Reisebegleiter eines jungen Leipzigers
an. Im Begriff nach p]ngland über zu gohn, wurden sie durch den Aus-
bruch des Kriegs zur Rückkehr veranlasst. Um sein ausbedungenes Honorar
gerichtlich zu erstreiten, blieb Lessing ^^unsechst in Leipzig und fand hier in
Ch. E. v. Kloist, der bei der preussischen Besatzung stand, einen männlich
liebenden und geliebten Freund. Im Mai 1758 kehrte er nach Berlin zurück.
Er begründete in den Briefen die neueste Litteratur betreffend' (Berlin 1759
bis 1705), die er sich an einen verwundeten Offizier, eben Kleist, gerichtet
dachte, ein kritisches Organ von schneidender Schärfe, aber auch von all-
seitiger Wirkung. Doch er selbst beteiligte sich daran kaum noch, seitdem
er Ende 1760 als Secretter zu General von Tauentzien nach Breslau gegangen
war. Inmitten des bewegtesten Kriegs- und Cfarnisonslebens reiften seine
Hauptwerke. So durfte er hoffen, als er 1765 wieder nach Berlin kam,
dringend empfohlen durch hochgestellte Freunde, von Friedrich dem Grossen
als Bibliothekar angestellt zu werden. Der Koenig war jedoch von früher
her durch Voltaire, der bei Lessing unredliche Absichten auf ein von ihm
noch nicht veröffentlichtes Werk vermutet hatte, gegen ihn eingenommen und
waehlte wiederum einen Franzosen,^ wobei durch Verwechselung noch dazu
ein völlig Untüchtiger die Stelle erhielt. Ein Lebensplan Lessings war ge-
London 1878, deutsch von Claudi, Lpz. 1879; Düntzer, Leipzig 1882. Jetzt abschlieHsend :
Erich Schmidt. 'Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften', Berlin 1884.
188G — 92. 6) Bei der Vossischen Zeitung, zu welcher er von 1751 ab auch eine Beilage
'Das Neueste aus dem Reiche des Witzes' herausgab. Mit Mylius zusammen veröft'entlichte
er 'Beytrsege zur Historie und Aufnahme des Theaters', Stuttgart 1750, und allein: 'Thea-
tralische Bibliothek", IV, Berlin 1754 — 58, meist Übersetzungen. 7) Voltaires 'Kleinere
historische Schriften'. Kostock 1752 sind vermutlich auch von Lessing übersetzt: s.
B. A. Wagner, Lessingforschungen, Berlin 18«1. Neudruck durch Erich Schmidt, Berlin 1892.
8) Auch Winckelmann war dem Kcenige vorgeschlagen, aber durch ein allzu niedriges
§ 154 LESSINGS LEBEN. 417
scheitert, und diese Enttteuscliung hat ihn von Preussen, das er bis dahin
als zweite Heimat hatte ansehu dürfen , völHg abgewandt. Ein neuer Fehl-
schlag seiner Hoffnungen stand ihm bevor. Er Hess sich für das Hamburger
Theater gewinnen, welches durch eine Gesellschaft von Kunstfreunden über-
nommen und mit vorzüglichen Isj-äften besetzt wurde: Lessing verpflichtete
sich wenigstens über die Leistungen dieser Bühne regelmtessigen Bericht ab-
zustatten und siedelte im April 1767 nach Hamburg über. Allein der Mangel
an einheitlicher Leitung, noch mehr die geringe Geschmacksbildung des
Publicums führten das Unternehmen bald dem Untergange zu. Ebenso brachte
eine mit dem als Übersetzer besonders thsetigen Bode'-* zusammen begonnene
Buchhandlung Lessing nur Verluste. Er dachte daran nach Italien zu gehn
und dort als Kunstschriftsteller sich eine freie, wenn auch unsichere Lebens-
stellung zu begründen: hatte er doch eben in dem Streit mit Klotz ^^ durch
seine 'Antiquarische Briefe' gezeigt, wie weit er auch über vielbewuuderte
Vertreter der Altertumswissenschaft hervorrage. Allein er fand eine An-
stellung, die wenigstens seine wissenschaftlichen Neigungen befriedigen konnte,
als Bibliothekar zu Wolfenbüttel und trat sie im Frühjahr 1770 an. Bald
empfand er freilich die Einsamkeit seines neuen Aufenthaltes, wofür ihn der
Besuch des nahen Braunschweig und der dortigen Freunde, meist Professoren
am Carolinum, nur vorübergehend entschsedigte. 1775 und 1776 reiste er
nach Wien, wo er, sei es am Theater, sei es an der in Aussicht gestellten
Akademie wirken sollte, aber trotz aller Ehrung von Seiten des Hofes nicht
gehalten wurde. Auch eine Reise von Wien aus nach Italien mit dem jungen
Herzog Leopold von Braunschweig, der spgeter in Frankfurt a. 0. als Retter
aus Wassersnot den Opfertod erlitt, bot in Folge der Eile und des gesell-
schaftlichen Zwanges wenig Genuss oder wissenschaftlichen Gewinn. Noch
mehr führte 1777 ein Besuch in Mannheim, wo man ihn für das Theater
benutzen wollte, nur zu herben Enttöeuschungen. Doch der schlimmste Schlag
traf den Dichter zu Anfang 1778. Er hatte 1776 die Wittwe eines Ham-
burger Freundes heimgeführt, nach langem Brautstand,'^ da die Ordnung des
Angebot abgeschreckt worden. 9) Jon. Joachim Christoph Bode, geb. zu Braunschweig
1730, gest. zu Weimar 17S(3; aus dürftigen Anfängen durch Betriebsamkeit und gesellige
Talente emporgekommen. Seine vorzüglichen Übersetzungen von Sterne, Goldsmith, Smollet
haben viel zur Verbreitung des englischen (jeschmacks beigetragen. 10) Christian
Adolf Klotz geb. zu Bischofswerda 1738, gest. zu Halle 1771: so geschildert, dass Lessings
Angriffe auch persoenlich gerechtfertigt erschienen, von C. R. Hausen, Halle 1772.
11) 'Freundschaftlicher Briefwechsel zwischen Lessing und seiner Frau' [Kvii Kücnig) Berlin
418 NEU HOCH DEUTSCHE ZEIT. XYIII JA H Uli. § 154
Vcrma^gons iliror Kintlor aus orator Ehe sie zu niohrnialigoni, längerem Auf-
enthalt in Wien zwang. Die treffliche Frau, die einzige mit welcher Leasing
sich getraute zu leben, besass er nur kurz: sie starb im Wochenbett, und die
bitterste Yerzweitlung bemächtigte sicli seiner. Wohl fand er noch die Kraft
den Streit durchzuluhreii , welchen er durch die Herausgabe der gegen die
christliche Otfimbarungslehre gerichteten Fragmente eines Unbekannten''- her-
aufbeschworen und den besonders der llauptpastor Goeze'^ in Hamburg mit
feusserster Heftigkeit aufgenommen hatte. Wohl vermochte er auch, als die
braunschweigische Regierung ihm im Juli 1778 die Veröffentlichung weiterer
Fragmente und ähnlicher Schriften verbot, auf seiner alten Kanzel, der Bühne,
durch sein Drama 'Nathan' seine tiefsten Überzeugungen nur um so wirkungs-
voller vorzutragen. Aber er fühlte selbst sein Ende nahen. Er starb zu
Braunschweig am 15. Februar 1781.
Lessing knüpfte auch als Dichter'* gern an die Leistungen Anderer an
um sie wo moeglich zu übertreffen. Seine Erstlinge waren Lieder im Stil der
preussischen Anakreontiker, nur dass bei ihm von Anfang an nach franzoe-
sischer Weise die Neigung zu scharfer Spitze hervortrat. So reihen sich an
seine Lieder unmittelbar die Sinngedichte an, welche er mit jenen zusammen
als 'Kleinigkeiten' 1751 herausgab.'"' Die letztere Gattung pflegte er auch
spteter und übte damit auch in seinen litterarischen Streitigkeiten die stärkste
1789; neu herausg. von A. Schopne. Lpz. 1870. *1885. 12) Hermann Samuel
Reimakus, geb. 1694, gest. als Prof. am (Tymuasium zu Hamburg 1768. Leasings Auszüge
waren 1774 und 1777 erschienen: über die ganze 'Schutzschrift für die vernünftigen Ver-
ehrer Gottes' s. D. F. Strauss, Reimarus. Lpz. 1862 (= Ges. Sehr. 5, 229 fgg.)
13) § 145. Vgl. bes. G. R. Rc^pe. .1. M. Gceze, Eine Rettung. Hamb. 1860: und dagegen
Boden, Lessing u. GoPze, Lpz. u. Heidelberg 1862. 14) Er sammelte seine 'Schriften' VI,
Berlin 1753—55; 'Vermischte Schriften'. IV, Berl. 1771—85: 'Zur Geschichte u. Litteratur.
Aus den Schätzen der herzoglichen Bibliothek zu Wolfeubüttel, I — VI Beytrag', Braunschweig
1773 — 81. Dazu: 'Theologischer Nachlass' hg. von seinem Bruder, Berlin 1784; 'Theatralischer
Xachlass'. II, Berlin 1784 — 86. 'KoUectaneen zur Litteratur' hg. von Eschenburg, II, Berlin
1790; vgl. auch Anm. 5. 'Sämtliche Schriften' hg. v. K. G. Lessing, J. J. Eschenburg u.
F. Nicolai, XXX, Berlin 1791 — 94: kritische Ausgabe, das Muster für alle spaeteren Arbeiten
dieser Art, von K. Lachmann, Berlin. XIII. 1838 — 40; 2. Aufl. von W. v. Maltzahn,
XIII, Lpz. 1853 — 57, 3. Aufl. von Munckcr, Stuttgart 1886 fgg. Ausserdem Gesarataus-
gaben von Redlich. Boxberger u. a. Berlin bei Hempel o. .T. u. sonst. Seit Lachmann
sind diesen Ausgaben meist auch die Briefe Lessings beigegeben. Vgl. ferner C. C. Redlich.
Lessingbibliothek. Verzeichnis derjenigen Drucke, welche die Grundlage des Textes der
Lessingschen Werke bilden, Berlin 1878; Milchsack, Systematisches Verzeichnis der Lessing-
Litteratur der Bibliothek zu Wolfenbüttel 1889. 15) mit dem Druckort: Frankfurt u.
§ 154 LESSINGS KLEINERE GEDICHTE. 419
Wirkung. Er begnügte sieh nicht damit die eigenen Eingebungen seines
Witzes in diese Form zu kleiden; nach seiner Art sah er sich auch weit um
in der verwandten Litteratur und erneuerte zahlreiche Epigramme älterer
deutsclier und fremder Dichter. ^''' Auch untersuchte er das Wesen der Gat-
tung in den 1771'^ verüfFentlichten Aufsätzen Zerstreute Anmerkungen über
das Epigramm und einige der vornehmsten Epigrammatistcn'. Von Martial
besonders ausgehend unterschied er zwei Teile des Epigramms: einen ein-
leitenden, welcher Spannung erwecken, Erwartung hervorrufen soll, und einen
beschliessenden, die Aufloesung. Den epigrammatischen Character gab er
auch der Fabel, wie er sie spseter behandelte. Denn in seinen Jugondfabeln
schliesst er sich, wie in den gleichzeitigen, oft etwas lockeren Erzsehlungen,
den gefeiertsten Fabulisten, Ijafontainc und seiner Schule an, und borgt sogar
Geliert einige Fabeln ab um nur eine andere, eine ihm mehr anstehende
Lehre hineinzulegen.^^ Die hier gebrauchten freien Yerse, die Lafontainesche
Geschwätzigkeit verwirft Lessing ausdrücklich in den zu Berlin 1759 erschie-
nenen 'Fabeln, Drej Bücher. Nebst Abhandlungen mit dieser Dichtungsart
verwandten Inhalts', Er sieht hier die a?sopische Fabel als Muster an und
schreibt daher in Prosa, vermeidet die launige Schilderung, verbindet aber
gelegentlich mehrere Fabeln zu einer zusammenhängenden Reihe. '^ Den
Ilauptreiz aber geben diesen Fabeln allerdings die durchaus treffenden Hin-
weise auf die Verhältnisse der Zeit, zumal auf die litterarischen. In den
beigefügten Abhandlungen erklserte er die in der Fabel versteckte Lehre für
die Hauptsache und leitete den Gebrauch der Tiere in der Fabel davon ab,
dass ihre natürlichen Charactere bekannt seien, also nicht aus dem Wunder-
baren, wie die Schweizer Kunstlehrer es gethan.^*' Auch für die Geschichte
der mittelalterlichen Fabel, der deutschen und der lateinischen,^^ bringt er
aus den Wolfenbütteischen Handschriften Neues vor.
Eben diese Neigung und Fsehigkeit zu geistreichen Sinnsprüchen, und
die gleiche Entwickelung von Ausführlichkeit und Deutlichkeit zu laconischer
Leipzig, in Wahrheit zu Stuttgart erschienen. 16) Vgl. die mit Ramler zusammen
besorgte Auswahl aus Logau (§ 129, 4). Über von Lessing nicht angegebene Quellen
s. Hang. Lessing und Cordus, Neuer teutscher Mercur 1703, 3, 275 fgg. Viel zu weit
gehend: P. Albrecht, Leasings Plagiate, I Hamburg 1891. 17) Im I. Teil der Vermischten
Schriften. 18) So der Tanzbser, der frei geworden den Brüdern im Wald vergeblich
seine Geschicklichkeit anpreist, und von Geliert bedauert, von Lessing als Sclave gescholten
wird (Lachmann-Maltzahn 1, 130;. 19) LB. .3, 189 'Die Geschichte des alten Wolfes'.
20) Bodmers anonymen Angriff in der Parodie 'Lessingische unsesopische Fabeln', Zürich
1760, wirft Lessing zurück im Litteraturbrief 127. 21) Boner (§ 81, 63a.) und Romulus.
42Ü NEUIlUUliUEUTSCJlE ZEIT. XVllI JAIIKII. § 154
Schärfe zeigt Lessing als drainatischer Dichter. Diese Gattung verdaukt ihm
mehr als alle anderen, wie er auch hierin sich einen bleibenden und durch
die Bühne noch stets erneuten Ruhm erworben liat. Schon auf der Schule
verfertigte er Lustspiele, die er als Student durch die Neuberin aufführen,
auch drucken Hess, aber z. T. spjeter nicht mehr gedruckt sehen wollte.-'-
In StofFwahl und Behandlung ahmt er hier den Franzosen, aber auch Frau
Gottsched und Geliert nach ; wie diese deutschen Dramatiker schreibt er in
Prosa. Doch erregt 'Der junge (irelelirte'^^ persconliches Interesse, indem er
die darin verhoehntc Pedantenthorheit an sich selbst erfahren hatte. Die
Juden"-^ predigen früh Lessings Gebot der Duldung. Der Freygeisf sollte
dem Vater zeigen dass die Bühne auch treffliclie Theologen auftreten lassen
könne. Aus der ersten Berliner Zeit stammt, wie die beiden letzteren Lust-
spiele, auch ein unvollendetes Trauerspiel-'' in Alexandrinern, 'Samuel Henzi',
bemerkenswert wegen der Kühnheit, mit welcher Lessing einen Vorgang der
unmittelbaren Gegenwart'-^ dramatisch zu behandeln wagte. Doch eine ganz
neue Bahn betrat er in 'Miss Sara Sampson, Ein bürgerliches Trauerspiel',
das er 1755 in Potsdam ausgearbeitet hatte und zu Frankfurt a. 0. aufführen
Hess.-' Nach dem Vorbild der englischen Stücke, welche Pamilienunglück
ilramatisch darstellten,^^ führte auch Lessing die für Schuldige und Schuldlose
verhängnisvollen Folgen der Verführung vor. Er verlegte den Vorgang nach
England, benutzte aber für den Character seiner Marwood die antike Figur
der Medea. Bald darauf griff er sogar auf das deutsche Volkstheater zurück,
indem er den 'Doctor Fausf dramatisierte, wovon er jedoch nur Bruchstücke
veröffentlichte.--' Dagegen stellte er den preussischen Heldengeist, wie Kleist,
in griechischer Gestaltung dar: so in dem Fragmente ^° 'Kleonnis', das in
22) So sein Erstlingswerk 'Dämon oder die wahre Freundschaft', 1747 erschienen; dessen
Abdruck in Ch. H. .Schmidt Anthologie, Frankfurt u. Lpz. 1770, I Bd, Leasings Unwillen
erregte; weshalb es auch in den spietern Ausgaben fehlt. 23) 1747 gedichtet, aber erst
1754 in den Schriften, 4. Bd, gedruckt. 24) 1749 verfertigt; ebenfalls Schriften 4 (1754).
25) Schriften 2 (1753). 26) Henzi war am 17. Juli 1749 zu Bern als Verschwoerer gegen
die aristokratische Verfassung pnthau])tet worden. 27) Es erschien in demselben Jahre:
Schriften 6. 28) Lillo, Merchant of London, 1731 zuerst aufgeführt. 29) Lit.
brief 17. LB. 8, 193. Eine vermutlich von Frau Gottsched verfasste Entgegnung, welche
Lessings Faustscene lächerlich zu machen sucht, hat Schienther. Frau Gottsched 258 fgg.
wieder abgedruckt. Lessing hat den Stoff wenigstens zweimal bearbeitet, wie aus Nachrichten
seiner Freunde hervorgeht; doch sind die Handschriften verloren gegangen. 30) Theatr.
Nachlass 2, 19 fgg. Ein niesseiiischer Körnig ttjetet zur Rache für einen heldenmütigen
Sohn dessen Mörder, in welchem er zu sjjict den anderen, ihm früh geraubten Sohn erkennt.
§ 154 LEASINGS DRAIVIEN. 421
füiiffüssigeu Jamben mit stets männlichem Ausgang veifasst ist, und im Thi-
lotas' (Berlin 1759), der in knappster Prosa die Sclbstopterung eines gefange-
nen Koenigssohnes erzajhlt.-" Allein die volle Iloehe seiner Kraft erreicht
der Dichter erst nach dem Kriege und sein erstes Meisterdrama ist eine
Friedens- und Versoehnungsmahnung , worin die beiden feindlichen Volks-
stämme, denen Lessing hier durch Geburt, dort durch Neigung angehojrte,
in ihren besten Eigenschaften verkörpert erscheinen. 'Minna von Barnhelm
oder das Soldatenglück', noch 1763 zu Breslau gedichtet, erschien zu Berlin 1707,
und zahlreiche Aufführungen, mehrfache Übersetzungen beweisen den Ein-
druck des trefflichen Stückes auf die Zeitgenossen. In der That war der
scenische Aufbau, die Führung des Gespraechs, die Schärfe und der Adel
der Characteristik über alles bisher auf dem deutschen Theater Gesehene
weit erhaben. In Tellheim verband Lessing seine eigenen und die Züge
seines Freundes Kleist ^-^ zu einem Idealbild des preussischen, des deutschen
Offiziers. Indem er neben den ergreifenden Gemütsbewegungen der Haupt-
personen auch die Komik in den Nebenfiguren^^ vortrefflich einzumischen
verstand, schuf Lessing mit diesem Stücke das ernste Lustspiel, wie es dem
deutschen Volkscharacter am besten zusagte, wie es aber auch gleichzeitig mit
Lessing von seinem franzoesischen Geistesverwandten Diderot^* gefordert und
durch Beispiele dargestellt ward. Hätte das Hamburger Theaterunternohmen
Bestand gehabt, so w?ere von den zahlreichen Plaenen Lessings wohl noch
mancher zur Ausführung gekommen. Allein er vollendete zunsechst nur noch
ein bereits 1758 in Angriff" genommenes Trauerspiel 'Emilia Galotti', eine in
das Gebiet der büi-gerlichen Tragoedie verpflanzte, moderne Virginia. ^^ Lessing
wollte die That des Vaters ^^ begreiflich machen, der seine Tochter ermordet
31) Über die Versificirung durch Gleiin s. § 142, 4. 32) Auch Kleist hatte vou Leipzig
aus Contributionen einzutreiben; dass ein preussischer Offizier diese selbst vorstreckte und
dadurch eine feindliche Stadt rettete, ereignete sich in Lübben: Er. Schmidt, Lessing
1, 461. 33) Über benutzte Motive der Vorgänger s. Erich Schmidt Anz. zur Zs. f. dtsch.
Alt. 25, 74. 34) Vgl. Lessings Vorreden zum 'Theater des H. Diderot' 1760. »1781.
35) Der Stoff' stammt teilweise aus einer Novelle des Bandello: s. den Excurs in E. Schmidts
Lessing 2, 2o5 fgg. 36) Das Verlangen der Tochter zu sterben hat vielfach Anstoss
erregt, s. Engel, Philosoph für die Welt u. a. Goethe hat es nur unter der Voraussetzung
das« sie den Prinzen liebe, begreifen wollen: Hiemer, Mitteilungen über Goethe, Berlin
1841, S. 668 fg. Anders Kuno Fischer, Lessing als Reformator der deutschen Litteratur,
Stuttgart 1881 S. 247 fgg., wo die Berechtigung ihres Wunsches, aber auch nur für den
einen Moment, in welchem er ausgesprochen wird, behauptet wird. Ähnlich schon Herder
Humanitaetsbrief 87. Für Guithes Ansicht spricht jedoch der Vergleich mit Baudellos
422 NELUIOCIIDEI'THCIIE ZEIT. XVIII .lAlIKlI. § 154
um sie (lern Gelüst eines Tyrannen zu entziehn, docli ohne Hoffnung durch
einen Volksaufstiuul gerächt zu werden; aber er konnte nicht vermeiden (hiss
neben der menschlichen Teilnahme doch aucli der Ocdanke an die politischen
Zustände Deutschlands sich vordrängte, in welchen damals wohl auch Ahn-
liches uKrglich gewesen waire. Indessen, wenn auch vor allem durch Schiller
dieser Gedanke immer mächtiger tortwuchs, so fand doch die scenischc Kunst,
die Lessing gerade hier bewiesen, noch allgemeinere Anerkennung und Nach-
ahmung. Noch einmal griff Lessing zur dramatischen Form um den Ge-
danken, die ihn zuletzt am tiefsten bewegten, Ausdruck zu verleihen. Sein
dramatisches Gedicht: 'Nathan der Weise^ erschien zu Berlin 1779. Er hatte
schon früh eine Novelle des Boccaccio zu dramatisieren gedacht, worin nach
einem Vergleich aus der Kreuzzugszeit " die drei Religionen der Christen,
Juden und Heiden, d. h. der Mohammedaner, als gleichberechtigt bezeichnet
werden. Jetzt schuf er^* eine Reihe von Gestalten, in deren Zusammen-
treffen er diesen Gedanken schliesslich zum Siege gelangen Hess und von
denen er die Hauptperson wiederum mit Zügen ausstattete, worin das Bild
seines Freundes Moses Mendelssohn mit dem seinigen sich verband. Der
heitere Ausgang, die Fülle und Weichheit der Sprache, welche in dem lose-
bindenden fünffüssigen Jambus sich ergiesst, stimmen zu der Milde der Lehre,
welche den göttlichen Ursprung der Religion nur in dem Einfluss auf die
Gesinnung und Gesittung ihrer Bekenner sich erweisen lässt.^* Eben dies
war es, was er in seinen Streitschriften gegen Goeze ausgesprochen hatte.'"*
Auf das gleiche Ziel wies seine ernste, kurzzusammenfassende Schrift 'Die
Erziehung des Menschengeschlechts' (Berlin 1780), welche die Hoffnung auf
ein neues ewiges Evangelium ausspricht und das sittliche Leben als etwas
Selbständiges neben dem christlichen Dogma hinstellt. Für die Wissenschaft
von diesem und für die Kirchengeschichte überhaupt erwuchs hieraus eine
neue Freiheit, und so hat die protestantische Theologie von Lessing einen
Lncretia: Er. Schmidt 2, 8(K». 37) Vgl. besonders Wnckemagel Kl. Srhr. 2, 452.
Die Erzffihlung Nathans von den drei Hingen LB. 2, 905. 38) Dass auch Decamerone
10, 3 und 5, 5 von Lessing benutzt sind, zeigt Erich Schmidt Lessing 2, 512 fgg.
39) Von der überaus umfiinglichen Litteratur über Lessings Xathan (Verzeichnis bis 1867
in einem Dresdener Programm von Naumann) entspricht wohl der Aufsatz von David Strauss.
Berlin 1864 uö. dem Sinne des Dichters am meisten. 40) Vgl. die Auszüge LB. 3. 257.
265 (Das Testament Johannis, als apocrvph. aber göttlich dem Evangelium Johannis ent-
gegengestellt). 27.3. Gleiche Ansichten hatte Lessing schon 1751 geäussert : Lachm.-3I.
3, 154, in4em er den 'unfruchtbaren Streitigkeiten' gegenüber auf 'das praktische des Chri-
§ 154 LESSINGS UNTERSUCHENDE SCHRIFTEN. 423
tiefgreifenden EinHuss erfahren.*' Fand und findet noch heute Lessings
theologische Ansicht viele Bestreiter,"*'-^ so wurden seine Kunstlehren, so tief
sie eingriffen, doch von Anfang an als massgebend betrachtet und befolgt.
Ausser den vielen zerstreuten Kritiken, die in den Litteraturbriefen ihren
UcEliepunct erreichten, sind es besonders zwei Schriften, welche den gesamten
Betrieb der Litteratur umgestalteten, so wenig sie auch beide darauf aus-
gingen, umfassende Lehrgeba3ude aufzurichten. Unvollendet blieb das eine:
'Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie', I Teil, Berlin
1766.*^ Das Urteil Winkelmanns über die Laokoongruppe, dass sie im
Gegensatz zu Vergils Erzsehlung von Laokoon die Ruhe und stille Groesse
zeige, welche der Grundzug der antiken Kunst sei,** berichtigte Lessing da-
hin, dass die bildende Kunst, da sie nur nebeneinander bestehendes darstelle,
einen einzigen Moment und deshalb einen dauernd gefallenden,*^ herausgreifen
müsse, wsehrend die Dichtung, indem sie nacheinander eintretendes darstelle,
auch das Hässliche in ihrem raschen Fortschritt mitnehmen könne. Als den
Gegenstand der bildenden Kunst nannte er Körper, als den der Dichtung
Handlungen.**' Die schildernde Poesie, die bisher einen so umfänglichen und
einen so hochgeschätzten*'^ Teil der poetischen Litteratur ausgemacht hatte,
verwarf er, wie er schon 1755*^ in der mit Mendelssohn gemeinsam ver-
fassten Schrift Tope ein Metaphysiker' gezeigt hatte, dass ein Lehrgedicht
notwendig von der Strenge und Würde einer philosophischen Untersuchung
abweichen müsse, also dieser gegenüber nur einen geringeren wissenschaftlichen
Wert haben könne. Wie nun im Laokoon das vergilsche Vorbild weit hinter
das homerische zurücktrat, so verlor durch Lessings 'Hamburgische Drania-
stentums' hinwies. 41) Vgl. Carl Schwarz, G. E. Lessing als Theologe. Halle 1874;
und Ed. Zeller, Vortrsege und Abhandlungen, Lpz. 1877, S. 283 fgg. Von den zahlreichen
Schriften über Lessings Philosophie morgen C. Hebler. Philosophische Aufsätze. Lpz. 1869
und Gideon Spicker, Lessings Weltanschauung, Li)z. 1883 besonders hervorgehoben werden.
42) Von ihnen moege genannt sein: .Toh. Ciaassen, Lessings Leben u. ausgewa-hlte Werke
im Lichte der christlichen Wahrheit, Gütersloh 1881, II. 43) Zahlreiche Erlseute-
rungsschriften : hervorzuheben H. Blüraner, Lessings Laokoon * Berlin 1880. 44) Ans
eben diesem Gesichtspunct aber erwies Lessing in der Schrift 'Wie die Alten den Tod
gebildet', Berlin 1769, dass die Darstellung des Todes durch ein Skelett erst im 3Iittelalter
aufgekommen sei. 45) Den 'fruchtbaren Moment': über diesen Begriff ist Lessings
Untersuchung besonders durch Ph. J. W. Henke, 'Die Gruppe des Laokoon oder über
den kritischen Stillstand tragischer Erschütterung'. Lpz. u. Heidelberg 186-, weitergeführt
worden. 40) LB. 3, 1. 0. 47) Insbesondere wandte Lessing sich gegen Brei-
tingers Lob einer Stelle in Hallers Alpen. 48) Auf Aulass einer Preisfrage der Berliner
424 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVHl JAHRH. § 155
turgic' (lliimburg 17(57 — 08, H)^' die bisher iimstcrgiltige franzoesische Tra-
ga'dio ihr Aiisohn völlig. Auch liier suchte Lessing seine Stütze in der
griochischcn Littcratur: die Poetik des Aristoteles gab ihm das unverbrüch-
liche Gesetz.''" Darauf hatten sich allerdings auch die fran/.ocsischen Dichter
berufen; aber mit Unrecht, wie Lessing nachwies, und zwar Voltaire nicht
minder mit Unrecht als Corneille. Dem Zwecke der Tragoedie, wie Aristo-
teles ihn bestimmt habe, entspreche weit mehr Shakespeare,'"' dessen Art über-
dies dem deutschon Gefühl weit na>her komme. Damit war ein wahrhaft
erla-scndes Wort gesprochen, das deutsche Drama erhielt eine neue, eine ihm
selbst gemtesse Richtung. Freilich als es zunajchst über die von Lessing
angegebene Linie hinausging, als es auch in seineu Formen sich Shakesj)earc
völlig anschliessen, ja seine Freiheit noch überbieten wollte, hielt er, wenn
auch nur gegen seine Umgebung, nicht zurück mit seiner Missbilligung. ^'^
§ 155.
Wsehrend Klopstock, Wieland, Lessing die Dichtung mit gewaltigen
Schritten vorwärts führten, gingen neben ihnen andere Dichter her, welche
nur teilweise ihnen folgten, einerseits älteren Mustern anhingen, andererseits
eigene Bahnen einschlugen. So fand Ilallers ernste, fromme Lehrdichtung
Nachahmer in dem Duisburger Professor Jon. Philiim« Lorenz Withof^
(1725 — 89) und, mit mehr Freiheit, indem hessen-homburgischen Staatsmann
FRiEDRrcH Karl Kasimir von Creuz (1724— 1770). Des letzteren Gedanken
verweilen bei der Vergänglichkeit alles Irdischen, bei den Zweifeln, die alle
Philosophie nicht loesen kann. Schon 1742 mit Gedichten hervorgetreten,
Akademie. 49) Lessings Hamburgiarhe Dramaturgie erlaeutert von F. Schroeter u. R.
Thiele. Halle 1877. Cosack. Materialien zu L's. Dram. Paderborn 1876, 2. Aufl. 1891.
50) Lessings Auffassung der aristotelischen xf/.^raxrtc rwr Tiu^^rjuicKoy berichtigt J. Bemays,
'Zwei Abhandlungen über die aristotelische Theorie des Drama", Berlin 1880. 51) LB.
3, 217 fgg. 52) So meinte er über Goethes dramatisierten Lebenslauf des Götz: 'Er füllt
Därme mit Sand und verkauft sie für Stricke'; mit Goethes Werther war er um so mehr
unzufrieden, als er den jungen Jerusalem, dessen Lebensschicksal Goethe für seinen Roman
benutzt hatte, perscrnlich schätzte: was er in der Vorrede zu dessen 'PhilosophischeE Auf-
sätzen'. Braunschweig 177ß, aussprach.
§ \i)i). 1) Gedichte, Bremen 1751; Aufmunterung in moralischen Gedichten, Dortmund
1755. spjeter z. T. umgearbeitet in 'Academische Gedichte', Leipzig 1782. 83, 11. Herder,
der ihn früh neben Creaz nennt, hat einigen Gedichten (Das Grab des Heiland«, Sokrates
oder von der Schirnheit. die Entschlüsse"! eine minder rauhe Form ffejreben. Aber seltsam
klingt Withofs Anmerkung zu seinem 'Abschied von der Dichtkunst': 'Ein würdiger Medicus
bedarf freilich einiger Ausspannung; aber es gibt noch viel edlere und nützlichere Ergetzun-
§ 155 WITllOF, CREUZ, LAYATEK. 425
blieb er in Sprache uud Verskunst hinter den Fortschritten seiner Zeit zurück,
wenn er auch von der neuen Dichtung Kenntnis nalim. Sein Lelirgedicht in
freien Reiniverscn 'Die Grsebor' vcrfasste er zwischen 1752 und 1759; von
zwei Alexaudrinertragoedien, 'Seneca' und 'Sokrates' Hess er die letztere un-
vollendet. Am meisten entsprach seiner grübelnden Schwermut die Ode,
in welcher er melodische Strophenformen mit kräftigen Gedanken zu erfüllen
vermochte."
ReligioGse Dichtung verband mit der patriotischen Johann Caspar La-
VATER, nur dass er hier Nachahmer war, und zwar verschiedener Muster,
wahrend er als Prosaist, als theologischer Schriftsteller Selbständigkeit be-
wies. Geboren zu Zürich 1741, starb er ebendort 1801, an einer Schuss-
wunde dahinsiechend , die ihm ein eben noch von ihm erquickter franzoe-
sischer Soldat gegeben.^ Seine Beherztheit und Opferwilligkeit hatte er früh
bewiesen, indem er 1762 einen ungerechten Landvogt des Züricher Gebiets
mit Erfolg anklagte. Seine 'Schweizerlieder' erschienen zuerst zu Bern 1767,
den Grenadierliedern Gleims nachgebildet; seine 'Christlichen Lieder' seit
1771;^ 1785 sammelte er seine 'Vermischte gereimte Gedichte'. Seiner
etwas hastigen, nachlässigen Dichtungsweise entsprachen die reimlosen Formen
mehr, die er namentlich in längeren erzaehlenden und lehrenden Gedichten
anwendete: so in 'Jesus Messias oder die Zukunft des Herrn nach der Offen-
barung des Johannes' (1780) und in 'Jesus Messias oder die Evangelien und
Apostelgeschichte in Gesängen', IV, 1783 — 86: Klopstocks Messiade war ihm
sonst das einzige Buch, an welchem er sich nicht satt lesen konnte, hier
setzte er ihr eine bibelgemaessere Geschichte des Heilands entgegen. In
'Joseph von Arimathia' 1794 gebrauchte er achtfüssige Jamben, in seinem
Lobgesang auf Güte und Liebe 'Das menschliche Herz' 1789 fünffüssige.
Auch dramatisch eiferte er Klopstock nach: dessen 'Tod Adams' war ihm
Vorbild für das 'religioese Drama: Abraham und Isaac' (Winterthur 1776).
gen, als die Faulheit, der Wein und die Poesie'. 2) LB. 2, 911 fgg. Gesammelt
erschienen seine X)den und andere (jedirhte/, auch kleinere prosaische Aufsätze, Frankfurt
a. M. 1769. Herder nannte diese (tedichte 'metaphysisch': Suphan 5, 290 fgg. 3j J. K.
Lavaters Lehensbeschreibung von seinem Tochtermann Georg Gessner, 111, Winterthur
1802 — 1803; Ferd. Herbst, L. nach seinem Leben, Lehren und Wirken, Ansbach 18.'52;
F. W. Bodemann (mit dem gleiclien Titel), Gotha 1<SÖ6; F. Muncker, J. K. Lavater, eine
Skizze seines Lebens u. Wirkens, Stuttgart 188.'5. Dass der Name mit langem a in der
zweiten Silbe ausgesprochen wurde, beweisen Reime die Lenz in Lavaters Gegenwart auf
ihn dichtete. 4) Proben aus beiden LB. 2, 925 fgg.
42«; NEUIIOCIIÜEUTSCIIE ZEIT. XVlll JAIIKII. § 155
Bei der Vollendung stand iliin hier (urthc bei, mit welchem er 1774 auf
einer Reise nach Ems sich innig befreundet hatte. Sie verbanden sich be-
sonders zu gemeinsamen Studien in der Physiognomik," als deren Frucht
Lavaters Buch 'Physiognomisclie Fragmente zur Beförderung der Menschen-
kenntnis und der Menschenliebe', Leipzig 1775 — 78, IV, erschien.* Aber
so offenher/.ig sich Goethe ihm anfangs gezeigt,^ seit 1780 wandte er sich
völlig von ihm ab. Ihn ärgerte je länger je mehr die Schwärmerei, mit
welcher sich Lavater in die Geheimnisse des Jenseits versenkte, zuerst in
den Aussichten in die Ewigkeit', Zürich 1768 — 78, IV; dann mit besonderer
Schärfe gegen die KichtgUeubigen im Pontius Pilatus', Zürich 1782 — 85, IV.'
Auch die Wundersucht Jjavaters, sein Glauben an die Wundercuren von
Gassnei:, Cagliostro, Mesmer erregte viel Anstoss und Tadel, und nicht minder
seine wiederholten Versuche" Andere für seine Ansichten zu gewinnen, wobei
er die hoechste Gewandtheit und Kraft, aber auch persaMdichc Eitelkeit'"
bemerken Hess. Auf Viele jedoch, aus den hoechsten und niedrigsten Stän-
den, insbesondere auf die Frauen, wirkte Lavater mächtig ein und die reli-
gioDse Umwandlung zu Ende des Jahrhunderts hat er sehr wesentlich mit
vorbereitet.
Lavater war noch Schüler von Bodmer und Breitinger gewesen und
hatte von hier aus den Weg zu Klopstock leicht gefunden. Mit diesem ver-
band sich aber auch ein Dichter, welcher vielseitiger und selbständiger, ge-
wissermassen Gleims und Wielands Richtung mit der Klopstockischen vereinigt
und überdies als Kritiker den Übergang von Lessing zu Herder herzustellen
beitrtegt. Heinrich Wilhelm. von GEusTENBERfi war 1737 zu Tondern ge-
boren und als Jenenser Student trat er 1759 mit Tändeleyen' hervor,"
womit er sich zunächst an Wielands 'Grazien' anschloss und Lessings '- Bei-
fall erwarb; in das daenische Heer eingetreten dichtete er 'Kriegslieder
5) V. d. Hellen, (juetbes Anteil an Lavaters pliysiognom. Fragmenten, Frankfurt 1888.
6) LB. 3, 511 fgg. 7) Briefe von Goethe an Lavater, hg. von H. Hirzel, Lpz. 1833.
8) Der volle Titel lautete 'P. P. oder der Mensch in allen Gestalten: oder Hcehe und Tiefe
der Menschheit; oder die Bibel im Kleinen und der Mensch im Grossen; oder ein Universal-
Ecce-Homo; oder Alles in Einem'. Daraus LB. 3. 525 fgg. 9) So forderte er 177U im
II. Teil seiner Übersetzung von Bonnets Palin^jenesien Moses Mendelssohn auf die darin für
das Christentum vorgebrachten Beweise zu widerlegen oder selbst Christ zu werden. 1786
reiste er nach Bremen, 1793 nach Kopenhagen um für seine Ansichten Anhänger zu ge-
winnen. 10) 'So fasste man auch sein 1771 von Zollikofer in Leipzig herausgegebenes
'Geheimes Tagebuch eines Beobachters seiner selbst' auf. Hieraus LB. 3, 50.") fgg.
U) gedruckt zu Leipzig, durch Vermittelung Weisses. 12) Litteraturbrief 32. 33.
§ 155 GERSTENBERG. 427
eines dneiiischon Grenadiers bei Eröffnung des Feldzugs 1762'. In Kopen-
hagen mit Klopstoek nahe befreundet, verfasste er 1706 das 'Gedicht eines
Skaklen'; aus einem Hünengrab in der Nsehe von J. A. Cramers Landgut
Hess er einen Sänger des heidnischen Dsenemark auferstehen und den Gegen-
satz der alten und neuen Zeit besingen: die Götterdämmerung, in der kna])pen,
dunkeln Art der Edda erzaehlt, beschloss das Gedicht.'^ Auch als Dramatiker
betrat er neue Bahnen: 1767 zeigte er in seiner tragischen Cantate 'Ariadne
auf Naxos' ein aussezeichnetes Musikverständnis ^* auch in den wechselnden
Versformen-, ^'^ 1768 schilderte er in dem Prosatrauerspiel '^ 'Ugolino' mit
seltsamer Wahl nach Dantes Hölle den Hungertod eines Vaters mit seinen
Söhnen, wusste aber die Scenen des Wahnsinns und der Verzweiflung mannig-
faltig und ergreifend zu gestalten. Auch hier wird musikalische Begleitung
eingeflochten, noch mehr in 'Minona', Hamburg 1785, Gerstenbergs Lieblings-
dichtung, deren Form die Einflüsse von Shakespeares Sturm und von Klop-
stocks Bardieten ^^ erkennen lässt; auch die patriotische Begeisterung für den
Sieg der Angelsachsen über Briten und Roemer erinnert an diesen. Klop-
stocks Ansichten vertritt Gerstenberg ebenso in einer kritischen Zeitschrift
'Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur', Schleswig u. Leipzig 1766. 67,'^
welche oft als 'Schleswiger Litteraturbriefe' angeführt werden. In der That
schlössen sie sich vielfach an die Berliner Litteraturbriefe an, doch mit ab-
weichenden, zum Teil entgegengesetzten Absichten. Schon machen sich die
Einflüsse Hamanns geltend, und wie dieser erschien auch Gerstenberg den
Zeitgenossen nur zu dunkel, was aber z. T. bei ihm ebenfalls durch die
Tiefe und den Reichtum der neuen Gedanken verschuldet wird. Gegen die
einseitigen Bewunderer der Alten wird Shakespeare hervorgehoben, in dessen
'Historien' eine vollberechtigte Gattung des Dramas anzuerkennen sei. Die
Poetik des Aristoteles erscheint nicht als durchaus massgebend. Gottscheds
Verdienst als Sammler kommt zur Geltung. Die altnordische Dichtung wird
nach der Edda und den Kjämpeviser bekannt gemacht, aber auch Ariost
18) Über die Quellen, auH denen er schöpfte, handelt W. Pfau, Das Altnordische bei Gersten-
berg, Vjschr. f. Lit.gesch. 2, 161 fgg. 14) Vgl. Sturz über Gerstenberg LB. 3, 753.
15) Sie erschien zusammen mit .J. A. Schlegels Prokris und Cephalus zu Kopenhagen.
Das Monodrama wurde mehrfach componiert; zum Duodrama Umgewandelt von Brandes
(Lpz. 1778). 16) ohne Namen des Verf. Hamburg u. Bremen. 17) Die Sachsen
führen bei ihrer Feier 'Bardiete' auf. 18) Drei Sammlungen, wozu 'Der Fortsetzung
erstes Stück' Hamburg u. Bremen 1770 erschien, von minderer Wichtigkeit. Neudruck mit
Einleitung von A. v. Weilen in Seutt'erts Lit.-denkm. 29, Heilbronn 1888. Briefe Gersten-
428 NEUIIOOFIDEÜTSCIIE ZEIT. XYIII JAIIRII. § 155
uiul Ciildcron erhalten ilir Lob. Wieland wird als Übersetzer Shakespeares
scharf getadelt, ebenso Ilainlors unbefugte Verbesserung anderer Dichter ge-
rügt. Es begreift sieh leicht dass Klotz, damals noch in hohem Ansehen,
mit den Seinigen Gerstenberg die Kritik zu verleiden suchte, und nicht ohne
Erfolg. Gerstenberg hat seitdem nur als Dichter noch und auch nur Weniges
veröffentlicht. Erst weit spteter sammelte er seine 'Vermischte Schriften', UI
Altona 1815. 16. Freilich trugen missliche Vcrma'gensverhilltnisse zu diesem
Zurücktreten bei: erst 1785 erlangte er in Altona eine befriedigende Stel-
lung, in welcher er 1823 starb.
So unverständlich Gerstenbergs Skaldendichtung den Lesern in Deutsch-
land, trotz seiner Erheuterungen, erschien, so wirkte sie doch durch Klopstocks
Nachahmung gewaltig nach.'*-* Dies Muster traf zeitlich zusammen mit einem
anderen, welches die Naturpoesie des Nordens auch in der Gegenwart noch
lebendig zu zeigen schien. Macphersons Ossian war 1705 erschienen.-"
Gerstenberg selbst erkannte die Unechthoit'^' dieser Dichtungen, aber die
meisten Zeitgenossen wurden auch durch die deutlichsten Beweise ^^ davon
nicht überzeugt. Zu gut gefiel ihnen die ganze Stimmung und Einkleidung
der Ossianischen Poesie, die Toene der Geister im Mondschein', die an der
Eiche hängende Harfe. Die erste Übersetzung^^ in Hexametern veröffent-
lichte Michael Denis 1768. 69, und seine Dichtung verband seitdem Klop-
stocks Muster mit dem, was aus Ossian und den Skalden abzulernen war.
Mit ihm trat Osterreich , trat der Jesuitenorden wieder an die Pflege der
deutschen Litteratur heran. Geboren^* zu Schärding 1729, war er von 1747
bis 1773 dem Orden angehcerig, hierauf erst als Lehrer am Theresianum,
dann nach dessen Aufhebung als Bibliothekar, zuletzt an der Hofbibliothek
tha?tig,-^^ bis zu seinem Tode 1800. 1772 erschienen'-" von ihm 'Die Lieder
bergs an Nicolai aus dieser Zeit s. Zs. f. d. Phil. 23, 43 fgg. 19) KlopstOfk ward
meist als Urheber dieser Richtung angesehn, was (iersteuberg selbst in einem Beitrag
zu Jürdens Lexikon deutscher Dichter u. Prosaisten. Supplemente, Lpz. 1811 S. 174 richtig
stellte. 20) Bereits 1762 die ersten Proben: Fingal und Temora. 21) Lit.-denkm.
29, 57. Er beruft sich auf ein französisches Memoire. 22) Vgl. Talvj, die Unächtheit
der Lieder Ossians und des Macphersonschen Ossians insbesondere. Leipzig 1840.
23) 'Gedichte Ussians eines alten celtischen Dichters, aus dem Englischen übersetzt von
M. Denis', 111, Wien. Eine prosaische Übersetzung von Anderen war schon 1764 erschienen.
24) Vgl. bes. F. V. Hofmann -Wellenhof, M. Denis, Innsbruck 1881. 25) Er ver-
öffentlichte als solcher auch eine Anzahl bibliographischer Schriften: Einleitung in die
Bücherkunde' 1777 usw. 26) zu Wien, 'mit Vorbericht und Anmerkungen von
M. Denis, aus der (i. J." Den Namen Siued hatte ihm Kretschmanu gegeben. 'Ossians und
§ 155 DENIS, KRETSCHMANN. 429
Sineds des Barden', grossenteils hoefische Gelegenheitsgedichte auf Maria
Theresia, Joseph 11, auf Vorgesetzte,^^ andere auf befreundete Dichter, unter
ihnen Klopstock, Gleim, Ramler: seit der Versoehnung Friedrichs II und
Josephs II waren auch ihre Barden befreundet. Vorher hatte Denis den
preussischen Kriegsliedern oesterreichische entgegengesetzt^** und sich darin
Geliert für Versmass und Stil zum Muster genommen. ^^ In den Barden-
gesängen wendet er nach Klopstocks Vorbild die horazischen Odenformen,^"
haeufiger aber freie reimlose Verse an, und sucht mehr als irgend ein anderer
die eigentümlich skaldischen Umschreibungen^* nachzuahmen.
Hierin sticht stark von ihm ab 'der Barde Rhingulph', Karl Friedr[ch
Kretschmann, Advocat in Zittau (1738 — 1809).^'^ Er pflegt den Arminius-
cultus, welchen der sanfte, moralisierende Denis bei Seite gelassen hatte:
1768 erschien sein 'Gesang Rhingulphs des Barden, als Varus geschlagen
war', 1771 'Die Klage Rhingulphs des Barden' über Hermans Tod. Auch
Kleist und Geliert beklagt er. Aber die Form ist wesentlich'*^ den Gleim-
schen Liedern angenaehert; den Reim nimmt er in der Vorrede zu seiner
Sammlung^* ausdrücklich für die 'Bardeyen' in Anspruch. Spseter ging er
mehr und mehr als Lyriker und Dramatiker auf den Spuren seines Freundes
Weisse,^'' als die Bardenpoesie ^^ überhaupt lästig und lächerlich geworden war.
Das ganze Sichversenken in die germanische Vorzeit und in die damit
in Verbindung gesetzte Poesie des Nordens hing zusammen mit dem Unmut
über Friedrichs II dauernde Ablehnung der deutschen Litteratur, und fand
Sineds Lieder' V, 1784, mit Naohlasy hg. von Retzer, der auch den litterarischen Nachlas»
von Denis 1801. 2, II, herausgab. 27) Von diesen redet er einen Bischof als Ober-
druiden an. 28) 'Poetische Bilder der meisten kriegerischen Vorgänge seit dem .Jahre
1756' (Wien 1760), spaeter fortgesetzt. 29) Sehr wichtig für das Eindringen der deutschen
Litteratur nach Österreich ist die von Denis veranstaltete 'Sammlung kürzerer (Tedi(dite aus
den neueren Dichtern Deutschlandes', II, Wien 1766 (Vorrede von 1762, doch s. Hofmanu-
Wellenhof S. .^02). Denis sprach zeitlebens mit dialektischer Färbung, aber er schrieb
allmählich sehr rein. 30) Noch ausgedehnter gebraucht diese Kakl Mastalier, ein
Ordensgenosse von Denis (aus Wien, 1731 — 1795). 31) Mutter der Menschen' = Erde,
'Männer der Wunden' = Krieger, 'Das Haupt der Starken' = General. Der 'Vorbericht von
der alten vaterländischen Dichtung' zeigt die gelehrten Studien des Dichters; ihre Verwer-
tung al)er das Schuhntessige der Jesuitenbildung. 32) H. F. Knothe, K. F. Kretschmann,
der Barde Rhingulph. Zittau 18.58. 33) Abgesehn von den häufigen Ausrufen 'Ha!'
u. s. 34) Sämtliche Werke, VI, Lpz. 1784 99. 35) des 'Oberbarden an der
Pleisse' (Denis). 36) Das überschwängliche Lob bei der ersten Aufnahme hatte Herder
gemaissigt: Suphan V, 322 fgg. Boies Verwerfung der Bardendichtung s. bei Weinhold 177.
430 NEUIIOCTIDEÜTHnHE ZEIT. XVIII JAHRII. § 155
tlaluM- aucli nur iiussorhall) Proiissons''" PHogo. In Prousson wurde Rainlcra
antikisiorondc Diclitung weitergeführt durch .Ion. Gottlikb Wiij.amov, geb.
1730 zu Mohrungen, gest. 1777 zu Petersburg, wo er eine Schulstelle be-
kleidet liatte. Seine Dithyramben' erschienen 1763, seine Dialogischen Fa-
beln' 17()5.^'* .lene verherrlichen in freien Versen Bacchus; die Oden' nach
pindarischer Art feiern erat Berlin und Friedrich JI, dann Katharina von
Russland und ihre Siege über die Türken : und hier ahmt er auch seinen
Freund Oleim, ja selbst ein russisches Soldatenlied nach.
Doch weit mehr ward von dem proussischen Dichterkreise Oleims die
Anakreontik in der Friedenszeit weiter gepflegt, wobei namentlich der von
Friedrich II hochgeschätzte franzoRsische Dichter Gresset als Muster galt.
Der deutsche Gresset" sollte Jon. Geor(4 Jacobi sein.^** Geb. zu Düsseldorf
1740, war er in llallo 17(56 College und Freund von Klotz, 1768 Kanonikus
in Halberstadt, von 1784 bis zu seinem Tod 1814 Professor zu Freiburg i. B.
1768 erschienen die mit Amoretten tändelnden Briefe des Herrn Jacobi\ denen
sofort 'Briefe der Herren Oleim und Jacobi' folgten; in der 'Winterreise' 1769
und der 'Sommerreise' 1770 ahmte Jacobi Sterne nach, doch nur dessen
Sentimentalitset, nicht seinen Humor. Die Frauen auch der vornehmen Kreise
verwa3hnten den Dicliter, dem Wieland und Sophie Laroche persoenlich nahe
traten. Aber er erweckte auch die heftigste Missgunst. Bodmer schalt ihn
in dem Schriftchen Von den Grazien des Kleinen' 1769 als unsittlich, die
Anhänger Klopstocks, insbesondere Gerstenberg ^" Hessen ihn ihre Feindschaft
gegen Klotz entgelten. Herder verwarf die erotische Spielerei zwischen
Männern, Goethe schalt das Rühmen seines guten Herzens,*' Nicolai karrikicrte
ihn als den Dichter 'Säugling' in seinem Roman 'Sebaldus Nothanker' 1773
und selbst Wieland nahm sich seiner nicht an. Es war eine ungenügende
Abwehr dass Gleim 1773 seine Freunde in Halberstadt zu Stachelversen
37) In Schwaben dichtete Telynhanl d. i. Gottloh Davtd Hartmann (geb. 17.52, gest. 1775
in Mitau. wohin Sulzer ihn für das Gymnasium empfohlen). 'Hinterlassene Schriften' hg. von
Wagenseil, Gotha 1779. Anfänglich ein heftiger Gegner Goethes, ward er durch perscpnliche
Bekanntschaft umgestimmt und liebte wertherisch Frau von der Recke § 162, 30: Goethe-
jahrbuch 1H88 S. 128 fgg. 38) Beide zu Berlin. Von den 'Sämtlichen poetischen
Schriften', Lpz. 177i», erschien nur der ei-ste Teil. 39) Leben (von Ittner) im 8. Band der
'Sämtlichen Werke' Zürich 1807—22 uö., wo indessen manche der früheren Schriften fehlen,
welche in den 'Sämtlichen Werken'. Halberstadt 1770—72 III zu finden sind. 'Ungedruckte
Briefe von und an .1. G. .Jacobi' hg. v. E. Martin (QF. 2), Strassburg 1874; Martin und Scherer
Z. f. d. A. 20, 324 fgg. G. Kanschoö", Über .Ja.obis Jugendwerke. Diss. Berl. 1892. 40) S. auch
Weilen Vjsch. f. Lit.-gesch. 3, 178. 41) Fraukt' gel. Auz. 1772 (Xeudr. § 159, 73 S. 670).
§ 155 G. JACOBI, MICHAELIS. 431
gegen die Kritiker aufforderte, welche überdies ungedruckt blieben.'*- Jacobi,
den besonders der Yorwurf der Rcligionsspötterei tief gekränkt hatte/'' ent-
sagte bereits 17G9 dem Spiel mit Amor; die sittliche Grazie ward sein Ideal,
dem seine vielgesungenen Lieder und seine Singspiele,'*'* oft mit zarter Ein-
flechtung perscenlicher Beziehungen, einen liebenswürdigen, wenn auch der
Kraft ermangelnden Ausdruck verliehen. Die tiefe Empfindung, mit welcher
er das beste Erdenglück, aber zugleich dessen Vergänglichkeit umfasste, gab
ihm rehgioese Lieder ein und Hess ihn auch katholische Festtage in ihrer
tiefmenschlichen Bedeutung verherrlichen.'*'' So gewann er selbst frühere
Gegner zur Teilnahme an den von ihm herausgegebenen Zeitschriften: Iris,
Vierteljahrsschrift für Frauenzimmer', Düsseldorf 1774 — 76 und 'Taschen-
buch' 1795 fgg. (von 1803—13 wieder 'Iris' genannt).**'
Gleim und sein sonstiger Kreis nahmen an Jacobis Bekehrung nicht
Teil. So hatte Jon. Benjamin Michaelis dem Freunde (aber auch Wieland)
Anstoss o-eseben, als er eine Amorstatuette auf Jacobis Zimmer zu Ausfällen
auf dessen geisthche Gegner benutzte.**"'* Michaelis, aus Zittau gebürtig, starb
26J8ehrig zu Halberstadt 1772: hier hatte er nach entbehrungsreichen Jugend-
jahren , die er in Leipzig und Hamburg , hier als Journalist und Theater-
dichter verlebt, eine Zuflucht gefunden. Seinem Schützer Gleim waren schon
seine 'Einzele Gedichte', Leipzig 17G9,*^ gewidmet: Operetten*^ nach Weisses
Muster, aber mit Zauberspuk und Sticheleien auf die gleichzeitige Litteratur;
Satiren, Fabeln und Episteln,*^ diese mit naiherem Anschluss an die franzoe-
sischen Vorbilder; auch sein Anfang einer Travestie der Aeneis-''^ ist von
42) (§ 150, 18) Mitteilungen daraus auch bei H. Proehle, Lessing Wielaud Heinse (Berlin 1877)
S. '262 fgg. 43) Diesen deutete ilim auch der Hofprediger Sack bei einem Besuch in Berlin
1770 an: Knebels Liter. Nachlass 2, 61. 44) 'Elysiuin' 1770, Thsedon und Naide" 1788 u. a.
45) LB. 2, 943, bes. Nr. III. 46) Das Taschenbuch für 1795 erschien zu Kcjeuigsberg
u. Leipzig, das für 1798 u. 99 in Basel, das 'Überflüssige T. für 1800' in Hamburg, das 'T. für
1802' ebenfalls, die spictere 'Iris' in Zürich. 46 a) Vgl. Witkowski Vierteljschr. III, 509 fgg.
47) Die spseteren sind gesammelt iu M. ß. Michaelis Poetische Werke', I, Giessen 1780. Vorge-
druckt sein Leben von Ch. H. Schmid, 1775. Gesamtausgabe Wien 1791. Seine Autobio-
graphie ist im Neuen Lausitzischeu Magazin 1880 zu finden; der Herausgeber E. G. Wilisch
hat auch eine Characteristik des Dichters gegeben: Festschrift des G^'mn. zu Zittau 1886;
darin Ungedruclit^s aus dem Nachlass in Halberstadt. 48) 'Walmir und Gertraud'
(worin er die rührende Komcjedie in das lyrische Drama überzutragen versuchte), 'Je unna-
türlicher je besser'. Für sich erscbienen 'Amors Guckkasten' und Hercuh-s auf dem Oeta'
Lpz. 1772. 49) 'Die Grieber der Dichter', 1772, gibt eine gute Übersicht über die
damalige Litteratur. 'Die Kuustrichter,' eine Epistel, richtet sich au Dorat, der die Einigkeit
der deutschen Dichter gepriesen hatte. 50) 'Leben und Thateu des theuren Helden
Wackernagel, Litter. Geschichte. II. '■"■'
432 NErilOrUDRUTSfllR ZEIT. XVTII JAIIRII. § 155
dnrthor hoointlusst. rnselbständigor sind andoro Fortsotzor der Gloimschon
Anakivontik: so dor llalborsttedtor Ki.amkr Ebkrharu Kaul Schmidt (174G
bis 1.S2.S): doch half er 177(5 das Sonett wieder in die deutsche Litteratur
einlühren/''
Neben (Jleinis Lyrik fand auch die ihr jehnliche J)ichtung Wielands
Nachahmer. Ihre Geistesverwandtschaft mit der franzcesischen Litteratur musste
sie besonders dort empfohlen, wo deutsche und frauzcesische Bildung in nsech-
ster Berührung standen, im Eilsass. Der Strassburger Ludwk; Hkinkich
Nicola Y (geb. 1787, seit 1769 im Dienste des späteren Kaisers Paul, geadelt
und in hohen Ehrenstollen, gest. zu Wiborg in Finnland 1820)^- dichtete in
freien Versen Erzählungen nach Bojardo und Ariost^^ oder nach altfraiizoB-
sischen Fabliaux, verfasste zwei Trauerspiele n<ach den franzcesischen Kegeln
und bearbeitete Lustspiele Molieres und Cxoldonis; auch in Oden, Elegien und
Briefen, sowie in Fabeln nach Lafontaines Art versuchte er sich, wobei ihm
Ramler Sprache und Vers verbesserte.''*
Berühmter ward sein Freund und Landsmann Gottlirb Konrau Pfkffel
aus Colmar (173«) — 1(S09). An der Vollendung seiner Vorstudien für den
diplomatischen Dienst, dem ein älterer Bruder sich erfolgreich gewidmet hatte,
durch völlige Erblindung verhindert, beschäftigte er sich mit der Übersetzung
und Bearbeitung franzoßsischer Litteraturwerke, und 1778 — 92 mit der Lei-
tung einer von ihm begründeten protestantischen Kriegsschule; durch die
Revolution um sein Vermoegen gebracht, erhielt er bei der Wiederherstellung
der Ordnung ein bescheidenes Amt. Poetische Versuche' von ihm erschienen
zuerst^^ 1701: es waren Lieder in Weisses Art, auch Oden und Hymnen.
Denselben Titel gab er auch seinen spaeteren Sammlungen, von denen die
letzte zu Stuttgart 1802 — 10 (X) erschien. Prosaische Versuche", ebenda
1810—12 (X) schlössen sich an, meist Familiengeschichten auf Grund des
zumal in der ReY(dutionszeit Erlebten. Unberücksichtigt Hess er spfeter seine
Dramen, grosseuteils Bearbeitungen franzoesischer Stücke, welche er als
Theatralische Belustigungen' Frankfurt 1760 — 74, VI, herausgab. Von seinen
Aeneas', in einer Romanzenstrophe nnd im Tone der Gleimschen Romanzen. Für diese Ver-
spottung der Alten hatte Scarron this Beispiel gegeben. 51) § 14:2. 110. K. E. K. Schmidts
Leben und auserlesene Werke. .Stuttgart. III, 1826—28. 52) Aus dem Leben des
Freiherrn H. L. v. Nicolay" von P. v. Gerschau. Hamburg 1834. 53) Zuerst 'Galwine'
in seehs Gesängen. Petersburg 1773. 54) Seine Dichtungen sammelte er als 'Ver-
mischte Gedichte". IX. Berlin n. Stettin 1778 -8G, Theatralische Werke", II. Königs-
berg 1811, Poetische Werke'. IV. 1817. 55) In drei Bücheru, Frankfurt a. M.
§ 155 NICOLAY, PFEFFEL. 433
selbständigen Dramen iieigen Der Einsiedler, ein Trauerspiel' 1701 und sein
Schieterspiel 'Der Schatz', 1762, weniger Kunst ■''"' als sein mit Gesängen aus-
gestattetes Schauspiel Thilemon und Baucis', Strassburg 1763. Am besten
gelangen Pfeffel volksmaessige Erza^hlungen und Fabeln: Geliert war hier sein
Vorbild,"^ seine Quellen aber meist franzoesische Fabeln,'"* denen er vielfach
Beziehungen auf die deutsche Litteratur, gegen Lessings Fragmente, Goethes
Werther und gegen die Stürmer und Dränger, sowie auf die franzoesische
Revolution unterlegte.
Bei Pfeffel wie schon bei Michaelis war als Muster auch ein sächsischer
Dichter zu nennen, welcher sich persoenlich an die in Sachsen gebliebenen
Bremer Beitrseger, insbesondere an Rabener und Geliert anschloss. Christian
Felix Weisse, zu Annaberg 1726 geboren, lebte zu Leipzig seit 1745 als
Student, seit 1750 als Hofmeister, seit 1762 als Kreissteuereinnehmer bis
1804.''^ Mit Lessing früh befreundet, blieb er hinter dessen Fortschritten als
Dichter zurück und verlor auch sein Vertrauen, als er in der 'Bibliothek der
schoenen Wissenschaften', welche er vom V. Band an, 1759, von Nicolai über-
nommen hatte und bis 1781 führte, sich nicht dagegen gewehrt hatte dass
Klotz ihn gegen Lessing ausspielte. In derselben schwächlichen, wenn auch
gutmütigen Gesinnung verwertete er seine leichte Dichtergabe. Als Lyriker*^"
dichtete er Scherzhafte Lieder', Leipzig 1758 uö., worin er Lessings epi-
grammatische Spitze mit dem franzoesierenden Refrain Hagedorns verband.
Seine 'Amazonenlieder', Lpz. 1760 uö., denen er spteter auch eine Übersetzung
des Tyrtseus beigab, ahmen auch in der Form Gleims Grenadierlieder nach,*^'
nur dass sie die Empfindungen von hochherzigen Msedchen darstellen, welche
den Geliebten ins Feld ziehen, kämpfen, siegreich zurückkehren oder fallen
56) 8. das verwerfende Urteil von Lessing, Hamb. Drain. 14 Stück. Erich Schmidt hat den
'Schatz' analysirt: Anz. z. Zs. f. d. Alt. 23, 138 fgg. 57) Die Fabeldichtung Gleims und
Lichtwers vergleicht mit der Pfeffels Ellinger Zs. f. deutsche Philol. 17, 314 fgg. 58) Vgl.
M. PoU, Die Quellen zu Pfettels Fabeln. Diss. Strassb. 1888; hier sind auch die Schriften
zur Biographie Pfeffels verzeichnet (Ehrenfried Stoeber 1809. Rieder 1820, und mehrere
Artikel von August Stoiber). 59) Seine 'Selbstbiographie' erschien Lpz. 1806. Litterar-
historische Würdigung durch J. Minor, 'Ch. F. Weisse und seine Beziehungen zur deutschen
Litteratur des 18. Jhs.' Innsbruck 1880. Minor gab auch Briefe aus Weisses Nachlass
heraus: Archiv f. Lit. -gesch, 9, 453. Briefe Weisses an Ramler durch Schüddekopf
Herrigs Archiv 77, 1 fgg. 79, 149 fgg. 82, 241 fgg. Vgl. auch 'Lessings Jugendfreunde:
Ch. F. Weisse, J. F. v. Cronegk, J. W. v. Brawe. F. Nicolai" hg. von J. Minor in
Kürschners D. Nat. lit. 72. 60) 'Kleine lyrische Gedichte von C. F. Weisse', III,
Lpz. 1772. 61) Er bestreitet dies mit Unrecht: Selbstbiogr. 92: s. Minor. Weisse 64.
434 NEUIKUMIDKlTSrirK ZEIT. XVIII .lAIlini. § ir)5
sehen. '"'"^ Spuuer , da er überhaupt durch die Kritik verstimmt, sieh mehr
und mehr der Kinderlitteratur zuwandte und durch seinen KindertVeund'
1775 — iS2'''-' eine neue und unbestrittene Heliebtheit sieh erwarb, dielitete er
auch Kleine Lieder lur Kinder, zuerst 17t»<»/'* Allein sein Hauptgebiet war
das Drama.'-' Zwar im IiUsts|)iele kam er nicht weit über das den Fran-
zosen, hie und da auch llolhcrj; nachgeahmte Muster von Frau (lottsched
und üellert hinaus. Mit dem 'Witzling' der ersteren vergleicht sich sein
1751 gedichtetes Stück Die Poeten nach der Mode', worin der Gottschedianer
'Reimreich' und der Bodmerianer Dunkel' sich gleich lächerlich machen.
Noch älter war die 'Matrone von Ephesus', welche ebenfalls oft aufgefühit
wurde und wie andere Stücke Weisses Lessing zum Wettbewerb reizte."''
So das rührende Lustspiel 'Die Freundschaft auf der Probe', welches Weisse
1707 schrieb, liier wie in seiner Amalia' 1705,*^' welche derselben drama-
tischen (rattung angehterte, hatte er, Lessings Sara nachahmend, englische
Verhältnisse auf die Bühne gebracht. Eine Mittelstellung zwischen dem fran-
zoesischen und dem englischen Theater nahm Weisse ausdrücklich für das
deutsclie Trauerspiel in Anspruch, und so bearbeitete er mehrere Stücke
Shakespeares nach den franzoesischen Hegeln, indem er die Handlung zu
vereinfachen und die Einheit von Ort und Zeit moeglichst durchzuführen
suchte:'"'* Richard JIF 1759, Romeo und Julie' 1707. Richard III war wie
der schon vorausgegangene ''^ 'Eduard IIP in Alexandrinern abgefasst, wie die
Matrone von Ephesus', Julia wie die übrigen Lustspiele in Prosa, die zwi-
schen ihnen liegenden Tragoedien aus der griechischen Sage 'Die Befreiung
von Theben' 1704 ''^ und Atreus' 1706 in fünffüssigen Jamben. Das letzte
62) <Tut verteidifjt er sich dac^egen dass man die Bezieliuiiir auf ein bestimmtes Vaterland
vennisste: als Freund Lessinifs und Kleists einerseits, als Sachse andererseits gebunden, konnte
er nur allgemein menschliche Verhältnisse darstellen, welche überdies für das weibliche
Gefühl massgebend zu sein pflegen. ü3) Weniger getiel sein 'Briefwechsel der Familie
des Kinderfreundes' Lpz. 1784 — itL*. XII. 04) verlegt zu Flensburg, spaeter in Leipzig,
und hier mit Melodien von Hiller. 65) Beytrag zum deutscheu Theater', Lpz. 1709
bis G8. V; spwter. teilweise umgearbeitet: 'Trauerspiele', Lpz. 1776 — 80. V; 'Lustspiele'
1783, III. 66) Weisses Mustapha und Zeangir war durch Lessings Plan 1748 angeregt
worden. 67) Lessing nennt 'Amalia' Weisses bestes Stück: Dramat. '20. Der hier
hervorgehobene Zug dass die verlassene (Teliebte in Männerkleidern ihrem Treulosen nachfolgt,
war schon in .J. E. Schlegels 'Triumph der guten Frauen' verwendet worden. 68) Lessing,
Dramat. 73 zeigt, mit welchem Misserfolg. 69) Lessing schützte dieses Trauerspiel
gegen fremden Tadel im Litbr. 81 und wünschte nur groesseren Fleiss in Vers und Sprache.
In der That sagt Weisse. Selbsthiogr. S. Ifiß dass ihm die Ausarbeitung einiger von seinen
Trauersjiielen nicht 'mehr als vierzehn Tage gekostet habe. 7t)) Ciegeu diese wie gegen
§ 155 WEISSE. 435
Trauerspiel Weisses scbloss sich in der freien Behandlung von Ort und Zeit
an GcBthes Götz an, sein 'Jean Calas' 1774, den er deshalb auch als histo-
risches Schauspiel' bezeichnete. Weit mehr jedoch als mit dem gesprochenen
Drama glückte es Weisse mit dem Singspiel;'^ ja er führte hiermit die
deutsche Oper wieder ein, welche sich weiterhin zu immer hoeheren Leistungen
entfalten sollte. Er ging freilich auch hier von der Nachahmung fremder Vor-
bilder aus: zuerst bearbeitete er ein englisches SingspieP^ in der Operette
'Der Teufel ist los', welche 1752 in Leipzig von der Kochschen Truppe auf-
geführt wurde; er brachte auch die enghsche Fortsetzung als 'Der lustige
Schuster' 1759 auf die Bühne, nachdem ein letzter Versuch Gottscheds das
Wiederaufleben der ihm verhasston Oper durch die Behoerde unterdrücken zu
lassen nur zu seiner Scliande ausgefallen war (§ 148, 76). Ln Winter 1759
auf 1760 lernte Weisse in Paris auch die franzoesische Operette kennen, deren
Lustigkeit weniger lärmend und mit rührenden Zuthaten gemischt war, nament-
lich indem hier ländliche Unschuld mit dem Verderben des Hof- und Stadt-
iebens in Gegensatz trat. Nach solchen franzoesischeu Stücken verfasste
Weisse 'Lottchen am Hofe' 1767, 'Die Liebe auf dem Lande' 1768, 'Die
Jagd' 1769, 'Der Dorf barbier' 1771, und liess ihnen noch einige freier erfun-
dene folgen: 'Der Ärntekranz' 1770, 'Die Jubelhochzeit' 1772. Gesungen
wurden übrigens nur eingelegte Lieder und Choere, der Dialog selbst war in
Prosa abgefasst, sogar da wo franzoesische Verse zu Grunde lagen. Immerhin
durfte sich Weisse rühmen durch seine Singspiele, deren Lieder'^ mit den
leichten Melodien Hillers überall gesungen wurden, den deutschen geselligen
Gesang neu angeregt, fast neu hervorgerufen zu haben.
Von den zahlreichen Nachahmern der Singspieldichtung Weisses fand
ausser J. B. Michaelis noch der Hamburger Daniel Schiebeler (1741 — 1771)
besondern Beifall, dessen romantisch-komische Oper, Lisuart und Dariolette'
zu Leipzig 1768 mit Hillers Komposition erschien; auch die verwandte Gat-
tung der Romanze in Gleims Art bereicherte er.^^ Seine 'Auserlesenen Ge-
dichte' gab Jon. Joachim Eschenbukg Hamburg 1773 heraus. Zu Hamburg
1743 geboren, 1820 zu Braunschweig gestorben, wo er seit 1767 als Lehrer
Julie richtete sich Bodmers parodierende Kritik (§ 149, 25). 71) Gesaninielt erschienen
Weisses "komische Opern'. II Lpz. 1768. zuletzt III. Leipzig 1777. der Herzogin Amalie
von Weimar gewidmet. 72) The devil to 2'(^y, wovon Borck, der Übersetzer von
Shakespeares Julius Csesar. bereits eine Verdeutschung geliefert hatte, welche 1743 zu
Hamburg und sonst mit grossem Beifall gespielt wurde. 78) So stammt das Lied 'Ohne
Lieb' und ohne Wein was wser' unser Leben' aus 'Der Teufel ist los". 74) 'Romanzen mit
430 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVHT JAHRU § 155
am Camliiiuni lobte, hat auch Esclieiiburfjf sicli im Siiig.spiol und sDiiHt poe-
tisch versucht, über weit mehr durch Jjchrbücher'*' um die schcene Litterat ur
sich verdient ;j;einacht.
Doch fehlte es auch dem ernsteren Drama nicht an Pflege neben Les-
sing und Weisse. Zwei junge Dramatiker bewarben sich um den Preis, den
Nicohii in der Bibliothek der schoeneu Wissenschaften auf das Jahr 17ö7 für
das beste Trauers})iel aussetzte: beide erschieneu des Preises würdig, beide
starben, ehe sie die Zucrkenuung erfuhren. Zu Weisse, noch mehr jedoch
zu CJellert" stand in nahem Verhältnisse Jon. Frikdrich von Cronegk (geb.
zu Ansbach 1731, gest. zu Nürnberg 1758): sein Codrus' zeigt ebenso wie
die unvollendet hinterlassene Traga'die'® Olint und Sophronia' (nach Tasso)
die Beschränkungen der fran/.oesischen Bühne. ^' Dagegen genoss Joachim
Wiluklm von Brawe (geb. zu Weissenfeis 1738, gest. zu Dresden 1758) in
Leipzig seit 1757 auch den Umgang Lessings und dessen bürgerliches
Trauerspiel führte er in seinem Treygeist' weiter. Von Lessing nahm er
wohl auch den fünffüssigen Jambus in seinem Brutus' an, wozu er durch
Cronegks Codrus angeregt wurde.''*
Eben dies Stück erweckte auch in Wien einen Dramatiker, der noch
in weit spaeterer Zeit die frauzoesischen Formen fest hielt. Der spsetere
Feldmarschall-lieutenant Cornelius Hermann von Ayrenmoff" (1733 bis
1819) liess 1766 einen Aurelius', 1768 Hermanns Tod', 1774 'Tumelicus'
aufführen, erstere beiden wie 'Antiope" und Kleopatra' in Alexandrinern ver-
fasst, 'Tumelicus' in Prosa mit Bardenchoeren ; für Virginia', 1790 aufgeführt,
hatte der Dichter den fünffüssigen Jambus angenommen. Mehr allgemeinen
Beifall ftmden Ayrenhoffs Lustspiele, von denen 'Der Postzug oder die nobeln
Melodien von Hiller' Hamburg 1768. 1771 'Neue Romanzen'. 74 a) Vgl. auch § 153, 24.
75) Verwandt mit dessen Lebensauffassung ist die Stimmung in Cronegks Einsamkeiten",
Zürich 1757, wobei ihm Youngs 'Nachtgedanken' und die Gedichte von Creuz zunaechst vor-
schwebten. Die Lustspiele Cronegks erinnern an J. E. Schlegel und Weisse. 76) Von
Roschmann vollendet und 1767 zu Hamburg autgeführt: Lessings Dramat. 1—7. Diese Fort-
setzung s. in Schnorrs Archiv 9, 64. 77) Die 'Schriften' Cronegks gab sein Freund Uz
heraus, II, Leipzig 1760. 61 uö. Zu Strassburg 1775 (G(pdeke § 215. 8. 6: nach Minor 1776)
erschienen Blüthen des Geistes des Freiherru von Cronegk in zweyen von seinen bisher
nie gedruckten Schriften'. 78) Brutus (Tod bei Philippi) erschien in den 'Trauerspielen
des Herrn von Brawe', Berlin 1768: der 'Freigeist' war schon 1758 in Nicolais Bibliothek
gedruckt worden. Für beide Stücke hatte Youngs 'Revenge' viele Züge dargeboten. Vgl.
Sauer. J. \V. v. Brawe, der Schüler Lessings, Strassburg 1878 (QF. 30). 79) Bio-
graphie von Karl Berndt, Wien 1852. Die 'Werke' Ayrenhoffs erschienen gesammelt 1772
§ 155 CRONEGK, BRAWE, THÜMMEL, MUSÄUS. 487
Passionen' 1769, auch von Friedrich II in seiner Schrift de la Utteratarc
Allenmnde gelobt ward. 'Die gelehrte Frau' 1771) diente in zweimaliger Be-
arbeitung der litterarischen Satire gegen die Geniezeit und gegen die Roman-
tiker.«"
Wenn Ayrenhoff im Lustspiel die Verkehrtheiten der Vornehmen aus
eigner Kenntnis darstellte, so benutzte Thümmel zu gleichem Zwecke die be-
quemere Form des komischen Romans, wobei er als kühl witzelnder ilot-
mann, wie jener mit der derberen Laune des Soldaten verfuhr. Moritz
August vox Thümmel«* war zu Schoenfeld bei Leipzig 1738 geboren, stand
seit 1761 als Kammerjunker, 1768—83 als Minister im Dienste des Hofes
zu Coburg und starb hier 1817. Sein Freund Weisse gab 1764«^ seine in
Prosa, aber mit den Wendungen des komischen Epos geschriebene 'Wil-
helmine' heraus; 1771*^ folgte 'die Inoculation der Liebe', eine schlüpfrige
Erzaehlung in freien Versen nach Wielands Muster; 1791 — 1805-^ Reise in
den mittäglichen Provinzen von Frankreich im J. 1785 bis 86', und hier
mischte sich in die feine Schilderung des Übergangs von Sproedigkeit und
übler Laune zu ausgelassener Lebenslust der Spott gegen die damals von der
Revolution bereits beseitigten Missstände in der katholischen Kirche, gegen
Jesuitenmoral und Reliquienverehrung. Das leichte Talent Thümmels sprach
sich auch in den eingemischten Versen aus.
Harmloser und zahmer, beschränkte sich mehr auf litterarische Verhält-
nisse JoH. Karl August Mus^us (geb. zu Jena 1735, gest. als Gymnasial-
professor zu Weimar 1787).*^'' Dem englischen Familienroman Richardsons
setzte er seine Parodie 'Grandison der Zweite oder Geschichte des Herrn
von N** in Briefen entworfen' Eisenach 1760 — 62, HI, entgegen. Wie hier
der Edelmut des Originals durch die Überti-eibungen eines schwärmerischen
Nachahmers lächerlich wird, so lernt ein durch Lavaters Physiognomik Über-
spannter deren Trüglichkeit einsehen in den 'Physiognomischen Reisen. Voran
ein physiognomisches Tagebuch', Altenburg 1788/89, IV: in beiden Werken
schloss sich Musgeus an Wielands Don Silvio an. Und nach dem Muster von
(anonym). 1789. IV: 1803 uö. in VI Bänden. 80) Xorh in der Vorrede zu den
'.Sämtlichen Werken' 1803 wird die Litteraturverderbnis auf Shakespeare 'den kunst-
geschmack- und sittenlosesten Meistersänger' zurückgeführt. 81) J- E. von Grüner,
Leben M. A. v. Thümmels. Leipzig 1819, als VI! Band zu Thümmels 'Sämtlichen Werken", VI,
Leipzig 1811 — 19. 82) o. 0. spsetere Auflagen in Leipzig und ohne den Nebentitel 'oder
der verraaehlte Pedant'. 83) Zu Leipzig. 84) zu Leipzig, in 10 Bänden. 85) Sein
Lebensbild in den 'Nachgelassenen Si-hriften herausgegeben von seinem Z*gling A. v. Kotzebue',
438 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVHI JAHUH. § 155
Wiclaiuls Boarl)cifunt^ tVanzfPsischcr Ma^rchon passte er die deutsclien,*"'' die
er z. T. aus iloin Munde des Volkes 3chr>pfte, durch «gelehrte Anspielungen
und milden Spott dem (Tcschmacke der Zeit an. Eine von ihm begonnene
Sammlung von Erzählungen, die 'Straussfedern' (I Bd, Berlin u. Stettin 1787)
ward von Jon. Gottwkrth Miillkr (aus Hamburg, geb. 1743, gest. zu
Itzehoe 1828),''^ spa^ter von Tieek fortgesetzt. Müllers 'Siegfried von Linden-
berg' (Hamburg 1779 uö.) greift auf das deutsche Volksbuch zurück, aber
nur um Verhältnisso in der Umgebung des Verfassers zu verspotten.
Neben dem komischen Roman ward auch der ernste nach dem Muster
der Engländer in Angriff genommen. Nach Geliert fand hierdurch besonderen
Beifall Jon. Timotheus Hermes (geb. zu Petznick bei Stargard 1788, seit
1772 Prediger in Breslau und hier gest. 1821).*'* Er suchte Richardsons
breite Darstellung mit der überraschenden Anlage Ficldings zu verbinden.
Nachdem er 'Miss Fanny Wilkes'^'' noch auf englischem Boden hatte spielen
lassen, begann er auch deutsches Leben mit demselben willkürlichen Wechsel
selbst der Charactere darzustellen : Sophiens Reise von Mcmel nach Sachsen'.""
Spa^terc Arbeiten stiessen auch durch die Gemeinheit der dargestellten Scenen,
welche die beigefügte Moral nicht entschuldigte, einen reineren Geschmack
zurück.'"
Über diese und andere Romane erhob sich durch wahres Gefühl und
feine Ausführung das, was Theodor Gottlieb Hippel''-^ leistete. Geb. 1741
zu Gerdaucu in Ostprcussen, starb er 1796 zu Kcenigsberg als angesehener
Beamter, nachdem er sich um diese Stadt wie um das eben an Preussen
gefallene Danzig sehr verdient gemacht hatte. Einen 'Centralkopf nannte
ihn Kaut, mit dem er ebenso wie mit Hamann befreundet war. Seine Schrift-
stellerei '■'■^ verheimlichte er sorgfältig: hier ergossen sich seine jugendlichen
Erinnerungen an ein durch die Verhältnisse beschränktes, aber liebevolles
Familienleben,^^ und seine Neigung zur Theologie, die er zuerst studiert
hatte; hier pries er die Ehe,'*^ obschon er selbst Hagestolz blieb; hi«r be-
Lpz. 1791. Moritz Müller, J. K. A. Musaeus. Jena 18l>7. 86) Volksmaerchen der DeutsohA"!
Gotha 1782 — 86 VI uö. 87) H. Schroeder. J. G. Müller nach seinem Leben und «einen
Werken dari^estellt. Itzehoe 1843. 88) Vgl. namentlich Rob. Prntz. Menschen u.
Bücher. Lpz. 186:.'. 89) «o gut aiis aus dem Englischen übersetzt'. Leipzig 1766. II.
90) Leipzig 1769 — 73 V. in spateren Auflagen VI. 91) Spott der Xenien über die
freche Erzie.hlnng 'Für Töchter edler Herkunft'. Lpz. 1787. 92) 1790 lies er den Adel
der Familie erneuen. Selbstbiographie in Schlichtegrolls Nekrolog 1796. wozu Nachträge
eines Freundes im Jahrgang 1797. 93) Sämtliche AVerke". Berlin 1827—38. XIV.
94) Vgl. LB. 3, 731 fgg. 95) Über die Ehe'. Berlin 1774 uö. Die bürgerliche Ver-
§ 156 HIPPEL. WINCKELMANN. 439
kämpfte er das Ordenswesen, da er doch selbst citriger Freimaurer war. Seine
Hauptwerke sind 'Lebenslaufe nach aufsteigender Linie""' und Kreuz- mid
Querzüge des Ritters A-Z.'"*^ In dem letzteren , mehr komisch-satirischen
Roman steigert sich die Neigung den Stil übermsessig zu würzen; die früher
gern und glückhch angebrachten Gespreeche nehmen ab. Seine in der Jugend
verfassten Lustspiele Der Mann nach der Uhr oder der ordentliche Mann'
und 'Die ungleichen Nebenbuhler'^'* veralteten rasch wegen ihres allzu pro-
vinzialen Characters."^
§ 156.
Der poetischen Thsetigkeit ging, dem Grundzug des Jahrhunderts ent-
sprechend, eine theoretisch-kritische zur Seite, welche sich in Lessing wie
später bei Herder mit jener innig verband, und sonst zwar für sich bestand,
aber doch auf die Produktion Anderer erhebhchen Einfluss übte. Lessings
Laokoon knüpfte weiterführend an eine Schrift von Winckelmann an , die
erste, mit welcher dieser Begründer der Kunstgeschichte, nach langer, müh-
samer und entbehrungsreicher Vorbereitungszeit sogleich sein eigentümliches
Gebiet betreten hatte. Jon. Joachim Win'ckelmann * war der Sohn eines
armen Schuhflickers in Stendal; 1717 geboren, hatte er Jahre lang erst im
Schulfach, dann als Gehilfe des Geschichtsforschers H. von Bünau untergeord-
nete Dienste geleistet, bis 1754 der Übertritt zur katholischen Kirche ihm
erst in Dresden groessere Freiheit, dann seit 1755 in Rom ein ausschliesslich
seinen Studien gewidmetes Leben ermoeglichte, dem jedoch 1768 bei der
Rückkehr von einer Wiener Reise in Triest der Dolch eines Raubmörders
ein jsehes Ende bereitete. Auf die 1755 erschienenen 'Gedanken über die
Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst'
folgte 1764^ sein Hauptwerk 'Geschichte der Kunst des Altertums'. Hatte
er dort als das vorzüglichste Merkmal der Meisterwerke der Kunst die edle
Einfalt und stille Groesse bezeichnet, so stellte er in dem spseteren Werke
besserung der Weiber' 1792. 96) Berlin IV 1778—81, uö. 97) Berlin II 179.3. 94.
98) ersteres Koenigsberg 1760, letzteres ebenda 176-3. 99) Lessings Dramaturgie 8t. 22.
§ loo. 1) Gcethe. 'Winckelmann und sein Jahrhundert in Briefen und Aufsätzen',
Tübingen 1805. C. Justi. 'Winckelmann, Sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen",
II, Leipzig 1866—72. Erst 1882, aus der Handschrift gedruckt, erschien zu Kassel
Herders Denkmal Joh. Winckelmanns'. von A. Duncker herausgegeben. 2) Beide Schriften
erschienen in Dresden. Neuerer Abdruck beider mit Einleitung von J. Lessing. Berlin 1870.
Winckelmanns Werke wurden herausgegeben von Fernow. H. Meyer und Joh. Schulze. VIII,
Dresden 1808 — 20. 'Sämtliche Werke" hg. von Jos. Eiselein, XIII. Donaueschingen
440 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVHI JAHRH. § 156
das Verhältnis der griecliischeii Kunst zur orientalischen und zur rd'mischen
und ihre zeitliche Entwickelung bis zur Blüt<> und zum Verfalle dar. Dabei
bewies er zugleich eine damals noch seltene Kenntnis der griechischen Jjitte-
ratur uud ein aus Geistesverwandtschaft hervorgegangenes Feingefühl für ihre
Vt)rzüge; er wusste überdies seinen (iedanken hierüber einen musterhaft klaren
und markigen Ausdruck zu verleihen, der ihm unter den Prosaisten des
Jahrhunderts eine vorzügliche Stelle anweist,^ Indem er aber zuerst die
richtige Wertschätzung der griechischen Kunst lehrte/ wies er auf diesem
Gebiete die Anmassungen der gleichzeitigen französischen und italienischen
Künstler ebenso zurück, wie Lessing der Nachbetung Voltaires in Deutsch-
land ein Ende gemacht hatte.
War Lessing mit Winckelmann durch das gemeinsame tiefere Ver-
ständnis der griechischen Kunst und Kunstlehre verbunden, so gingen zwei
seiner Jugendfreunde, mit denen er in Berlin \l')i bekannt wurde, von den
Anregungen der englischen Litteratur aus: Mendelssohn und Nicolai. Moses
Mendelssohn'* war zu Dessau 172!J geboren und kam 1742 nach Berlin, wo
er seit 1750 im Hause eines Seiden Warenfabrikanten erst als Lehrer, dann
als Buchhalter, endlich als Teilhabor sich zu Wohlsttmd und glücklichem
Familienleben durcharbeitete. Kränklich^ verwachsen, unter der Bedrückung
seiner Glaubensgenossen, ja selbst unter deren eigenem Widerstreben leidend,
hatte er durch Sanftmut und Klugheit alle Schwierigkeiten überwunden Zum
Schriftsteller machte ihn Lessing, welcher seine erste Schrift 'Philosophische
Gespra^che^ 1755 in den Druck gab, und gemeinsam mit Mendelssohn die
Schrift über Pope (§ 154, 4<S) verfasste. Von Lessing angeregt, an Baum-
garten anknüpfend, ganz besonders aber Shaftesbury nachahmend,'' widmete
sich Mendelssohn ästhetischen Untersuchungen über die Empfindungen, über
das Erhabene und Naive in den sch(jenen Wissenschaften^ u. se. Seine phi-
1825—29. 3) Vgl. Justi 1, 1. 429 fgg. 2, 2. 224. 4) LB. 3, 3ö5 fgg. 5) Moses
Mendelssohns Gesanimelte Schriften. Nach den Originaldrncken und Handschriften hg. v.
(j. B. Mendelssohn", VII, Leipzig 1843 (mit «Icr Lebensgeschichte und mit einer Einleitung
in M's philosophische Schriften von Ch. \. Brandis). — M. Kayserling, 'Moses Mendelssohn,
sein Leben u. seine \Verke\ Leipzig 1862. ■'1888. 6) Vgl. über Mendelssohns philoso-
phische u. testhetische Schriften: Danzel, Gesannnelte Aufsätze hg. v. 0. Jahn, Leipzig
1855 S. 85 — 98. (t. Kanngiesser. Die Stelluu<r M. Mendelssohns in der Geschichte der
Aesthetik, Frankf. a. M. 1868. M. Brasch, M. Mendelssohns Schriften zur Philosophie,
Aesthetik und Apologetik. 11. Lpz. 1880. Braitinaier, (iesch. d. poet. Theorie u. Kritik
2, 72 — 279. 7) So übersetzte er bellen httres im Gegensatz zu den beaux-arts, von
denen jene willkürliche, diese natürliche Zeichen bei ihrer Nachahmung in Anwendung
§ 156 MENDELSSOHN. 441
losophische Schriften' sammelte er 1761, II. Viele Äusserungen greifen den
Ausführungen Lessings** vor; Anderes bildet eine Vorstufe zu Kiint;'' ganz
besonders aber hat er auf Schiller'^ eingewirkt. Wie dieser es spseter gethan,
versuchte schon Mendelssohn Klarheit mit Schmuck und Schwung der Sprache
zu verbinden, ward aber zuweilen weitschweifig. Auch dass er sich wesent-
lich auf die Muster der französischen Litteratur beschränkte und die franzo;-
sischen Theorien festzuhalten suchte, namentlich aber seine Abneigung gegen
die scharfen Gattungsgrenzon, welche Lessing aufstellte, Hess Mendelssohn nur
als den Waffentr<eger Lessings erscheinen. In diesem milderen Sinne beurteilte
er auch die gleichzeitige Litteratur in den von Nicolai herausgegebenen Zeit-
schriften bis zum J. 1768. Seit dieser Zeit beschäftigte er sich mehr und
mehr ausschliesslich mit der ihm besonders angelegenen Metaphysik , insbe-
sondere mit den Fragen nach dem Dasein Gottes und der Unsterblichkeit der
Seele. Schon 1767 war sein Thtedon oder über die Unsterbhchkeit der
Seele in drei Gesprsechen' erschienen, worin er Plato zu Grunde gelegt, aber
die von der franzoesischen Philosophie aufgeworfenen Zweifel aus der Leibnitz-
Wolffschen Philosophie zu widerlegen gesucht hatte. 1785 schloss er seine
'Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes' an. Hier hatte er
mit der Philosophie seinen jüdischen Glauben in Einklang gebracht, wie er
bringen. 8) So stimmt zu Lessings Laokoon folgende Stelle aus einer Reeension
Mendelssohns von 1758. Im Anschluss an Pope, welcher Thomsons Jahreszeiten getadelt
und die malerische Poesie für etwas ebenso ungereimtes erklärt hatte als eine Mahlzeit
von lauter Brühen, bemerkt er: 'Ohne uns eigentlich wider die malerische Poesie zu erklie-
ren, glauben wir dass die [gegen Pope angeführten] fjründe nichts beweisen. Der Pinsel
ist unstreitig weit glücklicher in der Vorstellung der Aussichten und Gregenden der Natur
als die Sprache. Die sichtbaren Gegenstände, welche bloss durch Ebenmass und Farben
entzücken sollen, werden am lebhaftesten durch Farben und Ebenmass vorgestellt, da man
sich in einer Beschreibung öfters ziemlich anstrengen muss, um sich durch die Association
der Begriffe der beschriebenen (jegenstäude mit ihren Farben und Verhältnisgr(Pssen zu
erinnern. Zudem ergötzen die schcenen Landschaften mehrenteils im Ganzen; und verlieren
ihre Annehmlichkeit, wenn sie durch Hilfe der Worte nach und nach der Einbildungskraft
vorgestellt werden. So verschwistert die Dichtkunst und die Malerei sind, so hat doch
jede Kunst ihre angewiesenen (iränzen. die durch das Werkzeug der Sinne, für welche sie
arbeiten, bestimmt werden. (Werke IV, 1, 396.) 9) Mendelssohn nahm schon ein
besonderes 'Billigungsvermoegen' an, welches ein Wohlgefallen ohne Begehren in sicli
schliesse (nach Burke). 10) Wenn Mendelssohn den Reiz (nach Hogarth, der Homer an-
führt) als die SchoMiheit in der Bewegung bezeichnet, so wiederholt dies Schiller: aber auch die
Beziehung von der aisthetischen Wirkung auf die iSittlichkeit ist ganz a^hnlich bei beiden.
Schillers 'Künstler' stellen Mendelssohns Ansichten in kulturhistorischer Entwicklung dar.
442 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XYHI JAHKH. § 156
überhaupt dioson mit den Formen der deutschen liihlung" zu umkleiden
bestrebt war. Bei diesen religicesen Uberzeugun<;en war es ihm tief" schmerz-
hch, als Friedricli Jaoobi Lessiniijs Bekenntnis zum Spinozismus '^ veröffent-
liclite. Er setzte ihm die Schrift 'An die Freunde Lessings' entgegen, starb
aber noch vor ihrem Ei-scheinen 1786.
Chri.stoi'ii Friedrich Nicolai war von derberer Natur. In BerHn, wo
er 173'i geboren war und 1811 starb, erwarb er sich als .Buchhändler eine
angesehene und einHussreiche Stellung.'^ Wie Mendelssohn hatte er seine
Bildung nicht auf der Universita»t, sondern durch ha'uslichen Fleiss gewonnen.
Sein Bestes leistete er in seinen ersten, dem Vorbilde Lessings und J. E.
Schlegels nachstrebenden Schriften, zumal in den Briefen über den itzigen
Zustand der schoonen Wissenschaften in Deutschland', Berlin 1755, worin er '^
Uottsched und die Züricher zugleich verwarf und Wieland auf den rechten
Weg leiten half. Aber schon die Abhandlung vom Trauerspiele', womit '''
er seine 'Bibliothek der scheinen Wissenschaften' 1757 eröffnete, rief Lessings
Bericlitigungen hervor, und in dem daran anknüpfenden Briefsvechsel über-
liess Nicolai bald Mendelssohn das Antworten. An den von ihm verlegten
'Briefen die neueste Littoratur betreffend' (1759 — (55) hatte er wenig Anteil.
Dagegen wusste er die Allgemeine deutsche Bibliothek' 1765 — 1806"' zum
massgebenden Organ der deutschen Aufkla^rung zu machen. Diesen Zwecken
diente auch'' seine Beschreibung einer Reise diu'ch Deutschland und die
Schweiz im J. 1781', Berlin u. Stettin 1783—96, XII. Wesentlich auf die
Theologie jener Zeit richtet sich der Roman 'Das Leben und die Meinungen
des Herrn Magister Sebaldus Nothauker \ Berlin u, Stettin 1773—76, IH uö.,
eine Mischung von Humor in der Art Sternes mit abenteuerlichen Wechsel-
fiillen nach Fieldiugs Mustor, welche viel Beifall fand, selbst bei Katharina IL
Schon hier waren litterarische Carricaturen eingoftochten ; gegen die Port-
11) Daher seine l hersetzun;!,^ des Alten Testaments mit Benutzunir "If' Liitherisehen: Fünf
Bücher ilosis, Berlin 1780 fgg. Psalmen 178:5; Hohes Lied 1788. Auf die staatlichen
Ansprüche bezog sieh 'Jerusalem oder über religiopse Macht und Judentum' 1783. Über
seine würdige Ablehnung der Zumutung Lavaters zum Christentum überzutreten (1770)
s. § 155. II. 12) Über die Lehre des Spinoza in Briefen an Herrn AI. Mendelssohn
1785. 13) L. V. (>. V. (jöckiugk. F. Nicolais Leben und litterarischer Nachlass. Berlin
182U. In diesem Nachlass sind namentlich die elenden Verse ein Zeugnis seiner Beschränkung.
Minor. Lessings Jugendfreunde (Kürschners Dtsch. Nat. litt. 7'2) S. 277 fgg. 14) Aus-
zug bei Braitraaier 2. 85 — 95. 15) Abdruck bei Minor (Anm. 13). 16) Sie wurde
in den Jahren 17i>.3— 99 zu Kiel als 'Neue AUg. D. Bibl.' von Hermaun in Hamburg
herausgegeben. 1?) Die Bedeutung des Werkes für Statistik u. *. hebt G. Rümelin.
§ 156 NICOLAI, ABBT, GARVE. 443
schritte der Poesie und Pliilosophie richtete Nicolai seitdem eine Reihe von
sehnlichen Parodien: gegen üoethe: 'Freuden des jungen Werthers, Leiden
und Freuden Werthers des Mannes', Freystadt 1775;"^ gegen Bürger Eyn
f'eyner kleyner Almanach vol schönerr echterr liebliclierr Volckslieder . . Berlynn
vnndt Stettymv 1777 und 1778, II; "• gegen Kant und Fichte 'Geschichte
eines dicken Mannes', II, 1794; 'Leben und Meinungen Sempronius Gundi-
berts eines deutschen Philosophen', 1798. Pichte antwortete denn auch mit
der stärksten Yerachtung in F. Nicolais Leben und sonderbare Moinuuffon',
Tübingen 1801, wie schon Schiller namentlich in den Xenien die ebenso
freche als unverständige Kritik Nicolais abgestraft hatte."''
Ein Verdienst erwarb sich indessen Nicolai durch seine Lebensbeschrei-
bungen der ihm nteher bekannten Schriftsteller. Dazu gebeerte auch Thomas
Abbt.'-^' 1738 zu Ulm geboren, starb Abbt schon 1766 in Bückeburg, als
Konsistorialrath des Grafen Wilhelm. Er war in den Litteraturbriefen an
Lessings Stelle getreten, ^'-^ nachdem er durch seine Schrift 'Vom Tode fürs
Vaterland', Berlin 1761 sich bekannt gemacht. Wie er hier den Heldenmut
Friedrichs II göfeiert und gezeigt hatte, dass auch in Monarchien jeder Bürger
Soldat sein solle, so hob seine Hauptschrift 'Vom Verdienste' 1765 die un-
scheinbaren Stände, die Bürger und Bauern hervor.^' Für das Volk war
seine biblische Ausdrucks weise •^* besser berechnet, als die ebenfalls von ihm
versuchte Nachahmung der taciteischen Kürze.
Glücklicher vertritt Christian Garvp: die Prosa des gesunden Menschen-
verstandes, nur dass er seine Gabe klarer, anmutiger Darstellung, sein feines
Urteil mehr als Übersetzer besonders englischer Schriftsteller'-^^ (für Fried-
Redeu u. AuMtze, N. F. Freiburg i. B. ii. Tübingen 1881, S. 407—441, hervor. 18) Wie-
derholt bei Minor. 19) Berliner Neudruck von Elliuger, 1888. 20) Fichtes Sc-hrift
war von A. W. Schleifei in den Druck sreo-eben worden, welcher selbst sich ebenso über
Nicolai lustig machte: LB. 3, 1097 fgg. Eine 1784 zu Leipzig erschienene Satire (von
F. Schulz) gegen Nicolai ist von L. Geiger wieder abgedruckt worden: 'Firlifimiiii und
andre Curiosa' Berlin 1885. 21) F. Nicolai, Ehrengedächtnis Herrn Th. Abbts. Berlin
u. Stettin 1767. Nicolai gab auch Abbts Termischte Schriften' heraus, VI, Berlin 17(38 bis
71. ^\^Si^. Vgl. ferner Edmund Pentzhorn, Th. Abbt, Ein Beitrag zu seiner Biographie
(üiss. CTiessen) Berlin 1884. 22) Seine Urteile berichtigte z. T. Herder, welcher 17(J8
'Über Th. Abbts Schriften. Der Torso von einem Denkmal, au seinem Grabe errichtet I'
schrieb (Suphan Ausg. 2, 249, wo auch die handschriftliche Fortsetzung). Vgl. auch R. Thiele,
Beitr. z. deutschen Philologie (Halle 1880) S. 147 fgg. 23) LB. 3, 333. 24) Vgl.
Geisler, Über die schriftstellerische Th»tigkeit Th. Abbts, Progr. Breslau 1852. 25) Er
übei'setzte: Ferguson Grundsätze der Moralphilosophie, Lpz. l772. Home. Grundsätze der
Kritik. Lpz. 1772 II. Burke, Untersuchung über den Ursprung unserer Begriffe vom
444 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVHI .TAHllH. § 150
rieh n üboreetzte or 1 783 Ciceros Srhrift de o/ficiis) oder als Berichterstatter
über die Litteratur seiner Zeit bewtehrt hat. Zu eigenen grcesseren Werken -''
liess ihn seine Kränklichkeit"-' nidit kommen. Er h'bte, abgesehen von der
Studienzeit und den in Leipzig-* als Docent verbrachten Jahren ITtJS — 72, in
Breshiu 1742—98.
Innig mit Garve verbunden war Jon. Jac. En'ukl aus Parchim (1741
bis 1802).^^ Seit 170.") in Leipzig, seit 1770 in Berlin lebend, suchte er
namentlich Lessings Anregungen für die Bühne fruchtbar zu machen, insbe-
sondere als Director des kceniglichen Theaters zu Berlin 1787—94. 1763
hatte er Eid und l*tlicht\ ein bürgerliches Trauerspiel, nach Familienerinne-
rungen aus dem siebenja'hrigen Kriege geschrieben, 1772 dichtete er das
rührende Lustspiel der Edelknabe. Ausser diesen und anderen meist aus-
ländischen Mustern naehgeahmten Dramen sind für das Theater seine Ideen
zu einer Mimik' II, Berlin 178"). 80, bestimmt, worin er die Wahrheit über
die Sclupnheit stellte und deshalb .auch gegen die Verse im Drama sich aus-
sprach. Gro'sseren Beifall fanden seine meist als Erza»hlungen oder Gesprajche ^^
eingekleideten moralischen Abhandlungen, welche er mit Beitrsegen seiner
Freunde zusammen unter dem Titel Der Philosoph für die Welt', Leipzig
177") — 77, 11" veröffentlichte. Eine treffliche Characterschilderung nach dem
Leben bot sein Roman Herr Lorenz Stark', der zuerst 1795 u. 96 in Schillers
Iloren erschien.
Entschieden, und durch reichen Witz besonders wirksam, vertrat auch
Georg Christoph Lichtenberg die Richtung Lessings. Geboren zu Ober-
ramstädt bei Darmstadt 1742, starb er als Professor zu Göttingen 1799.^-
Erbabeneu uud Schopnen, Riga 1773. Alex. Gerard. Versuch über das Genie, Lpz. 1776-
Adam Smith. Untersuchung über die Natur und Ursachen des Nationalreichtums, Breslau
1794 — 96 IV. 26) Sammlung einiger Abhandlungen aus der Neuen Bibl. der schoenen
Wiss." Lpz. 1779: neue, vermehrte Aufl. Lpz. 180L' IL 'Vermischte Aufsätze', Breslau
J79() — löUO IL Der Herausgeber der 2. Aufl. jener älteren Sammlung, J. C. Fr. Manso hat auch
Ch. Garve nach seinem schriftstellerischen Character". Breslau 1799. geschildert. 27) Seine
Geduld rühmt ein Xenion Schillers (^Hofmeisters Nachlese 3, 148). Über Schillers Verhältnis
zu Garve s. D. Jacoby, Schnorrs Arch. 7. 90 — 145. 28) Hier lebten auch seine besten
Freunde, an welche er inhaltreiche Briefe richtete: 'Vertraute Briefe an eine Freundin'.
Lpz. 1801. Briefe an Ch. F. Weisse u. a." Breslau 18U3 IL 'Briefwechsel mit Zollikofer'
Breslau 1804. 29) F. Nicolai. Gedächtnisschrift auf .1. J. Kugel, Berlin u. Stettin 1806,
auch in den Abb. iler Berliner Akademie, welcher bei<le angehoerten. Engels Schriften.
Xll. Berlin 1801— »3. 30) LB. 3. 8ö7. 31) Ein lll Teil, Berlin 1800, ist in den
Schriften in jene beiden ersten verteilt. 32) Klogium von Kästner (Commeut. Soc.
reg. Scientiarum; Gütting. 1799. Lichtenbergs 'V^ermischte Schriften' aus den hinterlassenen
§ 15ß ENGEL, LICHTENBERG, SONNENFELS. 445
Mathematiker wie Kästner, war er mit diesem auch durch seine frommen
Überzeugungen verbunden. Aber er pflegte nicht sowohl , wie Kästner, das
Epigramm, sondern die Satire in Prosa, und knüpfte hier wie in ernsten
Schilderungen und Beobachtungen, zu denen ihn Hypochondrie und ein kränk-
licher, verwachsener Körper immer mehr geneigt machte, an englische Vor-
bilder an. England hatte er auf Reisen, zuletzt 1774 und 1775 auf eine
Einladung des Koenigs hin, genau kennen gelernt. In 'Briefen aus England'
schildorte er'^'' Garricks Darstellung des Hamlet; Hogarths Kupferstiche eriseu-
terte er ausführUch.^' Selbst der berühmte Anschlagzeddel im Namen von
Philadelphia'^^ ist nach einer Vorlage von Swift ^'^ gearbeitet. Dagegen ver-
fasste er seine Simple, jedoch authentische Relation von den curieusen schwim-
menden Batterien', eine VerherrUchung der siegreichen Verteidigung Gibral-
tars durch die Engländer 1782 in der schon von Michaelis zur Travestie der
Aeneis verwendeten Bänkelsängerstrophe. Von den deutschen Bestrebungen
seiner Zeit war es namentlich Lavaters Bekehrungseifer ^" und seine phy-
siognomische Schwärmerei,'''* dann das Geniewesen und die Originalitaetssucht,''^
gegen welche er seinen oft verletzenden Spott richtete;*" doch auch Kant
und Fichte griff er noch an.
Setzten die zuletzt genannten Schriftsteller Lessings Grundsätze in der
Kritik der gleichzeitigen Litteratur fort, als er bereits auf das theologische
Gebiet sich zurückgezogen hatte, so schloss sich ihm auf dem bisher noch
wenig von der deutschen Litteratur berührten Boden Oesterreichs ein Schrift-
steller mit geringer Eigenart, aber mit folgenreicher Wirksamkeit an: Josewh
VON SoNNEXFELs, geb. ZU Nicolsburg*' 1733, seit 17G3 in Wien Professor,
1770 Theatercensor, von Joseph II hochgestellt, gestorben 1817. Er war zuerst
in der Deutschen Gesellschaft' hervorgetreten, welche 1761 begründet, bald
sich aufloeste, aber doch den ersten Anstoss zu einer Vereinigung der Wiener
Papieren gesammelt. Güttingen 1801 — 6, IX, werden eingeleitet durch 'Nachrichten u.
Bemerkungen des Verfassers von und über sich selbst'. In der Ausgabe Gröttingen 1844 bis
47, VIII, sind seine Briefe hinzugefügt. Vgl. auch Ed. Orrisebach, Lichtenbergs Gredanken
und Maximen. Lpz. 1871 und Rieh. M. Meyer. .1. Swift u. G. Ch. Lichtenberg. Berlin 1886.
33) In Boies Deutschem Museum 1776. 34) (TÖttingen 1794— 91): fortgesetzt aus
seinem Nachlass 18U0--18(l7. IX. 35) LB. 3, 8();J. (1777). 36) Lichtenbergs Verm.
Sehr, ij, 192. 37) Timorus. il. i. Verteidigung zweier Israeliten, die durch die Kräf-
tigkeit der Lavaterschen Beweisgründe und der Göttingischcn Mettwürste bewogen, den
wahren Glauben angenommen haben, von Konrad Phutorin. Bcilin' (vielmehr Güttingen)
1773. 38) LB. 3, 80.5. 39) LB. 3, 799. 40) So hat er den Streit zwischen
V^oss und dessen Lehrer Heyne wesentlich durch seine Teilnahme verschärft. 41) Sein
44(> NEU IKKÜI DEUTSCHE ZEIT. XVIII .TAH KU. § 156
ScluifistolUn- geboten hatte. Sonnentels gab sodaim mehrere Wochenschrit'teii
mit besonderer llücksiclit auf die Frauen heraus, von denen der Mann ohne
Vorurteil' 17(55 schon h'hhaf't l'iir die Teihiahrne an der deut.sciien Dichtung
und für eine sittliche Scliaubühne' eiterte. Dieser h^t/teren waren vöUig ge-
widmet die Briefe über die Wienerische Schaul)ühne' IKJS, wichtig besonders
durch die Vertreibung des Hanswursts (§ 145, .ii)). Allein durch seine An-
massung niaclito sich Sonnenfels selbst seine früheren Mitstreiter Klemm,
Heufeld u. a. /u Feinden, und das Bekanntwerden seiner heimlichen Untcr-
stüt/.ung von Klotz gegen Lessing erschütterte seine Stellung wenigstens
vorübergehend. Seitdem wandte er sich mehr der Vertretung und Verbreitung
der Aufkherung im Staatswesen^" zu und nahm an dem Kampfe gegen die
Jesuiten entschiedenen und erfolgreichen Anteil.
Die Wendung von der Litteratur zum Leben, von dem Schoenen zum
Guten lag im (irundzuge der Aufkherungsbestrebungen selbst und fand vitd-
fach einen auch formell bedeutenden Ausdruck. Weniger zwar erwarb sich
dies Verdienst der Mann, welcher mit richtigem Gefühl die Erziehung als
wirksamstes Hilfsmittel zur Förderung des allgemeinen Wohles auffasste, und
sie aus den Händen der Theologen in die der philosophisch gebildeten Pte-
dagogen überzufüliren, dabei nicht sowohl durch Strenge als durch Freiheit
zu wirken, ja den Unterricht selbst mehr spielend zu betreiben suchte. Jon.
Bernhard Baskdow, geb. zu ifamburg 1723, gest. 1790 in Magdeburg,
hatte schon in Holstein und Dfenemark, zuletzt zu Altona seine Erziehungs-
und Lehrart erprobt und angepriesen,^-' als ihm durch die Berufung nach
Dessau, wo er 1774 das Philanthropinum eröffnete, die Gelegenheit geboten
wurde, eine ganze Schule nach seinen Grundsätzen einzurichten. Zwar machte
sein ungestümes und rücksichtsloses Vorgehen ihm selbst dauernde Erfolge
unmceglich, aber wie der Beifall der Popularphilosophen^' und der aufge-
Grossvater war Rabbiner in Berlin gewesen. 42) 'Über die Abschaffung der Folter',
zuerst Zürich 1770. Wie seine übrigen Werke in 'Sonnenfels Gesammelte Schriften', X,
Wien 1783 — 87. 43) Seine Hauptschriften sind: Practische Philosophie für alle Stände.
Kopenhagen u. Leipzig 1708 II: Philalethie, Neue Aussichten in die Wahrheits-Ueligion
der Vernunft bis in die ttriinzen der glaubwürdigen Otl'cnbarung. Altona 17G4. diese viel-
fach, besonders von (icpze heftig bekämpft. Sein 'Elemcutarbuch der menschlicheu P^rkenut-
nisse'. wovon er zu Hamburg 1768 den Plan, 176t> zu Berlin den Anfang, 1774 zu Dessau
den 1 — 4 Band herausgab, ist eine Erlieuterung zu Kupfern vou Chodowiecky, also eine
Art Orbis Pictua. Über 'Basedows Leben. Character und Schriften' hat ausführlich und
ans persipulicher Kenntnis, aber unbeholfen uml feindselig J. Chr. Meier gehandelt. 11,
Hamburg 1791. 17H2. 44) Seihst Lavater durfte er seinen Herzeusfreund nennen.
§ 156 BASEDOW, ISELIN, ITTRZEL. 447
klserten Fürsten sein Auftreten begünstigt hatte, so wurden die von ihm ge-
legten Keime durch Andere gepflegt und zur Entfaltung gebracht.
Besonders in der Schweiz fand er Anhänger und Portsetzer seiner pae-
dagogischen Reformen. Die repubUkanische Verfassung schärfte hier auch
den Blick für Mängel des Staatswesens und erregte die Hoffnung durch Rede
und Schrift zur Besserung beizutragen. Der Staatsschreiber von Basel, Isaac
IsELiN (1728 — 1782) unterstützte Basedows Neuerungen; er verbreitete die
Ansichten der franzoesischen Physiokraten ; die Stiftung der helvetischen Gresell-
schaft in Schinznach 1761 und der Gemeinnützigen Gesellschaft in Basel 1777
war zum guten Teil sein Werk.^^ Als Schriftsteller begründete er seine Ge-
danken von einer beständig fortschreitenden Entwickelung der Menschheit
durch historische Zeugnisse : ''^ Rousseau gegenüber, den er in Paris 1752
kennen gelernt hatte, blieb er freilich durch seine etwas breite und einför-
mige Behandlung im Nachteil.
In Zürich vertrat diese menschenfreundlichen Bestrebungen der Arzt
JoH. Kaspar Hirzel (1725 — 1803). Von Potsdam her mit Kleist, spaeter
mit Klopstock befreundet, übertrug er deren idealistische Auffassungs- und
Ausdrucksweise auf die Verhältnisse seiner Heimat, und feierte eine Anzahl
seiner Zeit- und Landesgenossen durch biographische Denkmseler.*^ Am
meisten Aufsehen machte eine Schilderung des tüchtigen, klugen Landmannes
Kleinjogg, eigentlich Jacob Gujer, die er als 'Die Wirthschaft eines philoso-
phischen Bauers', Zürich 1761 uö. veröffentlichte. ^■^'^ Er begründete damit zu-
gleich die Gattung der Dorfgeschichten, welche spaeter in der Schweiz einen
so günstigen Boden gefunden hat.
Noch naeher an Rousseau hielt sich Jon. Georg Zimmermann,^** geb.
1728 in dem damals zu Bern gehoerigen Brugg im Aargau und hier, nach-
dem er seit 1747 sich bei Haller *^ in Göttingen ausgebildet hatte, als Stadt-
Dagegen verfolgte ihn J. G. Schummel in Magdeburg mit der Satire 'Spitzbart, eine konii-
tragische Geschichte für unser ptedagogisches Jahrhundert", Leipzig 1779: s. W. Kawerau,
aus Magdeburgs Vergangenheit. Halle 1886 S. 162 fgg. 45) August v. Miaskowski,
I. Iselin, Basel 1875. Vgl. Schnorrs Arch. XIII 183 fgg. 46) Thilosophische Mutnias-
sungen über die Geschichte der Menschheit", II, Frankfurt n. Leipzig 1764, in spieterea
Auflagen 'Über die Geschichte der Menschheit', II, Zürich, 1768 uö. Daraus LB. 3. 323.
47) So Sulzer § 149, 49. 47 a) Teilweise nahm Hirzel sein früheres Lob zurück in
der Karl Friedrich von Baden und Leop. Frid. Franz von Dessau gewidmeten Schrift 'Neue
Prüfung des Philosophischen Bauers', Zürich 1785. 48) Tissot. Vie de Zimmermann,
Lausanne 1797. Ed. Bodemaun, Joh. Georg Zimmermann. Sein Leben und bisher uugedruckte
Briefe an denselben, Hannover 1878. 49) Er schrieb Hallers Biograpliie: § 147.39. In
Wackernagel, Litter. Geschichto. II. 30
448 NElIFTOrilDEüTSrHE ZEIT. XYIIT JAHRH. § 150
arzt an<Tost('llt, \m er 1708 als Leibarzt nach Hannover berufen wurde. Der
Beifall, (Ion er auch bei anderen llu'fen fand, nadirte seine Kitolkeif. Mit
dem Uvnistnus RousHcaus legte er die Schwächen der menschlichen Natur
dar und pries die Einfachheit. Seine Schrift Vom Nationalstolze', Zürich
175.S u<"). Itrachte auch für den Stolz der einzelnen Stände und Bekenntnisse
geschichtliche Beispiele in grosser Zahl. Noch mehr im Sinne der Aufkherung
handelte er Über die Einsamkeit", Leipzig 1784. 85, IV, nachdem er schon
1756 zu Zürich 'Betrachtungen über die Einsamkeit' hatte erscheinen lassen.
Er verwarf Mystik und Mönchswesen, lobte aber die Vorteile, welche der
tha^tige Weltmann in zeitweiliger Zurückgezogenheit finde. So zwiespältig
urteilte er auch in seinem Bericht über Friedrichs II letzte Krankheit: Über
Friedrich den Grossen und meine Unterredungen mit ihm kurz vor seinem
Todc\ Leipzig 1788, erweitert als Fragmente über Friedrich den Grossen',
Leipzig 1790, III. Bei allem Lobe des Kienigs stellte er doch dessen Schwä-
chen lieblos und ungescheut bloss. Zahlreiche Entgegnungen, besonders aus
Freussen'** brachten ihn in die heftigste Aufregung. Wie er schon in dem
Buch über die Einsamkeit-'' einen harmlosen Verteidiger der Mystik, Obereit,
bitter verhoehnt hatte, so überwarf er sich nun mit der bisher von ihm selbst
verherrlichten Aufklärung.'' Die Fortschritte der franzoesischen Revolution,
welche er doch schon 1758 prophezeit hatte, vollendeten die Zerrüttung seines
Geistes, in welcher er 1795 starb.
Doch auch in Deutschland geborene Staatsmänner suchten ihre Ansichten
durch Prosaschriften allgemeiner zu verbreiten. Mit franzoesischer Schärfe
der Srhweiz wareu Wielaud, Lavater, Cressner seine njerhsten Freunde. Spieler knüpfte er mit
(ioethe, zuletzt mit den Grafen Stolberg Beziehungen an. 50) Hii)pel si-hrieb 'Zimmer-
mann 1 und Friedrich 11. von Joh. Heinrich Friedrich Quitteubaum. London" (Berlin) 171)0. Auch
Nicolai trat als Beriihtiger Ziimucnnanns auf. 51) 111. 1 fgg. Über Obereit s. § 149. 41.
52) Besonders heftig und austu'ssig war sein Streit mit dem Freiherru Adolk VON Kniggk,
geb. zu Bredenbeck bei Hannover 175:i, gest. als Lauddrost in Bremen 1796. einem vielge-
reisten Hauptvertreter des Ordenswesens, von dessen zahlreichen Schriften nur das auf Selbst-
sucht bejrründete Lehrbuch Über den Umirantr mit Menschen" Hannover 1788, uü. bekannt
blieb. Vgl. über ihn K. G(jfdeke, A. Freiherr Knigge. Hannover 1844 und (Klencke)
Aus eiuer alten Kiste, Lpz. 1853. Ihn bezeichnete der Parteigänger Zimmermanns, Kotzebue,
als Verfasser seiner frechen Hohnschrift 'Bahrdt mit der eisernen Stirn oder die deutsche
Union gegen Zimmermann' 1790. Karl Frikduich Bahrdt (geb. zu Bischofswerda 1741,
gest. zu Halle 1792) war von der Orthodoxie stufenweise zur Xaturreligion übergegangen,
hatte sich als Lehrer und Leiter philantluopiuischer Anstalten versucht, bis er als Gast-
wirt seine Laufbahn beschloss, nachdem er jede von ihm verfochtene Partei durch ein
§ 155 ZIMMERMANN, STURZ, MCESER. 449
und Laune schrieb IIelfrich Peter Sturz. '''^ Greboren zu Darrastadt 1736,
stand er seit 1704 zu Kopenhagen im Dienste; des Grafen Bernstorf''' und
im nahen Verkehr mit Klopstock,'''' ward aber 1772 in den Fall Struensees
mit hineingezogen und starb auf einer Reise in Bremen 1779. Englands
öffentliches Leben, das er 17G8 mit Kcenig Christian VIE ebenso wie Frank-
reich besucht hatte, war das bewunderte Muster, das er dem deutschen Leser
vorhielt;'""' Rousseau stellte er über Voltaire, den er jedoch den Stürmern
und Drängern gegenüber nicht preis gab.''^ In seinem bürgerlichen Trauer-
spiel Julie' 1707 lehnte er sich an Lessings Sara an.
Echte deutsche Ai't dagegen war das Ziel, auf welches Justus Mceser^^
hinwies, wenn das Zeitalter neue Bahnen suchte. Deutscbes Wesen und seine
Geschichte zu erforschen, dazu veranlassten ihn schon die ungewojhulich
schwierigen Verhältnisse, in denen er und zwar mit schcenstera Erfolge wirkte.
Geboren zu Osnabrück 1720 ward er hier Beamter eines kleinen geistliclien
Staates, in dessen Leitung sich ein groessten teils katholisches Domcapitel und
eine überwiegend protestantische Ritterschaft teilten: 1747 zum advocatas
imtr'ue erwaehlt hatte er zuntechst die Rechtshändel des Gesamtstaates zu
führen, ward aber bald die Seele der ganzen Verwaltung. Allseitig verehrt
starb er 1794. Ais Schriftsteller wirkte er besonders durch kleinere Auf-
sätze in dem Osnabrückischen Intelligeuzblatte 1766 — 1782, welche seine
Tochter, Frau von Voigts, als Tatriotische Phantasien'' 1774 ■'•' herausgab.
Er ging dabei aus vou den gewoehnlichsten Lebensverhältnissen, entwickelte
aber seine Urteile und Ratschlajge aus tiefster Überlegung und aus echter
Menschenfreundlichkeit, in dem Sinne dass er der Ausgleichungssucht seiner
Zeit gegenüber das Bestehende zu erhalten und nur wieder mit dem ursprüng-
lichen Geiste zu erfüllen suchte. Den altangesessenen Bauern wollte er gegen
den Krtemer ebenso wie gegen den vermoegenslosen Neubauern schützen;
Sitten- und würdeloses Lebeu geschädigt. 53) Max Koch, H. P. , Sturz, Miiuchen 1879,
mit Benutzung des hslichen Nachlasses. 54) Eine Lobschrift aut Bernstort. 1777
veröffentlicht, ist mit aufgenommen in die 'iSchriften', welche in zwei Sammlungen 1779
u. 82 uö. erschienen. Die erste Sammlung ist Zimmermann gewidmet. Vorher waren
die Briefe und Aufsätze meist im Deutschen Museum geilruckt worden. 55) § 152, 1.
56) LB. 3, 739 fgg. 57) Schriften 1, 103. 58) F. Nicolai, der Verleger Moesers,
beschrieb dessen Leben vor den 'Vermischten Schriften', Berlin u. Stettin 1797. 98, II.
Eingehender B. R. Abeken in Mustus Moesers sämmtliche Werke', X, Berlin, 1840, uö.
Hier ist auch 10, 1 fgg. die Biographie von Nicolai wiederholt, welche am Schluss Mfi'ser
mit Sturz vergleicht. 59) Berlin 177Ö. 7G, II, uö. spteter vermehrt. Daraus LB. 3,
450 NElTironiDETITSCTTE ZEIT. XVIIl JAIIRTT. § 156
solhst der Ebrlichinacliung des Hirten"'* widerstrobto or, weil er überhaupt die
Ehre der verschiedenen Stände als Hebel zur Förderung und Bewahrung der
Sittlichkeit und des Wohlergehens Aller ansah, (legen die Empfindsamkeit
seiner Zeit verteidigte er die solavische Erziehung, der natürlichen Religicui
treirenüber setzte er die Itechte und die Vorteile der christlichen Bekennt-
nisse auseinander. Die Mode verspottete er und pries die Sitte. Dabei ge-
brauchte er mit glänzendem Geschick die Ironie, ja gelegentlich hat wohl
die Advocatenart ihn zu gewagten Behauptungen geführt, welche Leser von
selbständigem Urteil voraussetzen. Indem er aber das Bestellende als ge-
schichtlich geworden begi-eifen wollte, ward er selbst zum Historiker: seine
'Osnabrückische Geschichte', 17G5 — 80, erhellte, so trocken sie in der Form
war, doch die gesamte deutsche Vor/eit, indem sie die Urzustände '^^ mit
den bäuerlichen Verhältnissen seiner westphselischen Umgebung verglich. Ver-
ständnis und Liebe des deutschen Wesens veranlasste ihn auch gegen Fried-
richs II absprechendes Urteil die Litteratur seiner Zeit, zumal die .Tugend-
dichtungen (iu'thes in Schutz zu nehmen.
Dagegen versteht es sich leicht, dass Moeser nicht ganz einverstanden
war mit den Schriften von Frieduicii Karl von Moser, welcher bei dem
lebhaftesten Bestreben das deutsche öffentliche Leben zu bessern allzu ein-
seitig Fürsten und Beamten ins Auge fasste und das Volk nur als Gegen-
stand der Bevormundung ansali. Auch Moser trat dem Naturalismus der
franzivsischen Philosophie entgegen, aber aus christlichen Grundsätzen."'-^ Seine
Frömmigkeit erwies er in harten Prüfungen, wie sie schon, freilich noch
härter, des Rechtes wegen sein Vater Johann Jacob Moser,''* bestanden hatte.
Geb. zu Stuttgart 172r{, gest. zu Ludwigsburg 1798, hatte er in den hessi-
schen Ländern hohe Stellungen bekleidet, bis ihn 1780 der Landgraf von
Darmstadt durch jahrelange Verfolgung für seinen Übereifer, den er im
299 fgg. 60) Auch flie Leibeigenschaft und «las Faustrecht nahm er gegen die unbe-
(liuffte Verwpifuntr der Zeitsrenossen in Schutz. 61) Den Tod des Amiinius hatte er in
einer Tragcedie nach den tranzresischen Regeln behandelt, welche in Hannover und Göttingen
1749 ei-schien. aber nur auszugsweise spseter wiederholt wurde: bei Abeken 9, 2()1. 10, 118.
62) (TiPthe hat ihu in Wilhehn Meister als 'Philo' gezeichnet. 63) Hieser. geb. zu Stuttgart
17(J1. hatte als Staatsrechtslehrcr wegen seiner Weigerung, in Frankfurt a. <•. mit Gundling,
dem Hofnarren Friedrich Wilhelms I zu disputieren, den nnbämligcn Zorn des Kcpnigs
erfahren müssen: als Landschaftsconsulent in Württemberg war er 1759 — 64 auf <lem
Hohentwiel eingekerkert. Er starb llHö. Vgl. die 'Lebensgeschichte .1. J. Mosers von
ihm selbst beschrieben'. Frankfurt und Leipzig 1777. IIL Seine zahl- und umfangreichen
juristischen Scliritten flürfcn ebenso wie seine Kirchenlieder einen Wert für die allgemeine
§ 156 MOSER, HAMANN. 451
Dienste gegen die anderen Beamten bewiesen/'* büssen Hess. Teils in zu-
sammenhängenden Betrachtungen, teils in einzelnen Beobachtungen '''^ legte er
seine frommen, rechtlichen Ansichten vor: 'Der Herr und der Diener geschil-
dert mit patriotischer Freyheif, Frankfurt 1761, 'Daniel in der Lrewengrube
in sechs Gesängen' (aber in Prosa), 1763, 'Reliquien' und 'Beherzigungen'
1766. Friedrich den Grossen hatte auch er erst als Schirmherr des Prote-
stantismus verehrt, später bekämpfte er in der Schrift 'Vom deutschen
Nationalgeiste' 1765 seine kriegerische Neigung und trat für Oesterreichs
Kaiserrecht ein.
Moser vpandte sich 1762 verehrungsvoll 'an den Magum im Norden',*"^
und dieser Name blieb seitdem der Lieblingsname für Johann Georg Hamann.
Noch andere Schriftstellernamen gab sich der wunderliche Mann, dessen Lebens-
führung auch manches Rsetsel bietet. Geboren zu Koenigsberg 1730, war er
längere Zeit Hauslehrer in den Gegenden von Riga und Mitau, dann, nach
einem verunglückten Versuch 1757 und 1758 in London Handelsbeziehungen
für einen befreundeten Kaufmann anzuknüpfen, Unterbeamter im Zollwesen,
seit 1777 Packhofverwalter. Schon 1764 hatte er seine Freunde in Ober-
deutschland aufgesucht; 1787 folgte er einer Einladung in den frommen,
feingebildeten Kreis der Fürstin Gallitzin in Münster, starb aber bereits 1788
auf dem nahegelegenen Gut Wellbergen. ^^ Bekannt wurde Hamann zuerst
1759 durch seine Sokratische Denkwürdigkeiten','^'^ denen sich als sein
Hauptwerk 1762 'Kreuzzüge des Philologen' anschlössen.®^ Philologe, so
nannte er sich zunsechst mit Hinbhck auf sein Sprachstudium, welches ihn
zu den tiefsten Einsichten führte, ^'^ nur dass er von seiner ungeheuren Belesen-
heit einen seltsamen Gebrauch machte. Wie Sokrates wollte er durch die
Litteraturgesfhichte nicht beanspruchen. 64) Sehr ungünstig urteilte .J. H. Merck
(§ 159, 74) über Moser: Wagner, Briefe aus dem Freumieskreise von Merck, Lpz. 1847,
S. 2U0 fgg. 65) LB. 3, 87 f'gg. 66) 'Treuherziges Schreiben eines Laien-
bruders im Reich au den Magum in Norden oder doch in Europa": Literaturbriefe XVI,
69 fgg. Die Herausgeber der Literaturbriefe hatten Hamanns Urteil über Mosers 'Herr
und Diener' (Schriften 2. 149) sich wesentlich angeeignet; daher schickte Moser diese
Antwort ihnen zu. 67) C. H. Gildemeister. Mob. Georg Hamann's Leben und
Schriften, VI, Gotha 18.57 — 73. Hamanns Schriften hg. von Fr. Roth, IX, Berlin
1821 — 43. 68) Der volle Titel: 'Sokratische Denkwürdigkeiten für die lange Weile
des Publicums zusammengetragen von einem Liebhaber der langen Weile. Mit einer
doppelten Zuschrift an Niemand und an Zween' [Kant und Berens], Amsterdam 1759.
69) Das Hauptstück darin: 'Aesthetica in Nuce, Eine Rhapsodie in Kabbalistischer Prose'
ist im LB. 3, 280 abgedruckt. 70) Sprache ist Vernunft, Uyog' Sehr. 7. 151,
452 NI'^UHOOITDEUTSCIIE ZEIT. XYIII JAHUII. § 15«
Ironie lolnriK und diis 1 höchste, was er als nnsap^har f'iihUo , mehr ahnen
lassen, als aussprechen oder p;ar heweisen.^' Der überwie^^enden Verstandes-
cultur seiner Zeit ^ep^enüber forderte er die Ausbiidunf^ und Vercinif^ung
aller Kräfte: die Leidenschaft war ihm Character der Urzeit und Bedingung
ihrer Kraft. Der Vorherrlicluino; der Vernunft setzte er den einfachen
Ohristonorlauben entgegen. Die franz(e3ische Bildung Friedrichs II bekämpfte
er mit um so gnrsserer Feindschaft, als er an seiner eigenen Lebensstellung
die Vorliebe Friedrichs für seine franztesischen Beamten hatte bitter empfin-
den müssen. Aber auch seine Klagen hierüber gingen ungehcert vorüber.
Bedurfte doch Hamann auch als Schriftsteller der Ausleger: seine beständigen
Anspielungen auf das fernstgelegene, welche einen polyhistorischen, oder wie
Lessing sagte, einen panhistorischen Leser voraussetzten, liessen ihn für die
Menge unverständlich und ungeniessbar erscheinen. Gegner wie Nicolai paro-
dierton ihn, aber grossere Geister bewahrten ihm, auch bei scharfem Gegen-
satz der Ansichten, die hoechste Achtung. ^-
So sein Heimatsgenosse Immanuel Kant (1724 — 1804), der nach Leibnitz
eine neue und noch mächtigere Bethwtigung der deutschen Philosophie herbei-
führte. Er erwies die Nichtigkeit jenes Anspruchs seiner Zeit Alles durch
den gesunden Menschenverstand zu begreifen und zu bestimmen, indem er
die Gränzen des menschlichen Denkens feststellte: nicht die Dinge an sich,
sondern nur wie sie uns erscheinen, vermcegen wir zu erkennen. Dem Dog-
matismus von Leibnitz und Wolf, dem Skepticismus der englischen und
franzoesischen Popularphilosopliie setzte er den Kriticismus entgegen'-' und
stellte selbst seine neue Auffassung an Wert der Entdeckung des Kopernika-
nischen Weltsystems gleich. Die 'Kritik der reinen Vernunft', Riga 1781,^^
war das reife Ergebnis einer langen Gedankenarbeit, nachdem seine älteren
Werke '" sich meist auf mathematische und naturwissenschaftliche Gegen-
stände bezogen hatten. Den entmutigenden Schlüssen dieses Hauptwerkes
liess er jedoch in der 'Kritik der praktischen Vernunft', Riga 1788, die
sichere Begründung des Glaubens an Gott, Freiheit, UnsterbHchkeit folgen,
welche er in dem allen Menschen eingepflanzten Gewissen"® fand. Der Ge-
71) 'Kürze ist ein Character des Genies' 1. 1U3. 72) J. Minor. .7. G. Hamann in seiner
Bedeutung für die Hturm- und Drangperiode, Frankt'. a. M. 1J581. 73) Der alles zer-
malmende Kant' so nannte iliu Mendelssohn. 74) 2. Aufl. 17H7. 75) Sämtliche
Werke hg. von K. Rosenkranz und F. W. Schubert, Lpz. 1838—42, XII (darin Biographie
von Schubert) und von G. Hartenstein. Lpz. 1838. 21867. 68, VIII. 76) Daraus LB. 3.
879 — 8U4. In § 7 fasste er den 'kategorischen Imjtprativ" in die Formel: Handle so dass
§ 157 KANT. 453
danke an die Pflicht, der ihm neben dem Anblick des gestirnten Himmels
als das Erhabenste erschien, war für sein Denken der Angelpunct wie er es
für das Handeln Friedrichs des Grossen gewesen war. Daher fasste Kant
auch die 'Rehgion innerhalb der Grunzen der blosen Vernunft', 1793, rein
moralisch, worauf ihm Friedrich Wilhelm H die Freiheit zu lehren und zu
schreiben einschränkte. So mannhaft er sich dagegen verhielt, und so fein
ironisch er die Angriffe der Fachgenossen abwehrte, so liebenswürdig be-
scheiden trat er im bürgerlichen Leben auf. Und wenn auch sein Moral-
gesetz das Glückseligkeitsprincip der Popularphilosophie vernichtete, so war
ihm das Gefühl für Schcenheit und Kunst nicht fremd und nicht gleichgiltig.
Seine bereits 1766, zu Koenigsberg, veröffentlichten 'Beobachtungen über das
Gefühl des Schoenen und Erhabenen' führte er weiter in der 'Kritik der
Urteilskraft' 1790:^^ Schoenheit ist ihm was als zweckmässig ohne Yorstellung
des Zwecks wahrgenommen wird,^'^ was ohne Begriff allgemein gefällt, was
ein interesseloses Wohlgefallen erregt. Diese Gedanken fanden ihre Fort-
führung durch Schiller; aber das gesamte Geistesleben der neechsten Zeit
stand unter dem Einflüsse der Philosophie Kants. Wenn unter den Prosa-
werken des 18. Jahrhunderts seine 'Kritiken' wegen der mit Absicht ^^ ge-
waehlten rauhen Schulsprache' nicht in gleicher Weise wie die Werke anderer
Philosophen allgemein gelesen und gewürdigt werden konnten, so besitzen
doch seine kleineren Schriften bei aller Gedankenfülle die hoechste Reinheit
und Klarheit des Ausdrucks und die Schärfe seiner Begriffsbestimmungen ist
der Sprache dauernd zu Gute gekommen.
§ 157.
Ein Ostpreusse wie Hamann und Kant war auch Johann Gotfried von
Herder. Kant war sein Lehrer an der Koenigsberger Universita?t, aber noch
ehe er seinen eigentümhchen Standpunkt gefunden hatte, welchen Herder
spseter heftig bekämpfte. Dagegen dauerte die Freundschaft Herders mit
Hamann lebenslang.' Herder hat Hamanns Gedanken ihrer YerhüUung ent-
kleidet und mit glänzender Darstellung ausgestattet: erst durch ihn erlangten
sie volle Anerkennung und Wirkung. Andererseits knüpfte er mit Vorliebe
die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Oiesetzgebung
gelten könnte'. 77) Berlin und Liebau, ^1798. 78) Noeli deutlicher und über-
zeugender sagt Kant: 'Natur ist schoen, wenn sie aussieht wie Kunst; Kunst ist schoen,
wenn sie aussieht wie Natur'. 79) Kant verwarf den Ausdruck 'schcene Wissen-
schaften': Kr. d. Urteilskraft § 44.
§ 157. 1) Herders Briefe an J. Gr. Hamann, im Originaltext herausg. v. Otto Hoffmann,
454 NEUJIOUIIÜEÜTÖCIIE ZKIT. XVlll JAIIRII. § 157
an Lessing- an, dessen kritischer Schärfe er die Weite seines Blickes, die
Tiefe seiner EnipHndiing' entgegen setzte; und die Folgezeit, insbesondere
das zuipnchst folgende Geschlecht hat sich ebenso durch seine J^eitung be-
stimmen lassen* wie der Geist des vorhergehenden in Leasings Urteilen und
Diciitwerken den bleibenden Ausdruck erhielt. Lessings Bekenntnis zur
Philosophie Spinozas nahm auch Herder' an, nur dass er dessen Ethik der
Selbstlosigkeit in eigentümlicher Weise mit der christlichen Theologie® zu
verbinden suchte.
Herder" war geboren zu Mohrungon am 25. August 1744. Sein Vater
war Schullehrer; nur mit Schwierigkeit errang sich Herder den Zugang zur
Universita't, Nachdem er in Kamigsberg 17(i2 — 64 studiert, erhielt er eine
Anstellung in Riga als Lehrer an der Domschule, spteter auch als Prediger.
Hochgeschätzt von den gebildeten Handelsherren dieser Stadt, welche unter
russischem Schatten last Genf war, Hess er sich doch seine Stellung dort
Berlin 1889. 2) St-hoener Nachruf im Teut8fhen Mercur, Ort. 1781. Unter «len Paramy-
ihien: 'Der Tod. Ein Gespraech an Lessings (irabe": LB. 2, 1045. 3) Lessings Ver-
nunttreligion führte er insofern aus, als er die Unsterblichkeit der Seele zwar als Glauben
bestehen lies«, aber doch die menschliche Unsterblichkeit darauf bezog dass alles Edle und
Reine, alles was in der Natur und Bestimmung des Menschengeschlechts in seiner fortgehenden
Thietigkeit wesentlich liegt, unendlich fortwirke, ein (iedanke. der freilich eine Ablegung
unseres Ich notwendig fordere: Zerstreute Blätter 4. Sammlung 1792 (Suphans Ausg. XVI,
33 fgg. 39). Dem Lustspiele Lessings 'Die Juden' wollte übrigens Herder ein Trauerspiel
'Der Christ" entgegen stellen: Suphan-Redlich XXVUI. 11. 4) Ch. Joret, Herder et
la renaiss'iiice litteraire au XVITIe siede. Paris 187Ö. 5) 'Gott. Einige Gespraeche',
Gotha 1787. Dass Herder indessen hauptsächlich au Leibnitz fest hielt, zeigt M. Kronen-
berg, Herders Philosophie, Heidelberg 1889. 6) August Werner, Herder als Theologe.
Berlin 1871. 7) 'Erinnerungen aus dem Leben .loh. Gottfrieds v. Herder'. Gesammelt
und beschrieben von Maria Carolina v. Herder, geb. Flachsland, hg. durch J. G. Müller,
Tübingen 182U, HI. 'J. G. v. Herders Lebensbild. Sein chronologisch geordneter Brief-
wechsel' (bis 1771) hg. von seinem Sohne Emil G. Herder, VI, Erlangen 1846. Weitere
Veröffentlichungen von H. Düntzer und Ferd. Gottfried von Herder: 'Aus Herders Nachläse',
III, Frankfurt a. M. 1856—57; 'Herders Reise nach Italien', Giessen 1859; 'Von und an
Herder'. III, Leipzig 1861. 62. Von spietereu Quellenschriften vgl. bes. 'Aus dem Herder-
schen Hause. Aufzeichnungen von J. G. Müller. 178U— 82'; hg. v. J. B«chtold, Berlin 1881.
Zusammenfassende Biographie von R. Haym : 'Herder nach seinem Leben und seinen
Werken', II, Berlin 1877. 85. Die Erinnerungen' bildeten den Schluss von .1. G. v..Herders
Sämtlichen Werken, (welche Herders Wittwe. J. G. Müller und sein Bruder, der Geschichts-
schreiber, sehr willkürlich redigierten) XLV. Tübingen 18U5— 20: LX, Stuttg. u. Tüb. 1827 bis
30; XL, ebd. 1852 — 54. Düntzers Ausgabe, Berlin o. J. XXIV. Kritisch-historische
Ausgabe von Suphan, Berlin 1877 fg. XXXI (darin XXV — XXLX Poetische Werke hg.
1
§ 157 HERDERS LEBEN. , 455
durch litterarische Streitigkeiten verleiden, in welchen ihn Klotz und seine
Anhänger um so empfindlicher trafen, als er seine ersten, ohne seinen Namen
erschienenen Schriften geradezu abgeleugnet hatte. Auch der Wunsch seine
Jahre zu nutzen und sich in der Welt umzusehen trieb ihn fort. Im Früh-
jahr 1709 veriiess er Riga; nach langer, einsamer Seefahrt landete er in
Nantes. Der grossartige Eindruck des Naturlebens auf dieser Reise wurde
durch die naehere Bekanntschaft mit der ganz anders gearteten franzoesischen
Bildung seiner Zeit nur verstärkt. Als er nach Paris kam, erhielt er den Antrag
einen geistesschwachen Prinzen, den Sohn des Fürstbischofs von Lübeck auf
seinen Reisen zu begleiten. Auf dem Weg nach Eutin, wo er seinen Zögling
abholen sollte, verkehrte er in Hamburg freundschaftlich mit Lessing. Die
Reisestelle erwies sich bald als eine Fessel: Herder trennte sich von dem Prinzen
um in Strassburg zunaechst wegen eines entstellenden Augenleidens sich einer
Operation zu unterziehen, wobei der junge Goethe ihm wsehrend der lang-
weiligen und zuletzt doch erfolglosen Kur Gesellschaft leistete. Vorher hatte
er in Darmstadt seine speetere Gattin kennen gelernt, eine Elsässerin, welche
ihm ein glückliches Familienleben bereitete und begeistert an seinen schrift-
stellerischen Arbeiten Teil nahm, aber auch durch die Heftigkeit ihrer 'Electra-
natur' die Verstimmungen ihres an sich sehr reizbaren Gatten noch steigerte.
Er holte sie 1773 nach Bückeburg ab, wohin er im Frühjahre 1771 als erster
Geisthcher des kleinen Landes berufen worden war. Graf Wilhelm hatte in
ihm wesentlich einen Ersatz für den frühverstorbenen, von Herder würdig
beklagten Abbt* gesucht: besser jedoch als der Stoiker und Soldatenfreund
verstand seine saufte, liebenswürdige GemahUn Herders Bestreben inmitten
des philosophischen Jahrhunderts der Religion ihr Recht wiederzugewinnen.
Durch dieses gerade damals heftig in ihm entbrannte Verlangen verfeindete
sich Herder freilich auch mit den bisher ihm geneigten Vertretern der Ber-
liner Aufklärung; er fühlte sich in der kleinen Residenz, fern von den
Stätten des deutschen Geisteslebens, wie in der Verbannung. Als die Greefin
Maria 1776 starb, hatte er eben einen durch Goethe erwirkten Ruf nach
Weimar angenommen, wo er am 2. October anlangte und seitdem bis zu
seinem Tode am 18. December 1803 sein geistliches Amt, zuletzt als
Prsesident des Oberconsistoriums versah. Eine Aussicht auf eine Professur
in Göttingen war ihm wie schon in Bückeburg, so wiederholt und sicherer
waehrend einer Reise nach Italien eröffnet worden, die er vom Sommer 1788
von C. Redlich). Auswahl durch Lainbel ia Kürschners Nat.-lit. 75—77. 8) § I5(j, 22.
456 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVIII. JAHKH. § 157
bis zum Sommer 1789 grossentoils in der Umgebung der Herzogin Amalia
zurücklogto: dass er sich in Weimar bulton lioss, glaubte er sjitpter bereuen
zu müssen. Denn auch hier wai-d ihm dauernde ZutViiMlenheit nicht zu
Teil: der obersJichsische Volkschararter seiner thüringischen Umgebung''
misstiol ihm ebenso wie er, der Anhänger Kousseaus,''' E^n^^ Adel" und
Hof eingenommen war; und freilich bot Anfangs Karl Augusts geniale Lebens-
führung dem strengen Moralisten manchen Anstoss; spwter verstimmten den
Herzog Herders Klagen, wenn auch die Gunst der fürstlichen Frauen diesem
treu blieb. Dadurch ward auch Herders Verhältnis zu Onethe berührt: nur
in den Jahren 1783 bis 1794 etwa waren beide eng verbunden durch ihre
Übereinstitnmung in philosophischen Ansichten und in der litterarischen Wirk-
samkeit. Als Giethe sich mit Schiller befreundete, trat Herder zurück; hatte
er anfänglich, wie früher Wielands Mercur, dann Boies Deutsches Museum,
so auch Schillers 'Horen^ unterstützt, so sprach er über dessen spaetere Werke
ab, um so härter, als er damit zugleich den Anhänger Kants verurteilte.
Gegen Kants Hauptwerk richtete sich Herders Metakritik' (Leipzig 1799, II),
gegen Kants und Schillers lesthetische Schriften seine 'Kalligone' (Leipzig
1800, n); in seiner 'Adrastea' (VI, Leipzig 1801 — 3) vereinigte er eine An-
zahl von Aufsätzen, welche wie schon seine letzten 'Briefe zur Beförderunir
der Humanita?t' die älteren Dichter seiner Zeit '-^ geflissentlich gegen die an
seiner Seite lebenden hervorhoben.
Von Herders älteren Hauptschriften zeigen auch die der Theologie ge-
widmeten den Grundton der Überzeugungen Herders, sein Streben nach Hu-
manitaet: war ihm doch die Religion Christi, wie dieser selbst sie übte und
lehrte, die Humanität selbst.'^ Diese Humanitset, deren Pole, Verstand und
Güte, im Grunde beide auch nur eines seien, vertrat er durchweg, sei es mit
der Auffassung und Deutung der biblischen Überlieferungen als historischer,
poetisch durchhauchter Quellen, sei es mit sittlicher Mahnung, welche an das
allgemeine Gefühl, nicht bloss an den gesunden Menschenverstand sich wandte
und Volk wie Gebildete gleichmsessig ins Auge fasste. In jener Art trat
mit besonderer Kühnheit hervor Herders 'Älteste Urkunde des Menschen-
geschlechts' (II, Riga 1774 — 76), worin die mosaische Schöpfungsgeschichte
9) Müller, aus dem Herderschen Hause S. 71. 10) Noch das allegorische Drama 'Aeon und
Aeonis*, 1802 erschienen, gibt dieser politischen Gesinnung Ausdruck. 11) Doch liess
sich Herder seihst 1801 vom Kurfürsten von Bayern adeln, um einem seiner Soehne den Besitz
eine» ritterlichen frutes zu sichern. 12) Klopstocks Lob (Adrastea V 1. 98 igg.) ist
freilich ebenso gerecht wie schoen. 13) Humanitietsbrief 2.5, 30 (Suphans Ausg. XVII,
§ 157 HERDERS THEOLOGISCHE SCHRIFTEN. 457
als grossartige Wiedergabe der Eindrücke eines Sommermorgens •' gedeutet
wird; spaeter folgten 'Lieder der Liebe, die ältesten und schoensten aus
Morgenlande' (Leipzig 1778), ein Versuch die Zusammensetzung des Hohen
Liedes aus einer Reihe von Liedern zu erkla^ren, die aus dem orientalischen
Gefühl und Ausdruck verstanden werden müssten ; sodann, nachdem er um
1780 eine Klserung und Sänftigung wie der Ansichten so auch der Ausdrucks-
weise erfahren hatte,*'' das z. T. in GesprsBchsform abgefasste Buch 'Vom
Geiste der Ebraeischen Poesie' (II, Dessau 1782. 83), eine Würdigung nament-
lich des Buches Hieb *" und der Psalmen vom dichterischen Standpunct aus,
der auch durch Vergleichung mit arabischen Dichtungen und mit Ossian ge-
stützt wird. Aus dem Neuen Testament zogen namentlich das Evangelium
Johannis und die Apokalypse *^ den feinfühligen, für jede Art der Poesie em-
pfänglichen Geist Herders an. Mehrere Erlteuterungsversuche einzelner Lehr-
begriffe (Auferstehung, Rede in Sprachen) vereinigte Herder in den 'Christ-
lichen Schriften' (V, Riga 1794—99).
Von den Mahnreden gelangten die Predigten Herders nur gelegentlich
in den Druck; *^ er selbst schrieb meist nur die Entwürfe auf, welche er
dann frei, mit eindrucksvoller Ruhe,*^ so gemeinverständlich als moeglich aus-
führte. Von den gedruckten bekannte er dass sie dann als Abhandlungen
mit allem Gezwungenen, was seine Schriftstellerei habe, erschienen.^'' Diesen
letzteren Character zeigen allerdings seine 'Provinzialblätter au Prediger'
(Leipzig 1774), worin er heftig gegen die Predigt der Aufklterungstheologen,
insbesondere die Spaldings eiferte, welche nur auf Moral, noch dazu wesent-
lich im Staatsinteresse, dringe. Den milderen Geist der spaeteren Zeit atmen
die 'Briefe das Studium der Theologie betreffend' (Weimar 1780. 81). An
weitere Kreise wenden sich die 'Briefe zur Beförderung der Humanitaet',
Riga 1793 — 97, welche die reifen Früchte der weitausgreifenden Belesenheit
Herders enthalten und auf Franklins, Friedrichs II, Lessings Schriften, aber
auch auf Homer und Pliilemon, und wieder auf Leibnitz und noch auf Kant
hinweisen.^' An die Schüler des seiner Aufsicht unterstehenden Gymnasiums
S. 121). 14) LB. 3, 461. Anlas« gab ein Vergleich Gessners in seinem 'Tod Abels':
Suphans Ausg. VI p. XIII. 15) Snpban XII. .353 tgg. 16) LB. 3, 477.
17) .\UPJX .4W./, (las Buch von der Zukunft des Herrn, des Neuen Testamentes Siegel,
Riga 1779. 18) Ein Beispiel LB. 3, 439. Die erste Sammlung 'Christliche Reden und
Homilien', von J. (i. Müller besorgt, erschien in den Werken 1806. 19) Vgl. die
schoene Schilderung von Jean Paul: LB. 3, 914. 36 fgg. 20) an Lavater 1774: Aus
Herders Xachla.ss 2, 117. 21) Daraus LB. 3, 493 'Haben wir noch das Vaterland der
458 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVHI JAHUH. § 157
in Weimar wenden sich die Schulreden,-'^ welche erst Stuttgart 1810 gesam-
melt erschienen.
Die gleiche Wendung von der schroffen Verworfung des Urteils der
Zeitgenossen zu einer zusammenfassenden, weitere Ziele steckenden Betrach-
tung lassen die Schriften erkennen, in welchen Herder die geschichtliche
Entwickelung der Menschheit hehandolt. 1 7 74 '■' veröffentlichte er 'Auch eine
Philosophie der Gescliichte zur Bildung der Menschheit', worin er besonders
gegen Voltaires und Iselins Lob der Aufklterung und ihre Herabsetzung des
Mittelalters schneidende Einsprache erhebt.-^ Mcege dies letztere eine Zeit
der Unordnung gewesen sein, moege damals ein barbarischer Ehrenpunct,
eine wilde Händelsucht geherrscht haben : immer sei das noch besser als
lebend tot sein. Die Gegenwart biete dagegen Wiirme in Ideen und Kälte
in Handlungen; ihr Character sei Unglaube, Despotismus und Üppigkeit.
Gerechter und mit gleichmfessigor Liebe verbreitet sich dagegen über den
ganzen Gang der Weltgeschichte Herders Hauptwerk, seine Ideen zur Phi-
losoi)hie der Geschichte der Menschheit', Riga und Leipzig, IV, 1784 — 1791.
Ausgehend von dem Schauplatz der Weltgeschichte, der Erde, von der Stel-
lung des Menschen zu den übrigen Organismen, der Verschiedenheit der
Völker nach Wohnsitz und Sitten, benutzte er die physiologischen For-
schungen Hallers, verband damit die physiognomischen Studien Lavaters,
vor allem aber Goethes Winke über die Ergebnisse der Naturwissenschaften.
Freilich Kant-^ tadelte dass Herder so vieles allein aus dem aufrechten
Gang des Menschen ableite, und fand überhaupt dass er der Einbildungs-
kraft im Aufbau seiner Lehre zu weit nachgebe; aber auch er erkannte
die erstaunliche Fülle der Kenntnisse, ihre sinnreiche Verknüpfung und die
dichterische Beredrsamkeit Herders an. Mit raschem Fluge eilt die Dar-
stellung vorwärts, zeigt namentlich in der Behandlung der Religionsgeschichte
eine grossartigo Unbefangenheit, gelangt aber nur bis zum Ende des Mittel-
alters, dem Zeitalter der Entdeckungen und Erfindungen. Für die Welt-
geschichte ist das Werk ein Muster gewesen und geblieben. Einige Abhand-
lungen scldiessen sich vorbereitend an, mit welchen Herder vielfach Preise
der Akademien-" sich errang: über den Ursprung der Sprache', Berlin
Alten?' ein umgearbeitetes Stück einer zu Riga 17H.') verötfentlichten Abhandlung. Im 79.
Brief gedenkt er rühmend seines Lehrers Kant; ireilich Schiller und selbst Goethe werden
zuletzt scheel angesehen. 22) Daraus LB. 3, 4b5 'Von der Annehmlichkeit, Nützlichkeit
und Notwendigkeit der Geographie'. 23) o. 0. 24) Daraus LB. 3, 471. 25) AUg.
Iyit.-Zeitung 178.3. Werke hg. von Hosenkranz u. Schubert VII S. 349 fgg. 26) Vgl.
§ 157 HERDERS GESCHICHTLICHE WERKE. 459
1772, worin er ausführte dass die Sprache, als Anlage des Menschen von An-
fang an in ihm vorhanden, Merkmale der Dinge ausser ihm fest zu halten
suche; 'Ursachen des gesunkenen Geschmacks bei den verschiedenen Völkern
da er geblühet', Berlin 1775; 'Von Einfluss der Regierung auf die Wissen-
schaften und der Wissenschaften auf die Regierung', Berlin 1780; 'Über die
Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in den alten und neueren
Zeiten', München 1781,
Von solchen grossen Gesichtspuncten aus war Herder gleich beim ersten
Auftreten bemüht die litterarische Kritik zu fördern, und hier nahm er Les-
sings Schriften als Anlass zu Beistimmung, zu Fortführung, aber auch zu
Widerspruch : nur dass er bei diesem oft die Fragstellung veränderte und so
neben Lessing Recht behalten konnte. So stellten seine 'Sammlungen von
Fragmenten: Über die neuere deutsche Litteratur', III (Riga) 1767,'-' die
Urteile Lessings und seiner Freunde in den Litteraturbriefen zusammen und
bekämpften namentlich die bisherige Neigung deutsche Dichter mit antiken
gleichzusetzen. Von Herders 'Kritischen Wäldern', III (Riga) 1769, ist das
erste Wäldchen ^'^ Lessings Laokoon gewidmet und sucht den hier gegebenen
Unterscheidungsgrund zwischen Poesie und Malerei dahin zu berichtigen dass
die letztere durch ihre Werke Eindruck mache, die erstere dagegen durch
ihre Thaetigkeit selbst ;^^ auch die 'Plastik', Riga 1778, knüpft hier an, in-
dem die Bildhauerei als 'Kunst des Gefühls' neben die Malerei als 'Kunst
des Gesichts" gesetzt wird. Noch spseter sucht Herder Lessings Fabeltheorie
genauer zu fassen, indem er auf den bestimmten Anlass hinweist, aus wel-
chem jede einzelne Fabeldichtung der ältesten Zeit entsprungen sei. Wich-
tiger ward seine Behandlung des Epigramms: hier erwies er allerdings dass
Lessings an Martial anknüpfende Auffiissung zu eng sei. Herder ging auch
hier auf die Geschichte der Gattung ein und wies auf die griechische Antho-
logie hin, worin so oft und so glücklich das Epigramm wirklich als Auf-
schrift, als Erklärung eines Denkmals erscheine, also von den zwei Lessing-
schen Bestandteilen dos Epigramms, Erwartung und Aufschluss, nur der
letztere vorhanden sei; worin ferner neben dem Witz auch die Empfindung
zu ihrem Rechte gelange. Noch andere griechische Dichtungen , Oden von
Pindar, Alcaeus u. a. erlseuterte und übersetzte Herder meisterhaft: dies und
auch zu Winckelmann § 156, 1. 27) Daraus LB. S. .S91. Hier werden S. 40(.) fgg. viele
der oben in § 1.06 behandelten Schriftsteller besprochen. 28) Die andern richten sich
gegen Klotz. 29) LK. 3, 409 fgg. 'Poesie ist Wirkung auf unsere Seele, Euergie'
400 NEUJIGCHIDEUTSOIIE ZEIT. XVITI JAlIRir. § 157
Morgenläudiscliofl '*' ist grossenteils der Inhalt der sechs Sammlungen, v\(^]<^h<>
er als Zerstreut-o Blätter' /u (iotha 1785 — 97 erscheinen Hess.
Allein weit hceher als Alles, was lltM-der an Lessiug anschliessend für
das Verständnis und die Würdigung der antiken Dichtung gethan hat, steht
sein früher schon erworbenes Verdienst um die Anerkennung der Poesie der
hisher für barbarisch angeseheneu Völker, der Volkspoesie überhaupt. Ha-
manns Ausspruch dass Poesie die Muttersprache des Menschengeschlechts sei,
wurde in llerdei-s Ausführung verständlich, erwiesen und fruchtbar. Jlomer,
der groBsste Sänger der fJriechen ist zugleich der grcesste Volksdichter;'"
seine weise Darstellungsart ist Natur, Jiicht Kunstgriff, wie noch Lessing ge-
meint hatte; selbst sein Vers ist kein Sclml- und Kunsthexameter. Und
diese Gabe zu (Mnpfinden und den Empfindungen Ausdruck zu verleihen, ist
allen Völkern gemeinsam, nicht zum wenigsten auch den nordischen, auch
dem deutschen. So pries Herder Ossians Gesänge mit denen der Edda; vor
allem aber Shakespeare, und ihm galt ein Teil der mit Beitnegen von
Mueser und Giethe versehenen Sammlung Herders Von deutscher Art und
Kunst", Hamburg 17 73: Shakespeare-'- erschien als Briuler des Sophocles und
nur durch die Eigenart seiner Bühne auf andere Mittel als dieser angewiesen.
Insbesondere waren es die lyrischen Stellen Shakespeares, welche man bis
dahin vielfach für unübersetzbar gehalten hatte: gerade an ihnen zeigte Herder
die Natur des Liedes, in welchem sich Gedanke und Form, diese auch in
der Melodie, innig verschmelzen, alles aus Empfindung hervorgeht und wieder
darauf wirkt. Den gleichen Grundzug des ersten Wurfes' zeigte Herder an
den alten englischen und dtenischen Balladen '^ in dem Aufsatze Von Ähn-
lichkeit der mittleren englischen und deutschen Dichtkunst', der in Boies
Deutschem Museum 1777 erschien.
Was Herders litterarische Kunstlehre so wirksam machte, war nament-
lich auch die vor ihm unbekannte Kunst der Übersetzung mit feinster Beob-
achtung und Wiedergabe von Ton und Stil, Versmass und Reimbindung der
Originale. Er suchte jene Übereinstimmung mit den Sangesweisen zu wah-
ren und hätte diese daher gern immer beigegeben. Vortrettiich wusste er
das Kunstlose, Tiefgefühlte der Poesie der Naturvölker nachzubilden, vor
428, G. 30) Persisches (nach Sadi), auch Indisches: diese Neigung zum Orient tritt
besonders seit der italienischen Reise hervor. 31) Vorrede zu den Volksliedern II. S. 5.
Homer sind niehrfre Aufsätze Herders in den 'Hören' gewidmet, wobei freilich Heynes
Verdienste um den Diiditer zu hoch gepriesen, ilic von K. A. Wolf übergangen werden.
32) LB. 3, 4:i7. 31^) l'robeu LB. 2, UW.
§ 157 IIERDBRS KRITIK UND DICHTUNG. 461
allem in der sorgfarltig ausgewa^hlten Sammlung seiner 'Volkslieder', II, Leipzig
1778. 79.''* Auch die antiken Kunstformen, die er früher mit gereimten
vertauscht hatte, behielt er .seit der Übersiedlung nach Weimar bei.''* In
diesen Formen übertrug er auch die lateinischen Gedichte des deutschen
Jesuiten Bälde (§123, 21) unter dem Titel Terpsichore,^^ III, Lübeck
1795. 96, und wusste dem Dichter, dessen Namen er zuerst verschwiegen
hatte, auch durch eine nachgetragene litterarhistorische Schilderung gerecht
zu werden, wie er auch sonst zahlreiche deutsche Dichter besonders des 17.
Jahrhunderts^' wieder allgemein bekannt gemacht hatte. So schloss er seine
litterarische Tha^tigkeit überliaupt mit der Bearbeitung eines spanischen Ro-
manzencyclus , von dem er übrigens nur eine franzoesische Wiedergabe in
Prosa und mit Erweiterungen benutzen konnte :^^ der 'Cid', erst 1805 voll-
ständig erschienen, ward durch Herder ein Meisterwerk auch der deutschen
epischen Dichtung.-'^
In den Übersetzungen aus Kunstdichteru hat Herder sich viele Frei-
heiten gestattet um nur den allgemeinen Eindruck nicht zu verfehlen, er hat
geändert, was nur für Gelehrte verständlich oder für unsere Sitten anstoessig
erscheinen konnte: dadurch sind sie gewissermassen sein Eigentum geworden.
Anderes hat er aus älteren Dichtungen, auch Mythen weiterführend oder
umgestaltend neu geschaffen: so die meist in Prosa abgefassten Paramythien,
denen auch in poetischer Form sinnvolle Allegorien wie 'das Kind der Sorge'
anzureihen sind.^" Mit bedeutsamer Verwahrung erneuerte er 1797 die Le-
gendendichtung. ^' Gehoeren diese zartfühlenden, rein auf das sittlich-religioese
Humanitaitsideal gewendeten Erz-cehlungen der späteren Zeit an, so hat er
von Anfang an in selbständiger Dichtung die schwungvolle Ode gepflegt, auch
die politische, für welche er mehr als ein anderer Dichter des Jahrhunderts
Sinn und Begabung bewies. ^-^ Sein musicalisches Verständnis aber lockte ihn
84) Die Sammlung viav 1773 bereits druckfertig; iu den Ausgaben seit 18U7 wurde sie
'Stimmen der Völker iu Liedern' betitelt und nach Nationen abgeteilt. 35) Sujjhan-
Redlich XXVl S. IX. 36) Friedrich Lauchert. Herders griechische und morgenläu-
disehe Anthologie und seine Übersetzungen aus J. Bälde, im Verhältnis zu den Originalen
betrachtet. Diss. München 1886. 37) Andrese, Weckherlin: von früheren Hütten im
Teutschen Mercur 1777; auch das Annolied hat er vortrefflich gewürdigt. 38) Eeiuhold
Koehler, Herders Cid und seine franzcesische Quelle, Leipzig 18G7. Paralleltexte bei
A. S. Vcegelin, Herders Cid. die franzciesische und die spanische Quelle, Heilbronu 1879.
39) Daraus LB. 2, 1057 fgg. 40) LB. 2, lü;J5. 41) Proben LB. 2. 1048 fgg.
42) 'Germanien' LB. 2, 1047. Über den Mangel an neuerer deutscher politischer Poesie ver-
402 NEUHOrnDKrTSOHE ZEIT. XA^III JAIIRH. § 158
7,u dor ni»^hr (Irunmtischon Form dor Ciintate, wolcho er niunGnÜich zu roli-
gifrsen Foston^' gern in Anvvondimg l)riichto. Soin Brutus"', worin Shako-
spoiiros Dichtung molodramiitiscli bcliandidt war, wurde 1774 in Büokeburg
aufgeführt. Noch im letzten Lebensjahr dichtete Herder Admetus Haus',
«nn Drama mit Gesängen, ein Bild der innigen Liebe, welche ihn mit den
Seinigen verband.
§ 158.
Herders Volkslieder schliessen mit einem Gedicht ' von Claudius als
Probe welches Inhaltes die besten Volkslieder seyn und bleiben werden'.
Auch mit Claudius war Flerder 1770 bekannt geworden, er sorgte für den
Freund, welcher wie in der Dichtung so im Leben die gewöhnlichen Wege
nicht betreten mochte. Matthias Claudius ^ war 1740 als Sohn eines Pre-
digers zu Reinteld in Holstein geboren, hatte nach der Studienzeit sich ver-
geblich als Hauslehrer versucht, war 1768 als Zeitungsschreiber nach Ham-
burg gekommen, 1771 von Bode (§ 154, 9) für den 'Wandsbecker' (seit
1773 'Deutschen') 'Boten' angestellt, aber 1775 entlassen worden. Auf Her-
ders Empfehlung berief ihn F. C. v. Moser nach Darmstadt; allein er ent-
sprach hier als Journalist noch weniger den Absichten der Regierung. So
kehrte er 1777 nach Wandsbeck zurück, wo er bereits 1772 mit seiner treff-
liclien Rebckka, einer Zimmermannstochter,-' sein Haus begründet hatte. Er
lebte als Erzieher, zunächst der Soehne von F. H. Jacobi , und als Schrift-
steller: von 1775 ab sammelte er seine Schriften als ASMUS omnia sua
SECUM portans'.^ Eine daenische Pension, dann eine Anstellung an der
Bank in Altona überhoben ihn spater der Nahrungssorgen. Nachdem auch
er noch unter der Misshandlung Hamburgs durch Davoust gelitten hatte,
starb er hier 1815. Als Dichter begann Claudius mit 'Tändeleyen und Er-
zfehlungen' Jena 1763, einer Nachahmung Gerstenbergs, welche ihm durch
wundert ersieh: Hunianitißtsbriefe 11. 43) Ostercautate : LB. 2, 1042. Auch Handel»
Messias legte er 1780 ei neu deutschen Text unter.
§ L")S. 1) Abendlied: LB. 2, 957. 2) W. Herbst, M. Cl. der Wandsbecker Bote,
(iotha 1857. 4. Aufl. 1878. C. Miinckeberg. M. Cl. Ein Beitrag zur Kirchen- und Litteratur-
geschichte seiner Zeit, Hamburg 18(ji). 3) Er nannte sie sein Bauerumädchen". Die
Verniuehhingsfeier, mit der er seine Gäste überraschte, scheint Voss in der 'Luise' vorge-
schwebt zu haben. 4) VIII, bis 1812 erschienen, zu Hamburg. Mit Nachlese in
der 10. (Stereotyp-1 Aufl. von C. Redlich. Gotha 1879. Von Redlich auch 'Die poeti-
schen Beitrsege zum Wandsbecker Bothen, gesammelt und ihren Verfassern zugewiesen",
Hamburg 1871.
§ 158 CLAUDIUS. 463
eine Recension von Nicolai'' gründlich verleidet wurde. Seine eigenartige
Gabe und Aufgabe fand er erst, als er unter dem Namen des Boten Asmus
in volkstümlicher Sprache'' und Auffassung, namentlich in der Form von
Briefen, die er z. T. einem Vetter Andres zuschrieb, sich über die Tagesfragen,
auch die litterarischen" mit Kenntnis und Gefühl aussprach. Anspruchslose
Verse und ungekünstelte Lieder kamen dazu. Bald spottete er mit glück-
licher Laune über die steife Aufklärung ^ ebenso wie über die leere Em-
pfindsamkeit,^ bald gab er der frohen Zecherstimmung beim Rheinwein '**
kräftigen Ausdruck; er pries das Glück des Familienlebens und die Tüchtig-
keit des Bauernstandes,'' vor allem aber, und je länger je mehr, ein von
allen Streitfragen abgewaudtes Christentum,'- das voll Gottvertrauens auch
den Gedanken an den Tod, an 'Freund Hain' nicht scheut. Indem er sich
an die alten Kirchenliederdichter, insbesondere an Paul Gerhardt auschloss,'-^
gewann er eine Sangbarkeit, welche seine Lieder weit und breit in die ge-
bildeten Kreise eindringen und teilweise bis heute sich erhalten liess.
Von anderer Seite her griff, und zunsechst mit noch groesserem Beifall,
Bürger auf das Volkslied zurück : ihm war dessen erzsehlende Gattung Muster
und teilweise Quelle für die eigene Dichtung. Auch das Lied der Empfin-
dung pflegte er; doch, indem es für ihn gleichfalls ein Spiegel seines Wesens
und Lebens wurde, besang er fast nur die Liebesleidenschaft, mit sinnUcher
Kraft , aber auch mit ergreifendem Schmerz. Gottf^ried August Bürger
war 1747 zu Molmerswende bei Halberstadt geboren.'^ Auf der Universitset
zu Halle war Klotz sein Lehrer, freilich auch sein Verführer zu Ausschwei-
fungen. In Göttingen nahmen sich Freunde seiner an und verschafften ihm
1772 eine Stelle als Amtmann in der Nsehe, die er jedoch 1784 aufgab. Er
5) Literaturbrief 325. 6) In der älteren Zeit mischen sich oberdeutsche Dialectformen
wie gangen, 'n Ding tvie die Lieb ist, mit niedei'deutschen, Framause; ganz im Heimat-
dialect ist das Sendschreiben an den Naber mit Radt (Grraf Reventlovv) lb0.ö, abgefasst,
welches in eiuer kirchlichen Frage auf die Landleute wirken sollte. 7) Vortrefflich
sind die Briefe über Minna von Baruhelm 17G9: Lessius; blieb Zeitlebens ein Freund von
Claudius. Auch (xoethes Anfänge begriisste Claudius freudig. 8) Urians Reise um die
Welt: LB. 2. 957. 9) ebd. 953. 'Über das (ienie' LB. 3, 717 (gegen Wieland gerichtet).
10) LB. 2, 956. , 11) LB. 2, 960 fgg. 12) Ein gülden ABC: LB. 2, 963; vgl. 3, 727.
13) D. Jacoby in Wagners Archiv f. d. Gesch. d. dtschu. Sp. u. Dichtung 1, 381 fgg.
14) In der letzten Stunde des Jahres geboren, gab er selbst 1748 als Geburtsjahr an. Bürgers
Leben behandelten sein Arzt, L. C. Althof, Einige Nachrichten von den vornehmsten Lebens-
umständen G. A. Bürgers, Göttingen 1798; H. Proehle, Bürger, sein Leben und seine Dich-
tungen, Leipzig 18.56. Vgl. bes. Briefe von und an Bürger, hg. von A. Strodtmann, Berlin
Waclernagol, Litter. Gescbicbte II. 31
404 NEUHOOTIDET'TSriTE ZEIT. XVTTT JAIIRH. § 158
lehrte hierauf in Uöttingen Aesthetik,*-' seit 1789 als Professor, starb aber
verlassen und fast im Elend schon 1794. p]r hatte sich 1774 verheiratet,
aber bald eine heftige Liebe zu seiner Schwiegerin gefasst, sie auch nach dem
Tode der älteren Schwester, aber nur auf kurze Zeit als Gattin besessen.
Seine dritte Ehe mit dem 'Schwabenma;dchen\ das ihn angesungen hatte,
fiel ganz unglücklich aus: 1790 geschlossen, wurde sie 1792 geschieden. Eben
damals traf ihn auf das schwerste eine Beurteilung seiner Gedichte durch
Schiller;'® aber auch sein Schüler'" A. W. Schlegel konnte in einer Schutz-
schrift ''' nach Bürgers Tode Schillers Vorwürfe nur bestätigen. Bürger hatte
heftig geantwortet; allein er versuchte selbst noch seineu Gedichten, welche
gesammelt zu Göttingen 1778 und 1789, II," erschienen waren, nachträglich
die von Schiller vermisste Idealitaet zu geben: so erschienen sie 1796, II.-"
An Feile hatte er es schon vorher nicht fehlen lassen: besonders seine Erstlings-
arbeit,-' die Nachtfeyer der Venus', die 1773 erschien, arbeitete er mehrmals um.
Als Übersetzer versuchte er sich auch an Homer, zuerst in Jamben,-^ dann
durch Stolbergs Wettbewerb'-^ umgestimmt, in Hexametern. Ebenso ahmen
seine lyrischen Gedichte z. T. franzoesische Vorbilder nach und streben nach
deren leichtfertiger Anmut und sinnlicher Glut. In Prosa übersetzte er 1786
aus dem Englischen"-* Münchhausens Abenteuer, worin die uralten Jaegerlügen
auf ein damals noch lebendes Original übertragen waren. -'' Bürgers eigent-
liches Feld aber ward die Ballade und Romanze. Nachdem er noch 1770
1874. IV. 15) Lehrbuch der Aesthetik, Berlin 1825: Lehrbuch des deutschen Styls.
ebd. 1826 von Reinhard hg. Vgl. Anm. 20. Dieser setzte auch den von Bürger 1778—1794
herausgegebenen Uöttinger Musenalmanach fort: s. § 140. Über Bürger in Göttingen s.
Kluckhohn in Schnorrs Arch. XII. 61 fgg. 16) Jenaer Allg. Lit. Zeitung 1791.
17) Vgl. das an ihn gerichtete Sonett Bürgers LB. 2, 988. 18) Characteristiken und
Kritiken 1801 II 3 fgg.; eine ausgezeichnete litterarhistorische Würdigung. 19) Die
für die Eutstehungszeit beigefügten Jahreszahlen hat Bürger ziemlich sorglos bestimmt:
Weinhold Boie 204. 20) Besorgt von K. Reinhard, ebenso wie Bürgers Sämtliche
Werke. Hamburg 1812. 13 n. öfter. Dieser Text auch in den Sämtl. Werken hg. v. A.
W. Bohtz. Göttingen 1835. Erst die Ausgaben der Gedichte von Sauer, bei Kürschner 78
und von Ed. Grisebach, Berlin 1889, II. zogen die älteren Lesarten wieder vor. 21) nach
dem Peri^giUum Veneri.^ T. Merc. 1773. 22) Klotz D. Bibl.d.schoenen Wiss. 1771. 23) D.
Mus. 1776 Dec. 24) Der ungenannte Verfasser war R. E. Raspe, 1737 zu Hannover
geboren, aus Kassel, wo er als Aufseher das Münzcabinet bestohlen hatte, 1775 nach PLngland
geflohen, wo er 1794. als Gelehrter noch immer angesehu, starb. 25) Freiherr von Münch-
hansen 1720—97. Der Sachverhalt wurde ermittelt von Ad. Ellissen in der 6. Ausgabe der
Bürgerschen Schrift. Berlin 1849. Über die Quellen s. C. Müller-Fraureuth, Die deutscheu
§ 158 BÜRGER. GÖCKINGK. 465
deu Raub der 'Prinzessin Europa' im Bänkelsängerton besungen,-^ wurde er
durch Herders Mahnungen in der Sammlung 'Von deutscher Art und Kunst'
auf die edlere Auffassung der Romanze hingewiesen und redete dieser selbst
in dem 'Herzenserguss über Volkspoesie, Aus Daniel Wunderiichs Buche' das
Wort.^^ Popularittet ward ihm nun für dichterische Werke das Siegel der
Vollendung. Von seiner 'Lenore' 1773 dachte er selbst wie die Zeitgenossen
sehr hoch.-' Auch sonst legte er öfters seinen Balladen deutsche Sagen ^^
zu Grunde oder behandelte Vorgänge der Gegenwart, edle Thaten, welche
dem Volke als Vorbilder gezeigt werden sollten. -^^ Dass Bürger in Kraft-
ausdrücken nicht Mass hielt und durch aeussere Mittel des Klangs zu wirken
suchte, tritt besonders in der Umgestaltung fremder, enghscher Vorbilder zu
Tage,^' die er aus Percys Reliqaes of ancient english Poetry, London 1765,
u. a. entnahm. ^^ Aus solchen Quellen stammen auch zum Teil die possen-
haften Stoffe,^^ die er mit frechem Spott ausführte: zu bitteren Epigrammen
gab ihm spseter sein Schicksal Anlass.
Auf diesem letzten Gebiete war noch thaetiger Bürgers Jugendfreund^*
Leopold Friedrich Günther von Göckingk,^-^ dessen Sinngedichte seit 1772
erschienen.^® Mit der gleichen Munterkeit und Reimgewandtheit dichtete er
Episteln und, noch am meisten im Sinne der neuen, leidenschaftlichen Dichtart,
seine 'Lieder zweier Liebenden', 1777, unter denen übrigens auch die dem
Msedchen zugeteilten von ihm verfasst sind.
Lügendichtungen bis aiif Münchliausen, Halle 1887. 26) Einzeldruck 1777. Noch 1776
stellte Bürger selbst 'Lenardo und Blandine' über Leaore: Weinhold Boie 264 Anm.
27) Deutsches Museum 1776. Dagegen richtete sich Nicolais .Spott § 156, 19, der dem
Xeineweber Daniel Wunderlich' als 'Schuster Daniel Säuberlich' antwortete. 28) Über
den Stoff s. "Wackernagel, Kleinere Schriften 2, 399 fgg. Erich Schmidt. Characteristiken
S. 199 fgg. Walter Scott übersetzte Lenore 1796: aber die Behauptung seines Vorgängers
W. Taylor, dass Bürger nur eiue englische Quelle bearbeitet habe, wiesen 1797 A. W. Schlegel
u. a. überzeugend zurück. 29) Der Wilde Jteger LB. 2, 985. 30) Das Lied vom
braven Manne LB. 2, 971. Die Kuh 974. 31) Der Kaiser und der Abt LB. 2, 977 nach
Kiny John und the abhot of Canterburi/, obschon der Stoff in Deutschland von früher her
bekannt war: § 86, 11. 32) Ci. Bonet Maury, Bxiryer et les origines anglaises de la bailade
litteraire en Allenmgne, Paris 1889. 33) Frau Schnips u. ae. Ähnlich auch die Menagerie
der Götter. 34) Ihr Briefwechsel ist grossenteils abgedruckt von Sauer: Viertelj. f. Litt.-
gesch. 3.62 fgg. 416 fgg. 35) Geb. 1748 zu Groeningenbei Halberstadt, 1789 geadelt, nach
langer Thsetigkeit als angesehener Beamter gest. zu Warteuberg bei Breslau 1828. 1770 — 86
war er Kanzleidirector zu Ellrich bei Nordhausen. Seine Gedichte' erschienen im Selbst-
verlag 1780—82, III, uü. Auswahl durch Minor bei Kürschner 73. 36) LB. 2, 989-
4(j(i NFATHOCIIDET'TSCIIE ZEIT. XYIII .lAIIIMI. § 158
Oöckingk war Bürgers Vorgänger, der Nachfolger Boies als Heraus-
geber des Göttingischon Miisonalinanachs. Boik hatte es meisterhaft ver-
standen selbst zwischen grundverschiedenen Naturen und Richtungen zu ver-
mitteln, indem er seinerseits alle Rücksichten übte, Anderen volle Freiheit
Hess. Den Intendanten des Parnasses' nannte ihn Gleim, Geboren 1744
im ditmarsischen Meldorp, starb er hier 1806.*' In Göttingen lebte er als
Hofmeister junger Engländer 17(il) — ITUi; hierauf in Hannover als Stabs-
secretaer, bis er 1781 in seine Heimat als Landvogt zurückkehrte. Im Winter
auf 1770 hatte er Berlin und Halberstadt besucht; spsetere Reisen führten
ihn nach Hamburg, Braunschweig, Weimar, Darmstadt, Düsseldorf, auch nach
Holland, und überall knüpfte er dauernde Verbindungen an, die seinen Unter-
nehmungen, dem mit Gotter zusammen 1770 begründeten 'Musenalmanach',
dem mitDohm*'^ 1776 — 1778, spaeter von ihm allein herausgegebenen Deut-
schen Museum' (bis 1788, 'Neues D. Museum" 1789—91) ihren vorzüglichen
Wort verschaflFten. Gedichtet hat Boie nur weniges, und wesentlich nur
Bearbeitungen franzo'sischer und englischer Stücke aus den leichteren Gattun-
gen, Lieder, Episteln, Epigramme.*''
Im Göttinger Musenalmanach trat die Lyrik dieses jüngeren Dichter-
geschlechtes hervor, welches sich auf der Universitset um Boie sammelte.
Jugendhch begeistert vereinigte sich der Bund' oder 'Hain'^° unter Formen,
welche an die Barden erinnern sollten, um sich gegenseitig freimütig zu beur-
teilen, die Verehrung Klopstocks, die Verwerfung Wielands zu fordern, aber
auch die Minnesänger und, im Wetteifer mit dem befreundeten Bürger, die
Volkslieder nachzuahmen. Im Sommer 1772 kamen Voss, Miller, Hölty u. a.
mit Boie zusammen;^' im Herbst traten die Brüder Stolberg hinzu, und
37) K. Weinhold, Heinri.h Christian Boie, Halle 1868. 38) Christian Conrad
Wu.HELM DoMM, geb. ZU Lemgo 17öl. spaeter Diplomat und geadelt, gest. 1820 zu
Pusteleben bei Nordhausen. Dohni sorgte für die Artikel des D. Museums über Politik
und Statistik. 39) Eine Sammlung nur bei Weinhold; doch s. Zs. f. d. Philol.
1, 378 fgg. 40) Der Name Hain deutet auf Klopstocks Ode 'der Hügel und der Hain',
womit die griechische und die deutsche Dichtkunst oremeint sind. Zuerst nannte sich die
Gesellschaft 'Parnass'. Den .\usdnuk 'Hainbund' gebrauchte zuerst Voss 1804 in einer
Lebens(r<»8chi(hte Höltvs. Gi-legentlich bezeichnen die Mito'lieder, mit Rücksicht auf ihre
allgemeinen Ziele, die Vereinigung als 'deutscher Bund'. 41) Von den Bundesgenossen,
welche in der Litteraturgeschichte nicht fortlebten, ward Johann Friedrich Hahn (aus
Zweibrdeken, geb. um 1750, gest. 1779") durch seinen Franzosen- und Tyrannenhass ein
Vorbild für die Freunde: sein Lapidarstil wurde für die Briefe des Bundes an Klopstock
gewieblt. Seine Briefe und (jedichte hat Kediich gesammelt: Beitr. zur deutscheu Philologie,
§ 158 GÖTTINGER DICHTERBUND. BOIE, VOSS. 467
wenn sie auch nur ein Jahr blieben und der zu Ostern 1773 aufgenommene,
zu Ostern 1774 geschiedene P. C. Gramer ^^ nur auf kurze Zeit durch Leise-
witz ersetzt wurde, so fand doch das Streben des Bundes ^^ seinen Hoehepunct
noch in dem Besuche"* Klopstocks auf seiner Reise nach Karlsruhe im Herbst
1774: er hatte in der eben damals veröffentlichten 'Gelehrtenrepublik' auf
den Bund, dem er selbst beitrat, mit den überschwänglichsten Hoffnungen
hingewiesen. Gerade damals aber schieden Leisewitz und Miller; Hölty und
Voss folgten zu Ostern 1775. Die Seele des Bundes war Voss gewesen,
seine Berichte und die von ihm ererbten Bücher erhielten die Erinnerung
an Wirken und Streben *^ des Bundes.
JoHAXN Heinrich Voss war 1751 zu Sommersdorf bei Waren in Mecklen-
burg geboren.**^ Da sein Vater durch den siebenjsehrigen Ki'ieg verarmte,
errang er sich schwer den Zugang zum Universitsetsstudium. Boie war ihm
hilfreich gewesen, Boies treffliche Schwester Ernestine ward 1777 seine Gattin.
Er lebte damals seit 1775 in Wandsbeck, von dem Ertrag des Musenalma-
nachs, den ihm Boie abgetreten hatte, und den er in Hamburg bis 1800
fortsetzte,*^ obschon der Göttinger Verleger ebenfalls einen Almanach erst
durch Göckingk , dann als dieser sich mit Voss verbunden hatte , durch
Bürger weiter führen Hess. 1778 ward Voss Rector zu Otterndorf im Lande
Hadeln (bei Cuxhaven), 1788 durch Stolbergs Vermittelung in Eutin. 1802
begab er sich mit einer Pension des Herzogs von Oldenburg nach Jena, wo
Goethe ihn jedoch vergebens zu halten suchte, als er 1805 nach Heidelberg
Halle 1880, 245 fgg. 42) Der Solia Aadreas Cramers, der Biograph Klopstocks § 152, 1.
43) Die Göttinger Professoren waren grossenteils dem Bunde abgeneigt, Kästner aber
günstig. Auch einige dichterisch beanlagte Frauen und Maedchen ermunterten die jungen
Dichter. 44) Schon im Sommer 1773 war ein Vertrauter Klopstocks, Gottl. Fr. E.
SCHOCNBORN, durch Göttingen gekommen, dann in Frankfurt mit dem jungen Goethe bekannt
geworden: er reiste damals nach Algier als dsenischer Consularsecretser, wie er auch 1778
bis 1802 in London Gesandtschaftsecretser war. Sch(]enborns Dichtungen erschienen meist im
Wandsbecker Boten. Vgl. J. Rist, Schccnborn und seine Zeitgenossen, Hamburg 1836.
45) Eine ältere Bearbeitung dieser Nachrichten bietet R. Prutz, Der Göttinger Dichterbund,
Leipzig 1841. Über die Bundesbücher, die jetzt im Besitz von Dr. Klussmann in Rudolstadt
sind, s. Redlich in der Z. f. d. Philol. 4. 121 fgg. Crueger in Sievers Akadem. Blätter,
Braunschweig 1884 S. 6U0. 46) Ein 'Abriss meines Lebens' von ihm selbst und meister-
haft begonnen, von seiner Witwe fortgesetzt, steht in den von seinem Sohne Abraham
Voss herausgegebenen Briefen von J. H. Voss', III, (Bd. III in 2 Abt.) Halberstadt 1829
bis 33. Andere Briefe in Schnorrs Arch. XV, 361. Wilh. Herbst, J. H. Voss, II (der II
Bd. in 2 Abteilungen), Leipzig 1872—76. Sauer, J. H. Voss (Der Göttinger Dichterbund I)
in Kürschners Nat. litt. 92. 47) Über die Mühsal der Herausgabe urteilt er mit derbem
468 NEUlI()CMII)f:UTSCnE ZEIT. XVIII JAIIIMI. § 158
licnifon wurde. Hier lobte er, seinen Studien und seinen litterarischon Käm-
pten hingegeben, bis l.S'itl. l'hildloge und Dichter zugleich hat Voss sieh
besonders mit Übersetzungen beschäftigt, welche namentlich Homer*'* dem
weiteren Lesekreise in Deutschland erst zuführten, und durch ihre anschmie-
gende Treue, die er beständig noch zu erhcjchon beflissen war, auf die Er-
weiterung der deutschen Dichtersprache, auf die Genauigkeit in der Nach-
ahmung antiker Versmasse den grn>ssten Einfluss seit Klopstock geübt haben.
Das homerische Vorbild bestimmte auch wesentlich seine eigene Dichtung,
die er gesammelt zuerst Ka'uigsbcrg 1802, VI, erscheinen Hess: vor allem
pflegte er die Gattung der [dyllc, in woIcIkm' er das norddeutsche Natur-
und FamilienUibeu mit liebevoller Versenkung in das Einzelne und Kleine
darstellte.*'' Theokrits Muster schwebte ihm vielfach in den Gegenständen,"*"
ja auch im Gebrauch des Dialectes vor/'' nur dass er sein Plattdeutsch aus
den Eiuzelmundarten und selbst aus der 'sassischen Buchsprache' zusammen-
setzte. Am glücklichsten ist er da, wo er Selbsterlcbtes schildert: 'der
siebzigste Geburtstag" 1781 ist ein Bild seines Elternhauses; Luise, ein länd-
liches Gedicht in drey Idyllen^ welche er 1705 auf Gleims Antrieb zusammen-
fügte,''" spiegelt das Wesen seiner Braut und ihres Vaters wieder. ''•' Auch
die Elegien erhalten durch solche persoenlichc Bezüge Wärme und Reiz. Da-
gegen erscheinen die Oden und Lieder''* mit ihren allgemeinen Gedanken,
die zu vernünftiger Frömmigkeit und männlichem Frohsinn auffordern, kühl
Spott LB. 2,1004. 48) Homers Odüssee. Hamburg 1781: Abdruok mit einer Einleitung
von M. Bernays, Stuttgart 1881. Begonnen war diese Arbeit 1777; der Text letzter Hand
erschien 1821, zusammen mit der llias, von welcher Voss zuerst die ihm durch F. L. Graf
Stolherg überlassene Übersetzung 1778, dann die eigene zuerst Altona 17'.*8 mit der um-,
gearbeiteten Odyssee verüft'entiicht hatte. Diese Umarbeitung war freilich nicht durchweg
zum Vorteil und mit dem Beifall der Zeitgenossen ausgeführt worden: die metrische Strenge,
(§ 141, 49) and die bis zum Undeutschen getriebene Nachbildung der alten Wortfolge und
Wortzusammensetzung stterten die früher erreichte Einfachheit und Natürlichkeit. Immerhin
war schon die Einsetzung der griechischen Namenforraen anstatt der franzcesisch-lateinischen
ein Fortschritt. Ausser Homer verdeutschte Voss Vergils Landbau 1789, Vergils Werke,
Braunschweig 17*J9; Ovids Verwandlungen. Berlin 1798: Properz, Braunschweig 1830: Horaz.
Heidelberg 180(J: Theokritos Bion und Moschos. Tübingen 1808: TibuUus ebd. 1810, Aristo-
fanes, Braunscliweig 1821, Aeschylos, Heidelberg 1827. und wie diesen, mit seinen Soehnen
zusammen Shakespeare, Leipzig 1818—2!». 49) Zuerst im Musenalmanach 1776 'Der
Morgen'. 50) Der Riesenhügel' nach den (paQutixtvxQiai. 51) De Winterawend
1777, De Geldhapers u. a. 52) Freilich erfuhren sie dabei auch Erweiterungen, welche
die an sich handlungsarme Erziehlung mit unübersichtlichen Schilderungen noch überluden.
53) LH, 2, 1011. 54) Darüns LB 2. 1009 und 1006 fgg.
§ 158 DIE BRÜDER STOLBERG. 469
und künstlich, ja gelegentlich platt; grimmig parodiert er das Sonett der
Romantiker/'"-^ Diese bekämpfte er nicht nur als Feinde seiner Bemühungen
um die Verfeinerung des deutschen Versbaues nach antikem Muster noch
über Klopstock^^ hinaus, wie er ihn insbesondere durch seine 'Zeitmessung der
deutschen Sprache', Koenigsberg 1802 festgestellt hatte; er hasste sie auch
als Trseger der hierarchisch-feudalen Bestrebungen, die nach der Revolution
und den Freiheitskriegen immer bedrohlicher und bedrückender hervortraten.
In diesem Kampfe kannte er keine Schonung,'' und griff 1819 Friedrich
Leopold Graf Stolberg, der 1800 zur katholischen Kirche übergetreten
war, ohne von ihm persoenlich gereizt zu sein und mit absichtlicher Missach-
tung der alten Freundschaftsbande auf das heftigste an.^^
A-llerdings war dieser Übertritt Stol bergs eine Verlfeugnung seiner Jugend-
schwärmerei für die Freiheit, die er jubelnd gepriesen, zürnend verteidigt
hatte. Geboren ^^ zu Bramstsedt in Holstein 1750 war er ebenso wie sein
Bruder Christian (geb. 1748 zu Hamburg, gest. als Landrat zu Windebye
bei Eckernförde 1821) zu Kopenhagen im Kreise Klopstocks aufgewachsen,
hatte ausser dem Göttinger Bund sich auch mit Goethe befreundet, war aber
1776 einer Berufung nach Weimar auf Klopstocks Antrieb ausgewichen und
lebte als oldenburgischer Beamter in Eutin 1781 — 85 und wieder 1791 bis
1800, seitdem meist in Münster bei der Füi-stin Gallitzin '*'' und starb in
Sondermühlen bei Osnabrück 1819. Zu seinem Glaubenswechsel hatte ausser
der Fürstin seine zweite Gemahlin besonders beigetragen, wsehrend die erste,
Agnes, welche 1788 gestorben war, die alte Freundschaft mit Voss^' beson-
55) LB. 2. 1023 fgg. 56) Mit diesem selbst zerfiel er hierüber 1789: doch verscehnte
er ihn noch vor dem Tode durch seine Ode 'Klopstock in Elysion". 57) Seinen Grund-
satz, gegen die Intoleranz dürfe man nicht tolerant sein, billigt ausdrücklich (jcethe in einer
lobenden Anzeige der lyrischen Gedichte von Voss (D. Litteraturzeitung 1802). Schon früh
tritt bei Voss in den Streitschriften die Nachahmung Lessings, fi-eilich etwas plump hervor.
58) 'Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier?' in der von Paulus herausgegebenen Zeitschrift
Sophronizon; und gegen Stolbergs 'Kurze Abfertigung der langen Schmsehschrift des Hof-
rathes Voss', Hamburg 1820, in 'Besttetigung der Stolbergischen Umtriebe', Stnttgart 1820.
59) Von den zahlreichen Schriften über F. L. Graf Stolberg, welche meist von confessionellen
Gesichtspuncten ausgehn, sind wegen der Benutzung seiner Briefe hervorzuheben: Theodor
Menge, Der Graf F. L. Stolberg und seine Zeitgenossen, Gotha 1862 II, Job. Janssen, F. L. Graf
zu Stolberg, Freiburg i. B. 1877, II. 60) Diese geistvolle Frau (1748—1806), Diderots
Schülerin, war eine geborene Griefin von Schmettau und hatte erst 1786 sich ganz den
katholischen Ansichten hingegeben. Vgl. über sie Levin Schücking, Rhein. Jahrbuch 1810.
Mitteilungen aus dem Tagebuch und Briefwechsel der Fürstin, Stuttg. 1868. Briefwechsel
und Tagebücher (hg. von Schlüter), Münster 1874, Neue Folge 1876. 61) Otto Helling-
470 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVIII JAHUH. § 158
dcr8 gopflojijt und di«^ Vorstimmunü^on, /u welchen hier die Strenge in metri-
schen Fragen, dort die früho Hinneigung zu Ijavater Anlass gab, durch die
anmutigste Vermittehing beseitigt hatte. Diesen persamlichen Beziehungen,
auch den stolzen Familienerinnerungon geben die Gedichte vielfach Ausdruck,
welche die (Traten Friedrich Leopold und Christian 177!) zu Leipzig durch
Boie herausgeben Hessen.''- Spalter folgten von Friedrich Leopold Jamben,
Leipzig 17S4, und eine Sammlung Die Insel' (ebd. 17«8); von beiden Brü-
dern zahlreiche Übersetzungen aus dem (friechischen, und mehrere etwas
eilfertig verfasste Schauspiele (Leipzig 1787); endlich Vaterländische (xe-
dichte' Haml)urg 1815;"^ dem Abscheu gegen die frauzocsischc Devolution
hatte Friedrich Leopold schon 1793 in einer Ode auf die 'Westhunnen' Aus-
druck gegeben. Seine religiccsen Ansichten der späteren Zeit legte er in der
umfänglichen Geschichte der Religion Jesu Ciiristi', Hamburg 1806 — 18,
nieder. Er überragte als Dichter seinen Bruder und ergoss bald in Oden-
formen nach Klopstocks Vorbild bald in der einfachen volkstümlichen Sprache
und Versform von Claudius seine stürmische Begeisterung für Vaterland,
Freiheit, Natur. ''^ Vor allem feierte er mit Innigkeit und Kraft die alten
Ritterzeiten.'''*
Neben den willenskräftigen, nur allzu nüchternen Voss, den überschwäng-
lich begeisterten Fritz Stolberg trat mit sanfter Scliwärmerei Ludwig Hkinrich
Christoph Hölty, der im Vorgefühl seines frühen Todes (1748 zu Mariensee
geboren, starb er im nahen Hannover 1776 an der Schwindsucht) harmlose
Freude am Leben mit wehmütiger Entsagung verband.''''' Die dämmernde
Mondnacht, mit süssem Schauer empfunden, die Stille und Unschuld des
Landlebens, weibliche Schoinheit und Liebenswürdigkeit sind die Gegenstände
haus, F. L. (jraf zu Stolherg und .1. H. Voss, Münster 1882. 83. (Progr.) 62) Auf
dem Titelbild zwei Centanren. darauf spielen die Xenien an. 63) Der Brüder Ch.
und F. L. Gr. zu Stolberg gesanimeile Werke erschienen Hamburg 1820 — 25, XX, uü.
'Die Zukunft' ein früher nur stellenweise bekannt orewordenes (^edioht aus den J. 1779—82,
verötfentlichte 0. Hertwig in Sehnorrs Archiv Vi. 64) Auf der mit (joethe unter-
nommenen Schweizerreise 1775 dichtete er das Lied 'Süsse heilige Natur, las« mich gehn
auf deiner Spur'. 65) LB. 2, 991 fgg. 66) Höltys in dem Musenalmanach und
sonst erschienene Gedichte wurden zuerst, aber unbefu^rt und kritiklos von Adam Fried-
rieh Geisler gesaniuielt. Halle 1782. 88 uü.: dann von Stolberg und Voss, mit manchen
eigenmächtigen Änderungen herausgegeben, Hamburg 1783 uö. ; von F. Voigts. Han-
nover 1857. Eine kritische Ausgabe aus den Handschriften veranstaltete K. Halm, Leipzig
1869 und 1870. Vgl. dazu bes. Weinhold in Schnorrs Arch. 7. 187 fgg. Crueger Vjhrschr.
11 281 fgg. Gedichte mit den Lesarten der verschiedenen Ausgaben LB. 2, 965 fgg.
§ 158 HÖLTY, MILLER. 471
seiner Oden und Lieder: für letztere fand er seine Vorbilder in der eng-
lischen Litteratur, aus welcher er auch einige Prosawerke übersetzte um seinen
Lebensunterhalt zu gewinnen. Die komische Romanze hat kein Anderer in
Deutschland so anmutig und zugleich so unanstoessig ausgebildet. xVuch die
Grazienpoesie J. Georg Jacobis und die Bardendichtung, welche doch seiner
Dichtungsart und der seiner Freunde am nsechsten stand, hat er witzig
parodiert.
Der rührende Grundton in Höltys Dichtung erscheint noch verstärkter,
aber nur als eine vorübergehende, erkünstelte Stimmung bei seinem Freunde^'
Johann Martin Miller, welcher 1750 zu Ulm geboren, ebenda als Prediger
1814 starb."** Von Bürger, der ihm damals noch im Liede den Vorrang
zuerkannte, dem Göttinger Dichterkreise zugeführt, übertraf er seine Freunde
im Verständnis der Minnedichtung, ''^ die er mit grosser Leichtigkeit nach-
bildete. Besser als seine weinerlichen Nonnenlieder gelangen ihm seine
Bauernlieder, die lebhaften oder behaglichen Genuss schildern. ^"^ Weit mehr
jedoch als die 'Gedichte' (gesammelt: Ulm 1783) brachte ihm weithin Ruhm
sein an Goethes Werther anschliessender Roman 'Siegwart, eine Klosterge-
schichte' (Leipzig 1776 uö.), worin er Studentenliebschaften mit tragischem
Ausgang in Folge der engherzigen Standesvorurteile der Veeter darstellte,
teilweise nach eigenen Erlebnissen,''' die er aber in das katholische Bayern
verlegte, um das Überwiegen des Gefühls noch glaubhafter zu machen.
Allerdings trat der Bewunderung und Nachahmung bald die Parodie ^^ ent-
gegen, und Millers sonstige Romane ^^ führten nur dazu dass er sein Ansehen
rasch verlor. Doch erneuerte Voss noch spset die alte Freundschaft.
Wenn Miller die Lyrik des Göttinger Dichterbundes durch die Pflege
des Romans erweiterte, so fügte ein anderer Genosse noch das Drama hinzu.
67) Miller schrieb 'Etwas von Höltys Character' in Schuberts Teutsoher Chronick. Augsburg
1776, wiederholt hinter seinen eigenen (jedichten. 68) Ein Bericht über ihn erschien
in den Zeitgenossen 1819. IV, 75 fgg. 69) Sein Bundesname war Minnehold, wie
Hahn Teuthard, Holt}- Haining, Voss Sangrich genannt wurde. 70) 'Was frag ich
viel nach Geld und Gut, wenn ich zufrieden bin'. 71) Erich Schmidt, Aus dem Liebes-
leben des Siegwartdichters: D. Rundschau 1881 Sept. 72) 'Siegwart oder der auf dem
Grab seiner Geliebten jämmerlich verfrohrene Kapuziner'. (Mannheim 1777, von Bernritter).
73) Schon vor Siegwart erschien Beytrag zur Geschichte der Z;Ertlichkeit'. Lpz. 177G und
'Briefwechsel dreier akademischer Freunde', Ulm 1776, Zwote Sammlung 1777; spaeter
'Geschichte Karls von Burgheim und Emiliens von Rosenau', in Briefen, Lpz. 1778. 79. IV
(Abschilderung Stolbergs); 'Geschichte Gottfried Walthers eines Tischlers und des Städtleins
Erlenburg. Ein Buch für Handwerker", Ulm 1786 11. Ausserdem u. a. 'Predigten für das
472 NEUnOC][L)EUTSClIE ZEIT. XVIII JAIIKII. § 159
Johann Anton Lkisewitz war geboren zu Hannover 1752 und starb 180(1
/u Biaunschweig, wo er sich, zuletzt als Pra'aident des Obersanit^ctscollegiunis,
um (las Arincnwoscn grosse Verdienste erworben hatte. Als er 1774 dem
Bunde durch Ilölty zugeführt wurde, schätzte man besonders seine Begabung
zur Satire, die er bereits gegen den fürstlichen Despotismus geübt hatte ;^*
num erwartete von ihm Grosses als Geschichtschreiber, und in der That hat
er sich lange und gründlich mit dem dreissigja;hrigen Kriege beschäftigt,
seine Arbeit aber zuletzt selbst vernichtet. Dagegen fand sein Trauerspiel
Julius von Tarent' dauernde Anerkennung, trotzdem es bei der Bewerbung
um den Preis der Ackermannschcn Gesellschaft hinter Klingers Zwillingen',
worin derselbe Stott' aus der Geschichte der Medici^'' mit groesserem Auf-
gebot aeusserer Mittel behandelt war, zurückstehen musste.^" Den klaren,
scharfgefügtcn Plan, die knappe, nur zu witzige Sprache hatte Leisewitz nach
Lessings Emilia gebildet und der Meister, dem er bald darauf auch persoen-
lich nahe trat, gab ihm vollen Beifall. Wie in der Form, so wirkte Leise-
witz auch durch den Gegenstand, Brudermord aus Eifersucht, tief auf Schiller
ein. Entwürfe zu anderen Trauerspielen und selbst zu einem historischen
Lustspiel der Sylvesterabend\ worin er die Geschichte der Weiber von
Weinsberg dramatisieren wollte, blieben unausgeführt und sind bis auf wenige
Sceuen, die vorlseufig in den Druck kamen, verloren gegangen.
§ 15D.
Der neue mächtige Aufschwung, den die deutsche Dichtung um 1770
im Norden nahm, trat gleichzeitig auch in Süddeutschland ein. Auch hier
sind Freiheit und Natur die Losungsworte, auch hier ist es besonders Klop-
stocks Vorbild, dem die Jugend nachstrebt, ist es Lessings Lehre, worauf
sie sich beruft. Aber weniger als in Norddeutschland wird am Rhein das
classische Muster, wird Homer nachgeahmt: das einheimische Volksleben mit
seiner reicheren Überlieferung, seiner groesseren Lebhaftigkeit und Mannig-
Lamivolk' 1776 tgg. Auch hier tritt die 'Nutzenstifterei' in den Vordergrund. 74) Eine
Lebensbeschreibung in Sämtliche Schriften von J. A. Leisewitz', Braanschweig 1838.
Vgl. ferner Gregor Kutschera v. Aichbergen. J. A. Leisewitz, Wien 1876: und dazu Erich
Schmidt Anz. z. Z. f. d. A. 21. 190 und R. M. Werner in dieser Zs. 22. 83. 75) Sagenhaft
ausgeschmückt bei Thuanns. Damit verband sich Manches aus der Verschwoerung der Pazzi
und Machiavelli. 76) Gedruckt wurde 'Julius von Tarent' zuerst Leipzig 1776;
Neudruck nach dem Manuscript mit den dramatischen Fragmenten durch R. M. Werner bei
.■^euttert, Lit.-denkm. 32. Heilbronn 1889; mit Klingers Zwillingen zusammen durch Sauer
bei Kürschner B<1. 7i(.
§ 159 LEISEWITZ. SCHUBART. 473
faltigkeit ' wirkt auch auf die Kunstdichtung ein. Das Schauspiel wird hier
die Liebliugsgattung und die scheinbare Regellosigkeit Shakespeares gibt zu
Übertreibungen bis ins Unnatürliche den Vorwand ab. Noch mehr als im
Norden gilt hier das Genie, die Originalitset zugleich als Grundbedingung
für das Dichten wie als Freibrief für das Leben. ^ Die aeusseren Verhältnisse
in den kleinen, willkürlich regierten Staaten verlockten weit mehr vom ge-
woehnlichen Wege abzugehen, brachten aber auch weit mehr als im Norden
für die Lebenspleene der jungen Dichter Gefahren mit sich, ebenso wie die
Abweisung jeder Vorschrift ihre Dichtung mehrfach auf Irrwege geraten und
vielversprechende Anfänge in Nichts auslaufen Hess.
Durch Lebensunglück wie durch Leichtsinn und durch leichtes, reiches
Talent stellt sich neben Bürger und Günther Christian Friedrich David
Schubart; ^ wie Bürger zum Göttinger Bund, so nahm auch er dem rheini-
schen Dichterkreise gegenüber eine selbständige Stellung ein, schon in Folge
des Altersunterschiedes. Geboren 1739 zu Obersontheim, wuchs er in dem
nahen Reichsstsedtchen Aalen auf, und studierte, nachdem er in Nördlingen
und Nürnberg seine Vorbildung erhalten, in Erlangen Theologie. 1763—69
hielt er die Schule in Geislingen. Hierauf als Organist nach Ludwigsburg
in die üppige Residenz des Herzogs Karl berufen, stiess er durch iiusschwei-
fungen seine Familie von sich und zog sich 1773 die Ausweisung aus Würtem-
berg zu. Er schweifte nun, als genialer Musiker und Stegreifdichter gefeiert,
in Mannheim und München umher, konnte sich aber hier doch nicht zum
Übertritt in die katholische Kirche entschliessen und fand 1774 in Augs-
burg, spseter in Ulm seinen Beruf und sein Auskommen durch die Begrün-
dung der 'Deutschen Chronik'. Aber im Kampfe gegen die noch immer
mächtigen Jesuiten verletzte er den oesterreichischen Residenten, und diesem zu-
vorkommend, liess ihn Herzog Karl, den er durch Ausfälle auf Franziska von
Hohenheim gereizt, 1777 auf würtembergisches Gebiet locken und ohne Urteil
§ lo.). 1) Weil man die ganze Natur, wie sie sich in der Leidenschaft zeigt, darstellen
wollte, fand man auch die unteren Stände in ihrer Freiheit von Verstellung geeigneter für
das Drama. 2) 'Als (ienie ist er ein Mann von Stand': Mercks Matinee in 'Briefe von
und an M.' S. 62. 3) Schubarts Leben und Gesinnungen. Von ihm selbst im Kerker
aufgesetzt, I Stuttgart 1701, II, von seinem Sohn herausg. 1793. Schubarts Karakter von
seinem Sohne Ludwig Schubart, Erlangen 1798. Ch. F. D. Schubarts Leben in seinen
Briefen . . hg. von D. F. Strauss, II, Berlin 1849. P. Pressel, Schubart in Ulm, Ulm 18G1.
A. Wohlwill in Schnorrs Archiv 6. 343. 15, 21. 126; in Herrigs Archiv 87, 1. G. HauflF,
Ch. F. Ü. Schubart in seinem Leben und in seinen Werken, Stuttgart 188ö. E. Nsegele,
474 NEUirOCIIUEUTSCIIE ZEIT. XVIII JAIIUII. § 159
und Recht auf Hohcnasborg erst im härtesten Kerker, spaeter in milderer
Haft fostset/-en. Vergebens das Flohen der Familie, die an ihm hing, die
Fürbitte der Hoimatgcnossen, der benachbarten Fürsten. Erst Friedrich
Wilhelm II erwirkte die Freilassung des Dichters, der 178(> in einem Hymnus
auf Friedrieh den Grossen seiner von Jugend auf gehegten Begeisterung für
den 1 leiden Ausdruck gegeben hatte.* Schubart ward sogar in Stuttgart als
Hof- und Theaterdichter angestellt; seine Chronik, welche inzwischen sein
Freund Miller für die Familie fortgeführt hatte, erschien von da an in der
herzoglichen Druckerei, ebenso wie schon 1785.86'' seine Sämtliche Gedichte':
beides freilich zum grcesseren Vorteil der herzoglichen Kasse. Von neuem
gab sich Schubart dem vollen Genuss des Lebens hin, starb jedoch schon
1791. Die fromme Stimmung, die sein strenger Hüter auf Asberg, General
Kieger,'' in ihm genaihrt und die er dort in zahlreichen geistlichen Liedern
ausgesprochen hat, stand dem gemütvollen Dichter schon früher nahe,' wech-
selte aber damals mit Ausbrüchen seiner starken Sinnlichkeit und mit derben
Satiren ab: letztere bilden den Inhaltseiner 'Zaubereien', Ulm 1766, welche
in Wielands Manier geschrieben und diesem zugeeignet sind. Sein Gram auf
der Festung crgoss sich in rülirendc Lieder,'* sein Zorn in kraftvolle Ver-
wünschungen des Despotismus. '•' Den Schmerz des Volkes über den Abschied
der an die Holländer verkauften Soldaten schildert sein ergreifendes 'Kaplied'.
Das Volkslied, dem er früh im Umgang mit Handwerksburschen, Soldaten,
Bauern seine zarten und starken Tccne abgelauscht hatte, ahmte er auch in den
Liebesliedorn "^ nach, die mit den von ihm selbst gesetzten Weisen viel ge-
sungen wurden. Echt volkstümlich sind auch Schubarts Erztehlungen in
hanssachsischcn Versen. ' ' Dagegen ist sein Ausdruck meist überstiegen in
Aus Schubarts Leben und Wirken, Stuttgart 1888. 4) LB. 2, 1170. 5) Unbefugt
hatte man 'Schubarts Gedichte aus dem Kerker', Zürich 1785, herausgegeben. So waren
auch die 'Originalien von Mag. Schubart", Augsburg 178U, eine Sammlung seiner Aus-
sprüche, ohne sein Zutun erschienen. Von spa'teren Ausgabeu sind auszuzeichnen: 'C. F.
D. Schubiuts lies Patrioten gesammelte Schritten und Sohicksale'. Stuttgart, 1839. 40, Vlll.
Schubarts (redichte. Hist. krit. Ausgabe von G. Hautt". Leipzig, Reclam o. J. 6) Auch
Rieger hatte die Willkür und Grausamkeit des Herzogs erfahren: er ist der Held von
Schillers Erzfehlung 'Spiel des Schicksals. Ein Bruchstück aus einer wahren Geschichte'.
7) Todesgesänge, Ulm 17(J7. 8) Gefangner Mann, ein armer Mann!' 9) Die
Fürstengruft', 178' gedichtet, als Herzog Karl die bereits verspros-heue Freilassung nicht
gewsehrte, dann ein neuer Vorwand sie zu versagen. 10) So herzig wie mein Liesel
Giebts halt nichts auf der Welt'; als Soldatenlied angeführt von Hebel, Der Heiner und
der Brakenheimer Müller. Hebel hat Schubart viel benutzt. 11) 'Der rechte Glaub,
eine Legende': findet sich wieder in der Luise von Voss s. R. Köhler Z. f. d. Ph. 4. L31.
§ 159 MALER MÜLLER. 475
den Gedichten mit den freien Odenversmassen Klopstocks/^ besonders in den
Huidigimgsgedichten, die er spseter geradezu auf Bestellung schreiben musste.'^
In volkstümlich derbem Stile schrieb er seine Chronik in Prosa, wofür er
Luthers Sprache zum Vorbild nahm. Sie hat deutsche Gesinnung und Anteil
an deutscher Dichtung zu verbreiten kräftig beigetragen.'* Hier verbanden
sich Aufklaerung und frommer Sinn, waehrend andere Zeitschriftsteller auch
in Schwaben nur der ersteren nach franzcesischem Muster dienten.'''
Auch in der Pfalz wich der franzcesische Geschmack nur allmgehlich.
Diesen begünstigte noch Karl Theodor, der jedoch 1778 als Erbe Bayerns
nach München zog. Unter ihm war 1775 eine 'Teutsche Gesellschaft' ent-
standen, welche mehr als durch ihre eigenen Schriften '*^ durch die Anregung
zur Begründung des Mannheimer Nationaltheaters sich verdient gemacht hat.
In Mannheim erlebte 1775 — 78 Friedrich Müller,'^ der sich selbst auch
Maler Müller nannte, seine dichterisch fruchtbarste Zeit. Geboren zu Kreuz-
nach 1749, hatte er am Hofe zu Zweibrücken seine künstlerische Ausbildung
begonnen und setzte sie seit 1778 in Rom fort, freilich ohne der Technik
Genüge zu thun, und daher ohne rechten Erfolg.'^ 1780 katholisch geworden,
Behaghel Scliuorrs Arch. 12, 340. 12) 'Der Fiüling , 'Der ewige Jude' LB. 2, 11G3 fgg.
13) 'Schon 1765 'Der Tod Frauciseus des Ersten römischen Kaisers'. Eine Ode auf Abbts
Tod wies Herder bitter ab. 14) Schubart pries liegeistert die jungen Dichter des
Sturmes und Dranges. Aber seine Angabe dass 1775 Ga-the und Klinger ihn besucht
hätten, ist Flunkerei: Rieger, Klinger S. 74. 15) So Wilhelm Ludwig Wekhrlin,
geb. zu Bothnang bei Stuttgart 1739, gest. zu Ansbach 1792. Von Frankreich heimgekehrt
nahm er besonders die Reichsstädte zum Ziel seiner Satire; als sein Bericht über die letzte
Hexenhinrichtung zu Grlarus 1782 von Heukershand verbrannt werden sollte , schickte er
seine Silhouette zur Erha?hung der Feierlichkeit ein. Seine Zeitschrift: 'Felleisen', erschien
Nördlingen 1778; und zu Nürnberg: 'Chronologen' 1779 — 81: 'Das graue Ungeheuer' 1784
bis 87; 'Hyperboreische Briefe' 1788—90; 'Paragrafen' 1791 fgg.; 'Anspachische Blätter'
1792. Vgl. bes. W. F. Ebeling , Wekhrlin. Berlin 1869. 16) Die Geschichte der
(Tesellschaft schrieb Seutfert Anz. zur Zs. f. d. A. 24, 276 fgg. Ihre Seele war der frühere
Jesuit Anton von Klein, geb. zu Molsheim 1744, gest. zu Mannheim 1810. Seine Tra-
goedien (Rudolf von Habsburg 1787 ua.) sind im franzo^sischen Geschmack, sein Athenor'
eine Nachahmung von Wielands Oberen. S. 'Litterärisches Leben des . . Ritters Anton
V. Klein'. Wiesbaden 1818. Für Schiller trat er in verdienstlicher Weise ein: Minor, Schiller
2, 240, doch vgl: ebd. 254. 17) B. Seuffert, Maler Müller, Berlin 1877: im Anhang
Mitteilungen aus Müllers Nachlass. 18) Er malte mit Vorliebe Tierstücke und Teufel-
scenen. wie er auch im Faust diese letzteren besonders ausgeführt hat. Die Künstler
nannten ihn daher den Teufelsmüller. Durch ein solches Bild, den Streit des Erzengels
Michael mit Satan über dem Leichnam des Moses, entzweite er sich 1781 mit G«the, der
ihn 1775 kennen gelernt und ihm Unterstützungen bei dem Weimarer Hof erwirkt hatte.
476 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XYIN .TAHRH. § 159
erlangte er spaeter die Untorstützung dos Kronprinzen Ludwig von Bayern.
Er starb 1S25. Seine Schriften erschienen unter Tiecks Mitwirkung ge-
sammelt zu Heidelberg ISll, HI.'-' Auch er hatte sich zuerst an Klopstock
angelehnt;-" und diesem entnahm er ebenso wie Schubart die Form der
freien lihythmen, meist ohne Reim.^' Dann wandte er sich der Prosaidylle
zu, Anfangs noch auf Gessners Sjiuren, nur dass er ossianischen Schwung an-
strebte: so in Adams Erwachen und erste selige Nächte', mit der Fortsetzung
der erschlagene Abef-'-; bald aber gewann er eine selbständige Aufgabe,
indem er mit freiem Humor teils die Faunenwelt schilderte und insbesondere
die trunkene Stininmng des Naturmenschen ausgezeichnet traf; *'^ teils mit
treuestem Anschluss an das Volksleben seiner pfälzischen Heimat heitere
und ergreifende Bilder entwarf: 'Die Schafschur (Mannheim 1775), 'Das
Nusskerneu\ Volkstümliche Lieder, Raetsel, Erztehlungen waren eingemischt,
zum Volkslied wurde Müllers 'Soldatenabschied\'* Weniger glücklich waren
seine Balladen (Mannheim 1776). In dramatischer Form bearbeitete er Stoffe
aus Volksbuch und Puppenspiel: vor allem Faust, den er mehrmals, spseter
in Rom metrisch und mit religiöser Auffassung behandelte, wovon aber nur
einzelne Stücke in den Druck kamen: Situation aus Fausts Leben', Mann-
heim 1776, und 'Fausts Leben erster Theil', ebd. 1778," worin er Teufel
und Volk, Studenten und Juden, letztere in ihrer Mundart reden und die
komische Person als Diener auftreten Hess, auch satirische Ausfälle auf seine
Zeit nicht sparte. Öfter umgearbeitet, auch zuerst nur in Proben gedruckt,
erschien sein 'Golo und Genovefa' erst 1811 vollständig. Goethes Götz hatte
stark darauf eingewirkt; Adelheid war das Modell für Golos Mutter, ein
'Machtweib', das den in Wertherstimmung schwankenden Golo zum schlimm-
sten fortreisst. Und doch ist die Legende -'' rüiirend genug ausgeführt: der
Plan des Stücks, wie der Grundriss, den darin Erwin von seinem Dom vor-
weist, nicht nach Übung und Regel, dem Herzen nach, wie Gott mir's
In Rom hielt sich Goethe von Müller fern. 19) Titelauflage 1825. Nachlese von Hans
Graf York, Jena 1873. Auswahl von Hettner. Leipzig 1868 II: von Sauer (zusammen mit
Schubart) bei Kürschner, Bd. 81. 20} Er trat zuerst hervor mit dem 'Lied eines blut-
trunkenen Wodanadlers\ welcbes sein Freuud Hahn (§ 158, 41) in dem Güttinger Musen-
almanach 1774 brachte. 21) LB. 2, 1026. 22) 1778 erschienen; vgl. jedoch die
Vorarbeiten bei Seuffert 481 fgg. 23) LB. 3, 771 Bachidon und Milon. 'Der Satyr
Mopsus' erschien 1775, Fr. Jacobi gewidmet. 24) LB. 2. 1025, auch in Schubarts
Gedichte aufgenommen. 25) Seutfert« Lit. deukiii. 3, Heilbronn 1881. Lessings Faust-
scenen sind benutzt: beide Dichter betreundeteu sich 1777, als Lessing nach Mannheim
berufen war (^§ 153. 54). 26) Über die Geschichte des Stoffes s. B. .Seuffert, Die Legende
§ 159 LENZ. 477
gezeigt'.^^ Einfacher, aber opernhaft stellt sicli 'Niobe, ein lyrisches Drama'
dar (Mannheim 1778), ein Bild des Titanentrotzes, mit dem dieses junge
Geschlecht auftrat, für Wielands Abderiten ein willkommenes Ziel des Spottes.
Schubart und Müller waren als Musiker und Maler immer noch an ein
Formgefühl gewoehnt, welches auch ihre Poesie nicht völlig zerfliessen oder
in ein leidenschaftliches Toben ausarten Hess. Den ersteren dieser Vorwürfe
verdient Jakob Michael Rkinhold Lenz.^^ 1751 zu Sesswegen in Livland
geboren, in Koenigsberg Kants Schüler, kam er 1771 als Begleiter junger
Edelleute nach Strassburg in Goethes Zauberkreis, Mehr als irgend ein an-
derer eignete er sich dessen Art an,^^ so dass seine ersten, ohne den
Namen erschienenen Dramen, ^^ so wie noch spaeter von ihm verfasste
Lieder diesem zugeschrieben werden konnten.^' Durch schnell erworbenen
Ruhm verwcehnt, von grossen Plsenen besonders militserischer und pädago-
gischer Art^^ erfüllt, zog er 1776 zu Goethe nach Weimar, ward aber durch
seine Phantasterei und Taktlosigkeit ein Gespött des Hofes und dem Freunde
unertrseglich. ^^ Von Weimar verwiesen, irrte er dürftig und arbeitsunfsehig,
seinen Freunden eine Last, am Oberrhein umher. In der Schweiz und noch
stärker, als er 1778 im Steintal bei dem menschenfreundlichen Pfarrer
Oberlin verweilte, brach sein Wahnsinn aus. Aufopferungsvoll pflegte ihn
Goethes Schwager^"* Schlosser in Emmendingen, bis den zu rührender Demut
zurückgekehrten seine Verwandten 1779 abholten, wozu der Weimarische
Hof die Mittel gewsehrte. Lenz starb zu Moskau 1792. Früh verschollen
von der Pfalzgrfefin Genovefa, Habilitationsschrift, Würzburg 1877. 27) Act V. Sc. 3.
28) Ortjethes Angaben in Dichtung und Wahrheit sind vielfach hesttetigt und erweitert worden :
Aug. Stoeber, Der Dichter Lenz und Friederike von Sesenheim, Basel 1842. Erich Schmidt, Lenz
und Kliuger, Berlin 1878. P. T. Falck, Lenz in Livland, Winterthur 1878. Ders. Friederike
Brion. Berlin 1884. .Jegor von Sivers, Lenz, Riga 1879. J. Froitzheim, Lenz, Goethe und
Cleophe Fibich, Strassburg 1888; Ders. Lenz u. Goethe, Stuttgart usw. 1891. 29) Er
sandte ihm eine jetzt verlorene Abhandlung 'über unsere Ehe': D. u. W. XIV Buch zu
Anfang. 30) Über diese und andere Verwechselungen der Dichter des Sturmes und
Dranges s. E. Schmidt, Wagner *117. 31) Die im Nachlass Friederikens gefundenen:
8. Bielschofsky Gffthejahrbuch 1891 S. 211 fgg. 32) Ideen zu einer Frauenzimmer-
schule bei Dorer-Eglüff 232 fgg. 33) Seine Stellung am Hofe schildert Lenz im
Dramolet 'Tantalus'; sein persoenliches Verhältnis zu Goethe im 'Waldbruder' (aus Goethes
Papieren in Schillers üoren 1797, IV St., wiederabgedruckt von Dorer-Egloff, von Wald-
berg, Berlin 1882 und von Froitzheim) und mit arger Entstellung von Gcpthes Character:
'Zum AVeinen', Weinhold, Dramat. Nachlass S. 268 fgg. 34) Auch Goethes Mutter
hatte er in Frankfurt besucht: Keil, Frau Rath 71. Seine Verehrung für Goethes Schwester
Cornelia hatte Lenz romanhaft ausgeschmückt als 'Moralische Bekehrung eines Poeten", im
47.S NEUIIOCIIDEUTSCIII-: ZKIT. XVIJI .TAI I KU. § 15!)
wunlon seine Scliriften erst weit spa^ter gesammelt. '•' Auch I^ienzena An-
fänge knüpfen an Klopstock an ; seine spaetere Lyrik, meist seinen verliebten
Trieumen gewidmet, hat manche llerzenstoRue,''" zeigt aber imr allzu oft die
Nachlässigkeit der ersten, raschen Niederschrift. Sein Witz glänzt in den
litterarischen Satiren gegen die Anhänger der älteren Dichtart,'' insbe-
sondere gegen Wieland, dem er später diese Feindseligkeit in herzlicher
Weise abbat. Keck, in Leasings Weise, hatte er Plautus modernisiert.'"
In seinen eigenen Dramen tritt die von Goethe bewunderte Fa'higkeit, selbst
in die gemeinste Wirklichkeit Poesie zu legen, oft herzgewiimond hervor und
besonders die Schilderung der naiven Gemüter, zumal der Frauen gelingt
ihm vortrefHich. Aber er verirrt sich in der Handlung gern zum Unnatür-
lichen, Hicht etwa eine Selbstentmannung ein oder schildert ein Ehepaar,
welches sich mit dem Gedanken peinigt in Geschwisterehe zu leben. Meist
liegen eigene Erlebnisse, nur })hantastisch ausgemalt, zu Grunde: heimische
Erinnerungen in der Komoedie Der Hofmeister oder — wie er ironisch hin-
zufügt — Vorteile der Privaterziehung', Leipzig 1774; Strassburger Ein-
drücke'** in den ebenfalls Komoedie genannten, in Wahrheit tieftraurigen
'Soldaten', Leipzig 1776. Fast durchweg*'* aber erscheint die dramatische
Form sehr frei, durch den Wechsel der Scenen zerstückelt: hiefür berief sich
Lenz auf Shakespeare*' in den 'Anmerkungen übers Theater', Leipzig 1774:
er bemerkte, dass er sie bereits zwei Jahre vor Erscheinung des Buches
'Von deutscher Art und Kunst' und des Götz in der Saltzmannschen Gesell-
schaft*'- zu Strassburg vorgetragen habe: dass er auch zu dieser Verhoehnuug
der 'poetischen Reitkunst des Herrn Aristoteles' durch Goethes und Herders
Frühjahr 1775: Ga'thejahrbmh X 46 tgg. 35) Von Tieck, Berün 1828, III. Dazu
Nachtnpo'e bes. von Edward Dorer-Eju;loff, Baden 1857. Uramatischer Nachlass, hg. von
K. Weinhold, Frankfurt 1884. Auswahl von Sauer bei Kürschner 80. Die Entwürfe,
zahlreich un<l oft abgeändert, fallen fast sämtlich in die Jahre 1774—76. 3ö) 'An
das Herz': Geschichte des Gedichtes, welches die Losung der Stürmer und Dränger beson-
ders deutlich ausspricht, in Erich Schmidts Wagner S. 157 fgg. 3?) Panda;monium
irermanicum (hg. von Dumpf, Nürnberg 1819). 38) Lustspiele nach dem Plautus fürs
deutsche Theati-r, Fraukf. u. Leipzig 1774, von Ga-the in den Druck gegeben. 39) Um
Lenz die Furcht vor der Rache der dargestellten Personen zu benehmen, gab sich Klinger
als Verfasser an. 40) Bemerkenswert ist die gruessere Einheit im Entwurf zu 'dem
tugendhaften Taugenichts", worin er dieselbe Anekdote Schubarts bearbeitet hat, welche
Schiller für die Räuber benutzte: Weinhold, Dram. Naehl. 209 fgg. 41) Von dessen
Lustspiel 'lAuex labour lost' war eine Übersetzung angehängt, welche namentlich die komi-
schen Partien vorzüglich wiedergab. 4*2j Lenz hatte ihr den Namen Deutsche Gesell-
schaft' gegeben und sie lebhaft auf die Ausbildung der deutschen Sprache und Art im Elsass
§ 159 LENZ, KLINGER. 479
mündlich überlieferte Äusserungen veranlasst worden war, hätte er wohl
nicht Iseugnen können.
Dem sanften, weibischen Lenz stand mit übei-männlicher Kraft der
Dichter gegenüber, dessen Drama 'Sturm und Drang' dem ganzen, um den
jungen Goethe gescharten Dichterkreis den Namen verlieh. Friedrich Maxi-
milian Klingp:r ^^ war ein Landsmann Goethes und ward von diesem freund-
schaftlich unterstützt, als er sich zur Univcrsitaet durch viele Schwierigkeiten
durchkämpfte, die den Stolz des kraftvollen, schcenen Jünglings nur stgehlten.
1751 als Sohn eines sttedtischen Constablers geboren und früh verwaist, wan-
derte auch er von Giessen, wo er 1774 seine Studien begonnen, 1776 zu
Goethe nach Weimar, schloss sich aber bald der Seylerschen Gesellschaft als
Theaterdichter an. Yon Schlosser empfohlen, trat er 1779 in ein oesterrei-
chisches Preicorps, 1780 als Marinelieutenant in den perscenlichen Dienst des
Grossfürsten Paul, des spseteren Kaisers.^* Rasch stieg er empor, ward ge-
adelt, General und Curator der Universitset Dorpat und starb 1831. Seine
innerliche Wandelung vom kraftgenialischen Dichter zum streno-en kalten
Staatsmann spiegelt sich auch in seinen Schriften wieder, die er meist rasch
hinwarf, aber zum Teil in die spseteren Sammlungen'*^ nicht aufnahm. Verse
waren ihm versagt ; auch schlugen die komischen Partien seiner Dramen und
Romane in herbe Satire aus. Er begann mit der Nachahmung Shakespeares :
dessen Lear und Goethes Götz boten ihm die Motive für sein im deutschen
Mittelalter spielendes Trauerspiel 'Otto'*" 1774, wogegen 'das leidende Weib'
1775 mehr Lenz*^ nachahmte. Gegen den Despotismus schwacher Fürsten
richteten sich 'die neue Arria' und 'Simsone Grisaldo': beide nach Südeuropa
verlegt ebenso wie die 'Zwillinge', womit er den Plan von Leisewitz zum
'Julius von Tarenf benutzend, diesem den Hamburger Preis 1775 vorweg-
nahm. In den Freiheitskampf der englischen Colonien in Nordamerika, an
dem er gern Teil genommen hätte, verlegte er 'Sturm und Drang' 1776:
dies der Hoehepunct seines Aufbteumens gegen Schicksal und Welt, das mit
Überschwang des Gefühls und Ausdrucks, mit buntem Wechsel oft grässlicher***
hingewiesen. 43) Erich Schmidt s. Anm. 28. M. Rieger, Klinger in der Sturm- und
Drangperiode, Darmstadt 188U. 44) Sein Wahlspruch war damals: Marte Venereque.
45) F. M. Kliugers Theater, IV, Riga 1786— 87; Neues Theater, 11, Leipzig 1790; Werke,
XII, Koenigsberg 1809—15; Sämtliche Werke, XII, Stuttgart u. Tübingen 1842 und
1878 — 80. Auswahl von Sauer, mit Leisewitz zusammen (§ 158, 76). 46) Neudruck
von Seutfert in den Lit.-denkm. 1, Heilbronn 1881. 47) Daher auch von Tieck in die
Gesammelten Schriften von Lenz (Anm. 35) aufgenommen. 48) In Otto' stirbt eine
Wackernagel, Litter. Geschiebte. II. 32
480 NETJTIOrilDETITSCIIE ZEIT. XYITI JAIIRTI. § 159
Scenen snine Dramen*-* erfüllte. Auch er hatte sich inzwischen in Weimar
mit Wieland''" ausgesoehnt und ging nun dazu über in lang ausgesponnenen
Romanen mit cynisch lüsterner Beimischung in der Art Crebillons die
Zustünde der Zeit zu verhoehnen : so in Orpheus, eine tragisch-komische
Geschichte', Genf 1778 — 80. Gegen die eigenen Jugendtraiume und zugleich
gegen einen früheren Freund, der für sein JJrama den Titel 'Sturm und
Drang' vorgeschlagen hatte, den von Lavater empfohlenen, eine Zeit lang
selbst den Besten übermächtig erschienenen, lügenhaften Kraftapostel Christxjph
Kaufmann-'' wandte er sich in dem Spottroman Plimplamplasko der hohe
Geist (heut Genie) eine Handschrift aus den Zeiten Knii)perdollings', den er
mit dem Baseler Sarasin und vielleicht auch Pfeffel zusammen 1780 schrieb.
Spätere Dramen Klingers suchen teils die Unsittlichkeit der vornehmen Welt
zu geissein, so die Lustspiele 'Die falschen Spieler' 1780 und 'der Schwur gegen
die Ehe', 1797; teils kehren sie als Trauerspiele in einem hoeheren Stile ^- zu
den kraftvollen Gestalten der Sage zurück : so Medea in Korinth' und 'Medea
auf dem Kaukasos' 1791. Klingers Romane kämpfen sich durch einen Pessi-
mismus, welcher bald die alten orientalischen Marchenformen annimmt ('der
goldene Hahn' 1785, spseter als 'Sahir' umgearbeitet u. a.), bald sich in das
Gewand der deutschen Faustsage^-' hüllt (Fausts Leben, Thaten und Höllen-
farth 1791) hinauf zur Anpreisung des früherfassten Rousseauschen Tugend-
ideals (Geschichte eines Teutschen der neuesten Zeit 1798) und zu fein durch-
geführter Versoehnung des Gegensatzes von 'Weltmann und Dichter' (1798).''*
Von den anderen Genossen ^^ des Sturmes und Dranges verdient nur noch
Person unter der Folter der Inquisition. 49) 0. Erdmann. Üher Klingers drani. Dich-
tungen. Ka-nigsberg Progr. 1877. 50) Doch verspottete ihn dieser in deu Abderiten
als Hyperbolus. 51) Kaufmann, geb. 1753, gest. 1795 als Arzt zu Herrenhut, nannte
sich selbst 'Gottes Spürhund naeh reinen Menschen'. In Weimar war selbst tiopthe und noch
länger Herder sein Bewunderer; ganz besonders beutete er das Dessauer Philanthropin aus.
Auih in Kliuffers Faust und vorher schon in dem Maler Müllers werden Züge von ihm
benutzt. Vgl. Düntzer, Ch. Kaufmann , Leipzig 1882. Baichtold in Schnorrs Areh. XV
161 fgg. 52) Auf 'Roderiko' wirkte Schillers Karlos ; spaeter wandte sich Klinger auch
gegen diesen Dichter, der ihm schon als Anhänger Kants Anstoss gab. Klinger hasste
jedes 'System'. 53) G. J. Pfeiffer. Klingers Faust, hg. von B. Seuffert, Würzburg 1890.
54) Die 'Betrachtungeu und Gedanken über verschiedene (iegenstände der Welt und Litte-
ratur". Cöln 18U3, beziehen sich insbesondere auf die philosophischen und politischen Ideen,
die zur franzoesischen Revolution führten. 55) Ludwig Philipp Hahn (geb. 1746 zu
Trippstadt in der Pfalz, Beamter in Zweibrücken, gest. 1814) ist eingehend behandelt wor-
den von R. M. Werner, Strassburg 1877 (QF. 22). Sein 'Aufruhr zu Pisa', worin die Vor-
geschichte zu Gerstenbergs Ugolino skizzenhaft und phrasenreich dramatisiert ist, wurde
§159 H. L. WAGNER. 481
Heinrich Leopold Wagner''*' hervorgehoben zu werden, insbesondere wegen
seiner freilich nicht immer ehrenvollen Beziehungen zu Goethe. Geboren zu
Strassburg 1747, starb er als Advocat zu Frankfurt 1779. Ursprünglich
Nachahmer Wielands, griff er in den Streit Goethes gegen die Bekritteier
des Werther 1775 ein, indem er diese, vermutlich mit Benutzung einzelner
Witze seines grossen Freundes, aber ohne dessen Wissen,''^ in der derben^*
Farce 'Prometheus, Deukalion und seine Recensenten' ausspottete.^^ Gleich-
zeitig versuchte er sich im ernsten Drama, indem er wie Lenz das bürger-
liche Trauerspiel, aber in einer Lessing abgelernten strengeren Ordnung''**
weiter führte 'Die Reue nach der That' 1775 stellte eine wegen des
Standesvorurteils der Eltern unglücklich endende Liebesgeschichte ''^ dar; 'die
Kindesmörderin' 1776 ^^ behandelte die Gretchentragoedie, die Goethe bereits
für den 'Faust' ausgeführt hatte, aber mit stärkster Benutzung der Verhält-
nisse, auch der Sprache seiner Vaterstadt, erschütternd, freilich roh. Den allzu
anstoessigen ersten Act arbeitete Karl Lessing ohne Zustimmung des Ver-
fassers um, welcher dann dem Ganzen einen verscehnlichen Schluss zu geben
suchte.®^ Eine von Goethe angefangene Übersetzung der für das bürgerliche
Drama Diderots eintretenden Schrift Merciers Da thcätre stellte Wagner
ebenfalls 1776 fertig;''* den eben dahingeschiedenen Hauptvertreter des fran-
zoesischen Classicismus verhoehnte er in 'Voltaire am Abend seiner Apotheose'
1778.«^
Stellten Maler Müller, Lenz, Klinger, Wagner das Volkstümliche in
seiner leidenschaftlichen Erregung, als rohe Kraft dar, so trat es in einem
Schriftsteller, den der junge Goethe beim Emporringen aus Armut und Un-
voa Sühubart, Ulm 1776, in dea Druck gebracht. 56) Erich Schmidt, H. L. Wagner 2,
Jena 1779. 57) Goethes ernste Erklärung hierüber zielit grundlos in Zweifel Froitz-
heim, Cfaethe und H. L. VV^agner, Strassburg 1889. 58) Wagner war 'zum Aushcehnen
geboren': so hatte ein Freund an Heiuse berichtet: Briefe zwischen Grleim , Heiuse und
Müller 1, 214. 59) Der Einzeldruck, mit falschen Druckurten erschienen, ward wieder-
holt in 'Rheinischer Most, Erster Herbst' 1775: Neudruck von Düntzer, Studien zu troethes
Werken, Elberfeld u. Iserlohn 1849, von Sauer, Kürschner Bd. 80. GO) Ortswechsel
nur zwischen den Acten. 61) Schillers 'Kabale und Liebe' hat Züge aus beiden Tra-
goedien Waguers. 62) Zu Leipzig erschienen, die 'Reue' zu Frankfurt. Von der
'Kindesmürderin' erschien die Umarbeitunir K. ö. Lessinsrs Berlin 1777: die des Dichters
selbst Frankfurt a. M. 1779. Neudruck von Er. Schmidt, Lit.-denkm. 13, Heilbrouu 1883.
63) Daher jetzt als Titel 'Evchen Humbrecht oder Ihr Mütter uierkts Euch!' 64) 'Neuer
Versuch über das Theater. Aus dem Franztesischen. Mit einem Anhang aus Cloethes
Brieftasche", Leipzig 177(j. 65) Frankfurt und Leipzig. Neudruck in Seutferts Lit.-
482 NEUIIOCHDErTSCHK ZEIT. XVIII JAIIKII. § 159
bildung Hebreich untei-stützte, mit weichen Zügen, mit einer herzlichen
Frimimigkeit hervor. Johann Hkinkkii JrN(; nannte sich Stilling,** als
einer der Stillen im Lande\ (ieboren 1740 zu Grund im nassauischen
Hinterland als 8ohn eines Schneiders und Schulmeister!* verlebte er seine
.lugend in eben diesen Berufsarten ; studierte 1770 — 72 in Strassburg Augen-
heilkunde, die er in Elberteld und selbst, als er von 1778 ah in Kaisers-
lautern, Heidelberg und Marburg die Kameralwissenschat'ten lehrte, neben
diesem Fache ausübte. 180;i berief ihn Karl Friedrich wieder nach Heidel-
berg, wo er bis zu seinem Tode 1817 nur dem Auftrage sich widmete, Re-
ligion und praktisches Christentum durch Briefwechsel und Schriftstellerei zu
befördern. Keine seiner spaeteren Schriften, in welchen seine Phantasie sich
viel mit dem Jenseits beschäftigte,*^^ erreichte die Bedeutung seiner Jugend-
geschichte, welche Goethe 1777 hatte drucken lassen*^: hier eröffnete sich
ein herzgewinnender p]inblick in Sinn und Leben der armen, rechtschaffenen,
frommen Bergleute und Kohlenbrenner, unter denen er seine Knabenjahre
verlebt ; ihre Volksbücher, Volksmierchen und Volkslieder, diese freilich von
ihm ebenso naiv umgestaltet, wie sie im Volksmunde selbst sich beständig
wandelten, traten wieder in die Litteratur der Gebildeten ein.
Karl Friedrich von Baden, der Jung-Stilling einen solchen Auftrag gab,
hatte früher Johann Gkorg Sculo.sser •^'•' in den Stand gesetzt, das Wohl
des Volkes, vor allem durch Hebung seiner sittlichen und wirtschaftlichen
Zustände zu fördern. Geboren 1739 zu Frankfurt a. M. und hier als Syn-
dicus 1799 gestorben, war Schlosser 1773 — 87 Amtmann zu Emmendingen, dann
bis 1794 in Karlsruhe thaitig, worauf er zunächst einige Jahre erst in Ansbach,
dann in Eutin seineu litterarischen Arbeiten lebte. Überall verband ihn nahe
Freundschaft mit den Dichtern und Schriftstellern, welche seine Besfeisterunji:
für Wahrheit und Gerechtigkeit teilten: mit Goethe, dessen Schwester Cornelia
er 1773 heiratete, aber schon 1777 durch den Tod verlor, mit Lenz ^'' und
denkm. '2, Heiibronn 1881. 66) Seiae selbsterzaehlte Lebensgeschichte, abschnittweise
herausgegeben, in .Sämtliche Schriften mit einer Vorrede von J. N. (Trolimann', Stuttgart
1835 — 37, III; 1841. -12, XII: Lebeusgeschichte mit Vorrede des Praelaten von KaplF
1857 uö. Bedenken gegen Jungs Wahrhaftigkeit SBUssert F. Jacobi bei Zöppritz 2, 149.
67) Das Ki'iniweh. Marburg 1794. IV; Sceneu aus dem Geisterreiche. Frankfurt a. M. 1797
bis löOl, III: auch eine Volkszeitschrift 'Der graue Mann", Nürnberg 1795 — 18nj. Ausserdem
fromme Erza;hlungen: 'Geschichte des Herrn von Morgenthau', Berlin u. Leipzig 1779 ua.
68) Heinrich Stillings Jugend. Eine wahrhafte Geschichte. Berlin u. Leipzig 1777 uö.
Daraus LB. 3, 757 fgg. 69) Alfred Xicolovius, J. G. Schlossers Leben und litterarisches
\N irkeu. Bonn 1844. 7(1) Lenz dachte an Schlosser, als er in iler Konufdie 'Der neue
§ 159 JUNG-STILLING, SCHLOSSER. 483
Klinger/' mit Lavater und Iscliu, mit Pfeffel und den Brüdern Jacobi, mit
Stolberg und Voss. Er selbst pries in seinem Aiitipope oder Versuch über
den Natürlichen Menschen', Leipzig 1776^'* den Glauben gegenüber den
Trostgründen der Philosophie. Seine durchaus auf das Praktischem^ gerich-
teten Reformideen fasste er kurz zusammen im Katechismus der Sittenlehre
für das Landvolk', Frankfurt 1771; und führte sie dann in einer Reihe von
Abhandlungen aus, die er als kleine Schriften', Basel 1779 — 93, VI, ver-
einigte. In dem gleichen Sinne leitete er auch die Frankfurter gelehrten
Anzeigen' 1772, welche damals das kritische Organ des Jüngern Dichterge-
schlechtes, Herders, Goethes und ihrer Freunde waren. ''^
An der Leitung dieses Jahrgangs war auch Jouanx Heinrich Merok^*
beteihgt, ein Darmstsedter, geb. 1741, gest. 1791. Sein scharfes und treffen-
des Urteil, welches ebenso sehr dem tragen Festhalten am Überkommenen,
als der Überspannung der neuen Schriftstellerei entgegen trat, bezog sich
zugleich auf die Litteratur, auf die bildenden Künste, besonders die Malerei,
und auf die geselligen Zustände. Diesem letzteren widmete er mehrere Er-
zsehlungen in Wielands Teutschem Mercur: 'Geschichte des Herrn Oheim',
1778, 'Lindor, eine bürgerliche deutsche Geschichte' 1781 u. a., worin dem
leeren Scheintreiben in Hof und Stadt die kräftigende und befriedigende
Thaetigkeit auf dem Lande entgegengestellt wird. In die Aufregung der
Dichterkämpfe nach 1770 warf er derb\Ndtzige, meist dramatische Satiren in
Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi", Leipzig 1774 den Widerstreit der
natürlichen Gesinnung gegen die Cultur schilderte; Schlosser antwortete mit 'Prinz Tandi
an den Verfasser des neuen Menoza', Naumburg 177.5. 71) Klinger nahm Schlosser zum
Vorbild seiner Schildeningen pflichttreuer Beamten, welche gegen Hofintrigue und Schlen-
drian ankämpfen. 71*) Zehn Jahre früher in englischen Versen gedichtet, ist die Schrift
von Schlosser in deutscher Prosa fertig gestellt worden. 72) Daher bekämpfte er die
Philanthropine und den Physiokratismus. Durch seinen Hinweis auf die Berechtigung
überlieferter Einrichtungen wie der Zünfte , durch seine Berufung auf das alte deutsche
Recht bereitete er mit Mfjeser zusammen die spietere historische Rechtswissenschaft vor.
73) Neudruck des Jahrgangs 1772 mit Einleitung von Scherer in Seufferts D. Lit.-denkra.
7 u. 8, Heilbronn 188:3. 1773 ward Bahrdt (§ 156, 52) Director der Zeitschrift, die seit-
dem rasch ihre Bedeutung wieder verlor. 74) K. Wagner, Briefe an J. H. Merck von
Goethe, Herder, Wieland und andern bedeutenden Zeitgenossen. Mit Mercks biographischer
Skizze, Darmstadt 1835. Ders. Briefe an und von Merck. Darmstadt 1838. Ders. Briefe
aus dem Freundeskreise von Gcethe, Herder, Höpfner und Merck. Leipzig 1847. Ad. Stahr,
J. H. Mercks ausgewaehlte Schriften zur schoenen Litteratur und Kunst. Oldenburg 1840.
Georg Zimmermann, J. H. Merck, seine Umgebung und Zeit, Frankfurt a. M. 1871.
484 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVHT JAHUH. § 159
freien Versen, sogenannte Mutinöps,'''-' welche jedoch damals und zum Teil
noch jetzt nicht in die Öffentlichkeit gekommen sind. Auf (Jontlie, der frei-
lich den Kritiker einen Mephistoplieles nannte, wirkte Merck sehr stark ein,
blieb über auch mit Nicolai und Lichtenberg in freundschaftlichen Bezie-
hungen. Die Hocfe in Darmstadt und Weimar schätzten ihn hoch: mit
der Landgnefin reiste er 1778 nach Petersburg, und besuchte im Auftrage
des Landgrafen 1700 Paris. Allein ha'usliches und geschäftliches Missge-
schick steigerten seine Verbitterung so weit, dass er zuletzt selbst seinem
Leben ein Ende machte.
Diesem düsteren Ausgang steht diis glückliche Leben, der Verstandes-
schärfe Mercks die Gefühlswärme gegenüber, womit Frikurich Heinrich
Jacobi, der jüngere Bruder des Dichters Johann Georg Jacobi^^ unter den
Vertretern der neuen Richtung in der Litteratur sich eine eigentümliche
Stellung erwarb. Geboren'' 1743 zu Düsseldorf, war er, in der franzoBsischen
Schweiz herangebildet, 1764 in das kaufmännische Geschäft seines Vaters
eingetreten, seit 1772 aber als Hof kammerrat erfolgreich bemüht, die freisinnigen
Anschauungen des Nationalceconomen Adam Smith zur Geltung zu bringen.
Dabei hatte er Müsse genug, um auf seinem Landgut Pempelfort dem schoen-
sten Familienleben, der edelsten (iastlichkeit gegen befreundete Schriftsteller
sich hinzugeben. 1771 mit Wieland bekannt geworden, unterstützte er diesen
1772 bei der Begründung des Mercur, wie er auch 1774 seinem Bruder
Georg die Zeitschrift Ii-is" vorzubereiten half. Am folgenreichsten aber ward
seine innige Befreunduug mit Gcethe 1774, welche auch trotz zeitweiliger
Verstimmung und wachsender Verschiedenheit der Meinungen durch persoen-
lichen Verkehr immer wieder hergestellt wurde.'" Goethes Jugendgestalt,
allerdings mit Zügen aus seiner eigenen stürmischen^* Entwickelungszeit aus-
gestattet, begann Jacobi 1775 in AU will' zu schildern,'*" einem Roman in Briefen
75) Ein Beispiel: Briefe an u. von Merck, S. 59. 76) § 155. 39 fgg. 77) Nachricht
von dem Leben F. H. Jacobis von Roth vor T. H. .Jacobis auserlesener Briefwechsel", II,
Leipzig lb25. Ferd. Deycks. F. H. Jacobi im Verhältnis zu seinen Zeitgenossen bes. zu
Goethe, Frankfurt a. M. 1848. Eberhard Zirngiebl, F. H. Jacobis Leben Dichten und
Denken, Wien 1867. Aus F. H. .Jacobis Nachlass, hg. von Rud. Zöppritz, Leipzig 1869.
78) Briefwechsel zwischen (ioethe und F. H. Jacobi, hg. v. Max Jacobi, Leipzig 1846.
Jacobi war 1784 in Weimar, Goethe 1792 in Pempelfort, Jacobi nochmals 1805 in Weimar.
79) Scherer. Aufsätze über Gcethe 147. 80) Anfang in der Iris, dann im Mercur 1776;
neubearbeitet in 'Eduard Allwills Papiere' in Vermischte Schriften. Breslau 1781: und
nochmals in 'Ed. Allwills . Briefsammlung'. Kfsnigsberg 1792: sowie in 'F. H. Jacobis
Werke". VI, Leipzig 1812 — 25. Vgl. Ad. üoltzmann, Ü^ber Ed. Allwills Briefsammlung,
§ 159 MERCK, F. 11. JACOBI, IIEINSE. 485
nach dem Muster des Werther, aber ohne Handlung und daher auch ohne
Abschluss.*' Noch anstoessiger war für Goethe die Selbstschilderung Jacobis
im Woldemar 1777.^'^ Auch widerstrebte ihm die in Jacobis philosophischen
Schriften immer mehr hervorgekehrte Neigung freies te Verstandesthfetigkeit
mit frommen Überzeugungen zu verbinden: erstere, als deren notwendige
Folgerung er Spinozas Philosophie ansah, suchte er im Verkehr mit Lessing^?
auszubilden; letztere verbanden ihn mit Jung-Stilling, Lavater, Claudius,**
der Fürstin Cxallitzin, Hamann, F. Stolberg. In des letzteren Kreis, nach
Eutin flüchtete er 1794 vor den Kriegsunruhen, die allmeehlich auch sein
Yerraoegen schmselerten. 1805 kam er nach München als Präsident der
Akademie, allerdings von Schelling schonungslos angegriffen, wie er selbst
die neuere Philosophie schon in Kant heftig bekämpft hatte. 1812 legte er
sein Amt nieder und starb 1819.
Die weitherzige Fürsorge Jacobis für seine dichterischen Zeitgenossen
bezeugt vor allem der Schutz, den er Johann Jacob Wilhelm Hein.se ge-
waehrte. Heinse, zu Langewiesen bei Ilmenau 1746 geboren,'^'^ war 1770 als
Erfurter Student Wieland und Gleim bekannt geworden, insbesondere durch
seine 'Sinngedichte' und musikaUsche Dialoge';*^ doch zog er zunaechst mit
einem abenteuernden Hauptmann herum, welcher seine feurige Sinnlichkeit
noch steigerte und ihn zu einer Übersetzung des Petronius*^ veranlasste. Um
nicht wegen der Yeröffentlichung dieser Schrift verworfen zu werden, nannte
er sich Rost, als er 1772 durch Gleim eine Stelle als Hauslehrer erhielt. In
Halberstadt beteiligte er sich an Gleims Dichtergenossenschaft ^* und Hess
Jena 1878. 81) Vortrefflich gelungen sind die Bilder der Gattin Jacobis (Amalie ;
in Woldemar Allwina) und seiner Halbtante Johanna Fahimer, spaeter der zweiten Frau
Schlossers (Sylli; im Woldemar Henriette). Über die letztere, die J. Gr. Jacobi Adelaide
nannte, s. Scherer, Aufsätze über Groethe, S. 91 .fgg. 82) Im T. Mercur; wiederholt
als 'Woldemar. Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte', I, Flensburg und Leipzig 1779;
und mit Fortsetzung: Kuenigsberg 1794, II. 83) Vgl. § 156, 12. 84) § 158, (nach
Anm. 3). 85) 'Aus Heinses Nachlass': Schnorrs Archiv X, 39 fgg. 372 fgg. Job.
Schober, J. J. W. Heinse, Leipzig 1882. Heinse gab sich selbst für drei Jahre jünger
aus als er war. 86) Die 'Sinngedichte', Halberstadt 1771 , sind von seinen Schriften
allein mit seinem Namen erschienen ; die 'Musikalischen Dialogen', sind erst 1805 zu Altenburg
von Arnold herausgegeben worden. Anderes, wie namentlich 'Fiormona', Berlin 1794 uo.
(von Meyer, dem Biographen Schroeders § 163, 19) hat man Heinse mit Unrecht aufge-
bürdet, ebenso einige Gredichte von Rost (§ 148, vor Anm. 78) welche noch in Heinses
sämtliche Schriften, hg. von H. Laube, Leipzig 1838, X, aufgencmmen wurden. 87) Be-
gebenheiten des Enkolp, II, Rom (Schwabach) 1773 nö. 88) Über die 'Büchse' s.
486 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVIII JATHIH. § 160
1774 einen Roman Laidion oder die cleusinischen Geheimnisse' erscheinen
mit angehängten Ottavorimcn, deren Kunst von Goethe bewundert wurde,
wfehrend Wieland den allzu siunlicii freien Inhalt herb tadelte. J. G. Ja-
cubi entführte damals Heinse als Mitarbeiter seiner Iris' nach Düsseldorf.
Hier gewann er durch ebenso begeisterte als anschauliche Beschreibungen
der Düsseldorfer Gemaddegallerie*'-' ein neues Gebiet der Kunstachriftstellerei,
in welcher er namentlich die Landschaftsmalerei gegen Winckelmann und
Lessing zur Geltung brachte. 1780—83 verweilte er in Italien, mit Maler
Müller und Klinger befreundet und mit der Vollendung der schon früher
begonnenen Prosaübersetzungen des Tasso und seines Lieblings Ariost be-
schäftigt.'*' Wie er in seinen Reisebriefen die Naturschoeuhciten der Schweiz
und Italiens mit glühenden Farben gemalt,"' so verwertete er seme Kenntnis
der italienischen Kunst in seinen Romanen und gefiel damit namentlich am
kurmainzischen Hof, dem er seit 1787 bis an seinen Tod zu Aschaffenburg
1808 als Vorleser und Bibliothekar angehcerte. In 'Ardinghello und die
glückseligen Insehr, II, Lemgo 1787 uö. stellte er die Malerei dar, in Hil-
degard von Hohenthar, Berlin 1795 — 96, III, die Musik: in dieser Kunst
war er selbst ebenso Meister wie im Schachspiel, das er in Anastasia', Frank-
furt 1803, geistreich besprach. Weniger Lob erwarb ihm die Composition
dieser Kunstromane: üppige Scenen, die im freien Leben und Lieben grie-
chischer Seeraeuber ■*'^ gipfeln, verherrlichen die Kjaft, welcher alles erlaubt ist.
§ 160.
Über die Dichtergenossen des Sturmes und Dranges erhob sich Goethe: '
er leistete was jene zu leisten wünschten,- er ward ihr Vorbild, vielfach ihi-e
Stütze, bis er weiter schreitend sich von ihnen trennen musste. Seine Bahn
führte ihn dann aber auch auf den Gipfel der neueren deutschen Dichtung,
ja der deutschen Dichtung überhaupt und an einen der Hoehepuncte der
Dichtung aller Zeiten und aller Völker. Und nicht nur die Dichtung , die
§ 150, 18. 155, 42. 89) Jetzt in München. 90) 'Das befreyte Jerusalem' erschien
zu Mannheim 1781, Roland der wütende' Hannover 1782 — 83. 91) Vgl. die Characte-
ristili Heinses von K(Enii( Ludwig LB. 3. 1507. 92) Dieser Schluss des Ardinghello
ist übrigens von Rousseaus Emil beeinflusst.
§ 160. 1) Als bibliographisches Hilfsmittel dient besonders: 'Saloraon Hirzels Verzeichnis
einer Grethebibliothek mit Nachtrsegen und Fortsetzung' hg. v. Ludwig Hirzel, Leipzig 1884.
Weitere Beiträge und Nachtraege von G. v. Loeper und W. v. Biedermann in Schuorrs
An-hiv 5 — 15; von L. Geiger in dem G(Pthejahrbuch 1 fgg. (188U fgg.) 2) Worte
Go-thes über Raphael : Tagebuch der Ital. Reise, Weimarer Ausgabe 111 1 S. 3().^.
§ IGO GCETHE. 487
Ergebnisse fast des gesamten geistigen Lebens vor und in seiner Zeit nahm
er in sich auf, mit einer Fassungskraft und einem Aneignuugsvermoegen, wo-
für die Weltgeschichte wenige Beispiele bietet. Freilich ward dies nur da-
durch moeglich, dass ihm eine ungewoehnlich lange Lebenszeit beschieden
war und dass das Glück ihn von Anfang an bis zuletzt wunderbar be-
günstigte.^
Gerade darin aber lag die dichterische Bedeutung Goethes dass er in
seiner Dichtung rein abspiegelte, was sein glückliches, reiches Leben ihm
darbot, dass er die Wirkhchkeit auf das tiefste durchschauend, die in ihr
liegende Poesie auf das lebhafteste empfand und in vollendeter Gestaltung
wiederum darstellte, darin also dass er seinen Werken die stärkste Objek-
tivitset verlieh. Indem er den Blick auf das Menschliche überhaupt richtete,
zunaechst aber die ihn umgebende deutsche Volksnatur in deutscher Sprache
zum Ausdruck brachte, ward er unser groesster deutscher Dichter : ohne ihn,
sagt Jacob Grimm,* könnten wir uns nicht einmal recht als Deutsche fühlen.
Und ein glückliches Geschick verband ihn auf dem Hoehepuucte seines Le-
bens, noch in voller Schaffenskraft und doch bereits der ungestoerten Betrach-
tung ftehig und geneigt, mit dem jüngeren Dichter, der ihn noch zu ergänzen
vermochte: mit Schiller vereint bezeichnet sein Name eine Stufe unserer Bil-
dung, welche die Folgezeit nur immer wieder sich vor Augen zu stellen und
nachtrachteud zu erreichen hat suchen können.
Schiller war nicht der emzige Dichter, mit welchem Goethe in perscen-
licher Verbindung stand: nur wenige der hervorragenden Zeitgenossen, unter
ihnen allerdings Lessing, lernte er nicht selbst kennen. So mancher gleich-
zeitige Schriftsteller empfing nur durch die Berührung mit Goethe seine
litterarhistorische Bedeutung. Ausserdem sind zahlreiche Personen eben des-
halb und nur deshalb wichtig geworden dass sie auf Goethe einwirkten
und in seinen Werken Erwsehnung oder dichterische Verwendung fanden.
Denn selbst seine groesseren Dichtungen sind vielfach durch seine Lebens-
3) Goethes Leben bis 177.5 von ihm selbst beschrieben s. Anm. 98. Vollständige Biographien
von H. Viehotf'. Stuttgart 1847— .54 uö. J. AV. Scha-fer. Bremen 1851 iiö. G. H. Lewes
The lit'e and the works of G., London 18.55 uö. übersetzt von J. Frese, Berlin 1857. 58 uö.
A. Mezieres, W. Goethe. Paris 1872. 73, IL K. Goedeke, Goethes Leben und Schriften,
Stuttgart 1874. ^77. H. Grimm, Vorlesungen über GfPthe, Berlin 1876, *87. H. Düntzer,
Goethes Leben, Leipzig 1880. ^83. — H. RoUett, die Gffithebildnisse. Wien 1883. F. Zarnrke,
Kurzgelasstes Verzeichniss der Originalauf'nahmen von Goethes Bildnissen. Leipzig 1888
(Abh. d. Sachs. Ges. d. Wiss. XI, 1). 4) Vorwort zu der Geschichte der deutschen
488 NEUiroCIinElJTSCHE ZEIT. XVIir JAlIUir. § 1(>0
ortUhruiigon hotliiif^t und liiibcn ihm dazu {gedient sich von übormäc-htigen Htiin-
nmngen dadureli tVci /u nmchen, tiass er sie aussprach und künstlerisch fjc-
staltete. Gopthcs Dichtung und sein Lel)en stehen in einem so innigen Zu-
sammenhang dass die Geschichte s(Mner Werke"* sich an die Entwickelungs-
stufen seines Lebens anschliesscn muas.
Drei Abschnitte dieses Lebensganges lassen sich unterscheiden, jeder
wieder in zwei Unterabteilungen zerlegbar: seine Jugend, zunächst bis zur
Übersiedelung nach Weimar 1775,'" dann bis zur Rückkehr aus Italien 1788;
sein M;innosalter bis zur Bekanntschuft mit Schiller 1794 und wieder bis zu
dessen Tod 1805; seine Greisenjahre bis zum Freiheitskriege 1813 und von
hier ab bis an seinen Tod 1882.
Johann Wolfcjan« von G(ethe war geboren am 28. August 1749 zu
Frankfurt, als 8ohn eines kaiserlichen Rates, als Enkel des StJidtschultheissen
Textor. Mehr als der etwas steife Vater gewann die naive, heitere, auch
für die litterarischen Freundschaften^ ihres Sohnes begeisterte und tha3tige
Mutter Katharina Elisabeth^ (1731 — 1808) seine dauernde Liebe. Grossen-
teils im Hause erzogen, zusammen mit der jüngeren Schwester Cornelia, der
spseteren Gattin Schlossers, liess er doch die altertümliche, zu Zeiten sehr
belebte Vaterstadt stark auf sich einwirken: er erlebte die Besetzung Frank-
Sprarbc. 5) 'ficrthens Si-hriften* wurden zuerst von einem Nar-hdrucker, Himhurt:^ in
Berlin gesammelt, 1775 — 79, IV: ein Nachdruck, den Goethe selbst spjeter seinen eigenen
Ausgaben mehrfaeh zu Grunde legte: sodann von Schmieder in Karlsruhe u. a. Die erste
rechtmsessige iSammlung erschien Leipzig 1787—90, VIII; 'Neue Schritten", Berlin 1792 bis
18(X), VII. '(iopthes Werke', Tübingen 1806—10, XIII; Stuttgart u. Tübingen 1815—1!», XX;
'Gcpthes Werke, vollständige Ausgabe letzter Hand', ebd. 1827—30, XL: 'Nachgelassene
Werke' ebd. 1832— ,34. XV; zu dieser Ausg. in 16" kam eine in 8" hinzu: 1827—1842, LX.
Seitdem zahlreiche Ausgaben. Abschliessende Textbehandluncr in der zu Weimar seit 1877
'im Auftrage der Grossherzogin Sophie von Sachsen' und mit Benutzung des ihr 1885 von
GfPthes letztem Enkel Walther von Gcethe vermachten Goethearchivs besorgten Ausgabe,
I Abteilung: Werke; II Abt. Gfcthcs Naturwissenschaftliche Schriften: III Abt. Goethes
Tagebücher: IV Abt. Goethes Briefe. Ein Verzeichnis der Briefe Goethes von F. Strehikc.
Berlin 1881, II. Goethes Gesprseche hat W. v. Biedermann. Leipzig 1889—91, IX, gesam-
melt. 6) Seine Briefe und Dichtungen 1764 — 76 fasst zusammen Der junge Goethe",
mit einer Einleitung von M. Bcrnavs. Leipzig 1875, III. Vgl. dazu W. Scherer, Aus Goethes
Frühzeit. QF. 34, Strassburg 1«79. J. Minor u. A. Sauer, Studien zur Goethephilologie,
Wien 1880. 7) Nach der Mutter der Hairaonskinder wurde sie 'Frau Aja' genannt:
das <T(ethische Haus hiess wegen der vielen Besuche die casa sanUi (zu Bethlehem).
8) Briefe von (icptbes Mutter an die Herzogin Anna Amalia' als I. Band der 'Schriften
der Goptbegeseliscliafl". Weimar 1885; Briefe an ihren Sohn, Christiane u. August v. G(jethe.
§ IGÜ GCETHES JUGEND. 489
furts durch die Franzosen 1759, wobei er auch das franzccsischc Theater
kennen lernte, und die Kncnung Joseph II zum roemischen Koenige ^ 176-1.
Dann begab er sich um die Rechte zu studieren im Herbst 1765 auf
die Universitfet Leipzig, wo er noch Gottsched sah , Geliert beerte und bei
Oeser, dem Freunde Winckelmanns, zeichnete. '° Hatte er schon in Frank-
furt gedichtet," so fand er in der Leipziger Geselligkeit Anlass zu spielen-
den, aber bereits formvollendeten Liedern zum Teil nach franzcesischem
Muster, welche 1769 mit den Melodien gedruckt wurden. '^ Gleichzeitig ver-
fasste er dramatische Versuche in Alexandrinern: 'die Laune des Verliebten,
ein SchseferspielV^ für Kätchen Schoenkopf gedichtet, die muntere Tochter
seines Speisewirts in Leipzig,'* die er mit seiner Eifersucht plagte; und die
MitschuldigeuV^ worin sich eine bedenkliche Kenntnis der Unsittlichkeit bür-
gerlicher Kreise '^ kundgibt. Mit zerrütteter Gesundheit kehrte er im Herbst
1768 in das Vaterhaus zurück, wo er waehrend der langwierigen Heilung
sich den frommen Mahnungen der herrenhutisch gesinnten Fraeulein von
Klettenberg '^ hingab. '^
Erst Ostern 1770 konnte er seine Studien fortsetzen. In Strassburg,
wo er die Universitset besuchte, gewann er die jugendliche Kraft wieder, die
seitdem seiner rastlosen und vielseitigen Thaetigkeit genügte. Er besuchte
neben den juristischen auch die medicinischen Vorlesungen; er studierte den
Münsterbau, worüber er bald nachher eine begeisterte Schrift 'Von deutscher
Baukunst' veröffentlichte.'^ Die franzoesische Kultur trat zurück, die deutsche
Biederkeit der Elsässer lernte er in dem Kreis des Actuarius Salzmann'-"
3. Bd., W. 1889. Vgl. auch K. Heinemann, Goethes Mutter, Leipzig 1891. 9) LB. 3,
609 fgg. 10) Briefe aus Leipzig: Goethejahrh. VII, 5 t'gg. 11) Erhalten ist:
'Poetische Gedanken über die Höllenfahrt Jesu Christi', 1765. 12) Neue Lieder in
Melodien gesetzt von B. Th. Breitkopf', Leipzig 1770. 13) Gedruckt erst in den Wer-
ken 1806. 14) 0. Jahn, Goethes Briefe an Leipziger Freunde, Lpz. 1849. 15) Leipzig
1787. 16) Vielleicht liegt dem Gegenstand die Gretchenepisode zu Grunde . die er im
Sommer 1764 noch in Frankfurt erlebt hatte. S. Wahrheit u. Dichtung V. Buch, und
Scherer, Aufsätze über Goethe, Berlin 1886, S. 29 fgg. 17) Reliquien der Fräulein
Susanna Katharina von Klettenberg nebst Erlceuterungen hg. v. J. M. Lappenberg, Ham-
burg 1849. Sie ist 'die schöne Seele' im Wilhelm Meister. 18) Aus dieser und der
Strassburger Zeit stammen auch die Ephemerides, s. Seutferts D. Lit.-denkm. 14. Heilbronn
1883. 19) Sie erschien in Herders Samml. 'Von deutscher Art und Kunst' 1773 (§ 157, 32;
Lit.-denkm.. 40. 41), LB. .3, 545. Hier S. 551, 15 Goethes damaliges Kunstprincip: die 'characte.
ristische Kunst ist die einzig wahre". 20) Salzmanns 'Kurze Abhandlungen über einige
wichtige Gegenstände aus der Eeligionslehre' erschienen Frankfurt 1776, durch GtPthe be-
sorgt, wie er auch Jung-Stillings Jugendgeschichte in den Druck gegeben hatte (§ 159, 68).
400 NEUirOCHDEUTSCIIE ZEIT. XVIII JAIIRII. § 100
lieben. Herders Lehre, der er sich trotz ihres lierben Ausdrucks willig un-
terordnete, wies ihn auf die enpjlische Tiittciatur, auf das Volkslied hin: für
Herder sammelte er elsässisdie Volkslieder.'-' Der Erfolg dieser Unter-
weisung ward sofort an den erst tändelnden, dann leidenschaftlichen Liedern
ottcnbar, welche Goethe seit Herbst 1770 an Friederike Urion, die Tochter
«les Pfarrers zu Öescnheim -- richtete. So tief aber auch ihn diese Liebe er-
fasste, früh fühlte er ihre Aussichtslosigkeit. Kach der Piomotion zum Li-
centiatcn am (>. August 1771 kehrte er nach Frankfurt 7Airück.
Hier blieb er bis in den Herbst 1775, abgesehen von einem Aufenthalt
in Wetzlar,-^ wo er vom Mai bis September 1772 am Reichskamraergericht
arbeitete, und abgesehen von zahlreichen Ausflügen, die ihn schon vorher
nach Darmstadt und von Wetzlar aus nach Giessen , im Herbst 1772 nach
Elirenbreitstein zu Frau von La Roche-' führten, abgesehen ferner von der
Rheinreise mit Lavater-' und Basedow zu Jung und Jacobi-'* im Juli 1774
und der Schweizerreise-" mit den Brüdern Stolberg von Mitte Mai bis An-
fang Juli 1775. Seine Sachwaltergeschäfte betrieb er inzwischen mit Hilfe
des Vaters -'■*: sie Hessen ihm Müsse genug zur lebhaftesten und mannigfal-
tigsten schriftstellerischen,-'-' künstlerischen und geselligen Tha3tigkeit. In
Frankfurt sammelte sich ein Kreis gleichstrebeiider Jugeudgenossen um ihn;
Besuche von allen Seiten, auch fürstliche Personen stellten sich bei ihm ein:
unter den Dichtern selbst Klopstock auf dem Weg nach Karlsruhe im Herbst
1774 und auf der Rückreise im März 1775. Maedchen und Frauen kamen
dem schoenen und hinreissend liebenswürdigen Jüngling entgegen^". Zu Ostern
1775 verlobte er sich mit der reizenden und characterfesten Elisabeth Schcene-
mann,*' sah aber diese Verbindung, die einzige, welche ihn wohl dauernd
21) S. die Ausgabe der Ephemerides Anm. 18. 22) Das 'Sesenheimer Idyll': so ist
diese in Wahrheit und Dichtung wundervoll geschilderte Liebesgeschichte zuerst von August
Stoeber genannt worden, s. § 159. -8. Das Thatsächliche hat am besten Phil. Ferd. Lucius,
Friederike Brion von fSessenheiiu . .Strassburg 1877, erörtert. 23) U'. Herbst. 'Goethe
in Wetzlar 1772', (jotha 1881. 24) Briefe GtBthes an Sophie von la Roche und Bettina
Brentano hg. von G. v. Lcpper, Berlin 1879. 25) 'Goethes Anteil an Lavaters Phy-
siognomischen Fragmenten' von E. von der Hellen, Frankfurt a. M. 1888. 26) § 159, 78.
Vgl. auch Briefe von Ga»the an Johanna Fahlmer, hg. v. L. ürlichs, Leipzig 1875.
27) Vgl. bes. L. Hirzel, (iipthes Beziehungen zu Zürich. Leipzig (,und Zürich) 1888.
28) G. L. Kriegk, Deutsche Ivulturbilder, Lpz. 1874, Anhang S. 263—517. 29) Auch
an den 'Frankfurter gelehrten Anzeigen' des J. 1772 beteiligte er sich lebhaft: § 159, 73-
30) Auch die Schwester des Grafen Stolberg trat mit Goethe in den innigsten Gedanken-
austausch, ohne ihn je selbst zu sehen: Gcsthes Briefe an die Graetin Auguste zu Stolberg,
L|>z. 18:'>9. -'1881 ^mit Anm. von W. Arndt). 31) 17.J8— 1817; 1778 verheiratet mit.
§ 160 G(ETirES JUGENDDICHTUNG. 491
glücklich hätte machen können, durch die Abneigung der Verwandten auf
beiden Seiten sich mehr und mehr lockern, bis der Herbst sie völlig loßste.
Diesem Verhältnisse vor allen entquollen die seelenvollsten Lieder: durfte
Goethe doch von seiner Lyrik besonders sagen dass er nur gedichtet habe
was er fühlte, dass seine Lieder durchaus Gelegenheitspoesie seien. Sangbar
und von Lili selbst gesungen stehen diese Lieder mehr kunstmaesslg neben
den volkstümlichen Balladen ^"^ und neben den Hymnen, welche in freien
kurzen Versen nach Klopstocks und teilweise auch Pindars Vorbild begeistert
aussprechen, wie den Wanderer die Natur, den Künstler die Kunst -'^ ent-
zückte und vor allem wie der trotzige Jüngling auch dem übermächtigen
Schicksal gegenüber seine Freiheit und Kraft fühlte. Die Hymnen dieser
letzten Art, Prometheus und Mahomet,^^ sind Stücke aus unvollendeten
Dramen; von anderen damals geplanten, Sokrates und Caesar, sind nur wenige
Worte erhalten. Dagegen führte Goethe gleich nach der Rückkehr nach
Frankfurt 1771 das Drama aus, welches ihn sofort in ganz Deutschland als
einen der ersten Dichter erscheinen liess, 'Die Geschichte Gottfriedens von
Berlichingen mit der eisernen Hand dramatisiert' nach der 1731 gedruckten
eigenen Lebensbeschreibung des alten Ritters :^^ von der erstaunhchsten Natur-
wahrheit in der Zeichnung vor allem der naiven Charactere und, wie es da-
mals schien, auch geschichthch treu, in Wirklichkeit aber gefärbt^'' durch
die in Herder, Moeser, Schlosser hervorbrechende Vorliebe der Zeit für ein-
fache und ursprüngliche Zustände. In der Form aber war Goethe noch über
das Vorbild des von ihm lebenslang verehrten Shakespeare^^ hinausgegangen :
so zerstückelt konnte das Drama nicht zur Aufführung gelangen. Auf Her-
ders Mahnung arbeitete Goethe es daher um, drängte zusammen und verband,
beseitigte allzu Kühnes und liess 1773 sein Schauspiel Götz von Berlichingen
mit der eisernen Hand' im Selbstverlag erscheinen. Für die späteren Auf-
führungen gestaltete er es noch mehrmals um, nicht immer mit Glück. ^'^ Un-
veröffentlicht blieb dagegen die Urgestalt des zweiten Hauptdramas aus
dem Strassburger B. F. von Türckheim. Vgl. Lillis Bild von Graf F. E. von Diirckheim,
Nördliugen 1879. Sie uauute spteter Goethe den .Schöpfer ihrer inuraliseheu Existenz, wozu
G(üthes Worte (Sulpiz Boisseree , 1862 1, 28«) stimmen. 32) LB. 2. 1089 fgg.
33) Künstlers Morgenlied und Abendlied (dies gereimt). Kenner und Künstler. 34) LB. 2,
1Ü98. 35) § 108, 38. 36) So entbehrt namentlich die Auflassung Luthers als
Bruder Martin der Tiefe und Richtigkeit: LB. 8, 553 iss- 37) Eine begeisterte Rede
(rij^thes zu Shakespeares Geburtstag 1771. s. D. junge G. 2. 39 fgg. Shakespeare und kein
Ende' (zuerst im Morgenblatt 1815) LB. 3, 673. 38) Paralleltexte in 'Goethes G. v. B.
492 NEiniOnirnEUTSCIIE ZEIT. XYITI. JAIirur. § 100
Oflpthes Sturm- und Diangzeit, aeines Faust. Sic nnthielt, ausser den Bo-
schwau'uugssecnon und dem Studoutonspass in Auerbaclis Keller vor allem
die ent/Äickeude, erschütternde Gretclientragüßdic.''' Dagegen zeigte sich
(icvthe auch der leichteren Aufgabe gewachsen ein bürgerliches Trauerspiel
für die Bühne zu gestalten: sein Olavigo'', Leipzig 1774, dramatisierte ein
Stück der Memoiren des noch lebenden Beaumarchais.*" Von der Wieder-
holung einer solchen rasch hingeworfenen Leistung schreckte ihn Mercks
scliarfe Mahnung ab. Dem eigenen Herzen entsprang seine Stella, ein
Schauspiel für Liebende', Berlin 1776, worin die Doppelehe des Grafen von
Gleichen als Rettung aus einem Verliältnisse erscheint, welches mit Zügen aus
der unmittelbarsten Gegenwart und Wirklichkeit ausgestattet ist : das Ärgernis
dieses Ausgangs suchte er später*' durch Selbstmord des Doppcltvermsehlten
zu sühnen. Jjeichte Singspiele wie Erwin und Elmire',*^ 'Claudine von
Yillabella' * ' haben ebenso die offenste Darlegung weiblichen Fühlens und
Thuns zum Hauptgegenstand. Noch einen Ton tiefer griff Goethe in den
satirischen, oft sehr derben Lustspielen, mit denen er die empfindsame Schcen-
fiirberei hier, die grobe Naturschwärmerei dort mit beissendem Witze be-
kämpfte:** jenes im 'Schoenbartspiel: Jahrmarktsfest zu Plundersweilen' und
im 'Fastuaciitspiel: Vom Pater Brey',*'^ vor allem aber in der 'Farce: Götter,
Holden und Wieland', Leipzig 1774, worin er Wielands Selbstlob seiner ge-
fühlvollen Alceste der des Euripides gegenüber lächerlich machte; dies in
'Satyros oder der vergötterte Waldteufel',*'' womit doch wohl hauptsächlich
Basedows Übertreibung Rousseauscher Ideen getroffen werden sollte. GcEthes
Satire war seine Zuflucht vor der übergewaltigen Unruhe, mit welcher sein
Treiben, sein Sehnen nach Vollendung ihn erfüllte. Wie schwer und trüb
dies Sehnen auf ihm lastete, wie schmerzlich er die Schranken empfand,
welche Herkommen und Übereinkommen in Sitte und Meinung und zuletzt
in dreifacher Gestalt', hg. v. .1. BaKchtold, Freibur^ i. B. u. Tübiugen 1882. 39) Diese
Urgestalt ward erst bekannt durch 'üunthes Faust in ursprünglicher (testalt nach der (xöch-
hausenschen Abschrift hg. v. Erich Schmidt", Weimar 1887. 40) S. bes. A. Bettelheim,
Beaumarchais. Eine Biographie. Frankfurt 1886. 41) Zuerst bei den Aufführungen
180(>. 42) Zuerst in der Umarbeitung nach der ital. Reise erschienen: Leipzig 1788.
43) Ein Schauspiel mit Gesang' Berlin 1776; umgearbeitet als 'Ein Singspiel' Leipzig 1788.
44) Nicht weniger scharf sind Gu'tlies Kecensionen in den Frankf. gel. Anz. (§ l;')!), 73).
45) Beide zuerst in 'Neueröönetes moralisch politisches Puppenspiel', Leipzig u. P^-ankfurt
1774. Pater Brey verspottet den Elsässer Franz Leuchseuring (geb. 1746 zu Langenkandel,
ge.^t. 1827 zu Paris), der als Vermittler der empfinflsamen Seelen damals, um ITSä in Berlin
als Aufspürer des Kryptokatholicismus eine gewisse Kolle spielte. 46) Zuerst in den
§ 160 GCETHE IN WEIMAR. 493
die ganze Wirklichkeit des Lebens seinem Wünschen und Streben entgegen-
setzten, sprach sein Roman mit hinreissender Beredtsamkeit aus: durch 'die
Leiden des jungen Werthers', Leipzig 1774,'*^ ward die trübe Stimmung der
Zeit*^ entzündet, wie durch ein schlagendes Wetter, und der Dichter mit
einem Male weltberühmt.^^ Allerdings knüpfte er, auch in der Briefform, an
Rousseaus Noiweüe Helo'ise 1759 an;^" aber er gab seiner Erzselilung die
unmittelbarste Wirklichkeit durch Einflechtung eigener Erlebnisse, teils aus
der Wetzlarer Zeit, wo er in Kestners Braut Lotte Buff sich verliebt hatte,'"'
teils aus der spaeteren, wo er in Frankfurt der an den Kaufmann Brentano
verheirateten MaKimiliane la Roche nahe stand, und durch Benutzung des
Berichts, den ihm Kestner über den Selbstmord des jungen Jerusalem''^ ge-
geben hatte. Auch Werther erfuhr spseter eine Erweiterung durch sorgfäl-
tiger motivierende Episoden. ^^
Aus den mehrfach unerquicklichen Verhältnissen in seiner Heimat folgte
Gcethe 1775 einer Einladung des jungen Herzogs Karl August^* nach Weimar,
wo er am 7. November eintraf. Zuneechst entzückte er den fürstlichen
Freund durch Teilnahme und Anleitung in den Äusserungen überschieumender
Jugendlust, zeigte sich aber mehr und mehr als treuer, einsichtsvoller Berater
auch bei den ernsten Regentenpflichten. ^^ Im Juni 1776 ward er zum Gre-
heimen Legationsrath ernannt, 1782 zum Kammerpreesidenten und gleichzeitig
geadelt. Bald waren die gehässigen Ausstreuungen der Hofleute und Beamten'''^
Werken 1817 erschienen. 47) LB. 3, 575 fgg. 48) Den Werther in der Tasche
ertränkte sich die nnglücklich liebende Frl. von Lassberg 1778 nahe bei Cxoethes tfarteu-
haus: darauf bezieht sich sein Lied 'An den Mond' LB. 2, 1080. 49) J. AV. Appell.
Werther und seine Zeit. 3. Aufl. Oldenburg 1882, verzeichnet die zahlreichen Übersetzungen,
Nachahmungen, Parodien in deu verschiedensten Sprachen. Besouders ärgerte sich Grcethe
über Nicolais cynische 'Freuden des jungen Werthers. Leideu uud Freuden Werthers des
Mannes', Berlin 1775. 50) Erich Schmidt, ßichardsou, Rousseau und (Tcjethe. Lpz. 1875.
51) A. Kestner, Uoethe und Werther. Stuttgart u. Tübingen 1854. 52) § 151, 52.
53) Zuerst Leipzig 1787. 54) Geb. 1757, gest. 1828 hatte Karl August bis 1775 unter
Vormundschaft seiner Mutter Anna Amalia gestanden. Briefwechsel des Grossherzogs Carl
August von Sachsen-Weiniar-Eisenach mit Gtjethe, II, Weimar 1863. Über die erste Be-
gegnung des Herzogs mit Gcjethe s. Anm. 66. 55) Die allmtehlige Umwandelung des
jungen Herzogs schildert G«thes Gedicht 'Ilmenau 1783'. Besouders hatte eine gemeinsame
Schweizerreise Ende 1779 dazu beigetragen. 56) Besonders feindlich war der frühere
Erzieher des Herzogs gegen Goethe gesinnt, Graf Görz. Von den hu-heren Beamten war'il
der Minister von Fritsch allmaihlich umgestimmt: s. C. v. Beaulieu - Marconnay , Anna
Amalia, Carl August uud der Minister von Fritsch, Weimar 1874. Über Gu'the als Staats-
und Geschäftsmann s. Ad. Scholl, Goethe in Hauptzügen seines Wirkens, Berlin 1882, 98—279.
4!M NEUlKHMIDKlTTSrilE ZEIT. XVIII. JAIIlill. i? 1(10
über don Eindrini^liiij^ vorstinntnt, dor sich auch den trockensten OeBchät'ten,
dorn Wo<j;obau, der llekruteniiuühehiinn; mit l'üiictliclikeit widmete und den
Hergbiiu in Ilmenau, wenn auch oline bleibenden Ertoli^, wieder erötint^te,
spu'ter auch ilen Aut'tra^i^en des Herzogs an anderen H(Jofen sich mit Ge-
wandtheit unterzog. In der Umgebung der turstUchen Frauen förderte
Charlotte von Stein ^' seine Dichtung tlurch innige und verstäntlnisvolle Teil-
nahme. Wieland war gleich bei (icethes Eintreffen von ihm bezaubert wor-
den; Herder, dessen Berufung 177(5 Goethe erwirkt liatte, stand ihm besonders
in den achtziger Jahren nahe, durch die Verehrung Spinozas''" mit ihm innig
verbunden. Dagegen führte der Besuch von Lenz und Klinger 177U nur
zum Bru(di, und Ivlopstock sagte ihm eben damals die Freundschaft auf, als
(icBthe den Vorwurf, er verführe den jungen Herzog, mit Entschiedenheit
zurückwies. Durch Klopstock wurde auch Fritz Stolberg bestimmt, die ihm
angebotene Kammerherrnstelle in Weimar nicht anzunehmen. Fritz Jacobi
wurde durch die mutwillige Verhoehnung seines Woldemar', welche Gcethe
1779 vor der Hofgesellschaft vornahm, tief gekränkt. Auch die da-
mals noch innige Freundschaft Gcethes mit Lavater lockerte sich: als Lavater
178t) nach Weimar kam, nahm ihn Goethe wohl bei sich auf, war ihm aber
schon innerlich entfremdet und blieb ihm auch seitdem fern.^'-*
In der Sorge für die RegierungspHichten wie für die Vergnügungen
des Hofes, in der stillen Hingabe besonders an naturwissenschaftliche Studien ""
gingen so dem Dichter über zehn Jahre vorüber, in denen er nur weniges
veröffentlichen konnte und nichts, was den Ruhm seiner Erstlingsarbeiten
57) 1742 — 1827. Gtinahlin des Oberstallnieisters: als tiipthe sie kenneu lernte, bereits
Mutter von sieben Kiuileru. Vgl. bes. Düntzer, l'h. v. St. Stuttgart 1874; ders. Ch. v. St.
und Corona Sehroeter, ebiL 187G. Goethes Briefe an Frau v. St., hg. v. Ad. SehöU, Weimar 1848.
51, III; 2. Aufl. ^bearbeitet von W. Fielitz) Frankfurt 1883.85, II. 58) W. Danzel,
Über GcHthes Spiuozismus. Hamburg 1843; B. Snphan , (i. u. Spinoza 1783 — 86, Berlin
1881. 5«)) .\uui. 25. Briete von Giethe an Lavater, hg. v. H. Hirzel. Leipzig 1833.
Goethe u. Lavater. Vortrag von B. Steck, Basel 1884. (JO) Ausser der Geologie be-
schäftigte ihn besonders die Anatomie (am 27. März 1784 fand er das os interma<cillare des
Menschen) uud Botanik: mit seinem 'V^ersuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären',
(Totha 17!)0. erött'nt'te er spseter seine Schriften zur Morphologie' 1817 — 24. Ist damit für
Darwins Lehre die Grundlage gegeben, so fanden weniger Beifall Goethes Beitrajge zur Optik',
Weimar 1791. 92 un<l seine Arbeiten 'Zur Farbenlehre'. Tübingen 1810 fgg. Vgl. Oskar
Schmidt, Goethes Verhältnis zu deu organischen Naturwissenschaften, Berliu 1853; H.
Helmholtz, Über Giethes naturwissenschaftliche Arbeiten, Wiss. Monatsschrift 1853; Ders.,
G(i*thes Vorahnungen kommender naturwissenschaftlicher Ideen, Berlin 1892; K. Virchow,
G. als Naturforscher, Berlin 1861; R. Steiner in Kürschners Xatiouallit. 114—116 ua.
§ 160 GOETHE IN WEIMAR. 495
auch nur entfernt hätte erneuern können. Unthsetig war er auch als Dichter
nicht: ausser Hymnen/*' welche die errungene Ruhe des Gemüts herrlich
offenbaren, ausser Liedern voll weicher Stimmung ''- und Liebesergüssen an
Frau von Stein ''-^ waehlte er zum Ausdruck seiner tiefsten Gedanken eine
epische Dichtung in Ottaverime, 'die Geheimnisse', worin sich Vertreter aller
Religionen zu Herders Humanittetsglauben vereinigen sollten. Da er nur ein
Bruchstück vollendete, stellte er die dafür bestimmte Zueignung' spseter der
ganzen Sammlung seiner Gedichte voraus. '^^ Wo er sich an die groessere
Menge wandte, gebrauchte er auch jetzt noch gern Ton und Yersart des
Hans Sachs, ^^ dessen 'Poetische Sendung' er 'nach einem alten Holzschnitt'
1776 pries. Zahlreiche grcessere und kleinere dramatische Dichtungen ver-
fasste er für das Hoftheater, welches nach dem Brand des Schauspielhauses
1774 — 1783 auf einen kleineren, meist aus Liebhabern*'*^ bestehenden Kreis
beschränkt war, an welchem er sich aber auch selbst ebenso wie der Herzog
beteiligte, wfehrend in den Frauenrollen die Schauspielerin Corona Schroeter
glänzte. 1776 entstand das Schauspiel 'die Geschwister', worin die schwe-
sterliche Liebe zu einem vermeinten Bruder dadurch beglückt wird, dass der
Geliebte sich zu erkennen gibt; gleichzeitig 'Lila', ein Feenspiel, welchem
in der Art von W^eisses komischen Opern einzelne gesungene Partien einge-
mischt waren; es folgten der Triumph der Empfindsamkeit', worin Goethe
auch über seine eigenen Werke spottete und sogar das ernste 'Monodrama:
Proserpina' zu diesem Zwecke einlegte; 'die Yoegel' nach Aristophanes, aber
mit besonderer Beziehung auf die gleichzeitige deutsche Litteratur, welche
auch 'Das Neueste von Plundersweilen' verspottete; ferner das Singspiel 'Jery und
61) LB. 2, 1100 fgg. 62) LB. 2, 1079. 63) Ihren Nameu versteckte er unter
der Form Lida. 64) LB. 2. 1124. 65) 'Legende' LB. 2, 1123. 66) Auch
als Dichter für das Liehhabertheater bethtetigten sich die Kammerherren von Einsiedel und
von Seckeudorf; Beispiele hei SchöU (Anm. öü) S. 495 fgg. Goethejahrhuch VII, 361 fgg.
Nur in lyrischen, meist antiken Formen anfänglich nach Ramlers, dann nach Herders und
Goethes Vorbild, dichtete Karl Ludwig von Knebel, geb. 1744 zu Wallerstein im Öttin-
gischeu, 1765 — 73 Offizier in Potsdam, 1774 — 80 (jouverneur des Prinzen Constantin, den
er ebenso wie seinen älteren Bruder Karl August im December 1774 auf einer Reise nach
Paris mit Goethe bekannt machte. Pensioniert, starb er in Jena 1834. Seine Übersetzung
des Properz erschien Leipzig 1798, die des Lucrez 1821. Vgl. Knebels litterarischer Naeh-
lass u. Briefwechsel, hg. v. Varnhagen und Mundt. Leipzig 1840, III; Briefwechsel zwischen
Goethe u. Knebel, Lpz. 1857, II: Düntzer, Briefe von Schillers Gattin an einen vertrauten
Freund. Lpz. 1856: Ders. Aus K's. Briefwechsel mit seiner Schwester. Jena 1858: Unge-
druckte Briefe aus Knebels Nachlass , Nürnberg 1858 , IL Fielitz, Aus Knebels Tage-
büchern : Schnorrs Arch. XIV. 403. Hugo von Knebel-Doeberitz, K. L. v. Knebel, Weimar
Wackernagel, Litter. Geschichte. II. -33
496 NEUIIOniDEUTSCHE ZEIT. XVIIT. .TATTTIIT. § 100
Ba'tely", oineErinnorun«; an ilie Schweizorreise 1779 (Anm. 55); 'die Fischerinn'
1782, worin der Erlkoenig" '" und andere Bailaden zur Einiage dienten; 1783
'Sclierz, List und Rache", im Stil der italienischen Arlekinkoma'die. Seine
reichen Theatererf'alirungen*'* fasste Goethe seit 1777 in dem Roman Wil-
lu'lm Meisters Lehrjahre' zusammen, Hess aber durch den Harfner und Mignon
TiiMie schmerzlicher Reue und unerfüllbarer Wünsche erklingen.*''
In einem Liede Mignons sprach Goethe seine eigene, immer heftiger
sich steigernde Sehnsucht nach Italien aus. Hier^° verweilte er vom Herbst
1781) bis in den Sommer 1788, fast ausschliesslich im Verkehr mit Künst-
lern, zumal iu Rom. In zahlreichen Briefen, die er speeter als Italienische
Reise' zusammenfasste," ' berichtete er über die Eindrücke von Land und
Ijeuten, über sein umfassendes Studium der bildenden Kunst und der Natur-
wissenschaft. Seine Gleichgiltigkeit gegen die christliche Kirche und ihre
Lehre ward zur Feindseligkeit angesichts der Reste antiker Groesse und
Schönheit. Seine bisherige Hoffnung, selbst als bildender Künstler etwas zu
leisten, gab er auf. Um so eifriger beschäftigte er sich mit der Vollendung
seiner zum Teil vor langer Zeit begonnenen Dichtungen. Iphigenie auf
Tauris", schon 1779 in freien Versen fertig gestellt und unter Mitwirkung
des Dichters selbst aufgeführt,'- ward nun in jambische Fünffüssler von
vollendetem Wohlklang umgesetzt." 'Egmont', worin seine eigene Jugend-
freudigkeit voll erbrauste, erhielt einen idealisierenden Abschluss.'* Torquato
189U. 67) LB. 2, 10i)0. ü8) Er benutzte aber auch besonders die Kenntnis von
ISchroeders Leben und Streben, welche ihm die Schauspielerin Karoline Schulze vermittelt
haben mag (§ 1(33. 19). 69) LB. 2, 1088. 1083. 70) Er brach am 3. Sept. 178«
von Karlsbad auf und kehrte am 2'2. Juni 1788 nach Weimar zurück. 71) Zuerst als
Aus meiuem Leben. Zweyter Abtheilung Erster u. Zweyter Theil', Tübingen 1816. Vorher
schon Einzelheiten : Das rcfmische Karneval', Berlin 1789 u. a. Vgl. besonders Chn. Schu-
chardt, Guethes Ital. Reise. Aufsätze und Aussprüche über bildende Kunst, Stuttgart 1862.
1863, 11. Die Tagebücher und Briefe (iuethes aus Italien au Frau v. Stein und Herder' sind
als 2. Band der Schriften der (TO'thegesellschaft, Weimar 1886 erschienen; sein spa?terer
Briefwechsel mit Freunden in Italien als 5. Band Zur Nachgeschichte der italienischen
Reise', W. 1890. 72) L>ie verschiedeneu Fassungen: LB. 2, 1117. Goethes Iphigenie
auf Tauris in vierfacher Gestalt hg. v. J. Baechtold, Freiburg i. B. ■'1888. Über die Be-
nutzung der iphigenie von El. Schlegel s. § 151, 53. Andere Beziehungen, insbesondere die
zu Gotters Iphigenie behandelt H. Morsch Vierteijsch. 4, 80 fgg. 73) Für eine Fort-
setzung: Iphigenie auf Delphos i^LB. 3, 595) entwarf Goi'the nur den Plan. Vgl. Scherer
Aufsätze über Goethe, wo auch über die von Gtjethe in Sicilien vorbereitete TragU'die
'Nausikaa' das Naehere. Ein um 1783 in Angrifl' genommenes Stück aus der thebanischeu
Sage, Elpeuiir'. kam nicht über die ersten Acte hinaus. 74) Schiller, in der AUg.
§ IGO GCETHES ITALIENISCHE REISE. 497
Tasso', ein hoeherer Werther, dessen dichterisches Traumleben im Kampfe
gegen die Wirklichkeit zu Grunde gehen muss, bot Gelegenheit den Wei-
marer Musenhof zu verherrlichen. Endlich nahm Gcethe auch die alten
Faustscenen wieder vor, vermehrte sie in Italien um die Hexenküche, brachte
das Ganze aber auch jetzt nicht über 'Faust, ein Fragment' hinaus. So er-
schienen diese Dramen, in denen sich Jugendkraft und männliche Reife
wunderbar vermsehlten, in der Sammlung seiner Schriften, Leipzig 1787 — 90.'^
Die Zeitgenossen aber, durch das lange Schweigen des Dichters seiner ent-
woehnt, in Vorurteilen aller Art befangen, wussten die herrlichen Gaben nicht
eben zu schätzen, wie Goethe mit Befremden und Missmut selbst bemerken
musste.
Dazu traten in derselben Zeit noch andere Gründe zu tiefer Verstim-
mung. Die Rückkehr aus Italien, wo er in vollster Freiheit, im Genuss der
herrlichsten Natur und Kunst gelebt, in die engen, dürftigen Verhältnisse
Deutschlands erfüllte ihn mit dem schmerzlichsten Gefühl der Entsagung:
und dies blieb ihm fortan, wenn auch sein fürsthcher Freund ihn von jeder
anderen Verpflichtung entband als der über die Landesanstalten für Kunst
und Wissenschaft die Oberaufsicht zu führen. Auch die ihm gewsehrte Ge-
legenheit der Herzogin Mutter bei ihrer Rückkehr aus Italien 1790 bis Venedig
entgegen zu gehen, beschwichtigte nur das Sehnen nach dem Süden, ohne den
Wunsch aus seinem Herzen zu tilgen. Haeusliche Verhältnisse kamen hinzu: der
Dichter nahm im Sommer 1788 Christiane Vulpius, ein anmutiges, munteres,
ihm völlig ergebenes Msedchen'^ zu sich auf; aber seine Hoffnung nun auch
wie bisher an Frau von Stein seine Muse zu finden, ward völlig getseuscht.''''
Er empfand diesen Verlust tief; doch gewann er als Dichter an seinem neuen
und dauernden Liebesbund einen reichen Gegenstand, den er mit Recht in
antike Formen kleidete : die 'rcemischen Elegien" erneuen die Dichtweise
und die Lebensanschauung von Properz und Tibull.''^ Den Unmut des
Litt. Zeit. 1788, tadelte diesen als 'opernhaft' und bearbeitete das Stück, nicht eben glück-
lich, für die Weimarer Bühne: hg. von Diezniann, Stuttgart u. Augsburg 1857. 75) Auch
einzeln: Iphigenie, auf Tauris 1787. Egraont 1788. Torquato Tasso 1790. Faust, Ein
Fragment 1790; Neudruck des letztgenannten in SeufFerts Lit.-denkm. 5, Heilbronn 1882.
76) Ihre Bildungsstufe und Sinnesart zeigen die 'Briefe von Gcj-thes Frau an Nicolaus
Meyer", Strassburg 1887. 77) Ihre spa;tere Gesinnung gegen Groethe legte sie in ihr
Trauerspiel 'Dido': hg. v. üüntzer, FranWurt a. M. 18G7. 78) LB. 2, 1127. Noch
mehr lassen Der neue Pausias und sein Blumeumaedchen', 'Amyntas' und 'Gefunden'. LB.
4Jm NElUlocirDKrTSCIlK /KIT. XYIII J.VIIIill. § IIJO
DiclUors ülicr dio Abwendung der feineren Gosellachsift sprechen seine 'Vene-
tianisciie Epignimme' aus.''^
Hier aber spielte sclion ein weiterer Oej^onsat/ mit, in welchen ersieh
zu den /eitereigniasen setzte. Die IVanzd'sischt^ Revohition seit 17S9 erfüllte
ihn von Ant'ung an mit dem ti(»fsten Widerwillen. Hatte er doch in der
ITeimatstadt die republieanischc l^eschränkung empfunden, unter Karl August
sich die Überzeugung, dass die Alleinherrschaft eines edlen und tüchtigen
Fürsten die beste Staatsform sei, immer fester eingcpnegt. Die allgemeine
Begeisterung für die Herstellung der Menschenrechte Hess ihn kalt, er sali
nur die kleinen und trüben Beweggründe der Einzelnen. So suchte er auch
dramatisch zuerst das Vorspiel der Revolution, den llalsbandprozess Caghostros
im Grosscophta' 1790 ins lächerliche zu ziehen, dann im 'Bürgergeneral'
1793 die Fürsprecher der Revolution in Deutschland zu verspotten. Seinen
Herzog, der im preussischen Heere am Kriege gegen Frankreich Teil nahm,
begleitete er 1790 ins Lager nach Schlesien, 1792 in die Champagne und
179.'i zur Belagerung von Mainz und gab über seine Erlebnisse in den
beiden Feldzügen anschauliche Berichte/" Als aber die Bewegung weiter
und weiter um sich griff', als das Gemeine ihm zu siegen schien, erftisste er
das alte Zerrbild des Weltregimonts, die mittelalterliche Tiersage, und dich-
tete 1794, mit Benutzung von Gottscheds Prosa (§ 148, 41), 'Reineke Fuchs'
in Hexametern, mit treff'licher, nur noch zuspitzender Wiedergabe des launig
spottenden Urbildes.
Aus der Yerstimmung, der Vereinzelung trat Goethe heraus durch seine
Freundschaft mit Schiller. Als er diesen bald nach der Rückkehr aus Italien
kennen gelernt, war ihm in dessen Jugend dichtungen, vor allem in den Raeu-
bern die von ihm selbst überwundene Richtung des Sturmes und Dranges
nur noch gesteigert und durch die Beimischung politischer Ideen doppelt
widerwärtig entgegen getreten. Er halte dann für Schillers Ernennung zum
Professor in Jena gewirkt. Aber erst die Begründung der 'Horen'^' durch
Schiller 1794 führte beide Dichter nseher zusammen'^- und einer der ersten
Briefe Schillers '^^ bezeugte sein völliges Verständnis für Goethes Eigenart und
2. 1084, GüPthes innige Zuneigung erkennen. 79) LB. 2, 1139. 80) 'Aus meinem
Leben. Zweyter Abtheiluug fünfter Theil.' Stuttg. u. Tüb. 1822. 81) In den Hören
I und VI erschienen Gcntlies Episteln und Elegien. 82) Die entscheidende Begegnung
fand in einer Sitzung der naturforschenden Gesellschaft im Juli 1794 statt. 83) Seinen
Briefwechsel mit Schiller, einen wahren Schatz von wertvollen Urteilen und Untersuchungen,
hat Gu'the selbst herausgegeben: Sfnitg. u. Tüb. 1828-30, VI; in den spateren Ausgaben
§ 160 GCETHES VERBINDUNG MIT HCHILLER. 499
Groesse. Sie verbanden sich, um fortan gemeinsam ihre auf das Ilcechste
in der Kunst gericliteten, durch das Muster der Antike bestimmten Bestre-
bungen gegen die Stumpfheit der Zeitgenossen, gegen die Anmassung der
zurückgebliebenen Schriftsteller durchzusetzen. Über diese hielten sie ein
wahres Strafgericht in den Xenien', welche sie im Winter 1795 auf 96 ge-
meinsam dichteten und ohne Unterscheidung ihrer Verfasserschaft in Schillers
Musenalmanach 1796 veröffentlichten.'*''
In eben diesem Jahre aber, zeigte sich Goethe als Meister in der naiven
Nachahmung griecliischer Dichtung, die er mit deutschem Leben erfüllte, in
der Idylle nach dem Vorgang von J. H. Voss, nur mit Beziehung auf die
grossen Vorgänge der Zeit/^^ 'Hermann und Dorothea'*'^ erzsehlt eine rüh-
rende Begebenheit, welche bei der Aufnahme der 1731 wegen ihres Glaubens
vertriebenen Salzburger in Thüringen**' sich ereignet hatte, aber übertragen
auf Flüchtlinge, die der franzoesische Revolutionskrieg über den Rhein ge-
scheucht hatte. Zierlicher noch, aber mit den Farben der südlichen Natur
hatte Goethe vorher schon in Alexis und Dora' raschgewonnenes Liebesglück
gemalt. Und noch genauer suchte er den Anschluss an das griechische Epos,
indem er mit seiner 'Achilleis' 1799 die Ilias fortzusetzen unternahm, aber
freilich nur ein Bruchstück fertig stellte.'*** Neben den antiken Formen
pflegte er indessen auch die neueren: im Wetteifer mit Schiller dichtete er
1797 gedankenreiche Balladen ^'-^ ; mehrere erzsehlende Liebeslieder, "Der Edel-
knabe und die Müllerin' u. a. entstanden gleichfalls 1797, auf einer Reise,
die nach Italien führen sollte, aber wegen der Kriegsunruhen schon in der
Schweiz^" ihr Ziel fand. Gleichzeitig nahm Goethe den Faust wieder vor,
fügte vorn 'Zueignung', 'Prolog im Himmel' und 'Vorspiel auf dem Theater'
an und führte zumal die Scenen des Ostertages weiter aus:^' so erschien
(1856, 1870, 1881) sind die damals lückenhaft gelassenen Stellen ergänzt. 84) Schillers
und Goethes Xenienmanuscript, znm ersten Mal bekannt gemacht von Ed. Boas u. hg. v.
W. V. Maltzahn, Berlin 1856. 85) Das Verhältnis zu den Roemischen Elegien setzt die
Elegie 'Hermann und Dorothea' auseinander: LB. 2. 1130: sie bezieht sich auf die Homer-
kritik von F. A. Wolf. Vgl. auch Gcethes Briefe an F. A. Wolf, hg. v. M. Bernays,
Berlin 1868. 86) LB. 2, 1149 fgg. 87) Das liebthsetige Gera gegen die Salzbur-
gischen Emigranten', Leipzig 1732. 88) Dei- Ernst und die Kraft der Sprache erinnern
mehr an Vergil. 89) 'Die Braut von Korinth', 'Der Zauberlehrling', 'der Schatzgrteber',
(diese beiden LB. 2, 1093), 'der (jott und die Bajadere'. 90) Hier auch beklagte
Goethe den frühen Tod der von ihm ausgebildeten Schauspielerin Caroline Becker - Xeu-
mann in 'Euphrosyne' LB. 2, 1132. Die Vorstudieu zu dem damals geplanten epischen
Gedicht von Wilhelm Teil kamen dem Drama Schillers zu Gute. 91) LB. 2. 1105 fgg.
500 NEUHOCnDKrTSCIIE ZEIT. XVIII JAIIKII. § 100
dieser ri-ste Teil als Faust, Traga^die' /iierst Stuttgart 1808. Auch den
zweiten Teil nahm er jetzt in Angiift' und feierte in Helena' die Vcrnifeh-
lung der classischen Poesie mit der neueren mit majestfptischer Nachbildung
griechischer Formen. Das erste Htück einer trjigischen Trilogie, deren Stoff
der Ivevolutionsgeschichte entnommen war,'- vcröffentliciite er 1803 als Natür-
liche Tochter', setzte es aber nicht fort , da seine N^eigung zur abgezogenen,
symbolischen Darstellung keinen Beifall fand. Seinem Herzoge zu Gefallen
übersetzte er Voltaires Mahomet und Taiicrod'" für die Weimarer Bühne.
Selbst der Abschluss seines Künstlerromans, der als 'Wilhelm Meisters Lehr-
jahre' zu Berlin 17U5 — 96, IV, erschien, lässt die veränderte Kunst- und
Lebensanschauung und die Absonderung von dem ehemaligen genialen Treiben
erkennen: diesen Jahren gehoereu auch die 'Bekenntnisse einer schoenen Seele'
an, das einzige Stück, womit der Roman dem Jacobi-Stolbergischen Kreise
Beifall abgewann. Um die Kenntnis der antiken Kunst zu fördern und zu
verbreiten, Hess Goethe unter Beihilfe seines Kunstfreundes, des Schweizers
Heinrich Meyer die 'Propyläen' erscheinen,^* nicht eben mit Erfolg. Bald
darauf begannen die Romantiker das Mittelalter mehr und mehr als allein
giltiges Vorbild hinzustellen. Als Dichter Hessen sie Goethe noch, aber auch
nur ihn gelten. Er Hess sie anfänglich gewsehren, bis ihre Übertreibungen
ihn zu zorniger Abwehr veranlassten.
Dies geschah erst nach Schillers Tod. Mit dem Verlust des Freundes,
der ihm eine neue Jugend gegeben hatte, war auch Goethes Schaffenslust
zurückgetreten. Der Sturz Preussens 1806 brachte dem fridericianischen
System den Untergang: ein neues Deutschland konnte nur durch Anstren-
gungen und Opfei- geschaffen werden, denen Goethe fern blieb. In der Ver-
wirrung, die nach der Schlacht bei Jena über Weimar hereinbrach, sicherte
er die Zukunft seiner Familie, indem er sich mit Christiane trauen Hess.
Die Herrschergewalt Napoleons, dem er am 2. October 1808 in Erfurt vor-
gestellt wurde, ^' nahm ihn völlig ein. Seine Dichtung wurde noch einmal
durch eine heftige Neigung für Minna Herzlieb, die Pflegetochter des Buch-
händlers Frommann in Jena,^*^ neu belebt: ihre jugendliche Schoenheit und
92) Memoires histonquen de Strphanie-Lonise de Boarbon-Conti (Madamp Guachet). Pari« 1798,
II: 8. Varnhagen v. Ense Denkwürdigkeiten 1, Mannheim 18.37. 93) Tübingen 1802.
94) Tübingen 1798 -18(H>. Meyers kleine Schriften znr Kunst gab P. Weizsäcker in Seufferts
Lit.-denkm. 25, Heilbronn 188«> heraus. 95) Scholl , Abhdlgn. 467 fgg. Auch die
Memoiren von Talleyrand berichten hierüber: in der Übersetzung von Ebeling. Köln nnd
Leipzig lö91 1, ;316. 96) Friedrich Frommann, Das Frommannsche Haus. Jena U872.
1
§ 160 GOETHES ALTER. 501
Lieblichkeit feierte er in Sonetten, ihr ^Yesen bildete er in den 'Wahlver-
wandtschaften' nach."' Nachdem er auch diesen schmerzlichen Kampf der
Liebe mit älteren Pflichten durch die Wiedergabe in tragischendender Dich-
tung überwunden hatte, wandte er sich der Darstellung seines eigenen Ent-
wicklungsganges zu. Seit 1810 schrieb er Aus meinem Leben, Dichtung
und Wahrheif, eine künstlerisch gestaltete Erzsehlung seiner Jugend bis
1775. Seine Erlebnisse ziehen mit anmutigster Hervorhebung alles Heiteren,
Glücklichen, mit leiser Berührung der überwundenen Schmerzen vorüber;^**
die wunderbare Entfaltung der deutschen Litteratur,'-''' welche auf Goethe ge-
wirkt hatte, bis er selbst die Führung der Mitstrebenden übernahm, ist ebenso
klar als reich und zuverlässig dargestellt. Hier vor allem bewsehrt Goethe
die Meisterschaft der Prosa, deren Pflege in seinem Alter ebenso überwog als
in der früheren Zeit ihn Lyrik und Drama vorzugsweise beschäftigt hatten.
Den Erschütterungen der Freiheitskriege ging er soviel als moeglich aus
dem Wege. Aufgefordert für das Berliner Theater eine poetische Verherr-
lichung der deutschen Siege zu verfassen, dichtete er 1814 Des Epimenides
Erwachen'.'"*^ Allegorische Festspiele, namentlich Verse zu Maskenzügen,
hatte er bereits in grosser Zahl verfasst; 1800 das zierliche Palaeophron und
Neoterpe'. Von der Direction des Weimarer Hoftheaters trat Goethe 1817
zurück, nachdem eres seit 1791 geleitet und insbesondere auf eine massvolle,
idealisierende Darstellungsweise und auf ein gleichmsessiges Zusammenspiel
hingewiesen hatte. '"^ Noch blieb ihm die Sorge für die Kunstsammlungen
und die wissenschaftlichen Bildungsanstalten , von denen er die Universitset
Jena auch dadurch auf ihrer Hoehe zu erhalten suchte dass er 1804 der
nach Halle verpflanzten Allgemeinen Deutschen Litteraturzeitung' eine
Jenaische Zeitschrift entgegenstellte. ^^^ Für seine eigenen Kunstbestrebungen
K. Th. Gaedertz, Goethes Minchen, Bremen 1887. 97) Tübingen 1809. 98) Tüb. 1811—14. F.
Jacob) nennt 1818 Gffthes Erzsehlungen in DW. 'oft wahrhafter als die Wahrheit selbst': Zöpp-
ritz 2, 149. 99) LB. 3, 621 fgg. Ebd. 647 Gffithes Freimaurerrede auf Wieland (§ 1.53, 50);
über seine Schilderung Winckelmanns s. § 156, 1. 100) Vielleicht regte ihn zur Wahl
des Gegenstandes ein 1790 in Paris, auch in Strassburg oft gespieltes Stück an : Le reveil
d'Epimenide von M. de Flins, welches die Errungenschaften der Revolution feierte. Hierüber
sowie über ein gleichnamiges Stück vom Präsidenten Henault 17.55 verdanke ich auszüg-
liche Mitteilungen Hrn. Dr. H. Waitz. Vgl. auch Kotzebue, Meine Flucht nach Paris, S. 177.
101) E. Pasque, Guithes Theaterleitung in Weimar, Leipzig 1863, II. C. A. H. Burckhardt,
Das Repertoire des Weimarischen Theaters unter Goethes Leitung, Hamburg u. Leipzig 1891.
J. Wähle, Das Weimarer Hoftheater unter Goethes Leitung, Weimar 1892 (Schriften der
Goethegesellbchaft. 6. Bd.). 102) Briefe an Eichstaidt, hg. v. \V. v. Biedermann, Berlin
502 NHIJHOCIIDEUTSOIIE ZEIT. XVIII JAIIKII. i? IHü
schuf er sich oiu Orj^tiii in der Zoitschrit't Uehcr Ivunst und Altorthiim ,,
Stiitt<;art 1818 — 32:'"^ Suipiz Boisscroe, der in Köln di(; wichtij:j8ten
Donkniii'lor der altdoutschon Maleroi «^orottot und den Grundriss dos Domes
aufgclundon hatte, gewann aucli den alternden (rCEtlie wieder für die mittel-
alterliche Kunst, '"^ deren Wert er in seiner .fugend zu(>rst gi^lteud gemacht
hatte. Aus deutschen Sagen waren auch 1813 einige Balladen Gujthes hervor-
gegangen.'"-' Gleichzeitig aber tlüchteto er in den Orient und kleidete Be-
schaulichkeit und heiteren (tonuss in die Formen der persisch-arabischen ""'
Lebensweise und in leichtgereimte Strophen. '°^ Das eingetlochtene Liebesver-
hältnis bezog sich auf Marianne von Willemer in Frankfurt, die selbst als
Suleika reizende Lieder beisteuerte.'"** Der 'westöstliche Divan' erschien zu
Stuttgart 1811).'"'-' Lag hier die rein amsscrliche Verbindung an dem Plane
des Werks, so verblieb derselbe Character einem anderen, weil der alternde
Dichter Lust und Kraft verlor die zum Teil weit früher verfassten Erzieh-
lungen zu einem Ganzen zu verschmelzen : "" Wilhelm Meisters Wanderjahre
oder die Entsagenden', Stuttgart und Tübingen 1821), brachen unvollendet
ab.'" Hier war des Dichters edle Zurückhaltung, welche sein bis in das
hohe Alter dauerndes Vermoegen Liebe zu fühlen und zu erwecken hegleitete,
auch in seinen poetischen Figuren ersichtlich. Auch Faust, für welchen er
die 'Helena' seit 1825 fortsetzte, erhielt nur einen Abschluss in allgemeinen,
symbolischen Zügen: die Verheissung des Prologs ward allerdings durchge-
führt dass der Mensch zwar irre so lange er strebe , aber wenn er sich nur
um das Gute bemühe , doch von den hoeheren Mächten gerettet werde.
Immerhin hat dieser zweite Teil, bei verständnisvoller Auswahl,"^ sich neuer-
dings auch bühnenwirksam erwiesen. An Faust dichtete Goethe fast bis zum
1872. 103) Das erste Heft war 1816 erschienen; im zweiten. 1819 erschien 'Neudeutsche
religioes-patriotische Kunst", eine Verurteilung der 'Nazarener' unter den Malern , welche
nur die Anfänge der italienischen Kunst gelten liesaen. Neudruck: Deutsche Lit.-denkm.
25, 97 fgg. 104) Sulpiz ßoisseree, Stuttgart 1862. 105) Totentanz, der getreue
Eckart, die wandelnde Glocke. 106) Als Quelle diente ihm namentlich Der Divan von . .
Hafis, übersetzt von .J. v. Hammer'. Stuttgart und Tübingen 1812. II. 107) In Reimen
auch die kernhaften Sprüche . worin Gcethe die Betrachtungen seines Alters aussprach :
Proben LB. 2, 1145. 108) H. Grimm. Preuss. Jahrb. 1868. Briefwechsel zwischen
Goethe und M. von Willemer. hg. v. Creizenach , Stuttgart 2 1878. 109) Unter den
spiieteren Ausgaben ist die von G. v. Lopper 'mit Einleitung und erlajuternden Anmerkungen',
Berlin bei Hempel , hervorzuheben. 110) Ein Novellencyclus. durch eine Kahmen-
erzfehlung verbunden, war bereits in Goethes 'Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten'
(Schillers Hören I— V) vorhanden. 111) Ein Denkmal seines greisenhaften Prosastils
gibt die Novelle LB. 3, 689. 112) Die Aufführungen des 2. Teils, in verschiedenen
§161 GCETIIES LETZTE LEBENSJAHRE. 503
letzten Tag; als der zweite Teil erschien, 1833, war der Dichter nicht mehr
unter den Lebenden."^ Schon 181(j verwitwet, hatte er in seiner Schwieger-
tochter, Ottilie von Pogwisch, eine liebevolle, den Ehrenpflichten seines gast-
lichen, vielbesuchten Hauses würdig vorstehende Pflegerin gefunden.^" Tief
erschütterte ihn das Hinscheiden seines fürstlichen Freundes 1828, dann der Tod
seines Sohnes in Rom 1830. Er selbst starb am 22. März 1832. Noch in den
letzten Jahren hatte er es ausgesprochen dass die Litteraturen aller Völker
sich einander zu nsehern begönnen, dass eine Welthtteratur '^^ sich bilde:
die deutsche, welche durch vortrettliche Übersetzungen'^*^ sich den gesammten
Reichtum zuerst aneigne, werde durch diesen Schatz eine neue Bedeutung
für die Bildung der Menschheit gewinnen.
§161.
Goethe gegenüber nennt sich Schiller selbst einen speculativen, reflec-
tierenden Dichter; er setzt dem Realismus Goethes seinen Idealismus ent-
gegen. Er sucht sich mehr und mehr der ursprünglichen poetischen Natur
Goethes anzunaehern: er lässt sich von ihm beraten^ und Gegenstände zu
Dichtungen anweisen;^ aber er haucht diesen seine Gedanken, seine grosse
und freie Auffassung ein.
Und diese Auffassungsweise bildet wesentlich Schillers Eigentümlichkeit.
Jene Begeisterung, welche Goethes Jugenddichtung allerdings beseelt, aber
mehr und mehr, und frühe schon, einem ruhigen Hinnehmen der Wirklich-
keit Raum gibt um in dieser freilich die inneren Züge der Schoenheit zu ge-
wahren und sie nachzubilden, sie ist bei Schiller noch weit stürmischer von
Anfang an, braust zuneechst gegen die Hemmnisse auf, stroemt dann aber
immer gleichmsessiger und reiner und mächtiger dahin. Goethe schildert,
nach dem alten Wort über die griechischen Tragiker, die Menschen wie sie
sind, Schiller wie sie sein sollen.
Yor allem fasste der jüngere, mit dem Jahrliundert fortgeschrittene
Dichter ein neues Ziel ins Auge, das er seiner Zeit und noch mehr der
Bearbeitungen, begannen um 1880. 113) Zablreiehe Ausgaben des Faust mit Erlieute-
rungen: von Düntzer, Leipzig 1867 und bei Kürschner Nat.litt. 93; von M. Carriere, Lpz.
1869; von G. v. Loeper, Berlin 1870; von A. v. Üttingeu, Erlangen 1880; von Sohröer,
Heilbronn 1881. Überdies und schon früher eine Menge von Abhandlungen über Faust.
114) Von den litterarischen Gehilfen des Dichters hat J. P. Eckermaun seine 'Gespräche
mit Goethe 1823—1832', Leipzig 1836 herausgegeben. «1885 mit A"bhandliingen von üüntzer.
115) A. F. v. Schack, Goethe und die Weltlitteratur. 1890. 116) Gcethe selbst hat
besonders lyrische Gedichte des Auslandes wundervoll übersetzt.
§ 161. 1) So für 'die Kraniche des Ibyeus' s. LB. 2, 1233. 2) Den Teil wollte
504 NEIIIOCHÜEUTSCÜE ZEIT. XVllI JAlllUI. § KJl
nachfolgenden aufsteckte. Für Gopthe waren die politischen Verhältnisse im
Ganzen glcichgiUig gewesen: Schiller empfand, worauf schon Lessing mit
Bezug auf das Theater hingewiesen hatte, dass die Poesie von dem sonstigen
nationalen Leben, vor allem von den staatlichen Zuständon sich nicht abloesen
lasse. Gerade in der poetischen Verwertung politischer Ideen fand Schiller
einen neuen Weg zum Herzen der Nation und erwarb sich auf diesem Wege
unvergängliche Verdienste um ihre Bildung.
Schillers Erstlingsdramon knüpfen an die bestehenden Verhältnisse an,
deren Unvernunft und Ungerechtigkeit er mit schneidender Schärfe darzu-
stellen wusste. Aber frühzeitig erkannte er die Notwendigkeit sich von diesen
nur zu Bitterkeit und Uass stimmenden Bildern weg und geschichtlichen
Schilderungen zuzuwenden, welche den Sieg des Edlen, den Untergang der
btjcswilligen Gewalt in sich schlössen.* In der Geschichte fand Schiller das
.Magazin für seine Phantasie,* die Verkörperung seiner Ideen. Dass er dabei
sich nicht auf die deutsche Geschichte beschränkte, beeinträchtigte in keiner
Weise die Wirkung seiner IJramen auf die deutsche Nation. Ja er konnte
hierdurch nur um so unbefangener die Aufopferung für Freiheit und Unab-
hängigkeit, die Überzeugung von einer ewigen Gerechtigkeit als Pflicht vor
Augen stellen.
Durch die tief eiiidringonde Beschäftigung mit Geschichte und mit Phi-
losophie'' wurde Schillers dichterische Entwickelung wohl unterbrochen, aber
zugleich auf eine hoehere Stufe gehoben. Er erreichte diese gleichzeitig mit
der Anknüpfung eines nseheren Verhältnisses zu Goethe. Seine vorhergegan-
gene Dichterthsetigkeit trug die Spuren des langen und schweren Kampfes
an sich, welchen seine Lebensumstände^ ihm bis dahin auferlegt hatten.
GfPthe 1797 episch hphan<leln : s. Briefwechsel zwischen Schiller u. Goethe 372 fgg. Vgl.
§ 160. 00. 3) Prophetisch deutet seiu Wallenstein auf Napoleon, die Jungfrau von
Orleans und Teil auf die Freiheitskriege. 4) Brief an seine spaetere Schwaegerin Karo-
line vom 10. Nov. 1788. 5) S. hierüber bes. K. Tomaschek, Schiller in seinem Ver-
hältnisse zur Wissenschaft. Wien 1862. Ueberweg, Schiller als Historiker und Philosoph,
l.,eipzig 1884. 6) Nachrichten von Schillers Leben' von Körner vor der ersten, viel-
fach wiederholten Ausgabe der 'Sämtlichen Werke'. Stuttg. u. Tüb. 1812—15, XII. Caroline
von Wolzogen 'Schillers Leben verfasst aus Erinnerungen der Familie, seinen eigenen Briefen
und den Nachrichten seines Freundes Körner", Stuttg. u. Tüb. 1830, 11. nö. Vergl. ferner
bes. Thomas Carlyle. Leben Schillers, aus dem Englischen, eingeleitet von (j'T'the, Frank-
furt 1830. K. Hoflmeister, Seh. Leben. Stuttg. 1838—42, IV. (i. Schwab. Seh. Leben,
Stuttg. 1840 nö.. E. Palleske. Seh. Leben u. Werke. Berlin 1858. seit 1886 hg. von H.
Fischer. Düntzer, Seh. Leipzig 1881. Weltrich, Seh. Stuttgart 1885 fgg. 0. Brahm,
Schiller. Berlin 1888 fgg. J. .Minor. Schiller, Sein Leben u. seine Werke, Berlin 1890 fgg.
§ 161 SCHILLERS JUGEND. 505
Johann Christoph Friedrich von Schiller war geboren am 10. No-
vember 1759 zu Marbach am Neckar. Sein Vater ^ stand im Militaerdienst
des Herzogs Karl von Würtemberg, seit 1761 als Hauptmann; er hat sich
um die Obstzucht des Landes sehr verdient gemacht, insbesondere seitdem er
Ende des J. 1775 auf das Lustschloss Solitude bei Stuttgart versetzt worden
war. Vorher war ihm der Sohn nach Lorch, dann nach Ludwigsburg ge-
folgt, bis ihn 1773 Herzog Karl ncetigte, in die Militaerakademie einzutreten,
die 1770 begründet, damals noch auf der Solitude bestand, aber 1775 nach
Stuttgart verlegt wurde und 1782 den Namen Hohe Karlsschulc erhielt. Da
sie nur herzogliche Beamte ausbildete, musste der Knabe die Absicht Pre-
diger zu werden aufgeben: er entschied sich zuerst für das Studium der
Rechte, spaeter für das der Mcdicin. Zu Ende des J. 1780 wurde er als
Regimentsmedicus in Stuttgart angestellt. Schon auf der Schule dichtete er
und hatte sogar zur poetischen und rednerischen Verherrlichung von Festen
der Anstalt mitzuwirken. Seine wahre Stimmung aber legte er in sein
Trauerspiel 'die Rseuber', woran er seit 1777 arbeitete. Er benutzte dabei
eine Erzsehlung Schubarts,* verband sie aber mit der Geschichte eines küh-
nen und grossdenkenden Rseubers aus seiner Heimatsgegend, die er spseter
auch als Novelle^ bearbeitet hat. Andere Verhältnisse und Namen entlehnte
der Dichter seiner Umgebung,^** wsshrend er für die Gestaltung einzelner
Zur Gesarataiisgabe kam hinzu 'Nachlese zu Schillers Werken nebst Variantensammlung'
(auch als 'Supplemente zu Seh. 's Werken' bezeichnet) aus seinem Nachlass im Einver-
ständnis und unter Mitwirkung der Familie Schillers hg. von K. Hoffmeister', Stuttg. u.
Tüb. 1840. 41, IV; vgl. auch .Joachim Meyer, Beitrgege zur Feststellung, Vermehrung und
Verbesserung des Schillerschen Textes , 1858 , fortgesetzt 1860. 'Sämtliche Schriften.
Historisch-kritische Ausgabe', im Verein mit A. EUisseu , R. Köhler, W. Müldener, H.
Oesterley. H. Sauppe und W. Vollmer von K. (Joedeke, Stuttgart 1867—76, XV. Vgl. auch
die Ausgabe Berlin bei Hempel o. J., XVI. Schillers Briefe, kritische Gesamtausgabe
mit Anm. von F. Jonas, Stuttgart u. s. w., I., 1892. Der litterarische Nachlass Schillers ist von
seinen Nachkommen 1889 der Urossherzogin von Sachsen übergeben worden und ist nun-
mehr Bestandteil des (jra?the-Schiller-Archiv8 zu Weimar. Vgl. J. Minor, Aus dem Schiller-
Archiv, Ungedrucktes und Unbekanntes zu Schillers Leben und Schriften. Weimar 1890.
7) Schillers Beziehungen zu Eltern, Geschwistern und der Familie von Wolzogen, Stuttgart
1859. 8) Vgl. § 159, 40. Schiller hat Schubart 1781 auf dem Hoheuasperg besucht
und seine Fürstengruft nachgeahmt: 'Die schlimmen Monarchen' (in der Anthologie). 9) In
der Thalia 1, 2: 'der Verbrecher aus Infamie' (spseter 'aus verlorner Ehre'). Vgl. H. Kurz,
Der Sonnenwirt, Frankfurt a. M. 1855, wo die Geschichte des 1760 hingerichteten Raubers
nach den Acten mitgeteilt ist: Schiller erfuhr sie von seinem Lehrer Abel, dessen Vater
die Festnehmung bewirkt hatte. 10) So den des Pfarrers Moser aus Lorch, ferner die
506 NECIlOClIDKUTSOIli: /KIT. XVIII JAIIUII. § WA
Sccnen bcsoiulcrs (jiu'thos üötz, (ier8tenl)or^8 l'goliiKi und Slmkcspearcs Dra-
men, für die KraftMpriiche Klingors Tragödien zu Vorbildern nahm. Das
Ganze bricht mit Kraft, ja mit Wut hervor als ein Aufschrei der Natur
gegen den Despotismus, welcher Schillers Jugend eingezwängt hatte und nun
sein weiteres Leben schwer zu bedrücken drohte. Zwar endet der Held in
Verzweiflung über die Unmo'glichkeit das Kecht durch die Gewalt wieder
herzustcsllen; aber die Zustände, gegen die er sich empmrt hatte, blieben
nichts desto weniger als unertra'glich gekennzeichnet. Das Stück erschien
1781 im Selbstverhig " und ward am 13. Januar 17.S2 zu Mannheim aufge-
führt. Der Dichter war dabei ohne Urlaub zugegen; auch einer zweiten
Autiuhrung wohnte er bei , indem er sich in Stuttgart als krank meldete.
Hatte der Herzog ihn schon dafür hart bestraft, so verbot er ihm bald alles
fernere Dichten, weil er den Canton Graubünden"* durch Anführung einer
landheufigeu Redensart beleidigt hatte. Schillers tiefer Unmut war auch in
den lyrischen Gedichten seiner 'Anthologie auf das Jahr 1782''^ bald mit
überschwänglichen Wendungen nach Hauers und Klopstocks Vorbild,''' bald
mit cynischem Hohn, mit roher Nachahmung Bürgers zu Tage getreten."
Jetzt beschloss er zu fliehen. Wahrend eines Hoffestes am 21. September
fuhr er mit dem Musicus Streicher '^ aus Stuttgart hinweg. Allein in Mann-
heim empfing ihn der Intendant des Nationaltheaters, Heribert von Dalberg,
nur kalt und die Schauspieler verwarfen das von Schiller mitgebrachte Trauer-
spiel 'die Verschwörung des Fiesco'. Da rettete ihn aus wahrer Not die
Einladung der Frau von Wolzogen, deren Scehne auf der Karlsschule Schiller
kennen gelernt hatten. Den Winter und Frühling 1783 verlebte er auf ihrem
Gute in Baueibach bei Meiningen , und brachte im Sommer sein zweites
Trauerspiel"^ umgearbeitet nach Mannheim zurück. Freilich der Stoff, den
Namen einzelner Studenten . welche zu den Kaeuhern übergehen. 11) Als Verlagsort
war angegeben : Frankfurt und Leipzig. Eine für die Mannheimer Bühne verbesserte Auf-
lage erschien Mannheim 1782, und gleichzeitig in Stuttgart eine zweite des Originals.
Zahlreiche andere, auch Nachdrucke, z. T. Bearbeitungen für andere Bühnen folgten.
Wichtig für Schillers Fortschreiten ist seine Selbstrecension der Raeuber in seiner Zeit-
schrift 'Wirtembergisches Kepertorium der Literatur". Stuttgart 1782. IIa) F. Vetter
in Schnorrs Arch. XII. 404 fgg. 12) '(Tedruckt zu Tobolsko' (Stuttgart): wiederholt
I7it8. Neudruck durch K. v. Bülow. Heidelberg 1850. 13) So besonders in den
Oden an Laura . welche er an eine verwitwete Hauptmann Fischer gerichtet haben soll.
Auch Schillers Semele' erschien in der Anthologie". 14) Diese Gedichte hat er selbst
spjpter grossenteils verworten. 15) Dieser veroä'entlichte Schillers Flucht von Stutt-
gart und Aufenthalt in Mannheim von 1782 bis 1785'. Stuttg. u. Augsburg 1836. Hier
ist irrig der 17. September als Tag der Flucht angegeben. 16) Erster Druck des Fiesco,
§161 SCHILLERS JUGEND DICHTUNG. 507
er nach Rousseaus Hinweis mit Benutzung franzoesischer Geschichtsquelleu
behandelt hatte, besass für deutsche Zuschauer wenig Anziehungskraft, da
ihnen repubUkanische Tugend im Kampfe gegen Herrschergelüste etwas fremdes
war. Besser gelang es Schiller, als er seine Dichtung auf den heimatlichen
Boden zurückführte und in 'Kabale und Liebe' '^ (Mannheim 1784) die Mai-
tressenwirtschaft und den Soldatenverkauf seines Herzogs brandmarkte. Für
die tragische Verwertung der Standesvorurteile, insbesondere für die realistische
Schilderung des Bürgertums gab ihm Leopold Wagner mehrfach das Muster.
Aber auch dieser Erfolg sicherte Schillers Stellung in Mannheim nicht.
Theaterdichter blieb er nur bis in den Herbst 1784; die Aufnahme in die
deutsche Gesellschaft brachte keine weiteren Vorteile. Die beim Eintritt ge-
haltene Vorlesung 'Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wir-
ken?' veröffentHchte er^* in seiner 'Rheinischen Thalia' (Mannheim 1785),
konnte jedoch diese Zeitschrift nicht über das erste Heft hinausführen. Seine
Freunde verliessen oder verrieten'^* ihn; Charlotte von Kalb, '^ die als Gattin
eines Offiziers in franzoesischen Diensten ihm in Mannheim nahe trat, konnte
durch ihre schwärmerische Neigung ihn nur verwirren.-" Doch vermittelte
sie Schillers erstes Zusammenkommen mit Karl August von Weimar, dem er
zu Weihnachten 1784 in Darmstadt den ersten Act von Don Carlos vorlas
und der ihm dafür den Titel eines Rates erteilte. Nach Sachsen, wo er für
seine litterarische Thsetigkeit einen besseren Boden zu finden hoffte, zog er
im Sommer 1785. Dorther waren ihm schon ein Jahr vorher Briefe zuge-
kommen, in welchen der Consistorialrat Körner und die Seinigen ihm
ihre warme Freundschaft und Verehrung aussprachen. Ihnen nahe lebte er
in Leipzig und in Gohlis, spseter mit ihnen in Dresden zusammen. Hier
dichtete er das begeisterte Lied 'an die Freude', hier vollendete er 'Don
Carlos'. Hatte er für dieses Trauerspiel im Anschluss an eine Novelle von
Saint Real anfänglich den Kampf des heldenmütigen Jünglings gegen den
despotischen Vater, der ihm die Braut geraubt, zu seinem Vorwurfe genom-
men, so trat nun Marquis Posa, der Fürsprecher für Gedankenfreiheit in den
Manuheim 1783. 17) So hatte Iffland das Stück benannt, welches ursprünglich 'Louise
Millerin' heissen sollte. 18) LB. 3, 963 fgg. 18a) So Iffland. der in Gotters Posse
'Der schwarze Mann' den Dichterling Flickwort spielte, eine Karrikatur Schillers: Minor,
Schiller 2, 232 fgg. 19) Geh. 1781 zu Waltershausen im Grahfeld. starb sie 1843 zu
Berlin. Ihr sibyllinischer Lebensbericht wurde von E. Palleske herausgegeben: 'Charlotte.
Gedenkblätter von Ch. von Kalb\ Stuttgart 1879. 20) An sie gerichtet sind Schillers
Gedichte 'der Kampf, zuerst 'Freigeisterei der Leidenschaft" genannt : und 'Resignation'.
508
NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT.
XVHl JAHRII.
§ IfJl
Vonlor^ruiul. Die Umarbeitung verursachto freilich eine gewisse Unklariicit
der Intrigue und eine Überfülle des Stott's, wie Schiller in seinen IJriefen
über Don Carlos'-*' selbst, zugestehen musste. Aber die ha'here Auffassung
brachte auch eine gewtehltere und nuiiniehr von allen Dialectfreiheiten ge-
reinigte Sprache mit sich; di(^ Prosaform der älteren Stücke war gegen die
immer kunstvoller, getragener gebauten fünffüssigen Jamben nateh dem Muster
von Lessings Nathan ausgetauscht. So erschien Dom Karlos, Infant von Spanien'
zu Leipzig 1787; die ersten Acte waren sclion vorher in Schillers Zeitschrift
Thalia' abgedruckt worden, welche er, die Mannheimer Anfänge wieder auf-
nehmend, zu Leipzig 1787 — t)i herausgab und durcli die Neue Thalia',
ebd. 171)2—93 fortsetzte.
1787 siedelte Schiller nach Weimar über, wo er Frau von Kalb wieder
sah. Ein besseres Glück jedoch, als die Verbindung mit ihr ihm hätte be-
reiten können, gewann er durch seine Verlobung mit Charlotte von Lenge-
feld,'-- deren Familie er 1788 bei einem Sommeraufcnthalt in Volkstaedt bei
Kudolstadt na;her kennen gelernt hatte. Damals suchte er durch die Bear-
beitung einiger Dramen des Euripides,'^'' allerdings nach franzoesischen und
lateinischen Übersetzungen, und durch die Übertragung des II. und IV. Buches
der Aeneis in Ottaverime^^ sich an den classischen Mustern des Altertums
zu schulen. Die tiötter Griechenlands' 1788 sprachen die Sehnsucht des
Dichters nach der griechischen Bildung aus; 'die Künstler 1789^'' priesen
die Kunst als die Erzieherin des Menschengeschlechts und als die Führerin
des Triebes das Wahre zu erkennen, das Gute zu wollen. Beide Gedichte
waren in Wielands Teutschem Mercur erschienen; hier verwertete auch
Schillers Abfall der vereinigten Niederlande von der spanischen liegierung'
1788 die Studien des Dichters für Don Carlos in historischer Darstellung,
blieb jedoch unvollendet.
Diese historischen Studien veranlassten eine Berufung Schillers an die
Universitset Jena, wo er am 26. Mai 1789 seine Antrittsrede hielt 'Was heisst
imd zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?' Am 20. Februar
1790 fand seine Hochzeit statt. Neben den akademischen Vorlesungen
21) Zuerst im Teut«chen Mercur 1788. 22) Geb. 1766, gest. 1826 zu Bonu. Ihr Brief-
wechsel ist abtjcdruckt iu: 'Schiller uud Lotte, 1788. 1789", Stuttg. u. Augsburg 1856.
'Charlotte von Schiller und ihre Freunde'. Stuttgart 186U-6Ö. lll. 23) Iphigeuie
in Aulis' und 'die Phceuizieriuuen', beide iu der Thalia 1789. Hier erschien auch der
Geisterseher", ein unvollendeter Roman über geheime Gesellschaften und ihren Einfluss vor
allem auf die confessionelleu Verhältnisse. 24) Neue Thalia 1792. 25) LB. 2, 1177.
§ 161 SCHILLER IN SACHSEN UND IN JENA. 509
arbeitete er eine 'Geschichte des dreissigjaehrigen Krieges' aus,^'' die sich
durch glänzende Darstellung, insbesondere durch eindrucksvolle allgemeine
Betrachtungen wie durch scharfe und farbenreiche Characterschilderungen
auszeichnete, wenn sie auch weniger als das ältere Geschichtswerk auf Quellen-
studium beruhte. Die übermsessige Anstrengung, mit welcher Schiller diese
und verwandte Arbeiten betrieb, ward für seine Gesundheit verhängnisvoll.
Bei einem Besuch in Erfurt, wo Karl von Dalberg, der Coadjutor des Kur-
fürsten von Mainz, ihm für den Fall seiner Nachfolge im Erzbistum glän-
zende Aussichten eröffnete, brach im Januar 1791 die Krankheit aus, welche
den Dichter in immer wiederholten Anfällen mehrmals an den Rand des
Grabes brachte und ihm, so wenig seine Dichtung das erkennen lässt, nur
mit beständigen Unterbrechungen und Beschränkungen eine weitere Thsetig-
keit gestattete. Die allgemeine Teilnahme und Trauer um den schon Tot-
gesagten führte doch zu einer Unterstützung von Dänemark her, die ihn der
dringenden Sorge um seinen Unterhalt überhob. Der Herzog Friedrich
Christian von Augustenburg und Graf Schimmelmann , durch den Dichter
Baggesen von der Bedrängnis Schillers unterrichtet, boten ihm eine Pension
auf drei Jahre an und Hessen sie auch noch zwei weitere Jahre fortdauern.
Seinen Dank stattete der Dichter ab, indem er dem Herzog das reifste und
tiefste seiner philosophischen Werke zueignete.
Schon auf der Karlsschule hatte sich Schiller mit philosophischen Unter-
suchungen beschäftigt, hauptsächlich nach Anleitung des Schotten Ferguson,
dessen Moralphilosophie Garve übersetzt und erlseutert hatte (§ 156, 25).
Dann legte er in seinen 'Philosophischen Briefen zwischen Julius und Raphael'
die schwärmerischen Grundsätze seiner Jugendzeit nieder und Hess ihnen
durch Körner die kühleren Ansichten Kants entgegenstellen.^^
Mit Kant'-^^* beschäftigte sich nun Schiller auf dem Krankenbett, und
wenn er dessen Kritik der reinen Vernunft' und 'Kritik der praktischen Ver-
nunft' unwiderlegbar fand, so bot ihm Kants 'Kritik der Urteilskraft' Anlass
zur Erweiterung und Berichtigung. Das objective Merkmal des Schoenen,
welches Kant zu finden verzweifelte, erkannte Schiller in der Freiheit, in der
Selbstbestimmung. Schoen ist was sein Gesetz in sich trsegt oder zu tragen
26) .sie ersehieu im Historischeu Kalender für Dameu für 1791—93 zu Leipzig. Daraus
LB. 3, 981 fgg. 27) lu der Thalia 1786. Die eingelegte Theosophie des Julius' ge-
hoert zu dem Gedicht "^FreuudschatV iu der Anthologie. Diese und andere philosophische
uud historische Arbeiten vereinigte Schiller als 'Kleinere prosaische Arbeiten', Leipzig 1792
bis 1802. IV. 27a) E. Kühnemann, Die Kantischeu Studien Schillers. Marburg 1889.
r.io NP:iiiiouiii)EUTsc'iiK /r.rr. xviii jaiikii. § lüi
scheint. Dieson Begriff erprobte er an der Beurteilung des menschlichen
lliuulehis uml fügte von seinem Standpuiict aus zu Kants Gebot die Pflicht
über die Neigung siegen zu lassen, noch die Anforderung hinzu «lass die
Neigung sich d»T Pflicht anscldiesse, dass das Gute nicht nur gethan werde,
sondern auch freiwillig und gern gethan werde. Der weiteren Ausführung
dieser ajsthetiüchen Grundsätze, welche er in seinen Vorlesungen und in
Briefen an Körner-" festgestellt hatte, widmete er hauptsächlich drei groessere
Arbeiten.
179;} schrieb er über Anmut und Würde': -^ erstere setzte er in die
Freiheit der willkürlichen Bewegungen und erklan-te sie für den Ausdruck
einer schd'uen Seele, letztere fasste er als die Beherrschung der unwillkür-
lichen Bewegungen und als Kennzeichen einer erhabenen Gesinnung. Auf
den sittlichen Wert der Hchcenheit und Kunst ging er ein in den Briefen
über ajsthetische Erziehung, welche er ursprünglich an den Prinzen von Au-
gustenburg gerichtet hatte, für den Druck aber, da die Originalien beim
Brande des Schlosses in Kopenhagen 1794 untergegangen waren, ^** erweiterte
und mehr mit den Ausdrücken der Schule in Übereinstimmung brachte. So
erschienen sie in den Hören 1795. Schiller begann mit dem Hinweis auf
die franzoesische Revolution,-" welche gezeigt habe dass die Menschheit noch
nicht tWhig sei sich nach Vernunftgesetzen zu regieren. Dann führte er aus
dass die ästhetische Stimmung, wie sie durch die Beschäftigung mit dem
Schoenen hervorgebracht werde, zwar an sich noch nicht moralisch genannt
werden könne, aber die zum Handeln nach dem Sittengesetz notwendige
Freiheit von der sinnlichen Begierde herstelle. '^ Endlich wandte der Dichter
28) Auch biographisch ha'chst wertvoll, erschien 'Schillers Briefwechsel mit Körner von 1784
an* zu Berlin 1847, IV: *1874. Für die Zeit von 1792 ab finden sich philosophische Bemer-
kunü;cn Schillers auch im 'Briefwechsel zwischen Schiller und Wilhelm vou Humboldt. Mit einer
Vorcriuuerung über Schiller und deu (iaug seiner Cieistesentwickelung', Stuttg. u. Tüb. 183U.
*1876; und in Schillers und Fichtes Briefwechsel, hg. von J. H. Fichte, Berlin 1847.
29) Zuerst in der N. Thalia und für sich erschienen, Leipzig 1793. 30) Vgl. hierüber
'Schillers Briefwechsel mit dem Herzog Friedrich Christian von Schleswig-Holstein- .\ugusten-
burg", eingeleitet und herausgegeben von F. Max Müller. Berlin 1876. Eine teilweise
erhaltene Abschrift der Originale ist abgedruckt als 'Briefe von Schiller an Herzog F. C.
von S. H. Augustenburg über ästhetische Erziehung', hg. von A. R. J. Michelsen , Berlin
1876. Über das Verhältnis der Originale zu Schillers Druckschrift s. Breul Zs. f. d. Alt. 28.
3.Ö8 Igg. 31) Schiller ward 1792 als Gille, j)ublictste zum franz<jesischen Bürger ernannt,
erhielt aber das Diplom erst 1798. Seine Absicht eine Verteidigungsschrift für Ludwig XVI
zu schreiben, führte er nicht aus. 32) Der VI Brief an den Herzog ist ziemlich un-
verändert (,s. Zs. f. d. A. 28, 376) für sich erschienen. 'Über deu moralischen Nutzen
§ 161 SCHILLERS PHILOSOPHISCHE SCHRIFTEN. 511
seine Grundsätze auf die Unterscheidung der Dichtarten und der Dichtgat-
tungen an in den Abhandlungen 'Über naive und sentimentalische Dichter',''^
welche er gleichfalls in den Hören 1795 und 96 veröffentlichte. Die naiven
Dichter, zu denen er auch Gu'the rechnet, befinden sich in Übereinstimmung
mit der Natur, die sentimentalischen empfinden die Abweichung der Kultur
von der Natur und aeussern dies entweder mit Sehnsucht, und Klage, wie die
idyUischen und elegischen, oder mit Spott wie die satirischen; die Tragoedie
und Komoedie bringen diese Stimmungen nur in die dramatischen Formen.
Damit schloss Schiller seine philosophischen Untersuchungen wesentlich
ab. Er hatte im Herbst 1793 bis zum Sommer 1794 die Heimat besucht
und seine Gesundheit befestigt, seine Zufriedenheit wieder hergestellt. Die
Rückkehr nach Jena brachte ihn mit Goethe in immer naehere Verbindung
und zugleich wieder in dichterische Thajtigkeit. Die Hören wurden 1794
begründet, der Musenalmanach 1795. Noch setzte er als Lyriker^* zunsechst
die frühere Ideendichtung fort: 'Die Macht des Gesanges', 'das Ideal und das
Leben', 'Elegie' ^^ spaeter als 'Spaziergang' bezeichnet, eine Schilderung des
Übergangs von Natur zu Kultur, wie sie sehnlich auch im 'Bürgerlied',^*^
spaeter 'Das eleusische Fest' genannt, erscheint. Auf das Xenienjahr^' 1796
folgte das Balladenjahr 1797. Schiller praegte dieser letzteren Gattung den
lehrhaften Zug auf, welcher eine meist der antiken oder mittelalterlichen Sage
entnommene Erzaehlung ^'^ zum Beispiel eines moralischen Satzes machte. 1798
gedichtet, erschien 'das Lied von der Glocke' 1800, eine kunstvoll mit den
einzelnen Vorgängen des Glockengusses verflochtene Betrachtung des haeus-
lichen und bürgerlichen Lebens, gleich ausgezeichnet durch die Anschaulich-
keit der Bilder und durch die Innigkeit der Empfindung.
Gleichzeitig setzte Schiller seine beste Kraft an das Drama. Auf Grund
seiner früheren und nun erweiterten historischen Studien schrieb er seit 1796
das Trauerspiel Wallenstein, dessen einzelne Teile 1798 und 1799 zur Auf-
führung kamen, waehrend das Ganze zuerst zu Tübingen 1800 in den Druck
gelangte. Das Werk hatte einen solchen Umfang erhalten, dass nur der
Rahmen einer Trilogie dafür ausreichte. Im Vorspiel 'Wallensteins Lager'
zeigt sich Schillers Meisterschaft in der zum Teil komischeu Characteristik
ästhetischer Sitten : LB. 3, 997 fgg. 33) Spaeter 'Über u. u. s. Dichtung". 34) Schillers
Gedichte' erschieuen zuerst gesammelt zu Leipzig 1800. 1803, IL 35) LB. 2 , 1213.
36) LB. 2, 1195. 37) LB. 2, 1215. 38) 'Der Ring des Polykrates' LB. 2, 1225;
Die Kraniche des Ihycus" 1233; Der Taucher' 1228: 'Der Graf von Habsburg' 1238.
Wackernagel, Litter. Geschichte H. "^
512 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVHI JAHKH. § 101
voIkstüinli(^lier Elemente,-''' wofür er die lässige Spraclio, die kurzen Reim-
pare vortrottiich verwendete. Die Piccoloinini' verbinden den edelsten 8til
mit der schärfsten /eiclinung soldatischer Gra'sse und Verworfenheit; Wallen-
steins Tod' steigert kunstvoll die Tragik des Schicksals, welches erst üher
die Angeho'rigen des Feldherrn, dann über ihn selbst hereinbricht. Eine
andere Phase des gewaltigen Religionskriegs, der einst ganz Europa erschüt-
terte, stellt 'Maria Stuart" dar, 18UÜ aufgeführt, IHÜl zu Tübingen veröffent-
licht. Dem rührenden Untergang der leidenden Heldin dieser Traguidie steht
das entflammende Beispiel der Yaterlandsbegeisternng gegenüber, welches die
Jungfrau von Orleans' darbot; wie Maria Stuart' hauptsäidilich nach der Ge-
schichte Englands von Rapin de Thoiras behandelt. Das sptetere Stück wurde
1801 in Leipzig, in Weimar erst 180Ji auf die Bühne gebracht, weil der
Herzog durch Voltaires PiircUe gegen den Stoff eingenommen war; gedruckt
wurde es 1802. 1803 folgte die Braut von Messina oder die ieindlichen
Brüder, dem Gegenstande nach besonders an .Julius von Tarent' von Leise-
witz erinnernd, wie schon die Raeuber" den Bruderzwist behandelt hatten.
Aber einen eigentümlichen und nicht eben glücklichen Versuch machte Schiller
mit der Benutzung der antiken Schicksalsidee und der Erneuerung des Chores,
den er gleich in zwei Parteien teilte, übrigens mit aller Pracht seiner Lyrik
ausstattete.*'^ Ebenso legte er lyrische Partien, wie schon in die Jungfrau von
Orleans', auch iu 'Wilhelm Teil' ein, worin er auf Grund der Erzählung von
Tschudi und der von seiner Gattin und von Goethe erhaltenen Schilderungen
Land und Leute der Schweiz bewunderungswürdig darzustellen wusste. Nur
das Bestreben Teils That vor dem Richterstuhl unserer Moral zu rechtfer-
tigen führte zu nicht eben einstimmender Rhetorik.*' Noch eine geschicht-
liche Traga?die, 'Demetrius', konnte Schiller nur in den ersten Teilen fertig
stellen: aus dem Nachlass erschienen sie erst in den 'Sämtlichen Werken',
Stuttgart und Tübingen, 1812 — 15. Vergeblich haben sich Goethe und andere
bemüht diesen grossartigen Torso zu vollenden. Die gehobene, gedanken-
reiche Sprache seiner Tragcedieu übertrug Schiller auch auf seine Bejirbei-
tungen von Shakespeares Macbeth (1801), der Pha?dra des Racine (1805)
und des tragikomischen Maerchens Turandot' nach Gozzi (1802)*^, wie er sie
auch in dem Festspiel 'die Huldigung der Künste', 1804, erklingen liess.
39) Für die Kapuzinerpredigt benutzte Schiller Abraham a Sancta Clara : § 131 , 21.
40) LH. 2, 1211. 41) LB. 2, 1245. 42) Daraus die Rietsel LB. 2, 1202. Über
diese Bearbeitungen fremder Theaterstücke s. Alb. Küster, Schiller als Dramaturg, Berlin IWl.
§ 1G2 SCHILLERS TRAGGEDIEN. BRONNER. 513
Um dem Theater naeher zu sein, war Schiller Ende 1799 nach Weimar
gezogen. Er blieb hier trotz der verlockenden Aussichten, welche ihm 1804
bei einem Besuch in Beilin eröffnet worden waren. 1802 war er geadelt
worden. Er starb am 9. Mai 1805: sein Bild lebt so wie es ein Epilog
Goethes zur Glocke in demselben Jahre entwarf, auf immer unter uns fort.
Schillers Gedichte haben für unsere Jugendbildung eine aihnliche Be-
deutung erlangt wie sie Homer bei den Griechen besass. Der Sänger der
Freundschaft hat im Leben und im Tod die Kraft besessen, das Gemüt ein-
facher Menschen ganz für sich einzunehmen. Seine Wirkung auf das deutsche
Yolk ist eine einzigartige geblieben.
§ 162.
Goethe und Schiller teilten den Beifall ihrer Zeit mit zahlreichen anderen
Dichtern, von denen die älteren ja zum grossen Teil bis zu Ende des 18,
Jahrhunderts thsetig waren und auch einen grossen Teil der jüngeren auf
ihre Bahnen lenkten. Auf dem lyrischen Gebiet fand damals schon Schiller
einige Nachahmung, Goethe erst spaeter. Es waren die sentimentahschen Gat-
tungen der Idylle, der Elegie, der Satire, welche mit Vorliebe gepflegt wurden.
Unter den Idyllendichtern schloss sich Franz Xaver Bronner' eng an
Gessner an, dessen Hilfe er auch in bedrängter Lage erfahren hatte. 1758
zu Hoechstsedt an der Donau geboren, war er aus dem Kloster 1785 nach
Zürich entflohen. 1793 machte er einen Versuch zu Colmar in den Dienst
der constitutionellen Kirche Frankreichs einzutreten, wich aber auf Pfeffels
Rat vor den Zuständen der Schreckensherrschaft zurück. Seitdem lebte er,
abgesehen von den Jahren 1810 — 17, die er als Universitaetsprofessor zu
Kasan zubrachte, als Lehrer meist in Aarau, wo er 1850 starb. Bronners
'Fischergedichte und Erzsehlungen' erschienen zu Zürich 1787, 1794 neue
Fischergedichte', IL Wie Gessner, dessen 'erstem Schiff'er" er 'die erste Fi-
scherinn' zur Seite stellt, schildert er das Kleinleben der Natur, wie es an
und auf dem Wasser sich entfaltet, mit griechischen Namen für seine Helden,
zaertlich und zierlich, in Prosa und in reiner, aber norddeutsch gefärbter
Sprache.
Anders die Idylle nach dem Vorbild von Voss. Seine niederdeutschen
Dichtungen regten eine noch glücklichere Verwendung des oberrheinischen,
alemannischen Dialects an, und Johann Peter Hebel' gewann damit auch
§ lo2. 1) Über seine früheren Erlebnisse s. F. X. Bronners Leben von ihm selbst erzaehlt,
Zürich 1795—97, IIl. 2) Georg Läugiu, .1. P. Hebel, ein Lebensbild. Karlsruhe 1870;
514 NEUIIOrilDErTSCHK 7A'AT. XVITI .TAlIRFr. § 102
den Beifall dor (u'bihk'U'ii im übrigen Deutschland, vor allem den GcEthes.''
Hebel war wie Bronner armer Leute Kind, geboren zu Basel 1760, ward
Gymnasiallehrer und (ieistlicher, 18 15) evangelischer J'rselat zu Karlsruhe und
starb auf einer Reise in Schwetzingen 182<). Seine 'Alb'mannischen (Jediehte'
erschienen zuerst zu Karlsruhe l.SOH:^ sie waren Kinder des Heimwehs',
meist 1801 entstanden, Erinnerungen an die im Wiesenthal verlebte Kinder-
zeit, deren Eindrücke Hebel als V'icar in jjörrach 1783 — \)\ erneuert hatte.
Einzelnes war an die dort gewonnenen Freunde gerichtet,-' deren Kreis er in
Karlsruhe und Strassburg erweiterte; obschon unverheiratet, pflegte er auch
neckischgemütlichen Verkehr mit Frauen. Diesen Beziehungen galten seine
hochdeutschen Dichtungen; die allemannischen haben einen freieren, allge-
meineren Inhalt. Wie Voss gebraucht auch Hebel den Hexameter, nur läs-
siger; wie Voss übertragt er Seenen aus Theokrit mit Wechselgesängen in
deutsche Verhältnisse. Die betrachtenden Gedichte sind von sinniger Auf-
fassung, ganz vom Standpunct des Landmanns aus erfüllt; ein gro'sseres gibt
die allegorische Schilderung seines Heimatthaies, 'die Wiese\ Neben ihnen
stehen, auch in der Form volkstümlich, die Gedichte in Reimstrophen, oft
einfache Ergüsse des tiefsten (Jefühls, etwa das Glück einer jungen Mutter
aussprechend, oder harmlose Kundgebungen der Weinfröhlichkeit des Mark-
gra^flers."' Dass diese allemannischen Gedichte treffend, aber zuerst unwill-
kommen Sinnes- und Redeweise der Heimatgenossen wiedergaben, bewies das
Missfallon, das sie zuerst hier erregten und welches sich bis zu Drohungen
verstieg. Um so "[lücklicher waren auf das Volk selbst berechnet die Prosa-
stücke, welche Hebel als 'Erziehlungen des Rheinländischen Hausfreundes'
von 1803 ab verfasste und zuerst im Badischen Landkalender veröffent-
lichte.''* Von 1808 bis 15 erschien der Kalender als 'Rheinländischer Haus-
freund" unter Hebels Redaktion; da gab eine Erzaehlung der katholischen
Curie Anstoss und seitdem ist nur noch der Jahrgang 1819 von ihm selbst
vgl. auch die Einleitungen zu den Ausgaben von Hebels Werken, insbes. die von Behagbei
zur Auswahl iu Kürschners Nat.bibl. 142. 3) Jen. Lit. Zeit. 1805. 4) Diese Auf-
lage tragt den Namen des Dichters noch nicht. Hebels sämtliche Werke erschienen zuerst
Karlsruhe 1832-34, VIII. Mit Einlcituii? von G. Wendt, Berlin 1873. 74. II;. von
li. Längin, München 1873. Dazu komiiit (j. Längin, Aus J. P. Hebels ungedruckten Pa-
pieren, Nachtra-ge zu sei neu Werken, Beitra;ge zu seiner Characteristik, Tauberbischofs-
lieim 1882. 5) Briefe, hg. von Behaghel, 1, Karlsruhe 1883. Vgl. auch J. P. Hebel,
Festgabe zu seinem hundertsten Geburtstage, hg. von F. Becker, Basel 1860. Aus
Hebels Briefwechsel, Freiburg 1860. Briefe von .1. P. Hebel an einen Freund (Nüsslin),
Maunheiin 1860. Nachtrag 1862. ü) Pr-.ben LB. 2, 1125. 6a) LB. 3, 1261 fgg.
§ 162 HEBEL, USTERI. 515
hergestellt worden. Schon 1811 war sein 'Schatzkästlein des Rheinischen
Hausfreundes' erschienen, eine Auswahl seiner besten Erzsehlungen. Er be-
nutzte für diese Schriftstellerei ältere und neuere Quellen, Paulis 'Schimpf
und Ernst' ebenso wie das 'Vademecum für lustige Leute' ;^ aber er gab
ihnen erst das echt volkstümliche Gepräge, die freie Satzfügung und lose
Satzverbindung,*^ die Bildlichkeit und die Hinweisung auf das unmittelbar vor
Auge Stehende. Die Moral ist, öfters auch ironisch, durch ein Merke! an-
gefügt, wie auch die Gedichte zuweilen mit einem trockenen Schluss die rüh-
rende Erzsehlung beendigen. Ja gefühlvolle Schilderungen werden wohl durch
einen Spass unterbrochen, der das Gemüt des Lesers wieder in das Gleich-
gewicht setzt. Doch kommt der tiefste Ernst ebenso zu ergreifendem Aus-
druck und überall fühlt man den sicheren Grund der Religiositset, wenn
auch weniger als bei Claudius darauf hingewiesen wird. Auch Wunderbares,
Ahnungen und Prophezeiungen, lehnt Hebel nicht ab. Daneben ergeht er
sich in ausgelassenen, auch derben Spaessen, und gibt namentlich die Streiche
seiner Spitzbuben mit köstlichem Humor wieder. Politische Erörterungen
sind eingemischt, die freilich sich den Zeitverhältnissen anpassen und daher
für die Franzosen gegen die Tiroler und gegen die Preussen Partei ergreifen
mussten. Endlich verwertet Hebel seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse
in gemeinnütziger oder erbaulicher ^ Absicht und beschäftigt den Verstand mit
Reetseln und Rechenexempeln.
Hebels Vorgang erweckte zahlreiche Nachfolge in der Dialectdichtung,
ganz besonders in der stammverwandten Schweiz, wo der Züricher Johann
Martin Usteri^*^ sich dicht an ihn anschloss. Geboren 1763 starb er 1827
in Rapperswyl, wo er erkrankt Heilung gesucht hatte. Einer reichen Kauf-
mannsfamilie angehcerig, 1783 auf Reisen durch Norddeutschland, die Nieder-
lande und Frankreich, seitdem behaglich zu Hause gebheben, konnte er in
den Stürmen um die Wende des Jahrhunderts sein Vermcegen nur mit Mühe
und nur zu einem Teile retten und ward gleichzeitig durch den Verlust seines
einzigen Kindes schwer getroffen. Und doch wahrte er die Heiterkeit seines
Gemütes, deren Ausdruck in dem Lied Treut euch des Lebens' (1793) ^^
auf dem ganzen Gebiet deutschen Gesanges Wiederhall gefunden hatte. Wie
Salomo Gessner, für dessen Andenken er Sorge trug, war Usteri auch Maler
7) Behaghel (Anm. 2.) XXIX. 8) Anakoluthien und Parentheseu ; Ankniipfuugen mit Also,
Drum usw. 9) Auch 'Biblische Geschichten für die Jugend' gab er Stuttgart 1812 uö. heraus.
10) Lebensbeschreibung in der erst von David Hess aus dem Nachlass veranstalteten Ausgabe
der Dichtungen in Versen und Prosa von J. M. Usteri', Berlin 1831. 111. n853. 11) LB. 2,
51t> NEUJloCIliJKl TSCIIK ZEIT. XVIll JAIIIMI. § W2
und bcsontlors an Hchorzliaftcn Zciohnunji^eii in Chodowiockis Art unciHchöpf-
ücli. Für die Züriclier Küiistlorgestdlschatt, die er 1800 zur allgemein Schwei-
zerischen erweiterte, dichtete er muntere Lieder und Balladen, Seine beiden
Idyllen im Dialect, die ländliche De Vicari'' und die staedtischc De Herr
Heiri' haben satirische Züge; doch weiss er auch etwa junge Ma3dchen zart
zu zeichnen. Eigentümlich war Ustori die Verwendung geschichtlicher Vor-
stufen seiner Mundarl : vcutrettiich wusste er das mittelhochdeutsche und die
Sprache des Kl. Jahrhunderts in Liedern und Erzadilungen nachzubilden, so
dass diese Stücke, von ihm auch in Schritt und iülderschmuck altortündich
geformt, selbst Kenner auf dcu ersten Blick tajuschen konnten: Thuman zur
Lindens Abentheuer auf dem grossen Schiessen zu Strassburg ir)76'' ua. Un-
vollendet blieb ein solcher als 'Badschenke' '- gedachter Novellencyclus 'der
Erggcl im Steinhus. Wie die Sprache suchte Ustcri auch die alte Sitte
namentlich in Festlichkeiten wieder zu beleben und wirkte dafür durch seine
'Neujahrsstücke', die an die Schuljugend verteilt wurden.
Wadirend in der Schweiz die volkstümliche Dichtung zur Wiederbelebung
des Altertümlichen führte und somit in die durch die Jtomantiker in Deutach-
land hervorgerufene Strtrmung einmündete, zeigte sich in einer deutschen
Reichsstadt, die in Folge der llevolutiouskriege ihre Selbständigkeit verlor,
das alte Wesen des Volkes in tüchtiger, wenn schon beschränkter Sinnesart
und gleichfalls im Dialect. Joh.\nn Koxrau Griebel, Stadtflaschner in
Nürnberg, geb. 1736, gest. 1809, wurde durch ein Spottlied auf die Schlacht
bei Rossbach zum Dichten angeregt und sah seinen ersten Versuch 1790 ge-
druckt. Bis 1806 erschienen vier weitere Sammlungen von ihm, 1812 noch
einiges aus dem Nachlass. '•'' Alle Gedichte sind in Reimen, meist auch in
Strophen abgefasst, gewudmlich scherzhaft, auch derb, durchaus im Geiste des
Handwerkers, dessen Geradsinn und gesunder Verstand sich durch die Schwierig-
keiten der Zeit durchhilft. '^ Viele Vademecumsgoschichten begegnen, darunter
solche, die auch bei Hebel '^ sich finden, und freiUch hier glücklicher, vor allem
kürzer behandelt sind. Hans Sachs, den auch Usteri scherzhaft nachahmte,"*
war Gruebels Vorbild; aber er zeigt, wie wenig die Bildung des Handwerkers
1281; wo auch Stücke aus Usteris mundartlichen Idyllen. 12) Geschenk zu einer Badecur:
vpl. Murners Badenfahrt. Strasshurg 18ö7. S. XIX. 18) Die beste Ausgabe ist die mit Gram-
matikund Glossar von Karl Frnnnnann versehene 'Grübeis sämtliche Werke', Nürnberg 18.J7, VI.
Vgl. auch Jt'h. Priem. K. Grübel und seine Nachfolger, Nürnberg 1878. 14) Goethe. Jen. Litt.
Zeit. 1805, nennt Gruebel einen 'Philister mit Bewusstsein". 15) Der Bauer und der Doctor
1. 12 = Hebels Erzählung 'Das seltsame Recept'. 16) Der Frühlingsbote. Gemähide ä la
§ 162 GRUEBEL. KOÖEGARTEN. MATT11I8Ö0N. 517
iu neuerer Zeit auf einen selbständigen Fortschritt hoffen Hess. Freilich war
der Nürnberger Dialect nicht bloss lautlich neben dem Hebels ungünstig
gestellt.
Auch schlug die lyrische Dichtung zu Goethes und Schillers Zeit über-
wiegend einen ganz anderen Weg ein und suchte sich moeglichst den antiken
Mustern, der classischen Anschauungsweise zu najhern. So dichtete Gotthart
Ludwig Ko8E(mrtkx,'^ geboren 1758 zu Grevismühlen bei Wismar, Pfarrer
zu Altenkirchen auf Rügen 1792 — 1808, hierauf Professor zu Greifswald, wo
er 1818 starb. Ein leichtflüssiger, weicher, nur allzu fruchtbarer Dichter*^
und Redner, ging er aus von Klopstock, dessen Masse er viel gebrauchte,
schloss sich dann besonders an Voss und seine hexametrischen Formen an
und verfasste nach der 'Luise' insbesondere Jucunde, eine ländliche Dich-
tung in fünf Belogen', Berlin 1808: hier und schon in der 'Inselfahrt' 1805
gab er begeisterte. Schilderungen Rügens, wie er auch für seine Romane,
Ida von Plessen', Dresden 1800, II ua. diese Örtlichkeiten benutzte. Seine
'Rede am Napoleonstag' 1809 und seine politische, durch die liberalen Phra-
sen und Formen der Franzosen bestimmte Haltung, konnte er durch seine
'Vaterländischen Gesänge' 1813 nicht wieder gut machen.
Doch die Landschaftsdichtung fand ihren Meister in Friedrich von
Matthisson,*^ welcher, wie Schiller ^"^ auseinandersetzte, es verstand die ein-
zelnen Vorgänge der Naturerscheinungen in ihrer Aufeinanderfolge zu stim-
mungsvollen Bildern zu vereinigen und etwa an ein 'Abendgemeelde'-^ oder
eine 'Mondscheinlandschaft' sehnsuchtsvolle Gedanken an die Heimat, die
Kinderjahre, die fernen Freunde anzuknüpfen. Auch die Strophenformen er-
hcehten den musikalischen Eindruck dieser Dichtungen.^^ Matthisson, 1761
zu Hohendodeleben bei Magdeburg geboren, ward früh mit Klopstocks Dich-
tung bekannt und durch Goethes Jugendwerke in seinem Enthusiasmus für
die Natur bestärkt. 1781 in das Philanthropin zu Dessau als Lehrer einge-
treten, begleitete er spseter seine Zoeglinge auf Reisen, welche ihn bei seiner
Brengher: LB. 2, 1282. 17) Auf den Titeln seiner Schriften nennt er sich auch L. Theobul
(Theoboul)K. Über sein Leben s. H. Franck, G. L. Kosegarten, Halle a/S. 1887. 18) Vgl.
Goethes u. Schillers Urteile in ihrem Briefwechsel. Kosegartens 'Gedichte' erschienen zuerst
Leipzig 1788, ^ Greifswald 1824—27: 'Dichtungen, hg. von seinem Sohne. Eine Sammlung
von Poesie und Prosa veröffentlichte er als Rhapsodien, Rostock 1790 — 94, IL 19) Selbst-
biographie und 'Erinnerungen' in der Gesamtausgabe seiner ^Yerke letzter Hand, Berlin
1832, VIII (dazu IV Bände litterarischer Nachlass). H. Doering, Matthissons Leben,
Zürich 1833. Matthissons 'Lieder' waren zuerst 1781 erschienen. 20) AUg. Lit.
Zeitung 1794. 21) LB. 2, 1249 fgg. 22) 'Adelaide' von Beethoven componiert.
518 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XVHl JAHlül. § 102
Gewiindtheit und violseitig(Mi Eiiiptanf^liclikpit mit den meisten litterarischen
Groessen der Zeit in Verbindung brachten. Nach längerem Autenthalt in der
Schweiz und Frankreich ward er 1795 Vorleser und Ileisegesellschafter der
Fürstin Luise von Dessau, in deren Begleitung er auch Italien sah. Nach
ihrem Tode 1811 lebte er bis 1828 am Hofe zu Stuttgart, von welchem er
bereits ISO!) den Adel erhalten hatte. Seinen Lebensabend bis 1831 ver-
brachte er wieder in Würlitz. Neben den weichen Landschaftsgemadden lieh
er auch dem Unmut über den Zwang des Hof- und Gesellschaftsdienstes in
Epigrammen Ausdruck und verwendete seine Formengewandtheit als Heraus-
geber der 'lyrischen Anthologie', Zürich 1803 — 7, XX.
So gab Matthissou auch die Gedichte mehrerer seiner Freunde'-'' heraus,
von denen ihm besonders nahe, auch als Dichter, Johann Gaudknz von Sai.i.s-
Seewis stand. Geboren 1762 auf Schloss Bothmer bei Malans nördlich von
Chur, starb er ebenda 1834.^* Die franzoesische Revolution traf ihn als
Hauptmann in einem Schweizerregiment. Die Kämpfe von 1792 erlebte er
in Paris ohne selbst daran Teil zu nehmen, und begleitete dann das franzoe-
sische Heer nach Savoyen. Seitdem lebte er in der Heimat als schweize-
rischer Offizier, spseter als Beamter des Kantons Graubünden. 1793 waren
seine Gedichte'-'^ zuerst erschienen, mit einfacherem Ausdruck, innigerem
Gefühl und durch die Reimstrophen noch sangbarer als die von Matthisson.
Hölty, dem Vorbilde dieser Dichtungsweise, kam er am nsechsten.'-^^
Ein älteres Muster, Kleists Idylle mit ihrem Unmut über die Falsch-
heit und Gewaltth^tigkeit der Kulturwelt,-" wiederholte sich nicht sowohl aus
litterarischer Einwirkung, als wegen der gleichen stoischen Gesinnung in
Johann Gottfried Seumk,^* dessen Gedichte 1801 erschienen.-'-' Geboren
1763 zu Poserna bei Weissenfeis, starb er zu Teplitz 1810. Auch er nahm
23) Friderike Brun, geb. Munter, 'Gedichte, herausg. von Matthisson', Zürich 1795 uö.
'Neue Gedichte", Darmstadt 1812, 'Neueste Gedichte', Bonn 1820. Geb. 1765 zu Graefentonna,
gest. zu Kopenhagen 1835, verwertete die Dichterin ihre Reiseeindrücke aus der Schweiz,
Frankreich und Italien auch in Tagebuchform. 24) G. W. Rieder, Der Dichter J. G.
von Salis-Seewis, St. Gallen 186.'3; Adolf Frey, J. G. von Salis-Seewis, Frauenfeld 1889.
25) Zu Zürich, •M821, dann noch 1839. Auswahl von A. Frey in Kürschners Nat.litt. 41, 2.
LB. 2, 1261. 26) Von anderen Idyllen- und Landschaftsdichtern lebt Friedrich
August Wilhelm Schmidt, Pfarrer von Werneuchen, geb. 1764, gest. 1838 durch GfBthes
Spottgedicht fort: 'Musen und Grazien in der Mark'. LB. 2. 1087. Vgl. auch A. W.
Schlegels Hohn LB. 3, llÜO. 1102 fgg. Berliner Neudruck 1889. 27) 'Ein Canadier,
der Europas übertünchte Hoeflichkeit nicht kannte". 28) Mein Leben*, vollendet
von C. A. H. Clodius, Leipzig 1813. 29) Sämtliche Werke, Lpz. 1826. XII, uö.
§ 162 SALIS-SEEWIS, SEUME, HÖLDERLIN. 519
wie Kleist am Kriege Teil, aber gezwungen in Amerika unter den von ihrem
Landgrafen verkauften Hessen, dann in Polen unter den Russen, Deutsch-
lands Fall erfüllte ihn mit tiefer Bitterkeit. Ein Vorleeufer des Turnerwesens
machte er 1802 zu Fuss einen 'Spaziergang nach Syracus", den er (Leipzig)
1803 beschrieb.
Andere Dichter suchten Schillers Ideendichtung , seine Verbindung von
Philosophie und Poesie nachzubilden:''" keiner mit so übermächtigem Gefühl
und daher auch mit so trübem Schicksal wie Friedrich Hölderlin. "'' Neckar-
abwärts von Schillers Geburtsort, zu Lauffen bei Heilbronn war er 1770 ge-
boren. Durch Schiller ward er 1793 an Frau von Kalb als Erzieher ihrer
Kinder empfohlen und bekleidete 1796 — 98 dieselbe Stelle im Hause eines
Frankfurter Banquiers. Dessen Frau, zu Hamburg in Klopstocks Kreis auf-
gewachsen, ward Hölderlins Diotima. Unter Misshandlungen aus dem Hause
getrieben, lebte er zunsßchst bei Freunden in Homburg, dann in der Heimat
und kam, nachdem mehrere Lebenspleene gescheitert waren, 1802 nach Bor-
deaux. Aber noch in demselben Sommer kehrte er zu seiner Mutter zurück,
zu Fuss, wie ein Bettler, wahnsinnig: vielleicht hatte er unterwegs den Tod
der Geliebten erfahren. Alle Heilversuche schlugen fehl. 1806 — 43 lebte
er zu Tübingen im Hause eines Tischlers als stiller Pflegling. Hölderlins
Dichtungen ^^ sind Hymnen, Oden, Elegien in Klopstocks Formen, die er
aber mit neuem Wohllaut zu erfüllen wusste und in welche er seine ganze
Begeisterung für Freundschaft und Liebe, Vaterland und Natur ergoss. Doch
wie sein Pantheismus^^ in Verzweiflung an Allem umschlug, so trübte schon
30) Wie sehr die Zeit solche Bestrebungen schätzte, zeigt der Erfolg der 'Urania' von
Christoph August Tiedge. Geb. 1752 zu Gardelegen, gest. 1840 zu Dresden, fasste er in
diesem zuerst zu Halle 1800 veröfientlichten Gedicht die rationalistische Unsterblichkeitslehre
in freie Verse mit matter, breiter Ausdrucksweise. Tiedges Werke erschienen St. Gallen
1832—33, X; dazu Leben und Nachlass 1841. Er war Gleims Schützling gewesen, spseter
sorgte für ihn Elise (eigentlich Charlotte) von der Recke (1756 — 1833), eine vornehme
Kurländerin, deren Reise durch Deutschland 1784—86 von ihrer Begleiterin Sophie Becker be-
schrieben wurde : s. 'Vor hundert Jahren', hg. von Karo und Geyer, Stuttgart o. J. Die Gedichte
der beiden Freundinnen gab der Gatte der letzteren heraus : Elisens und Sophiens Gedichte
herausg. v. Schwarz, Berlin 1790. 31) F. Hölderlins Sämtliche Werke, hg. von Chri-
stoph Schwab, Stuttgart und Tübingen 1846, IL Dichtungen von Hölderlin, mit biogra-
phischer Einleitung von K. Köstlin , Tübingen 1884. Vgl. auch R. Wirth in Schnorrs
Archiv XIV 299. 429. Carl C. T. Litzmann, F. Hölderlins Leben in Briefen von und an
Hölderlin, Berlin 1890. 32) LB. 2, 1:501 fgg. 33) Hölderlins philosophische Äusse-
rungen stellt schoen zusammen A. Wilbraudt in 'Führende Geister', hg. von A. Bettelheim 2,
Dresden 1890. Hölderlin beerte Fichtes Vorlesungen in Jena ; Hegel und Schelling waren
520 NEUII0CHDEUT8C11E ZEIT. XVlil. .JAlllUl. § 162
die Voralinuiif; Hciucs hurten Scliicksuls sein (icniüt; seine EinpaTung über
den kalten Missbrauch der ha'chston Worte und Gedanken, ül)er die Öchwäclie
des deutschen Nationalgeistes"* brachen in Jlohii und Verwünschung aus.
Mit solchen Äusserungen scidoss auch sein Jvonian ' Hyperion', ■'•' ein 15ihl seiner
IInffnung(Mi und seiner Eiittteuschungen, das er in den griechischen Aufstand
zur Zeit der Schlacht bei Tschcsme 1770 verlegt hatte. Ebenfalls unter
Griechen, aber unter denen des Altertums, die für ihn den Gipfel mensch-
licher Entwickelung bedeuteten , spielte seine unvollendete Tragcedie 'Eni|)e-
do('les\ auch sie eine Darstellung des vergeblichen Ankämpfens gegen Stumpf-
sinn und Gemeinheit. Die Tiefe der Empfindung, der Adel des Ausdrucks
gibt auch seiner spaeteren Dichtung einen immer wieder anlockenden Reiz,
bis diese zuletzt keinen rechten Zusammenliang mehr zu Stande bringt.
Ein langes, eifriges Bemühen um philosophische Bildung und schliess-
lich ebenfalls den Verzicht auf ein sicheres Erkennen spricht auch Jesn
Bacwesen aus,"" nur dass er dann zu Jacobis Glaubensentschluss sich bekennt,
zugleich aber auch seinen bisherigen Lehrmeistern mit Spott lohnt. In ihm
greift die neu erwachende damische Litteratur in die deutsche ein; und ein
vorzügliches Verdienst hat er sich um Schillers Kettung aus bedrängter Lage
erworben (§ 101, vor Anm. 27). Geboren zu Korsa-r 17(j4 machte sich Bag-
gesen seit 1785 durch seine komischen Erziehlungen' bekannt."' Mit Staats-
unterstützung reiste er nach Deutschland und der Schweiz, von vro er 17UÜ
eine Enkelin llallers heimführte. Auch spaeter reiste der Unruhige viel um-
her und begeisterte sich erst für die franzoisische Revolution, dann für Na-
poleon. Auf der Heimkehr nach Kopenhagen 1820 überraschte ihn der Tod
zu Hamburg. Seine Tarthenais oder die Alpenreise, ein idyllisches Epos'^"
erza^hlt humoristisch Reiseerlebnisse, in die sich eine phantastische Berg-
götterwelt einmischt. Mit Voss, dessen Hexameter er hier nachgebildet hatte,
wandte er sich dann geo:en die Sonette der Romantiker mit dem 'Karfunkel-
oder Klingklingelalmanach'."^ In 'Adam und Eva, ein humoristisches Epos'*"
verband er endlich ernste und zarte Gedanken mit frivolem Spotte.
Ein Schützling Wielands war Johanx Daniel Falk, geboren 1768 zu
Danzig, der sich aus dürftigen Verhältnissen (er sollte Perrückenmacher wer-
■^■" ■-■-. . --■■■■ -- — ■ — — — ■ — ■
seine Studienfreunde. 34) LB. 2, 1321 fgg. 35) Ein Fragment in Schillers Thalia
1794. das Ganze, umgearbeitet, Stuttgart u. Tübingen 171»7. 09, II. Vgl. auch Schnorrs
Arch. XIII oöb. 36) Aus J. Baggesens Briefwechsel mit K. L. Keinhold und F. H.
Jacobi. Leipzig 1831. IL 37) (Tesammelt Kopenhagen 1792. 38) Hamburg und
Mainz 1804 uö. 39) Tübingen 1810. Vgl. § 158, 55. 40) Leipzig 1826: neue
§ 162 BAÜÜEÖEN, FALK. KOMISCHE ERZ.EllEUJNÜEN. 521
den wie sein Vater) durchgearbeitet hatte und von 1798 bis zu seinem Tode
182C zu Weimar lobte. Nach der Schlacht bei Jena erwarb er sich als
Dolmetscher Verdienste, und begründete 1813 eine Anstalt für die durch den
Krieg verwaiste und verwilderte Jugend. Als Dichter trat er 1796 mit einer
Satire 'die Menschen' nacli Boileau hervor, und die Reimfbrm, die Richtung
auf das Allgemeine und die Aufklauungstendenz blieb seiner Dichtung auch
weiterhin eigen, wenn er auch spaeter für Goethe und Scliiller gegen Kotzebue,
aber auch gegen die Romantiker kämpfte. Seine 'satirischen Werke' sam-
melte er, Leipzig 1817, VII. 'Die Ura^ber zu Rom', zuerst 1796 erschienen,
erinnern an Voltaires Zadig und schliessen sich im orientalischen Kostüm und
in der Stropheuform an "Wieland an.
Wielands romantisches Epos fand einen noch treueren Nachahmer in Jo-
hann Baptist von Alxinger (geb. 1755 zu Wien, ebenda gestorben als
Theatersecretger 1797), dessen 'Doolin von Maintz' zuerst 1787, dessen 'Bliom-
beris' 1791 erschienen,^ ^ beide nach altfranzcesischen Romanen in Stanzen
abgefasst. Alxingers Verbündeter im josephinischen Aufkla^rungskampf war
Alois Blumauek,^^ geboren 1755 zu Steyr, erst Jesuit, dann Censor, endlich
Buchhändler;^^ gest. zu Wien 1798. Seine travestierte Aeneis*'' führte die
Arbeit von Michaelis*^ aus, in derselben Form, aber mit burleskem Spott
besonders gegen die roemische Kirche.
Diese kecke, niedrige Manier der Erzsehlungsform fand einen passenden
Stoff und eine Behandlung, welche bis in die Gegenwart ihre Liebhaber ge-
funden hat, in der 1784 veröffentlichten Jobsiade^" von Karl Arnold Kortum
(geb. 1745 zu Mühlheim a. d. Ruhr, gest. 1824 als Arzt zu Bochum). Die
Knittelverse, die platte Sprache, die Ausstattung mit klotzigen Bildern pass-
ten vortrefflich zur ungeschminkten Darstellung des lüderlichen Studentenlebens
und des ebenso geistlosen Philistertums.
Verwandt war die Ballade und Romanze, wie man sie zuerst anfgefasst
und wie sie Bürger auch neben der edleren Nachbildung des erza3hlenden
Ausgabe im Auszüge uud mit (biographisclieu) Beilagen , Strassburg 1885. 41) Zu
Leipzig. Von Bliomberis besorgte Seume eine spätere Auflage, Leipzig 1802. 42) Sämt-
liche Werke, Leipzig 1801—3, VIII. P. v. Hofmann-Wellenhof, A. Blumauer, Wien 1885.
43) 1781 — 94 gab er den Wiener Musenalmanach heraus. 44) Zuerst nur das zweite Buch
'Die Abentheuer des frommen Helden Aeneas', Wien 1782; aucb im Deutschen Museum
dieses Jahres; das erste ward für sich und im Teutscheu Museum 1763 verötlentlicht; 1788
gelangte er bis zum 9. Buch. Neudruck von Grrisebach, Leipzig 1872. 45) § 155, 50.
46) 'Leben , Meinungen und Thaten von Hieronynius .Jobs dem Kandidaten', zuerst (ohne
22 NEUIIOCJIDEUTSCIIE ZEIT. XVIU JAUUll. § lü3
o'J'J
Volksliedes ^opHegt hatte. Derbkomische, z. T. auch lüsterno (iedichte dieser
Art, doch auch einfachere und reinere,^' machten Audusr Frikdricm Ernst
Lanmjbein beliebt, welcher, zu ]{adeberg bei Dresden 1757 geboren, 1800 bis
1835 zu Berlin lebte, litterarisch vielbesciiäftigt, auch als Censor. Seine
'Schwanke' erschienen zuerst in Dresden 1792, seine sämtlichen Schriften
zu Stuttgart 1835 fgg. XXX.""*
Die durchaus auf Witz ausgehende Art des Epigramms setzte nach
Lessing Johann Chkistoimi Fuikduich Hai.« fort, ein Jugendgenosse Schillers,
geb. zu Niederstotzingen 1701, gestorben als Bibliothekar zu Stuttgart 182i>.
Seine 'Epigrammen und vermischte (Jedichte' sammelte er 1805 ;^'-' sie sind
tiist alle gereimt und suchen allgemeine Fehler unter antiken Namen durch
ungeheure Übertreibung lächerlich zu machen, wie er denn auch 'Hundert
(spseter 200) Hyperbeln auf Herrn Wahls grosse Nase'""** geschrieben hat.
Vielfach gab er nur ältere Epigramme in neuer Fassung wieder.^' Als lie-
dakteur des 'Morgenblattes' 1807 — 17 bekämpfte er^'-^ die Romantik, welche
gerade in Schwaben eine neue und eigentümliche Blüte der Lyrik hervor-
bringen sollte.
§ 163.
Viel nffher hielt sich das Drama im letzten Drittel des Jahrhunderts
an die neuen grossen Muster und suchte mit diesen fortzuschreiten: gelangte
doch jetzt die Bühne überhaupt erst zu voller Anerkennung, und ihre Lei-
stungen fanden eine begeisterte Aufnahme wie nie zuvor. An diesem Erfolge
hatte die wachsende Kunst der Schauspieler vollen Anteil. Schroeder und
Iffland waren die gefeiertsten Namen, denen sich jedoch andere in grosser
Zahl anreihten. Und eben diese Schauspieler dichteten nun auch. Eine vor-
zügliche Kenntnis des Wirksamen stand ihnen zu Gebot und gern folgten
sie den wechselnden Wünschen der schaulustigen Menge. Eine reiche Fülle
von Dramen entstand, die freilich oft den Werken der grossen Dichter der
Zeit eben nur das Äusserliche abgesehen hatten und durch die Sucht nach
dem Neuen gehoben, aber eben dadurch auch rasch wieder verdrängt wur-
Namen dos Dichters) Münster 1784 uö. 47) LB. 2, 1267. 48) Darin eine kurze Biographie
von F. W. Goedike. Gutmütige Laune war der Grundzug in Langbeins Charaoter. Aus-
gabe der humoristischen Gedichte von Tittmann, Berlin 1874. 49) In II Bänden,
Berlin. 'Sinngedichte' von ihm waren schon zu Leipzig 1701 erschienen. 50) Stuttgart
1804. 51) Eine epigrammatische Anthologie verööentlichte er 1807- M. X. 52) H.
Fischer. Klassizismus und Romantik in Schwaben zu Anfang unseres Jahrhunderts ün der
Festgabe der Universität Tübingen 1889).
§ 1G3 HAIIG. RITTEUDRAMEN. 523
den.' Vielfache Umarbeitungen zeigen die Unsicherheit und Willkür der
Dichter und ihre Anpassung an den Geschmack der Zuschauer.
Den stärksten Eindruck unter den neuen Dramen hatte Goethes Götz
gemacht: damit war das Ritterdrama '-^ begründet, das zugloicli dem deutschen
Nationalstolz und dem Missvergnügen über die bestehenden Staats- und Ge-
sellschaftsverhäitnisse entgegen kam. Die Kraftreden der Ritter, ihre klang-
vollen Namen, die Rüstungen und altdeutschen Gewänder'' übten gewaltigen
Reiz auf Aug' und Ohr. Die lose dramatische Form des Götz schien die
Nachahmung leicht zu machen: in Götz und bei Shakespeare fand man eine
Fülle von Scenen, die man mit geringer Abänderung und in immer wech-
selnder Anordnung bequem wiederholen konnte. Wie in diesen Musterstückeu
kam nun alles auf die Bühne, was die franzoesische Tragoedie nach klassischem
Yorbild im Gespraech mit Vertrauten oder durch Botschaften hatte erzaihlen
lassen: selbst Turniere, Belagerungen, vor allem aber 'das heimliche Gericht'.
Solche Massenscenen mussten immer wieder lärmend eintreten; aber auch der
Einzelne gab sich ganz seiner Leidenschaft hin. Selbstverständlich war Prosa
die Form des Dialogs.
Auf Götz war bald Klingers Otto gefolgt^; dann hatte Müller seine Ge-
novefa gedichtet. Die Bühne zu Mannheim, wo Müller damals lebte, ward
die Hauptstätte des Ritterdramas. Für sie dichtete der Hofgerichtsrat Jacob
Maier sein 'pfälzisches Nationalschauspiel: Der Sturm von Boxberg' 1778,
'Fust von Stromberg' 1782, beide Dramen erfüllt von Pfaffenhass, beide aus-
gezeichnet durch antiquarische Kenntnisse, welche in den Anmerkungen ge-
lehrt erörtert waren, aber auch bühnenwirksam.^ Von Mannheim aus ver-
pflanzte sich diese Neigung für das Ritterdrama nach München, zugleich mit
der Vereinigung Bayerns und der Pfalz durch Karl Theodor 1778: die gleich-
§ loo. 1) Eiue Auswahl der merkwürdigsten dieser Dramen mit biographischen Eiu-
leituugeu über die Dichter hat Adolf Hautt'eu in Küi'schuers Dtsch. Nat.litt. 138. 139, 1. 2
zusammengestellt. 2) Otto Brahm, Das deutsche Ritterdrama des 18. .Jahrhunderts.
Studien über J. A. von Törring, seine Vorgänger und Nachfolger, Strassburg 1880, QF. 40.
Dazu R. M. Werner Anz. f. d. Alt. VII, 417 fgg. 3) Gewisse Vornamen wie Adelbert,
Adelheid, Bertha wurden jetzt beliebt im Drama wie im Leben; vgl. hierüber und über
die Freude an der altdeutschen Tracht Goetlies Wilhelm Meister Buch 11, Cap. X.
4) Etwa gleichzeitig dichtete im Strassburger Kreise von Lenz der Franzose Ramond de
Carbounieres seine Giierre d'Ahace, gedruckt 1780: s. ICrich .Schmidt, H. L. Wagner *118.
In Mannheim verfasste Anton v. Klein (159, IG) ein Singspiel (ninther von Schwarzburg' 1777 :
iu der Nshe L. Ph. Hahn (§ 159, 55) 'Robert von Hoheneckeu', Leipzig 1778, in AVieu
Blumauer (§lG2,42)'Erwine von Steinbach' vor 1780. öJSchillersBriefe au G(jetheNr.446 fgg.
524 iNEniOCIlDFJTSCIlE ZEIT. XVITl JAIIIMI. § 103
/eitiojen Al)ai(hren Josephs II auf Uayern boten Gologonhoit, das bavrisciu'
Staniinos- und Btaatsf^olühl hosondors kriiftif^ auszuKprftchoii. Aus innerster
Überzeugung gescbali dies durch Joski'Ii ArursT von Tökrin«, welcher,
1753 zu .München geboren, ebendort lH2fi starb, nachdem er die Würde
eines Pra^sidenten des Staatsrats bekleidet hatte. Von seinen zwei Dramen
verherrlichte das ältere'' Kaspar der Thorringer die Traditionen seiner Fa-
milie; Herzenseri'ahrungen gaben ihm zu Agnes Bernauerin' (.München 1780
uö.) Anlass und Farbe. Nicht ebenso einheitlich gedacht, da der Meuchelmord
erst psychologisch begründet, dann aber vom Thjeter selbst als Übereilung be-
klagt wird, wirkte dennoch durch den geschickten Aufbau noch packender
'Otto von Witteisbach' von Josei'H Makiis Babo, geboren 1756 zu p]hren-
breitstein, gestorben 1H22 zu Mimcheu": er veröffentlichte das Stück 1782
zu München durch den Druck, nachdem es bei der Aufführung politischen
Anstoss erregt und ein Verbot, vaterländische Schauspiele auf die Bühne zu
bringen, veranlasst hatte. Von den spa'teren Ritterdramen ist etwa noch des
Reichsgrafen Julh'r von Soden'* Ignez de Castro, 1784, von dichterischem
Wert, wenn schon nur ein Seitenstück zur Agnes Bernauerin; die übrigen
Ritterstücke, besonders die der neunziger Jahre, erschöpfen sich in »usser-
lichen Nachahmungen' und begnügen sich mehr und mehr mit rührenden
Eindrücken.
Hierdurch lenkte das Ritterdrama in das bürgerliche Schauspiel ein,
mit welchem es von vorn herein manche Ziele und Mittel gemeinsam hatte:
dem Stoffe der Agnes Bernauerin entsprechen hier die Liebesverbindungen
ungleichen Standes; einem Ritterstücke Sodens, welches die Doppelehe des
Grafen von Gleichen behandelte, geht Goethes Stella voraus. Wie in den
Ritterstücken war auch im bürgerlichen Drama der Alte mit rauher Schale,
weichem Kern eine Lieblingsfigur. Wie die biederen Ritter gegen pfäffische
Arglist, gegen fürstliche Herrschergelüste zu kämpfen haben, so werden im
bürgerlichen Schauspiel die Bo-sewichter gern als pietistische Heuchler dar-
gestellt und Minister oder Amtleute sind die Bedrücker von Bürgern und
Bauern. Die Fürsten schonte man meist : kam doch der aufgeklaerte Despo-
tismus der liberalen Strcemung entgegen. Dem verzerrten Bilde des Hoeflings
6) Es war 1779 fertig, wurde aber erst 1785 zn Klagenfurt gedruckt, unrechtmaessig, wie
auch in den Wiederholungen. 7) Seine zahlreichen anderen Schauspiele, auch Lust-
spiele müssen hier übergangen werden. 8) •)• Reichsgrafen v. Soden Schauspiele.
Berlin 17;»1, IV. 9) Den u'sterreichischeu Patriotismus vertrat F. W. Zieoler z. B.
mit Türstengroesse". auf den Streit Friedrichs des Schienen mit Ludwig von Bayern be-
§ 163 TÖRRING, BABO, SODEN. SOLDATENSTÜCKE. 525
stand der Soldat gegenüber mit dem ritterliehen Sinn, wofür Lessings Tell-
heim das Muster dargeboten hatte. Die in demselben Stücke gezeichnete
Gestalt des Spielers fand vielfache Verwendung. Die Wohlthaetigkeit, die bei
Lessing bereits zur Rührung beigetragen hatte, wurde von Späteren in ver-
schwenderischer Art zu diesem Zwecke verbraucht. Der gleichen Absicht
dienten die haeufigen Kinderscenen; und die jungen Maedchen, welciie in ihren
Liebesverhältnissen unglücklich waren oder zu werden schienen, wurden gern
als Waisen dem Mitleid der Zuschauer noch naeher gebracht.
Mit Lessing war in liamburg als Schauspieler Johann Christian Bran-
des '" bekannt geworden , der den Edelmut Tellheims in 'Graf Olsbach'
1768 nachbildete, EmiHe Galotti für 'Olivie' 1773 zum Muster nahm, spteter
jedoch sich den jüngeren Dichtern anschloss und im 'Landesvater' 1782 Gem-
mingens Plsene benutzte. Eine wegen ihrer leichten Aufführbarkeit rasch
beliebt gewordene Gattung hatte er 1774 durch sein 'Duodrama mit Musik:
Ariadne auf Naxos' mit Benutzung von Gerstenbergs Gedicht eingeführt. ^^
Brandes hatte noch in Stücken aus dem Stegreif gespielt. Ein anderer
Schauspieler und Dichter zeigte den Zusammenhang mit der älteren Kunst-
form darin, dass er den Ausstattungsprunk der Staatsaktionen, etwa das Bild
eines belebten Seehafens in das bürgerliche Schauspiel hinübernahm. Hein-
rich Ferdinand Mceller^^ erntete zunsechst in Prag, wo 1772 das Theater
einen neuen Aufschwung genommen hatte, reichen Beifall mit 'Graf von Wal-
tron oder die Subordination', 1776: den ergreifenden Eindruck einer mili-
taerischen Hinrichtung, die doch noch im letzten Augenblick abgewendet wird,
hatte er durch die auf den aufsässigen Offizier gehaeuften edlen Züge zu
steigern gesucht.
An solchen Soldatenstücken fand die Zeit, welche vom siebenjaehrigen
Krieg nur die glorreichen Erinnerungen bewahrt hatte, ein grosses Gefallen;
schon 'der Deserteur aus Kindesliebe' 1773 von Gottlieb Stephanie'^ verfasst,
ziiglich, Leipzig 179.5. 10) Geb. zu Stettin 1735, gest. zu Berlin 1799. Beine wechsel-
vollen Schicksale schilderte er in Meine Lebensgeschichte', Berlin 1799. 1800, 111. Die
Lustspiele von Brandes erschienen zu Leipzig 1773 — 7G, II: Sämtliche dramatische Schriften,
Leipzig 1790. 91, VIII. 11) Allerdings waren von AuGUST Friedrich vonGouk (§ l.")5, 15)
•(geb. 1743 zu Hildesheim. gest. zu Steinfurt 1789), welcher mit Gwthe in Wetzlar zusammen-
traf und in dem Trauerspiel 'Masuren oder der junge Werther' 1775 den ganzen dortigen
Kreis schilderte, bereits 1771 zwei Duodraniata erschienen: 'der Einsiedler' und 'üido':
allein für die Bühne war erst das Stück von Brandes wertvoll. 12) (ieb. 1745 zu
Ulbersdorf in Schlesien, gest. auf einer Reise in Fehrbellin iTltS. M. v. Schnvter, H. F.
Möller, Rostocker Diss. Berlin 1890. 13) Ein Breslauer, 1741—1800. Kr ward der
52«; NEUIIOCIIDEUTSCIIE ZEIT. XVIll .lAIIKII. ^ •«'••^
ward vielmals autf^cfülirt ; in einom anderen Stück die aUgedankten Offiziere'
1770, wiederholte dieser Diehter wesentlich Ijcssings Minna von Barnhclm.
Weit mehr als diese doch meist nur auf die na^chste JJühnenwirkung
berechneten Stücke besass inneren Wert das bürgerliche Drama eines Dich-
ters, der selbst den halberen Ständen angeluerte und dessen Hinspruch gegen
die Standesvorurteile, aus warmem Herzen gj'flossen, auch herzlich ergriff.
Der Ixeichsfreiherr Ott«» Hkinkich von Gemmix(Jkn,'* geb. 17r)5 zu lleil-
bronn, war wie Törrin^ mit dem Intendanten des Alannheimer Nationaltheaters
Wolfgang Heribert von Dalberg befreundet. Spteter kam er nach Wien, wo
er als politischer Schriftsteller für Joseph 11 tha'tig war und 1799 — 1805
als badischer Gesandter lebte. Er starb zu Heidelberg l.s;^t>. Sein Haupt-
drama, der deutsche Hausvater', Mannheim 1780, stellte sich dem 1759 er-
schienenen j^er^ de fumiUe von Diderot gegenüber; doch benutzte Gem-
mingen auch Lessing und Goethe, und ward seinerseits für Schillers Kabale
und Liebe '^ das Vorbild zu mehreren Zügen.
Die Rolle des Vaters, der seine Kinder vor den Folgen ihres Leicht-
sinns rettet, fand eine noch schärfere Auspraigung durch Gustav Frikdrich
Wilhelm Grossmann."' Sein Lustspiel Nicht mehr als sechs Schüsseln',
Bonn 1780, demütigt den Adelsstolz der Ha'Hinge und hebt die Soldatenehre
mit preussischem Selbstgefühl '' hervor.
Gewann Grossmann durch Kunst und durch Gesinnung die Achtung
der Besten '■', so ward die bürgerliche Ehre des Schauspielerstandes völlig
sicher gestellt durch Friedrich Ulrich LruEWi« Schru-:ukr. '^ p]r begründete
die eigentlich deutsche Schauspielkunst im Gegensatz zu der franzoesischen
'jüngere" genannt . weil ein älterer Bruder ebenfalls als Schauspieler und Schauspieldichter
in Wien th«tig war. Sämtliche Lustspiele, Wien 1771 — 86, VI. 14) Caesar Flaischlen.
0. H. vi>u (icmniiugeu . Mit einer Vorstudie über Diderot als Dramatiker, Stuttgart lö90.
15) Xo<h ua;her stimmen Einzelheiten in Schillers Drama zum 'Landesvater' von Brandes
(8. Flaischlen S. 13(> fg.). 16) Geb. 174G zu Berlin, Schauspieldirektor, gest. zu Han-
nover 1796. 17) V Aufzug, VII Auftritt: 'Er ging in's Feuer wie ein Brandenburger".
Der Fürst unterzeichnet übrigens 'Karl August". 18) Lessing. Schiller, (ni-thes Mutter.
19) Die Lebensgeschichte Schru'ders, welcher sich in der Jugend durch Schwierigkeiten und
Ve.rirrungen hindurch gekämpft hatte, verötfentlichte F. L. W. Meyer, Hamburg 1819, ll;-
litterarhistorisch behandelte sie B. Litzmann, F. L. Schroeder, ein Beitrag zur deutschen
Litteratnr- und Theatergeschichte 1, Hamburg und Leipzig 1890. narhdem er bereits Briefe
.Schru'ders an Gotter, ebd. 1887 herausgegeben hatte. Schroeders Lebensverhältnisse, ins-
besondere auch der frühe Tod seiner Schwester Charlotte 1775 sind in Goethes Wilhelm
Meister benutzt (^^ 16ü, 61). Schnjeders dramatische Werke, heransg. von Ed. v. Bülow mit einer
§ 163 GEMMINGEN, GROSSMANN. SCIIRCEDER. 527
Declamation und abgemessenen Geberdensprache, wie Ekhof sie noch geübt,
aber freilich auch seelenvoll vertieft hatte; Schrceders Vortrags- und Dar-
stellungsweise hielt sich so viel als moeglich an die Natur, immerhin inner-
halb der Grenzen des Schfpnen. Geboren zu Schwerin 1744, gestorben 1816
auf seinem Landgut zu Reilingen bei Hamburg, erwarb er sich als Bühnen-
leiter zu Hamburg 1771 — 98 (nur 1784 — 85 gebeerte er dem Burgtheater zu
Wien an) ausgezeichnete Verdienste namentlich durch die Einführung der
Shakespeareschen Stücke, zuerst des Hamlet 1776, wobei er mehr und mehr
auf das Original zurückgrifF, wfehrend bis dahin nur Weisses Umgestaltung
einiger Stücke Shakespeares nach franzoesischem Muster Beifall gefunden
hatte. Selbst verfasst hat er mehrere Lustspiele : 'das Testament' 1781, der
Fäbndrich'2o 1782, ^der Ring' 1783, 'Stille Wasser sind tief 1784, 'Unglück-
liche Liebe durch Delicatesse' 1788. 'Das Porträt der Mutter oder die Privat-
komoedie" 1786 kehrt ein Motiv von Sheridans 'Lästerschule' um, vergütet
aber die nicht eben einleuchtende Voraussetzung dass der Verlust eines Por-
träts der Mutter dem Solm die Liebe seines Vaters völlig entzieht, durch
Lebhaftigkeit und Lustigkeit der Ausführung.
Hseusliches Leben, aber nach einer anderen Seite hin, schilderte Schrce-
ders Rivale als Schauspieler und Schauspieldichter, August Wilhelm Iff-
LAND.^' Zu Hannover 1759 geboren, zum Prediger bestimmt, ward er, durch
Schroeders Spiel für seinen Beruf gewonnen, in Gotha durch Ekhof geschult,
eine Hauptstütze des Mannheimer Theaters, 1796 Generaldirector des Ber-
liner Hoftheaters und starb 1814. Als Schauspieler mehr berechnet^' als
genial, besser in komischen als in tragischen Rollen, hat er sich vor allem
durch die Pflege der Schillerschen Dramen verdient gemacht und damit
zugleich den Patriotismus in schwerer Zeit gehoben. Durchaus loyal gesinnt
zeigt er sich auch in seinen Festspielen. Auch sonst an Theaterdichtungen
sehr fruchtbar (seine Sammlung vereinigt 61 Stücke) suchte er besonders
das bürgerliche Leben naturgetreu und zugleich so rührend als moeglich dar-
Einleitung von L. Tieck. Berlin 18.31. IV. 20) Hier gertet der Trseger der Titeh-olle in den
Verdacht einen silbernen Lütfel entwendet zu haben : darauf bezieht sich Schillers Spott in den
Xenien LB. 2, 1223, 25. 21) 'Dramatische Werke', Leipzig 1798—1802, XVI; und
vollständig 'Theater von Iffland", Wien 1834. XXIV. Darin auch Teber meine theatra-
lische Laufbahn' (Neudruck durch H. Holstein in 'Deutsche Lit.-denkm. 24. Heilbronn
1886), bis zum Verlassen Mannheims reichend und eine Rechtfertigung dieses Schrittes.
Vgl. auch W. Koffka, Ufland und Dalberg, Leipzig 1865. 22) Seine 'Fragmente
über Menschendarstellung auf der Bühne', Gotha 1785: 'Theorie der Schauspielkunst",
VVackprnagel, Litter. Geschichte. II. 35
528 NEUIIOCIIDEUTÖCHE ZEIT. XVIII JAJUUI. § 163
zustellen. So steht sein weiclilichcs Lustspiel Die Hagestolzen'-' dem satiri-
schen von Brandes 'Der Hagestolze' scharf gegenüber. Am besten gelangen
ihm die Ja'ger" 1785,-^ biedere, etwas unbehiilfliciic Menschen, die unter
dem Hasse eines Amtmannes leiden. Auch 'der Spieler' 1791) ward noch
lange wiederholt. Ifflauds Ph-stliug 'Albrecht von Thurneisen' 1781 behandelt
die Schrecken der militärischen Disziplin, nach Möllers VValtron', aber mit
tragischem Ausgang. Das Verbrechen aus Ehrsucht' 1784^^ stellt einen
Kassendiebstahl dar, der noch rechtzeitig durch einen Verwandten gedeckt
wird. 'Elise von Valberg' 1791 führt eine Hofiutrigue gewandt und mit be-
friedigendem Schlüsse durch.-" Überall aber ist für Mand das Theater eine
Sitten- und Tugendschule; nur ist es eben eine oberflächliche und schwäch-
liche Auffassung, welche, wie Gcethe urteilt,'-" ihm die Kultur als Quelle aller
moralischen Verkommenheit erscheinen lässt.
Ein bürgerliches Schauspiel von gewandtester Technik und erfüllt von
Rührseligkeit, 'Menschenhass und Reue', machte 1789 emen jungen Dichter
nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa berühmt, dessen Theater-
stücke für das na^chste Jahrzehnt die Bühne völlig beherrschen, und spaeter
auf lange hinaus sich immer noch neben Schillers Meisterwerken behaupten
sollten. August von Kotzebue"-* war 1701 zu Weimar geboren, ein Neffe
von Musseus.-'-' 1781 kam er nach Russland, wo er 1 785 in den Ostseeprovinzen
ein einflussreiches Amt und den Adel erlangte. 1790 brachte ihn freilich sein
noch dazu Knigge (§ 156, 52) aufgelogenes Pasquill 'Doctor Bahrdt mit der
Berlin 1815. 23) Aufgeführt 1791, gedruckt 1793. Hier leiht die frömiuelnde
Schwester des Hagestolzen auf Pfänder: vgl. Schillers Xenien LB. 2, 1223, 25. 24) Crleich-
falls in den Xenien wird Iftland als der einzige echte Darsteller der .Jteger hezeichnet. wie
Voss allein (in Luise) den l'farrer zu schildern verstanden habe. 25) Den Titel gab
Schiller an: vgl. andererseits § 161, 17. 26) Das fürstliche Par, dessen Verscehnung
dargestellt wird, darf auf Karl August und Luise von '\\"eimar gedeutet werden. 27) Goethes
Gesprteche, hg. von Biedermann 1, 185. 28) Abschnitte seiner Lebensgeschichte erzaehlte
er ruhmredig selbst: 'Meine Flucht nach Paris im Winter 1790'. Leipzig 1791; 'Das merk-
würdigste Jahr meines Lebens", Berlin 1801 , II. 'Erinnerungen aus Paris im J. 1804".
Berlin 1804 ua. Diese Stücke wurden als Kotzebues 'Selbstbiographie', Wien 1811 , nach-
gedruckt. Daraus schöpften F. Cramer, Kotzebues Leben. Nach seinen Schriften und nach
authentischen Mitteilungen dargestellt. Leipzig 1820. und H. During, Kotzebues Leben, Weimar
1830 , als Supplementband zu 'Sämtliche dramatische Werke von K.', Leipzig 1828 — 29,
XLIV. Von Familienpietaet erfüllt ist: 'A. v. Kotzebue , Urteile der Zeitgenossen und der
Gegenwart zusammengestellt' von W. v. Kotzebue, Dresden 1881. 29) Vgl. § 155, 85.
§ 163 IFFLAND, KOTZEBUE. 529
eisernen Stirn' um die Achtung aller Strengergesinnten. ^" 1795 von seinen
russischen Ämtern zurückgetreten, wirkte er 1797 — 99 zu Wien als Theater-
dichter, ward 1800 von Kaiser Paul nach Sibirien geschickt, aber bald be-
gnadigt und an den Hof gezogen. Er versuchte dann, wie schon früher,
vergebens in Weimar neben Goethe sich geltend zu machen; auch ein An-
schlag Schiller auf Goethes Kosten zu verherrlichen, wurde von diesem ver-
eitelt. Dann gab Kotzebue zu Berlin 1803 — 7 'den Freimüthigen' heraus,^^
spaeter in liussland 'die Biene' und 'die Grille' gegen Napoleon; lebte 1813
bis 1817 in Koenigsberg als russischer Generalkonsul, ward aber wegen seines
giftigen Hohnes auf die deutschen Freiheitsbestrebungen 1819 zu Mannheim
von Sand, einem Mitglied der Burschenschaft, erdolcht. Noch jetzt sind
Kotzebues Lustspiele beliebt,^'-^ besonders auf den Liebhaberbühnen, und für
solche hatte er seine ersten Stücke auch verfasst. Er besass die unter den
deutschen Dichtern seltene Gabe des natürlichen, raschen und witzigen Dia-
logs, des einfachen und doch immer überraschenden Aufbaues : er hätte eine
hervorragende Stelle auch in der Litteraturgeschichte gewinnen können, wenn
ihn nicht sein Leichtsinn und seine Eitelkeit zu eilfertiger, massenhafter''^
Hervorbringung getrieben und wenn er nicht überhaupt tiefere Gefühle nur
als flüchtige Stimmungen oder gar als übertreibende Nachahmungen gekannt
hätte. So verdarb er auch gute Plsene durch freche, niedrige, zweideutige
Scherze,^^ und Hess dadurch seine aiusserlichen Kührmittel, Wohlthsetigkeit,
Gebete, Kinderscenen, erst recht in einem bedenklichen Lichte erscheinen.
Zu der Fülle seiner Theaterstücke konnte er begreiflicherweise niu- durch die
keckste Benutzung franzoesischer und englischer Originale gelangen. Alle
Gattungen versuchte er: neben dem Lustspiel in Prosa oder Alexandrinern,
neben dem rührenden Schauspiel auch das Ritterdrama in 'Johanna von
Montfaucon' und die historische Jambentragoedie in 'Rudolf von Habsburg
und Koenig Ottokar von Bochmen' ua. Gern verlegte er den Schauplatz in
fremde Länder, um bei den Wilden volle Freiheit von Yorurteilen, wozu er
auch weibliche Unschuld und eheliche Treue zu rechnen scheint, darstellen
zu können: so treten bei ihm schon 1790 'die Indianer' (eigentlich Ostindier)
30) § 156, 52. 31) Seit 1804 mit Garlieb Merkel zusammen: s. über diesen Kritiker:
G. Merkel, Über Deutschland zur Schiller- und Goethezeit . . mit biographischer Einleitung
von J. Eckardt, Berlin 1887. 32) 'Die Zerstreuten', 'Der Wirrwarr' ua. 33) Man
zseMt 211 Stücke von ihm. Die meisten erschienen in seinem 'Almanach dramatischer
Spiele zur geselligen Unterhaltung auf dem Lande', Leipzig 1802 — 19. Zuletzt gesammelt
in seinem Theater', Leipzig 1840—41, XL. 34) Als das Stärkste nennt er selbst das
530 NEUllOUllDElTSUllE ZEIT. XVIII JAJlJlll. § 103
'in Eu{i;liind' auf, so 1791 'die Sonncnjuui^trau in !'( lu'. Gk'iclie Sinnesart
und Erfindungsweise zeigen aueli seine Kouiane, die Leiden der ortenber-
gischen Familie', Petersburg 1785 ua.
Füiirten Kotzebues Dramen leichten Gang und leichten Sinn, Eigen-
schat'tcn die man an den tranza-sischen Theaterstücken bewunderte, auch
der deutschen Bühne zu, so fehlte es auch nicht an solchen Dichtern, welche
den franzd'sischon Geschmack durcliaus festzuhalten oder herzustellen suchten.
An den llcet'en war dieser festbegrüiidet, selbst Karl August veranlasste Goethe
und Scliiller /.ur Bearl)eitung der Traga^dien von Voltaire und Jlacine. Ganz
besonders war der llof zu Gotha diesem Geschmacke ergeben und der Ge-
heimsecreta^r Frieurich Wilhelm Götter huldigte ihm als Dichter. Er
hatte nach franza'sischcm Muster in Göttingen 1770 mit Boie zusammen den
Musenalmanach begründet; er wirkte in demselben Sinn seit 1775 auf das
Iloftheater zu Gotha, dem ersten in Deutschland, und beeinflusste dadurch auch
das Maimlieimer, wohin die Tru[)pe grcesstenteiis 1 7 7ti gezogen war. Er be-
arbeitete eine Reihe von tranziesischen Stücken, Trag(i>dien wie Voltaires
Electra und Mcrope, Lustspiele von Marivaux, la Jlarpe, Dorat. Er erlaugte
aber auch am Weimarer Hofe Beifall durch seine für musikalische Begleitung
gedichteten Stücke: Medea" nach dem Vorbild der Ariadne von IJrandes,
die Geisterinsel' nach Shakespeares Stui'm'' ua.-'''
Der gleichen Richtung wandte man sich in Wien zu. Die Zauberoper
knüpfte hier wieder an die llanswurstkoma'die an, zog aber auch Elemente
des Ritterstückes herbei. Ein Muster dieser Ritterposse ist das 'Donauweib-
chen' von Karl Friedrich Heusler, 1792 zuerst aufgeführt, mehrfach fort-
gesetzt und auf lauge hinaus sehr beliebt.^''
Auch die khissische Tragoedie der Franzosen fand in Wien ihren Ver-
treter in Heinrich Joseph von Collin, geb. 1771, gest. als Hofrat 1811.
Seine Erstlinge, Lustspiele in Prosa: das Scheinverbrechen", 1792, und
'Kindespflicht und Liebe, 1795, aus Romanen gezogen, das letztere aus Tom
Jones, hatten wenig Beifall gefunden. Um so mehr gefiel sein Regulus,
1801, dessen Einfachheit und edle Darstellung in den fünflfüssigen Jamben
ihr würdiges Gewand erhielt; freilich die Handlung war gedehnt und Rühr-
scenen, auch mit Kindern, in der Art Kotzebues hteuften sich. Aufopferung
für das Vaterland, wie sie Oesterreichs Lage damals immer wieder gebot,
Lustspiel 'Der Rehbock oder die sehuldlosen Srhuldbewussten". 35) Gotters Singspiele*
erschienen zu Leipzig 1778, seine 'Schauspiele' 1795: seine 'Gedichte' Gotha 17ö7 — 1802,
III: im letzten Bande auch seine Biographie. 3(j) S. über dies Stück und die ganze
§ 164 GOTTER, COLLIN. RITTER- UND RÄUBERROMAN. 531
empfahlen auch CoUins Coriohin', 18U2, 'Bianca della Porta', 1807: im letzt-
genannten Stück ist Schillers Vorbild schon in den eingemischten lyrischen
Partien ersichtlich. Zugleich wirkte der Umgang mit den um diese Zeit
nach Wien übergesiedelten Brüdern Schlegel wenigstens auf die Wahl mittel-
alterlicher Stoffe hin. Noch mehr lenkt der Herausgeber der Werke Collins,^^
sein Bruder ^[athseus (1779 — 1824) in die Bahnen der Romantiker ein.
§ 164.
Die Erzählung in Prosa , zunächst der Roman , stand zu Ende des
Jahrhunderts in naher Wechselbeziehung zum Drama: die Lust am Aben-
teuerlichen und die Schwärmerei für die deutsche Vorzeit empfahlen wie das
Ritterdrama so auch den Ritterroman, dem sich nach dem Erscheinen von
Schillers Ra?ubern der Raeuberroman ansciiloss; und andererseits schwelgte die
Rührseligkeit der Zeit in den weichlichen Familiengeschichten, welche ihre
Helden und Heldinnen meist in Verschuldung und Elend geraten, schliesslich
aber Rettung und Verzeihung finden Hessen. Dabei schöpften die Dramen
aus den Romanen, und wiederum lehnte sich die Erza^hlung an das Theater-
stück an.
Waren es namentlich die Schauspieler gewesen, welche die Bühne mit
Erzeugnissen dieser Art versehen hatten, so mussten sie es noch leichter
finden auch die Leser mit der gleichen Kost zu befriedigen. So erwarb sich
Christian Heinrich Spiess,^ der mit dem 'Ritterschauspiel: Clara von Hohen-
eicheif Prag 1792, die Massenproduktion in diesem Fache eingeleitet hatte,
auch, und zwar schon seit 1782, eine grosse Beliebtheit durch seine Ritter-
romane, wobei er, durch Schillers Greisterseher angeleitet, daneben aber
mit Benutzung des Volksaberglaubens, namenthch Geistererscheinungen und
geheime Gesellschaften einwirken Hess: 'Die zwölf schlafenden Jungfrauen'
1795; Hans Helling, ein Volksmserchen des 10. Jahrhunderts', 1798 ua.
Nseher an Goethes Götz hielt sich Karl Gottlob Cramer,^ indem er eine
gewisse derbe Ironie anstrebte : von ihm waren 'Leben und Meinungen, auch
seltsame Abenteuer Erasmus Schleichers, eines reisenden Mechanicus', Leipzig
1789, 'Hasper a Spada, eine Sage aus dem 13. Jahrhundert", Leipzig 1792
und zahlreiche sehnliche Machwerke verfasst.
Gattung Hautten (^Anm. li. 37) Wien 1812 — U. Vi. Vgl. Fenlinand Labau, H. .J. t'ollin
Wien 1879.
§ 164. 1) Geh. 7A\ Freiberg in Sachsen 176;"): Schauspieler, gest. 1799 als gi-ajflicher
Wirtschaftsdirektor in Böhmen. 2) Geb. zu Podelitz bei Freiburg a. d. Unstrut 17.Ö8,
532 NEUHOCIIDEITSCIIE ZEIT. XVllI JAlUiH. § 1(14
^Vill kürliche Ertiiidnuj; ward auch da geboten, wo versucht wurde den
Schein der Überheferung festzuhalten: so in den 8agen der Vorzeit', Berlin
1780 — 99, von Veit Weber, hinter welchem Jsanien sich Lkonhard Wächter^
versteckte. Inmierhin war wenigstens hier eine reinere Phantasie tha-tig.
Dagegen schloss sich au Heinses Ardinghello Christian Aigust Vi:m'Iik^
an, dessen Kinaldo Riualdini" /u Leipzig 1797 erschien; auch er beschäftigte
sich übrigens mit dem deutschen Mittelalter, um Stoff zu romantischen Ge-
maflden zu finden.
Nicht weniger zahlreich und fruchtbar waren die Familienromanschreiber.
Vom preussischen ll(»f wurde ArorsT Lafontaine ausgezeichnet, welcher,
zugleich rationalistisch und gefühlvoll, gegen Standesvorurteile eiferte, ge-
legentlich aber auch wie Kotzebue für sittliche Vergehen eine bedenkliche
Nachsicht «äusserte, immer aber durch den glücklichen Ausgang seiner Er-
zsehlungen befriedigte, und die Gabe einer leicht fasshchen, flüssigen Dar-
stellung besass. Nachdem er mit Lustspielen begonnen (Die Tochter der
ISatur' ua.), veröffentlichte er Die Gewalt der Liebe in Erztehlungen' z. T.
in Versen. 1791 fgg. ; Die Verirrungen des menschlichen Herzeus' 1792,
'Clara du Plessis und Clairant' (aus der Geschichte der Revolutionszeit) 1794,
und noch eine Reihe a^hnlicher Schriften, welche trotz der Angriffe der Ro-
mantiker mit groesstem Beifall aufgenommen wurden.
Weit ha?here Ziele steckte sich ein Erza'hler, welcher nach dem Vor-
bild von Sterne und mit besonderem Anschluss an Hippel den humoristischen
Roman pflegte und eine Popularitaet auch in den besten Leserkreisen erlangte,
so dass er unseren klassischen Dichtern sich an die Seite stellen konnte.
Johann Paul Friedrich Richter' oder, wie er sich als Schriftsteller nannte,
Jean Paul, war geboren zu Wunsiedel 1708, hatte in Leipzig studiert, dann
in der Heimal an mehreren Orten Hauslehrerdienste gethan. Aus einem
bisher dürftigen Leben erhob ihn sein Roman 'Hesperus oder die 4ö Hunds-
1795 Forstrat zu Meiiiingen. gest. 17tt.). 3) <ipb. zu Ülzen 1762. gest. zu Hamburg
1837 als Vorsteher einer Erziehuugsaustalt. 4) Aus Weimar. 1768—1827: Gipthes
Schwager und von ihm für Theater und Bibliothek verwendet. 5) Selbstbiographie.
1826 begonnen, von den Seinigen ergänzt, Breslau 1838. Den Titel 'Wahrheit aus meinem
Leben' fasste (juethe als sesren sich ireriihtet auf: bei Eckermann 30. März 1831. R. 0.
Spazier. 'Jean Paul, ein biographischer Commentar", mit zahlreichen Briefen des Dichters,
Leipzig 1833. K. Ch. Planck. Jean l'auls Dichtung im Lichte unserer nationalen Ent-
wickelung, Berlin 1876. Nerrlieh, J. Paul und seine Zeitgenossen, Berlin 1876: von dem-
selben eine Auswahl der Werke J. Pauls in Kürschners Xat.litt. 130 — 134. Vi. Sämtliche
§ 164 FAMILIENROMAN. JEAN PAUL. 533
posttageV Berlin 1795 zu einer rasch wachsenden Berühmtheit. In Weimar,
wo er 1796 und 1798 sich aufhielt, nahm ihn besonders Herder freundlich
auf; Frau von Kalb sah in ihm ihr Dichterideal. Er aber ergriff das Ver-
hältnis zu ihr und zu anderen scha?ngeistigen Damen nur als Gelegenheit
zum Studium des weiblichen Herzens. Nachdem er in Berlin den Titel eines
hildburghipusischen Legationsrats erhalten und sich verheiratet hatte, begab
er sich 1801 nach Meiningen, 1802 nach Coburg, endlich 1804 nach Baireut,
wo er, vom Fürstprimas Dalberg mit einer Pension unterstützt, welche spa:>ter
der bayrische Staat übernahm, in idyllischen Yerhältnissen bis 1825 lebte
und nur auf Reisen der Fortdauer seines Ruhmes sich erfreute. Als Schrift-
steller vereinigte er in beständigem, sprungweisem Wechsel ein reiches, ja
überschwängliches Gefühlsleben mit der Lust an ebenso übertreibendem Witz
und Spott. Die letztere Richtung überwog in seinen Jugendschriften, von
denen zuerst 'die grcBuländischen Prozesse', Berlin 1783/4, 11,^ erschienen,
dann die 'Auswahl aus des Teufels Papieren', Gera 1789, folgte. Spseter,
als sich der Dichter von Kants Philosophie zu der Jacobis hingewandt hatte,**
trat die andere Neigung in den Vordergrund, und mehr als ein anderer
Schriftsteller verstand er es seiner Zeit Thrsenen der Rührung zu entlocken,
bald durch die tiefempfundene Schilderung der Unzulänglichkeit alles Irdi-
schen, der Sehnsucht nach der Vollendung irdischer Wünsche im Jenseits,
bald auch, indem er reine aber unerfahrene Menschen nach dem Hoechsten
streben oder auch in einem engbegrenzten, dürftigen, aber schuldlosen Leben
ihr Glück finden Hess. Für Charactere dieser letzteren Art bot ihm besonders
der Lehrerstand die Modelle dar und so gebeerte sein 'Wuz', den er 1793 der
'Unsichtbaren Loge' anhängte, sein 'Quintus Fixlein' 1796, sein 'Fibel' 1812,
sein 'Rector Seemaus' 1814,'-* zu den Prachtstücken dieser empfindsamen Art,
wsehrend sein 'Armenadvocat Siebenkses', Berlin 1796, sein 'Titan' 1801 — 3,
seine 'Flegeljahre' 1804—5 das Übermass des Ideahsmus darstellen, welches
grossenteils in Thatenscheu und Unwahrheit umschlägt, und wieder andei-e,
wie 'Doctor Katzenbergers Badereise' 1809 durch den gezwungenen, gelehrt
zusammengesuchten, ja geradezu geschmacklosen Witz abstossen.^* Die me-
Werke vou J. Paul', zuerst Berlin 1826—28, LX. 6) Der Titel bezieht sich darauf
dass die einzeluen Stüi-ke als Briete gedacht sind, welche sein Hund befördert. J. Paul
war ein grosser Tierfreund. 7) Daraus LB. o, 895. 8) J- Paul richtete sich auch gegen Fichte,
den er in der Clavis Fichtiana, 1800, bekämpfte. 9) LB. 3, 899—943. 9*) J. Pauls Satire
ahmte Christian Ernst Gtrafv.Bentzel-Sternau nach, geb. zu Mainz 1767, gest. 1849 ('Das
goldene Kalb', 18U3. 4, IV); wogegen Ernst Wagnkr, geb. 1769, gest. zu Meiningen 1812
534 NEüHOCHDEüTyCHE ZEIT. XVIII JAlIJill. § 1«;4
frische Form war Jean Paul vi'tllig versagt: er halt sich mit langgezogenen
Sätzen in lilühender Prosa, seinen 'Streckversen^ wie er sie nannte. Für
deutsches ^Vesen war er gegenüber der allzu ausschhesslichen Verherrlichuiii:
des Griechentums durch Gcethe und Scliiller und im Widers])rucli gegen
den einseitigen Formensinn der Kon)antiker durcli seine Vorschule der
Aesthetik" 1804 eingetreten; gesunde pa^dagogische Grundsätze empfahl er in
seiner Levana" 1807. Die Erhebung Deutschlands gegen Napoleon begrüsst«;
er mit Begeisterung.
Wenn Jean Paul das Glück der Armen, auch der Armen an Geist rüh-
rend darstellte, so war Jon.\NX Hkixuich Pestalozzi '** von glühendem Eifer
beseelt, ihrem Elend abzuhelfen: um die Quellen dieses Elends zu verstopfen,
wollte er dem Volke durcli eine gute Erziehung den Trieb und die Mittel
geben sich emporzuringeu. Geboren zu Zürich 1740, ein Jugendfreund La-
vaters, ging er von den gelehrten Studien über zur Landwirtschaft, welche
er im Neuenhof bei Brugg betrieb. Hier begründete er 1774 eine Armen-
erziehungsanstalt, die er mit völliger Hingabe, aber nicht mit befriedigendem
seusseren Erfolg leitete. Als er 1780 die Anstalt aufgeben musste, suchte er
seine von Iselin gebilligten Ansichten in erzadilender Form darzustellen.
'Lienhard und Gertrud, ein Buch für das Volk' erschien 1780, mit Fort-
setzungen bis 1787. Die materielle und sittliche Not des Volkes hatte Pesta-
lozzi genau kennen gelernt: eine Besserung erhoffte er nur für die heran-
wachsende Jugend, wenn schon die damals noch aristokratische Obrigkeit viel
Unrecht und Unglück abzustellen im Stande sei. Die Erziehung aber solle
sich an die haeusliclie Zucht anschliessen, wie eine gute Mutter sie aus der
Fülle ihrer Liebe und in ihrer natürlichen Einsicht den Kindern am besten
zu geben verstünde. Es sind ergreifende Bilder der Not und der Bosheit,
aber auch der werkthaetigen, frommen Liebe, die sein Volksbuch auf einander
folgen lässt: mit tiefem Gefühl sind die kindlichen Empfindungen erst in der
Entbehrung," dann an den von Arm und Reich geteilten Freudenfesten
wiedergegeben. Pestalozzi erhielt Gelegenheit seine Grundsätze im Grossen
zu erproben, als er nach den Kämpfen der inneren Schweiz gegen die Fran-
seine Gefühlsschwärmerei nachbildete: Wilibalds Ansichten des Lebens' 1804: L.B. 3. 1289 fgu.
10) Pestalozzis Sämtliche Schritten. Stuttgart 18Ut — 26, X\'. eine mangelhafte Ausgabe.
Besser: Sämtliche Werke, eingeleitet von L. W. Seylfarth, Brandenburg 18651 — 73. XVlll:
von demselben auch: Pestalozzi nach seinem Leben und seinen Werken. 6. Anti. Leipzig,'
1876. Nachtraege zu den Werken in den 'Pestalozziblättern', Zürich 1878 fgg. Ausgewaehlte
Werke mit Biographie, hg. von F. Mann, Langensalza 1878. 75t, IV. H) LB. 3, 841.
§ 164 PESTALOZZI, MÜLLER. 535
zosen '1798 ein Waisenhaus' in Stans übernahm, und bald darauf eigene
grocssere Anstalten zu Burgdorf, spteter in Yverdou begründete. Auch im
Ausland, besonders in Preussen, fand Pestalozzis Methode Anerkennung und
Annahme. So durfte er trotz manches seusseien Fehlschlags dankbar auf
den Erfolg seiner Wirksamkeit zurückschauen, als er 1827 in Brugg starb.
Der Wunsch auf die Staatsverhältnisse einzuwirken, befeuerte auch die
Geschichtschreibung, welche gleichfalls von einem Schweizer zum ersten Male
wieder in grossem Sinn und Stil, als Kunstwerk und mit der Absicht vater-
ländische Gesinnung und staatsmännische Weisheit zu lehren unternommen
wurde. Johannes von Ml'ller'- war 1752 zu Schaffhausen geboren und
fand dort, nachdem er in Göttingen studiert, auch zuusechst eine Stelle als
Lehrer, gab diese jedoch schon 1773 wieder auf und wirkte auch an der
Kriegsakademie zu Kassel nur 1781 — 83. Seinen Studien hingegeben, lebte
er meist bei Freunden in der Schweiz, bis er 1786 als Bibliothekar nach
Mainz kam. 1792 siedelte er nach Wien über, wo er den Adel erhielt, 1804
nach Berlin. 1807 bestimmte ihn Napoleon zum Ratgeber seines Bruders
Jerome, des Koenigs von Westfalen; allein der Unmut über die Roheit und
den Leichtsinn dieses Fürsten, dem er seine Vergangenheit aufgeopfert hatte,
führte ihn bald ins Grab. Er starb zu Kassel 1809. Der Wandel seiner
politischen Stellung war durch die wechselnden Maclitverhältnisse veranlasst,
welche dem an sich konservativen Politiker erst in dem Preussen Friedrichs
des Grossen, dann in Osterreich, endlich unter Napoleon das Bestehende am
sichersten gestellt erscheinen Hessen. Der joscphinischen Anfeindung des Papst-
tums war er entgegen getreten, indem er, durch Herder geleitet, dessen
ehemalige Bedeutung anerkannte; ^^ Friedrich II hatte er noch nach der
Schlacht bei Jena in einer öffentlichen Rede gepriesen, aber wesentlich wegen
der Eigenschaften, welche Napoleon ebenfalls für sich in Anspruch nehmen
durfte: Goethes Übersetzung dieser Rede ^* war ein Zeichen der Zustimmung.
Die Erfolge der alten Eidgenossenschaft führte er in seiner Schweizergeschichte^"
auf die moralischen Vorzüge der alten Zeiten zurück. Konservativ war er
auch als Forscher: er folgte wesentlich den alten Chronisten wie Tschudi,
dessen Ausdrucksweise er sogar wiederholte. Kritik der Quellen lehnte er
ab und bezeichnete Schöpflin und andere Urkundenforscher als Knechte.
12) Briefe eines jungen Gelehrten an einen Frennd (Bonstetten\ hg. von F. Brun, Tübingen
181'J; Briefe von J. v. Müller an seinen ältesten Freund in der Sfhweiz (Füsli), Zürich
1813. 13) Reisen der Psepste o. 0. 1782. 14) LB. 3, 579 fgg. 15) Znerst Bern
(üngierter Druckort Boston) 1780, ^86—95, Leipzig. Er gelangte nur bis 1500. 8. Ferd.
536 NEUIIOCUÜEUTÖCIIE ZEIT. XVIIl. JAUlUl. § 104
Aber vortrettlich vorstand er es den rcichon Stoff, dim sein staunenswertes
Gedächtnis ihm l)oreit hielt, übersichtlich zu ordnen und die leitenden Ideen,
die Charactcrc der weltgeschichtlichen Perscenlichkeiten klar und knapp aus-
zudrücken, wobei Tacitus sein bewundertes Vorbild war. Von seinen zahl-
reichen Arbeiten (er ist namentlich auch wie Haller als Jlecenscnt unermüd-
lich und vielseitig thsetig gewesen) sind eben der genannten Eigenschaften
wegen die Vier und zwanzig Bücher allgemeiner Geschichte','* welche bis zu
Ende dos Mittelalters reichen, von besonderer Wichtigkeit geworden.
Mit Müller traf in Kassel , dann in Mainz Johann Geor(; Forstkr '^
zusammen, welcher in gleich umfassender Weise geographische und natur-
wissenschaftliche Kenntnisse zur W(üterbildung der allgemeinen Weltanschauung,
aber in einem politisch entgegengesetzton Sinne verwertete. Forster war 1754
zu Nassonhuben bei Danzig geboren und hatte früh seinen Vater, einen Pre-
diger, den jedoch die Natiu-forschung mehr lockte, auf weiten Reisen begleitet,
1772 — 75 bei der Weltumsegelung Cooks. Nachdem er 1777 die Beschrei-
bung dieser Reise herausgegeben hatte, lebte er als Professor 1779 — 84 zu
Kassel, dann zu Wilna, seit 1788 in Mainz. Hier nahm er, von der Ver-
derblichkeit der geistlichen Staatsrogierung längst überzeugt, nach der Erobe-
rung der Stadt durch Custine den lebhaftesten Auteil an der repuldikanischoii
Regierung und begab sich 1798 nach Paris um die Einverleibung des linken
Rheinufers in Frankreich zu beantragen. Hier starb er 1794, von Grauen
und Ekel über die Schreckensherrschaft erfüllt und durch haeusliches Miss-
geschick schwer getroffen. Mehr als die Beschreibung seiner Weltreisen
haben die Ansichten vom Niederrhein' ihm dauernden Ruhm verschafft: auf
einer Reise mit dem jungen Alexander von Humboldt 1790 hatte er mit
unvergleichlicher Vielseitigkeit über Natur und Volksleben, Kunst und ge-
schichtliche Denkmteler Bemerkungen gesammelt und tiefsinnige Betrachtungen
daran geknüpft. Gegen das reinmenschliche Ideal der Griechen und Raphaels
setzte er Rubens herab. Reinmenschliche Schcenheit erkannte er auch in dem
indischen Drama Sakontala, welches er 1791 durch eine Übersetzung aus dem
Englischen in die deutsche Litteratur einführte.
Schwarz. J. v. Müller und seine Schweizergesrhirbte, Basel 1804. 16) Stuttgart 1810.
Sämtliche Werke. Stnttg. 1810— If«. XXVIIl. 17) Autobiographie bis 1784 in Strieder
Hess. Gelehrtengeschichte. Briefwechsel, Lpz. 1829. Briefwechsel mit Sömmerring, hg. von
Hettner. Braunscbweig 1877. H. Koenig, Forsters Leben in Haus und Welt *1858. K. Klein, G.
Forster in Mainz, 1863. Leitzmann, Beitraege zur Kenntnis Forsters im Arch. f. neuere
§ 1G4 FORSTER, MORITZ, W. v. HUMBOLDT. 537
Goethe begrüsste wie Herder diese Erwerbung auf das freundlichste. In
Goethes Sinn, ja im Verkehr mit Goethe, den er in Italien traf, führte auch
Karl Philipp Moritz in einer kleinen Schrift 'Über die bildende Nachahmung
des Schoenen', ''^ Braunschweig 1788, die Kunstlehre weiter. Der Künstler, so
bemerkt er, finde in der Natur keine vollkommenen Muster, die er nur ge-
treu nachzubilden habe; sein Vorbild liege vielmehr in ihm, da ihm die
Fsehigkeit inne wohne, die für die Einbildungskraft nicht fassbare Schoenheit
des Naturganzen in seine Thatkraft aufzunehmen und aus sich herauszubilden.
Die künstlerische Thatkraft ist ihm eine angeborene Gabe, welche durch keine
noch so hohe Ausbildung des Geschmackes erworben werden könne. Moritz
hatte diese letzte Erfahrung an sich selbst machen müssen, da er vergebens
versucht hatte sich zum Schauspieler auszubilden. 1757 zu Hameln geboren
und bereits als Hutmacher in die Lehre gegeben, war er durch seinen Fleiss
allerdings zu den Universiteetsstudien hindurchgedrungen. Seine Laufbahn
hat er in dem psychologischen Roman 'Anton Reiser', Berlin 1785,^^ an-
ziehend beschrieben. Er starb bereits 1793 zu Berlin, wo er als Mitglied der
Akademie Vorlesungen über die Theorie der schoenen Künste hielt.
Naeher an Schillers Ansichten hielt sich Wilhelm von Humboldt^" mit
einem Versuch an einem Werke Goethes die einzelnen Gattungen der Dicht-
kunst philosophisch nach Inhalt und Form zu bestimmen. Geboren 1767 zu
Potsdam, verlebte er die Jahre 1794 — 97 z. T. in Jena, mit Schiller im eng-
sten Verkehr. Seine 'ästhetischen Versuche über Goethes Hermann und
Dorothea' erschienen zuerst Braunschweig 1799: feinsinnig im Einzelnen, aber
bei der Artbeschreibung des Epos zu einseitig am homerischen Vorbild haf-
tend. Spseter hat Wilhelm von Humboldt um so weitblickender als Sprach-
forscher'-' den Zusammenhang und die Zusammenstimmung der menschlichen
Sprachen 84, 369. 86, 129: 88, 129. 18) Neudruck von L. Geiger in Seufferts Dtsche Lit,-
denkm. 31, Heilbronn 1888. Goethe hatte einen Teil dieser Schrift in seine 'Italienische Keise'
aulgenommen. 19) Neudruck in Seufierts Lit.-denkm. 23, Heilbronn 1886. Seine Reisen
in England beschrieb er 1782, die in Italien 1792. 93. tTber seine Prosodie s. § 142, 20
fgg. Vgl. auch Max Dessoir, K. Phil. Moritz als Aesthetiker, Berlin 1889. 20) K,
Haym, "W. v. Hmuboldt, Lebensbild und Characteristik, Berlin 1856. V^on Briefen
Humboldts sind ausser denen an Schiller (§ 161, 28) für sich herausgegeben worden die an
eine Jugendfreundin (Charlotte Diede) 1847, die an Welcker 1859, die an Körner 1880, die
an F. H. Jacobi durch A. Leitzmann. Halle 1892. 21) Hauptwerk: 'Über die Kawi-
sprache' in den Schriften der Berliner Akademie 1836 — 39 erschienen, mit der Einleitung
'über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige
Entwickelung des Menschengeschlechts". W. v. H., Gesammelte Werke, Berlin 1841 bis
538 NEUHOCIIÜEUTSCIIE ZEIT. XVIll JAIIUII. § ir.4
Sprachen gezeigt. Auch die in einer Jugendschrift Ideen /u einem Versuch
die Grenzen der Wirksamkeif des Stsiates zu l)estimmen'-- ausgesprochene
Ansicht dass der Staat die menschliche Entwickehing nur zu schützen, nicht
aber zu leiten habe, hat er in seiner patriotischen Teihialime am Wiederauf-
bau Preussens selbst widerlegt. Als Gesandter und als Minister 1809 — \H\\)
theetig, starb er zu Tegel bei Berlin 1835.
1852, VII. 22) Nur stückweise 1792, erst 1851 vollständig veröffentlicht.
DAS NEUNZEHNTE JAHßHUNDEET.
§ 165.
Das Jahrhundert, an dessen Ende wir stehen, kann nur zum Teil
historisch betrachtet werden; die seit 1870 aufgetretenen Schriftsteller ge-
hojren der Gegenwart an. Indessen lässt sich auch jetzt schon in dem
geistigen Leben des neunzehnten Jahrhunderts ein Grundzug nachweisen, das
Streben nach Bildung. Dies Schlagwort hat die Aufklserung des vorigen
Jahrhunderts abgeloest, hat sich ihr vielfach feindlich entgegengestellt. Wandte
sich die Aufklärung allein an den Verstand, so sollte die Bildung, welche
von der künstlerischen Thsetigkeit ihren Namen hat, sich auf den ganzen
Menschen beziehen. Der Ausdruck ist, wenn auch aus dem Franzcesischen ^
übernommen, doch durch Goethe erst als ein für sich stehendes "Wort aus-
geprsegt^ und in Umlauf gesetzt worden. Bezog sich die Forderung, welche
er mit dem "Worte aussprach, auf das Verhältnis zur Gesellschaft, so gaben
seine begeisterten Anhänger, die Romantiker,^ ihr eine solche Ausdehnung,
§ 16o, 1) Former le cceur, Vesprit. So sagt Herder: 'Bildung der Denkart, der Gesinnungen
und Sitten ist die einzige Erziehung , die diesen Namen verdient , nicht IJnterriclit, nicht
Lehre'. 2) Vgl. die berühmte Stelle im Tasso I, 2: 'Ein edler Mensch kann einem
engen Kreise nicht seine Bildung danken. Vaterland und Welt mnss auf ihn wirken, Ruhm
und Tadel muss er vertragen lernen. Sich und andre wird er gezwungen recht zu kennen.
Ihn wiegt nicht die Einsamkeit mehr schmeichelnd ein. Es will der Feind , es darf der
Ereund nicht schonen. Dann übt der Jüngling spielend seine Kräfte, fühlt was er ist und
fühlt sich bald ein Mann'. In den "Wahlverwandtschaften 1, 2 heisst es von Luciane, dass
sie sich in der Erziehungsanstalt 'für die Welt bildet': und ebd. : 'Doch wer ist so gebildet,
dass er nicht seine Vorzüge gegen andre manchmal auf eine grausame Weise geltend macht?'
Doch gebraucht Goethe das Wort auch in einem weiteren Sinne in den 'Vier Jahreszeiten', 68:
'Franzthum drängt in diesen verworrenen Tagen, wie ehmals Lutherthum es gethan, luhige
Bildung zurück'. 3) Dorothea Schlegel (Briefwechsel 1, 122) sagt in ihrem Tagebuch :
'Sich bilden ist das Streben des Lebens . . . Zum Leben gebeert , dass man die Welt und
alles ausser sich kenne, zum Sterben aber, dass man sich selber kenne, dass man gebildet
sei'. Friedrich Schlegel wendet das Wort in der Lucinde in den verschiedensten Foinnen
WacVernagel, Litter. Geschichte H. 36
540 NEIIIIOCIIDEUTSCHI': ZKIT. XIX .lAIIUll. § 165
das8 sie Alles umfassto, was über die Naturanlagc hinausführte. Allmtehlich
verengerte sich die Bedeutung des Wortes* doch wieder dahin, dass es auf
den Unterricht oder doch die P>ziohung beschränkt wurde, welclie der Ein-
zelne erhalten hat, und jetzt von Gymnasialbiklung und selbst von Yolks-
schulbildung die Rede ist. Und so hat sich frühzeitig' an das freilich unbe-
stimmte" Wort der Spott geheftet, welcher es gegenwärtig schon manchem^
verleidet hat. Indem mau dabei an Kenntnisse und Fertigkeiten denkt, welche
angeeignet werden sollen, verwechselt man Bildung leicht mit Gelehrsamkeit,
insbesondere mit der auf die historischen Wissenschaften gerichteten. In
der That darf gerade dem neunzehnten Jahrhundert die Vorliebe für diese
ebenso als kennzeichnend beigelegt werden, wie dem vorigen die philosophische
Neigung. Von dessen Forderung, auch die Lebensverhältnisse nach Ver-
standesgründen zu ordnen, war man abgekommen; die Erschütterungen der
franzoesischen Revolution schienen zu beweisen, dass dieser Weg nur in das
und Beziehungen an. In dem Sonett 'Athenaeum' gibt er aU seine und seines Bruders Ab-
sicht an 'Der Bildung Strahlen all' in Eins zu fassen'. Schleiermacher richtet seine Reden
'an die Gebildeten unter ihren Verächtern'. Rumohr Denkwürdigkeiten 1, 80: 'Die hohe
Bildung, welche Einzelne unter uns durch verbreitetes Studium, Nachdenken oder Anstren-
gung erlangen . . . Jenes tiefgefühlte Bedürfnis gegenseitiger Anregung, auf welchem die
Anmut und der Zauber eines wahrhaft gebildeten Umgangs beruht'. Savigny nennt die
Romantiker in Jena 'genialische und sich wahrhaft bildende Menschen': Steig, Goethe und
die Brüder Grimm S. 8. Vgl. ferner Bettina, Frühlingskranz 164; 'die innere Bildung der
Seele' 305. Das Wort ist dann bei H. v. Kleist, bei Fichte in den Berliner Vorlesungen,
bei Jahn im Volkstum vielfach zu finden. Ganz besonders aber ist freilich der Goethesche
Sinn darin sichtbar geblieben, dass Rahel z. B. sagt : 'Ein gebildeter Mensch muss sich in
die Individualitaet eines andern versetzen': Proelss, Das junge Deutschland, S. 474. 4) In
dem engeren Sinne, worin es soviel als Gewandtheit des Umgangs bedeuten soll, sagt das
Sprichwort: 'Reisen bilden", welches die Prinzessin Amalia (§ 178) in den Tieuschungen 1
schon ironisch anführt. Von Lenau schreibt seine Grossmutter 1821: 'Jetzt lernt er reiten
und fechten auch dabei. Alles muss er lernen, was zur Bildung gebeert': Schurz 1, 51.
5) Kotzebue richtete gegen die Romantiker sein satirisches Drama: Der hyperboreische
Esel oder die heutige Bildung. Doch auch die Vertreter der klassicistischen Dichtung
neckt Tieck öfters, ebenso Kerner in den Reiseschatten mit dem Worte Bildung; und
Eichendorff, Krieg den Philistern, lässt nur deren Vertreter das Wort gebraachen.
6) Grillparzer bei Foglar * S. 46: 'Ein gebildetes Publicum heisst ein nachbetendes Publi-
cum. Bildung haben immer nur Einzelne'. Dingeist edt in der Amazone (Rodenberg 2, 115):
'Bildung ist das stolze Modewort des Tages: sie besteht aus 75 % Einbildung und 25 "/o
Nachbildung'. Geibel Zeitgedichte (Ges. Werke 2, 104): 'Das ist der Bildung Fluch, in
der wir leben, dass ihr das Beste untergeht im Vielen'. 7) Wenn sie von Bildungs-
philistern reden, so erinnert dies an die Veruunftphilister' Brentanos (^Frühlingskranz
§ 165 HISTORISCHE UND POLITISCHE RICHTUNG. 541
Verderben führe. Die Erhaltung des Überkommenen ward als Pflicht der
Staatslenker angesehen und das Verständnis, zunächst die Kenntnis der
Überlieferung als Aufgabe der Wissenschaft und Kunst. Wohl reicht die
Entwickelung der deutschen Philosophie noch weit in das neunzehnte Jahr-
hundert hinein; aber der mächtige Anstoss, den Kant gegeben hatte, kehrte
nur immer schwächer wieder, und die sich wiederholende Überwindung des
bisherigen Standpunctes nahm zuletzt das Vertrauen zu den umfassenden
Systemen hinweg. Auch in der Philosophie wurde das historische Element
immer stärker. In der politischen Geschichte traten jetzt die Meister des
Faches hervor und die Grundsätze ihres Forschens verbreiteten sich in immer
weiteren Kreisen. Die Geschichte der Litteratur, der Künste und Wissen-
schaften schloss sich an; vor allem in der Philologie, in der Behandlung der
Sprachdenkraseler, gab Deutschland jetzt das Muster für die anderen Nationen,
ja es nahm vielfach diesen die Arbeit auf ihrem eigenen Gebiete vorweg.
Durch diese historischphilologischen Forschungen wurde der Kreis der Stoffe
und Formen, deren sich die Litteratur bediente, ausserordentlich erweitert.
Übersetzungen^ aus allen Cultursprachen bereicherten die deutsche Dichtimg
und gaben ihr neue Muster, verliehen ihr aber auch den Anschein einer
Buntheit und Verwirrung, welcher ihrer weiteren Fortführung Gefahr bringen
muss. Dazu kommt, dass neben den Geisteswissenschaften die Naturwissen-
schaft unseres Jahrhunderts, nach anfänglichem Abirren, immer mäch-
tiger herano-ewachsen ist, und nicht zufrieden mit dem Vorrechte die eeusseren
DO '
Lebensgrundlagen umzugestalten, vielfach auch den Betrieb jener anderen
Wissenschaften, ja selbst den der Dichtung einzuschränken und herabzusetzen
unternommen hat.
Die unzweifelhafte Verbesserung der Lebensbedingungen machte es auch
moeglich, den Ansprüchen besser zu genügen, welche auf politischem Gebiete
erhoben wurden. Der Zusammenbruch des deutschen Reichs und die Unter-
werfung der einzelnen Staaten unter Napoleon zeigten die Unzulänghchkeit
der bisherigen Zustände; zur Abwehr der Fremdherrschaft w-urden die Kräfte
aller Volksgenossen aufgerufen und freiere Einrichtungen versprochen, deren
Herstellung jedoch erst nach langem und oft unterbrochenem Ringen erreicht
werden konnte. Diese politischen Bestrebungen geben auch der Litteratur
unseres Jahrhunderts eine eigene Färbung, welche mit ihrer historischen
Neigung in innigem Zusammenhang steht. Die zunehmende Ausgleichung
111 {gg.) 8) Diese beurteilt, alleidiugs wesentlich soweit antike Dichter in Betracht
542 NEUHOCflDEUTSCIIE ZEIT. XIX JAIllUl. § 165
der Standesuntorsehicdc, die immer engere Zusammenfassung der einzelnen
deutschen Staaten Hess nun aber auch ältere Gegensätze wieder hervortreten,
welche im y)hilosüphischen Zeitalter wenigstens aus der Litteratur verschwunden
w.iren, die confessionellen. Die Besiegung Napoleons setzte das Papsttum
von neuem in seinen früheren Besitz ein und die Neubegründung des Jesuiten-
ordens 1814 zeigte die Wiederaufnahme seiner alten Ansprüche, Dieser
Richtung kam es zu (fute, dass in den protestantischen Ländern eine Ver-
tiefung des kirchlichen Sinnes eingetreten war, wobei indessen durch die
Union in Preussen 1817 wenigstens die alte Zwietracht zwischen Lutheranern
und Reformierten ausgeglichen wurde. Die Absonderung der streng confes-
sionell Gesinnten gab sich auch in der Litteratur kund."
Die politische Wendung der Litteratur unseres Jahrhunderts gestattet
es, die einzelnen Abschnitte in deren Entwickolung an grosse politische
Ereignisse anzuknüpfen, welche die Grundlagen auch für die Litteratur um-
gestalteten. Ein erster Abschnitt reicht von dem Anfang des Jahrhunderts
bis zur Julirevolution 1830. In dieser Zeit erweckte der Druck der Fremd-
herrschaft die Sehnsucht nach der alten deutschen Freiheit, welche als die
notwendige Voraussetzung auch für Ehre und Glück des Einzelnen gefühlt
wurde. Als dann Deutschland durch die Freiheitskriege seine Unabhängig-
keit wieder erlangt hatte, war es zunaechst durch seine ungeheueren Opfer
so geschwächt, dass es sich der Gestaltung zum deutschen Bunde fügte,
welcher nur zur Bedrückung innerhalb der einzelnen Staaten die Macht oder
den Willen zu haben schien. Die Poesie flüchtete von Neuem aus der Wirk-
lichkeit. Es war diese ganze Zeit von der Romantik beherrscht, welche
in dem alternden Goethe '** ihr Haupt verehrte. Bei seinem Tode kurz nach
der Julirevolution trat die Litteratur in einen neuen Abschnitt ein, welcher,
das zweite Drittel des Jalu-hunderts umfassend, als der der Tendenz-
poesie bezeichnet werden kann. Die Herstellung des Verfassungsstaates
ward das Ziel aller Wünsche, denen auch die Dichtung immer lauteren Aus-
kommen, 0. F. Gruppe, Deutsche Übei-setzerkuust, Hannover 1859. 9) V- Nörrenberg,
Die katholische Dichtung der Gegenwart (1847 — 73), Münster 1873 ; ders. Allg. Litteratur-
geschichte 3, 205, Münster 1882, Vgl. auch die übrige Litteratur, welche Wetzstein, Die
religicpse lA-rik (§ 172, 48a) auf S. 7 anführt. 10) Freilich Goethe untei-stützte per-
soenlich die jungen Dichter nicht, er urteihe kühl über Uhland § 172, 21; Platen, AV. Müller,
Rückert : Goethes Gespr. hg. v. Biedermann 5, 259. 8, 7 fgg. ; 5, 141; Vjsch. f. Litgesch.
2, 378 fgg, Grillparzer, Selbstbiogr. (Sämtl. AVke. 1872, X 83) klagte 'Goethe in einem
grossartigen Quietismus förderte nur das Gemiessigte und Wirkungslose*.
§ 165 ABSCimiTTE DER LITTEUATURGESCllICllTE. 543
druck gab. Darüber schwand der ehemalige nationale Gegensatz gegen
Frankreich: ja, wie das parlamentarische Leben Frankreichs als das Muster
für Deutschland galt, so ahmte man ihm namentlich seine Tageslitteratur und
sein Theater nach. Eine Verstärkung erhielt die politische Tendenz durch
den Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV von Preussen 1840, welchem
nicht wie seinem Vater die dankbare Erinnerung an die Freiheitskriege zur
Seite stand: er wollte auch den Wünschen der Zeit vielfach entgegenkommen,
versagte aber die Gewaehrung der Verfassung, bis die Pariser Februarrevolu-
tion 1848 auch in Deutschland den Sturm entfesselte. Zwar die Errungen-
schaften dieser Zeit blieben nur in der Beschränkung auf die einzelnen
Staaten erhalten; in der Litteratur trat sogar vielfach eine der früheren ent-
gegengesetzte Stroemung, wenigstens eine Abkehr von der Politik hervor. So
sind die zwei Jahrzehnte bis 1850 von den folgenden zwei litterarisch ebenso
zu scheiden wie das erste, romantische Drittel des Jahrhunderts durch die
Freiheitskriege unterbrochen wird. Seit 1850 strebt die Poesie nach einer
neuen Ausbildung der Form, und zugleich nach einem näheren Anschluss
an das wirkliche Leben, wie es sich in den einzelnen Ständen und Land-
schaften verschieden gestaltet hat. Dieser Zug des Realismus unterscheidet
wesentlich die Litteratur nach der Mitte des Jahrhunderts von der früheren.
Inzwischen ging die politische Entwickelung ihren Gang. Der Regierungs-
antritt Wilhelms I in Preussen erweckte von neuem Hoffnungen, welche durch
das Genie eines grossen Staatsmannes in unerwarteter Weise erfüllt wurden:
1866 übernahm nach Oesterreichs Ausschluss Preussen die Leitung Deutsch-
lands, welches 1871 als deutsches Reich, im Besitze wiedererrungener Ge-
biete , einig und mächtig da stand , wie seit Jahrhunderten nicht. Freilich
das volle Gefühl dieses Glückes ward bald durch den Streit der Parteien
getrübt: überaus schwierige Fragen bleiben noch zu loesen. Dies Bewusstsein
drückt auch auf die Dichtung, welche überdies den Realismus vielfach so
weit geführt hat, dass sie die einfache Wiederspiegelung der Wirklichkeit,
welche doch nie in ihren allseitigen Zusammenhängen erkannt, geschweige
denn dargestellt werden kann, für die Aufgabe der Kunst hält, wozu wohl
noch die Neigung hinzutritt die traurigen, finsteren Seiten des Lebens aufzu-
suchen und einzelne Vorkommnisse namentlich des grossstaedtischen Lebens
zu Zeichen allgemeiner Zustände zu stempeln. Dabei stellt sich unsere Litte-
ratur ebenso unter die Führung des Auslandes, des Nordens und besonders
Frankreichs, wie dies schon im zweiten Viertel des Jahrhunderts geschehen
war, waehrend das erste wie das dritte Viertel nur etwa englische Einwirkung
544 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAHRH. § Klö
erfahren, ja das erste, die Zeit der Romantik, vielmehr nach aussen hin und
gerade nach Frankreicli sich selbst anregend erwiesen hatte. Doch über die
Gegenwart zu urteilen ist nicht Sache der Litteraturgeschichte.
Trat nun die Poesie im Laufe des Jahrhunderts ihre anfangli<;h einge-
nommene Stelle im Mittelpunct der geistigen Bestrebungen mehr und mehr
an andere, an politische und sociale Bestrebungen, an Wissenschaft und
Technik ab, so wurde das, was der Tiefe ihrer Wirkungen abging, einiger-
massen vergütet durch die Erweiterung der Kreise, in welche sie drang. Die
Schule, welche auch in ihren hervorragenden Anstalten sich noch um die
Wende des Jahrhunderts ausschliesslich der classischen Philologie widmete,
nahm allnuehlich auch Rücksicht auf die deutsche Litteratur. Der wach-
sende Wohlstand vermehrte die Zahl der Leser auch für Werke der littera-
rischen Kunst und die immer Ijilligere Herstellung der Classikcrausgaben
stand in Wechselwirkung mit deren Verbreitung. Noch wuiden einzelne
Dichter durch die Gunst der Fürsten über die Lebenssorgen hinweggehüben,
wobei Friedrich Wilhelm IV seit 1840," dann Maximilian H von Bayern
nach 1855*- etwa, und neben ihnen die thüringischen Fürsten'^ sich aus-
zeichneten. Auch die Heranziehung geadelter Dichter zu der Hofgesellschaft
setzte sich wie im vorigen Jahrhundert fort: mit ihr verband sich der Anteil
des Adels an der Dichtung, welche selbst ein Koenig, Ludwig I von Bayern,
übte. Die Prinzessin Amalie von Sachsen'* zeigt zugleich den Anspruch der
Frauen auf dichterische Thaetigkeit und dieser Anspruch ist bis auf die
neueste Zeit, ja in immer verstärktem Masse erhoben worden, wenn auch
Schriftstellerinnen von der Bedeutung der Frau von Stael und der Georges
Sand in Deutschland noch fehlen. Gerade bei den Schriftstellerinnen '-^ zeigt
sich das Geschick und die Neigung, den wechselnden Anforderungen des
Tagesgeschmackes zu genügen, obschon auch sonst unter den allnifehlich berufs-
maBssig vereinigten *® Schriftstellern notwendig nur Einzelne die Anerkennung
11) Er berief Schelling, Tieck, Kückert, Fouque, Kopisch nach Berlin, und setzte Gries, Geibel,
Freiligrath ua. Pensionen aus. 12) Er versammelte Geibel, Heyse, Bodenstedt ua. zu
einer dichterischen Tafelrunde, welche auch auf jüngere Knnstgenossen in München einwirkte.
13) Grossherzog Karl Alexander berief auf Liszts Antrieb Hoftmann von Fallersleben und
Dingelstedt nach "Weimar, wo auch Gutzkow weilte ; er suchte tScheffel zu gewinnen. Herzog
Ernst von Gotha nahm Freytag in Schutz, welcher übrigens (Erinnerungen 314) auf die
ungünstige Seite des Einflusses, welchen diese Gunst auf die Künstler üben kann, aufmerk-
sam macht. 14) § 17^, 20. 15) Vgl. die Birch-Pfeiffer § 17S, 18 und die Roman-
schriftstellerinnen L. Mühlbach und E. Marlitt § 179. 18. 25. lü) Dies zeigen insbesondere
die Schriftsteller- und Journalistentage; auch die Schillerstiftung und andere Unterstützung»-
§ 165 xVUSBREITUNG ])ER LITTEKATUK. 545
auch der Folgezeit werden erwerben können. Für ausgezeichnete Leistungen
sind Staatspreise bestimmt worden, insbesondere für solclie der Bühnen-
dichtung/^ welche ja der weitesten Wirkung ffehig sind. Den Ertrag der
schriftstellerischen Arbeit sichert die Gesetzgebung'" gegen den Nachdruck;
für Theaterstücke ist seit 1842 etwa der Gebrauch der Tantiemen eingeführt
worden. ^^ Am meisten aber trug zur Bildung eines Schriftstellcrstandes die
Begründung einer immer zahlreicheren Menge von Zeitungen bei, welche
durch Beilagen, neuerdings durch eingefügte Feuilletons insbesondere der
Romanschriftstellerei den groessten Vorschub geleistet haben. Von den poli-
tischen Zeitungen verdient die 'Allgemeine Zeitung', welche Cotta um die
Wende des Jahrhunderts begründet hatte, wegen der geschickten Verbindung
der Regierungsfeusserungen und der Beitrtege ausgezeichneter Schriftsteller
und wegen der dadurch bedingten weiten Wirksamkeit besonders genannt zu
werden. Dann rief besonders das Jahr 1848, welches die Pressfreiheit brachte,
eine Fülle von Zeitungen hervor. Neben den politischen standen von Anfang
an die kritischlitterarischen: auch hier nahm das Cottasche 'Morgenblatt' seit
1807 eine der ersten Stellen ein.^*' Für die satirische Lyrik wurden die
Münchener 'Fliegenden Blätter' seit 1845 und der Berliner 'Kladderadatsch'
seit 1848 die Sammelpuncte; die ersteren pflegten mehr die Parodie und das
Sittenbild, waehrend der letztere besonders in den sechziger Jahren durch
seine witzigen, gelegentlich auch ernsten Gedichte und Ausfälle die politische
Stimmung in Norddeutschland wesenthch beeinflusst hat. Etwa gleichzeitig
fällt auch die Begründung mehrerer Zeitschriften, welche an weitere Kreise
sich wendend die Erzaehlungsdichtung besonders der Frauen gefördert haben:
die 'Gartenlaube' in Leipzig, 'das Daheim' u. a. Eine volkstümliche Dar-
stellung, welche sich nach Hebels Muster an den Landmann selbst wandte,
wurde in den Kalendern geübt, welche je nach Landschaft und Confession
verschiedene Richtungen einschlugen.-^
anstalten. 17) Seliillerpreis, den K. Wilhelm als Prinzregent 1859 aussetzte ; Grillparzer-
preis 1872 gestiftet ; Berner Preis 1891. 18) Bundestagsbesclilüsse gegen den Nachdruck
von 1832 an ; Gesetz des norddeutschen Bundes 1870, spseter Reichsgesetz. 19) Prutz
Vorwort zu den dramatischen Werken. Schon um 1822 war dies in Aussicht genommen
worden : Briefe an Tieck 1, 155. 20) Andere Zeitschriften dieser Art s. u. bei Müllner,
Gutzkow, Laube, Prutz, Gottschall ua. Neuerdings 'Grenzboten' 1818 fgg. 'Im neuen Eeich
1872 — 1881. 'Deutsche Eundschau' Berlin 1874 fgg. Unter den politischen: 'Preussische Jahr-
bücher' 1858 fgg. 21) Auszuzeichnen wiere wohl, ausser B. Auerbachs Kalender 'Der Ge-
vattersmann' 1845 — 48, die Spinnstube seit 1846, welche der Pfarrer Wilhelm Örtel (W. 0.
von Hörn) schrieb, der Lahrer hinkende Bote, an welchem A. Bürklin besonderen Anteil
54Ü NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAllUH. § 1G5
Dio Littcraturgcscliichtc muss ihren Blick aber auf die Werke richten,
welche den Besten ihrer Zeit genug tliun wollen und bleibende Denknuulcr
der Kunst zu werden bestimmt sind. Von den überlieferten Gattungen
der Poesie erfuhr die Lyrik in der ersten Hälfte des Jahrhunderts noch eine
bedeutende Bereicherung an Formen und Tarnen, wobei jedoch die Zeit der
Romantik sich grosscnteils nur darum bemühte, die von Gccthe so verschieden-
artig gegebenen Vorbilder naclizuahmen und, zuweilen auch mit Erfolg, zu
überbieten. Die Tendenzlyrik der dreissiger und vierziger Jahre klang ge-
legentlich an Schiller an. Nach 1850 trat die Liederdichtung mehr und
mehr zurück: der Realismus war den Gefühlscrgüssen abhold und die kunst-
volle Nachbildung fremder Masse konnte weitere Kreise nicht ansprechen, so
dass nur das humoristische Lied im Volkston noch Aufnahme fand. Freilich
die Festdichtung und anderseits die hseusliche Übung der Poesie nahm des-
halb nicht ab. Von den Arten der erztchlcnden Poesie ward die bisher fast
im Übermass und zum Überdruss geübte Balladen- und Romanzendichtung
durch die kürzere Erza'hlung in Versen abgelcest. Das umfangreiche epische
Gedicht wurde selten und kaum jemals mit weitreichendem Erfolge versucht.
Selbst das Lehrgedicht ward mehr als Sammlung von Sprüchen und Betrach-
tungen aufgefasst; auch die Fabel -^ fand ihre Erneuerung, jedoch mehr als
Kiuderpoesie. Wie für die Lyrik Goethe, so ward für das Drama Schiller
meist das Vorbild: die Schicksalstragoedie des zweiten Jahrzehnts knüpfte an
Schillers 'Braut von Messina' an; das historische Schauspiel suchte der Gross-
artigkeit seiner Scenenerfindung, der Pracht seiner Sprache nahe zu kommen;
und selbst das bürgerliche Trauerspiel nahm für den Conflict der Stände seine
Erstlingswerke zum Muster. Doch suchten viele Dramatiker auch Goethes
Natürlichkeit besonders für die Frauencharactere nachzubilden, und für den
Aufbau der Stücke, für den Dialog ward Kotzebues Geschick erstrebt, wie
andrerseits das Familienstück, das Schroeder und Itttand gepflegt hatten, ein
dankbarer Vorwurf bis auf die Gegenwart blieb; frühzeitig ging das Volks-
stück daraus hervor, welches sich mit dem Singspiel und der Posse berührt
und durch die Benutzung der Mundarten den lokalen Reiz erhceht. Daneben
fehlte es nicht an fremden Einflüssen; neben den immer erneuten Versuchen,
Shakespeares Vorbild für die historische Tragcedie zu verwerten, fand beson-
ders in dem zweiten Drittel des Jahrhunderts die franzoesische Lustspieldich-
hatte, und der in Freiburg i. B. erschienene 'Kalender für Zeit und Ewigkeit' des Prof. der
kath. Theologie Alban Stolz. Überall ist Hebels Vorbild sichtbar. 22) Froehlich,
§ 165 GATTUNGEN DER LITTERATUR. 547
tung, insbesondere die von Scribe, die eifrigste Beachtung. Das franzoesische
Sittendrama liess sich l'reilich nur durch Übersetzung auf die deutsche Bühne
verpflanzen. Einzelne Dichter"^ unternahmen es sogar, die altgricchische Ko-
mccdie in Deutschland einzuführen: doch es waren und bheben dies Buch-
dramen. Um 80 mehr strebte die Oper auch die sBusseren Bühnenmittel zu
entfalten. Eine eigentümlich deutsche und zugleich durchaus romantische Art
der Oper führte K. M. v. Weber mit dem Freischütz 1821 ein, welchem
Lortzing ua. mit sehnlichen Werken nachfolgten. Den groessten Eindruck, der
zugleich unleugbar auch den Sinn für die altdeutsche Sage und Dichtung
zu verbreiten mächtig beigetragen hat, brachte Richard Wagner ^^^ hervor.
Indem er zugleich mit der Musik auch den Text zu seinen Opern ^^ verfasste,
stellte er sich unter die deutschen Dramatiker, ohne jedoch hiermit bei der
Eigenart selbst seiner Sprache auf Nachfolge rechnen zu dürfen.
Ward die dramatische Dichtung im 19, Jahrhundert auch in ihren
Nebenarten ausgestaltet und vielfach bereichert, so kam auch der Roman, die
eigentliche epische Gattung der Gegenwart, erst jetzt zu voller Geltung und
unübersehbar mannigfaltiger Pflege.^^ Auch hier zwar leuchtete Goethes
Wilhelm Meister vor und die Nachahmung hat bis in die neueste Zeit Fi-
guren ^'^ und Motive daraus wiederholt. Aber eine Reihe von neuen Unter-
arten des Romans traten allmählich hervor: der historische Roman -mit
mannigfaltiger Abstufung der gelehrten Bestandteile und mit den Nebenarten
des litterarhistorischen und culturhistorischen Romans, der zeitgeschichtliche
Roman, der exotische und wiederum der provinciale Roman, endlich der
sociale Tendenzroman, als dessen Abart die Dorfgeschichte einen breiten Raum
einnimmt. Überall steht daneben die Novelle, vielfach mit grösseren An-
sprüchen an kimstvollen Bau und einheithche Stimmung. Dem geschichtlichen
Roman kam die glanzvolle Entwickelung der Geschichtschreibung zu Gute;
wie diese, so kleidete sich auch die philosophische Forschung oft in eine
klare und eindrucksvolle Darstellungsweise, besonders da, wo sie auf die ge-
schichtliche Entwickelung früherer philosophischer Systeme sich richtete. Sel-
tener rechneten Werke der Naturwissenschaft auf einen Leserkreis ausserhalb
Sturm, Hey: § 172, 52. 53. 23) ßückert § 173, 8; Platen § 173, 42; Prutz § 176
nach Anm. 34. 23 a) Geb. zu Leipzig 1813, gest. zu Venedig 1883. 24) Tann-
haeuser 1845, Lohengrin 1852, Tristan 1855, der Ring des Nibelungen 1855, die Meister-
singer 1868, Parsifal 1876. 25) H. Mielke, Der deutsche Eoman des 19. Jahrhunderts,
Braunschweig 1890. 26) J. 0. E. Donner, Der Einfluss Wilhelm Meisters auf den
Roman der Romantiker. Diss. Helsingfors. Berlin 1893. Eine Verbindung von Mignon
548 NEUIIOCHDEUTSCIIE ZEIT. XIX .TAIIKII. § 1(55
der Fachgenossen, (lanz neu aber war (abgesehen vom kirchlichen Gebraucli)
und dem .lahrhumlert eigen die Pflege der öffenthchen Beredsamkeit. Die
nationakMi Kämpfe 7ai Anfang riefen eine Anzahl ausgezeichneter Fiugscliriften
hervor, in welchen Gentz, Fichte, Arndt mit zündender Begeisterung sich
vernehmen Hessen. Dann übte sich auch der mündliche Vortrag in den Ver-
handlungen der Kammern, 1848 des deutschen Parlaments und seit 1871
des deutschen Reichstags. Die unmittelbar vor den Volksmassen gehaltene
Rede fand seit 1848 und wieder seit Anfang der sechziger Jahre eifrige und
gewandte Pflege. ^^ Bei der Eigenart des deutschen Volkes wird freilich eine
Redekunst und Überredungskraft, wie sie bei den Alten und bei den neueren
romanischen Völkern bezeugt ist, sich kaum entwickeln. Selbst die Reden
des Fürsten Bismarck,^'* reich an Geistesblitzen, aber kunstlos vorgetragen,
haben mehr als Aeusserungen seines Genies als durch formelle, zur Nach-
ahmung geeignete Vorzüge gewirkt, besitzen mehr historische als litterarischc
Bedeutung.
Immerhin hat die der deutschen Sprache mit den übrigen Cultur-
sprachen gemeinsame Beeinflussung durch den Gebrauch der Tagespresse und
der Rednertribüne schon vielseitig und tief auf ihre Fortbildung eingewirkt.
Der Stil ward dadurch zur Knappheit und Kraft geführt; aber die Bequem-
lichkeit und Eile verführte auch vielfach zu Unrichtigkeit ^^ und namentlich
zum übermaessigcn Gebrauche von Fremdwörtern, Gegen dieses letztgenannte
Übel suchte man, selbst von Seiten der Behoerden durch Verdeutschung der
fremden Ausdrücke einzuschreiten. Oft verband sich damit das Bestreben,
auch die Rechtschreibung^" zu vereinfachen und nach Grundsätzen, welche
freilich wechselten, umzugestalten. Andrerseits ward durch den litterarischen
Gebrauch der Mundarten (§ 93, 37) besonders in der Dichtung oder auch
und Philine ist z. B. noch in Heyses Koman 'im Paradiese' die Zenzi. 27) So durch
den Begründer der deutschen Socialdemokratie Ferdinand Lassalle (1825 — 1864). 28) Die
politischen Reden des Fürsten Bismarck hesorgt von Horst Kohl, Stuttgart 1892. 93, VI.
Vgl. H. Blümner, Der bildliche Ausdruck in den Reden des Fürsten Bismarck, Leipzig 1891.
29) Etwas übertreibend : G. AVustniann Allerhand Sprachdummheiteu, Leipzig 1891. 30) J.
Grimm wollte das Wörterbuch dazu benützen, um die nhd. Orthographie der mhd. anzu-
nsehern (Z. f. d. Ph. 1, 227); dann erregte, in demselben Sinne verfasst, ein Aufsatz von
K. Weinhold in der Oestr. Gymn. Zs. 1852 eine starke Bewegung, die jedoch durch R. v.
Ranmer (s. dessen sprachwissenschaftliche Schriften, Fkf. u. Erlangen 1863) gehemmt und,
nachdem die orthographische Conferenz 1876 kein einheitliches Ergebnis gehabt hatte, durch
die Bestimmungen der einzelnen deutschen Regierungen (Bayern 1879, Preussen 1880) zum
§ 166 SPRACHE UND VERSBAU. 549
der in einzelnen Landschaften üblichen Umgangssprache^^ der Sprachschatz
auch der Schriftspraclie bereichert.
Das gleiche Streben nach dem Altertümlichen, Volksm^ssigen trat auch
im Versbau hervor. Die den classischen Litteraturen entnommenen Vers-
arten wurden zwar vielfach und selbst mit strengeren Anforderungen^" ge-
braucht; und wie hierin Goethe als Muster gelten konnte, so gab er auch
durch seine Nachahmung orientalischer Dichtungen den Anlass zur Einfüh-
rung der orientalischen Formen, der Ghaselen und Makamen; die früher schon
beliebten südromanischen Formen wurden durch Herübernahme der Canzone,
Siciliane, Terzine, Glosse, der assonierenden Romanze, des Ritornells und des
Rispetto vermehrt. Aber für das Lied hielt man sich doch lieber an die
ebenfalls von Goethe meisterhaft erneuten Verse und Strophen des Volks-
liedes, welches man immer nseher kennen lernte. Für die erza3hlende Dich-
tung wurde besonders durch Uhland die Nibelungenstrophe beliebt, für welche
jedoch der gleichmeessige Bau, den die neuhochdeutsche Verskunst forderte,
eine gewisse Steifheit leicht mit sich brachte. Besser gelangen die kurzen
vierhebigen Reimverse, die man auch oft mit dreihebigen klingenden unter-
mischte. Die AUitterationspoesie wurde durch Fouques Bearbeitungen der
Eddalieder bekannt, neuerdings auch selbstcändig und in ausgedehntem Masse
von W. Jordan, und mit noch groesserer Willkür durch R. Wagner zu er-
neuern unternommen. *^
§ 166.
Mit dem Beginne des Jahrhunderts erfuhr wie das politische Leben
Deutschlands, so auch das litterarische eine tiefgreifende Umgestaltung. Goethe
und Schiller hatten schon 1796 durch ihre Xenien ' hoehere Anforderungen
an die Litteratur gestellt-, diese Anforderungen erhielten in weitesten Kreisen
Geltung durch die romantische Schule.^ Ihr gehoerten zunsechst vier Dichter
an, die Brüder Schlegel, Novalis und Tieck, welche sich im J. 1799 in Jena
persoenlich zusammenfanden, wo Schiller und die Verkündiger und Fortsetzer
Stillstand gebracht wurde. 31) Messingisch, was schon Adelung im Wb. so nannte. So
namentlich F. Reuter, der sich gegen Claus Uroths Absicht, das Holsteinische als das allein
schriftniiBssige Niederdeutsch hinzustellen , wehren musste : 'Abweisung der ungerechten
Angriffe und unwahren Behauptungen, welche Dr. Cl. Groth in seinen Briefen über Platt-
deutsch und Hochdeutsch gegen mich gerichtet hat', Berlin 1858. 32) Platen diente
hier als Muster, dem besonders die Münchner Uichterschule der fünfziger Jahre nachstrebte..
33) Vgl. jetzt für das Einzelne : J. Minor, Neuhochdeutsche Metrik, Strassburg 1893.
§ 160. 1) § J39, 34. 2) R. Haym, Die romantische Schule, Berlin 1870.
550 NEUllUCllDEUTöClIE ZEIT. XIX JAillüI. § KIO
der Kantischen Philosophie einen Breunpunct für das geistige Leben Deutsch-
lands geschaffen hatten.
Die Fortsetzer Kants trugen wesentlich bei zur Bildung der romanti-
schen Lehre, welche nicht nur Dichtung und Kritik, sondern auch Philosophie
und Leben auf neuer Grundlage aufzubauen unternahm. Als den Begründer
ihrer Philosophie nannten die Romantiker Jon. Gottlieb Fichte.^ 1762 zu
Rammenau in der sächsischen Lausitz als Sohn eines armen Webers geboren,
war er durch seine von Kant veröffentlichte Schrift 'Versuch einer Kritik aller
Offenbarung" (Riga 1792) berühmt geworden und lehrte 1794 — 99 in Jena
mit tiefster Wirkung, bis eine Anklage der sächsischen Regierung wegen
Atheismus und seine schroffe Zurückweisung der vermittelnden Absichten des
weimarischen Ministeriums ihn um diese Lehrstelle brachten. Seitdem in
Berlin auch durch Vorlesungen tha^tig, ergriff er in der wachsenden Be-
drängnis und nach den Niederlagen Preussens unerschrocken und tiefein-
dringend das Wort für die Wiederaufrichtung Deutschlands. Der Universität
Berlin als ihr erster gewsehlter Rector angehoerig, starb er 1814 am Lazarett-
fieber , welches seine Gattin von der Pflege der Verwundeten nach Hause
gebracht hatte. Fichtes 'Wissenschaftslehre' versuchte ohne die von Kant
angenommene Voraussetzung des Bestehens der 'Dinge an sich' das vorstel-
lende Bewusstsein des Ich als die alleinige Quelle unserer Vorstellungen nach-
zuweisen; spfBter war ihm Gott das einzige Sein und das menschliche Wissen
nur ein Bild dieses Seins,* Mehr jedoch als durch die Begründung seiner
Lehre wirkte Fichte durch die Kraft und Klarheit, mit welcher er die Fol-
gerungen daraus für das Leben zog, und durch die Strenge , womit er sich
gegen die Selbstzufriedenheit^ und die Selbstsucht des Zeitalters wandte.
Stimmten in dessen Verurteilung die Romantiker mit Fichte übercin, so
sahen sie noch mehr als in seinem subjectiven Idealismus ihre eigenen An-
sichten ausgeführt in der Philosophie Scliellings.*^ Friedrich Wilhelm Joseph
VON ScHELLixG War 1775 zu Leonberg in Würtemberg geboren, wurde 1798
Professor in Jena neben Fichte, ging 1803 nach Würzburg, wirkte seit 1806
in München, Landshut, Erlangen und wieder in München, und wurde 1841
nach Berhn berufen, um gegen Hegels dialektische Philosophie die Glaubens-
3) J. Gr. Fichtes Leben und litterarischer Briefwechsel, von seinem Sohne J. H. Fichte,
* Leipzig 1862, IL J. G. Fichtes Sämtliche Werke, Berlin 1845. 46, VIII: dazu die 'Nachge-
lassenen Werke'. Bonn 1834, III. 4) LB. 3, 1033: aus der 'Anweisung zum seligen
Leben oder auch Religionslehre', Vorlesungen, welche er 1806 gehalten hatte. 5) Daher
auch sein Kampf gegen Nicolai, § 156, 20. 6) Aus Schellings Leben. In Briefen.
§ 166 ROMANTISCHE LEHRE: FICHTE, SCHELLING. 551
Philosophie zu vertreten. Die grossen Erwartungen musste der Greis tseuschen:
er starb zu Ragaz 1854. Seine Lehre ging, bis er 1818 als Schriftsteller
fast verstummte, durch manche Wandelung hindurch. Er hatte 1795 mit der
Darlegung des Idealismus nach Fichte begonnen, 1797 Tdeen zur Philosophie
der Natur' und 1798 die Schritt Ton der Weltseele' erscheinen lassen, und
gab 1801 in der 'Darstellung meines Systems der Philosophie' die Grundzüge
seines Identita?tssystems, wonach in dem Absoluten, dem Einen und Ewigen
der Unterschied des Besondern und Allgemeinen, des Endlichen und Unend-
lichen, des Realen und Idealen, des Anschauens und Denkens aufgehoben
sei. Dies Absolute ist ihm die Gottheit und von ihr handelt er dann mit
Anlehnung an Jacob Boehme;' speeter sucht er auch in der Mythologie*
überall Zeugnisse seiner Ansichten. Am ansprechendsten stellte Schelling
sein System dar in der Anwendung der Philosophie auf die Einzelwissen-
schaften, welche er als 'Vorlesungen über die Methode des akademischen
Studiums' 1803 veröffenthchte.^
Schellings Naturphilosophie suchte Gedanken Goethes zu verwerten; mit
Goethe und Schiller stimmte er darin überein, dass die Kunst '*^ die hoechste
Aeusserung des menschlichen Geistes sei: seine Identitsetsphilosophie sah die
Welt als ein Kunstwerk an und im einzelnen Kunstwerk fand er das Unend-
liche endUch dargestellt. Goethe war auch für die Romantiker der grcesste,
ja der einzige ältere Dichter, den sie anerkannten. Einem seiner Werke
entnahmen sie die Bezeichnung dessen was sie erstrebten, den Namen der
für sie selbst, nachdem man zuerst sie als die neupoetische Schule zusammen-
gefasst hatte, dauernd blieb. ^^ In Goethes Roman Wilhelm Meister fanden
sie die hoechste Leistung aller neueren Kunst und den Ausgangspunct für
ihre eigenen dichterischen Bestrebungen.'^ Romantische Poesie sollte also
ursprünglich so viel als Romanpoesie sein. Es zeigte sich allerdings bald,
Leipzig 1869. 70, III. Schellings Sämtliche Werke, Stuttgart 1856—61, X. 7) Vgl.
LB. 3, 1073 fgg. 8) 'üie Gottheiten von Samothrake' 1815. 9) LB. 3, 1083.
10) Auch als Dichter versuchte er sich in der Terzinendichtung 'Die letzten Worte des
Pfarrers von Drottning', wozu Steffens (Anm. 97) ihm den Stoff gegeben hatte; sowie in
den satirischen oder pessimistischen Gedichten 'Epikurisch Glaubensbekenntnis Heinz Wider-
porstens' (Aus Schellings Leben 1, 282) und 'Nachtwachen von Bonaventura': Zs. f. d. A.
23, 203. 11) Nach Haym auseinandergesetzt von J. H. Schlegel, Über den Begriff' des
Eomantischen, Wertheim 1878. Alf r. Biese, Zs. f. vgl. Litt.-gesch. NF. I 1888. Vgl. auch
Petrich (Anm. 12 a) S. 107 Anm. Das innere Verhältnis der romantischen Poesie zu Goethe
und Schiller hatte schon H. Hettuer, Die romantische Schule, Braunschweig 1850, entwickelt.
12) F. Schlegel erklärte: 'die franzcesische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und
552 ^'EUllOCIIDEUTsrili: ZEIT. XIX JAIIlill. J^ IGi;
dass die Beziehung auf die Form dos Romans, die übrigens durch cinge-
flochtone Lieder auch der Diclitung in Versen gerecht werden konnte, doch
/u eng für die neue Poesie sein würde. Es trat auch bei den Gliedern der
Schule selbst der an sich ältere Begriff wieder liervor, wonach Iloman die
Dichtung in romanischer Sprache bezeichnete: die mittchilteriiche Dichtung
der romanischen Völker einschliesslich ihrer Nachahmung bei den germa-
nischen wurde zum Vorbild der romantischen Schule erhoben. In diesem
Sinne stellte namentlich A. W. Schlegel in seinen Vorlesungen zu Berlin und
Wien die romantische Poesie in Gegensatz zur classisclien, so dass der Unter-
schied zwischen antik und modern wesentlich damit zusammen fiel. Zugleich
aber ward der Gegensatz der Zeiten und Nationen zu einem inneren vertieft,
indem die von Schiller vorgenommene Unterscheidung zwischen naiver und
sentimentaUscher Dichtung, also eine Unterscheidung der Gattungen und
Arten auf jenen Gegensatz augepasst wurde. Die ganze Geschichte der Lit-
teratur zerfiel nun in zwei grosse Richtungen: die classische der Griechen
und Roemer, denen sich in neuerer Zeit besonders die Franzosen anschlössen,
und die romantische, d. li. die Volks- und Kunstpoesie des Mittelalters und
der nächstfolgenden Zeit, so dass auch Shakespeare und Cervantes ihr an-
geeignet wurden, aber auch die Dichter des Ostens einbegriffen waren. Die
romantische Poesie erschien in dieser Ausdehnung ffchig, das gesamte geistige
Leben aller neueren Völker in sich aufzunehmen, alle Gattungen in sich zu
vereinigen; sie sollte progressive Universalpoesie' sein. Freilich zeigte sich
bald genug die Unmceglichkeit einer solchen Vermischung aller nationalen
Formen und Stile und die neue Mythologie, welche zum Ersatz der antiken
aus der Naturphilosophie herausgebildet werden sollte, kam vollends nicht zu
Stande. So blieb die mittelalterhche, die romanische Dichtung das haupt-
sächliche Vorbild der neuen Dichterschule; nicht nur ihre Versarten und
Ausdrucksweisen,'-* auch ihre Ideen, insbesondere die religioesen Vorstellungen
des Mittelalters wurden als Wegweiser zu einem Fortschreiten angesehen,
welches von der franzcesischcn Beschränkung des Geschmacks, ja auch von
der einseitigen Verherrlichung des classischen Ideals durch Schiller und Goethe
in der Zeit ihrer Vereinigung sich entfernen und erheben sollte.
Goethe konnte bei dieser Entwickelung des romantischen Gedankens
noch immer als Vorbild gelten: seine Jugenddichtungen waren ja auch viel-
GcPthes Meister sind die orroessten Tendenzen des Zeitalters': Athenseuni 1, 2. 56, 12a) H.
Petrich. Drei Kapitel vom roraantiseheu Stil. Leipzig 1878. behandelt die Bildlichkeit, den
§ 160 ROMANTISCHE SCHULE : A. W. SCHLEGEL. 553
fach auf die ältere, die volkstümliche deutsche Dichtung zurückgegangen.
Noch nseher schlössen sich die Romantiker an die früheren Schriften von
Herder an, die das Mittelalter gepriesen und den Wert der Volksdichtung
überhaupt gegenüber der Kunstdichtung aufgezeigt hatten. Aber Herder
hatte sich seit der Verbindung Goethes mit Schiller den älteren Dichtern des
Jahrhunderts zugewandt, er hasste die Kantische Philosophie. Rücksichten
auf ehemalige Verdienste kannten die Romantiker nicht; die von Herder be-
fürwortete Humanitset ward ihr Spott. Ebenso bestimmten perscenliche Be-
ziehungen ihr Verhältnis zu Schiller. Ursprünglich war er ihr Führer fast
noch mehr als Goethe: seine ästhetischen Untersuchungen waren die Grund-
lage für die der Brüder Schlegel; an seinen Zeitschriften, den 'Hören', dem
'Musenalmanach' waren auch sie thsetig. Novalis stand ihm als Student in
Jena nahe; Tieck schätzte wenigstens 'die Räuber' hoch. Aber eine miss-
günstige Besprechung des Musenalmanachs für 1796 durch F. Schlegel gab
Schiller Anlass, auch dem älteren Bruder aufzusagen; und noch mehr zeigten
die Xenien des nsechsten Jahrgangs,'^ wie unzufrieden er mit ihrer schnei-
denden und anmassenden Kritik war. Mit der Begründung des 'Athenseums',
welches die Brüder Schlegel 1798 — 1800 zu Berlin erscheinen Hessen, war
ihre Selbständigkeit, ihr Anspruch, eine neue Litteraturperiode herbeizuführen,
ofifen und mit Entschiedenheit erklsert.
So nahe indessen damals die Brüder und ihre Freunde zusammenhielten,
80 waren sie doch auf verschiedenen Wegen zu ihrem neuen Standpunct ge-
langt und gingen auch in ihrer weiteren Entwickelung verschiedene Wege.
Die Brüder Schlegel waren die Scehne Joh. Adolfs, die Neffen von
Elias Schlegel:'* August Wilhelm 1767, Feiedrich 1772 zu Hannover ge-
boren. Wilhelm hatte als Student in Göttingen sich besonders an Heyne und
Bürger angeschlossen,'' dann als Hauslehrer in Amsterdam gelebt und 1796
sich in Jena niedergelassen, wo er 1798 eine Professur erhielt. Seine geist-
reiche, reizende Gattin Caroline "^ stand ihm bei seinen litterarischen Arbeiten
Archaismus und die Mystik vor allem in Tieeks Sprache. 13) Die Brüder meint 'das
hitzige Fieber der Grtekomanie' und 'das geniale Geschlecht derer, welche, was sie gestern
gelernt, heute schon lehren wollen'. F. Schlegel rächte sich, indem er Schiller als den
Patroclus bezeichnete, welcher sich freue, in der Eüstung Achills mit diesem verwechselt
zu werden: allein das betreffende Epigramm gegen die Chorizonten, welche vergeblich die
einzelnen Xenien auf ihre Urheber zurückzuführen versuchen würden , ist von Goethe.
14) § 151. 15) § 158, 17. In den Göttinger Gelehrten Anzeigen 1789 trat er zuerst
als Kritiker auf. 16) Eine Tochter des Göttinger Professors Michaelis war sie in
erster Ehe mit dem Bergarzt Böhmer vermsehlt. Als Witwe zog sie, von Begeisterung
554 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAHRII. § IGG
zur Seite, trug aber wesentlich zu seiner Entfremdung von Schiller" bei.
Als Schlegel 1800 Jena verliess, blieb Caroline zurück. Ihre Tochter aus
erster Ehe, Auguste Bachmor, war mit Schelling verlobt: sie starb, und
Bräutigam und Mutter voroinigten sich in ihrer Trauer. Caroline trennte sich
von Schlegel '" und Schelling ward ihr dritter Gatte.
A. W. Schlegel hatte in Jena für die Allgemeine Litteraturzeitung eine
grosse Anzahl von Kccensionen geschrieben und darin das volle Verständnis
für die Eigentümlichkeit der einzelnen poetischen Gattungen, namentlich ein
ausserordentlich feines Gefühl für die dichterische Form, für Sprache und Vers
bewiesen. ^'^* Diese Kunst befähigte ihn besonders zum Übersetzer und hier
hat er auch die schwierigsten Aufgaben glänzend gelocst. Mit welchem
unermüdlichen Flcisse er feilte, ist besonders an der schoensten Frucht dieser
seiner Tha?tigkeit, an seiner Shakespeareübersetzung gezeigt worden,'^ wovon
16 Stücke, darunter die meisten Koenigsdramen , zu Berlin 1797 — 1801 er-
schienen, denen 1810 noch Richard III folgte. Der britische Dichter, der
bisher nur in Prosa verdeutscht worden war, ist durch Schlegels Vermittelung
auch zu einem deutschen geworden. Auf die gleichzeitige Litteratur aber
wirkte nicht weniger A. W. Schlegels 'Spanisches Theater', Berlin 1803 und
1809, II, und die zierlichen 'Blumenstraeusse italienischer, spanischer und por-
tugiesischer Poesie', Berlin 1803.'^* Diese Formen pflegte er nun auch in
für die franzoesische Revolution erfasst, nach Mainz zu dem unglücklichen Forster und ward
bei der Wiedereinnahme der Stadt durch die Preussen 1793 gefangen fortgeführt. In ihrem
Unglück, das sie durch eigene Schuld noch gesteigert hatte, erwies sich A. Vi. Schlegel als
treuer Verehrer, Friedrich sorgte für sie in der naechsten Zeit. Vgl. G. "Waitz, Caroline,
Leipzig 1871, II, und 'Caroline und ihre Freunde, Mitteilungen aus Briefen' von G. Waitz,
Leipzig 1882. Scherer Tortr. u. Aufsätze 356 fgg. 17) An eine Freundin schrieb sie
am 21. Oct. 1799 (Caroline 1, 272) 'Schillers Musencalender ist auch da: über ein Gedicht
von ihm, das Lied von der Glocke, sind wir gestern Mittag fast von den Stühlen gefallen
vor Lachen, es ist ä la Voss, ä la Tieck, ä la Teufel, wenigstens um des Teufels zu werden.'
Schiller nannte sie seinerseits Dame Lucifer. 18) Schlegels Canzone 'Todtenopfer für
Auguste Ba-hmer. an Novalis'. 1800: LB. 2, 1330. 18a) Ganz vortrefflich sind auch
seine 'Briefe über Poesie. Sylbenmass und Sprache' in den Hören 1795/96, sowie die Be-
trachtungen über Metrik an F. Schlegel , welche erst in den Sämtl. Werken 7, 155 fgg.
erschienen : hier wie sonst bekämpft W. Schlegel Klopstock. Diese Seite der Begabung
A. W. Schlegels berücksichtigt besonders D. F. Strauss, Ges. Sehr. 2, 121—158. 19) Mi-
chael Bernays, Zur Entstehungsgeschichte des Schlegelschen Shakespeare, Leipzig 1872.
Schuorrs Archiv 10, 236. 19a) Aus dem Spanischen, besonders aber aus dem Italie-
nischen übersetzte mit der gleichen Sorgfalt .ToH. Diedrich Gries, aus Hamburg, 1775 bis
1842, als Student in Jena mit den Romantikern befreundet. 'Tassos befreites Jerusalem'
§ 166 A. W. SCHLEGEL. 555
seinen eigenen Dichtungen; ^^ im Sonette nannte er sich selbst 'Muster und
Meister, zugleich der Schöpfer und das Bild der Regel'. Doch gebrauchte
er auch die antiken Yersmasse nach dem Muster Gcßthes und Schillers,^ ^ und
um 1800 die Formen des deutschen Volksliedes.-^ Mit Goethes Iphigenie
wetteiferte Schiegels Ion, die Bearbeitung einer Tragoedie des Euripides:-^ wie
in jener ein Geschwisterpaar sich unverhofft zusammenfindet, so ist hier die
Wiedererkennung eines ausgesetzten Sohnes durch seine Mutter der Kern-
punet. Aber der Knoten, ^^ welchen wie bei Euripides göttliches Dazwischen-
treten loest, hat für ein deutsches Theater unmceglich dieselbe Bedeutung wie
für die Athener, als deren Stammvater Ion galt. In Weimar, wo Goethe
1802 das Stück auflführen Hess, wurde es daher auch kalt aufgenommen.
A. W. Schlegel hatte von 1801 ab mehrere Winter hindurch in Berlin
Vorlesungen gehalten, in welchen er die Ideen der neuen Schule selbst mit
Übertreibung^^ vortrug. Diese Vorlesungen liess er nicht drucken,^^ wohl
aber die Vorlesungen über dramatische Kunst und Litteratur,^^ welche er
1808 in Wien gehalten hatte, wo noch mehr als in Berlin die vornehmste
Gesellschaft ihm zuhoerte. Er bot darin zuerst, wenn auch nur für eine
einzelne Gattung, eine wirkliche Licteraturgeschichte, in welcher sich das feinste
ästhetische Urteil mit historischem Verständnis, mit Berücksichtigung aller
durch Zeit und Volk bedingten Umstände verband. Weniger sprechen diese
Vorzüge des Gelehrten in den Gedichten Schlegels an, so in den an Schiller
.Jena 1800—3, II. 'Ariosts rasender Roland', .Jena 1801—9, V. 'Calderons Schauspiele',
Berlin 1815—29, VIII ua. Vgl. 'Aus dem Leben von J. D. Gries' (von Elise Campe),
Leipzig 1855. 20) Mit den lyrisclien Übersetzungen und den Abhandlungen vereinigt
als 'A. W. v. Schlegels sämtliche Werke', hg. von Ed. Böcking, Leipzig 1846, XII. Dazu
G. Schlegel, Oeuvres ecrites en franrais, Lpz. 1846, III und Opmcula latina, Lpz. 1848.
21) So gehen aui' Schillers Vorbild (LB. 2, 1216) die freilich noch genauer anschliessenden
Beschreibungen der Versarten zurück: LB. 2, 1364, vgl. auch 1.341. Ein Seitenstück zu
den Kranichen des Ibycus ist Schlegels Romanze Arion (1797) LB. 2, 1321. 22) 'Die
Warnung' (der ewige Jude): LB. 1327 (gedichtet 1801) zeigt Doppelsenkungen. 23) Schlegel
rühmte sich, diesen verbessert zu haben; doch klüger als Wieland (§ 153, 35) schrieb er
dies, ohne sich zu nennen: Haym 705 fg. 24) Ion ist von Apollon mit Kreusa vor
ihrer Vermsehlung mit Xuthos erzeugt worden. Besonders lächerlich ist es, wenn der
Jüngling den Korb mit den Windeln, worin er einst ausgesetzt wurde, umarmt und gerührt
anspricht. 25) So rechtfertigte er die Astrologie des Mittelalters wegen ihres poetischen
Characters und setzte die Wissenschaft der Astronomie herunter. 26) Sie sind von
Minor in Seufferts Lit.-denkm. 17—19, Heilbr. 1884, herausgegeben worden. 27) Heidel-
berg 1809—11, III. Schlegel sorgte auch für eine Übersetzung in das Franzoesische, welcher
Wackernagel, Litter. Geschichte. II, "•
556 NEUHOCHDEUTSCHH ZEIT. XIX JAllinr. § lOß
sich anlchncmlcn Elegien 'Die Kunst der Oriechen' 1709 und Rom' 1805.-"
Den kiitliolisicrenden Neigungen seiner Freunde kam Schlegels 'Bund der
Kirche mit den Künsten' 1800 entgegen,^'-* doch wollte er spa'ter nur eine
jirvdilecHnn d'artiste für die katholische Kirche empfunden haben.*'»
In Berlin hatte Schlegel Frau von Stael kennen gelernt, die Tochter
des Ministers Necker: mit ihr lebte er seit 1804 meist auf ihrem Landgut
zu Coppet bei Genf und trug wesentlich bei zu ihrem ausgezeichneten Buche
VAlJemnqne. Als es 1811 erschien und Napoleon sie verbannte,''" begleitete
Schlegel sie auf ihren Reisen; von Stockholm folgte er 1813 dem Kronprinzen
von Schweden auf dem Feldzuge. 1818 ward er an die neubegründete Uni-
versitait Bonn berufen, wo er bis zu seinem Tode 1845 sich wesentlich auf
seine Sanskritstudien beschränkte.-" Durch seine Eitelkeit, jung und vornelim
erscheinen zu wollen, zog er sich viel Spott zu : übte aber auch selbst seinen
schonungslosen Witz gegen seine Feinde. Früher hatte er die Anhänge des
Athenauims^^ zu Ausfällen in Prosa gegen Wieland und Kästner, Voss und
Nicolai benutzt; gegen Kotzebuc richtete er 1801 die Ehrenpforte und Triumph-
bogen' im Namen der deutschen Schauspieldirectoren,^^ eine Nachahmung der
Jugendfarcen Goethes, nur gefeilter und boshafter. Spätere Epigramme wenden
sich gegen Schiller und die schwaebischen Dichter, gegen Nicbuhr, Arndt,
Bopp;^^ auch die alten Freunde Fichte, Schelling und selbst den Bruder
verschonte er nicht.
Friedrich Schlegel besass in noch hcehcrem Grad den Geist der Kritik,
des Absprechens und Aushoehnens. Nur gebrauchte er dazu seine 'göttliche
Grobheit'; er schlug auch dem Publicum gern mit Faeusten ins Gesicht. Ur-
sprüngUch^-^ zum Kaufmann bestimmt, studierte er mit wahrem Heisshunger
insbesondere die Griechen. Seine Jugendschriften ^*'' wiederholte er spseter
solche in andere Sprachen folgten : § 174, nach Anm. 21. 28) LB. 2, 1349. 29) LB.
2, 1333: die absichtliche Einfachheit des Ausdrucks tritt auch in der Wiederholung der
gleichen Reimworte, in Formen wie 'ich glaube* hervor. 29a) Oeuvr. frang. 1, 191.
30) Napoleon urteilte: Votre livre n'est pas frayirais. 31) Indische Bibliothek 1823 bis
1830, III. 32) LB. 3, 1097. 33) Daraus die Terzinen LB. 2, 1342. Ebenda ein Triolett
gegen Merkel (§ 163, 31) aus derselben Zeit. 34) LB. 2, 1366. 35) Biographische
Skizze von E. Feuchtersieben in der 2. Aufl. der 'Sämtlichen Werke', AVien 1846, XV; die
erste Sammlung hatte F. Schlegel selbst besorgt: Wien 1822 — 25, X. Zur Lebensgeschichte
sind besonders wichtig: 'F. Schlegels Briefe an seinen Bruder Wilhelm', hg. von 0. Walzel,
Berlin 1890. 36) Neue Ausgabe der ursprünglichen Texte: 'F. Schlegel 1794—1802,
seine prosaischen Jugendschriften', hg. von J. Minor, Wien 1882. IL Ein früher unge-
druckter Aufsatz aus dem J. 1794 'Vom Wert des Stadiums der Griechen und Rocmer,
§ 166 F. SCHLEGEL. 557
nur zum Teil und nur überarbeitet. Die erste darunter 'Von den Schulen
der griechischen Poesie' war 1794 erschienen; besonders ausführlich schrieb
er die 'Geschichte der Poesie der Griechen und Roemer', Berlin 1798, aber
auch sie befasste nur das Epos. F. Schlegel übertrug mit Geist und Kenntnis
auf die Litteraturgeschichte die Anschauungen, welche Winckelmann aus der
antiken Kunstgeschichte gewonnen hatte: er unterschied die Stilarten und
die Schulen. Nach Beendigung seiner Studien in Leipzig hatte P. Schlegel
in Dresden gearbeitet; 1797 kam er nach Berlin, wo die alten Ansichten
aus der Zeit Friedrichs des Grossen noch vorherrschten. Für einen neuen
Geist, der sich zunächst in der Anerkennung Goethes aussprach, fand Fried-
rich Schlegel einen günstigen Boden in den Heusern einiger reicher jüdischer
Familien, in welchen geistreiche, zum Teil auch schoene Msedchen und Frauen^'
den jungen Adel (die Brüder Humboldt und selbst Prinz Louis Ferdinand ^^
gebeerten dazu) um sich versammelten. Die Emancipation der Frauen war
eine natürliche Neigung dieser Kreise; Friedrich Schlegel, der die Frauen
gern männlich stark, die Männer weiblich zart gemacht hätte,^^ fand hier
den Hosrerkreis, der ihn immer weiter trieb in seinen Paradoxien. Recht
zum Verdrusse der Freunde Lessings erkannte er diesen in einer Schrift
über Lessing 1797 nicht als Dichter an; er sollte nur als Kritiker und auch
als solcher nicht mit seinen einzelnen Urteilen, sondern mit seinem unendlich
fortschreitenden Streben nach Wahrheit gelten dürfen. Den grcessten Anstoss
aber und einen durchaus berechtigten gab F. Schlegel durch seinen Roman
Xucinde' 1798: es war eigentlich nur der Anfang eines Romans, aber die
Fortsetzung blieb aus. Ja die Erzsehlung, welche doch von einem Roman
zunsechst erwartet wird, trat nur episodenweise zwischen Gespreechen, Traeu-
men, Allegorien hervor. So formlos diese Yerherrlichung des Genusses, des
Müssigganges, der Frechheit erschien, so schamlos war sie auch, um so em-
poerender als Schlegel dabei sein Verhältnis zu Dorothea Veit der Öffentlich-
keit bloss stellte.*^ Ihre Liebe zu ihm hat auch das überwunden*' und ihm
auch in bedrängter Lage hingebende Treue erwiesen.*^
in 'A. "W. uud F. Schlegel', in Auswahl hg. v. 0. Walzel, Kürschner D. Nat.-litt. 143,
Stuttgart 0. J. 37) Rahel Levin s. § 176, 4. Henriette Herz § 169, 5. 38) Er
starb 1806 bei Saalfekl den Reitertod. 39) Seine Diotima (Jugeudsehriften 1 , 46)
behandelt das Hetaerenwesen. 40) Auch seine Schwiegerin Caroline schildert Friedrich
Schlegel, und es ist freilich anziehend zu lesen, wie auch er sich in sie verliebte, diese
Liebe aber unterdrückte, um seinem Bruder die Treue zu bewahren. 41) Dorothea
von Schlegel geb. Mendelssohn uud deren Söhne .Tohanues und Philipp Veit, Briefwechsel
hg. V. J. M. Raich, Mainz 1881, II. 42) Einen Roman 'Fiorentin* von Dorothea, eine
558
NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT.
XIX JAHKII.
Klf)
Mit ihr kam F. Schlegel 1799 nach Jena, hatte aber als Privatdocent
keinen Erfolg. Schon war ihm angestrengte Arbeit zuwider; seine geist-
reichen Einfälle Hess er als Fragmente und Ideen im Athemeum, spater in
seiner Zeitschrift Europa*^ erscheinen. Mit seinem Bruder und Tieck gab
er auch einen Musenalmanach für 1802 heraus und versuchte sich nun auch
als lyrischer Dichter. Die Glätte und der Fluss seines Bruders fehlten ihm
ganz, aber einzelne starke Toone schlug er an, welche namentlich, wo sie
das altdeutsche Wesen verherrlichen, auf die jüngeren Dichter tief eingewirkt
haben. '•^ Als Tragiker hatte er noch weniger Erfolg als sein Bruder: sein
Trauerspiel Alarcos' 1802 ward in Weimar nur durch Gcßthes Dazwischen-
treten vor dem Auslachen gerettet. Es sollte den spanischen Stoff mit dem
einfachen Bau des Aeschylos und wieder mit der buntesten Mischung der
Versformen'''' vorführen.
1802 ging F. Schlegel nach Paris, um dort die aus allen Ländern zu-
sammengeha3uften Kunstschätze zu studieren. Unterwegs am Rhein machte
er auf die Kunstdenkma^ler des Mittelalters aufmerksam und leitete auch durch
Vorlesungen in Paris die Brüder Boisseree^'' zu diesem Studium an. Er
selbst aber versenkte sich zu Paris in die asiatischen Sprachen, insbesondere
das Sanskrit. Sein Buch 'Über die Sprache und Weisheit der Indier' Heidel-
berg 1808,''^ verkündete fast prophetisch die ursprüngliche Einheit der indo-
germanischen Sprachen, allerdings wesentlich nur auf Grund ihrer überein-
stimmenden Formcnbildung, ohne die Verschiedenheiten zu beachten, welche
erst Franz Bopp*** zusammenzufassen und zu erklaeren unternahm. 1804 mit
Dorothea ehelich verbunden, trat er 1808 mit ihr zur katholischen Kirche
Nachahmung des W. Meister und des Geistersehers, gab Friedrich Leipzig n. Lübeck 1801
heraus ; ebenso eine von ihr verfasste Sammhing romantischer Dichtungen des Mittelalters
(Merlin ua.), Leipzig 1804. 43) Frankfurt a. M. 18u3, IL 44) LB. 2, 1367 'Auf
der Wartburg'; 1378 'Im Spesshardt' gab für Eichendorifs Waldlieder das Vorbild; 'Frei-
heit' ebd. ist von Schenkendorf bis auf das Versmass nachgeahmt worden : LB. 2 . 1529.
Auch von Schlegels Sinnsprüchen sprechen manche treffend den Wert altdeutscher Bieder-
keit und Frömmigkeit aus. 45) Neben den Reimen erscheinen auch Assonanzen.
Eben wegen seiner 'seusserst obligaten Sylbenmasse' brachte Goethe das Stück auf die
Bühne: Briefwechsel mit Schiller Nr. 858. 46) Ihre Sammlung, deren Grundstock die
damals aus den Kölner Kirchen herausgeworfenen Bilder ausmachen, ist jetzt ein wertvoller
Teil der alten Pinakothek in München. Vgl. § 160. 104. 47) Daraus LB. 3, 1109. 48) Geb.
zu Mainz 1791, 1821 Professor zu Berlin, wo er 1867 starb. Sein 'Conjugationssystem des
Sanskrit in Vergleichung mit jenem der griechischen , lateinischen , persischen und germa-
nischeu Sprache' erschien Frankfurt a. M. 181G; seine 'Vergleichende Grammatik des
§166 F. SCHLEGEL. SCIILEIEUMACIIER. 559
über. Hierauf nahm ilin Metternich 1809 als Secreteer in die Hof- und
Staatskau/Jei zu Wien, und sandte ihn 1815 als Legations rat beim Bundestag
nach Frankfurt ; dabei nahm er wie sein Bruder den Adel an , den sie
auf alte Familienurkunden begründeten. Seit 1818 aber widmete Friedrich
von Schlegel sich wieder ganz seiner Schriftstellerei *^ und seinen Vor-
lesungen über Geschichte, alte und neue Litteratur, sowie über Lebens-
philosophie. Überall war ihm die katholische Kirche jetzt das einzig Mass-
gebende und die Adelsvorrechte im Staate durchaus unantastbar.^** Er starb
zu Dresden 1829.
An der letzten Wendung seiner Ansichten hatte sein Bruder Wilhelm
Anstoss genommen und ihm 1827 das alte Bündnis aufgesagt.^' Weit früher
hatten sich die BerHner Freunde von ihm getrennt. Unter ihnen hatte ihm
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher^^ besonders nahe gestanden, der
großsste Theologe, den die protestantische Kirche Deutschlands in unserem
Jahrhundert besessen hat, geboren zu Breslau 1768, gestorben zu Berhn 1834.
Auch er hatte zu den Fragmenten im Athenseum beigesteuert: er war durch
'Vertraute Briefe ^^ über F. Schlegels Lucinde' für seinen Freund eingetreten,
allerdings ohne seinen Namen zu nennen. Die Grundlage seiner eigenen
Lehre hatte er damals schon kund gegeben durch seine 'Reden über Religion
an die Gebildeten unter ihren Verächtern', Berlin 1799, worin er die Reli-
gion bestimmt als das Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit, das Bewusstsein
davon, dass auch die gesamte Selbstthsetigkeit des Menschen von anderwärts
her bedingt sei. Die Religion aber war ihm etwas Selbständiges neben der
Sittlichkeit, stand ihm neben Wissenschaft und Kunst und erschien ihm als
zur Vollendung des menschlichen Daseins notwendig. Über die Sittlichkeit
handeln Schleierraachers 'Monologen' 1800;^* mit gemütvoller Wärme fasst
seine 'Weihnachtsfeier' 1806 nochmals die verschiedenen Verhältnisse zusam-
men, welche Gebildete zum Christentum haben können.
Tiefen Eindruck machten Schleiermachers Reden auf einen anderen
Freund Friedrich Schlegels, auf Novalis, wie sich Friedrich Leopold von
Sanskrit' usw. zuerst Berlin 1833—52, III. 49) Auch neue Zeitschriften hatte er be-
gründet: 'Deutsches Museum', Wien 1812. 13; 'Concordia', Wien 1820—23. 50) S. da-
gegen Arndt, Schriften für und an seine lieben Deutschen, 3, 1 fgg. 51) F. Schlegels
Briefe (Anm. 35) S. 653. 52) 'Aus Schleiermachers Leben in Briefen', Berlin 1858—63,
IV. Dilthey, Das Leben Schleiermachers, I, Leipzig 1870. Über seine patriotischen Pre-
digten 8. § 169, 8. 53) Lübeck und Leipzig, 1800. 54) LB. 3, 1191. Ebenda
1205 Ein akademischer Vortrag 'über Piatons Ansicht von der Ausübung der Heilkunst'.
560 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAllKIl. § Hid
Hardenberg ^^ nach einer älteren Seitenlinie seines Geschlechtes '"' nannte.
Geboren 1772 zu Weissenfeis, wo sein Vater Salincndirector war, studiorte
er Bergwissenschal't und Rcchtsgelchrsamkeit. 1797 starb ihm eine liebliche
Braut und ein ihm innig verbundener Bruder. Wie Schleiermacher in den
Grundsätzen der Herrenhuter erzogen, gab sich Novalis ganz den Gedanken
an das Jenseits hin. Er starb an der Schwindsucht im Mai 1801; an seinem
Sterbebette stand Friedrich Schlegel, mit welchem er schon als Student be-
freundet war. Novalis war ein geborener Dichter, waehrend die beiden
Schlegel sich künstlich in die dichterische Stimmung versetzten. Mit Recht
schreibt Novalis sich herzliche Phantasie' zu. Dem Schmerz über seine Ver-
luste entquollen '"^ seine 'Hymnen an die Nacht": noch vermischen sich in diesen
Prosaergüssen panthcistische Naturbegeisterung, wie Hölderlin''* sie rehnlich
empfunden hatte, und christliche Hingebung. Diese herrscht allein in den
spa^tcren Schriften vor, ja sie steigert sich bis zur unbedingten Verherrlichung
der mittelalterlichen Kirche in dem Aufsatze 'Die Christenheit oder Europa',
welchen selbst die Freunde auf Goethes Rat nur stückweise veröfTentlichten,-^^
'Mit Recht', so urteilte Novalis, 'widersetzte sich das weise Oberhaupt der
Kirche frechen Ausbildungen menschlicher Anlagen auf Kosten heiligen Sinnes
und unzeitigen gefährlichen Entdeckungen im Gebiete des Wissens'. Den
Jesuitenorden nennt er 'das Muster aller Gesellschaften, die eine organische
Sehnsucht nach unendlicher Verbreitung und ewiger Dauer fühlen'. Schliess-
lich wünscht er, da das Papsttum im Grabe liege, dass auch der Protestantis-
mus aufhoere und einer neuen dauerhaften Kirche Platz mache. Diesen
schwärmerischen Geist zeigen auch die mehr erzählenden Dichtungen von
Novalis. 'Die Lehrlinge von Sais' knüpfen an ein Gedicht Schillers an, lassen
aber in zartester Ausführung das Ziel aller Forschung in der Liebe finden.
Das Mserchen dient ihm dazu seine Lehre einzukleiden, es ist ihm überhaupt
der Canon der Poesie. Schwebten ihm dabei Gcethes Maerchen vor, welche
55) Hardenbergs Leben von Tieck in der mit F. Schlegel zusammen besorgten Ausgabe
der Schriften, Berlin 1802, II uö. Tieck und Bülow fügten, Berlin 1846, noch einen 3. Teil
mit den Briefen ua. hinzu. Friedrich von Hardenberg genannt Novalis, eine Nachlese
aus den Quellen des Familienarchivs, hg. von einem Mitglied der Familie, Gotha 1873.
Novalis Briefwechsel mit F. und A. W. , Charlotte und Caroline Schlegel, hg. von Raich,
Mainz 1880. A. Schubart, Novalis Leben, Dichten und Denken, Gütersloh 1887. 56) de
Nordli, deutsch wohl von Rode, von einem Gute auf neugerodetem Land. 57) Zuerst
im Athenaeum 3, 188 fgg. 58) § 162, 33. 59) Friedrich Schlegel nahm ihn fast
ganz in die 4. Auflage der Schriften von Novalis 1826 auf, aus der folgenden entfernte
I
§ 16G NOVALIS. ALBERTINI. 561
in Schillers Hören erschienen waren, so sah er noch mehr in Wilhelm Meister
das Muster des Romans, nur dass er bald nur Unpoesie, eine durchaus
praktische Richtung darin erkennen wollte. Er selbst entfaltete die ganze
Schwärmerei der Romantik in seinem 'Heinrich von Ot'terdingen', wovon er
den ersten Teil, die Lehrjahre des Dichters, vollendete, die Fortsetzung aber,
die Verkterung des Dichters, nur stückweise ausarbeiten konnte. Er be-
nutzte dabei das altdeutsche Gedicht vom Wartburgkrieg, flocht einzelne histo-
rische Züge aus der Zeit Kaiser Friedrichs II ein, weit mehr aber Phantasie-
gcbilde. Aus der Kyff hseusersage nahm er die blaue Blume, die dem Jüngling
im Traume erscheint, ihm das Bild seiner spseteren Braut zeigt, und doch
zugleich die Poesie bedeutet. In die sant'tfliessende Erzsehlung sind Lieder
eingestreut, von warmem Gefühl und einfachem Ausdruck, etwa den Wein
oder das Bergmannsleben ®^ preisend. Die ganze Innigkeit seines Gemüts,
den vollsten Wohllaut legt Novalis in seine 'Geistlichen Lieder',*^' welche
auf die Freunde wie auf die spseteren Dichter tief eingewirkt haben. An
Novalis zunsechst schliesst sich als Liederdichter ein Jugendfreund Schleier-
machers an, Johann Baptista von Albertini, der 1767 zu Neuwied geboren,
als Bischof der Herrenhuter 1831 zu Berthelsdorf starb: seine 'Geistlichen
GedichteV^ Bunzlau 1821 uö., gaben der Glseubigkeit der Brüdergemeinde
neuen, geschmackvollen Ausdruck.
Den Einfluss von Novalis erfuhr auch Ludwig Tieck, dem die roman-
tisch gesinnten Zeitgenossen oft die nsechste Stelle nach Gcethe zugewiesen
haben. Auch Tieck war von der Phantasie"^ beherrscht, wie Novalis; auch
er sah im Mserchen die hcechste Dichtart. Aber er wandte sich der heiteren
Lebensauffassung zu, und wenn ihn zeitweise das Schauerliche anzog, ja
überwältigte, so überwog doch weitaus bei ihm die Ironie, ein Begrifif, den
schon F. Schlegel hoch gestellt*^* und den speeter Tiecks Yerehrer Karl
Wilhelm Ferdinand Solger ^^ ausführlich erörterte. Tiecks Lebensumstände ^^^
Tieck itn wieder. Vollständiger Abdruck bei Eaich (Anm. 5.5). 60) LB. 2, 1409.
61) Daraus LB. 2, 1411. 62) LB. 2, 1417. 63) Ihr Walten im Traum stellt er
vortrefilicb dar: LB. 2, 1395 fgg. 64) Seine Deutung des Wortes schwankt: als
'stete Selbstparodie' enthält die Ironie die Forderung 'der Künstler müsse sich selbst über
sein Hoechstes erheben': Haym 257 fgg. 65) Geb. zu Schwedt 1780, starb er als Pro-
fessor der Liniversitiet Berlin 1819. 'Erwin, vier Gesprseche über das Schoene und die
Kunst', Berlin 1815. 'Solgers nachgelassene Schriften und Briefwechsel', hg. v. Tieck und
Raumer, Leipzig 1826, II. 65a) Rud. Köpke , Ludwig Tieck, Erinnerungen aus dem
Leben des Dichters nach dessen mündlichen und schriftlichen Mitteilungen, Leipzig 1855, II.
Hier auch ein chronologisches Verzeichnis seiner Werke. Briefe an L. Tieck, ausgewaehlt
562 NEUIIOCIIDEUTSOJIE ZEIT. XIX JAllJMl. § lüO
waren denen von Novalis viclfacli entgegengesetzt. Er war geboren zu lierliii
1773, als Sohn eines tüchtigen Scilermeisters, der auch schon der neuen
Litteratur seine Aufmerksamkeit schenkte. An CJa'thes Götz lernte Tieck
fast lesen. Auf dem Gymnasium trat bereits Tiecks Begabung hervor, welche
seine Lehrer missbrauchten, indem sie ihn abenteuerliche Geschichten vollen-
den oder ganz abfassen liessen und diese in den Druck gaben.''" Früh
mischte er Ironie ein und gefiel damit den Berliner Lesern nur um so mehr.
So kam er in Verbindung mit dem Buchhändler Nicolai, für den er nament-
lich die von Musa^us*^^ angefangene Sammlung der Straussfcdern' mit Benutzung
Iranza'sischer Romane weiter führen sollte. Nicolais Geschmack befriedigte er
vollends mit der selbstcrfundenen Erztehlung 'Peter Lebrecht, eine Geschichte
ohne Abenteuerlichkeiten' 1795/96, worin er die Siegwartschwärmerei ver-
spottete, freilich auch zugleich Nicolais Keisebeschreibungen lächerlich machte.
Gleichzeitig aber stellte Tieck in 'Abdallah' den finstersten Zweifel an der
Weltordnung, und in 'William Lovell' die Verführung und Zerstcorung eines
ursprünglich edlen Geistes durch die dämonische Einwirkung eines falschen
Freundes dar.*^^ Schon war ihm das Unzulängliche und Unbefriedigende der
Berliner Aufkla3rung deutlich geworden. Seine Universitfctszeit, die er 1792
bis 1794 in Halle, Göttingen und Erlangen verlebte, hatte er besonders dazu
benutzt, sich mit Shakespeare und seiner Zeit, sowie mit Cervantes vertraut
zu machen; von Don Quixote liess er spseter eine Übersetzung erscheinen. *^^
Zunächst aber legte er in die Ma?rchen, die er für Nicolai bearbeitete, mehr
und mehr Spott auf die einseitige Verstandesbildung, so dass 1 799 der jüngere
Nicolai ihm den Verlag aufsagte. Für die volkstümlichen Maerchen hatte
Tieck meist die dramatische Form gewaehlt: so im 'Ritter Blaubart, ein
Ammenmairchen von Peter Lebrecht' 1797,^" worin er indess um Seelen-
malerei sich bemühte; 'Der gestiefelte Kater 1797, 'Die verkehrte Welt, ein
historisches Schauspiel' 1799, 'Prinz Zerbino oder die Reise nach dem guten
Geschmack, gewissermassen eine Fortsetzung des gestiefelten Katers', Jena
1799'^ ua. In Erzajhlungsform war 'Die denkwürdige Geschichtschronik der
und herausg. von K. v. Holtei, Breslau 1864, IV. L. Tiecks Schriften, Berlin 1828—46, XX ;
Novellen, Breslau 1835—42, XIV; vollständige Ausgabe, Berlin 1852. 53, XII. Nachge-
lassene Schriften, hg. von R. Köpke, Lpz. 18.5.5, II. Tiecks AVerke, hg. von G. L. Klee,
Leipzig 1892, III. 66) 'Thaten und Feinheiten renomirter Kraft- und Knift'genies',
Berlin 1790. 91, II. 67) § 155, 85. 68) Abdallah erschien Berlin 1796, Lovell
ebd. 1795. 96 II. 69) 'Leben und Thaten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von
La Mancha', Berlin 179'J— 1801, IV. 70) Zu Berlin, wie die folgenden. 71) Daraus
§ 166 TIECK. WACKENRODER. 563
Schildbürger' 1796, abgefasst. Auch die dramatischen Stücke sind übrigens
Lesedichtung und nicht aufführbar, wenn schon spseter Versuche damit ge-
macht worden sind: im gestiefelten Kater spielt nicht nur dies kluge Tier,
sondern das Publicum selbst mit und gibt die toerichten Bemerkungen, welche
Tieck in Wirklichkeit gebeert zu haben behauptet, sich selbst zum Besten;
in Zerbino singt Wald und Gebüsch und selbst die Himmelsbläue, was be-
greiflicherweise einen Vertreter der Plattheit zur Verzweiflung bringt.
Wieder sprang Tieck von der ironischen Behandlung der älteren, volks-
tümlichen Litteratur zum Ernste über, diesmal aber nicht zum Schauerlichen,
sondern zur Einfalt und Andacht. Hierin folgte er allerdings dem Vorgang
eines Jugendfreundes, Wilhelm Heinrich Wackenroüer, der für die Kunst
schwärmte, aber nach dem Willen seines Vaters die Rechtswissenschaft stu-
dieren musste : ein Zwiespalt, in dem er sich so verzehrte, dass er 1798,
erst 26jährig, starb. Mit Wackenroder war Tieck von der Universität Er-
langen nach Nürnberg gewandert und es erschien den Freunden als eine
würdige Aufgabe, die Denkmseler der altdeutschen Malerei und Bildnerei
wieder zur Geltung zu bringen, wie Goethe den Ruhm der altdeutschen Bau-
kunst erneuert hatte. Die classische Kunst, welcher Goethe sich seitdem in
Italien ganz zugewandt hatte, schloss auch Wackenroder nicht aus: was er
aber hauptsächlich betonte, war die Begeisterung, die völlige Hingabe, welche
wie dem Künstler, so auch dem Beschauer allein gezieme. 'Ich vergleiche
den Genuss der edleren Kunstwerke dem Gebete', sagt er in den 'Herzens-
ergiessungen eines kunstliebenden Klosterbruders'; '^^ und schon die Maske,
welche der Verfasser annahm, zeigt wiederum die Neigung zur katholischen
Kirche, welche von der Litteratur speeter auf die Künstler ^^ überging. Auch
für Musik besass Wackenroder ein feines Verständnis, wie die aus seinem
Nachlass von Tieck in die 'Phantasien über die Kunst" 1799 aufgenommenen
Bemerkungen beweisen. Tieck selbst gab seinen Gedanken über das Leben
in der Kunst eine erzaehlende Form in 'Franz Sternbalds Wanderungen',
Berlin 1798: er lässt darin einen Schüler Dürers nach den Niederlanden und
nach Rom reisen; doch blieb die Erztehlung unvollendet. Zahlreiche Lieder
sind eingemischt, darunter ein romantischer 'Arion'; ^* das Wandern wird
LB. 2, 1399. 72) Berlin 1797, S. 158. 73) Von den deutschen Künstlern,
welche besonders nach den Freiheitskriegen sich in Rom zusammen fanden, traten Overbeck
na. zur katholischen Kirche über, weil sie glaubten, das» die Kunst der alten Maler in der
Zugehoerigkeit zu dieser Kirche begründet gewesen wtere. Gegen diese und sehnliche
Ansichten richtet sich Goethes Aufsatz § 160, 103. 74) LB. 2, 1388. Auch Novalis hat
564 NEUUOCllDEUTSCJIE ZEIT. XIX JAIIKII. § lüO
gepriesen , das Waldhorn in der Mondnacht kehrt liior wie sonst bei den
Romantikern oft wieder.'^ Sprache, Versbau und Reim sind nachlässig be-
handelt, da Tieck den ersten Wurf meist ungoändert beibehielt. ^"^
Diese künstlerische Freiheit behauptete Tieck auch in den ernsten roman-
tischen Dramen, welche er seit dem Zusammenleben mit den Freunden in
Jena 1799 dichtete. In seiner Genovefa" eignete er sich aus der damals
erst teilweise veröffentlichten Tragoedie des Malers Müller^® einen Zug an, das
schwermütige Lied Golos. Das Stück wird eröffnet und beschlossen durch
den h. Bonifacius." Noch bunter ist 'Kaiser Octavianus',"" ebenfalls nach
einem Yolksbuche. Zu Anfang erscheint die Romanze mit ihren Eltern
Glaube und Liebe, ihren Dienern Scherz und Tapferkeit, und spricht die be-
rühmten Worte, welche bald als Programm der Romantiker galten: 'Mond-
beglänzte Zaubernacht, die den Sinn gefangen hält; wundervolle Märchenwelt,
steig' auf in der alten Pracht!' Die Geschichte, wmc zwei Kinder der mit
Unrecht verstossenen Kaiserin, das eine von einem Loewen, das andere von
einem Affen geraubt werden, konnte freilich zum guten Teil nur erzajhlend
dargestellt werden; als Gegengewicht gegen die Einfalt und Schwärmerei hat
Tieck allerlei hausbackene Gesellen, Bauern als Erzieher der Knaben u. a.
gleichfalls auftreten lassen. Die Form schweift nach allen Richtungen aus:
neben Prosa auch Jamben, Sonette, Stanzen, zum Teil assonierend.'*' Mit
altdeutschen Studien beschäftigt, deren Ergebnisse sich nfeher an die Quellen
halten sollten, war Tieck in Deutachland und Italien umhergereist; in München
erfasste ihn ein schweres Gichtleiden, in dessen Folge er zeitlebens eine ge-
bückte Haltung behielt. Schon 1803 waren ^^ seine 'Minnelieder aus dem
schwtebischen Zeitalter' erschienen, welche die alten Texte nur verwischten, aber
durch die begeisterte Einleitung viel Teilnahme erweckten. xVnderes, wie das
Fragment '^^ aus 'Koenig Rother 1808 zeigte ein sehr mangelhaftes Verständnis
der alten Sprache. Tiecks Trauendienst oder Geschichte und Liebe des Ritters
im Ofterdingen die Sage in Prosa bebandelt. 75) LB. 2, 1383 fgg. 76) Absichtlicb
und ironiscb sind die Mängel in dem Spottsouett LB. 2, 1392. 77) 'Leben nnd Tod
der heiligen Genoveva': in 'Romantische Dichtungen', Jena 1799. 1800, II; hier auch die
Tragoedie 'Leben nnd Tod des kleinen Rotkäppchens'; sowie die Erzsehlung 'Der getreue
Eckart und Tannhäuser', woraus LB. 2, 1122 fgg. 78) § 159, 19. 79) Er stellt sich
selbst vor mit den Worten 'Ich bin der wackre Bouifacius'. Als Tieck das Stück Goethe
vorlas, streichelte dieser den Kopf seines neunj;ehrigen Sohnes und sagte 'Nun was meinst
du zu all den Farben, Blumen, Spiegeln und Zauberkünsten, womit unser Freund uns unter-
haben hat?" Küpke, Tieck 1, 260. 80) 'Lustspiel in zwei Teilen', Jena 1804.
81) Assonierende Romanzen vom Daeumchen LB. 2, 1392. 82) Zu Berlin. 83) In der
§ 166 TIECK. 565
und Sängers Uli'ich von Licbtenstein' erschien 1812.^^ Auch die Nibelungen
hatte er übersetzt; doch war ihm F. H. von der Hagen mit seiner Erneuung
1807 zuvorgekommen. Seit der Rückkehr nach Deutschland 1806 lebte Tieck
meist in der Naehe von Frankfurt a. 0., wo mehrere Edelleute ihn und seine
Familie bei sich aufnahmen. 1819 siedelte er nach Dresden über und wurde hier
1825 als Dramaturg ^^ angestellt, wirkte aber besonders durch seine berühmten
Vorlesungen von Theaterstücken auf einen künstlerisch angeregten Kreis. ^^
Einen Teil seiner romantischen Schriften — Mserchen, Erzsehlungen und
Schauspiele — hatte Tieck 1812 — 17 im Phantasus^'' vereinigt und sie in
eine Rahmenerzsehlung gefasst, welche an das Zusammenleben mit den Freun-
den in Jena erinnern sollte. Unter den Mserchen war ihm das liebste 'Der
blonde Eckbert', worin zuerst das Wort Waldeinsamkeit vorkam und die
Zeitgenossen bezauberte. Dieser Schauer ist für Tiecks selbsterfundene Mser-
chen ein stets wiederkehrender Reiz: nicht eine einfache Sittenlehre, wie das
Volksmaerchen sie gibt, sondern dumpfe, unbestimmte Gefühle wollen sie mit-
teilen. Mit dem Tortunat'^^ schloss er 1815 seine romantische Dichtung ab.
Litterarhistorische Arbeiten beschäftigten ihn zuneechst, in denen er nament-
lich ältere, bereits verschollene Dichter, die er zum Teil noch gekannt hatte,
der Litteratur wieder zuführte. So hatte er sich an der Herausgabe der
Werke des Malers Müller 1811 beteiligt, so veröffentlichte er zu BerUn 1826
H. V. Kleists gesammelte Schriften, 1828 die von J. M. R. Lenz,"*'-* 1831
F. L. Schroßders dramatische Werke. ^° Die Insel Felsenburg erneute er
1827;^^ Stücke von H. Sachs bis auf Lohenstein als 'Deutsches Theater'
1817.^^ Die von Schlegel nicht übersetzten Dramen Shakespeares übertrug
er mit Hilfe seiner Tochter und des Grafen Baudissin Berlin 1826, 1830 bis
1833, IX, wobei freilich die Yorzüge der Schlegelschen Übersetzung nicht
erreicht wurden. Schon 1798 hatte er aus Ben Jenson übersetzt; 1811 Hess
er 'Altenglisches Theater' erscheinend^ und 1823^^ 'Shakspears Yorschule'.
Seit 1821 veröffentlichte Tieck eine Reihe von Novellen,^^ worin er die
ehemalige Schwärmerei und gesuchte Einfalt völlig aufgab, dafür aber die
Einsiedlerzeitung von Arnim. 84) Zu Tübingen. 85) 'Dramaturgische Blätter',
Berichte aus den J. 1821 — 24, erschienen Breslau 1826, II und nochmals in den 'Kritischen
Schriften', Leipzig 1848. 52, IV. 86) Hermann Frhr. von Friesen, 'L. Tieck, Erin-
nerungen eines alten Freundes aus den J. 1825 — 42', AVien 1871, II. 87) Berlin, III.
88) 'Ein Msrchen in fünf Aufzügen'. Daraus LB. 2, 1133 fgg. 8!)) Berlin, III.
§ 159, 35. 90) Berlin, IV ; vgl. § 163, 18. 91) VI. § 134, 18. 92) Berlin, II.
93) Berlin, II. 94) Leipzig. 95) Anm. 65a. J. Minor, Tieck als Novellen-
566 NEUIIOUIIDEUTÖCJIE ZEIT. XIX JAIIKII. i^ l(j(;
Ironie, welche entgegengesetzte Ansichten zu "Worte kommen liisst, vielseitig
und behaglich ausübte. Er behandelte einerseits litterarhistorischc Stoffe,
schilderte z. B. »Shakespeares Entwickelung in 'üichterlcben' 1826 — 31, das
Ende des Camocns in 'Der Tod des Dichters' 1834, anderen Teils aber
crza^hlte er eigene Erlebnisse, so die Theatererinnerungen aus seiner Jugend
in 'Der junge Tischlermeister' 1836; oder er nahm wie in 'Der Wasser-
mensch' 1834 Stellung gegen die jungdeutsche, ihm wie der Romantik über-
haupt feindliche Litteraturstra^mung. Groesseren Umfang gab er dem 'Auf-
ruhr in den Cevennen', wovon er jedoch nur den ersten TeiP'"' 1826 vollendete,
und wieder seinem letzten Werk 'Vittoria Accorombona", Berlin 1840, IL
Im naechsten Jahre verliess er Dresden, wo ihm Frau und Tochter ge-
storben waren, um dem Rufe Friedrich Wilhelms IV folgend, fortan in Berlin
oder Potsdam zu leben. Er beriet den Koenig bei seinen Theaterversuchen,
welche auch Tiecks eigene Stücke auf die Bühne brachten, freilich ohne
ausserhalb des Hofes Beifall zu finden. Seit 1848 völlig zurückgetreten, starb
Tieck in seiner Vaterstadt 1853.
In Berlin war er mit Henrich Steffens wieder zusammengetroffen,
dessen Autobiographie 'Was ich erlebte'"^ auch in die Geschichte der roman-
tischen Schule manchen Einblick gewajhrt. Er war aus Dänemark nach
Deutschland gekommen, wie vor ihm Baggcsen*"* und nach ihm Oehlen-
schla3ger.^^ Geboren 1773 zu Stavanger in Norwegen, ward er 1796 Privat-
docent in Kiel, 1804 Professor der Mineralogie in Halle, dann in Breslau,
zuletzt in Berlin, wo er 1845 starb. Am Feldzuge 1813 hatte er als Frei-
williger Teil genommen. Seine Novellen brachten den Norden Deutschland
nteher: in das vorige Jahrhundert führten 'Die Familien Walseth und Leith'; '""^
die eigenen Erlebnisse stellte er dar im Novellencyclus 'Die vier Norweger'.'"'
Er suchte Schellings Naturphilosophie durchzuführen; aber den katholisieren-
den Neigungen stellte er seine 'Confession, Wie ich wieder Lutheraner wurde
und was mir das Luthertum ist' entgegen.'"^
Ein anderer Freund Tiecks, der zur katholischen Kirche übergetreten
war, wandte sich der Kunstgeschichte des Mittelalters zu. Karl Fr. L. F.
VON Rumohr '"^ gebeerte einer schleswigholsteinischen AdelsfamiHe an , war
dichter: Akad. Blätter I, 129 fgg., 193 fgg. 96) Daraus LB. 3, 1151. 97) Breslau
1840 — 44, X. H. Steffens, ein Lebensbild von R. Petersen, aus dem Daenischen übersetzt von
A. Michelsen, Gotha 1884. 98) § 102, 36. 99) § 1G8, 30. 100) Berlin 1816.
IT, III. Daraus LB. 3, 1295 fgg. 101) Breslau 1827. 28, VI. 102) Breslau 1831.
103) li. W. Schulz, K. Fr. v. Kumohr, sein Leben und seine Schriften, Leipzig 1844.
§ 167 STEFFENS. RUMOHR. JÜNGERE ROMANTIKER. 567
aber auf deren Besitzung bei Dresden 1785 geboren; er starb hier 1843,
nachdem er sein Leben meist auf Reisen zugebracht hatte. Seine 'Italieni-
schen Forschungen' ^°* helhen insbesondere die Geschichte der äUeren Malerei
auf. Launig und gelehrt behandelte er die Tafelgenüsse, denen auch Fried-
rich V. Schlegel zugethan war, in seinem 'Geist der Kochkunst'**'^ 1822 und
gab in der 'Schule der Hceflichkeit für Alt und Jung''*'*' Lebensregeln für
die verschiedenen Stände. Weniger befriedigen die seinem Gönner Friedrich
Wilhelm IV gewidmeten 'Deutschen Denkwürdigkeiten aus alten Papieren','*'''
eine sittenschildernde Erzeehlung aus der Zeit nach dem siebenja3hrigen Kriege.
§ 167.
Die romantische Lehre, welche der Phantasie und dem Gefühl einen
so freien Spielraum Hess und die Gesetze des Yerstandes ebenso wie die
Anforderungen der strengen sachgema3ssen Form so weit zurückdrängte, musste
bei der Jugend begeisterte Aufnahme finden. Schon als die Brüder Schlegel
mit Novalis und Tieck sich 1799 in Jena zusammenfanden, traten jüngere
Dichter ihnen nahe, aus denen sich ein zweiter Kreis, die jüngere romantische
Schule bildete. Diese jüngeren Romantiker waren mehr productiv als kritisch
beanlagt; sie waren als Dichter wenigstens den Brüdern Schlegel überlegen.
Aber sie mischten noch mehr als die älteren Romantiker "Willkürliches und
Seltsames ein; ihre Dichtwerke haben wirkliche Schoenheiten, aber auch viel
Abgeschmacktes. Sie unterschieden sich von jenen älteren auch durch die
Vorbilder, welche sie bewunderten und nachahmten. Dehnten die Brüder
Schlegel ihre Vorliebe, ihre Forschung auf die Litteratur vieler alter und
neuerer Völker aus, hatte Tieck seinen Lesern neben den altdeutschen Dich-
tern auch Shakespeare und Cervantes zugänglich gemacht, so beschränkte
sich die jüngere Schule auf die deutsche Volkspoesie. Hier drangen sie denn
auch tiefer ein als jene, und im innigen Bund mit ihnen standen die ersten
Meister der deutschen Altertumswissenschaft.
Auch für die jüngeren Romantiker gab es einen Sammelplatz, der durch
Lage und Umgebung ganz ihren Wünschen entsprach, Heidelberg, wo die an
Baden gefallene Universitset mit glänzenden Hoffnungen neubegründet wurde. ^
104) Berlin 1826—31, III. Daraus LB. 3, 1345 fgg. 105) Das Buch erschien unter dem
Namen seines Koches, Josei^h Kcenig, Stuttg. n. Tüb. 2 1832. 106) Stuttgart 1834.
LB. 3, 1351 fg. 107) Berlin 1832, IV.
§ lo7. 1) K. Bartsch, Romantiker und germanistische Studien in Heidelberg 1804 — 8.
(Akad. Rede) Heidelberg 1881. H. W. B. Zimmer J. G. Zimmer und die Romantiker,
568 NEUIIOCIIDEUTSCJIE ZEIT. XIX JAIIlllI. § 167
liier siedelte Brentano sich 1804 an, 1805 folgte Arnim, 1806 Görres.
Arnim und Brentano Hessen zu Heidelberg 1806 — 8 'Des Knaben Wunder-
horn, alte deutsche Lieder' erscheinen, in drei Bänden, welchen noch ein
Anhang Kindorlieder beigegeben war.- Die Sammlung, mit Liebe und
Fleiss zu Stande gebracht, übertraf an Reiclitum weif was Herder^ und
Andere* von deutscher Volksdichtung zusammengestellt liatten; allerdings
hatten die Herausgeber wie Herder auch solche Lieder bekannter Dichter
aufgenommen, welche in das Volk übergegangen waren. Ga;the, dem des
Knaben Wunderhorn zugeeignet war, begrüsste die Sammlung mit kurzer,
treffender Beurteilung der Hauptlieder ^ und wünschte, dass sie in jedem
Hause, wo frische Menschen wohnen, zu finden wsere. Er erkannte, wie ge-
waltig das Buch die Lust am Volksgosang verbreiten und neu beleben werde;
die tiefste Einwirkung auf die lyrische Dichtung sollte sich anschliessen. Da-
gegen kehrte J. H, Voss*^ die philologische Seite liervor und machte es den
Herausgebern zum harten Vorwurf, dass sie einzelne Lieder ergänzt oder
sonst verständlicher gemacht hatten. Brentanos Sammlungen, welche für die
Volkslieder zu Grunde gelegen hatten, dienten auch für die begeisterte Schrift
von Görres 'Die teutschen Volksbücher , nähere Würdigung der scha'nen
Historien- "Wetter- und Arzneybüchlein, welche theils innerer Werth, theils
Zufall, Jahrhunderte hindurch bis auf unsere Zeit erhalten hat', Heidelberg
1807.' Die Volksbücher, auf welche schon A. W. Schlegel hingewiesen,'»
wovon F. Schlegel bereits eines ^ erneuert hatte, erschienen nun als gesunde,
durch die Jahrhunderte fortgeführte Kost des Volkes, der wechselnden Schrift-
stellerei der Gelehrten an Wert überlegen. Endlich gab Arnim mit den
Freunden und anderen Gleichgesinnten^ die 'Zeitung für Einsiedler' heraus,
Frankfurt a. M. 1888. 2) M819. »Berlin 1846 (in 4 Bden, aus Arnims Nachlass ver-
mehrt). Neue Ausgabe von G. Wendt, Berlin 1873, II; Neubearbeitung von A. Birlinger
und W. Crecelins, Wiesbaden 1874. 7G, II. 3) § 157, 34. 4) Arnim selbst in
der Einleitung 'Von Volksliedern, an Herrn Kapellmeister Reichardt' nennt noch Elwert,
Ungedruckte Reste alten Gesanges, Marburg 1781. 5) Jen. Allg. Lit. Zeitung 180(3.
Über diese und andere Stimmen der Zeitgenossen s. H. Hoffmann, Weimar. .Jahrb. II, 261
bis 282. 6) im Stuttgarter Morgenblatt 1808. 7) Daraus LB. 3, 1171. Ebd. 1187
die Einleitung zu den Altteutschen Volks- und Meisterliedern von Görres, Frankf. 1817.
7 a) In den Berliner Vorlesungen § 166, 26. 8) § 90, 238. Die Neubearbeitung ist von
Dorothea Schlegel -vorsenommen worden. Über die zusammenfassende Erneuerung der
Volkslieder durch Simrock s. § 90, 223. 9) Ausser den Brüdern Schlegel und Tieck
waren auch die Brüder Grimm, Uhland und Kerner beteiligt: der letztgenannte lieferte
§ 1G7 BRENTANO. 569
welche freilich nur von April bis August 1808 erschien'" und hierauf als
'Troest Einsamkeit' zusammcngct'asst" wurde. Noch 1808 verliessen die Freunde
Heidelberg; die Feindschaft des alten J, II. Yoss und seiner Anhänger ver-
trieb sie. Ein letzter Kampf entspann sich über das Sonett: auf eine zier-
liebe Verteidigung durch Arnim ^- antwortete 'der Karfunkel- oder Kling-
klingel-Almanach' von Baggesen und Heinrich Yoss, 1810.'^
Die eigenen Dichtungen der Freunde sind sehr verschieden, entsprechend
ihren Lebensverhältnissen. Clemens Maria Brentano,'* dessen Mutter'^ zu
Goethe, dessen Grossmutter Sophie von La Roche '^ zu Wieland Jugendver-
hältnisse gehabt hatten, war zu Ehrenbreitstein 1778 geboren und verlebte
bei der Grossmutter seine Kinderjalire. In der kaufmännischen Lehre bei
seinem Vater in Frankfurt und bei einem Geschäftsfreund in Langensalza
zeigte er durch ausgelassene Streiche seine Abneigung gegen diesen Beruf.
Als der Tod seines Vaters 1797 ihn in Freiheit und in den Besitz eines aus-
reichenden Vermoegens setzte, suchte er in Jena als Student sich den Brü-
dern Schlegel und Tieck anzuschliessen. Für sie nahm er Partei durch seine
'Satiren und poetische Spiele von Maria' I, Leipzig 1800," worin er Kotzebues
Trauerspiel Gustav "Wasa in der Weise Tiecks parodierte. Bedeutender, aber
von ihm spseter nicht anerkannt,'^ ist sein Verwilderter Roman Godwi oder
das steinerne Bild der Mutter von Maria', '^ eine Nachahmung der Lucinde
und des Lovell. In dem formlosen Werk besitzen nur die eingemischten
Lieder Wert, deren bald lautjubelnde, bald tiefschwermütige Toene bei Heine,
Lenau, Geibel widerklingen, wsehrend andere die Volkslieder aus der spsete-
wohl auch die Gedichte von Hölderlin. 10) Heidelberg. 11) Mit dem Nebentitel
'Alte und neue Sagen und Wahrsaguncren , Geschichten und Gedichte.' Neue Ausgabe von
F. Pfaff, Freiburg i. B. u. Tübingen 1883. 12) Als Beylage zur Zeitung für Einsiedler:
'Geschichte des Herrn Sonet und des Fräuleins Sonete, des Herrn Octav und des Fräuleins
Terzine, eine Komanze in 90 -\- .3 Soneten'. 13) § 162, 39. 14) Biographie von seinem
Bruder Christian in den 'Gesammelten Schriften' von Gl. Br. Frankfurt a. M. 1852, IX; die
zwei letzten Bände enthalten den Briefwechsel. Ausführlich : J. B. Diel, Gl. Br. Ein Lebens-
bild nach gedruckten und ungedruckten Quellen. Ergänzt und hg. von W. Kreiten, Frei-
burg i. B. 1877. 78, II. 15) § 160. vor Anm. 51. 16) § 153, 2. 38. '" 17) Neu-
druck von Minor in den Dtsch. Litt.-denkm. l.ö, Heilbronn 1883. 18) Er kaufte die
Exemplare auf, um sie zu vernichten. 19) Bremen 1801. 2, II. Der erste Band enthält
verworrene Briefe, die sich der vorgebliche Herausgeber im II. von dem Helden erklieren
lässt: 'dies ist der Teich, in welchen ich I S. 206 falle'. Am Schlüsse stirbt der Dichter
Maria; ein Freund Brentanos schilderte noch in einer Art Nachruf dessen Wesen und die
Lebensweise der Freunde in Jena, die sich in der Verehrung für Goethe zusammengefunden
570 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAHRH. § 1G7
ren Sammlung sclion bekannt machen. Die Yolkssage von verführerischen
Nixen verband Brentano '''' mit dem Lurlcifelsen und seinem berühmten Echo.
Gleichzeitig richtete Brentano Liebesgodiclite an Sophie Mereau,-' eine Dicli-
tcrin und Schüknin Schillers, welche ihre Ehe loeste, um sich 1803 mit
Brentano zu verbinden, aber schon 1806 starb; von einer zweiten Frau,
welche noch unbändiger war als er selbst, Hess er sich scheiden. 1808 begab
er sich zu seinem Schwager Savigny nach Landshut und folgte diesem auch
1814 nach Berlin. Seine lyrische Dichtung setzte er fort in den zum Teil
assonierenden Romanzen vom Rosenkranz,-^ worin er das Studentcnleben zu
Bologna um 1300 schilderte. Als Dramatiker hatte er 1804-^ das Lustspiel
Toncc de Leon' erscheinen lassen , welches spanische Verwickelung mit
"Witzen in Shakespeares Weise durchsetzte, aber bei der Aufführung in Wien
keinen Beifall fand. Ebenso wenig Eindruck machte sein historisch-roman-
tisches Drama 'Die Gründung Prags' ^^ und mehrere Festspiele auf die
Freiheitskriege,^^ mit volksliederartigen Einlagen, aber wegen seiner Wort-
und Ycrsspiele doch nicht volksmassig. Mehr Anklang fanden die Erza;h-
lungen Brentanos. Zwar 'Des Uhrmachers Bogs^^ wunderbare Geschichte',
Heidelberg 1807, ist eine oft fast unverständliche Satire; allgemeiner hält
sich die auf dasselbe Ziel gerichtete 'Der Philister vor, in und nach der Ge-
schichte'.-' Absichtliche Einfalt nach dem Muster altdeutscher Erzaehlungen-*
herrscht in dem Bruchstück 'Aus der Chronica eines fahrenden Schülers'; -^
sowie in der tieftraurigen 'Geschichte vom braven Kasperl und der schoenen
Annerl',^" welche zeigt, wie gerade das übertriebene Ehrgefühl der Armen
zum Yerbrechen und Verderben führt. Der Volksaberglaube, welcher hier
grausig hervortritt, verbindet sich mit lustiger Erfindung in 'Die mehreren
hatten. 20) 'Zu Bacharach am Rheine wohnt' eine Zauberin'. 21) Ihr bisher
stets falsch angegebenes Geburtsjahr 1771 ergibt sich aus dem Nachruf: Brentanos Briefe
1, 41. 22) Sie erschienen erst in den Ges. Schriften. 23) Zu Güttingen. 24) Pesth
1815. 25) Darunter 'Victoria und ihre Geschwister, mit fliegenden Fahnen und bren-
nender Lunte. Ein klingendes Spiel', Berlin 1817. Bei der Aufführung in Wien erlaubte
die Censur nicht einmal die Feinde als Franzosen zu bezeichnen. 26) Der Name
vereinigt die Anfangs- und Endbuchstaben von Brentano und Gürres, welche hier zusammen
arbeiteten. Der etwas gesuchte Witz erhellt schon aus der Fortsetzung des Titels . . 'wie
er zwar das menschliche Leben längst verlassen, nun aber doch, nach vielen musicalischen
Leiden zu Wasser und zu Lande, in die bürgerliche Schützengesellschaft aufgenommen zu
werden Hoffnung hat'. Die eingelegte Schilderung einer Concertmusik ist wahrhaft schwindel-
erregend. 27) Berlin 1814, aber schon früher verfasst. 28) Brentano erneuerte
Wiekrams Goldfaden, Heidelb. 1809: § 107, 31. 29) Erschienen 1818. 30) Berlin 1817.
§ 167 BRENTANO, GÖRRES, ARNIM. 571
Wehmüller und ungarisclien Nationalgesich ter'.^' Spajter dichtete Brentano
nur noch Mserchen,^^ zum Teil nach dem Pentamerone des Neapolitaners Ba-
sile, aber mit satirischen Bezügen auf die Zeit, besonders die Litteratur; den
Erlces daraus bestimmte er zu frommen Zwecken. In Berlin hatte Brentano
sich bekehrt; sein ganzes Leben, dessen Leere der Berufslose schon empfun-
den hatte, erschien ihm nun verdammlich. Sein boshafter Witz, der sich
namentlich darin gefiel, die Frauen durch phantasierte Geschichten zu rühren
und dann auszulachen , hatte durch Luise Hensel ^^ eine Zurückweisung
erfahren, welche ihn zur völligen Unterwerfung unter geistliche Zucht führte.
1817 — 24 lebte er meist zu Dülmen in Westfalen am Bett einer kranken
Nonne, deren Visionen über die Geschichte der Jungfrau Maria er aufzeich-
nete;^* dann in München. Er starb in Aschaffenburg bei seinem Bruder
Christian.
In München war Joseph von Görres^^^ wieder mit ihm zusammenge-
troffen. 1776 zu Coblenz geboren und wie Brentano von der einen Seite her
aus Italien stammend, hatte er sich zuerst für die franzoesische Revolution
begeistert, war dann aber für die Erhaltung deutschen Wesens am Rhein
feurig eingetreten, besonders durch seinen 'Rheinischen Mercur' 1814. Damals
ward ihm das Unterrichtswesen in der Rheinprovinz anvertraut; bald aber
zeigte sich sein heftiges Widerstreben gegen die preussischen Einrichtungen.
Nach dem Erscheinen seiner Schrift 'Teutschland und die Revolution' 1819
floh er nach Strassburg und vertrat seitdem die Forderungen der Vorkämpfer
in der katholischen Kirche.^^ 1826 nach München an die Universitaet be-
rufen, starb er hier 1848.
Als Dichter stand nseher zu Brentano dessen Schwager Ludwig Achim
VON Arnim. Ein durchaus fester, edler Character, verkörpert er die nord-
deutsche, die protestantische Romantik: Brentanos warme Phantasie hat in
ihm den springenden Humor zur Seite. Geboren zu Berlin 1781, starb er
31) Erschienen 1817. 32) 'Gockel, Hiukel, Gakeleia' Frankfurt a. M. 1838, und
nach seinem Tod erschienen, 'Rothkehlchens, Liebseelchens Ermordung und Begraehnis',
Zürich 1843; 'Die Maerchen des Clemens Bi'entano', hg. von Guido Görres, Stuttg. u. Tüb.
1847, II. 33) 1798 — 1876 ; Tochter eines protestantischen Geistlichen aus Linura in
der Mark, trat sie spseter zur katholischen Kirche über ; ihre geistlichen Lieder fanden viel
Beifall. H. Eeinkens, L. Hensel und ihre Lieder, Bonn 1877. F. Binder, Luise Hensel,
Freiburg i. B. 1885. 34) Sie wurden zu München 1852 veröffentlicht. 35) Joseph
V. Görres, Gesammelte Briefe, hg. von Marie Görres und F. Binder, München 1858 — 74, III.
J. N. Sepp, Görres und seine Zeitgenossen, Nördlingen 1877. 36) Er begründete die
Wackernagel, Litter. Geschichte. II, 38
572 NEUHOCHDEUTSOlIi: ZEIT. XIX JAIIIMI. § 167
auf seinem Gut Wiepersdorf westlich von Lübben in der Mark IS'M. Besser
al^ seine lyrischen Gedichte,^' die er in Tiecks Art rasch hinwarf und in
denen er mehr auf eine unbestimmte Empfindung als auf klare Gedanken
und feste Gestalten abzielte, waren seine Erzählungen. Die Erstlinge zwar
sind voller Nachahmung, besonders Goethes. Dessen Werther veranlasste auch
die Briefform seines ersten Romans 'Hollins Liebesleben 1802.^* Ein roman-
tisches Gemisch aus Prosa und Versen und zugleich eine Verquickung
nordisch -germanischer Sage mit Hohn auf die Aiifkla'rung erfüllt 'Ariels
Offenbarungen I, 1804. Ein dritter Roman ahmt W, Meister nach: 'Armuth
Keichthum Schuld und Busse der Grajfin Dolores', 1810: •''•* aber schoene
Schilderungen wie gleich zu Anfang die des verwilderten Palastes und Parkes,
in welchem die Heldin aufwächst, wechseln mit sonderbaren Erfindungen, die
nur satirische Deutung rechtfertigen kann.^° In anderer Weise werden aus-
gezeichnete Einzelheiten durch eine widerspruchsvolle Zusammenfassung ver-
dorben in dem Roman 'Die Kronenwächter, I, oder Bertholds erstes und
zweites Leben', Berlin 1817: eine Schilderung Schwabens zu Anfang des
16. Jahrhunderts, welche eine Reihe von lebensvollen Bildern enthält, aber
durch deren rasch wechselnde Voraussetzungen den Leser verwirrt. Diese
Willkür musste natürlich Arnims Dramen völlig entstellen. 'Halle und Jeru-
salem, Studentenspiel und Pilgerabentheuer', Heidelberg 1811, versetzt Car-
denio und Gelinde von Gryphius in die Gegenwart, mischt aber ganz abseits
liegende Gegenstände ein.^' Ebenso wenig eignen sich zur Aufführung die
Dramen, welche er als 'Schaubühne' zusammenfasste: ^'- meist Bearbeitimgen
älterer deutscher Stücke, aber auch selbständige historische Dramen. Unter
diesen enthält der 'Auerhahn' die Geschichte von Otto dem Schütz und
zeichnet vortrettiich die Härte des Vaters, der selbst ein ungehorsamer Solin
gewesen ist.
Altdeutsche Erzählungen vereinigte Arnim im 'Wintergarten', Berlin
1809. Und altdeutschen Aberglauben verkörperte er, nach seiner Art im
noch bestehemle Zeitschrift 'Historisch -politische Blätter'. 37) LB. 2, 1441 fgg.
38) Zu (jöttingeo ei*schienen wie der uaechste Roman. Neue Ausgabe von Minor, Frei-
burg i. ß. 1883. Die Schlussscene, in welcher sich der Held auf einer Liebhaberbühne,
seiner Geliebten gegenübei-stehend, als Mortimer wirklich ersticht, ist von Heine in einem
bekannten Gedicht wiederholt worden. 39) Berlin, IL 40) LB. 3, 1245. 41) Der
2. Teil beginnt mit der Kreuzigung Christi. L'nter den Personen tritt ausser Ahasver auch
der Klapperstorch auf. 42) L Band, Berlin 1813; aus dem Nachlass sind noch 2
Bände in Arnims 'Sämtliche Werke' aufgenommen, welche seine Witwe, anfänglich noch
§ 167 ARNIM, BETTINA. 573
Übermass, in seinen Novellen: 'Isabella von Aegypten, Kaiser Karls V erste
Jugendliebe' ua,, Berlin 1811. Ebenso wenig hielt er seinen Reichtum an
komischen Situationen zu Rat und musste sich daher viel von andern aus-
plündern lassen. Immerhin gehoeren viele dieser Erzaehlungen, besonders die
in die neuere Zeit verlegten und mit Lebenserinnerungen ausgestatteten'*^ zu
dem besten, was deutsche Erzaehlungskunst geschaffen hat.
Erst nach Arnims Tod trat seine Witwe Bettina ^^ als Schriftstellerin
hervor: sie beschränkte sich auf die Biographie, auf die romantische Wieder-
gabe ihrer Jugendeindrücke. Sie liebte ebenso wie ihr Bruder Clemens das
Seltsame: selbst als sechzigjsehrige Greisin erschien sie jugendlich unbesonnen,
jedem Zwange feind. 'Das Kind', so nannte sie sich in ihrem ersten, 1835 er-
schienenen Buche ^•' 'Goethes Briefwechsel mit einem Kinde'. Sie erzsehlt darin
in Briefform, wie sie 1807, damals bereits 22J8elirig,^^ zu Gcethe kam und
ihm ihre begeisterte Hingebung kund gab. Sie teilte ihm die Erinnerungen
aus seiner Jugend mit, welche Frau Rat ihr erzsehlt hatte und blieb, trotz
seiner Ablehnung,*" ihrer Schwärmerei für ihn bis zuletzt treu. Freilich sind
die Briefe, welche sie mitteilt, vielfach ausgeschmückt:"*® aber diese Aus-
brüche des lebhaftesten Gefühls*^ haben bald nach dem Tod des grossen
Dichters dazu beigetragen, sein Andenken zu verherrlichen. Eine Jugend-
freundin, die mit ihren überspannten Ansichten Ernst machte, schilderte Bet-
tinas Buch 'Die Günderode, ein Briefwechsel', 1840.^° Ihren Bruder, der
sich um ihre Bildung bemüht hatte, verherrlichte sie in 'Clemens Brei;tanos
mit Beiziehuug von W. Grimm, besorgt hat, Berlin 1839 fgg. 2 1853—56, XXII. 43) In
der 'Ehensdimiede' verwertete er die Erinnerungen von einer Reise in Schottland , dessen
Romantik er noch vor W. Scott dargestellt hat. 44) M. Carriere, Bettina von Arnim,
Breslau o. J. (Deutsche Bücherei). C. Alberti, B. v. A. Leipzig 1885. 45) Berlin III.
'1881, mit einer Einleitung von ihrem Schwiegersohn H. Grimm. 46) Nach Steig,
Deutsche Rundschau 1892, Augustheft, waere sie allerdings nicht 1785, sondern 1788 ge-
boren. Ihre Vaterstadt war Frankfurt. 47) Er brach mit ihr, als sie 1811 gegen
seine Frau unartig war. 48) Sie loeste z. B. die Sonette Goethes an Minna Herzlieb
(§ 160, 96) in Prosa auf und gab sie für Briefe aus, die sie empfangen habe. Auch hier
gilt, was sie sich von Goethes Mutter am 7. Oct. 1808 schreiben Hess. 'Die Beschreibung
von den Prachtstücken und Kostbarkeiten hat mir sehr viel Pläsier gemacht; wenn's nur
auch wahr ist, dass du sie gesehen hast; denn in solchen Stücken kann man dir nicht
wenig genug trauen.' 49) LB. 3, 1487. 50) Grünberg, II. Die Stiftsdame Ka-
roline v. Günderode , 1780 geboren , erdolchte sich 1806 bei Winkel am Rhein , als der
Heidelberger Professor Creuzer ein Eheversprechen zurück nahm. Sie hatte sich auch als
Dichterin versucht, nicht ohne Kühnheit, indem sie die Ermordung Attilas durch Ildiko
574 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAlllill. § UM
Frülilingskranz, aus Jugcndbriefcn ihm geflochten' 1844.''' Wie sie ihr erstes
Bach dem Fürsten Pückler, das zweite den Studenten gewidmet hatte, so
wandte sie sich an Frie(hich Williehn IV: 'Dies Buch gehoort dem KoMiig'
1843 ;''^ an Gespräche mit Frau Rat anknüpfend empfalil sie, das Elend der
Berhner Armen durch Unterricht, durch öffentliche Vorlesungen zu heben.
Das Kamigsbuch setzte sie fort als 'Gespneche mit Dtcmonen' 1852, nachdem sie
bereits 1846 in 'Ilius Pamphilius oder die Ambrosia' einen Briefwechsel mit
dem jungen Theologen Nathusius veröffentlicht hatte. Sie starb zu Berlin 1850.
In ihren Briefen wird oft auch ihr Schwager crwaihnt, der berühmte
Rechtshistoriker Fkiedricii Karl von Savignv, geb. 1775 zu Frankfurt a. M.,
gest. 1801 zu Berlin, wo er 1810—42 Professor, dann bis 1848 Minister für
Landesgesetzgebung gewesen war. Schon seine deutsche Erstlingsarbeit 'Das
Recht des Besitzes' 1803 zeigt auch in der Darstellung jene Klarheit und
Ruhe, welche Clemens Brentano und Bettina von ihrem eigenen Wesen
so abstechend fanden. Savignys Schrift 'Vom Beruf unserer Zeit für Gesetz-
gebung und Rechtswissenschaft' 1814^^ wandte sich gegen das aus der
Begeisterung der Freiheitskriege hervorgegangene Verlangen, ein einheitliches
deutsches Recht herzustellen, wozu in der That es damals und noch auf
lange hinaus zu früh gewesen wäre. Darin stimmte er mit den Romantikern,
aber auch mit Ma}ser überein , dass das geschichthch gewordene nicht nach
dem vermeinten Vernunft- oder Naturrecht abzuändern sei. Die Wissenschaft
der Rechtsgeschichte hat er namentlich für das roomische Recht festgestellt
und urkundlich aufgebaut.
Savignys Schüler war der Begründer der deutschen Alter tuiiiswissen-
schaft; Jacob Grimm.^* Geboren zu Hanau 1785, hat er fast stets mit seinem
um ein Jahr jüngeren Bruder Wiliiklm'^^ zusammen gelebt und zusammen
gearbeitet, bis 1830 an der Bibliothek zu Cassel, bis zum Verfassungsbruch
des Koenigs von Hannover 1837 als Professoren in Göttingen, seit 1841 als
Mitgheder der Akademie zu Berlin, wo Wilhelm 1859, Jacob 1863 starb.
Jacob Grimms 'Deutsche Grammatik', welche zuerst 1819 erschien,^^ stellte
i
darstellte. 'Gesammelte Dichtungen', hg. von Götz, Mannheim 1857. 51) I, Charlotten
bürg. 52) Berlin, II. 53) LB. 3, 1233. 54) W. Scherer, J. Grimm, Berli
'1885. Briefwechsel zwischen J. und W. Grimm aus der .Jugendzeit, hgg. von H. Grimm und
G. Hinrichs, Weimar 1881. 55) Über Wilhelm hat Jacob selbst gesprochen , Berlin
1860; in den 'Kleineren Schriften* J. Grimms (Berlin 1864) im I. Bd., wo auch seine Sellist-
biographie und die Rede auf Lachmann. 56) Göttingen , wie die meisten BücIkt
J. Grimms. Vorrede LB. 3, 1409. MSl'2-37, IV. M840 (nur der Anfang). Neu.r
f
§ 167 SAVIGNY, J. UND W. GRIMM, LACIIMANN. 575
die germanische Pliilologic auf einen neuen, sichern Boden; seine 'Deutschen
ReclitsaUerthümer' 1828, seine 'Deutsche Mythologie' 1835^^ eröfFneteu neue
RsDume ihres Geba3udes, das er durch zahh'ciche Einzelschriften und Ausgaben
ausführte und auszierte. Wilhelm Grimm hat namentlich in seinem Buch
'Die deutsche Heldensage' 1829^^ einen besonders wichtigen und schwierigen
Teil der altdeutschen Litteraturgeschichte erkeutert. Beide Brüder haben zu-
sammen zu Leipzig seit 1854 ihr 'Deutsches Wörterbuch' erscheinen lassen,
welches von Andern fortgesetzt, das grossartigste Denkmal ist, welches je
einer Sprache errichtet wurde. Der poetischen Litteratur stehen besonders
nahe die Sammlungen alter Yolksüberlieferung, womit die Brüder fast zuerst
hervortraten und in welchen sie die schoensten Muster der volkstümlichen
Rede aufstellten, die reichsten Quellen für die erzsehlende Dichtung im Volksstil
eröffneten: 'Deutsche Kinder- und Hausmaerchen', zuerst 1812, und 'Deutsche
Sagen' 1816, 1818, 11.^^ Vor diesen echten Volksmserchen und Volkssagen
verblassten die Nachahmungen der Romantiker und ihrer Vorgänger. An
beiden Sammlungen hatte W. Grimm hervorragenden Anteil: er schmiegt
sich besonders treu an die wirklich gehoerten Erzeehlungen an,^" wie sie ihm
besonders eine Bauernfrau aus Schwelm mitteilte. Er hatte 1809 in Weimar
bei Goithe geweilt®^ und sich durch die Übersetzung altdsenischer Heldenlieder,
1811, auch poetisch betheetigt. Sein Bruder hat mehr eine eigene, poesie-
volle, besonders bilderreiche, aber durchaus männliche Ausdrucksweise. ^^
Jacob Grimms geniale Combination, Wilhelm Grimms feinfühlige Nach-
bildimg wurde wesentlich ergänzt durch den Scharfsinn und die strenge Me-
thode, welche Karl Lachmann *^^ an der classischen Philologie ausbilden half
und auf die deutsche übertrug. 1793 zu Braunschweig geboren, ward er
1825 an die Universitset Berlin berufen und starb hier 1851. Die Kunst der
Wiederherstellung altdeutscher Texte übte und lehrte er meisterhaft, für den
altdeutschen Versbau zeigte er die Grundzüge auf, welche auch den heutigen
noch bedingen. Die strenge wissenschaftliche Arbeit, welche genau das fest-
stellte, was die Reste des Altertums erkennen lassen , war ihm eine sittliche
Aufgabe; daher sein oft hartes Urteil über Mitforschende. ^*
Abdruck, Berlin 1869 fgg. 57) Umgearbeitet 1844. *1878, III von H. E. Meyer besorgt.
58) ^1867 von JlüUenboff, ^ Gütersloh 1889, von Steig besorgt. 59) Beide Werke zu Berlin.
60) LB. 3, 1353 fgg. 61) E. Steig, Goethe und die Brüder Grimm, Berlin 1892.
62) Andresen, Über die Sprache J. Grimms, Leipzig 1870. 63) K. L. Eine Biographie
von M. Hertz, Berlin 18.51. Lachnianns Briefe an M. Haupt, hg. von Vahlen, Berlin 1892.
F. Leo, Rede zur Ssecularfeier K. Lachmanns, Göttingen 1893. 64) Von diesen war
57G NEUllOCllDEUTSCJIE ZEIT. XIX JAlIKll. § 168
llieriu wie in der Dichtung erwiesen die süddeutschen Fachgenossen
sich milder. Unter ihnen war Uhland ein ausgezeichneter Litterarhistorikcr,
J. Andreas Schmkller^'^ ein unverglcichliclier Bearbeiter der Mundarten.*"
Geboren 1785 zu Türschenreut in der Oberpfalz als Sohn eines armen Korb-
flechters, nahm er als Soldat, dann als Offizier Teil an den Kriegen unter
und gegen Napoleon, und war seit 1816 bis zu seinem Tod 1852 in Mün-
chen an der Akademie und der Bibliothek thfctig.
Noch eigentümlicher verkörperte der Freiherr Joseph von Lassrerg"'
altdeutsches Rittertum. 1770 zu Donaueschingen geboren, dann als Forstmann
in den Diensten und in vertrautem Verhältnis zur Fürstin von Fürstenberg,
lebte er seit 1817 auf seinen altertümlich ausgeschmückten Burgen, erst zu
Eppishusen im Thurgau, dann in Meersburg bis 1855. Aus seinem reichen
Ilandschrifteuschatz veröffentlichte er Vieles in seinem 'Liedersaal' 1820 — 25.'"'^
§ 168.
Für das Drama konnte Goethe, den die Romantiker unter den deutschen
Dichtern allein anerkannten, nicht ebenso wie für Lyrik und Roman das
Vorbild abgeben. Hier musste der Einfluss Schillers vorwiegen und es galt
seine geschlossene Form und den Adel seiner Gestalten mit der vollen Natür-
Hchkeit Goethes in der Characterzeichnung zu verbinden. Mit gewaltigem
Ringen versuchte dies Heinrich von Kleist, nur dass er seiner Eigenart
und der Zeitstroemung folgend, viel Phantastisches einmischte. Dim war
das Ernst, womit die meisten Romantiker nur spielten. Er stellte auch an
das Leben Anforderungen, welche die Zeit nicht zu erfüllen vermochte. Sah
er schon früh hochfliegende Hoff'nungen fclilschlagen , so dass er das Leben
bald verachten lernte, so stürzte ihn völlig in Verzweiflung, dass der letzte
und tiefste Grund seines Selbstgefühls zu schwanken und zu versinken schien.
Denn sein edler Stolz wurzelte in dem Heldentum der preussischen Armee
unter Friedrich dem Grossen, dem auch seine Familie gedient hatte. Frei-
lich erst die schwere Demütigung des preussischen Ruhms durch die Schlacht
bei Jena und ihre Folgen brachten dies Gefühl ihm zu vollem Bewusstsein
und es war die furchtbare Tragik dieses Lebens, dass es durch den Selbst-
neben ihm in Berlin tlisetig Friedrich Heinrich von der Hagen aus Schmiedeberg in
der Uckermark (1780 — 1856), dessen Arbeiten zwischen der Liebhaberart der Romantiker
und der streng wissenschaftlichen Behandlung den Übergang bilden. 65) Biographie
von J. Nicklas, München 1885. 66) § 93, 37. 67) Sein Briefwechsel mit Uhland,
hg. von Pfeiffer u. Bartsch, Wien 1870; dazu Scherer Kleine Sehr. 1, 57 fgg. 68) St. Gallen
u. Constanz, IV.
§ 168 SCPIMELLER, LASSBERG. H. v. KLEIST. 577
mord endete, ehe die hcissersehnte Sühnung dieser Sehmach gewonnen ward.
Sein vorzeitiger Tod hat auch seinen Dichterruhm bedrückt: erst spseter,
dann aber in immer steigendem Masse ist er zur Geltung gekommen.^
B. Heinrich W. von Kleist, zu Frankfurt a. O. 1776 geboren, war zuerst
Offizier, begann aber, da der Garnisonsdienst ihm unerträglich schien, Ostern
1799 Studien an der Universitset seiner Vaterstadt, die ihn jedoch ebenso
wenig befriedigten als die darauf folgende Beschäftigung in der Zollverwaltung.
Eine Reise nach Paris 1801 schnitt seine Aussichten im Staatsdienst ab. In
der Schweiz,^ wo er sich als Bauer anzusiedeln gedachte, traf er wieder
politische Zustcäiide, welche ihm widerstanden. Aber hier erfasste er seinen
Dichterberuf. Sein erstes Trauerspiel, 'Die Familie SchrofFenstein', erschien
Zürich 1803: mit düsterer Folgerichtigkeit stellt es den Untergang zweier
durch einen Erbvertrag verbundener Familien dar, die erst über den Leichen
eines von den eigenen Vsetern ermordeten Brautpaares sich verscehnen.
Sprache und Vers zeigen, dass Kleist sein Werk nicht völlig ausreifen liess.
Noch weniger konnte er sich rnit seinem 'Robert Guiscard' genug thun, wo-
mit er selbst Goethe den Kranz hatte entreissen wollen. Vergebens schrieb
ihm Wieland, dessen Sohn in der Schweiz mit Kleist zusammen getroffen
war und bei welchem er dann gastliche Aufnahme gefunden hatte, dass er
ihn für berufen halte, neben Goethe und Schiller eine noch immer freie Stelle
unter den ersten deutschen Dramatikern einzunehmen. Auch eine neue Reise
über Oberitalien nach Paris brachte keine volle Loesung. Kleist vernichtete
das Stück, von dem nur wenige, durchaus grossartige Scenen erhalten sind.
Kleist war gebrochen, schon hatte er den Entschluss gefasst, in Napoleons
Heer den Tod zu suchen. Noch einmal vermittelten die Freunde eine An-
stellung in Preussen. Aber er verliess Koenigsberg, als das Unglück über
den Staat hereinbrach. In Berlin Avurde er von dem franzoesischen Gouver-
neur als verdächtig verhaftet und nach Frankreich geschickt. Durch den
§ 168. 1) Tieck veröffeatliclite 'Heinrich von Kleists Hinterlassene Scliriften', Berlin
1821; dann seine 'Gesammelte Schriften', Berlin 1826, III, eine Ausgabe, welche Julian
Schmidt, Berlin 1859 wiederholte. Kleists 'Politische Schriften und andere Nachtrsege zu
seinen Werken' gab Kud. Köpke heraus , Berlin 1862. Ed. v. Bülow , 'Kleists Leben und
Briefe', Berlin 1848. A. Koberstein 'Kleists Briefe an seine Schwester Ulrike', Berlin 1860.
K. Biedei-mann 'Kleists Briefe an seine Braut', zum ersten Mal vollständig, Breslau 1884.
Eingehende Biographien von A. Wilbrandt , Nürdlingen 1863; 0. Brahm, Berlin 1884.
S. Friedmann, Enrico di Kleist, Milano 1893. 2) Th. Zolling, H. v. Kleist in der
Schweiz, Stuttgart 1882. Derselbe gab auch Kleists 'Sämtliche Werke' in Kürschners D. Nat.-
litt. 149. 150 heraus. Eine andere Ausgabe der 'Sämtl. Werke' mit biogr. Einl. von R. Genee,
578 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAIIKII. § 168
Friedensschluss von Tilsit frei geworden, versuchte er in Dresden als Dichter
zu leben. Er verkehrte hier besonders mit Adam Müller, ' der die Ansichten
Friedrich Schlegels rcdefertig vertrat, aber durch seine rücksichtslose Partei-
nahme für den Adel und die katholische Kirche auch Kleists Aussichten in
Preussen schacdigte. Müller gab Kleists 'Amphiiryon" heraus, 'ein Lustspiel
nach Moliere', Dresden 1807, in welchem die frivole Spötterei zu einem
ernsten Seelengemjclde umgeschaffen ist und die Verwirrung der Gefühle
Alcmenc als ohne Schuld schuldig erscheinen lässt. Ein ajlinliches Problem
der Darstellung weiblicher Leidenschaft stellte sich Kleist in der Penthcsilca,
welche in dem von Kleist und Müller 1808 herausgegebeneu Phd^bus'* erschien:
die Amazonenkoenigin bekämpft, liebt, mordet Achilles. An dieser bis zu
Wahnsinn und Wut gesteigerten Leidenschaftlichkeit fand Goethe kein Ge-
fallen. Kleists Verehrung für Goethe schlug in glühenden Hass um, als Goethe
ebenfalls 1808 sein Lustspiel 'Der zerbrochene Krug''' in Weimar aufführte,
aber durch die Bühneneinrichtuug auch zu dessen Fall beitrug : er hatte die
zusammenhängende, überlange Handlung in drei Aufzüge zerlegt, von denen
der folgende gerade da wieder ansetzte, wo der vorhergehende schloss. Das
Lustspiel war in der Schweiz entstanden, wo Kleist bei Zschokke in Bern
die auf einem niederländischen Kupferstiche dargestellte bseurische Gerichts-
scene mit mehreren Freunden zum Gegenstand einer wetteifernden Bearbeitung
wsehlte. Er wusste dem Stoffe kunstreiche Verwickelung, scharfe Characte-
ristik und wahrhafte Komik des Ereignisses wie der durch den Vers allein
gehobenen Reden zu verleihen. Dass jedoch der Dichter für die ernste Auf-
fassung des Lebens mehr gestimmt war, zeigen seine 'Erzsehlungen',® die
nur allzu sehr den Untergang der Edeln, der durch die Liebe Beglückten
darzustellen lieben. Die grcesste unter ihnen, 'Michael Kohlhaas', erzsehlt
mit rascher, kräftiger, überall auf das natürliche Gefühl der einzelnen Per-
sonen begründeter Entwickelung, wie ein von Rechtssinn erfüllter Mann durch
Gewalt und Hohn zur verbrecherischen Selbsthilfe getrieben wird und dafür
mit seinem Leben büsst. Die Zeit Luthers wird geschildert, aber freilich
vielfach ungeschichtlich, und am Schluss mischt sich Kleists Neigung zum
Wunderbaren ein. Diese Neigung steigert sich noch in dem Schauspiel Kleists,
Berlin 1888, II. 3) Creb. 1779 zu Berlin, 1805 convertiert, Schützling von Gentz, gest. |
1829 zu "Wien als Hofrat in der Staatskanzlei. 4) Phoebus. Ein Journal für die
Kunst, Dresden. 5) Stückweise im Phoebus, vollständig Berlin 1811 erschienen. 6) Eben-
falls im Phoebus, dann Berlin 1810. 11, II. Daninter Das Bettelweib von Locarno' LB.
i
§ 168 H. V. KLEIST. 579
das am ersten und am allgemeinsten gefallen hat, in 'Ksetchen von Heilbronn'.^
Kjetchen, das Widerspiel der Pcntliesilca, erwirbt die Liebe ihres Ritters
durch eine Hingabe, welche als Bezauberung erscheint und über jedes Hinder-
nis, nach der ursprünglichen Absicht des Dichters auch über Zauberei den
Sieg davon treegt."* Dies Urbild der Frauenliebe führte Kleist um so sorgsamer
aus, als er eben zu Dresden im Körnerschen Hause eine Braut gefunden zu
haben glaubte. Bald verdüsterte sich wieder sein Schicksal und das Unglück
des Vaterlandes ergriff ihn immer schmerzlicher. Er hatte Napoleons Sieg
über Preussen lange vorausgesehen: der Hohn und die Arglist, wovor sich
nun Fürsten und Volk in Deutschland beugten, empoerte ihn tief. Sein
wilder Hass gegen die Feinde ergoss sich vor allem in der Hymne 'Germania
an ihre Kindei-', welche in der Form Schillers Lied an die Freude nachahmt.^
So wenig wie diese konnte er selbst 'die Hermannsschlacht' zum Drucke
bringen, welche, unbekümmert um geschichtliche Genauigkeit im Einzelnen,
ein furchtbares Bild der Rache, wie er sie wünschte, entwarf: trugvoll gegen
die List, erbarmungslos gegen die Grausamkeit. Einen milderen Ausdruck
gab Kleist seiner Vaterlandsliebe in seinem letzten Schauspiel 'Der Prinz von
Homburg'. Es führt aus der trüben Gegenwart in die stolze Vergangenheit
Preussens, in die Tage von Fehrbellin,^^ und der grosse Kurfürst tritt ebenso
stark wie menschlich, seine Heerführer voller Hingabe an ihn, aber doch auoh
des eigenen "Wertes sicher auf. Die "Worte des alten Kottwitz gegen seinen
Herrn deuten prophetisch auf die Rechtfertigung Yorks wegen der Convention
von Tauroggen. Aber die Zeit^ nahm Anstoss an der Naturwahrheit, mit
welcher der Held, auf dem Schlachtfeld so tapfer, vor der wegen Missachtung
des Tagesbefehls über ihn verhängten Todesstrafe zusammenbricht: eine Todes-
furcht, die er doch herrlich überwindet, indem er das Urteil des Kriegs-
gerichts selbst bestsetigt und sich so der Gnade des Kurfürsten würdig zeigt.
Es war die letzte, schoenste Dichtung Kleists. 1809 mit dem spseteren Histo-
3, 1357. 7) Das K. v. H. oder die Feuerprobe, ein grosses historisches Kitterschau-
spiel', Berlin 1810. 7 a) Auf Tiecks Rat gab Kleist der ursprünglich als Zauberwesen
gedachten Gregenspielerin Züge, welche an Adelheid in Goethes Götz erinnern, sie nur durch
Toilettenkünste noch mehr herabsetzen. 8) Die Reimstellung der Chorpartie weicht
ab. 8a) C. Varrentrapp, Der Prinz von Homburg in Geschichte und Dichtung: Preuss.
Jahrb. 45, 335 — 358. Kleist benutzte eine unhistorische Auecdote in den Schriften Fried-
richs des Grossen , welche durch ein Gemseide auf der Berliner Kunstausstellung 1800 all-
gemeiner bekannt geworden war. Zur Entstehungsgeschichte des Prinzen von Homburg und
der Hermannsschlacht vgl. auch Niejahr, Vjschr. f. Litt.-gesch. 6, 409 fgg. 9) Grillparzer
580 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAlIIUf. § 108
riker Dahlmann^" nach Ocsterrcich gewandert, um gegen Napoleon mitzukäm-
pfen, entging er auf dem Schlachtfeld von Aspern nur mit Mühe dem Tod
als Spion. Er kehrte nach Berlin zurück; eine neubegründete Zeitschrift'"
brachte ihm nur tiefe Demütigungen. Die Koenigin Luise, auf welche er für
sich wie für das Vaterland alle Hoffnung setzte, starb. Noch einmal wollte
man ihn in die Armee aufnehmen; als er aber wegen der Ausrüstung bei
seinen Verwandten vorsprach, brachte ihn ihr verächtliches Urteil über seine
ganze Dichterthastigkeit zur Verzweiflung. Die Frau eines Bekannten, welche
wegen eines unheilbaren Leidens einen qualvollen Tod vor Augen sah, for-
derte ihn auf, sie zu erschiessen. Kleist, der schon längst gewünscht hatte,
mit Andern zusammen in den Tod zu gehen, erfüllte ihren Wunsch. Am
2L November 1811 streckte er mit sicherer Hand sie und sich am Ufer des
Wansees bei Berlin in den Sand.
Die Stelle des grocssten deutschen Dramatikers nach Goethe und Schiller,
welche Wieland und die Nachwelt H. v. Kleist angewiesen haben, nahm bei
den Zeitgenossen Zaciiarias Werner'* ein. So urteilte Frau von Stael in
der Allcmagne : bei ihr in Coppet hatte Werner 1809 einige Zeit zugebracht
und hier mit A. W. Schlegel sein bestes Drama, den '24. Februar', selbst
aufgeführt. In Koenigsberg, wo er 1768 geboren war, und in dem vor 1806
zu Südpreussen ge heerigen Warschau hatte er subalterne Ämter bekleidet.
In wenigen Jahren war er dreimal verheiratet und dreimal geschieden: er
schwankte zwischen sinnlicher Lust und bittrer Reue hin und her. Seit 1805
konnte er seinem Dichterberufe leben: bald darauf verlieh ihm der Fürst-
primas Dalberg eine Pension, welche spseter Karl August übernahm. Goethe
führte seine Dramen auf, nahm aber den groessten Anstoss daran, dass Werner
seine religioesen Bilder überall einflocht. '-^ In Rom trat Werner 1811 zur
katholischen Religion über und erregte auf dem Wiener Congress als Pre-
diger Aufsehen durch seine seltsame, würdelose Erscheinung. Er starb zu
Enzersdorf bei Wien 1823. Seine Jugendgedichte '^ waren zwar noch von
der Aufklserung beherrscht, lassen aber früh erkennen, dass er für sich wie
bei Foglar *12 spricht von einer Natürlichkeit, 'die man anspeien muss'. 9a) § 175, 'Ib.
10) Berliner Abendblätter': Arnim, Brentano, Fouque waren Mitarbeiter. 11) Lebensabriss
Z. "Werners (von Hitzigl, Berlin 1823, wesentlich auf die confessionelle Entwickelung des
Dichters bezüglich. Biographie und Characteristik von Schütz, Grimma 1841, II. H. Düntzer,
Zwei Bekehrte, Leipzig 1873. Das Schicksalsdrama, hg. von J. Minor, Kürschners Xational-
litt. l.öl. 12) In einem Sonett verglich er den Mond mit einer Hostie: Steffens 'Was
ich erlebte' 6, 250 fgg. 13) Mit den spaeteren verbunden in 'Ausgewsehlte Schriften*,
§ 168 Z. WERNER. 581
für das Volk die kirchliche Autoritset als notwendig ansah. In diesem Sinne
dichtete er 'Die Scehne des Thals', Berhn 1803, II, worin er für die Eintei-
lung des umfänglichen Werkes Schillers Wallenstein, für einzelne Vorgänge
dessen Jungfrau von Orleans zum Muster nahm. Der I. Teil, 'Die Templer
auf Cypern', knüpft an diesen Orden die Stiftung der Freimaurer, für welche
der Dichter durch seinen Freund J. J. Mnioch '^ begeistert worden war; im
II., 'Die Kreuzesbrüdef, vollzieht sich die Vernichtung des Ordens durch
den habgierigen Koenig von Frankreich und seinen nichtswürdigen Kanzler
Nogaret: doch gibt die Entscheidung der ebenso reingesinnte als thatkräftige
Erzbischof Wilhelm von Paris, '^ welcher einer über den Templern stehenden
Gesellschaft, den Soehnen des Thaies angehoert und die Ideen des Ordens
durch dessen Aufhebung nur noch hoeher zu führen und weiter auszu-
breiten beabsichtigt. Diese verworrenen Grundgedanken sollen durch Bühnen-
zauber aller Art gehoben werden, wobei Werner mit Vorliebe harfen-
spielende Geister auftreten lässt. In derselben opernhaften Weise behandelte
er seine speeteren Tragoedien, von denen 'Martin Luther oder die Weihe der
Kraft', Berlin 1807 erschien. Der Reformator^*' erscheint als ein Besessner,
bald in finsteres Grübeln versunken, bald überderb. Katharina von Bora,
erst seine Feindin, folgt ihm, durch seinen Anblick bezwungen, dienend
überall hin. Aber die naiven Äusserungen des Gemüts fehlen Werner, er
bewegt sich in den Wendungen Schillers. Er widerrief spseter seine Luther-
verehrung, indem er dem alten Stück 'Die Weihe der Unkraft',''' ein lyrisch-
allegorisches Stück auf seine eigene Bekehrung, entgegen setzte. Die übrigen
Dramen Werners behandeln fast durchaus Legendenstoflfe oder biblische Gegen-
stände. 'Das Kreuz an der Ostsee', 1806^^ und 'Wanda die Koenigin der
Sarmaten', 1810^'-* erzsehlen die Bekehrung der heidnischen Preussen, wobei
das letztere Stück Kleists Penthesilea nachahmt; 'Attila Koenig der Hunnen',
180820 feiert Roms Rettung durch Pabst Leo; 'Cunigunde die Heilige', 181 5,^1
das Gottesgericht, durch welches sie ihre Reinheit beweist; zuletzt ^^ erschien
Grimma 1841, XIII. 14) 1765—1804; als Schriftsteller mit Fichte und Tieck in Be-
ziehung. 15) Er erklsert dem zur Milde gestimmten Cardinal: 'Die Kirche ist das
grosse Gleichgewicht, vom Schicksal hingestellt zur ew'gen Brustwehr, dass nie der Menschen-
herrseher sich vermesse das heiligste der Menschheit anzutasten.' Denn nie werde das
Volk 'für das Ideal der Templer, für ihren freudeleeren Pflichthegriff auch seines Glaubens
heitren Himmel tauschen'. Iß) Das geschichtliche Material, unter welchem auch der
Tintenklex an der A¥and nicht fehlt, sammelte Werner unter Beihilfe Joh. v. Müllers.
Luther war eine Hauptrolle Ifflands. 17) Frankfurt 1813. 18) Berlin. Nur der
I. Teil'Die Brautnacht'. 19) Tübingen. 20) Berlin. 21) Leipzig. 22) Wien 1820.
582 NEUllUCJiDEÜTSCIlK ZKIT XIX JAIIKII. § lü8
'Die Mutter der Makkabtecr'. Diese Triig<jüdic wird durch Canzoncn einge-
führt, die Makkabreer spreeliou in Stanzen, wie schon in Attila ein Honett
cingesclialtet war. lloeher steht 'Der vierundzwanzigstc Februar', eine cinactige
Tragd'die,^-' welche Werner in "Weimar 1801) 'unter den Auspicicn Ga-thes'
gedichtet hatte. Den Tag, an welchem seine Mutter und sein Freund Mnioch
gestorben waren, wa^hlte er zum Unglückstag, an welchem ein verarmter
Schweizer Bauer seinen eigenen, aus der Fremde heimkehrenden Sohn, ohne
ihn zu erkennen, aus Habgier erschhegt. Die llieufung der früheren Misse-
thateu der Familie auf diesen Tag, die Benutzung eines Mordinstruments,
das schon früher zu Unthaten gedient haben sollte, ging auf die anderen un-
mittelbar folgenden Dichter der Schicksalstragcedie über,-' welche Schillers
BeispieP^ vollends missbrauchten.
Wenn Zacharias Werner Schillers Pathos mit kecken Ausstattungskün-
sten verband, so gingen andere Bühnendichter dieser Zeit noch weiter in der
»usserlichen Auffassung ihrer Aufgabe. Es begreift sich, dass solche Dichter
danach strebten, die Leitung einer Bühne zu erhalten. Besondere Anerkennung
erwarb sich unter ihnen Ernst August Fufedrich Klinüemann,^*^ ein Braun-
schweiger, geb. 1777, gest. 1831. Als er in Jena sich mit Brentano befreun-
dete, war er bereits mit Ritterromanen und Ritterdramen hervorgetreten:
spaeter wetteiferte er in historischen Stücken : -^ 'Heinrich der Loewe', 'Luther"
ua. mit Werner; dichtete als Seitenstück zu Schillers Teil 'Der Schweizer-
bimd';-^ stellte sich aber auch mit einem 'Faust' -^ an Gathes Seite, ja er
brachte den seinigen eher auf die Bühne, als dies mit dem Gcctheschen ver-
sucht worden war, den er selbst 1829 aufführen Hess.
Mehr Beachtung verdient ein romantischer Dramatiker aus Dsenemark,
der darauf Anspruch machte, auch als deutscher Dichter zu gelten. Adam
Oeulenschl-kger^° war 1779 von deutschen Eltern zu Kopenhagen geboren
und starb hier 1850 als Professor der Aesthetik. Mit einem Stipendium des
Grafen Schimmelmann war er 1805 — 9 auf Reisen und besuchte auch Goethe.
Sein erstes Stück, welches Aufsehen machte, war 'Aladdin oder die Wunder-
lampe', Amsterdam 1808, vorher aber schon in dfenischer Sprache erschienen:
23) Aitenburg 1815. 24) § 171, 6. 25) § 161, vor Anm. 40. Auch von
Tieck in Karl von Beraeck (1795) war die Schicksalsidee schon dramatisch verwertet
worden; sehnliches hatte Moritz (§ 164, 18. 19) versucht. 2H) Seine Schrift 'Kunst
und Natur, Blätter aus meinem Tagebuch,' Braunschweig 1823 — 28, III ist für die Kenntnis
des damaligen Theaters wertvoll. 27) Hauptsammlung sein Theater', Tübingen 1809
bis 1820, III. 28) Leipzig 1805. 29) Altenburg 1815. 30) In seinen
§ 169 KLINGEMANN, ÖnLENSCHLÄGER. 583
mit den wunderbaren Verwandlungen des Märchens vertreegt sich gut, dass
Geister, Voegel und selbst eine Spinne redend auftreten. Die Trauerspiele
Oehlenschlffigers behandeln meist nordische Sagen. Sein 'Correggio' '" dra-
matisiert die Anecdote des Vasari, dass der Maler sich an dem Kupfergeld
zu Tode geschleppt habe , welches er von dem Erloes eines Bildes erhielt.
Correggios mehr als engelhafte Geduld wird mit der herben Kritik, welche
Michel Angelo, der begeisterten Anerkennung, welche Giulio Romano ver-
tritt, in Gegensatz gestellt und so dem dürftigen Stoffe wenigstens eine alle-
gorische Bedeutsamkeit gegeben.
§ 169-
Die Wendung zur patriotischen Dichtung, welche in H. v. Kleist so
mcächtig hervortrat, vollzog sich nun auch bei mehreren anderen Dichtern
und verlieh ihnen zum Teil einen dauernden Ruhm. "Wie tief die Folgen
der napoleonischen Siege für das Fortbestehen der Nation auch von denen
gefühlt wurden, welche sie für unabänderlich hielten, zeigt vor Allen Goethe,^
Es ist ein hohes Verdienst der Romantiker,^ dass sie mehr und mehr auch
in politischer Beziehung das nationale Ziel hervorhoben, dass sie gegen die
Eroberungen der franzoesischen Ideen und der franzoesischen Waffen zugleich
zum Widerstand unablässig durch Dichtungen wie durch Staatsschriften auf-
forderten; und dies Verdienst wird nicht aufgehoben dadurch, dass sie zum
Teil allzu weit zurückgreifend allmeehlich nur in Oesterreich und der katho-
lischen Kirche das Heil der deutschen Zukunft sahen und jeder anderen,
jeder freieren Richtung feindlich entgegen traten. Hierbei kam naturgemaess
mehr als die Dichtung die Rede und Schrift in Prosa zur Anwendung,
'Schriften, zum erstenmale gesammelt als Ausgabe letzter Hand', Breslau 1829. 30, XVIII
erschien auch seine Biographie bis 1809. 31) Stuttg. u. Tüb. 1816; dsenisch schon 1811.
§ 169. 1) In einem Gresprsech mit dem weimarischen Kanzler v. Müller im Dec. 1808
(Gr(Bthes Gespr., hg. v. Biedermann N. 386) sagt Groethe: 'Deutschland ist nichts, aber jeder
einzelne Deutsche ist viel und doch bilden sich letztere gerade das Umgekehrte ein. Ver-
pflanzt und zerstreut wie die Juden in alle Welt müssen die Deutschen werden, um die
Masse des Guten ganz und zum Heile aller Nationen zu entwickeln, die in ihnen liegt.' (Vgl.
bei Biedermann auch N. 352.) 2) A. W. Schlegel schrieb im März 1806 an Fouque
(Briefe an Fouque, S. 356 fgg.) : 'Wie Goethe, als er zuerst auftrat, und seine Zeitgenossen,
ihre ganze Zuversicht auf die Darstellung von Leidenschaften setzten, und zwar mehr ihres
aeusseren Umfanges als ihrer inneren Tiefe , so haben die Dichter der letzten Periode die
Phantasie, und zwar die bloss spielende müssige träumerische Phantasie allzu sehr zum
herrschenden Bestandtheil ihrer Dichtung gemacht. Wir in dieser gewaltsamen, hartprüfen-
den Zeit, wir bedürften einer durchaus nicht träumerischen, sondern wachen, unmittelbaren,
584 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAIIRH. § 1G9
welche mit der patriotischen Poesie zusammentraf, aber noch vor dieser auf
die öffentliche Meinung zu wirken gesucht hatte.
Dieselbe Entwickelung, welche an F. Schlegel und A. Müller^ ersicht-
lich war, hatte vor ihnen Frieuricii von Gektz erfahren, nur dass er es
uuterliess, das kirchliche Bekenntnis zu wechseln. 1764 in Breslau geboren,
war er in Berlin aufgewachsen und hatte sich früh der damaligen Sittenlosig-
keit dieser Stadt hingegeben. Als Schriftsteller war er anfänglich für die
franzo'sische Revolution eingetreten und gab in einem 'Sendschreiben' an
Friedrich Wilhelm III bei dessen Thronbesteigung 1707* wenigstens dem
Verlangen nach Pressfreiheit einen vollbegrüudeten und vortrefflich vorgetra-
genen Ausdruck. Aber weder diese Schrift noch die naechsten gegen Frank-
reich gerichteten gewannen den Beifall des Koenigs. So wandte sich Gentz,
welcher schon von England grosse Geldsummen empfangen hatte, nach Oester-
reich und fand 1802 dort Anstellung. Scharfsichtig erkannte, beredt ver-
kündigte er die weitere Entwickelung der politischen Verhältnisse. 1806 war
er im preussischen Hauptquartier und sein Tagebuch ist eine Hauptquelle
für die Geschichte dieser Zeit geworden. 1809 verfasste er das Kriegsmani-
fest Oesterreichs. Seitdem war er ganz in Metternichs Sinne thsetig, und als
ProtocoUführer au den Congressen der na^chsten Jahre beteiligt. Die Mass-
regeln gegen die deutschen Universitseten, welche 1819 zu Karlsbad be-
schlossen wurden, waren sein Werk. Er starb zu Wien 1832.
Weit tiefer jedoch als in Oesterreich ging die deutsche Bewegung in
Preussen. Nach dem ersten und freilich über alles Mass kläglichen Schrecken,
nach der haemischen Schadenfreude über den Sturz des fridericianischen Staates
ermannten sich die edleren Geister. Der in Berlin noch eben so tobend ge-
führte Kampf zwischen den Romantikern und ihren Gegnern verstummte.
Die Schmach und der immer steigende Druck der Fremdherrschaft vereinigte
zu gemeinsamer Trauer; der Auf blick zu den wenigen Hoffnungssternen, vor
allem zur Koenigin Luise, erhob die Treue. Auch wo ein a^usserer Wider-
stand nicht geleistet werden konnte , vollzog sich eine innere Umwandlung,
welche auf jenen vorbereitete. Henriette Herz^ erzaehlt, wie mit einem Mal
die geistreichlockere Unterhaltung in der Gesellschaft der Versenkung in die
alte deutsche Zeit Raum gab. Nach dem Tilsiter Frieden bestimmte der
energischen und besonders einer patriotischen Poesie'. 3) § 168, 3. 4) LB. 3,
1157. Von den Sammlungen seiner 'Schriften' ist die von G. Schlesier, Mannheim 1838
bis 1840, V besorgte besonders wertvoll. Dazu: 'Aus dem Nachlass Varnhageus von Ense,
Tagebücher von F. v. Gentz", Lpz. 1861 — 74, IV. 5) Henriette Herz, ihr Leben und
I
§ 169 PATRIOTISCHE SCHRIFTSTELLER. 585
Koenig, von neuen Beratern umgeben, dass Preussen seine aeusseren Verluste
durch Stärkung der inneren Kräfte wieder ausgleichen sollte: in diesem
Sinne stiftete er die Universitaet Berlin 1810,
Ein fester Halt der vaterländischen Gesinnung war der hier wirkende
Philosoph Fichte.^ Schon vor der Schlacht bei Jena hatte er sich erboten,
das Heer als Prediger zu begleiten. Nach dem Schlage war er einer der
ersten, welche den Widerstand und die Wiederaufrichtung verkündigten.
Allerdings erwartete er diese erst von einem künftigen Geschlecht, das durch
eine neue Nationalerziehung hierzu vorbereitet werden müsse. An Pestalozzis
Anschauungsunterricht anknüpfend, sei die Jugend zum Selbstdenken anzu-
leiten. Hierzu biete die deutsche Sprache das beste Mittel, durchsichtig und
bildungsfähig wie sie sei, die einzige Muttersprache im wahren Sinne unter
den neueren. Solche Betrachtungen tseuschten wohl die Spseher über die
Tragweite dieser Reden," welche Fichte hielt, wsehrend in den Yorlesungs-
raum hinein die Wirbel franzoesischer Trommeln ertoenten.*
Dem Philosophen trat der Historiker Ernst Moritz Arndt ^ zur Seite,
der mit der Publicistik die Dichtung verband. Arndt war 1769 zu Schoritz
auf der Insel Rügen geboren. Von seiner Jugendzeit und seinem freien
Leben in der Natur, im Wald und an der See, im Verkehr mit den einfachsten,
kräftigsten Menschen hat Arndt selbst hoechst anziehend erzsehlt in seinen
'Erinnerungen aus dem aeusseren Leben', Leipzig 1840. Er studierte in
Greifswald und Jena und ward nach längeren Reisen durch Deutschland, Un-
garn, Italien und Frankreich Professor in Greifswald. Seine bis dahin ver-
fassten Gedichte haben meist geselligen Inhalt, feiern Liebe und Wein; auch
von diesen Liedern haben manche durch Frische und Sangbarkeit sich im
studentischen Gebrauche erhalten. Doch sclion wiesen seine Schriften auf
die Schseden der Zeit hin: so sein 'Versuch einer Geschichte der Leibeigen-
schaft in Pommern und Rügen', Berlin 1803. Noch war auch er, der unter
schwedischer Herrschaft geborene und wirkende, nicht zur vollen Erkenntnis
ihre Erinnerungen, hgg. von .T. Fürst, Berlin M858, S. 310. 6) § 166, 3. Ihm weihte
Fouc[ue seinen Signrd 1808; wie Fichte auch an Charaissos Musenalmanach für 1806 sich
beteiligt hatte. 7) Das begeisterte Schlusswort LB. 3, 1051. 8) Neben Fichte
wirkte Schleiermacher in Berlin durch patriotische Predigten für die geistige Wiedererhebung
Preussens. 9) Neben zahlreichen populseren Biographien Arndts gibt eine litterarhisto-
rische Würdigung E. Langeuberg, 'E. M. Arndt, sein Leben und seine .Schriften', Bonn 1869.
Derselbe hat E. M. A. Briefe au eine Freundin", Berlin 1878 verütfeutlicht. 'Briefe an Johanna
Motherbv von W. v. Humboldt und E. M. Arndt', hg. v. H. Meisner, Leipzig 1893.
586 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAHRH. § 109
dessen durchgedrungen, was Deutschland Not that. Erst 1806 veröffentlichte
er'" den I. Teil seines Buches 'Geist der Zeit', voll grimmigon Hasses gegen
Napoleon. Vor den Franzosen flüchtete er nach Schweden, kehrte aber bald,
zunächst unter falschem Namen, zurück. 1812 reiste er über Galizien nach
Russland, wo der Freiherr von Stein" damals die deutschen Streiter gegen
Napoleon um sich sammelte. An Steins Seite war Arndt 1813 bei der Er-
hebung Deutschlands überall tha'tig. Damals schrieb er seinen 'Katechismus
für den deutschen Kriegs- und Wehrmann",'- der in biblisch erhabener
Sprache dem einfachen Sinn des Volkes vorhielt, um was es sich im Kampfe
gegen Napoleon handle. Nach der Leipziger Sclilacht erschien Arndts Buch
'Der Rhein Deutachlands Strom, aber nicht Deutschlands Grenze'.''' Ge-
schichte und geographische Lage, Deutschlands Ehre und Sicherheit,'* Alles
verbiete, den Franzosen das linke Rheinufer zu überlassen. Vielleicht noch
mehr als diese Schriften zündeten die Lieder Arndts, die in unübertrefflicher
Weise den Volkston trafen ''" und durch ansprechende, teilweise von ihm selbst
gefundene Weisen getragen, sich schnell verbreiteten. Schon 1810 und 1812
sprach er seine felsenfeste Überzeugung aus, dass die gute Sache siegen
werde: ^'^ in diesem Sinn verherrlichte er Schills Aufstand. Als dann der
grosse Kampf begann, erhob er die Thaten der preussischen Heere und ihre
Führer, vor allen Blücher: und Arndts schmetterndes Lied 'Was blasen die
Trompeten, Husaren heraus!' hat das Andenken an diese Zeit fort und fort
lebendig erhalten. Aber auch der tiefe Ernst, der Schmerz über die furcht-
baren Opfer, findet seinen vollen Ausdruck in Arndts Lied von der Leipziger
Schlacht, Und so vermochte er gegenüber der Selbstsucht und Selbstgenüg-
samkeit der einzelnen deutschen Staaten und Stämme den Einheitsdrang des
deutschen Volkes durch sein Lied 'Was ist des Deutschen Vaterland' auch
über die Zeiten hinweg zu tragen, in denen es verboten sein sollte, diese
Einheit auch nur zu denken. Arndt hat den Umschlag, der bald nach den
Freiheitskriegen eintrat, an sich selbst erfahren müssen. 1818 war er an die
neugestiftete UniversitsBt Bonn als Professor der neueren Geschichte berufen
worden; schon im nsechsten Jahre wurde er in Untersuchung gezogen und
10) Altona 1807. Der II. u. III. Teil erschien Berlin 1813, der IV. 1818. 11) Darüber
berichtet Arndts Schrift 'Meine AV^andeningen und AVandelnngen mit dem Reichsfreiherrn
V. Stein", Berlin 1858. 12) Breslau 1813 uö. 13) Leipzig 1813. 14) 'Geben
wir den Franzosen das Knie, das der Rhein bei Mainz bildet, so wird dies Knie beständig
auf unserem Nacken liegen". 15) Gern beginnt er mit einer Frage, wie die alten Volks-
lieder es auch thaten. lü) Damals dichtete er: 'Der Gott, der Eisen wachsen Hess, der
I
§ 169 ARNDT. KÖRNER. 587
ihm die Lehrthietigkeit untersagt. So verlebte er lange Jahre gezwungener
Müsse. Erst Friedrich Wilhelm IV stellte ihn wieder an seinen Ehrenplatz,
Längst war der Dichter ergraut, aber sein Herz war frisch. 1848 ward er,
fast 80J8ehrig, in das deutsche Parlament gewsehlt. Er lebte noch bis Anfang
1860 und dichtete noch im 90. Jahre "Worte an Schillers Grab.'"
Hatte Arndt sich als reifer Mann in den Dienst des Vaterlandes ge-
stellt, so fand die kämpfende Jugend ihren Dichter in Theodor Körner.'*
Auf Körners Grab haben die Mitstrebeuden und die Nachlebenden alle Kränze
gelegt, die dem Sänger und Helden gebühren. Und wohl war seine edle,
reine Persoenlichkeit dieser Verehrung durchaus würdig. Mit Recht schrieb er,
als er seinem Vater den Entschluss mitteilte, sich den Lützowschen Jeegern
anzuschliesseu: 'Dass ich mein Leben wage, gilt nicht viel; aber dass dies
Leben mit allen Blütenkränzen der Liebe, der Freundschaft und der Freude
geschmückt ist, und dass ich es dennoch wage, das ist ein Opfer, dem nur
ein solcher Preis entgegen gestellt werden darf.' Sein Vater, der treue Freund
und einsichtsvolle Berater Schillers,'^ hatte ihm früh zur Ausbildung seiner
dichterischen Anlagen Antrieb und Gelegenheit geboten. Anfangs zwar stu-
dierte er Bergsvissenschaft in Freiberg, in Leipzig Geschichte und Philosophie.
Aber in Wien ward er auf sein Drama 'Zriny' hin 1812 als Hoftheaterdichter
angestellt. Er war damals 21 Jahre alt und Zriny zeigt ebenso wie seine
anderen Trauerspiele einen noch nicht ausgereiften Geist; auch ihre rasche
Folge war nur dadurch mceglich, dass der Dichter sich mit rhetorischer Nach-
ahmung Schillers begnügte.-" Weit vorzüglicher ist Körners Talent für das
Lustspiel. Hier benutzt er zuweilen Kotzebues Plsene, gibt ihnen aber durch
muntern und durchaus reinen Scherz und durch die Einkleidung in leichte
Verse eine anmutige Gestalt, welche bis heute sie namentlich für die Fami-
lienbühne in Gebrauch erhalten hat. Die lyrischen Gedichte Körners ahmen
wollte keine Knechte'. 17) 'Gedichte, vollständige Sammlung', Berlin 1860; 'Schriften
für und an seine lieben Deutschen', Leipzig 1845, III; IV. Teil Berlin 1855. 18) Zahl-
reiche Biographien, meist populser: Kohut, Berlin 1891 ua. Briefe u. a. Eeliquien bei R.
Brockhaus, T. K. Leipzig 1891. Kürnerbibliographie von Peschel, Börsenblatt für den
deutschen Buchhandel 1891 X. 213 und 215. Schriften zur Körnerfeier bespricht Minor
im Anz. z. Zs. f. d. Alt. 36, 381. 19) 161, 6. 28 und nach Anm. 20. 20) Was
Körner zum Tragiker fehlte, ist leicht zu zeigen, wenn man seine Toni' mit der Quelle, der
'Verlobung auf S. Domingo', einer Novelle Heinrichs von Kleist vergleicht. Bei Kleist ist
die Heldin eine wilde Natur, die erst mordgierig auftritt, dann durch die Liebe schritt-
weise, aber mit unwiderstehlicher Gewalt, dem Opfer in die Arme getrieben wird und
endlich mit ihm zugleich untergeht. Körner hat daraus ein gutes Maidchen gemacht, das mit
Wackernagel, Litter. Geschichte. II, 39
588 NEUnOCirDKUTSCHH ZFJT. XIX .lAKIllf. § 109
Schiller in den formellen Freiheiten nach, ohne seine tiefen Gedanken /,u
Ijesitzen. Erst der Eintritt in die grosse Erhebung verleiht den Liedern
Körners*' den vollen Gehalt. Die herrlichste Jugendkraft schipunit hier, bald
als zornglühenilor Aufruf, bald als ernstes Gebet vor der Schlacht, bald als
letzte Gedanken des dem Tode entgegensehenden Kriegers. Diese Lieder
wurden nach Körners Tod von seinem Vater als Leycr und Schwert' heraus-
gegeben.-^ Das letzte, welches in altgormanischer Weise das Schwert selbst
personificiert, 'Du Schwert an meiner Linken, was soll dein heitres Blinken?
dichtete Körner unmittelbar vor dem Gefechte, in welchem er fiel, bei Gade-
busch in Mecklenburg, am 20. August 1813.
Neben Arndt und Körner dichteten noch manche-^ Andere, unter wel-
chen Frikdricm AuorsT von St.eoemann (1763 — 1840) als Staatsbeamter
in Preussen schon 18üG seine ungebrochene Zuversicht dichterisch aussprach.
Wa'hrend er seine 'Kriegsgesänge aus den Jahren 1806 — 13'^^ in antike
Strophenformen fasste, gab Max von Schenkendorf-'' seinen Liedern-'"' im
Anschluss an Novalis und F. Schlegel-" die Formen und den Ton der neuen
romantischen Poesie und erfüllte sie auch mit der Sehnsucht nach der alten
deutschen Kaiserzeit und mit einer tiefempfundenen Religiosita3t. In Tilsit
1783 geboren, hatte er die Hechte studiert, sich aber seinen dichterischen
Neigungen und dem Umgang mit den frommen Kreisen Koenigsbergs hin-
gegeben. Auch in Karlsruhe, wohin er 1812 übersiedelte, stand er Jung
Stilling und Frau von Krüdener besonders nahe. Als der Krieg 1813 aus-
brach, begleitete er die Armee, den Degen mit der Linken führend, da ihm
die rechte Hand im Duell zerschossen worden war ; spaeter ward er von Stein
bei der Einrichtung der badischen Landwehr verwendet. Nach dem Frieden
ward er Regierungsrat in Coblenz, starb aber bereits 1817. Neben dem
Vaterland war ihm das hoDchste die Freiheit und die stille, friedliche Thsetig-
keit des Bauernstandes, den er als den festen Grund der Volkstüchtigkeit
pries.-**
dem edlen Fremden schliesslich gerettet wird. 21) LB. 2, 1549. 22) Berlin 1814.
Sammlung der übrigen Gedichte als 'Poetischer Xachlass', Leipzig 1815, 11. 'Sämtliche Werke',
hg. V. Streckfuss, Berlin 1834 uö. 'Werke in vollständigster Sammlung', hg. v. Ad. Wolf,
Berlin 18.58, IV. 28) Abgesehen von den sogleich noch zu nennenden: Fouque § 170, 1;
E. Schulze ebd. 11; Kückert § 173, 1. 24) Berlin 1814. 25) 'Gedichte", Stuttgart 1815.
'Mit einem Lebensabriss und mit Erlaniterunofen von A. Hasen, St. 18G2. Von Hagen auch
'Schenkendorfs Leben, Denken um! Dichten', Berlin 1869. Dazu Drescher, Programm d.
Gymu.iu Mainz 1888. 2«) LB. 2, 1529. 27) Vgl. § 166, 39. 28) LB. 2, 1533.
§ 170 SCHENKENDORF. JAHN.
589
Ein Lied der Treue, welches sich mit wörtlicher Wiederholung an ein
geistliches von Novalis'^« anschliesst, richtete Schenkendorf an den Turnvater
Jahn, dessen Bestrebungen den Aufschwung der Freiheitskriege vorbereiteten
und ihren Geist auch spaeter noch zu erhalten suchten. Auch Frfkdrich
Ludwig Jahn, geb. 1778 zu Lanz in der Westpriegnitz, war ein Lützower;
er hatte schon 1806 in die preussische Armee eintreten wollen. Dann sclirieb
er sein Buch ^Deutsches Volksthum^ Lübeck 1810, im Sinne Arndts, freilich
ohne dessen Kenntnisse und Redegabe; er fasste mehr das Äusserliche ins
Auge, die sogenannte altdeutsche Tracht und den Gebrauch reindeutscher,
teilweise willkürlich erfundener Ausdrücke. Auch er ward durch die Dema-
gogenriecher verfolgt, 1819-25 in Haft gehalten, dann in Freiburg an der
Unstrut eingebannt, bis Friedrich Wilhelm IV die Polizeiaufsicht aufhob.
Jahn konnte noch in das Deutsche Parlament eintreten. Er starb 1852.
Mehr noch als durch die Turnerei blieb die freiheitliche Richtung auf
den Universitäten in den Burschenschaften lebendig, deren Ideen und Formen
bis auf Klopstock und den Göttinger Dichterbund zurückweisen. Das Wartburg-
fest der Burschenschaften 1817 und vollends 1819 die Ermordung Kotzebues
durch Saud 3« gaben den Anlass zu den gehässigsten Verfolgungen! Trotzdem
lebte dieser Geist weiter und sprach sich in Liedern aus, deren Dichter zum
Teil Deutschland verlassen mussten,^' wsehrend Anderen ^2 ^j^g sp^^g^e Wen-
dung der Regierungsansichten zu Gute kam.
§ 170.
Auf den begeisterten Aufschwung der Freiheitskriege folgte zunächst eine
tiefe Erschöpfung. Die Wunden, welche seit Jahrzehnten die Kriege der franzoe-
sischen Republik, dann die Napoleons den europaiischen Völkern geschlagen
hatten, riefen nach dem Frieden überall den dringenden Wunsch hervor, vor
allem ungestcert den eigenen Bedürfnissen der Einzelnen, der Wiederher-
stellung des alten Wohlstandes leben zu können. Wo aber die Gedanken,
welche die edelsten Gemüter des deutschen Volkes bewegt hatten, noch nach-
wirkten, namentlich wo die Frage nach den in der Not versprochenen Ver-
fassungen auftauchte, waren die deutschen Regierungen unter Oesterreichs
29) LB. 2, 1415. 30) § 163, 31. 31) So die Brüder A. A. L. und Karl Follen,
aus Giessen, der eine in der Schweiz, der andere in Amerika gestorben. Ihre 'Freie
Stimmen frischer .Tugend' erschienen zu Jena 1819. 32) So Hans Ferdinand
Massmann. Geb. zu Berlin 1797, erhielt er 1826 in München die Leitung des Turuweseus
im Cadetteucorps und ward von Friedricli Wilhehu IV nach Berlin berufen, wo er auch
deutsche Philologie lehrte. Er starb 1874 zu Muskau.
r>00 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX .lAllKlI. § 170
Leitung, welcher sich aber Preusscn seit 1819 völlig anschloss, rücksichtslos
thivtig, diese Regungen zu unterdrücken.
Auch die Litteratur kam diesen Absichten der Regierungen entgegen,
auch da wo sie nicht geradezu ihnen diente, wie dies insbesondere durch die
in Metternichs Sold getretenen Romantiker und ihre Freunde geschah. Nach
ihren Lehren sollte die wiederhergestellte Macht der Kirche und des Adels
die Wiederkehr der überstandenen Erschütterungen verhüten.
In Prousseu wurde wenigstens der Anspruch des Adels durch den Baron
Friedrich de la Motte ForquE ' auch dichteriscli vertreten. Er stammte
aus einer franzoesischen Familie von altem Adel, welche mit den Refugies
nach der Mark gekommen war; der Grossvater des Dichters war General
unter Friedrich dem Grossen gewesen. Geboren zu Brandenburg 1777, be-
teiligte sich der Dichter an dem letzten Feldzug Preussens gegen die fran-
za38ische Republik, nahm aber 1802 den Abschied, um sich ganz der Dich-
tung zu widmen. Er lebte auf dem Gute seiner Gemahlin, welche ebenfalls
schriftstellerisch thaitig war, zu Nennhausen bei Rathenow. 1813 trat er als
der erste freiwillige Jseger seines Kreises ein, musste aber nach der Schlacht
bei Lützcn wegen zerrütteter Gesundheit ausscheiden. Nach dem Tode seiner
Frau 1831 begab sich Fouque nach Halle, wo er sich durch Vorlesungen
vor Gleichgesinnten erhielt. 1842 ward er durch Friedrich Wilhelm IV nach
Berlin berufen, starb aber bereits 1843. Seine Jugenddichtungen veröffent-
lichte er, mit einem Vorwort von A. W. Schlegel, unter dem Namen Pellegrin;-
unter dem eigenen zuerst 'Sigurd der Schlangentoedter, ein Heldenspicl in
16 Abenteuern', Berlin 1808.^ In einer Trilogie mit Vorspiel fasste er die
altnordische Sagenform zusammen und wusste die Kraft der alten Dichtung gut
wiederzugeben, auch in den eingemischten Liedern die Allitteration würdig
einzuführen. Aber die Zeit war für das fremdartige Neugebotene weniger
empfänglich, als für Fouques Prosanovelle 'Undine', Berlin 1811 uö. Die
Melusinensage erschien darin anmutig und zart, auch stilistisch meisterhaft
ausgeführt. Undine gehört zu den Elementargeistern,* welche eine Seele, wie
§ 170. 1) Er selbst veröffentlichte die 'Lebensgeschichte des Baron F. de la Motte-
Fouque', Halle 1840. Dazu kommen 'Briefe an Fr. B. de la M.-F.' mit einer Biographie
von Hitzig, hg. von Fouques Tochter, Berlin 1848. 2) 'Dramatische Spiele', Berlin
1801. Er übersetzte aus dem Spanischen und ahmte die Formen dieser Poesie nach.
3) S^Meter fortgesetzt durch 'Sigurds Rache' in der vollständigen Ausgabe 'Der Held des
Nordens', Berlin 1810. 4) Fouque selbst berief sich auf Theophrastus Paracelsus (Musen
1812, H. 4, S. 198); für die Ausführung schwebte ihm wohl der Ritter von Staufenberu'
§ 170 FüUQUE. SCHULZE. 591
Fouque dichtete, nur durch die Liebe eines Sterblichen erhalten. Das
neckische Msedchen, in ein liebevolles "Weib umgewandelt, vermag ihren
Ritter wohl zu gewinnen, aber nicht zu bewahren. Der Erfolg dieser Dich-
tung war ausserordentlich'^ und zeigte sich auch in der Beteiligung vorzüg-
licher Dichtergenossen'' an Fouques Zeitschrift 'Die Musen', Berlin 1812 bis
1814, III. '^ Aber leider Hess er sich dadurch zur Yielschreiberei verführen
und suchte die Wiederholung seiner mehr und mehr auf das Ausserliche ge-
richteten Schilderungen durch Allegorie zu vergüten, welche doch nur immer
wieder seine freilich aus Überzeugung fliessende ^ Ansicht von den Vorzügen
und Vorrechten des Adels einhüllt. Im Zauberring ^ stellte er unter dem
Bilde eines alten Burgherrn, dessen Gäste aus den verschiedensten Ländern
sich sämtlich als seine Kinder zu erkennen geben, die weite Verzweigung
des deutschen Adels dar, in dem Rittergedichte 'CoronaV*^ dessen Heldin
durch den zu christlicher Demut bekehrten Ritter Romuald besiegt wird, die
Überwindung der Revolution. Als sich Fouque 1819 gegen die so hart ver-
folgten Wortführer der Freiheitsbestrebungen aussprach, vergass man ihn zu
seinem bittren Leid.
Fouques weiche Phantasie und die Benutzung der nordischen Sage
nahm ein Dichter auf, der jedoch seine Gebilde in südliche Versformen ein-
kleidete: Ekn.st Schulze aus Celle 1789 — 1817. Er hatte mit einem epi-
schen Gedichte Tsyche' begonnen und darin die Graziendichtimg von Wieland
und G. Jacobi nachgeahmt. Seiner jungverstorbenen Geliebten Csecilia Tychsen,
der Tochter eines Göttinger Professors, widmete er das Epos 'Caeciha', eine
romantische Verherrlichung der Siege Ottos des Grossen über die heidnischen
Dfenen, in etwas unregelmsessigen Stanzen. Um so kunstvoller und zarter
ist sein letztes Gedicht 'Die bezauberte Rose': eine Prinzessin Clotilde wird
von der Feenkoenigin zur Rosenknospe gewandelt, dann durch die Tcene des
Sängers Alpin entzaubert. Die Lieder, welche E. Schulze als FreiwiUiger
dichtete, sind ihm w^eniger gelungen, als seine etwas sinnlichen Elegien aus
noch früherer Zeit.'^
vor: § 66, 56. Auch seines Freuudes Kleist Kstclien von Heilbronn wird Fouque benutzt
haben. 5) Immermann Memorabilien 1, 282 nennt die Wirkung iehnlich der des
Werther und der Rauber. 6) So Ubland. Andere Dichter führte Fouque durch Be-
vorwortung ihrer Werke ein. 7) Sptetere Zeitschriften Fouques treten weit zurück.
8) In der Vorrede zum Zauberring versichert er, dass er seine litterarisehe Arbeit stets
mit Gebet beginne. 9) Nürnberg 1812. 10) Tübingen 1814. 11) E. Schulzes
sämtliche poetische Schriften, hg. von F. Bouterwek, Lpz. 1819. 20, IV; neue Ausgabe
592 NEUIIOCIIDEUTSCITE ZEIT. XIX JAIIKII. § 170
Noch weiter zurück bis auf Klopstocks Epos griff Johann Ladislaitb
Pyrker, geb. 1772 zu Langh im Stuhhvcissenburger Comitat, gest. 1847 zu
Wien als Erzbischof von Erlau. Schon 18 lU hatte er Historische Schau-
spiele' aus der ungarischen Geschidite nach Collins Muster gedichtet. Seine
in Hexametern abgefasste 'Tunisias', eine Schihlerung des Kriegszugs von
Karl V gegen Tunis, erschien 1819 zu Wien, sein 'Rudolf von Habsburg'
1824. Die historische Erztehlung hat durch Einmischung von Helden der
Vorzeit eine Art von mythischem Hintergrund erhalten; in die hochtrabende
Rede drängen sich beständig niedrige Wendungen ein. Die gleiche kalte
Auffassung zeigen die Legendendichtungen, welche Pyrker als Terlen der
heiligen Vorzeif zu Ofen 1821 veröffentlichte und später noch vermehrte.
Unvergleicldich weiter reichend als die Wirkung dieser Dichter, dauern-
der auch als der Ruhm Fouques '- zeigte sich der Erfolg eines Erzfchlers,
der ganz fern sich hielt von den politischen Fragen und einzig den Enthu-
siasmus für die Kunst, vor allem für die am meisten romantische Kunst, '^ die
Musik, zum Ausdruck brachte, damit die Vorliebe für das Wunderbare und
Grauenhafte, für Zauberspuk und Wahnsinn verband und diese Uberschwäng-
lichkcit durch den Gegensatz gegen die gemeine, ja verzerrte Wirklichkeit
noch zu crhuehen verstand. Amadeus^* oder richtiger Ernst Theodor Wil-
helm Hoffmann war 1776 zu Koenigsberg geboren'^ und kam 1800 als Be-
amter in das preussische Polen. In Warschau, wo er seit 1804 lebte, traf
er zusammen mit Z. Werner und Hitzig, die ihn mit der neuen romantischen
Litteratur bekannt machten. In das lebhafte gesellige und künstlerische
Treiben schlug wie ein Blitz aus heitrem Himmel der Untergang Preussens
ein. Vor den franzoesi sehen Siegern und der ihnen entgegen kommenden
nationalen Erhebung in Polen zerstob die preussische Beamtenschaft. Der
preussische Staat, auf die Hälfte zusammen gedrängt, vermochte seine bis-
herigen Beamten nicht zu erhalten. Hoffmaun verwertete seine künstlerischen
Fcehigkeiten und ging als Musikdirector nach Bamberg. Als er eine sehnliche
mit Biographie von Marggraf, Lpz. 1855, V. Für das Andenken des in Hannover schwär-
merisch verehrten Dichters sorgte zuletzt der koenigliche Hof. 12) Dessen Undine
Hoflmann als Oper componiert hat. 13) Die eigentlich romantische Kunst hatte schon
F. Schlegel in der Lucinde sie genannt. 14) Den Vornamen Amadeus verdankte er
einem Druckfehler auf dem Titel einer seiner ersten Schriften, wo anstatt eines W ein A
eingesetzt war, das er seitdem heibehielt. 15) (Hitzig) Aus HofFmanns Leben und
Nachlass, Berlin 182.3, II. Z. Funck, Aus dem Leben zweier Dichter, Bamberg 1836.
E. T. A. Hoö'mann , Erzählungen aus seinen letzten Lebensjahren, sein Leben und sein
§ 170 PYRKER. HOFFMANN. 593
Stelle in Sachsen angenommen hatte, griff nochmals der Gang der Wclt-
begebenheiten in sein Leben ein: er erlebte als unfreiwilliger Augenzeuge die
Schlacht bei Dresden 1813. In dem Ernste der ntechstfolgenden Zeit war
er glücklich, wieder in den Staatsdienst eintreten zu können: er war am
Kammergericht zu Berlin seit 1814 beschäftigt und 1810 angestellt. Seine
Berufsgeschäfte erledigte er tadellos, gab sich aber im Verkehr mit Schau-
spielern, insbesondere dem genialen Ludwig Devriont, einem schwelgerischen
Leben hin, wozu eine zuletzt überrasche Schriftstellerei ihm die Mittel ge-
waehrte. An der Rückenmarksdarre starb er schon 1822. Von seinen
Schriften erschienen, durch Jean Paul eingeführt, die 'Phantasiestücke in
Callots Maniei-', Bamberg 1814, III. Die groteske Manier dieses lothringi-
schen Zeichners zur Zeit Ludv/igs XIV, seine kecken Striche, welche bei
aller Verzerrung und "Willkür eine gewisse Grazie nicht verleugneten, wollte
er als Schriftsteller nachbilden. Der verkörperte Ausdruck seiner Begeiste-
rung für die reine, hohe Kunst, die mit der wirklichen Welt in mannigfache
Widersprüche gerset, ist Hoffmanns Kapellmeister Kreisler. Noch phantas-
tischer ist der Geisteszustand des Enthusiasten im Mserchen vom goldenen
Topf wiedergegeben, einer tollen Hseufung von Zaubereien und Verwand-
lungen, wobei gerade das Allergewcehnlichste in das Wunderbarste übergeht
und wieder daraus sich zurückbildet. Von aller ertreeumten Pracht bleibt
zuletzt nur die Sehnsucht zurück nach dem Feenland, der Insel Atlantis,
d. h. dem Leben in der Poesie. 'Die Elixiere des Teufels', Berlin 1815,
1816, n, stellen den unmerklichen Übergang des reinen frommen Lebens
zum Verbrechen und zur abscheulichsten Bosheit dar, und ebenso dunkel ge-
färbt sind die 'Nachtstücke', Berlin 1817. Haben hier offenbar Jugend werke
Tiecks als Muster gedient, so vereinigen nach dem Vorbild von Tiecks Phan-
tasus 'Die Serapionsbrüder' 1819 eine Reihe von Novellen freundlicheren
Inhalts: 'Der Sängerkrieg auf Wartburg', 'Meister Martin der Küfer, eine
von Spseteren viel benutzte Darstellung der Meistersängerei, 'Die Bergwerke
von Falun' ua. ''^ Mit beständiger , scheinbar willkürlicher Unterbrechung
wechseln Schwärmerei und Spott in den 'Lebensansichten des Katers Murr
nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Joh. Kreisler in zufäl-
ligen Makulaturblättern', Berlin 1820, 22, II. Noch einmal griff Hoffmann
geradezu auf Callots Bilder zurück in dem Capriccio 'Prinzess Brambilla',
Nachlass, hg. von Micheline Hoffniann, Stuttgart 1839, V. 16) Freilich der Vergleich
mit Hebels Erzeehlung 'Der Bergmann von Falun' fällt zu Ungunsten Hoffmanns aus: der
504 NEUIIOCIIDKUTSCIIE ZEIT. XIX JAIIRII. § 170
Breslau 1821, worin Camcvalsconcn wie Schatlonbildor vorübortaiizcn. Iloff-
nianns Phantasien haben vielen Spicteren zur Fundgrube gedient und selbst
in Frankreich und noch auf lange hinaus Nachahmung gefunden.
Wadirend llottmann die Spannung und Ermattung der Zeitgenossen
durch ein Überniass der Phantasie aufzureizen suchte, kam eine Reihe an-
derer Schriftsteller dem Ruhebedürfnis der Zeit entgegen, indem sie das ge-
wophnliche Leben, insbesondere die Familienverhältnisse zum Gegenstand einer
leichten, gelegentlich auch lockern Darstellung nahmen. Sie knüpften damit an
den Familienroman von Lafontaine (§ 164) wieder an, nur vertauschten sie seine
Gefühlsschwelgerei mit einer platteren Lebensauffassung. Hierdurch gewann
der Postrat Karl Heun aus Dobrilugk, geb. 1771, gest. zu Berlin 1854,
welcher unter dem Pseudonym Clauren schrieb,'' zuerst einen grossen Leser-
kreis, zog sich dann aber die Züchtigung Wilhelm Hauffs (§ 172) zu, dessen
Parodie 'Der Mann im Mond' seine Oberflächlichkeit und Lüsternheit, seine
Speisezettel und Kleiderverzeichnisse dem Gelächter preisgab. Reiner und tiefer
zeigte doch die gleiche, auf die vorromantische Zeit zurückgreifende Lebens-
auffassung Heinrich Zschokke, der zu Magdeburg 1771 geboren, 1848 zu Aarau
gestorben, sein bewegtes Loben selbst anziehend, nur mit einer gewissen be-
rechneten Bescheidenheit beschrieben hat als 'Selbstschau', Aarau 1842.'*
Früh verwaist, hatte er zwischen Schul- und Universitnetszeit als Theater-
dichter einer Wandertruppe angehoert, dann in Frankfurt a. 0. erst studiert,
dann sich habilitiert, aber aus Widerwillen gegen den kirchlichen Zwang des
Ministers WöUner Preussen verlassen. In die Schweiz und nach Paris ge-
wandert, übernahm er 1796 die Leitung eines Lehrerseminars in der Naehe
von Chur, wurde aber schon 1798 durch den Kampf zwischen den cester-
reichisch gesinnten Conservativen und den von Frankreich unterstützten Libe-
ralen vertrieben. Unter den Letzteren errang er durch Gewandtheit und
Furchtlosigkeit rasch eine hervorragende Stellung und wirkte als Regierungs-
commissaer in den Waldstaedten , in Basel und im Tessin thatkräftig für die
Zauber des Berggeists verstärkt die Rührung nicht. 17) Von den zahlreichen Erzaeh-
lun^en Claurens ward 'Mimili\ Dresden 1816. besonders beliebt : er schildert darin die
Liebschaft eines preussischen OflBziers mit einem schweizerischen Naturkind, welches doch
zugleich auch hochgebildet ist, die besten Dichter und Musiker kennt, auch Botanik
studiert. Von Claurens Lustspielen wurde 'Der Bräutigam aus Mexiko', Dresden 1824,
viel aufgeführt. 'Gesammelte Schriften", Lpz. 1851, XXV. 18) Dazu F. W. Genthe.
Erinnerungen an H. Z. Eisleben 1850. W. Xeumann, H. Z. Eine Biographie, Cassel 1853.
F. Bsbler, H. Z. Ein Lebensbild. Aarau 1884. St. Born, H. Z. (Vortraege, gehnlten
§ 170 ZSCIIOKKE. HEGNER. 595
einheitliche Republik. 1801 zog er sich in das Privatleben zurück und lebte
zunaechst in Bern, dann in Aarau, wo er als Beamter und Schriftsteller
erfolgreich für den politischen und religioescn Freisinn eintrat. Seine Zeitung
'Der aufrichtige und wohlerfahrnc Schweizerbote' von 1804 ab gewann ihm
auch in Baden Freunde an Hebel, Wessenberg ua. Seine 'Stunden der An-
dacht', welche, 1806—16 geschrieben, in zahlreichen Auflagen und Über-
setzungen erschienen, verbreiteten seine von allem Confessionalismus freien
religioescn Ansichten. Wie er schon die von ihm erlebten politischen Ereig-
nisse in der Schweiz beschrieben hatte, '^ so verfasste er im Auftrag des
Kcenigs von Bayern eine Geschichte dieses Landes.-'' Als Dichter war er
schon in seiner Jugend aufgetreten mit Ritter- und Raeubertragoedien , unter
denen 'Abällino der grosse Bandit', 1794,^^ besonderen Beifall fand. In 'Ala-
montade der Galeerensklave', Zürich 1802, bewahrt der Held auch unter
überaus schrecklichen und dazu völlig unverschuldeten Verhältnissen den Gleich-
mut der Tugend. 1811 — 27 schrieb Zschokkc seine 'Erheiterungen', eine
Reihe von 51 Novellen, deren Zahl er überhaupt bis auf 71 brachte. Einige
darunter verfolgen volkspaedagogische Zwecke im Sinne Pestalozzis : 'Das
Goldmacherdorf' 1817, 'Die Branntweinpestf 1837; andere verwerten Erinne-
rungen an die Revolutionszeit, wie 'die Rose von Disentis', 'der Flüchtling im
Jura'; die meisten aber bezwecken nur eine leichte, muntere Unterhaltung.
Von den gleichzeitigen Novellisten und Romanschriftstellern reiht sich
JoH. Ulrich Hegner aus Winterthur (1759 — 1840) insofern an Zschokke an,
als er jene helvetischen Bewegungen von 1798 als 'Salys Revolutionstage' 1816^^
schilderte, und in der 'Molkenkur' 1812,^^ welcher 'Suschens Hochzeit' 1819
folgte, die Schweizer Eigentümlichkeiten durch einen Norddeutschen wider-
spiegeln Hess. Eine gute Beobachtung mit trockenem Witz verbunden, steht
Hegner auch in seinen Kunsturteilen zu Gebot ;^^ schon die hohe Stellung,
welche er Goethe anweist, zeigt sein Fortschreiten über Zschokke hinaus.
iu der Schweiz), Basel 1885. 19) 'Geschichte vom Kampf uad Untergang der
schweizerischen Berg- und Waldkantone', Zürich 1801. 'Historische Denkwürdigkeiten
der helvetischen Staatsumwälzung', Winterthur 1803 — 5 , III. Daran schliesst sich 'Des
Schweizerlandes Geschichten für das Schweizervolk", Aarau 1822. 20) Der Baierischen
Geschichten I— VI. Buch, Aarau 181.3—18, IV. 21) Frankfurt u. Leipzig. 22) Winter-
thur. 23) Zürich. 24) Bereits in 'Auch ich war in Paris', Winterthur 1803. 4, II.
'Beitraege zur nseheren Kenntnis Lavaters', Lpz. 1836. Gesammelte Schriften, Berlin 1828
his 1830, V. Litterarische Aphorismen aus Briefen an J. G. Müller: Acad. Blätter, 1, 412 fgg.
Eigene Aufzeichnungen über seine Jugendjahre, hg. von A. Hafner, Winterthur 1886.
596 NEUIIOCIIDET'TRCIIE ZEIT. XIX JAIIRII. § 170
Zahlreiche andere Schriftsteller suchten entweder mit Erza-hhingcn aus der
Gegenwart, meist in Novellonform, zu unterhalten, wie Fuikdricii Mosexof:!!.
aus Meiningen (1773 — 1839) und der unter dem Namen August von Tromlitz
schreibende K. Ar«, von Witzlkben (geh. 1773 bei Weimar, gest. 1839 zu
Dresden) uder durch historische Romane zugleich zu belehren : so Franz von
i>ER Velüe aus Breslau (1779 — 1824) und mit bosojiderem Erfolg Karl
Si'iNDLER-^ (geb. 1795 zu Breslau, aber in Strassburg aufgewachsen und in
dessen Ntehe in Bad Freiersbach 1855 gestorben). Von den Frauen, welche
die historische Erztehlung pflegten, ist die Wienerin Karoline Pichler^*^
(1769 — 1843) als Vermittlerin zwischen der Zeit Blumauers und der roman-
tischen und als Vertreterin des oesterreichischen Patriotismus viel gefeiert
worden.
Doch der geschichtliche Roman sollte erst in der Folgezeit '^^ auch in
Deutschland seine Ausbildung erhalten. Neeher an Goethe und Jean Paul
zugleich hielt sich ein Dichter von ernstem Streben, der eben deswegen sich
auf sehr verschiedenen Gebieten versucht, aber bei der Unverträglichkeit
seines Wesens mit der romantischen Auffassung im Dichten wie im Leben
erst spöet seine rechte Bahn und dann ein rasches Ende gefunden hat. Karl
Lebrecut ImmerxMann^** war 1796 zu Magdeburg geboren, hatte 1813 die
Universitaet Halle bezogen und kehrte 1815 aus dem Feldzug als Offizier
zurück. 1819 kam er als Divisionsauditeur nach Münster und lernte hier
die Grsefin Elisa von Ahlefeldt kennen, welche nun ihren Gemahl, den General
Lützow, verliess und mit Immermann lebte, ohne ihm jedoch ihre Hand zu
reichen. ^■•* Sie folgte ihm 1827 nach Düsseldorf, wo er beim Landgericht
angestellt war. Hier war eben damals durch die Begründung der Maleraka-
demie unter Schadow ein lebhaftes, geistreiches Treiben erwacht, welches
durch den Hof des Prinzen von Preussen noch gefördert wurde. Immermann
25) Der Jude, Deutsches Sittengemaelde aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, Stuttg.
1827, IV. Der Jesuit, Charactergemselde aus dem ersten Viertel des 18. Jahrh., Stuttg.
1829, III. 26) Denkwürdigkeiten aus meinem Leben', Wien 1844, IV. Ihr 'Aga-
thocles' 1809 stellt die Anfänge des Christentums dar. Ihre dramatischen Dichtungen
schliessen sich an die Collins an. 27) § 174. 28) Immermann hat seine Jugend-
zeit selbst geschildert in den 'Meraorabilien', III, Hamburg 1840 — 43. Auf Grund seines
Tagebuchs und der Familienbriefe hat G. v. Putlitz über 'Immermanns Leben und Schriften'
gehandelt, Berlin 1870, II. Vgl. auch D. F. Strauss, Ges. Sehr. 2, 161—197. 'Immer-
manns Schriften' erschienen gesammelt zuerst Düsseldorf 1835 — 43, XIV. 29) L. Assing,
Grffifiu Elisa von Ahlefeldt, Berlin 1857. So hatte Frau voil Stein sich nicht mit Goethe,
§ 170 IMMERMANN. 597
fand geistreiche Freunde an F. von Üchtritz,^^ an dem Kunsthistoriker Karl
Schnaase; ^^ die jungen rheinischen Dichter^' schlössen sich ihm an. Von
jeher hatte er besonders die Bühne im Auge gehabt; nachdem er in Tiecks
Art dramatische Yorlesungen gehalten und 1832 auf 33 einen Theaterverein
begründet hatte, übernahm er 1834 die Leitung des Düsseldorfer Theaters, ^^
das er durch Mustervorstellungen, wenn auch mit geringen Kräften, zu einem
Epigonen des weimarischen zu gestalten suchte. Felix Mendelssohn-Bartholdy
dirigierte die Oper, vertrug sich freilich nicht lange mit Immermann. Dieser
musste, da die Mittel zur Fortführung des Theaters nicht ausreichten, 1836
in die juristische Laufbalm zurückkehren. 1839 trennte er sich endlich
von der Gräfin Ahlefeldt; die Liebe einer jungen Frau gab ihm das lang
ersehnte Familienglück. Doch mitten im freudigsten Schaffen nahm ihn schon
1840 der Tod hinweg.
Unter den zahlreichen und verschiedenartigen Werken des Dichters sind
seine lyrischen Gedichte am wenigsten eigentümlich; die Balladen suchen die
altenglische von Bürger nachgeahmte Form neu zu, beleben. Die didaktischen
Dichtungen haben ihren Wert durch die tiefempfundenen Gedanken, mit denen
sich Immermann gern den herrschenden Ansichten und Neigungen entgegen-
stellte, selbst da, wo er innerlich ihnen hätte zustimmen können und nur ihr
seusserer Überschwang ihn zur Kritik veranlasste. So war er gegen die
Burschenschaften, gegen die Philhellenen aufgetreten, so nahm er P. Pfizers
Eintreten für Preussens Beruf in Deutschland ^^ mit msekelnder Kälte auf, so
bekämpfte er an Heines Seite Platen.^^
Immermanns 'Gedichte' erschienen zuerst 1822 und gleichzeitig seine
'Trauerspiele'. Von diesen bezieht sich 'Petrarcha' bereits auf sein Verhältnis
zu Frau von Lützow; dem Unmut über dessen unbefriedigende Gestaltung
gab er Ausdruck in 'Gardenie und Gelinde', nach Gryphius, Berlin 1826.
Frau von Kalb sich niAt mit Schiller vermsehleu wollen. 30) § 171, 13. 31) Geb.
zu Danzig 1798, gest. zu Wiesbaden. 1875. 'N'iederländische Briefe', Stuttgart 1834. Ge-
schichte der bildenden Künste, Düsseldorf 1813 — 64, VII. ^ Düsseldorf, dann Stuttgart,
1866—1879, VIII. 32) F. Freiligrath, Immermann. Blätter der Erinnerung an ihn.
Stuttgart 1842. 33) Vgl. Immermanns 'Maskengespraeche' über diese 'Düsseldorfer An-
fange', 1840. 34) § 172, 47. 35) § 173, nach Anm. 43. Gegen Platens roman-
tischen Oedipus richtete er eine gehalten scherzende Gegenschrift 'Der im Irrgarten der
Metrik herumtaumelnde Cavalier' (vgl. § 143, 31) und citierte Platen anerkennend in den
Briefen an seine Braut, wsehrend er um 1831 sich von Heine abwandte: Putlitz 2,
283; 1, 2(il.
598 NEUIIOCIIDEUTHCIIE ZEIT. XIX JAIIUII. § 170
riatens Urteil über dies Stüek iiia<i; doch dazu beigetrat^en haben, dass
Immerniann sieh dem gesehichthchen Trauerspiel zuwandte. In dem 'Trauer-
spiel in Tirol", Hamburg 182.S, welches er später mehr bühnengerecht her-
stellte und 'Andreas llofer"' nannte, suciite er die Volkseigentümlichkeit getreu
wiederzugeben, wobei er sich der Freiheiten Shakespeares bediente. Ebenso
ging er auf die geschichtlichen Gegensätze ein in 'Kaiser Friedrich II', Ham-
burg 1828, und in der Trilogic 'Alexis', Düsseldorf 1832. Noch einmal griff
er als Dramatiker zurück in die romantische Welt: sein 'Merlin, eine Mythe',
Düsseldorf 1882, eine Tragoedie des Widerspruchs, wie er sagte, schildert
den Sieg des Glaubens im Untergang der äusseren Welt.
Die bretonischc Sage behandelte Immermann auch als erzählender
Dichter. Sein letztes, unvollendetes Werk war 'Tristan und Isolde', Düssel-
dorf 1841, in schoenen Strophen: nach dem gefälschten Eidschwur gedachte
er das Liebesleben aufhopren zu lassen und so die Leidenschaft durch die
Busse zu sühnen. Alter ist ein komisches Epos 'Tulifäntchen', Hamburg
1830, welches in zierlicheij Trocha?en und mit poesievollen Bildern die Ge-
schichte des winzigen Helden erzählt, und die Ansprüche des Adels in
ihrem Widerstreit gegen die riesige Gewerbstha^tigkeit der Neuzeit und
ihre Mittel verspottet, nebenher auch die Frauenemancipation , die poesie-
feindhche Musikschwärnierei ua. durchhechelt. Unverhüllt sind die Zeitschil-
derungen im Prosaroman 'Die Epigonen', welcher Düsseldorf 1836 erschien,
jedoch weit früher begonnen war. Der Kampf des Feudalismus und der
Grossindustrie wird nach Vorgängen in Immermanns Heimat dargestellt; zu-
gleich entsagungsvoll die schon im Titel angedeutete Meinung ausgesprochen,
dass die Bildung und Dichtung der Gegenwart schon durch das überreiche
Erbe der Vergangenheit verhindert werde. Vollkommenes zu leisten. In dem
bunten Gewühl der auftretenden Figuren erscheinen teils wirkliche, nur
leicht verhüllte Personen, so A. W. Schlegel als Hindu, teils auch Phantasie-
gebilde, wie Flämmchen, eine Mischung von Mignon und Phihne. Der letzte
Roman Immermanns, 'Münchhausen, eine Geschichte in Arabesken', Düssel-
dorf 1838. 39, IV, stellt die verschiedenen Kreise neben einander und in
nur losen Zusammenhang. Einer Welt des Scheins und der Thorheit, in wel-
cher einzelne Züge auf Fürst Pückler, Bettina, aber auch auf das junge
Deutschland hinweisen, tritt die der Wirklichkeit gegenüber, auch sie nicht
ohne Irrtümer und Fehler, aber doch tüchtig und der Liebe zugänglich. Der
westfselische Hofschulze, der mit dem Schwert Karls des Grossen das heim-
liche Gericht hegt, wahrt Immermanns dichterischen Ruhm.
§171 TIIEATERDICIITER. 599
§ 1^1-
In der politisclien Stille, welche nach den Freiheitskriegen eintrat, ward
das Theater fast der Mittelpunct des öffentlichen Lebens. Neben den Hof-
bühnen entstanden in den Hauptstädten kleinere Theater, von Gesellschaften
oder Einzelnen begründet, meist mit der Absicht die leichteren Gattungen
des Dramas, Lustspiel, Singspiel, Posse zu pflegen. In Wien waren solche
Nebenbühnen schon vorbanden; in BerHn ward 1819 das Koenigsstädter
Theater errichtet. An genialen Schauspielern fehlte es nicht: die Familie
Devrient hat allein schon eine Dynastie von Bühnenbeherrschern erzeugt und
einer von ihnen, Eduard Devrient, hat eine freilich nicht immer zuverlässige
'Geschichte der deutschen Schauspielkunst' geschrieben.^ Sophie Schroeder,^
in Hamburg ausgebildet, in Wien wsehrend ihrer Glanzzeit angestellt, ver-
körperte Schillers, dann Grillparzers Frauengestalten; ihre Tochter Wilhel-
mine,^ mit Karl August Devrient verheiratet, feierte überall wahre Triumphe,
ebenso Henriette Sonntag,* beide freilich Sängerinnen: jene hat 1822 Beetho-
vens ^ Fidelio, diese gleichzeitig K. M. v. Webers Freischütz zu voller Geltung
gebracht, zwei Opern, welche in ihrer menschlichleidenschaftlichen, aber volks-
tümlichdeutschen Art zur romantischen Dichtung die musikalische Ergänzung
darboten. Dass aber gerade die Oper als der Gipfel der Bühnenleistungen
erschien und so schwärmerische Begeisterung hervorrief, ist bezeichnend für
die politisch stille, hcefische Zeit. Auch im Schauspiel tritt der gleiche Zug
hervor. Es sind zum Teil Dichter aus vornehmen Familien, welche die
Bühnen versorgen, und noch mehr ist die Bühnenleitung die Sache adeliger
Hofleute. Neben jenen Dichtern stehen Schauspieler und Andere, welche
den Wünschen der Hoefe so viel als moeglich entgegenkommen. Mehr als
H. v. Kleist und Z. Werner lassen diese Dichter den klügelnden Verstand
und die Berechnung der Bühnenwirksamkeit vorherrschen. Ihre Stücke sind
nicht nur aufführbar, sondern auch packend: bald erschüttern sie durch die
Stärke der tragischen Eindrücke, bald überraschen sie durch Situationskomik.
Im Trauerspiel schlössen sich an Schiller und an Werner die Dichter der
Schicksalstragoedie*^ an, welche freilich durch Übertreibung, durch Willkür,
durch rein seusserliche Auffassung des Zusammenhangs zwischen Schuld und
§ 171. 1) Leipzig 1848—1874, V. 2) Geb. 1781 iu Paderborn, gest. za München
1868. 3) Greb. zu Hamburg 1804, gest. zu Coburg 1860. 4) Greb. zu Coblenz 1803,
gest. in Mexico 1854. 5) Ludwig van Beethoven, geb. zu Bonn 1770, gest. zu Wien
1827; Karl Maria v. Weber, geb. zu Eutin 1786, gest. zu London 182f3. 'Der Freischütz'
wurde zuerst 1821 aufgeführt. (i) .T. Minor, Die Schicksalstraguedie iu ihren Haupt-
600 NEUJIOCHDEUTSCHE ZEIT. XTX JAllRIf. t< 171
Sühne ebenso rasch wie sie Ansehen und Maclit gewonnen liatte, diese auch
wieder verlor. Von der romantischen Uiclitung war die irussere Form der
meisten Öchicksalstrago'dicn bedingt, der vierfüssige Trochjcus des spanischen
Dramas, welcher in seinem atemlosen Fortrollen die rasche Folge der schreck-
liclion Ereignisse begleitete und ihren Eindruck verstärkte.
Unmittelbar auf Z. Werners Trauerspiel 'Der vicrundzwanzigste Februar'
folgten die überbietenden Nachahmungen von Adolf Müllner. Ein Neffe
liiirgers, besass er auch dessen rücksichtslose Kraft und verband damit eine
wahrhaft mathematische Berechnung und die liedefertigkeit des Advocaten.
Er war 1774 in der Naehe von Weissenfcls geboren und starb in dieser Stadt
1829. Wie Kotzebue ging er aus vom Liebhabertheater und begann 180!>
mit kecken, meist kurzen Lustspielen, für welche er aus franzoesischen Quellen
schöpfte: darunter 'Die Vertrauten', ein Stück, welches 1S12 in Wien zur
Aufführung kam. Von den Trauerspielen Mülluers fügte 'Der neunund-
zwanzigste Februar" zu der Ermordung eines Kindes noch die Blutschande.
Wie kalt der Dichter seinem schauerlichen Stoffe gegenüberstand, zeigte er,
indem er auf Wunsch den Schhiss abänderte und die Nachricht von der
Geschwisterehe, welche zum Morde treibt, für eine irrige ausgeben liess.
Gleichfalls eine Aufdeckung alten Frevels und die dadurch veranlasste Be-
gehung anderer stellt 'Die Schuld' dar.® Die Verbindung spanischer und
nordischer Scenerie soll die Romantik steigern. Aber ganz ungenügend® er-
scheint als letzter Grund aller Greuelthaten der Fluch eines Zigeunerweibes,
welchem die Mutter der feindlichen Brüder die Gabe verweigert hat. Immer-
hin ist wenigstens der Zusammenhang hier noch gewahrt; dagegen hteuft
Müllner Handlungen und Motive bis zur Unklarheit in 'Koenig Yngurd' 1810,
worin er, mit starker Benutzung Shakespeares , den 'Normaltyrannen' Napo-
leon darstellen wollte. Auch 'Die Albaneserin' 1820, wieder ein Brudermord,
der durch Selbstmord gesühnt werden soll, erreichte die Wirkung der 'Schuld'
nicht mehr. Vergebens suchte Müllner seine Erfolge durch bissige Bekäm-
pfung'*' seiner Gegner und Mitbewerber festzuhalten.
Vertretern, Frankfurt 1883. 7) Leipzig 1812. 8) Leipzig 1816. 9) Müllner
verweist daher auch am Schluss etwaige Frager auf eine andere Ausknnftstelle: 'Fragst
du nach der Ürsach, wenn Sterne auf und untergehn? Was geschieht ist hier nur klar,
das Warum wird offenbar, wenn die Toten auferstehn'. 10) Kr war 1820— 2.T Redac-
teur des Stuttgarter Litteraturblattes; 1826 — 29 schrieb er«das 'ilitteruachtsblatt' zu Braun-
schweig, spseter zu Leipzig. Mülluers 'Dramatische Werke' ei-schieuen in einer 'Gesammt-
§ 171 SCIIICKSALSDRAMA. GOl
Neben den polternden Müllner trat der weinerliche Ernst von Houwald/'
dem noch dazu die Fähigkeit abging, ein Stück in einfachen und klaren Um-
rissen zu entwerfen. Geboren 1778 zu Straupitz in der Niederlausitz, starb
er 1845 zu Lübbon als Landsyndicus. Yon seinen Tragoedien sucht 'Das
Bild' 1821 Rührung dadurch zu erwecken, dass die Heldin sich blind ge-
weint hat; durch handgreifliche Un Wahrscheinlichkeiten verfehlen ihre Wir-
kung 'Die Heimkehr', 'Der Leuchtthurm', 1821, 'Die Feinde' 1825, 'Die
Seera3uber' 1830. Ais namentlich Tieck und Börne auf diese Mängel hin-
wiesen, war Houwald bereits zur KinderUtteratur übergegangen, wie einst
der ihm vielfach eehnliche Ch. Felix Weisse. ^^
Eine ganz andere Bahn, aber mit nicht viel besserem Erfolge, schlug
ein Landsmann Houwalds ein, Friedrich von Uechtritz.^^ Zu Görlitz ge-
boren 1800 und 1875 gestorben, lebte er in richterlicher Stellung 1829 — 58
zu Düsseldorf und nahm an Immermanns Theaterunternehmung '^^ Anteil. Von
Tieck beraten, pflegte er die historische Tragoedie mit grossem Sinn und
edler Auffassung, doch ohne gestaltende Kraft, Seine Hauptwerke,'* 'Ale-
xander und Darius' 1827, 'Die Babylonier in Jerusalem' 1836, kamen be-
sonders auf der Dresdener Bühne zur Aufführung. Spteter wandte sich
Uechtritz dem historischen Roman zu und schilderte in 'Albrecht Holm'
1852. 53, III, die Reformationszeit in Deutschland und Italien, in dem 'Bruder
der Braut' 1860 die Wiedergeburt Preussens.
Das historische Theater fand dann in Berlin einen Vertreter von über-
wuchernder Fruchtbarkeit, aber auch von wahrhaft abschreckendem Mangel
an Poesie : Ernst Benjamin Salomon Raupach. '^ Als Sohn eines Predigers
1784 zu Straupitz geboren, war er längere Zeit in Russland als Erzieher
thaetig und kehrte erst 1823 nach Deutschland zurück. In Berhn, wo er
1852 starb, bekleidete er bis 1842 die Stelle eines Theaterdichters, dessen
Stücke sämtlich aufgeführt werden mussten. Seine Loyalitset empfahl ihn
bei Hof; dem Philosophen Hegel stand er durch seinen scharfen Verstand
und seine dialektischen Neigungen nahe; den Historiker F. v. Raumer ge-
wann er ganz, indem er 1826 — 32 dessen Geschichte der Hohenstaufen in
16 Tragoedien dramatisierte. Auch 'Der Nibelungen Hort' brachte er 1828
ausgäbe', Brannscliweig 1828 uö. 11) Sämtliche Werke, Leipzig 1851 uö. 12) § 155,
63. 64. 13) F. V. Ü. Briefwechsel mit einer Eiuleitung von H. v. Sybel uutl einer
Biographie von Th. Paur, Leipzig 1884. 13 a) § 170, 33. 14) .Jugendlich form-
los sind die 'Trauerspiele', Berlin 1823: Chrysostomus, Spartacus, Otto III. 15) E. Rau-
pachs Dramatische Werke komischer Gattung, Hamburg 1829—35, IV : D. W. ernster
002 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAllKir. ß 171
auf die Bühne, nach seiner Art so quellontreu als moeglich. Aber sein be-
rühmtestes Stück blieb 'Isidor und Olga oder die Leibeigenen"', Leipzig 1826,
eine fürchterliche Schilderung russischer Verhältnisse, die mit einem doppelten
Brudermord ondigt. Auf weichliche Rührun(( zielt sein Volksdraina 'Der
Müller und sein Kind\ Hamburg 1835. Auch die Komik Baupachs ist allzu
niedrig gegritfon: schelmische Bediente, verschmitzte Barbiere treiben ihr Un-
wesen in diesen Stücken, welche indessen in der leichten, sichern Kompo-
sition an Ruupachs Vorbild Kotzebue erinnern. Daher sind seine 'Schleich-
händler', seine 'Schule des Lebens', sein ZeitgcnuTide 'Vor hundert Jahren',
dessen Hauptfigur der alte Dcssaucr ist, auch weit spajter noch aufgeführt
worden. Die anderen Dichter der Berliner Theater waren meist in Berlin
selbst geborne Schauspieler und passten franzoesisclie Lustspiele, namentlich
Vaudevilles, der deutschen Bühne au: Louis Angely,"' Karl Blu.m,'" welcher
besonders das Couplet mit satirischer Spitze pflegte, und etwas feiner Kari.
TÖl'FKR.'«
Auch die süddeutschen Hofbühnen hatten ihre eigenen Dichter. In
Karlsruhe dichtete Joseph Heinrich von Aüffenber«,'" welcher 1778 zu
Freiburg geboren, als badischer Hofmarschall 1857 starb. Oft auf Reisen,
zeigte er als Schauspieldichter wie als Erzaehler eine Vorliebe für die süd-
romanischen Völker. Seine Jambentragoedie Tizarro', welche an Schillers
Wallenstein erinnert, erschien 1823, seine 'Alhambra' 1829. 30, III, dies
eigentlich ein Epos in dramatischer Form. 'Die Spartaner', 'Die Syrakusef
schlössen sich an die historischen Quellen eng und enger an.
In Karlsruhe lebte längere Zeit auch der Schwager Varnhagens, E. C.
Ludwig Levin, spseter L. Roijert-Tgrnow genannt. Geb. zu Berlin 1778,
starb er zu Baden-Baden 1832. Schon 1804 hatte er in Berlin 'Die Über-
bildeten', eine Bearbeitung der Frccieuscs ridkides von Molicre zur Auffüh-
rung bringen können, aber ebensowenig damit gefallen als spteter mit seinem
Tiauerspiel 'Die Tochter Jephthas" und mit der bürgerlichen Tragcedie 'Die
Macht der Verhältnisse', welche die Härte der Standesvorurteile ergreifend,
aber trostlos darstellt. Wsehrend der Freiheitskriege dichtete Robert in lyri-
Gattnng, Hamburg 1835—43, XVI. 16) 1780—1835. 'Vaudevilles und Lustspiele, zu-
naechst für das Koenigstffidtische Theater in Berlin', B. 1828—34, III. Darin 'Das Fest der
Handwerker". 'Neuestes komisches Theater', Hamburg 1836— 41, III. 17) 1785 — 1844.
Theater' Berlin 1839 — 44: 'Der Ball von Eilerbrunn', 'Erziehungsresultate' ua. 18) Creb.
1792, gest. zu Hamburg 1871. 'Lustspiele' Berlin 1830-51, VII. 'Tagesbefehl', Des
Koenigs Befehl', 'Der beste Ton', 'Rosenmüller und Finke'. 19) Sämtliche Werke,
§171 THEATERDICHTER. 603
sehen Formen 'Kämpfe der Zeit", und widmete sie Fichte, dessen Vortraege
ihn zum Christentum hinübergeführt hatten.
Ebenfalls aus jüdischen Kreisen stammte Michael Beer,^® geb. 1800
zu Berlin, gest. zu München 1833, der Bruder des Componisten Meyerbeer.
Schon lOjfehrig hatte er seine Klytsemnestra aufFühren sehen, "1823 mit
seinem Taria' die Stellung des Juden beklagt und damit selbst ^Gcethes Teil-
nahme gewonnen. Beers Jambentragoedie "Struensee' 1828 lieh diesem Staats-
verbrecher edle Absichten und ein rührendes Ende.
Beers Freund war Eduard von Schexk, der die Münchner Bühne be-
herrschte. Geb. 1788 zu Düsseldorf, trat er früh zur katholischen Kirche
über und diente Ludwig I als Minister 1828 — 31; er starb zu München
1841. Unter seinen Dramen^^ fand 'Belisar' 1829 viel Beifall'', trotz der
allzuscharf nach Licht und Schatten verteilten Auffassung und der roman-
tisch gemischten Yersform. Schenks Lustspiele zu Künstlerfesten führen ge-
wandt Scenen aus der Kunstgeschichte vor: 'Dürer in Venedig' 1828 und
'Die Griechen in Nürnberg' 1835.
Doch den Ruhm der ersten deutschen Theaterstadt behauptete "Wien
und das Burgtheater unter der kundigen Leitung Jos. Schreyvogels-^ war
wie für die Schauspielerkunst so auch für die dramatische Dichtung der
günstigste Boden. Sie fand in Grillparzer einen Dichter von vorzüglicher
Begabung, der neben Kleist etwa so steht wie der Dramatiker Goethe neben
Schiller. Grillparzer selbst ^^ nannte sich 'das Mittelding zwischen Goethe und
Kotzebue, welches die Zeit brauche': mit der Bühnenwirksamkeit des letz-
teren wollte er die edle Naturwahrheit des grossen Dichters verbinden. Zu-
gleich sprach er damit seine Abwendung von den Romantikern aus, insbe-
sondere von der Richtung der jüngeren Schule;^* mit der älteren stimmteer
in seiner Benutzung des spanischen Dramas überein. Mit der naechstfolgen-
den Zeit der politischen Dichtung kam er in noch stärkeren Widerstreit.
Ein Versuch sein Gebiet durch die Pflege des Lustspiels zu erweitern, fand
1838 eine so rohe Abweisung von Seiten der Zuschauer , dass der empfind-
liche Dichter, dem auch im Leben und in seiner Beamtenlaufbahn so manches
Siegen u. Wiesbaden 1834 — 44, XX und Supplementband. 20) Sämtliche "Werke, hg.
von E. V. Schenk, Lpz. 1835. 21) Gesammelte 'Schauspiele', Stuttgart 1829 — 35, III.
22) Aus Wien, 1768—1832, war Secretser des Burgtheaters 1814—32. Unter dem Namen
C. A. West bearbeitete er 'Das Leben ein Traum' von Calderon und 'Donna Diana' von
Moreto 1819. 23) Tagebuch von 1828 im GriUparzerjahrbuch 1892, S. 167. 24) In
der Selbstbiographie (Sämtl. Werke 10) spricht er von 'der Rohheit des jungen Deutsch-
WacVernagel, Litter. Geschichte II. 40
(J04 NEUHOOirnElTSCIIE ZEIT. XIX JAHRH. § 171
Missgeschick und Unrecht begegnet war , nichts mehr zu veröffentlichen be-
schloss. Erst in den Stürmen des Jahres 1848 machte sich seine oBster-
reichische Gesinnung geltend ; Laube brachte auf dem Burgtheater seine
Stücke^'' zu immer halberer Anerkennung; er erlebte noch als Greis die be-
geisterte Würiligung seines Verdienstes, welche nach seinem Tode nur immer
weiter und tiefer gedrungen ist.^'^
Franz Grilli'Arzeu war zu Wien geboren 1791; er starb 1872. Er
war Beamter, zuletzt 1832 — 58 Archivdirector der Hofkammer. Sein Erst-
lingswerk fällt der Schicksalstragcedie zu"^ und deren rasches Veralten hat
auf seinen Ruhm* in Deutschland sehr ungünstig eingewirkt. Die Ahnfrau',
1817,^* übertraf alles gleichartige an Kunst der Anlage und der Ausführung,
auch an schauriger Wirkung, rief aber eben deshalb auch am meisten die
Parodie hervor. Der Dichter hatte darin eine Rneuber- und eine Gespenster-
geschichte verschmolzen. Ganz andere Gegenstände behandelten seine späte-
ren Dramen, zuntechst Liebestragoodien aus der griechischen Sage,^^ welche
im hohen Stil der Iphigenie Goethes ihm zu wunderbarer Entfaltung weib-
lichen Liebeslebens den Stoff boten. Sappho 1819, deren Aufbau Byron
entzückte, stellt die bewunderte, aber nicht geliebte Künstlerin dar; die
Trilogie 'Das goldne Vliess' 1822^*^ den Gegensatz zwischen dem menschlich-
klaren, aber auch stolzen Hellenentum und der von Zauberei und roher
Leidenschaft beherrschten Barbarenwelt. In Des Meeres und der Liebe
lands, der Volkspoesie und des mittelhochdeutschen Unsinns'. 25) Zuerst 1851 'Des
Meeres und der Liebe Wellen*. Laube, Bnrgtheater, 216 fg. 26) Grillparzers Sämtliche
Werke, X, Stuttgart 1872 (von Laube und Weilen besorgt), von Sauer, Stuttgart 1887, XVI.
Eine andere Ausgabe von Minor begonnen, Stuttgart 1892 fgg. In jener erschien zuerst
die Selbstbiographie und Stücke aus dem Tagebuch des Dichters. Andere Reliquien im
Grillparzerjahrbuch, Wien 1890 fgg. (bis jetzt 3 Bände). Mitteilungen aus Gespraechen von
Adolf Foglar, Grillparzers Ansichten über Litteratur, Bühne und Leben, Wien 1872,* Stutt-
gart 1891. Emil Kuh, Zwei Dichter Oesterreichs, Pest 1872. Auguste von Littrow, Aus dem
persoenlichen Verkehr mit G., Wien 1873. Fäulhammer, .J. G. Eine biographische Studie,
Graz 1884r. L. A. Frankl, Zur Biographie F. G. Wien ^1884. Laube, G.'s Lebensgeschichte,
Stuttgart 1884. Friedmann, F. G. Milano 1893. Litterarhist. Würdigung: Scherer, Vortrsege
und Aufsätze, Berlin 1874, 193—307. E. Reich, G.'s Kuustphilosophie 1891. R. v. Muth, Grill-
parzers Teihnik, (Progr.) Wiener-Neustadt 1886. 27) Gegen seinen eigenen und den
Widerspruch Anderer hat dies bewiesen J. Volkelt, Grillparzer als Dichter des Tragischen,
Nördlingen 1888. 28) Zu Wien erschienen, wie tfUe Einzelausgaben der Werke Grill-
parzers. 29) Jul. Schwering, F. Grillparzei-s hellenische Trauerspiele auf ihre littera-
rischen Quellen und Vorbilder geprüft, Paderborn 1891. 30) Das Schlussdrama 'Medea*
war das letzte Werk Grillparzers, welches auch in Deutschland vor 1850 gespielt wurde.
§ 171 GRILLPARZER. 605
Wellen' (1840 gedruckt) zeigt die ihrem Priesteramte ungetreue Hero die
Liebenswürdigkeit, welche sonst der Gegenspielerin zufiel; aber auch ihr gereicht
die Leidenschaft zum Verderben. Eine andere Reihe von Dramen Grillparzers
behandeln auf Grund sorgfältiger Quellenstudien die Geschichte Oesterreich-
Ungarns und sprechen die Hingabe des Dichters an Herrscherhaus und
Vaterland aus: 'Koenig Ottokars Glück und Ende' 1825,^' 'Ein treuer Diener
seines Herrn' 1830, und erst aus dem Nachlass erschienen, 'Ein Bruderzwist
im Hause Habsburg', worin die Geschichte des menschenscheuen Kaisers
Rudolf n und der Anfang des SOjsehrigen Krieges verbunden sind. Mserchen-
haft ist 'Melusine' 1833, ein Operntext für Beethoven, aber von C. Creutzer
componiert ; und nach einer Erzsehlung von Voltaire dramatisiert 'Der Traum
ein Leben' 1840, eine Mahnung zur Zufriedenheit imd Bescheidung. Aus
Gregor von Tours stammt der Stoff zu seinem 1840 gedruckten Lustspiel
'Weh dem der lügt', in welchem der Held gerade dadurch sein Ziel erreicht,
dass er die Wahrheit sagt, aber eben deshalb keinen Glauben findet; die
Characteristik der einzelnen Personen , welche der Dichter spseter immer
mehr über die früher vorherrschende Composition des ganzen Dramas vorwalten
liess, hat hier in der humorvollen Behandlung ihren Gipfel erreicht. Aus
dem Nachlasse kamen noch die Tragcedien 'Libussa' und 'Die Jüdin von
Toledo', diese auf Grund eines Dramas von Lope de Vega bearbeitet , und
das Fragment 'Esther' an das Licht: auch diese Stücke haben weibliches
Fühlen und Denken zum unerschöpflich variierten Gegenstand. Dagegen waren
mehrere Erzaehlungen Grillparzers schon früher bekannt: 'Das Kloster von
Sendomir', eine kunstvolle Enthüllung früherer Greuel thaten , und ebenso
einfach als tiefergreifend 'Der arme Spielmann', der alt und dürftig, doch in
seinem kunstlosen Spiel glücklich ist, offenbar ein Selbstbekenntnis des Dich-
ters. Doch konnte dieser auch scharf urteilen und legte seinen Unmut in
zahllosen Epigrammen nieder. Er hat Wien unter Metternich 'das Capua
der Geister genannt; aber 1848 Radetzky zugerufen: 'In deinem Lager
ist Oesterreich !'
Die anderen Wiener Dramatiker dieser Zeit blieben weit hinter Grill-
parzer zurück. Joseph Christian von Zedlitz , geb. 1790 zu Johannisberg
in Schlesien, gest. zu Wien 1862, war erst Offizier, dann in der Staats-
kanzlei beschäftigt. Als Lyriker machte er sich durch 'Die nächtliche Heer-
31) Alfred Klaar, K. Ottokars Glück und Ende, Eine Untersuclmng über die Quellen der
Grillparzerscbeu Tragoedie. Leipzig 1885. Cirillparzer sah in Ottokar zugleich ein Bild
r,06 NEUHOCIIDEUTSCIIE ZEIT. XIX JAIIRIf. § 171
schau\ eine Verherrlichung Napoleons bekannt. Seine Canzonendichtung
Totonkränze', 1827,^-' sammelt historische Beispiele für die Lehre, dass aller
Ruhm nichtig sei. Die Dramen von Zcdlitz folgen spanischen Vorbildern:
'Turturoll' 1821, 'Der Kcpuigin Ehre' 1828, 'Zwei Nächte zu Valladolicr
1825 ua. 'Kerker und Krone' 1833 verherrlicht Tassos Tod, ein Seitenstück
zu OehlenschUegers Correggio. Die Erzsehlung 'Waldtra?ulein' 1843 geht in
der Sinnlichkeit , die Liedersammlung 'Soldatenbüchlein' 1849 in der Loya-
lität zu weit.
Eigentümlicher, aber in einer niedrigen Schicht der dramatischen Litte-
ratur, zeigte sich Ignaz Franz C. Castelli aus Wien, geb. 1781, gest. 1862,
Beamter in den Diensten der oesterreichischen Stände 1801 — 42. Er ver-
fasste, meist nach franzoesischeu Mustern, Singspiele und Possen, von denen
er 60 Stück in den 'Dramatischen Sträusschen' 1<S09 — 27 veröffentlichte.^^
1828 erschienen seine Gedichte in niederoesterreichischer Mundart, wozu er
1847 ein Wörterbuch hinzufügte. Castellis Memoiren 1861, IV berichten
lehrreich auch über das Wiener Theaterwesen jener Zeit.
Die Wiener Posse bearbeitete auch Adolf Bäuerle. Geboren 1786,
starb er, nachdem er 1848 politisch sich bethaetigt hatte, 1859 in Basel. Er
schrieb 1806 — 56 die Wiener Theaterzeitung, 1819 die 'Eipcldauer Briefe'.
Als Dichter 1806 zuerst hervorgetreten, Hess er eine Reihe von Volksstücken
1820 — 26, VI erscheinen. Er erfand die Figur des Wiener Bürgers Staberle,
den er auch reisen Hess. Sein letztes Stück war 'Der Sonderling in Wien'.
Als Erzfehler benutzte er namentlich seine Theatererinnerungen, indem er
die Schauspielerin Therese Krones und den Dichter Ferdinand Raimund in
biographischen Romanen behandelte.
Raimund ^^ war der genialste und gemütvollste Dichter der Wiener
Volksbühne; er brachte die Zauberwelt mit dem bürgerlichen Leben in tiefe-
ren Zusammenhang. Er begann 1823 mit 'Der Barometermacher auf der
Zauberinsel'; es folgten 'Der Diamant des Geisterkoenigs', Der Bauer als
Millionser', 'Der Verschwender, und der Schreiner Valentin, den Raimund
selbst darstellte, blieb als eine gemüt- und humorvolle Rolle dauernd beliebt.
Raimund war 1790 geboren, er erschoss sich 1836. Ihn widerte der Erfolg
an, den Johaxn Nestroy ^' (aus Wien, geb. 1802, gest. zu Graz 1862) mit
Napoleons. 32) Zu Wien : die spaeteren "Werke seit 1830 erschienen bei Cotta.
33) Vollständige Ausgabe, Wien 1843, XV. 34) Sämtliche Werke hg. v. Glossy und
Sauer, Wien 1881. IH. 35) Gesammelte AVerke von Chiavacci und Granghofer, Stutt-
§ 172 WIENER LUSTSPIELDICUTEli. 607
seinen frechparodistischen und gemeinlüsternen Possen, dem 'Lumpacivaga-
bundus' 1833 ua. fand.
Aus der Wiener Volksbühne ^^ der älteren Zeit wurde manches in die
Berliner hinübergeführt durch einen schlesischen Dichter, welcher insbeson-
dere für die Dialectpoesie viel gethan hat. Karl von Holtei^' war 1798
zu Breslau geboren und starb hier 1880. Einer adeligen Familie angehoerig,
war er Schauspieler geworden, hatte aber besonders als Vorleser in Tiecks
Weise geglänzt. Für das Koenigstöedter Theater in Berlin dichtete er Sing-
spiele: 'Die Wiener in Berlin' 1824, 'Die Berliner in Wien' 1826, spseter
auch 'Die Wiener in Paris'; 1826 'Der alte Feldherr', 1829 'Leonore'; und
manche der eingelegten Lieder ^^ wurden volkstümHch. Den Berliner Jargon ^""^
brachte Holte! zuerst auf die Bühne; noch großssereu Erfolg hatte er mit
seinen 'Schlesischen Gedichten'.^'' In 'Lorbeerbaum und Bettelstab'*' stellte
er den Untergang eines leichtsinnigen Dichters rührselig dar. In Graz , wo
Holtei 1850 — 65 lebte, schrieb er eine Reihe von Romanen, meist Erinne-
rungen aus seiner bewegten Wanderzeit: 'Die Vagabunden' 1851, 'Christian
Lammfell' *2 1853, 'Die Eselsfresser' 1860 ua.
Auch ausserhalb der Grosssteedte fand das Volksleben und die Mundart
dramatische Verwendung: in Strassburg durch den Professor G. D. Arxold
(1780—1829), dessen 'Pfingstmontag' 1816 Goethes Lob erhielt; ^^ in Frankfurt
durch Karl Malz (1792 — 1848), der Die Entführung oder der alte Bürger-
capiteen' 1821 erscheinen Hess.**
§ 172.
Reichere und reifere Früchte als Drama und Erzaehlung brachte nach
den Freiheitskriegen die Lyrik. Die Subjectivitset der Romantik musste
dieser Gattung förderlich sein und die Ärmlichkeit imd Enge des damaligen
gart 1892. W. hg. von L. Gottsleben, Berlin 1893. 36) F. Schlögl, Vom Wiener
Volkstheater, "Wien u. Teschen o. J. [1883]. 37) Holtei hat sein früheres Leben selbst
geschildert in 'Vierzig Jahre' 18-13 — 50, VIII. Festrede zu seinem 80. Greburtstag von
K. Weinhold, 1878. Max Kurnik, Holtei, ein Lebensbild, Breslau 1880. Holteis Theater'
erschien Breslau 1845; seine erzsehlenden Schriften Breslau 1861 — 66, XXXIX. 38) So das
Mantellied in Leonore 'Schier dreissig Jahre bist du alt' nach der Melodie des Volksliedes
'Es waren einmal drei Reiter gefangen'. Andere Lieder wie 'Denkst du daran, mein tapfrer
Lagienka', ua. sind dem Französischen nachgeahmt. 39) 'Ein Trauerspiel in Berlin', eine
Criminalgeschichte. 40) Breslau, zuerst 1830. 41) Schleusingen 1840. 42) F. Willo-
mitzer, Ch. Lammfell, Ein Beitrag zur Characteristik Holteis als Romanschriftsteller, Ber-
lin 1878. 43) Gcßthe wurde durch Karl August darauf auf merksam gemacht : s. dessen
Brief an Goethe vom 11. Febr. 1820. 44) Vgl. § 93, 40. 41.
608 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAIIRII. § 172
Lebens Hess wenigstens dem Gefühl des Einzelnen Ircicn Spielraum, Goethes
Beispiel konnte nach zwei Seiten hin die Lyrik zu weiterer Vollendung
reizen: seine Jugenddichtung hatte im Anschluss an das Volkslied einen
freieren, lebhafteren Ausdruck gewonnen; die bedächtige Poesie seiner spaete-
ren Zeit entnahm die Muster der kunstvollen Form, die allgemein menschlichen
Gedanken einem immer weiteren Kreise von Vorbildern und strebte bewusst
der Weltpocsie zu. Die erstcre dieser beiden Richtungen ward in Schwaben
aufgenommen und fortgesetzt und der Kreis von Dichtern, welcher sich hier
bildete, ward auch zuerst' und mit voller Entschiedenheit als eine Dichter-
schule anerkannt, nicht immer zur Freude der Dichter selbst.^ Auch in
Schwaben war allerdings ein älteres Geschlecht der Romantik abgeneigt^
und nur in längerem Kampfe vermochte die Jugend durchzudringen, welche
den Vorwurf der Schwärmerei zurückgab, indem sie ihre Gegner Tlattisten'
nannte.
Das anerkannte Haupt der schwäbischen Schule war Lldwi« Uiilaxd*
und sein Ruhm als Dichter verband sich mit seiner Wirksamkeit als Ge-
lehrter und Politiker. Geboren 1787 zu Tübingen, ist er hier auch gestorben
1862. Seine Jugend fiel in die Rheinbundszeit. 1810 war er in Paris um das
Gerichtsverfahren nach dem code Napoleon kennen zu lernen, beschäftigte sich
aber mehr mit den altfranzoesischen Handschriften und unterschied zuerst
das karolingischc Volksepos in Tiradon von den Erzsehlungen in kurzen
Reimparen über die antike und bretonische Sage.-^ Heimgekehrt, arbeitete
er eine Zeitlang im Justizministerium, und nahm dann als Advocat Teil an
den Verfassungsstreitigkeiten, welche erst 1819 ihren Abschluss fanden. Zur
Feier der Versoehnung dichtete er den Prolog zu Herzog Ernst von Schwa-
ben, wie er vorher in seinen 'Vaterländischen Gedichten' 1817 den Kampf
für die alte Verfassung Würtembergs auch als Dichter geführt hatte. Nach-
dem er 1822 von seineu altdeutschen Studien in seinem 'Walther von der
§ 172. 1) Die schwaebische Eigenart nnd die Verhältnisse jener Zeit schildert F. Vischer,
Kritische Gänge 1, 4 — 78. 2) Vgl. Kerners Gedicht 'Die schwaebisrhe Dichterschnle'.
3) § 162, 52. 4) L. Uhlands Leben aus dessen Nachlass und aus eigener Erinnerung
zusammengestellt von seiner Witwe, Stuttgart 1874. F. Notter, L. U., sein Leben und seine Dich-
tungen, Stuttgart 1863. K. Mayer, L. U., seine Freunds und Zeitgenossen, Stuttgart 1867, IL
Vortreege von W. "Wackernagel: Kl. Sehr. 2, 481; 0. Jahn. Bonn 1863: vgl. auch Treitschke,
Eist, und polit. Aufsätze, Leipzig 1865. H. Fischer, L. U. Eine Studie zu seiner Siecularfeier,
Str. 1887. Dazu die von R. M. "Werner Anz. zur Z. f. d. Alt. 32, 153 fgg. angeführten Schriften.
L. Fränkel, Uhlandbibliographie, Germ. 34, 345 fgg. 5) 'Über das altfranzoesische Epos'
§ 172 SCHWABEN: UHLAND. 609
Vogel weide' eine vorzügliche Probe gegeben hatte, wurde er 1829 zum Pro-
fessor in Tübingen ernannt, legte aber 1832 diese Stelle nieder, weil ihm die
Regierung den Urlaub zur Ständekammer verweigert hatte. 1848 vertrat er
im Frankfurter Parlament die demokratisch-grossdeutsche Partei und beglei-
tete 1849 auch das Rumpfparlament nach Stuttgart, wo es mit Gewalt auf-
geloest wurde. Seitdem lebte er ganz seinen Forschungen, welche ihn zu
häufigen Reisen durch Deutschland veranlassten. 1836 war 'Der Mythus
von Thor' erschienen, 1844 'Alte hoch- und niederdeutsche Yolkslieder, eine
philologisch sorgfältige Ausführung des in 'Des Knaben Wunderhorn' Ange-
strebten; seine feinsinnigen Erlseuterungen dazu sind grossenteils erst aus dem
Nachlass veröffentlicht worden.^
Die Beschäftigung mit der altdeutschen Dichtung hat nun auch Uhlands
eigene Dichterphantasie befruchtet, ja sogar seine Formen, seine Ausdrucks-
weise vielfach bestimmt." Eine Reihe von mittelhochdeutschen Wörtern und
Wendungen ^ sind besonders in seinen älteren, spseter teilweise von ihm selbst
verworfnen Gedichten zu finden. Für die innere Form, für die Auffassungs-
und Darstellungsweise der Gegenstände der Dichtung ist von besonderer
Wichtigkeit ein Aufsatz Uhlands, welchen er 1807 in dem 'Sonntagsblatt',
einer geschriebenen Studentenzeitung, niederlegte.^ An Schelhng erinnernd
sagt er: 'Das mystische Erscheinen unseres tiefsten Gemütes im Bilde, das
Hervortreten der Weltgeister, die Menschwerdung des Göttlichen, mit einem
Worte: das Ahnen des Unendlichen in den Anschauungen ist das Roman-
tische'. Er weist nach, wie dieser Zug den nordischen Völkern im Gegensatz
zu den Griechen eigen ist, wie die Äusserungen dieses Zuges die Rehgiositset,
Minne und Tapferkeit der Ritterwelt sind. 'Es gibt romantische Charactere,
d. h. solche, die der romantische Glaube ganz ergriffen hat und Motiv ihrer
Gesinnungen und Handlungen wird: Mönche, Nonnen, Kreuzritter, Ritter
des Grals usw. Auch die Natur hat ihre Romantik : Blumen , Regen-
bogen, Morgen- und Abendrot, Wolkenbilder, Mondnacht, Gebirge, Stroeme,
Klüfte usw. lassen uns teils in lieblichen Bildern einen zarten, geheimen Sinn
ahnen, teils erfüllen sie uns mit wunderbarem Schauer . . Die Romantik ist
in Fouques Musen 1812. 6) L. U. Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage,
Stuttgart 1865 — 73, VIII. 7) R. Fasold, Altdeutsche und dialectische Anklänge nebst
Verzeichnis der Uhlandlitteratur: Herrigs Archiv 1884, LXXII: G. Hassenstein, L. U. Seine
Darstellung der Volksdichtung und das Volkstümliche in seinen Gedichten, Leipzig 1887.
8) Zwier, Turnei, Wat 'Kleid' usw. Auch die auffallende Symmetrie in manchen Zahlen-
verhältnissen , ist der alten Dichtung abgesehen. 9) Bei Jahn (Anm. 4) S. 135.
niO NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAHRII. § 172
nicht bloss ein phantastischer Walin des Mittelalters; sie ist hohe, ewige Poesie,
die im Bilde darstellt, was Worte dürftig oder nimmer aussprechen'.
Dieses rege und feine Gefühl für die Stimmung der Natur spricht sich
in Uhlands Liedern '" mannigfaltig aus mit einer Einfachheit der Mittel,
welche an Goethe erinnert:" besonders dessen 1804 erschienene Gedichte'^
haben Uhland angeregt. Es ist das Leben und Weben der Natur selbst,
was sein 'Frühlingsglaube' wiedergibt; sein 'A})fclbaum' führt mit kindlicher
Einfalt und zugleich mit »usserster Sauberkeit der Zeichnung ein Bild der
allspendenden vor. In andern Liedern sind die allgemein menschlichen Em-
pfindungen auf Figuren aus dem Volk, aus der Jugend übertragen: '2« 'Des
Knaben Berglied, Schiefers Sonntagslied'. Gerade diese Lieder haben die
schoenste Composition durch Kreutzer, Silcher, Mendelssohn, Schubert erfah-
ren und Ludwig Richter zu sinnverwandter Illustration veranlasst. Am tief-
sten mag ins Volk gedrungen sein das Lied vom guten Kameraden, das den
Ernst und die Treue des deutsclien Soldaten unübertrefflich ausspricht.
Persoenhcher sind natürlich Uhlands Liebeslicder, auch sie der tiefsten
und reinsten Empfindung voll: von dem ersten Wunsche des schüchtern
Liebenden an, der die Geliebte nicht anzusprechen wagt, bis die tsegliche
Begegnung ihn der Gegenliebe versichert, und endlich die beiden Hand in
Hand sitzen und schweigend sich ihres Glückes freuen. Mag der Dichter
hier auf seine eigene Schweigsamkeit schalkhaft hindeuten, so steht ihm auch
sonst ein muntrer Scherz zu. Das Gedicht von 'Unstern, diesem guten Jun-
gen' verfasste er zu einer Zeit als er, im Vaterlande aussichtslos, vergeblich
auch anderswo nach einem Unterkommen ausschaute.'* Besonders in den
litterarischen Kämpfen spottet er gern über die Feinde seiner Dichtung'* und
wendet gegen sie gerade die von ihnen verpoenten romantischen Formen, das
Sonett und die Glosse. Auch in den politischen Gedichten klingt die Ironie
gern vor, doch greift er hier ebenso eindringlich zum hohen Ernst. '^
Fast noch mehr aber beruht Uhlands Ruhm auf seinen erzsehlenden
Gedichten im Volkston, auf seinen Balladen und Romanzen."' Hier führt er
jene romantischen Ideale der Religiositaet , der Minne und der Tapferkeit in
Gestalten der Sage oder der Geschichte verkörpert vor, mit vorzüglicher
Anpassung von Ausdruck und Versmass an die Zeit oder Heimat des Helden:
10) LB. 2, 1447. 11) F. Sintenis, Gcpthes Einfluss auf Uhland, Dorpat 1871. 12) im
Taschenbuch von Wieland. 12a) Mimische Dichtung nennt dies "Wackernagel aaO. 496.
13) LB. 2, 1479. 14) LB. 2, 1451. Frühliogslied des Kecensenten, 1453 der Recensent.
15) '"Wenn heut ein Geist herniederstiege' am 18. Oct. 1816. 16) LB. 2, 1457.
§ 172 IJHLAND. Gll
spanische Trochseen mit Assonanz, Nibelungenstrophen, kurze Reimpare ent-
sprechen jedes Mal genau dem Inhalt. Zwei Gebiete bevorzugt er beson-
ders: einmal die franzoesische Sage, namentlich die von Karl dem Grossen.
Als er von Paris zurückkehrte, hatte er die Absicht, ein 'Maerchenbuch des
Koenigs von Frankreich' zu schreiben, in welchem bei einem Hoffeste Ver-
treter sämtlicher Provinzen ihre schoensten Sagen erzsehlen sollten. Zweitens
aber die Sagen seiner engeren, der schwäbischen Heimat. Am ausführlich-
sten hat Uhland die Geschichte Eberhards des Greiners dargestellt, nicht
ohne durch den genauen Anschluss an die Quellen ^^ sich zu einer gewissen
Trockenheit verführen zu lassen. An die kurzen erzsehlenden Gedichte schliesst
sich endlich die freilich Fragment gebliebene Epopoee 'Fortunat und seine
Seehne' an, in Stanzen und mit einer Ariost nachgeahmten ironischen, selbst
mutwilligen Behandlung.
Historisch sind nun auch die zwei vollendeten Dramen Uhlands: denn
eine grosse Anzahl von Entwürfen sind nur bis zur Ausarbeitung einzelner
Scenen gediehen, ^^ wobei teilweise die Nachahmung des spanischen Dramas
ersichtlich ist. Vollendet und aufgeführt wurden 'Herzog Ernst von Schwa-
ben' 1818, und 'Ludwig der Baier' 1819. Beide feiern die Treue: das
Trauerspiel die Freundestreue, welche den Gefsehrten auch nicht um den
Preis der eigenen Rettung verlassen will; das Schauspiel die Vertragstreue,
durch welche auch politische Gegner im Wettbewerb um die hoechste Gewalt
verscehnt und verbunden werden. Allerdings ist die Treue , die sich mehr
im Leiden bewahrt, kein dramatisch wirksames Motiv. Dazu kommt, dass
Uhland die Liebe wohl stark, aber nicht leidenschaftlich darstellt, dass er
historische Anecdoten benutzt, die nur komisch wirken können, ^^ endlich dass
er lange Erzsehlungen einflicht, auch da wo die handelnden Personen über
das Geschehene schon unterrichtet sein müssten.^" So haben Uhlands Dramen
sich nur etwa als Schuldramen erhalten, wsehrend seine Lyrik sich mehr und
mehr neben der Goethes^' ihre Stelle errungen hat. Uhlands Gedichte, 1815
17) Eichholtz, Uhlands schwsebische Balladen auf ihre Quellen zurückgeführt, Berlin 1873;
ders., Quellenstudien zu Uhlands Balladen, Berlin 1879. 18) A. v. Keller, Uhland als
Dramatiker mit Benutzung des hslichen Nachlasses, Stuttgart 1877. 19) So in 'Ludwig
der Baier' die zwei Eier des braven Schweppermann ; selbst die Sage, dass ein fahrender
Schüler den Herzog Friedrich auf Trausnitz in einem Zaubermantel habe entführen wollen.
20) So in 'Herzog Ernst' die an sich schoene Erzsehlung von der Koenigswahl Konrads des Saliers.
Überdies waltet in diesen Erzsehlungen das epische Element auch darin vor, dass allzu oft Satz-
und Versende zusammenfallen. 21) Goethe selbst urteilte, aiis politischer Verstimmung,
ungünstig über Uhland: Gespr. mit Eckermann, 21. Oct. 1823, und Brief an Zelter 4. Oct. 1831.
612 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAIUtH. § 172
zueret erschienen, liiil)cn seit 1830 sicli in immer zahlreicheren Auflap^en
wiederholt. Er seihst war seit 1819 fast als Dichter verstummt, da er nur
aus innerem Drange singen wollte.
Sehr verschieden von Uhland, aber durch lebenslange Freundschalt
innig mit ihm verbunden, war Justini'« Kerxkr. Wa'hrend Uhland die
Romantik und zwar je länger je mehr in die historische Khirheit überführte,
tauchte Kerner sie noch tiefer als selbst Arnim und Brentano in Phantasie
und Schwärmerei; ja was bei diesen noch vielfach beabsichtigt und gesucht
erschien, geht bei ihm aus der innersten Natur hervor, aus einem Hang zur
Schwermut, welcher ausrufen konnte : 'Schmerz ist Grundton der Natur.' Da-
mit verbindet Kerner einen tollen, aber harmlosen Humor. Schon die Jugend-
eindrücke stimmten ihn hierzu, welche er als 'Das Bilderbuch meiner Knaben-
zeif beschrieben hat.-- 1781 zu Ludwigsburg geboren, stammte er aus einer
Bcamtenfamilie, welche damals und später wieder hoehere Stellungen ein-
nahm. Sein Vater hinterliess jedoch die Familie in bedrängten Verhältnissen.
Justinus war erst bei einem Schreiner, dann bei einem Kaufmann in der
Lehre, ehe er studieren durfte. Damals lernte er Varnhagen, in Berlin auch
Fouque und Chamisso kennen. Als Arzt in Staatsdiensten lebte er zu Wild-
bad, seit 1818 bis zu seinem Tod 1862 in Weinsberg, wo er auf Burg
Weibertreu sein Haus baute und eine rege Gastlichkeit-^ übte. Hier ergab
er sich den Studien über die Geisterwelt , über Magnetismus und Som-
nambulismus,23a welche ihm eine freilich nicht unbedenkliche Berühmtheit
verschafften. Seltsam war auch Kerners dichterische Erstlingsschrift 'Reise-
schatten von dem Schattenspieler Luchs' 1811,^* eine als Reiseschildorung
zusammengefasste Reihe von wunderlichen Bildern grossenteils satirischer Art,
gegen die Feinde der Romantik gerichtet. Ein Schattenspiel gibt in Tiecks
Art das Volksbuch von Schildeis wieder; ein anderes führt ein Ludwigs-
burger Original vor, 'Der Totengrfeber auf dem Feldberg', welcher bei dem Ver-
such, eine Flugmaschine zu erfinden, unglücklich endet:" das beste sind
Kerners eingelegte Lieder und Mserchen, welche von Andern für echt volks-
tümlich gehalten werden konnten. Seine Romanzen naeheren sich teilweise
22) Braanschweig 1849, »1886. 23) Geistreich geschildert von D. F. Strangs 'Zwei
friedliche Blätter', Ältona 1839: spaeter von Aime Reinhard, J. Kerner und das Kernerhaus,
Tübingen 1862, »1886; von Kerners Tochter Marie Niethammer, J. Kerners Jugendliebe und
mein Vaterhaus, Stuttgart 1877. Theob. Kerner, Das Kernerhaus und seine Gäste, Stuttg.,
Lpz., Berl., Wien 1894. 23a) 'Die Seherin von Prevorst', Stuttg. u. Tüb. 1829, 'Geschichte
Besessener neuerer Zeit", Karlsruhe 1834. 24) Karlsruhe, LB. 3, 1427 fgg. 25) Der
§ 172 KERNER. SCHWAB. 613
durch Klarheit und Heiterkeit denen Uhlands: Der Geiger von Gmünd, ^"^
Die Würtemberger Sagep^ andere wieder sind voll düsterer Romantik, so
'Die vier wahnsinnigen Brüder'.^^ Glücklicher noch ist Kerner in seinen Lie-
dern,^^ welche zwar viel Verschwommenes zeigen, aber gelegentlich durch
die Tiefe der Wehmut oder durch ihre jubelnde Freude hinreissen.^" Diese
Lieder brachte zum Teil schon Kerners Poetischer Almanach für 1812', wo
zuerst die schwsebischen Dichter mit ihren norddeutschen Freunden zusammen
hervortraten.^'
Von den Freunden Uhlands steht von Kerner am fernsten Gustav
Schwab,^- dem die Klarheit Uhlands, aber nicht die Tiefe seines Gefühles
gegeben war. Zu Stuttgart 1792 geboren, starb er ebenda 1850. Er hatte
Theologie studiert, widmete sich aber meist dem Unterricht. Verschiedene
Reisen, so 1815 nach Norddeutschland, wo er von Fouque freundlich aufge-
nommen wurde, 1827 nach Paris, machten ihn mit vielen bedeutenden Zeit-
genossen bekannt; er selbst nahm wiederum in Stuttgart jüngere Dichter
gastfreundlich auf. Freiligrath und Lenau wurden von ihm in die Litteratur
eingeführt, wozu ihm die Redaction des Morgenblattes 1827 — 37, dann die
des Musenalmanachs, den er mit Chamisso 1833 — 38 herausgab,^-' die beste
Gelegenheit bot. Schwab hat die Gedichte Hauffs und W. Müllers gesam-
melt; er hat alte Volksbücher erneut und namentUch aus dem Franzoesischen
vortrefflich übersetzt. Immer formgewandt, aber freilich zuweilen am Ausser-
lichen haftend, zeigt er sich in seinen eigenen Gedichten, welche zuerst
1828. 29 erschienen."* Seine erzaehlenden Dichtungen vereinigte er gern zu
groesseren Sammlungen, indem er die Sagen der von ihm durchwanderten
Gegenden zusammenfasste : besonders gelang ihm 'Der Bodensee' 1827.^"
Dumpfe, ahnungsvolle Schauer gibt 'Das Gewitter' vortrefflich wieder. ^"^
Unter Schwabs Schülern erscheinen zwei auch durch ihren frühen Tod
mit einander verbunden, wenn auch an Talent und Character sehr verschie-
Spuk auf dem Kirchhof ist spseter von Heine nachgeahmt worden. 26) LB. 2, 1501.
27) 'Preisend mit viel schoenen Reden', LB. 2, 1501. 28) LB. 2, 1497. 29) LB.
2, 1493 fgg. 30) 'Wohlauf noch getrunken den funkelnden Wein!' 31) Daran
8chlo88 sich 'Deutscher Dichterwald', Tübingen 1813. 32) Karl Klüpfel, Gustav Schwab,
sein Leben und Wirken, Leipzig 18.58. Gr. Schwabs Leben, erzsehlt von seinem Sohne Ch.
Th. Schwab, Freiburg i. Br. und Tübingen 1883. 33) Nur 1837 setzte er aus, weil
dem 31u8enalmanach ein Porträt Heines beigegeben wurde, der eben Schwabs Freunde ge-
hässig geschmseht hatte. 34) Stuttgart, II. Zuletzt eine vollständige Ausgabe bei
Reclam in Leipzig (1881). Schwabs Ausgewsehlte prosaische Schriften gab Klüpfel, Freiburg
u. Tübingen 1882, heraus. 35) Daraus Einiges LB. 2. 1503 fgg. 36) LB. 2, 1528.
614 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAHKH. § 172
den: Wilhelm Haiff und Wiliiklm Waiiilin(jek. Hauff', 1802 zu Stutt-
gart geboren, starb bereits 1827. Seine ersten Erzirhlungen sammelte er als
'Mrerchonalmanach auf das Jalir 1826';''' in diesem Jahre noch folgten die
'Mitteilungen aus den Memoiren des Satan', eine Nacliahmung A. Hoffmanna,
und 'Der Mann im Mond', eine Parodie Claurens, endlich der Iloman 'Lichten-
stein', worin er die Erzruhlungsweise W. Scotts vortrefflich auf die schwsD-
bische Heimat übertrug. Die wirtembergische Geschichte bot ihm auch den
Stoff zu mehreren Novellen, die 1828 gesammelt erschienen. Studenten-
erinnerungen und Iloffmannschen Gespensterspuk verband er in den 'Phantasien
im Bremer Ratskeller' 1827. In seinen Soldatenliedern^'' traf er den Volkston
vorzüglich; sie sind wirklich in das Volk übergegangen.^*
Durfte von Hauff noch eine weitere glückliche Entwickelung erwartet
werden, so hatte Waiblinger, als er 26ja'hrig zu Rom starb,*" sich bereits
erschöpft, ohne dass die grossen Hoffnungen, die er selbst von sich hegte,
sich irgendwie gerechtfertigt hätten. Er war früh in Ausschweifungen ge-
fallen und stand in Gefahr, durch hastige Schriftstellerei sein Talent gänzlich
zu verderben. Schwab erwirkte, dass er nach Italien reisen konnte, wo
Platen und Kopisch ihm freundlich entgegen kamen, ohne ihn jedoch retten
zu können. Waiblingers Anfänge knüpften an Hölderlins Hyperion; doch
zeigte sein 'Phaethon' 1823 nicht entfernt die gleiche Durchdringung des alt-
griechischen Lebens und Denkens. In Italien schilderte er mit starker Über-
treibung Land und Leute, 'Die Briten in Rom' bitter verhoehnend. Seine
lyrischen Gedichte benutzen antike Formen und wissen freilich den Sinnen-
taumel wie die todesraüde Abspannung treffend auszudrücken. Er glaubte
sich besonders zum Dramatiker berufen, aber seine 'Anna Bullen' bewsehrte
dies nicht.
Den Ruhm der schwaebischen Dichtung erneuerte dagegen, wenn auch
bei seinem Auftreten in der Zeit der Tendenzpoesie fast übersehen,'*"* Eduard
McERiKE, ein Universitaetsfreund AVaiblingers.*' Geboren zu Ludwigsburg 1804,
37) Zu Stuttgart, wie auch die folgenden Schriften. 38) 'Steh ich in finstrer Mitter-
nacht' und 'Morgenrot': letzteres mit Benutzung von Strophen, die his auf Günther zurück-
führen, § 147, 9. 39) 'Sämtliche Schriften' mit Vorwort von G. Schwab, Stuttgart
1830. 31, XXXVI, uö. Sämtl. Werke mit biogr. Einl. von H. Fischer, Stuttgart 1885,
VI; Sämtl. Werke mit Biogr. von W. Bölsche, Leipzig 1888. 89, V; Sämtl. Werke mit
biogr. Einl. von A. Weile, Berlin o. J. V. 40) Seine Jugend hat er selbst beschrieben;
seine italienische Zeit H. v. Canitz, der Herausgeber seiner Gesammelten Werke, Hamburg
1839. 40, IX. 40 a) F. Th. Vischer, Krit. Gänge 2, 216 fgg. 41) Er gab dessen
§ 172 HAUFF. WAIBLINGER. MCERIKE. 615
lebte er als Pfarrer zu Clevcrsulzbach in der Na^lie von Heilbronn 1834 — 43,
dann bis 1875 zu Stuttgart, wo er 1851 — 66 am Katharinenstift Unterricht
erteilte. Moeriice trat 1832 ^^ hervor mit dem Roman 'Maler Nolten', worin
auf Grund von allerdings anfechtbaren Yoraussetzungen ein erst liebliches,
dann erschütterndes Bild der Liebe zweier befreundeter Künstler zu einem
Naturkinde vorgeführt wird. Seltsam wird am Schluss alles Unheil aus dem
Fluche eines Zigeunermsedchens abgeleitet, dem der Maler die Treue gebrochen
hat. An Kerner erinnert ein eingelegtes Schattenspiel 'Der letzte Koenig von
Orplid'. Moerikes spaätere Prosaerzsehlungen sind meist Maerchen, wie 'Das
Stuttgarter Hutzelmännlein', stellenweise in der Mundart *^ oder mit altertüm-
lichen Wendungen geschrieben 5 am Schluss steht die Novelle 'Mozart auf der
Reise nach Prag' 1856, welche den genialen, fi-ohsinnigen, herzensguten Meister
vortrefflich vorführt. Andere Erzsehlungen sind in Yersen abgefasst, in Hexa-
metern die Idylle vom Bodensee, 'Meister Martin und die Glockendiebe' 1846;
in Hans Sachsischen Reimen 'Der alte Thurmhahn', die schoenste Beschrei-
bung eines friedlichen Pfarrhauses. Die Lieder Moerikes erschienen zum
Teil schon in Maler Nolten, dann 1838 für sich: herrliche Naturbilder; bald
neckische, bald ergreifende Schilderungen des Msedchenherzens ; Romanzen
über stets von dem Dichter selbst erfundene Stoffe; endlich auch Gelegen-
heitsgedichte voller Liebe und Poesie. Das Ganze ist doch nur ein dünner
Band.
Neben den schwsebischen Dichtern von besonderer Eigenart stehen
andere, welche die Weise jener fortführen. Als Dramatiker versuchten sich,
doch ohne dauernden Erfolg, Ludw^ig Bauer *^ und Friedrich Notter,"*^
beide Freunde Mcerikes; die Lyrik ward mehr von einigen selteren Dichtern
gepflegt, so von Karl Mayer *'' und den Brüdern Gustav und Paul Pfizer.*^
'Gedichte' heraus, Hamburg 1844. 42) Zu Stuttgart, wie auch die folgenden Schriften.
Moerikes Gesammelte Schriften mit einer Einleitung von J. Klaiber, Stuttgart 1878.
43) So besonders in der 'Historie von der schoenen Lau' d. h. der Nixe des Blautopfs bei
Blaubeuern, wozu M. v. Schwind Illustrationen beisteuerte; den Briefwechsel des Dichters
und des Malers hat Bijechtold, Stuttgart 1891, herausgegeben. Von demselben 'Briefwechsel
zwischen H. Kurz und E. Moerike', Stuttgart 1885 und 'Briefe zwischen Th. Storm und
Moerike', D. Rundschau 58, 41. 44) Geb. 1803 zu Orendelsall bei Öhringen, gest.
1846 zu Stuttgart. Seine 'Schriften' wurden in Auswahl von seinen Freunden herausge-
geben, St. 1847 ; darin 'Alexander der Grosse', der schon 1836 erschienen war. 45) Geb.
1801 in Ludwigsburg, gest. 1884 in Stuttgart; vgl. J. E. v. Günthert, Moerike und Notter,
Berlin und Stuttgart (1885). Notter dichtete 'die Johanniter'. 46) Anm. 4. 47) Geb.
1801 zu Stuttgart, gest. 1867 zu Tübingen ; 1848 Märzminister. Über P. Pfizer s. besonders
616 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAIIRII. § 172
Der letztgenannte hat 1831 in seinem Briefwechsel zweier Deutscher" der
Philosophie Hegels und ihrer Zufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen*'^
die Poesie und die Sehnsucht nach der Herstellung der deutschen Einheit
gegenübergestellt und Preussens Beruf dazu in schwungvoller Dichtung aus-
gesprochen.
Wie hier politisch-nationale Gedanken durch einen schwajbischen Dichter
laut wurden, so fand sich in Schwaben auch für die Neubelebung des geist-
lichen Liedes*^' Sinn und Talent. Mit G. Schwab war Albert Knapp be-
freundet, welcher 1798 zu Alpirsbach geboren, 1864 zu Stuttgart starb. Seine
zahlreichen Christlichen Gedichte' erschienen zuerst 1829 gesammelt;*" auch
den Hohenstaufen widmete er einen epischen Cyclus,"" 1839. Ihm schloss
sich Friedrich Karl von Gerok^°* an, welcher 1815 zu Vaihingen geboren,
seit 1868 Prselat, 1890 in Stuttgart starb: seine 'Palmblätter' erschienen zuerst
1857. Beiden gesellten sich auch sonst in Deutschland verwandte Dichter
zu: in Hannover Karl Johann Philipp Spitta,^' geb. 1801, gest. zu Burg-
dorf 1859, dessen Sammlung Psalter und Harfe', zuerst Pirna 1833 , einen
weicheren Ton zeigt; und, etwas jünger, in Köstritz bei Gera Julius K. R.
Sturm, dessen Gedichte zuerst 1850 erschienen. Sturm gab seit 1874 ein
'Jahrbuch religioeser Poesien' heraus und dichtete auch Fabeln. -^^ Hierin und
als geistlicher Liederdichter war ihm ein Schweizer vorangegangen, Abraham
Emmanuel Fröhlich, geb. 1796 in Brugg, gest. 1865 zu Gebensdorf im
Aargau. Seine 'Hundert neue Fabeln' waren in Zürich 1825 erschienen ; '^^
der epischen Erztehlung der schwaebischen Dichter schloss er sich mit den in
Nibelungenstrophen verfassten Lebensschilderungen der Reformatoren: 'U.
Zwingli' 1840, 'J. Calvin' 1864 und mit 'Ulrich von Hütten' 1845 an.
W. Lang, Von und aus Schwaben, I, Stuttgart 1885. Gustav Pa2er lebte 1807—1889: er
neigte mehr zur lehrhaften Reflexionspoesie. 48) Diese Briefe rühren von J. Notter
her, Anm. 44. 48a) 0. Wetzstein, Die religioese Lyrik der Deutschen im 19. Jahr-
hundert. Nenstrelitz 1891. 49) Zu Basel. Daraus LB. 2, 1785. Eine Sammlung
älterer Lieder veröffentlichte er als 'Evangelischer Liederschatz für Kirche und Haus' 1837
uö. und vereinigte die Beitrsege der Zeitgenossen in seiner 'Christoterpe' 1832 — 53. Vgl.
A. Knapp, Eigene Aufzeichnungen, fortgeführt Von seinem Sohne Joseph K., 1867.
50) LB. 2, 1793. 50a) H. Mosapp, K. Gerok, Stuttgart 1890. 51) K. K. Münkel,
K. J. P. Spitta, ein Lebensbild, Leipzig 1861; und die 1870 zu Gotha erschienene
Ausgabe von Ps. u. Harfe. 52) Neues Fabelbuch, Leipzig 1881. Nur für Kinder,
aber für diese ganz vorzüglich geeignete Fabeln dichtete .Johann Wilhelm Hey,
Pfarrer im Herzogtum Gotha (1789 — 1854); seine 'Fünfzig Fabeln für Kinder' erschienen
zuerst 1833: vgl. F. Hauseii, W. Hey, Gotha 188G. 53) LB. 2, 1767.
§ 172 GEISTLICHE LIEDERDICHTU^G. 617
Auf katholischer Seite sprach sich das religioese Gefühl weniger in der
Form des Liedes als in betrachtender Dichtung aus, in welcher Annette
Elisabeth von Droste-Hülshoff^^ Vorzügliches leistete. Geboren in der
Is^he von Münster 1797, starb sie 1848 bei ihrem Schwager Jos v Lass-
berg zu Meersburg. ^^ Ihre Gedichte, zuerst zu Münster 1837 erschienen geben
meist landschaftliche Eindrücke oder sagenhafte Überlieferungen ihrer west
feilschen Heimat mit kräftigen Farben, aber nicht immer leichtverständlicher
Darstellung wieder. Nach ihrem Tod erschien ihr 'Geistliches Jahr' Stutt-
gart 18ol, eme dichterische Verherrlichung der katholischen Jahresfeste und
der Sonntage in wechselnden Strophen, innig und nicht unbeeinflusst durch
die Freundschaft, welche sie mit Protestanten, so auch mit den schwäbischen
Dichtern verband.^®
^ Doch das Vorbild der schwa3bischen Dichterschule wirkte insbesondere
m der Balladen- und Romanzendichtung ^^ nach allen deutschen Landschaften
hin. In Oesterreich waren Joh. Gabriel Seidl^« und Joh. Nepomuk Vocl'«
auf diesem Gebiete besonders thsetig, in Boehmen Karl Egon Ebert '>'> in
Thüringen Adolf Bube«' und Ludwig Bechstein,«^ am unteren Rhein Karl
&iMR0CK,«=^ im Elsass die Brüder August und Adolf Stceber.«^
54) Levin Schückiug, Annette v. Droste-Hülshoff, Hannover 1862; von demselben eine
Gesamtausgabe ihrer Schriften, Stuttgart 1879, III. Eine andere von W. Kreiten, Paderborn
l«öd, der auch ihr Leben beschrieb, Münster 1886. Vgl. auch H. Hüffer A v D -H und
Ihre Werke, Gotha 1887. Ihre Briefe erschienen zu Münster 1877. Briefe von A v D -H
und L Schücking 1893^ 55) § 167, 7. 56) K. Budde, Preuss. Jahrb. 69 ■(1892)'
fw T. l ^ '"'' ^°'''' ^''^' I^^^t^^hlands Romanzen- und Balladen-Dichter
Wurzburg und Karlsi-uhe 1864-73, III. 58) Aus Wien, 1804-75 Beamter am
Munzcabinet. Mit Grün und Lenau befreundet. Auch Dialectdichter: Flinserln 18-^8-38 IV
BeTmr ^B^f TT ''''"''' ""'■ '^^ ^^^ ^^^^'^' l«Ö2-66, land'ständis'che,:
B am er: Balladen und Romanzen 1835. 60) Aus Prag, 1801-82, Fürstenbergischer
Maegdekneg im. tschechischen Sinn: noch mehr verherrlicht diese nationalen Erinneren
Bi-et.slaw und Jutta, Prag 1835. 61) Aus Gotha, 1802-73, Archivrat. 'Romanfen
und Balladen, Gotha 1850. 62) Geb. 1801 zu Weimar, gest 1860 zu Meinin.en als
fs ^3^^Tv'^^''^'*«^^^ '""l' ''''^'''''' '-' '^' '^^^-^-- '- Thüriiilerde
Deutsches Heldenbuch, Stuttgart 1843-50, VI. Diese und andere Übersetzungen Simrocks
haben d.eKenutn.s der altdeutschen Dichtungen erheblich ausgebreitet; die der Nibelungen
1827 erwirkte auch G«thes Beifall. 64) Beide Brüder waren zu Strassburg .eboren
nL t^V^ n"" '™ ^'''"= ^"='^^' ^'^^^«^^ "^'- ^--siallehrer, Adolf
Uöxu-y.) ftarrer. Des ersteren Gedichte erschienen zuerst Strassburg 184-? die Adolfs
Hannover 1845. ^Str. 1893. ^ '
618 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAIIRII. § 173
§ 173.
Dem ausgedehnten, aber durch persoenliche Beziehungen innig ver-
bundenen Kreise der schwäbischen Schule stehen in Frauken zwei Dichter
gegenüber, welche weniger durch Freundschaft als durch gemeinsame Ziele
zusammen gehalten wurden. Es war das Vorbild der spseteren, der orien-
talischen Lyrik Goethes, welches hier nachgeahmt wurde ; Beschaulichkeit und
Gedankentülle ward für den Inhalt erstrebt, für die Form Zierlichkeit und
Manigfaltigkeit im Anschluss an die fremden Muster. Freilich konnte das
Abgleiten in das Künstliche und Spielende nicht immer vermieden werden,
um 80 weniger als, wie bei dem alternden Goethe, so auch bei seinen Nach-
ahmern die Gelegenheitspoesie sich hervordrängte und die leichtgewordene
Kunst die Versuchung nahe brachte, auch geringfügigen Anlässen durch Er-
füllung von ungewöhnlichen Bedingungen einen eigenen Heiz zu verleihen.
Von den beiden fränkischen Dichtern war Friedrich Rückert ' zu
Schweinfurt geboren 1788, verlebte aber seine Jugend auf dem Lande, da
sein Vater als Amtmann seine Stelle mehrmals wechselte. Das freie Leben
in der anmutigen Natur seiner Heimat hat dem Dichter den Drang nach
Unabhängigkeit dauernd eingepflanzt. Nachdem er die Rechte studiert, ha-
biUtierte er sich 1811 in Jena für Philologie-, welche für ihn das Studium
der Sprache und Litteratur aller Völker war. Aber weder in Jena noch am
Gymnasium zu Hanau, wo er 1813 eintrat, hielt er aus. Aus der Verein-
samung und Verbitterung riss ihn der Beifall zweier vorzüglicher Männer,'
des Superintendenten Hohnbaum in Rodach und des Freiherrn Truchsess von
Bettenburg bei Ilasfurt. Beiden dankte er für ihre gastliche Aufnahme
durch seine Dichtungen, dem ersteren durch die Idylle 'Rodach'. Truchsess
machte ihn mit dem Freiherrn von "Wangenheim bekannt, welcher in Württem-
berg als Minister die neue Verfassung gegen Uhland und seine Freunde durch-
§ 173. 1) Heinrich Rückert, Erinnerungen an F. Rückert (H. R. Kleinere Schriften, "Weimar
1877, 2, 275 — 346). C. Beyer, Rückerts Leben und Dichtungen, Coburg 1866; ders. F. Rückert,
ein biographisches Denkmal, Frankfurt 1868: ders. Neue Mitteilungen über F. Rückert, Leipzig
1873; Nachgelassene Gedichte F. Rückerts und ne^e Beitrage zu dessen Leben und Schriften,
Wien 1877. C. Fortlage, F. R. und seine AVerke, Frankfurt a. 'il. 1867. Boxberger, Rückert-
studien, Gotha 1878. B. Suphan, F. R., "Weimar 1888. F. Muncker, F. R., Bamberg 18fK).
2) Seine Dissertation de idea philologice sprach, im Anschluss an F. Schlegels Sprache und
Weisheit der Inder bereits die Lebensaufgabe Rückerts aus : Philölogia est humanitatis in
verho cognitio. Begreiflich, dass die Professoren der classischen Philologie bei der Dispu-
tation ihm hart zusetzten: aber in Bezuor auf schlagfertigen Witz war er ihnen mehr als
gewachsen. 3) C. Kühner, Dichter Patriarch und Ritter, Wahrheit zu Rückerts Dich-
§ 173 FRANKEN: RÜCKERT. 619
zusetzen suchte. Rücker t übernahm 1816 in Stuttgart die Redaction des
Morgenblatts/ zog aber schon 1817 nach Italien, wo er im Kreise der ro-
mantisierenden Künstler lebte. Nachdem er 1818 in Wien den Unterricht
des Orientalisten Hammer-Purgstall empfangen, Hess er sich in Coburg nieder.
1826 ward er als Professor der orientalischen Sprachen nach Erlangen be-
rufen,'' 1841 nach Berlin, wo er nur im Winter lesen sollte, wsehrend er den
Sommer auf seinem Landgut Neusess bei Coburg zubrachte. In Berlin gefiel
er sich nicht und gab durch bittre Epigramme Anstoss: so siedelte er noch
vor der Revolution 1848 ganz nach Neusess über, wo er einen schoenen, still
thaetigen Lebensabend verlebte. Er starb zu Anfang des J. 1866, nachdem
er noch für Schleswig- Holstein gedichtet hatte." Seine ersten vaterländischen
Gedichte veröffentlichte Rückert unter dem Namen Freimund Raimar:"
'Deutsche Gedichte' 1814,^ darunter ein grosser Teil der Geharnischten
Sonette.^ Rückert hatte die Form, die bisher nur zu liebeschmachtendem
Getändel oder hoechstens zum Preise der Kunst gedient hatte, in der That
in toenendes Erz verwandelt. In der edelsten Sprache geben die Sonette die
tiefsten Bewegungen der Zeit kund : sie lassen erst den Unmut über die
Schmach und den Druck der Fremdherrschaft erklingen, dann den festbe-
schworenen Entschluss der Befreiung, endlich den Jubel und den Stolz der
Sieger, dem der Hinweis auf die schweren Opfer nur einen tieferen, aber
nicht weniger kräftigen Ton verleiht. Nach dieser Stufenfolge gliedern sich
die drei Abteilungen, denen ein Yorklang und ein Nachklang beigegeben ist.
Mit vorzüglicher Kunst sind einzelne Bilder in den Rahmen der Form ge-
fasst, Friedrich der Grosse, der seine Rächer im Jenseits erwartet, Körners
Tod. Nebenher hat Rückert, wie Körner und Arndt, durch volkstümliche
Lieder zu wirken gesucht; doch sprechen diese Lieder, oft Hohnlieder auf
die Feinde und absichtlich nachlässig in der Form,^*^ weniger an, wenn sie
auch die Stimmungen der Zeit selbst mit ihrer Überschwänglichkeit und ihrer
tung, Frankfurt a. M. 1869. 4) Mit Uhland ging er damals einen dichterischen "Wett-
streit in der Art der provenzalischen Tenzone ein. CTUstav Pfizer hat, Stuttgart 1837, die
beiden Dichter kritisch verglichen. 5) F. Reuter, Fr. Rückert in Erlangen und .Jos.
Kopp, nach Farailienpapieren, Hamburg 1888. 6) Auch diese Gedichte sind aufge-
nommen in die Gesamtausgabe 'F. Riickerts gesammelte poetische Werke', Frankf. a. M.
1868. 69, XII. Rückert selbst hatte seine 'Gesammelte Gedichte' zuerst Erlangen 1834 heraus-
gegeben. 7) Spaeter Reimar: ursprünglich hatte er bescheiden sich Reimer nennen
wollen, aber von dem jungen Heinrich Voss den Namen des süssesten aller Minnesänger
empfangen. 8) o. 0. (Heidelberg). 9) Daraus LB. 2, 1559. 10) S}*mons, Zu
Rüekerts Verskunst, I Die Behandlung des Reims, Progr. des Friedrichwerderschen Gymn.
Wackernagel, Litter. Geschichte. II, "11
t'.2U NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAHRH. § 173
Abhängigkeit von kleineren Anlässen zu erkennen geben. Viele dieser Lieder
erschienen als 'Kranz der Zeit' 1817," nun bereits verspantet, ebenso wie die
politische KonKedie Napoleon', 1815. 18, II.'- Inzwischen war der Dichter
von den Kriegsliedern zurückgekehrt zu der ihm besser anstehenden heiteren
und stillen Dichtart. Bereits 1812 hatte er eine grosse Anzahl von Liebes-
gedichten, meist Sonetten, geschrieben. Zuerst erschien'^ 1817 'Agnes, eine
ländliche Todtenfeyer'; dann 1825 '■• 'Ainaryllis': so hatte der Dichter den
Namen der Geliebten, einer Wirtstochter, Marie Lies idealisiert und ihren
Liebreiz ebenso wie die Abweisung seiner ihr unverständlichen poetischen
Huldigungen bittersüss besungen. Kückerts Ileimwehheder' 1816''* gelten
seiner Bewerbung um Friederike Heim. Bedeutender und ein wahres Schatz-
kästlein wahrer und tiefer Liebe ist der 'Liebesfrühling', den er 1821 für
seine spsetere Gattin dichtete:*'' in der beweglichsten kunstreichsten Form
wird der Dichter nicht müde die geheimen Regungen der Herzen auszu-
spüren imd in ihrem Fortgang von der ersten Neigung bis zur innigsten Hin-
gabe zu verfolgen. Auch der neckische Scherz bleibt nicht aus, aber der
Grundton ist das ruhige Glück eines dichterisch bewegten Herzens. Ebenso
lebenswahr schildert Rückert in späteren Gedicliten die Freude an seinen
Kindern. Einem frühverstorbenon Töchterchen sendet er 1834 wehmütige
Gedanken nach, die als 'Kindertodtenlieder' erst aus dem Nachlass veröffent-
licht worden sind. Ganz in seine Frühzeit fallen,'^ für seine kleinen Schwestern
gedichtet, die fünf 'Kindermaihrcheu", vom BcPumchen das andere Blätter hat
gewollt ua. Allein Rückert begnügte sich nicht damit, Gefühle und Verhält-
nisse zu besingen, die an sich schon poetisch sind: die ganze umgebende
Welt, auch das alltfegliche Ereignis wurde wie unwillkürlich ihm Stoff zur
Dichtung.'' Wohl ist das Virtuosentum zu bewundern, welches selbst ge-
ringen und gleichgiltigen Gegenständen durch Witz, durch unerwartete Reim-
verbindung, durch den Triumph über gehäufte Schwierigkeiten der Form
poetischen Wert verleiht. Aber der Dichter schadete durch seine Fülle nur
zu Berlin 1876. 11) Stuttgart und Tübingen.* 12) Der I. Teil 'Napoleon und der
Drache' (die Revolution), II. 'Napoleon und seine Fortuna' (^Josephine). 13) Im
Taschenbuch für Damen. 14) Zu Frankfurt. 15) Im Morgenblatt. 16) Er-
schienen in der Urania für 182;S. LB. 2, 1581. 17) Zuerst im Morgenblatt 1817 ver-
öffentlicht. 18) 'Dass mein Leben ein Gesang, sag' icli's nur, geworden: .Jeder Sturm
und jeder Drang dient ihm zu Accorden. Was mir nicht gesungen ist, Ist mir nicht ge-
lebet; Was noch nicht gelungen ist, Sei noch angestrebet. Von der Welt, die mich um-
ringt, Wüsst' ich unbezwingbar AVcn'gcs nur: die Seele klingt Und die "Welt ist singbar.'
§ 173 RÜCKERT. 621
sich selbst; vergeblich macht er geltend, dass ohne seine weniger gelungenen
Gedichte die besseren und anerkannt guten nicht da sein würden,*" Zu
sichten und zu feilen war seine Sache nicht. Der Kritik setzt er seine Zu-
versicht entgegen, dass man einst von der gepriesenen 'bausbackenen' Poesie
zu seiner schlicht 'hausbackenen' zurückkehren werde. ^"^ In der That hat
er auch unter den Gaben seiner hseusUchen Muse Vieles dargeboten, was
Allgemeingut werden konnte. Vor allem gewaehrte die Natur, in deren vollem
Genuss der Dichter den groessten Teil seines Lebens zubrachte, ihm uner-
schöpflichen Stoff: das Nisten der Voegel, das Flattern der Schmetterlinge,
das Blühen und der Laubfall seiner Bseume, alles betrachtet er mit tief-
sinnendem, liebevollem Geiste und findet darin Bezüge auf das menschliche
Leben. Dem Volksmund dichtet er nach, wenn er das Lied 'Was die
Schwalbe sang' zum Ausdruck der Wehmut des Alters erhebt.-' Hier weiss
er den Lautklang selbst zum Trseger der Stimmung zu machen, wie schon
früher im Ea-iegslied '0 wie ruft die Trommel so laut'!-^ So tragen über-
haupt seine Lieder ihre Melodie in sich und wenn auch manche von ihnen,
namentlich aus dem Liebesfrühling, Musiker wie Schumann, Franz ua. zur
Composition angeregt haben, so hatte der Dichter selbst keine rechte Freude
daran ;-^ zur Illustration war die Gedankenlyrik vollends ungeeignet.
Indem Rückert auf seine Poesie zurückblickte, erkannte er seine Be-
schränkung auf die Lyrik und auf eine bestimmte Art der Lyrik klar
genug.-* Und doch versuchte er sich auch im Drama. Jugenddramen, die
nach Calderons Vorbild Sagen seiner Heimat behandelten, sind zwar nur
durch das Zeugnis seiner Freunde bekannt. Aber in Berlin, wo er glaubte
auf das Theater wirken zu können, dichtete er eine Anzahl historischer
Dramen, welche jedoch weder bühnengerechten Aufbau noch psychologische
Tiefe besitzen, sich vielmehr wesentlich auf lange, an sich schoene Reden be-
schränken. Die meisten Stücke wuchsen ihm denn auch über das Mass
hinaus. Die Stoffe sind teils aus der jüdischen Geschichte entnommen, 'Saul
und David' 1843, 'Herodes der Grosse' 1844, teils aus der deutschen, 'Hein-
P. Werke VII, S. 122. 19) Weisheit des Brahmanen I, 31. 20) P. W. YII, 113.
Solche nur formell poetische Stücke hat er namentlich in seiner Sammlung 'Haus und .Jahr'
1838 und in dem erst aus dem Nachlass 1888 erschienenen 'Poetischen Tagebuch' (1850—66)
vereinigt. 21) LB. 2, 1580. 22) LB. 2, 1565. 23) P. Werke VII. 158. 160.
Beyer, Biogr. Denkmal S. 221 : Lieder und Sprüche aus dem Na-^hlass 1867. 24) 'Greist
genug und Gefühl in tausend einzelnen Liedern Streu' ich wie Duft in den Wind oder wie
Perleu in's Gras. Hätt' ich in einem Gebild es vereinigen können, ich wser' ein Ganzer
622 NEUIIOCHDEUTSOKE ZEIT. XIX JAIIRIF. § 17^
rieh IV in zwei Teilen, 1844; in drei Teile zerfiel 'Criatofero Colombo' 1845.
Von seinen erztühiondon Dichtungen'-' gelangen ihm manche Jialladen und
Romanzen, denen seine schmucklose, fliessende Sprache ebenso den Character
ruhiger Betrachtung gab, wie er den Legenden und Parabeln von ihrem Ur-
sprung her eigen war. Epische Dichtung in grocsserem Umfang unternahm
Kückert nur als Übersetzer und als solcher hat er neben Herder, Voss und
A. W. Schlegel sich einen dauernden Namen erworben.-*' Auch die künst-
lichste Form war ihm gerecht; freilich musste sich die deutsche Sprache hier
wie in seinen eigenen Gedichten Vieles gefallen lassen, nichts jedoch, was
geradezu unverständlich oder unschocn hätte hei.ssen können. Wortbrechungen
durch den Vers, so dass der erste Teil eines Compositums reimt, neue Wort-
bildungen und Zusammensetzungen, ungewadinliche Wortstellungen, alles weiss
er kühn und geschickt in Anwendung zu bringen. Altdeutsche oder mund-
artliche Wörter, neue Übersetzungen fremder Ausdrücke finden sich hteufig,
jedoch mit richtigem Gefühl für die Angemessenheit im einzelnen Gedichte
oder an der einzelnen Stelle.^'
Rückerts Übersetzungen beginnen mit dem altenglischen Gedicht Horn-
child, welches er 1818 in die Nibclungenstrophe mit den Wendungen der
älteren Sprache übertrug und dem Sänger des Richard La^wenherz, Blondel,
in den Mund legte. Dann aber wandte er sich dem Orient zu und dichtete
Ghaselen, meist Liebes- und Zechlieder im Sinn des Hafis: 'Ostliche Rosen'
1822.^** Weit wichtiger jedoch und geradezu der groesste Beweis seines Nach-
bildungstalentes sind die seit 1826 erschienenen 'Verwandlungen des Abu
Seid von Serug oder die Makamen des Hariri'.-^ In einer fortlaufenden Kette
von Reimzeilen, welche zuweilen durch künstlichere Masse durchbrochen sind,
werden die Streiche des Abu Seid erzaehlt, der an allen moeglichen Orten
lind in allen mceglichen Gestalten auftritt, und überall durch seine witzigen
und kunstvollen Verse die Hoerer bezaubert, die Gegner überwindet. Selbst-
verständlich musste hier meist der Wortwitz des Urtextes durch ein tehnliches
Beispiel aus der deutschen Sprache wiedergegeben werden. Aus dem Ara-
bischen sind auch 'die Lieder des Amrilkais' 1843,^" 'Hamasa oder die
Dichter; ich bin jetzt ein zersplitterter nur.^ P. W. VII, 6. 25) LB. 2, 158.3 ua.
26) Vorrede zu Hariri 'Wer Philolog und Poet ist in einer Person wie ich armer, Kann
nichts besseres thun als übersetzen wie ich'. 27) H. Meurer, Lexicalische Sammlungen
zu F. Rückerts AVerken, Progr. Weimar 1872. Vgl. auch Kern (Anm. 35) S. 32.
28) Leipzig. W. ^lüller meinte, viele davon verdienten ein vorgesetztes K. LB. 2, 1603.
21») Stuttgart und Tübingen. LB. 2, Ißll. 30) Stuttgart, ebenso die folgenden.
§ 173 RÜCKERT ALS ÜBERSETZER. 623
ältesten arabischen Volkslieder 1846, II übertragen; ebenso Manches in
'Sieben Bücher morgeuländischer Sagen und Geschichten', 1837, und 'Erbau-
liches und Beschauliches aus dem Morgeulande', 1836. Aus dem persischen
Epos entnahm Rückert 1838 die Sage von Röstern und Suhrab,^' von dem
Helden, der unwissentlich den eigenen Sohn erschlsegt. Aus dem indischen
Mahabharata übersetzte er Nal und Damajanti^" 1828 ; auch die brahmanischen
Erzsehlungen, 1839, sind der indischen Litteratur ebenso entnommen wie das
erst aus dem Nachlass zusammen mit den Idyllen des Theokrit und den
Fröschen des Aristophanes veröffentlichte Drama Sakontala. Dagegen ist 'Die
Weisheit des Brahmauen', ^^ 1836, nur zum geringen Teil aus der indischen
Spruchpoesie geschöpft; sie zeigt sich als des Dichters volles Eigentum durch
die beständigen Bezüge auf die deutsche Philosophie^* und das Leben der
Gegenwart; ^^ auch die Einkleidung in den mit glücklicher Leichtigkeit er-
neuten Alexandriner gibt diesen Sprüchen ihr eigentümliches Geprsege, welches
oft an Angelus Silesius erinnert. In eben diese Form fasste er sein 'Leben
Jesu, Evangelien-Harmonie in gebundener Rede' 1839. Wsehrend er hier
wie sonst aus den Quellen selbst geschöpft hatte, übertrug er 1833^'' Das
von Confucius gesammelte Chinesische Liederbuch Schi-King' nach lateinischen
Vorlagen in das Deutsche. Indem er hier in der Vorrede auf den weiten
Umkreis der Sprachen und Dichtungen blickte, die er mit Liebeseifer durch-
forscht und dem Inhalte nach der deutschen Litteratur angeeignet hatte,
durfte er ausrufen 'Weltpoesie allein ist Weltversoehnung'.^^
Wenn Rückert im stillen Genüsse der Natur und des Familienlebens
seine Befriedigung fand und unablässig, aber mühelos die Gedanken und
Formen der Litteraturen aller Völker deutsch nachbildete, so strebte ihm sein
Schüler und Freund Platen mit herber Strenge gleichzukommen, ohne sich
selbst auch nur genug thun zu können.^* Die Verstimmung, mit welcher
ihn der anderen Dichtern gespendete Beifall erfüllte, trieb ihn zu heftigen
Streitgedichten, in denen er seine eigene Kraft wenigstens als Dramatiker
verzehrte. Einsam und fern vom Vaterlande verlebte er die letzten Jahre
und starb noch in voller Manneskraft. ^^ K. August G. M. Graf von Platen-
31) LB. 2, 1651. 32) LB. 2, 1631. 33) LB. 2, 1639. 34) Für Schelling
gegen Hegel. 35) Franz Kern, F. Rückerts Weisheit des Bralimaüen dargestellt und
beurteilt, Oldenburg 1868. G. Voigt, F. Eückerts Gedankenlyrik nach ihrem philo-
sophischen Inhalte, Annaberg 1881. 36) Zu Altena. 37) Vgl. auch LB. 2, 1595 die
Einleitung zur Hamäsa. 38) Vortrefflich beurteilte diese Richtung Platens Goethe bei
Eckermann zum 25. Dec. 1825. 39) Platens Eutwiekeluug lässt sich, und auch dies
624 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAIIRII. § 173
n.M.LKUMÜNDE — CF liess spßoter den zweiten Teil seines Geschlcchtsuaniens
^veg — stammte aus einer von Rügen nach Franken gezogenen Familie; er
war geboren zu Ansbach 1790. 1810 ward er in das bairische Cadettencorps
aufgenommen, diente als Page bei Hofe und zog 1815 mit ins Feld. Früh
nach wissenschaftlicher Ausbildung strebend, konnte er seit 1818 zu Würz-
burg, dann zu Erlangen studieren und schloss sich hier namentlich an Schcl-
ling an. Nachdem er schon 1824 Venedig besucht, begab er sich, von Kernig
Ludwig unterstützt, 1826 nach Italien und kehrte seitdem nur auf kurze
Zeit nach Deutschland zurück. Er starb 1835 zu Syracus.
Zu den ältesten Gedichten Platens gehoeren ausser mehreren Liedern
einige seiner Romanzen.^** Wenn die schwäbischen Dichter mit Vorliebe
sagenhafte Gegenstände für die Ballade waihlten, so beschränkt sich Platen
auf historische Vorgänge, welche ihm zu eindrucksvoller Gegenübersetzung
von GroDsse und Vergänglichkeit Gelegenheit geben. So in den 1819 ge-
schriebenen Romauzen 'Der Pilgrim von S. Just' und 'Das Grab im Busento';
in beiden verstärkt sich der Eindruck durch die Zeitumstände, durch Nacht
und Sturm. In spreterer Zeit nimmt diese Darstellung weltgcschichtliclier
Momente bei Platen nur eine weiter ausgeführte Form an.
Hervorgetreten aber war Platen zuerst mit Ghaselen,^' deren Form er
durch Rückert kennen gelernt hatte, und in welcher er wie dieser und wie
schon Goothe im Divan seine eigenen Gedanken und Erlebnisse niederlegte.
Wie die Ghasele, so gestattet auch das Sonett bei öfterer Wiederkehr des
gleichen Reimes einen Gedanken nach all seinen Beziehungen hin durch-
zuführen. Platen beansprucht auch in diesem Versmass die Meisterschaft."
Ganz vortrefflich drückt er namentUch in den Sonetten auf Venedig*^ die
elegischen Gefühle aus, welche die zerfallende Koenigin der Meere erweckt.
Spseter, als er in Italien weilte, versuchte der Dichter die antiken Formen
ist für ihn bezeichnend, an der Hand seines Tagebuches verfolgen, von welchem die
bis 1825 reichenden Bände, Stuttgart und Augsburg 1860, wenigstens auszugsweise ver-
öffentlicht worden sind. Aus den Tagebüchern hat H. Meisner Platens Gedanken über
Philosophie und Religion in der D. Revue 1888 zusammengestellt. Auch der Brief-
wechsel Platens ist grossenteils zugänglich geworden durch seinen Verehrer und Nach-
ahmer, den Leipziger Professor Minckwitz, als 'Poetischer und litterarischer Nachlass',
Leipzig 1852, IL Platens 'Gesammelte Werke' sind zuerst Stuttgart 1839 erschienen,
mit einer biogr. Skizze von Goedeke: die Ausgabe Berlin bei Reclam hat Redlich be-
sorgt, ebenso die Berlin 1888 erschienene. 40) LB. 2, 1741. 41) LB. 2, 1743.
Sie waren Erlangen 1821 und 24 erschienen. 42) LB. 2, 1747. 43) LB. 2, 1748.
§ 173 PLATEN. 625
der Ode und des Hymnus wieder zu beleben. Ausser den überkommenen
Strophenarten bildete er auch eigene und unternahm es durch die genaueste
Abwsegung der Silbenwerte den Leser zu richtigem Vortrag zu zwingen.
Vielfach sind es politische Ansichten, die er ausspricht und an die Welt-
ereignisse knüpft, an die Julirevolution, an den Tod Kaiser Franz I, und die
besonnen liberale Denkweise des Aristokraten verdient volle Anerkennung.
Den schlimmsten Feind sah er in dem despotischen Russland, wie er gleich-
zeitig auch Polenlieder dichtete, die jedoch erst aus dem Nachlass veröffent-
licht wurden.** In den Oden sowie in den hexametrischen Dichtungen, be-
sonders den Eclogen,*^ spricht sich überdies auch die Freude über die Kunst
und Natur in Italien aus; andere feiern den Gönner Platens, Koenig Ludwig
von Bayern oder seine Freunde, wie Kopisch. In Distichen sind zahlreiche
Epigramme**"' abgefasst, welche die strengen Kunstforderungen des Dichters,
aber auch sein stolzes Selbstgefühl kund geben. Einen epischen Gegenstand
behandelte er in den "Abbasideu' 1829, worin er einen Stoff aus Tausend
und eine Nacht in fünffüssige Trochseen kleidete.
Solchen Msercheninhalt gab er mehrfach auch seinen dramatischen Ge-
dichten. 1824*^ erschien 'Der glseserne Pantoffel', eine Verbindung von
Aschenbroedel und Dornroeschen. "Treue um Treue' *^ dramatisiert die schoene
Sage von Aucassin und Nicolette. Eine herodotische Anecdote behandelte
er im 'Schatz des Rhampsinit', nur flocht er satirische Beziehungen auf die
hegelsche Philosophie ein. Diese parodische Absicht machte er in anderen
Dramen zur Hauptsache, indem er — auch hier im Anschluss an Rückert
— die aristophanische Komoedie zu erneuern unternahm und freiUch sich da-
bei so nahe als moeglich an das griechische Urbild hielt. Er übersah nicht,
dass weder die Aufführung auf einer deutschen noch überhaupt auf einer
Bühne unserer Zeit zu erwarten stand *^ noch auch die politischen Verhält-
nisse, also den Hauptstoff der alten Komoedie, zu berühren ihm gestattet
war. Einzig die Litteratur durfte und wollte er beleuchten, und sein völlig
entschiedener und vollberechtigter Standpunct war ein Verdienst, welches er
durch die kunstvollste Nachbildung der antiken Form zu steigern wusste.
Platens erste Komoedie dieser Art war 'Die verhängnisvolle Gabel' 1826.^"
44) Strassburg 1839 uö. 45) 'Die Fischer auf Capri'. LB. 2, 1750. 46) LB. 2, 1756.
47) Schauspiele, I Erlangen. 48) Schauspiele, Stuttgart 1828. 49) J. G. 0. von
Lüttjendorf-Leinburg, geb. zu Pressburg 1825, gest. 1893, Nachahmer Platens und Freund
Geibels hat allerdings in "Wiirzburg und München an dilettantischen Aufführungen, des Eom.
Üed. Teil genommen: AUg. Z., Febr. 1893. 50) Stuttgart, wie auch das folgende Stück.
G2G NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAHRH. § 173
Sic richtet sich j?egen die Schicksalstragoedie und parodiert, wenn auch
Miillner und Houwald besonders genannt sind, in ihren Grundzügen haupt-
sächlicli Grillparzors Alinfrau. Wie in dieser muss ein Gespenst so lange
unigehn, bis alle Nachkonimcn getastet sind; wie dort ein Dolch, so ist hier
eine Gabel das verhängnisvolle Mordinstrument. Der Chorus des Stückes,
als welcher ein Jude Schniuhl auftritt, weist offen auf die Zielpuncte der
Satire hin. In seinen Parabasen'"' tritt besonders die Nachahmung des Ari-
stophanes hervor, welche auch die überlangen Composita, selbst die derben
Witze erklaert. Sie ist noch stärker im zweiten Lustspiel 'Der romantische
Oedipus' 1828. Der Dichter hatte zu seinem Schmerze sehen müssen, wie
wenig Anerkennung seine Kunst in Deutschland fand. Es wurden ihm sogar
Epigramme hinterbracht, welche Immermann gegen seine Gliaselen gedichtet
und Heine rn seine Reisebilder aufgenommen hatte. Platen beschloss
ihn zu züchtigen und mit ihm 'die ganze tolle Dichterlingsgenossenschaft'.
Ohnehin gegen die Nachahmung Shakespeares feindlich gesinnt, nahm er be-
sonders Immermanns Bearbeitung des Trauerspiels 'Gardenie und Gelinde' von
Gryphius aufs Korn. Er lässt Immermann auch mit Sophocles in der Dich-
tung eines Oedipus wetteifern und alles auf der Bühne darstellen, was bei
dem griechischen Dichter nur erziehlt wird, von der Geburt des Oedipus bis zu
seiner Selbstblendung. Auch hier wird jedoch die Satire noch geradezu aus-
gesprochen, indem der Verstand, ein Exilierter aus Berlin, zuletzt den Un-
sinn dieser Darstellungsweise nachweist. Doch diese Komoediendichtung war
nicht eigentlich Platens Endziel. Mit heisser Sehnsucht, aber vergebens, rang
er danach selbst als Trauerspieldichter ein Meisterwerk zu schaffen. Nur als
eine Studie konnte 'Die Liga von Cambrai' 1833^- gelten; und kaum hätte
er mehr als Rückert die Grenze des Lyrikers überschreiten können.
Gedankenlyrik erfüllt auch die Gedichte des Koenigs Ludwig von
Bayern,*^ welcher 1786 zu Strassburg geboren, als Kronprinz seit 1799
deutsche Gesinnung gegen Napoleon vertrat, als Koenig 1825 — 48 den
bildenden Künsten in seiner Hauptstadt eine Heimstätte schuf und 1868 in
Nizza starb. Als Dichter verwertete er vor allem seine italienischen Reise-
51) LB. 2, 1725. 52) Frankfurt. Schon hatte Goethe (zu Eckermann am 11. Febr. 1831)
Platens Begabung gerade für das Technische der Tragoedie anerkannt, aber auch gefragt, wie
er noch eine Tragcßdie schreiben wolle, nachdem er die tragischen Motive parodistisch ge-
braucht? 53) Zuerst München 1828. 29, III; ein IV. Teil 1847. Gedichte mit kunst-
geschichtlichen und bibliographischen Beilagen, hg. von G. Laubmann, München 1888.
§ 174 K. LUDWIG. SCIIEFER. SALLET. 627
eindrücke, oft in antiken Formen, ohne Sorgfalt indessen, wie auch die dem
Historiker Johannes Müller nachgeahmte Kürze seiner Prosa ^* manchen
Anstoss gab.
Mit Rückerls Beschaulichkeit vergleicht sich die Dichtung Leopold
ScHEFERS, nur dass sie sich auf Sittenlehre beschränkt und diese auf einen
pantheistischen Optimismus begründet. Der Dichter, aus Muskau gebürtig
1784 und hier gestorben 1862, hatte sich autodidaktisch gebildet und stand
seit 1811 im Dienste des ihm von Jugend auf befreundeten Fürsten Pückler,
welcher 1811 seine Gedichte herausgab und ihm die Mittel zu einer Reise
nach Neapel, Athen und Konstantinopel 1816 — 20 geweehrte. 1834^^ erschien
sein 'Laienbrevier', Sprüche in fünffüssigen Jamben für jeden Tag des Jahres,
welche er 1807—22 gedichtet hatte. Aus seinen Reisegedichten stammen
'Hafis in Hellas' 1853 und 'Koran der Liebe' 1858, stark erotisch, in Aus-
druck und Versbau nachlässig, und erst durch Max von Waldau in Reime
gebracht. Wie dieser war Schefer auch Erzsehler; doch sind in seinen
74 Novellen (seit 1823) nur die Landschaftsschilderungen gelungen, die Er-
zsehlung ist oft verworren, die Vorgänge selbst sonderbar und unerfreulich.'^
Pantheismus predigte auch Friedrich von Sallet, dessen Xaienevangehum'
1842^^ an einzelne Stücke des Neuen Testaments anknüpfte, freilich nicht
um Zufriedenheit und Bescheidung zu lehren, sondern um zum Kampfe zu
rufen. Geb. zu Neisse 1812, starb Sallet bereits 1843, nachdem er bis 1838
Offizier gewesen war.
§ 174.
Die mit Uhland und Rückert gleichzeitigen Lyriker Norddentschlands
hielten sich nseher an die romantische Schule. Sie feierten besonders die
Wanderlust, und freilich durfte ihnen am Rhein oder in Italien das Leben
poesievoller als in der Heimat erscheinen. Von ihnen hatte Joseph von
EicHENDORFF ^ dem Kreise der jüngeren Romantiker zu Heidelberg selbst an-
gehcert, dann zu Wien unter dem Einfluss F. Schlegels gestanden. Geboren zu
54) LB. 3, 1493. 55) Zu Berlin. 56) Ausgewsehlte Werke, Berlin 1845, XII,
mit einer Biographie von W. v. Lüdemann. Eingehender E. Brenning. L. Seh. Bremen
1884 (auch N. Lansitzisches Magazin LX). 57) Leipzig. 'Sämtliche Schriften', Breslau
1845. 48, V uö.
§ 174. 1) Biographie von seinem Sohn in Jos. Freiherrn v. Eichendorff Sämtliche
Werke, 2. Aufl., Leipzig 1864, VI. *Lpz. 1883, IV. Dazu Vermischte Schriften, Paderborn
1866, V. Gedichte aus dem Nachlasse, hg. von H. Meisner, Leipzig 1888. H. Keiter, J.
V. E., Sein Leben und seine Dichtungen, Köln 1887. Minor, Z, f. d. Ph. 21, 214, wo auch
028 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAlIRll. § 174
Lubowitz bei Ratibor 17tS8 hatte er in seiner Jugend das gastfreie Leben des
Adels kennen gelernt, welches in der romantischen Dichtung immer wieder
verherrlicht wird. Nachdem er in den Freiheitskriegen als Offizier gelochten,
fand er, da inzwischen sein Faniilienbesitz starke Einbusse erf\ihren hatte, 1819
im Ministerium des Cultus eine Anstellung für katholische Angelegenheiten;
als Beamter in Ostpreussen wirkte er für die Herstellung der Marienburg.
1844 schied er aus dem Amt und starb 1857 zu Neisse. 8ciu erstes grocsseres
Werk 'Ahnung und Gegenwart' (Nürnberg 1815) führte sein Freund Fouque
ein. Die Nachahmung des Wilhelm Meister ist vielfach ersichtlich, doch
geht der zwischen zwei Frauen stehende Held zuletzt ins Kloster. Die
späteren Novellen bringen {fhnliche Figuren und Vorgänge wieder; unter
ihnen nimmt durch Einfachheit und Lieblichkeit die erste Stelle ein 'Aus dem
Leben eines Taugenichts', Berlin 1826: ein träumender, geigender, dichtender
Jüngling findet ohne sein Zutliun sein bescheidenes Glück im Leben wie in
der Liebe." Seine Beschränkung wie seine Thatenscheu lässt ihn als Philister
erscheinen : aber Eichendorff verkündet in einem dramatischen Mserchen
'Krieg den Philistern', Berlin 1824; freilich nicht ohne die Dichter zugleich
zu verspotten. Auch in der Tragoedie versuchte er sich mit 'Ezelin von
Romano', Kcenigsberg 1828, 'Der letzte Held der Marienburg', ebd. 1830.
Seine kirchliche Gesinnung^ beherrscht noch mehr seine litterarhistorischen
Werke: 'Über die ethische und rehgioese Bedeutung der neueren romantischen
Poesie in Deutschland', Leipzig 1847, 'Geschichte der poetischen Litteratur
Deutschlands', Paderborn 1857, II uö. Und so klingt ein rcligioeses Gefühl
auch in die Wanderlieder Eichendortfs, welche durch Mendelssohn u. a, com-
poniert, Lieblinge des geselligen Gesanges geworden sind.* Auf eine Volks-
melodie dichtete Eichendorff das Lied 'In einem kühlen Grunde', das nach
Goethes Vorgang^ die Poesie der Mühle verherrlichte.
Diese nahm dann mit Beziehung auf den eigenen Namen ein jüngerer
Dichter auf: Wilhelm Müller,® geb. 1794 zu Dessau, und hier gest. als Biblio-
thekar 1827. Obschon auch er im Freiheitskrieg an mehreren Schlachten Teil
genommen hatte, hat er doch eben so wenig als Eichendorff Kriegslieder
gesungen. Wohl aber begeisterte ihn ItaUen, wo er 1817. 18 weilte: seine
über andere Litteratur. 2) LB. 3, 1459. 3) K. Dietze, Eichendorffs Ansicht über
romantische Poesie im Zusammenhang mit der Doctrin der romantischen Schule, Diss.
Leipzig 1883. 4) LB. 2, 1703. 5) § 160, nach Anm. 89. (5) Eine Biographie
fügte G. Schwab den von ihm herausgegebenen 'Vermischten Schriften', Leipzig 1830, V,
§ 174 EICHENDORFF. W. MÜLLER. REINICK. 629
leichtlebigeu Briefe von dort vereinigt er in 'Rom, Roemer und Rosmerinnen'
1820.^ Seine Gedichte aus der Studentenzeit 1812 hatte er schon 1816 mit
denen seiner Freunde als 'Bundesblüten' herausgegeben. Dann legte er seine
"Wanderlieder gern den Vertretern bestimmter Stände in den Mund, zuerst
1818 die Müllerlieder, denen ebenso als Cyclus zusammenhängend die 'Winter-
reise' 1823 folgte, 1821 'Sieben und siebzig Gedichte aus* den hinterlassenen
Papieren eines reisenden Waldhornisten'; ^ oder er knüpfte sie an bestimmte
Gegenden : Trühlingskranz aus dem Plauenschen Grunde', 'Muscheln von der
Insel Rügen', mit besonderer Verwertung der volkstümlichen Sagen und Breeuche.
Auch fröhUche Zechlicder^ gelangen ihm vortretilich. Dem unbestimmten,
weichen Gefühlsausdruck Eichendorffs stellte Müller eine zierliche, klare
Kunst gegenüber, die doch der musikalischen Composition F. Schuberts u. a.
glückliche Anregung gab. Ebenso gelangen ihm seine 'epigrammatischen
Spaziergänge'.'*' Zu einem hoeheren Schwung begeisterte ihn der griechische
Freiheitskampf: seine 'Lieder der Griechen' 1821 — 24" gingen wieder auf
die einzelnen Heldenthaten, die verschiedenen Stände und Landschaften ein.
Sie schlössen sich an die neugriechischen Volkslieder'^ an, wie Müller als
tüchtiger Philologe auch über Homer '^ geschrieben; wie er für seine Epi-
gramme Logau '* benutzt und um die gleichzeitige Litteratur sich ebenso wie
sein Freund G. Schwab kritische Verdienste erworben hatte.
In spseterer Zeit setzten zwei Maler diese Liederdichtung fort. Zunsechst
Robert Reinick'^ aus Danzig, geb. 1805, gest. zu Dresden 1852. Ein guter
und glücklicher Mensch, Hess er seine frohe, reine Stimmung in zarten oder
scherzhaften Liedern erklingen, welche ebenfalls sich zur Tonbegleitung ge-
eignet erwiesen. In Rom und in der Heimat hatte er Künstlerfeste zu ver-
herrlichen; seine Freunde illustrierten seine Lieder,"* L. Richter seine treff-
liche Übersetzung Hebels. Spseter wandte er sich der Eanderlitteratur zu,
und sein Maerchen-, Lieder- und Gedichtenbuch' hat dauernden Beifall ver-
dient.'^
bei. 'Gedichte', hg. von (seinem Sohn) Max Müller, Leipzig 1868. 7) II, Berlin,
wie die nseehstgenannten Schriften. 8) Dessau, 2. Bändchen 1824: LB. 2, 1713.
9) Komanze Est est, LB. 2, 1716. 10) LB. 2, 1721. 11) Dessau, spseter
Leipzig. LB. 2, 1707. 12) Übersetzung nach Fauriels Sammlung, Leipzig 1825, IL
13) Homerische Vorschule, Lpz. 1824. 14) Bibliothek deutscher Dichter des 17. Jhs.
Leipzig 1822 — 27; fortgesetzt von K. Förster. 15) Lebensgeschichte von B. Auer-
bach vor Reinicks Liedern, Berlin 1852. 16) 'Lieder eines Malers, mit Kand-
zeichnungen seiner Freunde', zuerst Düsseldorf 1838. 17) 2. Aufl. Bielefeld 1873.
6:m NEUIIOCIIDEL'TSCIIE ZEIT. XIX JAIIRII. § 174
Ntpher an die Yolksüberlieforung hielt sich Ar(iLKT Kopiscii.'* Geboren
1799 zu Breslau, wurde er in Italien,''-' wo er 1828 — 2H weilte, dem da-
maligen Kronj)rinzen Friedrich Wiihehn von Preussen bekannt, welcher iiim
spa'tcr den Auftrag gab, eine Geschichte der kceniglichen Schlösser und
(lärten zu schreiben. Er starb zu Berlin 1853. Ein liebenswürdiger Gesell-
schafter, zeigte er auch als Dichter sich vorwiegend humoristisch, namentlich
in den Bearbeitungen der Grimmschen Sagen und Mterchen, welche er als
'Allerlei Geister" 1848 sammelte. Die Soldateupoesie bereicherte er mit einigen
kräftigen Erziehlungen. Auch im schlesischen Dialect dichtete er Einiges,
wie er schon die neapolitanischen Volkslieder als 'Agrumi', Berlin 1837, über-
setzt hatte. Daneben versuchte er sich auch, durch Platen in Italien dazu
veranlasst, in antiken Massen, in Oden und Hymnen; und ebenso wenig mit
Erfolg als Dramatiker in 'Walid' und 'Chriemhild: hier suchte er die Heldin
zu entschuldigen, schwächte aber ihre Groesse nur ab.
Doch einen neuen Sammel])unct für die norddeutsche Dichtung bildete
ein Dichter, der im Leben durch seine Wanderungen weiter als alle anderen
geführt worden war. Adelbert von Ciiamis.so-" stammte aus einem alten
Geschlecht der Champagne, welches Ludwig XYL bis zuletzt Treue bewiesen
hatte und dessen Stammschloss Boncourt bei S. Meuehould in der Revolution
der Erde gleich gemacht wurde: der Dichter segnete spseter den Pflug, der
darüber gehe.-' 1781 geboren, hatte er neunjährig Frankreich verlassen und
wurde 1796 Page bei der Koenigin Luise. Als Offizier erlebte er 1806 die
schmachvolle Capitulation von Hameln und suchte dann in Frankreich eine
Stelle als Lycealprofessor zu Xapoleonville in der Vendee. Hätte er sich an
den Hof Napoleons begeben wollen, so wsere eine glänzende Laufbahn ihm
sicher gewesen. Er zog es vor bei Frau von Stael in Coppet A. W. Schlegels
Vorlesungen in das Franzoesische zu übersetzen. Dann begann er an der
neuen Universita^t Berlin naturwissenschaftliche Studien. Der Freiheitskrieg
hatte für ihn, der sich bei Deutschen als Franzose, bei Franzosen als Deutscher
fühlte, kein Schwert. Seine Wünsche erfüllten sich, als er 1815 auf einem
zur Weltumsegelung bestimmten russischen Kriegsschiff, welches der Sohn
18) 'Bemerkungen zum Leben des Dichters' von K. Bötticher, in den 'Gesammelten Werken'
von A. K., Berlin 1856, V. 19) Er entdeckte auf Capri die blaue Grotte, worüber er
anmutig berichtete: Ges. W. V, 55. 20) Zu betonen Chämissö. Der eigentliche Name war
Louis Charles Adelaide comte de Chamisso. Seine Lebensbeschreibung von H. E. Hitzig, mit
seinem Briefwechsel durchflochten, bildet den 5. und 6. Band der Werke, Berlin 1836—39, VI.
Familieubriefe auch bei: K. Fulda, Ch. und seine Zeit, Leipzig 1881. 21) LB. 2, 1690.
§ 174 KOPISCH. CH AMISSO. 631
des Dichters Kotzebue befehligte, als Naturforscher Aufnahme fand. Drei
Jahre verbrachte er zumeist in der Südsee, wo er mit den Bewohnern der
glücklichen Inselwelt wahre Freundschaft schloss. Nach Berlin zurückgekehrt,
erhielt er eine Anstellung am botanischen Garten, ward 1835 Mitglied der
Akademie,^^ und starb 1838. Seine Jugendgedichte, welche er 1806 in einem
Musenalmanach mit denen seiner Freunde-^ vereinigt hatte, verwarf er, als
er 1831 -* seine 'Gedichte' sammelte. In der That war er zuerst berühmt
und zwar weltberühmt geworden durch Teter Schlemihls wunderbare Ge-
schichte', welche mit einem Yorwort von Fouque zuerst zu Nürnberg 1814
erschienen war.-' Mit schmerzlichem Humor stellte er darin seine eigene
Heimatlosigkeit dar. Erst seine Heirat 1819 gab ihm das reinste Glück und
Stoff zu tiefgefühlten Liedern. In 'Frauenliebe und Leben' begleitet er die
weiblichen Empfindungen von der ersten Liebe bis zum Segen, den die
Grossmutter über die Enkelin ausspricht. Mit Recht bewunderte Kronprinz
Friedrich Wilhelm die Goethesche Sprache des Dichters, der doch im ge-
woehnlichen Leben z. B. beim Zeehlen sich stets des Franzoesischen bediente.
Mehr noch als Goethe hatte auf Chamisso Uhland gewirkt, den er in Paris
getroffen und sogleich auf das hoechste geschätzt hatte. ^^ An diesen erinnert
auch ein trockener Humor in den Gedichten Chamissos : der Trinker, der
von Msessigkeit predigt, die 'Tragische Geschichte' vom Zopfe. ■^' So hat
Chamisso Geschichten von Hebel und Sagen von Grimm in Verse umgesetzt.
In den Romanzen tritt gelegentlich ein Hang zum Bittern, zum Düstern her-
vor. Mit rührender Teilnahme begleitet der Dichter das Schicksal der
Armen,^^ und nicht nur in der Phantasie: 'Die alte Waschfrau' ^^ bezieht sich
auf eine wirkliche Person, welcher Chamisso durch sein Lied eine erhebliche
22) Emil du Bois-Keymond , Chamisso als Naturforscher, Eede in der Akad. d. Wiss. zu
Berlin. Leipzig 1889. 23) Berliner Neudriick durch L. Geiger 1889. Als Symbol
diente den Freunden der Nordstern. 24) Leipzig. 25) LB. .9, 1443. Fouque
soll auch durch ein Scherzwort den Grrundgedanken Chamissos angerefft haben : als
dieser auf einer Reise alles Gepäck verloren hatte, fragte er, ob nicht auch der Schatten
in Verlust geraten waere. Dass der Teufel den Schatten — aber nur betrogen — nimmt,
erzsehlt die Volkssage; vgl. Th. Kürner. Der Teufel in Salamanca. Anderes ist ans
der nsechsten L'mgebung Chamissos geschöpft, so der Name des treuen Dieners Bendel.
Zu dem Schlussbild mag der ewigwandernde Botaniker und Eunolog Arndt beigetragen
haben, von dem Öhlenschlaeger erzaehlt und welchen Chamisso in Paris gesehen haben
wird. 26) Uhland empfing damals von ihm das franzoesische Volkslied, welches 'der
Kcpnigstochter von Frankreich' zu Grunde liegt: Ges. ^\'. b, 258. 27) LB. 2, 1687,
28) 'Der Bettler und sein Hund'. LB. 2, 1G9.3. 29) LB. 2, 1701.
1
632 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAIlUll. § 174
Unterstüt/ung vorschaffte. Von den südlichen Formen pflegte Chamisso be-
sonders die Terzinen: bald in ernster Parabel,^" bald in scherzhafter Er-
zsehlung;*' auch die alUttcrieronde Strophe^- behandelte er sorgfältig. Als
Übersetzer leistete er besonders für Berangcr Vorzügliches.
Hierbei wie bei der Herausgabe des Musenalmanachs, die Chamisso
1833 — 38 besorgte, •^•' stand ihm Franz von Gaidy" zur Seite, auch er ein
Abkömmling franzcüsischen Stammes und preussischer Offizier, (»eb. 1800 zu
Frankfurt a. 0. nahm er 1833 den Ab.schicd. Mehrmalige Reisen nach
Italien hat er als 'Mein RoRmerzug, Berlin 1836 und satirisch im Tagebuch
eines wandernden Schneidergesellen', Leipzig 1836, erzsehlt. Er starb 1840
zu Berlin. Seine 'Erato' erschien zu Berlin 1829, seine 'KaiserUeder' zu
Leipzig 1835, welche Napoleon mit einem gewissen Trotz gegen die nationalen
Gefühle feiern. Meist aber wtehlte er humoristische Stoffe, denen er durch
Fremdwörter einen modernen Reiz gab. Refrain und Pointe lernte er von
Chamisso und Heine.
Dieser letzte Name bedeutet noch einmal eine Steigerung, eine Zu-
sammenfassung der romantischen Kunst, zugleich aber ihr durch Übertreibung
und Selbstvcrspottung herbeigeführtes Ende. Dass Heine als Lyriker die
Romantik mit besonderem Glanz und weitgreifender Wirkung vertreten, sie
aber auch so bitter hoehnen und zu ihrem Sturze so wesentlich beitragen
konnte, begreift sich wohl, da seine Geistesart und seine eeusseren Verhält-
nisse ihren wesentlichen Ideen völlig entgegengesetzt waren und er sich nur
die aeusseren Formen und Darstelluugsweisen, so wie ein Schauspieler seine
Rolle anzueignen vermochte.
Heinrich (oder wie er ursprünglich hiess: Harry) Heine -'^ war in
30) LB. 2, 1691. 1699. Vgl. auch 'Salas y Gomez', eine Erinnernng au die "Weltreise.
31) LB. 2, 1695. 32) 'Das Lied von Thrym*. LB. 2, 1681. 33) Zu Leipzig.
34) Biographie von Arthur Müller in den 'Gesammelten Werken', Berlin 1853, VIII.
35) A. Strodtniann. H. Heines Leben und "Wer^e, Berlin 1867. 68, II; »1884, II. Eob.
Proelss, H. H. .Sein Lebensgang und seine Schriften, Stuttgart 1886. Gr. Karpeles, H. Heiue
und seine Zeitgenossen, Berlin 1888. H. Keiter, H. Heine, Köln 1891. Heines Memoiren,
inhaltlich wie formell geringwertig, erschienen als Supplementband seiner sämtl. Werke,
Hamburg 1884. Vgl. auch A. Meissner H. H., Hamburg 1856. Max Heine, Erinnerungen
an H. H., Berlin 1868. Skizzen über H. H. von seiner Nichte Fürstin de la Rocca,
Wien, Pest, Leipzig 1882. AI. Weill, Souvenirs intimes de H. JH., Paris 1883. C. Seiden,
Le.t derniers jours de H. H., Paris 1884. H. Heines Familienleben, von seinem Neffen
Baron L. v. Embden, Hamburg 1892. Zur Würdigung des Dichters vgl. F. Sintenis,
H. U. Ein Vortrag, Dorpat 1S77: W. Bülsche, H. H. Versuch einer iesthetisch-kritischen
§ 174 GAUDY. HEINE. 633
Düsseldorf 1798 geboren.^'* Sein Vater, ein jüdischer Kaufmann, ^^ brachte
ihn in die Lehre nach Frankfurt, dann nach Hamburg, wo sein reicher Onkel
Salomon Heine sich seiner annahm. 1819 studierte er in Bonn, wo A. W.
Schlegel tief auf ihn einwirkte, spseter in Göttingen. In Berlin wurde er im
Varnhagenschen Hause bald als Dichter anerkannt und lernte auch Hoffmann
und Fouque kennen. Nur widerstrebend beteiligte er sich an der jüdischen
Reformbewegung. 1825 wurde er in Göttingen Doctor der Rechte, und trat
gleichzeitig zur protestantischen Kirche über, um sich die Aussicht auf eine
Staatsanstellung zu eröffnen. Allein auch als Advocat hatte er in Hamburg
keinen Erfolg. Er warf sich auf die schon von Berlin '^^ aus begonnene
journalistische Thsetigkeit und erhielt von Cotta sehr vorteilhafte Anerbietungen.
Die Unterstützung seines Onkels wusste er sich dauernd zu erhalten. 1827
reiste er nach England, dann nach längerem Aufenthalt in München 1828
nach Italien. Die JuUrevolution bereitete ihm in Paris den Boden, auf dem
er sich völlig heimisch fühlte. Nachdem er 1831 dorthin übergesiedelt war,
kehrte er immer nur auf kurze Zeit nach Hamburg zurück. 1836 erwirkte
er sich einen geheimen Jahrgehalt von der franzoesischen Regierung, den er,
als es 1848 bekannt wurde, als Plüchtlingsalmosen bezeichnete. 1848 wurde
er von der Rückenmarksdarre befallen, die ihn in langen Qualen 1856 zum
Tode führte.
Ziemlich am Anfange seiner Dichterthaetigkeit^^ stehen seine 'Tragoedien'
mit einem lyrischen Intermezzo, Berlin 1823. 'William Ratcliff' ist eine Ge-
spenstergeschichte, welche in den durch W. Scott bekannt gewordenen
schottischen Bergen spielt und an Grillparzers Ahnfrau erinnert. Zugleich
aber vertritt der Reeuber Ratcliff den Gegensatz zwischen den 'zwei Nationen
Analyse seiner Werke uud seiner Weltanschauung, Leipzig 1888. 36) Im Februar
1798 nach dem Register des Rabbiners : 5 Jahrb. des Düsseldorfer Geschichtsvereins,
1890, S. 144. Er selbst gab im Scherz den 1. Jan. 1800 als seinen Ofeburtstag an, um
hinzufügen zu können 'daher einer der ersten Männer des Jahrhunderts'; auf seinem
Taufschein Hess er den 13. Dec. 1799 als Geburtstag setzen; anderwärts gab er 1797 au.
37) Auch die Mutter war Jüdin; ihren Familiennamen von Geldern haben ihre Kinder
ohne Grund für adelig ausgegeben. 38) Berichte im Rheinisch-westfielischen Anzeiger
1820. 22. 39) Sämtliche Werke, hg. von A. Strodtmann, Hamburg 1861—63, XXI;
«1867, XVIII, wozu noch Briefe XIX— XXII, 1876; neue Ausg. in XII, Hamburg 1887;
Gesammelte Werke von H. Karpeles, Berlin 1887, IX; Sämtliche Werke, hg. mit Biogr.
und Einl. von W. Bölsche, Leipzig 1887, VI; von St. Born, Stuttgart 1887.; mit Ein-
leitungen, Erlsputerungen und Verzeichnissen sämtlicher Lesarten von E. Elster, o. J. Leipzig
und Wien: vgl. dazu Redlich Z. f. d. A. 36 Auz. 384. Andere Ausgaben von Laube, Wien
634 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAHltll. § 174
der Satten und der Iliingorlcidor. Wie hier der sociale Hass, so tritt in
'Almansor der des Bekenntnisses hervor: es ist der Raclioschrei des unter-
drückten Judentums, welches nur das Gewand des romantischen Maurenvolkes
angenommen hat. Die Judenverfolgungen dos Mittelalters schildert auch eine
Novelle Heines, welche Fragment^'* blieb, 'Der Rabbi von Bacharach'.
Seine eigentümliche liegabung entfaltete Heine in der Lyrik. Hier konnte
sein Ich, das für ihn immer das maasgebende blieb, in Freud' und Schmerz
sich wicderspicgeln, mit dem kecksten Übermut und der trübsten Bekümmer-
nis und freilich auch mit schamlos entbloesster Gemeinheit. Früh erfasste ihn
die Verzweiflung an allem Hohen und Edeln, der Weltschmerz, den Byron
damals dichterisch verherrlichte.^' Bei Heine knüpften diese Stimmungen an
das Fehlschlagen seiner Bewerbung um zwei der Hamburger Cousinen. *-
Seine Gefühle kleidete er anfänglich mit Vorliebe in Tr?eume und Gespenster-
geschichten, wofür ilmi Brentano, Arnim, Kerner die Muster gaben. Aber
freilich in der Anschaulichkeit der Bilder und Vorstellungen na^herte sich
Heine wieder Uhland, ja er übertraf diesen an Farbenkraft. Mit der male-
rischen Kunst, die insbesondere auch durch neue, packende Beiwörter wirkte,^^
verband er die groesste Einfachheit des Satzbaus und der Versform:** hier
waren Bürger, EichendorfF, W. Müller und das Volkslied selbst, aus dem
alle diese Dichter geschöpft hatten, seine wohlbenutzten Vorbilder. Mit der
gropssten Sorgfalt,*'' die selbst an den zahlreichen Correcturen in den Hand-
schriften ersichtlich ist, feilte er an diesen Gedichten, bis er vöUig das zu-
treffende Wort gefunden, den leichten Fluss des Verses hergestellt hatte.
Ganz besonders aber liebt er — und freilich auch nach Brentanos und Hoff-
manns Vorgang — die Schwärmerei unerwartet durch das Wirkliche und
1886 fgg.; von Lachmann, Leipzig 1887 : von Reuper, Halle 1887 fgg. 40) 1824 ver-
fasst, erschien es im Salon 184U. 41) Die Poesie der deutschen Nachahmer Byrons
nannte Goethe 'Lazarethpoesie': Zu Eckermann 24. Sept. 1827. Über Heines Beziehungen zu
GfPthe 8. Walter Rohert-Tornow, GoPthe in Heines.Werken. Berlin 1883. 42) H. Hüffer,
Ans dem Leben Heinrich Heines, Berlin 1878 (Briefe an Christian Sethe). Seufifert Yj.
f. Litt.-gesch. 3, 589 flF. 43) Max Seelig, Die dichterische Sprache in Heines Buch
der Lieder, Diss. Halle 1891. Freilich schadete die Übertreibung auch hier: wenn Eichen-
dorff in den Strophen 'auf den Tod meines Kindes' LB. 2, 1705, 24 von der 'schluchzenden
Klage der Nachtigall' spricht, so ist dies rührend : manieriert aber sagt Heine in der Vor-
rede zum Buch der Lieder: 'die Nachtigall . . sie jubelt so traurig, sie schluchzet so froh'.
Gerade diese starken Ausdrücke meint er, wenn er an Platen die 'Naturlaute' vermisst.
44) K. Hessel, Die metrische Form bei Heine, Z. f. dtsch. Unterricht 3, 47. 45) Erst
allmsehlich eignete er sich überhaupt die Richtigkeit der Sprache an: s. Redlich Anz. f.
§ 174 HEINES GEDICHTE. 635
Gewoelmliche zu unterbrechen, bald als Neckerei, bald als bittere Bosheit: und
für den verhcehnenden Witz besass er von Jugend auf^'' Neigung und Be-
gabung in vorzüglichem Masse. Dies Spiel mit Worten und Reimen ergötzte
auch den gewcehnlichen Leser und solche Wendungen prsegten sich der Sprache
der Unterhaltung tief ein. Zu ebenso weiter Verbreitung gelangten die
Lieder, worin die Stimmung der Sehnsucht und der Schwermut rein durch-
geführt war und denen die Liedercoraponisten Silcher,*'' Mendelssohn, Schubert
ihre Kunst zugewendet haben. Sie haben auch einen Teil der Romanzen
Heines in Musik gesetzt, welche jene trüben Stimmungen meisterhaft den
Trsegern, Menschen aus dem Volke anzupassen verstanden.*^ Diesen Romanzen
gab Heine einen groesseren Umfang, weehrend die Lieder meist sich mit ganz
wenigen Strophen begnügten und nur einen Eindruck, einen Einfall kräftig
ausführten.
Solche Lieder hatte Heine schon 1817 als Hamburger Comptoirist ge-
dichtet; 1822 gab er in Berlin seine 'Gedichte' heraus und Hess sie mit
starkem Selbstlob vom Buchhändler anzeigen. Mit wohlbedachter Kritik
sammelte er 1827 die bis dahin veröffentlichten Stücke als 'Buch der Lieder'."*^
Hier erschienen auch die Nordseebilder wiederholt, welche in den freien
Rhythmen sich an Goethes Hymnen anschliessen, aber mit der ebenso gross-
artigen, als naturgetreuen Schilderung des Meeres einen neuen ^"^ Gegenstand
für die deutsche Dichtung gewonnen haben.
'Die Nordsee' war bereits in den Reisebildern erschienen, im I. Teil,
Hamburg 1826. Kerners Reiseschatten boten zu diesen das nsechste Vorbild,
weiter zurück stand Brentanos Godwi: an diesen Roman erinnerte namentlich die
dentsclies Alt. 36, 385. 46) Vgl. das Gedicht 'Wüniiebergiade' auf einen Düsseldorfer
Sclinlkameraden bei Sethe (Anm. 42): anch bei Elster (Anm. 49). Nicht unrichtig sagte
A. W. Schlegel spseter von Heine 'Deine Begeisterung ist verschroben, deine Tücken sind
Natur'. 47) Die 'Lorelei' geht dem Inhalt nach auf die von Brentano gebildete Sage,
der Strophenform nach auf eine Bearbeitung von Graf Loebeu zurück; aber freilich die so
völlig volksliedartige Übereinstimmung von Gegenstand und Behandlung stammt von
Heine. 48) 'Die Grenadiere', 'Die Wallfahrt nach Kevlaar'. LB. 2, 1795. Über Stoffe
und Stilarteu s. 0. Netoliczka, Zu Heines Balladen und Romanzen, Progr. Kronstadt 1891.
49) Neue kritische Ausgabe von E. Elster in den Dtsch. Litt.-denkm. 27, Heilbronn 1887.
50) Freilich auch hier knüpft das 'Seegespenst' an W. Müllers Vineta an, der Schluss au
A. Hoffmanns Goldnen Topf, II Vigilie. Vgl. Xanthippus, Was dünket euch um Heine,
Lpz. 1888. Immermann sagt bei Putlitz 2,76 'Heines Leidenschaft für die Nordsee möchte
ich für wahr halten, wenn auch in ihm so vieles nur willkürliche Aneignung ist". Auch
spseter noch bewundert Lenau bei Niendorf 222, wie wunderbar Heine im 'Runenstein'
Wacternagel, Litter. GescLiclite. II. 42
630 NEUHOCIIDEUTSCITE ZEIT. XIX JAlirill. § 174
Satire mit ihrer Einiiiischung der Wirklichkeit und zwar einer oft gemeinen
Wirklichkeit. Der Studentenwitz in seinen derbsten Äusserungen trat liier
in die Litteratur ein. In andrer Weise anstoessig erschien im II Teil, 1827,
das Buch Legrand, eine Ycrhimmolung Napoleons, der freilich den Juden
am Rhein hürgeriiche Gleichstellung verliehen hatte. Der III Teil, 1830,-''
ergoss über Phiten, den Heine schon im II Teil durch Immermanns Epi-
gramme verhoehnt hatte, eine solche Fülle von gemeinen Verdächtigungen,
dass Heine selbst davon den groessten Schaden hatte.
Dieser satirischen Richtung dienen nun wesentlich die Dichtungen Heines
in seiner Pariser Zeit. Den Vorwurf der Vertreter der freisinnigen Bewegung
in Deutschland, er sei ein Talent, aber kein Character, drehte sein 'Atta
Troll'^- gegen sie um.^^* In 'Deutschland, ein Wintcrmserchcn', Hamburg 1844,
schildert er eine Reise nach Hamburg mit den bittersten und unfla'tigsten
Witzen über Deutschlands Gegenwart und Zukunft. Heines 'Neue Gedichte',
Hamburg 1844, priesen ungescheut seine Pariser Liebschaften. Auch der
'Romanzero' 1851 gefiel sich in schmutzigen, rohen Bildern. Von den Ge-
dichten aus der Matrazengruft, welche erst nach seinem Tod erschienen,-'^
brachten die 'Lamentationen' meist bissige Ausfälle; die 'hebrjeischcn Melo-
dien' zeigten, dass zuletzt die jüdischen Erinnerungen noch allein sein Gemüt
bewegten, so oft er auch sie herabgezogen hatte.
Umflinglicher sind aus der Pariser Zeit die Prosaschriften Heines. Seine
politischen Berichte an die Allgemeine Zeitung fasste er 1833 als 'Franzoesische
Zustände' zusanmien, die Besprechung der zeitgenössischen Kunst in Frank-
reich als 'Salon' 1834 — 40, IV. Für die Franzosen aber schrieb er über
Deutschland in der Europe Utteraire und in der Revue des deux Monden^
und liess diese Artikel zugleich mit wohlüberlegten Änderungen deutsch er-
scheinen: 'Zur Geschichte der neueren schoenen Litteratur in Deutschland',
Paris 1833, II, worauf 'Die romantische Schule', Hamburg 1836, U folgte.
Mit ausserordentlicher Gewandtheit machte er den Franzosen die deutsche
Geistesbewegung seit der Reformation verständlich, freilich mit oberflächlichem
Urteil und meist perscenlichen Spöttereien, durchaus im Gegensatz gegen die
Ällemagne der Frau von Stael. Einzelne Gegner nahm er noch besonders
(Neue Gedichte) dea endlosen Rhythmus der Wellen wiedergegeben hat. 51) 'Naeh-
traege zn den Reisehildern', welche besonders P^ngland betrafen, ei-schieneu zuerst Ham-
burg 1831. 52) Zuerst 184.3, das Ganze Hambnrg 1847. 52 a) Vgl. auch 'Briefe
von H. Heine au H. Laube', hgg. vou E. Wulff. Breslau 1893. h'i) Dichtungen,
Ainstf-rdani löGl, II.
§ 175 HEINES PROSASCHRIFTEN. 637
vor : Menzel, der das Verbot seiner Werke herbeigeführt hatte, in der Schrift
'Über den Denuncianten', 1837, die schwaebischen Dichter im 'Schwabenspiegel'
1839, den damals bereits verstorbenen Börne in dem Buch 'Heine über Börne'
1840. Da zeigte er, wie sehr er die unteren Classen verachtete und hasste,
für die er doch das Banner der Freiheit schwingen wollte. Mehr und mehr
sah er sich als Franzose an und sorgte für eine Übersetzung seiner sämtlichen
Werke in das Franzoesische. Seine Werke haben denn auch nicht nur dazu
beigetragen, franzoesische Anschauungen in Deutschland zu verbreiten : seine
leichte, durchaus auf den Reiz berechnete Prosa nach franzcesischem Muster
wurde Vorbild des deutschen Zeitungsstils; er hat das deutsche Feuilleton
begründet.
§ 175.
Für die wissenschaftliche Prosa muss es genügen, auf die Haupt-
trseger ihrer Entwickelung hinzuweisen. Viele und die groessten unter ihnen
waren an der 1810 unter der Leitung Wilhelms von Humboldt begründeten
Universitaet Berlin vereinigt : so von deren Anfängen an der Philosoph Fichte,
der Theologe Schleiermacher, der Jurist Savigny, die Philologen F. A. Wolf
und A. Bceckh, der Historiker Niebuhr.
Die allgemeinste Geltung fand zunsechst von Berlin aus ein philosophi-
sches System, welches den Anspruch erhob, die Welt aus dem Geiste abzu-
leiten und sie geistig nachschaflfend zu verstehen: das System, welches G.
Wilhelm F. Hegel ^ aufstellte. Geboren zu Stuttgart 1770, war er als
Student mit HölderHn (§ 162, 33) und Schelling befreundet und schwärmte
mit ihnen für die franzoesische Revolution. 1801 habilitierte er sich in Jena,
musste aber 1807 die Stelle eines Redacteurs in Bamberg übernehmen und
war 1811 — 16 Rector in Nürnberg. 1817 wurde er nach Heidelberg, 1818 nach
BerHn berufen. Hier durfte er, durch den Minister Altenstein gestützt, bald
seine Lehre als die Philosophie des preussischen Staates ansehen. Er hatte
immer die Staatsautoritset verehrt; in der Vorrede zur Rechtsphilosophie 1820
sprach er das bekannte Wort 'das Vernünftige ist wirklich und das Wirk-
liche ist vernünftig': allerdings war das Wirkliche für ihn die Erscheinung
der Idee. In seiner Erstlingsschrift 'Die Differenz des Fichteschen und des
Schellingschen Systems der Philosophie' 1801 hatte er den subjectiven und
den objectiven Idealismus der beiden zu vereinigen gesucht. War für Fichte
§ 17l3. 1) Rosenkrauz, Hegels Leben, Berlin 1844 (Supplement zu Hegels Werken,
vollständige Ausgabe von Freunden des Verewigten, Berlin 1832 — 40, XVIII), gegen
dessen günstige Auffassung R. Haym , Hegel und seine Zeit, Berlin 1857 sieh wendet;
638 NEUIIOCHÜEUTSCHK ZEIT. XIX JAHRH. § 175
das ha'chste die Sittlichkeit, für Schcliing die Kunst, so fand es Hegel in
der Wissenschaft. Die schon von Fichte unterschiedene Thesis, Antithesis
und Syuthesis ward bei Ilegel zur dialektischen Methode, welclie zu jedem
Begriffe den Gegensatz als gegeben ansieht und beide widerstreitende Be-
gritfe in einem dritten, hoeheren aufzuheben sucht. So schon in der 'Phaeno-
menologie des Geistes', Bamberg 1807; in der 'Wissenschaft der Logik',-
Nürnberg 1812. Hegels Vorlesungen führten dann die Methode und das
System durch alle Gebiete der Wissenschaft hindurch und regton in Juris-
prudenz und Theologie die systematische Construction gewaltig an. In der
Aesthetik stand ihm die griechische Kunst am hoechsten; Hegel schloss sich
hier an Schiller so an, wie SchcUing an GcBthe. Als Hegel 1831 von der
Cholera hinweggerafft wurde, stand er auf der Hcehe seines Ruhmes und
seiner Wirksamkeit. Seine Vorlesungen wurden von seinen Schülern heraus-
gegeben,'' und diese suchten nun seine Lehre fortzubilden, was vielfach zu
hohlen oder zu durchaus verneinenden Ergebnissen führte. Vergeblich aller-
dings unternahm es Schelliug, 1841 nach Berlin berufen, seine Philosophie
an die Stelle der Hegeischen zu setzen. Das Vertrauen auf die philosophi-
schen Systeme schwand; man beschränkte sich auf einzelne Gebiete der
Philosophie. Und so erlangte Jon. Friedrich Herbart,* geb. zu Oldenburg
1776, gest. zu Göttingen 1841, durch seinen Ausbau der Psychologie und
die darauf begründete Paedagogik einen weitreichenden und dauernden Ein-
fluss auf die spaeteren Philosophen von Fach. In weiteren Kreisen aber kam
etwa um 1850 ein Philosoph zur Geltung, dessen Hauptschriften bald nach
denen Hegels erschienen, aber eben wegen ihrer Feindseligkeit gegen alle
idealistische Philosophie zunächst völlig unbeachtet geblieben waren. Artuur
SciioPENHArER war 1788 in Danzig geboren und hatte, zum Kaufmann be-
stimmt, seine Eltern^ viel auf Reisen begleitet. Erst seit 1811 studierte er
in Berlin. Aber wenn Fichte aus dem Sollen des Ich die Welt der Erschei-
nungen ableitete, so war für Schopenhauer das unbewusste Wollen der Natur
der Ausgangspunct. Auf seine ErstUngsschrift 'Die vierfache Wurzel des
Köstlin, Tübingen 1870, vermittelt. 2) Daraus LB. 3, 1225. 3) Für diese
Schule waren die Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, Stuttgart, spaeter Berlin, 1827
bis 1846, der Sammelplatz gewesen. 4) Psychologie als Wissenschaft gegründet auf
Erfahrung Metaphysik und Mathematik, Koenigsberg 1824, 1825 II. Hartensteins Ausgabe
der kleineren philosophischen Schriften Herbarts, Leipzig 1841, 1842 III. Herbartsche
Reliquien, hg. von Ziller, Lpz. 1871. 5) Seine Mutter Johanna (1766 — 1838; ist mit
Reisebeschreibungen, kunstgeschiclitlichen Werken und Romauen hervorgetreten ; auch seine
§ 175 PHILOSOPHEN. 639
Satzes vom zureiclienden Grunde', Rudolstadt 1813, folgte Leipzig 1819 sein
Hauptwerk 'Die Welt als Wille und Vorstellung'; 1836 'Über den Willen in
der Natur', endlich Berlin 1851 Tarerga und Paralipomena', und gerade diese
Bemerkungen, ebenso geistreich und verständlich, als rücksichtslos und bitter,
haben die grcesste Wirkung nicht nur in Deutschland geübt. Dem Optimis-
mus, der bisher in der Philosophie wie in der Religion geherrscht hatte,
stellte er einen gründlichen Pessimismus entgegen. Das Christentum setzte
er hinter den Buddhismus zurück. Die Sittlichkeit leitete er aus dem Mit-
leid ab: Selbstvernichtung sei das hoechste, Entsagung das nsechste Gebot.
Freilich Schopenhauers Leben entsprach seiner Lehre nicht recht. Als Jüng-
ling reich und frei, kostete er erst alle Freuden der Welt gründlich durch.
1820 — 31 war er in Berlin habilitiert, las aber nicht. Seitdem lebte er in
Frankfurt als egoistischer Hagestolz; die Bewegungen von 1848, welche ihm
Besitz und Genuss bedrohten, durchlebte er zitternd und konnte sich der
Reactionszeit noch erfreuen.^ Von anderer Art war die Perscenlichkeit und
die Wirkung von Ludwig A. Feuerbach, welcher ebenfalls die bisherige
Entwickelung der deutschen Philosophie verwarf, ja überhaupt zu dem Schluss-
wort kam 'Keine Philosophie meine Philosophie'. Er gebeerte einer Familie
an, welche in Wissenschaft und Kunst vorzüghches geleistet hat. Sein Vater
Anselm von Feuerbach, dessen Lebensgeschichte er selbst 1852 geschrieben
hat, erwarb sich um das Strafrecht in Bayern und dadurch um die deutsche
Rechtswissenschaft grosse Verdienste. Ludwig Feuerbach,' 1804 zu Landshut
geboren und in Berlin Hegels Zuhoerer, wandte sich von der Theologie zur
Naturwissenschaft. Seit 1828 in Erlangen habilitiert, bekämpfte er die christ-
lichen Lehren durch seine 'Gedanken über Tod und Unsterblichkeit' 1830,
die geltende Philosophie durch seine 'Geschichte der neueren Philosophie',
Ansbach 1833— 37, H; Hess« 1841 'Das Wesen des Christentums', 1845 'Das
Wesen der Religion' folgen und schloss 1866 mit der^ Schrift 'Gott, Freiheit
und Unsterblichkeit vom Standpuncte der Anthropologie'. Indem er allen
Willen auf den Glückseligkeitstrieb zurückführte, ging er, wie Herbart und
Schopenhauer auf Kant, so seinerseits bis auf die Sensualisten des 18. Jahr-
hunderts zurück.^*' Er selbst war ebenso freundlich im Umgang als inmitten
Schwester Adele war Schriftstellerin. 6) Schopenhauers Lehen von Gwinner, Leipzig
1878. 7) K. Grün, L. Feuerbachs philosophische Characterentwickelung. Sein Brief-
wechsel und Nachlass, Leipzig u. Heidelberg 1874. 8) Zu Leipzig, wo auch die spsete-
ren Schriften Feuerbachs erschienen. 9) Als lU. Band der Sämtl. Werke 1846 — 66
erschienen. 10) Vortrefflich verstand er seine Ergebnisse kurz zusammenzufassen. Er
640 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAIIRH. § 175
bedrängter Ycrliiiltnissc standhaft und heiter. Er starb 1872 zu Rochenborg
bei Nürnberg.
Die philosophische Entwickelung ergriff von neuem auch die Theologie.
Schleiermacheis Neubegründung der Dogmatik wurde für die historische For-
schung durch August Neander " verwertet. 1789 zu Göttingen von jüdi-
schen Eltern geboren, in Berlin zu dem Nordsternbund'" Chamissos und
Yarnhagens gehtrrig, war er 180G zur evangelischen Kirche übergetreten und
lehrte von 1813 bis zu seinem Tode 1850 an der Universitset Berlin. In
seinen Schriften, insbesondere in der 'Allgemeinen Geschichte der christlichen
Religion und Kirche', Hamburg 1825 — 42, IV, trug er in einfacher, zuweilen
einförmig erscheinender Darstellung die Entwickelung des kirchlichen Glau-
bens und Lebens vor. Auf eben diesen Gegenstand übertrug nun aber Hegels
Methode David Friedrich Strauss.'^ In Ludwigsburg 1808 geboren, hatte
Strauss die Romantik abgestreift, aber das Streben nach Schoenheit der Darstel-
lung, selbst in poetischer Form, bewahrt. Sein Leben Jesu, kritisch bcar-
beitef, Tübingen 1835. 36, H, fasste die evangelische Geschichte als Mythe,
d. h. Sage aus dogmatischer Tendenz, in welcher die wirklichen Vorgänge
durch die Beziehung auf die Verheissungen des alten Testaments in das
Wunderbare hinüber gespielt worden seien. Seine Stelle als Repetent in
Tübingen musste er nun aufgeben ; eine Berufung nach Zürich 1839 erregte
dort einen Volksaufstand. Er beschränkte sich seitdem auf die schriftstelle-
rische Thaetigkeit und richtete gegen die bisherige Dogmatik sein Buch 'Die
christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwickelung und im Kampfe
mit der modernen Wissenschaft', Tübingen 1840. 41, IL Den Koenig Fried-
rich Wilhelm IV von Preussen bekämpfte er in der Schrift Der Romantiker
auf dem Throne der Caesaren' oder 'Julian der Abtrünnige', Mannheim 1847;
als er jedoch in die würtembergische Kammer gewsehlt worden war, zeigte
er sich so conservativ, dass ihm die Waehler bald ihr Vertrauen entzogen.
Er zeichnete dann in glänzender Weise eine Reihe von Schriftstellern, die
für die Freiheit gekämpft und gelitten hatten: 'Schubarts Leben in seinen
Briefen', Berlin 1849, U; Leben und Schriften von Frischlin, Frankfurt a. M.
1855; Hütten, Leipzig 1858 — 60, III; Reimarus, ebd. 1862. Der Erfolg von
Renans Vie de Jesus veranlasste ihn, sein Leben Jesu für das deutsche Volk'
gab der materialistischen Lehre von Moleschott den Ausdruck : Der Mensch ist was er isst'.
11) O. Krabbe, A. Neander, Hamburg 1852; J. L. Jacobi, Erinnerungen an A. Neander,
Halle 1882. 12) § 174, 23. 13) Lebensgeschichte von Ed. Zeller, Bonn 1874;
^y. Lang, Leipzig 1874; A. Hausrath, Heidelberg 1876. 78, II. Zeller hat auch die Ge-
§ 175 THEOLOGEN. 641
zu bearbeiten, ebd. 1864. Mehr Leser fand 'Der alte und der neue Glaube',
zuerst Bonn 1872, worin er an die Stelle der Religion Kunst und Wissenschaft
setzte. In Darmstadt, wo er für die Grossherzogin Alice Vorlesungen über
Voltaire (Bonn ^1872) ausarbeitete, lebte Strauss 1865 — 72; er starb in
seiner Heimatstadt 1874.
Indem Strauss in der evangelischen Geschichte eine mythische Grund-
lage suchte, wandte er auf diesen Gegenstand die historische Kritik an, welche
Barthold Georg Niebuhr,*^ selbst angeregt durch die homerischen Unter-
suchungen F. A. Wolfs, an den Anfängen Roms geübt hatte. Niebuhr hat
die Geschichtsforschung in hoeherem Sinne eingeführt. Zu Kopenhagen 1776
geboren, war er früh mit seinem Vater, der sich durch eine wissenschaftliche
Reise nach Arabien dauernden Ruhm erworben hat, nach Meldorf in Dit-
marschen gekommen, wo Boie und Voss tiefen Einfluss auf ihn übten. 1800
trat er als Finanzbeamter in dtenische Staatsdienste, ging aber 1806 nach
Preussen. An dem Aufschwung des Staates nach dem Umsturz durch Na-
poleon nahm er erheblichen Anteil; an d^r neuen Universitset Berlin hielt
auch er Vorlesungen. Seine 'Roemische Geschichte', Berlin 1812,^^ erwies
die Schilderung der roemischen Koenigszeit bei Livius u. a. als eine völlig
unzuverlässige, sagenhafte Tradition, und hellte die Geschichte der Republik
namentlich durch Anwendung einer wahrhaft ausgezeichneten Kenntnis volks-
wirtschaftlicher Verhältnisse auf. Niebuhr versenkte sich ins Altertum als
wenn es Gegenwart wsere. Die strengste Wahrheitsliebe erschien ihm überall
als eine sittliche Aufgabe, und von dieser innigen Teilnahme zeugt auch der
körnige Ausdruck seiner Schriften.^''' 1816 — 23 war er in Rom als Diplomat,
seit 1825 in Bonn an der neubegründeten Universitset thsetig. Die Juli-
revolution erschütterte den conservativen Mann auf das tiefste; erstarb 1831.
Vielfach in Gegensatz zu Niebuhr stand Friedrich L. G. von Raumer,
dessen wissenschaftliche Verdienste freilich ungleich geringer, dessen Wirk-
samkeit aber, durch eine grosse Rührigkeit und ein langes Leben unterstützt,
immerhin hoch anzuschlagen ist. Geb. 1781 zu Wörlitz bei Dessau, war
auch er preussischer Finanzbeamter unter Hardenberg. 1811 ward er Pro-
fessor der Staatswissenschaft und Geschichte zu Breslau, 1819 in Berlin
und starb hier 1873.^^ Von seinen wissenschaftlichen Arbeiten ward die 'Ge-
sammelten Schriften von Strauss herausgegeben, Bonn 1876 — 78, XI. 14) Leben von
Franz Eissenhardt, Gotha 1886. 15) III. Bd. 1832. 16) Vgl. LB. 3, 1329. 17) Seine
Lebenserinnerungen und den Briefwechsel hatte er selbst herausgegeben, Leipzig 1861, III;
042 NEUIIOCILDEUTSCIIE ZEIT. XIX JAIIRII. § 175
schichte der Hohcnataufen' 1823—25, VI, von der romantischen Vorliebe
gerade für diese Zeit des Mittelalters besonders günstig aufgenommen;'^
Raumer stand Tieck nahe. Er sorgte für die Verbreitung der historischen
Studien teils durch die Einrichtung von öffentlichen Vorlesungen, teils durch
sein 'Historisches Taschenbucli seit 1830.'^
Neben Räumer lehrte an der Berliner Universitset Leopold von Ranke, ^^
der groDsste Oeschichtschreibcr der deutschen Nation, welcher Forschung und
Darstellung verband und diese beiden Aufgaben gleich ausgezeichnet loeste.
Geboren zu Wiche a./d. Unstrut 1795, starb er zu Berlin 1886, nachdem er
fast bis zum letzten Tage seine litterarische Tha3tigkeit fortgesetzt hatte. Auf
Schulpforta und in Leipzig, besonders unter G. Hermann, war er als Philo-
loge tretHich ausgebildet worden und 1818—25 in Frankfurt a. d. 0. Gym-
nasiallehrer gewesen. 1824 trat er hervor mit einer 'Geschichte der romani-
schen und germanischen Völker 1494 — 1514', mit einem Beiheft 'Zur Ki-itik
neuerer Geschichtschreiber'.-' Seine Grundlage waren besonders die venetia-
nischen Gesandtschaftsberichte, welche er zunaechst auf der Berliner Bibliothek
vorfand ; und von der kühlen, vorsichtigen, fast parteilosen Darstellung dieser
Diplomaten scheint seine Auffassung und Ausdrucksweisc ebenfalls bestimmt
zu sein. Der Hegeischen Philosophie gegenüber vermeidet er die Zurück-
führuug der politischen Verhältnisse auf Schlagwörter und Lehrsätze; er will
nur 'zeigen, wie es gewesen ist". 1827 — 31 bereiste er Italien und Hess sich
vorher in Wien durch Gentz mit den Gedanken der damaligen Staatsmänner
vertraut machen, wsehrend in Rom der preussische Gesandte Christian Karl
Josias von Bunsen ihm nahe stand. Zuna3chst bearbeitete er aus der Ge-
schichte seiner Zeit 'Die serbische Revolution', Hamburg 1829; dann folgten ^^
1884 — 36 'Die roemischen Psepste des 16. und 17. Jahrhunderts', wohl sein
bedeutendstes Werk;-^ 1839 — 43 'Die deutsche Geschichte im Zeitalter der
Reformation', V; 1847. 48 'Neun Bücher preussischer Geschichte', denen sich
etwa gleichzeitig auch 'Franzoesische' und 'Englische Geschichte' anschlössen;
1869 2* 'Geschichte AValleusteins', 1871 'Die deutschen Mächte und der
Fürstenbund', 1873 'Genesis des preussischen Staates' und 'Aus dem Brief-
wechsel Friedrich Wilhelms IV mit Bunsen', 1877 'Die Denkwürdigkeiten
Hardenbergs'. Seine 'Sämtlichen Werke' waren 1867 — 81 , in 48 Bänden zu
auch seinen 'Litterarischen Nachlass' 1869, IL 18) Daraus LB. 3, 1339. 19) Leipzig,
spseter von Anderen fortgeführt. 20) Eng. Guglia , Leopold von Rankes Lehen und
Werke, Leipzig 1893. 21) Lpz. u. Berlin. 22) Berlin, wie die naechsten Werke.
23) LB. 3, 1471. 24) Leipzig.
§ 175 HISTORIKER. 643
Leipzig erschienen. Eine Weltgeschichte, wozu es ihn schon in seinen An-
fängen getrieben hatte, begann er noch 1880 und führte sie bis zum VII. Band
und bis zu Ende des 11. Jahrhunderts. Dazu kam seine Teilnahme an Zeit-
schriften, insbesondere an der 'historisch-politischen', Hamburg, dann Berlin
1832 — 36; und eine wahrhaft allseitige Leitung der historischen Studien in
Deutschland. Die Ergebnisse der Geschichtsquellen, in der Sammlung der
Mommienta Germanice historica, welche die von Freiherrn von Stein begründete
Gesellschaft unter der Leitung von G. H. Pertz zu Hannover seit 1826
herausgab, fasste die Schule Rankes zusammen als 'Jahrbücher des Deutschen
Reichs', Berlin seit 1837. Seinen begeisterten Zuhoerer, Kcenig Maximilian II
von Bayern, regte Ranke zur Stiftung der historischen Commission in Mün-
chen 1858 an. Und so dauern die Wirkungen des ausgezeichneten Histo-
rikers auch weiterhin fort.
Neben Ranke ist Friedrich Christoph Dahlmann hervorzuheben, welcher
wie Arndt unter schwedischer Oberhoheit geboren war, zu Wismar 1785,
und wie Arndt als Professor zu Bonn 1860 starb.^^ 1812 ward er Professor
in Kiel und zugleich Secretar der schleswig-holsteinischen Prselaten und Ritter-
schaftsdeputation. In dieser Stellung ward er ein Führer der schleswig-
holsteinischen Bewegung, welche nach schweren Kämpfen und Leiden so
wesentlich zur nationalen Neugestaltung Deutschlands beitrug. Im Frank-
furter Parlament stand Dahlmann an der Spitze der preussischen Partei. Yon
seinen Schriften ward die Ausgabe des Chronisten von Ditmarschen, Johann
Adolphi genannt Neocorus (1598), Kiel 1827, H, auch für deutsche Sprache
und Altertümer bedeutsam. Eine 'Dsenische Geschichte' führte er bis zur
Reformation-*' — und hatte auch hier zur germanischen Sage wichtige Unter-
suchungen zu führen. Auf den grossen Leserkreis wirkte Dahlmann beson-
ders durch seine 'Geschichte der englischen Revolution', Leipzig 18-44, welcher
1845 die 'Geschichte der franzoesischen Revolution' sich anschloss.
Dahlmanns nahe Freunde, seine nsechsten Genossen unter den Göttinger
Sieben von 1837, waren die Brüder Grimm,^^ die Begründer der deutschen
Philologie neben Lachmann,^^ der vergleichenden Sprachwissenschaft neben
Franz Bopp.^^ Durch diese Gelehrten wurde historisch ausgeführt , was
Wilhelm von Humboldt philosophisch als Wesen der Sprache erschlossen hatte.
25) A. Springer, DaMmanns Leben, 1870. 72, II. Vgl. § 168, 9 a. 26) Hamburg
1840 — 44, III. 27) Briefwechsel zwischen J. und "W". Grimm, Dahlmann und Gervinus,
hg. V. E. Ippel, Berlin 1885. 86, II. 28) § 167, 54. 29) § 166, 43.
644 NEUIIOCIIDEUTSCIIE ZEIT. XIX JAIIKII. § 175
Gegenüber dem roiclion Erblülien der historisch-philosopliiachen Studien
in Deutschland blieb die Naturwissenschaft jener Zeit in Deutschland hinter
ihren Fortschritten in andern Ländern vielfacli zurück, nicht ohne Verschul-
den der Naturpliilosophio und ihrer voreiligen Schlüsse. Ein Forscher aller-
dings vertrat auch damals schon die cxacte Untersuchung und dehnte sie
zusrleich über das (lesamtgebiet der Naturwissenschaften aus: indem er über-
dies die Ergebnisse der geschichtlichen Forschungen sich aneignete, nahm
er in der Wissenschaft und als deren Vertreter in der Gesellschaft eine
Stellung ein, welche ihn mit Goethe vergleichen lässt. Alexander vok
Hr.MBOLDT war geboren zu Berlin 1769 und starb hier 1859. Er studierte
in Göttingen und Freiberg und begleitete G. Förster auf seiner Reise am
Nieden-hein.^" 1792 — 97 lebte er als Oberbergmeister in den damals preus-
sischen Fürstentümern Ansbach und Baireut. 1796 durch den Tod seiner
Mutter in den vollen Besitz seines Vermocgcns gelangt, trat er 1798 über
Paris und Madrid seine "Weltreise an, die ihn von 1799 bis 1804 in Mittel-
und Südamerica festhielt, von der er aber auch die reichsten Ergebnisse für
alle Fächer der Naturwissenschaft zurückbrachte. Er fasste sie zusammen in
dem Werke Voi/ac/e anx regions eqamoxiales du Nouveau Conünent, welches
er in Paris 1808 — 27 ausarbeitete und mit Aufwendung seines VermoDgens
grossartig ausstattete.^' Eine zweite grosse Reise unternahm er von Berlin
aus durch Russland bis zum Altai und zur chinesischen Grenze 1829. Die
mächtigsten Eindrücke seiner Reisen legte er in formvollendeter, oft poesie-
voUer Darstellung nieder in seinen 'Ansichten der Natur,^" zuerst 1807, spseter
mit sorgfältiger Benutzung aller weiteren Fortschritte der Forschung. Ein
wissenschaftliches Gesamtbild der Natur vom Sternensystem bis zu den Lebe-
wesen, zuletzt dem Menschen, zu entwerfen, hatten früh schon Gesprsechc
mit Gcethe ihn angeeifert. Nachdem er den Gegenstand in offentÜchen Vor-
lesungen zu Paris und Berlin mehrmals durchgesprochen hatte , fasste ihn
Humboldt zusammen als 'Kosmos, Entwurf einer physischen Weltbeschreibung',
Stuttgart u. Augsburg 1845—58, IV." Ebenso allseitig im Spenden seines
Wissens wie unermüdlich im Fortlernen und voller Anerkennung für die Mit-
strebenden war er zugleich bei den preussischen Koenigen Friedrich Wil-
helm III und IV ein Fürsprecher freisinniger Politik und überall ein Ver-
mittler der Culturnationen.
30) § 164 nach Anm. 17. 31) XX Bände Fol. X 4». 32) LB. 3, 1161.
33) Spaeter kam noch der Anfang des V. Buchs hinzu.
§ 176 NATURFORSCHER. 645
Von Humboldt wesentlich gefördert, begründete Karl Ritter-*^ die
Geographie als eine für sich bestehende und umfassende Wissenschaft. Ge-
boren zu Quedlinburg 1779, war er lange als Erzieher theetig, ehe er 1820
an der Kriegsschule und der Universitaet zu Berlin Anstellung fand. Er starb
hier 1859. Von seiner Erdkunde' erschienen zwei Bände, Berlin 1817 u. 18;
eine neue Ausgabe, welche alle bisherigen Forschungen zusammenfasste, von
1822 ab.^^ Mit Africa beginnend, schritt sie vom Einfachen zum Mannig-
faltigen vor. Eine ausserordentliche Gelehrsamkeit verband sich in diesem
Werke mit einer begeisterten Hingabe an den Gegenstand, worin Menschheit
und Welt in ihrem grossen Zusammenhang gefasst waren. -^^
§ 176.
Dass die deutsche Litteratur im zweiten Drittel des Jahrhunderts eine
neue Richtung nahm, war dadurch bedingt, dass an die Stelle der Kunst,
welche bis dahin das geistige Leben beherrscht hatte, die Beschäftigung mit
der Politik trat. Die sehnsüchtige Bewunderung der Vergangenheit gab dem
Wunsche Raum, die Gegenwart nach dem Vorbild der Nachbarnationen, zu-
nächst der franzoesischen freier zu gestalten. Die Philosophie, welche den
bestehenden Staat und die kirchliche Überlieferung zu begreifen und zu
stützen unternommen hatte, wandte sich der Verneinung zu. Die Pariser
Julirevolution 1830, Hegels Tod 1831 und der Tod Goethes 1832 beschlossen
die alte Zeit; eine neue war schon vorher durch den Spott der jüngeren
Schriftsteller ' über jene Vertreter der Poesie und der Philosophie angekündigt
worden.
Diese jüngeren Schriftsteller konnten ihr Ziel nur durch eine immer
wiederholte Einwirkung auf die Zeitgenossen zu erreichen hoffen. Sie nahmen
die Zeitschriften und Zeitungen in Besitz, und erlangten so zugleich die Mittel
zu einer unabhängigen, selbständigen Lebensstellung. Freihch brachte diese
34) Krsemer, C. Ritter, Ein Lebensbild nach seinem hslichen Nachlass, Halle 187.5, III.
35) Mit dem besondern Titel Die Erdkunde im Verhältnis zur Natur und zur Geschichte
oder allgemeine vergleichende Geographie als sichere Grundlage des Studiums und Unter-
richts in physischen und historischen Wissenschaften'. 36) Triebt die verwirrende
Mannigfaltigkeit zügelloser Gewalten, sondern die Anschauung von dem Mass und dem
Gesetz in der unendlichen Fülle und Kraft ist es, was uns auch schon in der sinnlichen
Natur mit der Ahnung des Göttlichen unwiderstehlich durchschauert': Einl. zur Erdkunde.
§ 176. 1) Börne nannte Goethe den gereimten Knecht, Hegel den ungereimten. So ur-
teilte auch Menzel über Goethe und Hegel absprechend, nur schrieb er ihnen die Schuld an
der Zügellosigkeit der Zeitgenossen zu. Allerdings gab gerade Hegel dem jüngeren Ge-
646 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAJHUI. § 176
Arbeit an der Tagcsscbriftstcllerei auch eine überrasche Production mit
sicli und die immer stärker anschwclh^nde Masse der Littcratur musstc ilirem
inneren Werte schjedlicli werden. Noch blieb zwar zuna^chst eine hoehere
Anforderung an die Form in Geltung und wenigstens der leichte, witzige,
starke Ausdruck wurde noch erstrebt und empfunden. Noch ward die
poetische Gestaltung auch der politischen Wünsche gern gesolm und der neue
Stoff der Dichtung sollte mit der überkommenen schoenen Form zusammen
wirken. Daher pflegten die neuen Schriftsteller auch die Kritik in zahl-
reichen Zeitschriften; ja sie suchten durch historische Zusammenfassung ihrer
Urteile diese zu begründen und zu verstärken : mehrere Handbücher der
Litteraturgeschichte sind von den Tagesschriftstellcrn selbst verfasst worden.
Eben diese Ausbildung des neuen Stils wirkte selbst in die Kreise
hinein verführerisch, gegen welche sich die politische Richtung der jungen
Schriftsteller erhob. Gentz begrüsste Heine mit vollem Lobe, und Metternich
bemühte sich Börne zu gewinnen. Der Aristocratie selbst gebeerte ein Teil-
nehmer an der neuen Litteratur an, dessen Character ein wunderbares Ge-
misch war aus echter Ritterlichkeit und eitler Effekthascherei, frivoler
Menschenverachtung und tiefer Empfindung für das Schcene und Edle, und
dessen Leben ^ ein wahrer Roman genannt werden kann. Fijrst Hermann
L. H. von Puckler-Muskau war in dieser oberlausitzischen Stadt 1785 ge-
boren, überwarf sich als Student und Offizier durch seine unsinnige Ver-
schwendung mit seinem Vater, reiste fast mittellos nach Italien, kämpfte in
den Freiheitskriegen mit Auszeichnung, verheiratete sich mit einer älteren
Dame, der Tochter des Staatskanzlers Hardenberg, Hess sich, von ihr selbst
dazu veranlasst, scheiden, um iu England eine reiche Heirat zu suchen und
so neue Mittel für seinen Aufwand zu gewinnen, lebte, nachdem er imver-
richteter Sache zurückgekehrt -war, wieder mit seiner geschiedenen Frau,
reiste durch Nordafrika und Kleinasien, gestaltete seine Besitzungen mit dem
feinsten Sinn für Gartenbaukunst aus und starb, nachdem er 1866 noch den
preussischen Generalstab begleitet hatte, 18^1 auf seinem vseterlichen Erbgut
Branitz bei Cottbus. Er schrieb selbst 'Andeutungen über Landschafts-
gärtnerei' 1834.3 Aber sein erstes Werk waren die 'Briefe eines Verstor-
schlecht die Waffe der Dialektik iu die Hand. 2) Lndniilla Assing, Fürst H. von
Pückler-Mnskau, Hamburg 1873; von der«. Des Fürsten H. v. P.-M. Briefwechsel und Tage-
bücher, Hamburg 1876, IX. 3) Zu Stuttgart, wie auch die spseteren Schriften. Die
Verdienste des Fürsten um die Landschaftsgärtnerei sind von Petzold, Leipzig 1874, ge-
§176 F. PÜCKLER. VARNHAGEN. 647
benen', Stuttgart 1831 : diese Briefe, die er aus England an seine Frau ge-
schrieben hatte, zeichneten mit feiner Beobachtung und vornehmem Spott,
auch in der eigentümlichsten Sprachmeugerei, die aristocratischen Kreise
Englands und traten für die bedrückten Irländer und gegen den kirchlichen
Pietismus ganz im Sinne des deutschen Liberalismus ein. Die gleichen An-
sichten jeusserte der Fürst in 'Tutti-frutti' 1835 und sonst. Seine spseteren
Reisebeschreibungen veröffentlichte er unter dem Namen Semilasso.
Mit noch groesserer Entschiedenheit kam Kael August Varnhagen von
Ense den freisinnigen und kosmopolitischen Anschauungen entgegen. Geb.
zu Düsseldorf 1785 war er als Student der Medicin mit Chamisso und Kerner
befreundet. 1809 in die oesterreichische Armee eingetreten, kam er in diplo-
matischen Diensten nach Paris, welches er 1814 in Hardenbergs Gefolge
wiedersah. 1815 — 19 lebte er als Legationsrat zu Karlsruhe, dann amtlos
in Berhn, wo er 1858 starb. 1814 hatte er Rahel Levin (oder mit ihrem
spseteren Namen Robert) geheiratet, welche vierzehn Jahre älter war als er.
Nach ihrem Tode 1833 gab er ihre Briefe und sonstigen Aufzeichnungen
heraus.* Vielbewundert war Varnhagen als Biograph und seine "VVeltlseufig-
keit gab ihm hiefür manchen Vorteil; im Anschluss an Goethe hatte er sich
einen anmutig fliessenden Stil angeeignet.^ Seine 'biographischen Denkmale'
erschienen zu Berlin 1822 — -45, V, seine 'Denkwürdigkeiten und vermischten
Schriften' 1835 — 46, VII.*^ Längst hatte Varnhagen alle Äusserungen der
politischen Unzufriedenheit gesammelt; er war auch der geheime Förderer
und Beschützer der jungen Schriftsteller." Er hatte Heine in seinen Salon
aufgenommen und ihn spaeter nach Paris empfohlen. Schon durch seine
Gattin gebeerte er den jüdischen Kreisen an, welche die neue Bewegung be-
sonders eifrig ergriffen. Von ihnen ward der Witz, besonders da^ Wortspiel
eifrig gepflegt und ausgebildet. Neben Heine steht mit noch groesserer
Fruchtbarkeit auf diesem Gebiet, aber auch ganz darauf beschränkt Moriz
Gottlieb (eigentlich Moses) Saphir,^ geb. 1795 zu Lovas-Bereny in Ungarn.
schildert worden. 4) 'Rahel, Ein Buch des Andenkens für Freunde', Berlin 1834, III.
'Gallerie von Bildnissen aus Raheis Umgang und Briefwechsel', Leipzig 183G. Spteter
folgte von seiner Nichte herausgegehen 'Raheis Briefwechsel mit Varnhagen' 1874. 75, VI.
'Raheis Briefwechsel mit David Veit', Leipzig 1877. 'Aus Raheis Herzensleben', Leipzig
1877. 5) LB. 3, 2, 1313. 6) Zu Mannheim, spteter Leipzig. Ausgewählte Schriften
'Leipzig 1871 — 76, XIX. Nach seinem Tod veröffentlichte seine Nichte Ludmilla Assing
seine 'Tagebücher' 1861. 2, IV, nachdem sie schon durch die 'Briefe A. v. Humboldts an
Varnhagen', Leipzig 1860, grosses Aufsehen erregt hatte. 7) Gutzkow, Rückblick S. 20.
Laube, Litt.-gesch. 4, 212. 8) Der Anfang einer Selbstbiographie steht in der Volksausgabe
648 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAHRH. § 176
Seit 1822 in Wien mit dorn Theaterdichter Bfcuerlc verbunden, wandte er
sich 1826 nach Berlin, wo indessen sich ebenso wie in Wien die ernsteren
Dichter gegen ihn verbanden. Dann genoss er in München eine Zeit lang
die Gunst des Koenigs Ludwig; kehrte aber seit 18;}4 wieder nach Wien
zurück, jetzt ganz Mettcrnichs Absichten dienstbar. Neben seinen zahlreichen
Witzblättern wirkte er durch sogenannte Akademien, Vorlesungen, in denen
ein Wortspiel dem anderen folgte. Sapliir starb 1858 zu Baden bei Wien.
Ganz anders verwendete Ludwig Börnk " die Kraft seines Witzes.
Eigentlich Lob Baruch genannt, war er 1786 in Frankfurt geboren. In Berlin
kam er im Hause der Frau Herz '° mit den littcrarischen Kreisen der roman-
tischen Schule in Verbindung. In der napoleonischen Zeit war er Polizei-
actuar in seiner Vaterstadt, aber die Wiederherstellung der freistsed tischen
Verfassung 1814 zwang ihn zurückzutreten. Bereits war er als Theater-
recensent gefürchtet; unbekümmert um philosophische Systeme urteilte er als
'Naturkritikef und Hess sich oft durch politische Beweggründe leiten." Im
Anschluss an Jean Paul suchte er durch ungeheure Übertreibungen zu wirken.*''*
Seine Zeitung 'Die Wage' ward mehrmals unterdrückt; doch vergeblich suchte
man ihn für die oesterreichische Politik anzuwerben. Dann wusste Cotta seine
Feder zu Berichten aus Paris zu gewinnen, wo Börne sich seit 1819 wieder-
holt und nach der Julirevolution bis zu seinem Tode 1837 ständii; aufhielt.
So hoehnisch er auch über Deutschland urteilte, die Stimmung besonders am
Oberrhein und in Oesterreich ward durch ihn geleitet.
Auf die Bahnen Heines und Börnes drängte sich eine Schar jüngerer
Schriftsteller; noch einmal aber gelang es den Regierungen 'das junge
Deatschland' zu unterdrücken und auf andere Wege zu bringen.'- Dieser
Name stammt von Ludolf Wiexbarg, welcher 1802 zu Altona geboren,
1872 zu Schleswig starb. Seine 'Aesthetischen Foldzüge', Vorlesungen, welche
er als Privatdocent in Kiel gehalten hatte und zu Hamburg 1834 drucken
Hess, widmete er 'dem jungen Deutschland'. Der Name erinnerte an die
•
seiner Scbriften, Brunn 1888, XXVI. 9) Gegen Heines Sclimiehschrift (§ 174, nach Anni.
51) verteidigte ihn Gutzkow, L. Börne 1840. 0. Alberti, L. Börne, Berlin 1886. Mich. Holz-
tnann, L. Börne 1888. Börnes Gesammelte Schriften waren Hamburg 1829 — 34, YIIl erschienen;
vollständig 1862, XII. 10) § 166, 37. Briefe des jungen Börne an Henriette Herz, Lpz. 1861.
11) So wenn er an Schillers Teil Anstoss nimmt, weil der Held sich nicht hätte zwingen
lassen dürfen, nach dem Apfel auf dem Kopfe des Sohnes zu schiessen und weil Gesslers
Tcptuug Meuchelmord sei. IIa) So behandelte er die damalige Post als 'Postschnecke'.
12) Besonders eingehend: Joh. ProeUs, Das junge Deutschland, Stuttgart 1892. F. Weh!,
§ 176 BÖRNE. DAS JUNGE DEUTSCHLAND. 649
giovine Italia^ welche unter Mazzinis Führung die italienische Revolution in
Angriff nahm, und wieder an die jeime France, welche besonders durch
Victor Hugo vertreten, dem Regehvesen der alten, classischen Poesie Frank-
reichs eine neue wildphantastische, die sogenannte romantische entgegen
stellte. Das junge Deutschland blieb hinter diesen verwandten Richtungen
zurück. Wienbarg verstummte bald und ward vergessen. Ebenso wenig
konnten mehrere BerUner Schriftsteller Dauerndes schaffen. Gustav Kühne, ^^
geb. zu Magdeburg 1806, gest. zu Dresden 1888, führte in der litterar-
historischen Schrift 'Weibliche und nicännliche Charactere', Leipzig 1838, H
besonders die Yertreterinnen der Frauenemancipation vor, Rahel, Bettina und
Charlotte Stieglitz. Diese letztgenannte, die junge und schoene Gattin eines
Berliner Dichters, der nach grossen Anlseufen sich in Kraftlosigkeit zu ver-
lieren schien, erdolchte sich 1834, um ihn sich selbst und seinen grossen
Yorsätzen zurückzugeben. Ihr nahe befreundet war Theodor Mundt,^* dessen
Roman 'Madonna, Unterhaltungen mit einer Heihgen', Leipzig 1835, die
Dürftigkeit der Erza^hlung durch sinnliche Schilderungen und politische Ten-
denz zu vergüten suchte. Weit groässer und dauernder war das Ansehn
zweier Schriftsteller, welche beide neben ihrer historisch-kritischen Thsetigkeit
auch Romane verfasst und das Theater durch Dichtung und Leitung beein-
flusst haben: Karl Gutzkow und Heinrich Laube.
Gutzkow hat seine 'Knabenzeit' selbst beschrieben,^^ auch über speetere
Erlebnisse berichtet er in seinen 'Rückblicken'.^^ Als der Sohn eines prinz-
lichen Bereiters war er 1811 zu Berlin geboren und hatte Theologie studiert,
folgte aber 1830 einer Aufforderung Wolfgang Menzels, ihm in Stuttgart bei
der Redaction des Morgenblattes behilflich zu sein. MenzeP^ verfocht die christ-
lich-germanischen Grundsätze der Burschenschaft und griff in seinem Buche
'Die deutsche Litteratur' 1828'^ Goethe masslos heftig an, wahrend er sich
den schwsebischen Dichtern und Politikern nahe hielt. Er unterstützte Gutz-
kow noch, als dieser 'Briefe eines Narren an eine Närrin', 1832, mit frei-
D. j. Deutselilaud, Hamburg 1886 (mit unwichtigen Briefen). 13) E. Pierson, G. Kühne,
sein Lebensbild und Briefwechsel mit Zeitgenossen. Mit einem Vorwort von W. Kirehbach,
Dresden und Leipzig (1890). 14) Geb. 1804 zu Potsdam, gest. in Berlin ISÜl. Er
verfasste 'Ch. Stieo-litz, ein Denkmal', Berlin 1835. 'Die Kunst der deutschen Prosa. Aesth-
etisch litterarisch gesellschaftlich', Berlin 1837. Auch eine 'Geschichte der Litteratur der
Gegenwart', Berlin 1842. 15) Frankfurt 1852. 16) Berlin 1875. 17) 1798—1873.
W. Menzels Denkwürdigkeiten, hg. von seinem Sohne K. Menzel, Bielefeld u. Leipzig 1877.
18) Später schrieb Menzel: 'Deutsche Dichtung von der ältesten bis auf die neueste Zeit*,
650 NEUIIOCHDEUTÖCIIE ZEIT. XIX JAIIRH. § 17G
sinnigen Anspielungen schrieb, und in Maha Guru, (lescliichte eines Gottes'
1833, die psychologische Entwickelung eines Dalailama phantastisch ausmalte.
Doch Gutzkow schloss sich in Hamburg, dann in Frankfurt den Verehrern
Heines an und bekämpfte Christentum und Ehe mit haOmischem Spott. Er
Hess Öchleiermachers Jugendbriefe über die Lucindo '^ 1835 wiederabdrucken
und fügte eine herausfordernde Vorrede hinzu. Er legte seine Ansichten
nach seiner Weise ironisch dar in dem Romane "Wally die Zweiflerin, Mann-
heim 1835, wozu der Selbstmord der Frau Stieglitz, der Roman LeHa von
Georges Sand und eine lüsterne Scene aus dem jüngeren Titurel neben eignen
Grübeleien des Dichters und von ihm geführten Gespraechen den wunderlich
verquickten Stoff darboten. Nun brach Menzel im Morgenblatt ^° gegen die
ganze 'Unmoralische Litteratur' los. Der Bundestag sah sich veranlasst einzu-
schreiten. Indem er, wie es scheint, auf eine Stelle des Romans selbst-' zu-
rück griff, verbot er die Schriften des jungen Deutschlands', d. h. ausser
Gutzkow noch die von Wienbarg, Laube, Mundt, sowie Heines Werke. Gutz-
kow selbst wurde wegen seines Romaus mit Gefängnis bestraft, dann unter
polizeiUche Aufsicht gestellt. Er und seine Schicksalsgenossen — Heine war
freilich in Sicherheit — bewiesen keineswegs ihren Märtyrermut. Sie ent-
schuldigten sich gegen die Behoerden, beschuldigten sich unter einander.--
Gutzkow schilderte im na?chsten Roman 'Seraphine' die Liebesgeschichten
einer Gouvernante, in 'Blasedow und seine Soehne' 1838 die Erlebnisse einer
Familie, deren Scehne sämtlich zuletzt Journalisten werden. Dann aber suchte
er auch die Bühne -^ dem modernen Leben zu eröffnen, wobei ihm das fran-
zoesische Intrigueustück als Muster diente. Eigentümlich deutsch aber war
die Vorüebe für das historische Costüm, für die Dramatisierung geschicht-
licher Vorgänge, in denen sich die Bestrebungen der Gegenwart abspiegeln
Hessen. So schildert Gutzkow die Journal istenthsetigkeit in 'Richard
Savage' 1842,-^ die fi-eireligia3se Bewegung in 'üriel Acosta', dem Lehrer des
Spinoza-** 1847; und wenn hier der Streit gegen die Unduldsamkeit tragisch
ausgeht, so wird die Heuchelei komisch gestraft in dem 'Urbild des Tartuffe'
1847. Heiterer noch und ansprechender hatte 'Zopf und Seh werf 1844 den
Gegensatz zwischen dem rauhen Friedrich Wilhelm I von Preussen und
Stuttgart 1.S58. III. 19) § 116, 48. 20) 16. Sept. 1835. 21) I Buch, Cap. 2.
22) Pr.jel88 11, Pierson, Kühne 53. 54. 23) Dramatische Werke 1842—57, IX.
'Iö62. 63, XX. 1847. 48 war er an der Leitung des Theaters zu Dresden beteiligt.
24) Aufgeführt wurde dieser dramatische Erstling Gutzkows 1839. 24a) Novellistisch
hatte Gutzkow den Gegenstand schon 1834 im Morgenblatt behandelt : 'Die Saddncaer von
§ 176 GUTZKOW. LAUBE. 651
seinen bildungseifrigen Kindern dargestellt, wsehrend das Bild der Jugend-
zeit Goethes im 'Koenigslieutenanf 1852 durch gesuchte litterarhistorische An-
spielungen und Übertreibungen aller Art abstiess. Die in die Gegenwart
verlegten Dramen Gutzkows leiden an seiner Yorliebe für schwankende Cha-
ractere, welche sich für jeden Theatereffect hergeben müssen. ^^ jS^ach 1848
kehrte Gutzkow zum Roman zurück, der ihm viel bessere Gelegenheit bot
seine scharfe und vielseitige Beobachtung der Zeitgeschichte zu verwerten.
Er flocht nicht nur eine Reihe von Zeitgenossen mit wenig veränderten Is'amen
in seine Erzsehlung ein, sondern versuchte auch alle an den Ereignissen be-
teiligten Schichten der Bevölkerung so viel als moeglich zu berücksichtigen.
Triumphierend ruft er aus, der alte Roman des Nacheinander sei abgethan;
er eröffne den Roman des Nebeneinander. Dass er dabei die verschlungenen
Faeden oft durcheinander wirrte, ja seine Absichten zuweilen selbst zu ver-
gessen schien, musste man ebenso in den Kauf nehmen, wie die immer zu-
nehmende Verwilderung seiner Sprache. Zunächst stellte er die eben über-
standene Revolutionszeit dar in den 'Rittern vom Geiste' 1850; dann im
'Zauberer von Rom', 1858, die etwa um 1840 hervortretende jesuitische Propa-
ganda, welche er auf Grund umfassender und eindringender Studien in einer
Fülle von Figuren darstellte. Jeder dieser Romane bestand aus neun
Bänden; 2*^ auf fünf beschränkte sich der in die Reformationszeit führende
'Hohenschwangau' 1864 — 68. In der letzten Zeit war Gutzkow durch Gegner-
schaften, die er sich doch selbst durch seine nörgelnde Kritik zugezogen
hatte, so gereizt, dass er einen Selbstmordversuch machte; auch sein Tod
1878, zu Sachsenhausen, erfolgte unter seltsamen Umständen. ^^
Glückhcher, und freihch von Anfang an fester, ging Heinrich Laube ^^
seinen Lebensweg. Geboren zu Sprottau 1806 hatte auch er Theologie stu-
diert und sich 1831 der Schriftstellerei zugewendet. Das Theater lockte ihn
früh, seine Romane beschäftigen sich oft damit; aber noch mehr als seine
dramatischen Werke brachte ihm die Leitung des Burgtheaters ^^ 1850—66,
dann die des Stadttheaters zu Leipzig und wiederum bis 1878 die des Wiener
Stadttheaters Ruhm und Einfluss. Sein Ideal, die Verschmelzung der clas-
sischen Declamation der Gcetheschen Schule mit der Naturwahrheit des
Amsterdam'. 25) H. Bulthaupt, Dramaturgie des Schauspiels, 3. Bd., Oldenburg u.
Leipzig 1891, S. 257 fgg. 26) Eine spätere Bearbeitung der Ritter vom Greiste (1878)
verkürzte diesen Roman auf vier Bände. Das meiste frühere in den 'Gesammelten Werken',
Jena 1873 — 76, XII. 27) Er verbrannte im Bett ; so hatte er mehrere seiner Roman-
helden umkommen lassen. 28) 'Erinnerungen'. Wien 1875. 82, II. 29) Vgl. sein
Wackernagel, Litter. Geschichte. II. 43
652 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAHRH. § 176
Schrojderschen Spiels, führte er mit Strenge durch. Schriftstellerisch begann
er mit der Nachahmung Heines und zugleich Heinses^*^ und führte in dem
Roman 'Das Junge Europa', Leipzig 1833 — 37, Liebesgeschichten und poli-
tische lutriguen, wie er sie besonders zur Zeit des polnischen Aufstandes be-
obachtet hatte, keck und burschikos vor. Auch Laube entging dem Gefäng-
nis nicht, doch ward er dazu als Burschenschafter verurteilt und durfte die
Zeit seiner Haft grossenteils in Muskau bei Fürst Pückler zubringen. Seine
Novelle 'Die Schauspielerin', Mannheim 1836, zeichnete ein Bild des bei aller
Vergötterung doch an Liebe armen Künstlerlebens. Ein umfassender ge-
schichtlicher Roman, 'Der deutsche Krieg', Leipzig 1863—66, IX, schilderte
den dreissigjsehrigen Krieg wirkungsvoll, aber allzusehr mit Erörterungen der
Helden selbst, denen noch dazu in ganz unhistorischer Weise nationale Be-
weggründe geliehen waren. Laubes Dramen^' zeichnet eine ungewa'hnliche
Kenntnis des Bühnengerechten aus, die nur wieder die Reize allzu sehr hajuft.
Von den Traga'dien 'Monaldeschi' 1845, 'Struensee' 1847, 'Graf Essex' 1856
usw. fordert 'Dcmetrius' 1872 den Vergleich mit Schillers Torso sehr zu
seinen Ungunsten heraus. Auch die Schauspiele 'Die Karlsschüler' 1847 und
'Prinz Friedrich' 1854 verbinden Rührseügkeit mit dem Bestreben die Staats-
weisheit der Tyrannen geltend zu machen. Leichter gebaut, aber eben-
falls stark auf das patriotische Interesse der Helden, besonders Friedrichs
des Grossen, berechnet ist das Lustspiel 'Gottsched und Geliert' 1847.
Auch eine für die Beurteilung der Zeitgenossen beachtenswerte 'Geschichte
der deutschen Litteratur', Stuttgart 1838 — 40, IV, hat Laube verfasst. Er
starb 1884.
Gegen das Jahr 1840 trat eine andere Reihe von Schriftstellern hervor,
welche immer stärker die politische Befreiung verlangten und die litterarische
und religioese Frage als bereits entschieden behandelten. In schroffster Form
sprach dies ein Manifest 'Der Protestantismus und die Romantik' aus, welches
Aknold Rüge'- und Echtermeyer in den Hallischen Jahrbüchern'^ 1839 ver-
öffenthchten. Die gleiche Richtung verfolgte auch als Dichter Robert Prutz,
Buch über dessea Geschichte § 145, 1. 30) § 159, 86. 31) Dramatische Werke,
Leipzig 1845 — 75, XIII. 32) A. Rüge, zu Bergen auf Eugen 1802 geboren, war
1824 — 30 als Burschenschafter in Haft, lebte dann seit 1832 als Docent in Halle, spseter
in Dresden und seit 1843 bis zu seinem Tode (in Brighton) 1880 im Ausland. Erst für
die Revolution thaetig, ward er 1866 durch die Politik Bismarcks versoehnt. Vgl. A. Rüge,
Aus früherer Zeit, Berlin 1862 — 67, IV. Briefwechsel und Tagebücher, hg. v. P. Nerrlich,
Berlin 1886, II. 33) Hallische Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst, 1838—41;
I
§ 176 PRUTZ. GOTTSCHALL. 653
ein jüngerer Heimatsgenosse und Freund Ruges.'* Geboren zu Stettin 1816,
lebte er auch nach Vollendung seiner Studien meist in Halle, wo er 1849
Professor wurde. 1857 nach Stettin zurückgekehrt, starb er hier 1872. An
vielen Orten hatte er, als Redner ausgezeichnet, litterarhistorische Yortraege
gehalten: von Schriften dieses Inhalts, welche auf sorgfältigen Studien be-
ruhen, aber z. T. auch politischen Absichten dienen, erschienen 'Der Göttinger
Dichterbund', Leipzig 1841, 'Die politische Poesie der Deutschen' 1845, 'Die
Geschichte des deutschen Journalismus' I, Hannover 1845, 'Vorlesungen über
die deutsche Litteratur der Gegenwarf, und 'Vorlesungen über die Geschichte
des deutschen Theaters', beide Leipzig 1847, 'Die deutsche Litteratur der
Gegenwarf 1860, H, 'Menschen und Bücher' 1862. 1843—48 gab er ein
'Litterarisches Taschenbuch', 1851 — 66 das 'Deutsche Museum' heraus. Die
ersten 'Gedichte' von Prutz waren meist poHtisch und zeigten Leidenschaft,
aber weder tiefe Gedanken noch formelle Vorzüge. Spseter dichtete er ebenso
feurige LiebesHeder: 'Aus der Heimat', Leipzig 1858, 'Aus goldnen Tagen',
Prag 1861, 'Herbstrosen', München 1864, 'Buch der Liebe', Leipzig 1869.
Im Drama versuchte er sich zuerst in Platens "Weise mit dem Lustspiel
'Nach Leiden Lust', dann mit der Tendenzcomcedie in aristophanischer Form
'Die politische Wochenstube', Zürich 1845, worin erst eine falsche Germania
als Trsegerin der romantischen Ideen Friedrich Wilhelms IV, dann eine
echte, volkstümliche auftritt. 1847 — 49 erschienen zu Leipzig die z. T. bereits
früher verfassten 'Dramatischen Werke': sie stellen öfters edle Helden dar,
welche durch die Bosheit ihrer Fürsten zur Auflehnung getrieben werden
und 80 untergehen: Moritz von Sachsen, welcher mit dem Pathos des Mar-
quis Posa ausgestattet ist, Karl von Bourbon. Eine Reihe von Romanen von
Prutz haben gleichfalls die Neigung die Unterdrückung, diesmal mehr die
sociale der Armen, zu geissein: 'Das Engelchen', Leipzig 1851, 'Der Musi-
kantenturm' 1855 ua.
Nseher an Gutzkow hielt sich K. Rudolf von Gottschall. ^^ Zu Bres-
lau 1823 als Sohn eines Offiziers geboren, war er am Rhein aufgewachsen.
In Koenigsberg politisch hervorgetreten, versuchte er vergeblich sich zu habi-
litieren und trat daher 1847, wie gleichzeitig Gutzkow in Dresden, Prutz in
Hamburg, seinerseits in Koenigsberg als Dramaturg zum Theater über. Seit
Deutsche Jbr., Lpz. 1842. 34) Wie dieser ward Prutz 1866 umgestimmt : im Mai
hatte er noch 'Terzinen' im Sinne der Fortschrittspartei gedichtet, im Herbst Hess er eine
'Palinodie' folgen. 35) Ad. Silberstein, R. Grottschall, Fünfundzwanzig Jahre einer
054 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAHRH. § 177
1852 lobte er wieder in Schlesien, seit 1867 in Leipzig und ward 1877 ge-
adelt. Gottaclialls 'Gedichte' 1849 zeigen ihn als politischen öelegenhoits-
dichter.^'^ Ebenso dienen seine 'Dramatischen Werke'^' vielfach der Zeit:
'Ulrich von Hütten' 1843 verherrlicht den religioesen Freisinn; dann feiert
Gottscliall mit den Wendungen Schillers die franzoesische Revolution: 'Die
Marseillaise' 1849, 'Lambertiue von Mericourt' 1850; gleichzeitig ist sein
'Schür, worin der schon von Rüge dramatisch behandelte Conflict zwischen
Heldensinn und Kamaschentum zu einem tragischen Ende führt. Von
Gottschalls Lustspielen ist 'Pitt und Fox' durch Lebhaftigkeit des Dialogs
und munteren Gang ausgezeichnet. Eine Reihe von erzfehlenden Ge-
dichten^'^ schloss sich an: 'Carlo Zeno' 1854, die Geschichte eines vene-
tianischen Admirals, der als Urbild der Männlichkeit erscheint, wie 'Die
Göttin' (der Vernunft) 185:^ die Fraucnemancipation nach G. Sand darstellt.
Zuletzt erschienen Gottschalls Romane, 'Das Goldne Kalb' 1880 ua. Seine
litterarischen Kritiken ''•' sammelte er als 'Litteraturgeschichte des 19. Jahr-
hunderts', Breslau 1855," und fügte (ebd.) 1858 eine 'Poetik' hinzu. Im
Gegensatz zu Gottschalls günstiger Auffassung stand die scharfe Beur-
teilung der zeitgenössischen Litteratur, welche Julian Schmidt,*' der Freund
G. Freytags, in den 'Grenzboten' niederlegte und als Geschichte der deut-
schen Nationallitteratur im 19. Jahrhundert, zuerst Leipzig 1853*' zu-
sammen fasste.
§ 177.
Der Freiheitshauch, der von 1830 ab die Litteratur durchdringt, weht
vor allem in der Lyrik, um so stärker, als es zunsechst sich kaum darum
handelte, bestimmte Ziele zu weisen, sondern nur allgemeine Stimmungen
auszudrücken. Diese poHtische Lyrik knüpfte an Uhlands politische Ge-
dichte an und in Schwaben fand sie zuerst gastliche Aufnahme, als sie aus
dem geistig abgeschlossenen Oesterreich sich erhob. Wie Fürst Pückler als
Reiseschriftsteller für die liberalen Ideen eingetreten war, so eröffnete auch
in der Lyrik ein hochgestellter Dichter die neue Bahn: Axastasius Grüx,
Dichte rianf bahn, Leipzig 1868. 36) 1842 Lieder der Gegenwart, 1848 Barricaden-
lieder, 1856 'Sebastopol'. 37) Gesaramelt, Leipzig 1865—80, XX. 38) Gottschall
sammelte sie, Breslau 1875. 6, III. 39) Von 1865 ab redigierte er die "Blätter für
litterarische Unterhaltung' und 'Unsere Zeit". 40) «1893, III. 41) Geb. zu
Marienwerder 1818, gest. zu Berlin 1886. 42) Zuletzt, aber unvollendet, als 'Geschichte
der deutschen Litteratur von Leibnitz bis auf unsere Zeit', 1, Berlin 1886.
§ 177 A. GRÜN. LENAU. 655
wie sich als Dichter Graf Anton von Auersberg nannte.' Geboren 1806 zu
Laibach, ist er 1876 zu Graz gestorben, nachdem er seit seinem Eintritt in
die krainische Ständeversammlung 1832 für die freiheitliche Entwickelung
Oesterreichs gekämpft hatte. Als Dichter hatte er sich zuerst durch seinen
Romanzenkranz 'Der letzte Ritter' 1830 bekannt gemacht, worin er nach
dem Yorbild von Uhlands Eberhard in Nibelungenstrophen Kaiser Maximi-
lian I feierte. Bot dieser volkstümliche Fürst auch dem Humor günstige
Seiten, so klingt durch Grüns 'Spaziergänge eines Wiener Poeten', Hamburg
1831, tiefe Entrüstung über das Regiermigssystem Mettemichs. Sie ergiesst
sich besonders über die geistige Knechtung, über das Treiben der Pfaffen,
welche der Dichter genau von den ihres Amtes würdigen Priestern unter-
scheidet , über Censur und litterarische Grenzsperre , und endlich über das
Schlimmste, über die Naderer, die Spione, welche jedes Yertrauen, jede
Freude des Yolkes vergiften. Dem gleichen Freisinn dienen weltgeschicht-
liche Bilder zum Hintergrund in 'Schutf, Leipzig 1835; doch hebt hier zum
Teil der humoristische Abschluss in Heines Art die Grundstimmung wieder
auf. Einem spielenden und nicht immer verständlichen Humor ergab sich
der Dichter in den 'Nibelungen im Frack', Leipzig 1843, der Geschichte
eines musiktollen Kleinfürsten zur Zeit Friedrich Wilhelms I, und im TfafFen
von Kaienberg' 1850. Spseter setzte Grün als Übersetzer der 'YolksUeder
aus Krain' 1850 und des 'Robin Hood' 1864 seine Dichterlaufbahn fort und
beschloss sie mit der Sammlung 'In der Yerandah', Berlin 1876.
Grün gab auch 1855 die 'Sämtlichen Werke' seines weit begabteren
Dichtergenossen Lenaü heraus:^ dies war der Dichtername für Nicolaus
Niembsch von Strehlenau. Geb. 1802 zu Csatad bei Temesvar in Ungarn,
wuchs der Dichter unter trüben Yerhältnissen auf, welche der Leichtsinn des
Yaters, eines Offiziers, verschuldet hatte; die Mutter verzog den Knaben. Er
studierte in Wien Medicin, vollendete aber diese Studien nicht. 1832 begab
er sich nach Schwaben, wo man den gefühlvollen, geistreichen Dichter be-
geistert aufnahm. G. Schwab veröffentlichte seine ersten 'Gedichte' 1832.
Es war ein neuer und ein mächtiger Klang, der hier von der ungarischen
§ 177. 1) Gesammelte Werke hg. von Fraakl, Berlin 1877, V; dazu P. v. Radics, A.
Grün u. seine Heimat. Festschrift, Stnttg. 1876. 2) Stuttgart u. Augsburg, IV; mit
schoenen 'iebensgeschichtlichen Umrissen', ^(von Barthel) Lpz. 1883. Prachtausgabe von
Laube, Wien 1884 — 86, II. Dazu N. L. Briefe an einen Freund, hg. v. K. Mayer, Stuttg.
1853. Emma Niendorf, L. in Schwaben, Lpz. 1855. Anton Schurz, Lenaus Leben, grossen-
teils aus des Dichters eigenen Briefen von seinem Schwestermann, Stuttg. u. Augsb. 1855, IL
656 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAHRII. § 177
Haide und den raeuberisclicn Hirten, von den Schenken mit den geigenden
Zigeunern und den tanzenden Husaren Kunde brachte. Lenau begab sich
damals, von den unfreien Zuständen Oesterreichs und Deutschlands angewidert,
nach Nordamerika, um sich hier anzusiedeln. Aber die kalte Berechnung
seiner neuen Landsleute ward ihm bald ebenso unertrieglich wie der un-
freundliche Himmel, der Wald ohne Singvögel. Er verlebte dann ein Jahr-
zehnt abwechselnd in "Wien und in Schwaben und fand hier an dem Grafen
Alexander von Würtemberg einen Genossen in Gesinnung und Dichtung,^
aber auch im frühen, traurigen Ende. Der Graf, 1802 zu Kopenhagen ge-
boren, starb in Wildbad 1844. Eben dies Jahr beschloss Lcnaus Dichterlauf-
bahn. Er hatte sich in Baden-Baden verlobt, konnte sich aber von einer
langgehegten Liebe zu einer verheirateten Frau* nicht frei machen. Nach
Stuttgart zurückgekehrt verfiel er dem Wahnsinn und starb 1850 zu Dcebling
bei Wien. Auf diesen Ausgang deutet auch die Entwickelung seiner Poesie,
die sich immer verzweiflungsvoller in die dunklen Seiten des Lebens und
Denkens versenkt. 1836 hatte er in seinem Trühlingsalmanach' zuerst Scenen
aus 'Fausf veröffentlicht, in welchem er seine eignen Erlebnisse, seine Alpen-
wanderungen wie seine Seefahrt, seine anatomischen Studien wie seine philo-
sophischen Grübeleien niederlegte. Dem Selbstmord Fausts steht der Abschluss
in Lenaus Don Juan zur Seite: der Frevler findet nur in seinem Lebens-
überdruss die Grenze seines Thuns. Erzsehlend behandelte Lenau auf Grund
eingehender historischer Studien verzweiflungsvolle Kämpfe gegen Geistes-
bedrückung: 'Öavonarola' 1837, 'Die Albigenser' 1842; als den Helden des
letzteren Gedichts nannte er selbst den Zweifel. Zwischen der Frömmigkeit
seiner Kinderjahre und der Philosophie der Zeit schwankte er ebenso unent-
schieden, wie er im Leben bald trotzige Selbstsucht, bald weiche Hingabe
an die Liebe seiner Freunde bewies.
An Grün und Lenau schloss sich eine cesterreichische Dichterschule,
welche von jenem den Freisinn, von diesem die Romantik der mit dem Kaiser-
staat vereinigten Yölker entlehnte. Aus Ungarn wie Lenau stammte Kjvkl
Beck, der 1817 zu Baja geboren, 1879 zu Währing bei Wien starb. 1838
kam er nach Leipzig, wo für diese jüngeren Dichter sich ebenso eine Zu-
flucht fand, wie für die älteren in Stuttgart. 'Der fahrende Poet' 1839
G. Karpeles, N. Lenau, Berlin 1873. 3) 'Gedichte', Stuttg. u. Tüb. 1837, Lieder des
Sturmes' 1838, 'Gesammelte Gedichte' 1841, 'Gegen den Strom' 1843. Der Grafstand Kerner
besonders nahe. 4) L. A. Frankl, L. und Sophie Loewenthal, Stuttg. 1891.
§ 177 (ESTERREICIIISCnE LYRIK. 657
schildert Becks damalige Umgebungen; 'Janko der ungarische Rosshirt', ein
Roman in Versen, lässt den Helden an einem magyarischen Grossen furcht-
bare Rache nehmen. Die 'Lieder vom armen Mann' 1846, Rothschild ge-
widmet, entrollen Bilder des Elends. Solche Schilderungen bietet zuweilen
auch Alfred Meissner,^ dessen Vater als Badearzt in Teplitz, dann Karlsbad
dem Dichter manche Verbindungen auch im Ausland gewann. Geboren 1822,
studierte er Medicin, kam 1846 nach Leipzig und Dresden und trat in Paris
Heine ^ nahe. Sein 'Ziska' 1846 feierte den Hussitenführer; dass er damit der
tschechischen Bewegung gegen die Deutschen 1848 gedient hatte, verleidete
ihm die Fortsetzung. Von Meissners Dramen zeigt 'Das Weib des Urias' 1851
jene besonders durch Hebbel vertretene Auffassung der alttestamentarischen
Geschichte, welche die Frömmigkeit des jüdischen Volkes nur für die Menge
gelten lässt, den Helden aber allgemein menschliche, nur masslos gesteigerte
Empfindungen beilegt; die anderen führen in die englischen Verhältnisse,
welche Meissner selbst kennen gelernt hatte: 'Reginald Armstrong oder die
Macht des Geldes' 1853, 'Der Prsetendent York' 1857. In seinen geschicht-
lichen Romanen verwertete er die Erlebnisse der Revolutionszeit: 'Schwarz-
gelb' 1862 — 64 ua. Ein geheimer Mitarbeiter an dieser Romanschriftstellerei
bedrohte ihn mit Enthüllung und brachte ihn so zum Selbstmord. Meissner
starb 1885 zu Bregenz. Schärfer vertrat Moriz Hartmann ^ die demokra-
tisch grossdeutsche Partei. Geboren 1821 zu Duschnik bei Pribram, studierte
er Philosophie in Prag und Wien, begab sich 1844 nach Berlin und Leipzig,
und liess hier 1845 seine Gedichte als 'Kelch und Schwert" erscheinen. Die
Ereignisse von 1848 und 49, an denen er als Mitglied des Deutschen Par-
laments beteiligt war, besang er in Heines Weise mit Hohn auf die liberalen
Mittelparteien in der 'Reimchronik des Pfaffen Mauritius' 1849. Seitdem
lebte er bis 1872 als Journalist in der Schweiz, in Stuttgart, zuletzt in Wien.
Zum philosophischen Pessimismus ging von der politischen Dichtung
HiERONYMUs LoRM^ Über, eigentlich Heinrich Landesmann genannt, dessen
kritisches Erstlingswerk 'Wiens poetische Schwingen und Federn' 1846 sich
gegen Metternichs System richtete. Von anderen oesterreichischen Dichtern be-
kämpfte der Tiroler Hermann von Gilm,^ dessen 'Tiroler Schützenleben' 1863,
5) 'Geschichte meines Lebens', Wien und Teschen 1884, II. 'Sämtliche Werke', Lpz. 1872, XVIII.
(j) Vgl. § 174, 35. 7) Gesammelte Werke, Stuttg. 1873. 74, X. 8) Geboren zu
Nikolsburg 1821, trotz früher Verkrüppelung, Taubheit und Augenschwäche ein- fruchtbarer
und gedankenreicher Schriftsteller. 9) Geb. zu Innsbruck 1812, gest. als Beamter zu
Linz 1864. Vgl. J. G. Obrist, Der Lyriker H. v. G. Progr. Trautenau 1874; A. v. Passer,
G58 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAIIRH. § 177
'Gedichte' 1864. 65, 11 erschienen, die Jesuiten. Früher und in einer weicher
gestimmten Zeit dichtete Ernst von Feuchterklebkn,'" aus einer thüringi-
schen Familie in Wien 1806 geboren und 1849 gestorben, nachdem er zu-
letzt noch im Unterrichtsministerium eine hohe Stellung eingenommen hatte.
Seine zartsinnigen 'Gedichte' erschienen 1836; weit mehr aber erlangte seine
Schrift 'Zur Disetetik der Seele', Wien 1838 uo., durch die Verbindung des
Idealismus mit ärztlicher Erfahrungsweisheit Beifall.
Seit 1840 stellte sich der oesterreichischen Schule eine norddeutsche
zur Seite, welche anstatt der schwermütigen Klage den immer schärferen
Spott hoeren Hess. Der Berliner Witz beschränkte sich damals noch fast
ganz auf die localen Zustände: ihnen widmete mit Benutzung der Volksrede
Adolk Glasbrenner (1810 — 76) eine Reihe von Heften und Zeitschriften
und stellte in 'Berlin wie es ist und — trinkt', Berlin u. Leipzig 1832 — 50,
zahlreiche Figuren aus dem Volksleben dar. Nur sein burleskes Epos 'Der
neue Reineke Fuchs', 1845, nahm sich ein hceheres Ziel, die Bekämpfung
des Jesuitismus. Weit groessere Kreise aber regte Heinrich Hoffmann an,
der sich nach seinem Geburtsort im Lüueburgischen von Fallersleben nannte
und sein Leben selbst beschrieb.*' Als Germanist '^ hat er namentlich durch
das Finderglück auf seinen Reisen sich verdient gemacht. Seine Stelle als
Professor zu Breslau verlor er wegen seiner 'Unpolitischen Lieder', Hamburg
1840. Seit 1842 reiste er, gefeiert und verfolgt, aber immer politisch wirk-
sam, umher, bis er 1854 in Weimar sich niederliess. Von 1860 bis zu seinem
Tode 1874 war er Bibliothekar des Herzogs von Ratibor zu Corvey. Jene
Lieder waren keineswegs boesartig, wahre Neckereien, welche ironisch die
Segnungen des Despotismus, den Corporalstock und die Censur priesen. Sie
lehnten sich in der Form au die Volkspoesie an, welche Hoffmann genau
kannte und selbst in den Mundarten '^ nachzubilden unternahm. Kinderlieder
verfasste er in grosser Zahl und oft mit glücklichem Gefühl. Auch einzelne
seiner vaterländischen Lieder '* sind durch ihre einfache Innigkeit allgemein
behebt geworden. Wa?hrend Hoffmann die Unzufriedenheit der Gelehrten-
kreise in volkstümlicher Form aussprach, gab Franz Dingelstedt '^ seiner
H. von Gilm, Leipzig 1889. 10) Vgl. M. Necker, Grillparzerjahrbnch 1, .331. 11) 'Mein
Leben, Aufzeichnungen und Erinnerungen', Hannover 1868, VI. Er war 1798 geboren.
12) Bibliographie von J. M. Wagner, H. H. v. F. Wien 1869. 13) Allemannische Lieder,
Fallersieben 1828 und Loverkens (^niederländisch s. v. a. Blättchen, Horie belgic» VIII).
14) 'Deutschland über Alles!' 'Wie könnt' ich dein vergessen*. 15) J. Rodenberg,
F. Dingelstedt. Blätter aus seinem Nachlas», Berlin 1891, IL Dingelstedt selbst beschrieb
§ 177 NORDDEUTSCHE LYRIK. HERWEGII. 659
politischen Satire mehr witzige Schärfe und weltmännische Kälte in Heines
Art. Geboren zu Halsdorf in Hessen 1814, veranlasste er als Gymnasial-
lehrer zu Kassel durch Berichte in Lewaids Europa 1838 seine Strafversetzung
nach Fulda, und nahm 1841 den Abschied, um als Berichterstatter der
Augsburger Allgemeinen Zeitung Paris, London und Wien zu bereisen. Zu
Hamburg 1842 erschienen seine 'Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters',
welche mit beissendem Spott die deutschen Zustände verurteilten. Dass
Berlin dabei am schlimmsten mitgenommen wurde, trug wohl bei zu der
raschen Glücksbahn, welche Dingelstedt seit 1843 als Vorleser des Königs
von Würtemberg betrat. 1851 kam er als Theaterintendant nach München,
1857 nach Weimar, 1867 als Laubes Nachfolger nach Wien, wo er, in den
Freiherrnstand erhoben, 1881 starb. Um die deutsche Bühne hat er sich
durch Musteraufführungen der Dramen Shakespeares und Schillers verdient
gemacht. Sein 'Haus der Barneveldt', 1850 aufgeführt, zeigte die sorgfäl-
tigste Berechnung der Bühnenkünste; in seine Romane, 'Die Amazone'
1850, n ua., legte er seine eingehende Kenntnis des Weltlebens.
Doch den groessten Eindruck erweckte unter den politischen Sängern der
vierziger Jahre Georg Herwegh. 1817 zu Stuttgart geboren, floh er 1839
in die Schweiz. Seine 'Gedichte eines Lebendigen' erschienen ''' 1841 mit
einer hcehnenden Widmung 'an den Verstorbenen', den Fürsten Pückler. In
kräftigen Rhythmen forderte er zur Empoerung auf. Mit der wilden Kampf-
lust verband er ein weiches Gefühl, und die Zeitgenossen übersahen darüber
die Unklarheit der Gedanken und die formellen Mängel, welche Herwegh
trotz der Nachahmung Platens und Berangers nicht überwunden hatte. '^
Seine Reise nach Deutschland 1842 gestaltete sich zu einem Triumphzuge;
selbst Friedrich Wilhelm IV liess ihn sich vorstellen. Als er aber mit einem
tactlosen Schreiben sich an den Koenig wandte, ward er ausgewiesen. Der
unglückliche Putsch in das badische Oberland 1848 brachte ihn um sein
Ansehen. Seit 1866 in Baden-Baden anssessig, starb er 1875.
Auch ein Dichter von groesserer Begabung, H. Ferdinand Freiligrath,^^
ward in die Bewegung der Zeit hineingerissen, nicht zur Förderung seines
litterarischen Ruhmes. Geboren 1810 zu Detmold als Sohn eines Lehrers,
einzelne Abschnitte seiner litterarisr-hen Thsetigkeit : Litterarisclies Bilderbuch 1878, 'Münchener
Bilderbogen 1879, Sämtliche Werke, Berlin 1877. 78, XII. 16) Zürich und Winterthur.
2. Bd. 1844. In Zürich erschienen auch Herweghs 'Neue Gedichte, herausgegeben nach seinem
Tode* 1877. 17) F. Th. Vischer, Kritische Gänge 2, 282 fgg. 18) Schmidt-Weissenfels,
Freiligrath, Stuttg. 1876. W. Buchner, F. Freiligrath, Ein Dichterlebeu in Briefen. Lahr
660 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAHKII. § 177
trat er vom Gymnasium in die kaufmännische Lehre zu Soest ein, lebte
1831—36 in Amsterdam, dann in Barmen, bis der grosse Erfolg seiner 'Ge-
dichte' 1838" ihn hoffen Hess, frei der Dichtung leben zu können. Chamisso
und Schwab hatten sein Talent sofort anerkannt. Von früh an war Freiligrath
mit Versen beschilftigt gewesen und bis zuletzt hat er sorgfältig seine Dich-
tungen nachgebessert. Für die schildernde Poesie hatte ihm Matthisson zuerst
das Muster geboten, dann war er besonders durch Lenau mächtig ergriffen
worden; aber ganz eigentümlich war die bewusstc Kühnheit, mit welcher der
junge Dichter auch die fremde, die tropische Natur wiedergab und klang-
volle Namen der Geographie gern als Keime verwendete. Übersetzungen
aus den englischen Landschaftsdichtern, dann aus Lamartine dienten ihm zur
Schulung. Aber nicht bloss die ausserordentliche Gewandtheit in der Hand-
habung von Sprache und Vers, womit er z. B. den Alexandriner von neuem,
aber freier gebaut zur Anwendung brachte; nicht bloss die phantasievolle
Ausmalung seiner Landschaftsbilder: auch das warme Gefühl des Dichters^"
musste hinreissen. Lenaus verunglückter Plan, sich in Amerika anzusiedeln,
gab Freiligrath Anlass zu dem Cyclus 'Der ausgewanderte Dichter'. Früh
tritt die Teilnahme Freiligraths an dem Loose der Armen, der Bedrückten
hervor: und von dieser Seite her ward er zur politischen Dichtung fortge-
rissen, da er doch durchaus kein Politiker war. Noch 1842 hatte er gegen
Herwegh gesungen: 'Der Dichter steht auf einer hoeh'ren Warte als auf der
Zinne der Partei'; da bekehrte ihn Hoffmann von Fallersleben zu Koblenz
in einer durchzechten Nacht. Freiligrath hatte 1842 von Friedrich Wil-
helm IV eine Pension erhalten, er lehnte sie 1844 ab und veröffentHchte im
gleichen Jahre sein 'Glaubensbekenntnis', indem er Deutschland verliess. Aus
England kehrte er 1848 zurück, um mit Marx in der 'Rheinischen Zeitung'
die sociale Demokratie zu predigen. Seine Lieder aus dieser Zeit, die mit
wilden , aber keineswegs klaren Gedanken und in einer absichtlich rohen
Sprache den Bürgerkrieg preisen, sammelte er als 'Neuere politische und
sociale Gedichte', Köln 1849. Dann kehrte er nach London zurück. Als
die Amnestie 1866 ihm die Heimat wieder öffnete und gleichzeitig die Genfer
Bank in London, an welcher er angestellt war, sich aufloeste, bereitete ihm
der Dank der Nation ein sorgenfreies Alter. Noch dichtete er 1870 patrio-
tische Lieder. Er starb zu Canstatt 1876.
1881, II. 19) Stuttgart. Seine 'Gesammelten Dichtungen' erschienen ebd. 1870, VI uö.
20) So in dem oft nachgeahmten Lied an die Auswanderer'. Auch die Mahnung '0 lieb', so
§ 177 FREILIGRATH. KINKEL. GEIBEL. 661
Das Loos der Verbannung hatte auch Freiligraths Freund, J. Gottfried
Kinkel^' zu tragen. Geboren zu Obercassel bei Bonn 1815, hatte er sich
an dieser Universitaet 1837 als Theologe besonders für Kunstgeschichte habi-
litiert und 1845 ein Buch über 'Altchristliche Kunst' veröffentlicht. 1843
waren seine lyrischen Gedichte erschienen; doch weit vorzüglicher, noch ein-
mal ein reiner, voller Klang des mittelalterlichen Rittertums war seine erzseh-
lende Dichtung 'Otto der Schütz' 1845; und zur epischen Dichtung kehrte
Kinkel auch spseter zurück mit dem 'Schmied von Antwerpen' (Quintin Messys)
1872, und dem feinsinnigen Idyll 'Tanagra' 1883. Dagegen blieben seine
Tragoedien 'Koenig Lothar von Lothringen' 1842 und 'Nimrod' 1852 ohne
Erfolg. Inzwischen hatte Kinkel Schweres erlebt. Wegen seiner Beteiligung
am badischen Aufstande 1849 ward er zu lebenslänglichem Zuchthaus verur-
teilt. Es gelang, ihn 1850 aus Spandau zu befreien. In England erwarb er
sich durch rastlose Lehrthaetigkeit volles Ansehen: das Flüchtlingsleben hat
seine geistreiche und charactervolle Gattin Johanna (gest. 1858) in 'Hans
Ibeles in London', Stuttgart 1860, ergreifend geschildert. Kinkel ward 1866
als Professor der Kunstgeschichte nach Zürich berufen und starb hier 1882.^^
"Wenn nun schon Kinkel für die Revolution zwar durch die That ein-
stand, aber seine Dichtung von ihren Stürmen fern hielt, so hat Emmanuel
Geibel^^ die politische Poesie nur im nationalen Sinne gepflegt und seine
Wünsche auch zuletzt erfüllt gesehen. Geboren zu Lübeck 1815, liess er
seine Gedichte zuerst in Berlin 1840 erscheinen: sie stammten zum Teil aus
den Jugendjahren oder aus der Studentenzeit in Bonn und Berlin , endlich
aus den beiden letzten Jahren, welche er als Hauslehrer bei dem russischen
Gesandten in Athen zugebracht hatte; es waren Liebesgedichte, Landschafts-
bilder besonders vom Ostseestrand, Wanderlieder. Ein sorgfältiges Studium
war darin ersichtlich. Anklänge an Brentano, Heine, Uhland und, spseter
überwiegend, an Platen, aber auch an das Volkslied und die Minnesänger.
Die ausgezeichnete Feinheit der Form verband sich mit edler, weicher
Empfindung und wahren, kräftigen Gedanken. In Griechenland waren ihm
lang du lieben kannst!" zeigt diese Gefühlsweichheit. 21) Ad. Strodtmann, Hamburg
1850, II. 0. Henne am Rhyn. G. Kinkel, ein Lebensbild. Zürich 1883. 22) Von den
übrigen rheinischen Dichtern moegen noch genannt sein : Wolfgang Müller von Koenigs-
winter (1816 — 73), dessen 'Rheinfahrt' 1846 erschien; und Gustav Pfarrius aus Kreuznach
(geb. 1800, gest. zu Köln 1884): 'Waldlieder', Köln 1850. 23) Scherer, E. Geibel, Berlin
1884; A. Holz, E. Geibel, Ein Gedenkbuch, Berlin 1884; K. Th. Gsedertz, E. Geibel, Denkwür-
digkeiten, Berlin 1886; Carl C. T. Litzmann, E. Geibel, Aus Erinnerungen, Briefen und Tage-
662 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAHRH. § 177
die antiken Ycrsarten lieb geworden,-* und in diese kleidete er auch man-
chen treffenden Spruch. Nach der Heimkehr beschäftigte er sich mit der
spanischen Romanzendichtung.-* Dem Dichterberuf zu leben ermutigte ihn
eine Pension Friedrich Wilhelms IV seit 1842; freilich hatte er deshalb einen
Angriff Herweghs zurückzuweisen; mit den rheinischen Dichtern aber blieb er
innig verbunden. Gastliche Aufnahme fand er bei dem Freiherrn von Mals-
burg auf Escheberg bei Kassel und in Schlesien bei dem Fürsten Carolath.
In der Zeit vor der Revolution erhob er die Stimme für Schleswig-Holstein.-*^
1852 berief ihn Maximilian II nach München, wo Geibel der dichterischen
Tafelrunde des Koenigs vorsass und mit den jüngeren Freunden zusammen
mehrere Sammlungen von übersetzten Gedichten herausgab.-' Seit 1867 in
die Heimatstadt zurückgekehrt, wo er 1884 starb, fasste er seine politischen
Dichtungen als 'Heroldsnife' zusammen, 1871. Auch als Dramatiker war er
aufgetreten. Ein Erstlingsdrama, Kcenig Roderich, 1844, nahm er spajter
nicht in seine 'Gesammelte Werke' auf (Stuttg. 1883 u. 84, YIII). Die Tra-
gcedie 'Brünhild' 1857 versucht, nicht eben glücklich, die nordische und die
deutsche Sagenform zu verschmelzen und in classischer Ausdrucksweise wieder-
zugeben. Eine a?hnliche Schilderung weiblicher Leidenschaft gibt 'Sopho-
nisbe' 1869. Mit dem anmutigen Sprichwort 'Echtes Gold wird klar im
Feuer 1882 führte Geibel die franzoesische Gattung der praverhes auf die
deutsche Bühne.
Geibel erwies sich auch einem politischen Dichter freundlich, welcher
gegen das 'EUenkrpemertum', gegen die 'ewigen Neinsager die Romantik des
Adels verfocht, dabei jedoch sich gegen die Russen erklärte und die clericale
Partei bekämpfte. Moritz K. W. Graf von Strachwitz, zu Peterwitz bei
Frankenstein 1822' geboren, starb bereits 1847 auf einer Reise zu Wien.
Seine 'Lieder eines Erwachenden' erschienen 1842, von Herweghs Kampflust
zur Entgegnung angeregt.-^
In noch hceherem Grade durfte Oskar von Redwitz als Lyriker der
Reaction gelten. Geboren 1823 zu Lichtenau in Mittelfranken, gab er seine
juristische Laufbahn auf, als seine 'Amaranth", Mainz 1849 uo. glänzenden
büchern, Berlin 1887. 24) 'Klassisches Liederbuch", Berlin 1875. 25) Volkslieder
und Romanzen der Spanier. Berlin 1843. 26) Zwölf Sonette, Lübeck 1846: Junius-
lieder, Stuttgart 1848. 27) Spanisches Liederbuch, mit Heyse zusammen. 1858, Roman-
zero der Spanier und Portugiesen, mit Freiherrn von Schack, Stuttgart 1860, Fünf Bücher
franzoesischer Lyrik, mit Leuthold, ebd. 1862. Eigene Dichtungen der Freunde vereinigte
'Ein Münchner Dichterbuch', hg. von E. Geibel, ebd. 1862. 28) Gedichte von Strachwitz,
§ 178 STRACHWITZ. RED WITZ. SCHERENBERG. 663
Erfolg gehabt hatte. Und doch hatte er nur die Ausdrucksvvcisen und Lied-
formen von Herwegh, Kinkel u. a. zum Preise eines frommen Ritters ange-
wendet, und diesem auch die Yerstossung einer Braut wegen ihres Unglau-
bens zum Verdienst angerechnet. Ein Yersuch, Redwitz als Professor der
Aesthetik und Litteraturgeschichte in Wien zu beschäftigen, missglückte.
Nach Bayern zurückgekehrt, trat er jedoch in der Kammer der liberalen
Partei bei und dichtete 1871 'Das Lied vom neuen deutschen Reich', eine
lange Reihe von Sonetten. Er starb 1891 in Meran. Auch für die Bühne
war er thsetig und hat mit 'Siglinde' 1853, Thomas Morus' 1856, Thihppine
Welser' 1859, 'Der Zunftmeister von Nürnberg' 1860, 'Der Doge von Venedig'
1863 viel Beifall gefunden, da seine Stücke ebenso bühnengerecht als rühr-
selig waren. Sein Roman 'Hermann Stark, deutsches Leben' erschien Stutt-
gart 1869, m.
Wie Redwitz, wurde auch Christian Friedrich Scherenberg ^^ wegen
seiner conservativen Richtung begünstigt. Geboren 1798 zu Stettin, lebte er
als Schauspieler und Secretser, seit 1838 aber ganz als Schriftsteller in dürf-
tigen Verhältnissen, bis er 1845 durch seine Schlachtgemselde in freien
Versen, die er nach Freiligraths Weise mit Fremdwörtern aufgeputzt hatte,
berühmt und vom Plofe unterstützt wurde: 'Ligny', 'Waterloo' 1849, 'Leuthen'
1852, 'Abukir' 1856, 'Hohenfriedberg', Berhn 1869. Er starb 1881 zu
Berlin.^»
§ 178.
Das Drama versuchte in den neechsten Jahrzehnten nach 1830 eben-
falls neue Bahnen zu beschreiten und nicht nur, -wie die dem jungen Deutsch-
land angehoerigen Dichter es thaten, im Anschluss an die franzoesische Bühne,
also mit besonderer Pflege des kunstvollen Aufbaus, der lebhaften Unter-
redung. Andere Dramatiker wollten durch das Ungeheure, durch das Vor-
führen der stärksten Leidenschaften und ihrer wildesten Äusserungen den
tragischen Eindruck hervorbringen, zugleich aber durch die engste Berührung
mit der Wirklichkeit diesen Eindruck verstärken.^ Der erste Dichter dieser
Richtung, der Krafttragoedie war Christian Dietrich Grabbe.^ Geboren
Gresamtansgabe , Breslau 1850. 29) Th. Fontaue, Scherenberg und das litterarische
Berlin, Berlin 1885. 30) Hier erschienen auch seine 'Gedichte', 4. Aufl. 1869.
§ 178. 1) Dass sie damit zum Teil nur die Absichten und Ansichten der Sturm- und
Drangzeit erneuerten, scheinen die Dichter der Krafttragoedie kaum gewusst zu haben.
S. Friedmauu , 11 äramma tedesco del nostro secolo , II. / Psicologi, Miiano 1893.
2) rirabbes Leben von Ed. DulltM- vor der 'Hermannsschlacht', Düsseldorf 1838. Dullers
664 NEUnOCTTDEUTSCIIE ZEIT. XIX JATIRII. § 178
zu Detmold 1801 als Sohn des Zuchthausverwalters, war Orabbe iu Berlin mit
Heine belreundet und wie dieser oin Bewunderer Byrons. Auch mit Ticck
knüpfte er Verbindungen an. 1827 wurde er Auditeur des lippischen Militier-
contingents, verliess aber 1834 Amt und Frau und Heimat. Vergeblich
suchte Imraermann in Düsseldorf den Trunksüchtigen zu einer verständigen
Lebensweise zurückzuführen. 1836 kehrte er nach Detmold nur zurück um
hier zu sterben. Von seinen 'Dramatisclien Dichtungen', Frankfurt 1827, war
'Herzog Theodor von Gothland' eine grteuelvolle, überlange Tragoedie, in wel-
cher wie in Shakespeares Titus Andronicus ein furchtbarer Boesewicht, ein
Mohr, der Haupttrseger der Handlung ist. Seltsamer Weise schrieb Grabbe
gleichzeitig über 'Shakespearomanie'. Sein Lustspiel 'Scherz, Satire, Ironie
und tiefere Bedeutung', worin der Teufel eine komische Figur spielt, sucht
in Tiecks Weise, aber ganz barock, die gleichzeitige Litteratur zu verhcehnen.
1829 folgte 'Don Juan und Faust', das einzige allenfalls aufFührbare Stück. In
den unvollendeten Ra^merdramen 'Marius und Sulla' und 'Hannibal' ahmt
Grabbe wiederum Shakespeare nach und drängt hier wie in den Hohen-
staufendramen Friedrich Barbarossa (1829) und Kaiser Heinrich VI (1830)
die Handlung im Übermass zusammen. In der 'Hermannsschlacht' stellt er
die Cheruskerfürsten als westfselische Bauern dar. Alles Mass überschreitet
'Napoleon oder die hundert Tage' 1831: das Stück schliesst mit der Vor-
führung der Schlacht bei Waterloo. Aber als Buchdrama betrachtet, ver-
dient es wegen der übersichtlichen Zusammenfassung des gewaltigen Stoffs
und der treffenden Characterisierung der überaus zahlreichen Beteiligten,
unter denen auch Napoleon würdig aufgefasst ist, durchaus Anerkennung;
ja selbst ein gewisser prophetischer Blick ^ ist allerdings bewundernswert.
Noch entschiedener suchte Georg Bücuner* die historische Treue zu
wahren, dessen Drama 'Dantons Tod' 1835 von Gutzkow veröffentlicht wurde.
Der junge Dichter, 1813 zu Goddelau bei Darmstadt geboren, hatte in Strass-
vou Grabbes Witwe beeinflusste Darstellung wird mehrfach berichtigt durch K. Ziegler,
Grabbes Leben und Character, Hamburg 1855. 0. Blumenthal, Xachtrajge zur Kenntnis
Grabbes, Berlin 1875; von dems. eine kritische Ausgabe der Werke Grabbes, Detmold
(Berlin) 1874, IV; besser als die Sämtl. AVerke, hg. von Gottschall, Leipzig 1870, II.
3) Grabbe lässt einen napoleonischen Veteranen, als ihn der Herzog von Orleans aus den
Händen der Polizei befreit und das Volk jubelt 'Hoch Orleans, dereinst Koenig!' die stille
Bemerkung machen 'Würde auch endlich weggejagt, wenn er je Koenig werden sollte!' Das
schrieb er 1831! 4) Sämtliche Werke und handschriftlicher Nachlass, hg. v. K. E.
Franzos, Frankfurt a. M. 187y. S. 347 sagt Büchner: 'ich betrachte mein Drama wie
ein Gemälde, das seinem Original gleichen muss'; 354 'der dramatische Dichter ist in
§ 178 KRAFTTRAG(EDIE. 665
bürg Medicin studiert, war 1835, als seine Teilnahme an einem socialistischen
Geheimbunde entdeckt wurde, nach Zürich geflohen, wo er 1837 starb. In
rascher Scenenfolge stellte er die Menschen der Schreckenszeit dar, wie sie
waren, blutig, liederhch, energisch, cynisch, und der Leser fühlt sich zugleich
empoert und gefesselt. Nach einer andern Seite hin vertieft sich Büchner
in die trübsten Bilder, in dem Novellenfragment 'Lenz', durch welches Oberlins
Bericht^ über die Wahnsinnsanfälle des unglücklichen Dichters zuerst bekannt
wurde.
Ein dritter Dichter schien endlich die ergreifenden Bilder der fran-
zoesischen Revolution wirklich der Bühne zuzuführen, W. Robert Griepen-
KERL,® dessen Leben ebenso wie das Grabbes nach einer Zeit der Hoffnuntr
vorzeitig zu Grunde ging. Geboren 1810 in Hofwyl bei Bern, war er in Braun-
schweig aufgew^achsen und gab seine dortige Schulstelle 1846 auf, als seine
Schriften Beifall fanden. Vorlesungen seiner Dramen verschafften ihm Beifall
in. vielen Städten Deutschlands. Aber vergebens hoffte er auf dauernde Unter-
stützung dmxh dieHoefe: sein eigner Herzog that nicht das Geringste für ihn.
Er starb 1868 im Elend. Ursprünglich mit griechischen und Musikstudien be-
schäftigt, schlug er als Dichter eine ganz andere Richtung ein. Seine drama-
tischen Absichten begründete er durch seine Schrift 'Der Kunstgenius der
deutschen Litteratur des letzten Jahrhunderts''' 1846 : über Goethe und Schiller
hinaus sollte ihn Shakespeare führen. Wie dieser verband er mit der Prosa
Jamben, welche der Begeisterung zum Ausdruck dienten. Griepenkerls 'Robes-
pierre' erschien zu Bremen 1849; er stellte darin auch den von Büchner
behandelten Sturz Dantons dar, durch welchen bei ihm Robespierre sich die
tragische Verschuldung zuzieht. Spseter griff Griepenkerl noch weiter zurück
in der Revolutionsgeschichte und legte für 'Die Girondisten' 1852 die an sich
schon dichterisch ausgeschmückte Darstellung Lamartines zu Grunde. 1861
Hess er 'Auf Sanct Helena' folgen. Daneben behandelte er Conflicte in den
Hof- und Adelskreisen: 'Ideal und Welt', Weimar 1855, und 'Anna Walseck'
1857, in diesem Stücke mit Hereinziehung der Zeitphilosophie.
Die Krafttragoedie, welche in der Geschichte nur wenige Zeitabschnitte
für ihre Zwecke geeignet fand, führte Christian Friedrich Hebbel^ in die
meinen Augen nichts als ein Geschiehtsschreiber'. 5) S. Stoebers Buch § 159, 28.
(j) 0. Sievers, R. Griepenkerl der Dichter des Robespierre, Wolfenbüttel 1879. 7) Leipzig,
I (und einziger) Band. 8) Hebbels Werke, hg. v. E. Kuh, Hamburg 1865. 68, XII;
Hebbels Tagebücher, hg. v. F. Bamberg, Berlin 1885. 87, II. Hebbels Briefwechsel, hg. v.
F. Bamberg, Berlin 1890. 92, II. E. Kuh, Biographie Hebbels, Wien 1877, II. E. Kulka,
666 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAHRH. § 178
sa^enhafce Vorzeit und in Jas Leben der unteren Stände, wo die Leiden-
schaft sich ungeliindcrt entflammen und verderbend um sich greifen konnte.
Mit dem letzteren Gegenstand griff er auf das bürgerliche Trauerspiel zurück,
welches die Stürmer und Dränger neben dem Ritterschauspiel gepflogt hatten.
Aber Hebbel zeigte zugleich eine unerbittliche Wahrheitsliebe und eine Folge-
richtiirkeit, welche an II. v. Kleist erinnerte, aber auch, da ihm dessen Sinn
für das stille Glück, für die Seligkeit der Liebe fehlte, ihm nur zu düsteren,
unerfreulichen Rildern Aulass gab. Sein Pessimismus traf mit dem Schopen-
hauers zusammen und für beide Schriftsteller war die Zeit nach 1850 be-
sonders empfänglich. Geboren zu Wesselburcn in Nordditmarschen 1813 als
Sohn eines Maurers, verlebte Hebbel eine 'Hölle in der Jugend'. 1835 fand
er in Hamburg Gönner und studierte in Heidelberg und München. Durch
seine Judith, welche 1840 zur Aufführung kam,^ rasch berühmt geworden,
erhielt er 1842 durch Oehlenschlagers Vermittelung ein dssnisches Stipen-
dium, mit welchem er nach Paris und Italien reiste. 1845 nach Wien ge-
langt, heiratete er dort die Schauspielerin Christine Enghaus und blieb seit-
dem in Wien bis zu seinem Tode 1863. Sein eigenes Selbstgefühl hatte er
in der Judith dem furchtlosen, aber auch ruchlosen Holofernes verliehen,
den Judith wohl bewundern, aber auch morden muss. Eine sehnliche Über-
spannung zeigt in der Genoveva, Hamburg 1843, der leidenschaftUche Golo,
dem die Heldin allzu engelhaft gegenüber steht. Wieder ein Problem der
sinnlichen Liebe behandelt Maria Magdalena, Hamburg 1844, worin die Ge-
mütsverhärtung kleinbürgerlicher Kreise ergreifend, aber auch niederdrückend
zur Erscheinung kommt. Dasselbe Problem verlegt 'Julia', Leipzig 1850,
in die hoehere Gesellschaft, aber ohne die genaue Kenntnis ihrer Formen.
Wiederum in die jüdische Geschichte, aber in ihre grseuelvoUe Spsetzeit greift
'Herodes und Mariamne', Wien 1849, in die herodoteische Überlieferung
'Gyges und sein Ring' 1856: in beiden schleegt verletzte Frauenliebe in Hass
um. In 'Agnes Bernauer' 1855 ^^^ lässt sich deren Gemahl von der Rache an
dem Vater, der ihm die geliebte Gattin hingerichtet hat, zuletzt durch die
Pflicht gegen den Staat abbringen. Am meisten aber fanden Hebbels 'Nibe-
lungen'" (1863) Beifall, eine allerdings grossartige Vertiefung der Charactere
des Heldenliedes, die sich nur allzu grossprahlerisch aussprechen, aber nicht
Erinnernngen an F. Hebbel, Wien 1878. L. A. Frankl, Zur Biographie Hebbels, Wien
Pest Leipzig 1884. 9) Gedruckt wurde sie Hamburg 1841. 10) Hebbel nannte
die Heldin 'die moderne Antigone': Briefe S. 18. 11) Trauerspiel in drei Abteilungen.
§ 178 HEBBEL. MOSENTHAL. HALM. 667
glücklich in der Vorführung aller Hauptscenen des Epos auf der Bühne,
welche doch niemals die übermenschlichen Gebilde der Sage sichtbar
darstellen kann. Noch weniger gelang es Hebbel mit der Komcedie : 'Der
Diamant' 1847, 'Der Rubin' 1850. Letzteres Stück soll die tiefsinnige Lehre
verkörpern, dass die irdischen Güter nur den beglücken, der sie sogleich weg-
zuwerfen bereit ist. Als erzsehlender Dichter hseuft Hebbel in seinen Novellen
1855 bald grausige bald verächtliche Züge. Dagegen lässt er das reinmensch-
liche Gefühl über den Unterschied der Stände glücklich den Sieg davon
tragen in der epischen Dichtung 'Mutter und Kind', Hamburg 1859.
Wenn Hebbel, ein Sohn des Volks, dessen Gefühle treflfend auszu-
sprechen vermochte, so war auch Salomon Hermann Mosenthal*^ mit
grossem Geschick für das Melodramatische bemüht das Volksleben auf die
Bühne zu bringen. Geboren 1821 zu Kassel, kam er 1842 nach Wien und starb
hier als Beamter 1877. Er schilderte in seinem Volksstück 'Deborah', Pest
1850, das Schicksal einer aus Ungarn vertriebenen Jüdin, welche von ihrem
Geliebten, einem Bauernsohn, getrennt wird, ihm aber zuletzt seine Untreue
verzeiht. Der ursprüngliche Plan eines befreundeten Dichters, welchen Mosen-
thal ausführte, stellte ein Zigeunerma^dchen als Heldin auf und Grillparzer
machte Mosenthal die Einführung der Tendenz zum Vorwurf; '^ doch sind
aus dieser gewiss die Herzenstoene geflossen, durch welche das Stück so er-
greifend wurde. Auch ohne solche Nebengedanken wusste er mit den Volks-
stücken 'Der Sonnwendhof ' 1854, 'Der Schulz von Altenbüren' 1867 ebenso
zu rühren, wie vor ihm Auerbach mit seinen Dorfgeschichten. Weiche
Empfindung durchdringt auch die historischen Tragoedien Mosenthals 'Caecilie
von S. Albano' 1850, 'Pietra' 1865 ua.
Völlig im Gegensatz zu Hebbels Krafttragoedie stand ein älterer Wiener
Dichter, welcher an Grillparzer sich anlehnend seine kunstgemsesse Auffassung
der dramatischen Aufgabe sowohl durch feine Ausführung besonders der
Frauencharactere als durch Sorgfalt der Sprache und der Versbildung be-
zeugte. Friedrich Halm,** so nannte sich als Dichter Eligius Franz Joseph
von Müuch-Bellinghausen; zu Krakau 1806 geboren, starb er als Vorstand
der Hofbibliothek und der Hoftheater zu Wien 1871. Freilich wie Hebbel
stellte er sich etwas gesuchte, gew^agte Probleme. Seine 'Griseldis', 1835 auf-
geführt, verlegt die Geduldprobe der Gattin an den Hof des Koenigs Artus,
Hamburg. 12) Lebensbild vou J. Weilen in den Gesammelten Werken, Stuttgart und
Leipzig 1878, VI. 13) Mosenthal, Ges. W. 1, 280. 14) Dramatische Werke, Wien
Wackernagel, Litter. Geschichte II. 44
668 NEUIIOriTDET'TSrHE ZEIT. XIX JATIRIT. § 178
verleiht ihr aber einen tragischen Ausgang, indem die Entdeckung des mit
ihr getriebenen Spiels die Liebe auf einmal und für immer erlöschen lässt.
Der Sohn der Wildnis' 1842 zeigt den Sieg der Liebenswürdigkeit über rohe
Kraft, freiüch mit allzu weichem Gefühlsausdruck. 'Verbot und Befehl' ist
eine vortretHiche Intrigucnkomcedie. 'Der Fechter von Ravcnna' 18.j4 stellt
die begeisterte Thusnelda ihrem unwürdigen Sohne gegenüber. 'Wildfeuer'
1863 bringt den etwas bedenklichen Versuch auf die Bühne, eine Prin-
zessin als Prinz zu erzichn bis sie ihr Geschlecht entdeckt, 'ßegum Somru'
1863 entwickelt nach einer französischen Novelle die Liebestragoedie einer
indischen Fürstin, deren Land englischer Herrschsucht zufällt.
Noch mehr dringt lyrische Weichheit in die historische Tragoedie, wne
Julius Mosen'^ sie behandelte. Seiner Heimat nach war er ein Nachbar
Jean Pauls, und ihm auch innerlich verwandt. 1803 zu Marienei im säch-
sischen Voigtlando geboren, ward er zuerst Advokat in Dresden, 1844 Dra-
maturg in Oldenburg, doch schon seit 1846 bis zu seinem Tode 1867 durcli
ein Rückenmarksleiden geltehmt. Viele Dichtungen Mosens sind Nachklänge
einer Reise durch Italien 1823 — 26: so sein allegorisches Gedicht vom Ritter
Wahn, das den Kampf zwischen sensualistischer Philosophie und Glauben
darstellt. Mosens Lieder auf die vertriebenen Polen ^*^ wurden volkstümlich.
Sein Roman 'Der Congress von Verona' 1842 schildert die Stimmung der
zwanziger Jahre vortretHich. Unter den Theaterstücken 1842 zeigten Cola
Rienzi, Otto III ua. zugleich Feinheit der Seelenmalerei, wie gute Berech-
nung der scenischen Wirkung; am besten gelang es ihm in 'Herzog Bernhard
von Weimar 1855 den Untergang nationalen Strebens mit einer Liebes-
intrigue zu verknüpfen.
Tiefer jedoch erfasste Otto Ludwig die Aufgabe, die Tragoedie zugleich
poetisch und bühnengerecht zu gestalten; noch mehr als Hebbel mühte er
sich mit Selbstkritik ab, so dass er u. A. seinen Plan für eine Agnes Ber-
nauer siebenmal umarbeitete, und doch nicht ausführte.*' Ludwig, 1813 zu
Eisfeld a. d. W^erra geboren, ging 1839 nach Leipzig, um bei Mendelssohn
sich als Musiker auszubilden, und starb nach langem Siechtum zu Dresden
1837—57, VII; Werke, Wien 1856—72, XII. 15) Seine anmutigen Erinnerungen
ans der Jugendzeit sind den Sämtlichen Werken, Oldenburg 1863, VIII (M880, VI) bei-
gegeben. Fortgeführt von M. Zschommler, mit Vorwort von R. Mosen, Plaueu 1893.
16) 'Die letzten Zehn vom vierten Regiment' ua. 17) Ludwigs Xachlassschriften
(,1 Skizzen und Fragmeute, II Shakespearestudien) sind von M. Heydrich, Leipzig 1874,
11, hgg. worden. Seine Dramatischeu Werke waren Lpz. 1853, II erschieuen. Seine
§ 178 MOSEN. LUDWIG. LUSTSPIELDICHTER. 669
1865. Ludwigs 'Erbförster' wurde 1850 aufgeführt, eine ausgezeichnete
Characterstudie, welche erklajrt, wie der ehrenfeste Alte aus eigensinnigem
Ehrgefühl zum Mörder wird. Auch seine 'Makkabseer' 1854 erheben sich
auf die Hoehe des Pathos, ohne jedoch wie es bei Hebbel geschieht, zu über-
treiben. Ludwigs Novellen zeichnen das Yolksgefühl seiner Heimat in
treffenden Bildern: 'Die Heitherethei und ihr Widerspiel' 1854, 'Zwischen
Himmel und Erde' 1855, dies der tragisch endende Zwist einer Dacbdecker-
familie.
Doch waßhrend dieser und andere Dichter sich so mit ganzer Seele um
die Wiederbelebung der Tragcßdie bemühten, drang auf den Bühnen selbst
die geschickte Mache vor, welche immer Neues, immer den wechselnden
Wünschen der Zuschauer Entsprechendes zu liefern verstand. Die Theater
der vierziger Jahre beherrschte Charlotte Birch geb. Pfeifer. Eine ge-
borene Stuttgarterin trat sie mit dreizehn Jahren 1813 als Schauspielerin auf
und lebte von 1844 bis zu ihrem Tode 1868 in Berlin.*® Kaum ein beliebter
Erzsehler war in dieser Zeit, dessen Werke sie nicht mit grossem Geschick,
aber mit oberflächlicher, auf Rührung berechneter Motivierung dramatisiert
hätte. Schon 1828 Hess sie 'Herma' nach Yan der Velde aufführen, spseter
'Das PfefferrcBseF, 'Dorf und Stadt' nach Auerbach,*^ 'Die Waise von Lowood'
nach Wilkie-Collins, 'Die Grille' nach Georges Sand usw.
Im Lustspiel stellte sich ihr bald eine Dame aus den hoechsten Kreisen
zur Seite, die Prinzessin Amalie von Sachsen, welche unter dem Namen
A. Heiter schrieb. ^^^ Geboren zu Dresden 1794, starb sie unvermsehlt 1870.
1834 hatte sie 'Lüge und Wahrheit' auf die Bühne gebracht, 1836 ihr bestes
Stück 'Die Pürstenbraut'. Ihr Sinn für komische Verwickelungen ist unver-
kennbar, wenn auch manche Unwahrscheinlichkeit in den Kauf zu nehmen
ist, und dass die Prinzessin ihre Kenntnis der Bürgerwelt überhaupt nur aus
zweiter Hand erlangt hatte, ist früh bemerkt worden.
Der eigentliche Lustspieldichter des deutschen Bürgertums ward der
Leipziger Roderich Jul. Benedix,^* geboren 1811, gestorben 1873, nachdem
er als Schauspieler und Schauspieldirector auch in Köln und Frankfurt thaetig
gewesen war. Er begann damit das eigentümlichste Stück des deutschen
gesaniBielteu Werke erscliieuen zu Berlin (1870), V und wieder 1891. 18) Ihi'e ge-
sammelten Werke erschienen Leipzig 1863 — 70, XIII. Geoamraelte Erzseblungen, ebd.
1863, III. 19) Er bestritt ihr das Recht sein Werk zu benutzen durch einen Process.
20) Ihre Werke hat R. Waldmüller (E. Duboc) Leipzig 1873, VI herausgegeben.
21) Gesammelte Werke, Leipzig 1846—72, XXVII. 'Der mündliche Vortrag n877. Eine
670 NEUliOCHDEUTÖCHE ZEIT. XIX JAIIUil. i< 170
Lebens zu scliildern, die Studcnteiiwelt. 'Das bemooste llaupf erschien 1841,
später 'Die relegierten Studenten'. Auch sonst sucht Benedix nach den Ori-
ginalen, wie sie in Deutschland vorkommen, und weiss sie dann lustig herum-
zutreiben. 'Die Hochzeitsreise" stellt den pedantischen Pliilologen dar, der
zum guten Gatten uiiigeschatfen wird. Der Stocrenfried' die boese Schwieger-
mutter, 'Die zgertlichen Verwandten' eine ganze Sammlung von verschieden-
gearteten Familienglicdcrn. Nach 1870 unternahm es Benedix, auch der
patriotischen Erhebung gerecht zu werden: 'Des Laudwchrmanns Christ-
test' ua.
Neben der deutschen Lustspielvvelt hatte sich früh die oesterreichische
besonders ausgebildet, z. T. mit Anlehnung an das franzoesische Muster.
Ediauü von Bauhrnkeld^'^ war 1802 zu Wien geboren und starb ebenda
1890. Als liberaler Beamter hatte er es doch verstanden auch die Hofgunst
sich zu bewahren und trat wie A. Grün 1848 nach beiden Seiten hin msessigeud
auf. Noch fruchtbarer als Benedix, hat er über hundert Theaterstücke ge-
dichtet. Sein 'LiebesprotocoU'-^ wurde 1831 aufgeführt; 'Bürgerlich und ro-
mantisch' richtete sich gegen Saphir, den Grillparzer aus dem Kreise der
Wiener Schriftsteller fern hielt; 'Grossjährig' war noch unter Metternich ein
Protest gegen die staatliche Bevormundung; 'Ein deutscher Krieger' 1844
zeichnete das Bild des biederen Othziers; 'Aus der Gesellschaft' 1867 Hess
den Helden die Schranken der vornehmen Welt durchbrechen. Überall ist
der Dialog lebendig, die Handlung aber gering; die boese Ironie Bauernfelds
trat mehr in den Epigrammen hervor, in die er, Hagestolz geblieben wie
Grillparzer, seinen Unmut über die ihn umgebenden Zustände niederlegte.
§ 179.
Auf dem Gebiete der Prosaerzaehlung setzte sich nach Goethes Tod
zunaechst die Einwirkung eines fremden Romandichters fort, welchem Goethe
selbst schon hohe Anerkennung gezollt hatte, W. Scotts historischer Roman
war in Deutschland früh nachgeahmt worden.' Die Erstlingsschriften von
Willibald Alkxis- erschienen sogar als Werke Scotts: 'Walladmor' 1823
und 'Schloss Avalen' 1827. Diesen Schriftstellernameu gebrauchte Wilhelm
Autobiographie in der 'Garteulaube* 1871. 22) B. Stern, E. v. Baiiernfeld, ein üichter-
portiiet nach pei-scrnlichen Eriuucruucren, Leipzig (1890). Bauerufelds '(Tesamnielte Schriften'
erschienen Wien 1.S71 — 73, XII; Bauernteids Dramatischer Nachlass' hg. v. F. v. Saar,
Stuttg. 1893. 23) Hier ist 1, 6 eine Reniiuiscenz aus Arnohls Pfingstmontag 4, 2.
§ 171). 1) \V. Häuft, Lichteustein 1826 (§172, nach Anm. 37). 2) Gesammelte Werke,
§ 179 HISTOmSCHER ROMAN. 671
llaering, welcher 1798 in Breslau geboren, in Berlin bis 1852 lebte und 1871
auf seinem Landgut bei Arnstadt starb. Seit 1832 wandte er sich der Schil-
derung der Mark Brandenburg und ihrer Geschichte unter den Hohenzollern
zu; er wusste Land und Leute vortrefflich zu characterisieren und zugleich
durch den Hinweis auf das Ziel ihrer geschichtlichen Entwickeluug der
scheinbar so poesielosen Provinz einen eigenen Reiz zu verleihen. Zur Yor-
geschichte der Hohenzollernzeit gehoert 'Der falsche Waldemar' 1842; 'Der
Roland von Berlin' 1840 behandelt den Kampf des ersten Kurfürsten mit
den märkischen Städten, 'Die Hosen des Herrn von Bredow' 1846 die Be-
siegung des unbotmfessigen Adels ; 'Der Wärwolf' 1848 schildert die Refor-
mation, 'Dorothea' 1856 die Zeit des grossen Kurfürsten, 'Cabanis' 1832 die
Jugendgeschichte Friedrichs des Grossen, 'Ruhe ist die erste Bürgerpflicht'
1852 und 'Isegrim' 1854 die Katastrophe von Jena und die Freiheitskriege.
Seine juristischen Studien verwertete Alexis als Erzsehler, indem er mit
Hitzig zusammen seit 1842 den 'Neuen PitavaF, eine Sammlung von Ver-
brechergeschichten herausgab. Ebenso wie Alexis richtet sich Heinrich
KoENiG^ in seinen geschichtlichen Romanen gegen die Adelsherrschaft und
noch mehr gegen die Ansprüche der katholischen Kirche, der er selbst an-
gehcerte. 1790 zu Fulda geboren, nahm er längere Zeit am kurhessischen
Verfassungsstreit erheblichen Anteil und starb 1869 zu Wiesbaden. Nach-
dem er 'Die hohe Braut' 1833 zu einem Bild der franzoesischen Revolutions-
zeit gestaltet hatte, schilderte er mit genauer Kenntnis etwas spsetere Vor-
gänge auf heimatlichem Boden: 'Die Clubbisten von Mainz' 1847, 'Koenig
Jeromes Carneval' 1855. Die westfselische Provincialgeschichte behandelte
nur noch mit mehr Ironie C. B. Levin Schücking,* geboren 1814 zu Kle-
menswert bei Meppen, gestorben zu Pyrmont 1883, nachdem er als Redac-
teur für Cottas Zeitschriften und für die Kölnische Zeitung thsetig gewesen
war,^ 'Die Ritterbürtigen' 1846 zeichneten den Adel seiner Heimat nicht
eben günstig; 'Paul Bronckhorst' 1859 stellte die Besitzergreifung des Münster-
landes durch Preussen mit scharfem Blick für die beiderseits begangenen
Fehler dar.
Frei von solchen Nebenabsichten hielten sich mehrere Verfasserinnen
historischer Romane: Henriette Paalzow aus Berlin 1788 — 1847, die mit
'Godwie Castle' 1836, 'Thomas Tyrnau' 1843 vornehm und sanft zu unter-
Berliü 1874, XX. 3) Autobiographiscli: 'Aus dein Leben', Stuttgart 1840, und 'Auch eine
Jugend', Leipzig 1852. 4) Lebenserinnerungen, Breslau 1886. 5) Vgl. auch § 172, 54.
672 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAHIUI. § 179
halten suchte, wrehreud Amai.ia Sciiopi'e"^ (auf Fchmarn geboren 1791, gestorben
1858 in Newyork) und noch mehr Louise Mühlhacii, wie sich die Gattin
des Schriftstellers Mundt' nannte, (geboren zu Neubrandenburg 1814, starb
sie zu Berlin 1873) den historischen Roman durch ebenso massenhafte, als
obcrtlächlichc Schriftstellerei ^ frühzeitig herabzogen. Geradezu eine streng-
conservative Aufftissung trug Geor(;e Ludwio Hesekiel in seine geschicht-
lichen Schilderungen 'Die Royalisten und die Republicancr' 1845, III; Tor
Jena' 1859, II ua., wajhrend er doch die Figuren und Motive von Alexis
sich zu Nutze machte. Geb. 1819 zu Halle, starb er zu Berlin 1874, als
Redacteur der Kreuzzeitung.
Eine Abart des historischen Romans, den litterarhistorischen begründete
Hermaxx Kurz,*-' geboren zu Reutlingen 1813, gestorben als Bibliothekar zu
Tübingen 1873, indem er besonders das Andenken des grossen schwaebischen
Dichters feierte: Schillers Heimatsjahre, Stuttgart 1843. Auch 'Der Sonnen-
wirt' 1855 steht zu Schiller in Beziehung.'"
Neben der Geschichte erhielt auch die Geographie ihren Roman, und
für diesen bot der Americaner Cooper das Muster, waehrend zugleich die
Lyrik Lenaus und Freiligraths die Sehnsucht in die Ferne bestärkte. Coopers
ei-ster Nachahmer in Deutschland war Carl Postel, der den Namen Charles
Sealsfield angenommen hatte. Geboren zu Poppitz bei Znaim in Mähren
hatte er in den Kreuzherrenorden zu Prag eintreten müssen, floh aber 1823
nach Nordamerica und starb 1859 auf seiner Besitzung bei Solothurn. Seinen
Roman 'Der Legitime und die Rcpublicaner, eine Geschichte aus dem letzten
englisch-americanischen Kriege' 1833 hatte er zuerst englisch geschrieben;
'Der Virey und die. Aristocraten oder Mexico im J. 1812' folgte 1835. Vor-
trefflich sind die Landschaftsbilder, die Sealsfield entwirft, aber auch die ein-
zelnen Nationen und Rassen weiss er in ihren verschiedenen Ständen und
Berufen genau und anziehend zu characterisiereu; freilich die Sprachmengerei,
die hierzu ebenfalls dient, greift auch in die Erzählung selbst über.
Zum exotischen Roman stellt sich der Seeroman nach Maryatts Bei-
spiel, welchen Heinrich Smidt einführte. Geboren 1798 zu Altena, starb er
ö) Sie nahm sich in Hamburg des jungen Hebbel an. Ihre 'Erinnerungen aus meinem Leben'
erschienen Altona 1838, II. 7) § 176, 14. 8) Von A. Schoppe erschien Tycho de Brahe'
1839; L. Mühlbach begann 1838 mit jungdeutschen Emancipations- und Sensationsromanen
und stellte dann in umfänglichen Romanen (im ganzen schrieb sie 300 Bände) Friedrich den
Grossen, Joseph II, Napoleon und zuletzt noch Kaiser Wilhelm dar. 9) § 161, 9. Biographie
von Kurz in den von P. Heyse hgg. 'Gesammelten Werken 1874. 75, X. 10) § 161, 9.
§ 179 GEOGRAPHISCHER UND SOCIALER ROMAN. 673
1867 ia Berlin. Mehr als die zahlreichen Erfindungen, durch welche er seine
Erfahrungen als Seemann (bis 1823) umkleidete, erweckt sein Bericht über
diese selbst Interesse: 'Mein Seeleben' 1837. Dagegen erhielt der geographische
Roman Sealsfields, den Theodor Mugge'^ aus Berlin (1806 — 1861) durch
Schilderungen aus Skandinavien, 'Afraja' 1854, 'Erik RandaF 1856 ua. nur
auf einen neuen Schauplatz verlegte, einen neuen Reiz durch den Humor,
mit welchem Friedrich Gerstäcker namentlich den Yankeewitz wiedergab.
Geboren in Hamburg 1816, lebte er 1837—43 in den Vereinigten Staaten in
verschiedenartigen, oft abenteuerlichen Beschcäftigungen und unternahm spseter
noch mehrere Weltreisen, teilweise mit dem Auftrag über die deutsche Aus-
wanderung zu berichten. 1872 starb er in Braunschweig. Gerstäckers Ro-
mane überraschen durch reiche Erfindung, welche nur zuweilen durch ihre
Übertreibungen an die alten Rseuberromane erinnert, und durch lebhafte,
wenn auch unkünstlerische Darstellung: 'Die Regulatoren des Arkansas' 1846,
IH; 'Die Flusspiraten des Mississippi' 1848, III; am Schlüsse steht der in
Mexico spielende Roman 'Ein Plagiar' 1872.^^
War nun schon in der Behandlung des historischen Romans die p olitis di-
so ciale Bewegung dieses Zeitabschnitts bemerkbar geworden, so diente viel-
fach die erzsehlende Prosadichtung geradezu den verschiedenen Bestrebungen
solcher Art zum Ausdruck. Von aristocratischer Seite her stellte sie Ale-
xander VON Ungern-Sternberg dar, welcher sich als Schriftsteller auf den
letzteren Namen beschränkte.^^ Geboren 1806 zu Noistfer in Esthland, kam
er 1831 nach Deutschland, wo er hauptsächlich in Berlin sich aufhielt; er
starb im Irrsinn 1868 zu Dannenwalde in Mecklenburg. Seine Novelle 'Die
Zerrissenen' 1832 sprach den Weltschmerz der vornehmen Kreise jener Zeit
aus. In den vierziger Jahren vertraten seine Romane und Novellen die An-
sprüche des Adels zum Teil in hoehnischer Weise, insbesondere entging die
Lüsternheit seiner 'Braunen Mserchen' 1850 nicht gerechtem Tadel. Spa3ter
noch, aber zugleich mit den Gedanken der Frauenemancipation verbunden,
sprach dieselben Anschauungen die Grsefin Ida Hahn-Hahn aus. Geboren
1805 zu Tressow in Mecklenburg, war sie in schwierigen Verhältnissen auf-
gewachsen, da ihr Vater, ein Theaterenthusiast, sein Vermoegen verschwendet
und zuletzt als Director einer Wandertruppe sich von seiner Familie getrennt
hatte. 1826 heiratete sie einen Vetter, wurde 1829 geschieden, behielt aber
die Mittel zu einem vornehmen Leben und zu grossen Reisen bis in den
11) Romane, 1862—67, XXXIII. 12) Gesammelte Schriften, Jena 1872—78, XLIII. 13) Erin-
674 NEUIIOCIIÜEÜTSCIIE ZEIT. XIX JAIllUI. § 170
Orient. Doch nur die Scliriftstellcrei war für sie ein voller Genuas. 1835
mit Gedichten hervorgetreten, Hess sie 1841 ihr berühmtestes Werk er-
scheinen: 'Faustina', eigentlich ein weiblicher Don Juan; eine schoene Grajfin
probiert die Männer nur um sie wieder wegzuwerfen, worauf sie in tiefem
Schmerze umkommen. Schliesslich geht Faustina in das Kloster. Noch
spottete die Verfasserin über diesen Ausgang ibrer Heldin. Aber nachdem
sie die Revolution in Dresden als Augenzeugin erlebt, trat sie selbst zur
katholischen Kirche über und verkündigte ihre Bekehrung in der Schrift
'Von Babel nach Jerusalem', Mainz 1851. Seitdem war sie lebhaft thsetig
Klocster zu begründen, behielt sich aber selbst die Freiheit vor. Ihre
späteren Romane wie 'Eudoxia' 1867, II sind natürlich ihren kirchlichen
Absichten geweiht. Sie starb zu Mainz 1880. In den scliärfsten Gegen-
satz zu ihr stellte sich Fanny Lewalü.'* 1811 zu Koenigsberg von jüdischen
Eltern geboren, ebenfalls vielgereist, verheiratete sie sich 1845 mit dem
Kunstschriftsteller Adolf Stalu- und starb 1889 in Dresden. Seit 1842 litte-
rarisch thffitig, veröffentlichte sie 1847 'Diogcna von Iduna Grsefin H. H.',
worin sie ihre Gegnerin bis auf die Eigentümlichkeiten ihres nachlässigen
Stiles parodierte und mit dem Wahnsinn der Heldin schloss. Doch auch in
ilircn, meist historischen Romanen stritt sie für die Gleichstellung der Ge-
schlechter, behandelte aber mit Vorliebe den Untergang des genialen Adels
und sein Unvermoegen, den verstandesgema^ssen Forderungen der Neuzeit
gegenüber sich zu erhalten: 'Prinz Ludwig Ferdinand' 1849, 'Von Geschlecht
zu Geschlecht' 1864. Im socialen Roman, der gegen den Unterschied der
Stände eifert, hatte F. Lewald einen älteren Mitstrebenden an Ernht Will-
komm aus Heringsdorf bei Zittau, geboren 1810, gestorben zu Zittau 1886.
'Die Europamüden' 1838, II, u. a. Romane geben tiefe Unzufriedenheit mit
den bestehenden Verhältnissen kund. Und freilich fand sich unter dem Adel
selbst, zumal dem schlesischen, die gleiche Überzeugung verbreitet, und als
Romanschriftsteller gab ihr, unter dem Namen Max Waldaü, R. Georg
Spiller von Hauenschild Ausdruck. 1822 zu Breslau geboren, starb er auf
seiner oberschlesischen Besitzung 1855. Nachdem er 1847 seine Gedichte
als Blätter im Winde' veröffentlicht hatte, schilderte er in dem Roman 'Aus
der Junkerwelt' 1850, H seine Standesgenossen in abschätziger Weise.
Mehr Beifall jedoch als diese direct der Romantik des Adels entgegen-
tretenden Darstellungen fand ein Zweig der Erzsehlungsdichtung, welcher sich
nerungablätter , Berlin 1855—60, VI. 14) 'Meine Lebensgeschichte', Berlin 1861.
§ 179 PllAUENROMAN. DORFGESCHICHTE. 675
den unteren Volksschichten, dem Bauernstande zuwandte und hier mit liebe-
voller Beobachtung eine für sich bestehende, den gebildeten und vornehmen
Kreisen au innerem Werte gleich stehende Welt künstlerisch zu erfassen
strebte. Auch früher schon war dies geschehen, aber doch meist mit der
Absicht die Bauern selbst zu belehren und zu bessern: so von Pestalozzi. ^^
Solche Absichten verfolgte auch zuerst der Berner Pfarrer Albert Bitzius,^"
der sich als Schriftsteller Jeremias Gotthelf nannte (geb. 1797, gest. 1854).
Allein bald ward es ihm nicht minder wichtig, auch der Lesewelt die mannig-
faltigen derben, aber tüchtigen Gestalten seiner Landsieute vorzuführen. Mit
genauester Sachkenntnis, mit einer Treue, die bis zur Einmischung der Mund-
art vorschritt,^^ entwarf er eine grosse Reihe von Erzeehlungen, unter denen
'Uli der Knecht', ein Volksbuch, Berlin 1846, mit seinen Fortsetzungen das
Leben eines Bauern von der dürftigen Jugend bis zum beheebigen Alter be-
gleitet und alle kleinen Fehlgriffe und Sorgen ebenso rückhaltslos aufdeckt,
wie die Bescheidung und Ausdauer ihr Lob und ihren Lohn vollauf erhält.
Salonfsehig wurde die Dorfgeschichte erst, als sie nicht nur von anstoes-
sigen Rohheiten gereinigt, sondern auch in die Beleuchtung der Zeitideen gestellt,
als die Frage nach dem Widerstreit zwischen Sitte und Sittlichkeit auch hier
erhoben wurde. In diesem Sinne hat Berthold Auerbach die Dorfgeschichte
eingeführt, wenn schon bereits Immermann die westfeelische Bauernart nicht
ohne Hervorhebung ihrer Beharrlichkeit und inneren Sicherheit der Über-
bildung der Zeit gegenüber gestellt hatte. Auerbach war 1812 zu Nord-
stetten im württembergischen Schwarzwald geboren und bildete sich, nach-
dem er die Absicht, Rabbiner zu werden, aufgegeben hatte, durch philoso-
phische Studien aus, die sich namentlich auf Spinoza bezogen. Diesen nahm
er zum Helden eines Romans, Mannheim 1837, II, wie er auch Ephraim
Kuh^^ in 'Dichter und Kaufmann', ebd. 1839, II romanhaft behandelte.
Allein erst die 'Schwarz wälder Dorfgeschichten', ebd. 1843,^^ brachten ihm
volles Ansehn. Es waren Jugenderinnerungen, die er psychologisch zu be-
gründen suchte. Die Verschiedenheiten, welche selbst zwischen dem freiesten
15) § 164, 10. 16) Manuel, Leben des A. Bitzius, Berlin 1857, als 12. Band vron J. (jotthelf,
Ge«ammelte Schriften, Berlin 1856—58, ^861, XXIV. Clemens Brockhaus, J. (i. der Volks-
schriftsteller, Berlin 1877. 17) Alb. von Rute, Erklserung der schwierigen dialektischen
Ausdrücke in J. Gotthelfs gesammelten Schriften, Berlin 1858 (Ges. Sehr. Bd. 24).
18) § 150, 68. 19) Drei weitere Bändchen folgten 1844—54. 'Sämtliche Schwarz-
wälder Dorfgeschichten', Stuttgart 1884, X. Gesammelte Erzsehlungen, Karlsruhe 1889.
'Aus dem Schwarzwald, Gedichte' hg. von F. Gessler und E. Scherenberg, Lahr 1891.
676 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAIIIIH. § 179
unter den Gebildeten, dem Künstler, und dem Bauernkindc walten und je
länger, jo mehr sie trennen, führte er in der Frau Professorin' tragisch aus.
Eine spatere Reihe der Dorfgeschichten hat teilweise durch die Benutzung
von Erza}hlungen der G. Sand mehr poetische Farbe erhalten, aber zugleich
die Naivettvt noch mehr eingebüsst: 'Barfüsselc' 1856, 'Joseph im Schnee'
und 'Edel weiss' 1861. Die Dorfgeschichte verflocht Auerbach mit dem Zeit-
roman in der Erzählung 'Auf der Hoehe' 1865, III; wie er hier Verfassungs-
kümpfc in Bayern zum Hintergrund gewajhlt, so bezog sich 'Das Landhaus
am Rhein' 1869 auf den amerikanischen Bürgerkrieg; in 'Waldfried' 1874, III
sprach Auerbach seine Befriedigung über die Begründung des deutschen
Reiches aus.
Auerbachs Idealisierung der Bauern fand Nachfolge. Mkf.chior Mkyr,^"
geboren zu Ehringen 1810, gestorben zu München 1871, veröffentlichte 1856
'Erziuhlungen aus dem Ries'. Joskpii Raxk, geboren zu Friedrichsthal im
Bivhmorwald, spseter Theatcrsecretser in Wien, liess Erza;hlungcn 'Aus dem
Bcvhmerwald' 1842 -' erscheinen mit besonderer Achtsamkeit auf die Fest-
gebra^uchc seiner abgelegenen Heimat.
Diese Auffassung des Klcinlebens wurde nun auch auf andere Kreise
übertragen, auf die jüdischen durch Leopolu Kompert. Geboren 1822 zu
Münchengrsetz in Böhmen, starb er zu Wien 1886. Seine Erza3hlungen 'Aus
dem Ghetto' erschienen 1848, 'Boehmische Juden' 1851 ua.
Sittcnsehilderuujxen solcher Art mussten der Frauenwelt besonders zu-
sagen. Zahlreiche Schilderungen schwäbischer Pfarrhäuser veröffentlichte
Ottilie Wilüermutu von 1847 und vereinigte sie in einer Gesamtausgabe,
Stuttgart 1862. 1S17 zu Rotteuburg am Neckar geboren, ist sie zu Tübingen
1877 gestorben.
Ein neues Element brachten in diese Kleinmalerei die humoristischen
Schilderungen des Militferdienstes, welche Friedrich Wiluelm IIacklänüer
als 'Bilder aus dem Soldatenleben im Frieden' 1841 und 'Wachtstuben-
abenteuef 1845 veröffentlichte.-- Er hat seine Biographie selbst geschrieben:
'Der Roman meines Lebens' 1878, IL Geboren 1816 zu Burtscheid bei
Aachen, versuchte er sich als Kaufmann und als OtRziersaspirant, fand aber
als Schriftsteller in Stuttgart Gunst bei Hot und war 1843 — 49 dem Kron-
prinzen Karl beigegeben, der ihn jedoch sofort bei seiner Thronbesteigung
'B. Auerbachs Briefe aa seinen Freund .Jacob Auerbach', Frankfurt 1884, II. 20) Bio-
graphisches in seinem Kachlass 1874. 21) Neue Folge 1847. 22) Seine Werke
§ 179 NEBENARTEN DES ROMANS. 677
1864 aus der Stellung als Director der koeniglichen Bauten und Gärten ent-
liess. Hackländer starb 1877 auf seiner Villa am Starnberger See. 1849
hatte er Radetzky auf dem Feldzuge in Italien und den damaligen Prinzen
von Preusscn in Baden begleitet, aucli 1866 wieder dem Krieg in Italien
beigewohnt. Seine Romane, 'Europaeisches Sklavenleben' 1854 ua. schildern
bald gerührt bald leichtfertig das Loos der niederen Stände und ebenso aus
naeherer Kenntnis den vornehmen Miissiggang. Noch einmal kehrte er in
'dem letzten Bombardier' 1870, IV zum Militaerleben zurück. Seine Lust-
spiele 'Der geheime Agent' 1851, 'Magnetische Kuren' 1853 ua. gewannen
durch feine Anlage und Munterkeit viel Beifall,
Weehrend Hackländer einen kecken, gelegentlich rücksichtslosen Lebens-
mut verherrlichte, fand die stille, entsagende Bescheidung einen Lobredner
an Adalbert Stifter,^^ durch welchen sich das sonst so abgeschlossene
Oesterreich auch an der Erzaehlungslitteratur jener Zeit beteiligte. Geboren
zu Oberplan im Bcehmerwald, ward Stifter bei den Benedictincrn zu Krems-
münster erzogen und unterrichtete in Wien als Privatlehrer u. a. den Fürsten
Richard Metternich. 1849 — 65 war er Schulrat in Linz, widerstrebte aber
der Concordatspohtik. Er starb 1868. Stifters Novellen erschienen als
'Studien' 1844—50, VI; dann als 'Bunte Steine' 1853. 'Witiko', ein histo-
rischer Roman aus der Geschichte Boehmens im 12. Jahrhundert, folgte 1857.
Stifter verbindet die Kleinmalerei der Natur, die er in den wechselnden
Jahreszeiten und Witterungen sorgfältig beobachtete und dichterisch nach-
bildete (gern wsere er Landschaftsmaler geworden) mit Erzsehlungen, die sich
meist auf Kinder oder Greise beziehen. Eigene Lebenserfahrung stellt er im
'Nachsommer' 1857 dar. Die spseteren Schriften haben viel Didaktisches.
Lehrhaft, aber in leidenschaftlicher, geisthaschender Sprache, legte
BoGUMiL Goltz seine Beobachtungen über die Verschiedenheit der Ge-
schlechter, der Menschenarten und Nationen vor. Geboren 1801 in dem
damals preussischen Warschau, studierte er, ward aber Landwirt, reiste spaeter
viel umher und starb zu Thorn 1870. Seine Jugend hat er mit lebhafter
Phantasie erzsehlt: 'Das Buch der Kindheit' 1847, und 'Ein Jugendleben'
1851. Seine Reisebeschreibung 'Ein Kleinstädter in Aegypten' 1855 gab
scharfsichtige, aber wiederum stark aufgebauschte Beobachtungen wieder.
erschienea in 4 Seriea gesammelt, Stuttgart 1860 — 73. 23) Mit Grillparzer zusammea
besprochen von E. Kuh, 'Zwei Dichter Oesterreichs', Pest 1872. Hier auch andere Schriften
über Stifter. Stifters Sämtliche Werke, hgg. v. Aprent, Pest 1870, XVll.
678 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAIIUII. § 180
Überall tritt in seiner Darstellung die Lust zum mündliehen Vortnig hervor,
den er gewandt und eindringlieh übte, aber doch nicht zur Klarheit und
Anmut durchgebildet hatte.
§ 180.
Nach der Revolution von 1848 und ihrem heftigen, aber grossenteils
fruchtlosen Ringen trat eine Ernüchterung und Entmutigung des öffentlichen
Geistes ein, welche auch in der Litteratur sich widerspiegelte. Zunsechst
erlitt die Lyrik dadurch erhebliche Einbusse: sie ward wieder mehr Aus-
druck perstt'nlicher Stimmung oder Spiel mit einer vorgebildeten Kunst. Selbst
der nationale Krieg von 1870 erzeugte zwar eine grosse Fülle von teilweise
trefflichen Gedichten;* aber durch alle Volksschichten zündete doch nur ein
Lied, 'Die Wacht am Rhein', das von Max Schneckenburger" schon 1840
gedichtet und von den rheinischen Soldaten fortdauernd gesungen worden
war. Die Stelle der Liederdichtung nahm die Erzsehlung in Versen ein,
welche eben in diesem Zeitabschnitt vorzügliche und mannigfaltige Aus-
bildung erhielt.
Auch auf diesem Gebiete machte sich die gemischte Stimmung des
Humors geltend , welche naturgemajss auf die Taeuschung der Hoöiiungen
folgte, von deren Berechtigung man doch überzeugt war. Der Humor, bald
lustiger, bald herber, beherrscht die Litteratur dieses Zeitabschnitts. Er
wandte sich dem wirklichen Leben zu und sah in dessen künstlerischer Ge-
staltung seine Aufgabe : es ist bezeichnend, dass mehrere der besten Schrift-
steller dieser Zeit sich ursprünglich als Maler hatten ausbilden wollen: Scheffel,
Keller, auch Reuter. Die Beschäftigung mit dem wirklichen Leben führte
zu den landschaftlichen Verschiedenheiten der deutschen Volksart; selbst die
mimdartliche Dichtung ward neugeweckt und brachte mehrfach Ausgezeichnetes
hervor.
Da wo man an der ernsten Grundlage festhielt, welche inmitten der
unbefriedigenden Gegenwart Trost und Zuversicht gewsehren sollte, griff" man
auch in der Dichtung zur Geschichte, die in der Wissenschaft gleichzeitig
die Führung übernahm. Dem verzagten Geschlecht hielt man die grossen
Zeiten und Männer vor, welche den deutschen Namen zu Ehren gebracht
hatten. Diese Richtung auf die Geschichte hat damals im Drama wie im
Roman Werke von dauerndem Werte geschaffen.
§ ISO. 1) 0. Weddigen, Die patriotische Dichtung von 1870. 71, Essen a. d. Ruhr 1880.
2) Creb. bei Tuttlingen 1819, gest. in Burgdorf 1849 ; s. W. Lang, Von und aus Schwaben,
§ 180 DRAMA. G. FREYTAG. 679
Humor, dramatische Kunst und geschichtliche Studien verband Gustav
Freytag,' dessen Lustspiel 'Die Journalisten', Leipzig 1854, innerhalb dieser
von deutschen Dichtern selten zugleich selbständig und mit Erfolg angebauten
Gattung einen Ehrenplatz einnimmt. Der Dichter spiegelt darin auch persoen-
liche Erfahrungen ab. Geboren 1816 zu Kreuzburg in Schlesien, war er
1839 — 47 Privatdocent für deutsche Philologie in Breslau, 1848 — 70 Re-
dacteur der 'Grenzboten' in Leipzig zusammen mit dem Litterarhistoriker
Julian Schmidt. Den Sommer verbrachte er meist auf seinem Landgut Siebe-
leben bei Gotha, im Verkehr mit Herzog Ernst. Seit 1879 hat Frey tag sich
nach Wiesbaden zurückgezogen. Von seinen Dramen erschienen das Lust-
spiel 'Die Brautfahrt', eine Episode aus dem Leben des Kaisers Max I, und
ein Stück aus einer unvollendeten tragischen Trilogie 'Der Gelehrte' 1844.
Schon in diesem Stück weist der Dichter auf das thsetige Leben, auf die
Politik hin, aber in einem nationalen Sinne. Er will den Gegensatz zwischen
Adel und Bürgertum überwinden : das letztere, mit aller seiner Tüchtigkeit,
erscheint doch im politischen Leben der Führung bedürftig, und zu dieser
sind die über das Junkertum hinaus ragenden, tapferen und, wenn sie wollen,
auch liebenswürdigen Adeligen berufen. Freytag hat Gestalten, wie die des
groessten Staatsmannes der nachfolgenden Zeit, geahnt und das Verständnis
für sie vorbereitet. Eine Verbindung zwischen einem kühn und edel denken-
den, im freien Amerika gebildeten Bürgerlichen und einer vornehmen Dame
stellte er in der 'Valentine' dar, Leipzig 1847; sein 'Graf Waldemar', 1858,
gewinnt in der Liebe eines Bürgermsedchens den im Taumel der vornehmen
Welt verlorenen Jugendmut und Edelsinn wieder. Zwischen diesen beiden
Schauspielen stehen 'Die Journalisten', worin die Thsetigkeit der Presse auf
der Hoehe ihrer Aufgabe zugleich mit den echten Farben der Wirklichkeit
gemalt wird. Das Trauerspiel 'Die Fabier', 1859, zeigt den gleichen Gegen-
satz der Stände und seine Ausgleichung nur in die Rosraerwelt übertragen.
Doch noch mehr als durch die dramatische Kunst, deren hohe Anforderungen
er selbst in der 'Technik des Dramas', 1863, auseinandersetzte, wusste
Freytag in der loseren Form des Romans seinen Ideen Verbreitung zu geben.
Vor allem gab 'Soll und Haben', 1855, worin er, mit Berufung auf J. Schmidts
Rat, das deutsche Volk 'von seiner besten Seite, bei der Arbeit' schilderte,
Vf. Heft, Stuttgart 1890. 3) Freytag hat seine Jugendzeit selbst in seinein anmutig
ironischen Tone geschildert: 'Erinnerungen aus meinem Leben', Leipzig 1887 (1. Band der
'Gesammelten Schriften', Leipzig 1887. 88, XXII). C. Alberti, G. Freytag, sein Leben und
680 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAHRTI. § 180
dem KaufmannstanJ und der landwirtschaftlichen Thatigkcit die Ehre und
zeichnete das Verkommen des hochmütig verschwenderischen Adels wie die
Nichtigkeit der betrügerischen Speculation. Die Universitfetskreise im Conflict
mit dem Loben der kleinen lloefo stellte 'Die verlorne Handschrift' dar,
1804. Der letzte, grosse Romancyclus Freytags, 'Die Ahnen', 1872 — 80, VI,
führte eine deutsche Familie, die eigene des Dichters, mit leichter Ironie zurück
auf ein vandalischos Koonigsgeschlecht, so dass die wichtigsten Entwickelungs-
stufen der deutschen Geschichte in fesselnden Bildern vorüberziehen. Überall
lagen hier tief eindringende culturhistorische Studien zu Grunde, welche zum
Teil schon in den 'Bildern aus der deutschen Vergangenheit', IV, 1859 — G2,
an die Öffentlichkeit getreten waren. Einem politischen Freund, dem badi-
schen Minister K. Mathy, widmete Frey tag, Leipzig 1870, eine Biographie;
er erzählte, nicht durchweg anerkennend, seine Begegnungen mit Kaiser
Friedrich als Kronprinzen.*
Die politische Auffassung Freytags vertrat als Dramatiker , wie P.
Ileyse ua. , so auch Gustav von und zu Putlitz.^ Geboren zu Retzien in
der Westpriegnitz 1821, starb er hier 1890. 1863 hatte er die Leitung des
Schweriner Theaters, 1873 die des Karlsruhers übernommen und war in-
zwischen mehrmals Ilofmarschall des damaligen Kronprinzen von Preussen.
Von seinen Lustspielen*^ haben 'Badecuren' 1853, 'Das Schwert des Damocles'
1858 besonders gefallen; unter den historischen Schauspielen verherrlicht
'Das Testament des grossen Kurfürsten', 1859, die preussische Staatsidee,
'Wilhelm von Oranien in WhitehalF, 1864, und 'ßolf Berndt', 1881, den
Protestantismus und den Liberalismus.
Eben diesen Zielen strebte auch ein Schüler Dingelstedts zu, Hermann
Hersch aus Jüchen in Rheinpreussen , geboren 1821, gestorben 1870 zu
Berlin. Seine Gedichte 'Von Westen nach Osten' erschienen 1848 ; seine
'Anna Liese', ein ansprechendes Characterbild des alten Dessauers, 1859.
Mit dem historischen Schauspiel verband den historischen Roman Albert
Emil Brachvogel. Geboren zu Breslau 1824, starb er zu Berlin 1878.
Nachdem er sich als Schauspieler und Bildhauer versucht, wandte er sich
1855 zur Schriftstellerei. Sein Trauerspiel 'Narciss', 1857, stellte dem üppigen
Hof Ludwigs XV und der kaltegoistischen Philosophie der Encyclopsedisten
Schaffen, Leipzig 1886. 4) Der Kronprinz und die deutsche Kaiserkrone', Lpz. 188Jt.
5) Theatererinnerungen 1874, II, Berlin; Mein Heim, ebd. 1885. Ausgewsehlte Werke,
ebd. 1872—78, V. 6) Lustspiele, Berlin 1850—55, IV: Neue Folge, ebd. 1869—72, IV.
§ 180 HISTORISCHES DRÄ.MA. LUSTSPIEL. 681
einen Künstler gegenüber, der über diese Verhältnisse den Verstand verliert.
Brachvogels 'Adalbert von Babenberg", 1858, erneuert, nur mit vertieften
historischen Kenntnissen, das Ritterdrama. Sein Roman Triedemann Bach',
1858, schildert wieder ein Genie, das dem Wahnsinne anheimfällt. Mit
historischen Dramen begann auch Erxst Wichert aus Insterburg, geboren
1831, seine schriftstellerische Thtetigkeit: 'Unser General York', 1858,
'Withing von Samland', 1860, ua., um dann weiterhin im Lustspiel mit
'Ein Narr des Glücks', 1868, 'Ein Schritt vom Wege' 1871 ua. noch mehr
Beifall zu finden ; er Hess eine Reihe historischer Romane folgen, welche sich
meist auf dem Boden seiner ostpreussischen Heimat bewegen: 'Heinrich von
Plauen', 1881 ua.
Auf dem gleichen Felde des historischen Dramas zeigte sich Heixrich
Kruse, geboren 1815 zu Stralsund, erst in spteterem Lebensalter thsetig, nach-
dem er längere Zeit Redacteur der Kölner Zeitung gewesen war. 'Die
Grsefin', 1868, 'WuUenweber', 1870, 'Moritz von Sachsen', 1872 ua. berühren
Fragen der politischen und religioesen Freiheit, die noch die Gegenwart be-
wegen. Kruses 'Fastnachtspiele', 1887, bewsehren seine humoristische Be-
gabung. Trübere Schicksale hatte Albert Lixdxer zu bestehen. Zu Suiza
geboren 1831, gab er, nachdem sein Trauerspiel 'Brutus und Collatinus'
1867 mit dem Schillerpreise gekrcent worden war, seine Stelle als Gymnasial-
lehrer zu Rudolstadt auf. Seine 'Bluthochzeif 1871 fand wieder Beifall.
Doch der Dichter, dem das Leben in Berlin grosse Entteeuschunoren bereitet
hatte, verfiel in Wahnsinn und starb 1888. Das historische Drama fand
dann nach 1870 in Erxst von Wildenbruch den Dichter, der die Yorge-
schichte des neuen Kaiserhauses der Hohenzollern begeistert und wirkungs-
voll darstellte.
Das feinere Lustspiel wurde meist von denselben Dichtern gepflegt,
welche sich im historischen Drama versuchten. Daneben gelangte die Local-
posse zunsechst in den Grossstädten, in Wien und Berlin, zur Ausbildung.
Auch sie verschmsehte die Beimischung rührender Züge nicht, wenn auch in
Berlin der volkstümliche Wortwitz, der 'Kalauer', mit Vorliebe eingeflochten
ward. Unter den Dichtern dieser Art glänzte besonders David Kallsch," ge-
boren zu Breslau 1820, gestorben zu Berlin 1872.
Kaiisch ist auch der Begründer des Berliner 'Kladderadatsch', in wel-
chem seit 1848 die politische Dichtung, oft in kunstvollen Formen, wenn
7) Berliner Volksbühne 1864, IV. Lustige Werke 1870—71, V. Das Wallnertheater ver-
682 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAHlUr. § 180
auch ohne die Namen der Dichter, fortbestand und sich fortbildete. Die
liVrik der namhaften Dicliter zeigte teilweise ebenfalls dieses Streben nach
vollkommener Reinheit und Zierlichkeit der Form, wozu ja die Menge der
bereits vorhandenen Muster leicht Anleitung geben konnte. Besonders beliebt
wurde die kurze Erzsehlung in Versen, die poetische Novelle.
Einen der ersten und einen glänzenden Erfolg errang nach Kinkel Otto
Roquettk'* mit 'Waldmeisters Brautfahrt', Stuttgart 1851; eine Reihe von
erza^hleudcn Dichtungen folgte: 'Der Tag von St. Jakob' 1852, 'Hans Haide-
kukuk' 1855 ua. und in dramatischer Form 'Gevatter Tod' 1873; auch
mehrere Dramen zur Aufführung: 'Jacob von Artevelde' 1856 ua., sowie Ro-
mane und Novellen in Prosa zeigen Roquettes anmutige Begabung.
Der Meister der feinen Novelle^ aber ist Paul Heyse, geb. zu Berlin
1830, seit 1854 in München. Als romanischer Philologe von Verdienst hat
er auch in seine Dichtung das Formgefühl, sowie die leichte SiunUchkeit
der südeuropffiischen Poesie übertragen. Mit dem 'Jungbrunnen', einer Samm-
lung zierlich erfundener Maerchen, war er schon 1849 aufgetreten; er Hess
dann eine Reihe von Novellen "^ folgen, unter welchen 'L'Arrabiata', auf
Capri beim Zusammensein mit Scheffel gedichtet, das rasche Umschlagen
der Mädchensproedigkeit in die hingebende Liebe des Weibes schildert, ein
von Heyse oft und mannigfaltig behandeltes Thema. In Versen ' ' waren
schon 'Die Brüder, eine chinesische Geschichte', Berlin 1852, abgefasst; in Hexa-
metern die Legende 'Thekla', Stuttgart 1858. Dramatisch'- hatte Heyse 1850
'Francesca von Rimini', 1879 die 'Sabinerinnen' behandelt; zu den Liebesproble-
men fügte er spaeter politisch-nationale: 'Elisabeth Charlotte' 1864, 'Colberg' 1868,
'Die alte Jungfer' 1893 ua.; sociale in 'Ein überflüssiger Mensch' 1890; überall
zur Ausgleichung der Gegensätze, zur Förderung des Gemeinsamen mahnend.
Heyses Romaue sprechen seine bildungsfreudige und kirchlich freie, aber
körperte diese Berliner Volkstypeu. 8) Geb. 1824 zu Krotoschin, seit 1869 Professor
am Folytechuic'um iu Darmstadt. Rot^uettes 'Liederbuch' erschien zuerst 1852. Seine 'Dra-
matischen Dichtungen" Stuttgart 1867—77, II; seine 'Novellen' Berlin 1870, II: 'Weit und
Haus' 1871, II: zuletzt 'Neues Novelleubuch' 1884. 9) Auch als Sammler und Heraus-
geber ist Heyse für diese Dichtungsart in Prosa thsetig gewesen: 'Deutscher Novellenschatz',
hg. mit H. Kurz, München XXIV, 1871 — 76; Neuer deutscher Novellenschatz, mit L.
Laistner, ebd. 1884 fgg. 10) Berlin 1885 — 87 ei-schieneu 19 Sammlungen. Über P.
Heyse als Romauschriftsteller s. Th. Ziegler, Studien und Studieuküpfe, Schafthausen 1877,
wo auch H. V. Kleist, Uhland, Grillparzer und Mürike behandelt sind. 11) Ge-
sammelte Novellen in Versen 1863. -1870, II. 12) 'Dramatische Dichtungen', Berlin
§ 180 HEYSE. ERZiEHLUNG IN VERSEN. 683
social versoehnliclie Überzeugung und Gesinnung aus : 'Die Kinder der Welt'
1872, 'Im Paradiese' 1873, dies ein Bild des Münchener Künstlerlebens, in
welchem auch der Humor mitspielen darf, 'Der Roman der Stiftsdame' 1887,
zuletzt 'Merlin' 1893, worin er entsagungsvoll dem Naturalismus unserer
heutigen Litteratur entgegentritt.
Heyses Richtung teilten wesentlich die mit ihm und Geibel in München
verbundenen Dichter. Zunsechst schliesst sich Wilhelm Hertz '^ an, dessen
'Gedichte' Hamburg 1859, dessen epische Dichtung 'Lanzelot und Ginevra'
1860 erschien. Meist geben seine Dichtwerke mittelalterliche , besonders
romanische Sage und Dichtung wieder, denen er auch seine Forschung zu-
gewendet hat. Mehr in Platens Weise widmete sich Heinrich Leuthold^*
der Erneuerung antiker Versarten; seine Gedichte erschienen gesammelt erst
1879. Hermann Lingg'^ dagegen behandelte mit Vorliebe altgermanische
Stoffe, bereits in seinen von Geibel 1854 eingeführten 'Gedichten', nament-
lich aber in dem strophischen Epos 'Die Völkerwanderung', Stuttgart 1866
bis 1868, HI. Von seinen Dramen zeigt gleich das erste, 'Catilina', München
1864, die Bewunderung der Kraft auch in ihren Verirrungen. Noch weiter
dehnte sich der Kreis der Litteraturen aus, deren Inhalt und Form durch
den Münchener Dichterbund Bearbeitung fand. Friedrich M. Bodenstedt'*'
brachte in den 'Liedern des Mirza Schaffy', Berlin 1851 , zwar nicht den
Namen eines wirklichen Dichters, wohl aber die auf den Genuss der Gegen-
wart gerichtete Liederweisheit des Orients von neuem zur Geltung, wie er
in 'Ada die Lesghierin' 1853 ua. die 1844 — 46 in Tiflis ihm bekannt ge-
wordene Wunderwelt des Ostens feierte, und sonst in zahlreichen Über-
setzungen namentlich die russische Volks- und Kunstdichtung der deutschen
Litteratur aneignete.
Am meisten aber zeigt den Character der Weltlitteratur die Dichtung
des Grafen Adolf Friedrich von Schack,^^ dessen 'Spanisches Theater' 1845
die Reihe seiner Übersetzungen eröffnet, welche bis nach Arabien, Persien
1864—83, XIII. 13) Greb. zu Stuttgart 1835, seit 1858 Professor am Polytechnicum
zu München. 14) Geb. zu Wetzikon bei Zürich 1827, gest. in der Anstalt Burghölzli
1879. Vgl. A. W. Ernst, H. Leuthold, ein Dichterporträt, Hamburg 1891. 15) Geb.
zu Lindau 1820, seit 1851 in München. 16) Geb. zu Peine bei Braunschweig 1819,
gest. zu Wiesbaden 1892. 'Erinnerungen aus meinem Leben', Berlin 1888. 90, II. 17) Geb.
zu Brusewitz bei Schwerin 1815, vielgereist, durch seine Gemgeldegallerie auch um dasKunstieben
in München hochverdient. Vgl. 'Ein halbes Jahrhundert. Erinnerungen und Aufzeichnungen',
Stuttgart 1888. 89, III. Manssen, Graf Schack (ursprünglich holländisch), Stuttgart 1888.
Wackernagel, Litter. Geacbichte. II. w
C84 NEUIIOCTIDEUTSCIIE ZEIT. XIX JATTRII. § 180
und Indien sich liiuiiWei- ziehen. Die eigenen Dichtungen Schacks sind meist
erziehlende Lehrdichtungen, 'Nächte des Orients' 1874 ua. zuweilen mit der
Ironie Byrons, die auch in den kecken, witzigen Keimen sich kund gibt. In
den Dramen Schacks wirkt dieser lyrische Fluss freilich stoerend.
Der Zug zur phantastischen Behandlung überkommener Erzahlungsstoffe
in kunstvoller Form begegnet auch ausserhalb der Münchner Schule. In
Oesterreich vertritt ihn Robkkt IIamekling,*^ dessen 'Venus im Exil' 1858,
'Schwanenlied der Romantik' 1862, 'Germanenzug' (Canzonen) 1864, 'Ahasver
in Rom' 1866, 'Der Ka^uig von Sion' 1860, 'Die sieben Todsünden' 1872 ua.
Bilder von üppiger Farbenpracht malten, Wcchrend sein 'Homuuculus' 1888
bitterer Satire diente. Sein Roman 'Aspasia' erschien 1876, II.
Eigentümlicher und kühner zeigt sich Wilhelm Jordan,''^ welcher mit
Gottschall befreundet zuerst in der ostpreussischen Heimat die freiheitliche
Bewegung vertrat, '-'' aber im Frankfurter Parlament die polnischen Ansprüche
zurückwies. Als Schriftsteller hat er mit seinem Trauerspiel 'Die Wittwe
des Agis' 1859 ua., mit dem feinen Lustspiel 'Durchs Ohr' 1880 ua. Erfolge
errungen. Aber sein eigenstes Denken, seinen unerschütterlichen Optimismus
legte er in die dramatische Dichtung 'Demiurgos' 1852 — 55, und brachte diese
Philosophie weniger passend auch in die allitterierende Bearbeitung der
Heldensage, in seine 'Nibelungen' 1868. 74, welche er als moderner Rhap-
sode selbst, und mit bedeutender Wirkung vortrug.
Die Beschäftigung mit der altdeutschen Dichtung gibt auch der Poesie
Joseph Victor Scheffels^' ihr Geprsege, nur dass er durch seinen Humor
und durch sein volkstümliches Wesen unvergleichlich groesseren und wärme-
ren Beifall gewonnen hat. Zu Karlsruhe 1826 geboren, ist er hier auch
1886 gestorben. Ihm war auch das Talent des Liederdichters verliehen:
seine 'Lieder eines fahrenden Schülers', 1847 ohne seinen Namen in den
Münchener 'Fliegenden Blättern' erschienen, sind längst gesungen worden,
ehe er sie in 'Gaudeamus' 1867 sammelte. Hier hatte die Studentenpoesie
Schacks Gesammelte "Werke, Stuttgart 1883, VI. 18) Geb. zu Kirchberg am AVald bei
Zwettl 1830, Gymnasiallehrer in Triest, gest. zu Graz 1889. 'Stationen meiner Lebens-
pilgerschaft', Hamburg 1889. P. K. Rosegger, Tersceuliche Erinnerungen an Hamerling',
AVien 1891. A. Polzer, R. Hamerling, Hamburg 1890. 19) Geb. zu Insterburg 1819.
K. Schiffner, W. Jordan, Frankfurt 1889. 20) Glocke und Kanone, 1841. 21) Die
stark angewachsene Litteratur fassen zusammen : A. Ruhemann, J. V. v. Scheffel, Stuttgart
1887 und Joh. Pr(plss, J. V. v. S., Berlin 1887. Von Pra'lss bevorwortet erschienen auch
aus dem Nachlass 'Reisebilder', Stuttg. 1887; 'Gedichte aus dem Nachlass', Stuttgart 1889.
§ 180 LYKIK. SCHEFFEL. 685
einen neuen Inhalt erhalten, in welchem die Gelehrsamkeit und nicht nur die
historische, auch die naturwissenschaftliche mit überraschender Ironie ver-
wertet wurde. Scheffel fasste diesen Inhalt in eine absichtlich lose Form,
gestattete sich eine Freiheit der Sprache und des Verses, welche zu der
'feucht froehlichen' Stimmung vorzüglich passte und zahlreiche Nachahmungen
anregte. Scheffel hatte nach dem Wunsche seines Vaters Jura studiert;
seinen Wunsch Maler zu werden, konnte er erst 1852 und nun schon zu
spset, zur Ausführung bringen, 1853 erschien die auf Capri gedichtete Er-
zsehlung 'Der Trompeter von Säckingen'; die etwas lässige Form stimmte
vortrefflich zu der trockenen Darstellung der Liebesgeschichte. ^-^ 1855 folgte
der Roman 'Ekkehard", dem Inhalte nach hauptsächlich auf den lOosterge-
schichten Sanct Gallens beruhend, zu denen Scheffel durch die Beschäftigung
mit dem Waltharius geführt worden war. Aber die bis in das Einzelne ge-
führten und durch Anmerkungen nachgewiesenen Studien waren durchtränkt
mit reicher Empfindung und erfüllt von origineller Erfindung. Dass es
schliesslich moderne Menschen sind, dass die Frauencharactere kräftiger sind
als die Männer, beeinträchtigt zwar die gelehrte Verwendbarkeit, erhoeht aber
die Verständlichkeit für unsere Zeit. Seitdem vermochte Scheffel kein groes-
seres Ganzes mehr zu schaffen. Die Lieder, welche er als 'Frau Aventiure'
1863 erscheinen Hess, der 'Juniperus' 1866 waren Fragmente eines Wartburg-
romans, den er für den Grossherzog von Weimar schreiben wollte; auch die
Prosanovelle aus der Völker wanderungszeit 'Hugideo' 1858, die lyrischen
Gedichte 'Bergpsalmen' 1870, 'Waldeinsamkeit 1880 sind nicht umfänglich.
Scheffel befriedigte seine Zeit durch seinen Realismus, durch sein Wur-
zeln in der Wirklichkeit, in der Natur und Geistesart seiner Heimat. Ge-
brauchte er schon gern mundartliche Ausdrücke, so widmeten andere Dichter
ihre ganze Kraft der Dialectdichtung. Dem alemannischen Stamme Scheffels
gehoerte auch der Züricher Jugendschriftsteller W. August Corrodi-^ an,
dessen 1858 zu Winterthur erschienene Idyllen 'De Herr Professor', 'De Herr
Vikari' ua. auch den Humor zu entfalten vermochten. Ernster, ja wohl zu-
weilen aUzu gefühlvoll, dichtete der Ditmarsche Claus Groth,^* und sein
'Quickborn' 1852, ward der Ausgangspunct für eine neue Pflege der nieder-
deutschen Poesie.
22) Deu Stoff hatte Scheffel aus einer Grabaufschrift in Säckingen herausgesponnen, weiche
einem Trompeter und seiner Gemalilin, einer geborenen Freiin von Schoenau gewidmet war.
23) 1826—1885. 24) Geb. 1819 zu Heide, gest. als Professor zu Kiel 1892. Gesam-
melte Werke, Kiel 1892, V. 'Lebenserinnerungen' 1892, hg. v. E. Wolff, Kiel. Karl
686 NEUITOrUDEUTSCHE ZEIT. XIX JATIRIT. §"180
Der Zug zur Abspiegelung der naechstcn Umgebung, den die Lyrik be-
sonders als Dialectpoesie bekundet, tritt nun auch in der Prosaerzachlung
hervor und begrcitiicliorwcise sind es besonders die Frauenromane, welche
ihm folgen und mit Glück folgen. Mit ernsten, frommen Gedanken-'' schil-
derte das norddeutsche Familienleben Marie Nathusius,^'^ welche 1817
zu Magdeburg geboren, 1857 auf ihrem Landgut Neunstadt starb und 1853
ihr Tagebuch eines armen Fraeuleins' veröffentlichte. M. Luise von Fran-
gois, geb. zu Ilertzberg in Schlesien 1817, gest. 1893 zu Weissenfeis, zeich-
nete die Adelskreise feinsinnig und gerecht: ihr Roman 'Die letzte Recken-
burgerin' erschien 1871. Aber auch die Schriftstellerinnen der liberalen Kreise
wenden sich wenigstens von den ehemaligen Emancipationstheorien ab ; unter
ihnen war wohl die beliebteste E. Marutt,^^ wie sich Eugenie John nannte.
1825 zu Arnstadt geboren, wo sie auch 1887 starb, wurde sie für die Fürstin
von Schwarzburg-Sondershausen als Sängerin ausgebildet und blieb bis 1863
ihre Gesellschafterin. 1867 trat sie mit 'Goldelse' hervor und fand durch
Dramatisierung ihrer Erzsehlungen, z. B. der 'Reichsgraefin Gisela' sogar den
Weg auf die Bühne.
Doch noch öfter beschäftigte sich der aus gemütvoller Teilnahme und
überlegenem Spott gemischte Humor, für den Dickens das massgebende Vor-
bild darbot, mit den kleinen Verhältnissen des Lebens. Mit besonderer
Liebe versenkte sich Wilhelm Raabe,^^ geb. 1831 zu Eschershausen im Her-
zogtum Braunschweig, in enge, dürftige Verhältnisse, die doch durch die
Poesie der Empfindung verschoent werden. Sein erster Roman ist 'Die Chronik
der SperUngsgasse' 1857 ; 'Der Hungerpastor 1864, 'Horacker' 1876 ua. haben
den gleichen herzlichen, zuweilen schrullenhaften Zug. Kräftiger schilderte
pommersche Zustände Edmund Hcefer,"'* geboren zu Grcifswald 1819, ge-
storben zu Cannstadt 1882. 1852 begann er mit 'Erzsehlungen aus dem Volk';
in 'Schwanwick', Stuttgart 1856, und in'Aldermann Ryke' 1864 leistete er wohl
sein Bestes. Durch tiefe Empfindung, welche die Natur mit den Seelenvor-
gängen in innigen Zusammenhang bringt und selbst spukhafte Sagen neu
Eggei-8, Klaus Groth und die plattdeutsche Dichtung, Berlin 1885. 25) Wenig erbaulich
ist der Spott über das Zugrundegehen kirchlich liberaler Gelehrtenfamilien in dem
anonym zu Hamburg 1853 veröffentlichten Roman Eritis sicut deus von Elisabeth Cranz.
26) Ihre gesammelten Schriften erschienen zu Halle 1858—69, XV. 27) Ihre ge-
stammelten Romane erschienen Leipzig 1888—90 in 70 Lieferungen. 28) Sein Pseu-
don}Tn in den altern AVerken ist Jacob Corvinus. 29) Erzaehlende Schriften
zuerst gesammelt Stuttgart 1865, XII. Ausgewählte Schriften, .Jena 1882, XIV.
§ 180 HUMORISTEN. REUTER. 687
zu beleben weiss , gab Theodor Storm ^° seinen Erzsehlungen einen eigenen
Reiz, der freilich der scherzenden Laune schon ferner steht. Geboren zu
Husum 1817, war er 1853 — 1865 als richterlicher Beamter in Preusseu an-
gestellt, dann wieder in der Heimat und starb zu Hademarschen 1888. Seine
lyrische Begabung dringt auch in den Erzsehlungen vor, von denen 'Immensee'
1852 die erste war, Aquis suhmersiis 1877, Renate 1878 ua. folgten. Erst die
spseteren errangen jedoch den Beifall, den damals ein anderer norddeutscher
Schriftsteller, indem er freilich auch dem urwüchsigen Volksscherz Raum
gab, ganz für sich gewonnen hatte. Fritz Reuter^' hat, trotzdem er
sich meist seines Dialectes oder vielmehr der zwischen diesem und der
Schriftsprache stehenden Redeweise seiner gebildeten Landsleute bediente,
doch in ganz Deutschland Leser gefunden. Geboren zu Stavenhagen in
Mecklenburg-Schwerin 1810, war er als Burschenschafter 1833 — 40 auf
Festung, eine Zeit, die er mit ergreifendem Ernst, mit packendem Humor
in der Erzsehlung 'Ut mine Festungstid' 1863 beschrieben hat. Endlich frei
geworden, suchte er sich vergebens eine Lebensstellung zu gewinnen. Als
Privatlehrer, bereits verheiratet, veröffentlichte er 1853 seine Gedichte, meist
humoristische, zum Teil derbe Xseuschen und Rimels',^^ Volkssch wanke, die
Reuter vortrefflich nacherzaehlte oder umbildete. Die eigenen Lebenserfah-
rungen verwertete er in 'Ut mine Stromtid', einem Teil der 'Olle Kamellen',
1856 — 63; an der Hauptfigur, dem 'Onkel Brsesig', der gewissermassen durch
seine Betrachtungen den Chorus des Dramas darstellt, hat er längere Zeit
gearbeitet. Damals lebte er in Neubrandenburg, seit 1863 in Eisenach, wo
er 1874 starb. Die 'Franzosentid' 1860 schrieb er nach den Erzsehlungen
seines Yaters; in 'Hanne Nute' 1860 verband er Handwerks brauch und eine
die Yogelstimmen nachahmende Einmischung der Tierwelt in menschliche
Schicksale. Ernst und tieftragisch hatte 'Kein Hüsung' 1857 die dunkle
Seite der patriarchalischen Zustände seiner Heimat berührt, die Rechtlosig-
keit des Armen und Hoerigen.
Ein nicht minder tiefes Gefühl mit einer schalkhaften, gelegentlich
ebenfalls derben Laune verbunden, zeigt ein Schriftsteller der Schweiz, welcher
30) P. Schütze, Th. Storm, BerUn 1887. F. Wehl, Th. Storm, Altona 1888. Mörike-Storm-
Briefwechsel, hg. v. Baclitold, Stuttgart 1891. 'Neue Novellen' 1878, 'Drei neue Novellen'
1880, 'Novellen' 1882, 'Zwei Novellen' 1883. Gesamtausgabe der Schriften, Braunschweig 1889.
31) Leben von A. Wilbrandt in den 'Nachgelassenen Schriften von F. Reuter', "Wismar
1874 (Sämtliche "Werke XIV). H. Ebert, F. Eeuter, sein Leben und seine Werke,
Güstrow 1874. K. Th. G^dertz, F. Reuterreliquien, Wismar 1885. 32) § 93,47, 6.
688 NEUIIOCIIDEUTSCIIE ZEIT. XIX JAIIKII. § 180
erst nach 1870 in Deutschland volle Würdigung fand. Gottfried Keller ^^
war ein Züricher, geboren 1819, gestorben 1890. Als Sohn eines Drechslers
hatte er den Schulunterricht früh abgebrochen; er wollte sich in München
1839 zum Maler ausbilden, kehrte aber nach drei Jahren, ohne sein Ziel
erreicht zu haben, in die Vaterstadt zurück. Ein Staatsstipendiura, welches
auf Grund seiner Gedichte' 184G'* ihm die litterarische Ausbildung moeglich
machen sollte, genoss er in Heidelberg und Berlin, von wo er 1855 heim-
kehrte. 1861 — 76 war er als Staatsschreiber in musterhafter Weise thatig.
Sein Ruhm als Erzschler, den er diu-ch seinen Roman 'Der grüne Heinrich' ^^
1854 und durch die Novellen 'Die Leute von Seldwyla' 1856 in der Schweiz
begründet, dann durch die humoristisch mit den Heiligen spassenden 'Sieben
Legenden" 1872 erneut hatte, wurde durch Romeo und Julie auf dem Lande'
1876 auch in Deutschland zur vollen Anerkennung gebracht.^" Die 'Züricher
Novellen', 1878, H, zeigten Keller auch auf dem Gebiet der historischen
Erzeehlung tüchtig. Der Novellencyclus 'Das Sinngedicht' 1881 führt mehr-
fach nach Norddeutschland, wsehrend der Roman Martin Salander' 1886
wieder ganz in der Heimat spielt. Überall bietet der Dichter Selbstempfun-
denes, Selbstgeschautes. Mit Vorliebe stellt er die Tseuschungen und Ent-
tgeuschungen des Idealismus dar, bald in der Liebe, bald im Staatswesen,
doch so, dass zuletzt doch das Herz Recht behält. Auch in der Lyrik
Kellers herrscht bei aller Herbe ein stiller Frieden. Jean Paul war sein
Jugendideal, über das er nur spseter hinauswuchs.
Nicht der Humor, aber die nahe Berührung mit der Wirklichkeit der
Dinge verbindet mit den bisher genannten Romanschriftstellern auch Fried-
rich Spielhagen. ^' Geboren zu Magdeburg 1829, kam er jung mit seinen
Eltern nach Stralsund und die Ostseeküste ist für ihn oft der Schauplatz der
Erzaehlung: so in der vorzüglich schcenen Novelle 'Auf der Düne' 1858.
Ein umfänglicher und mehrfach fortgeführter Roman, 'Die problematischen
Naturen', 1861, II, schildert zuletzt die Berliner Ereignisse vom März 1848;
33) Eine Lebensgeschichte schrieb zusammenfassend Breuning, 1892: vorher Brahm,
Lpz. 1883; vgl. auch Frey, Erinnerungen an G. Keller, Lpz. 1892. G. Kellers Leben.
Seine Briefe und Tagebücher. Von J. Baechtold, I. Berlin 1894. Kellers Nachgelassene
Schriften und Dichtungen, Berlin 1893. 34) Gesammelte Gedichte. Berlin 1883 uö.
35) Durchaus absprechend beurteilt diesen noch Kreysig, Vorlesungen über den deutschen
Roman der Gegenwart, Berlin 1871. 36) Heyse nannte ihn in einem Sonett 'Shakespeare
der Novelle". 37) Sämtliche Werke 1871, X: 1877—78, XIV. L. Ziemssen, F. Spiel-
hagcn, Breslau o. J. (Deutsche Bücherei XXVI.)
§ 180 KELLER. SPIELHAGEN. 689
In Reih und Glied' 1866 zielt auf F. Lassalle; 'Die Sturmflut' 1876 auf
die damals eben vergangene Gründerzeit. Spalter hat Spielhagen allzu sehr
die Resignation und zuletzt in 'Der neue Pharao' 1889 die völlige Abwen-
dung von der politischen Lage unserer Zeit hervortreten lassen. Nur der
Ichroraan: 'Was will das werden?' 1887 spricht noch Hoffnungen auf eine
bessere Zukunft aus. Nach der heitern Seite wendet sich 'Das Skelet im
Hause' 1878, und die Schauspiele 'Liebe für Liebe', 1875, 'Hans und Grete'
1876. Wertvolle Erörterungen über seine Kunstübung boten Spielhagens
'Beitrsege zur Theorie und Technik des Romans' 1882, 'Finder und Er-
findet 1890.
Neben Spielhagen traten andere Schriftsteller des Zeitromans zurück;
nur E. Philipp Lange, der unter dem Namen Philipp Galen schrieb, konnte
mit seinen Romanen aus den letzten Kämpfen Schleswig-Holsteins: 'Der
Inselkcenig' 1852, Y ua. Aufmerksamkeit erregen. 1813 zu Potsdam geboren,
ward er Militserarzt und verwertete seine medicinischen Studien in seinem
nsechsten Roman 'Der Irre von S. James', 1854. Zeitverhältnisse schilderte
auch der sociale Roman 'Unüberwindliche Mächte', welchen der Kunsthisto-
riker Hermann Grimm, der Sohn Wilhelm Grimms, 1867 erscheinen liess.
An die Ereignisse jener Jahre erinnern vielfach auch die Kriegsnovellen
und militserischen Romane. Hier folgten dem Vorbilde Hackländers Julius
VON WicKEDE, geboren 1819 zu Schwerin; Adolf von Winterfeld, geboren
zu Altruppin 1824, gestorben zu Berlin 1889, und Hans Wachenhusen, ge-
boren zu Trier 1827.
In die Vergangenheit griffen dagegen bald nach 1850 mehrere Schrift-
steller, teilweise wie Freytag, um sie der Gegenwart als Mahnung und Trost
vorzuhalten; Scheffel, um sie mit den Gebilden seiner dichterischen Phan-
tasie zu erfüllen. Neben ihnen bildete Wilhelm H. v. Riehl die cultur-
geschichtliche Novelle aus, wsehrend er zugleich eine 'Naturgeschichte des
Volkes' 1851 — 69 schrieb. Geboren 1823 zu Bieberich am Rhein, lehrt er
seit 1859 an der Universitaet München. Seine Novellen erschienen zuerst
1856, mit historischer Treue des Hintergrundes, zu welchem nur die Staffage
erfunden ist. Riehls zierliche Erzsehlungen behandeln mit Vorliebe die
Künstlergeschichte, besonders die der Rococozeit. Dagegen ging Franz
Trautmann aus München (1813—87) in das Mittelalter und die naechstfolgende
Zeit zurück, indem er im holzschnittartigen Chronikenstil 'Eppelin von Gai-
lingen' 1852, 'Die Abenteuer des Herzogs Christoph von Bayern' 1852. 53, II;
'Die Chronika des Herrn Petrus Nöckerlein' 1856 ua. abfasste.
G90 NEUHOCHDEUTSCHE ZEIT. XIX JAIIRH. § 181
Daneben hat der Wunsch, in erzählender Form die Ergebnisse der
Wissenschaft, besonders auf den dunklereu Gebieten der Geschichte, so genau
als moüglich mitzuteilen, auch Fachgelehrte zum historischen Roman geführt:
so Geor«; M. Ebeus, '^ geboren 1837 zu Berlin, mehrere Jahre hindurch Pro-
fessor in Leipzig, dessen 'Aegyptische Kccnigstochter' 1864 eine längere Reihe
von Erzaehlungeu eröffnet hat; wsehrend Felix Daiin, geboren 1834 zu Ham-
burg, die altgermanische Sage und Geschichte zu seinem Gegenstand er-
wa^hlte: auf 'Harald und Theano' 1856, ein episches Gedicht, folgte nament-
lich 'Ein Kampf um Rom' 1876, III.
§ 181.
Ein Überblick über die wissenschaftliche Prosa seit der Mitte des Jahr-
hunderts kann nur eine Anzahl von Namen darbieten, Schriftsteller, welche
mit vorzüglichen und weithin wirkenden Forschungen auch eine eigentümliche
Form der Darstellung verbunden haben.
Dass nach Hegel die deutsche Philosophie ein neues umfassendes Lehr-
gebfeude nicht errichtet habe, ist allgemein zugestanden; auch die ihm früher
schon entgegengestellten Systeme, wie namentlich das Schopenhauers, haben
bei aller Anregung im Einzelnen doch nicht Stand gehalten. Schopenhauers
Gedanken erneuerte wesentlich Eduard von Hartmann in seiner Philosophie
des Unbewussten' (1869), welche den Willen der Natur zugleich als Intelli-
genz fasste. Geboren zu Berlin 1842, musste er 1865 wegen Kränklichkeit
aus der militajrischen Laufbahn zurücktreten. Hartmann hat auch als Dra-
matiker sich versucht und unter dem Namen Karl Robert in seinen 'Drama-
tischen Dichtungen' 1870 Tristan und Isolde, David und Bathseba behandelt;
'Aphorismen über das Drama' veröffentUchte er 1870. Eine Neugestaltung
der deutschen Philosophie erwartet man von der Vertiefung der Naturwissen-
schaften, und namentlich die Schriften von Hermann von Helmholtz, geboren
zu Potsdam 1821, erregen und begi-ünden diese Hoffnung.
Die Anhänger Hegels haben indessen einzelne Zweige der Philosophie
ausgebaut. So Friedrich Theodor von Vischer ^ die Aesthetik. Geboren zu
Ludwigsburg 1807, wirkte er namentlich als ausgezeichneter Interpret der Dich-
tung zuletzt in Stuttgart, 1855—1866 in Zürich, und starb zu Gmunden 1887.
Seine Untersuchimg 'Über das Erhabene und Komische' 1837 hatte sofort
38) Ebers 'Die Geschichte meines Lebens', Stuttgart 1893.
§ 181. 1) 'Mein Lebensgang': Altes und Neues 3 (Stuttgart 1862). Ilse Frapan,
Vischer-Erinnerungen. Stuttg. 1889. Th. Ziegler, F. Th. Vischer. Stuttg. 1893.
§ 181 PHILOSOPHIE UND GESCHICHTE. 691
Anerkennung gefunden , seine 'Aesthetik oder Wissenschaft des Schoenen',
1847 — 58, III erschwerte das Verständnis nur durch die vielfache Rücksicht
auf die abweichenden Ansichten Anderer. Auch Yischer hat sich dichterisch
bethsetigt: Ernstes brachten seine 'Lyrische Gänge' 1882; im Bänkelsängerton
besang er unter dem Namen Philipp Schartenmayer namentlich 187-1 'den
deutschen Krieg von 1870'; und verspottete unter anderen Pseudonymen
die Ausleger des Goetheschen Faust 1862. In dem Roman 'Auch einer'
1879, n, eine humoristische Selbstparodie, flocht er eine Erzsehlung aus der
Pfahlbauzeit ein.
Im übrigen erschien es besonders erwünscht, durch die Geschichte der
Philosophie deren bisherige Ergebnisse dem künftigen Neubau zu erhalten.
Um die Philosophie des Altertums hat sich so besonders Eduard Zeller
verdient gemacht, welcher, 1814 zu Kleinbottwar in Würtemberg geboren,
gegenwärtig an der Berliner Universitaet lehrt. Seine Thilosophie der Grie-
chen' Hess er Tübingen 1844 — 52, III uö. erscheinen; eine 'Geschichte der
deutschen Philosophie seit Leibnitz' München 1873 uö. Kuno Fischer, ge-
boren zu Sandewald in Schlesien 1826, jetzt in Heidelberg, schrieb eine
'Geschichte der neueren Philosophie' 1844 — 82, VI, und erleeuterte durch
zahlreiche Schriften in glänzender Darstellung unsere classischen Dichter, be-
sonders Schiller.
Die geschichtUchen Studien fanden in dieser Zeit ausgezeichnete Fort-
führung. An Niebuhr schloss sich Theodor Mommsen an, geb. zu Haiding
in Holstein 1817, jetzt in Berlin. Seine 'Roemische Geschichte' erschien
zuerst 1854. 55, III, wozu 1885 der V. Band hinzukam. War stilistisch
wie sachlich bei Mommsen die Anpassung an moderne Verhältnisse über-
raschend, so suchte 'Die Geschichte der deutschen Kaiserzeit', Braunschweig
1855 — 88, V, von Wilhelm von Giesebrecht (geboren zu Berlin 1814, ge-
storben zu München 1889) vielmehr die mittelalterliche Anschauung^neu zu
beleben. Jon. Gustav Droysex, geb. 1808 zu Treptow, gest. zu Berlin 1883,
entwickelte in seiner Geschichte der Preussischen Politik, Berlin 1855 — 86, V,
die Grundlagen, auf denen die preussische Führerschaft in Deutschland be-
ruhte und stellte im 'Leben des Feldmarschalls Grafen York von Wartenberg',
Berlin 1851. 52, HI einen Vertreter des preussischen Wesens dar. Der um
die Wendung der süddeutschen Politik um 1860 hochverdiente Heidelberger
Professor Ludwig Häusser, geb. zu Kleeburg im Elsass 1818, gest. 1867,
trug namentlich durch seine 'Deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs des
Grossen bis zur Gründung des deutschen Bundes', Berlin 1854 — 57, dazu
092 NEUIIOCIIDEIJTSCIIE ZEIT. XIX JAIIKH. § 181
bei , dass der für Deutschlands staatliche Wiedergeburt wichtigste Zeitab-
schnitt eine richtige Würdigung fand. Die endliche Begründung des deut-
schen Kciches durch Wilhelm Y schilderte 1889. 90, V, IIeinricji von Syijkl,
geb. zu Düsseldorf 1817, gegenwärtig Director der preussischen Staatsarchive.
Eingehend legte Hkinuicu von Trkitschkk, geb. zu Dresden 1834, jetzt
an der Berliner Universität, die an Irrungen so reiche Vorgeschichte dieser
Neubegründung dar in der 'Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert', seit
1879 (bis jetzt IV). Dieser politischen Geschichtschreibung stellte sich die
niilitscrische in den Gcneralstabswerken 'Der Feldzug von 1866 in Deutsch-
land', Berlin 1866; 'Der deutsch-franzocsische Krieg 1870/71', Berlin 1872
bis 1881, V; 'Der deutsch-diienische Krieg 1864', Berlin 1886. 87, II zur
Seite, welche unter der Leitung des Generalfcldmarschalls Helmutii von
MoLTKE (geb. zu Parchim 1800, gest. zu Berlin 1891) entstanden sind. Von
ihm waren schon 1845 'Briefe aus der Türkei' erschienen, welche zur deut-
schen classischen Prosa zu rechnen sind.^
Von den zahlreichen Schriftstellern, welche die Staatswissenschaften
historisch aufgehellt haben, ist wenigstens Ridolf von Gneist, geboren zu
Berlin 1816, noch hervorzuheben, dessen 'Englische Verfassungsgeschichte' zu
Berlin 1882 erschien.
Ein näheres Eingehen rechtfertigt sich an dieser Stelle, wenn die Fort-
schritte der deutschen Litteraturgeschichte und Altertumskunde zu berühren
sind. Die Geschichte der deutschen Litteratur empfing ihre erste würdige
Zusammenfassung durch Georg Gervixus.^ Geboren zu Darmstadt 1805,
starb er in Heidelberg 1871. Wie Haeusser war er von Friedrich Christoph
Schlosser (1776 — ^"1861) vorgebildet worden und hatte dessen Aufmerksam-
keit auf die Zusammenhänge der litterarischen mit der politischen Geschichte
sich angeeignet. Als Professor in Göttingen 1836, 37 trat er den Brüdern
Grimm nahe und war einer der 'Göttinger Sieben'. Aber weder seine poli-
tische Wirksamkeit in den nsechsten Jahren, noch seine Geschichtschreibung,
welche in der 'Geschichte des 19. Jahrhunderts' 1853 — 66, XIII, ihre Voraus-
sagen durch die Ereignisse unerfüllt sah, reicht an die W^irkung seiner 'Ge-
schichte der poetischen Nationallitteratur', Leipzig 1835 — 42,* welche un-
mittelbar nach Goethes Tod von dem Standpunct unserer Klassiker die
2) Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten, VII, Berlin 1891. 92. 3) K. Gosche,
G. Gervinus, Leipzig 1871; E. Lehmann, G. Gervinus, Hamburg 1871. G. Gervinus
Leben von ihm selbst (1860), Leipzig 1893. 4) » 1870— 75.
§ 181 DEUTSCHE PHILOLOGIE. 693
gesamte littcrarischc Entwickelung Deutschlands überblickte uud von der
bisherigen poetischen Zeit auf eine "Wendung zur politischen Bethaitigung
hinwies. Die ältere Dichtung war dabei noch nicht ganz zu ihrem Rechte
gekommen: dies verschaffte ihr erst die philologische Forschung, wie Lach-
mann sie lehrte. Von seinen Schülern erwarben sich besonders zwei durch
den tiefen und weiten A.nbau dieser Studien Verdienste. Wilhelm Wacker-
nagel, geboren zu Berlin 1806,^ gestorben zu Basel 1869, dessen Litteratur-
geschichte, Basel 1849 fgg., zuerst die ältere Zeit auf Grund allseitiger
Durcharbeitung darstellte und dessen Deutsches Lesebuch, 1835 — 44, III uö.,
schon vorher den wissenschaftlichen Betrieb dieser Studien allgemein zugäng-
lich gemacht hatte. Karl Müllenhoff, geb. zu Marne in Südditmarschen
1818, gest. zu Berlin 1884, fasstc aus den Quellen die gesamte Geschichte
des germanischen Geistes zusammen in seiner Altertumskunde, Berlin 1870 fgg.^
An Müllenhoff schloss sich AViliielm Scherer an, geb. zu Wien 1841, gest.
zu Berlin 1886, der noch einmal die deutsche Philologie durch selbständige
Forschungen auf allen ihren Gebieten bereichert hat, dessen Buch 'Zur Ge-
schichte der deutschen Sprache', Berlin 1868, ^78 einen neuen Abschnitt der
deutschen Sprachforschung einleitete und dessen 'Geschichte der deutschen
Litteratur', Berlin 1882 uö., eine auch formell meisterhafte Darstellung dieses
Stoffes bietet.''
Seitdem ist auf dem Gebiete der deutschen Litteraturgeschichte im Ein-
zelnen eifrig weiter gearbeitet worden, und die hierdurch stets aufs neue
geförderte Beschäftigung mit den grossen Zeiten unserer Dichtung ist gegen-
wärtig und wohl auf lange hinaus ein Segen auch für die Litteratur selbst.
5) R. Wackernagel, W. Wackernagels Jugendjahre, Basel 1885. Wackernagel hat unter
der Verfolgung der Demagogenrichter schwer gelitten: auf Grund eines Schiilerhriefes war
ihm jede Aussicht auf eine Thsetigkeit in seinem Vaterland verschlossen worden. Vgl. noch
seine 'Kleinereu Schriften' (hg. von M. Heyne), Leipzig 1872 — 74, III, wo auch eine kurze
Biographie. Poetik, Rhetorik und Stilistik, hg. von L. Sieher, Halle 1873, ^1888. Als Dichter
schliesst er sich durch Formenreichtum und Sinnigkeit zunsechst an Rückert an. 'Gedichte,
Auswahl', Basel 1873. (5) Bis 1893 erschienen Bd. 1, 2, 3, 5. 7) Vgl. auch seine
'Geschichte des Elsasses', Berlin 1871 uö. (zusammen mit 0. Lorenz) seine 'Vorträge und
Aufsätze', Berlin 1874; Poetik, Berlin 1883; seine kleinen Schriften hgg. von K. Burdach
nnd E. Schmidt, Berlin 1893, IL
EEGISTER.
Bei Namen, die auf mehreren Seiten vorkommen, wird diejenige vor ausgestellt, welche die
' Lebensumstände angibt.
A.
Aal, J. 101 a.
Abbt, Tb. 443. 455.
Aberlin, J. 56 a.
Abrabam a S. Clara (TJ. Megerle) 254—256.
Abscbatz, H. Assmann v. A. 264. 267.
Ackermann, J. 99. 101.
Adelphus, J. 125 a.
Adelung, J. C. 304. 305.
Adelung der Dichter 162. 297. 544.
Agricola, J. 99. 101.
— J. 105. 147.
— M. 65.
— Ph. 101.
Agyrta, C. 126 a.
Akademien, deutsche 295 a. 358.
Alberus, E. 12 a. 61. 83 a. 86. 142.
Albert, H. 236.
Albertini, J. B. v. 561.
Albertinus, A. 251.
Albertos, L. 12 a.
Alexis, W. (W. Häring) 670.
Alexandriner 92. 194. 206. 313. 623. 660.
Aisted 193 a.
Altenburg, J. M. 239 a.
Alxinger, J. B. v. 521.
Amadis 124.
Amalie v. Sachsen (A. Heiter) 669. 544.
Amarantes s. Herdegen.
Andrea J. V. 66. 77. 83 a. 86. 92 a. 119. 186.
Angelas Silesius s. Scbeffler.
Anhalt, Ludwig v. 160. 162. 183. 214.
Anmerkungen, Gedichten beigefügt 196. 202.
219.
Antike Mythologie 34, A. Lyrik 88 a, A. Vers-
und Strophenmessung 107.
Apelles, V. 104.
Arndt, E. M. 585 fg.
— J. 144.
Arentsee, J. 104.
Arnim, L. A. v. 571—573. 568 fg.
— Bettina v. 573.
Arnold, G. 284.
— J. G. D. 17. 607.
Auerbach, B. 675. 662.
Auffenberg, J. H. v. 602.
Aurifaber, J. 142 a.
Aventinus s. Thurnmayer.
Ayrer, J. 119. 103 a.
B.
Babo, J. M. 524.
Babst, M. 95 a.
Baggesen, J. 520, 569.
Bahrdt, K. .T. 448 a. 483 a.
696
Bälde, J. 212.
Rillude 327.
bar 44.
Jiardendichtung 327.
liardiet 344. 406. 427 a.
Barth, C. 116.
Basedow, J. B. 446. 400.
Bauer, L. 6(»3.
Büuerle, A. 606.
Bauernfeld, E. v. 670.
Baumgarten, A. G. 375. 440.
Bebel, H. 29. 76.
Bechman, J. 104a. 117a.
Bechstein, L. 617.
Beck, K. 656.
Beer, M. 603.
Bellin. J. 185 a. 208 a.
Benedix, J. 665».
Benzel-Sternau C. E. Graf v. 533a.
'Berchtoldus redivivu»' 97.
Bergreien 40 a.
Berlichingen, Güz v. 135.
Bertesius, J. 99. 117 a.
Berthold, C. 99.
Berthold, B. v. Chiemsee 142.
Besser, J. v. 276.
Bildverse 195,
Binder, Georg 101. 107,
Birch-Pfeifer, Ch. 669.
Birck, S. 29. 32 a. 88.. 94. 99. 100. 104. 107.
114 a.
— Th. 104.
Birken, Sigismund v. 185.
ßismarck, Füret 549.
Bitner, J. 95a.
Blankenburg, C.F.v.298a, 328a.
Blarer, A. 87.
— Th. 88 a.
Blum, K. 602.
Blumaue r, A. 521. 523 a.
Bode, J. J. Ch. 407. 462.
Bodenstedt, F. M. 683.
Bu-diker, J. 189.
Bodmer, J. J. 368—375. 300. 303. 306. 361 a.
397. 401. 405a. 408. 409. 419a. 430. 435a.
Bogatzky, C. H. v, 330 a.
Böhme, J. 144. 145.
Böhmische Brüder 84.
Bohnenlied 39 a.
Bohse, A. (Talander) 267.
Boie, H. C. 463—465. 443. 471. 473. 521.
Boisseree, S. 502.
Bok, J. G. 360 a.
Boltz, V. 33. 94. 95. 99. 101. 103.
Bopp, F. 558.
Borck, C. W.v. 397. 435 a.
Bürue, L. (L. ßaru.h) 648. 645a.
Böschenstein, J. 80. 84 a.
Bostel, L, V, 280 a.
Boaset, J. 117.
Brandes, J. C, 525. 528,
Brandenburg, L, H. v. 240.
Brandmüller, J. 193a.
Braunschweig, A. U. v, 266. 177a. 240a.
— H. J. V. 116.
Brawe, J. W. v. 436,
Brehme, C. 231.
Breitinger, J. J. 306. 423 a.
Brentano, C. M. 568—571.
Bressand, F, C. 280 a.
Briefform der Abhandlungen 347.
Brockes, B. H. 349—351. 353. 386.
Bronner, F. X, 513.
Bruelovius, C. 112,
Brummer, J. 101.
Brun, F. 518 a.
Brunner, Th. 98. 99.
Bube, A. 617,
'Buch der Liehe 124.
Buchholtz, A. H. 265.
Buchler, J. 76.
Buchner, A. 183. 215.
Büchner, Ch. 664.
BuUinger, H. 97,
'Bur, Claws' 105.
Börklin, A. 545 a,
Burmeister, J, 117 a,
Butovius, J. 118 a.
Butschky, S, v. 285.
Büttner, W. 130.
697
c.
Calagius, A. 100.
Callenbach, F. 25ü.
Cammerlander 105 a.
Canitz, F. K. L. v. 274. 273 a.
Qinzleideutsch 168.
Capito 88 a.
Carlo J. 134.
Casparson, W. J. C. C. 375 a.
Castelli, J. F. C. 606. 88 a.
Chamisso, A. v. (L. C. A. comte de) 630.
Chezy, H. v. 385 a.
— W. V. 385 a.
Chryseus, J. 100.
Chytrsbus, N. 13. 61a.
Dach, S. 235.
Dachser, J. 88 a.
Dachtier, G. 163 a.
Bactylen 192. 218. 317.
Dahhnann, F. C. 643.
Dahn, F. 690.
Dalberg, W. H. v. 337. 506. 526.
Dasypodius, P. 6 a. 12.
David, L. 135.
Decius, N. 83 a.
Dedekind, F. 71. 73 a.
— C. C. 250. 280 a.
'Delineatio summorum
studenticse' 79.
Denaisius, P. 91.
Denis, M. 428.
Derschau, v. 382 a.
Detharding, G. A. 364.
Clajns, J. 6 a. 12. 32 a. 145.
Claudius, K 462 fg. 470.
Clauren (C. Heun) 594.
CoUin, H. J. V. 530.
— M. V. 531.
Corner, D. G. 88 a.
Corrodi, W. A. 685.
Cramer, J. A. 392. 427.
— K. F. 399 a. 467.
— K. G. 531.
Cronegk, J. F. v. 436. 381.
Cnlman, L. 103.
Cuno, J. 117 a.
Czepko, D. V. C, und Keigersfeld 246.
D.
104.
eapituni lustitudiuis
Deutsche Buchstaben 25.
Deutschgesinnte Genossenschaft 216.
'Deutschland, das junge 648.
Devisen 244.
Dichterverzeichnisse des 17. Jahrh. 187 a. 188a.
Dietenberger, J. 6 a.
Dilherr, J. M. 238 a.
Dingelstedt, F. v. 658.
Distichen 320.
Dohm, Ch. C. 466 a.
Dornavius 73 a.
Dornblüth, A. 304.
Dreyer, J. M. 387a.
DroUiüger, K. F. 353. 357 a.
Droste-Hülshofif, A. E. v. 617.
Droysen, J. G. 691.
Dudulteus, Ch. 125.
Dürer, A. 32 a. 146.
Eber, P. 83 a.
Eberlin, J. 60.
Ebers, G. M. 690.
Ebert, .J. A. 392.
Eckhart, J. G. 162.
Ecklin, D. 136 a.
E.
Eckstein, U. 115 a.
Eckstorm, H. 106.
Edelpöck, B. 41. 101.
Eichendorft-, J. v. 627.
Eisenbeck, E. 193 a.
Ekhof, K. 337. 527.
698
Elsbcth, Th. 388.
Emser, H. 5 a. 60 a.
Enf,'cl, J. .1. 444.
Englische Komödianten 116. 122 a.
Episcopiurt, J. 9r)a.
Eppendorff, H. v. 147.
Erthel, U. 41 a.
Eschenburg, .1. J. 4.3:'». .302. 411a.
Etter Heini 103 a.
Eulenspiegel 12;').
Eyering, E. 63.
Eysenberg, J. 149.
Extemporieren der Schauspieler 279. 339.
F.
Fabeldichtung 61. 176. 226. 325. 370. 616.
Faber de Wcrdea. .1. 76a.
Fabria, M. de 90 a.
Falk, J. D. 520.
Fassmann, D. 3418. 300 a.
Fastnachtspiele 9G.
Faust, Buch von Dr. 125.
Faustkomödie 180. 340.
Feind, B. 186. 280 a.
Feller, J. 330 a.
Feuchtei-sleben, E. v. 653.
Feuerbaeh, L. A. 639.
Fichte, J. G. 550. 585.
Filidor 232 a.
Finckelthaus, G. 230.
Finkenritter 126.
Fischart, J. 67. 12. 13. 32 a. 33. 79. 83 a.
91. 149 fgg.
Fischer, K. 691.
Flacius, M. 12 a.
Fleming, P. 229.
Flexel, L. 41.
Fliegende Blätter des 16. Jahrh. 37.
Flitner, J. 29.
Tloia' 79.
Flurheim, C. 81a.
FoUen, A. A. L. 589.
— K. 589.
Folz, H. 49.
Forer, C. 146.
Forster, J. G, 536.
— G. 38 8.
Fonque, F. de la Motte-F. 590. 549. 592.
628. 631.
Francisci, E. 223 a. 256.
Franck, F. 11.
Franck, J. 242.
— S. 133. 143. 147.
Fran(joi8, M. L. v. 686.
Frauen litterarisch tlicctig 163. 240. 298. 544.
Freder, .T. 82 a.
Freher, M. 161.
Freie Verse 321.
Freientahl, R. v. s. Grob.
Freiligrath, H. F. 6.59.
Freinsheim, J. 1778. 207.
Fremdwörter 31. 33. 190.
Freudenspiel 96 a.
Frey, J. C. 79 a.
— J. 130.
Freylinghausen, J. A. 243.
Freyssleben, L. 103.
Freytag, G. 679. 544.
'Friedrich L, Kaiser' 125.
Friedrich II. von Preussen 293. 296. 354 a.
358. 385. 3888. .389 a. 405. 410.416. 429.
443. 448. 450-^52. 474. 535.
Friedrich Wilhelm IV von Preussen 544.
Frisch, J. L. 189.
Frischlin, J. 41 a.
— N. 29. 74. 97. 113.
Fröhlich, A. E. 616.
Froelich, H. 91.
Froelinkint, J. 141.
Froereisen, J. 95a.
Fruchtbringende Gesellschaft 160. 214.
Fuchs, C. 74. 79.
Fugger, J. J. 228.
Funck, J. 30 a.
Funcke, C. 227 a.
Fünckelio, .1. 100—102.
I
699
G.
galant 'toeltmänniscli 164.
Galen, Ph. (E. P. Lange) 689.
Gart, Th. 98.
Gärtner, K. C. 387.
Garve, C. 443.
Gasmann, A. 98. 113 a.
Gast, J. 130a.
Gaudy, F. v. 632.
Geibel, E. 661.
Gelegenheitsdichtung 174.
Geller, E. 280 a.
Geliert, C. F. 388—390. 304. 358 a. 305 a.
419. 420. 429. 433. 434. 436. 438.
Gemeinsprache 9.
Gemmingen, 0. H. v. 526.
Gengenbach, P. 102. 103.
Gensschedel, B. 131 a.
Gentz, F. v. 584.
Gerhardt, P. 240. 463.
Gerok, F. K. v. 616.
Gerstäcker, F. 673.
Gerstenberg, H. W. v. 426—428. 405. 430.
462. 525.
Gervinns, G. 692.
Gesangbücher, geistliche 172 a.
Gesatz 45.
Geschichtslied 35.
Gesellschaften, litterarische 223 a. 350. 357.
Gesellschaftslied 90. 332.
Gesner, K. 10 a. 32 a. 146.
Gessner, S. 385. 386. 476.
Giesebrecht, W. v. 691.
Gilm, H. V. 657.
Giseke, N. D. 392.
Glanner 38 a.
Glasbrenner, A. 653.
Gleim, J. W. L. 377—379. 310. 380—382.
384—386. 398. 429. 431. 432 a. 433. 435.
468. 485.
Gneist, R. v. 692.
Goebel, G. 98.
Göckingk, L. F. G. v. 465.
Goldast, M. 167.
Wackernagel, Litter. Geschiebte. II,
Goltz, B. 677.
Görres, J. v. 571. ,570.
Goethe, ,J. W. v. 486—503. 308. 364 a. 390.
400. 413. 421a. 424 a. 426. 430. 435. 443.
450a. 45.5. 456. 463a. 467 a. 482. 484.
532. 535. 537. 542 a. 551. 564. 568. 578.
580. 583. 611a. 626 a.
Gotter, F. W. 530. 466.
Gotthart, G. 97.
Gotthelf, J. (A. Bitzius) 675.
Gottschall, K. R. v. 653.
Gottsched, J. C. 356—367. 303. 354 a. 369
bis 372. 376. 377 a. 378 a. 393. 398. 401.
427. 430. 435.
Gottsched, L. A. V. 362. 363. 342. 420. 434.
Götz, J. N. 381.
Goue, A. F. V. 525 a.
Goeze, J. M. 418. 335. 422. 446 a.
Grabbe, C. D. 663.
Graff, C. 100.
GrefF, ,J. 94. 95a. 98. 99. 101. 103.
Greflinger, G. (Celadon) 232.
Griepenkerl, W. R. 665.
Gries, J. D. 554 a.
GriUparzer, F. 603—605. 667.
Grimm, F. M. 296. 363.
— J. 574. 22 a.
— W. 574. 22 a.
(Ttrimmelshausen, .J. .T. C. 267—269.
Grob, J. (Reinhold v. Freientahl) 248.
Grobianus Tischzucht 71a.
Groth, C. 685.
Grübel, J. K. 518. 17.
Grün, A. (A. Graf Anersperg) 654. 655.
Grünenwald 41.
Gryphius, A. 256—261.
— C. 273.
Gueintz, C. 215. 189 a.
Günderode, K. v. 573.
Gundling, N. H. 284.
Günther, J. C. 348. 349.
Gutzkow, K. 649.
46
I
700
H.
Ilaberer. H. W. 1(17.
Habrecht, I. 91.
Hac-kländer. V. W . (wfi.
HafiKT .'..J'.ta.
Hairedorn. K. v. 3r.l— 353. 30<;. 356. 393.
401. 433.
Hagen. F. H. v. »l. 57Ha. 505.
Hagenbach, K. R. 17.
Halin, .1. F. 4Ü(J. 470a.
— L. Ph. 480 a. 523 a.
Hahn, I.. (Tiätin 673.
Halcm. (i. A. v. 324 a.
Haller, A. 354—350. 304. .300. 307. 357 a.
362 a. 366. 401. 447.
— .1. 104.
Hallmann, .1. C. 264.
Harn, H. 95a.
Hamann, J. <t. 451.
Hamerling, R. 684.
Hammer, ^M. 94 a. lOO.
Hanke 359.
Haumann, E. 182.
Hatiswursicomödie 330.
Happel, E. (t. 266.
Hardenberg, F. L. v. s. Novalis.
Harsibirter, (t. P. 225. 185.
Hartmann, A. 60. 1U6.
— E. V. 690.
— M. 657.
Hasskerl 340.
Haut!', W. 014.
Hang, C. Ch. H. 522. 419 a.
Haugwitz, A. A. v. 264.
HiPnsser. L. 691.
Hayneccius, M. 113a.
Hebbel, C. F. 665—66^7.
Hebel, J. P. 513— 515. 17. 474 a. 545. (529.
Heberer, M. 136.
Heerraann, .1. 240.
Hegel. Ct. W. F. 637.
Hegner, ,1. U. 595.
Heidegger, Ct. 267 a.
Heine, H. 032-037.
Heinsp, .1. .1. W. 485.
Helber, S. 11.
Heldensarje 56 a.
Helffrich, .1. 1.30.
Hellbach, W. 71a.
Hcilwig, .J. (Montauiifl) 225.
Hclniholtz, H. V. 690.
Hdvicus, C. 160.
Henisch 189 a.
Henrici, C. F. (Picander) .359.
Hensel, L. 571.
Hensler, K. F. 530.
Herdius, K. (i. 276. 193a.
Herbart, .1. F. 638.
Herdegen, .1. (Amarantes) 223.
Herder, .J. G. v. 4.53— 4<;2. .307. .340. 385.
424a. 425a. 429 a. 443 a. 405. 490. 491.
494. 533.
Herlicius, E. 118 a.
Hermann, N. 65. 83 a. 85. 80.
Hermes, .1. T. 438.
Herport, .1. 103.
Hersch, H. 680.
Hertz, W. 683.
Herwegh, Cr. 6.59.
Herz, H. 584. 648.
Hesekiel, G. L. 072.
Hesse, E. 29.
Hessen-Darmstadt, Anna Sophie v. 240a.
Heun, K. s. Clanren.
Heusslin, R. 146 a.
Hexameter 318.
Hey, .J. W. 616 a.
Heyse, P. 642. 662 a.
Hippel, Th. G. V. 438.
Hirschberg, Valentinus Theocritns v. 203.
Hirten- und Shimenorden 223.
Hirzel, .T. K. 447.
Hochdeutsch 14.
Hopck, Th. 90.
Huefer, E. 686.
HotTmann, A. (E. Th. W.) 592—594.
— H. i^von Fallersleben) 658. 600.
701
Hofman von Hofiiianswaldaii, C. 262. 177 a.
Hohenberg, W. H. v. 176 a. 177 a.
Höl.lerliü, F. 519.
Holle, L. 102.
Holtei, K. V. 607. 18.
Hölty, L. H. C. 470—472. 518.
Holtzman. D. 61.
Holtzwart, M. 57. 63. 70 a. 'JS>.
Hörn, W. 0. v. (W. Ürtel) 545 a.
Hornmold, S. 32 a.
Houwald, E. v. 601.
Hövelen, K. v. (Candurin) 223.
Hoyers, A. R. 249. 240 a.
Hübner, T. 214. 215. 176 a. 191. 198 a.
Humboldt, A. v. 644. 536.
— W. V. 537. 585a.
Hunold, C. F. (Menante«) 273. 187. 266 a. 275.
Hütten, U. v. 141. 27 a.
I. J.
lekelsamer, V. 11.
Idyllendiclituny 326.
Iffland, A. W. 527. 337.
Immermann, K. L. 596 — 598. 626.
Interpunction 23.
Iselin, J. 447. 458. 534.
Israel, S. 97 a. 100.
Jacobi, F. H. 484. 442. 462. 490. 494.
— J. G. 430. 379. 471. 484. 486.
Jahn, F. L. 589.
Jahn = Hansiourst 120.
Jambus, fünffüssiger 314. 395, vicrfüssujer
316.
Jasper von Gennep 100.
Jei-usalem, F. W. 366. 401.
Jesuitenkomödie 281. 335.
Jodel = Hansiourst 121 a.
Jonas, J. 83 a.
Jordan, W. 684.
Josel 42 a.
Joseph II, Kaiser 289. 401. 412. 445.
Jmlenhefreiung 258 a.
'Juliana, Schseff'erey v. d. schoenen' 124.
Jungius, J. 161 a.
Jung-Stilling, J. H. 482. 490.
Juuius, F. 161.
K.
Kaiisch, D. 681.
Kaltenbach, C. 237.
Kaut, J. 452. 411. 445. 456. 458. 477. 485.
509. 550.
Kantzow, Tb. 13. 135.
Karschin, A. L. 385.
'Karsthans' 60.
Kcästner, A. (j. 398. 331 a. 366 a. 373. 445.
467 a.
Kaufmann, Ch. 480.
Keimann, C. 271 a.
Keiser, R. 280.
Keller, G. 688.
Kempe, M. 237.
Kerner, J. 612.
Kiechel, S. 136.
Kielmann, H. 106.
Kirchenlied 80. 238 fgg. 329.
Kirchhof, H. W. 129.
Klaj, J. 225.
Klauber, H. R. 113 a.
Klee, G. (Thym) 56 a.
Klein, A. v. 475 a. 523 a.
Kleinlawel, M. 57a.
Kleist, E. U. V. 382. 383. 389. 416. 447.
— H. V. 576-580. 587a.
Klemm, Ch. G. 339 a. 446.
Klenck, C. L. v. 385 a.
Klingemann, E. A. F. 582.
Kliuger, F. M. 479. 472. 478a. 483.
Klopstock, F. G. 399—407. 304. 306. 318.
373. 425. 447. 449. 467. 469. 472. 475.
47(5. 490.
— Meta 400. 401a. 403. 406 a.
Klotz, C. A. 417. 428. 430. 446. 455. 463.
Knapp, A. 616.
ro2
Knaust. U. 84.
Knebel, K. L. v. 405 a. :382.
Knigge, A. v. 448 a.
Knittelverse li»3. ',116.
Kuorr v. RoHcnroth, C. 244.
Knast 100.
Kobell, F. V. 17.
Kober, T. llüa. 113 a.
Kohlbrenner. .1. F. S. v. 330 a.
Kohlhard 346 a.
Kolross, J. 10a. 11. 328. 88. 103. 107.
Kompert, L. 676,
Kongehl, M. 237.
Koenig, H. 671.
— J. U. 276. 280a. 336a 348a. 350. 351 a.
357 a. 367. 371.
Köpfel, W. (Capito) 142.
Kopisch, A. 680.
Kormart, C. 279 a. 280 a.
Körner, K. Th. 587.
Kortum, K. A. 521.
Koaegarten, G. L. 517.
Kotzebue. A. v. 528— 53(». 437 a. 448a. 556.
Krallt, U. 136.
KretHchniann, L. F. 42!«.
'kritisch' Lieblingswort der AufklccruHy 2iiO.
Krumung der Dichter 162.
Krüger, B. 101. 126.
— B. E. 364.
— J. C. 364.
Krüginger, J. 101. 102.
Kruse. H. 681.
Kuh, E. 384 a.
Kuhlmann, Q. 244.
Kühne, G. 649.
Kurz, H. 672. 682 a.
— J. F. 338.
Lachniann. K. 575.
Lafontaine, A. 532.
Laienbuch 126.
Lamprecht, J. F. 367 a. 377.
Langbein, A. F. E. 522.
Lange, S. G. 377.
La Roche, S. v. 408-410. 413. 430. 490.
Lassalle, F. 548.
Lassberg, J. v. 576. •
Lasius, C. 100.
Lateinische Dichtung 161.
Laube, H. 651 fg.
Laukhard 295a.
Lauremberg, H. W. 249. 13 a. 186.
Laurentius a Schnuffis (J. Martin) 211.
Lavater, J. C. 425 fg. 401a. 437. 445. 446 a.
470. 490, 494.
Leberreime 77.
Lehmann, C. 76. 135. 148.
Leibnitz, G. W. v. 282. 159 a. 162. 359.
373. 441.
Leinbarg, J. G. 0. v. Lütjendorf L. 6258.
Leisentrit, J. 808.
Leisewitz, J. A. 472.
Lenau (N. Niembsch v. Strehlenau) 655.
Lenz, J. M. K. 477. 425 a.
Leon, J. 100. 115 a.
Leschke, B. 98.
Leseberg, J. 100. 101. 118a.
Lessing, G. E. 414—424. 307. 347. 365.
377—379. 380. 385. 389 a. 397 a. 409. 426.
434. 439—445. 449. 452. 454. 455. 4.59.
460. 472. 478. 485. 522. 525. 537.
— K. G. 115 a.
Leuchsenring, F. 492 a.
Leuthold, H. 683. 662a.
Levin s. Robert.
Lewald, F. 674.
Lichtenberg, G. C. 444.
Lichtwer, M. G. 398. 433a.
Liebhold, Z. 116a.
Liederbiiclier 38. 169 a. 200. 202.
Linck, C. S. 336 a.
Lingg, H. 683.
Lindner 335 a.
— A. 681.
— M. 130.
Liscow, C. L. 6.
703
Litzel, G. :il8.
Lfpber, V. 245. 17 In.
Lobwasser, A. 8tt.
Loccius, N. 1 I8a.
Locher, J. 29.
Logau, F. V. (Golaw) 245. 385.
Lohenstein, D. C. v. 262—264. 376. 409.
Lonemann, J. 102.
Loner, J. 95 a.
Lorm, H. (^Landesman) 657.
Maaler, J. 12 a.
Macuronischc Poesie 79.
Mafiopetlius 93a.
Madriyid 195.
'Magelone' 97.
Maier, J. 523.
Malss. K. 607. 17.
Manso, .J. C. F. 444 a.
Manuel, N. 57 a. 105. 139.
Märchen 56. 560. 565.
Maiiitt, E. (E. John) 688.
Martin, J. s. Laurentius a 8chunffis.
— von Cochem 285.
Martinslieder 90.
Mascou. J. J. 284.
Massmaun, H. F. 589.
Mastalier, K. 429 a.
Mathesius, .]. S3a. 85. 86. 138.
Matthisson, F. 517.
Mauricius, (t. 94. 97. 99. 100. 104.
Mauvillon. J. 301a.
Maximilian 11. von Bayern 544. 662.
Mayer, K. 615.
Megerle, U. s. Abraham a S. Clara.
Meistersinger 43. 114. 153.
Meissner Sprache 15.
Meissner, A. 657.
Melanchthon, F. 27. 29.
Melan.ler, D. 130 a.
— (). 130 a.
Melissas, P. (Schede) 91. 12. 33.
Menantes s. Hunold.
Men.ke. J. B. 274. 348. 357.
'lotterholz' 41 a.
Lotichius, P. 29.
Löwen, J. F. 335 a.
Ludovici 341 a.
Ludwig 1., K. V. Bayern 626. 544. 648.
— O. 668.
Lund, Z. 233.
Luther, M. 7. 13. 27. 28. 55. 60. 77. 82. 94.
137. 141. 147. 166.
M.
Mendelssohn, M. 440. 342. 402. 422. 423.
426 a.
Menzel, W. 649.
Merck, J. H. 483. 451a. 492.
Merckius, J. C. 114a.
Mereau, S. 570.
Merkel, (j. 529 a.
Messerschmidt, (i. F. 127 a. 143.
Meyer, F. L. W. 485a. 526 a.
Meyr. M. 676.
Michaelis, J. B. 437. 528.
Mieraelius, J. 13a.
Miller, .J. M. 471. 474.
Minnesänger nachgeahmt 381 a. 466. 471.
Mnioch, J. J. 581.
Mode verspottet 158.
Möller, H. F. 525. 528.
Möllerin, G. 238.
Moltke, H. Graf 692.
Mommsen, Th. 691.
Montanus, M. 130.
Morhof, D. G. 162. 187. 274.
Mörike, E. 614.
Moritz, K. Ph. 537. 295a. 312. 582 a.
Moscherosch, J. 31. 251.
Mosen, J. 668.
Mosengeil, F. 596.
Mosenthal, S. H. 667.
Moser, F. K. v. 450. 462.
Mauser. .1. 449. 303 a.
Mosheim, J. L. 346. 357 a.
Mügge, Th. 673.
Mühlbach, L. (Mundt) 672.
i04
Mühlpturt. U. MA.
Miillpiihofl", K. 693.
Müller, A. r»78.
— C. H. 375.
— F. (Maler Müller) 475—477. 486.
— H. 135a.
— J. V. 535. 345. 581a.
— J. (j. 438.
— W. 628.
— W. (von Könif^swinter) 661 a.
Müllner, A. 600.
Mu ndnrtfti 1 6.
Mundartliche DidUunu IGT. 272 a. 281. 308.
350 a. 385.
Mundt, Th. 649.
Münigsfeind, Paniphilus 106.
Münster. S. 133.
Murer, C. 97.
— J. 94. 99. 103.
Murner, Th. 58. 57 a. 125. 140.
MuHPuluR. A. 138.
— W. 83 a.
Musenidmamicli 3(»2.
Musikbegleituny der Lieder 169.
Mylius, C. 366. 377 a. 392a. 416.
Myllius, M. 80 a. 88 a.
Myricsus, J. J. 97 a.
Mythulofiie allegorisch verwandt 196.
N.
Nachdruck bekämpft 298.
Nachtigall. 0. 130a.
Namen des Verf. in der Schlusszeile ange-
geben 40.
— latinisiert 31.
Naogeorgus, Th. '29. 31a. 112.
Narr im Spiel 111.
Nathusius, M. 686.
Naumann, C. N. 365a.
Neauder, A. 640.
— J. 240.
Nebenbeschäftigung, Poesie als 170 a.
Nestroy. J. 606.
Neuber, H. 14Ua.
Neuberln, C. 336. 368. 394. 420.
NeuJutchdeutsch 22.
Neukirch, J. (t. 187.
— M. 101.
Neumark, (J. 184. 176 a. 177 a. 216.
Neameister, E. 187. 188.
Nibelungen 182 a.
Nicolai, C. F. 442. 430. 433. 436. 441. 449 a.
452. 463. 465 a. 484. .562.
— Ph. 84. 83 a.
Nicolay, L. H. 432.
Niebnhr, B. ti. 641.
Niemeyer, A. H. 330.
Notter, F. 615.
Novalis (F. v. Hardenberg) 559 — 561.
Nunnenbeck, L. 49.
Nuth, F. A. 340.
0.
Obereit. J. H. 374. 448.
Oehlenschläger, A. 582.
Olearius, A. 229. 245 a.
Gelinge r, A. 11.
Omeis, M. D. 185. 228.
Omich, F. 97.
Paalzow, H. 671.
Pape, A. 96 a. lOO. 104. 115 a.
Oper 180. 280. 599.
Üperdte 344.
Opitz, M. 197—203. 161. 181. 370.
Oratoriu7n 281. 331.
Orthographie 548.
Ortlob, K. 187a.
P.
Paracelsas, Th. 145.
Passionsspiel 155a.
705
Paul, J. 8. Richter.
Pauli, J. 128. .
Peschwitz, G. v. 183 a.
Pestalozzi, J. H. 534.
Petri, F. 76. 148.
Peucker, N. 238.
Pianius, G. 661a.
Pfeffel, G. K. 432. 480.
Pfeiffer, E. 221 a.
Pfitzer, J. N. 125 8.
Pfizer, G. 615.
— P. 61.5.
Philosophisch 'rationell' 287 a.
Picander s. Henrici.
Pichler, C. 596.
Pickelhering 120.
Pietsch, J. V. 360.
Platen (A. Graf v. P.-Hallermüade^ 623 bis
626. 549 a.
Platter, F. 136.
— Th. 136.
Plavius, J. 235.
Pleniagen, D. v. 27 a. 140.
Poleus. Z. 99.
Quad, M. .57. 134.
Querhamer. C. 80 a.
'Politicus' 272.
Pondo, G. 97. 100. 103. 115a.
Possetispiel 121.
Postel, C. H. 154a. 177 a. 275. 280a.
'Prager HofkocK 175a.
Prasch, J. L. 191 a.
Pra;tonus, J. 256.
— P. 98.
Prehauser, G. 338.
Priamel 76. 174.
Pritsclienmeister 41. 184. 248. 275. 276.
Probst, P. 115 a.
Prosa des Volkes 42.
— hinter Verse gemischt 310.
Prosaform der jioetischen Gattungen 310.
Prutz, R. 652.
Psalmensang 88.
Pückler, L. H. F., Fürst v. F.-Muskau 646.
627. 652.
Puppenkomödie 180. 339.
Pnschmaun, A. 98.
Putlitz, G. V. u. z. 680.
Pyra, J. J. 376.
Pyrker, .1. L. 592.
Quistorp, Th. J. 364.
R.
Raabe, W. 686.
Rabener, G. W. 390.
Raebmau. H. R. 92a.
Rachel. J. 250. 352.
Raimund, F. 606.
Ramler. K. W. 384 fg. 309.
Rank. .J. 676.
Ranke, L. v. 642.
Raspe, R. E. 462 a.
Rasser, J. 102. 104.
Raetel, H. 99, 115 a.
Ratichius, W. 95. 160.
Bcetsel 42. 77.
Räumer, F. L. (i. v. 641.
Raupach. E. B. S. 601.
Rausch, Bruder 56.
Rauwolf, L. 136.
Rebhun. P. 12 a. 10(». 101. 107.
Recke, E. v. d. 430a. 519 a.
Reden bei Stautsverhandlungen 168.
Redwitz. 0. V. 662.
Reiche] 365.
Reimarus, H. S. 418 a.
Reime, dialektische 166a. Ulla. 308a.
Reimlosigkeit der Gedichte 193. 312.
Reinhard. F. V. 346.
Reinick, R. 629.
Reim'cke Fuchs 58. 177a.
f()6
lifistn in tlas Auslnuil '.VI. l.')?.
Keiser, A. 27!» a.
Keissner, A. i:$5.
IJrsrnius. P. .1. 161.
Kcnter, (". 2til>. ;J3«a.
— F. 687.
KlicnanuH. H. \,)\.
— .1. :U4a.
Rhenius. J. itr)a.
Rirciiis, S. !»5a.
Kichev. M. iJäO.
Kicliter, J. V. V. ^Jean Paul) 532—534. 23a.
407 a. 593.
— Z. 32 a. 88a.
Kicdel. F. X. 330a.
Riederer, J. F. 325a.
Kiehl, W. H. V. 689.
KipuuT, J. 186 a.
Kinckaidt, M. 106. 118a.
King, F. D. 400a.
Bingwald, B. 65. 83 a. 86. 104.
Eisifben, N. 102.
Rist, .J. 220—223. 158a.
Kitter, K. 645.
Kivius, G. 146 a.
Robert, L. (Leviu) 602.
— R. 647. 557 a.
Robertin. R. 236.
Roll, (i. 98. 115a.
Kollenhagen, Georg 63. !)8. 102».
— Gabriel 118a.
Ko'ling. J. 237.
Homan 169. .-528.
Bomantiker 469. 549.
Bomantischi: Poesie 551.
Bomanzc 326. 378.
' Rti'iner, die alten 129.
Roemoldt, .). 104.
Rondeau 92 a. 195.
Ro(iiiette, O. ()82.
Rordorrt; J. H. 63.
Roschraann 436a.
Rose, A. K. V. Creutzheim 126a.
Bosenkremer 66 a.
Rosen thal, D. E. v. 217 a.
Rost, .J. C. 325. 367. 377. 485a.
— J. L. 267 a.
Rote, S. 33a.
Rotenbucher, E. 39 a.
Rückert. F. 618—623. 22 a.
Ruett; J. 94. 97. 98. 100. 101. 103.
Rüge, A. 652.
Rnmohr, K. F. L. F. v. 566.
Rumpier, J. K. v. Lewenhalt 207.
Rute, H. V. 93a. 98. 99. 105.
S.
Sabiuus, G. 29.
Sacer, G. F. 186.
Sachs, H. 48. 51. 61. 79. 83a.
108. 120a. 153. 154. 495.
Sailer, S. 309. 17.
Salat, H. 101.
Salis-Seewis. J. G. v. 518.
Sallet, F. V. 627.
Saltzmann, W. 124.
Salzmann, J. D. 489.
Sanders, J. 101.
Sandrab, L. 74.
Saphir, M. G. 647.
Sartoriiis, J. 87 a.
Sastrow, B. 135 a.
Sattler, J. R. 9 a.
Savigny, F. K. v. 574.
93. 102. ! Sax, M. 90a.
Schack, A. F. v. 683. 682 a.
Schäferpoesie 224.
Schäfer spiel 185a.
Schaidenreisser, S. 57 a.
Scharpfenecker, A. 102.
Schausjnelerdrama 179. 277. 335.
Schauspielertruppen, deutsche 122. 366.
Sehefer, L. 627.
Scheffel, J. V. V. 684.
Scheffler. .1. (^Angelas Silesius) 243. 247.
Schein, H. 10a.
Scheit, C. 71. 47 a.
707
Scbelliug, F. W. J. v. 550. 551. 554.
Schenk, E. v. 603.
Schenkeudorf, M. v. 588.
Scherenberg, E. F. 663.
Scherer, W. 6:>3.
Scheröer, W. S. v. Scherffenstein 234.
Schertlin, S. S. v. Burteabach 135 a.
Scliertz mit der Warheyt 129 a.
'Scheveklof 105 a.
Scheyb, F. C. v. 364a.
Schickfuss, J. 135.
Schicksalstragcedie 599.
Schiebeier, D. 435.
'Schildbürger 126.
Schiller, J. Ch. F. v. 503—513. 308. 356 a.
441. 443. 444. 453. 464. 472. 478 a. 487. 498.
517. 519. 526. 528a. 531. 537. 553. 555a.
Schilter, J. 162.
Schinner, I). 231.
— M. 176 a.
Schlayss, J. 98. 114 a.
Schlegel, A. W. v. 552—556. 4H4. 465a.
531. 583. 590.
— C. 553.
— D. V. 557. 568.
— E. 393—399. 349 a. 434a. 442.
— F. V. 556—559. 580.
— J. A. 397. 362 a.
— J. H. 397.
Schleiermacher, F. D. E. 559. 585 a.
Schlosser, F. C. 692.
— J. G. 482. 477. 479. 488. 494.
— J. L. 335.
Schlcezer, A. W. 300a.
Schlup, J. V. 118a.
Schlüter, J. 82 a.
Schmeller, J. A. 576.
Schmeltzl, W. 38 a. 99. 102.
Schmid, B. 39 a.
— H. 99 a.
— K. 99.
Schmidt, E. K. 432.
— F. A. W. 518 a.
— J. 654.
— J. E. 256.
Schmolcke, B. 242.
Schmossmann, Doctor' 139 a.
Schnaase, K. 597.
Schnabel, J. G. (Gisander) 269.
Schneuber, J. M. 208. 164 a.
Schnurr, B. 74.
Schoch, J. G. 231.
Schoen, C. 102.
Schoenaich, C. 0. v. 365. 409.
Schoenborn, G. F. E. 467 a.
Schoenwaldt, A. 74.
Schoppe, A. 672.
Schopper, H. 29. 63.
Schottelius, J. G. 184. 189. 215.
Schradin, J. 57 a.
Schreyvogel, J. 603.
Schriftsteller stand 544.
Schrueder, F. K. L. 526. 337.
Schubart, C. F. D. 473—475. 505.
Schücking, L. 671.
Schuldrama 334.
Schultes, M. 177 a.
Schulze, E. 591.
Schumann, V. 1.30.
Schummel, J. G. 447 a.
Schuppius, J. B. 253. 161a. 1H6.
Schwab, G. 619. 655.
Schwabe, E. Schw. v. d. Heyde 92. 182.
— J. J. 366. 387.
Schwanenorden 220.
Schwanke 51.
'Schwärm, Doctor' 139a.
Schwarz. S. 240 a.
Schwarzburg, L. E. Gräfin v. 240.
— A. J. Gräfin v. 240a.
Schwarzenberg, J. v. 27 a.
Schwebende Betonung 323.
Schweinichen, H. v. 136.
Schwenter, D. 260 a.
Schwertweg, J. 103.
Schwiger, J. 231.
Scioppius, G. 9 a.
Scriver, C. 285. 350 a.
Scultetus, A. 234.
Sealsfield, C. ^Postel) 672.
•Oft
Scrkendoif, V. L. v. 16Ha.
Seger, J. 101. UHa.
Seidl, J. 617. IS.
Seiillitz, M. v. 136.
Seinecker, N. 83a.
Seume, J. G. 518.
Shakespeare 116a. IIH. IJOa.
Siniler, J. W. 2Uli.
Singer 41.
Singschulen 1;J.
SleidanuB, J. 131.
Smidt, H. 672.
Soden, J. v. h'l\.
Solger, K. W. F. 561.
Sommer, J. 77. 75a. 113a. 143 14.s.
Son, H. 41 a.
Sonett !tl. 194. 321.
Sonuenfels, J. v. 445.
Spalding, J. J. a46. 457.
Spangenberg, C. 94. 136.
— J. 187 a.
-- W. 47a. 74. :i4. 9r>a 113a. 114a. 126.
Specklin, D. 147 a.
Spee, F. V. 2U9— 211.
Spener, P. J. 285. 242. 243.
Speratus, P. 82a. aSa.
Sperontes 331a.
Spettler, M. 97 a.
Spiess, C. H. 531.
Spiel im MnigJ.' Saal zu Paris 105.
Spielhagen, F. '608.
Spindler, K. 596.
Spitta, K. J. P. 616.
SprachgeselUchaften 213.
Sprachlehren 11.
Sprachmengerei 158. 168.
' Sprachverderher\ der nmirtig deutsche 158 a.
Sprecher 41.
Sprechweise einzelner Berufe 17 a.
Spreng, J. J. 353.
Sprichwörter 42. 156.
Sprüche der Handwerkir 13.
Stade, H. 136.
Stfegemann, F. A. v. .588.
Stael, L. G. de 556. .580.
'Stände' Strophenform 2(»5 a.
Stanze 322.
Steffens, H. 566.
Stegreifstücke bib.
Steinhach, C. E. 348a. 357 a.
Stephanie, G. .525.
Sternberg, A. v. Ungern- 673.
Stettier, A. 208.
Stenrlein, J. 102.
Stieglitz, C. 649.
Stieler, C. (der Spate) 189.
Stifter, A. 672.
Stöber, Ad. 617.
— Aug. 617.
Stockar, H. 136.
Stöckel, L. 100.
Stolberg, Ch. 469.
- F. L. 469. 464. 466. 467. 490.
Stolz, A. 546 a.
Stoppe, D. 273 a. 356 a. 359.
Storm, Th. 687.
Strachwitz, M. K. W. Graf v. 662.
Stranizki, J. A. 338.
Straube 396.
Strauss, D. F. 640.
Streitgedichte 37.
Strizer, J. 104.
Stubenberg, .J. A. AV. v. 265.
Studentenlieder 90.
Stumpf, J. 133.
Sturm, J. K. R. 616.
Sturm und Drang 407.
Sturz, H. P. 449.
Sulzer, J. G. 375. 373 a.
Sybel, H. v. 692.
Tabulaturen der Meistersinger 44.
Tannengesellschaft 206.
T.
Teckler, J. 99.
Teil, Spiel von Wilhelm 97.
4
709
Tersteegen, G. 243.
Teufel im Schauspiel 111.
'Theatrum diabolormii' 138.
Theobald, Z. 135.
Thoraasius, Ch. "276 a.
Tliüinmel, M. A. v. 437.
Thuinmayer, J. (Aventinus) 134. 33.
Thym, G. 56.
Tieck, L. 561—566. 579. 582 a.
Tiedge, C. A. 5U)a.
Tierfaheln hei den Meistersirnjern 47 a.
Tierstimmen nachgeahmt 188a. 2\0.
Tirolf, H. 98.
Titz, J. P. 183. 234. 245.
Tottwechsel im Verse verlangt 191.
Uehersetzunyen 164.
U echtritz, F. v. 601.
Uhland, L. 608—612. 549. 631.
Uhsen, E. 187 a.
Uhlenhart, N. 267.
Varnhagen von Ense, K. A. 647.
Vehe, M. 80 a.
Velde, F. v. d. 596.
Veiten, J. 279. 336.
Vers communs 108.
Versmasse, antike 31. 193. 234.
'VerscK 213 a.
Vespasius, H. 13a. 82a.
Vischer, F. Th. v. 690.
Wachenhusen, H. 689.
Wächter. L. (Veit Weber) 532.
Wackenroder, W. H. 563.
Wackernagel, W. 693.
Wagenseil, J. Ch. 47 a.
Wagner, E. 533.
— J. 107.
— H. L. 481.
— R. 547. 549.
Waibliuger, W. 614.
Töpffer, K. 602.
Törring, .J. A. v. 524.
'Tragicorao^dia' 95.
Trautmaun, F. 689.
Traunsdorff, J. H. v. 208.
Treitschke, H. v. 692.
Triller, D. W. 365. 356 a.
Trimeter 314.
Troemer, J. Ch. (J. C. Toucement) 276 a.
Tromlitz, A. v. (Witzleben) 596.
Tscherning. A. 234. 183. 245 a.
Tschudi, A. 132. 10. 13. 33. 535.
— L. 136.
Tünger, A. 129 a.
Turin, E. X. 330 a.
u.
Umarheitungen aus metrischen Gründen
200. 206.
ünzer, L. A. .301 a.
Usteri, J. M. 515. 17.
Uz, .1. P. 380. 318.
V.
Vogel, J. 41 a.
Vogl, J. N. 617.
Vogtherr, H. 146 a.
Voigtländer, G. 233.
Volksbücher 124. 155. 568.
Volksetymologie 23 a.
Voss, H. 569.
— J. H. 467—469. 308. 309. 811. 445 a.
470 a. 471. 474. 513. 517. 568. 641.
w.
Waidsprüche 42.
Waldau, M. v. (K. G. Spiller v. Hauen-
schild) 674. 627.
Waldis. B. 61. 13 a. 62. 83 a. 85. 101.
Walther, J. 82.
Warbeck, Veit 124.
Weber, W. 162 a. 41.
Weckherlin, G. R. 203—206.
Weichmann, C. F. 350. 352.
Weidner, J. L. 148 a.
710
\Ve\gel V. 145.
Weihnacht ssjtiele KK).
"Weimar, F. W. v. 147 a.
— W. II V. IM 4. -MOa.
WeiHP, Ch. 270-273. Iö6. 283 a. 376.
\Vei8«e, Ch. F. 433—435. 367. 429. 431.
432. 436. 437.
— M. Hl.
Wekhrlin. \V. L. 47:').
Welthüif/ertum 241) a.
Weltlüteratur 2. 503.
^ Werder, D. v. d. 214. 162. 176 a. 215., i??^
Werlhof 354 a.
Werner. Z. 580—582.
Wernher, A. v. Themar 140.
Wernicke, C. 275. 154 a.
W essenberg, .T. H. v. 330 a.
Westennann, .T. 322a.
Wetter, J. 281.
Wetzel, J. 124.
Wezeil 341.
Wiehert, E. 681.
Wiokede, J. v. 689.
Wickram, G. 127. 7 a. 99. 101—103. 129.
— Cir. 129.
Widmann, A. .T. 73.
— ö. R. 125 a.
— L. 135.
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